The Project Gutenberg eBook of Sämtliche Werke 20: Aus dem Dunkel der Großstadt This ebook is for the use of anyone anywhere in the United States and most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this ebook or online at www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you will have to check the laws of the country where you are located before using this eBook. Title: Sämtliche Werke 20: Aus dem Dunkel der Großstadt Acht Novellen Author: Fyodor Dostoyevsky Contributor: Dmitriĭ Vladimirovich Filosofov Dmitry Sergeyevich Merezhkovsky Editor: Arthur Moeller van den Bruck Translator: E. K. Rahsin Release date: August 10, 2025 [eBook #76662] Language: German Original publication: München: Piper, 1907 Credits: Alexander Bauer and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net *** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK SÄMTLICHE WERKE 20: AUS DEM DUNKEL DER GROSSSTADT *** F. M. Dostojewski: Sämtliche Werke Unter Mitarbeiterschaft von Dmitri Mereschkowski, Dmitri Philossophoff und anderen herausgegeben von Moeller van den Bruck Übertragen von E. K. Rahsin Zweite Abteilung: Zwanzigster Band F. M. Dostojewski Aus dem Dunkel der Großstadt Acht Novellen München und Leipzig R. Piper u. Co. 1907 R. Piper & Co. Verlag, München und Leipzig, 1907 Petersburg ist die abstrakteste und künstlichste Stadt der Welt. _Dostojewski._ Zur Einführung. Bemerkungen über Dostojewski als Dichter der Großstadt. Die Großstadt ist der Kampfplatz des modernen Lebens, sie ist die große Siegesstätte und zugleich die große Schädelstätte der modernen Menschheit. Auch wenn man die Großstadt vor dem allgemeinen Hintergrund des ganzen Volkes sieht und sich durchaus darüber klar ist, daß die nährenden, die schöpferischen Kräfte gerade des Lebens unserer Zeit nach wie vor im Lande liegen, in dem weiten, breiten, fruchtbaren Schooß der vielen Millionen, gegen die auch die größte Großstadt doch immer nur einen Bruchteil aufzuweisen hat – auch dann bleibt die Großstadt doch noch etwas ganz Besonderes. Sie zeigt Seiten des modernen Lebens doppelt charakteristisch ausgeprägt. Sie ist das Musterbeispiel aller neuen Erfindung und Erfahrung. Sie ist gleichsam die zivilisatorische Versuchsstation der Epoche, der Schmelzofen der Werte, das Bassin des Erdenkraters, aus dem die Erde ihre neuen Menschen und Werke dichter, gedrängter herausschleudert. Draußen auf dem Lande geht die schwere, ruhige, gleichmäßige Weiterentwickelung der Nation vor sich, erneut sich ihr unerschöpflicher Menschen- und Kräftereichtum, der das Ganze zusammenhält und immer wieder spendet und spendet. Drinnen in der Großstadt aber werden die Kämpfe der Zeit ausgefochten, spitzen die Probleme sich zu, finden ihre Lösung oder brechen aus im Konflikt. Hier wird jene Nähe aller Ferne am deutlichsten empfunden, die wir den modernen Verkehrsmitteln verdanken. Hier liegt die Kreuzung aller Züge, der Treffpunkt aller Wege, der Austausch von Völkern und Erdteilen. Hier strahlt das elektrische Licht heller als anderswo, hier ist auch in der Nacht unausgesetzt Tag, hier stehen Arbeit und Genuß, Not und Glanz samt allen Lastern der Zeit am gefährlichsten nebeneinander. Die Menschen der Großstadt haben etwas voraus vor anderen Menschen, sie sind Pioniere und Märtyrer zugleich, die die überraschenden Wandlungen mit vermehrter Nervenanspannung aushalten mußten. Generationen auf Generationen wurden in der Großstadt eingesetzt, Lücken wurden gerissen und Opfer gebracht, und doch fanden sich immer wieder Neue, die kühn in das Unbekannte der modernen Kultur vordrangen, die wir alle suchen. Gewiß wird unsere Kultur dereinst von dem ganzen Lande gelten, von jedem Gau, dessen Menschen an ihr mitgearbeitet haben. Vielleicht werden sogar ihre tiefsten und mächtigsten Werke, diejenigen welche dann über die ganze Welt sich erstrecken und das Ewige ausdrücken, ursprünglich aus den stillen Winkeln irgend einer engeren Heimat kommen – aber die eigentlichen Kulturformen, die modernen Kunstformen, die neuen Stilformen werden doch immer und überall in irgend einer Weise diejenigen sein, welche die Großstadt zuerst als Lebensformen ausgebildet hat. * * * * * In die moderne Dichtung hat sich der Gegensatz von Land und Großstadt früh schon hineingezogen; nirgendwo schärfer als dort, wo der Gegensatz auch im Leben heftig und unvermittelt einsetzte: als in Rußland und der russischen Dichtung. Beinahe unmittelbar lösten hier patriarchalische Verfassung und moderne, europäische Kultur einander ab. Beinahe übergangslos folgten hier Vergangenheit und Zukunft auf einander, indes keine oder doch nur eine halbe, unausgesprochene, zerrissene Gegenwart da war, die vermitteln konnte. Es wurde der Gegensatz von Tolstoi und Dostojewski. Beide wuchsen durch ihn zu monumentalen Erscheinungen aus. Der eine, indem er die ganze robuste Volks- und Urkraft in sich aufspeicherte, die im flachen Lande, im Leben des russischen Bauern und des russischen Landadels liegt, und die er dann in seinen Romanen in Kapiteln vorführte, die fast die Ruhe und den Fluß homerischer Gesänge hatten. Und der andere, indem er all das Fieber aufnahm, das von der Stadt Peters des Großen aufstieg, und all das Grauen und den Wahnsinn, all den Schmerz und das Elend versammelte, die das Leben ihrer neuen Menschen erfüllen. Monumentalität ist immer in irgend einer Weise Überpersönlichkeit, ist Ausdruck nicht so sehr des einzelnen Dichters, als Ausdruck des massiven Lebens der Vielen, der Menge, des ganzen Volkes, oder doch eines bestimmten und immer eines beträchtlichen Teiles desselben. Die Monumentalität Tolstois wie Dostojewskis ist von dieser Art. Nur das ist der Unterschied, daß die Monumentalität der Natur, vor der wir bei Tolstoi stehen, im Grunde wieder die alte, große, ewige ist, während die Monumentalität der Großstadt, die Dostojewski erreichte, ein Neues, Kühnes, Unerhörtes war. Wir wußten bereits, daß die ewigen Wahrheiten starker und gesunder Liebe monumental gestaltet werden konnten, die großen Verhältnisse von Herr und Knecht, die von allen Zeiten gelten, die schlichten einfachen Daseinsbeziehungen schlichter einfacher Menschen, die so riesig wirken, weil sie das gerade herausgegriffene Beispiel von Millionen sind. Aber wir wußten noch nicht, daß auch aus dem modernen Leben, all seinen ungewohnten Verhältnissen, absonderlichen Menschen, seltsamen Schicksalen, all seinen ungeahnten Tragödien und unheimlichen Problemen diese gewaltigen Wirklichkeitsfresken zu malen waren. Eine Monumentalität der modernen Großstadtdichtung: die gibt es erst von Dostojewski an. * * * * * Wohl haben auch die Dichter anderer Länder die Großstadt geschildert. Man könnte vor allem an Amerika denken, wo sich der Übergang von dem patriarchalischen Leben, das dort die Kolonisten führten, zur modernen Zivilisation, wenn auch im Einzelnen natürlich unter ganz anderen Lebenserscheinungen, ähnlich rapid vollzog wie in Rußland. Doch die amerikanischen Großstädte, die in ihrer kalten Klarheit der Anlage und bei dem ungeheuren Raum, der für ihre noch immer weitere Ausdehnung vorhanden ist, immer mehr ins Riesenhafte wachsen, scheinen nicht von einer schildernden, sondern nur von einer peripherischen, fast möchte man sagen einer geographischen Phantasie erfaßt werden zu können. Deshalb näherte sich ihnen Walt Whitman nur von Ferne, wie ein greiser Seher, der die Hand über die Augen hob und die Stätte der Menschen schaute. Weit, weit am Horizont liegen bei ihm Boston und Newyork, dazu unter indianischem Namen, obwohl gerade Walt Whitman sonst das moderne Wort nicht scheut, und nur selten führt er, wenn er die Städte auch liebt und preist, bis hin in ihre Straßen. Poe dagegen, der in diesen Städten leben mußte, ging an ihnen zu Grunde, als der einzelne Schwärmer, der ihrem Leben nicht gewachsen war. Doch hat gerade Poe einmal, im „Mann der Menge“, den Geist der Großstadt symbolisch gefaßt wie ein wandelndes Gespenst und eine Geschichte aus ihr gebildet, die ihr mächtiger Ausdruck sein wird, solange es eine Großstadt gibt. Nur war Poe deshalb noch nicht monumental in dem Sinne, wie es Dostojewski, der Großstadtschilderer, ist. Zwar könnte man schon, im Vergleiche des Menschlichen, in Walt Whitman einen amerikanischen Tolstoi und in Poe einen amerikanischen Dostojewski sehen. Auch Poe ist der Mensch, der unter der Großstadt leidet, obwohl er beinahe nur in _ihr_ leben kann, der Mensch der nervösen, tragischen, kataleptischen Seele. Aber künstlerisch fehlt doch jene Allgemeingültigkeit, die Dostojewski so groß macht, seine Erscheinung bleibt problematisch und statt Schilderung ist alles Bekenntnis. Hinzukommt, daß Poe den Großstadtmenschen fast durchweg romantisch verkleidete. Seine Novellen sind wie Träume eines Mannes, der mitten in grauer und ihn schreckender Wirklichkeit steht und sich hinüberphantasiert in reinere Gefilde. Darin zeigte sich noch der Byronismus in Poe, während Dostojewski in Rußland Byronismus und Romantik mit Puschkin schon erledigt fand. Immerhin verspürt man bei Poe, nicht aus gewaltiger Ferne, wie bei Walt Whitman, sondern aus unheimlicher Nähe, etwas von dem Geist der modernen Großstadt. Nur braucht es nicht unbedingt die amerikanische Großstadt zu sein: nicht das Pionierhafte, nur das Gespenstische des Amerikanertums hat Poe begriffen, und bezeichnend ist, daß gerade sein „Mann der Menge“ von ihm nach London verlegt wurde. England selbst, dem die romantische, die allegorisch-mystische, prärafaelitische Hälfte von Poes Seele noch angehörte, hat überhaupt keine Großstadtkunst hervorgebracht, obwohl es in London früh schon, bereits im siebzehnten Jahrhundert, eine Stadt mit modernem Großstadtcharakter ausbildete und im alten Defoe auch schon einen kräftigen Großstadtschilderer, den ersten modernen überhaupt, bekam. Aber auf Defoe folgte kein ebenbürtiger Gestalter mehr, nur noch platte und rührselige Skribenten. Selbst Dickens ist schließlich nur ein Unterhaltungsschriftsteller, kein Künstler, und Wilde, der eher ein Künstler war, ist gerade als Großstadtschilderer nur eine Wiederholung von Poe. Nicht ganz so versagte Frankreich vor dem Problem der Großstadtschilderung. Zwar ist Paris gar keine eigentliche und einheitliche Großstadt, sondern eine Metropole, die zusammengesetzt ist aus alten und neuen, bald beinahe romantischen, bald bourgoisen, bald mondainen Quartiers und Faubourgs. Aber von den Lyrikern waren doch Verlaine und Rimbaud echte Großstadterscheinungen, und von den Romanciers hat Zola in gar manchem Roman wenigstens die Monumentalität einer Massenwirkung erreicht, wie es denn auch durchaus folgerichtig war, daß er vor dem Thema „Paris“ als Ganzem versagte, und sein Bestes immer nur in Ausschnitten gab, in Romanen, die er aus dem Leben der Künstlerwelt, der Hallen, der großen Magazine zog. An Deutschland dagegen scheint das Problem der Großstadtschilderung überhaupt noch nicht herangekommen zu sein. Man mag das mit dem engen Zusammenhang erklären, den der Deutsche nach wie vor zur Natur haben muß, wenn er schöpferisch sein soll. Jedenfalls haben unsere Persönlichkeiten, Liliencron, Dehmel, Hauptmann, Frenssen, die stärksten Wurzeln ihrer Kraft in der Heimat, im Rahmen der deutschen Landschaft. Nur Schlaf hat einmal den großangelegten Versuch gemacht, Berlin wenigstens als Panorama zu geben. Entziehen können wir uns dem Problem nicht. Wir sind nun einmal in unserem Leben wie kein zweites Leben das Volk der Großstädte. So werden wir es, bei der Wechselbeziehung zwischen beiden, auch in unserer Dichtung sein und irgend eine individuelle Lösung finden müssen. Im übrigen liegt die Schuld nicht so sehr an den Dichtern, als an unseren Großstädten selbst. Denn es hat einen inneren Grund, ob eine Großstadt ihren Dichter findet, und welchen, und wann. Die Städte bekommen ihren Dichter genau in dem Augenblick, in dem sie ihren Charakter bekommen. Es ist fast ein geschichtliches Zeugnis, das sich eine Stadt damit ausstellt, daß sie ihren Dichter hervorbringt. Sie zeigt damit an, daß sie herausgetreten ist aus der Periode der Vorbereitung, und von nun an als ein geschlossenes Ganzes betrachtet werden kann. Unsere deutschen Städte aber sind noch nicht fertig, selbst Berlin ist es noch nicht. Eine große Bestimmung liegt vor ihnen. Einen ganz neuen Städtestil gilt es zu entwickeln, dem europäischen Kontinent die neue Welthauptstadt zu schaffen. Und da ist es denn klar, daß erst zusammen mit der Erfüllung dieser Bestimmung einer Stadt wie Berlin ihr Dichter erscheinen wird. So bleibt, wie seltsam es klingen mag, vorläufig Rußland das einzige Land, in dem Großstadt und Dichter sich bereits zusammengefunden haben – Petersburg und Dostojewski. * * * * * Petersburg ist die Tragödie Rußlands, und diese Tragödie hat Dostojewski ausgedrückt. Man kann nicht sagen, daß Petersburg einen bestimmten Charakter habe, und erst recht hat es, ganz ungleich Moskau darin, keinen bestimmten Stil. Petersburg ist verkörperte, Stadt gewordene Idee. Wenn man seinen Charakter suchen wollte, so würde man ihn finden in einer ewigen Unfertigkeit, und seinen Stil in einer rein äußerlich bleibenden Einbeziehung so ziemlich sämtlicher Stile. Petersburg ist etwas anderes: Petersburg ist Geist, Problem, Phantasie. Auf eine Idee hin wurde es von Peter dem Großen aufgebaut, mitten in den Sumpf hinein, eine sozusagen befohlene Stadt, die nur die politische Berechtigung hatte, daß durch sie Rußland an die Ostsee gebracht wurde, und die alsbald mit einem Heer von Hofbediensteten, Staatsarbeitern, Beamten, Offizieren pöpliert wurde. Solange Petersburg im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert kaum mehr als eine große Residenz war, mochte Rußland sich bei dieser Schöpfung beruhigen, obwohl die Rivalität mit Moskau früh schon bedenkliche Formen annahm. Gefährlich, verhängnisvoll wurde die Stellung Petersburgs erst, als im neunzehnten Jahrhundert Rußland immer entschiedener in die Reihe der europäischen Großmächte hineindrängte, als Petersburg jäh aufschoß, in eine für Rußland zunächst unnatürliche moderne Entwicklung hineingezogen wurde und gleichfalls seinen Platz unter den europäischen Großstädten beanspruchte. Von da an war an Petersburg Alles dunkel und ungewiß. Ungewiß war jetzt nicht mehr bloß der schwankende Wassergrund, auf dem es ruht und in den es jeden Augenblick versinken kann. Ungewiß war seine ganze Zukunft, seine kulturelle, seine politische. Jetzt zeigte sich, wie das russische Volk an Petersburg litt. Wohl ist es seine offizielle Hauptstadt, doch das russische Volk drängt nach Moskau, der alten organischen, zurück, und noch über Moskau hinaus. Rußland sucht erst seine wahre Hauptstadt, wie es seine politische Form erst sucht. Möglich, daß Rußland groß erst werden wird, wenn der Nationalitätenkoloß, der es heute ist, dereinst auseinanderfällt und aus ihm ein reines Rußland reiner Russen hervorgeht. So steht ganz Rußland in einem Übergang, und die Stadt dieser Übergangszeit ist Petersburg. Es kann sterben, wie Ravenna und Brügge gestorben sind, es kann auch noch immer weiter wachsen – es wird stets etwas Beängstigendes, Verhängnisvolles, Unseliges über sich haben. Nicht anders als so, in dieser Mystik von Nebel, Tod und Schrecken, hat es Dostojewski aufgefaßt. Sein Petersburg, das ist das Fatum des ganzen Landes und Volkes, das ist das Rußland, das bei sich zu Hause Europa kopiert, das Rußland, das da Weltmacht sein will und doch immer wieder darauf gestoßen wird, daß es nur eine russische, eine slawische Bestimmung hat, das Rußland, das die glänzendste Aristokratie, die ausgebildetste Bürokratie besitzt und zugleich draußen im flachen Lande viele, viele Millionen, die nicht lesen und nicht schreiben können, und die doch zugleich seine treueste, seine fast unsterbliche seelische und auch körperliche Kraft sind. Jedenfalls ist es gerade die ihm geschichtlich aufgezwungene russische Rolle, die so tragisch an Petersburg ist. Die „künstlichste und abstrakteste“ Stadt hat Dostojewski Petersburg genannt, und tragisch hat er es geschildert. * * * * * Man kann Großstadt auf zweierlei Weise schildern: als Ort und Stimmung, malerisch gleichsam, und in den Menschen, psychologisch. Dostojewski hat beides getan. Sein Petersburg, das ist wirklich die kalte nordische Stadt mit den Farben schneeweiß und feuchtgrau, deren Winter acht Monate währt und über der dann die Sonne nur selten steht, hängend, wie ein blaßroter Schwamm, ohne Strahlen, und deren helle Frühlingsnächte sehnsüchtig und verträumt wie die Jugend Petersburgs selbst zu sein scheinen. Auf diesem vagen gespensterhaften Hintergrunde hat Dostojewski das Leben der Großstadt geschildert, ihr gewaltiges Hin und Her, ihren ungeheuren Lärm, und doch die furchtbare, die unheimliche Stille wiederum mitten im Geräusch. Aber dann war Dostojewski doch vor allem ein Menschenschilderer. Die Menge der Typen, Silhouetten, Physiognomien, die er in seinem Gesamtwerk vorführt, ist endlos, unzählbar, unübersehbar. Aus jedem Hause Petersburgs scheint eine Gestalt herauszugehen, die wir kennen lernen. Einmal, in der Figur des Raskolnikoff, hat er den Helden ihrer furchtbaren moralischen Kämpfe und Krisen gefunden. Andere Gestalten in anderen Werken ergänzen ihn. Wir sehen von ihnen einen ganzen Zug tragischer Jünglinge, deren Gestalten schließlich in der Ferne Sibiriens verschwinden. Und um die Jünglinge gruppieren sich die Frauen, Studentinnen, Heldinnen, die, wenn es nottut, für ihre Idee zu sterben wissen. Schwer dazwischen schieben sich die dicken Figuren von Spießbürgern. Offiziere und Beamte, hohe und niedere, anmaßende und gedrückte, lernen wir kennen. Dazu die Menge der Verkommenen einer Großstadt, der Gescheiterten und Verlorenen aller Art, der Menschen, Männer und Frauen, mit dem oft tief rührenden zersprungenen Klang auch in Not noch und Schande. Als eine Übergangsstadt hat Dostojewski Petersburg geschildert, von Übergangsmenschen bewohnt, von vielen, vielen Unglücklichen, Suchenden, Irrenden, die mitten in Rußlands Hauptstadt aus Rußland wie verbannt zu sein scheinen und den Sinn ihres Lebens, so sehr sie auch suchen mögen, nicht finden können. Dostojewski hat damit die Großstadt überhaupt geschildert. Denn sind die Großstadtmenschen nicht alle in irgend einer Weise Übergangsmenschen, vielleicht nicht so verzweifelte, aussichtslose, doppelt scharf und unheilvoll ausgeprägte wie in Rußland, aber doch immer solche, heute wenigstens und fürs erste, die noch nicht den Punkt gefunden haben, auf dem sie zu stehen vermögen? und den Platz noch nicht, auf dem sie ruhig leben und arbeiten können? * * * * * Woher wird die Erlösung für alle diese Menschen kommen? Irgendwoher muß sie kommen, das hat auch Dostojewski gewußt, und im Grunde handelt sein ganzes mächtiges Werk von nichts als den Erlösungsmöglichkeiten der Menschheit. Er hat verschiedene Antworten gegeben, er hat oft an das flache Land gedacht, an die Rückkehr zur Natur, zur Rasse und dem schlichten starken Gott der Väter. Aber schließlich weiß er doch immer wieder zu sagen, und dadurch unterscheidet er sich von Tolstoi, daß gerade aus der Großstadt, aus all ihrem Leid und Wirrsal, durch das wir nun einmal hindurch müssen, nachdem wir es uns selbst geschaffen, die Erlösung für uns kommen wird, daß gerade aus diesen blassen und eilenden Menschen, die grau in grau durch die feuchten asphaltierten Straßen ziehen, sich eines Tages, wenn die Not zu gewaltig, unerträglich geworden ist, die Gestalt eines neuen Heilandes für uns ablösen wird. Für Tolstoi und seine Bauern genügte Christus, derselbe Christus, den wir nun schon seit zwei Jahrtausenden aus der Überlieferung kennen. Auch Dostojewski denkt an Christus, er hat selbst ein Buch über Christus schreiben wollen, und vielleicht wäre er der einzige Mensch gewesen, der es je gekonnt hätte. Aber wenn Dostojewski von Heil und Erlösung spricht, so ist es doch stets die Gestalt eines neuen, eines russischen, eines modernen Christus, hervorgegangen aus dem Leben der Menschen von Heute. Dostojewski hat nicht zu allegorischen oder symbolischen Mitteln zu greifen brauchen, um diesen Zug zur Erlösung auszudrücken, der durch unsere Zeit geht. Die Wirklichkeit, die ihn umgab, genügte ihm durchaus. Gar mancher unscheinbare Mensch, den er schilderte, trägt bereits Heilandszüge, und aus seinem ganzen Werke steigt es schon auf wie Tod und Verklärung gerade der Großstadt. _Moeller van den Bruck._ Vorwort. Der Band enthält drei Jugendnovellen Dostojewskis: „Der Herr Prochartschin“ – „Polsunkoff“ – „Der ehrliche Dieb“, die erste aus dem Jahre 1846, die beiden letzteren aus dem Jahre 1848. Ferner sind da zwei Novellen des mittleren Dostojewski: „Eine dumme Geschichte“ aus dem Jahre 1862, und „Aus dem Dunkel der Großstadt“ aus dem Jahre 1864, beide geschrieben in der Zeit nach der Rückkehr Dostojewskis aus Sibirien. Schließlich folgen drei Novellen des späteren Dostojewski, die „Letzten Novellen“: „Bobock“ aus dem Jahre 1873, „Die Kleine“ aus dem Jahre 1876 und „Der Traum eines lächerlichen Menschen“ aus dem Jahre 1877. Die Zusammenstellung geschah unter dem Gesichtspunkte, daß alle Novellen in der Großstadt spielen und speziell Petersburg zum Hintergrund haben. Dieser Gesichtspunkt gab zugleich die Berechtigung, dem Bande die größte und wichtigste Novelle voranzustellen und ihm ihren Titel vorzuschreiben: „Aus dem Dunkel der Großstadt“. Eine wörtliche Übertragung des russischen Titels dieser Novelle ging nicht an. Der russische Titel vereinigt in der Art, wie er von Dostojewski geprägt und zweifellos auch gedacht ist, das soziale und seelische Milieu in einem einzigen knappen Wort. Die deutsche Sprache bietet zu einer derartigen Vereinigung nicht die Möglichkeit. Das lokale Milieu allein würde etwa die Übertragung „Aus dem dunkelsten Winkel der Großstadt“ bedingen. Es klingt sozial, doch Soziales liegt der Novelle nur im allergeringsten Maße zu Grunde. Das seelische Milieu dagegen würde etwa eine Übertragung verlangen wie: „Aus dem dunkelsten Innern des Großstadtmenschen“. Aber hier wird wiederum das Intim-Persönliche zu stark betont. Einen Ausweg bot schließlich der gewählte Titel, der innerlich und seelisch ist, dabei den Ort angibt, und doch den Ort nicht zu realistisch-genau bezeichnet. Die hier als „Letzte Novellen“ zusammengefaßten Erzählungen hat Dostojewski nicht als solche veröffentlicht. Sie stehen im „Tagebuch eines Schriftstellers aus dem Jahre 1873“, bezw. 1876, bezw. 1877, eingerahmt von literarischen und politischen Aufsätzen Dostojewskis. Ihre Entstehungszeit, die zwischen „Die Dämonen“ und „Die Brüder Karamasoff“ fällt, verbürgt schon ihren außerordentlichen Wert im Werke Dostojewskis. In der Tat gehört „Die Kleine“, die da wirkt wie ein lebendiges Heiligenbild aus dem modernen Petersburg, zu dem Schönsten, und „Der Traum eines lächerlichen Menschen“ zu dem Tiefsten, was Dostojewski geschrieben hat, während „Bobock“, dieses tolle Satyrspiel des Großstadtlebens, Dostojewski von einer ganz eigenartigen, seiner humoristischen, exzentrischen, grotesken Seite zeigt. E. K. R. Aus dem Dunkel der Großstadt. Aufzeichnungen. Erster Teil. Das Dunkel.[1] I. Ich bin ein kranker Mensch ... ein schlechter Mensch ... Ein abstoßender Mensch bin ich. Ich glaube, ich bin leberleidend. Übrigens habe ich mir von meiner ganzen Krankheit noch nie einen rechten Begriff machen können; ja, genau genommen weiß ich überhaupt nicht, was in mir denn eigentlich krank sein könnte. Für meine Gesundheit tu ich nichts, wenn ich auch sonst vor der Medizin und sogar vor den Ärzten alle Achtung habe. Zudem bin ich noch fabelhaft abergläubisch – als Beweis dafür dürfte schon diese meine Hochachtung vor der Medizin genügen. Ich bin genügend gebildet, um nicht abergläubisch zu sein, trotzdem aber bin ich es, wie gesagt. Nein, meine Herren, wenn ich für meine Gesundheit nichts tue, so geschieht es einfach nur aus Bosheit. Nun, das z. B. werden Sie bestimmt nicht verstehen können. Ich aber, ich verstehe es vorzüglich! Ich kann es Ihnen natürlich nicht so ganz klar machen, wem ich denn eigentlich in diesem Falle mit meiner Bosheit etwas antun will. Ich weiß auch ganz genau, daß die Doktoren nichts verlieren, wenn ich mich nicht von ihnen behandeln lasse, – oh, ich weiß es selbst am allerbesten, daß ich damit nur mir allein schade und sonst niemandem. Trotzdem aber – wenn ich mich nicht kuriere, so geschieht es doch nur aus Bosheit. Also das Leberchen schmerzt? Na, so schmerz nur noch mehr, wenn du kannst! ... Ich lebe schon lange so, – zwanzig Jahre. Jetzt bin ich vierzig. Früher hatte ich eine Anstellung in einer Kanzlei; jetzt aber nicht mehr. Ich war ein boshafter Beamter. Ich war roh – und das freute mich. Da ich keine Sporteln nahm, mußte ich mich eben auf eine andere Weise entschädigen. – Hm, fauler Witz, aber ich streiche ihn nicht aus. Als ich ihn schrieb, glaubte ich, er würde sich geistreich ausnehmen, doch jetzt, da ich selbst einsehe, daß er dumm ist, streiche ich ihn erst recht nicht aus! – ... Saß ich an meinem Pult und trat jemand zu mir – meistens Bittsteller mit Anfragen –, so fuhr ich sie zähneknirschend an und fühlte labende Genugtuung, wenn es mir gelang, jemanden einzuschüchtern – und es gelang mir fast immer: wir wissen ja, – zaghaftes Volk, diese Bittsteller. Doch gab es da unter den dreisteren einen Offizier, den ich ganz besonders haßte. Er wollte sich für keinen Preis einschüchtern lassen und rasselte geradezu unverschämt mit seinem Säbel. Dieses Säbels wegen habe ich anderthalb Jahre lang mit ihm Krieg geführt. Endlich besiegte ich ihn: er ließ das Rasseln. Doch das war noch in meiner Jugend. Aber wissen Sie auch, meine Herren, worin gerade meine Hauptwut bestand? Das war ja der ganze Jammer, darin lag ja gerade die größte Gemeinheit, daß ich in jeder Minute, in jeder Sekunde, im Augenblick meiner stärksten Wut mir schmachvoll selbst eingestehen mußte, daß ich nicht nur kein boshafter, sondern nicht einmal ein böser Mensch bin, daß ich ganz umsonst nur Spatzen schrecke und damit mich selbst zu trösten suche. Schaum steht mir vor dem Munde – doch bringt mir ein Püppchen oder gebt mir ein Zuckerstückchen und ich werde mich höchstwahrscheinlich sofort beruhigen. Werde sogar ganz windelweich werden ..., wenn ich mich auch nachher am liebsten selbst zerfleischen würde und vor Schande Monate lang schlaflose Nächte habe ... Ich bin nun einmal so. Das habe ich übrigens vorhin gelogen, daß ich ein boshafter Beamter gewesen sei. Aus Bosheit hab ich’s gelogen. Das mit den Bittstellern und dem Offizier war einfach nur Eigensinn, – in Wirklichkeit konnte ich überhaupt nicht böse werden. Wollte ich es aber, so fühlte ich im Augenblick über die Maßen viel entgegengesetzte Elemente in mir. Ich fühlte sie nur so wimmeln in mir, diese entgegengesetzten Elemente. Ich wußte, daß sie mein ganzes Leben lang in mir so wimmelten und mich baten, sie hinauszulassen, aber ich ließ sie nicht, ich ließ sie nicht, absichtlich ließ ich sie nicht hinaus! Sie quälten mich bis zur Scham, bis zu Krämpfen brachten sie mich, und ach Gott! ich wurde ihrer schließlich so überdrüssig, so maßlos überdrüssig! Oder glauben Sie vielleicht gar, meine Herren, daß ich hier irgend etwas bereue – vor Ihnen? daß ich für irgend etwas Ihre Verzeihung erbitte? ... Ich bin überzeugt, daß Sie das glauben ... Doch, übrigens, versichere Ihnen, ’s ist mir ganz egal, was Sie da glauben ... ... Nicht nur, daß ich es nicht verstand, böse zu werden, – ich verstand überhaupt nichts zu werden: weder böse noch gut, weder ehrlich noch schlecht, weder Held noch Insekt. Und jetzt lebe ich in meinem Winkel, verspotte mich selbst, indem ich mich „böse“ nenne und mich mit dem überflüssigen Troste beruhige, daß ein kluger Mensch – im Ernst – überhaupt nicht irgend etwas werden kann, sondern nur ein Pinsel etwas wird. Ein Mensch des neunzehnten Jahrhunderts muß, ja, ist sogar moralisch verpflichtet, ein im wahrsten Sinne des Wortes charakterloses Wesen zu sein. Ein Mensch jedoch mit einem Charakter, ein Tatmensch, muß – im vollsten Sinne des Wortes beschränkt sein. Dieses ist meine vierzigjährige Überzeugung. Ich bin jetzt vierzig Jahre alt; aber vierzig Jahre – das ist doch das ganze Leben, das ist doch das höchste Alter! Über vierzig Jahre zu leben ist unanständig, ist gemein, trivial, ist unsittlich! Wer lebt denn heutzutage noch über vierzig Jahre? – antwortet aufrichtig, ehrlich. Ich werde es Euch sagen, wer noch über vierzig lebt: Dummköpfe und Spitzbuben leben! Das sage ich allen Greisen ins Gesicht, allen diesen ehrwürdigen Greisen, allen diesen silberhaarigen, ehrwürdigen Greisen! Sage es der ganzen Welt ins Gesicht! Ich habe das Recht, das zu sagen, denn ich werde selbst bis sechzig leben. Bis siebzig werde ich leben! Bis achtzig werd ich leben! ... Wartet! Die Luft geht mir aus, ... laßt mich erst wieder zu Atem kommen ... Sie denken bestimmt, meine Herren, daß ich Sie belustigen will? Dann irren Sie sich aber sehr. Ich bin durchaus kein so lustiger Mensch, wie es Ihnen scheint oder wie es Ihnen vielleicht auch nicht scheint. Übrigens, wenn dieses Geschwätz Sie ärgert – ich fühle es ja, daß Sie schon gereizt sind – so werden Sie mich vielleicht fragen wollen, wer ich denn eigentlich bin? – Gut, ich will Ihnen die Antwort nicht schuldig bleiben: ich bin Kollegienassessor. Ich war Beamter, um nicht zu verhungern – und zwar einzig aus diesem Grunde. Als mir aber im vorigen Jahre einer meiner entfernten Verwandten testamentarisch sechstausend Rubel hinterließ, trat ich sofort aus dem Dienst und siedelte mich hier in meinem Winkel an. Auch früher schon lebte ich hier, jetzt aber habe ich mich endgültig in diesem Winkel angesiedelt. Mein Zimmer ist ein elendes, scheußliches Nest. Meine Aufwartefrau ist ein Weib vom Lande, ein altes, das vor Dummheit wütend geworden ist und zudem noch unausstehlich riecht. Man sagt mir, das Petersburger Klima sei mir schädlich, und Petersburg für meine kümmerlichen Mittel viel zu teuer. Das weiß ich selbst ganz genau, weiß es hundertmal besser als diese erfahrenen und überklugen Ratgeber. Aber ich bleibe in Petersburg: ich fahre nicht fort! Ich fahre darum nicht fort, weil ... Ach! Das ist doch wirklich gleichgültig, ob ich nun fortfahre oder nicht fortfahre. Übrigens, bei der Gelegenheit noch eine Frage: Worüber kann ein anständiger Mensch zu jeder Zeit mit dem größten Vergnügen reden? Antwort: Über sich selbst. Nun, dann werde auch ich über mich selbst reden. II. Meine Herren, jetzt will ich Ihnen erzählen – einerlei ob Sie hören wollen oder nicht –, warum ich nicht einmal ein Insekt zu werden verstand. Versichere Ihnen feierlichst: schon mehrere Mal wollte ich ein Insekt werden. Doch selbst dazu langte es nicht. Meine Herren, ich schwöre Ihnen, daß allzuviel erkennen – Krankheit ist, eine richtige, rechte Krankheit. Für den menschlichen Bedarf wäre eine gewöhnliche menschliche Erkenntnis übergenug, d. h. die Hälfte oder dreiviertel von der Dosis, die auf einen entwickelten Menschen kommt, einen Menschen unseres unseligen neunzehnten Jahrhunderts, und der zudem noch das doppelte wenn nicht dreifache Unglück hat, in Petersburg zu leben, der abstraktesten und künstlichsten Stadt der ganzen Welt. – Es gibt künstliche Städte und nichtkünstliche Städte. – Zum Beispiel würde vollkommen genügen, sagen wir, solch eine Erkenntnis, wie die, mit der alle sogenannten unmittelbaren Menschen, d. h. alle Tatmenschen leben. Ich könnte wetten, Sie glauben jetzt, daß ich dieses aus Anmaßung schreibe, um über die Tatmenschen zu witzeln – und noch aus einer Anmaßung, die geschmacklos ist –: lasse den Säbel rasseln, wie mein Offizier. Aber, meine Herren, wer brüstet sich denn mit seinen eigenen Gebrechen? Übrigens, – was sage ich? Alle tun das: alle prahlen mit ihren Gebrechen und ich, na, ich meinetwegen mehr als sie alle zusammen. Streiten wir nicht darüber: meine Einwendung ist nicht stichhaltig. – Schön; aber trotzdem bin ich doch fest überzeugt, daß nicht nur sehr viel Erkenntnis, sondern sogar jede Erkenntnis – Gebrechen, Krankheit ist. Dabei bleibe ich. Aber lassen wir dieses Thema auf einen Augenblick. Sagen Sie mir lieber etwas anderes: wie kam es, daß ich, zum Beispiel, in denselben, ja, in denselben Minuten, da ich am allerfähigsten war, sämtliche Feinheiten „alles Schönen und Hohen“ zu erkennen, zuweilen so widerliche Sachen nicht nur erkennen, sondern auch begehen konnte, Sachen, sag ich Ihnen, die ... nun ja, mit einem Wort, die meinetwegen alle machen, die aber wie zum Trotz gerade dann von mir begangen wurden, wenn ich am klarsten erkannte, daß man sie eigentlich überhaupt nie tun sollte? Je mehr ich von der Erkenntnis des Guten und „alles Schönen und Hohen“ durchdrungen war, desto tiefer sank ich in meinen Morast und desto fähiger war ich, völlig in ihm unterzugehn. Doch das Auffallendste an dem war, daß all dieses gewissermaßen durchaus nicht zufällig geschah, sondern geradezu als müßte es genau so sein. Als ob das mein allernormalster Zustand gewesen wäre und durchaus nicht Krankheit oder Verderbtheit, sodaß schließlich die Lust in mir verging, gegen ihn noch anzukämpfen. Es endete damit, daß ich fast zu glauben begann – oder vielleicht glaubte ich es schon tatsächlich –, dieses sei sozusagen mein wirklicher normaler Zustand. Aber zuerst, am Anfang, wieviel Qual lag für mich in diesem Kampf! Ich glaubte nicht, daß es anderen ebenso erginge und verbarg dieses Geheimnis mein Leben lang. Ich schämte mich, und – vielleicht schäme ich mich sogar jetzt noch –. Es kam so weit, daß ich, wenn ich zuweilen in einer der ekelhaftesten Petersburger Nächte nach Haus in meinen Winkel zurückkehrte, einen gewissen – wie soll ich sagen? – geheimen, unnormalen, gemeinen Genuß oder einen angenehmen Kitzel empfand, mich krampfhaft zu zwingen, zu erkennen, – zu erkennen, daß ich auch heute wieder eine Gemeinheit begangen hatte, daß ich das Getane wiederum auf keine Weise ungeschehen machen konnte, und mich dann innerlich, heimlich deswegen zu nagen, zu nagen, wie mit Zähnen zu feilen, mir mein eigenes Blut auszusaugen, mich zu foltern, – so lange, bis sich die Bitterkeit allmählich in eine schändliche verfluchte Süßigkeit, in eine Wonne verwandelte und schließlich – in entschiedenen, wirklichen Genuß! Ja: in Genuß, in Genuß! Dabei bleibe ich. Deswegen habe ich doch überhaupt angefangen, davon zu sprechen, weil ich endlich genau wissen wollte, ob andere auch solche Genüsse haben? Warten Sie, ich werde es Ihnen ausführlicher erklären. Der Genuß liegt hier gerade in der allzu grellen Erkenntnis der eigenen Erniedrigung: in der Erkenntnis, daß man schon an der letzten Wand angekommen ist; daß man keine einzige Möglichkeit mehr hat, jemals noch ein anderer Mensch zu werden; daß, selbst wenn noch Zeit und Glaube übrig wären, sich in etwas anderes umzumachen, man sicherlich selbst dieses nicht wollen würde; wollte man es aber, so würde man es doch nicht tun, weil es im Grunde vielleicht nichts gibt, in was man sich ummachen könnte. Aber die Hauptsache und des Endes Ende ist, daß alles nach den normalen und fundamentalen Gesetzen angestrengten Erkennens vor sich geht und nach der Inertie, die sich unmittelbar aus diesen Gesetzen ergibt, folglich aber kann man sich hierbei nicht nur nicht ummachen, sondern kann hierbei überhaupt nichts machen. Es ergibt sich z. B. aus der angestrengten Erkenntnis: „stimmt, Du bist ein gemeiner Mensch“ – als ob das dem gemeinen Menschen eine Beruhigung sein könnte, wenn er schon selbst fühlt, daß er tatsächlich gemein ist. Doch genug ... Viel hab ich zusammengeschwatzt, was aber bewiesen? Wodurch erklärt sich hier dieser Genuß? Aber ich werde mich schon erklären! Ich werde es schon zu Ende führen!! Deswegen hab ich doch die Feder in die Hand genommen! Meine Eigenliebe z. B. ist ganz furchtbar entwickelt. Argwöhnisch und empfindlich bin ich wie ein Krüppel oder ein Zwerg, aber – Hand aufs Herz – ich habe auch Augenblicke gehabt, in denen ich mich, wenn es geschehen wäre, daß mir jemand eine Ohrfeige gegeben, vielleicht darüber gefreut hätte. Nein, im Ernst: ich hätte bestimmt verstanden, auch darin einen Genuß zu finden, einen Genuß in seiner Art, versteht sich, einen Genuß der Verzweiflung, aber in der Verzweiflung sind ja gerade die tiefsten Genüsse, die heißesten Wonnen, besonders wenn man schon sehr stark die Aussichtslosigkeit seiner Lage erkennt. Und hier, also bei der Ohrfeige, – hier erdrückt einen ja die Erkenntnis, bis zu welch einer Schmiere man Dich zerdrückt hat. Die Hauptsache jedoch, wie man es sich auch überlegt und wie man es auch überdenkt, es kommt doch immer heraus, daß man als Erster an allem selbst schuld ist und das kränkendste an der Sache – daß man ohne Schuld schuldig ist, sagen wir einfach: nach den Naturgesetzen. Erstens, weil man klüger ist als alle, die einen umgeben. (Ich habe mich immer für klüger gehalten als die, die mich umgaben und gar manches Mal – glauben Sie es mir – mich sogar dessen geschämt. Wenigstens habe ich mein ganzes Leben lang immer zur Seite gesehn, und niemals den Menschen gerade in die Augen blicken können.) Und zweitens, weil ich, selbst wenn ich großmütig gewesen wäre, durch diese Großmut nur noch mehr gelitten hätte, nämlich durch die Erkenntnis ihrer ganzen Nutzlosigkeit. Ich hätte doch bestimmt nichts aus ihr zu machen verstanden: weder zu verzeihen, denn der Beleidiger hat mir vielleicht naturgesetzmäßig die Ohrfeige gegeben, und den Gesetzen der Natur hat man nichts zu verzeihen, noch zu vergessen, denn wenn es auch hundertmal die Gesetze der Natur sind, so bleibt es doch immerhin beleidigend. Und selbst wenn ich mich am Beleidiger hätte rächen wollen, so würde ich mich doch für nichts und an niemandem gerächt haben, denn es wäre mir bestimmt unmöglich gewesen, den Entschluß zu fassen, etwas zu tun, selbst wenn ichs hätte tun können. Warum nicht? Ja, darüber will ich jetzt einige besondere Worte sagen. III. Wie geschieht es denn, zum Beispiel, bei Leuten, die es verstehen, sich zu rächen, und überhaupt – ihren Mann zu stehn? Wenn sie vom Rachedurst ergriffen werden, so bleibt ja von ihrem ganzen Wesen überhaupt nichts mehr übrig, außer diesem Gefühl. Solch ein Mensch schießt denn auch sofort wie ein wild gewordener Stier mit tiefgesenkten Hörnern auf das Ziel los, und höchstens eine Wand kann ihn dann noch zum Stehen bringen. (Bei der Gelegenheit sei es noch gesagt: vor der Wand ergeben sich solche Menschen, d. h. die Unmittelbaren- und Tatmenschen, widerspruchslos, vor der Wand „passen“ sie wie im Kartenspiel. Für sie ist die Wand keine Ablenkung wie z. B. für uns denkende und folglich tatlose Menschen, kein Vorwand, auf diesem Wege umzukehren – ein Vorwand, an den unsereiner gewöhnlich im Grunde selbst nicht glaubt, doch über den er sich stets ungemein freut. Nein, sie „passen“ vor ihr wirklich mit aller Aufrichtigkeit. Die Wand hat für sie stets etwas Beruhigendes, moralisch Entscheidendes und Definitives, meinetwegen sogar etwas Mystisches ... Doch von der Wand später.) Also gerade solch einen unmittelbaren Menschen halte ich für den wirklichen, normalen Menschen, wie ihn Mutter Natur selbst haben wollte, als sie ihn liebend aus der Erde gebar. Solch einen Menschen beneide ich bis zur grünsten Galle! Er ist dumm. Nun gut, darüber will ich mit Ihnen nicht streiten, vielleicht aber, wer kann’s denn wissen, _muß_ jeder normale Mensch dumm sein? Vielleicht ist das sogar sehr schön. Und ich bin um so mehr zu diesem, sagen wir, Verdacht geneigt, als z. B. die Antithese des normalen Menschen, also der verstärkt erkennende Mensch, der natürlich nicht aus dem Schoße der Erde hervorgegangen, sondern aus der Retorte, dem Destillationstopf aller Chemikalien, entstanden ist, – das ist fast schon Mystizismus, meine Herren, aber ich nehme auch das als Tatsache an – wenn man also diesen Retortenmenschen nimmt, so „paßt“ er vor seiner Antithese zuweilen dermaßen, daß er sich selbst samt seiner ganzen verstärkten Erkenntnis gewissenhaft für eine Maus hält, nicht aber für einen Menschen. Mag das auch eine verstärkt erkennende Maus sein, so bleibt sie doch trotzdem eine Maus, jener aber ist ein Mensch und folglich auch das Weitere. Und die Hauptsache: er _selbst_, _er selbst_ hält sich für eine Maus; niemand bittet ihn darum; das aber ist ein wichtiger Umstand. Betrachten wir nun diese Maus in der Tätigkeit. Nehmen wir zum Beispiel an, daß sie auch einmal beleidigt wird – und sie wird fast immer beleidigt – und sich gleichfalls rächen will. Wut kann sich in ihr vielleicht noch mehr ansammeln, als in einem ^homme de la nature et de la vérité^. Das gemeine, niedrige Wünschchen der Maus, dem Beleidiger mit derselben Münze heimzuzahlen, kann vielleicht noch heißer in ihr sieden, als in diesem ^homme de la nature et de la vérité^, denn ^l’homme de la nature et de la vérité^ hält bei seiner angeborenen Dummheit seine Rache allereinfachst für Gerechtigkeit. Die Maus jedoch verneint hierbei die Gerechtigkeit – infolge ihrer verstärkten Erkenntnis. Endlich kommt es zur Tat selbst, zum Racheakt. Die unglückliche Maus hat aber inzwischen außer der anfänglichen Gemeinheit schon soviel neue Gemeinheiten in Gestalt von Fragen und Zweifeln um sich herum aufgehäuft, hat an eine Frage so viele andere ungelöste Fragen angereiht, daß sich unwillkürlich um sie herum ein verhängnisvoller Brei bildet, ein stinkender Schmutz, der unbedingt entstehen muß aus diesen ihren eigenen Zweifeln und Peinigungen und schließlich auch aus dem Speichel, der auf sie von den unzähligen unmittelbaren Tatmenschen, die sie als Richter und Diktatoren in feierlichem Kreise umstehn und aus vollem Halse über sie lachen, niederfliegt. Selbstverständlich kann _sie_ ja noch auf sie alle pfeifen, mit ihrem Pfötchen eine geringschätzige Gebärde machen und mit einem Lächeln vorgespielter Verachtung, an die sie selbst nicht glaubt, schimpflich in ihr Ritzchen zurückschlüpfen. Dort, in ihrem scheußlichen, stinkenden Winkel versenkt sich dann unsere beleidigte, zerschlagene und verhöhnte Maus alsbald in kalte, giftige – und vor allen Dingen – ewig andauernde Bosheit. Vierzig runde Jahre lang wird sie sich bis in die letzten, kleinsten, allerschmählichsten Einzelheiten der Beleidigung erinnern und dabei noch jedesmal von sich aus neue Details, noch schimpflichere, hinzufügen, wird sich fortwährend mit der eigenen Phantasie boshaft reizen und aufstacheln. Sie wird sich dieser Erinnerung schämen, trotzdem aber sich alles ins Gedächtnis zurückrufen, wieder alles von neuem erleben, sich Unerhörtes noch hinzudenken, unter dem Vorwand, daß dieses ja ebensogut hätte geschehen können – warum auch nicht? – und wird sich nichts, aber auch nichts verzeihen! Am Ende wird sie dann vielleicht auch anfangen, sich zu rächen, doch wird sie es immer irgendwie kleinlich tun, hinter dem Ofen hervor, inkognito; wird selbst nicht einmal weder an ihr Recht, sich zu rächen, noch an den Erfolg ihrer Rache glauben und im voraus wissen, daß unter allen ihren Racheversuchen sie selbst hundertmal mehr leiden wird, als der, an dem sie sich rächen will, ja, daß der sie vielleicht nicht einmal beachten wird. Auf dem Sterbebett wird sie sich wiederum des Ganzen erinnern und das noch mit allen in der Zwischenzeit angesammelten Prozenten ... Und gerade in dieser kalten, quälenden Halbverzweiflung, in diesem Halbglauben, in diesem bewußten Sich-vor-Leid-lebendig-begraben im dunkelsten Winkel des Kellers auf vierzig Jahr, in dieser verstärkt erkannten und immerhin doch teilweise zweifelhaften Aussichtslosigkeit der Lage, in diesem Gift unbefriedigter Wünsche, in diesem Fieber des Schwankens zwischen auf ewig gefaßten und nach einer Minute wieder aufgegebenen Entschlüssen – darin, gerade darin liegt ja der Saft dieses sonderbaren Genusses, von dem ich sprach. Dieser Genuß ist dermaßen fein und der Erkenntnis zuweilen so wenig zugänglich, daß nur etwas beschränktere Menschen oder sogar einfach Menschen mit starken Nerven überhaupt nichts davon verstehen können. „Vielleicht können auch die nichts davon verstehen,“ denken Sie wohl soeben mit spöttischem Lächeln bei sich, „die niemals Ohrfeigen bekommen haben,“ und wollen mir auf diese Weise höflich zu verstehen geben, daß vielleicht auch ich in meinem Leben schon eine Ohrfeige ertragen habe und darum jetzt aus Erfahrung spreche. Ich könnte wetten, daß Sie das denken. Aber beruhigen Sie sich, meine Herren, ich habe niemals Ohrfeigen bekommen, obgleich es mir vollkommen einerlei ist, ob Sie das denken oder nicht. Ja, vielleicht bedauere ich es selbst noch, in meinem Leben wenig Ohrfeigen ausgeteilt zu haben. Doch genug, kein Wort mehr über dieses für Sie so ungemein interessante Thema. Ich setze ruhig meine Erklärung fort – von den Menschen mit den starken Nerven, die besagte Feinheit des Genusses nicht verstehen. Diese Menschen beruhigen sich, wenn sie auch in manchen Fällen wie die Ochsen aus vollem Halse brüllen, und dieses ihnen meinetwegen auch die größte Ehre einlegt, so beruhigen sie sich doch sofort, wie ich schon bemerkt habe, vor der Unmöglichkeit. Die Unmöglichkeit – das ist die Wand! Was für eine Wand? Nun, versteht sich, die Naturgesetze, die Ergebnisse der Wissenschaft, der Mathematik. Und wenn man Dir gar beweist, z. B., daß Du vom Affen abstammst, so hast Du nichts mehr zu meinen, nimm es hin, so wie es ist. Oder wenn man Dir beweist, daß ein einziges Tröpfchen Deines eigenen Fettes Dir hunderttausendmal teurer sein muß, als die ganze Menschheit, und daß in diesem Resultat schließlich alle sogenannten Wohltaten und Pflichten und sonstigen Faseleien und Vorurteile gelöst werden, so nimm das nur ruhig an, ist ja nichts zu machen, denn, wie gesagt, zweimalzwei – Mathematik! Versuchen Sie zu widerlegen. „Na, hören Sie mal!“ wird man Ihnen zuschreien, „das ist doch wie zweimalzwei = vier! Die Natur wird Sie nicht fragen; was gehen die Natur Ihre Wünsche an, und ob die Naturgesetze Ihnen gefallen oder nicht! Sie müssen die Natur so nehmen, wie sie ist, und folglich auch alle ihre Gesetze nebst allen Resultaten. Die Wand also bleibt Wand“ ... usw., usw. Herrgott, was gehen aber mich die Gesetze der Natur und die Mathematik an, wenn mir aus irgend einem Grunde diese Gesetze und das zweimalzwei-ist-vier nicht gefallen? Versteht sich, ich werde solch eine Wand nicht mit dem Kopf einrennen, da ich ja auch tatsächlich nicht die Kraft dazu habe, aber ich werde mich ihnen doch nicht ergeben, bloß weil hier eine Wand ist und ich nicht genügend Kraft besitze! Als ob solch eine Wand tatsächlich eine Beruhigung wäre, als ob sie irgend einen Trost enthielte, – einzig weil sie zweimalzwei = vier ist. Oh, Absurdität aller Absurditäten! Eine ganz andere Sache ist doch – alles verstehen, alles erkennen, alle Unmöglichkeiten und Steinwände; sich mit keiner einzigen dieser Unmöglichkeiten oder Wände aussöhnen, wenn es einem vor dem Aussöhnen ekelt; auf dem Wege der unumgänglichen logischen Kombinationen bis zu den allerwiderlichsten Schlüssen kommen – über das ewige Thema, daß man an der Steinwand irgendwie geradezu selbst schuldig ist, obgleich es wiederum bis zur Durchsichtigkeit augenscheinlich bleibt, daß man durchaus nicht schuldig ist – und infolgedessen schweigend und kraftlos zähneknirschend, wollüstig in der Inertie ersterben, mit dem Gedanken, daß man, wie es sich ergibt, nicht einmal einen Grund hat, sich über jemanden zu ärgern; daß überhaupt keine Ursache vorhanden ist und sich vielleicht auch niemals finden lassen wird, daß hier heimlicher Betrug ist, ein künstliches Aneinanderreihen von Tatsachen, Falschspielerei, einfach Brei, – unbekannt was, unbekannt wer, aber trotz all dieser Ungewißheiten und Täuschungen schmerzt es einen doch und je mehr einem unbekannt ist, desto mehr schmerzt es! IV. „Hahaha! Dann werden Sie ja auch an Zahnschmerzen Genuß finden!“ wenden Sie lachend ein. „Warum nicht? Auch im Zahnschmerz ist Genuß,“ antworte ich. Einmal habe ich einen ganzen Monat Zahnschmerzen gehabt – ich weiß, wie das ist! Natürlich, hierbei erbost man sich nicht schweigend – man stöhnt. Doch ist es dann kein aufrichtiges, sondern ein schadenfrohes Gestöhn, aber in dieser Schadenfreude ist ja alles enthalten! Gerade in diesem Gestöhn drückt sich ja die ganze Wonne, der ganze Genuß des Leidenden aus: empfände er keinen Genuß, so würde er auch nicht stöhnen. Das ist ein gutes Beispiel, meine Herren, bleiben wir bei ihm. In diesem Stöhnen liegt erstens die ganze für Ihre Erkenntnis erniedrigende Zwecklosigkeit Ihres Schmerzes, die ganze Gesetzlichkeit der Natur, auf die Sie natürlich spucken können, doch durch die _Sie_ trotzdem leiden, die Natur aber nicht. Zweitens, die Erkenntnis, daß kein Feind vorhanden, wohl aber der Schmerz vorhanden ist; die Erkenntnis, daß Sie zusammen mit allen möglichen Doktoren vollkommen Sklave Ihrer Zähne sind; daß, falls es irgend jemand will, Ihre Zähne nicht mehr schmerzen werden, wenn er es aber nicht will, sie noch weitere drei Monate schmerzen werden; und daß drittens, wenn Sie sich immer noch nicht ergeben und immer noch protestieren wollen, Ihnen zur eigenen Beruhigung nur noch übrig bleibt, sich selbst durchzuprügeln oder mit der Faust etwas schmerzhafter an Ihre Wand zu schlagen – sonst aber entschieden nichts. Nun, sehen Sie, – gerade von diesen Beleidigungen bis aufs Blut, von diesem Verspottetwerden, ohne zu wissen von wem, entsteht dann allmählich dieser Genuß, der oft bis zur höchsten Wollust steigen kann. Bitte, meine Herren, hören Sie doch einmal aufmerksam dem Gestöhn eines gebildeten Menschen des neunzehnten Jahrhunderts zu, wenn er Zahnschmerzen hat, doch schon so am zweiten oder dritten Tage, wenn er nicht mehr so stöhnt, wie am ersten Tage, d. h., nicht nur einfach, weil seine Zähne schmerzen, nicht wie irgend ein gewöhnlicher Bauer stöhnt, sondern wie ein Mensch, der von der Bildung und der europäischen Kultur durchdrungen ist – wie ein Mensch, „der sich vom Boden und dem Volke getrennt hat,“ wie man sich jetzt auszudrücken pflegt. Sein Gestöhn wird gewissermaßen gemein, boshaft und hält ganze Tage und Nächte lang an. Und er weiß es ja selbst, daß ihm dieses Stöhnen nicht den geringsten Nutzen bringt; weiß es selbst am allerbesten, daß er damit ganz umsonst sich wie auch die anderen nur ärgert und reizt; er weiß sogar, daß das Publikum, vor dem er sich solche Mühe gibt, seine Familie, ihm schon bis zum Widerwillen zugehört hat, ihm nicht für einen Pfennig glaubt und bei sich denkt, daß er doch anders, einfacher stöhnen könnte, ohne Läufer, Triller und Sprünge, daß er es nur aus Bosheit, aus Schadenfreude tut. Nun, gerade in diesen Erkenntnissen und Qualen liegt ja die Wollust! „Ich beunruhige Euch, zerreiße Euch das Herz, gönne keinem im Hause Schlaf! So wacht denn, bitte, fühlt mal mit, daß meine Zähne schmerzen! Jetzt bin ich für Euch nicht mehr der Held, der ich früher scheinen wollte, sondern einfach ein gemeines Menschlein, ein Chenapan. Nun gut! Freut mich sehr, daß Ihr mich durchschaut! Mein häßliches Gestöhn widert Euch wohl an? Nur zu! werde Euch gleich einen noch häßlicheren Läufer vorstöhnen ...“ Verstehen Sie mich auch jetzt noch nicht, meine Herren? Nein, es scheint doch, daß man sich lange bis zu dem entwickeln und tief in sich selbst versenken muß, um alle Windungen dieser Wollust verstehen zu können. Sie lachen? Freut mich! Meine Späßchen sind vielleicht etwas abgeschmackt, sind uneben, verwirrt und voll von Mißtrauen zu mir selbst. Aber das kommt doch daher, daß ich mich selbst nicht achte! Aber kann denn ein erkennender Mensch sich überhaupt noch irgendwie achten? V. Nun, wie ist es denn möglich, wie kann sich denn ein Mensch auch nur ein wenig achten, wenn er sich verschworen hat, sogar im Gefühl der eigenen Erniedrigung Genuß zu suchen? Nicht aus irgend einer faden Reue sage ich das jetzt. Hab’s überhaupt nie leiden können, zu sagen: „Verzeihen Sie, Papa, ich werde nicht mehr ...“ – nicht etwa, weil ich das nicht sagen konnte, sondern im Gegenteil, vielleicht gerade, weil ich schon allzu schnell bereit war, das zu sagen, und wie noch! Wie absichtlich habe ich mich zuweilen beschuldigt, in Fällen, in denen ich selbst nicht einmal wußte, woran ich eigentlich hätte schuld sein können. Das war ja das Allergemeinste. Und dabei verging ich fast vor Mitleid mit mir selbst; ich bereute und vergoß viele Tränen, und – versteht sich – betrog mich an allen Ecken und Kanten, wenn ich mich auch nicht im geringsten verstellte: das Herz verpfuschte es einfach ... Dabei konnte ich nicht einmal mehr die „Gesetze“ der Natur beschuldigen, obgleich mich doch diese Gesetze der Natur fortwährend und am meisten beleidigten. Widerlich, sich dessen von neuem zu erinnern; es war auch damals widerlich. Denn schon nach einer Minute sagte ich mir, daß alles Lüge ist, ekelhafte, trügerische Lüge – ich meine dieses ewige Bereuen und diese ewigen Vorsätze, sich zu bessern. Fragen Sie mich aber, warum ich mich so wand und quälte? Antwort: weil es schon etwas zu langweilig war, mit gefalteten Händen still zu sitzen, und so ließ ich mich denn auf die Windungen ein. Wahrhaftig, so war’s. Beobachten Sie sich selbst etwas besser, meine Herren, dann werden Sie sehn, daß es so ist. Hab mir Abenteuer ausgedacht und das Leben zurecht gedichtet, um doch wenigstens auf diese Weise zu leben. Wie viel mal ist es nicht vorgekommen, daß ich mich – nun, sagen wir zum Beispiel, gequält habe, ganz einfach ohne jede Ursache, absichtlich. Und ich wußte doch selbst ganz genau, daß ich überhaupt keinen Grund hatte, gekränkt zu sein, hetzte mich auf mich selbst auf. Aber schließlich bringt man es tatsächlich so weit, daß man sich allen Ernstes gekränkt fühlt. Mein ganzes Leben lang habe ich mich auf diese Weise gereizt, so daß ich mich schließlich nicht mehr beherrschen konnte. Einmal wollte ich mich krampfhaft verlieben, sogar zweimal. Hab doch gelitten, meine Herren, versichere Ihnen. Im tiefsten Seelengrund glaubt man’s zwar nicht, daß man leidet, Spott kichert dort versteckt, aber man leidet doch und noch in einer wirklichen, ganz gehörigen Weise; bin eifersüchtig, fahre aus der Haut ... Und alles aus Langeweile, meine Herren, alles aus Langeweile! Die Inertie erdrückte mich. Denn die direkte, gesetzmäßige, unmittelbare Frucht der Erkenntnis, – das ist die Inertie, d. h., das bewußte Hände-im-Schoß-Stillsitzen. Das habe ich auch schon früher erwähnt. Wiederhole es, wiederhole es nachdrücklichst: alle Tatmenschen sind ja nur tätig, weil sie stumpfsinnig und beschränkt sind. Wie das erklären? Ganz einfach: infolge ihrer Beschränktheit nehmen sie die nächsten und zweitrangigen Ursachen für die Urgründe, und so überzeugen sie sich schneller und leichter als die anderen, daß sie eine unwandelbare Basis für ihre Tätigkeit gefunden haben, nun, und geben sich damit zufrieden, – und das ist doch die Hauptsache. Denn um eine Tätigkeit zu beginnen, muß man vorläufig vollständig beruhigt sein, auf daß nicht die geringsten Zweifel mehr übrig bleiben. Nun, wie aber soll z. B. ich mich beruhigen? Wo sind bei mir die Urgründe, auf die ich mich stützen kann, wo die Basis? Woher soll ich sie nehmen? Ich übe mich im Denken und folglich zieht bei mir jeder Urgrund sofort einen anderen, noch älteren, hinter sich her und so geht es weiter bis in die Endlosigkeit. Derart ist eben das Wesen aller Erkenntnis und alles Denkens. Somit sind das also schon wieder die Gesetze der Natur. Und was ergibt sich denn schließlich im Resultat? Ja, ganz dasselbe. Erinnern Sie sich: vorhin sprach ich doch von der Rache. (Sie haben es bestimmt nicht begriffen.) Es heißt: der Mensch rächt sich, weil er darin Gerechtigkeit sieht. Also hat er doch die Basis gefunden, und zwar: die Gerechtigkeit. Also ist er allseitig beruhigt und folglich rächt er sich, da er überzeugt ist, eine ehrliche und gerechte Tat zu vollbringen, ruhig und mit gutem Erfolg. Ich jedoch sehe hierin keine Gerechtigkeit, und eine Wohltat kann ich hierin erst recht nicht entdecken; wollte ich mich aber dann trotzdem noch rächen, so könnte es allenfalls nur aus Bosheit geschehn. Allerdings könnte Bosheit vielleicht alles besiegen, alle meine Zweifel, und somit erfolgreich die Basis ersetzen, gerade weil sie kein Standpunkt ist. Was soll ich aber tun, wenn ich nicht einmal Bosheit habe! – damit begann ich ja vorhin. Infolge dieser verfluchten Gesetze der Erkenntnis unterwirft sich nämlich meine Bosheit der chemischen Zerlegung. Man sieht –: das Ding hebt sich auf, die Vernunftgründe verdunsten, der Schuldige ist nicht zu finden, die Beleidigung bleibt nicht Beleidigung, sondern wird Fatum, etwas in der Art wie Zahnschmerz, an dem niemand schuld ist, und so bleibt wiederum nur der eine Ausweg – etwas fester mit der Faust an die Wand zu schlagen. Nun, da winkt man denn wieder mit der Hand ab, denn man hat doch nicht die Basis gefunden. Versucht man es, läßt man sich von seinem Gefühl blindlings hinreißen, ohne Erwägungen, ohne Begründungen, verjagt man die Erkenntnis wenigstens für diese Zeit; ergibt man sich dem Haß oder ergibt man sich der Liebe, nur um nicht mit gefalteten Händen stillzusitzen: – Übermorgen, das ist die letzte Frist, wirst Du anfangen, Dich selbst zu verachten, dafür, daß Du Dich selbst wissentlich betrogen hast! Im Resultat: eine Seifenblase und Inertie. Oh, meine Herren, ich, vielleicht halte ich mich nur deswegen für einen klugen Menschen, weil ich in meinem ganzen Leben nichts habe weder beginnen noch beenden können. Schön, gut, möge ich ein Schwätzer sein, ein unschädlicher, langweiliger Schwätzer, wie wir alle. Aber was soll man denn machen, wenn die einzige und direkte Bestimmung jedes klugen Menschen – schwatzen ist, d. h. mit vollem Bewußtsein leeres Stroh dreschen? VI. Oh, wenn ich doch aus _Faulheit_ nichts getan hätte! Herrgott, wie würde ich mich dann achten! Würde mich gerade deswegen achten, weil ich dann doch fähig wäre, wenigstens faul zu sein! Dann hätte ich doch wenigstens eine Eigenschaft, eine positive Eigenschaft, von der ich dann auch selbst überzeugt sein könnte. Man fragt: was ist das für einer? Antwort: ein Faulpelz. Aber ich bitt’ Sie, meine Herren, das wäre doch über alle Maßen angenehm von sich zu hören. Also bin ich dann doch positiv bezeichnet, klassifiziert, es gibt also etwas, was man von mir sagen kann. „Ein Faulpelz!“ – aber das ist doch eine Benennung, eine Bestimmung, das ist ja eine Karriere, ich bitt’ Sie! Scherz bei Seite, das ist so. Dann bin ich rechtmäßiges Mitglied des ersten Klubs der Welt und beschäftige mich ausschließlich mit der Hochachtung meiner selbst. Ich kannte einen Herrn, der sein Leben lang nichts anderes tat, als darauf stolz sein, daß er sich auf Weinsorten verstand. Er hielt das für eine positive Würde und zweifelte nie an sich. Er starb nicht nur mit einem ruhigen, sondern mit einem wahrhaft triumphierenden Gewissen und war auch vollkommen im Recht. Ich aber hätte mir dann eine Karriere gewählt – oh! – ich wäre Faulpelz und Vielfraß geworden! – doch kein gewöhnlicher etwa, sondern einer, der, sagen wir, mit allem Schönen und Hohen sympathisiert. Hm! Wie gefällt Ihnen das? Ich habe mir das schon lange ausgemalt. Dieses „Schöne und Hohe“ hat mir in den vierzig Jahren doch arg auf dem Puckel gelegen; jetzt aber bin ich schon vierzig; doch wenn ich damals – oh, dann wäre jetzt alles ganz anders! Ich hätte mir sofort eine entsprechende Lebensaufgabe gewählt, nämlich: auf die Gesundheit alles Schönen und Hohen zu trinken. Ich würde jede gebotene Gelegenheit ergriffen haben, um zuerst in meinen Pokal eine Träne zu träufeln und ihn dann auf’s Wohl alles Schönen und Hohen hinabzustürzen. Alles auf der Welt würde ich dann in Schönes und Hohes verwandelt, und selbst im gemeinsten Schmutz würde ich Schönes und Hohes gefunden haben. Tränenreich wäre ich geworden wie ein nasser Schwamm. Zum Beispiel –: ein Künstler hat ein Bild gemalt: sofort trinke ich auf die Gesundheit dieses Künstlers, denn ich liebe alles Schöne und Hohe. Ein Schriftsteller hat „Einerlei was“ verfaßt, und sofort trinke ich auf das Wohl „Einerlei wessen“, denn ich liebe „alles Schöne und Hohe“. – Achtung würde ich deswegen für mich heischen, würde jeden verfolgen, der mir dafür keine Achtung zollt! Lebe ruhig, sterbe triumphierend, – ja, aber das ist doch herrlich, einfach herrlich! Und was für einen Schmeerbauch ich mir dann anlegen würde, und welch ein dreifaches Doppelkinn, von der Leuchtkraft der Nase schon gar nicht zu reden! Jeder, der mir begegnet, würde bei meinem Anblick sagen: „Donnerwetter, das ist aber ein Plus! Das ist mal was Positives!“ Sagen Sie was Sie wollen, meine Herren, aber solche Bemerkungen sind doch in unserem negativen Jahrhundert ungemein schmeichelhaft zu hören, ungemein schmeichelhaft! VII. Doch das sind ja alles bloß goldene Träume. Wissen Sie vielleicht, wer es zum ersten Mal gesagt hat, daß der Mensch nur deswegen Gemeinheiten begehe, weil er seine wahren Interessen nicht kenne, und daß, wenn man ihm seine wirklichen normalen Interessen erklären könnte, er sofort aufhören würde, Gemeinheiten zu begehen, denn einmal aufgeklärt über seinen Vorteil, würde er natürlich nur im Guten seinen Vorteil finden – bekanntlich aber könne kein einziger Mensch wissentlich gegen seinen eigenen Vorteil handeln, – folglich würde er sozusagen gezwungener Weise immer nur Gutes tun? Oh Säugling, der du das gesagt! Oh reines, unschuldiges Kindlein! Wann ist es denn jemals in den vergangenen Jahrhunderten geschehen, daß der Mensch einzig und allein nur um des eigenen Vorteils willen seine Taten vollbracht hat? Was mit all diesen Millionen von Fakten anfangen, die da bezeugen, daß die Menschen _wissentlich_, d. h. bei vollem Verständnis für ihre wirklichen Vorteile, letztere doch zurücksetzten und sich auf einen anderen Weg begaben, aufs geratewohl, in die Gefahr, von niemandem und durch nichts dazu gezwungen, sondern als ob sie gerade die Vorteile verschmähten, und eigensinnig und verstockt womöglich das Gegenteil suchten? Das zeigt doch, daß ihnen dieser Eigensinn und Eigenwille lieber waren, als der eigene Vorteil ... Vorteil! Was ist Vorteil? Wollen Sie es vielleicht übernehmen, ganz genau zu erklären, zu bestimmen, worin der Vorteil des Menschen besteht? Wie aber, wenn es einmal vorkommen sollte, daß sich das Schlechtere wünschen und nicht das Vorteilhaftere, nicht nur der Vorteil des Menschen sein kann, sondern wirklich und wahrhaft ist? Wird aber einmal die Möglichkeit dieses Falles zugegeben, so ist sofort diese ganze Regel aufgehoben. Was meinen Sie, meine Herren, kann es solch einen Fall geben oder nicht? Sie lachen! Nun, lachen Sie meinetwegen, aber antworten Sie nur: sind denn die Vorteile des Menschen auch wirklich richtig festgesetzt und sind sie denn auch alle aufgezählt? Gibt es nicht auch solche, die nicht nur noch nicht klassifiziert sind, sondern sich überhaupt nicht klassifizieren lassen? Sie haben doch, meine Herren, soviel ich weiß, Ihr ganzes Register der menschlichen Vorteile als Durchschnittssumme aus den statistischen Zahlen und wissenschaftlich-praktischen Formeln genommen. Ihre Vorteile sind doch: Glück, Reichtum, Freiheit, Ruhe, nun, u. s. w., u. s. w., so daß, zum Beispiel, der Mensch, der offenbar und wissentlich gegen dieses ganze Register handelt, nach Ihrer Meinung, nun ja, und selbstverständlich auch nach meiner, ein Obskurant oder ein vollkommen Verrückter ist, nicht wahr? Aber bei alledem ist doch eines wunderlich: woher kommt es, daß diese sämtlichen Statistiker, Weisen, Menschenfreunde beim Aufzählen der menschlichen Vorteile beständig einen Vorteil übergehen? Sie nehmen ihn nicht einmal in ihre Liste auf, wenigstens nicht in der Weise, wie er aufgenommen werden müßte, von ihm aber hängt doch die ganze Rechnung ab! Nun, das wäre ja weiter nicht schlimm, man könnte diesen Vorteil nehmen und ihn einfach auf der Liste hinzufügen. Doch darin besteht ja das ganze Malheur, daß dieser eigentümliche Vorteil sich überhaupt nicht klassifizieren läßt und man ihn auch auf keiner einzigen Liste unterbringen kann! Ich habe z. B. einen Freund ... Ach, meine Herren, er ist ja bestimmt auch Ihr Freund, und überhaupt – wessen Freund ist er denn nicht!? Wenn sich nun dieser Freund an eine Sache macht, wird er Ihnen sofort redselig klar und deutlich auseinandersetzen, wie er nach den Gesetzen der Vernunft und Wahrheit handeln muß. Ja, er wird Ihnen sogar aufgeregt und leidenschaftlich viel von den wahren und normalen Interessen der Menschen erzählen; wird spöttelnd die kurzsichtigen Dummköpfe tadeln, die weder ihre Vorteile noch die wahre Bedeutung der Wohltat erkennen und – genau nach einer Viertelstunde ohne jede plötzliche äußere Veranlassung, sondern gerade aus irgend etwas Innerlichem, das stärker ist, als alle seine Interessen, wird er plötzlich ein ganz anderes Lied pfeifen, d. h. wird offen gegen alles vorgehen, was er selbst gesagt hat: gegen die Gesetze der Vernunft, gegen den eigenen Vorteil, mit einem Wort, gegen alles ... Doch – Sie wissen es ja selbst – mein Freund ist eine Kollektivperson und darum – ihn allein beschuldigen, hm, geht nicht gut an. Das ist es ja, meine Herren: gibt es denn wirklich nicht etwas, das fast jedem Menschen teurer ist, als seine besten Vorteile? Oder sagen wir – um die Logik nicht zu zerstören –: es gibt solch einen allervorteilhaftesten Vorteil, der aber in allen Vorteilsverzeichnissen beständig ausgelassen wird, einen Vorteil, der wichtiger und größer ist, als alle anderen Vorteile, und für den der Mensch bereit ist, wenn’s darauf ankommt, allen anerkannten Vorteilen, allen Gesetzen zuwider zu handeln, also gegen Vernunft, Ehre, Ruhe, Glück u. s. w. zu handeln, kurz, gegen alle diese guten und schönen Dinge, – nur um diesen größten, vorteilhaftesten Vorteil, der ihm am teuersten ist, zu haben. „Aber es ist doch immerhin ein Vorteil!“ unterbrechen Sie mich. Warten Sie, ich werde es noch erklären! Mir ist es nicht um einen Kalauer zu tun, sondern um den Beweis, daß dieser Vorteil gerade deswegen bemerkenswert ist, weil er alle Ihre Klassifikationen der Vorteile zerstört, und alle Systeme, die von den Menschenfreunden zur Erreichung des vollen Erdenglücks aufgestellt werden, einfach unmöglich macht. Bevor ich jedoch diesen Vorteil nenne, will ich mich noch persönlich kompromittieren, und darum erkläre ich jetzt dreist, daß alle diese schönen Systeme, alle diese Theorien – die den Menschen ihre wahren und normalen Interessen erklären wollen, auf daß sie dann gezwungen nach der Erfüllung derselben streben und somit gut und edel werden – meiner Meinung nach nichts als Logistik sind! Ja, – Logistik! Denn diese Theorie der Erneuerung der ganzen Menschheit mittels des Systems ihrer Vorteile bejahen, das ist doch fast dasselbe, wie ... nun, wie z. B. nach Buckle behaupten, der Mensch würde durch die Kultur weicher, folglich weniger blutdürstig und immer unfähiger zum Kriege. Nach der Logik, glaube ich, kommt er zu diesem Folgeschluß. Der Mensch aber hat solch eine Vorliebe für das System und den abstrakten Folgeschluß, daß er bereit ist, die Wahrheit absichtlich zu entstellen, bereit, mit den Augen nicht zu sehen, mit den Ohren nicht zu hören, nur damit seine Logik recht behält. Aber so öffnen Sie doch Ihre Augen, meine Herren, und blicken Sie um sich! Das Blut fließt in Strömen und dazu noch in einer so kreuzfidelen Weise, als ob’s Champagner wäre. Nehmen Sie doch unser ganzes neunzehntes Jahrhundert, in dem auch Herr Buckle gelebt hat: da haben Sie Napoleon – den Großen und den Dritten; da haben Sie Nord-Amerika – die ewige Union; da haben Sie endlich das karikaturhafte Schleswig-Holstein ... Und jetzt sagen Sie mir bitte, worin uns denn die Kultur weicher macht? Die Kultur arbeitet im Menschen nur die Vielseitigkeit der Empfindung aus und ... das ist alles, was sie tut. Und gerade durch die Entwicklung dieser Vielseitigkeit wird der Mensch schließlich auch im Blutvergießen Genuß finden. Er tut es ja schon jetzt. Ist es Ihnen nicht aufgefallen, daß die raffiniertesten Blutvergießer fast ausnahmslos die zivilisiertesten Menschen gewesen sind, Menschen, mit denen sich solche wie Attila oder Stenjka Rasin[2] überhaupt nicht vergleichen können, und wenn sie nicht so bekannt sind wie Attila oder Stenjka Rasin, so kommt das nur daher, weil sie viel zu häufig vorkommen, viel zu gewöhnlich sind, so daß man ihrer schon überdrüssig geworden ist. Jedenfalls ist der Mensch durch die Zivilisation, wenn nicht blutdürstiger, so doch gewiß schlechter, gemeiner blutdürstig geworden, als er es früher war. Früher sah er im Blutvergießen Gerechtigkeit und vernichtete mit ruhigem Gewissen einen jeden, den er seiner Meinung nach vernichten mußte; jetzt jedoch vergießen wir weit mehr Menschenblut, obgleich wir es schon längst für eine Gemeinheit halten. Welch ein Blutvergießen ist nun schlechter? Urteilen Sie selbst. Man sagt, Kleopatra – Verzeihung für das Beispiel aus der Alten Geschichte – habe es geliebt, goldene Stecknadeln in die Brüste ihrer Sklavinnen zu stecken, und habe an deren Gestöhn und Geschrei Genuß gefunden. Sie werden sagen, daß das in, relativ gesprochen, barbarischen Zeiten geschehen ist, daß wir auch jetzt noch in barbarischen Zeiten leben, denn – wiederum relativ gesprochen – auch jetzt stecke man Stecknadeln, und daß der Mensch auch jetzt noch, wenn er auch schon gelernt habe, in manchen Dingen klarer zu sehen als in barbarischen Zeiten, sich doch noch lange nicht gewöhnt hätte, so zu handeln, wie es ihn die Vernunft und die Wissenschaften lehrten. Doch immerhin sind Sie, meine Herren, vollkommen überzeugt, daß er sich _bestimmt_ daran gewöhnen _wird_, in Zukunft, wenn auch die letzten alten, dummen Angewohnheiten ganz vergessen sein werden, und wenn die gesunde Vernunft nebst der Wissenschaft die menschliche Natur vollständig umerzogen und auf den einzig richtigen Weg gelenkt haben werden. Sie sind überzeugt, daß der Mensch dann von selbst aufhören wird, freiwillig Fehler zu begehen, und seinen Willen seinen normalen Interessen sozusagen unwillkürlich nicht mehr entgegensetzen wird. Ja, Sie sagen sogar noch: dann wird die Wissenschaft selbst den Menschen belehren – wenn das meiner Meinung nach auch schon Luxus ist – und ihm sagen, daß er weder Wille noch Eigensinn in Wirklichkeit besitzt noch je besessen hat, und daß er selbst nichts mehr ist, als etwas in der Art einer Klaviertaste oder eines Drehorgelstiftes, und daß auf der Welt außerdem noch Naturgesetze vorhanden sind: so daß alles, was er auch tun mag, nicht durch seinen Wunsch oder Willen getan wird, sondern ganz von selbst geschieht, einfach nach den Gesetzen der Natur. Folglich braucht man dann nur diese Gesetze der Natur zu entdecken und sofort wird der Mensch für seine Handlungen nicht mehr verantwortlich sein, und ein ungemein leichtes Leben beginnen können. Versteht sich – alle menschlichen Handlungen werden dann nach diesen Gesetzen mathematisch in der Art der Logarithmentafeln bis 108 000 berechnet und in einen Kalender eingetragen werden. Oder, noch besser, es werden einige wohlgemeinte Bücher erscheinen, etwa wie die jetzigen encyclopädischen Lexica, in denen dann alles so genau ausgerechnet und bezeichnet ist, daß auf der Welt hinfort weder Taten noch Abenteuer mehr vorkommen werden. Dann also – das sind immer noch Ihre Meinungen, meine Herren – werden die neuen ökonomischen Verhältnisse beginnen, vollkommen ausgearbeitete und gleichfalls mit mathematischer Genauigkeit berechnete, so daß im Handumdrehen alle Fragen verschwinden werden, – eigentlich nur aus dem Grunde, weil man sonst die verschiedensten Antworten auf dieselben erhielte. Dann wird ein Kristall-Palast gebaut werden, dann ... Nun, mit einem Wort, dann wird der Märchenvogel angeflogen kommen. Natürlich kann man nicht garantieren, – jetzt rede ich wiederum von mir aus –, daß es dann z. B. nicht furchtbar langweilig sein wird – denn was soll man noch machen, wenn alles schon berechnet ist? – dafür wird es aber ungemein vernünftig sein. Aber was denkt man sich nicht alles aus Langeweile aus! Die goldenen Nadeln wurden doch auch aus Langeweile gesteckt, und davon noch gar nicht zu reden! Gemein ist nämlich nur, daß man sich dann der Stecknadeln womöglich noch freuen wird. Denn der Mensch ist doch dumm, phänomenal dumm! Das heißt, wenn er auch durchaus nicht dumm ist, so ist er doch so undankbar, daß man etwas Undankbareres mit der Laterne suchen kann und doch nicht finden wird. Z. B. würde es mich nicht im geringsten wundern, wenn sich dann mir nichts, dir nichts inmitten der allgemeinen zukünftigen Vernünftigkeit plötzlich irgend ein Gentleman vor uns aufstellt, die Hände in die Seiten stemmt und mit spöttischer Physiognomie uns allen sagt: „Nun wie, meine geehrten Anwesenden, sollten wir nicht diese ganze Vernünftigkeit mit einem Fußtritt zertrümmern, auf daß alle diese verfluchten Logarithmen zum Teufel gehen und wir wieder nach unserem törichten Willen leben können!?“ Das wäre ja schließlich noch nicht so schlimm, aber kränkend ist nur, daß er doch zweifellos – was sage ich! – _unbedingt_ Gesinnungsgenossen finden wird. Der Mensch ist nun einmal so geschaffen. Und er würde es aus dem nichtigsten Grunde, den zu erwähnen es sich überhaupt nicht lohnen sollte, tun: weil der Mensch, wer er auch sei, immer und überall so zu handeln liebt, wie er will, und durchaus nicht so, wie es ihm Vernunft und Vorteil befehlen. Wollen aber kann man auch gegen seinen eigenen Vorteil und zuweilen _muß_ man es sogar _unbedingt_ – das ist schon so meine Idee. Sein eigenes, freies Wollen, seine eigenen, meinetwegen dümmsten Launen, seine Phantasie, die zuweilen selbst bis zur Verrücktheit aufgeschraubt sein mag – das, gerade das ist ja dieser auf keiner einzigen Liste vermerkte vorteilhafteste Vorteil, der sich unmöglich klassifizieren läßt und durch den alle Systeme und Theorien sofort zum Teufel gehen. Woher wissen es denn diese Weisen, daß der Mensch irgend ein normales, irgend ein edles Wollen braucht? Wie kommen Sie darauf, sich skrupellos einzubilden, daß der Mensch unbedingt ein vernünftig-vorteilhaftes Wollen nötig hätte? Der Mensch braucht einzig und allein _selbständiges_ Wollen, was diese Selbständigkeit auch kosten und wohin sie auch führen mag. Aber das Wollen – weiß der Teufel ... VIII. „Hahaha! Aber das Wollen, das gibt es ja in Wirklichkeit überhaupt nicht!“ unterbrechen Sie mich lachend. „Die Wissenschaft hat den Menschen heute schon so anatomiert, daß, wie wir wissen, das Wollen und der sogenannte freie Wille nichts anderes sind, als ...“ Warten Sie, meine Herren, ich wollte ja selbst damit anfangen! Ich muß gestehen, ich erschrak sogar, als mir das einfiel. Ich wollte gerade ausrufen, daß das Wollen weiß der Teufel wovon abhängt, und daß wir dafür meinetwegen Gott danken können, aber da fiel mir plötzlich die Wissenschaft ein und ... da unterbrachen Sie mich auch schon. Nun, sagen wir, daß man einmal wirklich die Formel aller unserer Wünsche und Launen findet, ich meine, wovon sie abhängig sind, nach welchen Gesetzen sie eigentlich entstehen, wie sie sich verbreiten, wohin sie in diesem oder jenem Falle streben u. s. w., kurz, die richtige mathematische Formel, – so wird doch der Mensch dann sofort womöglich aufhören, zu wollen, ja, er wird sogar bestimmt aufhören, noch weiter zu wollen. Was ist denn das für ein Vergnügen, nach dem Kalender zu wollen? Und das wäre ja noch nicht alles: er verwandelt sich doch sofort aus einem Menschen in einen Drehorgelstift, oder etwas derartiges; denn was ist der Mensch ohne Wünsche, ohne Willen anderes, als ein Stiftchen an der Drehorgelwalze? Was meinen Sie dazu? Untersuchen wir die Wahrscheinlichkeiten, – kann das geschehen oder nicht? „Hm! ...“ entscheiden Sie, – „unser Wollen ist infolge der fehlerhaften Auffassung unserer Vorteile größtenteils fehlerhaft. Darum wollen wir auch zuweilen reinen Blödsinn, weil wir infolge unserer Dummheit in diesem Blödsinn den leichtesten Weg zur Erreichung irgend welches vermeintlichen Vorteils sehen. Wenn aber alles erklärt, schwarz auf weiß ausgerechnet sein wird, – was keineswegs unmöglich ist, denn es wäre doch sinnlos und gemein, schon im voraus zu glauben, daß der Mensch gewisse Naturgesetze niemals erfahren könnte –, so wird es dann selbstverständlich diese sogenannten Wünsche nicht mehr geben. Denn wenn sich das Wollen einmal mit der Vernunft vereint haben wird, so werden wir dann eben vernunftgemäß denken, nicht aber wollen, und zwar einfach aus dem Grunde nicht, weil man doch z. B. bei voller Vernunft nicht Blödsinn _wollen_ und somit bewußt gegen seine Vernunft handeln und sich Nachteiliges wünschen kann ... Da man aber alle Wünsche und Gedanken tatsächlich einmal berechnet haben wird, denn irgend einmal wird man doch die Gesetze unseres sogenannten freien Willens entdecken, so wird es folglich doch zu so etwas in der Art einer Tabelle kommen, so daß wir dann auch ^in facto^ nach dieser Tabelle wollen werden. Denn wenn man mir vorrechnet und beweist, daß ich, wenn ich irgend jemandem eine lange Nase gezeigt, dieses ausschließlich getan habe, weil ich sie unbedingt gerade so, mit genau solch einer Grimasse habe zeigen müssen, so möchte ich bloß wissen, was nach dem noch _Freies_ in mir übrig bleibt, besonders wenn ich Gelehrter bin und irgendwo den Kursus der Wissenschaften beendet habe? Dann kann ich ja mein Leben auf ganze dreißig Jahre vorausberechnen. Mit einem Wort, wenn es einmal dazu kommt, so wird doch nichts mehr daran zu ändern sein; man wird es einfach annehmen müssen. Ja, und überhaupt müssen wir uns unermüdlich immer wieder sagen, daß die Natur uns dann und dann, sagen wir im Augenblick, da wir die lange Nase unter diesen oder jenen Umständen zeigen, nicht erst nach unserem Willen fragt; wir müssen sie so nehmen, wie sie ist, nicht aber so, wie wir sie uns vorstellen, und wenn wir wirklich nach der Tabelle und dem Kalender streben, nun und ... wenn auch meinetwegen zur Retorte, so – was ist denn dabei zu machen, – so müssen Sie auch die Retorte annehmen! Andernfalls wird sie eben ohne Sie angenommen ...“ Wunderbar, aber gerade hier liegt meiner Meinung nach der Haken! Meine Herren, Sie werden mir verzeihen, daß ich mich von der Philosophie habe fortreißen lassen; in ihr liegen vierzig Jahre Dunkel! Da können Sie mir doch erlauben, zu phantasieren. Sehen Sie mal: die Vernunft, meine Herren, ist eine gute Sache, das wird niemand bestreiten, aber die Vernunft ist und bleibt nur Vernunft, und befriedigt nur den Geist des Menschen; das Wollen dagegen ist die Offenbarung des ganzen Lebens, d. h. des ganzen menschlichen Lebens mit allem, was drum und dran ist. Und wenn sich auch unser Leben in dieser Offenbarung oftmals als ein lumpiges Ding erweist, so ist es doch immerhin Leben und nicht nur ein Ausziehen von Quadratwurzeln. Denn ich z. B. will doch ganz natürlicher Weise leben, um meine ganze Lebensfähigkeit zu befriedigen, nicht aber, um bloß meiner Vernunft Genüge zu tun, also irgend einem zwanzigsten Teil meiner ganzen Lebensfähigkeit. Was weiß denn die Vernunft? Die Vernunft weiß nur das, was sie bereits erfahren hat – anderes wird sie überhaupt nie wissen: das ist zwar kein Trost, doch warum soll man es denn nicht aussprechen? –, die menschliche Natur jedoch handelt stets als Ganzes, mit allem, was in ihr ist, bewußt und unbewußt, und wenn sie auch lügt, so lebt sie doch. Ich argwöhne, meine Herren, daß Sie mich jetzt gewissermaßen bemitleiden; Sie wiederholen mir, daß es für einen gebildeten und entwickelten Menschen, kurz, für einen Menschen, wie wir ihn im zukünftigen Typ haben werden, unmöglich sein wird, wissentlich sich etwas für sich unvorteilhaftes zu wünschen, – daß dieses mathematisch klar sei. Bin vollkommen einverstanden mit Ihnen, meine Herren, gebe zu, daß es tatsächlich mathematisch klar ist. Doch trotzdem sage ich Ihnen zum hundertsten Mal: es gibt solch einen Fall, nur einen einzigen, in dem sich der Mensch wissentlich, absichtlich sogar Schädliches, Dummes, ja sogar Allerdümmstes wünschen kann, und zwar: um das _Recht zu haben_, sich sogar das Dümmste wünschen zu können, und nicht durch die Pflicht, sich einzig und allein nur Kluges wünschen zu müssen, gebunden zu sein. Gerade dieses „Allerdümmste“, diese seine Laune kann ja doch, meine Herren, für unsereinen in der Tat das Vorteilhafteste von allem sein, was es auf der Welt gibt, und das besonders noch in gewissen Fällen. Und mitunter kann es sogar vorteilhafter als alle Vorteile selbst in solch einem Falle sein, wenn es uns augenscheinlich Schaden bringt und unseren allergesündesten Vernunftschlüssen über die Vorteile widerspricht, – denn es erhält uns doch jedenfalls das Hauptsächlichste und Teuerste: unsere Persönlichkeit, unsere Individualität. Behaupten doch schon einige Philosophen, daß dieses für den Menschen wirklich das Teuerste sei; das Wollen kann sich natürlich, wenn es will, auch mit der Vernunft vereinigen, besonders wenn man sie nicht mißbraucht, sondern sich ihrer gemäßigt bedient; das ist dann auch ganz nützlich und zuweilen sogar lobenswert. Nun ist aber das Wollen sehr häufig, ja, sogar größenteils vollkommen und eigensinnig anderer Meinung, wie die gesunde Vernunft, und ... und ... und wissen Sie auch, daß auch das nützlich und zuweilen sogar lobenswert ist? Meine Herren, nehmen wir an, daß der Mensch nicht dumm ist ... Das kann man ja auch wirklich nicht von ihm sagen, denn sonst erhebt sich sofort die Frage, wer denn eigentlich klug sein soll? ... Doch wenn er auch nicht dumm ist, so ist er doch – ungeheuer undankbar! Ganz phänomenal undankbar! Ich glaube sogar, daß die beste Bezeichnung des Menschen sein würde: ein Wesen, das auf zwei Beinen steht und undankbar ist. Doch das ist noch nicht so schlimm; das ist noch nicht sein Hauptfehler; sein Hauptfehler ist – seine fortwährende, beständige Unsittsamkeit, angefangen von der Sintflut bis zur Schleswig-Holsteinschen Periode der Menschenschicksale. Ja, Unsittsamkeit, folglich aber auch Unvernunft; denn es ist doch schon längst bekannt, daß Unvernunft nicht anders entsteht, als durch Unsittsamkeit. Versuchen Sie es, werfen Sie einen Blick auf die Geschichte der Menschheit: nun, was? Großartig – wie? Meinetwegen auch großartig; allein schon der Koloß von Rhodos, was der wert ist! Nicht umsonst sagen die einen von ihm, er sei ein Werk von Menschenhand, die anderen aber, er wäre von der Natur selbst geschaffen worden. – Oder finden Sie sie bunt? Nun, meinetwegen auch bunt: wollte man bloß die Paradeuniformen der Militärs und Staatsleute nach den Jahrhunderten und den Nationen klassifizieren, – welch eine Heidenarbeit wäre schon das allein, und dabei wären die Mäntel noch nicht einmal mitgerechnet, – kein Historiker würde das fertig stellen. – Oder einförmig? Nun, meinetwegen auch einförmig: sie raufen sich, und raufen sich, und raufen sich jetzt und haben sich früher gerauft und haben sich später gerauft und werden sich auch noch hinfort raufen – Sie müssen mir doch zugeben, nicht wahr, daß das denn doch schon verboten einförmig ist! Kurz, man kann alles über die Weltgeschichte sagen, alles, was der hirnverbranntesten Einbildungskraft einfällt. Nur eines kann man nicht sagen, nämlich: daß sie vernünftig wäre. Sie würden bei der ersten Silbe stecken bleiben und das Hüsteln kriegen. Und dabei stößt man noch bei jeder Gelegenheit auf folgendes Naturspiel: fortwährend erscheinen im Leben solche sittsame und vernünftige und weise Leute, und Freunde des Menschengeschlechts, die es sich zum Ziel setzen, ihr ganzes Leben lang sich möglichst sittsam und vernünftig zu benehmen, gleichsam um mit ihrer Person den lieben Nächsten eine Leuchte zu sein, und das eigentlich nur, um ihnen zu beweisen, daß man in der Welt tatsächlich sowohl sittsam als vernünftig leben kann. Und? Bekanntlich aber sind viele dieser Menschheitsfreunde früher oder später oder vielleicht auch erst am späten Lebensabend sich nicht treu geblieben und haben irgend so ein Geschichtchen gemacht, zuweilen sogar eines, das zu den allerunsittsamsten gehört. Jetzt frage ich Sie: was kann man nun von einem Menschen, als von einem Wesen, das mit solchen sonderbaren Eigenschaften bedacht ist, erwarten? Überschütten Sie ihn mit allen Erdengütern, versenken Sie ihn in Glück bis über die Ohren, bis über den Kopf, so daß auf der Oberfläche des Glücks wie auf dem Wasserspiegel nur noch Blasen aufsteigen, geben Sie ihm solch ein pekuniäres Auskommen, daß ihm nichts anderes zu tun übrig bleibt, als zu schlafen, Pfefferkuchen zu vertilgen und für das Nichtaussterben der Menschheit zu sorgen, – so wird er, dieser selbe Mensch, Ihnen doch auf der Stelle aus bloßer Undankbarkeit, einzig zu Ihrer Schmach und Schande einen Streich spielen. Er wird sogar die Pfefferkuchen aufs Spiel setzen und sich vielleicht den verderblichsten Blödsinn wünschen, den allerunökonomischsten Blödsinn, einzig um in diese ganze positive Vernünftigkeit sein verderbliches, phantastisches Element hineinzumischen. Gerade seine phantastischen Gedanken, seine gemeinste Dummheit wird er behalten wollen, und zwar ausschließlich zu dem Zweck, um sich selbst zu beweisen – ganz als ob das weiß Gott wie nötig wäre –, daß die Menschen immer noch Menschen sind, und nicht Klaviertasten, auf denen meinetwegen die Naturgesetze eigenhändig spielen mögen, dafür aber doch drohen, sich dermaßen einzuspielen, daß man allseits vom Kalender überhaupt nichts mehr wird wünschen oder wollen dürfen. Und nicht genug damit: selbst wenn er sich wirklich nur als Klaviertaste erweisen sollte, und wenn man ihm das sogar wissenschaftlich und mathematisch beweisen würde, selbst dann würde er nicht Vernunft annehmen, und noch zum Trotz absichtlich etwas Unheilvolles machen, natürlich nur aus purer Undankbarkeit, und eigentlich nur, um auf dem Seinen zu bestehn. Falls sich aber bei ihm keine Mittel, keine Möglichkeiten dazu erweisen sollten, so würde er sich Zerstörung und Chaos ausdenken, würde sich womöglich selbst Qualen ausdenken, aber doch auf dem Seinen eigensinnig bestehn! Flüche würde er über die Welt ausschütten! Da aber nur der Mensch allein fluchen kann – das ist nun schon einmal sein Privilegium, eines, das ihn vorzugsweise von den anderen Tieren unterscheidet –, so wird er doch mit diesem Fluch allein erreichen, was er will, d. h. wird sich tatsächlich überzeugen, daß er ein Mensch und keine Klaviertaste ist. Wenn Sie sagen, man könne auch dieses nach der Tabelle ausrechnen, Chaos, Finsternis und Fluch, so daß schon die bloße Möglichkeit der vorherigen Berechnung alles stocken macht und die Vernunft dann das Ihre nimmt, – so wird der Mensch sich ja womöglich verrückt machen, um keine Vernunft mehr zu haben und somit doch auf dem Seinen bestehn zu können. Daran glaube ich fest, dafür stehe ich ein, denn genau genommen besteht doch das ganze menschliche Tun, wie’s scheint, bloß darin, daß der Mensch sich immerwährend beweist, daß er ein Mensch ist und kein Stiftchen! Und wenn er es auch selbst ausbaden muß, aber beweisen will er’s, einerlei womit, aber beweisen, beweisen! Wenn das aber wahr ist, wie soll man dann nicht sündigen, nicht Gott danken, daß dieses noch nicht eingeführt ist und das Wollen vorläufig noch weiß der Teufel wovon abhängt!? Sie schreien mir zu – wenn Sie mich überhaupt noch Ihres Schreiens würdigen –, daß mir doch niemand den Willen entziehe, daß man ja hierbei nur eines im Auge hätte, nämlich: es irgendwie so zu machen, daß mein Wille ganz von selbst, freiwillig mit meinen normalen Interessen zusammenfiele, mit den Gesetzen der Natur und Arithmetik. Ach, meine Herren, was kann es denn da noch für einen eigenen Willen geben, wenn die Sache schon bis zur Tabelle und bis zur Arithmetik kommt, wenn nur noch Zweimalzwei = vier im Gange ist? Zweimalzwei wird auch ohne meinen Willen vier sein. Sieht denn freier Wille etwa so aus? IX. Meine Herren, ich scherze natürlich nur, und ich weiß es ja selbst, daß ich erfolglos scherze, aber man kann doch wirklich nicht alles für Scherz nehmen. Ich scherze, während ich vielleicht mit den Zähnen knirsche. Meine Herren, mich quälen viele Fragen; beantworten Sie sie mir. Sie wollen z. B. den Menschen von seinen alten Angewohnheiten abbringen und seinen Willen den Erkenntnissen der Wissenschaft und der gesunden Vernunft gemäß verbessern. Woher aber wissen Sie, ob es nicht nur möglich, sondern überhaupt _nötig_ ist, den Menschen so zu verbessern? Woraus schließen Sie, daß das menschliche Wollen der Verbesserung so notwendig bedarf? Mit einem Wort, woraus schließen Sie, daß solch eine Verbesserung dem Menschen wirklich vorteilhaft sein wird? Und – da ich Sie schon einmal frage – warum sind Sie so _vollkommen_ überzeugt, daß den wahren, normalen Vorteilen, die durch die Schlüsse der gesunden Vernunft und Arithmetik garantiert werden, _nicht_ zuwiderhandeln, für den Menschen immer wirklich vorteilhaft, und der ganzen Menschheit durchaus Gesetz sei? Das ist doch vorläufig nur Ihre bloße Annahme. Nun schön, nehmen wir an, daß es die Gesetze der Logik sind, so sind es doch allein deswegen vielleicht noch längst nicht Gesetze der Menschheit. Sie glauben vielleicht, meine Herren, daß ich verrückt bin? Erlauben Sie, daß ich mich rechtfertige. Also gut: der Mensch ist ein vornehmlich schöpferisches Tier, das verurteilt ist, bewußt nach einem Ziel zu streben, und sich ewig und ununterbrochen einen Weg zu bahnen, wenn auch _einerlei wohin_. Nun aber will er sich vielleicht gerade deswegen zuweilen aus dem Staube machen, sich abseits in die Büsche schlagen, weil er dazu _verurteilt_ ist, sich diesen Weg zu bahnen, und meinetwegen auch noch aus dem anderen Grunde, weil ihm, wie dumm der unmittelbare Tatmensch im allgemeinen auch sein mag, zuweilen doch der Gedanke kommt, daß dieser Weg, wie es sich erweist, fast immer _einerlei wohin_ führt, und daß die Hauptsache durchaus nicht ist, _wohin_ er führt, sondern, daß er überhaupt nur führt, auf daß sich das sittsame Menschlein nicht dem verderblichen Müßiggang ergebe, der, wie allgemein bekannt, aller Laster Anfang ist. Der Mensch liebt, zu schaffen und Wege zu bahnen, das steht fest. Warum aber liebt er bis zur Leidenschaft gleichfalls die Zerstörung und das Chaos? Bitte, meine Herren, beantworten Sie mir doch diese Frage! Aber darüber will ich ganz gern selbst ein paar Worte sagen. Liebt er Zerstörung und Chaos vielleicht deswegen so sehr – denn es ist doch klar, daß er sie zuweilen ganz ungewöhnlich liebt, das ist schon so –, weil er sich instinktiv fürchtet, das Ziel zu erreichen, das zu schaffende Gebäude zu vollenden? Was können Sie wissen, meine Herren, vielleicht liebt er dieses Gebäude nur aus der Entfernung, nicht aber in der Nähe? Vielleicht liebt er nur, es zu schaffen, in ihm zu leben aber überläßt er ^aux animaux domestiques^, als da sind: Ameisen, Schafe, Ochsen usw. usw. Sehen Sie, die Ameisen z. B. sind ganz andere Geisteskinder. Sie haben schon ein bewunderungswürdiges, unzerstörbares Gebäude – den Ameisenhaufen. Mit dem Ameisenhaufen haben die ehrenwerten Ameisen angefangen, mit dem Ameisenhaufen werden sie bestimmt auch enden, was ihrer Beständigkeit und Positivität fraglos große Ehre macht. Der Mensch aber ist ein leichtsinniges Wesen, und liebt vielleicht gleich dem Schachspieler nur den Prozeß des Strebens zum Ziel, nicht aber das Ziel an und für sich. Und wer weiß – man kann es doch nicht verreden –, es wäre vielleicht sogar möglich, daß auch das ganze Erdenziel, zu dem die Menschheit strebt, nur in diesem einen ununterbrochenen Prozeß des Strebens liegt, nicht aber eigentlich im Ziel, das natürlich nichts anderes sein kann, als Zweimalzwei-ist-vier, d. h. die Formel. Zweimalzwei-ist-vier ist aber nicht mehr Leben, meine Herren, sondern der Anfang des Todes. Wenigstens hat der Mensch dieses Zweimalzwei-ist-vier immer gewissermaßen gefürchtet, ich aber fürchte es auch jetzt noch. Nehmen wir an, daß der Mensch nichts anderes tut, als dieses Zweimalzwei-ist-vier suchen, in diesem Suchen Ozeane überschwimmt, das Leben opfert, jedoch es zu finden, sich, bei Gott, fürchtet. Er fühlt doch, daß ihm, wenn er es gefunden hat, nichts mehr zu suchen übrig bleibt. Wenn Arbeiter eine Arbeit beendet haben, so erhalten sie doch wenigstens Geld, für das sie in die Schenke gehn und sich betrinken, um darauf von der Polizei abgeführt zu werden, – und damit wäre eine Woche ausgefüllt. Wohin aber soll der Mensch gehn? Wenigstens kann man an ihm jedesmal, wenn er ein ähnliches Ziel erreicht hat, gewissermaßen eine Enttäuschung, etwas Unbeholfenes wahrnehmen. Das Streben nach der Erreichung des Zieles liebt er, das Erreichen aber selbst – nicht mehr so ganz; und das ist natürlich äußerst lächerlich. Kurz: der Mensch ist schon lächerlich von Natur; in allem zusammengenommen ist augenscheinlich ein Kalauer enthalten. Doch Zweimalzwei-ist-vier – bleibt immerhin eine verteufelt unerträgliche Sache. Zweimalzwei-ist-vier, das ist meiner Meinung nach nur eine unverschämte Frechheit! Zweimalzwei-ist-vier steht wie ein frecher Bengel mit den Händen in den Hosentaschen mitten auf unserer Straße und spuckt bloß nach rechts und links. Ich gebe ja widerspruchslos zu, daß zweimalzwei-ist-vier eine ganz vortreffliche Sache ist, doch, wenn man schon einmal lobt, so ist auch zweimal-zwei-ist-_fünf_ zuweilen ein allerliebstes Sächelchen. Und warum sind Sie so fest, so feierlich überzeugt, daß ausschließlich das Normale und Positive – mit einem Wort, daß nur die Wohlfahrt dem Menschen vorteilhaft sei? Sollte sich diese Ihre Vernunft nicht vielleicht täuschen in dem, was sie Vorteile nennt? Denn es kann doch sein, daß der Mensch nicht nur die Wohlfahrt allein liebt? Vielleicht liebt er ganz ebenso sehr das Leiden? Vielleicht bringt ihm das Leid ebenso viel Gewinn, wie die Wohlfahrt? Und der Mensch liebt zuweilen wirklich das Leiden, bis zur Leidenschaft kann er es lieben, – bitte, das ist Tatsache. Da braucht man sich nicht mehr an die Weltgeschichte zu halten; man frage sich selbst, wenn man nur ein Mensch ist und zum mindesten ein wenig gelebt hat. Was meine persönliche Meinung anbetrifft, so ist nichts als Wohlfahrt lieben geradezu unanständig. Ob’s gut oder schlecht ist, – aber irgend etwas zerbrechen ist mitunter gleichfalls äußerst angenehm. Ich bin ja eigentlich nicht gerade für das Leiden, doch natürlich auch nicht für die Wohlfahrt. Ich bin für ... den Eigenwillen und dafür, daß ich mich zu jeder Zeit auf ihn verlassen kann. Das Leiden wird z. B. in Vaudevilles nicht zugelassen, das weiß ich. Im Kristallpalast ist es ja auch undenkbar: Leiden ist Zweifel, ist Verneinung, was aber gibt es im Kristallpalast, worüber man in Zweifel geraten könnte? Währenddessen aber bin ich überzeugt, daß der Mensch auf das wirkliche Leiden, d. h. auf Zerstörung und Chaos niemals verzichten wird. Das Leiden – ja, das ist doch die einzige Ursache der Erkenntnis! Wenn ich auch zu Anfang behauptet habe, daß die Erkenntnis meiner Meinung nach für den Menschen das größte Unglück ist, so weiß ich doch, daß der Mensch es liebt und gegen _keine_ Befriedigungen eintauschen würde. Die Erkenntnis steht z. B. unendlich höher als Zweimalzwei. Nach den Zweimalzweien, versteht sich, bleibt ja nicht nur nichts mehr zu tun, sondern auch nichts mehr zu erkennen übrig. Alles, was dann noch möglich sein wird, ist – seine fünf Sinne zu verstopfen und sich in Selbstanschauung zu versenken. Nun, und wenn es bei der Selbstanschauung auch zum selben Resultat kommen sollte, daß es nichts zu tun geben wird, so wird man wenigstens sich selbst mitunter zerfleischen können, das aber ermuntert doch immerhin. Wenn’s auch rückständig ist, so ist es doch, was man dagegen auch sagen mag, immer besser als nichts tun. X. Sie, meine Herren, glauben an einen ewig unzerstörbaren Kristallpalast, d. h. also an etwas, dem man heimlich weder die Zunge zeigen noch eine lange Nase machen kann. Ich aber fürchte diesen Palast, gerade weil er aus Kristall und ewig unzerstörbar ist, und weil man ihm nicht einmal heimlich wird die Zunge zeigen können. Denn sehen Sie mal: wenn an Stelle des Palastes ein Hühnerstall wäre und es regnete, so würde ich vielleicht auch in den Hühnerstall kriechen, um nicht naß zu werden, doch würde ich trotzdem nicht aus bloßer Dankbarkeit den Hühnerstall für einen Palast halten, einzig weil er mich vor dem Regen beschützt hat. Sie lachen, Sie sagen, daß in diesem Fall der Hühnerstall und ein großes Wohnhaus – ein und dasselbe wären. Gewiß, antworte ich, wenn man nur zu dem Zweck leben müßte, um nicht naß zu werden. Was soll ich aber tun, wenn ich es mir nun einmal in den Kopf gesetzt habe, daß man nicht nur zu dem Zweck lebt, und daß, wenn man schon einmal lebt, dann auch in Wohnhäusern leben sollte. Das ist meine Überzeugung, das sind meine Wünsche, und die werden Sie nur dann aus mir herausreißen können, wenn es Ihnen zuerst gelingt, sie zu verändern. Nun gut, verändern Sie mich, verführen Sie mich zu etwas Anderem, geben Sie mir ein anderes Ideal. Vorher aber werde ich einen Hühnerstall doch nicht für einen Palast halten. Mag es sogar so sein, daß der Kristallpalast nur Aufschneiderei ist, daß man ihn nach den Naturgesetzen überhaupt nicht als möglich annehmen kann, und daß ich ihn mir nur infolge meiner eigenen Dummheit ausgedacht habe, infolge einiger alter irrationaler Angewohnheiten unserer Generation. Was geht es aber mich an, ob man ihn annehmen kann oder nicht. Bleibt sich das denn nicht ganz gleich, wenn er nur in meinen Wünschen vorhanden ist, oder, besser gesagt, so lange vorhanden ist, wie meine Wünsche vorhanden sind? Vielleicht belieben Sie wieder, über mich zu lachen? Nur zu! Ich nehme Ihren ganzen Spott gerne hin, doch werde ich nicht sagen, daß ich satt bin, wenn ich essen will; ich weiß, daß ich mich mit einem Kompromiß nicht zufrieden geben werde, mit einer unendlichen periodischen Null, bloß weil sie nach den Naturgesetzen wirklich vorhanden ist. Ich werde niemals sagen, die Krone meiner Wünsche sei – eine Mietskaserne mit Wohnungen für die Armen und auf alle Fälle mit dem Aushängeschild irgend eines jüdisch-deutschen Zahnarztes. Vernichten Sie meine Wünsche, verwischen Sie die Bilder meiner Ideale, zeigen Sie mir irgend etwas Besseres, und ich werde Ihnen glauben. Meine Herren, Sie wollen mir vielleicht sagen, es lohne sich nicht, unsere Bekanntschaft weiter fortzusetzen? In dem Falle aber könnte ich Ihnen von mir aus dasselbe sagen. Wir diskutieren ja im Ernst. Wollen Sie mich jedoch Ihrer Aufmerksamkeit nicht mehr würdigen, so werde ich Sie nicht weiter belästigen. Meinetwegen. Ich werde Sie ja sowieso nicht grüßen. Ich habe meinen dunklen Winkel, habe meinen Untergrund. Vorläufig aber lebe und wünsche ich noch, – und daß mir meine Hand verdorre, wenn ich auch nur einen einzigen Ziegelstein zum Bau solch einer Mietskaserne bringe! Beachten Sie bitte weiter nicht, daß ich vorhin den Kristallpalast, wie ich vorgab, aus dem einen Grunde ablehnte, weil man ihm nicht die Zunge zeigen könne. Ich habe das keineswegs gesagt, weil ich es etwa so liebe, meine Zunge herauszustecken. Ich ... vielleicht hat es mich nur geärgert, daß es unter all Ihren Gebäuden bis jetzt noch kein einziges gibt, dem man auch nicht die Zunge zeigen wollte. Im Gegenteil, ich wäre sogar gern bereit, mir aus lauter Dankbarkeit die Zunge ganz und gar abschneiden zu lassen, wenn man mir dafür garantiert, daß mich dann niemals mehr der Wunsch anwandeln wird, sie noch herauszustecken. Was kann ich dafür, daß mir dieses niemand garantiert, und daß man sich mit Mietswohnungen begnügen muß! Warum bin ich denn mit solchen Wünschen geschaffen? Sollte ich denn wirklich nur geschaffen sein, um zur Überzeugung zu kommen, daß mein ganzer innerer Mensch nichts als Betrug ist? Sollte wirklich der ganze Zweck meines Daseins nur darin liegen? Glaub’s nicht. Doch, übrigens, wissen Sie was: ich bin überzeugt, daß man unsereinen, ich meine, solch einen Untergrundmenschen, im Zaum halten muß. Er ist wohl fähig, vierzig Jahre lang stumm im dunkelsten Winkel zu sitzen, dafür aber geht er denn auch sofort durch, wenn er einmal ans Tageslicht kommt, dann redet er, redet er, redet er ... XI. Das Resultat, meine Herren: am besten ist – überhaupt nichts tun! Lieber kontemplative Inertie! Und darum – es lebe der dunkle Untergrund! Ich habe zwar gesagt, daß ich den normalen Menschen bis zur grünsten Galle beneide, doch in jenen Verhältnissen, in denen ich ihn sehe, will ich nicht er sein – obgleich ich trotzdem nicht aufhören werde, ihn zu beneiden. Nein, nein, der Untergrund ist in jedem Fall vorteilhafter! In ihm kann man wenigstens ... Ach! Ich lüge ja schon wieder, sogar hier lüge ich! Ich lüge, weil ich ja selbst weiß, wie zweimal-zwei-ist-vier weiß, daß der Untergrund keineswegs besser ist, sondern etwas Anderes, ganz Anderes, nachdem ich mich sehne, über die Maßen sehne, und das ich doch nicht finden kann! Der Teufel hole den Untergrund! Ja, wissen Sie, was dieses „Besser“ wäre: das wäre – wenn ich selbst nur an irgend etwas von dem glauben könnte, was ich soeben geschrieben habe. Ich schwöre Ihnen doch, meine Herren, daß ich keinem einzigen, aber auch wirklich keinem einzigen Wort von all dem, was ich geschrieben habe, glaube! Das heißt, schließlich glaube ich ja auch, doch im selben Augenblick fühle und argwöhne ich, weiß wirklich nicht warum, daß ich wie ein Schuster lüge. „Ja, wozu haben Sie denn das alles geschrieben?“ fragen Sie mich. Warten Sie mal, ich werde Sie auf vierzig Jahre ohne jede Beschäftigung in einen Keller einsperren, und dann nach vierzig Jahren zu Ihnen kommen, um mich zu erkundigen, wie weit Sie es gebracht haben. Kann man denn einen Menschen vierzig Jahre lang ohne Arbeit allein lassen? „Und Sie schämen sich nicht einmal!?“ werden Sie mir vielleicht mit verächtlichem Kopfschütteln zurufen. „Sie lechzen nach dem Leben und wollen dabei doch die Lebensfragen mit logischem Unsinn lösen? Und wie zudringlich, wie frech Ihre Ausfälle sind, und, zu gleicher Zeit, wie fürchten Sie sich doch! Sie reden Unsinn und finden Gefallen an ihm; Sie sagen Frechheiten, wegen deren Sie sich fürchten, und für die Sie ununterbrochen um Entschuldigung bitten. Sie versichern, Sie fürchteten nichts, und währenddessen bemühen Sie sich doch, unsere gute Meinung zu erschmeicheln. Sie versichern, Sie knirschten mit den Zähnen, und zu gleicher Zeit reißen Sie Witzchen, um uns zu erheitern. Sie wissen, daß Ihre Witze nicht geistreich sind, doch sind Sie mit ihrem literarischen Wert augenscheinlich zufrieden. Es ist möglich, daß Sie vielleicht wirklich gelitten haben, doch achten Sie ihre Leiden nicht im Geringsten. In Ihnen steckt allerdings auch Wahrheit, doch was Ihnen gänzlich fehlt, ist Keuschheit; aus kleinlicher Ruhmsucht tragen Sie Ihre Wahrheit zur Schau, zu Schimpf und Schande auf den Markt ... Sie wollen, wie’s scheint, tatsächlich etwas sagen, doch aus Furcht verstecken Sie Ihr letztes Wort, denn Sie haben keinen Mut, es auszusprechen. Sie haben ja nur feige Gemeinheit. Sie rühmen sich mit Ihrer Erkenntnis, doch wirklich überzeugt sind Sie von keiner einzigen: Sie schwanken zwischen allen Erkenntnissen hin und her, denn wenn Ihr Verstand auch arbeitet, so ist doch Ihr Herz von Verderbnis beschmutzt, ohne ein reines Herz jedoch – wird man niemals zu voller, rechter Erkenntnis gelangen. Und wie zudringlich Sie sind, wie Sie sich verstellen! Alles ist bei Ihnen Lüge, Lüge, Lüge!“ Selbstverständlich habe ich diese Ihre Worte mir selbst ausgedacht. Die kommen gleichfalls aus dem Untergrund. Dort habe ich vierzig Jahre lang auf diese Ihre Worte durch eine kleine Spalte gelauscht. Ich habe sie mir selbst ausgedacht ... das ist ja doch alles, was bei meinem Denken herausgekommen ist. Was Wunder, wenn ich sie schon auswendig hersagen kann, und wenn sie literarische Form angenommen haben ... Sollte es möglich sein, wäre es wirklich möglich, daß Sie tatsächlich so leichtgläubig sind und faktisch glauben, ich würde alles, was ich geschrieben habe, drucken lassen und es dann noch Ihnen zu lesen geben? Und dann ist mir noch eines rätselhaft: warum nenne ich Sie „meine Herren“, warum wende ich mich an Sie, ganz als ob ich mich wirklich an Leser wendete? Geständnisse, wie _ich_ sie zu machen beabsichtige, läßt man nicht drucken, und gibt man nicht anderen zu lesen. Wenigstens habe ich nicht so viel Festigkeit in mir, um so etwas zu tun, und ich halte es auch für überflüssig, sie zu haben. Aber, sehen Sie, mir ist ein phantastischer Gedanke in den Kopf gekommen, und nun will ich ihn unbedingt aussprechen. Es handelt sich um folgendes: In den Erinnerungen eines jeden Menschen gibt es Dinge, die er nicht allen mitteilt, sondern höchstens seinen Freunden. Aber es gibt auch Dinge, die er nicht einmal den Freunden aufdeckt, sondern nur sich selbst, ja und auch das nur unter dem Siegel der Verschwiegenheit. Endlich gibt es aber auch noch Dinge, die der Mensch sogar sich selbst zu sagen sich fürchtet, und solcher Dinge sammelt sich bei jedem anständigen Menschen eine ganz beträchtliche Menge an. Und zwar läßt sich sogar folgendes sagen: je mehr er ein „anständiger Mensch“ ist, desto mehr wird er solcher Dinge haben. Wenigstens habe ich mich erst vor ganz kurzer Zeit entschlossen, mich einiger meiner früheren Erlebnisse zu erinnern, bis dahin aber umging ich sie immer mit einer gewissen Unruhe. Jetzt jedoch, da ich nicht nur an sie denke, sondern mich sogar entschlossen habe, sie niederzuschreiben, jetzt will ich gerade erproben: kann man denn wenigstens sich selbst gegenüber ganz und gar aufrichtig sein, ohne die Wahrheit zu fürchten? Bei der Gelegenheit: Heine behauptet, wahrheitsgetreue Autobiographien gäbe es überhaupt nicht, der Mensch könne niemals die ganze Wahrheit über sich schreiben. Seiner Meinung nach hat z. B. Rousseau in seinen Bekenntnissen bestimmt über sich selbst gelogen, und sogar bewußt gelogen, aus Ruhmsucht. Ich bin überzeugt, daß Heine recht hat; ich verstehe sehr gut, wie man sich zuweilen einzig aus Ruhmsucht ganze Verbrechen aufschwätzen kann, und ich begreife auch vollkommen, welcher Art diese Ruhmsucht ist. Doch Heine urteilte über einen Menschen, der vor dem Publikum beichtete. Ich jedoch schreibe nur für mich und erkläre hiermit ein für alle Mal, daß ich, wenn ich auch so schreibe, als ob ich mich an meine Leser wende, es nur zum Schein tue, weil es mir so leichter ist, zu schreiben. Es ist also nur eine gewisse Form bei mir, eine ganz bedeutungslose Redewendung; Leser werde ich niemals haben. Übrigens habe ich das ja schon einmal gesagt ... Ich will mich in der Redaktion meiner Aufzeichnungen durch nichts beeinflussen lassen. Ein besonderes System werde ich nicht anwenden. Werde schreiben, was mir gerade einfällt. Nun, sehen Sie, da könnten Sie mich jetzt mit vollem Recht fragen: „Warum treffen Sie denn, wenn Sie wirklich nicht auf Leser rechnen, mit sich selbst und dazu noch schriftlich solche Verabredungen, wie z. B., daß Sie kein System einführen würden, daß Sie alles so niederschreiben wollten, wie es Ihnen einfällt u. s. w.? Wozu erklären Sie so viel? Warum entschuldigen Sie sich?“ „Ja, seht doch mal!“ Hierin liegt übrigens die ganze Psychologie. Es kann aber auch sein, daß ich einfach nur ein Feigling bin. Aber es kann auch sein, daß ich mir absichtlich ein Publikum ausdenke, um mich in der Zeit, in der ich schreibe, anständiger zu benehmen. Gründe kann es doch wirklich zu Tausenden geben. Aber noch eines: warum eigentlich, zu welch einem Zweck will ich denn schreiben? Wenn es nicht für ein Publikum geschieht, so könnte man sich alles dessen doch auch so, einfach in Gedanken, erinnern, ohne es zu Papier zu bringen? Stimmt. Aber auf dem Papier nimmt es sich doch gewissermaßen feierlicher aus, geschrieben liegt etwas eindringlicheres darin, es wird mehr wie Gericht über sich selbst sein, der Stil wird sich entwickeln. Außerdem: vielleicht wird mir das Aufschreiben wirklich Erleichterung bringen. Augenblicklich bedrückt mich ganz besonders eine dumme Erinnerung. Vor einigen Tagen fiel mir diese Geschichte plötzlich ein, und seit der Zeit kann ich sie nicht mehr los werden, ganz wie ein lästiges musikalisches Motiv, das einem zuweilen nicht aus den Ohren will. Und doch muß ich mich endlich von ihr befreien. Solcher Erinnerungen habe ich zu Hunderten; zuweilen aber löst sich aus den Hunderten eine einzige, irgend eine, die dann anfängt, mich zu quälen. Aus einem unbestimmten Grunde glaube ich, daß ich mich von ihr befreien werde, wenn ich sie niederschreibe. Warum soll ich’s nicht versuchen? Und dann: ich habe es langweilig, habe nie etwas zu tun. Schreiben aber ist doch immerhin so etwas wie eine Arbeit. Man sagt, daß der Mensch durch Arbeit gut und ehrlich werde. Nun, da hätten wir wenigstens eine Chance. Es schneit. Nasser, gelber, schwerer Schnee. Gestern schneite es gleichfalls, und auch vor einigen Tagen hat es geschneit. Ich glaube, dieser nasse Schnee war die Ursache, warum mir jene Geschichte, die ich jetzt nicht mehr los werden kann, wieder einfiel. So mag denn auch meine kleine Erzählung so heißen: Bei nassem Schnee. Zweiter Teil. Bei nassem Schnee. I. Damals war ich erst vierundzwanzig Jahre alt. Mein Leben war auch schon zu der Zeit unfreundlich, unordentlich und bis zur Verwilderung einsam. Mit keinem einzigen Menschen pflegte ich Umgang; ich vermied es sogar zu sprechen, und immer mehr und mehr zog ich mich in meinen Winkel zurück. In der Kanzlei bemühte ich mich sogar, niemanden anzusehen, und doch glaubte ich, zu bemerken, daß meine Kollegen mich nicht nur für einen Sonderling hielten, sondern mich gleichsam mit einem gewissen Widerwillen betrachteten. Ich fragte mich: warum scheint es den anderen nicht, daß man Widerwillen vor ihnen empfindet? Einer unserer Kanzleibeamten hatte ein ganz abscheuliches, pockennarbiges Verbrechergesicht; ich glaube, ich hätte es nicht gewagt, mit solch einem unanständigen Gesicht irgend jemanden auch nur anzublicken. Ein anderer hatte eine so vertragene Uniform, daß es in seiner Nähe schon übel roch. Währenddessen aber genierte sich kein einziger dieser Herren – weder seiner Kleider, noch seines Gesichtes wegen, noch sonst aus irgend einem moralischen Grunde. Weder der eine noch der andere ließen es sich träumen, daß man vor ihnen hätte Ekel empfinden können, ja, und selbst wenn sie es sich hätten träumen lassen, so wäre es ihnen doch gleichgültig gewesen – wenn nur die Vorgesetzten nichts bemerkten. Jetzt ist es mir vollkommen klar, daß ich selbst, infolge meines grenzenlosen Ehrgeizes und somit auch infolge meiner grenzenlosen Ansprüche an mich selbst, sehr oft so unzufrieden mit mir war, daß diese Unzufriedenheit sich bis zum Ekel vor mir selbst, bis zur Raserei steigern konnte, und deswegen schrieb ich denn auch mein eigenes Empfinden in Gedanken jedem anderen zu. So z. B. haßte ich mein Gesicht, fand ich, daß es abscheulich war, und argwöhnte sogar, daß in ihm ein ganz besonders gemeiner Ausdruck lag, und darum bemühte ich mich qualvoll jedesmal, wenn ich in die Kanzlei kam, mit meinem Gesicht möglichst viel Edelmut auszudrücken, und mich möglichst ungezwungen und unabhängig zu benehmen, damit man mich nicht einer Gemeinheit verdächtige. „Mag es auch ein unschönes Gesicht sein,“ dachte ich, „dafür aber könnte es doch edel, ausdrucksvoll und vor allem außerordentlich klug sein.“ Zu gleicher Zeit aber wußte ich unter wahren Marterqualen auf das bestimmteste, daß ich alle diese Vollkommenheiten mit meinem Gesichte nie und nimmer würde ausdrücken können. Doch das Schrecklichste war, daß ich es ausgesprochen dumm fand. Und doch hätte ich mich mit dem klugen Ausdruck allein gern zufrieden gegeben. Sogar so gern, daß ich selbst einverstanden gewesen wäre, noch einen gemeinen Ausdruck mit in den Kauf zu nehmen, nur aber unter der einen Bedingung, daß alle mein Gesicht zu gleicher Zeit auch furchtbar klug fänden. Unsere Kanzleibeamten haßte ich natürlich alle, vom ersten bis zum letzten ohne Ausnahme, trotzdem aber schien es mir, daß ich sie gewissermaßen auch fürchtete. Ja, es kam vor, daß ich sie plötzlich sogar über mich stellte. Das geschah bei mir damals immer abwechselnd: bald verachtete ich sie, bald stellte ich sie wieder über mich. Ein entwickelter und anständiger Mensch kann nicht ehrgeizig sein, ohne dabei grenzenlose Ansprüche an sich selbst zu stellen und sich in manchen Augenblicken bis zum Haß zu verachten. Doch ob ich mich nun verachtete oder hochschätzte, ich senkte doch vor jedem Menschen, der mir begegnete, die Augen. Ich stellte daraufhin sogar Versuche an: würde ich den Blick dieses oder jenes Menschen aushalten können, – und siehe: jedesmal mußte ich meinen Blick zuerst senken. Das quälte mich bis zum Wahnsinn ... Bis zu Krämpfen fürchtete ich gleichfalls, lächerlich zu sein, und darum vergötterte ich sklavisch die Routine in allem, was das Auftreten anbetraf; liebevoll schwamm ich mit dem Strom und fürchtete mit ganzer Seele jede Exzentrizität in mir. Wie hätte ich das lange aushalten können? Ich war krankhaft entwickelt, wie es eben ein entwickelter Mensch unserer Zeit sein muß. Sie aber waren alle stumpfsinnig und glichen sich untereinander wie die Schafe einer Heerde. Vielleicht war das der Grund, warum es mir immer schien, daß ich ein Feigling und ein Sklave sein müßte – weil ich allein entwickelt war. Aber es schien mir ja nicht nur so, es war auch wirklich der Fall: ich war ein Feigling und ein Sklave. Das sage ich jetzt ohne jede Verlegenheit. Jeder anständige Mensch unserer Zeit ist ein Feigling und Sklave und muß es sein. Das ist sein normaler Zustand. Davon bin ich nicht nur fest, sondern auch untergründig tief überzeugt. Er ist als Mensch unserer Zeit schon so geschaffen. Und nicht nur in unserer Zeit, und nicht nur durch irgend welche zufälligen Umstände, sondern überhaupt zu allen Zeiten muß der ordentliche Mensch Feigling und Sklave sein. Das ist das Naturgesetz aller anständigen Menschen. Und wenn es einmal geschehen sollte, daß sich einer von ihnen zu irgend etwas ermutigt, so soll er sich deswegen noch nicht gleich an seinem Mut berauschen: bei der nächsten Gelegenheit wird er sich doch als Feigling erweisen. Das ist nun einmal der einzige und ewige Ausweg. Nur Esel und ihre Bastarde ermutigen sich, aber auch die nur bis zu der gewissen Wand. Doch es lohnt sich nicht, noch weiter über sie zu reden, sie bedeuten ja doch so gut wie nichts. Auch quälte mich noch etwas anderes: daß mir niemand gleicht und auch ich niemandem ähnlich sehe. „Nur ich bin allein, sie aber sind _alle_,“ dachte ich, und – versank in Nachdenken. Daraus sieht man, daß ich noch ein ganz unreifer Junge war. Mitunter geschah aber auch das Entgegengesetzte. War es doch zuweilen so entsetzlich langweilig, in die Kanzlei zu gehen, daß ich ganz krank aus dem Dienst nach Haus zurückkehrte. Und plötzlich begann dann wiederum eine Periode der Skepsis und Gleichgültigkeit – bei mir war alles in Perioden – und siehe, da lachte ich selbst über meine Unduldsamkeit und Launenhaftigkeit, machte mir selbst wegen meiner _Romantik_ Vorwürfe. Bald will ich überhaupt nicht sprechen, bald aber werde ich nicht nur gesprächig, sondern es fällt mir sogar ein, mich freundschaftlich an meine Kollegen anzuschließen. Die ganze Reizbarkeit ist plötzlich im Handumdrehen verschwunden. Wer weiß, vielleicht habe ich sie nie gehabt, vielleicht ist sie nur Selbsttäuschung gewesen, nur vom Bücherlesen gekommen? Diese Frage habe ich bis auf den heutigen Tag noch nicht beantworten können. Einmal hatte ich mich bereits ganz mit ihnen angefreundet, besuchte sie sogar in ihren Wohnungen, spielte Préférence, trank Schnaps, diskutierte über Rußlands Produktionsfähigkeit ... Doch hier erlauben Sie mir bitte, einige vom Thema abweichende Worte zu sagen. Bei uns, bei uns Russen – im allgemeinen gesprochen – hat es niemals jene dummen überirdischen deutschen und besonders französischen Romantiker gegeben, jene, auf die nichts mehr Eindruck macht, wenn auch meinetwegen die ganze Erde unter ihnen kracht, oder ganz Frankreich mitsamt den Barrikaden untergeht, – sie bleiben immer dieselben, ja, werden sich anstandshalber nicht einmal im Geringsten verändern und immer nur ihre überirdischen Lieder weitersingen, die Lieder „an das Grab ihres Lebens“, wie sie zu sagen pflegen – denn wir dürfen nicht vergessen, daß sie dumm sind. Bei uns jedoch, d. h. bei uns in Rußland, gibt es keine Dummköpfe; das weiß doch ein jeder: dadurch unterscheiden wir uns ja von den übrigen deutschen Ländern. Folglich gibt es bei uns auch keine überirdischen Naturen von reinstem Wasser. Diese Eigenschaften haben unsere damaligen „positiven“ Publizisten und Kritiker aus Dummheit unseren Romantikern aufgebunden, da sie sie für ebenso überirdisch hielten, wie die deutschen oder französischen Romantiker. Im Gegenteil, die Eigenschaften unseres Romantikers sind denen des überirdisch-europäischen Romantikers gerade entgegengesetzt, und darum kann man sie mit keinem einzigen europäischen Maßstäbchen messen. (Erlauben Sie mir, dieses Wörtchen „Romantiker“ zu gebrauchen – es ist ja so alt, ehrwürdig, verdient und allen bekannt.) Die Eigenschaften unseres Romantikers sind: alles zu verstehen, _alles zu sehen, und häufig sogar unvergleichlich klarer zu sehen, als unsere allerpositivsten Intelligenzen_; sich mit niemandem und nichts auszusöhnen, doch zu gleicher Zeit auch nichts zu verachten; alles zu umgehen, allem politisch nachzugeben; niemals das nützliche, praktische Ziel aus dem Auge zu lassen – wie z. B. Staatswohnungen, Pensiönchen, Sternchen –, dieses Ziel durch alle Enthusiasmen und alle Bände lyrischer Gedichte hindurch im Auge zu behalten, und gleichzeitig „das Schöne und Erhabene“ bis an das Grab ihres Lebens in sich unversehrt zu erhalten, und bei der Gelegenheit auch noch sich selbst vollkommen zu erhalten – und das noch bei all den vielen Sorgen! – sich wie ein kostbares Juwel zu hüten, wenn auch nur zum Nutzen dieses selben „Schönen und Erhabenen“. Ja, ja, ein vielseitiger Mensch ist unser Romantiker und der geriebenste Spitzbube von allen unseren Spitzbuben, versichere Ihnen ... nach eigener Erfahrung. Versteht sich, das gilt nur vom klugen Romantiker. Das heißt, Verzeihung, was fällt mir denn ein! Ein Romantiker ist natürlich immer klug! Ich wollte ja nur bemerken, daß die dummen Romantiker, die es auch bei uns einstmals gegeben hat, doch nicht mitrechnen, weil sie sich alle noch in den besten Jahren vollständig in Deutsche verwandelt, und, um sich als Juwel besser erhalten zu können, dort irgendwo in Weimar oder im Schwarzwald angesiedelt haben. – Ich, z. B., habe meine Kanzleiarbeit aufrichtig verachtet und habe nur, weil ich Geld für sie erhielt, nicht auf sie gespuckt. Das Ergebnis also – beachten Sie es wohl –: ich habe sie doch nicht aufgegeben. Unser Romantiker dagegen wird eher verrückt – was übrigens sehr selten vorkommt –, doch wird er nie und nimmer auf seine Tätigkeit spucken, wenn er noch keine andere Karriere in Aussicht hat, und vor die Tür wird er sich auch nicht setzen lassen, es sei denn, daß man ihn in die Irrenanstalt überführt, ja, und auch das nur, wenn er schon gar zu verrückt wird. Aber verrückt werden bei uns doch nur die Hageren, die Blondlockigen. Die unabsehbare Zahl jedoch der Romantiker bringt es später gewöhnlich zu hohen Ehren. Wirklich ungewöhnliche Vielseitigkeit! Und welch eine Fähigkeit zu den allerwidersprechendsten Eigenschaften! Auch damals schon beruhigte mich das ungemein, und auch jetzt bin ich noch derselben Meinung. Darum gibt es ja auch bei uns so viel „weite Naturen“, die selbst in der größten Verkommenheit niemals ihr Ideal verlieren; und wenn sie auch für dieses ihr Ideal keinen Finger rühren, wenn sie auch die verrufensten Räuber und Diebe werden, so lieben sie doch ihr anfängliches Ideal bis zu Tränen, und sind in der Seele ganz ungewöhnlich ehrlich. Ja, nur bei uns kann der ausgesprochenste Schuft vollkommen und sogar erhaben ehrlich in der Seele bleiben, ohne dabei etwa aufzuhören, Schuft zu sein. Wie gesagt, unsere Romantiker entpuppen sich in Geschäftssachen zuweilen als solche Spitzbuben – diese Bezeichnung ist von mir ausschließlich liebevoll gemeint –, und sie beweisen plötzlich solch einen Instinkt für die Wirklichkeit, und solch ein positives Wesen in realen Dingen, daß die verwunderte Obrigkeit mitsamt dem ganzen Publikum in der Starrheit der Verwunderung nur noch die Köpfe schütteln kann. Eine wahrlich wundernehmende Vielseitigkeit haben sie, und Gott mag wissen, wozu sie sich unter den zukünftigen Verhältnissen noch entwickeln und was sie uns dann noch bescheren werden? Das Material ist nicht schlecht. Ich sage das nicht etwa aus lächerlichem Patriotismus. Übrigens glauben Sie wohl wieder, daß ich scherze? Oder vielleicht sind Sie sogar überzeugt, daß ich auch wirklich so denke? Wie dem nun auch sein mag, meine Herren, jedenfalls werde ich Ihre beiden Meinungen mir zur Ehre anrechnen. Und meine Abweichung vom Thema verzeihen Sie mir bitte. Die Freundschaft mit meinen Kollegen hielt ich natürlich nicht lange aus und so kehrte ich ihnen schon sehr bald den Rücken. Infolge meiner damaligen jugendlichen Unerfahrenheit hörte ich sogar auf, sie zu grüßen, als ob ich alles Frühere mit der Schere hätte abschneiden wollen. Übrigens habe ich nur ein einziges Mal mit ihnen Freundschaft angeknüpft. Im allgemeinen bin ich ja immer allein gewesen. Zu Hause las ich gewöhnlich. Wollte ich doch durch äußere Eindrücke betäuben, was unaufhörlich in mir kochte. Von äußeren Eindrücken aber konnte ich mir nur Lektüre leisten. Das Lesen half natürlich viel, – es regte auf, berauschte und quälte. Mitunter aber wurde es, weiß Gott, doch verteufelt langweilig. Man wollte sich auch einmal bewegen! Und so ergab ich mich plötzlich einer dunklen, unterirdischen, kellerhaften, gemeinen ... nicht gerade Ausschweifung, aber solchen kleinen niedrigen Lasterchen. Meine kleinen Leidenschaften waren scharf, spitz und brennendheiß; das kam von meiner immerwährenden krankhaften Reizbarkeit. Die Ausbrüche waren hysterisch, mit Tränen und fast mit Krämpfen. Außer der Lektüre hatte ich nichts, womit ich mich hätte zerstreuen können – ich meine, in meiner ganzen Umgebung hatte ich damals nichts, was ich hätte achten können oder was mich hätte anziehen können. Außerdem schwoll noch die Sehnsucht gar manches Mal erdrückend in mir an: krankhaftes Verlangen nach Widersprüchen, nach Kontrasten war’s, nun, und so ergab ich mich denn der Ausschweifung. Aber ich will mich doch nicht etwa rechtfertigen ... Halt! – das stimmt nicht! Nein. Hab gelogen! Ich habe mich ja gerade rechtfertigen wollen. Diese Bemerkung mache ich – wohl verstanden! – nur für mich, meine Herren, als Knoten ins Taschentuch. Will nicht lügen. Will Wort halten. Meiner Ausschweifung ergab ich mich nur des Nachts, heimlich, ängstlich, schmutzig, mit einer Scham, die mich selbst in den ekelhaftesten Augenblicken nicht verließ, und die ich in solchen Minuten fast als Fluch empfand. Auch damals schon trug ich das Dunkel in meiner Seele. Ich fürchtete mich bis zum Entsetzen, daß man mich vielleicht irgendwie sehen, mir begegnen, mich erkennen könnte. Ging ich doch in verschiedene äußerst dunkle Häuser. Einmal, als ich nachts an einem elenden Restaurant vorüberkam, sah ich durch das helle Fenster, wie man sich drinnen um das Billard herum mit den Queues prügelte, und wie darauf einer von den Herren durch das Fenster hinausbefördert wurde. Zu einer anderen Zeit wäre es mir zuwider gewesen; damals jedoch kam plötzlich solch eine Stimmung über mich, daß ich diesen herausgeworfenen Herrn einfach beneidete, ja sogar dermaßen beneidete, daß ich in das Restaurant ging und in das Billardzimmer eintrat: „Vielleicht wird man auch mich verprügeln und durch das Fenster hinausbefördern,“ dachte ich. Ich war nicht betrunken, doch was sollte ich machen, – kann einen die Sehnsucht doch bis zu solch einer Hysterie quälen! Es kam aber zu nichts. Es erwies sich, daß ich nicht einmal zum Hinausgeworfen-werden begabt war, und ich ging unverprügelt fort. Gleich zu Anfang wurde ich dort von einem Offizier zurückgedrängt. Ich stand am Billard und versperrte ahnungslos den Weg, er aber mußte vorübergehen, und so faßte er mich an den Schultern – ohne vorher etwas zu sagen oder zu erklären – und stellte mich schweigend von dem Platz, wo ich stand, auf einen anderen, und ging selbst an mir vorüber – als ob er mich überhaupt nicht bemerkt hätte. Ich hätte sogar Schläge verziehen, doch nimmermehr konnte ich verzeihen, daß er mich so umgestellt und so absolut übersehen hatte. Weiß der Teufel, was ich damals nicht alles für einen wirklichen, regelrechten Streit gegeben hätte, für einen anständigen, sagen wir, mehr _literarischen_! Man hatte mich wie eine Fliege behandelt. Dieser Offizier war gut gewachsen, groß von Wuchs, ich aber bin ein kleiner, dürrer Mensch. Übrigens lag es ja in meiner Macht, es auf einen Streit ankommen zu lassen: ich hätte nur zu protestieren gebraucht, um zu erreichen, was ich wollte – gleichfalls aus dem Fenster geworfen zu werden. Ich aber wurde nachdenklich und zog es vor ... mich erbost davon zu schleichen. Aus dem Restaurant begab ich mich erregt geradewegs nach Haus; am nächsten Tage aber ging das Ausschweifen wieder an, nur noch schüchterner, versteckter und trauriger als zuvor, gleichsam mit Tränen in den Augen, – aber ich fuhr doch fort. Übrigens, bitte nicht zu glauben, daß ich mich aus Feigheit vor dem Offizier so benommen habe: in meinem Herzen bin ich niemals feig gewesen, wenn ich mich auch im Leben immer feige benommen habe, aber – warten Sie noch ein wenig mit dem Lachen, meine Herren, das hat seinen guten Grund, dafür gibt es eine Erklärung. Seien Sie überzeugt, ich habe für alles eine Erklärung. Oh, wenn dieser Offizier doch zu denjenigen gehört hätte, die bereit sind, sich zu schlagen! Doch nein, das war gerade einer von jenen leider schon längst nicht mehr vorhandenen Offizieren, die es vorzogen, mit dem Queue zu handeln, oder mittels der Vorgesetzten. Zu einem Duell jedoch fordern solche nie heraus, mit unsereinem aber sich zu schlagen, würden sie unter allen Umständen für unanständig halten, – und überhaupt halten sie das Duell für etwas Unsinniges, Freisinniges, Französisches, selbst aber beleidigen sie nicht selten, besonders wenn sie noch groß und stattlich sind. Hier aber war nicht Feigheit die Ursache meines feigen Rückzugs, sondern mein grenzenloser Ehrgeiz. Nicht sein hoher Wuchs schreckte mich, nicht, daß man mich schmerzhaft würde verprügelt und hinausgeworfen haben, physischen Mut hatte ich wahrlich genügend; doch der moralische Mut reichte nicht aus. Ich fürchtete plötzlich, daß mich alle Anwesenden – angefangen vom unverschämten Marqueur bis zum letzten stinkenden, sinnigen kleinen Beamten, der dort in einem schäbigen Rock, dessen fettdurchtränkter Kragen nur so glänzte, gleichfalls herumscherwenzelte – „nicht verstehen und auslachen könnten, wenn ich protestieren und in literarischer Sprache mit ihnen reden würde.“ Denn von dem Ehrenpunkte, – ^point d’honneur^ – kann man ja bei uns überhaupt nicht anders sprechen, als in literarischen Redewendungen. Erinnere mich nicht, jemals etwas vom „Ehrenpunkte“ in gewöhnlicher Sprache gehört zu haben. Ich war vollkommen überzeugt – Instinkt für die Wirklichkeit, trotz der ganzen Romantik! –, daß sie alle vor Lachen platzen würden, der Offizier mich aber nicht einfach verprügeln, sondern vorher bestimmt rund um das Billard schleifen und erst dann vielleicht aus Gnade und Barmherzigkeit durch das Fenster hinausbefördern würde. Selbstverständlich konnte diese klägliche Geschichte für mich damit nicht abgetan sein. Später traf ich diesen Offizier sehr oft auf der Straße und ich beobachtete ihn gut. Nur weiß ich nicht, ob er auch mich erkannte. Wahrscheinlich nicht; so nach einigen Anzeichen zu urteilen. Ich aber, ich haßte und beneidete ihn, und das dauerte so ... einige Jahre! Mein Haß vertiefte sich und wuchs noch mit den Jahren; zuerst bemühte ich mich heimlich, Näheres über diesen Offizier zu erfahren. Das fiel mir allerdings sehr schwer, denn ich kannte doch keinen Menschen. Einmal aber, als ich ihm wieder wie gebannt auf der Straße folgte, rief ihn irgend jemand beim Familiennamen an, und so erfuhr ich denn, wie er hieß. Ein anderes Mal folgte ich ihm bis zu seiner Wohnung und erfuhr dort für zehn Kopeken vom Dwornick, wo er wohnte, in welch einem Stock, allein oder mit anderen usw. – kurz, alles, was man von einem Dwornick erfahren kann. Und an einem Morgen kam mir plötzlich der Gedanke – obgleich ich niemals Literatur machte –, diesen Offizier zu beschreiben, karrikiert natürlich, in der Form einer Novelle. Oh, mit welch einer Genugtuung ich diese Novelle schrieb! Ich polemisierte, ich verleumdete ihn sogar ein wenig; seinen Familiennamen veränderte ich zuerst so, daß man sofort hätte erraten können, um wen es sich handelte, doch später, nachdem ich reiflicher überlegt hatte, veränderte ich ihn ganz, und schickte das Manuskript an die Redaktion der „Vaterlandsschriften“. Doch damals gab es noch keine Polemik und meine Novelle wurde nicht gedruckt. Das ärgerte mich gewaltig. Zuweilen raubte mir die Wut sogar den Atem. Da entschloß ich mich endlich, meinen Gegner zu fordern. Ich schrieb ihm einen wundervollen, anziehenden Brief, in dem ich ihn anflehte, sich bei mir zu entschuldigen, falls er aber das nicht wollte, so – ich deutete ziemlich bestimmt das Duell an. Der Brief war derart verfaßt, daß der Offizier, wenn er nur ein wenig das „Schöne und Hohe“ verstand, unbedingt sofort zu mir hätte eilen müssen, um mich zu umarmen und mir seine ewige treue Freundschaft anzubieten. Und wie schön wäre das doch gewesen! Wie herrlich hätten wir zusammen gelebt! „Er würde mich verteidigen und ich würde ihn veredeln, sagen wir, mit meiner Bildung, nun und ... durch meine Ideen, und, ach Gott, was könnte nicht noch alles sein!“ Stellen Sie sich vor, daß damals seit der Nacht, in der er mich beleidigt hatte, schon zwei Jahre vergangen waren und meine Forderung sich als ein ganz unglaublicher Anachronismus erwies, trotz der ganzen geschickten Redewendungen meines Briefes, die den Anachronismus erklären und aufheben sollten. Doch Gott sei Dank! – bis auf den heutigen Tag danke ich noch dem Schöpfer inbrünstig dafür – ich schickte meinen Brief nicht ab. Ein Schauer läuft mir über den Rücken, wenn ich denke, was daraus hätte entstehen können, – wenn ich ihn abgeschickt hätte! Und plötzlich ... und plötzlich rächte ich mich auf die allereinfachste, allergenialste Weise! Ein herrlicher Gedanke beglückte mich plötzlich. Ich ging nämlich zuweilen an Feiertagen, so um vier herum, auf den Newsky und spazierte dann auf der Sonnenseite. Das heißt, ich spazierte durchaus nicht, sondern empfand bloß unzählige Qualen und Demütigungen und fühlte nur, wie mir die Galle überging; doch hatte ich wahrscheinlich gerade das nötig. Ich kroch dort wie ein Wurm zwischen den Fußgängern herum, trat bald vor Generälen zur Seite, bald vor Gardekavallerie- oder Husarenoffizieren, bald vor eleganten Damen; in diesen Minuten fühlte ich konvulsive Schmerzen im Herzen und Fieberschauer im Rücken bei dem bloßen Gedanken an die Schäbigkeit meiner Kleider, an die Misere und Gemeinheit meiner ganzen sich herumdrückenden, kleinen, unansehnlichen Gestalt. Das war eine wahre Märtyrerqual, ein ununterbrochenes, unerträgliches Erniedrigtwerden durch den Gedanken, der schließlich zum beständigen, unmittelbaren Gefühl wurde, daß ich vor diesen Menschen nur eine Fliege war, eine ganz gemeine unnütze Fliege, wenn ich auch klüger als sie alle war, entwickelter, edler – das versteht sich natürlich von selbst –, so doch eine ihnen allen fortwährend ausweichende Fliege, die von allen erniedrigt und von allen beleidigt wurde. Wozu ich mir diese Qual auflud, warum ich auf den Newsky ging – ich weiß es nicht. Es zog mich einfach bei jeder Gelegenheit dorthin. Doch damals empfand ich schon die Fluten jener Wonnen, jener Genüsse, von denen ich bereits im ersten Teil gesprochen habe. Nach der Geschichte mit dem Offizier aber zog es mich noch mehr dorthin: auf dem Newsky traf ich ihn am häufigsten, dort konnte ich mich dann an ihm sattsehn. Er ging gleichfalls vornehmlich an den Feiertagen spazieren. Wenn er auch oft Generälen und höheren Persönlichkeiten ausbog und sich gleichfalls schlängelte, so wurden doch Leute wie meine Wenigkeit, und sogar solche, die weit besser aussahen, als ich, von ihm einfach bei Seite geschoben: er ging gerade auf sie los, als ob vor ihm freier Raum gewesen wäre, und bog dann unter keinen Umständen aus. Ich berauschte mich an meinem Haß, wenn ich ihn beobachtete, und ... ingrimmig jedesmal vor ihm ausbog. Es quälte mich, daß ich sogar auf der Straße ihm unterlegen war. „Warum biegst Du unbedingt als erster aus?“ fragte ich mich in rasender Wut, wenn ich zuweilen so um drei Uhr Nachts erwachte und mir selbst auf den Leib rückte. „Warum denn gerade Du, warum niemals er? Dafür gibt es doch kein Gesetz, das steht doch nirgends geschrieben! Nun, kann es denn nicht genau zur Hälfte geschehn, so, wie höfliche Menschen ausbiegen, wenn sie sich begegnen: er halb und Du halb und Ihr beide geht dann einfach höflich aneinander vorüber.“ Doch das geschah nie, und nach wie vor bog immer nur ich aus, er aber bemerkte es nicht einmal. – Und siehe, da kam mir plötzlich ein bewunderungswürdiger Gedanke. „Wie aber,“ dachte ich, „wie wäre es, wenn ich ihm begegne und ... _nicht_ ausbiege! Absichtlich nicht ausbiege, und wenn ich ihn auch stoßen sollte? Wie, wie wäre das?“ Dieser freche Gedanke bemächtigte sich meiner allmählich derart, daß ich überhaupt keine Ruh mehr hatte. Ich dachte ununterbrochen, wie das wohl sein würde und ging absichtlich noch öfter auf den Newsky, um mir noch deutlicher vorzustellen, wie ich es machen würde. Ich war einfach begeistert. Diese Absicht schien mir immer mehr und mehr ausführbar. „Versteht sich, nicht stark stoßen,“ dachte ich, schon im Voraus durch die Freude gütiger gestimmt, „sondern nur so, einfach nicht ausweichen, mit ihm zusammenprallen, natürlich nicht schmerzhaft, aber so, Schulter mit Schulter, genau so viel, wie es der Anstand erlaubt; so daß ich ihn eben so stark anstoße, wie er mich stößt.“ Endlich entschloß ich mich definitiv dazu. Doch die Vorbereitungen nahmen noch sehr viel Zeit. Vor allen Dingen mußte man zu diesem Zwecke möglichst anständig aussehen, also mußte man zuerst an die Kleider denken. „Auf alle Fälle, wenn z. B. ein Auflauf entsteht – das Publikum ist doch dort pikfein: Gräfin M. geht, Fürst D. geht, die ganze Literatur geht –, da muß man doch gut angezogen sein; das macht einen günstigen Eindruck und stellt einen in den Augen der höheren Gesellschaft gewissermaßen auf eine höhere Stufe.“ Zu diesem Zweck bat ich denn den Kassierer mir mein Monatsgehalt vorauszuzahlen und kaufte mir dann bei Tschurkin ein Paar schwarze Glacé-Handschuhe und einen anständigen Hut. Schwarze Handschuhe schienen mir erstens solider, und zweitens mehr bon-ton als zitronenfarbene, auf die ich es zuerst abgesehen hatte. „Die Farbe ist zu grell und es sieht dann aus, als ob der Mensch sich allzusehr hervortun will,“ und so verzichtete ich denn auf die zitronenfarbenen. Ein gutes Hemd mit weißen Knöpfen hatte ich schon längst bei Seite gelegt; nur der Mantel hielt mich noch auf. An und für sich war er ja gar nicht übel, gut warm; er war aber wattiert und hatte bloß einen ganz billigen Pelzkragen: Waschbär, was schon die Krone der Billigkeit ist. Da hieß es denn unbedingt einen neuen Kragen kaufen, und zwar, was es auch koste, sich einen kleinen Biber, in der Art, wie ihn die Offiziere tragen, anzuschaffen. Zu diesem Zweck ging ich des öfteren in den Gostinny Dwor, und nach einigem hin und her entschied ich mich für einen billigen deutschen Biber. Diese deutschen Felle vertragen sich zwar sehr schnell, und sehen dann miserabel aus, doch dafür sind sie, wenn sie noch neu sind, sogar sehr anständig; ich aber brauchte ja den Kragen nur für das eine Mal. Ich fragte nach dem Preis: immerhin war’s teuer. Nach reiflichem Überlegen entschloß ich mich, meinen Waschbärkragen zu verkaufen. Die fehlende und für mich doch recht beträchtliche Summe wollte ich borgen, und zwar von Anton Antonytsch Ssetotschkin, meinem Bureauvorsteher, einem stillen, ernsten und durchaus positiven Menschen, der sonst niemandem Geld lieh, doch dem ich bei meinem Antritt von dem mich für diesen Dienst bestimmenden Würdenträger ganz besonders empfohlen worden war. Ich quälte mich fürchterlich. Anton Antonytsch um Geld anzugehen, schien mir ungeheuerlich und schmachvoll. Zwei, drei Nächte konnte ich nicht schlafen und überhaupt schlief ich damals wenig: war wie im Fieber. Das Herz war so träge und dumpf und hörte zuweilen ganz auf, zu schlagen, zuweilen aber fing es plötzlich an, zu springen und dann sprang es, und sprang, und sprang ... Anton Antonytsch war zuerst sehr erstaunt, darauf runzelte er die Stirn, dachte nach und schließlich lieh er mir doch das Geld – nachdem er sich von mir einen Zettel hatte ausstellen lassen, daß er das geliehene Geld nach zwei Wochen von meiner Gage zurückbehalten konnte. Auf diese Weise war schließlich alles bereit; ein hübscher Biber ersetzte meinen häßlichen Waschbär und ich bereitete mich allmählich zur Tat vor. Natürlich konnte man’s doch nicht gleich beim ersten Mal, doch nicht irgendwie unbedacht, nachlässig tun; man mußte es geschickt machen, mußte sich eben allmählich einüben. Nur muß ich gestehen, daß ich nach vielfachen Versuchen geradezu in Verzweiflung geriet: es muß wohl so bestimmt sein, daß wir nicht zusammenstoßen! dachte ich hoffnungslos. Wie ich mich auch vorbereitete, wie fest ich auch entschlossen war, – jetzt, jetzt, gleich, sofort prallen wir aneinander und – wieder war ich ausgebogen, und wieder war er an mir vorübergegangen, ohne mich auch nur zu bemerken! Ich betete sogar, wenn ich mich ihm näherte, damit Gott mir Mut gäbe. Einmal hatte ich mich schon fest entschlossen, doch endete es damit, daß ich ihm nur vor die Füße kam, denn im letzten Augenblick, einige Zentimeter vor ihm, verließ mich der Mut. Mit der größten Seelenruhe schritt er weiter, ich aber flog wie ein Ball zur Seite. In der Nacht darauf lag ich wieder im Fieber und phantasierte wirres Zeug. Und plötzlich endete es besser, als man’s sich überhaupt hätte wünschen können! Am Vorabend beschloß ich definitiv, von meinem unglücklichen Vorhaben abzulassen, die Rache einfach aufzugeben und mit diesem Entschluß ging ich noch zum letzten Mal auf den Newsky, um zu sehn, wie ich das alles so aufgebe ... Plötzlich, drei Schritt vor meinem Feinde, faßte ich den Entschluß, schloß krampfhaft die Augen und – wir stießen uns gehörig Schulter an Schulter! Keinen Zentimeter breit war ich ausgewichen, und ich ging, ihm vollkommen gleichstehend, an ihm vorüber!! Er blickte sich nicht einmal nach mir um und tat, als ob er mich überhaupt nicht bemerkt hätte; natürlich tat er nur so, davon bin ich überzeugt. Bis auf den heutigen Tag bin und bleibe ich davon überzeugt! Natürlich bekam ich mehr ab als er; er war ja viel stärker, doch nicht darum handelte es sich. Es handelte sich darum, daß ich mein Ziel erreicht, meine Würde aufrecht erhalten hatte, keinen Zollbreit ausgewichen war, und mich öffentlich mit ihm auf die gleiche soziale Stufe gestellt hatte! Ich hatte mich für alles gerächt! Triumphierend kehrte ich zurück in meinen dunklen Winkel. Ich war begeistert und sang italienische Arien. Selbstverständlich werde ich Ihnen nicht erzählen, was drei Tage darauf mit mir geschah; wenn Sie den ersten Teil, „Das Dunkel“, gelesen haben, so können Sie’s vielleicht selbst erraten ... Der Offizier wurde später irgendwohin versetzt; seit vierzehn Jahren habe ich ihn nicht mehr gesehn. Wer weiß, was jetzt mein Herzensjunge macht? Wen er jetzt auf die Seite drängt? II. Doch auch die Periode meiner Ausschweifungen ging vorüber und mir wurde alles unsäglich zuwider. Die Reue kam, ich verjagte sie: es war schon zu ekelhaft. Mit der Zeit aber gewöhnte ich mich auch an sie: Ich gewöhnte mich ja an alles, d. h. nicht gerade, daß ich mich an alles gewöhnt hätte, sondern ich willigte gewissermaßen freiwillig ein, zu ertragen. Doch hatte ich einen Ausweg, der alles wieder gut machte, das war – mich ins „Schöne und Hohe“ zu retten, natürlich: nur in der Phantasie. Phantasieren tat ich unglaublich viel, ich phantasierte in meinen Winkel verkrochen mitunter drei Monate lang in einem Strich, und Sie können es mir schon glauben, daß ich dann nicht jenem Herrn glich, der in der Verwirrung seines Hühnerherzens an den Kragen seines Mantels einen deutschen Biber nähte. Ich wurde plötzlich Held. Meinen langen Leutnant hätte ich dann nicht einmal empfangen, wenn er, sagen wir, seine Visite bei mir hätte machen wollen. Ich konnte ihn mir damals überhaupt nicht vorstellen, konnte überhaupt nicht an ihn denken. Was ich damals gerade dachte, wovon ich träumte, und wie mir das genügen konnte, ist jetzt schwer zu sagen, doch damals genügte es mir vollkommen. Übrigens genügt es mir ja auch jetzt teilweise. Ganz besonders süß und wild waren die Träumereien nach meinen jämmerlichen Ausschweifungen; sie kamen mit Reue und Tränen, mit Flüchen und Ekstasen. Es gab Augenblicke, in denen mein Entzücken, mein Freudentaumel, mein Glück so rein waren, daß ich, bei Gott!, nicht den geringsten Spott in mir fühlte. Dann war alles vorhanden: Hoffnung, Glaube, Liebe. Das war’s ja, daß ich dann blind glaubte, alles würde durch irgend ein Wunder, irgend einen äußeren Umstand plötzlich auseinanderrücken, würde sich erweitern; und es würde sich plötzlich die Perspektive einer entsprechenden Tätigkeit für mich öffnen, einer segenreichen, schönen und, vor allen Dingen, _ganz besonderen_ – was für einer eigentlich, wußte ich allerdings nie, aber die Hauptsache war doch, daß es eine ganz besondere Tätigkeit sein würde. Und siehe, da trete ich denn plötzlich auf, und es fehlt nicht viel, daß ich auf weißem Roß im Lorbeerkranz erscheine ... In einer zweitrangigen Rolle habe ich mich nie denken können. Deswegen war ich denn auch in Wirklichkeit in größter Seelenruhe mit der letztrangigen zufrieden. Entweder Held oder Schmutz, eine Mitte gabs nicht. Das wars ja, was mich verdarb, denn im Schmutz beruhigte ich mich damit, daß ich zu anderen Zeiten wiederum Held war, der Held aber den Schmutz zur Null macht: für einen gewöhnlichen Menschen, meinte ich, ist es eine Schande, in den Schmutz zu geraten, der Held jedoch steht viel zu hoch, um sich je beschmutzen zu können, folglich kann er ruhig in Schmutz geraten. Sonderbar, daß mich diese Fluten „alles Schönen und Hohen“ auch in der Zeit meiner elenden Ausschweifungen überkamen, und zwar gerade dann, wenn ich schon ganz auf dem Boden lag. Sie kamen dann so in einzelnen kurzen kleinen Wellen, als ob sie nur an sich erinnern wollten, vernichteten aber mit ihrem Erscheinen doch nicht die Gemeinheit. Im Gegenteil, durch den Kontrast belebten sie sie geradezu, und sie kamen genau nur in der Portion, die zu einer guten Sauce nötig war. Diese Sauce bestand aus Widersprüchen und Leiden, aus qualvoller innerer Analyse, und alle diese Qualen und Quälchen gaben dann geradezu eine gewisse Pikanterie, gaben sogar meinen gemeinen Ausschweifungen einen Sinn, – mit einem Wort, sie erfüllten in jeder Beziehung die Pflicht und Schuldigkeit einer guten Sauce. Alles das war sogar nicht ohne eine gewisse Tiefe. Und wie hätte ich mich denn auf eine einfache, gemeine Schreiberausschweifung einlassen und wie hätte ich diesen ganzen Schmutz dann auf mir ertragen können! Was konnte mich denn damals zum Schmutz verführen, was mich nachts auf die Straße locken? Nein, wissen Sie, ich hatte für alles ein edles Schlupfloch ... Doch wieviel Liebe, Herrgott, wieviel Liebe erlebte ich zuweilen in diesen meinen Träumereien, in diesen „Rettungen in alles Schöne und Hohe“! Wenn’s auch eine phantastische Liebe war, wenn sie sich auch niemals auf etwas Menschenartiges in Wirklichkeit übertrug, so war sie ja doch dermaßen groß, diese Liebe, daß man später, in Wirklichkeit, gar nicht das Bedürfnis empfand, sie auf jemanden zu übertragen: das wäre schon ganz überflüssiger Luxus gewesen. Übrigens endete alles immer überaus glücklich in trägem und berauschendem Übergang zur Kunst, d. h. zu den schönen Formen des Seins, zu ganz fertigen, versteht sich, die natürlich stark von Dichtern und Romantikern entlehnt waren und allen möglichen Anforderungen angepaßt wurden. Zum Beispiel: ich triumphiere über alle; selbstverständlich liegen sie alle im Staube vor mir und sind gezwungen, freiwillig meine sämtlichen Vollkommenheiten anzuerkennen, und ich vergebe ihnen darauf alles. Ich verliebe mich, bin berühmter Dichter und Kammerherr, verdiene unzählige Millionen und spende sie sofort für das Wohl der Menschheit, und zu gleicher Zeit beichte ich vor dem ganzen Volke alle meine Laster, die selbstverständlich nicht gewöhnliche Laster sind, sondern ungemein viel „Schönes und Hohes“ in sich schließen – Laster, die, sagen wir, etwas Manfredartiges haben. Alle weinen und küssen mich natürlich – wären sie doch Tölpel, wenn sie das nicht täten –, ich aber gehe barfuß und hungrig von dannen, um neue Ideen zu verkünden und schlage die Reaktionäre bei Austerlitz. Darauf wird ein Marsch gespielt, eine Amnestie wird erlassen, der Papst willigt ein, von Rom nach Brasilien überzusiedeln; darauf wird für ganz Italien ein Ball gegeben in der Villa Borghese, die am Comersee liegt, da der Comersee expreß zu diesem Zweck nach Rom verlegt wird; darauf folgt eine Szene im Gebüsch u. s. w., u. s. w. – als ob Sie’s nicht wüßten? ... Sie sagen, es sei niedrig und gemein, alles das jetzt auf den Markt zu tragen, besonders nach so viel Begeisterung und Tränen, die ich selbst eingestanden habe. Aber warum ist’s denn gemein? Glauben Sie denn wirklich, daß ich mich all dessen schäme, und daß alles dieses dümmer ist, als einerlei was in Ihrem Leben, meine hochverehrten Herren? Und zudem können Sie mir glauben, daß ich mir manches wirklich gar nicht so übel zusammengesetzt hatte ... Es spielte sich doch nicht alles auf dem Comersee ab. Doch übrigens, Sie haben Recht; es ist tatsächlich niedrig und gemein. Aber am allergemeinsten ist, daß ich mich jetzt vor Ihnen zu rechtfertigen suche. Und noch gemeiner ist es, daß ich jetzt diese Bemerkung mache. Nun aber genug, sonst käme man ja überhaupt nicht zum Schluß: immer würde eines noch gemeiner als das andere sein ... Länger als drei Monate in einem Strich denken, konnte ich aber doch nicht; dann stellte sich bei mir das unüberwindliche Bedürfnis ein, mich in menschliche Gesellschaft zu stürzen: das bedeutete für mich, zu meinem Bureauvorsteher Anton Antonytsch Ssetotschkin zum Besuch zu gehn. Das war in meinem ganzen Leben mein einziger ständiger Bekannter, – nein wirklich, jetzt wundert mich das sogar selbst –. Doch auch zu ihm ging ich nur im äußersten Fall, bloß dann, wenn schon die Periode begann, in der meine Träumereien zu solch einem Glück wurden, daß ich unbedingt und unverzüglich die Menschen oder die Menschheit umarmen mußte; zu dem Zweck aber mußte man wenigstens einen wirklich vorhandenen, wirklich existierenden Menschen vor sich haben. Zu Anton Antonytsch konnte man übrigens nur Dienstags gehen – das war sein freier Tag –, folglich mußte man auch das Bedürfnis, die ganze Menschheit zu umarmen, immer auf den Dienstag hinausschieben. Dieser Anton Antonytsch wohnte bei den Fünf Ecken im vierten Stock in vier niedrigen Zimmerchen, die klein-kleiner-am-kleinsten waren und einen recht ärmlichen Eindruck machten. Er hatte zwei Töchter und deren Tante, die gewöhnlich mit Tee bewirtete, bei sich. Die Töchter waren eine dreizehn, die andere vierzehn; beide hatten sie Stutznäschen, und mich verwirrten sie nicht wenig, denn sie flüsterten und kicherten die ganze Zeit. Der Hausherr saß immer in seinem Arbeitszimmer auf dem Ledersofa vor dem Tisch, meistens mit irgend einem alten Bekannten, oder einem Beamten aus unserer Kanzlei. Mehr als zwei oder drei Gäste – immer dieselben – habe ich dort nie gesehn. Man sprach über die Accise, über die Senatsverhandlungen, über die Gagen, von seiner Exzellenz, von dem Mittel zu Gefallen und ähnlichem ^ad infinitum^. Ich hatte die Geduld, neben diesen Menschen als Narr mitunter geschlagene vier Stunden zu sitzen und ihnen zuzuhören, ohne selbst auch nur einmal ein Wort zu sagen oder sagen zu können. Ich stumpfte vor mich hin, schwitzte und fühlte einen Schlaganfall über mir schweben; aber es war gut und nützlich. Nach Haus zurückgekehrt, schob ich meinen Wunsch, die ganze Menschheit zu umarmen, für eine Zeitlang auf. Übrigens hatte ich noch so etwas wie einen Bekannten: Ssimonoff, meinen gewesenen Schulkameraden. Solcher Schulkameraden hatte ich genau genommen nicht wenige in Petersburg, doch gab ich mich mit ihnen nicht weiter ab, ja, ich hörte sogar auf, sie auf der Straße zu grüßen. Vielleicht war das der einzige Grund, warum ich in ein anderes Ressort überging, – ich meine, vielleicht tat ich es nur, um mit meiner ganzen verhaßten Kindheit mit einem Mal abzubrechen. Verflucht sei diese Schule, diese furchtbaren Gefängnisjahre! Kurz: als ich endlich die Schule hinter dem Rücken hatte, wollte ich nichts mehr von meinen Mitschülern wissen. Es blieben höchstens drei oder vier Menschen, mit denen ich, wenn ich sie traf, noch einen Gruß tauschte. Zu diesen vier gehörte auch Ssimonoff. In der Schule zeichnete er sich durch nichts aus, war gleichmäßig ruhig und still, doch entdeckte ich in seinem Charakter eine gewisse Unabhängigkeit und sogar Ehrlichkeit. Ja, ich glaube nicht einmal, daß er sehr beschränkt war. Einmal hatten wir beide ziemlich lichte Stunden durchlebt, doch die hielten nicht lange an, und allmählich breitete sich Nebel über sie. Ihm waren diese Erinnerungen augenscheinlich unangenehm, und er fürchtete, wie’s mir schien, immer, ich würde wieder in den alten Ton verfallen. Ich vermutete zwar, daß ich ihm widerlich war, doch ging ich trotzdem zu ihm, da ich mich davon doch noch nicht ganz überzeugt hatte. Und einmal, an einem Donnerstag, konnte ich meine Einsamkeit nicht mehr ertragen, und da ich wußte, daß Donnerstags Anton Antonytschs Tür verschlossen war, so ging ich denn zu Ssimonoff. Als ich langsam zum vierten Stock zu ihm hinaufstieg, dachte ich noch gerade, daß ich ihm doch nur lästig falle und daher eigentlich nicht zu ihm gehen sollte. Doch da es ja bei mir gewöhnlich damit endete, daß ähnliche Bedenken mich noch mehr aufstachelten, in zweideutige Lagen zu kriechen, so trat ich auch damals bei ihm ein, anstatt zurück nach Haus zu gehen. Es war fast ein ganzes Jahr vergangen, seit ich ihn zum letzten Mal gesehen hatte. III. Er war nicht allein: zwei meiner früheren Schulkameraden saßen bei ihm. Sie sprachen, wie es schien, über etwas sehr Wichtiges. Auf meinen Eintritt verwandte kein einziger von ihnen irgendwelche Aufmerksamkeit, was mir eigentlich etwas sonderbar erschien, denn wir hatten uns doch schon jahrelang nicht mehr gesehen. Augenscheinlich hielt man mich für so etwas wie eine gewöhnliche Fliege. Derartig hatte man mich nicht einmal in der Schule behandelt, obgleich mich dort alle gehaßt hatten. Ich begriff natürlich, daß sie mich wegen meines Mißerfolges in der Karriere, wegen meiner tiefen Gesunkenheit, wegen meines schlechten Überziehers u. s. w. verachteten. Mein Überzieher war in ihren Augen geradezu das Plakat meiner Unfähigkeit und geringen Bedeutung. Doch immerhin hatte ich nicht eine dermaßen tiefe Verachtung von ihnen erwartet. Ssimonoff wunderte sich sogar über meinen Besuch. Auch früher schon hatte er immer getan, als ob ihn mein Kommen in Erstaunen setzte. Alles das machte mich natürlich stutzig; ich setzte mich ein wenig bedrückt auf einen Stuhl und hörte ihrem Gespräch zu. Man sprach ernst und interessiert über das Abschiedsdiner, das diese drei ihrem Freunde Swerkoff, der als aktiver Offizier in den Kaukasus versetzt worden war, am Tage vor der Abfahrt geben wollten. Dieser Swerkoff war gleichfalls von der ersten Klasse an mein Mitschüler gewesen, aber erst in den höheren Klassen hatte ich ihn ganz besonders gehaßt. In den unteren Klassen war er bloß ein netter, mutwilliger Knabe gewesen, den alle liebten. Übrigens haßte ich ihn auch schon in den unteren Klassen, und zwar gerade, weil er ein netter und mutwilliger Knabe war. Was das Lernen anbetraf, so lernte er ausnahmslos schlecht, und zwar von Jahr zu Jahr schlechter; einstweilen aber beendete er doch das Gymnasium, denn er hatte eine gute Protektion. Als er in der letzten Klasse war, fiel ihm eine Erbschaft zu, zweihundert Seelen, und da wir anderen fast alle arm waren, so tat er sich gar bald mit seinem Reichtum vor uns wichtig. Er war ja ein im höchsten Grade fader Mensch, doch trotzdem ein guter Junge, selbst dann, wenn er aufschnitt. Bei uns aber scherwenzelten, abgesehen von sehr wenigen, fast alle vor ihm, trotz unserer äußeren phantastischen und phrasenhaften Schuljungenbegriffe von Ehre und Honorigkeit. Und man tat es nicht etwa, um von ihm etwas dafür zu erhalten, sondern einfach nur so, vielleicht weil ihn die Natur bei der Verteilung ihrer Gaben bevorzugt hatte. Zudem hielt man ihn, ich weiß nicht warum, für einen Spezialisten in allem, was die Gewandtheit und gute Manieren anbetraf. Das ärgerte mich ganz besonders. Ich haßte seine helle, selbstzufriedene Stimme, seine Bewunderung der eigenen Witzchen, die gewöhnlich äußerst dumm waren, wenn er auch sonst ganz unterhaltend sein konnte. Ich haßte sein hübsches, doch ziemlich dummes Gesicht – gegen das ich, nebenbei bemerkt, mein _kluges_ gerne eingetauscht hätte – und seine freien Offiziersmanieren. Ich haßte es, daß er von seinen zukünftigen Erfolgen bei den Frauen sprach – doch konnte er sich nicht entschließen, mit ihnen vorher anzufangen, als bis er die heißersehnten Offiziersepauletten hatte –, und seine Prahlerei, daß er fortwährend Duelle haben würde. Ich erinnere mich noch, wie ich, der ich immer schweigsam war, plötzlich mich auf ihn stürzte, als er gerade in der Zwischenpause mit den Kameraden selbstzufrieden wie ein junger Köter in der Sonne wieder über die Weiber sprach und erklärte, daß er kein einziges Mädchen seines Gutes unbeachtet lassen würde, dieses wäre „^droit de seigneur^“, die Bauernkerle aber, falls sie sich erdreisten sollten, zu protestieren, alle durchpeitschen und diesen bärtigen Kanaillen dann noch doppelte Pacht auflegen würde. Unsere Hamiten klatschten Beifall, ich aber krallte ihn, doch tat ich das keineswegs aus Mitleid mit den Mädchen, oder ihren Vätern, sondern einfach weil solch ein Mistkäfer so großen Beifall fand. Ich behielt damals die Oberhand, Swerkoff aber war, wenn auch an und für sich dumm, doch lustig und dreist, und so zog er sich mit Lachen aus der Situation, und zwar gelang ihm das so gut, daß ich im Grunde genommen denn doch nicht ganz die Oberhand behielt: die Lacher waren auf seiner Seite. Später besiegte er mich noch mehrmals, doch eigentlich ganz ohne Bosheit, mehr scherzend, so im Vorübergehen, lachend. Ich tat, als ob ich ihn verachtete und schwieg. Nach der Entlassung näherte er sich mir ein wenig und ich sträubte mich nicht sonderlich, denn es schmeichelte mir selbstverständlich sehr; doch gingen wir bald wieder auseinander, was ja ganz natürlich war. Später hörte ich von seinen Leutnantserfolgen, von seinem flotten Leben. Darauf hieß es, daß er im Dienst gute Fortschritte machte. Nach einiger Zeit grüßte er mich nicht mehr auf der Straße; wohl um sich nicht durch die Bekanntschaft mit solch einer unbedeutenden Persönlichkeit zu kompromittieren. Einmal sah ich ihn auch im Theater, da hatte er schon Achselschnüre. Er machte den Töchtern irgend eines alten Generals eifrig den Hof. Darauf, so nach drei Jahren, hatte er sich plötzlich ziemlich stark verändert, wenn er auch noch wie früher hübsch und gewandt war: er wurde dick; und als ich ihn nachher wiedersah, war sein Gesicht schon ein wenig aufgedunsen; es war vorauszusehen, daß er mit dreißig Jahren feist werden würde. Also diesem Swerkoff wollten meine Schulkameraden ein Abschiedsdiner geben. Sie hatten sich in diesen drei Jahren ununterbrochen mit ihm abgegeben, wenn sie sich auch innerlich nicht für gleichstehend mit ihm hielten – davon bin ich überzeugt. Von den beiden Gästen Ssimonoffs war der eine Ferfitschkin, ein Deutsch-Russe – ein Männchen von kleinem Wuchs mit einem Affengesicht, ein alle Welt verspottender Dummkopf, mein gehässigster Feind noch aus den untersten Klassen –, ein gemeiner, frecher Prahlhans, der vorgab, in Ehrensachen äußerst kitzlich zu sein, in Wirklichkeit aber natürlich ein Feigling war. Er gehörte zu jenen Anhängern Swerkoffs, die sich mit ihm nur abgaben, weil er gesellschaftlich höher stand und sie ihn anpumpen konnten. Der andere Gast Ssimonoffs war Trudoljuboff, kein sehr bemerkenswerter Mensch, Militär, von großem Wuchs mit einer kalten Physiognomie, ein Mensch, dem jeder Erfolg imponierte, und der im übrigen nur fähig war, über Rußlands Produktionsfähigkeit zu sprechen. Mit Swerkoff war er irgendwie entfernt verwandt, und das – es ist zwar dumm zu sagen, aber es war nun einmal so –, das gab ihm unter uns eine gewisse Bedeutung. Mich hielt er für eine Null; wenn er auch nicht gerade sehr höflich zu mir war, so betrug er sich doch leidlich. „Also abgemacht: pro Mann sieben Rubel,“ begann Trudoljuboff, „– wir sind drei, macht also einundzwanzig. Dafür kann man schon dinieren. Swerkoff zahlt natürlich nicht.“ „Selbstverständlich zahlt er nicht, wenn wir ihn doch auffordern,“ meinte Ssimonoff. „Glaubt Ihr denn wirklich, Swerkoff wird uns allein zahlen lassen?“ fragte plötzlich hochmütig auffahrend Ferfitschkin – ganz wie ein unverschämter Lakai, der mit den Orden seines Herrn prahlt –. „Aus Delikatesse wird er es vielleicht tun, dafür aber von sich aus wie ein _halbes Dutzend_ ansetzen!“ „Na, wissen Sie, sechs Flaschen Champagner sind denn doch für uns zu viel,“ bemerkte Trudoljuboff, dem nur das „halbe Dutzend“ aufgefallen war. „Also wir drei, mit Swerkoff vier, für einundzwanzig Rubel im Hotel de Paris, morgen um Punkt fünf,“ schloß Ssimonoff, der zum Anordner gewählt worden war. „Wieso einundzwanzig?“ fragte ich, kaum, daß er ausgesprochen hatte, einigermaßen erregt und scheinbar sogar gekränkt, „ich bin doch auch dabei, also nicht einundzwanzig, sondern achtundzwanzig Rubel!“ Ich glaubte, sich so plötzlich und unerwartet anbieten würde sich sehr schön ausnehmen und sie würden alle im Augenblick besiegt sein und mich achten. „Wollen Sie denn auch –?“ fragte statt dessen Ssimonoff ungehalten, wobei er es vermied, mich anzusehen. Er kannte mich auswendig. Mich ärgerte es maßlos, daß er mich so gut kannte. „Warum denn nicht? Ich bin doch, glaube ich, auch sein Schulfreund, und ich muß offen gestehn, es kränkt mich sogar, daß man mich übergangen hat.“ „Wo Teufel sollte man Sie denn suchen?“ fragte frech Ferfitschkin. „Sie standen sich doch niemals sehr besonders mit Swerkoff,“ bemerkte gleichfalls geärgert Trudoljuboff. Ich aber ließ sie nicht mehr los. „Ich glaube, darüber zu urteilen steht mir allein zu,“ entgegnete ich mit wutbebender Stimme, ganz als ob Gott weiß was geschehen wäre. „Vielleicht will ich gerade deswegen jetzt mit ihm speisen, weil ich mich früher nicht besonders mit ihm stand.“ „Na, wer kann denn das ahnen ... diese Feinheiten ...“ bemerkte lächelnd Trudoljuboff. „Nun gut,“ entschied Ssimonoff und wandte sich zu mir, – „morgen um fünf Uhr im Hotel de Paris. Verspäten Sie sich nicht,“ fügte er hinzu. „Und das Geld ...?“ begann Ferfitschkin halblaut, indem er mit dem Kopf auf mich wies und Ssimonoff fragend anblickte, verstummte aber, da sogar Ssimonoff verlegen wurde. „Nun, genug,“ sagte Trudoljuboff und erhob sich. „Wenn er so große Lust hat, mag er kommen.“ „Aber unser Kreis ist doch privat,“ sagte Ferfitschkin wütend und griff gleichfalls nach seinem Hut. „Das ist doch keine öffentliche Versammlung.“ „Vielleicht wollen wir Sie überhaupt nicht ...“ Sie gingen: Ferfitschkin grüßte mich nicht einmal, Trudoljuboff nickte kaum, ohne mich dabei anzusehen. Ssimonoff, mit dem ich allein blieb, war verdrossen und schien unangenehme Bedenken zu tragen; nur einmal blickte er mich sonderbar an. Er setzte sich nicht und forderte auch mich nicht auf, Platz zu nehmen. „Hm! ... ja ... also morgen. Geben Sie das Geld heute? Ich ... nur um es genau zu wissen,“ begann er, brach aber sofort verlegen ab. Ich wurde rot und im selben Augenblick fiel es mir plötzlich ein, daß ich Ssimonoff noch seit undenklichen Zeiten fünfzehn Rubel schuldete, die ich übrigens nie vergessen, doch die ich ihm noch immer nicht wiedergegeben hatte. „Sagen Sie es sich doch selbst, Ssimonoff, ich konnte es doch nicht wissen, als ich herkam ... es tut mir sehr leid, daß ich vergaß, m...“ „Schon gut, schon gut, bleibt sich ja gleich. Sie zahlen dann morgen nach dem Diner. Ich fragte ja nur, um zu wissen ... bitte ...“ Er verstummte mitten im Satz, schritt aber noch unwilliger im Zimmer auf und ab, wobei er mit den Absätzen immer stärker und stärker auftrat. „Ich halte Sie doch nicht auf?“ fragte ich ihn nach längerem Schweigen. „O, nein!“ protestierte er und tat, als ob er aus tiefen Gedanken auffahre, „– das heißt ... im Grunde – ja. Sehen Sie, ich müßte eigentlich noch ausgehen ... hier, in der Nähe ...“ fügte er mit entschuldigender Stimme hinzu. Ersichtlich schämte er sich ein wenig. „Ach, mein Gott! Warum sagten Sie es nicht gleich!“ rief ich, ergriff meine Mütze und verabschiedete mich von ihm – übrigens benahm ich mich in dem Augenblick ganz erstaunlich ungezwungen; weiß Gott woher diese Sicherheit über mich kam. „Es ist ja nicht weit ... Hier ganz in der Nähe ...“ wiederholte Ssimonoff etwas gar zu geschäftig, als er mich in den Treppenflur hinausbegleitete. „Also morgen um Punkt fünf!“ rief er mir noch nach; er war schon allzu glücklich über meinen Aufbruch. Ich aber raste innerlich vor Wut. „Was plagte Dich, was plagte Dich, Deine Nase da hineinzustecken!“ fragte ich mich zähneknirschend auf der Straße. „Dieser Gauner, dieses Ferkel Swerkoff! Einfach – ich gehe nicht! Natürlich, hol sie der Henker! Bin ich denn etwa gebunden? Morgen früh werde ich Ssimonoff brieflich benachrichtigen ...“ Aber ich raste ja doch nur vor Wut, weil ich wußte, weil ich genau, tödlich genau wußte, daß ich doch gehen würde, zum Trotz gehen würde! Und je taktloser, je unanständiger es sein sollte, hinzugehen, um so eher würde ich gehen! – das wußte ich. Und ich hatte sogar einen guten Grund, abzusagen: hatte kein Geld. Alles in allem besaß ich noch neun Rubel. Doch von diesen neun Rubeln mußte ich am nächsten Tage meinem Aufwärter Apollon, der bei mir wohnte, doch sich selbst beköstigte, seine Monatsgage, sieben Rubel, auszahlen. _Nicht_ auszahlen war unmöglich, da ich den Charakter meines Apollon nur zu gut kannte. Doch auf diese Kanaille, auf diese meine Plage, meine Seuche, werde ich noch ausführlicher zu sprechen kommen. Aber ich wußte es ja im voraus, daß ich ihm das Geld doch nicht geben und unbedingt ins Hotel de Paris gehen würde. In jener Nacht hatte ich ganz hundsgemeine Träume. Kein Wunder: den ganzen Abend vorher hatten mich Erinnerungen aus den Kerkerjahren meiner Schulzeit gequält; nicht loszuwerden! In diese Schule hatten mich meine entfernten Verwandten gesteckt, – mich, den Waisenknaben, der ich schon sowieso verprügelt und von ihren Vorwürfen fast erdrückt war. Ich war ein schweigsames, nachdenkliches Kind, das nur scheu beobachtete. Meine Mitschüler empfingen mich mit boshaften, unbarmherzigen Witzchen, weil ich ihnen so ganz unähnlich war. Ich aber konnte keinen Spott ertragen; ich konnte mich nicht so schnell wie andere Kinder mit ihnen einleben. Ich haßte sie vom ersten Tage an, zog mich ganz von ihnen zurück und wappnete mich mit übermäßig empfindlichem Stolz. Ihre Rohheit empörte mich. Sie lachten zynisch über mein Gesicht, über meine eckige Gestalt; und doch – was hatten sie selbst für Gesichter! In unserer Schule wurden die Gesichter mit der Zeit ganz absonderlich dumm. Wie viele prächtige Kinder traten bei uns ein – und schon nach wenigen Jahren war’s widerlich, sie anzusehen. Ich war noch nicht sechzehn, als ich mich schon über die Flachheit ihrer Gedanken, die Dummheit ihrer Beschäftigungen, Spiele und Gespräche wunderte. Die wichtigsten Dinge, die auffallendsten Erscheinungen konnten sie nicht verstehen, ja, sie hatten nicht einmal Interesse für sie übrig, so daß ich sie unwillkürlich für unter mir stehende Geschöpfe hielt. Nicht etwa beleidigter Ehrgeiz veranlaßte mich dazu, und kommen Sie mir um Gottes willen nicht mit den bis zur Übelkeit durchgekauten Gemeinplätzen, den alten abgedroschenen Phrasen, wie: „Sie träumten bloß, jene aber begriffen schon das wirkliche Leben“. Nichts begriffen sie, vom wirklichen Leben schon ganz zu schweigen, und das, ich schwör’s Ihnen, das war es gerade, was mich an ihnen am meisten empörte. Im Gegenteil, die augenscheinlichste, die auffallendste Wirklichkeit faßten sie geradezu phantastisch dumm auf, und schon damals achteten sie nur den Erfolg. Alles, was im Recht, doch erniedrigt und verprügelt war, wurde von ihnen grausam und schmählich verlacht. Rang oder Titel hielten sie für Verstand; schon mit sechzehn Jahren philosophierten sie über warme Plätzchen, ich meine, über gute ruhige Posten. Natürlich kam das meist von ihrer Dummheit und dem schlechten Beispiel, das sie von Kindheit an vor Augen hatten. Verdorben waren sie bis zu Ungeheuern. Natürlich war hierbei vieles nur äußerlich, war nur angenommener Zynismus; Jugend und eine gewisse Frische durchbrachen auch bei ihnen zuweilen die Verderbnis, doch war selbst diese Frische an ihnen abstoßend. Ich haßte sie furchtbar, obgleich ich womöglich noch schlechter war als sie. Sie zahlten mir mit derselben Münze heim und machten auch aus ihrem Haß keinen Hehl. Doch ich wollte damals schon nichts mehr von ihrer Liebe wissen; im Gegenteil, ich wollte sie nur noch erniedrigen. Um mich vor ihren Spötteleien zu schützen, bemühte ich mich absichtlich, möglichst gut zu lernen, und so wurde ich denn alsbald einer der ersten Schüler. Das imponierte ihnen natürlich. Zudem leuchtete es ihnen allmählich ein, daß ich schon Bücher las, die sie nicht lesen konnten, und daß ich schon Dinge – die nicht in unseren speziellen Kursus gehörten – begriff, von denen sie noch nicht einmal hatten reden gehört. Doch auch dazu verhielten sie sich wie immer spöttisch, moralisch aber unterwarfen sie sich, – um so mehr, als sogar die Lehrer in der Beziehung einige Aufmerksamkeit auf mich verwandten. Die Spötteleien hörten auf, doch die Feindseligkeit hörte nicht auf, und das Verhältnis zwischen ihnen und mir blieb kühl und gezwungen. Zu guterletzt hielt ich es selbst nicht aus; mit den Jahren stellte sich bei mir das Bedürfnis nach Menschen und Freunden ein. Ich versuchte zwar, mich einigen von ihnen zu nähern, aber diese Annäherungen waren von mir aus immer unnatürlich, und so hörten sie denn auch bald wieder auf. Einmal aber hatte auch ich einen Freund. Da ich aber schon von Hause aus Despot war, wollte ich unumschränkt über seine Seele herrschen: ich wollte in seine Seele Verachtung für die ihn umgebenden Menschen einpflanzen; ich verlangte von ihm, er sollte mit ihnen ganz und gar brechen. Ich ängstigte ihn mit meiner leidenschaftlichen Liebe; ich brachte ihn bis zu Tränen, zu Krämpfen; er hatte ein naives, sich hingebendes Herz; doch als er sich mir ganz ergeben hatte, da erfaßte mich plötzlich Haß gegen ihn, und ich stieß ihn von mir, – ganz als ob ich ihn nur gebraucht hätte, um ihn zu besiegen, um ihn mir zu unterwerfen. Alle aber konnte ich doch nicht so besiegen; mein Freund war gleichfalls nicht wie die anderen, er glich keinem einzigen von ihnen und war in jeder Beziehung eine Ausnahme. Als ich die Schule verließ, war das Erste, was ich tat, daß ich den Dienst, zu dem ich bestimmt war, verließ, um so alle Fäden, die mich an das Frühere banden, zu zerreißen, das Vergangene zu verfluchen und den Staub alles Gewesenen von meinen Füßen zu schütteln ... Weiß der Teufel, warum ich dann noch zu diesem Ssimonoff kroch! ... Am nächsten Morgen erwachte ich sehr früh, erinnerte mich sofort des Geschehenen und sprang erregt aus dem Bett, ganz als ob ich unverzüglich hätte hingehen müssen. Ich glaubte, daß noch am selben Tage irgend ein radikaler Umschwung in meinem Leben beginnen, ja, _unbedingt_ beginnen würde. Weiß Gott, vielleicht war er aus Ungewohnheit, aber jedesmal bei irgend einem äußeren, wenn auch noch so kleinen Ereignis, schien es mir, daß sofort irgend ein radikaler Umschwung in meinem Leben eintreten würde. Übrigens begab ich mich an jenem Tage wie gewöhnlich in meine Kanzlei, doch verließ ich sie heimlich schon zwei Stunden früher als sonst, um mich zu Hause vorzubereiten. Die Hauptsache ist nur, dachte ich, daß Du nicht als erster erscheinst, sonst würde man denken, Du freutest Dich schon so sehr auf das Essen, daß Du nicht abwarten könntest. Doch solcher Hauptsachen gab es Hunderte und alle regten sie mich bis zu völliger Entkräftung auf. Eigenhändig putzte ich noch einmal meine Stiefel – waren mir nicht blank genug; Apollon hätte sie um nichts in der Welt zweimal am Tage geputzt, denn er fand, daß das nicht in der Ordnung sei. Und so putzte ich sie denn selbst, nachdem ich die Bürste im Vorzimmer glücklich erwischt hatte, heimlich in meinem Zimmer, damit er es nicht sah und dann Grund gehabt hätte, mich zu verachten. Darauf besah ich meine Kleider und fand, daß alles schon alt, fadenscheinig, vertragen war. Hatte mein Äußeres schon etwas zu sehr vernachlässigt. Der Überzieher war allerdings ausgebessert, aber ich konnte doch nicht im Überzieher dinieren. Doch das Schlimmste waren die Beinkleider: gerade auf dem Knie war ein großer gelber Fleck. Ich fühlte es im voraus, daß mir schon allein dieser Fleck neun Zehntel meiner Würde nehmen mußte. Auch wußte ich, daß es sehr niedrig war, so zu denken. „Doch jetzt ist’s nicht mehr ums Denken zu tun: jetzt beginnt die Wirklichkeit,“ dachte ich und verlor immer mehr den Mut. Auch wußte ich ganz genau – im selben Augenblick, da ich jenes dachte –, daß ich alle diese Dinge ungeheuer vergrößerte; aber was sollte ich machen: mich beherrschen war unmöglich. Fieberschauer schüttelten mich. Verzweifelt stellte ich mir vor, wie das alles sein wird: wie dieser „Gauner“ Swerkoff mich kühl und herablassend begrüßt; mit welch einer stumpfen, mit nichts abzuwehrenden Verachtung der Rüpel Trudoljuboff auf mich herabsieht, und wie gemein und frech dieser Mistkäfer Ferfitschkin über mich kichert, um Swerkoff zu gefallen; wie vorzüglich Ssimonoff alles versteht, wie er mich durchschaut und mich wegen der Niedrigkeit meines Ehrgeizes und Kleinmuts verachtet. Und vor allen Dingen – wie kläglich, wie _unliterarisch_, wie alltäglich das alles sein wird! Am besten wäre es natürlich gewesen – überhaupt nicht hinzugehn. Aber gerade das war ja ganz und gar unmöglich: wenn es mich schon einmal irgendwohin zog, so war nichts mehr zu wollen. Ich hätte mir ja dann mein Leben lang keine Ruh gelassen: „Hast doch Angst bekommen, hehe, hast vor der _Wirklichkeit_ Angst bekommen, ja ja!“ Nein, das war ganz ausgeschlossen. Ich aber wollte doch gerade diesem Pack _beweisen_, daß ich keineswegs solch ein Feigling war, wie ich’s selbst glaubte. Ja, im stärksten Paroxismus meiner Feigheit wollte ich sie mir sogar unterwerfen, sie besiegen, bezaubern, zwingen, mich zu lieben – na, sagen wir meinetwegen „wegen der Erhabenheit meines Geistes“. Sie würden Swerkoff ganz vergessen, er würde abseits sitzen, schweigen und sich schämen, ich aber würde Swerkoff einfach zum Nußknacker machen. Später könnte ich mich ja wieder mit ihm versöhnen, meinetwegen sogar Brüderschaft trinken; doch was am bittersten und kränkendsten für mich war, das war, daß ich im selben Augenblick doch wußte, genau, tödlich genau wußte, daß ich dessen in Wirklichkeit überhaupt nicht bedurfte, daß ich sie im Grunde überhaupt nicht mir unterwerfen oder besiegen wollte, und daß ich für diesen ganzen Erfolg, wenn ich ihn nur erringen könnte, selbst nicht eine Kopeke geben würde. Oh wie betete ich zu Gott, daß dieser Tag schneller vorübergehen möge! In unbeschreiblicher Seelenangst trat ich ans Fenster und starrte in die neblige Dämmerung des dicht fallenden Schnees ... Endlich schlug es: meine kleine erbärmliche Wanduhr schnurrte heiser fünf Schläge. Ich ergriff meine Mütze und schlüpfte dann ohne aufzusehn an Apollon vorüber – der seit dem Morgen die Auszahlung seiner Gage von mir erwartete, doch in seiner Dummheit es für unter seiner Würde hielt, mich daran zu erinnern – und nahm darauf für meinen letzten Fünfziger einen guten Schlitten, um als vornehmer Herr am Hotel de Paris vorzufahren. IV. Schon am Abend vorher hatte ich es gewußt, daß ich als erster ankommen würde. Doch war es mir nicht mehr darum zu tun. Von ihnen war noch niemand erschienen und erst nach langem Suchen konnte ich das für uns bestellte Zimmer finden. Der Tisch war noch nicht ganz gedeckt. Was hatte das zu bedeuten? Nach vielen Fragen und endlosem Hin und Her erfuhr ich endlich von den Kellnern, daß das Diner zu sechs und nicht zu fünf Uhr bestellt worden war. Das bestätigte man mir auch am Buffet. Ich schämte mich, noch mehr zu fragen. Es war erst fünfundzwanzig Minuten nach fünf. Wenn sie die Stunde verändert hatten, so wäre es ihre Pflicht gewesen, mich davon zu benachrichtigen, dazu gibt es doch eine Stadtpost, nicht aber mich der „_Schande_“ auszusetzen, ... vor ... vor mir selbst wie ... wie auch, nun, meinetwegen, wie auch vor den Kellnern. Ich setzte mich; bald darauf kam der Diener, um den Tisch zu decken; in seiner Gegenwart wurde das Warten noch unangenehmer, und das Benehmen der anderen zu mir noch kränkender. Kurz vor sechs Uhr wurden noch Lichte gebracht, da die Lampen das Zimmer nicht genügend erhellten. Dem Bedienten war es nicht in den Sinn gekommen, die Lichte sofort, nachdem ich mich gesetzt hatte, zu bringen. Im Nebenzimmer speisten an verschiedenen Tischen zwei alte, schweigsame, augenscheinlich mürrische Herren. In einem der weitergelegenen Zimmer ging es sehr laut zu, es wurde dort sogar geschrieen; man hörte das Gelächter einer ganzen Gesellschaft, und hin und wieder auch gemeines französisches Gekreisch: ein Diner mit Damen. Kurz, es war widerlich. Selten hatte ich so scheußliche Minuten durchlebt ... infolgedessen war ich denn, als sie endlich alle zusammen um Punkt sechs erschienen, im ersten Augenblick so erfreut, daß ich fast ganz vergaß, wie es sich gehörte, den Gekränkten zu spielen. Swerkoff trat als erster ein; natürlich war er der Erste! Alle lachten sie; doch als Swerkoff mich erblickte, nahm er sofort eine steifere Haltung an, und kam langsam, in der Taille ein wenig nach vorn geneigt, gleichsam als kokettierte er mit seiner Gestalt, auf mich zu und reichte mir die Hand; zwar tat er das freundlich – wenn auch nicht gerade sehr –, aber er tat es doch mit einer gewissen Vorsicht, mit fast exzellenzenhafter Höflichkeit, ganz als ob er sich im selben Augenblick vor irgend etwas in Acht nehmen wollte. Ich hatte gedacht, er würde sofort beim Eintritt mit seinem alten Lachen, seinen flachen Witzchen und Späßchen beginnen. Auf die hatte ich mich schon seit dem Abend vorbereitet, doch nie und nimmer hatte ich solch ein vonobenherab, solch eine Generalsliebenswürdigkeit erwartet. Er hielt sich wohl in jeder Beziehung für unvergleichlich höherstehend. Wenn er mich mit dieser Würde hätte kränken wollen, so wär’s weiter nicht schlimm gewesen, dachte ich; hätte ausgespuckt, und damit wär’s abgetan gewesen. Wie aber, wenn sich in seinem elenden Kalbskopf tatsächlich die blödsinnige Idee, er stehe hoch über mir und könne sich nur gönnerhaft zu mir verhalten, festgesetzt hatte, und er überhaupt nicht beabsichtigte, mich zu beleidigen? Bei der bloßen Vorstellung dieser Möglichkeit ging mir schon der Atem aus. „Ich hörte zu meinem Erstaunen von Ihrem Wunsch, mit uns den Abend zu verbringen,“ begann er in seiner albernen Weise zu sprechen, wobei er diesmal die Worte ganz besonders langsam und deutlich aussprach, was er früher nicht getan hatte. „Der Zufall hat es gewollt, daß wir uns lange nicht mehr gesehn haben. Sie sind ja ganz menschenscheu geworden, nur tun Sie uns damit Unrecht. Wir sind nicht so furchtbar, wie wir scheinen. Nun, jedenfalls er–neu–ere ich gern ...“ Er wandte sich nachlässig zum Fenster, um seinen Hut aus der Hand zu legen. „Warten Sie schon lange?“ fragte Trudoljuboff. „Ich kam um Punkt fünf, so wie man es mir gestern gesagt hatte,“ antwortete ich laut und mit einer Gereiztheit, die einen nahen Ausbruch versprach. „Hast Du ihn denn nicht benachrichtigt?“ fragte Trudoljuboff etwas erstaunt Ssimonoff. „Nein. Hab’s vergessen,“ antwortete der ohne die geringste Verlegenheit und ging, sogar ohne sich bei mir deswegen zu entschuldigen, hinaus ans Buffet, um die Weine zu bestellen. „Dann warten Sie hier schon seit einer Stunde? Ach, Sie Armer!“ rief Swerkoff spöttisch lachend, denn nach seinen Begriffen mußte das allerdings lächerlich sein; und gleich nach ihm stimmte auch Ferfitschkin mit seiner dünnen Stimme wie ein Schoßhündchen in das Gelächter ein. Schien doch auch ihm meine Lage ungewöhnlich lächerlich. „Das ist durchaus nicht lächerlich!“ schrie ich ihn plötzlich an, da mich das Lachen immer mehr gereizt hatte. „Die Schuld daran tragen andere, nicht ich. Man hat es für unnötig gefunden, mich zu benachrichtigen. Das ist ... das ist ... das ist ... einfach ungeschickt ist das!“ „Nicht nur ungeschickt, sondern noch etwas anderes,“ brummte Trudoljuboff, der mich naiv verteidigen wollte. „Sie sind etwas zu gutmütig. Das ist einfach eine Unhöflichkeit. Selbstverständlich keine beabsichtigte. Wie hat aber Ssimonoff nur ... Hm!“ „Wenn man sich mir gegenüber so etwas erlaubt hätte,“ bemerkte Ferfitschkin, „so würde ich ...“ „So würden Sie sich etwas bestellt haben, nicht wahr,“ unterbrach ihn Swerkoff. „Oder Sie hätten sich das Diner servieren lassen, ohne die anderen zu erwarten.“ „Sie werden mir zugeben, daß ich das ohne jede Erlaubnis hätte tun können,“ sagte ich kurz, um das Gespräch abzubrechen. „Wenn ich wartete, so geschah es nur ...“ „Setzen wir uns, meine Herren!“ rief der eintretende Ssimoneff, „alles ist fertig; für den Champagner garantiere ich, famos gekühlt ... Ich wußte doch nicht, wo Sie wohnen, und wo hätte ich Sie denn finden können!?“ sagte er plötzlich zu mir gewandt, doch vermied er es wieder, mich offen anzusehn. Ersichtlich hatte er etwas gegen mich. Sie setzten sich alle; auch ich nahm Platz. Es war ein runder Tisch. Links von mir saß Trudoljuboff, rechts Ssimonoff, Swerkoff mir gegenüber; Ferfitschkin zwischen ihm und Trudoljuboff. „Saagen Sie ... Sie sind im Département?“ fragte mich Swerkoff, der im Ernst glaubte, da er sah, daß ich gereizt war, man müsse mich freundlich behandeln und ein wenig beruhigen. – „Was will er eigentlich von mir? Will er, daß ich ihm eine Flasche an den Kopf werfe?“ dachte ich, innerlich bebend vor Wut. Ungewohnt an Verkehr mit Menschen war ich schnell reizbar. „In der ...schen Kanzlei,“ antwortete ich schroff, den Blick auf den Teller gesenkt. „Und! ... S–sie s–sind mit Ihrer Stellung zufrieden? S–saagen Sie doch, was verr–anlaßte Sie eigentlich, Ihren früheren Dienst zu ver–lassen?“ „Mich verrrr–anlaßte dazu, daß ich meinen früheren Dienst verlassen wollte,“ sagte ich, dreimal länger das r ziehend – ich konnte mich schon nicht mehr beherrschen. Ferfitschkin schneuzte sich umständlich. Ssimonoff blickte mich von der Seite ironisch an; Trudoljuboff legte Messer und Gabel hin und betrachtete mich gleichfalls interessiert. Swerkoff tat, als ob er nichts bemerkt hätte. „Nun, und Ihr Gehalt?“ „Welch ein Gehalt?“ „Ich meine Ihre Gaa–ge?“ „Wozu examinieren Sie mich, wenn ich fragen darf?“ Übrigens sagte ich gleich darauf, wieviel ich erhielt und wurde dabei feuerrot. „Das ist all–lerdings nicht viel,“ bemerkte Swerkoff würdevoll. „Ja, ja, damit kann man nicht in Café-Restaurants dinieren!“ fügte Ferfitschkin unverschämt hinzu. „Ich finde das einfach armselig,“ meinte Trudoljuboff mit ernstem Gesicht. „Und wie ma–ger Sie geworden sind, wie S–sie sich verändert haben ... seit der Zeit ...“ fuhr Swerkoff nicht ohne Bosheit mit einem gewissen arglistigen Bedauern fort, während er mich und meinen Anzug betrachtete. „Lassen Sie ihn, machen Sie ihn doch nicht ganz verlegen,“ rief Ferfitschkin. „Mein Herr, bitte zu begreifen, daß ich mich nicht im geringsten verlegen machen lasse!“ rief ich, da mich meine Selbstbeherrschung schon ganz verlassen hatte. „Hören Sie! Ich speise hier im ‚Café-Restaurant‘ für mein Geld, für meines, und nicht auf Kosten anderer, merken Sie sich das, ^monsieur^ Ferfitschkin.“ „Wie – wa–as!? Wer speist denn hier _nicht_ für sein Geld? Sie tun ja wirklich, als ob ...“ Ferfitschkin konnte natürlich nicht nachgeben – er war rot wie ein Krebs und blickte mir starr in die Augen. „So – Da–aas!“ antworte ich, und da ich fühlte, daß ich schon zu weit gegangen war, fügte ich noch hinzu: „und ich glaube, wir täten besser, ein etwas klügeres Gespräch zu führen.“ „Sie beabsichtigen wohl, Ihren Verstand zu zeigen?“ „Oh, beunruhigen Sie sich nicht: das wäre hier vollkommen überflüssig.“ „Was fehlt Ihnen eigentlich, Verehrtester: Sie scheinen ja, wenn Sie einmal ins Gackern hineingekommen sind, nicht mehr aufhören zu können. Oder haben Sie Ihren Verstand vielleicht in Ihrem Departemang gelassen?“ „Genug, meine Herren, genug!“ rief allmächtig Swerkoff dazwischen. „Wie dumm das ist!“ brummte halblaut Ssimonoff. „Du hast Recht, das ist wirklich dumm. Wir haben uns hier als Freunde versammelt, zum letzten Mal, zum Abschied von unserem verreisenden Freunde, und Sie müssen es natürlich wieder zum Streit bringen,“ sagte Trudoljuboff, wobei er sich grob nur an mich allein wandte. „Sie haben sich uns gestern selbst aufgedrängt, so stören Sie denn jetzt bitte nicht die allgemeine Harmonie ...“ „Genug, genug!“ rief Swerkoff. „Hören Sie auf, meine Herren, das geht wirklich nicht so weiter. Ich werde Ihnen lieber erzählen, wie ich vor drei Tagen fast geheiratet hätte – faktisch ...“ Und so begann denn die Erzählung der Geschichte, wie dieser Herr vor drei Tagen fast geheiratet hätte. Von dem Heiratsprojekt selbst war eigentlich wenig die Rede, oder richtiger, überhaupt nicht; es drehte sich immer nur um Generäle, Generalleutnants, Obristen und sogar Kammerjunker, – unter denen Swerkoff natürlich die erste Rolle spielte. Bald erhob sich auch beifälliges Lachen; Ferfitschkin wieherte förmlich. Mich vergaßen sie ganz; ich saß moralisch vernichtet auf meinem Stuhl und schwieg. „Gott, ist denn das meine Gesellschaft?“ dachte ich. „Und als was für einen Tölpel habe ich mich ihnen gezeigt! Aber Ferfitschkin habe ich doch zu viel erlaubt. Da denken nun die Rüpel, sie machten mir große Ehre, wenn sie mir an ihrem Tisch einen Platz geben, und begreifen nicht, daß _ich_ es bin, der ihnen Ehre erweist, aber nicht etwa sie sie mir erweisen! ‚Wie mager!! Wie verändert!‘ Oh, diese verfluchten Hosen! Swerkoff hat ja schon bei der Begrüßung den gelben Fleck auf dem Knie bemerkt ... Ach was! Stehe sofort auf, nehme meinen Hut und gehe ohne ein Wort zu sagen ... Aus Verachtung! Und morgen meinetwegen auf Pistolen ... Diese Schufte! Mir tun doch nicht die sieben Rubel leid. Aber, sie könnten denken ... Hols der Teufel! Was sind denn sieben Rubel! Ich gehe sofort! ...“ Natürlich blieb ich. Vor Kummer trank ich Lafitte und Sherry glasweise. Da ich das Trinken aber nicht gewohnt war, so wurde ich bald betrunken, und mit der Trunkenheit wuchs auch der Ärger. Mich überkam plötzlich die Lust, sie alle in der frechsten Weise zu beleidigen und dann fortzugehn: „Den günstigsten Augenblick abwarten und sich dann einmal zeigen: mögen sie sagen: wenn er auch lächerlich ist, so ist er doch klug ... und ... und ... mit einem Wort – der Teufel hole sie alle!“ Ich betrachtete sie unverschämt mit meinen blöd gewordenen Augen; sie aber taten, als bemerkten sie mich überhaupt nicht. Bei _ihnen_ ging es laut und fröhlich zu. Es war immer noch Swerkoff, der da sprach. Er erzählte von irgend einer schönen Dame, die er endlich so weit gebracht haben wollte, daß sie ihm eine Liebeserklärung gemacht – er log natürlich wie ... wie ein Mensch – und daß ihm in dieser Sache sein intimer Freund, der Husarenoffizier Kolä – irgend ein Fürst, der dreitausend Seelen besitzen sollte – ganz besonders geholfen hätte. „Das hindert natürlich nicht, daß es diesen Kolä, der dreitausend Seelen hat, überhaupt nicht gibt,“ unterbrach ich plötzlich das Gespräch. Alle verstummten. „Sie sind ja schon jetzt besoffen,“ sagte endlich Trudoljuboff, der allein mich zu bemerken geruhte, und blickte mich verächtlich von der Seite an. Swerkoff fixierte mich wie einen Käfer unterm Mikroskop. Ich senkte meinen Blick. Ssimonoff beeilte sich, den Champagner einzugießen. Trudoljuboff erhob das Glas und seinem Beispiel folgten alle – außer mir. „Auf Deine Gesundheit! und glückliche Reise!“ rief er Swerkoff zu, „auf die alten Jahre, meine Herren, die Zukunft! Hurrah!“ Alle tranken und gingen dann zu Swerkoff, um ihn zu küssen. Ich saß unbeweglich, das volle Glas stand vor mir unberührt. „Sie wollen also _nicht_ trinken?!“ schrie mich plötzlich drohend Trudoljuboff an, dem die Geduld riß. „Ich möchte meinerseits einen Speech halten ... und dann erst werde ich trinken, Herr Trudoljuboff.“ „Widerlicher Giftpilz!“ brummte Ssimonoff. Ich bog mich etwas zurück auf dem Stuhl, Brust heraus, nahm das Glas und erwartete im Fieber etwas ganz Ungewöhnliches: ich wußte selbst noch nicht, was ich eigentlich sagen würde. „Silence!“ rief Ferfitschkin. „Jetzt wird’s Verstand hageln!“ Swerkoff erwartete sehr ernst, was da kommen würde, denn er begriff, worum es sich handelte. „Herr Leutnant Swerkoff,“ begann ich, „ich hasse die Phrase, die Phraseure und die engen Taillen ... Das ist der erste Punkt, und hierauf folgt der zweite.“ Alle wurden unruhig. „Der zweite Punkt ist: ich hasse gewisse Damen und die Liebhaber dieser Damen. Besonders die Liebhaber! Der dritte Punkt: ich liebe Wahrheit, Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit,“ fuhr ich fast mechanisch fort, denn ich fühlte mich schon gefrieren, erstarren vor Entsetzen; begriff ich doch selbst nicht, wie ich das alles so sagen konnte. „Ich liebe den Gedanken, ^monsieur^ Swerkoff; ich liebe wahre Kameradschaftlichkeit auf gleichem Fuß, nicht aber ... hm! ... Ich liebe ... Doch übrigens – wozu? Auch ich werde auf Ihre Gesundheit trinken, ^monsieur^ Swerkoff. Verführen Sie Tscherkessinnen, erschießen Sie die Feinde des Vaterlandes und ... und ... Auf Ihre Gesundheit, ^monsieur^ Swerkoff!“ Swerkoff erhob sich, verbeugte sich gemessen und sagte eisig: „Ich danke Ihnen sehr.“ Er war maßlos gekränkt und ganz bleich im Gesicht. „Das ist aber mal stark!“ schrie Trudoljuboff und schlug empört mit der Faust auf den Tisch. „Für so etwas verabreicht man Ohrfeigen!“ rief Ferfitschkin. „Läßt ihn einfach rausschmeißen!“ brummte Ssimonoff. „Kein Wort, meine Herren, kein Wort weiter!“ rief feierlich Swerkoff und hielt damit die allgemeine Empörung auf. „Ich danke Ihnen allen, meine Herren, doch ich werde ihm selbst beweisen, inwieweit ich seine Worte zu schätzen verstehe.“ „Herr Ferfitschkin, morgen noch werden Sie mir für Ihre Worte Rechenschaft geben!“ sagte ich plötzlich laut und wichtig zu Ferfitschkin. „Sie meinen – ein Duell? Mit Vergnügen,“ antwortete der, doch war ich in dem Augenblick, als ich forderte, wahrscheinlich so lächerlich, daß Swerkoff, Ssimonoff und Trudoljuboff, und nach ihnen auch Ferfitschkin sich vor Lachen einfach wälzten. „Er ist ja schon ganz besoffen, beachten wir ihn weiter nicht!“ sagte schließlich angeekelt Trudoljuboff. „Werde mir nie verzeihen, daß ich ihn zugelassen habe!“ brummte wieder Ssimonoff. „Jetzt einfach eine Flasche ihnen allen an die Köpfe,“ dachte ich, nahm die Flasche und ... goß mir das Glas bis zum Rande voll. „Nein, lieber bleibe ich bis zum Schluß hier!“ fuhr ich fort zu denken, „Euch, meine Lieben, Euch könnte jetzt wohl nichts Angenehmeres geschehen, als daß ich aufstände und fortginge. Gepfiffen! Werde zum Trotz bis zum Schluß sitzen bleiben, zum Zeichen dessen, daß ich Euch nicht die geringste Wichtigkeit beilege. Werde sitzen und trinken, denn das hier ist doch ein öffentliches Lokal, in das ich für mein Geld eingetreten bin. Werde sitzen und trinken, denn in meinen Augen seid Ihr nichts als Tölpel, nicht vorhandene Tölpel! Werde sitzen und trinken ... und singen, wenn’s mir einfällt, ja, und auch singen, denn ich habe das Recht ... zu singen ... hm!“ Aber ich sang doch nicht. Ich bemühte mich bloß, auf keinen von ihnen zu sehn; ich nahm die unabhängigsten Posen an, und wartete ungeduldig, wann sie mit mir wieder sprechen würden, – sie _zuerst_! Doch leider taten sie es nicht. Ach und wie wünschte ich in diesem Augenblick, mich mit ihnen zu versöhnen! Es schlug acht ... Es schlug neun. Sie gingen vom Tisch zum Diwan. Swerkoff streckte sich sofort aus und legte einen Fuß auf ein kleines rundes Tischchen. Dorthin wurde dann auch der Wein gebracht. Er setzte ihnen tatsächlich drei Flaschen an. Mich forderte er natürlich nicht auf. Die anderen setzten sich um ihn herum und hörten ihm andächtig zu. Man sah es ihnen an, daß sie ihn liebten. „Weswegen? Weswegen nur?“ dachte ich bei mir. Zuweilen gerieten sie in trunkene Begeisterung und fielen dann einander um den Hals. Sie sprachen vom Kaukasus, sprachen über die wahre Leidenschaft, über das Kartenspiel, über vorteilhafte Posten im Dienst, sprachen über die Einkünfte, die der Husarenoffizier Podcharschewski hatte, – ein Mensch, den keiner von ihnen persönlich kannte, und sie freuten sich, daß er große Einkünfte hatte – sie sprachen von der ungewöhnlichen Schönheit und Grazie der Fürstin D–i, die gleichfalls keiner von ihnen gesehn hatte; endlich kam es so weit, daß Shakespeare von ihnen für unsterblich erklärt wurde. Ich lächelte spöttisch und ging in der anderen Hälfte des Zimmers auf und ab: vom Tisch bis zum Ofen und vom Ofen bis zum Tisch. Aus allen Kräften strengte ich mich an, ihnen zu zeigen, daß ich auch ohne sie auskommen könnte; mittlerweile aber fing ich absichtlich an, so laut wie möglich auf und ab zu schreiten, ja ich stampfte sogar ganz ordentlich mit den Absätzen. Doch alles war vergeblich. _Sie_ schenkten mir nicht die geringste Aufmerksamkeit. Ich hatte die Geduld, in dieser Weise vor ihnen von acht bis elf Uhr auf und ab zu gehn, immer auf ein und derselben Stelle: vom Tisch bis zum Ofen und vom Ofen bis zum Tisch. „So, ich gehe einfach, und niemand kann es mir verbieten.“ Der abräumende Bediente hielt mehrmals in seiner Beschäftigung inne, um mich verwundert zu betrachten. Von dem häufigen Umkehren drehte sich mir schon alles vor den Augen; zuweilen schien mir alles nur ein Fieberwahn zu sein. In diesen drei Stunden geriet ich dreimal in Schweiß und wurde dreimal wieder pulvertrocken. Mitunter bohrte sich mir mit tiefem, ätzendem Weh der Gedanke ins Herz, daß ich mich noch nach zehn Jahren, nach zwanzig, nach vierzig Jahren, ja, selbst nach vierzig Jahren noch mit Schmerz und Selbstverabscheuung an diese schmutzigsten, lächerlichsten und schrecklichsten Augenblicke meines ganzen Lebens erinnern werde. Noch gewissenloser und noch freiwilliger sich selbst zu erniedrigen, war schon unmöglich, und ich begriff das vollkommen, nein, wirklich, das begriff ich so voll und ganz, wie man’s besser überhaupt nicht gekonnt hätte – und trotzdem fuhr ich fort, vom Tisch bis zum Ofen und vom Ofen bis zum Tisch zu gehn. „O, wenn Ihr nur wüßtet, welcher Gefühle und Gedanken ich fähig bin, und überhaupt wie entwickelt ich bin!“ dachte ich, mich in Gedanken an den Diwan wendend, auf dem meine Feinde saßen. Doch meine Feinde taten, als wäre ich überhaupt nicht im Zimmer gewesen. Einmal, nur ein einziges Mal wandten sie sich nach mir um, nämlich als Swerkoff über Shakespeare sprach und ich plötzlich laut auflachte: ich lachte so unnatürlich, so gemein, daß sie alle im selben Augenblick verstummten und mich zwei oder drei Minuten lang schweigend und ernst betrachteten, wie ich an der Wand vom Tisch bis zum Ofen und vom Ofen bis zum Tisch ging und _sie überhaupt nicht beachtete_. Aber sie sagten kein Wort und wandten sich wieder von mir ab. Da schlug es elf. „Meine Herren!“ rief aufspringend plötzlich Swerkoff. „Jetzt gehn wir alle _dorthin_!“ „Versteht sich! Famos!“ riefen die anderen. Ich drehte mich hastig um und trat auf Swerkoff zu. Ich war dermaßen abgequält, dermaßen gemartert, daß ich, und wenn es mir auch das Leben gekostet hätte, einen Schluß damit machen mußte. Ich war im Fieber; meine vom Schweiß feucht gewordenen Haare waren an Stirn und Schläfen angetrocknet. „Swerkoff! Ich bitte Sie um Verzeihung,“ sagte ich schroff und entschieden. „Auch Sie, Ferfitschkin, bitte ich, mir zu verzeihen, und Sie alle, alle, ich habe alle beleidigt!“ „Aha! Das Duell scheint ihm doch ’nen Schrecken eingejagt zu haben!“ tuschelte Ferfitschkin boshaft seinem Nachbar zu. Das schnitt mir weh ins Herz. „Nein, Ferfitschkin, ich habe keine Angst vor dem Duell! Ich bin bereit, mich morgen mit Ihnen zu schlagen, aber erst nachdem wir uns versöhnt haben. Ich bestehe sogar darauf, und Sie können es mir nicht abschlagen. Ich will Ihnen beweisen, daß ich das Duell nicht fürchte. Sie haben den ersten Schuß, ich aber werde in die Luft schießen.“ „Will sich trösten,“ bemerkte Ssimonoff. „Faselt wieder mal!“ meinte Trudoljuboff. „So lassen Sie mich doch vorüber, Sie versperren einem ja den Weg! ... Was wollen Sie denn eigentlich?“ fragte Swerkoff verächtlich. Alle waren sie rot; ihre Augen glänzten: hatten viel getrunken. „Ich bitte Sie um Ihre Freundschaft, Swerkoff, ich habe Sie beleidigt, aber ...“ „Beleidigt? S–sie? M–mich? Wissen Sie, mein Verehrtester, daß Sie niemals und unter keinen Umständen _mich_ beleidigen können!“ „Ach, hol ihn der Kuckuck,“ rief Trudoljuboff. „Fahren wir.“ „Olympia gehört mir, meine Herren, das ist abgemacht!“ rief Swerkoff. „Schön, wir machen sie Ihnen nicht streitig!“ antwortete man ihm lachend. Ich blieb wie ein begossener Hund zurück. Die Bande verließ geräuschvoll das Zimmer, Trudoljuboff stimmte irgend ein Lied an. Ssimonoff aber blieb noch auf einen Augenblick zurück, um den Bedienten das Trinkgeld zu geben. Da trat ich plötzlich an ihn heran. „Ssimonoff! Geben Sie mir sechs Rubel!“ sagte ich entschlossen in meiner Verzweiflung. Er sah mich über die Maßen verwundert mit sonderbar stumpfem Blick an. Er war gleichfalls betrunken. „Ja, wollen Sie denn auch _dorthin_ mit uns!“ „Ja!“ „Ich habe kein Geld!“ sagte er kurz und wollte verächtlich lächelnd das Zimmer verlassen. Ich ergriff ihn am Rock. Das war ja ein Alpdruck, ein Traum!! „Ssimonoff! Ich habe in Ihrem Beutel das Geld gesehn, warum schlagen Sie es mir ab? Bin ich denn ein Schuft? Hüten Sie sich, es mir abzuschlagen: wenn Sie wüßten, wenn Sie nur wüßten, wozu ich es bitte! Davon hängt alles ab, alles, meine ganze Zukunft, alle meine Pläne ...“ Ssimonoff zog das Geld heraus und warf es mir verächtlich hin. „Nehmen Sie, wenn Sie so unverschämt sind!“ rief er mir unbarmherzig zu und eilte den anderen nach. Ich blieb eine Minute lang allein zurück. Unordnung, Speisereste, ein zerschlagenes Glas auf dem Fußboden, verschütteter Wein, Zigarettenstummel, Rauch .. Rausch und Fieberleere im Kopf, quälendes Weh im Herzen und schließlich der Kellner, der alles gesehn und gehört hatte und mir neugierig in die Augen blickte ... „_Dorthin!_“ schrie ich auf. „Entweder sind alle auf den Knieen und flehen mich um meine Freundschaft an, oder ... oder ich gebe Swerkoff eine Ohrfeige!“ V. „Endlich, endlich ist der Zusammenstoß mit der Wirklichkeit gekommen!“ murmelte ich, als ich die Treppe hinunter lief. „Das ist jetzt nicht mehr der Papst, der Rom verläßt, um nach Brasilien auszuwandern, das ist nicht mehr der Ball auf dem Comersee!“ „Gemein bist du, wenn du jetzt darüber lachst!“ zuckte es mir durch den Kopf. „Meinetwegen!“ rief ich mir selbst zur Antwort. „Jetzt ist ja doch schon alles verloren!“ Von ihnen war jede Spur verschwunden: doch was tat’s schließlich: ich wußte, wohin sie gefahren waren. An der Vorfahrt hielt einsam ein Schlitten; der Kutscher – einer von den Bauern, die die Not im Winter in die Stadt treibt, ein Wanjka in grobem Bauernkittel – war von dem immer noch träge fallenden nassen und, wie man hätte glauben können, warmen Schnee schon ganz bedeckt. Die Luft war feucht und schwül. Sein kleines rauhhaariges, mageres Pferdchen war gleichfalls schon ganz weißgeschneit und hustete – das weiß ich noch genau. Ich riß die Schlittendecke zurück, doch kaum hatte ich den Fuß hineingesetzt, als mich plötzlich die Erinnerung daran, wie Ssimonoff mir die sechs Rubel zugeworfen hatte, durchzuckte –: ich fiel wie von einem Keulenschlage getroffen auf den Schlitten. „Nein, ich muß viel tun, um das wieder gut zu machen!“ schrie ich heiser. „Aber ich werde es schon tun, oder es ist noch heute Nacht aus mit mir. Fahr zu!“ Ich sagte ihm wohin. Das Pferd zog an. Ein ganzer Wirbelsturm von Gedanken wütete in meinem Hirn. „Sie werden mich ja doch nicht um meine Freundschaft bitten, geschweige denn, daß sie es noch auf den Knieen täten. Das ist ja eine Fata morgana, eine umgekehrte Welt, die ich mir vorstelle, eine widerliche, romantische und phantastische Luftspiegelung, die ich mir wieder einmal vorstelle, ist ebenso wie der Ball auf dem Comersee. Und darum _muß_ ich Swerkoff eine Ohrfeige geben! Ich bin verpflichtet, sie ihm zu geben. Also es steht fest: ich fahre hin, um ihm eine Ohrfeige zu geben. Schneller! Fahr zu!“ Der Wanjka zog die Zügel an. „Sofort nachdem ich eingetreten bin, gebe ich sie ihm. Oder sollte man noch vorher einige Sätze so ... hm, gewissermaßen als Vorwort sagen? Nein. Ich trete ein und gebe sie ihm. Sie werden alle im Salon sitzen, er mit Olympia auf dem Sofa. Diese verfluchte Olympia! Sie hat über mein Gesicht gelacht und mir einmal abgesagt. Ich werde Olympia an den Haaren und Swerkoff an den Ohren fortziehen! Nein, besser an einem Ohr und so am Ohr werde ich ihn denn durch’s ganze Zimmer ziehen. Sie werden mich vielleicht überfallen und hinauswerfen. Bestimmt werden sie das tun. Meinetwegen! Immerhin habe ich zuerst die Ohrfeige gegeben; also meine Initiative ... und nach den Gesetzen des Ehrenkodex ist das alles: er ist gebrandmarkt und kann dann mit keinen Schlägen seine Ohrfeige abwaschen, außer mit einem Duell. Er muß mich fordern. Und mögen sie mich jetzt nur schlagen. Mögen Sie nur! Diese Undankbaren! Am meisten wird Trudoljuboff schlagen: er ist stark; Ferfitschkin wird sich an ungefährlicheren Stellen ankrallen, in die Haare wird er mir fahren, natürlich, der bestimmt in die Haare. Die sind ja für ihn wie geschaffen. Meinetwegen! Zu dem Zweck gehe ich ja hin. Diese Schafsköpfe werden doch endlich das Tragische in all dem begreifen müssen! Wenn sie mich zur Tür schleppen, werde ich ihnen zurufen, daß sie im Grunde nicht einmal meinen kleinen Finger wert sind. Fahr zu, Wanjka, fahr zu!“ schrie ich plötzlich. Der Kutscher zuckte zusammen vor Schreck und hieb mit der Peitsche auf seine Mähre ein. Ich hatte schon etwas zu wild geschrieen. „Beim Morgengrauen schlagen wir uns, das steht fest. Mit der Kanzlei, oder wie Swerkoff sagt, dem Département ist es aus. Ferfitschkin sagte vorhin, ‚Debartemang‘. Woher aber die Pistolen nehmen? Unsinn! Ich nehme meine Gage voraus und kaufe sie. Aber das Pulver, und die Kugeln? Das ist Sache des Sekundanten. Und wie damit bis zum Morgengrauen fertig werden? Und wo den Sekundanten hernehmen? Ich habe keine Bekannten. Unsinn!“ rief ich noch erregter, „Unsinn! Der erste beste, den ich auf der Straße treffe und den ich darum angehe, ist verpflichtet, mein Sekundant zu sein, ganz so, wie er zum Beispiel verpflichtet wäre, einen Ertrinkenden aus dem Wasser zu ziehen. Die exzentrischsten Zufälle müssen doch zugegeben werden. Ja, wenn ich den Direktor morgen bitte, mein Sekundant zu sein, so müßte der sich schon allein aus Ritterlichkeit dazu bereit erklären und ... und das Geheimnis bewahren! – Anton Antonytsch ...“ Doch in demselben Augenblick begriff ich klarer und deutlicher als je die ganze blödsinnige Unmöglichkeit meiner Voraussetzungen und die ganze Kehrseite der Medaille, aber ... „Fahr zu, Wanjka, fahr zu, Esel, fahr zu!“ „Ach Herr!“ sagte die Landkraft. Ein Frösteln überlief mich. „Aber wär’s nicht besser ... weiß Gott, wär’s nicht besser ... direkt nach Hause zu fahren, sofort? Ach, warum, warum drängte ich mich gestern zu diesem Abschiedsmahl auf! Doch nein, das ist unmöglich! Und der Spaziergang von acht bis elf vom Tisch bis zum Ofen, vom Ofen bis zum Tisch? Nein, _sie_, _sie_ müssen für diesen Spaziergang büßen! _Sie_ müssen diese Schmach abwaschen! Fahr zu!“ „Aber was dann, wenn sie mich auf die Polizeiwacht bringen?! Das werden sie nicht wagen! Werden einen Skandal fürchten. Was aber dann, wenn Swerkoff aus Verachtung das Duell ausschlägt? Das ist ja so gut wie sicher; dann aber werde ich ihnen beweisen ... Dann werde ich in den Posthof gehen, wenn er morgen abfährt, werde ihn am Bein packen, werde ihm, wenn er in den Postwagen kriecht, den Mantel abreißen. Werde ihn mit den Zähnen an der Hand packen, werde ihn beißen. ‚Seht, wozu man einen verzweifelten Menschen bringen kann!‘ Mögen sie mich auf den Kopf schlagen und sie alle da hinter mir ... Ich werde dem ganzen Publikum zuschreien: ‚Seht diesen jungen Hund, der, um Tscherkessinnen zu verführen, in den Kaukasus fährt – mit meinem Speichel im Gesicht!‘ „Versteht sich, dann ist alles aus! Dann ist das ‚Département‘ vom Angesicht der Welt verschwunden. Man wird mich ergreifen, verurteilen, aus dem Dienst jagen, mich zu den Zwangsarbeitern stecken, darauf zu den sibirischen Ansiedlern ... Mögen Sie nur! Nach fünfundzwanzig Jahren schleppe ich mich zu ihm, in Lumpen, als Bettler, wenn man mich aus dem Gefängnis entlassen hat. Ich suche ihn irgendwo in einer Gouvernementsstadt auf. Er wird verheiratet und glücklich sein. Er wird eine erwachsene Tochter haben ... Ich werde einfach sagen: Sieh, Unmensch, sieh meine eingefallenen Wangen und mein zerlumptes Gewand! Ich habe alles verloren: die Karriere, das Glück, die Kunst, die Wissenschaft, _das geliebte Weib_, und alles _Deinetwegen_. Sieh, hier sind Pistolen. Ich bin gekommen, um meine Pistole abzufeuern und ... ich vergebe Dir! Da schieße ich denn einfach in die Luft und verschwinde spurlos ...“ Es fehlte nicht viel und ich hätte aufgeschluchzt, obgleich ich im selben Augenblick ganz genau wußte, daß meine Phantasie auf Lermontoffs „Sylvio“ und der „Maskerade“ beruhte. Und plötzlich schämte ich mich furchtbar, ich schämte mich dermaßen, daß ich das Pferd anhalten ließ, aus dem Schlitten kroch und mitten auf der Straße im Schnee stehen blieb. Der Wanjka sah mich verwundert an und seufzte. Was sollte ich tun? Dorthin konnte ich nicht: es würde nichts dabei herauskommen; und die Sache auf sich beruhen lassen – war gleichfalls unmöglich: was dann herauskommen würde ... Himmlischer Vater! Wie denn so etwas auf sich beruhen lassen! Und nach solchen Beleidigungen! „Nein!“ schrie ich und stürzte wieder in den Schlitten. „Das ist vorausbestimmt, das ist Verhängnis, Schicksal! Fahr zu, fahr zu, dorthin!“ Vor Ungeduld schlug ich mit der Faust den Wanjka ins Genick. „Ach! Gott! Was haust Du mich!“ rief das Bäuerlein erschrocken, peitschte aber doch seine Schindmähre, sodaß sie mit den Hinterbeinen ausschlug. Der nasse Schnee fiel senkrecht in dichten Flocken, als ob ihn die Erde angezogen hätte. Ich vergaß alles, denn ich hatte mich endgültig für die Ohrfeige entschlossen; ich fühlte nur mit Grauen, daß es doch schon _unbedingt_ und _sofort_ geschehn würde und sich durch _keine Macht der Welt mehr aufhalten_ ließe. Die einsamen Laternen schauten mürrisch durch das von Schneestreifen durchzogene Dunkel, wie Fackeln bei nächtlichen Beerdigungen. Der Schnee schlug mir in den offenen Mantel, unter den Rock, auf die Weste, fiel mir in den Mantelkragen, rutschte dann weiter in das Halstuch, taute an meinem heißen Halse auf und durchnäßte meinen Kragen; ich schlug aber meinen Mantel nicht zu: es war ja doch schon alles verloren! Endlich kamen wir an. Ich sprang fast bewußtlos aus dem Schlitten, lief die Stufen hinauf und schlug mit Händen und Füßen an die Tür. Meine Beine wurden besonders in den Knieen furchtbar schwach. Sonderbarer Weise wurde bald geöffnet; ganz als ob sie mich erwartet hätten. Ssimonoff hatte in der Tat schon gesagt, daß vielleicht noch jemand kommen würde, hier aber mußte man anmelden und überhaupt Vorsichtsmaßregeln ergreifen. Es war eines jener „Modegeschäfte“, die jetzt schon längst von der Polizei aufgehoben sind. Tagsüber war es allerdings ein „Modegeschäft“; abends jedoch wurden Herren, die eine Rekommendation hatten, empfangen. Ich ging schnellen Schrittes durch den dunklen Laden in den mir bekannten Saal und blieb erstaunt in der Tür stehen: der Saal war leer; nur ein einziges Licht brannte auf einem Tisch. „Wo sind sie denn?“ fragte ich irgend jemanden. Sie hatten natürlich schon Zeit gehabt, auseinanderzugehn. Vor mir stand ein Weibsbild mit dummem Lächeln; das war die Wirtin. Sie kannte mich schon von früher. Nach einer Minute öffnete sich eine Tür und eine andere Person trat ein. Ich schritt im Zimmer auf und ab und sprach mit mir. Es war mir, als wäre ich vom Tode errettet worden; ich fühlte es freudig mit meiner ganzen Seele: denn ich hätte ja die Ohrfeige unbedingt, unbedingt gegeben! Doch sie waren nicht da und ich ... alles war wie Spukgebilde verschwunden, alles hatte sich verändert! Endlich blickte ich mich um. Ich konnte noch nicht recht begreifen. Mechanisch blickte ich auch auf die eingetretene Person: vor meinen Augen verschwamm ein frisches, junges, etwas bleiches Gesicht mit geraden, dunklen Augenbrauen, mit einem ernsten und fast ein wenig verwunderten Blick. Das gefiel mir sofort; ich würde sie gehaßt haben, wenn sie gelächelt hätte. Ich mußte mich anstrengen, um aufmerksamer hinzusehn: noch fiel es mir schwer, meine Gedanken zu sammeln. Etwas Offenherziges und Gutes lag in diesem Gesicht, doch war es bis zur Sonderbarkeit ernst. Ich bin überzeugt, daß sie nur deswegen bei diesen dummen Jungen verspielt hatte. Übrigens konnte man sie nicht gerade schön nennen, wenn sie auch ziemlich groß, schlank und gut gebaut war. Angezogen war sie ungewöhnlich schlicht. Etwas Gemeines kroch mir ins Herz; ich trat geradenwegs auf sie zu. Ich blickte zufällig in den Spiegel: mein erregtes aufgedunsenes Gesicht erschien mir unsagbar ekelhaft: bleich, boshaft, gemein, von zottigem, nassem Haar umrahmt. „Meinetwegen, – um so besser,“ dachte ich. „Es freut mich gerade, daß ich ihr ekelhaft erscheinen muß; das ist mir sehr angenehm ...“ – VI. ... Irgendwo im Nebenzimmer begann plötzlich, wie unter einem starken Druck, als ob sie jemand gewürgt hätte – heiser die Uhr zu schnurren. Nach unnatürlich langem, langsamem, heiserem Rrrr folgte plötzlich ein heller und ganz unerwartet hastiger Schlag, – ganz als ob jemand plötzlich vorspringt. Es schlug zwei. Ich erwachte, wenn ich auch vorher nicht geschlafen, sondern nur in halber Vergessenheit dagelegen hatte. In dem schmalen und niedrigen Zimmer, in dem noch ein großer Kleiderschrank stand und Hutpaudeln, Stoffe und verschiedener Kleiderkram herumlagen, war es fast ganz dunkel. Der Lichtstumpf, der auf einem Tisch am anderen Ende des Zimmers in einem alten Leuchter brannte, drohte schon auszulöschen, nur ab und zu flackerte er noch auf. Nach wenigen Minuten mußte tiefes Dunkel herrschen. Es dauerte nicht lange, bis ich ganz zu mir kam; mit einem Mal, ohne mich angestrengt zu haben, fiel mir alles wieder ein; als ob es mir irgendwo aufgelauert hätte, um sich dann plötzlich wieder auf mich zu stürzen. Ja, und selbst in der Bewußtlosigkeit blieb im Gedächtnis doch noch, ich möchte sagen: so ein Punkt, der unter keiner Bedingung in Vergessenheit versank, und um den müde, unermüdlich, schwerfällig die Schemen meines Halbschlaftraumes kreisten. Doch eines war sonderbar: alles, was mit mir an jenem Tage geschehn war, schien mir, als ich im dunklen Zimmer erwachte, schon längst, längst vergangen zu sein, als ob ich das alles schon längst, längst überlebt hätte. In meinem Kopf war nichts als schwerer Dunst. Es war mir, als ob etwas über mir schwebte, mich lähmte und zu gleicher Zeit beunruhigte und erregte. Die Beklemmung und die ohnmächtige Wut schwollen wieder an, schäumten auf und suchten einen Ausgang. Plötzlich – sah ich dicht neben mir zwei offene Augen, die mich ernst und beharrlich betrachteten. Der Blick war kalt-teilnahmslos, war finster, als ob er von einem ganz fremden Wesen herrührte. Es wurde mir schwer unter ihm. Ein häßlicher Gedanke erwachte in meinem Hirn und kroch mir wie ein gemeines Gefühl über den ganzen Körper, etwa wie die Empfindung, die einen überkommt, wenn man in einen feuchten, faulenden Keller tritt. Es war so sonderbar unnatürlich, daß es diesen zwei Augen gerade jetzt einfiel, mich zu betrachten. Es fiel mir ein, daß ich in diesen zwei Stunden mit diesem Wesen kein einziges Wort gewechselt und das auch für völlig überflüssig gehalten hatte; sogar das Schweigen hatte mir zu Anfang aus irgend einem Grunde gefallen. Jetzt jedoch empfand ich plötzlich deutlich den ganzen Ekel, die ganze spinnenhafte Scheußlichkeit der Idee der Ausschweifung, die ohne Liebe, roh und schamlos direkt damit beginnt, womit die wahre Liebe sich krönt. Lange blickten wir uns so durch das nächtliche Dunkel in die schimmernden Augen, doch senkte sie nicht ihren Blick vor mir: ohne mit der Wimper zu zucken, ohne den Blick zu verändern, schauten die Augen still und bewegungslos furchtlos mich an ... Mich schauderte. „Wie heißt Du?“ fragte ich rauh, um der Stille ein Ende zu machen. „Lisa,“ klang es fast flüsternd, doch sonderbar unfreundlich zurück, und sie wandte die Augen von mir ab. Ich schwieg. „Das Wetter ist heute scheußlich ... Schnee ...“ sagte ich mehr so vor mich hin, schob die Hand unter den Kopf und blickte zur Decke hinauf. Sie antwortete nicht. Widerlich war das alles. „Bist Du eine hiesige?“ fragte ich nach einer Minute etwas aufgebracht und kehrte meinen Kopf ein wenig zu ihr. „Nein.“ „Woher kommst Du denn?“ „Aus Riga,“ sagte sie unwirsch. „Bist ’ne Deutsche?“ „Nein, Russin.“ „Bist Du schon lange hier?“ „Wo?“ „Hier, in diesem Hause?“ „Zwei Wochen.“ Sie antwortete immer schroffer und schroffer. Das Licht erlosch schon fast ganz; ich konnte ihr Gesicht kaum noch unterscheiden. „Leben Deine Eltern noch?“ „N–ja ... nein ... doch, sie leben.“ „Wo denn das?“ „Dort, in Riga.“ „Was sind sie?“ „So ...“ „Wie ‚so‘? Von welch einem Stande?“ „Kleinbürger.“ „Hast Du immer bei ihnen gelebt?“ „Ja.“ „Wie alt bist Du?“ „Zwanzig.“ „Warum bist Du denn von ihnen fortgegangen?“ „So ...“ Dieses _so_ bedeutete: hör auf, bist mir zuwider. Wir verstummten. Gott mag wissen, warum ich nicht fortging. Es wurde mir selbst immer widerlicher und qualvoller zu Mut. Die Schemen des vergangenen Tages zogen ganz von selbst in wirrem, hastigem Durcheinander, eigentlich ohne daß ich’s gewollt hätte, durch mein Gedächtnis. Plötzlich fiel mir etwas ein, was ich am Morgen auf dem Wege zur Kanzlei gesehn hatte. „Heute wurde ein Sarg herausgetragen und beinahe hätte man ihn fallen lassen,“ sagte ich plötzlich laut, ohne ein Gespräch beginnen zu wollen, einfach so, fast in Versehen. „Ein Sarg?“ „Ja, auf der Ssennaja[3]; aus einem Keller.“ „Aus einem Keller?“ „Das heißt, nicht gerade aus einem Keller, sondern aus einer Kellerwohnung ... Nun, Du weißt schon ... von unten ... aus einem unanständigen Hause ... Es war dort so schmutzig überall ... Kehricht ... Gestank ... Gemein war’s.“ Schweigen. „Scheußlich, heute beerdigt zu werden!“ sagte ich wieder nach einiger Zeit, nur um nicht zu schweigen. „Wieso?“ „So, ich meine nur, der Schnee, die Feuchtigkeit ...“ Ich gähnte. „Was tut das!“ stieß sie plötzlich nach längerem Schweigen hervor. „Nein, ’s ist doch schon gemein ...“ Ich gähnte wieder. – „Die Totengräber haben sicherlich geschimpft ... es ist ja auch kein Vergnügen, bei solch einem Wetter zu beerdigen. Und im Grabe wird bestimmt Wasser gewesen sein.“ „Warum soll denn im Grabe Wasser sein?“ fragte sie neugierig, aber doch etwas ungläubig-spöttisch. Übrigens stieß sie die Worte noch abgerissener, schroffer hervor. Mich stachelte plötzlich etwas gegen sie auf, ich weiß nicht, was es war. „Weißt Du das denn nicht? Die Särge liegen zum mindesten bis zur Hälfte unter Wasser, gewöhnlich aber ganz. Hier auf dem Wolchoffschen Friedhofe kannst Du kein einziges trockenes Grab finden.“ „Warum nicht?“ „Wieso – warum nicht!? Morastiger Boden. Hier ist doch überall Sumpf. So wird man denn einfach ins Wasser hinabgesenkt. Habe selbst gesehn ... mehrere Mal ...“ (Kein einziges Mal hatte ich es gesehn, und war überhaupt noch nicht auf dem Wolchoffschen Friedhofe gewesen, hatte nur andere davon sprechen gehört.) „Ist es Dir denn wirklich ganz gleichgültig, zu sterben?“ „Warum soll ich denn sterben?“ fragte sie gereizt, wie um sich zu verteidigen. „Nun, einmal wirst auch Du sterben, und dann wird man Dich ebenso beerdigen, wie jenes Mädchen heute Morgen. Das war ... auch so Eine ... Ist an der Schwindsucht gestorben.“ „Solch Eine hätte doch im Krankenhause sterben können ...“ (Aha, dachte ich, das weiß sie schon; und sie sagte auch: „solch Eine“.) „Sie schuldete der Wirtin,“ entgegnete ich, immer mehr aufgestachelt durch das Gespräch, „und war bei ihr bis zum Tode, obgleich sie schwindsüchtig war. Droschkenkutscher und Soldaten sprachen dort an der Pforte über sie. Wahrscheinlich ihre gewesenen Bekannten. Lachten natürlich. Nahmen sich vor, in der Schenke noch ein Glas Schnaps auf ihr Wohl zu trinken.“ (Auch hierbei setzte ich noch vieles von mir aus hinzu.) Schweigen, tiefes Schweigen. Sie bewegte sich nicht einmal. „Ach, bleibt sich das nicht wirklich ganz gleich!? ... Und warum soll ich denn sterben?“ fügte sie gereizt hinzu. „Nicht jetzt, natürlich, aber später?“ „Ach, später ...“ „Ja, ja! Jetzt bist Du noch jung, hübsch und frisch, deswegen schätzt man Dich auch. Nach einem Jahr aber wird Dich dieses Leben schon verändert haben, wirst bald verwelkt sein.“ „Nach einem Jahr?“ „Jedenfalls wirst Du nach einem Jahr schon im Wert gesunken sein,“ fuhr ich schadenfroh fort. „Dann wirst Du aus diesem Hause in ein anderes, niedrigeres kommen. Nach einem zweiten Jahr – in ein drittes Haus, immer niedriger und niedriger, und so nach sieben Jahren wirst Du dann glücklich an der Ssennaja in der Kellerwohnung angelangt sein. Und das würde verhältnismäßig noch angehn. Wie aber, wenn sich dann noch irgend eine Krankheit einstellen sollte, sagen wir, schwache Brust, oder so etwas Ähnliches ... oder Du erkältest Dich womöglich. Bei solch einem Leben vergehen die Krankheiten nicht so leicht. Hat man sie sich einmal zugezogen, so ist man gewöhnlich geliefert. Nun, und dann wirst Du eben sterben.“ „Nun, dann werde ich eben sterben!“ sagte sie wütend und bewegte sich hastig. „Es tut einem aber doch leid.“ „Was?“ „Das Leben.“ Schweigen. „Hast Du einen Bräutigam gehabt? – Wie?“ „Was geht das Sie an?“ „Du hast Recht, was geht das mich an. Ich will Dich ja nicht ausfragen. Warum ärgerst Du Dich nur? Du wirst natürlich Deine Unannehmlichkeiten gehabt haben ... Was geht’s mich an! Es war ja nur so gesagt. Aber immerhin kann man doch bedauern.“ „Wen?“ „Dich natürlich.“ „Lohnt sich nicht ...“ sagte sie kaum hörbar und bewegte sich wieder. Das ärgerte mich. Wie! Ich war so freundlich zu ihr, sie aber ... „Ja, was denkst Du denn eigentlich? Bist Du etwa auf einem guten Wege?“ „Nichts denke ich.“ „Das ist es ja, daß Du Dir nichts dabei denkst! Besinn Dich so lange es noch Zeit ist. Jetzt geht’s ja noch. Du bist noch jung und hübsch; könntest Dich verlieben, könntest heiraten und glücklich sein ...“ „Nicht alle sind glücklich, wenn sie verheiratet sind,“ unterbrach sie mich wieder schroff. „Nicht alle!! Selbstverständlich nicht alle! Aber es ist doch immer besser als hier, hundertmal, tausendmal besser als hier! Liebt man aber, so kann man auch ohne Glück leben. Auch im Leid ist das Leben schön; es ist überhaupt immer schön, auf der Welt zu leben, selbst einerlei wie man lebt. Was ist aber hier außer ... Gestank. Pfui Teufel!“ Ich drehte mich angeekelt auf die andere Seite. Ich sprach nicht mehr kaltblütig, nein, ich geriet schon in Begeisterung. Mich riß das Verlangen mit sich fort, meine geliebten Ideechen, die ich im Keller ausgebrütet hatte, auseinanderzusetzen. Irgend etwas entflammte sich in mir plötzlich, ich sah plötzlich ein _Ziel_ vor mir. „Übrigens mußt Du mich nicht als Beispiel nehmen. Ich bin vielleicht noch schlechter als Du. Ich bin ja betrunken hierhergekommen.“ (Ich beeilte mich doch ein wenig, mich zu rechtfertigen.) „Zudem kann ein Mann einem Weibe nie ein Beispiel sein. Das sind zwei ganz verschiedene Dinge; wenn ich auch schlechter bin als Du, und wenn auch ich es bin, der andere besudelt, so bin ich doch niemandes Sklave; komme und gehe und damit ist’s abgetan, – bin wieder ein anderer Mensch. Und jetzt bedenke bloß das eine, daß Du gleich von Anfang an – Sklavin bist. Ja, Sklavin! Du gibst alles hin, Deinen ganzen Willen. Und wenn Du später diese Ketten zerreißen willst, so kannst Du es nicht mehr: immer fester und fester wirst Du umsponnen werden. Das ist schon so der Fluch dieser Ketten, daß sie sich immer fester ziehen. Ich kenne sie. Von dem übrigen rede ich lieber gar nicht, Du würdest es vielleicht auch nicht einmal verstehn, aber sag doch mal: Du schuldest natürlich schon der Wirtin? Nun, sieh mal!“ fügte ich hinzu, obgleich sie mir nichts geantwortet hatte, sondern nur schweigend, mit ganzer Seele zuhörte, „– da hast Du die Kette! Wirst Dich nie mehr loskaufen können. Das wird schon so gemacht werden. Kennt man ... Ebenso gut, wie dem Teufel die Seele verkauft ...“ „... Und zudem bin ich vielleicht ebenso unglücklich wie Du und, was kannst Du wissen, suche vielleicht absichtlich den Schmutz ... vor Leid. Trinken doch viele vor Leid und Kummer: nun, und ich bin wiederum vor Leid hierher gekommen. Sag doch selbst, was ist denn das eigentlich: nun, wir beide sind ... zusammengekommen ... gestern Abend, und haben doch kein Wort miteinander gewechselt, und erst nachher fiel es Dir ein, mich wie eine Wilde zu betrachten; und ich ebenso auch Dich. Liebt man denn etwa so? Soll denn der Mensch den Menschen auf diese Weise kennen lernen? Das ist doch nur eine ... eine Unanständigkeit und weiter nichts!“ „Ja!“ sagte sie plötzlich rauh, – sie stimmte mir sofort bei. Mich wunderte sogar die Hastigkeit dieses „Ja“. – „Also ist durch ihren Kopf vielleicht derselbe Gedanke gegangen, als sie mich vorhin betrachtete? So ist also auch sie schon zu eigenen Gedanken fähig? ... Hols der Teufel; das ist interessant, das ist ja – Seelenverwandtschaft,“ dachte ich und hätte mir fast schon die Hände gerieben. „Wie soll man auch mit solch einer jungen Seele nicht fertig werden! ... –“ Aber am meisten verlockte mich doch das Spiel. Sie drehte ihren Kopf etwas näher zu mir und stützte ihn in die Hand – so schien es mir wenigstens in der Dunkelheit. Vielleicht sah sie mich wieder an. Wie bedauerte ich es, daß ich ihre Augen nicht mehr sehn konnte. Ich hörte ihr tiefes Atmen. „Warum bist Du in dieses Haus gekommen?“ begann ich bereits mit einer gewissen Überlegenheit. „So.“ „Und doch, wie schön ist’s, im Elternhause zu leben! Warm, behaglich; eigenes Nest!“ „Wenn es aber schlimmer ist als hier?“ („Ich muß den richtigen Ton finden,“ zuckte es mir durch den Kopf, „mit etwas Sentimentalität wirst Du sie wahrscheinlich am ehesten nehmen.“) Übrigens zuckte das, wie gesagt, nur in einer Sekunde durch meine Gedanken. Ich schwöre es, sie interessierte mich tatsächlich. Und dann war ich auch in einer so sonderbaren Stimmung, entkräftet. Und Spitzbüberei verträgt sich ja so gut mit Gefühl. „Oh, das kommt natürlich auch vor!“ Beeilte mich, schnell zu entgegnen. „Ich bin überzeugt, daß Dich irgend jemand beleidigt hat, daß eher sie vor Dir schuldig sind, als Du vor _ihnen_. Zwar kenne ich Deine Lebensgeschichte nicht, aber ich weiß doch, daß ein Mädchen, wie Du, nicht freiwillig zum Vergnügen in solch ein Haus kommt ...“ „Was für ein Mädchen bin ich denn?“ fragte sie flüsternd, kaum hörbar; ich aber hörte es doch. („Weiß der Teufel – ich schmeichle ja. Das ist gemein von mir. Aber, weiß Gott, vielleicht ist’s auch gut.“) Sie schwieg. „Sieh mal, Lisa, ich sage das von mir aus: hätte ich von Kindheit an eine Familie gehabt, so würde ich jetzt anders sein, als ich bin. Darüber habe ich schon oft nachgedacht. Denn wie schlecht es auch in der Familie sein mag – es sind doch immer Vater und Mutter, und nicht Fremde, nicht Feinde. Sie lieben Dich doch, und wenn sie es Dir auch nur einmal im Jahr beweisen. Immerhin weißt Du, daß Du bei Dir zu Hause bist. Sieh mal, ich bin ohne Familie aufgewachsen; darum bin ich wahrscheinlich auch so ... gefühllos geworden.“ („Hm, vielleicht versteht sie’s überhaupt nicht,“ dachte ich, „und ’s ist ja auch lachhaft: – Moral.“) „Wenn ich Vater wäre und eine Tochter hätte, ich würde, glaub ich, meine Tochter mehr als meine Söhne lieben, nein nein, – tatsächlich!“ sagte ich, denn ich wollte auf ein anderes Thema übergehn, um sie zu zerstreuen. Ich muß gestehen, ich errötete. „Warum denn das?“ fragte sie. („Aha, sie hört also doch!“) „So, ich weiß nicht, warum. Sieh, Lisa, ich kannte einen Vater, der sonst im Leben ein strenger, stolzer Mensch war, vor seiner Tochter aber auf den Knieen lag, ihr Hände und Füße küßte und sich an ihr nicht satt sehen konnte. Wenn sie auf den Bällen tanzte, stand er zuweilen fünf Stunden lang auf ein und demselben Fleck und ließ sie nicht aus den Augen. Sie war ihm zur fixen Idee geworden: das kann ich sehr gut verstehn. Wenn sie schläft, wacht er bei ihr, küßt und bekreuzt sie. Selbst geht er in einem schäbigen Rock, ist geizig bis zur Unglaublichkeit – für sie aber kauft er alles, was sie haben will, macht ihr teure Geschenke und freut sich wie ein Kind, wenn das Geschenk ihr gefällt. Der Vater liebt die Töchter immer mehr als die Mutter. Viele Töchter haben ein gutes Leben zu Haus! Ich aber würde meine Tochter wahrscheinlich überhaupt nicht heiraten lassen.“ „Warum denn nicht?“ fragte sie, kaum, kaum lächelnd. „Weiß Gott! Ich glaube, aus Eifersucht nicht. Sie soll einen Fremden küssen? Einen Fremden mehr als den Vater lieben? Es wird einem ja unheimlich, bloß wenn man daran denkt! Aber das ist ja natürlich Unsinn; schließlich nehmen ja auch solche Väter Vernunft an. Ich aber würde mich vorher bestimmt schon allein durch die Sorge totquälen: würde alle Heiratskandidaten ausbrackieren. Schließlich würde ich sie aber doch verheiraten, und würde sie natürlich nur dem geben, den sie liebt. Man weiß doch, daß derjenige, den die Tochter selbst liebgewinnt, dem Vater immer der Schlechteste scheint. Das ist schon einmal so. Deswegen kommt es zu viel häßlichen Auftritten in manchen Familien.“ „Manche sind froh, wenn sie ihre Tochter verkaufen können, nicht daß sie sie in Ehren fortgeben wollten,“ sagte sie plötzlich. („Aha! das also ist’s!“) „Das, Lisa, kommt nur in jenen verfluchten Familien vor, in denen weder Gott noch Liebe ist,“ griff ich eifrig das neue Thema auf, „wo es aber keine Liebe gibt, dort gibt es auch keinen Verstand. Solche Familien gibt es, ich weiß es selbst, aber nicht von ihnen spreche ich. Du mußt wohl in Deiner Familie wenig Güte gesehn haben, wenn Du so sprichst. Glaube es Dir gern, daß Du unglücklich bist. Hm! ... Das geschieht aber doch meistens nur aus Armut.“ „Ist es denn bei den reichen Herrschaften besser? Auch in der Armut leben gute Menschen ehrlich.“ „Hm! ... ja. Vielleicht. Aber sieh, Lisa ... der Mensch liebt es, nur sein Leid in Betracht zu ziehen, sein Glück aber nicht. Würde er aber alles richtig einschätzen, so müßte er zugeben, daß es überall Glück gibt. Jedem Menschen ist Glück beschert. Wie schön aber ist es, wenn in der Familie alles wohlgelingt, wenn Gottes Segen auf ihr ruht, wenn Du einen Mann hast, der Dich liebt und hätschelt, keinen Schritt von Dir geht. Schön ist solch eine Familie! Ja, zuweilen ist es dann sogar mit dem Leid schön; und wo gibt es denn kein Leid? Solltest Du einmal heiraten, dann wirst Du es selbst erfahren. Und denk bloß an die erste Zeit nach der Hochzeit, wenn Du den bekommen hast, den Du liebst –: wieviel Glück, wieviel wundervolles herrliches Glück es dann zuweilen gibt! Glück auf Schritt und Tritt! In der ersten Zeit endet sogar jeder Streit zwischen Mann und Frau mit Glück! Manche Frauen rufen sogar desto häufiger Streit hervor, je mehr sie ihren Mann lieben. Nein, nein, tatsächlich, ich habe selbst solch eine Frau gekannt: ‚Ich liebe Dich so sehr,‘ sagt sie, ‚und so quäle ich Dich denn aus lauter Liebe – Du aber solltest das fühlen‘. Weißt Du auch, daß man einen Menschen aus Liebe absichtlich quälen kann? Meistens tuns die Frauen. Bei sich aber denken sie dann: ‚Dafür werde ich Dich nachher so lieben, werde so reizend zu Dir sein, daß es doch keine schlimme Sünde sein kann, Dich jetzt ein bißchen zu quälen‘. Und ein jeder, der Euch sieht, freut sich über Euch und Ihr seid gut, fröhlich, friedlich, und ehrlich ... Manche sind natürlich eifersüchtig. Geht der Mann einmal aus, – ich kannte solch eine –, da hält sie’s nicht aus und läuft sogar in der Nacht hinaus, um heimlich zu erfahren, wo er ist: in diesem oder jenem Hause, bei dieser oder jener? Das ist schon nicht mehr schön. Und das weiß sie ja auch und verurteilt sich auch selbst und das Herz bleibt ihr stehn vor Angst, – aber sie liebt doch! Es geschieht ja nur aus Liebe! Und wie schön ist es, sich nachher zu versöhnen, ihn um Verzeihung zu bitten oder selbst zu verzeihen. Und so gut werden beide, so schön wird’s ihnen zu Mut – ganz als ob sie sich von neuem gefunden hätten, und von neuem beginnt ihre Liebe. Und niemand, niemand soll wissen, was zwischen Mann und Weib geschieht, wenn sie sich beide lieben. Und was für ein Streit auch zwischen ihnen ausbrechen mag – selbst die leibliche Mutter dürfen sie nicht zum Richter wählen, noch darf ihr der eine über den anderen etwas erzählen. Sie müssen sich selbst Richter sein. Die Liebe ist ein Geheimnis Gottes und sie muß allen fremden Augen verborgen bleiben – was auch geschehen möge. Dadurch wird sie heiliger, schöner. Mann und Weib werden sich dann gegenseitig mehr achten, auf der Achtung aber beruht gar vieles. Und wenn schon einmal Liebe zwischen ihnen gewesen ist, wenn sie sich um der Liebe willen geheiratet haben, warum soll dann die Liebe vergehen? Sollte sie sich wirklich nicht erhalten lassen? Nur ganz selten kommt es vor, daß man sie nicht mehr erhalten kann, daß es wirklich unmöglich ist. Ist aber der Mann ein guter, ehrlicher Mensch, wie soll dann die Liebe vergehn? Die erste Liebe – die vergeht natürlich mit der Zeit, aber dann kommt ja wieder eine andere, ebenso schöne Liebe. Dann nähern sich die Seelen; alle Angelegenheiten werden gemeinsam erörtert, beraten, kein Geheimnis besteht zwischen ihnen. Und kommen dann die Kinder, so sind ja selbst die schwersten Zeiten lauteres Glück. Wenn man nur liebt und mutig ist. Dann ist auch die Arbeit eine Freude, dann versagt man sich manches Mal auch ein Stückchen Brot, um es den hungrigen Mäulchen zu geben – und auch das ist dann Freude. Werden sie doch später Dich dafür lieb haben. Die Kinder werden größer – und Du fühlst, daß Du ihnen ein Beispiel, eine Stütze bist; Du weißt, daß sie nach Deinem Tode Deine Gedanken und Gefühle ihr Leben lang in sich tragen werden, da Du sie ihnen gegeben hast. Sie werden Dein Ebenbild sein. Wie Du siehst: das ist eine große Pflicht! Wie sollen sich dann Vater und Mutter nicht nähertreten? Da sagt man allerdings, Kinder haben sei schwer! Wie ist das nur möglich! Kinder sind doch Himmelsglück! Liebst Du kleine Kinderchen, Lisa? Ich liebe sie furchtbar. Weißt Du, – solch ein rosarotes zartes Bengelchen saugt Dir an der Brust, – Gott! welch eines Mannes Herz wird nicht zu seiner Frau gezogen, wenn er sieht, wie sie sein Kind nährt! Das Kerlchen ist so weich und dick, zappelt, reckt und streckt sich, breitet die Ärmchen nach Dir aus; die Beinchen, die Händchen sind noch voller Grübchen, die Nägelchen sind reingewaschen, klein, ho! so klein, daß es zum lachen ist; die Augen aber blicken schon drein, als ob er alles verstände. Saugt er, so haut er mit den Fäustchen um sich rum, schlägt Dir auf die Brust womöglich, spielt. Tritt der Papa an ihn heran, – reißt er sich los von der Brust, biegt sich zurück, guckt ihn an, lacht – ganz als obs weiß Gott wie lachhaft wäre – und dann geht von neuem das Trinken an. Und mitunter, wenn’s dem Schlingel mal einfällt, da beißt er die Brust, wenn die Zähnchen schon kommen, selbst aber lugt der Racker dann mit seinen kleinen Äuglein: ‚siehst Du, hab gebissen‘! Ja, ist denn das kein Glück, wenn sie drei beisammen sind – Mann, Weib und Kind? Für diese Minuten kann man vieles verzeihen. Nein, Lisa, weißt Du, zuerst muß man selbst zu leben lernen und dann andere beschuldigen!“ „Mit solchen kleinen Bildern, gerade mit solchen, muß man Dir kommen!“ – dachte ich bei mir, obgleich ich, bei Gott, mit tiefem Gefühle sprach, und plötzlich errötete ich: „Wie aber, wenn sie jetzt plötzlich lacht wohin soll ich mich dann verkriechen?“ – Dieser Gedanke machte mich rasend! Zum Schluß der Rede war ich tatsächlich in Begeisterung geraten und darum litt mein Ehrgeiz, als sie nichts darauf erwiderte. Das Schweigen dauerte an. Ich wollte ihr fast schon einen Stoß geben. „Nein, – Sie ...“ begann sie plötzlich – und stockte. Doch ich hatte schon alles begriffen: in ihrer Stimme zitterte etwas anderes, nicht mehr Schroffes, Rauhes, wie vorher, sondern etwas Weiches und Verschämtes, dermaßen Verschämtes, daß ich mich plötzlich auch vor ihr schämte, daß ich mich vor ihr schuldig fühlte. „Was?“ fragte ich in zärtlicher Neugier. „Sie ...“ „Was denn?“ „Nein, Sie sprechen wirklich ganz wie ein Buch,“ sagte sie stockend und wieder schien es mir, daß in ihrer Stimme etwas Spöttisches klang. Oh, schmerzhaft traf mich diese Bemerkung. Nicht das hatte ich erwartet! Ich begriff nicht einmal, daß sie sich absichtlich hinter dem Spott verbergen wollte, daß dieses gewöhnlich der letzte Winkelzug aller schamhaften Menschen ist, die keuschen Herzens sind, und denen man aufdringlich und roh in die Seele dringt. Ich begriff nicht, daß sie sich bis zum letzten Augenblick aus Stolz nicht ergeben wollte, und sich fürchtete, jemandem ihr Gefühl zu zeigen. Schon die Zaghaftigkeit, mit der sie sich erst nach mehreren Ansätzen zu ihrem Spott entschloß, hätte mir alles verraten müssen. Ich aber erriet es nicht, und ein böses Gefühl erfaßte mich. „Wart mal!“ dachte ich. VII. „Ach, Gott, Lisa, was kann hier wie ein Buch sein, wenn ich es selbst schlecht habe im Leben. Alles das erwachte jetzt wieder in mir ... Sollte dieses Haus Dich hier wirklich nicht anekeln? Nein, weiß Gott, Gewohnheit macht doch viel aus! Teufel noch eins, was die Gewohnheit alles aus einem Menschen machen kann! Glaubst Du denn im Ernst, daß Du ewig jung und hübsch sein wirst, und daß man Dich hier bis in alle Ewigkeit behalten und bezahlen wird? Ganz abgesehen davon, daß hier nichts als Schmutz ist ... Übrigens, weißt Du, was ich Dir über Dein jetziges Leben sagen werde: sieh, jetzt bist Du noch jung, hübsch, gut, gefühlvoll und Du hast doch noch eine Seele; nun, so laß es Dir denn gesagt sein, daß es mich vorhin, als ich erwachte, einfach anekelte, hier mit Dir zu liegen! Man kann ja doch nur in betrunkenem Zustande hierher geraten. Wärest Du aber an einem anderen Ort, lebtest Du wie anständige Menschen leben, so würde ich vielleicht – nicht etwa nach Dir her sein – nein, ich würde mich einfach in Dich verlieben, würde glücklich sein, wenn Du mir einen Blick schenkst, und selig, wenn Du ein Wort mit mir sprichst; ich würde Dich an der Haustür erwarten, würde auf den Knieen vor Dir liegen; würde Dich wie meine Braut hochhalten und es mir zur Ehre anrechnen, wenn Du freundlich zu mir wärst. Würde es nicht wagen, etwas Unsauberes von Dir auch nur zu denken. Hier aber weiß ich doch, daß ich bloß zu pfeifen brauche und Du, ob Du willst oder nicht, kommen mußt, und dann scher ich mich gerade was um Deinen Willen. Du mußt tun, was _ich_ will. Selbst der letzte Tagelöhner verdingt sich doch nicht wie Du mit Leib und Seele und zudem weiß er, daß er es nur für eine bestimmte Zeit tut. Wann aber ist Deine Zeit um? Bedenk doch bloß, _was_ Du hier verdingst! Was Du hier zur Knechtschaft hingiebst! Die Seele, Deine Seele verdingst Du hier zur Knechtschaft! Deine Liebe gibst Du zur Beschimpfung dem ersten besten Trunkenbold hin. Deine Liebe! Das ist ja doch alles, das ist ja der Talisman, der Schatz jedes Mädchens – die Liebe! Um diese Liebe zu erwerben, ist gar manch einer bereit, in den Tod zu gehn. Wie hoch aber wird Deine Liebe hier eingeschätzt? Man kauft Dich ja ganz, mit Leib und Seele, wozu sich da noch besonders um die Liebe bemühen, wenn auch ohne Liebe alles möglich ist! Eine größere Beleidigung kann es ja für ein Mädchen überhaupt nicht geben – begreifst Du das auch? Da hab ich nun gehört, daß man Euch Törinnen Liebhaber zu halten erlaubt, um Euch zu trösten. Das ist ja doch nur ein Betrug, ist ja nur Spott! Was glaubst Du wohl – liebt er Dich etwa, Dein Liebhaber? Ich glaub’s nicht. Wie soll er Dich denn lieben, wenn er weiß, daß man Dich zu jeder Zeit von ihm fortrufen kann. Ein gemeiner Mensch ist er und weiter nichts! Achtet er Dich denn etwa auch nur so viel? Was gibt es zwischen Euch Gemeinsames? Er lacht ja nur über Dich und bestiehlt Dich womöglich noch obendrein, und das ist seine ganze Liebe! Kannst noch froh sein, wenn er Dich nicht schlägt. Frag ihn doch, wenn Du einen hast, ob er Dich heiraten würde. Er wird Dir ja ins Gesicht lachen, wenn er Dich nicht anspuckt oder durchprügelt – er selbst aber ist vielleicht nicht mal eine halbe Kopeke wert. Und warum nur, warum richtest Du Dich hier zu Grunde? Weil man Dir hier Kaffee gibt und Du Dich hier sattessen kannst? Aber so bedenke doch bloß, zu welch einem Zweck Du hier gefüttert wirst! Eine andere Ehrliche würde solch einen Bissen überhaupt nicht anrühren können, denn sie weiß doch, warum man ihr zu essen gibt. Du schuldest hier der Wirtin, und so wirst Du ihr ewig schulden: bis zu dem Tage, da die Gäste Dich nicht mehr werden haben wollen. Das aber wird schon bald kommen, vertraue nicht zu sehr auf Deine Jugend. In solch einem Hause geht es ja mit Riesenschritten. Dann wirst Du einfach hinausgeworfen werden. Und zwar wird man Dich schon lange vorher schikanieren, Dir Vorwürfe machen, Dich schimpfen, – als ob nicht Du Deine Gesundheit für sie hergegeben, Deine Jugend, Deine Seele für sie geopfert hast, sondern als ob _Du_ sie womöglich noch zu Grunde gerichtet, bestohlen, beschimpft hättest. Und hoffe nur nicht auf Beistand: die anderen, diese Deine Freundinnen werden dann gleichfalls über Dich herfallen, um der Alten einen Gefallen zu erweisen, denn hier sind ja alle Sklavinnen, hier haben alle jegliches Mitleid und jegliches Gewissen verloren. Gemeineres, Beleidigenderes als diese Schimpfwörter, die sie Dir dann sagen werden, gibt es in der ganzen Welt nicht. Und alles wirst Du hier opfern, alles, – Gesundheit, Jugend, Schönheit, und alle Deine Hoffnungen wirst Du hier begraben und mit zweiundzwanzig Jahren wirst Du aussehn, als ob Du fünfunddreißig wärst, und wirst noch Gott danken können, wenn Du nicht krank bist. Du denkst jetzt natürlich: hier brauche ich nicht zu arbeiten, lebe nur zum Vergnügen! Aber es gibt ja auf der ganzen Welt keine Arbeit, die schwerer, sklavischer, knechtender wäre, als diese ‚Arbeit‘ hier. Und kein Wort darfst Du sagen, kein halbes Wörtchen, wenn man Dich von hier fortjagt! Du wirst wie eine Verbrecherin von hier fortgehn, wirst zuerst in ein anderes Haus gehn, dann wieder in ein anderes, und schließlich wirst Du dann an der Ssennaja landen ... Dort aber geht dann das Prügeln an; das ist dort so eine übliche Liebenswürdigkeit; dort verstehn die Gäste überhaupt nicht zärtlich zu sein, wenn sie nicht vorher geprügelt haben. Du glaubst es vielleicht nicht? Geh einmal hin, vielleicht wirst Du es mit eigenen Augen sehn können. Ich sah dort einmal am Neujahrstage eine an der Tür. Sie wurde von ihren Hausgenossen hinausgeworfen; da sie zu sehr geschrieen hatte, sollte sie ein wenig kalt gestellt werden, und hinter ihr wurde die Tür zugeschlagen. Um neun Uhr morgens war sie schon total betrunken, zerzaust, halbnackt und blau geschlagen. Ihr Gesicht war gepudert und geschminkt, doch um die Augen hatte sie dunkle grünbraune Ringe; aus Mund und Nase floß ihr das Blut. Irgend ein Kutscher hatte sie wahrscheinlich gehörig bearbeitet. Sie setzte sich auf die kleine steinerne Treppe, in der Hand hatte sie irgend einen gesalzenen Fisch, einen Hering, glaub ich, sie gröhlte, und klagte irgend etwas über ihr ‚Los‘, und dabei klatschte sie mit dem Fisch ununterbrochen auf die Steinstufen der Treppe. Natürlich hatte man sich schon um sie versammelt, Droschkenkutscher und betrunkene Soldaten, die sie neckten. Du glaubst wohl nicht, daß auch Du so herunterkommen wirst? Auch ich würde es nicht glauben wollen, aber, was kann man wissen, vielleicht war diese selbe mit dem gesalzenen Fisch vor zehn, vor acht Jahren rein und unschuldig wie ein kleiner Engel hierher gekommen; errötete womöglich bei jedem Wort. Vielleicht war sie auch so eine wie Du: stolz, empfindlich, den anderen unähnlich; sah vielleicht wie eine Königin drein und wußte, daß denjenigen, der sie liebgewinnen und den sie wiederlieben würde, ein ganzes, großes wundervolles Glück erwartete. Und sieh nun, womit das geendet hat! Und wenn ihr in dem Augenblick, als sie mit dem Fisch auf die schmutzigen Stufen klatschte und das Blut ihr aus der Nase floß, wenn sie sich in dem Augenblick ihrer Jugend, ihrer Kinderjahre im Elternhause erinnerte: wie der Nachbarssohn sie auf dem Heimweg erwartete und ihr sagte, daß er sie sein ganzes Leben lang lieben würde, und wie sie dann beschlossen, sich zu heiraten, wenn sie erst groß sein würden! Nein, Lisa, Du kannst von Glück reden, wenn Du dort irgendwo in einem Kellerloch bald an der Schwindsucht sterben solltest, so wie die, die gestern beerdigt wurde. Du sagtest, man könne ja ins Krankenhaus gehn? Schwindsucht ist nicht wie Influenza. Ein Schwindsüchtiger glaubt noch bis zur letzten Minute, daß er gesund ist. Tröstet sich auf diese Weise. Der Wirtin aber ist das sogar vorteilhaft. Glaub mir, das ist schon so: hast Deine Seele verkauft und zudem bist Du noch Geld schuldig, also darfst Du nicht einmal mucksen. Liegst du aber schon, so wirst du von allen verlassen, alle kehren Dir dann den Rücken, – dann ist ja nichts mehr von Dir zu holen. Dann wird man Dir noch vorwerfen, daß Du unnütz Platz einnimmst, nicht schnell genug stirbst. Nicht mal einen Schluck Wasser werden sie Dir ohne Vorwürfe geben. ‚Du Vieh, wann wirst Du denn endlich einmal krepieren, läßt uns nicht schlafen, stöhnst in der Nacht, die Gäste ärgern sich.‘ Ja, ja, das ist schon so; hab selbst solche Vorwürfe gehört. Wenn Du mit dem Tode ringst, stopft man Dich in den schmutzigsten Winkel der Kellerwohnung – Finsternis, Feuchtigkeit, Schimmel an den Wänden. Was glaubst Du wohl, was für Gedanken Dir kommen werden, wenn Du allein dort liegen mußt? Bist Du endlich tot, so packt man Dich irgendwie in einen Futtertrog ein. Niemand segnet Dich, niemandem fällt es ein, Deinetwegen auch nur zu seufzen – ist froh, wenn man Dich schneller los wird! Und so trägt man Dich denn hinaus, so wie gestern diese Arme hinausgetragen wurde, und geht dann in die Schenke zur ‚Gedächtnisfeier‘. Im Grabe ist dunkles, fettiges Wasser, Schmutz, nasser, braungewordener Schnee, – ‚He! hop, Wanjucha, rinn mit dem Kasten! – Hoho! da sieht man doch gleich, was das für eine ist: selbst hier geht sie noch mit die Beine ruff. Na, reck die Schniere, wird’s bald?‘ – ‚Siehste denn nicht, daß sie mit’n Kopf nach unten liegt! War doch auch’n Mensch!‘ – ‚Is schon gut genug für solch eine‘. – ‚Nu, mein’twegen‘. Nicht einmal schimpfen wollen sie sich um solch eine. Schütten mit der nassen, blauen Lehmerde das Grab irgendwie zu und gehn dann in die Schenke ... Und damit ist die Erinnerung an Dich hier auf Erden begraben. Andere Gräber werden von den Kindern, Vätern, Müttern, Männern der Verstorbenen besucht, – an Deinem Grabe fällt keine Träne, wird kein einziger Seufzer laut. Niemand, niemand kommt zu Dir, kein einziger Mensch: Dein Name verschwindet auf ewig von dieser Erde – als ob Du niemals auf ihr gelebt hättest, niemals von einem Weib geboren wärst! Schmutz und Sumpf umgeben Dich, – und kein Echo gibt Dir Antwort, wenn Du in der Nacht, wenn die Toten erwachen, in Deiner Verzweiflung an den Deckel Deines Sarges schlägst und rufst: ‚Laßt mich, laßt mich, Ihr guten Menschen, noch einmal die Sonne sehn! Ich lebte, doch jetzt bin ich gestorben, ohne das Leben gekannt zu haben: mein Leben wurde an der Sjennaja vertrunken! Ach, laßt mich, laßt mich Ihr stolzen Menschen, noch einmal die Welt und das Leben sehn!‘“ Ich geriet in solches Pathos, daß mir schon ein Kehlkopf- oder Halskrampf drohte und ... und plötzlich verstummte ich, erhob mich erschrocken und lauschte mit ängstlich gesenktem Kopf und pochendem Herzen. Ich hatte wahrlich Grund, mich zu ängstigen. Schon lange hatte ich gefühlt, daß ich ihr die ganze Seele um und umkehrte, und je mehr ich mich davon überzeugte, desto mehr verlangte es mich, so schnell als möglich, das Ziel zu erreichen. Das Spiel, ja, das Spiel verlockte mich ... Übrigens nicht nur das Spiel ... Ich wußte, daß ich unnatürlich und steif sprach, aber ich verstand nicht, anders zu sprechen, als eben „wie ein Buch“. Doch nicht das verwirrte mich: ich wußte doch, ich ahnte es ja, daß ich verstanden wurde, und daß dieses „wie ein Buch“ die Sache nur noch höher hinaufschraubte. Dann aber, als ich plötzlich den Effekt erreicht hatte, überkam mich die Angst. Nein, nie noch, nie noch war ich Zeuge solch einer Verzweiflung gewesen! Sie hatte das Gesicht in das Kissen gepreßt, das sie mit beiden Händen umklammerte. Ihr ganzer junger Körper zitterte und zuckte wie in Krämpfen. Das zurückgedrängte Schluchzen drohte, sie zu ersticken, ihr die Brust zu zerreißen – und plötzlich brach es in Schreien, in Gestöhn aus ihr heraus. Da preßte sie ihr Gesicht noch fester in das Kissen: sie wollte nicht, daß irgend jemand, wenn auch nur eine einzige lebende Seele, etwas von ihrer Qual und von ihren Tränen wisse. Sie biß in das Kissen, biß sich die Hand blutig – das sah ich später –, oder sie krallte die Finger in ihre gelösten Flechten und erstickte geradezu in der Anstrengung, den Atem zurückzuhalten. Ich wollte ihr etwas sagen, sie bitten, sich zu beruhigen, doch fühlte ich, daß ich es nicht durfte, und plötzlich packte mich ein Frösteln; ich stürzte fast entsetzt aus dem Bett und beeilte mich, tastend und tappend meine Kleider zusammenzusuchen. Es war stockdunkel im Zimmer: wie sehr ich mich auch beeilte, ich konnte es doch nicht schnell genug machen. Da fand ich schließlich die Streichholzschachtel und ein ungebrauchtes Licht neben dem Leuchter. Kaum hatte ich es angezündet, als Lisa sich hastig erhob und sich auf den Bettrand setzte. Ihr Gesicht war sonderbar verzerrt, ein halbwahnsinniges Lächeln irrte um ihren Mund und fast sinnlos blickte sie mich an. Ich setzte mich neben sie und ergriff ihre Hände; sie kam wieder zu sich, wandte sich dann zu mir und wollte mich, glaub ich, umarmen – doch plötzlich wagte sie es nicht und senkte schweigend ihren Kopf vor mir. „Lisa, mein lieber Freund, ich habe es ... Du, verzeih mir,“ begann ich, sie aber preßte meine Hände so stark mit ihren heißen Fingern, daß ich erriet, wie überflüssig meine Worte waren, und ich verstummte. „Hier hast Du meine Adresse, Lisa; komm einmal zu mir.“ „Ich werde kommen ...“ sagte sie leise aber entschlossen, den Blick noch immer zu Boden gesenkt. „Jetzt gehe ich, leb wohl ... und auf Wiedersehn.“ Ich stand auf und auch sie erhob sich langsam. Plötzlich wurde sie über und über rot, fuhr zusammen, ergriff ein auf dem Stuhl liegendes Tuch, das sie sich umwarf und unter dem Kinn stramm zusammenzog. Darauf lächelte sie wieder so sonderbar, errötete und blickte mich schließlich ganz seltsam an. Mir tat es weh; ich beeilte mich, hinaus zu kommen, – zu verschwinden! „Warten Sie,“ sagte sie plötzlich – wir waren schon im Flur an der Tür angelangt –, hielt mich noch schüchtern am Ärmel zurück, stellte dann schnell das Licht auf den Fußboden und lief zurück. Ersichtlich war ihr etwas eingefallen, das sie mir zeigen wollte. Als sie mich zurückhielt, errötete sie wieder, ihre Augen glänzten und auf ihren Lippen erschien ein Lächeln, – was mochte es sein? Unwillkürlich wartete ich: sie kam sofort zurück, – mit einem Blick, der mich fast um Verzeihung bat. Überhaupt war das nicht mehr jenes Gesicht vom Abend vorher, mit dem mürrischen, mißtrauischen, starren Blick: es war ein flehender, weicher und zu gleicher Zeit zutraulicher, freundlicher, zaghafter Ausdruck in ihren Augen. So pflegen Kinder diejenigen anzusehn, die sie sehr lieb haben und von denen sie etwas erbitten wollen. Hellbraun waren ihre Augen. Oh, prachtvolle Augen waren es, Augen, die Liebe und Haß zu sprechen verstanden. Ohne mir etwas zu erklären, als ob ich wie irgend ein höheres Wesen alles auch ohne Erklärungen wissen müßte, reichte sie mir einen Brief. Ihr ganzes Gesicht erstrahlte in naivstem, fast kindlichem Stolz. Ich faltete den Bogen auseinander: es war ein Schreiben an sie von einem Studenten der Medizin oder so etwas ähnliches, – eine sehr schwülstige, blumenreiche, doch ungemein höfliche Liebeserklärung. Ich habe zwar die Redewendungen vergessen, doch weiß ich noch, daß durch den verschnörkelten Stil wahres, aufrichtiges Gefühl leuchtete, eines, das man nicht künstlich vortäuschen kann. Als ich zu Ende gelesen hatte, traf ich ihren heißen, neugierigen, kindlich-ungeduldigen Blick. Sie hing geradezu mit ihrem Blick an meinem Gesicht und erwartete in fiebernder Ungeduld, was ich sagen würde. Darauf erzählte sie mir in kurzen Worten, flüchtig, aber doch gewissermaßen stolz, daß sie irgendwo auf einem Tanzabend in einer Familie gewesen war, „bei sehr sehr guten Menschen, in einer _Familie_, wie gesagt, wo man noch _nichts weiß_, nicht das geringste,“ – denn sie war ja in _diesem_ Hause erst ganz kurze Zeit und nur so ... und sie hatte sich doch noch nicht entschlossen, hier zu bleiben, im Gegenteil, sie würde sogar bestimmt fortgehn, sobald sie nur ihre Schuld bezahlt hätte ... – Nun, und dort war auch dieser Student gewesen, er hatte den ganzen Abend mit ihr getanzt und gesprochen, und siehe da, bei der Gelegenheit hatte es sich herausgestellt, daß er gleichfalls aus Riga war, daß sie sich als Kinder gekannt und zusammen gespielt hatten, nur war das alles schon sehr lange her – und sogar ihre Eltern kannte er, doch _davon_ wisse er nichts-nichts-nichts und vermutete es nicht einmal! Und da hatte er ihr denn am Tage nach dem Tanzabend – vor drei Tagen also – durch ihre Freundin, durch dieselbe, mit der sie hingegangen war, diesen Brief geschickt ... und ... nun, und das war alles. Nachdem sie geendet hatte, senkte sie ein wenig verschämt ihre leuchtenden Augen vor meinem Blick. Armes Ding! Sie bewahrte diesen Brief des Studenten wie einen Schatz auf, und lief nach diesem ihrem einzigen Hab und Gut, da sie nicht wollte, daß ich fortginge, ohne zu erfahren, daß auch sie in Ehren und aufrichtig geliebt wurde, daß man auch mit ihr ehrerbietig sprach. Ich glaube, diesem Brief wird es wohl bestimmt gewesen sein, in ihrem Kasten ergebnislos ewig liegen zu bleiben. Aber was hat das zu sagen! Bin ich doch überzeugt, daß sie ihn ihr Leben lang wie einen Schatz verwahren wird, wie ihren Stolz und ihre Rechtfertigung. Sogar in solch einem Augenblick erinnerte sie sich seiner und brachte ihn mir, um ihn in naivem Stolz auch mir zu zeigen, um sich in meinen Augen zu erhöhen, um auch von mir gelobt zu werden. Ich sagte ihr kein Wort, drückte ihr nur die Hand und ging. Es drängte mich so maßlos, fortzugehn ... Ich ging zu Fuß nach Haus, obgleich der nasse Schnee immer noch in dicken, schweren Flocken niederfiel. Ich war zu Tode gequält, war vernichtet, und wurde noch von Zweifeln gemartert. Doch die Wahrheit schimmerte schon durch die Zweifel. Diese scheußliche Wahrheit! VIII. Und so verging denn auch noch eine geraume Zeit, bis ich schließlich einwilligte, diese Wahrheit anzuerkennen. Als ich am nächsten Morgen nach kurzem, tiefem Schlaf erwachte, fiel mir sofort der ganze vergangene Tag ein, und wirklich – ich wunderte mich sogar über meine „Sentimentalität“ mit Lisa und über diesen ganzen „gestrigen Unfug“. „Pfui Teufel, was für eine weibische Nervosität einen doch zuweilen überfallen kann!“ dachte ich ärgerlich. „Und wozu habe ich ihr eigentlich meine Adresse gegeben? Jetzt wird sie ja womöglich herkommen? Na, meinetwegen, mag sie nur kommen ...“ Doch _selbstverständlich_ war jetzt nicht das von Wichtigkeit: wichtig war vielmehr, daß ich so schnell wie möglich meine Reputation in den Augen Swerkoffs und Ssimonoffs rettete. Das war die Hauptsache! Lisa aber vergaß ich an jenem Morgen vor lauter anderen Sorgen ganz und gar. Vor allen Dingen hieß es, Ssimonoff das geliehene Geld sofort zurückzuerstatten. Ich entschloß mich zu einem verzweifelten Schritt: Anton Antonytsch um ganze fünfzehn Rubel anzugehn. Zum Glück war er an jenem Morgen gerade in vorzüglicher Gemütsverfassung und erfüllte daher meine Bitte einwandlos. Das erfreute mich dermaßen, daß ich ihm, als ich den Schuldschein unterschrieb, unaufgefordert, nur so wie _nebenbei_, erzählte, wie ich gestern mit meinen Freunden im Hôtel de Paris den Abschied eines Schulkameraden gefeiert hatte, „ja, ich kann wohl sagen, meines Jugendfreundes. Und wissen Sie, – er ist ein fabelhafter Durchgänger, maßlos verwöhnt in solchen, wie überhaupt in allen Dingen, – nun, versteht sich, aus guter Familie, riesige Einkünfte, glänzende Karriere, geistreich, liebenswürdig, kennt vorzüglich diese Damen, Sie wissen schon, haben noch ‚einem halben Dutzend‘ den Hals gebrochen, und ...“ Und wie gut das alles klang, es hörte sich so flott, unterhaltend und selbstzufrieden an. Nach Haus zurückgekehrt, setzte ich mich sofort hin und schrieb an Ssimonoff. Noch jetzt lacht mir das Herz vor Freude, wenn ich an den wahrhaft weltmännischen, harmlosen Ton meines Briefes denke. Gewandt und doch vornehm, und vor allen Dingen ganz ohne überflüssige Worte: die Schuld an allem schrieb ich mir allein zu. Ich rechtfertigte mich – „wenn es mir zusteht, mich zu rechtfertigen“ – mit der Erklärung, daß ich bereits nach dem ersten Gläschen, welches ich angeblich schon _vor_ ihrer Ankunft im Hôtel de Paris getrunken hatte, nicht mehr ganz nüchtern gewesen wäre, natürlich nur infolge meiner völligen Entwöhnung von Alkohol. Um Entschuldigung bat ich eigentlich nur Ssimonoff; doch fügte ich zum Schluß noch hinzu, daß ich ihm dankbar wäre, wenn er meine Erklärung auch allen anderen mitteilen wollte, besonders Swerkoff, den ich, wie ich „glaubte“, – denn ich könnte mich des Vorgefallenen „nicht mehr ganz deutlich entsinnen – vielleicht beleidigt habe“. Ich fügte noch hinzu, daß ich selbst bei allen anfahren würde, doch schmerzte mein Kopf zu sehr und zudem – schämte ich mich der ganzen Geschichte. Besonders gefiel mir die „gewisse Leichtigkeit“, fast sogar Nachlässigkeit – übrigens eine vollkommen vornehme – die sich in meinem Stil ausdrückte, und ihnen besser als alle Beweise zu verstehen geben mußte, daß ich „auf diese ganze gestrige Geschichte“ ziemlich gleichgültig blickte, also keineswegs niedergeschlagen oder gar vernichtet war, wie es jene Herren wahrscheinlich glaubten, sondern die ganze Sache so auffaßte, wie sie ein sich achtender Gentleman eben auffassen mußte. „Hm, ... und sieh mal einer an, was für eine Scherzhaftigkeit drin steckt – das macht mir so leicht kein Grandseigneur nach!“ dachte ich, als ich schmunzelnd mein Kunstwerk durchlas. „Und das kommt natürlich nur daher, daß ich ein entwickelter und gebildeter Mensch bin! Andere würden an meiner Stelle nicht wissen, wie sich hier herausreißen, ich aber bin schon wieder obenauf, und das nur, weil ich eben ein ‚gebildeter und entwickelter Mensch unserer Zeit bin‘. Und wie kann ich’s wissen, vielleicht ist das alles gestern wirklich nur vom Wein gekommen? Hm! ... um die Wahrheit zu sagen, das stimmt denn doch nicht so ganz. Schnaps hatte ich ja überhaupt nicht getrunken, zwischen fünf und sechs, als ich sie erwartete. Hab’s dem Ssimonoff bloß weisgemacht. Im Allgemeinen ist Lügen gemein; ja, und auch jetzt ist’s nicht schön ...“ „Ach, hol’s der Kuckuck! – Die Hauptsache ist, daß ich die Geschichte los bin!“ Ich legte die sechs Rubel in den Brief, versiegelte ihn und bat darauf meinen Apollon, ihn zu Ssimonoff zu bringen. Als Apollon hörte, daß in dem Brief Geld war, wurde er höflicher, und erklärte sich bereit, hinzugehn. In der Schummerstunde ging ich hinaus ... spazieren. Mein Kopf tat mir noch weh. Doch je mehr der Abend heranrückte und je dunkler es wurde, desto mehr verwirrten sich meine Eindrücke und mit ihnen auch meine Gedanken. Irgend etwas wollte in mir nicht sterben, etwas, das in der Tiefe des Herzens und Gewissens lag – es wollte nicht sterben und quälte mich in brennender Sehnsucht. Ich schob mich durch die belebtesten Straßen, durch die Meschtschanskaja, Ssadowaja und am Jussupoffgarten vorüber. Ich liebte es besonders in der Dämmerung, in diesen Straßen zu spazieren, wenn dort die Menge der Fußgänger dichter wurde, wenn Kaufleute, Handwerker, Arbeiter mit ihren von den Sorgen zuweilen bis zu Verbrecherphysiognomien entstellten Gesichtern vorüberschoben, um schnell nach Haus zu gelangen. Gerade diese nackte Prosa, diese stiere Hast gefielen mir. Und an jenem Abend wirkte dieses ganze Straßengedränge noch ganz besonders auf mich. Ich konnte mich auf keine Weise mit meinen Gefühlen zurechtfinden. Es war etwas in meiner Seele, das mir weh tat und sich erhob, erhob und immer wieder erhob, und sich nicht beruhigen konnte. Ganz verstimmt kehrte ich schließlich heim. Es war mir, als ob auf meiner Seele ein Verbrechen läge. Mich quälte beständig der Gedanke, daß Lisa zu mir kommen würde. Sonderbar kam es mir vor, daß von allen schrecklichen Erinnerungen des vergangenen Tages die Erinnerung an sie mich ganz besonders quälte. Alles andere hatte ich bis zum Abend schon glücklich vergessen, hatte einmal ausgespuckt und damit war es abgetan, und im übrigen blieb ich mit meinem Brief an Ssimonoff vollkommen zufrieden. Mit dieser Geschichte aber konnte ich mich doch nicht zufrieden geben. Nein, diese Lisa quälte mich. „Wenn sie jetzt zu mir kommt?“ dachte ich immer wieder. „Ach, nun, so mag sie doch kommen! Hm! Schon allein, daß sie dann, zum Beispiel, sehn wird, wie ich wohne! Gestern war ich ja gewissermaßen ein Held vor ihr ... jetzt aber, hm! Genau genommen ist es doch gemein, daß ich so heruntergekommen bin. Es ist ja die reine Bettlerwohnung. Und gestern entschloß ich mich, in solchen Kleidern ins Hôtel de Paris zu fahren! Und mein altes Wachstuchsofa, aus dem Krollhaar und Bast heraushängt! Und mein Schlafrock, der vorne nicht zugeht! Und die Troddeln ... Und das wird sie alles sehn! Und auch den Apollon wird sie sehn! Er wird sie ja bestimmt beleidigen. Dieses Vieh wird ihr natürlich irgend eine Frechheit sagen, um mich zu ärgern. Ich aber werde selbstverständlich nach meiner alten Gewohnheit wieder verlegen werden, werde mich mit den Schlafrockschößen zu bedecken suchen, werde lächeln, werde lügen ... Pfui Teufel, diese Gemeinheit! Und die größte Gemeinheit besteht ja nicht einmal darin! Es gibt ja noch etwas Wichtigeres, Gemeineres, Schändlicheres! Ja, Schändlicheres! Und wieder, wieder muß ich mich hinter dieser verlogenen, ehrlosen Maske verstecken! ...“ Bei diesem Gedanken angekommen, stieg mir das Blut zu Kopf. „Warum ist es denn eine ‚ehrlose‘? Was für eine ehrlose? Ich habe doch gestern aufrichtig gesprochen! Ich erinnere mich doch ganz genau, daß ein aufrichtiges Gefühl mich zum Reden zwang. Ich wollte ja in ihr gerade edle Gefühle hervorrufen ... Wenn sie schließlich weinte, so war das gut, heilbringend ...“ Aber ich konnte mich doch nicht beruhigen. Den ganzen Abend, nachdem ich schon zurückgekehrt war, nach neun, also zu einer Zeit, da Lisa nach menschlicher Berechnung nicht mehr hätte kommen können, sah ich sie immer noch vor mir, und zwar immer noch so, wie damals, als ich mit dem Streichholz das Zimmer plötzlich erhellt hatte: sah ihr verzerrtes Gesicht mit dem gequälten Blick und ihr armseliges, gezwungenes Lächeln, zu dem sie sich in jenem Augenblick zwang! Doch damals wußte ich noch nicht, daß ich sie auch nach fünfzehn Jahren immer noch mit diesem armseligen, verzerrten, unnötigen Lächeln vor mir sehen würde. Am folgenden Tage war ich wieder bereit, das Ganze für Unsinn, für Nervosität und vor allen Dingen für – _übertrieben_ zu halten. Ich habe immer diese meine schwache Seite gekannt und mich zuweilen sogar sehr vor ihr gefürchtet: „Immer übertreibe ich alles, das ist schon einmal mein Kreuz,“ dachte ich ununterbrochen. Doch schließlich: „Einmal wird Lisa doch kommen“ – das war der Refrain, mit dem alle meine Gedanken endeten. Ich war dermaßen unruhig, daß ich mitunter ganz außer Rand und Band geriet: „Sie wird kommen! Unbedingt wird sie kommen!“ rief ich, im Zimmer auf und ab rasend, – „wenn nicht heute, dann morgen, aber kommen wird sie! Das ist die verfluchte Romantik all dieser sentimentalen Seelen! Oh Gemeinheit, oh Dummheit, oh Borniertheit dieser sogenannten _reinen Herzen_! Herrgott, was ist denn da zu begreifen, Mensch, was ist denn da zu begreifen?“ ... Hier aber stockte ich selbst und war noch mehr verwirrt. „Und wie weniger Worte hat es bedurft,“ dachte ich nach einem Augenblick, „wie wenig Idyll – und dazu war’s ja noch kein echtes, sondern nur ein literarisches, sozusagen –, um sofort ein ganzes Menschenleben umzudrehen, so wie man’s will. Ja ja, die Jungfräulichkeit! Die Frische des Bodens, wie man zu sagen pflegt ...“ Zuweilen kam mir auch der Gedanke, selbst zu ihr zu fahren, ihr „alles zu erzählen“ und sie zu bitten, nicht zu mir zu kommen. Doch erfaßte mich bei diesem Gedanken, wenn ich bei jenem Punkt angekommen war, solch eine Wut, daß ich diese „verfluchte“ Lisa einfach nur so plattgeschlagen hätte, wenn sie neben mir gewesen wäre, daß ich sie beleidigt, bespieen, hinausgejagt, geprügelt hätte! Inzwischen aber verging auch der zweite Tag und dann verging noch einer, und schließlich noch einer – sie kam nicht, und ich beruhigte mich ein wenig; besonders, wenn die Uhr schon neun geschlagen hatte. Dann ging zuweilen auch wieder das Phantasieren an, was mitunter gar nicht übel und ganz vernünftig war: Ich rette z. B. Lisa gerade durch meinen Verkehr mit ihr, indem ich ihr erlaube, mich zu besuchen, und sie bei der Gelegenheit belehre ... Ich erziehe, ich bilde sie. Endlich bemerke ich dann, daß sie mich liebt, leidenschaftlich liebt. Ich stelle mich, als ob ich es nicht bemerke – warum ich mich so stelle, weiß ich übrigens selbst nicht, aber es muß wohl so sein, zur Verschönerung wahrscheinlich. Schließlich erhebt sie sich vom Sofa, ganz verwirrt, schön wie eine Göttin, und stürzt zitternd und schluchzend zu meinen Füßen, und sagt mir, daß ich ihr Retter bin, daß sie mich mehr als alles auf der Welt liebt. Ich bin erstaunt, aber ... „Lisa,“ sage ich ihr, „glaubtest Du wirklich, daß ich Deine Liebe zu mir nicht bemerkt hätte? Ich sah alles, ich erriet alles, doch konnte ich nicht als erster von Liebe sprechen, denn gerade weil ich einen Einfluß auf Dich hatte, fürchtete ich, daß Du Dich dann vielleicht aus Dankbarkeit zwingen würdest, mich zu lieben, daß Du Gefühle in Dir erwecken würdest, die Du in Wirklichkeit nicht für mich übrig hast – das wollte ich aber nicht, denn das wäre ... Despotismus ... Das ist unfein“.. Hier kam ich etwas aus dem Konzept, da ich mich zu sehr in irgend einer europäischen, George-Sandschen, unerklärlich edlen Feinheit ergangen hatte ... „Jetzt jedoch, jetzt bist Du mein! Du bist mein Geschöpf, Du bist lauter, und rein, und schön, Du bist mein wundervolles Weib.“ Und in mein Haus zieh frei und heiter Als stolze Herrin ein! Darauf beginnt dann das Leben, wir fahren ins Ausland usw., usw. Kurz, – ich schämte mich schließlich vor mir selber und zeigte mir die Zunge. „Und man wird ihr ja überhaupt nicht die Erlaubnis geben, auszugehn,“ sagte ich mir zur Beruhigung. „Ich glaube, man läßt sie nicht allzu oft spazieren gehn, abends schon ganz bestimmt nicht!“ Ich weiß nicht, warum ich annahm, daß sie am Abend kommen würde, und warum ich glaubte, daß es gerade um sieben Uhr sein würde. „Aber sie hat mir doch gesagt, daß sie sich dort noch nicht ganz verdungen hat, noch besondere Vorrechte genießt; das heißt, hm! Teufel noch eins, dann wird sie kommen, dann wird sie ja bestimmt kommen!“ Gut, daß mich in dieser Zeit mein Apollon mit seinen Grobheiten zerstreute. Der brachte mich wirklich um meine letzte Geduld! Das war ja meine Seuche, meine Geißel Gottes, die die Vorsehung speziell für mich geschaffen hatte! Schon mehrere Jahre lang suchten wir uns gegenseitig zu übertrumpfen und ich haßte ihn regelrecht. Oh Gott, wie ich ihn haßte! Noch kein einziges lebendes Wesen habe ich, glaub ich, so gehaßt wie diese Kreatur, besonders in gewissen Augenblicken. So als Mensch war er schon bejahrt, gravitätisch und erhaben. Hin und wieder beschäftigte er sich mit Schneiderarbeit. Es wird ewig ein Geheimnis bleiben, warum er mich verachtete, jedenfalls aber tat er das über alle Maßen: er blickte unerträglich hochmütig auf mich herab. Übrigens behandelte er alle Welt von oben herab. Nur ein Blick auf dieses Gesicht mit den weißen Augenbrauen und Wimpern, auf diesen glattgekämmten Kopf, auf diese Locke, die er sich über der Stirn drehte und mit gewöhnlicher Küchenbutter einsalbte, auf diesen soliden Mund mit der spitzen Oberlippe und den zurückgezogenen Mundwinkeln, der ganz wie ein lateinisches v aussah, – und wahrlich, meine Herren, Sie würden ein Wesen vor sich sehn, das kein einziges Mal an sich gezweifelt hat. Das war ein Pedant vom allerreinsten Wasser, der allergrößte Pedant von allen, die in der Welt je gelebt, und dazu besaß das Vieh noch eine Eigenliebe, die sich vielleicht höchstens Alexander der Große hätte leisten können. Er war in jeden Knopf seines Rockes verliebt, in jeden Nagel seiner Extremitäten – unbedingt gerade verliebt, das sah man ihm ja deutlich an der Nasenspitze an! Zu mir verhielt er sich unveränderlich despotisch, würdigte mich selten eines Wortes, und blickte er mich einmal an, so geschah das mit einer festen, majestätisch-selbstbewußten und immer etwas spöttischen Miene, die mich zuweilen bis zum Wahnsinn brachte. Seine Pflicht erfüllte er mit einem Gesichtsausdruck, als ob er mir die größte Gnade erwies. Bei der Gelegenheit sei noch bemerkt, daß er so gut wie überhaupt nichts machte, und sich nicht einmal für verpflichtet hielt, etwas zu machen. Daß er mich für den letzten Dummkopf der Welt hielt, und „mich nur bei sich hielt“, weil ich ihm dafür monatlich sieben Rubel zahlte, darüber konnte kein Zweifel bestehn. Er war einverstanden, bei mir für diese sieben Rubel monatlich „nichts zu machen“. Seinetwegen werden mir sicherlich viele Sünden vergeben werden. Zuweilen war mein Haß auf ihn so groß, daß mich schon sein Gang zu Krämpfen brachte. Doch ganz besonders widerlich war mir seine Art zu sprechen. Seine Zunge war, glaub ich, etwas länger als es sich gehört, und so lispelte er denn beständig und sprach die Zischlaute einfach scheußlich aus, doch schien er auf sein Lispeln ungeheuer stolz zu sein: er glaubte wahrscheinlich, daß es ihm eine gewisse Vornehmheit verlieh. Er sprach gewöhnlich leise, gemessen, wobei er die Hände auf dem Rücken hielt und schräg zu Boden blickte. Ganz besonders ärgerte er mich, wenn er bei sich in seiner Kammer, die nur durch eine dünne Wand von meinem Zimmer geschieden war, die Psalmen las. Oh, groß war das Kreuz, das mir diese Psalmen aufluden! Er aber liebte es sehr, des Abends zu lesen mit seiner leisen, gleichmäßigen Stimme, ein wenig singend – ganz als ob er neben einer Leiche gesessen und für den Toten gelesen hätte. Jetzt ist er auch glücklich Psalmenleser geworden: hält Totenwacht und liest die Bibel, vertilgt Ratten und macht Wichse. Damals jedoch konnte ich ihn nicht fortschicken, ich glaube, er war mit meiner Existenz irgendwie chemisch verbunden. Zudem hätte er um nichts in der Welt eingewilligt, von mir fortzugehn. Ich aber konnte nicht in einem Chambre-garnie wohnen: meine kleine Wohnung war abgesondert, hatte nichts mit den anderen Mietern zu tun, sie war meine Schale, mein Futteral, in das ich mich verkroch, um mich vor der ganzen Menschheit zu verstecken. Apollon aber schien mir, weiß der Teufel warum, zu dieser Wohnung zu gehören und so konnte ich ihn denn ganze sieben Jahre lang nicht vor die Tür setzen. Seine Monatsgage auch nur zwei oder gar drei Tage lang zurückzuhalten, war vollkommen ausgeschlossen. Er hätte mich so gepeinigt, daß ich nicht gewußt hätte, wo mich verkriechen. In diesen Tagen aber war ich dermaßen erbittert auf alle Welt, daß ich mich aus irgend einem Grunde und zu irgend einem Zweck entschloß, meinen Apollon zu _bestrafen_ – ihm das Geld erst nach ganzen zwei Wochen zu geben. Das hatte ich mir schon lange, schon seit zwei Jahren vorgenommen, – einzig, um ihm zu beweisen, daß er kein Recht hatte, sich vor mir so breit zu machen, und daß ich ihm seine Gage auszahlen konnte, „wann es mir gefällt.“ Ich beschloß also, vom Gelde kein Wort zu sagen und sogar absichtlich zu schweigen, um seinen Stolz zu besiegen, und ihn zu zwingen, sich die Gage von mir auszubitten. Dann erst würde ich die sieben Rubel aus dem Kasten nehmen, sie ihm zeigen und sagen, daß ich sie habe, sie ihm aber doch nicht gebe, „einfach weil ich nicht will, nicht will, nicht will – kurz, da ich das _so will_,“ weil das so mein „Herrenwille“ ist, weil er nicht ehrerbietig genug ist, weil er ein Grobian ist! Falls er aber bescheiden wie es sich gehört um das Geld bitten wollte, so würde ich mich meinetwegen auch erweichen lassen, und ihm die sieben Rubel geben; wenn nicht, dann könne er noch zwei Wochen warten, könne er drei Wochen warten, könne er ’nen ganzen Monat warten! ... Aber wie wütend ich auch war, er blieb doch Sieger. Nicht vier Tage lang hätte ich’s ausgehalten. Er begann damit, womit er in ähnlichen Fällen immer zu beginnen pflegte – denn ähnliche Fälle hatte es schon gegeben; und ich bemerke noch, daß ich im Voraus wußte, wie es kommen würde: kannte ich doch seine ganze niederträchtige Taktik schon auswendig! Nämlich: er begann damit, daß er einen ungemein strengen Blick auf mich richtete und ihn einige Minuten lang nicht von mir abwandte. Das geschah gewöhnlich, wenn ich ausging oder heimkehrte – dann begleitete oder empfing mich dieser liebe Blick. Tat ich dann z. B., als bemerkte ich ihn samt seinen Blicken überhaupt nicht, so schritt er – wiederum schweigend – zum nächsten Folterexperiment. Plötzlich kommt er mir nichts, dir nichts leise und mit leichten Schritten in mein Zimmer, wenn ich auf und ab gehe oder lese, bleibt an der Tür stehn, legt eine Hand auf den Rücken stellt das eine Bein etwas vor und richtet seinen Blick auf mich – dieser Blick ist aber dann nicht etwa bloß streng, sondern er drückt mit ihm zugleich seine ganze niederschmetternde Verachtung aus, die er für mich empfindet. Wenn ich ihn dann plötzlich frage, was er will, warum er eingetreten ist, so antwortet er mir keine Silbe, fährt nur fort, mich noch einige Sekunden lang starr anzusehn und darauf, nachdem er ganz absonderlich die Lippen zusammengepreßt hat, dreht er sich mit vielbedeutsamer Miene langsam auf demselben Fleck um und verläßt langsam das Zimmer. Nach etwa zwei Stunden öffnet sich plötzlich wieder die Tür und mein Apollon stellt sich von neuem auf ... Es kam vor, daß ich vor Wut ihn überhaupt nicht fragte, was er suche, sondern kurz entschlossen, gebieterisch meinen Kopf in den Nacken warf und ihn gleichfalls unbeweglich anblickte. Dann schauten wir uns auf diese Weise eine geraume Zeit an, bis er sich endlich langsam und wichtig umdrehte und mich auf weitere zwei Stunden verließ. Ließ ich mich durch diese Manöver immer noch nicht eines Besseren belehren, so fing er mit einem Mal an, zu – seufzen: er blickte mich an und seufzte tief, ganz als wollte er mit diesem langen, langen Atem die ganze Tiefe meiner moralischen Gesunkenheit ausmessen. Nun, versteht sich, es endete damit, daß er mich vollkommen besiegte: ich wütete, schrie, schimpfte, aber das, um was es sich drehte, mußte ich schließlich doch tun. Dieses Mal aber, als die üblichen Manöver der „strengen Blicke“ begannen, geriet ich sofort außer mir und stürzte mich wutbebend auf meinen Peiniger. War ich doch schon so wie so gereizt! „Bleib!“ schrie ich ihn an, als er sich langsam und schweigend, die eine Hand auf dem Rücken, wieder umdrehen wollte, um hinauszugehn. – „Bleib! Komm zurück! Komm zurück, sag ich Dir!“ Ich muß wohl so absonderlich gegröhlt haben, daß er sich umkehrte und mich sogar einigermaßen erstaunt anblickte. Übrigens sagte er wieder kein Wort, was mich total verrückt machte. „Wie unterstehst Du Dich, ohne Erlaubnis einzutreten und mich so zu betrachten, antworte!“ Er aber betrachtete mich wieder etwa dreißig Sekunden lang und fing dann wieder an, sich langsam umzudrehen. „Steh!“ schrie ich und stürzte auf ihn zu, „nicht vom Fleck! So! Jetzt antworte: Was suchst Du hier?“ „Wenn Sie mir jetzt was anzuordnen haben, so ist es meine Sache, es auszuführen,“ sagte er nach kurzem Schweigen ruhig und gemessen wie immer, wobei er leicht die Augenbrauen heraufzog und langsam den Kopf von der einen Seite auf die andere bog, – und all das geschah wiederum mit erschreckender Ruhe. „Ach, davon rede ich nicht, Henker!“ schrie ich zornbebend. „Ich werde Dir, Henker, selbst sagen, warum Du herkommst: Du siehst, daß ich Dir die Gage nicht auszahle, willst aber aus Stolz nicht darum bitten, und so kommst Du dann mit Deinen dummen Blicken; mich dafür strafen, quälen, und den–k–s–t nicht einmal, Du Henker, daß das dumm ist, dumm, fabelhaft dumm, bodenlos dumm!“ Er schickte sich wieder an, sich langsam umzudrehen, ich aber packte ihn. „Hör!“ schrie ich ihn an. „Sieh, hier ist das Geld, siehst Du, siehst Du, hier ist es!“ – Ich riß das Schubfach meines Tisches auf und nahm das Geld heraus. „Volle sieben Rubel! Du aber bekommst sie nicht, be–komm–s–t sie nicht, so lange bekommst Du sie nicht, bis du kommst und höflich, reumütig mich um Verzeihung bittest! Hast Du mich verstanden?“ „Das kann niemals geschehen!“ antwortete er mit einem geradezu übernatürlichen Selbstbewußtsein. „Wird aber!“ brüllte ich, „geb Dir mein Ehrenwort, daß es geschehen wird!“ „Und für was soll ich Sie denn um Verzeihung bitten?“ fuhr er fort, als ob er mein Geschrei überhaupt nicht hörte. „Sie haben mich doch Henker genannt, für was ich Sie jederzeit auf der Polizei wegen Beleidigung anzeigen kann.“ „Geh! Tu’s nur!“ schrie ich heiser, „geh sofort, sofort, hörst Du! Ein Henker bist Du doch! Henker! Henker!“ – Er jedoch schenkte mir nur einen Blick und schritt ruhig und selbstbewußt hinaus. „Wenn’s keine Lisa gäbe, würde nichts von alledem geschehen sein!“ entschied ich still bei mir. Darauf, nachdem ich eine Minute lang gestanden hatte, begab ich mich würdevoll und feierlich, doch mit langsam- und starkklopfendem Herzen in eigener Person in seine Kammer. „Apoll!“ sagte ich ruhig und bedeutsam, in Wirklichkeit aber war ich nichts weniger als ruhig. „Geh sofort zum Polizeioffizier unseres Stadtviertels!“ Er hatte sich inzwischen schon an seinen Tisch gesetzt, die Brille auf die Nase geschoben und seine Arbeit wieder aufgenommen. Als er so plötzlich meinen Befehl hörte, lachte er mit einem Mal laut auf. „Sofort, geh sofort! Geh, oder – Du weißt nicht, was sonst geschieht!“ „Sie sind wohl nicht ganz normal,“ meinte er darauf gemächlich, ohne selbst den Kopf zu erheben, denn er fädelte gerade seine Nadel ein. „Und wer hat denn je erlebt, daß ein Mensch wegen sich selbst die Polizei ruft? Was aber die Angst anbetrifft, so ängstigen Sie sich umsonst, es wird nichts geschehn.“ „Geh!“ krächzte ich und packte ihn an der Schulter. Ich fühlte, daß ich ihn sofort schlagen würde. Ich überhörte es ganz, daß in demselben Augenblick die Flurtür geöffnet wurde und irgend jemand eintrat, stehn blieb und schließlich uns verwundert anstarrte. Da blickte ich plötzlich hin und – ich erstarrte zuerst vor Schande und stürzte dann in mein Zimmer. Dort krallte ich meine Hände ins Haar, stützte den Kopf an die Wand und blieb unbewegt in dieser Stellung. Nach einiger Zeit hörte ich die langsamen Schritte Apollons. „_Irgend Eine_ fragt dort nach Ihnen,“ sagte er, mich ganz besonders streng messend, worauf er zur Seite trat und Lisa eintreten ließ. Er wollte nicht hinausgehn und betrachtete mich spöttisch. „Pack Dich!“ kommandierte ich halb bewußtlos. In dem Augenblick fing meine Wanduhr an zu schnarren und schlug dann sieben Mal. IX. Und in mein Haus zieh frei und heiter Als stolze Herrin ein. Ich stand vor ihr – vernichtet und in einer Weise fassungslos, die abstoßend sein mußte, und lächelte, glaub ich, wobei ich mich krampfhaft bemühte, die Schöße meines schäbigen wattierten Schlafrockes übereinander zu schlagen, – auf ein Haar so, wie ich es mir noch kurz vorher in einer verzagten Stunde vorgestellt hatte. Apollon schob zwar nach zwei Minuten ab, doch wurde mir deswegen noch nicht leichter. Am schlimmsten aber war, daß sie plötzlich gleichfalls verlegen wurde, und das sogar dermaßen, wie ich es nie von ihr erwartet hätte. Bei meinem Anblick, versteht sich. „Setz Dich,“ sagte ich mechanisch und rückte für sie einen Stuhl an den Tisch, selbst aber setzte ich mich auf das Sofa. Sie nahm sofort gehorsam Platz, blickte mich aber mit weit offenen Augen an, als erwartete sie sofort etwas Besonderes von mir. Diese Naivität der Erwartung war’s ja, was mich aus der Haut brachte. Bezwang mich jedoch. Da wär’s doch das einzig Vernünftige gewesen, zu tun, als bemerke man nichts, als sei alles so, wie es sein müßte, sie aber ... – Und dumpf fühlte ich schon, daß sie für _all dieses_ bitter büßen würde. „Du hast mich in einer sonderbaren Lage angetroffen, Lisa,“ begann ich stockend – mit dem vollen Bewußtsein, daß man gerade so nicht anfangen durfte. „Nein nein, denk nur nichts Schlechtes!“ rief ich schnell, als ich bemerkte, daß sie plötzlich errötete, „ich schäme mich nicht meiner Armut ... Im Gegenteil, ich bin stolz auf meine Armut. Ich bin arm aber edel ... Das kann man, das kann man ... arm aber edel,“ stotterte ich. „Übrigens ... Willst Du Tee?“ „Nein ...“ sie wollte noch mehr sagen. „Wart!“ Ich sprang auf und lief hinaus zu Apollon. Man mußte doch irgend etwas tun. „Apoll,“ sagte ich leise, doch fieberhaft erregt, „hier hast Du Deine Gage, siehst Du, ich gebe sie Dir!“ Damit warf ich das Geld, das ich noch in der Hand behalten hatte, auf seinen Tisch, „aber dafür mußt Du mich retten: geh sofort hier in das nächste Restaurant und bring mir Tee und Zwieback ... zehn Stück. Wenn Du nicht gehst, so stürzt Du einen Menschen ins Unglück! Du weißt nicht, was das für ein Wesen ist ... Sie ist – alles! Vielleicht glaubst Du irgend etwas. ... Aber Du weißt ja nicht, was das für ein Wesen ist! ...“ Apollon, der sich schon wieder an seine Arbeit gemacht und die Brille aufgesetzt hatte, schielte zuerst, ohne die Nadel aus der Hand zu legen, mißtrauisch auf das Geld; fuhr aber fort, ohne auf mich die geringste Aufmerksamkeit zu verwenden, an seinem Zwirnfaden herumzuzupfen. Ich wartete etwa drei Minuten lang in einer Stellung ^à la^ Napoleon. An meinen Schläfen rann kalter Schweiß herab; mein Gesicht war bleich, das fühlte ich. Endlich – Gott sei Dank! – erfaßte ihn ein menschliches Rühren. Nachdem er mit seinem Faden fertig geworden war, erhob er sich langsam, schob langsam den Stuhl zurück, nahm langsam die Brille ab, zählte langsam das Geld nach, und fragte mich dann langsam über die Schulter, ob er eine ganze Portion nehmen solle, worauf er langsam das Zimmer verließ. Als ich zu Lisa zurückkehrte, zuckte mir plötzlich ein Gedanke durch den Kopf: einfach so wie ich war, im alten Schlafrock, fortzulaufen, einerlei wohin, immer geradeaus – und dann komme was da kommen mag. Ich setzte mich wieder auf mein Sofa. Sie blickte mich unruhig an. Wir schwiegen. „Ich schlag ihn tot!“ schrie ich plötzlich wild auf und schlug mit der Faust auf den Tisch, so daß die Tinte aus dem Tintenfaß spritzte. „Ach! mein Gott, was haben Sie!“ rief sie entsetzt und fuhr zusammen vor Schreck. „Ich schlag ihn tot! mausetot!“ schrie ich wieder und schlug unbändig auf den Tisch – und zu gleicher Zeit begriff ich doch vorzüglich, daß es dumm war, so außer sich zu geraten. „Du weißt nicht, Lisa, was dieser Mensch für mich ist! Er ist mein Henker! ... Jetzt ist er nach Tee und Zwieback gegangen; er ...“ Und plötzlich brach ich in Tränen aus. Es war Nervosität. Wie schämte ich mich, als ich schluchzte; ich konnte mich aber nicht beherrschen. Sie erschrak. „Was haben Sie nur! Was fehlt Ihnen!?“ rief sie erregt, indem sie sich um mich mühte. „Wasser, gib mir Wasser, dort auf dem Tisch!“ sagte ich mit schwacher Stimme, wobei ich aber bei mir genau wußte, daß ich vorzüglich auch ohne Wasser auskommen konnte, und durchaus nicht mit so schwacher Stimme zu sprechen brauchte. Ich aber _verstellte_ mich, wie man zu sagen pflegt, um den Anstand zu wahren, obgleich der Anfall an sich echt war. Sie reichte mir das Wasser, wobei ihr Blick wie verloren auf mir lag. In dem Augenblick trat Apollon mit dem Tee ein. Da schien mir plötzlich dieser gewöhnliche, prosaische Tee unglaublich unanständig und kläglich nach allem, was geschehen war, und ich errötete. Lisa blickte sich ängstlich nach Apollon um: er verließ uns wieder, scheinbar ohne uns auch nur bemerkt zu haben. „Lisa, verachtest Du mich?“ fragte ich sie, zitternd vor Ungeduld zu erfahren, was sie von mir dachte. Sie wurde verlegen und wußte nichts zu antworten. „Trink den Tee!“ sagte ich ärgerlich. Ich war wütend auf mich, doch mußte natürlich sie dafür büßen. Eine furchtbare Wut auf sie erhob sich plötzlich in meinem Herzen; ich glaube, ich hätte sie totschlagen können. Um mich an ihr zu rächen, schwor ich mir innerlich, die ganze Zeit über kein Wort mit ihr zu sprechen. „Sie ist an allem schuld,“ sagte ich mir immer wieder. Unser Schweigen dauerte noch eine geraume Zeit. Der Tee stand auf dem Tisch: ich wollte absichtlich nicht anfangen, um ihre Lage noch unangenehmer zu machen, denn sie konnte doch nicht zuerst den Tee nehmen. Sie hatte mich schon mehrere Mal in traurigem Nichtverstehenkönnen angeblickt. Ich aber schwieg eigensinnig. Natürlich war ich selbst der größte Märtyrer, denn ich begriff vollkommen die ganze widerliche Gemeinheit meiner dummen Wut, und doch konnte ich mich auf keine Weise beherrschen oder zusammennehmen. „Ich will ... von dort ... ganz fortgehn,“ sagte sie schließlich stockend, vorsichtig, wahrscheinlich nur, um das Schweigen zu brechen. Die Arme! Gerade davon hätte sie doch in einem ohnehin schon so dummen Augenblick, zu einem sowieso schon so dummen Menschen, wie ich, nicht sprechen sollen. Mein Herz tat mir sogar weh vor Mitleid mit ihr – wegen ihrer unnötigen Offenheit und Ehrlichkeit. Doch etwas Scheußliches erstickte in mir sofort das Mitleid, ja, es hetzte mich sogar noch mehr gegen sie auf. Ach, so mag die ganze Welt untergehn! ... Es vergingen noch fünf Minuten ... „Habe ich Sie vielleicht gestört?“ fragte sie schüchtern, kaum hörbar und erhob sich schon vom Stuhl. Als ich aber diesen ersten Ausbruch einer beleidigten Würde sah, erzitterte ich geradezu vor Wut und verlor meine letzte Selbstbeherrschung. „Sag mir doch bitte, warum Du eigentlich hergekommen bist?“ rief ich plötzlich – das Blut stieg mir zu Kopf – ohne daran zu denken, was ich sprach. Ich wollte alles mit einem Mal aussprechen, daher war’s mir einerlei, womit ich anfing – wenn mir nur der Atem nicht immer ausgegangen wäre. „Warum bist Du zu mir gekommen? Sprich!“ schrie ich besinnungslos. „Ich werde es Dir sagen, mein Täubchen, warum Du hergekommen bist: Du bist gekommen, weil ich Dir damals _mitleidige Worte_ gesagt habe. Und jetzt bist Du wieder sentimental geworden und darum bist Du hergekommen, um wieder ‚mitleidige Worte‘ zu hören. So wisse denn, wisse, daß ich mich damals über Dich lustig machte! Und auch jetzt mache ich mich über Dich lustig. Warum zitterst Du? Ja, ich machte mich lustig über Dich! Man hatte mich vorher im Restaurant beleidigt – diese selben, die kurz vor mir zu Euch gekommen waren. Ich aber fuhr zu Euch, um einen von ihnen, den Offizier, zu verprügeln; das konnte ich nicht, da ich ihn nicht mehr antraf; da mußte ich meine Wut an einem anderen Menschen auslassen, da kamst Du mir in die Quere und so ließ ich denn meine Wut an Dir aus, und machte mich lustig über Dich. Man hatte mich erniedrigt, so wollte denn auch ich erniedrigen; man hatte mich zu einem Lappen gemacht, so wollte denn auch ich Macht beweisen ... Das war’s! Du aber glaubtest wohl schon, daß ich gekommen war, um Dich zu retten – nicht wahr? Das glaubtest Du doch? Das hast Du doch geglaubt?“ Ich wußte, daß sie vielleicht die Einzelheiten nicht verstehen konnte, doch wußte ich gleichfalls, daß sie das Wesen der Sache vorzüglich begreifen würde. So war’s denn auch. Sie erbleichte, wollte zwar etwas sagen, ihre Lippen verzogen sich zitternd, und plötzlich fiel sie, als ob man sie mit einem Beil gefällt hätte, auf den Stuhl zurück. Und die ganze Zeit darauf hörte sie mir zu mit halboffenem Munde, weit offenen Augen, zitternd vor maßloser Angst. Der Zynismus, der Zynismus meiner Worte erdrückte sie ... „Haha! Retten!“ rief ich höhnisch, sprang auf und raste im Zimmer auf und ab. „Wovor denn retten!? Ich, ich will Dich ja vielleicht selbst haben! Warum fragtest Du mich nicht, als ich Dir die Leviten las: ‚Wozu bist Du denn hergekommen? Etwa um uns nachher Moral zu predigen?‘ – Macht! Macht hatte ich damals nötig, das Spiel mit Dir hatte ich nötig, Deine Tränen hatte ich nötig, Deine Erniedrigung, Deine Hysterie – siehst Du, nur das hatte ich damals nötig! Später hielt ich’s selbst nicht aus, denn ich bin ja ein Lappen, bekam Angst und stopfte Dir aus Dummheit, weiß der Teufel wozu, meine Adresse in die Hand. Aber deswegen bedachte ich Dich ja schon unterwegs, noch bevor ich nach Haus gekommen war, mit allen Schimpfwörtern der Welt. Schon damals haßte ich Dich, denn ich hatte Dich belogen. Mit Worten kann ich spielen, in Gedanken träumen – in Wirklichkeit aber brauche ich – weißt Du was: daß Euch samt und sonders der Teufel holt! Ja, das brauche ich! Ich brauche Ruhe. Ich würde ja dafür, daß man mich in Ruhe läßt, die ganze Welt sofort für eine Kopeke verkaufen. Soll die Welt untergehn, oder soll ich keinen Tee trinken? Ich sage: die ganze Welt soll untergehn, denn ich will Tee trinken. Wußtest Du das, oder wußtest Du das nicht? Nun, ich weiß aber, daß ich ein Scheusal, ein Faulpelz bin, daß ich gemein, selbstsüchtig, egoistisch bin. Diese ganzen Tage habe ich vor Angst, Du könntest kommen, nur so gezittert. Weißt Du aber auch, was mich in diesen drei Tagen am meisten beunruhigt hat? Am meisten – daß ich mich damals Dir als ein Held gezeigt hatte, Du aber mich hier in meinem alten Schlafrock, bettelarm und scheußlich finden würdest. Ich sagte Dir vorhin, daß ich mich meiner Armut nicht schäme; so wisse denn, daß ich mich ihrer schäme, mehr denn aller anderen Mängel schäme, mich ihretwegen fürchte, mehr fürchte, als wenn ich stehlen würde, denn ich bin in diesem Punkt so empfindlich, als ob man mir die Haut abgezogen hätte, und ich schon von der Luft allein Schmerz empfinde. Solltest Du wirklich selbst jetzt noch nicht erraten, daß ich Dir niemals verzeihen werde, daß Du mich in diesem elenden Morgenrock angetroffen hast – gerade als ich mich wie ein kläffendes Hündchen auf Apollon stürzte? Der Erlöser, der gewesene Held stürzt sich wie ein grindiger, zottiger Hund auf seinen Diener und der lacht ihn noch aus! Und meine Tränen vorhin, die ich wie ein altes Weib vor Dir nicht verbergen konnte, werde ich Dir gleichfalls nie und nimmer verzeihen! Und das, was ich Dir jetzt gestehe, werde ich Dir auch nicht verzeihen! Ja, – Du, Du allein bist für alles verantwortlich, weil Du mir so in den Weg gelaufen bist, weil ich ein gemeiner Mensch bin, weil ich der allgemeinste, der allerlächerlichste, allerkleinlichste, allerdümmste, allerneidischste Wurm aller Erdenwürmer bin, die keineswegs besser sind als ich, die aber, weiß der Teufel woher das kommt, sich niemals verblüffen lassen; ich aber werde mein ganzes Leben lang von jedem Knirps ’nen Knips auf die Nase kriegen, das ist schon einmal so! Und was geht es mich an, daß Du es nicht begreifen kannst! Und was, nun, was – sag doch selbst, was gehst Du mich an, und was geht es mich an, ob Du da untergehst oder nicht? Ja, begreifst Du denn auch, wie ich Dich jetzt, nachdem ich Dir das alles gesagt habe, dafür hassen werde, daß Du hier gewesen bist, und meine Worte gehört hast? So spricht sich der Mensch doch nur ein einziges Mal im Leben aus, und auch das geschieht dann nur aus Hysterie! ... Was willst Du denn noch? Wozu hockst Du denn noch immer hier vor mir, warum quälst Du mich denn so, warum gehst Du nicht endlich fort?“ Hier aber geschah plötzlich etwas ganz Sonderbares. Ich war dermaßen gewöhnt, literarisch zu denken und mir alles auf der Welt so vorzustellen, wie ich es mir in meiner Phantasie vorher zurechtgelegt hatte, daß ich zuerst dieses Sonderbare überhaupt nicht begriff. Das aber war folgendes: diese Lisa, die ich so beleidigt und erniedrigt hatte, diese Lisa begriff viel mehr, als ich es für möglich gehalten hätte. Aus allem begriff sie das, was ein Weib, wenn es nur aufrichtig liebt, immer sofort begreift, nämlich: daß ich selbst unglücklich war. Der ängstliche, gekränkte Ausdruck ihres Gesichts verwandelte sich allmählich in traurige Befremdung. Als ich mich aber gemein, selbstsüchtig nannte und meine Tränen schon herabrollten – diese ganze Tirade sprach ich mit Tränen in den Augen –, da verzog sich ihr Gesicht wie im Krampf. Sie wollte aufstehn, mich unterbrechen; als ich aber endete, da beachtete sie nicht meine Schreie: ‚warum hockst Du hier, warum gehst Du nicht fort?‘ – sondern sah nur, daß es mir selbst schwer war, alles das auszusprechen. Und so eingeschüchtert war das arme Ding; sie hielt sich für so tief unter mir stehend; wie sollte sie es wagen, sich zu ärgern, oder gar beleidigt zu sein? Von einem unbezwinglichen Gefühl getrieben erhob sie sich plötzlich vom Stuhl und – denn sie wagte es nicht, sich zu rühren oder zu mir zu kommen – streckte sie mir nur wortlos ihre Hände entgegen ... Mein Herz wollte mir brechen. Da kam sie denn zu mir, umarmte meinen Hals und brach in Tränen aus. Ich hielt es nicht mehr aus und schluchzte auf, wie ich noch nie geschluchzt ... „Man läßt mich nicht ... Ich kann nicht ... gut sein!“ sagte ich schluchzend, darauf ging ich zum Diwan, warf mich auf ihn hin, preßte mein Gesicht auf das alte Lederkissen und schluchzte mindestens eine ganze Viertelstunde lang in wahrer Hysterie. Sie schmiegte sich an mich, umarmte mich und blieb regungslos in dieser Stellung. Nun war aber das Unangenehme der Sache, daß das Weinen doch einmal ein Ende haben mußte. Und da – ich schreibe ja die ekelhafteste Wahrheit – als ich noch schluchzend auf dem Diwan lag, das Gesicht fest an mein altes Lederkissen gepreßt, fing ich schon allmählich an, zuerst nur ganz von fern her, unwillkürlich, aber unbezwingbar zu fühlen, daß es mir doch etwas peinlich sein würde, den Kopf zu erheben und Lisa in die Augen zu sehn. Weswegen schämte ich mich denn? – Das weiß ich nicht, aber ich weiß, daß ich mich schämte. Unter anderem ging mir auch der häßliche Gedanke durch meinen heißen, verwirrten Kopf, daß jetzt die Rollen vertauscht waren, daß jetzt sie die Heldin war, ich aber ein ebenso erniedrigtes und zerschlagenes Geschöpf, wie sie es damals in der Nacht vor mir gewesen – vor vier Tagen ... Und dieses dachte ich in den Minuten, als ich noch mit dem Gesicht auf dem Diwan lag und weinte! Mein Gott! Sollte ich sie denn wirklich in dem Augenblick beneidet haben? Ich weiß es nicht, selbst heute kann ich es noch nicht sagen, damals aber begriff ich mich natürlich noch weniger als jetzt. Ich kann nun einmal nicht leben, ohne irgend jemanden zu tyrannisieren ... Aber ... Aber mit Erwägungen hin und her läßt sich ja doch nichts erklären, folglich lohnt es sich nicht, darüber noch weiter nachzudenken. Einstweilen aber überwand ich mich doch und erhob den Kopf; einmal mußte es ja doch geschehen ... Und siehe, ich bin noch jetzt fest überzeugt, daß gerade weil ich mich schämte, ihr in die Augen zu sehn, gerade darum in mir plötzlich ein anderes Gefühl erwachte und aufflammte ... die Lust – sie – zu – besitzen. Meine Augen glänzten vor Leidenschaft und ich preßte krampfhaft ihre Hände. Wie haßte ich sie und wie zog es mich zu ihr in diesem Augenblick! Das eine Gefühl bewältigte das andere. Das glich fast einer Rache! ... Auf ihrem Gesicht drückte sich zuerst Verwunderung aus, oder vielleicht sogar Angst, doch nur einen Augenblick. Berauscht, leidenschaftlich umarmte sie mich. X. Nach einer Viertelstunde lief ich wie besessen im Zimmer auf und ab, und trat vor Ungeduld immer wieder zum Wandschirm, um durch die Spalte nach Lisa zu sehn. Sie saß auf dem Fußboden, hatte den Kopf an den Bettrand gestützt und weinte, wie es schien. Sie ging aber nicht fort, und das war’s ja, was mich ärgerte. Sie wußte bereits alles. Ich hatte sie beleidigt, aber ... Ach, wozu erzählen. Sie hatte schon erraten, daß der Ausbruch meiner Leidenschaft gerade Rache war, eine neue Erniedrigung ihrer Person, und daß zu meinem vorherigen, fast grundlosen Haß noch ein _persönlicher, neidischer_ Haß auf sie hinzugekommen war ... Übrigens, ich will nicht behaupten, sie hätte das alles vollkommen _bewußt_ und klar begriffen; dafür aber begriff sie vollkommen, daß ich ein gemeiner Mensch war und vor allem einer, der nicht fähig war, sie zu lieben. Ich weiß, man wird mir sagen, es sei unwahrscheinlich, – unwahrscheinlich, daß man so grausam, so dumm sein könnte, wie ich es war; oder vielleicht wird man noch hinzufügen, es wäre unmöglich gewesen, sie nicht lieb zu gewinnen, wenigstens diese Liebe nicht zu schätzen. Warum soll es denn unwahrscheinlich sein? Erstens konnte ich überhaupt nicht mehr lieben, denn lieben bedeutete für mich – tyrannisieren und moralisch überlegen sein. Mein ganzes Leben lang habe ich mir eine andere Liebe nicht einmal vorstellen können, und sogar jetzt glaube ich noch zuweilen, daß die Liebe gerade in dem vom geliebten Wesen geschenkten Recht, es zu tyrannisieren, besteht. Auch in meinen Einsamkeitsträumen im Dunkel habe ich mir die Liebe nie anders vorgestellt, denn als Kampf, hab sie in Gedanken stets mit Haß begonnen und mit moralischer Unterwerfung beendet, dann aber war’s mir unmöglich, mir auch nur vorzustellen, was man mit einem unterworfenen Wesen noch anfangen könnte. Und was kann denn hierbei unwahrscheinlich sein, wenn ich mich moralisch schon so weit gebracht, mich vom „lebendigen Leben“ so entwöhnt hatte, daß ich sie beschämen wollte, als ich ihr vorwarf, sie sei gekommen, um „mitleidige Worte“ zu hören, selbst aber nicht einmal erriet, daß sie keineswegs deswegen gekommen war, um mitleidige Worte zu hören, sondern daß sie gekommen war, um mich zu lieben, denn für das Weib liegt in der Liebe die ganze Auferstehung, die ganze Rettung vor einerlei welch einem Verderben, und die ganze Wiedergeburt, die sich ja anders überhaupt nicht offenbaren kann, als gerade in ihrer Liebe. Übrigens haßte ich sie gar nicht so sehr, als ich im Zimmer auf und ab lief und durch die Spalte des Bettschirms lugte. Es war mir nur unerträglich schwer zu Mut, gerade weil sie bei mir war. Ich wollte, daß sie vom Angesicht der Erde verschwand. Nach „Ruhe“ sehnte ich mich, in meinem Winkel allein bleiben wollte ich. Das „lebendige Leben“ erdrückte mich, da ich es nicht gewöhnt war, dermaßen, daß mir sogar das Atmen schwer wurde. Es vergingen noch etliche Minuten, sie aber erhob sich immer noch nicht – als ob sie alles vergessen hätte. Ich war so gewissenlos, leise an den Schirm zu klopfen, um sie zu erinnern ... Sie fuhr erschrocken zusammen, erhob sich hastig und suchte eilig ihre Sachen, Tuch, Mützchen, Pelz zusammen, ganz als wollte sie sich vor mir retten ... Nach zwei Minuten trat sie langsam hinter dem Schirm hervor und richtete einen schweren Blick auf mich. Ich lachte boshaft auf, gezwungen natürlich, _anstandshalber_, und wandte mich ab. „Adieu,“ sagte sie und ging zur Tür. Da trat ich schnell an sie heran, ergriff die Hand, legte hinein ... und preßte sie wieder zu. Darauf kehrte ich mich hastig um und ging schnell in die andere Ecke des Zimmers, um wenigstens nicht zu sehen ... Soeben wollte ich lügen, – schreiben, daß ich dieses in Versehen, halb bewußtlos, aus Dummheit, aus Kopflosigkeit getan hätte. Ich will aber nicht lügen, und darum sage ich jetzt offen, daß ich es ... aus Bosheit tat. Es fiel mir ein, das zu tun, als ich im Zimmer auf und ab lief und sie hinter dem Bettschirm saß. Eines jedoch kann ich mit aller Bestimmtheit sagen: ich beging diese Grausamkeit, wenn auch absichtlich, so doch nicht aus meinem Herzen, sondern aus meinen schlechten Gedanken heraus. Diese Grausamkeit war dermaßen unnatürlich, dermaßen „gedacht“, absichtlich komponiert, so _literarisch_, daß ich sie selbst nicht eine Minute lang ertrug – zuerst lief ich in die Ecke, um nicht zu sehn, dann aber stürzte ich mit Scham und Verzweiflung im Herzen ihr nach. Ich riß die Flurtür auf und horchte hinaus. „Lisa! Lisa!“ rief ich halblaut, denn ich wagte es nicht, dreister zu rufen. Keine Antwort. Doch schien es mir, als hörte ich noch unten ihre Schritte auf der Treppe. „Lisa!“ rief ich lauter. Keine Antwort. Da hörte ich, wie die schwere Haustür geöffnet wurde und gleich darauf mit dumpfem Krach zuschlug. Der Widerhall schallte durch das Haus. Sie war fortgegangen. Nachdenklich kehrte ich in mein Zimmer zurück. Weh und schwer wars mir ums Herz. Ich blieb am Tisch nicht weit von dem Stuhl, auf dem sie gesessen hatte, stehn und starrte gedankenlos vor mich hin. Es verging vielleicht eine Minute. Plötzlich fuhr ich zusammen: gerade vor mir auf dem Tisch erblickte ich ... kurz, ich erblickte einen blauen verknitterten Fünfrubelschein, denselben, den ich ihr in die Hand gedrückt hatte. Das war _derselbe_ Schein, ein anderer hätte es überhaupt nicht sein können, in der ganzen Wohnung gab es keinen anderen! Also hatte sie noch Zeit gehabt, ihn, als ich in die Ecke lief, auf den Tisch zu werfen. Wie, was? Ich hätte es doch wissen müssen, daß sie es tun würde. Hätte es wissen müssen? Nein. Ich war so weit Egoist, achtete die Menschen im Grunde so wenig, daß ich von ihr niemals so etwas erwartet hätte. Das ertrug ich nicht! Einen Augenblick später stürzte ich mich wie ein Sinnloser in meine Kleider, zog mir an, was mir in die Hände kam, und lief atemlos hinaus – ihr nach. Sie hätte noch keine zweihundert Schritte gegangen sein können, als ich hinaustrat. Es war ganz still auf der Straße, es schneite; die schweren Flocken fielen fast senkrecht zur Erde und bedeckten den Fußsteig und die einsame Straße mit weichen, weißen Schneekissen. Kein Mensch war rings zu sehn, kein Laut zu hören ... nur Schnee. Wehmütig und nutzlos schimmerten die Laternen. Ich lief an zweihundert Schritt, – bis zur Querstraße und blieb stehn. Wohin war sie gegangen? Und warum lief ich ihr nach? Warum? Um vor ihr niederzufallen, vor Reue zu weinen, ihre Füße zu küssen, um ihre Vergebung zu erflehen! Das, gerade das wollte ich. Meine ganze Brust riß sich entzwei! Niemals, niemals werde ich gleichmütig an diesen Augenblick zurückdenken können. Aber, – wozu? fragte ich mich. Werde ich sie denn nicht vielleicht morgen schon hassen, weil ich ihr heute die Füße geküßt? Werde ich ihr denn Glück bringen? Habe ich denn heute nicht wieder, schon zum hundertsten Mal, erkannt, was ich wert bin? Werde ich sie denn nicht totquälen! Ich stand im Schnee, starrte in die trübe Dunkelheit und dachte darüber nach. „Und ist es nicht besser, ist’s nicht besser,“ fragte ich mich noch oftmals, wenn ich später in den folgenden Jahren zu Hause mit Phantasieen das lebendige Weh im Herzen betäuben wollte, „ist es nicht besser, daß sie auf ewig die Beleidigung mit sich forttrug? Beleidigung – ist doch Läuterung; das ist die allerätzendste und schmerzhafteste Erkenntnis. Schon am nächsten Tage würde ich ihre Seele beschmutzt und ihr Herz ermüdet haben. Die Beleidigung aber wird niemals in ihr erlöschen und wie gemein auch der Schmutz, der sie umgibt, sein mag, – die Beleidigung wird sie erheben und läutern ... durch Haß ... hm! ... vielleicht auch durch Vergebung ... Aber wird es ihr denn davon leichter werden?“ Und sagt mir doch – jetzt will ich von mir aus noch eine müßige Frage stellen: was ist besser, – billiges Glück, oder erhabenes Leid? Nun, was ist besser? Sie stieg in mir auf, als ich an jenem Abend halbtot vor Seelenqual bei mir zu Hause saß. Niemals noch hatte ich solch ein Leid, solch eine Reue empfunden. Aber wie hätte denn, als ich hinaus- und ihr nachlief, noch irgend ein Zweifel darüber bestehn können, daß ich nicht auf halbem Wege umkehren und zurückkommen würde!? Lisa habe ich nie mehr gesehn und auch nie etwas von ihr gehört. Ich füge noch hinzu, daß mich die _Phrase_ von der Beleidigung und dem Haß auf lange beruhigte, obgleich ich damals vor Leid fast krank wurde. Selbst jetzt noch nach so langen Jahren scheint mir vieles in der Erinnerung schlecht, aber ... Übrigens, sollte ich nicht hier meine „Aufzeichnungen“ beenden? Ich glaube, es war falsch von mir, daß ich sie überhaupt zu schreiben begann. Wenigstens habe ich mich während des Schreibens die ganze Zeit geschämt: also ist das nicht mehr Literatur, sondern Selbstgeißelung. Denn lange Geschichten erzählen zum Beispiel darüber, wie ich mein Leben verfehlt habe durch moralische Verwesung in meinem Dunkel, durch den gänzlichen Mangel oder vielleicht auch nur ein zu Wenig an Mittelmäßigkeit, durch Entwöhnung von allem Lebendigen und durch all die Bosheit, die ich gepflegt, – das ist, bei Gott, alles andere, nur nicht unterhaltend. In einem Roman muß es einen Helden geben, hier aber findet man alle Eigenschaften eines Anti-Helden. Und die Hauptsache ist, daß das Ganze einen äußerst unangenehmen Eindruck macht. Haben wir uns doch alle vom Leben entwöhnt, alle lahmen wir, alle, – natürlich mehr oder weniger. Wir sind es ja sogar dermaßen nicht mehr gewohnt, daß uns mitunter vor dem wirklichen „lebendigen Leben“ Ekel erfaßt, und darum ärgert es uns, wenn wir an dasselbe erinnert werden. Sind wir doch sogar so weit gekommen, daß wir das wirkliche „lebendige Leben“ fast für Mühe, für eine Last, fast für Dienst halten, und im Geheimen sind wir vollkommen einig, daß es besser ist, literarisch zu leben. Und warum nur krabbeln wir herum, was wollen wir denn eigentlich? Das wissen wir ja selbst nicht. Wehe uns, wenn unsere einfältigen Bitten in Erfüllung gingen! Nun, möge man es doch einmal versuchen und uns z. B. größere Freiheit geben, einerlei wem von uns einmal die Hände befreien, das Arbeitsfeld vergrößern, die Vormundschaft zurückziehen, und wir ... ja, ich versichere Ihnen, meine Herren: wir würden sofort wieder um eine Vormundschaft bitten. Ich weiß, daß Sie sich wegen dieser Behauptung maßlos über mich ärgern und mir wütend zuschreien werden: „Reden Sie von sich und von Ihrer Misère so viel Sie wollen, aber unterstehn Sie sich nicht, ‚wir alle‘ zu sagen!“ Erlauben Sie, meine Herren, ich will mich doch mit diesem „wir alle“ keineswegs etwa rechtfertigen! Was aber mich speziell hierbei anbetrifft, so habe ich in meinem Leben bloß das bis zum Äußersten geführt, was Sie nicht einmal bis zur Hälfte zu führen wagen. Und diese Ihre Feigheit halten Sie ja noch für Vernunft und trösten sich noch mit ihr, – sehen aber nicht ein, daß das Selbstbetrug ist. So stellt es sich heraus, daß ich schließlich noch lebendiger bin, als Sie, meine Herren. So blicken Sie doch nur aufmerksamer um sich! Wir wissen ja nicht einmal, wo das Lebendige jetzt lebt, was es eigentlich ist und wie es heißt. Man versuche es doch: lasse uns allein, nehme uns die Bücher, und wir würden uns sofort verlieren und verirren, würden nicht wissen, an wen uns anschließen, an was uns halten, was lieben und was hassen, was hochachten und was verachten. Es ist uns ja sogar lästig, Menschen zu sein, Menschen mit wirklichem, _eigenem_ Leib und Blut. Wir schämen uns unseres Leibes, halten das Natürliche für Schande und wollen irgend welche noch nie dagewesene Allmenschen sein. Wir sind Totgeborene – werden wir doch schon lange nicht mehr von lebendigen Vätern geboren ... und das gefällt uns ja sogar immer mehr und mehr! Unser Geschmack gewöhnt sich daran. Bald werden wir uns ausdenken, irgendwie von der Idee geboren zu werden. Doch jetzt genug damit. Ich will nicht mehr „aus dem Dunkel“ schreiben. * * * * * Übrigens sind hiermit die Aufzeichnungen dieses paradoxen Menschen noch nicht beendet. Er konnte es nicht lassen, und fuhr daher fort, zu schreiben. Aber auch mir will es scheinen, daß man vorläufig hier abbrechen kann. Herr Prochartschin. Eine Erzählung. In der Wohnung Ustinja Fedorownas hatte sich im allerdunkelsten und bescheidensten Winkel Semjon Iwanowitsch Prochartschin eingemietet, ein älterer, nüchterner und vernünftig denkender Mensch. Da Herr Prochartschin bei seinem kleinen Posten ein nur seinen dienstlichen Fähigkeiten entsprechendes Gehalt bezog, so konnte Ustinja Fedorowna auf keine Weise mehr als fünf Rubel monatlich für diesen Winkel von ihm verlangen. Einige behaupteten, sie hätte dabei eine besondere Berechnung gehabt; aber wie dem auch war, jedenfalls wurde Herr Prochartschin all diesen bösen Zungen zum Trotz ihr Günstling – eine Auszeichnung, die nur in anständigem und ehrenhaftem Sinne zu verstehn ist. Ich muß hier bemerken, daß Ustinja Fedorowna eine sehr achtenswerte und wohlbeleibte Dame war, die einerseits eine besondere Vorliebe fürs Essen und Kaffeetrinken hatte, und andrerseits dann wieder übermäßiges Fasten liebte, eine Dame, die bei sich etliche solcher Winkelmieter hatte, und zwar sogar mehrere, die das Doppelte von dem zahlten, was sie von Semjon Iwanowitsch erhielt, und die, wenn sie nicht friedlich waren – denn sie waren alle bis auf den Letzten „böse Spötter“ – sehr in ihrer Achtung fielen, so daß sie diese Herren, wenn sie nicht ihr Logis bezahlt hätten, nicht nur nicht bei sich aufgenommen, sondern auch nicht einmal in ihrer Wohnung empfangen haben würde. Zum Günstling wurde Semjon Iwanowitsch erst, nachdem man den „Einen“ auf den Friedhof gebracht hatte. Dieser „Eine“ außer Diensten hatte es aber, obgleich er nur ein Auge und ein einziges Bein besaß, die er nach seinen Worten alle beide aus Tapferkeit verloren, nichtsdestoweniger verstanden, die Geneigtheit Ustinja Fedorownas zu erringen. Und wahrscheinlich wäre er noch lange ihr allertreuester Gehilfe und Pensionär geblieben, wenn er sich nicht bedauerlicher Weise zu Tode getrunken hätte. Aber das war schon früher gewesen, als Ustinja Fedorowna noch auf den Peski[4] wohnte und nur drei Mieter hatte, von denen ihr dann später beim Umzug in die neue Wohnung, in der sie sich auf weit größerem Fuße einrichtete und wo sie zehn Pensionäre hielt, nur Herr Prochartschin gefolgt war. Ob nun Herr Prochartschin unverbesserliche Mängel hatte, oder ob nun an seinen Kameraden die Schuld lag, jedenfalls konnte man sich, wie es schien, beiderseits von Anfang an nicht gut verstehn. Hierbei sei erwähnt, daß alle neuen Mieter Ustinja Fedorownas unter einander wie die leiblichen Brüder lebten; einige von ihnen dienten sogar zusammen und alle verspielten sie ihr Monatsgehalt schon am ersten, wenn sie sich zum Kartenspiel zusammentaten; sie freuten sich auch zusammen ihres Lebens „in den schäumenden Augenblicken des Erdendaseins“, wie sie sich ausdrückten, und sie liebten es, vom Hohen und Erhabenen zu sprechen, obgleich sich bei diesem Thema nie ein Streit vermeiden ließ; da aber Vorurteile in ihrer Gesellschaft verpönt waren, so wurde die allgemeine Harmonie doch nie dabei ganz aufgehoben. Von diesen Winkelmietern waren besonders bemerkenswert: Mark Iwanowitsch, ein kluger und belesener Mensch; darauf Oplewanjeff, Prepolowenko – gleichfalls ein bescheidener und guter Mensch –, dann Sinowij Prokoffjewitsch, dessen Ideal es war, in die höhere Gesellschaft zu kommen; zuletzt seien noch erwähnt der Schreiber Okeanoff – der seiner Zeit Semjon Iwanowitsch Prochartschin beinahe die Siegespalme des Bevorzugten und Günstlings streitig gemacht hätte –, Ssudjbin, Kantareff und noch andere. Allen diesen Leuten war Semjon Iwanowitsch scheinbar kein Kamerad. Böses wünschte ihm zwar keiner von ihnen, umsoweniger, als sie gleich von Anfang an Prochartschin Gerechtigkeit widerfahren ließen und mit den Worten Mark Iwanowitschs vollkommen übereinstimmten, nämlich daß Prochartschin ein friedlicher und guter Mensch sei – allerdings kein Weltmann, dafür aber auch kein Schmeichler –, daß er natürlich seine Fehler habe, im Übrigen aber, falls er einmal leiden sollte, dieses doch nur wegen gänzlichen Mangels eines persönlichen Vorstellungsvermögens geschehen könnte. Doch nichtsdestoweniger konnte Herr Prochartschin, obgleich man ihn auf diese Weise ungefragt eines eigenen Vorstellungsvermögens beraubt hatte, weder mit seiner Figur, noch mit seinen Manieren jemanden von einem für ihn günstigen Standpunkte aus in Erstaunen setzen, worüber die Spötter sich dann andrerseits natürlich gleich zu belustigen hatten. Aber, wie gesagt, Mark Iwanowitsch, die Autorität in höheren Fragen, hatte ja öffentlich und formell Semjon Iwanowitsch in den Schutz genommen, und ziemlich geschickt in einem schönen, blütenreichen Stil erklärt, daß Prochartschin ein erfahrener und solider Mensch sei, der schon längst alles Elegische und Romantische im Leben abgestreift hätte. Also trug denn doch Semjon Iwanowitsch, wenn er sich mit den anderen nicht einzuleben verstand, ganz allein die Schuld daran. Was allen zuerst auffiel, war zweifellos Semjon Iwanowitsch’s sparsame Haushaltung und sein schmutziger Geiz. Das bemerkte man gar bald und setzte es ihm dann auch sofort auf die Rechnung. Semjon Iwanowitsch konnte z. B. niemals und niemandem seine Teekanne leihen, wenn auch nur auf einen Augenblick; und das war um so mehr unrecht von ihm, als er selbst fast nie Tee trank, sondern nur zuweilen, wenn er dessen sehr bedurfte, einen angenehmen Aufguß von Kamillentee und anderen heilsamen Kräutern, von denen er große Vorräte bei sich aufbewahrte, in dieser Teekanne zu kochen pflegte. Übrigens speiste er auch nicht so, wie die anderen Mieter. Niemals z. B. erlaubte er sich das ganze Mittagessen, das Ustinja Fedorowna täglich ihren Pensionären verabfolgte, zu verspeisen. Das Mittagessen kostete fünfzig Kopeken; Semjon Iwanowitsch aß aber nur für fünfundzwanzig Kopeken und überstieg diese Summe kein einziges Mal. Er aß entweder die Kohlsuppe mit Piroggen oder den Braten, – und sehr oft aß er weder das Eine noch das Andere, sondern irgend einen Mehlbrei mit Zwiebeln oder saure Milch mit gesalzener Gurke, was weit billiger war. Wenn er aber seine natürlichen Instinkte nicht mehr überwinden konnte, so kehrte er wieder zu seiner halben Portion Mittagessen zurück ... Ich muß gestehen, daß ich mich niemals entschlossen hätte, von solchen niedrigen und sogar peinlichen Einzelheiten zu sprechen, wenn nicht diese kleinen Einzelheiten gerade ein vorherrschender Charakterzug des Helden meiner Erzählung gewesen wären; denn Herr Prochartschin war längst nicht so geizig – wie er es selbst manchmal behauptete –, um sich eine regelmäßige und gute Kost zu versagen, sondern er tat es, ohne dabei die Kritik der anderen zu fürchten, bloß zur Befriedigung seiner sonderbaren Launen; das waren: Sparsamkeit und übertriebene Vorsicht. Auch kann ich nicht unterlassen zu bemerken – ich berufe mich hier nur auf die Aussagen Ustinja Fedorownas –, daß er sich in seinem ganzen Leben nicht entschließen konnte, seine Wäsche waschen zu lassen oder wenigstens sich so selten dazu entschloß, daß man sich mitunter zweifelnd fragen mußte, ob Semjon Iwanowitsch überhaupt Wäsche trug. Wie sie sagte, hat Semjon Iwanowitsch ihr „Täubchen“ zweimal zehn Jahre lang bei ihr einen Winkel gewärmt, Scham kannte er nicht, denn es fehlte ihm nicht nur sein ganzes Erdenleben hindurch immerwährend an Socken, Taschentüchern und anderen unentbehrlichen Gegenständen der Leibesnotdurft, sondern „ich selbst, Ustinja Fedorowna, habe mit eigenen Augen gesehn, dank der Altersrisse des großen Bettschirms, daß er, mein Täubchen, nicht einmal etwas hatte, um sein weißes Körperchen zu bedecken“. Solche Gerüchte verbreiteten sich aber erst nach dem Tode Semjon Iwanowitschs, denn zu seinen Lebzeiten – und das war eine der Hauptursachen aller Zwistigkeiten – konnte er es unter keinen Umständen vertragen, ungeachtet der kameradschaftlichsten Beziehungen, daß irgend jemand seine neugierige Nase in seinen Winkel steckte und wenn auch nur infolge der Risse des alten Bettschirms. Er war ein schweigsamer, unzugänglicher Mensch, der sich auf keine unnütze Unterhaltung einließ. Ratgeber liebte er in keinerlei Gestalt, Vorwitzige aber noch weniger, und konnte er einmal einen von ihnen auf der Stelle packen, so ließ er ihn nicht früher wieder los, als bis er ihm ordentlich die Wahrheit gesagt hatte. „Du dummer Junge Du, behalte Deine Ratschläge für Dich, sieh mal erst in Deine Tasche, mein Herr, und zähle lieber nach, was Du hast!“ Semjon Iwanowitsch war ein einfacher Mensch und sagte zu allen ausnahmslos Du. Auch konnte er es nicht leiden, wenn irgend jemand, der seine Gewohnheiten kannte, nur zum Scherz oder aus Unart ihn fragte, was er denn eigentlich in seinem Koffer aufbewahrte ... Semjon Iwanowitsch besaß nämlich einen sonderbaren Koffer: er stand bei ihm unter dem Bett und wurde von ihm wie ein Augapfel behütet. Obgleich es alle wußten, daß in ihm außer alten Lappen, außer zwei oder drei Paar alter, vertragener Stiefel und überhaupt allem möglichstem Kram so gut wie gar nichts enthalten war, schätzte Herr Prochartschin dieses sein bewegliches Mobiliar doch sehr hoch; ja, einmal ließ er sogar etwas von seiner Absicht verlauten, das alte, aber sehr starke Schloß des Koffers durch ein neues Schloß deutscher Arbeit, das verschiedene kniffliche Sicherheitsvorrichtungen und heimliche Federn haben sollte, zu ersetzen. Als einmal Sinowij Prokoffjewitsch infolge seiner jugendlichen Unbedachtsamkeit einen sehr taktlosen, ja groben Verdacht äußerte, nämlich, daß Semjon Iwanowitsch wahrscheinlich in seinen Koffer hineinsparte, um seinen „Nachkommen“ etwas zu hinterlassen, da waren alle anwesenden Winkelmieter angesichts der außergewöhnlichen Folgen dieser Unbedachtsamkeit Sinowij Prokoffjewitschs einfach sprachlos. Erstens konnte Herr Prochartschin auf solch eine grobe Bemerkung nicht sofort eine anständige Erwiderung finden. Dann aber stürzten über seine Lippen nur Worte ohne jeglichen Zusammenhang, und erst nach langer Zeit konnte man endlich erraten, daß Semjon Iwanowitsch den Sinowij Prokoffjewitsch wegen einer altvergangenen schmutzigen Angelegenheit beschimpfte; darauf prophezeite Semjon Iwanowitsch, daß Sinowij Prokoffjewitsch nie in die höhere Gesellschaft gelangen und ihn der Schneider, dem er noch einen Anzug schuldete, einfach durchprügeln würde, unbedingt gerade durchprügeln, da der „dumme Junge“ doch nicht bezahlen könnte; und „Du dummer Junge“ fügte Semjon Iwanowitsch hinzu, „Du willst zu den Husaren übergehn, aber sieh, ich sage Dir, das wird Dir nicht gelingen, da hast Du es, Du dummer Junge, und so wie die Obrigkeit von Dir alles erfahren wird, wird sie Dich zum Schreiber degradieren; siehst Du jetzt, wie’s ist! Du dummer Junge!“ Darüber schien sich Semjon Iwanowitsch zu beruhigen. Aber siehe da, nachdem er fünf Stunden lang wie in tiefes Nachdenken versunken ruhig dagelegen hatte, fing er plötzlich, zum größten Erstaunen aller, zuerst nur vor sich hin, dann aber wieder an Sinowij Prokoffjewitsch gewandt zu schimpfen an. Damit aber war die Sache auch noch nicht abgetan, denn als am Abend Mark Iwanowitsch und Prepolowenko einen Tee spendierten, da kroch auch Semjon Iwanowitsch aus seinem Bett, setzte sich zu ihnen und steuerte sogar seine fünfzehn oder zwanzig Kopeken dazu bei, und unter dem Vorwand, daß er Tee trinken wollte, fing er an, sich sehr weitschweifig über die Sache auszubreiten: daß er ein armer Mensch wäre und sonst nichts mehr, und daß ein armer Mensch nichts einzuscharren hätte. Bei der Gelegenheit gestand also Herr Prochartschin – und zwar nur darum, weil es einmal zur Sprache gekommen –, daß er ein armer Mensch war; noch vor drei Tagen hätte er den frechen Menschen um einen Rubel anpumpen wollen, jetzt aber würde er es nicht mehr tun, weil der dumme Junge sonst triumphieren könnte ... und sein Gehalt sei gerade so groß, daß es kaum für ihn selbst ausreichte, er aber müßte noch, so arm wie er war und wie es doch alle sahen und wußten, fünf Rubel monatlich seiner Schwägerin nach Twerj schicken, und wenn er sie nicht schicken würde, so würde die Schwägerin sterben, und wenn sie sterben würde, so würde er sich sofort neue Kleider kaufen können ... Und lange noch und ausführlich sprach Semjon Iwanowitsch vom armen Menschen, von den fünf Rubeln und der Schwägerin, und wiederholte dasselbe des stärkeren Nachdrucks halber den Zuhörern so lange, bis er sich endlich selbst ganz verwirrte und verstummte. Aber nach drei Tagen, als schon niemand mehr ihn anzugreifen beabsichtigte und alle ihn vergessen hatten, fügte er plötzlich noch zum Schluß hinzu: „Wenn Sinowij Prokoffjewitsch zu den Husaren geht, so wird man diesem frechen Menschen im Kriege die Beine abschießen und wenn er dann in Holzbeinen betteln gehn wird, und ihn bitten wird: ‚gib mir, guter Mensch, Semjon Iwanowitsch, ein Stückchen Brot!‘, so wird er, Semjon Iwanowitsch, ihm _nichts_ geben und wird diesen übermütigen Menschen Sinowij Prokoffjewitsch nicht einmal ansehn und nur sagen: ‚geh Du nur jetzt mit Deinen Bohnenstangen! Siehst Du jetzt, wie’s ist‘!“ Alles das, wie es ja auch nicht anders möglich war, wirkte sehr sonderbar und zu gleicher Zeit sehr lächerlich. Ohne sich lange zu bedenken, versammelten sich alle Winkelmänner zur weiteren Untersuchung der Verhältnisse Semjon Iwanowitschs und sie entschlossen sich, ihn alle zusammen endgültig anzugreifen. Da es Herr Prochartschin in der letzten Zeit, in der er sich ihrer Kompagnie anschloß, sehr liebte, sich in alles einzumischen und über alles auszufragen, was er wahrscheinlich aus besonderen geheimnisvollen Gründen tat, so verschlechterten sich die beiderseitigen Beziehungen, ohne jegliche vorhergefaßte Absicht, einfach durch diese seine neue Eigenschaft ganz von selbst. Semjon Iwanowitsch hatte sich nämlich eine sehr schlaue Taktik ausgedacht, mittels der er sich auf anständige Weise des Abends zu den Anderen gesellen konnte, ein Manöver, das dem Leser zum Teil bereits bekannt ist: wenn er sah, daß die Anderen sich zusammentaten, um einen Tee mit Likör oder sonstigen Zutaten zu trinken, so kroch er ganz einfach aus seinem Bett, ging als bescheidener, kluger und liebenswürdiger Mensch zu ihnen und legte seine obligatorischen zwanzig Kopeken auf den Tisch, was bedeuten sollte, daß er sich zu beteiligen wünschte. Die Gesellschaft tauschte darauf verständnisinnge Blicke aus und – Semjon Iwanowitsch wurde einwandlos angenommen. Man bemühte sich zuerst ein anständiges und vernünftiges Gespräch zu führen, darauf wurde aber irgend ein freieres Thema gewählt und allmählich, als ob nichts dabei gewesen wäre, ging man auf die Neuigkeiten über. Nun aber war die Sache die, daß diese Neuigkeiten von dem Erzähler ganz willkürlich erdacht und wiedergegeben wurden. Zum Beispiel erzählte man, wie seine Excellenz Demid Wassiljewitsch gesagt, daß seiner Meinung nach die verheirateten Beamten weit solider wären als die unverheirateten und daher bei der Beförderung den Anderen stets vorzuziehen seien; denn erstens wären sie ruhiger, und zweitens entwickle die Ehe in ihnen viel mehr Fähigkeiten, und darum, fügte der betreffende Erzähler der Nachricht von sich aus hinzu, werde auch er hinfort, um sich auszuzeichnen und etwas erreichen zu können, bemüht sein, sich baldmöglichst mit irgendeiner Fewronja Prokoffjewna zu verehelichen. Oder, zum Beispiel, wie alle bemerkt hätten, daß die Unverheirateten jeglicher angenehmen und guten Manieren eines Weltmannes entbehrten, und deshalb in der Gesellschaft und besonders den Damen nicht gefallen könnten. Um nun ähnlichen Unfug auszurotten, solle von dem Monatsgehalt ein Teil abgezogen werden, und zwar zur Errichtung eines Saales, in dem man das Tanzen erlernen, und bei der Gelegenheit Anstand, gute Manieren, Höflichkeit, Ehrfurcht vor dem Alter, einen festen Charakter, ein gutes Herz und weiß Gott was sonst noch alles erwerben könnte. Ja, es hieße sogar, sagte der Erzähler, daß die Beamten, besonders die älteren und allerältesten, ein Examen in allen Fächern würden ablegen müssen, um schneller einen vorschriftsmäßigen Bildungsgrad zu erreichen und daß infolgedessen viele von ihnen ihre Karten aus der Hand legen müßten ... mit einem Wort, es wurden tausend solcher sinnloser Sachen besprochen, und man tat, als ob man im Ernst an sie glaubte, als ob man selbst davon betroffen wäre: einige machten eine traurige Miene, andere wiegten bedenklich das Haupt und fragten um Rat, was sie tun sollten, um diesem Schicksal zu entgehn? Es versteht sich von selbst, daß ein anderer Mensch, der nicht so gutmütig und ruhig gewesen wäre, wie Herr Prochartschin, sich in das allgemeine Gespräch eingemischt und erklärt haben würde, mit ihren Ansichten nicht übereinstimmen zu können. Aber augenscheinlich war Semjon Iwanowitsch viel zu stumpfsinnig und beschränkt, um einen neuen Gedanken, an den sich sein Verstand noch nicht gewöhnt hatte, sofort zu erfassen, und so war er denn, wenn er einmal irgendwo einen neuen Gedanken hörte, genötigt, ihn erst wochenlang zu bedenken und zu verdauen, um seinen Sinn zu begreifen; gewöhnlich aber verwickelte er sich bei dieser Prozedur dermaßen, daß er ihn dann schließlich nur auf eine ganz besondere, nur ihm eigene Weise überwinden konnte. Infolge dieser Gespräche entpuppten sich bei Semjon Iwanowitsch plötzlich ganz eigenartige und ganz unvorhergesehene Eigenschaften ... Diese Gespräche mit Variationen und Zulagen wurden später sogar in seiner Kanzlei bekannt. Besonderes Aufsehn erregte aber die eine Tatsache, daß Herr Prochartschin, der seit undenklichen Zeiten immer ein und dasselbe Gesicht gehabt hatte, plötzlich um nichts und wieder nichts seine Physiognomie ganz und gar veränderte: sein Gesicht wurde unruhig und er blickte scheu und mißtrauisch um sich; wenn er ging, trat er leise auf, schrak oft zusammen, und mit einem Male liebte er es über alles, sozusagen zur Vollendung seiner neuen Eigenschaften, die Wahrheit zu erforschen. In der Liebe zur Wahrheit brachte er es schließlich so weit, daß er es wagte, sich bei Demid Wassiljewitsch, seinem Chef, selbst nach der Glaubwürdigkeit dieser Gerüchte zu erkundigen, und wenn ich die Folgen dieses Wagnisses verschweige, so geschieht das nur, um Semjon Iwanowitschs Reputation zu schonen. So fanden denn alsbald seine sämtlichen Kollegen, daß er ein Misantrop wäre und den gesellschaftlichen Anstand verachtete. Auch fanden sie, daß viel Phantastisches an ihm war, und auch darin hatten sie Recht; es fiel allgemein auf, daß Semjon Iwanowitsch sich manchmal ganz vergessen konnte, mit offenem Munde unbeweglich und versteinert dasaß und die Feder in der Luft hielt, so daß er mehr dem Schatten eines denkenden Menschen, als einem denkenden Menschen selbst glich. Auch kam es nicht selten vor, daß irgend einer der stumpfenden Schreiber, wenn er plötzlich seinem unruhigen und suchenden Blick begegnete, zusammenfuhr, erzitterte und auf das zu beschreibende Papier ein ganz unnötiges Wort niederschrieb. Die Unzulässigkeit seines Benehmens beunruhigte und beleidigte aufrichtig viele anständige Leute ... Als sich aber an einem schönen Morgen in der Kanzlei das Gerücht verbreitete, daß Herr Prochartschin sogar seinen Bureauchef Demid Wassiljewitsch erschreckt, sich nämlich bei einer Begegnung im Korridor dermaßen eigenartig und sonderbar benommen hatte, daß dieser genötigt gewesen war, ihm auszuweichen, da war man allgemein überzeugt, daß die Entwicklung seines Geistes eine gefährliche Richtung eingeschlagen hatte. Dieses Gerücht kam auch schließlich ihm zu Ohren. Als er es hörte, stand er auf, ging vorsichtig an allen Tischen und Stühlen vorüber, erreichte das Vorzimmer, nahm eigenhändig seinen Mantel vom Kleiderständer, zog ihn an, ging hinaus und – verschwand. Warum er verschwand? Wer kann das wissen! Ob er den Mut vollständig verlor oder ihn etwas anderes fortzog, das mag dahingestellt sein. Jedenfalls war er weder zu Hause noch in der Kanzlei zu finden. Ich werde nicht das Schicksal Semjon Iwanowitschs durch seine phantastischen Neigungen zu erklären versuchen, doch muß ich bemerken, daß unser Held – nichts weniger als ein Weltmann war, denn früher, als er noch auf den „Peski“ wohnte, d. h. als er noch nicht in diese Kompagnie der Winkelbewohner geraten war, hatte er in einer dumpfen, undurchdringlichen Einsamkeit gelebt. Fast geheimnisvoll kam er einem vor, denn er hatte die ganze Zeit über nur auf seinem Bett hinter dem Schirm gelegen und geschwiegen und zu Niemandem in Beziehung gestanden. Seine beiden alten Miteinwohner, Ustinja Fedorowna sowie der Verstorbene, lebten ebenso zurückgezogen wie er; beide schienen sie nicht weniger geheimnisvoll zu sein, beide lagen sie gleichfalls fünfzehn Jahre lang hinter den Schirmen. In patriarchalischer Ruhe zogen sich die glücklichen dämmerigen Tage und Stunden hin und da alles um sie herum in derselben Ordnung seinen Gang nahm, so erinnerten sich später weder Semjon Iwanowitsch noch Ustinja Fedorowna genau, wann das Schicksal sie eigentlich zusammengeführt hatte. „Ob es zehn Jahre her sind oder schon fünfzehn Jahre, oder vielleicht sogar schon fünfundzwanzig,“ sagte sie ihren neuen Mietern, „daß er, mein Täubchen, bei mir nistet und ich ihm die Seele wärme – wer kann’s wissen?“ – Und darum war es nur natürlich, daß sie äußerst unangenehm erstaunt war, als sich der Held unserer Erzählung, ihr solider, bescheidener Liebling, vor einem Jahr in die Gesellschaft der neuen Winkelbewohner, dieser lärmenden und unruhigen zehn „jungen Kinder“, einmischte. Das Verschwinden Semjon Iwanowitschs verursachte nicht wenig Aufsehen in den Winkeln. Allein schon, weil er der Günstling Ustinja Fedorownas war und sodann, weil es sich erwies, daß sein Paß, den bis jetzt sie als Wirtin aufbewahrt hatte, plötzlich verschwunden war. Ustinja Fedorowna schluchzte natürlich – was sie in allen kritischen Augenblicken zu tun pflegte; den Einwohnern machte sie zwei ganze Tage lang Vorwürfe, daß sie ihn wie ein armes Küken verjagt hätten, daß sie ihn umgebracht hätten „alle diese bösen Spötter“ und – am dritten Tage jagte sie alle hinaus, ihn zu suchen, mit dem Befehl, den Flüchtling tot oder lebendig einzufangen. Gegen Abend kam als erster der Schreiber Ssudjbin zurück und erklärte, daß er auf seiner Spur wäre, daß er den Flüchtling auf dem Trödelmarkt und noch an anderen Stellen gesehen hätte, daß er ganz in seiner Nähe gestanden beim Feuerschaden in der „schiefen Gasse“, es aber nicht gewagt hätte, ihn anzureden. Eine Stunde darauf erschienen Okeanoff und Kantareff und bestätigten Ssudjbins Aussagen Wort für Wort: auch sie hätten nicht weit von ihm gestanden, ihn anzureden hätten aber auch sie nicht gewagt, und beide hätten sie bemerkt, daß Semjon Iwanowitsch mit dem bekannten Trunkenbold Simoweikin gegangen wäre. Dieser Vagabund war ein schlechter, schmeichlerischer Mensch, der auf Semjon Iwanowitsch ersichtlich einen schlechten Einfluß hatte. Er tauchte gerade eine Woche vor dem Verschwinden Semjon Iwanowitschs mit seinem Freunde Remneff auf, lebte einige Zeit in den Winkeln und erzählte allen, daß er um der Wahrheit willen litt, daß er früher in der Provinz gedient hätte, dann aber, als der Revisor gekommen war, samt seinen Genossen um der Wahrheit willen verjagt worden wäre, daß er dann nach Petersburg gekommen und Porfirij Grigorjewitsch fußfällig gebeten hätte, ihn durch seine Fürsprache in einer Kanzlei unterzubringen, aber daß man ihn, dank seines grausamen Schicksals, auch von dort wieder entfernt hätte, woran nur die Kanzlei die Schuld trüge; in die neugebildete Gesellschaft der Beamten nehme man ihn aber nicht auf, einesteils wegen seiner Unfähigkeit zum Dienst überhaupt, und andrerseits wegen seiner Neigung zu einer anderen, ganz nebensächlichen Sache, – alles zusammen genommen aber doch nur wegen seiner Liebe zur Wahrheit und zu guter Letzt auch noch infolge der Ränke seiner Feinde. Nachdem Herr Simoweikin die Erzählung seiner Lebensgeschichte beendet hatte, während welcher er die ganze Zeit über seinem unrasierten Freunde zugeblinzelt hatte, verabschiedete er sich der Reihe nach von allen, die im Zimmer anwesend waren, auch Awdotja, die Magd, nicht ausgenommen, nannte sie alle seine Wohltäter und sagte noch zum Schluß, daß er allein ein unwürdiger, gemeiner, unsolider und dummer Mensch wäre, und daß gute Menschen sein trauriges Schicksal nicht bemitleiden sollten. Nachdem er dann alle um Schutz angefleht hatte, wurde Herr Simoweikin froh und lustig, küßte Ustinja Fedorowna sogar die Hand, ungeachtet ihrer bescheidenen Versicherungen, daß ihre Hand eine einfache, keine adlige Hand wäre, und versprach am Abend der ganzen Gesellschaft sein Talent in einem besonderen charakteristischen Tanze zu zeigen. Aber am darauffolgenden Tage wurde er vor die Tür gesetzt, – vielleicht weil sein Charaktertanz zu viel Charakter gehabt oder weil er Ustinja Fedorowna nach ihren Worten „beleidigt und erniedrigt“ hatte, sie aber, die selbst mit Jaroslaff Iljitsch bekannt war, folglich, wenn sie nur gewollt, schon längst die Frau eines Oberleutnants hätte sein können. Er ging, kehrte aber wieder zurück, wurde jedoch wieder als ehrlos vertrieben. Da bat er denn Semjon Iwanowitsch, sich seiner anzunehmen, nahm ihm so nebenbei seine neuen Hosen ab und erschien dann in der Eigenschaft als Verführer Semjon Iwanowitschs wieder auf der Bildfläche. Als nun die Wirtin hörte, daß Semjon Iwanowitsch noch lebte und gesund war, und daß man somit seinen Paß nicht mehr zu suchen brauchte, ließ sie das Trauern und beruhigte sich allmählich. Da fiel es aber einem von der Kompagnie ein, dem Entlaufenen einen feierlichen Empfang zu bereiten, und sofort waren alle dabei: sie öffneten den Riegel des Bettschirmes, hoben ihn etwas weiter ins Zimmer, durchwühlten ein wenig das Bett, nahmen den bekannten Koffer und legten ihn quer auf die Fußstelle des Bettes; darauf machten sie aus den alten Kleidern der Wirtin, aus einem Tuch, einer Haube und einem Schlafrock die „Schwägerin aus Twerj“ und legten diese Puppe „zur Erholung von der Reise“ auf das Lager des Entlaufenen. Bei seiner Ankunft wollten sie ihm dann mitteilen, daß seine Schwägerin angekommen wäre und sich in seiner Ecke eingerichtet hätte. Sie warteten und warteten aber vergeblich! Bis Mitternacht hatte in der Erwartung Mark Iwanowitsch schon seine halbe Monatsgage an Kantareff und Prepolowenko verspielt. Awdotja, die Magd, hatte sich schon vollkommen ausgeschlafen und war bereits zweimal von ihrem Bett aufgestanden, um den Ofen zu heizen. Sinowij Prokoffjewitsch war bis auf die Haut durchnäßt, da er immer wieder auf den Hof hinausgelaufen war, um nachzusehn, ob nicht Semjon Iwanowitsch endlich kam; aber es erschien Niemand: weder Semjon Iwanowitsch, noch der Simoweikin. Endlich legten sich alle schlafen und ließen für alle Fälle die Schwägerin auf seinem Bett. Erst um vier Uhr nachts wurde an die Pforte geklopft, und zwar so heftig, daß alle Erwartenden für ihre Mühen reichlich belohnt waren. Das war er, er selbst, Semjon Iwanowitsch, Herr Prochartschin, nur befand er sich in solch einem Zustande, daß alle entsetzt die Mäuler aufsperrten und keiner von ihnen mehr an die Schwägerin dachte. Der Verlorengegangene war ganz durchnäßt und besinnungslos. Ihn brachte, oder richtiger gesagt, trug auf den Schultern ein zerlumpter Droschkenkutscher. Auf die Frage der Wirtin, wo sich denn der Arme so betrunken hatte, antwortete jener: „Betrunken ist er nicht und ist es auch gar nicht gewesen; das kann ich Dir schon versichern, wahrscheinlich hat ihn eine Ohnmacht überfallen oder ein Krampf, oder der Schlag hat ihn gerührt.“ Man untersuchte ihn, brachte den Schuldigen an den Ofen, und überzeugte sich, daß er weder betrunken, noch vom Schlag gerührt war, sondern daß ihn irgend eine andere Sünde überfallen haben mußte. Auch konnte Semjon Iwanowitsch seine Zunge nicht bewegen, ihn schüttelte nur ein Fieberfrost und er blinkerte mit den Augenlidern und stierte erstaunt den einen oder anderen Zuschauer in ihren Nachtkostümen an. Man fragte darauf den Kutscher, woher er ihn gebracht? „Von irgend woher“ antwortete dieser, „der Henker weiß woher, Herren sind nicht Herren, wenn sie spazieren gegangen und lustige Herren sind; haben sie sich geprügelt oder sonst was, Gott weiß es, was für welche es waren, lustige Herren sind gute Herren!“ Man trug Semjon Iwanowitsch auf sein Bett. Als Semjon Iwanowitsch aber seine „Schwägerin“ berührte und seinen geliebten Koffer wiedersah, da schrie er auf, bedeckte ihn mit seinem Körper, mit seinen Händen und starrte die Anwesenden mit verzweifeltem, aber sonderbar entschlossenem Blick an; dieser Blick schien auszudrücken, daß er eher zu sterben bereit war, als auch nur den hundertsten Teil seiner armseligen Habe irgend jemandem abzutreten ... Semjon Iwanowitsch lag so zwei oder drei Tage lang in Fieber, durch seinen Bettschirm von jeglicher Gotteswelt und all ihren Lebensstürmen abgeschieden. Schon am nächsten Morgen hatten ihn alle vergessen, was ja schließlich ganz in der Ordnung war; die Zeit flog dahin, Stunden folgten auf Stunden, Tage auf Tage. Halbschlaf und Träume umlagerten den heißen Kopf des Kranken; er lag ganz ruhig und still, stöhnte nicht und klagte nicht; im Gegenteil, er schwieg und drückte sich an sein Bett wie ein Hase, der sich vor Angst an die Erde preßt, wenn er die Jagd hört. Zu einer gewissen Tageszeit trat in der Wohnung eine langandauernde melancholische Stille ein – das Zeichen, daß alle Einwohner sich entfernt hatten, in den Dienst gegangen waren, und der vor sich hinträumende Semjon Iwanowitsch konnte so viel er wollte damit seinen Kummer zerstreuen, daß er dem Geräusch in der nahen Küche zuhörte, wo die Wirtin herumhantierte, oder den gleichmäßigen schlurrenden Schritten Awdotja’s, der Magd, die von Zimmer zu Zimmer ging und krächzend und stöhnend alle Winkel aufräumte, Staub wischte und die Ordnung wieder herstellte. Ganze Stunden vergingen so in dieser schläfrigen, faulen, eintönigen Weise, wie das Wasser, das man regelmäßig in der Küche vom Krahn ins Becken tröpfeln hörte. Dann kehrten die Einwohner wieder zurück, einzeln oder zusammen, und Semjon Iwanowitsch hörte, wie sie über das Wetter schimpften, essen wollten, lärmten, sich herumzankten, sich wieder versöhnten, Karten spielten, und wie die Tassen klirrten, wenn sie sich anschickten, den Tee zu trinken. Semjon Iwanowitsch machte ganz mechanisch den Versuch aufzustehn, um wie gewöhnlich an dem Tee Teil zu nehmen, schlief aber mittlerweile wieder ein, und so schien es ihm denn, daß er schon lange am Teetisch saß und sich mit ihnen unterhielt, und daß Sinowij Prokoffjewitsch den Zufall benutzte, um in das Gespräch ein Projekt über die Schwägerinnen im allgemeinen einzuflechten und im besonderen über die moralischen Verpflichtungen gewisser guter Leute ihnen gegenüber. Da beeilte sich Semjon Iwanowitsch, sich zu verteidigen, aber siehe da, ihm wurde von allen Gegnern auf einmal eine so mächtig ausgedrückte Antwort zu Teil, daß Semjon Iwanowitsch sich weiter nichts Schöneres ausdenken konnte, als schnell davon zu träumen, daß es der erste des Monats ist und er in seiner Kanzlei viele Silberstücke erhält, und wie es ihm auf der Treppe so ganz ohne Schwierigkeiten gelingt, die Hälfte der Summe in seinem Stiefel verschwinden zu lassen, immer noch dort auf der Treppe. Und ohne sich auch nur im geringsten darüber aufzuhalten, daß er sich in seinem Bett befand, beschloß er, nach Hause zu gehn und das Nötige für Kost und Logis der Wirtin zu bezahlen, darauf noch irgend etwas durchaus Nötiges zu kaufen, und unbeabsichtigt, wie zufällig, Jedem zu zeigen, daß ihm nach der Abrechnung nichts mehr verblieben, daß er jetzt nichts mehr habe, um der Schwägerin zu schicken, bei der Gelegenheit seine Schwägerin zu beklagen, viel von ihr morgen und übermorgen zu sprechen und in zehn Tagen noch so nebenbei ihrer Armut zu erwähnen, damit die Kameraden es nicht vergäßen. Wie er das aber noch gerade so beschließt, sieht er plötzlich, daß Andrei Jefimowitsch, dieser selbe kleine ewig schweigsame und kahlköpfige Beamte, der in der Kanzlei im dritten Zimmer von Semjon Iwanowitsch seinen Platz hatte, und der ihm in fünfundzwanzig Jahren kein einziges Wort gesagt, dort auf der Treppe neben ihm steht und gleichfalls seine Silberrubel zählt, mit dem Kopf schüttelt und ihm sagt: „Ja ja, das Geld! Wenn kein Geld ist, ist auch kein Brei,“ und wie er die Treppe hinuntergeht, fügt er noch hinzu: „und ich habe sieben Kinder.“ Dabei gab der rothaarige Mensch, augenscheinlich gleichfalls ohne sich darum zu bekümmern, daß er nur ein Gespenst war, mit der Hand die Größe seiner Sprößlinge an, indem er sie eine Elle hoch über dem Fußboden hielt und sie dann ruckweis niedriger senkte; darauf murmelte er noch, daß der Älteste das Gymnasium besuche, blickte dann Semjon Iwanowitsch unwillig an, ganz als ob dieser daran Schuld wäre, daß er ihrer sieben hatte – zog seine Mütze auf die Augen, schlug den Mantel zu, kehrte nach links um und verschwand. Semjon Iwanowitsch erschrak, obgleich er von seiner Unschuld an der Zahl der Sieben unter einem Dach vollständig überzeugt war, aber es kam ihm doch so vor, daß Niemand anders als gerade er die Ursache des Elends sein mußte. Er erschrak, wie gesagt, und fing an zu laufen, denn es schien ihm, daß der rothaarige Schreiber zurückkehrte, ihn verfolgte und ihm durchaus das empfangene Monatsgehalt nehmen wollte, sich auf die unumstößliche Zahl Sieben berief und jegliche Verpflichtung Semjon Iwanowitschs, seine Schwägerin zu unterstützen, einfach ableugnete. Prochartschin lief und lief, der Atem ging ihm aus ... neben ihm liefen eine Menge Menschen und bei allen klapperte Geld in den Taschen: zuletzt liefen alle Menschen, die Feuerwehr stieß in die Trompeten und ganze Volkswellen trugen ihn auf den Schultern zu der Brandstätte, wo er das letzte Mal mit dem Vagabunden gewesen war. Der Vagabund, sonst Herr Simoweikin genannt, befand sich schon dort, empfing ihn feierlich, sorgte sich sehr um ihn, nahm ihn an der Hand und führte ihn mitten in das Gedränge. So wie damals wogte und dröhnte um sie herum die unübersehbare Volksmenge, die sich längs dem Quai der Fontanka auf den zwei Brücken und in allen Straßen und Nebenstraßen der Umgegend anstaute. Ganz wie damals wurden er und der Vagabund auf dem großen Holzplatz wie mit Klammern an einen Zaun gepreßt. Die Zuschauer strömten vom Trödelmarkt und von allen umliegenden Häusern, Scheunen und Baracken herbei. Semjon Iwanowitsch sah und hörte alles wie damals; in seinem Fiebertraum tauchten viele sonderbare Gesichter auf. Er erinnerte sich einiger derselben. Eines von ihnen gehörte dem außerordentlich aufdringlichen Herrn von hohem Wuchs und mit einem meterlangen Schnurrbart, der während des Brandes hinter seinem Rücken gestanden und der ihn aufgemuntert hatte, wenn er seinerseits so etwas wie Begeisterung fühlte, der kühnen Arbeit der Feuerwehr zu applaudieren. Ein anderes Gesicht gehörte dem Burschen, von dem unser Held einen Rippenstoß erhalten hatte, als er im Begriff war, über ihn hinwegzuklettern, um vielleicht irgend jemanden zu retten. Desgleichen tauchte vor ihm die Figur eines Alten auf, der sich noch vor dem Ausbruch des Brandes in die Bude begeben hatte, um Zwieback und Tabak für seinen Mieter einzukaufen, und darauf mit den Sachen in den Händen wie erstarrt dastand und zusehn mußte, wie seine Frau und seine Tochter in Gefahr schwebten, zu verbrennen mitsamt seinen Ersparnissen – fünfunddreißig Rubel, die in der Matratze eingenäht waren. Aber noch deutlicher sah er ein altes Weib – das ihn die ganze Zeit schon in seinen Fantasien verfolgte – in Lumpen, mit einem Krückstock und mit einem Quersack auf dem Rücken. Sie überschrie die Feuerwehr und das Volksgetöse, sie fuchtelte wie wahnsinnig mit dem Krückstock und mit den Armen in der Luft herum, weil man sie von ihren Kindern getrennt und sie dabei zehn Kopeken verloren hatte. Sie schrie und weinte, doch Niemand begriff, was sie haben wollte, auch kümmerte sie sich nicht um den Feuerschaden, nicht um die Menschen, nicht um die Funken und die Asche, die auf sie niederfielen. Plötzlich aber empfand Herr Prochartschin einen furchtbaren Schreck: er sah mit einem Mal, daß auch er nicht dem Unglück entgehn konnte, daß sich dort nicht weit von ihm ein Mann mit feurigem Haar und feurigem Bart erhob und anfing, das ganze Volk auf ihn, Semjon Iwanowitsch, aufzuhetzen. Die Menge wuchs und wuchs, der Mann schrie immer lauter und mit Schrecken erkannte Herr Prochartschin, daß der Mann derselbe Droschkenkutscher war, den er gerade vor fünf Jahren auf eine so unmenschliche Weise betrogen hatte, indem er ohne ihn zu bezahlen durch eine Pforte verschwunden war und sich so schnell als möglich aus dem Staube gemacht hatte. Der verzweifelte Herr Prochartschin wollte sprechen, schreien, aber die Stimme versagte ihm. Er fühlte, wie die ganze Volksmenge ihn wie eine bunte Schlange umwand und zu ersticken drohte. Er nahm seine ganze Kraft zusammen und – erwachte. Da sah er plötzlich, daß alles brannte, seine ganze Ecke, sein Schirm, die ganze Wohnung mit Ustinja Fedorowna und all ihren Winkelmietern, daß sein Bett, sein Kissen, seine Decke, sein Koffer und zuletzt noch seine teure Matratze brannten! Semjon Iwanowitsch sprang entsetzt aus dem Bett, ergriff die Matratze und lief, sie nach sich ziehend, hinaus. Aber im Zimmer der Wirtin, wohin unser Held ohne jegliche Gêne, barfüßig und im Hemd, gelaufen war, ergriff man den Flüchtling und brachte ihn wieder zurück hinter den Bettschirm, dem es natürlich gar nicht einfiel zu brennen, da es ja nur im Kopfe Semjon Iwanowitschs brannte. So packte man ihn denn in sein Bett ein, wie der herumziehende Komödiant sein Kasperle in den Kasten steckt, nachdem es gelärmt, getobt, alle verprügelt, die Seele dem Teufel verkauft hat und nun zusammen mit dem Teufel und all seinen Feinden bis zur nächsten Vorstellung sein Dasein ruhig in der schmutzigen Schachtel verbringen muß. In feierlichem Kreise umstanden alle sein Lager und sämtliche Gesichter drückten peinliche Erwartung aus. Endlich kam er zu sich: zuerst zerrte er an seiner Decke und plötzlich zog er aus allen Kräften an ihr, wahrscheinlich um sich vor den Blicken seiner mitfühlenden Kameraden zu verbergen; die Decke aber gab nicht nach. Endlich unterbrach Mark Iwanowitsch als Erster das Schweigen, und als kluger Mensch fing er an, vernünftig auf Semjon Iwanowitsch einzusprechen: erstens, daß er sich beruhigen müsse, zweitens, daß es schlecht sei, so zu erkranken, drittens, daß das nur kleine Kinder täten und viertens, daß er gesund werden müsse, um wieder in die Kanzlei gehn zu können. Und Mark Iwanowitsch schloß sogar mit dem Scherz, daß Kranken noch kein festgesetztes Gehalt ausgesetzt worden sei, somit hätte denn seiner Meinung nach solch ein Beruf oder solch ein Zustand nicht einmal einen materiellen Vorteil. Kurz, es war ersichtlich, daß alle sich für das Schicksal Semjon Iwanowitschs interessierten und sich seiner annahmen. Er aber lag, schwieg – was doch eine unverzeihliche Grobheit war – und zog heftig an seiner Decke, um sich endlich ganz zu bedecken. Mark Iwanowitsch hielt sich aber noch längst nicht für besiegt: er faßte sich ein Herz und sagte Semjon Iwanowitsch noch etwas Angenehmes, wie man es ja mit einem kranken Menschen zu tun pflegt. Aber Semjon Iwanowitsch wollte nichts davon bemerken, im Gegenteil, er brummte nur was durch die Zähne und plötzlich schielte er auf eine ganz mißtrauische Weise mit den Augen unter der Stirn hervor nach links und rechts, als wollte er mit seinen Blicken alle, die um ihn herumstanden, vernichten. Da war nichts mehr zu wollen: Mark Iwanowitsch konnte denn auch nicht an sich halten, als er einsah, daß der Mensch sich verschworen hatte, bei diesem Benehmen zu verharren; geärgert und gekränkt erklärte er daher einfach und geradeaus ohne jegliche höflicheren Redewendungen, daß es Zeit wäre, aufzustehn, daß es nicht anginge, immer auf beiden Seiten zu liegen, Tag und Nacht von Feuer, Schwägerinnen, Schlössern, Koffern und weiß der Teufel noch wovon zu schreien, daß das dumm, unanständig und eines Menschen unwürdig wäre, und wenn er, Semjon Iwanowitsch, jetzt nicht ruhig schlafen wollte, so sollte er wenigstens die Anderen nicht daran verhindern. Die Rede tat ihre Wirkung, denn Semjon Iwanowitsch wandte sich plötzlich an den Redner und erklärte mit erstaunlicher Festigkeit, wenn auch mit schwacher und heiserer Stimme: „Du dummer Junge, Du, halt Deinen Mund! Du schwatzhafter Mensch, Du Schandmaul! Hörst Du, Stiefel! Bist Du etwa ein Fürst? Was verstehst Du denn eigentlich?“ Als Mark Iwanowitsch so etwas hörte, brauste er zuerst auf, aber er sah bald ein, daß er es doch mit einem kranken Menschen zu tun hatte, und war so großmütig, nicht gekränkt zu sein, und so versuchte er denn auch nur, ihn zu beschämen – aber auch das gelang ihm nicht, denn Semjon Iwanowitsch bemerkte sofort, daß er mit sich nicht zu spaßen erlaube und Mark Iwanowitsch doch lieber seine Worte sparen solle. Es folgte ein zwei Minuten langes Schweigen; endlich erholte sich Mark Iwanowitsch von seinem Erstaunen und drückte sich klar, schön und deutlich aus, übrigens mit großer Überlegenheit, daß Semjon Iwanowitsch doch nicht vergessen dürfte, daß er sich unter fremden Menschen befand, und daß „der allergnädigste Herr sich doch besinnen möge, wie man sich unter anständigen Menschen zu betragen habe“. Mark Iwanowitsch verstand es bei Gelegenheit sich schön auszudrücken und das auch seine Zuhörer fühlen zu lassen. Seinerseits sprach Semjon Iwanowitsch, da er ja stets zu schweigen gewohnt war, in einer etwas abgebrochenen Art und Weise, und daher gebar denn, wenn er genötigt war, einmal eine längere Phrase zu sagen, jedes Wort schon beim Entstehen ein anderes Wort und dieses wieder ein drittes und das dritte wieder ein viertes usw., usw., so daß er schließlich den ganzen Mund voll Worte hatte, die dann in der allermalerischsten Unordnung zu Tage kamen. Das war der Grund, warum Semjon Iwanowitsch, der doch sonst ein solider Mensch war, manchmal solch einen Unsinn sprechen konnte. „Du lügst,“ antwortete er jetzt Mark Iwanowitsch. „Du Lebemann! Wenn Du Geld hast, putzt Du Dich auf, Du Freigeist, Du liederlicher Herumtreiber, Du! Das laß Dir gesagt sein, Du Verseschmied!“ „Sie phantasieren wohl noch, Semjon Iwanowitsch?“ „Ach Du, der Dummkopf phantasiert, der Trunkenbold phantasiert, der Hund phantasiert, aber der Weise dient dem Vernünftigen. Von Geschäften verstehst Du nichts, Du liederlicher Mensch, Du Gelehrter, Du geschriebenes Buch Du! Wenn Du aber brennst, so wirst Du sehn, wie Dir der Kopf abbrennt. Siehst Du jetzt, wie’s ist!?“ „Ja ... das heißt, wie denn ... das heißt, wie meinen Sie, Semjon Iwanowitsch, daß der Kopf ...“ Mark Iwanowitsch beendete seinen Satz nicht, denn es war ja klar, daß Semjon Iwanowitsch noch nicht nüchtern war, sondern phantasierte; die Wirtin konnte denn auch nicht mehr an sich halten und bemerkte, daß das Haus in der Schiefen Gasse von einem rothaarigen Mädchen angezündet worden sei, das mit dem Licht die Dachkammer in Brand gesetzt hätte, sie selbst aber habe nicht gebrannt, und auch ihr Winkel wäre unversehrt geblieben. „Ja, Semjon Iwanowitsch!“ überschrie Sinowij Prokoffjewitsch außer sich die Wirtin, „Semjon Iwanowitsch, sind Sie solch ein verlorener, naiver Mensch, daß Sie diesen Scherz mit Ihrer Schwägerin oder mit den Examen und den Tänzen ernst genommen haben? Haben Sie das wirklich geglaubt?“ „Nun höre Du jetzt,“ antwortete ihm unser Held und richtete sich, seine letzten Kräfte zusammennehmend, wütend im Bett auf. „Wer ist hier der Narr? Du Hund, Du närrischer Mensch, ich aber werde nicht auf Deinen Befehl Dummheiten machen; hörst Du, dummer Junge, ich bin nicht Dein Diener!“ Semjon Iwanowitsch wollte noch etwas sagen, fiel aber kraftlos auf das Kissen zurück. Alle verloren den Kopf, alle rissen sie den Mund auf und wußten nicht, was sie jetzt anfangen sollten; plötzlich knarrte die Küchentür und gleich darauf steckte auch schon Herr Simoweikin den Kopf durch die Tür und beroch, wie es so seine Art war, vorsichtig den Ort und die Situation. Alle schienen ihn erwartet zu haben; alle winkten sie ihm zu, schnell zum Bett zu kommen, worüber Simoweikin äußerst erfreut war und sich sofort bereitwilligst, ohne den Mantel abzunehmen, zum Kranken begab. Man sah es ihm an, daß er die Nächte mehr im wachen Zustande verbrachte. Die rechte Seite seines Gesichtes war irgendwomit verklebt; die angeschwollenen Augenlider waren feucht von seinen eiternden Augen; der Frack und die Kleider waren zerrissen, wobei die ganze linke Seite seiner Kleidung irgendwomit bespritzt war, vielleicht mit Schmutz aus irgendeiner Pfütze. Unter dem Arm trug er eine Geige, die er irgendwohin zum Verkauf brachte. Augenscheinlich hatte man gut getan, daß man ihn zu Hülfe gerufen, denn sofort wußte er, worum es sich handelte und so sagte er denn auch mit der Miene und dem Tone eines Menschen, der weiß, worum es sich handelt: „Hörst Du Senjka, steh auf! Was tust Du Senjka, weiser Prochartschin, nimm Vernunft an! Werde Dich fortschleppen, wenn Du hier noch so herumrumorst; mach Dich hier nicht so wichtig!“ Solch eine kurze und strenge Rede setzte alle Anwesenden in Erstaunen; aber sie erstaunten noch mehr, als sie bemerkten, daß Semjon Iwanowitsch bei diesen Worten und beim Anblick dieses Gesichts so erschrak und so bescheiden wurde, daß er kaum hörbar und nur durch die Zähne die nötige Erwiderung murmelte. „Geh fort, Du Unglücklicher,“ sagte er, „Du unglücklicher Dieb Du! Hörst Du, verstehst Du? Ein Protz bist Du, ein protziger Mensch bist Du!“ „Nein, Bruder,“ antwortete in schleppendem Tone Simoweikin, ganz Herr der Situation, „das ist nicht gut, Du weiser Bruder Prochartschin, Prochartschinscher Mensch Du!“ parodierte Simoweikin und schaute sich zufrieden im Kreise um. „Mache keine Stückchen! Beruhige Dich, Senja, beruhige Dich oder sonst werde ich alles erzählen, Brüderchen, verstehst Du?“ Es schien, daß Semjon Iwanowitsch alles verstand, denn er zuckte zusammen, als er den Schluß der Rede hörte und sah plötzlich schnell und mit ganz verlorenem Ausdruck um sich herum. Zufrieden mit dem Effekt seiner Rede, wollte Simoweikin noch fortfahren, aber Mark Iwanowitsch verbot ihm das Geschwätz und man wartete einige Zeit, bis Semjon Iwanowitsch sich beruhigt hatte und wieder still da lag; dann erst sprach er vernünftig auf ihn ein, wie z. B. daß ähnliche Gedanken, wie die, die er soeben in seinem Kopfe hätte, erstens ganz unnütz und zweitens nicht nur unnütz, sondern auch schädlich wären und zu guter Letzt nicht so schädlich, als vielmehr unmoralisch, und die Folge von alledem wäre nur die, daß Semjon Iwanowitsch alle irreführte und seinen Nächsten ein schlechtes Beispiel gab. Von solch einer Rede erwarteten alle nur eine vernünftige Wirkung. Zudem war Semjon Iwanowitsch ganz still und antwortete gemäßigt. Es begann ein kleiner Streit. Man wandte sich brüderlich an ihn und fragte ihn, was ihn denn eigentlich so bedrückte? Semjon Iwanowitsch antwortete nur allegorisch. Man antwortete ihm darauf und Semjon Iwanowitsch antwortete wieder. Man antwortete beiderseits noch einmal, und dann mischten sich alle in das Gespräch, alt und jung, denn man sprach von einem wunderbaren und sonderbaren Gegenstand, so daß man wirklich nicht wußte, wie das alles ausdrücken. Man verlor die Geduld, es kam zu Geschrei und zu Tränen, und Mark Iwanowitsch ging schließlich, mit Schaum vor dem Munde, fort und erklärte, daß er bis jetzt solch einen vernagelten Menschen noch nicht gesehen hätte. Oplewanjeff spuckte, Okeanoff erschrak, Sinowij Prokoffjewitsch weinte Tränen und Ustinja Fedorowna heulte wieder einmal und jammerte, daß sie einen Mieter verliere, weil jener wiederum den Verstand verloren hätte, daß ihr Täubchen, ohne ihr den Paß überlassen zu haben, sterbe, daß sie eine Waise sei und daß die Polizei ihr zu schaffen machen würde. Mit einem Wort, alle sahen es endlich klar ein, daß ihre Aussaat gut gewesen war, daß das, was sie gesät hatten, hundertfältig trug, und daß es ihnen gelungen war, den Verstand Semjon Iwanowitschs auf eine unverbesserliche Weise zu bearbeiten. Alle schwiegen, denn sie sahen, daß Semjon Iwanowitsch sich vor allem fürchtete, und so wurden auch sie ganz kleinlaut und fühlten schließlich Mitleid mit ihm. „Wie!“ schrie Mark Iwanowitsch, „was fürchten Sie denn so? Worüber sind Sie denn verrückt geworden? Wer denkt denn an Sie, mein Herr? Haben Sie denn überhaupt das Recht, sich so zu fürchten? Wer sind Sie, was sind Sie? Eine Null sind Sie, mein Herr, ein runder Pfannenkuchen, wissen Sie das auch? Weil man ein Weib auf der Straße überfahren hat, glauben Sie, daß man jetzt auch Sie überfahren wird? Weil man einem Trunkenbold Geld aus der Tasche gestohlen hat, glauben Sie, daß man Ihnen gleich den ganzen Rock abreißen wird? Weil ein Haus abgebrannt ist, muß auch bei Ihnen gleich der Kopf abbrennen, wie? Ist es nicht so, mein Herr? Nicht so, Väterchen, nicht so?“ „Du, Du, Du bist dumm!“ murmelte Semjon Iwanowitsch. „Man wird Dir die Nase abbeißen und Du wirst sie auf Deinem Butterbrot verzehren, ohne daß Du’s merkst!“ „Dumm wie ein Stiefel, meinetwegen dumm wie ein Stiefel,“ schrie Mark Iwanowitsch, der die Prophezeiung ganz überhört hatte, „ich bin meinetwegen ein dummer Mensch. Ja, ich habe es ja nicht nötig, Examen zu machen, weder zu heiraten, noch zu tanzen, mir wankt der Boden nicht unter den Füßen! Was Väterchen? Sie finden Ihren Platz nicht, der Boden stürzt unter Ihnen zusammen, wie?“ „Wie, was, fragt man Dich darum? Schließt man sie, so ist sie geschlossen.“ „Was soll man schließen? Was haben Sie da wieder?“ „Den Vagabunden hat man doch abgesetzt ...“ „Abgesetzt! Dafür ist er auch ein Vagabund, Sie und ich sind aber doch – Menschen!“ „Menschen! Ist sie noch oder nicht? ...“ „Was ist noch, oder nicht? Von was für einer ‚sie‘ reden Sie?“ „Sie, die Kanzlei ... die Kan–ze–lei!!!“ „Ja, gesegneter Mensch, Sie! Sie ist doch nötig, Ihre Kanzlei ...“ „Sie ist nötig! fehlt noch! Heute ist sie nötig, morgen ist sie nötig und übermorgen wird sie nicht mehr nötig sein! Siehst Du jetzt, wie’s ist?“ „Aber man gibt Ihnen doch ein jährliches Gehalt?“ „Gehalt? Ich habe das Gehalt aber aufgegessen, Diebe kommen und nehmen das Geld fort; ich habe noch eine Schwägerin, hörst Du? Eine Schwägerin! Verstehst Du, wenn Du nicht vernagelt bist ...“ „Eine Schwägerin! Mensch, Sie ...“ „Mensch, ja, ich bin ein Mensch, Du aber bist mit Dummheit geschlagen, ein vernagelter Mensch bist Du, verstehst Du? Ich spreche schon gar nicht von Deinem Unsinn, den Du schwatzt. Das ist schon solch eine Stelle, wenn es drauf ankommt, wird sie vernichtet. Demid Wassiljewitsch sagt es selbst ...“ „Ach, Sie, Demid, Demid!“ „Ja, er löst sie auf und damit basta und dann sitzt man da ohne Stelle; was wirst Du dann sagen ...“ „Ach, Sie lügen ja einfach nur, oder haben Sie den Verstand verloren? Sagen Sie uns doch einfach, was Ihnen fehlt! Gestehen Sie uns doch Ihre Sünden! Da ist ja nichts sich zu schämen! Oder ist es alle mit dem Verstand, wie, Väterchen?“ „Der Kerl ist wahrhaftig verrückt geworden! Er hat den Verstand verloren!“ tönte es in der Runde und man rang die Hände vor Verzweiflung, die Wirtin aber umfing Mark Iwanowitsch mit beiden Armen, damit er Semjon Iwanowitsch nur nicht weiter quälte. „Ein Heide bist Du, eine heidnische Seele hast Du, Weiser!“ flehte ihn Simoweikin an; „Senja, Du lieber gutmütiger Mensch, Du! Du bist bescheiden, Du bist gut ... hörst Du? Das kommt von Deiner Großmut; der unordentliche und dumme, das bin ich, der Bettler bin ich! Du hast als guter Mensch mich nicht verlassen, fürchte nichts; Dir wird schon Ehre zuteil werden; Dir und der Wirtin sage ich Dank! Siehst Du, ich mache Dir eine Verbeugung bis zur Erde, siehst Du, siehst Du, ich bezahle meine Schuld, liebe Wirtin!“ Simoweikin machte mit pedantischer Würde rund herum seine Verbeugung bis zur Erde. Semjon Iwanowitsch wollte fortfahren zu sprechen, aber man erlaubte es ihm nicht mehr, alle stürmten auf ihn ein, flehten ihn an, sich zu beruhigen und erreichten zuletzt, daß Semjon Iwanowitsch ganz beschämt und mit schwacher Stimme bat, sich erklären zu dürfen. „Ja, nun gut,“ sagte er, „ich bin liebenswürdig, angenehm, ruhig, hörst Du, und wohltätig, ergeben und treu; weißt Du, meinen letzten Tropfen Blut, hörst Du, dummer Junge, ... möge sie bestehn, die Stelle; ich bin ja arm; wenn man sie mir nimmt, hörst Du ... schweige jetzt, verstehst Du, man nimmt sie ... und dann, Bruder, ist sie nicht mehr da ... verstehst Du? Und ich, Bruder, mit dieser Summe, hörst Du?“ „Senjka!“ brüllte außer sich Simoweikin, dieses Mal jegliches Lärmen übertönend, „Freidenker Du! Ich werde sofort alles sagen! Was bist Du! Wer bist Du! Du Schafsgehirn! Nur einen unsoliden und dummen wird man ohne Abschied von der Stelle jagen; wer bist Du denn eigentlich?“ „Ja, dies und das ...“ „Was, dies und das?!“ „Geh Du nur mit ihm ...“ „Wie, geh Du nur mit ihm?“ „Ja, ich bin frei, er ist frei; wenn man so liegt und liegt und darüber ...“ „Worüber?“ „Bin ein Freidenker ...“ „Freidenker! Senjka, Du ein Freidenker!!“ „Halt an,“ schrie Herr Prochartschin, fuchtelte mit der Hand und unterbrach das sich erhebende allgemeine Geschrei, „ich spreche nicht davon ... Versteh doch nur, Du Hammel: ich bin heute ruhig, morgen ruhig und übermorgen schon nicht mehr ruhig, werde frech; nun und ... mache Dich fort, Freidenker! ...“ „Was sagen Sie!“ donnerte Mark Iwanowitsch endlich drein, er sprang vom Stuhl auf, auf den er sich zur Erholung niedergelassen hatte und lief voller Aufregung ans Bett, außer sich und zitternd vor Ärger. – „Wer sind Sie? Ein Hammel sind Sie! Weder Fisch noch Fleisch! Sind Sie etwa allein auf der Welt? Ist für Sie allein die Welt gemacht? Sind Sie etwa Napoleon? Was sind Sie? Wer sind Sie? Sind Sie Napoleon oder sind Sie es nicht?! Sagen Sie doch, mein Herr, Napoleon oder nicht Napoleon? ...“ Aber Herr Prochartschin antwortete nicht mehr auf diese Gewissensfrage. Nicht, daß er sich geschämt hätte, Napoleon zu sein oder sich gefürchtet, solch eine Verantwortung auf sich zu nehmen, nein, er konnte ganz einfach nicht mehr streiten noch von Geschäften sprechen. Eine krankhafte Krisis trat ein. Ströme von Tränen stürzten plötzlich aus seinen grauen, fieberglänzenden Augen. Mit seinen knochigen, von der Krankheit abgemagerten Händen bedeckte er seinen heißen Kopf, erhob sich im Bett und schluchzend fing er an, zu klagen, daß er arm wäre, daß er solch ein unglücklicher und einfacher Mensch wäre, dumm und stumpf, daß ihm gute Menschen vergeben müßten, daß sie ihn doch beschützen und ihm zu essen und zu trinken geben, ihn nicht der Armut preisgeben sollten, und Gott weiß, worum Semjon Iwanowitsch noch sonst alles bat. Dabei blickte er mit solch einer wilden Angst um sich, als ob die Decke einstürzen oder der Boden sich vor ihm auftun müßte. Allen tat er leid, der Arme, und alle Herzen erweichten sich. Die Wirtin heulte wie ein altes Weib, sagte, daß auch sie eine Waise wäre und mühte sich, Semjon Iwanowitsch besser zu betten. Mark Iwanowitsch sah es ein, daß er unnütz ans Gehirn Napoleons gerührt hatte: ihn überkam plötzlich auch eine gütige Anwandlung und so wollte er denn der Wirtin behülflich sein, den Unglücklichen zu betten. Die Anderen, die auch irgendwas dazu tun wollten, schlugen vor, ihm doch eine Himbeerlimonade zu stiften, da sie von allem befreie und dem Kranken sehr angenehm sein würde; aber Simoweikin widerlegte es und behauptete, daß bei seiner Verfassung nichts besser wäre, als ein starker Kamillentee. Was nun Sinowij Prokoffjewitsch mit seinem guten Herzen anbelangt, so weinte er heiße Tränen der Reue, weil er Semjon Iwanowitsch mit erlogenen Sachen geängstigt hatte. Doch die letzten Worte des Kranken, die Klagen über seine Armut, brachten ihn auf eine Idee: er setzte sofort eine Liste auf, eine Kollekte für den armen Kranken, die sich fürs Erste nur auf die Einwohner der Winkel erstreckte. Alle jammerten und stöhnten, allen tat es bitter leid, doch zwischendurch wunderten sie sich alle darüber, wie sich der Mensch dermaßen hatte einschüchtern lassen. Und wodurch eigentlich? Wenn er auf einem großen Posten gewesen wäre, eine Frau gehabt und Kinder gezeugt hätte und wenn man ihn vor Gericht geladen hätte: aber solch ein kleines Tierchen wie er, mit einem Koffer und dem deutschen Schloß davor, lag schon seit zwanzig Jahren hinter dem Schirm, schwieg, kannte die Welt nicht, hatte keinen Kummer, sparte, und plötzlich fiel es jetzt diesem Menschlein ein, sich durch irgendein unnützes, abgeschmacktes Wort den Kopf verdrehen zu lassen und ganz und gar am Leben zu verzweifeln ... Und dabei denkt der Mensch garnicht, daß es die Anderen ebenso schwer haben. „Würde er doch nun das Eine in Betracht ziehn,“ sagte später Okeanoff, „daß es allen schwer fällt, so würde er ja seinen Kopf behalten, würde seine tollen Streiche lassen und leben und reden, wie es sich gehört.“ Den nächsten ganzen Tag über sprach man nur von Semjon Iwanowitsch. Man kam zu ihm, erkundigte sich nach ihm, beruhigte ihn; aber zum Abend hin halfen die Beruhigungen nicht mehr. Der Arme fieberte und phantasierte und verlor von Zeit zu Zeit seine Besinnung, so daß man schon nach dem Arzt schicken wollte; alle Einwohner beschlossen gemeinsam, der Reihe nach bei Semjon Iwanowitsch die Nacht über zu wachen, ihn zu beruhigen und falls irgend etwas geschehn sollte, die Anderen aufzuwecken. In dieser Absicht fingen sie an Karten zu spielen, und ließen seinen Freund Simoweikin, der schon den ganzen Tag über bei ihm gewesen war und von ihnen die Erlaubnis erhielt, auch dort zu nächtigen, bei ihm. Da sie aber kein hohes Spiel machten, so wurde es ihnen alsbald langweilig. Sie brachen das Spiel ab und gerieten allmählich über irgendetwas in Streit, lärmten und polterten und zogen sich schließlich in die Winkel zurück, wo ein jeder noch lange in seinem Herzen den Anderen widersprach und sie allesamt übertrumpfte, und da sie alle geärgert waren, so wollte Niemand mehr wachen. So kam es denn, daß alle einschliefen: bald darauf wurde es in den Winkeln so still wie in einem leeren Keller, um so mehr, als es sehr kalt war. Einer von den Letzten, die einschliefen, war Okeanoff, und wie er später erzählte, hatte er nicht gerade im Schlaf und auch nicht gerade im wachen Zustande, neben sich kurz vor Morgengrauen zwei Menschen miteinander sprechen gehört. Darauf aber hätte er Simoweikins Stimme erkannt, der Remneff, seinen alten Freund weckte und lange mit ihm leise sprach, dann habe er gehört, wie Simoweikin fortgegangen war und wie er die Küchentür mit dem Schlüssel aufgeschlossen hatte. Der Schlüssel – versicherte später Ustinja Fedorowna – habe immer unter ihrem Kopfkissen gelegen und wäre seit dieser Nacht verloren gegangen. Dann – erzählte Okeanoff – schien es ihm, daß beide hinter den Schirm zum Kranken gingen und dort das Licht anzündeten. Mehr, sagte er, wisse er nicht, seine Augen wären ihm zugefallen; er erwachte erst mit allen anderen, die in den Winkeln schliefen und sprang mit ihnen zu gleicher Zeit aus dem Bett, als plötzlich hinter dem Schirm Semjon Iwanowitschs solch ein Geschrei ertönte, daß selbst die Toten erwacht wären – in dem Moment aber schien es vielen, daß plötzlich das Licht hinter dem Schirm ausgelöscht wurde. Es entstand eine allgemeine Verwirrung: hinter dem Schirm hörte man Geschimpf, Geschrei und Kampf. Es wurde Licht gemacht und man sah, daß Simoweikin und Remneff sich prügelten und jähzornig beschimpften. Als man sie nun auseinander brachte, so schrie der eine: „Nicht ich bin es, aber dieser Räuber da!“ und Simoweikin schrie wiederum: „Rühr mich nicht an, bin nicht schuldig; ich werde sofort schwören!“ Aber in der ersten Minute war es nicht um sie zu tun, denn – der Kranke war verschwunden! Man entfernte die Vagabunden und siehe da: Herr Prochartschin lag unter dem Bett, vollständig besinnungslos; auf ihm lagen seine Decke und sein Kissen, so daß sich auf dem Bett nur noch die schmutzige Matratze befand, – denn Bettücher besaß er nicht. Man zog also Semjon Iwanowitsch unter dem Bett hervor und legte ihn auf die Matratze und bemerkte da sofort, daß mit ihm nichts mehr zu machen war; er war schon ganz steif, hin und wieder lief nur noch ein Zittern über den Körper. Er wollte die Hände erheben, konnte es aber nicht, seine Zunge bewegte sich nicht mehr, aber er blinzelte noch mit den Augen, wie die Köpfe der Enthaupteten noch mit den Lidern blinzeln sollen, wenn das Beil des Henkers sie schon vom Körper getrennt hat. Allmählich wurde er ruhiger, der Todeskrampf ließ nach; Herr Prochartschin streckte die Beine von sich und begab sich mit all seinen Sünden ins Jenseits. Ob er sich nun so erschreckt hatte, oder ob er einen Traum gehabt, wie später Remneff versicherte, oder ob dem eine andere Sünde zu Grunde lag, das ist eine offene Frage. Die Sache war aber die, daß, wenn jetzt selbst der Chef in der Wohnung erschienen wäre, um persönlich Semjon Iwanowitsch den Abschied wegen Trunksucht, Freidenkerschaft und Händeleien zu überbringen, und wenn durch die andere Tür eine Bettlerin unter dem Titel einer Schwägerin Semjon Iwanowitschs eingetreten wäre, ja selbst wenn er plötzlich zweihundert Rubel Gratifikation erhalten hätte, oder das Haus in Flammen aufgegangen wäre, Semjon Iwanowitsch doch nicht mehr geruht haben würde, auch nur einen Finger zu rühren. Während die erste Erstarrung sich legte, die Anwesenden die Sprache langsam wiedererlangten und ein Chaos von Vorschlägen, Vermutungen und Geschrei entstand, – zog Ustinja Fedorowna den Koffer unter dem Bett hervor und suchte in aller Eile unter dem Kissen unter der Matratze, ja sogar in den Stiefeln Semjon Iwanowitschs nach. Und während man Remneff und Simoweikin verhörte – bewies Okeanoff, der bis jetzt allerunintelligenteste und stillste Winkelbewohner, plötzlich die größte Geistesgegenwart, ja entdeckte vielleicht zum ersten Mal seine Fähigkeiten und sein Talent, nahm seine Mütze und verschwand bei der allgemeinen Verwirrung ganz unbemerkt. Und als alle Schrecken des Chaos ihren Höhepunkt in den bis jetzt so friedlichen Winkeln erreichten, öffnete sich die Tür und wie kalter Schnee auf heiße Köpfe fällt, erschien zuerst ein Herr von anständigem Äußeren, aber mit einem strengen, unzufriedenen Gesicht; ihm folgte Jaroslaff Iljitsch mit seinem Beamten samt Allem, was dazu gehört; und ihnen folgte aufgeregt Herr Okeanoff. Der strenge Herr von anständigem Äußern ging geradewegs auf Semjon Iwanowitsch zu, befühlte ihn, machte eine Grimasse, zuckte mit den Schultern und sagte, was alle schon längst wußten, daß der Tote tot wäre, und fügte nur von sich aus noch hinzu, daß in diesen Tagen einem sehr hohen und angesehenen Herrn dasselbe im Schlaf passiert sei, und er daran gestorben wäre. Darauf behauptete er noch, daß man ihn ganz unnütz belästigt hätte und ging zur Tür hinaus. Ihn ersetzte sofort Jaroslaff Iljitsch, der Beamte, und während Remneff und Simoweikin den Gerichtsdienern übergeben wurden, bemächtigte er sich des Koffers, den die Wirtin schon zu verstecken versucht hatte, stellte die Stiefel auf ihren früheren Platz zurück, bemerkte dazu, daß sie ganz durchlöchert seien und daher fortgeworfen werden könnten, verlangte auch das Kissen zurück, rief Okeanoff und bat um den Schlüssel zum Koffer, der sich schließlich in Simoweikins Tasche fand und öffnete feierlich wie es sich gehörte die Habe Semjon Iwanowitschs. Da lagen denn allen sichtbar: zwei alte Hemden, ein Paar Socken, ein zerrissenes Tuch, ein alter Hut, einige Knöpfe, alte Stiefelsohlen, ferner Schnüre, Seife, Salben, alle möglichen Lumpen, die einen üblen Geruch verbreiteten; gut war nur das deutsche Schloß. Man rief Okeanoff und sprach streng mit ihm; aber Okeanoff war bereit zu schwören. Man verlangte das Kissen, sah es sich an; es war nur schmutzig, glich aber sonst in jeder Beziehung einem Kissen. Man hob die Matratze auf, legte sie wieder hin, bedachte sich noch, was zu tun wäre, als plötzlich etwas Schweres, Klingendes auf den Boden schlug. Man bückte sich, man suchte und fand eine Papierrolle mit zehn Silberrubel. „Eh, eh, eh!“ rief Jaroslaff Iljitsch und zeigte auf eine offene Stelle in der Matratze, aus der Roßhaar hervorlugte. Man besah sich die Stelle und alle waren überzeugt, daß sie soeben mit dem Messer gemacht worden war: man steckte die Hand hinein und zog ein Küchenmesser hervor, das man wohl in aller Eile da hineingesteckt hatte, nachdem man mit ihm vorher die Matratze aufgeschnitten. Kaum war es Jaroslaff Iljitsch gelungen, das Messer herauszuziehn, als er schon wieder „Ehe–e!“ sagte und bald darauf eine andere Rolle herausfiel und nach ihr Fünfzigkopekenstücke, fünfundzwanzig Kopeken, und verschiedenes Kleingeld, darunter auch ein gesundes, kupfernes Fünfkopekenstück. Alle Hände griffen danach. Auch war man der Meinung, daß es nicht schlecht wäre, die Matratze aufzuschneiden. Man verlangte eine Schere ... Der heruntergebrannte Lichtstummel beleuchtete eine äußerst interessante Szene. Ungefähr zehn Einwohner gruppierten sich in den allermalerischsten Nachtkostümen um das Bett herum, alle ungekämmt, unrasiert und ungewaschen und kaum vom Schlaf erwacht. Einige von ihnen waren kreidebleich, bei anderen perlte der Schweiß auf der Stirn, die Einen schüttelte der Frost, die Anderen die Hitze. Die Wirtin stand halb bewußtlos da, hatte die Hände gefaltet und überließ sich der Gnade Jaroslaff Iljitschs. Vom Ofen herab sahen erschrocken und doch neugierig Awdotja, die Magd, und die Lieblingskatze der Wirtin. Zerrissene und zerschlagene Bettschirme lagen überall im Wege; der geöffnete Koffer zeigte sein unanständiges Innere; die Decke und das Kopfkissen zusammen mit dem Inhalt der Matratze lagen auf dem Boden und auf einem kleinen gebrechlichen hölzernen Tischchen glänzte der anwachsende Haufen der verschiedensten Geldstücke. Nur Semjon Iwanowitsch allein behielt seine Kaltblütigkeit: er lag friedlich auf dem Bett und schien seinen Ruin überhaupt nicht zu ahnen. Als die Schere gebracht war und der Gehilfe Jaroslaff Iljitschs, aus Wunsch behilflich zu sein, die Matratze ein wenig zu hastig hob, um sie besser vom Rücken des Besitzers befreien zu können, trat ihnen Semjon Iwanowitsch wohl aus Höflichkeit ein wenig seinen Platz ab und kehrte sich auf die Seite; beim zweiten Ruck machte er ihnen noch ein wenig Platz und drehte sich mit dem Gesicht aufs Kissen, mit anderen Worten: drehte ihnen den Rücken zu, und plötzlich ganz unerwartet fiel er mit dem Kopf voran aus dem Bett, so daß seine beiden knochigen, mageren und blauen Beine wie zwei verkohlte Äste eines abgebrannten Baumes in die Luft starrten. Da Herr Prochartschin sich schon das zweite Mal an diesem Morgen unter das Bett begab, so erregte das Verdacht und mehrere von den Einwohnern krochen sofort unter der Anführung Sinowij Prokoffjewitschs unter das Bett, in der Absicht zu untersuchen, ob nicht da noch was verborgen war. Aber die Suchenden stießen bloß mit den Köpfen aneinander und da Jaroslaff Iljitsch sie anschrie und ihnen befahl, sofort Semjon Iwanowitsch von seiner schlechten Lage zu befreien, so packten ihn denn zwei von den vernünftigeren mit beiden Händen je an ein Bein und zogen den unerwarteten Kapitalisten wieder an die Oberfläche und legten ihn quer aufs Bett. Währenddessen flogen Roßhaar und Watte umher und der silberne Haufen wuchs – und wuchs und – oh Gott! was war da nicht alles zu finden! ... Anständige Silberrubel, solide starke anderthalb Rubelstücke, reizende Fünfziger, plebejischere Fünfundzwanziger und Zwanziger, altes Kleingeld in Zehnern und Fünfern – alles in besonderen Papierrollen methodisch und in solider Ordnung eingewickelt. Es waren auch Seltenheiten dabei: ein Napoleond’or, eine unbekannte und sehr seltene Münze ... Auch einige von den Silberrubeln waren von hohem Alter, Elisabetheische, deutsche Kreuzer, Petermünzen, Katharinenmünzen; auch waren da alte durchlöcherte Silbermünzen, solche, die man früher als Gehänge trug, sogar Kupfer war dabei, aber schon ganz grün und rostig gewordenes ... Auch fand man noch ein rotes Stück Papier – aber das war denn auch alles. Als man endlich die ganze Operation beendigt und den Überzug der Matratze um und um geschüttelt hatte und nichts mehr in ihm klirrte noch klimperte, setzte man sich an den Tisch, um das Geld zu zählen. Auf den ersten Anblick konnte man sich sehr täuschen und den Geldhaufen auf eine Million schätzen – so groß war er! Aber eine Million war es denn doch nicht, obgleich es keine geringe Summe war – genau 2497 Rubel und 50 Kopeken. Wenn die Einnahme der Kollekte, die Sinowij Prokoffjewitsch am Abend vorher zur Unterstützung des _armen Kranken_ entworfen hatte, schon bar vorhanden gewesen wäre, so hätte es genau 2500 Rubel ausgemacht. Man nahm das Geld, versiegelte den Koffer des Verstorbenen, hörte den Klagen der Wirtin zu und sagte ihr, wohin und an wen sie sich mit ihrem Schuldschein des Verstorbenen zu wenden hätte. Wie es sich gehörte, forderte man Unterschriften, man sprach auch dabei von der Schwägerin, aber man versicherte sich gegenseitig, daß die Schwägerin in gewissem Sinne nur eine Allegorie sein könnte, die vielleicht nur in der krankhaften Einbildungskraft Semjon Iwanowitschs entstanden war, was man nicht nur einmal dem Verstorbenen vorgehalten haben wollte. Und damit war denn die Sache zu Ende. Als der erste Schreck sich gelegt hatte, als die armen Winkelmieter mit wiedergewonnenem Verstande erkennen konnten, wer der Verstorbene eigentlich gewesen war, so wurden sie nachdenklich und in sich gekehrt und sahen sich gegenseitig mißtrauisch an. Einige nahmen es sich sehr zu Herzen und fühlten sich durch solch ein Verhalten Semjon Iwanowitschs beleidigt ... Solch ein Kapital! Das hat der Mensch zusammengescharrt. Mark Iwanowitsch, der seine Geistesgegenwart wieder erlangte, wollte ergründen und untersuchen, warum Semjon Iwanowitsch plötzlich so allen Mut verloren hatte, aber man hörte ihm nicht mehr zu. Sinowij Prokoffjewitsch wurde sehr nachdenklich, Okeanoff trank zur Stärkung ein wenig Schnaps, und die Übrigen fühlten sich gleichfalls sehr bedrückt. Der kleine Kantareff, der sich nur durch seine Habichtnase auszeichnete, verließ die Wohnung, nachdem er sorgfältig sein Hab und Gut zusammengesucht hatte, und erklärte kühl auf die Fragen, warum er fortginge, daß die Zeit schwer wäre und das Leben hier über seine Mittel ginge. Die Wirtin heulte ununterbrochen und prophezeite, daß Semjon Iwanowitsch in die Hölle käme, da er sie, eine arme Waise, ausgenutzt und beleidigt hätte. Sie fragte Mark Iwanowitsch, warum der Verstorbene sein Geld nicht in die Sparkasse gebracht habe? „Mütterchen, er war zu naiv dazu, sein Vorstellungsvermögen reichte nicht dazu aus,“ antwortete Mark Iwanowitsch. „Nun, und auch Sie sind naiv, Mütterchen,“ schloß Okeanoff, „fünfundzwanzig Jahre stärkte sich der Mensch bei Ihnen und von einem kleinen Nasenstüber fiel er um, bei Ihnen aber kochte die Kohlsuppe, hatten keine Zeit dafür! Ach Sie, ... Weibsbild! ...“ „Ach, das sagst Du mir! – und was Sparkasse!“ fuhr die Wirtin auf. „Hätte er mir doch nur eine Handvoll davon gebracht und mir gesagt: Nimm, Ustinjuschka, hier ist für Dich der Lohn, ernähre Du mich so lange, wie mich die kühle Mutter Erde noch trägt, das wäre recht gewesen, ich hätte ihn gefüttert, getränkt, bedient! Ach, dieser Verführer, solch ein Betrüger! Betrogen hat er mich Waisenkind!“ Man ging wieder ans Bett Semjon Iwanowitschs. Er lag bereits wie es sich gehörte in seinem besten und übrigens einzigen Anzug, das knochige Kinn hinter einer Halsbinde, die ihm etwas ungeschickt umgebunden worden war, gewaschen und gekämmt, aber nicht rasiert, weil ein Rasiermesser in den Winkeln nicht vorhanden war: das einzige Messer, das Sinowij Prokoffjewitsch gehört hatte, war schartig geworden und man hatte es auf dem Trödelmarkt verkauft. Die Anderen gingen alle zum Barbier. Das Zimmer hatte man aber noch nicht aufräumen können. Die zerrissenen Schirme lagen noch kreuz und quer umher und entblößten die Vereinsamung Semjon Iwanowitschs, ganz wie ein Emblem dessen, daß der Tod alle Vorhänge vor unseren Geheimnissen und Intrigen zerreißt. Das Füllsel der Matratze lag auch noch in Haufen zerstreut umher. Diesen plötzlich zerstörten Winkel hätte man mit einem zerstörten Nest von Hausschwalben vergleichen können, zerschlagen und zerrissen vom Sturm, das warme Bettchen aus Federn und Wolle zerstört ... Übrigens, Semjon Iwanowitsch selbst sah eher einem diebischen Spatz ähnlich. Er war ganz still geworden und tat, als ob er nichts zu verhehlen hätte, an nichts Schuld wäre und nicht gewissenlos und schamlos die besten Menschen auf die allerunanständigste Weise betrogen hätte. Er hörte nicht mehr das Weinen und Schluchzen seiner verwaisten und beleidigten Witwe. Im Gegenteil, als erfahrener und geriebener Kapitalist, der selbst im Grabe nicht eine Minute nutzlos verlieren wollte, schien er mit spekulativen Berechnungen beschäftigt zu sein. Sein Gesicht drückte tiefes Nachdenken aus und die Lippen waren zusammengepreßt. Er sah geradezu bedeutend aus, – eine Eigenschaft, der man Semjon Iwanowitsch im Leben nicht hätte verdächtigen können. Er schien klüger geworden zu sein. Das rechte Auge war pfiffig zusammengezogen; auch wollte Semjon Iwanowitsch etwas sagen, etwas sehr Nötiges mitteilen und erklären, um so schnell als möglich die Geschäfte zu erledigen, denn er schien auch keine Zeit zu haben. Auch glaubte man ihn sagen zu hören: „Was fehlt Dir? Höre auf zu weinen, dummes Weib! Heul nicht! Du Mutter, mach’ ein Schläfchen, hörst Du! Ich bin gestorben; jetzt ist schon nichts mehr nötig ... Was für eine Wahrheit? Es ist schön so zu liegen ... Ich, hörst Du, spreche übrigens nicht davon, Du bist ein Weib, hast mich verstanden? Jetzt ist es aus mit dem Dienst; siehst Du jetzt, wie’s ist? – Dumm! ... fehlt noch! Aber, weißt Du, wenn ich jetzt aufstehe, was würde dann sein, wie?“ Polsunkoff. Eine Erzählung. Ich sah mir diesen Menschen näher an. Sogar in seinem Äußeren hatte er etwas so Besonderes, das einen unfreiwillig zwang, wie zerstreut man auch gewesen wäre, ihn sich näher anzusehn, um dann sofort von einem unüberwindlichen Lachkrampf befallen zu werden. So geschah es auch mit mir. Die Äuglein dieses kleinen Herrn waren so beweglich oder vielmehr er selbst war dem Magnetismus eines jeden auf ihn gerichteten Blickes dermaßen unterlegen, daß er instinktiv erriet, wann man ihn betrachtete, sich gleich nach seinem Beobachter umkehrte und unruhig dessen Blick zu analysieren begann. Durch seine ständige Beweglichkeit und sein ewiges hin und her ähnelte er tatsächlich auffallend einer kleinen Wetterfahne. Sonderbar! Wie es schien, fürchtete er, daß man über ihn lachen könnte, und doch verdiente er sich gerade damit sein Brot: er war Allerweltsnarr und ließ sich, je nachdem in welcher Gesellschaft er sich befand, im moralischen wie im physischen Sinne alles gefallen. Freiwillige Narren tun einem ja nicht leid. Aber ich bemerkte sofort, daß dieses sonderbare Geschöpf, dieser lächerliche Mensch kein Narr von Beruf war. In ihm steckte noch etwas Anständiges. Seine Unruhe, seine ewig krankhafte Angst vor der Lächerlichkeit sprachen zu seinen Gunsten. Mir schien es vielmehr, daß sein Wunsch, anderen zu Diensten zu sein, nur aus seinem guten Herzen entsprang, nicht aber aus Berechnung eines materiellen Vorteils etwa. Er erlaubte es mit Vergnügen, daß man über ihn aus vollem Halse und in der taktlosesten Weise lachte, zu gleicher Zeit aber – und ich könnte es schwören – schmerzte ihm sein Herz, und das Blut stieg ihm zu Kopf bei dem Gedanken, daß seine Zuhörer so gemein und herzlos sein konnten, nicht nur über seine Witzchen allein, sondern auch noch über ihn selbst, ja über seinen ganzen Menschen zu lachen. Ich bin überzeugt, daß er in diesen Minuten die ganze Dummheit seiner Lage fühlte; aber der Protest erstarb sofort in seiner Brust, um jeden Augenblick von neuem geboren zu werden. Wie gesagt, ich bin überzeugt, daß bei ihm alles nur vom guten Herzen kam und nicht aus Angst vor dem materiellen Schaden, sagen wir, etwa fortgejagt zu werden und hinfort kein Geld mehr gepumpt zu erhalten: dieser Herr borgte nämlich immer Geld, d. h., er bat in dieser Form Almosen, und wenn er genug Faxen gemacht und andere auf seine Rechnung belustigt hatte, glaubte er, sich teilweise diese Almosen verdient zu haben. Aber, mein Gott, was war das für ein Pumpen! Und auf welche Weise machte er diesen Pump! Man hätte es niemals voraussetzen können, daß auf einer so kleinen Oberfläche, wie es das runzelige, eckige Gesicht dieses Menschen war, zu ein und derselben Zeit, so viel verschiedenartige Grimassen, so viel sonderbare, charakteristische Ausdrücke und die Widerspiegelung soviel allerqualvollster Eindrücke Platz finden konnten. Was war doch alles auf ihm zu erblicken, – Scham und erlogene Frechheit, Ärger, Bangen vor dem Mißerfolg, die Bitte um Verzeihung, daß er es wagte, einen zu belästigen, das Bewußtsein des eigenen Wertes und wiederum das vollkommene Bewußtsein seiner eigenen Nichtigkeit – alles das ging wie Wetterleuchten über sein Gesicht. Ganze sechs Jahre lang fristete er sein Dasein in dieser Weise auf der Gotteswelt und konnte sich noch immer nicht in der wichtigsten Minute des Pumpes eine Haltung geben. Versteht sich, er konnte nicht gefühllos werden oder gar gemein handeln. Sein Herz war zu beweglich, zu heiß! Ja, meiner Meinung nach war er der alleranständigste und ehrlichste Mensch auf der Welt, der aber nur mit einer einzigen kleinen Schwäche behaftet war: er konnte nämlich auf den ersten Befehl gutmütig und uneigennützig eine Gemeinheit begehn, nur um den Nächsten einen Gefallen zu erweisen. Mit einem Wort, als Mensch war er ein vollständiger Lappen. Aber am allerlächerlichsten war es doch, daß er ebenso gekleidet war wie alle, nicht schlechter, nicht besser, sauber und sogar mit einer gewissen Gesuchtheit, mit Anspruch auf Solidität und persönliche Würde. Dieses Streben nach äußerer und gewiß auch innerer Gleichheit, die Unruhe um sich selbst und zu gleicher Zeit diese ununterbrochene Selbsterniedrigung – alles das bildete den schreiendsten Kontrast und war des Mitleids und des Gelächters wert. Wenn er in seinem Herzen überzeugt gewesen wäre, daß alle Lacher die besten Menschen der Welt sind – was er trotz seiner Erfahrungen immer noch glaubte –, und daß sie nur über die Tatsache der Lächerlichkeit, nicht aber über seine Persönlichkeit lachten, so würde er mit Vergnügen seinen Frack ausgezogen und ihn umgekehrt angezogen haben und in diesem Gewande den Anderen zum Gefallen und sich selbst zur Genugtuung durch die Straßen gegangen sein, nur um seine Gönner zu erheitern und ihnen Vergnügen zu bereiten. Aber die Gleichheit konnte er doch nie und nimmer und durch nichts erreichen. Übrigens noch ein Zug: der sonderbare Kauz hatte ehrgeizige Anwandlungen und, wenn gerade keine Gefahr vorhanden war, auch sogar großmütige. Man mußte nur sehn und hören, wie er es verstand, zuweilen sogar ohne sich zu schonen, folglich also mit einem Risiko, ja, fast mit Heldenmut, irgend jemanden von seinen Gönnern, der ihn zu sehr gekränkt hatte, zu bearbeiten! Aber das kam nur in seltenen Minuten vor ... Kurz, er war ein Märtyrer in des Wortes vollster Bedeutung, aber der allernutzloseste und daher allerlächerlichste Märtyrer der Welt. Unter den Gästen erhob sich ein allgemeiner Streit. Plötzlich sah ich wie mein Kauz vom Stuhle springt und aus allen Kräften schreit, man möge doch ausschließlich ihm das Wort geben. „Passen Sie auf,“ flüsterte mir der Wirt zu. „Er erzählt mitunter die sonderbarsten Sachen ... Interessiert er Sie?“ Ich nickte mit dem Kopf und mischte mich unter die Zuhörer. Der Anblick eines anständig gekleideten Herrn, der auf dem Stuhl stand und die ganze Gesellschaft überschrie, erweckte die allgemeine Aufmerksamkeit. Viele, die den Sonderling nicht kannten, sahen sich unwillig unter einander an, andere wiederum lachten über ihn aus vollem Halse. „Ich kenne Fedossei Nikolajitsch! Ich muß Fedossei Nikolajitsch von allen am besten kennen!“ rief er von seinem erhöhten Platze aus. „Meine Herren, ich bitte ums Wort! Ich werde von Fedossei Nikolajitsch erzählen! Eine Geschichte, sag ich Ihnen – einfach wundervoll!“ „Erzählen Sie, Ossip Michailytsch, erzählen Sie!“ „Erzähl!!!“ „Hört doch ...“ „Hören Sie, hören Sie!!!“ „Ich beginne. Aber meine Herren, diese Geschichte ist sehr sonderbar ...“ „Gut, gut!“ „Diese Geschichte ist sehr lächerlich.“ „Schon gut, wundervoll, vorzüglich, – zur Sache!“ „Sie ist eine Episode aus dem Leben Ihres alleruntertänigsten ...“ „Nun, wozu gaben Sie sich dann noch die Mühe, zu versichern, daß sie lächerlich ist!“ „Und sogar ein bißchen tragisch!“ „Ah????“ „Mit einem Wort, die Geschichte – beendigen Sie das Vergnügen bereitet, mich zu hören, meine Herrn, – die Geschichte infolge der ich in eine für mich so interessante Gesellschaft geraten bin!“ „Die Geschichte ...“ „Mit einem Wort, die Geschichte – beendigen Sie etwas schneller Ihren Apolog – die Geschichte, die wohl wieder etwas kosten wird,“ fügte mit heiserer Stimme ein junger Herr hinzu, steckte seine Hand in die Tasche und zog wie zufällig statt des Taschentuchs seinen Geldbeutel hervor. „Eine Geschichte, meine Herren, nach der ich gern viele von Ihnen an meiner Stelle sehen würde. Und, endlich, die Geschichte, der zufolge ich nicht geheiratet habe.“ „Geheiratet! ... Eine Frau! ... Polsunkoff wollte heiraten!! Du lieber Gott!!“ „Ich muß gestehn ich hätte gern Mme. Polsunkoff gesehn!“ „Erlauben Sie, bitte, mich zu erkundigen, wer denn diese gewesene Frau Polsunkoff war?“ piepste ein blondlockiger Jüngling, der sich dem Erzähler näherte. „Also, meine Herren, das erste Kapitel: es war genau vor sechs Jahren, im Frühling, am 31sten März, – bemerken Sie das Datum, meine Herren – am Vorabend ...“ „Des ersten April!“ rief der blondlockige Jüngling. „Sie sind wirklich ungemein scharfsinnig. Also: es war Abend. Über die Gouvernementsstadt N. verdichtete sich die Dämmerung und der Mond schickte sich an, langsam am blauen Himmelszelt aufzutauchen ... mit einem Wort, kurz, alles war wie es sich gehörte. Und siehe da, – in der spätesten Dämmerstunde war’s, da tauchte auch ich ganz leise und heimlich aus meiner kleinen Wohnung auf, nachdem ich mich noch vorher von meiner ‚total verschlossenen‘ Großmutter verabschiedet hatte. Entschuldigen Sie, meine Herren, daß auch ich diesen modernen Ausdruck gebrauche, den ich erst neulich von Nikolai Nikolajitsch hörte. Aber meine Großmutter war in der Tat vollkommen verschlossen: sie war blind, taub, stumm und dumm, – mehr kann man doch nicht verlangen ... Ich muß gestehn, ich zitterte am ganzen Körper, denn was ich vorhatte, war bedeutungsschwer für mich; das Herz zitterte mir wie einem Kater, der eine knöcherne Hand an seinem Genick fühlt.“ „Erlauben Sie, Mr. Polsunkoff.“ „Sie wünschen?“ „Erzählen Sie einfacher; bitte geben Sie sich nicht so große Mühe!“ „Zu Befehl,“ sagte Ossip Michailytsch ein wenig ungehalten über die Unterbrechung. „Also ich ging zu Fedossei Nikolajitsch – in sein wohlerworbenes Haus. Fedossei Nikolajitsch war bekanntlich nicht mein Mitarbeiter, sondern mein gestrenger Vorgesetzter. Ich wurde angemeldet und man führte mich sofort zu ihm in’s Kabinett. Ich sehe es noch jetzt vor mir; ein fast, fast ganz dunkles Zimmer war’s; Licht wurde nicht gebracht. Ich warte: da tritt auch schon Fedossei Nikolajitsch ein. Und so blieben wir denn beide in der Dunkelheit ...“ „Was ging denn zwischen Ihnen vor?“ fragte ein Offizier. „Ja, was meinen Sie wohl?“ fragte Polsunkoff, und wandte sich unverzüglich mit zuckendem Gesicht an den Jüngling mit den Locken. „Nun, meine Herren, es war eine sonderbare Situation. Das heißt, sonderbar war an ihr eigentlich nichts, es war, wie man es so nennt, eine rein praktische Gelegenheit – ich zog einfach aus meiner Tasche einen Packen Papiere, das heißt Staatspapiere ...“ „Papiere?“ „Und er zog gleichfalls aus seiner Brusttasche einen Packen Papier hervor und wir tauschten die beiden Packen aus.“ „Ich könnte wetten, daß es nach Sporteln roch,“ äußerte sich ein gut gekleideter und gut frisierter junger Herr. „Sporteln?“ griff sofort Polsunkoff das Wort auf, – „Ach! Wär ich doch ein Liberaler, Wie ich viele schon gesehn! Wenn Sie einmal in der Provinz dienen sollten, so werden Sie sehn, daß Sie Ihre Hände am Herd des Vaterlandes nicht wärmen können, wenn Sie nicht ... Sagte doch ein Dichter: Selbst der Rauch des Vaterlandes ist mir angenehm und lieb! Unser Vaterland ist unsere Mutter, unsere Mutter, meine Herren, die leibliche Mutter, wir aber sind ihre Säuglinge, und so saugen wir denn auch an ihm! ...“ Ein allgemeines Gelächter erhob sich. „Aber glauben Sie mir, meine Herren, ich habe niemals Sporteln genommen,“ sagte Polsunkoff, wobei er plötzlich mißtrauisch die ganze Versammlung übersah. Doch wahrhaft homerisches Gelächter verschlang die Worte Polsunkoffs. „Nein, wirklich, meine Herren ...“ Er verstummte aber plötzlich, und betrachtete alle mit einem sonderbaren Ausdruck. Vielleicht – wer kann es wissen – vielleicht kam es ihm in dieser Minute in den Sinn, daß er ehrlicher und anständiger war als viele hochgeehrte Herren dieser anständigen Gesellschaft ... Und bis zum Schluß der allgemeinen Heiterkeit blieb der Ausdruck seines Gesichtes ernst und nachdenklich. „Also,“ begann Polsunkoff, als die Heiterkeit sich gelegt hatte, „obgleich ich niemals Sporteln genommen, beging ich doch dieses Mal eine Sünde: ich schob die Bestechung in meine Tasche ... die Bestechung von einem bestechlichen Beamten ... Das heißt, in meinen Händen befanden sich Papiere, die ... kurz, wenn ich es gewollt hätte, sie Jemandem zu schicken, so wäre es Fedossei Nikolajitsch schlecht ergangen.“ „So kaufte er sie also von Ihnen zurück?“ „Das tat er.“ „Wieviel gab er Ihnen denn dafür?“ „Er gab soviel, für wieviel ein Anderer in unserer Zeit sein Gewissen verkaufen würde, mit allen Variationen desselben ... wenn man ihm dafür nur soviel geben würde. Ich aber war wie mit siedendem Wasser begossen, als ich das Geld in meine Tasche steckte. Wirklich, ich weiß nicht, meine Herren, wie das bei mir zuging, denn ich war weder tot, noch lebendig, meine Lippen konnte ich kaum bewegen, die Kniee zitterten mir; schuldig, schuldig fühlte ich mich, ganz furchtbar schuldig; machte mir ein Gewissen, war sogar bereit, Fedossei Nikolajitsch um Vergebung zu bitten ...“ „Nun, verzieh er Ihnen?“ „Aber ich tat es ja doch nicht ... ich erzähle doch nur, wie mir damals zu Mute war; ich habe, das heißt ... ich habe ein heißes Herz. Ich sehe, er blickt mir gerade in die Augen: ‚Gott fürchten Sie nicht, Ossip Michailytsch?‘ Nun, was war da zu machen? Ich breitete so die Hände aus, blickte zur Seite. – ‚Warum soll ich denn Gott nicht fürchten, Fedossei Nikolajitsch?‘ Sage das nur so aus Anstand ... selbst bin ich bereit in die Erde zu sinken. ‚Sie, der so lange der Freund unseres Hauses gewesen sind, Sie, der Sie uns fast ein Sohn ... und wer weiß, was vom Schicksal uns noch bestimmt gewesen wäre, Ossip Michailytsch! Und plötzlich, bereiten Sie sich vor mich anzugeben! ... Was soll man nach alledem von den Menschen denken, Ossip Michailytsch?‘ Ach, meine Herren, wie hat er mir ins Gewissen geredet! – ‚Sagen Sie mir, was soll man nach alledem von den Menschen denken, Ossip Michailytsch?‘ fragt er mich. – ‚Was,‘ denke ich, ‚was soll man denn denken?‘ Wissen Sie, die Kehle wurde mir trocken und das Stimmchen zitterte mir, ich fühlte schon, daß ich weich wurde und griff zur Mütze ... ‚Wohin wollen Sie, Ossip Michailytsch? Werden Sie wirklich am Vorabend solch eines Tages ... werden Sie es mir wirklich nachtragen? Was habe ich Ihnen denn Böses getan? ...‘ ‚Fedossei Nikolajitsch,‘ sage ich, ‚Fedossei Nikolajitsch!‘ Mit einem Wort, meine Herren, ich wurde windelweich, wie ein nasses Zuckerstück schmolz ich zusammen. Und das Paket mit den Banknoten, das in meiner Tasche lag, schien mir gleichfalls zuzurufen: ‚Undankbarer Räuber, ruchloser Dieb, Du!‘ – und fünf Pud schwer dünkte es mich – wenn es doch in Wahrheit nur fünf Pud gewogen hätte! – ‚Ich sehe, daß Sie es bereuen,‘ sagt Fedossei Nikolajitsch – ‚Wissen Sie, morgen ist der Namenstag ... Nun, weine nicht, genug: hast gesündigt und bereust es! Gehn wir! Vielleicht gelingt es mir, Dich auf den rechten Weg zurückzuführen! Vielleicht werden meine bescheidenen Penaten – erinnere mich ganz genau, der Räuber sagte Penaten – Dich erwärmen, werden Dein Herz ...‘ Er faßte mich unter den Arm und führte mich zu den Seinen. Mir lief es kalt über den Rücken; ich zitterte. Mit welchen Augen werden sie mich ansehn? dachte ich. Sie müssen nämlich wissen, meine Herren ... wie soll ich’s Ihnen sagen, es gab da noch so eine delikate Geschichte ...“ „Etwa Madame Polsunkoff?“ „Marja Fedossejewna war es nicht bestimmt, solch eine Madame zu werden, wie Sie sie zu nennen belieben. Doch Fedossei Nikolajitsch war im Recht, wenn er sagte, daß ich im Hause fast für einen Sohn gehalten wurde. Vor einem halben Jahre war das schon der Fall gewesen, nämlich als noch Michail Maximytsch Dwigailoff, der Junker außer Diensten, lebte. Aber nach einem höheren Ratschluß Gottes starb er und da er das Testamentmachen immer aufgeschoben, so konnte man auch nachher nirgendwo eines finden ...“ „Ah!!!“ „Nun, nichts zu machen, meine Herren, entschuldigen Sie, ich habe mich versprochen, das war allerdings nicht schön, doch das will ja auch nichts besagen, dafür aber war die Sache selbst um so schlechter, als ich zurückblieb, sozusagen, bloß mit der Null in der Perspektive, denn der Junker außer Diensten, wenn ich auch sein Haus nicht betreten durfte – er lebte auf großem Fuße, wahrscheinlich weil er früher lange Finger gehabt – so hielt er mich vielleicht doch nicht ganz irrtümlicher Weise für seinen leiblichen Sohn.“ „Aha!!!“ „Ja, also so war’s! Nun, und da zeigte man mir bei Fedossei Nikolajitsch lange Nasen. Ich bemerkte es denn auch sofort und war darob nicht wenig verwundert, bezwang mich aber. Da kam plötzlich zu meinem Unglück – oder vielleicht auch zu meinem Glück – wie kalter Schnee auf’s Haupt, in unser Städtchen ein Remonteoffizier hereingesaust. Nun, wissen Sie, seine Aufgabe wurde ihm nicht allzu schwer gemacht, Kavallerieplänkelei ... wenn er sich nur nicht bei Fedossei Nikolajitsch so festgesetzt hätte, saß wie eine Kugel in der Wand! Ich, der langjährige Hausfreund war vergessen ... und, wissen Sie, dumme Angewohnheit: nehme Fedossei Nikolajitsch bei Seite und erkläre ihm so und so, warum denn gleich beleidigen! Da ich doch in gewissem Sinne schon wie ein Sohn war ... Das Väterliche, das Väterliche ... ach, nun ja, das heißt, ich meine, wie soll ich’s denn abwarten!? Nun, er antwortete mir, das heißt, er erzählte mir ein ganzes Poem in zwölf Liedern und Gesängen, schon allein vom Zuhören fließt es einem wie Honig über die Seele, man leckt sich bloß die Lippen. Fragst Du Dich aber nach dem Sinn der Worte, so stehst Du wie ein Ochs am Berg: der Schuft dreht sich wie ein Aal, bleibt nirgends stecken, geht ölglatt über alle Hindernisse hinweg. Mit einem Wort, ein Talent hatte er, sag ich Ihnen, ein Talent, daß einem angst und bange wurde, wirklich eine phänomenale Begabung! Weder ja noch nein, denk Dir, was Du willst. Nun, Sie können sich denken, was ich mir dachte! Schleppe ihr Romanzen zu, bringe Konfekt und brüte Witzchen aus, seufze und stöhne, Ach und Weh, mein Herz schmerzt mir vor Liebe, sage ich und weine Tränen, mache heimliche Geständnisse. Dumm ist der Mensch! Der Alte hatte ja nicht in den Kirchenbüchern nachgeschlagen, wußte also nicht, daß ich dreißig Jahre alt war! Fehlt noch! Wollte schlau sein! Aber meine Sache glückte mir nicht, Spott und Gelächter rund um mich herum ... da packte mich die Wut und preßte mir die Kehle zu. Ich ging davon, gedachte in dieses Haus nie mehr meinen Fuß zu setzen – und die Sache anzugeben. Ich gebe es zu, daß es gemein von mir war, den Freund angeben zu wollen, aber Material dazu war viel vorhanden, kostbares Material, wäre eine kapitale Sache gewesen! Tausendfünfhundert brachte es mir ein, als ich es gegen Papierscheine eintauschte!“ „Ah! Da haben wir die Sporteln!“ „Ja, mein Herr, das wären Sporteln gewesen, die mir ein käuflicher Mensch bezahlt hätte! Und das wäre doch wirklich keine Sünde gewesen. Aber ich werde meine Erzählung jetzt wieder aufnehmen: wie Sie sich vielleicht noch erinnern, zog er mich halbtot, also nur halb lebendig ins Teezimmer; man empfängt mich: alle scheinen sie beleidigt, das heißt, nicht gerade beleidigt, sondern so betrübt zu sein, daß es schon einfach ... Mit einem Wort, niedergeschlagen, ganz niedergeschlagen, auf ihren Gesichtern lag eine Feierlichkeit, sag’ ich Ihnen, eine Trauer in ihren Blicken, so etwas Väterliches, Verwandtschaftliches ... der verlorene Sohn kehrte wieder zurück. Kurz, man setzte sich an den Tisch, um Tee zu trinken: mir selbst kochte ein Samowar in der Brust, meine Füße waren eiskalt: ich zitterte, betete! Marja Fominischna, seine Gemahlin, Hofrätin – jetzt ist sie Frau Kollegienrat – redete mich sofort mit _Du_ an: ‚Warum bist Du, Väterchen, so abgemagert?‘ fragte sie. – ‚Nur so, bin erkältet, Marja Fominischna,‘ sage ich ... das Stimmchen zitterte mir. Und sie beginnt sofort, mir nichts, dir nichts, die Sachen abzuwickeln, solch eine Viper: daß augenscheinlich wohl das Gewissen mich quäle. ‚Unser verwandtschaftliches Salz und Brot, das Du verraten wolltest, meine blutigen Tränen, die ich vergossen habe, brennen Dir wohl auf dem Herzen‘. Bei Gott, das sagte sie, gegen ihr eigenes Gewissen sagte sie das! Ein verwegenes Weib war sie! Saß da am Tisch und goß den Tee ein. Warte, dachte ich, wenn Du auf dem Markt wärest, würdest Du alle anderen Weiber überschreien. Solch eine war unsere Hofrätin. Und zu meinem Unglück trat jetzt noch die Tochter Marja Fedossejewna mit ihrer ganzen Unschuld ins Zimmer, ein wenig bleich, die Äuglein wie von Tränen gerötet – ich war vernichtet, auf der Stelle vernichtet! Später erfuhr ich es, daß sie die Tränen wegen des Remonteoffiziers vergossen hatte: der hatte sich heimlich aus dem Staube gemacht, die Flucht auf seine Weise ergriffen, denn es war für ihn Zeit geworden, den Rückzug anzutreten ... doch war’s nicht etwa ein Befehl von oben gewesen, der ihn dazu gezwungen hatte. Nein ... nachher erst bemerkten es die Eltern, aber was war dann noch zu machen? Mußten das Unglück in aller Stille beseitigen! ... Ich aber, ich war, als ich sie erblickte, einfach vernichtet, ich griff nach meinem Hut, wollte so schnell als möglich spurlos verschwinden ... aber man nahm mir den Hut fort ... Ich wollte schon ohne Hut auf und davon – man schloß die Tür zu, man lächelte, man blinzelte sich gegenseitig zu, – ich wurde ganz konfus, ich stammelte irgend etwas, sprach vom Liebesgotte Amor: sie, das Täubchen, setzte sich ans Klavier und sang in traurigen beleidigten Tönen eine Romanze von einem Husaren, der sich auf seinen Säbel stützte. Großer Gott! – ‚Ach, alles, alles soll vergessen sein, komm in meine Arme!‘ rief mir plötzlich Fedossei Nikolajitsch zu. Ich, wie ich da war, fiel mit meinem Gesicht auf seine Weste. ‚Mein Wohltäter, mein leiblicher Vater,‘ rief ich und weinte heiße Tränen. Mein Gott! Die Folgen waren fürchterlich! Er weinte, die Frau weinte, Maschenka weinte ... und noch eine blonde Dame war dort, und auch die weinte ... plötzlich krochen aus allen Ecken und Enden Kinder hervor – Gott hatte sein Haus gesegnet! – und auch die brüllten mit ... wieviel Tränen, wieviel Verzeihen, welch eine Freude, einen Verlorenen brachte man zurück, ich wurde beweint, wie ein Soldat, der in die Heimat zurückkehrt! Man reichte Süßigkeiten herum, spielte Pfänderspiele und blinde Kuh: ‚Oh, wie es schmerzt‘! – ‚Was schmerzt?‘ – ‚Das Herz!‘ – ‚Warum?‘ Sie wird rot, das Täubchen! Der Alte und ich tranken darauf einen Punsch, – man ging endlich auseinander und hatte mich vollständig eingezuckert ... Ich kehrte zu meiner Großmutter zurück. Mein Kopf ging mir rund; auf dem ganzen Wege hatte ich vor mich hingelächelt, zu Hause ging ich zwei geschlagene Stunden in meinem Zimmer auf und ab, weckte die Alte auf, teilte ihr all mein Glück mit. ‚Hat er Dir das Geld gegeben, der Räuber?‘ – ‚Hat gegeben Großmütterchen, hat gegeben, meine Liebe, das Glück ist bei uns eingezogen, öffne nur die Arme!‘ – ‚Nun, jetzt heirate aber, jetzt ist es Zeit, daß Du heiratest,‘ sagt mir die Alte, ‚meine Gebete sind erhört worden‘. Ich weckte Ssofron. ‚Ssofron, zieh’ mir die Stiefel aus! Nun, Ssofroscha! Jetzt kannst Du mir gratulieren, kannst mich umarmen! Ich heirate einfach, Brüderchen, ich heirate, kannst Dich morgen betrinken, kannst einmal durchgehn, liebe Seele, so viel Du willst. Dein Herr heiratet!‘ Eitel Sonnenschein war in meinem Herzen! ... Schon wollte ich einschlafen, aber wieder erhob ich mich und dachte und dachte, und plötzlich ging es mir durch den Kopf: morgen ist der erste April, solch ein heller, spielerischer Tag, wie wär’ es – wenn? ... Und was glauben Sie, meine Herren, ich stand vom Bett auf, zündete das Licht an und setzte mich an den Schreibtisch. Ich war außer Rand und Band, hatte mich schon ganz vergessen, – wissen Sie, meine Herren, wie es ist, wenn ein Mensch sich ganz im Spiel verliert? Mit dem Kopf voran bin ich ins Unglück gerannt! Das liegt schon so im Charakter: sie nehmen Dir etwas und Du gibst Ihnen alles, was Du sonst noch hast. Sie geben Dir einen Backenstreich, Du aber bietest Ihnen zum Vergnügen noch den ganzen Rücken hin. Sie zeigen Dir wie einem Hund ein Stückchen Weißbrot, und Du greifst aus ganzer Seele und mit ganzem Herzen mit Deiner dummen Pfote danach – und küßt Ihre Hände! Wenn das wenigstens jetzt ... Meine Herren! Sie lachen und flüstern unter einander, ich sehe es ja! Nachher, wenn ich Ihnen alle meine Geheimnisse erzählt haben werde, so werden Sie über mich lachen, werden mich hinausstoßen, ich aber werde Ihnen erzählen, erzählen, alles erzählen! Wer hat mich dazu gezwungen! Wer hat es mir befohlen? Wer steht hinter meinem Rücken und flüstert mir zu: erzähle, erzähle! Und ich erzähle und krieche Ihnen damit in die Seele, als ob Sie meine leiblichen Brüder oder Busenfreunde wären ... eh!“ Das Gelächter, das sich immer mehr und mehr verbreitete, übertönte schließlich vollständig die Stimme des Erzählers, der wirklich in Begeisterung geraten war; er hielt inne, seine Augen liefen einige Minuten lang über die Versammlung hin, und plötzlich, wie vom Sturme mitgerissen, fing er selbst zu lachen an, als ob er wirklich seine Lage so lächerlich fand – und setzte dann erst wieder seine Erzählung fort: „Ich schlief so gut wie überhaupt nicht, meine Herren; die ganze Nacht fast kritzelte ich auf dem Papier herum; hatte mir einen Scherz ausgedacht! Ach, meine Herren, wenn ich daran denke, so wird mir schlecht zu Mut! Das kommt vom Nachtwachen, von verschlafenen Augen, hatte mir da was ausgeheckt, was zusammengelogen! Am anderen Morgen erwachte ich, hatte im ganzen nur zwei Stunden geschlafen, kleidete mich an, wusch mich, frisierte und pomadisierte mich, zog mir einen neuen Frack an und begab mich geradewegs zum Fest zu Fedossei Nikolajewitsch. Das Papier hatte ich in den Hut gesteckt. Er empfing mich selbst mit geöffneten Armen und wollte mich wieder an seine väterliche Weste pressen. Ich aber nahm eine vornehme Haltung an und trat einen Schritt zurück: ‚Nein, Fedossei Nikolajitsch, wollen Sie gefälligst dieses Papier durchlesen,‘ sagte ich, und überreichte ihm das Papier, und wissen Sie, was in dem Bericht enthalten war? Daß ein gewisser Ossip Michailytsch aus diesen und jenen Gründen seinen Abschied einreicht, – und unterzeichnet hatte ich es mit meinem vollen Rang und Namen! Großer Gott, daß ich mir auch gerade das hatte ausdenken müssen! Klügeres konnte mir natürlich nicht einfallen! Heute ist der erste April, folglich werde ich mir den Spaß erlauben und eine Miene aufsetzen, als ob ich mich noch gekränkt fühlte und mich über Nacht bedacht hätte, daß ich Euch, meine verwandtschaftlichen Wohltäter und Eure Tochter überhaupt nicht brauche; das Geld habe ich mir gestern in die Tasche gesteckt, bin daher versorgt und reiche jetzt meinen Abschied ein. Möchte vielleicht unter solch einem Vorgesetzten wie Fedossei Nikolajitsch nicht dienen! Werde mir einen anderen Dienst suchen und dann die Denunziation doch einreichen. Zu solch einem Schurken machte ich mich, um sie zu erschrecken! Da war denn Grund genug vorhanden, um erschrocken zu sein! Seit dem vergangenen Tage hing ich mit ganzem Herzen an ihnen; werde mir einen Familienscherz erlauben, dachte ich, werde das väterliche Herz Fedossei Nikolajitschs beängstigen ... Er griff sofort nach dem Papier, öffnete es und ich sah, wie seine ganze Physiognomie sich veränderte. ‚Wa–a–s, Ossip Michailytsch?‘ – ‚Erster April! Prost Fest, Fedossei Nikolajitsch!‘ sage ich ihm wie ein Dummkopf. Das heißt, wie ein kleiner Junge, der sich hinter dem Stuhl der Großmutter versteckt hat und plötzlich um sie zu erschrecken ihr aus vollem Halse Kikiriki ins Ohr schreit! Ja ... man schämt sich einfach, so was zu erzählen, meine Herren! Nein, ich werde lieber nicht mehr fortfahren ...!“ „Aber nein, weiter, weiter!“ „Nein, nein, erzählen Sie doch! Nein, unbedingt erzählen Sie, erzählen Sie!“ tönte es von allen Seiten. „Nun, meine Herren, man ächzte und seufzte und saß über mich zu Gericht. Ein Schelm sei ich, und ein Spaßvogel sei ich und ich hätte sie so erschreckt und so viel Süßes hörte ich, daß ich mich selbst schämte und mit Schrecken daran dachte: ‚wie kann solch ein Sünder wie ich, solch einen heiligen Platz einnehmen!‘ – ‚Nun, mein Werter,‘ quiekte die Hofrätin, ‚hast mich so erschreckt, daß mir noch jetzt die Kniee zittern und ich mich kaum auf den Füßen halten kann! Wie eine Halbwahnsinnige lief ich zu Maschenka und frage sie, was wird aus uns werden! Sieh, als was der Deinige sich entpuppt! So sündigte ich, mein Lieber, mußt mir Alten schon verzeihen! Nun, dachte ich: gestern Abend ist er spät nach Hause gekommen, hat sich’s dann noch überlegt, schien ihm vielleicht, daß wir ihm gestern zu sehr den Hof gemacht, ihn beeinflußt haben. Laß gut sein, Maschenka, brauchst mir nicht abzuwinken, Ossip Michailytsch ist uns ja doch kein Fremder, und ich bin Deine Mutter, werde schon nichts Unnötiges sagen! Gott sei Dank, lebe ja doch nicht erst seit zwanzig Jahren auf der Welt, sondern schon seit ganzen fünfundvierzig!‘ ...“ „Nun, was glauben Sie, meine Herren, ich wäre ihr beinahe zu Füßen gestürzt! Man weinte wieder Tränen der Freude und umarmte sich, erlaubte sich Scherzchen. Fedossei Nikolajitsch dachte sich auch einen Aprilscherz aus! Er sagte, daß ihm der Vogel Phönix in seinem brillantenen Schnabel einen Brief gebracht hätte. Man lachte viel darüber. Man schämt sich rein, es zu erzählen!“ „Nun, meine Herren, jetzt komme ich zum Schluß meiner Erzählung. Wir lebten so noch einen Tag, den zweiten, den dritten, die ganze Woche; ich war also Bräutigam. Die Ringe waren bestellt, der Tag schon festgesetzt, man wollte es nur vorläufig noch nicht veröffentlichen, da man den Revisor erwartete. Ich erwartete ihn besonders ungeduldig, er störte mein Glück. Wenn man ihn doch schon wieder vom Halse hätte, dachte ich. Fedossei Nikolajewitsch aber überließ mir unter Scherzen und Lachen alle Arbeit: Rechnungen und Berichte zu schreiben, die Bücher zu vergleichen und was noch mehr. Die schrecklichste Unordnung herrschte überall, alles war rückständig, voll von Häkchen und Hindernissen. Nun, denke ich, tue es für den Schwiegervater! Der aber kränkelte die ganze Zeit schon und es wurde mit ihm von Tag zu Tag immer schlechter und schlechter. Ich selbst aber war schon so abgemagert wie ein Streichhölzchen, arbeitete die Nächte durch und fürchtete mich bereits, ganz zusammenzubrechen. Wurde aber doch mit der Arbeit bis zum Termin fertig. Plötzlich schickt man einen Boten nach mir, ich möge doch so schnell als möglich kommen, Fedossei Nikolajitsch ginge es schlecht. Ich laufe hin, und zerbreche mir schon unterwegs den Kopf, was da wohl los sein könnte? Mein Fedossei Nikolajitsch sitzt, den Kopf mit Essigkompressen umwickelt, krächzt, stöhnt, seufzt: Och und Ach! ‚Mein Werter, mein Lieber,‘ sagt er, ‚ich sterbe, wem werde ich meine Küken überlassen?‘ Frau und Kinder jammerten, Maschenka war in Tränen aufgelöst – nun, und ich selbst fing an zu weinen! ‚Nein, Gott wird nicht so ungerecht sein, daß er meine Familie für meine Sünden strafen wird,‘ sagte er. Darauf befahl er ihnen allen, das Zimmer zu verlassen, die Tür zu schließen und uns allein zu lassen. ‚Habe eine Bitte an Dich!‘ – ‚Welch eine?‘ – ‚So und so, Brüderchen, würde im Grabe keine Ruhe haben: habe Geld nötig!‘ – ‚Wie denn das?‘ Ich stotterte und erbleichte. ‚Ja, Brüderchen, mußte von eigenem Gelde in die Kasse legen; ich, Brüderchen, spare nicht, wenn es sich um den allgemeinen Nutzen handelt! Schone nicht einmal mein Leben! Glaube nicht Schlechtes von mir, man hat mich bei Dir verleumdet ... Der Kummer um Dich machte mir mein Haar ergrauen. Der Revisor wird erwartet und bei Matwejeff fehlen sieben Tausend Rubel in der Kasse, _ich_ muß dafür verantworten, wer denn sonst! Von mir wird man sie verlangen, und von Matwejeff ist doch nichts zu holen! Habe schon so wie so genug von ihm!‘ ‚Alle Heiligen,‘ denke ich, ‚welch ein Mensch, was für eine Seele!!‘ – ‚Ja,‘ sagt er, ‚an die Aussteuer und Mitgift meiner Tochter will ich nicht rühren: das ist eine heilige Summe! Habe ja auch noch eigenes Geld, aber das ist bei Leuten, von denen jetzt nichts zu erwarten ist!‘ Ich fiel vor ihm auf die Kniee. ‚Mein Wohltäter,‘ rief ich, ‚habe Dich beleidigt und gekränkt. Verleumder haben über Dich Schlechtes ausgesagt, nimm das Geld zurück, das Geld, das Du mir gegeben hast!‘ Er sieht mich dankbar an und die Tränen fließen ihm über die Wangen. ‚Das hatte ich von Dir erwartet, mein Sohn, stehe auf; damals vergab ich Dir um der Tränen meiner Tochter willen, jetzt verzeiht Dir auch mein Herz! Du hast mir meine Wunden geheilt, sei gesegnet bis in alle Ewigkeit!‘ Nun, meine Herren, als er mich gesegnet hatte, lief ich fast auf allen Vieren nach Haus und brachte ihm die Summe: ‚Hier, Väterchen, ist alles, nur fünfzig Rubel habe ich davon ausgegeben!‘ ‚Tut nichts,‘ sagt er, ‚man muß nicht alles so genau nehmen; die Zeit eilt, schreib’ nur einen Zettel älteren Datums aus, daß Du 50 Rubel Gage vorausbittest ...‘ Nun, was, meine Herren! Was glauben Sie! Ich schrieb den Zettel! ...“ „Nun, und – wie endete denn alles? ...“ „Wie ich den Zettel geschrieben hatte, meine Herren, geschah Folgendes. Ganz früh am anderen Morgen erschien ein versichertes und versiegeltes Paket, und was finde ich in ihm? Meine Entlassung! Also arbeite und schinde Dich und dann kannst Du Deines Weges gehn!“ „Wie denn das?“ „Ja, habe gleichfalls aus voller Kehle geschrieen, meine Herren, wie das möglich wäre! Ich dachte nach: Sollte der Revisor angekommen sein? ... Mein Herz krampfte sich zusammen. So wie ich war, lief ich zu Fedossei Nikolajitsch: ‚Was bedeutet das?‘ fragte ich. ‚Ja, wie denn, das ist doch die erwünschte Entlassung!‘ – ‚Welche erwünschte Entlassung? Ich weiß nichts davon.‘ – ‚Aber die Entlassung aus dem Dienst!‘ – ‚Ja, habe ich denn überhaupt ein Entlassungsgesuch eingereicht?‘ – ‚Gewiß, am ersten April haben Sie Ihr Entlassungsgesuch eingereicht.‘ – ‚Fedossei Nikolajitsch, sehen denn meine Augen recht, hören denn meine Ohren recht?‘ – ‚Wie kommen Sie darauf, so etwas zu fragen?‘ – ‚Oh, mein Gott!‘ – ‚Ja, mein Herr, es tut mir sehr leid, daß Sie schon so früh Ihren Dienst verlassen wollen! Ein junger Mensch muß dienen, aber Sie, mein Herr, scheinen Wind im Kopf zu haben. Was das Attestat anbelangt, seien Sie unbesorgt, ich werde schon dafür sorgen. Sie haben sich ja immer so gut aufgeführt!‘ – ‚Ich habe doch nur gescherzt, Fedossei Nikolajitsch, hatte mir mit diesem Papier nur einen Familienscherz erlauben ...‘ – ‚Wie das! Was für einen Scherz? Scherzt man denn mit solchen Dingen? Für solche Scherze wird man Sie noch einmal nach Sibirien schicken! Leben Sie wohl, ich habe keine Zeit mehr. Der Revisor ist da, die Dienstpflichten gehn allem voran, Sie können Domino spielen, wenn Sie wollen, wir aber müssen arbeiten. Ich werde Sie schon wie es sich gehört attestieren. Übrigens, was ich sagen wollte, ich habe das Haus von Matwejeff gekauft, werde daher in diesen Tagen umziehen, so daß ich wohl hoffen kann, Sie ferner nicht mehr bei mir zu sehn!‘ Ich lief nach Haus. ‚Wir sind verloren, Großmütterchen, verloren!‘ Die Alte weinte, die Arme! Gleich darauf folgte der Laufbursche von Fedossei Nikolajitsch mit einem Vogelbauer, in dem ein Staar saß, und überreichte mir einen Zettel. Auf ihm stand: ‚_1. April_‘ – und weiter nichts. Nun, meine Herren, wie gefällt Ihnen meine Erzählung?“ „Und was geschah denn weiter???“ „Was weiter geschah? Ich begegnete noch einmal Fedossei Nikolajitsch auf der Straße, wollte ihm ins Gesicht sagen ...“ „Nun?“ „Aber ich brachte es doch nicht über die Lippen, meine Herren!“ Der ehrliche Dieb. Aufzeichnungen. Eines Morgens, als ich mich gerade anschickte, in den Dienst zu gehn, trat Agrafena, meine Köchin, Wäscherin und Haushälterin, zu mir ins Zimmer und begann zu meinem großen Erstaunen ein Gespräch mit mir. Bis dahin war dieses alte Weib so schweigsam gewesen, daß sie außer den paar Fragen täglich, was sie zum Mittag bereiten sollte u. s. w., fast seit sechs Jahren kein einziges Wort gesprochen hatte. Wenigstens hatte ich keines von ihr vernommen. „Sehn Sie, Herr, ich bin zu Ihnen gekommen,“ begann sie hastig, „denn Sie müssen die kleine Kammer vermieten.“ „Was für eine Kammer?“ „Die da, neben der Küche. Man weiß doch was für eine.“ „Warum?“ „Warum? Darum, weil Menschen doch vermieten. Man weiß doch warum.“ „Aber wer wird sie denn mieten?“ „Wer wird sie mieten! Ein Mieter. Das weiß man doch wer.“ „Aber dort, Mütterchen, kann man doch kein Bett hinstellen! Es ist doch viel zu eng! Wer kann denn dort leben?“ „Warum dort leben! Wenn er nur irgendwo schlafen kann; leben wird er auf dem Fensterbrett.“ „Auf welch einem Fensterbrett?“ „Das weiß man doch auf welch einem, als ob Sie es nicht wüßten! Auf dem im Vorzimmer. Er wird dort sitzen, nähen oder sonst was tun. Aber er kann ja auch auf dem Stuhle sitzen. Er hat einen Stuhl, auch ein Tisch ist da, alles ist da.“ „Was ist er denn für Einer?“ „Ein erfahrener, ein solider Mensch ist er. Ich werde ihm das Essen kochen, und für die Wohnung und für die Beköstigung werde ich drei Rubel Silber monatlich nehmen ...“ Nach großen Anstrengungen erfuhr ich endlich, daß irgend ein älterer Mensch Agrafena überredet hatte, ihn als Mieter und Pensionär aufzunehmen. Was aber Agrafena sich einmal in den Kopf gesetzt hatte, damit mußte man sich so schnell als möglich einverstanden erklären, denn ich wußte es aus eigener Erfahrung, daß sie mir früher doch keine Ruhe geben würde. Wenn ihr irgendetwas nicht nach Wunsch ging, so wurde sie nachdenklich und verfiel zuletzt in eine tiefe Melancholie. Dieser Zustand dauerte dann wenigstens zwei bis drei Wochen an und in dieser Zeit war das Essen ungenießbar, die Wäsche nicht gewaschen und das Zimmer nicht gesäubert, mit einem Wort es gab dann viel Unangenehmes. Ich hatte schon längst bemerkt, daß diese schweigsame Frau nicht im Stande war, von sich aus einen Entschluß zu fassen, geschweige denn auf einen neuen ihr selbst angehörigen Gedanken zu kommen. Aber wenn sich in ihrem schwachen Verstande einmal irgendetwas einer Idee oder gar einem Entschluß Ähnliches festsetzte, so konnte man sie durch ein Verbot oder einen Widerspruch auf einige Zeit moralisch vernichten. Weil ich nun um alles in der Welt nicht in meiner Ruhe gestört sein wollte, so willigte ich auch dieses Mal sofort ein. „Hat er wenigstens irgendwelche Papiere, einen Paß oder so etwas?“ „Wie denn nicht? Man weiß doch, was er ist. Ein solider, erfahrener Mensch. Drei Rubel hat er versprochen zu geben.“ Am anderen Morgen erschien also in meiner einfachen Junggesellenwohnung der neue Einwohner, was mich genau genommen nicht einmal kränkte; im Gegenteil, ich war innerlich sogar sehr zufrieden. Ich lebe einsam, wie ein Einsiedler. Bekannte habe ich so gut wie überhaupt keine, selten gehe ich aus. Zehn Jahre bin ich schon so allein. Freilich hatte ich mich an die Einsamkeit gewöhnt, aber zehn, fünfzehn Jahre oder noch mehr solcher Einsamkeit, mit solch einer Agrafena in solch einer Junggesellenwohnung – ist eine farblose Perspektive. Unter solchen Umständen ist denn ein friedlicher Mensch mehr – eine himmlische Wohltat. Agrafena hatte nicht gelogen: mein Einwohner war einer von den Soliden. Nach dem Paß erwies es sich, daß er Soldat gewesen war, was ich freilich auch ohnedem auf den ersten Blick erraten hatte. Das erkennt man sofort. Also mein Einwohner Astaphij Iwanytsch war unter seinen Standesgenossen einer der Besseren. Wir lebten gut zusammen. Das Beste war aber doch, daß Astaphij Iwanytsch Geschichten und Erlebnisse aus seinem Leben zu erzählen wußte. Bei der immerwährenden Langweile meines Lebens war solch ein Erzähler einfach ein Schatz. Eine seiner Erzählungen machte auf mich einen nachhaltigeren Eindruck, und so will ich sie denn hier wiedergeben, und auch, bei welch einer Gelegenheit er sie mir erzählte. Ich blieb einmal allein in der Wohnung. Astaphij wie auch Agrafena waren ausgegangen. Plötzlich hörte ich aus meinem Zimmer, daß irgendjemand ins Vorzimmer trat, wie es mir schien, ein Fremder; ich ging hinaus, und tatsächlich war im Vorzimmer ein fremder Mensch, klein von Wuchs und trotz der kalten Herbstzeit nur im Rock. „Was suchst Du?“ „Den Beamten Alexandroff. Wohnt er hier?“ „Solch einen gibt es hier nicht, Brüderchen, adieu.“ „Wie denn, der Hausknecht hat mir doch gesagt, daß er hier ...“ murmelte der Besucher und zog sich vorsichtig zur Tür zurück. „Mach daß Du hinauskommst, mein Lieber.“ Am andern Tage nach dem Mittagessen, gerade als Astaphij Iwanytsch mir meinen Rock anpaßte, den er mir ummachte, trat wieder Jemand ins Vorzimmer. Ich öffnete ein wenig die Tür. In diesem Augenblick nahm der gestrige Besucher vor meinen Augen meinen Pelz vom Kleiderständer, steckte ihn unter den Arm und ging damit zur Wohnung hinaus. Agrafena sperrte vor Erstaunen nur Mund und Augen auf, tat aber sonst nichts zur Verteidigung meines Pelzes. Astaphij Iwanytsch lief wohl dem Schurken nach, kehrte aber schon in zehn Minuten ganz außer Atem und mit leeren Händen zurück. „Wie unter der Erde verschwunden ist er!“ „Welch ein Pech! Ein Glück, daß er Ihnen noch den Mantel gelassen hat. Er hätte uns ja sonst gänzlich aufs Trockene gesetzt, der Schuft!“ Astaphij Iwanytsch war aber so erschüttert, daß ich vor Verwunderung über ihn den Diebstahl bald ganz vergaß. Er konnte es garnicht fassen, wie das alles so hatte geschehen können. Jeden Augenblick legte er die Arbeit wieder aus der Hand und begann von Neuem, die Sache zu erzählen: wie das alles geschehen war, wie er gestanden, wie man vor seinen Augen, zwei Schritte von ihm entfernt, den Pelz genommen hatte, und wie es gekommen war, daß er ihn nicht hatte packen können. Nach einiger Zeit setzte er sich an die Arbeit, aber es dauerte nicht lange und er warf sie wieder fort. Bald darauf sah ich ihn zum Hausknecht laufen, um ihm die ganze Geschichte zu erzählen, und ihm Vorwürfe zu machen, daß auf seinem Hofe so etwas hatte geschehen können. Darauf kam er zurück und schimpfte Agrafena aus, und als er sich dann wieder an die Arbeit setzte, murmelte er noch lange vor sich hin: wie sich das alles zugetragen, wie er _dort_ gestanden hätte und ich _dort_ und wie jener vor seinen Augen, zwei Schritt von ihm entfernt, den Pelz genommen hatte u. s. w. u. s. w. Am Abend desselben Tages brachte ich ihm ein Glas Tee, um mir meine Langeweile zu vertreiben, da ich wußte, daß er wieder vom gestohlenen Pelz erzählen würde, was mich infolge der häufigen Wiederholung und tiefempfundenen Aufrichtigkeit des Erzählers nachgerade ungemein erheiterte. „Man hat uns zum Besten gehabt, Astaphij Iwanytsch.“ „Zum Narren, Herr. Ja, selbst einen Unbeteiligten kränkt das, und die Wut packt mich, wenn es auch nicht mein Mäntelchen war. Weiß Gott, es gibt doch nichts Schändlicheres auf der Welt, als einen Dieb. Wie oft stiehlt solch ein Dieb einem ehrlichen Menschen das Letzte fort, was er sich mit Mühe und saurer Arbeit erworben hat, stiehlt ihm die Zeit, die ganze Ersparnis fort ... Pfui! Man will gar nicht daran denken. Aber ist es denn Ihnen um Ihr Gut nicht leid, Herr?“ „Ja, Du hast Recht, Astaphij Iwanytsch, es würde mir weniger leid tun, wenn die Sache verbrannt wäre, aber sie so einem Diebe abtreten zu müssen ist ärgerlich: das will man nicht.“ „Ja, das ist schon so, das will man nicht. Ein Dieb ist wie der andere ... Aber, wissen Sie, Herr, ich kannte einmal einen Dieb, der doch ehrlich war.“ „Wie das ehrlich? Welch ein Dieb ist denn ehrlich, Astaphij Iwanytsch?“ „Das ist schon wahr, Herr! Welcher Dieb ist denn ehrlich, – solch einen gibt es gar nicht. Ich wollte nur sagen, daß er ein ehrlicher Mensch war, wenn er auch gestohlen hatte. Er konnte einem leid tun.“ „Wie ging denn das zu, Astaphij Iwanytsch?“ „Ja, Herr das war vor zwei Jahren. Ich war damals fast ein ganzes Jahr ohne Stellung. Aber schon vorher, als ich noch im Dienst war, lernte ich einen ganz verkommenen Menschen kennen. In der Volksküche trafen wir uns. Solch ein Trunkenbold, Herumtreiber und Tagedieb war er; er hatte irgendwo früher gedient, war aber seines Suffes wegen von seiner Stelle verjagt worden. Solch ein Unwürdiger! Seine Kleider waren schon Gott weiß wie! Oft wußte man wirklich nicht, ob er noch ein Hemd unter dem Mantel anhatte: alles was er hatte, vertrank er. Dabei war er gar kein Raufbold; war so still, so zärtlich und gut, nie bat er um etwas, immer schämte er sich: aber man sah es ja, wie sehr der Arme trinken wollte und gab ihm dann von selbst. Und so fanden wir uns zusammen, das heißt, er hing sich mir an den Hals. Mir war alles gleich. Und was war das für ein Mensch! Wie ein Hündchen hinter einem her, man geht hierhin, dorthin, er folgt einem immer nach. Dabei hatten wir uns nur ein einziges Mal gesehn. Solch ein Schwächling! Zuerst erlaube, daß er bei Dir nächtigt – nun, ich ließ ihn: sein Paß war in Ordnung, auch der Mensch ging an. Am anderen Tage, laß ihn wieder nächtigen, am dritten kam er schon auf den ganzen Tag, saß bei mir auf dem Fenster und blieb dann wieder zur Nacht. Nun, dachte ich, jetzt hast Du ihn auf dem Halse, gib ihm zu trinken, zu essen und noch dazu ein Nachtlager. Jetzt hast Du, der Du selbst arm bist, noch einen anderen zu ernähren. Früher hatte er sich auch an einen Anderen gehängt, an einen Beamten. Sie tranken zusammen und der Beamte trank sich bald zu Schanden und starb vor Kummer. Diesen hier nannte man Emeljan Iljitsch. Ich dachte und dachte, was soll ich mit ihm anfangen? Ihn fortjagen, dazu tat er mir zu leid: solch ein erbärmlicher und verlorener Mensch, daß Gott erbarme! Solch ein Stiller, Sanfter, fragt nichts, sitzt nur und sieht einem wie ein Hündchen in die Augen. Wie der Suff doch einen Menschen herunterbringen kann! Denke bei mir, werde ihm einfach sagen: gehe fort, Du Emeljanuschka! hier hast Du nichts zu suchen; bist nicht auf den Rechten gestoßen; habe bald selbst nichts mehr zu beißen, wie kann ich denn auch noch Dich aus meinem Brotsack ernähren? Sitze und denke, was wird er machen, wenn ich so was sage? Und ich stelle mir vor, wie er lange mich ansehn wird und wie er dasitzt, ohne zuerst auch nur ein Wort zu verstehen, wie er aber dann, wenn er es endlich verstanden hat, vom Fenster aufsteht und sein Bündelchen nimmt – ich sehe es jetzt noch vor mir, dieses rotkarrierte Bündelchen, voller Löcher, in dem weiß Gott was eingebunden war und das er überall mit sich herumschleppte – wie er seinen Mantel zurechtzieht, damit er etwas anständiger aussieht und man die Löcher nicht sieht – solch ein feinfühliger Mensch war er! Dann würde er die Tür öffnen und mit Tränen in den Augen hinausgehn. Ich kann doch den Menschen nicht ganz zu Grunde gehn lassen ... mir tat er so leid. Da dachte ich denn auch, was willst Du selbst bald beginnen! Warte mal, denke ich bei mir, Emeljanuschka, nicht lange kannst Du bei mir feiern: bald werde ich von hier fort müssen, dann wirst Du mich hier nicht mehr vorfinden. Nun, Herr, so war es auch: Alexander Philimonowitsch, mein Brotherr – jetzt ist er tot, ruh in Frieden seine Seele! – sagte mir: ‚Ich bin sehr zufrieden mit Dir, Astaphij, wenn wir vom Gut zurückkehren, werde ich Dich wieder beschäftigen, werde Dich nicht vergessen.‘ Ich lebte bei ihm als Hausknecht, ein guter Herr war es, leider starb er in diesem Jahr. Nun, wie also Emeljan fortgefahren war, nahm ich mein Hab und Gut und mein bißchen Geld, zog zu einem alten Mütterchen und mietete bei ihr einen Winkel, denn sie hatte nur noch einen Winkel frei. Sie war irgendwo Amme gewesen, erhielt eine Pension und lebte ganz allein. Nun, so dachte ich, leb’ jetzt wohl, Emeljanuschka, lieber Mensch, wirst mich jetzt nicht mehr finden! Was glauben Sie, Herr? Ich kam am Abend nach Haus, hatte einen alten Bekannten besucht, und was sehe ich? Emelja sitzt bei mir auf meinem Koffer, hat das karrierte Bündelchen neben sich, sitzt im Mantel und erwartet mich! ... Von der Alten hat er sich sogar eine Bibel geben lassen und so sitzt er und liest in ihr, hat aber das Buch umgekehrt aufgeschlagen. Er hatte mich also doch gefunden! Ich ließ die Hände sinken. Nun, dachte ich, jetzt ist schon nichts mehr zu machen, warum habe ich ihn nicht schon früher fortgejagt? Und ich frage ihn nur einfach: ‚Hast Du Deinen Paß mitgebracht, Emelja?‘ „Ich setzte mich dann hin, Herr, und fing an nachzudenken, wieviel Beschwerden mir wohl solch ein Vagabund bereiten könnte. Ich dachte nach und es schien mir nicht allzuviel. Er muß doch essen, sagte ich mir. Nun, dachte ich, am Morgen ein Stückchen Brot, und damit es schmackhafter ist, mit ein wenig Zwiebeln dazu. Um die Mittagszeit dann auch wieder Brot mit Zwiebeln. Am Abend Zwiebeln mit Kwaß und auch noch etwas Brot, wenn er Brot haben will. Hin und wieder noch eine Kohlsuppe, dann werden wir ja beide bis zum Halse voll sein. Essen, nun ich esse nicht viel und ein Trinker ißt ja, wie Sie wissen, überhaupt nichts. Aber mit seinem Trinken wird er mich ja zum Äußersten bringen – doch da kam mir, Herr, plötzlich was anderes in den Sinn und es packte mich gewaltig. Wie wenn Emelja fortginge, ich wäre ja meines Lebens nicht mehr froh! Da nahm ich es mir denn vor, sein Vater und Wohltäter zu werden. Ich werde ihn, dachte ich, vor dem Verderben bewahren, werde ihn vom Gläschen entwöhnen. Wart mal, dachte ich, gut, Emelja, bleibe hier, aber ich sage Dir: daß Du Dich gut hältst! Und ich dachte bei mir: wir wollen Dich schon an die Arbeit gewöhnen, braucht ja nicht gleich zu sein, Du kannst noch ein wenig herumstreichen, ich werde inzwischen zusehn und untersuchen, wozu Du, Emelja, Fähigkeiten besitzt. Weil doch, Herr, zu jeder Arbeit im voraus eine menschliche Fähigkeit nötig ist. Also, ich fing daraufhin an, ihn so im Stillen zu beobachten. Was sehe ich: ein ganz verlorener Mensch bist Du, Emeljanuschka! Ich begann erst, Herr, mit guten Worten: so und so, sage ich, Emeljan Iljitsch, wie wäre es denn, wenn Du etwas mehr auf Dich geben würdest? Genug mit dem Bummeln! Sieh Dich doch an, Du gehst ja schon in Lumpen! Dein Mantel, mit Erlaubnis gesagt, ist ja beinahe schon ein Sieb, das geht nicht mehr so weiter, es ist Zeit, sich seiner Ehre zu erinnern! Mein Emeljanuschka sitzt da mit gesenktem Kopf. Was sagen Sie, Herr! Er war schon so weit gekommen, daß er seine Sprache vertrunken hatte, daß er schon kein gescheidtes Wort mehr sagen konnte! Spricht man ihm von Gurken, so redet er von Bohnen. Nun, er hörte mir zu, lange hörte er mir zu und seufzt. Was seufzt Du, frage ich ihn, Emeljan Iljitsch? „‚Ja, so–o, nichts, Astaphij Iwanytsch, beunruhigen Sie sich nicht. Wissen Sie, Astaphij Iwanytsch, heute haben sich zwei alte Weiber auf der Straße geprügelt. Eine hatte der Anderen den Korb mit Moosbeeren aus Versehn umgeworfen.‘ „Na, was ist denn dabei Neues?“ „‚Diese hat denn der Anderen absichtlich deren Korb umgestoßen und dann hat sie mit den Füßen die Beeren zerstampft.‘ „Nun, und was weiter, Emeljan Iljitsch?“ „‚Nichts, Astaphij Iwanytsch, ich habe nur so ...‘ „Nichts, nur so. Ach, denke ich Emeljan, Emeljanuschka, hast Deinen Kopf vertrunken!“ „‚Ein Herr hatte Papiergeld auf der Ecke der Gorochowaja und Ssadowaja verloren. Ein Mann sah es und sagte: das habe ich gefunden; ein Anderer sah es auch und sagte: nein, das habe ich gefunden! Ich habe es früher als Du gesehn ... Und sie prügelten sich, Astaphij Iwanytsch. Ein Schutzmann kam, hob das Geld auf und gab es dem Herrn zurück. Ihnen aber drohte er, sie auf die Wache zu bringen.‘ „Nun, und was weiter? Was ist denn daran so Erbauliches, Emeljanuschka?“ „‚Ja, – ich nichts ... Das Volk lachte, Astaphij Iwanytsch.‘ „Ach, Du Emeljanuschka! Das Volk! Hast Deine Seele für einen kupfernen Dreier verkauft. Weißt Du was, Emeljan Iljitsch, was ich Dir sagen werde?“ „‚Was denn, Astaphij Iwanytsch?‘ „Nimm doch irgendeine Arbeit, wirklich, zum hundertsten Male sage ich es Dir. Suche Dir einen Dienst, hab doch selbst Mitleid mit Dir!“ „‚Was soll ich denn für eine Anstellung suchen, Astaphij Iwanytsch? Ich weiß doch nicht, was für eine ich nehmen soll, und mich nimmt ja doch Niemand, Astaphij Iwanytsch.‘ „Warum hatte man Dich denn aus dem Dienst gejagt, Emelja, Du durstiger Mensch, Du?“ „‚Wlasja, der Schenkwirt, ist heute ins Kontor gerufen worden, Astaphij Iwanytsch.‘ „Warum hat man ihn denn gerufen, Emeljanuschka?“ „‚Das weiß ich nicht, Astaphij Iwanytsch. Es war wohl nötig so, man hatte es verlangt ...‘ „Ach, denke ich, wir sind beide verloren, Emeljanuschka! Für unsere Sünden wird uns Gott strafen! Nun, sagen Sie doch selbst, Herr, was kann man mit solch einem Menschen anfangen?“ „Oh, es war ein schlauer Bursche! Er hörte mir ja zu, aber wurde es ihm langweilig oder merkte er, daß ich böse wurde, so nahm er seinen Mantel und verschwand einfach ... Den Tag über bummelte er dann und kam am Abend betrunken nach Haus. Wer ihm zu trinken gab, woher er das Geld dazu hernahm, – das weiß nur Gott allein; ich wußte es nicht! „Nein, sage ich Emeljan Iljitsch, Du wirst bald nicht mehr im Stande sein, Deinen Kopf zu tragen! genug getrunken, hörst Du, genug! Wenn Du noch einmal betrunken heimkehrst, wirst Du auf der Treppe nächtigen. Ich werde Dich nicht mehr hereinlassen! ... „Nach dieser Drohung saß mein Emelja einen Tag und noch einen anderen bei mir; am dritten Tag war er aber wieder verschwunden. Ich warte und warte – er kommt nicht! Nein wirklich, Herr, ich sorgte mich um ihn, er tat mir, weiß Gott, doch leid. Wo wird dieser armselige Mensch jetzt hingekommen sein? Mein Gott, verliert sich am Ende noch ganz und gar. Es wurde Nacht – er kommt immer noch nicht ... Am anderen Morgen gehe ich auf die Treppe hinaus, und was sehe ich? – er hat dort übernächtigt. Den Kopf hat er auf die Stufe gelegt und liegt da ganz erstarrt vor Kälte. „Was tust Du, Emelja? Großer Gott, wo bist Du hingeraten?“ „‚Astaphij Iwanytsch, Sie waren doch böse auf mich, Sie sagten doch, ich soll auf der Treppe schlafen ... so wagte ich nicht hineinzugehn, Astaphij Iwanytsch, und legte mich hier schlafen ...‘ „Wut und Mitleid packten mich! „Ach, Du Emeljan, wenn Du doch etwas anderes tun würdest, als Treppen wischen!“ „‚Was denn sonst, Astaphij Iwanytsch?‘ „Wenn Du doch, Du verlorene Seele, sage ich – mich packte solch eine Wut! Wenn Du doch wenigstens etwas schneidern lernen wolltest. Sieh doch, was Du für einen Mantel hast! Nicht, daß er nur in Fetzen ist, Du wischst auch noch die Treppen mit ihm! Wenn Du doch wenigstens eine Nadel nehmen und Deine Löcher zustopfen würdest, wie es die Ehre verlangt. Ach Du, Trunkenbold Du!“ „Und was glauben Sie, Herr! Er nahm eine Nadel. Ich hatte nur so im Zorn gesprochen, er aber wollte sich doch bessern, wie es schien. Er zog seinen Mantel aus und begann die Nadel einzufädeln. Ich sehe ihm zu; nun, man weiß ja: die Augen entzündet und voll Eiter, die Hände zittern – nichts zu wollen! Er steckt und steckt, der Faden geht nicht hinein; wie er ihn auch leckt und steckt – vergeblich! Schließlich gibt er es auf und sieht mich an ... „Nun, Emelja, wolltest mir wohl einen Gefallen tun? Gott mit Dir, laß ab von diesen Sünden! Sitze da, wenn Du willst, mach mir aber keine Schande, wie auf der Treppe nächtigen! ... „‚Was soll ich denn tun, Astaphij Iwanytsch; ich weiß es ja selbst, daß ich immer betrunken bin und zu nichts tauge ... und nur Ihnen, meinem Wo–Wo–Wohltäter das Herz schwer mache.‘ „Da fangen denn plötzlich seine blauen Lippen zu zittern an und ein Tränchen rollt ihm über die bleiche Wange. Wie nun dieses Tränchen auf seinem ungepflegten Bart erzittert, quillt plötzlich ein ganzer Sturz von Tränen hervor ... Väterchen! Wie mit Messern schnitt mir das ins Herz. „Ach Du, gefühlvoller Mensch Du! Das hätte ich gar nicht von Dir geglaubt! Wer hätte das denken, wer hätte das erraten können! ... Nein, denke ich bei mir, Emelja, Dich gebe ich auf; verkomme wenn Du willst, wie ein Lappen! „Na, Herr, was ist da noch viel zu erzählen! Die ganze Sache ist doch so leer, erbärmlich und nichtig, nicht der Mühe wert, zu erzählen. Sie Herr, zum Beispiel gesagt, würden für sie nicht zwei Kopeken geben, ich aber hätte gern viel dafür gegeben, wenn ich nur was gehabt hätte, damit alles das nicht geschehen wäre! Ich hatte, Herr, ein Paar Pumphosen, weiß der Kuckuck, gute, wundervolle Pumphosen, blau-karrierte, ein Gutsbesitzer hatte sie bei mir bestellt, überließ sie mir aber, weil er behauptete, daß ich sie ihm zu eng gemacht hätte; so blieben sie denn bei mir. Nun, denke ich: eine wertvolle Sache! Auf dem Trödelmarkt würde man vielleicht fünf Rubel für sie geben, wenn nicht, so mache ich aus dieser einen Hose für die Petersburger Herren zwei Hosen draus und dann bleibt mir noch ein Schwänzchen zu einer Weste für mich. Einem armen Menschen, wie unsereiner, ist alles gut genug! Mein Emeljanuschka verlebte inzwischen eine harte, traurige Zeit. Er trinkt den einen Tag nichts, den anderen auch nichts, den dritten wieder nichts. Kein Branntwein kommt über seine Lippen, er ist ganz wie vor den Kopf geschlagen, trübsinnig stützt er seinen Kopf in beide Hände, kann einem leid tun. Also Bursche, denke ich bei mir, wenn Du kein Geld mehr haben wirst, kommst Du schon von selbst wieder auf den Weg Gottes zurück, habe ja auch genug gesprochen, hast vielleicht endlich Vernunft angenommen. So lagen die Sachen, Herr, als die großen Feiertage begannen. Ich war zur Abendmesse gegangen: komme nach Haus und was sehe ich? Mein Emeljanuschka sitzt betrunken auf dem Fensterbrett, schaukelt bloß hin und her. He he, denke ich, also so bist Du wieder, Bursche! Ich weiß nicht warum, ich ging aber gleich zu meinem Koffer. Nun ja, die Pumphosen waren fort! Ich suche sie hier und dort: verschwunden! Etwas fing in meinem Herzen zu nagen an. Ich stürzte zur Alten, beschuldigte sie zuerst, denn auf Emelja verfiel ich nicht einmal, er war ja wohl aus dem Hause gegangen und betrunken zurückgekehrt, aber ... „‚Gott mit Dir, mein Kavallerist, was mache ich mit Deinen Reithosen, soll ich sie etwa tragen?‘ sagt die Alte. ‚Mir ist selbst ein Rock verschwunden, durch Ihre Güte an diesem sauberen Herrn Bruder dort ...‘ „Wer war hier? frage ich sie. „‚Niemand kam, Niemand war hier, ich bin die ganze Zeit zu Hause gewesen. Emeljan Iljitsch war hier und ging darauf aus, kam dann wieder, da sitzt er ja! Frage ihn doch!‘ „Hast Du nicht, Emelja, aus irgend einem Grunde meine Pumphosen genommen, Du weißt doch, die, die ich für den Gutsbesitzer arbeitete? „‚Nei–ein, Astaphij Iwanytsch,‘ sagte er, ‚ich ... ich habe sie nicht genommen!‘ „Welch ein Unglück! Wieder fing ich an, sie zu suchen, suchte und suchte – nichts! Emelja sitzt da und schaukelt sich. Ich saß, Herr, vor ihm auf einem Koffer, so vor ihm niedergekauert und sah so mit einem Auge auf ihn. He, denke ich, und plötzlich fängt mir das Herz in der Brust zu brennen an und das Blut stieg mir zu Kopf. Plötzlich sieht auch Emelja auf mich. „‚Nein,‘ sagte er hastig, ‚Astaphij Iwanytsch, ich habe Ihre Hosen nicht ... Sie glauben vielleicht, weil ... daß ... aber ich habe sie nicht genommen.‘ „Wo sind sie denn geblieben, Emeljan Iljitsch? „‚Ich weiß es nicht,‘ sagte er, ‚ich habe sie überhaupt nicht gesehn.‘ „Nun, Emeljan Iljitsch, dann sind sie wohl also von selbst verloren gegangen? „‚Kann sein, Astaphij Iwanytsch. Ich weiß es nicht.‘ „Ich stand auf, ging zu ihm ans Fenster, zündete die Lampe an und setzte mich an die Arbeit. Ich wandte die Weste des Beamten um, der über uns lebte. In meiner Brust aber nagt und brennt es. Leichter wäre mir gewesen, wenn ich mit meiner ganzen Garderobe den Ofen geheizt hätte. Emelja aber fühlte es doch, daß Wut mein Herz packte. Wenn der Mensch was Böses verbrochen hat, Herr, so wittert er das Unglück voraus wie die Vögel des Himmels das Unwetter. „‚Astaphij Iwanytsch,‘ begann Emeljanuschka, aber seine Stimme zitterte dabei, ‚heute hat Antip Prochorytsch, der Feldscher, die Witwe des Kutschers, der vor kurzem starb, geheiratet.‘ „Ich aber, ich sah ihn an, sah ihn nur an ... daß er wohl verstand! Was sehe ich: er steht auf, geht ans Bett und fängt da an herumzustöbern. Ich schweige still, er kramt und kramt und spricht dabei: ‚nicht und nicht, wohin mögen diese dummen Dinger nur hingeraten sein?‘ Ich warte ab, was nun weiter sein wird und was sehe ich? – Emelja kriecht unter das Bett! Da konnte ich nicht mehr an mich halten. „Was, sage ich, Emeljan Iljitsch, was rutschen _Sie_ da auf den Knieen herum? „‚Ich sehe nur, Astaphij Iwanytsch, ob nicht die Hosen hier irgendwo umherliegen.‘ „Was tun Sie, mein Herr – aus Ärger sagte ich ‚Sie‘ zu ihm, und „Herr“ – lohnt es sich denn, sich eines armen einfachen Menschen wegen so abzumühn, auf den Knieen herumzurutschen! „‚Ach, Astaphij Iwanytsch, das tut doch nichts ... man wird sie doch irgendwo finden müssen, wenn man sie sucht.‘ „Hm! ... sage ich, höre mal, Emeljan Iljitsch ... „‚Was, Astaphij Iwanytsch?‘ „Hast Du sie nicht einfach von mir gestohlen, wie ein Dieb und ein Schurke, aus Dankbarkeit für mein Brot, das ich Dir gegeben habe? – Sehn Sie, er wollte mich damit rühren, daß er auf den Knieen vor mir auf dem Fußboden herumrutschte. „‚Nein ... Astaphij Iwanytsch ...‘ „Und so wie er da huckte, blieb er noch lange unter dem Bett; endlich kam er wieder hervorgekrochen. Und was sehe ich, ganz bleich ist der Mensch, wie ein Handtuch. Er erhob sich, setzte sich neben mich aufs Fenster und saß so zehn Minuten lang. Plötzlich steht er auf und tritt auf mich zu, ich seh’ ihn noch jetzt vor mir, furchtbar wie die Sünde. „‚Nein,‘ sagt er, ‚Astaphij Iwanytsch, ich habe mir nicht erlaubt, Ihre Hosen zu nehmen.‘ Dabei zittert er am ganzen Körper und die Stimme zittert ihm und er stößt sich mit dem Finger vor die Brust, so daß ich selbst verzagte und ganz starr und steif wurde, als ob ich am Fensterbrett angewachsen wäre. „Nun, sage ich, Emeljan Iljitsch, wie Sie wollen, verzeihen Sie, wenn ich ein dummer Mensch bin, Sie umsonst beschuldigt habe. Gott mit den Hosen. Verloren, verloren, nichts zu machen! Wir werden ohne sie nicht umkommen. Gott sei Dank, Hände habe ich noch, um zu arbeiten. Stehlen werde ich nicht gehn. Bei armen Menschen Almosen betteln werde ich auch nicht ... „Emelja steht und steht und hört was ich sage, endlich – setzt er sich. So saß er den ganzen Abend, ohne sich zu rühren; ich legte mich schon schlafen – immer saß er noch auf demselben Platz. Am nächsten Morgen wie ich aufstehe, sehe ich, er liegt eingewickelt in seinem Mantel auf dem Fußboden. Hat sich zu sehr erniedrigt gefühlt, kam deshalb nicht auf’s Bett. In der Zeit, Herr, liebte ich ihn nicht, ja, ich haßte ihn sogar. Gerade, als ob mein leiblicher Sohn mich bestohlen und mir blutig weh getan hätte. Ach, denke ich, Emelja, Emelja! Was glauben Sie, Herr, Emelja trank zwei Wochen ununterbrochen. Er war wie rasend geworden, er trank sich zu Schanden! Am Morgen ging er fort und kam betrunken in der Nacht nach Haus. Wenn ich in diesen zwei Wochen auch nur ein Wort von ihm gehört hätte. Wahrscheinlich wollte er mit Absicht zu Grunde gehn. Endlich, da er alles vertrunken hatte, hörte er auf und saß wieder bei mir auf dem Fensterbrett. Ich weiß noch, er saß und schwieg dreimal vierundzwanzig Stunden lang. Plötzlich sehe ich, der Mensch weint. Er sitzt, Herr, und weint – und wie! Wie ein Brunnen und selbst scheint er es gar nicht zu wissen, daß er weint. Es ist schwer zu sehn, Herr, wenn ein erwachsener Mensch weint, wenn ein so alter Mensch wie Emelja vor lauter Armut und Kummer zu weinen anfängt. „Was fehlt Dir, Emelja? „Er fuhr zusammen. Ich hatte zum ersten Mal seit jenem Tage wieder ein Wort mit ihm gesprochen. „Um Gottes willen, Emelja, was sitzt Du denn da wie eine Eule? – Er tat mir leid, der Arme. „‚Nur so, Astaphij Iwanytsch, nur so. Möchte Arbeit suchen ... Astaphij Iwanytsch ...‘ „Was für eine Arbeit denn, Emelja Iljitsch? „‚Irgendeine. Vielleicht finde ich so eine Stelle, wie ich sie früher hatte ... ich bin schon zu Fedor Iwanytsch gegangen, habe ihn gebeten ... Es ist nicht gut, Astaphij Iwanytsch, daß ich Sie mit meiner Gegenwart beleidige. Ich werde Ihnen, Astaphij Iwanytsch, so wie ich eine Stelle finde, alles zurück geben und für alle Ihre Sorgen ...‘ „Genug, Emelja, genug! Das war eine Sünde, nun, sie ging vorüber! Der Kuckuck mag sie holen! Wir aber wollen wieder nach dem Alten leben! „‚Nein, Astaphij Iwanytsch, Sie meinen vielleicht, daß ... aber ich habe mir nicht erlaubt, Ihre Hosen zu nehmen.‘ „Nun, wie Du willst, Gott mit Dir, Emeljanuschka. „‚Nein, Astaphij Iwanytsch, ich sehe, ich kann nicht mehr hier bleiben. Entschuldigen Sie mich, Astaphij Iwanytsch, aber ...‘ „Gott mit Dir, sage ich, wer beleidigt Dich denn, Emeljan Iljitsch, wer jagt Dich denn von hier fort, ich etwa? „‚Ja, es ist von mir unanständig, so bei Ihnen zu wohnen, Astaphij Iwanytsch ... Ich werde schon besser gehn.‘ „Er war beleidigt. Er stand wirklich auf und nahm seinen Mantel ... „Wohin gehst Du denn, Emeljan Iljitsch? Sei doch vernünftig. Wohin willst du denn gehn? „‚Leben Sie wohl, Astaphij Iwanytsch, halten Sie mich nicht mehr zurück‘ – hier weinte er schon wieder – ‚ich gehe schon von der Sünde weg, Astaphij Iwanytsch. Sie sind schon nicht mehr so wie früher zu mir ...‘ „Wie, nicht so? Du bist ja wie ein kleines unvernünftiges Kind, wirst doch allein untergehn, Emeljan Iljitsch. „‚Nein, Astaphij Iwanytsch, jetzt verschließen Sie immer Ihren Koffer und ich muß das sehn und dann weine ich ... Nein, lassen Sie mich lieber, Astaphij Iwanytsch, und verzeihn Sie mir, wenn ich Sie beleidigt habe ...‘ „Und was glauben Sie, Herr – der Mensch ging wirklich fort! Ich warte einen Tag, denke bei mir, er kommt am Abend – nein! Am zweiten Tag – wieder nicht, am dritten auch nicht. Die Sorge quälte mich, ich konnte nicht essen, nicht trinken, nicht schlafen. Er hatte mich ganz entwaffnet, dieser Mensch! Am vierten Tage ging ich in die Kneipen, um ihn zu suchen, frage überall nach ihm – nichts! Emeljanuschka ist verschwunden! Hast Deinen armen Kopf verloren, denke ich. Oder vielleicht liegst Du Trunkenboldchen irgendwo am Zaun wie verfaultes Holz? ... Halbtot kam ich zu Hause an. Am anderen Tage suchte ich ihn wieder und verwünschte mich selbst, weil ich solch einem dummen Menschen seinen freien Willen gelassen hatte. Endlich am fünften Tage, es war ein Feiertag – es tagte kaum – da knarrte die Tür. Und siehe, Emelja kam! Ganz blau, die Haare voller Schmutz, als ob er auf der Straße geschlafen hätte, und mager war er geworden wie ein Holzspan! Zieht seinen Mantel aus, setzt sich zu mir auf den Koffer und sieht mich an. Ich freute mich, ihn wiederzusehn, doch der alte Kummer kam, wenn auch nur auf einen kurzen Augenblick, noch stärker über mich. Denn es ist doch so, Herr, hätte ich solch eine Sünde begangen, so hätte ich eher wie ein Hund am Zaune krepieren wollen, als so wiederkommen! Aber Emelja kam zurück. Nun, natürlich ist es schwer, einen Menschen in solch einer Lage zu sehn. Ich streichelte und tröstete ihn: Emeljanuschka, sage ich, bin froh, daß Du wieder da bist! Wenn Du auch heute nicht gekommen wärst, so wäre ich Dich wieder in allen Kneipen suchen gegangen. Hast Du gegessen?“ „‚Ja, Astaphij Iwanytsch.‘ „Das wirst Du wohl kaum getan haben? Hör mal, Brüderchen, von gestern ist noch Kohlsuppe nachgeblieben; haben nicht gefastet, haben sogar Fleisch gehabt. Hier sind auch Zwiebeln mit Brot. Iß, sage ich Dir, iß zur Gesundheit. „Gab ihm zu essen und da sah ich denn, daß der Mensch vielleicht drei Tage nichts gegessen hatte – solch einen Hunger hatte er. „Wie freue ich mich über Dich, Lieberchen! Warte, ich laufe und hole Dir noch einen Liter Branntwein, damit Du Deine betrübte Seele vergessen kannst! Machen wir Schluß mit allem, was gewesen ist, genug damit, ich bin nicht mehr böse auf Dich, Emeljanuschka! Ich brachte ihm den Branntwein. „Nun, Emeljan Iljitsch, trinken wir auf den Feiertag. Willst Du? Zur Gesundheit! Gierig streckte er seine Hand darnach aus, schon wollte er zugreifen, doch plötzlich zögerte er einen Augenblick; dann griff er wieder zu und führte das Liter Branntwein an den Mund. Seine Hand zitterte dabei so, daß er den Branntwein verschüttete. Was sehe ich aber, – er stellt ihn doch wieder ohne zu trinken auf den Tisch zurück! „Was ist Dir denn, Emeljanuschka? „‚Nichts. Ich ... Astaphij Iwanytsch ...‘ „Wie, Du trinkst nicht? „‚Ja, ich ... Astaphij Iwanytsch ... ich werde nicht mehr trinken ... Astaphij Iwanytsch ...‘ „Was, Du hast also ganz aufgehört zu trinken, Emeljanuschka, oder trinkst Du nur heute nicht? „Er schwieg. Nach einiger Zeit stützt er seinen Kopf in beide Hände. „Bist Du nicht am Ende krank, Emelja? „‚Ja, so, fühle mich schlecht, Astaphij Iwanytsch.‘ „Ich legte ihn zu Bett. Es ging ihm wirklich schlecht. Der Kopf brannte, und Fieber schüttelte ihn. Den Tag über saß ich bei ihm. Zur Nacht wurde ihm noch schlechter. Ich tat in den Kwaß etwas Butter und Zwiebeln, bröckelte etwas Brot hinein. „Nun, sage ich, iß die Brotsuppe, es wird Dir dann besser werden! ... Er schüttelt mit dem Kopf. ‚Nein,‘ sagt er, ‚heute werde ich nichts essen.‘ „Die Alte hat sich auch angestrengt für ihn; ich habe ihm Tee gemacht – hilft alles nichts, es geht ihm nicht besser. Nun, denke ich, jetzt wird’s schlimm! Am dritten Morgen ging ich zum Arzt. Der kam, sah ihn an und sagte: ‚Es lohnte sich nicht mehr, mich zu rufen. Man kann ihm ja Pulver geben ...‘ Nun, Pulver habe ich ihm nicht gegeben, dachte, der Arzt will ihn nur verwöhnen. Inzwischen kam aber schon der fünfte Tag. „Er lag vor mir auf dem Bett, Herr. Ich saß auf dem Fenster, hielt gerade die Arbeit in der Hand. Die Alte heizte den Ofen. Wir schwiegen alle. Mir schmerzte das Herz zum Zerreißen, als ob ich meinen leiblichen Sohn verlor. Ich wußte, daß Emelja mich ansieht. Schon am Morgen bemerkte ich, daß er sich anstrengte, mir was zu sagen, es aber doch nicht wagte. Wie ich nun aufsehe, lag solche Trauer in seinen Augen. So wie er aber bemerkte, daß ich ihn ansah, wandte er gleich seinen Blick von mir ab. „‚Astaphij Iwanytsch?‘ „Was, Emeljanuschka? „‚Wie, wenn man, zum Beispiel, meinen Mantel auf dem Trödelmarkt verkaufen würde, wieviel würde, wieviel würde man für ihn geben, Astaphij Iwanytsch?‘ „Nun, wieviel würde man denn geben? Drei Rubelchen vielleicht, Emeljan Iljitsch. „Versuch’s mal, bring ihn nur hin, dachte ich bei mir, nichts würde man Dir in Wirklichkeit dafür geben! Dich auslachen würde man, daß Du solch eine Sache verkaufen gehst. Sage ihm nur so zur Beruhigung, kenne doch den Menschen Gottes und seinen gutmütigen Charakter. „‚Ja, ich denke auch, Astaphij Iwanytsch, daß man drei Rubel für ihn geben würde. Es ist doch eine Sache aus Tuch, Astaphij Iwanytsch.‘ „Ich weiß nicht, Emeljan Iljitsch, sage ich, wenn Du ihn hinbringen willst, dann mußt Du zuerst drei Rubel fragen. „Emelja schwieg darauf eine Weile. „‚Astaphij Iwanytsch?‘ „Was, Emeljanuschka? „‚Verkaufen Sie den Mantel, wenn ich gestorben bin, beerdigen Sie mich nicht in ihm. Ich kann auch so liegen; er ist eine wertvolle Sache, Sie können ihn brauchen.‘ Das packte mich so, Herr, daß ich nichts mehr sagen konnte. Fühle nur, daß der Tod schon an sein Herz klopft. Wieder schwiegen wir alle. Eine Stunde verging so. Ich sehe heimlich zu ihm hinüber: immer sieht er mich noch an. So wie sich aber sein Blick mit dem meinen kreuzt, sieht er fort. „Willst Du nicht vielleicht ein Schluckchen Wasser trinken, Emeljan Iljitsch? „‚Geben Sie, Astaphij Iwanytsch.‘ „Ich gab ihm zu trinken. Er trank gierig. ‚Danke, sagt er, Astaphij Iwanytsch.‘ „Willst Du sonst noch was, Emeljanuschka? „‚Nein, Astaphij Iwanytsch, ich habe nichts nötig, ich wollte nur ...‘ „Was? „‚Davon ...‘ „Wovon, Emeljanuschka? „‚Die Pumphosen ... Davon, daß ... ich hatte sie damals von Ihnen genommen, Astaphij Iwanytsch.‘ „Nun, sage ich, Gott wird Dir verzeihn, Du Armer, gehe in Frieden ... Mir selbst aber, Herr, blieb der Atem stehn. Die Tränen stürzten mir aus den Augen, mußte mich abwenden. „‚Astaphij Iwanytsch ...‘ „Ich kehre mich um und sehe, Emelja will mir noch was sagen, er will sich mit aller Gewalt aufrichten, er bewegt die Lippen ... Plötzlich wird er ganz rot im Gesicht und sieht mich an ... Darauf wird er immer blasser und blasser, wirft den Kopf zurück, seufzt noch einmal tief auf ... und dann ging seine Seele zu Gott. -- -- -- Eine dumme Geschichte. Diese dumme Geschichte datiert aus der Zeit, da die Wiedergeburt unseres lieben Vaterlandes zu neuem Leben und das Streben all seiner tapferen Söhne nach neuen Zielen mit einer so unbezwingbaren Macht und in so rührend-naiver Weise gerade erst begonnen hatte. An einem klaren, frostigen Winterabend – übrigens ging es schon auf zwölf – saßen in einem reich ausgestatteten, doch gemütlichen Kaminzimmer eines schönen zweistöckigen Hauses auf der „Petersburger Seite“ drei hochangesehene Herren beisammen, und sprachen ernst und wohlbedacht über ein ungemein wichtiges Thema. Alle drei hatten es schon bis zur Exzellenz gebracht. Sie saßen um einen runden Tisch in großen weichen Sesseln und schlürften während des Gesprächs hin und wieder behaglich aus ihren Champagnergläsern. Die Flasche stand vor ihnen mitten auf dem Tisch in einem silbernen Kühler. Der Hausherr, Geheimrat Stepan Nikiforowitsch Nikiforoff, ein alter Junggeselle von fünfundsechzig Jahren, hatte nämlich zur Einweihung seines neugekauften Hauses und zu gleicher Zeit auch zur Feier seines Geburtstages – den er sonst nie festlich zu begehen pflegte – seine Freunde zum Abend eingeladen. Übrigens war die Feier nicht Gott weiß wie großartig; wie gesagt, es waren nur zwei Herren zu Gaste, beides frühere Kollegen des Hausherrn: der Wirkliche Staatsrat Ssemjon Iwanowitsch Schipulenko und der ebenfalls Wirkliche Staatsrat Iwan Iljitsch Pralinski. Sie waren gegen neun Uhr zum Tee gekommen, tranken jetzt Champagner und wußten beide, daß sie sich um punkt halb zwölf erheben und verabschieden mußten. Der Hausherr liebte Regelmäßigkeit. Bei der Gelegenheit zwei Worte über ihn: seine Karriere hatte er als kleiner unversorgter Beamter begonnen, hatte ruhig seine Karre fünfundvierzig Jahre lang gezogen, hatte genau gewußt, zu was er sich aufdienen würde, konnte es nicht leiden, „vom Himmel Sterne zu pflücken“, obgleich er ihrer schon zwei auf der Brust hatte, und liebte es ganz besonders nicht, in einerlei welch einer Angelegenheit, und wenn es auch die wichtigste gewesen wäre, seine persönliche Meinung zu äußern. Er war ein ehrlicher Mensch, d. h. er hatte keine Gelegenheit gehabt, irgend etwas besonders Unehrliches zu begehen; war unverheiratet, da er Egoist war; war keineswegs dumm, konnte es aber, wie gesagt, ganz und gar nicht leiden, seinen Verstand leuchten zu lassen; ganz besonders mißfielen ihm Unordnung und Begeisterung, da er letztere für moralische Unordnung hielt, und am Abend seines Lebens versenkte er sich vollständig in eine gewisse komfortable Behaglichkeit und systematische Einsamkeit. Wenn er auch selbst zuweilen bei besseren Leuten zu Besuch war, so war es ihm doch von Jugend auf unangenehm, Gäste auch bei sich zu empfangen, in der letzten Zeit aber begnügte er sich, wenn er nicht gerade Grande-patience legte, mit der Gesellschaft seiner Stutzuhr, deren eigensinnigem Ticken unter der Glasglocke auf dem Kamin er unerschütterlich ganze Abende lang zuhörte. Sein Äußeres war sehr anständig: glattrasiert, schien er etwas jünger, als er war, hielt sich gut, versprach noch lange zu leben und war stets vom Scheitel bis zur Sohle durchaus Gentleman. Zu arbeiten brauchte er nicht mehr; er bekleidete zwar noch einen Posten, doch hatte er dabei nur zu präsidieren und zu unterschreiben. Mit einem Wort, man hielt ihn für einen prachtvollen Menschen. Nur eine einzige Leidenschaft hatte dieser Mensch oder, sagen wir, einen einzigen heißen Wunsch: ein eigenes Haus zu besitzen, und zwar ein herrschaftliches, keine Mietskaserne. Endlich verwirklichte sich denn auch seine Sehnsucht: er fand schließlich ein Haus auf der „Petersburger Seite“, das allerdings vom Zentrum der Stadt etwas weit ablag, dafür jedoch sah es vornehm aus und hatte dazu noch einen Garten – und so kaufte er es denn. Ja, der neue Hausherr hielt es sogar für einen entschiedenen Vorzug, daß das Haus weiter lag: bei sich zu empfangen liebte er nicht, um aber andere zu besuchen oder in die Versammlungen zu fahren, dazu hatte er eine schöne Equipage von schokoladenbrauner Farbe, seinen Kutscher Michei und zwei kleine, doch starke und hübsche Pferdchen. Alles war durch vierzigjährige strenge Ökonomie erworben, so daß sein Herz sich beim Anblick seiner Habe freuen mußte. Das war auch der Grund, warum Stepan Nikiforowitsch Nikiforoff, nachdem er in sein neues Haus eingezogen war, sogar Gäste einlud und noch dazu sagte, daß er seinen Geburtstag feiern wollte, diesen Tag, den er sonst ängstlich sogar seinen besten Freunden verheimlicht hatte. Zudem gab es für diese Einladung noch einen besonderen Grund. Er bewohnte im Hause nur den oberen Stock, den unteren aber, der ganz so wie der obere gebaut war, hätte er gar zu gern vermietet. Nun hoffte Stepan Nikiforowitsch für diesen unteren Stock Ssemjon Iwanowitsch Schipulenko zu gewinnen, und so brachte er denn an jenem Abend das Gespräch zweimal auf dieses Thema, ohne aber das gewünschte Ziel zu erreichen, denn Ssemjon Iwanowitsch schwieg hartnäckig über seine Pläne in Betreff eines etwaigen Wohnungswechsels. Dieser Schipulenko, der sich gleichfalls schon seit langer Zeit mühsam seinen Weg bahnte, war verheiratet, ein mürrischer Stubenhocker, im Hause ein Despot und diente mit großem Selbstbewußtsein. Auch er wußte genau, wie weit er es bringen würde, und noch besser, wie weit er es nicht bringen würde. Inzwischen saß er auf einem guten Posten und saß auf ihm sogar ungewöhnlich fest. Auf die neueingeführten Reformen blickte er allerdings nicht ohne Galle, regte sich aber ihretwegen doch nicht sonderlich auf: er war, wie gesagt, sehr selbstbewußt und hörte nicht ohne spöttische Bosheit der Schönrednerei Iwan Iljitsch Pralinskis zu, der über die neuen Themata nie genug reden konnte. Sie hatten alle etwas mehr als gewöhnlich getrunken, so daß denn auch der Hausherr sich zu einem kleinen Disput mit Herrn Pralinski über die neuen Ordnungen herabließ. Doch jetzt muß ich einige Worte auch über seine Exzellenz Herrn Pralinski sagen, um so mehr, als er der Held dieser Erzählung ist. Der Wirkliche Staatsrat Iwan Iljitsch Pralinski erfreute sich im ganzen erst seit vier Monaten des schönen Titels „Exzellenz“, war also mit anderen Worten eine sehr junge Exzellenz. An Jahren war er gleichfalls noch sehr jung, höchstens dreiundvierzig, jedenfalls bestimmt nicht mehr, dem Ansehen nach aber schien er – und wollte er auch scheinen – noch viel jünger. Er war ein schöner Mann, hoch von Wuchs, elegant, doch nicht auffallend, sondern stets gesucht vornehm gekleidet, und verstand es vorzüglich, seinen bedeutenden Orden am Halse zu tragen; hatte es seit Kindesbeinen verstanden, vornehme Angewohnheiten anzunehmen, und träumte, da er noch unverheiratet war, von einer reichen und warum nicht gar aristokratischen Braut. Allerdings träumte er auch noch von manchem anderem, wenn er auch durchaus nicht so dumm war. Bisweilen konnte er sehr gesprächig sein und dann nahm er gern parlamentarische Posen an. Er stammte aus guter Familie; sein Vater war General gewesen und als Kind hatte man ihn in Sammet oder Batist gekleidet; in einer aristokratischen Anstalt war er darauf erzogen worden und wenn er sie auch nicht mit großen Kenntnissen verlassen hatte, so schien er im Dienst doch guten Erfolg zu haben, denn er brachte es in Bälde bis zur Exzellenz. Die Vorgesetzten hielten ihn für einen äußerst befähigten Menschen und setzten sogar große Hoffnungen auf ihn. Herr Nikiforoff aber, unter dem er fast bis zur Exzellenz gearbeitet hatte, hielt ihn dagegen keineswegs für etwas Besonderes und setzte keine besonderen Hoffnungen auf ihn. Es gefiel Herrn Nikiforoff, daß Herr Pralinski guter Herkunft war, gute Einkünfte, d. h. ein großes Haus mit einem Verwalter hatte, nicht mit den letzten Leuten verwandt und schließlich gut angesehen war. Das hinderte jedoch nicht, daß er ihn im geheimen wegen Mangel an Einsicht und wegen großen Leichtsinns tadelte. Pralinski fühlte es zuweilen sogar selbst, daß er allzu viel Eigenliebe besaß und in diesem Punkte etwas sehr kitzlich war. Mitunter hatte er nämlich Anfälle geradezu krankhafter Gewissensbisse und sogar einer gewissen Reue in manchen Dingen. Dann gestand er sich mit heimlichem Kummer im Herzen, daß er durchaus kein so großes Tier war, wie er sich selbst glauben machen wollte. In solchen Augenblicken wurde er sogar ganz melancholisch; zwar geschah das gewöhnlich nur, wenn er Leibweh hatte; dann nannte er sein Leben ^une existence manquée^, hörte sogar auf, an seine parlamentarischen Fähigkeiten zu glauben, nannte sich einen Parleur, Phraseur, und obgleich das alles ihm natürlich viel Ehre machte, hinderte es ihn doch nicht, schon nach einer halben Stunde sein Haupt von neuem zu erheben und um so hartnäckiger, um so anmaßender sich zu versichern, daß er es noch verstehen würde, sich hervorzutun, und nicht nur ein hoher Würdenträger, sondern ein Staatsmann ersten Ranges zu werden, „den Rußland nimmer vergessen wird“. Ja, es kam dann so weit mit ihm, daß er sich schon in Bronze gegossen oder in Marmor gemeißelt auf einem Pralinskiplatz sah. Daraus ersieht man, daß er nach Großem strebte, wenn er auch diese Träume und Hoffnungen tief und fast ängstlich in seinem Innersten verbarg. Kurz, er war ein guter Mensch und in der Seele sogar ein Dichter. In den späteren Jahren suchten ihn die krankhaften Augenblicke der Verzweiflung immer häufiger heim. Er wurde ganz besonders reizbar und mißtrauisch und war schließlich bereit, jeden Widerspruch für eine Beleidigung zu halten. Doch da kam plötzlich das liberale Rußland und flößte ihm wieder große Hoffnungen ein. Und die „Exzellenz“ tat dann noch das ihrige hinzu. Er richtete sich auf; er warf den Kopf in den Nacken. Er redete plötzlich schön und viel, natürlich nur über die neuesten Themata, die er sich ungemein schnell und bis zur Leidenschaft angeeignet hatte. Er suchte Gelegenheiten zu reden, besuchte bekannte Persönlichkeiten und wurde denn auch bald als verzweifelter Liberaler bekannt, was ihm ungeheuer schmeichelte. An jenem Abend aber kam er nach dem vierten Glas ganz besonders in Schwung. Er wollte plötzlich den Hausherrn in allem bekehren. Er hatte ihn vorher lange nicht mehr gesehn, ihn immer sehr geachtet, und hatte sonst stets auf seinen Rat gehört. Plötzlich aber hielt er ihn für äußerst konservativ und griff ihn daher mit ungewöhnlichem Eifer an. Nikiforoff antwortete fast überhaupt nicht, sondern hörte ihm nur verschmitzt lächelnd zu, obgleich ihn das Thema interessierte. Pralinski dagegen ereiferte sich immer mehr und führte in der Hitze des vermeintlichen Disputs sein Glas weit häufiger als es sich gehörte an die Lippen. Da griff denn der Hausherr immer wieder zur Flasche, um das geleerte Glas zu füllen, was Herr Pralinski aus unbekannten Gründen plötzlich nicht gerade höflich fand, um so mehr, als Ssemjon Iwanowitsch Schipulenko, den er ganz besonders verachtete, und obendrein noch wegen seines Zynismus und seiner witzigen Bosheit fürchtete, an seiner Seite höchst verdächtig schwieg und gleichfalls häufiger als angebracht zu lächeln beliebte. „Ich glaube, sie halten mich für einen dummen Jungen,“ dachte er eine Sekunde lang. „Nein,“ fuhr er darauf mit noch größerem Aplomb fort, „nein, es ist Zeit! Wir sind zu sehr zurückgeblieben und meiner Meinung nach ist Humanität die erste Bedingung, Humanität in der Behandlung der Untergebenen, denn, nicht zu vergessen, auch _sie_ sind Menschen! Humanität wird alles retten und alles auf den richtigen ...“ „Hihihihi!“ ertönte es da halblaut aus der Richtung Herrn Schipulenkos. „Ja, aber mein Lieber, warum waschen Sie uns denn so den Kopf?“ fragte endlich der Hausherr mit liebenswürdigem Lächeln. „Ich muß gestehen, Iwan Iljitsch, es ist mir bis jetzt noch nicht klar geworden, was Sie uns eigentlich erklären wollen. Sie betonen immer die Humanität. Das bedeutet doch Menschlichkeit, nicht wahr?“ „Ja, schön, meinetwegen auch Menschlichkeit. Ich ...“ „Erlauben Sie! Soweit ich darüber urteilen kann, handelt es sich aber nicht nur darum. Menschlichkeit ist selbstverständlich. Die Reformen jedoch beschränken sich nicht nur auf das Moralische. Da haben wir jetzt die Bauernfragen, die Leibeigenschaft, die neuen Gesetze, die Rechte, die moralischen Fragen und ... und ... sie nehmen ja kein Ende, diese Fragen, und alle zusammen, alles zusammen kann plötzlich große, sagen wir, Erschütterungen verursachen. Das ist es, was wir befürchten, aber gegen die Humanität haben wir nichts einzuwenden ...“ „Tja, die Sache liegt etwas tiefer,“ meinte Herr Schipulenko trocken. „Das verstehe ich sehr wohl, und erlauben Sie, Ssemjon Iwanowitsch, Ihnen zu bemerken, daß ich keineswegs glaube, Ihnen in der Tiefe der Auffassung dieser Sache nachzustehn,“ bemerkte gereizt und fast zu schroff Herr Pralinski, „einstweilen aber erlaube ich mir, auch Ihnen, Stepan Nikiforowitsch, zu bemerken, daß Sie mich gleichfalls durchaus nicht verstanden haben ...“ „Hab’s auch nicht.“ „Währenddessen aber halte ich mich an die Idee, die ich auch überall durchführe, daß Humanität, und besonders Humanität den Untergebenen gegenüber, vom Beamten bis zum Schreiber, vom Schreiber bis zum Hausknecht, vom Hausknecht bis zum Bauer, – daß die Humanität, sage ich, als, sagen wir, als Eckstein der bevorstehenden Reformen und überhaupt der Erneuerung der Dinge dienen kann. Warum? Das werde ich Ihnen sofort sagen. Nehmen wir einen Syllogismus: ich bin human, folglich liebt man mich. Liebt man mich, so hat man Zutrauen zu mir. Hat man Zutrauen zu mir, so glaubt man auch an mich; glaubt man an mich, so wird man mich folglich auch lieben ... das heißt, nein, ich will nur sagen, daß, wenn man an mich glaubt, man dann auch an die Reform glauben und begreifen wird, worin das Wesen der Sache besteht, sagen wir, sich moralisch umarmen und die ganze Sache freundschaftlich und gründlich machen wird. Worüber lachen Sie, Herr Schipulenko? Können Sie das nicht begreifen?“ Der Hausherr zog schweigend die Brauen in die Höh; er schien erstaunt zu sein. „Ich glaube, ich habe etwas zu viel getrunken,“ meinte Herr Schipulenko nicht ohne bissigen Spott, „und bin daher wohl etwas schwerfällig im Begreifen. Die Spannkraft meines Gehirns hat, glaub ich, etwas nachgelassen.“ Pralinski fühlte einen Stich im Herzen. „Wir werden es nicht aushalten,“ sagte plötzlich der Hausherr nach kurzem Nachdenken. „Wieso, wie meinen Sie das – nicht aushalten?“ erkundigte sich Herr Pralinski, den die plötzliche und kurze Bemerkung des Hausherrn wunderte. „So. Ganz einfach, werden’s nicht aushalten.“ Augenscheinlich wollte er sich über seine Meinung nicht weitläufig verbreiten. „Sie meinen das doch nicht etwa in Betreff des neuen Weines und der neuen Schläuche?“ fragte ironisch Pralinski. „Nun, für mich garantiere ich.“ Da schlug die Stutzuhr halb zwölf. „Da sitzen wir und sitzen und gehn nicht fort,“ sagte sich langsam erhebend Herr Schipulenko. Herr Pralinski jedoch kam ihm zuvor, erhob sich elastisch aus dem niedrigen Sessel und nahm vom Kamin seine Zobelmütze. Er schien beleidigt zu sein. „Und wie bleibt es denn damit, Ssemjon Iwanowitsch, mit der Wohnung?“ fragte noch einmal der Hausherr, als er die Gäste begleitete. „Mit der Wohnung? Ich werde sehn, ich werde sehn.“ „Jedenfalls benachrichtigen Sie mich bald.“ „Immer von Geschäften die Rede?“ erkundigte sich liebenswürdig Herr Pralinski. Seine Stimme klang wieder recht versöhnlich. Er wartete auf eine Antwort und spielte mit seiner Mütze. Es schien ihm, daß man ihn nicht sonderlich beachtete. Der Hausherr zog wieder die Brauen in die Höh und schwieg zum Zeichen dessen, daß er die Gäste nicht aufhalten wollte. Herr Schipulenko verabschiedete sich denn auch eiligst. „Ah ... so ... nun, wie Ihr wollt ... wenn Ihr nicht einmal eine einfache Liebenswürdigkeit versteht ...“ dachte Herr Pralinski bei sich und streckte seine Hand möglichst unabhängig dem Hausherrn entgegen. Im Vorzimmer hüllte sich Herr Pralinski in seinen leichten teuren Pelz und bemühte sich aus irgend einem Grunde, den vertragenen Waschbär Herrn Schipulenkos nicht zu bemerken. „Unser Alter scheint irgend etwas übelgenommen zu haben,“ sagte, als sie die Treppe hinabstiegen, Herr Pralinski zu Herrn Schipulenko. „Wieso das? Ich glaube nicht,“ meinte ruhig und kühl der andere. „Borniert!“ dachte bei sich Pralinski von seinem Begleiter. Sie traten auf die Straße. Schipulenkos Schlitten fuhr vor. Sein Hengst war gerade nicht sehr schön. „Teufel! Wo mag denn Trifon mit meinem Schlitten stecken!“ rief ungeduldig Herr Pralinski, da er sein Gefährt nicht erblicken konnte. Hierhin, dorthin – der Schlitten war nicht zu sehn. Der Hausknecht konnte auch keine Auskunft geben. Da fragte man schließlich Warlam, den Kutscher Schipulenkos, und erfuhr von ihm, daß der andere die ganze Zeit gleichfalls gewartet habe, nun aber nicht mehr da sei, wie man ja sehen könne. „Dumme Geschichte!“ meinte Herr Schipulenko. „Wollen Sie – ich bringe Sie nach Haus?“ „Solch ein Gaunervolk!“ schimpfte wütend Herr Pralinski. „Die Kanaille wollte sich bei mir vorhin die Erlaubnis ausbitten, hier auf der Petersburger Seite eine Hochzeit mitzumachen, irgend eine Verwandte von ihm soll heiraten – daß sie der Henker hole! Und ich verbot ihm strengstens, sich von hier zu entfernen. Ich könnte wetten, daß er dorthin gefahren ist!“ „Ja,“ bemerkte Warlam, „er ist auf diese Hochzeit gefahren, wollte aber gleich wieder umkehren und zur angesagten Zeit hier sein.“ „Da haben wir’s! Ich ahnte es ja! Der soll mir aber büßen!“ „Versohlen Sie ihn lieber zweimal wie es sich gehört, dann wird er gehorsamer sein,“ sagte Schipulenko, der schon die Schlittendecke zuknöpfte. „Seien Sie unbesorgt, Ssemjon Iwanowitsch!“ „So wollen Sie nicht? Ich bringe Sie gern nach Haus.“ „Danke, nein. Und glückliche Reise!“ Schipulenko fuhr fort, Pralinski aber ging gereizt zu Fuß auf den Bretterstegen durch das öde Vorstadtviertel dem Zentrum der Stadt zu. * * * * * „Warte nur, Spitzbube, Du sollst mir aber büßen! Gehe jetzt zum Trotz zu Fuß, damit Du Angst bekommst! Wenn er zurückkehrt, wird er sofort erfahren, daß sein Herr zu Fuß gegangen ist ... Solch ein Spitzbube!“ Herr Pralinski hatte noch niemals innerlich so geflucht. Er war aber auch wirklich so gereizt und zudem brummte noch sein Kopf. Da er sonst kein Trinker war, so wirkten die fünf bis sechs Glas Champagner ziemlich schnell. Die Nacht war wundervoll. Es war kalt und klar und ungewöhnlich windstill. Der sternklare Himmel wölbte sich hoch, hoch, und der Mond breitete über die Erde matten, luftlosen Silberschein. Es war so schön, daß Pralinski schon nach kurzer Zeit seinen ganzen Ärger vergaß. Es wurde ihm plötzlich so wunderlich angenehm zu Mut. Es ist ja eine bekannte Tatsache, daß Menschen, die ein wenig getrunken haben, sehr schnell ihre Eindrücke und Empfindungen wechseln. Ihm gefielen plötzlich sogar die unscheinbaren Holzhäuschen der öden Straße. „’S ist doch schön, daß ich zu Fuß gegangen bin,“ dachte er bei sich, „für Trifon ist’s eine Lehre und mir ist es ein Vergnügen. Man müßte wirklich öfter zu Fuß gehn ... Auf dem großen Prospekt werde ich ja sofort einen Schlitten finden. Prachtvolle Nacht! Was das hier für Häuschen sind. Wahrscheinlich Kleinbürger, Beamte ... Kaufleute, vielleicht ... Dieser Stepan Nikiforowitsch! Und was für Reaktionäre sie sind, diese Schlafmützen! ^Oui^, Schlafmützen, ^c’est le mot^. Er ist übrigens ein kluger Mensch; hat diesen ^bonsens^, das nüchterne, praktische Begreifen der Dinge. Dafür aber sind’s ja Greise, Greise! Dieser ... äh, wie heißt doch gleich der Kerl! ... Nun ja, was nicht noch ... Werden es nicht aushalten! Was mag er damit gemeint haben? Er versank ja sogar in Gedanken, als er das sagte. Übrigens hat er mich überhaupt nicht verstanden. Und wie _das_ nicht verstehn! Das _nicht_ zu verstehn ist ja schwerer, als zu verstehn. Die Hauptsache ist, daß ich überzeugt bin, im Herzen überzeugt ... Humanität ... Menschlichkeit. Den Menschen zu sich selbst zurückführen ... seine eigene Würde erwecken und dann ... macht Euch dann mit dem neuen Material an die Arbeit! Man sollte meinen, daß das klar ist! Ja–hm! Erlauben Sie mal, Exzellenz; nehmen Sie einen Syllogismus: ich treffe z. B. einen Beamten, einen armen Beamten, einen verprügelten, eingeschüchterten Menschen. Nun ... was bist Du? Antwort: Beamter. Also gut, Beamter; weiter: was für ein Beamter? Antwort: so und so. – Dienst Du? Ja, ich diene. – Willst Du glücklich sein? Will. – Was hast Du zum Glücklichsein nötig? Das und das. – Warum? Darum. – Und siehe, der Mensch begreift mich nach zwei Worten, der Mensch ist gewonnen, ist, sagen wir, bestrickt, der Mensch gehört mir und ich mache mit ihm, was ich will, d. h. natürlich nur zu seinem Besten. ’N gemeiner Mensch, dieser Schipulenko! Und welch eine scheußliche Fratze er hat ... ‚Versohlen Sie ihn!‘ – das hat er absichtlich so gesagt. – Nein, mein Lieber, das kannst Du selbst besorgen, wenn es Dich reizt; ich aber werde es _nicht_ tun; ich werde meinen Trifon mit einem einzigen Wort zu erziehen verstehn: ein kurzer Tadel – das genügt, er wird’s schon fühlen. Was jedoch die Prügelstrafe anbetrifft, hm! ... ungelöste Frage das ... hm! Pfui, Teufel, diese verfluchten Bretterstege!“ rief er plötzlich wütend; er hatte auf den Weg nicht acht gegeben und war gestolpert. „Und das will eine Hauptstadt sein! Oh Zivilisation! Hier kann man sich ja die Beine brechen! Hm! ... Ich hasse diesen Schipulenko; unsympathischer Kerl. Vorhin lachte er über mich, als ich sagte, man würde sich moralisch umarmen. Nun, man wird es auch, was geht das Dich an? Hab keine Angst, Dich werde ich nicht umarmen; eher einen Bauern ... Wenn ich jetzt einem Bauern begegnen sollte, so werde ich ihn anreden. Übrigens war ich etwas angetrunken und drückte mich vielleicht nicht so aus ... Hm! Werde nie mehr trinken. Was man am Abend schwatzt, das bereut man am nächsten Morgen. Wie!? Ich gehe doch ganz gerade ... Aber, weiß Gott, sie sind doch alle Spitzbuben!“ Das waren die zusammenhanglosen Gedanken, die Herrn Pralinski durch den Kopf gingen, als er auf den Bretterstegen nach Hause schritt. Die frische Nachtluft tat ihm gut, sie rüttelte ihn wieder wach, wie man zu sagen pflegt. Nach fünf Minuten aber hätte er sich wieder beruhigt und wäre dann vielleicht schläfrig geworden. Doch plötzlich, wenige Schritte vor dem großen Prospekt, hörte er Musik. Er blickte sich um. In einem alten einstöckigen, doch langgestreckten Holzhause, das einsam an der anderen Straßenseite lag, schien ein Fest zu sein: eine Geige, ein Kontrabaß und eine Flöte taten ihr Bestes, um tanzlustigen Leuten eine Quadrille aufzuspielen. Unter den Fenstern drängten sich Zuschauer, meistens Weiber in wattierten Mänteln und großen Tüchern; sie bemühten sich eifrig, durch die Spalten der Läden irgend etwas zu sehn. Das Gestampf der Tanzenden konnte man sogar auf der anderen Straßenseite hören. Pralinski erblickte nicht weit von sich einen Schutzmann und ging auf ihn zu. „Wem gehört dieses Haus, mein Lieber?“ fragte er ihn kurz, wobei er seinen kostbaren Pelz am Halse etwas zurückschob, genau so viel, daß der Schutzmann seinen Orden erkennen konnte. „Dem Beamten Pseldonimoff, dem Registrator,“ antwortete der Schutzmann, der natürlich den Orden sofort erkannt und eine stramme Haltung angenommen hatte. „Pseldonimoff? Hm! Pseldonimoff! ... Und was ist denn da los? Heiratet er vielleicht?“ „Ja, Ew. Hochgeboren, er heiratet die Tochter eines Titularrats. Mlekopitajeff, Titularrat ... hat an der Behörde gedient. Dieses Haus bekommt jetzt der Schwiegersohn.“ „Also gehört es jetzt Pseldonimoff und nicht mehr Mlekopitajeff?“ „Pseldonimoff, jawohl, Ew. Hochgeboren, Mlekopitajeff gehörte es früher, jetzt aber gehört es Pseldonimoff.“ „Hm! Ich habe mich nur erkundigt, weil ich nämlich sein Vorgesetzter bin.“ „Zu Befehl, Exzellenz.“ Der Schutzmann nahm eine wenn möglich noch strammere Haltung an, Herr Pralinski aber schien nachzudenken. Er stand und überlegte ... Ja, tatsächlich, dieser Pseldonimoff diente in seiner Kanzlei; das wußte er ganz genau. Er war ein kleiner Beamter, der etwa zehn Rubel monatlich erhielt. Da Herr Pralinski erst seit kurzer Zeit Chef seiner Kanzlei geworden war, so hätte er sich schließlich seiner Untergebenen nicht allzu genau erinnern können; Pseldonimoffs jedoch erinnerte er sich deutlich und zwar nur des Namens wegen: der war ihm sofort aufgefallen und so hatte er sich denn den Besitzer desselben etwas genauer angesehn. Er erinnerte sich eines noch sehr jungen Menschen mit einer langen gebogenen Nase mit blondem, strähnigem Haar, der krankhaft mager war, einen unmöglichen Rock und noch unmöglichere Unaussprechliche trug. Er erinnerte sich noch, daß ihm damals beim Anblick dieser Figur der Gedanke gekommen war, dem Armen zu Weihnachten einige zehn Rubel zur Aufbesserung der Toilette zukommen zu lassen. Da aber das Gesicht dieses Armen ungeheuer einfach wirkte und der Blick sogar sehr unsympathisch war, so verdunstete der gute Gedanke allmählich ganz von selbst, und Pseldonimoff erhielt kein Geschenk. Um so mehr setzte ihn aber dann dieser selbe Pseldonimoff in Erstaunen, als er ihn vor einer Woche um die Erlaubnis bat, heiraten zu können: Pralinski erinnerte sich noch, daß er damals keine Zeit gehabt hatte, sich mit der Sache eingehender zu beschäftigen, und so war denn die Heiratsgeschichte schnell erledigt worden. Trotzdem jedoch wußte er noch ganz genau, daß Pseldonimoff mit der Braut noch ein einstöckiges Holzhaus und vierhundert Rubel bar erhalten sollte. Dieser Umstand hatte ihn damals sogar etwas in Erstaunen gesetzt; und dann wußte er auch noch, daß er über die Namen Pseldonimoff und Mlekopitajeff einen Kalauer gemacht hatte. Dessen erinnerte er sich noch ganz genau. Herr Pralinski verfiel immer mehr und mehr in Gedanken. Bekanntlich können zuweilen ganze seitenlange Betrachtungen oder Erwägungen in einer einzigen Sekunde durch unseren Kopf gehn, sagen wir, in Form gewisser Gefühle, die sich in menschlicher Sprache nicht so einfach ausdrücken lassen. So werde ich denn auch alle diese Gefühle unseres Helden nicht weiter auszudrücken versuchen, sondern nur das Wesen dieser Gefühle so gut ich es kann wiedergeben, sagen wir, nur das, was in ihnen das Notwendigste und Wahrscheinlichste war, denn viele unserer Empfindungen würden, in die menschliche Sprache übersetzt, vollkommen unwahrscheinlich sein. Das ist ja der Grund, warum sie niemand hört, obgleich sie doch ein jeder hat. Natürlich waren die Empfindungen und Gedanken Pralinskis ein wenig zusammenhanglos, doch wir wissen ja, warum sie es waren. „Da reden wir nun und reden,“ zuckte es ihm durch den Kopf, „kommt es aber zum Handeln – so tun wir doch nichts. Da haben wir jetzt ein Beispiel, nehmen wir meinetwegen diesen Pseldonimoff: er ist heute erregt aus der Kirche heimgekehrt, hoffnungsfroh, freudig ... Dieser Tag ist einer der seligsten seines Lebens ... Jetzt hat er mit den Gästen zu tun, gibt ein Fest – ist bescheiden und arm, aber doch heiter, froh, aufrichtig ... Wie, wenn er jetzt erfahren würde, daß in diesem Augenblick ich, ich, sein Vorgesetzter, sein höchster Vorgesetzter, Exzellenz Pralinski, hier vor seinem Hause stehe und seiner Hochzeitsmusik zuhöre? Nein, tatsächlich, was würde dann mit ihm geschehn? Was würde er tun, wenn ich jetzt einfach den Entschluß fasse und bei ihm eintrete? Hm! ... zuerst würde er natürlich vor Schreck verstummen: Ich würde ihm seine Hochzeitsfeier verleiden, würde alles verderben ... Ja, das würde das Erscheinen jedes anderen so hohen Vorgesetzten zweifellos tun, nicht aber, wenn ich ... Das ist es ja, daß jeder andere stören würde, nur ich nicht ... „Ja, ja, mein lieber Nikiforoff! Vorhin konnten sie mich nicht verstehn, da haben sie jetzt ein fertiges Beispiel. „Hm – ja. Wir alle reden von Humanität, doch zu Heroismus, zu Heldentaten sind wir noch immer nicht fähig. „Was für eine Heldentat? Nun, urteilen Sie doch selbst: bei der jetzigen Gesellschaftseinteilung soll ich, ich um zwölf Uhr nachts zu meinem Registrator, der sich nur auf zehn Rubel monatlich steht, gehn! – Das ist doch Wahnsinn, ist doch Rotation aller Kulturideen, Sodoms Ende und Pompejis Untergang! Das würde niemand verstehn. Nikiforoff wird sterben, ohne das zu begreifen. Er sagte ja doch: wir werden es nicht aushalten. Ja, aber diese ‚wir‘ sind Sie, meine Herren, nicht ich; das sind Leute der Lähmung und Stagnation, ich aber, ich werde es aushalten! Ich werde den letzten Tag Pompejis in den schönsten Freudentag meines Untergebenen verwandeln und dieser unerhörte Schritt wird eine normale, patriarchalische, hohe und moralische Handlung werden. Wie das? So. Bitte aufzumerken ... „Nun, nehmen wir an ... ich trete ein: sie sind erstaunt, erschrocken, unterbrechen den Tanz, blicken sich scheu nach allen Seiten um, drängen sich vor mir zurück. Schön; da aber trete ich vor: ich gehe geradenwegs auf den entsetzten Pseldonimoff zu und sage ihm mit dem liebenswürdigsten Lächeln: so und so, war bei Seiner Exzellenz, Herrn Nikiforoff, hier in der Nähe .. Nun, und dann erzähle ich so in spaßiger Art und Weise mein Pech mit diesem Trifon und gehe dann darauf über, wie es kam, daß ich zu Fuß ging ... Nun, und da hörte ich denn plötzlich Musik, erkundige mich beim Schutzmann und erfahre, daß Sie, mein Lieber, heute Ihre Hochzeit feiern. Ach, denke ich, da mußt Du doch hingehen, mußt doch einmal sehn, wie Deine Beamten sich amüsieren und ... heiraten. Ich hoffe, Sie werden mich nicht vor die Tür setzen! – Haha, vor die Tür setzen! Das einem Untergebenen! Ich glaube, er wird den Verstand verlieren, wird Hals über Kopf alle Sessel zusammenschleppen, um mir eine Sitzgelegenheit zu bieten, wird vor Entzücken erbeben, wird sich überhaupt nicht besinnen können! ... „Nun, was kann es Einfacheres, Vornehmeres als solch eine Handlung geben! Warum ich eingetreten bin? Das ist eine andere Frage! Das ist die moralische Seite der Sache ... „Hm ... Woran dachte ich eigentlich? Ach so! „Natürlich werden sie mich mit dem vornehmsten Gast zusammenbringen, mit irgend einem Titularrat oder Verwandten, einem abgesetzten Hauptmann mit einer verfänglich roten Nase ... Gogol hat sie doch prachtvoll geschildert, diese Originale! Nun, ich lerne natürlich die junge Frau kennen, lobe sie, ermuntere die Gäste, bitte sie, sich nicht stören zu lassen, den Tanz wieder aufzunehmen, mache Bonmots; mit einem Wort – bin bezaubernd liebenswürdig. Ich bin immer bezaubernd liebenswürdig, wenn ich mit mir zufrieden bin. Hm! ... das ist es ja, daß ich immer noch so ein wenig, natürlich nicht gerade betrunken, aber so ... „... Versteht sich, als Gentleman stehe ich auf gleichem Fuß mit ihnen und verlange nicht im geringsten irgend welche ... Aber moralisch, moralisch – das ist eine andere Sache: sie werden es begreifen und würdigen ... Meine Handlung wird Edelmut in ihnen erwecken ... Und dann bleibe ich so eine halbe Stunde .. Meinetwegen auch eine Stunde. Gehe selbstverständlich kurz vor dem Essen; sie werden natürlich alles mögliche zusammenbraten, mich himmelhoch zu bleiben bitten, ich aber erhebe nur meinen Pokal, spreche meinen Glückwunsch aus und danke für das Essen. Sage einfach – die Arbeit drängt. Dieses Wort wird genügen: sofort werden sie ehrerbietig-ernste Gesichter machen. Und damit gebe ich zu gleicher Zeit in delikater Weise zu verstehn, daß ich und sie – zwei verschiedene Dinge sind. Himmel und Erde. Ich meine, ich sage das nicht, um ... aber man muß doch ... im moralischen Sinn ist es sogar unbedingt nötig, was man auch einwenden mag. Übrigens kann ich ja sofort wieder lächeln, kann sogar lachen, und alle werden sie wieder Mut fassen ... Scherze noch ein wenig mit der Jungen; hm! ... ich könnte ja sogar andeuten, daß ich nach einer bestimmten Anzahl Monate wiederkommen würde als Taufpate, he–he! Sie wird sich dann bestimmt bemühen, pünktlich zum Termin einen kleinen Pseldonimoff auf die Welt zu setzen. Vermehren sich ja wie die Kaninchen. Nun, man wird natürlich lachen, sie wird feuerrot, gefühlvoll küsse ich sie dann auf die Stirn, segne sie womöglich noch ... und morgen kennt dann die ganze Kanzlei meine Heldentat. Am nächsten Tage bin ich wieder streng, anspruchsvoll, sogar unerbittlich, doch alle wissen dann bereits, wer ich bin. Kennen mein Innerstes, mein geheimstes Wesen: ‚Als Vorgesetzter ist er streng, doch als Mensch ist er – ein Engel!‘ Und da habe ich denn gesiegt; habe mit einer einzigen kleinen Handlung alle Herzen erobert: sie gehören mir; ich bin ihr Vater, sie sind meine Kinder ... Nun, Exzellenz Stepan Nikiforowitsch, versuchen Sie doch einmal, etwas Ähnliches zu machen ... „... Ja, wissen Sie auch, begreifen Sie auch, daß Pseldonimoff seinen Kindern und Kindeskindern erzählen wird, wie seine Exzellenz in eigener Person auf seiner Hochzeit erschienen ist! Und die werden es noch ihren Enkeln als heiligste Familiengeschichte erzählen, wie der Würdenträger, der große Staatsmann – der ich dann bestimmt schon sein werde – sie einst der Ehre gewürdigt u. s. w., u. s. w. Aber das wäre ja doch einen Erniedrigten moralisch erheben, ihn sich selbst wiedergeben! ... Er bekommt ja nur zehn Rubel monatlich! ... Sollte ich etwas Ähnliches fünfmal wiederholen, so bin ich ja populär, ohne ... Werde in allen Herzen eingeschlossen sein und der Teufel weiß, was daraus noch alles in Zukunft entstehen kann, aus dieser Popularität! ...“ So, oder ungefähr so dachte Herr Pralinski. (Meine Herren, als ob der Mensch zuweilen wenig bei sich denkt, und besonders noch, wenn er in einer etwas exzentrischen Stimmung ist!). Diese Gedanken durchzuckten ihn vielleicht in kaum einer halben Minute, und natürlich würde er sich mit den Traumgebilden und der gedanklichen Beschämung Nikiforoffs zufrieden gegeben haben und würde weiter nach Haus und zu Bett gegangen sein – unter normalen Umständen. Doch der Jammer war bloß der, daß er in jenem Augenblick etwas exzentrisch war. Wie vom Schicksal heraufbeschworen sah er plötzlich im entscheidenden Augenblick die zufriedenen Gesichter Nikiforoffs und Schipulenkos vor sich. „Werden’s nicht aushalten!“ wiederholte Stepan Nikiforowitsch mit hochmütigem Lächeln. „Hihihi!“ sekundierte Ssemjon Iwanowitsch mit seinem scheußlichen Gekicher. „Das wollen wir mal sehn! Ich werde sofort beweisen, wie ich’s aushalte!“ sagte entschlossen Herr Pralinski und es stieg ihm sogar heiß zu Kopf. Er verließ den Brettersteg und ging mit festen Schritten über die Straße auf das Haus seines Untergebenen, des Registrators Pseldonimoff zu. * * * * * Sein Stern riß ihn mit sich. Mutig schritt er durch die offene Hoftür, schob verächtlich mit dem Fuß einen kleinen, zottigen Spitz bei Seite, der ihm mehr anstandshalber als um der Sache willen mit heiserem Gekläff an die Beine fuhr. Auf den Brettern, die von der Hoftür bis zur Haustür führten, schritt er munter weiter und stieg dann die drei alten Holzstufen hinan, die unter einem kleinen Giebel einen Vorbau wie etwa ein Wächterhäuschen bildeten, und trat in einen erbärmlich kleinen Flur. Zwar brannte daselbst irgendwo in einer Ecke so etwas wie ein Licht oder eine bunte Laterne, doch hinderte das Herrn Pralinski nicht, so wie er war, in Galoschen, mit dem linken Fuß in eine Schüssel mit Gelée, die zum Kaltwerden herausgestellt worden war, hineinzutreten. Herr Pralinski beugte sich interessiert nieder, um den weichen Boden zu betrachten und erkannte mit Schrecken, was er angerichtet hatte; zu gleicher Zeit bemerkte er auch, daß neben ihm noch zwei Schalen mit irgend etwas Eßbarem, und zwei Formen mit einer süßen Speise, augenscheinlich mit Blanc-manger, standen. Das zerdrückte Gelée verwirrte ihn allerdings ein wenig und eine kurze Sekunde lang dachte er wohl, ob es nicht besser wäre, noch leise umzukehren und sich aus dem Staube zu machen. Doch gesinnungstüchtig wies er diesen Gedanken als niedrige Anwandlung weit von sich. Er überlegte, daß ihn doch niemand gesehn und man daher auch bestimmt nicht auf ihn verfallen würde, wischte schnell seine Galosche ab, um alle Spuren zu verstecken, tastete dann an der filzbeschlagenen Tür nach der Klinke, öffnete die Tür und trat in ein ganz kleines Vorzimmer. Die eine Hälfte desselben war mit Mänteln, Pelzjacken, Überziehern, Tüchern, Muffs und Galoschen total verbaut, in der anderen hatte man die Musikanten untergebracht: zwei Geigen, eine Flöte und ein Kontrabaß, im ganzen also vier Mann. Sie saßen um einen kleinen, ungestrichenen Holztisch, auf dem ein einziges Talglicht brannte, und fiedelten was das Zeug hielt die letzte Tour der Quadrille herunter. Durch die offene Tür konnte man im Saal die Tanzenden sehn, die sich in Staub-, Rauch- und Dunstwolken drehten. Es ging ausgelassen-lustig zu. Man hörte Gelächter, Schreie, Damengekreisch. Die Kavaliere stampften wie eine Eskadron Pferde, und aus dem ganzen Sodom klang das Kommando des Tanzordners, der, wie es schien, ein sehr freier Herr mit aufgeknöpftem Rock war: „^Avancez Messieurs, chaine de dames, balancez!^“ u. s. w., u. s. w. Herr Pralinski warf einigermaßen erregt seinen Pelz von den Schultern, schob die Galoschen ab, und trat mit der Mütze in der Hand in den sogenannten Saal. Übrigens hatte er schon aufgehört zu denken. Im ersten Augenblick bemerkte ihn niemand: alle tanzten in wildem Galopp oder Walzer die Quadrille zu Ende. Pralinski stand wie betäubt und konnte in diesem Wirrwarr nichts unterscheiden. Helle Damenkleider, Frack- und Rockschöße, Herren mit einer Zigarette zwischen den Zähnen schwirrten vor seinen Augen, und zwischen ihnen irgend eine vorüberfliehende Dame, deren lange flatternde hellblaue Schärpe mit Fransen ihm über die Nase wischte. Ihr setzte in heller Begeisterung ein Student nach, der dabei den Eingetretenen unsanft stieß. Darauf drehte sich vor ihm irgend ein Offizier, der länger als eine Werst lang war. Irgend jemand rief vor Begeisterung mit ungewöhnlich hoher Stimme im gemeinsamen Vorüberfliegen: „E–e–ech Pseldonimuschka!“ Herrn Pralinski schien es, als klebten seine Sohlen am Fußboden: der war mit Wachs oder Stearin gebohnt. In dem Zimmer, das übrigens nicht klein war, tanzten etwa dreißig Menschen. Doch nach einer Minute war die Quadrille beendet und fast im selben Augenblick geschah genau dasselbe, was sich Herr Pralinski schon auf dem Bretterstege gedacht hatte. Unter den Gästen, die noch nicht Atem geschöpft, noch nicht den Schweiß von den Gesichtern gewischt hatten, verbreitete sich plötzlich ein ganz ungewöhnliches Tuscheln. Aller Augen, alle Gesichter wandten sich erschrocken schnell auf den eingetretenen Gast. Und gleich darauf begann ein allgemeines Reculement, alle schoben sie sich wie die Krebse rückwärts. Die ihn noch nicht bemerkt hatten, wurden an den Kleidern gezupft und eines Besseren belehrt. Herr Pralinski stand immer noch in der Tür und wagte keinen Schritt vorzutreten, zwischen ihm aber und den Gästen wurde der freie Zwischenraum immer größer und größer und schließlich war das halbe Zimmer leer, abgesehen von den Zigarettenstummeln und Konfektpapierchen, die friedlich den Fußboden verzierten. Da löste sich plötzlich aus diesem enggepreßten Publikum schüchtern ein junger Mensch in einem Gehrock los und trat vor in den leeren Raum: er hatte strähniges blondes Haar und eine gebogene Nase. Er schob sich zaghaft näher, machte einen Bückling nach dem anderen und blickte dabei auf den unerwarteten Gast genau so wie ein Hund, der sich mit gesenkter Rute an seinen ihn rufenden Herrn heranschlängelt, um verdiente Schläge in Empfang zu nehmen. „Guten Abend, Pseldonimoff, erkennen Sie mich?“ sagte Herr Pralinski und fühlte doch im selben Augenblick, daß er es furchtbar ungeschickt sagte und vielleicht eine unglaubliche Dummheit beging. „Eu–eu–eure E–exzellenz!“ murmelte Pseldonimoff. „Ach was, Exzellenz, – bin, mein Lieber, ganz zufällig bei Ihnen eingetreten, wie Sie es sich wahrscheinlich denken können ...“ Doch Pseldonimoff konnte augenscheinlich überhaupt nicht denken. Er stand mit weit aufgerissenen Augen vor seinem Vorgesetzten und nur das Entsetzen des totalen Nichtverstehenkönnens drückte sich auf seinem bleichen Gesichte aus. „Ich nehme an, daß Sie mich doch nicht vor die Tür setzen werden ... Ob willkommen oder nicht, aber einen Gast muß man stets empfangen! ...“ fuhr Herr Pralinski fort, wobei er wieder fühlte, daß er sich bis zu unanständiger Schwäche verwirrt, daß er lächeln will und doch selbst das nicht mehr kann; daß die humoristische Erzählung vom Ausbleiben seines Trifon immer unmöglicher wird. Pseldonimoff aber verharrte wie zum Trotz in seiner Erstarrung und fuhr bewegungslos fort, ihn blödsinnig anzublicken. Pralinski durchzuckte es, er fühlte: „noch eine solche Minute und es geschieht etwas Unerhörtes!“ „Oder habe ich vielleicht gestört ... dann werde ich natürlich sofort ...“ sagte er halbmechanisch und an seinem rechten Mundwinkel erzitterte ein kleiner Nerv ... Da aber besann sich endlich Pseldonimoff. „Ew. Exzellenz, bitte, geruhen ... Ehre ...“ stotterte er unter erneuten Bücklingen, „geruhen Platz zu nehmen ...“ Und noch etwas mehr zu sich gekommen, wies er plötzlich mit beiden Händen auf das Sofa, das ohne Tisch an die Wand geschoben war, um den Tanzenden nicht im Wege zu sein ... Herr Pralinski atmete innerlich auf und ließ sich wie erlöst auf das Sofa nieder; sofort beeilte sich einer der Herren, den bei Seite geschobenen Tisch wieder vorzuschieben Flüchtig blickte er sich um und da gewahrte er, daß außer ihm niemand saß: alle, auch die Damen standen. Das war ein schlechtes Zeichen. Doch war es noch nicht Zeit, zu ermuntern. Die Gäste standen noch immer scheu zurückgedrängt und vor ihm hielt sich Pseldonimoff immer noch krumm wie ein Haken und begriff immer noch nichts und war immer noch weit entfernt vom Lächeln. Es war einfach schändlich – oder kurz: in diesem Augenblick erlitt unser Held soviel Leid, daß sein Harûn-al-Raschid würdiges Unternehmen um des Prinzips willen wohl für eine Heldentat angesehn werden konnte. Da befand sich noch eine Gestalt plötzlich neben Pseldonimoff, die einen Bückling nach dem anderen machte. Zu seiner unbeschreiblichen Freude, ja, und auch zu seinem Glück erkannte Herr Pralinski in ihm den Sekretär aus seiner Kanzlei, Akim Petrowitsch Subikoff, den er zwar nicht gesellschaftlich, dafür aber als tätigen, schweigsamen Beamten kannte. Vor Freude erhob er sich sofort und streckte Subikoff seine Hand entgegen, die ganze Hand und nicht nur zwei Finger. Subikoff drückte sie vorsichtig in tiefster Ehrerbietung. Exzellenz triumphierte: alles war gerettet! In der Tat, jetzt war Pseldonimoff nicht mehr, sagen wir, die zweite, sondern einfach die dritte Person. Man konnte sich mit der Erzählung direkt an Subikoff wenden, ihn in der Not wie einen Bekannten behandeln, sogar wie einen nahen Bekannten, Pseldonimoff aber konnte dann schweigen und zittern soviel er wollte. Folglich war der Anstand gewahrt. Die Erzählung aber war unbedingt nötig, das fühlte Herr Pralinski; er sah, daß alle Gäste etwas erwarteten, daß in beiden Türrahmen sich sogar das ganze Hausgesinde versammelt hatte und fast schon aufeinander kroch, um ihn besser sehn und hören zu können. Unangenehm war bloß, daß der Sekretär sich in seiner Dummheit immer noch nicht setzen wollte. „Aber so setzen Sie sich doch!“ sagte Herr Pralinski und wies etwas ungeschickt neben sich auf das Sofa. „Ich ... ich ... ich ... ich kann auch hier ...“ stotterte Akim Petrowitsch Subikoff verlegen und setzte sich flink auf einen Stuhl, der ihm im Handumdrehen von Pseldonimoff, der selbst nicht Platz zu nehmen wagte, in die Kniekehlen geschoben wurde. „Denken Sie doch nur, was mir soeben passierte,“ begann Herr Pralinski mit einer zwar noch etwas unsicheren, aber immerhin liebenswürdigen Stimme ausschließlich zu Akim Petrowitsch gewandt. Er reckte sogar die Worte möglichst in die Länge, sprach die Silben langsam und das a fast wie ein e aus, kurz, er fühlte und begriff, daß er sich nicht natürlich gab, doch konnte er sich nicht mehr beherrschen. Und überhaupt erkannte und begriff er in jenem Augenblick furchtbar viel, weswegen er denn auch doppelt litt. „Können Sie sich vorstellen: ich komme von Stepan Nikiforowitsch Nikiforoff, dem Geheimrat, Sie haben vielleicht von ihm gehört ...“ Subikoff beugte sich ehrerbietig mit seinem ganzen Oberkörper vor, als wollte er sagen: „Exzellenz, wie sollte ich nicht!“ „Er ist jetzt Ihr Nachbar,“ fuhr Herr Pralinski fort und wandte sich anstandshalber an Pseldonimoff, doch kehrte er sich sofort wieder von ihm ab, da er an den Augen Pseldonimoffs nur zu deutlich gesehn hatte, daß es ihm vollkommen gleichgültig war. „Er hat sich immer ein Haus kaufen wollen ... Nun, und jetzt hat er es sich glücklich gekauft. Ein ganz allerliebstes Häuschen. Ja ... Und da kam es denn noch hinzu, daß heute sein Geburtstag ist und so hat er ihn denn diesmal vor lauter Freude über sein neues Haus uns nicht verheimlicht, wie er es sonst immer zu tun pflegte, hehe! Wie gesagt, er hatte uns zu sich eingeladen, mich und Ssemjon Iwanowitsch. Sie kennen ihn doch: Schipulenko.“ Subikoff machte mit seinem Oberkörper wieder eine respektvolle Verbeugung; er tat es sogar mit großem Eifer. Herr Pralinski beruhigte sich ein wenig, denn er hatte schon gefürchtet, sein untergebener Sekretär könnte es vielleicht erraten, daß er der einzige rettende Stützpunkt Seiner Exzellenz war. Das wäre gar zu dumm gewesen. „Nun, wir saßen, tranken Champagner, sprachen über Regierungssachen, ... über dieses und jenes ... über verschiedene Prob–leme ... disputierten sogar ... Hehe!“ Subikoff machte ein ungewöhnlich ehrerbietiges Gesicht. „Aber darum handelt es sich ja nicht hier. Ich verabschiedete mich schließlich, denn, wissen Sie, Stepan Nikiforowitsch ist sehr pünktlich, er geht stets um halb zwölf zu Bett ... er ist ja auch schon bejahrt. Ich trete hinaus – mein Trifon ist nirgends zu sehn. Gehe hin und her, erkundige mich: es stellt sich heraus, daß er sich in der Hoffnung, ich würde länger sitzen bleiben, auf eine Hochzeit – zu irgend einer Verwandten oder Schwester – begeben hatte ... gleichfalls hier irgendwo auf der Petersburger Seite. Und auch den Schlitten hatte er natürlich mitgenommen.“ Exzellenz blickte wieder vorsichtig zu Pseldonimoff hinüber, was diesen sofort veranlaßte, sich krummzubiegen, doch keineswegs in der Art, wie es Exzellenz haben wollte, und daher schloß er: „Dieser Mensch hat ja überhaupt kein Herz.“ „Nein, so etwas!“ sagte tief erschüttert Akim Petrowitsch Subikoff. Ein Schauer der Verwunderung lief tuschelnd gleichfalls über die dichtgedrängte Schar der übrigen Gäste. „Nicht wahr? Sie können sich meine Lage denken ...“ Herr Pralinski ließ seinen fragenden Blick über alle Anwesenden schweifen. „Es war natürlich nichts zu machen, gehe also zu Fuß. Ich denke mir, nun, Du gehst bis zum großen Prospekt, dort wirst Du bestimmt noch einen Schlitten finden ... hehe!“ „Hihihi!“ tönte pflichtschuldig das Echo von Subikoff zurück, und wiederum ging ein Getuschel durch die gedrängte Gästeschar. In diesem Augenblick platzte mit lautem Knall der Zylinder der Wandlampe. Irgend jemand stürzte sofort eilfertig hin, um nachzusehn oder irgend etwas zu retten. Pseldonimoff fuhr zusammen und warf einen strengen Blick auf die Lampe, Exzellenz aber beachtete sie überhaupt nicht, und so beruhigte man sich bald. „Ich gehe also zu Fuß ... Die Nacht ist wundervoll, ganz windstill. Da höre ich plötzlich Musik, Tanzmusik! Erkundige mich beim Schutzmann und erfahre, daß Pseldonimoff seine Hochzeit feiert. Mein Lieber, Ihr Fest ist ja auf der ganzen Petersburger Seite hörbar! Hahaha!“ „Hihihi! Stimmt ...“ meinte auch Subikoff; die Gäste flüsterten und bewegten sich wieder; dumm war nur, daß Pseldonimoff sogar nach diesem Scherz nicht lächelte, sondern wieder nur seinen Bückling machte – wirklich als ob er von Holz gewesen wäre. „Der Kerl scheint ja total borniert zu sein!“ dachte verwundert seine Exzellenz, „wenn der Esel doch einmal lächeln wollte, wäre ja alles gut.“ Die Ungeduld tobte in seinem Herzen. „Halt! denke ich, wie wär’s, wenn Du einmal bei Deinem Untergebenen vorsprächst? Ob ich ihm willkommen bin oder nicht, er wird mich doch nicht vor die Tür setzen ... Sie verzeihen mir doch, mein Lieber ... Natürlich, wenn ich gestört habe, so werde ich schleunigst wieder gehn ... Ich bin ja eigentlich nur angekommen ...“ Allmählich aber hatte sich eine gewisse Bewegung unter den Gästen bemerkbar gemacht. Subikoff lächelte verklärt, als wollte er sagen: „Gütiger Himmel, wie kann nur Eure Exzellenz stören!“ Und auch an den übrigen Gästen waren die ersten Anzeichen des Zutrauens bemerkbar. Die Damen saßen schon fast alle: ein gutes, positives Zeichen. Die Keckeren von ihnen fächelten sich bereits mit den Taschentüchern zu. Eine von ihnen – es war eine Dame in einem vertragenen Sammetkleide – sagte absichtlich einige Worte etwas lauter. Der Offizier, an den sie gerichtet waren, wollte ihr gleichfalls etwas lauter antworten, doch da sie beide die einzigen mutigen waren, so führte er sein Vorhaben nicht aus. Die Herren, meistens Kanzleibeamten und zwei oder drei Studenten, tauschten untereinander Blicke aus, als wollten sie sich gegenseitig anfeuern, irgend etwas zu unternehmen; vorläufig aber räusperten sie sich nur oder traten von einem Fuß auf den anderen, um sich ein wenig von der Stelle zu rühren. Im Grunde hatte kein einziger Angst; sie waren nur ein wenig scheu und genau genommen blickten sie alle feindselig auf den Unglücklichen, der gekommen war, um ihr Vergnügen zu stören. Der Offizier, der sich schließlich seines Kleinmutes schämte, faßte sich ein Herz und näherte sich ein wenig dem Tisch. „Äh, mein Lieber, gestatten Sie, nach Ihrem und Ihres Vaters Namen zu fragen?“ wandte sich Herr Pralinski an Pseldonimoff. „Porfirij Petroff, Exzellenz,“ antwortete der sofort, als ob er Rapport erstattete. „Nun, Porfirij Petroff, wann werden Sie mich denn mit Ihrer jungen Frau bekannt machen ... Führen Sie mich doch ... ich ...“ Und er bekundete schon die Absicht, sich vom Sofa zu erheben. Wie Pseldonimoff das bemerkte, stürzte er sofort ins Nebenzimmer. Die Neuvermählte stand übrigens an der Tür, als sie aber hörte, daß von ihr die Rede war, schlüpfte sie sofort zurück und versteckte sich. Nichtsdestoweniger führte Pseldonimoff sie nach einer Minute an der Hand wieder in den Saal. Man trat sofort auseinander, um ihnen Platz zum Durchgehen zu geben. Exzellenz erhob sich feierlich und wandte sich mit liebenswürdigem Lächeln an die Neuvermählte: „Es freut mich ungemein, Ihre Bekanntschaft zu machen,“ sagte er mit der elegantesten Halbverbeugung, „und um so mehr, als es gerade an solch einem Tage ...“ u. s. w. Er lächelte verschmitzt. Die Damen waren angenehm erregt. „Charmant,“ sagte die Dame im Sammetkleide fast laut. Die Neuvermählte war ihres Gatten wert. Sie war ein kleines mageres Persönchen von sechzehn Jahren, bleich, mit einem kleinen Gesicht, in dem ein kleines spitzes Näschen saß. Ihr kleinen Augen blickten durchaus nicht verwirrt, im Gegenteil, sie sahen aufmerksam und sogar mit einer gewissen Feindseligkeit den liebenswürdigen Vorgesetzten an. Ihr Brautkleid war aus weißem Musselin auf einem rosa Unterkleide. Ihr Hals war erschreckend mager und ihr Körper war dem eines jungen Huhnes nicht gerade unähnlich. Auf die liebenswürdigen Worte seiner Exzellenz wußte sie so gut wie nichts zu sagen. „Ich kann Ihnen zu Ihrem Geschmack nur gratulieren,“ sagte er zu Pseldonimoff gewandt halblaut, jedoch absichtlich so, daß sie es unbedingt hören mußte. Pseldonimoff Antwortete aber auch auf diese Liebenswürdigkeit nur mit Schweigen; ja, diesmal vergaß er sogar, sich zu verbeugen: er rührte sich nicht. Herrn Pralinski schien es plötzlich, daß in seinen Augen etwas Kaltes, wenn nicht Feindseliges aufblitzte. Und doch hieß es für ihn mit aller Gewalt, was es auch koste, die gewünschte Stimmung erreichen. Deswegen war er ja überhaupt eingetreten! „Das ist mir mal ein Pärchen!“ dachte er bei sich. „Übrigens ...“ Und er wandte sich von neuem an die Junge, die sich neben ihm auf das Sofa niedergelassen hatte, erhielt aber auf seine Fragen nur ein „Ja“ oder „Nein“, und zuweilen selbst das nicht einmal. „Wenn sie doch wenigstens verlegen werden wollte!“ dachte er wütend. „Ich könnte dann mit ihr scherzen. Aber so ist ja meine Lage einfach aussichtslos!“ Und auch Subikoff schwieg wie zum Trotz, wenn er es auch aus Dummheit tat, so blieb es doch immerhin unverzeihlich. „Aber meine Damen und Herren! Ich habe Sie doch nicht in Ihrer Geselligkeit gestört?“ wandte er sich an alle Gäste. Er fühlte schon, daß sogar seine Handflächen transpirierten. „Oh nein, Exzellenz, wir werden sofort weitertanzen, augenblicklich ... erholen wir uns ein wenig,“ antwortete ihm darauf der lange Offizier, auf dem die Neuvermählte wohlgefällig ihre Blicke ruhen ließ: er war noch nicht alt und sah gut aus in seiner Uniform. Pseldonimoff stand noch immer unbeweglich und seine gebogene Nase nahm sich noch größer aus. Er stand und hörte zu wie ein Diener, der mit Pelzen und Mänteln auf dem Arm dem Abschiedsgespräch seiner Herrschaft zuhört. Diesen Vergleich machte Herr Pralinski in Gedanken beim wiederholten Anblick seines Registrators. Ja, unser Held fühlte sich sehr ungemütlich, er fühlte, wie er den Boden unter den Füßen verlor, er fühlte, daß er irgendwohin hineingeraten war und sich nicht mehr herausziehen konnte. * * * * * Da traten die Gäste an der Tür wieder auseinander, um, wie es schien, jemandem Platz zu machen: es erschien eine mittelgroße, ziemlich stämmige ältere Frau, die einfach angezogen war, ein Tuch, das sie unter dem Kinn festgesteckt hatte, um die Schultern trug und an die Haube, die ihren Kopf schmückte, augenscheinlich noch nicht gewöhnt war. In den Händen hielt sie ein rundes Teebrett, auf dem eine volle, aber schon aufgekorkte Flasche Champagner und zwei Gläser standen – zwei, nicht mehr und nicht weniger. Ersichtlich war die Flasche nur für zwei Menschen gekauft worden. Die Frau näherte sich ruhig dem Sofa. „Bitte, Exzellenz, nehmen Sie vorlieb,“ sagte sie nach einem Gruß und einer Verbeugung, „wenn Sie uns schon einmal die Ehre erweisen zur Hochzeit meines Sohnes in eigener Person zu kommen, so bitte ich Sie gefälligst, begrüßen Sie auch schon das junge Paar mit einem Glas. Verachten Sie es nicht, erweisen Sie uns schon die Ehre.“ Herrn Pralinski erschien sie wie ein rettender Engel. Sie war noch durchaus nicht alt, vielleicht fünf- oder sechsundvierzig – nicht mehr. Aber sie hatte solch ein gutes, frisches, solch ein offenes, rundes russisches Gesicht, sie lächelte so gutmütig, begrüßte ihn so einfach, daß Herr Pralinski wieder Mut schöpfte. „Also S–s–sie sind die Mutter Ihres Sohnes?“ fragte er, sich erhebend. „Ja, Exzellenz, meine Mutter,“ bestätigte Pseldonimoff, wobei er seinen langen Hals noch mehr ausreckte und seine gebogene Nase noch weiter vorschob. „Ah! Freut mich, freut mich ungemein!“ „So erweisen Sie uns schon die Ehre, Exzellenz.“ „Aber mit dem größten Vergnügen.“ Das Teebrett wurde auf den Tisch gestellt und Pseldonimoff goß eilfertig den Wein ein. Herr Pralinski nahm seinen Pokal. „Ich freue mich, ich freue mich ganz besonders der Gelegenheit ...“ begann er, „daß ich bei der Gelegenheit ... Mit einem Wort, als Vorgesetzter mein Wohlwollen bezeugen kann ... Ich wünsche Ihnen, meine Gnädigste“ – er wandte sich an die Neuvermählte – „und auch Ihnen, mein lieber Porfirij Petroff, volles, seliges, leuchtendes Glück!“ Er erhob seinen Pokal und leerte ihn mit tiefem Gefühl auf einen Zug – es war der Zahl nach der siebente an jenem Abend. Pseldonimoff blickte ernst und mürrisch drein und Exzellenz fühlte, daß er ihn schon qualvoll haßte. „Und diese verfluchte Bohnenstange“ – er blickte wütend auf den langen Offizier, „kann der Kerl denn wirklich nicht einmal Hurra schreien!? Damit würde er ja alles retten ...“ „Und auch Sie, Akim Petrowitsch, – bitte, trinken Sie auch auf das Glück des jungen Paares,“ wandte sich die Alte an den Sekretär. „Sie sind sein Vorgesetzter, beschützen Sie meinen Sohn, ich bitte Sie, wie eine Mutter bittet. Und auch hinfort vergessen Sie uns nicht, mein Liebling, ein guter Mensch sind Sie, Akim Petrowitsch!“ „Wie reizend doch diese alten russischen Frauen sind!“ dachte Herr Pralinski bei sich. „Alle hat sie belebt. Hm, ich habe ja immer gesagt: ich liebe alles, was volklich ist ...“ In dem Augenblick wurde noch ein Teebrett zum Tisch gebracht: eine Magd in einem steifen, noch ungewaschenen Zitzkleide mit einer Krinoline trug es herein; doch kaum konnte sie es fassen – so groß war es. Auf ihm standen eine Menge Schalen, Teller und Vasen mit Äpfeln, Konfekt, Marmeladen, Kuchen, Nüssen u. s. w. Dieses Teebrett hatte bis dahin im Nebenzimmer gestanden, zur Bewirtung der Gäste, vornehmlich der Damen. Nun wurde es aber zum Ehrengast gebracht. „Verschmähen Sie nicht, Exzellenz, was wir Ihnen bieten können. Was wir haben, dessen freuen wir uns,“ sagte wieder gutmütig die Alte. „Aber, ich bitte Sie! ...“ rief Herr Pralinski und nahm sogar mit Vergnügen eine Wallnuß, die er mit den Fingern zerdrückte. Er hatte sich entschlossen, bis zum Schluß populär zu sein. Plötzlich kicherte die Neuvermählte neben ihm. „Wie?“ erkundigte sich Herr Pralinski lächelnd, sichtlich sehr erfreut über die unvermuteten Lebensanzeichen. „Hihi, Iwan Kostenjkinytsch scherzt wieder,“ entgegnete sie diesmal mit gesenktem Blick. Er bemerkte tatsächlich einen hübschen blonden Jüngling, der sich auf einem Stuhl neben dem Sofa niedergelassen und sich halb hinter der Lehne und der jungen Pseldonimowa, der er etwas zuflüsterte, versteckt hatte. Der Jüngling erhob sich sofort. Er schien sehr schüchtern und noch sehr jung zu sein. „Ich habe ihr nur vom Traumbuch erzählt, Exzellenz,“ sagte er, als wollte er sich entschuldigen. „Von was für einem Traumbuch?“ fragte Herr Pralinski herablassend. „Es gibt jetzt ein neues, ein literarisches. Ich hab ihr gesagt, daß, wenn man Herrn Panajeff im Traum sieht, das bedeutete dann, daß man sich das Chemisette mit Kaffee begießen würde.“ „Himmlische Unschuld!“ dachte Exzellenz nicht ohne Wut bei sich. Der junge Mann errötete zwar, als er seine Erklärung gab, doch war er zu gleicher Zeit unglaublich stolz auf seinen Mut. „Nun ja, schön, ich habe so etwas gehört ...“ meinte Exzellenz. „Und was noch amüsanter ist,“ sagte plötzlich eine neue Stimme dicht neben Herrn Pralinski, „es wird ein neues Lexikon herausgegeben, und so heißt es denn, Herr Krajeffski würde palemische Artikel schreiben ...“ Der das sagte war ein junger Mensch, der aber durchaus nicht verlegen schien, sondern eine gewisse Sicherheit in seinem Auftreten hatte. Er war in Handschuhen und weißer Weste und behielt die ganze Zeit seinen Hut in der Hand. Er tanzte nicht, gab aber sonst den Ton an, blickte auf die übrigen Gäste von oben herab, denn er war schon Mitarbeiter an einem satyrischen Blatt, „Der Feuerbrand“, und war gleichsam als Ehrengast zur Hochzeit eingeladen worden. Er hatte schon ziemlich viel Wodka getrunken und war zu diesem Zweck des öfteren in ein bescheidenes Hinterzimmer, zu dem alle Herren den Weg kannten, gegangen. Seiner Exzellenz gefiel er ausnehmend wenig. „Und das ist nur darum so komisch,“ unterbrach ihn plötzlich freudig der blonde Jüngling, der von der Chemisette erzählt hatte und den der „Mitarbeiter“ haßerfüllt anblickte, „so furchtbar komisch, weil der Herausgeber so tut, als ob Herr Krajeffski die Rechtschreibung nicht könnte und wirklich glaubte, man müsse statt ‚polemisch‘ ‚palemisch‘ sagen ...“ Der arme Jüngling sprach kaum zu Ende, was er sagen wollte. Er erkannte an den Augen seines Zuhörers, daß er eine bekannte Geschichte erzählte, denn seine Exzellenz wurde gleichfalls verlegen, und das natürlich nur, weil er sie schon selbst längst kannte. Der junge Mann schämte sich entsetzlich: er zog sich so schnell als möglich zurück und die ganze Zeit nachher war er tief melancholisch. Dafür aber trat der Mitarbeiter des „Feuerbrandes“ noch näher an seine Exzellenz heran und schien die Absicht zu haben, sich irgendwo in der Nähe niederzulassen. Solch eine liebenswürdige Annäherung schien aber Herrn Pralinski etwas kitzlich. „Tja! was ich sagen wollte, Porfirij Petroff,“ begann er plötzlich zu diesem gewandt, bloß um etwas zu sagen, „warum – ich wollte es Sie schon längst fragen –, warum nennen Sie sich Pseldonimoff und nicht Pseudonimoff? Denn Ihr Name lautet doch zweifellos Pseudonimoff?“ „Das kann ich leider nicht genau erklären, Exzellenz,“ entgegnete Pseldonimoff. „Das hat man wohl schon früher verwechselt, als sein Vater in den Dienst trat, ich meine, in den Papieren,“ bemerkte Akim Petrowitsch Subikoff. „Das kommt zuweilen vor.“ „Un–be–dingt!“ griff Exzellenz eifrig den Gedanken auf. „Unbedingt! Denn, urteilen Sie doch selbst: Pseudonimoff würde von dem literarischen Wort Pseudonym herkommen. Was aber bedeutet Pseldonimoff? – Überhaupt nichts!“ „Aus Dummheit,“ fügte plötzlich Subikoff noch hinzu. „Das heißt, wie meinen Sie das – aus Dummheit?“ „Das russische Volk verwechselt zuweilen aus Dummheit die Buchstaben und spricht überhaupt die Fremdwörter auf seine Art aus. So sagt es z. B. Nevalide, während man doch Invalide sagen muß.“ „Ach so ... Nevalide, hehehe ...“ „Auch hört man häufig ‚Mummer‘ sagen, Exzellenz,“ fiel der lange Offizier ein, den die Lust, sich gleichfalls irgendwie auszuzeichnen, schon lange plagte. „Wie das, ‚Mummer‘?“ „Mummer anstatt Nummer, Exzellenz.“ „Ach so, Mummer anstatt Nummer ... ja ja ... hehehe? ...“ Exzellenz war gezwungen, auch dem Offizier Beifall zu zollen. Der Offizier zupfte an seinem Kragen. „Und dann sagt man auch noch ‚vurbei‘,“ mischte sich der „Mitarbeiter“ des „Feuerbrandes“ in das Gespräch. Exzellenz aber tat, als hätte er die Bemerkung ganz überhört. Er konnte doch nicht für alle lächeln! „_Vurbei_ anstatt _vorbei_,“ wiederholte der „Mitarbeiter“ ersichtlich gereizt. Exzellenz blickte ihn streng an. „Wozu drängst Du Dich so vor?“ flüsterte Pseldonimoff dem „Mitarbeiter“ zu. „Wieso, darf ich denn etwa nicht sprechen!“ fragte der flüsternd zurück, schwieg aber doch und verließ mit heimlichem Ingrimm das Zimmer. Er begab sich wieder in das anziehende Hinterzimmer, in dem für die Herren auf einem kleinen Tisch, der mit einem jaroslawschen Tischtuch bedeckt war, zwei Sorten Schnaps, Hering, Kaviarbrötchen und noch eine Flasche des allerstärksten Sherry aus einem russischen Keller zur Erfrischung hingestellt waren. Mit Wut im Herzen goß er sich ein Gläschen ein, als plötzlich der Student der Medizin hereinstürzte, hastig die Karaffe ergriff und sich eingoß. „Es wird gleich wieder losgehn!“ sagte er, der erster Tänzer auf dieser Hochzeit Pseldonimoffs war. „Komm zusehn: werde ein Solo auf den Händen tanzen, d. h. mit den Beinen in der Luft und nach dem Essen will ich ’nen ‚Fisch‘ riskieren. Der paßt zur Hochzeit: sozusagen unserem Pseldonimoff ein freundschaftlicher Wink ... Famoses Weib, diese Kleopatra Ssemjonowna, man kann bei ihr faktisch alles riskieren.“ „Das ist ja ein Reaktionär,“ sagte finster der Mitarbeiter und stürzte sein Glas hinab. „Wer das?“ „Die hohe Persönlichkeit, vor der man sämtliche Süßigkeiten plaziert hat. Ein Reaktionär vom reinsten Wasser, sag ich Dir.“ „Ach!“ rief der Student gleichgültig und stürzte hinaus, da er die ersten Takte der Quadrille hörte. Der Mitarbeiter goß sich, allein zurückgeblieben, ein noch größeres Glas ein, um sich etwas Mut anzutrinken, darauf nahm er ein Kaviarbrötchen – und noch niemals hatte sich der wirkliche Geheimrat Pralinski einen schrecklicheren Feind und unerbittlicheren Rächer erworben, als es der von ihm übersehene Mitarbeiter des „Feuerbrand“ war, besonders nach dem zweiten Glase Schnaps. Doch wehe! Herr Pralinski ahnte nichts. Desgleichen ignorierte er völlig noch einen anderen wichtigen Umstand, der aber auf das weitere Verhältnis der Gäste zu seiner Exzellenz einen unheilvollen Einfluß haben sollte. Die Geschichte war nämlich die, daß seine Erklärung, warum er zu seinem Untergebenen gekommen war, niemand befriedigt hatte und die Gäste fortfuhren, sich zu ängstigen oder wenigstens sich bedrückt zu fühlen. Plötzlich aber veränderten sich alle wie durch einen Zauberschlag: alle beruhigten sich und waren sofort bereit, wieder zu tanzen, zu lachen, zu schreien, ganz als ob der unerwartete Gast überhaupt nicht zugegen gewesen wäre. Die Ursache dieser Veränderung war das auf unerklärliche Weise entstandene Gerücht, der Gast sei nicht ganz ... nüchtern! Und wenn dieses Gerücht auch den Stempel der schrecklichsten Verleumdung auf sich trug, so fand es allmählich doch immer mehr und mehr Glauben unter den Gästen und bald wurde es allgemein als unzweifelhafte Tatsache angesehn. Daher ging es denn plötzlich ungemein frei her. Die letzte Quadrille vor dem Essen begann. Gerade als Herr Pralinski sich wieder an die Neuvermählte wenden wollte, um diese Festung mit einem Scherz zu stürmen, erschien plötzlich der lange Offizier und ließ sich unverhofft auf ein Knie vor ihr nieder. Sie erhob sich sofort und flog selig mit ihm davon, um sich in die Reihe zu stellen. Der Offizier machte nicht einmal seine Entschuldigung, als er sie entführte, und sie schenkte seiner Exzellenz nicht einmal einen Blick, als ob sie froh gewesen wäre, ihren Platz verlassen zu können. „Im Grunde ist sie ja in ihrem Recht,“ dachte Herr Pralinski, „aber was ist denn das für ein Benehmen!“ – „Hm! ... mein lieber Porfirij Petroff,“ wandte er sich an Pseldonimoff, „vielleicht haben Sie irgendetwas anzuordnen ... das heißt, ich meine ja nur ... bitte lassen Sie sich dann nicht abhalten ...“ – „Der Kerl tut wirklich, als müsse er hier auf mich aufpassen,“ dachte er bei sich ungehalten. Dieser Pseldonimoff, der mit seinem langen Hals und seiner gebogenen Nase neben ihm stand und seinen Blick nicht von ihm abwandte, wurde ihm unerträglich. Kurz, das war alles nicht das, längst nicht das, was Herr Pralinski sich gedacht hatte, aber er war noch lange nicht bereit, sich das einzugestehn. * * * * * Die Quadrille begann. „Gestatten Exzellenz?“ fragte ehrfürchtig Akim Petrowitsch Subikoff, der zaghaft die Champagnerflasche in der Hand hielt und sich halbwegs anschickte, seiner Exzellenz einzugießen. „Ich ... wirklich, ich weiß nicht, ob ...“ Doch schon goß Subikoff mit andächtig leuchtendem Gesicht den Champagner ein. Als das Glas bis zum Rande gefüllt war, entschloß er sich, auch sein Glas zu füllen, doch tat er das gleichsam unter Gewissensbissen, verlegen und betreten und mit dem Unterschied, daß er in sein Glas etwa einen Fingerbreit weniger eingoß, was seiner Meinung nach etwas höflicher war. Er fühlte sich wie eine Frau in Kindesnöten, als er neben seinem hohen Vorgesetzten saß. Wovon sollte er sprechen? Sprechen aber mußte er unbedingt, da er nun einmal die Ehre hatte, neben seiner Exzellenz zu sitzen: dafür mußte er doch wenigstens unterhaltend sein! Da mußte denn der Champagner retten. Seiner Exzellenz war es sogar angenehm, daß jener eingoß, nicht des Weines wegen, denn der war warm und überhaupt irgendein widerliches Zeug, sondern – gewissermaßen moralisch angenehm. „Der Alte will natürlich selbst gern trinken,“ dachte Herr Pralinski, „allein aber wagt er es nicht. Ich kann ihn doch nicht des Genusses berauben. Und ’s wäre ja auch lächerlich, wenn die Flasche so unangerührt zwischen uns stände.“ Er nahm einen Schluck, denn das schien ihm besser, als so zu sitzen. „Ich bin ja nur her–gekommen,“ begann er wieder in seiner „vornehmen“ Art und Weise, „ich bin ja nur, wie man sagt, zufällig her–gekommen, und vielleicht werden einige finden ... daß ich ... daß es mir, wie man sagt, nicht zu–steht, in solch einer ... Gesell–schaft zu sein.“ Subikoff schwieg und hörte nur in scheuer Neugier zu. „Aber ich hoffe, daß Sie wenigstens verstehn, warum ich hergekommen bin ... Hehe ...“ Subikoff wollte zwar gleichfalls ehrerbietig lächeln, doch plötzlich ging es nicht und Herr Pralinski hörte wiederum nichts beruhigendes von ihm. „Ich bin her–gekommen ... um, wie man sagt, zu ermuntern ... um zu zeigen, daß es ein, wie man sagt, moralisches Ziel gibt,“ fuhr Pralinski fort, doch die Stumpfheit seines Zuhörers ärgerte ihn und plötzlich verstummte auch er. Der arme Subikoff wagte nicht einmal aufzublicken, ganz als ob sein Gewissen Gott weiß wie schuldbeladen gewesen wäre. Ein wenig verwirrt nahm Exzellenz sein Glas und trank wieder einen Schluck, worauf Subikoff wie nach seinem letzten Strohhalm wieder nach der Flasche griff und von neuem einschenkte. „Deine Ressourcen können doch unmöglich groß sein,“ dachte Herr Pralinski und betrachtete streng den armen Subikoff. Als dieser den Blick seines hohen Vorgesetzten auf sich ruhen fühlte, beschloß er endgültig, den seinen nicht mehr zu erheben. So saßen sie sich denn stumm gegenüber – das war für Subikoff eine furchtbare Zeit. Dieser Subikoff war einer von den alten Unterbeamten, die jetzt so ziemlich ausgestorben sind. In Ehrerbietung und Gehorsam aufgewachsen, war er einerseits friedsam wie ein Huhn, und andrerseits ein guter und sogar edler Mensch. Er war ein Petersburger Russe, d. h. sein Vater und sein Urgroßvater waren in Petersburg geboren, aufgewachsen und schließlich gestorben, ohne diese Stadt auch nur ein einziges Mal verlassen zu haben. Das ist ein ganz besonderer Typ Russen. Von Rußland haben sie nicht die geringste Ahnung, was sie aber auch nicht im geringsten beunruhigt. Ihr ganzes Interesse ist auf Petersburg beschränkt und hauptsächlich auf ihren Dienst. Alle ihre Sorgen drehen sich um die Kopekenpréférence, die nächste Kolonialwarenhandlung und ihr Monatsgehalt. Sie kennen keinen einzigen russischen Brauch, kein einziges russisches Volkslied, ausgenommen das eine vom „Kienspanfeuer“ und auch das nur, weil die Drehorgeln dieses Motiv leiern. Übrigens gibt es zwei bestimmte Anzeichen, an denen man unfehlbar den Petersburger Russen von dem echten Russen unterscheiden kann. Erstens: alle Petersburger Russen, alle ohne Ausnahme, sagen „Die Akademischen Nachrichten“ und niemals „Petersburger Nachrichten“, wie das Blatt doch eigentlich heißt. Und zweitens: der Petersburger Russe wird, wenn er „Frühstück“ sagen will, niemals das russische Wort „Sawtrak“ gebrauchen, sondern immer „Frjühstick“ sagen, wobei er noch ganz besonders die erste Silbe betonen wird. An diesen beiden eingewurzelten Kennzeichen kann man sie genau unterscheiden. Akim Petrowitsch Subikoff gehörte also zu jenen friedlichen Beamtentypen, die sich in den letzten fünfunddreißig Jahren endgültig ausgearbeitet haben. Übrigens war er keineswegs etwa dumm. Hätte Exzellenz ihn andere Dinge gefragt, Dinge, die in sein Fach schlugen, so würde er selbstverständlich geantwortet haben und vielleicht wäre dann das Gespräch gar nicht so uninteressant gewesen. Was aber hätte er als Untergebener auf solche Fragen, wie sie Exzellenz stellte, antworten sollen? Es wäre ja einfach unhöflich gewesen! Und doch hätte er für sein Leben gern etwas genaueres von den wirklichen Absichten seiner Exzellenz erfahren ... Währenddessen aber versank Herr Pralinski immer mehr und mehr in stumpfes Nachdenken. In der Zerstreutheit griff er immer häufiger nach dem Glase um wieder einen Schluck zu tun. Und sein Nachbar ergriff jedesmal die Gelegenheit, um das Glas wieder bis zum Rand zu füllen. Beide schwiegen sie. Da fiel es Exzellenz plötzlich ein, daß man vor ihm tanzte, und alsbald nahm die Gesellschaft seine Aufmerksamkeit mehr in Anspruch. Mit einem Mal aber fiel ihm etwas auf und setzte ihn sogar in nicht geringe Verwunderung. Man war allerdings etwas ... sehr lustig. Man tanzte, um sich zu freuen und womöglich auch um sich auszutoben. Gute Tänzer gab es nicht gerade viel, aber die schlechten drehten sich und stampften dermaßen, daß man auch sie für gewandte Tänzer halten konnte. Vor allen anderen zeichnete sich der Offizier aus: er liebte besonders Figuren, in denen er allein blieb und gewissermaßen ein Solo tanzen konnte. Dann, d. h. wenn er allein blieb, verbog und verrenkte er sich wirklich bewunderungswürdig, und zwar in folgender Weise: groß und eine Werst lang wie er war, beugte er sich plötzlich auf eine Seite, so daß man glaubte, er sei in der Taille gebrochen und würde sofort gänzlich umfallen; doch siehe, mit dem zweiten Schritt richtete er sich wieder werstlang auf und mit dem dritten beugte er sich unter demselben schrägen Winkel auf die andere Seite. Der Ausdruck seines Gesichts blieb dabei unveränderlich ernst, und überhaupt tanzte er ersichtlich mit der vollen Überzeugung, daß alle ihn bewunderten. Ein anderer Kavalier, der allzu häufig in das Hinterzimmer gegangen war, schlief in der zweiten Tour neben seiner Dame ein, so daß diese gezwungen war, allein weiterzutanzen. Ein junger Registrator, der den ganzen Abend nur mit einer einzigen Dame tanzte, mit derselben, deren blaue Schärpe seiner Exzellenz über die Nase geflogen war, hatte sich etwas ganz besonderes ausgedacht: er blieb immer ein wenig hinter seiner Dame zurück und so konnte er denn in den Touren, beim Vorübergehn u. s. w. auf das schnell aufgefangene Ende dieser Schärpe zehn bis zwanzig Küsse drücken. Die Dame aber schwamm vor ihm im Tanz einher, als ob sie ein Schwan wäre und nichts von seinen Küssen bemerkte. Der Student der Medizin tanzte tatsächlich ein Solo auf den Händen und hatte unglaublichen Erfolg: die Begeisterung, die er hervorrief, war geradezu erschütternd. Mit einem Wort, die ganze Gesellschaft benahm sich vollkommen ungezwungen. Herr Pralinski, auf den der Wein seine Wirkung hatte, ließ sich herab, sogar zu lächeln, doch allmählich schlich sich eine etwas sonderbare Enttäuschung in seine Seele: oh, er liebte natürlich sehr ungezwungenes, natürliches Benehmen; wie hatte er es herbeigewünscht, als die Gäste noch scheu zurückgetreten waren, und plötzlich überschritten die gerufenen Geister alle Grenzen! Eine Dame in einem vertragenen blauen Sammetkleide z. B. steckte sich in der sechsten Tour den Rock mit Stecknadeln derart auf, daß es aussah, als hätte sie Hosen angehabt. Das war dieselbe Kleopatra Ssemjonowna, bei der man, allerdings nach dem Ausdruck ihres Kavaliers, des Studenten der Medizin, „alles riskieren konnte“. Von diesem Studenten der Medizin lohnt es sich nicht, zu reden: einfach ein zweiter Fokin[5]. – Wie kam das nur? Noch vor so kurzer Zeit waren sie scheu vor dem neuen Gaste zurückgewichen und mit einem Mal sah er sie so emanzipiert vor sich? Es wäre ja weiter nichts dabei gewesen, aber, aber dieser schnelle Übergang war doch etwas sonderbar: er schien etwas zu bedeuten. Es hatte wirklich den Anschein, als hätten sie ganz vergessen, daß Exzellenz zugegen war. Versteht sich, Exzellenz war der erste, der lachte und er ließ sich sogar herab, Beifall zu klatschen. Subikoff kicherte pflichtschuldigst mit, doch tat er es nicht nur gezwungen, sondern mit augenscheinlichem Vergnügen, – ahnungslos, daß Exzellenz bereits einen neuen Wurm in seinem Herzen nährte. „Sie tanzen ja großartig!“ sagte Exzellenz, als der Student in der letzten Tour an ihm vorüber ging. Der Student wandte sich hastig zu ihm um, schnitt eine unglaubliche Grimasse und näherte sein Gesicht blitzschnell bis auf eine unhöflich nahe Entfernung und – krähte plötzlich aus voller Kehle. Das war aber denn doch zu viel! Exzellenz erhob sich. Eine wahre Lachsalve erschütterte das Haus, denn die Grimasse des Studenten war dermaßen unerwartet gekommen und er hatte so naturgetreu gekräht, daß das Gelächter nur zu erklärlich war. Exzellenz stand immer noch halb bewußtlos, als plötzlich Pseldonimoff erschien und ihn unter Bücklingen zum Essen aufforderte. Gleich nach ihm kam auch seine Mutter. „Väterchen, Eure Exzellenz,“ sagte sie, „erweisen Sie uns die Ehre, verabscheuen Sie nicht unser bescheidenes Mahl ...“ „Ich – ich weiß wirklich nicht ...“ stotterte Exzellenz, „ich bin doch nicht mit der Absicht ... ich ... wollte schon längst ...“ Allerdings hielt er noch seine Zobelmütze in der Hand. Ja, er gab sich sogar im selben Augenblick das Ehrenwort, sich unbedingt sofort zu verabschieden, um nichts in der Welt zum Essen zu bleiben und ... und blieb natürlich doch. Nach einer Minute schritt er als erster zu Tisch. Pseldonimoff und die Alte gingen vor ihm her, um ihm den Weg zu bahnen. Man wies ihm den Ehrenplatz an und wieder stand eine volle Champagnerflasche vor seinem Gedeck. Zuerst gab es einen Imbiß: Hering und Schnäpse. Er streckte – nicht ganz bewußt dessen, was er tat – die Hand nach der Schnapskaraffe aus und goß sich ein volles großes Glas ein. Es war ihm, als ob er von einem Berge hinabflog, er glaubte zu fallen, zu fallen, zu fallen und fühlte, daß er sich an irgend etwas halten, anklammern mußte, doch wußte und fand er nicht, was das hätte sein können. Seine Lage wurde wirklich immer exzentrischer. Er fühlte den Spott des Schicksals. Gott weiß was mit ihm alles in einer kurzen Stunde geschah. Als er eintrat, breitete er, wie man sagt, seine Arme aus, um die ganze Menschheit und alle seine Untergebenen an sein Herz zu drücken; und nach kaum einer Stunde wußte er unter allen Schmerzen seines Herzens, daß er diesen Pseldonimoff haßte und ihn samt seiner Frau und Hochzeit zu allen Teufeln verwünschte. Und zum Überfluß erkannte er noch an dessen Gesicht und Augen, daß auch er von ihm gehaßt wurde: das hatte ihm schon längst der feindselige Blick des jungen Mannes nur allzu deutlich verraten. Selbstverständlich hätte sich Herr Pralinski, als er sich zu Tisch setzte, eher die Hand abschlagen lassen, als daß er sich selbst wirklich die ganze Wahrheit eingestanden hätte. Aber der Augenblick, da das hätte geschehen können, war noch nicht gekommen, und vorläufig gab es, wie man zu sagen pflegt, noch ein moralisches „Balancé“. Aber das Herz, das Herz ... oh, das tat so weh! es drängte hinaus, in die Freiheit, an die Luft, zur Erholung! Es war doch wirklich ein gar zu guter Mensch, dieser Iwan Iljitsch Pralinski! Er wußte doch, wußte es ja ganz genau, daß er schon längst hätte fortgehn müssen, und nicht nur einfach fortgehn, sondern sich geradezu hätte retten müssen; daß sein ganzes Unternehmen vollkommen fehlgeschlagen, keineswegs das war, was er sich auf dem Brettersteg gedacht hatte! „Warum bin ich denn hergekommen? Doch nicht, um hier zu essen und zu trinken?“ fragte er sich, als er den Hering aß. Er wurde sogar ganz Pessimist, und in seinem Herzen fühlte er, daß er sich selbst zuweilen lächerlich fand in seiner Heldenrolle. Ja, es kam sogar so weit mit ihm, daß er allmählich selbst nicht mehr begriff, warum er eigentlich eingetreten war. „Wie hätte ich denn früher fortgehn sollen? So fortgehn, ohne die Sache bis zu Ende durchgeführt zu haben, war unmöglich. Was würde man sagen? Man würde sagen, daß ich mich an unanständigen Orten herumtreibe. Und das würde ja auch so sein, wenn ich es, wie gesagt, nicht durchführte. Was wird aber morgen – bis dahin wird es ja schon überall bekannt sein – z. B. Stepan Nikiforowitsch sagen, und Ssemjon Iwanytsch? Und was wird man in der Kanzlei sagen? Und bei Schembels? Und bei Schubins? Nein, ich muß so fortgehen, daß sie alle begreifen, warum ich überhaupt gekommen bin, ich muß den moralischen Zweck meines Erscheinens klarlegen ...“ Und doch wartete er vergeblich auf den pathetischen Moment. „Sie achten mich ja nicht einmal,“ fuhr er fort, zu denken. „Worüber mögen sie jetzt nur lachen? Sie sind so lustig, als ob sie ganz gefühllos wären ... Ich habe es ja immer gesagt: die ganze neue Generation taugt nichts: gefühllos. Ich muß bleiben, was es auch koste, ich muß! ... Bis jetzt haben sie getanzt, hier aber bei Tisch sind sie alle beisammen ... Ich werde einfach von den Tagesfragen reden, hm! ... von den Reformen, der Größe Rußlands ... oh! ich werde sie schon fortreißen! Ja! Und vielleicht ist überhaupt noch nichts verloren ... Vielleicht ist es in der Wirklichkeit immer so. Womit soll ich nur beginnen, um sie sofort zu fesseln? Hm! man müßte so einen besonderen Kniff erfinden ... Ich weiß wirklich nicht ... Und was wollen sie nur, was verlangen sie eigentlich? ... Wie ich sehe, lachen sie dort schon wieder. Sollten sie etwa über mich ...? Grundgütiger Himmel! Aber was will ich denn ... warum bin ich denn hier, warum gehe ich nicht fort, was will ich eigentlich? ...“ Und plötzlich, noch als er das dachte, befiel ihn eine tiefe Scham, eine unerträgliche Scham, die ihm das Herz zu zerreißen drohte. * * * * * Es war nichts mehr zu machen: das war einfach Verhängnis. Genau zwei Minuten nachdem er sich zu Tisch gesetzt hatte, überfiel ihn ein furchtbarer Gedanke, ein Gedanke, der ihm kalten Schweiß auf die Stirn herauspreßte. Er fühlte plötzlich, daß er furchtbar betrunken war, d. h. nicht so, wie vorher, sondern wirklich total betrunken, und zwar infolge des einen Schnapses, den er nach dem vielen Champagner hinuntergestürzt hatte, und der alsbald seine Wirkung tat. Er fühlte es mit seinem ganzen Bewußtsein, daß ihn alle Kräfte verließen. Den Mut verlor er zwar deswegen nicht im geringsten, im Gegenteil, der nahm sogar noch ungeheuer zu, aber sein Bewußtsein verließ ihn keinen Augenblick und schrie ihm ununterbrochen in das linke Ohr: „das ist schlecht, sehr schlecht, sehr schlecht und sogar ganz unanständig!“ Selbstverständlich blieben die trunkenen Gedanken nicht bei diesem einen Punkte stehn: in ihm tat sich plötzlich, fast greifbar für ihn selbst, eine Duplizität seines Ichs kund. Sein erstes Ich war: Mut, das Verlangen den Feind zu schlagen, zu siegen, und die verzweifelte Überzeugung, daß er sein Ziel noch erreichen würde. Das zweite Ich aber tat sich durch dumpfen, quälenden Kopfschmerz kund: „was wird man sagen? Wie wird das enden? Was wird morgen sein, morgen, morgen!? ...“ Zuerst fühlte er nur gewissermaßen stumpfsinnig, daß er unter den Gästen Feinde hatte. „Das kommt daher, daß ich auch vorhin betrunken war,“ dachte er unter peinigenden Zweifeln. Wie groß aber war sein Entsetzen, als er wirklich an unzweifelhaften Anzeichen einsehen mußte, daß er am Tisch tatsächlich Feinde hatte. „Und weswegen nur? Weswegen?“ fragte er sich. An diesem Tisch saßen alle Gäste, etwa dreißig an der Zahl, doch waren von ihnen einige schon ganz und gar „unterm Tisch“. Und die anderen führten sich so sonderbar auf, mit solch einer bösartigen Ungezwungenheit, schrieen, sprachen alle laut durcheinander, kündeten vorzeitig Toaste an, schossen mit Brotkugeln auf die Damen ihrer ^Vis-à-vis^. Irgend ein Herr in einem fettigen Rock fiel, als er sich zu Tisch setzen wollte, unter den Tisch, wo er ruhig liegen blieb – vielleicht bis zum nächsten Morgen. Ein anderer wollte unbedingt auf den Tisch steigen, um einen Toast zu halten, und nur dem Offizier, der ihn an den Rockschößen ergriff, gelang es noch, ihn von seinem vorzeitigen begeisterten Vorhaben abzubringen. Das Essen war, was die Güte anbetraf, sehr verschiedenartig, obgleich man einen Koch, den Leibeigenen irgend eines Generals, um Rat und Hilfe gebeten hatte; es gab Eisbein, gebratene Zunge mit Kartoffeln, Fleischplätzchen mit grünen Erbsen, endlich gab es noch eine Gans und zum Schluß noch Blanc-manger. An Getränken hatte man Bier, Schnaps und Sherry. Die Champagnerflasche stand dicht vor seiner Exzellenz, was ihn zwang, sich wie Subikoff selbst einzugießen, besonders da letzterer bei Tisch nicht mehr aus eigener Initiative zu handeln wagte. Zu den Toasten auf das Wohl des jungen Paares war irgend ein roter Wein bestimmt. Der Tisch an und für sich bestand aus vielen Tischen, unter denen sich auch ein Kartentisch befand, und bedeckt waren sie gleichfalls mit vielen Tischtüchern, unter denen sich wiederum ein geblümtes jaroslawsches hervortat. Die Gäste saßen in bunter Reihe. Pseldonimoffs Mutter hatte nicht am Tisch sitzen wollen; sie hatte in der Küche zu tun. Dafür erschien ein anderes, aber bösartiges Frauenzimmer, das sich vorher nicht gezeigt hatte, in einem rotseidenen Kleide, mit verbundener Backe und entsetzlich hoher Haube. Es war das die Mutter der Neuvermählten. Sie hatte sich endlich herabgelassen, zum Essen zu erscheinen; bis dahin war sie nicht zu bewegen gewesen, das Hinterzimmer zu verlassen, und das nur infolge ihres unversöhnlichen Hasses auf die Mutter ihres Schwiegersohnes; aber darauf werde ich noch später zurückkommen. Exzellenz wurde von dieser Dame gehässig, ja fast spöttisch betrachtet, und augenscheinlich wollte sie ihm nicht einmal vorgestellt werden. Das schien ihm sehr verdächtig. Doch außer ihr gab es noch andere Gesichter, die ihm verdächtig schienen und nicht wenig Sorgen bereiteten. Es schien ihm sogar, daß sie sich alle untereinander gegen ihn verschworen hatten, und während des Essens überzeugte er sich noch immer mehr und mehr davon. Vor allen anderen erschien ihm sehr bösartig: ein Herr mit einem kleinen Bart – irgend ein freier Künstler –, der mehrmals Exzellenz ostentativ betrachtete und sich dann wieder an seinen Nachbar wandte, um ihm etwas Spaßhaftes ins Ohr zu flüstern. Zweitens, ein Jüngling, der allerdings ganz betrunken war, aber nach einigen Anzeichen zu urteilen, doch keine Sympathieen für ihn übrig zu haben schien. Dasselbe konnte man auch von dem Studenten der Medizin sagen. Und sogar der Offizier war nicht ganz zuverlässig. Doch ganz unverhohlenen Haß brachte ihm der Mitarbeiter des „Feuerbrandes“ entgegen: der lag so nachlässig auf seinem Stuhl, blickte so stolz und herausfordernd drein, lachte so frech und frei. Und als plötzlich ein großes, dickes, wohlgezieltes Brotkügelchen neben seinem Teller niederfiel, da war Exzellenz fest überzeugt und hätte seinen Kopf auf die Wette gesetzt, daß der Absender dieses Geschosses niemand anderes als dieser „Mitarbeiter“ gewesen war. Alles das beeinflußte ihn natürlich in bedauerlicher Weise. Besonders unangenehm war auch noch eine andere Beobachtung. Herr Pralinski überzeugte sich nämlich, daß es ihm bereits einige Schwierigkeiten machte, die Worte auszusprechen, daß er sehr vieles sagen wollte, die Zunge sich aber nicht mehr so ganz bewegen ließ; und darauf, daß er sich allmählich in Gedanken verlor und plötzlich ohne jeden Grund lachte. Dieser Zustand verging aber bald nach einem neuen Glase Champagner, das er sich zwar selbst eingegossen hatte, doch im Grunde überhaupt nicht hatte trinken wollen, und das er dann plötzlich doch ganz in Versehen hinabstürzte. Darauf hätte er am liebsten geweint. Er fühlte, daß ihn wieder die exzentrischste Sentimentalität überkam, daß er wieder bereit war, alle zu lieben, alle, alle, selbst Pseldonimoff, selbst den Mitarbeiter des „Feuerbrandes“. Er wollte ihnen um den Hals fallen, sich mit ihnen versöhnen, alles vergessen. Ja, er wollte ihnen sogar alles erzählen, alles, alles, d. h. was für ein guter und lieber Mensch er war, welche prachtvollen Gaben er hatte, wie er dem Vaterlande nützlich sein würde, wie er die Damen zu unterhalten verstände und vor allen Dingen, welch ein Fortschrittler er wäre, wie human, wie bereit, zu allen hinabzusteigen, selbst zu den allerniedrigsten; er war sogar bereit, ihnen aufrichtig alle Motive zu erzählen, die ihn bewogen hatten, uneingeladen bei Pseldonimoff zu erscheinen, bei ihm zwei Flaschen Champagner auszutrinken und ihn dafür mit seiner Gegenwart zu beglücken. „Die Wahrheit, die heilige Wahrheit vor allen anderen Dingen und die Aufrichtigkeit! Das ist’s: mit Aufrichtigkeit werde ich sie nehmen. Sie werden mir sofort Glauben schenken, ich sehe es schon kommen. Jetzt blicken sie noch feindselig, wenn ich ihnen aber alles sage, werde ich sie alle besiegen. Sie werden ihre Gläser füllen und sie mit einem Hoch auf mich austrinken. Der Offizier wird sein Glas natürlich an seinem Sporn zerschlagen. Sie könnten meinetwegen sogar Hurra schreien. Ja, selbst wenn sie mich auf Husarenart aufheben wollen, werde ich es ihnen nicht verbieten; es würde sich sogar sehr gut machen. Die Junge küsse ich dann auf die Stirn; sie ist doch wirklich ganz nett. Dieser Subikoff ist auch ein guter Mensch. Pseldonimoff wird sich mit der Zeit natürlich bessern. Ihm fehlt noch, wie man sagt, der gesellschaftliche Schliff. ... Und obgleich der ganzen neuen Generation diese gewisse Herzensvornehmheit abgeht, so ... aber ich werde von der gegenwärtigen Bedeutung Rußlands unter den anderen Mächten reden. Werde auch die Bauernfrage erwähnen, ja, und ... und alle werden sie mich lieben und ich werde als Sieger dieses Haus verlassen! ...“ Diese Gedanken waren natürlich sehr angenehm, aber unangenehm war nur, daß er plötzlich zwischen all diesen rosaroten Hoffnungen ganz unerwartet eine neue Eigenschaft an sich entdeckte, nämlich: unbewußt zu spucken. Wenigstens sah er, wenn er sprach, daß sein Speichel ganz gegen seinen Willen nur so spritzte. Zum ersten Mal bemerkte er es im Gespräch mit Subikoff, dem er plötzlich die Wange total bespritzte und der vor lauter Ehrfurcht nicht wagte, sie sich abzuwischen. Da nahm denn Exzellenz seine Serviette und wischte ihm selbst die Wange ab. Doch im selben Augenblick schien ihm was er tat dermaßen ungereimt, dermaßen gegen alle gesunde Vernunft, daß er verstummte und aus einer Verwunderung in die andere geriet. Subikoff saß wie abgebrüht auf seinem Stuhl. Da erinnerte sich Herr Pralinski, daß er schon seit einer Viertelstunde über ein äußerst interessantes Thema zu ihm sprach, dieser Subikoff aber, wenn er auch zuhörte, doch verlegen zu sein schien oder gar sich vor irgend etwas fürchtete. Pseldonimoff, der einen Stuhl weiter von ihm saß, streckte gleichfalls seinen langen Hals näher zu ihm und hörte mit dem allerunangenehmsten Gesichtsausdruck zu. Nein, es hatte wirklich den Anschein, als fühlte sich sein Registrator verpflichtet, auf ihn acht zu geben. Er überflog die Gäste mit seinem Blick und bemerkte, daß viele ihn ansahen und auslachten. Das Sonderbare war dabei nur, daß es ihn nicht im geringsten verwirrte; er tat noch einen Schluck aus seinem Glase und hob plötzlich laut zu sprechen an: „Ich habe schon einmal gesagt,“ begann er möglichst laut, „meine Damen und Herren, ich habe schon einmal gesagt, und soeben habe ich es auch Akim Petrowitsch gesagt, daß Rußland ... ja, gerade Rußland ... mit einem Wort, Sie verstehen, was ich sa-sa-sagen will ... Rußland durchlebt jetzt, wenigstens meiner festen Überzeugung nach, eine Epoche der Hu-hu-manität ...“ „Hu-hu-humanität!“ tönte es vom anderen Tischende zurück. „Huhuhuu!“ „Tututuu!“ Exzellenz verstummte. Pseldonimoff erhob sich und blickte streng hinüber: er wollte wissen, wer es geschrieen hatte. Subikoff schüttelte gleichsam heimlich ein wenig den Kopf, als ob er die Gäste warnen wollte. Exzellenz bemerkte es wohl, schwieg aber unter seinen Qualen. „Humanität!“ fuhr er hartnäckig fort, „und vorhin, gerade vorhin sagte ich Stepan Niki–ki–fo–rowitsch ... ja, ... daß ... daß die Erneuerung, wie man sagt, der ...“ „Exzellenz!“ ertönte es laut am anderen Tischende. „Wie beliebt?“ fragte der unterbrochene Redner, bemüht den Schreier zu entdecken. „Nichts, Exzellenz, ich meinte nur so. Fahren Sie fort! Fah–ren–Sie–fort!“ ertönte von neuem dieselbe Stimme. Herr Pralinski fühlte sich gekränkt, aber doch nicht allzu sehr. „Die Erneuerung, wie man sagt, dieser selben ...“ „Exzellenz!“ rief die Stimme von neuem. „Was wollen Sie?“ „Leben Sie hoch!“ Da hielt es Herr Pralinski nicht mehr aus. Er verstummte und wandte sich mit strenger Miene an den Friedensstörer und Beleidiger. Es war ein junger Gymnasiast, der viel getrunken hatte und große Befürchtungen erregte. Er hatte schon ein Glas und zwei Teller zerschlagen, unter dem Vorwande, daß man es auf einer Hochzeit so tun müsse. Als Herr Pralinski sich an ihn wandte, wies ihn der Offizier streng zur Ruhe. „Was fehlt Dir eigentlich? Warum brüllst Du? Wenn Du nicht schweigst, werde ich Dich vor die Tür setzen!“ „Nicht von Ihnen, Exzellenz, nicht von Ihnen ist hier die Rede! Fahren Sie fort!“ schrie der heitere Schuljunge, auf seinem Stuhl in ungenierter Pose zurückgelehnt. „Fahren Sie fort, ich höre zu und bin mit Ihnen sehr zufrieden! Großartig, groß–artig!“ „Ein betrunkener Schulbub!“ raunte Pseldonimoff seinem Vorgesetzten zu. „Das sehe ich, aber ...“ „Ich habe ihm vorhin eine Geschichte erzählt, Exzellenz,“ begann der Offizier, „von einem Leutnant unseres Regiments, der genau so mit seinem Vorgesetzten sprach; und jetzt kopiert er ihn. Zu allem, was sein Regimentschef sprach, sagte er: ‚groß–artig, groß–artig!‘ Dafür wurde er denn vor zehn Jahren aus dem Dienst entlassen.“ „Wa–wa–was ist denn das für ein Leutnant?“ „Ein Leutnant unseres Regiments, Exzellenz. Er war auf dem ‚groß–artig‘ einfach übergeschnappt. Zuerst bekam er Hausarrest, dann Verweise und dann Karzer ... Der Regimentschef redete ihm wie ein Vater zu, er aber sagt ihm: ‚groß–artig, groß–artig!‘ Und sonderbar: er war wirklich ein mutiger Offizier. Man wollte ihn schließlich vor’s Gericht stellen, aber da stellte es sich von selbst heraus, daß er irrsinnig war ...“ „Das bedeutet also ... ein Schuljunge. Für Schuljungenstreiche braucht man auch nicht so streng ... Ich bin meinerseits bereit, zu verzeihen ...“ „... was die Ärzte auch sofort bestätigten.“ „A–ber er war doch ganz lebendig? Wie, wie konnte man ihn denn anatomieren?“ Eine laute Lachsalve erhob sich. Das hatten sich die Gäste bis dahin denn doch noch nicht erlaubt! Exzellenz wurde wild. „Meine Herren! Meine Damen und Herren!“ rief er, ohne auch nur ein einziges Mal zu stottern. – „ich weiß es sehr gut, daß man einen lebendigen Menschen nicht anatomieren kann. Ich nahm, wie gesagt, nur an, daß er im Wahnsinn nicht mehr lebendig war ... das heißt, schon gestorben war ... das heißt, ich meine nur ... daß Sie mich nicht lieben ... Ich aber liebe Sie alle ... ja, und ich liebe auch Dich, Por... Porfirij ... Ich erniedrige mich, wenn ich so spreche ...“ In dem Augenblick spritzte aber wieder Speichel von seinen Lippen und flog auf das Tischtuch – gerade auf die sichtbarste Stelle. Pseldonimoff stürzte sofort herbei, um abzuwischen. Dieses letzte Unglück vernichtete seine Exzellenz vollständig. „Nein, das ist zu viel!“ rief er verzweifelt. „Nur ein betrunkener Schuljunge, Exzellenz!“ flüsterte ihm wieder Pseldonimoff zu. „Porfirij! Ich sehe, daß Ihr ... alle ... alle ... ja! Ich sage, daß ich hoffe ... ja, ich fordere alle auf, zu sagen: wodurch habe ich mich erniedrigt?“ Exzellenz war dem Weinen nahe. „Aber Exzellenz! Wie kommen Exzellenz auf so etwas!“ „Porfirij, ich wende mich an Dich. – Sage, warum ich gekommen bin ... ja ... ja, auf die Hochzeit, ich hatte doch ein Ziel! Ich wollte moralisch erheben ... ich wollte, daß man fühlt ... Ich wende mich an alle: verehrte Anwesende! Bin ich in Ihren Augen sehr gesunken oder nicht?“ Grabesschweigen. Aber das war ja das Unglück, daß auf seine kategorische Frage nur allgemeines Schweigen die Antwort war. „Was würde es sie kosten, jetzt hurra zu schreien!“ zuckte es Exzellenz durch den Kopf. Aber die Gäste tauschten nur stumm vielsagende Blicke untereinander aus. Subikoff war weder tot noch lebendig und klammerte sich nur krampfhaft an seinen Stuhl; Pseldonimoff stellte sich, stumm vor Schreck, immer wieder die furchtbare Frage: „Was wird mit mir dafür morgen geschehn?“ Plötzlich wandte sich der Mitarbeiter des „Feuerbrand“, der schon längst betrunken war, doch bis dahin in finsterem Schweigen vor sich hin gebrütet hatte, direkt an seine Exzellenz und antwortete im Namen der ganzen Gesellschaft: „Ja!“ rief er mit lauter Stimme und seine Augen glänzten. „Ja! Sie haben sich erniedrigt, Sie sind ein ... Reaktionär!“ „Junger Mann, besinnen Sie sich! Mit wem Sie, wie man sagt, sprechen!“ rief heftig Herr Pralinski und sprang wieder von seinem Platz auf. „Mit Ihnen, und zweitens bin ich kein ‚junger Mann‘ ... Sie sind hergekommen, um hier eine schöne Rolle zu spielen, um populär zu werden.“ „Pseldonimoff, was bedeutet das!“ schrie Exzellenz außer sich. Pseldonimoff sprang in solch einem Entsetzen auf, daß er zuerst steif und betäubt stehen blieb, und nicht wußte, was er tun sollte. Die Gäste verstummten gleichfalls auf ihren Plätzen. Der freie Künstler und der Schüler klatschten Beifall und schrien „bravo, bravo!“ Der Mitarbeiter aber fuhr in unbändigem Eifer fort zu schreien: „Ja, Sie sind hergekommen, um Ihre Humanität zu beweisen! Sie haben das allgemeine Vergnügen gestört! Sie haben Champagner getrunken und nicht bedacht, daß Champagner viel zu teuer ist für einen Beamten, der zehn Rubel monatlich erhält, und ich vermute sogar, daß Sie zu jenen Vorgesetzten gehören, die auf die jungen Frauen ihrer Untergebenen geschliffen sind! Ja, und ich bin sogar überzeugt, daß Sie Schmiergelder nehmen ... Ja, ja, ja!“ „Pseldonimoff, Pseldonimoff!“ rief Exzellenz und streckte in der Verzweiflung die Arme nach ihm aus. Er fühlte, daß jedes Wort des Mitarbeiters ein neuer Dolchstich für sein Herz war. „Sofort, Exzellenz, beunruhigen Sie sich nicht!“ rief energisch der wieder zu sich gekommene Pseldonimoff, lief zum Mitarbeiter, packte ihn am Kragen und schleifte ihn hinaus. Solch eine physische Kraft hätte niemand von dem schwächlichen Pseldonimoff erwartet. Der Mitarbeiter war aber sehr betrunken und Pseldonimoff vollkommen nüchtern. Darauf gab er ihm noch einige Rippenstöße und schloß dann die Tür hinter ihm zu. „Alle seid Ihr Schufte!“ schrie der Mitarbeiter hinter der Tür. „Ich werde Euch morgen alle im ‚Feuerbrand‘ karrikieren! ...“ Erregt sprangen sofort alle auf. „Exzellenz, Exzellenz!“ riefen Pseldonimoff, seine Mutter und noch einige Gäste, die sich um den Ehrengast drängten, „Exzellenz! Beruhigen Sie sich!“ „Nein, nein!“ rief Exzellenz, „ich bin vernichtet ... Ich kam ... ich wollte, sozusagen, taufen. Und das! Das habe ich dafür ... für alles, für alles! ...“ Er sank halb bewußtlos wieder auf seinen Stuhl, legte beide Arme auf den Tisch und beugte seinen Kopf auf sie nieder – d. h. gerade auf seinen Teller mit Blanc-manger. Ich glaube, es ist überflüssig, das allgemeine Entsetzen zu beschreiben. Nach einer Minute erhob er sich wieder, augenscheinlich in der Absicht fortzugehn, wankte aber, stieß an einen Stuhlfuß und fiel der Länge nach platt hin. Das geschieht zuweilen mit Nichttrinkern, wenn sie sich einmal zufällig angetrunken haben. Bis ins Kleinste, bis zum letzten Augenblick behalten sie ihr Bewußtsein, dann aber fallen sie plötzlich wie vom Blitz getroffen hin. Exzellenz lag vollkommen bewußtlos auf dem Boden. Pseldonimoff fuhr sich in die Haare und erstarrte in dieser Bewegung. Die Gäste beeilten sich, nach Haus zu gehn, und alle sprachen sie über das Vorgefallene. Es war schon gegen drei Uhr morgens. * * * * * Das wirklich Schlimme war nur, daß die Verhältnisse Pseldonimoffs viel schlechter waren, als man es sich damals hätte denken können, ganz abgesehen selbst von der Peinlichkeit seiner Lage am Hochzeitstage. Noch vor einem Monat hatte er im aussichtslosesten Elend gelebt. Er stammte aus der Provinz, wo sein Vater Beamter gewesen war. Fünf Monate vor seiner Heirat, nachdem er sich ein ganzes Jahr lang vorher brotlos in Petersburg herumgetrieben, hatte er schließlich diese Stelle von zehn Rubel monatlich erhalten. Er wäre körperlich und geistig wiedererstanden, wenn sich nicht bald darauf seine Verhältnisse wieder verschlimmert hätten. Auf der Welt gab es im ganzen nur zwei Pseldonimoffs, ihn und seine Mutter, die nach dem Tode ihres Mannes die Provinz verlassen hatte. Mutter und Sohn waren beide obdachlos, und wären in der Kälte beinahe elend umgekommen: sie nährten sich nur von zweifelhaften Dingen. Auch gab es Tage, an denen Pseldonimoff selbst mit einem Krug zur Fontanka ging, um mit dem schmutzigen Flußwasser seinen Durst zu stillen. Als er die Stelle erhalten hatte, mietete er mit seiner Mutter einen Winkel. Sie wurde Wäscherin und er sparte drei, vier Monate, bis er sich ein Paar Stiefel und einen Paletot kaufen konnte. Und wieviel Unangenehmes mußte er in der Kanzlei erdulden: Vorgesetzte erkundigten sich bei ihm, ob er auch eine Badstube kannte? Über ihn verbreitete sich das Gerücht, daß im Kragen seiner Uniform sich Wanzen Nester bauten. Aber Pseldonimoff hatte einen festen Charakter. Er war ein friedlicher und stiller Mensch; seine Bildung war nur sehr gering, und sprechen hörte man ihn fast nie. Daher konnte man auch nicht wissen, ob er dachte, ob er Pläne machte und Systeme baute oder sich nach irgendetwas sehnte. Zum Ersatz dafür hatte sich aber bei ihm instinktiv der feste Entschluß entwickelt, sich aus dieser schlechten Lage herauszuarbeiten. Er besaß eine wahrhaft ameisenhafte Zähigkeit: zerstört man den Ameisen ihr Nest, so fangen sie bekanntlich sofort an, sich ein neues zu bauen, zerstört man auch dieses, so bauen sie sich wieder ein neues, und so weiter unermüdlich. Er war ein aufbauender und häuslicher Charakter. Es stand auf seiner Stirn geschrieben, daß er sich doch sein Nest bauen und vielleicht noch Vorräte ansammeln würde. Auf der ganzen Welt liebte ihn nur seine Mutter, die aber liebte ihn bis zur Grenzenlosigkeit. Sie war gleichfalls eine Frau von Charakter, war unermüdlich arbeitsam und von großer Güte. So hätten sie in ihrem Winkel unter diesen Verhältnissen vielleicht noch fünf oder sechs Jahre gelebt, wenn sie nicht mit dem Titularrat außer Diensten, dem alten Mlekopitajeff zusammengetroffen wären, der auch früher einmal in der Provinz gelebt und sich erst in letzter Zeit mit seiner Familie in Petersburg niedergelassen hatte. Mit Pseldonimoff war er bekannt und seinem Vater sogar einmal verpflichtet gewesen. Er war bemittelt, allerdings nicht sehr, wieviel er aber in Wirklichkeit besaß, das wußte Niemand, weder seine Frau, noch seine Tochter, noch sonst seine Verwandten. Er hatte zwei Töchter und da er ein eingebildeter Trunkenbold, ein Haustyrann und außerdem noch ein kranker Mensch war, so fiel es ihm plötzlich ein, die eine Tochter mit Pseldonimoff zu verheiraten: „Ich kenne ihn, sein Vater war ein guter Mensch, also wird auch er ein guter Mensch sein.“ Und was Mlekopitajeff wollte, das führte er auch durch: gesagt – getan. Er war ein sonderbarer Kauz. Den größten Teil seines Lebens brachte er im Lehnstuhl zu, da er sich infolge einer Krankheit seiner Beine kaum bedienen konnte, was ihn indessen nicht hinderte, Schnaps zu trinken. Tagelang konnte er trinken und – schimpfen. Da er ein boshafter Mensch war, so mußte er immer irgend jemanden haben, den er ununterbrochen quälen konnte. Zu diesem Zweck unterhielt er bei sich einige entferntere Verwandte: seine Schwester, die ebenfalls krank und zänkisch war, zwei Schwestern seiner Frau, die der seinen in nichts nachstanden, und eine alte Tante, die sich bei irgendeiner Gelegenheit einmal eine Rippe gebrochen hatte. Dann gab es dort noch eine verrußte Deutsche, die er gleichfalls unentgeltlich bei sich hielt, weil sie ihm so schöne Märchen „aus Tausend und einer Nacht“ zu erzählen wußte. Sein ganzes Vermögen bestand darin, diese unglücklichen freien Kostgänger jeden Augenblick und bei jeder Gelegenheit zu schimpfen und aufzusticheln, seine Frau übrigens nicht ausgenommen, – ein Wesen, das mit Zahnschmerzen bereits auf die Welt gekommen war –, und sie alle wagten ihm nicht ein Wort zu erwidern. Er hetzte sie auch gegeneinander auf, erfand und verbreitete unter ihnen Klatschgeschichten und lachte und freute sich dann, wenn sie sich gegenseitig beinahe in die Haare gerieten. Ebenso freute er sich sehr, als seine älteste Tochter, die mit einem armen Offizier verheiratet gewesen war und zehn Jahre in der größten Armut gelebt hatte, jetzt als Witwe mit drei kleinen Kindern zu ihm übersiedelte. Ihre Kinder konnte er zwar nicht leiden, da sich aber dadurch das Material zu seinen täglichen Experimenten vergrößerte, so war der Alte schließlich doch ganz zufrieden damit. Diese Sammlung böser Weiber und kranker Kinder lebte samt ihrem Peiniger zusammen gedrängt in dem Holzhause auf der Petersburger Seite, konnte sich weder sattessen, denn der Alte war geizig und gab nur kopekenweise das Geld her, obgleich er sonst zum Schnaps immer genügend Geld hatte, noch sich ausschlafen, denn der Greis litt an Schlaflosigkeit und wollte unterhalten und zerstreut werden. Kurz, alle verwünschten sie ihr Schicksal. Und da war es denn, daß ihm plötzlich Pseldonimoff auffiel. Er war erstaunt über dessen lange Nase und ergebenen Gesichtsausdruck. Seine kränkliche und unansehnliche jüngere Tochter erreichte gerade das Alter von siebzehn Jahren. Wenn sie auch früher einmal so etwas wie eine deutsche Schule besucht hatte, so hatte sie es doch nicht weiter als bis zum Lesen und Schreiben gebracht. Sie wuchs auf, mager und skrophulös, unter dem Krückstock eines betrunkenen Vaters, in einem Sodom von häuslichen Klatschereien, Spionage und Verleumdungen. Freundinnen hatte sie niemals gehabt. Sie war zu allem zu dumm. Heiraten wollte sie aber schon längst. In Gegenwart von fremden Menschen sprach sie kein Wort, zu Hause aber war sie böse und zänkisch wie eine kleine Viper. Besonders liebte sie die Kinder ihrer Schwester zu kneifen und zu stoßen, sie anzugeben, wenn sie Zucker oder Brot gestohlen hatten, weshalb denn zwischen ihr und der älteren Schwester ein ewiges unerbittliches Gezänk war. Der Alte selbst bot seine Tochter Pseldonimoff an. Wie sehr sich dieser darüber auch unglücklich fühlte, so bat er sich doch eine Bedenkzeit aus. Lange berieten Mutter und Sohn miteinander, was zu tun war. Aber das Haus wurde auf den Namen der Braut geschrieben und wenn es auch ein unansehnliches einstöckiges Holzhaus war, so hatte es doch immerhin einen Wert. Außerdem bekam sie auch noch vierhundert Rubel Mitgift, wie aber sollte man sich die je zusammensparen! „Ich nehme mir diesen Menschen in’s Haus,“ schrie der betrunkene Alte, „erstens weil ihr alle Weiber seid und das Weibspack allein langweilt mich. Ich will, daß auch Pseldonimoff nach meiner Flöte tanzt, weil ich sein Wohltäter bin. Zweitens, nehme ich ihn darum, weil Ihr ihn alle nicht wollt und Euch darüber ärgert. Und so nehme ich ihn denn Euch zum Trotz. Was ich aber gesagt habe, das werde ich auch ausführen. Du aber, Pseldonimoff, haue sie, wenn sie Deine Frau wird; ihr sitzen von Geburt an sieben Teufel im Leibe. Jage sie alle hinaus!“ Pseldonimoff schwieg, er hatte sich entschlossen. Man nahm ihn und seine Mutter bereits vor der Hochzeit ins Haus, wusch und kleidete sie und gab ihnen Geld. Der Alte protegierte sie vielleicht nur darum, weil die ganze Familie sich über sie ärgerte. Pseldonimoffs Mutter gefiel ihm sogar sehr und er enthielt sich ihr gegenüber jeglicher Gemeinheiten. Übrigens, ihrem Sohn befahl er alsbald, vor ihm den Kasatschock zu tanzen. „Nun, genug, ich wollte nur sehn, ob Du Dich mir gegenüber vergessen wirst,“ sagte er, nachdem er sich am Tanzen sattgesehen hatte. Geld zur Hochzeit gab er wie es sich gehörte und er lud sogar alle seine Verwandten und Bekannten ein. Von Seiten Pseldonimoffs waren der Mitarbeiter des „Feuerbrandes“ und Akim Petrowitsch Subikoff die Ehrengäste. Pseldonimoff wußte es sehr gut, daß seine Braut für ihn nur Widerwillen empfand und daß sie den langen Leutnant heiraten wollte, nicht aber ihn. Er ließ jedoch alles über sich ergehn, – das hatte er mit der Mutter so verabredet. Den ganzen Tag über und selbst am Hochzeitsabend noch hatte der Alte mit den gemeinsten Worten geschimpft und wieder gehörig getrunken. Die ganze Familie hatte sich des Festes wegen in die hinteren Zimmer zurückgezogen, wo es bis zum Ersticken heiß und eng war. Die vorderen Zimmer dagegen waren zum Tanz und Festessen bestimmt. Endlich, als der Alte vollständig betrunken einschlief, ungefähr um elf Uhr Abends, entschloß sich die Mutter der Braut, die sich diesen Tag ganz besonders schlecht zur Mutter Pseldonimoffs verhalten hatte, den Ärger in Güte zu verwandeln und sich am Fest zu beteiligen. Das Erscheinen seiner Exzellenz verdarb aber alles. Frau Mlekopitajeff verlor die Fassung, fühlte sich beleidigt und schimpfte, warum man es ihr nicht gesagt, daß man seine Exzellenz eingeladen hatte. Man versicherte ihr, daß er von selbst, uneingeladen gekommen wäre – sie aber war so dumm, daß sie es nicht glauben wollte. Man mußte Champagner reichen. Bei der Mutter fand sich noch ein Rubel Silber, Pseldonimoff selbst aber hatte keine Kopeke mehr. Man mußte also die alte wütende Mlekopitajeff anflehen, Geld für die eine und dann noch für die zweite Flasche zu geben. Man hielt ihr die Zukunft, die Karriere ihres Schwiegersohnes vor, die man durch solche Verbindungen machen könnte und sie gab denn auch zu guter Letzt von ihrem eigenen Gelde, doch mußte Pseldonimoff einen so bitteren Kelch dabei leeren, daß er wie wahnsinnig ins Zimmer lief, wo das Ehebett schon bereitet war, und sich mit beiden Händen sein Haar raufte und seinen Kopf in die schönen Kissen preßte, die doch nur zu paradiesischen Genüssen bestimmt waren, und vor ohnmächtiger Wut am ganzen Körper zitterte. Ja, Exzellenz ahnte es nicht, was diese zwei Flaschen Sekt, die er am Abend getrunken, gekostet hatten! Wie groß aber war das Entsetzen Pseldonimoffs, sein Kummer und seine Verzweiflung, als es mit seiner Exzellenz auf solche Weise endete! Wieder standen ihm die größten Sorgen bevor und die ganze Nacht über mußte er den Tränen seiner kapriziösen jungen Frau und den Vorwürfen der dummen Verwandten Widerstand leisten. Ihn schmerzte schon sowieso der Kopf und es wurde ihm schwarz vor den Augen. Aber man mußte doch seiner Exzellenz zu Hilfe eilen, mußte ihm doch um drei Uhr morgens einen Arzt und einen festen Wagen suchen, denn auf einem kleinen offenen Schlitten konnte man solch eine Persönlichkeit und in solch einem Zustande nicht nach Hause bringen. Und woher das Geld für den Wagen nehmen? Die Mlekopitajeff, die darüber wütend war, daß der „General“ ihr nicht ein Wort gesagt noch sie bei Tisch angesehen hatte, erklärte einfach, sie hätte keine Kopeke mehr. Vielleicht hatte sie auch wirklich keine mehr. Wo also sollte man das Geld hernehmen? Was sollte man machen? Ja, es war genug Grund vorhanden, sich die Haare zu raufen. * * * * * Vorläufig hob man seine Exzellenz auf ein kleines Ledersofa, das im Speisezimmer stand, und während man im Zimmer Ordnung schaffte und alles abräumte, lief Pseldonimoff vom Einen zum Andern, um Geld aufzutreiben. Zuerst versuchte er es bei der Magd, doch stellte es sich heraus, daß niemand welches hatte. Er wagte es sogar Akim Petrowitsch Subikoff, der noch nicht fortgegangen war, zu beunruhigen. Der aber geriet in solch eine Verwirrung, wenn er auch sonst ein guter Mensch war, und erschrak dermaßen, als von Geld die Rede war, daß er den unglaublichsten Unsinn zusammensprach: „Ein anderes Mal werde ich mit Vergnügen,“ murmelte er, „... aber jetzt ... wirklich, entschuldigen Sie mich ...“ Er nahm seine Mütze und lief so schnell als möglich zum Hause hinaus. Schließlich blieb nur noch der gutmütige Jüngling übrig, der von dem Traumbuch erzählt hatte. Auch er war länger zurückgeblieben und nahm an dem Unglück Pseldonimoffs herzlichen Anteil. Alle drei beschlossen sie, nicht mehr nach dem Doktor, sondern nur nach einem Wagen zu schicken, um den Kranken in seine Wohnung überzuführen, sonst aber an ihm Hausmittel anzuwenden: die Schläfen und den Kopf mit kaltem Wasser abzureiben, Eiskompressen zu machen und Ähnliches. Das übernahm die Mutter Pseldonimoffs. Der Jüngling aber lief davon, um den Wagen zu besorgen. Da aber auf der Petersburger Seite um diese Zeit nicht einmal Schlitten zu finden waren, so mußte er sich auf einen weit entfernten Droschkenhof begeben und dort erst die Kutscher aufwecken. Man handelte und sprach noch lange hin und her, daß fünf Rubel zu solch einer Stunde für einen geschlossenen Wagen zu wenig wären. Indessen kam man doch mit drei Rubeln überein. Als aber der Jüngling um vier Uhr morgens mit dem Wagen bei Pseldonimoff vorfuhr, hatten sie ihren Entschluß schon längst geändert. Es erwies sich, daß Herr Pralinski, der noch immer nicht zu sich kam, so schwer erkrankt war, so ächzte und stöhnte und sich hin und her warf, daß es einfach unmöglich und viel zu gewagt schien, ihn in solch einem Zustande nach Hause zu fahren. „Was wird aus alledem noch werden?“ rief Pseldonimoff immer wieder fassungslos. Was sollte man tun? Es stellte sich jetzt eine neue Frage: wenn man ihn nun einmal im Hause behalten mußte, wo sollte man ihn dann betten? Im ganzen Hause waren nur zwei Betten: ein großes zweischläfriges Bett, in dem der alte Mlekopitajeff und seine Frau schliefen, und das neugekaufte zweischläfrige Bett, das für die Neuvermählten bestimmt war. Alle anderen Einwohner oder richtiger Einwohnerinnen des Hauses schliefen auf dem Fußboden, d. h. auf Matratzen, die meistens sehr zerrissen waren, aber auch diese waren alle besetzt. Wohin sollte man den Kranken legen? Ein Federbett würde sich zur Not noch haben finden lassen, man hätte es im äußersten Falle unter irgend einer Schläferin hervorgezogen, aber wo und worauf sollte man ihn betten? Im Saal natürlich, da es das entlegenste Zimmer war, von dem Familiennest etwas weiter entfernt lag und einen besonderen Ausgang hatte. Aber worauf betten? Doch nicht etwa auf Stühlen? Bekanntlich wird den Gymnasiasten, wenn sie am Sonnabend Abend aus der Schule zum Sonntag nach Hause kommen, auf Stühlen eine Schlafstelle bereitet, – aber solch einer Persönlichkeit gegenüber wäre das ja einfach unerhört respektlos gewesen. Was würde er am nächsten Morgen sagen, wenn er sich auf Stühlen gebettet fände? Pseldonimoff wollte davon überhaupt nichts hören. Es blieb nur eines übrig: ihn auf das Bett der Neuvermählten zu bringen. Dieses Brautlager war, wie ich schon erwähnte, in einem kleinen Raum neben dem Speisezimmer hergerichtet. Auf dem Bett war eine neue zweischläfrige Matratze, reine Wäsche, vier Kissen aus rosa Kaliko mit weißen Musselinschleiern, die mit Rüschen besetzt waren. Die rosa Atlasdecke war mit Mustern bestickt. Aus einem goldenen Ring hingen Musselin-Bettvorhänge von oben herab. Mit einem Wort, es war wie es sein mußte, und die Gäste, die sich fast alle das Brautgemach angesehn hatten, waren von der Einrichtung sehr entzückt gewesen. Die Braut aber lief während des Abends, obgleich sie Pseldonimoff nicht leiden konnte, einige Mal hierher, um es sich anzusehn. Man kann sich denken, wie groß ihr Unwille, ihre Wut war, als sie erfuhr, daß man auf ihrem Brautbett den Kranken, der vielleicht sogar an der Cholera erkrankt war, betten wollte! Auch ihre Mutter trat für sie ein, schimpfte gehörig und versprach am anderen Tage sich bei ihrem Manne zu beklagen: aber Pseldonimoff blieb dabei und bestand darauf: Exzellenz wurde aufs Bett gebracht und den Neuvermählten bereitete man im Gastzimmer ein Lager auf Stühlen. Die Neuvermählte weinte, war bereit, alle zu kneifen, wagte aber doch nicht zu widersprechen: sie wußte, daß Papachen einen Krückstock hatte, und der war ihr nur zu gut bekannt, und sie wußte gleichfalls, daß Papachen am nächsten Tage Rapport verlangen würde. Zu ihrer Beruhigung brachte man ihr noch die rosa Decke und die Kissen mit den Musselinbezügen. In demselben Augenblick kam der Jüngling mit dem Wagen an, und als er erfuhr, daß der Wagen nicht mehr nötig war, erschrak er furchtbar. Er mußte also den Wagen bezahlen, obgleich er in seinem ganzen Leben noch keine zehn Kopeken besessen hatte. Pseldonimoff erklärte sich für vollkommen bankerott. Man versuchte den Kutscher zu bereden, doch wollte der von alledem nichts wissen, er wütete nur und schrie. Womit das endete – weiß ich nicht genau. Ich glaube, der Jüngling begab sich sozusagen als Gefangener des Kutschers im Wagen in den Stadtteil Peski, wo er einen ihm bekannten Studenten, der bei Bekannten übernächtigte, aufzuwecken und anzupumpen gedachte. Es war schon fünf Uhr morgens, als man die Neuvermählten allein ließ und sie sich im Wohnzimmer einschlossen. Am Bette des Kranken blieb die alte Pseldonimoff. Sie wickelte sich in einen Pelz und legte sich auf den Teppich neben dem Bett, aber schlafen konnte sie nicht, denn sie war gezwungen, alle Augenblicke aufzustehn: Exzellenz litt an einem furchtbar verdorbenen Magen. Frau Pseldonimoff, eine tapfere und großmütige Frau, entkleidete ihn eigenhändig, pflegte ihn wie ihren eigenen Sohn und brachte die ganze Nacht über das nötige Geschirr hinaus und wieder zurück. Indessen hatten die peinlichen Überraschungen dieser Nacht noch lange nicht ihr Ende erreicht. * * * * * Es waren, seitdem man das junge Ehepaar allein gelassen hatte, noch keine zehn Minuten vergangen, als man plötzlich ein ohrenzerreißendes Geschrei hörte, keinen Schrei des Entzückens, nein, sondern ein sehr boshaftes Gekreisch. Nach dem Geschrei hörte man Lärm und Gepolter wie ein Fallen von Stühlen und im Augenblick stürzte völlig unerwartet in das dunkle Zimmer eine ganze Eskadron erschrockener und jammernder Frauen herein, die alle in den unmöglichsten Nachtkostümen staken. Diese Frauen waren: die Mutter der Jungen, deren ältere Schwester, die in diesem Moment selbst ihre drei kranken Kinder verlassen hatte, drei Tanten, darunter auch die eine mit der gebrochenen Rippe, ja sogar die Köchin war dabei, und auch die Deutsche, die so schöne Märchen erzählen konnte, und der man das einzige, was sie besaß, nämlich ihre Matratze, – die beste im ganzen Haus – unten weggezogen hatte, um sie dem jungen Paar zu geben, auch sie stürzte mit den Andern zusammen herein. Alle diese achtenswerten Frauen hatten sich schon seit einer Viertelstunde auf den Zehenspitzen herangeschlichen, um aus einer ganz unerklärlichen Neugier an der Tür zu lauschen. Man machte also sofort Licht und ihnen allen bot sich ein ganz unerwartetes Schauspiel. Die Stühle, von denen die breite Matratze nur an den Rändern gestützt worden war, hatten der doppelten Schwere nicht Widerstand leisten können und waren auseinander gerutscht, die Matratze war daher zwischen ihnen auf den Fußboden gesunken. Die junge Frau weinte vor Wut, dieses Mal war sie wirklich tief gekränkt. Moralisch vernichtet und wie ein Verbrecher stand der arme Pseldonimoff da – öffentlich der Gemeinheit überführt. Er vermochte nicht einmal sich zu verteidigen. Von allen Seiten hörte man Gekreisch und Geschrei. Auf diesen Lärm hin lief auch die Mutter Pseldonimoffs herbei, doch die Mutter der Neuvermählten behielt das Übergewicht. Sie überschüttete Pseldonimoff mit sonderbaren und ganz ungerechten Vorwürfen, wie: „Was bist Du denn nach alledem eigentlich für ein Mann! Wozu taugst Du denn überhaupt noch nach solch einem Skandal?“ und so weiter, nahm darauf ihre Tochter am Arm und führte sie fort, nachdem sie persönlich die Rechtfertigung dieser Handlung vor ihrem gefürchteten Manne auf sich genommen hatte. Ihr folgten kopfschüttelnd und klagend all die anderen Frauen. Nur die Mutter Pseldonimoffs verließ ihren Sohn nicht und versuchte ihn zu trösten. Aber er jagte auch sie hinaus. Ihm war nicht nach Trost zu Mut. Er setzte sich, so wie er war, im Hemd und barfüßig, aufs Sofa und verfiel in trübes Sinnen. Gedanken durchkreuzten und verwirrten seinen Kopf. Ganz mechanisch sah er sich im Zimmer um, in welchem sich noch vor ein paar Stunden die Tanzenden gedreht hatten und wo in der Luft noch der Zigarettenrauch stand. Zigarettenstummel und Konfektpapier lagen auf dem begossenen und staubigen Fußboden umher. Das zerstörte Ehelager und die umgeworfenen Stühle zeugten von der Vergänglichkeit der besten und aufrichtigsten Erdenträume und Hoffnungen. So saß er eine ganze Stunde lang. Ihm gingen schwere Fragen durch den Kopf, zum Beispiel: was ihn jetzt im Dienst erwarten würde? Es war ihm schmerzlich einzusehn, daß er seine Stelle verlassen mußte, denn nach allem, was an diesem Abend geschehen war, konnte er unmöglich auf seinem Posten bleiben. Auch dachte er an Mlekopitajeff, der ihn vielleicht morgen schon wieder den Kasatschock tanzen lassen würde, um seine Bescheidenheit zu erproben. Fünfzig Rubel hatte er ihm zur Hochzeit gegeben, die waren aber bis auf die letzte Kopeke verausgabt worden, doch die vierhundert Rubel Mitgift auszuzahlen, daran dachte der Alte auch nicht einmal. Ja, auch von dem Besitz des Hauses hatte er keine formelle Bescheinigung. Dann dachte er noch an seine Frau, die ihn in der kritischsten Minute seines Lebens verlassen hatte und an den langen Offizier, der vor seiner Frau aufs Knie gesunken war, dachte dann an die sieben Teufel seiner Frau, auf die er von dem Schwiegervater selbst aufmerksam gemacht worden war ... Freilich fühlte er die Kraft in sich, Vieles ertragen zu können, aber das Schicksal brachte ihm solche Überraschungen, daß es wohl verständlich war, wenn er an den eigenen Kräften verzweifelte. So trauerte Pseldonimoff in der Unglücksnacht. Währenddessen brannte der Lichtstummel aus, sein flackernder Schein fiel gerade auf das Profil Pseldonimoffs und malte an die Wand in riesigen Dimensionen sein Schattenbild: seinen langen Hals, seine gebogene Nase und die zwei Haarbüschel am Kopf, den einen am Kopfwirbel, den anderen über der Stirn. Endlich beim ersten Morgengrauen, als es ihn fröstelte, legte er sich auf die Matratze, ohne das Licht auszulöschen, ohne etwas zu ordnen, ohne sich ein Kissen unter den Kopf zu schieben. Ihn überfiel ein bleierner Schlaf, wie ihn nur zum Tode Verurteilte am Tage vor der Hinrichtung zu haben pflegen. * * * * * Und andrerseits – womit hätte man diese qualvolle Nacht vergleichen können, die Herr Pralinski auf dem Brautbett des unglücklichen Pseldonimoff verbrachte! Die Kopfschmerzen, die Übelkeit mit allen ihren Folgen verließen ihn keinen Augenblick. Das waren Höllenqualen! Das Bewußtsein, wenn es für einen Moment in seinem Kopfe auftauchte, beleuchtete solche Abgründe des Entsetzens, so trübe und widerliche Bilder, daß es besser für ihn war, nicht zur Besinnung zu kommen. Übrigens drehte sich ihm alles im Kopf herum. Er erkannte, zum Beispiel, die Mutter Pseldonimoffs, hörte ihre tröstenden Beruhigungen, in der Art wie: „Halt aus, mein Täubchen, halt aus Väterchen, es kommt alles auf Gewohnheit an,“ er erkannte und hörte sie, konnte sich aber doch keine logische Rechenschaft geben über ihre Anwesenheit. Unangenehme Bilder verfolgten ihn; am häufigsten erschien ihm Ssemjon Iwanowitsch Schipulenko; strengte er sich aber an, ihn sich näher anzusehn, so war es wiederum nicht Ssemjon Iwanowitsch Schipulenko, sondern die Nase Pseldonimoffs. Auch tauchten vor ihm der freie Künstler, der Offizier und die Alte mit der verbundenen Backe auf. Aber am meisten beschäftigte ihn der goldene Ring, der über seinem Kopfe hing und an dem die Vorhänge befestigt waren. Er sah den Ring ganz genau bei dem kargen Schein des Lichtendchens, das nur trübe das Zimmer beleuchtete, und strengte sich an zu denken: wozu dieser Ring dient, warum er hier hängt und was er bedeutet? Er fragte sogar einige Mal die Alte danach, doch konnte er sich augenscheinlich nicht deutlich genug ausdrücken, denn wie er sich auch anstrengte, die Alte verstand ihn nicht. Erst gegen Morgen hörten die Anfälle auf und er schlief fest und traumlos ein. So schlief er ungefähr eine Stunde und als er schließlich erwachte, war er bei voller Besinnung, fühlte aber nur einen unerträglichen Kopfschmerz und seine Zunge schien sich in ein Stück Tuch von schlechtestem Geschmack verwandelt zu haben. Er erhob sich ein wenig, blickte sich um und dachte nach. Das bleiche Licht des Morgens stahl sich als heller Streifen durch die Ritze der Fensterläden und erzitterte an der Wand. Es war ungefähr sieben Uhr morgens. Als er sich aber plötzlich alles dessen erinnerte, was mit ihm am Abend vorher geschehn war, als er sich aller Einzelheiten beim Abendessen erinnerte, seiner fehlgeschlagenen Eroberung, seiner Rede bei Tisch, und sich plötzlich mit der erschreckendsten Klarheit alle Folgen, die sich daraus für ihn ergeben würden und was man über ihn denken würde, vorstellte, als er sich umblickte und gewahr wurde, in welch einen traurigen und ekelhaften Zustand er das friedliche Ehelager seines Untergebenen gebracht hatte – oh, da überfiel ihn solch eine Scham, da fühlte er solche Qualen, daß er sein Gesicht mit beiden Händen bedeckte und sich verzweifelt in die Kissen warf. Aber sofort richtete er sich wieder auf, sprang aus dem Bett, ergriff seine Kleider, die schon gereinigt und gesäubert neben ihm auf dem Stuhle lagen, und zog sie so eilig an, als ob er irgend jemandem entfliehen wollte. Dort auf dem anderen Stuhle lagen auch sein Pelz, seine Mütze, und in der Mütze seine gelben Handschuh. So wollte er leise verschwinden, als sich plötzlich die Tür öffnete und die alte Pseldonimowa mit einer tönernen Waschschale und mit einem reinen Handtuch über der Schulter eintrat. Sie stellte die Schüssel hin und erklärte ruhig und ohne Umschweife, daß er sich waschen müsse. „Wie denn, Väterchen, wasche Dich doch, es geht nicht so, man muß sich zuerst waschen ...“ Und in diesem Augenblick fühlte er plötzlich, daß, wenn es auf der Welt ein Wesen gab, vor dem er sich weder zu schämen noch zu fürchten brauchte, es diese alte Frau war. Er wusch sich. Lange noch nachher erinnerte er sich in den schweren Minuten seines Lebens dieser ganzen Situation, der tönernen Waschschüssel mit dem kalten Wasser, in dem noch Eisstückchen schwammen, und der Seife im rosa Papier mit erhabenen Buchstaben, die fünfzehn Kopeken kostete und für die Neuvermählten gekauft worden war und an deren Stelle er sich nun ihrer bediente, „der Alten“ mit dem gewürfelten Handtuch auf der linken Schulter. Das kalte Wasser erfrischte ihn; er trocknete sich ab, sagte kein Wort, dankte nicht einmal seiner barmherzigen Schwester, ergriff die Mütze, nahm seinen Pelz, den sie ihm reichte, um die Schultern und lief durch den Korridor, durch die Küche, wo die Katze sich streckte und miaute und die Köchin ihm in gieriger Neugier nachglotzte, lief auf den Hof, auf die Straße und warf sich in den ersten Schlitten, den er erblickte. Der Morgen war kalt und frostig, ein gelber Nebel hüllte alles ein. Herr Pralinski schlug seinen Pelzkragen auf. Es schien ihm, daß alle ihn ansahen, alle ihn kannten und alle alles wußten. * * * * * Acht Tage ging er nicht von Hause, acht Tage erschien er nicht in seiner Kanzlei. Er war krank, qualvoll krank, – aber doch mehr moralisch, als physisch. Diese acht Tage durchlebte er wie in der Hölle, und es ist anzunehmen, daß sie ihm im Jenseits angerechnet werden. Es gab Minuten, da er glaubte, er müsse Mönch werden. Seine Phantasie entwickelte sich ganz außerordentlich nach dieser Seite hin. Er sah sich bereits in der einsamen Zelle, hörte unterirdische Gesänge, sah geöffnete Gräber, grüne Wiesen und Gefilde; aber sobald er wieder zu sich kam, erkannte er sofort, daß das doch nur der schrecklichste Unsinn wäre, Mönch zu werden, und dann schämte er sich seiner Phantasie. Darauf bekam er moralische Anfälle, die sich aus seiner vermeintlichen ^existence manquée^ ergaben. Dann flammte wieder die Scham in seiner Seele auf und verbrannte und zerstörte alles, was in ihr war. Er erzitterte bei der Vorstellung verschiedener Bilder: was man von ihm sagen wird, was man von ihm denken wird, wie er in die Kanzlei gehen wird, welch ein Geflüster ihn verfolgen wird, das ganze Jahr, zehn Jahre lang, sein ganzes Leben lang. Die Geschichte wird sich noch in seiner Nachkommenschaft fortpflanzen! Er verfiel sogar von Zeit zu Zeit in solch einen Kleinmut, daß er bereit gewesen wäre, zu Semjon Iwanowitsch Schipulenko zu fahren und ihn um seine Verzeihung und Freundschaft zu bitten. Sich selbst verteidigte er überhaupt nicht mehr, er gab sich vollständig auf. Auch dachte er daran, seinen Abschied einzureichen und so in der Einsamkeit sich dem Glücke der Menschheit zu widmen. Jedenfalls war es unbedingt nötig, mit allen früheren Bekannten zu brechen und jegliche Erinnerung an sich auszulöschen. Darauf schien es ihm wieder, daß auch das ein Unsinn wäre und daß man durch verstärkte Strenge zu den Untergebenen die ganze Sache wieder retten könnte. Von dem Augenblick an faßte er wieder Mut und so fing er denn wieder zu hoffen an. Endlich, nach Verlauf von zehn Tagen der größten Zweifel und Qualen fühlte er, daß er die Ungewißheit nicht länger ertragen konnte und beschloß daher ^un beau matin^ wieder in die Kanzlei zu gehn. In seiner Verzweiflung hatte er sich wenigstens tausendmal vorgestellt, wie es sein würde, wenn er in die Kanzlei tritt. Mit Entsetzen überzeugte er sich, daß er durchaus ein zweideutiges Geräusch hören, zweideutige Gesichter und auf ihnen ein zweideutiges Lächeln bemerken wird. Wie groß war daher sein Erstaunen, als in Wirklichkeit von alledem nichts geschah. Man empfing ihn ehrerbietig; man grüßte ihn, alle waren ernst und alle waren beschäftigt. Freude erfüllte sein Herz, als er in sein Kabinett eintrat. Er erledigte sofort seine Arbeit, hörte aufmerksam allen Erklärungen und Berichten zu und traf verschiedene Bestimmungen. Er fühlte es, daß er noch nie so klug und so sachlich alles bestimmt und erledigt hatte, wie an diesem Morgen. Er sah es, daß man mit ihm zufrieden war, daß alle ihm ergeben waren, und daß man sich zu ihm ehrerbietig verhielt. Auch das allergrößte Mißtrauen hätte nichts anderes bemerken können. Die Sache ging also großartig. Schließlich erschien auch Akim Petrowitsch Subikoff mit irgend welchen Papieren. Bei seinem Erscheinen stach Herrn Pralinski etwas ins Herz, aber nur auf einen Augenblick. Er beschäftigte sich mit Akim Petrowitsch, zeigte und erklärte ihm, was er zu tun hatte. Er bemerkte nur, daß er es vermied, ihm längere Zeit in die Augen zu sehn oder daß vielmehr Akim Petrowitsch es vermied, _ihn_ anzusehn. Und als die Sache erledigt war, stand Akim Petrowitsch auf und suchte seine Papiere zusammen. „Und dann ist hier noch ein Gesuch,“ begann er so trocken als möglich, „des Beamten Pseldonimoff; er bittet um seine Überführung in die ... Kanzlei ... Seine Exzellenz Semjon Iwanowitsch Schipulenko haben ihm eine Stelle versprochen. Er bittet Exzellenz um eine gütige Fürsprache.“ „Also er geht über,“ sagte Exzellenz und fühlte dabei, wie ihm etwas Schweres vom Herzen genommen wurde. Er sah auf, und in dem Augenblick begegneten sich ihre Blicke. „Nun, ich meinerseits ... ich werde ... ich bin bereit ...“ antwortete er. Akim Petrowitsch wollte augenscheinlich so schnell als möglich verschwinden. Exzellenz jedoch entschloß sich plötzlich – in einem Anfall von Edelmut – sich darüber auszusprechen. Ihn überfiel wieder eine gewisse Begeisterung. „Übergeben Sie ihm,“ begann er, wobei er einen hellen und bedeutungsvollen Blick auf Akim Petrowitsch richtete, „übergeben Sie ihm, daß ich ihm nichts Böses nachtrage, ja, nichts Böses! ... Daß ich, im Gegenteil, bereit bin, alles Gewesene zu vergessen, alles, alles ...“ Aber plötzlich erstarrte Exzellenz förmlich, als er zu seinem Erstaunen das sonderbare Betragen Akim Petrowitschs bemerkte, der sich, unbekannt warum, aus einem vernünftigen Menschen in einen Dummkopf verwandelte. Anstatt nun aufmerksam zuzuhören, was er ihm sagte, errötete er über und über, verbeugte sich eilig mit kleinen Bücklingen und zog sich ängstlich zur Tür zurück. Sein ganzes Aussehn verriet, daß er den Wunsch hatte, in die Erde zu versinken, oder besser gesagt, sich an seinen Tisch zurückzuziehen. Herr Pralinski, der allein blieb, erhob sich in der Verwirrung vom Stuhl. Er blickte zwar in den Spiegel, doch tat er es, ohne sich dabei zu sehn. „Nein, Strenge, Strenge, nur Strenge!“ flüsterte er sich selbst unbewußt zu, und plötzlich bedeckte heiße Röte sein Gesicht. Er schämte sich dermaßen, wie er sich nicht einmal in den schrecklichsten Minuten seiner achttägigen Krankheit geschämt hatte. „Konnte nicht aushalten!“ sagte er sich und sank kraftlos auf seinen Stuhl zurück. Letzte Novellen. Die Kleine. Eine phantastische Erzählung. Erstes Kapitel. I. Wer ich war und wer sie war. ... So lange wie sie hier liegt, – ist ja noch alles gut: jeden Augenblick gehe ich zu ihr hin und betrachte sie ... Aber morgen, wenn man sie fortbringt – wie ... wie soll ich dann allein bleiben? Sie liegt jetzt im Gastzimmer auf dem Tisch; man hat dort zwei Lhombretische zusammengeschoben; der Sarg wird erst morgen kommen, ein weißer, mit weißem Gros de Naples überzogen, übrigens, nicht davon wollte ich jetzt ... Ich gehe die ganze Zeit auf und ab und versuche mir das alles zu erklären. Schon sechs Stunden mühe ich mich damit, doch kann ich meine Gedanken noch immer nicht zusammenhalten. Es ist ja nur, daß ich ununterbrochen gehe, und gehe, und gehe ... Das war nämlich so. Ich werde einfach nach der Reihenfolge erzählen. Nach der Reihenfolge! Ich bin kein Literat, und Sie werden das ja selbst sehn. Einerlei: Aber erzählen werde ich es doch so, wie _ich_ es verstehe. Ach, darin, gerade darin liegt ja mein ganzes Entsetzen, daß ich alles verstehe! Das war, wenn Sie wissen wollen, – das heißt, wenn ich ganz von Anfang beginnen soll: ... sie kam damals ganz einfach zu mir ihre Sachen versetzen, um in der „Stimme“ annoncieren zu können, nun, daß, so und so, eine Gouvernante eine Stelle sucht, meinetwegen sogar auf dem Lande, sonst aber auch außer dem Hause Stunden geben würde, usw., usw. Das war ganz zu Anfang und sie fiel mir natürlich nicht weiter auf: sie kam, wie alle anderen gleichfalls kamen, – und das war alles. Dann aber fiel sie mir doch einmal auf: sie war solch ein schlankes, schmales Persönchen, von mittlerer Größe, mit blondem Haar, und im Verkehr mit mir immer so unbeholfen, so zurückhaltend, als ob sie in meiner Gegenwart geniert gewesen wäre. (Ich glaube, sie ist allen Fremden gegenüber ebenso gewesen, und ich war ihr natürlich genau so gleichgültig, wie dieser oder jener, versteht sich, nicht als Pfandleiher, sondern als Mensch genommen.) So wie sie das Geld bekommen hatte, drehte sie sich sofort um und ging. Und dabei immer ohne ein Wort zu sagen. Andere bitten noch, wollen mehr haben; sie aber nicht, nahm, was man ihr gab ... Ich glaube, meine Gedanken verwirren sich fortwährend ... Ja: zuerst wunderten mich ihre Sachen; kleine silbervergoldete Ohrringe, ein armseliges altes Medaillon, – Sachen zu zwanzig Kopeken. Sie wußte es auch selbst, daß sie für mich keinen Wert hatten, doch konnte man es an ihren Augen sehn, wie wertvoll ihr diese Dinger trotzdem waren, – und wirklich, hab’s später erfahren: das war alles, was sie noch von den Eltern besaß. Nur einmal erlaubte ich mir, über ihre Sachen zu lächeln. Das heißt, sehen Sie mal, ich erlaube mir so etwas nie, ich gehe mit dem Publikum stets taktvoll um: wenig Worte, höflich und streng. „Streng, streng und streng“ – erste Regel. Als sie es aber einmal wirklich für möglich hielt, mir die Überbleibsel – ja, buchstäblich – die Überbleibsel einer alten Hasenfelljacke zu bringen, nun, da konnte ich mich nicht beherrschen und sagte ihr plötzlich irgend etwas, ... so was wie eine Bemerkung. Herrgott, wie sie zusammenfuhr und rot wurde! Sie hat blaue Augen, große, nachdenkliche, – wie die aufblitzten! Aber sie sagte kein Wort, nahm ihre „Überbleibsel“ und – ging. Da war es denn, daß ich sie zum ersten Mal _besonders_ bemerkte und etwas in der Art von ihr dachte, wollte sagen, gerade so etwas in gewissem Sinne ... Ja: ich erinnere mich noch eines Eindrucks, wenn Sie wollen, des Haupteindrucks, – der Synthese des Ganzen: daß sie furchtbar jung war, so jung, daß man sie für vierzehnjährig halten konnte, während sie damals doch schon fünfzehn Jahre und neun Monate alt war ... Übrigens, nicht das wollte ich sagen, nicht darin lag die Synthese. Am nächsten Tage kam sie wieder. Später erfuhr ich, daß sie auch bei Dobronrawoff und bei Moser mit diesen Überbleibseln ihrer Hasenfelljacke gewesen war, die aber nehmen außer Gold überhaupt nichts – haben sie nicht mal zu Wort kommen lassen. Ich aber hatte von ihr einmal eine Gemme angenommen – solch ein billiges Ding – und als ich damals, nachdem es schon geschehen war, nachdachte, wunderte ich mich noch selbst darüber: ich nehme ja außer Gold und Silber auch nichts an, von ihr aber hatte ich diese Gemme angenommen! Das – ich weiß es noch genau – war der zweite Gedanke, den ich über sie hatte. Das nächste Mal, also nach Moser, brachte sie eine Bernsteinzigarrenspitze, – kein übles Dingelchen, so ’n Liebhabergegenstand, für mich aber wertlos, denn „wir nehmen ja nur Gold“, wie gesagt. Es war gleich am zweiten Tag nach jener kleinen Szene, von der ich gesprochen. Ich empfing sie deshalb mit strenger Miene. Meine Strenge ist – Trockenheit. Doch als ich ihr die zwei Rubel dafür gab, konnte ich mich nicht enthalten, ihr, gewissermaßen als ob ich gereizt wäre, zu sagen: „Ich tue es ja nur _für Sie_, Moser würde so etwas niemals annehmen.“ Die Worte: „_für Sie_“ betonte ich besonders und gerade so in gewissem Sinne. War wütend. Sie flammte wieder auf, als sie dieses „_für Sie_“ hörte, schwieg aber, warf das Geld nicht zurück, nahm’s ... Ja, ja –: die Armut! Wie sie aber rot wurde! Ich begriff, daß ich sie verletzt hatte. Als sie fort war, fragte ich mich: also ist Dir dieser Triumph über das kleine Ding wirklich zwei Rubel wert? He – he – he! Ich weiß: noch zweimal stellte ich mir diese Frage: „Ist er’s wert? Ist er’s?“ Und lachend bejahte ich sie. Wurde damals schon gar zu heiter. Aber das war kein schlechtes Gefühl: ich tat’s doch mit Absicht, mit Absicht! Ich wollte sie prüfen, denn mir waren plötzlich in Bezug auf sie einige Gedanken gekommen. Das war mein dritter _besonderer_ Gedanke über sie. ... Nun, und seit der Zeit hat denn alles angefangen. Versteht sich: ich bemühte mich sofort, auf Umwegen Näheres über sie zu erfahren und erwartete ihr Kommen mit ganz besonderer Ungeduld. Ich ahnte es ja, daß sie bald kommen würde. Als sie kam, knüpfte ich ein liebenswürdiges Gespräch mit ihr an, natürlich ungemein höflich. Bin doch gut erzogen, habe gute Manieren ... Hm! – Da erriet ich denn, daß sie gut und sanftmütig war. Gute und sanftmütige Menschen widersetzen sich nicht lange, und wenn sie auch nicht gleich sehr mitteilsam sind, so verstehen sie es doch nicht, dem Gespräch auszuweichen: sie antworten kurz, aber sie antworten und je weiter, desto mehr, man muß nur selbst nicht müde werden, wenn einem etwas an dem Gespräch gelegen ist. Natürlich hat sie mir damals nichts gesagt. Auch das von den Annoncen in der „Stimme“ und alles übrige erfuhr ich erst später. Sie annoncierte damals noch für ihre letzten Kopeken, zuerst selbstverständlich ganz stolz: „Gouvernante sucht Stelle – auch auf dem Lande – Bedingungen in geschlossenem Brief erbeten –“ etc., etc., dann aber: „– zu allem bereit – zu unterrichten – als Gesellschaftsdame – nach dem Haushalt zu sehn – oder Kranke zu pflegen – verstehe auch zu nähen ...“ und wie man das so gewöhnlich annonciert, wir kennen’s ja! Alles das wurde natürlich immer in verschiedener Form publiziert, zum Schluß aber, als die Verzweiflung kam, da sogar: „ohne Gehalt, für Beköstigung“. Nein, sie fand keine Stelle! Da beschloß ich, sie noch einmal zu prüfen: plötzlich nehme ich die letzte Nummer der „Stimme“ und zeige ihr eine Annonce: „Eine junge Person, Ganzwaise, sucht Gouvernantenstelle bei kleinen Kindern, vorzugsweise bei älterem Witwer. Kann im Haushalt helfen“. „Sehen Sie,“ sagte ich, „die hat heute morgen annonciert und zum Abend wird sie sicher eine Stelle gefunden haben. Sehen Sie, so muß man annoncieren!“ Wieder wurde sie feuerrot und wieder blitzten ihre Augen auf; sie kehrte sich sofort um und ging. Das gefiel mir sehr. Übrigens war ich damals schon sicher und fürchtete nichts mehr: Zigarrenspitzen wird niemand annehmen. Sie aber besaß selbst die nicht mehr. So war es denn auch: am dritten Tage kam sie wieder, ganz bleich und aufgeregt, – ich begriff sofort, daß es bei ihr zu Hause zu irgend etwas Schlimmem gekommen sein mußte, und so verhielt es sich auch in der Tat. Ich werde später erzählen, wozu es gekommen war, jetzt aber will ich mich erst erinnern, wie ich ihr damals mit einem Mal imponierte, in ihren Augen wuchs; und zwar hatte ich mir das ganz plötzlich so vorgenommen ... Richtig, so war’s: sie brachte dieses Heiligenbild – hatte sich entschlossen, es zu bringen ... – Ja, richtig! jetzt, jetzt fällt mir alles ein, warten Sie, warten Sie, vorhin war ich ja noch ganz verwirrt ... Jetzt aber will ich mich all dessen entsinnen, jeder kleinen Einzelheit, jedes Strichelchens. Ich will die ganze Zeit meine Gedanken auf einen einzigen Punkt konzentrieren. Doch noch immer gelingt es mir nicht; und werde ich es überhaupt können? Doch diese Strichelchen, Strichelchen ... Das Bild der Muttergottes. Die Jungfrau mit dem Kinde, ein Familienheiligenbild, ein altes, die Verzierung aus vergoldetem Silber; wert – nun, sechs Rubel wert. Ich sehe, lieb hat sie das Heiligenbild, versetzt es ganz, – ohne die silberne Bekleidung abzunehmen. Ich sage ihr: besser, man nimmt das Silber ab, dann können Sie das Bild wieder mitnehmen; denn sonst ein Heiligenbild zu versetzen, das ist doch immerhin ... „Dürfen Sie es nicht nehmen? Ist es Ihnen denn verboten?“ „Nein, nicht daß es verboten wäre, ich meinte nur, daß es vielleicht Ihnen selbst ...“ „Nun gut, nehmen Sie es ab.“ „Wissen Sie was, ich werde es lieber nicht abnehmen; ich werde es dort in meinen Heiligenschrank stellen,“ sagte ich, nachdem ich etwas nachgedacht hatte, „zu den anderen Heiligenbildern, unter das Lämpchen“ (seitdem ich mein Pfandgeschäft eröffnet hatte, brannte das Lämpchen bei mir Tag und Nacht) „und nehmen Sie einfach zehn Rubel.“ „Zehn brauche ich nicht, geben Sie mir fünf, ich werde es unbedingt auslösen.“ „Sie wollen nicht zehn? So viel ist es wert,“ fügte ich noch hinzu, da ich bemerkte, daß ihre Augen wieder dunkler wurden. Sie schwieg darauf. Ich brachte ihr fünf Rubel. „Verachten Sie niemanden ... ich bin selbst in Verlegenheit gewesen, ja, in noch schlimmerer, und wenn Sie mich jetzt bei dieser Beschäftigung sehen, ... so ist das doch, nach allem, was ich ertragen habe ...“ „Sie wollen sich an der Gesellschaft rächen? Ja?“ unterbrach sie mich plötzlich mit ziemlich bitterem Spott, in dem aber viel Unbeabsichtigtes lag (das heißt, Unpersönliches, denn damals unterschied sie mich bestimmt noch nicht von den anderen, so daß sie es fast unverletzend sagte.) „Aha!“ dachte ich, „also so bist Du! Der Charakter tut sich kund, hm, gehört zur neuen Richtung.“ „Sehen Sie,“ bemerkte ich sofort halb scherzend, halb geheimnisvoll: „Ich – ‚ich bin ein Teil jenes Teiles des Ganzen, der stets das Böse will, doch stets das Gute schafft‘ ...“ Sie blickte schnell und mit großem Interesse zu mir auf – viel kindliches lag darin. „Warten Sie ... Was ist das für ein Gedanke? Woher ist dieser Ausspruch? Ich habe ihn irgendwo gehört ...“ „Oh, zerbrechen Sie sich nicht den Kopf darüber; mit diesen Worten empfiehlt sich Mephistopheles dem Faust. Haben Sie den Faust gelesen?“ „N – nicht aufmerksam ...“ „Das heißt wohl so viel, daß Sie ihn überhaupt nicht gelesen haben. Das müssen Sie aber tun. Doch übrigens bemerke ich, daß Sie wieder spöttisch zu lächeln belieben. Bitte glauben Sie nicht, ich wäre so geschmacklos, meine Rolle als Pfandleiher durch die Rekommandation Mephistos verschönen zu wollen. Ein Pfandleiher bleibt Pfandleiher – wissen wir.“ „Wie, wie sonderbar Sie sind! ... Ich habe Ihnen durchaus nicht so etwas sagen wollen ...“ Sie hatte sagen wollen: „Ich hätte nicht gedacht, daß Sie ein gebildeter Mensch sind,“ aber sie sagte es nicht; dafür jedoch wußte ich, daß sie es gedacht hatte; jedenfalls gefiel ihr meine Bemerkung sehr. „Sehen Sie,“ sagte ich, „auf jedem Gebiet kann man Gutes tun. Ich rede natürlich nicht von mir: ich tue, sagen wir, außer Bösem überhaupt nichts, doch ...“ „Natürlich, selbstverständlich kann man überall Gutes tun,“ unterbrach sie mich eilig, und sah mich dabei so aufrichtig an. „Gerade auf jedem Gebiet,“ fügte sie plötzlich noch hinzu. Oh, ich weiß noch, ich erinnere mich noch deutlich dieser Augenblicke! Wenn diese Jugend, diese liebe Jugend irgend etwas so Kluges und Durchdachtes sagen will, dann kann man es auf ihrem naiven, aufrichtigen Gesicht förmlich lesen, was sie dabei denkt –: „siehst Du, jetzt sage ich Dir etwas Kluges, Durchdachtes!“ – Und nicht, daß sie es etwa aus Ruhmsucht täte, wie zum Beispiel unsereiner! Man sieht es ja, daß diese Jugend es selbst furchtbar hochschätzt, und daran glaubt, und es achtet, und daß sie denkt, man achte es gleichfalls ganz so, wie sie. Oh Aufrichtigkeit! Das ist’s ja, womit diese Jugend besiegt! Und wie war das doch so schön an der Kleinen! ... Ich weiß noch, hab nichts vergessen! Als sie hinausgegangen war, faßte ich mit einem Mal meinen Entschluß. Am selben Tage noch ging ich aus, um das Letzte über sie, ihre Umgebung und ihre Verhältnisse zu erfahren; das Meiste wußte ich bereits durch Lukerja, ihre Küchenmagd, die ich schon vor ein paar Tagen bestochen hatte. Was ich erfuhr, war so schrecklich, daß ich nicht begriff, wie man noch, wie sie vorhin, lachen und sich für Mephistos Worte interessieren konnte, – wenn man selbst unter solch einem Entsetzen lebte! Aber – das ist eben die Jugend! Gerade dieses dachte ich damals stolz und freudig über sie, denn hierbei war doch auch Hochherzigkeit: selbst steht sie am Rande des Verderbens, doch nichtsdestoweniger werden die großen Worte Goethes verehrt. Die Jugend ist immer hochherzig, – wenn auch nur ein kleines wenig, und wenn auch in falscher Richtung. Das heißt, ich spreche ja nur von ihr, von ihr allein. Und vor allen Dingen, damals betrachtete ich sie schon als die _Meine_, und zweifelte nicht mehr an meiner Macht über sie ... Wissen Sie, wunder-wunderbar ist dieser Gedanke, wenn man schon nicht mehr zweifelt ... Doch was ist mit mir! Wenn ich so fortfahre, wann werde ich dann alles in einen Punkt zusammenfassen? Schneller, – kurz und gut, – ach, es handelt sich ja nicht darum! – oh Gott! II. Der Heiratsantrag. Alles, was ich über sie erfuhr, ist kurz folgendes: ihre Eltern waren schon tot, vor drei Jahren gestorben und sie war bei – hm! – bei unordentlichen Tanten zurückgeblieben. Es ist eigentlich zu milde, sie bloß unordentlich zu nennen. Die eine von ihnen war Witwe, die andere eine scheußliche alte Jungfer. Ihr Vater war ein kleiner Beamter gewesen. Mit einem Wort: alles war günstig für mich. Ich kam wie aus einer höheren Welt: immerhin war ich Hauptmann eines glänzenden Regiments, wenn auch außer Diensten, war Edelmann, unabhängig u. s. w., und was meine Pfandkasse anbetrifft, nun, so konnten die Tanten vor ihr nur Respekt haben. Bei den Tanten war sie drei Jahre lang in der Sklaverei gewesen; trotzdem aber hatte sie irgendwo das Examen bestanden, hatte es fertig gebracht, das Examen zu bestehn, sich die Zeit dazu abgespart von ihrer täglichen unbarmherzigen Arbeit; – das aber hatte doch etwas zu bedeuten, solch ein Streben nach dem Höheren und Edleren! Warum wollte ich sie denn heiraten? Ach, übrigens, zum Teufel mit mir, davon später ... Und handelt es sich denn darum! – Die Kinder der Tante mußte sie unterrichten, Wäsche nähen und zum Schluß sogar (sie mit ihrer schmalen Brust!) die Dielen scheuern!! Und zum Lohn dafür haben sie ihr noch ihr tägliches Stück Brot vorgehalten und zu guter Letzt ihr sogar Schläge verabreicht. Es endete damit, daß sie sie einfach zu verkaufen beschlossen. Pfui Teufel! Den Schmutz der Einzelheiten übergehe ich lieber ... Später hat sie mir alles ausführlich erzählt. Alles dieses beobachtete ein ganzes Jahr lang ihr Nachbar, ein dicker Kaufmann, und zwar kein gewöhnlicher, sondern einer, der zwei Kolonialwarenhandlungen besaß. Er hatte schon zwei Frauen unter die Erde gebracht und suchte nun die dritte: und da war denn seine Wahl auf sie gefallen. Hm –: „Sie ist still und sanft, in Armut aufgewachsen, ich aber heirate nur, um meinen verwaisten Kindern eine Mutter zu geben“ – und ähnliche schöne Worte – kennt man ... Er hatte tatsächlich Kinder von den beiden ersten, zu Tode gequälten Frauen. Da bewarb er sich denn um sie, hatte schon mit den Tanten gesprochen. Er war dabei fünfzig Jahre alt. Sie in Angst, entsetzt! Und eben in dieser Zeit war es denn, daß sie so oft zu mir kam, um in der „Stimme“ annoncieren zu können. Endlich bat sie die Tanten, man möge ihr doch noch ein wenig, ein kleines wenig Zeit zum Nachdenken geben. Nun, die gab man ihr denn schließlich, aber nur ein wenig, ließ ihr keine Ruh –: „Wissen auch ohne Deinen überflüssigen Mund nicht, was wir selber beißen sollen.“ Das alles wußte ich bereits, und so entschloß ich mich denn, wie gesagt, zu handeln. Das war an jenem Tage nach dem Gespräch am Vormittag. An jenem Abend war gerade der Kaufmann gekommen und hatte aus seinem Geschäft ein Pfund Konfekt – zu 50 Kopeken – mitgebracht. Sie saß mit ihm im Gastzimmer, ich aber rief Lukerja aus der Küche und sagte ihr, sie solle zu _ihr_ gehn und ihr heimlich zuflüstern, daß ich an der Hoftür sei und ihr etwas sehr Wichtiges zu sagen wünschte. Ich war zufrieden mit mir. Überhaupt war ich an jenem ganzen Tage ungemein zufrieden. Und dort an der Hoftür erklärte ich ihr – die allein schon deswegen verwundert war, daß ich, ein ihr ganz fremder Mensch, sie plötzlich hatte rufen lassen – in Lukerjas Gegenwart, daß ich mich glücklich schätzen würde und es mir als Ehre anrechnete, sie zu heiraten ... Zweitens: sie solle sich nicht über mein Auftreten wundern, und daß ich an der Hoftür, u. s. w. Hm, –: „bin ein aufrichtiger Mensch, trage den Umständen Rechnung ...“ Und ich log nicht, als ich sagte, daß ich aufrichtig bin. Nun, – zum Teufel damit! Sprach ich doch nicht nur wie es sich gehört, wie ein wohlerzogener Mensch, sondern auch „originell“; das aber ist ja die Hauptsache. Wie? – ist’s denn etwa Sünde, das zu bekennen? Ich will mein eigener Richter sein; ich muß also ^pro^ und ^contra^ reden, und so tu ich’s denn. Auch später habe ich mich dessen immer mit Genugtuung erinnert, wenn’s auch dumm ist. Ich erklärte ihr damals unumwunden, ohne jede Verwirrung, daß ich, erstens, nicht besonders talentiert, nicht besonders klug, vielleicht sogar nicht mal besonders gut, ein ziemlich billiger Egoist sei (hab noch den Ausdruck behalten, hatte ihn mir auf dem Wege dahin ausgedacht und war mit ihm zufrieden), und es sehr, sehr leicht möglich sein könne, daß ich auch in anderen Beziehungen sehr viel Unangenehmes habe. Das war alles mit einer bestimmten Art von Stolz gesagt, – wir wissen ja, wie so etwas gesagt wird. Selbstverständlich war ich nicht so geschmacklos, daß ich, nachdem ich edelmütig meine Fehler aufgezählt hatte, nun auch anfing, meine guten Seiten hervorzuheben, wie etwa: „dafür aber bin ich so und so und so.“ Ich bemerkte sehr wohl, daß sie noch furchtbar bange war, ließ mich aber doch nicht rühren; ja, umgekehrt, ich verschlimmerte noch absichtlich: sagte ihr gerade heraus, daß sie immer satt zu essen haben würde, aber Theater, Bälle, Toiletten – „davon gibt’s nichts, – vielleicht später einmal, wenn ich mein Ziel erreicht habe.“ Dieser strenge Ton bezauberte mich. Ich fügte noch hinzu, gleichfalls so nebensächlich als möglich, daß ich, wenn ich auch solch eine Beschäftigung gewählt hätte, es eben nur mit einem besonderen Ziel getan, hm, – so aus einem ganz besonderen Grunde ... Glauben Sie mir, ich habe doch selbst mein Leben lang diese Pfandkasse gehaßt, aber in Wirklichkeit, – wenn’s auch lächerlich ist, sich selbst geheimnisvolle Phrasen zu sagen, aber – „ich wollte mich doch an der Gesellschaft rächen!“ Ja ja, – wirklich, wirklich, wirklich! So daß ihre spitze Bemerkung am Vormittag darüber, daß ich mich „rächte“, doch nicht so falsch gewesen war. Das heißt, sehen Sie mal: würde ich ihr einfach gesagt haben: „Ja, ich räche mich an der Gesellschaft,“ so hätte sie mich ausgelacht, so wie vorhin am Morgen, und es wäre auch wirklich lächerlich gewesen. Nun aber, mit einer indirekten Anspielung, so mit einer geheimnisvollen Phrase, – damit konnte man, wie es sich erwies, leicht die Einbildungskraft bestechen. Zudem fürchtete ich damals ja schon nichts mehr: ich wußte doch, daß ihr der dicke Kaufmann jedenfalls widriger war, als ich, und daß ich, als ich an der Hoftür stand, wie ein Befreier erschien. Das begriff ich doch. Oh, die Gemeinheit begreift der Mensch vorzüglich! Aber – war’s denn wirklich Gemeinheit? Wie soll man nun den Menschen richten? Liebte ich sie denn etwa nicht schon damals? ... Warten Sie: von Wohltat sagte ich ihr damals natürlich kein Wort; im Gegenteil, oh, ganz im Gegenteil: „_ich_ bin’s, dem Wohltat erwiesen wird, aber nicht Sie.“ So daß ich es sogar in Worten aussprach, konnte mich nicht bezwingen und es kam vielleicht dumm heraus, denn ich bemerkte ein flüchtiges Lächeln auf ihren Lippen. Doch so im Ganzen gewann ich zweifellos. Warten Sie ... wenn man sich schon einmal diese ganze Schändlichkeit ins Gedächtnis zurückruft, so will ich mich auch noch der letzten Schändlichkeit erinnern: ... als ich so vor ihr stand ... schlich sich plötzlich ganz leise durch meine Gedanken: „Du bist wohlgestaltet, schlank, gut erzogen und schließlich, ganz ohne Prahlerei gesagt, bist nicht häßlich.“ Das war’s, das war’s, was in jenem Augenblick in meinem Hirn spielte! Selbstverständlich sagte sie mir noch dort unten an der Hoftür „_ja_“. Aber ... aber ich muß hinzufügen: dort an der Hoftür dachte sie noch lange nach, bevor sie „ja“ sagte. So tief, so tief dachte sie nach, daß ich schon beinahe fragen wollte: „nun, wie?“ – ja, ich tat’s ja auch, konnt’s nicht zurückbehalten. „Nun, wie denn?“ fragte ich, ja ja, gerade mit „denn“, ich weiß es noch ganz genau! ... Warten Sie, ich werde nachdenken ... ... Und solch ein ernstes Gesichtchen machte sie, solch ein ... – daß ich schon damals hätte begreifen können! Ich aber fühlte mich gekränkt. „Sollte sie wirklich,“ dachte ich, „noch zwischen mir und dem Krämer wählen?“ Oh, damals begriff ich noch nichts! Nichts, nichts begriff ich damals! Bis auf den heutigen Tag habe ich nichts begriffen! Ich weiß noch: Lukerja kam mir nachgelaufen, hielt mich mitten auf der Straße auf und sagte atemlos: „Gott wird’s Ihnen lohnen, Herr, daß Sie unser liebes Fräuleinchen nehmen! Nur sagen Sie ihr das ja nicht, sie ist so stolz ...“ Nun, – stolz! Liebe selbst, dachte ich, die Kleinen, Stolzen. Die Stolzen sind ganz besonders schön, wenn ... nun, wenn man an seiner Macht über sie nicht mehr zweifelt, – wie? Oh niedriger, ungeschickter Mensch! Wie war ich zufrieden! Wissen Sie, als sie damals an der Hoftür stand und nachdachte, ob sie „ja“ sagen sollte oder nicht, und ich mich über dieses Bedenken wunderte, – wissen Sie auch, daß sie damals sogar solch einen Gedanken hätte haben können, wie: „Wenn schon einmal Unglück, hier wie dort, sollte es da nicht besser sein, das größere Unglück zu wählen, also den dicken Kaufmann? Mag der mich schneller in der Trunkenheit totprügeln!“ – Wie? Was meinen Sie, hätte sie solch einen Gedanken haben können? Doch auch jetzt verstehe ich nicht ... selbst jetzt verstehe ich nichts! Soeben habe ich gesagt, daß sie diesen Gedanken hätte haben können: das größere Unglück zu wählen, das wäre – etwa der dicke Kaufmann –? Wer aber war ihr damals widerlicher: – ich oder der Kaufmann? Der Kaufmann oder der Goethe zitierende Pfandleiher? Das ist noch eine Frage! ... Was für eine Frage? Und das verstehst Du nicht? – Die Antwort ist doch sonnenklar, Du aber sagst, es sei noch eine Frage! Ach, zum Teufel mit mir! Nicht um mich handelt es sich jetzt ... Doch, bei der Gelegenheit: was ist denn jetzt für mich wichtig: – handelt es sich nun um mich oder nicht? Ach, diese Frage, die kann ich überhaupt nicht beantworten ... Besser, ich lege mich schlafen. Mein Kopf tut mir weh. III. Bin der edelste Mensch, glaub’s jedoch selbst nicht. Kann nicht schlafen. Wie soll ich denn: die ganze Zeit über tuckt mir irgend ein Puls im Kopf. Ich will alles erfassen, die ganze Schändlichkeit. Oh, aus welch einem Schmutz ich sie damals herauszog! Das mußte sie doch begreifen und meine ganze Handlung schätzen! ... Auch gefielen mir verschiedene Gedanken, wie zum Beispiel, daß ich einundvierzig war, sie aber erst sechzehn. Es bezauberte mich geradezu, dieses Gefühl der Ungleichheit ... süß ist’s, so süß ist es ... Ich wollte, zum Beispiel, daß die Trauung ^à l’anglaise^ sei, mit höchstens zwei Zeugen, Lukerja und noch irgend jemand, und dann direkt in den Waggon und so auf zwei Wochen nach Moskau in ein Hôtel (ich hatte dort gerade Geschäftliches zu erledigen). Sie aber widersetzte sich dem und ich war gezwungen, zu den Tanten zu fahren, um ihnen, als Anverwandten, von denen ich sie erhielt, meine Aufwartung zu machen. Schön, ich gab nach und den Tanten wurde die nötige Ehrerbietung erwiesen, so wie sich’s gehört. Ich gab diesen Kreaturen sogar zweihundert Rubel, jeder von ihnen hundert, und versprach noch mehr zu geben; versteht sich, ohne ihr etwas davon zu sagen, um sie nicht durch die Niedrigkeit ihrer Umgebung zu kränken. Die Tanten wurden natürlich sofort zuckersüß. Auch gab es Streit wegen der Aussteuer: sie hatte nichts, fast buchstäblich nichts, aber sie wollte auch nichts. Einstweilen jedoch gelang es mir, ihr klar zu machen, daß es ganz ohne Sachen nicht ginge, und so kaufte ich also die Aussteuer, denn wer hätte es sonst für sie tun sollen? Nun, ach zum Teufel mit mir ... Immerhin fand ich noch Zeit, ihr einige meiner Gedanken auseinanderzusetzen, damit sie sie wenigstens kennen lernte. Ich beeilte mich sogar mit dem Auseinandersetzen. Das Wichtigste aber war, daß sie mir schon gleich zu Anfang, wie sehr sie sich auch zu bezwingen suchte, ihre ganze Liebe entgegenbrachte. Wenn ich des Abends angefahren kam, empfing sie mich immer ganz begeistert, erzählte mir dann in ihrer kindlich-stammelnden Weise – wie reizend war das an ihr! – ihre ganze erste Jugend, erzählte von ihrem Elternhause, vom Vater und von der Mutter. Ich aber begoß diese ganze Verzückung sofort mit kaltem Wasser. Gerade darin lag ja mein ganzer Plan. Auf diese Ekstasen antwortete ich mit Schweigen, mit wohlwollendem, natürlich, ... aber sie begriff doch bald, daß wir verschiedene Menschen waren und ich – ein Rätsel. Das aber wollte ich doch gerade, das bezweckte ich ja nur – ein Rätsel scheinen! Um ihr dieses Rätsel zu raten zu geben, – hatte ich ja vielleicht die ganze Dummheit ausgedacht! Erstens: Strenge, – damit führte ich sie auch in mein Haus. Kurz, damals dachte ich mir ein ganzes System aus. Oh, das ergab sich eigentlich ohne jede Anstrengung ganz von selbst. Und es war doch anders gar nicht möglich, ich mußte doch dieses System schaffen, – gezwungen durch eine unabweisbare Tatsache ... Ich weiß wirklich nicht, warum ich mich da immer noch selbst beschuldige! Ein wirklich erlebtes System war’s. Nein, hören Sie mal, wenn man schon einmal einen Menschen beurteilt, so muß man es nur mit Kenntnis aller Umstände tun ... Hören Sie: ... Wie soll man da eigentlich beginnen? ... Das ist nicht so leicht zu erzählen. Sobald man anfängt sich zu rechtfertigen – wird es sofort schwer. Sehen Sie: Die Jugend verachtet z. B. – das Geld. Ich aber legte sofort Gewicht auf das Geld, betonte es fortwährend, so daß sie immer mehr und mehr verstummte. Sie machte große, verwunderte Augen, hörte, sah und – verstummte ... Sehen Sie mal: Die Jugend ist hochherzig, d. h. gute Jugend, hochherzig, aber heftig: hat wenig Duldsamkeit. Ist etwas auch nur ein wenig anders, so wird es sofort verachtet. Ich aber wollte ihr das „Alles-verstehen“ direkt ins Herz einimpfen, direkt in die Auffassung ihres Herzens, – nicht wahr? Nehmen wir nun ein triviales Beispiel: wie hätte ich diesem Charakter, sagen wir, meinen freiwillig erwählten Beruf erklären sollen? Ich fing natürlich nicht direkt an, davon zu sprechen; sonst hätte es ja geschienen, daß ich seinetwegen um Verzeihung bäte, ich aber handelte stolz, sprach durch Schweigen. Oh, darin bin ich Meister! Habe mein ganzes Leben lang schweigend gesprochen, habe mit mir selbst ganze Tragödien schweigend durchlebt. Oh, auch _ich_ war doch unglücklich! Ich war von allen verstoßen, verstoßen und vergessen, und keiner, kein einziger wußte das! Und plötzlich schnappte diese Sechzehnjährige von gemeinen Menschen Klatschgeschichten über mein Leben auf und glaubte, daß sie bereits alles wisse, während doch das Kostbare, der Schatz, einzig in der Brust dieses Menschen selbst verschlossen blieb! Ich schwieg die ganze Zeit über und besonders, besonders wenn ich mit ihr zusammen war, schwieg ich – bis auf den gestrigen Tag! – Warum ich schwieg? Weil ich eben ein stolzer Mensch war. Ich wollte, daß sie das selbst begriff, ohne mein Dazutun, aber nicht aus den Erzählungen gemeiner Klatschbasen, sondern daß sie diesen Menschen _selbst erriet_ und ihn begriff! Als ich sie in mein Haus nahm, verlangte ich von ihr volle Achtung meiner Person gegenüber. Ich wollte, daß sie mich für meine Leiden anbetete – und ich war’s wert. Oh, ich bin immer stolz gewesen, ich habe immer entweder alles – oder nichts gewollt! Und gerade, weil ich kein armseliges Stückchen Glück, sondern ein ganzes, großes haben wollte – gerade deswegen war ich gezwungen, so zu handeln. – „Errate selbst und werte dann!“ Denn, nicht wahr, Sie müssen mir doch zugeben, wenn ich selbst angefangen hätte, ihr zu erklären und vorzusagen, Finten zu machen und Achtung zu erflehen, – dann wär’s doch gleichbedeutend gewesen, mit – Almosen erbetteln ... Übrigens ... übrigens – wozu rede ich davon! Dumm, dumm, dumm und nochmals dumm! Ich erklärte ihr damals in zwei Worten, ohne Umschweife, unbarmherzig (ich betone es, daß es unbarmherzig war), daß die Hochherzigkeit der Jugend an sich ja wunderschön, aber – keine Kopeke wert sei. Warum nicht? – Weil sie ihr billig zufällt, weil sie ihr zu Teil wird, noch bevor sie gelebt hat; alles das sind, wie man zu sagen pflegt, „die ersten Eindrücke des Seins“. Wollen wir aber mal erst abwarten, wie Ihr Euch in der Not bewährt! Billige Hochherzigkeit ist immer leicht, billige Großmut immer flach; sogar das Leben fortzugeben – auch das ist dann billig, denn da kocht nur das junge Blut und schäumen die Kräfte des Überflusses. Schönheit, Schönheit verlangt man leidenschaftlich! Nein, nehmt eine andere Heldentat der Hochherzigkeit, die schwere, stille, unhörbare, ohne Glanz, die, die viele, viele Opfer verlangt und keinen Tropfen Ruhm einbringt, – wohl aber bittere Verleumdung; – wo der wertvollste Mensch von der ganzen Welt als Schurke hingestellt wird, während er doch ehrlicher ist, als alle Ehrenmänner der Welt zusammengenommen. – Nun, versucht mal solch eine Heldentat zu vollbringen! – Nein, dafür werdet Ihr danken! ... Ich aber, – ich aber habe mein ganzes Leben lang nichts anderes getan, wie diese Heldentat – getragen. Zuerst widersprach sie; ach Gott, wie sie mit mir stritt! Dann aber verstummte sie allmählich, zuletzt sogar ganz. Nur die Augen öffnete sie furchtsam weit, wenn sie mir zuhörte: so groß, groß waren diese Augen, so aufmerksam. Und ... und plötzlich bemerkte ich ein Lächeln, ein mißtrauisches, schweigsames, kein gutes ... Und mit diesem, mit diesem selben Lächeln war’s, daß ich sie in mein Haus führte. Allerdings, sie hatte sonst niemanden, zu dem sie hätte gehen können ... IV. Lauter Pläne und Pläne. Wer von uns fing damals zuerst an? Keiner. Es fing von selbst an, vom ersten Schritt. Ich habe gesagt, daß ich sie unter Strenge ins Haus führte, einstweilen aber milderte ich die doch schon am ersten Tage. Noch vor der Trauung hatte ich ihr gesagt, daß sie die Pfänder in Empfang nehmen und das Geld herausgeben würde – und sie hatte damals nicht widersprochen (bitte das nicht zu vergessen). Ja, sie machte sich sogar mit Eifer an die Sache. Nun, versteht sich, die Wohnung, die Einrichtung, – alles blieb so, wie es war. Zwei Zimmer, – das eine, ein großes – das Wohnzimmer, in dem für die Kasse eine Hälfte abgeteilt ist, das andere, gleichfalls groß, unser Schlafzimmer. Meine Möbel sind ärmlich, sogar die Tanten hatten bessere. Mein Heiligenschrank mit dem Lämpchen hängt im ersten Zimmer, dort wo die Kasse ist; bei mir aber, in meinem Zimmer, steht mein Schrank, in dem auch einige Bücher liegen, und mein Koffer; die Schlüssel trage ich bei mir. Nun und dann natürlich noch das Bett, Tische, Stühle. Bereits vor der Trauung hatte ich ihr gesagt, daß zu unserem Unterhalt, d. h. zur Beköstigung für mich, für sie und Lukerja, die ich zu uns genommen hatte, täglich ein Rubel und nicht mehr verausgabt werden würde –: „Muß in drei Jahren dreißig Tausend haben, anders aber kommt man nicht zu Geld.“ Sie widersprach nicht, aber ich legte selbst noch dreißig Kopeken hinzu. Desgleichen Theater. Ich hatte ihr gesagt, daß wir nicht ins Theater gehen würden, beschloß aber dann doch einmal im Monat mit ihr ins Theater zu gehn, und anständig – Parkett. Wir gingen zusammen, waren zweimal, sahen, glaub ich, „Die Jagd nach dem Glück“ und „Singvögel“ – oh, zum Teufel, zum Teufel damit! – Schweigend gingen wir hin und schweigend kamen wir nach Haus. Warum, warum wir uns von Anfang an vorgenommen hatten zu schweigen? Zuerst gab es doch noch keine Streitigkeiten zwischen uns – nur Schweigen. Ich weiß noch, damals sah sie mich immer heimlich an; ich aber, als ich das bemerkte, da schwieg ich erst recht. ’S ist allerdings wahr: _ich_ war es, der auf dem Schweigen beharrte, nicht sie. Ihrerseits gab’s sogar ein- oder zweimal leidenschaftliche Ausbrüche: stürzte zu mir, umarmte mich. Da aber diese Ausbrüche krankhaft waren, hysterisch, ich jedoch ein _starkes_ Glück brauchte, und als erstes ihre volle Achtung, so blieb ich natürlich kühl. War auch im Recht: jedesmal nach diesen Ausbrüchen gab’s am nächsten Tage Streit. Das heißt, Streit gabs eigentlich nicht, aber es gab Schweigen und – und immer dreisteres, frecheres Aussehen ihrerseits. „Rebellion und Unabhängigkeit“ – das war’s, nur verstand sie’s nicht. Ja, dieses sanfte Gesicht nahm einen immer vermesseneren Ausdruck an. Glauben Sie es mir, ich wurde ihr einfach zuwider; – ich kenne das, hab’s doch selbst erlebt. Jedenfalls: daß sie zuweilen außer sich geriet, – daran war nicht zu zweifeln. Nun wie, zum Beispiel, nachdem man aus solchem Schmutz, aus solcher Armut herausgekommen ist, wie kann man denn da plötzlich über unsere Armut die Nase rümpfen! Sehen Sie mal: es war keine Armut, aber es war Ökonomie und dort, wo es sich gehörte, sogar Luxus, – in der Wäsche, zum Beispiel, in der Sauberkeit. Ich habe immer gedacht, daß die Sauberkeit der Männer den Frauen angenehm sein muß. Übrigens tat sie’s nicht über die Armut, sondern über meinen, wie sie glaubte, schmutzigen Geiz –: „Behauptet, er verfolge ein Ziel, will Charakter beweisen!“ Für das Theater dankte sie plötzlich selbst. Und immer spöttischer, immer spöttischer wurde der Zug um ihren Mund ... ich aber verstärkte das Schweigen, ich aber verstärkte das Schweigen. Konnte doch nicht anfangen, mich zu rechtfertigen!? Die Hauptrolle spielte dabei natürlich die Leihkasse. Sehen Sie: ich wußte, daß eine Frau, und noch dazu eine sechzehnjährige, nicht umhin kann, sich dem Manne ganz und gar unterzuordnen. Es ist keine Originalität in den Frauen, das – das ist ein Axiom, sogar jetzt noch, sogar jetzt noch ein Axiom für mich! Was ist’s denn, was dort im Saal auf dem Tische liegt: Wahrheit bleibt Wahrheit, an der kann selbst Mill nichts ändern! Aber die liebende Frau, – oh, die liebende Frau, – die vergöttert selbst die Laster, selbst die Verbrechen des Geliebten. Er wird für seine Verbrechen niemals solche Rechtfertigungen finden können, wie sie sie ihm ausdenken wird. Das ist großmütig, aber nicht originell. Einzig die Unoriginalität hat die Frauen ins Verderben gebracht. Und warum nun, wiederhole ich, zeigen Sie denn dort hin auf den Tisch? Ja, ist denn das etwa Originalität, was dort auf dem Tisch liegt? O – oh! Hören Sie: von ihrer Liebe war ich damals überzeugt. Warf sie sich doch stürmisch an meinen Hals. Also liebte sie doch, richtiger – wollte sie doch lieben. Ja ja, so war es auch: sie wollte lieben, sie versuchte zu lieben. Aber die Hauptsache lag eben darin, daß ich ja gar nicht solche Verbrechen begangen hatte, für die sie sich hätte Entschuldigungen ausdenken müssen. Sie sagen: „ein Pfandleiher“! – ja, und alle sagen es. Aber was will denn das sagen, – „Pfandleiher“? Also muß es doch Gründe gegeben haben, daß der großmütigste Mensch zum – Pfandleiher geworden ist? Sehen Sie: es gibt Ideen ... das heißt, sehen Sie mal, es gibt manche Ideen, die, wenn man sie ausdrücken, in Worten aussprechen will, furchtbar dumm erscheinen. Wirklich – so dumm, daß man sich schämt. Und woher kommt das? – Einfach so. Weil wir alle Lumpen sind und die Wahrheit nicht ertragen können, oder ... ich weiß wirklich nicht ... Ich sagte vorhin: „der großmütigste Mensch“. Das ist lächerlich. Währenddessen aber war es doch wirklich so. Das ist doch _Wahrheit_, was ich sage, die allerallerwahrhaftigste Wahrheit! Ja; ich _hatte damals das Recht_, mich pekuniär sicher stellen zu wollen und dieses Pfandgeschäft zu eröffnen. „Ihr habt mich verstoßen, Ihr (Ihr Menschen natürlich), Ihr habt mich mit verachtendem Schweigen fortgejagt! Auf meinen leidenschaftlichen Drang zu Euch habt Ihr mir mit einer Beleidigung für mein ganzes Leben geantwortet. Somit war ich denn im _Recht_, als ich mich von Euch trennte, zwischen Euch und mir eine Mauer zog; bin im _Recht_, wenn ich diese dreißig Tausend Rubel ersparen und irgendwo in der Krim, am Schwarzen Meere zwischen Bergen und Weingärten auf meinem für diese dreißig Tausend gekauften Gute mein Leben beschließen will. Und vor allen Dingen: ich will ohne Groll auf Euch, aber nur fern von Euch leben, leben mit dem Ideal in der Seele, zusammen mit meiner herzliebsten Frau und mit meinen Kindern, wenn Gott sie uns schenken sollte. Und den Freunden und Nachbarn in der Not würde ich eine helfende Hand sein.“ Gut, wenn ich das jetzt allein zu mir sage, was aber hätte es Dümmeres geben können, als wenn ich damals ihr das vorerzählt und ausgemalt hätte? Das war’s ja, warum ich stolz schwieg, warum wir uns schweigend gegenübersaßen. Was hätte sie denn davon begriffen? Sechzehn Jahre – das ist ja doch noch die erste Jugend! Und was hätte sie denn verstehen können von meinen Rechtfertigungen, von meinen Leiden? Offenherzigkeit, Unkenntnis des Lebens, jugendliche, billige Überzeugungen, wahre Hühnerblindheit der „prachtvollen Herzen“, aber vor allen Dingen – da war ja die Leihkasse und das genügte! – War ich denn etwa ein Räuber, hatte sie denn nicht selbst gesehn, wie ich war und daß ich nichts Unrechtmäßiges nahm? Oh, wie furchtbar ist die Wahrheit auf Erden! Dieses reizende Wesen, diese sanfte Kleine, dieser Himmel – war mein Tyrann, war der unerträgliche Peiniger meiner Seele! Würde ich mich doch selbst anschwärzen, wenn ich das nicht sagte! Sie glauben vielleicht, daß ich sie nicht geliebt habe? Wer kann mir sagen, ich hätte sie nicht geliebt? Sehen Sie: hieraus wurde boshafte Ironie des Schicksals und der Natur! Wir sind verflucht, das Leben der Menschen ist verflucht! – meines noch ganz besonders! – Ich begreife jetzt, daß ich mich hierbei in irgend etwas versehen hatte! Hierbei kam etwas _nicht so_ heraus. Alles war doch so klar, so klar wie der Himmel war mein Plan: „Hart, stolz, braucht niemandes moralischen Trost, leidet schweigend.“ So war’s ja auch, ich log doch nicht, ich log doch wahrhaftig nicht! „Sie wird dann selbst die Hochherzigkeit entdecken, nur versteht sie vorläufig noch nicht, sie zu bemerken; doch wenn sie das irgend einmal errät, so wird sie es dann zehnfach zu schätzen wissen und in den Staub vor mir niederknieen, mit betend gefalteten Händen.“ – Das war der Plan! Aber hier mußte ich etwas vergessen oder aus dem Auge gelassen haben. Irgend etwas habe ich hier nicht zu machen verstanden. Doch genug, genug! Und wen soll ich denn jetzt um Verzeihung bitten? Ist’s aus, dann ist’s aus. Mutiger, Mensch, und sei stolz! Nicht du trägst die Schuld! ... Nein, ich sage die Wahrheit, ich fürchte mich nicht, vor das Angesicht der Wahrheit hinzutreten: _sie_ trägt die Schuld daran, _sie_ trägt die Schuld! ... V. Die Kleine revoltiert. Die Uneinigkeit begann damit, daß es ihr plötzlich einfiel, das Geld wie es ihr gut dünkte auszugeben, die Pfänder über ihren Wert einzuschätzen, und zweimal geruhte sie sogar, über dieses Thema mit mir zu streiten. Ich erklärte mich damit nicht einverstanden. Und da kreuzte denn noch diese Offizierswitwe unseren Weg. Es kam eine alte Frau, die Witwe eines Hauptmanns, mit einem Medaillon, – Geschenk des verstorbenen Gatten, nun, man weiß ja: eine Erinnerung. Ich gab ihr dreißig Rubel. Da hob denn das Weinen an –: man solle das Ding nur ja gut aufbewahren. – Selbstverständlich bewahren wir es gut auf. Nun, kurz und gut, plötzlich, nach fünf Tagen kommt sie wieder, um das Ding gegen ein Armband, das nicht mal acht Rubel wert war, einzulösen. Ich schlug ihr’s natürlich ab. Wahrscheinlich hat sie wohl damals schon etwas aus den Augen meiner Frau erraten, denn als sie das zweite Mal in meiner Abwesenheit kam, tauschte die es tatsächlich gegen ihr Medaillon ein. Als ich das noch am selben Tage erfahren hatte, sprach ich sanft, doch bestimmt und vernünftig mit ihr. Sie saß auf dem Bett, sah zu Boden und baumelte mit dem rechten Fuß – ihre charakteristische Angewohnheit –, wobei sie mit dem Schuhspitzchen immer über den Betteppich fuhr; ein häßliches Lächeln lag auf ihren Lippen. Da erklärte ich ihr ruhig, ohne auch nur die Stimme zu erheben, daß das Geld _mir_ gehöre, daß ich das Recht habe, auf das Leben mit _meinen_ Augen zu sehn, und – daß ich, als ich sie um ihre Hand gebeten, ihr doch nichts verheimlicht hatte. Sie sprang auf, erzitterte am ganzen Körper und – was glauben Sie wohl – stampfte plötzlich wie wahnsinnig mit den Füßen los! Das war einfach ein Tier, das war ein Anfall, das war ein Tier im Krampf!! Ich war starr vor Erstaunen: solch einen Ausfall hätte ich nie und nimmer erwartet! Verlor aber nicht den Kopf, zuckte nicht einmal und erklärte nur, wieder mit derselben ruhigen Stimme, daß ich ihr von nun ab die Anteilnahme an meinen Beschäftigungen entziehen würde. Sie lachte mir ins Gesicht und ging, – ging aus der Wohnung. Die Sache war aber, daß sie nicht das Recht hatte, die Wohnung zu verlassen. Nicht ohne meinen Willen auszugehen – so war es zwischen uns noch während der Brautschaft abgemacht worden. Zum Abend kehrte sie zurück; ich sprach kein Wort. Am nächsten Tage ging sie wieder gleich am Morgen aus, am übernächsten wieder. Ich schloß die Kasse und begab mich zu den Tanten. Mit ihnen hatte ich gleich nach der Trauung jegliche Beziehungen abgebrochen –: weder kamen sie zu uns, noch wir zu ihnen. Es stellte sich heraus, daß meine Frau nicht bei ihnen gewesen war. Sie hörten mir neugierig zu, lachten mich aus: „Geschieht Ihnen recht.“ Aber ich hatte es ja nicht anders erwartet. Bei derselben Gelegenheit gewann ich die jüngere Tante, die Jungfer, bestach sie mit hundert Rubeln, von denen ich ihr fünfundzwanzig sofort einhändigte. Nach zwei Tagen kam sie zu mir. „Da ist ein Offizier,“ sagte sie, „ein Leutnant Jefimowitsch, Ihr früherer Regimentskamerad, im Spiel.“ Ich war sehr verwundert. Von diesem Jefimowitsch hatte ich im Regiment am allermeisten Bosheit erfahren müssen. Vor einem Monat aber war er, schamlos wie er stets gewesen, zweimal unter dem Vorwand etwas versetzen zu wollen, zu uns gekommen. Ich weiß noch, daß er damals mit meiner Frau zu scherzen versucht hatte. Da war ich denn an ihn herangetreten und hatte ihm gesagt, er solle es nicht wagen, wiederzukommen, – so wie unsere Beziehungen nun einmal stünden. Doch nicht mal ein Gedanke an irgend so etwas war mir in den Kopf gekommen; ich dachte einfach, daß er nichts als frech und zudringlich war. Und nun sagte mir plötzlich dieses Weibsbild von Tante, daß sie sich ein Rendezvous geben werden, und daß die ganze Geschichte von einer früheren Bekannten der anderen Tante, einer Julija Ssamssonowna, die noch dazu Witwe eines Obersten sein sollte, unterstützt würde. – „Und zu dieser Witwe geht Ihre Frau.“ Ich werde mich kürzer fassen. Im ganzen kam mich die Sache auf zirka dreihundert Rubel zu stehn; dafür aber war es nach zweimal vierundzwanzig Stunden abgemacht, daß ich im Nebenzimmer hinter der Tür stehen und auf diese Weise dem ersten ^tête-à-tête^ meiner Frau mit Jefimowitsch beiwohnen sollte. In der Erwartung dessen kam es nun noch am Abend vorher zu einer kurzen, doch nur zu bedeutsamen kleinen Szene zwischen ihr und mir. Sie kam kurz vor Abend zurück, setzte sich aufs Bett, blickte mich spöttisch an und baumelte wieder mit dem Beinchen überm Teppich. Da, als ich sie so sah, fiel es mir plötzlich auf, daß sie in diesem ganzen letzten Monat oder wenigstens in den letzten zwei Wochen – ja gar nicht mehr sie selbst gewesen war. Das war plötzlich ein wildes, unordentliches Geschöpf geworden, das bereit war, sich ins Verderben zu stürzen, das den Strudel geradezu suchte. Solch ein Wesen kann sich mit seiner Vernunft und seinem Schamgefühl, wenn es einmal die Grenzen überschritten, nicht mehr zurechtfinden. Es gerät in einer Weise aus dem Gleise, wie man es nie für möglich gehalten hätte. Dagegen wird sich eine verderbte Seele immer zu mäßigen wissen, wird vielleicht das Gemeinste tun, aber dabei doch immer noch Ordnung und Anstand wahren und obendrein womöglich noch die Anmaßung haben, einem überlegen zu sein. „Ist es wahr, daß man Sie aus dem Regiment fortgejagt hat, weil Sie aus Furcht ein Duell ausgeschlagen haben?“ fragte sie plötzlich und ihre Augen erglänzten. „Ja, es ist wahr. Man bat mich nach dem Urteilsspruch der Offiziere, das Regiment zu verlassen, obgleich ich übrigens schon vorher selbst mein Abschiedsgesuch eingereicht hatte.“ „Als Feigling fortgejagt?“ „Ja, ich wurde als Feigling verurteilt. Doch hatte ich das Duell nicht aus Furcht ausgeschlagen, sondern weil ich mich nicht ihrem tyrannischen Urteilsspruch fügen wollte: zum Duell herauszufordern, wenn ich selbst eine Beleidigung nicht anerkennen konnte ... Wissen Sie,“ – sagte ich plötzlich, denn ich konnte nicht an mich halten – „daß mit der Tat sich gegen solche Tyrannei auflehnen und alle Folgen dieser Handlung auf sich nehmen, viel mehr Männlichkeit beweisen hieß, als zu einem Duell herausfordern.“ Ich hatte mich nicht beherrschen können und mit den letzten Worten gleichsam mich zu rechtfertigen begonnen; das aber wollte sie ja nur, diese meine neue Erniedrigung! Sie lachte boshaft auf. „Und ist es wahr, daß Sie sich darauf drei Jahre lang in den Straßen Petersburgs wie ein Strolch herumgetrieben haben, um zehn Kopeken die Leute angesprochen und unter den Billards genächtigt haben?“ „Ich habe sogar in der Ssennaja im Wjäsemskischen Hause[6] genächtigt. Ja, es ist wahr; in meinem Leben war später, nach dem Ausschluß aus dem Regiment, viel Schmach und Verkommenheit, doch keine moralische Verkommenheit, denn ich war ja doch selbst der erste, der mich und meine Handlungen haßte. Das war bloß eine Ohnmacht meines Willens, die durch die Verzweiflung meiner Lage hervorgerufen wurde ... Aber das ist jetzt vorüber, ist gewesen ...“ „Oh, natürlich. Jetzt sind Sie ja eine große Persönlichkeit: ein Finanzmann!“ Das war natürlich eine Anspielung auf die Pfandkasse. Doch ich beherrschte mich schon wieder. Ich sagte mir, daß sie es ja doch nur auf Erklärungen meinerseits abgesehen hatte, die mich erniedrigen sollten und – ich schwieg. Zudem klingelte gerade jemand und so ging ich denn aus dem Schlafzimmer an meine Kasse. Darauf, nach einer Stunde ungefähr, als sie sich angekleidet hatte, um wieder auszugehn, blieb sie plötzlich noch vor mir stehen und sagte: „Vor der Hochzeit aber haben Sie mir nichts davon gesagt?“ Ich antwortete nicht und sie ging. Und so war’s denn am folgenden Tage, daß ich dort in jenem Zimmer hinter der Tür stand und zuhörte, wie sich mein Schicksal entschied, – doch in meiner Tasche hatte ich einen Revolver. Sie war sorgfältig angekleidet, saß hinter dem Tisch auf dem Sofa und Jefimowitsch gab sich alle Mühe. Nun, und –: es geschah das (ich sage es zu meiner Ehre), es geschah genau das, was ich vorausgefühlt hatte, was ich angenommen, daß geschehen würde ... wenn ich mir auch dessen nicht bewußt war, daß ich es tat ... Ich weiß nicht, ob ich mich verständlich ausdrücke. Und zwar geschah folgendes: Ich hörte eine ganze Stunde lang zu, eine ganze Stunde lang dem Zweikampf eines Weibes, des edelsten und keuschesten, mit einer stumpfen, verderbten Lebeweltkreatur. Und woher – fragte ich mich erstaunt, woher kann diese naive, diese keusche, diese unerfahrene junge Seele alles das wissen? Selbst der geistreichste Autor einer mondänen Komödie hätte nicht solch eine Szene erdichten können, solch einen Spott, solch ein allernaivstes Lächeln mit dieser heiligen Verachtung, die der reine Mensch für das Laster hat. Und wieviel Geist war doch in ihren Worten und kleinen Wörtchen, welch ein Scharfsinn in ihren schnellen Antworten und welche Sicherheit und Wahrheit in ihren Urteilen. Und zu gleicher Zeit wieviel – ich möchte sagen – mädchenhafte Gutmütigkeit! Auf seine Liebeserklärungen hin lachte sie ihn einfach aus. Er, der mit seinen rohen Absichten gekommen war, saß plötzlich ganz kleinlaut da und wußte nicht, wie ihm geschah. Zuerst hätte ich glauben können, daß es ihrerseits nur Koketterie war – „Koketterie eines, wenn auch verderbten, so doch jedenfalls geistreichen Weibes, um sich kostbarer zu machen“. Aber nein, die Wahrheit war so sonnenklar, daß ein Zweifel überhaupt nicht bestehen konnte. Nur aus Haß zu mir, aus sich selbst vorgetäuschtem, eingebildetem plötzlichem Haß zu mir, hatte sie, dies unerfahrene Ding, sich zu diesem Rendezvous entschließen können; sobald es aber zur Tat kam – erwachte sie sofort. Sie quälte sich selbst, um mich irgendwie, einerlei wodurch, zu beleidigen, doch ist es ja nur zu verständlich, daß sie, die sich zu etwas so Scheußlichem entschlossen zu haben schien, sofort auf diesem Wege stehen blieb und umkehrte, als sie ihm gegenüberstand: sie ertrug es nicht. Und sie, diese sündenlose, keusche Seele, die ihr Ideal besaß, hätte solch ein Jefimowitsch oder einerlei wer von diesem Lebeweltgesindel verführen können? Er rief ja bei ihr nur Gelächter hervor. Die ganze Wahrheit erhob sich in ihrer Seele und der Unwille erweckte bloß Spott in ihrem Herzen. Ich wiederhole: dieser Narr saß zum Schluß ganz verdutzt auf seinem Stuhl, blickte mürrisch drein und antwortete kaum, so daß ich schon befürchtete, er würde vielleicht aus niedriger Rachsucht sie zu beleidigen suchen. Und ich wiederhole nochmals, zu meiner Ehre sei es gesagt –: ich hörte das ganze Gespräch so gut wie ohne jegliche Verwunderung an. Es war mir, als ob ich etwas Bekanntes wiederfand. Ich war gleichsam nur deswegen hingegangen, um dieses Bekannte wiederzufinden. Ich ging hin, ohne einer einzigen Beschuldigung zu glauben, obgleich ich mir den Revolver in die Tasche gesteckt hatte –, das ist die ganze Wahrheit. Und wie hätte ich sie mir denn überhaupt anders denken können? Warum liebte ich sie denn, warum schätzte ich sie denn so hoch, warum hatte ich sie denn geheiratet? Oh, natürlich wurde mir klar, wie sehr sie mich haßte, doch wurde mir auch das klar, wie unverdorben, wie rein sie war. Ich machte der Szene plötzlich ein Ende, indem ich die Tür öffnete. Jefimowitsch sprang auf; ich bot ihr den Arm und bat sie, mit mir das Haus zu verlassen. Jefimowitsch faßte sich ziemlich schnell und lachte belustigt laut auf. „Oh, gegen die geheiligten Gattenrechte habe ich natürlich nichts einzuwenden! Bitte, führen Sie sie fort, bitte! Und wissen Sie,“ rief er mir noch nach, „obgleich sich ja ein anständiger Mensch mit Ihnen eigentlich nicht schlagen kann, so stehe ich doch, aus Achtung vor Ihrer Frau, zu Ihrer Verfügung ... Wenn Sie, übrigens, selbst riskieren sollten ...“ „Hören Sie!“ sagte ich ihr, und hielt sie noch einen Augenblick auf der Türschwelle zurück. Darauf den ganzen Weg bis nach Haus kein Wort. Ich führte sie an der Hand und sie widersetzte sich nicht. Im Gegenteil, sie war furchtbar betroffen, und das nicht nur auf dem Wege bis zu unserer Wohnung. Bei uns angekommen, setzte sie sich auf einen Stuhl und richtete dann starr ihren Blick auf mich. Sie war ungewöhnlich bleich; wenn sich auch ihre Lippen sofort wieder spöttisch verzogen, so sah sie mich doch mit einem Blick stolzer Herausforderung an und war, glaube ich, fest überzeugt, wenigstens in den ersten Minuten, daß ich sie nun sofort niederschießen würde. Ich aber zog meinen Revolver schweigend aus der Tasche und legte ihn auf den Tisch. Sie blickte von mir auf den Revolver, vom Revolver auf mich. (Beachten Sie folgendes: dieser Revolver war ihr schon bekannt. Ich hatte ihn mir gekauft, weil ich nicht beabsichtigte, große Hunde oder einen starken Diener, wie ihn zum Beispiel Moser hat, zu halten. Bei mir öffnet die Magd die Tür. Andrerseits aber können wir uns doch nicht ganz des Selbstschutzes berauben, – wenn die Leute nun einmal wissen, daß man immer Geld im Hause hat. Und so hatte ich mir denn diesen Revolver gekauft. Sie nun, als sie zu mir ins Haus kam, interessierte sich in den ersten Tagen ganz besonders für das Ding und ich erklärte ihr daraufhin das ganze System und beredete sie sogar einmal, nach einem Ziel zu schießen. Bitte sich das zu merken.) Ohne ihren erschrockenen Blick weiter zu beachten, legte ich mich halb ausgekleidet auf das Bett. Ich war nicht wenig erschöpft. Es war schon elf Uhr. Sie blieb auf ihrem Platz sitzen, ohne sich zu rühren, ungefähr noch eine Stunde lang. Darauf löschte sie das Licht aus und legte sich, gleichfalls angekleidet, an der Wand auf den Diwan. Zum ersten Mal legte sie sich nicht mit mir nieder. – Das bitte gleichfalls zu behalten. VI. Eine furchtbare Erinnerung. Jetzt ist es eine furchtbare Erinnerung ... Ich erwachte am Morgen, ungefähr um acht. Im Zimmer war es fast schon ganz hell. Ich erwachte plötzlich mit vollem Bewußtsein und schlug die Augen auf: sie stand am Tisch und hielt den Revolver in der Hand. Sie bemerkte es nicht, daß ich aufgewacht war und sie beobachtete. Und plötzlich sehe ich: sie bewegt sich auf mich zu, mit dem Revolver in der Hand ... Ich schloß sofort die Augen und stellte mich schlafend. Sie kam bis ans Bett und beugte sich über mich ... Ich hörte alles ... wenn es auch totenstill war, so _hörte_ ich doch diese Stille ... Da – es war eine krampfhafte Bewegung –: ich schlug plötzlich, gegen meinen Willen die Augen auf: sie stand über mich gebeugt und sah mich an, blickte mir gerade in die Augen – und der Revolver war schon dicht an meiner Schläfe. Unsere Blicke trafen sich. Wir sahen einander nicht länger als eine Sekunde an. Mit Anstrengung all meiner Kräfte schloß ich wieder die Augen und im selben Moment faßte ich auch aus der ganzen Kraft meiner Seele den Entschluß, mich nicht mehr zu rühren und nicht mehr die Augen zu öffnen, einerlei, was mich auch erwarten mochte. Es kommt in der Tat zuweilen vor, daß auch ein festschlafender Mensch plötzlich die Augen aufschlägt, sogar den Kopf erhebt und sich im Zimmer umblickt, darauf, nach einer Sekunde, den Kopf wieder auf das Kissen legt und einschläft, ohne sich seiner ganzen Bewegung bewußt zu sein oder sich später noch ihrer zu entsinnen. Als ich, nachdem sich unsere Blicke getroffen und ich den Revolver ganz nah an meiner Schläfe gesehn hatte, plötzlich wieder meine Augen schloß und mich regungslos verhielt, wie ein Festschlafender, – da konnte sie entschieden glauben, daß ich tatsächlich schlief und nichts gesehn hatte, um so mehr, als es doch ganz unwahrscheinlich sein mußte, ich hätte, nachdem ich das gesehn, was ich gesehn, in _solch_ einem Augenblick die Augen wieder schließen können. Allerdings war es unwahrscheinlich. Aber trotzdem hätte sie doch die Wahrheit erraten können, – das war’s ja, was mir plötzlich in diesem selben Augenblick durch die Gedanken zuckte. Welch ein Wirbelsturm von Gedanken und Gefühlen in weniger als einer Sekunde durch meine Seele stob! – oh, Elektrizität des Menschengedankens! In diesem Falle – wenn sie die Wahrheit erraten hatte und wußte, daß ich nicht schlief – mußte ich sie schon durch meine Bereitwilligkeit, in den Tod zu gehn, niederdrücken, vernichten ... und ihre Hand hätte zurückzucken müssen. Die anfängliche Entschlossenheit hätte an einem neuen ungewöhnlichen Eindruck zerschellen können. Man sagt, wer auf der Höhe steht, fühle sich unwillkürlich hinabgezogen in den Abgrund: Ich glaube, viele Selbstmorde und Morde sind nur begangen worden, weil der Revolver schon in der Hand war. Da ist es gleichfalls ein Abgrund, ein Abhang von fünfundvierzig Grad und da kann man nicht umhin, diesen Abhang hinunterzugleiten und es ist da etwas, was einen unwiderstehlich herausfordert, den Hahn abzudrücken. Doch wenn sie sich sagte, daß ich alles gesehn habe, alles weiß und schweigend von ihr den Tod erwarte – dieser Gedanke hätte sie doch vielleicht auf dem Abhange aufhalten können. Die Stille dauerte an und – plötzlich fühlte ich an der Schläfe, dicht an meinem Haar die kalte Berührung des Eisens ... Sie werden mich fragen, ob ich immer noch auf eine Rettung hoffte? Ich will Ihnen wie meinem Gott antworten: ich hatte nicht die geringste Hoffnung, außer vielleicht wie eins zu hundert, nicht erschossen zu werden. Warum – fragen Sie mich – nahm ich dann den Tod von ihr entgegen? Ich aber frage: was war mir denn das Leben noch, nachdem das von mir vergötterte Wesen den Revolver auf mich angelegt hatte? Außerdem fühlte ich mit meinem ganzen Ich, daß in diesem Augenblick zwischen uns ein Kampf vor sich ging, ein furchtbarer Zweikampf auf Leben oder Tod, der Kampf mit diesem selben früheren „Feigling“, der von den Kameraden wegen „Feigheit“ fortgejagt worden war! Ich wußte das, und auch sie wußte das, wenn sie nur die Wahrheit erraten hatte, – daß ich nicht schlief! Vielleicht ist es auch nicht so gewesen, vielleicht habe ich all das in dem Augenblick auch nicht gedacht, aber das hätte doch alles so sein müssen, wenn auch ohne Gedanken. Ich habe ja nachher sonst nichts mehr getan, als in jeder Stunde meines Lebens _daran_ gedacht. Doch Sie können noch eine andere Frage stellen: warum bewahrte ich sie nicht vor dem Verbrechen? Oh, ich habe mir selbst nachher wohl an tausendmal diese Frage gestellt – jedesmal, wenn ich mir mit einem Schauer im Rücken diesen Augenblick zu vergegenwärtigen suchte. Doch meine Seele war damals in finsterer Verzweiflung: ich ging unter, ich ging selbst unter, wen hätte ich da noch retten können!? Und woher wissen Sie, ob ich da überhaupt noch jemanden hätte retten wollen? Woher soll man’s wissen, was ich damals habe fühlen können. Einstweilen war mein Bewußtsein überwach, siedete, kochte in mir ... Die Sekunden kamen und gingen, es war totenstill ... Sie stand immer noch über mich gebeugt – und plötzlich durchzuckte mich eine Hoffnung! – Ich schlug schnell die Augen auf: sie war nicht mehr im Zimmer. Ich erhob mich vom Bett. – _Ich_, _ich_ hatte gesiegt! – und sie war auf ewig besiegt! Ich ging in das vordere Zimmer zum Frühstück. Der Samowar wurde bei uns immer im ersten Zimmer aufgestellt und den Tee goß stets sie ein. Ich setzte mich schweigend an den Tisch und nahm von ihr mein Glas in Empfang. So nach fünf Minuten sah ich zum ersten Mal auch zu ihr hinüber: sie war entsetzlich bleich, noch bleicher, als am Tage vorher, und blickte mich an. Und plötzlich – und plötzlich, als sie gewahr wurde, daß ich sie betrachtete, verzog sie ihre bleichen Lippen zu einem blassen Lächeln, mit scheuer Frage in den Augen ... So zweifelt sie immer noch? fragt sich wohl: weiß er es oder weiß er es nicht, hat er gesehn oder hat er nicht gesehn? Gleichmütig wandte ich meinen Blick von ihr ab. Nach dem Tee schloß ich die Kasse, ging auf den Markt und kaufte ein eisernes Bett und einen großen Bettschirm. Nach Haus zurückgekehrt, ließ ich das Bett im ersten Zimmer aufstellen und mit dem Schirm gleichsam das Zimmer abteilen. Das war ein Bett für sie, doch sagte ich kein Wort davon. Auch ohne Worte begriff sie durch dieses Bett, daß ich „alles gesehn habe und alles weiß“. Für die Nacht legte ich den Revolver wie immer auf den Tisch. Spät abends legte sie sich in dieses neue Bett: die Ehe war aufgelöst. – „Sie war besiegt, doch war ihr noch nicht verziehen.“ In der Nacht fing sie an zu phantasieren und am nächsten Morgen hatte sie hohes Fieber. Sechs Wochen lag sie. Zweites Kapitel. I. Ein stolzer Traum. Lukerja hat mir soeben erklärt, daß sie hinfort nicht mehr bei mir bleiben will und fortgehen wird, sobald die gnädige Frau beerdigt ist. Habe kniend fünf Minuten gebetet, wollte zuerst eine ganze Stunde lang beten, doch denke ich, denke ich die ganze Zeit; alles nur kranke Gedanken und ein schmerzender Kopf, – was da beten! – wäre ja Sünde ... Sonderbar, daß ich nicht schlafen will. In großem, allzu großem Leid will man doch nach den ersten, stärksten Ausbrüchen immer schlafen. Zum Tode Verurteilte sollen, wie man sagt, in der letzten Nacht ungewöhnlich fest schlafen. Ja, das muß auch so sein, – das verlangt die Natur, sonst würden die Kräfte nicht ausreichen ... Ich legte mich auf den Diwan, konnte aber nicht einschlafen ... * * * * * ... Sechs Wochen pflegten wir sie Tag und Nacht: ich, Lukerja und die Krankenwärterin aus dem Hospital. Geld sparte ich nicht, ich hatte geradezu das Bedürfnis, für sie auszugeben. Von Ärzten rief ich auch Schröder zu ihr und zahlte ihm zehn Rubel für jede Visite. Als sie allmählich das Bewußtsein wiedergewann, ging ich seltener zu ihr. Doch wozu beschreibe ich das lang und breit. Als sie schließlich aufstand, das Bett verließ, da setzte sie sich leise und schweigend in meinem Zimmer an den kleinen Tisch, den ich mittlerweile gleichfalls für sie gekauft hatte ... Ja, es ist wahr, wir schwiegen ganz und gar; später fingen wir auch zuweilen an, über irgend etwas zu sprechen, aber – immer über Gleichgültiges. Ich war natürlich mit Absicht nicht gesprächig, doch bemerkte ich sehr wohl, daß auch sie froh war, kein überflüssiges Wort sagen zu müssen. Das erschien mir ihrerseits ganz natürlich: „Sie ist viel zu erschüttert, viel zu sehr besiegt,“ dachte ich, „und man muß ihr eben Zeit geben, zu vergessen und sich wieder einzuleben.“ So schwiegen wir denn beide, doch bereitete ich mich im Herzen jeden Augenblick auf das Zukünftige vor. Ich glaubte, daß auch sie dasselbe tat und bemühte mich fortwährend zu erraten, woran sie eigentlich bei sich jetzt denken könnte. Natürlich ahnt kein Mensch, wieviel ich gelitten habe, als ich während ihrer Krankheit bei ihr wachte. Selbst vor Lukerja verbarg ich es. Ich konnte es mir nicht vorstellen, konnte es nicht einmal in der Annahme zulassen, daß sie sterben könnte, bevor sie alles erfahren haben würde. Als sie aber die Gefahr überstanden hatte und die Gesundheit allmählich wiedererlangte, da, ich weiß es noch genau, beruhigte ich mich gar bald und zwar vollkommen. Ja, ich beschloß sogar, _unsere „Zukunft“ so weit als möglich hinauszuschieben_ und vorläufig alles so wie es war seinen Gang gehen zu lassen. In der Tat, es geschah damals mit mir etwas Sonderbares und Besonderes, – anders verstehe ich es nicht zu bezeichnen: ich hatte gesiegt, und schon die bloße Erkenntnis dessen erwies sich für mich als vollkommen genügend. Und so verging denn der ganze Winter. Oh, was mich anbetraf, so war ich so zufrieden, wie noch nie zuvor ... und das war ich den ganzen Winter über. Sehen Sie: in meinem Leben gab es ein furchtbares äußeres Verhängnis, das bis zu der Zeit, das heißt, bis zum Tage der Katastrophe mit meiner Frau, mich jeden Tag, jede Stunde bedrückte: das war der Verlust meiner Reputation und jener Ausschluß aus dem Regiment. Kurz: an mir war tyrannisch Ungerechtigkeit verübt worden. Es ist wahr, meine Kameraden liebten mich nicht wegen meines schweren Charakters und, vielleicht auch, wegen meines sonderbaren Charakters, obgleich es doch häufig vorkommt, daß das, was der eine hochhält, schätzt und achtet, zu gleicher Zeit aus irgend einem Grunde den anderen lächerlich erscheint. Auch in der Schule hat man mich niemals geliebt. Immer und überall hat man mich nicht geliebt. Auch Lukerja mag mich nicht. Der Zwischenfall im Regiment – wenn er auch im Grunde die Folge meiner Unbeliebtheit sein mochte, war doch jedenfalls zufällig. Ich sage das nur, weil es nichts Kränkenderes und Unerträglicheres gibt, als durch einen Zufall zu grunde zu gehen, durch einen Zufall, der ebenso gut auch nicht hätte sein können, durch das unglückliche Zusammentreffen von Umständen, die sonst vielleicht wie eine Wolke vorübergezogen wären. Für einen intelligenten Menschen ist das geradezu erniedrigend. Der Fall war folgender: Im Zwischenakt im Theater ging ich hinaus ans Buffet. Da trat der Husarenleutnant A–ff plötzlich gleichfalls ein und erzählte zwei anderen Husaren aus seinem Regiment mit ziemlich lauter Stimme – wenigstens so, daß es alle anwesenden Offiziere und das Publikum hören konnten –, daß ein Hauptmann unseres Regiments, Besumzeff, im Korridor Skandal gemacht habe und – „wahrscheinlich betrunken sei“. Es entspann sich weiter kein Gespräch darüber, und dazu war es auch noch ein Irrtum, denn der Hauptmann Besumzeff war weder betrunken gewesen, noch hatte er besonderen Skandal gemacht. Die Husaren gingen auf ein anderes Thema über und damit war’s abgetan. Am nächsten Tage jedoch wurde die Geschichte in unserem Regiment bekannt und sofort wußte man auch, daß von Offizieren unseres Regiments nur ich allein zugegen gewesen und auf den Leutnant A–ff nicht zugetreten war, als er sich in ungeziemender Weise über Hauptmann Besumzeff geäußert, um ihn wenigstens durch eine Bemerkung zurechtzuweisen. Doch – aus welchem Grunde hätte ich das tun sollen? Wenn er etwas gegen unseren Hauptmann Besumzeff hatte, so war das doch eine persönliche Angelegenheit, aus welchem Grunde hätte ich mich da hineinmischen sollen? Meine Kameraden jedoch fanden, daß die Sache keine persönliche gewesen war, sondern das ganze Regiment anging: ich hätte durch mein Verhalten allen am Buffet anwesenden Offizieren und dem Publikum gezeigt, daß es in unserem Regiment auch Offiziere gibt, die in Betreff ihrer wie des Regimentes Ehre nicht gerade empfindlich sind. Mit dieser Auffassung konnte ich nicht übereinstimmen. Man gab mir zu verstehn, daß ich noch alles gutmachen könnte, wenn ich mich noch nachträglich mit A–ff auseinandersetzen wollte. Das aber wollte ich nicht und da ich gereizt war, so weigerte ich mich stolz. Gleich darauf reichte ich mein Abschiedsgesuch ein. Das ist die ganze Geschichte. Äußerlich stolz, doch innerlich gebrochen ging ich fort: krank am Willen, kraftlos im Geiste. Da kam gerade noch hinzu, daß mein Schwager in Moskau unser kleines Kapital verlor und ich somit auch meines Teiles verlustig ging. Und so blieb ich denn ohne eine Kopeke auf der Straße. Ich hätte ja in einen Zivildienst eintreten können, doch tat ich es nicht: nach dem glänzenden Waffenrock mochte ich keine einfache Uniform tragen, irgendwo an der Eisenbahn dienen. Sollte einmal Schande in meinem Leben sein, nun – dann eben Schande, je schlimmer, desto besser – das war’s, was ich vorzog. Darauf folgten dann drei Jahre dunkle Erinnerungen und darunter auch solche aus dem Wjäsemskischen Hause ... Vor anderthalb Jahren starb in Moskau eine reiche alte Frau, meine Taufmutter, und hinterließ mir, wie allen ihren Taufkindern, ganz unerwartet dreitausend Rubel. Das gab mir den Anstoß, nachzudenken, und ich entschied mein Schicksal. Ich entschloß mich für die Pfandkasse, ohne mich um die Menschen weiter zu kümmern: erst Geld erwerben, dann einen Winkel und – neues Leben fern von alten Erinnerungen: – das war mein Plan ... Nichtsdestoweniger quälten mich das dunkle Vergangene und die auf ewig verlorene Ehre in jeder Stunde, in jeder Minute meines Lebens. Dann heiratete ich. Ob zufällig oder nicht – ich weiß es nicht. Jedenfalls glaubte ich, als ich sie in mein Haus führte, daß ich einen Freund einführe, denn einen Freund hatte ich nur zu nötig. Ich erkannte aber deutlich, daß dieser Freund erst vorbereitet, erzogen, sogar besiegt werden mußte. Und wie hätte ich denn dieser voreingenommenen Sechzehnjährigen so mit einem Schlage irgend etwas erklären können? Zum Beispiel, wie hätte ich sie ohne die zufällige Hilfe der furchtbaren Katastrophe mit dem Revolver überzeugen können, daß ich kein Feigling bin und daß man mich im Regiment mit Unrecht als Feigling verurteilt hatte? Doch die Katastrophe kam zur rechten Zeit. Als ich den Revolver aushielt, rächte ich mich an meiner ganzen finsteren Vergangenheit. Und wenn das auch niemand erfuhr, so erfuhr es doch _sie_, sie aber war alles für mich, denn sie selbst war mir alles, war in meinen Gedanken die ganze Hoffnung meiner Zukunft! Sie war der einzige Mensch, den ich ganz für mich bestimmte, einen anderen brauchte ich nicht mehr, – und da hatte sie denn nun alles erfahren. Sie hatte wenigstens erfahren, daß es von ihr Unrecht gewesen war, sich meinen Feinden anzuschließen. Der Gedanke an meinen Sieg beruhigte mich. In ihren Augen konnte ich folglich nicht mehr gemein sein, vielleicht höchstens noch ein sonderbarer Mensch, doch auch das war mir nach allem, was geschehen war, durchaus nicht so unlieb: Sonderbarkeit ist kein Laster, im Gegenteil, gefällt zuweilen sogar dem weiblichen Charakter. Kurz, ich schob absichtlich die Lösung der Sache hinaus: das Geschehene war vorläufig zu meiner Beruhigung übergenug und enthielt solch eine Fülle von Bildern und Material für meine Träume! Das ist ja die Gemeinheit, daß ich eben ein Träumer bin: mir genügten die Träume, von ihr aber dachte ich, daß sie _warten_ würde. So verging der ganze Winter, gewissermaßen wie in Erwartung irgend eines Ereignisses. Ich liebte es, sie heimlich zu betrachten, wenn sie so an ihrem Tischchen saß. Sie beschäftigte sich mit einer Handarbeit, nähte an der Wäsche, des Abends aber las sie Bücher, die sie dann aus meinem Schrank nahm. Die Auswahl der Bücher, die ich besaß, mußte in ihrer Art zu meinen Gunsten sprechen. Sie ging fast nirgendwo hin. Vor der Dämmerstunde, nach dem Essen, ging ich jeden Tag mit ihr spazieren, und wir machten uns Bewegung, doch geschah das stets vollkommen schweigend, ganz so wie früher. Ich bemühte mich gerade so zu tun, als ob wir nicht schwiegen und in allem wortlos übereinstimmten, doch, wie gesagt, vermieden wir beide überflüssige Worte. Ich tat es mit Absicht und ihr, dachte ich, muß man unbedingt „Zeit geben“. Eines ist allerdings sonderbar: es kam mir kein einziges mal in den Sinn, daß ich es liebte, sie heimlich zu betrachten, andererseits hatte ich aber während des ganzen Winters kein einziges mal bemerkt, daß auch ihr Blick auf mir ruhte. Ich glaubte, das wäre ihre Schüchternheit. Und zudem war sie von solch einer scheuen Sanftmut, sah sie so kraftlos nach der Krankheit aus. „Nein, warte lieber ab und – und sie wird plötzlich selbst zu Dir kommen ...“ Dieser Gedanke bezauberte mich unwiderstehlich. Füge noch eines hinzu: zuweilen geschah es, daß ich mich selbst gewissermaßen aufhetzte und meinen Geist und meine Vernunft so weit brachte, daß ich sie haßte. Und das dauerte dann so eine geraume Zeit. Doch konnte sich dieser Haß nie so recht in meiner Seele einnisten. Und ich fühlte doch auch selbst im Geheimen, daß es eigentlich nur ein Spiel war. Und sogar damals habe ich, wenn auch ich es war, der unsere Ehe zerriß, indem ich das Bett und den Wandschirm kaufte, – sogar damals habe ich niemals, niemals in ihr eine Verbrecherin sehen können. Und nicht etwa, weil ich ihr Verbrechen leichtfertig beurteilt hätte, nein, weil ich mir vorgenommen hatte, ihr ganz und gar zu vergeben, schon vom ersten Tage an, sogar schon bevor ich noch das Bett kaufte! Mit einem Wort, das war eine Sonderbarkeit meinerseits, denn ich bin moralisch streng ... Im Gegenteil, in meinen Augen war sie dermaßen besiegt, dermaßen erniedrigt, dermaßen vernichtet, daß sie mir zuweilen in der Seele leid tat, obgleich mir andererseits bei all dem der Gedanke an ihre Erniedrigung entschieden wohlgefiel. Ja, ja, der Gedanke an diese unsere Ungleichheit gefiel mir ... In diesem Winter tat ich absichtlich viel Gutes. Stundete unter anderem zwei Schuldnern und gab einer armen Frau ohne jedes Pfand Geld. Meiner Frau sagte ich nichts davon und tat es auch nicht, damit sie es erfahren sollte; aber die arme Frau kam von selbst, um sich bei mir zu bedanken, – hätte nicht viel gefehlt, so wäre sie auf die Kniee gefallen. So erfuhr sie es denn doch; es schien mir, daß es ihr wirklich Freude machte, dieses von der armen Frau zu hören. Da kam der Frühling; es war schon Mitte April, die Vorsatzfenster wurden herausgenommen und die Sonne warf bereits leuchtende Strahlenbündel in unsere schweigenden Zimmer. Doch die Binde war noch vor meinen Augen und machte mich blind. Die verhängnisvolle furchtbare Binde! Wie kam es nur, daß es mir plötzlich wie Schuppen von den Augen fiel und ich mit einem Male alles sah und alles begriff. Ob es ein Zufall war, oder war’s der Tag einer abgelaufenen Frist, oder war’s ein Sonnenstrahl, der in meinem stumpfgewordenen Geiste den Gedanken und die Wahrheit entzündete? Nein, da war nichts von Gedanken noch von Bestimmung, da erzitterte nur plötzlich eine kleine Ader, eine bis dahin scheintot gewesene Ader, die plötzlich zusammenzuckte und sich belebte und meine ganze stumpfgewordene Seele erleuchtete und meinen ganzen teuflischen Hochmut, so daß ich damals geradezu aufschnellte von meinem Stuhl. Und geschah es doch so plötzlich, so unvermutet. Es geschah gegen Abend, so um fünf Uhr nachmittags ... II. Die Binde fiel. Zuerst noch zwei Worte. Schon vor einem Monat war mir an ihr eine sonderbare Nachdenklichkeit aufgefallen; das war nicht mehr Schweigsamkeit, sondern solch ein tiefes Sinnen. Das hatte ich gleichfalls ganz plötzlich bemerkt. Sie saß damals mit einer Handarbeit, den Kopf gebeugt und bemerkte nicht, daß ich sie betrachtete. Und da fiel es mir denn plötzlich auf, daß sie so schmal, so mager geworden war, das Gesichtchen so bleich und die Lippen so blaß, – und zudem noch die stille Nachdenklichkeit erschreckte mich mit einem Mal ungewöhnlich. Auch früher schon hatte ich sie von Zeit zu Zeit ein wenig trocken husten gehört, besonders des Nachts. Ich erhob mich sofort und begab mich zu Schröder, um ihn zu uns zu bitten – ohne ihr etwas davon zu sagen. Schröder kam am nächsten Tage. Sie war sehr verwundert und sah erstaunt bald mich, bald Schröder an. „Aber ich bin doch ganz gesund!“ sagte sie darauf mit einem unbestimmten Lächeln. Schröder untersuchte sie nicht sonderlich genau – diese Mediziner sind nicht selten vor lauter Eigendünkel nachlässig – und sagte mir dann im Nebenzimmer, es hätte weiter nichts auf sich, sei noch von der Krankheit nachgeblieben und es wäre vielleicht nicht schlecht, wenn sie den Sommer am Meere verbringen könnte oder, falls das nicht möglich sein sollte, irgendwo auf dem Lande. Mit anderen Worten: er sagte nichts, außer, daß es Schwäche wäre oder so etwas Ähnliches. Als Schröder fortgegangen war, sagte sie mir, indem sie mich furchtbar ernst anblickte, plötzlich nochmals: „Ich bin wirklich, wirklich ganz gesund.“ Doch kaum hatte sie es gesagt, als sie plötzlich errötete, augenscheinlich vor Scham. Selbstverständlich war das Scham! Oh, jetzt verstehe ich es: sie schämte sich, daß ich noch _ihr Mann_ war, mich um sie sorgte. Damals jedoch begriff ich es nicht und schrieb das Erröten der Demütigung zu. Und ... ... – nach einem Monat war’s, so um fünf Uhr nachmittags, im April an einem klaren, sonnigen Tage. Ich saß an der Kasse und rechnete. Plötzlich höre ich, daß sie in meinem Zimmer an ihrem Tischchen bei der Handarbeit – leise, ganz leise ... singt. Das kam so unerwartet, machte auf mich einen so erschütternden Eindruck ... Bis dahin hatte ich sie fast nie singen gehört, höchstens in den allerersten Tagen, nachdem ich sie in mein Haus geführt, als wir noch Mutwillen treiben konnten, ins Ziel schießen und ähnliches ... Damals war ihre Stimme ziemlich stark und gesund und wenn auch ungeschult, so doch seltsam angenehm und klar gewesen. Jetzt aber war das Liedchen so schwach, – oh, nicht daß es melancholisch gewesen wäre – es war irgend eine Romanze –, aber es war, als ob in der Stimme etwas Gesprungenes, Zerbrochenes klang, als ob das Stimmchen sich nicht zurechtfinden konnte, als ob das Lied selbst krank gewesen wäre. Sie sang nur halblaut, und plötzlich, bei einer höheren Note, brach die Stimme ab, – solch ein armes Stimmchen, so leid tat’s einem, als es abbrach! Sie hustete ein wenig und begann dann wieder leise, ganz leise, kaum, kaum hörbar zu singen ... Man wird über meine Aufregung lächeln, doch niemals wird jemand begreifen, warum ich plötzlich so erregt war. Nein, sie tat mir noch nicht leid ... Es war etwas ganz anderes. Zuerst, wenigstens in den ersten Minuten, kam über mich plötzlich ein Nicht-begreifen-können, eine furchtbare Verwunderung, ja: eine furchtbare und sonderbare, krankhafte und fast mystische Verwunderung: „Sie singt, und das in meiner Gegenwart!? _Sollte sie mich etwa vergessen haben?_“ Ganz erschüttert blieb ich auf meinem Platz. Dann stand ich plötzlich auf, nahm meinen Hut und ging hinaus, gewissermaßen ohne daran zu denken, was ich tat. Wenigstens weiß ich nicht wohin und warum ich ging. Lukerja brachte mir meinen Mantel. „Sie singt?“ fragte ich sie unwillkürlich. Sie verstand mich nicht und sah mich verwundert an; übrigens war ich auch wirklich unverständlich. „Singt sie jetzt zum ersten Mal?“ „Nein, wenn Sie fort sind, singt sie zuweilen,“ antwortete Lukerja. Ich weiß noch. Ich ging die Treppe hinunter, trat auf die Straße und ging dann geradeaus weiter, ging bis zur Ecke, blieb dort stehn und blickte angestrengt irgendwohin. Man ging an mir vorüber, stieß mich, ich fühlte es nicht. Ich rief eine Droschke an und sagte dem Kutscher, er solle zur Polizeibrücke fahren; warum dorthin, weiß ich nicht. Doch stieg ich plötzlich aus und gab ihm einen Zwanziger. „Für die Ruhestörung,“ sagte ich, sinnlos ihm zulächelnd, doch in meinem Herzen erhob es sich plötzlich wie ein Rausch. Ich kehrte nach Haus zurück; beschleunigte den Schritt. Die kleine gesprungene, armselige Note erklang plötzlich wieder in meiner Seele. Mir blieb der Atem stehn. Die Binde fiel, fiel von meinen Augen! Wenn sie in meiner Gegenwart zu singen angefangen hatte, so hatte sie mich vergessen, – das war’s, was ich klar begriff, das war das Furchtbare! Das fühlte das Herz. Doch die Begeisterung erfüllte meine Seele und überwältigte die Angst. Oh Ironie des Schicksals! War doch ... konnte doch in meiner Seele diesen ganzen Winter über nichts anderes sein, außer dieser selben Begeisterung, diesem selben Entzücken – wo aber war ich selbst diesen ganzen Winter über gewesen? wo war denn meine Seele gewesen? Ich lief eilig die Treppe hinauf, weiß nicht, ob ich schüchtern eintrat. Erinnere mich nur noch, daß der ganze Fußboden unter mir wie ein Meer zu wogen schien und ich gleichsam wie in einem breiten Strome schwamm. Ich trat ins Zimmer: sie saß auf ihrem früheren Platz, nähte, den Kopf über die Arbeit gebeugt, doch sang sie nicht mehr. Sie warf einen flüchtigen, gleichgültigen Blick auf mich, doch war das eigentlich kein Blick, sondern nur so eine Bewegung, eine gleichgültige, so wenn irgend jemand ins Zimmer tritt. Ich ging direkt zu ihr und setzte mich neben sie auf einen Stuhl, ganz dicht neben sie, wie ein Wahnsinniger. Sie blickte schnell zu mir auf, als hätte ich sie erschreckt: ich ergriff ihre Hand. Ich weiß nicht mehr, was ich ihr sagte oder was ich ihr sagen wollte, denn ich konnte ja nicht mal recht sprechen. Meine Stimme riß immer ab und wollte mir nicht gehorchen. Und ich wußte ja auch gar nicht, was ich sagen sollte, war nur ganz atemlos. „Sprechen wir ... weißt Du ... sag etwas!“ brachte ich plötzlich stotternd irgend so was Dummes hervor, – oh war’s denn um Klugheit zu tun! Sie zuckte wieder zusammen und bog sich erschrocken zurück, starrte mich entsetzt an, doch plötzlich drückte sich in ihren Augen – _strenge Verwunderung_ aus. Ja, Verwunderung, und _strenge_ Verwunderung! Mit großen Augen sah sie mich an. Diese Strenge, diese strenge Verwunderung zermalmte mich wie mit einem Keulenschlage: „So willst Du noch Liebe? Liebe?“ – fragte es mich plötzlich aus dieser Verwunderung heraus, wenn sie auch schwieg. Doch ich las alles in ihrem Blick, alles. Alles erzitterte in mir und ich stürzte zu ihren Füßen. Ja; ich fiel vor ihr nieder. Sie sprang schnell auf, doch ich hielt sie mit all meiner Kraft an beiden Händen zurück. Und ich begriff vollkommen meine Verzweiflung, oh ich begriff sie! Doch, werden Sie’s mir glauben, das Entzücken kochte in meinem Herzen so unbezwingbar, daß ich glaubte, ich stürbe. In Verzweiflung und Glück küßte ich ihre Füße. Ja, in Glück, in grenzenlosem, endlosem Glück, und das beim vollen Begreifen meiner ganzen hoffnungslosen Verzweiflung? Ich weinte, sagte etwas, konnte jedoch nicht sprechen. Der Schreck und die Verwunderung wurden in ihr plötzlich von irgend einem besorgten Gedanken verdrängt, von einer furchtbaren Frage, und sie blickte mich so sonderbar an, fast wild, sie strengte sich an, irgend etwas schneller zu begreifen und – sie lächelte. Sie schämte sich furchtbar, daß ich ihre Füße küßte und zog sie immer zurück, doch da küßte ich die Stelle des Fußbodens, wo ihr Fuß gestanden hatte. Sie sah das und plötzlich fing sie an, vor Scham zu lachen (wissen Sie so, wenn die Menschen vor lauter Scham lachen). Da begann die Hysterie, ich sah es wohl, ihre Hände zuckten, – doch ich dachte nicht daran und flüsterte immer nur, daß ich sie liebe, daß ich nicht aufstehn würde, – „laß mich nur Dein Kleid küssen ... das ganze Leben lang Dich anbeten“ ... Ich weiß nicht mehr, erinnere mich nicht, – und plötzlich schluchzte sie auf und erzitterte: ein furchtbarer Nervenanfall. Ich hatte sie erschreckt. Ich trug sie auf das Bett. Als der Anfall vergangen war, setzte sie sich auf, so zerschlagen sah sie aus, erfaßte meine Hände und bat mich, mich zu beruhigen: „Lassen Sie’s gut sein, quälen Sie sich doch nicht so, beruhigen Sie sich!“ und wieder weinte sie. Diesen ganzen Abend ging ich nicht von ihr fort. Sagte ihr in einem fort, daß ich sie nach Boulogne-sur-mer bringen würde, damit sie Seebäder nehmen könne, jetzt, sofort, oder höchstens nach zwei Wochen, daß sie solch eine gesprungene Note im Stimmchen hätte wie ich vorhin gehört, daß ich die Pfandkasse schließen und an Dobronrawoff verkaufen würde, daß „alles nun von neuem beginnen wird, aber zuerst – nach Boulogne, nach Boulogne!“ Sie hörte zu und fürchtete sich. Immer mehr und mehr fürchtete sie sich. Doch die Hauptsache war für mich, daß ich immer unbezwingbarer wieder ihr zu Füßen liegen und wieder den Boden, auf dem ihre Füße standen, küssen wollte, und sie anbeten und – „sonst werde ich nichts, nichts mehr von Dir bitten,“ wiederholte ich immer wieder, – „antworte mir nichts, beachte mich überhaupt nicht, laß mich nur Dich von einem Winkel aus ansehn, verwandele mich in Deinen Sklaven, in Dein Hündchen“ ... Sie weinte. „_Und ich dachte, Sie würden mich einfach so lassen_,“ – kam es plötzlich ganz gegen ihren Willen aus ihr heraus, – so daß sie es vielleicht selbst nicht mal bemerkte, wie sie es sagte, währenddessen aber, – oh, das war das allerwichtigste, allerverhängnisvollste Wort von ihr, und das für mich an jenem Abend allerverständlichste, und es war mir, als glitt mir von ihm ein Messer durch das Herz! Alles erklärte es mir, alles, doch so lange wie sie bei mir war, vor meinen Augen, hoffte ich unbezwinglich und war unbeschreiblich glücklich. Oh ich habe sie maßlos ermüdet an jenem Abend, was ich natürlich sehr gut wußte, doch glaubte ich immer, ich würde so alles sofort gutmachen können. Endlich, in der Nacht war sie schon ganz erschöpft; da beredete ich sie denn, einzuschlafen und sie schlief auch im Augenblick ein. Ich blieb bei ihr und wartete, ob sie nicht phantasieren würde: sie tat’s auch, doch nur ein wenig, ganz leicht. In der Nacht erhob ich mich jeden Augenblick, ging leise in den Morgenschuhen zu ihr, um sie zu betrachten. Ich rang die Hände über ihr, als ich dieses kranke Wesen sah, auf diesem armseligen Lager, in diesem eisernen Bettchen, das ich ihr für drei Rubel gekauft hatte. Ich kniete nieder, doch wagte ich es nicht, die Füße der Schlafenden zu küssen – ohne ihre Erlaubnis ... – Ich wollte zu Gott beten – konnt’s aber nicht: sprang auf. Lukerja betrachtete mich ganz verwundert und kam fortwährend aus der Küche. Ich ging zu ihr hinaus und sagte ihr, sie solle schlafen gehn; morgen würde etwas „ganz Anderes“ beginnen. Und ich glaubte selbst daran – glaubte blind, sinnlos, furchtbar! Oh, das Entzücken, das Entzücken überflutete mich! Ich erwartete nur den nächsten Tag. Vor allen Dingen: ich glaubte an kein Unglück, trotz der Symptome. Die gesunde Vernunft war noch nicht ganz zurückgekehrt, trotz der gefallenen Binde und lange, lange kehrte sie noch nicht zurück, – oh, bis auf den heutigen Tag nicht, bis auf den heutigen Tag!! ja, und wie, wie hätte sie damals auch wiederkehren sollen: lebte sie doch damals noch, war sie doch hier vor meinen Augen und ich vor ihr: „Morgen wird sie aufwachen, und ich werde ihr dann alles sagen und sie wird dann alles verstehn!“ – Das waren meine Gedanken, einfach und klar, darum auch das Entzücken! Die Hauptsache war dabei diese Fahrt nach Boulogne. Aus irgend einem Grunde glaubte ich, daß Boulogne – alles, daß Boulogne etwas Entscheidendes wäre. „Nach Boulogne, nur schnell nach Boulogne!“ ... Sinnlos erwartete ich den Morgen. III. Verstehe nur zu gut. Das war doch im ganzen nur vor ein paar Tagen, vor fünf Tagen, im ganzen nur fünf Tagen, am vorigen Dienstag! Nein nein, hätte sie doch nur noch einen Augenblick gewartet und – und ich hätte die Finsternis verscheucht! – Hatte sie sich denn etwa nicht beruhigt? Hörte sie mir doch schon am nächsten Tage mit einem Lächeln zu, trotz der Verlegenheit ... Das war’s ja: in dieser ganzen Zeit, in diesen fünf Tagen war sie entweder verlegen oder sie schämte sich. Auch fürchtete sie sich, oh, sie fürchtete sich sehr. Schon gut, ich sage ja nichts, ich werde nicht wie ein Sinnloser widersprechen: es war Angst. Aber wie hätte sie sich denn nicht ängstigen sollen? Waren wir uns doch schon so fremd geworden, hatten uns doch schon so lange von einander entwöhnt und plötzlich all das ... Ich beachtete ihre Angst nicht weiter, die Zukunft leuchtete! ... Es ist wahr, es ist zweifellos wahr, daß ich einen Fehler begangen habe. Und vielleicht habe ich sogar viele Fehler begangen. Gleich am Morgen schon, sofort nachdem wir aufgewacht waren, das war also am folgenden Tage, am Mittwoch – beging ich einen großen Fehler: ich machte sie plötzlich zu meinem Freunde. Nur – beeilte ich mich damit zu sehr, allzu sehr ... aber die Beichte war doch notwendig, unvermeidlich. Ach, was sage ich „Beichte“! – Das war doch weit mehr! Ich verbarg ihr nicht einmal das, was ich auch vor mir selbst mein Leben lang verborgen hatte. Ich sprach es offen aus, daß ich in diesem ganzen Winter von ihrer Liebe überzeugt gewesen war. Ich setzte ihr auseinander, daß die Pfandkasse nur die Folge meines gebrochenen Willens und Geistes war, meine persönliche Idee von Selbstgeißelung und Eigenqual. Ich erklärte ihr, daß ich damals am Buffet tatsächlich den Mut verloren hatte und zwar einfach aus meinem Charakter heraus, aus Mißtrauen zu mir selbst, wenn man will; mich hatte die Umgebung eingeschüchtert, es ängstigte mich das: „wie werde ich da nun so vortreten und – wird es sich nicht vielleicht lächerlich ausnehmen?“ Hatte nicht das Duell gefürchtet, wohl aber, daß es sich „lächerlich ausnehmen könnte“ ... Dann aber hatte ich das schon nicht mehr eingestehn wollen und mich und alle anderen deswegen gequält und auch sie deswegen gequält, und sie auch nur geheiratet, um sie deswegen zu quälen. Überhaupt sprach ich die ganze Zeit wie im Fieber. Sie erfaßte meine Hände und bat mich, aufzuhören: „Sie übertreiben ... Sie quälen sich,“ und wieder brach sie in Tränen aus, wieder kam es fast zu Anfällen! Immer wieder bat sie mich, nicht mehr davon zu sprechen und überhaupt nicht daran zu denken. Ich beachtete ihr Flehen nicht oder nur wenig: ich dachte an den Frühling, an Boulogne! Dort ist Sonne, dort ist unsere neue Sonne! und nur davon sprach ich. Ich schloß die Pfandkasse und übergab die Sachen Dobronrawoff. Ich schlug ihr plötzlich vor, alles den Armen zu geben, außer den ersten drei Tausend, die ich von meiner Taufmutter erhalten hatte, um mit diesen nach Boulogne zu fahren – „und dann,“ sagte ich, „kehren wir zurück und beginnen ein neues arbeitsames Leben“. Dabei blieb’s auch, denn sie erwiderte mir doch nichts darauf ... Sie lächelte nur. Ich glaube, sie lächelte mehr aus Zartgefühl, um mich nicht zu betrüben. Ich sah es doch, daß ich ihr zur Last fiel, glauben Sie nicht, ich wäre so dumm und solch ein Egoist gewesen, daß ich das nicht hätte sehen können. Ich sah alles, alles bis auf den letzten Haarstrich, sah und wußte besser als alle anderen; meine ganze Verzweiflung stand mir doch klar vor Augen! Ich sprach immer nur von mir und von ihr. Auch von Lukerja. Ich erzählte ihr, daß ich geweint hatte ... Oh, ich wechselte doch auch das Gespräch, bemühte mich doch, gewisser Dinge mit keinem Wort zu erwähnen. Und sie belebte sich dann auch sogar, hin und wieder, – ich erinnere mich doch noch dessen, ich sah doch alles ganz genau! Wieso ..., was sagen Sie da, ich hätte gesehn und dabei doch nichts bemerkt? – Wenn nur _das_ nicht geschehn wäre, so wäre alles gut geworden! Erzählte sie mir doch noch vor drei Tagen, als das Gespräch auf die Lektüre kam, darauf, was sie in diesem Winter gelesen hatte, – erzählte sie mir da doch alles ganz munter und als ihr die Szene aus dem Gil-Blas mit dem Erzbischof von Granada einfiel, – da lachte sie doch! Und welch ein kindliches Lachen, wie lieb war’s, – ganz wie früher, als wir noch verlobt waren – einen Augenblick! einen Augenblick! Wie froh ich war! Übrigens setzte mich dieses vom Erzbischof ungemein in Erstaunen: also mußte sie doch im Winter, als sie hier so allein saß, soviel Seelenruhe und Glück gefunden haben, daß sie über ein ^Chef-d’oeuvre^ lachen konnte. Folglich war sie auf dem Wege, fest zu glauben, daß ich sie einfach _so_ lassen würde ... „Und ich glaubte, Sie würden mich einfach so lassen!“ – hatte es sich doch an jenem Dienstag aus ihr herausgerungen! Oh, Phantasie eines kleinen, zehnjährigen Mädchens! Und sie glaubte doch, glaubte doch ernstlich, daß ich sie wirklich einfach _so_ lassen würde: sie an ihrem Tisch und ich an meinem und so bis zum sechzigsten Jahre. Und plötzlich – tauche ich wieder auf, ich, der Mann, und der Mann braucht Liebe! Oh, meine Blindheit, oh mein Mißverstehen! Ach, warum verstand ich es nicht richtig, ach warum war ich so blind! Ein Fehler war es gleichfalls, daß ich in Ekstase zu ihr aufsah; hätte mich beherrschen sollen, denn diese Ekstase schreckte natürlich. Aber ich beherrschte mich doch auch, küßte ich doch nicht mehr ihre Füße. Kein einziges Mal ließ ich es merken, daß ... nun, daß ich Mann bin, – oh, auch in meinem Geiste war nichts davon, ich betete nur! Aber ich konnte doch nicht ganz und gar schweigen, konnte doch nicht überhaupt nicht sprechen! Ich sagte ihr plötzlich, daß ihr Gespräch mich entzückte und daß ich sie seelisch für unvergleichlich, unvergleichlich gebildeter und entwickelter hielte, als mich. Sie errötete darauf furchtbar und sagte ein wenig verwirrt, ich übertriebe. Da war es denn, daß ich dummer Weise – konnte es nicht zurückhalten, – erzählte, wie entzückt ich gewesen war, als ich, hinter der Tür stehend, damals ihrem Zweikampf zugehört hatte, dem Zweikampf der Unschuld mit jenem Lump, und wie mich ihre Klugheit, ihre so geistreichen Antworten bei aller kindlichen Gutmütigkeit, bezaubert hatten. Sie erzitterte am ganzen Körper, stammelte zwar wieder, ich übertriebe, doch plötzlich bedeckte sie ihr Gesicht mit den Händen und schluchzte auf ... Da hielt auch ich es denn nicht mehr aus: wieder fiel ich vor ihr nieder, wieder küßte ich ihre Füße und wieder kam es zu einem Nervenanfall, ganz so, wie an jenem Dienstag. Das war gestern abend, und am nächsten Morgen ... Am nächsten Morgen?! Wahnsinniger, dieser Morgen war doch heute, vorhin noch, noch kürzlich, noch ganz kürzlich! Hören Sie und begreifen Sie es: als wir uns vorhin beim Samowar trafen – also nach dem gestrigen Anfall –, da setzte sie mich doch noch durch ihre Ruhe in Erstaunen, ja, so war’s doch! Ich aber hatte die ganze Nacht aus Angst vor den Folgen der letzten Szene gezittert. Doch plötzlich tritt sie zu mir, stellt sich vor mich hin mit gefalteten Händen – vorhin, vorhin! –, sagt, daß sie – eine Verbrecherin sei, daß sie es sehr wohl wisse, daß das Verbrechen sie den ganzen Winter gequält hätte, auch jetzt quäle ... daß sie meine Großmut nur zu sehr schätze und ... „ich werde ... Ihre treue Frau sein, ich werde Sie achten ...“ Da sprang ich auf und wie ein Wahnsinniger umarmte ich sie! Ich küßte sie, küßte ihr Gesicht, küßte ihre Lippen, küßte sie, wie ein Mann nach langer Trennung küßt! Und warum nur ging ich vorhin fort ... im ganzen nur auf zwei Stunden ... unsere ausländischen Pässe ... Oh Gott! Wär’ ich nur fünf Minuten früher zurückgekehrt! ... Und da steht diese Volksmenge an unserer Haustür, diese Blicke auf mich ... oh Gott! Lukerja sagt – ach, auf keinen Fall lasse ich jetzt Lukerja fort, für keinen Preis, sie weiß alles, sie war den ganzen Winter zugegen, sie wird mir alles erzählen –, sie sagt, daß sie im ganzen nur so zwanzig Minuten vor meiner Rückkunft zur gnädigen Frau in unser Zimmer gegangen war, um etwas zu fragen, ich weiß nicht mehr was, und da hatte sie gesehn, daß ihr Heiligenbild (dieses selbe der Muttergottes) vor ihr auf dem Tisch steht, die gnädige Frau aber ganz so steht, als ob sie gerade vor ihm gebetet hätte. „Was ist Ihnen, gnädige Frau?“ „Nichts, Lukerja, geh nur ... wart, Lukerja,“ sie ist zu ihr gekommen und hat sie geküßt. „Sind Sie jetzt,“ frage ich, „glücklich, gnädige Frau?“ „Ja, Lukerja.“ „Ja ja, der Herr hätte gnädige Frau schon längst um Verzeihung bitten müssen ... Gott sei Dank, daß Sie sich jetzt versöhnt haben.“ „Schon gut, Lukerja,“ sagt sie, „geh jetzt, Lukerja,“ und sie lächelte so, ja, so sonderbar ... So sonderbar, daß Lukerja nach zehn Minuten zurückgekommen war, um nochmals nach der gnädigen Frau zu sehn. „Ich sehe, sie steht an der Wand, ganz nah am Fenster, hat die Hand an die Wand gelegt und preßt den Kopf in die Hand, steht so und denkt. Und steht so tief nachdenklich, daß sie gar nicht bemerkt hat, wie ich hereingekommen bin, und sie dort aus dem anderen Zimmer betrachte. Ich sehe, sie scheint so zu lächeln, steht, denkt und lächelt. Ich betrachtete sie, drehte mich dann leise um und ging wieder zurück, denke noch so bei mir selbst; nur höre ich plötzlich das Fenster öffnen. Ich ging sofort wieder hin, um zu sagen, daß es kalt ist, gnädige Frau, Sie könnten sich erkälten – und plötzlich sehe ich: sie steigt auf das Fenster und steht schon ganz aufgerichtet im offenen Fenster, mit dem Rücken zu mir, hält in den Händen das Heiligenbild. Mein Herz blieb mir stehn, schreie: Frau! Frau! Sie hörte es, wollte sich so wie zu mir umkehren, kehrte sich aber nicht um, und – trat vorwärts, preßte das Heiligenbild an die Brust und – stürzte!“ Ich erinnere mich nur noch, daß sie, als ich an der Haustür ankam, noch warm war. Und alle sehen sie mich an. Zuerst schrien sie und sprachen, und plötzlich ist alles still und verstummt und ... da treten sie vor mir zurück und ... und da sehe ich sie liegen mit dem Heiligenbild. Ich erinnere mich nur noch, wie durch einen dichten Nebel, daß ich schweigend zu ihr trat und lange vor mich hinsah. Und alle umringen sie mich, und sprechen etwas zu mir. Lukerja soll auch dort gewesen sein, ich weiß es nicht, ich habe sie nicht gesehn. Sie sagt, sie hätte mit mir gesprochen. Ich erinnere mich nur noch jenes Bauern: er rief mir die ganze Zeit zu: „nur ein Löffelvoll Blut ist aus dem Mund geflossen, nur ein Löffelvoll, Löffelvoll!“ und wies, zu mir gewandt, immer auf das bißchen Blut daselbst auf dem Stein. Ich, ich glaube, – ich berührte das Blut mit dem Finger, beschmutzte den Finger, betrachtete darauf meinen Finger (dessen erinnere ich mich noch ganz genau), er aber schreit noch fortwährend: „ein Löffelvoll, ein Löffelvoll, ein Löffelvoll!“ „Was ist das für ein Löffelvoll!?“ soll ich plötzlich wütend aufgeschrien haben. Man sagt, ich habe die Hände erhoben und mich auf ihn gestürzt ... Oh Wahnsinn! Mißverständnis! Unmöglichkeit! Unmöglichkeit! IV. Im ganzen nur fünf Minuten zu spät. Etwa nicht? Ist denn das wahrscheinlich? Kann man denn sagen, das wäre möglich? Wozu, warum starb diese Frau? Ach, glauben Sie mir, ich verstehe es vollkommen, doch wozu ist sie gestorben – das bleibt immer noch eine Frage. Meine Liebe hat sie erschreckt, sie hat sich gewissenhaft gefragt: soll ich sie annehmen oder soll ich nicht, und hat die Frage nicht ertragen und ist lieber in den Tod gegangen. Ich weiß, ich weiß, es hat keinen Sinn, sich darüber den Kopf zu zerbrechen: sie hatte zu viel versprochen, sie erschrak, fürchtete, daß sie es nicht würde halten können, – es ist doch klar. Hier gibt es ganz furchtbare Gründe ... Aber wozu ist sie gestorben? – das bleibt immerhin die Frage. Diese Frage klopft, klopft in meinem Hirn, klopft, klopft ... Ich hätte sie doch einfach _so_ in Ruh gelassen, wenn sie gewollt hätte, daß es einfach _so_ bliebe. Sie aber konnte nicht daran glauben, das war’s! Nein nein, ich lüge, gar nicht das war’s. Einfach, weil man mit mir ehrlich sein mußte: lieben, dann auch ganz lieben, nicht aber so, wie sie den Kaufmann geliebt hätte. Da sie aber zu keusch war, zu rein, um sich mit solch einer Liebe, wie sie der Kaufmann braucht, abzufinden, so wollte sie mich nicht betrügen. Wollte mich nicht mit einer Halb-Liebe unter dem Anschein der Liebe betrügen oder mit einer Viertel-Liebe. Solche sind schon allzu ehrlich, das ist’s! Hochherzigkeit hatte ich ihr einimpfen wollen, wissen Sie noch? Sonderbarer Gedanke. Ungemein interessant wäre doch zu wissen, ob sie mich überhaupt geachtet hat? Ich weiß nicht, hat sie mich verachtet oder nicht? Ich glaube nicht, daß sie mich verachtet hat. Wie sonderbar: warum ist es mir kein einziges Mal in den Sinn gekommen, im ganzen langen Winter, daß sie mich verachtet? Ich war im höchsten Grade vom Gegenteil überzeugt bis zu demselben Augenblick, da sie mich damals plötzlich mit _strenger Verwunderung_ anblickte. Gerade mit _strenger_. Da begriff ich denn mit einem Mal, daß sie mich verachtete. Begriff es unwiderruflich, auf ewig! Ach, gut, gut, möge sie mich verachten, meinetwegen das ganze Leben lang, aber – möge sie nur leben, leben! So kürzlich war es noch, daß sie hier herumging, sprach. Ich begreife wirklich nicht, wie sie sich aus dem Fenster gestürzt hat! Und wie hätte ich mir das nur fünf Minuten vorher denken können? Ich rief Lukerja. Oh, die Lukerja, die lasse ich jetzt auf keinen Fall fort, auf keinen Fall! Wir hätten uns ja noch besprechen können, wir waren doch schon übereingekommen. Nur hatten wir uns im Winter so entwöhnt von einander, – aber hätten wir uns denn nicht wieder aneinander gewöhnen können? Warum, warum hätten wir nicht wieder eine Ehe führen und ein ganz neues Leben beginnen können? Ich bin großmütig und sie ist es gleichfalls – da hätten wir ja schon einen Einigungspunkt! Noch ein paar Worte, noch zwei Tage – nicht mehr, das hätte genügt, und sie würde alles begriffen haben. Vor allen Dingen ist das kränkend, daß es nur ein Zufall war, – ein gewöhnlicher, barbarischer, passiver Zufall! Das ist ja das Beleidigende! Fünf Minuten, im ganzen, im ganzen nur fünf Minuten bin ich zu spät gekommen! Wäre ich fünf Minuten früher zurückgekehrt – und der Augenblick wäre wie eine Wolke vorübergezogen, und es wäre ihr nie wieder in den Sinn gekommen. Und schließlich hätte sie alles begriffen. Jetzt aber sind die Zimmer wieder leer, wieder bin ich allein. Dort tickt der Pendel, ihn geht es nichts an, ihm tut nichts leid. Niemand ist bei mir – das ist das Unglück! Ich gehe, die ganze Zeit gehe ich ... Ich weiß, ich weiß, sagt mir nicht vor: Ihr lächelt darüber, daß ich den Zufall anklage und die fünf Minuten? Aber hier liegt es doch auf der Hand! Bedenken Sie bloß eines: sie hat nicht mal einen Zettel hinterlassen, daß ... nun, so, wie ihn alle hinterlassen. Anderenfalls hätte sie sich doch sagen müssen, daß man jetzt sogar Lukerja verdächtigen könnte ... „Bist ganz allein mit ihr gewesen, also hast Du sie zum Fenster hinausgestoßen.“ Wenigstens hätte man Lukerja doch beunruhigen können, wenn nicht zufällig vier Zeugen vorhanden wären, die aus ihren Fenstern gesehen haben, wie sie mit dem Heiligenbild im offenen Fenster gestanden und sich selbst hinuntergestürzt hat. Das ist doch ein reiner Zufall, daß diese vier es gesehn haben. Nein, das Ganze – war nur ein Augenblick, bloß ein willkürlicher Augenblick, in dem sie sich von ihrer Tat nicht Rechenschaft ablegte ... Plötzlichkeit und Phantasie! Was will’s besagen, daß sie vor dem Heiligenbild gebetet hat? Das bedeutet doch nicht, daß sie vor dem Tode ... Dieser Augenblick hat vielleicht im ganzen nur irgend welche zehn Minuten gedauert, den ganzen Entschluß hat sie gefaßt – gerade als sie, den Kopf in die Hand gestützt, an der Wand stand und lächelte. Der Gedanke ist ihr plötzlich durch den Kopf gegangen, hat ihr Schwindel verursacht und – und sie hat ihm nicht widerstehen können. Das war ein augenscheinliches Mißverständnis – was Sie da auch einwenden mögen. Mit mir könnte man doch leben ... Wie aber, wenn es Blutarmut war? ... Einfach aus Blutarmut, aus Erschöpfung der Lebensenergie? Müde war sie geworden im Winter, das war’s ... Zu spät!!! Wie schmal sie im Sarge ist, wie das Näschen sich zugespitzt hat! Die Wimpern liegen wie kleine Zeiger. Und wie sie doch gefallen ist – nichts hat sie sich zerschlagen, nichts verunstaltet! Nur dieser eine „Löffel voll Blut“, nur ein Teelöffelvoll. Innere Verblutung. Sonderbarer Einfall ... wenn es möglich wäre, sie _nicht_ zu beerdigen? Denn, wenn man sie fortträgt ... oh, nein, sie fortbringen ist fast unmöglich! Oh, ich weiß ja, daß man sie fortbringen muß, ich bin doch nicht wahnsinnig, ich phantasiere doch nicht, im Gegenteil, – nie noch ist mein Verstand so wach gewesen, aber wie soll denn das wieder so: – wieder kein Mensch im Hause, wieder zwei Zimmer und wieder ich allein mit den Pfändern ... Fieberphantasie, Fieberphantasie ... das ist ja Fieberphantasie! Ich habe sie zu Tode gequält – das ist’s! Was sind mir jetzt Eure Gesetze? Was sollen mir jetzt Eure Gebräuche, Eure Sitten, Euer Leben, Euer Staat, Euer Glaube? Möge mich Euer Richter richten, möge man mich vor Euer Gericht schleppen, vor Euer Geschworenengericht, und ich werde sagen, daß ich nichts anerkenne! Der Richter wird mich anschreien: „Schweigen Sie, Offizier!“ Ich aber rufe zurück: „Woher willst Du solch eine Macht nehmen, daß ich Dir jetzt gehorchte? Warum hat finstere Passivität das zerschlagen, was mir am teuersten war? Was sind mir denn jetzt Eure Gesetze?! Ich scheide mich aus! Oh, ist mir doch alles gleich!“ Du blindes, blindes Wesen du! – Tot, – sie hört nicht – ... Du weißt nicht, mit welch einem Paradies ich Dich umgeben hätte. Das Paradies war in meiner Seele, ich hätte es um Dich gepflanzt! Gut, Du hättest mich nicht geliebt, – sei’s drum, nun, und – was? Alles wäre jetzt einfach _so_ und würde auch einfach _so_ bleiben. Würdest mir nur wie einem Freunde erzählen, – und da würden wir uns denn freuen, würden zusammen lachen, freudig uns in die Augen blicken. Und so würden wir denn gelebt haben ... Und wenn Du einen anderen lieb gewinnen solltest, – nun, sei’s drum, sei’s drum! Du würdest dann mit ihm gehn und lachen, ich aber würde nur von der anderen Straßenseite sehn ... Ach, alles alles! nur möge sie noch einmal die Augen aufschlagen! Nur auf einen Augenblick, nur auf einen! mich anblicken, so wie vorhin, da sie vor mir stand und schwor, daß sie mein treues Weib sein würde! Ach, mit einem einzigen Blick würde sie alles begreifen! Oh Natur! Die Menschen sind einsam auf der Erde – das ist das Unglück! „Sprich, Ferne, lebt in dir ein Mensch?“ rief einstmals, wie unser Heldensang uns sagt, in alten Zeiten der fahrende russische Held. So rufe auch ich, doch niemand gibt mir Antwort und die Ferne verschlingt das Echo. Es heißt, die Sonne belebe das Weltall. Wenn die Sonne aufgeht – so seht sie doch an, – ist das nicht eine Leiche? ist sie nicht tot? ... Alles ist tot und überall sind Tote. Allein die Menschen sind noch, doch um sie herum ist Schweigen – das ist die Erde! Es tickt ... tickt ... tickt der Pendel, gefühllos, widerlich ... zwei Uhr nachts. Ihre Schuhchen stehn am Bett, ganz als ob sie sie erwarteten ... Nein, im Ernst, wenn man sie morgen fortträgt – was soll ich dann? Bobock. Dieses Mal bringe ich meinen Lesern die „Aufzeichnungen eines gewissen Menschen“. Dieser Mensch bin nicht ich; das ist vielmehr ein ganz anderer. Ich glaube, ein Vorwort ist weiter nicht nötig. Aufzeichnungen eines gewissen Menschen. Fährt mich da plötzlich dieser Ssemjon Ardaljonowitsch ganz ohne weiteres an: „Sag’ doch bitte, Iwan Iwanytsch, wirst Du überhaupt einmal nüchtern werden oder nicht!?“ Sonderbare Anforderung! Fühle mich aber nicht gekränkt. Bin ein schüchterner Mensch. Einstweilen aber hat man mich schon für verrückt erklärt. Ein Maler hat mich porträtiert. Ganz zufällig. „Bist doch,“ sagt er, „immerhin Literat!“ Meinetwegen. Und so saß ich ihm dreimal. Jetzt hat er’s ausgestellt. Kurz darauf lese ich: „Man beeile sich, dieses kranke, dem Wahnsinn nahe Gesicht anzusehen!“ Meinetwegen. Aber trotzdem: wie kann man das nur so öffentlich in der Zeitung sagen? Schreiben muß man doch nur Edles; Ideale tun not; und da schreiben sie nun so was! ... Sag’ es doch wenigstens indirekt, dazu gibt es doch Redewendungen! Nein, er will es nicht mehr indirekt sagen. Humor und guter Stil verschwinden heutzutage spurlos und Geschimpf wird jetzt für Witz und Scharfsinn gehalten. Nein. Fühle mich nicht gekränkt: bin nicht Gott weiß was für ein Literat, um verrückt zu werden. Schrieb mal eine Novelle – wurde nicht gedruckt. Schrieb ein Feuilleton – wurde abgewiesen. Solcher Feuilletons habe ich etliche in verschiedene Redaktionen geschleppt: vergeblich. „Sie haben,“ heißt es, „kein Salz in Ihren Schriften.“ „Was wollen Sie denn für ein Salz,“ frage ich spöttisch, „– etwa attisches?“ Begreifens nicht einmal. Übersetze größtenteils für Buchhändler aus dem Französischen. Schreibe auch Reklameannoncen für Kaufleute: „Seltenheit! Prima Sorte! Roter Tee von eigenen Plantagen! ...“ Zapfte auch einmal dem seligen Pjotr Matwejitsch ein stattliches Sümmchen für einen Panegyrikus ab. Schrieb: „Die Kunst gefällt dem schönen Geschlecht“ auf Bestellung des Buchhändlers. Ja, solcher Büchelchen habe ich schon an sechs Stück in meinem Leben verfaßt. Will zwar schon lange Voltaires Bonmots sammeln, fürchte aber, daß man sie fade finden wird. Was soll man heutzutage noch mit Voltaire! Knüppeldummheit, aber nicht Voltaire! Würden einander die letzten Zähne einschlagen. Das wäre also meine ganze literarische Tätigkeit. Es sei denn, daß man noch mitrechnete, was _ich_ so an ganz uneigennützigen Briefen an die Redaktionen verfaßt habe. Schicke sie stets mit meiner vollen Unterschrift. Ermahne, gebe Ratschläge, kritisiere und weise auf den richtigen Weg. An eine dieser Redaktionen habe ich in der vorigen Woche den vierzigsten Brief gesandt; macht vier Rubel allein für Postmarken. Mein Charakter taugt nichts, das ist’s. Ich glaube, der Maler hat mich nicht wegen der Literatur gemalt, sondern wegen der zwei symmetrisch auf meiner Stirn wachsenden Warzen: ein Phänomen, sagt man. Haben ja keine Ideen mehr, da versuchen sie es denn jetzt mit den Phänomena. Dafür aber, wie sind bei ihm meine Warzen auf dem Bilde herausgekommen? – _lebendig_, sag ich Ihnen! Das nennen sie jetzt Realismus. Was aber das Verrücktsein anbetrifft, so haben sie ja bei uns im vorigen Jahre viele für verrückt erklärt. Und noch dazu in welch einem Stil: „Solch ein selbständiges Talent!“ schreiben sie zuerst verwundert, dann zum Schluß des Artikels: „übrigens war es schon längst vorauszusehen ...“ Das ist ja noch ganz gerieben. Könnte es vom Gesichtspunkte der reinen Kunst sogar loben. Warum auch nicht? Sie selbst aber sind dann plötzlich ungemein klug. Das ist’s ja! für verrückt erklären, das kann man bei uns schon, aber irgend jemanden klüger machen, das bringt man doch noch nicht fertig. Der klügste ist meiner Meinung nach, wer sich freiwillig wenigstens einmal im Monat selbst einen Esel nennt, – heutzutage eine unerhört seltene Begabung. Früher sagte sich der Esel mindestens einmal im Jahr, daß er ein Esel ist, jetzt aber – nie und nimmer. Und derart haben sie jetzt alles verdreht, daß man, Hand aufs Herz, den Klugen wahrlich auf keine Weise mehr vom Esel unterscheiden kann. Das haben sie natürlich mit Absicht getan. Soeben fällt mir eine spanische Anekdote ein. Man sagte dort vor zweieinhalb Jahrhunderten, als die Franzosen das erste Tollhaus bauten: „Die haben alle ihre Dummköpfe in ein besonderes Haus eingesperrt, um glauben zu machen, daß sie selbst kluge Leute sind“. Die Spanier haben recht: damit, daß man den anderen in die Irrenanstalt einsperrt, will man ja nur seinen eigenen Verstand beweisen. „X. ist verrückt geworden, – daraus folgt, daß wir jetzt klug sind.“ Nein, das folgt daraus noch längst nicht. Hm! ... Teufel! – wozu mache ich auch mich denn mit meinem Verstande so breit? Schwatze, schwatze ... Sogar der Dienstmagd bin ich langweilig geworden: will mir nicht einmal mehr zuhören. Hat’s satt. Gestern kam ein Bekannter zu mir. „Dein Stil,“ sagt er, „verändert sich: wird gehackt. Du hackst, hackst – und das soll dann eine Einleitung sein. Und dann kommt zu dieser Einleitung noch eine Einleitung, und die hat wiederum ein Vorwort, und dann schickst Du in Klammern noch etwas voraus, und dann geht das Hacken von neuem los.“ Er hat recht. Es geschieht wirklich etwas Sonderbares mit mir. Auch mein Charakter ändert sich und der Kopf tut mir weh. Ich fange schon an, ganz absonderliche Sachen zu hören und zu sehen. Nicht, daß es gerade Stimmen wären, aber es scheint mir immer, als ob irgend etwas oder irgend jemand neben mir gluckst: „bobock, bobock, bobock!“ Was zum Teufel ist das für ein „bobock“? Muß mich zerstreuen. * * * * * Ging mich zerstreuen, stieß auf eine Beerdigung. Entfernter Verwandter. Einstweilen aber doch Kollegienassessor. Eine Witwe, fünf Töchter – alle ledig. Allein, wenn man die Stiefel berechnet, was kostet das! Der Selige verstand noch zu verdienen, aber jetzt – Pensiönchen. Müssen aber auch auskommen. Mich haben sie immer ungern empfangen. Wäre auch jetzt nicht hingegangen, wenn’s nicht solch ein Ausnahmefall gewesen wäre. Ging bis zum Friedhof mit den anderen zusammen; wenden sich von mir ab, tun wichtig. Allerdings, mein Überzieher ist wirklich schon etwas schäbig. Es werden wohl so fünfundzwanzig Jahre her sein, daß ein Friedhof mich nicht mehr gesehen hat. Das wäre noch so ein Plätzchen! Aber der Geruch! An Leichen waren etwa fünfzehn angekommen. Särge zu verschiedenen Preisen; sogar zwei Katafalke gab es: für einen General und irgend eine Dame. Viel traurige Gesichter, viel auch geheuchelte Trauer, und viel unverhohlene Fröhlichkeit. Die Geistlichkeit hat nicht zu klagen: gute Einkünfte. Aber der Geruch, der Geruch! Würde hier nicht Geistlicher sein wollen. Nur vorsichtig blickte ich in die Särge, den Toten ins Gesicht[7]: kann nicht wissen, was für einen Eindruck sie auf mich machen werden. Zuweilen haben sie einen sanften Ausdruck, zuweilen einen unangenehmen. Überhaupt – ihr Lächeln ist nicht gut, und bei manchen ist’s sogar schrecklich. Lieb’s nicht. Spuken dann im Traum. Nach der Messe ging ich aus der Kirche an die frische Luft; der Tag war ein wenig trübe, dafür aber trocken. Und auch kalt; nun, wir haben ja schon Oktober. Ging zu den anderen. Verschiedene Klassen. Die dritte zu dreißig Rubel: anständig und doch nicht so teuer. Die ersten zwei in der Kirche; natürlich nur für große Beutel. Drittklassig wurden diesmal an sechs beerdigt, darunter auch der General und die Dame. Warf einen Blick in die Gräber – furchtbar: Wasser, und welch ein Wasser! vollkommen grün und – ’s ist wahr, wahrhaftig! – der Totengräber schöpfte es fortwährend heraus. Ging, so lange die Messe noch gelesen wurde, ein wenig auf die Straße – spazieren. Dort ist gleich das Armenhaus und etwas weiter ein Restaurant. Und durchaus kein übles: Imbiß, Frühstück, Schnäpse. War voll von den Begleitenden. Bemerkte viel aufrichtige Lustigkeit und Begeisterung. Ich trank mein Glas und aß ein Brötchen dazu. – Darauf beteiligte ich mich eigenhändig an der Überführung des Sarges aus der Kirche zum Grabe. Warum werden die Menschen als Leichen immer so schwer im Sarge? Man sagt, infolge irgend einer Inertie, weil der Körper sich nicht mehr selbst trage ... oder sonst einen Blödsinn ähnlicher Art; widerspricht der Mechanik und dem gesunden Menschenverstand. Kann’s nicht leiden, wenn man mit einer bloß allgemeinen Bildung über Spezialfragen urteilen will; bei uns aber tun das alle ohne Ausnahme. Zivilbeamte lieben es, über Militär oder gar Generalstabsfragen zu urteilen, und Ingenieure über Philosophie und Staatsökonomie. Fuhr nicht zum Totenschmaus. Bin stolz, und wenn man mich nur im äußersten Notfall empfängt, wozu soll ich mich dann an ihre Tische drängen, selbst wenn es sich um einen Toten handelt? Begreife nur nicht, warum ich auf dem Friedhof blieb. Setzte mich auf einen Grabstein und verfiel in entsprechende Gedanken. Begann mit der Moskauer Ausstellung und endete schließlich bei dem „sich wundern“ – letzteres im allgemeinen genommen, so als Thema überhaupt. Kam über dieses „sich wundern“ zu folgendem Schluß: „Sich über alles wundern ist natürlich dumm, sich aber über nichts wundern ist viel hübscher und aus irgend einem Grunde sogar guter Ton. Doch ist es in Wirklichkeit wohl kaum so. Meiner Meinung nach ist sich über nichts wundern viel dümmer, als sich über alles wundern, ja, ist fast dasselbe, wie nichts achten. Aber ein dummer Mensch versteht ja auch nicht zu achten.“ „Vor allen Dingen will ich achten! Ich _lechze_ danach, achten zu können,“ sagte mir vor ein paar Tagen einer meiner Bekannten. Lechzt danach, achten zu können! Herrgott, dachte ich, was würde wohl aus dir werden, wenn du es jetzt wagtest, das drucken zu lassen! Verlor mich darüber in Gedanken. Liebe es nicht, die Grabinschriften zu lesen; ewig dasselbe. Neben mir auf der Marmortafel lag ein angebissenes Butterbrot; dumm und nicht am Platz. Warf es auf die Erde, denn das war ja kein Brot; bloß ein Brötchen. Übrigens ist auf die Erde Brot werfen, glaub ich, nicht Sünde; nur auf den Fußboden. Vielleicht ist’s auch umgekehrt. Muß in Ssuworins Kalender nachschlagen. Es ist anzunehmen, daß ich lange saß, sogar zu lange; wollte sagen, daß ich mich auf der großen Marmorplatte sogar ausstreckte. Und wie das eigentlich so kam, daß ich plötzlich verschiedene Dinge hörte? Beachtete es zuerst natürlich nicht weiter; fand’s verächtlich. Einstweilen aber setzte sich das Gespräch fort. Höre –: dumpfe Laute, als ob man ihnen den Mund mit Kissen zugedrückt hätte; und bei alledem waren die Stimmen doch deutlich vernehmbar, als ob sie ganz nah gesprochen hätten. Ich erwachte, richtete mich auf, setzte mich und hörte aufmerksam zu. „Aber Exzellenz, ich bitt’ Sie, das geht doch wirklich nicht! Sie sagten Coeur an, ich nehme das Spiel auf und plötzlich haben Sie Carreau sieben! Das hätte man doch im voraus abmachen müssen, ich bitt’ Sie!“ „Wie, was – also auswendig, aus dem Gedächtnis spielen? I, wo bleibt denn da die Gemütlichkeit?“ „Das geht nicht, Exzellenz, ich bitt’ Sie, ohne Garantien geht’s wirklich nicht! Sie müssen noch einmal die Karten geben, aber vergessen Sie diesmal nicht den Schafskopf ...“ „Nun, einen solchen gibt es hier wohl kaum, dächte ich.“ Welch hochmütige Worte! Ganz sonderbar und wie unerwartet! Die eine Stimme so selbstbewußt, solide, die andere süßlich schmeichelnd. Hätt’s wirklich nicht geglaubt, wenn ich es nicht mit eigenen Ohren gehört haben würde. Zum Leichenschmaus war ich, glaub ich, doch nicht gegangen ... Hier Préférence zu spielen! Und was ist das für eine Exzellenz? Daß die Stimmen aus den Gräbern kamen, daran war nicht zu zweifeln. Ich rückte etwas zur Seite und las die Inschrift auf dem Marmor. „Hier ruht Generalmajor Perwojedoff ... Ritter dieser und dieser Orden, ... gest. im August ... im siebenundfünfzigsten ... Ruhe sanft bis zur seligen Auferstehung!“ Hm, wahrhaftig ein General! Auf dem andern Grabe, aus dem die schmeichlerische Stimme kam, war noch kein Denkmal: nur eine kleine Steinplatte; wohl ein Neuling. Der Stimme nach ein Hofrat. „Och – chohoho!“ ertönte plötzlich eine neue Stimme, ungefähr fünf Schritt vom Generalsgrabe, unter einem noch ganz frischen Hügel hervor; eine Männerstimme, so eine einfachere, wie man sie im Volke hört; jetzt aber andächtig-gerührt und ein wenig schwach. „Och – chohoho!“ „Ach, schon wieder stöhnt er!“ erklang plötzlich die launische, anmaßende Stimme einer gereizten Dame der höheren Gesellschaft, wie’s schien. – „Wirklich ein Kreuz, neben diesem Krämer zu liegen!“ „Hab gar nicht gestöhnt, hab doch schon lange nichts gegessen, das ist einzig nur so meine natürliche Gewohnheit. – Und immer können Sie, Gnädige, von Ihren Launen noch nicht lassen.“ „Warum haben Sie sich denn hierher gelegt?“ „Hab mich nicht selbst hierher gelegt, begraben haben mich meine Frau und meine kleinen Kinderchen, nicht selbst hab ich mich hier hingelegt. Das ist eben das Geheimnis des Todes! Hätt ich mich doch selber nie und nimmer neben Sie gelegt, für kein Gold der Welt! Liege hier nur infolge meines eigenen Kapitals, nach dem Preis zu urteilen. Denn das können wir, daß wir für unser Grabchen drittklassig zahlen.“ „Will’s gern glauben; auf das Leutebetrügen werden Sie sich schon verstehen.“ „Wo soll man Sie denn betrügen, wenn Sie schon seit dem Januar nichts mehr bezahlt haben. Ich hab noch eine nette Rechnung für Sie in meinem Kassenbuch.“ „Das ist aber wirklich stark! Da sehen wir’s ja, wie Sie sind! Sogar hier noch wollen Sie Ihre Rechnungen einkassieren! Gehen Sie nur nach oben. Fragen Sie bei meiner Nichte; die ist die Erbin.“ „Ach Gott, wo soll man jetzt noch fragen, und wohin gehn! Sind beide begraben und vor Gott beide in Fehl und Sünde gleich.“ „In Fehl und Sünde!“ spottete die Tote verächtlich. „Unterstehen Sie sich nicht, mit mir zu sprechen!“ „Och – chohoho!“ „Aber der Krämer gehorcht ihr doch, Exzellenz.“ „Warum sollte er denn auch nicht gehorchen?“ „Das schon, aber hier gibt es doch bekanntlich eine neue Ordnung, Exzellenz.“ „Was ist denn das für eine neue Ordnung?“ „Aber wir sind doch, wie man zu sagen pflegt, gestorben, Exzellenz.“ „Ach ja, richtig! Nun, aber immerhin eine Ordnung ...“ – Na, das muß ich sagen, die haben mich wirklich zerstreut! Wenn es schon hier dazu kommt, was soll man dann noch von der oberen Etage erwarten? Was für Späßchen, in der Tat! Fuhr einstweilen fort, zuzuhören, wenn auch mit tiefem Unwillen. * * * * * „Nein, ich würde aber leben! Nein ... ich, wissen Sie ... ich würde aber leben!“ hörte ich da plötzlich eine neue Stimme, irgendwoher, so in der Mitte zwischen dem General und der reizbaren Dame. „Hören Sie, Exzellenz? Unser Alter fängt wieder an. Schweigt, schweigt drei Tage lang womöglich, und mit einem Mal: ‚Ich würde aber leben, nein, ich würde aber leben!‘ Und mit solch einem, wissen Sie, Appetit, sagt er es, hi – hi!!“ „Und Leichtsinn.“ „Ihm geht’s schon nah, Exzellenz, und, wissen Sie, er schläft schon ein, ja, ja, er fängt bereits an, ganz einzuschlafen, ist doch seit dem April hier – und plötzlich: ‚ich würde aber leben!‘“ „Ziemlich langweilig,“ bemerkte seine Exzellenz. „Langweilig, Exzellenz? Sollte man dann nicht wieder Awdotja Ignatjewna ein wenig necken, hi – hi, – wie?“ „Nein, da muß ich Sie doch bitten, mich mit der ungeschoren zu lassen. Kann diese keifende Schachtel nicht ausstehen.“ „Ich aber kann Sie alle beide nicht ausstehen!“ schrie sofort die Schachtel erbost zurück. „Alle beide sind Sie sterbenslangweilig, und keiner von Ihnen versteht etwas Ideales zu erzählen. Ich aber könnte, wenn ich wollte, ein Geschichtchen von Ihnen, Exzellenz, – bitte seien Sie nicht so hochnasig –, könnte ein Geschichtchen von Ihnen erzählen, ... wie ein Diener Sie früh morgens mit dem Besen unter einem Ehebett hervorgekehrt hat ...“ „Gemeines Frauenzimmer!“ stieß der General brummend zwischen den Zähnen hervor. „Mütterchen Awdotja Ignatjewna,“ rief plötzlich wieder der Kaufmann dazwischen, „sag mir doch, meine Herrin, ohne des Bösen zu gedenken, sag mir doch, muß ich jetzt alleweil die Übergänge und Zustände der Seele nach dem Tode erst durchmachen, oder was ist das sonst?“ „Ach, da kommt er schon wieder damit, ahnte ich’s doch! Also von ihm rührt dieser Geruch her, also er verwest jetzt schon!“ „Ich verwese noch längst nicht, Mütterchen, und ich kann nicht sagen, daß von mir irgend solch ein besonderer Geruch ausginge, hab mich noch wie ich war an ganzem Leibe erhalten, aber Sie, Gnädige, Sie fangen ja schon an, in einen anderen Zustand überzugehen – denn der Gestank ist wirklich stark, sogar bis zu mir her. Schwieg bis jetzt nur aus Höflichkeit.“ „Ach, Sie schändlicher Lügner! Von ihm riecht es, daß man ohnmächtig werden könnte, und er hat noch die Frechheit, es auf mich zu schieben!“ „Och – chohoho! Wenn doch bald mein vierzigster Tag[8] käme: hörte dann ihre traurigen Stimmen über mir, meines Weibes Schluchzen und der Kinder stilles Weinen! ...“ „Ach, hört doch, worüber der trauert! Die werden schon den Reis[9] zu deiner Totenfeier verzehren, da sei Du unbesorgt! Ach, wenn doch wenigstens jemand erwachen würde!“ „Awdotja Ignatjewna,“ rief sofort der Beamte – ein Hofrat, glaub ich – „warten Sie nur noch einen Augenblick, bald werden Neue erwachen!“ „Ach, gibt es auch Junge unter ihnen?“ „Gewiß, gewiß, auch Junge – sogar Jünglinge!“ „Ach, das ist ja herrlich!“ „Wie, sind sie denn noch nicht erwacht?“ erkundigte sich seine Exzellenz. „Selbst vorvorgestrige sind noch nicht erwacht; Exzellenz wissen es doch selbst, daß man sie gestern, vorgestern und heute mit einem Mal ganz plötzlich und zu gleicher Zeit angefahren hat. Sonst sind doch um uns etwa zehn Schritt in der Runde alles vorjährige.“ „Hm! interessant!“ „Und wissen Sie, Exzellenz, heute hat man den Wirklichen Geheimrat Tarassewitsch beerdigt. Ich erkannte die Stimmen. Seinen Neffen kenne ich sehr gut, – der half vorhin den Sarg versenken.“ „Hm – wo liegt er denn hier?“ „Etwa fünf oder sechs Schritt links von Ihnen, Exzellenz. Fast gerade Ihnen zu Füßen ... Wie wär’s, Exzellenz, wenn Sie sich mit ihm bekannt machen würden?“ „Hm, nein – wie denn!? ... ich kann doch nicht als erster ...“ „O, er wird schon selbst anfangen, Exzellenz. Er wird sich sogar sehr geschmeichelt fühlen, überlassen Sie es nur mir, Exzellenz, ich ...“ „Ach, ach ... ach, was ist mit mir?“ ließ sich da plötzlich ein neues, keuchendes, ganz erschrockenes Stimmchen hören. „Ein Neuer, Exzellenz, ein Neuer, Gott sei Dank, und wie schnell erwacht! Zuweilen schweigen sie ja eine ganze Woche.“ „Ach, ich glaube, es ist ein junger!“ rief Awdotja Ignatjewna verzückt aus der Fistel. „Ich ... ich ... ich bin an einem Rückfall und so plötzlich!“ stammelte wieder der Jüngling. „Noch am Abend untersuchte mich Schulz: Sie haben sich wieder erkältet, sagte er, haben einen Rückfall, und am Morgen starb ich plötzlich. Ach! Ach!“ „Nun, nichts zu machen, junger Mann,“ meinte der General, augenscheinlich gnädigst über den Neuling erfreut, „– man muß sich trösten! Willkommen in unserem, wie man sagt, Tale Josaphat. Wir sind gute Menschen; Sie werden uns ja selbst kennen und schätzen lernen. Generalmajor Wassili Wassiljewitsch Perwojedoff, zu Ihren Diensten.“ „Ach, nein! Nein, nein, das kann ich auf keinen Fall! Ich, wissen Sie, bei mir hat sich eine Verschlimmerung eingestellt, zuerst war’s nur die Brust und der Husten, dann aber erkältete ich mich: Brust und Katarrhalfieber ... und dann plötzlich ganz unerwartet ... das ist es ja, daß es so ganz unerwartet kam!“ „Sie sagen, zuerst war es nur die Brust?“ mischte sich mit freundlicher Stimme der Beamte ein, ganz als ob er den Jüngling ermuntern wollte. „Ja, die Brust und Schleimauswurf, dann aber hörte der plötzlich auf und – ich kann nicht mehr atmen ... und wissen Sie ...“ „Ich weiß, ich weiß. Aber wenn’s die Brust war, so hätten Sie zu Eck gehen sollen, aber nicht zu Schulz.“ „Ich aber, wissen Sie, wollte immer zu Botkin gehen ... und plötzlich ...“ „Nun, Botkin schneidet,“ bemerkte der General. „Ach nein, das ist gar nicht wahr, er schneidet gar nicht! Ich habe gehört, er soll so aufmerksam sein, und alles voraussagen.“ „Seine Exzellenz meinte es nur in betreff des Preises,“ berichtigte der Beamte. „Ach – gar nicht, nur drei Rubel und er untersucht so gut und das Rezept ... und ich wollte es unbedingt, weil man mir gesagt hatte ... Ja, wie denn nun, meine Herren, was soll ich tun, zu wem soll ich jetzt: zu Eck, oder zu Botkin?“ „Wie? Wohin?“ fragte interessiert der General und in gemütlichem Lachen schüttelte sich seine Leiche. Der Beamte sekundierte ihm natürlich sofort in der Fistel. „Mein lieber Junge, mein lieber fröhlicher Junge, wie ich Dich liebe!“ fiel bezaubert Awdotja Ignatjewna etwas kreischend ein. „Ach, wenn man doch solch einen neben mich gebettet hätte!“ – Nein, das ist aber doch unmöglich. Und das soll ein Toter unseres Jahrhunderts sein! Einstweilen kann man aber noch zuhören und mit dem letzten Urteil noch etwas warten. Dieser grüne Neuling – ich erinnerte mich noch, wie er vorhin im Sarge aussah: Ausdruck eines erschrockenen Huhnes, der allerwiderlichste der ganzen Welt! Aber was weiter. * * * * * Doch was dann kam, war solch ein Chorus von Stimmen, daß ich alles nicht einmal behalten konnte, denn es erwachten sehr viele zu gleicher Zeit, unter anderen auch ein höherer Beamter, einer von den Staatsräten, der mit dem General sofort ein Gespräch anknüpfte über das Projekt einer Unterkommission im Ministerium der öffentlichen Arbeiten und die mutmaßlich damit in Verbindung stehende Versetzung der Amtspersonen, – wodurch er den General ersichtlich ungemein, ganz ungemein zerstreute. Ich muß gestehen, daß auch ich bei der Gelegenheit viel Neues erfuhr, – schüttelte noch mein Haupt über die sonderbaren Wege, auf denen man hier in dieser Hauptstadt administrative Neuigkeiten erfahren kann. Darauf erwachte auch halb und halb ein Ingenieur, schwätzte jedoch noch lange allerhand Unsinn, sodaß die anderen ihn vorläufig nicht belästigten, sondern ihn erst „sich ausliegen“ ließen. Zum Schluß bekundete auch noch die am Morgen unter dem Katafalk beerdigte vornehme Dame einige Anzeichen der Grabesbeseelung. Lebesätnikoff, – es stellte sich nämlich heraus, daß der schmeichlerische, mir verhaßte Hofrat, der sich neben dem General Perwojedoff befand, Lebesätnikoff hieß – nun ja, war furchtbar verwundert und in Anspruch genommen durch den ungewöhnlichen Umstand, daß dieses Mal die meisten so bald erwachten. Muß gestehen: auch mich nahm’s ein wenig wunder. Übrigens waren einige von den Erwachenden bereits vor drei Tagen beerdigt worden, wie z. B. ein ganz junges Mädchen, eine Sechzehnjährige, die aber die ganze Zeit über nur kicherte ... Widerlich. „Exzellenz, Geheimrat Tarassewitsch ist soeben im Begriff, zu erwachen,“ meldete plötzlich Lebesätnikoff mit ungewöhnlicher Eilfertigkeit. „A? was?“ fragte da auch schon – ein wenig wie im Halbschlaf – der erwachende Geheimrat mit einer anmaßenden, quäkenden Stimme, in der etwas Eigensinnig-Befehlendes lag. Ich horchte interessiert auf, denn in den letzten Tagen hatte ich viel von diesem Tarassewitsch reden gehört – im höchsten Grade Verfängliches und Aufregendes. „Das bin ich, Exzellenz, vorläufig nur ich.“ „Was wollen Sie?“ „Einzig mich um das Befinden Eurer Exzellenz erkundigen; aus Ungewohnheit fühlt sich hier fast jeder anfänglich ein wenig beengt. Entschuldigen Sie ... General Perwojedoff würde es sich zur Ehre anrechnen, die Bekanntschaft Eurer Exzellenz zu machen, und hofft ...“ „Kenne nicht.“ „Unmöglich, Exzellenz, General Perwojedoff, Wassili Wassiljewitsch ...“ „Sie sind also General Perwojedoff?“ „Nein, Verzeihung, Exzellenz, nicht ich, ich bin im ganzen nur Hofrat Lebesätnikoff, und stehe zu Ihren Diensten, aber General Perwojedoff ...“ „Blödsinn! Tun Sie mir den Gefallen, mich nicht zu stören.“ „Lassen Sie ihn,“ hielt schließlich würdevoll General Perwojedoff selbst die unvornehme Eilfertigkeit seines Grabklienten auf. „Er ist ja noch nicht ganz erwacht, Exzellenz, das muß man doch in Betracht ziehen; das ist ja bei ihm vorläufig nur Ungewohnheit: wenn er ganz erwacht, wird er es natürlich anders aufnehmen ...“ „Lassen Sie ihn,“ wiederholte nur der General. * * * * * „Wassili Wassiljewitsch! Heda, Exzellenz!“ rief plötzlich laut und verwegen dicht neben Awdotja Ignatjewna eine ganz neue Stimme, – eine etwas blasierte „Herren“stimme mit jener gewissen müden Note und frechen Dehnung einzelner Silben in der Aussprache, wie sie jetzt in der Gesellschaft Mode ist. – „Ich beobachte Sie alle schon geschlagene zwei Stunden. Liege doch bereits drei Tage hier, Sie erinnern sich wohl meiner, Wassili Wassiljewitsch? – Klinewitsch. Haben uns bei Wolokonskis getroffen, wo man Sie – ich weiß übrigens nicht warum – gleichfalls empfing.“ „Wie, Graf Pjotr Petrowitsch ... sollten Sie denn wirklich schon ... und in so jungen Jahren! Wie ich’s bedauere!“ „Tja, bedaure es natürlich gleichfalls, bloß ist es mir jetzt ziemlich egal, und zudem will ich aus allem das möglichst Beste exstirpieren. Und – bin nicht Graf, sondern Baron, im ganzen nur Baron. Wir sind ja irgend solche räudige Barönchen von Lakaienabstammung, tja, und ich weiß auch wahrhaftig nicht warum, – äh, ’s ist doch übrigens ganz egal. Ich bin bloß ein Taugenichts der pseudo-höheren Gesellschaft und man hält mich für einen ‚lieben Polisson‘. Mein Vater, äh, – so ein armseliger General, und meine Mutter ist einmal ^en haut lieu^ empfangen worden. Habe mit dem elenden Hebräer Siffel im vorigen Jahre an fünfzigtausend falsche Scheine fabriziert, und ihn dann angezeigt, doch mit dem Gelde ist mir Julchen Charpentier de Lusignan exgezogen – äh – nach Bordeaux, glaube ich. Und denken Sie sich nur, ich war schon so gut wie verlobt – mit der kleinen Schtschewalewski, drei Monate fehlten ihr noch an sechzehn Jahren, ist noch im Institut, erbt Neunhunderttausend. Äh, Awdotja Ignatjewna, erinnern Sie sich noch dessen, wie Sie mich vor etwa fünfzehn Jahren, als ich noch vierzehnjähriger Page war, verdarben?“ „Ach, das bist Du, Nichtsnutz! Obgleich Dich wohl Gott gesandt hat, aber sonst wäre es ...“ „Sie haben umsonst Ihren Nachbar, den Negoziant, der Verbreitung des üblen Geruchs verdächtigt ... Ich schwieg nur und lachte im stillen; – das geht doch von mir aus; man hat mich ja schon in geschlossenem Sarge hergebracht.“ „Ach, wie abscheulich er ist! Aber es freut mich trotzdem; Sie können sich nicht denken, Klinewitsch, werden es sich bestimmt nicht vorstellen können, welch ein Mangel an Leben und Esprit hier herrscht!“ „Nun ja, nun ja, ... Tja ich beabsichtige hier etwas Originelles einzuführen, Exzellenz, – nicht Sie, Perwojedoff, – Exzellenz, ich meine den anderen, Herr Tarassewitsch, äh, Geheimrat! So antworten Sie doch! – Klinewitsch, der Sie zur Fastenzeit zu Mademoiselle Füry brachte, hören Sie mich?“ „Ich höre Sie, Klinewitsch, freue mich sehr, und glauben Sie mir ...“ „Glaube Ihnen nicht ein Wort – übrigens, ’s ist doch ganz egal. Ich möchte Sie, lieber Alter, gerne abküssen, doch kann ich’s Gott sei Dank nicht. Wissen Sie denn, verehrte Anwesende, was dieser ^grand-père^ angestiftet hat? Er ist vor drei oder vier Tagen gestorben und, – können Sie sich vorstellen – hat rundum Vierzigtausend Kassendefizit hinterlassen! Geld der Witwen und Waisen, und er hat aus irgend einem Grunde ganz allein gewirtschaftet, sodaß man ihn oder vielmehr seine Bücher etwa acht Jahre nicht mehr revidiert hat. Äh, ich kann mir denken, was die jetzt dort für lange Gesichter machen werden, und wie sie seiner gedenken! ^N’est-ce pas^, wonniger Gedanke! Konnte es mir schon das ganze letzte Jahr nicht erklären, woher diesem siebzigjährigen Klappergreis, Podagristen und Chiragriker noch Kräfte zu einem so ausschweifenden Leben verblieben waren und – äh, da haben wir jetzt die Lösung des Rätsels! Diese Witwen und Waisen – tja, du lieber Gott, schon der bloße Gedanke an sie mußte ihn doch erglühen machen! ... Ich war der einzige, der es wußte, die Charpentier hatte mir alles erzählt, und sofort nachdem ich es erfahren hatte, ging ich zu ihm, und setzte diesem heiligen Sünder moralisch den Revolver auf die Brust, – äh, so wie’s sich Freunden geziemt –: ‚Sofort fünfundzwanzigtausend her, wenn nicht, kommt man morgen revidieren‘. Was glauben Sie wohl, meine Herren, er konnte nicht mehr wie dreizehntausend zusammenbringen, so daß er jetzt, wie’s scheint, sehr zur rechten Zeit gestorben ist. ^Grand-père, Grand-père^, hören Sie?“ „^Cher^ Klinewitsch, ich bin mit Ihnen vollkommen einverstanden, aber es ist ganz überflüssig ... daß Sie sich in solchen Details ergehen. Es gibt im Leben so viel Leid und Qual und so wenig Lohn dafür ... ich hatte den Wunsch, mich endlich zu beruhigen ... Und insoweit ich mir darüber klar bin, wird sich auch von hier noch vieles herausziehen lassen ...“ „Haha, ich könnte wetten, daß er schon Katjisch Berestowa herausgewittert hat!“ „Wen? ... Was für eine Katjisch?“ fragte sofort sinnlich vibrierend die Stimme des Alten zurück. „A–ah? Also was für eine Katjisch? Äh, nun, hier links, etwa fünf Schritt von mir, – von Ihnen zehn. Sie liegt hier schon seit fünf Tagen. Wenn Sie wissen würden, ^Grand-père^, was das für ein Mädel ist ... Aus gutem Hause natürlich, wohlerzogen und – ein ^monstre, un monstre^ im höchsten Grade! Ich habe sie dort niemandem gezeigt, ich allein wußte es nur ... Katjisch, eh!?“ „Hi – hihi!“ kam als Antwort das kichernde Lachen einer feinen, hohen Mädchenstimme zurück, doch klang in ihm etwas, das wie ein Nadelstich war. – „Hi – hi – hi!“ „Und ... ist ... sie ... blond?“ stieß lispelnd, kurzatmig ^Grand-père^ in vier Lauten hervor. „Hi – hi – hi!“ „Mir ... mir gefiel schon lange ...“ fuhr der Alte atemlos lispelnd fort, – „schon lange der Gedanke an ein Blondköpfchen ... ein ... ein fünfzehnjähriges ... und gerade unter solchen Umständen wie hier ...“ „Ungeheuer!“ rief Awdotja Ignatjewna empört. „Genug!“ entschied Klinewitsch. „Ich sehe schon, daß das Material vortrefflich ist. Wir werden uns hier bald famos einrichten. Die Hauptsache ist, daß man die übrig gebliebene Zeit lustig verbringt; doch was für eine Zeit ist das eigentlich? Heda, Sie, irgend ein Beamter, der Sie da sind, Lebesätnikoff – nicht? – ich glaube, man nannte Sie vorhin so?“ „Gewiß, gewiß, Lebesätnikoff, Hofrat, Ssemjon Jewssejitsch, stehe zu Ihren Diensten, und freut mich, freut mich, ungemein.“ „Äh, ’s ist mir wirklich ganz egal, ob es Sie freut, nur scheinen Sie hier alles zu wissen. Sagen Sie mal vor allen Dingen – ich wundere mich noch seit gestern darüber, – – auf welch eine Weise sprechen wir denn hier eigentlich? Wir sind doch tot, gestorben – nicht wahr, – trotzdem aber sprechen wir; ja es ist auch gleichsam, als ob wir uns sogar bewegten, währenddessen aber bewegen wir uns weder noch sprechen wir? Was soll das alles?“ „Das, oh das, wenn Sie wünschen, Baron, könnte Ihnen Platon Nikolajewitsch besser erklären als meine Wenigkeit.“ „Was für ein Platon Nikolajewitsch? Quatschen Sie nicht dummes Zeug – zur Sache.“ „Platon Nikolajewitsch ist hier unser einheimischer Philosoph, Naturforscher und Professor. Hat bei Lebzeiten mehrere philosophische Bücher verfaßt, doch werden es jetzt wohl schon drei Monate sein, daß er sich anschickt, ganz einzuschlafen, daher wird es wohl schwer fallen, ihn jetzt noch wachrütteln. Er brummt jetzt höchstens einmal in der Woche einige zusammenhanglose Worte, die eigentlich nicht zur Sache gehören ...“ „So kommen Sie doch wenigstens zur Sache!“ „Er – er – er erklärt das mit der ganz einfachen Tatsache, und zwar gerade mit der, daß wir oben, das heißt, als wir noch lebten, den dortigen Tod ganz irrtümlich für einen Tod hielten. Der Körper belebt sich hier gewissermaßen nochmals, die Reste des Lebens konzentrieren sich, aber nur im Bewußtsein. Das – ich kann Ihnen das nicht so recht sagen, ich weiß eigentlich nicht, wie ich mich ausdrücken soll, das Leben setzt sich hier gewissermaßen durch die Inertie fort. Alles konzentriert sich seiner Meinung nach irgendwo im Bewußtsein und lebt dort noch drei oder vier Monate lang fort, zuweilen sogar ein ganzes halbes Jahr ... Es gibt hier zum Beispiel einen, der sich schon total zersetzt hat, doch einmal in etwa sechs Wochen murmelt er plötzlich doch noch ein Wort, natürlich ein sinnloses, von irgend einem Bobock: bobock, bobock, bobock, – also glüht doch auch in ihm noch ein Lebensfünkchen ...“ „Alles ziemlich dumm, was Sie da sagen. Aber wie kommt es, daß ich, ohne Geruchssinn zu haben, doch diesen Gestank hier rieche?“ „Das ... he–he ... Nun, was das anbetrifft, so wurde unser Philosoph, offen gestanden, schon etwas schleierhaft in seiner Erklärung. Gerade über den Geruchssinn bemerkte er, man rieche hier nur, he–he, sozusagen den, he–he, moralischen Gestank! Den Gestank, heißt es, der Seele, um sich in diesen zwei–drei Monaten noch besinnen zu können ... und dieses wäre sozusagen noch die letzte Barmherzigkeit, die uns ... Nur glaube ich, Baron, das ist alles schon mystische Phantasterei, natürlich entschuldbar durch seine Verfassung ...“ „Danke, ich bin überzeugt, daß alles weitere Unsinn ist. Es genügt, daß wir jetzt wissen, woran wir sind –: also zwei oder drei Monate Leben und zum Schluß – bobock. Ich schlage allen vor, diese zwei Monate möglichst angenehm zu verbringen, und uns zu dem Zweck neue Grundsätze zu wählen. Meine Damen und Herren! ich schlage vor, _sich überhaupt nicht mehr zu schämen_!“ „Ach ja, ach ja! wollen wir uns nicht mehr schämen!“ riefen sofort viele Stimmen und sonderbar, es ließen sich auch viele ganz neue Stimmen hören, was natürlich bedeutete, daß inzwischen noch andere erwacht waren. Mit ganz besonderer Bereitwilligkeit und dröhnendem Baß aber äußerte der bereits völlig belebte Ingenieur seinen Beifall. Katjisch kicherte erfreut. „Ach, wie gern ich mich keiner einzigen meiner Handlungen schämen will!“ rief begeistert Awdotja Ignatjewna. „Hören Sie, wenn schon Awdotja Ignatjewna sich keiner Sache mehr schämen will! ...“ „Nein nein nein, Klinewitsch, ich habe mich wirklich geschämt, immerhin habe ich mich doch geschämt, aber hier will ich mich furchtbar, furchtbar gern nicht mehr schämen!“ „Ich verstehe, Klinewitsch,“ meinte mit dröhnendem Baß der Ingenieur, „daß Sie vorschlagen, das hiesige, sagen wir, Leben auf neuen vernünftigen Grundsätzen aufzubauen ...“ „Äh, das ist mir wirklich ganz egal! Was das anbetrifft, wollen wir lieber Kudejaroff abwarten, – gestern beerdigt. Wenn er erwacht, wird er Ihnen alles erklären. ’N großartiger Kerl! Morgen, denk ich, wird man noch so einen Naturalisten ’ranschleppen, einen Leutnant jedenfalls bestimmt, und wenn ich mich nicht täusche, nach drei–vier Tagen einen Feuilletonisten – vielleicht mitsamt dem Redakteur. Übrigens, hol sie der Henker, nur wird sich hier bei uns ein geschlossener Kreis bilden und, na ja, es wird sich dann schon alles ganz von selbst machen. Doch – eine Bedingung! –: _ich verlange, daß man nicht lügt_. Nur dieses eine verlange ich, denn das ist doch die Hauptsache. Auf der Erde leben und nicht lügen ist unmöglich, denn Leben und Lüge sind synonym; hier aber wollen wir zur Erhöhung der Heiterkeit einmal _nicht_ lügen. Der Teufel noch eins! – es hat doch etwas zu bedeuten, daß man im Grabe liegt! ... Wir werden alle laut unsere Lebensgeschichte erzählen und uns keiner einzigen Sache mehr schämen. Ganz zuerst werde ich von mir erzählen. Ich, wissen Sie, gehöre zu den wollüstigen ... Dort oben war alles mit faulen Schnüren zusammengebunden. Reißen wir sie ab, diese faulen Schnüre, fort mit ihnen, und lassen Sie uns diese zwei Monate in der schamlosesten Wahrheit verleben! Entblößen wir uns alle, und zeigen wir uns nackt!“ „Ach ja, ja! Entblößen wir uns, entblößen wir uns!“ riefen alle Stimmen aus vollem Halse. „Ach, ich will mich furchtbar, furchtbar gern entblößen!“ rief Awdotja Ignatjewna und ihre kreischende Stimme klappte vor lauter Begeisterung über. „Ach ... ach ... ach, ich sehe schon, es wird hier lustig werden, ich will nicht mehr zu Eck!“ „Nein, ich würde aber leben, nein, wissen Sie, ich würde aber leben!“ „Hi–hi–hi!“ kicherte Katjisch. „Vor allen Dingen kann uns niemand etwas verbieten und wenn sich auch Perwojedoff, wie ich sehe, ärgert, so kann er mich doch nicht kneifen, noch sonst mir etwas antun. ^Grand-père^, sind Sie einverstanden?“ „Oh, oh, ich bin durchaus, durchaus einverstanden und mit dem größten Vergnügen, aber nur mit der Bedingung: daß Katjisch als erste ihre Bi–o–graphie zum besten gibt.“ „Ich protestiere! Ich protestiere mit allem Nachdruck! ...“ erklärte plötzlich mit fester Stimme General Perwojedoff. „Exzellenz!“ flehte sofort in ängstlicher Erregung und mit gesenkter Stimme der Nichtsnutz Lebesätnikoff – er wollte ihn eines Besseren überzeugen: „Aber, Exzellenz, es ist doch für uns sogar vorteilhafter, wenn wir zustimmen. Hier ist, wissen Sie, dieser Backfisch ... und schließlich, alle diese kleinen Späßchen ...“ „Nun schön, gesetzt – ein Backfisch, aber ...“ „... Vo–vo–vorteilhafter, Exzellenz, bei Gott, es wäre vorteilhafter! Sagen wir meinetwegen nur so zum Beispiel, nur so zur Probe ...“ „Selbst im Gra–abe läßt man einen nicht zur Ruhe kommen!“ „Erlauben Sie, General –,“ unterbrach ihn Klinewitsch gemessen, „Erstens: Sie geruhten vorhin selbst im Grabe Préférence zu spielen und zweitens – sind Sie uns ganz egal – aber ganz!“ „Mein Herr, ich bitte Sie, sich nicht zu vergessen.“ „Was? – Tja, Sie können mich doch nicht erreichen und ich kann Sie ja von hier aus necken so viel ich will – wie Julchens Mops. Und übrigens, – äh, meine Herren, was ist er denn hier noch für ein General? Dort mag er ja auch General gewesen sein, hier aber ist er nichts – überhaupt nichts!“ „Nein, mein Herr, auch hier bin ich ...“ „Hier werden Sie im Sarge verfaulen und was von Ihnen übrig bleibt – sind sechs silberne Knöpfe.“ „Bravo, Klinewitsch, haha–ha!“ gröhlten lachende Stimmen. „Ich habe meinem Kaiser gedient ... ich ... ich besitze einen Degen!“ „Äh, mit Ihrem Degen kann man jetzt Mäuse spießen und zudem haben Sie ihn doch noch nie gezogen.“ „Das ... bleibt sich gleich. Ich machte einen Teil des Ganzen aus!“ „Als ob es wenig Teile des Ganzen gäbe!“ „Bravo, Klinewitsch, bravo, ha–ha–ha!“ „Ich begreife nicht, was solch ein Degen überhaupt bedeuten soll,“ meinte spöttisch der Ingenieur. „Vor den Preußen werden wir wie die Mäuse ausreißen, die werden uns doch zu Staub zerklopfen!“ schrie eine entferntere, mir noch unbekannte Stimme, die aber buchstäblich vor Begeisterung erstickte. „Der Degen, mein Herr, ist die Ehre!“ schrie wohl noch der General, wenigstens konnte ich nur noch seine Stimme unterscheiden, denn es erhob sich ein wütendes, unbändiges Geschrei, das wie ein Getöse dahinbrauste, und das nur noch von dem ungeduldigen hysterischen Gekreisch Awdotja Ignatjewnas durchschnitten wurde. „Ach schneller, schneller doch! Ach, wann werden wir denn endlich anfangen, uns nicht mehr zu schämen!“ „Och–chohoho! Wahrlich, wahrlich, meine Seele durchlebt das Fegefeuer!“ hörte ich zwar noch die Stimme des Kaufmanns, aber ... Aber da nieste ich plötzlich. Es kam ganz plötzlich und unbeabsichtigt, doch die Wirkung war verblüffend: alles verstummte, verging wie ein Traum. Wahre Grabesstille brach an. Glaube nicht, daß sie sich vor mir schämten: sie hatten doch beschlossen, sich überhaupt nicht mehr zu schämen! Ich wartete noch fünf Minuten –: kein Wort, kein Laut. Es ist doch nicht anzunehmen, daß sie eine Anzeige an die Polizei fürchteten; denn was könnte die Polizei hierbei tun? Schließe daraus, daß sie immerhin irgend solch ein Geheimnis haben müssen, eines, das uns Sterblichen unbekannt ist, und das sie sorgfältig vor uns bewahren. „Nun, meine Lieben,“ dachte ich, „Euch werde ich noch oftmals besuchen.“ Und mit diesen Worten verließ ich den Friedhof. * * * * * Nein, das kann ich nicht zulassen; nein, wahrhaftig nicht! Da habe ich nun in Gräbern mein bobock gefunden! ... Hab ja weiter keine Angst davor, aber ... Verderbnis an solch einem Ort, Verderbnis zerfallender, verwesender Leichen und das noch in dem letzten Augenblick der Besinnung, angesichts der letzten Zuversicht! Diese kurzen Augenblicke sind ihnen gegeben, geschenkt, um ... Doch die Hauptsache, die Hauptsache, – an solch einem Ort! Nein, das kann ich nicht zulassen! ... Werde zu den anderen Klassen gehen, werde überall zuhören. Das ist’s ja eben, daß man überall zuhören muß, und nicht nur irgendwo am Rande an einer einzigen Stelle, um sich eine richtige Vorstellung machen zu können. Wer weiß, – vielleicht werde ich auch auf etwas Tröstendes stoßen. Doch zu denen werde ich bestimmt noch zurückkehren. Versprachen doch ihre Biographien und verschiedene Geschichtchen ... Pfui! Aber ich werde überall hingehen, unbedingt werde ich hingehen! Gewissenssache! Will es in die Redaktion des „Bürger“ bringen; dort hat man auch das Bild eines Redakteurs ausgestellt. Vielleicht drucken sie’s. Der Traum eines lächerlichen Menschen. Eine phantastische Erzählung. I. Ich bin ein lächerlicher Mensch. Jetzt halten sie mich sogar für irrsinnig. Das wäre ja eine Rangerhöhung, wenn ich dabei nicht immer noch lächerlich für sie bliebe. Jetzt aber ärgere ich mich nicht mehr darüber, jetzt sind sie mir alle lieb, auch wenn sie über mich lachen – ja dann sind sie mir aus irgend einem Grunde noch ganz besonders lieb. Ich würde gern mit ihnen lachen, – nicht gerade über mich, wohl aber aus Liebe zu ihnen, wenn mich nur ihr Anblick nicht so traurig machte. Traurig, weil sie die Wahrheit nicht wissen. Ich aber weiß die Wahrheit. Oh Gott, wie schwer ist es doch, ganz allein die Wahrheit zu wissen! Doch das werden sie nicht verstehn. Nein, das werden sie nicht verstehn. Früher schuf es mir viel Leid, daß ich lächerlich schien. Nein, nicht schien, sondern war. Ich war immer lächerlich, und das weiß ich vielleicht schon seit meiner Geburt. Vielleicht wußte ich es schon mit sieben Jahren, daß ich lächerlich war. Später besuchte ich die Schule, dann die Universität, aber – je mehr ich lernte, desto mehr erkannte ich, daß ich lächerlich bin. So daß meine ganze Universitätswissenschaft zum Schluß für mich nichts anderes bedeutete, als mir in dem Maße, wie ich mich in sie vertiefte, zu beweisen und zu erklären, daß ich lächerlich bin. Und im Leben erging es mir ähnlich wie in der Wissenschaft. Mit jedem Jahr wuchs und befestigte sich in mir dieselbe Erkenntnis meiner Lächerlichkeit in jeder Lebensbeziehung. Über mich haben immer alle gelacht. Aber kein einziger von ihnen wußte oder erriet es wenigstens, daß, wenn es irgendwo in der Welt einen Menschen gab, der besser als alle anderen wußte, wie lächerlich ich bin, ich dieser Mensch war. Und gerade das war es, was mich am meisten kränkte: daß sie das nicht wußten. Aber daran war ich selbst schuld: ich war immer so stolz, daß ich es um nichts in der Welt einem Menschen gestanden hätte. Und dieser Stolz wuchs in mir noch mit den Jahren, und wenn es geschehen wäre, daß ich mir erlaubt hätte, irgend jemandem, einerlei wem, sei es wem es sei, einzugestehen, daß ich lächerlich bin, so würde ich mir sofort, noch am Abend desselben Tages eine Kugel durch den Kopf geschossen haben. Oh, wie litt ich in meiner Jugend unter der Angst, ich könnte es vielleicht nicht aushalten, und es plötzlich selbst meinen Kameraden sagen. Doch seit der Zeit, da ich schon ein junger Mann wurde, wenn ich dabei auch mit jedem Jahr immer mehr und mehr meine furchtbare Eigenschaft erkannte, wurde ich doch aus irgend einem Grunde ruhiger ... Gerade aus irgend einem Grunde, denn ich kann bis jetzt noch nicht sagen warum. Vielleicht weil in meiner Seele die Angst einer bestimmten Erkenntnis, die menschlich höher war als mein Ich, gerade damals wuchs und wuchs: – das war die mich ergreifende Überzeugung, daß in der ganzen Welt _alles einerlei_ ist. Ich hatte es schon sehr lange vorausgefühlt, aber die volle Überzeugung überkam mich erst im letzten Jahre und irgendwie ganz plötzlich. Ich fühlte mit einem Mal, daß es mir _ganz einerlei_ wäre, ob die Welt existierte, oder ob es überhaupt nichts gäbe. Allmählich sah und fühlte ich mit meinem ganzen Wesen, daß _es nichts außer mir gab_. Zuerst schien es mir immer, daß es dafür früher vieles gegeben hatte, dann aber erriet ich, daß auch früher nichts gewesen war, sondern nur aus irgend einem Grunde geschienen hatte. Und allmählich überzeugte ich mich, daß es auch hinfort niemals etwas geben wird. Da hörte ich plötzlich auf, mich über die Menschen zu ärgern, und ich bemerkte sie fast nicht mehr. Und das tat sich bald in den kleinsten Dingen kund, z. B. kam es vor, daß ich, wenn ich auf der Straße ging, mit den Leuten zusammenstieß. Und das nicht etwa, weil ich in Gedanken versunken gewesen wäre: woran hätte ich denn denken sollen, ich hatte damals ganz aufgehört, zu denken: mir war alles einerlei. Und wenn ich doch wenigstens Fragen gelöst hätte! Oh, keine einzige habe ich gelöst, und doch gab es ihrer wahrlich nicht wenig! Aber mir wurde _alles einerlei_, und die Fragen entfernten sich von selbst. Und dann, plötzlich erfuhr ich die Wahrheit. Die Wahrheit erfuhr ich im vorigen November, genau am dritten November und seit der Zeit erinnere ich mich jedes Augenblicks meines Lebens. Es war in einer finsteren, so finsteren Nacht, wie ich sie dunkler noch nie gesehn. Ich kehrte damals um elf Uhr abends heim, und ich weiß noch, ich dachte gerade, daß es eine noch finstrere, dunklere Zeit nicht geben könnte. Sogar in physischer Beziehung. Der Regen hatte den ganzen Tag gerieselt, und das war der allerkälteste, allerfinsterste Regen gewesen, so ein die Seelen ängstigender Regen, das weiß ich noch, der so eine fühlbare Feindseligkeit zu den Menschen hatte. Und plötzlich, um elf Uhr nachts, hörte er auf, und es begann eine furchtbare Feuchtigkeit, die noch feuchter und noch kälter als der Regen war, und von überall her erhob sich ein Nebel, wie Dampf, von jedem feuchten Steine der Straße und aus jeder Quergasse, wenn man im Vorübergehn in sie tiefer hineinblickte, dorthin, wo die beiden Häuserstreifen sich ineinander näherten und im Dunkel verschwanden, stieg er auf. Ich dachte plötzlich, daß es doch viel wohltuender wäre, wenn das Gas erlöschen würde, denn die Beleuchtung machte das alles sichtbar, und so wurde es dem Herzen nur schwerer. Ich hatte an jenem Tage fast nichts gegessen und seit der Dämmerstunde war ich mit zwei anderen bei einem Ingenieur gewesen. Ich hatte die ganze Zeit geschwiegen und war ihnen wahrscheinlich langweilig gewesen. Sie sprachen über irgend etwas und plötzlich gerieten sie sogar in Meinungsverschiedenheiten und Streit. Aber es ging sie im Grunde doch nichts an, das wußte ich, und sie ereiferten sich nur um des Ereiferns willen. Das sagte ich ihnen denn auch plötzlich: „Hört, es ist Euch doch alles einerlei.“ Sie waren deswegen nicht gekränkt, sondern lachten nur über mich. Weil ich es ohne jeden Vorwurf gesagt hatte, einfach weil mir alles einerlei war. Sie sahen es denn auch ein, daß mir alles einerlei war, und wurden wieder guter Laune. Als ich auf der Straße an das Erlöschen der Gasbeleuchtung dachte, blickte ich zum Himmel auf. Er war unheimlich dunkel, doch deutlich konnte man hellere, zerrissene, zerflatterte Wolken unterscheiden und zwischen ihnen bodenlose schwarze Flecke. Plötzlich erblickte ich in einem dieser Flecke einen kleinen Stern: ich blieb stehn und betrachtete ihn aufmerksam. Ich tat es nur, weil mir dieser kleine Stern einen Gedanken gab: ich beschloß, mich noch in derselben Nacht zu erschießen. Das hatte ich schon vor zwei Monaten fest beschlossen, und wie arm ich auch war, ich hatte mir doch einen schönen Revolver gekauft und ihn noch am selben Tage geladen. Und doch waren schon zwei Monate vergangen und er lag immer noch in meinem Kasten; es war mir alles dermaßen einerlei, daß ich einen Augenblick, in dem mir nicht alles so einerlei sein würde, abwarten wollte, warum – weiß ich nicht. Und so kam es denn, daß ich in diesen zwei Monaten in jeder Nacht, wenn ich heimkehrte, glaubte, ich würde mich in dieser Nacht erschießen. Ich erwartete immer den Augenblick. Und plötzlich gab mir dieser kleine Stern den Gedanken, und ich beschloß, daß es _unbedingt_ in _dieser_ Nacht geschehen sollte. Warum mir aber der Stern den Gedanken gab – das weiß ich nicht. Und da war’s denn, daß mich, als ich in den Himmel blickte, plötzlich dieses kleine Mädchen am Ellenbogen zupfte. Die Straße war schon ganz, ganz still, kein Mensch war ringsum zu sehn. Nur in der Ferne schlief ein Droschkenkutscher auf seinem Bock. Das Mädchen war vielleicht acht Jahre alt, in einem dünnen Kleidchen, hatte nur ein kleines Tuch um, war ganz durchnäßt, doch am meisten fielen mir ihre nassen zerrissenen Stiefel auf und auch jetzt noch erinnere ich mich ihrer deutlich. Sie stachen mir ganz besonders in die Augen. Sie zupfte mich plötzlich am Ärmel und rief irgend etwas. Sie weinte nicht, aber sie stieß wie bellend irgend welche Worte hervor, Worte, die sie nicht deutlich aussprechen konnte, da sie vor Kälte am ganzen Körper zitterte. Sie war so erschrocken, so entsetzt, daß sie in ihrer Verzweiflung nur stockend immer ein und dasselbe rief: „Mammi! Mammi!“ Ich blickte mich zwar einmal nach ihr um, sagte aber kein Wort und ging weiter, sie aber lief mir nach und zupfte mich immer am Ärmel und in ihrer Stimme klang jener Ton, der bei erschrockenen Kindern Verzweiflung bedeutet. Ich kenne diesen Ton. Wenn sie auch ihre Worte nicht aussprach, so begriff ich doch, daß ihre Mutter irgendwo im Sterben lag, oder daß bei ihnen sonst etwas Furchtbares geschehen sein mußte, und sie hinausgelaufen war, um irgend jemanden zu Hilfe zu rufen, um irgend etwas zu finden, ihrer Mammi zu helfen. Ich aber folgte ihr nicht, wohin sie mich rief, im Gegenteil, es fiel mir sogar ein, sie fortzujagen. Zuerst sagte ich ihr noch, sie solle den Schutzmann suchen. Sie jedoch faltete plötzlich die Händchen zusammen und lief schluchzend, atemlos, neben mir her: wahrscheinlich hatte sie Angst mich zu verlassen. Und da war es denn, daß ich plötzlich mit dem Fuß stampfte und sie anschrie. Sie rief nur angstvoll: „Herr, lieber Herr! ...“ dann aber blieb sie stehn und plötzlich lief sie schnell über die Straße: dort ging eine Gestalt, und so verließ sie mich, um zu dem anderen Menschen hinüber zu laufen. Ich stieg in meinen fünften Stock. Ich wohne hier bei einer Frau, die Zimmer vermietet. Mein Zimmer ist ärmlich und klein; es hat nur ein halbrundes Dachfenster. Ich habe einen mit Wachstuch bezogenen Schlafdiwan, einen Tisch, auf dem meine Bücher stehn, zwei Stühle und einen Lehnstuhl, der zwar alt, uralt, dafür aber bequem ist. Ich setzte mich, zündete das Licht an und kam ins Denken. Im Nebenzimmer, das nur durch eine dünne Wand von meinem Zimmer geschieden ist, zog sich das Gelage schon den dritten Tag hin. Dort wohnte ein verabschiedeter Hauptmann und bei ihm waren wieder Gäste – sechs Mann; gewöhnlich tranken sie Schnaps und spielten mit alten fettigen Karten irgend ein Hazardspiel. In der vergangenen Nacht war es bei ihnen zu einer Prügelei gekommen und ich weiß, daß zwei von ihnen sich lange gegenseitig in den Haaren gelegen hatten. Die Wirtin wollte sich beklagen, wagte es jedoch nicht, da sie vor dem Hauptmann furchtbar Angst hatte. Sonst gibt es hier an Mietern nur noch eine kleine, magere Dame, eine angereiste, mit ihren drei kleinen und hier bei uns erkrankten Kinderchen. Sie wie die Kleinen fürchten den Hauptmann bis zur Lächerlichkeit und wenn er wieder Gäste hat, so schlafen sie die ganze Nacht nicht, zittern und bekreuzen sich und das kleinste soll vor Angst schon irgend welche Krämpfe gehabt haben. Dieser Hauptmann bettelt zuweilen, wie ich genau weiß, die Menschen auf dem Newsky an, eine Stelle sucht er sich nicht, doch sonderbarer Weise – deswegen erzähle ich ja nur von ihm – hat mich dieser Hauptmann während der ganzen Zeit, die er bei uns wohnt, noch kein einziges Mal gestört. Seinem Verkehr war ich allerdings gleich zu Anfang ausgewichen, und ich wurde ihm auch schon bei seinem ersten Besuch in meinem Zimmer furchtbar langweilig, doch wie laut sie auch im Nebenzimmer schreien mochten – mir war immer alles einerlei. Ich sitze die ganze Nacht in meinem Lehnstuhl, und wirklich, ich höre sie überhaupt nicht – so weit konnte ich sie und ihr Geschrei vergessen. Schlafe ich doch in keiner einzigen Nacht – und das tue ich jetzt schon ein Jahr lang. Ich sitze bis zum Morgengrauen in meinem Sessel und mache nichts. Bücher lese ich nur des Tags. Ich sitze und denke nicht einmal, ich sitze einfach so, irgend welche Gedanken schweifen umher und ich lasse sie ruhig gewähren. Das Licht brennt in der Nacht ganz aus. Ich setzte mich an den Tisch, nahm meinen Revolver und legte ihn vor mich hin. Ich weiß noch – als ich ihn vor mich hinlegte, fragte ich mich: „Ja?“ und vollkommen ruhig antwortete ich mir: „Ja.“ Also hatte ich beschlossen, mich noch in derselben Nacht zu erschießen. Ich wußte, daß ich mich in dieser Nacht bestimmt erschießen würde, wie lange ich aber vorher noch so sitzen würde – das wußte ich nicht. Und zweifellos hätte ich mich auch erschossen, wenn nicht jenes Mädchen ... II. Sehen Sie: wenn mir auch alles einerlei war, so fühlte ich doch, zum Beispiel, den Schmerz, den fühlte ich doch. Hätte mich jemand geschlagen, so würde ich bestimmt den Schmerz gefühlt haben. Und ebenso auch in moralischer Hinsicht: wäre etwas sehr Trauriges geschehn, so würde ich Mitleid empfunden haben, ganz wie früher, als mir noch nicht alles im Leben einerlei war. Und so hatte ich denn auch jetzt Mitleid gefühlt: einem Kinde würde ich doch unter allen Umständen geholfen haben. Warum hatte ich dann dem kleinen Mädchen nicht geholfen? Weil mir gerade in dem Augenblick ein Gedanke gekommen war: als sie mich rief und zupfte, hatte sich vor mir gerade eine Frage erhoben, die ich nicht lösen konnte. Sie war müßig, aber sie ärgerte mich doch. Ärgerte mich wegen der logischen Folgerung, daß mir, wenn ich beschlossen hatte, mich noch in derselben Nacht zu erschießen, folglich alles auf der Welt mehr denn je gleichgültig sein mußte. Warum aber fühlte ich dann plötzlich, daß mir nicht alles gleichgültig war und daß ich das Mädchen bemitleidete? Ich weiß noch, daß sie mir wirklich leid tat; sogar bis zu einem ganz sonderbaren Schmerz tat sie mir leid, der doch in meiner Lage ganz unwahrscheinlich und unangebracht schien. Nein, ich kann mein damaliges vorübergehendes Empfinden nicht gut wiedergeben, aber es dauerte noch an, als ich schon in meinem Zimmer war, als ich mich schon an den Tisch gesetzt hatte; und ich war so aufgebracht, wie ich es seit langer Zeit nicht mehr gewesen war. Erwägung zog nach Erwägung vorüber. Es ist doch klar, daß ich, wenn ich ein Mensch und noch keine Null bin, d. h. mich noch nicht in eine Null verwandelt habe, daß ich dann lebe – und folglich kann ich mich dann noch ärgern, kann ich noch leiden, und wegen meiner Handlungen Scham empfinden. Schön. Meinetwegen. Aber wenn ich mich, zum Beispiel, nach zwei Stunden töte, was ist mir dann dieses kleine Mädchen und was geht mich dann die Scham an und überhaupt die ganze Welt? Ich verwandle mich in eine Null, in eine absolute Null. Und konnte denn wirklich die Erkenntnis, daß ich alsbald _überhaupt nicht_ mehr sein würde, folglich aber auch sonst überhaupt nichts mehr sein würde, weder auf das Gefühl des Mitleids mit dem kleinen Mädchen, noch auf das Gefühl der Scham nach der begangenen Rohheit nicht den geringsten Einfluß haben? Nur deswegen stampfte ich doch mit dem Fuß und schrie ich das arme Kindchen so wütend an, weil ich zeigen wollte, daß ich – nicht nur kein Mitleid empfinde, sondern auch die unmenschlichste Rohheit begehen kann, da nach zwei Stunden alles erlöschen und es dann nichts mehr geben wird. Werden Sie es mir glauben, daß ich sie deswegen anschrie? Ich bin jetzt fest überzeugt davon. Es war mir in jenem Augenblick vollkommen klar, daß das Leben und die Welt gleichsam nur von mir abhängen. Ja, ich kann es sogar so sagen: daß die Welt jetzt gleichsam nur für mich allein geschaffen ist – erschieße ich mich, so hört die Welt auf zu sein, wenigstens für mich. Ganz abgesehen davon, daß es vielleicht auch wirklich für niemanden mehr etwas nach mir geben wird, und die ganze Welt, sobald nur meine Erkenntnis erlischt, gleichfalls wie eine Vision vergeht, wie ein Attribut bloß dieser meiner Erkenntnis, und sich aufhebt: denn vielleicht ist diese ganze Welt und sind alle diese Menschen – nur ich selbst ganz allein. Ich weiß noch, daß ich diese neuen Fragen, die sich eine nach der anderen herandrängten, in das Entgegengesetzte umkehrte und mir etwas ganz Neues ausdachte. Das war, als ich in meinem Lehnstuhl saß und grübelte. So kam mir u. a. plötzlich auch ein sonderbarer Gedanke: wenn ich, zum Beispiel, früher auf dem Monde oder auf dem Mars gelebt und daselbst irgend eine unglaublich ehrlose, schändliche Tat begangen hätte, die schändlichste, die man sich nur denken kann, und wenn ich dort für diese Tat so beschimpft und entehrt worden wäre, wie man es sich höchstens im Traum zuweilen vorstellen, unter einem Alpdruck fühlen kann, und wenn mich dann auf der Erde die Erinnerung an das, was ich auf dem anderen Planeten getan, nicht verlassen und ich außerdem noch wissen würde, daß ich niemals mehr, unter keinen Umständen auf jenen anderen Planeten zurückkehren werde, so, frage ich mich, würde mir dann, wenn ich von der Erde aus auf den Mond blickte, – _alles einerlei_ sein oder nicht? Würde ich mich dann dieser meiner Tat schämen oder nicht? Die Fragen waren müßig und überflüssig, da der Revolver schon vor mir auf dem Tisch lag, und ich mit meinem ganzen Wesen wußte, daß es bestimmt geschehn würde – aber sie regten mich auf und ich ärgerte mich. Es war mir, als könnte ich nicht mehr sterben, bevor ich nicht etwas – Unbestimmtes gelöst hatte. Kurz, dieses kleine Mädchen rettete mich, denn durch die Fragen schob ich den Tod auf. Beim Hauptmann im Nebenzimmer wurde es mittlerweile still: sie hatten ihr Kartenspiel beendet und richteten sich zum Schlafen ein, inzwischen aber brummten sie noch oder schimpften schlaftrunken zu Ende. Und da geschah es denn, daß ich plötzlich einschlief, was mit mir sonst noch nie vorgekommen war: am Tisch im Lehnstuhl. Ich schlief, mir vollkommen unbewußt, ein. Träume sind bekanntlich eine äußerst sonderbare Sache: das Eine sieht man mit erschreckender Deutlichkeit, mit schmuckstückhafter Ausarbeitung der Einzelheiten, anderes dagegen übergeht man fast ganz, als ob es überhaupt nicht vorhanden wäre, so z. B. Raum und Zeit. Ich glaube, Träume träumt nicht die Vernunft, sondern der Wunsch, nicht der Kopf, sondern das Herz, und doch: welch komplizierte Dinge überwand meine Vernunft zuweilen im Traum! Ganz unbegreifliche Dinge! Zum Beispiel: mein Bruder ist vor fünf Jahren gestorben, ich sehe ihn aber sehr oft im Traum: er nimmt Anteil an meinen Interessen, wir sprechen sehr sachlich über alle möglichen Dinge, währenddessen aber weiß ich doch die ganze Zeit über genau und vergesse es keinen Augenblick, daß mein Bruder schon tot und längst begraben ist. Wie kommt es aber, daß ich mich nicht im geringsten über sein Erscheinen wundere? Daß der Tote neben mir sitzt und mit mir spricht? Warum läßt meine Vernunft so etwas ruhig zu? Doch genug. Ich komme jetzt zu meinem Traum. Ja, damals hatte ich jenen Traum, meinen Traum vom dritten November! Jetzt necken Sie mich damit, daß es ja doch nur ein Traum gewesen ist. Aber ist es denn wirklich nicht ganz gleichgültig, ob es ein Traum gewesen ist oder nicht, wenn nur dieser Traum mir die Wahrheit offenbart hat? Denn wenn man einmal die Wahrheit erkannt, sie nur einmal gesehn hat, so weiß man doch, daß sie die einzige Wahrheit ist und es außer ihr eine andere überhaupt nicht mehr geben kann, einerlei ob man schläft oder lebt. Nun gut, mags ein Traum sein, meinetwegen, aber dieses Leben, das Ihr so preist, wollte ich mit einem Selbstmord von mir werfen, mein Traum aber, mein Traum – oh, mein Traum offenbarte mir ein neues, großes, wundervolles Leben! Hört. III. Ich sagte, daß ich ganz unmerklich einschlief; es war mir, als ob ich nur fortfuhr über dieselben Fragen nachzugrübeln. Plötzlich nehme ich den Revolver – d. h. es schien mir im Traum, daß ich ihn nahm – und setze ihn gerade an das Herz, – an das Herz, und nicht an die Stirn; ich aber hatte vorher fest beschlossen, mich durch einen Schuß in den Kopf, unbedingt in den Kopf, und zwar gerade durch die rechte Schläfe zu töten. Nachdem ich den Lauf auf die Brust gesetzt hatte, wartete ich eine, nein, zwei Sekunden lang und mein Licht, der Tisch und die Wand vor mir kamen plötzlich wie näher und fingen zu schaukeln an. Ich drückte schnell den Hahn ab. Im Traum fällt man zuweilen von einer Höhe herab oder man wird ermordet, oder geschlagen, doch fühlt man dabei niemals einen Schmerz, es sei denn, daß man sich selbst irgendwie am Bett beschädigt: dann allerdings fühlt man einen Schmerz, von dem man denn auch gewöhnlich erwacht. So war es auch in meinem Traum: Schmerz fühlte ich nicht, aber es war mir, als ob durch meinen Schuß alles in mir – erschüttert wurde und plötzlich erlosch, und um mich herum alles furchtbar dunkel wurde. Ich wurde gleichsam blind und stumm, und siehe da, ich liege auf etwas Hartem ausgestreckt, auf dem Rücken, sehe nichts und kann nicht die geringste Bewegung machen. Um mich herum wird gegangen und geschrieen, ich höre die Baßstimme des Hauptmanns und die Fistelstimme meiner Wirtin, – und plötzlich wieder eine Unterbrechung ... und da trägt man mich schon in geschlossenem Sarge. Und ich fühle wie die Träger beim Gehen den Sarg schaukeln und denke noch so darüber nach, und plötzlich fällt mir zum ersten Mal der Gedanke auf, daß ich ja doch gestorben bin, daß ich tot bin, daß ich es weiß und nicht daran zweifeln will, nicht sehe und mich nicht bewege, trotzdem aber fühle und denke. Doch ich söhne mich schnell damit aus und nehme, wie man es gewöhnlich im Traum tut, die Wirklichkeit widerspruchslos an. Und siehe, da senkt man mich in ein tiefes Grab hinab und begräbt mich in der Erde. Alle gehen fort, ich bin allein, vollständig, ganz und gar allein. Ich rühre mich nicht. Wenn ich mir früher vorstellte, wie man mich beerdigen würde, so verband ich mit dem Begriff Grab eigentlich nur das Gefühl von Feuchtigkeit und Kälte. Und so wars denn auch: ich fühlte, daß ich es sehr kalt hatte, besonders an den Zehenspitzen, doch sonst fühlte ich nichts. Ich lag und, sonderbar, – erwartete nichts, da ich widerspruchslos annahm, daß ein Toter nichts zu erwarten hat. Aber es war feucht. Ich weiß nicht, wieviel Zeit inzwischen verging, – eine Stunde oder einige Tage, oder viele Tage. Doch plötzlich – fiel auf mein linkes geschlossenes Auge ein durch den Sargdeckel durchgesickerter kalter Wassertropfen ... es verging eine Minute und es fiel ein zweiter – nach ihm ein dritter, und so weiter, und so weiter, immer nach einer Minute. Heftiger Unwille entbrannte darob mit einem Mal in meinem Herzen und plötzlich fühlte ich in ihm einen physischen Schmerz: „Das ist meine Wunde,“ dachte ich, „dort sitzt die Kugel“ ... Der Tropfen aber tropfte in jeder Minute und immer gerade auf mein linkes geschlossenes Auge. Da rief ich, nicht mit der Stimme, denn ich war unbeweglich, sondern mit meinem ganzen Wesen zum Beherrscher alles dessen, was mit mir geschah: „Wer Du auch seist, doch wenn Du bist, und wenn es etwas Vernünftigeres gibt, als das, was soeben mit mir geschieht, so gebiete ihm auch hier zu sein. Wenn Du mich aber für meinen unvernünftigen Selbstmord mit dem Blödsinn eines weiteren Seins strafen willst, so wisse, daß sich nichts von dem, was mich auch erwartet, mit meiner Verachtung wird messen können, mit meiner Verachtung, die ich schweigend empfinden werde, und wenn auch im Verlauf von Jahrmillionen der Qual und des Märtyrertums! ...“ Ich rief es und verstummte. Fast eine ganze Minute lang dauerte das tiefe Schweigen an, und es tropfte sogar noch ein Tropfen auf mein geschlossenes Auge herab, doch ich wußte, grenzenlos und unerschütterlich wußte ich, und ich glaubte daran, daß sich unbedingt sofort alles verändern würde. Und siehe, plötzlich tat sich mein Grab auf. Das heißt, ich weiß nicht, ob es gerade aufgegraben wurde, ich weiß nur, daß ich von einem dunklen, mir unbekannten Wesen aufgenommen wurde und wir befanden uns im Weltenraum. Und plötzlich ward ich wieder sehend: Es war tiefe Nacht und niemals, niemals noch hatte es solch eine Dunkelheit gegeben! Wir durchzogen den Weltraum schon weit entfernt von der Erde. Ich stellte an den, der mich trug, keine einzige Frage, ich wartete und war stolz. Ich versicherte mir, daß ich mich nicht fürchtete, und erstarb fast vor Entzücken bei dem Gedanken, daß ich mich nicht fürchtete. Ich weiß nicht mehr, wie lange wir so schwebten und ich kann mir auch nicht recht vorstellen: geschah alles so, wie es gewöhnlich im Traum zu geschehen pflegt, wenn man Raum und Zeit und die Gesetze der Vernunft überspringt und nur auf den Punkten stehn bleibt, von denen das Herz träumt. Ich erinnere mich noch, daß ich plötzlich in der Dunkelheit einen kleinen Stern erblickte. „Ist das der Sirius?“ fragte ich mit einem Mal ganz gegen meinen Willen, da ich nichts fragen wollte. „Nein, das ist derselbe Stern, den Du zwischen den Wolken erblicktest, als Du nach Hause gingst,“ antwortete mir das Wesen, das mich trug. Ich wußte nur, daß es ein menschenartiges Antlitz hatte. Doch sonderbar: ich liebte dieses Wesen nicht, ich empfand sogar eine tiefe Abneigung gegen dasselbe. Ich hatte vollkommenes Nichtsein erwartet und mit dieser Annahme hatte ich mir den Tod gegeben. Und siehe, ich bin in den Armen eines Wesens, natürlich keines menschlichen Wesens, aber trotzdem eines Wesens, das wirklich _ist_. „Also gibt es auch nach dem Tode ein Leben!“ dachte ich mit dem sonderbaren Leichtsinn des Traumes, doch das Wesen meines Herzens blieb mit mir in seiner ganzen Tiefe. „Und wenn ich von neuem _sein_ muß,“ dachte ich, „und wieder nach irgend jemandes unabwendbarem Willen leben muß, so will ich nicht, daß man mich besiegt und erniedrigt!“ „Du weißt, daß ich mich vor Dir fürchte, und verachtest mich deswegen,“ sagte ich plötzlich zu meinem Gefährten: ich hatte mich nicht bezwingen können und so war denn die erniedrigende Frage, die das Bekenntnis in sich schloß, gestellt, und in meinem Herzen fühlte ich den Schmerz meiner Erniedrigung wie den Stich einer Stecknadel. Das Wesen antwortete auf meine Frage nicht, doch fühlte ich plötzlich, daß man mich nicht verachtete, und nicht über mich lachte, und daß man mich nicht einmal bemitleidete, und daß unser Flug sogar ein Ziel hatte, ein unbekanntes und geheimnisvolles, und das nur mich allein anging. Und die Angst wuchs in meinem Herzen. Irgend etwas ging von meinem stummen Gefährten schweigend, doch qualvoll auch auf mich über und durchdrang mich. Wir durchzogen dunkle, unbekannte Sphären. Schon längst waren die meinem Auge bekannten Gestirne verschwunden. Ich wußte, daß es im Weltenraum Sterne gibt, deren Strahlen erst in Jahrtausenden oder Jahrmillionen die Erde erreichen. Wir aber hatten vielleicht schon größere Entfernungen durchmessen. Ich erwartete irgend etwas und die Sehnsucht quälte mein Herz. Und plötzlich überkam mich ein bekanntes, heimisches Gefühl: ich erblickte unsere Sonne! Ich wußte, daß es nicht _unsere_ Sonne sein konnte, die Mutter unserer Erde, die _unsere_ Erde geboren hat, aber ich erfuhr durch irgend etwas, ich weiß nicht wodurch, doch mit meinem ganzen Wesen erfuhr ich es, daß es ganz eben solch eine Sonne war wie die unsrige, ihre Wiederholung und ihr Doppelgänger. Ein süßes, herrliches Gefühl durchdrang voll Entzücken meine Seele: die Kraft des Lichts, die jener Kraft verwandt war, die mich hervorgebracht, fand in meinem Herzen einen Widerschein und erweckte es wieder zu neuem Leben, und ich fühlte das Leben, das frühere Leben zum ersten Mal nach meinem Grabe. „Aber wenn das die Sonne ist, wenn das ganz genau solch eine Sonne ist, wie die unsrige,“ rief ich, „– wo ist dann die Erde?“ Und mein Gefährte wies auf einen kleinen Stern, der in smaragdgrünem Glanze strahlte. Wir schwebten gerade auf ihn zu. „Wie ist es möglich, daß es solche Wiederholungen im Weltall gibt, ist denn wirklich derart das Weltgesetz? ... Und wenn das dort die Erde ist, so sag mir doch, ist es eben solch eine Erde wie die unsrige? ... genau solch eine unglückliche, arme, doch so teure und ewig geliebte Erde, die ebenso qualvolle Liebe selbst in ihren undankbarsten Kindern zu sich erweckt, wie unsere Erde? ...“ rief ich, zitternd vor unbezwingbarer berauschender Liebe zu jener heiligen Mutter, der feuchten, sonnigen Erde, die ich verlassen hatte. Und die Gestalt des kleinen Mädchens, das ich angeschrieen hatte, tauchte auf einen Augenblick in meiner Erinnerung auf. „Du wirst es selbst sehn,“ antwortete mein Gefährte und eine gewisse Trauer klang durch seine Worte. Wir näherten uns schnell dem Planeten. Er wuchs in meinen Augen, ich konnte schon die Ozeane unterscheiden, dann die Konturen Europas und plötzlich lohte eine große heilige Eifersucht in meinem Herzen auf: „Wie darf es solch eine Wiederholung geben, und zu welch einem Zweck gibt es sie? Ich liebe und _kann_ ja nur jene Erde lieben, die ich verlassen habe, auf der die Tropfen meines verspritzten Blutes blieben, als ich, ich Undankbarer, mein Leben durch Selbstmord von mir warf! Doch niemals, niemals habe ich aufgehört, unsere Erde zu lieben, und sogar in jener Nacht, in der ich sie verließ, habe ich sie vielleicht heißer, qualvoller denn je geliebt! Gibt es auch auf dieser neuen Erde Qual? Auf unserer Erde können wir nur mit Qualen oder durch Qualen wahrhaft lieben! Anders verstehn wir nicht zu lieben und wir kennen keine andere Liebe. Ich will Qual, um lieben zu können. Ich will, oh, ich lechze jetzt, in diesem Augenblick danach, tränenüberströmt einzig und allein die Erde küssen zu können, die ich verlassen habe! Und ich will nicht, ich nehme kein anderes Leben an, als nur eines auf unserer Erde! ...“ Mein Gefährte aber hatte mich schon verlassen. Für mich ganz unmerklich, war ich auf jener anderen Erde angekommen, im grellen Sonnenlicht eines paradiesisch schönen Tages. Ich stand, glaube ich, auf einer jener Inseln, die auf unserer Erde den Griechischen Archipel ausmachen, oder vielleicht war es irgendwo an der Küste des Festlandes, das dort das Ägäische Meer umgibt. Oh, alles war ganz so wie bei uns, nur schien alles in einer Feststimmung zu sein, und in einem großen, heiligen, endlich erreichten Siege zu leuchten. Das freundliche tiefblaue Meer plätscherte leis an das Gestade und drängte sich zu ihm wie in unendlicher, sichtbarer, fast bewußter Liebe. Die hohen schattigen Bäume standen in der ganzen Pracht ihrer Blüten, und ich bin überzeugt, daß mich ihre unzähligen Blättchen mit ihrem sanften freundlichen Rauschen willkommen hießen und mir unbekannte Worte der Liebe zuflüsterten. Das Gras war von so leuchtendem frischen Grün, die Vögel durchzogen in Scharen die Luft und die kleinen setzten sich mir furchtlos auf die Schulter und Arme und schlugen mich freudig mit ihren lieben bebenden Flügelchen, und schließlich erblickte und erkannte ich auch die Menschen dieser glücklichen Erde. Sie kamen von selbst zu mir, umringten und küßten mich. Es waren Kinder der Sonne, Kinder ihrer Sonne, – oh, wie sie schön waren! Niemals noch hatte ich auf unserer Erde solch eine Schönheit im Menschen gesehn. Höchstens in unseren Kindern, in ihren ersten Lebensjahren hätte man einen entfernten, wenn auch schwachen Widerschein dieser Schönheit finden können. Die Augen dieser seligen Menschen waren licht und klar. Aus ihren Gesichtern sprach Vernunft und eine, ich möchte sagen, bis zur Ruhe vollkommene Erkenntnis, doch waren diese Gesichter ausnahmslos heiter; in den Worten und der Stimme dieser Menschen klang kindliche Freude. Oh, sofort, schon beim ersten Blick auf diese Gesichter, begriff ich alles, alles! Das war die Erde, die nicht durch den Sündenfall entweihte Erde, auf ihr lebten Menschen, die nicht gesündigt hatten und sie lebten in ebensolch einem Paradiese, wie das, in dem nach den Überlieferungen der ganzen Menschheit auch unsere Urväter vor dem Sündenfall gelebt haben, nur mit dem Unterschied, daß die ganze Erde hier überall ein und dasselbe Paradies war. Diese Menschen drängten sich freudig und lächelnd zu mir und liebkosten mich; sie führten mich zu sich und ein jeder von ihnen wollte mich beruhigen. Oh, sie fragten mich nicht, sie schienen schon alles zu wissen, und sie wollten nur schneller das Leid aus meinem Gesichte verscheuchen. IV. Sehen Sie, wiederum: Nun gut, mag das nur ein Traum gewesen sein! Aber die Empfindung der Liebe dieser unschuldigen, schönen Menschen zu mir ist für alle Zeiten in mir geblieben, und ich fühle, daß ihre Liebe sich auch jetzt auf mich fernher von ihnen ergießt. Ich sah sie selbst, ich lernte sie kennen und ich liebte sie und litt für sie später. Oh, ich begriff sofort, sogar damals, daß ich sie in vielem überhaupt nicht würde verstehen können, es schien mir als zeitgenössischem russischem Fortschrittler und garstigem Petersburger unbegreiflich, warum sie, die so viel wußten, nicht unsere Wissenschaft hatten? Doch sah ich bald ein, daß ihr Wissen durch andere Erkenntnisse genährt wurde, als das Wissen auf unserer Erde, und daß ihre Bestrebungen gleichfalls ganz anderer Art waren. Sie wünschten sich nichts; sie waren ruhig und zufrieden, sie rangen nicht nach der Erkenntnis des Lebens so, wie wir es tun, denn ihr Leben war vollkommen ausgefüllt. Doch war ihr Wissen ein tieferes und höheres, als das unserer Wissenschaft; denn unsere Wissenschaft versucht das Leben zu erklären, will es selbst ergründen, um die Menschen zu lehren, wie sie leben sollen; sie aber wußten schon, wie sie zu leben hatten, und das begriff ich, aber ihr Wissen konnte ich nicht begreifen. Sie wiesen auf ihre Bäume hin, ich aber konnte diese Größe der Liebe, mit der sie sie betrachteten, nicht nachfühlen: als ob die Bäume Menschen wie sie gewesen wären. Und wissen Sie, vielleicht täusche ich mich nicht, wenn ich sage, daß sie auch mit ihnen sprachen! Ja, sie kannten deren Sprache und ich bin überzeugt, daß die Bäume sie verstanden. Und so sahen sie auch auf die ganze übrige Naturwelt, auch auf die Tiere, die friedlich bei ihnen lebten, sie nicht angriffen, sondern liebten, da sie durch ihre Liebe besiegt waren. Sie deuteten auf die Sterne, und sprachen zu mir etwas, das ich nicht begreifen konnte, doch bin ich überzeugt, daß sie durch irgend etwas mit den Sternen des Himmels in Verbindung standen, nicht nur durch den Gedanken, sondern noch auf eine andere Weise. Oh, diese Menschen trachteten nicht danach, daß ich sie verstand, sie liebten mich auch so schon, doch dafür wußte ich, daß sie auch mich niemals verstehen würden, und darum erzählte ich ihnen auch nichts von unserer Erde. Ich küßte nur in ihrer Gegenwart die Erde, die sie bewohnten, und vergötterte sie selbst, und sie sahen es und ließen es wortlos geschehn, ohne sich deswegen zu schämen, daß ich sie liebte, weil sie so viel liebten. Sie litten nicht für mich, wenn ich tränenüberströmt zuweilen ihre Füße küßte, da ich ja wußte, welch eine Liebe sie mir dafür entgegenbrachten. Zuweilen fragte ich mich verwundert: wie konnten sie nur einen Menschen wie mich kein einziges Mal beleidigen, und wie kam es nur, daß sie in mir kein einziges Mal das Gefühl der Eifersucht oder des Neides hervorriefen? Oftmals fragte ich mich, wie ich, solch ein Prahlhans und Lügner, ihnen nicht von meinen Erkenntnissen einiges mitteilte, von denen sie natürlich keine Ahnung hatten, um sie in Erstaunen zu setzen oder auch nur aus Liebe zu ihnen? – Sie waren mutwillig und fröhlich wie Kinder. Sie wandelten durch ihre prachtvollen Haine und auf den blumigen Wiesen umher, sie sangen schöne Lieder, sie nährten sich von den Früchten ihrer Bäume und der Milch der sie liebenden Tiere. Für ihre Nahrung und Kleidung mühten sie sich nur wenig. Es gab bei ihnen Liebe und sie gebaren Kinder, doch niemals gewahrte ich bei ihnen Ausbrüche jener _grausamen_ Wollust, die fast alle Menschen auf unserer Erde überkommt, alle und jeden, und die der einzige Ursprung fast aller Sünden unserer Menschheit ist. Sie freuten sich mit den Neugeborenen als neuer Teilhaber ihrer Seligkeit. Es gab weder Streit noch Eifersucht unter ihnen, und sie wußten nicht einmal, was das war. Ihre Kinder waren die Kinder aller, denn alle bildeten sie eine einzige Familie. Sie hatten fast überhaupt keine Krankheiten, obgleich sie doch starben; aber ihre Greise schieden so sanft hin, als ob sie einschliefen, umringt von den sie liebenden Menschen, segnend, lächelnd und von ihnen mit klaren, heiteren Blicken begleitet. Niemals sah ich Trauer oder Tränen bei einem Sterbebett, nur eine bis zur Verzücktheit, bis zu einer ruhigen, geklärten Begeisterung gesteigerte Liebe. Man hätte glauben können, daß sie mit ihren Toten sogar noch nach dem Tode in Verbindung standen, und daß ihr Erdenleben nicht durch den Tod unterbrochen wurde. Sie begriffen mich kaum, als ich sie nach dem ewigen Leben fragte, doch waren sie augenscheinlich dermaßen fest von ihm überzeugt, daß für sie überhaupt kein Zweifel mehr darüber bestehen konnte. Sie hatten keine Tempel, aber es war bei ihnen so ein lebendiges Einssein mit dem All; sie hatten keinen Glauben, dafür aber das überzeugte Wissen, daß dann, wenn ihre irdische Freude die Grenze der irdischen Natur erreicht haben würde, für sie, für die Lebenden wie für die Verstorbenen, eine noch größere Berührung mit dem All eintreten müßte. Freudig erwarteten sie diesen Augenblick, doch sehnten sie sich weder nach ihm, noch litten sie um ihn, sie hatten ihn gleichsam schon als Vorgefühl in ihren Herzen, und dieses Vorgefühl teilten sie einander mit. Des Abends vor dem Schlafengehn liebten sie es, in harmonischen Chören zu singen. In diesen Abendgesängen gaben sie die Gefühle wieder, die der vergangene Tag ihnen gebracht hatte, und sie lobten und priesen ihn und verabschiedeten sich von ihm. Sie priesen die Natur, die Erde, das Meer, die Wälder. Sie dichteten Lieder über einander und lobten sich, wie Kinder sich loben; es waren einfache Lieder, doch sie ergossen sich aus dem Herzen und gingen zu Herzen. Und nicht nur in Liedern, nein im ganzen Leben taten sie nichts anderes, als sich lieben. Das war geradezu eine gegenseitige Verliebtheit, eine große, allgemeine Verliebtheit. Einige aber ihrer Lieder, die triumphierend und begeistert klangen, konnte ich fast überhaupt nicht verstehn. Obgleich ich die Worte begriff, konnte ich doch nicht ihre ganze Bedeutung erfassen. Sie waren meinem Verstande unzugänglich, nur mein Herz durchdrangen sie immer mehr und mehr, ohne daß ich mir von dem Vorgang hätte Rechenschaft ablegen können. Ich sagte ihnen oftmals, daß ich das alles schon früher vorausgeahnt hatte, daß die Ahnung dieser ganzen Seligkeit, dieses freudigen Preisens sich in mir schon auf unserer Erde in ohnmächtiger Sehnsucht, die sich mitunter bis zu übergroßem Leid gesteigert, geäußert hatte; daß ich sie alle geahnt hatte in den Träumen meines Herzens und in den Gedanken meiner Sinne, daß ich auf unserer Erde gar manches Mal die untergehende Sonne nicht ohne Tränen hatte ansehn können ... Daß in meinem Haß auf die Menschen unserer Erde immer Leid gewesen war: warum konnte ich sie nicht hassen, wenn ich sie doch nicht liebte, warum konnte ich ihnen nicht verzeihen, war doch in meiner Liebe zu ihnen Leid, warum konnte ich sie nicht hassend lieben? Sie hörten mir zu und ich sah, daß sie sich das nicht vorstellen konnten, was ich sprach, aber es tat mir nicht leid, daß ich ihnen davon gesprochen hatte: ich wußte, daß sie die ganze Macht meiner Sehnsucht nach denen, die ich verlassen hatte, begriffen. Ja, wenn ich ihren klaren, liebedurchdrungenen Blick auf mir ruhen fühlte, wenn ich fühlte, daß unter ihnen auch mein Herz so unschuldig und rein wurde, wie ihre Herzen, so tat es mir weiter nicht leid, daß ich sie nicht verstehen konnte. Vor lauter Fühlen der Lebensfülle verging mir der Atem, und schweigend betete ich sie an. Oh, alle lachen mir jetzt ins Gesicht und versichern mir, daß man so etwas nicht sehen könnte, wie ich es jetzt wiedergebe, daß ich in meinem Traum bloß ein einziges Gefühl empfunden hätte, eines, das mein eigenes Herz geschaffen, diese Einzelheiten aber später, nachdem ich aufgewacht, hinzugedacht hätte. Und als ich ihnen gestand, daß es vielleicht in der Tat so gewesen ist – Gott, welch ein Gelächter sie da anstimmten, welch eine Heiterkeit meine Worte hervorriefen! Oh, natürlich war ich nur von dem Gefühl des Traumes beherrscht, und nur dieses eine Gefühl allein blieb in meinem blutigwunden Herzen zurück. Dafür aber waren die wirklichen Bilder und Gestalten meines Traumes, d. h. diejenigen, welche ich gerade in der Stunde meines Traumes sah, in solch einer Harmonie abgeschlossen, so vollendet, dermaßen bezaubernd, berauschend und schön, daß ich, als ich erwacht war, selbstverständlich nicht fähig war, sie in unseren schwachen Worten lebendig werden zu lassen, so daß sie in meinem Bewußtsein natürlich erbleichen, zergehen mußten und somit war ich vielleicht wirklich gezwungen, unbewußt später die Einzelheiten zu erdichten, wobei ich sie bestimmt entstellt haben werde, bei meinem leidenschaftlichen Wunsch, das große Gefühl doch wenigstens irgendwie wiederzugeben. Darum aber – warum soll man mir nicht glauben, daß alles wirklich so war? Vielleicht war es noch tausendmal besser, heller, schöner, als ich es schildere? Mag es auch ein Traum gewesen sein, aber all das konnte doch nicht _nicht_ sein. Wissen Sie, ich werde Ihnen ein Geheimnis sagen: das ganze war vielleicht überhaupt kein Traum! Denn hier geschah etwas Derartiges, etwas bis zu solch einem Entsetzen Wahres, daß es einem ja gar nicht hätte träumen können, _nur_ träumen! Mag der Traum auch mein Herz erweckt haben, aber wie konnte denn mein Herz allein jene furchtbare Wahrheit erwecken, die ich dann später sah? Wie hätte ich sie denn allein ausdenken oder mein Herz allein es sich erträumen können? Wär’s möglich, daß mein kleinliches Herz und mein flacher, launischer Verstand sich zu solch einer Offenbarung der Wahrheit emporschwingen könnten! Oh, urteilt doch selbst: bis jetzt hab ich’s verschwiegen – aber jetzt will ich die ganze Wahrheit sagen. Es endete damit, daß ich ... sie alle verdarb! V. Ja, ja, es endete damit, daß ich sie alle verdarb! Wie das geschehen konnte – weiß ich nicht. Ich weiß es nicht mehr, wie es geschah. Der Traum durchflog Jahrtausende und hinterließ in mir nur die Gesamtempfindung. Ich weiß nur noch, daß die Ursache des Sündenfalles ich war. Wie eine scheußliche Trichine, wie eine Pestbazille, die ganze Erdteile verwüstet, so verpestete auch ich diese ganze glückliche, sündenlose Erde. Sie lernten das Lügen und gewannen die Lüge lieb und erkannten die Schönheit der Lüge. Oh, das begann vielleicht ganz _unschuldig_, nur als Spiel, aus Tändelei, es ging in der Tat vielleicht nur von einer Bazille aus, doch dieses Atom Lüge drang in ihre Herzen und gefiel ihnen. Darauf entstand bald Sinnenlust, und diese Sinnenlust zeugte Eifersucht, und die Eifersucht Grausamkeit ... Oh, ich weiß nicht, ich erinnere mich nicht mehr, doch bald, sehr bald ward das erste Blut vergossen: sie waren zuerst nur erstaunt, dann erschraken sie aber und begannen, auseinander zu gehen und sich zu entzweien. Es entstanden Verbindungen, doch waren es bereits Verbindungen gegen einander. Es kam zu Vorwürfen und Beschuldigungen. Sie erkannten die Scham und erhoben die Scham zur Tugend. Es entstand der Begriff der Ehre und jede Gruppe sammelte sich unter einer besonderen Fahne. Sie fingen an, die Tiere zu quälen, und die Tiere entfernten sich von ihnen und verkrochen sich in den Wäldern und wurden ihnen feind. Es begann der Kampf um die Entzweiung, um die Absonderung, um die Persönlichkeit, um Mein und Dein. Sie fingen an, in verschiedenen Sprachen zu sprechen. Sie lernten das Leid kennen und gewannen es lieb, sie lechzten nach Qual und sagten, daß die Wahrheit sich nur durch Märtyrertum erkaufen lasse. Da kam die Wissenschaft zu ihnen. Als sie böse geworden waren, fingen sie an von Brüderschaft und Humanität zu sprechen und sie begriffen diese Ideen. Als sie Verbrecher wurden, erfanden sie die Gerechtigkeit und schrieben sich Kodexe vor, um sie zu erhalten, und zur Sicherstellung der Kodexe errichteten sie die Guillotine. Kaum, kaum erinnerten sie sich dessen, was sie verloren hatten, ja, sie wollten es fast nicht glauben, daß sie einmal schuldlos und glücklich gewesen waren. Sie lachten sogar über die Möglichkeit dieses ihres früheren Glücks und nannten es einen phantastischen Traum. Sie konnten sich diesen Zustand nicht einmal vorstellen, doch war dabei eines sonderbar: nachdem sie allen Glauben an das gewesene Glück verloren hatten und es ein Märchen nannten, wollten sie dermaßen gern wieder unschuldig und glücklich sein, daß sie vor den Wünschen ihres Herzens niederknieten wie Kinder, dieses Wünschen vergötterten, ihm Tempel bauten und zu ihrer eigenen Idee, ihrem eigenen „Wollen“ beteten, während sie dabei doch unerschütterlich an die Unerfüllbarkeit, Unverwirklichbarkeit derselben glaubten, trotzdem aber beteten sie sie weinend an und sanken sie vor ihr auf die Kniee. Und doch, – wenn es hätte geschehen können, daß sie zu diesem unschuldigen und glücklichen Zustand, den sie verloren hatten, wieder hätten zurückkehren können, wenn ihn jemand ihnen wiedergezeigt und sie gefragt hätte: wollt Ihr zu ihm zurückkehren? – so würden sie bestimmt nicht gewollt haben. Sie sagten mir: „Gut, mögen wir verlogen, böse, ungerecht sein, wir _wissen_ es und weinen darob, und quälen uns deswegen selbst, und martern uns und bestrafen uns dafür vielleicht mehr, als es jener barmherzige Richter tun würde, der uns einstmals in Zukunft richten wird, doch dessen Name uns unbekannt ist. Aber wir haben die Wissenschaft und durch sie werden wir von neuem die Wahrheit finden, doch werden wir sie dann bereits _bewußt_ annehmen. Das Wissen steht über dem Gefühl, die Erkenntnis des Lebens – steht über dem Leben. Die Wissenschaft wird uns allwissend machen, die Allwissenheit kennt alle Gesetze, die Kenntnis aber der Gesetze des Glücks – steht über dem Glück.“ Also sprachen sie zu mir, und nach solchen Worten wurde sich ein jeder von ihnen noch lieber, wurde sich ein jeder der liebste von allen, ja – hätte es doch anders überhaupt nicht geschehn oder sein können. Ein jeder wurde so eifersüchtig auf sein Ich, daß er das Ich seines Nächsten mit allen Mitteln zu erniedrigen, zu unterdrücken und zu verringern trachtete; und nur darin setzte er sein Leben voraus. Es entwickelte sich die Sklaverei, es gab sogar freiwillige Sklaven; die Schwachen unterwarfen sich gern den Starken, doch nur mit der einen Bedingung, daß jene ihnen halfen, die noch Schwächeren zu unterdrücken. Es kamen Propheten zu diesen Menschen, und weinend sprachen sie zu ihnen von ihrem Stolz, dem Verlust des Maßes und der Harmonie, über die Einbuße der Scham. Sie wurden verlacht und verspottet und schließlich gesteinigt. Heiliges Blut rann über die Schwellen der Tempel. Dafür aber kamen Menschen, die anfingen sich auszudenken: wie wäre es möglich, daß alle sich wieder vereinigten, daß ein jeder, ohne aufzuhören sich selbst am meisten zu lieben, zu gleicher Zeit keinen anderen störte, und daß somit wieder alle zusammen lebten, als ob sie eine einzige friedliche einmütige Gesellschaft wären. Es kam zu ganzen Kriegen wegen dieser Idee. Alle Kämpfer glaubten zu gleicher Zeit, daß die Wissenschaft, die Allwissenheit und der Trieb der Selbsterhaltung den Menschen schließlich zwingen würden, sich mit allen zu einer vernünftigen und einmütigen Gesellschaft zu vereinigen, darum aber trachteten die „Allweisen“ zur Beschleunigung der Sache alle „Nichtallweisen“ und die, die ihre Idee nicht begreifen konnten, auszurotten, auf daß sie ihren Sieg nicht verhinderten. Aber das Gefühl der allgemeinen Selbsterhaltung fing bald an abzunehmen, es kamen stolze Wollüstlinge, die offen entweder alles oder nichts verlangen. Man ging zu Freveltaten aller Art über, und wenn man durch sie nichts erreichte – zum Selbstmord. Es kamen Religionen mit dem Kult des Nichtseins und der Selbstzerstörung um willen der ewigen Ruhe im Nichts. Endlich aber ermüdeten diese Menschen in der sinnlosen Mühe und auf ihren Gesichtern erschien das Leid, und diese Menschen verkündeten: das Leiden ist Schönheit, denn nur im Leiden liegt ein Sinn. Und sie besangen das Leiden in ihren Liedern. Ich ging verstört unter ihnen umher, rang die Hände und weinte über sie, aber ich liebte sie vielleicht noch mehr als früher, als auf ihren Gesichtern noch kein Leid war und sie noch so unschuldig und so schön waren. Mir wurde die von ihnen entweihte Erde noch teurer denn früher als Paradies, und das nur, weil auf ihr das Leid erschienen war. Oh, ich habe immer das Leid und die Trauer geliebt, aber nur für mich, für mich! Da sie es aber hatten, weinte ich vor Mitleid über sie. Ich streckte ihnen meine Arme entgegen und in der Verzweiflung beschuldigte, verfluchte und verachtete ich mich. Ich sagte ihnen, daß ich alles getan hatte, daß ich die Schuld an allem trug, ich, ich allein! Daß ich ihnen Verderbnis, Pest und Lüge gebracht! Ich flehte sie an, mich zu kreuzigen, ich lehrte sie ein Kreuz zu zimmern und zu errichten. Ich konnte nicht mich selbst töten, ich hatte nicht die Kraft dazu, aber ich wollte von ihnen Qualen empfangen, ich lechzte nach Qualen, ich lechzte danach, daß in diesen Qualen mein Blut bis auf den letzten Tropfen vergossen würde! Sie aber lachten nur über mich und schließlich sagten sie mir, ich sei ein blödsinniger Narr. Sie verteidigten mich sogar; sie sagten, sie hätten bloß das bekommen, was sie sich selbst gewünscht, und das alles, was bei ihnen ist, überhaupt nicht hätte _nicht_ sein können. Und zum Schluß erklärten sie mir, daß ich für sie gefährlich wäre und sie mich in ein Irrenhaus einsperren würden, wenn ich nicht endlich aufhörte davon zu sprechen. Da wurde das Leid, das meine Seele durchdrang, so übergroß, daß mein Herz sich zusammenkrampfte, und ich fühlte, daß ich starb, und ... da erwachte ich aus meinem Traum. * * * * * Es war schon Morgen, das heißt, die Sonne war noch nicht aufgegangen: die Uhr war erst sechs. Ich erwachte in meinem Lehnstuhl, das Licht vor mir war schon ganz heruntergebrannt, im Nebenzimmer beim Hauptmann schlief man und es herrschte eine in unserer Wohnung seltene Stille. Zuerst sprang ich verwundert auf; noch nie war mit mir Ähnliches geschehen, selbst die kleinsten Dinge waren auffallend: z. B. war ich noch nie so im Lehnstuhl eingeschlafen. Und dann – während ich stand und zu mir kam, erblickte ich plötzlich meinen Revolver, den geladenen Revolver, – doch im selben Augenblick stieß ich ihn weit von mir! Oh, Leben, großes, heiliges Leben! Ich breitete meine Arme aus und rief die ewige Wahrheit an; ich schluchzte: Begeisterung, unermeßliche Begeisterung erhob mein ganzes Ich. Ja, Leben und – Verkünden! Das Verkünden beschloß ich in demselben Augenblick, – beschloß es für das ganze Leben! Ich gehe predigen, ich will verkünden – was? Die Wahrheit, denn ich habe sie gesehn, habe sie mit eigenen Augen gesehn, und habe ihre ganze Herrlichkeit erkannt! Und seit der Zeit verkünde ich! ... Ich liebe alle, und die, die über mich lachen, liebe ich am meisten. Warum ich diese mehr liebe – weiß ich nicht und ich kann es auch nicht erklären, aber mag es so sein. Sie sagen, daß ich mich schon jetzt verirre, – wenn ich mich aber schon jetzt so verirrt habe, was würde dann noch weiter geschehn? Ja, es ist wahrhaftig wahr: ich verirre mich und je weiter, desto schlimmer wird es vielleicht werden. Natürlich werde ich noch oftmals fehlgehn, bevor ich es erlernen werde, wie man predigen muß, d. h. mit welchen Worten und welchen Taten, denn es ist schwer, das zu erfüllen. Es ist mir ja jetzt schon so klar wie der Tag, aber hört mal: wer irrt sich denn nicht? Und dabei streben doch alle zu ein und demselben, alle, angefangen vom Weisen bis zum letzten Verbrecher, nur tun sie es auf verschiedenen Wegen. Das ist eine alte Wahrheit, doch eines ist hierbei neu: ich kann mich ja gar nicht so sehr verirren. Denn ich habe doch die Wahrheit gesehn, ich weiß, daß die Menschen schön und glücklich sein können, ohne dabei die Fähigkeiten auf der Erde zu leben, verloren zu haben. Ich will nicht und ich kann auch nicht glauben, daß das Böse der Normalzustand der Menschen sei. Sie aber lachen ja nur über diesen meinen Glauben! Aber wie soll man mir denn nicht glauben! Ich habe die Wahrheit gesehn, – nicht, daß ich sie mit meinem Verstande erfunden hätte, nein, ich habe sie gesehn, gesehn, und ihr _lebendiges Angesicht_ hat meine Seele bis in alle Ewigkeit erfüllt. Ich sah sie in solch einer vollendeten Ganzheit, – wie soll ich nun glauben, daß es diese Wahrheit nicht auch bei den Menschen geben kann? Und wie, wie soll ich mich denn verirren? Vielleicht werde ich etwas vom Wege abgeraten, vielleicht sogar mit fremden Worten sprechen, aber nicht lange: das lebendige Ebenbild dessen, was ich gesehn, wird ewig in mir sein und mich führen und leiten. Oh, ich bin mutig und guter Hoffnung und ich gehe und gehe und wenn auch auf tausend Jahr. Wißt, ich wollte es zuerst sogar verheimlichen, daß ich sie alle verdorben hatte, aber das wäre ein Fehler von mir gewesen, – da hätten wir schon den ersten Fehler! Doch die Wahrheit flüsterte mir zu, daß ich log und bewahrte mich vor der Verirrung und lenkte mich auf den rechten Weg. Wie aber das Paradies errichten, das weiß ich nicht, denn ich kann es nicht in Worten wiedergeben. Nach meinem Traum habe ich die Worte verloren. Wenigstens alle notwendigen Worte, die nötigsten. Doch mag es sein; ich werde gehen und verkünden, unermüdlich verkünden, denn ich habe es doch immerhin mit eigenen Augen gesehn, wenn ich es auch nicht wiedergeben kann, was ich gesehn habe. Aber das ist es ja gerade, was die Spötter nicht begreifen können. „Hat einen Traum gehabt, wie er sagt, irgend ein Fieberwahnbild, Halluzination.“ Ach! Ist denn das weise? Und wie stolz sie dabei sind. Ein Traum? Was ist ein Traum? Ist denn unser Leben kein Traum? Wartet, ich werde Euch noch mehr sagen! Gut, nun gut, das wird niemals in Erfüllung gehn und das Paradies wird sich nie verwirklichen (das sehe ich doch selbst ein!) – gut, aber ich werde doch verkünden. Und trotzdem, wie einfach wäre es: in einem Tage, _in einer einzigen Stunde_ – würde sich alles verwandeln! Liebe die Menschheit wie Dich selbst! – das ist das ganze, das ist alles, weiter ist nichts mehr nötig: sofort wirst Du wissen, wie Du leben sollst. Und währenddessen ist das ja doch nur eine – alte, ganz alte Wahrheit, die aber- und abertausendmal wiederholt worden ist, und doch hat sie sich nirgendwo eingelebt! „Die Erkenntnis des Lebens – ist höher als das Leben, die Erkenntnis der Gesetze des Glücks – ist höher als das Glück“ – das ist es, womit man kämpfen muß! Und ich werde es. Wenn nur alle _wollten_, so würde sich sofort alles auf Erden verändern. * * * * * Aber jenes kleine Mädchen habe ich doch aufgesucht ... Und jetzt gehe ich. Und jetzt gehe ich ... Fußnoten. [1] Natürlich sind beide, sowohl der Autor wie die Aufzeichnungen, von mir erdacht. Doch nichtsdestoweniger kann es solche Leute, wie den Verfasser dieser Aufzeichnungen, oder richtiger, muß es sogar solche Leute in unserer Gesellschaft geben, wenn man die Verhältnisse, unter denen sich unsere Gesellschaft gebildet hat, in Betracht zieht. Ich wollte dem Leser einen Menschen vorführen, der von den anderen Leuten etwas absticht, einen Charakter aus der jüngst vergangenen Zeit – einen der Vertreter der jetzt erst ihr Leben allmählich beschließenden Generation. In diesem ersten Teil – „Das Dunkel“ betitelt – empfiehlt er zuerst sich selbst und seine Anschauungen, und will gewissermaßen die Gründe erklären, warum er zu uns gekommen ist oder warum er zu uns hat kommen müssen. Erst im zweiten Teil – „Bei nassem Schnee“ – bringe ich die wirklichen „Aufzeichnungen“ einiger seiner Erlebnisse. Fedor Dostojewski. [2] Anführer des Kosakenaufstandes von 1667-1671, wurde 71 hingerichtet. E. K. R. [3] Der sogenannte Heumarkt in Petersburg. E. K. R. [4] Stadtteil in Petersburg. E. K. R. [5] Berühmter russischer Klown und Akrobat. E. K. R. [6] Berüchtigtes Nachtasyl am großen „Heumarkt“. E. K. R. [7] In Rußland wird der Sarg erst kurz vor der Versenkung in die Gruft geschlossen. E. K. R. [8] Tag der ersten Seelenmesse. [9] Gericht mit Honig und Rosinen, das bei der Totenfeier zum Einsegnen in die Kirche gebracht wird. E. K. R. Anmerkungen zur Transkription. Die „Sämtlichen Werke“ erschienen in der hier verwendeten ursprünglichen Fassung der Übersetzung von E. K. Rahsin in mehreren Auflagen und Ausgaben 1906–1922 im Piper-Verlag. Dieses Buch wurde transkribiert nach: F. M. Dostojewski: Sämtliche Werke. Zweite Abteilung: Zwanzigster Band R. Piper & Co. Verlag, München und Leipzig, 1907. Die Anordnung der Titelinformationen wurde innerhalb der „Sämtlichen Werke“ vereinheitlicht und entspricht nicht der Anordnung in den ursprünglichen Ausgaben. Alle editionsspezifischen Angaben wie Jahr, Copyright, Auflage usw. sind aber erhalten und wurden gesammelt direkt nach der Titelseite eingefügt. Fußnoten wurden am Ende des Buches gesammelt. Wiederholungen der Überschriften an den Anfängen der jeweiligen Novellen wurden entfernt. Zu den Anführungszeichen: Gespräche wurden in doppelte Anführungszeichen („“) eingeschlossen. Die Wiedergabe von Äußerungen anderer innerhalb von Gesprächen wurde in einfache Anführungszeichen (‚‘) eingeschlossen. Besonderheiten der Transliteration russischer Begriffe und Namen: Der Buchstabe „ä“ (oder auch „jä“) steht für den kyrillischen Buchstaben „ja“. Die Schreibweise häufig vorkommender Namen und Begriffe wurde vereinheitlicht (nicht verwendete Varianten in Klammern): Klinewitsch (Klinéwitsch) Newsky (Newski) Ssemjon (Semjon) Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Weitere Änderungen sind hier aufgeführt (vorher/nachher): [S. 22]: ... viel Tränen, und – versteht sich – betrog mich ... ... viele Tränen, und – versteht sich – betrog mich ... [S. 261]: ... werden daher in diesen Tagen umziehen, so daß ich wohl ... ... werde daher in diesen Tagen umziehen, so daß ich wohl ... *** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK SÄMTLICHE WERKE 20: AUS DEM DUNKEL DER GROSSSTADT *** Updated editions will replace the previous one—the old editions will be renamed. Creating the works from print editions not protected by U.S. copyright law means that no one owns a United States copyright in these works, so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United States without permission and without paying copyright royalties. Special rules, set forth in the General Terms of Use part of this license, apply to copying and distributing Project Gutenberg™ electronic works to protect the PROJECT GUTENBERG™ concept and trademark. 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START: FULL LICENSE THE FULL PROJECT GUTENBERG LICENSE PLEASE READ THIS BEFORE YOU DISTRIBUTE OR USE THIS WORK To protect the Project Gutenberg™ mission of promoting the free distribution of electronic works, by using or distributing this work (or any other work associated in any way with the phrase “Project Gutenberg”), you agree to comply with all the terms of the Full Project Gutenberg™ License available with this file or online at www.gutenberg.org/license. Section 1. General Terms of Use and Redistributing Project Gutenberg™ electronic works 1.A. By reading or using any part of this Project Gutenberg™ electronic work, you indicate that you have read, understand, agree to and accept all the terms of this license and intellectual property (trademark/copyright) agreement. If you do not agree to abide by all the terms of this agreement, you must cease using and return or destroy all copies of Project Gutenberg™ electronic works in your possession. 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It exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from people in all walks of life. Volunteers and financial support to provide volunteers with the assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg™’s goals and ensuring that the Project Gutenberg™ collection will remain freely available for generations to come. In 2001, the Project Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure and permanent future for Project Gutenberg™ and future generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4 and the Foundation information page at www.gutenberg.org. Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non-profit 501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal Revenue Service. The Foundation’s EIN or federal tax identification number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by U.S. federal laws and your state’s laws. The Foundation’s business office is located at 809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up to date contact information can be found at the Foundation’s website and official page at www.gutenberg.org/contact Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation Project Gutenberg™ depends upon and cannot survive without widespread public support and donations to carry out its mission of increasing the number of public domain and licensed works that can be freely distributed in machine-readable form accessible by the widest array of equipment including outdated equipment. Many small donations ($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt status with the IRS. The Foundation is committed to complying with the laws regulating charities and charitable donations in all 50 states of the United States. Compliance requirements are not uniform and it takes a considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up with these requirements. We do not solicit donations in locations where we have not received written confirmation of compliance. To SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any particular state visit www.gutenberg.org/donate. While we cannot and do not solicit contributions from states where we have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition against accepting unsolicited donations from donors in such states who approach us with offers to donate. International donations are gratefully accepted, but we cannot make any statements concerning tax treatment of donations received from outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff. Please check the Project Gutenberg web pages for current donation methods and addresses. Donations are accepted in a number of other ways including checks, online payments and credit card donations. To donate, please visit: www.gutenberg.org/donate. Section 5. General Information About Project Gutenberg™ electronic works Professor Michael S. Hart was the originator of the Project Gutenberg™ concept of a library of electronic works that could be freely shared with anyone. For forty years, he produced and distributed Project Gutenberg™ eBooks with only a loose network of volunteer support. Project Gutenberg™ eBooks are often created from several printed editions, all of which are confirmed as not protected by copyright in the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper edition. Most people start at our website which has the main PG search facility: www.gutenberg.org. This website includes information about Project Gutenberg™, including how to make donations to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks.