Das Leben der Renée von Catte

By Elsa von Bonin

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Title: Das Leben der Renée von Catte

Author: Elsa von Bonin

Release date: August 10, 2025 [eBook #76663]

Language: German

Original publication: Berlin: Egon Fleischle & Co, 1911

Credits: Jens Sadowski and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net. This book was produced from images made available by the HathiTrust Digital Library.


*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DAS LEBEN DER RENÉE VON CATTE ***


                     Das Leben der Renée von Catte




                             Das Leben der
                            Renée von Catte


                               Roman von
                             Elsa von Bonin


                          Egon Fleischel & Co.
                                 Berlin


                        Alle Rechte vorbehalten
             Copyright 1911 by Egon Fleischel & Co., Berlin




                         Für Dich Toni Schwabe!




Die kleine Renée lag im Bett und horchte auf das Quaken der Frösche
unten am See. Der Mond schien herein – jetzt war er auf ihrer Hand, nun
auf der Erde. In der Zimmerdecke war auch ein Mond, ein gemalter mit
gelben Strahlen – oder vielleicht war es eine Sonne. Er hatte ein
Gesicht, und aus seinem Mund hing der Kronleuchter heraus mit sechs
Kerzen. Die kleine Renée war ein wenig traurig. Es war, weil die Frösche
quakten und weil Uncas nicht mehr lebte. Uncas war ein Hund, aber er
hatte die schönsten Augen gehabt – gelb mit blau innen. Und Renée liebte
niemanden mehr. Sie dachte daran, wie sie mit ihm auf Froschjagd
gegangen war, und er hatte die Frösche in die Luft geworfen und wieder
aufgefangen – so lustig, wie das aussah. – Wie Renée so nachdachte,
wurde sie immer trauriger, dann fing sie an zu weinen.

Montag vor vier Wochen war Uncas gestorben. Sie sagten: „Er hat sich
heiß gelaufen, und dann ist er ins Wasser und hat den Schlag bekommen.“
Sie sagten: „Du weißt doch Renée, Menschen sterben auch davon.“ Renées
Papa kam und streichelte sie und sagte: „Weine nicht, mein Kind,“ und
Papa sah ganz verstört aus. Und ihre große Schwester nahm sie auf den
Schoß. Ja – sie waren alle freundlich zu Renée, als es geschehen war.
Ihr fiel ein, wie sie damals geweint hatte den ganzen Tag und ein
bißchen in der Nacht. Es war anders gewesen als gewöhnliches Weinen, es
hatte wehe getan nahe am Herzen. – Renée dachte: Hätte Papa mich nur
mitgenommen auf Jagd, dann hätt’ ich den Uncas schon weggeholt vom
Wasser.

Nun gab es niemanden mehr.

Der Mond kroch über die Bettdecke und kam auf den großen Tisch. Renée
lag wieder im Dunkeln und sah etwas stehn hinter dem Tisch, das lang und
schwarz aussah; es pendelte hin und her mit einem weißen Ding, und das
Ding war eine Hand. Renée schrie. –

Es war doch nichts. Es war nur, weil der Mond gerade durch den Ahorn
schien, und dann wippten die Blätter hin und her – das weiße Ding war
gar nichts –.

Renées Erzieherin konnte nicht ordentlich rechnen. Renée hatte gehört,
wie Papa es zu ihrer großen Schwester sagte. Darum kam heute der Kantor.
Der Kantor hatte ein fettiges Gesicht und gräßlich viel Pickel. Seine
Manschetten rutschten aus dem Ärmel und waren von Gummi. Er nannte Renée
‚na kleines Fräulein‘ und grinste dabei.

Fräulein von Altmann saß am Fenster und häkelte. „Also was macht das
nun, ein Halb mal ein Viertel?“ frug der Kantor. Renée sagte: „Zwei.“
Der Kantor grinste und wartete. Es schien also falsch zu sein. Renée sah
heimlich nach Fräulein von Altmann, ob die es wohl wußte. „Nun – nun?“
Renée sagte: es wäre wohl vier! „In Groß-Gehren macht es ein Achtel,“
antwortete der Kantor. Fräulein von Altmann lachte, und dabei wußte sie
es doch auch nicht und konnte nicht mal ordentlich rechnen. – Manchmal
war der Kantor ganz nett. Renée hätte überhaupt lieber ihn gehabt als
die Altmann. Renée wäre überhaupt lieber ein Junge gewesen. Und Jungs
hatten immer Hauslehrer.

Es gab eine Photographie, auf der Renée aussah wie ein Junge. Sie hatte
ihres großen Bruders Kürassiermütze auf und eine Matrosenjacke. Sie
zeigte das Bild und sagte: „Es ist mein Vetter Eberhard.“ – Renée hatte
sich den ‚Vetter Eberhard‘ ausgedacht. Sie war es selber. Ganz für sich
allein. Wenn Papa sie mit dem Ponywagen nach Haus schickte. Sie dachte:
Papa setzt Vertrauen in mich. Sie durfte fahren, wenn Papa drin saß. Das
war auch ‚Vertrauen‘. Dann vermied Renée sorgfältig die Steine und
Baumwurzeln, und wenn Papa ausgestiegen war, unternahm sie
Wegebesserung. Sie schleppte Steine zusammen und tat sie in die Löcher
und Wagenspuren, und dann kam Sand und Lehm darauf. Wenn sie fuhren,
guckte Renée nach dem Wild. Einmal war ein Bock. Renée sah ihn zuerst.
Renée zupfte Papa am Ärmel und hielt vor Schreck den Pony an. „Da ist
ein Bock!“ – „Fahr weiter – langsam,“ befahl Papa. Dann spannte er den
Hahn, kletterte ganz vorsichtig aus dem fahrenden Wagen und stapfte
hinterher. – Renée zitterte vor Aufregung, sie hielt den Kopf geradeaus
und schielte so gut es ging schräg nach dem Bock hinüber – Herrgott,
wenn Papa schoß, wenn der Pony – bumm – Renée fuhr zusammen und riß den
Pony ins Maul. Der machte drei Sprünge, schlug einmal seitwärts aus,
dann blieb er stehen. „Schöner Blattschuß,“ rief Papa, dann schleppte er
den Bock heran. Renée freute sich, ja aber eigentlich tat es ihr doch
gräßlich leid.

Papa war ausgestiegen. Renée stand mit dem Pony allein mitten im Wald.
Einsam war das. Die großen Kiefern knackten. Renée wartete, man konnte
sich ein ganzes Leben ausdenken währenddessen mit vielen traurigen
Dingen, und man konnte kleine schwermütige Lieder vor sich hinsingen,
ganz leise, während der Pony das Gras abzupfte. Ab und zu schüttelte er
ingrimmig den Kopf. Dann rief Renée ihn an und kam und verjagte die
Fliegen.

Renée legte den Kopf weit hintenüber und sah in die Kiefernkronen.
Kleine Stückchen vom Himmel kamen zum Vorschein, blaue oder
schwärzliche. Waren sie schwarz, dann schlug der Pony arg nach den
Fliegen wegen der Schwüle. Der Wagen ruckte, das fuhr mitten hinein in
Renées Gedanken. Renée dachte: ob man immer so gräßlich allein sein muß.
Aber Elisabeth hatte doch Freundinnen, die kamen manchmal zu Besuch im
Sommer, und Hannsbabo hatte Freunde, die brachte er mit zu den Jagden;
Renée dachte: Ich habe keinen. Sie wurde sehr traurig, das zu denken;
auf einmal schien es ihr, als müsse jeder Mensch einen Freund haben,
einen ganz für sich allein, und nur Renée hatte keinen.

Renée dachte: Wenn man den hat, der ist immer gut und man ist auch immer
gut und verteidigt ihn und gibt sein Leben für ihn. Es war schön, das zu
denken, denn das Leben hat doch viel Wert und die Menschen mögen gar
nicht gern sterben. – Ob Papa endlich zurückkam? Renée stieg auf den
Sitz und hielt Umschau mit dem Feldstecher – ganz weit unten am Graben
hinter den drei Birken ging Papa hinter einem Mann her. Renée hatte
große Angst. Wenn nun der andere Mann Papa etwas täte? Und die Büchse
hatte er im Wagen gelassen –.

Dann winkte Papa. Er winkte, indem er mit dem Arm wie eine Windmühle
ringsherum fuhr. Renée zerrte den Pony von seiner Grasweide fort und
fuhr los. Als sie ankam, sprach Papa mit dem Mann. Und überhaupt war es
der Hofmeier. Sie fuhren nach Haus. –

Renée mußte immer wieder daran denken, daß sie keine Freundin hatte. Und
es war doch so ein gutes, liebes Wort. Es wurde einem zärtlich dabei
zumute. Sie wollte eine Freundin haben. Ganz gewiß. Schon um die ‚Lange‘
zu ärgern. Fräulein von Altmann sagte: „Natürlich hast du ja auch keine
Freundin, weil du so ungezogen bist.“ Das ärgerte doch Renée, das mochte
man doch nicht hören. –

Renée stand auf einem Stuhl in der Kutscherstube und nagelte
Ansichtskarten an die Wand. Wöhler stand unten und hielt den Stuhl fest.
Wenn Renée in die Stadt kam, kaufte sie Karten, auf denen ‚schöne
Frauenköpfe‘ waren. Wöhler sagte: „Sone hab ich gern.“ „Fährt Herr
General heut aus?“ frug Wöhler. Renée besann sich: – „Nein, heut
nachmittag kommt der Mann, der die Wiesen nicht verkaufen will.“ „Er
würde schon, er hat man Angst. Die Gemeinde würde ihm kommen, wenn er
verkaufte,“ sagte Wöhler. Dann grinste er. „Ich hätt’s schon anders
gemacht.“ „Was hätten Sie denn gemacht, Wöhler?“ fragte Renée – gewiß,
Wöhler hätte es furchtbar schlau angefangen. „Ach, wenn Herr General mir
beauftragt hätte, –“ sagte Wöhler. – Also Papa fuhr nicht aus. Dann
konnte doch Renée den Pony mit in die Schwemme reiten. Wöhler hob sie
herauf, schon ein bißchen Senkbuckel hatte der Pony. Aber es saß sich
gerade sehr gut darauf; – der Pony patschte langsam vorwärts, blieb
stehen, schnaufte und steckte die Nüstern ins Wasser – Renée ritt im
Kreise vorn, wo es seicht war, und manchmal wurden ihre Schuh ein
bißchen naß, und das war so aufregend. Bei Tisch sagte Renées große
Schwester: „Renée müßte wirklich mehr mit ihresgleichen zusammenkommen.
Das geht nicht so weiter mit dem ewigen Im-Stall-hocken.“ Dann erklärte
Elisabeth, daß Papa für Renée eine Cousine einladen wolle. –

Die Cousine war da, und nun versuchte Renée es gleich mit Eifer. Aber
dann zeigte es sich, daß es etwas schwierig war. „Soldaten ist ein
albernes Spiel,“ sagte die Cousine, „und wenn dein König immer meinen
heimlich gefangen nimmt, mag ich nicht,“ sagte die Cousine. Renée
dachte: sie ist so pimpelich, und natürlich geht es besser mit Puppen.
Es ging auch. Man konnte Papierpuppen spielen. Es war eine wundervolle
Sache, _wie_ schön man das konnte. Einer sprach für den Mann und der
andere für die Frau, und es gab Eltern und Familien. Und wenn die Eltern
nicht die Heirat zugeben wollten, dann erschoß sich der Mann. Aber
manchmal sagte die Cousine hinterher, es wäre doch nicht tödlich
gewesen. Dann lebte der Mann wieder.

Nun kam die Cousine mit auf die Ponyfahrten. Und wenn Papa ausgestiegen
war, hockten sie sich ganz dicht zusammen und spielten das neue Spiel
mit den Papierpuppen. Es war schön und wild und traurig und furchtbar
geheimnisvoll. Es wurde weitergeführt durch ganze Generationen. Renée
zeichnete dafür einen Stammbaum auf einem großen Blatt genau so wie der
in der Chronik der Cattes – und es gab Vornamen, die immer wieder der
älteste Sohn tragen mußte. So kam es, daß Renée die Dinge, die wirklich
waren, ganz vergaß, und darum dachte sie auch nicht mehr an das mit der
‚Freundin‘. Einmal fiel es ihr ein; Papa hatte sie beide mit dem Pony
nach Haus geschickt, und sie saßen hinten auf den Kutschersitz geklemmt,
während der Wagen leer war. Renée sagte: „Hast du eine Freundin?“
„Nein,“ sagte die Cousine. Renée machte eine Pause – „nämlich die eklige
Altmann sagt, es wäre, weil ich ungezogen bin. Sie lügt. Sie will mich
bloß ärgern.“ Die Cousine sagte: „Ja.“ „Willst du mit mir Freundin
sein,“ frug Renée. Da nickte die Cousine. Renée sagte: „Gib mir also ’n
Kuß.“ Sie bemühte sich, daß es recht gleichgültig klingen sollte, sie
dachte: es gehört dazu, es muß so gemacht werden – nur sie genierte sich
ein bißchen.

Dann sah Renée bald, daß es hübsch war, eine Freundin zu haben. Man war
auf einmal zu zweit. Man konnte die Lange doppelt ärgern zu zweit. Man
konnte vor Lachen ersticken zu zweit bei Tisch. Renées große Schwester
räusperte sich, dann sagte sie tadelnd: „Kinder, seid doch nicht so
maßlos albern.“ Daran sahen Renée und die Cousine sich an und pruschten
von neuem. Die Lange bekam einen rosa Fleck an der Spitze ihrer Nase und
sagte: „Still, Renée, sonst erhältst du keine süße Speise.“ Renée sagte:
„Ist mir ganz wurscht!“ Wenn es bei diesem Punkt angekommen war, hob
Papa den Kopf und sah Renée an. Seine Augen rollten und waren zweimal so
groß als für gewöhnlich – Renée sah eigensinnig gerad in die rollenden
Augen hinein. Aber sie schwieg, und sie fühlte ihr Herz klopfen.

Ein bißchen unheimlich war Papa überhaupt. Aber er war doch ‚ihr Papa‘,
und sie glich ihm im Gesicht. Elisabeth glich ihm nicht. Renée dachte:
vielleicht ist Elisabeth gar nicht eine richtige Tochter von Papa. Er
hat sie auch nicht besonders lieb. Aber Elisabeth wurde immer gelobt,
wenn andere Leute da waren. Die alte Tante aus Pritzwalk hatte gesagt:
‚Elisabeth ist Renée eine zweite Mutter.‘ Aber das ärgerte Renée. Da
hing ein Bild von Mama im braunen Zimmer zwischen den Fenstern. Stille,
helle Augen hatte Mama gehabt und ein sehr schmales Gesicht. Sie hatte
blondes Haar gehabt und einen feinen, anmutigen Mund. Elisabeth sah ganz
anders aus. Sie war gar nicht schön, und Mama hatte doch ‚die schöne
Frau von Catte‘ geheißen. Renée dachte: gewiß gleicht ihr Hannsbabo, der
große Bruder. –

Renée hatte ein blaues Heft, darin standen Nummern – da war Nummer eins
Hannsbabo, Nummer zwei Papa, Nummer drei Wöhler und so weiter. Sie
änderte es manchmal, aber Wöhler war doch mindestens Nummer drei. Wöhler
war ein famoser Kerl. Wenn sie Hechte angelten und Renée wollte immer zu
früh herausziehen, als ob Wöhler da nur muckste. Er wartete, bis das
Floß ein paar Minuten unsichtbar war, er sagte: ‚he möt erst festseten.‘
Renée war zu dumm – immer riß sie zu früh heraus, und dann ließ das
Biest los und hopste wieder ins Wasser. – Renée konnte viele Stunden
lang da am See sitzen, dann dachte sie so vor sich hin, und wenn sie
wieder hinsah, steckte die Angelrute mit der Spitze im Wasser, als ob
das die Fische nicht merkten! Renée angelte – aber manchmal schlief sie
ein wenig dabei – wenigstens dachte sie an ganz andere Dinge. – Daß es
wirklich Züge gab, die einfach so von Berlin bis nach Palermo fuhren.
Palermo war auf einer Insel und man konnte hinkommen, ohne umzusteigen.
Den Zug hatte Renée einmal gesehen auf dem Bahnhof, von außen war er
braun und innen war er mit Lederwänden und Gold und Spiegeln. –

Renée saß im Kahn und patschte mit dem Ruder. Dieser Kahn hieß
Äppelfuhre, und es gab noch ein weißgestrichenes Kielboot außerdem. Die
Cousine hielt Renées Angel, und alle zwei Minuten zog sie daran, um zu
sehen, ob ein Fisch anbisse. Natürlich biß keiner an. Renée sagte:
„Möchtest du Weltreisender werden?“ Die Cousine lachte. „Wieso denn?“
Renée dachte gerade an den Expreß nach Palermo. „Dann reist man immerzu
mit Expreßzügen Tag und Nacht durch. Man wohnt richtig darin.“ „Das
könnte ich nicht,“ sagte Felicitas. „Weißt du“ – Renée patschte mit dem
flachen Ruder auf das Wasser – „weißt du, dein Name ist so dumm. Ich
werd dich Fly nennen. Das ist von einem englischen Gedicht. Ich könnte
dich auch Fee nennen. Aber so heißt ein Pferd von Hannsbabo. Also geht
es nicht.“ – Fly machte ein pikiertes Gesicht. „Übrigens, Hannsbabo ist
riesig schick,“ sagte Fly. „Unsinn, er ist viel mehr als so was Dummes,“
sagte Renée, „und ich habe ihn furchtbar lieb.“

Fly war zwei Jahr älter als Renée. Fly trug Hutnadeln. Renée dachte: Wie
man es nur macht, daß es nicht in den Kopf geht? –

Am Sonntag kam Hannsbabo. Und Renée durfte ihn von der Bahn abholen. Als
der Wagen aus dem Dorf heraus war, stieg Renée auf den Bock und
kutschierte. Wöhler hielt bloß die Zügelenden. Sie sprachen von
Hannsbabo. Wöhler sagte: „Der Herr Leutnant hat’s schwer, sag ich immer.
Herr General hält ihn zu knapp, und das tut nicht gut in so einem feinen
Regiment. Ich hab’s zu Herrn General gesagt, der wollte man nicht hören.
Herr General, hab ich gesagt, als er ihn bei die Kürassiere brachte, das
war zu unsre Zeit eben anders. Bei die Gardekürassiere braucht einer
seine zehn- bis zwanzigtausend.“ – Renée war ganz betreten von dem
vielen Gelde und ob denn Hannsbabo wirklich so viel brauche. – Wöhler
zuckte die Achseln. „Herr General sagt, da täten sechse langen,“
antwortete er, „da soll er man zusehen.“ Irgendwo im Dorf kläffte ein
Hund. Der Wallach machte einen Satz, die Stute kniff die Zügel unter den
Schwanz und quiekte.

Renée hielt, so fest sie konnte.

Als Wöhler die Füchse wieder zurecht hatte, riß er sie nochmal ingrimmig
ins Maul und brummte: „Nich mal besprechen kann man sich bei sone
Biesters.“ – Am Bahnhof kam der große Bruder Renée entgegen. Er strich
ihr übers Gesicht mit der Hand und zog an ihrem Haar. „Natürlich hast
wieder mal ne Mütze auf, du Bub,“ sagte er. „Es drohte doch so mit
Regen.“ Hannsbabo lachte. Renée saß sehr stolz neben dem großen Bruder.
Sie schielte heimlich nach den Leuten, ob sie ihn auch recht ansahen.
„Der Mann im Kolonialwarenladen hat gesagt: Kommt der Herr Leutnant
nicht bald mal wieder,“ erzählte Renée „Er sagt: Mir macht’s immer
Freude, wenn ich den Herrn Leutnant seh.“ Das erzählte Renée sehr stolz.
Der große Bruder lachte. Er sagte: „Der olle Heringsbändiger,“ und dann
sagte er noch, solche Leute wären immer ganz futsch, wenn sie zweierlei
Tuch sähen. – Während der Fahrt betrachtete Renée ihren Bruder heimlich
von der Seite. Sie fand, daß er traurig aussah.

Einmal zog er plötzlich etwas aus der Tasche und zeigte es Renée. Es war
die Photographie einer Frau als Page verkleidet. Es gefiel Renée. Sie
frug: „Wer ist es?“ aber der große Bruder legte die Finger an die Lippen
und antwortete nicht. – Dann erzählte er eine Menge lustiger Geschichten
und daß der Kommandeur wohl bald abgesägt würde, so ein Greis der nur
gezwungen auf ein Pferd stiege. Und er sagte, daß er jeden Abend in ein
und dasselbe Theater ginge, und da sähe er die schöne Frau von der
Photographie, und er nähme Renée mit, wenn sie groß wäre.

Am Abend hörte Renée laute Stimmen in Papas Stube. Sie schlich sich an
die Tür. Papa lief hin und her im Zimmer, wie er tat, wenn er böse war,
und manchmal blieb er stehen und schlug dröhnend auf den Tisch. Und sehr
selten dazwischen hörte Renée ihren Bruder sprechen in ruhigen, kurzen
Sätzen. – Sie lief in den Garten, wo der große, weiße Mond über dem See
war, und als sie da lange gestanden hatte, fing sie an zu weinen. Es kam
vom Mond und vom Abend und weil Hannsbabo so viel Kummer hatte.

Hannsbabo fuhr bald wieder fort. Er kümmerte sich um niemanden in den
Tagen, er lief nur so im Garten herum oder im Wald. Aber Renée merkte,
daß er traurig war.

Dann frug sie Elisabeth: „War Papa schlecht gewesen gegen
Hannsbabo?“ Elisabeth sagte: „Bewahre. Es gibt eben manchmal
Meinungsverschiedenheiten, und Hannsbabo wird schon einsehen, wenn er
einmal reifer geworden ist, wird einsehen, daß Papa recht hat.“ Renée
sagte: „Papa ist immer gleich so bös und so laut und das verträgt
Hannsbabo nicht. Wenn Mama noch lebte, dann wäre es besser für
Hannsbabo.“ Elisabeth zuckte die Achseln. – „Wie du altklug
daherredest,“ sagte sie. Sie sagte auch noch, daß es sehr unschicklich
sei, derartige Urteile über seinen eigenen Vater zu fällen und daß Renée
sich dessen enthalten müsse. Renée sah ihre Schwester an, wie sie
während dieser Reden die Oberlippe auf der Unterlippe herumschob, gerade
als ob sie kaute, und Renée mußte lachen. Es schien, daß Elisabeth sich
sehr darüber ärgerte. –

Fly – eigentlich war Fly etwas langweilig. Sie saß im Kahn und las:
‚Trotzige Herzen‘. Das war gerade eins von den Büchern, die Renée
gräßlich ärgerten. Wo immer die Leute sich unsinnig liebten und aus
lauter Trotz stumm aneinander vorbeigingen. Fly fand das ‚mystisch‘. Fly
sagte: „Ach Gott, sie lieben sich so rasend, und dann sprechen sie es
erst auf dem Totenbett aus –“ Renée lachte: „Das ist doch furchtbar
albern von ihnen,“ sagte sie, „wenn sie sich lieben, können sie doch den
Mund aufmachen.“ Fly meinte: „Ach, Renée, du hast ja gar kein
Verständnis für diese, die es immer nicht eingestehen will und zu stolz
ist, um sich hinzugeben.“ Renée ärgerte sich, und überhaupt war es
Quatsch, was Fly redete. Fly war langweilig und dann war es einsam.
Renée lief durch den herbstlichen Garten und weinte, obwohl gar kein
Grund war. –

Der neue braune Jagdhund im Stall, der war nicht schön. Er verstand von
nichts. Er hopste so dumm an jedem hoch und wedelte, während Uncas sich
seine Leute erst angesehen hatte. Was sollte Renée tun den ganzen Tag?
Sie saß bei der Angel und sah auf das kleine, rote Floß. Wenn Sonne war,
unterschied man deutlich die Fische, und dann hielt Renée ihnen den
Köder ganz dicht hin, so daß sie daran stießen. Wenn einer festsaß, dann
schrie sie nach der Köchin. Sie konnte keinen Fisch anfassen. Es war
furchtbar zimperlich, daß sie es nicht konnte, aber die Fische rochen so
ekelhaft. –

„Hannsbabo hat ein Kommando nach Washington bekommen,“ sagte Papa bei
Tisch. Renée frug: „Wie lang fährt man da hin?“ Papa sagte: „Acht Tage,
mein Kind, mit einem großen Ozeandampfer.“ „Gibt es da auch einen
Kaiser?“ „Nein,“ sagte Papa. „Die Vereinigten Staaten haben
republikanische Verfassung. Das könntest du auch wirklich wissen.“ –
Elisabeth machte ein befriedigtes Gesicht. Sie sagte: „Weißt du, Papa,
ich erhoffe mir wirklich Gutes daraus für Hannsbabo.“ Papa sagte: „Ach
Unsinn. Zu meiner Zeit trieben sich Kavalleristen nicht mit so albernen
Kommandos in der Welt herum. Aber heutzutage ist der Frontdienst ja
nicht bequem genug für die jungen Herren, da wollen sie lieber in
Amerika Briefmarken aufkleben.“ – „Wieso Briefmarken?“ frug Renée. Papa
lachte. „Na – du klebst doch auch so gern Briefmarken,“ sagte er.

Nun war Fly wieder fort. Nicht daß Renée Sehnsucht hatte nach ihr.
Bewahre. Aber es war gut, daß Fly dagewesen war. Denn wenn die
Altmannsche anfing: „Natürlich hast du keine Freundin ...“ dann sagte
Renée: „Das ist nicht wahr, Fly ist meine Freundin.“ „Ich wollte, du
nähmest dir dann wenigstens ein Beispiel an Fly,“ entgegnete die Altmann
spitzig. Renée haßte ‚Beispiel nehmen‘. Alle Leute wurden einem
verleidet damit. Das war das Ganze. Man konnte nachher die ‚Beispiele‘
nicht mehr leiden. –

Hannsbabo kam zum Adieusagen. Er war in Zivil; einen wunderschönen
Schlips von lila Seide hatte er und ein goldnes Armband. Renée frug:
„Wann kommst du wieder, Hannsbabo?“ Er sagte: „In ein paar Jahren.“
„Dann bin ich schon erwachsen, und dann mußt du auf Bällen mit mir
tanzen.“ Hannsbabo küßte Renée. „Ich wollt, ich könnte dich mitnehmen,
kleiner Bub Renée. Willst du denn durchaus so was werden, was man eine
junge Dame nennt?“ „Ach; so was Affiges werd ich doch nie, Hannsbabo.“
Dann sagte Renée: „Hast du das Bild noch in der Tasche?“ Hannsbabo zog
es vor aus seiner Brieftasche und lächelte, während er es ansah. – „Sie
wollte nicht mit mir fortgehen, mein kleiner Bub Renée. Ich hätte sie
schon gern mitgenommen.“ „Wer ist es denn?“ Hannsbabo stieß einen kurzen
Ton aus – wie ein Lachen, das er eigentlich nicht haben wollte. „Es ist
eine junge Sängerin,“ sagte er, „ich liebe sie.“ „Heiratet ihr euch
nicht, Hannsbabo?“ Hannsbabo sagte: „Nein – nicht.“ –

Sie gingen zusammen zurück zum Haus.

Hannsbabo rupfte Blumen, wo sie vorüber gingen und warf sie zur Seite
und spielte mit seinem Armband. Renée frug: „Aber warum heiratest du sie
nicht?“ – Die anderen Erwachsenen, – so dachte Renée – würden jetzt
sagen: Das verstehst du nicht – was wohl nun Hannsbabo sagen würde. –
Hannsbabo streichelte Renées Haar: „Mein kleiner Bub Renée –“

Nach vierzehn Tagen kam eine Karte von Hannsbabo. Es kam von New York
und es war eine große Brücke darauf abgebildet. Er schrieb, daß es sehr
hübsch sei drüben, und es gäbe Häuser mit dreizehn Etagen. –

Papa hatte einen Brief bekommen. Bei Tisch sagte er zu Renées großer
Schwester: „Na, gottlob scheint er sich ja beruhigt zu haben.“ Elisabeth
lächelte dazu; sie sagte: „Er wird schon Vernunft annehmen.“ Renée hörte
es. Renée dachte: Er hat die Frau doch lieb – – und gewiß hatte
Hannsbabo es niemandem gesagt als ihr. –

Als Renée älter war, fiel ihr manchmal dies oder das ein, ein Wort oder
ganze Sätze und Geschehnisse. Auf einmal verstand sie das. Es war so,
als ob es in der Schublade gelegen hätte, wo nichts herankam, und wenn
Renée die Schublade aufzog, dann verstand sie. Die Erwachsenen hatten
das Kind gar nicht beachtet, und das Kind wurde groß und beachtete die
Erwachsenen und begriff. Renée dachte: Elisabeth tut, was sie will. Sie
ist gar nicht so brav, nur sie tut alles hinter Papas Rücken. Als Papa
das nicht wissen sollte, daß der Kutscher zu der Köchin eingestiegen war
in der Nacht, da hat sie ihm die Kratzen an der Mauer direkt gezeigt –
schlau ist sie, dachte Renée – sie hat dann gesagt, Karo wäre immer da
hochgesprungen. Aber Karo hatte das noch nicht einmal getan.

Wenn etwas geschehen war, das Papa ärgerte, dann erzählte Elisabeth es
so, daß es sich ganz wohlgefällig ausnahm; und dann war so was doch eine
Lüge. Eigentlich sicher – dachte Renée. Denn was war lügen? Wie kam es?
Man tat es meist aus Angst. Aber dann dachten die Leute auch, man täte
es, wenn man es gar nicht tat. Immer wenn sie Renée irgend etwas
aufhalsten, was sie nicht schuld hatte, dann glaubten sie, daß Renée
löge. Und wenn man sich verteidigte, dann schrieen sie: ‚Sie macht das
Verbrechergesicht‘. Und es war doch bloß, weil sie Renée ungerecht
beschuldigten. Und dann wurde doch jeder Mensch böse. Manchmal stellte
sich Renée vor den Spiegel – sie wollte sehen, wie das aussah, was sie
Verbrechergesicht nannten. Sie tat es lange und oft. Aber nur heimlich,
wenn niemand dabei war. Denn sonst war es eitel.

Wie sah sie aus: ihre Augen waren groß und rund, von graugrüner Farbe,
hatten lange Wimpern und breite dunkle Brauen. Ihre Nase war ein wenig
klein: ‚die kleine, dumme Nase‘, sagte Hannsbabo manchmal. In die Stirn
fiel ihr eine Strähne Haar. Das gefiel Renée. Wenn nur ihr Haar ein
bißchen lockig wäre wie das von Fly, wenn es nicht so ganz hart und grob
wäre. –

Im Winter kam Renée in die Schule.

Man brauchte sich doch gar nicht weiter zu fürchten vor der Schule. Die
andern wußten auch nicht viel mehr als Renée. Und die Lehrerin schimpfte
abwechselnd, so daß sie schließlich die Reihe herum kam. Sie sagte:
„Setz nicht immer ein so impertinentes Gesicht auf, Renée von Catte.“
„Das tu ich gar nicht“ Die Lehrerin schrie: „Du tust es wohl, du tust es
mit Absicht.“ Anscheinend ärgerte die Lehrerin sich recht. Natürlich
konnte man nun oft das Gesicht machen, damit sie sich ärgerte. –

Fly war da. Papa hatte sie eingeladen für den Winter. Fly war schon sehr
erwachsen, und Renée fand, sie trug so affige Kleider, daß sie gar nicht
mehr nett aussah. Und immerzu redete Fly von Männern. „Weißt du,“ sagte
Fly, „mein Marinefähnrich ist goldig. Du müßtest ihn sehen. Übrigens
sagt er, Hannsbabo hätte riesige Schulden, darum ginge er nach Amerika.“

Beinah kamen Renée die Tränen. Sie ärgerte sich. Wie dumm und empfindsam
sie war. „Dein Fähnrich ist ein ganz alberner, grüner Bengel,“ schrie
sie, „Hannsbabo war’s zu langweilig hier, und darum ist er fort nach
Amerika. Du bist eine Gans.“ Fly sagte: „Gott, Renée du bist immer
gleich so ausfallend.“ „Na ja, aber seitdem du für Männer schwärmst,
quatschst du so viel,“ antwortete Renée. Fly lächelte. Renée aber
beschloß, es wäre nun aus mit dieser Freundschaft. –

Die Schule war fein. In den Stunden mit der Altmann war es gräßlich
langweilig gewesen. Man hatte verschlafen nach dem Gekräh der Hähne
gehört – und stundenlang war da diese trockene, quietschende Stimme von
Fräulein von Altmann. Renée erinnerte sich so genau. In der Schule mußte
man aufpassen, und außerdem konnte man schwätzen oder Zettel schreiben
und sowas, wenn man nicht aufpassen wollte. Schlafen brauchte man
deshalb noch lange nicht. In den Pausen gingen zwei und zwei zusammen
herum, bis es klingelte. Aber erst stand Renée immer allein, denn sie
genierte sich so. Aber mit einer wäre Renée gern gegangen. – Sie war
blond und sah sehr stolz aus. Renée schwärmte für sie, so wenigstens
nannten es die andern. Edelgard hielt sich ein wenig fern von den
andern, aber sie war sehr geachtet und wurde immer zu Rate gezogen, wenn
es irgend etwas gab. Wenn Renée zur Schule ging morgens, dann wartete
sie immer an der Brücke: dort mußte Edel vorüber. Renée sah den Weg
herunter, und wenn sie Edel kommen sah – wie leicht sie Edel erkannte –
dann kam eine Unruhe über sie, und auch ihr Herz begann zu klopfen.
Grade wie ‚schlechtes Gewissen‘ fühlte das sich an. – Und wenn sie Edel
auf der Straße begegnete, dann war es auch so und eigentlich noch mehr,
und Renée wurde dunkelrot und neigte den Kopf ganz tief beim
Vorübergehen. –

Was war das nun? Ob es dasselbe war wie mit Flys Marinefähnrich? Renée
würde Fly einmal ausfragen. – Fly sagte: „Weißt du, ich nehm dich
einfach mit, wo wir uns treffen.“ „Wo ihr euch trefft?“ Fly lachte
überlegen. – „Allerdings. Aber dein Ehrenwort, daß du nicht petzt.“
„Nein, das tu ich bestimmt nicht.“ Fly sah sich vorsichtig um. – „Also
morgen hab ich Kunstgeschichte im Museum. Da kommt er um zwei hin. Es
fängt nämlich erst um drei an. Da merkt es doch kein Mensch. Man sieht
nie jemand Bekannten im Museum.“

Sie fuhren zum Museum. Sie sollten zwar eigentlich gehen, weil es
gesunder war, aber so sparte man Zeit. Renée ging hinter Fly her in das
große Tor hinein. Ob nun Fly dies hatte, was vom Schwärmen kam – die
Unruhe und das Klopfen? Fly ging seelenruhig auf den Marinefähnrich los,
und der küßte Fly die Hand und überreichte ihr ein Veilchensträußchen.
Und dabei wurde er dunkelrot. Fly wurde auch schließlich rot. Aber lange
nicht so sehr. – Es war doch noch anders als mit Edel, fand Renée.

Renée machte ein Gedicht. Es war in der französischen Stunde. Dort ging
es am besten, denn Monsieur kümmerte sich nicht darum, was man tat. Das
Gedicht fing an: ‚Die Sonne küßt dein goldenes Haar‘. Wenn man doch Edel
einmal küssen könnte. O, wie schön das wäre. Am besten, ohne daß sie es
merkte. Aber das ging nicht. Oder ob Renée Edel bitten konnte? Nein, nie
konnte sie so etwas tun. –

An den Abenden saß Renée am Fenster, sah den roten Schein vom
Sonnenuntergang und dachte sich Geschichten aus. Meist kam Edel darin
vor. Und es war irgend ein Unglück. Dann kam Renée und rettete Edel und
mußte daran sterben. Sie konnte den ganzen Tag ihre Gedanken damit
ausfüllen.

Zu Haus war man Edel nicht sonderlich wohlgesinnt. Elisabeth sagte:
„Dies ewige überspannte Gequatsch von der Edel.“ Papa schalt über das
viele Auslaufen. Aber Renée ließ sich gar nicht davon abbringen.
Bewahre! Wenn es ihr doch Freude machte! Sie stand früher auf morgens,
und holte Edel ab zur Schule, und sie brachte Edel heim, und sprang
schnell auf eine fahrende Elektrische, um zeitig zurückzukommen. Und es
war ein sonderbar unruhiges Gefühl dabei. Weil es ein bißchen gefährlich
war, auf fahrende Bahnen zu springen. Aber zu Haus merkte es niemand,
und Gefahr war sehr gut, wenn man jemanden lieb hatte.

Einmal stand Renée in der Garderobe und zog ihren Mantel an. Sie hörte
hinter sich Edel sprechen. Renée stand ganz still. Edel also lud eine
von den andern ein zum Sonntag um vier Uhr. Renée wartete. Dann trat
Edel neben sie. „Willst du Sonntag um vier zu mir kommen?“ frug Edel.
Renée nickte. Sie konnte nichts sagen. Sie konnte nicht – aber Edel
schien auch nichts weiter zu erwarten. – Und nun ging es so langweilig
langsam bis Sonntag.

Bei Edel gab es sehr viel Kuchen und nachher Sekt. Es war furchtbar
fein, fand Renée, denn Elisabeth gab immer bloß so was, was Kinderbowle
hieß und gräßlich schmeckte. Nachher tanzten sie. Natürlich hätte Renée
Edel gern aufgefordert. Aber sie konnte nur als Dame tanzen. Zu dumm.
Aber auch das konnte sie eigentlich recht schlecht. Und sie genierte
sich. So kam es, daß sie immer bloß herumstand. Dann kam Edel. Sie
sagte: „Wollen wir tanzen?“ „Aber ich kann gar nicht.“ Edel sagte: „Ach,
das wird schon gehen.“ Dann tanzten sie. Sie hörten ziemlich bald wieder
auf. –

Zu Hause sagte Renée: „Papa, ich möchte Tanzstunden haben.“ Papa
murmelte irgend etwas, ob denn etwa der Blödsinn jetzt bereits losgehen
solle. Elisabeth sagte: „Ach, Papachen, es wäre eigentlich sehr gut.
Renée ist zu tollpatschig.“ Also erlaubte Papa. Seinetwegen könnten sie
aufstellen, was sie wollten, – ihm sei die ganze Affäre zuwider. –

Renée sehnte sich – vielleicht nach Hannsbabo –

Der hatte immer mit ihr gesprochen wie mit einem erwachsenen Menschen.
Er hatte nie gesagt: ‚Das verstehst du nicht!‘ Er hatte auch nie
Französisch gesprochen, damit Renée es nicht verstände. Und Renée sehnte
sich nach ihm. Sie dachte: wie taktlos sind immer die Erwachsenen gegen
die Kinder. So unbedacht. Und solange man Kind war, fühlte man immer,
daß man den Erwachsenen im Wege war bei ihren Dingen. Darum war man so
einsam. Wenn sie doch einmal gut mit einem gesprochen hätten.

Wenn Mama noch lebte, dachte Renée, sie hätte sicher gut mit mir
gesprochen. Sie hätte gesagt: ‚Komm zu mir, meine kleine Renée‘, wenn
Renée traurig war. Ja, so etwas hätte Mama dann wohl gesagt. –

Wenn man ein Kind war, verteidigte einen niemand. Der Geographielehrer
hatte gesagt, daß Renée gelogen hätte, und als sie es zu Hause erzählte,
kümmerte sich niemand darum. Und sie hatte doch gesagt, sie würde es
schon ihrem Papa sagen. Und Papa hatte sich gar nicht darum gekümmert.
Die Tanzlehrerin hatte Renée einen ‚unabgeführten Jagdhund‘ genannt. Das
war lange nicht so schlimm. Aber eigentlich mochte Renée nun nicht mehr.
–

Edel sollte in Pension kommen. Edel erzählte es Renée. „Es wäre doch
fein, wenn du auch dahin kämest,“ sagte Edel. „Kannst du es nicht so
drehen?“ „Ich werd schon. Ich möchte wahnsinnig gern.“ Edel sagte: „Soll
ich mal meine Mutter zu euch schicken, daß sie’s der Elisabeth
einredet?“ „Ach ja, Edel!“ „Na, bin ich gut, Renée?“ frug Edel, und sie
sah Renée an, so ein bißchen schief von der Seite. „Ach, Edel, süß bist
du.“ Renée murmelte noch was hinterher. Das sollte Edel nicht hören. Es
war: „Ich hab dich gräßlich lieb.“

Renée quälte ihre Schwester den ganzen Tag. Sie wollte in Pension.
Elisabeth sollte es Papa sagen. Renée würde furchtbar vernünftig werden
in der Pension. Sie versprach die unausführbarsten Dinge. Sie arbeitete
daran. Sie setzte alles ein. Wenn Papa sagte: „Renée ist noch so
kindisch“, oder wenn Elisabeth Renées Unordnung tadelte, immer fuhr
Renée heraus: „Ja, wenn ich in Pension wäre.“ Allmählich wurde es eine
feste Redensart: In der Pension wird Renée ...

So wurde es. Und dann endlich war es so weit.

Eine alte, unangenehme Dame empfing Renée. Sie drückte Renée furchtbar
die Hand und sagte: „Ich freue mich so, mein liebes Kind, daß dein
verehrter Vater dich uns anvertraut hat.“ – Renée antwortete: „O ja.“
Die alte Dame hatte etwas Lähmendes. Wenn man eben aufgeregt über irgend
etwas sprach, dann verstummten alle, sobald sie sichtbar wurde, man
legte Messer und Gabel hin, wenn man merkte, daß sie einen ansah. Was
war es? Renée frug Edel, und Edel meinte, solche Empfindungen hätte sie
allerdings nicht, aber es sei eine widerwärtige, alte Katze. Und die
englischen Mädel, die da waren sagten: ‚^Oh yes, that’s it!^‘ Aber
vielleicht sagten sie es nur aus Höflichkeit. –

Renée und Edel waren in einem Zimmer und zwischen ihnen stand das Bett
einer Engländerin. Es war die einzige, die Deutsch konnte. Die anderen
lernten es niemals. Renée mochte sie alle gern. Aber manche waren
richtig schön. Manche waren so schön, daß man sie ganz lange ansah: Aber
keine hatte so dichtes, goldenes Haar wie Edel. Nein, natürlich nicht.

Gar noch nicht lange war Renée da. Da bemerkte sie etwas sehr
Ungewohntes. Es war dies: die anderen hatten sie gern – sehr gern. Und
Renée erfuhr es so: Als sie eine Woche da war, hatte die Lehrerin sie
gescholten. Renée machte ein böses Gesicht natürlich. Alle sahen es. Die
Lehrerin sagte: „Ich verbitte mir das Gesichterschneiden, wenn ich dir
eine Rüge erteile.“ Renée sah sie noch böser an und sagte: „Ich schneide
nicht Gesichter.“ Auf einmal hörte sie die anderen murmeln und
zustimmen. Die Lehrerin ignorierte das. – Renée war begeistert. Sie
hatten ihr geholfen. Sie standen zu ihr. –

Am Abend, als sie die Schulstube aufräumten, hielt Renée eine richtige
Ansprache und dankte für den Beistand. Sie sagte: „Es ist anständig,
wenn wir einander immer helfen und beistehen.“ Und die andern schrieen
Beifall.

Nach einer Woche wurde Renée zur Vorsteherin gerufen. Die Vorsteherin
redete. Sie redete eine ganze Weile, ohne daß Renée richtig aufmerkte.
Dann frug sie, ob Renée Süßes gegessen hätte, als sie schon zu Bett
gegangen waren. Sie hatten natürlich. Wem die Süßigkeiten gehört hätten?
Die Süßigkeiten hatten Edel und der Engländerin gehört. Renée hatte
überhaupt nur ein Praliné gegessen. Die andern hatte sie aufbewahrt.
Edel hatte drei Stück Kuchen gegessen und Alice sieben. „Es gehörte mir
und Alice,“ antwortete Renée. „Ihr solltet euch schämen, solch eine
Ungezogenheit,“ keifte die Vorsteherin, und schließlich schnappte ihre
Stimme über. Renée durfte wieder gehen. Am Abend kamen alle zu ihr und
bedauerten sie und küßten Renée zur Nacht. Es waren recht viele. Edel
küßte Renée nicht. Und Renée hätte doch viel besser schlafen können. –

Wieder war Renée heruntergerufen worden. Die Vorsteherin saß in einem
winzigen rosa Sessel und redete und knüllte ein Papier in den Händen.
Sie sagte, Renée verdürbe den Ton unter den Zöglingen und die Disziplin,
und sie sagte, daß Renée die Herrschaft an sich risse. Renée hörte zu.
Sie hörte alles, was sie getan haben sollte, ohne sich darum zu kümmern.
Es war ihr auch nachher, als hätte sie es gar nicht gehört. – Sie dachte
an Edel.

Die Vorsteherin hatte gesagt, nun müsse Edel sorgen, daß Renée und Alice
nicht mehr diese häßlichen Heimlichkeiten trieben. Das hatte sie gesagt.
Und Edel hatte geschwiegen. Und daran dachte Renée.

Am Abend entstand ein großer Aufruhr. Die allerbesten und allerbravsten,
die genau so sanft waren, wie es die Vorsteherin von ihnen erwartete,
wurden ganz wild und böse. Und eine sagte: sie wollten heruntergehen und
für Renée eintreten und Renée reinwaschen. Renée sagte: „Geht lieber
nicht, jetzt ist sie zu giftig.“ – Und Edel hatte nicht gehen wollen, um
für Renée zu sprechen. –

Es kam ein Brief mit einer amerikanischen Marke, Hannsbabo schrieb:
‚Liebe, kleine Schwester! Hannsbabo hat sich verlobt mit einer sehr
schönen und eleganten Amerikanerin, die bald mit ihm zu Euch
hinüberkommt. Sie heißt Sarah Mc Lean und grüßt Renée, von der ich ihr
viel erzählt habe. Schönen Gruß, lieber Bub Renée.‘ – Wie gute Briefe
konnte Hannsbabo schreiben. Gerad so, als ob er da wäre. Gerad so – und
Renée schrieb ihm einen langen und umständlichen Glückwunschbrief und
Grüße für Sarah. – In Wahrheit war sie traurig; denn nun würde Hannsbabo
sich gewiß nicht mehr um sie kümmern, wo er eine Frau bekam. Und er
hatte die andere Frau auf der Photographie doch nicht so lieb, wie Renée
geglaubt hatte. –




Ostern kam Renée aus der Pension.

Die Trennung war gar nicht so schlimm, wie Renée dachte. Denn nun freute
man sich doch, daß man erwachsen war und tun konnte, was man wollte, und
daß es ein Ende hatte mit dem Herumkommandiertwerden. Nur von Edel
fortgehn, war ein wenig schwer. Es war ein besonderes Leid dabei und
eine Bitterkeit. –

Zu Haus war ein Zimmer für sie allein gerichtet worden. Der Garten war
noch sehr öde, und Renée fühlte sich allein, weil es niemanden gab, dem
sie hätte erzählen können. Sie fühlte dies ‚Erwachsensein‘, auf das man
sich so freute, als etwas Fremdes und Lästiges. Und fremd waren ihr die
umgeräumten Zimmer, in denen sie auf einmal wohnen sollte. Und dies: sie
sah diejenigen, die ihr früher Autorität gewesen waren, anders an. Sie
hatte etwas Revolutionäres mitgebracht. Elisabeth war enttäuscht, in der
heimkehrenden kleinen Schwester einen Menschen mit eignem Wollen und
eignen Gedanken zu entdecken; der konnte wohl möglich mehr vom Leben
verlangen, als es Elisabeth recht war. Und darum machte Renées Auftreten
ihre Schwester mißtrauisch. Papa war, wie er immer gewesen. Er kümmerte
sich nicht um die Entwicklungsphasen seiner Töchter. Ihre Anpassung an
seinen Willen, der sich in ‚ich wünsche, daß ...‘ ausdrückte, schien ihm
selbstverständlich.

Einmal hatte Renée doch ein Gespräch mit Papa. Ein richtiges Gespräch,
wo beide Teile Ansichten äußerten. Nicht bloß Papa. –

Renée wollte nicht zum Abendmahl am Karfreitag. Sie hatte es lange
bedacht. Und dachte, ich kann es nicht. Papa suchte sie umzustimmen. Er
wanderte im Zimmer hin und her, die Hände auf dem Rücken, und zuweilen
blieb er am Fenster stehen mit dem Rücken gegen das Zimmer. Renée saß
auf einer Sessellehne. „Es frägt ja niemand, was du dir denkst,“ sagte
Papa. „Es gibt eben gewisse Verpflichtungen, denen man nachzukommen hat,
und ein junges Mädchen aus unseren Kreisen muß soviel Takt besitzen“ –
Wieviel Takt Renée besitzen sollte, erfuhr sie leider nicht. Weiter
sagte Papa, Renée müsse die kirchlichen Gebräuche mitmachen wegen der
Leute im Dorf, die das eben erwarteten. „Wenn man die Vorzüge und
Annehmlichkeiten einer Lebensstellung genießen will, so muß man auch die
damit verbundenen Pflichten auf sich nehmen,“ fuhr Papa fort, „und ich
hoffe, daß du fernerhin dein Leben mehr von diesem Standpunkte aus
betrachten wirst.“ Renée sagte: „Ich will ja gar nicht die Vorzüge und
Annehmlichkeiten deiner Lebensstellung genießen, Papa, ich werde mir –“
„Unsinn,“ donnerte Papa. „Das ist unreifes Zeug. Du bist eben
hineingeboren in diese Lebensstellung und damit basta.“ – Renée
versuchte es nochmals. Sie holte ganz tief Atem. Sie sagte: „Aber ich
bin doch alt genug, Papa, und wenn es gegen mein Gewissen geht, wenn es
mir doch eine Komödie ist und ich mich geniere –“ „Ich weiß nicht,
Renée, du hast seit einiger Zeit eine so überspannte, aufgebauschte Art
zu urteilen und zu reden. Ich wünschte, du kehrtest etwas zu deiner
früheren, einfachen Ausdrucksweise zurück. Im übrigen wünsche ich –“
Papa betonte – „daß du an der Sache teilnimmst!“ – Renée ging hinaus.
Während sie die Treppe hinaufstieg, ärgerte sie sich über sich selbst.
Sie hatte wieder nicht den Mut, etwas gegen Papas Willen zu tun. Da war
diese dumme Kinderfurcht. Und Renée war doch siebzehn Jahr.

Was wurde aus dem Leben? Zog es sich so ohne Sinn in die Länge, eine
nutzlose Reihe von Tagen, an denen man aufstand und schlafen ging? Wo
immer alles ganz anders geschah, als man wußte und fühlte, daß es
geschehen müsse. Und wo man feige dabeistand und mittat! –

Die Tage im Herbst waren so lang. Manchmal noch fuhr Papa mit Renée in
den Wald. Aber sie fand, daß wenig Spaß dabei war. Papa sprach kaum
jemals ein Wort. Höchstens über den Pächter oder über Wachstum und
Wildstand. Man hätte doch viel bessere Dinge mit Papa reden können, wenn
er nur gewollt hätte. –

Elisabeth begann sich mit Renée zu beschäftigen. Es fing an mit
Auseinandersetzungen, wie man sich gegen die ‚Herren‘ zu benehmen hätte.
Daß man einem jungen Herrn nicht gleich beim ersten Vorstellen die Hand
entgegenstrecken dürfe. Daß man es vermeiden solle, irgendwo an Wänden,
Ecken oder Pfeilern allein zu stehen. „Denn,“ sagte Elisabeth, „das
fällt auf, und man muß das Auffallende vermeiden in jeder Hinsicht.“

Renée hätte ganz gern gehabt, wenn Elisabeth mitgegangen wäre auf die
Bälle und vor allem zu Hof. Da traute sie sich nicht recht allein.
Elisabeth wollte nicht. „Weißt du, es ist so dumm und geschmacklos, wenn
man mit den viel jüngeren Leuten umherspringt unter all den grünen
Gänsen und mit einstimmt in die Kalberei. Außerdem langweilt es mich. An
den Festlichkeiten im Hause werde ich natürlich teilnehmen. Im übrigen“
– dies sagte Elisabeth mit einem etwas hämischen Lächeln, – „im übrigen
wird ja Hannsbabo mit seiner jungen Gattin im Winter wieder beim
Regiment sein, und du wirst dann an Sarah eine Stütze haben. Hoffentlich
geben sie dir einen recht schönen Ball, da sie ja Geld genug besitzen –“
„Hat Sarah soviel Geld?“ Elisabeth lächelte wiederum. „Und ob,“
antwortete sie, „ihr Vater war irgend so ein Petroleumkönig. Weißt du,“
– Elisabeth lehnte sich erhaben in ihren Sessel zurück – „gerade sehr
feudal, wie man sagt, ist ja diese Partie nicht. Freilich die Kröten
kann Hannsbabo brauchen!“ Elisabeth war so recht im Fahrwasser. „Damals,
ehe er rüberging, hätte er sich beinah hier festgenagelt. Er hatte da so
eine Tingeltangeleuse beim Wickel, die er absolut heiraten wollte. Na,
Papa hat ihm heimgeleuchtet, Gott sei Dank –“ Elisabeth lachte. „Wie
komische Ausdrücke du hast,“ sagte Renée „Und außerdem war es eine
Sängerin.“ „Das sind dann immer Sängerinnen, kennimus,“ antwortete
Elisabeth überlegen.

Elisabeth häkelte für arme Kinder. „Dreimal – viermal,“ zählte sie vor
sich hin; dann: „Du, Renée, woher weißt du denn eigentlich davon?“ – „Oh
nur wenig von Hannsbabo selbst. Und dann hörte ich Papa schelten damals.
Du selber sagtest auch mal bei Tisch, es sei gut, daß Hannsbabo nun in
Washington wäre.“

Elisabeth sah auf: „Was so ein Kind nicht alles aufschnappt.“ Renée
mußte lachen. – „Ja, da hättet ihr euch eben mehr vorsehen müssen!“ –
„Eigentlich warst du immer furchtbar schweigsam, Renée.“ „Mag sein.“ –
„Und,“ fuhr Elisabeth fort mit einem kleinen, affektierten Lächeln,
„mich konntest du, glaub ich, überhaupt nicht leiden?“ Renée wunderte
sich. „Ach doch,“ sagte sie.

Manchmal fing Elisabeth nun mit ihr Gespräche an. Renée mochte es nicht
sehr gern, aber es war immerhin amüsanter als das schweigende
Herumsitzen. Zuweilen kam Elisabeth auf das Heiratsthema. „Weißt du,
Renée, man muß jung heiraten,“ sagte sie. „Sonst fügt die Frau sich
nicht mehr ein. Am besten gleich von der Pension in die Ehe hinein. Das
ist das beste.“ „Ich glaube doch, eine Frau könnte ein wenig älter und
reifer sein, ehe sie heiratet.“ Elisabeth lachte wegwerfend. „Reifer –
nein, das ist höchst überflüssig und kommt außerdem von selbst. Und zum
Beispiel du. Du bist doch eben aus der Pension. Kommst du dir zu unreif
vor zum Heiraten?“ Renée lachte: „Eine recht verfängliche Frage. Aber
ich will gar nicht heiraten.“ „Na weißt du, das sagen alle.“ Renée fand
solche Unterhaltungen langweilig. Sie wollte abschneiden. „Ich wüßte
wirklich nicht, warum ich es sagen sollte. Es ist eben meine Ansicht.“

Eine Weile schwieg Elisabeth. Renée vertiefte sich in die ‚Natürliche
Schöpfungsgeschichte.‘ – „Renée!“ – „Ja.“ – „Weißt du,“ sagte Elisabeth,
„eine Frau braucht die Liebe. Du kannst das noch nicht so beurteilen.
Und für eine anständige Frau ist eben ‚Liebe‘ gleichbedeutend mit
‚Ehe‘.“ – „Die bedauernswerte!“ sagte Renée. „Gott, Renée, was du immer
redest.“ Renée bekam auf einmal eine sonderbare Bekennerlust. Und sie
hörte selbst verwundert das nie noch ausgesprochene Bekenntnis. Sie
sagte: „Heiraten. Ich möchte wohl. Denn ich glaube, das Wundervollste
des Lebens ist dies Beisammensein zweier Menschen, die so viel Vertrauen
ineinander haben, daß es wird wie ein Glauben, der Berge versetzen kann.
Ich möchte – oh ja. Aber mit einer Frau möchte ich Freund sein –“ „Warum
denn nicht mit einem Manne? Eben darin besteht doch die Ehe,“ sagte
Elisabeth erregt. „Ach, tut sie das? Meinetwegen. Aber Männer sind
unfein. Sie sind grobgeboren, sie können’s nicht ändern –“ „So,“ sagte
Elisabeth höhnisch, „und der teure Hannsbabo?“ Renée zögerte, dann
antwortete sie: „Hannsbabo ist nicht unfein. Nur etwas gedankenlos ist
er.“ Elisabeth erhob sich zu ganzer Länge. „Herrgott,“ rief sie, „Renée,
du kramst ja da einen schönen Unsinn aus. Laß das bloß nicht die Herren
mal hören, sonst ist dein Ruf fertig und –“ „Du sollst mich in Ruh
lassen, Elisabeth, hörst du, ich will gewiß nie wieder mit einer so
plumpen Person von meinen Dingen reden.“ Elisabeth schimpfte. Renée lief
hinaus und warf hinter sich krachend die Türe zu. „Dies unanständige
Türenschmeißen!“ hörte sie Elisabeth hinterdrein rufen. –

Renée lief in den Garten. Ekel war in ihr. Wie konnte – oh wie konnte
sie ihre schönen und guten Hoffnungen dieser widerlichen Banalität
preisgeben. So wenig konnte sie schweigen. Mußte alles ausschwatzen,
damit ja einer es nehmen konnte und herunterreißen. Sie hatte einen
namenlosen Widerwillen. –

Elisabeth verhielt sich eine Woche lang feindlich. Teils unschuldig
beleidigt, teils unschuldig beleidigend. Elisabeth umsorgte Papa mit
besonderer Zärtlichkeit und frug in seiner Gegenwart mehrmals Renée, ob
sie beim Johannisbeer-Auskernen helfen würde. Renée haßte Einmachen. –

Auf der Veranda saß Elisabeth. Sie kernte Johannisbeeren aus mit einer
Haarnadel. Neben ihr rechts stand eine Kiepe voll Beeren, links ein
Topf, wo die ausgekernten hineinkamen. Renée setzte sich dazu und fing
an. Man brauchte fünf Minuten für eine Beere. Am Schluß war von der
Beere nur noch die Haut übrig. Sie warf es ärgerlich fort. „Ich begreife
nicht, wie ihr ein so albernes Kompott machen könnt.“ Elisabeth steckte
eine Beere in den Mund. „Wenn dein Vater wünscht, daß dieses Kompott bei
den Exzellenzendiners gegeben wird, so wird das wohl nicht albern sein,“
sagte sie. Renée hatte Streitlust. „Red’ doch nicht so einfältig. Das
ist doch Papa total einerlei. Und außerdem Exzellenzendiners“ – sie
wiederholte das mit umständlicher Aussprache – „Als ob der olle Gagern
und der olle Pressenthin nicht ebensogut Appelkompott essen könnten.“ –
„Die Leute erwarten eben, daß es in einem vornehmen Hause etwas
Anständiges zu essen gibt.“ Renée lachte. Sie sagte: „Na dann täuschen
sie sich halt.“ – Elisabeth beharrte in Schweigen. –

Im Laufe des Sommers gab es zwei Ereignisse: Der neue Landrat machte
Besuch, und es kam eine Einladung zum Essen nach Waldburg. –

Der neue Landrat fuhr eines Tages mit einem Schimmel-Tandem und einem
rot lackierten Wagen vor, der mit rotem Leder ausgeschlagen war. Er
bewies dadurch Eleganz und Wohlhabenheit. Renée wurde das Ereignis
gewahr, als sie Elisabeth dröhnend ins Schlafzimmer laufen hörte, wo sie
ihre Haare zu brennen begann. „Luise, meinen schwarzen Rock!“ tönte es
durchs Haus. Renée weigerte sich hinunterzugehen.

Der Besuch saß also mit Papa und Elisabeth auf der Veranda. Renée guckte
ein bißchen aus dem Fenster heraus und hörte jemanden mit einer
näselnden Stimme in abgerissenen Sätzen reden. „Jawohl, Herr General –
ganz recht. Die Geselligkeit in unserem Kreis ist etwas – hm – latent.“
– Renée zog schnell den Kopf zurück und lachte ins Zimmer hinein. War
das ein Scheusal! –

Nach einer halben Stunde kam Elisabeth befriedigt herauf. „Herr von
Horwitz ist ein angenehmer Mensch,“ sagte sie, „mit vornehmen,
gediegenen Ansichten.“ „Gott segne ihn.“ antwortete Renée. –

Den Herrn mit den gediegenen Ansichten traf man auf dem Diner in
Waldburg. Dieses Diner war Renées ‚erstes Auftreten‘. Aber man nahm sie
noch nicht ganz für voll. Sie hatte einen Tischnachbar von
ausgesprochener Jugendlichkeit. Er war Student. Er befand sich im
zweiten Semester. Er vertraute Renée an, daß er durchaus für das
Frauenstudium eingenommen sei und daß er nur jeder Dame dringend dazu
raten könne. Die männlichen Kommilitonen wären von zuvorkommendster
Höflichkeit, und es sei doch auch sehr interessant. Renée hörte die
Schwierigkeiten der Gymnasialbildung, und es sei eben ganz was anderes
als diese löcherige Mädchenschulbildung, und Renée versprach ebenfalls
Medizin zu studieren, wenn es dazu käme, und sich nicht durch hochmütige
Vorurteile von Verwandten davon abhalten zu lassen.

„Arzt sein, Menschenhelfer, das ist der einzige vornehme Beruf,“ sagte
der Student. Er sagte: „Mein Gewissen würde nicht ruhn, wenn ich einen
so unsozialen Beruf ergriffe, wie etwa den des Juristen oder des
Theologen.“ – Renée wandte ein, von seinem Standpunkt aus habe auch der
Theologe einen sozialen Beruf. Aber sie mußte hören, das sei – pardon,
ohne ihr zu nahe zu treten – Unsinn. Der Student redete noch, als man
von Tisch aufstand und redete weiter durch drei Zimmer hindurch. Renée
dachte: Wenigstens viel gegessen hab ich, und er hat fast gar nichts
gegessen. –

Der Student bot ihr eine Zigarette an. „Der verehrten Kommilitonin ^in
spe^,“ sagte er. Renée paffte lustig in die Luft.

Die alte Gräfin Arnim schlich vorbei am Arm ihres Schwiegersohnes und
wedelte sich mit dem Fächer den Rauch aus dem Gesicht. –

Auf der Rückfahrt sagte Papa: „Renée, du hast dich, wie ich höre, höchst
unmanierlich dort betragen. Ein junges Mädchen muß mehr Haltung
besitzen. Merke dir das!“ – „Das Rauchen wünscht Papa auch nicht,“ sagte
Elisabeth.




Hannsbabo war gekommen mit der Schwägerin. Sie war von sehr zierlicher
Gestalt, sie lächelte viel, während sie zum allgemeinen Entzücken ihr
Kauderwelsch redete, und sie nannte Renée: ‚Darling‘. Es war ihrem
Kommen schon allerhand vorangegangen:

Elisabeth sagte: „Sie hat vier Koffer, schreibt Hannsbabo, das wird wohl
die Ponykarre kaum schaffen.“ Und Elisabeth stand eine halbe Stunde
dabei, als die Mädchen die Zimmer herrichteten. Außerdem waren ein
Baumkuchen aus Salzwedel und mehrere Pakete aus Berlin angelangt. Ja,
die Schwägerin nannte Renée: ‚Darling‘. Sie zog dabei den einen
Mundwinkel schief und bekam ein Grübchen am Kinn. Hannsbabo war mit
einer müden Dienstfertigkeit um sie herum. Sie empfing jeden seiner
Dienste mit einem leisen, halb bedauernden ‚Oh‘ – meistens stand
Hannsbabo an der Verandatür und trommelte gegen die Scheiben.

Eigentlich waren alle Leute sonderbar, während die Schwägerin zu Besuch
war. Papa sprach mit einer gemäßigten Stimme, so als habe er immer ein
weinendes Kind zu beruhigen, und Elisabeth erzählte mit aufflammender
Begeisterung von den Reizen der Hoffeste. „Ich tue das, damit sie die
Vorteile ihrer Heirat sieht,“ erklärte sie Renée. Indessen hatte die
Schwägerin nur geantwortet: „Wir werden ja sehn; wir werden diesen
Winter den Hof besuchen.“ Überhaupt – nun, Elisabeth würde es nochmals
probieren.

Abends ging Renée mit Hannsbabo durch den Garten. Und als sie an das
große, runde Rosenbeet gekommen waren, da sagte Renée: „Hannsbabo,
liebst du Sarah?“ Hannsbabo wandte ihr einen kurzen Augenblick das
Gesicht zu – dann lächelte er – dann legte er den Arm um ihre Schulter.
„Du kleiner Bub Renée,“ sagte er. Renée schwieg. –

Als sie den Weg an der Weinmauer zurückgingen, war es dämmrig, so
dämmrig, daß man nur an ihrem Duft die Rosen spürte auf dem runden Beet.
– Nach dem Abendbrot erfuhr Renée, daß die Schwägerin Elisabeth
eingeladen habe nach Berlin, und sie würden im Bristol wohnen, und
Elisabeth strahlte. Die Schwägerin sprach den Abend hindurch und lachte
und nannte Papa einen schönen alten Herrn, während Hannsbabo in den
Zimmern umherging und die Bilder betrachtete, die er doch von Kind auf
kannte.

In der Nacht dachte Renée vielerlei, und es fiel ihr ein, daß Hannsbabo
ihr einmal die Photographie einer Frau in Pagenkleidern gezeigt hatte,
und von dieser Frau träumte sie. –

So war jener Besuch verlaufen. Renée hörte Papa bei Tisch sagen, daß
Sarah eine reizende kleine Frau sei, und Renée erinnerte sich nicht,
solcherlei oft von Papa gehört zu haben. Papa hatte das Lob der Nachbarn
geerntet. Papa hatte Genaueres erfahren über Sarahs Gelder und deren
Anlage. Papa war befriedigt.

Im Herbst gab es die Vorbereitungen für den Winter, das Anprobieren, die
Besuche, die Tanzstunden, und gegen den Dezember kamen Papa und Renée
nach Berlin. Eigentlich ging eine ganz neue Art von Leben an. Beständig
war in einer selbstverständlichen Art von Renée und ihren Bedürfnissen
die Rede, und Renée sah sich als Mittelpunkt einer Anzahl von
Geschäftigen; und während sie mit der undankbaren Gleichgültigkeit
dessen, der nun endlich zu seinem Recht kommt, alles geschehen ließ,
dachte sie an die schöne sonderbare Zukunft. –




Renée ging mit Papa die Schloßtreppe hinauf. Vor ihr und hinter ihr
stiegen Frauen mit glitzernden Kleidern von schwerem Stoff, und Männer,
die sich kaum regen konnten vor Goldbesatz und Troddeln. Die Treppe war
viermal so breit als gewöhnliche Treppen, und an jedem Absatz standen
zwei haushohe Grenadiere, regungslos wie in Castans Panoptikum. Nebenher
lief in ungeheuerlichen Windungen die steile Auffahrt, auf der des
Kaisers Vorfahren, Gott mag wissen wie, mit achten heraufgefahren sind.
Renée hielt sich eng an Papa, der die goldstrotzenden Männer begrüßte
und ab und an einer von den Frauen die Hand küßte. Er tat, als ob er sie
alle genau kennte, obgleich er gleich darauf Renée mit dem Ellbogen
puffte und fragte, wer es gewesen sei. –

Oben ging Papa hinter Renée her, und in einem großen Zimmer mit
schwatzenden, jungen Mädchen trat er auf einen freundlichen, alten Herrn
zu, dem der goldne Schlüssel auf dem linken Frackschoß klebte, und
sagte, hier bringe er seine Tochter. Der alte Herr sagte: „Oh, sehr
erfreut,“ und dann gab er Renée die Hand und teilte ihr mit, daß sie
zwischen der Komtesse Itzenplitz und Fräulein Frida von Roeder zu gehen
käme.

Als Papa fort war, sagte der alte Herr, Renée solle sich ja nicht
beunruhigen, es werde ja sicher alles tadellos gehen und er werde sich
nachher erlauben, den Damen noch einige Winke zu geben – dann rief ihn
‚die Pflicht des Dienstes‘. So stand Renée allein in den
Elisabethkammern, hielt die große Schleppe noch genau so, wie sie ihr zu
Haus über den Arm gelegt worden war und betrachtete ihren Schleier und
den ganzen sonderbaren Aufputz im Spiegel gegenüber.

Man wartete ein bis zwei Stunden, währenddes gab der Kammerherr ihnen
die Winke: nicht zu tief, weil sie sonst nicht wieder hoch kamen, und
vor allem recht ruhig und mit einer gewissen Feierlichkeit. Von diesem
Moment an sah man die Neu-Vorzustellenden würdevoll aufeinander
zuschreiten und auf den Erdboden versinken. Sie erhoben sich mühsam.

Ab und zu guckten ein paar Damen und Herren durch die Tür und
betrachteten die ‚Neuen‘. – –

Renée erwachte aus einem Halbschlaf, als das Schleppenende vor ihr sich
in Bewegung setzte. Sie ging hinterher durch die Reihen der Pagen und
Lakaien und behielt den rundlichen Rücken der Komtesse Itzenplitz fest
im Auge. Dann riß man ihr die Schleppe vom Arm, die sorglich
ausgebreitet wurde und von nun an wie ein wundervoller weißer Schweif
hinter ihr drein kam.

Im Rittersaal hob ein Kammerherr beschwichtigend und Einhalt gebietend
die Hand, und Renée wartete ab, bis die rundliche Komtesse vor den
Majestäten versunken und wieder erstanden war, worauf auch sie in
würdevoller Haltung sich zum Thron begab. „Fräulein Renée von Catte,“
sagte die Oberhofmeisterin vernehmlich, und während Renée den viel
probierten Knix ausführte, sah sie der Kaiserin, die freundlich
lächelte, gerade ins Gesicht. Der Kaiser hatte mehr ein vorwurfsvoll
freundliches Aussehen. So wie: ‚Warte du, draußen lacht ihr doch!‘

Draußen lachte Renée wirklich. Sie lachte durch die sieben oder acht
Gemächer und rannte mit der wohlverpackten Schleppe, so schnell sie
konnte. Draußen gab es Sekt und Büfett. Aber leider wollte Papa so
schnell weg mit Renée. Sie konnte nur von weitem ihre schöne Schwägerin
ansehen, die eine große Krone von Diamanten auf dem Kopfe trug. – Als
Papa seine Mütze aufsetzte, sagte er: „Gott sei Dank, das wäre
erledigt.“ –

Bei Sarah sollte die erste Tanzstunde sein. Sarah wollte es Papa
abnehmen. Diese Tanzstunden gingen die Reihe herum, und es war genau
verabredet, was es zu essen geben würde. Damit man sich nicht aus
Versehen übertrumpfte.

Wenn die Tanzstunde bei Major von Cramer war, dann gab es stets acht
Damen mehr als Herren. Ja. Dort gab es so wenig zu essen. Hingegen bei
Sarah waren die Herren komplett und brachten noch Freunde mit. Denn
Sarah machte einen großen Ball daraus. Bei Sarah ging es erst los, wenn
es eigentlich aus war. –

Renée bewunderte Sarah. Renée dachte: Sie ist ganz anders als die
meisten Frauen, viel kleiner und so fein und so zart. Manchmal war es,
daß Renée ganz böse wurde gegen ihren Bruder, weil er sich so wenig
kümmerte um Sarah. Manchmal war sie ihm böse. – Also sehr prächtig war
die erste Tanzstunde. Es kam dieselbe Lehrerin, die Renée einmal
Jagdhund genannt hatte; sie war diesmal milde gegen Renée, und sie war
böse und kampfbereit gegen die Herren, und manchmal stieg sie auf einen
Stuhl, um sich verständlich zu machen.

Renée tanzte mit einem von Hannsbabos Regiment. Er hieß Schoenburg. Er
war mittelgroß und blond und hatte sanfte, stahlgraue Augen. Er gefiel
Renée. Renée sagte, die Tanzlehrerin sei so grob. Aber er lachte und
meinte, sie sei nicht so schlimm. Er sagte: „Sie ist so grundbrav. Man
wird ihr gut darum. Man muß sie gern haben, wenn man ihr zusieht.“ Dann
lächelte er. „Wir sind Freunde, Frau König und ich.“ – Einmal als Frau
König gar nicht durchdringen konnte, drehte Schoenburg das Licht aus.
Dann erschraken alle. Dann waren sie ruhig. Frau König sagte: „Ja Herr
von Schoenburg, wenn ich Sie nicht hätte.“ – Das war hübsch. Das gefiel
Renée. Der wurde einer von ihren ‚guten Freunden‘. Dann gab es noch
zwei. Da war der kleine Wachenhusen. Er war von den Kasseler Husaren
nach Berlin kommandiert und sein hellblauer Attila sah genau aus wie
seine hellblauen Augen. Er war klein und fix und lustig, und am Ende
jedes Balles sagte er zu Renée: „Wir bleiben doch gute Freunde!“

Einmal hatte Renée eine ganze Weile gestanden und hatte eine sehr schöne
und sehr prächtige Frau angesehen, um die drei oder vier Herren herum
waren. Die also sah Renée an, und da auf einmal kam der kleine
Wachenhusen zu ihr. Er sagte: „Warum sehen Sie die Gräfin Lynar so viel
an, gnädiges Fräulein?“ Renée wurde ein ganz wenig verlegen, dann sagte
sie sehr bestürzt: „Glauben Sie, sie hat es gemerkt?“ Der Wachenhusen
lachte: „Nein, aber ich habe es gemerkt!“ – „Sie gefällt mir so gut,“
sagte Renée. „Mir auch.“ – „Sie hat eine so sonderbar spielende Art zu
sprechen,“ sagte Renée. „Ja, das hat sie.“ – Sie waren beide sehr einig
über die Gräfin Lynar. – Manchmal stritten sie auch. Einer sagte: „Sie
war viel schöner neulich bei Wedels, als sie das goldene Kleid hatte“
und der andere: „Nein, sie ist schöner in ganz matten Farben.“ –

Renée fand es sehr lustig mit dem kleinen Wachenhusen.

Der dritte gute Freund war Rodeck. Zuerst mochte Renée ihn nicht. Er hat
eine zimperliche Art von Frauen zu reden, dachte Renée. Es ist immer,
als wären sie von Glas. Und immer sollen sie ihren Fuß an keinen Stein
stoßen. Wenn nun der Rodeck einmal verheiratet war, gewiß lief er dann
immer mit Halstüchern hinter der Frau her. Hinter der unglücklichen Frau
von Rodeck. – Also erst mochte Renée ihn nicht. Dann geschah einmal
etwas: Rodeck hielt eine Ansprache. Rodeck sagte: „Mein gnädiges
Fräulein, ich weiß nicht, wie ich es eigentlich wage, mich mit einer
großen Bitte an gnädiges Fräulein zu wenden. Mit einer Bitte, die mir
viel bedeutet. Seien Sie nicht böse, wenn ich Ihre Hilfe in Anspruch
nehme, denken Sie nicht, ich sei unbescheiden – bitte, bitte!“ – Als die
Ansprache so weit gediehen war, machte Rodeck eine Pause. Aber er sah
Renée so gut und warm an, und seine putzigen, runden Augen hatten so
etwas Geängstigtes, – Renée sagte: „Ja, ich will so gerne alles tun.“
Dann zog Rodeck mit beiden Händen seinen Waffenrock glatt und drehte
seinen Hals ein paar Mal in dem hohen, mit Eichenlaub gestickten Kragen
herum, dann sprach er weiter: „Es ist – ich habe die Ehre, wie gnädiges
Fräulein wissen, am fünften bei Ihrer Frau Schwägerin und Ihrem Herrn
Bruder zum Diner erscheinen zu dürfen, ja – und ich wollte sagen, ich
meine, ich wollte fragen, ob die Tischordnung –“ Weiter kam die
Ansprache nicht. Es kam kein Ton mehr. Und Rodecks Augen waren nahezu am
Herausfallen vor Geängstetsein –

Renée wurde auf einmal von einem Redetaumel ergriffen. Sie wüßte ja und
sie verstünde ihn vollkommen und selbstverständlich wolle sie allen
ihren Einfluß aufbieten – und während sie sprach, wurden die Augen ihr
gegenüber wieder kleiner und selbstsicherer, und als sie schwieg, sahen
die Augen sie lustig und verschmitzt an. „Ich möchte so gerne Fräulein
von Treskow zu Tisch führen.“ – „Ich werde es zuverlässig besorgen,“
sagte Renée.

Als sie nach Haus fuhr, küßte Rodeck ihr die Hand. –

So lernte Renée den Herrn von Rodeck kennen.

Am andern Morgen ging sie zu Sarah. Sie fand Sarah noch zu Bett unter
lauter Spitzen und Schleifen. Ringsum lagen die Listen für das Diner.
Renée wußte nicht recht, wie sie es anbringen sollte. –

„Nun, Renée,“ sagte Sarah und streckte Renée ihre Hand mit den vielen
bunten Ringen hin, „nun, Renée!“

„Hast du schon die Listen gemacht,“ frug Renée, „darf ich mal sehen?“

Sarah lachte: „Gewiß wolltest du irgend etwas Besonderes dabei, und was
ist es denn?“ Dann gab Sarah ihr die Listen hinüber. „So, nun geh damit
an den Tisch, ^darling^, und was dir anders besser gefällt, das änderst
du –“

Renée sagte: „So gut bist du, Sarah.“ – Sie setzte sich an Hannsbabos
großen Schreibtisch und malte die Tafeln auf ein Papier, daran wurden
alle Namen geschrieben, so wie die Leute zu Tisch zu sitzen kamen. Und
neben Fräulein von Treskow stand Rodecks Name. Renée hatte das Gefühl
einer guten Tat. –

Sarah öffnete ein wenig die Tür, steckte den Kopf herein und sagte:
„Bist du noch da?“ Dann kam sie. Ein Gewirr von Seide war um sie herum
und ein starker Duft von Vervein. Sie setzte sich in den großen
Ledersessel neben dem Rauchtisch. „Nun, ^darling^, wen hast du zu
Tisch?“ – „Schoenburg.“ – „Oh ich weiß, das ist der mit den Stahlaugen
von Dohnas Schwadron. – Ist es schön, jung zu sein, Renée?“ „Das weißt
du doch ebensogut!“ – Sarah nahm aus dem kleinen goldnen Kasten eine
Zigarette und bot Renée an, dann lachte sie: „Meinst du, ich weiß es?
Nein. Ich war viel zu sozial, um jung zu sein.“

„Was tatest du denn?“ – „Ach so langweilige ‚Women-Klubs‘ und ‚Women
Kongregations‘ und dergleichen. Ich mag Amerika nicht. Ich mag lieber
Europa.“ Renée staunte. „Aber dort ist’s doch viel freier und
selbständiger für Frauen.“

Sarah sagte: „Ich liebe nicht die Selbständigkeit.“ Sie kroch ganz tief
in eine Ecke des großen Sessels. „Es ist langweilig, frei zu sein.“ –
„Ach,“ machte Renée.

„Ja, es ist langweilig. Es ist keinerlei Sensation oder Gefahr dabei.“ –
„Aber Sensationen sind etwas Abscheuliches,“ sagte Renée.

Sarah sprang auf aus dem tiefen Sessel mit einem einzigen, elastischen
Sprung. „Ich lebe nur in der Sensation,“ sagte sie. „Huh, machst du
große, entsetzte Augen, Renée! Ist das so schlimm?“

Renée mußte lachen. „Nein, nur neu – und ich denke, was wohl Elisabeth
sagen würde –“ „Plagt dich das,“ sagte Sarah. „Darum tät ich mich nicht
kümmern. Du bist doch viel klüger als Elisabeth.“ Renée frug: „Glaubst
du?“ – „Elisabeth ist eine Null auf zwei Beinen, eine altjüngferliche
und aufgeblasene Person. Du Renée –“ „Was bin denn ich, sag doch,“
bettelte Renée. Sarah lachte: „^A silly little girl.^“

Draußen war Säbelgerassel. Dann flog die Tür auf, voran ein Rosenstrauß,
dann Hannsbabo. „Wo bist du, ^Queen Mab^,“ rief er. Sarah ging ihm
entgegen. Er sah Renée gar nicht. Er breitete seine Arme aus – Sarah
bückte sich – da – huschte sie unter seinen Armen durch wie eine kleine,
schnelle Katze. – „Sag doch Renée guten Tag, du grober Bruder,“ rief
sie. Dann war sie aus der Tür. Er legte die Rosen beiseite und gab Renée
die Hand. „Ich freue mich, daß du Sarah besuchst, kleiner Bub.“

Renée fuhr es so heraus: „Was hat denn Sarah?“ Dann erschrak sie und
dachte: Wie taktlos frage ich. – Hannsbabo wandte ein wenig den Kopf zur
Seite, er seufzte ganz leise, wie ein angestrengtes Atmen klang es. Dann
sagte er: „Bleibst du nicht zu Tisch, Renée?“ – „Nein, ich danke dir,
aber Papa –“ „Könnten wir denn nicht telephonieren?“

„Ach nein, Hannsbabo.“ – „Wenn es mir nun gerade sehr viel wert wäre?“
„Also gehe ich telephonieren,“ sagte Renée. Hannsbabo nickte. – – Als
Renée wieder hereinkam, meldete der Diener das Essen. Im Eßzimmer kam
ihnen Sarah entgegen in einem weißen Kleid. Sie legte Hannsbabos Rosen
neben sich bei Tisch. Sarah sprach und erzählte, und auch Hannsbabo
sprach, und immer, während sie gleichgültige Dinge redeten, sah Renée,
wie ihres Bruders Augen schmerzlich an Sarah hingen. Und es quälte sie.
–




Der Ball, den Sarah und Hannsbabo gaben, sollte im Esplanade
stattfinden. Zahllose Cousinen vom Lande waren gerade zufällig in Berlin
und besuchten Sarah und wurden eingeladen. Zahllose Väter und Mütter
teilten Renée mit, daß sie und ihre Töchter von Sarahs Liebreiz entzückt
wären. Auch sie wurden eingeladen. – Man sprach von diesem Fest in der
aufgeregtesten Weise. Der Kronprinz würde kommen, ebenso Erbprinz
August. Prinzessin Sophie hatte ihr Erscheinen zugesagt – ja sogar der
Kaiser würde möglicherweise – –

Wenn man Sarah davon erzählte, amüsierte sie sich. „Sie sollen sich nur
immer freuen,“ sagte sie. „Bei mir werden sie nicht mit Schellfisch und
Truthahn abgefuttert.“ – Renée lachte: „Wieso Schellfisch und Truthahn?“
– „Ich habe hier fünfundzwanzig Bälle mitgemacht, und jedesmal gab es
Schellfisch und Truthahn. Hast du es noch nicht gemerkt, Renée?“ – –

Renée kam etwas vor der Zeit ins Esplanade. – Schon in der Garderobe, wo
Sarahs Jungfer, ganz in Weiß, waltete, wurde Renée von zahllosen
Schwarzgekleideten ehrfurchtsvoll empfangen. Die Jungfer, die von den
anderen Bedienten ‚Miß Adelaide‘ genannt wurde, hängte Renées Cape in
einen Schrank. „Die gnädige Frau haben es so befohlen für die Sachen der
gnädigen Frau und des gnädigen Fräuleins,“ sagte sie. –

Am Eingang zu den Empfangsräumen stand der Kammerdiener Joel Smith. Auch
dieser verbeugte sich würdevoll. – Endlich war Renée drinnen. Es ging
durch drei Räume, in deren zweitem Hannsbabo stand. An jeder Tür waren
zwei Diener in Goldlivreen mit weißen Perücken. – „Ich habe Gott sei
Dank keine weiße Perücke,“ sagte Hannsbabo. „Sarah will dir noch etwas
Wichtiges mitteilen. Sarah sieht so schön aus, daß ich am liebsten die
Leute ausladen möchte. Also geh zu Sarah. Ich möchte auch viel lieber.
Aber Sarah sagt, daß es sich gehört, daß der Herr des Hauses im zweiten
Zimmer steht und die Frau im vierten. Ich habe ferner den Auftrag, Damen
von Distinktion am Arme hineinzuschleifen, da sich das auch gehört. Vom
Herannahen prinzlicher Equipagen werde ich durch Telephon von einem im
Hotel Bristol postierten Unteroffizier benachrichtigt.“ –

„Herrgott,“ sagte Renée, „das ist ja wie eine Detektiv-Geschichte!“ –
„Bitte – bitte, es gehört sich so. Und nun geh in den Saal und sieh
selbst!“ –

Im Vorzimmer war mattes Licht, und der Lichtglanz des Saales blendete
Renée in die Augen. In der Tür in einem sonderbaren Helldunkel stand
Sarah. Sie stand in dem metallenen Glanz ihres Kleides, das ganz mit
Silber übergossen war in vielen kleinen Schuppen. –

Sie hatte eine lange Perlenkette und eine Schulterkette von Smaragden.
Sie trug eine Perle auf der Stirn, die hing an einem dünnen Faden von
Silber.

Renée stand und sah sie an. Ihre Schönheit war verwirrend – es war so
prächtig alles – Renée sah, wie in Sarahs Gesicht ein kühles, schönes
Lächeln kam. – Renée begrüßte ihre Schwägerin flüchtig und fing an, den
Saal zu betrachten. Dann sagte sie: „Hannsbabo steht gar nicht so gern
an der Tür, hat er gesagt.“

Sarah lachte: „O, er will immer alles mögliche.“ –

Gäste kamen. Renée fand sich bald in einer vielstimmigen Unterhaltung –
dann holte Schoenburg sie, weil die Prinzessin käme. Renée wurde
vorgestellt. Die Prinzessin war gar nicht so langweilig, wie Renée
erwartet hatte; sie sagte, daß Renées Schwägerin eine sehr schöne Frau
sei und daß Renées Bruder so glücklich aussähe. Sie scherzte mit ihrer
Hofdame und versicherte, sie könne jeden Abend mindestens zwanzig Namen
behalten und Fräulein von Zitzewitz eben nur neun. Der Kronprinz gefiel
Renée, aber Erbprinz August nicht. Wie sollte er! Er ging mit einem
blasierten Gesicht herum und stand immerzu neben seinem Adjutanten. –

Schoenburg sagte: „Nun kann ich gnädiges Fräulein nicht zu Tisch führen,
der Erbprinz soll es!“ Renée ärgerte sich. „Ich möchte viel lieber den
Kronprinzen,“ sagte sie. Schoenburg sah sie ingrimmig an. „So – ach,“
sagte er. „Ich meine doch natürlich lieber als den Erbprinzen –,“ aber
das versöhnte Schoenburg nicht. „Der Kronprinz wird Ihre Frau Schwägerin
führen. Wollen wir also den Blumenwalzer nehmen und den ersten Lancier.“
Er schrieb seinen Namen ein.

Beim Essen saß Schoenburg auf der anderen Seite neben ihr. „Ich hab die
Rosi Solms mit Harrach neben den Erbprinzen gesetzt,“ flüsterte er, „die
werden ihn schon unterhalten.“

Es sprach sich gut mit Schoenburg. Er wußte von allen Dingen und er
dachte gern nach. Manchmal wenn einer von beiden ein Buch gelesen hatte,
das ihm gefiel, las es der andere auch, und sie sprachen davon. Nur
liebte Schoenburg andere Bücher als Renée. Er liebte die ‚starke Frau
von Gernheim‘, und er sagte, man müsse diese Frau anbeten. Er sagte:
„Das ist wahre Größe.“ – „Aber ich mag es nicht, daß sie bei diesem Mann
bleibt,“ sagte Renée. „Das soll eine Frau nicht tun.“ – „Aber sie tut es
im Gedanken an eine Liebe, die größer war als sie selber. Sie tut es
immer noch, obwohl diese Liebe vergangen ist. Sie hängt daran, weil es
das Glück ihres Lebens ist.“ „Ja,“ sagte Renée, „wohl – dennoch! Sie
sollte das Gedenken an diese Liebe nicht mehr in Verbindung bringen mit
jenem Menschen, der sie gemein macht. Oh, ich glaube dieser Sache fehlt
eben ein kleiner Zug der Größe, dieser: Das Gelebte loslösen können von
der Realität, um es ganz zu eigen zu nehmen“ – „Sie sprechen das schön
aus,“ sagte Schoenburg, „es ist auch wahr, was Sie sagen. Aber, Fräulein
von Catte, ich kann nicht davon ab. Für mich liegt eine geradezu heilige
Schönheit in diesem starken, schweigenden Verzichten.“ –

„Und der Schmerz des Verzichtens?“ so frug Renée. – „Eben der,“ sagte
Schoenburg, „bleibt verschwiegen. Darin liegt die Größe.“

„Nur Stärke liegt darin, Herr von Schoenburg.“ – „Gehen gnädiges
Fräulein gern auf Bälle?“ ließ sich Erbprinz August vernehmen. – Renée
konnte vor Schreck nichts antworten und sah verdutzt in des Erbprinzen
fragendes Gesicht. „Dies ist mein dritter Ball ...“ flüsterte Schoenburg
von hinten – beinahe hätte Renée es wirklich wiederholt. – „Ja, ich
tanze sehr gern,“ sagte sie.

Dieser Ball war schöner als die anderen. Es war alles viel prächtiger.
Es gab viel mehr Licht. Es sah aus wie große Blumenbeete, die hin und
her vom Wind bewegt wurden zuletzt.

Dann sollten Hannsbabo und Sarah zusammen tanzen.

Sie riefen es von allen Seiten, und auf einmal kam der Kommandierende
auf Sarah zu, bot ihr den Arm und führte sie in die Mitte des Saales.
„Oberleutnant von Catte,“ rief er dröhnend – dann stand Hannsbabo vor
Sarah. Und er sah sie einen Augenblick an, und Sarah sah ihn an, dann
lächelte sie – – Sie tanzten – Sarah mit ihrem sonderbar blassen Gesicht
in dieser Wolke von Silber. Hannsbabo mit seiner schönen, stolzen
Gestalt. In der rechten Hand über ihrer Schulter hielt er einen großen
Busch roter Rosen und immer strichen die Rosen vorüber an Sarahs
Gesicht. –

Sie tanzten allein – rings im Kreise standen die Menschen und klatschten
in die Hände – und auf einmal faßten die Herren sich an und rasten im
Kreise mit wildem Hurrageschrei um die Tanzenden. – Renée drehte sich
alles vor den Augen – irgend ein wahnsinniges Bild von Tod kam ihr; von
einem atemlosen Tod, der – sie hörte einen sonderbaren Laut neben sich.
Schoenburg durchbrach die Kette der Tanzenden – es hörte auf – sie
bliesen das Halalila.

Renée sah ihren Bruder mit Schoenburg hinausgehen. Schoenburg stützte
ihn. – Renée sah sich um. Keiner schien es bemerkt zu haben, oder keiner
wollte es bemerken – Sie ging Hannsbabo nach. –

Er lag auf dem Sofa in einem der Nebenräume. Schoenburg ließ Renée
herein. „Bitte nicht Frau von Catte zu rufen,“ flüsterte er. Renée blieb
allein mit Hannsbabo. Sie streichelte seine Hände, die waren ganz kalt.
Sein Gesicht brannte in einem dunklen Rot. Er atmete überhastet. –
„Lieber Hannsbabo.“ Er begann zu sprechen: „Renée, sag es keinem
Menschen, versprich mir, auch ihr nicht“ – dann: „Sie hat es gewußt. Sie
hat es so genau gewußt.“ Renée verstand ihn nicht. Renée frug, was
meinte er denn, was war es? Aber er sagte nichts. Er schickte Renée fort
– aber sie wollte nicht gehn. – „Hannsbabo, hab ein bißchen Vertrauen,
sag es mir!“ – Er sah so sonderbar ins Leere – oh, sein Gesicht
anzusehen machte trauriger als traurig. – Er sagte: „Ich liebe sie so
sehr, daß es mir eine Qual ist, ihr nah zu sein –“ Weiter sagte
Hannsbabo nichts. Renée ging. Nach kurzer Zeit sah sie ihn wieder im
Saal.

Sarah nahm die Abschiedscour entgegen. Hinter ihr standen Graf Solms und
der kleine Schulenburg, bewaffnet mit Sarahs Blumensträußen. Hinter
Renée zählten zwei junge Mädchen ihre Buketts aus. „Ich habe doch
zwanzig,“ hörte Renée. „Lida Arnim hat bloß dreizehn!“ „Da sieh mal,
Frau von Catte.“ – „Na ja die!“ –

– Was sind es doch für Gänse! dachte Renée.




„Am Sonntag wird Herr von Horwitz mit uns essen,“ sagte Papa. „Ich
erwarte, daß du etwas liebenswürdiger sein wirst als sonst, Renée. Ich
schätze Herrn von Horwitz durchaus.“ – „Ich habe gar nichts gegen ihn.
Er ist nur so komisch, Papa.“ – „Es wäre Zeit, diese Kindereien
aufzugeben,“ sagte Papa gereizt. –

Am Sonntag kam Herr von Horwitz. Es gab Sekt, es gab Austern, auf dem
Tisch waren Blumen. Elisabeth war in einem hellila Kleid mit Spitzen.
Das hatte doch irgend etwas zu bedeuten. Renée merkte bald, was es zu
bedeuten hatte. Herr von Horwitz trat mit einem Maiglockenstrauß an und
küßte mit ernster Devotion Elisabeths Hand. Er nannte sie: ‚Verehrtes,
liebes gnädiges Fräulein‘. Also so weit war es schon. Fast kam Herr von
Horwitz Renée noch komischer vor als vordem, sie hätte ihm beinahe ins
Gesicht gelacht. Auch der Gedanke, daß Elisabeth extra für ihn das
hellila angezogen hatte, war so unausbleiblich komisch. –

„Das Landratsamt wird nämlich jetzt ausgebaut,“ sagte Herr von Horwitz –
„und der Kreisbauinspektor meinte, im Juni würde der Anbau beziehbar
sein.“ – Über Elisabeths Gesicht ging eine flüchtige Röte, dann sah sie
heimlich so von der Seite zu Renée hinüber. –

Nach dem Essen ging Renée in ihr Zimmer. Sie setzte sich ans Fenster, da
wo man die ganze endlose Straße hinuntersehen konnte. Da kamen aus der
linken Seitenstraße die vielen Straßenbahnen und ratterten um die Ecke.
Im Sommer, wenn der Asphalt trocken war, taten sie das mit einem
gellenden Stöhnen. Im Winter klirrte es vom Frost. –

Wenn Renée vorm Schreibtisch saß, sah sie alles, was auf der Straße
geschah. Sah die Menschen, die aufgeputzt in den Tiergarten zogen, und
die Bahnen und Droschken, die vollgestopft dem Kurfürstendamm und dem
Grunewald zurollten. Der Grunewald – Renée dachte an die Seen, die
stillen – und besonders an den mit dem Jagdschloß. – –

Ganz leise öffnete jemand die Tür. –

„Wie geht’s, kleiner Bub?“ – „Hannsbabo du?“ – „Ja,“ sagte Hannsbabo,
„so sehr wunderst du dich? Ich hab den Dogcart unten und wollte dich ein
bißchen abholen. Magst?“ – „Ob ich mag. Fahren wir nach dem Grunewald,
bitte, bitte.“ Er lachte: „Wohin denn sonst, kleiner Bub?“ –

Renée erzählte, daß sie gerade an das Jagdschloß gedacht hätte. „Also
fahren wir dahin,“ sagte Hannsbabo. –

Auf dem Kurfürstendamm war es kaum zum Durchkommen. Hannsbabo mußte
seinen Fuchs mehrmals scharf zurückhalten, auf der Halenseer Brücke
stand man fünf Minuten. – In Hundekehle spannte der Groom aus. Renée und
Hannsbabo bogen links ab. –

„Wo ist Sarah?“ frug Renée. – „Sie hat Teebesuch von einer Landsmännin.
Und sie fährt nicht gern mit Pferden. Es geht ihr zu langsam. Es ist ein
dummer Zeitverlust mit Pferden – sagt Sarah. Auto ist besser. Kennst du
Sarahs Auto? Es ist grün mit Silber.“

Renée kannte es noch nicht. Aber ob sie nicht lernen dürfe es zu lenken?
So gern wollte sie das. Hannsbabo lachte. „Wie das den Frauen im Blut
steckt. Ich glaube, Sarah tut nichts lieber. – Sarah hat einmal das
Chauffeurexamen gemacht, und seit wir in Deutschland sind, hatte sie
schon fünf Strafmandate wegen zu schnellen Fahrens.“ – „Daß sie das
kann.“ Er sah Renée erstaunt an. – „Warum?“ – „Sie sieht so zart aus und
so weich.“

„Sie ist stärker als wir beide zusammen, kleiner Bub Renée. Bei ihr ist
Gefahr eine Leidenschaft. Es reißt sie fort. Es wirft alle anderen Dinge
in ihr um.“ – „Physische Gefahr?“ – „Jede Gefahr, auch psychische,“
sagte Hannsbabo. – Er stieß einen kleinen Stein mit dem Fuß vor sich her
während dem Gehen – manchmal blieb er unvermittelt stehen. – Renée sah
Blässe und Röte jäh wechseln auf seinem Gesicht. Sie setzte sich an den
Waldrand. – „Bist du müde, Hannsbabo?“ – Er streichelte Renées Hand. –
„Bist du krank?“ frug Renée – „Nein, nein. Es ist nur, nur manchmal
ermüde ich plötzlich. Das ist ein vorübergehender Schwächezustand.
Hinterher bin ich ganz wie sonst, das überfällt mich so manchmal.“ –
„Warum gehst du nicht mal auf Urlaub, damit du dich erholen kannst,
Hannsbabo?“

„Sarah mag nicht.“ –

„Ohne Sarah dann,“ sagte Renée. –

„Oh – ohne Sarah.“ – – – –

Hannsbabo legte das Gesicht in die Hände. „Ich kann nicht von ihr fort,“
sagte er. „Hannsbabo, warum bist du nicht glücklich?“ Er nahm Renées
Hand und hielt sie fest. „Es ist gut, daß du mich einmal fragst, Renée,
denn ich glaube, ich müßte ersticken, wenn ich es nie jemandem sagen
könnte.“ –

Immer wieder streichelte Renée seine Hand. – Er sagte: „Ich liebe Sarah!
Siehst du, Renée, ich kann nicht ohne sie sein. Ich bin ganz ohne Gefühl
und ohne Interesse für alles andere. Und Sarah – Sarah hat mich gern.
Sie hat es gern, daß ich um sie bin und ihr alles tue. Sie sucht mich
nicht. Und ich suche sie den ganzen Tag.“ – –

„Aber Sarah liebt dich doch, Hannsbabo.“ Renées Bruder legte sich nieder
auf den Waldboden und schloß die Augen – so lag er die ganze Zeit,
während er weitersprach, und ein Lächeln, das einen sehr schmerzlichen
Zug hatte, kam auf sein Gesicht.

„Damals als wir uns verlobten, war es noch nicht so. – Erst dachte ich,
es müßte ganz gut sein in einem gleichgültig ruhigen Zusammenleben; sie
geht ihre Wege und ich meine. Dann – wollte ich mit ihre Wege gehn – das
ließ sie zu. Dann wollte ich sie an mich nehmen zu mir – das ließ sie
nicht zu, – nein das nicht!“

„Vielleicht muß sie mehr Zeit haben dazu,“ sagte Renée. Er lachte. Ein
böses und hoffnungsloses Lachen: „Es wird nie anders sein. Und wenn ich
ihr Zeit ließe bis in die letzte Stunde meines Lebens.“ – Er sprang auf.
– „Da wird immer diese Distance sein, kleiner Bub, die, an der ich mich
kurz und klein reibe. – Laß uns zurückgehn, Renée.“ –

Renée konnte nicht vergessen, was Hannsbabo gesagt hatte. Nicht bei der
Heimfahrt und nicht zu Haus beim Abendessen und in der Nacht auch nicht.
Sie lag diese Nacht lange, ehe sie einschlief, und dachte, was sie tun
könnte, um Hannsbabo zu helfen. Und wie sie über ihn nachdachte, dann
wußte sie es, daß er müde war und krank und daß er einen brauchte, der
ihm half. Dann verfolgten ihre Gedanken ihn in allen seinen Worten und
seinen Gebärden von dem Augenblick an, da sie ihn wiedergesehen hatte in
Groß-Gehren, als er Sarah brachte, und sie dachte: damals ging er immer
umher und sah die alten Bilder an in den Zimmern. –

Am Morgen war Papa böse, denn Renée wäre so lange weggeblieben, und nun
hätte er die ganze Zeit sich dazu setzen müssen. –

„Aber Papa – Elisabeth ist doch alt genug.“ – „Unsinn,“ sagte Papa, „es
gehört sich so.“ – Elisabeth aber kam zu Renée. Elisabeth schloß ihre
Schwester in die Arme und sagte mit sanft melancholischer Stimme: „Ich
möchte, daß du teilnimmst an meiner Freude, Renéechen, ich habe mich
gestern abend verlobt!“ – Renée sagte: „Ach.“ Dann erschrak sie recht,
und gleich darauf hörte sie sich eine wohlgesetzte Glückwunschrede
halten. –

Nun kam immerzu Viktor, so hieß der Landrat. – Es gab seine
Leibgerichte, er wurde mit Sekt bewirtet. Viktors Ansichten wurden
proklamiert. Man hörte ein ewiges: ‚Viktor meint, Viktor findet‘ – im
Haus.

Papa ignorierte das und hielt sich in seinem Zimmer. – Renée wurde
mitgeschleppt auf allen Spaziergängen und Einkäufen. In die
Ausstellungen mußte Renée, in den Zoo, ins Theater. Und immer sah sie
eine sanft strahlende Elisabeth neben sich und Viktor mit den hellgelben
Glacés.

Sarah hatte für den neuen Schwager keine Sympathieen. Sarah sagte: „Er
ist ein unausstehlicher Mensch. Wenn ich schon den geölten Scheitel
sehe.“ – Aber es sollte ein Besuch gemacht werden bei Sarah, und Renée
war vorher abgesandt. – Renée sollte Sarah freundlich stimmen. Renée
sollte sagen, wie herrlich Viktor wäre und daß Elisabeth ihn so liebe
und daß Viktor sehr wohlhabend und gut angeschrieben wäre. So war es
Renée aufgetragen worden. – „Es muß aber doch ein fürchterlicher Tropf
sein,“ sagte Sarah, „wenn er Elisabeth heiratet. Ich begreife es nicht.
Elisabeth ist eine so widerlich knöcherne Person.“

„Laß sie doch gehn,“ sagte Renée, „sie hat dir doch nichts getan.“ –
„Ich werde wohl meine Ansicht äußern können. Du wirst mir gar nicht so
in die Rede fallen,“ sagte Sarah geärgert. „Du bist sehr ungezogen.“ –

Elisabeth wurde auf das Sofa gesetzt, Viktor kam auf einen Klaviersessel
ohne Lehne. Dann lehnte sich Sarah in einen großen Ledersessel und
betrachtete den auf dem Klavierpuff. Sie betrachtete ihn ungeniert und
lächelte ein wenig dazu. – Viktor – ja, unbegreiflicherweise war es so –
Viktor fühlte sich dadurch ermuntert zum Reden und erzählte, daß das
Landratsamt bald beziehbar sei.

Nach einer Viertelstunde erhob sich Sarah. Sie wollte von Hannsbabos
Schreibtisch einen türkischen Dolch zeigen. Als sie an Renée vorüberkam,
neigte sie ein klein wenig den Kopf zu Renée hinüber: „Schaff diese
Leute weg,“ sagte sie. –

Als Papa und Elisabeth nach Groß-Gehren gingen, durfte Renée noch in
Berlin bleiben. Sie kam zu Hannsbabo und Sarah. – Einmal nach dem Essen,
als sie Kaffee tranken in Hannsbabos Zimmer, sagte Sarah: „Renée, was
würdest du sagen, wenn wir ein schönes Schloß kauften?“ –

„Hannsbabo bekommt doch Groß-Gehren,“ antwortete Renée. Sarah lachte:
„Ach, das ist ein altes, unelegantes Ding – nein – ich meine ein
feudales, großes Schloß mit Park und Teichen und weiten Rasenflächen.“ –
„Eigentlich wäre das schön.“ – Sarah tippte mit einem Finger auf
Hannsbabos Ärmel. „Siehst du, ^my boy^ – siehst du, Renée tut mit. Es
ist viel schöner als das dumme Leutnant-sein.“ –

„Sarah behauptet, es ist dumm, ‚Leutnant-sein‘,“ sagte Hannsbabo, er
rückte seinen Stuhl näher an den Sarahs – „und bitte, ist es auch dumm,
‚Rittmeister-sein‘?“

Sarah lachte: „O, es ist überhaupt lächerlich, wenn ein gutsituierter
Mann Offizier ist. Wenn er aus einer guten Familie ist. Was gewinnt er
denn etwa? Irgend ein schnauzbärtiger alter Herr läuft herum und hat
einem zu befehlen. O, derselbe alte Herr wird von Wachs und Honig sein,
wenn er eingeladen wird bei uns Hirsche schießen auf dem Schloß.“ –

„Sie kennt die Verhältnisse,“ sagte Hannsbabo lachend. „Man kann ihr
nichts vormachen, Renée.“ –

Sarah holte einen Packen Briefe aus dem Schreibtisch: „Hier ist das
Schloß, was man kaufen muß,“ sagte sie. „Das wird Hannsbabos Flügel und
das meiner, und da kommen die Gäste hin.“ – „In ein Schloß mit Flügeln
gehe ich überhaupt nicht.“ – „Du gehst mit, wo ich gehe,“ sagte Sarah,
„denn es stehet geschrieben, der Mann wird Vater und Mutter verlassen
und seinem Weibe anhangen.“ – „Ja,“ sagte Hannsbabo, „das ist ein sehr
schöner Spruch.“ – –

Es war so hübsch, bei Hannsbabo zu sein. Sie hatten immer etwas vor,
Gäste oder Theater oder Grunewaldfahrten. Dann kam man spät nach Haus
mit dem Auto über den stillen Kurfürstendamm.

Abends – wie waren die Seen so schön. Bei Mond, der dann als eine
silberne, zitternde Säule auf dem Wasser war – oder auch bei dunklen
Nächten, wenn zerrissene Wolken über dem Wasser hingen – und plötzlich
brach das Licht des Mondes durch ihre Schwärze. Die Kiefern standen wie
ein undurchdringliches Dunkel zwischen Wasser und Himmel. –

Schön war es bei Hannsbabo. Renée durfte sich einladen, wen sie wollte.
Renée durfte ein Abendessen geben nach dem Tennis. – Nun saßen sie bei
der Bowle auf der großen Veranda. –

Hannsbabo ging mit Renée im Garten. Da war Halbdunkel – so richtig gut
zum Reden, und Hannsbabo sagte: „Wenn du einmal einen Menschen liebst,
Renée, dann mußt du an mich denken, an heute abend. Du sollst es gut
haben, kleiner Bub. Ganz eins werden mit ihm, so daß man alles gemeinsam
fühlt, so daß es nie mehr eine Einsamkeit gibt.“ –

„Hannsbabo, denkst du niemals an das kleine Bild, das du mir einmal
zeigtest?“ – Er lächelte, schüttelte den Kopf. „Nein, Renée, ich glaube
nicht. – Ich habe diese einmal tanzen sehn, als ich in Paris war mit
Sarah.“

„Wußte Sarah davon?“ – „Ich hab es ihr erzählt, als wir sie sahen,“
antwortete Hannsbabo. – „Aber was sagte Sarah?“

Er wandte sich um nach der erhellten Veranda, wo die Leute lachten und
schwatzten, und stand eine Weile schweigend. – „Ich höre ihre Stimme
nicht,“ sagte er. – –

„Wie kann man das in dem Lärm,“ sagte Renée.

„Auch du wirst einmal unter vielen eine Stimme unterscheiden lernen,
kleiner Bub.“ –

Sie gingen weiter. – „Was Sarah tat? O, sie tat mir eine Freude. Sie
sagte: ‚Wenn du noch einmal dieses bunte Etwas mit dem Glas ansiehst, so
fahre ich sofort zurück nach Washington.‘ – ‚Wie kann es schaden, wenn
ich sie ansehe, da Sarah neben mir sitzt‘, sagte ich. Darauf sie: ‚Du
bist ein Schwätzer.‘ – O, Sarah wußte ganz gut.“ – –

Renée sagte: „Wenn es so war, dann liebt dich Sarah doch, warum glaubst
du es nicht, Hannsbabo?“ –

„Nein. Das ist kein Beweis. Das ist, weil eine Frau ihren Mann eben als
Besitz betrachtet. – Sarah liebt überhaupt nicht. Sarah sieht nicht ein
wozu. Es macht ihr kein Vergnügen.“ –

Sie gingen weiter. „Ich höre sie,“ sagte Hannsbabo.

Sarah rief ihn im Garten. Sarah kam zu ihm – sie lehnte sich an ihn und
wandte ihr Gesicht gegen den Himmel, sie sagte: „Eben hatte ich ein
wenig Furcht ohne dich.“ –

Es war eine sanfte, warme Nacht. –

Über der Gartenmauer standen die schimmernden Kerzen der Kastanien. –




Der ganze Sommer war eine Vorbereitung von Elisabeths Hochzeit. Der
ganze Sommer war ein unablässiges Durcheinander von Geschäftskatalogen
und ankommenden Paketen. Elisabeth probierte Hemden mit Spitzeneinsätzen
und band Dutzende von Tischwäsche in blaue Bändchen. – Die Pferde waren
fortwährend auf dem Weg zum Landratsamt.

Außerdem bemerkte Renée etwas Sonderbares: Einige Dinge, die bisher
immer auf bestimmten Schränken, Kommoden und Tischen gestanden hatten,
waren verschwunden. Und man hätte diese Gegenstände doch im Schlaf auf
eben dieser Stelle gesucht. –

„Du mußt irgend eine Aufführung in die Wege leiten,“ sagte Papa, „es ist
so Sitte, und außerdem füllt es den Tag aus.“ – „Aber was denn nur?“
frug Renée verzweifelt. – „Na, das kannst du dir doch wohl ausdenken;
dann kannst du deine Talente endlich mal nützlich anwenden,“ brummte
Papa.

Renée schrieb Briefe: an Sarah, an sämtliche Cousinen, dann auch eine
Karte an Schoenburg. Er würde ihr schon helfen. Er hatte immer so gute
Ideen. –

So war es. Schoenburg antwortete, er erlaube sich einen ländlichen Tanz
mit Huldigung für das Brautpaar vorzuschlagen. Denn zu einem Tanz
brauchte man keine weiteren Vorbereitungen und für das Kostüm sorgten
die Damen selbst. Den Herren könne man es wohl vom Königlichen Theater
verschaffen. Und Renée würde dann wohl den Brautkranz überreichen,
vielleicht in dem Kostüm einer Myrte. Renée wollte nicht Myrte sein. Es
war albern und anzüglich, fand sie. – Ferner schlug Schoenburg auch noch
ein Brautgedicht vor, es begann: ‚Du stehest heut an einer ernsten
Grenze.‘ – Es kamen noch ‚Blumenkränze‘ und ‚stilles Glück‘ vor. –

Diese Hochzeit verlief ganz ohne Störung. Die guten, alten Glocken der
Groß-Gehrener Kirche läuteten. Die brummende Glocke und die mit dem
fröhlichen Geklingel, und auf Läufern, die über die Dorfstraße führten
und auf Tannenreisern und auf Blumen gingen die Hochzeitsleute.

Renée ging mit Schoenburg. Schoenburg war sonderbar schweigsam, als ob
er immerzu an anderes dächte, und Renée neckte ihn. Als sie in die
Kirche eintraten, nahm Schoenburg eine von den kleinen, weißen
Myrtenblüten auf, die auf der Schwelle lagen. Die steckte er zu sich. –

Der Tanz war vorüber und das Essen. Elisabeth und Viktor waren
abgefahren, Elisabeth nicht ohne Tränen, Viktor mit Versicherungen
seiner Ehrenhaftigkeit an Papa. – Papa hatte dann noch lange mit den
Herren gesessen bei Bier und Zigarren. Es war erst gegen Morgen Ruhe
geworden im Haus. –

An diesem Morgen kam Herr von Schoenburg und brachte Renée Rosen an den
Kaffeetisch. – Er sagte: „Darf ich heute abend mit Ihnen ein wenig in
den Garten gehen, Fräulein von Catte?“ – „Ja,“ sagte Renée, „aber erst
müssen Sie mir furchtbar helfen. Elisabeth hat zwar als letzte Tat eine
Stütze mit guten Zeugnissen engagiert – aber nun muß ich doch all die
herrlichen Dinge tun, die Elisabeth tat.“ –

Schoenburg half. Er räumte die Konfekts mit weg und machte Obstschalen
und Blumenvasen zurecht für den Tisch. Und immer währenddessen sagte er:
„Aber heute abend – wenn wir fertig sind ...“ – – Dann war es Abend. Sie
gingen im Garten. Renée fühlte die Last des Schweigens, aber alles, was
sie vielleicht hätte sagen können, fand die Form des Wortes nicht. Und
so ging sie immer tiefer in den dämmerigen Garten hinein mit dem Gefühl
einer Schuld, die jeden Augenblick anwuchs. Die Schuld war, daß sie
schwieg. –

Dann sprach Schoenburg: „Ich weiß nicht, ob Sie es fühlen können, so wie
ich es fühle, Fräulein von Catte, dies: daß ich nicht mehr zurückhalten
kann mit meinen Worten. Sie haben mir keine Erlaubnis dazu gegeben, aber
ich glaube Sie so weit zu verstehen. Und ich denke, ein Mensch, wie Sie
es sind, würde jedes An-seinem-Willen-vorbei-ihn-zu-gewinnen-suchen
schlecht achten.“ –

Er schwieg, er strich mit der Hand über die Rinde des Nußbaumes am Weg –
dann sagte er: „Ich liebe Sie; ich wünschte, Sie kämen zu mir und
vertrauten mir Ihr Leben an. Wie ich Ihnen das meine vertrauen möchte –“

Renée ging es sonderbar, das Gefühl der Unruhe verging. Sie wurde ganz
ruhig – ganz klar. „Ich kann es nicht.“ – „Ist es, daß Sie mich gar
nicht lieb haben?“ – „O ja, Herr von Schoenburg. Ich habe Sie lieb, ein
guter und lieber Kamerad sind Sie mir. Aber es kann einmal der Mensch
kommen, den ich liebe –“

„Wer ist das?“ – „Niemand noch. Ich weiß nicht, ob es diesen Menschen
geben wird. Ich habe noch nie einen Menschen geliebt.“ –

Sie gingen zurück, während es schon ganz dunkel war. –

Renée hatte den Menschen neben sich lieb. Sie fühlte seine Anwesenheit
als etwas Warmes und Freundliches. Sie wollte ihm so gern Gutes tun. Sie
wollte ihm so gern die Einsamkeit verstellen.

„Ich möchte mit Ihnen Freund sein,“ sagte sie. Er stand neben ihr still
und lächelte. –

„Es ist Ihr großes, warmes Herz, eben das Herz, das ich so gern besessen
hätte. – – Sie sollen wissen, daß ich für Sie immer da sein werde,
Fräulein von Catte. Und ich darf Ihnen eine Bitte sagen: lassen Sie dies
zwischen uns allein geschehen sein und – bitte lassen Sie es bleiben
zwischen uns, wie es war.“ –

Renée nickte. Sie gingen zusammen in das Haus zurück.




Papa und Renée saßen im Wagen. Der Wagen stand in einer langen Reihe von
Wagen vorm Schloßportal, stand und rückte und rührte sich nicht. Alle
fünf Minuten ruckte es ein klein wenig, dann fuhr man zwei Meter weiter.
Die Wagenreihe stand bis über die Schloßbrücke.

„Selbstverständlich muß man entweder ganz früh oder ganz spät fahren,“
sagte Papa geärgert. – „Ich wollte ja noch warten, aber du riefst doch.“
– Papa sagte: „Nun ja, eben immer diese Bummelei.“ –

Ein Polizeioffizier lief zeternd vorüber. Man stand eine Viertelstunde,
eine halbe Stunde – Papa riß die Wagentür auf. –

„Könntest du wohl die paar Schritte hinüber zu Fuß gehen?“ frug er
zweifelnd. – Renée raffte kurz entschlossen die Kleider zusammen – wie
ein Storch kam sie sich vor, als sie mit langen rosa Strumpfbeinen
herausstieg. Vierzig Wagen vor ihnen und ebensoviel dahinter – sogar die
Ministerwagen mit den Vorreitern stoppten. –

Eilig stieg Renée die Treppe hinauf. Auf den Treppenabsätzen stauten
sich die Damen vor den Spiegeln.

Ein unbestimmtes Drängen hinter ihr schob Renée vorwärts. Dann stand sie
im Weißen Saal ganz allein in dem schimmernden Gewoge.

Es war, als gingen weiche Luftwellen an den weißen Riesenwänden empor
und fingen sich oben in den goldenen Ornamenten. –

Dann kam der Kaiser – er trug die Uniform von Hannsbabos Regiment, und
er grüßte zu denen im Saal, und die Kaiserin, die er am Arm führte,
senkte langsam und würdevoll den Kopf mit dem schönen, weißen Haar. Sehr
viel Glanz war um sie von den Krondiamanten.

Jemand hinter Renée flüsterte: „Sie sind ja ganz versunken!“ Es war Hedi
Bassewitz. Sie stand mit drei andern hinter Renée. Eine von denen gefiel
Renée. Sie hatte ein blaues Kleid an, das ganz eng anschloß und über und
über mit glänzenden Schuppen benäht war. Ihre Augen waren blau.

„Jetzt ist die Kaiserin gleich durch,“ sagte die Bassewitz, „sie macht
viel fixer als der Kaiser.“ Die in dem Schuppenkleid lächelte Renée zu.
„Sie waren wohl noch nicht hier?“ sagte sie. „Nein, nur bei der Cour.“ –

Die Bassewitz erzählte, daß rechts die Botschafterinnen säßen und links
vom Beschauer die Fürstinnen und hinten die Exzellenzendamen; daß kein
Sterblicher tanzen dürfte, wenn etwas Prinzliches tanzte und daß, wer
Walzer tanzte, rausgeworfen wird. „Nur Galopp ist erlaubt.“ –

„Aber sie machen doch Walzermusik,“ sagte Renée. – Die Bassewitz stieß
ein überlegenes Prusten aus. „Man muß sich eben die Ohren zuhalten und
einfach irgendwie herumspringen,“ antwortete sie.

Gerade als die Musik einsetzte, kam Hannsbabo und stellte Renée fünf
Offiziere vor, und die engagierten Renée für alle Tänze. Es war doch
nett von Hannsbabo. Sie verabredeten alle fünf das Zusammentreffen auf
dem großen Parkettstern in der Mitte vor dem Thron. –

Hannsbabo wollte Renée zur Gavotte. „Du siehst blaß aus, Hannsbabo.“ Er
lächelte. – „Nein, nein, das macht mein roter Rock und dann das
Ausgehen. Das ermüdet etwas.“ –

Nachher ging Renée zu Sarah. Sarah sah schön aus. Sie hatte ein breites
Diadem, Renée dachte: wie eine Städtekrone mit lauter Zinnen. Sie sagte:
„Darf ich dir etwas sagen, Sarah?“ Sarah nickte abwesend. – „Hannsbabo
muß nicht so viel auf Gesellschaften gehen, er sieht blaß aus.“ Die
Schwägerin sah an ihr vorüber. „O, Hannsbabo ist ^all right^,“ sagte
sie. „Er wünscht immer, daß ich auf Bälle gehe, und er geht eben mit. Er
tut es ganz gern. Du brauchst gar nicht Sorge zu haben.“ –

Die mit dem Schuppenkleid kam auf Renée zu. „Ihr Bruder sieht schlecht
aus, Fräulein von Catte,“ sagte sie, „Sie müssen mehr auf ihn achten,“
und dann strich sie wie aus Versehn an Renées Hand vorüber, sah nach dem
Thron, als ob sie dort etwas zeigte, und sagte leise mit abgewandtem
Gesicht: „Diese Amerikanerinnen verstehen so wenig von Menschen. Sie
sind nicht gewohnt darauf zu achten. Sie haben ihn doch lieb. Ich
fürchte um ihn – fragen Sie mich nichts und sprechen Sie nicht darüber –
bitte“ – –

Von hinten wurde Renée zur Seite geschoben. Sie sah in das indignierte
Gesicht der Palastdame von Gagern. „Ihre Majestät kommt.“ – „Sie hätten
fast die Kaiserin umgelaufen,“ hauchte ein Kammerjunker. – Renée
erschrak – die Kaiserin ging durch die gebahnte Gasse grüßend vorüber. –
„Höchstens hätte sie _mich_ umgelaufen,“ murmelte Renée ingrimmig. – Die
mit ihr gesprochen hatte, war fortgegangen. – Später erfuhr Renée, daß
es die Gräfin Gisczyska gewesen war, die Frau eines österreichischen
Attaché. –

Während der Gavotte beobachtete Renée immer ihren Bruder, und darum
merkte sie es gar nicht, wie er kein Wort sprach, und sie kümmerte sich
nicht darum, daß sie beide die Kürassierkolonne zweimal fast in
Verwirrung brachten. – Wie mechanisch und ungewohnt er den Tanz
ausführte. Mit so meilenweit fernen Gedanken.

„Kleiner Bub, warum siehst du mich so an?“ –

„Du bist nicht wie sonst, Hannsbabo.“ – „Du auch nicht. Du siehst heute
besonders lieb und schön aus,“ sagte er. –

Renée hielt einen kleinen Augenblick seine Hand fest beim Vorübergehen.
– „Hannsbabo, willst du mir’s nicht sagen? Oder – sei mir nicht böse –
darf ich nicht einmal davon reden mit Sarah?“ – „Nein,“ sagte er,
„nicht! Was soll ich mit irgend einem jämmerlichen Produkt deiner
Ermahnungen? Was hilft es, wenn Sarah – o nein, so nicht, Renée.“ – –
Renée wollte so gern Herrn von Schoenburg fragen. Aber der war so
einsilbig, und immer, wenn Renée sich umsah, stand er hinter ihr und
sah, den Kopf gesenkt, vorwurfsvoll zu ihr auf. Als Renée ging, sagte
er: „Warum haben Sie nicht mit mir soupiert, Fräulein von Catte?“ – „Sie
haben mich doch gar nicht gefragt.“ – „Aber Sie wissen das doch ganz
gut,“ sagte Schoenburg. Dann begleitete er Renée zur Teufelstreppe, wo
Papa auf sie wartete. Er ging auch mit herunter. Unten nahm er dem
Diener Renées Cape ab und legte es ihr um. Und er sagte ganz leise:
„Kommen Sie gut heim.“ –




Alle Tage ging Renée nun mit der Angst um Hannsbabo und war sehr allein
damit. – In den feuchten Vorfrühlingsabenden machte der Dunst von
draußen die Zimmer früher dunkel, und wenn man die Fenster öffnete, kam
ein scharfer Geruch von Rauch mit der Luft herein. Über den Seen im
Tiergarten war den ganzen Tag eine dünne Schicht von Dampf. Es gab auch
noch Frost in den Nächten, und die zu bunten Blumen am Luisendenkmal
standen verfroren und fremdartig in der kühlen Märzluft.

Renée ging in diesen Tagen viel herum im Tiergarten, und manchmal saß
sie lange auf einer Bank und dachte, was man tun könnte für Hannsbabo.
Sollte sie nicht mit Papa sprechen? Würde er denn helfen können? –
Vielleicht gingen Hannsbabo und Sarah ein wenig auf Reisen. Vielleicht
konnte der Wechsel der äußeren Umstände ihm helfen. – Dann wieder wußte
Renée ganz gut, das alles half nichts. Es waren alles nur ohnmächtige
und sinnlose Gedanken, die niemals das finden konnten, was einzig half.
–

Am Sonntag bekam Renée einen Brief. Ein kleiner, grüner Brief war es mit
einer fremden Handschrift. Die Unterschrift hieß: Marie Gisczyska. Renée
las: Wollen Sie heute nachmittag zu mir kommen und mit mir den Tee
nehmen. Ich habe viel mit Ihnen zu denken. –

Dann war es auf einmal eine so große Hilfe für Renée, daß diese ganz
fremde Dame mit ihr sprechen wollte von Hannsbabo.

Den Sonntag kam ein Vetter aus dem Kadettenkorps und Viktor natürlich.
Und nach dem Essen sagte Papa, nun könnte Renée den Vetter unterhalten,
und sie könnte ja auch ein bißchen mit ihm spazieren gehn. „Ich kann
doch den langweiligen Jungen nicht den ganzen Tag unterhalten, Papa,“
sagte Renée, „außerdem langweilen wir beide uns dabei. Außerdem bin ich
eingeladen zum Tee bei der Gräfin Gisczyska.“

Papa sah erstaunt auf: „So, wie kommst du denn dazu?“ Renée antwortete:
„Ich habe sie auf dem Hofball kennen gelernt.“ – „So, na,“ sagte Papa.
„Also wann soll denn da die Reise losgehen?“ „Um halb fünf, dachte ich.“
– „Ja – soll denn etwa ich den Bengel unterhalten?“ sagte Papa
ärgerlich. „Ach Papa – ich tät ihm einen Taler schenken für den Zirkus,“
meinte Renée; „zum Abendessen bin ich dann schon wieder da!“

Papa lachte. Dann zog er zwei runde Taler aus seinem großen, dunkelroten
Portemonnaie: „Da sollst du auch einen haben für deinen Edelmut,“ sagte
er. –

Renée nahm ein Auto. Erstens hatte sie ja einen Taler bekommen für
nichts und wieder nichts, und zweitens wollte sie recht bald da sein.
Dieses Auto raste mit besessener Geschwindigkeit die Hofjägerallee und
Charlottenburger Chaussee entlang und bog mit einem fürchterlichen Ruck
links ein. Es hielt in der Roonstraße.

Gräfin Gisczyska kam Renée entgegen. Sie führte Renée an der Hand herein
und dankte ihr für ihr Kommen und bat um Entschuldigung, daß sie so von
heut auf morgen ... „Ja, ist jetzt das eine aufdringliche Person, haben
S’ gedacht – gellns,“ sagte sie lachend. – „Aber nicht doch. Ich freue
mich so sehr, mit Ihnen sprechen zu dürfen, Gräfin, man kann es nicht
alles allein bedenken.“ – „Ja, nicht wahr?“ Gräfin Gisczyska sprang auf
und drückte Renée die Hand. – „Aber nun hab ich das Gefühl, daß ich
Ihnen erst mal erklären soll, warum eigentlich ich Sie so ^sans façon^
zu mir bat und was mir das Recht gibt, von Ihrem Bruder – darf ich
sagen, von Hannsbabo – zu sprechen. – Also wir, das heißt mein Mann und
ich, waren eine Zeitlang mit Ihrem Bruder in Washington zusammen. Als er
zuerst dort war, fühlte er sich natürlich etwas allein, und da mein Mann
ihm sympathisch war, so kam er oft zu uns. Da war es, daß ich Ihren
Bruder sehr lieb gewann. Wenn er gewollt hätte, – ich wäre mit ihm
gegangen auf und davon.“ –

Gräfin Gisczyska lehnte den Kopf ganz weit zurück auf das harte Holz
ihres geschnitzten Stuhles – dann sprang sie auf mit einer heftigen
Bewegung. – „O, _ich_ hätte es gewollt!“ –

Renée schwieg und sah in das blaue Feuer, das die Gräfin entzündete.
Dann bekam Renée den Tee aus einer kleinen, feinen Tasse.

„Wenn ich zu Ihnen offen sprechen darf,“ sagte die Gräfin, „so will ich
Ihnen sagen, wie es ist mit Ihrem Bruder. Er liebt die Frau. Aber sie
ist nicht eine Frau. Nein, keineswegs. Sie ist ein Geschöpf aus einer
schönen Materie, aber von innerlichster Kälte, ohne jede Sensibilität,
ohne jedes Begreifen von den Dingen des Gefühls. Sie ist – nun etwas,
das man in der Literatur der achtziger Jahre ‚Larve‘ zu nennen pflegte
oder ‚Nixe‘ – was weiß ich.“ –

Renée sagte: „Ein Mensch wählt diese Ausdrucksform, ein anderer jene. Es
ist nicht immer herzlos, was anders ist als wir, Gräfin.“ –

„Ich merke, Ihre Schwägerin hat es verstanden, die ganze Familie Catte
einzustecken. – Ja, darum gerade reden wir doch zusammen, weil wir
sehen, daß ein Mann, der uns beiden lieb ist, an ihr leidet! Ich muß
Ihnen etwas von der Verlobung erzählen. Gar nicht viel, nur etwas
Charakteristisches: Einer ihrer Vettern – sie hat deren ein Dutzend –
sagte mir: ‚Sarah will leider keinen von uns heiraten, weil wir sie alle
lieben, sagt sie, und weil sie einen Widerwillen bekommt gegen Menschen,
die sie lieben. Sie sagt: ein Mann, der eine Frau liebt, spricht immer
so heiser, er ist wie ein widerlicher Kater‘.“ –

Renée mußte lachen: „Finden Sie das so herzlos? Es ist doch nur
lächerlich. Es ist, daß eine Frau immer die Abwehr hat gegen den Mann
als Typus. Aber dann rechnet sie ihren Mann nachher nicht in diesen
Typus hinein –“

„Sie sagen zwar sehr kluge Dinge für Ihre Jugend,“ antwortete Gräfin
Gisczyska, „aber leider hat Sarah dies gesagt, als sie bereits verlobt
war. Und ich würde denken, daß eben aus dieser Tatsache heraus alles,
was dort geschieht, begreiflich wird. Ihre Schwägerin gehört zu den
Menschen, die suchen, wenn der andere zurückweicht, und zurückweichen,
wenn der andere sie sucht. Und Hannsbabo sucht sie sehr eindringlich
eben.“ – „Ja.“ – Die Gräfin sprach weiter: „Und eben wenn diese Frau
weiß, daß da einer ist, der zu ihr hinstrebt, dann lockt sie ihn ein
wenig an, um ihn im nächsten Augenblick mit kühlem Erstaunen
zurückzustoßen. – Und immer wieder das gleiche. Und ein Mensch geht
zugrunde daran, ein lieber, schöner, stolzer Mensch. – O, es ist ein
widerliches, zynisches Spiel.“

„Das – das glauben Sie?“ – Gräfin Gisczyska nahm Renées Hand. – „Es ist
so,“ sagte sie, „erschrecken Sie nicht so, kleine Renée, es ist so. Ich
habe es gesehn.“ –

Beide schwiegen. Die blaue Flamme unter dem Kessel breitete sich aus,
und das Wasser kam in ein leises, gleichmäßiges Surren. –

Renée frug: „Wie haben Sie das gesehn?“ – Gräfin Gisczyska schwieg;
einen Augenblick sah sie Renée an. –

„Erinnern Sie sich an den Ball bei Ihrem Bruder?“ fragte sie. – – „Sahen
Sie, wie die beiden tanzten? Sahen Sie das Gesicht seiner Frau? Ah – ich
sah es. Die widerliche, rohe Sensationslust ihres Gesichts. Niemand hat
etwas gesehn. Nein. Nur ich. Ich sah, wie die Blässe ihm ins Gesicht
stieg, ganz weiß war sein Gesicht, und dann begann er zu zittern, und
dann bebte dieser große, starke Mensch – und eben in diesem Augenblick
ließ sie seine Hand los und sah ihn an. Haben Sie das gesehn?“ –

„Wie – wie denn sah sie ihn an?“ frug Renée. „So, als wäre er ein
Widerwillen, ein Unflat, ein häßliches und verächtliches Tier in ihrem
Weg.“ –

Renée wandte ihr Gesicht weg. Sie stand auf und ging zum Fenster. Da war
ein Gefühl brennender Scham in ihr, daß man so reden durfte von ihrem
Bruder. –

„Mögen Sie nicht einmal sprechen mit Ihrer Schwägerin?“ sagte Gräfin
Gisczyska.

„Mein Bruder will es nicht.“ –

Die Gräfin fuhr auf: „Inwiefern? Hat er seine Frau durchschaut? Hat er
...“

Da auf einmal hatte Renée einen Widerwillen gegen dies Gespräch; sie
mochte nicht mehr. Eben als sie überlegte, ob sie noch antworten sollte,
kam der Diener herein, er meldete den Prinzen Johann. – Renée
verabschiedete sich eilig. –

„Sie müssen bald wiederkommen, vielleicht morgen,“ rief die Gräfin ihr
nach.

Renée ging durch den Tiergarten nach Hause. Und immer wieder stieg ihr
das Gefühl des Widerwillens auf auch gegen sich selbst. Es war, als
hätte sie Hannsbabo etwas Böses getan.

Sie sprach auch nicht mit Papa. Es schien ihr, als dürfe man überhaupt
nicht davon sprechen. –




Einmal aber – es war gegen den Frühling – einmal faßte Renée sich ein
Herz. Sie ging zu Hannsbabo, als Sarah gerade fort war. Und sie setzte
sich neben ihn und nahm seine Hand. Sie sah ihm in die Augen:
„Hannsbabo,“ sagte sie, „ich weiß es, du bist sehr unglücklich, und nun
sagst du mir nichts, und ich kann dir nicht helfen. Du bist immer sehr
gut gewesen zu mir, gar nicht wie ein gewöhnlicher Bruder, vielmehr wie
ein Freund. Früher hattest du Vertrauen zu mir, du hast mir viel von dir
gesagt, obwohl ich noch ein Kind war, und nun –“

Hannsbabo schwieg lange. Renée sah dem Zeiger der Uhr nach, die am
Spiegel stand auf zwei schlanken Säulchen von Alabaster – manchmal sah
Renée zu ihm herüber. Sie hielt noch seine Hand. „Es ist ja nicht so
leicht, davon zu sprechen,“ sagte Hannsbabo dann. „Sie meint es nicht
schlecht, sie hat mich sogar ein wenig lieb, glaube ich, aber siehst du,
das ist nichts, was das Einsamkeitsgefühl nähme. Im Gegenteil. Und dabei
weiß ich, _sie_ ist der Mensch, mit dem ich hätte heimisch werden können
auf der Erde. –“

Renée kamen die Tränen in die Augen von dem Gefühl des
Nicht-helfen-könnens. – Er nahm nun ihre Hand und legte sein Gesicht
hinein. Renée zog ihn an sich – sie saßen still beieinander. –

„Ich mag nicht mehr leben,“ sagte Hannsbabo. Renée weinte. Ihr Bruder
hob sein Gesicht zu ihr auf, und sie hörte ihn sanft sprechen. – „Weine
nicht, mein kleiner Bub Renée – weine nicht!“ –

Was konnte Renée tun? Sie hätte ihn nehmen mögen, ihren Bruder, und mit
ihm fortgehn. Weit fort. Vielleicht nach Italien – vielleicht war da die
weiche, süße Luft, die er brauchte. „Ich bin zu müde,“ sagte Hannsbabo,
„das Reisen macht so viel Beschwerde.“ –

Renée sprach mit Sarah. Sie tat es gegen alles eigene Gefühl, sie tat es
gegen Hannsbabos ausgesprochenen Willen. Sie tat es gedrängt von ihrer
Liebe für ihn.

Sie sagte: „Was ich tue, Sarah, was ich dir jetzt sage, das mußt du so
gut und so fein und so schön aufnehmen, wie du kannst – du mußt weich
und gut sein, damit ich an dich heran kann mit meinen Worten.“ – –

„O,“ sagte Sarah, „was ist es, was für eine lange Vorrede, ^darling^ –“
Renée fühlte so, als käme ein Strom von Glut ihr den Rücken herauf – und
schließlich preßte es die Kehle zusammen. –

Sie ballte die Hände. – „So wirst du es nicht abtun. So nicht! Ich rede
von Hannsbabo. Ich rede von meinem Bruder, den ich liebe, hörst du, den
ich tausendmal mehr liebe als du, als so ein kalter, kalter Mensch wie
du, begreifen kannst.“ –

Sarah wurde ganz blaß, fast bis in die Spitzen ihrer Finger – ihre
grauen Augen starrten in Renées Gesicht. –

„Du bist mit ihm hergekommen. Du hast ihn geheiratet. Das ist ein
Geschehnis, verstehst du, wenn ein Mensch wie Hannsbabo dich liebt, wenn
ein so stolzer, schöner, vornehmer Mensch dich liebt – du. – Ich sage
dir, du, ich lasse es nicht geschehen, daß du ihn umbringst mit der
widerwärtigen Kälte deines Wesens. Ich lasse es nicht zu! Hüte dich vor
mir, denn ich werde es sagen, allen Menschen werde ich es sagen,
ausschreien will ich es, wenn du noch einmal, noch ein einziges Mal
tust, was du getan hast bis heute, wenn du ihn quälst.“ – –

Sarah warf den Kopf zurück, eine dunkle Röte stieg ihr ins Gesicht – und
die großen Tränen. –

Renée ging.




„Elisabeth bittet um deinen Besuch recht bald,“ sagte Papa. „Sie fühlt
sich nicht recht wohl und bekommt Besuch von Viktors Mutter und
Schwester. Am Ende könntest du gleich morgen fahren.“ –

Renée hatte nicht die geringste Lust. Nein. Aber natürlich würde kein
Widerstreben helfen. Wenn jemand in einer Familie verheiratet war, so
war das Grund genug, um sämtliche unverheiratete Schwestern und Cousinen
in Tätigkeit zu setzen. –

Das Landratsamt war ein großer quadratischer Kasten, an den man ein
Rechteck angeflickt hatte. In diesem Rechteck befand sich eine Loggia
und darüber das Gastzimmer. Im Eßzimmer entdeckte Renée ein Bild von
Groß-Gehren, das sie von zu Hause kannte. – In Elisabeths Wohnzimmer
standen die beiden bronzenen Leuchter aus der Groß-Gehrener Halle, und
über Viktors Schreibtisch prangte das Bild des jungen Katte, der zu
Küstrin erschossen worden ist. Das hatte früher bei Renées Mutter
gehangen, denn es war einer von ihrer Linie gewesen. Von denen, die der
große König später zu Grafen gemacht hatte. –

Elisabeth sagte: „Papa hat es mir geschenkt.“ – Und gerade das hätte
Renée so gern behalten – gerade das. –

Überall wo Viktors umfangreiche Mutter sich bewegte, entstand ein
Geräusch von Seide. Sie war stets in starrer, schwarzer Seide und trug
auf dem Kopf einen künstlichen Aufbau weißen Haares. Während sie von
Elisabeth in den Räumen umhergeführt wurde, sagte sie: „Das freut mich,
liebes Kind, ganz hübsch, ganz hübsch.“ Sie sagte es, als ob sie in
einem Laden die Auslage betrachtete. – Sie war eine unausstehliche
Person, fand Renée. Elisabeth benahm sich förmlich demütig gegen sie.
Und Elisabeth nannte sie ‚Mamachen‘.

In diesem Haus kam Renée gar nicht zum Nachdenken. Wenn sie in ihrem
Zimmer war, dann hörte sie das Gekeif und Gelärm der Leute auf der
Straße und das Rasseln der Wagen auf den holprigen Pflastersteinen. Und
war sie nicht in ihrem Zimmer, dann gab es immer von irgendwoher die
pfeifende, gellende Stimme der Frau Amélie von Horwitz, die erzählte von
der Prinzeß Clementine, die immer zu ihr gesagt hatte ...

Renée kam dort in einen Zustand haltloser, psychischer Apathie. Kein
Weiterkommen, kein Weiterwollen, keine Abwehr. Alles, was dort
gesprochen wurde, hielt sich jenseits jeder Möglichkeit von Gefühl und
Empfindung. Und alles war entsetzlich leer.

Renée suchte Ruhe. Es gab keine Ruhe. Diese Menschen hasteten umher und
warfen die Albernheiten ihres engen Lebens wirr und sinnlos
durcheinander – und es gab keine Ruhe. –

An diesem Abend lief sie nach Groß-Gehren, – den Wiesenweg, der an der
Mühle vorbeiführt. Hinter dem dunklen Rand des Forstes stieg ein großer,
rötlicher Mond auf. Stieg feierlich auf, und vor ihm her war die
Helligkeit seines Lichtes – – allmählich fing sich das Licht in den
Nebeln auf der Wiese. –

Renée ging schnell, sie fühlte die Feuchtigkeit der Grashalme, die ihr
Kleid streiften. Man konnte nicht weit sehn wegen des Nebels; auf einmal
tauchten die schwarzen Flügel der Mühle vor ihr auf – ganz unorganisch
und sonderbar aus dem Grau heraus. –

Sie fand die Gartentür abgeschlossen und lief bis an das Ende des
Gartens, wo sie als Kind durchgekrochen durch das Loch in der Hecke. –

Wie ein riesiger See ohne Land lag es vor ihr. Die Fläche des Wassers
ins Unendliche erweitert durch diese Ebene von Nebel über den Wiesen.

Auf dem Wasser flackerte in goldnen Schlangen der Mondschein. –

O, hier bleiben können – lange oder immer – wie schön und traurig war
das Wasser und der große Mond. –

Unten auf den Stufen, die ins Wasser führen, auf der dritten Stufe, die
der See überspült, wenn er unruhig ist, saß Renée. – O, der große Mond.
–

Renée mußte weinen; sie dachte nicht an ein bestimmtes Geschehnis – es
war nichts – es war vielleicht etwas, was kam. An wen dachte Renée? An
keinen Menschen – nur – wenn einmal eine süße und geliebte Stimme zu ihr
sprechen, wenn einmal eine Hand sehr sanft sie berühren würde, – o eine
sanfte Hand – daran dachte Renée. – –

Es war nach Mitternacht, als sie zurückkam. Viktor machte ihr auf. – Sie
hätten sich alle so gesorgt. Es sei aber auch unrecht von Renée, weil
Elisabeth sich doch in dieser Zeit nicht aufregen dürfe, wo denn Renée
nur gewesen sei? –

„In Groß-Gehren!“ – „Aber wir konnten doch mal hinfahren, wenn du
wolltest,“ sagte Viktor mit sanftem Vorwurf.

Renée hörte eine Woche lang alles geduldig an. Es war unpassend gewesen,
überspannt, lächerlich, sentimental. – Was sollte Johann denken, er
hatte natürlich gehört, daß Viktor Renée nachts hereinlassen mußte. –

„Ihr könnt ja Johann ins Vertrauen ziehn, vielleicht findet Johann es
auch überspannt,“ sagte Renée.

Elisabeth begann zu weinen. Man tröstete sie. Und Renée hörte Frau
Amélie von Horwitz leidenschaftlich versichern: „Deine liebe Schwester
hat es ja gar nicht so böse gemeint, Elisabethchen, nein, wirklich, sie
hat es ja völlig eingesehn.“ –

In der Umgegend gab es ein Kränzchen. Im Winter las das Kränzchen, im
Sommer spielte es Tennis. Es gehörten ihm die jungen Mädchen des Kreises
an. Aber Renée weigerte sich teilzunehmen. – Elisabeth sagte: „Viktor
ist der Ansicht, daß ein verheirateter Landrat die Pflicht hat, die
passenden Elemente des Kreises zusammenzuhalten. Ich habe das Kränzchen
zum Sonntag eingeladen. Natürlich muß ich mich momentan etwas
zurückhalten.“ fügte Elisabeth hinzu.

Elisabeth ging nur gegen Abend aus. Dann trug sie ein Cape von riesigen
Dimensionen. Sie genierte sich vor dem Diener, vor dem Kutscher, vor dem
Gärtner. –

Es muß ein fürchterlicher Zustand sein, dachte Renée. Elisabeth tat ihr
leid. Sie versuchte, ihrer Schwester gut zu werden. „Du mußt mehr
spazieren gehn,“ sagte Renée, „wir könnten jeden Morgen nach dem
königlichen Forst hinausfahren, und da könnten wir spazieren gehn, und
dann holt der Wagen uns mittags wieder ab.“ – „Ach, Renéechen, ich darf
doch momentan nicht fahren,“ antwortete Elisabeth kläglich. – „Aber dann
könnten wir zusammen in den Stadtforst gehn.“ – „Ach, ich sehe so aus,“
antwortete Elisabeth. „Da geniere ich mich doch.“ – Renée nahm ihre
Hand: „Gar nicht hast du dich zu genieren. Warum denn etwa? Es geht doch
alles natürlich zu in der Welt. Und bis jetzt wird es noch nicht als
Schande aufgefaßt, wenn eine Frau ein Kind bekommt, sollte ich meinen.“
– Elisabeth sagte: „Du redest so, Renée! Junge Mädchen sollten ...“

„Meinst du mal wieder, ‚junge Mädchen‘ müßten immer erst warten, bis ein
Mann kommt, sie zu verderben?“ – Renée lachte: „Denn das ist’s doch in
Wahrheit. ‚Unverdorben und mit Schmelz‘ und als ‚unbeschriebene Blätter‘
und so’n Quark sollen sie dem Mann überliefert werden, damit er sie um
so besser verderben kann.“ – „Du führst furchtbare Reden, Renée,“ sagte
Elisabeth.

„Ich begreife nicht, wie man Kinder bekommen mag, wenn man das Wissen um
die Geschehnisse ihres Ursprungs als ‚verdorben werden‘ bezeichnet.“ –

Elisabeth begann abzulenken: „Ich glaube, wir werden uns hierin doch nie
verständigen.“ –

„Nein – das glaub ich auch nicht.“ –

Frau Amélie von Horwitz trat ein. Sie rauschte in schwarzer Seide. Auf
den hügeligen Dimensionen ihrer Brust thronte eine Brosche aus
Amethysten sowie eine Kette aus schwarzen Jett-Perlen. –

„Marie wird heute abend eintreffen,“ sagte sie. „Mit dem Schnellzuge.“ –
Dann wandte sie sich zu Renée: „Meine Tochter ist allerdings älter als
Sie, Fräulein Renée, aber ich glaube, Sie werden dennoch Freude haben an
ihrem Hiersein. Meine Tochter ist nämlich Schriftstellerin. Sie hat
bereits einen sehr geachteten Namen in unserer Literatur gewonnen.“ –
„So?“ sagte Renée. – Frau von Horwitz setzte sich behaglich nieder:
„Ja,“ antwortete sie, „ihr erstes Buch ‚Aus Neuland‘ hatte sogar einen
sehr bedeutenden Erfolg – es ist der Frau Prinzessin Clementine
zugeeignet. –“ Renée bekam einen gelinden Schauder. –

Marie von Horwitz, die Schriftstellerin, war in bezug auf Dimensionen
das Ebenbild ihrer Mutter. Sie trug ebenfalls schwarze Seide. Am Morgen
nach ihrer Ankunft eröffnete sie mit Renée ein Gespräch, sie sagte: „Ich
hoffe, Sie werden noch recht lange bei unserer lieben Elisabeth bleiben!
Ich habe nämlich nur eine Woche Zeit. Ich werde bei Wedels in Schönau
erwartet. – Kennen Sie die Gräfin Wedel?“ – Renée verneinte das.

Es erfolgte nunmehr eine lange Erzählung über die Reize der Gräfin. Dann
kam eine Auseinandersetzung, wie Fräulein von Horwitz letzthin in Sankt
Moritz beim Ski verunglückte – dann zog sie einen Packen Bücher vor. „Es
sind Rezensionsexemplare,“ sagte sie, „ich bekomme deren zahllose. Es
gibt ja jetzt so viele Skandinavier und Deutsche, die es nachtun. Aber
ich kann ihnen die Palme des Sieges wirklich nicht zuerkennen. Diese
sogenannte Stimmungskunst ist so gänzlich ohne Saft und Kraft.“ –

„Was meinen Sie eigentlich mit ‚Saft und Kraft‘?“ Fräulein von Horwitz
sah indigniert auf: „Das ist doch nicht zweifelhaft. ^A propos^, kennen
Sie mein ‚Neuland‘? Da sage ich einmal: Stimmung ist Lässigkeit der
Psyche. Das möchte ich hier wiederholen.“ – –

„Meinen Sie das? Ja nun. Vielleicht ist Stimmung vielmehr Subtilität der
Psyche,“ antwortete Renée. Fräulein von Horwitz verneinte das.
„Keineswegs! Dies ganze Getue entspringt nur der Schwäche,“ sagte sie
kategorisch. „Durch die Produktion unserer Jüngeren geht dies ewige
Resignieren. Erst stellen sie in lächerlich maßloser Weise Forderungen
auf. Dann fallen sie mitsamt ihren Forderungen.“ –

„Das ist gerade das Großartige, das Umfallen _mit_ den Forderungen, mit
den unerfüllten.“ –

„Ich kann es durchaus nicht großartig finden, wenn ein Mensch nicht
imstande ist, mit der Umwelt ins reine zu kommen,“ sagte Fräulein von
Horwitz.

„Kein großer Mensch kann das!“ –

„Und warum etwa?“ frug die Horwitz herausfordernd. Renée sagte: „Das
Große ist ungewöhnlich, nicht wahr? Und die Umwelt ist gewöhnlich. Ich
denke, – die Antwort wäre einfach.“ –

Frau von Horwitz erschien. – „Ah, eine interessante Unterhaltung. Nun,
Fräulein Renée?“ – Marie von Horwitz lächelte überlegen. Sie zog eins
der Bücher hervor: „Sehen Sie, Fräulein von Catte, diese Anthologie
bietet die beste Möglichkeit der Beweisführung,“ sie gab Renée das
aufgeschlagene Buch. „Nun,“ sagte sie triumphierend, „sehen Sie hier
eine Vertreterin dieser berühmten Stimmungskunst. –“

Am Ende eines Gedichts las Renée:

   ‚Du vielgeliebtes Leben zwingst mich nieder,
   Treibst mich nach jenem Land, wo keiner frägt,
   Und wo ein stiller Strom das Unerfüllte wieder
   Zu seinem Ursprung trägt. –
   Fern, wo der Tag sich hebt, verhallen deine Lieder.‘ –

Wie gut und sanft diese Worte sie berührten. – „Wer ist es, der dies
geschrieben hat, wer ist es?“

„Yvonne Capeller. Eben eine dieser Allzujungen,“ sagte Fräulein von
Horwitz gereizt, „die immer bereits mit zwanzig Jahren mit der Welt
abgeschlossen haben. Ich schätze ihre Produktion sehr wenig. – Aber
natürlich hat auch sie ihre Bewunderer gefunden.“ –

„Das begreife ich durchaus,“ sagte Renée.

Sie ging in ihr Zimmer. Sie mochte nicht mehr reden. Sie sprach die
schönen Worte vor sich hin und dachte: daß ein Mensch so süße, traurige
Dinge sagen kann, so süße, süße Worte. –

– – Die Schriftstellerin schien keine Neigung mehr zu haben zu
Gesprächen mit Renée. Sie gab ihrem steifen, geraden Oberkörper einen
Ruck, wenn sie Renée erblickte, und ihre dumpf gurgelnde Stimme sprang
über in ein giftiges Flöten, wenn sie etwas zu Renée sagte. –




Indessen war es schon lange Mai geworden. Papa war in Groß-Gehren, und
jeden Abend ging Renée zum Kanal, wo die großen Kähne durchgeschleust
wurden, und sah zu und sehnte sich mitzufahren – und immer, wenn sie das
weich bewegte Wasser sah am Abend, auf dem die Lichter der Laternen
flackerten – immer wenn sie das sah, die Dunkelheit des Wassers und
darüber Lichter, dann dachte sie an die süßen, traurigen Worte des
Gedichts. –

Als die Zeit näher rückte, wo nach allgemeiner Annahme das Kind kommen
sollte, ging Renée nach Groß-Gehren zurück. – Papa hatte sich noch mehr
an das Alleinsein gewöhnt als zuvor. Abends saß er auf der Veranda und
summte Töne vor sich hin, deren Zusammenhang Renée nicht finden konnte.

Einmal saß sie an dem offenen Fenster ihres Zimmers und hörte vom Wasser
her das altgewohnte Quaken der Frösche und fühlte einen süßen Geruch,
der wohl aus den Beeten kommen mußte, wo die Levkojen standen und die
Verbenen – einmal dachte sie an ihren Bruder – so lange hatte sie ihn
vergessen. Was tat er wohl – sie brachte ihre Gedanken mit Mühe hinein
in das letzte Erlebnis mit Sarah – was tut er wohl jetzt? –

Sonderbar, wie das Lärmen der Frösche seine Melodie hatte, sein Auf und
Ab. Es gab eine haltlose Traurigkeit, dem zuzuhören, eine Last auf der
Seele – etwas, das immer wieder da sein würde, wo man den Ton auch
hörte. –

‚Du vielgeliebtes Leben zwingst mich nieder.‘ – Gibt es denn dies, sich
in Worte verlieben – in ihren Zusammenklang, in ihren Sinn – oder eine
Vorstellung lieben. –

‚Das Unerfüllte wieder zu seinem Ursprung trägt.‘ – O ja, man konnte
Worte lieben. –




Es war ein ‚gesunder Junge‘ geboren. Er war prädestiniert für den Namen
‚Wilhelm‘. „Viktor verehrt unsern geliebten Kaiser so, weißt du,“ sagte
Elisabeth. – Er war prädestiniert als Stolz der Familie. Er sollte in
Groß-Gehren getauft werden. Und natürlich mußte Hannsbabo zu der Feier
kommen. –

Hannsbabo – sonderbar verändert war er. Er hielt sich fern von Renée.
Sarah war nicht mitgekommen. Er stand immer still auf einem Fleck – und
dann mischte er sich plötzlich aufgeregt in irgend eine Unterhaltung,
die man um ihn her führte – er aß in einer hastigen und gedankenlosen
Weise. –

Renée ging zu ihm. Es war des Abends, das Essen vorüber und die Gäste
fortgefahren. Hannsbabo saß an seinem Schreibtisch. – „Hannsbabo, warum
vermeidest du es, mit mir zu sprechen? Siehst du, ich komme trotzdem.
Ich dränge mich an dich heran. Ich lasse mich nicht fortschieben. Sage
mir, was du hast, Hannsbabo! Ist es das Alte?“

Er sprang hastig auf – und er schob den Schreibtischsessel mit einem
plötzlichen Ruck zwischen sich und Renée – „Laß mich,“ sagte er. Er war
aufgeregt, er schüttelte den Stuhl auf und nieder in seiner Hand. – „Was
hast du damals gesprochen mit Sarah? Ich habe vom Diener erfahren, daß
du bei ihr warst. Was hast du dort getan, als du da warst am zehnten
April?“ – „Am zehnten April?“ – „Ja, nicht wahr, du weißt es gar nicht
mehr. Aber ich, o ich weiß es. –“

Er stampfte in gleichmäßigen Stößen mit dem Stuhl auf die Erde. – „Du
sagst es mir. Du – Sarah will es nicht sagen. Kann ich sie etwa zwingen?
Oh nein. Ich könnte nicht einen Finger ihrer Hand anrühren, um ihr
wehzutun. Nein, leider nicht. – Also sie will es nicht sagen. Ich mußte
versprechen, dich nicht zu fragen – siehst du – aber ich frage dich nun“
– seine Stimme sprang über in ein zorniges Gurgeln – „nun – sag es, du –
du kommst nicht aus dem Zimmer ohne das“ – –

Hannsbabo warf den Stuhl beiseite. Renée fühlte seine Finger um ihre
Handgelenke. – Sie fühlte eine kalte, ruhige Wut in sich aufsteigen. Sie
riß ihre Arme zurück. –

Hannsbabo setzte sich langsam wieder an seinen Schreibtisch. Er warf mit
einer stürmischen Bewegung die Arme auf den Tisch und legte den Kopf
hinein – so sprach er, schnell mit langen Pausen – und wieder schnell,
als ob es drängte zu irgend einem vorbestimmtem letzten Ende:

„Nachdem du damals dagewesen bist, hat Sarah mir gesagt, sie wolle mit
mir ein paar Tage verreisen. Sie ist sofort mit mir zum Kommandeur
gefahren wegen des Urlaubs. Dann sind wir gereist. Ich weiß nicht mehr,
wo wir alles waren. Irgendwo in Italien. Es wird wohl Venedig gewesen
sein. Ich merkte viel Buntes und Musik und Kauderwelsch um mich herum. –
Wir sind jede Nacht auf dem Meer gefahren viele Stunden, und dann habe
ich sie geküßt die ganzen Stunden aller Nächte. O, ich bin so sonderbar
erfüllt davon – wie fein und weiß, wie schmal und süß sind die Gelenke
ihrer Hände – o, ich fühle sie in meiner Hand, diese feinen, weißen
Säulen. Sie ist leicht – leicht, als ob der Wind sie trüge oder die
Luft, denn meine Arme spürten sie kaum, spürten keine Last, spürten nur
die Kühle ihrer Haut und das leise, leise Rieseln, mit dem ihr kühles
Blut durch die Adern geht unter der Haut.“

Renée ging zu ihm und rührte seine Schultern an. „Sprich nicht weiter,“
sagte sie. Er hob den Kopf. Renée sah sein Gesicht, sein blasses,
lächelndes Gesicht. –

Später sagte Hannsbabo: „Ich habe laut geträumt.“ Sie sprachen wenig
mehr zusammen, Renée und ihr Bruder. – Er frug sie nicht mehr. –

Dieses unausstehliche Baby. Es kam in Eile zu Besuch nach Groß-Gehren,
weil es in der Stadt zu heiß wurde. Es mußte eine Kuh trocken gestellt
werden für das Baby. –

Bill, das Baby, hatte dünnes, rotes Haar und wasserblaue Augen. Es war
ein kleines Scheusal. Trotzdem standen alle umher und bewunderten es, es
wurde bewundert bis zu den fetten Spitzen seiner krebsroten Finger.

Auch Elisabeth war in Groß-Gehren. Renée konnte ihrer Zeit nicht Herr
werden. Immer gab es etwas zu tun für Elisabeth oder für das Baby. – Das
Baby hatte eine Kinderfrau. Jeden Abend um sieben Uhr rief die
Kinderfrau nach Renée. Dann ging sie essen. Dann durfte Renée Bills
Schlaf bewachen. Es sollte eine halbe Stunde sein, es wurde aber meist
eine Stunde und länger. Dann saß Renée in dem kleinen Vorzimmer, das
früh dämmrig wurde, weil die großen Linden davor standen, saß und hörte
die Knechte nach Feierabend in den Hof reiten – dann pumpten sie Wasser
für die Pferde und schwatzten noch, und zuletzt gingen sie pfeifend über
den Hof nach Haus. Um neun Uhr machte der Hofmeister das Tor zu. –

Sonderbar – immer stiller wurde das Leben, je tiefer man hineinging in
die Zeit. Unbemerkt lösten sich liebgewordene Dinge von der Seele. Sie
ließen diese Seele in schmerzlichem Entbehren zurück. –

Es muß einen Menschen geben, ein Lebendiges, der mir den Sinn meines
Daseins gibt – dachte Renée. Ich muß während meines Lebens in einem
beliebigen Augenblick mit diesem anderen Menschen zusammentreffen, und
er und ich müssen die Notwendigkeit, das Absolut-zu-fordernde dieses
Zusamentreffens wissen oder wissen lernen. Garnicht sofort, gar nicht
diese romanhafte Liebe ‚auf den ersten Blick‘ muß es sein. – Renée
dachte: Wie kann so etwas geschehen? Natürlich – es ist nicht gebunden
an Ort und Zeit – vielleicht könnte es sogar geschehn durch ein
Hörensagen von den Handlungen oder den Worten oder dem Fühlen des andern
Menschen. Und dies, wenn es auch irgend ein gleichgültiger Mund
ausspräche, dieses könnte dann das Bewußtwerden sein, das
Zusammenströmen – – –

Wie nutzlos und ganz gleichgültig war alles, was man tat – ob Renée las
oder schrieb, ob sie froh war oder traurig – wer frug danach? – Es war
ja dieselbe verlorne Einsamkeit, in der sie lebte, wie damals, als sie
ein Kind war. – Nur kam doch damals manchmal Hannsbabo. – Warum war
Hannsbabo ihr fremd geworden?

Renée dachte: Ich fühle, daß er sich ganz umgeben hat mit einer Abwehr
des Gefühls – er will nicht mehr davon sprechen – oder er spricht davon
in einer wilden, aufgeregten Art, und jedes Wort, das er sagt, entfernt
ihn von mir. –

Renée frug bei der Buchhandlung an, ob es denn gar kein Buch gäbe von
Yvonne Capeller. Aber es gab keins. Sie wußten nichts von ihr.

Und Renée hatte nur dies eine Gedicht. Dies, das so schön war, daß man
sehnsüchtig wurde, wenn man es vor sich hinsprach – das so betörend
schön war.

Renée dachte: Nun ist es geschehn. Durch ein Hörensagen, ist
ausgesprochen von irgend einem gleichgültigen Mund – ist ausgesprochen.
–

„Was soll denn das vorstellen?“ sagte Papa, „warum willst du denn
absagen bei Arnims?“ – Er hielt den Brief: ‚Renée von Catte dankt
verbindlichst und bedauert lebhaft‘ ... drohend in der Hand. – „Ich mag
nicht mehr auf Bälle laufen,“ sagte Renée. – „Wieso?“ – „Ich langweile
mich so gräßlich dabei.“ – „Unsinn.“ Papa warf den Brief zornig vor
Renée auf die Tischplatte. „Ich wünsche, daß du hingehst.“

„Aber Papa, du kannst doch nicht verlangen, daß ich hinlaufe und mich
stundenlang langweile, es kann dir doch ganz egal sein.“ Papa erklärte,
es sei ihm durchaus nicht egal. Keineswegs. Es sei einmal Usus so. Und
sonst gäbe es ein Gerede, und die Leute wunderten sich. –

Diesmal wollte Renée durchaus nicht nachgeben. Sie sagte: „Ich gehe
überhaupt nicht aus diesen Winter.“ – Papa schien bedeutend zu
erstaunen. – „Ja, was willst du denn anfangen den ganzen Winter?“ – Gott
sei Dank, nun war es soweit. Nun kam das Positive. Das Positive
verteidigt sich viel leichter als das Negative. – „Ich will Vorträge
hören.“ – „Vorträge, wo denn? Du willst doch nicht unter die Studenten
gehn? Blödsinn.“ – Papa schien sehr aufgebracht. – Renée spielte den
Trumpf aus: „Ach wo, Papa. Es ist nur für Damen im Viktoria-Lyceum.“ –
„Was ist denn das?“ frug Papa. Renées letzter Trumpf besiegte sein
Mißtrauen völlig: „Es ist doch unter dem Protektorat der Kaiserin,“
sagte Renée. „Exzellenz von Kleist ist auch immer da mit ihrer Tochter.“
– „So. Na meinetwegen,“ sagte Papa. Er wandte sich seiner Arbeit wieder
zu. –

Renée suchte sich Vorträge aus. Sie nahm einen über die ‚Entstehung des
Menschen‘, einen kunstgeschichtlichen und einen über ‚Sokrates‘. – Das
Glück wollte, daß der ‚Sokrates‘ zuerst an die Reihe kam. Renée hatte
sich’s nicht einmal so schön gedacht. Der alte Herr mit den sicheren,
klugen Augen, in die ein sonderbares Flackern kam, während er sprach,
der alte Herr mit dem edel geformten Mund sagte seine Dinge mit dem Ton
leidenschaftlichen Begreifens. Er sprach von den letzten Stunden des
Sokrates, von dieser ruhigen, lächelnden Gebärde, mit der Sokrates
gestorben sei.

Er sprach wie von einem Freund, dem einzigen, geliebtesten Freund – und
dann fing auch Renée an, den Sokrates zu lieben. Ob man nicht die
Sprache lernen könnte; wenn es nur nicht so fürchterlich schwer wäre.

Renée hätte so sehr gerne mehr davon gewußt. –

Bei den anderen Vorträgen ging es nicht so zu. Man hörte zu – ja man
behielt einige Dinge, um sie bald wieder zu vergessen oder durcheinander
zu bringen, aber es war so ohne jede Besonderheit.

Der eine jonglierte herum auf seinem Katheder, war einmal oben und
einmal unten mit seinem kleinen, gelben Gesicht, ein anderer bewegte
sich in einer gezogenen und langsamen Weise, während er redete, und
seine Sprechweise war ebenso gezogen und ölig: „Ich bedaure, Ihnen auch
noch diese geistige Anstrengung zumuten zu müssen, meine Damen“ – so
ungefähr redete er. Er verleidete einem die Materie, er begoß alles mit
einer langweiligen Farblosigkeit, dann war es ebenso grau wie seine
Lichtbilder.

Und die Anatomie-Vorträge. – „Nun passen Sie einmal auf, meine Damen,“
sagte der Dozent und führte pfiffig grinsend den Finger an die Lippen, –
die Damen paßten auf – er zeigte ein Glas, in dem ein kleiner, brauner
Fötus saß. – „Nun passen Sie einmal auf.“ –

Als die Kurse gegen das Ende gingen, sah Renée die völlige
Zwecklosigkeit ein. Es war alles Mögliche durcheinander geredet worden,
man hatte eine Weile das befriedigende Gefühl eines Nutzens
herumgetragen. –

In Wahrheit war es völlig sinnlos – in Wahrheit blieb nur das, was der
alte Herr gesagt hatte, weil er es aus einem übervollen Herzen heraus
gesagt hatte – das von dem lächelnden Sokrates. –

„Ich finde es sehr sonderbar,“ sagte Papa, „daß sich weder Sarah nach
Hannsbabo bei mir sehen lassen. Geh doch einmal hin, Renée, und
erkundige dich.“ – „Vielleicht wollen sie ein wenig für sich sein,
Papa.“ – Papa sagte: „Unsinn, geh nur hin.“

Um fünf ging Renée hin. Dann ritt Hannsbabo meist und Sarah war
vielleicht auf Besorgungen in der Stadt. –

Der Diener sagte, die gnädige Frau wäre zu Hause. Mit einem sonderbar
peinlichen Gefühl trat Renée ein, sie hatte ihre Schwägerin so lange
nicht gesehen.

Sarah stand am Fenster ihres Zimmers und wandte sich langsam um, als
Renée eintrat. –

„So lange bist du nicht gekommen, kleine Renée, fast ein Jahr.“ – „O –
war es so lang!“ sagte Renée. „Es kommt, weil ich bei Elisabeth sein
mußte und ...“

„Hat es sogar Gründe?“ sagte Sarah, „das ist mehr, als ich erwartete.“ –
„Sei doch nicht bös zu mir, Sarah. Ich wollte bloß sehen, wie es euch
geht.“ Sarah antwortete: „Mir geht es gut. Er ist in keinem guten
Zustande.“ – „Warum oder inwiefern?“ – „Er hat unangenehme Dinge im
Dienst. Er möchte fort oder sich versetzen lassen, und dann wieder
möchte er es nicht, weil er nicht in die Provinz will.“ –

„Papa könnte doch zu Manteuffel gehen und es ihm besorgen,“ sagte Renée.
„Ja eben; es wäre ganz leicht zu machen,“ antwortete Sarah. „Schließlich
nimmt ihn Reischach auch gern als Brigadeadjutant – aber er will eben
allerlei und niemals etwas Bestimmtes.“

„Was sind es denn für Unannehmlichkeiten?“ – Sarah ging hin und her –
sie antwortete nicht – dann blieb sie vor Renée stehen. – „Er hat
Stubenarrest gehabt wegen einer Affäre mit Prinz Johann.“ – „Das ist
doch ganz egal, so was!“ – „Ihm ist es eben nicht egal,“ sagte Sarah. –

„Papa frug, ob ihr nicht einmal kommen würdet?“

Sarah lachte. „Rückt der Diplomat nun endlich damit heraus? – Ja nun. Er
wird nicht wollen.“

„Warum denn nicht?“ frug Renée. – „Ach, so – er redet nicht gerne, und
er sagt, Menschen ärgerten ihn nur und machten ihn nervös. –“

„Ja, aber Papa – –“ sagte Renée indigniert. Sarah zuckte die Achseln:
„Er wird wohl warten müssen.“ –

„Aber, Sarah, könntest denn _du_ ihn nicht veranlassen? Wenn du ihn nun
bätest.“ – „O – ich bitte ihn nie, um nichts. Und nun – wechseln wir das
Thema, kleine Renée.“ – „Aber so komm du doch wenigstens,“ wagte Renée
noch einzuwenden. Sarah schüttelte energisch den Kopf. „Ich hasse es,
ausgefragt zu werden,“ sagte sie.

Nebenan die kleine Uhr auf den Alabastersäulen schlug. Sarah sagte: „Tu
mir den Gefallen und geh. Er wird in einer halben Stunde zurückkommen
vom Tattersall, ich möchte nicht, daß er dich eben jetzt bei mir träfe.“
– Renée zögerte, wunderte sich. – „Geh bitte, sei nicht bös, es ängstigt
mich.“ – Renée ging. Sie sah ganz von weitem schon Hannsbabos Dogcart
und lief schnell um die Ecke.




Renée bekam eine Anzeige, daß ihre frühere Schule einen Lateinkurs
eingerichtet habe. Sie meldete sich an.

Als Renée kam, waren sie schon mitten drin. Eine spitzige Lehrerin nahm
daran teil, eine blasse, sehr blonde Person und ein Zwillingspaar, Renée
war die fünfte. Die sehr Blonde sagte nach der ersten Stunde, sie müsse
Renée schon irgendwo einmal gesehen haben. Ihr Name sei Margit Roeren. –
Renée wußte nichts davon – sagte: „Vielleicht in der Tanzstunde oder auf
irgend einem Ball.“ – „Ich habe niemals Bälle und dergleichen
aufgesucht,“ antwortete Margit Roeren mit fühlbarer Ablehnung. –

Sie gingen eben am Ufer entlang, als sie sprachen, und Renée sah die
andre einen Augenblick an, sah, daß sie Trauer trug. – Margit Roeren
schien es zu bemerken. – „Ich habe seit fünf Jahren unablässig Trauer,“
sagte sie, „meine Brüder haben die Gewohnheit sich zu erschießen, einer
nach dem andern. – Hingegen ich werde zuverlässig von dieser Gewohnheit
abweichen.“ –

Renée kam ein unsympathisches und bedrückendes Gefühl, so ganz ohne
Grund eingeweiht zu werden in diese Geschehnisse – sie schwieg und
vermied es, die andere anzusehen. – Die frug gleichgültig: „Eigentlich
warum nehmen Sie teil an diesem lächerlichen Lateinkurs?“ –

„Ich weiß es in Wahrheit nicht. Ich glaube aus Langeweile,“ meinte
Renée. – Margit Roeren ereiferte sich: „Nicht wahr, ja gerade aus eben
diesem Grunde tue ich es auch. Aber ich finde, es ist noch langweiliger
als Langeweile.“ – „Man lernt so langsam,“ sagte Renée, „und man ärgert
sich so an sich selbst. Diese verflixten Deponentia! Ich werde sie mein
Leben lang als Passiva gebrauchen.“ – „Ach, es kommt noch ganz anders,“
sagte Margit Roeren, „wenn erst die Syntax losgeht.“ – „Sagen Sie, was
ist das eigentlich genau genommen?“ Die andere lachte: „Genau genommen
ist gut! Es ist so Satzlehre. Was für Casus die Wörter haben und ob mit
Conjunctiv oder ohne – solches Zeugs eben.“

Nach einer Pause – nun waren sie schon an der roten Brücke angelangt –
sagte Margit Roeren: „Ich habe eine Frage an Sie, übel nehmen tue ich
eine Abweisung nicht. Wollen Sie mit mir verkehren?“

„Ich will es gern.“ Margit Roeren lächelte auf einmal in einer sehr
scheuen Art, sie sagte: „Sie werden nachher doch nicht mehr mögen. Aber
– es freut mich sehr.“ Sie gab Renée die Hand und lief quer über das
Trottoir gerade noch vor einem Wagen hin. Renée sah sie in eins der
Häuser gehen. –

In einer der nächsten Lateinstunden lud sie Renée ein. Renée hatte erst
einen Kampf mit Papa. „Man geht nicht so ohne weiteres zu irgend welchen
unbekannten Damen,“ sagte er. „Sieh wenigstens mal im Adreßbuch nach.“ –
Margit war dort nicht aufzufinden, es gab auch keinen dazugehörigen
Vater noch Mutter. – „Immer diese obskuren Bekanntschaften,“ brummte
Papa. Aber dann ließ er Renée doch gehen.

Margit Roeren hatte ein weiches, seidnes Kleid an von der Farbe ihres
Haares. Sie brachte Renée in eine Ecke des Zimmers, wo bereits mehrere
Leute saßen, dann ging sie in die Mitte, und während nebenan die Musik
einsetzte – Harfe und Flöte – begann sie zu tanzen. – Sie hatte einen
schweren, goldenen Stab in der Hand, den sie mit wirbelnden Gesten um
den Kopf schwang. Sie stieß den Stab auf den Boden und sprang mit einem
katzenartigen Aufbäumen daran hoch – dann sank sie nieder mit einem
leisen Aufschrei –

Renée hatte eine instinktive Bewegung gemacht, um zu helfen – ein Mann
neben ihr legte mit warnendem Ernste die Hand auf ihren Arm. –

Margit sprang auf – in einem wilden Wirbel taumelte sie an die Wand –
dann sah sie um sich mit rasenden Augen – der goldne Stab lag in der
Mitte des Zimmers. –

Margit sprang vor, sie warf den Stab in die Luft und fing ihn wieder auf
ihren ausgestreckten Armen – sie warf ihn von neuem – fing ihn auf –
wieder – sie ließ sich niederfallen, sie fing ihn auf mit ihrem Körper –
sie seufzte, als er aufschlug. –

Die Leute neben Renée standen auf. Der Herr winkte ihr und deutete nach
nebenan. Dann schloß er die Türen. Kaum war das geschehen, so begann er
aufgeregt auf Renée einzureden: „Ist es nicht wundervoll, ist es nicht
offenbarend? Sie tanzt in Trance. Sie fühlt keinen Schmerz. Natürlich,
Sie haben das bemerkt. Es ist ein ganz außerordentlicher Fall von
Medialität – haben Sie das Hervortreten der Augen beobachtet und die
vergrößerten Pupillen?“ – Dann verbeugte er sich: „Sie verzeihen, ich
vergaß der Sitte nachzukommen. Ich heiße Tschernikoff, Dr. med., das
heißt, jetzt widme ich mich lediglich dem Studium okkultistischer
Phänomene. Dem übersinnlichen.“

Renée frug: „Tanzt Margit Roeren oft?“

„Gewiß, ja gewiß! Aber sie führt noch anderes aus. Zum Beispiel der
Versuch der sogenannten Kraftprobe.“ –

„Was ist das?“ – Doktor Tschernikoff begann leidenschaftlich zu
gestikulieren: „Also man stellt die Dynamik, – das will sagen die
Kraftmöglichkeiten eines Menschen fest bei normaler psychischer
Verfassung. So und so viel kann er heben, tragen und so weiter, mehr
nicht. Dann versetzt man ihn in Hypnose. Nun zeigt sich die Differenz
aufs eklatanteste. Wir können es heute machen.“ –

„Ach, lieber nicht“ sagte Renée erschreckt, „sie ist schon so ermüdet.“

Der Doktor lachte verächtlich. „Nein, keineswegs. Das tut ja auch gar
nichts zur Sache. In Trance fühlt sie keine Müdigkeit, keine
Anstrengung, keinen Schmerz. Sie werden sehn“ – der Doktor lief hinaus.
–

Die anderen Leute redeten Russisch. Sie bedeuteten Renée, daß sie leider
_nur_ Russisch könnten, indem sie mit Gesten äußerster Hilflosigkeit
sich auf die Lippen klappten und die Achseln zuckten.

Der Doktor riß die Tür auf und rief etwas Unverständliches. Er führte
Margit an der Hand herein – in der Mitte des Zimmers lagen mehrere
eiserne Gegenstände – altertümliche Waffen, es hingen eiserne Kugeln von
verschiedener Größe daran. Margit hob eine, eine zweite, die dritte und
vierte war zu schwer. Der Doktor versuchte sich daran und die anderen
Russen. Sie schienen ziemliche Mühe zu haben – Renée bekam Lust. – Renée
hob mit äußerster Anstrengung die dritte. „Dann ist diese
selbstverständlich zu leicht, wenn eine Frau im normal psychischen
Zustande sie heben kann,“ sagte Doktor Tschernikoff. „Wir werden also
die vierte nehmen.“ – Renée versuchte die vierte. Sie brachte sie nicht
vom Boden.

Der Doktor lächelte und nickte befriedigt vor sich hin. „Margit wird sie
in der Trance heben,“ sagte er. Er führte Margit hinaus. Einer der
Russen begann Flöte zu spielen. –

Dann kam Margit – sie ging mit steifen Schritten, deren Rhythmus sich
dem des Flötenspiels sonderbar anschloß. – Renée war in großer Erregung.
Sie wollte dazwischentreten und es verbieten – sie ging auf die Russen
zu und sagte ihnen auf Französisch, sie müßten den Doktor zurückhalten.
Es sei Wahnsinn, und Margit würde sich schaden, krank werden, sich
ruinieren, wenn sie diese Kugeln hob. – Sie lächelten töricht, klappten
sich auf die Lippen, zuckten die Achseln. –

Margit faßte das lange Ding an mit der großen, eisernen Kugel, sie
brachte es nicht vom Boden. Der Doktor trat neben sie, er faßte sie bei
den Schultern und sprach zu ihr mit einer leisen, monotonen Stimme –
Margit versuchte es von neuem. Sie faßte es an – dann kam ein Beben in
ihre Glieder, sie sagte: „Ich kann nicht.“ Der Doktor redete auf sie ein
– sie warf die Hände vors Gesicht und weinte. – Die Türen wurden
geschlossen.

Renée wollte warten, wollte Margit beruhigen, ihr irgendwie helfen. Sie
blieb. Die Russen gingen, sie verbeugten sich ungeschickt an der Tür. –

Nach einer langen Zeit, es mochte eine Stunde sein, kam Margit. Sie trug
wieder Schwarz und sah wieder blaß aus.

Sie kam langsam auf Renée zu, die aufgestanden war. – „Was haben Sie mir
getan? Wenn Sie es doch nicht getan hätten.“ – „Was denn?“ Margit lehnte
sich ans Fenster. Sie stützte die Arme auf das Brett. „Warum haben Sie
das gesagt, ich sollte dies unmögliche Ding aufheben?“ – „Ich – ich
wollte nur selbst versuchen, ich habe doch gar nichts gesagt! Ich wollte
sehen, wieviel Kraft Sie hätten in der Trance.“

Margit lachte höhnisch: „Ich sage Ihnen, es ist Unsinn. Ich kann das
andere heben mit der größten Anstrengung – dieses nicht, dieses ist viel
zu schwer, nie kann ich das.“ –

„Aber Doktor Tschernikoff sagte doch, in der Hypnose ...“

Margit lachte – wie das Schreien von irgend einem Vogel klang es. –

„Ja – gewiß. Er meint das. Ich lasse ihn dabei. Aber es ist Unsinn.“ –

„Warum sagen Sie ihm das nicht einfach?“ – Margit stieß einen harten
Laut aus, lachte: „Sagen? Dann ginge er fort! Dann – ginge er fort –.“
Ihre Worte klangen wie ein Wimmern. –

„Ich verstehe es alles nicht,“ sagte Renée. Margit trat vor sie hin;
während sie sprach, stand sie ganz nah und schüttelte die Fäuste vor
Renées Gesicht – immer dicht vor Renées Augen. –

„Er liebt mich nicht,“ schrie sie, „nicht mich. Nur das Mediale. Nur
diesen Unsinn, das Hirngespinst, die Qual. Das liebt er. Und wenn ich es
ihm nicht tue, geht er fort – geht fort.“ –

Sie trat zurück ans Fenster, sie sprach weiter, ihre Sprache wurde
lauter, heller, schließlich gellend – schließlich schrie sie: „Er geht
fort. Nur dies hielt ihn noch!“ ... Sie weinte. –

Renée streichelte ihr Haar, ihre Hände, in dem verzweifelten Bemühen zu
trösten. „Sie müssen nicht weinen, Margit. Sehn Sie, das lassen Sie nun
alles und trennen sich von diesem Menschen. Sehn Sie, Sie können, Sie
dürfen diese Dinge nicht mehr tun. Es sind ja Wahnideen von ihm.“

„Nein,“ schrie Margit. „Ich kann nicht. Ich kann ihn nicht lassen.“ –

Renée wußte ihr nicht zu helfen. Es grauste ihr, und eigentlich fand sie
alles maßlos und wahnsinnig – und eigentlich wäre sie am liebsten
fortgelaufen, ohne sich auch nur umzusehen. –

„Ich merke, nun kommt Ihnen der Ekel vor der ganzen Bagage,“ sagte
Margit Roeren.

Renée schämte sich ihres Gedankens und schämte sich, verstanden worden
zu sein. – „Reden Sie doch nicht so,“ sagte sie. „Es ist nur, ich möchte
helfen und weiß nicht wie, und ich meine, Sie sollten diese Dinge nicht
weiter tun.“ –

Margit Roeren sah Renée mißtrauisch an. „Am Ende tun Sie besser, sich
nicht mit diesen Dingen zu befassen, Fräulein von Catte,“ sagte sie.
Renée überhörte das. Sie nahm Margits Hand. Sie sagte: „Sie müssen sich
von diesem Menschen trennen, Sie dürfen diese furchtbare Komödie nicht
weiter aufführen. Und dann – ich muß Ihnen sagen, ich glaube, dieser
Russe ist verrückt, geisteskrank.“ –

Margit Roeren schüttelte den Kopf. „Sie Unschuld – o Sie Unschuld!“ Sie
lachte, sie wollte gar nicht aufhören mit Lachen. – Es war ein so
widerliches, ein so widerlich-überlegenes Lachen. – Renée ging eilig
fort. –

Als sie auf der Straße war, fiel ihr allerlei ein:

Ein peinlich penetranter Geruch war in den Räumen gewesen von Parfüm und
Räucherwerk wohl, und es war so eine exotische Einrichtung mit lauter
Fellen und Waffen. –

Und wie diese Russen sich immer auf den Mund schlugen, wie blöde sie
grinsten. –

Dann, als Renée nach Hause kam, hatte sie richtig ein schlechtes
Gewissen gegen Papa. Papa hatte es doch gleich gesagt. Dann dachte sie:
Das arme Ding! Muß ich ihr nicht helfen? Ist es nicht eines Menschen
Pflicht? Und wiederum war sie nicht so ganz sicher in dieser Auffassung.
–

Eines Abends kam Sarah. Renée war in ihrem Zimmer und las; manchmal sah
sie über das Buch weg auf die Straße, wie die Straße glitzerte vom
Regen. Im feuchten Asphalt spiegelten sich die Flammen der Laternen und
die Bogenlichter vor den Läden. – Jemand öffnete leise und sagte ihren
Namen. –

„Wie ist das schön, daß du ein wenig kommst, Sarah. Und wie geht es
Hannsbabo?“ – „Es ist nichts Neues mit ihm.“ Sarah setzte sich auf die
Bank hinter Renées Schreibsessel. – „Ich sehe ihn wenig. Und du – was
tust du, Renée?“ –

Renée lachte: „Was eigentlich? Nichts. Ich sitze so da und habe ein Buch
vor der Nase. Und nun freue ich mich, daß Sarah da ist.“

Sarah betrachtete das Buch. – „Geschichte,“ sagte sie. „^Oh dear.^“
Dabei zog sie ein ganz klein bißchen den rechten Mundwinkel herunter.
„Ist das nun sehr langweilig?“ –

„Hast schon recht, Sarah. Außerdem behält man nichts. Man hat immer am
Ende den Anfang vergessen.“ Sarah faßte das Buch an beiden Seiten und
klappte es zu: „Bumms! Ich möchte mit dir was sprechen, kleine Renée.
Sag mir, glaubst du, dein Vater ist böse auf deinen Bruder?“ –

„Ich weiß nicht.“ – „Und sage mir, weiß dein Vater von der Sache mit dem
Prinzen?“ –

Renée wußte das nicht. Renée wollte sich gleich erkundigen, wenn Sarah
wünschte. – Sarah begann hin und her zu wandern im Zimmer. Sie redete in
kurzen Sätzen, indem sie die Worte langsam aussprach mit einer gewissen
Bedenklichkeit. –

„Es ist dies geschehn,“ sagte sie. „Der Prinz hatte sich sehr mit
Hannsbabo angefreundet. Ich weiß nicht, was sie so aneinander fesselte.
Aber er kam fortwährend. Man wurde ihn gar nicht los. Hannsbabo brachte
ihn mit vom Dienst, vom Reiten um sechs, und um Mitternacht saß er noch
da. Und nun das Sonderbarste. Hannsbabo war bei aller Freundschaft in
irgend einer Weise eifersüchtig auf ihn.“ –

Sarah hob ein wenig den Kopf beim Gehen, nur sehr wenig, und sah nach
Renée. – „Er hatte keinerlei Grund,“ sagte sie. „Der Prinz also kam
jeden Tag. Und dann war bis in die Nacht hinein ein großes Gelärm. –
Dann paßte es mir nicht mehr. Ich ging um zehn zu Bett und sagte, ich
wäre sehr müde. Der Mensch blieb. Er war noch nicht müde. Er saß mit
Hannsbabo bis zwei. Sie tranken. Sie tranken ohne Ende. Dann verbot ich
das. Hannsbabo versprach: ‚Morgen schick ich ihn um elf weg‘.

„Um Mitternacht gab es einen großen Lärm vor der Tür meines Zimmers. Und
dann schimpften und rauften sie und forderten sich. – Dies ist
widerwärtig. Es genügt, was ich erzählt habe. – – Ja, was ich wissen
wollte, ist dies: In welcher Form ist die Sache an seinen Vater
gelangt?“ –

„Ich glaube nicht, daß Papa davon weiß.“

„Ich wünsche, daß er es weiß,“ sagte Sarah.

„Aber Sarah, warum denn? Laß es doch. Nachher wird Papa nur böse gegen
Hannsbabo und Hannsbabo wird böse – o, es ist so furchtbar, wenn die
beiden aneinanderkommen.“ –

Sarah stand einen Augenblick still. –

Sie betrachtete Renée. Sie lächelte – fast nur mit den Lippen – dann
warf sie den Kopf zurück mit dieser sonderbar schroffen Bewegung. –

„Ich konnte mir das denken, daß du viel zu sehr _ihn_ lieb hast, um
diese Sache irgendwie einzusehn,“ sagte sie. „Ich werde nicht mehr davon
mit dir reden.“ Sarah ging hinaus.

„Sei doch nicht bös, Sarah, hör doch.“ – Renée lief ihr nach.

Sarah nickte ihr lächelnd zu. Sarah warf ihren großen braunen Pelz um.
Kaum hörbar schloß sie die Tür. –

Was konnte nur geschehen sein? Renée wurde die ganze Zeit das drückende
Gefühl eines Unrechts gegen ihren Bruder nicht los. Sie hätte ihn warnen
müssen, falls Papa es doch erfuhr. Damit er vorbereitet war. Damit er
nicht so erschrak. Nicht überrascht wurde. Und dann wieder – Sarah war
zu ihr gekommen aus Vertrauen. Nun sollte sie vorgreifen – sollte das,
was Sarah gesagt hatte, ausbeuten zu einer eignen ‚guten Tat‘. –

Papa schien doch irgend etwas zu wissen. Er studierte das
Militärwochenblatt so genau. –

In den Lateinstunden saß Margit Roeren Renée gegenüber, ohne sie
anzusehn. Und wenn Margit Roeren aufsah, so war es ein scheuer,
trauriger Blick. Renée fühlte sich gequält, hilflos, weil sie nicht
helfen konnte. –




Es war wie eine Befreiung, als sie mit Papa nach Groß-Gehren
übersiedelte. Es war frei und gut, in dem großen Garten mit den graden
Buchsbaumwegen umherzugehn. –

Nun sah sie wieder das dunkle, dunkle Wasser, und gegen den Juni begann
das einförmige Quaken der Frösche an den warmen Abenden. Und alles dies
machte ruhig, gab eine weiche Müdigkeit. – –




Im Sommer kam Elisabeth. Sie brachte das Baby mit. Bill wurde in das
große, weiße Zimmer einquartiert, das Renée als Kind gehabt hatte.
Elisabeth sorgte viel um ihn. Renée sah sie kaum in der ersten Zeit.

An einem Sonntag kam Viktor herüber. – Am Abend dieses Tages fand Renée
Elisabeth sonderbar verstört und erregt. Elisabeth wartete nicht, bis
Papa seine abendliche Zigarre geraucht hatte; schon als Papa vom Tisch
aufstand, zog sie Renée in den Garten.

„Was Viktor erzählt hat,“ begann sie, „diese Skandalgeschichte von
Sarah. Ich sage dir –“

Renée wußte erst gar nicht – „Skandal, was denn?“ Elisabeth hatte sie
unter den Arm gefaßt. – „Denke dir, was angefangen hat sie mit Prinz
Johann; Hannsbabo hat ihn gefordert.“ –

Renée fuhr auf. „Es ist unwahr,“ sagte sie, „das ist eine ganz gemeine
Lüge.“ – Sie erzählte, was sie von Sarah wußte. Elisabeth unterbrach sie
nicht. Elisabeth munterte sie auf durch Fragen – Zwischenreden. –

Zum Schluß sagte Elisabeth: „Recht gewandt hat sie sich herausgelogen.“
–

Renée war außer sich, rief Elisabeth irgend ein Schimpfwort nach und
lief ins Haus. –

Sie wartete gar nicht auf Entgegnungen und Erklärungen. Sie schrieb an
Hannsbabo. Als sie zur Post ging, daß der Brief noch mitkam, fiel es ihr
irgendwie auf die Seele, daß sie vielleicht anders hätte schreiben
sollen – ruhiger – vorsichtiger. –

Vor der Postagentur traf sie den Boten, der nahm ihren Brief mit. –

Elisabeth sagte, es sei empörend, welche ungehörige Ausdrucksweise Renée
habe; natürlich könnte man nichts mit Renée ruhig besprechen. Dieses
ewig auffahrende, heftige Wesen, das sie bereits in der Kindheit zur
Schau getragen hätte. –

„Als Kind hattest du vierzehn Erzieherinnen, da auch niemand es mit dir
aushielt,“ sagte Elisabeth. Sie murmelte dann etwas von Unreife.

Von Hannsbabo kam die Antwort:

„Du tust mir unrecht, wenn du glaubst, ich sei lässig, Sarahs Ehre, die
die Meine ist, gegen jedermann hochzuhalten. Ich danke dir. Ich habe an
Elisabeth geschrieben.“

Am Abend rief Papa Renée zu sich. „Es ist durchaus indiskret von dir,“
so sagte er, „daß du Elisabeths natürlich unter vier Augen geäußerte
Dinge weitergegeben hast. – Du wirst nun sorgen müssen, daß wenigstens
die Version, die ich jetzt, um die Spitze abzubrechen, der Sache gegeben
habe, aufrecht erhalten bleibt, auch von dir aus,“ – Papa betonte das, –
„nämlich daß Elisabeth es nicht von Viktor gehört hat, sondern von
irgend einer alten Dame, deren sie sich nicht genau erinnert und daß –“

„Pfui, ist der Viktor ein feiger Kerl!“

„Rede doch nicht immer so unreifes Zeugs,“ donnerte Papa. „Glaubst du
etwa, ich habe Lust, mir Sohn und Schwiegersohn aneinanderhetzen zu
lassen von eurem albernen Weibergewäsch.“ –

Renée wurde wütend: „Ich kann nichts dafür, und daß ich indiskret wäre,
laß ich mir auch nicht sagen und überhaupt gehört das für Elisabeth,
dein Schelten.“ –

„Na ja, es ist sehr töricht von Elisabeth,“ sagte Papa einlenkend.

Renée antwortete nicht. Sie lief ärgerlich fort und ließ Papa allein.
Draußen stolperte sie fast über Bill, der sich brüllend auf der Erde
herum rollte. –

Sie mußte lachen auf einmal. – Da war der Cattesche Hartschädel auch
schon in dem winzigen Kerl. –




„Na, ein Gutes haben solche Geburtstage doch,“ sagte Papa eines Morgens.
„Die zerspaltenen Familienmitglieder sammeln sich.“ – Elisabeth horchte
auf. –

„Also Hannsbabo und Sarah werden am achten hier eintreffen und eine Zeit
seines Urlaubs hier verleben.“ –

Elisabeth beugte sich vor, aber da Papa bereits den Brief wieder zu sich
steckte ... „Wer schreibt?“ frug sie. „Sarah schreibt,“ sagte Papa, „und
Hannsbabo schließt sich mit Grüßen an.“ –

Nach dem Kaffee konnte Elisabeth es doch nicht aushalten. So herrlich
und ersprießlich auch Bills Gesellschaft war, über Sarah und Hannsbabo
konnte man nicht mit ihm reden, unmöglich. – Elisabeth mußte also mit
Renée vorlieb nehmen. –

„Warum, glaubst du, kommen sie?“ frug Elisabeth. Renée sagte: „Ich ahne
es nicht.“

„Ach, Renéechen, sei doch nicht immer so muffig.“ – Renée schwieg. „Ob
Sarah wieder einen besseren Eindruck hervorrufen will in der Familie?“ –
–

Renée holte sie von der Bahn. Wie sie so dastand und den Zug von weitem
kommen sah, den winzigen, schwarzen Punkt neben der hellen Rauchflocke –
wurde ihr ein wenig angst. Wie würde Papa ihn empfangen, und Elisabeth –
wenn sie nun wieder ihre taktlose ‚Offenheit‘ hervorkehrte! – –
Hannsbabo stieg aus. – Renée sah es gleich, wie blaß er war – nach ihm
kam der Machnower Arnim – dann stieg Sarah aus. Herr von Arnim hatte ihr
die Hand gereicht. Renée begrüßte sie, nahm Sarah den Schirm ab. –
Hannsbabo ging voran. Während der Fahrt mußte Renée sich Mühe geben, ihn
nicht immer anzusehen. Ein sonderbarer, kleiner Zug war um seinen Mund
von Überdruß. –

Sarah frug nach Papa, nach Elisabeth, nach dem Baby. Sie sprach schnell
und aufgeregt. Nicht einmal richtete sie das Wort an Hannsbabo. –

Nach dem Abendbrot saß man auf der Veranda draußen. Papa rauchte, neben
ihm saß Sarah. Hannsbabo ging hin und her auf dem Platz am Wasser, und
manchmal blieb er stehn – vielleicht hörte er zu, was sie sprachen. –

Auch Elisabeth war da. Sie saß Sarah gegenüber mit irgend einer
Näharbeit für Bill. Alle schwiegen. Papa sah ab und an zu Hannsbabo
hinüber, nur so mit den Augen, ohne eigentlich den Kopf zu bewegen. Er
sah müde aus, und Renée fand, man merkte auf einmal etwas von seinem
Alter. Plötzlich hörte Renée Sarah sprechen – sie wandte sich um. –

Sarah hielt den Oberkörper ein wenig vorgebeugt und stützte die Hände
auf die Platte ihres Stuhles. Sie hielt die Lider der Augen halb
geschlossen und sprach. –

„Du hast, Elisabeth,“ sagte sie, „es für richtig befunden, einen
unverschämten Klatsch, welchen irgend einer deiner Freundschaft dir
hinterbracht haben mag, über mich zu verbreiten. Ich mache dich
aufmerksam, daß ich derlei nicht zulassen kann,“ – sie machte eine
Pause. – Elisabeth hielt ihr Nähzeug in der Hand und betrachtete mit
starrem Entsetzen Sarah. –

Papa – ein ganz bißchen lächelte er – hielt seine Zigarre steif vor dem
geöffneten Munde und betrachtete erstaunt Sarah. Sarahs Gesicht blieb
unbewegt. Kaum daß sich unter den Lidern ein wenig die Augen hoben. –

„Ich erwarte,“ fuhr Sarah fort, „daß du mir den Brief zeigst, den du zur
Regelung der Sache an den Urheber augenblicks schreiben mußt, ich werde
dann den Brief abschicken. Ich denke, nach dem wirst du dich bei mir
entschuldigen. – Dann würde ich die Sache für erledigt erachten.“ –

Renée sah genau Sarahs Gesicht. Eben jetzt kam das heimliche Lächeln,
das Sarah manchmal hatte, das nur von den Lippen herrührte. – Sarah
sagte: „Andernfalls wird dein Bruder die Angelegenheit mit dir und
deinem Manne zu erörtern haben.“

Hier mischte sich Papa hinein. Er beugte sich vor, klopfte mit einer
besonders ruhigen Art die Asche von seiner Zigarre und sagte: „Oho,
Sarah. Nur nicht gleich so tragisch. Müssen denn immer die Männer wegen
solcher Lappalien auf die Beine gebracht werden?“ – Sarah wandte sich
herum – eigentlich fuhr sie herum – und sah Papa ins Gesicht.

„Das ist nicht ‚Lappalien‘,“ sagte sie. „Das ist die Hauptsache.“ Sie
erhob sich, sie sagte: „Ich überlasse das Weitere deinem Sohne.“ Dann
ging sie zur Tür. – Renée sprang auf, im selben Augenblick erhob sich
Papa. – „Aber Sarah, bleib mal hier, nicht wahr, und laß uns die Sache
ruhig besprechen – schließlich –“

„Ich werde hierbleiben,“ antwortete Sarah. „Aber ich muß an dem
festhalten, was ich bereits sagte. Wenn es dir recht ist,“ – Sarah sah
mit einem außerordentlich zuvorkommenden Lächeln zu Papa hinüber – „wenn
es dir recht ist, so gehe ich ein wenig mit Renée in den Garten so
lange. Würdest du mir meine Jacke geben, Renée?“ –

Als Renée mit der Jacke zurückkam, fand sie Sarah und Hannsbabo am
Wasser. Sie standen nebeneinander. Es schien, sie sprachen nicht. –
Sarah schob ein wenig ihren Arm unter Renées Arm beim Gehen.

Sie waren schon eine ganze Weile gegangen, dann frug Sarah: „Warum sagst
du nichts?“ –

„Dieses Ganze bedrückt mich so,“ antwortete Renée. „Ich weiß nicht
eigentlich den Grund.“ – „Was ist es? Meine Angelegenheit mit Elisabeth?
Aber –“ „Nicht eben das, Sarah. Aber sage mir, wie kommt es, daß diese
Sache überhaupt geredet worden ist?“ – Sarah machte ein hochmütiges
Gesicht. „Weil sich dein Bruder außerordentlich taktlos verhalten hat,“
sagte sie.

Renée dachte daran, wie sie Hannsbabo heute wiedergesehen hatte, mit
diesem Überdruß im Gesicht. –

„Oh. Sarah. Wie ungerecht du bist. Er leidet nicht weniger, weiß Gott,
als du.“ – „Ich leide nicht darunter,“ antwortete Sarah. – Renée sah sie
an, erstaunt, sah Sarahs ruhiges, gleichmütiges Gesicht. „Mir ist es
völlig einerlei,“ sagte Sarah. „Nur – es paßt mir nicht, das Odium
irgend einer Handlung auf mich zu nehmen, die ich weder getan habe, noch
die zu tun mir irgend eine Annehmlichkeit bedeuten könnte.“ –

„Es paßt dir nicht? Aber du begreifst gar nicht, Sarah. Es ist
Hannsbabo, der leidet – und nicht du. Ein Mensch will doch niemals
denjenigen, den er liebt, leiden machen. Ich glaube, hassen müßte man
alle, die ihn leiden machen. – Oh, und selbst einer zu sein von denen,
die ihn quälen – entsetzlich ist das –“

Sarah wandte sich um. – „Kleine Renée,“ sagte sie, „du phantasierst!“ –

„Sag mir doch, Sarah, fühlst du das nicht?“ – „Es gibt viel mehr
Versionen der sogenannten Liebe, als du es ahnst,“ antwortete Sarah. –
„Aber wenn man doch sieht, daß der andre Mensch leidet – leidet. Wenn
man sieht, daß jede Freude, jedes Glück, jedes Lächeln von ihm genommen
wird – und bleibt nichts als Bitterkeit.“ –

Sarah und Renée gingen weiter; sie schwiegen beide; auf einmal blieb
Sarah stehn, faßte Renée den Armen. – „Meinst du mich?“ sagte sie mit
einem bösen, schroffen Ton. „Dich? – ich weiß nicht – ich meine
niemand.“

Sarah wandte sich zum Gehen. – „Solltest du mich meinen,“ sagte sie, „so
irrst du dich einigermaßen. Du wirst das wohl selber bald einsehn.“ –

Sie gingen zum Haus zurück. –

Als Renée nach einer Stunde etwa zur Veranda kam, war niemand mehr da.
Sie fand Papa in seinem Zimmer.

„Es ist eine verteufelte kleine Person, diese Sarah,“ sagte er,
„Donnerwetter, die ist dazwischen gefahren! – Und den Jungen hat sie an
der Strippe.“ –

„Was ist denn noch gewesen,“ sagte Renée. „Na, sie hat ja nicht so ganz
unrecht,“ sagte Papa. „Elisabeth wird fernerhin ihren Mund etwas hüten
müssen. Der Viktor ist eben ein bißchen schlapper Kerl. Na – hat Sarah
dir sonst noch was anvertraut?“ –

„Nein,“ sagte Renée, „gute Nacht, Papa.“ Sie küßte Papas Stirn. „Gute
Nacht, mein Kind.“ –

Elisabeth war von sanfter Güte von nun an gegen die Schwägerin. Es
zeigte sich schon am andern Morgen, es zeigte sich vornehmlich darin,
daß sie Partei ergriff gegen Hannsbabo. –

Elisabeth und Renée saßen am Kaffeetisch. – Hannsbabo kam. Er sagte kein
Wort. Er setzte sich schweigend. – Elisabeth markierte ein verzeihendes
Lächeln. – „Kommt Sarah auch schon?“ frug sie. – „Ich weiß nicht“ –
„Nun, du hättest doch wirklich einmal nach ihr sehen können, ehe du
heruntergingst, ich finde –“

„Laß das alberne Geschwätz,“ sagte Hannsbabo. – Er sah nicht um sich. Er
nahm vom Brotteller, was er gerade zu fassen bekam, und fing an es zu
essen. – Renée reichte ihm die Butter, er nahm es nicht an, er sagte:
„Laß mich in Ruh!“ –

Dann kam Sarah. Elisabeth lief ihr aufgeregt entgegen – dann ging sie
hinaus. Man hörte sie Toast bestellen für die gnädige Frau, daß sie ja
recht heiß hereinkämen.

Hannsbabo sah gar nicht auf. – Sarah trat an den Tisch, einen Augenblick
blieb sie stehn, sah ihn an. Hannsbabo wandte ihr langsam die Augen zu –
bewegte nur die Augen. –

Renée fühlte eine atemlose Angst plötzlich – was würde geschehn. Sie
murmelte irgend etwas von Schokolade, die Johann wieder vergäße, und
lief hinaus. –

Später sah sie Hannsbabo auf dem Balkon sitzen, da wo man ganz weit
hinsehen kann über die Fläche des Wassers. Er saß still gegen den hellen
Himmel. –

Eine Weile betrachtete ihn Renée. Sie war gar nicht weit, aber er sah
sie nicht. Er nahm den Blick nicht weg vom Wasser. Gerade in den
Horizont sah er hinein, da wo Wasser und Himmel in einem sanften Grau
zusammenkamen. –

Was dachte er wohl? Dachte er an früher? Dachte er jetzt an seine
Kindheit – wie Renée es eben tat – seine Kindheit, die mußte viel
schöner gewesen sein, als damals, wo Renée klein war.

Für Hannsbabo gab es noch die Mama, die sie die ‚schöne Frau von Catte‘
nannten, die blond war und die so schöne Märchen erzählte. Wenn Renée
nachdachte – wie wenig eigentlich wußte sie von der Mama. Glücklich war
sie nicht gewesen und so früh gestorben. – – –

Renée dachte: Glückliche Menschen sterben spät, aber wenn Menschen sehr
traurig sind, die denken so sehr an den Tod, bis er da ist. Ob solche
Menschen lächeln, wenn sie sterben? Ob das möglich war, das Ende aller
Dinge anzunehmen mit Lächeln? –

Renée ging durch den Garten. Von dem großen Strauch an der Gartentür
nahm sie ein paar Rosen mit. Still war der Kirchhof unter der
mittaglichen Glut. Über den ältesten Gräbern standen schöne Steinkreuze,
vom Regen gedunkelt, und manchmal waren Feuerlilien darauf gepflanzt –
dicht standen sie an so einem verdunkelten Kreuz. Aus einem steilen
Hügel ohne Stein stieg ein Lebensbaum auf, tief und schwarz.

Hinter der Kirche lagen die Gräber der Cattes. Eine Weide stand darüber
und hing ihre Zweige tief hinunter, breitete ihre silbernen Zweige aus
über dem Efeu der Gräber. Renée nahm einen dürren Kranz fort und legte
ihre Rosen hin, wo geschrieben stand: ‚Ursula Elisabeth Renée von
Catte‘. –

Sie legte die Rosen auf ihren eignen Namen da auf dem Stein. – Hier war
nur wenig Raum. Renée dachte: Man muß dann das Gitter größer machen,
wenn wir da liegen sollen, dann wird mehr Platz unter dem Flieder – das
schöne, feine Gitter mit den gekreuzten Pfeilen. –

Was bedeutete das denn – vielleicht Schmerzen, wenn einer jung sterben
mußte. –

Ach, nicht doch. –




Hannsbabo ließ sich selten sehn. Er kam nur zu den Mahlzeiten. Dann
sprach er kein Wort, löffelte hastig das Essen hinein, sagte nichts,
ging wieder. Eine bedenkliche Stimmung entstand zwischen ihm und Papa.
Papa sagte: „Hannsbabo, willst du deiner Frau einschenken?“ – Hannsbabo
fuhr hoch mit dem Kopf. Dann aß er weiter. Papa stieg der Zorn ins
Gesicht, eine richtige, ehrliche Entrüstung. Renée sah es. –
„Hannsbabo,“ donnerte er. Der rührte sich nicht. Da rührte Sarah seine
Hand an, sie sagte seinen Namen, leise mit einer haarscharfen Stimme –
er hob die Augen. Dann gab er Sarah, was sie verlangt hatte, reichte ihr
umständlich alles an, legte ihr auf den Teller, wenn der Diener anbot;
aber Renée bemerkte, daß Sarah nicht aß, was er ihr gab. –

Man hörte so viel Papa und Hannsbabo miteinander streiten. Man hörte
Lärm aus Papas Zimmer und das Herumstoßen von Möbeln. Sie schrieen beide
so laut, daß man die Stimmen nicht mehr entwirren konnte – es wurde wie
ein Brausen in den Ohren. Bei Tisch saß Papa stumm da, und Hannsbabo saß
stumm; es wurde immer unerträglicher. Zu Sarah war Papa zuvorkommend und
höflich. –

Elisabeth war mit Bill fortgefahren. Das Fehlen des Kindes machte sich
in unvorhergesehener Weise bemerkbar. Das Baby war ausfüllend gewesen
für Verlegenheitspausen. Auch hatte es Papa manchmal erheitert.

Es verstand sich so prächtig mit Papa.

Nun wurde Papas Aussehn noch böser, und – was das schlimmste war –
manchmal sah er traurig aus. Dann wußte man gar nicht, was tun.

Renée versuchte mit ihrem Bruder zu sprechen. Aber man konnte ihn
niemals finden, und wenn man ihn gefunden hatte, dann wies er jede
Anrede schroff ab: „Laß mich in Ruh.“ Oder manchmal – ganz selten war
das – dann sagte er auch:

„Wenn ihr mich doch nicht so quälen wolltet.“ –

Renée aber begriff nicht und kam ihm nicht nah, mit allem besten Wollen
nicht. –

Sie ging zu Sarah. Sie sagte: „Was hat Hannsbabo? Bitte sag es mir,
bitte. Denke nicht, ich will mich hineinmischen, Sarah. Ich frage ja aus
Angst. Was hat er? Ist etwas geschehn zwischen euch?“

„Ich weiß nicht. Ich sollte nicht mit dir sprechen,“ sagte Sarah. „Denn
du wirst doch stets nur mich mit der Schuld belasten.“ – „Nein, Sarah.
Nein. Ich rede gar nicht von Schuld. Ich will ja nur, daß man ihm hilft.
Daß du es tust!“ – Sarah schwieg, sah wieder auf ihre Hände, während sie
hastig die blitzenden Ringe an ihren Fingern hin und her wandte – sie
wandte sie so, daß das Licht hineinfiel.

„Willst du gar nicht davon sprechen, Sarah?“

„Nein,“ antwortete Sarah, „gar nicht.“ –

Wenn nur nicht zu allem noch diese Stürme gekommen wären in den Nächten.
Sie klapperten an den Läden und sausten lärmend durch die Tannen vor
Renées Fenstern. Und wie sie an den großen steifen Pappeln tobten und
sie herunterzerren wollten.

Als Renée klein war, riß der Sturm einmal in der Nacht vier von den
Pappeln nieder, nun gab es nur noch zwei, die waren lange nicht so hoch
wie die andern.

Die andern hatte man sehn können von der Bahn aus, die standen hoch über
dem großen Wald, der dazwischen war. Knack tat es draußen – schztt – ein
dumpfes Brummen und Knattern folgte: ob der Sturm in die Pappeln
gefahren war? – Renée sprang auf und lief zum Fenster.

Aber die Pappeln standen noch.

Woher nur diese sonderbare Angst kam? Von der Nacht nahm Renée sie mit
hinüber in den Tag – und immer gingen die Stürme. –

Endlich kam ein ruhiger Abend.

Die Sterne waren wieder am Himmel und der große Mond. Kein noch so
leiser Windstoß ging draußen, vielmehr standen die Bäume grade und
dunkel gegen diesen besternten Himmel. – Draußen war es sehr still.

Renée lag im Bett und hatte ein Fenster offen, so daß sie gerade ein
Stück Sternhimmel sehen konnte. Manchmal schwebten von dem Ahorn vor
ihrem Fenster ein paar gelbe Blätter nieder – die sah sie, denn der Mond
war hell. Nun kamen wohl schöne, klare Herbsttage. –

War da nicht ein Schritt – Renée horchte – ihr Herz klopfte. – „Ich bin
noch wach,“ sagte sie. – Hannsbabo öffnete die Tür, er kam sehr leise,
kam ohne Licht; jetzt stand seine Gestalt vor dem besternten Himmel.

„Kleiner Bub,“ sagte er, „bist du wach?“ –

Renée streckte ihm die Hand entgegen. Er kam und stand an ihrem Bett.

„Liegst du mit offenen Augen und siehst in die Sterne, kleiner Bub, ist
das schön?“ – Renée streichelte seine Hand. – „Es ist gut, Hannsbabo,
daß du einmal kommst. Ganz scheu und fremd hast du mich gemacht.“

Es schien, daß er lächelte. – „Fremd sagst du? Und ich glaubte, du
wärest am wenigsten fremd von allen Menschen.“ – Er setzte sich auf den
Bettrand. „Nimm dir einen Stuhl herüber, Hannsbabo, dann sitzt du bei
mir, willst du?“ Er schüttelte den Kopf. „Wie es ist, gerade so ist es
gut. Ich bleibe auf deinem Bett sitzen, bis du schlafen willst.“ –

Renée hielt seine Hand, während sie sprachen. – Sie sagte: „Bist du mir
denn noch gut, Hannsbabo? Du siehst immer so grimmig aus, und dann traut
man sich gar nicht an dich heran, siehst du. – Manchmal denke ich,
früher, wo ich ein Kleines war, hast du viel besser mit mir sprechen
mögen.“

Jetzt lachte er: „Besser nicht, aber weißt du, du warst ein kluges
‚Kleines‘. Damals, wie ich dir das Bild zeigte, weißt du noch – das war
eine sonderbare, kleine Person. Was nun wohl aus ihr geworden ist? Sie
lief am liebsten immer in Bubenkleidern.“

„Mochtest du denn die Bubenkleider?“

Er sagte: „Schon. Einmal hab ich ihr einen ‚Jünglingsanzug‘ gekauft, und
hab sie mitgenommen auf die Straße – da war sie stolz. Und niedlich hat
sie ausgesehn!“ – Er schwieg, dann legte er den Kopf in die Hände. –
„Wie ich daherrede – wie das sonderbar ist, daß mir jetzt, eben jetzt
die Leichtigkeit jener Dinge wiederkommt.“ – „Ein wenig mehr von deiner
alten Leichtigkeit solltest du wohl haben, Hannsbabo,“ sagte Renée.

„Manchmal denke ich mir dein künftiges Leben aus, kleiner Bub,“ sagte
Hannsbabo. „Ich denke, ob du heiraten wirst, oder bei Papa bleiben, oder
hinausgehn mit irgend einem unbekannten Ziel – so wie ich ...“

Renée lachte: „Heiraten – höre, das kann ich mir nicht vorstellen. Es
ist für mich etwas ganz Leeres, ein gläserner Begriff, ein Wort.“

„Wieso kannst du dir’s nicht vorstellen?“

Renée sagte: „Das siehst du nicht ein. Zum Beispiel so: kannst du dir
vorstellen, Maschaschu, die Frau eines Negerhäuptlings, zu sein?“ – –

„Herrgott nein. Wer ist denn das?“

„Sie trat voriges Jahr bei Busch auf,“ sagte Renée. Er lachte: „Wenn ich
nur begriffe, wieso dieser dein Vergleich ein Vergleich ist?“ –

„Ebensowenig wie du dich hineindenken kannst, ebensowenig kann ich mich
eben in das andere hineindenken.“

„Also,“ sagte Hannsbabo, „das Heiraten fällt weg. – Oh mein kleiner,
armer Bub. Sicher wirst du eines Tages mit tollpatschiger Begeisterung
in irgend eine Leere hineinstürzen. Ich fürchte, das wirst du tun – und
dann nicht mit heiler Haut davon kommen.“

„So böse Dinge glaubst du für mich?“

„Ich wünsche sie nicht,“ sagte Hannsbabo. „Ich ahne sie nur. Nein, ich –
ich wünsche dir etwas anderes, etwas auserlesen Schönes: – Werde
heimisch auf der Erde!“ –

„Lieber Hannsbabo ...“

„Weißt du denn schon, was ich meine, mein kleiner Bub Renée. Papa ist
heimisch und Elisabeth und Viktor – die alle sehr sogar – freilich. Aber
das meine ich nicht. Werde es in einem Menschen. Denke an mich! – Siehst
du, ich bin es nie gewesen, aber es muß wundervoll sein.“ –

Hannsbabo stützte den Arm auf Renées Bett und lehnte sich ein wenig vor.
Renée sah gerade in sein Gesicht, das war erhellt vom Monde.

Hannsbabo sagte: „Das muß schön sein, wenn man einen Menschen hat, der
ist wie die Heimat, die einen immer aufnimmt, einer, der alles aufnimmt,
das Gute und das Böse und Glück und Leid und Sünde.“

„Sünde, Hannsbabo?“

Er fuhr auf und lachte: „Oh ja. Alles. Auch die Sünde.“ –

„Glaubst du, das kann es geben?“

Hannsbabo zog seine Hand aus Renées Hand und richtete sich gerade auf.
Ganz hell war nun sein Gesicht. – Renée konnte sehn, wie er lächelte,
und um seinen Mund war ein sanfter, schöner Zug – und ganz wenig nur
bewegten sich nun, als er sprach, seine lächelnden Lippen.

„Wer nicht die Sünde aufnimmt, der ist kein Heiland, kleiner Bub Renée.“
–

„Ein Heiland, sagst du“ – frug Renée.

   „Ich liebe die Rosen in all ihrer Pracht,
   Doch mehr noch den Heiland, der selig uns macht ...“

„Das ist das Lied aus unserem Märchenbuch,“ sagte Renée.

„Ja – das ist es!“ –

Hannsbabo stand auf. Er beugte sich nieder zu Renée und küßte ihr
Gesicht. –

Dann ging er. –




Renée wachte auf. Es war schon spät und es war kühl. Weiße, kalte Sonne
kam herein durch das geöffnete Fenster. – Auf dem Rasen war Reif. Eine
dünne, weiße Decke von Reif. –

Renée konnte nur schwer ihre Gedanken zusammenholen. Was war doch
gewesen?

Sie eilte sich fertig zu werden, weil es schon spät war, griff nach
ihren Sachen, hatte dabei fortwährend zu denken: wie war es gewesen?

Sie ging eilig hinunter, Papa liebte es gar nicht, wenn man spät kam zum
Kaffee. –

Als sie herunter kam, lief eben die Köchin vorüber, sie warf polternd
die Flurtür zu, aus dem Flur hörte man ein Pusten und Schnaufen – alle
Türen standen offen. –

Renée erschrak; sie fühlte, wie zögernd ihre Füße gingen. –

Aus Papas Zimmer kam ihr Sarah entgegen. – Sie nahm Renée bei der Hand,
oh wie kalt waren Sarahs Hände. –

„Ich glaube, ich soll es dir sagen, Renée,“ sagte Sarah. „Er ist nicht
mehr da, er ist nicht mehr am Leben.“ –

Renée fühlte nichts, nur eine schmerzhafte Schwäche ging von ihrem
Herzen aus, dann wankte sie – sie hörte jemanden leise schreien. –

Später, viel später fühlte sie etwas Weiches auf ihrem Herzen und schlug
die Augen auf – und sah in Sarahs Augen – und auf ihrem Herzen lag
Sarahs Hand.

Renée hob die Arme und stieß sie fort.

Dann stand sie auf. Mit allem Willen trieb sie das Wanken und die
Schwäche aus ihren Gliedern und ging an Sarah vorbei. – Sie kam die
Treppe herunter, ihre Füße stiegen steif und gerade – sie kam in Papas
Zimmer. –

Dort saß jemand, der stand auf, öffnete ihr ein paar Türen, dann sprach
er halblaut in ein Zimmer hinein – aber in diesem Zimmer lag Hannsbabo –
mit einem Mantel war er zugedeckt. –

Renée sah sein weißes, weißes Gesicht. –

Sie merkte, daß Papa neben ihr stillstand, weil sie stillstand, und wo
Hannsbabo lag, das war noch so weit. –

Dann führte Papa sie nahe zu ihm heran. – Da sah Renée, daß sein Gesicht
von Schmerz erfüllt war, und um seinen Mund lag jener kleine Zug von
Überdruß.

„Er ist früh um fünf mit dem Förster ausgegangen. Der hat ihm einen Bock
zeigen sollen, der am Birkmoor steht, dann hat er den Förster
weggeschickt an einen anderen Stand. Nach einer Weile hörte der Förster
seinen Schuß, dann ist er hin, um behilflich zu sein – da lag der Junge
ein paar Schritt weiter –“

Papa sagte noch etwas, aber Renée verstand nicht, weil er so leise
sprach.

Dann ging ein wildes Schütteln durch seinen Körper – er ließ Renées Hand
los und wandte sich ab – weinte Papa. – –

Renée wollte zu ihm. Er wies sie fort. –

Draußen fand sie den Arzt.

„Es ist wohl besser, Sie lassen Ihren Vater eine Zeitlang allein,“ sagte
er. „Und – es handelt sich hier um einen Jagdunfall, wie ich höre, ja
nicht wahr, Sie verstehen mich?“ –

Renée nickte. – „Ich fahre nun nach der Stadt, um das Weitere zu
erledigen. Ihr Herr Schwager ist telephonisch benachrichtigt. Er hat die
Anzeigen und so weiter übernommen. Er wird übrigens gleich eintreffen.
Ja. Darf ich Sie um eins bitten – wollen Sie etwas acht haben auf Ihre
Frau Schwägerin.“ –

„Ich? ja nachher,“ sagte Renée. Der Arzt sah sie eindringlich an. –
„Nein, bitte gleich,“ sagte er. Dann zog er etwas heraus. – „Hier ist
ein Brief Ihres Bruders für Sie, gnädiges Fräulein, ich fand es in
seiner Tasche.“ – –

Renée hielt den Brief in der Hand; es stand ihr Name darauf in einer
schönen, klaren Schrift.

– – ‚Nun weißt du schon, kleiner Bub Renée, warum dein ‚großer Bruder‘
gestern bei dir war, nun hat er dir das Herz ein wenig schwer gemacht,
nicht wahr? Wenn du nur nicht gar zu sehr erschrocken bist. Aber
vielleicht hat irgend jemand es dir langsam und gut gesagt. –

Du sollst mir eine Liebe tun, kleiner Bub – denn ich lasse einen auf der
Erde zurück, um den mich das Sterben reuen könnte. – Ich weiß, wenn ein
Unglück geschieht, suchen die Menschen einen, der die Schuld trägt. Aber
du darfst ihr keine Schuld geben. Weil du mich lieb hast, mußt du sie
lieb haben, denn ich hasse ihre Feinde. –

Alles Gute von dir in all den Jahren wäre mir nichts mehr wert, wenn du
ihr ein Böses tust.

Sei bei ihr, damit sie nicht so allein ist. – Nimm alles von ihr, was
sie beschweren könnte. –

Sage ihr, daß mir das Sterben schwer war, weil es ein Fortgehn ist von
ihr.‘ – – –

So hatte Hannsbabo geschrieben, und so mußte Renée tun, genau so, denn
sie hatte ihn ja lieb. –

Jemand klopfte an Renées Tür. Es war Sarah. Sie sagte: „Ich möchte, daß
du deinen Vater veranlassest, mir die Tür zu öffnen, er hat das Zimmer
zugeschlossen.“

Renée stand auf. „Ich gehe sofort,“ sagte sie. „Leg dich hier aufs Sofa,
willst du? Dann hole ich dich.“

Papa saß bei seinem Schreibtisch. „Papa, gib mir den Schlüssel für
Sarah.“

„Ich wünsche nicht, daß jemand jetzt hineingeht.“

„Aber Sarah!“ – „Es kann ja nachher geschehn.“

„Papa, sie hat das erste Recht, denn Hannsbabo liebte _sie_ am meisten.“
–

Renée legte Hannsbabos Brief vor Papa auf den Tisch, und er las.

„Nimm also den Schlüssel,“ sagte Papa dann.

Renée ging zu Sarah. Sarah nahm den Schlüssel, sie sagte: „Ich danke
dir. Ich gehe allein. Willst du so gut sein, mich zu avertieren, wenn
deine Schwester kommt. Ich möchte mit niemandem zusammentreffen.“ –

Am Abend dieses Tages ging Renée zu Sarah, saß bei ihr die ganze Nacht.
Denn Sarah weinte. –

– – – Die Glocken läuteten schon den ganzen Tag, die brummende Glocke
und die mit dem hellen Geklingel – läuteten, läuteten. Auf dem Hof
standen die Leute vom Kriegerverein und warteten.

Der große Saal, in dem Hannsbabo lag, war schwarz von allem Flor, und
dieser schwere Geruch war darin von Lichtern und Blumen.

Der Sarg war weiß, der Helm lag darauf und der Pallasch – darin war
Hannsbabo. Renée sah diesen weißen Sarg an, die ganze Zeit, während der
Pastor sprach, und dachte – darin ist Hannsbabo. – Der Pastor sagte: „In
der Blüte seiner Jahre“ – er sagte: „Der Stolz und die Hoffnung seines
alten Vaters.“ – Der Pastor sagte: „Von den Seinen innig geliebt und
heiß beweint.“ –

Neben dem Sarg stand Schoenburg mit dem Kranz des Regiments.

War das nun Hannsbabos Sarg – und trug man ihn gleich fort in die Erde –
– in die Erde –

In die Stille hinein fuhren die Glocken. –

Sarah stand unter ihrem großen schwarzen Schleier, einen Strauß roter
Rosen hielt sie in der Hand, und diese roten Rosen legte sie auf den
Sarg – neben seinen Helm. –

Dann trugen sie ihn fort.

Als sie mit diesem Sarg durch die Haustür gingen, war es das letzte Mal,
dann würde Hannsbabo nie wiederkommen. –

Die Glocken – die Glocken – sie wollten nicht Ruhe geben. –

– – Am andern Tage sagte Sarah: „Ich reise heute fort.“ Renée wollte es
nicht, noch nicht gleich.

Sarah sah sie an. – „Glaubst du, daß es erträglich ist, wie ein Mörder
behandelt zu werden?“

„Sarah, warum redest du so? Wer –“

Sarah lachte. „Ach, wer? Alle, die dieser Familie angehören. – – Diese
Elisabeth – wenn ich denke, wie wenig, wie sehr wenig dein Bruder sie
leiden konnte. Es ist absurd. Ich will fort.“

Renée sagte: „Ja, wenn du nicht hier sein magst, dann ist es recht und
gut, daß du reisest.“

„Nein, ich mag durchaus nicht hier sein. Es ist widerlich hier zu sein.“

„Aber vorher doch nicht,“ sagte Renée. Sarah antwortete: „Immer! Ich bin
mit ihm hergekommen, weil er es so wünschte. Er wollte es von mir.
Sprechen wir nicht weiter davon.“

„Nein,“ sagte Renée „Aber von etwas anderem möchte ich sprechen – darf
ich? – Er hat einen Brief für mich geschrieben und –“

Sarah wandte ihre Augen Renée zu – sie sagte: „Wo ist der Brief? Ich
will es lesen.“ – Renée erschrak: „Oh nein – nein.“

„Ich will. Wo ist es?“ – „Nicht. Sarah, bitte nicht“ Sarah warf den Kopf
zurück, diese kleine, hochmütige Bewegung. Sie sagte: „Wenn du es mich
nicht lesen läßt, Renée, so rede ich kein Wort mehr mit dir!“ Dann
wandte sie sich um und wollte gehn.

„Sarah!“ – Renée kam ihr nach.

„Steht denn wirklich kein gutes Wort für mich darin,“ sagte Sarah. – „Oh
Sarah, er liebte dich sehr.“ – Sarah wollte fortgehn. Aber Renée nahm
sie bei der Hand und holte sie zurück.

„Darf ich mit dir sprechen, Sarah? In seinem Brief steht davon, daß er
glaubt, du würdest mir erlauben, bei dir zu sein und mit dir zunächst,
weil – damit du nicht allein bist und damit du Gesellschaft hast. –
Natürlich wenn du lieber jemand andern bei dir haben wolltest – ich weiß
ja nicht.“ – Sarah schwieg. Renée fuhr fort: „Und wenn du dann lieber
mit jemand anderem sein willst, dann brauchst du es ja nur zu sagen.“

„Brauche ich es nur zu sagen! ... Und wenn _du_ nun lieber mit jemand
anderem sein möchtest!“ sagte Sarah. – „O, ich“ – Renée hatte gar nicht
daran gedacht: „Ich will schon nicht.“

Sarah lächelte nur wenig: „Renée, Renée, also versuchen wir’s.“ Das
sagte Sarah, dann küßte sie Renée auf die Stirn – das spürte man kaum –
nickte ihr zu und ging.

Renée dachte nach, was wohl zu tun sei und wie sie es am besten anfinge
– und sie mußte nun doch erst Papas Einwilligung haben.

Ob das wohl leicht gehn würde oder schwer. –

Als Papa es hörte, sagte er: „Ich habe gar keine Veranlassung, nun auch
noch meine Tochter ihr als Gesellschafterin zu geben. Unsinn. Daraus
wird nichts.“

„Aber es ist doch Hannsbabos letzter Wunsch, Papa, er hat ihn doch ganz
klar und deutlich ausgesprochen.“

„Na ja, mein Kind, deine Anhänglichkeit an deinen Bruder ist sehr gut,
gewiß, und ich bin durchaus der Ansicht, daß wir uns um seine Witwe zu
kümmern haben. Selbstverständlich. Sie gehört zur Familie, solange sie
selbst sich zugehörig betrachten will. – Aber du bist jung und leicht zu
beeinflussen. Ich habe durchaus nicht die Neigung für Einflüsse von
seiten solcher Frauen, wie Sarah ist. Nein. Punktum! Im übrigen, wenn
Sarah will, so kann sie hier bei uns leben. Angenehm wär’s mir ja nicht
gerade. Aber ich halte es für meine Pflicht, es ihr anzubieten.
Selbstverständlich stehe ich in jeder Beziehung für sie ein nach außen
hin. – Sage ihr das!“

„Nein, Papa. So nicht. Hannsbabo hat es anders gewollt. Und ich muß es
tun und werde es tun. Erlaub es doch, Papa. Ich muß tun, was er mir
geschrieben hat –“

Papa stand auf und begann umherzuwandern. – Er sagte: „Hannsbabo ist nun
tot. Man muß an die Lebenden denken.“

„Aber wenn er lebte.“

„Er ist tot,“ sagte Papa. „Es liegt keine Veranlassung vor, die Lebenden
im Interesse der Toten zu schädigen.“

Renée sah ihren Vater an. Er sagte das ganz ruhig. Wie man eben seine
ehrliche Überzeugung sagt, und dies, dies Grauenhafte, war seine
‚ehrliche Überzeugung‘.

Renée konnte nichts erwidern. Sie ging hinaus.

Zu denken, daß es so etwas geben konnte. Nicht einmal über vier Tage
hinweg sollte ein Mensch dauern. Er war tot, er konnte nicht mehr die
Hand heben. – O, dieser grauenhafte Ekel.

Renée dachte: wenn ich nun tot wäre, und da wäre ein Mensch, den ich
lieb hätte, und ich hätte alles genau aufgeschrieben und wäre ruhig im
Sterben – und dächte: nun habe ich für ihn gesorgt über den Tod hinweg,
und dann kämen sie und sagten: Renée ist tot. Und Tote haben keinen
Willen. Sie haben gar kein Recht zu einem Willen.

Später ging Renée nochmals hinunter zu Papa und sagte ihm, daß sie doch
mit Sarah gehn würde. Papa antwortete nicht.

Sarah fuhr fort am folgenden Tag. Renée sollte nachkommen. Renée
telegraphierte an Schoenburg, er sollte Sarah an der Bahn empfangen, er
sollte bleiben bis zum Abend, wo Renée kam.

Aber als Sarah abfuhr, sagte sie: „Ich gehe nicht gleich nach Berlin,
nein, ich mag nicht. Ich gehe fort, mache eine Reise – ich weiß noch
nicht.“ – Renée erschrak ein wenig. „Wohin, Sarah? Willst du nicht
warten? Soll ich nicht mitkommen?“

„Es ist besser, du kommst später. Bis dein Vater ruhiger ist. Vielleicht
kommt dann späterhin Elisabeth zu ihm.“ –




Sarah schrieb aus Cannes. Sie wollte erst gegen das Frühjahr
wiederkommen, die warme Luft täte ihr gut. –

Allmählich gewann die Aussicht, daß Renée zu Sarah gehen sollte, feste
Gestalt. Renée sprach nicht davon und dachte nicht daran. Sie hatte in
jener ersten Zeit einen großen Aufwand von Gefühl und Willen darum
gemacht, damals als Papa es nicht zugeben wollte; nun hatte sie es halb
vergessen, es sah ihr so unwahrscheinlich aus, und nun – „Ich finde, es
wäre sehr gut und wünschenswert für dich mit Sarah,“ sagte Elisabeth.
„Viktor meint es auch. – Und dann im Sommer hat Papa doch uns in der
Nähe. Im Winter bist du ja in derselben Stadt wie er, dann kannst du
täglich hingehen.“ „Ja,“ sagte Renée – „Viktor meint – natürlich nach
der Trauerzeit – könnte doch Sarah auch viel mehr für dich tun,
Renéechen, in bezug auf Geselligkeit und Bekanntschaften. Wir freuen uns
ja natürlich auch sehr darauf, dich oft bei uns zu haben, aber unsere
Wohnung ist eben doch etwas beengt, und wir haben auch so wenig tanzbare
Herren.“ –

„Ja, die kann ich gar nicht brauchen,“ sagte Renée. Elisabeth redete
noch eine ganze Weile. Es schien nichts Idealeres zu geben, als daß
Renée fortging von Groß-Gehren – fortging – ach es war dumm und
sentimental. Sie ging ja gar nicht ganz fort. Und es war doch für
Hannsbabo.




„O, wie gut, daß du bei mir bist, Renée,“ sagte Sarah. Dann seufzte sie,
dann beseitigte sie einen großen, schwarzen Schleier an ihrem Hut. –

„Ich wüßte gar nicht, was tun ohne dich! – Meinst du übrigens, ich
sollte einmal zur Hatzfeldt gehn? Sie hat mir so lieb geschrieben
damals.“

Renée sagte: „Vielleicht tust du es lieber später.“ – „O ja,“ antwortete
Sarah. Sie wollte ausfahren. Sie hatte eine Jacke von Persianer und
einen riesengroßen Tellerhut, um den war der Schleier gedreht; sie
wollte eigentlich gleich fort, aber sie setzte sich noch ein bißchen zu
Renée.

„War es schön in Cannes?“ – „Ach, nicht doch,“ sagte Sarah. „Es war
staubig und ermüdend. Es sind dort zu viel Palmen und Agaven. Agaven und
Palmen hängen aus jedem Garten, man hält es nicht aus.“ – „Hattest du
nicht Lust auf Sizilien?“ – „Ach nicht doch. Außerdem reise ich ungern
allein.“ – „Aber ich könnte doch mitkommen.“ – „Ja, und zu Weihnachten?“
frug Sarah. – „Da wären wir eben zu Papa gegangen.“ –

Sarah lachte kurz. – „Ich liebe nicht die Festlichkeiten in dieser
Familie,“ sagte sie.

„So mußt du nicht sprechen, Sarah.“

„Nun, also verzeih, kleine Renée.“ So sagte Sarah, dann zog sie Renée am
Haar, sagte, der Wagen solle sie um fünf Uhr bei Gerson holen, da der
Chauffeur heute frei habe, und ging.

Renée setzte sich an Hannsbabos Schreibtisch. Da standen viele Bilder
von ihm: Bilder in Uniform mit und ohne Küraß im weißen und im blauen
Koller. – Renée sah ein Bild an, sah ihres Bruders Gesicht, das liebe,
stolze Gesicht, dies kleine, leichte Lächeln, das er gehabt hatte, ehe
er fortging nach Amerika, früher. – Nun saß sie an seinem Schreibtisch.
Gerade da hatte er oft gesessen. Hatte diese Dinge gesehn, dieselben,
die sie sah, jetzt sah. Draußen, da war der verschneite Königsplatz,
hinter dem die Bäume des Tiergartens unter dem Nebel standen. Vom
Bahnhof kam das langgezogene Pfeifen. –

Die große Säule, an der die eroberten Kanonen staken, und die goldne
Göttin darauf waren ganz verschneit.

Das alles hatte er auch gesehn, wenn er hinausschaute.

Wie sehr Renée an ihn dachte.

Nun nannte sie niemand mehr ‚kleiner Bub Renée‘. – Warum nur hatte
Hannsbabo gewollt, daß Renée bei Sarah bleiben sollte. Und warum liebte
er Sarah so sehr. – Renée dachte: Sie hat ein kühles und gleichmütiges
Herz, nicht wie seines. Sein Herz war heiß und war unruhig. Was hatte er
nur mit ihr zu tun gehabt, mit Sarah. – Renée wurde traurig und
sehnsüchtig und dachte, was Hannsbabo gesagt hatte:

‚Der Mensch, der es uns heimisch macht auf der Erde.‘

Er sagte: ‚Ich bin nie heimisch gewesen.‘

Renée dachte: Vielleicht war er sehr einsam. –

Nach einer langen Zeit kam Sarah zurück. Renée hörte sie sprechen
draußen, fragen. Der Diener riß die Tür auf. „Gnädiges Fräulein sind im
Herrenzimmer,“ berichtete er nach draußen. –

Sarah kam: „O, Prinz Ernst war da. Er war so nett. Er sprach viel von
Amerika. Und die Prinzeß lud mich nach Schottland ein für den Sommer.“ –
„Wo waren denn die?“ – Sarah errötete flüchtig. – „O, bei der
Hatzfeldt,“ sagte sie. Renée dachte: Ob es Hannsbabo nicht kränken würde
– ob er nicht sehr traurig sein würde. –

„Bist du böse, Renée?“ Sarah kam, stand vor Renée. Sie war ganz
niedergeschlagen. Renée antwortete nicht. –

Es gab auch Nachmittage, an denen Sarah zu Haus blieb.

Dann setzte der Diener einen riesengroßen silbernen Samowar vor sie hin,
und Sarah konnte so schön Tee machen. In kleine, chinesische Täßchen,
die sich sehr zerbrechlich anfaßten, kam er hinein. Sarah schob es vor
Renée hin, und dann bekam Renée eine Zigarette und hatte es eigentlich
sehr gut.

Sarah sagte: „Ich könnte ihn gar nicht entbehren ohne dich. Die ersten
Tage wäre ich fast gestorben. O, es war so einsam! Ich wußte gar nicht,
wie ich es aushalten sollte.“

Dann hatte Renée ein sonderbares Gemisch von Gefühlen – Mitleid und
Widerwillen auch, wenn sie dachte, daß Hannsbabo schneller vergessen war
als irgend eines von Sarahs seidnen Kleidern.

Und auf einmal wurde es mehr als Widerwillen, wurde Ekel – Wut – und:
„Nie wieder redest du mir von meines Bruders Tod – oder ich will keinen
Augenblick mehr in deinem Hause sein. – Du hast nicht auf ihn geachtet,
o, du hattest ihn nicht lieb.“

„Aber ich hatte ihn lieb!“

„Schweig,“ sagte Renée „es ist widerlich.“

Sarah starrte Renée an, dann warf sie sich mit einem plötzlichen Ruck
aufs Sofa nieder und weinte.

Renée wurde weich. Gewiß, er war niemals so zu Sarah gewesen. Sie
dachte: viel besser war er als ich – und er liebte Sarah. Vielleicht
würde er hingegangen sein zu Sarah, würde ihren Kopf in seine Hände
nehmen, seine sanften, klugen Hände. –

Sarah hörte auf zu weinen. Sie sah Renée an, sie sagte: „Es ist, ich bin
sehr nervös und zerfahren seitdem und pflege mich sonst nicht aufzuregen
in dieser Weise.“ –

„O, Sarah, verzeih mir.“

„Laß nur, kleine Renée. Ich weiß schon!“ Renée schämte sich eigentlich
etwas. –

Am Sonntag waren sie bei Papa. Nach dem Essen nahm Papa Renée in sein
Zimmer. „Hör mal, Renée,“ sagte er, „du bist ja ein verständiges
Mädchen“ – diese Art von Einleitungen kannte Renée – „also es handelt
sich um Sarah. – Mir ist erzählt worden, daß sich die Damen beim
Kriegsminister neulich sehr mokiert hätten, daß Sarah, nachdem ihr Mann
kaum ein halbes Jahr unter der Erde ist, bereits wieder auf Empfängen
herumliefe. Wie ist denn das nun?“

„Herrgott, diese albernen Tanten müssen auch überall widerwärtige Reden
führen.“ – Papa runzelte die Stirn. „Du hast immer noch diese
absprechende Art,“ sagte er tadelnd.

„Ja aber, Papa, was soll sie schließlich den ganzen Tag anfangen?“

Papa begann ungeduldig zu werden, er wanderte hin und her. „In einer
Stadt wie Berlin gibt es genügend Unterhaltungen,“ sagte er, „Konzerte,
Museen, Vorträge.“ – Renée mußte lachen. – „Es ist doch sonderbar, wenn
man auf einmal Kunstinteresse bekommen soll, weil man Trauer hat,“ sagte
sie.

Papa überhörte das. „Du solltest,“ so fuhr er fort, „deinen Einfluß
darauf wenden, daß Sarah nicht derartige Taktlosigkeiten begeht.“

„Sarah ist älter als ich, Papa, und außerdem, bitte, nenne sie doch
nicht taktlos.“ – Auch dies überhörte Papa.

„Ich habe vorhin mit Elisabeth darüber gesprochen. Sie ist vollkommen
meiner Ansicht, und“ – Papa machte eine wirkungsvolle Pause, – „du
solltest deine vielgerühmte Anhänglichkeit an deinen verstorbenen Bruder
lieber –“

„Ich habe mich niemals dergleichen gerühmt, denke ich.“

„Es ist zum Verzweifeln mit deinen unreifen Ansichten“ donnerte Papa. –

Als sie wieder zu Haus waren, sagte Sarah, sie werde nicht mehr an
irgend einem Sonntag zu Papa gehen, Renée könne allein gehen. Renée war
sehr bestürzt, frug nach dem Grund. „O, Elisabeth ist eine abscheuliche
Person,“ sagte Sarah, „sie stichelt immerzu wegen Hannsbabo.“

Es tat Renée so leid, und sie fühlte beinahe etwas von Verantwortung. –
„Laß uns ein wenig verreisen, bis Elisabeth wieder heimfährt,“ sagte
sie.

Aber sie reisten nicht. Sarah mochte nicht fort von Berlin. Sarah hatte
noch so viel Einkäufe. Und die Kleider waren noch nicht fertig. Die
Direktrice brauchte absolut noch vierzehn Tage. „Nachher sind es dann
doch drei Wochen,“ sagte Sarah. Und Sarah hatte doch auch keinen
anständigen Hut.

Wenn alle diese Hüte und Kleider mit dazu passenden Schleiern und
Schirmen ankamen, dann mußte Renée es bewundern, und Sarah erklärte,
wozu alles gebraucht würde.

Dann sah der Salon aus wie der Packraum eines Warenhauses. Mit
ungeheuern Summen, die es ‚bloß‘ kostete, warf Sarah herum. Manchmal
ekelte es Renée um all den törichten Plunder, und dann wieder hatten
diese Dinge einen sonderbaren Charme wie fremdländische Menschen. Zu
solchen Zeiten feierte Sarah Triumphe. Renée wurde in einen großen
Sessel gesetzt, recht bequem, weil es lange dauerte, und dann trug Sarah
die neuesten schönen Kleider an ihr vorüber, die für ‚wenn die Trauer
vorbei war‘, mit den dazu passenden Hüten, Schleiern und Schirmen. – Es
war wie ein fremdartiger Tanz, es fehlten nur noch schwarze Kerle, die
auf Trommeln schlugen.

Renée saß dabei und träumte.

Sie dachte: Will denn das Leben niemals zu mir kommen, ich suche es
doch. Ist es, weil ich nicht allein bin? Muß ein Mensch ganz allein
sein, damit er findet.

Sie dachte: Wie wirst du aussehen, du, um den ich lebe.

„Und nun kommt das allerschönste Kleid,“ sagte Sarah. – –

In dieser Zeit kam Renée die Sehnsucht, allein zu sein. Ganz allein, wie
früher in ihrer Kindheit. Nicht mehr neben andern gleichgültigen Leuten
zu leben, deren Nahesein ihr das Leben fremd und kalt machte. Und ihre
eigene Seele fremd machte.

Allein sein, still und für sich und ganz einsam, bis der einmal da war,
von dem Hannsbabo gesprochen hatte.

Aber sie mochte nicht davon reden zu Sarah.

Dann war ein Abend, der war weich und sanft. Der war voll von dieser
schweren Sehnsucht, die im Frühling die Menschen überfällt.

Renée ging durch die Stadt. Sie konnte sich gar nicht durchfinden durch
die vielen geraden Straßen, die sich alle rechtwinklig schnitten, wie
auf einem Schachbrett. Aus all diesen Straßen kam ein nebliger Dunst,
wenn man um die Ecke bog, und so ein Rest von Sonne strömte schwer und
warm aus dem Asphalt. Da tauchte die Säule auf mit der großen, goldnen
Göttin, es mußte spät sein, die Wagen, die vor dem Theater die Runde
machten, kamen schon zum Abholen. Ein weicher Regen rieselte, man spürte
ihn wie Nachttau auf den Kleidern.

Renée mochte noch nicht zurück. Sarah war in irgend einem Konzert, und
Sarah würde spät wiederkommen.

Renée stand am Wasser still, sah wie die kleinen Tropfen des Regens in
das breite, dunkle Wasser des Flusses hineintanzten, sah die Lichter der
Friedrichsbrücke, von denen das Wasser plötzlich aufleuchtete neben
seinen dunkelsten Stellen – eine verzweifelte Mutlosigkeit war in Renées
Herz, die von gar nichts kam und in nichts seinen Grund hatte. Wohin
wollte sie denn?

Sie dachte, wenn es doch einen gäbe, zu dem ich die Hand ausstrecken
könnte, der hülfe. Einen Gott. Wie gut es die Leute haben, die sich
einen Gott ausdenken können. Sie brauchen niemals einsam zu sein, dachte
Renée.

Sie hörte neben sich ein paar Worte, sie sah ganz dicht neben sich einen
Mann, der sich lächelnd verbeugte.

Sie erschrak nicht. Sie merkte es eigentlich gar nicht. Sie ging nach
Haus. Der Mann folgte ihr. An der Haustür versuchte er sie anzusprechen.

Oben ging ein Fenster auf. –

„Kommst du endlich.“ – Renée sah hinauf. Sarah winkte ihr zu. Sarah war
freundlich und gut und ein ganz bißchen beleidigt. So lange hatte sie
nun schon gewartet, und Renée sollte doch etwas essen. Ein warmes, gutes
Gefühl kam Renée.

Sie dachte: Ein bißchen wartet sie doch auf mich, wenn auch nur sehr
wenig. –

So oft fand Renée, daß sie am Fenster ihres Zimmers saß und hinaussah
und trotzdem gar nichts sah draußen, also träumte sie wohl; aber
eigentlich war es ein stumpfer, regloser Zustand der Seele. Die Seele
wußte keine Herkunft und kein Ziel.

Die Tage waren ganz leer. Die Freuden waren leer. Und einen eigentlichen
Schmerz gab es nicht – wo sollte er herkommen. Da war nur stumpfe
Gedankenlosigkeit; nein, nicht einmal bis zu einem Schmerz reichte es
aus. –

Aber man konnte sich beschäftigen, irgend etwas tun, was nützlich
aussah.

Wo war der Sinn für solches Tun? Man mußte einsehen, daß es völlig
zwecklos war, sich mit dem Inhalt dicker Bücher das Gehirn
vollzustopfen, Italienisch zu lernen, sich in Wohltätigkeit zu
betätigen. War sie, Renée, einundzwanzig Jahre umhergegangen, um
ausgerechnet eine Stunde täglich einer erblindeten Näherin vorzulesen?

Unsinn war das. Renée dachte: ich lasse mich nicht täuschen. Man soll
mir doch nicht weismachen, daß derlei Zeug einen Sinn hat. – Und bei
Sarah sein! Warum? Weil Hannsbabo es von ihr gewollt hatte. Konnte ein
Mensch von dem andern wollen, daß er auf eigne Perspektiven verzichtete?

Früher konnte ich träumen, dachte Renée. Ich sah hinaus in die Sonne
oder in die Nacht, gleichviel was eben gerade am Himmel stand. Wie war
es nur möglich, daß ein Mensch so maßlos allein sein konnte, niemanden
hatte. –

Sie dachte an ihre Schulfreundinnen: Fly, Edel – Edel! Sie wußte kaum,
was aus der geworden war. Sie war in irgend eine Fremde hineingegangen
mit Bällen und Verlobungen und Heiraten. Wenn Renée einmal eine von
ihnen traf, dann wußte man kaum anderes zu reden als die alten Späße aus
der Schule: als Edel zu der englischen Lehrerin sagte – –

Manchmal war es Renée, als sei sie alt geworden, so alt. Dann lachte
sie, dann wurde sie wieder froh und dachte an das kleine, liebe
Studentenlied, das sie irgendwo gehört hatte:

   ‚Noch ist die blühende, goldene Zeit,
   Noch sind die Tage der Rosen – –‘

So ein liebes, kleines Lied.

„Ich finde, du machst immer so ein bekümmertes Gesicht, kleine Renée,
was hast du nur?“ Sarah sagte das ganz eindringlich und besorgt mit
einer drolligen Besorgnis.

„Ich weiß nicht, Sarah.“

„Hast du jemanden lieb?“ frug Sarah.

„Nein – eben nicht.“ – Sarah lachte: „Also warum bist du dann
bekümmert?“

„Weißt du, wenn ich dir das sagen sollte. Nein Sarah, ich brauchte vier
Tage mindestens und dann sähest du es doch nicht ein.“

Sarah antwortete sehr gekränkt. Das könnte Renée nicht wissen, und
überhaupt hätte gerade sie das meiste Interesse für Renée.

Wie es Renée verführte. O, sie mußte sich Mühe geben, damit sie nicht
alles sagte, was da war und ihr das Herz abdrückte. Aber sie wußte ja
gar nicht einmal, wie sie es hätte sagen sollen. –

Eines Abends kam Schoenburg. Er kam mit einer Cousine, und diese Cousine
setzte sich neben Sarah, sprach und sprach und sprach. –

Schoenburg ging in den Zimmern umher, und einmal blieb er stehn in dem
kleinen Wohnzimmer und sagte zu Renée, ob sie sich nicht ein wenig in
Hannsbabos Zimmer setzen wollten.

Ob denn Gräfin Saurma Sarah Geheimnisse anzuvertrauen hätte, frug Renée.
Schoenburg lachte, er sagte: „Das hoffe ich, lange und intensive und
zeitraubende Geheimnisse.“ Dann: „Fräulein von Catte, fühlen Sie sich
hier wohl? Ist dies Leben bei Ihrer Frau Schwägerin nun das, was Sie
froh macht im Innersten? Seien Sie nicht böse wegen meiner Frage. Sie
wissen doch, wir wollten gute Freunde sein.“

Renée fühlte ihr Erröten, fühlte es mit einer peinigenden Sicherheit und
wußte nichts zu sagen.

„Ich frage Sie,“ fuhr Schoenburg fort, „weil Sie, wie ich fürchte, hier
eine Art von Selbstaufopferung treiben, die – ich kann es Ihnen nicht
verhehlen – mir ein wenig gefährlich scheint.“

„O nein,“ antwortete Renée, „o nein.“

Er schien das nicht zu beachten. „Es klingt vielleicht etwas absurd und
zum mindesten recht unritterlich und unliebenswürdig, wenn ich Ihr Leben
bei Frau von Catte so als etwas für Sie Verwerfliches betrachte – klingt
es sehr schrecklich?“

„O nein, Sie beurteilen es ungut,“ sagte Renée. Schoenburg sah sie gut
und freundlich an. „Wollen Sie mich einmal _nicht_ unterbrechen, wollen
Sie einmal Ihre Verneinungen lassen. – Ich sage ja nicht, Ihre
Schwägerin hat einen verwerflichen Einfluß. Ich sage nicht, Sie werden
mißhandelt, brutalisiert, ausgenutzt. Nein, nein, Fräulein von Catte.
Sie sind jung und stehen noch an ‚des Lebens goldnem Tor‘, und Sie
sollen hineingehn und zwar dahin, wohin Sie mögen, und nicht, wohin
irgend eine Pietät, irgend ein Sentiment der Pflicht und der Devotion
Sie führt. – Verstehen Sie mich?“

Schoenburg griff nach einem der Bilder von Renées Bruder, er hielt es
vor Renée hin. „Ich hatte ihn sehr lieb,“ sagte er, „sehr, das wissen
Sie. Aber er würde es niemals gewollt haben, daß Sie auf ein eignes
Schicksal verzichteten, um sein trauriges, trauriges Schicksal auf Ihre
Schultern zu laden. Nein, so unfein und so lieblos war Hannsbabo nicht.“

„Warum sagen Sie diese Dinge?“ antwortete Renée. „Ich weiß es. Aber
Sarah hindert mich nicht an dem Erleben meines Schicksals.“

Schoenburg sagte: „Das wissen Sie nicht.“

„Doch, Herr von Schoenburg. Sie hält mich von nichts zurück. Sie würde
mir geben, was ich verlangte.“

Schoenburg lächelte: „Sie wissen gar nicht, was Sie verlangen. Und –
Sarah kann es Ihnen keineswegs geben. Außerdem, daß sie sich gar nicht
die Mühe nimmt.“

Er sagte: „Sie werden zugrunde gehn an Sarahs unbeweglicher
Liebenswürdigkeit, eben wie er.“

„Nein. Denn er liebte sie, während ich – nun ich mag sie gern.“

„Sie wissen das nicht,“ sagte Schoenburg.

Aber Renée lachte – lachte.

Schoenburg sah sie vorwurfsvoll an. „Mir scheint, ich reize Ihre
Lachmuskeln ungeheuer. Ich bin ein wenig gekränkt, Fräulein von Catte.“

Renée beruhigte ihn. Gar nicht sollte er gekränkt sein. Im Gegenteil.
Und sie wisse ihm allen Dank.

„Nur eigentlich was ist das Positive an Ihren Worten?“ frug Renée.
„Sehen Sie,“ antwortete er, „so ist es gut. Ich sage: gehen Sie fort,
ein wenig in die Welt, suchen Sie sich einen Beruf, eine Arbeit, eine
Nützlichkeit.“

Eigentlich traute Renée ihren Ohren nicht recht.

„Das sagen Sie, ein Gardekürassier-Oberleutnant, ich glaube gar, nun
dringt die Zersetzung schon in die obersten Schichten.“

„Ja ja, ich sage es. Und sage es, weil ich merke, daß Sie sich bei der
gewöhnlichen Art des tatenlosen Herumsitzens, wie es die jungen Mädchen
bei uns tun, nicht wohl fühlen und weil Sie sehr bald daran unglücklich
sein werden – – und weil ich dann auch sehr unglücklich wäre.“

Renée hob ein wenig die Augen und sah in sein helles, gutes Gesicht.

Sie gab ihm die Hand. Sie sagte: „Es ist recht und klug und sehr
freundschaftlich von Ihnen, Herr von Schoenburg. Ich will alles
überdenken.“

Schoenburg zog ein Druckheft aus seinem Ärmelaufschlag. Er sagte: „Wenn
ich Ihnen dies einmal hinterlassen darf. Es ist der Jahresbericht des
Frauen-Gymnasiums.“ Er schlug das Heft auf und tippte mit dem Finger auf
einen Namen: „Hier – Johanna von Ramin, genannt Nana, ist meine Cousine.
Sie ist ein sehr, sehr tüchtiger kleiner Kerl.“

„Kann ich sie nicht kennen lernen?“

Schoenburg strahlte. Ganz blinkend wurden seine Augen. „Also morgen
komme ich mit ihr zum Tee. Paßt es?“

„Das ist hübsch, ich –“

„Also begleitest du deine Cousine nun hübsch anständig ins Esplanade?“
rief Gräfin Saurma von nebenan.

Schoenburg verabschiedete sich. Er küßte Renée die Hand und sagte: „Auf
Wiedersehn morgen zum ^five o’clock^.“ –

Sarah war unzufrieden. Sarah sagte: „Diese Saurma schwätzt so viel. Was
geht es mich an, was der Kronprinz zu ihr gesagt hat. Mir ist es ganz
egal. In Amerika gibt man nicht so viel auf die Äußerungen junger
Leute.“

„Huh, sei doch nicht so grimmig, Sarah. Es ist doch ein solch schicker
und eleganter ‚junger Mann‘, der Kronprinz.“

„^Nonsense^,“ sagte Sarah. „Übrigens, Renée –“

„Ja was denn?“ – Sarah kam und legte die Hände auf Renées Schulter. „Ich
möchte auch ins Esplanade!“

„Wart doch noch ein bißchen, Sarah.“

Sarah machte Fäuste. Ganz fest kniff sie die Finger zusammen. – „O, ich
möchte vergehn,“ sagte sie.

Renée lachte: „Ganz so wie Hedda Gabler.“

Sarah sah sehr böse aus. „Was, Hedda Gabler,“ sagte sie zornig. „Ich
langweile mich gräßlich.“

Sie war böse – böse. Nein. Sie wollte keinen Ton mehr reden mit Renée.
Sie bestellte das Auto und fuhr in den Grunewald.

Renée wartete mit dem Abendessen.

Erst wurde es warm gestellt. Dann wurde es kalt gestellt. Die Mamsell
schimpfte draußen, und der Diener kam alle zwei Minuten und frug, ob er
nicht lieber doch für das gnädige Fräulein servieren solle. – Nach
einundeinhalb Stunden – Sarah hätte längst zurück sein müssen, selbst
wenn sie bis nach Wannsee und wieder zurückgefahren wäre – nach
einundeinhalb Stunden bestellte Renée das Essen. Etwas kam herein, was
einmal ein Beefsteak gewesen war. Der Diener reichte es mit verlegenem
Grinsen. Es wurde nicht besser davon.

Sehr spät am Abend kam Sarah. Sie kam ohne Auto. Sie warf die Türen. Als
Renée in ihr Schlafzimmer ging, hörte sie den Chauffeur mit der Jungfer
klatschen: „Direkt an einen Baum ist sie jejondelt kurz vorm Stern. Wir
beiden sind in einen Jrasjraben jeflogen – wie die Champagnerproppen.“ –
Die Jungfer kicherte: „Und blaue Flecke wird’s morjen jeben – na, gut
Nacht, Karlchen.“ –

Karlchen war Emmas Neigung.

Am andern Morgen war Sarah sanft und freundlich. Ein wenig blaß sah sie
aus. Renée kam zu ihr: „Guten Morgen, du hast mich warten lassen
gestern, Sarah; so groß wie eine Briefmarke war das Beefsteak, als ich
es endlich bekam.“ –

„Ja, o entschuldige. Ich hatte eine Panne mit dem Auto. Saß total fest.
Mußte mit der Bahn zurückfahren.“ Sarah verschwieg den Grasgraben. „Ja,
bist du denn so toll gefahren?“ frug Renée. – „Manchmal möchte ich am
liebsten bums gerade gegen eine Mauer sausen mit dem Ding.“

„Und da hast du dir gewiß gestern diese Sehnsucht erfüllt.“

Sarah lachte. Renée erzählte von Schoenburg. Er wollte also samt Cousine
zum Tee kommen. –

„Diesmal kannst du die Cousine unterhalten,“ sagte Sarah.

„Ja, so war es auch vorgesehn!“ –

Eine kleine, schlanke, hastige Person war Schoenburgs Cousine. Sie hatte
wolliges, kurzes Haar, einen Umlegekragen und einen riesigen, roten
Schlips. Sie brach in unverhohlene Bewunderung aus über Sarahs goldene
Teegeräte. „Na sowas,“ sagte sie, „mein Himmel, das ist ja schweres
Gold!“ Ihr Vetter lachte.

Dann sprachen Sarah und Schoenburg über die Sommerreise nach Schottland.
Er würde die Züge aussuchen. Selbstverständlich. Sie brauchte nur zu
befehlen, ob über Hook van Holland oder Vlissingen.

„Mein Vetter hat schon zahllos oft von Ihnen gesprochen, Fräulein von
Catte,“ sagte Nana. „Er muß Sie recht gut kennen. Er schilderte Sie
genau so, wie Sie mich beeindrucken.“

„O ja. Wir kennen uns beide. Außerdem ist Herr von Schoenburg klug,
glaube ich.“

Nana lachte: „Das wann er hörte. Er läßt sich nämlich so gern loben.
Gerade darum hab ich ihn gern. Solche Menschen geben sich wenigstens
Mühe um ihren Nächsten. – Er sagt, Sie wollen studieren.“

Renée staunte: „Ich, wieso? Ich habe doch gar kein Examen gemacht.“

„Na ja natürlich, wenn Sie das haben.“

„Ich hab aber gar nicht Lust,“ sagte Renée. Nana sah Renée starr an.
„Nicht Lust?“ frug sie. „Hoho, Sie werden schon bekommen.“ – „Ich meine,
ich hätte schon Lust, nur ist es so schwer und ich bin so faul,“ sagte
Renée.

„Sie sollen faul sein? Das glaub ich im Leben nicht. Außerdem Faulheit
ist nur so beim ersten Ruck hinderlich. Nachdem kommt’s von allein. Was
ist da weiter. Wenn Sie einundeinhalb Jahr wahnsinnig büffeln oder zwei
Jahr ordentlich oder drei Jahr mit Zwischenpausen und Seelenruhe, dann
haben Sie’s. Nachher brauchen Sie gelegentlich mal ein Jahr sich
hinzusetzen, bauen Ihren Dr. phil. und sind ein gemachter Mann. Ist das
nun so schlimm?“

„Ja, Sie! Sie können natürlich alles schon,“ sagte Renée.

Nana lachte höhnisch. „Ja,“ sagte sie, „noch nix kann ich. Sie sollten
mich mal hören, wenn mein Dr. math. mir Pyramiden und Zylinder aus
Kartoffeln ausschneidet, damit ich mir so einen Querschnitt in meinem
Krautkopf vorstellen kann. Ja.“

Renée mußte lachen. Sie fing bald an, Lust zu bekommen.

„Erklären Sie mir mal was davon.“

„Dank schön,“ sagte Nana, „nee – nachher werden Sie wütend, wenn ich
mich verheddre.“

„Ach, tun Sie’s doch.“

„Mir scheint, sie streiten bereits,“ sagte Schoenburg. Sie stritten doch
gar nicht, sie vertrugen sich doch so schön. –

Nana und Renée verabredeten gemeinsame Ausflüge, Spaziergänge,
Lädenbummel. Und jedes Mal sagte Nana: „Eigentlich habe ich gar keine
Zeit.“

Schoenburgs Cousine gefiel Sarah nicht sonderlich. „Sie hat eine so
lärmend fröhliche Art. Gerade wie eine aufgezogene Uhr.“

Jedesmal wenn Renée mit Nana zusammen war, wurde vom Studieren
gesprochen und vom Examen. Und von einem Mal auf das andere bekam Renée
mehr Lust. Sie dachte: Es muß hübsch sein, etwas vor sich zu bringen.

Aber sie wollte durchaus nicht so viel Zeit vertun. Mehr als zwei Jahre
wollte sie keinesfalls anwenden.

Nana redete ihr zu. Nana hatte schon feste Pläne: Renée nahm erst
Privatunterricht und zum Schluß ging sie aufs Gymnasium. Oder sie machte
alles privat.

Als die Ferien anfingen, ging Nana zu Verwandten aufs Land. Renée
brachte sie zur Bahn und stand und sah dem Zuge nach, und als Nanas
Lockenkopf zuletzt sichtbar wurde neben dem eifrig wehenden Tuch, dachte
Renée: eigentlich kennen wir uns noch gar nicht, haben immer nur von
diesen äußerlichen Dingen gesprochen. –

Renée sprach zu Sarah von ihrem Plan. Sarah sagte nichts dawider, sie
sagte vielmehr: „Ja, ganz gut. Ich finde es sehr verständig.“ Aber Sarah
wurde sehr still, nachdem sie davon gesprochen hatten. – Ob Sarah
dagegen sei? „Nein,“ sagte Sarah. „Ich habe ja gar kein Recht, dagegen
zu sein. Ich will dich durchaus nicht beeinflussen in deinen
Entschlüssen. Nur ich fürchte dich zu verlieren. Nur du hast viel
Ähnliches mit deinem Bruder, und das ist zuweilen gut für mich“ – so
sagte Sarah.

Renée schwieg. Ihr kam das Erinnern an Hannsbabo; sehr intensiv war dies
Erinnern, es war, als fühlte sie seine Hand – –

„Renée,“ sagte Sarah. Das Rückerinnern verging.

„Ich will ja gar nicht fortgehn, Sarah; ich will nur etwas tun, etwas
Nützliches anfangen.“

„Nein, nicht allein deswegen. Seit einer ganzen Zeit schon bist du
bekümmert und traurig. Ich sehe es dir an schon seit einer ganzen Zeit.“

Fast war Renée ihr dankbar. Wenigstens ein Mensch achtete auf sie.

Renée sagte: „Arme fröhliche Sarah, hast du einen so griesgrämigen
Menschen um dich, hast du’s mit einer so schwerblütigen, langweiligen
Renée zu tun.“

„Ich bin gar nicht immer fröhlich.“

Renée lachte: „Doch, freilich bist du’s. Gott, das ist etwas so Gutes.“
– Sarah sah ganz bekümmert aus: „Du hast gewiß doch einen lieb – etwa
den Schoenburg mit den geschwätzigen Cousinen?“

„Nein, nein. Ich habe nur ein wenig das, was man bei euch ‚heimatskrank‘
heißt, seelisch hab ich das. Wir sagen dazu Heimweh.“

„Ja,“ sagte Sarah, „Hannsbabo sagte drüben manchmal, er hat Heimweh nach
dem kleinen Bub Renée.“

„O, der liebe – ja, er verstand diese Dinge,“ sagte Renée.

Also in vierzehn Tagen würde Sarah zur Prinzeß Johann reisen nach
Schottland. Nun hatte man fieberhaft zu tun. Sarah blieb kaum fünf
Minuten unbeschäftigt, aber sie konnte doch in Redcliff Castle nicht
ankommen wie eine ‚Frau vom Lande‘.

Dies war für Sarah der Superlativ für Uneleganz. Wenn Renée gegen das
viele Anprobieren redete, weil Sarah kaum mehr zum Schlafen und zum
Essen käme, dann hieß es: „Du kannst doch nicht denken, daß ich dort
auftreten soll wie eine ‚Frau vom Lande‘!“

Renée frug: „Also was ist das genau genommen?“

„O, mit diesen entsetzlichen, ovalen Hüten, auf denen Straußenfedern
sind, und grauen Kleidern, die nicht sitzen, und diesen billigen
Korsetts.“

Renée mußte lachen; wirklich, Sarah hatte recht.

Der Diener meldete den Wagen. „Komm doch mit, Renée,“ sagte Sarah. Sie
fuhren den Linden zu.

Vor dem Tor stand es schwarz von Menschen. Um diese Zeit ritt der Kaiser
vorbei. Man hatte die gelbe Standarte gesehen auf dem Schloß. Er war
also in Berlin. Die Leute standen geduldig und ließen sich die Hüte
versengen. Renée fiel ein, wie sie als Kind stundenlang auf ihn gewartet
hatte. Und sie hatte sich immer auf den Straßenübergang gestellt, wo er
sein Pferd Schritt gehen lassen würde.

Dann hatte er ganz allein für Renée gegrüßt zuweilen. – „Ich werd’s ihm
erzählen, wenn ich Flügeladjutant geworden bin,“ sagte Hannsbabo. – –

Sarah kaufte ganz Berlin auf. Und überall wurde sie mit ausgesuchtester
Höflichkeit behandelt. Überall stürzte schon am Eingang ein Extra-Herr
auf sie zu, der sie auf Schritt und Tritt begleitete, ihr alle
‚Neuheiten‘ zeigte und sie Frau Baronin nannte.

Dieser Herr geleitete sie auch wieder zum Wagen.

Renée machte es Spaß, denn sie genoß einen Abglanz dieser Devotion. Auch
ihr wurden ‚Neuheiten‘ vorgelegt.

Manchmal neigte Sarah den Kopf zu ihr herüber. Sie sagte: „Renée,
gefällt dir dies, möchtest du es nicht haben, sag doch, Renée!“ – Dann
sah Renée sie an und lachte und sagte: „Nein, Sarah, bitte nicht.“ Dann
sah Sarah enttäuscht aus. Aber Renée wollte nicht die vielen, teuren
Geschenke.

Zum Schluß mußte Renée das Reisenecessaire bewundern. Alles darin war
von schwerem Silber, und darauf prangte das Catte-Wappen – ganz
verschüchtert saß das kleine Wappen-Tier auf all dieser Herrlichkeit.

Renée fand, man würde mindestens einen Gepäckträger extra dafür
benötigen.

„Aber schließlich kann ich doch nicht mit Nickelgegenständen
herumreisen,“ antwortete Sarah.

„Aber dein tägliches Gebrauchszeug?“

Sarah sagte: „Das ist Elfenbein. Elfenbein ist nicht mehr Mode.“ – Renée
lachte sehr: „Natürlich,“ erklärte sie, „du brauchst es!“ – Was nur
Frauen tun, die keine Amerikanerinnen sind, dachte Renée. Was sie nur
tun?

Sarah fuhr ab. Drei riesengroße Rohrplattenkoffer begleiteten sie. Der
Diener bewachte ebensoviele Hutkoffer, ein Gepäckträger folgte mit dem
Rest. Sarahs Jungfer trug das Necessaire.

Wenn Renée alle Kleider und Zubehöre bedachte, so wunderte sie sich
eigentlich, wie es alles in den Koffern untergekommen war. Allerdings –
der Träger hatte noch fünf Handgepäcke.

Sarah war zuletzt ganz richtig traurig. Und Renée sollte oft schreiben
und sie ein bißchen entbehren.

Sarah winkte noch aus dem Fenster heraus.

Zu Haus wurde Renée schon erwartet. Es war Elisabeth. Elisabeth befand
sich auf der Rückreise und wollte nach Groß-Gehren, sie hatte gedacht,
am Ende käme Renée gleich mit.

Man könnte den Koffer einfach auf den Wagen stellen, der Kutscher hätte
doch noch angespannt.

Renée lachte: „Erstens dürfen auf Sarahs Wagen keine Koffer und zweitens
kann ich gar nicht.“

„Du kannst doch unmöglich für länger hier in der Wohnung so allein
hausen.“

„Findest du?“ – „Papa findet es,“ antwortete Elisabeth spitzig. – „Na,
beruhige dich nur, Elisabeth, das will ich ja gar nicht. Ich komme bald
nach Groß-Gehren und dann reise ich etwas.“

„Reisen, wohin denn?“ – „Vielleicht nach München.“ – „Was willst du denn
da?“ – Renée amüsierte sich, Elisabeth zu chokieren. „In Italien soll es
ja im Sommer auch wundervoll sein.“ – „Was für eine verrückte Idee,“
sagte Elisabeth scharf. Sie ereiferte sich. Papa fände, daß das Reisen
ins Blaue hinein lächerlich sei. Er habe keineswegs Geld für sowas
übrig. Ja, er habe es geradeheraus gesagt, als Renée im letzten Brief
davon geredet hätte.

„Warum bist du denn nicht mit der holden Sarah gefahren?“ – „Du drückst
dich wirklich recht gewählt aus,“ sagte Renée, „indessen mich lockt
weder die Prinzessin noch Schottland.“ – „Sarah versteht es wirklich
ausgezeichnet, sich in die exklusivsten Kreise hineinzubringen,“ sagte
Elisabeth. Gewiß war sie recht neidisch. „Du könntest wirklich lieber in
Groß-Gehren Papa etwas behilflich sein. Papa hat eine neue Köchin, dort
wäre am Ende dein Platz.“

Renée ermüdete schon. Wozu? Was denn eigentlich hatte sie gewollt?
Alleinsein – wissen, wer man ist.

„Schließlich hat die Familie doch wohl auch Anrechte auf dich.“ –
„Niemand hat Anrecht auf mich,“ das schrie Renée ganz zornig. „Niemand,
dem ich es nicht gab.“

„Dieser moderne Quatsch, es ist fürchterlich,“ sagte Elisabeth.

Nach wenig Tagen fuhr Renée.

Da war der Turm von Groß-Gehren und die breiten Kronen der Linden,
zwischen denen das Haus stand, da war der weiße Kirchturm.

Nun über die Bahnschienen mit der Warnungstafel und den Weg hinunter
über den kleinen Berg, so ein märkischer Kaninchenhügel, und auf der
Dorfstraße die Kinder mit dem weißblonden Haar und den dunkelbraunen
Gesichtern.

Da die ziegelrote Schule und die schöne Kirche und der Hof.

Auch heute sprang ein brauner Jagdhund – wie mochte wohl dieser heißen –
auf den Wagen zu und kläffte.

Da rasselte der Wagen über die holprigen Hofsteine, das altgewohnte
Geräusch.

Renée ging in den Zimmern herum, wo dieser herbe Geruch war aus der
Kindheit – nach Lavendel und ein wenig dumpf, weil immer die Läden
geschlossen wurden vor der Sonne.

Draußen floß das weiche, graue Wasser, das die langen Kähne vorübertrug;
die wurden schöne, weiße Segel, wenn Wind war.

Sie ging in das Zimmer, wo sie als Kind gewohnt hatte. Es war durch eine
bunt tapezierte Wand in zwei Räume geteilt, es waren fremde, plustrige
Polstermöbel darin und Bills Spielsachen. Großvaters riesengroßer
Schreibtisch, auf dem Renée als Kind mit ihren Spielsachen
herumgeklettert war, stand nicht mehr an seinem Platz.

Renées Puppenhaus und die Festung mit der Zugbrücke und das Theater,
alles stand auf der Erde in diesem Zimmer, und in der Mitte thronte
Bill, vor ihm lag ein Haufen Bleisoldaten, auf die er mit einem
Holzhammer loshackte. Renée fuhr auf ihn los; es ergab sich, daß es ihre
alten Bleisoldaten waren, – Bill fing an zu heulen. Renée raffte das
ganze Zeug in ihren Rock und trug es fort.

Als sie in ihrem Zimmer die kleinen blauen und roten Männer ansah, kam
sie sich sonderbar vor, lächerlich, kindisch, aber es blieb trotzdem ein
Kummer, ein dummes, kindisches Leid. Sie schüttete den ganzen Kram in
die Kommode, das meiste war ohne Kopf und Beine.

Erst wollte sie es Papa sagen, man hätte nicht einfach ihre Spielsachen
dem ekligen Bengel zu geben. Ihr gehörten die Sachen, sie könnte sie
selber schon verschenken, wenn sie wollte.

Dann dachte sie: Gewiß ist es dumm, ich sehe ja die Sachen doch nicht
an, gewiß ist es gar kein guter Charakterzug, daß ich sie dem Bill nicht
gönne.

Sie würde dem Bill doch einmal alles gönnen müssen, Haus und Hof und
Feld.

„Ich höre, du willst reisen,“ sagte Papa.

„Ach nein, Papa, ich will es eigentlich gar nicht.“ – „So so – na,“
sagte Papa, „das ist ja schön, denn da du schon so lange weg warst, so
hofften wir, du würdest dich mal hier nützlich machen.“

„Freilich,“ sagte Renée, „wenn ich was helfen kann.“

„Du könntest etwas auf die neue Köchin achten,“ meinte Papa. „Sie ist
eine ganz untaugliche Person, und der Diener ist auch ein furchtbar
dämlicher Kerl.“

„Wie bist du denn mit dem Förster zufrieden?“ – „Nichts versteht er,“
antwortete Papa.

Demnach schien Papa wenig Glück gehabt zu haben bei seiner Wahl.

„Na, wie gefällt dir denn Bill?“

„Gott, er ist doch erst zwei Jahr,“ meinte Renée.

„Eine Schönheit wird er nicht werden,“ sagte Papa. „Er hat gerade die
blöden Augen wie sein Vater.“

Renée sah ihren Vater erstaunt an. Papa sah ganz ernst aus. Geradezu
bekümmert. – „Nichts von unserer Familie hat er,“ fuhr Papa fort. „Der
ollen Horwitz gleicht er – na –“ damit erhob sich Papa und ging in den
Garten.

„Papa entbehrt dich recht oft,“ sagte Elisabeth.

Renée schwieg. Sie fing an nachzudenken. Damals, als Papa täglich mit
ihr ausfuhr, als sie immer die Rehböcke für ihn erspähte – besonders in
der Seradella standen sie gern. Wenn sie am Vorwerk vorbeikamen, sagte
Papa manchmal: Hier müßte man das Pächterhaus hinbauen, damit man sie
los wäre vom Hof, und hier käme dann der ganze Wirtschaftshof hin, wenn
man’s demnächst mal alles herüberlegte.

Wenn Papa solche Dinge sprach, dann war Renée sehr geehrt gewesen, daß
er seine Pläne mit ihr redete.

Renée dachte daran.

„Papa findet, deine Pflicht wäre es, _ihn_ zu unterstützen und nicht
Sarah,“ sagte Elisabeth.

Richtig, Elisabeth!

„Vor kurzem warst du doch sehr einverstanden, daß ich zu Sarah ginge,“
antwortete Renée.

„Nun ja, eben zeitweise. Aber so gehst du ja der übrigen Familie
verloren – außerdem,“ Elisabeth machte eine kurze Pause, „außerdem wo
soll es hinführen? Sieh mal, das wirst du doch selber einsehn, neben
einer hübschen, jungen, so reichen und so koketten Frau wie Sarah kommst
du nie zu deinem Recht.“

„Wieso? Wie meinst du das?“

Elisabeth lächelte diskret: „Na, Renéechen, weißt du.“

Renée ärgerte sich, diese albernen Diminutive.

„Ich meine ganz einfach,“ fuhr Elisabeth fort, „Sarahs kokettes und
reifer entwickeltes Wesen sticht den Reiz deiner harmloseren Jugend aus
bei den Herren.“

„So etwas Geschmackvolles also meinst du.“ Renée lachte. „Das kann ich
überstehn.“

„Du wirst schon sehn, wenn erst die Trauer vorbei ist und ihr seid in
Gesellschaft.“

„Nein,“ antwortete Renée energisch. „Fällt mir nicht ein, in
Gesellschaften zu gehn.“

Elisabeth sagte: „Nun, dann hat doch der Aufenthalt bei Sarah überhaupt
gar keinen Sinn.“

Papa war nicht sonderlich erbaut von dem Plan mit dem Gymnasium. Daß
Renée nun auch von dieser modernen Idee sich anstecken ließe. Überhaupt
wäre es eine Albernheit, daß Renée immer bei Sarah herumsäße. Sarah
sollte sich nur wieder verheiraten. Es war sehr, ja sehr töricht, wenn
Frauen sich nicht verheirateten, fand Papa. –

Sarah schrieb kurze, vergnügte Briefe. Bereits im dritten Brief
berichtete sie, daß der junge Landsdown ihr einen Antrag gemacht hätte –
o, zu drollig – einen ganz richtigen mit Liebe und Verzweiflung ‚wenn
nicht‘ und funkelnden Augen. Und nun sei er entrüstet abgereist. –
Prinzeß Alison war reizend zu Sarah und nannte sie ‚^sweet^‘ und hatte
versprochen, das nächste Mal mit dem Prinzen bei Sarah abzusteigen in
Berlin, und wahrscheinlich würde Sarah in der Nähe der prinzlichen Güter
in Schlesien irgend ein Schloß ankaufen.

Und es falle ihr nicht im mindesten ein, sich wieder zu verheiraten,
obwohl sie es ihr alle rieten. Keine Spur. Die Männer wären doch viel
netter, wenn man sie in jedem Moment wieder laufen lassen könnte, sobald
man wollte. –

Renée war nicht wohl zumute bei diesen Briefen. Sie waren so sehr Sarah.
Sie gaben zu sehr ihr Wesen preis.

Und Renée dachte: eigentlich sollte ich wirklich nicht mit ihr zusammen
sein.




Im Herbst kam Sarah zurück. Renée sah sie wenig. Renée begann eben mit
den Stunden. Sarah war müde und abgehetzt. Sie lag zu Bett, oder sie war
in der Stadt und ordnete ihre Wintergarderobe. Und wenn sie zu Haus war,
– irgendwie kam es, daß Renée und Sarah einander aus dem Wege gingen. Es
hatte keinen besonderen Grund, nicht daß Mißhelligkeiten gewesen wären
oder Streit. Mit Sarah gab es keinen Streit. Sie hatte eine
bewegungslose Ruhe in allen Dingen, sie lächelte freundlich, wenn man
ihr widersprach, und tat nach ihrem Belieben. Alles Rechten mit ihr war
doch nur ein sinnloser Kraftaufwand.

Wenn sie keine Erwiderung wußte, lachte sie und wechselte das Thema.

Sehr oft mußte Renée an ihren Bruder denken. Dies und das der täglichen
Geschehnisse, ja der ganz unwichtigen täglichen Kleinigkeiten ließ sie
verstehn, was ihn aus dem Leben gejagt hatte. Sie dachte: Er ist
zerbrochen daran, ist müde geworden und hilflos und arm. – Sie dachte,
wie das wohl alles geschehen war.

Das Nachdenken über diese Dinge machte sie schroff und abweisend gegen
Sarah. Ja, es stieg eine Härte in ihr auf.

Und oft gingen ihre Gedanken diesen Weg, sehr oft.

Manchmal mitten in einem Gespräch, wenn Renée aufblickte und Sarah
ansah, dann fand sie einen unguten Zug, der in Sarahs Gesicht war.

Und Sarah lächelte ihn weg, wenn Renée hinsah. –

Das Arbeiten brachte Renée in eine gute, gleichmäßige Angespanntheit. Es
gab ein Maß für die Tage, für die Wochen, für die Monate. Sie kam sich
versorgt vor, wie jemand, der endlich eine passende Anstellung gefunden
hat. Es war angenehm, zu wissen, was man am Morgen tun würde. Man fühlte
die Stille und die Freude der Sonntage.

Manchmal kam Renée mit Nana zusammen. Dort traf sie Nanas Kolleginnen;
tüchtige, frohe Menschen waren es. Manche – so fand Renée – hätten nicht
so witzig zu sein brauchen, sie sagten: „Tableau“ – „So ist die Kiste“ –
„Fertig ist die Laube“ – aber sie waren brav und ordentlich und auch
klug zuweilen. Man überhörte eben die Witze.

„Wirst du denn nur immerzu so arbeiten?“ sagte Sarah.

„Freilich, bis ich fertig bin.“ – „Und dann?“ – „Dann arbeite ich
weiter.“ – „Es wundert mich, daß dies Schulmädchenleben dich
befriedigt,“ sagte Sarah.

Eigentlich mußte Renée lachen. Nun ja – was sie betrieb, waren ja nicht
eben gerade Probleme der Wissenschaft. Aber Sarah – wenn sie sich Sarah
über der griechischen Formenlehre dachte oder bei den ekligen
Dreieckskonstruktionen.

„So lange ich die Dinge noch nicht kann, befriedigt es mich eben, sie zu
lernen,“ antwortete Renée. Sie dachte: Dieser kleine Überfall mag ruhig
hingehn.

Sarah sagte: „Mir ist es aber langweilig.“

Renée wurde böse: „Es steht dir jederzeit frei, dir eine lustigere
Gesellschafterin zu nehmen.“ Diesmal lief Renée hinaus. Diesmal warf
Renée die Türen. –

Renée und Nana waren im Grunewald. Sie saßen da an einem Waldgraben mit
dem Rücken gegen den Weg. „Ich möchte ein wunderschönes Buch geschrieben
haben,“ sagte Nana plötzlich, „möchte Dr. h. c. werden, möchte ein
wahnsinniges Geld verdienen.“

„Ich denke, du wolltest den Krebserreger entdecken.“ – „Ja ja, das wäre
gar nicht uneben. Aber das Geld, das ich dann hätt. Ach Unsinn.“

„Na, also dann irgend eine andere Medicinae Großtat.“

Nana schüttelte die Locken auf ihrem runden Kinderkopf: „Studieren werd
ich schon, aber entdecken werd ich nix, das kannst du glauben.“

„Wie bist du denn eigentlich darauf verfallen?“

Nana legte sich lang in den Graben hinein und kugelte sich behaglich hin
und her.

„Man verdient am meisten. Ich habe nämlich ein Vorerbe von Großmama. Das
reicht gerade so zur Ausbildung und Anschaffung der Instrumente. –
Nachher muß ich verdienen. Ich habe keine Lust, arm zu leben und zu
sterben.“

Nana machte eine Pause, sie zupfte Gräser ab, die sie in den Mund
steckte. „Überhaupt ist es sehr ungut, arm zu sein. Man dreht jeden
Groschen in der Hand herum. Man wird geizig und kleinlich gegen sich und
andere. Es verdirbt den Charakter, ebenso wie ungute Liebe.“

„Eine eigenartige Zusammenstellung,“ sagte Renée.

Nana lächelte: „Nein, das ist auch Armut, so eine ärmliche Liebe. Weißt
du, Renée, ich finde, die Männer haben es maßlos gut.“

„Ach – findest du.“

„Ja“ – ganz eifrig wurde Nana – „denke nur: Frau und Kinder können sie
haben und ernähren und kleiden. Alles kommt vom Mann. Jeden Groschen hat
_er_ verdient, und nun kann er der Frau und den Kindern alles geben,
jedes einzelne ist seine Arbeit, was er ihnen gibt, und ein Stück von
ihm. Und dadurch nimmt er sie alle ganz zu eigen, und sie hängen ganz
von ihm ab.“

„Das sagst du ja ganz verklärt, Nana.“

Nana richtete sich halb auf: „Es ist das Schönste,“ sagte sie, „wenn der
Mensch, den man liebt, ganz von einem abhängt in allen Dingen.“

„So ein Vampir bist du!“

Nana wurde bös: „Renée, du lachst, du ulkst über mich.“

Renée streckte ihr die Hand hin. „Nein, Nana,“ sagte sie. „Ich lache ja
nicht. Nur darüber hab ich noch nie nachgedacht, ob eben dies so schön
ist.“

„Nun also, was ist denn schön?“

„O, ich weiß es nicht,“ sagte Renée, „ich weiß nicht, ich denke:
lieben.“ –

„Dieser Ausspruch ist nicht gerade neu,“ antwortete Nana.

„Nun ja, lieben an sich ist nichts Besonderes, aber so – so, daß eben
der eine Mensch den Sinn gibt für alles andere – und dann –.“

„Was noch, Renée?“

Ein wenig noch zögerte Renée. Dann sagte sie: „Wenn man liebt, so muß es
sein, um es nie wieder zu vergessen. Gar nichts auf der Welt, was auch
geschehen könnte, muß dies ungeschehen machen können, daß man diesen
einen Menschen über alles liebte – und wäre es schon ein ganzes Leben
her.“

„Dann dürfte jeder Mensch nur einmal lieben.“

Renée schwieg. Sie hatte noch niemals daran gedacht. Und eigentlich
konnte man sicher nur einmal lieben – aber dann wieder dachte sie an
Hannsbabo.

Sie standen auf, um zurückzugehen.

„Heute mag ich überhaupt nicht heraus aus dem Grunewald,“ sagte Nana.
„Morgen gibt es sicher Regen und übermorgen Schnee und die nächste Woche
Winter. Dann ist’s aus mit dem Grunewald.“

Sie gingen nach Hundekehle.

Nana wollte absolut Punsch trinken. Renée redete dagegen. „Ich stoße
dich auf ein paar Glas,“ sagte Nana, „und nun bist du still.“

Am See war es kühl. Sie mußten sich den Tisch extra heraussetzen lassen.
Man servierte eigentlich nicht mehr draußen. Darum lag draußen alles
voll gelber Blätter, die knisterten, wenn man darüberging.

Renée sollte immer noch mehr Punsch trinken. Sie hatte einen richtigen
Kampf mit Nana.

Endlich saßen sie in der Elektrischen. Die Leute neben ihnen stapften
mit den Füßen auf den Boden vor Kälte. Siebenmal hörte Renée, wie einer
dem andern Schnee prophezeite. Die Bahn quietschte und klagte in den
Schienen. Das versprach Kälte.

„Ich kann noch nicht nach Haus“ sagte Nana. „Ich kann nicht so früh
allein sein heute, laß uns irgendwas unternehmen.“

„Komm mit zu mir, magst du?“

„Nein,“ sagte Nana, „dank schön. Ich gehe nicht gern in die Nähe deiner
Schwägerin. Tu mir den Gefallen, laß uns was unternehmen.“

„Vielleicht könnten wir ins Theater gehn,“ sagte Renée.

Nana war einverstanden. Ja, sie würden in ein Lustspiel gehn. „Nur nicht
etwas mit Emotionen,“ sagte Nana.

Es war ein furchtbar dummes Stück. Renée bedauerte ihre sechs Mark. Man
hätte viel hübschere Dinge damit haben können. Renée ärgerte sich über
die albernen Leutnants auf der Bühne, die wie Friseure aussahen, und die
‚Gräfinnen‘ benahmen sich so Münchnerisch ordinär. Natürlich saßen die
Berliner und gröhlten vor Wonne.

Nana zupfte Renée am Ärmel bei jedem Witz und lachte und schlug sich auf
die Kniee vor Vergnügen. Nachher, als sie heimgingen, war Nana ganz
aufgeräumt. Sie sagte, Renée sei ein lieber Kerl, daß sie mitgekommen
wäre. „Manchmal,“ so sagte Nana, „da denk ich an meine gräßliche einsame
Bude, und dann bin ich wie ein Hund, den sein Herr mit dem Kopf ins
Wasser getitscht hat.“

Renée sagte: „Dann sagst du mir’s immer, nicht wahr? Und wir sind gute
Freunde und dann helfen wir einander schon aus.“

Dann nahm Nana Renées Hände und drückte sie ganz fest – und sie sagte:
„Du kannst das wissen: du sollst keine Minute warten, wenn du einmal
meine Hilfe brauchst, Renée.“ – –

Als Renée einschlief, fielen ihr Nanas gute, warme Worte ein. So kam es,
daß sie ruhig und froh aufwachte den andern Morgen. –

Wie Renée sich plagte. Wollte denn die elende Geometrie nie in ihren
Kopf? Manchmal saß sie drei Stunden über ein und derselben Aufgabe, und
in der vierten Stunde fiel ihr so ein elender Lehrsatz ein. – Dann war
es gelöst. Wenn sie es nicht herausbrachte, dann peinigte sie diese
Zeichnung den ganzen Tag. Fast hätte sie, wen sie auf der Straße traf,
angeschrieen: „Wenn a + b gegeben ist und der Winkel.“

Sarah betrachtete es mit Kopfschütteln.

Mit den Sprachen konnte sich Renée besser helfen. Und an dem Griechisch
hatte sie Freude. O, man konnte zuweilen ganz berauscht werden von dem
weichen, von diesem geheimnisvollen Zusammenklingen der Vokale.

Und immer gingen die Worte dieser Sprache dem Geschehen nach; klangen
süß und sanft, wenn gute Dinge geschahen, klangen absurd und gellend und
wie Schreie, wenn ein Unglück kam.

Renée konnte ein oder das andere Wort vor sich hersprechen, drei-,
viermal – und wurde wehmütig dabei. –

Einmal sprach Sarah von Nana. Nein, ihr gefiel diese Nana nicht. Immer
war sie in einer so sonderbaren Weise präokkupiert, wenn Sarah mit ihr
sprach. Und sie hatte ein Benehmen wie ein Realschüler. – „Wirklich, du
solltest dich nicht so mit ihr liieren,“ sagte Sarah. – „Sie ist der
feinste und beste und ehrlichste Mensch, den ich kenne,“ antwortete
Renée.

„Also du wirst bestimmt irgendwann peinliche Erfahrungen mit ihr
machen.“

„Nein, nein.“ Renée lachte übermütig. Sarah überhörte das: „Von jener
Person, die Margit Roeren hieß, hast du mir auch immer so vorgeredet.“ –
„Ich glaube, ich kann trotzdem Unterschiede machen, Sarah!“

Sarah sagte: „So. Nun aber du absentierst dich absichtlich von mir,
Renée. Und dann – ich halte den Einfluß dieser Leute nicht für
geeignet.“

„In manchem hast du recht. Aber nicht hier. Nana ist nur gut für mich.
Vielleicht indessen ist es ungut, daß _wir_ zusammen sind, Sarah, daß
wir es _noch_ sind, denn das, was uns zusammenbrachte – das hält uns
nicht mehr.“

Sarah schien erstaunt zu sein. Renée sah ihr so sehr an, wie wenig sie
dergleichen erwartet hatte zu hören.

„Ich glaube es darum,“ fuhr Renée fort, „weil sich auf die Dauer und je
älter ich werde, Gegensätze verschärfen werden, die dir wie mir zuerst
ganz unwichtig erschienen und – weil du gewohnt bist, die Dinge aus
einer andern Optik zu betrachten, als ich es tue. – Ich aber kann es
nicht haben, daß herabsetzende Dinge gesagt werden über Menschen, denen
ich gut bin.“

„So schweige ich also!“

Renée sagte: „Nein, nicht. Das würde wenig helfen. Sei mir nicht böse,
Sarah, es ist dies: Du hast die Tendenz intellektueller
Freiheitsbeschränkung. Aber ich kann keine Beschränkung ertragen.“

Sarah stand auf. Sie machte ein hochmütiges Gesicht und ging – aber
zögerte sie nicht einen kurzen Augenblick an der Tür? –

Bei Sarah begannen die Feste. Es kamen die, zu denen Sarah mit der
langen Schleppe ging und dem Schleier und jene, zu denen sie goldne
Kleider trug und silberne Roben, an denen zuvor Brillanten festgenäht
wurden.

Schön sah Sarah aus. Aber Renée sah sie an und dachte an ihren Bruder.
Dachte: früher war sie schöner, als Hannsbabo neben ihr stand und sie
immer ansah. –

Abends, wenn Sarah zurückkam, legte Renée ihre Bücher fort, über denen
sie gesessen hatte, und setzte sich zu Sarah.

Dann erzählte Sarah. Die Leute hätten gesagt, Sarah wäre schön, so schön
wie eine Königin, sie sähe wiedermal am vorzüglichsten aus von allen.
Dann lachte Renée und sang:

„Frau Königin, ihr seid die Schönste allhier ...“

„Gar nicht ist Schneewittchen schöner,“ sagte Sarah.

„Nein, gar nicht,“ antwortete Renée.

Das mochte Renée gern, so abends mit Sarah sein. Die Dinge, die sie Tag
und Nacht über eingepaukt hatte, tanzten ihr immer noch ein wenig im
Kopf herum, während Sarah erzählte – und dann tanzten Sarahs bunte
Geschichten dazwischen.

Wenn Renée zu Bett ging, nahm sie die Bücher noch einmal mit. Sie
befaßte sich von neuem ernsthaft mit jedem einzelnen Stoff.

In der Mathematik erlebte sie Enttäuschungen: Immer war es abends so
herrlich richtig. – Am nächsten Morgen hingegen war es falsch. Und Renée
hatte doch gerade dem Mathematiklehrer auseinandersetzen wollen, wie
einfach und unzweideutig diese Lösung wäre. –

Die Zeit verging gleichmäßig. Es war, als ob man in langsamem Tempo
einen Berg heraufkäme.

Einen Berg mit einer leidlich bequemen Straße. Renée konnte die Arbeiten
beiseite tun ein paar Stunden oder ganze Tage.

Aber dann wußte sie, es war immer da, bereit, zur Verfügung. Sie
brauchte nur eins der Bücher zu nehmen.

Eine komische, kleine Kraft hatten die Bücher. Waren sie nun eine
Schanze oder waren es Waffen? Oder war es ein Haus, ein Schneckenhaus,
in das man hineinkriechen konnte?

Es war auch ein Sport dabei. Viel fixer als bei andern sollte es gehn –
mußte es gehn. –

Renée sah Nana wenig diese Zeit. Nana sagte: „Nein, so ochse ich nicht.
Keineswegs. Bei uns in der Penne läßt man sich Zeit.“

Manchmal kam sie, wollte Renée helfen, irgend etwas erklären. Aber es
lief nie gut aus. Renée verteidigte wie ein Evangelium, was sie einmal
gehört und verstanden hatte. Nana hingegen suchte immer nach neuen und
folglich besseren Methoden. –

Einmal, gegen den Sommer, kam Nana aufgeregt angelaufen. Sie fuchtelte
mit den Armen und schrie schon von weitem: „Du mußt in die Pension
kommen heut abend. Gräfin Isowska gibt ein Atelierfest.“ – „Aber ich hab
keine Zeit.“

Nana ergriff Renée aufgeregt bei den Armen und schüttelte sie. „Du mußt
absolut, es wird famos, und überhaupt hab ich dich schon angemeldet. Es
ist alles besorgt – hier ist die Karte.“ Sie zog einen Zettel aus dem
Portemonnaie. „Es ist für eine ‚polnische Waise‘. Aber wir glauben alle,
die Isowska ist selbst die ‚polnische Waise‘.“ Nana erstickte vor
Lachen. „Es kostet fünf Mark,“ stieß sie keuchend hervor.

Renée zahlte. „Aber was muß man anziehn?“

„Ist schon erledigt,“ sagte Nana. Sie lief hinaus und schleppte einen
Karton herbei. „Da, nimm,“ sagte sie mit einer verschwenderischen Geste,
„es ist von Edda Osten. Es ist Napoleon auf der Brücke von Lodi.“

„O,“ sagte Renée, „soll ich das darstellen – aber –“

„Es kommen nur Damen.“ Nana richtete sich in ganzer Größe auf, „es wird
sehr dezent, und die Gräfin Isowska hat sich extra Atelier-Requisiten
dazu verschafft.“

Nana begann den Karton auszupacken – das geschah, indem sie den zu
unterst liegenden Gegenstand herauszerrte. Dadurch fielen die andern
mit.

„Das Kostüm kannst du ruhig tragen. Edda Osten ist meine Cousine. Sie
ist sehr sauber.“

Renée lachte: „Bitte, das erstere genügt mir völlig.“

Aus dem Karton kam ‚Napoleon auf der Brücke von Lodi‘. – Renée begann
den Napoleon anzuziehn. Wenigstens den Waffenrock und die schwarzen
Stulpenhandschuh.

Sarah klopfte, sie kam eilig herein.

Nana fuhr auf mit einer kleinen, drolligen Verbeugung. – „Es ist
Napoleon,“ sagte Nana. – „O sieh da. Gibt es einen Maskenball?“ – Nana
erzählte eilfertig die Geschichte von der polnischen Gräfin.

Nun wollte Sarah mit. Und Renée merkte, daß Nana keine rechte Lust dazu
hatte. – „Sie werden mich doch mitnehmen?“ sagte Sarah – sie lächelte
Nana zu, als ob es gälte, jemanden aus dem Gefängnis herauszulächeln.

Nana wurde verlegen. – „Natürlich,“ sagte sie, „wenn Sie es mögen.“

„Also gut, gut, ich mag. Fahren Sie schleunigst zu der polnischen
Gräfin. Sagen Sie ihr, ich stiftete hundert Mark für das Waisenkind.“ –
Nana sah Renée an, und dann sah sie Sarah an. Sie verabschiedete sich
eilig und ging. „Heut abend auf Wiedersehn,“ rief ihr Sarah nach.

„Ah, sie wollte mich nicht haben, die alberne, kleine Person,“ sagte
sie. „Wollte absolut nicht. Hast du so etwas Ungezognes schon gesehen?“

„Ich würde nicht gehn, wo man mich nicht wollte.“ – „Ach wie
lächerlich.“ Sarah lachte demonstrativ. „Gerade – und außerdem bezahle
ich ja genug.“ – Dann fuhr Sarah in die Stadt wegen des Kostüms.

Renée freute sich. Sie hatte noch niemals so etwas mitgemacht. Und hatte
sich noch niemals verkleidet.

Und gewiß waren sehr viele Leute da mit schönen Kleidern. –

Sarah hatte ein hellgrünes Kleid. Sie hatte einen weißen Turban mit
Perlenketten und einen großen bunten Paradiesvogel.

Am Eingang wurde Sarah von der Gräfin Isowska empfangen. Die Gräfin
überreichte ihr einen Strauß weißer Lilien und sagte, es sei ein Glück
und eine Ehre für ihr harmloses Fest – und Sarah lächelte das reizendste
Lächeln, das sie aufbringen konnte.

Dann machte die Gräfin eine weitausladende Handbewegung, mit der sie die
Bahn freigab und sagte: „^Napoléon et Joséfine^.“ –

Ein allgemeines Ah ging durch die Versammlung. Renée fühlte sich
allseitig angestarrt und wäre am liebsten in die Erde gekrochen. Sie
hatte gar nicht gemerkt, daß Sarah Josefine darstellte – aus irgend
einer Ecke schoß Nana hervor, sie hatte eine riesige Guitarre auf dem
Rücken.

Einige zufällig in Empiretracht erschienene Damen begannen drängelnd
hinter Sarah herzulaufen und sagten, sie seien der Hofstaat.

Nana stand neben Renée „Es sind eine Menge ulkige Leut hier,“ sagte sie
kichernd. „Wart, ich zeig sie dir.“ – Nanas Finger fuhr hoch in der
Richtung einer umfangreichen Dame mittleren Alters. – „Siehst du, das
ist die Lamproth, die mit dem ‚Schrei nach dem Kinde‘ – ich glaube, sie
hat immer noch keins“ – eben ging die Betreffende vorüber, Renée hätte
ihr beinah ins Gesicht gelacht.

Nana zeigte auf eine große Dame in Schwarz. – „O, das ist die liebe,
schöne Reichner-Wengersky.“ – „Schön? Herrgott,“ sagte Renée.

Nana lächelte. „Nein, nicht das landläufige ‚schön‘. Ich weiß wohl, und
dann ist sie auch schon alt, aber ich habe ihre Bücher so maßlos
geliebt, als ich sehr jung war.“

Renée dachte an eins dieser Bücher, dachte: daß ein Mensch ein so
großes, gutes Herz haben kann, irgend eine kleine Rührung kam ihr. –
„Also das ist sie“ – sagte Renée, „das ist sie.“

Plötzlich machte eine dicke Dame vor ihr Halt. Diese Dame hielt den Kopf
ein wenig schief und lächelte fatal, indem sie die Augen zusammenkniff.
Wo – richtig, es war ja die Horwitz, Viktors furchtbare Schwester. –
„Sie hier, Fräulein Renée?“ – „Sie auch,“ antwortete Renée. Die Horwitz
sagte, man hätte sie so sehr dringend aufgefordert.

„Sie werden viel berühmte Damen hier sehn,“ begann die Horwitz milde,
„ich werde Sie ein wenig orientieren.“ – Renée erschrak; nun mußte sie
mit der gräßlichen Horwitz herumlaufen. – Aber schon hatte Fräulein von
Horwitz sie im Schlepptau. Mit der gleichen schiefen Kopfhaltung wie
zuvor an Renée trat sie an eine der Umstehenden. Sonderbar, auch diese
drehte den Kopf schief. Es war Henriette Estner, wie Renée vernahm,
‚eine unsrer Bedeutendsten‘. – Die Bedeutende lächelte steif und
selbstverständlich. Sie hatte eine Stimme wie ein zerstoßner Blechtopf –
aber sie wurde sehr geehrt. Renée schob sich schnell durch zwei
Dahinterstehende und verschwand von der Seite der Horwitz. –

„Sieh dir doch lieber die jungen, hübschen Bedeutenden an,“ sagte Nana.

Es kamen einige Vorführungen. Sie waren nichtssagend. Aber man konnte
wenigstens feststellen, daß auch junge und hübsche Damen auf diesem Fest
waren.

Das war beruhigend. Es gab Theater. Tingeltangel, Kabarett, dumme
Auguste und Cleo. Es war alles sehr echt. Besonders der Tingeltangel!
Nachher tanzte man.

Zwischen den Tänzen sang Nana. Nana war Troubadour. Sie stand mit dem
Rücken zum Fenster und sang: „^Il y avait une fois un pauvre gare^ –“

Sie sang mit einer feinen, traurigen Stimme, und manchmal, sonderbar
unvermittelt, griff sie leidenschaftlich und hart in die Saiten ihres
Instruments.

Kleine, liebe Nana – was tanzt denn so in deinem Herzen! –

Sarah stand inmitten der Hervorragendsten. Hinter ihr waren die in
Empiretracht. Neben ihr stand ein großer, schlanker ‚Theodor Körner‘. Er
hielt den Lilienstrauß. Er wandte sich zu Nana und sagte: „Diese kleine
Josefine ist reizend.“ – Nana drehte ihm den Rücken. „Es ist die Dr.
med. von Saldern,“ sagte sie wegwerfend.

Sarah schien sich zu verabschieden. – „Ich werde sehr Freude haben, wenn
Sie kommen zu mir,“ sagte sie mit einem allerliebsten Lächeln.

Sie spricht doch sonst viel besser Deutsch, dachte Renée. ‚Theodor
Körner‘ reichte die Lilien in den Wagen. „Ihr Wagen hat nicht einmal ein
goldenes Dacherl,“ rief er hinterdrein. –

Im Wagen lachte Sarah, zehn Minuten lang ununterbrochen. „Es ist das
Komischste, was es gibt, o, es ist so komisch“ – ganz außer sich war
Sarah.

„Was ist denn nur?“ – Sarah lachte – lachte. Der Paradiesvogel auf ihrem
Kopf lachte.

„Sie waren so furchtbar alt und häßlich,“ sagte Sarah, „sie machten mir
so entsetzliche Komplimente; o, sie waren alle ganz verliebt in mich. –
Ich habe sie sämtlich eingeladen.“ – –

Die Damen mit dem ‚Schrei nach dem Kinde‘ kamen. Sie sprachen sehr viel
von dem ‚versagten Glück der Mutterschaft‘, das allen Frauen zugänglich
gemacht werden müsse. Sie sagten: „Es ist das Recht des Weibes, Mutter
zu sein.“ Dr. med. von Saldern schwieg und lächelte. Dann sagte sie: „Es
ist das Recht der Frau, reizend zu sein.“ Die mit dem ‚Schrei nach dem
Kind‘ rückten von ihr ab.

„Es ist durchaus unwichtig, ob dieser rein physiologische Zustand
vorhanden gewesen ist oder nicht,“ sagte die Dr. med. Die Bedeutende mit
der Blechstimme trat ihr entgegen. „Die Mutterschaft reift die Frau zu
ihren höchsten Möglichkeiten!“ sagte sie.

Renée ging zwischen ihnen herum und reichte die Teetassen. Und als sie
zum fünften Mal hörte, daß es das heiligste Recht sei, Mutter zu sein
und daß niemandem dieses Recht verkürzt werden dürfe, da bekam sie eine
Riesenlust, in all das banale und aufgeblasene Zeug hineinzufahren, das
sich so maßlos wichtig gebärdete.

„Wenn man nun gar nicht Lust hat auf dies ‚heilige Recht‘?“ sagte sie.

Die Damen betrachteten sie indigniert. „Nicht Lust,“ sagten fünf
herausfordernde Stimmen. Renée mußte lachen. Es schien, sie hatten alle
sehr Lust. – „Ich habe gar keine Lust zum Beispiel,“ sagte sie
freundlich.

Die Gesichter der Damen röteten sich – die Dr. med. sagte: „Recht so!“

„Noch vorgestern sagte der Herr Kultusminister im Abgeordnetenhaus, daß
die Frau vor allem auf ihren herrlichen Beruf als Frau und Mutter
erzogen werden müsse,“ hub eine Dame an. „Natürlich für diejenigen, die
dieses höchsten Glückes leider nicht teilhaftig sind – –“

Renée unterbrach sie: „Ich las es. Dieser Mann betrachtet alles
weibliche Künstlertum, Studium, Arbeit nur als Ersatz, als Notbehelf für
die versagten Babies mit Lutschpfropfen.“

Einige der Jüngeren lachten. Sarah lächelte. Sie sagte: „Ich bin
erstaunt, Renée.“

Renées Gegnerinnen zogen sich darauf zurück, von jugendlicher Unreife zu
reden. Sie sagten: „Jedes Vollweib fühlt in sich diesen Drang.“ –

„Unter diesen Umständen ziehe ich vor, ein Halbweib zu sein,“ sagte die
Dr. med.

Die Unterhaltung bekam eine bedenkliche Wendung.

„Immerhin werden Sie es doch begreifen, daß manche Frauen sich
sehnsüchtig ein Kind wünschen, Fräulein von Catte,“ sagte eine der
Jüngeren.

Sarah versuchte auf der andern Seite ein Gespräch in Gang zu bringen.

„Nein, nein, ich begreife das nicht,“ antwortete Renée, „ich finde es –
nun – fatal im höchsten Grade, wenn Frauen umherlaufen und sich nach
einem Kinde sehnen, als nach dem ‚Ding an sich‘ – es ist abstoßend, roh,
denn hier wird die Voraussetzung der Liebe ausgeschaltet, hier drängt
die Frau in den primitiven Urzustand zurück, sie wirft die Vergeistigung
der Erotik über den Haufen und macht die Liebe zur Funktion – – und es
bleibt nichts als ein lächerlicher, geiler Lärm.“

Nach den Gesichtern, die Renée erblickte, schien es, daß sie sich sehr
unpassend ausgedrückt hatte. Es entstand Schweigen. Die Dr. med. von
Saldern sagte: „Recht so.“

Sarah erhob sich: „Ich habe Ihnen noch gar nicht meinen Obolus zur
Sammlung für das Waisenkind erstattet,“ sagte sie; Gräfin Isowska erhob
sich stürmisch. Sarah entnahm ihrem Schreibtisch Geld.

„O, wie edeldenkend,“ sagte die Polin, „zweihundert Mark!“ Sie breitete
die Scheine mit spitzen Fingern aus.

Die Unterhaltung floß ruhiger. Renée beschäftigte sich beim Teetisch. –
–

„Ich finde, du hast taktlose Dinge getan,“ sagte Sarah später. Renée
ärgerte sich. Sie fand, Sarah hatte vielleicht nicht so ganz unrecht.
Sie sagte: „Ich kann diese widerwärtigen Mutterschaftsreden nicht
leiden. Sie diskreditieren damit nur die Frauenbewegung.“

„Aber du bist etwas jung, Renée.“

Renée lachte: „Du bist nicht so sehr viel älter.“

„Die Leute waren sehr wütend auf dich, sie meinten, es sei unnatürlich.“

„Ja,“ sagte Renée, „gewiß, meinetwegen. Ich schreie nicht nach dem
Kinde, meinetwegen mag das unnatürlich sein. Hast denn du jemals danach
geschrieen?“

Sarah spielte mit ihrer Uhrkette, an der ein paar Edelsteine hingen.

„^God save me^,“ sagte sie halblaut.




War denn wirklich schon wieder Winter gewesen und Frühling und Sommer?
Hatte es Schnee gegeben und dann Blüten und Blumen?

Da ging Renée durch den Tiergarten und sah, daß die Bäume leer waren und
daß Pfützen auf den Wegen standen und daß der Wind das knisternde,
braune Laub herumwirbelte.

Was war es für ein Leben, das Renée lebte. – Eigentlich hatte sie die
ganze Zeit nur nach dem Examen abgerechnet: In sieben Monaten, in fünf
Monaten, in einem Monat. Und dann war es da.

Immer schon war Renée an dem großen roten Kasten vorbeigegangen und
hatte gedacht: Einmal stehe ich darin und weiß keine Antwort. Und werde
ohne Ende gefragt und weiß absolut keine Antwort. Sie hatte sich
ausgemalt, wie sie aussehen würden, der Regierungskommissar und der
Direktor und die Lehrer.

Und natürlich würden die Jungens ihr keine Silbe vorsagen, weil sie ja
nicht wußten, ob sie sollten. Aber man konnte sie doch unmöglich
auffordern.

Die schriftlichen Tage vergingen ziemlich sorglos. Man war noch ein
wenig getragen von dem Gefühl der herrlichen Dinge, die einem vor Beginn
gesagt worden waren. Gewissermaßen in einer feierlichen Stimmung war
man. Dann kam ja auch zuerst der Aufsatz, da würde man sich schon
irgendwie durchgraben.

Die Mathematik machte Renée ohne sonderliche Angstzustände. Und gerade
davor hatte sie sich so gefürchtet – aber man hatte so lange Zeit. Und
irgendwo aus einem versteckten und verstaubten Gehirnwinkel kamen auf
einmal Dinge, die der Mathematik-Doktor gelegentlich geäußert hatte.

Die Tage bis zum Mündlichen verbrachte Renée zwischen Säulen von
Büchern.

Endlich drei Tage vorher kam Nana. – „Reizend,“ sagte sie, „ist dieser
Anblick! Reizend – wie du dasitzt, wie du mich anglotzt mit ganz stieren
Augen.“

„Was redest du denn nur?“

Nana lachte höhnisch. „Wenn du so fortfährst, so fällst du durch,“
erklärte sie kategorisch. Dann flogen Renées Bücher in den Schreibtisch.
„So ein Unfug. Ochst sie da Literaturgeschichte – und Zahlen. Fünf Bogen
Zahlen – ja –“ Nana stemmte die Arme in die Seiten und baute sich gerade
vor Renée hin. „Meinst du etwa, die behältst du bis übermorgen?“

Renée sah sie starr an, und eigentlich war sie froh, herauszukommen. Es
war, als ob nun Nana die Verantwortung übernommen hätte.

Am Abend vorher kam Nana noch einmal. Sie nahm Renées Bücher und frug
alles ab, ein Fach nach dem andern – und Renée sagte die Dinge herunter
eins nach dem andern und wurde ruhig und vergnügt dabei.

Dann war es wirklich vorüber. Sie war wirklich durch.

Unten stand Nana; die kleine, frohe Nana sah blaß und erregt aus, und
dann strahlte ihr Gesicht. Sie fiel auf einmal Renée um den Hals. Was
Renée gefragt worden war? Was denn nur in den fünf langen Stunden?
Eigentlich wußte Renée es gar nicht mehr. Ob sie denn Griechisch gut
gekonnt hätte? Wie ging denn Homer? An welche Ode war Renée gekommen im
Horaz? Und Cicero? Nana stolperte alle diese Fragen heraus, als ob sie
aufgeschichtet, parat gelegen hätten.

„Ich glaube, es war alles ganz leidlich,“ sagte Renée. „Bloß Geographie
ahnte ich nichts.“ – „Das tut nichts,“ sagte Nana. – „Weißt du
Negerstämme aus unseren Kolonien?“ – „Ich? Nein,“ antwortete Nana. „Ich
wußte sie auch nicht. Sie heißen Baku oder Taku oder so was.“ – „Ach,
wo, Renée, Taku sind die Forts vom Chinesenkrieg.“

„Sie heißen aber so ähnlich. Der Direktor hat es selbst gesagt,“
beteuerte Renée. –

Ob denn Religion gegangen wäre? Hatte auch Renée keine Angst? – Renée
hielt Nana den Mund zu. „Man kann nicht alles beantworten, was du
fragst,“ sagte sie. Dann gingen sie zu Kempinski. Obwohl es auch bei
Sarah am Abend noch ein Festessen geben sollte. –

Renée war so vergnügt! Sie ging ordentlich gehoben herum. Sie dachte:
Dieser Zuwachs geht mir nicht mehr verloren. Nun bin ich mindestens
Studentin. Und ich kann ja auch mehr werden – natürlich – ich kann den
Doktor machen. Vielleicht doch Medizin, dachte Renée. Dann fing sie an
auszudenken, wie hübsch es sein würde, wenn sie alles erst war.

Jemand redete sie an, gerade an der Brücke. Es war Schoenburg. „Darf ich
Ihnen gratulieren, gnädiges Fräulein? Nana hat mir natürlich erzählt.
Sie ist ganz außer sich vor Freude, die kleine Nana.“

„Ja, sie hat mir so geholfen.“ – „War es schwer?“ frug Schoenburg,
„schön?“ – Renée lachte: „Freilich, schön. Wenn einem gesagt wird, man
hat’s bestanden, dann fällt plötzlich ‚der Stein vom Herzen‘, und einen
Augenblick ist man ganz wie erlöst und ganz froh.“ – „Nur so kurz ist
man froh?“ – „O ja,“ sagte Renée, „froh ist man niemals sehr lange.“ –
„Haben Sie Nana gern, Fräulein von Catte?“ – „Ja, sehr, sehr gern. Sie
ist der allerbeste Kamerad und –“ – „Und? Warum sprechen Sie nicht
weiter?“ – frug Schoenburg. „Ich spreche ja. Nur müssen Sie es nicht
falsch verstehen, oder vielmehr ich fürchte mich, daß es recht
sentimental klingen könnte.“ – „Nein, nein, ich bin nicht solch ein
Plebejer.“

„Es ist dies,“ sagte Renée: „von Nana habe ich das bestimmte Gefühl, daß
sie mir irgendwann einmal helfen, daß sie mir etwas tun wird, was sehr
schön und sanft und stark sein wird, zu tun.“

Schoenburg ging neben Renée her und schwieg. Einmal, als sie über den
Straßendamm gingen, wandte er ihr das Gesicht zu – er wollte sie
zurückhalten – ein Auto kam – da sah Renée in sein Gesicht, sah, wie er
traurig aussah und enttäuscht. – Er bemerkte, daß sie es sah, und
lächelte und sagte: „Nun haben Sie auch noch dies für einen andern zu
tun aufgehoben.“

Am Wilhelmsplatz trennten sie sich. Renée dachte an diese Dinge, als sie
nach Hause ging. Dachte: Wie herzensroh ist ein Mensch, der nicht liebt,
wie sehr billig im Vorteil. –

Es kamen unruhige Nachrichten aus Groß-Gehren. Bill war krank. Bill
hatte Diphterie. Papas Cousine, das alte Fräulein von Rochow, die den
Haushalt führte seit kurzem, schrieb.

Sie schrieb von der großen Angst, in der sie alle lebten, von der
verzweifelten Sorge, mit der Renées guter Vater jeden Atemzug des
geliebten Enkelkindes bewache. Sie ließ philosophische Betrachtungen
einfließen, sie sprach außerdem von dem Sonnenstrahl des Hauses, der
letzten Hoffnung der Familie.

Renée wußte nicht so recht, was sie daraus machen sollte.

Als Sarah diesen Brief las, lachte sie. Sie lachte in einer sonderbaren
Art und sah Renée an. – „Was sollen nur diese Redensarten von Tante
Klara?“ frug Renée.

Sarah lachte, sie klimperte mit den Fingern auf der Tischplatte. – „Was?
Er soll doch Groß-Gehren erben, der Wurm! Er soll es kriegen, und ihr
kriegt nichts.“ –

„Wieso?“

„Nun ja, eben wie ich dir sage. Es war so bestimmt, im Falle daß
Hannsbabo kinderlos starb.“

„Woher willst du das wissen?“ Sarah zuckte die Achseln. „Er hat es
einmal gesagt, er war böse darüber.“ – Warum? Sarahs Augen gingen an
Renée vorüber, sie antwortete nicht.

„Wann hat er es gesagt?“ – „Wenige Wochen ehe er starb. O ja, ich
erinnere mich deutlich. Er ging mit mir die Treppe der Veranda hinunter,
und er sah dich von weitem – du standest am Wasser, kleine Renée, und du
sahst in deinen Mond, den du immer so liebst – – und er sah dich und
sagte: ‚Ich mag es nicht, daß Renée sich so sehr an dieses hier hängt.‘
– Er antwortete nicht, als ich ihn frug. Er ging zu dir und küßte dich –
weißt du noch?“

„Ja, ich weiß es.“

„Später erklärte er es mir,“ sagte Sarah. „Er hat gesagt: ‚Diese
widerliche Horwitz-Sippe, dann wollen sie noch ihren scheußlichen
Romannamen anhängen an unser gutes, altes Catte.‘“

Renée wurde traurig. Was denn? Entging _ihr_ etwas? Nein – sie hatte
niemals daran gedacht. Nur irgend eine Abwehr war in ihr gegen diese
fremden, gedankenlosen Leute – so als müßte man ein Kind hergeben, und
das käme nun in fremde Pflege. –

Bill wurde gesund, und Renée fuhr hin, damit Elisabeth sich etwas
erholen konnte von der Pflege.

Sie fand ihren Vater elend und angegriffen. Er ging ermüdet durch die
Stuben, immer mit einem halb abwesenden Ausdruck – so war er nicht
gewesen, als Hannsbabo starb.

Renée mußte so viel an ihren Bruder denken. Sie mußte daran denken, wenn
sie die Glocken zum Feierabend hörte; die beiden Glocken, die brummende
und die mit dem fröhlichen Geklingel, zwangen ihre Gedanken zu dem
Kirchhof damals, wo sie ihren Bruder hinaustrugen – und da lagen sein
Helm und sein Pallasch und Sarahs Rosen. –

Renée ging über die Dorfstraße. Ein paar Kinder liefen hin und her mit
Gießkannen und gossen die Blumen auf den Gräbern der vielen kleinen
Geschwister.

Renée ging durch die Kreuze und Steine. Die neuen waren häßlich. Da
standen Kreuze in Gestalt eines Baumstammes, aus Stein natürlich. Sie
hatten einen runden Schild mit der Photographie des Verstorbenen auf
Porzellan. Nein, sie waren nicht schön. Aber darauf hingen Papierkränze,
die die Schulkinder machten – die hingen auch in der Kirche, von roten,
blauen und grünen Rosen, die kannte Renée so lange schon.

Der Efeu auf Hannsbabos Grab war dicht und dunkel. Renée zog die jungen
Ranken fort von den Buchstaben.

                 Hannsbabo Friedrich-Wilhelm von Catte
                         Kgl. Pr. Oberleutnant.

Er lag da neben Mama.

Renée mußte sonderbare Dinge denken: Einmal lieg ich da auch, vielleicht
neben Hannsbabo – oder da rechts auf der Seite.

Sie mußte so sehr an den Tod denken – war es denn mit Furcht? Hatte sie
Furcht? Es mußte doch einmal sein. Natürlich noch lange hin. Man wurde
zuerst alt, dann wurde man krank, dann schließlich starb man – so war es
doch – warum an den Tod denken.

Hannsbabo war so jung gestorben. – –

„Gottlob, ja wirklich, nun geht es dem lieben Kind ja wieder gut,“ sagte
Tante Klara bei Tisch. „Nun sollst du selber auch mehr auf deine
Gesundheit sehen, Wilhelm.“

Renées Vater sah auf, als die Tante ihn anredete. „Ist ja auch ein
Blödsinn, den Jungen so einfach mit den Dorfkindern rumlaufen zu
lassen,“ sagte er ärgerlich. „Ich wünsche nicht, daß das wiederholt
wird!“ – „Da hast du ja völlig recht, lieber Wilhelm,“ sagte die Tante,
„aber Elisabethchen meinte doch, daß Viktor –“

„Unsinn,“ erwiderte Papa. „Ich verbiete es hiermit! Der Müller hat einen
ganz netten Jungen, der kann im Garten spielen mit Bill. Übrigens ist ja
nun Renée da. Die kann sich etwas um den Jungen kümmern.“ – „Ja schon,“
sagte Renée, „außerdem spielen so kleine Kinder doch gewöhnlich allein.
Er müßte eben anstatt dieser uralten, wackligen Kinderfrau eine Junge
bekommen, vielleicht aus dem Lettehaus.“

„Aber die Alte ist dringend nötig für das Kind. Laß ja nichts
dergleichen laut werden,“ sagte Tante Klara und sah sich ängstlich um
nach dem Diener. Papa streifte die Tante mit einem ärgerlichen Blick.
„Es wäre mir sehr lieb, wenn du dich etwas der Sache annähmest, solange
Elisabeth fort ist,“ sagte er. „Der Junge hat so alberne
Klein-Mädchen-Angewohnheiten. Natürlich – er wird ja geradezu darauf
hingeleitet.“ – „Das arme Kind,“ sagte Tante Klara. – „Ja eben, das arme
Kind. Das ist ganz meine Meinung,“ sagte Papa.

Renée mußte lachen. Dies schien also schon seit einer Weile im Gange zu
sein. – „Aber jetzt, wo er so erholungsbedürftig ist, kann man doch
nicht auch noch seine Gewohnheiten –“ erwiderte die Tante. – Papa
unterbrach sie: „Na hör mal – Gewohnheiten ist gut! Ein vierjähriger
Knirps, das ist großartig.“ – Tante Klara zuckte die Achseln. „Was sind
denn das für Gewohnheiten?“ frug Renée.

Der Diener begann das Obst herumzureichen. – „Na, zum Beispiel spielt
der Bengel nur mit Puppen –“ begann Papa. – „^Prends garde le
domestique^,“ sagte Tante Klara eindringlich. Papa ignorierte das. „Ach,
lächerlich ist es. Neulich hat ihm sein Vater ’nen Pappküraß und Helm
geschenkt, und als er’s anziehen sollte, heulte der Kerl.“ – „Nun ja, er
kennt eben so etwas noch nicht,“ sagte die Tante entschuldigend. – Papa
gab es auf. „Na ja, natürlich, ihr seid einig _gegen_ meine Ansichten,“
sagte er gekränkt resigniert und erhob sich. –

Tante Klara wollte sich aussprechen. „Es ist wirklich ein so reizendes
Kind,“ sagte sie zu Renée, als Papa in sein Zimmer gegangen war. „So
zartfühlend und sanft und bescheiden. Du solltest hören, wie niedlich
und poetisch er sich manchmal ausdrückt.“ Renée sagte, das sei wirklich
erstaunlich.

Dies schien die Tante anzufeuern. „Wir lassen ihn auch bestimmt nicht
Offizier werden. Gegen Pensionen bin ich auch sehr. Bill ist viel zu
fein und zartfühlend, um unter diesen rohen Jungens –“ – „Aber
schließlich – er ist doch selber ein Junge.“ – „Nun ja,“ sagte die
Tante. „Ich meine, wir werden ihn zu Haus erziehn, und natürlich braucht
er dies ganz unnötige Abiturexamen, oder wie es heißt, nicht zu machen.
Wozu, er erbt ja Groß-Gehren. Ich denke doch auch bestimmt, daß Sarah
ihn bedenken wird, und mein kleines Vermögen wird natürlich auch Bill –“

Renée staunte: „Sarah – mein Gott, wie käme denn die dazu?“ – „Nun,“
meinte die Tante, „das ist doch – ich dachte, da du doch –“ – Renée
lachte: „Ach so!“ Ausgelassen lachte Renée. „Du meinst, ich soll bei
Sarah die Erbschaft für Bill ersitzen.“ Dagegen verwahrte sich Tante
Klara entrüstet. Sie hätte nur gemeint – Elisabeth hätte einmal geäußert
– –

Also Renée erfüllte Papas Wunsch und kümmerte sich um Bill. Sie baute
mit ihm Baukasten-Häuser auf, in die er dann hineintreten durfte. Sie
zog Puppen an, als deren Mutter sich Bill betrachtete. Diese Puppen
waren nur und durchaus Mädchen, wie Bill versicherte. Auf Söhne legte
Bill keinen Wert. – Bill war niedlich, ja, aber eigentlich sah er etwas
dumm aus mit seinen erstaunten hellgrünen Augen. – Er hatte das rötliche
Haar vom Vater und dessen winzige runde Kindernase, und er hatte eine
große Vorliebe für Mädchenkleider. –

Weihnachten war vorüber. Der kleine Bill hatte zwei Tische voll
Spielsachen bekommen. Einen von den Eltern und einen vom Großpapa.
Während er diese Sachen betrachtete, hatte die ganze Familie hinter ihm
gestanden, seine Bewegungen und Äußerungen waren vom einen dem anderen
mitgeteilt worden – so kamen sie schließlich zu Renée. – „Bill hat
gesagt, das weiße Wollschäfchen wäre ein Mutterschaf,“ berichtete Tante
Klara begeistert. „Er will das Seidenkleidchen gleich heute anziehn, ach
Gott, er will es mit ins Bett nehmen.“

Elisabeth kniete auf der Erde neben Bill und erlauschte seine
Äußerungen. Viktor holte eben dorthin einen Stuhl für Papa, damit Papa
besser verstünde, was Bill sagte. Es war das erste Mal seit lange, daß
Papa im Winter nicht nach Berlin gegangen war. –

Weihnachten war vorüber, mit den Schulkindern, die beschert worden waren
und nachher Kaffee und Kuchen bekamen; mit den Mädchen, die verlegen in
den Schürzen und Kleiderstoffen herumstocherten und immer ‚aus Versehen‘
das Kuvert mit dem Geld liegen ließen. Der Hof war verschneit und der
Garten und die Dorfstraße. Renée hatte es alles noch niemals im Schnee
gesehn und es war doch so still und so wunderlich weiß.

Warum hatte sie es nie gesehn? Es war wie ein unwahrscheinliches
Erlebnis, daß man auf einmal quer über den vereisten See gehn konnte zu
den Wiesen auf der anderen Seite.

Steif und reglos stand das Rohr im Eise, und wo die großen Weidenzweige
überhingen, da war eine dunkle Laube, die hatte ein Dach von Schnee.

Wenn man abends aus dem Fenster sah, dann glaubte man, es wäre nur sehr
weißer Sand und gar nicht Schnee, was da so sonderbar schimmerte. – ja,
man konnte sogar meinen, der vereiste See wäre frei von Eis und nur so
ganz ohne Bewegung stände das silberne Wasser.

Bill hatte einen kleinen Schlitten, und Renée lief mit ihm über das Eis
und zeigte ihm, wie das Haus aussähe von der anderen Seite.

„Siehst du, Bill,“ sagte sie, „das mußt du einmal sehr, o furchtbar lieb
haben das Haus, wenn du groß bist. Willst du mir das versprechen?“ Bill
sah sie an mit seinen hellen Augen, die keinerlei Ausdruck hatten, und
sagte: „Ja.“ – Renée küßte ihn. Renée dachte: Es ist dumm, er ist ja
noch zu klein, es wird nichts helfen.

Aber Tante Klara verbot diese Ausflüge. „Herrgott, wenn ihr nun an eine
Stelle kämet, wo das Eis dünn ist. Herrgott, es könnte dem Kind etwas
zustoßen.“ – „Du scheinst dich jedenfalls nicht zu ängstigen, ob mir was
zustößt.“ – „Du kannst dir doch allein helfen,“ sagte Tante Klara
gereizt.

Nun ging Renée allein. Sie ging abends. Irgendwo hatte der Förster ein
Loch in das Eis gehauen für die Fische. Aber es war ja hell, und Renée
wollte nicht weit gehn. Sie ging vorsichtig und sehr langsam vorwärts.
Das Eis war glatt, aber dann hatte es auch Ungleichheiten – da waren
allerlei Dinge mit eingefroren, die die Kinder hingeworfen hatten,
Steinchen, Kalmus und Holzstücke.

Renée blieb manchmal stehen und sah sich um nach dem Haus. Da brannten
schon ein paar Lichter in der grünen Stube – vielleicht war es Papa.

Renée stand wohl ganz lange auf einem Fleck, sie merkte es gar nicht,
sie begann nachzudenken, sich zu erinnern. Es kam ihr vieles zurück –
damals als Hannsbabo fortging. Sie dachte daran, wie er wiederkam mit
Sarah. Sie dachte, wie er bei ihr am Bett gesessen hatte in seiner
letzten Nacht. Damals war Herbst.

Sie sah nach der Richtung, wo eben die Lichter der Stadt zu flimmern
begannen, sie dachte daran, wie sie einmal von Elisabeths Haus
hergelaufen war aus Heimweh, ganz allein. Ja, auf der Treppe der Veranda
hatte sie gesessen damals, weil das Haus verschlossen war.

Wie weiß der Garten aussah und wie still. Es war so ungewohnt, daß man
dem Haus entgegengehn konnte über das Wasser hin, so wie Renée es jetzt
tat. Es war, als träumte sie das – oder noch anders: es war wie eine
Wiederkehr Gestorbener. Sie dachte:

   ‚Treibst mich zu jenem Land, wo keiner frägt
   Und wo ein stiller Strom das Unerfüllte wieder
   Zu seinem Ursprung trägt ...‘

– – Nach jenem Land, wo keiner frägt. –

Renée blieb stehen. Sie dachte den Worten nach. Sie dachte: das ist,
wenn man stirbt.

Sie dachte: Ob ich das kann, jenen einen Satz denken, wenn ich sterbe –
ganz später, wenn ich alt genug bin?

Ein sonderbarer Schreck überfiel sie. Wie, schwankte das Eis unter ihren
Füßen – knisterte das Eis?

Dann war es vorüber. Sie wollte nach Haus gehn. Renée sah sich um, damit
sie nicht fehlginge, wenn sie etwa in der Nähe des Wasserlochs war.

Nein, es war ein ganz dummer Schreck gewesen, es war nichts. Das Eis
hielt. –

Bill war wieder fort, bei seinen Eltern. Tante Klara jammerte den ganzen
Tag. Man hörte sie die leidenschaftlichsten Reden halten. In ihren Augen
war weder Viktor das Recht der Vaterschaft zuzugestehen, noch konnte
Elisabeth die Stelle der Mutter ausfüllen. Nein. Nur Tante Klara
verstand und liebte Bill genügend. Sie erging sich in Verwünschungen.
„Ich wollte, Viktor müßte an der Inspektionsreise nach den
Ostmarken teilnehmen, – ich wollte er bekäme ein Billett für die
Auguste-Viktoria-Fahrten.“

Renée dachte: Wenn es nicht so unchristlich wäre, gewiß wünschte Tante
Klara den armen Viktor zum Hades. Aber es half alles nichts. Viktor und
Elisabeth sagten, schließlich wäre Bill doch ihr Kind.

So fuhr die Tante dreimal in der Woche in die Stadt. Und während der
Kutscher die Besorgungen erledigte, um derentwillen Tante Klara
hingefahren war, – währenddes saß sie bei Billchen. Dann erzählte sie
bis zur nächsten Fahrt, was Billchen, der liebe Junge, gesagt, gemeint,
geglaubt hatte. –

Renée saß oft bei Papa. Sie sah ihm zu, wenn er Briefe schrieb, sie saß
auf dem Sessel beim Tisch oder am Fenster, von wo man den Hof übersehen
konnte.

Einmal – es war Dämmerung und die Lampe war noch nicht gebracht worden,
es war still, weil niemand mehr über den Hof ging, einmal sprach Papa
von Hannsbabo. Er tat es in seiner eigentümlich kargen Art, er sprach
nur ganz kurze Sätze.

„Sag mal, mein Kind,“ so begann er, „was war das damals mit Hannsbabo?“

Renée erschrak. Sie fühlte, da war eine Pflicht, zu antworten und da war
auch eine Gebundenheit, zu schweigen. Sie erschrak und sah ihren Vater
an.

Er saß ein wenig abgerückt vom Schreibtisch und sah vor sich nieder auf
den Boden.

Renée wandte sich um zum Fenster und sah in den Hof. – „Hannsbabo war
sehr unglücklich,“ sagte sie.

Papa stand auf und ging hin und her im Zimmer. Er ging genau in der
Mitte des Läufers, der von einer Tür zur andern führte.

„Unglücklich – nun ja. Aber warum?“ Renée erschrak wieder, als ob diese
Frage nicht selbstverständlich gewesen wäre nun. Sie sagte: „Ach laß es
doch ruhn, Papa.“ Ihr Vater blieb vor ihr stehn. „Ich denke, du wirst
mir das sagen, Renée,“ sagte er. „Ich werde wohl wissen dürfen, warum
mein Sohn sich ’ne Kugel in den Kopf schießt, das wirst du mir wohl
nicht vorenthalten.“

Ja, dachte Renée, ich muß es ihm sagen, muß es sagen.

„Er liebte Sarah so sehr. Und diese ewige Trennung, die in der großen
Verschiedenheit der Psychen lag, ertrug er nicht. Dann verzweifelte er
daran.“

Papa verstand nicht: „Verzweifelte – was? Erschoß sich, weil er seine
eigne Frau liebte – was – was ist das für überspanntes Zeug?“ Renée
lächelte. Ja wirklich, sie merkte, daß sie lächelte. Sie wollte es ja so
gern Papa erklären. Aber wie? Sie sagte: „Die Menschen empfinden sehr
verschieden, nicht wahr; du faßt all diese Dinge in der äußerlichen Form
auf und du achtest nur die Beschaffenheit der Realität. Er aber – die
Beschaffenheit der Idee.“

Gott im Himmel – was redete sie denn? Papa hielt nun auch noch seine
jüngste Tochter für halb verdreht offenbar. Und Papa tat Renée leid in
diesem Moment. – O, sie wäre gern zum ihm herangekommen und hätte ihn
gestreichelt. – Was würde Papa dazu sagen.

Papa fuhr auf. „Unsinn ist es. Eben dieses überspannte moderne Zeug ist
es, mit dem ihr euch die Köpfe verdreht. Wenn irgend so ein
Unglückswurm, der seinen Verpflichtungen nicht mehr nachkommen kann, der
ausgestoßen ist oder wird aus dem Kreise seiner Herkunft, wenn so einer
sich erschießt, na ja. Der tut ganz vernünftig daran. Aber Hannsbabo!
Ein junger, gesunder Mann in der denkbar besten Lage, mit den besten
Aussichten für die Zukunft – das ist durchaus unnatürlich und verdreht!“

Renée antwortete gar nicht mehr. Wozu denn? Sie hatte auch das Gefühl
nicht mehr, als solle sie dafür eintreten. Nein, sie würde dies nicht zu
einem Streit werden lassen.

Die Dinge, die ihr Vater sagte, waren so wenig neu. Man hatte sich schon
sehr oft gegen sie empört, gegen solche Auffassungen empört, man brachte
doch nichts fertig dagegen.

Renée dachte: Jemand tut den freiwilligen Tod seines Sohnes damit ab,
daß er ein paar Worte herauspoltert: ‚Unnatürlich und verdreht‘, – wenn
ein Mensch wie Hannsbabo starb, ein mutiger, stolzer Mensch. Sie dachte:
Und Papa hat ihn doch auch daliegen sehn, dachte Papa denn gar nicht,
wie jung, wie jung er war!

Renées Vater nahm seinen Gang durch das Zimmer wieder auf. Renée sagte:
„Glaubst du, Papa, wenn ein Mensch sich Monate und Wochen und dann jeden
einzelnen Tag herumquält mit dem Leben und endlich hält er es nicht mehr
aus und tötet sich – glaubst du, das darf man dann mit solchen Worten
abtun?“

Papa schwieg. Dann sagte er: „Ein Mensch hat Pflichten zu erfüllen im
Leben. An die hätte er sich halten müssen. Diesen Pflichten einfach
auszuweichen, ist bequem, aber unrecht!“ – „Welche Pflichten?“ – „Er hat
Pflichten gegen Eltern und Familie, jawohl.“ Papa gab dem letzten Wort
besonderen Nachdruck.

„Aber ein erwachsener Mensch hat doch zunächst einmal das Recht auf
Leben und Tod. Er ist doch frei, nicht wahr? Er gehört der Familie als
Glied an, aber nicht als Gegenstand, nicht wahr? Und –“

„Das gehört nicht zur Sache. Rechte schaffen noch lange nicht Pflichten
aus der Welt,“ donnerte Papa.

„Nein, gewiß nicht. Aber zuerst – zuerst kommt die Pflicht gegen die
eigene Existenz und dann kommt alles übrige. Und darum hat kein Mensch
gegen Eltern die Pflicht, sein Leben weiter zu schleppen, wenn ihm das
Leben zum Ekel geworden ist.“

„Ja,“ sagte Papa, „du stehst auf einem recht bedauerlichen Standpunkt in
diesen Dingen – leider.“ Er erhob die Stimme: „Aber ich hoffe, daß sich
das ändern wird, daß du einsehen wirst, daß die von Gott auferlegten
Verpflichtungen nicht mit diesen modernen Redensarten von ‚Pflicht gegen
eigne Existenz‘ abgetan werden können. Kinder haben eben gegen ihre
Eltern Pflichten. Sie sollen den alternden Eltern Stütze und Freude
sein.“

„Sind die Kinder denn gar nicht um ihrer selbst willen da?“

Papa überhörte das. Papa sagte: „Es kommt dann einmal der Augenblick, wo
es zu spät ist, und wo keinerlei Reue das Versäumte wieder gut macht.“

Papas letzte Worte liefen in eine Drohung aus.

Renée wurde es kalt ums Herz. Sie sagte: „Warum wohl Eltern niemals auf
die Idee kommen, daß ihre Kinder eher sterben könnten als sie. Gerade
als ob nur Eltern stürben und Kinder ewig lebten.“

„Nun, gewöhnlich pflegen eben die alten Leute zu sterben,“ sagte Papa.

„Ja freilich. Aber ich werde doch auch einmal alt und sterbe, was ist da
Besonderes?“

„Wer aber dem Tod nahe steht?“

Renée sagte: „Wer kann das wissen. Vielleicht steht er mir nahe oder
vielleicht auch dir. – Wer kann das wissen. Warum das Sterben nur immer
so als Trumpf ausgespielt wird.“ –




Renée war wieder in Berlin.

Sarah fühlte sich etwas angegriffen von den winterlichen Freuden. Es war
eben ein bißchen zu viel gewesen diesmal. Bei der Rodelei in Oberhof
hatte Sarah sich erkältet.

Als Prinz Manfred steuerte, war die Rodel in den Schnee gekippt. Es war
eine eklige Kurve, ja, aber der gute Prinz war eben auch ungeschickt.
Sein Adjutant hatte Sarah gleich gewarnt. Ah – aber reizend war es in
Oberhof.

Ja, so kam Sarah zurück. Und nun wollte sie ein bißchen nach dem Süden.
Renée hatte die Bädeker von Italien, Schweiz und Österreich vor sich und
machte Vorschläge.

„Was meinst du zu Meran?“ – Sarah schüttelte den Kopf. „Österreich
nicht,“ sagte sie, „das ist mir zu fad.“ – Der Bädeker von Österreich,
Süd-Bayern flog beiseite.

„Und das Engadin? Moritz, Pontresina, Arosa?“ – „Da fällt man höchstens
von neuem in den Schnee,“ sagte Sarah.

Renée suchte weiter: „Ajaccio, Levante, Ponente – die Seen sind wohl
erst fürs Frühjahr?“ – „Es ist alles nichts,“ sagte Sarah gelangweilt.
„Aber der Genfer See?“ frug Renée. „Auf dem Rückweg im Frühjahr geht man
dann ein bißchen nach Paris. Dann lohnt es doch. Dann kaufst du dir
deine Frühjahrsneuheiten dort.“

Sarah ließ sich bewegen. „Nun, man könnte ja mal sehn,“ meinte sie,
„vielleicht ist es ganz nett. Und das mit Paris wäre ja natürlich sehr
praktisch.“ Sarah sagte auch, in Berlin wäre ja doch alles nur ^second
hand^ und in Paris wäre es bei alledem noch billiger.

Ja wirklich, man sparte geradezu in Paris.

Nun gingen wieder die Vorbereitungen an. Kleider, Pelze, Hüte. Zum
Schluß war Sarah so elend, daß sie wirklich eine Erholung brauchte.

Renée war froh, als sie endlich im Zuge saßen. Im Luxuszug natürlich.
Auch die Jungfer fuhr mit. Sie mußte das Necessaire bewachen.

Renée trug nur einen Gegenstand. Es war die Tasche mit Sarahs Schmuck.
Alle Frauen tragen den Schmuck in Extrataschen. Diese Taschen sind von
feinstem Juchten. Sie dulden keinen Überzug. Sie sagen: ‚Meine
Herrschaften, ich enthalte etwas von Wert!‘ –

Eine Nacht fuhr man und einen Tag. Dann wurde der Wagen umgehängt, dann
war man da.

Es war schon dunkel. Der See war nicht zu erkennen, aber man wußte ihn,
wenn man aus den Fenstern sah.

Da unten mußte er liegen, wo es ganz schwarz aussah. Dieser tiefe
Abgrund, in den das Land hineinstürzt, war der See. –

Der Direktor des Hotels empfing sie. Es war ein kleiner, magerer Mann.
Er hatte einen tadellosen Zylinder, einen tadellosen Anzug, ein
tadelloses Auftreten.

Sarah würde also im Gesellschaftszimmer warten, während Renée die Zimmer
ansah. – Renée fuhr im Lift hinauf mit dem Direktor. Der Direktor sagte:
„Frau Baronin haben auch einen Salon befohlen, und neben dem Salon soll
ich ein Zimmer für Sie geben, Fräulein.“ Der Direktor hielt Renée für
eine bessere Jungfer, wie es schien. Es ergab sich, daß der Salon
dreißig Francs kostete – es gab hingegen auch vollständige Appartements,
sehr elegant eingerichtet.

Sarah nahm ein vollständiges Appartement. „Es ist billig,
fünfundsiebzig,“ sagte sie befriedigt. „In Cannes kostete es für mich
allein achtzig am Tag – ^oh dear, I am tired^.“ –

Am Morgen ging Renée an den See. Es war noch früh. Da stand der Nebel –
oder war es Dampf – ganz nahe über dem Wasser. Renée lehnte sich über
die Brüstung der Mauer.

Manchmal schoß eine Möve an ihr vorüber, umkreiste Renée mit aufgeregtem
Flattern, sie waren wohl gewohnt, Futter zu bekommen.

Auf der anderen Seite kamen allmählich die Umrisse der Berge. Renée sah
eine kleine Insel. Auf der stand ein weißes Haus. Der See hatte blaue
Färbung mit weichen Tönen von lila nach der Ferne zu.

Als Renée in das Hotel zurückkam, traf sie den Arzt. Er war eben bei
Sarah gewesen. Er sagte: „Es liegt bei Frau von Catte zu ernster
Besorgnis kein Grund vor. Ich habe sie eingehend untersucht. Sie hat
wohl etwas auf ihre Gesundheit losgearbeitet, Ihre Frau Schwägerin. Da
haben wir dann die Reaktion. Ruhe und Spaziergänge werden bald alles
beseitigt haben. Von Caux – Ihre Frau Schwägerin erwähnte es – rate ich
allerdings ab. Dort ist mehr Möglichkeit zur Unruhe als zur Ruhe und
Erholung vorhanden.“

Renée frug, wann er wiederkäme. Doktor von Geldern lächelte. „Das ist
wirklich unnötig,“ sagte er. „Aber wenn Sie mich brauchen, stehe ich
jederzeit zur Verfügung. Ich esse im Hotel.“ Er grüßte und ging. Von der
Treppe her wurde bereits nach ihm gerufen.

Sarah wäre eben viel lieber nach Caux gegangen. Sie sagte: „Hier sieht
es so langweilig aus. Es sind nur alte Leute im Speisesaal. Und oben zu
essen ist noch langweiliger.“

Renée redete ihr zu. Man konnte rudern, Tennis spielen, Ausflüge machen.

Des Morgens, wenn man aufwachte und sich ganz wenig aufrichtete im Bett,
dann lag der See vor den Fenstern ausgebreitet, und des Abends manchmal
kam das feierliche Glühen auf die Berge von der vergehenden Sonne.

Da waren die Möwen und die flinken, schwarzen Wasserhühner. Die gab es
auch zu Haus. Manchmal hatte Renée auch Möwen gesehn zu Hause. Die kamen
von den großen Seen.

Renée sagte: „Die Luft ist sehr sanft hier.“

„Findest du? Ich finde nicht.“ Sarah sagte das. Ja – hatte Renée denn
laut gesprochen? – Renée lachte über sich selbst.

„Ich finde es fürchterlich langweilig hier, und ewig geht diese dumme
‚Bise‘. Man muß fortwährend den Hut halten.“

„Nimm ihn doch ab!“ – „Wie kann ich das,“ antwortete Sarah entrüstet.

Renée ging über den Markt, weiter durch einen kleinen Wald. Sie wollte
nach dem Schlößchen. Im Bädeker stand: ‚Unweit des Bahnhofes liegt das
reizende Schlößchen Hauteville, im Rokokostil erbaut, mit schönem Park.‘

Man mußte doch das ‚reizende Schlößchen‘ ansehn.

Eine gerade, geschnittene Hecke von Taxus führte zum Portal. Renée trat
heran. Es war ein wunderhübsches, kleines Schloß, hellgetönt mit weißen
Fenstern. Es war mit lila Vorhängen dicht verhangen nach der Hofseite.
Auf dem Dach standen Figuren. Renée ging zum Eingang. Sie wollte es doch
sehn von innen. Natürlich wollte sie. Sie klingelte drei-, viermal. Die
Tür blieb verschlossen. Ein Fenster klappte, eine dicke, alte Frau
steckte den Kopf heraus. „Nix da, lassen Sie das Klingeln,“ schrie die
Alte. „Hier ist zu.“

„Ich wollte gern das Schloß sehen.“ – „Das is nu mal nicht zu sehen,“
zeterte die Alte. Dann warf sie das Fenster zu. Renée schimpfte draußen
nach der Richtung hin, wo sie herausgesehn hatte, und ging in den
Garten. Der Garten war vielleicht auch nicht zu sehen, aber da er offen
war –

Ein so schöner Garten! Er hatte gerade Hecken von Tuja, die in
Rosengänge hineinführten. Er hatte ein kleines Wasser mit Trauerweiden
darüber; die Weiden waren noch kahl. Und er hatte eine große Platane,
unter der stand eine runde, weiße Bank. Renée setzte sich. Warum etwa
sollte sie das nicht? Es war ja niemand da, und der alten Hexe konnte es
doch ganz gleich sein, außerdem merkte sie es ja gar nicht. Um die Bank
herum lagen noch die Herbstblätter. Es war ja fast noch Winter, aber der
Rasen sah bunt aus. Da waren Anemonen und Krokus, und da waren Veilchen.

Renée ging weiter, ging auf einen Hügel zu. Da stand ein kleiner
kreisrunder Tempel mit einem Dach auf sechs Säulen, und daneben war ein
riesiger Busch von dunklem Bux.

Renée stand unten am Hügel und sah es an und fand, es war sehr schön.

Lange saß sie auf den Stufen des kleinen Tempels.

Als sie zurückging, kam ihr jemand entgegen. Wer das wohl war? Eine
junge Frau, die einen braunen Pelzmantel trug. Sie stützte sich auf
einen weißen Stock, und neben ihr ging langsam und würdevoll ein großer
Hund. Sie hatte dunkles Haar.

Renée sah sie kommen, blieb an der Wegseite und ließ sie vorbei. Der
Hund wandte ein wenig den Kopf nach Renée, die Frau zog ihn am Halsband
an sich. Sie sah mit einem Lächeln an Renée vorüber, Renée blieb stehn,
sah ihr nach.

Bei Tisch war Sarah ganz lustig: „Ich habe jemanden entdeckt, mit dem es
ganz nett werden kann,“ sagte sie. Sie zeigte Renée eine
schwarzgekleidete Dame, die allein saß. „Ich habe sie heut kennen
gelernt. Sie ist begeisterte und natürlich überzeugte Spiritistin.“

Nach einer Weile fuhr Sarah fort zu reden: „Wir wollen eine Séance
halten heut nachmittag, natürlich tust du mit – du, Renée, hörst du denn
nicht?“ Renée fuhr aus irgendwelchen Gedanken: „Ich? Ach, ich würde dir
abraten, Sarah. Es ist so peinlich. Und siehst du, ich möchte so ungern
damit zu tun haben.“

„Gott, wieso denn peinlich?“ Sarah lachte. „Ich denke es mir komisch.
Ich lasse sie ruhig machen, und innerlich amüsier ich mich fein.“

„Ja schon. Aber das ist eigentlich nicht fair, wenn die Leute es doch
einmal ernst nehmen.“

Sarah sagte: „Ach, ^nonsense^.“ –

Um fünf kam der Tee. Die schwarze Dame erschien. Sie hieß Baronin
d’Auvergnes, war Witwe und besaß ein Palais in der Nähe des Luxembourg.
Dies erzählte sie im Anschluß an die Nennung ihres Namens. Die Baronin
begann mit Tischrücken.

Man nahm einen dreibeinigen Tisch, man legte sämtliche Fingerspitzen
darauf. Als man müde wurde, die Handgelenke in der Schwebe zu halten,
begann der Tisch zu kippeln.

Baronin d’Auvergnes sagte dazu das Alphabet. Dieser Tisch hatte eine
Vorliebe für Konsonanten: ‚stkl‘ kam heraus.

„Beginnen wir nochmals,“ sagte die Baronin. Diesmal hielt sie den Tisch
fest, wenn er zu den Konsonanten wollte. Renée merkte es deutlich: Es
kam also – stakl. – „Ja natürlich meine liebe alte Freundin Stakelberg!“
sagte die Baronin entzückt. – Sarah betrachtete sie mit ernsten Augen.

„Was – wie – ich soll ihr schreiben?“ frug die Baronin den Tisch, der
Tisch machte: päng! Renée lachte, dann verschluckte sie das Lachen
erschreckt und hustete.

Die Baronin wurde ungehalten über den Tisch. Er wäre faul, kindisch, er
stäke voller Tücke.

„Vielleicht wenn man einen Konkurrenztisch holen würde,“ sagte Sarah.
Dann blieb Sarah allein mit der Baronin. Die Baronin fürchtete, der
Geist könne von Renées Lachen zu schüchtern geworden sein.

„Die Geister – mimosenhaft empfindlich sind sie,“ sagte die Baronin. –

Renée ging zur Seepromenade. Da waren wieder die gierigen Möwen, die
streiften fast Renées Gesicht mit ihren Flügeln. Manchmal schrieen sie –
frech klang es und unheimlich.

Sie begegnete Doktor von Geldern. Er ging ein Stück mit ihr. „Wie mir
Ihre Frau Schwägerin sagt, sind Sie angehende Medizinerin. Also sind wir
Kollegen, Fräulein von Catte.“ – „Ja,“ sagte Renée. „Ich werde wohl
Medizin studieren.“ – „Ist es ein Spezialgebiet, zu dem Sie hin wollen?“
„Ja, Psychiatrie.“

Doktor von Geldern wandte ein wenig das Gesicht zu ihr hin: „Sind Sie
durch irgend einen speziellen Anlaß dazu gekommen?“

„Nein,“ antwortete Renée. „Nur ich glaube, das wäre das einzige
Lohnende. Mich interessieren physische Leiden nicht.“

Er lächelte. „Wie wollen Sie das nun trennen? Die Krankheiten der Psyche
sind Krankheiten der Physis. Es handelt sich da höchstens um eine
Verschiedenheit in den Symptomen, und auch da ist die Verschiedenheit
nur auf der Oberfläche.“

„In diesem Sinn interessiert es mich schon. Nur nicht in der
eigentlichen Form. Mir scheint, es muß eine lästige und abgehetzte Sache
sein, der Beruf eines praktischen Arztes.“

Geldern lachte: „Ja freilich. Ich hatte mich mal in Hannover
niedergelassen. Erst kein Patient, nachher kam ich weder zum Schlafen
noch zum Essen. Wie das so geht. Dann war ich einmal Schiffsarzt – nun
bin ich hier.“

„Mögen Sie denn die Kurpraxis?“

Er lachte: „Nein, das weniger. Ich bin aus persönlichen Gründen
hergekommen.“

Dann schwieg er. Sie gingen weiter. Geldern sagte: „Es ist eine Dame,
die in der Kindheit mit mir freund war und wie eine kleine Schwester –
man sagt dazu ‚Nachbarskinder‘, glaube ich – sie wohnt hier. Sie ist
leidend – ja und dann –“

Renée sagte: „Wie schön, jemanden zu haben, mit dem man die Kindheit
erlebte.“

Geldern sah sie lächelnd an. Ganz froh sah er aus. „Ja, nicht wahr, das
ist doch schön!“ sagte er.

Sie sprachen dann weiter nichts mehr. Es war auch nahe am Hotel.

„Ich finde, du bist immerzu mit Geldern,“ sagte Sarah. „Gefällt er dir
so gut?“ Renée sah auf – Sarah lächelte.

„Geh, Sarah. Fang du nicht auch noch mit derlei Reden an. Verzeih. Aber
es ist zu geschmacklos!“

Sarah streichelte Renées Hand: „Pst – pst – nur nicht gleich so böse
sein. Du mußt wissen: der Tisch mit den drei Beinen regt sich so auf.
Der Tisch hat heute Andeutungen gemacht, o –!“

„Ich finde, diese Person mit ihrem Tisch ist eine ganz unverschämte
Schwindlerin.“

„O je – ereifere dich nicht. Es amüsiert mich doch so schön,“ sagte
Sarah. „Was, bitte, sollte ich den ganzen Tag tun. Früher war Renée viel
braver. Früher war Renée fast so galant wie ein Kavalier.“

Renée lachte: „Woran fehlt es denn?“

Sarah sprang auf und begann durch das Zimmer zu wandern hin und her –
das war ein Zeichen von Unruhe. – „Mir fängt diese Art von Leben an
langweilig zu werden. Maßlos langweilig. Und also überlege ich: Soll ich
heiraten? Lieber nicht. Wenn ich wüßte, du bliebest da, schon gar nicht
– aber das eben – –“

Renée lachte wieder: „Also dann: schon gar nicht. Denn ich bleibe.“

„Ja, das sagst du so.“

„Nein, das tu ich,“ sagte Renée.

Sarah blieb vor ihr stehen. „Ich will dir alle Wünsche erfüllen. Alles
sollst du haben, was du magst.“

Renée stand auf, ein wenig ging sie zur Seite. „O, ich habe gar keine
Wünsche und will gar nichts.“ Sie ging hinaus, und Sarah sah ihr nach –
aber Renée ging.




„Waren Sie vor etwa zehn Tagen in Hauteville?“ frug Doktor von Geldern.
Renée nickte. „Und warum fragen Sie?“

„Waren Sie da im Park und sahen Sie eine Dame mit braunem Pelz? Sie
hatte eine Dogge neben sich.“

„Ja, gewiß. Aber nun, warum fragen Sie, Herr von Geldern?“

Geldern lachte. „Richtig,“ er schlug die Hände zusammen vor Freude.
„Dann stimmt es.“ –

„Was stimmt?“

„Kommen Sie,“ sagte der Doktor. „Wir gehen ein bißchen am See, dann
erzähle ich Ihnen.“

„Also,“ begann Doktor von Geldern, „_sie_ war es, die Sie gesehn haben.
_Sie_ wohnt in Hauteville.“

„Ihre Kindheits-Freundin, von der Sie neulich sprachen?“

„Ja, natürlich,“ sagte Geldern, „Yvonne Capeller.“

„Wer, sagen Sie?“ Renée erschrak. Sie sah ihn an. Einen Augenblick
schwieg ihr Herz. Er wiederholte den Namen.

Renée konnte nichts sagen. Ihr fiel die Zeit ein, wo sie das Gedicht
gelesen hatte, diese trostlose, leere Zeit. Ihr fiel die Sehnsucht ein.
Ja – wie sehr hatte sie sich gesehnt, diesen Menschen einmal zu sehen.

Geldern frug: „Wissen Sie denn etwas von ihr? Kennen Sie Yvonne
Capeller?“

„Nein. Aber ich wünschte einmal sehr intensiv, sie zu kennen.“ – Geldern
blieb stehen, er vertrat Renée geradezu den Weg, sah sie an. Dann auf
einmal nahm er ihre Hand. Er hielt die Hand einen Augenblick fest. Er
sagte: „Das ist schön. Das ist sehr schön.“ – Dann lief er plötzlich
fort.

Renée ging allein zurück. Ihr war sonderbar wehmütig, so als wäre ihr
etwas gegeben und zugleich genommen worden, aber ihr war ja nichts
gegeben.

Sie ging weiter, sah auf den See. Heute konnte man weit sehen. Drüben
die kleinen Häuser von Bouveret und dann da hinten die graue Fläche, das
war das Rhonetal.

Die Möwen kamen. Renée griff nach ihnen und lachte und neckte sie. Sie
horchte auf ihr Schreien. War es nicht eine Art Gelächter? Ja – aber so
schön wie bei Menschen konnte es nicht klingen, wenn Vögel lachten –
nein. –

„Renée, heut hat mir auch Gräfin Pourtalès gesagt, man sähe dich immerzu
mit dem Badearzt. Sie sagt, er wäre aus einer gänzlich verarmten
Familie. Renée, meine Verantwortung drückt mich.“

„O, du dumme, dumme Sarah! Sag ihr, der Pourtalès, der langweiligen
Person, also sag ihr, am liebsten liefe ich heute nochmals fünf Stunden
mit dem Badearzt aus der verarmten Familie – und ließe mir erzählen.“

„^My dear^,“ sagte Sarah entsetzt. Renée lachte übermütig. Sie sagte:
„Er soll ja nicht von sich allein erzählen und außerdem sollst du es ja
nur der Pourtalès sagen, punktum!“

Am Abend paßte Renée auf, als Geldern aus dem Speisesaal kam. Sie sagte:
„Herr von Geldern, ich will Sie um etwas bitten: Fragen Sie Yvonne
Capeller, ob ich sie einmal sehen darf. Sehen Sie, es ist Jahre her, da
habe ich einmal ein Gedicht von ihr gelesen. Das war so schön. – Ich bin
lange danach umhergegangen, sie einmal sehen zu können. Aber ich wußte
ja nichts von ihr. Wollen Sie es mir tun?“

Geldern sagte: „Ja – Sie haben ein Gedicht von ihr gelesen – nicht wahr,
wie sie schön sind.“ –

„Wollen Sie nicht?“ frug Renée. Er sah sie an, gut und freundlich. Aber
ein wenig hoffnungslos sah er sie an. „Ich will versuchen.“

„Glauben Sie, es geht nicht?“ frug Renée.

Geldern schwieg. Dann gab er Renée die Hand. „Ich muß nun gehen,
Fräulein von Catte, und ich will es versuchen, ganz gewiß. Ich will
heute noch hingehn. Aber ich weiß ja nicht, ob sie wollen wird. Denn sie
ist ein Mensch, der ganz allein lebt, fast wie in einer Entfernung von
uns.“




Das war viele Tage her, seit Renée Doktor von Geldern darum gebeten
hatte. Es war so lange her. Sie sah ihn bei Tisch weit weg an dem großen
Fenster sitzen. Er las.

Und Renée hatte gar keine Hoffnung mehr. Gewiß hatte er den verneinenden
Bescheid und wollte es nur nicht sagen. Renée wurde ihm ganz böse.

Dann einmal kam er heran und sagte, Yvonne Capeller fühle sich nicht
wohl, und es täte ihm so leid, aber er könnte Renée nicht ja sagen zu
ihrem Wunsch.

Renée ging nach Hauteville. Sie dachte: Vielleicht sehe ich sie dort.
Gewiß, wo sie neulich vorübergegangen war, da wollte Renée warten.

Sie stand am Anfang der geraden, dunklen Hecke von Taxus. Sie stand, und
sie wagte sich nicht weiter. Es schien ihr auf einmal unfein und grob,
so mit Gewalt einzudringen, so mit hinterlistiger Gewalt vorzugehen
gegen diese fremde Einsamkeit. – Nein, sie wollte es nicht versuchen.

Abends, wie war der See schön, wenn die Lichter der Laternen ein
schimmerndes Band waren auf seiner dunklen Fläche.

In der großen Halle des Hotels war Musik. Meist Italiener oder solche,
die es vorgaben. Sie spielten und sangen ihre süßen, leichten, traurigen
Lieder, mit dem harten, zerbrochenen Ton der Castagnetten.

Renée stand oben auf einer der Galerien und sah in die Halle hinunter.
Sie war allein dort, und die Lieder kamen nur zu ihr. Ihre Gedanken
verloren sich in eine unbegreifliche Schwere von Sehnsucht.

Sarah war ungehalten. Sarah sagte: „Du läufst immer weg, Renée.
Wenigstens zu der Teestunde könntest du doch da sein.“

„Diese ewige Baronin mit ihren Andeutungen und ihrem Okkultismus ist mir
so antipathisch.“

„Du besitzt gar keinen Humor,“ sagte Sarah. „Und ich muß dir sagen,
Renée, ich kann es höchstens noch eine Woche hier aushalten –
höchstens.“

Renée erschrak. Noch eine Woche, und dann würde sie nie mehr
hierherkommen – und dann würde es nie geschehn.

Sie saß neben Sarah und dachte. Ihr Denken begleitete dieser kleine Ton,
den das kochende Wasser im Teekessel hervorbrachte. Dieses weiche
Surren. – Sie dachte: nie wird es sein. Wir werden wieder fortgehen nach
Deutschland, und es wird nie sein. – „Willst du den Tee heute überhaupt
nicht aufgießen?“ sagte Sarah.

Dann begann sie mit Reiseplänen. Ganz gut konnte man jetzt schon nach
Paris gehen, oder vorher erst ein wenig nach Genf.

Renée schwieg dazu und wußte doch, daß sie nicht fort wollte, nicht
fort.

Auf der Straße kam ein Mann mit Blumen. Er hatte einen länglichen Korb,
darin lagen sie, Schlüsselblumen, Veilchen, in der Mitte Rosen. Die
kaufte Renée. Es waren fünf rote Rosen. Solche an langen Stielen, solche
von ganz dunkler Farbe und mit einem schweren, süßen Duft.

Sarah sah Renée an, als die Rosen gekauft waren. Sarah sagte: „Für wen
denn?“

„Ich will sie fortschicken,“ antwortete Renée. Sie trug die Rosen in ihr
Zimmer. Da war ein kleiner Karton gewesen, dahinein legte sie die Rosen
und die letzte von ihnen streichelte Renée. Und während sie das tat,
dachte sie: nur noch acht Tage bleiben wir, nur noch acht Tage.




Seit einigen Tagen war Doktor von Geldern nicht bei Tisch. Die Baronin
d’Auvergnes erzählte, er sei in Genf. Ein sehr reicher Russe habe ihn
hinberufen als Konsiliarius. – „Es scheint, er kommt ^en vogue^,“ sagte
die Baronin. „Nun, solche Ärzte haben immer ein ganz leidliches
Auskommen. Natürlich, angenehm und fashionabel ist ja der Beruf gerade
nicht.“

Die Baronin wechselte das Thema, als niemand antwortete. Sie begann
weitläufige Erzählungen von Paris, von dem letzten Ball beim russischen
Botschafter.

Renée hörte nur halb hin, hörte: „Ah, im Bois, im Luxembourg –.“ Renée
dachte: Heut früh sind die Rosen angekommen, ganz bestimmt spätestens,
und vielleicht reisen wir noch nicht so bald, sonst wären es nur noch
sechs Tage – und wenn –

„Waren Sie schon einmal in Paris, Fräulein von Catte?“ frug Baronin
d’Auvergnes. – „Nicht? Dann freuen Sie sich gewiß sehr, nicht wahr, oder
– oder wird Ihnen der Abschied –“

Hatte es nicht geklopft? Der Kellner war draußen mit einem Brief. Renée
nahm den Brief, und einen Augenblick hielt sie ihn fest zwischen den
Flächen ihrer Hände – denn es war dies – dies – o, ein Gefühl von Glück
kam.

Sie lachte. Es konnte nur Gutes darin stehen. Sarah und die Baronin
sahen sie an, und Renée lachte und – was tat sie denn, sie schwenkte den
Brief in der Luft.

‚Vielleicht kommen Sie morgen abend zu mir, vielen Dank‘ – das stand
darin. Vielleicht kommen Sie –?

Nun also waren es noch vierundzwanzig Stunden. Mindestens so lange. Denn
Renée konnte nicht vor sechs oder sieben Uhr hingehen und von morgen
früh waren es dann zwölf Stunden, wenn Renée aufwachen würde.

Mit dampfigen Nebeln auf dem See kam der Morgen. Renée sah ihn nun schon
lange. Ihr Fenster stand offen. Ein wenig kühl war diese Morgenluft,
aber weich, mit einem sanften Geruch von Schilf, so wie manchmal der See
roch zu Hause.

Der kleine Brief lag neben Renées Bett. Gerade so, daß sie ihn ansah
beim Aufwachen.

Und nun noch fast zwölf Stunden. Renée legte den Kopf wieder auf das
große, plustrige Kissen mit dem Spitzenrand. Ganz still lag sie und sah
auf die Wand, auf diese sonderbaren Schnörkel in blau und grün; wie
Hunde, die sich aufgeregt überkugelten, liefen die Schnörkel über die
Wand. Träumte sie nicht ein bißchen? Ein paar Glockentöne kamen über den
See, die trug das Wasser. Wie war dieser See klar, man sah tief hinein
und sah seinen Grund, vielleicht konnte ein Mensch solche Augen haben
und eine stille, stille Stirn.

Träumte sie, hatte denn Yvonne Capeller solche Augen? – ‚In einer
Entfernung von uns‘ – Renée dachte den Worten nach, dachte – dachte.
Müde war sie. Es war eine ungeduldige Nacht gewesen, es war spät hell
geworden.

Ein Geräusch im Zimmer weckte sie.

„Ja, wirst du denn gar nicht aufstehn heut, bist du krank?“ Da stand
Sarah über sie gebeugt, war zum Lunch angezogen und tippte mit dem
Zeigefinger auf Renées Schulter. Renée fuhr herum und starrte Sarah an.
– „Es ist nämlich zwölf,“ sagte Sarah.

Von diesem Augenblick an zog der Tag sich in die Länge wie Kautschuk.
Immer war es zwei, wenn man meinte, es wäre Teezeit. Die Sonne verharrte
in obstinater Bosheit in der drei Uhr-Gegend; endlich kroch das helle
Rot an den Bergen hinauf, fing sich in den Gipfeln. –

Renée stand an derselben Tür, an der sie neulich gestanden hatte, und
läutete. Dieselbe alte Hexe fuhr mit dem Kopf aus dem Fenster. Sie sagte
mit einem Versuch zum Lächeln: „Im Garten, bitt schön,“ und deutete auf
die Gartentür. – Renée kam in den Garten.

In diesem Garten war Licht, denn die Obstbäume blühten. Vor den
schwarzen Hecken standen sie in unglaubhafter schimmernder Schönheit.
Die Weide über der weißen Bank ließ ganz sacht ihre Zweige hin- und
herwehen, hellgrün und ganz fein behangen wehten sie vor dem Helldunkel
des Himmels.

Renée stand still. Was geschah ihr? Wie, war es der Garten, waren diese
Bäume und diese dunklen Büsche so schön, daß eine so schmerzliche
Sehnsucht in ihre Seele kam? –

Yvonne Capeller kam ihr entgegen. Sie kam, und Renée erwartete sie.

„Sind Sie gekommen?“ sagte Yvonne Capeller, „noch habe ich Ihre Rosen.“
Sie gab Renée die Hand. Renée hielt einen Augenblick ihre Hand und
schwieg. O, ein so zärtliches Gefühl stieg in ihr auf. Renée konnte
nicht die Hand so schnell loslassen.

Sie gingen auf dem Weg, der zu dem kleinen Tempel führt, bei dem Tempel
standen sie. Yvonne Capeller lehnte an einer der Säulen, ganz dicht an
die Säule lehnte sie den Kopf, so daß die Farbe ihres Haares unterging
in dem Schatten auf der Säule, so daß ihr weißes Gesicht vor dem Himmel
stand, der dunkel war – vor dem Himmel. Wie schön und still war dies
Gesicht. Renée sah sie lange an.

Yvonne Capeller wandte den Kopf, und ihre Augen gingen an Renée vorüber.
Sie sagte: „Ich glaube, wir müssen hineingehen, weil es kalt wird.“
Dann: „Sie erzählen mir nichts, Sie reden gar nicht.“

Renée antwortete: „Was soll ich erzählen, Yvonne Capeller?“

„Wie sonderbar Sie meinen Namen aussprechen.“

Warum sollte Renée schweigen? Warum konnte sie nicht sagen: weil es
zärtlich macht, an diesen Namen zu denken.

Von den weißen Bäumen kamen Blüten. „Nun ist es schon bald vorbei,“
sagte Yvonne Capeller.

Sie gingen zum Haus. Eine Treppe von wenig Stufen führte in das Haus,
dann kam ein kleiner Gartensaal. Ein starker Geruch war im Haus, so wie
Tannenduft, nur schärfer. Ein wenig so, wie der Wald riecht in der
Sonne.

Einen Augenblick blieb Renée allein. Sie stand am Fenster und sah in den
Garten. Der war dunkel gegen die Helle des Zimmers und still. Renée
unterschied nichts mehr. Die weißen Bäume starrten kalt und unheimlich
heraus aus der weichen Dunkelheit.

Yvonne Capeller kam wieder. Renée hörte sie, wandte sich nicht um.

Wie leise kamen ihre Schritte. Renée rührte sich nicht, sie hörte, daß
Yvonne einen Augenblick stehen blieb.

Dann sagte Yvonne: „Kommen Sie. Wollen wir hier sitzen?“ Renée zögerte
noch.

Yvonne saß am Tisch. Yvonne hatte ein weißes Kleid. Um ihren Hals war
eine Kette von Perlen, eine lange Kette, die auf ihren Knieen lag.

Es waren halbdunkle Bilder an den Wänden, und da standen Möbel von
Kirschholz mit blaßlila Bezügen. Eine Geige lag auf dem Tisch unter
Renées Rosen.

Renée sah diese Dinge an. Sie dachte: Manchmal des Abends spielt sie auf
der Geige, auch wenn Wind ist draußen. Das klingt dann heimatlich und
süß.

Yvonne saß sehr still. Man wußte nicht, dachte sie nach oder sah sie
vielleicht auf Renée. Vielleicht, ihre Augen sahen auf Renée, und ihr
Gesicht war gradaus gewandt. Sie sagte: „Geldern meint, Sie haben ein
Gedicht gelesen – sagte er nicht – welches denn?“

Renée stand noch immer am Fenster.

Renée sagte das Gedicht: „Du vielgeliebtes Leben zwingst mich nieder –“

Yvonne Capeller senkte den Kopf. Renée sah es deutlich. Sie schwieg.
„Werden Sie mir keine andern geben?“ frug Renée.

„Nein, o nein.“

„Dies eine, das ich einmal las,“ sagte Renée, „es traf mich so, und
seitdem war der Wunsch nach dem in mir, was heute geschah.“

Renée schwieg plötzlich, wie sprach sie denn – wie sprach sie?

Yvonne Capeller sagte: „Was geschah denn heute?“

Renée antwortete nicht. Was sollte sie tun? Nichts bewahrte sie mehr –
da war nur dies hilflose Aussprechen-müssen, dies Unbegreifliche, daß
ihre Worte keine Scheu mehr haben wollten – und ihr Mund sprach, als
spräche es in ihre eigne Seele hinein.

Sie sagte: „Auf irgend etwas hofft man, wenn man lebt, auf ein
Geschehnis oder auf einen Augenblick – einen Augenblick – und man denkt
daran, denkt, daß er niemals kommt, daß man alles haben könnte in der
Welt, ehe er kommt. Man fühlt die Gleichgültigkeit, fühlt die
Wertlosigkeit aller Dinge außerhalb dieses Augenblicks – und dann ist
dieser Augenblick da. – Das war mir heute geschehn.“

Renée wandte sich um zum Fenster und sah in den Garten.

Da stieg eine Angst in ihr auf, kam an ihr Herz und wollte es anfassen.
Sie wußte nicht den Grund; sie legte die Hände auf die Fensterbank, um
sich zu stützen, und fühlte immer aus ihren Augen die Tränen auf die
Hände fallen. – Langsam kamen sie.

War es nicht schon lange, als sie das letzte Wort gesprochen hatte, o so
lange? Sie fühlte, daß Yvonne ihre Schulter anrührte. Yvonne sagte ihren
Namen. Yvonne strich, o so sanft, über ihre Schulter.

Yvonne sagte: „Es ist nicht gut, nicht gut.“

Dann – was geschah? Renée saß neben ihr, lange neben ihr, während sie
schwiegen, während es ganz dunkel wurde draußen.

Renée sah sie an. Sah ihr weißes Gesicht und die geschlossenen Augen – –
Dann stand Renée auf, weil es schon spät war, und ging, ging durch den
Garten fort und nahm von den Blüten, die über den Weg hingen, die
streichelte sie.

Am nächsten Tag sprach Doktor von Geldern Renée an: „Nun, Ihre Frau
Schwägerin erzählte mir, daß Sie gestern in Hauteville waren. – War es
schön?“

„Ja,“ sagte Renée und lächelte.

„Wie ging es ihr?“ – „Gut wohl,“ sagte Renée.

Er frug, ob sie im Garten gewesen wären, wie lange Renée da war, und
Renée sprach davon, hörte sich zu, hörte ihren glückseligen Worten zu.

„Und nun?“ frug Geldern. Renée sah ihn an, erschrak. Sie sagte: „Ich
weiß nicht, ob ich wiederkommen soll.“

„Mögen Sie mich ein Stück begleiten, Fräulein von Catte?“ frug Geldern,
„ich gehe eben hinauf nach Hauteville.“

Renée ging mit ihm. – „Ich muß gekränkt sein,“ begann er, „daß Sie nun
so ganz ohne meine Vermittlung zu Ihrem Ziel gelangt sind. Ja, wir
vermitteln so gerne. Irgend etwas von der Freude dessen, der es uns
schuldet, kommt dann auch zu uns. – Es ist dies: Ich kenne keinen
Menschen wie Yvonne Capeller. Nein, nein. Denn die Einsamen, die ich
kenne, sind einsam auf eine sehr andere Weise. Sind es ^faute de mieux^.
Weil das Leben ihnen sich versagte oder weil sie in irgend einem Sinne
nicht weiterkommen konnten. _Sie_ nicht. Sie ist mit Willen einsam. Sie
ist es in einer stillen und selbstverständlichen Art. So als wären alle
andern spielende Kinder und sie der einzige ernste Mensch – aber
vielleicht ist das ein sehr dummer Vergleich.“

Renée sagte: „Ja, man fühlt es. Da ist eine Stille und dann diese
Einsamkeit, von der Sie reden, die ist um sie herum, und es macht
traurig und sehr hoffnungslos. Man fühlt es so, wie sehr anders stark
und still und schön sie ist als wir.“

Sie waren nah dem Garten, dort trennten sie sich.

Renée sah, wie Doktor von Geldern hineinging, hörte, wie er die Tür
schloß. Er mußte zurückkommen. Gewiß, er würde kommen.

Renée wartete. Manchmal sah sie die Allee herunter. Nichts – niemand.
Sie wartete viele Stunden.

Abend war es, als er zurückkam. So tiefer Abend, daß Renée ihn nicht
einmal kommen sah, sie hörte seine Schritte, unruhige Schritte. Er kam
durch die Allee und bog ein in den Kiesweg draußen – er sah nicht auf.

„Doktor von Geldern.“ – „Sie? Wo kommen Sie her?“ – „Ich wollte Sie
fragen,“ antwortete Renée. „Es geht ihr nicht gut,“ sagte Doktor von
Geldern. „Ich soll Ihnen Grüße sagen. Sie will einige Tage zu Bett
bleiben.“

„Ist es schlimm?“ frug Renée. Doktor von Geldern sah sie an. Ein
sonderbar gequälter Ausdruck war in seinem Gesicht, aber er lächelte
doch. Er antwortete: „Nein, es ist wohl vorübergehend.“

„Was haben Sie, Doktor von Geldern? Was ist?“

Er wandte den Kopf zur Seite, als er weitersprach.

„Was soll denn sein? – Habe ich irgend etwas gesagt? Nun, das ist, ich
bin etwas präokkupiert. Im Kurhaus sind eben ein paar sehr schwere Fälle
– ja, das geht einem dann so im Kopfe herum.“ –




„Wir wollen übermorgen abreisen, denke ich,“ sagte Sarah. „Ich meine so:
ein paar Tage Genf und dann Dijon-Paris. – Nun, was denkst du, Renée?“

„O, ich möchte noch bleiben.“

Sarah sprach dagegen. Das Essen war so langweilig und schlecht hier.
Mein Gott, und diese ewige feuchte Luft. „Meine Erkältung,“ sagte Sarah,
„hat sich in letzter Zeit verschlimmert.“

„Aber zuerst tat dir das Klima doch gut,“ meinte Renée, „und gerade
Paris!“

Sarah antwortete gereizt. Das könnte sie doch wohl besser beurteilen, da
Renée noch niemals in Paris gewesen sei. Sarah sagte: „Wenn du Dinge von
mir verlangst, die meiner Gesundheit schaden, dann muß ich dir eben
entgegentreten. Ich kann auch das viele Alleinsein nicht aushalten.“

„Aber ich bin doch da.“

Sarah fuhr auf: „Ja – ja, du läufst den ganzen Tag mit diesem faden
Doktor um den See herum. – Das ist eben nicht das Richtige für einen
Patienten: – das Alleinsein.“

Renée war sehr niedergeschlagen, und sie wußte gar nichts zu entgegnen.
Es ging wie über sie und ihren Willen hinweg.

Die Jungfer kniete vor den riesigen Koffern und legte Sarahs Kleider
hinein, die in weißen Stoffhüllen staken.

Sarah lag auf dem Sofa mit einem Buch, und manchmal sah sie gelangweilt
hinüber zu der Jungfer und den Stoffhüllen.

Renée sagte: „Laß uns dann erst übermorgen fahren. Luise wird bis dahin
auch besser fertig.“

„Ich bin noch heute abend fertig, wenn die gnädige Frau befehlen,“ sagte
die Jungfer.

Sarah lächelte Renée zu. Sie sagte: „Ich habe im Hotel bereits
bestellt.“

„Aber ich mag noch nicht. Ich mag nicht,“ sagte Renée leise und dicht an
Sarahs Ohr. Sarah lachte. „Puh, was macht man – muß man da zum lieben
Gott beten? Muß man beten: gib, lieber Gott, daß Renée keine Laune
bekommt, Amen?“

Renée schwieg. Ihr stieg eine Wut auf gegen diesen Menschen, der nichts
ernst nahm, der alles abtat mit spielerischen Worten, ein großer Zorn
gegen diese lächerliche Ohnmacht ihrer eignen Situation. Immer wurde
alles nichts vor Sarah, alles wurde zu einem kindischen Kram. – –

Renée ging nach Hauteville. Sie wollte Yvonne Capeller noch sehen. Sie
konnte so nicht fort. Die alte Frau empfing sie. Renée wartete eine
Weile im Gartensaal. Dann kam Yvonne.

Yvonne war blasser als sonst, und sie sprach sehr leise. Manchmal,
während sie sprach, stieg das Blut in ihr Gesicht und schwand wieder.
Dann war ihr Gesicht ganz weiß.

Renée sagte ihr, daß sie übermorgen fortreisten. „Kommen Sie niemals
nach Deutschland?“ frug Renée.

Yvonne Capeller lächelte und schüttelte den Kopf.

„Wo sind Sie im Sommer?“ frug Renée.

„Im Wald oder am Meer.“

Renée sagte: „Doktor von Geldern sagte, daß Sie sich nicht gut fühlten,
und nun, wenn ich hier bin, vielleicht greift es Sie an; soll ich lieber
wieder gehen?“

Yvonne wandte das Gesicht fort. Renée sah, daß sie errötete.

„Was hat Geldern Ihnen gesagt?“ frug sie.

Renée erzählte. Er hatte nichts Bestimmtes geäußert, nur – Renée
fürchtete, es würde ihr zuviel, sollte nicht Renée lieber gehn.

Yvonne antwortete nicht. Sie stand auf und ging langsam zum Fenster und
stand eben da, wo Renée den ersten Abend gestanden hatte.

Dann begann sie zu sprechen. Sie sprach leise, Renée konnte sie kaum
verstehn. Sie sagte: „Ich weiß es nicht, was Geldern Ihnen gesagt hat.
Aber eines muß ich Ihnen nun sagen, und es geht nur langsam, weil ich
fühle, dies zu sagen ist schwer.

„Ich _will_ nicht, daß Sie zu mir kommen, ich _will_ nicht, daß Sie
irgend ein Interesse an mir nehmen – will nicht! Sie sollen nicht bei
mir Halt machen, Sie sollen mich nicht lieb haben.“

O, wie sie sprach, wie stark und fein klang doch jedes einzelne ihrer
Worte.

Yvonne sah auf den Boden nieder, und ihre Arme, die sie auf das
Fenstersims stützte, bebten, während sie sprach.

Renée begriff nicht. Renée sah sie an, wie ihre Lippen aufzuckten.
Yvonne warf den Kopf zurück, ihre Augen waren geschlossen. Auf ihrer
Stirn über den Augen hing Haar, das sich gelöst hatte, einen zärtlichen
Schatten warf es auf ihr Gesicht.

„Sie sollen nicht. Ich will nicht mit dem Leben zu tun haben. Was will
es von mir? Warum schickt es Sie – Sie – o, alles was Sie tun und jedes
einzelne von Ihren Worten greift nach mir. Und ich weiß, daß Sie
fortgehn müssen.“

Renée stand auf. Ein Brausen kam in ihre Gedanken, und sie konnte den
Sinn der Worte nicht aufnehmen. Da war eine törichte und unbegreifliche
Schwäche in ihr. Was sie sagen wollte, klang nicht, wurde nicht laut –
blieb zurück in ihrem unruhigen Herzen. Sie ging zu Yvonne. Yvonne
schwieg, stand mit geschlossenen Augen, ohne sich zu bewegen, während
das Beben von ihren Armen an ihrem Körper entlang kroch.

Dann tat sie die Augen auf. Und Renée sah in ihre Augen. Brannten sie
nicht? Sie sahen aus, als ob sie ganz trocken und heiß wären.

Sahen sie nicht starr und verzweifelt wie in den Tod? –

Renée griff nach ihrer Hand. Und hielt sie. Dann fühlte sie, wie diese
Hand sich regte, langsam zog Yvonne die Hand zurück. Sie sagte: „Sie
müssen gehn – o, Sie müssen gehn.“ –

Warum war Renée gegangen? – Wie – wer konnte sie gehen heißen?

Die graue Allee lag ruhig und halbverdunkelt von den Baumschatten, und
Renée ging. Wollte Halt machen, zurücklaufen – ging vorwärts, als trügen
sie fremde Füße.

Was war geschehn. – Hatte sie nicht einen Augenblick in irgend einem
Spiegel ihr eignes weinendes Gesicht gesehn, als sie vorbeilief – und
ihr Gesicht war feucht von Tränen.

Warum ging sie denn auf diesen fremden Füßen, die nicht anhalten
wollten. – –

Am kommenden Morgen wollte Sarah reisen mit dem Schnellzug. Zwei Tage
würden sie dann in Genf sein. Sarah hatte die Baronin d’Auvergnes und
einige andere Hotelgäste zum Tee, und diese Hotelgäste würden morgen an
die Bahn kommen und sie würden Blumen bringen natürlich für Sarah.
Blumen, die man nachher in der Eisenbahn liegen ließ.

Sarah sprach von Paris, notierte lange Zettel von Besorgungen und
sammelte Empfehlungen, wo man dies und das kaufte.

Sollte sie zu Frères Boiseron gehn, wirklich, also dort war die größte
Auswahl?

Baronin d’Auvergnes nannte sogar einige befreundete Häuser. Madame
François Echelles würde sich glücklich schätzen, wenn Sarah –

Renée saß in der Nähe des Fensters neben einem Neffen der Gräfin
Pourtalès und sah gedankenlos auf die Straße. Manchmal redete ihr
Nachbar sie an. Sie konnte meist nicht antworten, weil sie zu spät
aufgepaßt hatte – dann endlich gab sie sich Mühe und begann aufzupassen,
aber nun redete ihr Nachbar sie nicht mehr an, sondern verfolgte mit
krampfartigem Grinsen die Unterhaltung der andern.

Doktor von Geldern kam. Er hatte sehr lange gesagt, daß er leider sich
nicht würde frei machen können, so lange, bis Sarah gerade einen Sport
darin sah, ihn zu zwingen, daß er sich frei machte.

Doktor von Geldern überreichte Sarah Blumen. Er würde leider morgen früh
nicht mehr die Ehre haben.

„Na na,“ sagte Baronin d’Auvergnes, indem sie schalkhaft mit dem Finger
drohte. Doktor von Geldern sah ihr gerade ins Gesicht. „Frau Baronin
sind außerordentlich schelmisch,“ sagte er, „ja wirklich, indessen hier
ist es nicht am Platze.“

Baronin d’Auvergnes öffnete den Mund und schloß ihn erst nach einigen
Minuten wieder, Gräfin Pourtalès blickte ihren Neffen demonstrativ an
und hustete, und Sarah machte das sprachloseste Gesicht, das Renée je
von ihr gesehen hatte.

Geldern kümmerte sich nicht darum. Er lächelte verbindlich und setzte
sich neben Renée.

Als die Unterhaltung wieder laut wurde, sagte Renée: „Warum sind Sie so
grob gewesen, Herr von Geldern?“

„Aber diese Andeutungen sind unverschämt.“

„Alte Damen führen doch immer solche albernen Reden.“

„Zu mir sollen sie sich das eben nicht erlauben,“ sagte Geldern, „ich
bin kein solch Firlefanz!“

„Haben Sie Yvonne Capeller heute gesehn?“ frug Renée.

Er errötete und lächelte. – „Yvonne Capeller war krank heut früh. Ich
hörte von der Alten, daß Sie da waren gestern. Und nun muß Yvonne
unbedingt einige Tage liegen und Ruhe halten, Fräulein von Catte.“

„Aber ich kann auch ruhig bei ihr sitzen, nur ganz kurz, nur eine halbe
Stunde.“

„Nein. Nicht. Es wäre ihr schädlich. Nicht wahr, kann sich der Arzt
darauf verlassen?“

„Wollen Sie mir nicht wenigstens den Grund sagen?“

„Weil sie ernstlich erkranken würde und weil es Gefahr für sie hätte.
Sie würde ja auch nicht ruhig zu Bett liegen, sie würde nicht.“

„Ich will gewiß nicht hingehn, wenn es so ist,“ sagte Renée.

Geldern nickte. „Sehn Sie,“ sagte er, „Yvonne will so schon niemals
liegen. Sie haßt jede Erinnerung an Krankheit und Unvermögen. Und das
Leben ist ihr so sehr bedeutungslos.“

„Ist sie sehr krank?“ frug Renée.

Geldern sah sie an, dann wandte er den Kopf – er sagte: „O nein, ich
sorge mich nur, ich habe sie sehr lieb, wie Sie wissen.“ –

Graf Pourtalès redete Renée an: Ob Renée Genf bereits kenne. Er empfahl
eine Promenade auf der Jetée, am Abend natürlich – ja und das Schloß
Rousseaus sei äußerst beachtenswert.

„Sie werden von Ihrem Hotel die Stelle am Kai sehen, wo die unglückliche
Kaiserin einer Bubenhand zum Opfer fiel,“ sagte Graf Pourtalès – „Auch
das Monument Brunswick dürfte Sie als Deutsche“ – er unterbrach seinen
Satz, sprang auf und überreichte Renée eine Karte, die ihm eben der
Kellner gegeben hatte. Renée las: Yvonne Capeller – und Geldern sah es.
„Wie,“ sagte Geldern, „meint das, sie ist hier?“ Er sprang hastig auf,
Renée folgte ihm.

Draußen kam ihr Yvonne entgegen.

Geldern ging voran, er öffnete die Tür zu Renées Zimmer, er schob ihr
einen Sessel vor.

„Was tun Sie?“ fragte er, „Yvonne, wie konnten Sie?“

Sie legte langsam die Hand auf seinen Arm, sie sagte nichts. Aber Renée
stand an der Tür. Yvonne Capeller wandte die Augen und lächelte Renée
zu.

Dann ging Geldern. Er wolle sie erwarten, sagte er.

Einen Augenblick schwiegen sie. Dann – „Ich konnte es nicht,“ sagte
Yvonne. „Ich wollte wohl. Habe ich viele törichte Dinge gesagt gestern
abend – habe ich –“

Renée kam zu ihr und nahm ihre Hand und küßte sie.

„Ich wollte ausweichen,“ sagte Yvonne, „aber es ergriff mich und brachte
mich her – du – du, Renée!“

Yvonne lehnte den Kopf zurück. Still saß sie, und sie sah Renée an mit
ihren lächelnden Augen.

Brauchte man gar nicht zu sprechen, konnte man so neben einem Menschen
sein und seine Hand halten und ihm in die Augen sehen – so wie Renée
jetzt tat – und war dann alles gut? –

„Du hast lächelnde Augen,“ sagte Renée, „von deiner Hand kommt es so gut
und warm in meine.“

„Du lachst ja mit den Augen, Renée, du bist es, die lacht.“

Renée sagte: „Siehst du den See? Bald werden die Berge rot drüben. Dann
habe ich immer an deinen Namen gedacht.“

„Nicht an mich?“

Renée lachte: „An dich? Aber ich kannte dich ja nicht.“

„Warum also kamst du nicht schon lange? Das ist doch deine Schuld,
Renée.“

Renée strich über Yvonnes Hand. – „So weiß ist deine Hand, Yvonne –
Yvonne.“

„Ist das ein Gedicht?“

„Nein doch,“ sagte Renée. „Nur deines sind Gedichte. Kein Mensch in der
Welt kann Gedichte machen wie du.“

Wie sonderbar fest Yvonne Renées Hand anfaßte.

„Was hast du, Yvonne?“

Yvonne lächelte. „Nichts. Was denn. Ich freue mich wohl.“ –

Sie sahen beide nach den Bergen auf der anderen Seite des Sees. Da – war
es nicht schon ein wenig rot? Hell purpurne Streifen sah Renée in den
Felsenschluchten drüben, und dann stieg die Glut hoch – so schön – so
schön, wie Renée es noch nie gesehen hatte.

„Yvonne!“ Renée zeigte auf die Berge. Sie sah Yvonne an, aber Yvonne
hielt das Gesicht in den Händen.

Geldern kam. Er wollte sie nach Haus begleiten. Renée könnte ja
mitkommen. Natürlich würde er einen Wagen holen.

Er sagte das alles halblaut zu Yvonne, er sagte es sehr vorwurfsvoll.
Yvonne sah ihn an. Ihre Augen wurden in einer sonderbaren Weise groß und
vorherrschend in ihrem Gesicht. „Ich will nicht, daß Sie so zu mir
sprechen, Geldern,“ sagte sie. „Ich will nicht, daß Sie so gegen meinen
Willen einschreiten, lassen Sie mich!“

Renée wollte reden, sagen, daß Geldern doch recht hatte, daß Yvonne –

Aber wie konnte sie reden. Wie sollte sie vorbeireden an diesen beiden
großen Augen.

Geldern ging. Er sah Yvonne nicht an.

„Nun ist dein Berg rot, Renée, nun wird er ganz purpurn, freut dich
das?“

„Ja,“ sagte Renée. „Heut tut er es dir zuliebe –.“

„O, Renée, wie bist du gekommen. Wie ein Schirokko bist du mir ins Haus
gefahren. Kennst du den Wind? Er macht müde und warm. Ganz warm. Er
fühlt sich schmeichelnd an und sanft. Kennst du den? In der Nacht? Dann
kommt er mit dumpfen Stößen, so als wäre es ein Beben und gar kein
Wind.“

„So bin ich gekommen, sagst du –“

„Ja, so,“ sagte Yvonne leise.

Renée lachte: „Aber gar nicht aus dem Süden. Da war ich noch nie. So
dumm und ungebildet bin ich.“

„Wir wollen dahin gehn,“ sagte Yvonne, „du und ich. Da wohnen wir in
einem kleinen, weißen Palazzo, wohnen wir – ja – und fahren aus in
unserer Gondel jeden Abend, dahin, wo man nichts mehr sieht vor
Dunkelheit auf dem Meer.“

Renée streichelte Yvonnes Hände: „Das tun wir, du und ich.“

„Nun will ich gehn, Renée.“

Sie gingen am See.

„Das ist schön. Ich wußte nicht, wie schön,“ sagte Yvonne, „das ist von
dieser schmerzlichen Schönheit, die weinen machen kann, aber wir weinen
nicht.“

Renée lachte: „O, wir nicht.“

Yvonne sagte: „Du nie mehr, hörst du wohl?“




Renée stand vor Sarah an diesem Abend. „Ich reise nicht,“ sagte sie,
„ich tue es nicht.“

„Aber es ist doch alles verabredet.“

Renée lachte bloß.

„Du kannst doch nicht plötzlich hier allein bleiben,“ sagte Sarah, „wie
denkst du dir das etwa?“

„Gar nichts denke ich mir – gar nichts.“

Sarah entrüstete sich. – „So und so viele Jahre sind wir zusammen, haben
Freud und Leid geteilt, und nun auf einmal willst du mich allein lassen
wegen einer wildfremden Person.“

„Rede nicht so. Und mein Gott – wir haben gar nichts miteinander
geteilt, gar nichts. Das ist Unsinn.“

„Ich bin aber leidend. Das siehst du doch,“ sagte Sarah. „Und wenn ich
gewußt hätte, daß du so auf einmal gehen würdest – Aber so ist dies:
Neulich erst hast du mir gesagt, du würdest bei mir bleiben, und dein
Bruder wollte es doch.“ Sarah sah Renée an wie ein enttäuschtes Kind;
wie ein Kind, das um seine Freude kam, sah sie aus.

„Sarah, sprich nicht so. Du mußt das sehn, ich kann hier nicht fortgehn.
Es ist das erste Mal, daß ich nicht kann. Glaube es doch!“

Sarah sprach weiter: „Ich halte es nicht aus allein. Nein, dann macht es
mir gar keine Freude, und ich habe mich so fest auf dich verlassen.

„Wir könnten ja die Reise ein bißchen noch aufschieben und dann –“

Renée wollte zusagen. Irgend ein Leichtsinn kam in ihr auf. Es würde
sich dann schon irgendwie ergeben. Warum sollte sie denn auf Sarahs
tragische Reden eingehn.

„Willst du es denn dann, Renée?“ frug Sarah.

„Nein, Sarah, in Wirklichkeit nicht. Ich kann nicht fortgehn, nicht
morgen und auch nicht späterhin. Das ist alles. Ich kann nicht.“

Sarah sah Renée groß an. „O, so,“ sagte Sarah. „Ist es das.“ Dann kam
ein affektiertes kleines Lächeln in ihr Gesicht. – „Das muß ja eine
Circe sein,“ sagte sie. „Wenn ich mir vorstelle, was dein Vater dazu
sagen würde und die liebe Elisabeth – es ist sehr drollig.“

„Kannst du denn nichts auf der Welt ernst nehmen, Sarah, muß alles in
dieser unreifen Art abgetan werden?“

Sarah fuhr ihr entgegen. „Unreif! Wie – was erlaubst du dir, Renée. Du
bist unverschämt.“

„Ich fange an, die Unterhaltung mit dir satt zu sein,“ sagte Renée. Sie
ging zur Tür.

Sarah kam ihr nach, griff ihre Hand: „Renée, laß mich doch nicht so
allein. Du kommst nach Berlin. Sag es mir!“

Renée lächelte, und sie streichelte Sarahs Hand. „Nein, Sarah. Ich weiß
nicht, wohin ich gehe. Aber nicht zu dir.“ – –

Sarah war abgereist. Und am andern Tag kam ein Brief von Yvonne.

Als Renée die Treppe hinunterging, kam ihr Geldern entgegen. Er lief
schnell an ihr vorüber. Dann kehrte er wieder um und sprach sie an:
„Gehn Sie zu Yvonne?“

„Ja.“

„Sie liegt zu Bett. Sorgen Sie, daß sie nicht aufsteht,“ sagte Geldern.

„Ja, ich will sie bitten, Herr von Geldern. Aber wenn sie doch will!“

„Aber sie darf nicht. Sie ist sehr krank. Sie ist ja neulich nachts
ausgegangen.“

„Aber es war doch so warm.“

„Sie ist seit drei Jahren abends niemals ausgegangen.“

„Was ist es, Herr von Geldern? Sagen Sie es mir doch. Ich habe Furcht.“

„Ach, Sie sehn es ja.“ Geldern riß plötzlich seinen Hut ab und sagte,
daß er gehn müsse. Ja, ein Patient erwarte ihn auf Nummer
sechsundneunzig. Das hätte er fast vergessen. –

Renée war bei ihr. Immer saß Renée neben ihr und hielt ihre Hand.

Renée sah sie an den ganzen Tag, darüber vergaß man, daß es Menschen gab
und Städte und Länder. Man vergaß es gern. Man sah ihre schönen, stillen
Hände.

„Renée.“ – „Ja.“ – „Wirst du gar nicht in den Garten gehn heute?“

„Nein, Yvonne.“

„Aber du bist auch gestern nicht gegangen und vorgestern nicht.“

„O, weißt du das?“ sagte Renée.

„Willst du nicht einmal sehn, ob der Flieder schon blüht?“

Renée sagte: „Nein. Das merkt man dann schon.“

„Du wirst müde werden und traurig und beschwert, wenn du immer im Zimmer
bist.“

„Du bist ja auch im Zimmer, Yvonne.“

Yvonne lächelte: „Aber seit du da bist, ist es schön. Früher war es
nicht sehr schön.“

Renée sagte: „Einmal hat mein Bruder dich prophezeit, Yvonne.“

„Wie?“ – „Ja – dich. Er sagte: Der Mensch, der dir die Erde heimisch
werden läßt. – Du, Yvonne.“

„Bin ich das? Sagst du, daß ich das bin?“

Renée nickte, streichelte ihre Hand – immer lag die Hand still auf der
Decke, als wäre sie von weißem Stein.

„Aber es ist trotzdem nicht gut,“ sagte Yvonne.

„Was ist nicht gut?“

„Ein anderer Mensch wäre dir besser Renée.“

„Willst du das wissen?“ sagte Renée, „bist du so klug!“ Sie lachte.
„Ganz töricht bist du – du!“

Yvonne sagte: „Doch, ein anderer wäre besser. Denn es soll froh machen,
sich lieb zu haben.“

„Aber ich bin froh,“ sagte Renée.

„Ah Renée – dieses Unvermögen, dieses kleinliche Unvermögen sollte nicht
dabei sein.“

Renée sah sie an. Wie traurig ihr Mund aussah – dieser Mund. – Manchmal
war ein Zucken um ihn, das sah zu sehr nach Schmerz aus.

Yvonne sagte: „Wir wollen ausdenken, was alles man tun kann. Ich denke
so gerne aus.“

„Der Palazzo,“ sagte Renée, „wird im Herbst bezogen. Und wir müssen ihn
wunderschön einrichten, weil er doch nur ein ganz kleiner Palazzo ist,
können wir das. Und dann wohnen wir dort Jahr für Jahr, außer wenn es so
sehr heiß ist.“

Yvonne lachte: „Sagst du Jahr für Jahr. Und nie wo anders?“

„Nie wo anders.“

„Erzähle weiter, Renée.“

Renée sagte: „Manchmal bei ruhiger See fahren wir ganz weit ins Meer
hinein nach irgend einer Insel zu, und dann haben wir Essen und Wein im
Boot, und wenn wir zurückkommen, ist es schon Nacht. – Ich glaube, auf
dem Wasser ist die Nacht sehr schön.“

„Ja,“ sagte Yvonne.

„Ich glaube, man könnte draußen bleiben, bis es Tag wird, wenn man
Kissen mitnähme und Decken. – Du liegst dann im Boot, und ich mache dir
von Decken und Kissen ein ganz ordentliches Lager, ganz so schön wie
dein Bett.“

„Ach, viel schöner als mein langweiliges Bett,“ sagte Yvonne.

Renée lachte. „Natürlich. O, ich kann es mir so schön ausdenken: über
dir stehen die Sterne.

„Dann sollst du auch deinen Kopf in meinen Schoß legen oder in meine
Hände.“

„In deine Hände, Renée?“

„Vielleicht wäre dir das gar nicht so bequem, wie ich eben dachte,“
sagte Renée.

„O, es wäre gewiß wunderschön.“

Immer sah Renée ihre schönen, stillen Hände – aber manchmal bewegten
sich doch ihre Hände. Wenn es schon dämmrig war. Und einmal, als Renée
zufällig hinsah, da bebten sie – nur ganz wenig, aber so, daß Renée es
sah.

„Was hast du? Hast du Schmerzen?“

Yvonne schüttelte den Kopf. „Nein, keine Schmerzen. Es ist nur
Ungeduld.“

„Warum liegst du so viel im Zimmer? Das ist dir nicht gut, glaube ich,
Yvonne.“

„Bald stehe ich auf,“ sagte Yvonne.

Alle Tage kam Geldern. Renée sah ihn nie. Sie wartete immer auf ihn und
wollte ihn sprechen, fragen – aber er lief mit einem Gruß und wenigen
Worten davon. Wie sonderbar er war. Renée dachte: Ob er mir irgendwie
böse ist? – Einmal traf sie ihn, als er ging. Sie sagte: „Sie dürfen mir
nicht fortlaufen, Herr von Geldern. Ich muß einmal sprechen mit Ihnen.“

Er stand vor ihr und schwieg. Renée meinte, daß er sie sonderbar ansähe.
Denn er hatte das Gesicht halb weggewandt, und dennoch blickten seine
Augen auf Renée.

„Was ist es, was hat Yvonne?“

Geldern sah vor sich nieder. Er stieß seinen Stock auf die Spitze seines
Schuhs nieder, immer wieder mit einem kleinen, irritierenden Laut
stampfte er den Stock nieder.

„Ich weiß, daß Sie mir dabei etwas verstecken, Herr von Geldern. Ich
sehe, daß sie krank ist.“

Er lachte auf: „Sehn Sie das wirklich? Sahn Sie das auch, als Sie es
zuließen, daß Yvonne am Spätabend vom Hotel nach Hauteville ging?“

„Nein. Ich wußte ja nichts. Aber nun sehe ich es doch.“

„Gut dann. Warum fragen Sie mich noch?“

„Ich werde Yvonne selber fragen.“

Geldern griff nach ihrer Hand, er sprach in großer Erregung: „Sie dürfen
das nicht, Fräulein von Catte, versprechen Sie es mir. – O, Sie dürfen
nicht.“

„Dann sollen Sie es mir sagen.“ Geldern nickte. Sie gingen den
Wiesenweg, der zum Bahnhof führt.

„Yvonne will nicht, daß Sie es erfahren. ‚Sie sollen Renée die Freude
nicht verderben‘, sagt sie. ‚Denn Renée denkt es sich gerne aus. Renée
denkt sich so gerne Märchen aus von dem Leben. Sie sieht doch bald
genug, wie es ist. Renée soll Freude haben, Renée soll nicht beschwert
werden.‘

„Yvonne sagt: ‚Wenn ich sterbe, darf Renée nicht hier sein. Nein. Sie
würde das schwer vergessen, weil es sehr schrecklich aussieht. – Sie
soll es auch nicht gleich erfahren. – Man soll es ihr zusammen mit
irgend einer großen Freude sagen. Man muß eine Freude finden für sie.‘“

Geldern schwieg, dann kam ihm das Schluchzen und Tränen.

Renée weinte nicht. Sie ging fort.

Schnell ging sie. Im Wald stand sie still. Dann kam es, daß sie wankte
und daß ihre Füße begannen zu zittern, als verschöbe sich der Boden, auf
dem sie stand – sie griff nach den Baumstämmen, irgend ein großer Stamm
hielt sie auf.

„Wenn ich sterbe“ – Renée sprach es sich vor. Es klang, aber es wollte
nicht hinein in ihr Herz. Ihr Herz hörte es nicht, es lächelte dazu, es
lächelte zärtlich, ihr Herz. –

Sie _mußte_ es auffassen, sie mußte es richtig überdenken, eins nach dem
andern. Sie dachte, wie weiß und still Yvonnes Hände waren. War das,
weil sie sterben würde?

Waren ihre Augen so weich und schön, weil sie sterben würde – und sprach
sie darum so sanft und leise?

O, war all diese süße Schönheit vom Sterben gekommen?




„Bist du müde, Renée?“

Renée sah sie an. Renée war bei ihren um ruhigen Gedanken. „Nein,“
antwortete sie.

„Erzähle, Renée, wo werden wir im Sommer sein?“

Renée versuchte zu lächeln, sie konnte lächeln, ihr Herz glaubte es ja
gar nicht.

„Gehn wir am Ende da in meine Heimat,“ sagte Renée. „Dann nehmen wir
irgend ein Haus, das an einem See steht, weißt du, das tun wir wegen der
Abende. Denn da geht die Sonne unter ganz rot wie von Feuer und schöne,
feurige Lichter kommen auf die Kiefern. Die Stämme können aussehn wie
Fackeln, wenn die Sonne so untergeht –.“

„Das ist schön, wenn die Bäume Fackeln sind.“

„Willst du das sehn – ja – o, schön ist es,“ sagte Renée, und wieder
lächelte sie, denn ihr Herz war leicht und zärtlich.

„Und warum sollten wir nachts in das Haus gehn. Wir haben da einen
offenen Balkon am See, – da schlafen wir. Und ehe man einschläft, sieht
man nichts als Sterne, denn man liegt und hat das Gesicht nach dem
Himmel gewandt.

Und morgens, wenn man aufwacht, dann ist der Himmel weiß-blau und ein
wenig dunstig noch – und seitwärts verblaßt ein weißer Mond.“

„O, wie schön du sprichst, Renée. Ich liege mit geschlossenen Augen und
denke deinen Worten nach, ich lebe in ihnen, so als wäre ich blind und
nur du sähest.“ Yvonne lächelte. „So weit geht diese wunderliche
Täuschung, daß ich die Luft solcher Sommernächte spüre.“

„O, die ist gut und weich,“ sagte Renée, „die spürt man kaum. Gar kein
Schirokko ist da, der diese dumpfen Stöße tut.“

„Nein, die Winde in Deutschland sind nicht böse und unheimlich. Sie
kommen groß dahergefegt und machen es kalt und wirbeln mit trockenen
Blättern. – Und wenn sie sich warm anfühlen, dann ist es, weil die Sonne
so warm ist,“ sagte Yvonne.

Renée schwieg. Renée wollte doch weiter erzählen von zu Hause, von
Groß-Gehren, das sie Yvonne zeigen würde, sie hatte doch weiter sprechen
wollen, und nun schwieg sie, warum schwieg sie? – Eine Angst stieg auf
in ihrem Herzen, eine unruhige Angst. Ihr Herz wollte weinen.

Renée stand auf und ging zum Fenster. Sie stand dort. Nicht daß sie
weinte, richtige Tränen waren es nicht, nur sie fühlte, daß ihre Augen
zitterten, und gewiß sah ihr Gesicht traurig aus, obwohl sie das gar
nicht wollte.




Eine Regenzeit kam. Eine Zeit, wo der See unten schwarz aussah oder grau
mit weißen Schaumkämmen. Tag und Nacht raschelten die Bäume im Garten
ihre Zweige aneinander, Tag und Nacht klapperte der Regen auf der
Steinterrasse, rauschte der Regen. –

Yvonne lag unruhig. Sie stützte den Kopf in die Hand und sah hinaus,
immer hinaus, so, als müsse sie einem Dinge nachsehen, das draußen
verginge in den Kronen der großen Bäume.

Geldern war bei ihr. Er ging nicht mehr fort. Er war in ihrer Nähe. Er
stapfte hin und her vor der Terrasse im Regen. Das Wasser prasselte auf
seinen Hut und Mantel.

Manchmal stand er still und sah auf das Haus.

„Erzähle mir, Renée, sag etwas, du sprichst nicht.“

Renée sah sie an und versuchte zu lächeln. „Schliefest du nicht?“

„Nein.“ sagte Yvonne. „Ich sah dich an.“

„Wovon soll ich erzählen?“ frug Renée.

„Noch einmal von dem See, wo wir wohnen werden.“

„Ja, der See. Wir werden viel rudern,“ sagte Renée. „Wenn wir auf dem
Wasser sind des Abends, wird es dunkel, und wir müssen dann nach dem
Licht zu fahren, das angezündet ist in unserem Haus. Denn es ist so
dunkel draußen.“

„Wie dunkel, Renée?“

„So dunkel, daß ich nur dein Gesicht sehn kann, Yvonne.“

„Wie du schön erzählst,“ sagte Yvonne. „Was dann?“

„Wenn wir zurückkommen in den Garten, zünden wir Lichter an in kleinen,
bunten Lampions, die brennen unter den Bäumen. Das tut man so im
Sommer.“

„Das ist noch lange hin,“ sagte Yvonne.

„Nicht sehr lange. – Der See ist still. Nur sehr von fern hört es sich
an, wenn manchmal der Wind Geräusche herüberträgt. Ganz allein sind wir
dann, du und ich. So allein, daß nur Töne, kaum noch die Töne zu uns
herüber können von fern. Ja – wenn wir dann wieder zurückgegangen sind
ins Haus, dann liest du mir vor, Yvonne.“

Yvonne frug: „Was lese ich?“

„Die schönen Gedichte.“

„O, lese ich die – das müßte gut sein, Renée.“

Renée schwieg nun. In ihr war etwas, das wehrte sich gegen das Sprechen.
Das wollte nichts wissen von all diesen freundlichen Dingen, das wollte
nicht – und dann ein anderes. – Sie sagte: „Wir werden abends am See
sitzen, Yvonne. Weißt du, es gibt einen Ton, den liebe ich. Wie ich ihn
liebe. Das ist zu Haus immer gewesen am Wasser.“

„Das liebst du?“

„Ja, und es gibt nichts, was so traurig macht und so wehmütig.“

„Was ist denn das? Ist es eine Musik?“ frug Yvonne.

„Nein, gar nicht.“

„Ist es Gesang also?“

„Nein,“ sagte Renée „Es kommt nicht einmal von Menschen. Es ist das
Quaken der Frösche in den Frühsommernächten.“

„Und dann ist Renée immer traurig geworden?“

Renée lächelte. Yvonne sagte: „Ganz wehmütig ist die kleine Renée
geworden. Sag mir, werden wir nun alle beide traurig, wenn sie da bei
uns quaken am See in der Nacht?“

„Nein,“ sagte Renée. „Wir gar nicht. Wir natürlich nicht. Man wird es
nur, wenn man allein ist.“

„Du sollst nicht allein sein, Renée.“

„Du bist ja bei mir.“

„Ja, ich bin bei dir,“ sagte Yvonne.

„Sag mir, Renée, gibt es Pappeln dort?“

„Ja, freilich gibt es. Sie stehn am Ufer entlang oder zu beiden Seiten
der Fahrstraßen. Sie haben grausilberne Blätter, und wenn Wind ist, der
rieselt durch die runden Blätter gerade wie Regen.“

„Tut er das, Renée?“

Renée lachte. „Du, wart, du lachst mich aus, wenn ich erzähle.“

„Gar nicht. Nur ich stelle es mir vor, und dann muß ich so sehr in das
hineindenken, was du erzählst, so daß ich mich sehne nach deinen Pappeln
– und nach dem süßen, sanften Frühling.“

„Und wir haben doch gerade Frühling.“

„Nein,“ sagte Yvonne, „der ist nicht sanft, der nicht.“

„Aber im Garten ist er. In deinem Garten ist er schön, Yvonne. Wo die
Weide ganz dünne, hellgrüne Büschel herunterhängt.“

Yvonne sagte: „O, sprich nicht davon.“

Yvonne schloß die Augen. So lag sie lange. Renée saß neben ihr und sah
sie an. Sah, wie dies fremde, schmerzliche Zittern in ihr Gesicht kam.
Sah, wie das Gesicht wieder still wurde und unbewegt.

Sie streichelte Yvonnes Hände.

„Geh, Renée, laß mich eine kleine Zeit allein.“

„Yvonne!“

Yvonne lächelte: „O, geh doch.“

Draußen war Geldern. Er ging leise an die Tür, als Renée herauskam, und
öffnete. Dann kam er wieder. „Sie will allein sein,“ sagte er.

Renée frug ihn, wollte wissen, wollte Antwort.

Er sagte: „Lassen Sie, es ist nicht Yvonnes Wunsch.“




Die Nächte waren still und sanft und hatten süße Gerüche. O, die Nächte
waren schön – die Nächte.

Yvonne lächelte doch, wenn sie den Himmel sah, den besternten Himmel.
Sie sagte: „Gut tut die Dunkelheit. Man kann ausruhen. Alle Dinge
geschehen, die geschehen müssen. Aber man weiß es nicht.“

Dann lachte sie: „Renée, ich möchte tanzen mit dir. Ich möchte einmal
tanzen. Das müßte ganz wild gehn nach einer tollen Melodie.“

Renée sagte: „So, daß wir gar nicht wieder aufhören könnten. Das ist das
Schönste.“

„Tanzt du gern?“ frug Yvonne.

„Ja, früher schon,“ sagte Renée, „ganz gern.“

„In den Garten wollen wir viele Rosen hineintun, Renée, fast nur Rosen.
Dann schneidest du manchmal große Sträuße von Rosen. Die sollst du neben
mich stellen.“

„Du sollst mit mir schneiden, du sollst gar nicht so faulenzen,“ sagte
Renée.

„Ich darf faulenzen.“

„Gar nicht faulenzen darfst du. Sonst bekommst du keine Rosen.“

„Du gibst sie mir noch, Renée.“




Yvonne sprach nicht. Sie sagte nicht mehr: Erzähl mir, Renée. Sie sprach
nicht mehr von all den süßen Dingen, die Wind heißen oder Frühling oder
Rosen. Renée saß bei ihr. Am Tage schien die Sonne hinein und es war
warm draußen. Die Sonne machte es grell im Zimmer. Da war nichts von dem
sanften Grau, das die Schatten der Gegenstände bekommen bei der
Dämmerung. Hart und unvermittelt standen sie da vor der Wand. Die Wand
war grell weiß.

Dann saß Renée den ganzen Tag und sah Yvonne an. Aber ihr Herz war leer
und ihre Seele war leer. Sie konnte nichts fassen von allem, was vor ihr
geschah. Sie konnte es nicht fassen, daß Yvonne fortgehn würde.

Sie suchte auszudenken, was der Tod war. Sie suchte diese Erkenntnis
ihrem Herzen aufzuzwingen. Aber das wehrte sich – wehrte sich.

Es kam ein Brief von Elisabeth. Renée mußte sich richtig besinnen, wer
es war, und was man von ihr wollte. Eine ganze Weile las sie daran, daß
Papa empört sei, weil Renée die kranke Sarah so im Stich gelassen und
sich zu dieser fremden Dame begeben habe, um sie zu pflegen. Außerdem
fürchte Papa die Ansteckung für Renée, denn wie sie durch Sarah erfahren
hätten –

So lange las Renée, ohne daß es an sie herankam. Und dann einen kurzen
Augenblick fühlte sie ein kleines Stechen im Herzen. Das ging vorbei.

Am Schluß standen ein paar Phrasen, wie Elisabeth sich sorgte um Renée.

Nein, das konnte nicht an sie heran. Das war aus einer fernen, fremden
Welt, in die weder Schmerz noch Glück sie zurückbringen konnten.




„Renée, hast du nicht Sehnsucht nach zu Haus?“ sagte Yvonne.

„Nein, gar nicht.“

„Sagen sie nicht, du sollst kommen und sind dir böse darum?“

„Nein,“ sagte Renée. „Sie brauchen mich nicht. Ich ginge auch nicht.“

„Aber du solltest gehn, Renée.“

Renée erschrak, sah sie an. Warum sagte Yvonne das? Warum sprach sie mit
dieser traurigen, stillen Stimme – ja, Renée erschrak. –

„Gingest du doch, Renée. Soll ich wissen, daß ich dich – o, dich so sehr
beschwert habe.“

Renée sagte: „Nicht doch – wie redest du. Ohne dich zu sein ist schwer
und mit dir ist es leicht.“

Yvonne sah sie an. Ihre Augen waren eine lange Zeit groß und fragend auf
Renée gerichtet.

Renée lächelte. Renée fühlte einen zitternden, kleinen Schmerz. Sie
hielt ganz fest die Lippen zusammen, damit es keinen Laut gäbe – und
lächelte.

Yvonne streichelte ihre Hände.

„Es ist nicht leicht für dich,“ sagte Yvonne. Dann zog sie Renée an
sich.

Renée legte den Kopf an ihr Herz und weinte.

Danach war es gut. So gut. Renée war nicht mehr allein mit diesem
entsetzlichen Wissen. Nein, nicht mehr. Sie brauchte nicht mehr Scherze
zu machen und kleine, leichtsinnige Reden.

Sie brauchte nicht mehr zu lächeln, wenn sie so sehr traurig war. –

Ein Tag kam, der wieder warm war und Sonne hatte. Durch das Fenster kam
der Erdgeruch herein, den der Regen gebracht hatte, und alle Blumen
rochen so gut. Aber am süßesten war der Geruch des Flieders.

Yvonne sagte: „Ich will in den Garten. Ich muß in den Garten.“

Renée wollte sie nicht lassen. Sie sagte: „Du wirst kalt haben, weil es
schon Abend ist. Und dann hat Geldern es doch verboten. Tu es nicht,
Yvonne.“

Yvonne schüttelte den Kopf. Sie nahm Renée an der Hand. „Geh du in den
Garten.“

Renée sagte: „Nein, er mag mich nicht ohne dich, und ich mag ihn nicht
ohne dich.“

„Tragt mich hinaus, Renée.“

Renée wollte nicht. Renée wehrte sich den ganzen Tag.

„Renée.“ – „Ja.“ – „Blüht auch der weiße Flieder?“

„Ja, der auch,“ sagte Renée.

„Blühen die Kastanien?“ – „Ja.“

„Ach, die sind schön dies Jahr,“ sagte Yvonne. „Sind sie nicht wie große
Weihnachtsbäume? Sind da Kastanien an dem See, von dem du erzählst?“

„Ich denke. Und Linden sind da,“ sagte Renée, „und sieben Pappeln oder
fünf, ich weiß nicht.“

„Muß man die zählen? Und sag, ist Flieder da?“

Renée nickte.

„Renée, glaubst du, daß es Menschen gibt, die niemanden lieb haben?“

„Nein, wie sollte es das geben?“

„Glaubst du nicht?“

„Nein,“ sagte Renée. „Sie würden gar nicht leben mögen vor lauter
Sinnlosigkeit.“

Yvonne sah so sehnsüchtig hinaus in den Garten. „Mach doch die Fenster
weiter auf. Es ist zu heiß, Renée.“

Renée ging zu den Fenstern. Die Luft kam schwer und warm mit dem süßen
Geruch der Blumen. Zum See hinunter war es dunkel, und der See war
stahlgrau. „Es wird Gewitter kommen,“ sagte Renée.

Gegen Nacht war es da.

Erst fuhr der Wind ruckweise surrend durch die Zweige und Blätter – dann
lag er breit über den Blumen, schwenkte sie herum und riß die Blüten ab.

Dann jagte er auf den Wegen mit Blüten und Blättern. Es wurde Sturm. Man
konnte die Schaumkämme auf dem See sehen, wenn Blitze waren, und der See
wurde eins mit den Wolken – wie groß und unheimlich waren die Wolken.

Renée richtete sich auf im Bett und sah hinaus. Der Baum neben ihrem
Fenster fuhr hin und her und schlug klatschend seine Zweige an die
Mauer.

Renée spürte den Wind in ihrem Gesicht. Ihr Gesicht war feucht und sie
hatte doch geschlafen.

Sie dachte: Ich weiß es, wenn ich schlafe; aber wenn ich wache, kann ich
von Leben und Zukunft sprechen.

Sie dachte – an den Tod, der das Ende war.

Wie ist das, wenn ich tot bin, während das Leben weiter geht. Irgend
jemand tut einen in den Sarg, und man wird begraben, so wie es Sitte
ist, wie auch Hannsbabo begraben wurde.

Grauen kam, kam an ihr Herz. Sie fühlte die Kälte des Windes, als wäre
es in ihr und machte ihr Herz vereisen – langsam so kalt werden, daß es
nichts mehr fühlte.

Der Baum schleuderte fortwährend seine Zweige gegen die Mauer. Renée
fuhr auf. Immer noch spürte sie den Wind im Gesicht, und sie fühlte eine
fremde Last auf ihrem Herzen. Das machte sie schwer und mühsam atmen.

Es war, als käme keine Luft. Dann fühlte sie ihr Herz klopfen, und einen
Augenblick fühlte sie es nicht mehr. Sie begann zu laufen, schnell die
Treppe hinunter durch den Gartensaal. – „Yvonne!“

Yvonne war am Fenster. Sie saß und sah hinaus und dann lächelte sie
Renée zu. –

Am andern Tag sah Renée Doktor von Geldern, als er aus Yvonnes Zimmer
kam. Und sie sah, daß er weinte, oder hörte es nur vielleicht. Renée
ging leise hinein.

Yvonne – sah Yvonne sie nicht? Renée ging ganz leise auf den Fußspitzen,
und dann saß sie am Bett, dann faßte sie Yvonnes Hand und hielt sie
fest.

Renée horchte auf die Tropfen des Regens, die vor dem Fenster auf das
Steinpflaster fielen. Horchte und atmete ganz leise, so als dürfte man
nicht das Geräusch der Tropfen stören.

Wußte sie es nun, war es nun ganz in ihr Herz eingedrungen? – Ihr Herz
war still. Warum weinte sie nicht. Warum sollte sie weinen? –

Renée dachte: Worauf habe ich doch so lange gewartet, habe ich nicht auf
dich gewartet, weil ich meines Lebens Ziel suchte?

Bist das nun du?

Ist es meines Lebens Ziel, daß ich mit dir gehe, wohin du gehen wirst?

So dachte Renée.

Leicht war ihr Herz.

Sie dachte: Müßte ich dich zurücklassen, dann würde ich weinen.

Es ist süß, mit dir gehn. –

Der Abend machte es still im Garten. Renée hörte nicht mehr den Regen.

Renée hielt Yvonnes Hand, und immer sah sie in das weiße Gesicht. Das
schien zu lächeln unter den Schmerzen.

Und Renée fühlte in dem zitternden Schauer, der ihren Körper durchlief
und bei ihrem Herzen zurückblieb – fühlte sich dem äußersten Erleiden so
nahe, als müßte sie selber fort mit diesem so geliebten Leben.

Wußte sie nun alles? – O, es gab nichts Größeres als diesen Menschen.
Und Yvonne – sie litt nicht, wie andere Menschen leiden.

Nichts rührte sie an von jenen grauenvollen Häßlichkeiten, als ginge sie
still geworden in die Sonne hinein, in die Sonne, die ihres Herzens
große Wärme aufnehmen würde.

Die sanfte Hand berührte Renée. Die so geliebte Stimme sprach: „Bist du
nun doch bei mir bis in das Letzte hinein, Renée? Nehme ich denn nicht
deine liebe Jugend mit fort, wenn du alles dieses ansiehst?“

Renée legte den Kopf an ihr Herz und weinte.

Renée umfaßte sie mit dem Gefühl von Nie-lassen-wollen.

„Laß – ich bleibe bei dir, Renée. Du nimmst mich überall hin auf der
Erde, wenn ich auch gestorben bin.“

Renée sah die Qual in ihren Augen, und sie fühlte, wie ihr eigner Körper
schlaff wurde und zuckte, und ihre Kniee ließen nach, so daß sie
niedersank neben dem Bett.

„Nein – nein, du gehst ganz fort! Nichts bleibt bei mir. Du kamest,
damit ich dich verlieren sollte. Nichts wird sein als diese jämmerliche
Erde, wo du nicht bist.“

Die sanfte Hand berührte Renée.

„Nein – nein. Ich will nicht! Soll ich leben, um jeden Tag zu fürchten,
der kommt und mich wissen macht, daß du nicht lebst. Soll ich das Leben,
auf das ich mich so freute, soll ich es gehn lassen mit dir?“

Yvonnes Hand tastete nach Renée. Und dann kamen Laute wie die eines
gehetzten Tieres und ein Aufwärtswollen.

Es kam das Grauen.

Aber es gab doch den Tod. Es gab, was ein Ende macht. Es stand neben dem
Bett, ganz nah. Wenn man es trank –

Yvonne streckte ein wenig die Hand aus. Renée schob das Glas beiseite,
nach dem sie die Hand ausstreckte.

„Aber ich lasse dich nicht! Du mußt noch bleiben.“

Renée fühlte eine Starrheit des Willens über ihre Seele gleiten.

Es war, als fühlte sie nur noch diesen Willen. – „Ich will dich
behalten,“ sagte sie.

Groß öffnete Yvonne die Augen. Sie lächelte, und mit einer fremden,
stillen Stimme sagte sie: „Renée, ich will es leiden um dich!“ –

Also kam das Leben zurück.

Es würde aufstehn über dem Tod – der große Wille hatte den Tod beiseite
geschoben. –

O, das Leben war noch da. Man konnte die Sonne draußen sehn, die
hinglitt über die Blumen im Garten und über den Rasen. – Das Leben war
noch da. Das, von dem man nicht lassen kann, weil es so schön ist und
noch so unbekannt.

Wer hatte den Tod rufen wollen – o Torheit.

Renée zog Yvonne an sich und küßte ihr Gesicht. Yvonne lächelte,
lächelte mit zitternden Lippen. Sie sagte: „Ich will warten, bis du mir
den Tod schenkst – – laß es bald sein.“ –

Renée fühlte den Willen nicht mehr, fühlte nur Zärtlichkeit in ihrer
Seele –

Sie küßte Yvonne die Augen,

Und ließ sie trinken. –

Dann trank auch sie.

O, wie süß ist es, so einzuschlafen – – –


                      Die Verse auf Seite 95 sind
              einem Gedicht von _Toni Schwabe_ entnommen.


                         Buchdruckerei Roitzsch
                        Albert Schulze, Roitzsch




                     Anmerkungen zur Transkription


Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Weitere
Änderungen sind hier aufgeführt (vorher/nachher):

   [S. 149]:
   ... ungern allein.“ – „Aber ich konnte doch mitkommen.“ ...
   ... ungern allein.“ – „Aber ich könnte doch mitkommen.“ ...

   [S. 203]:
   ... was du fragst,“ sagte sie. Dann gingen sie zu Kempinsky. ...
   ... was du fragst,“ sagte sie. Dann gingen sie zu Kempinski. ...






*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DAS LEBEN DER RENÉE VON CATTE ***


    

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Project Gutenberg™ License available with this file or online at
www.gutenberg.org/license.

Section 1. General Terms of Use and Redistributing Project Gutenberg™
electronic works

1.A. By reading or using any part of this Project Gutenberg™
electronic work, you indicate that you have read, understand, agree to
and accept all the terms of this license and intellectual property
(trademark/copyright) agreement. If you do not agree to abide by all
the terms of this agreement, you must cease using and return or
destroy all copies of Project Gutenberg™ electronic works in your
possession. If you paid a fee for obtaining a copy of or access to a
Project Gutenberg™ electronic work and you do not agree to be bound
by the terms of this agreement, you may obtain a refund from the person
or entity to whom you paid the fee as set forth in paragraph 1.E.8.

1.B. “Project Gutenberg” is a registered trademark. It may only be
used on or associated in any way with an electronic work by people who
agree to be bound by the terms of this agreement. There are a few
things that you can do with most Project Gutenberg™ electronic works
even without complying with the full terms of this agreement. See
paragraph 1.C below. There are a lot of things you can do with Project
Gutenberg™ electronic works if you follow the terms of this
agreement and help preserve free future access to Project Gutenberg™
electronic works. See paragraph 1.E below.

1.C. The Project Gutenberg Literary Archive Foundation (“the
Foundation” or PGLAF), owns a compilation copyright in the collection
of Project Gutenberg™ electronic works. Nearly all the individual
works in the collection are in the public domain in the United
States. If an individual work is unprotected by copyright law in the
United States and you are located in the United States, we do not
claim a right to prevent you from copying, distributing, performing,
displaying or creating derivative works based on the work as long as
all references to Project Gutenberg are removed. Of course, we hope
that you will support the Project Gutenberg™ mission of promoting
free access to electronic works by freely sharing Project Gutenberg™
works in compliance with the terms of this agreement for keeping the
Project Gutenberg™ name associated with the work. You can easily
comply with the terms of this agreement by keeping this work in the
same format with its attached full Project Gutenberg™ License when
you share it without charge with others.

1.D. The copyright laws of the place where you are located also govern
what you can do with this work. Copyright laws in most countries are
in a constant state of change. If you are outside the United States,
check the laws of your country in addition to the terms of this
agreement before downloading, copying, displaying, performing,
distributing or creating derivative works based on this work or any
other Project Gutenberg™ work. The Foundation makes no
representations concerning the copyright status of any work in any
country other than the United States.

1.E. Unless you have removed all references to Project Gutenberg:

1.E.1. The following sentence, with active links to, or other
immediate access to, the full Project Gutenberg™ License must appear
prominently whenever any copy of a Project Gutenberg™ work (any work
on which the phrase “Project Gutenberg” appears, or with which the
phrase “Project Gutenberg” is associated) is accessed, displayed,
performed, viewed, copied or distributed:

    This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and most
    other parts of the world at no cost and with almost no restrictions
    whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms
    of the Project Gutenberg License included with this eBook or online
    at www.gutenberg.org. If you
    are not located in the United States, you will have to check the laws
    of the country where you are located before using this eBook.
  
1.E.2. If an individual Project Gutenberg™ electronic work is
derived from texts not protected by U.S. copyright law (does not
contain a notice indicating that it is posted with permission of the
copyright holder), the work can be copied and distributed to anyone in
the United States without paying any fees or charges. If you are
redistributing or providing access to a work with the phrase “Project
Gutenberg” associated with or appearing on the work, you must comply
either with the requirements of paragraphs 1.E.1 through 1.E.7 or
obtain permission for the use of the work and the Project Gutenberg™
trademark as set forth in paragraphs 1.E.8 or 1.E.9.

1.E.3. If an individual Project Gutenberg™ electronic work is posted
with the permission of the copyright holder, your use and distribution
must comply with both paragraphs 1.E.1 through 1.E.7 and any
additional terms imposed by the copyright holder. Additional terms
will be linked to the Project Gutenberg™ License for all works
posted with the permission of the copyright holder found at the
beginning of this work.

1.E.4. Do not unlink or detach or remove the full Project Gutenberg™
License terms from this work, or any files containing a part of this
work or any other work associated with Project Gutenberg™.

1.E.5. Do not copy, display, perform, distribute or redistribute this
electronic work, or any part of this electronic work, without
prominently displaying the sentence set forth in paragraph 1.E.1 with
active links or immediate access to the full terms of the Project
Gutenberg™ License.

1.E.6. You may convert to and distribute this work in any binary,
compressed, marked up, nonproprietary or proprietary form, including
any word processing or hypertext form. However, if you provide access
to or distribute copies of a Project Gutenberg™ work in a format
other than “Plain Vanilla ASCII” or other format used in the official
version posted on the official Project Gutenberg™ website
(www.gutenberg.org), you must, at no additional cost, fee or expense
to the user, provide a copy, a means of exporting a copy, or a means
of obtaining a copy upon request, of the work in its original “Plain
Vanilla ASCII” or other form. Any alternate format must include the
full Project Gutenberg™ License as specified in paragraph 1.E.1.

1.E.7. Do not charge a fee for access to, viewing, displaying,
performing, copying or distributing any Project Gutenberg™ works
unless you comply with paragraph 1.E.8 or 1.E.9.

1.E.8. You may charge a reasonable fee for copies of or providing
access to or distributing Project Gutenberg™ electronic works
provided that:

    • You pay a royalty fee of 20% of the gross profits you derive from
        the use of Project Gutenberg™ works calculated using the method
        you already use to calculate your applicable taxes. The fee is owed
        to the owner of the Project Gutenberg™ trademark, but he has
        agreed to donate royalties under this paragraph to the Project
        Gutenberg Literary Archive Foundation. Royalty payments must be paid
        within 60 days following each date on which you prepare (or are
        legally required to prepare) your periodic tax returns. Royalty
        payments should be clearly marked as such and sent to the Project
        Gutenberg Literary Archive Foundation at the address specified in
        Section 4, “Information about donations to the Project Gutenberg
        Literary Archive Foundation.”
    
    • You provide a full refund of any money paid by a user who notifies
        you in writing (or by e-mail) within 30 days of receipt that s/he
        does not agree to the terms of the full Project Gutenberg™
        License. You must require such a user to return or destroy all
        copies of the works possessed in a physical medium and discontinue
        all use of and all access to other copies of Project Gutenberg™
        works.
    
    • You provide, in accordance with paragraph 1.F.3, a full refund of
        any money paid for a work or a replacement copy, if a defect in the
        electronic work is discovered and reported to you within 90 days of
        receipt of the work.
    
    • You comply with all other terms of this agreement for free
        distribution of Project Gutenberg™ works.
    

1.E.9. If you wish to charge a fee or distribute a Project
Gutenberg™ electronic work or group of works on different terms than
are set forth in this agreement, you must obtain permission in writing
from the Project Gutenberg Literary Archive Foundation, the manager of
the Project Gutenberg™ trademark. Contact the Foundation as set
forth in Section 3 below.

1.F.

1.F.1. Project Gutenberg volunteers and employees expend considerable
effort to identify, do copyright research on, transcribe and proofread
works not protected by U.S. copyright law in creating the Project
Gutenberg™ collection. Despite these efforts, Project Gutenberg™
electronic works, and the medium on which they may be stored, may
contain “Defects,” such as, but not limited to, incomplete, inaccurate
or corrupt data, transcription errors, a copyright or other
intellectual property infringement, a defective or damaged disk or
other medium, a computer virus, or computer codes that damage or
cannot be read by your equipment.

1.F.2. LIMITED WARRANTY, DISCLAIMER OF DAMAGES - Except for the “Right
of Replacement or Refund” described in paragraph 1.F.3, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation, the owner of the Project
Gutenberg™ trademark, and any other party distributing a Project
Gutenberg™ electronic work under this agreement, disclaim all
liability to you for damages, costs and expenses, including legal
fees. YOU AGREE THAT YOU HAVE NO REMEDIES FOR NEGLIGENCE, STRICT
LIABILITY, BREACH OF WARRANTY OR BREACH OF CONTRACT EXCEPT THOSE
PROVIDED IN PARAGRAPH 1.F.3. YOU AGREE THAT THE FOUNDATION, THE
TRADEMARK OWNER, AND ANY DISTRIBUTOR UNDER THIS AGREEMENT WILL NOT BE
LIABLE TO YOU FOR ACTUAL, DIRECT, INDIRECT, CONSEQUENTIAL, PUNITIVE OR
INCIDENTAL DAMAGES EVEN IF YOU GIVE NOTICE OF THE POSSIBILITY OF SUCH
DAMAGE.

1.F.3. LIMITED RIGHT OF REPLACEMENT OR REFUND - If you discover a
defect in this electronic work within 90 days of receiving it, you can
receive a refund of the money (if any) you paid for it by sending a
written explanation to the person you received the work from. If you
received the work on a physical medium, you must return the medium
with your written explanation. The person or entity that provided you
with the defective work may elect to provide a replacement copy in
lieu of a refund. If you received the work electronically, the person
or entity providing it to you may choose to give you a second
opportunity to receive the work electronically in lieu of a refund. If
the second copy is also defective, you may demand a refund in writing
without further opportunities to fix the problem.

1.F.4. Except for the limited right of replacement or refund set forth
in paragraph 1.F.3, this work is provided to you ‘AS-IS’, WITH NO
OTHER WARRANTIES OF ANY KIND, EXPRESS OR IMPLIED, INCLUDING BUT NOT
LIMITED TO WARRANTIES OF MERCHANTABILITY OR FITNESS FOR ANY PURPOSE.

1.F.5. Some states do not allow disclaimers of certain implied
warranties or the exclusion or limitation of certain types of
damages. If any disclaimer or limitation set forth in this agreement
violates the law of the state applicable to this agreement, the
agreement shall be interpreted to make the maximum disclaimer or
limitation permitted by the applicable state law. The invalidity or
unenforceability of any provision of this agreement shall not void the
remaining provisions.

1.F.6. INDEMNITY - You agree to indemnify and hold the Foundation, the
trademark owner, any agent or employee of the Foundation, anyone
providing copies of Project Gutenberg™ electronic works in
accordance with this agreement, and any volunteers associated with the
production, promotion and distribution of Project Gutenberg™
electronic works, harmless from all liability, costs and expenses,
including legal fees, that arise directly or indirectly from any of
the following which you do or cause to occur: (a) distribution of this
or any Project Gutenberg™ work, (b) alteration, modification, or
additions or deletions to any Project Gutenberg™ work, and (c) any
Defect you cause.

Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg™

Project Gutenberg™ is synonymous with the free distribution of
electronic works in formats readable by the widest variety of
computers including obsolete, old, middle-aged and new computers. It
exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations
from people in all walks of life.

Volunteers and financial support to provide volunteers with the
assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg™’s
goals and ensuring that the Project Gutenberg™ collection will
remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
and permanent future for Project Gutenberg™ and future
generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see
Sections 3 and 4 and the Foundation information page at www.gutenberg.org.

Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non-profit
501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
Revenue Service. The Foundation’s EIN or federal tax identification
number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by
U.S. federal laws and your state’s laws.

The Foundation’s business office is located at 809 North 1500 West,
Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up
to date contact information can be found at the Foundation’s website
and official page at www.gutenberg.org/contact

Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

Project Gutenberg™ depends upon and cannot survive without widespread
public support and donations to carry out its mission of
increasing the number of public domain and licensed works that can be
freely distributed in machine-readable form accessible by the widest
array of equipment including outdated equipment. Many small donations
($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
status with the IRS.

The Foundation is committed to complying with the laws regulating
charities and charitable donations in all 50 states of the United
States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
with these requirements. We do not solicit donations in locations
where we have not received written confirmation of compliance. To SEND
DONATIONS or determine the status of compliance for any particular state
visit www.gutenberg.org/donate.

While we cannot and do not solicit contributions from states where we
have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
against accepting unsolicited donations from donors in such states who
approach us with offers to donate.

International donations are gratefully accepted, but we cannot make
any statements concerning tax treatment of donations received from
outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.

Please check the Project Gutenberg web pages for current donation
methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
ways including checks, online payments and credit card donations. To
donate, please visit: www.gutenberg.org/donate.

Section 5. General Information About Project Gutenberg™ electronic works

Professor Michael S. Hart was the originator of the Project
Gutenberg™ concept of a library of electronic works that could be
freely shared with anyone. For forty years, he produced and
distributed Project Gutenberg™ eBooks with only a loose network of
volunteer support.

Project Gutenberg™ eBooks are often created from several printed
editions, all of which are confirmed as not protected by copyright in
the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not
necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper
edition.

Most people start at our website which has the main PG search
facility: www.gutenberg.org.

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including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
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