The Project Gutenberg eBook of Das Leben der Renée von Catte This ebook is for the use of anyone anywhere in the United States and most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this ebook or online at www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you will have to check the laws of the country where you are located before using this eBook. Title: Das Leben der Renée von Catte Author: Elsa von Bonin Release date: August 10, 2025 [eBook #76663] Language: German Original publication: Berlin: Egon Fleischle & Co, 1911 Credits: Jens Sadowski and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net. This book was produced from images made available by the HathiTrust Digital Library. *** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DAS LEBEN DER RENÉE VON CATTE *** Das Leben der Renée von Catte Das Leben der Renée von Catte Roman von Elsa von Bonin Egon Fleischel & Co. Berlin Alle Rechte vorbehalten Copyright 1911 by Egon Fleischel & Co., Berlin Für Dich Toni Schwabe! Die kleine Renée lag im Bett und horchte auf das Quaken der Frösche unten am See. Der Mond schien herein – jetzt war er auf ihrer Hand, nun auf der Erde. In der Zimmerdecke war auch ein Mond, ein gemalter mit gelben Strahlen – oder vielleicht war es eine Sonne. Er hatte ein Gesicht, und aus seinem Mund hing der Kronleuchter heraus mit sechs Kerzen. Die kleine Renée war ein wenig traurig. Es war, weil die Frösche quakten und weil Uncas nicht mehr lebte. Uncas war ein Hund, aber er hatte die schönsten Augen gehabt – gelb mit blau innen. Und Renée liebte niemanden mehr. Sie dachte daran, wie sie mit ihm auf Froschjagd gegangen war, und er hatte die Frösche in die Luft geworfen und wieder aufgefangen – so lustig, wie das aussah. – Wie Renée so nachdachte, wurde sie immer trauriger, dann fing sie an zu weinen. Montag vor vier Wochen war Uncas gestorben. Sie sagten: „Er hat sich heiß gelaufen, und dann ist er ins Wasser und hat den Schlag bekommen.“ Sie sagten: „Du weißt doch Renée, Menschen sterben auch davon.“ Renées Papa kam und streichelte sie und sagte: „Weine nicht, mein Kind,“ und Papa sah ganz verstört aus. Und ihre große Schwester nahm sie auf den Schoß. Ja – sie waren alle freundlich zu Renée, als es geschehen war. Ihr fiel ein, wie sie damals geweint hatte den ganzen Tag und ein bißchen in der Nacht. Es war anders gewesen als gewöhnliches Weinen, es hatte wehe getan nahe am Herzen. – Renée dachte: Hätte Papa mich nur mitgenommen auf Jagd, dann hätt’ ich den Uncas schon weggeholt vom Wasser. Nun gab es niemanden mehr. Der Mond kroch über die Bettdecke und kam auf den großen Tisch. Renée lag wieder im Dunkeln und sah etwas stehn hinter dem Tisch, das lang und schwarz aussah; es pendelte hin und her mit einem weißen Ding, und das Ding war eine Hand. Renée schrie. – Es war doch nichts. Es war nur, weil der Mond gerade durch den Ahorn schien, und dann wippten die Blätter hin und her – das weiße Ding war gar nichts –. Renées Erzieherin konnte nicht ordentlich rechnen. Renée hatte gehört, wie Papa es zu ihrer großen Schwester sagte. Darum kam heute der Kantor. Der Kantor hatte ein fettiges Gesicht und gräßlich viel Pickel. Seine Manschetten rutschten aus dem Ärmel und waren von Gummi. Er nannte Renée ‚na kleines Fräulein‘ und grinste dabei. Fräulein von Altmann saß am Fenster und häkelte. „Also was macht das nun, ein Halb mal ein Viertel?“ frug der Kantor. Renée sagte: „Zwei.“ Der Kantor grinste und wartete. Es schien also falsch zu sein. Renée sah heimlich nach Fräulein von Altmann, ob die es wohl wußte. „Nun – nun?“ Renée sagte: es wäre wohl vier! „In Groß-Gehren macht es ein Achtel,“ antwortete der Kantor. Fräulein von Altmann lachte, und dabei wußte sie es doch auch nicht und konnte nicht mal ordentlich rechnen. – Manchmal war der Kantor ganz nett. Renée hätte überhaupt lieber ihn gehabt als die Altmann. Renée wäre überhaupt lieber ein Junge gewesen. Und Jungs hatten immer Hauslehrer. Es gab eine Photographie, auf der Renée aussah wie ein Junge. Sie hatte ihres großen Bruders Kürassiermütze auf und eine Matrosenjacke. Sie zeigte das Bild und sagte: „Es ist mein Vetter Eberhard.“ – Renée hatte sich den ‚Vetter Eberhard‘ ausgedacht. Sie war es selber. Ganz für sich allein. Wenn Papa sie mit dem Ponywagen nach Haus schickte. Sie dachte: Papa setzt Vertrauen in mich. Sie durfte fahren, wenn Papa drin saß. Das war auch ‚Vertrauen‘. Dann vermied Renée sorgfältig die Steine und Baumwurzeln, und wenn Papa ausgestiegen war, unternahm sie Wegebesserung. Sie schleppte Steine zusammen und tat sie in die Löcher und Wagenspuren, und dann kam Sand und Lehm darauf. Wenn sie fuhren, guckte Renée nach dem Wild. Einmal war ein Bock. Renée sah ihn zuerst. Renée zupfte Papa am Ärmel und hielt vor Schreck den Pony an. „Da ist ein Bock!“ – „Fahr weiter – langsam,“ befahl Papa. Dann spannte er den Hahn, kletterte ganz vorsichtig aus dem fahrenden Wagen und stapfte hinterher. – Renée zitterte vor Aufregung, sie hielt den Kopf geradeaus und schielte so gut es ging schräg nach dem Bock hinüber – Herrgott, wenn Papa schoß, wenn der Pony – bumm – Renée fuhr zusammen und riß den Pony ins Maul. Der machte drei Sprünge, schlug einmal seitwärts aus, dann blieb er stehen. „Schöner Blattschuß,“ rief Papa, dann schleppte er den Bock heran. Renée freute sich, ja aber eigentlich tat es ihr doch gräßlich leid. Papa war ausgestiegen. Renée stand mit dem Pony allein mitten im Wald. Einsam war das. Die großen Kiefern knackten. Renée wartete, man konnte sich ein ganzes Leben ausdenken währenddessen mit vielen traurigen Dingen, und man konnte kleine schwermütige Lieder vor sich hinsingen, ganz leise, während der Pony das Gras abzupfte. Ab und zu schüttelte er ingrimmig den Kopf. Dann rief Renée ihn an und kam und verjagte die Fliegen. Renée legte den Kopf weit hintenüber und sah in die Kiefernkronen. Kleine Stückchen vom Himmel kamen zum Vorschein, blaue oder schwärzliche. Waren sie schwarz, dann schlug der Pony arg nach den Fliegen wegen der Schwüle. Der Wagen ruckte, das fuhr mitten hinein in Renées Gedanken. Renée dachte: ob man immer so gräßlich allein sein muß. Aber Elisabeth hatte doch Freundinnen, die kamen manchmal zu Besuch im Sommer, und Hannsbabo hatte Freunde, die brachte er mit zu den Jagden; Renée dachte: Ich habe keinen. Sie wurde sehr traurig, das zu denken; auf einmal schien es ihr, als müsse jeder Mensch einen Freund haben, einen ganz für sich allein, und nur Renée hatte keinen. Renée dachte: Wenn man den hat, der ist immer gut und man ist auch immer gut und verteidigt ihn und gibt sein Leben für ihn. Es war schön, das zu denken, denn das Leben hat doch viel Wert und die Menschen mögen gar nicht gern sterben. – Ob Papa endlich zurückkam? Renée stieg auf den Sitz und hielt Umschau mit dem Feldstecher – ganz weit unten am Graben hinter den drei Birken ging Papa hinter einem Mann her. Renée hatte große Angst. Wenn nun der andere Mann Papa etwas täte? Und die Büchse hatte er im Wagen gelassen –. Dann winkte Papa. Er winkte, indem er mit dem Arm wie eine Windmühle ringsherum fuhr. Renée zerrte den Pony von seiner Grasweide fort und fuhr los. Als sie ankam, sprach Papa mit dem Mann. Und überhaupt war es der Hofmeier. Sie fuhren nach Haus. – Renée mußte immer wieder daran denken, daß sie keine Freundin hatte. Und es war doch so ein gutes, liebes Wort. Es wurde einem zärtlich dabei zumute. Sie wollte eine Freundin haben. Ganz gewiß. Schon um die ‚Lange‘ zu ärgern. Fräulein von Altmann sagte: „Natürlich hast du ja auch keine Freundin, weil du so ungezogen bist.“ Das ärgerte doch Renée, das mochte man doch nicht hören. – Renée stand auf einem Stuhl in der Kutscherstube und nagelte Ansichtskarten an die Wand. Wöhler stand unten und hielt den Stuhl fest. Wenn Renée in die Stadt kam, kaufte sie Karten, auf denen ‚schöne Frauenköpfe‘ waren. Wöhler sagte: „Sone hab ich gern.“ „Fährt Herr General heut aus?“ frug Wöhler. Renée besann sich: – „Nein, heut nachmittag kommt der Mann, der die Wiesen nicht verkaufen will.“ „Er würde schon, er hat man Angst. Die Gemeinde würde ihm kommen, wenn er verkaufte,“ sagte Wöhler. Dann grinste er. „Ich hätt’s schon anders gemacht.“ „Was hätten Sie denn gemacht, Wöhler?“ fragte Renée – gewiß, Wöhler hätte es furchtbar schlau angefangen. „Ach, wenn Herr General mir beauftragt hätte, –“ sagte Wöhler. – Also Papa fuhr nicht aus. Dann konnte doch Renée den Pony mit in die Schwemme reiten. Wöhler hob sie herauf, schon ein bißchen Senkbuckel hatte der Pony. Aber es saß sich gerade sehr gut darauf; – der Pony patschte langsam vorwärts, blieb stehen, schnaufte und steckte die Nüstern ins Wasser – Renée ritt im Kreise vorn, wo es seicht war, und manchmal wurden ihre Schuh ein bißchen naß, und das war so aufregend. Bei Tisch sagte Renées große Schwester: „Renée müßte wirklich mehr mit ihresgleichen zusammenkommen. Das geht nicht so weiter mit dem ewigen Im-Stall-hocken.“ Dann erklärte Elisabeth, daß Papa für Renée eine Cousine einladen wolle. – Die Cousine war da, und nun versuchte Renée es gleich mit Eifer. Aber dann zeigte es sich, daß es etwas schwierig war. „Soldaten ist ein albernes Spiel,“ sagte die Cousine, „und wenn dein König immer meinen heimlich gefangen nimmt, mag ich nicht,“ sagte die Cousine. Renée dachte: sie ist so pimpelich, und natürlich geht es besser mit Puppen. Es ging auch. Man konnte Papierpuppen spielen. Es war eine wundervolle Sache, _wie_ schön man das konnte. Einer sprach für den Mann und der andere für die Frau, und es gab Eltern und Familien. Und wenn die Eltern nicht die Heirat zugeben wollten, dann erschoß sich der Mann. Aber manchmal sagte die Cousine hinterher, es wäre doch nicht tödlich gewesen. Dann lebte der Mann wieder. Nun kam die Cousine mit auf die Ponyfahrten. Und wenn Papa ausgestiegen war, hockten sie sich ganz dicht zusammen und spielten das neue Spiel mit den Papierpuppen. Es war schön und wild und traurig und furchtbar geheimnisvoll. Es wurde weitergeführt durch ganze Generationen. Renée zeichnete dafür einen Stammbaum auf einem großen Blatt genau so wie der in der Chronik der Cattes – und es gab Vornamen, die immer wieder der älteste Sohn tragen mußte. So kam es, daß Renée die Dinge, die wirklich waren, ganz vergaß, und darum dachte sie auch nicht mehr an das mit der ‚Freundin‘. Einmal fiel es ihr ein; Papa hatte sie beide mit dem Pony nach Haus geschickt, und sie saßen hinten auf den Kutschersitz geklemmt, während der Wagen leer war. Renée sagte: „Hast du eine Freundin?“ „Nein,“ sagte die Cousine. Renée machte eine Pause – „nämlich die eklige Altmann sagt, es wäre, weil ich ungezogen bin. Sie lügt. Sie will mich bloß ärgern.“ Die Cousine sagte: „Ja.“ „Willst du mit mir Freundin sein,“ frug Renée. Da nickte die Cousine. Renée sagte: „Gib mir also ’n Kuß.“ Sie bemühte sich, daß es recht gleichgültig klingen sollte, sie dachte: es gehört dazu, es muß so gemacht werden – nur sie genierte sich ein bißchen. Dann sah Renée bald, daß es hübsch war, eine Freundin zu haben. Man war auf einmal zu zweit. Man konnte die Lange doppelt ärgern zu zweit. Man konnte vor Lachen ersticken zu zweit bei Tisch. Renées große Schwester räusperte sich, dann sagte sie tadelnd: „Kinder, seid doch nicht so maßlos albern.“ Daran sahen Renée und die Cousine sich an und pruschten von neuem. Die Lange bekam einen rosa Fleck an der Spitze ihrer Nase und sagte: „Still, Renée, sonst erhältst du keine süße Speise.“ Renée sagte: „Ist mir ganz wurscht!“ Wenn es bei diesem Punkt angekommen war, hob Papa den Kopf und sah Renée an. Seine Augen rollten und waren zweimal so groß als für gewöhnlich – Renée sah eigensinnig gerad in die rollenden Augen hinein. Aber sie schwieg, und sie fühlte ihr Herz klopfen. Ein bißchen unheimlich war Papa überhaupt. Aber er war doch ‚ihr Papa‘, und sie glich ihm im Gesicht. Elisabeth glich ihm nicht. Renée dachte: vielleicht ist Elisabeth gar nicht eine richtige Tochter von Papa. Er hat sie auch nicht besonders lieb. Aber Elisabeth wurde immer gelobt, wenn andere Leute da waren. Die alte Tante aus Pritzwalk hatte gesagt: ‚Elisabeth ist Renée eine zweite Mutter.‘ Aber das ärgerte Renée. Da hing ein Bild von Mama im braunen Zimmer zwischen den Fenstern. Stille, helle Augen hatte Mama gehabt und ein sehr schmales Gesicht. Sie hatte blondes Haar gehabt und einen feinen, anmutigen Mund. Elisabeth sah ganz anders aus. Sie war gar nicht schön, und Mama hatte doch ‚die schöne Frau von Catte‘ geheißen. Renée dachte: gewiß gleicht ihr Hannsbabo, der große Bruder. – Renée hatte ein blaues Heft, darin standen Nummern – da war Nummer eins Hannsbabo, Nummer zwei Papa, Nummer drei Wöhler und so weiter. Sie änderte es manchmal, aber Wöhler war doch mindestens Nummer drei. Wöhler war ein famoser Kerl. Wenn sie Hechte angelten und Renée wollte immer zu früh herausziehen, als ob Wöhler da nur muckste. Er wartete, bis das Floß ein paar Minuten unsichtbar war, er sagte: ‚he möt erst festseten.‘ Renée war zu dumm – immer riß sie zu früh heraus, und dann ließ das Biest los und hopste wieder ins Wasser. – Renée konnte viele Stunden lang da am See sitzen, dann dachte sie so vor sich hin, und wenn sie wieder hinsah, steckte die Angelrute mit der Spitze im Wasser, als ob das die Fische nicht merkten! Renée angelte – aber manchmal schlief sie ein wenig dabei – wenigstens dachte sie an ganz andere Dinge. – Daß es wirklich Züge gab, die einfach so von Berlin bis nach Palermo fuhren. Palermo war auf einer Insel und man konnte hinkommen, ohne umzusteigen. Den Zug hatte Renée einmal gesehen auf dem Bahnhof, von außen war er braun und innen war er mit Lederwänden und Gold und Spiegeln. – Renée saß im Kahn und patschte mit dem Ruder. Dieser Kahn hieß Äppelfuhre, und es gab noch ein weißgestrichenes Kielboot außerdem. Die Cousine hielt Renées Angel, und alle zwei Minuten zog sie daran, um zu sehen, ob ein Fisch anbisse. Natürlich biß keiner an. Renée sagte: „Möchtest du Weltreisender werden?“ Die Cousine lachte. „Wieso denn?“ Renée dachte gerade an den Expreß nach Palermo. „Dann reist man immerzu mit Expreßzügen Tag und Nacht durch. Man wohnt richtig darin.“ „Das könnte ich nicht,“ sagte Felicitas. „Weißt du“ – Renée patschte mit dem flachen Ruder auf das Wasser – „weißt du, dein Name ist so dumm. Ich werd dich Fly nennen. Das ist von einem englischen Gedicht. Ich könnte dich auch Fee nennen. Aber so heißt ein Pferd von Hannsbabo. Also geht es nicht.“ – Fly machte ein pikiertes Gesicht. „Übrigens, Hannsbabo ist riesig schick,“ sagte Fly. „Unsinn, er ist viel mehr als so was Dummes,“ sagte Renée, „und ich habe ihn furchtbar lieb.“ Fly war zwei Jahr älter als Renée. Fly trug Hutnadeln. Renée dachte: Wie man es nur macht, daß es nicht in den Kopf geht? – Am Sonntag kam Hannsbabo. Und Renée durfte ihn von der Bahn abholen. Als der Wagen aus dem Dorf heraus war, stieg Renée auf den Bock und kutschierte. Wöhler hielt bloß die Zügelenden. Sie sprachen von Hannsbabo. Wöhler sagte: „Der Herr Leutnant hat’s schwer, sag ich immer. Herr General hält ihn zu knapp, und das tut nicht gut in so einem feinen Regiment. Ich hab’s zu Herrn General gesagt, der wollte man nicht hören. Herr General, hab ich gesagt, als er ihn bei die Kürassiere brachte, das war zu unsre Zeit eben anders. Bei die Gardekürassiere braucht einer seine zehn- bis zwanzigtausend.“ – Renée war ganz betreten von dem vielen Gelde und ob denn Hannsbabo wirklich so viel brauche. – Wöhler zuckte die Achseln. „Herr General sagt, da täten sechse langen,“ antwortete er, „da soll er man zusehen.“ Irgendwo im Dorf kläffte ein Hund. Der Wallach machte einen Satz, die Stute kniff die Zügel unter den Schwanz und quiekte. Renée hielt, so fest sie konnte. Als Wöhler die Füchse wieder zurecht hatte, riß er sie nochmal ingrimmig ins Maul und brummte: „Nich mal besprechen kann man sich bei sone Biesters.“ – Am Bahnhof kam der große Bruder Renée entgegen. Er strich ihr übers Gesicht mit der Hand und zog an ihrem Haar. „Natürlich hast wieder mal ne Mütze auf, du Bub,“ sagte er. „Es drohte doch so mit Regen.“ Hannsbabo lachte. Renée saß sehr stolz neben dem großen Bruder. Sie schielte heimlich nach den Leuten, ob sie ihn auch recht ansahen. „Der Mann im Kolonialwarenladen hat gesagt: Kommt der Herr Leutnant nicht bald mal wieder,“ erzählte Renée „Er sagt: Mir macht’s immer Freude, wenn ich den Herrn Leutnant seh.“ Das erzählte Renée sehr stolz. Der große Bruder lachte. Er sagte: „Der olle Heringsbändiger,“ und dann sagte er noch, solche Leute wären immer ganz futsch, wenn sie zweierlei Tuch sähen. – Während der Fahrt betrachtete Renée ihren Bruder heimlich von der Seite. Sie fand, daß er traurig aussah. Einmal zog er plötzlich etwas aus der Tasche und zeigte es Renée. Es war die Photographie einer Frau als Page verkleidet. Es gefiel Renée. Sie frug: „Wer ist es?“ aber der große Bruder legte die Finger an die Lippen und antwortete nicht. – Dann erzählte er eine Menge lustiger Geschichten und daß der Kommandeur wohl bald abgesägt würde, so ein Greis der nur gezwungen auf ein Pferd stiege. Und er sagte, daß er jeden Abend in ein und dasselbe Theater ginge, und da sähe er die schöne Frau von der Photographie, und er nähme Renée mit, wenn sie groß wäre. Am Abend hörte Renée laute Stimmen in Papas Stube. Sie schlich sich an die Tür. Papa lief hin und her im Zimmer, wie er tat, wenn er böse war, und manchmal blieb er stehen und schlug dröhnend auf den Tisch. Und sehr selten dazwischen hörte Renée ihren Bruder sprechen in ruhigen, kurzen Sätzen. – Sie lief in den Garten, wo der große, weiße Mond über dem See war, und als sie da lange gestanden hatte, fing sie an zu weinen. Es kam vom Mond und vom Abend und weil Hannsbabo so viel Kummer hatte. Hannsbabo fuhr bald wieder fort. Er kümmerte sich um niemanden in den Tagen, er lief nur so im Garten herum oder im Wald. Aber Renée merkte, daß er traurig war. Dann frug sie Elisabeth: „War Papa schlecht gewesen gegen Hannsbabo?“ Elisabeth sagte: „Bewahre. Es gibt eben manchmal Meinungsverschiedenheiten, und Hannsbabo wird schon einsehen, wenn er einmal reifer geworden ist, wird einsehen, daß Papa recht hat.“ Renée sagte: „Papa ist immer gleich so bös und so laut und das verträgt Hannsbabo nicht. Wenn Mama noch lebte, dann wäre es besser für Hannsbabo.“ Elisabeth zuckte die Achseln. – „Wie du altklug daherredest,“ sagte sie. Sie sagte auch noch, daß es sehr unschicklich sei, derartige Urteile über seinen eigenen Vater zu fällen und daß Renée sich dessen enthalten müsse. Renée sah ihre Schwester an, wie sie während dieser Reden die Oberlippe auf der Unterlippe herumschob, gerade als ob sie kaute, und Renée mußte lachen. Es schien, daß Elisabeth sich sehr darüber ärgerte. – Fly – eigentlich war Fly etwas langweilig. Sie saß im Kahn und las: ‚Trotzige Herzen‘. Das war gerade eins von den Büchern, die Renée gräßlich ärgerten. Wo immer die Leute sich unsinnig liebten und aus lauter Trotz stumm aneinander vorbeigingen. Fly fand das ‚mystisch‘. Fly sagte: „Ach Gott, sie lieben sich so rasend, und dann sprechen sie es erst auf dem Totenbett aus –“ Renée lachte: „Das ist doch furchtbar albern von ihnen,“ sagte sie, „wenn sie sich lieben, können sie doch den Mund aufmachen.“ Fly meinte: „Ach, Renée, du hast ja gar kein Verständnis für diese, die es immer nicht eingestehen will und zu stolz ist, um sich hinzugeben.“ Renée ärgerte sich, und überhaupt war es Quatsch, was Fly redete. Fly war langweilig und dann war es einsam. Renée lief durch den herbstlichen Garten und weinte, obwohl gar kein Grund war. – Der neue braune Jagdhund im Stall, der war nicht schön. Er verstand von nichts. Er hopste so dumm an jedem hoch und wedelte, während Uncas sich seine Leute erst angesehen hatte. Was sollte Renée tun den ganzen Tag? Sie saß bei der Angel und sah auf das kleine, rote Floß. Wenn Sonne war, unterschied man deutlich die Fische, und dann hielt Renée ihnen den Köder ganz dicht hin, so daß sie daran stießen. Wenn einer festsaß, dann schrie sie nach der Köchin. Sie konnte keinen Fisch anfassen. Es war furchtbar zimperlich, daß sie es nicht konnte, aber die Fische rochen so ekelhaft. – „Hannsbabo hat ein Kommando nach Washington bekommen,“ sagte Papa bei Tisch. Renée frug: „Wie lang fährt man da hin?“ Papa sagte: „Acht Tage, mein Kind, mit einem großen Ozeandampfer.“ „Gibt es da auch einen Kaiser?“ „Nein,“ sagte Papa. „Die Vereinigten Staaten haben republikanische Verfassung. Das könntest du auch wirklich wissen.“ – Elisabeth machte ein befriedigtes Gesicht. Sie sagte: „Weißt du, Papa, ich erhoffe mir wirklich Gutes daraus für Hannsbabo.“ Papa sagte: „Ach Unsinn. Zu meiner Zeit trieben sich Kavalleristen nicht mit so albernen Kommandos in der Welt herum. Aber heutzutage ist der Frontdienst ja nicht bequem genug für die jungen Herren, da wollen sie lieber in Amerika Briefmarken aufkleben.“ – „Wieso Briefmarken?“ frug Renée. Papa lachte. „Na – du klebst doch auch so gern Briefmarken,“ sagte er. Nun war Fly wieder fort. Nicht daß Renée Sehnsucht hatte nach ihr. Bewahre. Aber es war gut, daß Fly dagewesen war. Denn wenn die Altmannsche anfing: „Natürlich hast du keine Freundin ...“ dann sagte Renée: „Das ist nicht wahr, Fly ist meine Freundin.“ „Ich wollte, du nähmest dir dann wenigstens ein Beispiel an Fly,“ entgegnete die Altmann spitzig. Renée haßte ‚Beispiel nehmen‘. Alle Leute wurden einem verleidet damit. Das war das Ganze. Man konnte nachher die ‚Beispiele‘ nicht mehr leiden. – Hannsbabo kam zum Adieusagen. Er war in Zivil; einen wunderschönen Schlips von lila Seide hatte er und ein goldnes Armband. Renée frug: „Wann kommst du wieder, Hannsbabo?“ Er sagte: „In ein paar Jahren.“ „Dann bin ich schon erwachsen, und dann mußt du auf Bällen mit mir tanzen.“ Hannsbabo küßte Renée. „Ich wollt, ich könnte dich mitnehmen, kleiner Bub Renée. Willst du denn durchaus so was werden, was man eine junge Dame nennt?“ „Ach; so was Affiges werd ich doch nie, Hannsbabo.“ Dann sagte Renée: „Hast du das Bild noch in der Tasche?“ Hannsbabo zog es vor aus seiner Brieftasche und lächelte, während er es ansah. – „Sie wollte nicht mit mir fortgehen, mein kleiner Bub Renée. Ich hätte sie schon gern mitgenommen.“ „Wer ist es denn?“ Hannsbabo stieß einen kurzen Ton aus – wie ein Lachen, das er eigentlich nicht haben wollte. „Es ist eine junge Sängerin,“ sagte er, „ich liebe sie.“ „Heiratet ihr euch nicht, Hannsbabo?“ Hannsbabo sagte: „Nein – nicht.“ – Sie gingen zusammen zurück zum Haus. Hannsbabo rupfte Blumen, wo sie vorüber gingen und warf sie zur Seite und spielte mit seinem Armband. Renée frug: „Aber warum heiratest du sie nicht?“ – Die anderen Erwachsenen, – so dachte Renée – würden jetzt sagen: Das verstehst du nicht – was wohl nun Hannsbabo sagen würde. – Hannsbabo streichelte Renées Haar: „Mein kleiner Bub Renée –“ Nach vierzehn Tagen kam eine Karte von Hannsbabo. Es kam von New York und es war eine große Brücke darauf abgebildet. Er schrieb, daß es sehr hübsch sei drüben, und es gäbe Häuser mit dreizehn Etagen. – Papa hatte einen Brief bekommen. Bei Tisch sagte er zu Renées großer Schwester: „Na, gottlob scheint er sich ja beruhigt zu haben.“ Elisabeth lächelte dazu; sie sagte: „Er wird schon Vernunft annehmen.“ Renée hörte es. Renée dachte: Er hat die Frau doch lieb – – und gewiß hatte Hannsbabo es niemandem gesagt als ihr. – Als Renée älter war, fiel ihr manchmal dies oder das ein, ein Wort oder ganze Sätze und Geschehnisse. Auf einmal verstand sie das. Es war so, als ob es in der Schublade gelegen hätte, wo nichts herankam, und wenn Renée die Schublade aufzog, dann verstand sie. Die Erwachsenen hatten das Kind gar nicht beachtet, und das Kind wurde groß und beachtete die Erwachsenen und begriff. Renée dachte: Elisabeth tut, was sie will. Sie ist gar nicht so brav, nur sie tut alles hinter Papas Rücken. Als Papa das nicht wissen sollte, daß der Kutscher zu der Köchin eingestiegen war in der Nacht, da hat sie ihm die Kratzen an der Mauer direkt gezeigt – schlau ist sie, dachte Renée – sie hat dann gesagt, Karo wäre immer da hochgesprungen. Aber Karo hatte das noch nicht einmal getan. Wenn etwas geschehen war, das Papa ärgerte, dann erzählte Elisabeth es so, daß es sich ganz wohlgefällig ausnahm; und dann war so was doch eine Lüge. Eigentlich sicher – dachte Renée. Denn was war lügen? Wie kam es? Man tat es meist aus Angst. Aber dann dachten die Leute auch, man täte es, wenn man es gar nicht tat. Immer wenn sie Renée irgend etwas aufhalsten, was sie nicht schuld hatte, dann glaubten sie, daß Renée löge. Und wenn man sich verteidigte, dann schrieen sie: ‚Sie macht das Verbrechergesicht‘. Und es war doch bloß, weil sie Renée ungerecht beschuldigten. Und dann wurde doch jeder Mensch böse. Manchmal stellte sich Renée vor den Spiegel – sie wollte sehen, wie das aussah, was sie Verbrechergesicht nannten. Sie tat es lange und oft. Aber nur heimlich, wenn niemand dabei war. Denn sonst war es eitel. Wie sah sie aus: ihre Augen waren groß und rund, von graugrüner Farbe, hatten lange Wimpern und breite dunkle Brauen. Ihre Nase war ein wenig klein: ‚die kleine, dumme Nase‘, sagte Hannsbabo manchmal. In die Stirn fiel ihr eine Strähne Haar. Das gefiel Renée. Wenn nur ihr Haar ein bißchen lockig wäre wie das von Fly, wenn es nicht so ganz hart und grob wäre. – Im Winter kam Renée in die Schule. Man brauchte sich doch gar nicht weiter zu fürchten vor der Schule. Die andern wußten auch nicht viel mehr als Renée. Und die Lehrerin schimpfte abwechselnd, so daß sie schließlich die Reihe herum kam. Sie sagte: „Setz nicht immer ein so impertinentes Gesicht auf, Renée von Catte.“ „Das tu ich gar nicht“ Die Lehrerin schrie: „Du tust es wohl, du tust es mit Absicht.“ Anscheinend ärgerte die Lehrerin sich recht. Natürlich konnte man nun oft das Gesicht machen, damit sie sich ärgerte. – Fly war da. Papa hatte sie eingeladen für den Winter. Fly war schon sehr erwachsen, und Renée fand, sie trug so affige Kleider, daß sie gar nicht mehr nett aussah. Und immerzu redete Fly von Männern. „Weißt du,“ sagte Fly, „mein Marinefähnrich ist goldig. Du müßtest ihn sehen. Übrigens sagt er, Hannsbabo hätte riesige Schulden, darum ginge er nach Amerika.“ Beinah kamen Renée die Tränen. Sie ärgerte sich. Wie dumm und empfindsam sie war. „Dein Fähnrich ist ein ganz alberner, grüner Bengel,“ schrie sie, „Hannsbabo war’s zu langweilig hier, und darum ist er fort nach Amerika. Du bist eine Gans.“ Fly sagte: „Gott, Renée du bist immer gleich so ausfallend.“ „Na ja, aber seitdem du für Männer schwärmst, quatschst du so viel,“ antwortete Renée. Fly lächelte. Renée aber beschloß, es wäre nun aus mit dieser Freundschaft. – Die Schule war fein. In den Stunden mit der Altmann war es gräßlich langweilig gewesen. Man hatte verschlafen nach dem Gekräh der Hähne gehört – und stundenlang war da diese trockene, quietschende Stimme von Fräulein von Altmann. Renée erinnerte sich so genau. In der Schule mußte man aufpassen, und außerdem konnte man schwätzen oder Zettel schreiben und sowas, wenn man nicht aufpassen wollte. Schlafen brauchte man deshalb noch lange nicht. In den Pausen gingen zwei und zwei zusammen herum, bis es klingelte. Aber erst stand Renée immer allein, denn sie genierte sich so. Aber mit einer wäre Renée gern gegangen. – Sie war blond und sah sehr stolz aus. Renée schwärmte für sie, so wenigstens nannten es die andern. Edelgard hielt sich ein wenig fern von den andern, aber sie war sehr geachtet und wurde immer zu Rate gezogen, wenn es irgend etwas gab. Wenn Renée zur Schule ging morgens, dann wartete sie immer an der Brücke: dort mußte Edel vorüber. Renée sah den Weg herunter, und wenn sie Edel kommen sah – wie leicht sie Edel erkannte – dann kam eine Unruhe über sie, und auch ihr Herz begann zu klopfen. Grade wie ‚schlechtes Gewissen‘ fühlte das sich an. – Und wenn sie Edel auf der Straße begegnete, dann war es auch so und eigentlich noch mehr, und Renée wurde dunkelrot und neigte den Kopf ganz tief beim Vorübergehen. – Was war das nun? Ob es dasselbe war wie mit Flys Marinefähnrich? Renée würde Fly einmal ausfragen. – Fly sagte: „Weißt du, ich nehm dich einfach mit, wo wir uns treffen.“ „Wo ihr euch trefft?“ Fly lachte überlegen. – „Allerdings. Aber dein Ehrenwort, daß du nicht petzt.“ „Nein, das tu ich bestimmt nicht.“ Fly sah sich vorsichtig um. – „Also morgen hab ich Kunstgeschichte im Museum. Da kommt er um zwei hin. Es fängt nämlich erst um drei an. Da merkt es doch kein Mensch. Man sieht nie jemand Bekannten im Museum.“ Sie fuhren zum Museum. Sie sollten zwar eigentlich gehen, weil es gesunder war, aber so sparte man Zeit. Renée ging hinter Fly her in das große Tor hinein. Ob nun Fly dies hatte, was vom Schwärmen kam – die Unruhe und das Klopfen? Fly ging seelenruhig auf den Marinefähnrich los, und der küßte Fly die Hand und überreichte ihr ein Veilchensträußchen. Und dabei wurde er dunkelrot. Fly wurde auch schließlich rot. Aber lange nicht so sehr. – Es war doch noch anders als mit Edel, fand Renée. Renée machte ein Gedicht. Es war in der französischen Stunde. Dort ging es am besten, denn Monsieur kümmerte sich nicht darum, was man tat. Das Gedicht fing an: ‚Die Sonne küßt dein goldenes Haar‘. Wenn man doch Edel einmal küssen könnte. O, wie schön das wäre. Am besten, ohne daß sie es merkte. Aber das ging nicht. Oder ob Renée Edel bitten konnte? Nein, nie konnte sie so etwas tun. – An den Abenden saß Renée am Fenster, sah den roten Schein vom Sonnenuntergang und dachte sich Geschichten aus. Meist kam Edel darin vor. Und es war irgend ein Unglück. Dann kam Renée und rettete Edel und mußte daran sterben. Sie konnte den ganzen Tag ihre Gedanken damit ausfüllen. Zu Haus war man Edel nicht sonderlich wohlgesinnt. Elisabeth sagte: „Dies ewige überspannte Gequatsch von der Edel.“ Papa schalt über das viele Auslaufen. Aber Renée ließ sich gar nicht davon abbringen. Bewahre! Wenn es ihr doch Freude machte! Sie stand früher auf morgens, und holte Edel ab zur Schule, und sie brachte Edel heim, und sprang schnell auf eine fahrende Elektrische, um zeitig zurückzukommen. Und es war ein sonderbar unruhiges Gefühl dabei. Weil es ein bißchen gefährlich war, auf fahrende Bahnen zu springen. Aber zu Haus merkte es niemand, und Gefahr war sehr gut, wenn man jemanden lieb hatte. Einmal stand Renée in der Garderobe und zog ihren Mantel an. Sie hörte hinter sich Edel sprechen. Renée stand ganz still. Edel also lud eine von den andern ein zum Sonntag um vier Uhr. Renée wartete. Dann trat Edel neben sie. „Willst du Sonntag um vier zu mir kommen?“ frug Edel. Renée nickte. Sie konnte nichts sagen. Sie konnte nicht – aber Edel schien auch nichts weiter zu erwarten. – Und nun ging es so langweilig langsam bis Sonntag. Bei Edel gab es sehr viel Kuchen und nachher Sekt. Es war furchtbar fein, fand Renée, denn Elisabeth gab immer bloß so was, was Kinderbowle hieß und gräßlich schmeckte. Nachher tanzten sie. Natürlich hätte Renée Edel gern aufgefordert. Aber sie konnte nur als Dame tanzen. Zu dumm. Aber auch das konnte sie eigentlich recht schlecht. Und sie genierte sich. So kam es, daß sie immer bloß herumstand. Dann kam Edel. Sie sagte: „Wollen wir tanzen?“ „Aber ich kann gar nicht.“ Edel sagte: „Ach, das wird schon gehen.“ Dann tanzten sie. Sie hörten ziemlich bald wieder auf. – Zu Hause sagte Renée: „Papa, ich möchte Tanzstunden haben.“ Papa murmelte irgend etwas, ob denn etwa der Blödsinn jetzt bereits losgehen solle. Elisabeth sagte: „Ach, Papachen, es wäre eigentlich sehr gut. Renée ist zu tollpatschig.“ Also erlaubte Papa. Seinetwegen könnten sie aufstellen, was sie wollten, – ihm sei die ganze Affäre zuwider. – Renée sehnte sich – vielleicht nach Hannsbabo – Der hatte immer mit ihr gesprochen wie mit einem erwachsenen Menschen. Er hatte nie gesagt: ‚Das verstehst du nicht!‘ Er hatte auch nie Französisch gesprochen, damit Renée es nicht verstände. Und Renée sehnte sich nach ihm. Sie dachte: wie taktlos sind immer die Erwachsenen gegen die Kinder. So unbedacht. Und solange man Kind war, fühlte man immer, daß man den Erwachsenen im Wege war bei ihren Dingen. Darum war man so einsam. Wenn sie doch einmal gut mit einem gesprochen hätten. Wenn Mama noch lebte, dachte Renée, sie hätte sicher gut mit mir gesprochen. Sie hätte gesagt: ‚Komm zu mir, meine kleine Renée‘, wenn Renée traurig war. Ja, so etwas hätte Mama dann wohl gesagt. – Wenn man ein Kind war, verteidigte einen niemand. Der Geographielehrer hatte gesagt, daß Renée gelogen hätte, und als sie es zu Hause erzählte, kümmerte sich niemand darum. Und sie hatte doch gesagt, sie würde es schon ihrem Papa sagen. Und Papa hatte sich gar nicht darum gekümmert. Die Tanzlehrerin hatte Renée einen ‚unabgeführten Jagdhund‘ genannt. Das war lange nicht so schlimm. Aber eigentlich mochte Renée nun nicht mehr. – Edel sollte in Pension kommen. Edel erzählte es Renée. „Es wäre doch fein, wenn du auch dahin kämest,“ sagte Edel. „Kannst du es nicht so drehen?“ „Ich werd schon. Ich möchte wahnsinnig gern.“ Edel sagte: „Soll ich mal meine Mutter zu euch schicken, daß sie’s der Elisabeth einredet?“ „Ach ja, Edel!“ „Na, bin ich gut, Renée?“ frug Edel, und sie sah Renée an, so ein bißchen schief von der Seite. „Ach, Edel, süß bist du.“ Renée murmelte noch was hinterher. Das sollte Edel nicht hören. Es war: „Ich hab dich gräßlich lieb.“ Renée quälte ihre Schwester den ganzen Tag. Sie wollte in Pension. Elisabeth sollte es Papa sagen. Renée würde furchtbar vernünftig werden in der Pension. Sie versprach die unausführbarsten Dinge. Sie arbeitete daran. Sie setzte alles ein. Wenn Papa sagte: „Renée ist noch so kindisch“, oder wenn Elisabeth Renées Unordnung tadelte, immer fuhr Renée heraus: „Ja, wenn ich in Pension wäre.“ Allmählich wurde es eine feste Redensart: In der Pension wird Renée ... So wurde es. Und dann endlich war es so weit. Eine alte, unangenehme Dame empfing Renée. Sie drückte Renée furchtbar die Hand und sagte: „Ich freue mich so, mein liebes Kind, daß dein verehrter Vater dich uns anvertraut hat.“ – Renée antwortete: „O ja.“ Die alte Dame hatte etwas Lähmendes. Wenn man eben aufgeregt über irgend etwas sprach, dann verstummten alle, sobald sie sichtbar wurde, man legte Messer und Gabel hin, wenn man merkte, daß sie einen ansah. Was war es? Renée frug Edel, und Edel meinte, solche Empfindungen hätte sie allerdings nicht, aber es sei eine widerwärtige, alte Katze. Und die englischen Mädel, die da waren sagten: ‚^Oh yes, that’s it!^‘ Aber vielleicht sagten sie es nur aus Höflichkeit. – Renée und Edel waren in einem Zimmer und zwischen ihnen stand das Bett einer Engländerin. Es war die einzige, die Deutsch konnte. Die anderen lernten es niemals. Renée mochte sie alle gern. Aber manche waren richtig schön. Manche waren so schön, daß man sie ganz lange ansah: Aber keine hatte so dichtes, goldenes Haar wie Edel. Nein, natürlich nicht. Gar noch nicht lange war Renée da. Da bemerkte sie etwas sehr Ungewohntes. Es war dies: die anderen hatten sie gern – sehr gern. Und Renée erfuhr es so: Als sie eine Woche da war, hatte die Lehrerin sie gescholten. Renée machte ein böses Gesicht natürlich. Alle sahen es. Die Lehrerin sagte: „Ich verbitte mir das Gesichterschneiden, wenn ich dir eine Rüge erteile.“ Renée sah sie noch böser an und sagte: „Ich schneide nicht Gesichter.“ Auf einmal hörte sie die anderen murmeln und zustimmen. Die Lehrerin ignorierte das. – Renée war begeistert. Sie hatten ihr geholfen. Sie standen zu ihr. – Am Abend, als sie die Schulstube aufräumten, hielt Renée eine richtige Ansprache und dankte für den Beistand. Sie sagte: „Es ist anständig, wenn wir einander immer helfen und beistehen.“ Und die andern schrieen Beifall. Nach einer Woche wurde Renée zur Vorsteherin gerufen. Die Vorsteherin redete. Sie redete eine ganze Weile, ohne daß Renée richtig aufmerkte. Dann frug sie, ob Renée Süßes gegessen hätte, als sie schon zu Bett gegangen waren. Sie hatten natürlich. Wem die Süßigkeiten gehört hätten? Die Süßigkeiten hatten Edel und der Engländerin gehört. Renée hatte überhaupt nur ein Praliné gegessen. Die andern hatte sie aufbewahrt. Edel hatte drei Stück Kuchen gegessen und Alice sieben. „Es gehörte mir und Alice,“ antwortete Renée. „Ihr solltet euch schämen, solch eine Ungezogenheit,“ keifte die Vorsteherin, und schließlich schnappte ihre Stimme über. Renée durfte wieder gehen. Am Abend kamen alle zu ihr und bedauerten sie und küßten Renée zur Nacht. Es waren recht viele. Edel küßte Renée nicht. Und Renée hätte doch viel besser schlafen können. – Wieder war Renée heruntergerufen worden. Die Vorsteherin saß in einem winzigen rosa Sessel und redete und knüllte ein Papier in den Händen. Sie sagte, Renée verdürbe den Ton unter den Zöglingen und die Disziplin, und sie sagte, daß Renée die Herrschaft an sich risse. Renée hörte zu. Sie hörte alles, was sie getan haben sollte, ohne sich darum zu kümmern. Es war ihr auch nachher, als hätte sie es gar nicht gehört. – Sie dachte an Edel. Die Vorsteherin hatte gesagt, nun müsse Edel sorgen, daß Renée und Alice nicht mehr diese häßlichen Heimlichkeiten trieben. Das hatte sie gesagt. Und Edel hatte geschwiegen. Und daran dachte Renée. Am Abend entstand ein großer Aufruhr. Die allerbesten und allerbravsten, die genau so sanft waren, wie es die Vorsteherin von ihnen erwartete, wurden ganz wild und böse. Und eine sagte: sie wollten heruntergehen und für Renée eintreten und Renée reinwaschen. Renée sagte: „Geht lieber nicht, jetzt ist sie zu giftig.“ – Und Edel hatte nicht gehen wollen, um für Renée zu sprechen. – Es kam ein Brief mit einer amerikanischen Marke, Hannsbabo schrieb: ‚Liebe, kleine Schwester! Hannsbabo hat sich verlobt mit einer sehr schönen und eleganten Amerikanerin, die bald mit ihm zu Euch hinüberkommt. Sie heißt Sarah Mc Lean und grüßt Renée, von der ich ihr viel erzählt habe. Schönen Gruß, lieber Bub Renée.‘ – Wie gute Briefe konnte Hannsbabo schreiben. Gerad so, als ob er da wäre. Gerad so – und Renée schrieb ihm einen langen und umständlichen Glückwunschbrief und Grüße für Sarah. – In Wahrheit war sie traurig; denn nun würde Hannsbabo sich gewiß nicht mehr um sie kümmern, wo er eine Frau bekam. Und er hatte die andere Frau auf der Photographie doch nicht so lieb, wie Renée geglaubt hatte. – Ostern kam Renée aus der Pension. Die Trennung war gar nicht so schlimm, wie Renée dachte. Denn nun freute man sich doch, daß man erwachsen war und tun konnte, was man wollte, und daß es ein Ende hatte mit dem Herumkommandiertwerden. Nur von Edel fortgehn, war ein wenig schwer. Es war ein besonderes Leid dabei und eine Bitterkeit. – Zu Haus war ein Zimmer für sie allein gerichtet worden. Der Garten war noch sehr öde, und Renée fühlte sich allein, weil es niemanden gab, dem sie hätte erzählen können. Sie fühlte dies ‚Erwachsensein‘, auf das man sich so freute, als etwas Fremdes und Lästiges. Und fremd waren ihr die umgeräumten Zimmer, in denen sie auf einmal wohnen sollte. Und dies: sie sah diejenigen, die ihr früher Autorität gewesen waren, anders an. Sie hatte etwas Revolutionäres mitgebracht. Elisabeth war enttäuscht, in der heimkehrenden kleinen Schwester einen Menschen mit eignem Wollen und eignen Gedanken zu entdecken; der konnte wohl möglich mehr vom Leben verlangen, als es Elisabeth recht war. Und darum machte Renées Auftreten ihre Schwester mißtrauisch. Papa war, wie er immer gewesen. Er kümmerte sich nicht um die Entwicklungsphasen seiner Töchter. Ihre Anpassung an seinen Willen, der sich in ‚ich wünsche, daß ...‘ ausdrückte, schien ihm selbstverständlich. Einmal hatte Renée doch ein Gespräch mit Papa. Ein richtiges Gespräch, wo beide Teile Ansichten äußerten. Nicht bloß Papa. – Renée wollte nicht zum Abendmahl am Karfreitag. Sie hatte es lange bedacht. Und dachte, ich kann es nicht. Papa suchte sie umzustimmen. Er wanderte im Zimmer hin und her, die Hände auf dem Rücken, und zuweilen blieb er am Fenster stehen mit dem Rücken gegen das Zimmer. Renée saß auf einer Sessellehne. „Es frägt ja niemand, was du dir denkst,“ sagte Papa. „Es gibt eben gewisse Verpflichtungen, denen man nachzukommen hat, und ein junges Mädchen aus unseren Kreisen muß soviel Takt besitzen“ – Wieviel Takt Renée besitzen sollte, erfuhr sie leider nicht. Weiter sagte Papa, Renée müsse die kirchlichen Gebräuche mitmachen wegen der Leute im Dorf, die das eben erwarteten. „Wenn man die Vorzüge und Annehmlichkeiten einer Lebensstellung genießen will, so muß man auch die damit verbundenen Pflichten auf sich nehmen,“ fuhr Papa fort, „und ich hoffe, daß du fernerhin dein Leben mehr von diesem Standpunkte aus betrachten wirst.“ Renée sagte: „Ich will ja gar nicht die Vorzüge und Annehmlichkeiten deiner Lebensstellung genießen, Papa, ich werde mir –“ „Unsinn,“ donnerte Papa. „Das ist unreifes Zeug. Du bist eben hineingeboren in diese Lebensstellung und damit basta.“ – Renée versuchte es nochmals. Sie holte ganz tief Atem. Sie sagte: „Aber ich bin doch alt genug, Papa, und wenn es gegen mein Gewissen geht, wenn es mir doch eine Komödie ist und ich mich geniere –“ „Ich weiß nicht, Renée, du hast seit einiger Zeit eine so überspannte, aufgebauschte Art zu urteilen und zu reden. Ich wünschte, du kehrtest etwas zu deiner früheren, einfachen Ausdrucksweise zurück. Im übrigen wünsche ich –“ Papa betonte – „daß du an der Sache teilnimmst!“ – Renée ging hinaus. Während sie die Treppe hinaufstieg, ärgerte sie sich über sich selbst. Sie hatte wieder nicht den Mut, etwas gegen Papas Willen zu tun. Da war diese dumme Kinderfurcht. Und Renée war doch siebzehn Jahr. Was wurde aus dem Leben? Zog es sich so ohne Sinn in die Länge, eine nutzlose Reihe von Tagen, an denen man aufstand und schlafen ging? Wo immer alles ganz anders geschah, als man wußte und fühlte, daß es geschehen müsse. Und wo man feige dabeistand und mittat! – Die Tage im Herbst waren so lang. Manchmal noch fuhr Papa mit Renée in den Wald. Aber sie fand, daß wenig Spaß dabei war. Papa sprach kaum jemals ein Wort. Höchstens über den Pächter oder über Wachstum und Wildstand. Man hätte doch viel bessere Dinge mit Papa reden können, wenn er nur gewollt hätte. – Elisabeth begann sich mit Renée zu beschäftigen. Es fing an mit Auseinandersetzungen, wie man sich gegen die ‚Herren‘ zu benehmen hätte. Daß man einem jungen Herrn nicht gleich beim ersten Vorstellen die Hand entgegenstrecken dürfe. Daß man es vermeiden solle, irgendwo an Wänden, Ecken oder Pfeilern allein zu stehen. „Denn,“ sagte Elisabeth, „das fällt auf, und man muß das Auffallende vermeiden in jeder Hinsicht.“ Renée hätte ganz gern gehabt, wenn Elisabeth mitgegangen wäre auf die Bälle und vor allem zu Hof. Da traute sie sich nicht recht allein. Elisabeth wollte nicht. „Weißt du, es ist so dumm und geschmacklos, wenn man mit den viel jüngeren Leuten umherspringt unter all den grünen Gänsen und mit einstimmt in die Kalberei. Außerdem langweilt es mich. An den Festlichkeiten im Hause werde ich natürlich teilnehmen. Im übrigen“ – dies sagte Elisabeth mit einem etwas hämischen Lächeln, – „im übrigen wird ja Hannsbabo mit seiner jungen Gattin im Winter wieder beim Regiment sein, und du wirst dann an Sarah eine Stütze haben. Hoffentlich geben sie dir einen recht schönen Ball, da sie ja Geld genug besitzen –“ „Hat Sarah soviel Geld?“ Elisabeth lächelte wiederum. „Und ob,“ antwortete sie, „ihr Vater war irgend so ein Petroleumkönig. Weißt du,“ – Elisabeth lehnte sich erhaben in ihren Sessel zurück – „gerade sehr feudal, wie man sagt, ist ja diese Partie nicht. Freilich die Kröten kann Hannsbabo brauchen!“ Elisabeth war so recht im Fahrwasser. „Damals, ehe er rüberging, hätte er sich beinah hier festgenagelt. Er hatte da so eine Tingeltangeleuse beim Wickel, die er absolut heiraten wollte. Na, Papa hat ihm heimgeleuchtet, Gott sei Dank –“ Elisabeth lachte. „Wie komische Ausdrücke du hast,“ sagte Renée „Und außerdem war es eine Sängerin.“ „Das sind dann immer Sängerinnen, kennimus,“ antwortete Elisabeth überlegen. Elisabeth häkelte für arme Kinder. „Dreimal – viermal,“ zählte sie vor sich hin; dann: „Du, Renée, woher weißt du denn eigentlich davon?“ – „Oh nur wenig von Hannsbabo selbst. Und dann hörte ich Papa schelten damals. Du selber sagtest auch mal bei Tisch, es sei gut, daß Hannsbabo nun in Washington wäre.“ Elisabeth sah auf: „Was so ein Kind nicht alles aufschnappt.“ Renée mußte lachen. – „Ja, da hättet ihr euch eben mehr vorsehen müssen!“ – „Eigentlich warst du immer furchtbar schweigsam, Renée.“ „Mag sein.“ – „Und,“ fuhr Elisabeth fort mit einem kleinen, affektierten Lächeln, „mich konntest du, glaub ich, überhaupt nicht leiden?“ Renée wunderte sich. „Ach doch,“ sagte sie. Manchmal fing Elisabeth nun mit ihr Gespräche an. Renée mochte es nicht sehr gern, aber es war immerhin amüsanter als das schweigende Herumsitzen. Zuweilen kam Elisabeth auf das Heiratsthema. „Weißt du, Renée, man muß jung heiraten,“ sagte sie. „Sonst fügt die Frau sich nicht mehr ein. Am besten gleich von der Pension in die Ehe hinein. Das ist das beste.“ „Ich glaube doch, eine Frau könnte ein wenig älter und reifer sein, ehe sie heiratet.“ Elisabeth lachte wegwerfend. „Reifer – nein, das ist höchst überflüssig und kommt außerdem von selbst. Und zum Beispiel du. Du bist doch eben aus der Pension. Kommst du dir zu unreif vor zum Heiraten?“ Renée lachte: „Eine recht verfängliche Frage. Aber ich will gar nicht heiraten.“ „Na weißt du, das sagen alle.“ Renée fand solche Unterhaltungen langweilig. Sie wollte abschneiden. „Ich wüßte wirklich nicht, warum ich es sagen sollte. Es ist eben meine Ansicht.“ Eine Weile schwieg Elisabeth. Renée vertiefte sich in die ‚Natürliche Schöpfungsgeschichte.‘ – „Renée!“ – „Ja.“ – „Weißt du,“ sagte Elisabeth, „eine Frau braucht die Liebe. Du kannst das noch nicht so beurteilen. Und für eine anständige Frau ist eben ‚Liebe‘ gleichbedeutend mit ‚Ehe‘.“ – „Die bedauernswerte!“ sagte Renée. „Gott, Renée, was du immer redest.“ Renée bekam auf einmal eine sonderbare Bekennerlust. Und sie hörte selbst verwundert das nie noch ausgesprochene Bekenntnis. Sie sagte: „Heiraten. Ich möchte wohl. Denn ich glaube, das Wundervollste des Lebens ist dies Beisammensein zweier Menschen, die so viel Vertrauen ineinander haben, daß es wird wie ein Glauben, der Berge versetzen kann. Ich möchte – oh ja. Aber mit einer Frau möchte ich Freund sein –“ „Warum denn nicht mit einem Manne? Eben darin besteht doch die Ehe,“ sagte Elisabeth erregt. „Ach, tut sie das? Meinetwegen. Aber Männer sind unfein. Sie sind grobgeboren, sie können’s nicht ändern –“ „So,“ sagte Elisabeth höhnisch, „und der teure Hannsbabo?“ Renée zögerte, dann antwortete sie: „Hannsbabo ist nicht unfein. Nur etwas gedankenlos ist er.“ Elisabeth erhob sich zu ganzer Länge. „Herrgott,“ rief sie, „Renée, du kramst ja da einen schönen Unsinn aus. Laß das bloß nicht die Herren mal hören, sonst ist dein Ruf fertig und –“ „Du sollst mich in Ruh lassen, Elisabeth, hörst du, ich will gewiß nie wieder mit einer so plumpen Person von meinen Dingen reden.“ Elisabeth schimpfte. Renée lief hinaus und warf hinter sich krachend die Türe zu. „Dies unanständige Türenschmeißen!“ hörte sie Elisabeth hinterdrein rufen. – Renée lief in den Garten. Ekel war in ihr. Wie konnte – oh wie konnte sie ihre schönen und guten Hoffnungen dieser widerlichen Banalität preisgeben. So wenig konnte sie schweigen. Mußte alles ausschwatzen, damit ja einer es nehmen konnte und herunterreißen. Sie hatte einen namenlosen Widerwillen. – Elisabeth verhielt sich eine Woche lang feindlich. Teils unschuldig beleidigt, teils unschuldig beleidigend. Elisabeth umsorgte Papa mit besonderer Zärtlichkeit und frug in seiner Gegenwart mehrmals Renée, ob sie beim Johannisbeer-Auskernen helfen würde. Renée haßte Einmachen. – Auf der Veranda saß Elisabeth. Sie kernte Johannisbeeren aus mit einer Haarnadel. Neben ihr rechts stand eine Kiepe voll Beeren, links ein Topf, wo die ausgekernten hineinkamen. Renée setzte sich dazu und fing an. Man brauchte fünf Minuten für eine Beere. Am Schluß war von der Beere nur noch die Haut übrig. Sie warf es ärgerlich fort. „Ich begreife nicht, wie ihr ein so albernes Kompott machen könnt.“ Elisabeth steckte eine Beere in den Mund. „Wenn dein Vater wünscht, daß dieses Kompott bei den Exzellenzendiners gegeben wird, so wird das wohl nicht albern sein,“ sagte sie. Renée hatte Streitlust. „Red’ doch nicht so einfältig. Das ist doch Papa total einerlei. Und außerdem Exzellenzendiners“ – sie wiederholte das mit umständlicher Aussprache – „Als ob der olle Gagern und der olle Pressenthin nicht ebensogut Appelkompott essen könnten.“ – „Die Leute erwarten eben, daß es in einem vornehmen Hause etwas Anständiges zu essen gibt.“ Renée lachte. Sie sagte: „Na dann täuschen sie sich halt.“ – Elisabeth beharrte in Schweigen. – Im Laufe des Sommers gab es zwei Ereignisse: Der neue Landrat machte Besuch, und es kam eine Einladung zum Essen nach Waldburg. – Der neue Landrat fuhr eines Tages mit einem Schimmel-Tandem und einem rot lackierten Wagen vor, der mit rotem Leder ausgeschlagen war. Er bewies dadurch Eleganz und Wohlhabenheit. Renée wurde das Ereignis gewahr, als sie Elisabeth dröhnend ins Schlafzimmer laufen hörte, wo sie ihre Haare zu brennen begann. „Luise, meinen schwarzen Rock!“ tönte es durchs Haus. Renée weigerte sich hinunterzugehen. Der Besuch saß also mit Papa und Elisabeth auf der Veranda. Renée guckte ein bißchen aus dem Fenster heraus und hörte jemanden mit einer näselnden Stimme in abgerissenen Sätzen reden. „Jawohl, Herr General – ganz recht. Die Geselligkeit in unserem Kreis ist etwas – hm – latent.“ – Renée zog schnell den Kopf zurück und lachte ins Zimmer hinein. War das ein Scheusal! – Nach einer halben Stunde kam Elisabeth befriedigt herauf. „Herr von Horwitz ist ein angenehmer Mensch,“ sagte sie, „mit vornehmen, gediegenen Ansichten.“ „Gott segne ihn.“ antwortete Renée. – Den Herrn mit den gediegenen Ansichten traf man auf dem Diner in Waldburg. Dieses Diner war Renées ‚erstes Auftreten‘. Aber man nahm sie noch nicht ganz für voll. Sie hatte einen Tischnachbar von ausgesprochener Jugendlichkeit. Er war Student. Er befand sich im zweiten Semester. Er vertraute Renée an, daß er durchaus für das Frauenstudium eingenommen sei und daß er nur jeder Dame dringend dazu raten könne. Die männlichen Kommilitonen wären von zuvorkommendster Höflichkeit, und es sei doch auch sehr interessant. Renée hörte die Schwierigkeiten der Gymnasialbildung, und es sei eben ganz was anderes als diese löcherige Mädchenschulbildung, und Renée versprach ebenfalls Medizin zu studieren, wenn es dazu käme, und sich nicht durch hochmütige Vorurteile von Verwandten davon abhalten zu lassen. „Arzt sein, Menschenhelfer, das ist der einzige vornehme Beruf,“ sagte der Student. Er sagte: „Mein Gewissen würde nicht ruhn, wenn ich einen so unsozialen Beruf ergriffe, wie etwa den des Juristen oder des Theologen.“ – Renée wandte ein, von seinem Standpunkt aus habe auch der Theologe einen sozialen Beruf. Aber sie mußte hören, das sei – pardon, ohne ihr zu nahe zu treten – Unsinn. Der Student redete noch, als man von Tisch aufstand und redete weiter durch drei Zimmer hindurch. Renée dachte: Wenigstens viel gegessen hab ich, und er hat fast gar nichts gegessen. – Der Student bot ihr eine Zigarette an. „Der verehrten Kommilitonin ^in spe^,“ sagte er. Renée paffte lustig in die Luft. Die alte Gräfin Arnim schlich vorbei am Arm ihres Schwiegersohnes und wedelte sich mit dem Fächer den Rauch aus dem Gesicht. – Auf der Rückfahrt sagte Papa: „Renée, du hast dich, wie ich höre, höchst unmanierlich dort betragen. Ein junges Mädchen muß mehr Haltung besitzen. Merke dir das!“ – „Das Rauchen wünscht Papa auch nicht,“ sagte Elisabeth. Hannsbabo war gekommen mit der Schwägerin. Sie war von sehr zierlicher Gestalt, sie lächelte viel, während sie zum allgemeinen Entzücken ihr Kauderwelsch redete, und sie nannte Renée: ‚Darling‘. Es war ihrem Kommen schon allerhand vorangegangen: Elisabeth sagte: „Sie hat vier Koffer, schreibt Hannsbabo, das wird wohl die Ponykarre kaum schaffen.“ Und Elisabeth stand eine halbe Stunde dabei, als die Mädchen die Zimmer herrichteten. Außerdem waren ein Baumkuchen aus Salzwedel und mehrere Pakete aus Berlin angelangt. Ja, die Schwägerin nannte Renée: ‚Darling‘. Sie zog dabei den einen Mundwinkel schief und bekam ein Grübchen am Kinn. Hannsbabo war mit einer müden Dienstfertigkeit um sie herum. Sie empfing jeden seiner Dienste mit einem leisen, halb bedauernden ‚Oh‘ – meistens stand Hannsbabo an der Verandatür und trommelte gegen die Scheiben. Eigentlich waren alle Leute sonderbar, während die Schwägerin zu Besuch war. Papa sprach mit einer gemäßigten Stimme, so als habe er immer ein weinendes Kind zu beruhigen, und Elisabeth erzählte mit aufflammender Begeisterung von den Reizen der Hoffeste. „Ich tue das, damit sie die Vorteile ihrer Heirat sieht,“ erklärte sie Renée. Indessen hatte die Schwägerin nur geantwortet: „Wir werden ja sehn; wir werden diesen Winter den Hof besuchen.“ Überhaupt – nun, Elisabeth würde es nochmals probieren. Abends ging Renée mit Hannsbabo durch den Garten. Und als sie an das große, runde Rosenbeet gekommen waren, da sagte Renée: „Hannsbabo, liebst du Sarah?“ Hannsbabo wandte ihr einen kurzen Augenblick das Gesicht zu – dann lächelte er – dann legte er den Arm um ihre Schulter. „Du kleiner Bub Renée,“ sagte er. Renée schwieg. – Als sie den Weg an der Weinmauer zurückgingen, war es dämmrig, so dämmrig, daß man nur an ihrem Duft die Rosen spürte auf dem runden Beet. – Nach dem Abendbrot erfuhr Renée, daß die Schwägerin Elisabeth eingeladen habe nach Berlin, und sie würden im Bristol wohnen, und Elisabeth strahlte. Die Schwägerin sprach den Abend hindurch und lachte und nannte Papa einen schönen alten Herrn, während Hannsbabo in den Zimmern umherging und die Bilder betrachtete, die er doch von Kind auf kannte. In der Nacht dachte Renée vielerlei, und es fiel ihr ein, daß Hannsbabo ihr einmal die Photographie einer Frau in Pagenkleidern gezeigt hatte, und von dieser Frau träumte sie. – So war jener Besuch verlaufen. Renée hörte Papa bei Tisch sagen, daß Sarah eine reizende kleine Frau sei, und Renée erinnerte sich nicht, solcherlei oft von Papa gehört zu haben. Papa hatte das Lob der Nachbarn geerntet. Papa hatte Genaueres erfahren über Sarahs Gelder und deren Anlage. Papa war befriedigt. Im Herbst gab es die Vorbereitungen für den Winter, das Anprobieren, die Besuche, die Tanzstunden, und gegen den Dezember kamen Papa und Renée nach Berlin. Eigentlich ging eine ganz neue Art von Leben an. Beständig war in einer selbstverständlichen Art von Renée und ihren Bedürfnissen die Rede, und Renée sah sich als Mittelpunkt einer Anzahl von Geschäftigen; und während sie mit der undankbaren Gleichgültigkeit dessen, der nun endlich zu seinem Recht kommt, alles geschehen ließ, dachte sie an die schöne sonderbare Zukunft. – Renée ging mit Papa die Schloßtreppe hinauf. Vor ihr und hinter ihr stiegen Frauen mit glitzernden Kleidern von schwerem Stoff, und Männer, die sich kaum regen konnten vor Goldbesatz und Troddeln. Die Treppe war viermal so breit als gewöhnliche Treppen, und an jedem Absatz standen zwei haushohe Grenadiere, regungslos wie in Castans Panoptikum. Nebenher lief in ungeheuerlichen Windungen die steile Auffahrt, auf der des Kaisers Vorfahren, Gott mag wissen wie, mit achten heraufgefahren sind. Renée hielt sich eng an Papa, der die goldstrotzenden Männer begrüßte und ab und an einer von den Frauen die Hand küßte. Er tat, als ob er sie alle genau kennte, obgleich er gleich darauf Renée mit dem Ellbogen puffte und fragte, wer es gewesen sei. – Oben ging Papa hinter Renée her, und in einem großen Zimmer mit schwatzenden, jungen Mädchen trat er auf einen freundlichen, alten Herrn zu, dem der goldne Schlüssel auf dem linken Frackschoß klebte, und sagte, hier bringe er seine Tochter. Der alte Herr sagte: „Oh, sehr erfreut,“ und dann gab er Renée die Hand und teilte ihr mit, daß sie zwischen der Komtesse Itzenplitz und Fräulein Frida von Roeder zu gehen käme. Als Papa fort war, sagte der alte Herr, Renée solle sich ja nicht beunruhigen, es werde ja sicher alles tadellos gehen und er werde sich nachher erlauben, den Damen noch einige Winke zu geben – dann rief ihn ‚die Pflicht des Dienstes‘. So stand Renée allein in den Elisabethkammern, hielt die große Schleppe noch genau so, wie sie ihr zu Haus über den Arm gelegt worden war und betrachtete ihren Schleier und den ganzen sonderbaren Aufputz im Spiegel gegenüber. Man wartete ein bis zwei Stunden, währenddes gab der Kammerherr ihnen die Winke: nicht zu tief, weil sie sonst nicht wieder hoch kamen, und vor allem recht ruhig und mit einer gewissen Feierlichkeit. Von diesem Moment an sah man die Neu-Vorzustellenden würdevoll aufeinander zuschreiten und auf den Erdboden versinken. Sie erhoben sich mühsam. Ab und zu guckten ein paar Damen und Herren durch die Tür und betrachteten die ‚Neuen‘. – – Renée erwachte aus einem Halbschlaf, als das Schleppenende vor ihr sich in Bewegung setzte. Sie ging hinterher durch die Reihen der Pagen und Lakaien und behielt den rundlichen Rücken der Komtesse Itzenplitz fest im Auge. Dann riß man ihr die Schleppe vom Arm, die sorglich ausgebreitet wurde und von nun an wie ein wundervoller weißer Schweif hinter ihr drein kam. Im Rittersaal hob ein Kammerherr beschwichtigend und Einhalt gebietend die Hand, und Renée wartete ab, bis die rundliche Komtesse vor den Majestäten versunken und wieder erstanden war, worauf auch sie in würdevoller Haltung sich zum Thron begab. „Fräulein Renée von Catte,“ sagte die Oberhofmeisterin vernehmlich, und während Renée den viel probierten Knix ausführte, sah sie der Kaiserin, die freundlich lächelte, gerade ins Gesicht. Der Kaiser hatte mehr ein vorwurfsvoll freundliches Aussehen. So wie: ‚Warte du, draußen lacht ihr doch!‘ Draußen lachte Renée wirklich. Sie lachte durch die sieben oder acht Gemächer und rannte mit der wohlverpackten Schleppe, so schnell sie konnte. Draußen gab es Sekt und Büfett. Aber leider wollte Papa so schnell weg mit Renée. Sie konnte nur von weitem ihre schöne Schwägerin ansehen, die eine große Krone von Diamanten auf dem Kopfe trug. – Als Papa seine Mütze aufsetzte, sagte er: „Gott sei Dank, das wäre erledigt.“ – Bei Sarah sollte die erste Tanzstunde sein. Sarah wollte es Papa abnehmen. Diese Tanzstunden gingen die Reihe herum, und es war genau verabredet, was es zu essen geben würde. Damit man sich nicht aus Versehen übertrumpfte. Wenn die Tanzstunde bei Major von Cramer war, dann gab es stets acht Damen mehr als Herren. Ja. Dort gab es so wenig zu essen. Hingegen bei Sarah waren die Herren komplett und brachten noch Freunde mit. Denn Sarah machte einen großen Ball daraus. Bei Sarah ging es erst los, wenn es eigentlich aus war. – Renée bewunderte Sarah. Renée dachte: Sie ist ganz anders als die meisten Frauen, viel kleiner und so fein und so zart. Manchmal war es, daß Renée ganz böse wurde gegen ihren Bruder, weil er sich so wenig kümmerte um Sarah. Manchmal war sie ihm böse. – Also sehr prächtig war die erste Tanzstunde. Es kam dieselbe Lehrerin, die Renée einmal Jagdhund genannt hatte; sie war diesmal milde gegen Renée, und sie war böse und kampfbereit gegen die Herren, und manchmal stieg sie auf einen Stuhl, um sich verständlich zu machen. Renée tanzte mit einem von Hannsbabos Regiment. Er hieß Schoenburg. Er war mittelgroß und blond und hatte sanfte, stahlgraue Augen. Er gefiel Renée. Renée sagte, die Tanzlehrerin sei so grob. Aber er lachte und meinte, sie sei nicht so schlimm. Er sagte: „Sie ist so grundbrav. Man wird ihr gut darum. Man muß sie gern haben, wenn man ihr zusieht.“ Dann lächelte er. „Wir sind Freunde, Frau König und ich.“ – Einmal als Frau König gar nicht durchdringen konnte, drehte Schoenburg das Licht aus. Dann erschraken alle. Dann waren sie ruhig. Frau König sagte: „Ja Herr von Schoenburg, wenn ich Sie nicht hätte.“ – Das war hübsch. Das gefiel Renée. Der wurde einer von ihren ‚guten Freunden‘. Dann gab es noch zwei. Da war der kleine Wachenhusen. Er war von den Kasseler Husaren nach Berlin kommandiert und sein hellblauer Attila sah genau aus wie seine hellblauen Augen. Er war klein und fix und lustig, und am Ende jedes Balles sagte er zu Renée: „Wir bleiben doch gute Freunde!“ Einmal hatte Renée eine ganze Weile gestanden und hatte eine sehr schöne und sehr prächtige Frau angesehen, um die drei oder vier Herren herum waren. Die also sah Renée an, und da auf einmal kam der kleine Wachenhusen zu ihr. Er sagte: „Warum sehen Sie die Gräfin Lynar so viel an, gnädiges Fräulein?“ Renée wurde ein ganz wenig verlegen, dann sagte sie sehr bestürzt: „Glauben Sie, sie hat es gemerkt?“ Der Wachenhusen lachte: „Nein, aber ich habe es gemerkt!“ – „Sie gefällt mir so gut,“ sagte Renée. „Mir auch.“ – „Sie hat eine so sonderbar spielende Art zu sprechen,“ sagte Renée. „Ja, das hat sie.“ – Sie waren beide sehr einig über die Gräfin Lynar. – Manchmal stritten sie auch. Einer sagte: „Sie war viel schöner neulich bei Wedels, als sie das goldene Kleid hatte“ und der andere: „Nein, sie ist schöner in ganz matten Farben.“ – Renée fand es sehr lustig mit dem kleinen Wachenhusen. Der dritte gute Freund war Rodeck. Zuerst mochte Renée ihn nicht. Er hat eine zimperliche Art von Frauen zu reden, dachte Renée. Es ist immer, als wären sie von Glas. Und immer sollen sie ihren Fuß an keinen Stein stoßen. Wenn nun der Rodeck einmal verheiratet war, gewiß lief er dann immer mit Halstüchern hinter der Frau her. Hinter der unglücklichen Frau von Rodeck. – Also erst mochte Renée ihn nicht. Dann geschah einmal etwas: Rodeck hielt eine Ansprache. Rodeck sagte: „Mein gnädiges Fräulein, ich weiß nicht, wie ich es eigentlich wage, mich mit einer großen Bitte an gnädiges Fräulein zu wenden. Mit einer Bitte, die mir viel bedeutet. Seien Sie nicht böse, wenn ich Ihre Hilfe in Anspruch nehme, denken Sie nicht, ich sei unbescheiden – bitte, bitte!“ – Als die Ansprache so weit gediehen war, machte Rodeck eine Pause. Aber er sah Renée so gut und warm an, und seine putzigen, runden Augen hatten so etwas Geängstigtes, – Renée sagte: „Ja, ich will so gerne alles tun.“ Dann zog Rodeck mit beiden Händen seinen Waffenrock glatt und drehte seinen Hals ein paar Mal in dem hohen, mit Eichenlaub gestickten Kragen herum, dann sprach er weiter: „Es ist – ich habe die Ehre, wie gnädiges Fräulein wissen, am fünften bei Ihrer Frau Schwägerin und Ihrem Herrn Bruder zum Diner erscheinen zu dürfen, ja – und ich wollte sagen, ich meine, ich wollte fragen, ob die Tischordnung –“ Weiter kam die Ansprache nicht. Es kam kein Ton mehr. Und Rodecks Augen waren nahezu am Herausfallen vor Geängstetsein – Renée wurde auf einmal von einem Redetaumel ergriffen. Sie wüßte ja und sie verstünde ihn vollkommen und selbstverständlich wolle sie allen ihren Einfluß aufbieten – und während sie sprach, wurden die Augen ihr gegenüber wieder kleiner und selbstsicherer, und als sie schwieg, sahen die Augen sie lustig und verschmitzt an. „Ich möchte so gerne Fräulein von Treskow zu Tisch führen.“ – „Ich werde es zuverlässig besorgen,“ sagte Renée. Als sie nach Haus fuhr, küßte Rodeck ihr die Hand. – So lernte Renée den Herrn von Rodeck kennen. Am andern Morgen ging sie zu Sarah. Sie fand Sarah noch zu Bett unter lauter Spitzen und Schleifen. Ringsum lagen die Listen für das Diner. Renée wußte nicht recht, wie sie es anbringen sollte. – „Nun, Renée,“ sagte Sarah und streckte Renée ihre Hand mit den vielen bunten Ringen hin, „nun, Renée!“ „Hast du schon die Listen gemacht,“ frug Renée, „darf ich mal sehen?“ Sarah lachte: „Gewiß wolltest du irgend etwas Besonderes dabei, und was ist es denn?“ Dann gab Sarah ihr die Listen hinüber. „So, nun geh damit an den Tisch, ^darling^, und was dir anders besser gefällt, das änderst du –“ Renée sagte: „So gut bist du, Sarah.“ – Sie setzte sich an Hannsbabos großen Schreibtisch und malte die Tafeln auf ein Papier, daran wurden alle Namen geschrieben, so wie die Leute zu Tisch zu sitzen kamen. Und neben Fräulein von Treskow stand Rodecks Name. Renée hatte das Gefühl einer guten Tat. – Sarah öffnete ein wenig die Tür, steckte den Kopf herein und sagte: „Bist du noch da?“ Dann kam sie. Ein Gewirr von Seide war um sie herum und ein starker Duft von Vervein. Sie setzte sich in den großen Ledersessel neben dem Rauchtisch. „Nun, ^darling^, wen hast du zu Tisch?“ – „Schoenburg.“ – „Oh ich weiß, das ist der mit den Stahlaugen von Dohnas Schwadron. – Ist es schön, jung zu sein, Renée?“ „Das weißt du doch ebensogut!“ – Sarah nahm aus dem kleinen goldnen Kasten eine Zigarette und bot Renée an, dann lachte sie: „Meinst du, ich weiß es? Nein. Ich war viel zu sozial, um jung zu sein.“ „Was tatest du denn?“ – „Ach so langweilige ‚Women-Klubs‘ und ‚Women Kongregations‘ und dergleichen. Ich mag Amerika nicht. Ich mag lieber Europa.“ Renée staunte. „Aber dort ist’s doch viel freier und selbständiger für Frauen.“ Sarah sagte: „Ich liebe nicht die Selbständigkeit.“ Sie kroch ganz tief in eine Ecke des großen Sessels. „Es ist langweilig, frei zu sein.“ – „Ach,“ machte Renée. „Ja, es ist langweilig. Es ist keinerlei Sensation oder Gefahr dabei.“ – „Aber Sensationen sind etwas Abscheuliches,“ sagte Renée. Sarah sprang auf aus dem tiefen Sessel mit einem einzigen, elastischen Sprung. „Ich lebe nur in der Sensation,“ sagte sie. „Huh, machst du große, entsetzte Augen, Renée! Ist das so schlimm?“ Renée mußte lachen. „Nein, nur neu – und ich denke, was wohl Elisabeth sagen würde –“ „Plagt dich das,“ sagte Sarah. „Darum tät ich mich nicht kümmern. Du bist doch viel klüger als Elisabeth.“ Renée frug: „Glaubst du?“ – „Elisabeth ist eine Null auf zwei Beinen, eine altjüngferliche und aufgeblasene Person. Du Renée –“ „Was bin denn ich, sag doch,“ bettelte Renée. Sarah lachte: „^A silly little girl.^“ Draußen war Säbelgerassel. Dann flog die Tür auf, voran ein Rosenstrauß, dann Hannsbabo. „Wo bist du, ^Queen Mab^,“ rief er. Sarah ging ihm entgegen. Er sah Renée gar nicht. Er breitete seine Arme aus – Sarah bückte sich – da – huschte sie unter seinen Armen durch wie eine kleine, schnelle Katze. – „Sag doch Renée guten Tag, du grober Bruder,“ rief sie. Dann war sie aus der Tür. Er legte die Rosen beiseite und gab Renée die Hand. „Ich freue mich, daß du Sarah besuchst, kleiner Bub.“ Renée fuhr es so heraus: „Was hat denn Sarah?“ Dann erschrak sie und dachte: Wie taktlos frage ich. – Hannsbabo wandte ein wenig den Kopf zur Seite, er seufzte ganz leise, wie ein angestrengtes Atmen klang es. Dann sagte er: „Bleibst du nicht zu Tisch, Renée?“ – „Nein, ich danke dir, aber Papa –“ „Könnten wir denn nicht telephonieren?“ „Ach nein, Hannsbabo.“ – „Wenn es mir nun gerade sehr viel wert wäre?“ „Also gehe ich telephonieren,“ sagte Renée. Hannsbabo nickte. – – Als Renée wieder hereinkam, meldete der Diener das Essen. Im Eßzimmer kam ihnen Sarah entgegen in einem weißen Kleid. Sie legte Hannsbabos Rosen neben sich bei Tisch. Sarah sprach und erzählte, und auch Hannsbabo sprach, und immer, während sie gleichgültige Dinge redeten, sah Renée, wie ihres Bruders Augen schmerzlich an Sarah hingen. Und es quälte sie. – Der Ball, den Sarah und Hannsbabo gaben, sollte im Esplanade stattfinden. Zahllose Cousinen vom Lande waren gerade zufällig in Berlin und besuchten Sarah und wurden eingeladen. Zahllose Väter und Mütter teilten Renée mit, daß sie und ihre Töchter von Sarahs Liebreiz entzückt wären. Auch sie wurden eingeladen. – Man sprach von diesem Fest in der aufgeregtesten Weise. Der Kronprinz würde kommen, ebenso Erbprinz August. Prinzessin Sophie hatte ihr Erscheinen zugesagt – ja sogar der Kaiser würde möglicherweise – – Wenn man Sarah davon erzählte, amüsierte sie sich. „Sie sollen sich nur immer freuen,“ sagte sie. „Bei mir werden sie nicht mit Schellfisch und Truthahn abgefuttert.“ – Renée lachte: „Wieso Schellfisch und Truthahn?“ – „Ich habe hier fünfundzwanzig Bälle mitgemacht, und jedesmal gab es Schellfisch und Truthahn. Hast du es noch nicht gemerkt, Renée?“ – – Renée kam etwas vor der Zeit ins Esplanade. – Schon in der Garderobe, wo Sarahs Jungfer, ganz in Weiß, waltete, wurde Renée von zahllosen Schwarzgekleideten ehrfurchtsvoll empfangen. Die Jungfer, die von den anderen Bedienten ‚Miß Adelaide‘ genannt wurde, hängte Renées Cape in einen Schrank. „Die gnädige Frau haben es so befohlen für die Sachen der gnädigen Frau und des gnädigen Fräuleins,“ sagte sie. – Am Eingang zu den Empfangsräumen stand der Kammerdiener Joel Smith. Auch dieser verbeugte sich würdevoll. – Endlich war Renée drinnen. Es ging durch drei Räume, in deren zweitem Hannsbabo stand. An jeder Tür waren zwei Diener in Goldlivreen mit weißen Perücken. – „Ich habe Gott sei Dank keine weiße Perücke,“ sagte Hannsbabo. „Sarah will dir noch etwas Wichtiges mitteilen. Sarah sieht so schön aus, daß ich am liebsten die Leute ausladen möchte. Also geh zu Sarah. Ich möchte auch viel lieber. Aber Sarah sagt, daß es sich gehört, daß der Herr des Hauses im zweiten Zimmer steht und die Frau im vierten. Ich habe ferner den Auftrag, Damen von Distinktion am Arme hineinzuschleifen, da sich das auch gehört. Vom Herannahen prinzlicher Equipagen werde ich durch Telephon von einem im Hotel Bristol postierten Unteroffizier benachrichtigt.“ – „Herrgott,“ sagte Renée, „das ist ja wie eine Detektiv-Geschichte!“ – „Bitte – bitte, es gehört sich so. Und nun geh in den Saal und sieh selbst!“ – Im Vorzimmer war mattes Licht, und der Lichtglanz des Saales blendete Renée in die Augen. In der Tür in einem sonderbaren Helldunkel stand Sarah. Sie stand in dem metallenen Glanz ihres Kleides, das ganz mit Silber übergossen war in vielen kleinen Schuppen. – Sie hatte eine lange Perlenkette und eine Schulterkette von Smaragden. Sie trug eine Perle auf der Stirn, die hing an einem dünnen Faden von Silber. Renée stand und sah sie an. Ihre Schönheit war verwirrend – es war so prächtig alles – Renée sah, wie in Sarahs Gesicht ein kühles, schönes Lächeln kam. – Renée begrüßte ihre Schwägerin flüchtig und fing an, den Saal zu betrachten. Dann sagte sie: „Hannsbabo steht gar nicht so gern an der Tür, hat er gesagt.“ Sarah lachte: „O, er will immer alles mögliche.“ – Gäste kamen. Renée fand sich bald in einer vielstimmigen Unterhaltung – dann holte Schoenburg sie, weil die Prinzessin käme. Renée wurde vorgestellt. Die Prinzessin war gar nicht so langweilig, wie Renée erwartet hatte; sie sagte, daß Renées Schwägerin eine sehr schöne Frau sei und daß Renées Bruder so glücklich aussähe. Sie scherzte mit ihrer Hofdame und versicherte, sie könne jeden Abend mindestens zwanzig Namen behalten und Fräulein von Zitzewitz eben nur neun. Der Kronprinz gefiel Renée, aber Erbprinz August nicht. Wie sollte er! Er ging mit einem blasierten Gesicht herum und stand immerzu neben seinem Adjutanten. – Schoenburg sagte: „Nun kann ich gnädiges Fräulein nicht zu Tisch führen, der Erbprinz soll es!“ Renée ärgerte sich. „Ich möchte viel lieber den Kronprinzen,“ sagte sie. Schoenburg sah sie ingrimmig an. „So – ach,“ sagte er. „Ich meine doch natürlich lieber als den Erbprinzen –,“ aber das versöhnte Schoenburg nicht. „Der Kronprinz wird Ihre Frau Schwägerin führen. Wollen wir also den Blumenwalzer nehmen und den ersten Lancier.“ Er schrieb seinen Namen ein. Beim Essen saß Schoenburg auf der anderen Seite neben ihr. „Ich hab die Rosi Solms mit Harrach neben den Erbprinzen gesetzt,“ flüsterte er, „die werden ihn schon unterhalten.“ Es sprach sich gut mit Schoenburg. Er wußte von allen Dingen und er dachte gern nach. Manchmal wenn einer von beiden ein Buch gelesen hatte, das ihm gefiel, las es der andere auch, und sie sprachen davon. Nur liebte Schoenburg andere Bücher als Renée. Er liebte die ‚starke Frau von Gernheim‘, und er sagte, man müsse diese Frau anbeten. Er sagte: „Das ist wahre Größe.“ – „Aber ich mag es nicht, daß sie bei diesem Mann bleibt,“ sagte Renée. „Das soll eine Frau nicht tun.“ – „Aber sie tut es im Gedanken an eine Liebe, die größer war als sie selber. Sie tut es immer noch, obwohl diese Liebe vergangen ist. Sie hängt daran, weil es das Glück ihres Lebens ist.“ „Ja,“ sagte Renée, „wohl – dennoch! Sie sollte das Gedenken an diese Liebe nicht mehr in Verbindung bringen mit jenem Menschen, der sie gemein macht. Oh, ich glaube dieser Sache fehlt eben ein kleiner Zug der Größe, dieser: Das Gelebte loslösen können von der Realität, um es ganz zu eigen zu nehmen“ – „Sie sprechen das schön aus,“ sagte Schoenburg, „es ist auch wahr, was Sie sagen. Aber, Fräulein von Catte, ich kann nicht davon ab. Für mich liegt eine geradezu heilige Schönheit in diesem starken, schweigenden Verzichten.“ – „Und der Schmerz des Verzichtens?“ so frug Renée. – „Eben der,“ sagte Schoenburg, „bleibt verschwiegen. Darin liegt die Größe.“ „Nur Stärke liegt darin, Herr von Schoenburg.“ – „Gehen gnädiges Fräulein gern auf Bälle?“ ließ sich Erbprinz August vernehmen. – Renée konnte vor Schreck nichts antworten und sah verdutzt in des Erbprinzen fragendes Gesicht. „Dies ist mein dritter Ball ...“ flüsterte Schoenburg von hinten – beinahe hätte Renée es wirklich wiederholt. – „Ja, ich tanze sehr gern,“ sagte sie. Dieser Ball war schöner als die anderen. Es war alles viel prächtiger. Es gab viel mehr Licht. Es sah aus wie große Blumenbeete, die hin und her vom Wind bewegt wurden zuletzt. Dann sollten Hannsbabo und Sarah zusammen tanzen. Sie riefen es von allen Seiten, und auf einmal kam der Kommandierende auf Sarah zu, bot ihr den Arm und führte sie in die Mitte des Saales. „Oberleutnant von Catte,“ rief er dröhnend – dann stand Hannsbabo vor Sarah. Und er sah sie einen Augenblick an, und Sarah sah ihn an, dann lächelte sie – – Sie tanzten – Sarah mit ihrem sonderbar blassen Gesicht in dieser Wolke von Silber. Hannsbabo mit seiner schönen, stolzen Gestalt. In der rechten Hand über ihrer Schulter hielt er einen großen Busch roter Rosen und immer strichen die Rosen vorüber an Sarahs Gesicht. – Sie tanzten allein – rings im Kreise standen die Menschen und klatschten in die Hände – und auf einmal faßten die Herren sich an und rasten im Kreise mit wildem Hurrageschrei um die Tanzenden. – Renée drehte sich alles vor den Augen – irgend ein wahnsinniges Bild von Tod kam ihr; von einem atemlosen Tod, der – sie hörte einen sonderbaren Laut neben sich. Schoenburg durchbrach die Kette der Tanzenden – es hörte auf – sie bliesen das Halalila. Renée sah ihren Bruder mit Schoenburg hinausgehen. Schoenburg stützte ihn. – Renée sah sich um. Keiner schien es bemerkt zu haben, oder keiner wollte es bemerken – Sie ging Hannsbabo nach. – Er lag auf dem Sofa in einem der Nebenräume. Schoenburg ließ Renée herein. „Bitte nicht Frau von Catte zu rufen,“ flüsterte er. Renée blieb allein mit Hannsbabo. Sie streichelte seine Hände, die waren ganz kalt. Sein Gesicht brannte in einem dunklen Rot. Er atmete überhastet. – „Lieber Hannsbabo.“ Er begann zu sprechen: „Renée, sag es keinem Menschen, versprich mir, auch ihr nicht“ – dann: „Sie hat es gewußt. Sie hat es so genau gewußt.“ Renée verstand ihn nicht. Renée frug, was meinte er denn, was war es? Aber er sagte nichts. Er schickte Renée fort – aber sie wollte nicht gehn. – „Hannsbabo, hab ein bißchen Vertrauen, sag es mir!“ – Er sah so sonderbar ins Leere – oh, sein Gesicht anzusehen machte trauriger als traurig. – Er sagte: „Ich liebe sie so sehr, daß es mir eine Qual ist, ihr nah zu sein –“ Weiter sagte Hannsbabo nichts. Renée ging. Nach kurzer Zeit sah sie ihn wieder im Saal. Sarah nahm die Abschiedscour entgegen. Hinter ihr standen Graf Solms und der kleine Schulenburg, bewaffnet mit Sarahs Blumensträußen. Hinter Renée zählten zwei junge Mädchen ihre Buketts aus. „Ich habe doch zwanzig,“ hörte Renée. „Lida Arnim hat bloß dreizehn!“ „Da sieh mal, Frau von Catte.“ – „Na ja die!“ – – Was sind es doch für Gänse! dachte Renée. „Am Sonntag wird Herr von Horwitz mit uns essen,“ sagte Papa. „Ich erwarte, daß du etwas liebenswürdiger sein wirst als sonst, Renée. Ich schätze Herrn von Horwitz durchaus.“ – „Ich habe gar nichts gegen ihn. Er ist nur so komisch, Papa.“ – „Es wäre Zeit, diese Kindereien aufzugeben,“ sagte Papa gereizt. – Am Sonntag kam Herr von Horwitz. Es gab Sekt, es gab Austern, auf dem Tisch waren Blumen. Elisabeth war in einem hellila Kleid mit Spitzen. Das hatte doch irgend etwas zu bedeuten. Renée merkte bald, was es zu bedeuten hatte. Herr von Horwitz trat mit einem Maiglockenstrauß an und küßte mit ernster Devotion Elisabeths Hand. Er nannte sie: ‚Verehrtes, liebes gnädiges Fräulein‘. Also so weit war es schon. Fast kam Herr von Horwitz Renée noch komischer vor als vordem, sie hätte ihm beinahe ins Gesicht gelacht. Auch der Gedanke, daß Elisabeth extra für ihn das hellila angezogen hatte, war so unausbleiblich komisch. – „Das Landratsamt wird nämlich jetzt ausgebaut,“ sagte Herr von Horwitz – „und der Kreisbauinspektor meinte, im Juni würde der Anbau beziehbar sein.“ – Über Elisabeths Gesicht ging eine flüchtige Röte, dann sah sie heimlich so von der Seite zu Renée hinüber. – Nach dem Essen ging Renée in ihr Zimmer. Sie setzte sich ans Fenster, da wo man die ganze endlose Straße hinuntersehen konnte. Da kamen aus der linken Seitenstraße die vielen Straßenbahnen und ratterten um die Ecke. Im Sommer, wenn der Asphalt trocken war, taten sie das mit einem gellenden Stöhnen. Im Winter klirrte es vom Frost. – Wenn Renée vorm Schreibtisch saß, sah sie alles, was auf der Straße geschah. Sah die Menschen, die aufgeputzt in den Tiergarten zogen, und die Bahnen und Droschken, die vollgestopft dem Kurfürstendamm und dem Grunewald zurollten. Der Grunewald – Renée dachte an die Seen, die stillen – und besonders an den mit dem Jagdschloß. – – Ganz leise öffnete jemand die Tür. – „Wie geht’s, kleiner Bub?“ – „Hannsbabo du?“ – „Ja,“ sagte Hannsbabo, „so sehr wunderst du dich? Ich hab den Dogcart unten und wollte dich ein bißchen abholen. Magst?“ – „Ob ich mag. Fahren wir nach dem Grunewald, bitte, bitte.“ Er lachte: „Wohin denn sonst, kleiner Bub?“ – Renée erzählte, daß sie gerade an das Jagdschloß gedacht hätte. „Also fahren wir dahin,“ sagte Hannsbabo. – Auf dem Kurfürstendamm war es kaum zum Durchkommen. Hannsbabo mußte seinen Fuchs mehrmals scharf zurückhalten, auf der Halenseer Brücke stand man fünf Minuten. – In Hundekehle spannte der Groom aus. Renée und Hannsbabo bogen links ab. – „Wo ist Sarah?“ frug Renée. – „Sie hat Teebesuch von einer Landsmännin. Und sie fährt nicht gern mit Pferden. Es geht ihr zu langsam. Es ist ein dummer Zeitverlust mit Pferden – sagt Sarah. Auto ist besser. Kennst du Sarahs Auto? Es ist grün mit Silber.“ Renée kannte es noch nicht. Aber ob sie nicht lernen dürfe es zu lenken? So gern wollte sie das. Hannsbabo lachte. „Wie das den Frauen im Blut steckt. Ich glaube, Sarah tut nichts lieber. – Sarah hat einmal das Chauffeurexamen gemacht, und seit wir in Deutschland sind, hatte sie schon fünf Strafmandate wegen zu schnellen Fahrens.“ – „Daß sie das kann.“ Er sah Renée erstaunt an. – „Warum?“ – „Sie sieht so zart aus und so weich.“ „Sie ist stärker als wir beide zusammen, kleiner Bub Renée. Bei ihr ist Gefahr eine Leidenschaft. Es reißt sie fort. Es wirft alle anderen Dinge in ihr um.“ – „Physische Gefahr?“ – „Jede Gefahr, auch psychische,“ sagte Hannsbabo. – Er stieß einen kleinen Stein mit dem Fuß vor sich her während dem Gehen – manchmal blieb er unvermittelt stehen. – Renée sah Blässe und Röte jäh wechseln auf seinem Gesicht. Sie setzte sich an den Waldrand. – „Bist du müde, Hannsbabo?“ – Er streichelte Renées Hand. – „Bist du krank?“ frug Renée – „Nein, nein. Es ist nur, nur manchmal ermüde ich plötzlich. Das ist ein vorübergehender Schwächezustand. Hinterher bin ich ganz wie sonst, das überfällt mich so manchmal.“ – „Warum gehst du nicht mal auf Urlaub, damit du dich erholen kannst, Hannsbabo?“ „Sarah mag nicht.“ – „Ohne Sarah dann,“ sagte Renée. – „Oh – ohne Sarah.“ – – – – Hannsbabo legte das Gesicht in die Hände. „Ich kann nicht von ihr fort,“ sagte er. „Hannsbabo, warum bist du nicht glücklich?“ Er nahm Renées Hand und hielt sie fest. „Es ist gut, daß du mich einmal fragst, Renée, denn ich glaube, ich müßte ersticken, wenn ich es nie jemandem sagen könnte.“ – Immer wieder streichelte Renée seine Hand. – Er sagte: „Ich liebe Sarah! Siehst du, Renée, ich kann nicht ohne sie sein. Ich bin ganz ohne Gefühl und ohne Interesse für alles andere. Und Sarah – Sarah hat mich gern. Sie hat es gern, daß ich um sie bin und ihr alles tue. Sie sucht mich nicht. Und ich suche sie den ganzen Tag.“ – – „Aber Sarah liebt dich doch, Hannsbabo.“ Renées Bruder legte sich nieder auf den Waldboden und schloß die Augen – so lag er die ganze Zeit, während er weitersprach, und ein Lächeln, das einen sehr schmerzlichen Zug hatte, kam auf sein Gesicht. „Damals als wir uns verlobten, war es noch nicht so. – Erst dachte ich, es müßte ganz gut sein in einem gleichgültig ruhigen Zusammenleben; sie geht ihre Wege und ich meine. Dann – wollte ich mit ihre Wege gehn – das ließ sie zu. Dann wollte ich sie an mich nehmen zu mir – das ließ sie nicht zu, – nein das nicht!“ „Vielleicht muß sie mehr Zeit haben dazu,“ sagte Renée. Er lachte. Ein böses und hoffnungsloses Lachen: „Es wird nie anders sein. Und wenn ich ihr Zeit ließe bis in die letzte Stunde meines Lebens.“ – Er sprang auf. – „Da wird immer diese Distance sein, kleiner Bub, die, an der ich mich kurz und klein reibe. – Laß uns zurückgehn, Renée.“ – Renée konnte nicht vergessen, was Hannsbabo gesagt hatte. Nicht bei der Heimfahrt und nicht zu Haus beim Abendessen und in der Nacht auch nicht. Sie lag diese Nacht lange, ehe sie einschlief, und dachte, was sie tun könnte, um Hannsbabo zu helfen. Und wie sie über ihn nachdachte, dann wußte sie es, daß er müde war und krank und daß er einen brauchte, der ihm half. Dann verfolgten ihre Gedanken ihn in allen seinen Worten und seinen Gebärden von dem Augenblick an, da sie ihn wiedergesehen hatte in Groß-Gehren, als er Sarah brachte, und sie dachte: damals ging er immer umher und sah die alten Bilder an in den Zimmern. – Am Morgen war Papa böse, denn Renée wäre so lange weggeblieben, und nun hätte er die ganze Zeit sich dazu setzen müssen. – „Aber Papa – Elisabeth ist doch alt genug.“ – „Unsinn,“ sagte Papa, „es gehört sich so.“ – Elisabeth aber kam zu Renée. Elisabeth schloß ihre Schwester in die Arme und sagte mit sanft melancholischer Stimme: „Ich möchte, daß du teilnimmst an meiner Freude, Renéechen, ich habe mich gestern abend verlobt!“ – Renée sagte: „Ach.“ Dann erschrak sie recht, und gleich darauf hörte sie sich eine wohlgesetzte Glückwunschrede halten. – Nun kam immerzu Viktor, so hieß der Landrat. – Es gab seine Leibgerichte, er wurde mit Sekt bewirtet. Viktors Ansichten wurden proklamiert. Man hörte ein ewiges: ‚Viktor meint, Viktor findet‘ – im Haus. Papa ignorierte das und hielt sich in seinem Zimmer. – Renée wurde mitgeschleppt auf allen Spaziergängen und Einkäufen. In die Ausstellungen mußte Renée, in den Zoo, ins Theater. Und immer sah sie eine sanft strahlende Elisabeth neben sich und Viktor mit den hellgelben Glacés. Sarah hatte für den neuen Schwager keine Sympathieen. Sarah sagte: „Er ist ein unausstehlicher Mensch. Wenn ich schon den geölten Scheitel sehe.“ – Aber es sollte ein Besuch gemacht werden bei Sarah, und Renée war vorher abgesandt. – Renée sollte Sarah freundlich stimmen. Renée sollte sagen, wie herrlich Viktor wäre und daß Elisabeth ihn so liebe und daß Viktor sehr wohlhabend und gut angeschrieben wäre. So war es Renée aufgetragen worden. – „Es muß aber doch ein fürchterlicher Tropf sein,“ sagte Sarah, „wenn er Elisabeth heiratet. Ich begreife es nicht. Elisabeth ist eine so widerlich knöcherne Person.“ „Laß sie doch gehn,“ sagte Renée, „sie hat dir doch nichts getan.“ – „Ich werde wohl meine Ansicht äußern können. Du wirst mir gar nicht so in die Rede fallen,“ sagte Sarah geärgert. „Du bist sehr ungezogen.“ – Elisabeth wurde auf das Sofa gesetzt, Viktor kam auf einen Klaviersessel ohne Lehne. Dann lehnte sich Sarah in einen großen Ledersessel und betrachtete den auf dem Klavierpuff. Sie betrachtete ihn ungeniert und lächelte ein wenig dazu. – Viktor – ja, unbegreiflicherweise war es so – Viktor fühlte sich dadurch ermuntert zum Reden und erzählte, daß das Landratsamt bald beziehbar sei. Nach einer Viertelstunde erhob sich Sarah. Sie wollte von Hannsbabos Schreibtisch einen türkischen Dolch zeigen. Als sie an Renée vorüberkam, neigte sie ein klein wenig den Kopf zu Renée hinüber: „Schaff diese Leute weg,“ sagte sie. – Als Papa und Elisabeth nach Groß-Gehren gingen, durfte Renée noch in Berlin bleiben. Sie kam zu Hannsbabo und Sarah. – Einmal nach dem Essen, als sie Kaffee tranken in Hannsbabos Zimmer, sagte Sarah: „Renée, was würdest du sagen, wenn wir ein schönes Schloß kauften?“ – „Hannsbabo bekommt doch Groß-Gehren,“ antwortete Renée. Sarah lachte: „Ach, das ist ein altes, unelegantes Ding – nein – ich meine ein feudales, großes Schloß mit Park und Teichen und weiten Rasenflächen.“ – „Eigentlich wäre das schön.“ – Sarah tippte mit einem Finger auf Hannsbabos Ärmel. „Siehst du, ^my boy^ – siehst du, Renée tut mit. Es ist viel schöner als das dumme Leutnant-sein.“ – „Sarah behauptet, es ist dumm, ‚Leutnant-sein‘,“ sagte Hannsbabo, er rückte seinen Stuhl näher an den Sarahs – „und bitte, ist es auch dumm, ‚Rittmeister-sein‘?“ Sarah lachte: „O, es ist überhaupt lächerlich, wenn ein gutsituierter Mann Offizier ist. Wenn er aus einer guten Familie ist. Was gewinnt er denn etwa? Irgend ein schnauzbärtiger alter Herr läuft herum und hat einem zu befehlen. O, derselbe alte Herr wird von Wachs und Honig sein, wenn er eingeladen wird bei uns Hirsche schießen auf dem Schloß.“ – „Sie kennt die Verhältnisse,“ sagte Hannsbabo lachend. „Man kann ihr nichts vormachen, Renée.“ – Sarah holte einen Packen Briefe aus dem Schreibtisch: „Hier ist das Schloß, was man kaufen muß,“ sagte sie. „Das wird Hannsbabos Flügel und das meiner, und da kommen die Gäste hin.“ – „In ein Schloß mit Flügeln gehe ich überhaupt nicht.“ – „Du gehst mit, wo ich gehe,“ sagte Sarah, „denn es stehet geschrieben, der Mann wird Vater und Mutter verlassen und seinem Weibe anhangen.“ – „Ja,“ sagte Hannsbabo, „das ist ein sehr schöner Spruch.“ – – Es war so hübsch, bei Hannsbabo zu sein. Sie hatten immer etwas vor, Gäste oder Theater oder Grunewaldfahrten. Dann kam man spät nach Haus mit dem Auto über den stillen Kurfürstendamm. Abends – wie waren die Seen so schön. Bei Mond, der dann als eine silberne, zitternde Säule auf dem Wasser war – oder auch bei dunklen Nächten, wenn zerrissene Wolken über dem Wasser hingen – und plötzlich brach das Licht des Mondes durch ihre Schwärze. Die Kiefern standen wie ein undurchdringliches Dunkel zwischen Wasser und Himmel. – Schön war es bei Hannsbabo. Renée durfte sich einladen, wen sie wollte. Renée durfte ein Abendessen geben nach dem Tennis. – Nun saßen sie bei der Bowle auf der großen Veranda. – Hannsbabo ging mit Renée im Garten. Da war Halbdunkel – so richtig gut zum Reden, und Hannsbabo sagte: „Wenn du einmal einen Menschen liebst, Renée, dann mußt du an mich denken, an heute abend. Du sollst es gut haben, kleiner Bub. Ganz eins werden mit ihm, so daß man alles gemeinsam fühlt, so daß es nie mehr eine Einsamkeit gibt.“ – „Hannsbabo, denkst du niemals an das kleine Bild, das du mir einmal zeigtest?“ – Er lächelte, schüttelte den Kopf. „Nein, Renée, ich glaube nicht. – Ich habe diese einmal tanzen sehn, als ich in Paris war mit Sarah.“ „Wußte Sarah davon?“ – „Ich hab es ihr erzählt, als wir sie sahen,“ antwortete Hannsbabo. – „Aber was sagte Sarah?“ Er wandte sich um nach der erhellten Veranda, wo die Leute lachten und schwatzten, und stand eine Weile schweigend. – „Ich höre ihre Stimme nicht,“ sagte er. – – „Wie kann man das in dem Lärm,“ sagte Renée. „Auch du wirst einmal unter vielen eine Stimme unterscheiden lernen, kleiner Bub.“ – Sie gingen weiter. – „Was Sarah tat? O, sie tat mir eine Freude. Sie sagte: ‚Wenn du noch einmal dieses bunte Etwas mit dem Glas ansiehst, so fahre ich sofort zurück nach Washington.‘ – ‚Wie kann es schaden, wenn ich sie ansehe, da Sarah neben mir sitzt‘, sagte ich. Darauf sie: ‚Du bist ein Schwätzer.‘ – O, Sarah wußte ganz gut.“ – – Renée sagte: „Wenn es so war, dann liebt dich Sarah doch, warum glaubst du es nicht, Hannsbabo?“ – „Nein. Das ist kein Beweis. Das ist, weil eine Frau ihren Mann eben als Besitz betrachtet. – Sarah liebt überhaupt nicht. Sarah sieht nicht ein wozu. Es macht ihr kein Vergnügen.“ – Sie gingen weiter. „Ich höre sie,“ sagte Hannsbabo. Sarah rief ihn im Garten. Sarah kam zu ihm – sie lehnte sich an ihn und wandte ihr Gesicht gegen den Himmel, sie sagte: „Eben hatte ich ein wenig Furcht ohne dich.“ – Es war eine sanfte, warme Nacht. – Über der Gartenmauer standen die schimmernden Kerzen der Kastanien. – Der ganze Sommer war eine Vorbereitung von Elisabeths Hochzeit. Der ganze Sommer war ein unablässiges Durcheinander von Geschäftskatalogen und ankommenden Paketen. Elisabeth probierte Hemden mit Spitzeneinsätzen und band Dutzende von Tischwäsche in blaue Bändchen. – Die Pferde waren fortwährend auf dem Weg zum Landratsamt. Außerdem bemerkte Renée etwas Sonderbares: Einige Dinge, die bisher immer auf bestimmten Schränken, Kommoden und Tischen gestanden hatten, waren verschwunden. Und man hätte diese Gegenstände doch im Schlaf auf eben dieser Stelle gesucht. – „Du mußt irgend eine Aufführung in die Wege leiten,“ sagte Papa, „es ist so Sitte, und außerdem füllt es den Tag aus.“ – „Aber was denn nur?“ frug Renée verzweifelt. – „Na, das kannst du dir doch wohl ausdenken; dann kannst du deine Talente endlich mal nützlich anwenden,“ brummte Papa. Renée schrieb Briefe: an Sarah, an sämtliche Cousinen, dann auch eine Karte an Schoenburg. Er würde ihr schon helfen. Er hatte immer so gute Ideen. – So war es. Schoenburg antwortete, er erlaube sich einen ländlichen Tanz mit Huldigung für das Brautpaar vorzuschlagen. Denn zu einem Tanz brauchte man keine weiteren Vorbereitungen und für das Kostüm sorgten die Damen selbst. Den Herren könne man es wohl vom Königlichen Theater verschaffen. Und Renée würde dann wohl den Brautkranz überreichen, vielleicht in dem Kostüm einer Myrte. Renée wollte nicht Myrte sein. Es war albern und anzüglich, fand sie. – Ferner schlug Schoenburg auch noch ein Brautgedicht vor, es begann: ‚Du stehest heut an einer ernsten Grenze.‘ – Es kamen noch ‚Blumenkränze‘ und ‚stilles Glück‘ vor. – Diese Hochzeit verlief ganz ohne Störung. Die guten, alten Glocken der Groß-Gehrener Kirche läuteten. Die brummende Glocke und die mit dem fröhlichen Geklingel, und auf Läufern, die über die Dorfstraße führten und auf Tannenreisern und auf Blumen gingen die Hochzeitsleute. Renée ging mit Schoenburg. Schoenburg war sonderbar schweigsam, als ob er immerzu an anderes dächte, und Renée neckte ihn. Als sie in die Kirche eintraten, nahm Schoenburg eine von den kleinen, weißen Myrtenblüten auf, die auf der Schwelle lagen. Die steckte er zu sich. – Der Tanz war vorüber und das Essen. Elisabeth und Viktor waren abgefahren, Elisabeth nicht ohne Tränen, Viktor mit Versicherungen seiner Ehrenhaftigkeit an Papa. – Papa hatte dann noch lange mit den Herren gesessen bei Bier und Zigarren. Es war erst gegen Morgen Ruhe geworden im Haus. – An diesem Morgen kam Herr von Schoenburg und brachte Renée Rosen an den Kaffeetisch. – Er sagte: „Darf ich heute abend mit Ihnen ein wenig in den Garten gehen, Fräulein von Catte?“ – „Ja,“ sagte Renée, „aber erst müssen Sie mir furchtbar helfen. Elisabeth hat zwar als letzte Tat eine Stütze mit guten Zeugnissen engagiert – aber nun muß ich doch all die herrlichen Dinge tun, die Elisabeth tat.“ – Schoenburg half. Er räumte die Konfekts mit weg und machte Obstschalen und Blumenvasen zurecht für den Tisch. Und immer währenddessen sagte er: „Aber heute abend – wenn wir fertig sind ...“ – – Dann war es Abend. Sie gingen im Garten. Renée fühlte die Last des Schweigens, aber alles, was sie vielleicht hätte sagen können, fand die Form des Wortes nicht. Und so ging sie immer tiefer in den dämmerigen Garten hinein mit dem Gefühl einer Schuld, die jeden Augenblick anwuchs. Die Schuld war, daß sie schwieg. – Dann sprach Schoenburg: „Ich weiß nicht, ob Sie es fühlen können, so wie ich es fühle, Fräulein von Catte, dies: daß ich nicht mehr zurückhalten kann mit meinen Worten. Sie haben mir keine Erlaubnis dazu gegeben, aber ich glaube Sie so weit zu verstehen. Und ich denke, ein Mensch, wie Sie es sind, würde jedes An-seinem-Willen-vorbei-ihn-zu-gewinnen-suchen schlecht achten.“ – Er schwieg, er strich mit der Hand über die Rinde des Nußbaumes am Weg – dann sagte er: „Ich liebe Sie; ich wünschte, Sie kämen zu mir und vertrauten mir Ihr Leben an. Wie ich Ihnen das meine vertrauen möchte –“ Renée ging es sonderbar, das Gefühl der Unruhe verging. Sie wurde ganz ruhig – ganz klar. „Ich kann es nicht.“ – „Ist es, daß Sie mich gar nicht lieb haben?“ – „O ja, Herr von Schoenburg. Ich habe Sie lieb, ein guter und lieber Kamerad sind Sie mir. Aber es kann einmal der Mensch kommen, den ich liebe –“ „Wer ist das?“ – „Niemand noch. Ich weiß nicht, ob es diesen Menschen geben wird. Ich habe noch nie einen Menschen geliebt.“ – Sie gingen zurück, während es schon ganz dunkel war. – Renée hatte den Menschen neben sich lieb. Sie fühlte seine Anwesenheit als etwas Warmes und Freundliches. Sie wollte ihm so gern Gutes tun. Sie wollte ihm so gern die Einsamkeit verstellen. „Ich möchte mit Ihnen Freund sein,“ sagte sie. Er stand neben ihr still und lächelte. – „Es ist Ihr großes, warmes Herz, eben das Herz, das ich so gern besessen hätte. – – Sie sollen wissen, daß ich für Sie immer da sein werde, Fräulein von Catte. Und ich darf Ihnen eine Bitte sagen: lassen Sie dies zwischen uns allein geschehen sein und – bitte lassen Sie es bleiben zwischen uns, wie es war.“ – Renée nickte. Sie gingen zusammen in das Haus zurück. Papa und Renée saßen im Wagen. Der Wagen stand in einer langen Reihe von Wagen vorm Schloßportal, stand und rückte und rührte sich nicht. Alle fünf Minuten ruckte es ein klein wenig, dann fuhr man zwei Meter weiter. Die Wagenreihe stand bis über die Schloßbrücke. „Selbstverständlich muß man entweder ganz früh oder ganz spät fahren,“ sagte Papa geärgert. – „Ich wollte ja noch warten, aber du riefst doch.“ – Papa sagte: „Nun ja, eben immer diese Bummelei.“ – Ein Polizeioffizier lief zeternd vorüber. Man stand eine Viertelstunde, eine halbe Stunde – Papa riß die Wagentür auf. – „Könntest du wohl die paar Schritte hinüber zu Fuß gehen?“ frug er zweifelnd. – Renée raffte kurz entschlossen die Kleider zusammen – wie ein Storch kam sie sich vor, als sie mit langen rosa Strumpfbeinen herausstieg. Vierzig Wagen vor ihnen und ebensoviel dahinter – sogar die Ministerwagen mit den Vorreitern stoppten. – Eilig stieg Renée die Treppe hinauf. Auf den Treppenabsätzen stauten sich die Damen vor den Spiegeln. Ein unbestimmtes Drängen hinter ihr schob Renée vorwärts. Dann stand sie im Weißen Saal ganz allein in dem schimmernden Gewoge. Es war, als gingen weiche Luftwellen an den weißen Riesenwänden empor und fingen sich oben in den goldenen Ornamenten. – Dann kam der Kaiser – er trug die Uniform von Hannsbabos Regiment, und er grüßte zu denen im Saal, und die Kaiserin, die er am Arm führte, senkte langsam und würdevoll den Kopf mit dem schönen, weißen Haar. Sehr viel Glanz war um sie von den Krondiamanten. Jemand hinter Renée flüsterte: „Sie sind ja ganz versunken!“ Es war Hedi Bassewitz. Sie stand mit drei andern hinter Renée. Eine von denen gefiel Renée. Sie hatte ein blaues Kleid an, das ganz eng anschloß und über und über mit glänzenden Schuppen benäht war. Ihre Augen waren blau. „Jetzt ist die Kaiserin gleich durch,“ sagte die Bassewitz, „sie macht viel fixer als der Kaiser.“ Die in dem Schuppenkleid lächelte Renée zu. „Sie waren wohl noch nicht hier?“ sagte sie. „Nein, nur bei der Cour.“ – Die Bassewitz erzählte, daß rechts die Botschafterinnen säßen und links vom Beschauer die Fürstinnen und hinten die Exzellenzendamen; daß kein Sterblicher tanzen dürfte, wenn etwas Prinzliches tanzte und daß, wer Walzer tanzte, rausgeworfen wird. „Nur Galopp ist erlaubt.“ – „Aber sie machen doch Walzermusik,“ sagte Renée. – Die Bassewitz stieß ein überlegenes Prusten aus. „Man muß sich eben die Ohren zuhalten und einfach irgendwie herumspringen,“ antwortete sie. Gerade als die Musik einsetzte, kam Hannsbabo und stellte Renée fünf Offiziere vor, und die engagierten Renée für alle Tänze. Es war doch nett von Hannsbabo. Sie verabredeten alle fünf das Zusammentreffen auf dem großen Parkettstern in der Mitte vor dem Thron. – Hannsbabo wollte Renée zur Gavotte. „Du siehst blaß aus, Hannsbabo.“ Er lächelte. – „Nein, nein, das macht mein roter Rock und dann das Ausgehen. Das ermüdet etwas.“ – Nachher ging Renée zu Sarah. Sarah sah schön aus. Sie hatte ein breites Diadem, Renée dachte: wie eine Städtekrone mit lauter Zinnen. Sie sagte: „Darf ich dir etwas sagen, Sarah?“ Sarah nickte abwesend. – „Hannsbabo muß nicht so viel auf Gesellschaften gehen, er sieht blaß aus.“ Die Schwägerin sah an ihr vorüber. „O, Hannsbabo ist ^all right^,“ sagte sie. „Er wünscht immer, daß ich auf Bälle gehe, und er geht eben mit. Er tut es ganz gern. Du brauchst gar nicht Sorge zu haben.“ – Die mit dem Schuppenkleid kam auf Renée zu. „Ihr Bruder sieht schlecht aus, Fräulein von Catte,“ sagte sie, „Sie müssen mehr auf ihn achten,“ und dann strich sie wie aus Versehn an Renées Hand vorüber, sah nach dem Thron, als ob sie dort etwas zeigte, und sagte leise mit abgewandtem Gesicht: „Diese Amerikanerinnen verstehen so wenig von Menschen. Sie sind nicht gewohnt darauf zu achten. Sie haben ihn doch lieb. Ich fürchte um ihn – fragen Sie mich nichts und sprechen Sie nicht darüber – bitte“ – – Von hinten wurde Renée zur Seite geschoben. Sie sah in das indignierte Gesicht der Palastdame von Gagern. „Ihre Majestät kommt.“ – „Sie hätten fast die Kaiserin umgelaufen,“ hauchte ein Kammerjunker. – Renée erschrak – die Kaiserin ging durch die gebahnte Gasse grüßend vorüber. – „Höchstens hätte sie _mich_ umgelaufen,“ murmelte Renée ingrimmig. – Die mit ihr gesprochen hatte, war fortgegangen. – Später erfuhr Renée, daß es die Gräfin Gisczyska gewesen war, die Frau eines österreichischen Attaché. – Während der Gavotte beobachtete Renée immer ihren Bruder, und darum merkte sie es gar nicht, wie er kein Wort sprach, und sie kümmerte sich nicht darum, daß sie beide die Kürassierkolonne zweimal fast in Verwirrung brachten. – Wie mechanisch und ungewohnt er den Tanz ausführte. Mit so meilenweit fernen Gedanken. „Kleiner Bub, warum siehst du mich so an?“ – „Du bist nicht wie sonst, Hannsbabo.“ – „Du auch nicht. Du siehst heute besonders lieb und schön aus,“ sagte er. – Renée hielt einen kleinen Augenblick seine Hand fest beim Vorübergehen. – „Hannsbabo, willst du mir’s nicht sagen? Oder – sei mir nicht böse – darf ich nicht einmal davon reden mit Sarah?“ – „Nein,“ sagte er, „nicht! Was soll ich mit irgend einem jämmerlichen Produkt deiner Ermahnungen? Was hilft es, wenn Sarah – o nein, so nicht, Renée.“ – – Renée wollte so gern Herrn von Schoenburg fragen. Aber der war so einsilbig, und immer, wenn Renée sich umsah, stand er hinter ihr und sah, den Kopf gesenkt, vorwurfsvoll zu ihr auf. Als Renée ging, sagte er: „Warum haben Sie nicht mit mir soupiert, Fräulein von Catte?“ – „Sie haben mich doch gar nicht gefragt.“ – „Aber Sie wissen das doch ganz gut,“ sagte Schoenburg. Dann begleitete er Renée zur Teufelstreppe, wo Papa auf sie wartete. Er ging auch mit herunter. Unten nahm er dem Diener Renées Cape ab und legte es ihr um. Und er sagte ganz leise: „Kommen Sie gut heim.“ – Alle Tage ging Renée nun mit der Angst um Hannsbabo und war sehr allein damit. – In den feuchten Vorfrühlingsabenden machte der Dunst von draußen die Zimmer früher dunkel, und wenn man die Fenster öffnete, kam ein scharfer Geruch von Rauch mit der Luft herein. Über den Seen im Tiergarten war den ganzen Tag eine dünne Schicht von Dampf. Es gab auch noch Frost in den Nächten, und die zu bunten Blumen am Luisendenkmal standen verfroren und fremdartig in der kühlen Märzluft. Renée ging in diesen Tagen viel herum im Tiergarten, und manchmal saß sie lange auf einer Bank und dachte, was man tun könnte für Hannsbabo. Sollte sie nicht mit Papa sprechen? Würde er denn helfen können? – Vielleicht gingen Hannsbabo und Sarah ein wenig auf Reisen. Vielleicht konnte der Wechsel der äußeren Umstände ihm helfen. – Dann wieder wußte Renée ganz gut, das alles half nichts. Es waren alles nur ohnmächtige und sinnlose Gedanken, die niemals das finden konnten, was einzig half. – Am Sonntag bekam Renée einen Brief. Ein kleiner, grüner Brief war es mit einer fremden Handschrift. Die Unterschrift hieß: Marie Gisczyska. Renée las: Wollen Sie heute nachmittag zu mir kommen und mit mir den Tee nehmen. Ich habe viel mit Ihnen zu denken. – Dann war es auf einmal eine so große Hilfe für Renée, daß diese ganz fremde Dame mit ihr sprechen wollte von Hannsbabo. Den Sonntag kam ein Vetter aus dem Kadettenkorps und Viktor natürlich. Und nach dem Essen sagte Papa, nun könnte Renée den Vetter unterhalten, und sie könnte ja auch ein bißchen mit ihm spazieren gehn. „Ich kann doch den langweiligen Jungen nicht den ganzen Tag unterhalten, Papa,“ sagte Renée, „außerdem langweilen wir beide uns dabei. Außerdem bin ich eingeladen zum Tee bei der Gräfin Gisczyska.“ Papa sah erstaunt auf: „So, wie kommst du denn dazu?“ Renée antwortete: „Ich habe sie auf dem Hofball kennen gelernt.“ – „So, na,“ sagte Papa. „Also wann soll denn da die Reise losgehen?“ „Um halb fünf, dachte ich.“ – „Ja – soll denn etwa ich den Bengel unterhalten?“ sagte Papa ärgerlich. „Ach Papa – ich tät ihm einen Taler schenken für den Zirkus,“ meinte Renée; „zum Abendessen bin ich dann schon wieder da!“ Papa lachte. Dann zog er zwei runde Taler aus seinem großen, dunkelroten Portemonnaie: „Da sollst du auch einen haben für deinen Edelmut,“ sagte er. – Renée nahm ein Auto. Erstens hatte sie ja einen Taler bekommen für nichts und wieder nichts, und zweitens wollte sie recht bald da sein. Dieses Auto raste mit besessener Geschwindigkeit die Hofjägerallee und Charlottenburger Chaussee entlang und bog mit einem fürchterlichen Ruck links ein. Es hielt in der Roonstraße. Gräfin Gisczyska kam Renée entgegen. Sie führte Renée an der Hand herein und dankte ihr für ihr Kommen und bat um Entschuldigung, daß sie so von heut auf morgen ... „Ja, ist jetzt das eine aufdringliche Person, haben S’ gedacht – gellns,“ sagte sie lachend. – „Aber nicht doch. Ich freue mich so sehr, mit Ihnen sprechen zu dürfen, Gräfin, man kann es nicht alles allein bedenken.“ – „Ja, nicht wahr?“ Gräfin Gisczyska sprang auf und drückte Renée die Hand. – „Aber nun hab ich das Gefühl, daß ich Ihnen erst mal erklären soll, warum eigentlich ich Sie so ^sans façon^ zu mir bat und was mir das Recht gibt, von Ihrem Bruder – darf ich sagen, von Hannsbabo – zu sprechen. – Also wir, das heißt mein Mann und ich, waren eine Zeitlang mit Ihrem Bruder in Washington zusammen. Als er zuerst dort war, fühlte er sich natürlich etwas allein, und da mein Mann ihm sympathisch war, so kam er oft zu uns. Da war es, daß ich Ihren Bruder sehr lieb gewann. Wenn er gewollt hätte, – ich wäre mit ihm gegangen auf und davon.“ – Gräfin Gisczyska lehnte den Kopf ganz weit zurück auf das harte Holz ihres geschnitzten Stuhles – dann sprang sie auf mit einer heftigen Bewegung. – „O, _ich_ hätte es gewollt!“ – Renée schwieg und sah in das blaue Feuer, das die Gräfin entzündete. Dann bekam Renée den Tee aus einer kleinen, feinen Tasse. „Wenn ich zu Ihnen offen sprechen darf,“ sagte die Gräfin, „so will ich Ihnen sagen, wie es ist mit Ihrem Bruder. Er liebt die Frau. Aber sie ist nicht eine Frau. Nein, keineswegs. Sie ist ein Geschöpf aus einer schönen Materie, aber von innerlichster Kälte, ohne jede Sensibilität, ohne jedes Begreifen von den Dingen des Gefühls. Sie ist – nun etwas, das man in der Literatur der achtziger Jahre ‚Larve‘ zu nennen pflegte oder ‚Nixe‘ – was weiß ich.“ – Renée sagte: „Ein Mensch wählt diese Ausdrucksform, ein anderer jene. Es ist nicht immer herzlos, was anders ist als wir, Gräfin.“ – „Ich merke, Ihre Schwägerin hat es verstanden, die ganze Familie Catte einzustecken. – Ja, darum gerade reden wir doch zusammen, weil wir sehen, daß ein Mann, der uns beiden lieb ist, an ihr leidet! Ich muß Ihnen etwas von der Verlobung erzählen. Gar nicht viel, nur etwas Charakteristisches: Einer ihrer Vettern – sie hat deren ein Dutzend – sagte mir: ‚Sarah will leider keinen von uns heiraten, weil wir sie alle lieben, sagt sie, und weil sie einen Widerwillen bekommt gegen Menschen, die sie lieben. Sie sagt: ein Mann, der eine Frau liebt, spricht immer so heiser, er ist wie ein widerlicher Kater‘.“ – Renée mußte lachen: „Finden Sie das so herzlos? Es ist doch nur lächerlich. Es ist, daß eine Frau immer die Abwehr hat gegen den Mann als Typus. Aber dann rechnet sie ihren Mann nachher nicht in diesen Typus hinein –“ „Sie sagen zwar sehr kluge Dinge für Ihre Jugend,“ antwortete Gräfin Gisczyska, „aber leider hat Sarah dies gesagt, als sie bereits verlobt war. Und ich würde denken, daß eben aus dieser Tatsache heraus alles, was dort geschieht, begreiflich wird. Ihre Schwägerin gehört zu den Menschen, die suchen, wenn der andere zurückweicht, und zurückweichen, wenn der andere sie sucht. Und Hannsbabo sucht sie sehr eindringlich eben.“ – „Ja.“ – Die Gräfin sprach weiter: „Und eben wenn diese Frau weiß, daß da einer ist, der zu ihr hinstrebt, dann lockt sie ihn ein wenig an, um ihn im nächsten Augenblick mit kühlem Erstaunen zurückzustoßen. – Und immer wieder das gleiche. Und ein Mensch geht zugrunde daran, ein lieber, schöner, stolzer Mensch. – O, es ist ein widerliches, zynisches Spiel.“ „Das – das glauben Sie?“ – Gräfin Gisczyska nahm Renées Hand. – „Es ist so,“ sagte sie, „erschrecken Sie nicht so, kleine Renée, es ist so. Ich habe es gesehn.“ – Beide schwiegen. Die blaue Flamme unter dem Kessel breitete sich aus, und das Wasser kam in ein leises, gleichmäßiges Surren. – Renée frug: „Wie haben Sie das gesehn?“ – Gräfin Gisczyska schwieg; einen Augenblick sah sie Renée an. – „Erinnern Sie sich an den Ball bei Ihrem Bruder?“ fragte sie. – – „Sahen Sie, wie die beiden tanzten? Sahen Sie das Gesicht seiner Frau? Ah – ich sah es. Die widerliche, rohe Sensationslust ihres Gesichts. Niemand hat etwas gesehn. Nein. Nur ich. Ich sah, wie die Blässe ihm ins Gesicht stieg, ganz weiß war sein Gesicht, und dann begann er zu zittern, und dann bebte dieser große, starke Mensch – und eben in diesem Augenblick ließ sie seine Hand los und sah ihn an. Haben Sie das gesehn?“ – „Wie – wie denn sah sie ihn an?“ frug Renée. „So, als wäre er ein Widerwillen, ein Unflat, ein häßliches und verächtliches Tier in ihrem Weg.“ – Renée wandte ihr Gesicht weg. Sie stand auf und ging zum Fenster. Da war ein Gefühl brennender Scham in ihr, daß man so reden durfte von ihrem Bruder. – „Mögen Sie nicht einmal sprechen mit Ihrer Schwägerin?“ sagte Gräfin Gisczyska. „Mein Bruder will es nicht.“ – Die Gräfin fuhr auf: „Inwiefern? Hat er seine Frau durchschaut? Hat er ...“ Da auf einmal hatte Renée einen Widerwillen gegen dies Gespräch; sie mochte nicht mehr. Eben als sie überlegte, ob sie noch antworten sollte, kam der Diener herein, er meldete den Prinzen Johann. – Renée verabschiedete sich eilig. – „Sie müssen bald wiederkommen, vielleicht morgen,“ rief die Gräfin ihr nach. Renée ging durch den Tiergarten nach Hause. Und immer wieder stieg ihr das Gefühl des Widerwillens auf auch gegen sich selbst. Es war, als hätte sie Hannsbabo etwas Böses getan. Sie sprach auch nicht mit Papa. Es schien ihr, als dürfe man überhaupt nicht davon sprechen. – Einmal aber – es war gegen den Frühling – einmal faßte Renée sich ein Herz. Sie ging zu Hannsbabo, als Sarah gerade fort war. Und sie setzte sich neben ihn und nahm seine Hand. Sie sah ihm in die Augen: „Hannsbabo,“ sagte sie, „ich weiß es, du bist sehr unglücklich, und nun sagst du mir nichts, und ich kann dir nicht helfen. Du bist immer sehr gut gewesen zu mir, gar nicht wie ein gewöhnlicher Bruder, vielmehr wie ein Freund. Früher hattest du Vertrauen zu mir, du hast mir viel von dir gesagt, obwohl ich noch ein Kind war, und nun –“ Hannsbabo schwieg lange. Renée sah dem Zeiger der Uhr nach, die am Spiegel stand auf zwei schlanken Säulchen von Alabaster – manchmal sah Renée zu ihm herüber. Sie hielt noch seine Hand. „Es ist ja nicht so leicht, davon zu sprechen,“ sagte Hannsbabo dann. „Sie meint es nicht schlecht, sie hat mich sogar ein wenig lieb, glaube ich, aber siehst du, das ist nichts, was das Einsamkeitsgefühl nähme. Im Gegenteil. Und dabei weiß ich, _sie_ ist der Mensch, mit dem ich hätte heimisch werden können auf der Erde. –“ Renée kamen die Tränen in die Augen von dem Gefühl des Nicht-helfen-könnens. – Er nahm nun ihre Hand und legte sein Gesicht hinein. Renée zog ihn an sich – sie saßen still beieinander. – „Ich mag nicht mehr leben,“ sagte Hannsbabo. Renée weinte. Ihr Bruder hob sein Gesicht zu ihr auf, und sie hörte ihn sanft sprechen. – „Weine nicht, mein kleiner Bub Renée – weine nicht!“ – Was konnte Renée tun? Sie hätte ihn nehmen mögen, ihren Bruder, und mit ihm fortgehn. Weit fort. Vielleicht nach Italien – vielleicht war da die weiche, süße Luft, die er brauchte. „Ich bin zu müde,“ sagte Hannsbabo, „das Reisen macht so viel Beschwerde.“ – Renée sprach mit Sarah. Sie tat es gegen alles eigene Gefühl, sie tat es gegen Hannsbabos ausgesprochenen Willen. Sie tat es gedrängt von ihrer Liebe für ihn. Sie sagte: „Was ich tue, Sarah, was ich dir jetzt sage, das mußt du so gut und so fein und so schön aufnehmen, wie du kannst – du mußt weich und gut sein, damit ich an dich heran kann mit meinen Worten.“ – – „O,“ sagte Sarah, „was ist es, was für eine lange Vorrede, ^darling^ –“ Renée fühlte so, als käme ein Strom von Glut ihr den Rücken herauf – und schließlich preßte es die Kehle zusammen. – Sie ballte die Hände. – „So wirst du es nicht abtun. So nicht! Ich rede von Hannsbabo. Ich rede von meinem Bruder, den ich liebe, hörst du, den ich tausendmal mehr liebe als du, als so ein kalter, kalter Mensch wie du, begreifen kannst.“ – Sarah wurde ganz blaß, fast bis in die Spitzen ihrer Finger – ihre grauen Augen starrten in Renées Gesicht. – „Du bist mit ihm hergekommen. Du hast ihn geheiratet. Das ist ein Geschehnis, verstehst du, wenn ein Mensch wie Hannsbabo dich liebt, wenn ein so stolzer, schöner, vornehmer Mensch dich liebt – du. – Ich sage dir, du, ich lasse es nicht geschehen, daß du ihn umbringst mit der widerwärtigen Kälte deines Wesens. Ich lasse es nicht zu! Hüte dich vor mir, denn ich werde es sagen, allen Menschen werde ich es sagen, ausschreien will ich es, wenn du noch einmal, noch ein einziges Mal tust, was du getan hast bis heute, wenn du ihn quälst.“ – – Sarah warf den Kopf zurück, eine dunkle Röte stieg ihr ins Gesicht – und die großen Tränen. – Renée ging. „Elisabeth bittet um deinen Besuch recht bald,“ sagte Papa. „Sie fühlt sich nicht recht wohl und bekommt Besuch von Viktors Mutter und Schwester. Am Ende könntest du gleich morgen fahren.“ – Renée hatte nicht die geringste Lust. Nein. Aber natürlich würde kein Widerstreben helfen. Wenn jemand in einer Familie verheiratet war, so war das Grund genug, um sämtliche unverheiratete Schwestern und Cousinen in Tätigkeit zu setzen. – Das Landratsamt war ein großer quadratischer Kasten, an den man ein Rechteck angeflickt hatte. In diesem Rechteck befand sich eine Loggia und darüber das Gastzimmer. Im Eßzimmer entdeckte Renée ein Bild von Groß-Gehren, das sie von zu Hause kannte. – In Elisabeths Wohnzimmer standen die beiden bronzenen Leuchter aus der Groß-Gehrener Halle, und über Viktors Schreibtisch prangte das Bild des jungen Katte, der zu Küstrin erschossen worden ist. Das hatte früher bei Renées Mutter gehangen, denn es war einer von ihrer Linie gewesen. Von denen, die der große König später zu Grafen gemacht hatte. – Elisabeth sagte: „Papa hat es mir geschenkt.“ – Und gerade das hätte Renée so gern behalten – gerade das. – Überall wo Viktors umfangreiche Mutter sich bewegte, entstand ein Geräusch von Seide. Sie war stets in starrer, schwarzer Seide und trug auf dem Kopf einen künstlichen Aufbau weißen Haares. Während sie von Elisabeth in den Räumen umhergeführt wurde, sagte sie: „Das freut mich, liebes Kind, ganz hübsch, ganz hübsch.“ Sie sagte es, als ob sie in einem Laden die Auslage betrachtete. – Sie war eine unausstehliche Person, fand Renée. Elisabeth benahm sich förmlich demütig gegen sie. Und Elisabeth nannte sie ‚Mamachen‘. In diesem Haus kam Renée gar nicht zum Nachdenken. Wenn sie in ihrem Zimmer war, dann hörte sie das Gekeif und Gelärm der Leute auf der Straße und das Rasseln der Wagen auf den holprigen Pflastersteinen. Und war sie nicht in ihrem Zimmer, dann gab es immer von irgendwoher die pfeifende, gellende Stimme der Frau Amélie von Horwitz, die erzählte von der Prinzeß Clementine, die immer zu ihr gesagt hatte ... Renée kam dort in einen Zustand haltloser, psychischer Apathie. Kein Weiterkommen, kein Weiterwollen, keine Abwehr. Alles, was dort gesprochen wurde, hielt sich jenseits jeder Möglichkeit von Gefühl und Empfindung. Und alles war entsetzlich leer. Renée suchte Ruhe. Es gab keine Ruhe. Diese Menschen hasteten umher und warfen die Albernheiten ihres engen Lebens wirr und sinnlos durcheinander – und es gab keine Ruhe. – An diesem Abend lief sie nach Groß-Gehren, – den Wiesenweg, der an der Mühle vorbeiführt. Hinter dem dunklen Rand des Forstes stieg ein großer, rötlicher Mond auf. Stieg feierlich auf, und vor ihm her war die Helligkeit seines Lichtes – – allmählich fing sich das Licht in den Nebeln auf der Wiese. – Renée ging schnell, sie fühlte die Feuchtigkeit der Grashalme, die ihr Kleid streiften. Man konnte nicht weit sehn wegen des Nebels; auf einmal tauchten die schwarzen Flügel der Mühle vor ihr auf – ganz unorganisch und sonderbar aus dem Grau heraus. – Sie fand die Gartentür abgeschlossen und lief bis an das Ende des Gartens, wo sie als Kind durchgekrochen durch das Loch in der Hecke. – Wie ein riesiger See ohne Land lag es vor ihr. Die Fläche des Wassers ins Unendliche erweitert durch diese Ebene von Nebel über den Wiesen. Auf dem Wasser flackerte in goldnen Schlangen der Mondschein. – O, hier bleiben können – lange oder immer – wie schön und traurig war das Wasser und der große Mond. – Unten auf den Stufen, die ins Wasser führen, auf der dritten Stufe, die der See überspült, wenn er unruhig ist, saß Renée. – O, der große Mond. – Renée mußte weinen; sie dachte nicht an ein bestimmtes Geschehnis – es war nichts – es war vielleicht etwas, was kam. An wen dachte Renée? An keinen Menschen – nur – wenn einmal eine süße und geliebte Stimme zu ihr sprechen, wenn einmal eine Hand sehr sanft sie berühren würde, – o eine sanfte Hand – daran dachte Renée. – – Es war nach Mitternacht, als sie zurückkam. Viktor machte ihr auf. – Sie hätten sich alle so gesorgt. Es sei aber auch unrecht von Renée, weil Elisabeth sich doch in dieser Zeit nicht aufregen dürfe, wo denn Renée nur gewesen sei? – „In Groß-Gehren!“ – „Aber wir konnten doch mal hinfahren, wenn du wolltest,“ sagte Viktor mit sanftem Vorwurf. Renée hörte eine Woche lang alles geduldig an. Es war unpassend gewesen, überspannt, lächerlich, sentimental. – Was sollte Johann denken, er hatte natürlich gehört, daß Viktor Renée nachts hereinlassen mußte. – „Ihr könnt ja Johann ins Vertrauen ziehn, vielleicht findet Johann es auch überspannt,“ sagte Renée. Elisabeth begann zu weinen. Man tröstete sie. Und Renée hörte Frau Amélie von Horwitz leidenschaftlich versichern: „Deine liebe Schwester hat es ja gar nicht so böse gemeint, Elisabethchen, nein, wirklich, sie hat es ja völlig eingesehn.“ – In der Umgegend gab es ein Kränzchen. Im Winter las das Kränzchen, im Sommer spielte es Tennis. Es gehörten ihm die jungen Mädchen des Kreises an. Aber Renée weigerte sich teilzunehmen. – Elisabeth sagte: „Viktor ist der Ansicht, daß ein verheirateter Landrat die Pflicht hat, die passenden Elemente des Kreises zusammenzuhalten. Ich habe das Kränzchen zum Sonntag eingeladen. Natürlich muß ich mich momentan etwas zurückhalten.“ fügte Elisabeth hinzu. Elisabeth ging nur gegen Abend aus. Dann trug sie ein Cape von riesigen Dimensionen. Sie genierte sich vor dem Diener, vor dem Kutscher, vor dem Gärtner. – Es muß ein fürchterlicher Zustand sein, dachte Renée. Elisabeth tat ihr leid. Sie versuchte, ihrer Schwester gut zu werden. „Du mußt mehr spazieren gehn,“ sagte Renée, „wir könnten jeden Morgen nach dem königlichen Forst hinausfahren, und da könnten wir spazieren gehn, und dann holt der Wagen uns mittags wieder ab.“ – „Ach, Renéechen, ich darf doch momentan nicht fahren,“ antwortete Elisabeth kläglich. – „Aber dann könnten wir zusammen in den Stadtforst gehn.“ – „Ach, ich sehe so aus,“ antwortete Elisabeth. „Da geniere ich mich doch.“ – Renée nahm ihre Hand: „Gar nicht hast du dich zu genieren. Warum denn etwa? Es geht doch alles natürlich zu in der Welt. Und bis jetzt wird es noch nicht als Schande aufgefaßt, wenn eine Frau ein Kind bekommt, sollte ich meinen.“ – Elisabeth sagte: „Du redest so, Renée! Junge Mädchen sollten ...“ „Meinst du mal wieder, ‚junge Mädchen‘ müßten immer erst warten, bis ein Mann kommt, sie zu verderben?“ – Renée lachte: „Denn das ist’s doch in Wahrheit. ‚Unverdorben und mit Schmelz‘ und als ‚unbeschriebene Blätter‘ und so’n Quark sollen sie dem Mann überliefert werden, damit er sie um so besser verderben kann.“ – „Du führst furchtbare Reden, Renée,“ sagte Elisabeth. „Ich begreife nicht, wie man Kinder bekommen mag, wenn man das Wissen um die Geschehnisse ihres Ursprungs als ‚verdorben werden‘ bezeichnet.“ – Elisabeth begann abzulenken: „Ich glaube, wir werden uns hierin doch nie verständigen.“ – „Nein – das glaub ich auch nicht.“ – Frau Amélie von Horwitz trat ein. Sie rauschte in schwarzer Seide. Auf den hügeligen Dimensionen ihrer Brust thronte eine Brosche aus Amethysten sowie eine Kette aus schwarzen Jett-Perlen. – „Marie wird heute abend eintreffen,“ sagte sie. „Mit dem Schnellzuge.“ – Dann wandte sie sich zu Renée: „Meine Tochter ist allerdings älter als Sie, Fräulein Renée, aber ich glaube, Sie werden dennoch Freude haben an ihrem Hiersein. Meine Tochter ist nämlich Schriftstellerin. Sie hat bereits einen sehr geachteten Namen in unserer Literatur gewonnen.“ – „So?“ sagte Renée. – Frau von Horwitz setzte sich behaglich nieder: „Ja,“ antwortete sie, „ihr erstes Buch ‚Aus Neuland‘ hatte sogar einen sehr bedeutenden Erfolg – es ist der Frau Prinzessin Clementine zugeeignet. –“ Renée bekam einen gelinden Schauder. – Marie von Horwitz, die Schriftstellerin, war in bezug auf Dimensionen das Ebenbild ihrer Mutter. Sie trug ebenfalls schwarze Seide. Am Morgen nach ihrer Ankunft eröffnete sie mit Renée ein Gespräch, sie sagte: „Ich hoffe, Sie werden noch recht lange bei unserer lieben Elisabeth bleiben! Ich habe nämlich nur eine Woche Zeit. Ich werde bei Wedels in Schönau erwartet. – Kennen Sie die Gräfin Wedel?“ – Renée verneinte das. Es erfolgte nunmehr eine lange Erzählung über die Reize der Gräfin. Dann kam eine Auseinandersetzung, wie Fräulein von Horwitz letzthin in Sankt Moritz beim Ski verunglückte – dann zog sie einen Packen Bücher vor. „Es sind Rezensionsexemplare,“ sagte sie, „ich bekomme deren zahllose. Es gibt ja jetzt so viele Skandinavier und Deutsche, die es nachtun. Aber ich kann ihnen die Palme des Sieges wirklich nicht zuerkennen. Diese sogenannte Stimmungskunst ist so gänzlich ohne Saft und Kraft.“ – „Was meinen Sie eigentlich mit ‚Saft und Kraft‘?“ Fräulein von Horwitz sah indigniert auf: „Das ist doch nicht zweifelhaft. ^A propos^, kennen Sie mein ‚Neuland‘? Da sage ich einmal: Stimmung ist Lässigkeit der Psyche. Das möchte ich hier wiederholen.“ – – „Meinen Sie das? Ja nun. Vielleicht ist Stimmung vielmehr Subtilität der Psyche,“ antwortete Renée. Fräulein von Horwitz verneinte das. „Keineswegs! Dies ganze Getue entspringt nur der Schwäche,“ sagte sie kategorisch. „Durch die Produktion unserer Jüngeren geht dies ewige Resignieren. Erst stellen sie in lächerlich maßloser Weise Forderungen auf. Dann fallen sie mitsamt ihren Forderungen.“ – „Das ist gerade das Großartige, das Umfallen _mit_ den Forderungen, mit den unerfüllten.“ – „Ich kann es durchaus nicht großartig finden, wenn ein Mensch nicht imstande ist, mit der Umwelt ins reine zu kommen,“ sagte Fräulein von Horwitz. „Kein großer Mensch kann das!“ – „Und warum etwa?“ frug die Horwitz herausfordernd. Renée sagte: „Das Große ist ungewöhnlich, nicht wahr? Und die Umwelt ist gewöhnlich. Ich denke, – die Antwort wäre einfach.“ – Frau von Horwitz erschien. – „Ah, eine interessante Unterhaltung. Nun, Fräulein Renée?“ – Marie von Horwitz lächelte überlegen. Sie zog eins der Bücher hervor: „Sehen Sie, Fräulein von Catte, diese Anthologie bietet die beste Möglichkeit der Beweisführung,“ sie gab Renée das aufgeschlagene Buch. „Nun,“ sagte sie triumphierend, „sehen Sie hier eine Vertreterin dieser berühmten Stimmungskunst. –“ Am Ende eines Gedichts las Renée: ‚Du vielgeliebtes Leben zwingst mich nieder, Treibst mich nach jenem Land, wo keiner frägt, Und wo ein stiller Strom das Unerfüllte wieder Zu seinem Ursprung trägt. – Fern, wo der Tag sich hebt, verhallen deine Lieder.‘ – Wie gut und sanft diese Worte sie berührten. – „Wer ist es, der dies geschrieben hat, wer ist es?“ „Yvonne Capeller. Eben eine dieser Allzujungen,“ sagte Fräulein von Horwitz gereizt, „die immer bereits mit zwanzig Jahren mit der Welt abgeschlossen haben. Ich schätze ihre Produktion sehr wenig. – Aber natürlich hat auch sie ihre Bewunderer gefunden.“ – „Das begreife ich durchaus,“ sagte Renée. Sie ging in ihr Zimmer. Sie mochte nicht mehr reden. Sie sprach die schönen Worte vor sich hin und dachte: daß ein Mensch so süße, traurige Dinge sagen kann, so süße, süße Worte. – – – Die Schriftstellerin schien keine Neigung mehr zu haben zu Gesprächen mit Renée. Sie gab ihrem steifen, geraden Oberkörper einen Ruck, wenn sie Renée erblickte, und ihre dumpf gurgelnde Stimme sprang über in ein giftiges Flöten, wenn sie etwas zu Renée sagte. – Indessen war es schon lange Mai geworden. Papa war in Groß-Gehren, und jeden Abend ging Renée zum Kanal, wo die großen Kähne durchgeschleust wurden, und sah zu und sehnte sich mitzufahren – und immer, wenn sie das weich bewegte Wasser sah am Abend, auf dem die Lichter der Laternen flackerten – immer wenn sie das sah, die Dunkelheit des Wassers und darüber Lichter, dann dachte sie an die süßen, traurigen Worte des Gedichts. – Als die Zeit näher rückte, wo nach allgemeiner Annahme das Kind kommen sollte, ging Renée nach Groß-Gehren zurück. – Papa hatte sich noch mehr an das Alleinsein gewöhnt als zuvor. Abends saß er auf der Veranda und summte Töne vor sich hin, deren Zusammenhang Renée nicht finden konnte. Einmal saß sie an dem offenen Fenster ihres Zimmers und hörte vom Wasser her das altgewohnte Quaken der Frösche und fühlte einen süßen Geruch, der wohl aus den Beeten kommen mußte, wo die Levkojen standen und die Verbenen – einmal dachte sie an ihren Bruder – so lange hatte sie ihn vergessen. Was tat er wohl – sie brachte ihre Gedanken mit Mühe hinein in das letzte Erlebnis mit Sarah – was tut er wohl jetzt? – Sonderbar, wie das Lärmen der Frösche seine Melodie hatte, sein Auf und Ab. Es gab eine haltlose Traurigkeit, dem zuzuhören, eine Last auf der Seele – etwas, das immer wieder da sein würde, wo man den Ton auch hörte. – ‚Du vielgeliebtes Leben zwingst mich nieder.‘ – Gibt es denn dies, sich in Worte verlieben – in ihren Zusammenklang, in ihren Sinn – oder eine Vorstellung lieben. – ‚Das Unerfüllte wieder zu seinem Ursprung trägt.‘ – O ja, man konnte Worte lieben. – Es war ein ‚gesunder Junge‘ geboren. Er war prädestiniert für den Namen ‚Wilhelm‘. „Viktor verehrt unsern geliebten Kaiser so, weißt du,“ sagte Elisabeth. – Er war prädestiniert als Stolz der Familie. Er sollte in Groß-Gehren getauft werden. Und natürlich mußte Hannsbabo zu der Feier kommen. – Hannsbabo – sonderbar verändert war er. Er hielt sich fern von Renée. Sarah war nicht mitgekommen. Er stand immer still auf einem Fleck – und dann mischte er sich plötzlich aufgeregt in irgend eine Unterhaltung, die man um ihn her führte – er aß in einer hastigen und gedankenlosen Weise. – Renée ging zu ihm. Es war des Abends, das Essen vorüber und die Gäste fortgefahren. Hannsbabo saß an seinem Schreibtisch. – „Hannsbabo, warum vermeidest du es, mit mir zu sprechen? Siehst du, ich komme trotzdem. Ich dränge mich an dich heran. Ich lasse mich nicht fortschieben. Sage mir, was du hast, Hannsbabo! Ist es das Alte?“ Er sprang hastig auf – und er schob den Schreibtischsessel mit einem plötzlichen Ruck zwischen sich und Renée – „Laß mich,“ sagte er. Er war aufgeregt, er schüttelte den Stuhl auf und nieder in seiner Hand. – „Was hast du damals gesprochen mit Sarah? Ich habe vom Diener erfahren, daß du bei ihr warst. Was hast du dort getan, als du da warst am zehnten April?“ – „Am zehnten April?“ – „Ja, nicht wahr, du weißt es gar nicht mehr. Aber ich, o ich weiß es. –“ Er stampfte in gleichmäßigen Stößen mit dem Stuhl auf die Erde. – „Du sagst es mir. Du – Sarah will es nicht sagen. Kann ich sie etwa zwingen? Oh nein. Ich könnte nicht einen Finger ihrer Hand anrühren, um ihr wehzutun. Nein, leider nicht. – Also sie will es nicht sagen. Ich mußte versprechen, dich nicht zu fragen – siehst du – aber ich frage dich nun“ – seine Stimme sprang über in ein zorniges Gurgeln – „nun – sag es, du – du kommst nicht aus dem Zimmer ohne das“ – – Hannsbabo warf den Stuhl beiseite. Renée fühlte seine Finger um ihre Handgelenke. – Sie fühlte eine kalte, ruhige Wut in sich aufsteigen. Sie riß ihre Arme zurück. – Hannsbabo setzte sich langsam wieder an seinen Schreibtisch. Er warf mit einer stürmischen Bewegung die Arme auf den Tisch und legte den Kopf hinein – so sprach er, schnell mit langen Pausen – und wieder schnell, als ob es drängte zu irgend einem vorbestimmtem letzten Ende: „Nachdem du damals dagewesen bist, hat Sarah mir gesagt, sie wolle mit mir ein paar Tage verreisen. Sie ist sofort mit mir zum Kommandeur gefahren wegen des Urlaubs. Dann sind wir gereist. Ich weiß nicht mehr, wo wir alles waren. Irgendwo in Italien. Es wird wohl Venedig gewesen sein. Ich merkte viel Buntes und Musik und Kauderwelsch um mich herum. – Wir sind jede Nacht auf dem Meer gefahren viele Stunden, und dann habe ich sie geküßt die ganzen Stunden aller Nächte. O, ich bin so sonderbar erfüllt davon – wie fein und weiß, wie schmal und süß sind die Gelenke ihrer Hände – o, ich fühle sie in meiner Hand, diese feinen, weißen Säulen. Sie ist leicht – leicht, als ob der Wind sie trüge oder die Luft, denn meine Arme spürten sie kaum, spürten keine Last, spürten nur die Kühle ihrer Haut und das leise, leise Rieseln, mit dem ihr kühles Blut durch die Adern geht unter der Haut.“ Renée ging zu ihm und rührte seine Schultern an. „Sprich nicht weiter,“ sagte sie. Er hob den Kopf. Renée sah sein Gesicht, sein blasses, lächelndes Gesicht. – Später sagte Hannsbabo: „Ich habe laut geträumt.“ Sie sprachen wenig mehr zusammen, Renée und ihr Bruder. – Er frug sie nicht mehr. – Dieses unausstehliche Baby. Es kam in Eile zu Besuch nach Groß-Gehren, weil es in der Stadt zu heiß wurde. Es mußte eine Kuh trocken gestellt werden für das Baby. – Bill, das Baby, hatte dünnes, rotes Haar und wasserblaue Augen. Es war ein kleines Scheusal. Trotzdem standen alle umher und bewunderten es, es wurde bewundert bis zu den fetten Spitzen seiner krebsroten Finger. Auch Elisabeth war in Groß-Gehren. Renée konnte ihrer Zeit nicht Herr werden. Immer gab es etwas zu tun für Elisabeth oder für das Baby. – Das Baby hatte eine Kinderfrau. Jeden Abend um sieben Uhr rief die Kinderfrau nach Renée. Dann ging sie essen. Dann durfte Renée Bills Schlaf bewachen. Es sollte eine halbe Stunde sein, es wurde aber meist eine Stunde und länger. Dann saß Renée in dem kleinen Vorzimmer, das früh dämmrig wurde, weil die großen Linden davor standen, saß und hörte die Knechte nach Feierabend in den Hof reiten – dann pumpten sie Wasser für die Pferde und schwatzten noch, und zuletzt gingen sie pfeifend über den Hof nach Haus. Um neun Uhr machte der Hofmeister das Tor zu. – Sonderbar – immer stiller wurde das Leben, je tiefer man hineinging in die Zeit. Unbemerkt lösten sich liebgewordene Dinge von der Seele. Sie ließen diese Seele in schmerzlichem Entbehren zurück. – Es muß einen Menschen geben, ein Lebendiges, der mir den Sinn meines Daseins gibt – dachte Renée. Ich muß während meines Lebens in einem beliebigen Augenblick mit diesem anderen Menschen zusammentreffen, und er und ich müssen die Notwendigkeit, das Absolut-zu-fordernde dieses Zusamentreffens wissen oder wissen lernen. Garnicht sofort, gar nicht diese romanhafte Liebe ‚auf den ersten Blick‘ muß es sein. – Renée dachte: Wie kann so etwas geschehen? Natürlich – es ist nicht gebunden an Ort und Zeit – vielleicht könnte es sogar geschehn durch ein Hörensagen von den Handlungen oder den Worten oder dem Fühlen des andern Menschen. Und dies, wenn es auch irgend ein gleichgültiger Mund ausspräche, dieses könnte dann das Bewußtwerden sein, das Zusammenströmen – – – Wie nutzlos und ganz gleichgültig war alles, was man tat – ob Renée las oder schrieb, ob sie froh war oder traurig – wer frug danach? – Es war ja dieselbe verlorne Einsamkeit, in der sie lebte, wie damals, als sie ein Kind war. – Nur kam doch damals manchmal Hannsbabo. – Warum war Hannsbabo ihr fremd geworden? Renée dachte: Ich fühle, daß er sich ganz umgeben hat mit einer Abwehr des Gefühls – er will nicht mehr davon sprechen – oder er spricht davon in einer wilden, aufgeregten Art, und jedes Wort, das er sagt, entfernt ihn von mir. – Renée frug bei der Buchhandlung an, ob es denn gar kein Buch gäbe von Yvonne Capeller. Aber es gab keins. Sie wußten nichts von ihr. Und Renée hatte nur dies eine Gedicht. Dies, das so schön war, daß man sehnsüchtig wurde, wenn man es vor sich hinsprach – das so betörend schön war. Renée dachte: Nun ist es geschehn. Durch ein Hörensagen, ist ausgesprochen von irgend einem gleichgültigen Mund – ist ausgesprochen. – „Was soll denn das vorstellen?“ sagte Papa, „warum willst du denn absagen bei Arnims?“ – Er hielt den Brief: ‚Renée von Catte dankt verbindlichst und bedauert lebhaft‘ ... drohend in der Hand. – „Ich mag nicht mehr auf Bälle laufen,“ sagte Renée. – „Wieso?“ – „Ich langweile mich so gräßlich dabei.“ – „Unsinn.“ Papa warf den Brief zornig vor Renée auf die Tischplatte. „Ich wünsche, daß du hingehst.“ „Aber Papa, du kannst doch nicht verlangen, daß ich hinlaufe und mich stundenlang langweile, es kann dir doch ganz egal sein.“ Papa erklärte, es sei ihm durchaus nicht egal. Keineswegs. Es sei einmal Usus so. Und sonst gäbe es ein Gerede, und die Leute wunderten sich. – Diesmal wollte Renée durchaus nicht nachgeben. Sie sagte: „Ich gehe überhaupt nicht aus diesen Winter.“ – Papa schien bedeutend zu erstaunen. – „Ja, was willst du denn anfangen den ganzen Winter?“ – Gott sei Dank, nun war es soweit. Nun kam das Positive. Das Positive verteidigt sich viel leichter als das Negative. – „Ich will Vorträge hören.“ – „Vorträge, wo denn? Du willst doch nicht unter die Studenten gehn? Blödsinn.“ – Papa schien sehr aufgebracht. – Renée spielte den Trumpf aus: „Ach wo, Papa. Es ist nur für Damen im Viktoria-Lyceum.“ – „Was ist denn das?“ frug Papa. Renées letzter Trumpf besiegte sein Mißtrauen völlig: „Es ist doch unter dem Protektorat der Kaiserin,“ sagte Renée. „Exzellenz von Kleist ist auch immer da mit ihrer Tochter.“ – „So. Na meinetwegen,“ sagte Papa. Er wandte sich seiner Arbeit wieder zu. – Renée suchte sich Vorträge aus. Sie nahm einen über die ‚Entstehung des Menschen‘, einen kunstgeschichtlichen und einen über ‚Sokrates‘. – Das Glück wollte, daß der ‚Sokrates‘ zuerst an die Reihe kam. Renée hatte sich’s nicht einmal so schön gedacht. Der alte Herr mit den sicheren, klugen Augen, in die ein sonderbares Flackern kam, während er sprach, der alte Herr mit dem edel geformten Mund sagte seine Dinge mit dem Ton leidenschaftlichen Begreifens. Er sprach von den letzten Stunden des Sokrates, von dieser ruhigen, lächelnden Gebärde, mit der Sokrates gestorben sei. Er sprach wie von einem Freund, dem einzigen, geliebtesten Freund – und dann fing auch Renée an, den Sokrates zu lieben. Ob man nicht die Sprache lernen könnte; wenn es nur nicht so fürchterlich schwer wäre. Renée hätte so sehr gerne mehr davon gewußt. – Bei den anderen Vorträgen ging es nicht so zu. Man hörte zu – ja man behielt einige Dinge, um sie bald wieder zu vergessen oder durcheinander zu bringen, aber es war so ohne jede Besonderheit. Der eine jonglierte herum auf seinem Katheder, war einmal oben und einmal unten mit seinem kleinen, gelben Gesicht, ein anderer bewegte sich in einer gezogenen und langsamen Weise, während er redete, und seine Sprechweise war ebenso gezogen und ölig: „Ich bedaure, Ihnen auch noch diese geistige Anstrengung zumuten zu müssen, meine Damen“ – so ungefähr redete er. Er verleidete einem die Materie, er begoß alles mit einer langweiligen Farblosigkeit, dann war es ebenso grau wie seine Lichtbilder. Und die Anatomie-Vorträge. – „Nun passen Sie einmal auf, meine Damen,“ sagte der Dozent und führte pfiffig grinsend den Finger an die Lippen, – die Damen paßten auf – er zeigte ein Glas, in dem ein kleiner, brauner Fötus saß. – „Nun passen Sie einmal auf.“ – Als die Kurse gegen das Ende gingen, sah Renée die völlige Zwecklosigkeit ein. Es war alles Mögliche durcheinander geredet worden, man hatte eine Weile das befriedigende Gefühl eines Nutzens herumgetragen. – In Wahrheit war es völlig sinnlos – in Wahrheit blieb nur das, was der alte Herr gesagt hatte, weil er es aus einem übervollen Herzen heraus gesagt hatte – das von dem lächelnden Sokrates. – „Ich finde es sehr sonderbar,“ sagte Papa, „daß sich weder Sarah nach Hannsbabo bei mir sehen lassen. Geh doch einmal hin, Renée, und erkundige dich.“ – „Vielleicht wollen sie ein wenig für sich sein, Papa.“ – Papa sagte: „Unsinn, geh nur hin.“ Um fünf ging Renée hin. Dann ritt Hannsbabo meist und Sarah war vielleicht auf Besorgungen in der Stadt. – Der Diener sagte, die gnädige Frau wäre zu Hause. Mit einem sonderbar peinlichen Gefühl trat Renée ein, sie hatte ihre Schwägerin so lange nicht gesehen. Sarah stand am Fenster ihres Zimmers und wandte sich langsam um, als Renée eintrat. – „So lange bist du nicht gekommen, kleine Renée, fast ein Jahr.“ – „O – war es so lang!“ sagte Renée. „Es kommt, weil ich bei Elisabeth sein mußte und ...“ „Hat es sogar Gründe?“ sagte Sarah, „das ist mehr, als ich erwartete.“ – „Sei doch nicht bös zu mir, Sarah. Ich wollte bloß sehen, wie es euch geht.“ Sarah antwortete: „Mir geht es gut. Er ist in keinem guten Zustande.“ – „Warum oder inwiefern?“ – „Er hat unangenehme Dinge im Dienst. Er möchte fort oder sich versetzen lassen, und dann wieder möchte er es nicht, weil er nicht in die Provinz will.“ – „Papa könnte doch zu Manteuffel gehen und es ihm besorgen,“ sagte Renée. „Ja eben; es wäre ganz leicht zu machen,“ antwortete Sarah. „Schließlich nimmt ihn Reischach auch gern als Brigadeadjutant – aber er will eben allerlei und niemals etwas Bestimmtes.“ „Was sind es denn für Unannehmlichkeiten?“ – Sarah ging hin und her – sie antwortete nicht – dann blieb sie vor Renée stehen. – „Er hat Stubenarrest gehabt wegen einer Affäre mit Prinz Johann.“ – „Das ist doch ganz egal, so was!“ – „Ihm ist es eben nicht egal,“ sagte Sarah. – „Papa frug, ob ihr nicht einmal kommen würdet?“ Sarah lachte. „Rückt der Diplomat nun endlich damit heraus? – Ja nun. Er wird nicht wollen.“ „Warum denn nicht?“ frug Renée. – „Ach, so – er redet nicht gerne, und er sagt, Menschen ärgerten ihn nur und machten ihn nervös. –“ „Ja, aber Papa – –“ sagte Renée indigniert. Sarah zuckte die Achseln: „Er wird wohl warten müssen.“ – „Aber, Sarah, könntest denn _du_ ihn nicht veranlassen? Wenn du ihn nun bätest.“ – „O – ich bitte ihn nie, um nichts. Und nun – wechseln wir das Thema, kleine Renée.“ – „Aber so komm du doch wenigstens,“ wagte Renée noch einzuwenden. Sarah schüttelte energisch den Kopf. „Ich hasse es, ausgefragt zu werden,“ sagte sie. Nebenan die kleine Uhr auf den Alabastersäulen schlug. Sarah sagte: „Tu mir den Gefallen und geh. Er wird in einer halben Stunde zurückkommen vom Tattersall, ich möchte nicht, daß er dich eben jetzt bei mir träfe.“ – Renée zögerte, wunderte sich. – „Geh bitte, sei nicht bös, es ängstigt mich.“ – Renée ging. Sie sah ganz von weitem schon Hannsbabos Dogcart und lief schnell um die Ecke. Renée bekam eine Anzeige, daß ihre frühere Schule einen Lateinkurs eingerichtet habe. Sie meldete sich an. Als Renée kam, waren sie schon mitten drin. Eine spitzige Lehrerin nahm daran teil, eine blasse, sehr blonde Person und ein Zwillingspaar, Renée war die fünfte. Die sehr Blonde sagte nach der ersten Stunde, sie müsse Renée schon irgendwo einmal gesehen haben. Ihr Name sei Margit Roeren. – Renée wußte nichts davon – sagte: „Vielleicht in der Tanzstunde oder auf irgend einem Ball.“ – „Ich habe niemals Bälle und dergleichen aufgesucht,“ antwortete Margit Roeren mit fühlbarer Ablehnung. – Sie gingen eben am Ufer entlang, als sie sprachen, und Renée sah die andre einen Augenblick an, sah, daß sie Trauer trug. – Margit Roeren schien es zu bemerken. – „Ich habe seit fünf Jahren unablässig Trauer,“ sagte sie, „meine Brüder haben die Gewohnheit sich zu erschießen, einer nach dem andern. – Hingegen ich werde zuverlässig von dieser Gewohnheit abweichen.“ – Renée kam ein unsympathisches und bedrückendes Gefühl, so ganz ohne Grund eingeweiht zu werden in diese Geschehnisse – sie schwieg und vermied es, die andere anzusehen. – Die frug gleichgültig: „Eigentlich warum nehmen Sie teil an diesem lächerlichen Lateinkurs?“ – „Ich weiß es in Wahrheit nicht. Ich glaube aus Langeweile,“ meinte Renée. – Margit Roeren ereiferte sich: „Nicht wahr, ja gerade aus eben diesem Grunde tue ich es auch. Aber ich finde, es ist noch langweiliger als Langeweile.“ – „Man lernt so langsam,“ sagte Renée, „und man ärgert sich so an sich selbst. Diese verflixten Deponentia! Ich werde sie mein Leben lang als Passiva gebrauchen.“ – „Ach, es kommt noch ganz anders,“ sagte Margit Roeren, „wenn erst die Syntax losgeht.“ – „Sagen Sie, was ist das eigentlich genau genommen?“ Die andere lachte: „Genau genommen ist gut! Es ist so Satzlehre. Was für Casus die Wörter haben und ob mit Conjunctiv oder ohne – solches Zeugs eben.“ Nach einer Pause – nun waren sie schon an der roten Brücke angelangt – sagte Margit Roeren: „Ich habe eine Frage an Sie, übel nehmen tue ich eine Abweisung nicht. Wollen Sie mit mir verkehren?“ „Ich will es gern.“ Margit Roeren lächelte auf einmal in einer sehr scheuen Art, sie sagte: „Sie werden nachher doch nicht mehr mögen. Aber – es freut mich sehr.“ Sie gab Renée die Hand und lief quer über das Trottoir gerade noch vor einem Wagen hin. Renée sah sie in eins der Häuser gehen. – In einer der nächsten Lateinstunden lud sie Renée ein. Renée hatte erst einen Kampf mit Papa. „Man geht nicht so ohne weiteres zu irgend welchen unbekannten Damen,“ sagte er. „Sieh wenigstens mal im Adreßbuch nach.“ – Margit war dort nicht aufzufinden, es gab auch keinen dazugehörigen Vater noch Mutter. – „Immer diese obskuren Bekanntschaften,“ brummte Papa. Aber dann ließ er Renée doch gehen. Margit Roeren hatte ein weiches, seidnes Kleid an von der Farbe ihres Haares. Sie brachte Renée in eine Ecke des Zimmers, wo bereits mehrere Leute saßen, dann ging sie in die Mitte, und während nebenan die Musik einsetzte – Harfe und Flöte – begann sie zu tanzen. – Sie hatte einen schweren, goldenen Stab in der Hand, den sie mit wirbelnden Gesten um den Kopf schwang. Sie stieß den Stab auf den Boden und sprang mit einem katzenartigen Aufbäumen daran hoch – dann sank sie nieder mit einem leisen Aufschrei – Renée hatte eine instinktive Bewegung gemacht, um zu helfen – ein Mann neben ihr legte mit warnendem Ernste die Hand auf ihren Arm. – Margit sprang auf – in einem wilden Wirbel taumelte sie an die Wand – dann sah sie um sich mit rasenden Augen – der goldne Stab lag in der Mitte des Zimmers. – Margit sprang vor, sie warf den Stab in die Luft und fing ihn wieder auf ihren ausgestreckten Armen – sie warf ihn von neuem – fing ihn auf – wieder – sie ließ sich niederfallen, sie fing ihn auf mit ihrem Körper – sie seufzte, als er aufschlug. – Die Leute neben Renée standen auf. Der Herr winkte ihr und deutete nach nebenan. Dann schloß er die Türen. Kaum war das geschehen, so begann er aufgeregt auf Renée einzureden: „Ist es nicht wundervoll, ist es nicht offenbarend? Sie tanzt in Trance. Sie fühlt keinen Schmerz. Natürlich, Sie haben das bemerkt. Es ist ein ganz außerordentlicher Fall von Medialität – haben Sie das Hervortreten der Augen beobachtet und die vergrößerten Pupillen?“ – Dann verbeugte er sich: „Sie verzeihen, ich vergaß der Sitte nachzukommen. Ich heiße Tschernikoff, Dr. med., das heißt, jetzt widme ich mich lediglich dem Studium okkultistischer Phänomene. Dem übersinnlichen.“ Renée frug: „Tanzt Margit Roeren oft?“ „Gewiß, ja gewiß! Aber sie führt noch anderes aus. Zum Beispiel der Versuch der sogenannten Kraftprobe.“ – „Was ist das?“ – Doktor Tschernikoff begann leidenschaftlich zu gestikulieren: „Also man stellt die Dynamik, – das will sagen die Kraftmöglichkeiten eines Menschen fest bei normaler psychischer Verfassung. So und so viel kann er heben, tragen und so weiter, mehr nicht. Dann versetzt man ihn in Hypnose. Nun zeigt sich die Differenz aufs eklatanteste. Wir können es heute machen.“ – „Ach, lieber nicht“ sagte Renée erschreckt, „sie ist schon so ermüdet.“ Der Doktor lachte verächtlich. „Nein, keineswegs. Das tut ja auch gar nichts zur Sache. In Trance fühlt sie keine Müdigkeit, keine Anstrengung, keinen Schmerz. Sie werden sehn“ – der Doktor lief hinaus. – Die anderen Leute redeten Russisch. Sie bedeuteten Renée, daß sie leider _nur_ Russisch könnten, indem sie mit Gesten äußerster Hilflosigkeit sich auf die Lippen klappten und die Achseln zuckten. Der Doktor riß die Tür auf und rief etwas Unverständliches. Er führte Margit an der Hand herein – in der Mitte des Zimmers lagen mehrere eiserne Gegenstände – altertümliche Waffen, es hingen eiserne Kugeln von verschiedener Größe daran. Margit hob eine, eine zweite, die dritte und vierte war zu schwer. Der Doktor versuchte sich daran und die anderen Russen. Sie schienen ziemliche Mühe zu haben – Renée bekam Lust. – Renée hob mit äußerster Anstrengung die dritte. „Dann ist diese selbstverständlich zu leicht, wenn eine Frau im normal psychischen Zustande sie heben kann,“ sagte Doktor Tschernikoff. „Wir werden also die vierte nehmen.“ – Renée versuchte die vierte. Sie brachte sie nicht vom Boden. Der Doktor lächelte und nickte befriedigt vor sich hin. „Margit wird sie in der Trance heben,“ sagte er. Er führte Margit hinaus. Einer der Russen begann Flöte zu spielen. – Dann kam Margit – sie ging mit steifen Schritten, deren Rhythmus sich dem des Flötenspiels sonderbar anschloß. – Renée war in großer Erregung. Sie wollte dazwischentreten und es verbieten – sie ging auf die Russen zu und sagte ihnen auf Französisch, sie müßten den Doktor zurückhalten. Es sei Wahnsinn, und Margit würde sich schaden, krank werden, sich ruinieren, wenn sie diese Kugeln hob. – Sie lächelten töricht, klappten sich auf die Lippen, zuckten die Achseln. – Margit faßte das lange Ding an mit der großen, eisernen Kugel, sie brachte es nicht vom Boden. Der Doktor trat neben sie, er faßte sie bei den Schultern und sprach zu ihr mit einer leisen, monotonen Stimme – Margit versuchte es von neuem. Sie faßte es an – dann kam ein Beben in ihre Glieder, sie sagte: „Ich kann nicht.“ Der Doktor redete auf sie ein – sie warf die Hände vors Gesicht und weinte. – Die Türen wurden geschlossen. Renée wollte warten, wollte Margit beruhigen, ihr irgendwie helfen. Sie blieb. Die Russen gingen, sie verbeugten sich ungeschickt an der Tür. – Nach einer langen Zeit, es mochte eine Stunde sein, kam Margit. Sie trug wieder Schwarz und sah wieder blaß aus. Sie kam langsam auf Renée zu, die aufgestanden war. – „Was haben Sie mir getan? Wenn Sie es doch nicht getan hätten.“ – „Was denn?“ Margit lehnte sich ans Fenster. Sie stützte die Arme auf das Brett. „Warum haben Sie das gesagt, ich sollte dies unmögliche Ding aufheben?“ – „Ich – ich wollte nur selbst versuchen, ich habe doch gar nichts gesagt! Ich wollte sehen, wieviel Kraft Sie hätten in der Trance.“ Margit lachte höhnisch: „Ich sage Ihnen, es ist Unsinn. Ich kann das andere heben mit der größten Anstrengung – dieses nicht, dieses ist viel zu schwer, nie kann ich das.“ – „Aber Doktor Tschernikoff sagte doch, in der Hypnose ...“ Margit lachte – wie das Schreien von irgend einem Vogel klang es. – „Ja – gewiß. Er meint das. Ich lasse ihn dabei. Aber es ist Unsinn.“ – „Warum sagen Sie ihm das nicht einfach?“ – Margit stieß einen harten Laut aus, lachte: „Sagen? Dann ginge er fort! Dann – ginge er fort –.“ Ihre Worte klangen wie ein Wimmern. – „Ich verstehe es alles nicht,“ sagte Renée. Margit trat vor sie hin; während sie sprach, stand sie ganz nah und schüttelte die Fäuste vor Renées Gesicht – immer dicht vor Renées Augen. – „Er liebt mich nicht,“ schrie sie, „nicht mich. Nur das Mediale. Nur diesen Unsinn, das Hirngespinst, die Qual. Das liebt er. Und wenn ich es ihm nicht tue, geht er fort – geht fort.“ – Sie trat zurück ans Fenster, sie sprach weiter, ihre Sprache wurde lauter, heller, schließlich gellend – schließlich schrie sie: „Er geht fort. Nur dies hielt ihn noch!“ ... Sie weinte. – Renée streichelte ihr Haar, ihre Hände, in dem verzweifelten Bemühen zu trösten. „Sie müssen nicht weinen, Margit. Sehn Sie, das lassen Sie nun alles und trennen sich von diesem Menschen. Sehn Sie, Sie können, Sie dürfen diese Dinge nicht mehr tun. Es sind ja Wahnideen von ihm.“ „Nein,“ schrie Margit. „Ich kann nicht. Ich kann ihn nicht lassen.“ – Renée wußte ihr nicht zu helfen. Es grauste ihr, und eigentlich fand sie alles maßlos und wahnsinnig – und eigentlich wäre sie am liebsten fortgelaufen, ohne sich auch nur umzusehen. – „Ich merke, nun kommt Ihnen der Ekel vor der ganzen Bagage,“ sagte Margit Roeren. Renée schämte sich ihres Gedankens und schämte sich, verstanden worden zu sein. – „Reden Sie doch nicht so,“ sagte sie. „Es ist nur, ich möchte helfen und weiß nicht wie, und ich meine, Sie sollten diese Dinge nicht weiter tun.“ – Margit Roeren sah Renée mißtrauisch an. „Am Ende tun Sie besser, sich nicht mit diesen Dingen zu befassen, Fräulein von Catte,“ sagte sie. Renée überhörte das. Sie nahm Margits Hand. Sie sagte: „Sie müssen sich von diesem Menschen trennen, Sie dürfen diese furchtbare Komödie nicht weiter aufführen. Und dann – ich muß Ihnen sagen, ich glaube, dieser Russe ist verrückt, geisteskrank.“ – Margit Roeren schüttelte den Kopf. „Sie Unschuld – o Sie Unschuld!“ Sie lachte, sie wollte gar nicht aufhören mit Lachen. – Es war ein so widerliches, ein so widerlich-überlegenes Lachen. – Renée ging eilig fort. – Als sie auf der Straße war, fiel ihr allerlei ein: Ein peinlich penetranter Geruch war in den Räumen gewesen von Parfüm und Räucherwerk wohl, und es war so eine exotische Einrichtung mit lauter Fellen und Waffen. – Und wie diese Russen sich immer auf den Mund schlugen, wie blöde sie grinsten. – Dann, als Renée nach Hause kam, hatte sie richtig ein schlechtes Gewissen gegen Papa. Papa hatte es doch gleich gesagt. Dann dachte sie: Das arme Ding! Muß ich ihr nicht helfen? Ist es nicht eines Menschen Pflicht? Und wiederum war sie nicht so ganz sicher in dieser Auffassung. – Eines Abends kam Sarah. Renée war in ihrem Zimmer und las; manchmal sah sie über das Buch weg auf die Straße, wie die Straße glitzerte vom Regen. Im feuchten Asphalt spiegelten sich die Flammen der Laternen und die Bogenlichter vor den Läden. – Jemand öffnete leise und sagte ihren Namen. – „Wie ist das schön, daß du ein wenig kommst, Sarah. Und wie geht es Hannsbabo?“ – „Es ist nichts Neues mit ihm.“ Sarah setzte sich auf die Bank hinter Renées Schreibsessel. – „Ich sehe ihn wenig. Und du – was tust du, Renée?“ – Renée lachte: „Was eigentlich? Nichts. Ich sitze so da und habe ein Buch vor der Nase. Und nun freue ich mich, daß Sarah da ist.“ Sarah betrachtete das Buch. – „Geschichte,“ sagte sie. „^Oh dear.^“ Dabei zog sie ein ganz klein bißchen den rechten Mundwinkel herunter. „Ist das nun sehr langweilig?“ – „Hast schon recht, Sarah. Außerdem behält man nichts. Man hat immer am Ende den Anfang vergessen.“ Sarah faßte das Buch an beiden Seiten und klappte es zu: „Bumms! Ich möchte mit dir was sprechen, kleine Renée. Sag mir, glaubst du, dein Vater ist böse auf deinen Bruder?“ – „Ich weiß nicht.“ – „Und sage mir, weiß dein Vater von der Sache mit dem Prinzen?“ – Renée wußte das nicht. Renée wollte sich gleich erkundigen, wenn Sarah wünschte. – Sarah begann hin und her zu wandern im Zimmer. Sie redete in kurzen Sätzen, indem sie die Worte langsam aussprach mit einer gewissen Bedenklichkeit. – „Es ist dies geschehn,“ sagte sie. „Der Prinz hatte sich sehr mit Hannsbabo angefreundet. Ich weiß nicht, was sie so aneinander fesselte. Aber er kam fortwährend. Man wurde ihn gar nicht los. Hannsbabo brachte ihn mit vom Dienst, vom Reiten um sechs, und um Mitternacht saß er noch da. Und nun das Sonderbarste. Hannsbabo war bei aller Freundschaft in irgend einer Weise eifersüchtig auf ihn.“ – Sarah hob ein wenig den Kopf beim Gehen, nur sehr wenig, und sah nach Renée. – „Er hatte keinerlei Grund,“ sagte sie. „Der Prinz also kam jeden Tag. Und dann war bis in die Nacht hinein ein großes Gelärm. – Dann paßte es mir nicht mehr. Ich ging um zehn zu Bett und sagte, ich wäre sehr müde. Der Mensch blieb. Er war noch nicht müde. Er saß mit Hannsbabo bis zwei. Sie tranken. Sie tranken ohne Ende. Dann verbot ich das. Hannsbabo versprach: ‚Morgen schick ich ihn um elf weg‘. „Um Mitternacht gab es einen großen Lärm vor der Tür meines Zimmers. Und dann schimpften und rauften sie und forderten sich. – Dies ist widerwärtig. Es genügt, was ich erzählt habe. – – Ja, was ich wissen wollte, ist dies: In welcher Form ist die Sache an seinen Vater gelangt?“ – „Ich glaube nicht, daß Papa davon weiß.“ „Ich wünsche, daß er es weiß,“ sagte Sarah. „Aber Sarah, warum denn? Laß es doch. Nachher wird Papa nur böse gegen Hannsbabo und Hannsbabo wird böse – o, es ist so furchtbar, wenn die beiden aneinanderkommen.“ – Sarah stand einen Augenblick still. – Sie betrachtete Renée. Sie lächelte – fast nur mit den Lippen – dann warf sie den Kopf zurück mit dieser sonderbar schroffen Bewegung. – „Ich konnte mir das denken, daß du viel zu sehr _ihn_ lieb hast, um diese Sache irgendwie einzusehn,“ sagte sie. „Ich werde nicht mehr davon mit dir reden.“ Sarah ging hinaus. „Sei doch nicht bös, Sarah, hör doch.“ – Renée lief ihr nach. Sarah nickte ihr lächelnd zu. Sarah warf ihren großen braunen Pelz um. Kaum hörbar schloß sie die Tür. – Was konnte nur geschehen sein? Renée wurde die ganze Zeit das drückende Gefühl eines Unrechts gegen ihren Bruder nicht los. Sie hätte ihn warnen müssen, falls Papa es doch erfuhr. Damit er vorbereitet war. Damit er nicht so erschrak. Nicht überrascht wurde. Und dann wieder – Sarah war zu ihr gekommen aus Vertrauen. Nun sollte sie vorgreifen – sollte das, was Sarah gesagt hatte, ausbeuten zu einer eignen ‚guten Tat‘. – Papa schien doch irgend etwas zu wissen. Er studierte das Militärwochenblatt so genau. – In den Lateinstunden saß Margit Roeren Renée gegenüber, ohne sie anzusehn. Und wenn Margit Roeren aufsah, so war es ein scheuer, trauriger Blick. Renée fühlte sich gequält, hilflos, weil sie nicht helfen konnte. – Es war wie eine Befreiung, als sie mit Papa nach Groß-Gehren übersiedelte. Es war frei und gut, in dem großen Garten mit den graden Buchsbaumwegen umherzugehn. – Nun sah sie wieder das dunkle, dunkle Wasser, und gegen den Juni begann das einförmige Quaken der Frösche an den warmen Abenden. Und alles dies machte ruhig, gab eine weiche Müdigkeit. – – Im Sommer kam Elisabeth. Sie brachte das Baby mit. Bill wurde in das große, weiße Zimmer einquartiert, das Renée als Kind gehabt hatte. Elisabeth sorgte viel um ihn. Renée sah sie kaum in der ersten Zeit. An einem Sonntag kam Viktor herüber. – Am Abend dieses Tages fand Renée Elisabeth sonderbar verstört und erregt. Elisabeth wartete nicht, bis Papa seine abendliche Zigarre geraucht hatte; schon als Papa vom Tisch aufstand, zog sie Renée in den Garten. „Was Viktor erzählt hat,“ begann sie, „diese Skandalgeschichte von Sarah. Ich sage dir –“ Renée wußte erst gar nicht – „Skandal, was denn?“ Elisabeth hatte sie unter den Arm gefaßt. – „Denke dir, was angefangen hat sie mit Prinz Johann; Hannsbabo hat ihn gefordert.“ – Renée fuhr auf. „Es ist unwahr,“ sagte sie, „das ist eine ganz gemeine Lüge.“ – Sie erzählte, was sie von Sarah wußte. Elisabeth unterbrach sie nicht. Elisabeth munterte sie auf durch Fragen – Zwischenreden. – Zum Schluß sagte Elisabeth: „Recht gewandt hat sie sich herausgelogen.“ – Renée war außer sich, rief Elisabeth irgend ein Schimpfwort nach und lief ins Haus. – Sie wartete gar nicht auf Entgegnungen und Erklärungen. Sie schrieb an Hannsbabo. Als sie zur Post ging, daß der Brief noch mitkam, fiel es ihr irgendwie auf die Seele, daß sie vielleicht anders hätte schreiben sollen – ruhiger – vorsichtiger. – Vor der Postagentur traf sie den Boten, der nahm ihren Brief mit. – Elisabeth sagte, es sei empörend, welche ungehörige Ausdrucksweise Renée habe; natürlich könnte man nichts mit Renée ruhig besprechen. Dieses ewig auffahrende, heftige Wesen, das sie bereits in der Kindheit zur Schau getragen hätte. – „Als Kind hattest du vierzehn Erzieherinnen, da auch niemand es mit dir aushielt,“ sagte Elisabeth. Sie murmelte dann etwas von Unreife. Von Hannsbabo kam die Antwort: „Du tust mir unrecht, wenn du glaubst, ich sei lässig, Sarahs Ehre, die die Meine ist, gegen jedermann hochzuhalten. Ich danke dir. Ich habe an Elisabeth geschrieben.“ Am Abend rief Papa Renée zu sich. „Es ist durchaus indiskret von dir,“ so sagte er, „daß du Elisabeths natürlich unter vier Augen geäußerte Dinge weitergegeben hast. – Du wirst nun sorgen müssen, daß wenigstens die Version, die ich jetzt, um die Spitze abzubrechen, der Sache gegeben habe, aufrecht erhalten bleibt, auch von dir aus,“ – Papa betonte das, – „nämlich daß Elisabeth es nicht von Viktor gehört hat, sondern von irgend einer alten Dame, deren sie sich nicht genau erinnert und daß –“ „Pfui, ist der Viktor ein feiger Kerl!“ „Rede doch nicht immer so unreifes Zeugs,“ donnerte Papa. „Glaubst du etwa, ich habe Lust, mir Sohn und Schwiegersohn aneinanderhetzen zu lassen von eurem albernen Weibergewäsch.“ – Renée wurde wütend: „Ich kann nichts dafür, und daß ich indiskret wäre, laß ich mir auch nicht sagen und überhaupt gehört das für Elisabeth, dein Schelten.“ – „Na ja, es ist sehr töricht von Elisabeth,“ sagte Papa einlenkend. Renée antwortete nicht. Sie lief ärgerlich fort und ließ Papa allein. Draußen stolperte sie fast über Bill, der sich brüllend auf der Erde herum rollte. – Sie mußte lachen auf einmal. – Da war der Cattesche Hartschädel auch schon in dem winzigen Kerl. – „Na, ein Gutes haben solche Geburtstage doch,“ sagte Papa eines Morgens. „Die zerspaltenen Familienmitglieder sammeln sich.“ – Elisabeth horchte auf. – „Also Hannsbabo und Sarah werden am achten hier eintreffen und eine Zeit seines Urlaubs hier verleben.“ – Elisabeth beugte sich vor, aber da Papa bereits den Brief wieder zu sich steckte ... „Wer schreibt?“ frug sie. „Sarah schreibt,“ sagte Papa, „und Hannsbabo schließt sich mit Grüßen an.“ – Nach dem Kaffee konnte Elisabeth es doch nicht aushalten. So herrlich und ersprießlich auch Bills Gesellschaft war, über Sarah und Hannsbabo konnte man nicht mit ihm reden, unmöglich. – Elisabeth mußte also mit Renée vorlieb nehmen. – „Warum, glaubst du, kommen sie?“ frug Elisabeth. Renée sagte: „Ich ahne es nicht.“ „Ach, Renéechen, sei doch nicht immer so muffig.“ – Renée schwieg. „Ob Sarah wieder einen besseren Eindruck hervorrufen will in der Familie?“ – – Renée holte sie von der Bahn. Wie sie so dastand und den Zug von weitem kommen sah, den winzigen, schwarzen Punkt neben der hellen Rauchflocke – wurde ihr ein wenig angst. Wie würde Papa ihn empfangen, und Elisabeth – wenn sie nun wieder ihre taktlose ‚Offenheit‘ hervorkehrte! – – Hannsbabo stieg aus. – Renée sah es gleich, wie blaß er war – nach ihm kam der Machnower Arnim – dann stieg Sarah aus. Herr von Arnim hatte ihr die Hand gereicht. Renée begrüßte sie, nahm Sarah den Schirm ab. – Hannsbabo ging voran. Während der Fahrt mußte Renée sich Mühe geben, ihn nicht immer anzusehen. Ein sonderbarer, kleiner Zug war um seinen Mund von Überdruß. – Sarah frug nach Papa, nach Elisabeth, nach dem Baby. Sie sprach schnell und aufgeregt. Nicht einmal richtete sie das Wort an Hannsbabo. – Nach dem Abendbrot saß man auf der Veranda draußen. Papa rauchte, neben ihm saß Sarah. Hannsbabo ging hin und her auf dem Platz am Wasser, und manchmal blieb er stehn – vielleicht hörte er zu, was sie sprachen. – Auch Elisabeth war da. Sie saß Sarah gegenüber mit irgend einer Näharbeit für Bill. Alle schwiegen. Papa sah ab und an zu Hannsbabo hinüber, nur so mit den Augen, ohne eigentlich den Kopf zu bewegen. Er sah müde aus, und Renée fand, man merkte auf einmal etwas von seinem Alter. Plötzlich hörte Renée Sarah sprechen – sie wandte sich um. – Sarah hielt den Oberkörper ein wenig vorgebeugt und stützte die Hände auf die Platte ihres Stuhles. Sie hielt die Lider der Augen halb geschlossen und sprach. – „Du hast, Elisabeth,“ sagte sie, „es für richtig befunden, einen unverschämten Klatsch, welchen irgend einer deiner Freundschaft dir hinterbracht haben mag, über mich zu verbreiten. Ich mache dich aufmerksam, daß ich derlei nicht zulassen kann,“ – sie machte eine Pause. – Elisabeth hielt ihr Nähzeug in der Hand und betrachtete mit starrem Entsetzen Sarah. – Papa – ein ganz bißchen lächelte er – hielt seine Zigarre steif vor dem geöffneten Munde und betrachtete erstaunt Sarah. Sarahs Gesicht blieb unbewegt. Kaum daß sich unter den Lidern ein wenig die Augen hoben. – „Ich erwarte,“ fuhr Sarah fort, „daß du mir den Brief zeigst, den du zur Regelung der Sache an den Urheber augenblicks schreiben mußt, ich werde dann den Brief abschicken. Ich denke, nach dem wirst du dich bei mir entschuldigen. – Dann würde ich die Sache für erledigt erachten.“ – Renée sah genau Sarahs Gesicht. Eben jetzt kam das heimliche Lächeln, das Sarah manchmal hatte, das nur von den Lippen herrührte. – Sarah sagte: „Andernfalls wird dein Bruder die Angelegenheit mit dir und deinem Manne zu erörtern haben.“ Hier mischte sich Papa hinein. Er beugte sich vor, klopfte mit einer besonders ruhigen Art die Asche von seiner Zigarre und sagte: „Oho, Sarah. Nur nicht gleich so tragisch. Müssen denn immer die Männer wegen solcher Lappalien auf die Beine gebracht werden?“ – Sarah wandte sich herum – eigentlich fuhr sie herum – und sah Papa ins Gesicht. „Das ist nicht ‚Lappalien‘,“ sagte sie. „Das ist die Hauptsache.“ Sie erhob sich, sie sagte: „Ich überlasse das Weitere deinem Sohne.“ Dann ging sie zur Tür. – Renée sprang auf, im selben Augenblick erhob sich Papa. – „Aber Sarah, bleib mal hier, nicht wahr, und laß uns die Sache ruhig besprechen – schließlich –“ „Ich werde hierbleiben,“ antwortete Sarah. „Aber ich muß an dem festhalten, was ich bereits sagte. Wenn es dir recht ist,“ – Sarah sah mit einem außerordentlich zuvorkommenden Lächeln zu Papa hinüber – „wenn es dir recht ist, so gehe ich ein wenig mit Renée in den Garten so lange. Würdest du mir meine Jacke geben, Renée?“ – Als Renée mit der Jacke zurückkam, fand sie Sarah und Hannsbabo am Wasser. Sie standen nebeneinander. Es schien, sie sprachen nicht. – Sarah schob ein wenig ihren Arm unter Renées Arm beim Gehen. Sie waren schon eine ganze Weile gegangen, dann frug Sarah: „Warum sagst du nichts?“ – „Dieses Ganze bedrückt mich so,“ antwortete Renée. „Ich weiß nicht eigentlich den Grund.“ – „Was ist es? Meine Angelegenheit mit Elisabeth? Aber –“ „Nicht eben das, Sarah. Aber sage mir, wie kommt es, daß diese Sache überhaupt geredet worden ist?“ – Sarah machte ein hochmütiges Gesicht. „Weil sich dein Bruder außerordentlich taktlos verhalten hat,“ sagte sie. Renée dachte daran, wie sie Hannsbabo heute wiedergesehen hatte, mit diesem Überdruß im Gesicht. – „Oh. Sarah. Wie ungerecht du bist. Er leidet nicht weniger, weiß Gott, als du.“ – „Ich leide nicht darunter,“ antwortete Sarah. – Renée sah sie an, erstaunt, sah Sarahs ruhiges, gleichmütiges Gesicht. „Mir ist es völlig einerlei,“ sagte Sarah. „Nur – es paßt mir nicht, das Odium irgend einer Handlung auf mich zu nehmen, die ich weder getan habe, noch die zu tun mir irgend eine Annehmlichkeit bedeuten könnte.“ – „Es paßt dir nicht? Aber du begreifst gar nicht, Sarah. Es ist Hannsbabo, der leidet – und nicht du. Ein Mensch will doch niemals denjenigen, den er liebt, leiden machen. Ich glaube, hassen müßte man alle, die ihn leiden machen. – Oh, und selbst einer zu sein von denen, die ihn quälen – entsetzlich ist das –“ Sarah wandte sich um. – „Kleine Renée,“ sagte sie, „du phantasierst!“ – „Sag mir doch, Sarah, fühlst du das nicht?“ – „Es gibt viel mehr Versionen der sogenannten Liebe, als du es ahnst,“ antwortete Sarah. – „Aber wenn man doch sieht, daß der andre Mensch leidet – leidet. Wenn man sieht, daß jede Freude, jedes Glück, jedes Lächeln von ihm genommen wird – und bleibt nichts als Bitterkeit.“ – Sarah und Renée gingen weiter; sie schwiegen beide; auf einmal blieb Sarah stehn, faßte Renée den Armen. – „Meinst du mich?“ sagte sie mit einem bösen, schroffen Ton. „Dich? – ich weiß nicht – ich meine niemand.“ Sarah wandte sich zum Gehen. – „Solltest du mich meinen,“ sagte sie, „so irrst du dich einigermaßen. Du wirst das wohl selber bald einsehn.“ – Sie gingen zum Haus zurück. – Als Renée nach einer Stunde etwa zur Veranda kam, war niemand mehr da. Sie fand Papa in seinem Zimmer. „Es ist eine verteufelte kleine Person, diese Sarah,“ sagte er, „Donnerwetter, die ist dazwischen gefahren! – Und den Jungen hat sie an der Strippe.“ – „Was ist denn noch gewesen,“ sagte Renée. „Na, sie hat ja nicht so ganz unrecht,“ sagte Papa. „Elisabeth wird fernerhin ihren Mund etwas hüten müssen. Der Viktor ist eben ein bißchen schlapper Kerl. Na – hat Sarah dir sonst noch was anvertraut?“ – „Nein,“ sagte Renée, „gute Nacht, Papa.“ Sie küßte Papas Stirn. „Gute Nacht, mein Kind.“ – Elisabeth war von sanfter Güte von nun an gegen die Schwägerin. Es zeigte sich schon am andern Morgen, es zeigte sich vornehmlich darin, daß sie Partei ergriff gegen Hannsbabo. – Elisabeth und Renée saßen am Kaffeetisch. – Hannsbabo kam. Er sagte kein Wort. Er setzte sich schweigend. – Elisabeth markierte ein verzeihendes Lächeln. – „Kommt Sarah auch schon?“ frug sie. – „Ich weiß nicht“ – „Nun, du hättest doch wirklich einmal nach ihr sehen können, ehe du heruntergingst, ich finde –“ „Laß das alberne Geschwätz,“ sagte Hannsbabo. – Er sah nicht um sich. Er nahm vom Brotteller, was er gerade zu fassen bekam, und fing an es zu essen. – Renée reichte ihm die Butter, er nahm es nicht an, er sagte: „Laß mich in Ruh!“ – Dann kam Sarah. Elisabeth lief ihr aufgeregt entgegen – dann ging sie hinaus. Man hörte sie Toast bestellen für die gnädige Frau, daß sie ja recht heiß hereinkämen. Hannsbabo sah gar nicht auf. – Sarah trat an den Tisch, einen Augenblick blieb sie stehn, sah ihn an. Hannsbabo wandte ihr langsam die Augen zu – bewegte nur die Augen. – Renée fühlte eine atemlose Angst plötzlich – was würde geschehn. Sie murmelte irgend etwas von Schokolade, die Johann wieder vergäße, und lief hinaus. – Später sah sie Hannsbabo auf dem Balkon sitzen, da wo man ganz weit hinsehen kann über die Fläche des Wassers. Er saß still gegen den hellen Himmel. – Eine Weile betrachtete ihn Renée. Sie war gar nicht weit, aber er sah sie nicht. Er nahm den Blick nicht weg vom Wasser. Gerade in den Horizont sah er hinein, da wo Wasser und Himmel in einem sanften Grau zusammenkamen. – Was dachte er wohl? Dachte er an früher? Dachte er jetzt an seine Kindheit – wie Renée es eben tat – seine Kindheit, die mußte viel schöner gewesen sein, als damals, wo Renée klein war. Für Hannsbabo gab es noch die Mama, die sie die ‚schöne Frau von Catte‘ nannten, die blond war und die so schöne Märchen erzählte. Wenn Renée nachdachte – wie wenig eigentlich wußte sie von der Mama. Glücklich war sie nicht gewesen und so früh gestorben. – – – Renée dachte: Glückliche Menschen sterben spät, aber wenn Menschen sehr traurig sind, die denken so sehr an den Tod, bis er da ist. Ob solche Menschen lächeln, wenn sie sterben? Ob das möglich war, das Ende aller Dinge anzunehmen mit Lächeln? – Renée ging durch den Garten. Von dem großen Strauch an der Gartentür nahm sie ein paar Rosen mit. Still war der Kirchhof unter der mittaglichen Glut. Über den ältesten Gräbern standen schöne Steinkreuze, vom Regen gedunkelt, und manchmal waren Feuerlilien darauf gepflanzt – dicht standen sie an so einem verdunkelten Kreuz. Aus einem steilen Hügel ohne Stein stieg ein Lebensbaum auf, tief und schwarz. Hinter der Kirche lagen die Gräber der Cattes. Eine Weide stand darüber und hing ihre Zweige tief hinunter, breitete ihre silbernen Zweige aus über dem Efeu der Gräber. Renée nahm einen dürren Kranz fort und legte ihre Rosen hin, wo geschrieben stand: ‚Ursula Elisabeth Renée von Catte‘. – Sie legte die Rosen auf ihren eignen Namen da auf dem Stein. – Hier war nur wenig Raum. Renée dachte: Man muß dann das Gitter größer machen, wenn wir da liegen sollen, dann wird mehr Platz unter dem Flieder – das schöne, feine Gitter mit den gekreuzten Pfeilen. – Was bedeutete das denn – vielleicht Schmerzen, wenn einer jung sterben mußte. – Ach, nicht doch. – Hannsbabo ließ sich selten sehn. Er kam nur zu den Mahlzeiten. Dann sprach er kein Wort, löffelte hastig das Essen hinein, sagte nichts, ging wieder. Eine bedenkliche Stimmung entstand zwischen ihm und Papa. Papa sagte: „Hannsbabo, willst du deiner Frau einschenken?“ – Hannsbabo fuhr hoch mit dem Kopf. Dann aß er weiter. Papa stieg der Zorn ins Gesicht, eine richtige, ehrliche Entrüstung. Renée sah es. – „Hannsbabo,“ donnerte er. Der rührte sich nicht. Da rührte Sarah seine Hand an, sie sagte seinen Namen, leise mit einer haarscharfen Stimme – er hob die Augen. Dann gab er Sarah, was sie verlangt hatte, reichte ihr umständlich alles an, legte ihr auf den Teller, wenn der Diener anbot; aber Renée bemerkte, daß Sarah nicht aß, was er ihr gab. – Man hörte so viel Papa und Hannsbabo miteinander streiten. Man hörte Lärm aus Papas Zimmer und das Herumstoßen von Möbeln. Sie schrieen beide so laut, daß man die Stimmen nicht mehr entwirren konnte – es wurde wie ein Brausen in den Ohren. Bei Tisch saß Papa stumm da, und Hannsbabo saß stumm; es wurde immer unerträglicher. Zu Sarah war Papa zuvorkommend und höflich. – Elisabeth war mit Bill fortgefahren. Das Fehlen des Kindes machte sich in unvorhergesehener Weise bemerkbar. Das Baby war ausfüllend gewesen für Verlegenheitspausen. Auch hatte es Papa manchmal erheitert. Es verstand sich so prächtig mit Papa. Nun wurde Papas Aussehn noch böser, und – was das schlimmste war – manchmal sah er traurig aus. Dann wußte man gar nicht, was tun. Renée versuchte mit ihrem Bruder zu sprechen. Aber man konnte ihn niemals finden, und wenn man ihn gefunden hatte, dann wies er jede Anrede schroff ab: „Laß mich in Ruh.“ Oder manchmal – ganz selten war das – dann sagte er auch: „Wenn ihr mich doch nicht so quälen wolltet.“ – Renée aber begriff nicht und kam ihm nicht nah, mit allem besten Wollen nicht. – Sie ging zu Sarah. Sie sagte: „Was hat Hannsbabo? Bitte sag es mir, bitte. Denke nicht, ich will mich hineinmischen, Sarah. Ich frage ja aus Angst. Was hat er? Ist etwas geschehn zwischen euch?“ „Ich weiß nicht. Ich sollte nicht mit dir sprechen,“ sagte Sarah. „Denn du wirst doch stets nur mich mit der Schuld belasten.“ – „Nein, Sarah. Nein. Ich rede gar nicht von Schuld. Ich will ja nur, daß man ihm hilft. Daß du es tust!“ – Sarah schwieg, sah wieder auf ihre Hände, während sie hastig die blitzenden Ringe an ihren Fingern hin und her wandte – sie wandte sie so, daß das Licht hineinfiel. „Willst du gar nicht davon sprechen, Sarah?“ „Nein,“ antwortete Sarah, „gar nicht.“ – Wenn nur nicht zu allem noch diese Stürme gekommen wären in den Nächten. Sie klapperten an den Läden und sausten lärmend durch die Tannen vor Renées Fenstern. Und wie sie an den großen steifen Pappeln tobten und sie herunterzerren wollten. Als Renée klein war, riß der Sturm einmal in der Nacht vier von den Pappeln nieder, nun gab es nur noch zwei, die waren lange nicht so hoch wie die andern. Die andern hatte man sehn können von der Bahn aus, die standen hoch über dem großen Wald, der dazwischen war. Knack tat es draußen – schztt – ein dumpfes Brummen und Knattern folgte: ob der Sturm in die Pappeln gefahren war? – Renée sprang auf und lief zum Fenster. Aber die Pappeln standen noch. Woher nur diese sonderbare Angst kam? Von der Nacht nahm Renée sie mit hinüber in den Tag – und immer gingen die Stürme. – Endlich kam ein ruhiger Abend. Die Sterne waren wieder am Himmel und der große Mond. Kein noch so leiser Windstoß ging draußen, vielmehr standen die Bäume grade und dunkel gegen diesen besternten Himmel. – Draußen war es sehr still. Renée lag im Bett und hatte ein Fenster offen, so daß sie gerade ein Stück Sternhimmel sehen konnte. Manchmal schwebten von dem Ahorn vor ihrem Fenster ein paar gelbe Blätter nieder – die sah sie, denn der Mond war hell. Nun kamen wohl schöne, klare Herbsttage. – War da nicht ein Schritt – Renée horchte – ihr Herz klopfte. – „Ich bin noch wach,“ sagte sie. – Hannsbabo öffnete die Tür, er kam sehr leise, kam ohne Licht; jetzt stand seine Gestalt vor dem besternten Himmel. „Kleiner Bub,“ sagte er, „bist du wach?“ – Renée streckte ihm die Hand entgegen. Er kam und stand an ihrem Bett. „Liegst du mit offenen Augen und siehst in die Sterne, kleiner Bub, ist das schön?“ – Renée streichelte seine Hand. – „Es ist gut, Hannsbabo, daß du einmal kommst. Ganz scheu und fremd hast du mich gemacht.“ Es schien, daß er lächelte. – „Fremd sagst du? Und ich glaubte, du wärest am wenigsten fremd von allen Menschen.“ – Er setzte sich auf den Bettrand. „Nimm dir einen Stuhl herüber, Hannsbabo, dann sitzt du bei mir, willst du?“ Er schüttelte den Kopf. „Wie es ist, gerade so ist es gut. Ich bleibe auf deinem Bett sitzen, bis du schlafen willst.“ – Renée hielt seine Hand, während sie sprachen. – Sie sagte: „Bist du mir denn noch gut, Hannsbabo? Du siehst immer so grimmig aus, und dann traut man sich gar nicht an dich heran, siehst du. – Manchmal denke ich, früher, wo ich ein Kleines war, hast du viel besser mit mir sprechen mögen.“ Jetzt lachte er: „Besser nicht, aber weißt du, du warst ein kluges ‚Kleines‘. Damals, wie ich dir das Bild zeigte, weißt du noch – das war eine sonderbare, kleine Person. Was nun wohl aus ihr geworden ist? Sie lief am liebsten immer in Bubenkleidern.“ „Mochtest du denn die Bubenkleider?“ Er sagte: „Schon. Einmal hab ich ihr einen ‚Jünglingsanzug‘ gekauft, und hab sie mitgenommen auf die Straße – da war sie stolz. Und niedlich hat sie ausgesehn!“ – Er schwieg, dann legte er den Kopf in die Hände. – „Wie ich daherrede – wie das sonderbar ist, daß mir jetzt, eben jetzt die Leichtigkeit jener Dinge wiederkommt.“ – „Ein wenig mehr von deiner alten Leichtigkeit solltest du wohl haben, Hannsbabo,“ sagte Renée. „Manchmal denke ich mir dein künftiges Leben aus, kleiner Bub,“ sagte Hannsbabo. „Ich denke, ob du heiraten wirst, oder bei Papa bleiben, oder hinausgehn mit irgend einem unbekannten Ziel – so wie ich ...“ Renée lachte: „Heiraten – höre, das kann ich mir nicht vorstellen. Es ist für mich etwas ganz Leeres, ein gläserner Begriff, ein Wort.“ „Wieso kannst du dir’s nicht vorstellen?“ Renée sagte: „Das siehst du nicht ein. Zum Beispiel so: kannst du dir vorstellen, Maschaschu, die Frau eines Negerhäuptlings, zu sein?“ – – „Herrgott nein. Wer ist denn das?“ „Sie trat voriges Jahr bei Busch auf,“ sagte Renée. Er lachte: „Wenn ich nur begriffe, wieso dieser dein Vergleich ein Vergleich ist?“ – „Ebensowenig wie du dich hineindenken kannst, ebensowenig kann ich mich eben in das andere hineindenken.“ „Also,“ sagte Hannsbabo, „das Heiraten fällt weg. – Oh mein kleiner, armer Bub. Sicher wirst du eines Tages mit tollpatschiger Begeisterung in irgend eine Leere hineinstürzen. Ich fürchte, das wirst du tun – und dann nicht mit heiler Haut davon kommen.“ „So böse Dinge glaubst du für mich?“ „Ich wünsche sie nicht,“ sagte Hannsbabo. „Ich ahne sie nur. Nein, ich – ich wünsche dir etwas anderes, etwas auserlesen Schönes: – Werde heimisch auf der Erde!“ – „Lieber Hannsbabo ...“ „Weißt du denn schon, was ich meine, mein kleiner Bub Renée. Papa ist heimisch und Elisabeth und Viktor – die alle sehr sogar – freilich. Aber das meine ich nicht. Werde es in einem Menschen. Denke an mich! – Siehst du, ich bin es nie gewesen, aber es muß wundervoll sein.“ – Hannsbabo stützte den Arm auf Renées Bett und lehnte sich ein wenig vor. Renée sah gerade in sein Gesicht, das war erhellt vom Monde. Hannsbabo sagte: „Das muß schön sein, wenn man einen Menschen hat, der ist wie die Heimat, die einen immer aufnimmt, einer, der alles aufnimmt, das Gute und das Böse und Glück und Leid und Sünde.“ „Sünde, Hannsbabo?“ Er fuhr auf und lachte: „Oh ja. Alles. Auch die Sünde.“ – „Glaubst du, das kann es geben?“ Hannsbabo zog seine Hand aus Renées Hand und richtete sich gerade auf. Ganz hell war nun sein Gesicht. – Renée konnte sehn, wie er lächelte, und um seinen Mund war ein sanfter, schöner Zug – und ganz wenig nur bewegten sich nun, als er sprach, seine lächelnden Lippen. „Wer nicht die Sünde aufnimmt, der ist kein Heiland, kleiner Bub Renée.“ – „Ein Heiland, sagst du“ – frug Renée. „Ich liebe die Rosen in all ihrer Pracht, Doch mehr noch den Heiland, der selig uns macht ...“ „Das ist das Lied aus unserem Märchenbuch,“ sagte Renée. „Ja – das ist es!“ – Hannsbabo stand auf. Er beugte sich nieder zu Renée und küßte ihr Gesicht. – Dann ging er. – Renée wachte auf. Es war schon spät und es war kühl. Weiße, kalte Sonne kam herein durch das geöffnete Fenster. – Auf dem Rasen war Reif. Eine dünne, weiße Decke von Reif. – Renée konnte nur schwer ihre Gedanken zusammenholen. Was war doch gewesen? Sie eilte sich fertig zu werden, weil es schon spät war, griff nach ihren Sachen, hatte dabei fortwährend zu denken: wie war es gewesen? Sie ging eilig hinunter, Papa liebte es gar nicht, wenn man spät kam zum Kaffee. – Als sie herunter kam, lief eben die Köchin vorüber, sie warf polternd die Flurtür zu, aus dem Flur hörte man ein Pusten und Schnaufen – alle Türen standen offen. – Renée erschrak; sie fühlte, wie zögernd ihre Füße gingen. – Aus Papas Zimmer kam ihr Sarah entgegen. – Sie nahm Renée bei der Hand, oh wie kalt waren Sarahs Hände. – „Ich glaube, ich soll es dir sagen, Renée,“ sagte Sarah. „Er ist nicht mehr da, er ist nicht mehr am Leben.“ – Renée fühlte nichts, nur eine schmerzhafte Schwäche ging von ihrem Herzen aus, dann wankte sie – sie hörte jemanden leise schreien. – Später, viel später fühlte sie etwas Weiches auf ihrem Herzen und schlug die Augen auf – und sah in Sarahs Augen – und auf ihrem Herzen lag Sarahs Hand. Renée hob die Arme und stieß sie fort. Dann stand sie auf. Mit allem Willen trieb sie das Wanken und die Schwäche aus ihren Gliedern und ging an Sarah vorbei. – Sie kam die Treppe herunter, ihre Füße stiegen steif und gerade – sie kam in Papas Zimmer. – Dort saß jemand, der stand auf, öffnete ihr ein paar Türen, dann sprach er halblaut in ein Zimmer hinein – aber in diesem Zimmer lag Hannsbabo – mit einem Mantel war er zugedeckt. – Renée sah sein weißes, weißes Gesicht. – Sie merkte, daß Papa neben ihr stillstand, weil sie stillstand, und wo Hannsbabo lag, das war noch so weit. – Dann führte Papa sie nahe zu ihm heran. – Da sah Renée, daß sein Gesicht von Schmerz erfüllt war, und um seinen Mund lag jener kleine Zug von Überdruß. „Er ist früh um fünf mit dem Förster ausgegangen. Der hat ihm einen Bock zeigen sollen, der am Birkmoor steht, dann hat er den Förster weggeschickt an einen anderen Stand. Nach einer Weile hörte der Förster seinen Schuß, dann ist er hin, um behilflich zu sein – da lag der Junge ein paar Schritt weiter –“ Papa sagte noch etwas, aber Renée verstand nicht, weil er so leise sprach. Dann ging ein wildes Schütteln durch seinen Körper – er ließ Renées Hand los und wandte sich ab – weinte Papa. – – Renée wollte zu ihm. Er wies sie fort. – Draußen fand sie den Arzt. „Es ist wohl besser, Sie lassen Ihren Vater eine Zeitlang allein,“ sagte er. „Und – es handelt sich hier um einen Jagdunfall, wie ich höre, ja nicht wahr, Sie verstehen mich?“ – Renée nickte. – „Ich fahre nun nach der Stadt, um das Weitere zu erledigen. Ihr Herr Schwager ist telephonisch benachrichtigt. Er hat die Anzeigen und so weiter übernommen. Er wird übrigens gleich eintreffen. Ja. Darf ich Sie um eins bitten – wollen Sie etwas acht haben auf Ihre Frau Schwägerin.“ – „Ich? ja nachher,“ sagte Renée. Der Arzt sah sie eindringlich an. – „Nein, bitte gleich,“ sagte er. Dann zog er etwas heraus. – „Hier ist ein Brief Ihres Bruders für Sie, gnädiges Fräulein, ich fand es in seiner Tasche.“ – – Renée hielt den Brief in der Hand; es stand ihr Name darauf in einer schönen, klaren Schrift. – – ‚Nun weißt du schon, kleiner Bub Renée, warum dein ‚großer Bruder‘ gestern bei dir war, nun hat er dir das Herz ein wenig schwer gemacht, nicht wahr? Wenn du nur nicht gar zu sehr erschrocken bist. Aber vielleicht hat irgend jemand es dir langsam und gut gesagt. – Du sollst mir eine Liebe tun, kleiner Bub – denn ich lasse einen auf der Erde zurück, um den mich das Sterben reuen könnte. – Ich weiß, wenn ein Unglück geschieht, suchen die Menschen einen, der die Schuld trägt. Aber du darfst ihr keine Schuld geben. Weil du mich lieb hast, mußt du sie lieb haben, denn ich hasse ihre Feinde. – Alles Gute von dir in all den Jahren wäre mir nichts mehr wert, wenn du ihr ein Böses tust. Sei bei ihr, damit sie nicht so allein ist. – Nimm alles von ihr, was sie beschweren könnte. – Sage ihr, daß mir das Sterben schwer war, weil es ein Fortgehn ist von ihr.‘ – – – So hatte Hannsbabo geschrieben, und so mußte Renée tun, genau so, denn sie hatte ihn ja lieb. – Jemand klopfte an Renées Tür. Es war Sarah. Sie sagte: „Ich möchte, daß du deinen Vater veranlassest, mir die Tür zu öffnen, er hat das Zimmer zugeschlossen.“ Renée stand auf. „Ich gehe sofort,“ sagte sie. „Leg dich hier aufs Sofa, willst du? Dann hole ich dich.“ Papa saß bei seinem Schreibtisch. „Papa, gib mir den Schlüssel für Sarah.“ „Ich wünsche nicht, daß jemand jetzt hineingeht.“ „Aber Sarah!“ – „Es kann ja nachher geschehn.“ „Papa, sie hat das erste Recht, denn Hannsbabo liebte _sie_ am meisten.“ – Renée legte Hannsbabos Brief vor Papa auf den Tisch, und er las. „Nimm also den Schlüssel,“ sagte Papa dann. Renée ging zu Sarah. Sarah nahm den Schlüssel, sie sagte: „Ich danke dir. Ich gehe allein. Willst du so gut sein, mich zu avertieren, wenn deine Schwester kommt. Ich möchte mit niemandem zusammentreffen.“ – Am Abend dieses Tages ging Renée zu Sarah, saß bei ihr die ganze Nacht. Denn Sarah weinte. – – – – Die Glocken läuteten schon den ganzen Tag, die brummende Glocke und die mit dem hellen Geklingel – läuteten, läuteten. Auf dem Hof standen die Leute vom Kriegerverein und warteten. Der große Saal, in dem Hannsbabo lag, war schwarz von allem Flor, und dieser schwere Geruch war darin von Lichtern und Blumen. Der Sarg war weiß, der Helm lag darauf und der Pallasch – darin war Hannsbabo. Renée sah diesen weißen Sarg an, die ganze Zeit, während der Pastor sprach, und dachte – darin ist Hannsbabo. – Der Pastor sagte: „In der Blüte seiner Jahre“ – er sagte: „Der Stolz und die Hoffnung seines alten Vaters.“ – Der Pastor sagte: „Von den Seinen innig geliebt und heiß beweint.“ – Neben dem Sarg stand Schoenburg mit dem Kranz des Regiments. War das nun Hannsbabos Sarg – und trug man ihn gleich fort in die Erde – – in die Erde – In die Stille hinein fuhren die Glocken. – Sarah stand unter ihrem großen schwarzen Schleier, einen Strauß roter Rosen hielt sie in der Hand, und diese roten Rosen legte sie auf den Sarg – neben seinen Helm. – Dann trugen sie ihn fort. Als sie mit diesem Sarg durch die Haustür gingen, war es das letzte Mal, dann würde Hannsbabo nie wiederkommen. – Die Glocken – die Glocken – sie wollten nicht Ruhe geben. – – – Am andern Tage sagte Sarah: „Ich reise heute fort.“ Renée wollte es nicht, noch nicht gleich. Sarah sah sie an. – „Glaubst du, daß es erträglich ist, wie ein Mörder behandelt zu werden?“ „Sarah, warum redest du so? Wer –“ Sarah lachte. „Ach, wer? Alle, die dieser Familie angehören. – – Diese Elisabeth – wenn ich denke, wie wenig, wie sehr wenig dein Bruder sie leiden konnte. Es ist absurd. Ich will fort.“ Renée sagte: „Ja, wenn du nicht hier sein magst, dann ist es recht und gut, daß du reisest.“ „Nein, ich mag durchaus nicht hier sein. Es ist widerlich hier zu sein.“ „Aber vorher doch nicht,“ sagte Renée. Sarah antwortete: „Immer! Ich bin mit ihm hergekommen, weil er es so wünschte. Er wollte es von mir. Sprechen wir nicht weiter davon.“ „Nein,“ sagte Renée „Aber von etwas anderem möchte ich sprechen – darf ich? – Er hat einen Brief für mich geschrieben und –“ Sarah wandte ihre Augen Renée zu – sie sagte: „Wo ist der Brief? Ich will es lesen.“ – Renée erschrak: „Oh nein – nein.“ „Ich will. Wo ist es?“ – „Nicht. Sarah, bitte nicht“ Sarah warf den Kopf zurück, diese kleine, hochmütige Bewegung. Sie sagte: „Wenn du es mich nicht lesen läßt, Renée, so rede ich kein Wort mehr mit dir!“ Dann wandte sie sich um und wollte gehn. „Sarah!“ – Renée kam ihr nach. „Steht denn wirklich kein gutes Wort für mich darin,“ sagte Sarah. – „Oh Sarah, er liebte dich sehr.“ – Sarah wollte fortgehn. Aber Renée nahm sie bei der Hand und holte sie zurück. „Darf ich mit dir sprechen, Sarah? In seinem Brief steht davon, daß er glaubt, du würdest mir erlauben, bei dir zu sein und mit dir zunächst, weil – damit du nicht allein bist und damit du Gesellschaft hast. – Natürlich wenn du lieber jemand andern bei dir haben wolltest – ich weiß ja nicht.“ – Sarah schwieg. Renée fuhr fort: „Und wenn du dann lieber mit jemand anderem sein willst, dann brauchst du es ja nur zu sagen.“ „Brauche ich es nur zu sagen! ... Und wenn _du_ nun lieber mit jemand anderem sein möchtest!“ sagte Sarah. – „O, ich“ – Renée hatte gar nicht daran gedacht: „Ich will schon nicht.“ Sarah lächelte nur wenig: „Renée, Renée, also versuchen wir’s.“ Das sagte Sarah, dann küßte sie Renée auf die Stirn – das spürte man kaum – nickte ihr zu und ging. Renée dachte nach, was wohl zu tun sei und wie sie es am besten anfinge – und sie mußte nun doch erst Papas Einwilligung haben. Ob das wohl leicht gehn würde oder schwer. – Als Papa es hörte, sagte er: „Ich habe gar keine Veranlassung, nun auch noch meine Tochter ihr als Gesellschafterin zu geben. Unsinn. Daraus wird nichts.“ „Aber es ist doch Hannsbabos letzter Wunsch, Papa, er hat ihn doch ganz klar und deutlich ausgesprochen.“ „Na ja, mein Kind, deine Anhänglichkeit an deinen Bruder ist sehr gut, gewiß, und ich bin durchaus der Ansicht, daß wir uns um seine Witwe zu kümmern haben. Selbstverständlich. Sie gehört zur Familie, solange sie selbst sich zugehörig betrachten will. – Aber du bist jung und leicht zu beeinflussen. Ich habe durchaus nicht die Neigung für Einflüsse von seiten solcher Frauen, wie Sarah ist. Nein. Punktum! Im übrigen, wenn Sarah will, so kann sie hier bei uns leben. Angenehm wär’s mir ja nicht gerade. Aber ich halte es für meine Pflicht, es ihr anzubieten. Selbstverständlich stehe ich in jeder Beziehung für sie ein nach außen hin. – Sage ihr das!“ „Nein, Papa. So nicht. Hannsbabo hat es anders gewollt. Und ich muß es tun und werde es tun. Erlaub es doch, Papa. Ich muß tun, was er mir geschrieben hat –“ Papa stand auf und begann umherzuwandern. – Er sagte: „Hannsbabo ist nun tot. Man muß an die Lebenden denken.“ „Aber wenn er lebte.“ „Er ist tot,“ sagte Papa. „Es liegt keine Veranlassung vor, die Lebenden im Interesse der Toten zu schädigen.“ Renée sah ihren Vater an. Er sagte das ganz ruhig. Wie man eben seine ehrliche Überzeugung sagt, und dies, dies Grauenhafte, war seine ‚ehrliche Überzeugung‘. Renée konnte nichts erwidern. Sie ging hinaus. Zu denken, daß es so etwas geben konnte. Nicht einmal über vier Tage hinweg sollte ein Mensch dauern. Er war tot, er konnte nicht mehr die Hand heben. – O, dieser grauenhafte Ekel. Renée dachte: wenn ich nun tot wäre, und da wäre ein Mensch, den ich lieb hätte, und ich hätte alles genau aufgeschrieben und wäre ruhig im Sterben – und dächte: nun habe ich für ihn gesorgt über den Tod hinweg, und dann kämen sie und sagten: Renée ist tot. Und Tote haben keinen Willen. Sie haben gar kein Recht zu einem Willen. Später ging Renée nochmals hinunter zu Papa und sagte ihm, daß sie doch mit Sarah gehn würde. Papa antwortete nicht. Sarah fuhr fort am folgenden Tag. Renée sollte nachkommen. Renée telegraphierte an Schoenburg, er sollte Sarah an der Bahn empfangen, er sollte bleiben bis zum Abend, wo Renée kam. Aber als Sarah abfuhr, sagte sie: „Ich gehe nicht gleich nach Berlin, nein, ich mag nicht. Ich gehe fort, mache eine Reise – ich weiß noch nicht.“ – Renée erschrak ein wenig. „Wohin, Sarah? Willst du nicht warten? Soll ich nicht mitkommen?“ „Es ist besser, du kommst später. Bis dein Vater ruhiger ist. Vielleicht kommt dann späterhin Elisabeth zu ihm.“ – Sarah schrieb aus Cannes. Sie wollte erst gegen das Frühjahr wiederkommen, die warme Luft täte ihr gut. – Allmählich gewann die Aussicht, daß Renée zu Sarah gehen sollte, feste Gestalt. Renée sprach nicht davon und dachte nicht daran. Sie hatte in jener ersten Zeit einen großen Aufwand von Gefühl und Willen darum gemacht, damals als Papa es nicht zugeben wollte; nun hatte sie es halb vergessen, es sah ihr so unwahrscheinlich aus, und nun – „Ich finde, es wäre sehr gut und wünschenswert für dich mit Sarah,“ sagte Elisabeth. „Viktor meint es auch. – Und dann im Sommer hat Papa doch uns in der Nähe. Im Winter bist du ja in derselben Stadt wie er, dann kannst du täglich hingehen.“ „Ja,“ sagte Renée – „Viktor meint – natürlich nach der Trauerzeit – könnte doch Sarah auch viel mehr für dich tun, Renéechen, in bezug auf Geselligkeit und Bekanntschaften. Wir freuen uns ja natürlich auch sehr darauf, dich oft bei uns zu haben, aber unsere Wohnung ist eben doch etwas beengt, und wir haben auch so wenig tanzbare Herren.“ – „Ja, die kann ich gar nicht brauchen,“ sagte Renée. Elisabeth redete noch eine ganze Weile. Es schien nichts Idealeres zu geben, als daß Renée fortging von Groß-Gehren – fortging – ach es war dumm und sentimental. Sie ging ja gar nicht ganz fort. Und es war doch für Hannsbabo. „O, wie gut, daß du bei mir bist, Renée,“ sagte Sarah. Dann seufzte sie, dann beseitigte sie einen großen, schwarzen Schleier an ihrem Hut. – „Ich wüßte gar nicht, was tun ohne dich! – Meinst du übrigens, ich sollte einmal zur Hatzfeldt gehn? Sie hat mir so lieb geschrieben damals.“ Renée sagte: „Vielleicht tust du es lieber später.“ – „O ja,“ antwortete Sarah. Sie wollte ausfahren. Sie hatte eine Jacke von Persianer und einen riesengroßen Tellerhut, um den war der Schleier gedreht; sie wollte eigentlich gleich fort, aber sie setzte sich noch ein bißchen zu Renée. „War es schön in Cannes?“ – „Ach, nicht doch,“ sagte Sarah. „Es war staubig und ermüdend. Es sind dort zu viel Palmen und Agaven. Agaven und Palmen hängen aus jedem Garten, man hält es nicht aus.“ – „Hattest du nicht Lust auf Sizilien?“ – „Ach nicht doch. Außerdem reise ich ungern allein.“ – „Aber ich könnte doch mitkommen.“ – „Ja, und zu Weihnachten?“ frug Sarah. – „Da wären wir eben zu Papa gegangen.“ – Sarah lachte kurz. – „Ich liebe nicht die Festlichkeiten in dieser Familie,“ sagte sie. „So mußt du nicht sprechen, Sarah.“ „Nun, also verzeih, kleine Renée.“ So sagte Sarah, dann zog sie Renée am Haar, sagte, der Wagen solle sie um fünf Uhr bei Gerson holen, da der Chauffeur heute frei habe, und ging. Renée setzte sich an Hannsbabos Schreibtisch. Da standen viele Bilder von ihm: Bilder in Uniform mit und ohne Küraß im weißen und im blauen Koller. – Renée sah ein Bild an, sah ihres Bruders Gesicht, das liebe, stolze Gesicht, dies kleine, leichte Lächeln, das er gehabt hatte, ehe er fortging nach Amerika, früher. – Nun saß sie an seinem Schreibtisch. Gerade da hatte er oft gesessen. Hatte diese Dinge gesehn, dieselben, die sie sah, jetzt sah. Draußen, da war der verschneite Königsplatz, hinter dem die Bäume des Tiergartens unter dem Nebel standen. Vom Bahnhof kam das langgezogene Pfeifen. – Die große Säule, an der die eroberten Kanonen staken, und die goldne Göttin darauf waren ganz verschneit. Das alles hatte er auch gesehn, wenn er hinausschaute. Wie sehr Renée an ihn dachte. Nun nannte sie niemand mehr ‚kleiner Bub Renée‘. – Warum nur hatte Hannsbabo gewollt, daß Renée bei Sarah bleiben sollte. Und warum liebte er Sarah so sehr. – Renée dachte: Sie hat ein kühles und gleichmütiges Herz, nicht wie seines. Sein Herz war heiß und war unruhig. Was hatte er nur mit ihr zu tun gehabt, mit Sarah. – Renée wurde traurig und sehnsüchtig und dachte, was Hannsbabo gesagt hatte: ‚Der Mensch, der es uns heimisch macht auf der Erde.‘ Er sagte: ‚Ich bin nie heimisch gewesen.‘ Renée dachte: Vielleicht war er sehr einsam. – Nach einer langen Zeit kam Sarah zurück. Renée hörte sie sprechen draußen, fragen. Der Diener riß die Tür auf. „Gnädiges Fräulein sind im Herrenzimmer,“ berichtete er nach draußen. – Sarah kam: „O, Prinz Ernst war da. Er war so nett. Er sprach viel von Amerika. Und die Prinzeß lud mich nach Schottland ein für den Sommer.“ – „Wo waren denn die?“ – Sarah errötete flüchtig. – „O, bei der Hatzfeldt,“ sagte sie. Renée dachte: Ob es Hannsbabo nicht kränken würde – ob er nicht sehr traurig sein würde. – „Bist du böse, Renée?“ Sarah kam, stand vor Renée. Sie war ganz niedergeschlagen. Renée antwortete nicht. – Es gab auch Nachmittage, an denen Sarah zu Haus blieb. Dann setzte der Diener einen riesengroßen silbernen Samowar vor sie hin, und Sarah konnte so schön Tee machen. In kleine, chinesische Täßchen, die sich sehr zerbrechlich anfaßten, kam er hinein. Sarah schob es vor Renée hin, und dann bekam Renée eine Zigarette und hatte es eigentlich sehr gut. Sarah sagte: „Ich könnte ihn gar nicht entbehren ohne dich. Die ersten Tage wäre ich fast gestorben. O, es war so einsam! Ich wußte gar nicht, wie ich es aushalten sollte.“ Dann hatte Renée ein sonderbares Gemisch von Gefühlen – Mitleid und Widerwillen auch, wenn sie dachte, daß Hannsbabo schneller vergessen war als irgend eines von Sarahs seidnen Kleidern. Und auf einmal wurde es mehr als Widerwillen, wurde Ekel – Wut – und: „Nie wieder redest du mir von meines Bruders Tod – oder ich will keinen Augenblick mehr in deinem Hause sein. – Du hast nicht auf ihn geachtet, o, du hattest ihn nicht lieb.“ „Aber ich hatte ihn lieb!“ „Schweig,“ sagte Renée „es ist widerlich.“ Sarah starrte Renée an, dann warf sie sich mit einem plötzlichen Ruck aufs Sofa nieder und weinte. Renée wurde weich. Gewiß, er war niemals so zu Sarah gewesen. Sie dachte: viel besser war er als ich – und er liebte Sarah. Vielleicht würde er hingegangen sein zu Sarah, würde ihren Kopf in seine Hände nehmen, seine sanften, klugen Hände. – Sarah hörte auf zu weinen. Sie sah Renée an, sie sagte: „Es ist, ich bin sehr nervös und zerfahren seitdem und pflege mich sonst nicht aufzuregen in dieser Weise.“ – „O, Sarah, verzeih mir.“ „Laß nur, kleine Renée. Ich weiß schon!“ Renée schämte sich eigentlich etwas. – Am Sonntag waren sie bei Papa. Nach dem Essen nahm Papa Renée in sein Zimmer. „Hör mal, Renée,“ sagte er, „du bist ja ein verständiges Mädchen“ – diese Art von Einleitungen kannte Renée – „also es handelt sich um Sarah. – Mir ist erzählt worden, daß sich die Damen beim Kriegsminister neulich sehr mokiert hätten, daß Sarah, nachdem ihr Mann kaum ein halbes Jahr unter der Erde ist, bereits wieder auf Empfängen herumliefe. Wie ist denn das nun?“ „Herrgott, diese albernen Tanten müssen auch überall widerwärtige Reden führen.“ – Papa runzelte die Stirn. „Du hast immer noch diese absprechende Art,“ sagte er tadelnd. „Ja aber, Papa, was soll sie schließlich den ganzen Tag anfangen?“ Papa begann ungeduldig zu werden, er wanderte hin und her. „In einer Stadt wie Berlin gibt es genügend Unterhaltungen,“ sagte er, „Konzerte, Museen, Vorträge.“ – Renée mußte lachen. – „Es ist doch sonderbar, wenn man auf einmal Kunstinteresse bekommen soll, weil man Trauer hat,“ sagte sie. Papa überhörte das. „Du solltest,“ so fuhr er fort, „deinen Einfluß darauf wenden, daß Sarah nicht derartige Taktlosigkeiten begeht.“ „Sarah ist älter als ich, Papa, und außerdem, bitte, nenne sie doch nicht taktlos.“ – Auch dies überhörte Papa. „Ich habe vorhin mit Elisabeth darüber gesprochen. Sie ist vollkommen meiner Ansicht, und“ – Papa machte eine wirkungsvolle Pause, – „du solltest deine vielgerühmte Anhänglichkeit an deinen verstorbenen Bruder lieber –“ „Ich habe mich niemals dergleichen gerühmt, denke ich.“ „Es ist zum Verzweifeln mit deinen unreifen Ansichten“ donnerte Papa. – Als sie wieder zu Haus waren, sagte Sarah, sie werde nicht mehr an irgend einem Sonntag zu Papa gehen, Renée könne allein gehen. Renée war sehr bestürzt, frug nach dem Grund. „O, Elisabeth ist eine abscheuliche Person,“ sagte Sarah, „sie stichelt immerzu wegen Hannsbabo.“ Es tat Renée so leid, und sie fühlte beinahe etwas von Verantwortung. – „Laß uns ein wenig verreisen, bis Elisabeth wieder heimfährt,“ sagte sie. Aber sie reisten nicht. Sarah mochte nicht fort von Berlin. Sarah hatte noch so viel Einkäufe. Und die Kleider waren noch nicht fertig. Die Direktrice brauchte absolut noch vierzehn Tage. „Nachher sind es dann doch drei Wochen,“ sagte Sarah. Und Sarah hatte doch auch keinen anständigen Hut. Wenn alle diese Hüte und Kleider mit dazu passenden Schleiern und Schirmen ankamen, dann mußte Renée es bewundern, und Sarah erklärte, wozu alles gebraucht würde. Dann sah der Salon aus wie der Packraum eines Warenhauses. Mit ungeheuern Summen, die es ‚bloß‘ kostete, warf Sarah herum. Manchmal ekelte es Renée um all den törichten Plunder, und dann wieder hatten diese Dinge einen sonderbaren Charme wie fremdländische Menschen. Zu solchen Zeiten feierte Sarah Triumphe. Renée wurde in einen großen Sessel gesetzt, recht bequem, weil es lange dauerte, und dann trug Sarah die neuesten schönen Kleider an ihr vorüber, die für ‚wenn die Trauer vorbei war‘, mit den dazu passenden Hüten, Schleiern und Schirmen. – Es war wie ein fremdartiger Tanz, es fehlten nur noch schwarze Kerle, die auf Trommeln schlugen. Renée saß dabei und träumte. Sie dachte: Will denn das Leben niemals zu mir kommen, ich suche es doch. Ist es, weil ich nicht allein bin? Muß ein Mensch ganz allein sein, damit er findet. Sie dachte: Wie wirst du aussehen, du, um den ich lebe. „Und nun kommt das allerschönste Kleid,“ sagte Sarah. – – In dieser Zeit kam Renée die Sehnsucht, allein zu sein. Ganz allein, wie früher in ihrer Kindheit. Nicht mehr neben andern gleichgültigen Leuten zu leben, deren Nahesein ihr das Leben fremd und kalt machte. Und ihre eigene Seele fremd machte. Allein sein, still und für sich und ganz einsam, bis der einmal da war, von dem Hannsbabo gesprochen hatte. Aber sie mochte nicht davon reden zu Sarah. Dann war ein Abend, der war weich und sanft. Der war voll von dieser schweren Sehnsucht, die im Frühling die Menschen überfällt. Renée ging durch die Stadt. Sie konnte sich gar nicht durchfinden durch die vielen geraden Straßen, die sich alle rechtwinklig schnitten, wie auf einem Schachbrett. Aus all diesen Straßen kam ein nebliger Dunst, wenn man um die Ecke bog, und so ein Rest von Sonne strömte schwer und warm aus dem Asphalt. Da tauchte die Säule auf mit der großen, goldnen Göttin, es mußte spät sein, die Wagen, die vor dem Theater die Runde machten, kamen schon zum Abholen. Ein weicher Regen rieselte, man spürte ihn wie Nachttau auf den Kleidern. Renée mochte noch nicht zurück. Sarah war in irgend einem Konzert, und Sarah würde spät wiederkommen. Renée stand am Wasser still, sah wie die kleinen Tropfen des Regens in das breite, dunkle Wasser des Flusses hineintanzten, sah die Lichter der Friedrichsbrücke, von denen das Wasser plötzlich aufleuchtete neben seinen dunkelsten Stellen – eine verzweifelte Mutlosigkeit war in Renées Herz, die von gar nichts kam und in nichts seinen Grund hatte. Wohin wollte sie denn? Sie dachte, wenn es doch einen gäbe, zu dem ich die Hand ausstrecken könnte, der hülfe. Einen Gott. Wie gut es die Leute haben, die sich einen Gott ausdenken können. Sie brauchen niemals einsam zu sein, dachte Renée. Sie hörte neben sich ein paar Worte, sie sah ganz dicht neben sich einen Mann, der sich lächelnd verbeugte. Sie erschrak nicht. Sie merkte es eigentlich gar nicht. Sie ging nach Haus. Der Mann folgte ihr. An der Haustür versuchte er sie anzusprechen. Oben ging ein Fenster auf. – „Kommst du endlich.“ – Renée sah hinauf. Sarah winkte ihr zu. Sarah war freundlich und gut und ein ganz bißchen beleidigt. So lange hatte sie nun schon gewartet, und Renée sollte doch etwas essen. Ein warmes, gutes Gefühl kam Renée. Sie dachte: Ein bißchen wartet sie doch auf mich, wenn auch nur sehr wenig. – So oft fand Renée, daß sie am Fenster ihres Zimmers saß und hinaussah und trotzdem gar nichts sah draußen, also träumte sie wohl; aber eigentlich war es ein stumpfer, regloser Zustand der Seele. Die Seele wußte keine Herkunft und kein Ziel. Die Tage waren ganz leer. Die Freuden waren leer. Und einen eigentlichen Schmerz gab es nicht – wo sollte er herkommen. Da war nur stumpfe Gedankenlosigkeit; nein, nicht einmal bis zu einem Schmerz reichte es aus. – Aber man konnte sich beschäftigen, irgend etwas tun, was nützlich aussah. Wo war der Sinn für solches Tun? Man mußte einsehen, daß es völlig zwecklos war, sich mit dem Inhalt dicker Bücher das Gehirn vollzustopfen, Italienisch zu lernen, sich in Wohltätigkeit zu betätigen. War sie, Renée, einundzwanzig Jahre umhergegangen, um ausgerechnet eine Stunde täglich einer erblindeten Näherin vorzulesen? Unsinn war das. Renée dachte: ich lasse mich nicht täuschen. Man soll mir doch nicht weismachen, daß derlei Zeug einen Sinn hat. – Und bei Sarah sein! Warum? Weil Hannsbabo es von ihr gewollt hatte. Konnte ein Mensch von dem andern wollen, daß er auf eigne Perspektiven verzichtete? Früher konnte ich träumen, dachte Renée. Ich sah hinaus in die Sonne oder in die Nacht, gleichviel was eben gerade am Himmel stand. Wie war es nur möglich, daß ein Mensch so maßlos allein sein konnte, niemanden hatte. – Sie dachte an ihre Schulfreundinnen: Fly, Edel – Edel! Sie wußte kaum, was aus der geworden war. Sie war in irgend eine Fremde hineingegangen mit Bällen und Verlobungen und Heiraten. Wenn Renée einmal eine von ihnen traf, dann wußte man kaum anderes zu reden als die alten Späße aus der Schule: als Edel zu der englischen Lehrerin sagte – – Manchmal war es Renée, als sei sie alt geworden, so alt. Dann lachte sie, dann wurde sie wieder froh und dachte an das kleine, liebe Studentenlied, das sie irgendwo gehört hatte: ‚Noch ist die blühende, goldene Zeit, Noch sind die Tage der Rosen – –‘ So ein liebes, kleines Lied. „Ich finde, du machst immer so ein bekümmertes Gesicht, kleine Renée, was hast du nur?“ Sarah sagte das ganz eindringlich und besorgt mit einer drolligen Besorgnis. „Ich weiß nicht, Sarah.“ „Hast du jemanden lieb?“ frug Sarah. „Nein – eben nicht.“ – Sarah lachte: „Also warum bist du dann bekümmert?“ „Weißt du, wenn ich dir das sagen sollte. Nein Sarah, ich brauchte vier Tage mindestens und dann sähest du es doch nicht ein.“ Sarah antwortete sehr gekränkt. Das könnte Renée nicht wissen, und überhaupt hätte gerade sie das meiste Interesse für Renée. Wie es Renée verführte. O, sie mußte sich Mühe geben, damit sie nicht alles sagte, was da war und ihr das Herz abdrückte. Aber sie wußte ja gar nicht einmal, wie sie es hätte sagen sollen. – Eines Abends kam Schoenburg. Er kam mit einer Cousine, und diese Cousine setzte sich neben Sarah, sprach und sprach und sprach. – Schoenburg ging in den Zimmern umher, und einmal blieb er stehn in dem kleinen Wohnzimmer und sagte zu Renée, ob sie sich nicht ein wenig in Hannsbabos Zimmer setzen wollten. Ob denn Gräfin Saurma Sarah Geheimnisse anzuvertrauen hätte, frug Renée. Schoenburg lachte, er sagte: „Das hoffe ich, lange und intensive und zeitraubende Geheimnisse.“ Dann: „Fräulein von Catte, fühlen Sie sich hier wohl? Ist dies Leben bei Ihrer Frau Schwägerin nun das, was Sie froh macht im Innersten? Seien Sie nicht böse wegen meiner Frage. Sie wissen doch, wir wollten gute Freunde sein.“ Renée fühlte ihr Erröten, fühlte es mit einer peinigenden Sicherheit und wußte nichts zu sagen. „Ich frage Sie,“ fuhr Schoenburg fort, „weil Sie, wie ich fürchte, hier eine Art von Selbstaufopferung treiben, die – ich kann es Ihnen nicht verhehlen – mir ein wenig gefährlich scheint.“ „O nein,“ antwortete Renée, „o nein.“ Er schien das nicht zu beachten. „Es klingt vielleicht etwas absurd und zum mindesten recht unritterlich und unliebenswürdig, wenn ich Ihr Leben bei Frau von Catte so als etwas für Sie Verwerfliches betrachte – klingt es sehr schrecklich?“ „O nein, Sie beurteilen es ungut,“ sagte Renée. Schoenburg sah sie gut und freundlich an. „Wollen Sie mich einmal _nicht_ unterbrechen, wollen Sie einmal Ihre Verneinungen lassen. – Ich sage ja nicht, Ihre Schwägerin hat einen verwerflichen Einfluß. Ich sage nicht, Sie werden mißhandelt, brutalisiert, ausgenutzt. Nein, nein, Fräulein von Catte. Sie sind jung und stehen noch an ‚des Lebens goldnem Tor‘, und Sie sollen hineingehn und zwar dahin, wohin Sie mögen, und nicht, wohin irgend eine Pietät, irgend ein Sentiment der Pflicht und der Devotion Sie führt. – Verstehen Sie mich?“ Schoenburg griff nach einem der Bilder von Renées Bruder, er hielt es vor Renée hin. „Ich hatte ihn sehr lieb,“ sagte er, „sehr, das wissen Sie. Aber er würde es niemals gewollt haben, daß Sie auf ein eignes Schicksal verzichteten, um sein trauriges, trauriges Schicksal auf Ihre Schultern zu laden. Nein, so unfein und so lieblos war Hannsbabo nicht.“ „Warum sagen Sie diese Dinge?“ antwortete Renée. „Ich weiß es. Aber Sarah hindert mich nicht an dem Erleben meines Schicksals.“ Schoenburg sagte: „Das wissen Sie nicht.“ „Doch, Herr von Schoenburg. Sie hält mich von nichts zurück. Sie würde mir geben, was ich verlangte.“ Schoenburg lächelte: „Sie wissen gar nicht, was Sie verlangen. Und – Sarah kann es Ihnen keineswegs geben. Außerdem, daß sie sich gar nicht die Mühe nimmt.“ Er sagte: „Sie werden zugrunde gehn an Sarahs unbeweglicher Liebenswürdigkeit, eben wie er.“ „Nein. Denn er liebte sie, während ich – nun ich mag sie gern.“ „Sie wissen das nicht,“ sagte Schoenburg. Aber Renée lachte – lachte. Schoenburg sah sie vorwurfsvoll an. „Mir scheint, ich reize Ihre Lachmuskeln ungeheuer. Ich bin ein wenig gekränkt, Fräulein von Catte.“ Renée beruhigte ihn. Gar nicht sollte er gekränkt sein. Im Gegenteil. Und sie wisse ihm allen Dank. „Nur eigentlich was ist das Positive an Ihren Worten?“ frug Renée. „Sehen Sie,“ antwortete er, „so ist es gut. Ich sage: gehen Sie fort, ein wenig in die Welt, suchen Sie sich einen Beruf, eine Arbeit, eine Nützlichkeit.“ Eigentlich traute Renée ihren Ohren nicht recht. „Das sagen Sie, ein Gardekürassier-Oberleutnant, ich glaube gar, nun dringt die Zersetzung schon in die obersten Schichten.“ „Ja ja, ich sage es. Und sage es, weil ich merke, daß Sie sich bei der gewöhnlichen Art des tatenlosen Herumsitzens, wie es die jungen Mädchen bei uns tun, nicht wohl fühlen und weil Sie sehr bald daran unglücklich sein werden – – und weil ich dann auch sehr unglücklich wäre.“ Renée hob ein wenig die Augen und sah in sein helles, gutes Gesicht. Sie gab ihm die Hand. Sie sagte: „Es ist recht und klug und sehr freundschaftlich von Ihnen, Herr von Schoenburg. Ich will alles überdenken.“ Schoenburg zog ein Druckheft aus seinem Ärmelaufschlag. Er sagte: „Wenn ich Ihnen dies einmal hinterlassen darf. Es ist der Jahresbericht des Frauen-Gymnasiums.“ Er schlug das Heft auf und tippte mit dem Finger auf einen Namen: „Hier – Johanna von Ramin, genannt Nana, ist meine Cousine. Sie ist ein sehr, sehr tüchtiger kleiner Kerl.“ „Kann ich sie nicht kennen lernen?“ Schoenburg strahlte. Ganz blinkend wurden seine Augen. „Also morgen komme ich mit ihr zum Tee. Paßt es?“ „Das ist hübsch, ich –“ „Also begleitest du deine Cousine nun hübsch anständig ins Esplanade?“ rief Gräfin Saurma von nebenan. Schoenburg verabschiedete sich. Er küßte Renée die Hand und sagte: „Auf Wiedersehn morgen zum ^five o’clock^.“ – Sarah war unzufrieden. Sarah sagte: „Diese Saurma schwätzt so viel. Was geht es mich an, was der Kronprinz zu ihr gesagt hat. Mir ist es ganz egal. In Amerika gibt man nicht so viel auf die Äußerungen junger Leute.“ „Huh, sei doch nicht so grimmig, Sarah. Es ist doch ein solch schicker und eleganter ‚junger Mann‘, der Kronprinz.“ „^Nonsense^,“ sagte Sarah. „Übrigens, Renée –“ „Ja was denn?“ – Sarah kam und legte die Hände auf Renées Schulter. „Ich möchte auch ins Esplanade!“ „Wart doch noch ein bißchen, Sarah.“ Sarah machte Fäuste. Ganz fest kniff sie die Finger zusammen. – „O, ich möchte vergehn,“ sagte sie. Renée lachte: „Ganz so wie Hedda Gabler.“ Sarah sah sehr böse aus. „Was, Hedda Gabler,“ sagte sie zornig. „Ich langweile mich gräßlich.“ Sie war böse – böse. Nein. Sie wollte keinen Ton mehr reden mit Renée. Sie bestellte das Auto und fuhr in den Grunewald. Renée wartete mit dem Abendessen. Erst wurde es warm gestellt. Dann wurde es kalt gestellt. Die Mamsell schimpfte draußen, und der Diener kam alle zwei Minuten und frug, ob er nicht lieber doch für das gnädige Fräulein servieren solle. – Nach einundeinhalb Stunden – Sarah hätte längst zurück sein müssen, selbst wenn sie bis nach Wannsee und wieder zurückgefahren wäre – nach einundeinhalb Stunden bestellte Renée das Essen. Etwas kam herein, was einmal ein Beefsteak gewesen war. Der Diener reichte es mit verlegenem Grinsen. Es wurde nicht besser davon. Sehr spät am Abend kam Sarah. Sie kam ohne Auto. Sie warf die Türen. Als Renée in ihr Schlafzimmer ging, hörte sie den Chauffeur mit der Jungfer klatschen: „Direkt an einen Baum ist sie jejondelt kurz vorm Stern. Wir beiden sind in einen Jrasjraben jeflogen – wie die Champagnerproppen.“ – Die Jungfer kicherte: „Und blaue Flecke wird’s morjen jeben – na, gut Nacht, Karlchen.“ – Karlchen war Emmas Neigung. Am andern Morgen war Sarah sanft und freundlich. Ein wenig blaß sah sie aus. Renée kam zu ihr: „Guten Morgen, du hast mich warten lassen gestern, Sarah; so groß wie eine Briefmarke war das Beefsteak, als ich es endlich bekam.“ – „Ja, o entschuldige. Ich hatte eine Panne mit dem Auto. Saß total fest. Mußte mit der Bahn zurückfahren.“ Sarah verschwieg den Grasgraben. „Ja, bist du denn so toll gefahren?“ frug Renée. – „Manchmal möchte ich am liebsten bums gerade gegen eine Mauer sausen mit dem Ding.“ „Und da hast du dir gewiß gestern diese Sehnsucht erfüllt.“ Sarah lachte. Renée erzählte von Schoenburg. Er wollte also samt Cousine zum Tee kommen. – „Diesmal kannst du die Cousine unterhalten,“ sagte Sarah. „Ja, so war es auch vorgesehn!“ – Eine kleine, schlanke, hastige Person war Schoenburgs Cousine. Sie hatte wolliges, kurzes Haar, einen Umlegekragen und einen riesigen, roten Schlips. Sie brach in unverhohlene Bewunderung aus über Sarahs goldene Teegeräte. „Na sowas,“ sagte sie, „mein Himmel, das ist ja schweres Gold!“ Ihr Vetter lachte. Dann sprachen Sarah und Schoenburg über die Sommerreise nach Schottland. Er würde die Züge aussuchen. Selbstverständlich. Sie brauchte nur zu befehlen, ob über Hook van Holland oder Vlissingen. „Mein Vetter hat schon zahllos oft von Ihnen gesprochen, Fräulein von Catte,“ sagte Nana. „Er muß Sie recht gut kennen. Er schilderte Sie genau so, wie Sie mich beeindrucken.“ „O ja. Wir kennen uns beide. Außerdem ist Herr von Schoenburg klug, glaube ich.“ Nana lachte: „Das wann er hörte. Er läßt sich nämlich so gern loben. Gerade darum hab ich ihn gern. Solche Menschen geben sich wenigstens Mühe um ihren Nächsten. – Er sagt, Sie wollen studieren.“ Renée staunte: „Ich, wieso? Ich habe doch gar kein Examen gemacht.“ „Na ja natürlich, wenn Sie das haben.“ „Ich hab aber gar nicht Lust,“ sagte Renée. Nana sah Renée starr an. „Nicht Lust?“ frug sie. „Hoho, Sie werden schon bekommen.“ – „Ich meine, ich hätte schon Lust, nur ist es so schwer und ich bin so faul,“ sagte Renée. „Sie sollen faul sein? Das glaub ich im Leben nicht. Außerdem Faulheit ist nur so beim ersten Ruck hinderlich. Nachdem kommt’s von allein. Was ist da weiter. Wenn Sie einundeinhalb Jahr wahnsinnig büffeln oder zwei Jahr ordentlich oder drei Jahr mit Zwischenpausen und Seelenruhe, dann haben Sie’s. Nachher brauchen Sie gelegentlich mal ein Jahr sich hinzusetzen, bauen Ihren Dr. phil. und sind ein gemachter Mann. Ist das nun so schlimm?“ „Ja, Sie! Sie können natürlich alles schon,“ sagte Renée. Nana lachte höhnisch. „Ja,“ sagte sie, „noch nix kann ich. Sie sollten mich mal hören, wenn mein Dr. math. mir Pyramiden und Zylinder aus Kartoffeln ausschneidet, damit ich mir so einen Querschnitt in meinem Krautkopf vorstellen kann. Ja.“ Renée mußte lachen. Sie fing bald an, Lust zu bekommen. „Erklären Sie mir mal was davon.“ „Dank schön,“ sagte Nana, „nee – nachher werden Sie wütend, wenn ich mich verheddre.“ „Ach, tun Sie’s doch.“ „Mir scheint, sie streiten bereits,“ sagte Schoenburg. Sie stritten doch gar nicht, sie vertrugen sich doch so schön. – Nana und Renée verabredeten gemeinsame Ausflüge, Spaziergänge, Lädenbummel. Und jedes Mal sagte Nana: „Eigentlich habe ich gar keine Zeit.“ Schoenburgs Cousine gefiel Sarah nicht sonderlich. „Sie hat eine so lärmend fröhliche Art. Gerade wie eine aufgezogene Uhr.“ Jedesmal wenn Renée mit Nana zusammen war, wurde vom Studieren gesprochen und vom Examen. Und von einem Mal auf das andere bekam Renée mehr Lust. Sie dachte: Es muß hübsch sein, etwas vor sich zu bringen. Aber sie wollte durchaus nicht so viel Zeit vertun. Mehr als zwei Jahre wollte sie keinesfalls anwenden. Nana redete ihr zu. Nana hatte schon feste Pläne: Renée nahm erst Privatunterricht und zum Schluß ging sie aufs Gymnasium. Oder sie machte alles privat. Als die Ferien anfingen, ging Nana zu Verwandten aufs Land. Renée brachte sie zur Bahn und stand und sah dem Zuge nach, und als Nanas Lockenkopf zuletzt sichtbar wurde neben dem eifrig wehenden Tuch, dachte Renée: eigentlich kennen wir uns noch gar nicht, haben immer nur von diesen äußerlichen Dingen gesprochen. – Renée sprach zu Sarah von ihrem Plan. Sarah sagte nichts dawider, sie sagte vielmehr: „Ja, ganz gut. Ich finde es sehr verständig.“ Aber Sarah wurde sehr still, nachdem sie davon gesprochen hatten. – Ob Sarah dagegen sei? „Nein,“ sagte Sarah. „Ich habe ja gar kein Recht, dagegen zu sein. Ich will dich durchaus nicht beeinflussen in deinen Entschlüssen. Nur ich fürchte dich zu verlieren. Nur du hast viel Ähnliches mit deinem Bruder, und das ist zuweilen gut für mich“ – so sagte Sarah. Renée schwieg. Ihr kam das Erinnern an Hannsbabo; sehr intensiv war dies Erinnern, es war, als fühlte sie seine Hand – – „Renée,“ sagte Sarah. Das Rückerinnern verging. „Ich will ja gar nicht fortgehn, Sarah; ich will nur etwas tun, etwas Nützliches anfangen.“ „Nein, nicht allein deswegen. Seit einer ganzen Zeit schon bist du bekümmert und traurig. Ich sehe es dir an schon seit einer ganzen Zeit.“ Fast war Renée ihr dankbar. Wenigstens ein Mensch achtete auf sie. Renée sagte: „Arme fröhliche Sarah, hast du einen so griesgrämigen Menschen um dich, hast du’s mit einer so schwerblütigen, langweiligen Renée zu tun.“ „Ich bin gar nicht immer fröhlich.“ Renée lachte: „Doch, freilich bist du’s. Gott, das ist etwas so Gutes.“ – Sarah sah ganz bekümmert aus: „Du hast gewiß doch einen lieb – etwa den Schoenburg mit den geschwätzigen Cousinen?“ „Nein, nein. Ich habe nur ein wenig das, was man bei euch ‚heimatskrank‘ heißt, seelisch hab ich das. Wir sagen dazu Heimweh.“ „Ja,“ sagte Sarah, „Hannsbabo sagte drüben manchmal, er hat Heimweh nach dem kleinen Bub Renée.“ „O, der liebe – ja, er verstand diese Dinge,“ sagte Renée. Also in vierzehn Tagen würde Sarah zur Prinzeß Johann reisen nach Schottland. Nun hatte man fieberhaft zu tun. Sarah blieb kaum fünf Minuten unbeschäftigt, aber sie konnte doch in Redcliff Castle nicht ankommen wie eine ‚Frau vom Lande‘. Dies war für Sarah der Superlativ für Uneleganz. Wenn Renée gegen das viele Anprobieren redete, weil Sarah kaum mehr zum Schlafen und zum Essen käme, dann hieß es: „Du kannst doch nicht denken, daß ich dort auftreten soll wie eine ‚Frau vom Lande‘!“ Renée frug: „Also was ist das genau genommen?“ „O, mit diesen entsetzlichen, ovalen Hüten, auf denen Straußenfedern sind, und grauen Kleidern, die nicht sitzen, und diesen billigen Korsetts.“ Renée mußte lachen; wirklich, Sarah hatte recht. Der Diener meldete den Wagen. „Komm doch mit, Renée,“ sagte Sarah. Sie fuhren den Linden zu. Vor dem Tor stand es schwarz von Menschen. Um diese Zeit ritt der Kaiser vorbei. Man hatte die gelbe Standarte gesehen auf dem Schloß. Er war also in Berlin. Die Leute standen geduldig und ließen sich die Hüte versengen. Renée fiel ein, wie sie als Kind stundenlang auf ihn gewartet hatte. Und sie hatte sich immer auf den Straßenübergang gestellt, wo er sein Pferd Schritt gehen lassen würde. Dann hatte er ganz allein für Renée gegrüßt zuweilen. – „Ich werd’s ihm erzählen, wenn ich Flügeladjutant geworden bin,“ sagte Hannsbabo. – – Sarah kaufte ganz Berlin auf. Und überall wurde sie mit ausgesuchtester Höflichkeit behandelt. Überall stürzte schon am Eingang ein Extra-Herr auf sie zu, der sie auf Schritt und Tritt begleitete, ihr alle ‚Neuheiten‘ zeigte und sie Frau Baronin nannte. Dieser Herr geleitete sie auch wieder zum Wagen. Renée machte es Spaß, denn sie genoß einen Abglanz dieser Devotion. Auch ihr wurden ‚Neuheiten‘ vorgelegt. Manchmal neigte Sarah den Kopf zu ihr herüber. Sie sagte: „Renée, gefällt dir dies, möchtest du es nicht haben, sag doch, Renée!“ – Dann sah Renée sie an und lachte und sagte: „Nein, Sarah, bitte nicht.“ Dann sah Sarah enttäuscht aus. Aber Renée wollte nicht die vielen, teuren Geschenke. Zum Schluß mußte Renée das Reisenecessaire bewundern. Alles darin war von schwerem Silber, und darauf prangte das Catte-Wappen – ganz verschüchtert saß das kleine Wappen-Tier auf all dieser Herrlichkeit. Renée fand, man würde mindestens einen Gepäckträger extra dafür benötigen. „Aber schließlich kann ich doch nicht mit Nickelgegenständen herumreisen,“ antwortete Sarah. „Aber dein tägliches Gebrauchszeug?“ Sarah sagte: „Das ist Elfenbein. Elfenbein ist nicht mehr Mode.“ – Renée lachte sehr: „Natürlich,“ erklärte sie, „du brauchst es!“ – Was nur Frauen tun, die keine Amerikanerinnen sind, dachte Renée. Was sie nur tun? Sarah fuhr ab. Drei riesengroße Rohrplattenkoffer begleiteten sie. Der Diener bewachte ebensoviele Hutkoffer, ein Gepäckträger folgte mit dem Rest. Sarahs Jungfer trug das Necessaire. Wenn Renée alle Kleider und Zubehöre bedachte, so wunderte sie sich eigentlich, wie es alles in den Koffern untergekommen war. Allerdings – der Träger hatte noch fünf Handgepäcke. Sarah war zuletzt ganz richtig traurig. Und Renée sollte oft schreiben und sie ein bißchen entbehren. Sarah winkte noch aus dem Fenster heraus. Zu Haus wurde Renée schon erwartet. Es war Elisabeth. Elisabeth befand sich auf der Rückreise und wollte nach Groß-Gehren, sie hatte gedacht, am Ende käme Renée gleich mit. Man könnte den Koffer einfach auf den Wagen stellen, der Kutscher hätte doch noch angespannt. Renée lachte: „Erstens dürfen auf Sarahs Wagen keine Koffer und zweitens kann ich gar nicht.“ „Du kannst doch unmöglich für länger hier in der Wohnung so allein hausen.“ „Findest du?“ – „Papa findet es,“ antwortete Elisabeth spitzig. – „Na, beruhige dich nur, Elisabeth, das will ich ja gar nicht. Ich komme bald nach Groß-Gehren und dann reise ich etwas.“ „Reisen, wohin denn?“ – „Vielleicht nach München.“ – „Was willst du denn da?“ – Renée amüsierte sich, Elisabeth zu chokieren. „In Italien soll es ja im Sommer auch wundervoll sein.“ – „Was für eine verrückte Idee,“ sagte Elisabeth scharf. Sie ereiferte sich. Papa fände, daß das Reisen ins Blaue hinein lächerlich sei. Er habe keineswegs Geld für sowas übrig. Ja, er habe es geradeheraus gesagt, als Renée im letzten Brief davon geredet hätte. „Warum bist du denn nicht mit der holden Sarah gefahren?“ – „Du drückst dich wirklich recht gewählt aus,“ sagte Renée, „indessen mich lockt weder die Prinzessin noch Schottland.“ – „Sarah versteht es wirklich ausgezeichnet, sich in die exklusivsten Kreise hineinzubringen,“ sagte Elisabeth. Gewiß war sie recht neidisch. „Du könntest wirklich lieber in Groß-Gehren Papa etwas behilflich sein. Papa hat eine neue Köchin, dort wäre am Ende dein Platz.“ Renée ermüdete schon. Wozu? Was denn eigentlich hatte sie gewollt? Alleinsein – wissen, wer man ist. „Schließlich hat die Familie doch wohl auch Anrechte auf dich.“ – „Niemand hat Anrecht auf mich,“ das schrie Renée ganz zornig. „Niemand, dem ich es nicht gab.“ „Dieser moderne Quatsch, es ist fürchterlich,“ sagte Elisabeth. Nach wenig Tagen fuhr Renée. Da war der Turm von Groß-Gehren und die breiten Kronen der Linden, zwischen denen das Haus stand, da war der weiße Kirchturm. Nun über die Bahnschienen mit der Warnungstafel und den Weg hinunter über den kleinen Berg, so ein märkischer Kaninchenhügel, und auf der Dorfstraße die Kinder mit dem weißblonden Haar und den dunkelbraunen Gesichtern. Da die ziegelrote Schule und die schöne Kirche und der Hof. Auch heute sprang ein brauner Jagdhund – wie mochte wohl dieser heißen – auf den Wagen zu und kläffte. Da rasselte der Wagen über die holprigen Hofsteine, das altgewohnte Geräusch. Renée ging in den Zimmern herum, wo dieser herbe Geruch war aus der Kindheit – nach Lavendel und ein wenig dumpf, weil immer die Läden geschlossen wurden vor der Sonne. Draußen floß das weiche, graue Wasser, das die langen Kähne vorübertrug; die wurden schöne, weiße Segel, wenn Wind war. Sie ging in das Zimmer, wo sie als Kind gewohnt hatte. Es war durch eine bunt tapezierte Wand in zwei Räume geteilt, es waren fremde, plustrige Polstermöbel darin und Bills Spielsachen. Großvaters riesengroßer Schreibtisch, auf dem Renée als Kind mit ihren Spielsachen herumgeklettert war, stand nicht mehr an seinem Platz. Renées Puppenhaus und die Festung mit der Zugbrücke und das Theater, alles stand auf der Erde in diesem Zimmer, und in der Mitte thronte Bill, vor ihm lag ein Haufen Bleisoldaten, auf die er mit einem Holzhammer loshackte. Renée fuhr auf ihn los; es ergab sich, daß es ihre alten Bleisoldaten waren, – Bill fing an zu heulen. Renée raffte das ganze Zeug in ihren Rock und trug es fort. Als sie in ihrem Zimmer die kleinen blauen und roten Männer ansah, kam sie sich sonderbar vor, lächerlich, kindisch, aber es blieb trotzdem ein Kummer, ein dummes, kindisches Leid. Sie schüttete den ganzen Kram in die Kommode, das meiste war ohne Kopf und Beine. Erst wollte sie es Papa sagen, man hätte nicht einfach ihre Spielsachen dem ekligen Bengel zu geben. Ihr gehörten die Sachen, sie könnte sie selber schon verschenken, wenn sie wollte. Dann dachte sie: Gewiß ist es dumm, ich sehe ja die Sachen doch nicht an, gewiß ist es gar kein guter Charakterzug, daß ich sie dem Bill nicht gönne. Sie würde dem Bill doch einmal alles gönnen müssen, Haus und Hof und Feld. „Ich höre, du willst reisen,“ sagte Papa. „Ach nein, Papa, ich will es eigentlich gar nicht.“ – „So so – na,“ sagte Papa, „das ist ja schön, denn da du schon so lange weg warst, so hofften wir, du würdest dich mal hier nützlich machen.“ „Freilich,“ sagte Renée, „wenn ich was helfen kann.“ „Du könntest etwas auf die neue Köchin achten,“ meinte Papa. „Sie ist eine ganz untaugliche Person, und der Diener ist auch ein furchtbar dämlicher Kerl.“ „Wie bist du denn mit dem Förster zufrieden?“ – „Nichts versteht er,“ antwortete Papa. Demnach schien Papa wenig Glück gehabt zu haben bei seiner Wahl. „Na, wie gefällt dir denn Bill?“ „Gott, er ist doch erst zwei Jahr,“ meinte Renée. „Eine Schönheit wird er nicht werden,“ sagte Papa. „Er hat gerade die blöden Augen wie sein Vater.“ Renée sah ihren Vater erstaunt an. Papa sah ganz ernst aus. Geradezu bekümmert. – „Nichts von unserer Familie hat er,“ fuhr Papa fort. „Der ollen Horwitz gleicht er – na –“ damit erhob sich Papa und ging in den Garten. „Papa entbehrt dich recht oft,“ sagte Elisabeth. Renée schwieg. Sie fing an nachzudenken. Damals, als Papa täglich mit ihr ausfuhr, als sie immer die Rehböcke für ihn erspähte – besonders in der Seradella standen sie gern. Wenn sie am Vorwerk vorbeikamen, sagte Papa manchmal: Hier müßte man das Pächterhaus hinbauen, damit man sie los wäre vom Hof, und hier käme dann der ganze Wirtschaftshof hin, wenn man’s demnächst mal alles herüberlegte. Wenn Papa solche Dinge sprach, dann war Renée sehr geehrt gewesen, daß er seine Pläne mit ihr redete. Renée dachte daran. „Papa findet, deine Pflicht wäre es, _ihn_ zu unterstützen und nicht Sarah,“ sagte Elisabeth. Richtig, Elisabeth! „Vor kurzem warst du doch sehr einverstanden, daß ich zu Sarah ginge,“ antwortete Renée. „Nun ja, eben zeitweise. Aber so gehst du ja der übrigen Familie verloren – außerdem,“ Elisabeth machte eine kurze Pause, „außerdem wo soll es hinführen? Sieh mal, das wirst du doch selber einsehn, neben einer hübschen, jungen, so reichen und so koketten Frau wie Sarah kommst du nie zu deinem Recht.“ „Wieso? Wie meinst du das?“ Elisabeth lächelte diskret: „Na, Renéechen, weißt du.“ Renée ärgerte sich, diese albernen Diminutive. „Ich meine ganz einfach,“ fuhr Elisabeth fort, „Sarahs kokettes und reifer entwickeltes Wesen sticht den Reiz deiner harmloseren Jugend aus bei den Herren.“ „So etwas Geschmackvolles also meinst du.“ Renée lachte. „Das kann ich überstehn.“ „Du wirst schon sehn, wenn erst die Trauer vorbei ist und ihr seid in Gesellschaft.“ „Nein,“ antwortete Renée energisch. „Fällt mir nicht ein, in Gesellschaften zu gehn.“ Elisabeth sagte: „Nun, dann hat doch der Aufenthalt bei Sarah überhaupt gar keinen Sinn.“ Papa war nicht sonderlich erbaut von dem Plan mit dem Gymnasium. Daß Renée nun auch von dieser modernen Idee sich anstecken ließe. Überhaupt wäre es eine Albernheit, daß Renée immer bei Sarah herumsäße. Sarah sollte sich nur wieder verheiraten. Es war sehr, ja sehr töricht, wenn Frauen sich nicht verheirateten, fand Papa. – Sarah schrieb kurze, vergnügte Briefe. Bereits im dritten Brief berichtete sie, daß der junge Landsdown ihr einen Antrag gemacht hätte – o, zu drollig – einen ganz richtigen mit Liebe und Verzweiflung ‚wenn nicht‘ und funkelnden Augen. Und nun sei er entrüstet abgereist. – Prinzeß Alison war reizend zu Sarah und nannte sie ‚^sweet^‘ und hatte versprochen, das nächste Mal mit dem Prinzen bei Sarah abzusteigen in Berlin, und wahrscheinlich würde Sarah in der Nähe der prinzlichen Güter in Schlesien irgend ein Schloß ankaufen. Und es falle ihr nicht im mindesten ein, sich wieder zu verheiraten, obwohl sie es ihr alle rieten. Keine Spur. Die Männer wären doch viel netter, wenn man sie in jedem Moment wieder laufen lassen könnte, sobald man wollte. – Renée war nicht wohl zumute bei diesen Briefen. Sie waren so sehr Sarah. Sie gaben zu sehr ihr Wesen preis. Und Renée dachte: eigentlich sollte ich wirklich nicht mit ihr zusammen sein. Im Herbst kam Sarah zurück. Renée sah sie wenig. Renée begann eben mit den Stunden. Sarah war müde und abgehetzt. Sie lag zu Bett, oder sie war in der Stadt und ordnete ihre Wintergarderobe. Und wenn sie zu Haus war, – irgendwie kam es, daß Renée und Sarah einander aus dem Wege gingen. Es hatte keinen besonderen Grund, nicht daß Mißhelligkeiten gewesen wären oder Streit. Mit Sarah gab es keinen Streit. Sie hatte eine bewegungslose Ruhe in allen Dingen, sie lächelte freundlich, wenn man ihr widersprach, und tat nach ihrem Belieben. Alles Rechten mit ihr war doch nur ein sinnloser Kraftaufwand. Wenn sie keine Erwiderung wußte, lachte sie und wechselte das Thema. Sehr oft mußte Renée an ihren Bruder denken. Dies und das der täglichen Geschehnisse, ja der ganz unwichtigen täglichen Kleinigkeiten ließ sie verstehn, was ihn aus dem Leben gejagt hatte. Sie dachte: Er ist zerbrochen daran, ist müde geworden und hilflos und arm. – Sie dachte, wie das wohl alles geschehen war. Das Nachdenken über diese Dinge machte sie schroff und abweisend gegen Sarah. Ja, es stieg eine Härte in ihr auf. Und oft gingen ihre Gedanken diesen Weg, sehr oft. Manchmal mitten in einem Gespräch, wenn Renée aufblickte und Sarah ansah, dann fand sie einen unguten Zug, der in Sarahs Gesicht war. Und Sarah lächelte ihn weg, wenn Renée hinsah. – Das Arbeiten brachte Renée in eine gute, gleichmäßige Angespanntheit. Es gab ein Maß für die Tage, für die Wochen, für die Monate. Sie kam sich versorgt vor, wie jemand, der endlich eine passende Anstellung gefunden hat. Es war angenehm, zu wissen, was man am Morgen tun würde. Man fühlte die Stille und die Freude der Sonntage. Manchmal kam Renée mit Nana zusammen. Dort traf sie Nanas Kolleginnen; tüchtige, frohe Menschen waren es. Manche – so fand Renée – hätten nicht so witzig zu sein brauchen, sie sagten: „Tableau“ – „So ist die Kiste“ – „Fertig ist die Laube“ – aber sie waren brav und ordentlich und auch klug zuweilen. Man überhörte eben die Witze. „Wirst du denn nur immerzu so arbeiten?“ sagte Sarah. „Freilich, bis ich fertig bin.“ – „Und dann?“ – „Dann arbeite ich weiter.“ – „Es wundert mich, daß dies Schulmädchenleben dich befriedigt,“ sagte Sarah. Eigentlich mußte Renée lachen. Nun ja – was sie betrieb, waren ja nicht eben gerade Probleme der Wissenschaft. Aber Sarah – wenn sie sich Sarah über der griechischen Formenlehre dachte oder bei den ekligen Dreieckskonstruktionen. „So lange ich die Dinge noch nicht kann, befriedigt es mich eben, sie zu lernen,“ antwortete Renée. Sie dachte: Dieser kleine Überfall mag ruhig hingehn. Sarah sagte: „Mir ist es aber langweilig.“ Renée wurde böse: „Es steht dir jederzeit frei, dir eine lustigere Gesellschafterin zu nehmen.“ Diesmal lief Renée hinaus. Diesmal warf Renée die Türen. – Renée und Nana waren im Grunewald. Sie saßen da an einem Waldgraben mit dem Rücken gegen den Weg. „Ich möchte ein wunderschönes Buch geschrieben haben,“ sagte Nana plötzlich, „möchte Dr. h. c. werden, möchte ein wahnsinniges Geld verdienen.“ „Ich denke, du wolltest den Krebserreger entdecken.“ – „Ja ja, das wäre gar nicht uneben. Aber das Geld, das ich dann hätt. Ach Unsinn.“ „Na, also dann irgend eine andere Medicinae Großtat.“ Nana schüttelte die Locken auf ihrem runden Kinderkopf: „Studieren werd ich schon, aber entdecken werd ich nix, das kannst du glauben.“ „Wie bist du denn eigentlich darauf verfallen?“ Nana legte sich lang in den Graben hinein und kugelte sich behaglich hin und her. „Man verdient am meisten. Ich habe nämlich ein Vorerbe von Großmama. Das reicht gerade so zur Ausbildung und Anschaffung der Instrumente. – Nachher muß ich verdienen. Ich habe keine Lust, arm zu leben und zu sterben.“ Nana machte eine Pause, sie zupfte Gräser ab, die sie in den Mund steckte. „Überhaupt ist es sehr ungut, arm zu sein. Man dreht jeden Groschen in der Hand herum. Man wird geizig und kleinlich gegen sich und andere. Es verdirbt den Charakter, ebenso wie ungute Liebe.“ „Eine eigenartige Zusammenstellung,“ sagte Renée. Nana lächelte: „Nein, das ist auch Armut, so eine ärmliche Liebe. Weißt du, Renée, ich finde, die Männer haben es maßlos gut.“ „Ach – findest du.“ „Ja“ – ganz eifrig wurde Nana – „denke nur: Frau und Kinder können sie haben und ernähren und kleiden. Alles kommt vom Mann. Jeden Groschen hat _er_ verdient, und nun kann er der Frau und den Kindern alles geben, jedes einzelne ist seine Arbeit, was er ihnen gibt, und ein Stück von ihm. Und dadurch nimmt er sie alle ganz zu eigen, und sie hängen ganz von ihm ab.“ „Das sagst du ja ganz verklärt, Nana.“ Nana richtete sich halb auf: „Es ist das Schönste,“ sagte sie, „wenn der Mensch, den man liebt, ganz von einem abhängt in allen Dingen.“ „So ein Vampir bist du!“ Nana wurde bös: „Renée, du lachst, du ulkst über mich.“ Renée streckte ihr die Hand hin. „Nein, Nana,“ sagte sie. „Ich lache ja nicht. Nur darüber hab ich noch nie nachgedacht, ob eben dies so schön ist.“ „Nun also, was ist denn schön?“ „O, ich weiß es nicht,“ sagte Renée, „ich weiß nicht, ich denke: lieben.“ – „Dieser Ausspruch ist nicht gerade neu,“ antwortete Nana. „Nun ja, lieben an sich ist nichts Besonderes, aber so – so, daß eben der eine Mensch den Sinn gibt für alles andere – und dann –.“ „Was noch, Renée?“ Ein wenig noch zögerte Renée. Dann sagte sie: „Wenn man liebt, so muß es sein, um es nie wieder zu vergessen. Gar nichts auf der Welt, was auch geschehen könnte, muß dies ungeschehen machen können, daß man diesen einen Menschen über alles liebte – und wäre es schon ein ganzes Leben her.“ „Dann dürfte jeder Mensch nur einmal lieben.“ Renée schwieg. Sie hatte noch niemals daran gedacht. Und eigentlich konnte man sicher nur einmal lieben – aber dann wieder dachte sie an Hannsbabo. Sie standen auf, um zurückzugehen. „Heute mag ich überhaupt nicht heraus aus dem Grunewald,“ sagte Nana. „Morgen gibt es sicher Regen und übermorgen Schnee und die nächste Woche Winter. Dann ist’s aus mit dem Grunewald.“ Sie gingen nach Hundekehle. Nana wollte absolut Punsch trinken. Renée redete dagegen. „Ich stoße dich auf ein paar Glas,“ sagte Nana, „und nun bist du still.“ Am See war es kühl. Sie mußten sich den Tisch extra heraussetzen lassen. Man servierte eigentlich nicht mehr draußen. Darum lag draußen alles voll gelber Blätter, die knisterten, wenn man darüberging. Renée sollte immer noch mehr Punsch trinken. Sie hatte einen richtigen Kampf mit Nana. Endlich saßen sie in der Elektrischen. Die Leute neben ihnen stapften mit den Füßen auf den Boden vor Kälte. Siebenmal hörte Renée, wie einer dem andern Schnee prophezeite. Die Bahn quietschte und klagte in den Schienen. Das versprach Kälte. „Ich kann noch nicht nach Haus“ sagte Nana. „Ich kann nicht so früh allein sein heute, laß uns irgendwas unternehmen.“ „Komm mit zu mir, magst du?“ „Nein,“ sagte Nana, „dank schön. Ich gehe nicht gern in die Nähe deiner Schwägerin. Tu mir den Gefallen, laß uns was unternehmen.“ „Vielleicht könnten wir ins Theater gehn,“ sagte Renée. Nana war einverstanden. Ja, sie würden in ein Lustspiel gehn. „Nur nicht etwas mit Emotionen,“ sagte Nana. Es war ein furchtbar dummes Stück. Renée bedauerte ihre sechs Mark. Man hätte viel hübschere Dinge damit haben können. Renée ärgerte sich über die albernen Leutnants auf der Bühne, die wie Friseure aussahen, und die ‚Gräfinnen‘ benahmen sich so Münchnerisch ordinär. Natürlich saßen die Berliner und gröhlten vor Wonne. Nana zupfte Renée am Ärmel bei jedem Witz und lachte und schlug sich auf die Kniee vor Vergnügen. Nachher, als sie heimgingen, war Nana ganz aufgeräumt. Sie sagte, Renée sei ein lieber Kerl, daß sie mitgekommen wäre. „Manchmal,“ so sagte Nana, „da denk ich an meine gräßliche einsame Bude, und dann bin ich wie ein Hund, den sein Herr mit dem Kopf ins Wasser getitscht hat.“ Renée sagte: „Dann sagst du mir’s immer, nicht wahr? Und wir sind gute Freunde und dann helfen wir einander schon aus.“ Dann nahm Nana Renées Hände und drückte sie ganz fest – und sie sagte: „Du kannst das wissen: du sollst keine Minute warten, wenn du einmal meine Hilfe brauchst, Renée.“ – – Als Renée einschlief, fielen ihr Nanas gute, warme Worte ein. So kam es, daß sie ruhig und froh aufwachte den andern Morgen. – Wie Renée sich plagte. Wollte denn die elende Geometrie nie in ihren Kopf? Manchmal saß sie drei Stunden über ein und derselben Aufgabe, und in der vierten Stunde fiel ihr so ein elender Lehrsatz ein. – Dann war es gelöst. Wenn sie es nicht herausbrachte, dann peinigte sie diese Zeichnung den ganzen Tag. Fast hätte sie, wen sie auf der Straße traf, angeschrieen: „Wenn a + b gegeben ist und der Winkel.“ Sarah betrachtete es mit Kopfschütteln. Mit den Sprachen konnte sich Renée besser helfen. Und an dem Griechisch hatte sie Freude. O, man konnte zuweilen ganz berauscht werden von dem weichen, von diesem geheimnisvollen Zusammenklingen der Vokale. Und immer gingen die Worte dieser Sprache dem Geschehen nach; klangen süß und sanft, wenn gute Dinge geschahen, klangen absurd und gellend und wie Schreie, wenn ein Unglück kam. Renée konnte ein oder das andere Wort vor sich hersprechen, drei-, viermal – und wurde wehmütig dabei. – Einmal sprach Sarah von Nana. Nein, ihr gefiel diese Nana nicht. Immer war sie in einer so sonderbaren Weise präokkupiert, wenn Sarah mit ihr sprach. Und sie hatte ein Benehmen wie ein Realschüler. – „Wirklich, du solltest dich nicht so mit ihr liieren,“ sagte Sarah. – „Sie ist der feinste und beste und ehrlichste Mensch, den ich kenne,“ antwortete Renée. „Also du wirst bestimmt irgendwann peinliche Erfahrungen mit ihr machen.“ „Nein, nein.“ Renée lachte übermütig. Sarah überhörte das: „Von jener Person, die Margit Roeren hieß, hast du mir auch immer so vorgeredet.“ – „Ich glaube, ich kann trotzdem Unterschiede machen, Sarah!“ Sarah sagte: „So. Nun aber du absentierst dich absichtlich von mir, Renée. Und dann – ich halte den Einfluß dieser Leute nicht für geeignet.“ „In manchem hast du recht. Aber nicht hier. Nana ist nur gut für mich. Vielleicht indessen ist es ungut, daß _wir_ zusammen sind, Sarah, daß wir es _noch_ sind, denn das, was uns zusammenbrachte – das hält uns nicht mehr.“ Sarah schien erstaunt zu sein. Renée sah ihr so sehr an, wie wenig sie dergleichen erwartet hatte zu hören. „Ich glaube es darum,“ fuhr Renée fort, „weil sich auf die Dauer und je älter ich werde, Gegensätze verschärfen werden, die dir wie mir zuerst ganz unwichtig erschienen und – weil du gewohnt bist, die Dinge aus einer andern Optik zu betrachten, als ich es tue. – Ich aber kann es nicht haben, daß herabsetzende Dinge gesagt werden über Menschen, denen ich gut bin.“ „So schweige ich also!“ Renée sagte: „Nein, nicht. Das würde wenig helfen. Sei mir nicht böse, Sarah, es ist dies: Du hast die Tendenz intellektueller Freiheitsbeschränkung. Aber ich kann keine Beschränkung ertragen.“ Sarah stand auf. Sie machte ein hochmütiges Gesicht und ging – aber zögerte sie nicht einen kurzen Augenblick an der Tür? – Bei Sarah begannen die Feste. Es kamen die, zu denen Sarah mit der langen Schleppe ging und dem Schleier und jene, zu denen sie goldne Kleider trug und silberne Roben, an denen zuvor Brillanten festgenäht wurden. Schön sah Sarah aus. Aber Renée sah sie an und dachte an ihren Bruder. Dachte: früher war sie schöner, als Hannsbabo neben ihr stand und sie immer ansah. – Abends, wenn Sarah zurückkam, legte Renée ihre Bücher fort, über denen sie gesessen hatte, und setzte sich zu Sarah. Dann erzählte Sarah. Die Leute hätten gesagt, Sarah wäre schön, so schön wie eine Königin, sie sähe wiedermal am vorzüglichsten aus von allen. Dann lachte Renée und sang: „Frau Königin, ihr seid die Schönste allhier ...“ „Gar nicht ist Schneewittchen schöner,“ sagte Sarah. „Nein, gar nicht,“ antwortete Renée. Das mochte Renée gern, so abends mit Sarah sein. Die Dinge, die sie Tag und Nacht über eingepaukt hatte, tanzten ihr immer noch ein wenig im Kopf herum, während Sarah erzählte – und dann tanzten Sarahs bunte Geschichten dazwischen. Wenn Renée zu Bett ging, nahm sie die Bücher noch einmal mit. Sie befaßte sich von neuem ernsthaft mit jedem einzelnen Stoff. In der Mathematik erlebte sie Enttäuschungen: Immer war es abends so herrlich richtig. – Am nächsten Morgen hingegen war es falsch. Und Renée hatte doch gerade dem Mathematiklehrer auseinandersetzen wollen, wie einfach und unzweideutig diese Lösung wäre. – Die Zeit verging gleichmäßig. Es war, als ob man in langsamem Tempo einen Berg heraufkäme. Einen Berg mit einer leidlich bequemen Straße. Renée konnte die Arbeiten beiseite tun ein paar Stunden oder ganze Tage. Aber dann wußte sie, es war immer da, bereit, zur Verfügung. Sie brauchte nur eins der Bücher zu nehmen. Eine komische, kleine Kraft hatten die Bücher. Waren sie nun eine Schanze oder waren es Waffen? Oder war es ein Haus, ein Schneckenhaus, in das man hineinkriechen konnte? Es war auch ein Sport dabei. Viel fixer als bei andern sollte es gehn – mußte es gehn. – Renée sah Nana wenig diese Zeit. Nana sagte: „Nein, so ochse ich nicht. Keineswegs. Bei uns in der Penne läßt man sich Zeit.“ Manchmal kam sie, wollte Renée helfen, irgend etwas erklären. Aber es lief nie gut aus. Renée verteidigte wie ein Evangelium, was sie einmal gehört und verstanden hatte. Nana hingegen suchte immer nach neuen und folglich besseren Methoden. – Einmal, gegen den Sommer, kam Nana aufgeregt angelaufen. Sie fuchtelte mit den Armen und schrie schon von weitem: „Du mußt in die Pension kommen heut abend. Gräfin Isowska gibt ein Atelierfest.“ – „Aber ich hab keine Zeit.“ Nana ergriff Renée aufgeregt bei den Armen und schüttelte sie. „Du mußt absolut, es wird famos, und überhaupt hab ich dich schon angemeldet. Es ist alles besorgt – hier ist die Karte.“ Sie zog einen Zettel aus dem Portemonnaie. „Es ist für eine ‚polnische Waise‘. Aber wir glauben alle, die Isowska ist selbst die ‚polnische Waise‘.“ Nana erstickte vor Lachen. „Es kostet fünf Mark,“ stieß sie keuchend hervor. Renée zahlte. „Aber was muß man anziehn?“ „Ist schon erledigt,“ sagte Nana. Sie lief hinaus und schleppte einen Karton herbei. „Da, nimm,“ sagte sie mit einer verschwenderischen Geste, „es ist von Edda Osten. Es ist Napoleon auf der Brücke von Lodi.“ „O,“ sagte Renée, „soll ich das darstellen – aber –“ „Es kommen nur Damen.“ Nana richtete sich in ganzer Größe auf, „es wird sehr dezent, und die Gräfin Isowska hat sich extra Atelier-Requisiten dazu verschafft.“ Nana begann den Karton auszupacken – das geschah, indem sie den zu unterst liegenden Gegenstand herauszerrte. Dadurch fielen die andern mit. „Das Kostüm kannst du ruhig tragen. Edda Osten ist meine Cousine. Sie ist sehr sauber.“ Renée lachte: „Bitte, das erstere genügt mir völlig.“ Aus dem Karton kam ‚Napoleon auf der Brücke von Lodi‘. – Renée begann den Napoleon anzuziehn. Wenigstens den Waffenrock und die schwarzen Stulpenhandschuh. Sarah klopfte, sie kam eilig herein. Nana fuhr auf mit einer kleinen, drolligen Verbeugung. – „Es ist Napoleon,“ sagte Nana. – „O sieh da. Gibt es einen Maskenball?“ – Nana erzählte eilfertig die Geschichte von der polnischen Gräfin. Nun wollte Sarah mit. Und Renée merkte, daß Nana keine rechte Lust dazu hatte. – „Sie werden mich doch mitnehmen?“ sagte Sarah – sie lächelte Nana zu, als ob es gälte, jemanden aus dem Gefängnis herauszulächeln. Nana wurde verlegen. – „Natürlich,“ sagte sie, „wenn Sie es mögen.“ „Also gut, gut, ich mag. Fahren Sie schleunigst zu der polnischen Gräfin. Sagen Sie ihr, ich stiftete hundert Mark für das Waisenkind.“ – Nana sah Renée an, und dann sah sie Sarah an. Sie verabschiedete sich eilig und ging. „Heut abend auf Wiedersehn,“ rief ihr Sarah nach. „Ah, sie wollte mich nicht haben, die alberne, kleine Person,“ sagte sie. „Wollte absolut nicht. Hast du so etwas Ungezognes schon gesehen?“ „Ich würde nicht gehn, wo man mich nicht wollte.“ – „Ach wie lächerlich.“ Sarah lachte demonstrativ. „Gerade – und außerdem bezahle ich ja genug.“ – Dann fuhr Sarah in die Stadt wegen des Kostüms. Renée freute sich. Sie hatte noch niemals so etwas mitgemacht. Und hatte sich noch niemals verkleidet. Und gewiß waren sehr viele Leute da mit schönen Kleidern. – Sarah hatte ein hellgrünes Kleid. Sie hatte einen weißen Turban mit Perlenketten und einen großen bunten Paradiesvogel. Am Eingang wurde Sarah von der Gräfin Isowska empfangen. Die Gräfin überreichte ihr einen Strauß weißer Lilien und sagte, es sei ein Glück und eine Ehre für ihr harmloses Fest – und Sarah lächelte das reizendste Lächeln, das sie aufbringen konnte. Dann machte die Gräfin eine weitausladende Handbewegung, mit der sie die Bahn freigab und sagte: „^Napoléon et Joséfine^.“ – Ein allgemeines Ah ging durch die Versammlung. Renée fühlte sich allseitig angestarrt und wäre am liebsten in die Erde gekrochen. Sie hatte gar nicht gemerkt, daß Sarah Josefine darstellte – aus irgend einer Ecke schoß Nana hervor, sie hatte eine riesige Guitarre auf dem Rücken. Einige zufällig in Empiretracht erschienene Damen begannen drängelnd hinter Sarah herzulaufen und sagten, sie seien der Hofstaat. Nana stand neben Renée „Es sind eine Menge ulkige Leut hier,“ sagte sie kichernd. „Wart, ich zeig sie dir.“ – Nanas Finger fuhr hoch in der Richtung einer umfangreichen Dame mittleren Alters. – „Siehst du, das ist die Lamproth, die mit dem ‚Schrei nach dem Kinde‘ – ich glaube, sie hat immer noch keins“ – eben ging die Betreffende vorüber, Renée hätte ihr beinah ins Gesicht gelacht. Nana zeigte auf eine große Dame in Schwarz. – „O, das ist die liebe, schöne Reichner-Wengersky.“ – „Schön? Herrgott,“ sagte Renée. Nana lächelte. „Nein, nicht das landläufige ‚schön‘. Ich weiß wohl, und dann ist sie auch schon alt, aber ich habe ihre Bücher so maßlos geliebt, als ich sehr jung war.“ Renée dachte an eins dieser Bücher, dachte: daß ein Mensch ein so großes, gutes Herz haben kann, irgend eine kleine Rührung kam ihr. – „Also das ist sie“ – sagte Renée, „das ist sie.“ Plötzlich machte eine dicke Dame vor ihr Halt. Diese Dame hielt den Kopf ein wenig schief und lächelte fatal, indem sie die Augen zusammenkniff. Wo – richtig, es war ja die Horwitz, Viktors furchtbare Schwester. – „Sie hier, Fräulein Renée?“ – „Sie auch,“ antwortete Renée. Die Horwitz sagte, man hätte sie so sehr dringend aufgefordert. „Sie werden viel berühmte Damen hier sehn,“ begann die Horwitz milde, „ich werde Sie ein wenig orientieren.“ – Renée erschrak; nun mußte sie mit der gräßlichen Horwitz herumlaufen. – Aber schon hatte Fräulein von Horwitz sie im Schlepptau. Mit der gleichen schiefen Kopfhaltung wie zuvor an Renée trat sie an eine der Umstehenden. Sonderbar, auch diese drehte den Kopf schief. Es war Henriette Estner, wie Renée vernahm, ‚eine unsrer Bedeutendsten‘. – Die Bedeutende lächelte steif und selbstverständlich. Sie hatte eine Stimme wie ein zerstoßner Blechtopf – aber sie wurde sehr geehrt. Renée schob sich schnell durch zwei Dahinterstehende und verschwand von der Seite der Horwitz. – „Sieh dir doch lieber die jungen, hübschen Bedeutenden an,“ sagte Nana. Es kamen einige Vorführungen. Sie waren nichtssagend. Aber man konnte wenigstens feststellen, daß auch junge und hübsche Damen auf diesem Fest waren. Das war beruhigend. Es gab Theater. Tingeltangel, Kabarett, dumme Auguste und Cleo. Es war alles sehr echt. Besonders der Tingeltangel! Nachher tanzte man. Zwischen den Tänzen sang Nana. Nana war Troubadour. Sie stand mit dem Rücken zum Fenster und sang: „^Il y avait une fois un pauvre gare^ –“ Sie sang mit einer feinen, traurigen Stimme, und manchmal, sonderbar unvermittelt, griff sie leidenschaftlich und hart in die Saiten ihres Instruments. Kleine, liebe Nana – was tanzt denn so in deinem Herzen! – Sarah stand inmitten der Hervorragendsten. Hinter ihr waren die in Empiretracht. Neben ihr stand ein großer, schlanker ‚Theodor Körner‘. Er hielt den Lilienstrauß. Er wandte sich zu Nana und sagte: „Diese kleine Josefine ist reizend.“ – Nana drehte ihm den Rücken. „Es ist die Dr. med. von Saldern,“ sagte sie wegwerfend. Sarah schien sich zu verabschieden. – „Ich werde sehr Freude haben, wenn Sie kommen zu mir,“ sagte sie mit einem allerliebsten Lächeln. Sie spricht doch sonst viel besser Deutsch, dachte Renée. ‚Theodor Körner‘ reichte die Lilien in den Wagen. „Ihr Wagen hat nicht einmal ein goldenes Dacherl,“ rief er hinterdrein. – Im Wagen lachte Sarah, zehn Minuten lang ununterbrochen. „Es ist das Komischste, was es gibt, o, es ist so komisch“ – ganz außer sich war Sarah. „Was ist denn nur?“ – Sarah lachte – lachte. Der Paradiesvogel auf ihrem Kopf lachte. „Sie waren so furchtbar alt und häßlich,“ sagte Sarah, „sie machten mir so entsetzliche Komplimente; o, sie waren alle ganz verliebt in mich. – Ich habe sie sämtlich eingeladen.“ – – Die Damen mit dem ‚Schrei nach dem Kinde‘ kamen. Sie sprachen sehr viel von dem ‚versagten Glück der Mutterschaft‘, das allen Frauen zugänglich gemacht werden müsse. Sie sagten: „Es ist das Recht des Weibes, Mutter zu sein.“ Dr. med. von Saldern schwieg und lächelte. Dann sagte sie: „Es ist das Recht der Frau, reizend zu sein.“ Die mit dem ‚Schrei nach dem Kind‘ rückten von ihr ab. „Es ist durchaus unwichtig, ob dieser rein physiologische Zustand vorhanden gewesen ist oder nicht,“ sagte die Dr. med. Die Bedeutende mit der Blechstimme trat ihr entgegen. „Die Mutterschaft reift die Frau zu ihren höchsten Möglichkeiten!“ sagte sie. Renée ging zwischen ihnen herum und reichte die Teetassen. Und als sie zum fünften Mal hörte, daß es das heiligste Recht sei, Mutter zu sein und daß niemandem dieses Recht verkürzt werden dürfe, da bekam sie eine Riesenlust, in all das banale und aufgeblasene Zeug hineinzufahren, das sich so maßlos wichtig gebärdete. „Wenn man nun gar nicht Lust hat auf dies ‚heilige Recht‘?“ sagte sie. Die Damen betrachteten sie indigniert. „Nicht Lust,“ sagten fünf herausfordernde Stimmen. Renée mußte lachen. Es schien, sie hatten alle sehr Lust. – „Ich habe gar keine Lust zum Beispiel,“ sagte sie freundlich. Die Gesichter der Damen röteten sich – die Dr. med. sagte: „Recht so!“ „Noch vorgestern sagte der Herr Kultusminister im Abgeordnetenhaus, daß die Frau vor allem auf ihren herrlichen Beruf als Frau und Mutter erzogen werden müsse,“ hub eine Dame an. „Natürlich für diejenigen, die dieses höchsten Glückes leider nicht teilhaftig sind – –“ Renée unterbrach sie: „Ich las es. Dieser Mann betrachtet alles weibliche Künstlertum, Studium, Arbeit nur als Ersatz, als Notbehelf für die versagten Babies mit Lutschpfropfen.“ Einige der Jüngeren lachten. Sarah lächelte. Sie sagte: „Ich bin erstaunt, Renée.“ Renées Gegnerinnen zogen sich darauf zurück, von jugendlicher Unreife zu reden. Sie sagten: „Jedes Vollweib fühlt in sich diesen Drang.“ – „Unter diesen Umständen ziehe ich vor, ein Halbweib zu sein,“ sagte die Dr. med. Die Unterhaltung bekam eine bedenkliche Wendung. „Immerhin werden Sie es doch begreifen, daß manche Frauen sich sehnsüchtig ein Kind wünschen, Fräulein von Catte,“ sagte eine der Jüngeren. Sarah versuchte auf der andern Seite ein Gespräch in Gang zu bringen. „Nein, nein, ich begreife das nicht,“ antwortete Renée, „ich finde es – nun – fatal im höchsten Grade, wenn Frauen umherlaufen und sich nach einem Kinde sehnen, als nach dem ‚Ding an sich‘ – es ist abstoßend, roh, denn hier wird die Voraussetzung der Liebe ausgeschaltet, hier drängt die Frau in den primitiven Urzustand zurück, sie wirft die Vergeistigung der Erotik über den Haufen und macht die Liebe zur Funktion – – und es bleibt nichts als ein lächerlicher, geiler Lärm.“ Nach den Gesichtern, die Renée erblickte, schien es, daß sie sich sehr unpassend ausgedrückt hatte. Es entstand Schweigen. Die Dr. med. von Saldern sagte: „Recht so.“ Sarah erhob sich: „Ich habe Ihnen noch gar nicht meinen Obolus zur Sammlung für das Waisenkind erstattet,“ sagte sie; Gräfin Isowska erhob sich stürmisch. Sarah entnahm ihrem Schreibtisch Geld. „O, wie edeldenkend,“ sagte die Polin, „zweihundert Mark!“ Sie breitete die Scheine mit spitzen Fingern aus. Die Unterhaltung floß ruhiger. Renée beschäftigte sich beim Teetisch. – – „Ich finde, du hast taktlose Dinge getan,“ sagte Sarah später. Renée ärgerte sich. Sie fand, Sarah hatte vielleicht nicht so ganz unrecht. Sie sagte: „Ich kann diese widerwärtigen Mutterschaftsreden nicht leiden. Sie diskreditieren damit nur die Frauenbewegung.“ „Aber du bist etwas jung, Renée.“ Renée lachte: „Du bist nicht so sehr viel älter.“ „Die Leute waren sehr wütend auf dich, sie meinten, es sei unnatürlich.“ „Ja,“ sagte Renée, „gewiß, meinetwegen. Ich schreie nicht nach dem Kinde, meinetwegen mag das unnatürlich sein. Hast denn du jemals danach geschrieen?“ Sarah spielte mit ihrer Uhrkette, an der ein paar Edelsteine hingen. „^God save me^,“ sagte sie halblaut. War denn wirklich schon wieder Winter gewesen und Frühling und Sommer? Hatte es Schnee gegeben und dann Blüten und Blumen? Da ging Renée durch den Tiergarten und sah, daß die Bäume leer waren und daß Pfützen auf den Wegen standen und daß der Wind das knisternde, braune Laub herumwirbelte. Was war es für ein Leben, das Renée lebte. – Eigentlich hatte sie die ganze Zeit nur nach dem Examen abgerechnet: In sieben Monaten, in fünf Monaten, in einem Monat. Und dann war es da. Immer schon war Renée an dem großen roten Kasten vorbeigegangen und hatte gedacht: Einmal stehe ich darin und weiß keine Antwort. Und werde ohne Ende gefragt und weiß absolut keine Antwort. Sie hatte sich ausgemalt, wie sie aussehen würden, der Regierungskommissar und der Direktor und die Lehrer. Und natürlich würden die Jungens ihr keine Silbe vorsagen, weil sie ja nicht wußten, ob sie sollten. Aber man konnte sie doch unmöglich auffordern. Die schriftlichen Tage vergingen ziemlich sorglos. Man war noch ein wenig getragen von dem Gefühl der herrlichen Dinge, die einem vor Beginn gesagt worden waren. Gewissermaßen in einer feierlichen Stimmung war man. Dann kam ja auch zuerst der Aufsatz, da würde man sich schon irgendwie durchgraben. Die Mathematik machte Renée ohne sonderliche Angstzustände. Und gerade davor hatte sie sich so gefürchtet – aber man hatte so lange Zeit. Und irgendwo aus einem versteckten und verstaubten Gehirnwinkel kamen auf einmal Dinge, die der Mathematik-Doktor gelegentlich geäußert hatte. Die Tage bis zum Mündlichen verbrachte Renée zwischen Säulen von Büchern. Endlich drei Tage vorher kam Nana. – „Reizend,“ sagte sie, „ist dieser Anblick! Reizend – wie du dasitzt, wie du mich anglotzt mit ganz stieren Augen.“ „Was redest du denn nur?“ Nana lachte höhnisch. „Wenn du so fortfährst, so fällst du durch,“ erklärte sie kategorisch. Dann flogen Renées Bücher in den Schreibtisch. „So ein Unfug. Ochst sie da Literaturgeschichte – und Zahlen. Fünf Bogen Zahlen – ja –“ Nana stemmte die Arme in die Seiten und baute sich gerade vor Renée hin. „Meinst du etwa, die behältst du bis übermorgen?“ Renée sah sie starr an, und eigentlich war sie froh, herauszukommen. Es war, als ob nun Nana die Verantwortung übernommen hätte. Am Abend vorher kam Nana noch einmal. Sie nahm Renées Bücher und frug alles ab, ein Fach nach dem andern – und Renée sagte die Dinge herunter eins nach dem andern und wurde ruhig und vergnügt dabei. Dann war es wirklich vorüber. Sie war wirklich durch. Unten stand Nana; die kleine, frohe Nana sah blaß und erregt aus, und dann strahlte ihr Gesicht. Sie fiel auf einmal Renée um den Hals. Was Renée gefragt worden war? Was denn nur in den fünf langen Stunden? Eigentlich wußte Renée es gar nicht mehr. Ob sie denn Griechisch gut gekonnt hätte? Wie ging denn Homer? An welche Ode war Renée gekommen im Horaz? Und Cicero? Nana stolperte alle diese Fragen heraus, als ob sie aufgeschichtet, parat gelegen hätten. „Ich glaube, es war alles ganz leidlich,“ sagte Renée. „Bloß Geographie ahnte ich nichts.“ – „Das tut nichts,“ sagte Nana. – „Weißt du Negerstämme aus unseren Kolonien?“ – „Ich? Nein,“ antwortete Nana. „Ich wußte sie auch nicht. Sie heißen Baku oder Taku oder so was.“ – „Ach, wo, Renée, Taku sind die Forts vom Chinesenkrieg.“ „Sie heißen aber so ähnlich. Der Direktor hat es selbst gesagt,“ beteuerte Renée. – Ob denn Religion gegangen wäre? Hatte auch Renée keine Angst? – Renée hielt Nana den Mund zu. „Man kann nicht alles beantworten, was du fragst,“ sagte sie. Dann gingen sie zu Kempinski. Obwohl es auch bei Sarah am Abend noch ein Festessen geben sollte. – Renée war so vergnügt! Sie ging ordentlich gehoben herum. Sie dachte: Dieser Zuwachs geht mir nicht mehr verloren. Nun bin ich mindestens Studentin. Und ich kann ja auch mehr werden – natürlich – ich kann den Doktor machen. Vielleicht doch Medizin, dachte Renée. Dann fing sie an auszudenken, wie hübsch es sein würde, wenn sie alles erst war. Jemand redete sie an, gerade an der Brücke. Es war Schoenburg. „Darf ich Ihnen gratulieren, gnädiges Fräulein? Nana hat mir natürlich erzählt. Sie ist ganz außer sich vor Freude, die kleine Nana.“ „Ja, sie hat mir so geholfen.“ – „War es schwer?“ frug Schoenburg, „schön?“ – Renée lachte: „Freilich, schön. Wenn einem gesagt wird, man hat’s bestanden, dann fällt plötzlich ‚der Stein vom Herzen‘, und einen Augenblick ist man ganz wie erlöst und ganz froh.“ – „Nur so kurz ist man froh?“ – „O ja,“ sagte Renée, „froh ist man niemals sehr lange.“ – „Haben Sie Nana gern, Fräulein von Catte?“ – „Ja, sehr, sehr gern. Sie ist der allerbeste Kamerad und –“ – „Und? Warum sprechen Sie nicht weiter?“ – frug Schoenburg. „Ich spreche ja. Nur müssen Sie es nicht falsch verstehen, oder vielmehr ich fürchte mich, daß es recht sentimental klingen könnte.“ – „Nein, nein, ich bin nicht solch ein Plebejer.“ „Es ist dies,“ sagte Renée: „von Nana habe ich das bestimmte Gefühl, daß sie mir irgendwann einmal helfen, daß sie mir etwas tun wird, was sehr schön und sanft und stark sein wird, zu tun.“ Schoenburg ging neben Renée her und schwieg. Einmal, als sie über den Straßendamm gingen, wandte er ihr das Gesicht zu – er wollte sie zurückhalten – ein Auto kam – da sah Renée in sein Gesicht, sah, wie er traurig aussah und enttäuscht. – Er bemerkte, daß sie es sah, und lächelte und sagte: „Nun haben Sie auch noch dies für einen andern zu tun aufgehoben.“ Am Wilhelmsplatz trennten sie sich. Renée dachte an diese Dinge, als sie nach Hause ging. Dachte: Wie herzensroh ist ein Mensch, der nicht liebt, wie sehr billig im Vorteil. – Es kamen unruhige Nachrichten aus Groß-Gehren. Bill war krank. Bill hatte Diphterie. Papas Cousine, das alte Fräulein von Rochow, die den Haushalt führte seit kurzem, schrieb. Sie schrieb von der großen Angst, in der sie alle lebten, von der verzweifelten Sorge, mit der Renées guter Vater jeden Atemzug des geliebten Enkelkindes bewache. Sie ließ philosophische Betrachtungen einfließen, sie sprach außerdem von dem Sonnenstrahl des Hauses, der letzten Hoffnung der Familie. Renée wußte nicht so recht, was sie daraus machen sollte. Als Sarah diesen Brief las, lachte sie. Sie lachte in einer sonderbaren Art und sah Renée an. – „Was sollen nur diese Redensarten von Tante Klara?“ frug Renée. Sarah lachte, sie klimperte mit den Fingern auf der Tischplatte. – „Was? Er soll doch Groß-Gehren erben, der Wurm! Er soll es kriegen, und ihr kriegt nichts.“ – „Wieso?“ „Nun ja, eben wie ich dir sage. Es war so bestimmt, im Falle daß Hannsbabo kinderlos starb.“ „Woher willst du das wissen?“ Sarah zuckte die Achseln. „Er hat es einmal gesagt, er war böse darüber.“ – Warum? Sarahs Augen gingen an Renée vorüber, sie antwortete nicht. „Wann hat er es gesagt?“ – „Wenige Wochen ehe er starb. O ja, ich erinnere mich deutlich. Er ging mit mir die Treppe der Veranda hinunter, und er sah dich von weitem – du standest am Wasser, kleine Renée, und du sahst in deinen Mond, den du immer so liebst – – und er sah dich und sagte: ‚Ich mag es nicht, daß Renée sich so sehr an dieses hier hängt.‘ – Er antwortete nicht, als ich ihn frug. Er ging zu dir und küßte dich – weißt du noch?“ „Ja, ich weiß es.“ „Später erklärte er es mir,“ sagte Sarah. „Er hat gesagt: ‚Diese widerliche Horwitz-Sippe, dann wollen sie noch ihren scheußlichen Romannamen anhängen an unser gutes, altes Catte.‘“ Renée wurde traurig. Was denn? Entging _ihr_ etwas? Nein – sie hatte niemals daran gedacht. Nur irgend eine Abwehr war in ihr gegen diese fremden, gedankenlosen Leute – so als müßte man ein Kind hergeben, und das käme nun in fremde Pflege. – Bill wurde gesund, und Renée fuhr hin, damit Elisabeth sich etwas erholen konnte von der Pflege. Sie fand ihren Vater elend und angegriffen. Er ging ermüdet durch die Stuben, immer mit einem halb abwesenden Ausdruck – so war er nicht gewesen, als Hannsbabo starb. Renée mußte so viel an ihren Bruder denken. Sie mußte daran denken, wenn sie die Glocken zum Feierabend hörte; die beiden Glocken, die brummende und die mit dem fröhlichen Geklingel, zwangen ihre Gedanken zu dem Kirchhof damals, wo sie ihren Bruder hinaustrugen – und da lagen sein Helm und sein Pallasch und Sarahs Rosen. – Renée ging über die Dorfstraße. Ein paar Kinder liefen hin und her mit Gießkannen und gossen die Blumen auf den Gräbern der vielen kleinen Geschwister. Renée ging durch die Kreuze und Steine. Die neuen waren häßlich. Da standen Kreuze in Gestalt eines Baumstammes, aus Stein natürlich. Sie hatten einen runden Schild mit der Photographie des Verstorbenen auf Porzellan. Nein, sie waren nicht schön. Aber darauf hingen Papierkränze, die die Schulkinder machten – die hingen auch in der Kirche, von roten, blauen und grünen Rosen, die kannte Renée so lange schon. Der Efeu auf Hannsbabos Grab war dicht und dunkel. Renée zog die jungen Ranken fort von den Buchstaben. Hannsbabo Friedrich-Wilhelm von Catte Kgl. Pr. Oberleutnant. Er lag da neben Mama. Renée mußte sonderbare Dinge denken: Einmal lieg ich da auch, vielleicht neben Hannsbabo – oder da rechts auf der Seite. Sie mußte so sehr an den Tod denken – war es denn mit Furcht? Hatte sie Furcht? Es mußte doch einmal sein. Natürlich noch lange hin. Man wurde zuerst alt, dann wurde man krank, dann schließlich starb man – so war es doch – warum an den Tod denken. Hannsbabo war so jung gestorben. – – „Gottlob, ja wirklich, nun geht es dem lieben Kind ja wieder gut,“ sagte Tante Klara bei Tisch. „Nun sollst du selber auch mehr auf deine Gesundheit sehen, Wilhelm.“ Renées Vater sah auf, als die Tante ihn anredete. „Ist ja auch ein Blödsinn, den Jungen so einfach mit den Dorfkindern rumlaufen zu lassen,“ sagte er ärgerlich. „Ich wünsche nicht, daß das wiederholt wird!“ – „Da hast du ja völlig recht, lieber Wilhelm,“ sagte die Tante, „aber Elisabethchen meinte doch, daß Viktor –“ „Unsinn,“ erwiderte Papa. „Ich verbiete es hiermit! Der Müller hat einen ganz netten Jungen, der kann im Garten spielen mit Bill. Übrigens ist ja nun Renée da. Die kann sich etwas um den Jungen kümmern.“ – „Ja schon,“ sagte Renée, „außerdem spielen so kleine Kinder doch gewöhnlich allein. Er müßte eben anstatt dieser uralten, wackligen Kinderfrau eine Junge bekommen, vielleicht aus dem Lettehaus.“ „Aber die Alte ist dringend nötig für das Kind. Laß ja nichts dergleichen laut werden,“ sagte Tante Klara und sah sich ängstlich um nach dem Diener. Papa streifte die Tante mit einem ärgerlichen Blick. „Es wäre mir sehr lieb, wenn du dich etwas der Sache annähmest, solange Elisabeth fort ist,“ sagte er. „Der Junge hat so alberne Klein-Mädchen-Angewohnheiten. Natürlich – er wird ja geradezu darauf hingeleitet.“ – „Das arme Kind,“ sagte Tante Klara. – „Ja eben, das arme Kind. Das ist ganz meine Meinung,“ sagte Papa. Renée mußte lachen. Dies schien also schon seit einer Weile im Gange zu sein. – „Aber jetzt, wo er so erholungsbedürftig ist, kann man doch nicht auch noch seine Gewohnheiten –“ erwiderte die Tante. – Papa unterbrach sie: „Na hör mal – Gewohnheiten ist gut! Ein vierjähriger Knirps, das ist großartig.“ – Tante Klara zuckte die Achseln. „Was sind denn das für Gewohnheiten?“ frug Renée. Der Diener begann das Obst herumzureichen. – „Na, zum Beispiel spielt der Bengel nur mit Puppen –“ begann Papa. – „^Prends garde le domestique^,“ sagte Tante Klara eindringlich. Papa ignorierte das. „Ach, lächerlich ist es. Neulich hat ihm sein Vater ’nen Pappküraß und Helm geschenkt, und als er’s anziehen sollte, heulte der Kerl.“ – „Nun ja, er kennt eben so etwas noch nicht,“ sagte die Tante entschuldigend. – Papa gab es auf. „Na ja, natürlich, ihr seid einig _gegen_ meine Ansichten,“ sagte er gekränkt resigniert und erhob sich. – Tante Klara wollte sich aussprechen. „Es ist wirklich ein so reizendes Kind,“ sagte sie zu Renée, als Papa in sein Zimmer gegangen war. „So zartfühlend und sanft und bescheiden. Du solltest hören, wie niedlich und poetisch er sich manchmal ausdrückt.“ Renée sagte, das sei wirklich erstaunlich. Dies schien die Tante anzufeuern. „Wir lassen ihn auch bestimmt nicht Offizier werden. Gegen Pensionen bin ich auch sehr. Bill ist viel zu fein und zartfühlend, um unter diesen rohen Jungens –“ – „Aber schließlich – er ist doch selber ein Junge.“ – „Nun ja,“ sagte die Tante. „Ich meine, wir werden ihn zu Haus erziehn, und natürlich braucht er dies ganz unnötige Abiturexamen, oder wie es heißt, nicht zu machen. Wozu, er erbt ja Groß-Gehren. Ich denke doch auch bestimmt, daß Sarah ihn bedenken wird, und mein kleines Vermögen wird natürlich auch Bill –“ Renée staunte: „Sarah – mein Gott, wie käme denn die dazu?“ – „Nun,“ meinte die Tante, „das ist doch – ich dachte, da du doch –“ – Renée lachte: „Ach so!“ Ausgelassen lachte Renée. „Du meinst, ich soll bei Sarah die Erbschaft für Bill ersitzen.“ Dagegen verwahrte sich Tante Klara entrüstet. Sie hätte nur gemeint – Elisabeth hätte einmal geäußert – – Also Renée erfüllte Papas Wunsch und kümmerte sich um Bill. Sie baute mit ihm Baukasten-Häuser auf, in die er dann hineintreten durfte. Sie zog Puppen an, als deren Mutter sich Bill betrachtete. Diese Puppen waren nur und durchaus Mädchen, wie Bill versicherte. Auf Söhne legte Bill keinen Wert. – Bill war niedlich, ja, aber eigentlich sah er etwas dumm aus mit seinen erstaunten hellgrünen Augen. – Er hatte das rötliche Haar vom Vater und dessen winzige runde Kindernase, und er hatte eine große Vorliebe für Mädchenkleider. – Weihnachten war vorüber. Der kleine Bill hatte zwei Tische voll Spielsachen bekommen. Einen von den Eltern und einen vom Großpapa. Während er diese Sachen betrachtete, hatte die ganze Familie hinter ihm gestanden, seine Bewegungen und Äußerungen waren vom einen dem anderen mitgeteilt worden – so kamen sie schließlich zu Renée. – „Bill hat gesagt, das weiße Wollschäfchen wäre ein Mutterschaf,“ berichtete Tante Klara begeistert. „Er will das Seidenkleidchen gleich heute anziehn, ach Gott, er will es mit ins Bett nehmen.“ Elisabeth kniete auf der Erde neben Bill und erlauschte seine Äußerungen. Viktor holte eben dorthin einen Stuhl für Papa, damit Papa besser verstünde, was Bill sagte. Es war das erste Mal seit lange, daß Papa im Winter nicht nach Berlin gegangen war. – Weihnachten war vorüber, mit den Schulkindern, die beschert worden waren und nachher Kaffee und Kuchen bekamen; mit den Mädchen, die verlegen in den Schürzen und Kleiderstoffen herumstocherten und immer ‚aus Versehen‘ das Kuvert mit dem Geld liegen ließen. Der Hof war verschneit und der Garten und die Dorfstraße. Renée hatte es alles noch niemals im Schnee gesehn und es war doch so still und so wunderlich weiß. Warum hatte sie es nie gesehn? Es war wie ein unwahrscheinliches Erlebnis, daß man auf einmal quer über den vereisten See gehn konnte zu den Wiesen auf der anderen Seite. Steif und reglos stand das Rohr im Eise, und wo die großen Weidenzweige überhingen, da war eine dunkle Laube, die hatte ein Dach von Schnee. Wenn man abends aus dem Fenster sah, dann glaubte man, es wäre nur sehr weißer Sand und gar nicht Schnee, was da so sonderbar schimmerte. – ja, man konnte sogar meinen, der vereiste See wäre frei von Eis und nur so ganz ohne Bewegung stände das silberne Wasser. Bill hatte einen kleinen Schlitten, und Renée lief mit ihm über das Eis und zeigte ihm, wie das Haus aussähe von der anderen Seite. „Siehst du, Bill,“ sagte sie, „das mußt du einmal sehr, o furchtbar lieb haben das Haus, wenn du groß bist. Willst du mir das versprechen?“ Bill sah sie an mit seinen hellen Augen, die keinerlei Ausdruck hatten, und sagte: „Ja.“ – Renée küßte ihn. Renée dachte: Es ist dumm, er ist ja noch zu klein, es wird nichts helfen. Aber Tante Klara verbot diese Ausflüge. „Herrgott, wenn ihr nun an eine Stelle kämet, wo das Eis dünn ist. Herrgott, es könnte dem Kind etwas zustoßen.“ – „Du scheinst dich jedenfalls nicht zu ängstigen, ob mir was zustößt.“ – „Du kannst dir doch allein helfen,“ sagte Tante Klara gereizt. Nun ging Renée allein. Sie ging abends. Irgendwo hatte der Förster ein Loch in das Eis gehauen für die Fische. Aber es war ja hell, und Renée wollte nicht weit gehn. Sie ging vorsichtig und sehr langsam vorwärts. Das Eis war glatt, aber dann hatte es auch Ungleichheiten – da waren allerlei Dinge mit eingefroren, die die Kinder hingeworfen hatten, Steinchen, Kalmus und Holzstücke. Renée blieb manchmal stehen und sah sich um nach dem Haus. Da brannten schon ein paar Lichter in der grünen Stube – vielleicht war es Papa. Renée stand wohl ganz lange auf einem Fleck, sie merkte es gar nicht, sie begann nachzudenken, sich zu erinnern. Es kam ihr vieles zurück – damals als Hannsbabo fortging. Sie dachte daran, wie er wiederkam mit Sarah. Sie dachte, wie er bei ihr am Bett gesessen hatte in seiner letzten Nacht. Damals war Herbst. Sie sah nach der Richtung, wo eben die Lichter der Stadt zu flimmern begannen, sie dachte daran, wie sie einmal von Elisabeths Haus hergelaufen war aus Heimweh, ganz allein. Ja, auf der Treppe der Veranda hatte sie gesessen damals, weil das Haus verschlossen war. Wie weiß der Garten aussah und wie still. Es war so ungewohnt, daß man dem Haus entgegengehn konnte über das Wasser hin, so wie Renée es jetzt tat. Es war, als träumte sie das – oder noch anders: es war wie eine Wiederkehr Gestorbener. Sie dachte: ‚Treibst mich zu jenem Land, wo keiner frägt Und wo ein stiller Strom das Unerfüllte wieder Zu seinem Ursprung trägt ...‘ – – Nach jenem Land, wo keiner frägt. – Renée blieb stehen. Sie dachte den Worten nach. Sie dachte: das ist, wenn man stirbt. Sie dachte: Ob ich das kann, jenen einen Satz denken, wenn ich sterbe – ganz später, wenn ich alt genug bin? Ein sonderbarer Schreck überfiel sie. Wie, schwankte das Eis unter ihren Füßen – knisterte das Eis? Dann war es vorüber. Sie wollte nach Haus gehn. Renée sah sich um, damit sie nicht fehlginge, wenn sie etwa in der Nähe des Wasserlochs war. Nein, es war ein ganz dummer Schreck gewesen, es war nichts. Das Eis hielt. – Bill war wieder fort, bei seinen Eltern. Tante Klara jammerte den ganzen Tag. Man hörte sie die leidenschaftlichsten Reden halten. In ihren Augen war weder Viktor das Recht der Vaterschaft zuzugestehen, noch konnte Elisabeth die Stelle der Mutter ausfüllen. Nein. Nur Tante Klara verstand und liebte Bill genügend. Sie erging sich in Verwünschungen. „Ich wollte, Viktor müßte an der Inspektionsreise nach den Ostmarken teilnehmen, – ich wollte er bekäme ein Billett für die Auguste-Viktoria-Fahrten.“ Renée dachte: Wenn es nicht so unchristlich wäre, gewiß wünschte Tante Klara den armen Viktor zum Hades. Aber es half alles nichts. Viktor und Elisabeth sagten, schließlich wäre Bill doch ihr Kind. So fuhr die Tante dreimal in der Woche in die Stadt. Und während der Kutscher die Besorgungen erledigte, um derentwillen Tante Klara hingefahren war, – währenddes saß sie bei Billchen. Dann erzählte sie bis zur nächsten Fahrt, was Billchen, der liebe Junge, gesagt, gemeint, geglaubt hatte. – Renée saß oft bei Papa. Sie sah ihm zu, wenn er Briefe schrieb, sie saß auf dem Sessel beim Tisch oder am Fenster, von wo man den Hof übersehen konnte. Einmal – es war Dämmerung und die Lampe war noch nicht gebracht worden, es war still, weil niemand mehr über den Hof ging, einmal sprach Papa von Hannsbabo. Er tat es in seiner eigentümlich kargen Art, er sprach nur ganz kurze Sätze. „Sag mal, mein Kind,“ so begann er, „was war das damals mit Hannsbabo?“ Renée erschrak. Sie fühlte, da war eine Pflicht, zu antworten und da war auch eine Gebundenheit, zu schweigen. Sie erschrak und sah ihren Vater an. Er saß ein wenig abgerückt vom Schreibtisch und sah vor sich nieder auf den Boden. Renée wandte sich um zum Fenster und sah in den Hof. – „Hannsbabo war sehr unglücklich,“ sagte sie. Papa stand auf und ging hin und her im Zimmer. Er ging genau in der Mitte des Läufers, der von einer Tür zur andern führte. „Unglücklich – nun ja. Aber warum?“ Renée erschrak wieder, als ob diese Frage nicht selbstverständlich gewesen wäre nun. Sie sagte: „Ach laß es doch ruhn, Papa.“ Ihr Vater blieb vor ihr stehn. „Ich denke, du wirst mir das sagen, Renée,“ sagte er. „Ich werde wohl wissen dürfen, warum mein Sohn sich ’ne Kugel in den Kopf schießt, das wirst du mir wohl nicht vorenthalten.“ Ja, dachte Renée, ich muß es ihm sagen, muß es sagen. „Er liebte Sarah so sehr. Und diese ewige Trennung, die in der großen Verschiedenheit der Psychen lag, ertrug er nicht. Dann verzweifelte er daran.“ Papa verstand nicht: „Verzweifelte – was? Erschoß sich, weil er seine eigne Frau liebte – was – was ist das für überspanntes Zeug?“ Renée lächelte. Ja wirklich, sie merkte, daß sie lächelte. Sie wollte es ja so gern Papa erklären. Aber wie? Sie sagte: „Die Menschen empfinden sehr verschieden, nicht wahr; du faßt all diese Dinge in der äußerlichen Form auf und du achtest nur die Beschaffenheit der Realität. Er aber – die Beschaffenheit der Idee.“ Gott im Himmel – was redete sie denn? Papa hielt nun auch noch seine jüngste Tochter für halb verdreht offenbar. Und Papa tat Renée leid in diesem Moment. – O, sie wäre gern zum ihm herangekommen und hätte ihn gestreichelt. – Was würde Papa dazu sagen. Papa fuhr auf. „Unsinn ist es. Eben dieses überspannte moderne Zeug ist es, mit dem ihr euch die Köpfe verdreht. Wenn irgend so ein Unglückswurm, der seinen Verpflichtungen nicht mehr nachkommen kann, der ausgestoßen ist oder wird aus dem Kreise seiner Herkunft, wenn so einer sich erschießt, na ja. Der tut ganz vernünftig daran. Aber Hannsbabo! Ein junger, gesunder Mann in der denkbar besten Lage, mit den besten Aussichten für die Zukunft – das ist durchaus unnatürlich und verdreht!“ Renée antwortete gar nicht mehr. Wozu denn? Sie hatte auch das Gefühl nicht mehr, als solle sie dafür eintreten. Nein, sie würde dies nicht zu einem Streit werden lassen. Die Dinge, die ihr Vater sagte, waren so wenig neu. Man hatte sich schon sehr oft gegen sie empört, gegen solche Auffassungen empört, man brachte doch nichts fertig dagegen. Renée dachte: Jemand tut den freiwilligen Tod seines Sohnes damit ab, daß er ein paar Worte herauspoltert: ‚Unnatürlich und verdreht‘, – wenn ein Mensch wie Hannsbabo starb, ein mutiger, stolzer Mensch. Sie dachte: Und Papa hat ihn doch auch daliegen sehn, dachte Papa denn gar nicht, wie jung, wie jung er war! Renées Vater nahm seinen Gang durch das Zimmer wieder auf. Renée sagte: „Glaubst du, Papa, wenn ein Mensch sich Monate und Wochen und dann jeden einzelnen Tag herumquält mit dem Leben und endlich hält er es nicht mehr aus und tötet sich – glaubst du, das darf man dann mit solchen Worten abtun?“ Papa schwieg. Dann sagte er: „Ein Mensch hat Pflichten zu erfüllen im Leben. An die hätte er sich halten müssen. Diesen Pflichten einfach auszuweichen, ist bequem, aber unrecht!“ – „Welche Pflichten?“ – „Er hat Pflichten gegen Eltern und Familie, jawohl.“ Papa gab dem letzten Wort besonderen Nachdruck. „Aber ein erwachsener Mensch hat doch zunächst einmal das Recht auf Leben und Tod. Er ist doch frei, nicht wahr? Er gehört der Familie als Glied an, aber nicht als Gegenstand, nicht wahr? Und –“ „Das gehört nicht zur Sache. Rechte schaffen noch lange nicht Pflichten aus der Welt,“ donnerte Papa. „Nein, gewiß nicht. Aber zuerst – zuerst kommt die Pflicht gegen die eigene Existenz und dann kommt alles übrige. Und darum hat kein Mensch gegen Eltern die Pflicht, sein Leben weiter zu schleppen, wenn ihm das Leben zum Ekel geworden ist.“ „Ja,“ sagte Papa, „du stehst auf einem recht bedauerlichen Standpunkt in diesen Dingen – leider.“ Er erhob die Stimme: „Aber ich hoffe, daß sich das ändern wird, daß du einsehen wirst, daß die von Gott auferlegten Verpflichtungen nicht mit diesen modernen Redensarten von ‚Pflicht gegen eigne Existenz‘ abgetan werden können. Kinder haben eben gegen ihre Eltern Pflichten. Sie sollen den alternden Eltern Stütze und Freude sein.“ „Sind die Kinder denn gar nicht um ihrer selbst willen da?“ Papa überhörte das. Papa sagte: „Es kommt dann einmal der Augenblick, wo es zu spät ist, und wo keinerlei Reue das Versäumte wieder gut macht.“ Papas letzte Worte liefen in eine Drohung aus. Renée wurde es kalt ums Herz. Sie sagte: „Warum wohl Eltern niemals auf die Idee kommen, daß ihre Kinder eher sterben könnten als sie. Gerade als ob nur Eltern stürben und Kinder ewig lebten.“ „Nun, gewöhnlich pflegen eben die alten Leute zu sterben,“ sagte Papa. „Ja freilich. Aber ich werde doch auch einmal alt und sterbe, was ist da Besonderes?“ „Wer aber dem Tod nahe steht?“ Renée sagte: „Wer kann das wissen. Vielleicht steht er mir nahe oder vielleicht auch dir. – Wer kann das wissen. Warum das Sterben nur immer so als Trumpf ausgespielt wird.“ – Renée war wieder in Berlin. Sarah fühlte sich etwas angegriffen von den winterlichen Freuden. Es war eben ein bißchen zu viel gewesen diesmal. Bei der Rodelei in Oberhof hatte Sarah sich erkältet. Als Prinz Manfred steuerte, war die Rodel in den Schnee gekippt. Es war eine eklige Kurve, ja, aber der gute Prinz war eben auch ungeschickt. Sein Adjutant hatte Sarah gleich gewarnt. Ah – aber reizend war es in Oberhof. Ja, so kam Sarah zurück. Und nun wollte sie ein bißchen nach dem Süden. Renée hatte die Bädeker von Italien, Schweiz und Österreich vor sich und machte Vorschläge. „Was meinst du zu Meran?“ – Sarah schüttelte den Kopf. „Österreich nicht,“ sagte sie, „das ist mir zu fad.“ – Der Bädeker von Österreich, Süd-Bayern flog beiseite. „Und das Engadin? Moritz, Pontresina, Arosa?“ – „Da fällt man höchstens von neuem in den Schnee,“ sagte Sarah. Renée suchte weiter: „Ajaccio, Levante, Ponente – die Seen sind wohl erst fürs Frühjahr?“ – „Es ist alles nichts,“ sagte Sarah gelangweilt. „Aber der Genfer See?“ frug Renée. „Auf dem Rückweg im Frühjahr geht man dann ein bißchen nach Paris. Dann lohnt es doch. Dann kaufst du dir deine Frühjahrsneuheiten dort.“ Sarah ließ sich bewegen. „Nun, man könnte ja mal sehn,“ meinte sie, „vielleicht ist es ganz nett. Und das mit Paris wäre ja natürlich sehr praktisch.“ Sarah sagte auch, in Berlin wäre ja doch alles nur ^second hand^ und in Paris wäre es bei alledem noch billiger. Ja wirklich, man sparte geradezu in Paris. Nun gingen wieder die Vorbereitungen an. Kleider, Pelze, Hüte. Zum Schluß war Sarah so elend, daß sie wirklich eine Erholung brauchte. Renée war froh, als sie endlich im Zuge saßen. Im Luxuszug natürlich. Auch die Jungfer fuhr mit. Sie mußte das Necessaire bewachen. Renée trug nur einen Gegenstand. Es war die Tasche mit Sarahs Schmuck. Alle Frauen tragen den Schmuck in Extrataschen. Diese Taschen sind von feinstem Juchten. Sie dulden keinen Überzug. Sie sagen: ‚Meine Herrschaften, ich enthalte etwas von Wert!‘ – Eine Nacht fuhr man und einen Tag. Dann wurde der Wagen umgehängt, dann war man da. Es war schon dunkel. Der See war nicht zu erkennen, aber man wußte ihn, wenn man aus den Fenstern sah. Da unten mußte er liegen, wo es ganz schwarz aussah. Dieser tiefe Abgrund, in den das Land hineinstürzt, war der See. – Der Direktor des Hotels empfing sie. Es war ein kleiner, magerer Mann. Er hatte einen tadellosen Zylinder, einen tadellosen Anzug, ein tadelloses Auftreten. Sarah würde also im Gesellschaftszimmer warten, während Renée die Zimmer ansah. – Renée fuhr im Lift hinauf mit dem Direktor. Der Direktor sagte: „Frau Baronin haben auch einen Salon befohlen, und neben dem Salon soll ich ein Zimmer für Sie geben, Fräulein.“ Der Direktor hielt Renée für eine bessere Jungfer, wie es schien. Es ergab sich, daß der Salon dreißig Francs kostete – es gab hingegen auch vollständige Appartements, sehr elegant eingerichtet. Sarah nahm ein vollständiges Appartement. „Es ist billig, fünfundsiebzig,“ sagte sie befriedigt. „In Cannes kostete es für mich allein achtzig am Tag – ^oh dear, I am tired^.“ – Am Morgen ging Renée an den See. Es war noch früh. Da stand der Nebel – oder war es Dampf – ganz nahe über dem Wasser. Renée lehnte sich über die Brüstung der Mauer. Manchmal schoß eine Möve an ihr vorüber, umkreiste Renée mit aufgeregtem Flattern, sie waren wohl gewohnt, Futter zu bekommen. Auf der anderen Seite kamen allmählich die Umrisse der Berge. Renée sah eine kleine Insel. Auf der stand ein weißes Haus. Der See hatte blaue Färbung mit weichen Tönen von lila nach der Ferne zu. Als Renée in das Hotel zurückkam, traf sie den Arzt. Er war eben bei Sarah gewesen. Er sagte: „Es liegt bei Frau von Catte zu ernster Besorgnis kein Grund vor. Ich habe sie eingehend untersucht. Sie hat wohl etwas auf ihre Gesundheit losgearbeitet, Ihre Frau Schwägerin. Da haben wir dann die Reaktion. Ruhe und Spaziergänge werden bald alles beseitigt haben. Von Caux – Ihre Frau Schwägerin erwähnte es – rate ich allerdings ab. Dort ist mehr Möglichkeit zur Unruhe als zur Ruhe und Erholung vorhanden.“ Renée frug, wann er wiederkäme. Doktor von Geldern lächelte. „Das ist wirklich unnötig,“ sagte er. „Aber wenn Sie mich brauchen, stehe ich jederzeit zur Verfügung. Ich esse im Hotel.“ Er grüßte und ging. Von der Treppe her wurde bereits nach ihm gerufen. Sarah wäre eben viel lieber nach Caux gegangen. Sie sagte: „Hier sieht es so langweilig aus. Es sind nur alte Leute im Speisesaal. Und oben zu essen ist noch langweiliger.“ Renée redete ihr zu. Man konnte rudern, Tennis spielen, Ausflüge machen. Des Morgens, wenn man aufwachte und sich ganz wenig aufrichtete im Bett, dann lag der See vor den Fenstern ausgebreitet, und des Abends manchmal kam das feierliche Glühen auf die Berge von der vergehenden Sonne. Da waren die Möwen und die flinken, schwarzen Wasserhühner. Die gab es auch zu Haus. Manchmal hatte Renée auch Möwen gesehn zu Hause. Die kamen von den großen Seen. Renée sagte: „Die Luft ist sehr sanft hier.“ „Findest du? Ich finde nicht.“ Sarah sagte das. Ja – hatte Renée denn laut gesprochen? – Renée lachte über sich selbst. „Ich finde es fürchterlich langweilig hier, und ewig geht diese dumme ‚Bise‘. Man muß fortwährend den Hut halten.“ „Nimm ihn doch ab!“ – „Wie kann ich das,“ antwortete Sarah entrüstet. Renée ging über den Markt, weiter durch einen kleinen Wald. Sie wollte nach dem Schlößchen. Im Bädeker stand: ‚Unweit des Bahnhofes liegt das reizende Schlößchen Hauteville, im Rokokostil erbaut, mit schönem Park.‘ Man mußte doch das ‚reizende Schlößchen‘ ansehn. Eine gerade, geschnittene Hecke von Taxus führte zum Portal. Renée trat heran. Es war ein wunderhübsches, kleines Schloß, hellgetönt mit weißen Fenstern. Es war mit lila Vorhängen dicht verhangen nach der Hofseite. Auf dem Dach standen Figuren. Renée ging zum Eingang. Sie wollte es doch sehn von innen. Natürlich wollte sie. Sie klingelte drei-, viermal. Die Tür blieb verschlossen. Ein Fenster klappte, eine dicke, alte Frau steckte den Kopf heraus. „Nix da, lassen Sie das Klingeln,“ schrie die Alte. „Hier ist zu.“ „Ich wollte gern das Schloß sehen.“ – „Das is nu mal nicht zu sehen,“ zeterte die Alte. Dann warf sie das Fenster zu. Renée schimpfte draußen nach der Richtung hin, wo sie herausgesehn hatte, und ging in den Garten. Der Garten war vielleicht auch nicht zu sehen, aber da er offen war – Ein so schöner Garten! Er hatte gerade Hecken von Tuja, die in Rosengänge hineinführten. Er hatte ein kleines Wasser mit Trauerweiden darüber; die Weiden waren noch kahl. Und er hatte eine große Platane, unter der stand eine runde, weiße Bank. Renée setzte sich. Warum etwa sollte sie das nicht? Es war ja niemand da, und der alten Hexe konnte es doch ganz gleich sein, außerdem merkte sie es ja gar nicht. Um die Bank herum lagen noch die Herbstblätter. Es war ja fast noch Winter, aber der Rasen sah bunt aus. Da waren Anemonen und Krokus, und da waren Veilchen. Renée ging weiter, ging auf einen Hügel zu. Da stand ein kleiner kreisrunder Tempel mit einem Dach auf sechs Säulen, und daneben war ein riesiger Busch von dunklem Bux. Renée stand unten am Hügel und sah es an und fand, es war sehr schön. Lange saß sie auf den Stufen des kleinen Tempels. Als sie zurückging, kam ihr jemand entgegen. Wer das wohl war? Eine junge Frau, die einen braunen Pelzmantel trug. Sie stützte sich auf einen weißen Stock, und neben ihr ging langsam und würdevoll ein großer Hund. Sie hatte dunkles Haar. Renée sah sie kommen, blieb an der Wegseite und ließ sie vorbei. Der Hund wandte ein wenig den Kopf nach Renée, die Frau zog ihn am Halsband an sich. Sie sah mit einem Lächeln an Renée vorüber, Renée blieb stehn, sah ihr nach. Bei Tisch war Sarah ganz lustig: „Ich habe jemanden entdeckt, mit dem es ganz nett werden kann,“ sagte sie. Sie zeigte Renée eine schwarzgekleidete Dame, die allein saß. „Ich habe sie heut kennen gelernt. Sie ist begeisterte und natürlich überzeugte Spiritistin.“ Nach einer Weile fuhr Sarah fort zu reden: „Wir wollen eine Séance halten heut nachmittag, natürlich tust du mit – du, Renée, hörst du denn nicht?“ Renée fuhr aus irgendwelchen Gedanken: „Ich? Ach, ich würde dir abraten, Sarah. Es ist so peinlich. Und siehst du, ich möchte so ungern damit zu tun haben.“ „Gott, wieso denn peinlich?“ Sarah lachte. „Ich denke es mir komisch. Ich lasse sie ruhig machen, und innerlich amüsier ich mich fein.“ „Ja schon. Aber das ist eigentlich nicht fair, wenn die Leute es doch einmal ernst nehmen.“ Sarah sagte: „Ach, ^nonsense^.“ – Um fünf kam der Tee. Die schwarze Dame erschien. Sie hieß Baronin d’Auvergnes, war Witwe und besaß ein Palais in der Nähe des Luxembourg. Dies erzählte sie im Anschluß an die Nennung ihres Namens. Die Baronin begann mit Tischrücken. Man nahm einen dreibeinigen Tisch, man legte sämtliche Fingerspitzen darauf. Als man müde wurde, die Handgelenke in der Schwebe zu halten, begann der Tisch zu kippeln. Baronin d’Auvergnes sagte dazu das Alphabet. Dieser Tisch hatte eine Vorliebe für Konsonanten: ‚stkl‘ kam heraus. „Beginnen wir nochmals,“ sagte die Baronin. Diesmal hielt sie den Tisch fest, wenn er zu den Konsonanten wollte. Renée merkte es deutlich: Es kam also – stakl. – „Ja natürlich meine liebe alte Freundin Stakelberg!“ sagte die Baronin entzückt. – Sarah betrachtete sie mit ernsten Augen. „Was – wie – ich soll ihr schreiben?“ frug die Baronin den Tisch, der Tisch machte: päng! Renée lachte, dann verschluckte sie das Lachen erschreckt und hustete. Die Baronin wurde ungehalten über den Tisch. Er wäre faul, kindisch, er stäke voller Tücke. „Vielleicht wenn man einen Konkurrenztisch holen würde,“ sagte Sarah. Dann blieb Sarah allein mit der Baronin. Die Baronin fürchtete, der Geist könne von Renées Lachen zu schüchtern geworden sein. „Die Geister – mimosenhaft empfindlich sind sie,“ sagte die Baronin. – Renée ging zur Seepromenade. Da waren wieder die gierigen Möwen, die streiften fast Renées Gesicht mit ihren Flügeln. Manchmal schrieen sie – frech klang es und unheimlich. Sie begegnete Doktor von Geldern. Er ging ein Stück mit ihr. „Wie mir Ihre Frau Schwägerin sagt, sind Sie angehende Medizinerin. Also sind wir Kollegen, Fräulein von Catte.“ – „Ja,“ sagte Renée. „Ich werde wohl Medizin studieren.“ – „Ist es ein Spezialgebiet, zu dem Sie hin wollen?“ „Ja, Psychiatrie.“ Doktor von Geldern wandte ein wenig das Gesicht zu ihr hin: „Sind Sie durch irgend einen speziellen Anlaß dazu gekommen?“ „Nein,“ antwortete Renée. „Nur ich glaube, das wäre das einzige Lohnende. Mich interessieren physische Leiden nicht.“ Er lächelte. „Wie wollen Sie das nun trennen? Die Krankheiten der Psyche sind Krankheiten der Physis. Es handelt sich da höchstens um eine Verschiedenheit in den Symptomen, und auch da ist die Verschiedenheit nur auf der Oberfläche.“ „In diesem Sinn interessiert es mich schon. Nur nicht in der eigentlichen Form. Mir scheint, es muß eine lästige und abgehetzte Sache sein, der Beruf eines praktischen Arztes.“ Geldern lachte: „Ja freilich. Ich hatte mich mal in Hannover niedergelassen. Erst kein Patient, nachher kam ich weder zum Schlafen noch zum Essen. Wie das so geht. Dann war ich einmal Schiffsarzt – nun bin ich hier.“ „Mögen Sie denn die Kurpraxis?“ Er lachte: „Nein, das weniger. Ich bin aus persönlichen Gründen hergekommen.“ Dann schwieg er. Sie gingen weiter. Geldern sagte: „Es ist eine Dame, die in der Kindheit mit mir freund war und wie eine kleine Schwester – man sagt dazu ‚Nachbarskinder‘, glaube ich – sie wohnt hier. Sie ist leidend – ja und dann –“ Renée sagte: „Wie schön, jemanden zu haben, mit dem man die Kindheit erlebte.“ Geldern sah sie lächelnd an. Ganz froh sah er aus. „Ja, nicht wahr, das ist doch schön!“ sagte er. Sie sprachen dann weiter nichts mehr. Es war auch nahe am Hotel. „Ich finde, du bist immerzu mit Geldern,“ sagte Sarah. „Gefällt er dir so gut?“ Renée sah auf – Sarah lächelte. „Geh, Sarah. Fang du nicht auch noch mit derlei Reden an. Verzeih. Aber es ist zu geschmacklos!“ Sarah streichelte Renées Hand: „Pst – pst – nur nicht gleich so böse sein. Du mußt wissen: der Tisch mit den drei Beinen regt sich so auf. Der Tisch hat heute Andeutungen gemacht, o –!“ „Ich finde, diese Person mit ihrem Tisch ist eine ganz unverschämte Schwindlerin.“ „O je – ereifere dich nicht. Es amüsiert mich doch so schön,“ sagte Sarah. „Was, bitte, sollte ich den ganzen Tag tun. Früher war Renée viel braver. Früher war Renée fast so galant wie ein Kavalier.“ Renée lachte: „Woran fehlt es denn?“ Sarah sprang auf und begann durch das Zimmer zu wandern hin und her – das war ein Zeichen von Unruhe. – „Mir fängt diese Art von Leben an langweilig zu werden. Maßlos langweilig. Und also überlege ich: Soll ich heiraten? Lieber nicht. Wenn ich wüßte, du bliebest da, schon gar nicht – aber das eben – –“ Renée lachte wieder: „Also dann: schon gar nicht. Denn ich bleibe.“ „Ja, das sagst du so.“ „Nein, das tu ich,“ sagte Renée. Sarah blieb vor ihr stehen. „Ich will dir alle Wünsche erfüllen. Alles sollst du haben, was du magst.“ Renée stand auf, ein wenig ging sie zur Seite. „O, ich habe gar keine Wünsche und will gar nichts.“ Sie ging hinaus, und Sarah sah ihr nach – aber Renée ging. „Waren Sie vor etwa zehn Tagen in Hauteville?“ frug Doktor von Geldern. Renée nickte. „Und warum fragen Sie?“ „Waren Sie da im Park und sahen Sie eine Dame mit braunem Pelz? Sie hatte eine Dogge neben sich.“ „Ja, gewiß. Aber nun, warum fragen Sie, Herr von Geldern?“ Geldern lachte. „Richtig,“ er schlug die Hände zusammen vor Freude. „Dann stimmt es.“ – „Was stimmt?“ „Kommen Sie,“ sagte der Doktor. „Wir gehen ein bißchen am See, dann erzähle ich Ihnen.“ „Also,“ begann Doktor von Geldern, „_sie_ war es, die Sie gesehn haben. _Sie_ wohnt in Hauteville.“ „Ihre Kindheits-Freundin, von der Sie neulich sprachen?“ „Ja, natürlich,“ sagte Geldern, „Yvonne Capeller.“ „Wer, sagen Sie?“ Renée erschrak. Sie sah ihn an. Einen Augenblick schwieg ihr Herz. Er wiederholte den Namen. Renée konnte nichts sagen. Ihr fiel die Zeit ein, wo sie das Gedicht gelesen hatte, diese trostlose, leere Zeit. Ihr fiel die Sehnsucht ein. Ja – wie sehr hatte sie sich gesehnt, diesen Menschen einmal zu sehen. Geldern frug: „Wissen Sie denn etwas von ihr? Kennen Sie Yvonne Capeller?“ „Nein. Aber ich wünschte einmal sehr intensiv, sie zu kennen.“ – Geldern blieb stehen, er vertrat Renée geradezu den Weg, sah sie an. Dann auf einmal nahm er ihre Hand. Er hielt die Hand einen Augenblick fest. Er sagte: „Das ist schön. Das ist sehr schön.“ – Dann lief er plötzlich fort. Renée ging allein zurück. Ihr war sonderbar wehmütig, so als wäre ihr etwas gegeben und zugleich genommen worden, aber ihr war ja nichts gegeben. Sie ging weiter, sah auf den See. Heute konnte man weit sehen. Drüben die kleinen Häuser von Bouveret und dann da hinten die graue Fläche, das war das Rhonetal. Die Möwen kamen. Renée griff nach ihnen und lachte und neckte sie. Sie horchte auf ihr Schreien. War es nicht eine Art Gelächter? Ja – aber so schön wie bei Menschen konnte es nicht klingen, wenn Vögel lachten – nein. – „Renée, heut hat mir auch Gräfin Pourtalès gesagt, man sähe dich immerzu mit dem Badearzt. Sie sagt, er wäre aus einer gänzlich verarmten Familie. Renée, meine Verantwortung drückt mich.“ „O, du dumme, dumme Sarah! Sag ihr, der Pourtalès, der langweiligen Person, also sag ihr, am liebsten liefe ich heute nochmals fünf Stunden mit dem Badearzt aus der verarmten Familie – und ließe mir erzählen.“ „^My dear^,“ sagte Sarah entsetzt. Renée lachte übermütig. Sie sagte: „Er soll ja nicht von sich allein erzählen und außerdem sollst du es ja nur der Pourtalès sagen, punktum!“ Am Abend paßte Renée auf, als Geldern aus dem Speisesaal kam. Sie sagte: „Herr von Geldern, ich will Sie um etwas bitten: Fragen Sie Yvonne Capeller, ob ich sie einmal sehen darf. Sehen Sie, es ist Jahre her, da habe ich einmal ein Gedicht von ihr gelesen. Das war so schön. – Ich bin lange danach umhergegangen, sie einmal sehen zu können. Aber ich wußte ja nichts von ihr. Wollen Sie es mir tun?“ Geldern sagte: „Ja – Sie haben ein Gedicht von ihr gelesen – nicht wahr, wie sie schön sind.“ – „Wollen Sie nicht?“ frug Renée. Er sah sie an, gut und freundlich. Aber ein wenig hoffnungslos sah er sie an. „Ich will versuchen.“ „Glauben Sie, es geht nicht?“ frug Renée. Geldern schwieg. Dann gab er Renée die Hand. „Ich muß nun gehen, Fräulein von Catte, und ich will es versuchen, ganz gewiß. Ich will heute noch hingehn. Aber ich weiß ja nicht, ob sie wollen wird. Denn sie ist ein Mensch, der ganz allein lebt, fast wie in einer Entfernung von uns.“ Das war viele Tage her, seit Renée Doktor von Geldern darum gebeten hatte. Es war so lange her. Sie sah ihn bei Tisch weit weg an dem großen Fenster sitzen. Er las. Und Renée hatte gar keine Hoffnung mehr. Gewiß hatte er den verneinenden Bescheid und wollte es nur nicht sagen. Renée wurde ihm ganz böse. Dann einmal kam er heran und sagte, Yvonne Capeller fühle sich nicht wohl, und es täte ihm so leid, aber er könnte Renée nicht ja sagen zu ihrem Wunsch. Renée ging nach Hauteville. Sie dachte: Vielleicht sehe ich sie dort. Gewiß, wo sie neulich vorübergegangen war, da wollte Renée warten. Sie stand am Anfang der geraden, dunklen Hecke von Taxus. Sie stand, und sie wagte sich nicht weiter. Es schien ihr auf einmal unfein und grob, so mit Gewalt einzudringen, so mit hinterlistiger Gewalt vorzugehen gegen diese fremde Einsamkeit. – Nein, sie wollte es nicht versuchen. Abends, wie war der See schön, wenn die Lichter der Laternen ein schimmerndes Band waren auf seiner dunklen Fläche. In der großen Halle des Hotels war Musik. Meist Italiener oder solche, die es vorgaben. Sie spielten und sangen ihre süßen, leichten, traurigen Lieder, mit dem harten, zerbrochenen Ton der Castagnetten. Renée stand oben auf einer der Galerien und sah in die Halle hinunter. Sie war allein dort, und die Lieder kamen nur zu ihr. Ihre Gedanken verloren sich in eine unbegreifliche Schwere von Sehnsucht. Sarah war ungehalten. Sarah sagte: „Du läufst immer weg, Renée. Wenigstens zu der Teestunde könntest du doch da sein.“ „Diese ewige Baronin mit ihren Andeutungen und ihrem Okkultismus ist mir so antipathisch.“ „Du besitzt gar keinen Humor,“ sagte Sarah. „Und ich muß dir sagen, Renée, ich kann es höchstens noch eine Woche hier aushalten – höchstens.“ Renée erschrak. Noch eine Woche, und dann würde sie nie mehr hierherkommen – und dann würde es nie geschehn. Sie saß neben Sarah und dachte. Ihr Denken begleitete dieser kleine Ton, den das kochende Wasser im Teekessel hervorbrachte. Dieses weiche Surren. – Sie dachte: nie wird es sein. Wir werden wieder fortgehen nach Deutschland, und es wird nie sein. – „Willst du den Tee heute überhaupt nicht aufgießen?“ sagte Sarah. Dann begann sie mit Reiseplänen. Ganz gut konnte man jetzt schon nach Paris gehen, oder vorher erst ein wenig nach Genf. Renée schwieg dazu und wußte doch, daß sie nicht fort wollte, nicht fort. Auf der Straße kam ein Mann mit Blumen. Er hatte einen länglichen Korb, darin lagen sie, Schlüsselblumen, Veilchen, in der Mitte Rosen. Die kaufte Renée. Es waren fünf rote Rosen. Solche an langen Stielen, solche von ganz dunkler Farbe und mit einem schweren, süßen Duft. Sarah sah Renée an, als die Rosen gekauft waren. Sarah sagte: „Für wen denn?“ „Ich will sie fortschicken,“ antwortete Renée. Sie trug die Rosen in ihr Zimmer. Da war ein kleiner Karton gewesen, dahinein legte sie die Rosen und die letzte von ihnen streichelte Renée. Und während sie das tat, dachte sie: nur noch acht Tage bleiben wir, nur noch acht Tage. Seit einigen Tagen war Doktor von Geldern nicht bei Tisch. Die Baronin d’Auvergnes erzählte, er sei in Genf. Ein sehr reicher Russe habe ihn hinberufen als Konsiliarius. – „Es scheint, er kommt ^en vogue^,“ sagte die Baronin. „Nun, solche Ärzte haben immer ein ganz leidliches Auskommen. Natürlich, angenehm und fashionabel ist ja der Beruf gerade nicht.“ Die Baronin wechselte das Thema, als niemand antwortete. Sie begann weitläufige Erzählungen von Paris, von dem letzten Ball beim russischen Botschafter. Renée hörte nur halb hin, hörte: „Ah, im Bois, im Luxembourg –.“ Renée dachte: Heut früh sind die Rosen angekommen, ganz bestimmt spätestens, und vielleicht reisen wir noch nicht so bald, sonst wären es nur noch sechs Tage – und wenn – „Waren Sie schon einmal in Paris, Fräulein von Catte?“ frug Baronin d’Auvergnes. – „Nicht? Dann freuen Sie sich gewiß sehr, nicht wahr, oder – oder wird Ihnen der Abschied –“ Hatte es nicht geklopft? Der Kellner war draußen mit einem Brief. Renée nahm den Brief, und einen Augenblick hielt sie ihn fest zwischen den Flächen ihrer Hände – denn es war dies – dies – o, ein Gefühl von Glück kam. Sie lachte. Es konnte nur Gutes darin stehen. Sarah und die Baronin sahen sie an, und Renée lachte und – was tat sie denn, sie schwenkte den Brief in der Luft. ‚Vielleicht kommen Sie morgen abend zu mir, vielen Dank‘ – das stand darin. Vielleicht kommen Sie –? Nun also waren es noch vierundzwanzig Stunden. Mindestens so lange. Denn Renée konnte nicht vor sechs oder sieben Uhr hingehen und von morgen früh waren es dann zwölf Stunden, wenn Renée aufwachen würde. Mit dampfigen Nebeln auf dem See kam der Morgen. Renée sah ihn nun schon lange. Ihr Fenster stand offen. Ein wenig kühl war diese Morgenluft, aber weich, mit einem sanften Geruch von Schilf, so wie manchmal der See roch zu Hause. Der kleine Brief lag neben Renées Bett. Gerade so, daß sie ihn ansah beim Aufwachen. Und nun noch fast zwölf Stunden. Renée legte den Kopf wieder auf das große, plustrige Kissen mit dem Spitzenrand. Ganz still lag sie und sah auf die Wand, auf diese sonderbaren Schnörkel in blau und grün; wie Hunde, die sich aufgeregt überkugelten, liefen die Schnörkel über die Wand. Träumte sie nicht ein bißchen? Ein paar Glockentöne kamen über den See, die trug das Wasser. Wie war dieser See klar, man sah tief hinein und sah seinen Grund, vielleicht konnte ein Mensch solche Augen haben und eine stille, stille Stirn. Träumte sie, hatte denn Yvonne Capeller solche Augen? – ‚In einer Entfernung von uns‘ – Renée dachte den Worten nach, dachte – dachte. Müde war sie. Es war eine ungeduldige Nacht gewesen, es war spät hell geworden. Ein Geräusch im Zimmer weckte sie. „Ja, wirst du denn gar nicht aufstehn heut, bist du krank?“ Da stand Sarah über sie gebeugt, war zum Lunch angezogen und tippte mit dem Zeigefinger auf Renées Schulter. Renée fuhr herum und starrte Sarah an. – „Es ist nämlich zwölf,“ sagte Sarah. Von diesem Augenblick an zog der Tag sich in die Länge wie Kautschuk. Immer war es zwei, wenn man meinte, es wäre Teezeit. Die Sonne verharrte in obstinater Bosheit in der drei Uhr-Gegend; endlich kroch das helle Rot an den Bergen hinauf, fing sich in den Gipfeln. – Renée stand an derselben Tür, an der sie neulich gestanden hatte, und läutete. Dieselbe alte Hexe fuhr mit dem Kopf aus dem Fenster. Sie sagte mit einem Versuch zum Lächeln: „Im Garten, bitt schön,“ und deutete auf die Gartentür. – Renée kam in den Garten. In diesem Garten war Licht, denn die Obstbäume blühten. Vor den schwarzen Hecken standen sie in unglaubhafter schimmernder Schönheit. Die Weide über der weißen Bank ließ ganz sacht ihre Zweige hin- und herwehen, hellgrün und ganz fein behangen wehten sie vor dem Helldunkel des Himmels. Renée stand still. Was geschah ihr? Wie, war es der Garten, waren diese Bäume und diese dunklen Büsche so schön, daß eine so schmerzliche Sehnsucht in ihre Seele kam? – Yvonne Capeller kam ihr entgegen. Sie kam, und Renée erwartete sie. „Sind Sie gekommen?“ sagte Yvonne Capeller, „noch habe ich Ihre Rosen.“ Sie gab Renée die Hand. Renée hielt einen Augenblick ihre Hand und schwieg. O, ein so zärtliches Gefühl stieg in ihr auf. Renée konnte nicht die Hand so schnell loslassen. Sie gingen auf dem Weg, der zu dem kleinen Tempel führt, bei dem Tempel standen sie. Yvonne Capeller lehnte an einer der Säulen, ganz dicht an die Säule lehnte sie den Kopf, so daß die Farbe ihres Haares unterging in dem Schatten auf der Säule, so daß ihr weißes Gesicht vor dem Himmel stand, der dunkel war – vor dem Himmel. Wie schön und still war dies Gesicht. Renée sah sie lange an. Yvonne Capeller wandte den Kopf, und ihre Augen gingen an Renée vorüber. Sie sagte: „Ich glaube, wir müssen hineingehen, weil es kalt wird.“ Dann: „Sie erzählen mir nichts, Sie reden gar nicht.“ Renée antwortete: „Was soll ich erzählen, Yvonne Capeller?“ „Wie sonderbar Sie meinen Namen aussprechen.“ Warum sollte Renée schweigen? Warum konnte sie nicht sagen: weil es zärtlich macht, an diesen Namen zu denken. Von den weißen Bäumen kamen Blüten. „Nun ist es schon bald vorbei,“ sagte Yvonne Capeller. Sie gingen zum Haus. Eine Treppe von wenig Stufen führte in das Haus, dann kam ein kleiner Gartensaal. Ein starker Geruch war im Haus, so wie Tannenduft, nur schärfer. Ein wenig so, wie der Wald riecht in der Sonne. Einen Augenblick blieb Renée allein. Sie stand am Fenster und sah in den Garten. Der war dunkel gegen die Helle des Zimmers und still. Renée unterschied nichts mehr. Die weißen Bäume starrten kalt und unheimlich heraus aus der weichen Dunkelheit. Yvonne Capeller kam wieder. Renée hörte sie, wandte sich nicht um. Wie leise kamen ihre Schritte. Renée rührte sich nicht, sie hörte, daß Yvonne einen Augenblick stehen blieb. Dann sagte Yvonne: „Kommen Sie. Wollen wir hier sitzen?“ Renée zögerte noch. Yvonne saß am Tisch. Yvonne hatte ein weißes Kleid. Um ihren Hals war eine Kette von Perlen, eine lange Kette, die auf ihren Knieen lag. Es waren halbdunkle Bilder an den Wänden, und da standen Möbel von Kirschholz mit blaßlila Bezügen. Eine Geige lag auf dem Tisch unter Renées Rosen. Renée sah diese Dinge an. Sie dachte: Manchmal des Abends spielt sie auf der Geige, auch wenn Wind ist draußen. Das klingt dann heimatlich und süß. Yvonne saß sehr still. Man wußte nicht, dachte sie nach oder sah sie vielleicht auf Renée. Vielleicht, ihre Augen sahen auf Renée, und ihr Gesicht war gradaus gewandt. Sie sagte: „Geldern meint, Sie haben ein Gedicht gelesen – sagte er nicht – welches denn?“ Renée stand noch immer am Fenster. Renée sagte das Gedicht: „Du vielgeliebtes Leben zwingst mich nieder –“ Yvonne Capeller senkte den Kopf. Renée sah es deutlich. Sie schwieg. „Werden Sie mir keine andern geben?“ frug Renée. „Nein, o nein.“ „Dies eine, das ich einmal las,“ sagte Renée, „es traf mich so, und seitdem war der Wunsch nach dem in mir, was heute geschah.“ Renée schwieg plötzlich, wie sprach sie denn – wie sprach sie? Yvonne Capeller sagte: „Was geschah denn heute?“ Renée antwortete nicht. Was sollte sie tun? Nichts bewahrte sie mehr – da war nur dies hilflose Aussprechen-müssen, dies Unbegreifliche, daß ihre Worte keine Scheu mehr haben wollten – und ihr Mund sprach, als spräche es in ihre eigne Seele hinein. Sie sagte: „Auf irgend etwas hofft man, wenn man lebt, auf ein Geschehnis oder auf einen Augenblick – einen Augenblick – und man denkt daran, denkt, daß er niemals kommt, daß man alles haben könnte in der Welt, ehe er kommt. Man fühlt die Gleichgültigkeit, fühlt die Wertlosigkeit aller Dinge außerhalb dieses Augenblicks – und dann ist dieser Augenblick da. – Das war mir heute geschehn.“ Renée wandte sich um zum Fenster und sah in den Garten. Da stieg eine Angst in ihr auf, kam an ihr Herz und wollte es anfassen. Sie wußte nicht den Grund; sie legte die Hände auf die Fensterbank, um sich zu stützen, und fühlte immer aus ihren Augen die Tränen auf die Hände fallen. – Langsam kamen sie. War es nicht schon lange, als sie das letzte Wort gesprochen hatte, o so lange? Sie fühlte, daß Yvonne ihre Schulter anrührte. Yvonne sagte ihren Namen. Yvonne strich, o so sanft, über ihre Schulter. Yvonne sagte: „Es ist nicht gut, nicht gut.“ Dann – was geschah? Renée saß neben ihr, lange neben ihr, während sie schwiegen, während es ganz dunkel wurde draußen. Renée sah sie an. Sah ihr weißes Gesicht und die geschlossenen Augen – – Dann stand Renée auf, weil es schon spät war, und ging, ging durch den Garten fort und nahm von den Blüten, die über den Weg hingen, die streichelte sie. Am nächsten Tag sprach Doktor von Geldern Renée an: „Nun, Ihre Frau Schwägerin erzählte mir, daß Sie gestern in Hauteville waren. – War es schön?“ „Ja,“ sagte Renée und lächelte. „Wie ging es ihr?“ – „Gut wohl,“ sagte Renée. Er frug, ob sie im Garten gewesen wären, wie lange Renée da war, und Renée sprach davon, hörte sich zu, hörte ihren glückseligen Worten zu. „Und nun?“ frug Geldern. Renée sah ihn an, erschrak. Sie sagte: „Ich weiß nicht, ob ich wiederkommen soll.“ „Mögen Sie mich ein Stück begleiten, Fräulein von Catte?“ frug Geldern, „ich gehe eben hinauf nach Hauteville.“ Renée ging mit ihm. – „Ich muß gekränkt sein,“ begann er, „daß Sie nun so ganz ohne meine Vermittlung zu Ihrem Ziel gelangt sind. Ja, wir vermitteln so gerne. Irgend etwas von der Freude dessen, der es uns schuldet, kommt dann auch zu uns. – Es ist dies: Ich kenne keinen Menschen wie Yvonne Capeller. Nein, nein. Denn die Einsamen, die ich kenne, sind einsam auf eine sehr andere Weise. Sind es ^faute de mieux^. Weil das Leben ihnen sich versagte oder weil sie in irgend einem Sinne nicht weiterkommen konnten. _Sie_ nicht. Sie ist mit Willen einsam. Sie ist es in einer stillen und selbstverständlichen Art. So als wären alle andern spielende Kinder und sie der einzige ernste Mensch – aber vielleicht ist das ein sehr dummer Vergleich.“ Renée sagte: „Ja, man fühlt es. Da ist eine Stille und dann diese Einsamkeit, von der Sie reden, die ist um sie herum, und es macht traurig und sehr hoffnungslos. Man fühlt es so, wie sehr anders stark und still und schön sie ist als wir.“ Sie waren nah dem Garten, dort trennten sie sich. Renée sah, wie Doktor von Geldern hineinging, hörte, wie er die Tür schloß. Er mußte zurückkommen. Gewiß, er würde kommen. Renée wartete. Manchmal sah sie die Allee herunter. Nichts – niemand. Sie wartete viele Stunden. Abend war es, als er zurückkam. So tiefer Abend, daß Renée ihn nicht einmal kommen sah, sie hörte seine Schritte, unruhige Schritte. Er kam durch die Allee und bog ein in den Kiesweg draußen – er sah nicht auf. „Doktor von Geldern.“ – „Sie? Wo kommen Sie her?“ – „Ich wollte Sie fragen,“ antwortete Renée. „Es geht ihr nicht gut,“ sagte Doktor von Geldern. „Ich soll Ihnen Grüße sagen. Sie will einige Tage zu Bett bleiben.“ „Ist es schlimm?“ frug Renée. Doktor von Geldern sah sie an. Ein sonderbar gequälter Ausdruck war in seinem Gesicht, aber er lächelte doch. Er antwortete: „Nein, es ist wohl vorübergehend.“ „Was haben Sie, Doktor von Geldern? Was ist?“ Er wandte den Kopf zur Seite, als er weitersprach. „Was soll denn sein? – Habe ich irgend etwas gesagt? Nun, das ist, ich bin etwas präokkupiert. Im Kurhaus sind eben ein paar sehr schwere Fälle – ja, das geht einem dann so im Kopfe herum.“ – „Wir wollen übermorgen abreisen, denke ich,“ sagte Sarah. „Ich meine so: ein paar Tage Genf und dann Dijon-Paris. – Nun, was denkst du, Renée?“ „O, ich möchte noch bleiben.“ Sarah sprach dagegen. Das Essen war so langweilig und schlecht hier. Mein Gott, und diese ewige feuchte Luft. „Meine Erkältung,“ sagte Sarah, „hat sich in letzter Zeit verschlimmert.“ „Aber zuerst tat dir das Klima doch gut,“ meinte Renée, „und gerade Paris!“ Sarah antwortete gereizt. Das könnte sie doch wohl besser beurteilen, da Renée noch niemals in Paris gewesen sei. Sarah sagte: „Wenn du Dinge von mir verlangst, die meiner Gesundheit schaden, dann muß ich dir eben entgegentreten. Ich kann auch das viele Alleinsein nicht aushalten.“ „Aber ich bin doch da.“ Sarah fuhr auf: „Ja – ja, du läufst den ganzen Tag mit diesem faden Doktor um den See herum. – Das ist eben nicht das Richtige für einen Patienten: – das Alleinsein.“ Renée war sehr niedergeschlagen, und sie wußte gar nichts zu entgegnen. Es ging wie über sie und ihren Willen hinweg. Die Jungfer kniete vor den riesigen Koffern und legte Sarahs Kleider hinein, die in weißen Stoffhüllen staken. Sarah lag auf dem Sofa mit einem Buch, und manchmal sah sie gelangweilt hinüber zu der Jungfer und den Stoffhüllen. Renée sagte: „Laß uns dann erst übermorgen fahren. Luise wird bis dahin auch besser fertig.“ „Ich bin noch heute abend fertig, wenn die gnädige Frau befehlen,“ sagte die Jungfer. Sarah lächelte Renée zu. Sie sagte: „Ich habe im Hotel bereits bestellt.“ „Aber ich mag noch nicht. Ich mag nicht,“ sagte Renée leise und dicht an Sarahs Ohr. Sarah lachte. „Puh, was macht man – muß man da zum lieben Gott beten? Muß man beten: gib, lieber Gott, daß Renée keine Laune bekommt, Amen?“ Renée schwieg. Ihr stieg eine Wut auf gegen diesen Menschen, der nichts ernst nahm, der alles abtat mit spielerischen Worten, ein großer Zorn gegen diese lächerliche Ohnmacht ihrer eignen Situation. Immer wurde alles nichts vor Sarah, alles wurde zu einem kindischen Kram. – – Renée ging nach Hauteville. Sie wollte Yvonne Capeller noch sehen. Sie konnte so nicht fort. Die alte Frau empfing sie. Renée wartete eine Weile im Gartensaal. Dann kam Yvonne. Yvonne war blasser als sonst, und sie sprach sehr leise. Manchmal, während sie sprach, stieg das Blut in ihr Gesicht und schwand wieder. Dann war ihr Gesicht ganz weiß. Renée sagte ihr, daß sie übermorgen fortreisten. „Kommen Sie niemals nach Deutschland?“ frug Renée. Yvonne Capeller lächelte und schüttelte den Kopf. „Wo sind Sie im Sommer?“ frug Renée. „Im Wald oder am Meer.“ Renée sagte: „Doktor von Geldern sagte, daß Sie sich nicht gut fühlten, und nun, wenn ich hier bin, vielleicht greift es Sie an; soll ich lieber wieder gehen?“ Yvonne wandte das Gesicht fort. Renée sah, daß sie errötete. „Was hat Geldern Ihnen gesagt?“ frug sie. Renée erzählte. Er hatte nichts Bestimmtes geäußert, nur – Renée fürchtete, es würde ihr zuviel, sollte nicht Renée lieber gehn. Yvonne antwortete nicht. Sie stand auf und ging langsam zum Fenster und stand eben da, wo Renée den ersten Abend gestanden hatte. Dann begann sie zu sprechen. Sie sprach leise, Renée konnte sie kaum verstehn. Sie sagte: „Ich weiß es nicht, was Geldern Ihnen gesagt hat. Aber eines muß ich Ihnen nun sagen, und es geht nur langsam, weil ich fühle, dies zu sagen ist schwer. „Ich _will_ nicht, daß Sie zu mir kommen, ich _will_ nicht, daß Sie irgend ein Interesse an mir nehmen – will nicht! Sie sollen nicht bei mir Halt machen, Sie sollen mich nicht lieb haben.“ O, wie sie sprach, wie stark und fein klang doch jedes einzelne ihrer Worte. Yvonne sah auf den Boden nieder, und ihre Arme, die sie auf das Fenstersims stützte, bebten, während sie sprach. Renée begriff nicht. Renée sah sie an, wie ihre Lippen aufzuckten. Yvonne warf den Kopf zurück, ihre Augen waren geschlossen. Auf ihrer Stirn über den Augen hing Haar, das sich gelöst hatte, einen zärtlichen Schatten warf es auf ihr Gesicht. „Sie sollen nicht. Ich will nicht mit dem Leben zu tun haben. Was will es von mir? Warum schickt es Sie – Sie – o, alles was Sie tun und jedes einzelne von Ihren Worten greift nach mir. Und ich weiß, daß Sie fortgehn müssen.“ Renée stand auf. Ein Brausen kam in ihre Gedanken, und sie konnte den Sinn der Worte nicht aufnehmen. Da war eine törichte und unbegreifliche Schwäche in ihr. Was sie sagen wollte, klang nicht, wurde nicht laut – blieb zurück in ihrem unruhigen Herzen. Sie ging zu Yvonne. Yvonne schwieg, stand mit geschlossenen Augen, ohne sich zu bewegen, während das Beben von ihren Armen an ihrem Körper entlang kroch. Dann tat sie die Augen auf. Und Renée sah in ihre Augen. Brannten sie nicht? Sie sahen aus, als ob sie ganz trocken und heiß wären. Sahen sie nicht starr und verzweifelt wie in den Tod? – Renée griff nach ihrer Hand. Und hielt sie. Dann fühlte sie, wie diese Hand sich regte, langsam zog Yvonne die Hand zurück. Sie sagte: „Sie müssen gehn – o, Sie müssen gehn.“ – Warum war Renée gegangen? – Wie – wer konnte sie gehen heißen? Die graue Allee lag ruhig und halbverdunkelt von den Baumschatten, und Renée ging. Wollte Halt machen, zurücklaufen – ging vorwärts, als trügen sie fremde Füße. Was war geschehn. – Hatte sie nicht einen Augenblick in irgend einem Spiegel ihr eignes weinendes Gesicht gesehn, als sie vorbeilief – und ihr Gesicht war feucht von Tränen. Warum ging sie denn auf diesen fremden Füßen, die nicht anhalten wollten. – – Am kommenden Morgen wollte Sarah reisen mit dem Schnellzug. Zwei Tage würden sie dann in Genf sein. Sarah hatte die Baronin d’Auvergnes und einige andere Hotelgäste zum Tee, und diese Hotelgäste würden morgen an die Bahn kommen und sie würden Blumen bringen natürlich für Sarah. Blumen, die man nachher in der Eisenbahn liegen ließ. Sarah sprach von Paris, notierte lange Zettel von Besorgungen und sammelte Empfehlungen, wo man dies und das kaufte. Sollte sie zu Frères Boiseron gehn, wirklich, also dort war die größte Auswahl? Baronin d’Auvergnes nannte sogar einige befreundete Häuser. Madame François Echelles würde sich glücklich schätzen, wenn Sarah – Renée saß in der Nähe des Fensters neben einem Neffen der Gräfin Pourtalès und sah gedankenlos auf die Straße. Manchmal redete ihr Nachbar sie an. Sie konnte meist nicht antworten, weil sie zu spät aufgepaßt hatte – dann endlich gab sie sich Mühe und begann aufzupassen, aber nun redete ihr Nachbar sie nicht mehr an, sondern verfolgte mit krampfartigem Grinsen die Unterhaltung der andern. Doktor von Geldern kam. Er hatte sehr lange gesagt, daß er leider sich nicht würde frei machen können, so lange, bis Sarah gerade einen Sport darin sah, ihn zu zwingen, daß er sich frei machte. Doktor von Geldern überreichte Sarah Blumen. Er würde leider morgen früh nicht mehr die Ehre haben. „Na na,“ sagte Baronin d’Auvergnes, indem sie schalkhaft mit dem Finger drohte. Doktor von Geldern sah ihr gerade ins Gesicht. „Frau Baronin sind außerordentlich schelmisch,“ sagte er, „ja wirklich, indessen hier ist es nicht am Platze.“ Baronin d’Auvergnes öffnete den Mund und schloß ihn erst nach einigen Minuten wieder, Gräfin Pourtalès blickte ihren Neffen demonstrativ an und hustete, und Sarah machte das sprachloseste Gesicht, das Renée je von ihr gesehen hatte. Geldern kümmerte sich nicht darum. Er lächelte verbindlich und setzte sich neben Renée. Als die Unterhaltung wieder laut wurde, sagte Renée: „Warum sind Sie so grob gewesen, Herr von Geldern?“ „Aber diese Andeutungen sind unverschämt.“ „Alte Damen führen doch immer solche albernen Reden.“ „Zu mir sollen sie sich das eben nicht erlauben,“ sagte Geldern, „ich bin kein solch Firlefanz!“ „Haben Sie Yvonne Capeller heute gesehn?“ frug Renée. Er errötete und lächelte. – „Yvonne Capeller war krank heut früh. Ich hörte von der Alten, daß Sie da waren gestern. Und nun muß Yvonne unbedingt einige Tage liegen und Ruhe halten, Fräulein von Catte.“ „Aber ich kann auch ruhig bei ihr sitzen, nur ganz kurz, nur eine halbe Stunde.“ „Nein. Nicht. Es wäre ihr schädlich. Nicht wahr, kann sich der Arzt darauf verlassen?“ „Wollen Sie mir nicht wenigstens den Grund sagen?“ „Weil sie ernstlich erkranken würde und weil es Gefahr für sie hätte. Sie würde ja auch nicht ruhig zu Bett liegen, sie würde nicht.“ „Ich will gewiß nicht hingehn, wenn es so ist,“ sagte Renée. Geldern nickte. „Sehn Sie,“ sagte er, „Yvonne will so schon niemals liegen. Sie haßt jede Erinnerung an Krankheit und Unvermögen. Und das Leben ist ihr so sehr bedeutungslos.“ „Ist sie sehr krank?“ frug Renée. Geldern sah sie an, dann wandte er den Kopf – er sagte: „O nein, ich sorge mich nur, ich habe sie sehr lieb, wie Sie wissen.“ – Graf Pourtalès redete Renée an: Ob Renée Genf bereits kenne. Er empfahl eine Promenade auf der Jetée, am Abend natürlich – ja und das Schloß Rousseaus sei äußerst beachtenswert. „Sie werden von Ihrem Hotel die Stelle am Kai sehen, wo die unglückliche Kaiserin einer Bubenhand zum Opfer fiel,“ sagte Graf Pourtalès – „Auch das Monument Brunswick dürfte Sie als Deutsche“ – er unterbrach seinen Satz, sprang auf und überreichte Renée eine Karte, die ihm eben der Kellner gegeben hatte. Renée las: Yvonne Capeller – und Geldern sah es. „Wie,“ sagte Geldern, „meint das, sie ist hier?“ Er sprang hastig auf, Renée folgte ihm. Draußen kam ihr Yvonne entgegen. Geldern ging voran, er öffnete die Tür zu Renées Zimmer, er schob ihr einen Sessel vor. „Was tun Sie?“ fragte er, „Yvonne, wie konnten Sie?“ Sie legte langsam die Hand auf seinen Arm, sie sagte nichts. Aber Renée stand an der Tür. Yvonne Capeller wandte die Augen und lächelte Renée zu. Dann ging Geldern. Er wolle sie erwarten, sagte er. Einen Augenblick schwiegen sie. Dann – „Ich konnte es nicht,“ sagte Yvonne. „Ich wollte wohl. Habe ich viele törichte Dinge gesagt gestern abend – habe ich –“ Renée kam zu ihr und nahm ihre Hand und küßte sie. „Ich wollte ausweichen,“ sagte Yvonne, „aber es ergriff mich und brachte mich her – du – du, Renée!“ Yvonne lehnte den Kopf zurück. Still saß sie, und sie sah Renée an mit ihren lächelnden Augen. Brauchte man gar nicht zu sprechen, konnte man so neben einem Menschen sein und seine Hand halten und ihm in die Augen sehen – so wie Renée jetzt tat – und war dann alles gut? – „Du hast lächelnde Augen,“ sagte Renée, „von deiner Hand kommt es so gut und warm in meine.“ „Du lachst ja mit den Augen, Renée, du bist es, die lacht.“ Renée sagte: „Siehst du den See? Bald werden die Berge rot drüben. Dann habe ich immer an deinen Namen gedacht.“ „Nicht an mich?“ Renée lachte: „An dich? Aber ich kannte dich ja nicht.“ „Warum also kamst du nicht schon lange? Das ist doch deine Schuld, Renée.“ Renée strich über Yvonnes Hand. – „So weiß ist deine Hand, Yvonne – Yvonne.“ „Ist das ein Gedicht?“ „Nein doch,“ sagte Renée. „Nur deines sind Gedichte. Kein Mensch in der Welt kann Gedichte machen wie du.“ Wie sonderbar fest Yvonne Renées Hand anfaßte. „Was hast du, Yvonne?“ Yvonne lächelte. „Nichts. Was denn. Ich freue mich wohl.“ – Sie sahen beide nach den Bergen auf der anderen Seite des Sees. Da – war es nicht schon ein wenig rot? Hell purpurne Streifen sah Renée in den Felsenschluchten drüben, und dann stieg die Glut hoch – so schön – so schön, wie Renée es noch nie gesehen hatte. „Yvonne!“ Renée zeigte auf die Berge. Sie sah Yvonne an, aber Yvonne hielt das Gesicht in den Händen. Geldern kam. Er wollte sie nach Haus begleiten. Renée könnte ja mitkommen. Natürlich würde er einen Wagen holen. Er sagte das alles halblaut zu Yvonne, er sagte es sehr vorwurfsvoll. Yvonne sah ihn an. Ihre Augen wurden in einer sonderbaren Weise groß und vorherrschend in ihrem Gesicht. „Ich will nicht, daß Sie so zu mir sprechen, Geldern,“ sagte sie. „Ich will nicht, daß Sie so gegen meinen Willen einschreiten, lassen Sie mich!“ Renée wollte reden, sagen, daß Geldern doch recht hatte, daß Yvonne – Aber wie konnte sie reden. Wie sollte sie vorbeireden an diesen beiden großen Augen. Geldern ging. Er sah Yvonne nicht an. „Nun ist dein Berg rot, Renée, nun wird er ganz purpurn, freut dich das?“ „Ja,“ sagte Renée. „Heut tut er es dir zuliebe –.“ „O, Renée, wie bist du gekommen. Wie ein Schirokko bist du mir ins Haus gefahren. Kennst du den Wind? Er macht müde und warm. Ganz warm. Er fühlt sich schmeichelnd an und sanft. Kennst du den? In der Nacht? Dann kommt er mit dumpfen Stößen, so als wäre es ein Beben und gar kein Wind.“ „So bin ich gekommen, sagst du –“ „Ja, so,“ sagte Yvonne leise. Renée lachte: „Aber gar nicht aus dem Süden. Da war ich noch nie. So dumm und ungebildet bin ich.“ „Wir wollen dahin gehn,“ sagte Yvonne, „du und ich. Da wohnen wir in einem kleinen, weißen Palazzo, wohnen wir – ja – und fahren aus in unserer Gondel jeden Abend, dahin, wo man nichts mehr sieht vor Dunkelheit auf dem Meer.“ Renée streichelte Yvonnes Hände: „Das tun wir, du und ich.“ „Nun will ich gehn, Renée.“ Sie gingen am See. „Das ist schön. Ich wußte nicht, wie schön,“ sagte Yvonne, „das ist von dieser schmerzlichen Schönheit, die weinen machen kann, aber wir weinen nicht.“ Renée lachte: „O, wir nicht.“ Yvonne sagte: „Du nie mehr, hörst du wohl?“ Renée stand vor Sarah an diesem Abend. „Ich reise nicht,“ sagte sie, „ich tue es nicht.“ „Aber es ist doch alles verabredet.“ Renée lachte bloß. „Du kannst doch nicht plötzlich hier allein bleiben,“ sagte Sarah, „wie denkst du dir das etwa?“ „Gar nichts denke ich mir – gar nichts.“ Sarah entrüstete sich. – „So und so viele Jahre sind wir zusammen, haben Freud und Leid geteilt, und nun auf einmal willst du mich allein lassen wegen einer wildfremden Person.“ „Rede nicht so. Und mein Gott – wir haben gar nichts miteinander geteilt, gar nichts. Das ist Unsinn.“ „Ich bin aber leidend. Das siehst du doch,“ sagte Sarah. „Und wenn ich gewußt hätte, daß du so auf einmal gehen würdest – Aber so ist dies: Neulich erst hast du mir gesagt, du würdest bei mir bleiben, und dein Bruder wollte es doch.“ Sarah sah Renée an wie ein enttäuschtes Kind; wie ein Kind, das um seine Freude kam, sah sie aus. „Sarah, sprich nicht so. Du mußt das sehn, ich kann hier nicht fortgehn. Es ist das erste Mal, daß ich nicht kann. Glaube es doch!“ Sarah sprach weiter: „Ich halte es nicht aus allein. Nein, dann macht es mir gar keine Freude, und ich habe mich so fest auf dich verlassen. „Wir könnten ja die Reise ein bißchen noch aufschieben und dann –“ Renée wollte zusagen. Irgend ein Leichtsinn kam in ihr auf. Es würde sich dann schon irgendwie ergeben. Warum sollte sie denn auf Sarahs tragische Reden eingehn. „Willst du es denn dann, Renée?“ frug Sarah. „Nein, Sarah, in Wirklichkeit nicht. Ich kann nicht fortgehn, nicht morgen und auch nicht späterhin. Das ist alles. Ich kann nicht.“ Sarah sah Renée groß an. „O, so,“ sagte Sarah. „Ist es das.“ Dann kam ein affektiertes kleines Lächeln in ihr Gesicht. – „Das muß ja eine Circe sein,“ sagte sie. „Wenn ich mir vorstelle, was dein Vater dazu sagen würde und die liebe Elisabeth – es ist sehr drollig.“ „Kannst du denn nichts auf der Welt ernst nehmen, Sarah, muß alles in dieser unreifen Art abgetan werden?“ Sarah fuhr ihr entgegen. „Unreif! Wie – was erlaubst du dir, Renée. Du bist unverschämt.“ „Ich fange an, die Unterhaltung mit dir satt zu sein,“ sagte Renée. Sie ging zur Tür. Sarah kam ihr nach, griff ihre Hand: „Renée, laß mich doch nicht so allein. Du kommst nach Berlin. Sag es mir!“ Renée lächelte, und sie streichelte Sarahs Hand. „Nein, Sarah. Ich weiß nicht, wohin ich gehe. Aber nicht zu dir.“ – – Sarah war abgereist. Und am andern Tag kam ein Brief von Yvonne. Als Renée die Treppe hinunterging, kam ihr Geldern entgegen. Er lief schnell an ihr vorüber. Dann kehrte er wieder um und sprach sie an: „Gehn Sie zu Yvonne?“ „Ja.“ „Sie liegt zu Bett. Sorgen Sie, daß sie nicht aufsteht,“ sagte Geldern. „Ja, ich will sie bitten, Herr von Geldern. Aber wenn sie doch will!“ „Aber sie darf nicht. Sie ist sehr krank. Sie ist ja neulich nachts ausgegangen.“ „Aber es war doch so warm.“ „Sie ist seit drei Jahren abends niemals ausgegangen.“ „Was ist es, Herr von Geldern? Sagen Sie es mir doch. Ich habe Furcht.“ „Ach, Sie sehn es ja.“ Geldern riß plötzlich seinen Hut ab und sagte, daß er gehn müsse. Ja, ein Patient erwarte ihn auf Nummer sechsundneunzig. Das hätte er fast vergessen. – Renée war bei ihr. Immer saß Renée neben ihr und hielt ihre Hand. Renée sah sie an den ganzen Tag, darüber vergaß man, daß es Menschen gab und Städte und Länder. Man vergaß es gern. Man sah ihre schönen, stillen Hände. „Renée.“ – „Ja.“ – „Wirst du gar nicht in den Garten gehn heute?“ „Nein, Yvonne.“ „Aber du bist auch gestern nicht gegangen und vorgestern nicht.“ „O, weißt du das?“ sagte Renée. „Willst du nicht einmal sehn, ob der Flieder schon blüht?“ Renée sagte: „Nein. Das merkt man dann schon.“ „Du wirst müde werden und traurig und beschwert, wenn du immer im Zimmer bist.“ „Du bist ja auch im Zimmer, Yvonne.“ Yvonne lächelte: „Aber seit du da bist, ist es schön. Früher war es nicht sehr schön.“ Renée sagte: „Einmal hat mein Bruder dich prophezeit, Yvonne.“ „Wie?“ – „Ja – dich. Er sagte: Der Mensch, der dir die Erde heimisch werden läßt. – Du, Yvonne.“ „Bin ich das? Sagst du, daß ich das bin?“ Renée nickte, streichelte ihre Hand – immer lag die Hand still auf der Decke, als wäre sie von weißem Stein. „Aber es ist trotzdem nicht gut,“ sagte Yvonne. „Was ist nicht gut?“ „Ein anderer Mensch wäre dir besser Renée.“ „Willst du das wissen?“ sagte Renée, „bist du so klug!“ Sie lachte. „Ganz töricht bist du – du!“ Yvonne sagte: „Doch, ein anderer wäre besser. Denn es soll froh machen, sich lieb zu haben.“ „Aber ich bin froh,“ sagte Renée. „Ah Renée – dieses Unvermögen, dieses kleinliche Unvermögen sollte nicht dabei sein.“ Renée sah sie an. Wie traurig ihr Mund aussah – dieser Mund. – Manchmal war ein Zucken um ihn, das sah zu sehr nach Schmerz aus. Yvonne sagte: „Wir wollen ausdenken, was alles man tun kann. Ich denke so gerne aus.“ „Der Palazzo,“ sagte Renée, „wird im Herbst bezogen. Und wir müssen ihn wunderschön einrichten, weil er doch nur ein ganz kleiner Palazzo ist, können wir das. Und dann wohnen wir dort Jahr für Jahr, außer wenn es so sehr heiß ist.“ Yvonne lachte: „Sagst du Jahr für Jahr. Und nie wo anders?“ „Nie wo anders.“ „Erzähle weiter, Renée.“ Renée sagte: „Manchmal bei ruhiger See fahren wir ganz weit ins Meer hinein nach irgend einer Insel zu, und dann haben wir Essen und Wein im Boot, und wenn wir zurückkommen, ist es schon Nacht. – Ich glaube, auf dem Wasser ist die Nacht sehr schön.“ „Ja,“ sagte Yvonne. „Ich glaube, man könnte draußen bleiben, bis es Tag wird, wenn man Kissen mitnähme und Decken. – Du liegst dann im Boot, und ich mache dir von Decken und Kissen ein ganz ordentliches Lager, ganz so schön wie dein Bett.“ „Ach, viel schöner als mein langweiliges Bett,“ sagte Yvonne. Renée lachte. „Natürlich. O, ich kann es mir so schön ausdenken: über dir stehen die Sterne. „Dann sollst du auch deinen Kopf in meinen Schoß legen oder in meine Hände.“ „In deine Hände, Renée?“ „Vielleicht wäre dir das gar nicht so bequem, wie ich eben dachte,“ sagte Renée. „O, es wäre gewiß wunderschön.“ Immer sah Renée ihre schönen, stillen Hände – aber manchmal bewegten sich doch ihre Hände. Wenn es schon dämmrig war. Und einmal, als Renée zufällig hinsah, da bebten sie – nur ganz wenig, aber so, daß Renée es sah. „Was hast du? Hast du Schmerzen?“ Yvonne schüttelte den Kopf. „Nein, keine Schmerzen. Es ist nur Ungeduld.“ „Warum liegst du so viel im Zimmer? Das ist dir nicht gut, glaube ich, Yvonne.“ „Bald stehe ich auf,“ sagte Yvonne. Alle Tage kam Geldern. Renée sah ihn nie. Sie wartete immer auf ihn und wollte ihn sprechen, fragen – aber er lief mit einem Gruß und wenigen Worten davon. Wie sonderbar er war. Renée dachte: Ob er mir irgendwie böse ist? – Einmal traf sie ihn, als er ging. Sie sagte: „Sie dürfen mir nicht fortlaufen, Herr von Geldern. Ich muß einmal sprechen mit Ihnen.“ Er stand vor ihr und schwieg. Renée meinte, daß er sie sonderbar ansähe. Denn er hatte das Gesicht halb weggewandt, und dennoch blickten seine Augen auf Renée. „Was ist es, was hat Yvonne?“ Geldern sah vor sich nieder. Er stieß seinen Stock auf die Spitze seines Schuhs nieder, immer wieder mit einem kleinen, irritierenden Laut stampfte er den Stock nieder. „Ich weiß, daß Sie mir dabei etwas verstecken, Herr von Geldern. Ich sehe, daß sie krank ist.“ Er lachte auf: „Sehn Sie das wirklich? Sahn Sie das auch, als Sie es zuließen, daß Yvonne am Spätabend vom Hotel nach Hauteville ging?“ „Nein. Ich wußte ja nichts. Aber nun sehe ich es doch.“ „Gut dann. Warum fragen Sie mich noch?“ „Ich werde Yvonne selber fragen.“ Geldern griff nach ihrer Hand, er sprach in großer Erregung: „Sie dürfen das nicht, Fräulein von Catte, versprechen Sie es mir. – O, Sie dürfen nicht.“ „Dann sollen Sie es mir sagen.“ Geldern nickte. Sie gingen den Wiesenweg, der zum Bahnhof führt. „Yvonne will nicht, daß Sie es erfahren. ‚Sie sollen Renée die Freude nicht verderben‘, sagt sie. ‚Denn Renée denkt es sich gerne aus. Renée denkt sich so gerne Märchen aus von dem Leben. Sie sieht doch bald genug, wie es ist. Renée soll Freude haben, Renée soll nicht beschwert werden.‘ „Yvonne sagt: ‚Wenn ich sterbe, darf Renée nicht hier sein. Nein. Sie würde das schwer vergessen, weil es sehr schrecklich aussieht. – Sie soll es auch nicht gleich erfahren. – Man soll es ihr zusammen mit irgend einer großen Freude sagen. Man muß eine Freude finden für sie.‘“ Geldern schwieg, dann kam ihm das Schluchzen und Tränen. Renée weinte nicht. Sie ging fort. Schnell ging sie. Im Wald stand sie still. Dann kam es, daß sie wankte und daß ihre Füße begannen zu zittern, als verschöbe sich der Boden, auf dem sie stand – sie griff nach den Baumstämmen, irgend ein großer Stamm hielt sie auf. „Wenn ich sterbe“ – Renée sprach es sich vor. Es klang, aber es wollte nicht hinein in ihr Herz. Ihr Herz hörte es nicht, es lächelte dazu, es lächelte zärtlich, ihr Herz. – Sie _mußte_ es auffassen, sie mußte es richtig überdenken, eins nach dem andern. Sie dachte, wie weiß und still Yvonnes Hände waren. War das, weil sie sterben würde? Waren ihre Augen so weich und schön, weil sie sterben würde – und sprach sie darum so sanft und leise? O, war all diese süße Schönheit vom Sterben gekommen? „Bist du müde, Renée?“ Renée sah sie an. Renée war bei ihren um ruhigen Gedanken. „Nein,“ antwortete sie. „Erzähle, Renée, wo werden wir im Sommer sein?“ Renée versuchte zu lächeln, sie konnte lächeln, ihr Herz glaubte es ja gar nicht. „Gehn wir am Ende da in meine Heimat,“ sagte Renée. „Dann nehmen wir irgend ein Haus, das an einem See steht, weißt du, das tun wir wegen der Abende. Denn da geht die Sonne unter ganz rot wie von Feuer und schöne, feurige Lichter kommen auf die Kiefern. Die Stämme können aussehn wie Fackeln, wenn die Sonne so untergeht –.“ „Das ist schön, wenn die Bäume Fackeln sind.“ „Willst du das sehn – ja – o, schön ist es,“ sagte Renée, und wieder lächelte sie, denn ihr Herz war leicht und zärtlich. „Und warum sollten wir nachts in das Haus gehn. Wir haben da einen offenen Balkon am See, – da schlafen wir. Und ehe man einschläft, sieht man nichts als Sterne, denn man liegt und hat das Gesicht nach dem Himmel gewandt. Und morgens, wenn man aufwacht, dann ist der Himmel weiß-blau und ein wenig dunstig noch – und seitwärts verblaßt ein weißer Mond.“ „O, wie schön du sprichst, Renée. Ich liege mit geschlossenen Augen und denke deinen Worten nach, ich lebe in ihnen, so als wäre ich blind und nur du sähest.“ Yvonne lächelte. „So weit geht diese wunderliche Täuschung, daß ich die Luft solcher Sommernächte spüre.“ „O, die ist gut und weich,“ sagte Renée, „die spürt man kaum. Gar kein Schirokko ist da, der diese dumpfen Stöße tut.“ „Nein, die Winde in Deutschland sind nicht böse und unheimlich. Sie kommen groß dahergefegt und machen es kalt und wirbeln mit trockenen Blättern. – Und wenn sie sich warm anfühlen, dann ist es, weil die Sonne so warm ist,“ sagte Yvonne. Renée schwieg. Renée wollte doch weiter erzählen von zu Hause, von Groß-Gehren, das sie Yvonne zeigen würde, sie hatte doch weiter sprechen wollen, und nun schwieg sie, warum schwieg sie? – Eine Angst stieg auf in ihrem Herzen, eine unruhige Angst. Ihr Herz wollte weinen. Renée stand auf und ging zum Fenster. Sie stand dort. Nicht daß sie weinte, richtige Tränen waren es nicht, nur sie fühlte, daß ihre Augen zitterten, und gewiß sah ihr Gesicht traurig aus, obwohl sie das gar nicht wollte. Eine Regenzeit kam. Eine Zeit, wo der See unten schwarz aussah oder grau mit weißen Schaumkämmen. Tag und Nacht raschelten die Bäume im Garten ihre Zweige aneinander, Tag und Nacht klapperte der Regen auf der Steinterrasse, rauschte der Regen. – Yvonne lag unruhig. Sie stützte den Kopf in die Hand und sah hinaus, immer hinaus, so, als müsse sie einem Dinge nachsehen, das draußen verginge in den Kronen der großen Bäume. Geldern war bei ihr. Er ging nicht mehr fort. Er war in ihrer Nähe. Er stapfte hin und her vor der Terrasse im Regen. Das Wasser prasselte auf seinen Hut und Mantel. Manchmal stand er still und sah auf das Haus. „Erzähle mir, Renée, sag etwas, du sprichst nicht.“ Renée sah sie an und versuchte zu lächeln. „Schliefest du nicht?“ „Nein.“ sagte Yvonne. „Ich sah dich an.“ „Wovon soll ich erzählen?“ frug Renée. „Noch einmal von dem See, wo wir wohnen werden.“ „Ja, der See. Wir werden viel rudern,“ sagte Renée. „Wenn wir auf dem Wasser sind des Abends, wird es dunkel, und wir müssen dann nach dem Licht zu fahren, das angezündet ist in unserem Haus. Denn es ist so dunkel draußen.“ „Wie dunkel, Renée?“ „So dunkel, daß ich nur dein Gesicht sehn kann, Yvonne.“ „Wie du schön erzählst,“ sagte Yvonne. „Was dann?“ „Wenn wir zurückkommen in den Garten, zünden wir Lichter an in kleinen, bunten Lampions, die brennen unter den Bäumen. Das tut man so im Sommer.“ „Das ist noch lange hin,“ sagte Yvonne. „Nicht sehr lange. – Der See ist still. Nur sehr von fern hört es sich an, wenn manchmal der Wind Geräusche herüberträgt. Ganz allein sind wir dann, du und ich. So allein, daß nur Töne, kaum noch die Töne zu uns herüber können von fern. Ja – wenn wir dann wieder zurückgegangen sind ins Haus, dann liest du mir vor, Yvonne.“ Yvonne frug: „Was lese ich?“ „Die schönen Gedichte.“ „O, lese ich die – das müßte gut sein, Renée.“ Renée schwieg nun. In ihr war etwas, das wehrte sich gegen das Sprechen. Das wollte nichts wissen von all diesen freundlichen Dingen, das wollte nicht – und dann ein anderes. – Sie sagte: „Wir werden abends am See sitzen, Yvonne. Weißt du, es gibt einen Ton, den liebe ich. Wie ich ihn liebe. Das ist zu Haus immer gewesen am Wasser.“ „Das liebst du?“ „Ja, und es gibt nichts, was so traurig macht und so wehmütig.“ „Was ist denn das? Ist es eine Musik?“ frug Yvonne. „Nein, gar nicht.“ „Ist es Gesang also?“ „Nein,“ sagte Renée „Es kommt nicht einmal von Menschen. Es ist das Quaken der Frösche in den Frühsommernächten.“ „Und dann ist Renée immer traurig geworden?“ Renée lächelte. Yvonne sagte: „Ganz wehmütig ist die kleine Renée geworden. Sag mir, werden wir nun alle beide traurig, wenn sie da bei uns quaken am See in der Nacht?“ „Nein,“ sagte Renée. „Wir gar nicht. Wir natürlich nicht. Man wird es nur, wenn man allein ist.“ „Du sollst nicht allein sein, Renée.“ „Du bist ja bei mir.“ „Ja, ich bin bei dir,“ sagte Yvonne. „Sag mir, Renée, gibt es Pappeln dort?“ „Ja, freilich gibt es. Sie stehn am Ufer entlang oder zu beiden Seiten der Fahrstraßen. Sie haben grausilberne Blätter, und wenn Wind ist, der rieselt durch die runden Blätter gerade wie Regen.“ „Tut er das, Renée?“ Renée lachte. „Du, wart, du lachst mich aus, wenn ich erzähle.“ „Gar nicht. Nur ich stelle es mir vor, und dann muß ich so sehr in das hineindenken, was du erzählst, so daß ich mich sehne nach deinen Pappeln – und nach dem süßen, sanften Frühling.“ „Und wir haben doch gerade Frühling.“ „Nein,“ sagte Yvonne, „der ist nicht sanft, der nicht.“ „Aber im Garten ist er. In deinem Garten ist er schön, Yvonne. Wo die Weide ganz dünne, hellgrüne Büschel herunterhängt.“ Yvonne sagte: „O, sprich nicht davon.“ Yvonne schloß die Augen. So lag sie lange. Renée saß neben ihr und sah sie an. Sah, wie dies fremde, schmerzliche Zittern in ihr Gesicht kam. Sah, wie das Gesicht wieder still wurde und unbewegt. Sie streichelte Yvonnes Hände. „Geh, Renée, laß mich eine kleine Zeit allein.“ „Yvonne!“ Yvonne lächelte: „O, geh doch.“ Draußen war Geldern. Er ging leise an die Tür, als Renée herauskam, und öffnete. Dann kam er wieder. „Sie will allein sein,“ sagte er. Renée frug ihn, wollte wissen, wollte Antwort. Er sagte: „Lassen Sie, es ist nicht Yvonnes Wunsch.“ Die Nächte waren still und sanft und hatten süße Gerüche. O, die Nächte waren schön – die Nächte. Yvonne lächelte doch, wenn sie den Himmel sah, den besternten Himmel. Sie sagte: „Gut tut die Dunkelheit. Man kann ausruhen. Alle Dinge geschehen, die geschehen müssen. Aber man weiß es nicht.“ Dann lachte sie: „Renée, ich möchte tanzen mit dir. Ich möchte einmal tanzen. Das müßte ganz wild gehn nach einer tollen Melodie.“ Renée sagte: „So, daß wir gar nicht wieder aufhören könnten. Das ist das Schönste.“ „Tanzt du gern?“ frug Yvonne. „Ja, früher schon,“ sagte Renée, „ganz gern.“ „In den Garten wollen wir viele Rosen hineintun, Renée, fast nur Rosen. Dann schneidest du manchmal große Sträuße von Rosen. Die sollst du neben mich stellen.“ „Du sollst mit mir schneiden, du sollst gar nicht so faulenzen,“ sagte Renée. „Ich darf faulenzen.“ „Gar nicht faulenzen darfst du. Sonst bekommst du keine Rosen.“ „Du gibst sie mir noch, Renée.“ Yvonne sprach nicht. Sie sagte nicht mehr: Erzähl mir, Renée. Sie sprach nicht mehr von all den süßen Dingen, die Wind heißen oder Frühling oder Rosen. Renée saß bei ihr. Am Tage schien die Sonne hinein und es war warm draußen. Die Sonne machte es grell im Zimmer. Da war nichts von dem sanften Grau, das die Schatten der Gegenstände bekommen bei der Dämmerung. Hart und unvermittelt standen sie da vor der Wand. Die Wand war grell weiß. Dann saß Renée den ganzen Tag und sah Yvonne an. Aber ihr Herz war leer und ihre Seele war leer. Sie konnte nichts fassen von allem, was vor ihr geschah. Sie konnte es nicht fassen, daß Yvonne fortgehn würde. Sie suchte auszudenken, was der Tod war. Sie suchte diese Erkenntnis ihrem Herzen aufzuzwingen. Aber das wehrte sich – wehrte sich. Es kam ein Brief von Elisabeth. Renée mußte sich richtig besinnen, wer es war, und was man von ihr wollte. Eine ganze Weile las sie daran, daß Papa empört sei, weil Renée die kranke Sarah so im Stich gelassen und sich zu dieser fremden Dame begeben habe, um sie zu pflegen. Außerdem fürchte Papa die Ansteckung für Renée, denn wie sie durch Sarah erfahren hätten – So lange las Renée, ohne daß es an sie herankam. Und dann einen kurzen Augenblick fühlte sie ein kleines Stechen im Herzen. Das ging vorbei. Am Schluß standen ein paar Phrasen, wie Elisabeth sich sorgte um Renée. Nein, das konnte nicht an sie heran. Das war aus einer fernen, fremden Welt, in die weder Schmerz noch Glück sie zurückbringen konnten. „Renée, hast du nicht Sehnsucht nach zu Haus?“ sagte Yvonne. „Nein, gar nicht.“ „Sagen sie nicht, du sollst kommen und sind dir böse darum?“ „Nein,“ sagte Renée. „Sie brauchen mich nicht. Ich ginge auch nicht.“ „Aber du solltest gehn, Renée.“ Renée erschrak, sah sie an. Warum sagte Yvonne das? Warum sprach sie mit dieser traurigen, stillen Stimme – ja, Renée erschrak. – „Gingest du doch, Renée. Soll ich wissen, daß ich dich – o, dich so sehr beschwert habe.“ Renée sagte: „Nicht doch – wie redest du. Ohne dich zu sein ist schwer und mit dir ist es leicht.“ Yvonne sah sie an. Ihre Augen waren eine lange Zeit groß und fragend auf Renée gerichtet. Renée lächelte. Renée fühlte einen zitternden, kleinen Schmerz. Sie hielt ganz fest die Lippen zusammen, damit es keinen Laut gäbe – und lächelte. Yvonne streichelte ihre Hände. „Es ist nicht leicht für dich,“ sagte Yvonne. Dann zog sie Renée an sich. Renée legte den Kopf an ihr Herz und weinte. Danach war es gut. So gut. Renée war nicht mehr allein mit diesem entsetzlichen Wissen. Nein, nicht mehr. Sie brauchte nicht mehr Scherze zu machen und kleine, leichtsinnige Reden. Sie brauchte nicht mehr zu lächeln, wenn sie so sehr traurig war. – Ein Tag kam, der wieder warm war und Sonne hatte. Durch das Fenster kam der Erdgeruch herein, den der Regen gebracht hatte, und alle Blumen rochen so gut. Aber am süßesten war der Geruch des Flieders. Yvonne sagte: „Ich will in den Garten. Ich muß in den Garten.“ Renée wollte sie nicht lassen. Sie sagte: „Du wirst kalt haben, weil es schon Abend ist. Und dann hat Geldern es doch verboten. Tu es nicht, Yvonne.“ Yvonne schüttelte den Kopf. Sie nahm Renée an der Hand. „Geh du in den Garten.“ Renée sagte: „Nein, er mag mich nicht ohne dich, und ich mag ihn nicht ohne dich.“ „Tragt mich hinaus, Renée.“ Renée wollte nicht. Renée wehrte sich den ganzen Tag. „Renée.“ – „Ja.“ – „Blüht auch der weiße Flieder?“ „Ja, der auch,“ sagte Renée. „Blühen die Kastanien?“ – „Ja.“ „Ach, die sind schön dies Jahr,“ sagte Yvonne. „Sind sie nicht wie große Weihnachtsbäume? Sind da Kastanien an dem See, von dem du erzählst?“ „Ich denke. Und Linden sind da,“ sagte Renée, „und sieben Pappeln oder fünf, ich weiß nicht.“ „Muß man die zählen? Und sag, ist Flieder da?“ Renée nickte. „Renée, glaubst du, daß es Menschen gibt, die niemanden lieb haben?“ „Nein, wie sollte es das geben?“ „Glaubst du nicht?“ „Nein,“ sagte Renée. „Sie würden gar nicht leben mögen vor lauter Sinnlosigkeit.“ Yvonne sah so sehnsüchtig hinaus in den Garten. „Mach doch die Fenster weiter auf. Es ist zu heiß, Renée.“ Renée ging zu den Fenstern. Die Luft kam schwer und warm mit dem süßen Geruch der Blumen. Zum See hinunter war es dunkel, und der See war stahlgrau. „Es wird Gewitter kommen,“ sagte Renée. Gegen Nacht war es da. Erst fuhr der Wind ruckweise surrend durch die Zweige und Blätter – dann lag er breit über den Blumen, schwenkte sie herum und riß die Blüten ab. Dann jagte er auf den Wegen mit Blüten und Blättern. Es wurde Sturm. Man konnte die Schaumkämme auf dem See sehen, wenn Blitze waren, und der See wurde eins mit den Wolken – wie groß und unheimlich waren die Wolken. Renée richtete sich auf im Bett und sah hinaus. Der Baum neben ihrem Fenster fuhr hin und her und schlug klatschend seine Zweige an die Mauer. Renée spürte den Wind in ihrem Gesicht. Ihr Gesicht war feucht und sie hatte doch geschlafen. Sie dachte: Ich weiß es, wenn ich schlafe; aber wenn ich wache, kann ich von Leben und Zukunft sprechen. Sie dachte – an den Tod, der das Ende war. Wie ist das, wenn ich tot bin, während das Leben weiter geht. Irgend jemand tut einen in den Sarg, und man wird begraben, so wie es Sitte ist, wie auch Hannsbabo begraben wurde. Grauen kam, kam an ihr Herz. Sie fühlte die Kälte des Windes, als wäre es in ihr und machte ihr Herz vereisen – langsam so kalt werden, daß es nichts mehr fühlte. Der Baum schleuderte fortwährend seine Zweige gegen die Mauer. Renée fuhr auf. Immer noch spürte sie den Wind im Gesicht, und sie fühlte eine fremde Last auf ihrem Herzen. Das machte sie schwer und mühsam atmen. Es war, als käme keine Luft. Dann fühlte sie ihr Herz klopfen, und einen Augenblick fühlte sie es nicht mehr. Sie begann zu laufen, schnell die Treppe hinunter durch den Gartensaal. – „Yvonne!“ Yvonne war am Fenster. Sie saß und sah hinaus und dann lächelte sie Renée zu. – Am andern Tag sah Renée Doktor von Geldern, als er aus Yvonnes Zimmer kam. Und sie sah, daß er weinte, oder hörte es nur vielleicht. Renée ging leise hinein. Yvonne – sah Yvonne sie nicht? Renée ging ganz leise auf den Fußspitzen, und dann saß sie am Bett, dann faßte sie Yvonnes Hand und hielt sie fest. Renée horchte auf die Tropfen des Regens, die vor dem Fenster auf das Steinpflaster fielen. Horchte und atmete ganz leise, so als dürfte man nicht das Geräusch der Tropfen stören. Wußte sie es nun, war es nun ganz in ihr Herz eingedrungen? – Ihr Herz war still. Warum weinte sie nicht. Warum sollte sie weinen? – Renée dachte: Worauf habe ich doch so lange gewartet, habe ich nicht auf dich gewartet, weil ich meines Lebens Ziel suchte? Bist das nun du? Ist es meines Lebens Ziel, daß ich mit dir gehe, wohin du gehen wirst? So dachte Renée. Leicht war ihr Herz. Sie dachte: Müßte ich dich zurücklassen, dann würde ich weinen. Es ist süß, mit dir gehn. – Der Abend machte es still im Garten. Renée hörte nicht mehr den Regen. Renée hielt Yvonnes Hand, und immer sah sie in das weiße Gesicht. Das schien zu lächeln unter den Schmerzen. Und Renée fühlte in dem zitternden Schauer, der ihren Körper durchlief und bei ihrem Herzen zurückblieb – fühlte sich dem äußersten Erleiden so nahe, als müßte sie selber fort mit diesem so geliebten Leben. Wußte sie nun alles? – O, es gab nichts Größeres als diesen Menschen. Und Yvonne – sie litt nicht, wie andere Menschen leiden. Nichts rührte sie an von jenen grauenvollen Häßlichkeiten, als ginge sie still geworden in die Sonne hinein, in die Sonne, die ihres Herzens große Wärme aufnehmen würde. Die sanfte Hand berührte Renée. Die so geliebte Stimme sprach: „Bist du nun doch bei mir bis in das Letzte hinein, Renée? Nehme ich denn nicht deine liebe Jugend mit fort, wenn du alles dieses ansiehst?“ Renée legte den Kopf an ihr Herz und weinte. Renée umfaßte sie mit dem Gefühl von Nie-lassen-wollen. „Laß – ich bleibe bei dir, Renée. Du nimmst mich überall hin auf der Erde, wenn ich auch gestorben bin.“ Renée sah die Qual in ihren Augen, und sie fühlte, wie ihr eigner Körper schlaff wurde und zuckte, und ihre Kniee ließen nach, so daß sie niedersank neben dem Bett. „Nein – nein, du gehst ganz fort! Nichts bleibt bei mir. Du kamest, damit ich dich verlieren sollte. Nichts wird sein als diese jämmerliche Erde, wo du nicht bist.“ Die sanfte Hand berührte Renée. „Nein – nein. Ich will nicht! Soll ich leben, um jeden Tag zu fürchten, der kommt und mich wissen macht, daß du nicht lebst. Soll ich das Leben, auf das ich mich so freute, soll ich es gehn lassen mit dir?“ Yvonnes Hand tastete nach Renée. Und dann kamen Laute wie die eines gehetzten Tieres und ein Aufwärtswollen. Es kam das Grauen. Aber es gab doch den Tod. Es gab, was ein Ende macht. Es stand neben dem Bett, ganz nah. Wenn man es trank – Yvonne streckte ein wenig die Hand aus. Renée schob das Glas beiseite, nach dem sie die Hand ausstreckte. „Aber ich lasse dich nicht! Du mußt noch bleiben.“ Renée fühlte eine Starrheit des Willens über ihre Seele gleiten. Es war, als fühlte sie nur noch diesen Willen. – „Ich will dich behalten,“ sagte sie. Groß öffnete Yvonne die Augen. Sie lächelte, und mit einer fremden, stillen Stimme sagte sie: „Renée, ich will es leiden um dich!“ – Also kam das Leben zurück. Es würde aufstehn über dem Tod – der große Wille hatte den Tod beiseite geschoben. – O, das Leben war noch da. Man konnte die Sonne draußen sehn, die hinglitt über die Blumen im Garten und über den Rasen. – Das Leben war noch da. Das, von dem man nicht lassen kann, weil es so schön ist und noch so unbekannt. Wer hatte den Tod rufen wollen – o Torheit. Renée zog Yvonne an sich und küßte ihr Gesicht. Yvonne lächelte, lächelte mit zitternden Lippen. Sie sagte: „Ich will warten, bis du mir den Tod schenkst – – laß es bald sein.“ – Renée fühlte den Willen nicht mehr, fühlte nur Zärtlichkeit in ihrer Seele – Sie küßte Yvonne die Augen, Und ließ sie trinken. – Dann trank auch sie. O, wie süß ist es, so einzuschlafen – – – Die Verse auf Seite 95 sind einem Gedicht von _Toni Schwabe_ entnommen. Buchdruckerei Roitzsch Albert Schulze, Roitzsch Anmerkungen zur Transkription Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Weitere Änderungen sind hier aufgeführt (vorher/nachher): [S. 149]: ... ungern allein.“ – „Aber ich konnte doch mitkommen.“ ... ... ungern allein.“ – „Aber ich könnte doch mitkommen.“ ... [S. 203]: ... was du fragst,“ sagte sie. Dann gingen sie zu Kempinsky. ... ... was du fragst,“ sagte sie. Dann gingen sie zu Kempinski. ... *** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DAS LEBEN DER RENÉE VON CATTE *** Updated editions will replace the previous one—the old editions will be renamed. Creating the works from print editions not protected by U.S. copyright law means that no one owns a United States copyright in these works, so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United States without permission and without paying copyright royalties. Special rules, set forth in the General Terms of Use part of this license, apply to copying and distributing Project Gutenberg™ electronic works to protect the PROJECT GUTENBERG™ concept and trademark. Project Gutenberg is a registered trademark, and may not be used if you charge for an eBook, except by following the terms of the trademark license, including paying royalties for use of the Project Gutenberg trademark. If you do not charge anything for copies of this eBook, complying with the trademark license is very easy. You may use this eBook for nearly any purpose such as creation of derivative works, reports, performances and research. Project Gutenberg eBooks may be modified and printed and given away—you may do practically ANYTHING in the United States with eBooks not protected by U.S. copyright law. Redistribution is subject to the trademark license, especially commercial redistribution. START: FULL LICENSE THE FULL PROJECT GUTENBERG LICENSE PLEASE READ THIS BEFORE YOU DISTRIBUTE OR USE THIS WORK To protect the Project Gutenberg™ mission of promoting the free distribution of electronic works, by using or distributing this work (or any other work associated in any way with the phrase “Project Gutenberg”), you agree to comply with all the terms of the Full Project Gutenberg™ License available with this file or online at www.gutenberg.org/license. Section 1. General Terms of Use and Redistributing Project Gutenberg™ electronic works 1.A. 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