Sämtliche Werke 20: Aus dem Dunkel der Großstadt : Acht Novellen

By Dostoyevsky

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Title: Sämtliche Werke 20: Aus dem Dunkel der Großstadt
        Acht Novellen

Author: Fyodor Dostoyevsky

Contributor: Dmitriĭ Vladimirovich Filosofov
        Dmitry Sergeyevich Merezhkovsky

Editor: Arthur Moeller van den Bruck

Translator: E. K. Rahsin

Release date: August 10, 2025 [eBook #76662]

Language: German

Original publication: München: Piper, 1907

Credits: Alexander Bauer and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net


*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK SÄMTLICHE WERKE 20: AUS DEM DUNKEL DER GROSSSTADT ***


                   F. M. Dostojewski: Sämtliche Werke

           Unter Mitarbeiterschaft von Dmitri Mereschkowski,
                    Dmitri Philossophoff und anderen
                herausgegeben von Moeller van den Bruck

                      Übertragen von E. K. Rahsin


                   Zweite Abteilung: Zwanzigster Band


                           F. M. Dostojewski




                                Aus dem
                          Dunkel der Großstadt


                             Acht Novellen

                          München und Leipzig
                            R. Piper u. Co.
                                  1907


            R. Piper & Co. Verlag, München und Leipzig, 1907


          Petersburg ist die abstrakteste und künstlichste Stadt der
          Welt.

                                                        _Dostojewski._




                            Zur Einführung.


        Bemerkungen über Dostojewski als Dichter der Großstadt.

Die Großstadt ist der Kampfplatz des modernen Lebens, sie ist die große
Siegesstätte und zugleich die große Schädelstätte der modernen
Menschheit. Auch wenn man die Großstadt vor dem allgemeinen Hintergrund
des ganzen Volkes sieht und sich durchaus darüber klar ist, daß die
nährenden, die schöpferischen Kräfte gerade des Lebens unserer Zeit nach
wie vor im Lande liegen, in dem weiten, breiten, fruchtbaren Schooß der
vielen Millionen, gegen die auch die größte Großstadt doch immer nur
einen Bruchteil aufzuweisen hat – auch dann bleibt die Großstadt doch
noch etwas ganz Besonderes. Sie zeigt Seiten des modernen Lebens doppelt
charakteristisch ausgeprägt. Sie ist das Musterbeispiel aller neuen
Erfindung und Erfahrung. Sie ist gleichsam die zivilisatorische
Versuchsstation der Epoche, der Schmelzofen der Werte, das Bassin des
Erdenkraters, aus dem die Erde ihre neuen Menschen und Werke dichter,
gedrängter herausschleudert. Draußen auf dem Lande geht die schwere,
ruhige, gleichmäßige Weiterentwickelung der Nation vor sich, erneut sich
ihr unerschöpflicher Menschen- und Kräftereichtum, der das Ganze
zusammenhält und immer wieder spendet und spendet. Drinnen in der
Großstadt aber werden die Kämpfe der Zeit ausgefochten, spitzen die
Probleme sich zu, finden ihre Lösung oder brechen aus im Konflikt. Hier
wird jene Nähe aller Ferne am deutlichsten empfunden, die wir den
modernen Verkehrsmitteln verdanken. Hier liegt die Kreuzung aller Züge,
der Treffpunkt aller Wege, der Austausch von Völkern und Erdteilen. Hier
strahlt das elektrische Licht heller als anderswo, hier ist auch in der
Nacht unausgesetzt Tag, hier stehen Arbeit und Genuß, Not und Glanz samt
allen Lastern der Zeit am gefährlichsten nebeneinander. Die Menschen der
Großstadt haben etwas voraus vor anderen Menschen, sie sind Pioniere und
Märtyrer zugleich, die die überraschenden Wandlungen mit vermehrter
Nervenanspannung aushalten mußten. Generationen auf Generationen wurden
in der Großstadt eingesetzt, Lücken wurden gerissen und Opfer gebracht,
und doch fanden sich immer wieder Neue, die kühn in das Unbekannte der
modernen Kultur vordrangen, die wir alle suchen. Gewiß wird unsere
Kultur dereinst von dem ganzen Lande gelten, von jedem Gau, dessen
Menschen an ihr mitgearbeitet haben. Vielleicht werden sogar ihre
tiefsten und mächtigsten Werke, diejenigen welche dann über die ganze
Welt sich erstrecken und das Ewige ausdrücken, ursprünglich aus den
stillen Winkeln irgend einer engeren Heimat kommen – aber die
eigentlichen Kulturformen, die modernen Kunstformen, die neuen
Stilformen werden doch immer und überall in irgend einer Weise
diejenigen sein, welche die Großstadt zuerst als Lebensformen
ausgebildet hat.

                   *       *       *       *       *

In die moderne Dichtung hat sich der Gegensatz von Land und Großstadt
früh schon hineingezogen; nirgendwo schärfer als dort, wo der Gegensatz
auch im Leben heftig und unvermittelt einsetzte: als in Rußland und der
russischen Dichtung. Beinahe unmittelbar lösten hier patriarchalische
Verfassung und moderne, europäische Kultur einander ab. Beinahe
übergangslos folgten hier Vergangenheit und Zukunft auf einander, indes
keine oder doch nur eine halbe, unausgesprochene, zerrissene Gegenwart
da war, die vermitteln konnte. Es wurde der Gegensatz von Tolstoi und
Dostojewski. Beide wuchsen durch ihn zu monumentalen Erscheinungen aus.
Der eine, indem er die ganze robuste Volks- und Urkraft in sich
aufspeicherte, die im flachen Lande, im Leben des russischen Bauern und
des russischen Landadels liegt, und die er dann in seinen Romanen in
Kapiteln vorführte, die fast die Ruhe und den Fluß homerischer Gesänge
hatten. Und der andere, indem er all das Fieber aufnahm, das von der
Stadt Peters des Großen aufstieg, und all das Grauen und den Wahnsinn,
all den Schmerz und das Elend versammelte, die das Leben ihrer neuen
Menschen erfüllen. Monumentalität ist immer in irgend einer Weise
Überpersönlichkeit, ist Ausdruck nicht so sehr des einzelnen Dichters,
als Ausdruck des massiven Lebens der Vielen, der Menge, des ganzen
Volkes, oder doch eines bestimmten und immer eines beträchtlichen Teiles
desselben. Die Monumentalität Tolstois wie Dostojewskis ist von dieser
Art. Nur das ist der Unterschied, daß die Monumentalität der Natur, vor
der wir bei Tolstoi stehen, im Grunde wieder die alte, große, ewige ist,
während die Monumentalität der Großstadt, die Dostojewski erreichte, ein
Neues, Kühnes, Unerhörtes war. Wir wußten bereits, daß die ewigen
Wahrheiten starker und gesunder Liebe monumental gestaltet werden
konnten, die großen Verhältnisse von Herr und Knecht, die von allen
Zeiten gelten, die schlichten einfachen Daseinsbeziehungen schlichter
einfacher Menschen, die so riesig wirken, weil sie das gerade
herausgegriffene Beispiel von Millionen sind. Aber wir wußten noch
nicht, daß auch aus dem modernen Leben, all seinen ungewohnten
Verhältnissen, absonderlichen Menschen, seltsamen Schicksalen, all
seinen ungeahnten Tragödien und unheimlichen Problemen diese gewaltigen
Wirklichkeitsfresken zu malen waren. Eine Monumentalität der modernen
Großstadtdichtung: die gibt es erst von Dostojewski an.

                   *       *       *       *       *

Wohl haben auch die Dichter anderer Länder die Großstadt geschildert.
Man könnte vor allem an Amerika denken, wo sich der Übergang von dem
patriarchalischen Leben, das dort die Kolonisten führten, zur modernen
Zivilisation, wenn auch im Einzelnen natürlich unter ganz anderen
Lebenserscheinungen, ähnlich rapid vollzog wie in Rußland. Doch die
amerikanischen Großstädte, die in ihrer kalten Klarheit der Anlage und
bei dem ungeheuren Raum, der für ihre noch immer weitere Ausdehnung
vorhanden ist, immer mehr ins Riesenhafte wachsen, scheinen nicht von
einer schildernden, sondern nur von einer peripherischen, fast möchte
man sagen einer geographischen Phantasie erfaßt werden zu können.
Deshalb näherte sich ihnen Walt Whitman nur von Ferne, wie ein greiser
Seher, der die Hand über die Augen hob und die Stätte der Menschen
schaute. Weit, weit am Horizont liegen bei ihm Boston und Newyork, dazu
unter indianischem Namen, obwohl gerade Walt Whitman sonst das moderne
Wort nicht scheut, und nur selten führt er, wenn er die Städte auch
liebt und preist, bis hin in ihre Straßen. Poe dagegen, der in diesen
Städten leben mußte, ging an ihnen zu Grunde, als der einzelne
Schwärmer, der ihrem Leben nicht gewachsen war. Doch hat gerade Poe
einmal, im „Mann der Menge“, den Geist der Großstadt symbolisch gefaßt
wie ein wandelndes Gespenst und eine Geschichte aus ihr gebildet, die
ihr mächtiger Ausdruck sein wird, solange es eine Großstadt gibt. Nur
war Poe deshalb noch nicht monumental in dem Sinne, wie es Dostojewski,
der Großstadtschilderer, ist. Zwar könnte man schon, im Vergleiche des
Menschlichen, in Walt Whitman einen amerikanischen Tolstoi und in Poe
einen amerikanischen Dostojewski sehen. Auch Poe ist der Mensch, der
unter der Großstadt leidet, obwohl er beinahe nur in _ihr_ leben kann,
der Mensch der nervösen, tragischen, kataleptischen Seele. Aber
künstlerisch fehlt doch jene Allgemeingültigkeit, die Dostojewski so
groß macht, seine Erscheinung bleibt problematisch und statt Schilderung
ist alles Bekenntnis. Hinzukommt, daß Poe den Großstadtmenschen fast
durchweg romantisch verkleidete. Seine Novellen sind wie Träume eines
Mannes, der mitten in grauer und ihn schreckender Wirklichkeit steht und
sich hinüberphantasiert in reinere Gefilde. Darin zeigte sich noch der
Byronismus in Poe, während Dostojewski in Rußland Byronismus und
Romantik mit Puschkin schon erledigt fand. Immerhin verspürt man bei
Poe, nicht aus gewaltiger Ferne, wie bei Walt Whitman, sondern aus
unheimlicher Nähe, etwas von dem Geist der modernen Großstadt. Nur
braucht es nicht unbedingt die amerikanische Großstadt zu sein: nicht
das Pionierhafte, nur das Gespenstische des Amerikanertums hat Poe
begriffen, und bezeichnend ist, daß gerade sein „Mann der Menge“ von ihm
nach London verlegt wurde. England selbst, dem die romantische, die
allegorisch-mystische, prärafaelitische Hälfte von Poes Seele noch
angehörte, hat überhaupt keine Großstadtkunst hervorgebracht, obwohl es
in London früh schon, bereits im siebzehnten Jahrhundert, eine Stadt mit
modernem Großstadtcharakter ausbildete und im alten Defoe auch schon
einen kräftigen Großstadtschilderer, den ersten modernen überhaupt,
bekam. Aber auf Defoe folgte kein ebenbürtiger Gestalter mehr, nur noch
platte und rührselige Skribenten. Selbst Dickens ist schließlich nur ein
Unterhaltungsschriftsteller, kein Künstler, und Wilde, der eher ein
Künstler war, ist gerade als Großstadtschilderer nur eine Wiederholung
von Poe. Nicht ganz so versagte Frankreich vor dem Problem der
Großstadtschilderung. Zwar ist Paris gar keine eigentliche und
einheitliche Großstadt, sondern eine Metropole, die zusammengesetzt ist
aus alten und neuen, bald beinahe romantischen, bald bourgoisen, bald
mondainen Quartiers und Faubourgs. Aber von den Lyrikern waren doch
Verlaine und Rimbaud echte Großstadterscheinungen, und von den
Romanciers hat Zola in gar manchem Roman wenigstens die Monumentalität
einer Massenwirkung erreicht, wie es denn auch durchaus folgerichtig
war, daß er vor dem Thema „Paris“ als Ganzem versagte, und sein Bestes
immer nur in Ausschnitten gab, in Romanen, die er aus dem Leben der
Künstlerwelt, der Hallen, der großen Magazine zog. An Deutschland
dagegen scheint das Problem der Großstadtschilderung überhaupt noch
nicht herangekommen zu sein. Man mag das mit dem engen Zusammenhang
erklären, den der Deutsche nach wie vor zur Natur haben muß, wenn er
schöpferisch sein soll. Jedenfalls haben unsere Persönlichkeiten,
Liliencron, Dehmel, Hauptmann, Frenssen, die stärksten Wurzeln ihrer
Kraft in der Heimat, im Rahmen der deutschen Landschaft. Nur Schlaf hat
einmal den großangelegten Versuch gemacht, Berlin wenigstens als
Panorama zu geben. Entziehen können wir uns dem Problem nicht. Wir sind
nun einmal in unserem Leben wie kein zweites Leben das Volk der
Großstädte. So werden wir es, bei der Wechselbeziehung zwischen beiden,
auch in unserer Dichtung sein und irgend eine individuelle Lösung finden
müssen. Im übrigen liegt die Schuld nicht so sehr an den Dichtern, als
an unseren Großstädten selbst. Denn es hat einen inneren Grund, ob eine
Großstadt ihren Dichter findet, und welchen, und wann. Die Städte
bekommen ihren Dichter genau in dem Augenblick, in dem sie ihren
Charakter bekommen. Es ist fast ein geschichtliches Zeugnis, das sich
eine Stadt damit ausstellt, daß sie ihren Dichter hervorbringt. Sie
zeigt damit an, daß sie herausgetreten ist aus der Periode der
Vorbereitung, und von nun an als ein geschlossenes Ganzes betrachtet
werden kann. Unsere deutschen Städte aber sind noch nicht fertig, selbst
Berlin ist es noch nicht. Eine große Bestimmung liegt vor ihnen. Einen
ganz neuen Städtestil gilt es zu entwickeln, dem europäischen Kontinent
die neue Welthauptstadt zu schaffen. Und da ist es denn klar, daß erst
zusammen mit der Erfüllung dieser Bestimmung einer Stadt wie Berlin ihr
Dichter erscheinen wird. So bleibt, wie seltsam es klingen mag,
vorläufig Rußland das einzige Land, in dem Großstadt und Dichter sich
bereits zusammengefunden haben – Petersburg und Dostojewski.

                   *       *       *       *       *

Petersburg ist die Tragödie Rußlands, und diese Tragödie hat Dostojewski
ausgedrückt. Man kann nicht sagen, daß Petersburg einen bestimmten
Charakter habe, und erst recht hat es, ganz ungleich Moskau darin,
keinen bestimmten Stil. Petersburg ist verkörperte, Stadt gewordene
Idee. Wenn man seinen Charakter suchen wollte, so würde man ihn finden
in einer ewigen Unfertigkeit, und seinen Stil in einer rein äußerlich
bleibenden Einbeziehung so ziemlich sämtlicher Stile. Petersburg ist
etwas anderes: Petersburg ist Geist, Problem, Phantasie. Auf eine Idee
hin wurde es von Peter dem Großen aufgebaut, mitten in den Sumpf hinein,
eine sozusagen befohlene Stadt, die nur die politische Berechtigung
hatte, daß durch sie Rußland an die Ostsee gebracht wurde, und die
alsbald mit einem Heer von Hofbediensteten, Staatsarbeitern, Beamten,
Offizieren pöpliert wurde. Solange Petersburg im siebzehnten und
achtzehnten Jahrhundert kaum mehr als eine große Residenz war, mochte
Rußland sich bei dieser Schöpfung beruhigen, obwohl die Rivalität mit
Moskau früh schon bedenkliche Formen annahm. Gefährlich, verhängnisvoll
wurde die Stellung Petersburgs erst, als im neunzehnten Jahrhundert
Rußland immer entschiedener in die Reihe der europäischen Großmächte
hineindrängte, als Petersburg jäh aufschoß, in eine für Rußland zunächst
unnatürliche moderne Entwicklung hineingezogen wurde und gleichfalls
seinen Platz unter den europäischen Großstädten beanspruchte. Von da an
war an Petersburg Alles dunkel und ungewiß. Ungewiß war jetzt nicht mehr
bloß der schwankende Wassergrund, auf dem es ruht und in den es jeden
Augenblick versinken kann. Ungewiß war seine ganze Zukunft, seine
kulturelle, seine politische. Jetzt zeigte sich, wie das russische Volk
an Petersburg litt. Wohl ist es seine offizielle Hauptstadt, doch das
russische Volk drängt nach Moskau, der alten organischen, zurück, und
noch über Moskau hinaus. Rußland sucht erst seine wahre Hauptstadt, wie
es seine politische Form erst sucht. Möglich, daß Rußland groß erst
werden wird, wenn der Nationalitätenkoloß, der es heute ist, dereinst
auseinanderfällt und aus ihm ein reines Rußland reiner Russen
hervorgeht. So steht ganz Rußland in einem Übergang, und die Stadt
dieser Übergangszeit ist Petersburg. Es kann sterben, wie Ravenna und
Brügge gestorben sind, es kann auch noch immer weiter wachsen – es wird
stets etwas Beängstigendes, Verhängnisvolles, Unseliges über sich haben.
Nicht anders als so, in dieser Mystik von Nebel, Tod und Schrecken, hat
es Dostojewski aufgefaßt. Sein Petersburg, das ist das Fatum des ganzen
Landes und Volkes, das ist das Rußland, das bei sich zu Hause Europa
kopiert, das Rußland, das da Weltmacht sein will und doch immer wieder
darauf gestoßen wird, daß es nur eine russische, eine slawische
Bestimmung hat, das Rußland, das die glänzendste Aristokratie, die
ausgebildetste Bürokratie besitzt und zugleich draußen im flachen Lande
viele, viele Millionen, die nicht lesen und nicht schreiben können, und
die doch zugleich seine treueste, seine fast unsterbliche seelische und
auch körperliche Kraft sind. Jedenfalls ist es gerade die ihm
geschichtlich aufgezwungene russische Rolle, die so tragisch an
Petersburg ist. Die „künstlichste und abstrakteste“ Stadt hat
Dostojewski Petersburg genannt, und tragisch hat er es geschildert.

                   *       *       *       *       *

Man kann Großstadt auf zweierlei Weise schildern: als Ort und Stimmung,
malerisch gleichsam, und in den Menschen, psychologisch. Dostojewski hat
beides getan. Sein Petersburg, das ist wirklich die kalte nordische
Stadt mit den Farben schneeweiß und feuchtgrau, deren Winter acht Monate
währt und über der dann die Sonne nur selten steht, hängend, wie ein
blaßroter Schwamm, ohne Strahlen, und deren helle Frühlingsnächte
sehnsüchtig und verträumt wie die Jugend Petersburgs selbst zu sein
scheinen. Auf diesem vagen gespensterhaften Hintergrunde hat Dostojewski
das Leben der Großstadt geschildert, ihr gewaltiges Hin und Her, ihren
ungeheuren Lärm, und doch die furchtbare, die unheimliche Stille
wiederum mitten im Geräusch. Aber dann war Dostojewski doch vor allem
ein Menschenschilderer. Die Menge der Typen, Silhouetten, Physiognomien,
die er in seinem Gesamtwerk vorführt, ist endlos, unzählbar,
unübersehbar. Aus jedem Hause Petersburgs scheint eine Gestalt
herauszugehen, die wir kennen lernen. Einmal, in der Figur des
Raskolnikoff, hat er den Helden ihrer furchtbaren moralischen Kämpfe und
Krisen gefunden. Andere Gestalten in anderen Werken ergänzen ihn. Wir
sehen von ihnen einen ganzen Zug tragischer Jünglinge, deren Gestalten
schließlich in der Ferne Sibiriens verschwinden. Und um die Jünglinge
gruppieren sich die Frauen, Studentinnen, Heldinnen, die, wenn es
nottut, für ihre Idee zu sterben wissen. Schwer dazwischen schieben sich
die dicken Figuren von Spießbürgern. Offiziere und Beamte, hohe und
niedere, anmaßende und gedrückte, lernen wir kennen. Dazu die Menge der
Verkommenen einer Großstadt, der Gescheiterten und Verlorenen aller Art,
der Menschen, Männer und Frauen, mit dem oft tief rührenden
zersprungenen Klang auch in Not noch und Schande. Als eine
Übergangsstadt hat Dostojewski Petersburg geschildert, von
Übergangsmenschen bewohnt, von vielen, vielen Unglücklichen, Suchenden,
Irrenden, die mitten in Rußlands Hauptstadt aus Rußland wie verbannt zu
sein scheinen und den Sinn ihres Lebens, so sehr sie auch suchen mögen,
nicht finden können. Dostojewski hat damit die Großstadt überhaupt
geschildert. Denn sind die Großstadtmenschen nicht alle in irgend einer
Weise Übergangsmenschen, vielleicht nicht so verzweifelte,
aussichtslose, doppelt scharf und unheilvoll ausgeprägte wie in Rußland,
aber doch immer solche, heute wenigstens und fürs erste, die noch nicht
den Punkt gefunden haben, auf dem sie zu stehen vermögen? und den Platz
noch nicht, auf dem sie ruhig leben und arbeiten können?

                   *       *       *       *       *

Woher wird die Erlösung für alle diese Menschen kommen? Irgendwoher muß
sie kommen, das hat auch Dostojewski gewußt, und im Grunde handelt sein
ganzes mächtiges Werk von nichts als den Erlösungsmöglichkeiten der
Menschheit. Er hat verschiedene Antworten gegeben, er hat oft an das
flache Land gedacht, an die Rückkehr zur Natur, zur Rasse und dem
schlichten starken Gott der Väter. Aber schließlich weiß er doch immer
wieder zu sagen, und dadurch unterscheidet er sich von Tolstoi, daß
gerade aus der Großstadt, aus all ihrem Leid und Wirrsal, durch das wir
nun einmal hindurch müssen, nachdem wir es uns selbst geschaffen, die
Erlösung für uns kommen wird, daß gerade aus diesen blassen und eilenden
Menschen, die grau in grau durch die feuchten asphaltierten Straßen
ziehen, sich eines Tages, wenn die Not zu gewaltig, unerträglich
geworden ist, die Gestalt eines neuen Heilandes für uns ablösen wird.
Für Tolstoi und seine Bauern genügte Christus, derselbe Christus, den
wir nun schon seit zwei Jahrtausenden aus der Überlieferung kennen. Auch
Dostojewski denkt an Christus, er hat selbst ein Buch über Christus
schreiben wollen, und vielleicht wäre er der einzige Mensch gewesen, der
es je gekonnt hätte. Aber wenn Dostojewski von Heil und Erlösung
spricht, so ist es doch stets die Gestalt eines neuen, eines russischen,
eines modernen Christus, hervorgegangen aus dem Leben der Menschen von
Heute. Dostojewski hat nicht zu allegorischen oder symbolischen Mitteln
zu greifen brauchen, um diesen Zug zur Erlösung auszudrücken, der durch
unsere Zeit geht. Die Wirklichkeit, die ihn umgab, genügte ihm durchaus.
Gar mancher unscheinbare Mensch, den er schilderte, trägt bereits
Heilandszüge, und aus seinem ganzen Werke steigt es schon auf wie Tod
und Verklärung gerade der Großstadt.

                                              _Moeller van den Bruck._




                                Vorwort.


Der Band enthält drei Jugendnovellen Dostojewskis: „Der Herr
Prochartschin“ – „Polsunkoff“ – „Der ehrliche Dieb“, die erste aus dem
Jahre 1846, die beiden letzteren aus dem Jahre 1848. Ferner sind da zwei
Novellen des mittleren Dostojewski: „Eine dumme Geschichte“ aus dem
Jahre 1862, und „Aus dem Dunkel der Großstadt“ aus dem Jahre 1864, beide
geschrieben in der Zeit nach der Rückkehr Dostojewskis aus Sibirien.
Schließlich folgen drei Novellen des späteren Dostojewski, die „Letzten
Novellen“: „Bobock“ aus dem Jahre 1873, „Die Kleine“ aus dem Jahre 1876
und „Der Traum eines lächerlichen Menschen“ aus dem Jahre 1877. Die
Zusammenstellung geschah unter dem Gesichtspunkte, daß alle Novellen in
der Großstadt spielen und speziell Petersburg zum Hintergrund haben.
Dieser Gesichtspunkt gab zugleich die Berechtigung, dem Bande die größte
und wichtigste Novelle voranzustellen und ihm ihren Titel
vorzuschreiben: „Aus dem Dunkel der Großstadt“.

Eine wörtliche Übertragung des russischen Titels dieser Novelle ging
nicht an. Der russische Titel vereinigt in der Art, wie er von
Dostojewski geprägt und zweifellos auch gedacht ist, das soziale und
seelische Milieu in einem einzigen knappen Wort. Die deutsche Sprache
bietet zu einer derartigen Vereinigung nicht die Möglichkeit. Das lokale
Milieu allein würde etwa die Übertragung „Aus dem dunkelsten Winkel der
Großstadt“ bedingen. Es klingt sozial, doch Soziales liegt der Novelle
nur im allergeringsten Maße zu Grunde. Das seelische Milieu dagegen
würde etwa eine Übertragung verlangen wie: „Aus dem dunkelsten Innern
des Großstadtmenschen“. Aber hier wird wiederum das Intim-Persönliche zu
stark betont. Einen Ausweg bot schließlich der gewählte Titel, der
innerlich und seelisch ist, dabei den Ort angibt, und doch den Ort nicht
zu realistisch-genau bezeichnet.

Die hier als „Letzte Novellen“ zusammengefaßten Erzählungen hat
Dostojewski nicht als solche veröffentlicht. Sie stehen im „Tagebuch
eines Schriftstellers aus dem Jahre 1873“, bezw. 1876, bezw. 1877,
eingerahmt von literarischen und politischen Aufsätzen Dostojewskis.
Ihre Entstehungszeit, die zwischen „Die Dämonen“ und „Die Brüder
Karamasoff“ fällt, verbürgt schon ihren außerordentlichen Wert im Werke
Dostojewskis. In der Tat gehört „Die Kleine“, die da wirkt wie ein
lebendiges Heiligenbild aus dem modernen Petersburg, zu dem Schönsten,
und „Der Traum eines lächerlichen Menschen“ zu dem Tiefsten, was
Dostojewski geschrieben hat, während „Bobock“, dieses tolle Satyrspiel
des Großstadtlebens, Dostojewski von einer ganz eigenartigen, seiner
humoristischen, exzentrischen, grotesken Seite zeigt.

                                                              E. K. R.




                     Aus dem Dunkel der Großstadt.


                            Aufzeichnungen.


                      Erster Teil. Das Dunkel.[1]


I.

Ich bin ein kranker Mensch ... ein schlechter Mensch ... Ein abstoßender
Mensch bin ich. Ich glaube, ich bin leberleidend. Übrigens habe ich mir
von meiner ganzen Krankheit noch nie einen rechten Begriff machen
können; ja, genau genommen weiß ich überhaupt nicht, was in mir denn
eigentlich krank sein könnte. Für meine Gesundheit tu ich nichts, wenn
ich auch sonst vor der Medizin und sogar vor den Ärzten alle Achtung
habe. Zudem bin ich noch fabelhaft abergläubisch – als Beweis dafür
dürfte schon diese meine Hochachtung vor der Medizin genügen. Ich bin
genügend gebildet, um nicht abergläubisch zu sein, trotzdem aber bin ich
es, wie gesagt. Nein, meine Herren, wenn ich für meine Gesundheit nichts
tue, so geschieht es einfach nur aus Bosheit. Nun, das z. B. werden Sie
bestimmt nicht verstehen können. Ich aber, ich verstehe es vorzüglich!
Ich kann es Ihnen natürlich nicht so ganz klar machen, wem ich denn
eigentlich in diesem Falle mit meiner Bosheit etwas antun will. Ich weiß
auch ganz genau, daß die Doktoren nichts verlieren, wenn ich mich nicht
von ihnen behandeln lasse, – oh, ich weiß es selbst am allerbesten, daß
ich damit nur mir allein schade und sonst niemandem. Trotzdem aber –
wenn ich mich nicht kuriere, so geschieht es doch nur aus Bosheit. Also
das Leberchen schmerzt? Na, so schmerz nur noch mehr, wenn du kannst!

... Ich lebe schon lange so, – zwanzig Jahre. Jetzt bin ich vierzig.
Früher hatte ich eine Anstellung in einer Kanzlei; jetzt aber nicht
mehr. Ich war ein boshafter Beamter. Ich war roh – und das freute mich.
Da ich keine Sporteln nahm, mußte ich mich eben auf eine andere Weise
entschädigen. – Hm, fauler Witz, aber ich streiche ihn nicht aus. Als
ich ihn schrieb, glaubte ich, er würde sich geistreich ausnehmen, doch
jetzt, da ich selbst einsehe, daß er dumm ist, streiche ich ihn erst
recht nicht aus! –

... Saß ich an meinem Pult und trat jemand zu mir – meistens Bittsteller
mit Anfragen –, so fuhr ich sie zähneknirschend an und fühlte labende
Genugtuung, wenn es mir gelang, jemanden einzuschüchtern – und es gelang
mir fast immer: wir wissen ja, – zaghaftes Volk, diese Bittsteller. Doch
gab es da unter den dreisteren einen Offizier, den ich ganz besonders
haßte. Er wollte sich für keinen Preis einschüchtern lassen und rasselte
geradezu unverschämt mit seinem Säbel. Dieses Säbels wegen habe ich
anderthalb Jahre lang mit ihm Krieg geführt. Endlich besiegte ich ihn:
er ließ das Rasseln. Doch das war noch in meiner Jugend. Aber wissen Sie
auch, meine Herren, worin gerade meine Hauptwut bestand? Das war ja der
ganze Jammer, darin lag ja gerade die größte Gemeinheit, daß ich in
jeder Minute, in jeder Sekunde, im Augenblick meiner stärksten Wut mir
schmachvoll selbst eingestehen mußte, daß ich nicht nur kein boshafter,
sondern nicht einmal ein böser Mensch bin, daß ich ganz umsonst nur
Spatzen schrecke und damit mich selbst zu trösten suche. Schaum steht
mir vor dem Munde – doch bringt mir ein Püppchen oder gebt mir ein
Zuckerstückchen und ich werde mich höchstwahrscheinlich sofort
beruhigen. Werde sogar ganz windelweich werden ..., wenn ich mich auch
nachher am liebsten selbst zerfleischen würde und vor Schande Monate
lang schlaflose Nächte habe ... Ich bin nun einmal so.

Das habe ich übrigens vorhin gelogen, daß ich ein boshafter Beamter
gewesen sei. Aus Bosheit hab ich’s gelogen. Das mit den Bittstellern und
dem Offizier war einfach nur Eigensinn, – in Wirklichkeit konnte ich
überhaupt nicht böse werden. Wollte ich es aber, so fühlte ich im
Augenblick über die Maßen viel entgegengesetzte Elemente in mir. Ich
fühlte sie nur so wimmeln in mir, diese entgegengesetzten Elemente. Ich
wußte, daß sie mein ganzes Leben lang in mir so wimmelten und mich
baten, sie hinauszulassen, aber ich ließ sie nicht, ich ließ sie nicht,
absichtlich ließ ich sie nicht hinaus! Sie quälten mich bis zur Scham,
bis zu Krämpfen brachten sie mich, und ach Gott! ich wurde ihrer
schließlich so überdrüssig, so maßlos überdrüssig! Oder glauben Sie
vielleicht gar, meine Herren, daß ich hier irgend etwas bereue – vor
Ihnen? daß ich für irgend etwas Ihre Verzeihung erbitte? ... Ich bin
überzeugt, daß Sie das glauben ... Doch, übrigens, versichere Ihnen, ’s
ist mir ganz egal, was Sie da glauben ...

... Nicht nur, daß ich es nicht verstand, böse zu werden, – ich verstand
überhaupt nichts zu werden: weder böse noch gut, weder ehrlich noch
schlecht, weder Held noch Insekt. Und jetzt lebe ich in meinem Winkel,
verspotte mich selbst, indem ich mich „böse“ nenne und mich mit dem
überflüssigen Troste beruhige, daß ein kluger Mensch – im Ernst –
überhaupt nicht irgend etwas werden kann, sondern nur ein Pinsel etwas
wird. Ein Mensch des neunzehnten Jahrhunderts muß, ja, ist sogar
moralisch verpflichtet, ein im wahrsten Sinne des Wortes charakterloses
Wesen zu sein. Ein Mensch jedoch mit einem Charakter, ein Tatmensch, muß
– im vollsten Sinne des Wortes beschränkt sein. Dieses ist meine
vierzigjährige Überzeugung. Ich bin jetzt vierzig Jahre alt; aber
vierzig Jahre – das ist doch das ganze Leben, das ist doch das höchste
Alter! Über vierzig Jahre zu leben ist unanständig, ist gemein, trivial,
ist unsittlich! Wer lebt denn heutzutage noch über vierzig Jahre? –
antwortet aufrichtig, ehrlich. Ich werde es Euch sagen, wer noch über
vierzig lebt: Dummköpfe und Spitzbuben leben! Das sage ich allen Greisen
ins Gesicht, allen diesen ehrwürdigen Greisen, allen diesen
silberhaarigen, ehrwürdigen Greisen! Sage es der ganzen Welt ins
Gesicht! Ich habe das Recht, das zu sagen, denn ich werde selbst bis
sechzig leben. Bis siebzig werde ich leben! Bis achtzig werd ich leben!
... Wartet! Die Luft geht mir aus, ... laßt mich erst wieder zu Atem
kommen ...

Sie denken bestimmt, meine Herren, daß ich Sie belustigen will? Dann
irren Sie sich aber sehr. Ich bin durchaus kein so lustiger Mensch, wie
es Ihnen scheint oder wie es Ihnen vielleicht auch nicht scheint.
Übrigens, wenn dieses Geschwätz Sie ärgert – ich fühle es ja, daß Sie
schon gereizt sind – so werden Sie mich vielleicht fragen wollen, wer
ich denn eigentlich bin? – Gut, ich will Ihnen die Antwort nicht
schuldig bleiben: ich bin Kollegienassessor. Ich war Beamter, um nicht
zu verhungern – und zwar einzig aus diesem Grunde. Als mir aber im
vorigen Jahre einer meiner entfernten Verwandten testamentarisch
sechstausend Rubel hinterließ, trat ich sofort aus dem Dienst und
siedelte mich hier in meinem Winkel an. Auch früher schon lebte ich
hier, jetzt aber habe ich mich endgültig in diesem Winkel angesiedelt.
Mein Zimmer ist ein elendes, scheußliches Nest. Meine Aufwartefrau ist
ein Weib vom Lande, ein altes, das vor Dummheit wütend geworden ist und
zudem noch unausstehlich riecht. Man sagt mir, das Petersburger Klima
sei mir schädlich, und Petersburg für meine kümmerlichen Mittel viel zu
teuer. Das weiß ich selbst ganz genau, weiß es hundertmal besser als
diese erfahrenen und überklugen Ratgeber. Aber ich bleibe in Petersburg:
ich fahre nicht fort! Ich fahre darum nicht fort, weil ... Ach! Das ist
doch wirklich gleichgültig, ob ich nun fortfahre oder nicht fortfahre.

Übrigens, bei der Gelegenheit noch eine Frage: Worüber kann ein
anständiger Mensch zu jeder Zeit mit dem größten Vergnügen reden?

Antwort: Über sich selbst.

Nun, dann werde auch ich über mich selbst reden.


                                  II.

Meine Herren, jetzt will ich Ihnen erzählen – einerlei ob Sie hören
wollen oder nicht –, warum ich nicht einmal ein Insekt zu werden
verstand. Versichere Ihnen feierlichst: schon mehrere Mal wollte ich ein
Insekt werden. Doch selbst dazu langte es nicht. Meine Herren, ich
schwöre Ihnen, daß allzuviel erkennen – Krankheit ist, eine richtige,
rechte Krankheit. Für den menschlichen Bedarf wäre eine gewöhnliche
menschliche Erkenntnis übergenug, d. h. die Hälfte oder dreiviertel von
der Dosis, die auf einen entwickelten Menschen kommt, einen Menschen
unseres unseligen neunzehnten Jahrhunderts, und der zudem noch das
doppelte wenn nicht dreifache Unglück hat, in Petersburg zu leben, der
abstraktesten und künstlichsten Stadt der ganzen Welt. – Es gibt
künstliche Städte und nichtkünstliche Städte. – Zum Beispiel würde
vollkommen genügen, sagen wir, solch eine Erkenntnis, wie die, mit der
alle sogenannten unmittelbaren Menschen, d. h. alle Tatmenschen leben.
Ich könnte wetten, Sie glauben jetzt, daß ich dieses aus Anmaßung
schreibe, um über die Tatmenschen zu witzeln – und noch aus einer
Anmaßung, die geschmacklos ist –: lasse den Säbel rasseln, wie mein
Offizier. Aber, meine Herren, wer brüstet sich denn mit seinen eigenen
Gebrechen?

Übrigens, – was sage ich? Alle tun das: alle prahlen mit ihren Gebrechen
und ich, na, ich meinetwegen mehr als sie alle zusammen. Streiten wir
nicht darüber: meine Einwendung ist nicht stichhaltig. – Schön; aber
trotzdem bin ich doch fest überzeugt, daß nicht nur sehr viel
Erkenntnis, sondern sogar jede Erkenntnis – Gebrechen, Krankheit ist.
Dabei bleibe ich. Aber lassen wir dieses Thema auf einen Augenblick.
Sagen Sie mir lieber etwas anderes: wie kam es, daß ich, zum Beispiel,
in denselben, ja, in denselben Minuten, da ich am allerfähigsten war,
sämtliche Feinheiten „alles Schönen und Hohen“ zu erkennen, zuweilen so
widerliche Sachen nicht nur erkennen, sondern auch begehen konnte,
Sachen, sag ich Ihnen, die ... nun ja, mit einem Wort, die meinetwegen
alle machen, die aber wie zum Trotz gerade dann von mir begangen wurden,
wenn ich am klarsten erkannte, daß man sie eigentlich überhaupt nie tun
sollte? Je mehr ich von der Erkenntnis des Guten und „alles Schönen und
Hohen“ durchdrungen war, desto tiefer sank ich in meinen Morast und
desto fähiger war ich, völlig in ihm unterzugehn. Doch das Auffallendste
an dem war, daß all dieses gewissermaßen durchaus nicht zufällig
geschah, sondern geradezu als müßte es genau so sein. Als ob das mein
allernormalster Zustand gewesen wäre und durchaus nicht Krankheit oder
Verderbtheit, sodaß schließlich die Lust in mir verging, gegen ihn noch
anzukämpfen. Es endete damit, daß ich fast zu glauben begann – oder
vielleicht glaubte ich es schon tatsächlich –, dieses sei sozusagen mein
wirklicher normaler Zustand. Aber zuerst, am Anfang, wieviel Qual lag
für mich in diesem Kampf! Ich glaubte nicht, daß es anderen ebenso
erginge und verbarg dieses Geheimnis mein Leben lang. Ich schämte mich,
und – vielleicht schäme ich mich sogar jetzt noch –. Es kam so weit, daß
ich, wenn ich zuweilen in einer der ekelhaftesten Petersburger Nächte
nach Haus in meinen Winkel zurückkehrte, einen gewissen – wie soll ich
sagen? – geheimen, unnormalen, gemeinen Genuß oder einen angenehmen
Kitzel empfand, mich krampfhaft zu zwingen, zu erkennen, – zu erkennen,
daß ich auch heute wieder eine Gemeinheit begangen hatte, daß ich das
Getane wiederum auf keine Weise ungeschehen machen konnte, und mich dann
innerlich, heimlich deswegen zu nagen, zu nagen, wie mit Zähnen zu
feilen, mir mein eigenes Blut auszusaugen, mich zu foltern, – so lange,
bis sich die Bitterkeit allmählich in eine schändliche verfluchte
Süßigkeit, in eine Wonne verwandelte und schließlich – in entschiedenen,
wirklichen Genuß! Ja: in Genuß, in Genuß! Dabei bleibe ich. Deswegen
habe ich doch überhaupt angefangen, davon zu sprechen, weil ich endlich
genau wissen wollte, ob andere auch solche Genüsse haben? Warten Sie,
ich werde es Ihnen ausführlicher erklären. Der Genuß liegt hier gerade
in der allzu grellen Erkenntnis der eigenen Erniedrigung: in der
Erkenntnis, daß man schon an der letzten Wand angekommen ist; daß man
keine einzige Möglichkeit mehr hat, jemals noch ein anderer Mensch zu
werden; daß, selbst wenn noch Zeit und Glaube übrig wären, sich in etwas
anderes umzumachen, man sicherlich selbst dieses nicht wollen würde;
wollte man es aber, so würde man es doch nicht tun, weil es im Grunde
vielleicht nichts gibt, in was man sich ummachen könnte. Aber die
Hauptsache und des Endes Ende ist, daß alles nach den normalen und
fundamentalen Gesetzen angestrengten Erkennens vor sich geht und nach
der Inertie, die sich unmittelbar aus diesen Gesetzen ergibt, folglich
aber kann man sich hierbei nicht nur nicht ummachen, sondern kann
hierbei überhaupt nichts machen. Es ergibt sich z. B. aus der
angestrengten Erkenntnis: „stimmt, Du bist ein gemeiner Mensch“ – als ob
das dem gemeinen Menschen eine Beruhigung sein könnte, wenn er schon
selbst fühlt, daß er tatsächlich gemein ist. Doch genug ... Viel hab ich
zusammengeschwatzt, was aber bewiesen? Wodurch erklärt sich hier dieser
Genuß? Aber ich werde mich schon erklären! Ich werde es schon zu Ende
führen!! Deswegen hab ich doch die Feder in die Hand genommen!

Meine Eigenliebe z. B. ist ganz furchtbar entwickelt. Argwöhnisch und
empfindlich bin ich wie ein Krüppel oder ein Zwerg, aber – Hand aufs
Herz – ich habe auch Augenblicke gehabt, in denen ich mich, wenn es
geschehen wäre, daß mir jemand eine Ohrfeige gegeben, vielleicht darüber
gefreut hätte. Nein, im Ernst: ich hätte bestimmt verstanden, auch darin
einen Genuß zu finden, einen Genuß in seiner Art, versteht sich, einen
Genuß der Verzweiflung, aber in der Verzweiflung sind ja gerade die
tiefsten Genüsse, die heißesten Wonnen, besonders wenn man schon sehr
stark die Aussichtslosigkeit seiner Lage erkennt. Und hier, also bei der
Ohrfeige, – hier erdrückt einen ja die Erkenntnis, bis zu welch einer
Schmiere man Dich zerdrückt hat. Die Hauptsache jedoch, wie man es sich
auch überlegt und wie man es auch überdenkt, es kommt doch immer heraus,
daß man als Erster an allem selbst schuld ist und das kränkendste an der
Sache – daß man ohne Schuld schuldig ist, sagen wir einfach: nach den
Naturgesetzen. Erstens, weil man klüger ist als alle, die einen umgeben.
(Ich habe mich immer für klüger gehalten als die, die mich umgaben und
gar manches Mal – glauben Sie es mir – mich sogar dessen geschämt.
Wenigstens habe ich mein ganzes Leben lang immer zur Seite gesehn, und
niemals den Menschen gerade in die Augen blicken können.) Und zweitens,
weil ich, selbst wenn ich großmütig gewesen wäre, durch diese Großmut
nur noch mehr gelitten hätte, nämlich durch die Erkenntnis ihrer ganzen
Nutzlosigkeit. Ich hätte doch bestimmt nichts aus ihr zu machen
verstanden: weder zu verzeihen, denn der Beleidiger hat mir vielleicht
naturgesetzmäßig die Ohrfeige gegeben, und den Gesetzen der Natur hat
man nichts zu verzeihen, noch zu vergessen, denn wenn es auch hundertmal
die Gesetze der Natur sind, so bleibt es doch immerhin beleidigend. Und
selbst wenn ich mich am Beleidiger hätte rächen wollen, so würde ich
mich doch für nichts und an niemandem gerächt haben, denn es wäre mir
bestimmt unmöglich gewesen, den Entschluß zu fassen, etwas zu tun,
selbst wenn ichs hätte tun können. Warum nicht? Ja, darüber will ich
jetzt einige besondere Worte sagen.


                                  III.

Wie geschieht es denn, zum Beispiel, bei Leuten, die es verstehen, sich
zu rächen, und überhaupt – ihren Mann zu stehn? Wenn sie vom Rachedurst
ergriffen werden, so bleibt ja von ihrem ganzen Wesen überhaupt nichts
mehr übrig, außer diesem Gefühl. Solch ein Mensch schießt denn auch
sofort wie ein wild gewordener Stier mit tiefgesenkten Hörnern auf das
Ziel los, und höchstens eine Wand kann ihn dann noch zum Stehen bringen.
(Bei der Gelegenheit sei es noch gesagt: vor der Wand ergeben sich
solche Menschen, d. h. die Unmittelbaren- und Tatmenschen,
widerspruchslos, vor der Wand „passen“ sie wie im Kartenspiel. Für sie
ist die Wand keine Ablenkung wie z. B. für uns denkende und folglich
tatlose Menschen, kein Vorwand, auf diesem Wege umzukehren – ein
Vorwand, an den unsereiner gewöhnlich im Grunde selbst nicht glaubt,
doch über den er sich stets ungemein freut. Nein, sie „passen“ vor ihr
wirklich mit aller Aufrichtigkeit. Die Wand hat für sie stets etwas
Beruhigendes, moralisch Entscheidendes und Definitives, meinetwegen
sogar etwas Mystisches ... Doch von der Wand später.) Also gerade solch
einen unmittelbaren Menschen halte ich für den wirklichen, normalen
Menschen, wie ihn Mutter Natur selbst haben wollte, als sie ihn liebend
aus der Erde gebar. Solch einen Menschen beneide ich bis zur grünsten
Galle! Er ist dumm. Nun gut, darüber will ich mit Ihnen nicht streiten,
vielleicht aber, wer kann’s denn wissen, _muß_ jeder normale Mensch dumm
sein? Vielleicht ist das sogar sehr schön. Und ich bin um so mehr zu
diesem, sagen wir, Verdacht geneigt, als z. B. die Antithese des
normalen Menschen, also der verstärkt erkennende Mensch, der natürlich
nicht aus dem Schoße der Erde hervorgegangen, sondern aus der Retorte,
dem Destillationstopf aller Chemikalien, entstanden ist, – das ist fast
schon Mystizismus, meine Herren, aber ich nehme auch das als Tatsache an
– wenn man also diesen Retortenmenschen nimmt, so „paßt“ er vor seiner
Antithese zuweilen dermaßen, daß er sich selbst samt seiner ganzen
verstärkten Erkenntnis gewissenhaft für eine Maus hält, nicht aber für
einen Menschen. Mag das auch eine verstärkt erkennende Maus sein, so
bleibt sie doch trotzdem eine Maus, jener aber ist ein Mensch und
folglich auch das Weitere. Und die Hauptsache: er _selbst_, _er selbst_
hält sich für eine Maus; niemand bittet ihn darum; das aber ist ein
wichtiger Umstand. Betrachten wir nun diese Maus in der Tätigkeit.
Nehmen wir zum Beispiel an, daß sie auch einmal beleidigt wird – und sie
wird fast immer beleidigt – und sich gleichfalls rächen will. Wut kann
sich in ihr vielleicht noch mehr ansammeln, als in einem ^homme de la
nature et de la vérité^. Das gemeine, niedrige Wünschchen der Maus, dem
Beleidiger mit derselben Münze heimzuzahlen, kann vielleicht noch heißer
in ihr sieden, als in diesem ^homme de la nature et de la vérité^, denn
^l’homme de la nature et de la vérité^ hält bei seiner angeborenen
Dummheit seine Rache allereinfachst für Gerechtigkeit. Die Maus jedoch
verneint hierbei die Gerechtigkeit – infolge ihrer verstärkten
Erkenntnis. Endlich kommt es zur Tat selbst, zum Racheakt. Die
unglückliche Maus hat aber inzwischen außer der anfänglichen Gemeinheit
schon soviel neue Gemeinheiten in Gestalt von Fragen und Zweifeln um
sich herum aufgehäuft, hat an eine Frage so viele andere ungelöste
Fragen angereiht, daß sich unwillkürlich um sie herum ein
verhängnisvoller Brei bildet, ein stinkender Schmutz, der unbedingt
entstehen muß aus diesen ihren eigenen Zweifeln und Peinigungen und
schließlich auch aus dem Speichel, der auf sie von den unzähligen
unmittelbaren Tatmenschen, die sie als Richter und Diktatoren in
feierlichem Kreise umstehn und aus vollem Halse über sie lachen,
niederfliegt. Selbstverständlich kann _sie_ ja noch auf sie alle
pfeifen, mit ihrem Pfötchen eine geringschätzige Gebärde machen und mit
einem Lächeln vorgespielter Verachtung, an die sie selbst nicht glaubt,
schimpflich in ihr Ritzchen zurückschlüpfen. Dort, in ihrem
scheußlichen, stinkenden Winkel versenkt sich dann unsere beleidigte,
zerschlagene und verhöhnte Maus alsbald in kalte, giftige – und vor
allen Dingen – ewig andauernde Bosheit. Vierzig runde Jahre lang wird
sie sich bis in die letzten, kleinsten, allerschmählichsten Einzelheiten
der Beleidigung erinnern und dabei noch jedesmal von sich aus neue
Details, noch schimpflichere, hinzufügen, wird sich fortwährend mit der
eigenen Phantasie boshaft reizen und aufstacheln. Sie wird sich dieser
Erinnerung schämen, trotzdem aber sich alles ins Gedächtnis zurückrufen,
wieder alles von neuem erleben, sich Unerhörtes noch hinzudenken, unter
dem Vorwand, daß dieses ja ebensogut hätte geschehen können – warum auch
nicht? – und wird sich nichts, aber auch nichts verzeihen! Am Ende wird
sie dann vielleicht auch anfangen, sich zu rächen, doch wird sie es
immer irgendwie kleinlich tun, hinter dem Ofen hervor, inkognito; wird
selbst nicht einmal weder an ihr Recht, sich zu rächen, noch an den
Erfolg ihrer Rache glauben und im voraus wissen, daß unter allen ihren
Racheversuchen sie selbst hundertmal mehr leiden wird, als der, an dem
sie sich rächen will, ja, daß der sie vielleicht nicht einmal beachten
wird. Auf dem Sterbebett wird sie sich wiederum des Ganzen erinnern und
das noch mit allen in der Zwischenzeit angesammelten Prozenten ... Und
gerade in dieser kalten, quälenden Halbverzweiflung, in diesem
Halbglauben, in diesem bewußten Sich-vor-Leid-lebendig-begraben im
dunkelsten Winkel des Kellers auf vierzig Jahr, in dieser verstärkt
erkannten und immerhin doch teilweise zweifelhaften Aussichtslosigkeit
der Lage, in diesem Gift unbefriedigter Wünsche, in diesem Fieber des
Schwankens zwischen auf ewig gefaßten und nach einer Minute wieder
aufgegebenen Entschlüssen – darin, gerade darin liegt ja der Saft dieses
sonderbaren Genusses, von dem ich sprach. Dieser Genuß ist dermaßen fein
und der Erkenntnis zuweilen so wenig zugänglich, daß nur etwas
beschränktere Menschen oder sogar einfach Menschen mit starken Nerven
überhaupt nichts davon verstehen können.

„Vielleicht können auch die nichts davon verstehen,“ denken Sie wohl
soeben mit spöttischem Lächeln bei sich, „die niemals Ohrfeigen bekommen
haben,“ und wollen mir auf diese Weise höflich zu verstehen geben, daß
vielleicht auch ich in meinem Leben schon eine Ohrfeige ertragen habe
und darum jetzt aus Erfahrung spreche. Ich könnte wetten, daß Sie das
denken. Aber beruhigen Sie sich, meine Herren, ich habe niemals
Ohrfeigen bekommen, obgleich es mir vollkommen einerlei ist, ob Sie das
denken oder nicht. Ja, vielleicht bedauere ich es selbst noch, in meinem
Leben wenig Ohrfeigen ausgeteilt zu haben. Doch genug, kein Wort mehr
über dieses für Sie so ungemein interessante Thema.

Ich setze ruhig meine Erklärung fort – von den Menschen mit den starken
Nerven, die besagte Feinheit des Genusses nicht verstehen. Diese
Menschen beruhigen sich, wenn sie auch in manchen Fällen wie die Ochsen
aus vollem Halse brüllen, und dieses ihnen meinetwegen auch die größte
Ehre einlegt, so beruhigen sie sich doch sofort, wie ich schon bemerkt
habe, vor der Unmöglichkeit. Die Unmöglichkeit – das ist die Wand! Was
für eine Wand? Nun, versteht sich, die Naturgesetze, die Ergebnisse der
Wissenschaft, der Mathematik. Und wenn man Dir gar beweist, z. B., daß
Du vom Affen abstammst, so hast Du nichts mehr zu meinen, nimm es hin,
so wie es ist. Oder wenn man Dir beweist, daß ein einziges Tröpfchen
Deines eigenen Fettes Dir hunderttausendmal teurer sein muß, als die
ganze Menschheit, und daß in diesem Resultat schließlich alle
sogenannten Wohltaten und Pflichten und sonstigen Faseleien und
Vorurteile gelöst werden, so nimm das nur ruhig an, ist ja nichts zu
machen, denn, wie gesagt, zweimalzwei – Mathematik! Versuchen Sie zu
widerlegen.

„Na, hören Sie mal!“ wird man Ihnen zuschreien, „das ist doch wie
zweimalzwei = vier! Die Natur wird Sie nicht fragen; was gehen die Natur
Ihre Wünsche an, und ob die Naturgesetze Ihnen gefallen oder nicht! Sie
müssen die Natur so nehmen, wie sie ist, und folglich auch alle ihre
Gesetze nebst allen Resultaten. Die Wand also bleibt Wand“ ... usw.,
usw.

Herrgott, was gehen aber mich die Gesetze der Natur und die Mathematik
an, wenn mir aus irgend einem Grunde diese Gesetze und das
zweimalzwei-ist-vier nicht gefallen? Versteht sich, ich werde solch eine
Wand nicht mit dem Kopf einrennen, da ich ja auch tatsächlich nicht die
Kraft dazu habe, aber ich werde mich ihnen doch nicht ergeben, bloß weil
hier eine Wand ist und ich nicht genügend Kraft besitze!

Als ob solch eine Wand tatsächlich eine Beruhigung wäre, als ob sie
irgend einen Trost enthielte, – einzig weil sie zweimalzwei = vier ist.
Oh, Absurdität aller Absurditäten! Eine ganz andere Sache ist doch –
alles verstehen, alles erkennen, alle Unmöglichkeiten und Steinwände;
sich mit keiner einzigen dieser Unmöglichkeiten oder Wände aussöhnen,
wenn es einem vor dem Aussöhnen ekelt; auf dem Wege der unumgänglichen
logischen Kombinationen bis zu den allerwiderlichsten Schlüssen kommen –
über das ewige Thema, daß man an der Steinwand irgendwie geradezu selbst
schuldig ist, obgleich es wiederum bis zur Durchsichtigkeit
augenscheinlich bleibt, daß man durchaus nicht schuldig ist – und
infolgedessen schweigend und kraftlos zähneknirschend, wollüstig in der
Inertie ersterben, mit dem Gedanken, daß man, wie es sich ergibt, nicht
einmal einen Grund hat, sich über jemanden zu ärgern; daß überhaupt
keine Ursache vorhanden ist und sich vielleicht auch niemals finden
lassen wird, daß hier heimlicher Betrug ist, ein künstliches
Aneinanderreihen von Tatsachen, Falschspielerei, einfach Brei, –
unbekannt was, unbekannt wer, aber trotz all dieser Ungewißheiten und
Täuschungen schmerzt es einen doch und je mehr einem unbekannt ist,
desto mehr schmerzt es!


                                  IV.

„Hahaha! Dann werden Sie ja auch an Zahnschmerzen Genuß finden!“ wenden
Sie lachend ein.

„Warum nicht? Auch im Zahnschmerz ist Genuß,“ antworte ich. Einmal habe
ich einen ganzen Monat Zahnschmerzen gehabt – ich weiß, wie das ist!
Natürlich, hierbei erbost man sich nicht schweigend – man stöhnt. Doch
ist es dann kein aufrichtiges, sondern ein schadenfrohes Gestöhn, aber
in dieser Schadenfreude ist ja alles enthalten! Gerade in diesem Gestöhn
drückt sich ja die ganze Wonne, der ganze Genuß des Leidenden aus:
empfände er keinen Genuß, so würde er auch nicht stöhnen. Das ist ein
gutes Beispiel, meine Herren, bleiben wir bei ihm. In diesem Stöhnen
liegt erstens die ganze für Ihre Erkenntnis erniedrigende Zwecklosigkeit
Ihres Schmerzes, die ganze Gesetzlichkeit der Natur, auf die Sie
natürlich spucken können, doch durch die _Sie_ trotzdem leiden, die
Natur aber nicht. Zweitens, die Erkenntnis, daß kein Feind vorhanden,
wohl aber der Schmerz vorhanden ist; die Erkenntnis, daß Sie zusammen
mit allen möglichen Doktoren vollkommen Sklave Ihrer Zähne sind; daß,
falls es irgend jemand will, Ihre Zähne nicht mehr schmerzen werden,
wenn er es aber nicht will, sie noch weitere drei Monate schmerzen
werden; und daß drittens, wenn Sie sich immer noch nicht ergeben und
immer noch protestieren wollen, Ihnen zur eigenen Beruhigung nur noch
übrig bleibt, sich selbst durchzuprügeln oder mit der Faust etwas
schmerzhafter an Ihre Wand zu schlagen – sonst aber entschieden nichts.
Nun, sehen Sie, – gerade von diesen Beleidigungen bis aufs Blut, von
diesem Verspottetwerden, ohne zu wissen von wem, entsteht dann
allmählich dieser Genuß, der oft bis zur höchsten Wollust steigen kann.
Bitte, meine Herren, hören Sie doch einmal aufmerksam dem Gestöhn eines
gebildeten Menschen des neunzehnten Jahrhunderts zu, wenn er
Zahnschmerzen hat, doch schon so am zweiten oder dritten Tage, wenn er
nicht mehr so stöhnt, wie am ersten Tage, d. h., nicht nur einfach, weil
seine Zähne schmerzen, nicht wie irgend ein gewöhnlicher Bauer stöhnt,
sondern wie ein Mensch, der von der Bildung und der europäischen Kultur
durchdrungen ist – wie ein Mensch, „der sich vom Boden und dem Volke
getrennt hat,“ wie man sich jetzt auszudrücken pflegt. Sein Gestöhn wird
gewissermaßen gemein, boshaft und hält ganze Tage und Nächte lang an.
Und er weiß es ja selbst, daß ihm dieses Stöhnen nicht den geringsten
Nutzen bringt; weiß es selbst am allerbesten, daß er damit ganz umsonst
sich wie auch die anderen nur ärgert und reizt; er weiß sogar, daß das
Publikum, vor dem er sich solche Mühe gibt, seine Familie, ihm schon bis
zum Widerwillen zugehört hat, ihm nicht für einen Pfennig glaubt und bei
sich denkt, daß er doch anders, einfacher stöhnen könnte, ohne Läufer,
Triller und Sprünge, daß er es nur aus Bosheit, aus Schadenfreude tut.
Nun, gerade in diesen Erkenntnissen und Qualen liegt ja die Wollust!
„Ich beunruhige Euch, zerreiße Euch das Herz, gönne keinem im Hause
Schlaf! So wacht denn, bitte, fühlt mal mit, daß meine Zähne schmerzen!
Jetzt bin ich für Euch nicht mehr der Held, der ich früher scheinen
wollte, sondern einfach ein gemeines Menschlein, ein Chenapan. Nun gut!
Freut mich sehr, daß Ihr mich durchschaut! Mein häßliches Gestöhn widert
Euch wohl an? Nur zu! werde Euch gleich einen noch häßlicheren Läufer
vorstöhnen ...“ Verstehen Sie mich auch jetzt noch nicht, meine Herren?
Nein, es scheint doch, daß man sich lange bis zu dem entwickeln und tief
in sich selbst versenken muß, um alle Windungen dieser Wollust verstehen
zu können. Sie lachen? Freut mich! Meine Späßchen sind vielleicht etwas
abgeschmackt, sind uneben, verwirrt und voll von Mißtrauen zu mir
selbst. Aber das kommt doch daher, daß ich mich selbst nicht achte! Aber
kann denn ein erkennender Mensch sich überhaupt noch irgendwie achten?


                                   V.

Nun, wie ist es denn möglich, wie kann sich denn ein Mensch auch nur ein
wenig achten, wenn er sich verschworen hat, sogar im Gefühl der eigenen
Erniedrigung Genuß zu suchen? Nicht aus irgend einer faden Reue sage ich
das jetzt. Hab’s überhaupt nie leiden können, zu sagen: „Verzeihen Sie,
Papa, ich werde nicht mehr ...“ – nicht etwa, weil ich das nicht sagen
konnte, sondern im Gegenteil, vielleicht gerade, weil ich schon allzu
schnell bereit war, das zu sagen, und wie noch! Wie absichtlich habe ich
mich zuweilen beschuldigt, in Fällen, in denen ich selbst nicht einmal
wußte, woran ich eigentlich hätte schuld sein können. Das war ja das
Allergemeinste. Und dabei verging ich fast vor Mitleid mit mir selbst;
ich bereute und vergoß viele Tränen, und – versteht sich – betrog mich
an allen Ecken und Kanten, wenn ich mich auch nicht im geringsten
verstellte: das Herz verpfuschte es einfach ... Dabei konnte ich nicht
einmal mehr die „Gesetze“ der Natur beschuldigen, obgleich mich doch
diese Gesetze der Natur fortwährend und am meisten beleidigten.
Widerlich, sich dessen von neuem zu erinnern; es war auch damals
widerlich. Denn schon nach einer Minute sagte ich mir, daß alles Lüge
ist, ekelhafte, trügerische Lüge – ich meine dieses ewige Bereuen und
diese ewigen Vorsätze, sich zu bessern. Fragen Sie mich aber, warum ich
mich so wand und quälte? Antwort: weil es schon etwas zu langweilig war,
mit gefalteten Händen still zu sitzen, und so ließ ich mich denn auf die
Windungen ein. Wahrhaftig, so war’s. Beobachten Sie sich selbst etwas
besser, meine Herren, dann werden Sie sehn, daß es so ist. Hab mir
Abenteuer ausgedacht und das Leben zurecht gedichtet, um doch wenigstens
auf diese Weise zu leben. Wie viel mal ist es nicht vorgekommen, daß ich
mich – nun, sagen wir zum Beispiel, gequält habe, ganz einfach ohne jede
Ursache, absichtlich. Und ich wußte doch selbst ganz genau, daß ich
überhaupt keinen Grund hatte, gekränkt zu sein, hetzte mich auf mich
selbst auf. Aber schließlich bringt man es tatsächlich so weit, daß man
sich allen Ernstes gekränkt fühlt. Mein ganzes Leben lang habe ich mich
auf diese Weise gereizt, so daß ich mich schließlich nicht mehr
beherrschen konnte. Einmal wollte ich mich krampfhaft verlieben, sogar
zweimal. Hab doch gelitten, meine Herren, versichere Ihnen. Im tiefsten
Seelengrund glaubt man’s zwar nicht, daß man leidet, Spott kichert dort
versteckt, aber man leidet doch und noch in einer wirklichen, ganz
gehörigen Weise; bin eifersüchtig, fahre aus der Haut ... Und alles aus
Langeweile, meine Herren, alles aus Langeweile! Die Inertie erdrückte
mich. Denn die direkte, gesetzmäßige, unmittelbare Frucht
der Erkenntnis, – das ist die Inertie, d. h., das bewußte
Hände-im-Schoß-Stillsitzen. Das habe ich auch schon früher erwähnt.
Wiederhole es, wiederhole es nachdrücklichst: alle Tatmenschen sind ja
nur tätig, weil sie stumpfsinnig und beschränkt sind. Wie das erklären?
Ganz einfach: infolge ihrer Beschränktheit nehmen sie die nächsten und
zweitrangigen Ursachen für die Urgründe, und so überzeugen sie sich
schneller und leichter als die anderen, daß sie eine unwandelbare Basis
für ihre Tätigkeit gefunden haben, nun, und geben sich damit zufrieden,
– und das ist doch die Hauptsache. Denn um eine Tätigkeit zu beginnen,
muß man vorläufig vollständig beruhigt sein, auf daß nicht die
geringsten Zweifel mehr übrig bleiben. Nun, wie aber soll z. B. ich mich
beruhigen? Wo sind bei mir die Urgründe, auf die ich mich stützen kann,
wo die Basis? Woher soll ich sie nehmen? Ich übe mich im Denken und
folglich zieht bei mir jeder Urgrund sofort einen anderen, noch älteren,
hinter sich her und so geht es weiter bis in die Endlosigkeit. Derart
ist eben das Wesen aller Erkenntnis und alles Denkens. Somit sind das
also schon wieder die Gesetze der Natur. Und was ergibt sich denn
schließlich im Resultat? Ja, ganz dasselbe. Erinnern Sie sich: vorhin
sprach ich doch von der Rache. (Sie haben es bestimmt nicht begriffen.)
Es heißt: der Mensch rächt sich, weil er darin Gerechtigkeit sieht. Also
hat er doch die Basis gefunden, und zwar: die Gerechtigkeit. Also ist er
allseitig beruhigt und folglich rächt er sich, da er überzeugt ist, eine
ehrliche und gerechte Tat zu vollbringen, ruhig und mit gutem Erfolg.
Ich jedoch sehe hierin keine Gerechtigkeit, und eine Wohltat kann ich
hierin erst recht nicht entdecken; wollte ich mich aber dann trotzdem
noch rächen, so könnte es allenfalls nur aus Bosheit geschehn.
Allerdings könnte Bosheit vielleicht alles besiegen, alle meine Zweifel,
und somit erfolgreich die Basis ersetzen, gerade weil sie kein
Standpunkt ist. Was soll ich aber tun, wenn ich nicht einmal Bosheit
habe! – damit begann ich ja vorhin. Infolge dieser verfluchten Gesetze
der Erkenntnis unterwirft sich nämlich meine Bosheit der chemischen
Zerlegung. Man sieht –: das Ding hebt sich auf, die Vernunftgründe
verdunsten, der Schuldige ist nicht zu finden, die Beleidigung bleibt
nicht Beleidigung, sondern wird Fatum, etwas in der Art wie Zahnschmerz,
an dem niemand schuld ist, und so bleibt wiederum nur der eine Ausweg –
etwas fester mit der Faust an die Wand zu schlagen. Nun, da winkt man
denn wieder mit der Hand ab, denn man hat doch nicht die Basis gefunden.
Versucht man es, läßt man sich von seinem Gefühl blindlings hinreißen,
ohne Erwägungen, ohne Begründungen, verjagt man die Erkenntnis
wenigstens für diese Zeit; ergibt man sich dem Haß oder ergibt man sich
der Liebe, nur um nicht mit gefalteten Händen stillzusitzen: –
Übermorgen, das ist die letzte Frist, wirst Du anfangen, Dich selbst zu
verachten, dafür, daß Du Dich selbst wissentlich betrogen hast! Im
Resultat: eine Seifenblase und Inertie. Oh, meine Herren, ich,
vielleicht halte ich mich nur deswegen für einen klugen Menschen, weil
ich in meinem ganzen Leben nichts habe weder beginnen noch beenden
können. Schön, gut, möge ich ein Schwätzer sein, ein unschädlicher,
langweiliger Schwätzer, wie wir alle. Aber was soll man denn machen,
wenn die einzige und direkte Bestimmung jedes klugen Menschen –
schwatzen ist, d. h. mit vollem Bewußtsein leeres Stroh dreschen?


                                  VI.

Oh, wenn ich doch aus _Faulheit_ nichts getan hätte! Herrgott, wie würde
ich mich dann achten! Würde mich gerade deswegen achten, weil ich dann
doch fähig wäre, wenigstens faul zu sein! Dann hätte ich doch wenigstens
eine Eigenschaft, eine positive Eigenschaft, von der ich dann auch
selbst überzeugt sein könnte. Man fragt: was ist das für einer? Antwort:
ein Faulpelz. Aber ich bitt’ Sie, meine Herren, das wäre doch über alle
Maßen angenehm von sich zu hören. Also bin ich dann doch positiv
bezeichnet, klassifiziert, es gibt also etwas, was man von mir sagen
kann. „Ein Faulpelz!“ – aber das ist doch eine Benennung, eine
Bestimmung, das ist ja eine Karriere, ich bitt’ Sie! Scherz bei Seite,
das ist so. Dann bin ich rechtmäßiges Mitglied des ersten Klubs der Welt
und beschäftige mich ausschließlich mit der Hochachtung meiner selbst.
Ich kannte einen Herrn, der sein Leben lang nichts anderes tat, als
darauf stolz sein, daß er sich auf Weinsorten verstand. Er hielt das für
eine positive Würde und zweifelte nie an sich. Er starb nicht nur mit
einem ruhigen, sondern mit einem wahrhaft triumphierenden Gewissen und
war auch vollkommen im Recht. Ich aber hätte mir dann eine Karriere
gewählt – oh! – ich wäre Faulpelz und Vielfraß geworden! – doch kein
gewöhnlicher etwa, sondern einer, der, sagen wir, mit allem Schönen und
Hohen sympathisiert. Hm! Wie gefällt Ihnen das? Ich habe mir das schon
lange ausgemalt. Dieses „Schöne und Hohe“ hat mir in den vierzig Jahren
doch arg auf dem Puckel gelegen; jetzt aber bin ich schon vierzig; doch
wenn ich damals – oh, dann wäre jetzt alles ganz anders! Ich hätte mir
sofort eine entsprechende Lebensaufgabe gewählt, nämlich: auf die
Gesundheit alles Schönen und Hohen zu trinken. Ich würde jede gebotene
Gelegenheit ergriffen haben, um zuerst in meinen Pokal eine Träne zu
träufeln und ihn dann auf’s Wohl alles Schönen und Hohen hinabzustürzen.
Alles auf der Welt würde ich dann in Schönes und Hohes verwandelt, und
selbst im gemeinsten Schmutz würde ich Schönes und Hohes gefunden haben.
Tränenreich wäre ich geworden wie ein nasser Schwamm. Zum Beispiel –:
ein Künstler hat ein Bild gemalt: sofort trinke ich auf die Gesundheit
dieses Künstlers, denn ich liebe alles Schöne und Hohe. Ein
Schriftsteller hat „Einerlei was“ verfaßt, und sofort trinke ich auf das
Wohl „Einerlei wessen“, denn ich liebe „alles Schöne und Hohe“. –
Achtung würde ich deswegen für mich heischen, würde jeden verfolgen, der
mir dafür keine Achtung zollt! Lebe ruhig, sterbe triumphierend, – ja,
aber das ist doch herrlich, einfach herrlich! Und was für einen
Schmeerbauch ich mir dann anlegen würde, und welch ein dreifaches
Doppelkinn, von der Leuchtkraft der Nase schon gar nicht zu reden!
Jeder, der mir begegnet, würde bei meinem Anblick sagen: „Donnerwetter,
das ist aber ein Plus! Das ist mal was Positives!“ Sagen Sie was Sie
wollen, meine Herren, aber solche Bemerkungen sind doch in unserem
negativen Jahrhundert ungemein schmeichelhaft zu hören, ungemein
schmeichelhaft!


                                  VII.

Doch das sind ja alles bloß goldene Träume.

Wissen Sie vielleicht, wer es zum ersten Mal gesagt hat, daß der Mensch
nur deswegen Gemeinheiten begehe, weil er seine wahren Interessen nicht
kenne, und daß, wenn man ihm seine wirklichen normalen Interessen
erklären könnte, er sofort aufhören würde, Gemeinheiten zu begehen, denn
einmal aufgeklärt über seinen Vorteil, würde er natürlich nur im Guten
seinen Vorteil finden – bekanntlich aber könne kein einziger Mensch
wissentlich gegen seinen eigenen Vorteil handeln, – folglich würde er
sozusagen gezwungener Weise immer nur Gutes tun? Oh Säugling, der du das
gesagt! Oh reines, unschuldiges Kindlein! Wann ist es denn jemals in den
vergangenen Jahrhunderten geschehen, daß der Mensch einzig und allein
nur um des eigenen Vorteils willen seine Taten vollbracht hat? Was mit
all diesen Millionen von Fakten anfangen, die da bezeugen, daß die
Menschen _wissentlich_, d. h. bei vollem Verständnis für ihre wirklichen
Vorteile, letztere doch zurücksetzten und sich auf einen anderen Weg
begaben, aufs geratewohl, in die Gefahr, von niemandem und durch nichts
dazu gezwungen, sondern als ob sie gerade die Vorteile verschmähten, und
eigensinnig und verstockt womöglich das Gegenteil suchten? Das zeigt
doch, daß ihnen dieser Eigensinn und Eigenwille lieber waren, als der
eigene Vorteil ... Vorteil! Was ist Vorteil? Wollen Sie es vielleicht
übernehmen, ganz genau zu erklären, zu bestimmen, worin der Vorteil des
Menschen besteht? Wie aber, wenn es einmal vorkommen sollte, daß sich
das Schlechtere wünschen und nicht das Vorteilhaftere, nicht nur der
Vorteil des Menschen sein kann, sondern wirklich und wahrhaft ist? Wird
aber einmal die Möglichkeit dieses Falles zugegeben, so ist sofort diese
ganze Regel aufgehoben. Was meinen Sie, meine Herren, kann es solch
einen Fall geben oder nicht? Sie lachen! Nun, lachen Sie meinetwegen,
aber antworten Sie nur: sind denn die Vorteile des Menschen auch
wirklich richtig festgesetzt und sind sie denn auch alle aufgezählt?
Gibt es nicht auch solche, die nicht nur noch nicht klassifiziert sind,
sondern sich überhaupt nicht klassifizieren lassen? Sie haben doch,
meine Herren, soviel ich weiß, Ihr ganzes Register der menschlichen
Vorteile als Durchschnittssumme aus den statistischen Zahlen und
wissenschaftlich-praktischen Formeln genommen. Ihre Vorteile sind doch:
Glück, Reichtum, Freiheit, Ruhe, nun, u. s. w., u. s. w., so daß, zum
Beispiel, der Mensch, der offenbar und wissentlich gegen dieses ganze
Register handelt, nach Ihrer Meinung, nun ja, und selbstverständlich
auch nach meiner, ein Obskurant oder ein vollkommen Verrückter ist,
nicht wahr? Aber bei alledem ist doch eines wunderlich: woher kommt es,
daß diese sämtlichen Statistiker, Weisen, Menschenfreunde beim Aufzählen
der menschlichen Vorteile beständig einen Vorteil übergehen? Sie nehmen
ihn nicht einmal in ihre Liste auf, wenigstens nicht in der Weise, wie
er aufgenommen werden müßte, von ihm aber hängt doch die ganze Rechnung
ab! Nun, das wäre ja weiter nicht schlimm, man könnte diesen Vorteil
nehmen und ihn einfach auf der Liste hinzufügen. Doch darin besteht ja
das ganze Malheur, daß dieser eigentümliche Vorteil sich überhaupt nicht
klassifizieren läßt und man ihn auch auf keiner einzigen Liste
unterbringen kann! Ich habe z. B. einen Freund ... Ach, meine Herren, er
ist ja bestimmt auch Ihr Freund, und überhaupt – wessen Freund ist er
denn nicht!? Wenn sich nun dieser Freund an eine Sache macht, wird er
Ihnen sofort redselig klar und deutlich auseinandersetzen, wie er nach
den Gesetzen der Vernunft und Wahrheit handeln muß. Ja, er wird Ihnen
sogar aufgeregt und leidenschaftlich viel von den wahren und normalen
Interessen der Menschen erzählen; wird spöttelnd die kurzsichtigen
Dummköpfe tadeln, die weder ihre Vorteile noch die wahre Bedeutung der
Wohltat erkennen und – genau nach einer Viertelstunde ohne jede
plötzliche äußere Veranlassung, sondern gerade aus irgend etwas
Innerlichem, das stärker ist, als alle seine Interessen, wird er
plötzlich ein ganz anderes Lied pfeifen, d. h. wird offen gegen alles
vorgehen, was er selbst gesagt hat: gegen die Gesetze der Vernunft,
gegen den eigenen Vorteil, mit einem Wort, gegen alles ... Doch – Sie
wissen es ja selbst – mein Freund ist eine Kollektivperson und darum –
ihn allein beschuldigen, hm, geht nicht gut an. Das ist es ja, meine
Herren: gibt es denn wirklich nicht etwas, das fast jedem Menschen
teurer ist, als seine besten Vorteile? Oder sagen wir – um die Logik
nicht zu zerstören –: es gibt solch einen allervorteilhaftesten Vorteil,
der aber in allen Vorteilsverzeichnissen beständig ausgelassen wird,
einen Vorteil, der wichtiger und größer ist, als alle anderen Vorteile,
und für den der Mensch bereit ist, wenn’s darauf ankommt, allen
anerkannten Vorteilen, allen Gesetzen zuwider zu handeln, also gegen
Vernunft, Ehre, Ruhe, Glück u. s. w. zu handeln, kurz, gegen alle diese
guten und schönen Dinge, – nur um diesen größten, vorteilhaftesten
Vorteil, der ihm am teuersten ist, zu haben.

„Aber es ist doch immerhin ein Vorteil!“ unterbrechen Sie mich.

Warten Sie, ich werde es noch erklären! Mir ist es nicht um einen
Kalauer zu tun, sondern um den Beweis, daß dieser Vorteil gerade
deswegen bemerkenswert ist, weil er alle Ihre Klassifikationen der
Vorteile zerstört, und alle Systeme, die von den Menschenfreunden zur
Erreichung des vollen Erdenglücks aufgestellt werden, einfach unmöglich
macht. Bevor ich jedoch diesen Vorteil nenne, will ich mich noch
persönlich kompromittieren, und darum erkläre ich jetzt dreist, daß alle
diese schönen Systeme, alle diese Theorien – die den Menschen ihre
wahren und normalen Interessen erklären wollen, auf daß sie dann
gezwungen nach der Erfüllung derselben streben und somit gut und edel
werden – meiner Meinung nach nichts als Logistik sind! Ja, – Logistik!
Denn diese Theorie der Erneuerung der ganzen Menschheit mittels des
Systems ihrer Vorteile bejahen, das ist doch fast dasselbe, wie ... nun,
wie z. B. nach Buckle behaupten, der Mensch würde durch die Kultur
weicher, folglich weniger blutdürstig und immer unfähiger zum Kriege.
Nach der Logik, glaube ich, kommt er zu diesem Folgeschluß. Der Mensch
aber hat solch eine Vorliebe für das System und den abstrakten
Folgeschluß, daß er bereit ist, die Wahrheit absichtlich zu entstellen,
bereit, mit den Augen nicht zu sehen, mit den Ohren nicht zu hören, nur
damit seine Logik recht behält. Aber so öffnen Sie doch Ihre Augen,
meine Herren, und blicken Sie um sich! Das Blut fließt in Strömen und
dazu noch in einer so kreuzfidelen Weise, als ob’s Champagner wäre.
Nehmen Sie doch unser ganzes neunzehntes Jahrhundert, in dem auch Herr
Buckle gelebt hat: da haben Sie Napoleon – den Großen und den Dritten;
da haben Sie Nord-Amerika – die ewige Union; da haben Sie endlich das
karikaturhafte Schleswig-Holstein ... Und jetzt sagen Sie mir bitte,
worin uns denn die Kultur weicher macht? Die Kultur arbeitet im Menschen
nur die Vielseitigkeit der Empfindung aus und ... das ist alles, was sie
tut. Und gerade durch die Entwicklung dieser Vielseitigkeit wird der
Mensch schließlich auch im Blutvergießen Genuß finden. Er tut es ja
schon jetzt. Ist es Ihnen nicht aufgefallen, daß die raffiniertesten
Blutvergießer fast ausnahmslos die zivilisiertesten Menschen gewesen
sind, Menschen, mit denen sich solche wie Attila oder Stenjka Rasin[2]
überhaupt nicht vergleichen können, und wenn sie nicht so bekannt sind
wie Attila oder Stenjka Rasin, so kommt das nur daher, weil sie viel zu
häufig vorkommen, viel zu gewöhnlich sind, so daß man ihrer schon
überdrüssig geworden ist. Jedenfalls ist der Mensch durch die
Zivilisation, wenn nicht blutdürstiger, so doch gewiß schlechter,
gemeiner blutdürstig geworden, als er es früher war. Früher sah er im
Blutvergießen Gerechtigkeit und vernichtete mit ruhigem Gewissen einen
jeden, den er seiner Meinung nach vernichten mußte; jetzt jedoch
vergießen wir weit mehr Menschenblut, obgleich wir es schon längst für
eine Gemeinheit halten. Welch ein Blutvergießen ist nun schlechter?
Urteilen Sie selbst. Man sagt, Kleopatra – Verzeihung für das Beispiel
aus der Alten Geschichte – habe es geliebt, goldene Stecknadeln in die
Brüste ihrer Sklavinnen zu stecken, und habe an deren Gestöhn und
Geschrei Genuß gefunden. Sie werden sagen, daß das in, relativ
gesprochen, barbarischen Zeiten geschehen ist, daß wir auch jetzt noch
in barbarischen Zeiten leben, denn – wiederum relativ gesprochen – auch
jetzt stecke man Stecknadeln, und daß der Mensch auch jetzt noch, wenn
er auch schon gelernt habe, in manchen Dingen klarer zu sehen als in
barbarischen Zeiten, sich doch noch lange nicht gewöhnt hätte, so zu
handeln, wie es ihn die Vernunft und die Wissenschaften lehrten. Doch
immerhin sind Sie, meine Herren, vollkommen überzeugt, daß er sich
_bestimmt_ daran gewöhnen _wird_, in Zukunft, wenn auch die letzten
alten, dummen Angewohnheiten ganz vergessen sein werden, und wenn die
gesunde Vernunft nebst der Wissenschaft die menschliche Natur
vollständig umerzogen und auf den einzig richtigen Weg gelenkt haben
werden. Sie sind überzeugt, daß der Mensch dann von selbst aufhören
wird, freiwillig Fehler zu begehen, und seinen Willen seinen normalen
Interessen sozusagen unwillkürlich nicht mehr entgegensetzen wird. Ja,
Sie sagen sogar noch: dann wird die Wissenschaft selbst den Menschen
belehren – wenn das meiner Meinung nach auch schon Luxus ist – und ihm
sagen, daß er weder Wille noch Eigensinn in Wirklichkeit besitzt noch je
besessen hat, und daß er selbst nichts mehr ist, als etwas in der Art
einer Klaviertaste oder eines Drehorgelstiftes, und daß auf der Welt
außerdem noch Naturgesetze vorhanden sind: so daß alles, was er auch tun
mag, nicht durch seinen Wunsch oder Willen getan wird, sondern ganz von
selbst geschieht, einfach nach den Gesetzen der Natur. Folglich braucht
man dann nur diese Gesetze der Natur zu entdecken und sofort wird der
Mensch für seine Handlungen nicht mehr verantwortlich sein, und ein
ungemein leichtes Leben beginnen können. Versteht sich – alle
menschlichen Handlungen werden dann nach diesen Gesetzen mathematisch in
der Art der Logarithmentafeln bis 108 000 berechnet und in einen
Kalender eingetragen werden. Oder, noch besser, es werden einige
wohlgemeinte Bücher erscheinen, etwa wie die jetzigen encyclopädischen
Lexica, in denen dann alles so genau ausgerechnet und bezeichnet ist,
daß auf der Welt hinfort weder Taten noch Abenteuer mehr vorkommen
werden.

Dann also – das sind immer noch Ihre Meinungen, meine Herren – werden
die neuen ökonomischen Verhältnisse beginnen, vollkommen ausgearbeitete
und gleichfalls mit mathematischer Genauigkeit berechnete, so daß im
Handumdrehen alle Fragen verschwinden werden, – eigentlich nur aus dem
Grunde, weil man sonst die verschiedensten Antworten auf dieselben
erhielte. Dann wird ein Kristall-Palast gebaut werden, dann ... Nun, mit
einem Wort, dann wird der Märchenvogel angeflogen kommen. Natürlich kann
man nicht garantieren, – jetzt rede ich wiederum von mir aus –, daß es
dann z. B. nicht furchtbar langweilig sein wird – denn was soll man noch
machen, wenn alles schon berechnet ist? – dafür wird es aber ungemein
vernünftig sein. Aber was denkt man sich nicht alles aus Langeweile aus!
Die goldenen Nadeln wurden doch auch aus Langeweile gesteckt, und davon
noch gar nicht zu reden! Gemein ist nämlich nur, daß man sich dann der
Stecknadeln womöglich noch freuen wird. Denn der Mensch ist doch dumm,
phänomenal dumm! Das heißt, wenn er auch durchaus nicht dumm ist, so ist
er doch so undankbar, daß man etwas Undankbareres mit der Laterne suchen
kann und doch nicht finden wird. Z. B. würde es mich nicht im geringsten
wundern, wenn sich dann mir nichts, dir nichts inmitten der allgemeinen
zukünftigen Vernünftigkeit plötzlich irgend ein Gentleman vor uns
aufstellt, die Hände in die Seiten stemmt und mit spöttischer
Physiognomie uns allen sagt: „Nun wie, meine geehrten Anwesenden,
sollten wir nicht diese ganze Vernünftigkeit mit einem Fußtritt
zertrümmern, auf daß alle diese verfluchten Logarithmen zum Teufel gehen
und wir wieder nach unserem törichten Willen leben können!?“ Das wäre ja
schließlich noch nicht so schlimm, aber kränkend ist nur, daß er doch
zweifellos – was sage ich! – _unbedingt_ Gesinnungsgenossen finden wird.
Der Mensch ist nun einmal so geschaffen. Und er würde es aus dem
nichtigsten Grunde, den zu erwähnen es sich überhaupt nicht lohnen
sollte, tun: weil der Mensch, wer er auch sei, immer und überall so zu
handeln liebt, wie er will, und durchaus nicht so, wie es ihm Vernunft
und Vorteil befehlen. Wollen aber kann man auch gegen seinen eigenen
Vorteil und zuweilen _muß_ man es sogar _unbedingt_ – das ist schon so
meine Idee. Sein eigenes, freies Wollen, seine eigenen, meinetwegen
dümmsten Launen, seine Phantasie, die zuweilen selbst bis zur
Verrücktheit aufgeschraubt sein mag – das, gerade das ist ja dieser auf
keiner einzigen Liste vermerkte vorteilhafteste Vorteil, der sich
unmöglich klassifizieren läßt und durch den alle Systeme und Theorien
sofort zum Teufel gehen. Woher wissen es denn diese Weisen, daß der
Mensch irgend ein normales, irgend ein edles Wollen braucht? Wie kommen
Sie darauf, sich skrupellos einzubilden, daß der Mensch unbedingt ein
vernünftig-vorteilhaftes Wollen nötig hätte? Der Mensch braucht einzig
und allein _selbständiges_ Wollen, was diese Selbständigkeit auch kosten
und wohin sie auch führen mag. Aber das Wollen – weiß der Teufel ...


                                 VIII.

„Hahaha! Aber das Wollen, das gibt es ja in Wirklichkeit überhaupt
nicht!“ unterbrechen Sie mich lachend. „Die Wissenschaft hat den
Menschen heute schon so anatomiert, daß, wie wir wissen, das Wollen und
der sogenannte freie Wille nichts anderes sind, als ...“

Warten Sie, meine Herren, ich wollte ja selbst damit anfangen! Ich muß
gestehen, ich erschrak sogar, als mir das einfiel. Ich wollte gerade
ausrufen, daß das Wollen weiß der Teufel wovon abhängt, und daß wir
dafür meinetwegen Gott danken können, aber da fiel mir plötzlich die
Wissenschaft ein und ... da unterbrachen Sie mich auch schon. Nun, sagen
wir, daß man einmal wirklich die Formel aller unserer Wünsche und Launen
findet, ich meine, wovon sie abhängig sind, nach welchen Gesetzen sie
eigentlich entstehen, wie sie sich verbreiten, wohin sie in diesem oder
jenem Falle streben u. s. w., kurz, die richtige mathematische Formel, –
so wird doch der Mensch dann sofort womöglich aufhören, zu wollen, ja,
er wird sogar bestimmt aufhören, noch weiter zu wollen. Was ist denn das
für ein Vergnügen, nach dem Kalender zu wollen? Und das wäre ja noch
nicht alles: er verwandelt sich doch sofort aus einem Menschen in einen
Drehorgelstift, oder etwas derartiges; denn was ist der Mensch ohne
Wünsche, ohne Willen anderes, als ein Stiftchen an der Drehorgelwalze?
Was meinen Sie dazu? Untersuchen wir die Wahrscheinlichkeiten, – kann
das geschehen oder nicht?

„Hm! ...“ entscheiden Sie, – „unser Wollen ist infolge der fehlerhaften
Auffassung unserer Vorteile größtenteils fehlerhaft. Darum wollen wir
auch zuweilen reinen Blödsinn, weil wir infolge unserer Dummheit in
diesem Blödsinn den leichtesten Weg zur Erreichung irgend welches
vermeintlichen Vorteils sehen. Wenn aber alles erklärt, schwarz auf weiß
ausgerechnet sein wird, – was keineswegs unmöglich ist, denn es wäre
doch sinnlos und gemein, schon im voraus zu glauben, daß der Mensch
gewisse Naturgesetze niemals erfahren könnte –, so wird es dann
selbstverständlich diese sogenannten Wünsche nicht mehr geben. Denn wenn
sich das Wollen einmal mit der Vernunft vereint haben wird, so werden
wir dann eben vernunftgemäß denken, nicht aber wollen, und zwar einfach
aus dem Grunde nicht, weil man doch z. B. bei voller Vernunft nicht
Blödsinn _wollen_ und somit bewußt gegen seine Vernunft handeln und sich
Nachteiliges wünschen kann ... Da man aber alle Wünsche und Gedanken
tatsächlich einmal berechnet haben wird, denn irgend einmal wird man
doch die Gesetze unseres sogenannten freien Willens entdecken, so wird
es folglich doch zu so etwas in der Art einer Tabelle kommen, so daß wir
dann auch ^in facto^ nach dieser Tabelle wollen werden. Denn wenn man
mir vorrechnet und beweist, daß ich, wenn ich irgend jemandem eine lange
Nase gezeigt, dieses ausschließlich getan habe, weil ich sie unbedingt
gerade so, mit genau solch einer Grimasse habe zeigen müssen, so möchte
ich bloß wissen, was nach dem noch _Freies_ in mir übrig bleibt,
besonders wenn ich Gelehrter bin und irgendwo den Kursus der
Wissenschaften beendet habe? Dann kann ich ja mein Leben auf ganze
dreißig Jahre vorausberechnen. Mit einem Wort, wenn es einmal dazu
kommt, so wird doch nichts mehr daran zu ändern sein; man wird es
einfach annehmen müssen. Ja, und überhaupt müssen wir uns unermüdlich
immer wieder sagen, daß die Natur uns dann und dann, sagen wir im
Augenblick, da wir die lange Nase unter diesen oder jenen Umständen
zeigen, nicht erst nach unserem Willen fragt; wir müssen sie so nehmen,
wie sie ist, nicht aber so, wie wir sie uns vorstellen, und wenn wir
wirklich nach der Tabelle und dem Kalender streben, nun und ... wenn
auch meinetwegen zur Retorte, so – was ist denn dabei zu machen, – so
müssen Sie auch die Retorte annehmen! Andernfalls wird sie eben ohne Sie
angenommen ...“

Wunderbar, aber gerade hier liegt meiner Meinung nach der Haken! Meine
Herren, Sie werden mir verzeihen, daß ich mich von der Philosophie habe
fortreißen lassen; in ihr liegen vierzig Jahre Dunkel! Da können Sie mir
doch erlauben, zu phantasieren. Sehen Sie mal: die Vernunft, meine
Herren, ist eine gute Sache, das wird niemand bestreiten, aber die
Vernunft ist und bleibt nur Vernunft, und befriedigt nur den Geist des
Menschen; das Wollen dagegen ist die Offenbarung des ganzen Lebens, d.
h. des ganzen menschlichen Lebens mit allem, was drum und dran ist. Und
wenn sich auch unser Leben in dieser Offenbarung oftmals als ein
lumpiges Ding erweist, so ist es doch immerhin Leben und nicht nur ein
Ausziehen von Quadratwurzeln. Denn ich z. B. will doch ganz natürlicher
Weise leben, um meine ganze Lebensfähigkeit zu befriedigen, nicht aber,
um bloß meiner Vernunft Genüge zu tun, also irgend einem zwanzigsten
Teil meiner ganzen Lebensfähigkeit. Was weiß denn die Vernunft? Die
Vernunft weiß nur das, was sie bereits erfahren hat – anderes wird sie
überhaupt nie wissen: das ist zwar kein Trost, doch warum soll man es
denn nicht aussprechen? –, die menschliche Natur jedoch handelt stets
als Ganzes, mit allem, was in ihr ist, bewußt und unbewußt, und wenn sie
auch lügt, so lebt sie doch. Ich argwöhne, meine Herren, daß Sie mich
jetzt gewissermaßen bemitleiden; Sie wiederholen mir, daß es für einen
gebildeten und entwickelten Menschen, kurz, für einen Menschen, wie wir
ihn im zukünftigen Typ haben werden, unmöglich sein wird, wissentlich
sich etwas für sich unvorteilhaftes zu wünschen, – daß dieses
mathematisch klar sei. Bin vollkommen einverstanden mit Ihnen, meine
Herren, gebe zu, daß es tatsächlich mathematisch klar ist. Doch trotzdem
sage ich Ihnen zum hundertsten Mal: es gibt solch einen Fall, nur einen
einzigen, in dem sich der Mensch wissentlich, absichtlich sogar
Schädliches, Dummes, ja sogar Allerdümmstes wünschen kann, und zwar: um
das _Recht zu haben_, sich sogar das Dümmste wünschen zu können, und
nicht durch die Pflicht, sich einzig und allein nur Kluges wünschen zu
müssen, gebunden zu sein. Gerade dieses „Allerdümmste“, diese seine
Laune kann ja doch, meine Herren, für unsereinen in der Tat das
Vorteilhafteste von allem sein, was es auf der Welt gibt, und das
besonders noch in gewissen Fällen. Und mitunter kann es sogar
vorteilhafter als alle Vorteile selbst in solch einem Falle sein, wenn
es uns augenscheinlich Schaden bringt und unseren allergesündesten
Vernunftschlüssen über die Vorteile widerspricht, – denn es erhält uns
doch jedenfalls das Hauptsächlichste und Teuerste: unsere
Persönlichkeit, unsere Individualität. Behaupten doch schon einige
Philosophen, daß dieses für den Menschen wirklich das Teuerste sei; das
Wollen kann sich natürlich, wenn es will, auch mit der Vernunft
vereinigen, besonders wenn man sie nicht mißbraucht, sondern sich ihrer
gemäßigt bedient; das ist dann auch ganz nützlich und zuweilen sogar
lobenswert. Nun ist aber das Wollen sehr häufig, ja, sogar größenteils
vollkommen und eigensinnig anderer Meinung, wie die gesunde Vernunft,
und ... und ... und wissen Sie auch, daß auch das nützlich und zuweilen
sogar lobenswert ist? Meine Herren, nehmen wir an, daß der Mensch nicht
dumm ist ... Das kann man ja auch wirklich nicht von ihm sagen, denn
sonst erhebt sich sofort die Frage, wer denn eigentlich klug sein soll?
... Doch wenn er auch nicht dumm ist, so ist er doch – ungeheuer
undankbar! Ganz phänomenal undankbar! Ich glaube sogar, daß die beste
Bezeichnung des Menschen sein würde: ein Wesen, das auf zwei Beinen
steht und undankbar ist. Doch das ist noch nicht so schlimm; das ist
noch nicht sein Hauptfehler; sein Hauptfehler ist – seine fortwährende,
beständige Unsittsamkeit, angefangen von der Sintflut bis zur
Schleswig-Holsteinschen Periode der Menschenschicksale. Ja,
Unsittsamkeit, folglich aber auch Unvernunft; denn es ist doch schon
längst bekannt, daß Unvernunft nicht anders entsteht, als durch
Unsittsamkeit. Versuchen Sie es, werfen Sie einen Blick auf die
Geschichte der Menschheit: nun, was? Großartig – wie? Meinetwegen auch
großartig; allein schon der Koloß von Rhodos, was der wert ist! Nicht
umsonst sagen die einen von ihm, er sei ein Werk von Menschenhand, die
anderen aber, er wäre von der Natur selbst geschaffen worden. – Oder
finden Sie sie bunt? Nun, meinetwegen auch bunt: wollte man bloß die
Paradeuniformen der Militärs und Staatsleute nach den Jahrhunderten und
den Nationen klassifizieren, – welch eine Heidenarbeit wäre schon das
allein, und dabei wären die Mäntel noch nicht einmal mitgerechnet, –
kein Historiker würde das fertig stellen. – Oder einförmig? Nun,
meinetwegen auch einförmig: sie raufen sich, und raufen sich, und raufen
sich jetzt und haben sich früher gerauft und haben sich später gerauft
und werden sich auch noch hinfort raufen – Sie müssen mir doch zugeben,
nicht wahr, daß das denn doch schon verboten einförmig ist! Kurz, man
kann alles über die Weltgeschichte sagen, alles, was der
hirnverbranntesten Einbildungskraft einfällt. Nur eines kann man nicht
sagen, nämlich: daß sie vernünftig wäre. Sie würden bei der ersten Silbe
stecken bleiben und das Hüsteln kriegen. Und dabei stößt man noch bei
jeder Gelegenheit auf folgendes Naturspiel: fortwährend erscheinen im
Leben solche sittsame und vernünftige und weise Leute, und Freunde des
Menschengeschlechts, die es sich zum Ziel setzen, ihr ganzes Leben lang
sich möglichst sittsam und vernünftig zu benehmen, gleichsam um mit
ihrer Person den lieben Nächsten eine Leuchte zu sein, und das
eigentlich nur, um ihnen zu beweisen, daß man in der Welt tatsächlich
sowohl sittsam als vernünftig leben kann. Und? Bekanntlich aber sind
viele dieser Menschheitsfreunde früher oder später oder vielleicht auch
erst am späten Lebensabend sich nicht treu geblieben und haben irgend so
ein Geschichtchen gemacht, zuweilen sogar eines, das zu den
allerunsittsamsten gehört. Jetzt frage ich Sie: was kann man nun von
einem Menschen, als von einem Wesen, das mit solchen sonderbaren
Eigenschaften bedacht ist, erwarten? Überschütten Sie ihn mit allen
Erdengütern, versenken Sie ihn in Glück bis über die Ohren, bis über den
Kopf, so daß auf der Oberfläche des Glücks wie auf dem Wasserspiegel nur
noch Blasen aufsteigen, geben Sie ihm solch ein pekuniäres Auskommen,
daß ihm nichts anderes zu tun übrig bleibt, als zu schlafen,
Pfefferkuchen zu vertilgen und für das Nichtaussterben der Menschheit zu
sorgen, – so wird er, dieser selbe Mensch, Ihnen doch auf der Stelle aus
bloßer Undankbarkeit, einzig zu Ihrer Schmach und Schande einen Streich
spielen. Er wird sogar die Pfefferkuchen aufs Spiel setzen und
sich vielleicht den verderblichsten Blödsinn wünschen, den
allerunökonomischsten Blödsinn, einzig um in diese ganze positive
Vernünftigkeit sein verderbliches, phantastisches Element
hineinzumischen. Gerade seine phantastischen Gedanken, seine gemeinste
Dummheit wird er behalten wollen, und zwar ausschließlich zu dem Zweck,
um sich selbst zu beweisen – ganz als ob das weiß Gott wie nötig wäre –,
daß die Menschen immer noch Menschen sind, und nicht Klaviertasten, auf
denen meinetwegen die Naturgesetze eigenhändig spielen mögen, dafür aber
doch drohen, sich dermaßen einzuspielen, daß man allseits vom Kalender
überhaupt nichts mehr wird wünschen oder wollen dürfen. Und nicht genug
damit: selbst wenn er sich wirklich nur als Klaviertaste erweisen
sollte, und wenn man ihm das sogar wissenschaftlich und mathematisch
beweisen würde, selbst dann würde er nicht Vernunft annehmen, und noch
zum Trotz absichtlich etwas Unheilvolles machen, natürlich nur aus purer
Undankbarkeit, und eigentlich nur, um auf dem Seinen zu bestehn. Falls
sich aber bei ihm keine Mittel, keine Möglichkeiten dazu erweisen
sollten, so würde er sich Zerstörung und Chaos ausdenken, würde sich
womöglich selbst Qualen ausdenken, aber doch auf dem Seinen eigensinnig
bestehn! Flüche würde er über die Welt ausschütten! Da aber nur der
Mensch allein fluchen kann – das ist nun schon einmal sein Privilegium,
eines, das ihn vorzugsweise von den anderen Tieren unterscheidet –, so
wird er doch mit diesem Fluch allein erreichen, was er will, d. h. wird
sich tatsächlich überzeugen, daß er ein Mensch und keine Klaviertaste
ist. Wenn Sie sagen, man könne auch dieses nach der Tabelle ausrechnen,
Chaos, Finsternis und Fluch, so daß schon die bloße Möglichkeit der
vorherigen Berechnung alles stocken macht und die Vernunft dann das Ihre
nimmt, – so wird der Mensch sich ja womöglich verrückt machen, um keine
Vernunft mehr zu haben und somit doch auf dem Seinen bestehn zu können.
Daran glaube ich fest, dafür stehe ich ein, denn genau genommen besteht
doch das ganze menschliche Tun, wie’s scheint, bloß darin, daß der
Mensch sich immerwährend beweist, daß er ein Mensch ist und kein
Stiftchen! Und wenn er es auch selbst ausbaden muß, aber beweisen will
er’s, einerlei womit, aber beweisen, beweisen! Wenn das aber wahr ist,
wie soll man dann nicht sündigen, nicht Gott danken, daß dieses noch
nicht eingeführt ist und das Wollen vorläufig noch weiß der Teufel wovon
abhängt!?

Sie schreien mir zu – wenn Sie mich überhaupt noch Ihres Schreiens
würdigen –, daß mir doch niemand den Willen entziehe, daß man ja hierbei
nur eines im Auge hätte, nämlich: es irgendwie so zu machen, daß mein
Wille ganz von selbst, freiwillig mit meinen normalen Interessen
zusammenfiele, mit den Gesetzen der Natur und Arithmetik.

Ach, meine Herren, was kann es denn da noch für einen eigenen Willen
geben, wenn die Sache schon bis zur Tabelle und bis zur Arithmetik
kommt, wenn nur noch Zweimalzwei = vier im Gange ist? Zweimalzwei wird
auch ohne meinen Willen vier sein. Sieht denn freier Wille etwa so aus?


                                  IX.

Meine Herren, ich scherze natürlich nur, und ich weiß es ja selbst, daß
ich erfolglos scherze, aber man kann doch wirklich nicht alles für
Scherz nehmen. Ich scherze, während ich vielleicht mit den Zähnen
knirsche. Meine Herren, mich quälen viele Fragen; beantworten Sie sie
mir. Sie wollen z. B. den Menschen von seinen alten Angewohnheiten
abbringen und seinen Willen den Erkenntnissen der Wissenschaft und der
gesunden Vernunft gemäß verbessern. Woher aber wissen Sie, ob es nicht
nur möglich, sondern überhaupt _nötig_ ist, den Menschen so zu
verbessern? Woraus schließen Sie, daß das menschliche Wollen der
Verbesserung so notwendig bedarf? Mit einem Wort, woraus schließen Sie,
daß solch eine Verbesserung dem Menschen wirklich vorteilhaft sein wird?
Und – da ich Sie schon einmal frage – warum sind Sie so _vollkommen_
überzeugt, daß den wahren, normalen Vorteilen, die durch die Schlüsse
der gesunden Vernunft und Arithmetik garantiert werden, _nicht_
zuwiderhandeln, für den Menschen immer wirklich vorteilhaft, und der
ganzen Menschheit durchaus Gesetz sei? Das ist doch vorläufig nur Ihre
bloße Annahme. Nun schön, nehmen wir an, daß es die Gesetze der Logik
sind, so sind es doch allein deswegen vielleicht noch längst nicht
Gesetze der Menschheit. Sie glauben vielleicht, meine Herren, daß ich
verrückt bin? Erlauben Sie, daß ich mich rechtfertige. Also gut: der
Mensch ist ein vornehmlich schöpferisches Tier, das verurteilt ist,
bewußt nach einem Ziel zu streben, und sich ewig und ununterbrochen
einen Weg zu bahnen, wenn auch _einerlei wohin_. Nun aber will er sich
vielleicht gerade deswegen zuweilen aus dem Staube machen, sich abseits
in die Büsche schlagen, weil er dazu _verurteilt_ ist, sich diesen Weg
zu bahnen, und meinetwegen auch noch aus dem anderen Grunde, weil ihm,
wie dumm der unmittelbare Tatmensch im allgemeinen auch sein mag,
zuweilen doch der Gedanke kommt, daß dieser Weg, wie es sich erweist,
fast immer _einerlei wohin_ führt, und daß die Hauptsache durchaus nicht
ist, _wohin_ er führt, sondern, daß er überhaupt nur führt, auf daß sich
das sittsame Menschlein nicht dem verderblichen Müßiggang ergebe, der,
wie allgemein bekannt, aller Laster Anfang ist. Der Mensch liebt, zu
schaffen und Wege zu bahnen, das steht fest. Warum aber liebt er bis zur
Leidenschaft gleichfalls die Zerstörung und das Chaos? Bitte, meine
Herren, beantworten Sie mir doch diese Frage! Aber darüber will ich ganz
gern selbst ein paar Worte sagen. Liebt er Zerstörung und Chaos
vielleicht deswegen so sehr – denn es ist doch klar, daß er sie zuweilen
ganz ungewöhnlich liebt, das ist schon so –, weil er sich instinktiv
fürchtet, das Ziel zu erreichen, das zu schaffende Gebäude zu vollenden?
Was können Sie wissen, meine Herren, vielleicht liebt er dieses Gebäude
nur aus der Entfernung, nicht aber in der Nähe? Vielleicht liebt er nur,
es zu schaffen, in ihm zu leben aber überläßt er ^aux animaux
domestiques^, als da sind: Ameisen, Schafe, Ochsen usw. usw. Sehen Sie,
die Ameisen z. B. sind ganz andere Geisteskinder. Sie haben schon ein
bewunderungswürdiges, unzerstörbares Gebäude – den Ameisenhaufen.

Mit dem Ameisenhaufen haben die ehrenwerten Ameisen angefangen, mit dem
Ameisenhaufen werden sie bestimmt auch enden, was ihrer Beständigkeit
und Positivität fraglos große Ehre macht. Der Mensch aber ist ein
leichtsinniges Wesen, und liebt vielleicht gleich dem Schachspieler nur
den Prozeß des Strebens zum Ziel, nicht aber das Ziel an und für sich.
Und wer weiß – man kann es doch nicht verreden –, es wäre vielleicht
sogar möglich, daß auch das ganze Erdenziel, zu dem die Menschheit
strebt, nur in diesem einen ununterbrochenen Prozeß des Strebens liegt,
nicht aber eigentlich im Ziel, das natürlich nichts anderes sein kann,
als Zweimalzwei-ist-vier, d. h. die Formel. Zweimalzwei-ist-vier ist
aber nicht mehr Leben, meine Herren, sondern der Anfang des Todes.
Wenigstens hat der Mensch dieses Zweimalzwei-ist-vier immer
gewissermaßen gefürchtet, ich aber fürchte es auch jetzt noch.
Nehmen wir an, daß der Mensch nichts anderes tut, als dieses
Zweimalzwei-ist-vier suchen, in diesem Suchen Ozeane überschwimmt, das
Leben opfert, jedoch es zu finden, sich, bei Gott, fürchtet. Er fühlt
doch, daß ihm, wenn er es gefunden hat, nichts mehr zu suchen übrig
bleibt. Wenn Arbeiter eine Arbeit beendet haben, so erhalten sie doch
wenigstens Geld, für das sie in die Schenke gehn und sich betrinken, um
darauf von der Polizei abgeführt zu werden, – und damit wäre eine Woche
ausgefüllt. Wohin aber soll der Mensch gehn? Wenigstens kann man an ihm
jedesmal, wenn er ein ähnliches Ziel erreicht hat, gewissermaßen eine
Enttäuschung, etwas Unbeholfenes wahrnehmen. Das Streben nach der
Erreichung des Zieles liebt er, das Erreichen aber selbst – nicht mehr
so ganz; und das ist natürlich äußerst lächerlich. Kurz: der Mensch ist
schon lächerlich von Natur; in allem zusammengenommen ist
augenscheinlich ein Kalauer enthalten. Doch Zweimalzwei-ist-vier
– bleibt immerhin eine verteufelt unerträgliche Sache.
Zweimalzwei-ist-vier, das ist meiner Meinung nach nur eine unverschämte
Frechheit! Zweimalzwei-ist-vier steht wie ein frecher Bengel mit den
Händen in den Hosentaschen mitten auf unserer Straße und spuckt bloß
nach rechts und links. Ich gebe ja widerspruchslos zu, daß
zweimalzwei-ist-vier eine ganz vortreffliche Sache ist, doch, wenn man
schon einmal lobt, so ist auch zweimal-zwei-ist-_fünf_ zuweilen ein
allerliebstes Sächelchen.

Und warum sind Sie so fest, so feierlich überzeugt, daß ausschließlich
das Normale und Positive – mit einem Wort, daß nur die Wohlfahrt dem
Menschen vorteilhaft sei? Sollte sich diese Ihre Vernunft nicht
vielleicht täuschen in dem, was sie Vorteile nennt? Denn es kann doch
sein, daß der Mensch nicht nur die Wohlfahrt allein liebt? Vielleicht
liebt er ganz ebenso sehr das Leiden? Vielleicht bringt ihm das Leid
ebenso viel Gewinn, wie die Wohlfahrt? Und der Mensch liebt zuweilen
wirklich das Leiden, bis zur Leidenschaft kann er es lieben, – bitte,
das ist Tatsache. Da braucht man sich nicht mehr an die Weltgeschichte
zu halten; man frage sich selbst, wenn man nur ein Mensch ist und zum
mindesten ein wenig gelebt hat. Was meine persönliche Meinung
anbetrifft, so ist nichts als Wohlfahrt lieben geradezu unanständig.
Ob’s gut oder schlecht ist, – aber irgend etwas zerbrechen ist mitunter
gleichfalls äußerst angenehm. Ich bin ja eigentlich nicht gerade für das
Leiden, doch natürlich auch nicht für die Wohlfahrt. Ich bin für ... den
Eigenwillen und dafür, daß ich mich zu jeder Zeit auf ihn verlassen
kann. Das Leiden wird z. B. in Vaudevilles nicht zugelassen, das weiß
ich. Im Kristallpalast ist es ja auch undenkbar: Leiden ist Zweifel, ist
Verneinung, was aber gibt es im Kristallpalast, worüber man in Zweifel
geraten könnte? Währenddessen aber bin ich überzeugt, daß der Mensch auf
das wirkliche Leiden, d. h. auf Zerstörung und Chaos niemals verzichten
wird. Das Leiden – ja, das ist doch die einzige Ursache der Erkenntnis!
Wenn ich auch zu Anfang behauptet habe, daß die Erkenntnis meiner
Meinung nach für den Menschen das größte Unglück ist, so weiß ich doch,
daß der Mensch es liebt und gegen _keine_ Befriedigungen eintauschen
würde. Die Erkenntnis steht z. B. unendlich höher als Zweimalzwei. Nach
den Zweimalzweien, versteht sich, bleibt ja nicht nur nichts mehr zu
tun, sondern auch nichts mehr zu erkennen übrig. Alles, was dann noch
möglich sein wird, ist – seine fünf Sinne zu verstopfen und sich in
Selbstanschauung zu versenken. Nun, und wenn es bei der Selbstanschauung
auch zum selben Resultat kommen sollte, daß es nichts zu tun geben wird,
so wird man wenigstens sich selbst mitunter zerfleischen können, das
aber ermuntert doch immerhin. Wenn’s auch rückständig ist, so ist es
doch, was man dagegen auch sagen mag, immer besser als nichts tun.


                                   X.

Sie, meine Herren, glauben an einen ewig unzerstörbaren Kristallpalast,
d. h. also an etwas, dem man heimlich weder die Zunge zeigen noch eine
lange Nase machen kann. Ich aber fürchte diesen Palast, gerade weil er
aus Kristall und ewig unzerstörbar ist, und weil man ihm nicht einmal
heimlich wird die Zunge zeigen können.

Denn sehen Sie mal: wenn an Stelle des Palastes ein Hühnerstall wäre und
es regnete, so würde ich vielleicht auch in den Hühnerstall kriechen, um
nicht naß zu werden, doch würde ich trotzdem nicht aus bloßer
Dankbarkeit den Hühnerstall für einen Palast halten, einzig weil er mich
vor dem Regen beschützt hat. Sie lachen, Sie sagen, daß in diesem Fall
der Hühnerstall und ein großes Wohnhaus – ein und dasselbe wären. Gewiß,
antworte ich, wenn man nur zu dem Zweck leben müßte, um nicht naß zu
werden.

Was soll ich aber tun, wenn ich es mir nun einmal in den Kopf gesetzt
habe, daß man nicht nur zu dem Zweck lebt, und daß, wenn man schon
einmal lebt, dann auch in Wohnhäusern leben sollte. Das ist meine
Überzeugung, das sind meine Wünsche, und die werden Sie nur dann aus mir
herausreißen können, wenn es Ihnen zuerst gelingt, sie zu verändern. Nun
gut, verändern Sie mich, verführen Sie mich zu etwas Anderem, geben Sie
mir ein anderes Ideal. Vorher aber werde ich einen Hühnerstall doch
nicht für einen Palast halten. Mag es sogar so sein, daß der
Kristallpalast nur Aufschneiderei ist, daß man ihn nach den
Naturgesetzen überhaupt nicht als möglich annehmen kann, und daß ich ihn
mir nur infolge meiner eigenen Dummheit ausgedacht habe, infolge einiger
alter irrationaler Angewohnheiten unserer Generation. Was geht es aber
mich an, ob man ihn annehmen kann oder nicht. Bleibt sich das denn nicht
ganz gleich, wenn er nur in meinen Wünschen vorhanden ist, oder, besser
gesagt, so lange vorhanden ist, wie meine Wünsche vorhanden sind?
Vielleicht belieben Sie wieder, über mich zu lachen? Nur zu! Ich nehme
Ihren ganzen Spott gerne hin, doch werde ich nicht sagen, daß ich satt
bin, wenn ich essen will; ich weiß, daß ich mich mit einem Kompromiß
nicht zufrieden geben werde, mit einer unendlichen periodischen Null,
bloß weil sie nach den Naturgesetzen wirklich vorhanden ist. Ich werde
niemals sagen, die Krone meiner Wünsche sei – eine Mietskaserne mit
Wohnungen für die Armen und auf alle Fälle mit dem Aushängeschild irgend
eines jüdisch-deutschen Zahnarztes. Vernichten Sie meine Wünsche,
verwischen Sie die Bilder meiner Ideale, zeigen Sie mir irgend etwas
Besseres, und ich werde Ihnen glauben. Meine Herren, Sie wollen mir
vielleicht sagen, es lohne sich nicht, unsere Bekanntschaft weiter
fortzusetzen? In dem Falle aber könnte ich Ihnen von mir aus dasselbe
sagen. Wir diskutieren ja im Ernst. Wollen Sie mich jedoch Ihrer
Aufmerksamkeit nicht mehr würdigen, so werde ich Sie nicht weiter
belästigen. Meinetwegen. Ich werde Sie ja sowieso nicht grüßen.

Ich habe meinen dunklen Winkel, habe meinen Untergrund.

Vorläufig aber lebe und wünsche ich noch, – und daß mir meine Hand
verdorre, wenn ich auch nur einen einzigen Ziegelstein zum Bau solch
einer Mietskaserne bringe! Beachten Sie bitte weiter nicht, daß ich
vorhin den Kristallpalast, wie ich vorgab, aus dem einen Grunde
ablehnte, weil man ihm nicht die Zunge zeigen könne. Ich habe das
keineswegs gesagt, weil ich es etwa so liebe, meine Zunge
herauszustecken. Ich ... vielleicht hat es mich nur geärgert, daß es
unter all Ihren Gebäuden bis jetzt noch kein einziges gibt, dem man auch
nicht die Zunge zeigen wollte. Im Gegenteil, ich wäre sogar gern bereit,
mir aus lauter Dankbarkeit die Zunge ganz und gar abschneiden zu lassen,
wenn man mir dafür garantiert, daß mich dann niemals mehr der Wunsch
anwandeln wird, sie noch herauszustecken. Was kann ich dafür, daß mir
dieses niemand garantiert, und daß man sich mit Mietswohnungen begnügen
muß! Warum bin ich denn mit solchen Wünschen geschaffen? Sollte ich denn
wirklich nur geschaffen sein, um zur Überzeugung zu kommen, daß mein
ganzer innerer Mensch nichts als Betrug ist? Sollte wirklich der ganze
Zweck meines Daseins nur darin liegen? Glaub’s nicht.

Doch, übrigens, wissen Sie was: ich bin überzeugt, daß man unsereinen,
ich meine, solch einen Untergrundmenschen, im Zaum halten muß. Er ist
wohl fähig, vierzig Jahre lang stumm im dunkelsten Winkel zu sitzen,
dafür aber geht er denn auch sofort durch, wenn er einmal ans Tageslicht
kommt, dann redet er, redet er, redet er ...


                                  XI.

Das Resultat, meine Herren: am besten ist – überhaupt nichts tun! Lieber
kontemplative Inertie! Und darum – es lebe der dunkle Untergrund! Ich
habe zwar gesagt, daß ich den normalen Menschen bis zur grünsten Galle
beneide, doch in jenen Verhältnissen, in denen ich ihn sehe, will ich
nicht er sein – obgleich ich trotzdem nicht aufhören werde, ihn zu
beneiden. Nein, nein, der Untergrund ist in jedem Fall vorteilhafter! In
ihm kann man wenigstens ... Ach! Ich lüge ja schon wieder, sogar hier
lüge ich! Ich lüge, weil ich ja selbst weiß, wie zweimal-zwei-ist-vier
weiß, daß der Untergrund keineswegs besser ist, sondern etwas Anderes,
ganz Anderes, nachdem ich mich sehne, über die Maßen sehne, und das ich
doch nicht finden kann! Der Teufel hole den Untergrund!

Ja, wissen Sie, was dieses „Besser“ wäre: das wäre – wenn ich selbst nur
an irgend etwas von dem glauben könnte, was ich soeben geschrieben habe.
Ich schwöre Ihnen doch, meine Herren, daß ich keinem einzigen, aber auch
wirklich keinem einzigen Wort von all dem, was ich geschrieben habe,
glaube! Das heißt, schließlich glaube ich ja auch, doch im selben
Augenblick fühle und argwöhne ich, weiß wirklich nicht warum, daß ich
wie ein Schuster lüge.

„Ja, wozu haben Sie denn das alles geschrieben?“ fragen Sie mich.

Warten Sie mal, ich werde Sie auf vierzig Jahre ohne jede Beschäftigung
in einen Keller einsperren, und dann nach vierzig Jahren zu Ihnen
kommen, um mich zu erkundigen, wie weit Sie es gebracht haben. Kann man
denn einen Menschen vierzig Jahre lang ohne Arbeit allein lassen?

„Und Sie schämen sich nicht einmal!?“ werden Sie mir vielleicht mit
verächtlichem Kopfschütteln zurufen. „Sie lechzen nach dem Leben und
wollen dabei doch die Lebensfragen mit logischem Unsinn lösen? Und wie
zudringlich, wie frech Ihre Ausfälle sind, und, zu gleicher Zeit, wie
fürchten Sie sich doch! Sie reden Unsinn und finden Gefallen an ihm; Sie
sagen Frechheiten, wegen deren Sie sich fürchten, und für die Sie
ununterbrochen um Entschuldigung bitten. Sie versichern, Sie fürchteten
nichts, und währenddessen bemühen Sie sich doch, unsere gute Meinung zu
erschmeicheln. Sie versichern, Sie knirschten mit den Zähnen, und zu
gleicher Zeit reißen Sie Witzchen, um uns zu erheitern. Sie wissen, daß
Ihre Witze nicht geistreich sind, doch sind Sie mit ihrem literarischen
Wert augenscheinlich zufrieden. Es ist möglich, daß Sie vielleicht
wirklich gelitten haben, doch achten Sie ihre Leiden nicht im
Geringsten. In Ihnen steckt allerdings auch Wahrheit, doch was Ihnen
gänzlich fehlt, ist Keuschheit; aus kleinlicher Ruhmsucht tragen Sie
Ihre Wahrheit zur Schau, zu Schimpf und Schande auf den Markt ... Sie
wollen, wie’s scheint, tatsächlich etwas sagen, doch aus Furcht
verstecken Sie Ihr letztes Wort, denn Sie haben keinen Mut, es
auszusprechen. Sie haben ja nur feige Gemeinheit. Sie rühmen sich mit
Ihrer Erkenntnis, doch wirklich überzeugt sind Sie von keiner einzigen:
Sie schwanken zwischen allen Erkenntnissen hin und her, denn wenn Ihr
Verstand auch arbeitet, so ist doch Ihr Herz von Verderbnis beschmutzt,
ohne ein reines Herz jedoch – wird man niemals zu voller, rechter
Erkenntnis gelangen. Und wie zudringlich Sie sind, wie Sie sich
verstellen! Alles ist bei Ihnen Lüge, Lüge, Lüge!“

Selbstverständlich habe ich diese Ihre Worte mir selbst ausgedacht. Die
kommen gleichfalls aus dem Untergrund. Dort habe ich vierzig Jahre lang
auf diese Ihre Worte durch eine kleine Spalte gelauscht. Ich habe sie
mir selbst ausgedacht ... das ist ja doch alles, was bei meinem Denken
herausgekommen ist. Was Wunder, wenn ich sie schon auswendig hersagen
kann, und wenn sie literarische Form angenommen haben ...

Sollte es möglich sein, wäre es wirklich möglich, daß Sie tatsächlich so
leichtgläubig sind und faktisch glauben, ich würde alles, was ich
geschrieben habe, drucken lassen und es dann noch Ihnen zu lesen geben?
Und dann ist mir noch eines rätselhaft: warum nenne ich Sie „meine
Herren“, warum wende ich mich an Sie, ganz als ob ich mich wirklich an
Leser wendete? Geständnisse, wie _ich_ sie zu machen beabsichtige, läßt
man nicht drucken, und gibt man nicht anderen zu lesen. Wenigstens habe
ich nicht so viel Festigkeit in mir, um so etwas zu tun, und ich halte
es auch für überflüssig, sie zu haben. Aber, sehen Sie, mir ist ein
phantastischer Gedanke in den Kopf gekommen, und nun will ich ihn
unbedingt aussprechen. Es handelt sich um folgendes:

In den Erinnerungen eines jeden Menschen gibt es Dinge, die er nicht
allen mitteilt, sondern höchstens seinen Freunden. Aber es gibt auch
Dinge, die er nicht einmal den Freunden aufdeckt, sondern nur sich
selbst, ja und auch das nur unter dem Siegel der Verschwiegenheit.
Endlich gibt es aber auch noch Dinge, die der Mensch sogar sich selbst
zu sagen sich fürchtet, und solcher Dinge sammelt sich bei jedem
anständigen Menschen eine ganz beträchtliche Menge an. Und zwar läßt
sich sogar folgendes sagen: je mehr er ein „anständiger Mensch“ ist,
desto mehr wird er solcher Dinge haben. Wenigstens habe ich mich erst
vor ganz kurzer Zeit entschlossen, mich einiger meiner früheren
Erlebnisse zu erinnern, bis dahin aber umging ich sie immer mit einer
gewissen Unruhe. Jetzt jedoch, da ich nicht nur an sie denke, sondern
mich sogar entschlossen habe, sie niederzuschreiben, jetzt will ich
gerade erproben: kann man denn wenigstens sich selbst gegenüber ganz und
gar aufrichtig sein, ohne die Wahrheit zu fürchten? Bei der Gelegenheit:
Heine behauptet, wahrheitsgetreue Autobiographien gäbe es überhaupt
nicht, der Mensch könne niemals die ganze Wahrheit über sich schreiben.
Seiner Meinung nach hat z. B. Rousseau in seinen Bekenntnissen bestimmt
über sich selbst gelogen, und sogar bewußt gelogen, aus Ruhmsucht. Ich
bin überzeugt, daß Heine recht hat; ich verstehe sehr gut, wie man sich
zuweilen einzig aus Ruhmsucht ganze Verbrechen aufschwätzen kann, und
ich begreife auch vollkommen, welcher Art diese Ruhmsucht ist. Doch
Heine urteilte über einen Menschen, der vor dem Publikum beichtete. Ich
jedoch schreibe nur für mich und erkläre hiermit ein für alle Mal, daß
ich, wenn ich auch so schreibe, als ob ich mich an meine Leser wende, es
nur zum Schein tue, weil es mir so leichter ist, zu schreiben. Es ist
also nur eine gewisse Form bei mir, eine ganz bedeutungslose
Redewendung; Leser werde ich niemals haben. Übrigens habe ich das ja
schon einmal gesagt ...

Ich will mich in der Redaktion meiner Aufzeichnungen durch nichts
beeinflussen lassen. Ein besonderes System werde ich nicht anwenden.
Werde schreiben, was mir gerade einfällt.

Nun, sehen Sie, da könnten Sie mich jetzt mit vollem Recht fragen:
„Warum treffen Sie denn, wenn Sie wirklich nicht auf Leser rechnen, mit
sich selbst und dazu noch schriftlich solche Verabredungen, wie z. B.,
daß Sie kein System einführen würden, daß Sie alles so niederschreiben
wollten, wie es Ihnen einfällt u. s. w.? Wozu erklären Sie so viel?
Warum entschuldigen Sie sich?“

„Ja, seht doch mal!“

Hierin liegt übrigens die ganze Psychologie. Es kann aber auch sein, daß
ich einfach nur ein Feigling bin. Aber es kann auch sein, daß ich mir
absichtlich ein Publikum ausdenke, um mich in der Zeit, in der ich
schreibe, anständiger zu benehmen. Gründe kann es doch wirklich zu
Tausenden geben.

Aber noch eines: warum eigentlich, zu welch einem Zweck will ich denn
schreiben? Wenn es nicht für ein Publikum geschieht, so könnte man sich
alles dessen doch auch so, einfach in Gedanken, erinnern, ohne es zu
Papier zu bringen?

Stimmt. Aber auf dem Papier nimmt es sich doch gewissermaßen feierlicher
aus, geschrieben liegt etwas eindringlicheres darin, es wird mehr wie
Gericht über sich selbst sein, der Stil wird sich entwickeln. Außerdem:
vielleicht wird mir das Aufschreiben wirklich Erleichterung bringen.
Augenblicklich bedrückt mich ganz besonders eine dumme Erinnerung. Vor
einigen Tagen fiel mir diese Geschichte plötzlich ein, und seit der Zeit
kann ich sie nicht mehr los werden, ganz wie ein lästiges musikalisches
Motiv, das einem zuweilen nicht aus den Ohren will. Und doch muß ich
mich endlich von ihr befreien. Solcher Erinnerungen habe ich zu
Hunderten; zuweilen aber löst sich aus den Hunderten eine einzige,
irgend eine, die dann anfängt, mich zu quälen. Aus einem unbestimmten
Grunde glaube ich, daß ich mich von ihr befreien werde, wenn ich sie
niederschreibe. Warum soll ich’s nicht versuchen?

Und dann: ich habe es langweilig, habe nie etwas zu tun. Schreiben aber
ist doch immerhin so etwas wie eine Arbeit. Man sagt, daß der Mensch
durch Arbeit gut und ehrlich werde. Nun, da hätten wir wenigstens eine
Chance.

Es schneit. Nasser, gelber, schwerer Schnee. Gestern schneite es
gleichfalls, und auch vor einigen Tagen hat es geschneit. Ich glaube,
dieser nasse Schnee war die Ursache, warum mir jene Geschichte, die ich
jetzt nicht mehr los werden kann, wieder einfiel. So mag denn auch meine
kleine Erzählung so heißen: Bei nassem Schnee.


                    Zweiter Teil. Bei nassem Schnee.


I.

Damals war ich erst vierundzwanzig Jahre alt. Mein Leben war auch schon
zu der Zeit unfreundlich, unordentlich und bis zur Verwilderung einsam.
Mit keinem einzigen Menschen pflegte ich Umgang; ich vermied es sogar zu
sprechen, und immer mehr und mehr zog ich mich in meinen Winkel zurück.
In der Kanzlei bemühte ich mich sogar, niemanden anzusehen, und doch
glaubte ich, zu bemerken, daß meine Kollegen mich nicht nur für einen
Sonderling hielten, sondern mich gleichsam mit einem gewissen
Widerwillen betrachteten. Ich fragte mich: warum scheint es den anderen
nicht, daß man Widerwillen vor ihnen empfindet? Einer unserer
Kanzleibeamten hatte ein ganz abscheuliches, pockennarbiges
Verbrechergesicht; ich glaube, ich hätte es nicht gewagt, mit solch
einem unanständigen Gesicht irgend jemanden auch nur anzublicken. Ein
anderer hatte eine so vertragene Uniform, daß es in seiner Nähe schon
übel roch. Währenddessen aber genierte sich kein einziger dieser Herren
– weder seiner Kleider, noch seines Gesichtes wegen, noch sonst aus
irgend einem moralischen Grunde. Weder der eine noch der andere ließen
es sich träumen, daß man vor ihnen hätte Ekel empfinden können, ja, und
selbst wenn sie es sich hätten träumen lassen, so wäre es ihnen doch
gleichgültig gewesen – wenn nur die Vorgesetzten nichts bemerkten. Jetzt
ist es mir vollkommen klar, daß ich selbst, infolge meines grenzenlosen
Ehrgeizes und somit auch infolge meiner grenzenlosen Ansprüche an mich
selbst, sehr oft so unzufrieden mit mir war, daß diese Unzufriedenheit
sich bis zum Ekel vor mir selbst, bis zur Raserei steigern konnte, und
deswegen schrieb ich denn auch mein eigenes Empfinden in Gedanken jedem
anderen zu. So z. B. haßte ich mein Gesicht, fand ich, daß es
abscheulich war, und argwöhnte sogar, daß in ihm ein ganz besonders
gemeiner Ausdruck lag, und darum bemühte ich mich qualvoll jedesmal,
wenn ich in die Kanzlei kam, mit meinem Gesicht möglichst viel Edelmut
auszudrücken, und mich möglichst ungezwungen und unabhängig zu benehmen,
damit man mich nicht einer Gemeinheit verdächtige. „Mag es auch ein
unschönes Gesicht sein,“ dachte ich, „dafür aber könnte es doch edel,
ausdrucksvoll und vor allem außerordentlich klug sein.“ Zu gleicher Zeit
aber wußte ich unter wahren Marterqualen auf das bestimmteste, daß ich
alle diese Vollkommenheiten mit meinem Gesichte nie und nimmer würde
ausdrücken können. Doch das Schrecklichste war, daß ich es ausgesprochen
dumm fand. Und doch hätte ich mich mit dem klugen Ausdruck allein gern
zufrieden gegeben. Sogar so gern, daß ich selbst einverstanden gewesen
wäre, noch einen gemeinen Ausdruck mit in den Kauf zu nehmen, nur aber
unter der einen Bedingung, daß alle mein Gesicht zu gleicher Zeit auch
furchtbar klug fänden.

Unsere Kanzleibeamten haßte ich natürlich alle, vom ersten bis zum
letzten ohne Ausnahme, trotzdem aber schien es mir, daß ich sie
gewissermaßen auch fürchtete. Ja, es kam vor, daß ich sie plötzlich
sogar über mich stellte. Das geschah bei mir damals immer abwechselnd:
bald verachtete ich sie, bald stellte ich sie wieder über mich. Ein
entwickelter und anständiger Mensch kann nicht ehrgeizig sein, ohne
dabei grenzenlose Ansprüche an sich selbst zu stellen und sich in
manchen Augenblicken bis zum Haß zu verachten. Doch ob ich mich nun
verachtete oder hochschätzte, ich senkte doch vor jedem Menschen, der
mir begegnete, die Augen. Ich stellte daraufhin sogar Versuche an: würde
ich den Blick dieses oder jenes Menschen aushalten können, – und siehe:
jedesmal mußte ich meinen Blick zuerst senken. Das quälte mich bis zum
Wahnsinn ... Bis zu Krämpfen fürchtete ich gleichfalls, lächerlich zu
sein, und darum vergötterte ich sklavisch die Routine in allem, was das
Auftreten anbetraf; liebevoll schwamm ich mit dem Strom und fürchtete
mit ganzer Seele jede Exzentrizität in mir. Wie hätte ich das lange
aushalten können? Ich war krankhaft entwickelt, wie es eben ein
entwickelter Mensch unserer Zeit sein muß. Sie aber waren alle
stumpfsinnig und glichen sich untereinander wie die Schafe einer Heerde.
Vielleicht war das der Grund, warum es mir immer schien, daß ich ein
Feigling und ein Sklave sein müßte – weil ich allein entwickelt war.
Aber es schien mir ja nicht nur so, es war auch wirklich der Fall: ich
war ein Feigling und ein Sklave. Das sage ich jetzt ohne jede
Verlegenheit. Jeder anständige Mensch unserer Zeit ist ein Feigling und
Sklave und muß es sein. Das ist sein normaler Zustand. Davon bin ich
nicht nur fest, sondern auch untergründig tief überzeugt. Er ist als
Mensch unserer Zeit schon so geschaffen. Und nicht nur in unserer Zeit,
und nicht nur durch irgend welche zufälligen Umstände, sondern überhaupt
zu allen Zeiten muß der ordentliche Mensch Feigling und Sklave sein. Das
ist das Naturgesetz aller anständigen Menschen. Und wenn es einmal
geschehen sollte, daß sich einer von ihnen zu irgend etwas ermutigt, so
soll er sich deswegen noch nicht gleich an seinem Mut berauschen: bei
der nächsten Gelegenheit wird er sich doch als Feigling erweisen. Das
ist nun einmal der einzige und ewige Ausweg. Nur Esel und ihre Bastarde
ermutigen sich, aber auch die nur bis zu der gewissen Wand. Doch es
lohnt sich nicht, noch weiter über sie zu reden, sie bedeuten ja doch so
gut wie nichts.

Auch quälte mich noch etwas anderes: daß mir niemand gleicht und auch
ich niemandem ähnlich sehe. „Nur ich bin allein, sie aber sind _alle_,“
dachte ich, und – versank in Nachdenken.

Daraus sieht man, daß ich noch ein ganz unreifer Junge war.

Mitunter geschah aber auch das Entgegengesetzte. War es doch zuweilen so
entsetzlich langweilig, in die Kanzlei zu gehen, daß ich ganz krank aus
dem Dienst nach Haus zurückkehrte. Und plötzlich begann dann wiederum
eine Periode der Skepsis und Gleichgültigkeit – bei mir war alles in
Perioden – und siehe, da lachte ich selbst über meine Unduldsamkeit und
Launenhaftigkeit, machte mir selbst wegen meiner _Romantik_ Vorwürfe.
Bald will ich überhaupt nicht sprechen, bald aber werde ich nicht nur
gesprächig, sondern es fällt mir sogar ein, mich freundschaftlich an
meine Kollegen anzuschließen. Die ganze Reizbarkeit ist plötzlich im
Handumdrehen verschwunden. Wer weiß, vielleicht habe ich sie nie gehabt,
vielleicht ist sie nur Selbsttäuschung gewesen, nur vom Bücherlesen
gekommen? Diese Frage habe ich bis auf den heutigen Tag noch nicht
beantworten können. Einmal hatte ich mich bereits ganz mit ihnen
angefreundet, besuchte sie sogar in ihren Wohnungen, spielte Préférence,
trank Schnaps, diskutierte über Rußlands Produktionsfähigkeit ... Doch
hier erlauben Sie mir bitte, einige vom Thema abweichende Worte zu
sagen.

Bei uns, bei uns Russen – im allgemeinen gesprochen – hat es niemals
jene dummen überirdischen deutschen und besonders französischen
Romantiker gegeben, jene, auf die nichts mehr Eindruck macht, wenn auch
meinetwegen die ganze Erde unter ihnen kracht, oder ganz Frankreich
mitsamt den Barrikaden untergeht, – sie bleiben immer dieselben, ja,
werden sich anstandshalber nicht einmal im Geringsten verändern und
immer nur ihre überirdischen Lieder weitersingen, die Lieder „an das
Grab ihres Lebens“, wie sie zu sagen pflegen – denn wir dürfen nicht
vergessen, daß sie dumm sind. Bei uns jedoch, d. h. bei uns in Rußland,
gibt es keine Dummköpfe; das weiß doch ein jeder: dadurch unterscheiden
wir uns ja von den übrigen deutschen Ländern. Folglich gibt es bei uns
auch keine überirdischen Naturen von reinstem Wasser. Diese
Eigenschaften haben unsere damaligen „positiven“ Publizisten und
Kritiker aus Dummheit unseren Romantikern aufgebunden, da sie sie für
ebenso überirdisch hielten, wie die deutschen oder französischen
Romantiker. Im Gegenteil, die Eigenschaften unseres Romantikers sind
denen des überirdisch-europäischen Romantikers gerade entgegengesetzt,
und darum kann man sie mit keinem einzigen europäischen Maßstäbchen
messen. (Erlauben Sie mir, dieses Wörtchen „Romantiker“ zu gebrauchen –
es ist ja so alt, ehrwürdig, verdient und allen bekannt.) Die
Eigenschaften unseres Romantikers sind: alles zu verstehen, _alles zu
sehen, und häufig sogar unvergleichlich klarer zu sehen, als unsere
allerpositivsten Intelligenzen_; sich mit niemandem und nichts
auszusöhnen, doch zu gleicher Zeit auch nichts zu verachten; alles zu
umgehen, allem politisch nachzugeben; niemals das nützliche, praktische
Ziel aus dem Auge zu lassen – wie z. B. Staatswohnungen, Pensiönchen,
Sternchen –, dieses Ziel durch alle Enthusiasmen und alle Bände
lyrischer Gedichte hindurch im Auge zu behalten, und gleichzeitig „das
Schöne und Erhabene“ bis an das Grab ihres Lebens in sich unversehrt zu
erhalten, und bei der Gelegenheit auch noch sich selbst vollkommen zu
erhalten – und das noch bei all den vielen Sorgen! – sich wie ein
kostbares Juwel zu hüten, wenn auch nur zum Nutzen dieses selben
„Schönen und Erhabenen“. Ja, ja, ein vielseitiger Mensch ist unser
Romantiker und der geriebenste Spitzbube von allen unseren Spitzbuben,
versichere Ihnen ... nach eigener Erfahrung. Versteht sich, das gilt nur
vom klugen Romantiker. Das heißt, Verzeihung, was fällt mir denn ein!
Ein Romantiker ist natürlich immer klug! Ich wollte ja nur bemerken, daß
die dummen Romantiker, die es auch bei uns einstmals gegeben hat, doch
nicht mitrechnen, weil sie sich alle noch in den besten Jahren
vollständig in Deutsche verwandelt, und, um sich als Juwel besser
erhalten zu können, dort irgendwo in Weimar oder im Schwarzwald
angesiedelt haben. – Ich, z. B., habe meine Kanzleiarbeit aufrichtig
verachtet und habe nur, weil ich Geld für sie erhielt, nicht auf sie
gespuckt. Das Ergebnis also – beachten Sie es wohl –: ich habe sie doch
nicht aufgegeben. Unser Romantiker dagegen wird eher verrückt – was
übrigens sehr selten vorkommt –, doch wird er nie und nimmer auf seine
Tätigkeit spucken, wenn er noch keine andere Karriere in Aussicht hat,
und vor die Tür wird er sich auch nicht setzen lassen, es sei denn, daß
man ihn in die Irrenanstalt überführt, ja, und auch das nur, wenn er
schon gar zu verrückt wird. Aber verrückt werden bei uns doch nur die
Hageren, die Blondlockigen. Die unabsehbare Zahl jedoch der Romantiker
bringt es später gewöhnlich zu hohen Ehren. Wirklich ungewöhnliche
Vielseitigkeit! Und welch eine Fähigkeit zu den allerwidersprechendsten
Eigenschaften! Auch damals schon beruhigte mich das ungemein, und auch
jetzt bin ich noch derselben Meinung. Darum gibt es ja auch bei uns so
viel „weite Naturen“, die selbst in der größten Verkommenheit niemals
ihr Ideal verlieren; und wenn sie auch für dieses ihr Ideal keinen
Finger rühren, wenn sie auch die verrufensten Räuber und Diebe werden,
so lieben sie doch ihr anfängliches Ideal bis zu Tränen, und sind in der
Seele ganz ungewöhnlich ehrlich. Ja, nur bei uns kann der
ausgesprochenste Schuft vollkommen und sogar erhaben ehrlich in der
Seele bleiben, ohne dabei etwa aufzuhören, Schuft zu sein. Wie gesagt,
unsere Romantiker entpuppen sich in Geschäftssachen zuweilen als solche
Spitzbuben – diese Bezeichnung ist von mir ausschließlich liebevoll
gemeint –, und sie beweisen plötzlich solch einen Instinkt für die
Wirklichkeit, und solch ein positives Wesen in realen Dingen, daß die
verwunderte Obrigkeit mitsamt dem ganzen Publikum in der Starrheit der
Verwunderung nur noch die Köpfe schütteln kann.

Eine wahrlich wundernehmende Vielseitigkeit haben sie, und Gott mag
wissen, wozu sie sich unter den zukünftigen Verhältnissen noch
entwickeln und was sie uns dann noch bescheren werden? Das Material ist
nicht schlecht. Ich sage das nicht etwa aus lächerlichem Patriotismus.
Übrigens glauben Sie wohl wieder, daß ich scherze? Oder vielleicht sind
Sie sogar überzeugt, daß ich auch wirklich so denke? Wie dem nun auch
sein mag, meine Herren, jedenfalls werde ich Ihre beiden Meinungen mir
zur Ehre anrechnen. Und meine Abweichung vom Thema verzeihen Sie mir
bitte.

Die Freundschaft mit meinen Kollegen hielt ich natürlich nicht lange aus
und so kehrte ich ihnen schon sehr bald den Rücken. Infolge meiner
damaligen jugendlichen Unerfahrenheit hörte ich sogar auf, sie zu
grüßen, als ob ich alles Frühere mit der Schere hätte abschneiden
wollen. Übrigens habe ich nur ein einziges Mal mit ihnen Freundschaft
angeknüpft. Im allgemeinen bin ich ja immer allein gewesen.

Zu Hause las ich gewöhnlich. Wollte ich doch durch äußere Eindrücke
betäuben, was unaufhörlich in mir kochte. Von äußeren Eindrücken aber
konnte ich mir nur Lektüre leisten. Das Lesen half natürlich viel, – es
regte auf, berauschte und quälte. Mitunter aber wurde es, weiß Gott,
doch verteufelt langweilig. Man wollte sich auch einmal bewegen! Und so
ergab ich mich plötzlich einer dunklen, unterirdischen, kellerhaften,
gemeinen ... nicht gerade Ausschweifung, aber solchen kleinen niedrigen
Lasterchen. Meine kleinen Leidenschaften waren scharf, spitz und
brennendheiß; das kam von meiner immerwährenden krankhaften Reizbarkeit.
Die Ausbrüche waren hysterisch, mit Tränen und fast mit Krämpfen. Außer
der Lektüre hatte ich nichts, womit ich mich hätte zerstreuen können –
ich meine, in meiner ganzen Umgebung hatte ich damals nichts, was ich
hätte achten können oder was mich hätte anziehen können. Außerdem
schwoll noch die Sehnsucht gar manches Mal erdrückend in mir an:
krankhaftes Verlangen nach Widersprüchen, nach Kontrasten war’s, nun,
und so ergab ich mich denn der Ausschweifung. Aber ich will mich doch
nicht etwa rechtfertigen ... Halt! – das stimmt nicht! Nein. Hab
gelogen! Ich habe mich ja gerade rechtfertigen wollen. Diese Bemerkung
mache ich – wohl verstanden! – nur für mich, meine Herren, als Knoten
ins Taschentuch. Will nicht lügen. Will Wort halten.

Meiner Ausschweifung ergab ich mich nur des Nachts, heimlich, ängstlich,
schmutzig, mit einer Scham, die mich selbst in den ekelhaftesten
Augenblicken nicht verließ, und die ich in solchen Minuten fast als
Fluch empfand. Auch damals schon trug ich das Dunkel in meiner Seele.
Ich fürchtete mich bis zum Entsetzen, daß man mich vielleicht irgendwie
sehen, mir begegnen, mich erkennen könnte. Ging ich doch in verschiedene
äußerst dunkle Häuser.

Einmal, als ich nachts an einem elenden Restaurant vorüberkam, sah ich
durch das helle Fenster, wie man sich drinnen um das Billard herum mit
den Queues prügelte, und wie darauf einer von den Herren durch das
Fenster hinausbefördert wurde. Zu einer anderen Zeit wäre es mir zuwider
gewesen; damals jedoch kam plötzlich solch eine Stimmung über mich, daß
ich diesen herausgeworfenen Herrn einfach beneidete, ja sogar dermaßen
beneidete, daß ich in das Restaurant ging und in das Billardzimmer
eintrat: „Vielleicht wird man auch mich verprügeln und durch das Fenster
hinausbefördern,“ dachte ich.

Ich war nicht betrunken, doch was sollte ich machen, – kann einen die
Sehnsucht doch bis zu solch einer Hysterie quälen! Es kam aber zu
nichts. Es erwies sich, daß ich nicht einmal zum Hinausgeworfen-werden
begabt war, und ich ging unverprügelt fort. Gleich zu Anfang wurde ich
dort von einem Offizier zurückgedrängt.

Ich stand am Billard und versperrte ahnungslos den Weg, er aber mußte
vorübergehen, und so faßte er mich an den Schultern – ohne vorher etwas
zu sagen oder zu erklären – und stellte mich schweigend von dem Platz,
wo ich stand, auf einen anderen, und ging selbst an mir vorüber – als ob
er mich überhaupt nicht bemerkt hätte. Ich hätte sogar Schläge
verziehen, doch nimmermehr konnte ich verzeihen, daß er mich so
umgestellt und so absolut übersehen hatte.

Weiß der Teufel, was ich damals nicht alles für einen wirklichen,
regelrechten Streit gegeben hätte, für einen anständigen, sagen wir,
mehr _literarischen_! Man hatte mich wie eine Fliege behandelt. Dieser
Offizier war gut gewachsen, groß von Wuchs, ich aber bin ein kleiner,
dürrer Mensch. Übrigens lag es ja in meiner Macht, es auf einen Streit
ankommen zu lassen: ich hätte nur zu protestieren gebraucht, um zu
erreichen, was ich wollte – gleichfalls aus dem Fenster geworfen zu
werden. Ich aber wurde nachdenklich und zog es vor ... mich erbost davon
zu schleichen.

Aus dem Restaurant begab ich mich erregt geradewegs nach Haus; am
nächsten Tage aber ging das Ausschweifen wieder an, nur noch
schüchterner, versteckter und trauriger als zuvor, gleichsam mit Tränen
in den Augen, – aber ich fuhr doch fort. Übrigens, bitte nicht zu
glauben, daß ich mich aus Feigheit vor dem Offizier so benommen habe: in
meinem Herzen bin ich niemals feig gewesen, wenn ich mich auch im Leben
immer feige benommen habe, aber – warten Sie noch ein wenig mit dem
Lachen, meine Herren, das hat seinen guten Grund, dafür gibt es eine
Erklärung. Seien Sie überzeugt, ich habe für alles eine Erklärung.

Oh, wenn dieser Offizier doch zu denjenigen gehört hätte, die bereit
sind, sich zu schlagen! Doch nein, das war gerade einer von jenen leider
schon längst nicht mehr vorhandenen Offizieren, die es vorzogen, mit dem
Queue zu handeln, oder mittels der Vorgesetzten. Zu einem Duell jedoch
fordern solche nie heraus, mit unsereinem aber sich zu schlagen, würden
sie unter allen Umständen für unanständig halten, – und überhaupt halten
sie das Duell für etwas Unsinniges, Freisinniges, Französisches, selbst
aber beleidigen sie nicht selten, besonders wenn sie noch groß und
stattlich sind.

Hier aber war nicht Feigheit die Ursache meines feigen Rückzugs, sondern
mein grenzenloser Ehrgeiz. Nicht sein hoher Wuchs schreckte mich, nicht,
daß man mich schmerzhaft würde verprügelt und hinausgeworfen haben,
physischen Mut hatte ich wahrlich genügend; doch der moralische Mut
reichte nicht aus. Ich fürchtete plötzlich, daß mich alle Anwesenden –
angefangen vom unverschämten Marqueur bis zum letzten stinkenden,
sinnigen kleinen Beamten, der dort in einem schäbigen Rock, dessen
fettdurchtränkter Kragen nur so glänzte, gleichfalls herumscherwenzelte
– „nicht verstehen und auslachen könnten, wenn ich protestieren und in
literarischer Sprache mit ihnen reden würde.“ Denn von dem Ehrenpunkte,
– ^point d’honneur^ – kann man ja bei uns überhaupt nicht anders
sprechen, als in literarischen Redewendungen. Erinnere mich nicht,
jemals etwas vom „Ehrenpunkte“ in gewöhnlicher Sprache gehört zu haben.
Ich war vollkommen überzeugt – Instinkt für die Wirklichkeit, trotz der
ganzen Romantik! –, daß sie alle vor Lachen platzen würden, der Offizier
mich aber nicht einfach verprügeln, sondern vorher bestimmt rund um das
Billard schleifen und erst dann vielleicht aus Gnade und Barmherzigkeit
durch das Fenster hinausbefördern würde. Selbstverständlich konnte diese
klägliche Geschichte für mich damit nicht abgetan sein. Später traf ich
diesen Offizier sehr oft auf der Straße und ich beobachtete ihn gut. Nur
weiß ich nicht, ob er auch mich erkannte. Wahrscheinlich nicht; so nach
einigen Anzeichen zu urteilen. Ich aber, ich haßte und beneidete ihn,
und das dauerte so ... einige Jahre! Mein Haß vertiefte sich und wuchs
noch mit den Jahren; zuerst bemühte ich mich heimlich, Näheres über
diesen Offizier zu erfahren. Das fiel mir allerdings sehr schwer, denn
ich kannte doch keinen Menschen. Einmal aber, als ich ihm wieder wie
gebannt auf der Straße folgte, rief ihn irgend jemand beim Familiennamen
an, und so erfuhr ich denn, wie er hieß. Ein anderes Mal folgte ich ihm
bis zu seiner Wohnung und erfuhr dort für zehn Kopeken vom Dwornick, wo
er wohnte, in welch einem Stock, allein oder mit anderen usw. – kurz,
alles, was man von einem Dwornick erfahren kann. Und an einem Morgen kam
mir plötzlich der Gedanke – obgleich ich niemals Literatur machte –,
diesen Offizier zu beschreiben, karrikiert natürlich, in der Form einer
Novelle. Oh, mit welch einer Genugtuung ich diese Novelle schrieb! Ich
polemisierte, ich verleumdete ihn sogar ein wenig; seinen Familiennamen
veränderte ich zuerst so, daß man sofort hätte erraten können, um wen es
sich handelte, doch später, nachdem ich reiflicher überlegt hatte,
veränderte ich ihn ganz, und schickte das Manuskript an die Redaktion
der „Vaterlandsschriften“. Doch damals gab es noch keine Polemik und
meine Novelle wurde nicht gedruckt. Das ärgerte mich gewaltig. Zuweilen
raubte mir die Wut sogar den Atem. Da entschloß ich mich endlich, meinen
Gegner zu fordern. Ich schrieb ihm einen wundervollen, anziehenden
Brief, in dem ich ihn anflehte, sich bei mir zu entschuldigen, falls er
aber das nicht wollte, so – ich deutete ziemlich bestimmt das Duell an.
Der Brief war derart verfaßt, daß der Offizier, wenn er nur ein wenig
das „Schöne und Hohe“ verstand, unbedingt sofort zu mir hätte eilen
müssen, um mich zu umarmen und mir seine ewige treue Freundschaft
anzubieten. Und wie schön wäre das doch gewesen! Wie herrlich hätten wir
zusammen gelebt! „Er würde mich verteidigen und ich würde ihn veredeln,
sagen wir, mit meiner Bildung, nun und ... durch meine Ideen, und, ach
Gott, was könnte nicht noch alles sein!“ Stellen Sie sich vor, daß
damals seit der Nacht, in der er mich beleidigt hatte, schon zwei Jahre
vergangen waren und meine Forderung sich als ein ganz unglaublicher
Anachronismus erwies, trotz der ganzen geschickten Redewendungen meines
Briefes, die den Anachronismus erklären und aufheben sollten. Doch Gott
sei Dank! – bis auf den heutigen Tag danke ich noch dem Schöpfer
inbrünstig dafür – ich schickte meinen Brief nicht ab. Ein Schauer läuft
mir über den Rücken, wenn ich denke, was daraus hätte entstehen können,
– wenn ich ihn abgeschickt hätte! Und plötzlich ... und plötzlich rächte
ich mich auf die allereinfachste, allergenialste Weise! Ein herrlicher
Gedanke beglückte mich plötzlich. Ich ging nämlich zuweilen an
Feiertagen, so um vier herum, auf den Newsky und spazierte dann auf der
Sonnenseite. Das heißt, ich spazierte durchaus nicht, sondern empfand
bloß unzählige Qualen und Demütigungen und fühlte nur, wie mir die Galle
überging; doch hatte ich wahrscheinlich gerade das nötig. Ich kroch dort
wie ein Wurm zwischen den Fußgängern herum, trat bald vor Generälen zur
Seite, bald vor Gardekavallerie- oder Husarenoffizieren, bald vor
eleganten Damen; in diesen Minuten fühlte ich konvulsive Schmerzen im
Herzen und Fieberschauer im Rücken bei dem bloßen Gedanken an die
Schäbigkeit meiner Kleider, an die Misere und Gemeinheit meiner ganzen
sich herumdrückenden, kleinen, unansehnlichen Gestalt. Das war eine
wahre Märtyrerqual, ein ununterbrochenes, unerträgliches
Erniedrigtwerden durch den Gedanken, der schließlich zum beständigen,
unmittelbaren Gefühl wurde, daß ich vor diesen Menschen nur eine Fliege
war, eine ganz gemeine unnütze Fliege, wenn ich auch klüger als sie alle
war, entwickelter, edler – das versteht sich natürlich von selbst –, so
doch eine ihnen allen fortwährend ausweichende Fliege, die von allen
erniedrigt und von allen beleidigt wurde. Wozu ich mir diese Qual
auflud, warum ich auf den Newsky ging – ich weiß es nicht. Es zog mich
einfach bei jeder Gelegenheit dorthin.

Doch damals empfand ich schon die Fluten jener Wonnen, jener Genüsse,
von denen ich bereits im ersten Teil gesprochen habe. Nach der
Geschichte mit dem Offizier aber zog es mich noch mehr dorthin: auf dem
Newsky traf ich ihn am häufigsten, dort konnte ich mich dann an ihm
sattsehn. Er ging gleichfalls vornehmlich an den Feiertagen spazieren.
Wenn er auch oft Generälen und höheren Persönlichkeiten ausbog und sich
gleichfalls schlängelte, so wurden doch Leute wie meine Wenigkeit, und
sogar solche, die weit besser aussahen, als ich, von ihm einfach bei
Seite geschoben: er ging gerade auf sie los, als ob vor ihm freier Raum
gewesen wäre, und bog dann unter keinen Umständen aus. Ich berauschte
mich an meinem Haß, wenn ich ihn beobachtete, und ... ingrimmig jedesmal
vor ihm ausbog. Es quälte mich, daß ich sogar auf der Straße ihm
unterlegen war. „Warum biegst Du unbedingt als erster aus?“ fragte ich
mich in rasender Wut, wenn ich zuweilen so um drei Uhr Nachts erwachte
und mir selbst auf den Leib rückte. „Warum denn gerade Du, warum niemals
er? Dafür gibt es doch kein Gesetz, das steht doch nirgends geschrieben!
Nun, kann es denn nicht genau zur Hälfte geschehn, so, wie höfliche
Menschen ausbiegen, wenn sie sich begegnen: er halb und Du halb und Ihr
beide geht dann einfach höflich aneinander vorüber.“ Doch das geschah
nie, und nach wie vor bog immer nur ich aus, er aber bemerkte es nicht
einmal. – Und siehe, da kam mir plötzlich ein bewunderungswürdiger
Gedanke. „Wie aber,“ dachte ich, „wie wäre es, wenn ich ihm begegne und
... _nicht_ ausbiege! Absichtlich nicht ausbiege, und wenn ich ihn auch
stoßen sollte? Wie, wie wäre das?“ Dieser freche Gedanke bemächtigte
sich meiner allmählich derart, daß ich überhaupt keine Ruh mehr hatte.
Ich dachte ununterbrochen, wie das wohl sein würde und ging absichtlich
noch öfter auf den Newsky, um mir noch deutlicher vorzustellen, wie ich
es machen würde. Ich war einfach begeistert. Diese Absicht schien mir
immer mehr und mehr ausführbar.

„Versteht sich, nicht stark stoßen,“ dachte ich, schon im Voraus durch
die Freude gütiger gestimmt, „sondern nur so, einfach nicht ausweichen,
mit ihm zusammenprallen, natürlich nicht schmerzhaft, aber so, Schulter
mit Schulter, genau so viel, wie es der Anstand erlaubt; so daß ich ihn
eben so stark anstoße, wie er mich stößt.“ Endlich entschloß ich mich
definitiv dazu. Doch die Vorbereitungen nahmen noch sehr viel Zeit. Vor
allen Dingen mußte man zu diesem Zwecke möglichst anständig aussehen,
also mußte man zuerst an die Kleider denken. „Auf alle Fälle, wenn z. B.
ein Auflauf entsteht – das Publikum ist doch dort pikfein: Gräfin M.
geht, Fürst D. geht, die ganze Literatur geht –, da muß man doch gut
angezogen sein; das macht einen günstigen Eindruck und stellt einen in
den Augen der höheren Gesellschaft gewissermaßen auf eine höhere Stufe.“
Zu diesem Zweck bat ich denn den Kassierer mir mein Monatsgehalt
vorauszuzahlen und kaufte mir dann bei Tschurkin ein Paar schwarze
Glacé-Handschuhe und einen anständigen Hut. Schwarze Handschuhe schienen
mir erstens solider, und zweitens mehr bon-ton als zitronenfarbene, auf
die ich es zuerst abgesehen hatte. „Die Farbe ist zu grell und es sieht
dann aus, als ob der Mensch sich allzusehr hervortun will,“ und so
verzichtete ich denn auf die zitronenfarbenen. Ein gutes Hemd mit weißen
Knöpfen hatte ich schon längst bei Seite gelegt; nur der Mantel hielt
mich noch auf. An und für sich war er ja gar nicht übel, gut warm; er
war aber wattiert und hatte bloß einen ganz billigen Pelzkragen:
Waschbär, was schon die Krone der Billigkeit ist. Da hieß es denn
unbedingt einen neuen Kragen kaufen, und zwar, was es auch koste, sich
einen kleinen Biber, in der Art, wie ihn die Offiziere tragen,
anzuschaffen. Zu diesem Zweck ging ich des öfteren in den Gostinny Dwor,
und nach einigem hin und her entschied ich mich für einen billigen
deutschen Biber. Diese deutschen Felle vertragen sich zwar sehr schnell,
und sehen dann miserabel aus, doch dafür sind sie, wenn sie noch neu
sind, sogar sehr anständig; ich aber brauchte ja den Kragen nur für das
eine Mal. Ich fragte nach dem Preis: immerhin war’s teuer. Nach
reiflichem Überlegen entschloß ich mich, meinen Waschbärkragen zu
verkaufen. Die fehlende und für mich doch recht beträchtliche Summe
wollte ich borgen, und zwar von Anton Antonytsch Ssetotschkin, meinem
Bureauvorsteher, einem stillen, ernsten und durchaus positiven Menschen,
der sonst niemandem Geld lieh, doch dem ich bei meinem Antritt von dem
mich für diesen Dienst bestimmenden Würdenträger ganz besonders
empfohlen worden war. Ich quälte mich fürchterlich. Anton Antonytsch um
Geld anzugehen, schien mir ungeheuerlich und schmachvoll. Zwei, drei
Nächte konnte ich nicht schlafen und überhaupt schlief ich damals wenig:
war wie im Fieber. Das Herz war so träge und dumpf und hörte zuweilen
ganz auf, zu schlagen, zuweilen aber fing es plötzlich an, zu springen
und dann sprang es, und sprang, und sprang ... Anton Antonytsch war
zuerst sehr erstaunt, darauf runzelte er die Stirn, dachte nach und
schließlich lieh er mir doch das Geld – nachdem er sich von mir einen
Zettel hatte ausstellen lassen, daß er das geliehene Geld nach zwei
Wochen von meiner Gage zurückbehalten konnte. Auf diese Weise war
schließlich alles bereit; ein hübscher Biber ersetzte meinen häßlichen
Waschbär und ich bereitete mich allmählich zur Tat vor. Natürlich konnte
man’s doch nicht gleich beim ersten Mal, doch nicht irgendwie unbedacht,
nachlässig tun; man mußte es geschickt machen, mußte sich eben
allmählich einüben. Nur muß ich gestehen, daß ich nach vielfachen
Versuchen geradezu in Verzweiflung geriet: es muß wohl so bestimmt sein,
daß wir nicht zusammenstoßen! dachte ich hoffnungslos. Wie ich mich auch
vorbereitete, wie fest ich auch entschlossen war, – jetzt, jetzt,
gleich, sofort prallen wir aneinander und – wieder war ich ausgebogen,
und wieder war er an mir vorübergegangen, ohne mich auch nur zu
bemerken! Ich betete sogar, wenn ich mich ihm näherte, damit Gott mir
Mut gäbe. Einmal hatte ich mich schon fest entschlossen, doch endete es
damit, daß ich ihm nur vor die Füße kam, denn im letzten Augenblick,
einige Zentimeter vor ihm, verließ mich der Mut. Mit der größten
Seelenruhe schritt er weiter, ich aber flog wie ein Ball zur Seite. In
der Nacht darauf lag ich wieder im Fieber und phantasierte wirres Zeug.
Und plötzlich endete es besser, als man’s sich überhaupt hätte wünschen
können! Am Vorabend beschloß ich definitiv, von meinem unglücklichen
Vorhaben abzulassen, die Rache einfach aufzugeben und mit diesem
Entschluß ging ich noch zum letzten Mal auf den Newsky, um zu sehn, wie
ich das alles so aufgebe ... Plötzlich, drei Schritt vor meinem Feinde,
faßte ich den Entschluß, schloß krampfhaft die Augen und – wir stießen
uns gehörig Schulter an Schulter! Keinen Zentimeter breit war ich
ausgewichen, und ich ging, ihm vollkommen gleichstehend, an ihm
vorüber!! Er blickte sich nicht einmal nach mir um und tat, als ob er
mich überhaupt nicht bemerkt hätte; natürlich tat er nur so, davon bin
ich überzeugt. Bis auf den heutigen Tag bin und bleibe ich davon
überzeugt! Natürlich bekam ich mehr ab als er; er war ja viel stärker,
doch nicht darum handelte es sich. Es handelte sich darum, daß ich mein
Ziel erreicht, meine Würde aufrecht erhalten hatte, keinen Zollbreit
ausgewichen war, und mich öffentlich mit ihm auf die gleiche soziale
Stufe gestellt hatte! Ich hatte mich für alles gerächt! Triumphierend
kehrte ich zurück in meinen dunklen Winkel. Ich war begeistert und sang
italienische Arien. Selbstverständlich werde ich Ihnen nicht erzählen,
was drei Tage darauf mit mir geschah; wenn Sie den ersten Teil, „Das
Dunkel“, gelesen haben, so können Sie’s vielleicht selbst erraten ...
Der Offizier wurde später irgendwohin versetzt; seit vierzehn Jahren
habe ich ihn nicht mehr gesehn. Wer weiß, was jetzt mein Herzensjunge
macht? Wen er jetzt auf die Seite drängt?


                                  II.

Doch auch die Periode meiner Ausschweifungen ging vorüber und mir wurde
alles unsäglich zuwider. Die Reue kam, ich verjagte sie: es war schon zu
ekelhaft. Mit der Zeit aber gewöhnte ich mich auch an sie: Ich gewöhnte
mich ja an alles, d. h. nicht gerade, daß ich mich an alles gewöhnt
hätte, sondern ich willigte gewissermaßen freiwillig ein, zu ertragen.
Doch hatte ich einen Ausweg, der alles wieder gut machte, das war – mich
ins „Schöne und Hohe“ zu retten, natürlich: nur in der Phantasie.
Phantasieren tat ich unglaublich viel, ich phantasierte in meinen Winkel
verkrochen mitunter drei Monate lang in einem Strich, und Sie können es
mir schon glauben, daß ich dann nicht jenem Herrn glich, der in der
Verwirrung seines Hühnerherzens an den Kragen seines Mantels einen
deutschen Biber nähte. Ich wurde plötzlich Held. Meinen langen Leutnant
hätte ich dann nicht einmal empfangen, wenn er, sagen wir, seine Visite
bei mir hätte machen wollen. Ich konnte ihn mir damals überhaupt nicht
vorstellen, konnte überhaupt nicht an ihn denken. Was ich damals gerade
dachte, wovon ich träumte, und wie mir das genügen konnte, ist jetzt
schwer zu sagen, doch damals genügte es mir vollkommen. Übrigens genügt
es mir ja auch jetzt teilweise. Ganz besonders süß und wild waren die
Träumereien nach meinen jämmerlichen Ausschweifungen; sie kamen mit Reue
und Tränen, mit Flüchen und Ekstasen. Es gab Augenblicke, in denen mein
Entzücken, mein Freudentaumel, mein Glück so rein waren, daß ich, bei
Gott!, nicht den geringsten Spott in mir fühlte. Dann war alles
vorhanden: Hoffnung, Glaube, Liebe. Das war’s ja, daß ich dann blind
glaubte, alles würde durch irgend ein Wunder, irgend einen äußeren
Umstand plötzlich auseinanderrücken, würde sich erweitern; und es würde
sich plötzlich die Perspektive einer entsprechenden Tätigkeit für mich
öffnen, einer segenreichen, schönen und, vor allen Dingen, _ganz
besonderen_ – was für einer eigentlich, wußte ich allerdings nie, aber
die Hauptsache war doch, daß es eine ganz besondere Tätigkeit sein
würde. Und siehe, da trete ich denn plötzlich auf, und es fehlt nicht
viel, daß ich auf weißem Roß im Lorbeerkranz erscheine ... In einer
zweitrangigen Rolle habe ich mich nie denken können. Deswegen war ich
denn auch in Wirklichkeit in größter Seelenruhe mit der letztrangigen
zufrieden. Entweder Held oder Schmutz, eine Mitte gabs nicht. Das wars
ja, was mich verdarb, denn im Schmutz beruhigte ich mich damit, daß ich
zu anderen Zeiten wiederum Held war, der Held aber den Schmutz zur Null
macht: für einen gewöhnlichen Menschen, meinte ich, ist es eine Schande,
in den Schmutz zu geraten, der Held jedoch steht viel zu hoch, um sich
je beschmutzen zu können, folglich kann er ruhig in Schmutz geraten.
Sonderbar, daß mich diese Fluten „alles Schönen und Hohen“ auch in der
Zeit meiner elenden Ausschweifungen überkamen, und zwar gerade dann,
wenn ich schon ganz auf dem Boden lag. Sie kamen dann so in einzelnen
kurzen kleinen Wellen, als ob sie nur an sich erinnern wollten,
vernichteten aber mit ihrem Erscheinen doch nicht die Gemeinheit. Im
Gegenteil, durch den Kontrast belebten sie sie geradezu, und sie kamen
genau nur in der Portion, die zu einer guten Sauce nötig war. Diese
Sauce bestand aus Widersprüchen und Leiden, aus qualvoller innerer
Analyse, und alle diese Qualen und Quälchen gaben dann geradezu eine
gewisse Pikanterie, gaben sogar meinen gemeinen Ausschweifungen einen
Sinn, – mit einem Wort, sie erfüllten in jeder Beziehung die Pflicht und
Schuldigkeit einer guten Sauce. Alles das war sogar nicht ohne eine
gewisse Tiefe. Und wie hätte ich mich denn auf eine einfache, gemeine
Schreiberausschweifung einlassen und wie hätte ich diesen ganzen Schmutz
dann auf mir ertragen können! Was konnte mich denn damals zum Schmutz
verführen, was mich nachts auf die Straße locken? Nein, wissen Sie, ich
hatte für alles ein edles Schlupfloch ...

Doch wieviel Liebe, Herrgott, wieviel Liebe erlebte ich zuweilen in
diesen meinen Träumereien, in diesen „Rettungen in alles Schöne und
Hohe“! Wenn’s auch eine phantastische Liebe war, wenn sie sich auch
niemals auf etwas Menschenartiges in Wirklichkeit übertrug, so war sie
ja doch dermaßen groß, diese Liebe, daß man später, in Wirklichkeit, gar
nicht das Bedürfnis empfand, sie auf jemanden zu übertragen: das wäre
schon ganz überflüssiger Luxus gewesen. Übrigens endete alles immer
überaus glücklich in trägem und berauschendem Übergang zur Kunst, d. h.
zu den schönen Formen des Seins, zu ganz fertigen, versteht sich, die
natürlich stark von Dichtern und Romantikern entlehnt waren und allen
möglichen Anforderungen angepaßt wurden. Zum Beispiel: ich triumphiere
über alle; selbstverständlich liegen sie alle im Staube vor mir und sind
gezwungen, freiwillig meine sämtlichen Vollkommenheiten anzuerkennen,
und ich vergebe ihnen darauf alles. Ich verliebe mich, bin berühmter
Dichter und Kammerherr, verdiene unzählige Millionen und spende sie
sofort für das Wohl der Menschheit, und zu gleicher Zeit beichte ich vor
dem ganzen Volke alle meine Laster, die selbstverständlich nicht
gewöhnliche Laster sind, sondern ungemein viel „Schönes und Hohes“ in
sich schließen – Laster, die, sagen wir, etwas Manfredartiges haben.
Alle weinen und küssen mich natürlich – wären sie doch Tölpel, wenn sie
das nicht täten –, ich aber gehe barfuß und hungrig von dannen, um neue
Ideen zu verkünden und schlage die Reaktionäre bei Austerlitz. Darauf
wird ein Marsch gespielt, eine Amnestie wird erlassen, der Papst willigt
ein, von Rom nach Brasilien überzusiedeln; darauf wird für ganz Italien
ein Ball gegeben in der Villa Borghese, die am Comersee liegt, da der
Comersee expreß zu diesem Zweck nach Rom verlegt wird; darauf folgt eine
Szene im Gebüsch u. s. w., u. s. w. – als ob Sie’s nicht wüßten? ... Sie
sagen, es sei niedrig und gemein, alles das jetzt auf den Markt zu
tragen, besonders nach so viel Begeisterung und Tränen, die ich selbst
eingestanden habe. Aber warum ist’s denn gemein? Glauben Sie denn
wirklich, daß ich mich all dessen schäme, und daß alles dieses dümmer
ist, als einerlei was in Ihrem Leben, meine hochverehrten Herren? Und
zudem können Sie mir glauben, daß ich mir manches wirklich gar nicht so
übel zusammengesetzt hatte ... Es spielte sich doch nicht alles auf dem
Comersee ab. Doch übrigens, Sie haben Recht; es ist tatsächlich niedrig
und gemein. Aber am allergemeinsten ist, daß ich mich jetzt vor Ihnen zu
rechtfertigen suche. Und noch gemeiner ist es, daß ich jetzt diese
Bemerkung mache. Nun aber genug, sonst käme man ja überhaupt nicht zum
Schluß: immer würde eines noch gemeiner als das andere sein ...

Länger als drei Monate in einem Strich denken, konnte ich aber doch
nicht; dann stellte sich bei mir das unüberwindliche Bedürfnis ein, mich
in menschliche Gesellschaft zu stürzen: das bedeutete für mich, zu
meinem Bureauvorsteher Anton Antonytsch Ssetotschkin zum Besuch zu gehn.
Das war in meinem ganzen Leben mein einziger ständiger Bekannter, – nein
wirklich, jetzt wundert mich das sogar selbst –. Doch auch zu ihm ging
ich nur im äußersten Fall, bloß dann, wenn schon die Periode begann, in
der meine Träumereien zu solch einem Glück wurden, daß ich unbedingt und
unverzüglich die Menschen oder die Menschheit umarmen mußte; zu dem
Zweck aber mußte man wenigstens einen wirklich vorhandenen, wirklich
existierenden Menschen vor sich haben. Zu Anton Antonytsch konnte man
übrigens nur Dienstags gehen – das war sein freier Tag –, folglich mußte
man auch das Bedürfnis, die ganze Menschheit zu umarmen, immer auf den
Dienstag hinausschieben. Dieser Anton Antonytsch wohnte bei den Fünf
Ecken im vierten Stock in vier niedrigen Zimmerchen, die
klein-kleiner-am-kleinsten waren und einen recht ärmlichen Eindruck
machten. Er hatte zwei Töchter und deren Tante, die gewöhnlich mit Tee
bewirtete, bei sich. Die Töchter waren eine dreizehn, die andere
vierzehn; beide hatten sie Stutznäschen, und mich verwirrten sie nicht
wenig, denn sie flüsterten und kicherten die ganze Zeit. Der Hausherr
saß immer in seinem Arbeitszimmer auf dem Ledersofa vor dem Tisch,
meistens mit irgend einem alten Bekannten, oder einem Beamten aus
unserer Kanzlei. Mehr als zwei oder drei Gäste – immer dieselben – habe
ich dort nie gesehn. Man sprach über die Accise, über die
Senatsverhandlungen, über die Gagen, von seiner Exzellenz, von dem
Mittel zu Gefallen und ähnlichem ^ad infinitum^. Ich hatte die Geduld,
neben diesen Menschen als Narr mitunter geschlagene vier Stunden zu
sitzen und ihnen zuzuhören, ohne selbst auch nur einmal ein Wort zu
sagen oder sagen zu können. Ich stumpfte vor mich hin, schwitzte und
fühlte einen Schlaganfall über mir schweben; aber es war gut und
nützlich. Nach Haus zurückgekehrt, schob ich meinen Wunsch, die ganze
Menschheit zu umarmen, für eine Zeitlang auf.

Übrigens hatte ich noch so etwas wie einen Bekannten: Ssimonoff, meinen
gewesenen Schulkameraden. Solcher Schulkameraden hatte ich genau
genommen nicht wenige in Petersburg, doch gab ich mich mit ihnen nicht
weiter ab, ja, ich hörte sogar auf, sie auf der Straße zu grüßen.
Vielleicht war das der einzige Grund, warum ich in ein anderes Ressort
überging, – ich meine, vielleicht tat ich es nur, um mit meiner ganzen
verhaßten Kindheit mit einem Mal abzubrechen. Verflucht sei diese
Schule, diese furchtbaren Gefängnisjahre! Kurz: als ich endlich die
Schule hinter dem Rücken hatte, wollte ich nichts mehr von meinen
Mitschülern wissen. Es blieben höchstens drei oder vier Menschen, mit
denen ich, wenn ich sie traf, noch einen Gruß tauschte. Zu diesen vier
gehörte auch Ssimonoff. In der Schule zeichnete er sich durch nichts
aus, war gleichmäßig ruhig und still, doch entdeckte ich in seinem
Charakter eine gewisse Unabhängigkeit und sogar Ehrlichkeit. Ja, ich
glaube nicht einmal, daß er sehr beschränkt war. Einmal hatten wir beide
ziemlich lichte Stunden durchlebt, doch die hielten nicht lange an, und
allmählich breitete sich Nebel über sie. Ihm waren diese Erinnerungen
augenscheinlich unangenehm, und er fürchtete, wie’s mir schien, immer,
ich würde wieder in den alten Ton verfallen. Ich vermutete zwar, daß ich
ihm widerlich war, doch ging ich trotzdem zu ihm, da ich mich davon doch
noch nicht ganz überzeugt hatte.

Und einmal, an einem Donnerstag, konnte ich meine Einsamkeit nicht mehr
ertragen, und da ich wußte, daß Donnerstags Anton Antonytschs Tür
verschlossen war, so ging ich denn zu Ssimonoff. Als ich langsam zum
vierten Stock zu ihm hinaufstieg, dachte ich noch gerade, daß ich ihm
doch nur lästig falle und daher eigentlich nicht zu ihm gehen sollte.
Doch da es ja bei mir gewöhnlich damit endete, daß ähnliche Bedenken
mich noch mehr aufstachelten, in zweideutige Lagen zu kriechen, so trat
ich auch damals bei ihm ein, anstatt zurück nach Haus zu gehen. Es war
fast ein ganzes Jahr vergangen, seit ich ihn zum letzten Mal gesehen
hatte.


                                  III.

Er war nicht allein: zwei meiner früheren Schulkameraden saßen bei ihm.
Sie sprachen, wie es schien, über etwas sehr Wichtiges. Auf meinen
Eintritt verwandte kein einziger von ihnen irgendwelche Aufmerksamkeit,
was mir eigentlich etwas sonderbar erschien, denn wir hatten uns doch
schon jahrelang nicht mehr gesehen. Augenscheinlich hielt man mich für
so etwas wie eine gewöhnliche Fliege. Derartig hatte man mich nicht
einmal in der Schule behandelt, obgleich mich dort alle gehaßt hatten.
Ich begriff natürlich, daß sie mich wegen meines Mißerfolges in der
Karriere, wegen meiner tiefen Gesunkenheit, wegen meines schlechten
Überziehers u. s. w. verachteten. Mein Überzieher war in ihren Augen
geradezu das Plakat meiner Unfähigkeit und geringen Bedeutung. Doch
immerhin hatte ich nicht eine dermaßen tiefe Verachtung von ihnen
erwartet. Ssimonoff wunderte sich sogar über meinen Besuch. Auch früher
schon hatte er immer getan, als ob ihn mein Kommen in Erstaunen setzte.
Alles das machte mich natürlich stutzig; ich setzte mich ein wenig
bedrückt auf einen Stuhl und hörte ihrem Gespräch zu.

Man sprach ernst und interessiert über das Abschiedsdiner, das diese
drei ihrem Freunde Swerkoff, der als aktiver Offizier in den Kaukasus
versetzt worden war, am Tage vor der Abfahrt geben wollten. Dieser
Swerkoff war gleichfalls von der ersten Klasse an mein Mitschüler
gewesen, aber erst in den höheren Klassen hatte ich ihn ganz besonders
gehaßt. In den unteren Klassen war er bloß ein netter, mutwilliger Knabe
gewesen, den alle liebten. Übrigens haßte ich ihn auch schon in den
unteren Klassen, und zwar gerade, weil er ein netter und mutwilliger
Knabe war. Was das Lernen anbetraf, so lernte er ausnahmslos schlecht,
und zwar von Jahr zu Jahr schlechter; einstweilen aber beendete er doch
das Gymnasium, denn er hatte eine gute Protektion. Als er in der letzten
Klasse war, fiel ihm eine Erbschaft zu, zweihundert Seelen, und da wir
anderen fast alle arm waren, so tat er sich gar bald mit seinem Reichtum
vor uns wichtig. Er war ja ein im höchsten Grade fader Mensch, doch
trotzdem ein guter Junge, selbst dann, wenn er aufschnitt. Bei uns aber
scherwenzelten, abgesehen von sehr wenigen, fast alle vor ihm, trotz
unserer äußeren phantastischen und phrasenhaften Schuljungenbegriffe von
Ehre und Honorigkeit. Und man tat es nicht etwa, um von ihm etwas dafür
zu erhalten, sondern einfach nur so, vielleicht weil ihn die Natur bei
der Verteilung ihrer Gaben bevorzugt hatte. Zudem hielt man ihn, ich
weiß nicht warum, für einen Spezialisten in allem, was die Gewandtheit
und gute Manieren anbetraf. Das ärgerte mich ganz besonders. Ich haßte
seine helle, selbstzufriedene Stimme, seine Bewunderung der eigenen
Witzchen, die gewöhnlich äußerst dumm waren, wenn er auch sonst ganz
unterhaltend sein konnte. Ich haßte sein hübsches, doch ziemlich dummes
Gesicht – gegen das ich, nebenbei bemerkt, mein _kluges_ gerne
eingetauscht hätte – und seine freien Offiziersmanieren. Ich haßte es,
daß er von seinen zukünftigen Erfolgen bei den Frauen sprach – doch
konnte er sich nicht entschließen, mit ihnen vorher anzufangen, als bis
er die heißersehnten Offiziersepauletten hatte –, und seine Prahlerei,
daß er fortwährend Duelle haben würde. Ich erinnere mich noch, wie ich,
der ich immer schweigsam war, plötzlich mich auf ihn stürzte, als er
gerade in der Zwischenpause mit den Kameraden selbstzufrieden wie ein
junger Köter in der Sonne wieder über die Weiber sprach und erklärte,
daß er kein einziges Mädchen seines Gutes unbeachtet lassen würde,
dieses wäre „^droit de seigneur^“, die Bauernkerle aber, falls sie sich
erdreisten sollten, zu protestieren, alle durchpeitschen und diesen
bärtigen Kanaillen dann noch doppelte Pacht auflegen würde. Unsere
Hamiten klatschten Beifall, ich aber krallte ihn, doch tat ich das
keineswegs aus Mitleid mit den Mädchen, oder ihren Vätern, sondern
einfach weil solch ein Mistkäfer so großen Beifall fand. Ich behielt
damals die Oberhand, Swerkoff aber war, wenn auch an und für sich dumm,
doch lustig und dreist, und so zog er sich mit Lachen aus der Situation,
und zwar gelang ihm das so gut, daß ich im Grunde genommen denn doch
nicht ganz die Oberhand behielt: die Lacher waren auf seiner Seite.
Später besiegte er mich noch mehrmals, doch eigentlich ganz ohne
Bosheit, mehr scherzend, so im Vorübergehen, lachend. Ich tat, als ob
ich ihn verachtete und schwieg. Nach der Entlassung näherte er sich mir
ein wenig und ich sträubte mich nicht sonderlich, denn es schmeichelte
mir selbstverständlich sehr; doch gingen wir bald wieder
auseinander, was ja ganz natürlich war. Später hörte ich von seinen
Leutnantserfolgen, von seinem flotten Leben. Darauf hieß es, daß er im
Dienst gute Fortschritte machte. Nach einiger Zeit grüßte er mich nicht
mehr auf der Straße; wohl um sich nicht durch die Bekanntschaft mit
solch einer unbedeutenden Persönlichkeit zu kompromittieren. Einmal sah
ich ihn auch im Theater, da hatte er schon Achselschnüre. Er machte den
Töchtern irgend eines alten Generals eifrig den Hof. Darauf, so nach
drei Jahren, hatte er sich plötzlich ziemlich stark verändert, wenn er
auch noch wie früher hübsch und gewandt war: er wurde dick; und als ich
ihn nachher wiedersah, war sein Gesicht schon ein wenig aufgedunsen; es
war vorauszusehen, daß er mit dreißig Jahren feist werden würde. Also
diesem Swerkoff wollten meine Schulkameraden ein Abschiedsdiner geben.
Sie hatten sich in diesen drei Jahren ununterbrochen mit ihm abgegeben,
wenn sie sich auch innerlich nicht für gleichstehend mit ihm hielten –
davon bin ich überzeugt.

Von den beiden Gästen Ssimonoffs war der eine Ferfitschkin, ein
Deutsch-Russe – ein Männchen von kleinem Wuchs mit einem Affengesicht,
ein alle Welt verspottender Dummkopf, mein gehässigster Feind noch aus
den untersten Klassen –, ein gemeiner, frecher Prahlhans, der vorgab, in
Ehrensachen äußerst kitzlich zu sein, in Wirklichkeit aber natürlich ein
Feigling war. Er gehörte zu jenen Anhängern Swerkoffs, die sich mit ihm
nur abgaben, weil er gesellschaftlich höher stand und sie ihn anpumpen
konnten. Der andere Gast Ssimonoffs war Trudoljuboff, kein sehr
bemerkenswerter Mensch, Militär, von großem Wuchs mit einer kalten
Physiognomie, ein Mensch, dem jeder Erfolg imponierte, und der im
übrigen nur fähig war, über Rußlands Produktionsfähigkeit zu sprechen.
Mit Swerkoff war er irgendwie entfernt verwandt, und das – es ist zwar
dumm zu sagen, aber es war nun einmal so –, das gab ihm unter uns eine
gewisse Bedeutung. Mich hielt er für eine Null; wenn er auch nicht
gerade sehr höflich zu mir war, so betrug er sich doch leidlich.

„Also abgemacht: pro Mann sieben Rubel,“ begann Trudoljuboff, „– wir
sind drei, macht also einundzwanzig. Dafür kann man schon dinieren.
Swerkoff zahlt natürlich nicht.“

„Selbstverständlich zahlt er nicht, wenn wir ihn doch auffordern,“
meinte Ssimonoff.

„Glaubt Ihr denn wirklich, Swerkoff wird uns allein zahlen lassen?“
fragte plötzlich hochmütig auffahrend Ferfitschkin – ganz wie ein
unverschämter Lakai, der mit den Orden seines Herrn prahlt –. „Aus
Delikatesse wird er es vielleicht tun, dafür aber von sich aus wie ein
_halbes Dutzend_ ansetzen!“

„Na, wissen Sie, sechs Flaschen Champagner sind denn doch für uns zu
viel,“ bemerkte Trudoljuboff, dem nur das „halbe Dutzend“ aufgefallen
war.

„Also wir drei, mit Swerkoff vier, für einundzwanzig Rubel im Hotel de
Paris, morgen um Punkt fünf,“ schloß Ssimonoff, der zum Anordner gewählt
worden war.

„Wieso einundzwanzig?“ fragte ich, kaum, daß er ausgesprochen hatte,
einigermaßen erregt und scheinbar sogar gekränkt, „ich bin doch auch
dabei, also nicht einundzwanzig, sondern achtundzwanzig Rubel!“

Ich glaubte, sich so plötzlich und unerwartet anbieten würde sich sehr
schön ausnehmen und sie würden alle im Augenblick besiegt sein und mich
achten.

„Wollen Sie denn auch –?“ fragte statt dessen Ssimonoff ungehalten,
wobei er es vermied, mich anzusehen. Er kannte mich auswendig.

Mich ärgerte es maßlos, daß er mich so gut kannte.

„Warum denn nicht? Ich bin doch, glaube ich, auch sein Schulfreund, und
ich muß offen gestehn, es kränkt mich sogar, daß man mich übergangen
hat.“

„Wo Teufel sollte man Sie denn suchen?“ fragte frech Ferfitschkin.

„Sie standen sich doch niemals sehr besonders mit Swerkoff,“ bemerkte
gleichfalls geärgert Trudoljuboff. Ich aber ließ sie nicht mehr los.

„Ich glaube, darüber zu urteilen steht mir allein zu,“ entgegnete ich
mit wutbebender Stimme, ganz als ob Gott weiß was geschehen wäre.
„Vielleicht will ich gerade deswegen jetzt mit ihm speisen, weil ich
mich früher nicht besonders mit ihm stand.“

„Na, wer kann denn das ahnen ... diese Feinheiten ...“ bemerkte lächelnd
Trudoljuboff.

„Nun gut,“ entschied Ssimonoff und wandte sich zu mir, – „morgen um fünf
Uhr im Hotel de Paris. Verspäten Sie sich nicht,“ fügte er hinzu.

„Und das Geld ...?“ begann Ferfitschkin halblaut, indem er mit dem Kopf
auf mich wies und Ssimonoff fragend anblickte, verstummte aber, da sogar
Ssimonoff verlegen wurde.

„Nun, genug,“ sagte Trudoljuboff und erhob sich. „Wenn er so große Lust
hat, mag er kommen.“

„Aber unser Kreis ist doch privat,“ sagte Ferfitschkin wütend und griff
gleichfalls nach seinem Hut. „Das ist doch keine öffentliche
Versammlung.“

„Vielleicht wollen wir Sie überhaupt nicht ...“

Sie gingen: Ferfitschkin grüßte mich nicht einmal, Trudoljuboff nickte
kaum, ohne mich dabei anzusehen. Ssimonoff, mit dem ich allein blieb,
war verdrossen und schien unangenehme Bedenken zu tragen; nur einmal
blickte er mich sonderbar an. Er setzte sich nicht und forderte auch
mich nicht auf, Platz zu nehmen.

„Hm! ... ja ... also morgen. Geben Sie das Geld heute? Ich ... nur um es
genau zu wissen,“ begann er, brach aber sofort verlegen ab.

Ich wurde rot und im selben Augenblick fiel es mir plötzlich ein, daß
ich Ssimonoff noch seit undenklichen Zeiten fünfzehn Rubel schuldete,
die ich übrigens nie vergessen, doch die ich ihm noch immer nicht
wiedergegeben hatte.

„Sagen Sie es sich doch selbst, Ssimonoff, ich konnte es doch nicht
wissen, als ich herkam ... es tut mir sehr leid, daß ich vergaß, m...“

„Schon gut, schon gut, bleibt sich ja gleich. Sie zahlen dann morgen
nach dem Diner. Ich fragte ja nur, um zu wissen ... bitte ...“

Er verstummte mitten im Satz, schritt aber noch unwilliger im Zimmer auf
und ab, wobei er mit den Absätzen immer stärker und stärker auftrat.

„Ich halte Sie doch nicht auf?“ fragte ich ihn nach längerem Schweigen.

„O, nein!“ protestierte er und tat, als ob er aus tiefen Gedanken
auffahre, „– das heißt ... im Grunde – ja. Sehen Sie, ich müßte
eigentlich noch ausgehen ... hier, in der Nähe ...“ fügte er mit
entschuldigender Stimme hinzu. Ersichtlich schämte er sich ein wenig.

„Ach, mein Gott! Warum sagten Sie es nicht gleich!“ rief ich, ergriff
meine Mütze und verabschiedete mich von ihm – übrigens benahm ich mich
in dem Augenblick ganz erstaunlich ungezwungen; weiß Gott woher diese
Sicherheit über mich kam.

„Es ist ja nicht weit ... Hier ganz in der Nähe ...“ wiederholte
Ssimonoff etwas gar zu geschäftig, als er mich in den Treppenflur
hinausbegleitete. „Also morgen um Punkt fünf!“ rief er mir noch nach; er
war schon allzu glücklich über meinen Aufbruch. Ich aber raste innerlich
vor Wut.

„Was plagte Dich, was plagte Dich, Deine Nase da hineinzustecken!“
fragte ich mich zähneknirschend auf der Straße. „Dieser Gauner, dieses
Ferkel Swerkoff! Einfach – ich gehe nicht! Natürlich, hol sie der
Henker! Bin ich denn etwa gebunden? Morgen früh werde ich Ssimonoff
brieflich benachrichtigen ...“

Aber ich raste ja doch nur vor Wut, weil ich wußte, weil ich genau,
tödlich genau wußte, daß ich doch gehen würde, zum Trotz gehen würde!
Und je taktloser, je unanständiger es sein sollte, hinzugehen, um so
eher würde ich gehen! – das wußte ich.

Und ich hatte sogar einen guten Grund, abzusagen: hatte kein Geld. Alles
in allem besaß ich noch neun Rubel. Doch von diesen neun Rubeln mußte
ich am nächsten Tage meinem Aufwärter Apollon, der bei mir wohnte, doch
sich selbst beköstigte, seine Monatsgage, sieben Rubel, auszahlen.

_Nicht_ auszahlen war unmöglich, da ich den Charakter meines Apollon nur
zu gut kannte. Doch auf diese Kanaille, auf diese meine Plage, meine
Seuche, werde ich noch ausführlicher zu sprechen kommen.

Aber ich wußte es ja im voraus, daß ich ihm das Geld doch nicht geben
und unbedingt ins Hotel de Paris gehen würde.

In jener Nacht hatte ich ganz hundsgemeine Träume. Kein Wunder: den
ganzen Abend vorher hatten mich Erinnerungen aus den Kerkerjahren meiner
Schulzeit gequält; nicht loszuwerden! In diese Schule hatten mich meine
entfernten Verwandten gesteckt, – mich, den Waisenknaben, der ich schon
sowieso verprügelt und von ihren Vorwürfen fast erdrückt war. Ich war
ein schweigsames, nachdenkliches Kind, das nur scheu beobachtete. Meine
Mitschüler empfingen mich mit boshaften, unbarmherzigen Witzchen, weil
ich ihnen so ganz unähnlich war. Ich aber konnte keinen Spott ertragen;
ich konnte mich nicht so schnell wie andere Kinder mit ihnen einleben.
Ich haßte sie vom ersten Tage an, zog mich ganz von ihnen zurück und
wappnete mich mit übermäßig empfindlichem Stolz. Ihre Rohheit empörte
mich. Sie lachten zynisch über mein Gesicht, über meine eckige Gestalt;
und doch – was hatten sie selbst für Gesichter! In unserer Schule wurden
die Gesichter mit der Zeit ganz absonderlich dumm. Wie viele prächtige
Kinder traten bei uns ein – und schon nach wenigen Jahren war’s
widerlich, sie anzusehen. Ich war noch nicht sechzehn, als ich mich
schon über die Flachheit ihrer Gedanken, die Dummheit ihrer
Beschäftigungen, Spiele und Gespräche wunderte. Die wichtigsten Dinge,
die auffallendsten Erscheinungen konnten sie nicht verstehen, ja, sie
hatten nicht einmal Interesse für sie übrig, so daß ich sie
unwillkürlich für unter mir stehende Geschöpfe hielt. Nicht etwa
beleidigter Ehrgeiz veranlaßte mich dazu, und kommen Sie mir um Gottes
willen nicht mit den bis zur Übelkeit durchgekauten Gemeinplätzen, den
alten abgedroschenen Phrasen, wie: „Sie träumten bloß, jene aber
begriffen schon das wirkliche Leben“. Nichts begriffen sie, vom
wirklichen Leben schon ganz zu schweigen, und das, ich schwör’s Ihnen,
das war es gerade, was mich an ihnen am meisten empörte. Im Gegenteil,
die augenscheinlichste, die auffallendste Wirklichkeit faßten sie
geradezu phantastisch dumm auf, und schon damals achteten sie nur den
Erfolg. Alles, was im Recht, doch erniedrigt und verprügelt war, wurde
von ihnen grausam und schmählich verlacht. Rang oder Titel hielten sie
für Verstand; schon mit sechzehn Jahren philosophierten sie über warme
Plätzchen, ich meine, über gute ruhige Posten. Natürlich kam das meist
von ihrer Dummheit und dem schlechten Beispiel, das sie von Kindheit an
vor Augen hatten. Verdorben waren sie bis zu Ungeheuern. Natürlich war
hierbei vieles nur äußerlich, war nur angenommener Zynismus; Jugend und
eine gewisse Frische durchbrachen auch bei ihnen zuweilen die
Verderbnis, doch war selbst diese Frische an ihnen abstoßend. Ich haßte
sie furchtbar, obgleich ich womöglich noch schlechter war als sie. Sie
zahlten mir mit derselben Münze heim und machten auch aus ihrem Haß
keinen Hehl. Doch ich wollte damals schon nichts mehr von ihrer Liebe
wissen; im Gegenteil, ich wollte sie nur noch erniedrigen. Um mich vor
ihren Spötteleien zu schützen, bemühte ich mich absichtlich, möglichst
gut zu lernen, und so wurde ich denn alsbald einer der ersten Schüler.
Das imponierte ihnen natürlich. Zudem leuchtete es ihnen allmählich ein,
daß ich schon Bücher las, die sie nicht lesen konnten, und daß ich schon
Dinge – die nicht in unseren speziellen Kursus gehörten – begriff, von
denen sie noch nicht einmal hatten reden gehört. Doch auch dazu
verhielten sie sich wie immer spöttisch, moralisch aber unterwarfen sie
sich, – um so mehr, als sogar die Lehrer in der Beziehung einige
Aufmerksamkeit auf mich verwandten. Die Spötteleien hörten auf, doch die
Feindseligkeit hörte nicht auf, und das Verhältnis zwischen ihnen und
mir blieb kühl und gezwungen. Zu guterletzt hielt ich es selbst nicht
aus; mit den Jahren stellte sich bei mir das Bedürfnis nach Menschen und
Freunden ein. Ich versuchte zwar, mich einigen von ihnen zu nähern, aber
diese Annäherungen waren von mir aus immer unnatürlich, und so hörten
sie denn auch bald wieder auf. Einmal aber hatte auch ich einen Freund.
Da ich aber schon von Hause aus Despot war, wollte ich unumschränkt über
seine Seele herrschen: ich wollte in seine Seele Verachtung für die ihn
umgebenden Menschen einpflanzen; ich verlangte von ihm, er sollte mit
ihnen ganz und gar brechen. Ich ängstigte ihn mit meiner
leidenschaftlichen Liebe; ich brachte ihn bis zu Tränen, zu Krämpfen; er
hatte ein naives, sich hingebendes Herz; doch als er sich mir ganz
ergeben hatte, da erfaßte mich plötzlich Haß gegen ihn, und ich stieß
ihn von mir, – ganz als ob ich ihn nur gebraucht hätte, um ihn zu
besiegen, um ihn mir zu unterwerfen. Alle aber konnte ich doch nicht so
besiegen; mein Freund war gleichfalls nicht wie die anderen, er glich
keinem einzigen von ihnen und war in jeder Beziehung eine Ausnahme. Als
ich die Schule verließ, war das Erste, was ich tat, daß ich den Dienst,
zu dem ich bestimmt war, verließ, um so alle Fäden, die mich an das
Frühere banden, zu zerreißen, das Vergangene zu verfluchen und den Staub
alles Gewesenen von meinen Füßen zu schütteln ... Weiß der Teufel, warum
ich dann noch zu diesem Ssimonoff kroch! ...

Am nächsten Morgen erwachte ich sehr früh, erinnerte mich sofort des
Geschehenen und sprang erregt aus dem Bett, ganz als ob ich unverzüglich
hätte hingehen müssen. Ich glaubte, daß noch am selben Tage irgend ein
radikaler Umschwung in meinem Leben beginnen, ja, _unbedingt_ beginnen
würde. Weiß Gott, vielleicht war er aus Ungewohnheit, aber jedesmal bei
irgend einem äußeren, wenn auch noch so kleinen Ereignis, schien es mir,
daß sofort irgend ein radikaler Umschwung in meinem Leben eintreten
würde. Übrigens begab ich mich an jenem Tage wie gewöhnlich in meine
Kanzlei, doch verließ ich sie heimlich schon zwei Stunden früher als
sonst, um mich zu Hause vorzubereiten. Die Hauptsache ist nur, dachte
ich, daß Du nicht als erster erscheinst, sonst würde man denken, Du
freutest Dich schon so sehr auf das Essen, daß Du nicht abwarten
könntest. Doch solcher Hauptsachen gab es Hunderte und alle regten sie
mich bis zu völliger Entkräftung auf. Eigenhändig putzte ich noch einmal
meine Stiefel – waren mir nicht blank genug; Apollon hätte sie um nichts
in der Welt zweimal am Tage geputzt, denn er fand, daß das nicht in der
Ordnung sei. Und so putzte ich sie denn selbst, nachdem ich die Bürste
im Vorzimmer glücklich erwischt hatte, heimlich in meinem Zimmer, damit
er es nicht sah und dann Grund gehabt hätte, mich zu verachten. Darauf
besah ich meine Kleider und fand, daß alles schon alt, fadenscheinig,
vertragen war. Hatte mein Äußeres schon etwas zu sehr vernachlässigt.
Der Überzieher war allerdings ausgebessert, aber ich konnte doch nicht
im Überzieher dinieren. Doch das Schlimmste waren die Beinkleider:
gerade auf dem Knie war ein großer gelber Fleck. Ich fühlte es im
voraus, daß mir schon allein dieser Fleck neun Zehntel meiner Würde
nehmen mußte. Auch wußte ich, daß es sehr niedrig war, so zu denken.
„Doch jetzt ist’s nicht mehr ums Denken zu tun: jetzt beginnt die
Wirklichkeit,“ dachte ich und verlor immer mehr den Mut. Auch wußte ich
ganz genau – im selben Augenblick, da ich jenes dachte –, daß ich alle
diese Dinge ungeheuer vergrößerte; aber was sollte ich machen: mich
beherrschen war unmöglich. Fieberschauer schüttelten mich. Verzweifelt
stellte ich mir vor, wie das alles sein wird: wie dieser „Gauner“
Swerkoff mich kühl und herablassend begrüßt; mit welch einer stumpfen,
mit nichts abzuwehrenden Verachtung der Rüpel Trudoljuboff auf mich
herabsieht, und wie gemein und frech dieser Mistkäfer Ferfitschkin über
mich kichert, um Swerkoff zu gefallen; wie vorzüglich Ssimonoff alles
versteht, wie er mich durchschaut und mich wegen der Niedrigkeit meines
Ehrgeizes und Kleinmuts verachtet. Und vor allen Dingen – wie kläglich,
wie _unliterarisch_, wie alltäglich das alles sein wird! Am besten wäre
es natürlich gewesen – überhaupt nicht hinzugehn. Aber gerade das war ja
ganz und gar unmöglich: wenn es mich schon einmal irgendwohin zog, so
war nichts mehr zu wollen. Ich hätte mir ja dann mein Leben lang keine
Ruh gelassen: „Hast doch Angst bekommen, hehe, hast vor der
_Wirklichkeit_ Angst bekommen, ja ja!“ Nein, das war ganz
ausgeschlossen. Ich aber wollte doch gerade diesem Pack _beweisen_, daß
ich keineswegs solch ein Feigling war, wie ich’s selbst glaubte. Ja, im
stärksten Paroxismus meiner Feigheit wollte ich sie mir sogar
unterwerfen, sie besiegen, bezaubern, zwingen, mich zu lieben – na,
sagen wir meinetwegen „wegen der Erhabenheit meines Geistes“. Sie würden
Swerkoff ganz vergessen, er würde abseits sitzen, schweigen und sich
schämen, ich aber würde Swerkoff einfach zum Nußknacker machen. Später
könnte ich mich ja wieder mit ihm versöhnen, meinetwegen sogar
Brüderschaft trinken; doch was am bittersten und kränkendsten für mich
war, das war, daß ich im selben Augenblick doch wußte, genau, tödlich
genau wußte, daß ich dessen in Wirklichkeit überhaupt nicht bedurfte,
daß ich sie im Grunde überhaupt nicht mir unterwerfen oder besiegen
wollte, und daß ich für diesen ganzen Erfolg, wenn ich ihn nur erringen
könnte, selbst nicht eine Kopeke geben würde. Oh wie betete ich zu Gott,
daß dieser Tag schneller vorübergehen möge! In unbeschreiblicher
Seelenangst trat ich ans Fenster und starrte in die neblige Dämmerung
des dicht fallenden Schnees ...

Endlich schlug es: meine kleine erbärmliche Wanduhr schnurrte heiser
fünf Schläge. Ich ergriff meine Mütze und schlüpfte dann ohne aufzusehn
an Apollon vorüber – der seit dem Morgen die Auszahlung seiner Gage von
mir erwartete, doch in seiner Dummheit es für unter seiner Würde hielt,
mich daran zu erinnern – und nahm darauf für meinen letzten Fünfziger
einen guten Schlitten, um als vornehmer Herr am Hotel de Paris
vorzufahren.


                                  IV.

Schon am Abend vorher hatte ich es gewußt, daß ich als erster ankommen
würde. Doch war es mir nicht mehr darum zu tun.

Von ihnen war noch niemand erschienen und erst nach langem Suchen konnte
ich das für uns bestellte Zimmer finden. Der Tisch war noch nicht ganz
gedeckt. Was hatte das zu bedeuten? Nach vielen Fragen und endlosem Hin
und Her erfuhr ich endlich von den Kellnern, daß das Diner zu sechs und
nicht zu fünf Uhr bestellt worden war. Das bestätigte man mir auch am
Buffet. Ich schämte mich, noch mehr zu fragen. Es war erst
fünfundzwanzig Minuten nach fünf. Wenn sie die Stunde verändert hatten,
so wäre es ihre Pflicht gewesen, mich davon zu benachrichtigen, dazu
gibt es doch eine Stadtpost, nicht aber mich der „_Schande_“
auszusetzen, ... vor ... vor mir selbst wie ... wie auch, nun,
meinetwegen, wie auch vor den Kellnern. Ich setzte mich; bald darauf kam
der Diener, um den Tisch zu decken; in seiner Gegenwart wurde das Warten
noch unangenehmer, und das Benehmen der anderen zu mir noch kränkender.
Kurz vor sechs Uhr wurden noch Lichte gebracht, da die Lampen das Zimmer
nicht genügend erhellten. Dem Bedienten war es nicht in den Sinn
gekommen, die Lichte sofort, nachdem ich mich gesetzt hatte, zu bringen.
Im Nebenzimmer speisten an verschiedenen Tischen zwei alte, schweigsame,
augenscheinlich mürrische Herren. In einem der weitergelegenen Zimmer
ging es sehr laut zu, es wurde dort sogar geschrieen; man hörte das
Gelächter einer ganzen Gesellschaft, und hin und wieder auch gemeines
französisches Gekreisch: ein Diner mit Damen. Kurz, es war widerlich.
Selten hatte ich so scheußliche Minuten durchlebt ... infolgedessen war
ich denn, als sie endlich alle zusammen um Punkt sechs erschienen, im
ersten Augenblick so erfreut, daß ich fast ganz vergaß, wie es sich
gehörte, den Gekränkten zu spielen.

Swerkoff trat als erster ein; natürlich war er der Erste! Alle lachten
sie; doch als Swerkoff mich erblickte, nahm er sofort eine steifere
Haltung an, und kam langsam, in der Taille ein wenig nach vorn geneigt,
gleichsam als kokettierte er mit seiner Gestalt, auf mich zu und reichte
mir die Hand; zwar tat er das freundlich – wenn auch nicht gerade sehr
–, aber er tat es doch mit einer gewissen Vorsicht, mit fast
exzellenzenhafter Höflichkeit, ganz als ob er sich im selben Augenblick
vor irgend etwas in Acht nehmen wollte. Ich hatte gedacht, er würde
sofort beim Eintritt mit seinem alten Lachen, seinen flachen Witzchen
und Späßchen beginnen. Auf die hatte ich mich schon seit dem Abend
vorbereitet, doch nie und nimmer hatte ich solch ein vonobenherab, solch
eine Generalsliebenswürdigkeit erwartet. Er hielt sich wohl in jeder
Beziehung für unvergleichlich höherstehend. Wenn er mich mit dieser
Würde hätte kränken wollen, so wär’s weiter nicht schlimm gewesen,
dachte ich; hätte ausgespuckt, und damit wär’s abgetan gewesen. Wie
aber, wenn sich in seinem elenden Kalbskopf tatsächlich die blödsinnige
Idee, er stehe hoch über mir und könne sich nur gönnerhaft zu mir
verhalten, festgesetzt hatte, und er überhaupt nicht beabsichtigte, mich
zu beleidigen? Bei der bloßen Vorstellung dieser Möglichkeit ging mir
schon der Atem aus.

„Ich hörte zu meinem Erstaunen von Ihrem Wunsch, mit uns den Abend zu
verbringen,“ begann er in seiner albernen Weise zu sprechen, wobei er
diesmal die Worte ganz besonders langsam und deutlich aussprach, was er
früher nicht getan hatte. „Der Zufall hat es gewollt, daß wir uns lange
nicht mehr gesehn haben. Sie sind ja ganz menschenscheu geworden, nur
tun Sie uns damit Unrecht. Wir sind nicht so furchtbar, wie wir
scheinen. Nun, jedenfalls er–neu–ere ich gern ...“

Er wandte sich nachlässig zum Fenster, um seinen Hut aus der Hand zu
legen.

„Warten Sie schon lange?“ fragte Trudoljuboff.

„Ich kam um Punkt fünf, so wie man es mir gestern gesagt hatte,“
antwortete ich laut und mit einer Gereiztheit, die einen nahen Ausbruch
versprach.

„Hast Du ihn denn nicht benachrichtigt?“ fragte Trudoljuboff etwas
erstaunt Ssimonoff.

„Nein. Hab’s vergessen,“ antwortete der ohne die geringste Verlegenheit
und ging, sogar ohne sich bei mir deswegen zu entschuldigen, hinaus ans
Buffet, um die Weine zu bestellen.

„Dann warten Sie hier schon seit einer Stunde? Ach, Sie Armer!“ rief
Swerkoff spöttisch lachend, denn nach seinen Begriffen mußte das
allerdings lächerlich sein; und gleich nach ihm stimmte auch
Ferfitschkin mit seiner dünnen Stimme wie ein Schoßhündchen in das
Gelächter ein. Schien doch auch ihm meine Lage ungewöhnlich lächerlich.

„Das ist durchaus nicht lächerlich!“ schrie ich ihn plötzlich an, da
mich das Lachen immer mehr gereizt hatte. „Die Schuld daran tragen
andere, nicht ich. Man hat es für unnötig gefunden, mich zu
benachrichtigen. Das ist ... das ist ... das ist ... einfach ungeschickt
ist das!“

„Nicht nur ungeschickt, sondern noch etwas anderes,“ brummte
Trudoljuboff, der mich naiv verteidigen wollte. „Sie sind etwas zu
gutmütig. Das ist einfach eine Unhöflichkeit. Selbstverständlich keine
beabsichtigte. Wie hat aber Ssimonoff nur ... Hm!“

„Wenn man sich mir gegenüber so etwas erlaubt hätte,“ bemerkte
Ferfitschkin, „so würde ich ...“

„So würden Sie sich etwas bestellt haben, nicht wahr,“ unterbrach ihn
Swerkoff. „Oder Sie hätten sich das Diner servieren lassen, ohne die
anderen zu erwarten.“

„Sie werden mir zugeben, daß ich das ohne jede Erlaubnis hätte tun
können,“ sagte ich kurz, um das Gespräch abzubrechen. „Wenn ich wartete,
so geschah es nur ...“

„Setzen wir uns, meine Herren!“ rief der eintretende Ssimoneff, „alles
ist fertig; für den Champagner garantiere ich, famos gekühlt ... Ich
wußte doch nicht, wo Sie wohnen, und wo hätte ich Sie denn finden
können!?“ sagte er plötzlich zu mir gewandt, doch vermied er es wieder,
mich offen anzusehn. Ersichtlich hatte er etwas gegen mich.

Sie setzten sich alle; auch ich nahm Platz. Es war ein runder Tisch.
Links von mir saß Trudoljuboff, rechts Ssimonoff, Swerkoff mir
gegenüber; Ferfitschkin zwischen ihm und Trudoljuboff.

„Saagen Sie ... Sie sind im Département?“ fragte mich Swerkoff, der im
Ernst glaubte, da er sah, daß ich gereizt war, man müsse mich freundlich
behandeln und ein wenig beruhigen. – „Was will er eigentlich von mir?
Will er, daß ich ihm eine Flasche an den Kopf werfe?“ dachte ich,
innerlich bebend vor Wut. Ungewohnt an Verkehr mit Menschen war ich
schnell reizbar.

„In der ...schen Kanzlei,“ antwortete ich schroff, den Blick auf den
Teller gesenkt.

„Und! ... S–sie s–sind mit Ihrer Stellung zufrieden? S–saagen Sie doch,
was verr–anlaßte Sie eigentlich, Ihren früheren Dienst zu ver–lassen?“

„Mich verrrr–anlaßte dazu, daß ich meinen früheren Dienst verlassen
wollte,“ sagte ich, dreimal länger das r ziehend – ich konnte mich schon
nicht mehr beherrschen. Ferfitschkin schneuzte sich umständlich.
Ssimonoff blickte mich von der Seite ironisch an; Trudoljuboff legte
Messer und Gabel hin und betrachtete mich gleichfalls interessiert.

Swerkoff tat, als ob er nichts bemerkt hätte.

„Nun, und Ihr Gehalt?“

„Welch ein Gehalt?“

„Ich meine Ihre Gaa–ge?“

„Wozu examinieren Sie mich, wenn ich fragen darf?“

Übrigens sagte ich gleich darauf, wieviel ich erhielt und wurde dabei
feuerrot.

„Das ist all–lerdings nicht viel,“ bemerkte Swerkoff würdevoll.

„Ja, ja, damit kann man nicht in Café-Restaurants dinieren!“ fügte
Ferfitschkin unverschämt hinzu.

„Ich finde das einfach armselig,“ meinte Trudoljuboff mit ernstem
Gesicht.

„Und wie ma–ger Sie geworden sind, wie S–sie sich verändert haben ...
seit der Zeit ...“ fuhr Swerkoff nicht ohne Bosheit mit einem gewissen
arglistigen Bedauern fort, während er mich und meinen Anzug betrachtete.

„Lassen Sie ihn, machen Sie ihn doch nicht ganz verlegen,“ rief
Ferfitschkin.

„Mein Herr, bitte zu begreifen, daß ich mich nicht im geringsten
verlegen machen lasse!“ rief ich, da mich meine Selbstbeherrschung schon
ganz verlassen hatte. „Hören Sie! Ich speise hier im ‚Café-Restaurant‘
für mein Geld, für meines, und nicht auf Kosten anderer, merken Sie sich
das, ^monsieur^ Ferfitschkin.“

„Wie – wa–as!? Wer speist denn hier _nicht_ für sein Geld? Sie tun ja
wirklich, als ob ...“ Ferfitschkin konnte natürlich nicht nachgeben – er
war rot wie ein Krebs und blickte mir starr in die Augen.

„So – Da–aas!“ antworte ich, und da ich fühlte, daß ich schon zu weit
gegangen war, fügte ich noch hinzu: „und ich glaube, wir täten besser,
ein etwas klügeres Gespräch zu führen.“

„Sie beabsichtigen wohl, Ihren Verstand zu zeigen?“

„Oh, beunruhigen Sie sich nicht: das wäre hier vollkommen überflüssig.“

„Was fehlt Ihnen eigentlich, Verehrtester: Sie scheinen ja, wenn Sie
einmal ins Gackern hineingekommen sind, nicht mehr aufhören zu können.
Oder haben Sie Ihren Verstand vielleicht in Ihrem Departemang gelassen?“

„Genug, meine Herren, genug!“ rief allmächtig Swerkoff dazwischen.

„Wie dumm das ist!“ brummte halblaut Ssimonoff.

„Du hast Recht, das ist wirklich dumm. Wir haben uns hier als Freunde
versammelt, zum letzten Mal, zum Abschied von unserem verreisenden
Freunde, und Sie müssen es natürlich wieder zum Streit bringen,“ sagte
Trudoljuboff, wobei er sich grob nur an mich allein wandte. „Sie haben
sich uns gestern selbst aufgedrängt, so stören Sie denn jetzt bitte
nicht die allgemeine Harmonie ...“

„Genug, genug!“ rief Swerkoff. „Hören Sie auf, meine Herren, das geht
wirklich nicht so weiter. Ich werde Ihnen lieber erzählen, wie ich vor
drei Tagen fast geheiratet hätte – faktisch ...“

Und so begann denn die Erzählung der Geschichte, wie dieser Herr vor
drei Tagen fast geheiratet hätte. Von dem Heiratsprojekt selbst war
eigentlich wenig die Rede, oder richtiger, überhaupt nicht; es drehte
sich immer nur um Generäle, Generalleutnants, Obristen und sogar
Kammerjunker, – unter denen Swerkoff natürlich die erste Rolle spielte.
Bald erhob sich auch beifälliges Lachen; Ferfitschkin wieherte förmlich.

Mich vergaßen sie ganz; ich saß moralisch vernichtet auf meinem Stuhl
und schwieg.

„Gott, ist denn das meine Gesellschaft?“ dachte ich. „Und als was für
einen Tölpel habe ich mich ihnen gezeigt! Aber Ferfitschkin habe ich
doch zu viel erlaubt. Da denken nun die Rüpel, sie machten mir große
Ehre, wenn sie mir an ihrem Tisch einen Platz geben, und begreifen
nicht, daß _ich_ es bin, der ihnen Ehre erweist, aber nicht etwa sie sie
mir erweisen! ‚Wie mager!! Wie verändert!‘ Oh, diese verfluchten Hosen!
Swerkoff hat ja schon bei der Begrüßung den gelben Fleck auf dem Knie
bemerkt ... Ach was! Stehe sofort auf, nehme meinen Hut und gehe ohne
ein Wort zu sagen ... Aus Verachtung! Und morgen meinetwegen auf
Pistolen ... Diese Schufte! Mir tun doch nicht die sieben Rubel leid.
Aber, sie könnten denken ... Hols der Teufel! Was sind denn sieben
Rubel! Ich gehe sofort! ...“

Natürlich blieb ich.

Vor Kummer trank ich Lafitte und Sherry glasweise. Da ich das Trinken
aber nicht gewohnt war, so wurde ich bald betrunken, und mit der
Trunkenheit wuchs auch der Ärger. Mich überkam plötzlich die Lust, sie
alle in der frechsten Weise zu beleidigen und dann fortzugehn: „Den
günstigsten Augenblick abwarten und sich dann einmal zeigen: mögen sie
sagen: wenn er auch lächerlich ist, so ist er doch klug ... und ... und
... mit einem Wort – der Teufel hole sie alle!“

Ich betrachtete sie unverschämt mit meinen blöd gewordenen Augen; sie
aber taten, als bemerkten sie mich überhaupt nicht. Bei _ihnen_ ging es
laut und fröhlich zu. Es war immer noch Swerkoff, der da sprach. Er
erzählte von irgend einer schönen Dame, die er endlich so weit gebracht
haben wollte, daß sie ihm eine Liebeserklärung gemacht – er log
natürlich wie ... wie ein Mensch – und daß ihm in dieser Sache sein
intimer Freund, der Husarenoffizier Kolä – irgend ein Fürst, der
dreitausend Seelen besitzen sollte – ganz besonders geholfen hätte.

„Das hindert natürlich nicht, daß es diesen Kolä, der dreitausend Seelen
hat, überhaupt nicht gibt,“ unterbrach ich plötzlich das Gespräch.

Alle verstummten.

„Sie sind ja schon jetzt besoffen,“ sagte endlich Trudoljuboff, der
allein mich zu bemerken geruhte, und blickte mich verächtlich von der
Seite an. Swerkoff fixierte mich wie einen Käfer unterm Mikroskop. Ich
senkte meinen Blick. Ssimonoff beeilte sich, den Champagner einzugießen.

Trudoljuboff erhob das Glas und seinem Beispiel folgten alle – außer
mir.

„Auf Deine Gesundheit! und glückliche Reise!“ rief er Swerkoff zu, „auf
die alten Jahre, meine Herren, die Zukunft! Hurrah!“

Alle tranken und gingen dann zu Swerkoff, um ihn zu küssen. Ich saß
unbeweglich, das volle Glas stand vor mir unberührt.

„Sie wollen also _nicht_ trinken?!“ schrie mich plötzlich drohend
Trudoljuboff an, dem die Geduld riß.

„Ich möchte meinerseits einen Speech halten ... und dann erst werde ich
trinken, Herr Trudoljuboff.“

„Widerlicher Giftpilz!“ brummte Ssimonoff.

Ich bog mich etwas zurück auf dem Stuhl, Brust heraus, nahm das Glas und
erwartete im Fieber etwas ganz Ungewöhnliches: ich wußte selbst noch
nicht, was ich eigentlich sagen würde.

„Silence!“ rief Ferfitschkin. „Jetzt wird’s Verstand hageln!“

Swerkoff erwartete sehr ernst, was da kommen würde, denn er begriff,
worum es sich handelte.

„Herr Leutnant Swerkoff,“ begann ich, „ich hasse die Phrase, die
Phraseure und die engen Taillen ... Das ist der erste Punkt, und hierauf
folgt der zweite.“

Alle wurden unruhig.

„Der zweite Punkt ist: ich hasse gewisse Damen und die Liebhaber dieser
Damen. Besonders die Liebhaber! Der dritte Punkt: ich liebe Wahrheit,
Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit,“ fuhr ich fast mechanisch fort, denn ich
fühlte mich schon gefrieren, erstarren vor Entsetzen; begriff ich doch
selbst nicht, wie ich das alles so sagen konnte. „Ich liebe den
Gedanken, ^monsieur^ Swerkoff; ich liebe wahre Kameradschaftlichkeit auf
gleichem Fuß, nicht aber ... hm! ... Ich liebe ... Doch übrigens – wozu?
Auch ich werde auf Ihre Gesundheit trinken, ^monsieur^ Swerkoff.
Verführen Sie Tscherkessinnen, erschießen Sie die Feinde des Vaterlandes
und ... und ... Auf Ihre Gesundheit, ^monsieur^ Swerkoff!“

Swerkoff erhob sich, verbeugte sich gemessen und sagte eisig:

„Ich danke Ihnen sehr.“

Er war maßlos gekränkt und ganz bleich im Gesicht.

„Das ist aber mal stark!“ schrie Trudoljuboff und schlug empört mit der
Faust auf den Tisch.

„Für so etwas verabreicht man Ohrfeigen!“ rief Ferfitschkin.

„Läßt ihn einfach rausschmeißen!“ brummte Ssimonoff.

„Kein Wort, meine Herren, kein Wort weiter!“ rief feierlich Swerkoff und
hielt damit die allgemeine Empörung auf. „Ich danke Ihnen allen, meine
Herren, doch ich werde ihm selbst beweisen, inwieweit ich seine Worte zu
schätzen verstehe.“

„Herr Ferfitschkin, morgen noch werden Sie mir für Ihre Worte
Rechenschaft geben!“ sagte ich plötzlich laut und wichtig zu
Ferfitschkin.

„Sie meinen – ein Duell? Mit Vergnügen,“ antwortete der, doch war ich in
dem Augenblick, als ich forderte, wahrscheinlich so lächerlich, daß
Swerkoff, Ssimonoff und Trudoljuboff, und nach ihnen auch Ferfitschkin
sich vor Lachen einfach wälzten.

„Er ist ja schon ganz besoffen, beachten wir ihn weiter nicht!“ sagte
schließlich angeekelt Trudoljuboff.

„Werde mir nie verzeihen, daß ich ihn zugelassen habe!“ brummte wieder
Ssimonoff.

„Jetzt einfach eine Flasche ihnen allen an die Köpfe,“ dachte ich, nahm
die Flasche und ... goß mir das Glas bis zum Rande voll.

„Nein, lieber bleibe ich bis zum Schluß hier!“ fuhr ich fort zu denken,
„Euch, meine Lieben, Euch könnte jetzt wohl nichts Angenehmeres
geschehen, als daß ich aufstände und fortginge. Gepfiffen! Werde zum
Trotz bis zum Schluß sitzen bleiben, zum Zeichen dessen, daß ich Euch
nicht die geringste Wichtigkeit beilege. Werde sitzen und trinken, denn
das hier ist doch ein öffentliches Lokal, in das ich für mein Geld
eingetreten bin. Werde sitzen und trinken, denn in meinen Augen seid Ihr
nichts als Tölpel, nicht vorhandene Tölpel! Werde sitzen und trinken ...
und singen, wenn’s mir einfällt, ja, und auch singen, denn ich habe das
Recht ... zu singen ... hm!“

Aber ich sang doch nicht. Ich bemühte mich bloß, auf keinen von ihnen zu
sehn; ich nahm die unabhängigsten Posen an, und wartete ungeduldig, wann
sie mit mir wieder sprechen würden, – sie _zuerst_! Doch leider taten
sie es nicht. Ach und wie wünschte ich in diesem Augenblick, mich mit
ihnen zu versöhnen! Es schlug acht ... Es schlug neun. Sie gingen vom
Tisch zum Diwan. Swerkoff streckte sich sofort aus und legte einen Fuß
auf ein kleines rundes Tischchen. Dorthin wurde dann auch der Wein
gebracht. Er setzte ihnen tatsächlich drei Flaschen an. Mich forderte er
natürlich nicht auf. Die anderen setzten sich um ihn herum und hörten
ihm andächtig zu. Man sah es ihnen an, daß sie ihn liebten. „Weswegen?
Weswegen nur?“ dachte ich bei mir. Zuweilen gerieten sie in trunkene
Begeisterung und fielen dann einander um den Hals. Sie sprachen vom
Kaukasus, sprachen über die wahre Leidenschaft, über das Kartenspiel,
über vorteilhafte Posten im Dienst, sprachen über die Einkünfte, die der
Husarenoffizier Podcharschewski hatte, – ein Mensch, den keiner von
ihnen persönlich kannte, und sie freuten sich, daß er große Einkünfte
hatte – sie sprachen von der ungewöhnlichen Schönheit und Grazie der
Fürstin D–i, die gleichfalls keiner von ihnen gesehn hatte; endlich kam
es so weit, daß Shakespeare von ihnen für unsterblich erklärt wurde.

Ich lächelte spöttisch und ging in der anderen Hälfte des Zimmers auf
und ab: vom Tisch bis zum Ofen und vom Ofen bis zum Tisch. Aus allen
Kräften strengte ich mich an, ihnen zu zeigen, daß ich auch ohne sie
auskommen könnte; mittlerweile aber fing ich absichtlich an, so laut wie
möglich auf und ab zu schreiten, ja ich stampfte sogar ganz ordentlich
mit den Absätzen. Doch alles war vergeblich. _Sie_ schenkten mir nicht
die geringste Aufmerksamkeit. Ich hatte die Geduld, in dieser Weise vor
ihnen von acht bis elf Uhr auf und ab zu gehn, immer auf ein und
derselben Stelle: vom Tisch bis zum Ofen und vom Ofen bis zum Tisch.
„So, ich gehe einfach, und niemand kann es mir verbieten.“ Der
abräumende Bediente hielt mehrmals in seiner Beschäftigung inne, um mich
verwundert zu betrachten. Von dem häufigen Umkehren drehte sich mir
schon alles vor den Augen; zuweilen schien mir alles nur ein Fieberwahn
zu sein. In diesen drei Stunden geriet ich dreimal in Schweiß und wurde
dreimal wieder pulvertrocken. Mitunter bohrte sich mir mit tiefem,
ätzendem Weh der Gedanke ins Herz, daß ich mich noch nach zehn Jahren,
nach zwanzig, nach vierzig Jahren, ja, selbst nach vierzig Jahren noch
mit Schmerz und Selbstverabscheuung an diese schmutzigsten,
lächerlichsten und schrecklichsten Augenblicke meines ganzen Lebens
erinnern werde. Noch gewissenloser und noch freiwilliger sich selbst zu
erniedrigen, war schon unmöglich, und ich begriff das vollkommen, nein,
wirklich, das begriff ich so voll und ganz, wie man’s besser überhaupt
nicht gekonnt hätte – und trotzdem fuhr ich fort, vom Tisch bis zum Ofen
und vom Ofen bis zum Tisch zu gehn. „O, wenn Ihr nur wüßtet, welcher
Gefühle und Gedanken ich fähig bin, und überhaupt wie entwickelt ich
bin!“ dachte ich, mich in Gedanken an den Diwan wendend, auf dem meine
Feinde saßen. Doch meine Feinde taten, als wäre ich überhaupt nicht im
Zimmer gewesen. Einmal, nur ein einziges Mal wandten sie sich nach mir
um, nämlich als Swerkoff über Shakespeare sprach und ich plötzlich laut
auflachte: ich lachte so unnatürlich, so gemein, daß sie alle im selben
Augenblick verstummten und mich zwei oder drei Minuten lang schweigend
und ernst betrachteten, wie ich an der Wand vom Tisch bis zum Ofen und
vom Ofen bis zum Tisch ging und _sie überhaupt nicht beachtete_. Aber
sie sagten kein Wort und wandten sich wieder von mir ab. Da schlug es
elf.

„Meine Herren!“ rief aufspringend plötzlich Swerkoff. „Jetzt gehn wir
alle _dorthin_!“

„Versteht sich! Famos!“ riefen die anderen.

Ich drehte mich hastig um und trat auf Swerkoff zu. Ich war dermaßen
abgequält, dermaßen gemartert, daß ich, und wenn es mir auch das Leben
gekostet hätte, einen Schluß damit machen mußte. Ich war im Fieber;
meine vom Schweiß feucht gewordenen Haare waren an Stirn und Schläfen
angetrocknet.

„Swerkoff! Ich bitte Sie um Verzeihung,“ sagte ich schroff und
entschieden. „Auch Sie, Ferfitschkin, bitte ich, mir zu verzeihen, und
Sie alle, alle, ich habe alle beleidigt!“

„Aha! Das Duell scheint ihm doch ’nen Schrecken eingejagt zu haben!“
tuschelte Ferfitschkin boshaft seinem Nachbar zu.

Das schnitt mir weh ins Herz.

„Nein, Ferfitschkin, ich habe keine Angst vor dem Duell! Ich bin bereit,
mich morgen mit Ihnen zu schlagen, aber erst nachdem wir uns versöhnt
haben. Ich bestehe sogar darauf, und Sie können es mir nicht abschlagen.
Ich will Ihnen beweisen, daß ich das Duell nicht fürchte. Sie haben den
ersten Schuß, ich aber werde in die Luft schießen.“

„Will sich trösten,“ bemerkte Ssimonoff.

„Faselt wieder mal!“ meinte Trudoljuboff.

„So lassen Sie mich doch vorüber, Sie versperren einem ja den Weg! ...
Was wollen Sie denn eigentlich?“ fragte Swerkoff verächtlich.

Alle waren sie rot; ihre Augen glänzten: hatten viel getrunken.

„Ich bitte Sie um Ihre Freundschaft, Swerkoff, ich habe Sie beleidigt,
aber ...“

„Beleidigt? S–sie? M–mich? Wissen Sie, mein Verehrtester, daß Sie
niemals und unter keinen Umständen _mich_ beleidigen können!“

„Ach, hol ihn der Kuckuck,“ rief Trudoljuboff. „Fahren wir.“

„Olympia gehört mir, meine Herren, das ist abgemacht!“ rief Swerkoff.

„Schön, wir machen sie Ihnen nicht streitig!“ antwortete man ihm
lachend.

Ich blieb wie ein begossener Hund zurück. Die Bande verließ geräuschvoll
das Zimmer, Trudoljuboff stimmte irgend ein Lied an. Ssimonoff aber
blieb noch auf einen Augenblick zurück, um den Bedienten das Trinkgeld
zu geben. Da trat ich plötzlich an ihn heran.

„Ssimonoff! Geben Sie mir sechs Rubel!“ sagte ich entschlossen in meiner
Verzweiflung.

Er sah mich über die Maßen verwundert mit sonderbar stumpfem Blick an.
Er war gleichfalls betrunken.

„Ja, wollen Sie denn auch _dorthin_ mit uns!“

„Ja!“

„Ich habe kein Geld!“ sagte er kurz und wollte verächtlich lächelnd das
Zimmer verlassen.

Ich ergriff ihn am Rock. Das war ja ein Alpdruck, ein Traum!!

„Ssimonoff! Ich habe in Ihrem Beutel das Geld gesehn, warum schlagen Sie
es mir ab? Bin ich denn ein Schuft? Hüten Sie sich, es mir abzuschlagen:
wenn Sie wüßten, wenn Sie nur wüßten, wozu ich es bitte! Davon hängt
alles ab, alles, meine ganze Zukunft, alle meine Pläne ...“

Ssimonoff zog das Geld heraus und warf es mir verächtlich hin.

„Nehmen Sie, wenn Sie so unverschämt sind!“ rief er mir unbarmherzig zu
und eilte den anderen nach.

Ich blieb eine Minute lang allein zurück. Unordnung, Speisereste, ein
zerschlagenes Glas auf dem Fußboden, verschütteter Wein,
Zigarettenstummel, Rauch .. Rausch und Fieberleere im Kopf, quälendes
Weh im Herzen und schließlich der Kellner, der alles gesehn und gehört
hatte und mir neugierig in die Augen blickte ...

„_Dorthin!_“ schrie ich auf. „Entweder sind alle auf den Knieen und
flehen mich um meine Freundschaft an, oder ... oder ich gebe Swerkoff
eine Ohrfeige!“


                                   V.

„Endlich, endlich ist der Zusammenstoß mit der Wirklichkeit gekommen!“
murmelte ich, als ich die Treppe hinunter lief. „Das ist jetzt nicht
mehr der Papst, der Rom verläßt, um nach Brasilien auszuwandern, das ist
nicht mehr der Ball auf dem Comersee!“

„Gemein bist du, wenn du jetzt darüber lachst!“ zuckte es mir durch den
Kopf.

„Meinetwegen!“ rief ich mir selbst zur Antwort. „Jetzt ist ja doch schon
alles verloren!“

Von ihnen war jede Spur verschwunden: doch was tat’s schließlich: ich
wußte, wohin sie gefahren waren.

An der Vorfahrt hielt einsam ein Schlitten; der Kutscher – einer von den
Bauern, die die Not im Winter in die Stadt treibt, ein Wanjka in grobem
Bauernkittel – war von dem immer noch träge fallenden nassen und, wie
man hätte glauben können, warmen Schnee schon ganz bedeckt. Die Luft war
feucht und schwül. Sein kleines rauhhaariges, mageres Pferdchen war
gleichfalls schon ganz weißgeschneit und hustete – das weiß ich noch
genau. Ich riß die Schlittendecke zurück, doch kaum hatte ich den Fuß
hineingesetzt, als mich plötzlich die Erinnerung daran, wie Ssimonoff
mir die sechs Rubel zugeworfen hatte, durchzuckte –: ich fiel wie von
einem Keulenschlage getroffen auf den Schlitten.

„Nein, ich muß viel tun, um das wieder gut zu machen!“ schrie ich
heiser. „Aber ich werde es schon tun, oder es ist noch heute Nacht aus
mit mir. Fahr zu!“ Ich sagte ihm wohin. Das Pferd zog an. Ein ganzer
Wirbelsturm von Gedanken wütete in meinem Hirn.

„Sie werden mich ja doch nicht um meine Freundschaft bitten, geschweige
denn, daß sie es noch auf den Knieen täten. Das ist ja eine Fata
morgana, eine umgekehrte Welt, die ich mir vorstelle, eine widerliche,
romantische und phantastische Luftspiegelung, die ich mir wieder einmal
vorstelle, ist ebenso wie der Ball auf dem Comersee. Und darum _muß_ ich
Swerkoff eine Ohrfeige geben! Ich bin verpflichtet, sie ihm zu geben.
Also es steht fest: ich fahre hin, um ihm eine Ohrfeige zu geben.
Schneller! Fahr zu!“

Der Wanjka zog die Zügel an.

„Sofort nachdem ich eingetreten bin, gebe ich sie ihm. Oder sollte man
noch vorher einige Sätze so ... hm, gewissermaßen als Vorwort sagen?
Nein. Ich trete ein und gebe sie ihm. Sie werden alle im Salon sitzen,
er mit Olympia auf dem Sofa. Diese verfluchte Olympia! Sie hat über mein
Gesicht gelacht und mir einmal abgesagt. Ich werde Olympia an den Haaren
und Swerkoff an den Ohren fortziehen! Nein, besser an einem Ohr und so
am Ohr werde ich ihn denn durch’s ganze Zimmer ziehen. Sie werden mich
vielleicht überfallen und hinauswerfen. Bestimmt werden sie das tun.
Meinetwegen! Immerhin habe ich zuerst die Ohrfeige gegeben; also meine
Initiative ... und nach den Gesetzen des Ehrenkodex ist das alles: er
ist gebrandmarkt und kann dann mit keinen Schlägen seine Ohrfeige
abwaschen, außer mit einem Duell. Er muß mich fordern. Und mögen sie
mich jetzt nur schlagen. Mögen Sie nur! Diese Undankbaren! Am meisten
wird Trudoljuboff schlagen: er ist stark; Ferfitschkin wird sich an
ungefährlicheren Stellen ankrallen, in die Haare wird er mir fahren,
natürlich, der bestimmt in die Haare. Die sind ja für ihn wie
geschaffen. Meinetwegen! Zu dem Zweck gehe ich ja hin. Diese Schafsköpfe
werden doch endlich das Tragische in all dem begreifen müssen! Wenn sie
mich zur Tür schleppen, werde ich ihnen zurufen, daß sie im Grunde nicht
einmal meinen kleinen Finger wert sind. Fahr zu, Wanjka, fahr zu!“
schrie ich plötzlich. Der Kutscher zuckte zusammen vor Schreck und hieb
mit der Peitsche auf seine Mähre ein. Ich hatte schon etwas zu wild
geschrieen.

„Beim Morgengrauen schlagen wir uns, das steht fest. Mit der Kanzlei,
oder wie Swerkoff sagt, dem Département ist es aus. Ferfitschkin sagte
vorhin, ‚Debartemang‘. Woher aber die Pistolen nehmen? Unsinn! Ich nehme
meine Gage voraus und kaufe sie. Aber das Pulver, und die Kugeln? Das
ist Sache des Sekundanten. Und wie damit bis zum Morgengrauen fertig
werden? Und wo den Sekundanten hernehmen? Ich habe keine Bekannten.
Unsinn!“ rief ich noch erregter, „Unsinn! Der erste beste, den ich auf
der Straße treffe und den ich darum angehe, ist verpflichtet, mein
Sekundant zu sein, ganz so, wie er zum Beispiel verpflichtet wäre, einen
Ertrinkenden aus dem Wasser zu ziehen. Die exzentrischsten Zufälle
müssen doch zugegeben werden. Ja, wenn ich den Direktor morgen bitte,
mein Sekundant zu sein, so müßte der sich schon allein aus
Ritterlichkeit dazu bereit erklären und ... und das Geheimnis bewahren!
– Anton Antonytsch ...“

Doch in demselben Augenblick begriff ich klarer und deutlicher als je
die ganze blödsinnige Unmöglichkeit meiner Voraussetzungen und die ganze
Kehrseite der Medaille, aber ...

„Fahr zu, Wanjka, fahr zu, Esel, fahr zu!“

„Ach Herr!“ sagte die Landkraft.

Ein Frösteln überlief mich.

„Aber wär’s nicht besser ... weiß Gott, wär’s nicht besser ... direkt
nach Hause zu fahren, sofort? Ach, warum, warum drängte ich mich gestern
zu diesem Abschiedsmahl auf! Doch nein, das ist unmöglich! Und der
Spaziergang von acht bis elf vom Tisch bis zum Ofen, vom Ofen bis zum
Tisch? Nein, _sie_, _sie_ müssen für diesen Spaziergang büßen! _Sie_
müssen diese Schmach abwaschen! Fahr zu!“

„Aber was dann, wenn sie mich auf die Polizeiwacht bringen?! Das werden
sie nicht wagen! Werden einen Skandal fürchten. Was aber dann, wenn
Swerkoff aus Verachtung das Duell ausschlägt? Das ist ja so gut wie
sicher; dann aber werde ich ihnen beweisen ... Dann werde ich in den
Posthof gehen, wenn er morgen abfährt, werde ihn am Bein packen, werde
ihm, wenn er in den Postwagen kriecht, den Mantel abreißen. Werde ihn
mit den Zähnen an der Hand packen, werde ihn beißen. ‚Seht, wozu man
einen verzweifelten Menschen bringen kann!‘ Mögen sie mich auf den Kopf
schlagen und sie alle da hinter mir ... Ich werde dem ganzen Publikum
zuschreien: ‚Seht diesen jungen Hund, der, um Tscherkessinnen zu
verführen, in den Kaukasus fährt – mit meinem Speichel im Gesicht!‘

„Versteht sich, dann ist alles aus! Dann ist das ‚Département‘ vom
Angesicht der Welt verschwunden. Man wird mich ergreifen, verurteilen,
aus dem Dienst jagen, mich zu den Zwangsarbeitern stecken, darauf zu den
sibirischen Ansiedlern ... Mögen Sie nur! Nach fünfundzwanzig Jahren
schleppe ich mich zu ihm, in Lumpen, als Bettler, wenn man mich aus dem
Gefängnis entlassen hat. Ich suche ihn irgendwo in einer
Gouvernementsstadt auf. Er wird verheiratet und glücklich sein. Er wird
eine erwachsene Tochter haben ... Ich werde einfach sagen: Sieh,
Unmensch, sieh meine eingefallenen Wangen und mein zerlumptes Gewand!
Ich habe alles verloren: die Karriere, das Glück, die Kunst, die
Wissenschaft, _das geliebte Weib_, und alles _Deinetwegen_. Sieh, hier
sind Pistolen. Ich bin gekommen, um meine Pistole abzufeuern und ... ich
vergebe Dir! Da schieße ich denn einfach in die Luft und verschwinde
spurlos ...“

Es fehlte nicht viel und ich hätte aufgeschluchzt, obgleich ich im
selben Augenblick ganz genau wußte, daß meine Phantasie auf Lermontoffs
„Sylvio“ und der „Maskerade“ beruhte. Und plötzlich schämte ich mich
furchtbar, ich schämte mich dermaßen, daß ich das Pferd anhalten ließ,
aus dem Schlitten kroch und mitten auf der Straße im Schnee stehen
blieb. Der Wanjka sah mich verwundert an und seufzte.

Was sollte ich tun? Dorthin konnte ich nicht: es würde nichts dabei
herauskommen; und die Sache auf sich beruhen lassen – war gleichfalls
unmöglich: was dann herauskommen würde ... Himmlischer Vater! Wie denn
so etwas auf sich beruhen lassen! Und nach solchen Beleidigungen!

„Nein!“ schrie ich und stürzte wieder in den Schlitten. „Das ist
vorausbestimmt, das ist Verhängnis, Schicksal! Fahr zu, fahr zu,
dorthin!“

Vor Ungeduld schlug ich mit der Faust den Wanjka ins Genick.

„Ach! Gott! Was haust Du mich!“ rief das Bäuerlein erschrocken,
peitschte aber doch seine Schindmähre, sodaß sie mit den Hinterbeinen
ausschlug.

Der nasse Schnee fiel senkrecht in dichten Flocken, als ob ihn die Erde
angezogen hätte. Ich vergaß alles, denn ich hatte mich endgültig für die
Ohrfeige entschlossen; ich fühlte nur mit Grauen, daß es doch schon
_unbedingt_ und _sofort_ geschehn würde und sich durch _keine Macht der
Welt mehr aufhalten_ ließe. Die einsamen Laternen schauten mürrisch
durch das von Schneestreifen durchzogene Dunkel, wie Fackeln bei
nächtlichen Beerdigungen. Der Schnee schlug mir in den offenen Mantel,
unter den Rock, auf die Weste, fiel mir in den Mantelkragen, rutschte
dann weiter in das Halstuch, taute an meinem heißen Halse auf und
durchnäßte meinen Kragen; ich schlug aber meinen Mantel nicht zu: es war
ja doch schon alles verloren! Endlich kamen wir an. Ich sprang fast
bewußtlos aus dem Schlitten, lief die Stufen hinauf und schlug mit
Händen und Füßen an die Tür. Meine Beine wurden besonders in den Knieen
furchtbar schwach. Sonderbarer Weise wurde bald geöffnet; ganz als ob
sie mich erwartet hätten.

Ssimonoff hatte in der Tat schon gesagt, daß vielleicht noch jemand
kommen würde, hier aber mußte man anmelden und überhaupt
Vorsichtsmaßregeln ergreifen. Es war eines jener „Modegeschäfte“, die
jetzt schon längst von der Polizei aufgehoben sind. Tagsüber war es
allerdings ein „Modegeschäft“; abends jedoch wurden Herren, die eine
Rekommendation hatten, empfangen.

Ich ging schnellen Schrittes durch den dunklen Laden in den mir
bekannten Saal und blieb erstaunt in der Tür stehen: der Saal war leer;
nur ein einziges Licht brannte auf einem Tisch.

„Wo sind sie denn?“ fragte ich irgend jemanden.

Sie hatten natürlich schon Zeit gehabt, auseinanderzugehn.

Vor mir stand ein Weibsbild mit dummem Lächeln; das war die Wirtin. Sie
kannte mich schon von früher. Nach einer Minute öffnete sich eine Tür
und eine andere Person trat ein.

Ich schritt im Zimmer auf und ab und sprach mit mir. Es war mir, als
wäre ich vom Tode errettet worden; ich fühlte es freudig mit meiner
ganzen Seele: denn ich hätte ja die Ohrfeige unbedingt, unbedingt
gegeben! Doch sie waren nicht da und ich ... alles war wie Spukgebilde
verschwunden, alles hatte sich verändert! Endlich blickte ich mich um.
Ich konnte noch nicht recht begreifen. Mechanisch blickte ich auch auf
die eingetretene Person: vor meinen Augen verschwamm ein frisches,
junges, etwas bleiches Gesicht mit geraden, dunklen Augenbrauen, mit
einem ernsten und fast ein wenig verwunderten Blick. Das gefiel mir
sofort; ich würde sie gehaßt haben, wenn sie gelächelt hätte. Ich mußte
mich anstrengen, um aufmerksamer hinzusehn: noch fiel es mir schwer,
meine Gedanken zu sammeln. Etwas Offenherziges und Gutes lag in diesem
Gesicht, doch war es bis zur Sonderbarkeit ernst. Ich bin überzeugt, daß
sie nur deswegen bei diesen dummen Jungen verspielt hatte. Übrigens
konnte man sie nicht gerade schön nennen, wenn sie auch ziemlich groß,
schlank und gut gebaut war. Angezogen war sie ungewöhnlich schlicht.
Etwas Gemeines kroch mir ins Herz; ich trat geradenwegs auf sie zu.

Ich blickte zufällig in den Spiegel: mein erregtes aufgedunsenes Gesicht
erschien mir unsagbar ekelhaft: bleich, boshaft, gemein, von zottigem,
nassem Haar umrahmt. „Meinetwegen, – um so besser,“ dachte ich. „Es
freut mich gerade, daß ich ihr ekelhaft erscheinen muß; das ist mir sehr
angenehm ...“ –


                                  VI.

... Irgendwo im Nebenzimmer begann plötzlich, wie unter einem starken
Druck, als ob sie jemand gewürgt hätte – heiser die Uhr zu schnurren.
Nach unnatürlich langem, langsamem, heiserem Rrrr folgte plötzlich ein
heller und ganz unerwartet hastiger Schlag, – ganz als ob jemand
plötzlich vorspringt. Es schlug zwei. Ich erwachte, wenn ich auch vorher
nicht geschlafen, sondern nur in halber Vergessenheit dagelegen hatte.

In dem schmalen und niedrigen Zimmer, in dem noch ein großer
Kleiderschrank stand und Hutpaudeln, Stoffe und verschiedener
Kleiderkram herumlagen, war es fast ganz dunkel. Der Lichtstumpf, der
auf einem Tisch am anderen Ende des Zimmers in einem alten Leuchter
brannte, drohte schon auszulöschen, nur ab und zu flackerte er noch auf.
Nach wenigen Minuten mußte tiefes Dunkel herrschen.

Es dauerte nicht lange, bis ich ganz zu mir kam; mit einem Mal, ohne
mich angestrengt zu haben, fiel mir alles wieder ein; als ob es mir
irgendwo aufgelauert hätte, um sich dann plötzlich wieder auf mich zu
stürzen. Ja, und selbst in der Bewußtlosigkeit blieb im Gedächtnis doch
noch, ich möchte sagen: so ein Punkt, der unter keiner Bedingung in
Vergessenheit versank, und um den müde, unermüdlich, schwerfällig die
Schemen meines Halbschlaftraumes kreisten. Doch eines war sonderbar:
alles, was mit mir an jenem Tage geschehn war, schien mir, als ich im
dunklen Zimmer erwachte, schon längst, längst vergangen zu sein, als ob
ich das alles schon längst, längst überlebt hätte.

In meinem Kopf war nichts als schwerer Dunst. Es war mir, als ob etwas
über mir schwebte, mich lähmte und zu gleicher Zeit beunruhigte und
erregte. Die Beklemmung und die ohnmächtige Wut schwollen wieder an,
schäumten auf und suchten einen Ausgang. Plötzlich – sah ich dicht neben
mir zwei offene Augen, die mich ernst und beharrlich betrachteten. Der
Blick war kalt-teilnahmslos, war finster, als ob er von einem ganz
fremden Wesen herrührte. Es wurde mir schwer unter ihm.

Ein häßlicher Gedanke erwachte in meinem Hirn und kroch mir wie ein
gemeines Gefühl über den ganzen Körper, etwa wie die Empfindung, die
einen überkommt, wenn man in einen feuchten, faulenden Keller tritt. Es
war so sonderbar unnatürlich, daß es diesen zwei Augen gerade jetzt
einfiel, mich zu betrachten. Es fiel mir ein, daß ich in diesen zwei
Stunden mit diesem Wesen kein einziges Wort gewechselt und das auch für
völlig überflüssig gehalten hatte; sogar das Schweigen hatte mir zu
Anfang aus irgend einem Grunde gefallen. Jetzt jedoch empfand ich
plötzlich deutlich den ganzen Ekel, die ganze spinnenhafte
Scheußlichkeit der Idee der Ausschweifung, die ohne Liebe, roh und
schamlos direkt damit beginnt, womit die wahre Liebe sich krönt. Lange
blickten wir uns so durch das nächtliche Dunkel in die schimmernden
Augen, doch senkte sie nicht ihren Blick vor mir: ohne mit der Wimper zu
zucken, ohne den Blick zu verändern, schauten die Augen still und
bewegungslos furchtlos mich an ... Mich schauderte.

„Wie heißt Du?“ fragte ich rauh, um der Stille ein Ende zu machen.

„Lisa,“ klang es fast flüsternd, doch sonderbar unfreundlich zurück, und
sie wandte die Augen von mir ab.

Ich schwieg.

„Das Wetter ist heute scheußlich ... Schnee ...“ sagte ich mehr so vor
mich hin, schob die Hand unter den Kopf und blickte zur Decke hinauf.

Sie antwortete nicht. Widerlich war das alles.

„Bist Du eine hiesige?“ fragte ich nach einer Minute etwas aufgebracht
und kehrte meinen Kopf ein wenig zu ihr.

„Nein.“

„Woher kommst Du denn?“

„Aus Riga,“ sagte sie unwirsch.

„Bist ’ne Deutsche?“

„Nein, Russin.“

„Bist Du schon lange hier?“

„Wo?“

„Hier, in diesem Hause?“

„Zwei Wochen.“

Sie antwortete immer schroffer und schroffer. Das Licht erlosch schon
fast ganz; ich konnte ihr Gesicht kaum noch unterscheiden.

„Leben Deine Eltern noch?“

„N–ja ... nein ... doch, sie leben.“

„Wo denn das?“

„Dort, in Riga.“

„Was sind sie?“

„So ...“

„Wie ‚so‘? Von welch einem Stande?“

„Kleinbürger.“

„Hast Du immer bei ihnen gelebt?“

„Ja.“

„Wie alt bist Du?“

„Zwanzig.“

„Warum bist Du denn von ihnen fortgegangen?“

„So ...“

Dieses _so_ bedeutete: hör auf, bist mir zuwider. Wir verstummten.

Gott mag wissen, warum ich nicht fortging. Es wurde mir selbst immer
widerlicher und qualvoller zu Mut. Die Schemen des vergangenen Tages
zogen ganz von selbst in wirrem, hastigem Durcheinander, eigentlich ohne
daß ich’s gewollt hätte, durch mein Gedächtnis. Plötzlich fiel mir etwas
ein, was ich am Morgen auf dem Wege zur Kanzlei gesehn hatte.

„Heute wurde ein Sarg herausgetragen und beinahe hätte man ihn fallen
lassen,“ sagte ich plötzlich laut, ohne ein Gespräch beginnen zu wollen,
einfach so, fast in Versehen.

„Ein Sarg?“

„Ja, auf der Ssennaja[3]; aus einem Keller.“

„Aus einem Keller?“

„Das heißt, nicht gerade aus einem Keller, sondern aus einer
Kellerwohnung ... Nun, Du weißt schon ... von unten ... aus einem
unanständigen Hause ... Es war dort so schmutzig überall ... Kehricht
... Gestank ... Gemein war’s.“

Schweigen.

„Scheußlich, heute beerdigt zu werden!“ sagte ich wieder nach einiger
Zeit, nur um nicht zu schweigen.

„Wieso?“

„So, ich meine nur, der Schnee, die Feuchtigkeit ...“ Ich gähnte.

„Was tut das!“ stieß sie plötzlich nach längerem Schweigen hervor.

„Nein, ’s ist doch schon gemein ...“ Ich gähnte wieder. – „Die
Totengräber haben sicherlich geschimpft ... es ist ja auch kein
Vergnügen, bei solch einem Wetter zu beerdigen. Und im Grabe wird
bestimmt Wasser gewesen sein.“

„Warum soll denn im Grabe Wasser sein?“ fragte sie neugierig, aber doch
etwas ungläubig-spöttisch. Übrigens stieß sie die Worte noch
abgerissener, schroffer hervor. Mich stachelte plötzlich etwas gegen sie
auf, ich weiß nicht, was es war.

„Weißt Du das denn nicht? Die Särge liegen zum mindesten bis zur Hälfte
unter Wasser, gewöhnlich aber ganz. Hier auf dem Wolchoffschen Friedhofe
kannst Du kein einziges trockenes Grab finden.“

„Warum nicht?“

„Wieso – warum nicht!? Morastiger Boden. Hier ist doch überall Sumpf. So
wird man denn einfach ins Wasser hinabgesenkt. Habe selbst gesehn ...
mehrere Mal ...“

(Kein einziges Mal hatte ich es gesehn, und war überhaupt noch nicht auf
dem Wolchoffschen Friedhofe gewesen, hatte nur andere davon sprechen
gehört.)

„Ist es Dir denn wirklich ganz gleichgültig, zu sterben?“

„Warum soll ich denn sterben?“ fragte sie gereizt, wie um sich zu
verteidigen.

„Nun, einmal wirst auch Du sterben, und dann wird man Dich ebenso
beerdigen, wie jenes Mädchen heute Morgen. Das war ... auch so Eine ...
Ist an der Schwindsucht gestorben.“

„Solch Eine hätte doch im Krankenhause sterben können ...“

(Aha, dachte ich, das weiß sie schon; und sie sagte auch: „solch Eine“.)

„Sie schuldete der Wirtin,“ entgegnete ich, immer mehr aufgestachelt
durch das Gespräch, „und war bei ihr bis zum Tode, obgleich sie
schwindsüchtig war. Droschkenkutscher und Soldaten sprachen dort an der
Pforte über sie. Wahrscheinlich ihre gewesenen Bekannten. Lachten
natürlich. Nahmen sich vor, in der Schenke noch ein Glas Schnaps auf ihr
Wohl zu trinken.“

(Auch hierbei setzte ich noch vieles von mir aus hinzu.)

Schweigen, tiefes Schweigen. Sie bewegte sich nicht einmal.

„Ach, bleibt sich das nicht wirklich ganz gleich!? ... Und warum soll
ich denn sterben?“ fügte sie gereizt hinzu.

„Nicht jetzt, natürlich, aber später?“

„Ach, später ...“

„Ja, ja! Jetzt bist Du noch jung, hübsch und frisch, deswegen schätzt
man Dich auch. Nach einem Jahr aber wird Dich dieses Leben schon
verändert haben, wirst bald verwelkt sein.“

„Nach einem Jahr?“

„Jedenfalls wirst Du nach einem Jahr schon im Wert gesunken sein,“ fuhr
ich schadenfroh fort. „Dann wirst Du aus diesem Hause in ein anderes,
niedrigeres kommen. Nach einem zweiten Jahr – in ein drittes Haus, immer
niedriger und niedriger, und so nach sieben Jahren wirst Du dann
glücklich an der Ssennaja in der Kellerwohnung angelangt sein. Und das
würde verhältnismäßig noch angehn. Wie aber, wenn sich dann noch irgend
eine Krankheit einstellen sollte, sagen wir, schwache Brust, oder so
etwas Ähnliches ... oder Du erkältest Dich womöglich. Bei solch einem
Leben vergehen die Krankheiten nicht so leicht. Hat man sie sich einmal
zugezogen, so ist man gewöhnlich geliefert. Nun, und dann wirst Du eben
sterben.“

„Nun, dann werde ich eben sterben!“ sagte sie wütend und bewegte sich
hastig.

„Es tut einem aber doch leid.“

„Was?“

„Das Leben.“

Schweigen.

„Hast Du einen Bräutigam gehabt? – Wie?“

„Was geht das Sie an?“

„Du hast Recht, was geht das mich an. Ich will Dich ja nicht ausfragen.
Warum ärgerst Du Dich nur? Du wirst natürlich Deine Unannehmlichkeiten
gehabt haben ... Was geht’s mich an! Es war ja nur so gesagt. Aber
immerhin kann man doch bedauern.“

„Wen?“

„Dich natürlich.“

„Lohnt sich nicht ...“ sagte sie kaum hörbar und bewegte sich wieder.

Das ärgerte mich. Wie! Ich war so freundlich zu ihr, sie aber ...

„Ja, was denkst Du denn eigentlich? Bist Du etwa auf einem guten Wege?“

„Nichts denke ich.“

„Das ist es ja, daß Du Dir nichts dabei denkst! Besinn Dich so lange es
noch Zeit ist. Jetzt geht’s ja noch. Du bist noch jung und hübsch;
könntest Dich verlieben, könntest heiraten und glücklich sein ...“

„Nicht alle sind glücklich, wenn sie verheiratet sind,“ unterbrach sie
mich wieder schroff.

„Nicht alle!! Selbstverständlich nicht alle! Aber es ist doch immer
besser als hier, hundertmal, tausendmal besser als hier! Liebt man aber,
so kann man auch ohne Glück leben. Auch im Leid ist das Leben schön; es
ist überhaupt immer schön, auf der Welt zu leben, selbst einerlei wie
man lebt. Was ist aber hier außer ... Gestank. Pfui Teufel!“

Ich drehte mich angeekelt auf die andere Seite. Ich sprach nicht mehr
kaltblütig, nein, ich geriet schon in Begeisterung. Mich riß das
Verlangen mit sich fort, meine geliebten Ideechen, die ich im Keller
ausgebrütet hatte, auseinanderzusetzen. Irgend etwas entflammte sich in
mir plötzlich, ich sah plötzlich ein _Ziel_ vor mir.

„Übrigens mußt Du mich nicht als Beispiel nehmen. Ich bin vielleicht
noch schlechter als Du. Ich bin ja betrunken hierhergekommen.“ (Ich
beeilte mich doch ein wenig, mich zu rechtfertigen.) „Zudem kann ein
Mann einem Weibe nie ein Beispiel sein. Das sind zwei ganz verschiedene
Dinge; wenn ich auch schlechter bin als Du, und wenn auch ich es bin,
der andere besudelt, so bin ich doch niemandes Sklave; komme und gehe
und damit ist’s abgetan, – bin wieder ein anderer Mensch. Und jetzt
bedenke bloß das eine, daß Du gleich von Anfang an – Sklavin bist. Ja,
Sklavin! Du gibst alles hin, Deinen ganzen Willen. Und wenn Du später
diese Ketten zerreißen willst, so kannst Du es nicht mehr: immer fester
und fester wirst Du umsponnen werden. Das ist schon so der Fluch dieser
Ketten, daß sie sich immer fester ziehen. Ich kenne sie. Von dem übrigen
rede ich lieber gar nicht, Du würdest es vielleicht auch nicht einmal
verstehn, aber sag doch mal: Du schuldest natürlich schon der Wirtin?
Nun, sieh mal!“ fügte ich hinzu, obgleich sie mir nichts geantwortet
hatte, sondern nur schweigend, mit ganzer Seele zuhörte, „– da hast Du
die Kette! Wirst Dich nie mehr loskaufen können. Das wird schon so
gemacht werden. Kennt man ... Ebenso gut, wie dem Teufel die Seele
verkauft ...“

„... Und zudem bin ich vielleicht ebenso unglücklich wie Du und, was
kannst Du wissen, suche vielleicht absichtlich den Schmutz ... vor Leid.
Trinken doch viele vor Leid und Kummer: nun, und ich bin wiederum vor
Leid hierher gekommen. Sag doch selbst, was ist denn das eigentlich:
nun, wir beide sind ... zusammengekommen ... gestern Abend, und haben
doch kein Wort miteinander gewechselt, und erst nachher fiel es Dir ein,
mich wie eine Wilde zu betrachten; und ich ebenso auch Dich. Liebt man
denn etwa so? Soll denn der Mensch den Menschen auf diese Weise kennen
lernen? Das ist doch nur eine ... eine Unanständigkeit und weiter
nichts!“

„Ja!“ sagte sie plötzlich rauh, – sie stimmte mir sofort bei. Mich
wunderte sogar die Hastigkeit dieses „Ja“. – „Also ist durch ihren Kopf
vielleicht derselbe Gedanke gegangen, als sie mich vorhin betrachtete?
So ist also auch sie schon zu eigenen Gedanken fähig? ... Hols der
Teufel; das ist interessant, das ist ja – Seelenverwandtschaft,“ dachte
ich und hätte mir fast schon die Hände gerieben. „Wie soll man auch mit
solch einer jungen Seele nicht fertig werden! ... –“

Aber am meisten verlockte mich doch das Spiel.

Sie drehte ihren Kopf etwas näher zu mir und stützte ihn in die Hand –
so schien es mir wenigstens in der Dunkelheit. Vielleicht sah sie mich
wieder an. Wie bedauerte ich es, daß ich ihre Augen nicht mehr sehn
konnte. Ich hörte ihr tiefes Atmen.

„Warum bist Du in dieses Haus gekommen?“ begann ich bereits mit einer
gewissen Überlegenheit.

„So.“

„Und doch, wie schön ist’s, im Elternhause zu leben! Warm, behaglich;
eigenes Nest!“

„Wenn es aber schlimmer ist als hier?“

(„Ich muß den richtigen Ton finden,“ zuckte es mir durch den Kopf, „mit
etwas Sentimentalität wirst Du sie wahrscheinlich am ehesten nehmen.“)

Übrigens zuckte das, wie gesagt, nur in einer Sekunde durch meine
Gedanken. Ich schwöre es, sie interessierte mich tatsächlich. Und dann
war ich auch in einer so sonderbaren Stimmung, entkräftet. Und
Spitzbüberei verträgt sich ja so gut mit Gefühl.

„Oh, das kommt natürlich auch vor!“ Beeilte mich, schnell zu entgegnen.
„Ich bin überzeugt, daß Dich irgend jemand beleidigt hat, daß eher sie
vor Dir schuldig sind, als Du vor _ihnen_. Zwar kenne ich Deine
Lebensgeschichte nicht, aber ich weiß doch, daß ein Mädchen, wie Du,
nicht freiwillig zum Vergnügen in solch ein Haus kommt ...“

„Was für ein Mädchen bin ich denn?“ fragte sie flüsternd, kaum hörbar;
ich aber hörte es doch.

(„Weiß der Teufel – ich schmeichle ja. Das ist gemein von mir. Aber,
weiß Gott, vielleicht ist’s auch gut.“)

Sie schwieg.

„Sieh mal, Lisa, ich sage das von mir aus: hätte ich von Kindheit an
eine Familie gehabt, so würde ich jetzt anders sein, als ich bin.
Darüber habe ich schon oft nachgedacht. Denn wie schlecht es auch in der
Familie sein mag – es sind doch immer Vater und Mutter, und nicht
Fremde, nicht Feinde. Sie lieben Dich doch, und wenn sie es Dir auch nur
einmal im Jahr beweisen. Immerhin weißt Du, daß Du bei Dir zu Hause
bist. Sieh mal, ich bin ohne Familie aufgewachsen; darum bin ich
wahrscheinlich auch so ... gefühllos geworden.“

(„Hm, vielleicht versteht sie’s überhaupt nicht,“ dachte ich, „und ’s
ist ja auch lachhaft: – Moral.“)

„Wenn ich Vater wäre und eine Tochter hätte, ich würde, glaub ich, meine
Tochter mehr als meine Söhne lieben, nein nein, – tatsächlich!“ sagte
ich, denn ich wollte auf ein anderes Thema übergehn, um sie zu
zerstreuen. Ich muß gestehen, ich errötete.

„Warum denn das?“ fragte sie.

(„Aha, sie hört also doch!“)

„So, ich weiß nicht, warum. Sieh, Lisa, ich kannte einen Vater, der
sonst im Leben ein strenger, stolzer Mensch war, vor seiner Tochter aber
auf den Knieen lag, ihr Hände und Füße küßte und sich an ihr nicht satt
sehen konnte. Wenn sie auf den Bällen tanzte, stand er zuweilen fünf
Stunden lang auf ein und demselben Fleck und ließ sie nicht aus den
Augen. Sie war ihm zur fixen Idee geworden: das kann ich sehr gut
verstehn. Wenn sie schläft, wacht er bei ihr, küßt und bekreuzt sie.
Selbst geht er in einem schäbigen Rock, ist geizig bis zur
Unglaublichkeit – für sie aber kauft er alles, was sie haben will, macht
ihr teure Geschenke und freut sich wie ein Kind, wenn das Geschenk ihr
gefällt. Der Vater liebt die Töchter immer mehr als die Mutter. Viele
Töchter haben ein gutes Leben zu Haus! Ich aber würde meine Tochter
wahrscheinlich überhaupt nicht heiraten lassen.“

„Warum denn nicht?“ fragte sie, kaum, kaum lächelnd.

„Weiß Gott! Ich glaube, aus Eifersucht nicht. Sie soll einen Fremden
küssen? Einen Fremden mehr als den Vater lieben? Es wird einem ja
unheimlich, bloß wenn man daran denkt! Aber das ist ja natürlich Unsinn;
schließlich nehmen ja auch solche Väter Vernunft an. Ich aber würde mich
vorher bestimmt schon allein durch die Sorge totquälen: würde alle
Heiratskandidaten ausbrackieren. Schließlich würde ich sie aber doch
verheiraten, und würde sie natürlich nur dem geben, den sie liebt. Man
weiß doch, daß derjenige, den die Tochter selbst liebgewinnt, dem Vater
immer der Schlechteste scheint. Das ist schon einmal so. Deswegen kommt
es zu viel häßlichen Auftritten in manchen Familien.“

„Manche sind froh, wenn sie ihre Tochter verkaufen können, nicht daß sie
sie in Ehren fortgeben wollten,“ sagte sie plötzlich.

(„Aha! das also ist’s!“)

„Das, Lisa, kommt nur in jenen verfluchten Familien vor, in denen weder
Gott noch Liebe ist,“ griff ich eifrig das neue Thema auf, „wo es aber
keine Liebe gibt, dort gibt es auch keinen Verstand. Solche Familien
gibt es, ich weiß es selbst, aber nicht von ihnen spreche ich. Du mußt
wohl in Deiner Familie wenig Güte gesehn haben, wenn Du so sprichst.
Glaube es Dir gern, daß Du unglücklich bist. Hm! ... Das geschieht aber
doch meistens nur aus Armut.“

„Ist es denn bei den reichen Herrschaften besser? Auch in der Armut
leben gute Menschen ehrlich.“

„Hm! ... ja. Vielleicht. Aber sieh, Lisa ... der Mensch liebt es, nur
sein Leid in Betracht zu ziehen, sein Glück aber nicht. Würde er aber
alles richtig einschätzen, so müßte er zugeben, daß es überall Glück
gibt. Jedem Menschen ist Glück beschert. Wie schön aber ist es, wenn in
der Familie alles wohlgelingt, wenn Gottes Segen auf ihr ruht, wenn Du
einen Mann hast, der Dich liebt und hätschelt, keinen Schritt von Dir
geht. Schön ist solch eine Familie! Ja, zuweilen ist es dann sogar mit
dem Leid schön; und wo gibt es denn kein Leid? Solltest Du einmal
heiraten, dann wirst Du es selbst erfahren. Und denk bloß an die erste
Zeit nach der Hochzeit, wenn Du den bekommen hast, den Du liebst –:
wieviel Glück, wieviel wundervolles herrliches Glück es dann zuweilen
gibt! Glück auf Schritt und Tritt! In der ersten Zeit endet sogar jeder
Streit zwischen Mann und Frau mit Glück! Manche Frauen rufen sogar desto
häufiger Streit hervor, je mehr sie ihren Mann lieben. Nein, nein,
tatsächlich, ich habe selbst solch eine Frau gekannt: ‚Ich liebe Dich so
sehr,‘ sagt sie, ‚und so quäle ich Dich denn aus lauter Liebe – Du aber
solltest das fühlen‘. Weißt Du auch, daß man einen Menschen aus Liebe
absichtlich quälen kann? Meistens tuns die Frauen. Bei sich aber denken
sie dann: ‚Dafür werde ich Dich nachher so lieben, werde so reizend zu
Dir sein, daß es doch keine schlimme Sünde sein kann, Dich jetzt ein
bißchen zu quälen‘. Und ein jeder, der Euch sieht, freut sich über Euch
und Ihr seid gut, fröhlich, friedlich, und ehrlich ... Manche sind
natürlich eifersüchtig. Geht der Mann einmal aus, – ich kannte solch
eine –, da hält sie’s nicht aus und läuft sogar in der Nacht hinaus, um
heimlich zu erfahren, wo er ist: in diesem oder jenem Hause, bei dieser
oder jener? Das ist schon nicht mehr schön. Und das weiß sie ja auch und
verurteilt sich auch selbst und das Herz bleibt ihr stehn vor Angst, –
aber sie liebt doch! Es geschieht ja nur aus Liebe! Und wie schön ist
es, sich nachher zu versöhnen, ihn um Verzeihung zu bitten oder selbst
zu verzeihen. Und so gut werden beide, so schön wird’s ihnen zu Mut –
ganz als ob sie sich von neuem gefunden hätten, und von neuem beginnt
ihre Liebe. Und niemand, niemand soll wissen, was zwischen Mann und Weib
geschieht, wenn sie sich beide lieben. Und was für ein Streit auch
zwischen ihnen ausbrechen mag – selbst die leibliche Mutter dürfen sie
nicht zum Richter wählen, noch darf ihr der eine über den anderen etwas
erzählen. Sie müssen sich selbst Richter sein. Die Liebe ist ein
Geheimnis Gottes und sie muß allen fremden Augen verborgen bleiben – was
auch geschehen möge. Dadurch wird sie heiliger, schöner. Mann und Weib
werden sich dann gegenseitig mehr achten, auf der Achtung aber beruht
gar vieles. Und wenn schon einmal Liebe zwischen ihnen gewesen ist, wenn
sie sich um der Liebe willen geheiratet haben, warum soll dann die Liebe
vergehen? Sollte sie sich wirklich nicht erhalten lassen? Nur ganz
selten kommt es vor, daß man sie nicht mehr erhalten kann, daß es
wirklich unmöglich ist. Ist aber der Mann ein guter, ehrlicher Mensch,
wie soll dann die Liebe vergehn? Die erste Liebe – die vergeht natürlich
mit der Zeit, aber dann kommt ja wieder eine andere, ebenso schöne
Liebe. Dann nähern sich die Seelen; alle Angelegenheiten werden
gemeinsam erörtert, beraten, kein Geheimnis besteht zwischen ihnen. Und
kommen dann die Kinder, so sind ja selbst die schwersten Zeiten lauteres
Glück. Wenn man nur liebt und mutig ist. Dann ist auch die Arbeit eine
Freude, dann versagt man sich manches Mal auch ein Stückchen Brot, um es
den hungrigen Mäulchen zu geben – und auch das ist dann Freude. Werden
sie doch später Dich dafür lieb haben. Die Kinder werden größer – und Du
fühlst, daß Du ihnen ein Beispiel, eine Stütze bist; Du weißt, daß sie
nach Deinem Tode Deine Gedanken und Gefühle ihr Leben lang in sich
tragen werden, da Du sie ihnen gegeben hast. Sie werden Dein Ebenbild
sein. Wie Du siehst: das ist eine große Pflicht! Wie sollen sich dann
Vater und Mutter nicht nähertreten? Da sagt man allerdings, Kinder haben
sei schwer! Wie ist das nur möglich! Kinder sind doch Himmelsglück!
Liebst Du kleine Kinderchen, Lisa? Ich liebe sie furchtbar. Weißt Du, –
solch ein rosarotes zartes Bengelchen saugt Dir an der Brust, – Gott!
welch eines Mannes Herz wird nicht zu seiner Frau gezogen, wenn er
sieht, wie sie sein Kind nährt! Das Kerlchen ist so weich und dick,
zappelt, reckt und streckt sich, breitet die Ärmchen nach Dir aus; die
Beinchen, die Händchen sind noch voller Grübchen, die Nägelchen sind
reingewaschen, klein, ho! so klein, daß es zum lachen ist; die Augen
aber blicken schon drein, als ob er alles verstände. Saugt er, so haut
er mit den Fäustchen um sich rum, schlägt Dir auf die Brust womöglich,
spielt. Tritt der Papa an ihn heran, – reißt er sich los von der Brust,
biegt sich zurück, guckt ihn an, lacht – ganz als obs weiß Gott wie
lachhaft wäre – und dann geht von neuem das Trinken an. Und mitunter,
wenn’s dem Schlingel mal einfällt, da beißt er die Brust, wenn die
Zähnchen schon kommen, selbst aber lugt der Racker dann mit seinen
kleinen Äuglein: ‚siehst Du, hab gebissen‘! Ja, ist denn das kein Glück,
wenn sie drei beisammen sind – Mann, Weib und Kind? Für diese Minuten
kann man vieles verzeihen. Nein, Lisa, weißt Du, zuerst muß man selbst
zu leben lernen und dann andere beschuldigen!“

„Mit solchen kleinen Bildern, gerade mit solchen, muß man Dir kommen!“ –
dachte ich bei mir, obgleich ich, bei Gott, mit tiefem Gefühle sprach,
und plötzlich errötete ich: „Wie aber, wenn sie jetzt plötzlich lacht
wohin soll ich mich dann verkriechen?“ – Dieser Gedanke machte mich
rasend! Zum Schluß der Rede war ich tatsächlich in Begeisterung geraten
und darum litt mein Ehrgeiz, als sie nichts darauf erwiderte.

Das Schweigen dauerte an. Ich wollte ihr fast schon einen Stoß geben.

„Nein, – Sie ...“ begann sie plötzlich – und stockte.

Doch ich hatte schon alles begriffen: in ihrer Stimme zitterte etwas
anderes, nicht mehr Schroffes, Rauhes, wie vorher, sondern etwas Weiches
und Verschämtes, dermaßen Verschämtes, daß ich mich plötzlich auch vor
ihr schämte, daß ich mich vor ihr schuldig fühlte.

„Was?“ fragte ich in zärtlicher Neugier.

„Sie ...“

„Was denn?“

„Nein, Sie sprechen wirklich ganz wie ein Buch,“ sagte sie stockend und
wieder schien es mir, daß in ihrer Stimme etwas Spöttisches klang.

Oh, schmerzhaft traf mich diese Bemerkung. Nicht das hatte ich erwartet!

Ich begriff nicht einmal, daß sie sich absichtlich hinter dem Spott
verbergen wollte, daß dieses gewöhnlich der letzte Winkelzug aller
schamhaften Menschen ist, die keuschen Herzens sind, und denen man
aufdringlich und roh in die Seele dringt. Ich begriff nicht, daß sie
sich bis zum letzten Augenblick aus Stolz nicht ergeben wollte, und sich
fürchtete, jemandem ihr Gefühl zu zeigen. Schon die Zaghaftigkeit, mit
der sie sich erst nach mehreren Ansätzen zu ihrem Spott entschloß, hätte
mir alles verraten müssen. Ich aber erriet es nicht, und ein böses
Gefühl erfaßte mich.

„Wart mal!“ dachte ich.


                                  VII.

„Ach, Gott, Lisa, was kann hier wie ein Buch sein, wenn ich es selbst
schlecht habe im Leben. Alles das erwachte jetzt wieder in mir ...
Sollte dieses Haus Dich hier wirklich nicht anekeln? Nein, weiß Gott,
Gewohnheit macht doch viel aus! Teufel noch eins, was die Gewohnheit
alles aus einem Menschen machen kann! Glaubst Du denn im Ernst, daß Du
ewig jung und hübsch sein wirst, und daß man Dich hier bis in alle
Ewigkeit behalten und bezahlen wird? Ganz abgesehen davon, daß hier
nichts als Schmutz ist ... Übrigens, weißt Du, was ich Dir über Dein
jetziges Leben sagen werde: sieh, jetzt bist Du noch jung, hübsch, gut,
gefühlvoll und Du hast doch noch eine Seele; nun, so laß es Dir denn
gesagt sein, daß es mich vorhin, als ich erwachte, einfach anekelte,
hier mit Dir zu liegen! Man kann ja doch nur in betrunkenem Zustande
hierher geraten. Wärest Du aber an einem anderen Ort, lebtest Du wie
anständige Menschen leben, so würde ich vielleicht – nicht etwa nach Dir
her sein – nein, ich würde mich einfach in Dich verlieben, würde
glücklich sein, wenn Du mir einen Blick schenkst, und selig, wenn Du ein
Wort mit mir sprichst; ich würde Dich an der Haustür erwarten, würde auf
den Knieen vor Dir liegen; würde Dich wie meine Braut hochhalten und es
mir zur Ehre anrechnen, wenn Du freundlich zu mir wärst. Würde es nicht
wagen, etwas Unsauberes von Dir auch nur zu denken. Hier aber weiß ich
doch, daß ich bloß zu pfeifen brauche und Du, ob Du willst oder nicht,
kommen mußt, und dann scher ich mich gerade was um Deinen Willen. Du
mußt tun, was _ich_ will. Selbst der letzte Tagelöhner verdingt sich
doch nicht wie Du mit Leib und Seele und zudem weiß er, daß er es nur
für eine bestimmte Zeit tut. Wann aber ist Deine Zeit um? Bedenk doch
bloß, _was_ Du hier verdingst! Was Du hier zur Knechtschaft hingiebst!
Die Seele, Deine Seele verdingst Du hier zur Knechtschaft! Deine Liebe
gibst Du zur Beschimpfung dem ersten besten Trunkenbold hin. Deine
Liebe! Das ist ja doch alles, das ist ja der Talisman, der Schatz jedes
Mädchens – die Liebe! Um diese Liebe zu erwerben, ist gar manch einer
bereit, in den Tod zu gehn. Wie hoch aber wird Deine Liebe hier
eingeschätzt? Man kauft Dich ja ganz, mit Leib und Seele, wozu sich da
noch besonders um die Liebe bemühen, wenn auch ohne Liebe alles möglich
ist! Eine größere Beleidigung kann es ja für ein Mädchen überhaupt nicht
geben – begreifst Du das auch? Da hab ich nun gehört, daß man Euch
Törinnen Liebhaber zu halten erlaubt, um Euch zu trösten. Das ist ja
doch nur ein Betrug, ist ja nur Spott! Was glaubst Du wohl – liebt er
Dich etwa, Dein Liebhaber? Ich glaub’s nicht. Wie soll er Dich denn
lieben, wenn er weiß, daß man Dich zu jeder Zeit von ihm fortrufen kann.
Ein gemeiner Mensch ist er und weiter nichts! Achtet er Dich denn etwa
auch nur so viel? Was gibt es zwischen Euch Gemeinsames? Er lacht ja nur
über Dich und bestiehlt Dich womöglich noch obendrein, und das ist seine
ganze Liebe! Kannst noch froh sein, wenn er Dich nicht schlägt. Frag ihn
doch, wenn Du einen hast, ob er Dich heiraten würde. Er wird Dir ja ins
Gesicht lachen, wenn er Dich nicht anspuckt oder durchprügelt – er
selbst aber ist vielleicht nicht mal eine halbe Kopeke wert. Und warum
nur, warum richtest Du Dich hier zu Grunde? Weil man Dir hier Kaffee
gibt und Du Dich hier sattessen kannst? Aber so bedenke doch bloß, zu
welch einem Zweck Du hier gefüttert wirst! Eine andere Ehrliche würde
solch einen Bissen überhaupt nicht anrühren können, denn sie weiß doch,
warum man ihr zu essen gibt. Du schuldest hier der Wirtin, und so wirst
Du ihr ewig schulden: bis zu dem Tage, da die Gäste Dich nicht mehr
werden haben wollen. Das aber wird schon bald kommen, vertraue nicht zu
sehr auf Deine Jugend. In solch einem Hause geht es ja mit
Riesenschritten. Dann wirst Du einfach hinausgeworfen werden. Und zwar
wird man Dich schon lange vorher schikanieren, Dir Vorwürfe machen, Dich
schimpfen, – als ob nicht Du Deine Gesundheit für sie hergegeben, Deine
Jugend, Deine Seele für sie geopfert hast, sondern als ob _Du_ sie
womöglich noch zu Grunde gerichtet, bestohlen, beschimpft hättest. Und
hoffe nur nicht auf Beistand: die anderen, diese Deine Freundinnen
werden dann gleichfalls über Dich herfallen, um der Alten einen Gefallen
zu erweisen, denn hier sind ja alle Sklavinnen, hier haben alle
jegliches Mitleid und jegliches Gewissen verloren. Gemeineres,
Beleidigenderes als diese Schimpfwörter, die sie Dir dann sagen werden,
gibt es in der ganzen Welt nicht. Und alles wirst Du hier opfern, alles,
– Gesundheit, Jugend, Schönheit, und alle Deine Hoffnungen wirst Du hier
begraben und mit zweiundzwanzig Jahren wirst Du aussehn, als ob Du
fünfunddreißig wärst, und wirst noch Gott danken können, wenn Du nicht
krank bist. Du denkst jetzt natürlich: hier brauche ich nicht zu
arbeiten, lebe nur zum Vergnügen! Aber es gibt ja auf der ganzen Welt
keine Arbeit, die schwerer, sklavischer, knechtender wäre, als diese
‚Arbeit‘ hier. Und kein Wort darfst Du sagen, kein halbes Wörtchen, wenn
man Dich von hier fortjagt! Du wirst wie eine Verbrecherin von hier
fortgehn, wirst zuerst in ein anderes Haus gehn, dann wieder in ein
anderes, und schließlich wirst Du dann an der Ssennaja landen ... Dort
aber geht dann das Prügeln an; das ist dort so eine übliche
Liebenswürdigkeit; dort verstehn die Gäste überhaupt nicht zärtlich zu
sein, wenn sie nicht vorher geprügelt haben. Du glaubst es vielleicht
nicht? Geh einmal hin, vielleicht wirst Du es mit eigenen Augen sehn
können. Ich sah dort einmal am Neujahrstage eine an der Tür. Sie wurde
von ihren Hausgenossen hinausgeworfen; da sie zu sehr geschrieen hatte,
sollte sie ein wenig kalt gestellt werden, und hinter ihr wurde die Tür
zugeschlagen. Um neun Uhr morgens war sie schon total betrunken,
zerzaust, halbnackt und blau geschlagen. Ihr Gesicht war gepudert und
geschminkt, doch um die Augen hatte sie dunkle grünbraune Ringe; aus
Mund und Nase floß ihr das Blut. Irgend ein Kutscher hatte sie
wahrscheinlich gehörig bearbeitet. Sie setzte sich auf die kleine
steinerne Treppe, in der Hand hatte sie irgend einen gesalzenen Fisch,
einen Hering, glaub ich, sie gröhlte, und klagte irgend etwas über ihr
‚Los‘, und dabei klatschte sie mit dem Fisch ununterbrochen auf die
Steinstufen der Treppe. Natürlich hatte man sich schon um sie
versammelt, Droschkenkutscher und betrunkene Soldaten, die sie neckten.
Du glaubst wohl nicht, daß auch Du so herunterkommen wirst? Auch ich
würde es nicht glauben wollen, aber, was kann man wissen, vielleicht war
diese selbe mit dem gesalzenen Fisch vor zehn, vor acht Jahren rein und
unschuldig wie ein kleiner Engel hierher gekommen; errötete womöglich
bei jedem Wort. Vielleicht war sie auch so eine wie Du: stolz,
empfindlich, den anderen unähnlich; sah vielleicht wie eine Königin
drein und wußte, daß denjenigen, der sie liebgewinnen und den sie
wiederlieben würde, ein ganzes, großes wundervolles Glück erwartete. Und
sieh nun, womit das geendet hat! Und wenn ihr in dem Augenblick, als sie
mit dem Fisch auf die schmutzigen Stufen klatschte und das Blut ihr aus
der Nase floß, wenn sie sich in dem Augenblick ihrer Jugend, ihrer
Kinderjahre im Elternhause erinnerte: wie der Nachbarssohn sie auf dem
Heimweg erwartete und ihr sagte, daß er sie sein ganzes Leben lang
lieben würde, und wie sie dann beschlossen, sich zu heiraten, wenn sie
erst groß sein würden! Nein, Lisa, Du kannst von Glück reden, wenn Du
dort irgendwo in einem Kellerloch bald an der Schwindsucht sterben
solltest, so wie die, die gestern beerdigt wurde. Du sagtest, man könne
ja ins Krankenhaus gehn? Schwindsucht ist nicht wie Influenza. Ein
Schwindsüchtiger glaubt noch bis zur letzten Minute, daß er gesund ist.
Tröstet sich auf diese Weise. Der Wirtin aber ist das sogar vorteilhaft.
Glaub mir, das ist schon so: hast Deine Seele verkauft und zudem bist Du
noch Geld schuldig, also darfst Du nicht einmal mucksen. Liegst du aber
schon, so wirst du von allen verlassen, alle kehren Dir dann den Rücken,
– dann ist ja nichts mehr von Dir zu holen. Dann wird man Dir noch
vorwerfen, daß Du unnütz Platz einnimmst, nicht schnell genug stirbst.
Nicht mal einen Schluck Wasser werden sie Dir ohne Vorwürfe geben. ‚Du
Vieh, wann wirst Du denn endlich einmal krepieren, läßt uns nicht
schlafen, stöhnst in der Nacht, die Gäste ärgern sich.‘ Ja, ja, das ist
schon so; hab selbst solche Vorwürfe gehört. Wenn Du mit dem Tode
ringst, stopft man Dich in den schmutzigsten Winkel der Kellerwohnung –
Finsternis, Feuchtigkeit, Schimmel an den Wänden. Was glaubst Du wohl,
was für Gedanken Dir kommen werden, wenn Du allein dort liegen mußt?
Bist Du endlich tot, so packt man Dich irgendwie in einen Futtertrog
ein. Niemand segnet Dich, niemandem fällt es ein, Deinetwegen auch nur
zu seufzen – ist froh, wenn man Dich schneller los wird! Und so trägt
man Dich denn hinaus, so wie gestern diese Arme hinausgetragen wurde,
und geht dann in die Schenke zur ‚Gedächtnisfeier‘. Im Grabe ist
dunkles, fettiges Wasser, Schmutz, nasser, braungewordener Schnee, –
‚He! hop, Wanjucha, rinn mit dem Kasten! – Hoho! da sieht man doch
gleich, was das für eine ist: selbst hier geht sie noch mit die Beine
ruff. Na, reck die Schniere, wird’s bald?‘ – ‚Siehste denn nicht, daß
sie mit’n Kopf nach unten liegt! War doch auch’n Mensch!‘ – ‚Is schon
gut genug für solch eine‘. – ‚Nu, mein’twegen‘. Nicht einmal schimpfen
wollen sie sich um solch eine. Schütten mit der nassen, blauen Lehmerde
das Grab irgendwie zu und gehn dann in die Schenke ... Und damit ist die
Erinnerung an Dich hier auf Erden begraben. Andere Gräber werden von den
Kindern, Vätern, Müttern, Männern der Verstorbenen besucht, – an Deinem
Grabe fällt keine Träne, wird kein einziger Seufzer laut. Niemand,
niemand kommt zu Dir, kein einziger Mensch: Dein Name verschwindet auf
ewig von dieser Erde – als ob Du niemals auf ihr gelebt hättest, niemals
von einem Weib geboren wärst! Schmutz und Sumpf umgeben Dich, – und kein
Echo gibt Dir Antwort, wenn Du in der Nacht, wenn die Toten erwachen, in
Deiner Verzweiflung an den Deckel Deines Sarges schlägst und rufst:
‚Laßt mich, laßt mich, Ihr guten Menschen, noch einmal die Sonne sehn!
Ich lebte, doch jetzt bin ich gestorben, ohne das Leben gekannt zu
haben: mein Leben wurde an der Sjennaja vertrunken! Ach, laßt mich, laßt
mich Ihr stolzen Menschen, noch einmal die Welt und das Leben sehn!‘“

Ich geriet in solches Pathos, daß mir schon ein Kehlkopf- oder
Halskrampf drohte und ... und plötzlich verstummte ich, erhob mich
erschrocken und lauschte mit ängstlich gesenktem Kopf und pochendem
Herzen. Ich hatte wahrlich Grund, mich zu ängstigen.

Schon lange hatte ich gefühlt, daß ich ihr die ganze Seele um und
umkehrte, und je mehr ich mich davon überzeugte, desto mehr verlangte es
mich, so schnell als möglich, das Ziel zu erreichen. Das Spiel, ja, das
Spiel verlockte mich ... Übrigens nicht nur das Spiel ...

Ich wußte, daß ich unnatürlich und steif sprach, aber ich verstand
nicht, anders zu sprechen, als eben „wie ein Buch“. Doch nicht das
verwirrte mich: ich wußte doch, ich ahnte es ja, daß ich verstanden
wurde, und daß dieses „wie ein Buch“ die Sache nur noch höher
hinaufschraubte. Dann aber, als ich plötzlich den Effekt erreicht hatte,
überkam mich die Angst. Nein, nie noch, nie noch war ich Zeuge solch
einer Verzweiflung gewesen! Sie hatte das Gesicht in das Kissen gepreßt,
das sie mit beiden Händen umklammerte. Ihr ganzer junger Körper zitterte
und zuckte wie in Krämpfen. Das zurückgedrängte Schluchzen drohte, sie
zu ersticken, ihr die Brust zu zerreißen – und plötzlich brach es in
Schreien, in Gestöhn aus ihr heraus. Da preßte sie ihr Gesicht noch
fester in das Kissen: sie wollte nicht, daß irgend jemand, wenn auch nur
eine einzige lebende Seele, etwas von ihrer Qual und von ihren Tränen
wisse. Sie biß in das Kissen, biß sich die Hand blutig – das sah ich
später –, oder sie krallte die Finger in ihre gelösten Flechten und
erstickte geradezu in der Anstrengung, den Atem zurückzuhalten. Ich
wollte ihr etwas sagen, sie bitten, sich zu beruhigen, doch fühlte ich,
daß ich es nicht durfte, und plötzlich packte mich ein Frösteln; ich
stürzte fast entsetzt aus dem Bett und beeilte mich, tastend und tappend
meine Kleider zusammenzusuchen. Es war stockdunkel im Zimmer: wie sehr
ich mich auch beeilte, ich konnte es doch nicht schnell genug machen. Da
fand ich schließlich die Streichholzschachtel und ein ungebrauchtes
Licht neben dem Leuchter. Kaum hatte ich es angezündet, als Lisa sich
hastig erhob und sich auf den Bettrand setzte. Ihr Gesicht war sonderbar
verzerrt, ein halbwahnsinniges Lächeln irrte um ihren Mund und fast
sinnlos blickte sie mich an. Ich setzte mich neben sie und ergriff ihre
Hände; sie kam wieder zu sich, wandte sich dann zu mir und wollte mich,
glaub ich, umarmen – doch plötzlich wagte sie es nicht und senkte
schweigend ihren Kopf vor mir.

„Lisa, mein lieber Freund, ich habe es ... Du, verzeih mir,“ begann ich,
sie aber preßte meine Hände so stark mit ihren heißen Fingern, daß ich
erriet, wie überflüssig meine Worte waren, und ich verstummte.

„Hier hast Du meine Adresse, Lisa; komm einmal zu mir.“

„Ich werde kommen ...“ sagte sie leise aber entschlossen, den Blick noch
immer zu Boden gesenkt.

„Jetzt gehe ich, leb wohl ... und auf Wiedersehn.“

Ich stand auf und auch sie erhob sich langsam.

Plötzlich wurde sie über und über rot, fuhr zusammen, ergriff ein auf
dem Stuhl liegendes Tuch, das sie sich umwarf und unter dem Kinn stramm
zusammenzog. Darauf lächelte sie wieder so sonderbar, errötete und
blickte mich schließlich ganz seltsam an. Mir tat es weh; ich beeilte
mich, hinaus zu kommen, – zu verschwinden!

„Warten Sie,“ sagte sie plötzlich – wir waren schon im Flur an der Tür
angelangt –, hielt mich noch schüchtern am Ärmel zurück, stellte dann
schnell das Licht auf den Fußboden und lief zurück. Ersichtlich war ihr
etwas eingefallen, das sie mir zeigen wollte. Als sie mich zurückhielt,
errötete sie wieder, ihre Augen glänzten und auf ihren Lippen erschien
ein Lächeln, – was mochte es sein? Unwillkürlich wartete ich: sie kam
sofort zurück, – mit einem Blick, der mich fast um Verzeihung bat.
Überhaupt war das nicht mehr jenes Gesicht vom Abend vorher, mit dem
mürrischen, mißtrauischen, starren Blick: es war ein flehender, weicher
und zu gleicher Zeit zutraulicher, freundlicher, zaghafter Ausdruck in
ihren Augen. So pflegen Kinder diejenigen anzusehn, die sie sehr lieb
haben und von denen sie etwas erbitten wollen. Hellbraun waren ihre
Augen. Oh, prachtvolle Augen waren es, Augen, die Liebe und Haß zu
sprechen verstanden.

Ohne mir etwas zu erklären, als ob ich wie irgend ein höheres Wesen
alles auch ohne Erklärungen wissen müßte, reichte sie mir einen Brief.
Ihr ganzes Gesicht erstrahlte in naivstem, fast kindlichem Stolz. Ich
faltete den Bogen auseinander: es war ein Schreiben an sie von einem
Studenten der Medizin oder so etwas ähnliches, – eine sehr schwülstige,
blumenreiche, doch ungemein höfliche Liebeserklärung. Ich habe zwar die
Redewendungen vergessen, doch weiß ich noch, daß durch den
verschnörkelten Stil wahres, aufrichtiges Gefühl leuchtete, eines, das
man nicht künstlich vortäuschen kann. Als ich zu Ende gelesen hatte,
traf ich ihren heißen, neugierigen, kindlich-ungeduldigen Blick. Sie
hing geradezu mit ihrem Blick an meinem Gesicht und erwartete in
fiebernder Ungeduld, was ich sagen würde. Darauf erzählte sie mir in
kurzen Worten, flüchtig, aber doch gewissermaßen stolz, daß sie irgendwo
auf einem Tanzabend in einer Familie gewesen war, „bei sehr sehr guten
Menschen, in einer _Familie_, wie gesagt, wo man noch _nichts weiß_,
nicht das geringste,“ – denn sie war ja in _diesem_ Hause erst ganz
kurze Zeit und nur so ... und sie hatte sich doch noch nicht
entschlossen, hier zu bleiben, im Gegenteil, sie würde sogar bestimmt
fortgehn, sobald sie nur ihre Schuld bezahlt hätte ... – Nun, und dort
war auch dieser Student gewesen, er hatte den ganzen Abend mit ihr
getanzt und gesprochen, und siehe da, bei der Gelegenheit hatte es sich
herausgestellt, daß er gleichfalls aus Riga war, daß sie sich als Kinder
gekannt und zusammen gespielt hatten, nur war das alles schon sehr lange
her – und sogar ihre Eltern kannte er, doch _davon_ wisse er
nichts-nichts-nichts und vermutete es nicht einmal! Und da hatte er ihr
denn am Tage nach dem Tanzabend – vor drei Tagen also – durch ihre
Freundin, durch dieselbe, mit der sie hingegangen war, diesen Brief
geschickt ... und ... nun, und das war alles.

Nachdem sie geendet hatte, senkte sie ein wenig verschämt ihre
leuchtenden Augen vor meinem Blick.

Armes Ding! Sie bewahrte diesen Brief des Studenten wie einen Schatz
auf, und lief nach diesem ihrem einzigen Hab und Gut, da sie nicht
wollte, daß ich fortginge, ohne zu erfahren, daß auch sie in Ehren und
aufrichtig geliebt wurde, daß man auch mit ihr ehrerbietig sprach. Ich
glaube, diesem Brief wird es wohl bestimmt gewesen sein, in ihrem Kasten
ergebnislos ewig liegen zu bleiben. Aber was hat das zu sagen! Bin ich
doch überzeugt, daß sie ihn ihr Leben lang wie einen Schatz verwahren
wird, wie ihren Stolz und ihre Rechtfertigung. Sogar in solch einem
Augenblick erinnerte sie sich seiner und brachte ihn mir, um ihn in
naivem Stolz auch mir zu zeigen, um sich in meinen Augen zu erhöhen, um
auch von mir gelobt zu werden. Ich sagte ihr kein Wort, drückte ihr nur
die Hand und ging. Es drängte mich so maßlos, fortzugehn ... Ich ging zu
Fuß nach Haus, obgleich der nasse Schnee immer noch in dicken, schweren
Flocken niederfiel. Ich war zu Tode gequält, war vernichtet, und wurde
noch von Zweifeln gemartert. Doch die Wahrheit schimmerte schon durch
die Zweifel. Diese scheußliche Wahrheit!


                                 VIII.

Und so verging denn auch noch eine geraume Zeit, bis ich schließlich
einwilligte, diese Wahrheit anzuerkennen. Als ich am nächsten Morgen
nach kurzem, tiefem Schlaf erwachte, fiel mir sofort der ganze
vergangene Tag ein, und wirklich – ich wunderte mich sogar über meine
„Sentimentalität“ mit Lisa und über diesen ganzen „gestrigen Unfug“.

„Pfui Teufel, was für eine weibische Nervosität einen doch zuweilen
überfallen kann!“ dachte ich ärgerlich. „Und wozu habe ich ihr
eigentlich meine Adresse gegeben? Jetzt wird sie ja womöglich herkommen?
Na, meinetwegen, mag sie nur kommen ...“ Doch _selbstverständlich_ war
jetzt nicht das von Wichtigkeit: wichtig war vielmehr, daß ich so
schnell wie möglich meine Reputation in den Augen Swerkoffs und
Ssimonoffs rettete. Das war die Hauptsache! Lisa aber vergaß ich an
jenem Morgen vor lauter anderen Sorgen ganz und gar.

Vor allen Dingen hieß es, Ssimonoff das geliehene Geld sofort
zurückzuerstatten. Ich entschloß mich zu einem verzweifelten Schritt:
Anton Antonytsch um ganze fünfzehn Rubel anzugehn. Zum Glück war er an
jenem Morgen gerade in vorzüglicher Gemütsverfassung und erfüllte daher
meine Bitte einwandlos. Das erfreute mich dermaßen, daß ich ihm, als ich
den Schuldschein unterschrieb, unaufgefordert, nur so wie _nebenbei_,
erzählte, wie ich gestern mit meinen Freunden im Hôtel de Paris den
Abschied eines Schulkameraden gefeiert hatte, „ja, ich kann wohl sagen,
meines Jugendfreundes. Und wissen Sie, – er ist ein fabelhafter
Durchgänger, maßlos verwöhnt in solchen, wie überhaupt in allen Dingen,
– nun, versteht sich, aus guter Familie, riesige Einkünfte, glänzende
Karriere, geistreich, liebenswürdig, kennt vorzüglich diese Damen, Sie
wissen schon, haben noch ‚einem halben Dutzend‘ den Hals gebrochen, und
...“ Und wie gut das alles klang, es hörte sich so flott, unterhaltend
und selbstzufrieden an.

Nach Haus zurückgekehrt, setzte ich mich sofort hin und schrieb an
Ssimonoff.

Noch jetzt lacht mir das Herz vor Freude, wenn ich an den wahrhaft
weltmännischen, harmlosen Ton meines Briefes denke. Gewandt und doch
vornehm, und vor allen Dingen ganz ohne überflüssige Worte: die Schuld
an allem schrieb ich mir allein zu. Ich rechtfertigte mich – „wenn es
mir zusteht, mich zu rechtfertigen“ – mit der Erklärung, daß ich bereits
nach dem ersten Gläschen, welches ich angeblich schon _vor_ ihrer
Ankunft im Hôtel de Paris getrunken hatte, nicht mehr ganz nüchtern
gewesen wäre, natürlich nur infolge meiner völligen Entwöhnung von
Alkohol. Um Entschuldigung bat ich eigentlich nur Ssimonoff; doch fügte
ich zum Schluß noch hinzu, daß ich ihm dankbar wäre, wenn er meine
Erklärung auch allen anderen mitteilen wollte, besonders Swerkoff, den
ich, wie ich „glaubte“, – denn ich könnte mich des Vorgefallenen „nicht
mehr ganz deutlich entsinnen – vielleicht beleidigt habe“. Ich fügte
noch hinzu, daß ich selbst bei allen anfahren würde, doch schmerzte mein
Kopf zu sehr und zudem – schämte ich mich der ganzen Geschichte.
Besonders gefiel mir die „gewisse Leichtigkeit“, fast sogar
Nachlässigkeit – übrigens eine vollkommen vornehme – die sich in meinem
Stil ausdrückte, und ihnen besser als alle Beweise zu verstehen geben
mußte, daß ich „auf diese ganze gestrige Geschichte“ ziemlich
gleichgültig blickte, also keineswegs niedergeschlagen oder gar
vernichtet war, wie es jene Herren wahrscheinlich glaubten, sondern die
ganze Sache so auffaßte, wie sie ein sich achtender Gentleman eben
auffassen mußte.

„Hm, ... und sieh mal einer an, was für eine Scherzhaftigkeit drin
steckt – das macht mir so leicht kein Grandseigneur nach!“ dachte ich,
als ich schmunzelnd mein Kunstwerk durchlas. „Und das kommt natürlich
nur daher, daß ich ein entwickelter und gebildeter Mensch bin! Andere
würden an meiner Stelle nicht wissen, wie sich hier herausreißen, ich
aber bin schon wieder obenauf, und das nur, weil ich eben ein
‚gebildeter und entwickelter Mensch unserer Zeit bin‘. Und wie kann
ich’s wissen, vielleicht ist das alles gestern wirklich nur vom Wein
gekommen? Hm! ... um die Wahrheit zu sagen, das stimmt denn doch nicht
so ganz. Schnaps hatte ich ja überhaupt nicht getrunken, zwischen fünf
und sechs, als ich sie erwartete. Hab’s dem Ssimonoff bloß weisgemacht.
Im Allgemeinen ist Lügen gemein; ja, und auch jetzt ist’s nicht schön
...“

„Ach, hol’s der Kuckuck! – Die Hauptsache ist, daß ich die Geschichte
los bin!“

Ich legte die sechs Rubel in den Brief, versiegelte ihn und bat darauf
meinen Apollon, ihn zu Ssimonoff zu bringen. Als Apollon hörte, daß in
dem Brief Geld war, wurde er höflicher, und erklärte sich bereit,
hinzugehn. In der Schummerstunde ging ich hinaus ... spazieren. Mein
Kopf tat mir noch weh. Doch je mehr der Abend heranrückte und je dunkler
es wurde, desto mehr verwirrten sich meine Eindrücke und mit ihnen auch
meine Gedanken. Irgend etwas wollte in mir nicht sterben, etwas, das in
der Tiefe des Herzens und Gewissens lag – es wollte nicht sterben und
quälte mich in brennender Sehnsucht. Ich schob mich durch die
belebtesten Straßen, durch die Meschtschanskaja, Ssadowaja und am
Jussupoffgarten vorüber. Ich liebte es besonders in der Dämmerung, in
diesen Straßen zu spazieren, wenn dort die Menge der Fußgänger dichter
wurde, wenn Kaufleute, Handwerker, Arbeiter mit ihren von den Sorgen
zuweilen bis zu Verbrecherphysiognomien entstellten Gesichtern
vorüberschoben, um schnell nach Haus zu gelangen. Gerade diese nackte
Prosa, diese stiere Hast gefielen mir. Und an jenem Abend wirkte dieses
ganze Straßengedränge noch ganz besonders auf mich. Ich konnte mich auf
keine Weise mit meinen Gefühlen zurechtfinden. Es war etwas in meiner
Seele, das mir weh tat und sich erhob, erhob und immer wieder erhob, und
sich nicht beruhigen konnte. Ganz verstimmt kehrte ich schließlich heim.
Es war mir, als ob auf meiner Seele ein Verbrechen läge.

Mich quälte beständig der Gedanke, daß Lisa zu mir kommen würde.
Sonderbar kam es mir vor, daß von allen schrecklichen Erinnerungen des
vergangenen Tages die Erinnerung an sie mich ganz besonders quälte.
Alles andere hatte ich bis zum Abend schon glücklich vergessen, hatte
einmal ausgespuckt und damit war es abgetan, und im übrigen blieb ich
mit meinem Brief an Ssimonoff vollkommen zufrieden. Mit dieser
Geschichte aber konnte ich mich doch nicht zufrieden geben. Nein, diese
Lisa quälte mich. „Wenn sie jetzt zu mir kommt?“ dachte ich immer
wieder. „Ach, nun, so mag sie doch kommen! Hm! Schon allein, daß sie
dann, zum Beispiel, sehn wird, wie ich wohne! Gestern war ich ja
gewissermaßen ein Held vor ihr ... jetzt aber, hm! Genau genommen ist es
doch gemein, daß ich so heruntergekommen bin. Es ist ja die reine
Bettlerwohnung. Und gestern entschloß ich mich, in solchen Kleidern ins
Hôtel de Paris zu fahren! Und mein altes Wachstuchsofa, aus dem
Krollhaar und Bast heraushängt! Und mein Schlafrock, der vorne nicht
zugeht! Und die Troddeln ... Und das wird sie alles sehn! Und auch den
Apollon wird sie sehn! Er wird sie ja bestimmt beleidigen. Dieses Vieh
wird ihr natürlich irgend eine Frechheit sagen, um mich zu ärgern. Ich
aber werde selbstverständlich nach meiner alten Gewohnheit wieder
verlegen werden, werde mich mit den Schlafrockschößen zu bedecken
suchen, werde lächeln, werde lügen ... Pfui Teufel, diese Gemeinheit!
Und die größte Gemeinheit besteht ja nicht einmal darin! Es gibt ja noch
etwas Wichtigeres, Gemeineres, Schändlicheres! Ja, Schändlicheres! Und
wieder, wieder muß ich mich hinter dieser verlogenen, ehrlosen Maske
verstecken! ...“

Bei diesem Gedanken angekommen, stieg mir das Blut zu Kopf.

„Warum ist es denn eine ‚ehrlose‘? Was für eine ehrlose? Ich habe doch
gestern aufrichtig gesprochen! Ich erinnere mich doch ganz genau, daß
ein aufrichtiges Gefühl mich zum Reden zwang. Ich wollte ja in ihr
gerade edle Gefühle hervorrufen ... Wenn sie schließlich weinte, so war
das gut, heilbringend ...“

Aber ich konnte mich doch nicht beruhigen.

Den ganzen Abend, nachdem ich schon zurückgekehrt war, nach neun, also
zu einer Zeit, da Lisa nach menschlicher Berechnung nicht mehr hätte
kommen können, sah ich sie immer noch vor mir, und zwar immer noch so,
wie damals, als ich mit dem Streichholz das Zimmer plötzlich erhellt
hatte: sah ihr verzerrtes Gesicht mit dem gequälten Blick und ihr
armseliges, gezwungenes Lächeln, zu dem sie sich in jenem Augenblick
zwang! Doch damals wußte ich noch nicht, daß ich sie auch nach fünfzehn
Jahren immer noch mit diesem armseligen, verzerrten, unnötigen Lächeln
vor mir sehen würde.

Am folgenden Tage war ich wieder bereit, das Ganze für Unsinn, für
Nervosität und vor allen Dingen für – _übertrieben_ zu halten. Ich habe
immer diese meine schwache Seite gekannt und mich zuweilen sogar sehr
vor ihr gefürchtet: „Immer übertreibe ich alles, das ist schon einmal
mein Kreuz,“ dachte ich ununterbrochen. Doch schließlich: „Einmal wird
Lisa doch kommen“ – das war der Refrain, mit dem alle meine Gedanken
endeten. Ich war dermaßen unruhig, daß ich mitunter ganz außer Rand und
Band geriet: „Sie wird kommen! Unbedingt wird sie kommen!“ rief ich, im
Zimmer auf und ab rasend, – „wenn nicht heute, dann morgen, aber kommen
wird sie! Das ist die verfluchte Romantik all dieser sentimentalen
Seelen! Oh Gemeinheit, oh Dummheit, oh Borniertheit dieser sogenannten
_reinen Herzen_! Herrgott, was ist denn da zu begreifen, Mensch, was ist
denn da zu begreifen?“ ... Hier aber stockte ich selbst und war noch
mehr verwirrt.

„Und wie weniger Worte hat es bedurft,“ dachte ich nach einem
Augenblick, „wie wenig Idyll – und dazu war’s ja noch kein echtes,
sondern nur ein literarisches, sozusagen –, um sofort ein ganzes
Menschenleben umzudrehen, so wie man’s will. Ja ja, die
Jungfräulichkeit! Die Frische des Bodens, wie man zu sagen pflegt ...“

Zuweilen kam mir auch der Gedanke, selbst zu ihr zu fahren, ihr „alles
zu erzählen“ und sie zu bitten, nicht zu mir zu kommen. Doch erfaßte
mich bei diesem Gedanken, wenn ich bei jenem Punkt angekommen war, solch
eine Wut, daß ich diese „verfluchte“ Lisa einfach nur so plattgeschlagen
hätte, wenn sie neben mir gewesen wäre, daß ich sie beleidigt, bespieen,
hinausgejagt, geprügelt hätte!

Inzwischen aber verging auch der zweite Tag und dann verging noch einer,
und schließlich noch einer – sie kam nicht, und ich beruhigte mich ein
wenig; besonders, wenn die Uhr schon neun geschlagen hatte. Dann ging
zuweilen auch wieder das Phantasieren an, was mitunter gar nicht übel
und ganz vernünftig war: Ich rette z. B. Lisa gerade durch meinen
Verkehr mit ihr, indem ich ihr erlaube, mich zu besuchen, und sie bei
der Gelegenheit belehre ... Ich erziehe, ich bilde sie. Endlich bemerke
ich dann, daß sie mich liebt, leidenschaftlich liebt. Ich stelle mich,
als ob ich es nicht bemerke – warum ich mich so stelle, weiß ich
übrigens selbst nicht, aber es muß wohl so sein, zur Verschönerung
wahrscheinlich. Schließlich erhebt sie sich vom Sofa, ganz verwirrt,
schön wie eine Göttin, und stürzt zitternd und schluchzend zu meinen
Füßen, und sagt mir, daß ich ihr Retter bin, daß sie mich mehr als alles
auf der Welt liebt. Ich bin erstaunt, aber ... „Lisa,“ sage ich ihr,
„glaubtest Du wirklich, daß ich Deine Liebe zu mir nicht bemerkt hätte?
Ich sah alles, ich erriet alles, doch konnte ich nicht als erster von
Liebe sprechen, denn gerade weil ich einen Einfluß auf Dich hatte,
fürchtete ich, daß Du Dich dann vielleicht aus Dankbarkeit zwingen
würdest, mich zu lieben, daß Du Gefühle in Dir erwecken würdest, die Du
in Wirklichkeit nicht für mich übrig hast – das wollte ich aber nicht,
denn das wäre ... Despotismus ... Das ist unfein“.. Hier kam ich etwas
aus dem Konzept, da ich mich zu sehr in irgend einer europäischen,
George-Sandschen, unerklärlich edlen Feinheit ergangen hatte ... „Jetzt
jedoch, jetzt bist Du mein! Du bist mein Geschöpf, Du bist lauter, und
rein, und schön, Du bist mein wundervolles Weib.“

   Und in mein Haus zieh frei und heiter
   Als stolze Herrin ein!

Darauf beginnt dann das Leben, wir fahren ins Ausland usw., usw. Kurz, –
ich schämte mich schließlich vor mir selber und zeigte mir die Zunge.

„Und man wird ihr ja überhaupt nicht die Erlaubnis geben, auszugehn,“
sagte ich mir zur Beruhigung. „Ich glaube, man läßt sie nicht allzu oft
spazieren gehn, abends schon ganz bestimmt nicht!“ Ich weiß nicht, warum
ich annahm, daß sie am Abend kommen würde, und warum ich glaubte, daß es
gerade um sieben Uhr sein würde. „Aber sie hat mir doch gesagt, daß sie
sich dort noch nicht ganz verdungen hat, noch besondere Vorrechte
genießt; das heißt, hm! Teufel noch eins, dann wird sie kommen, dann
wird sie ja bestimmt kommen!“

Gut, daß mich in dieser Zeit mein Apollon mit seinen Grobheiten
zerstreute. Der brachte mich wirklich um meine letzte Geduld! Das war ja
meine Seuche, meine Geißel Gottes, die die Vorsehung speziell für mich
geschaffen hatte! Schon mehrere Jahre lang suchten wir uns gegenseitig
zu übertrumpfen und ich haßte ihn regelrecht. Oh Gott, wie ich ihn
haßte! Noch kein einziges lebendes Wesen habe ich, glaub ich, so gehaßt
wie diese Kreatur, besonders in gewissen Augenblicken. So als Mensch war
er schon bejahrt, gravitätisch und erhaben. Hin und wieder beschäftigte
er sich mit Schneiderarbeit. Es wird ewig ein Geheimnis bleiben, warum
er mich verachtete, jedenfalls aber tat er das über alle Maßen: er
blickte unerträglich hochmütig auf mich herab. Übrigens behandelte er
alle Welt von oben herab. Nur ein Blick auf dieses Gesicht mit den
weißen Augenbrauen und Wimpern, auf diesen glattgekämmten Kopf, auf
diese Locke, die er sich über der Stirn drehte und mit gewöhnlicher
Küchenbutter einsalbte, auf diesen soliden Mund mit der spitzen
Oberlippe und den zurückgezogenen Mundwinkeln, der ganz wie ein
lateinisches v aussah, – und wahrlich, meine Herren, Sie würden ein
Wesen vor sich sehn, das kein einziges Mal an sich gezweifelt hat. Das
war ein Pedant vom allerreinsten Wasser, der allergrößte Pedant von
allen, die in der Welt je gelebt, und dazu besaß das Vieh noch eine
Eigenliebe, die sich vielleicht höchstens Alexander der Große hätte
leisten können. Er war in jeden Knopf seines Rockes verliebt, in jeden
Nagel seiner Extremitäten – unbedingt gerade verliebt, das sah man ihm
ja deutlich an der Nasenspitze an! Zu mir verhielt er sich
unveränderlich despotisch, würdigte mich selten eines Wortes, und
blickte er mich einmal an, so geschah das mit einer festen,
majestätisch-selbstbewußten und immer etwas spöttischen Miene, die mich
zuweilen bis zum Wahnsinn brachte. Seine Pflicht erfüllte er mit einem
Gesichtsausdruck, als ob er mir die größte Gnade erwies. Bei der
Gelegenheit sei noch bemerkt, daß er so gut wie überhaupt nichts machte,
und sich nicht einmal für verpflichtet hielt, etwas zu machen. Daß er
mich für den letzten Dummkopf der Welt hielt, und „mich nur bei sich
hielt“, weil ich ihm dafür monatlich sieben Rubel zahlte, darüber konnte
kein Zweifel bestehn. Er war einverstanden, bei mir für diese sieben
Rubel monatlich „nichts zu machen“. Seinetwegen werden mir sicherlich
viele Sünden vergeben werden. Zuweilen war mein Haß auf ihn so groß, daß
mich schon sein Gang zu Krämpfen brachte. Doch ganz besonders widerlich
war mir seine Art zu sprechen. Seine Zunge war, glaub ich, etwas länger
als es sich gehört, und so lispelte er denn beständig und sprach die
Zischlaute einfach scheußlich aus, doch schien er auf sein Lispeln
ungeheuer stolz zu sein: er glaubte wahrscheinlich, daß es ihm eine
gewisse Vornehmheit verlieh. Er sprach gewöhnlich leise, gemessen, wobei
er die Hände auf dem Rücken hielt und schräg zu Boden blickte. Ganz
besonders ärgerte er mich, wenn er bei sich in seiner Kammer, die nur
durch eine dünne Wand von meinem Zimmer geschieden war, die Psalmen las.
Oh, groß war das Kreuz, das mir diese Psalmen aufluden! Er aber liebte
es sehr, des Abends zu lesen mit seiner leisen, gleichmäßigen Stimme,
ein wenig singend – ganz als ob er neben einer Leiche gesessen und für
den Toten gelesen hätte. Jetzt ist er auch glücklich Psalmenleser
geworden: hält Totenwacht und liest die Bibel, vertilgt Ratten und macht
Wichse. Damals jedoch konnte ich ihn nicht fortschicken, ich glaube, er
war mit meiner Existenz irgendwie chemisch verbunden. Zudem hätte er um
nichts in der Welt eingewilligt, von mir fortzugehn. Ich aber konnte
nicht in einem Chambre-garnie wohnen: meine kleine Wohnung war
abgesondert, hatte nichts mit den anderen Mietern zu tun, sie war meine
Schale, mein Futteral, in das ich mich verkroch, um mich vor der ganzen
Menschheit zu verstecken. Apollon aber schien mir, weiß der Teufel
warum, zu dieser Wohnung zu gehören und so konnte ich ihn denn ganze
sieben Jahre lang nicht vor die Tür setzen.

Seine Monatsgage auch nur zwei oder gar drei Tage lang zurückzuhalten,
war vollkommen ausgeschlossen. Er hätte mich so gepeinigt, daß ich nicht
gewußt hätte, wo mich verkriechen. In diesen Tagen aber war ich dermaßen
erbittert auf alle Welt, daß ich mich aus irgend einem Grunde und zu
irgend einem Zweck entschloß, meinen Apollon zu _bestrafen_ – ihm das
Geld erst nach ganzen zwei Wochen zu geben. Das hatte ich mir schon
lange, schon seit zwei Jahren vorgenommen, – einzig, um ihm zu beweisen,
daß er kein Recht hatte, sich vor mir so breit zu machen, und daß ich
ihm seine Gage auszahlen konnte, „wann es mir gefällt.“ Ich beschloß
also, vom Gelde kein Wort zu sagen und sogar absichtlich zu schweigen,
um seinen Stolz zu besiegen, und ihn zu zwingen, sich die Gage von mir
auszubitten. Dann erst würde ich die sieben Rubel aus dem Kasten nehmen,
sie ihm zeigen und sagen, daß ich sie habe, sie ihm aber doch nicht
gebe, „einfach weil ich nicht will, nicht will, nicht will – kurz, da
ich das _so will_,“ weil das so mein „Herrenwille“ ist, weil er nicht
ehrerbietig genug ist, weil er ein Grobian ist! Falls er aber bescheiden
wie es sich gehört um das Geld bitten wollte, so würde ich mich
meinetwegen auch erweichen lassen, und ihm die sieben Rubel geben; wenn
nicht, dann könne er noch zwei Wochen warten, könne er drei Wochen
warten, könne er ’nen ganzen Monat warten! ...

Aber wie wütend ich auch war, er blieb doch Sieger. Nicht vier Tage lang
hätte ich’s ausgehalten. Er begann damit, womit er in ähnlichen Fällen
immer zu beginnen pflegte – denn ähnliche Fälle hatte es schon gegeben;
und ich bemerke noch, daß ich im Voraus wußte, wie es kommen würde:
kannte ich doch seine ganze niederträchtige Taktik schon auswendig!
Nämlich: er begann damit, daß er einen ungemein strengen Blick auf mich
richtete und ihn einige Minuten lang nicht von mir abwandte. Das geschah
gewöhnlich, wenn ich ausging oder heimkehrte – dann begleitete oder
empfing mich dieser liebe Blick. Tat ich dann z. B., als bemerkte ich
ihn samt seinen Blicken überhaupt nicht, so schritt er – wiederum
schweigend – zum nächsten Folterexperiment. Plötzlich kommt er mir
nichts, dir nichts leise und mit leichten Schritten in mein Zimmer, wenn
ich auf und ab gehe oder lese, bleibt an der Tür stehn, legt eine Hand
auf den Rücken stellt das eine Bein etwas vor und richtet seinen Blick
auf mich – dieser Blick ist aber dann nicht etwa bloß streng, sondern er
drückt mit ihm zugleich seine ganze niederschmetternde Verachtung aus,
die er für mich empfindet. Wenn ich ihn dann plötzlich frage, was er
will, warum er eingetreten ist, so antwortet er mir keine Silbe, fährt
nur fort, mich noch einige Sekunden lang starr anzusehn und darauf,
nachdem er ganz absonderlich die Lippen zusammengepreßt hat, dreht er
sich mit vielbedeutsamer Miene langsam auf demselben Fleck um und
verläßt langsam das Zimmer. Nach etwa zwei Stunden öffnet sich plötzlich
wieder die Tür und mein Apollon stellt sich von neuem auf ... Es kam
vor, daß ich vor Wut ihn überhaupt nicht fragte, was er suche, sondern
kurz entschlossen, gebieterisch meinen Kopf in den Nacken warf und ihn
gleichfalls unbeweglich anblickte. Dann schauten wir uns auf diese Weise
eine geraume Zeit an, bis er sich endlich langsam und wichtig umdrehte
und mich auf weitere zwei Stunden verließ.

Ließ ich mich durch diese Manöver immer noch nicht eines Besseren
belehren, so fing er mit einem Mal an, zu – seufzen: er blickte mich an
und seufzte tief, ganz als wollte er mit diesem langen, langen Atem die
ganze Tiefe meiner moralischen Gesunkenheit ausmessen. Nun, versteht
sich, es endete damit, daß er mich vollkommen besiegte: ich wütete,
schrie, schimpfte, aber das, um was es sich drehte, mußte ich
schließlich doch tun.

Dieses Mal aber, als die üblichen Manöver der „strengen Blicke“
begannen, geriet ich sofort außer mir und stürzte mich wutbebend auf
meinen Peiniger. War ich doch schon so wie so gereizt!

„Bleib!“ schrie ich ihn an, als er sich langsam und schweigend, die eine
Hand auf dem Rücken, wieder umdrehen wollte, um hinauszugehn. – „Bleib!
Komm zurück! Komm zurück, sag ich Dir!“ Ich muß wohl so absonderlich
gegröhlt haben, daß er sich umkehrte und mich sogar einigermaßen
erstaunt anblickte. Übrigens sagte er wieder kein Wort, was mich total
verrückt machte.

„Wie unterstehst Du Dich, ohne Erlaubnis einzutreten und mich so zu
betrachten, antworte!“

Er aber betrachtete mich wieder etwa dreißig Sekunden lang und fing dann
wieder an, sich langsam umzudrehen.

„Steh!“ schrie ich und stürzte auf ihn zu, „nicht vom Fleck! So! Jetzt
antworte: Was suchst Du hier?“

„Wenn Sie mir jetzt was anzuordnen haben, so ist es meine Sache, es
auszuführen,“ sagte er nach kurzem Schweigen ruhig und gemessen wie
immer, wobei er leicht die Augenbrauen heraufzog und langsam den Kopf
von der einen Seite auf die andere bog, – und all das geschah wiederum
mit erschreckender Ruhe.

„Ach, davon rede ich nicht, Henker!“ schrie ich zornbebend. „Ich werde
Dir, Henker, selbst sagen, warum Du herkommst: Du siehst, daß ich Dir
die Gage nicht auszahle, willst aber aus Stolz nicht darum bitten, und
so kommst Du dann mit Deinen dummen Blicken; mich dafür strafen, quälen,
und den–k–s–t nicht einmal, Du Henker, daß das dumm ist, dumm, fabelhaft
dumm, bodenlos dumm!“

Er schickte sich wieder an, sich langsam umzudrehen, ich aber packte
ihn.

„Hör!“ schrie ich ihn an. „Sieh, hier ist das Geld, siehst Du, siehst
Du, hier ist es!“ – Ich riß das Schubfach meines Tisches auf und nahm
das Geld heraus.

„Volle sieben Rubel! Du aber bekommst sie nicht, be–komm–s–t sie nicht,
so lange bekommst Du sie nicht, bis du kommst und höflich, reumütig mich
um Verzeihung bittest! Hast Du mich verstanden?“

„Das kann niemals geschehen!“ antwortete er mit einem geradezu
übernatürlichen Selbstbewußtsein.

„Wird aber!“ brüllte ich, „geb Dir mein Ehrenwort, daß es geschehen
wird!“

„Und für was soll ich Sie denn um Verzeihung bitten?“ fuhr er fort, als
ob er mein Geschrei überhaupt nicht hörte. „Sie haben mich doch Henker
genannt, für was ich Sie jederzeit auf der Polizei wegen Beleidigung
anzeigen kann.“

„Geh! Tu’s nur!“ schrie ich heiser, „geh sofort, sofort, hörst Du! Ein
Henker bist Du doch! Henker! Henker!“ – Er jedoch schenkte mir nur einen
Blick und schritt ruhig und selbstbewußt hinaus.

„Wenn’s keine Lisa gäbe, würde nichts von alledem geschehen sein!“
entschied ich still bei mir. Darauf, nachdem ich eine Minute lang
gestanden hatte, begab ich mich würdevoll und feierlich, doch mit
langsam- und starkklopfendem Herzen in eigener Person in seine Kammer.

„Apoll!“ sagte ich ruhig und bedeutsam, in Wirklichkeit aber war ich
nichts weniger als ruhig. „Geh sofort zum Polizeioffizier unseres
Stadtviertels!“

Er hatte sich inzwischen schon an seinen Tisch gesetzt, die Brille auf
die Nase geschoben und seine Arbeit wieder aufgenommen. Als er so
plötzlich meinen Befehl hörte, lachte er mit einem Mal laut auf.

„Sofort, geh sofort! Geh, oder – Du weißt nicht, was sonst geschieht!“

„Sie sind wohl nicht ganz normal,“ meinte er darauf gemächlich, ohne
selbst den Kopf zu erheben, denn er fädelte gerade seine Nadel ein. „Und
wer hat denn je erlebt, daß ein Mensch wegen sich selbst die Polizei
ruft? Was aber die Angst anbetrifft, so ängstigen Sie sich umsonst, es
wird nichts geschehn.“

„Geh!“ krächzte ich und packte ihn an der Schulter. Ich fühlte, daß ich
ihn sofort schlagen würde.

Ich überhörte es ganz, daß in demselben Augenblick die Flurtür geöffnet
wurde und irgend jemand eintrat, stehn blieb und schließlich uns
verwundert anstarrte.

Da blickte ich plötzlich hin und – ich erstarrte zuerst vor Schande und
stürzte dann in mein Zimmer. Dort krallte ich meine Hände ins Haar,
stützte den Kopf an die Wand und blieb unbewegt in dieser Stellung.

Nach einiger Zeit hörte ich die langsamen Schritte Apollons.

„_Irgend Eine_ fragt dort nach Ihnen,“ sagte er, mich ganz besonders
streng messend, worauf er zur Seite trat und Lisa eintreten ließ. Er
wollte nicht hinausgehn und betrachtete mich spöttisch.

„Pack Dich!“ kommandierte ich halb bewußtlos. In dem Augenblick fing
meine Wanduhr an zu schnarren und schlug dann sieben Mal.


                                  IX.

                        Und in mein Haus zieh frei und heiter
                        Als stolze Herrin ein.

Ich stand vor ihr – vernichtet und in einer Weise fassungslos, die
abstoßend sein mußte, und lächelte, glaub ich, wobei ich mich krampfhaft
bemühte, die Schöße meines schäbigen wattierten Schlafrockes
übereinander zu schlagen, – auf ein Haar so, wie ich es mir noch kurz
vorher in einer verzagten Stunde vorgestellt hatte. Apollon schob zwar
nach zwei Minuten ab, doch wurde mir deswegen noch nicht leichter. Am
schlimmsten aber war, daß sie plötzlich gleichfalls verlegen wurde, und
das sogar dermaßen, wie ich es nie von ihr erwartet hätte. Bei meinem
Anblick, versteht sich.

„Setz Dich,“ sagte ich mechanisch und rückte für sie einen Stuhl an den
Tisch, selbst aber setzte ich mich auf das Sofa. Sie nahm sofort
gehorsam Platz, blickte mich aber mit weit offenen Augen an, als
erwartete sie sofort etwas Besonderes von mir. Diese Naivität der
Erwartung war’s ja, was mich aus der Haut brachte. Bezwang mich jedoch.

Da wär’s doch das einzig Vernünftige gewesen, zu tun, als bemerke man
nichts, als sei alles so, wie es sein müßte, sie aber ... – Und dumpf
fühlte ich schon, daß sie für _all dieses_ bitter büßen würde.

„Du hast mich in einer sonderbaren Lage angetroffen, Lisa,“ begann ich
stockend – mit dem vollen Bewußtsein, daß man gerade so nicht anfangen
durfte.

„Nein nein, denk nur nichts Schlechtes!“ rief ich schnell, als ich
bemerkte, daß sie plötzlich errötete, „ich schäme mich nicht meiner
Armut ... Im Gegenteil, ich bin stolz auf meine Armut. Ich bin arm aber
edel ... Das kann man, das kann man ... arm aber edel,“ stotterte ich.
„Übrigens ... Willst Du Tee?“

„Nein ...“ sie wollte noch mehr sagen.

„Wart!“

Ich sprang auf und lief hinaus zu Apollon. Man mußte doch irgend etwas
tun.

„Apoll,“ sagte ich leise, doch fieberhaft erregt, „hier hast Du Deine
Gage, siehst Du, ich gebe sie Dir!“ Damit warf ich das Geld, das ich
noch in der Hand behalten hatte, auf seinen Tisch, „aber dafür mußt Du
mich retten: geh sofort hier in das nächste Restaurant und bring mir Tee
und Zwieback ... zehn Stück. Wenn Du nicht gehst, so stürzt Du einen
Menschen ins Unglück! Du weißt nicht, was das für ein Wesen ist ... Sie
ist – alles! Vielleicht glaubst Du irgend etwas. ... Aber Du weißt ja
nicht, was das für ein Wesen ist! ...“

Apollon, der sich schon wieder an seine Arbeit gemacht und die Brille
aufgesetzt hatte, schielte zuerst, ohne die Nadel aus der Hand zu legen,
mißtrauisch auf das Geld; fuhr aber fort, ohne auf mich die geringste
Aufmerksamkeit zu verwenden, an seinem Zwirnfaden herumzuzupfen. Ich
wartete etwa drei Minuten lang in einer Stellung ^à la^ Napoleon. An
meinen Schläfen rann kalter Schweiß herab; mein Gesicht war bleich, das
fühlte ich. Endlich – Gott sei Dank! – erfaßte ihn ein menschliches
Rühren. Nachdem er mit seinem Faden fertig geworden war, erhob er sich
langsam, schob langsam den Stuhl zurück, nahm langsam die Brille ab,
zählte langsam das Geld nach, und fragte mich dann langsam über die
Schulter, ob er eine ganze Portion nehmen solle, worauf er langsam das
Zimmer verließ. Als ich zu Lisa zurückkehrte, zuckte mir plötzlich ein
Gedanke durch den Kopf: einfach so wie ich war, im alten Schlafrock,
fortzulaufen, einerlei wohin, immer geradeaus – und dann komme was da
kommen mag.

Ich setzte mich wieder auf mein Sofa. Sie blickte mich unruhig an. Wir
schwiegen.

„Ich schlag ihn tot!“ schrie ich plötzlich wild auf und schlug mit der
Faust auf den Tisch, so daß die Tinte aus dem Tintenfaß spritzte.

„Ach! mein Gott, was haben Sie!“ rief sie entsetzt und fuhr zusammen vor
Schreck.

„Ich schlag ihn tot! mausetot!“ schrie ich wieder und schlug unbändig
auf den Tisch – und zu gleicher Zeit begriff ich doch vorzüglich, daß es
dumm war, so außer sich zu geraten.

„Du weißt nicht, Lisa, was dieser Mensch für mich ist! Er ist mein
Henker! ... Jetzt ist er nach Tee und Zwieback gegangen; er ...“

Und plötzlich brach ich in Tränen aus. Es war Nervosität. Wie schämte
ich mich, als ich schluchzte; ich konnte mich aber nicht beherrschen.

Sie erschrak.

„Was haben Sie nur! Was fehlt Ihnen!?“ rief sie erregt, indem sie sich
um mich mühte.

„Wasser, gib mir Wasser, dort auf dem Tisch!“ sagte ich mit schwacher
Stimme, wobei ich aber bei mir genau wußte, daß ich vorzüglich auch ohne
Wasser auskommen konnte, und durchaus nicht mit so schwacher Stimme zu
sprechen brauchte. Ich aber _verstellte_ mich, wie man zu sagen pflegt,
um den Anstand zu wahren, obgleich der Anfall an sich echt war.

Sie reichte mir das Wasser, wobei ihr Blick wie verloren auf mir lag. In
dem Augenblick trat Apollon mit dem Tee ein. Da schien mir plötzlich
dieser gewöhnliche, prosaische Tee unglaublich unanständig und kläglich
nach allem, was geschehen war, und ich errötete. Lisa blickte sich
ängstlich nach Apollon um: er verließ uns wieder, scheinbar ohne uns
auch nur bemerkt zu haben.

„Lisa, verachtest Du mich?“ fragte ich sie, zitternd vor Ungeduld zu
erfahren, was sie von mir dachte.

Sie wurde verlegen und wußte nichts zu antworten.

„Trink den Tee!“ sagte ich ärgerlich. Ich war wütend auf mich, doch
mußte natürlich sie dafür büßen. Eine furchtbare Wut auf sie erhob sich
plötzlich in meinem Herzen; ich glaube, ich hätte sie totschlagen
können. Um mich an ihr zu rächen, schwor ich mir innerlich, die ganze
Zeit über kein Wort mit ihr zu sprechen. „Sie ist an allem schuld,“
sagte ich mir immer wieder.

Unser Schweigen dauerte noch eine geraume Zeit. Der Tee stand auf dem
Tisch: ich wollte absichtlich nicht anfangen, um ihre Lage noch
unangenehmer zu machen, denn sie konnte doch nicht zuerst den
Tee nehmen. Sie hatte mich schon mehrere Mal in traurigem
Nichtverstehenkönnen angeblickt. Ich aber schwieg eigensinnig. Natürlich
war ich selbst der größte Märtyrer, denn ich begriff vollkommen die
ganze widerliche Gemeinheit meiner dummen Wut, und doch konnte ich mich
auf keine Weise beherrschen oder zusammennehmen.

„Ich will ... von dort ... ganz fortgehn,“ sagte sie schließlich
stockend, vorsichtig, wahrscheinlich nur, um das Schweigen zu brechen.
Die Arme! Gerade davon hätte sie doch in einem ohnehin schon so dummen
Augenblick, zu einem sowieso schon so dummen Menschen, wie ich, nicht
sprechen sollen. Mein Herz tat mir sogar weh vor Mitleid mit ihr – wegen
ihrer unnötigen Offenheit und Ehrlichkeit. Doch etwas Scheußliches
erstickte in mir sofort das Mitleid, ja, es hetzte mich sogar noch mehr
gegen sie auf. Ach, so mag die ganze Welt untergehn! ... Es vergingen
noch fünf Minuten ...

„Habe ich Sie vielleicht gestört?“ fragte sie schüchtern, kaum hörbar
und erhob sich schon vom Stuhl.

Als ich aber diesen ersten Ausbruch einer beleidigten Würde sah,
erzitterte ich geradezu vor Wut und verlor meine letzte
Selbstbeherrschung.

„Sag mir doch bitte, warum Du eigentlich hergekommen bist?“ rief ich
plötzlich – das Blut stieg mir zu Kopf – ohne daran zu denken, was ich
sprach. Ich wollte alles mit einem Mal aussprechen, daher war’s mir
einerlei, womit ich anfing – wenn mir nur der Atem nicht immer
ausgegangen wäre.

„Warum bist Du zu mir gekommen? Sprich!“ schrie ich besinnungslos. „Ich
werde es Dir sagen, mein Täubchen, warum Du hergekommen bist: Du bist
gekommen, weil ich Dir damals _mitleidige Worte_ gesagt habe. Und jetzt
bist Du wieder sentimental geworden und darum bist Du hergekommen, um
wieder ‚mitleidige Worte‘ zu hören. So wisse denn, wisse, daß ich mich
damals über Dich lustig machte! Und auch jetzt mache ich mich über Dich
lustig. Warum zitterst Du? Ja, ich machte mich lustig über Dich! Man
hatte mich vorher im Restaurant beleidigt – diese selben, die kurz vor
mir zu Euch gekommen waren. Ich aber fuhr zu Euch, um einen von ihnen,
den Offizier, zu verprügeln; das konnte ich nicht, da ich ihn nicht mehr
antraf; da mußte ich meine Wut an einem anderen Menschen auslassen, da
kamst Du mir in die Quere und so ließ ich denn meine Wut an Dir aus, und
machte mich lustig über Dich. Man hatte mich erniedrigt, so wollte denn
auch ich erniedrigen; man hatte mich zu einem Lappen gemacht, so wollte
denn auch ich Macht beweisen ... Das war’s! Du aber glaubtest wohl
schon, daß ich gekommen war, um Dich zu retten – nicht wahr? Das
glaubtest Du doch? Das hast Du doch geglaubt?“

Ich wußte, daß sie vielleicht die Einzelheiten nicht verstehen konnte,
doch wußte ich gleichfalls, daß sie das Wesen der Sache vorzüglich
begreifen würde. So war’s denn auch. Sie erbleichte, wollte zwar etwas
sagen, ihre Lippen verzogen sich zitternd, und plötzlich fiel sie, als
ob man sie mit einem Beil gefällt hätte, auf den Stuhl zurück. Und die
ganze Zeit darauf hörte sie mir zu mit halboffenem Munde, weit offenen
Augen, zitternd vor maßloser Angst. Der Zynismus, der Zynismus meiner
Worte erdrückte sie ...

„Haha! Retten!“ rief ich höhnisch, sprang auf und raste im Zimmer auf
und ab. „Wovor denn retten!? Ich, ich will Dich ja vielleicht selbst
haben! Warum fragtest Du mich nicht, als ich Dir die Leviten las: ‚Wozu
bist Du denn hergekommen? Etwa um uns nachher Moral zu predigen?‘ –
Macht! Macht hatte ich damals nötig, das Spiel mit Dir hatte ich nötig,
Deine Tränen hatte ich nötig, Deine Erniedrigung, Deine Hysterie –
siehst Du, nur das hatte ich damals nötig! Später hielt ich’s selbst
nicht aus, denn ich bin ja ein Lappen, bekam Angst und stopfte Dir aus
Dummheit, weiß der Teufel wozu, meine Adresse in die Hand. Aber deswegen
bedachte ich Dich ja schon unterwegs, noch bevor ich nach Haus gekommen
war, mit allen Schimpfwörtern der Welt. Schon damals haßte ich Dich,
denn ich hatte Dich belogen. Mit Worten kann ich spielen, in Gedanken
träumen – in Wirklichkeit aber brauche ich – weißt Du was: daß Euch samt
und sonders der Teufel holt! Ja, das brauche ich! Ich brauche Ruhe. Ich
würde ja dafür, daß man mich in Ruhe läßt, die ganze Welt sofort für
eine Kopeke verkaufen. Soll die Welt untergehn, oder soll ich keinen Tee
trinken? Ich sage: die ganze Welt soll untergehn, denn ich will Tee
trinken. Wußtest Du das, oder wußtest Du das nicht? Nun, ich weiß aber,
daß ich ein Scheusal, ein Faulpelz bin, daß ich gemein, selbstsüchtig,
egoistisch bin. Diese ganzen Tage habe ich vor Angst, Du könntest
kommen, nur so gezittert. Weißt Du aber auch, was mich in diesen drei
Tagen am meisten beunruhigt hat? Am meisten – daß ich mich damals Dir
als ein Held gezeigt hatte, Du aber mich hier in meinem alten
Schlafrock, bettelarm und scheußlich finden würdest. Ich sagte Dir
vorhin, daß ich mich meiner Armut nicht schäme; so wisse denn, daß ich
mich ihrer schäme, mehr denn aller anderen Mängel schäme, mich
ihretwegen fürchte, mehr fürchte, als wenn ich stehlen würde, denn ich
bin in diesem Punkt so empfindlich, als ob man mir die Haut abgezogen
hätte, und ich schon von der Luft allein Schmerz empfinde. Solltest Du
wirklich selbst jetzt noch nicht erraten, daß ich Dir niemals verzeihen
werde, daß Du mich in diesem elenden Morgenrock angetroffen hast –
gerade als ich mich wie ein kläffendes Hündchen auf Apollon stürzte? Der
Erlöser, der gewesene Held stürzt sich wie ein grindiger, zottiger Hund
auf seinen Diener und der lacht ihn noch aus! Und meine Tränen vorhin,
die ich wie ein altes Weib vor Dir nicht verbergen konnte, werde ich Dir
gleichfalls nie und nimmer verzeihen! Und das, was ich Dir jetzt
gestehe, werde ich Dir auch nicht verzeihen! Ja, – Du, Du allein bist
für alles verantwortlich, weil Du mir so in den Weg gelaufen bist, weil
ich ein gemeiner Mensch bin, weil ich der allgemeinste, der
allerlächerlichste, allerkleinlichste, allerdümmste, allerneidischste
Wurm aller Erdenwürmer bin, die keineswegs besser sind als ich, die
aber, weiß der Teufel woher das kommt, sich niemals verblüffen lassen;
ich aber werde mein ganzes Leben lang von jedem Knirps ’nen Knips auf
die Nase kriegen, das ist schon einmal so! Und was geht es mich an, daß
Du es nicht begreifen kannst! Und was, nun, was – sag doch selbst, was
gehst Du mich an, und was geht es mich an, ob Du da untergehst oder
nicht? Ja, begreifst Du denn auch, wie ich Dich jetzt, nachdem ich Dir
das alles gesagt habe, dafür hassen werde, daß Du hier gewesen bist, und
meine Worte gehört hast? So spricht sich der Mensch doch nur ein
einziges Mal im Leben aus, und auch das geschieht dann nur aus Hysterie!
... Was willst Du denn noch? Wozu hockst Du denn noch immer hier vor
mir, warum quälst Du mich denn so, warum gehst Du nicht endlich fort?“

Hier aber geschah plötzlich etwas ganz Sonderbares.

Ich war dermaßen gewöhnt, literarisch zu denken und mir alles auf der
Welt so vorzustellen, wie ich es mir in meiner Phantasie vorher
zurechtgelegt hatte, daß ich zuerst dieses Sonderbare überhaupt nicht
begriff. Das aber war folgendes: diese Lisa, die ich so beleidigt und
erniedrigt hatte, diese Lisa begriff viel mehr, als ich es für möglich
gehalten hätte. Aus allem begriff sie das, was ein Weib, wenn es nur
aufrichtig liebt, immer sofort begreift, nämlich: daß ich selbst
unglücklich war.

Der ängstliche, gekränkte Ausdruck ihres Gesichts verwandelte sich
allmählich in traurige Befremdung. Als ich mich aber gemein,
selbstsüchtig nannte und meine Tränen schon herabrollten – diese ganze
Tirade sprach ich mit Tränen in den Augen –, da verzog sich ihr Gesicht
wie im Krampf. Sie wollte aufstehn, mich unterbrechen; als ich aber
endete, da beachtete sie nicht meine Schreie: ‚warum hockst Du hier,
warum gehst Du nicht fort?‘ – sondern sah nur, daß es mir selbst schwer
war, alles das auszusprechen. Und so eingeschüchtert war das arme Ding;
sie hielt sich für so tief unter mir stehend; wie sollte sie es wagen,
sich zu ärgern, oder gar beleidigt zu sein? Von einem unbezwinglichen
Gefühl getrieben erhob sie sich plötzlich vom Stuhl und – denn sie wagte
es nicht, sich zu rühren oder zu mir zu kommen – streckte sie mir nur
wortlos ihre Hände entgegen ... Mein Herz wollte mir brechen. Da kam sie
denn zu mir, umarmte meinen Hals und brach in Tränen aus. Ich hielt es
nicht mehr aus und schluchzte auf, wie ich noch nie geschluchzt ...

„Man läßt mich nicht ... Ich kann nicht ... gut sein!“ sagte ich
schluchzend, darauf ging ich zum Diwan, warf mich auf ihn hin, preßte
mein Gesicht auf das alte Lederkissen und schluchzte mindestens eine
ganze Viertelstunde lang in wahrer Hysterie. Sie schmiegte sich an mich,
umarmte mich und blieb regungslos in dieser Stellung.

Nun war aber das Unangenehme der Sache, daß das Weinen doch einmal ein
Ende haben mußte. Und da – ich schreibe ja die ekelhafteste Wahrheit –
als ich noch schluchzend auf dem Diwan lag, das Gesicht fest an mein
altes Lederkissen gepreßt, fing ich schon allmählich an, zuerst nur ganz
von fern her, unwillkürlich, aber unbezwingbar zu fühlen, daß es mir
doch etwas peinlich sein würde, den Kopf zu erheben und Lisa in die
Augen zu sehn. Weswegen schämte ich mich denn? – Das weiß ich nicht,
aber ich weiß, daß ich mich schämte. Unter anderem ging mir auch der
häßliche Gedanke durch meinen heißen, verwirrten Kopf, daß jetzt die
Rollen vertauscht waren, daß jetzt sie die Heldin war, ich aber ein
ebenso erniedrigtes und zerschlagenes Geschöpf, wie sie es damals in der
Nacht vor mir gewesen – vor vier Tagen ... Und dieses dachte ich in den
Minuten, als ich noch mit dem Gesicht auf dem Diwan lag und weinte!

Mein Gott! Sollte ich sie denn wirklich in dem Augenblick beneidet
haben?

Ich weiß es nicht, selbst heute kann ich es noch nicht sagen, damals
aber begriff ich mich natürlich noch weniger als jetzt. Ich kann nun
einmal nicht leben, ohne irgend jemanden zu tyrannisieren ... Aber ...
Aber mit Erwägungen hin und her läßt sich ja doch nichts erklären,
folglich lohnt es sich nicht, darüber noch weiter nachzudenken.

Einstweilen aber überwand ich mich doch und erhob den Kopf; einmal mußte
es ja doch geschehen ... Und siehe, ich bin noch jetzt fest überzeugt,
daß gerade weil ich mich schämte, ihr in die Augen zu sehn, gerade darum
in mir plötzlich ein anderes Gefühl erwachte und aufflammte ... die Lust
– sie – zu – besitzen. Meine Augen glänzten vor Leidenschaft und ich
preßte krampfhaft ihre Hände. Wie haßte ich sie und wie zog es mich zu
ihr in diesem Augenblick! Das eine Gefühl bewältigte das andere. Das
glich fast einer Rache! ... Auf ihrem Gesicht drückte sich zuerst
Verwunderung aus, oder vielleicht sogar Angst, doch nur einen
Augenblick. Berauscht, leidenschaftlich umarmte sie mich.


                                   X.

Nach einer Viertelstunde lief ich wie besessen im Zimmer auf und ab, und
trat vor Ungeduld immer wieder zum Wandschirm, um durch die Spalte nach
Lisa zu sehn. Sie saß auf dem Fußboden, hatte den Kopf an den Bettrand
gestützt und weinte, wie es schien. Sie ging aber nicht fort, und das
war’s ja, was mich ärgerte. Sie wußte bereits alles. Ich hatte sie
beleidigt, aber ... Ach, wozu erzählen. Sie hatte schon erraten, daß der
Ausbruch meiner Leidenschaft gerade Rache war, eine neue Erniedrigung
ihrer Person, und daß zu meinem vorherigen, fast grundlosen Haß noch ein
_persönlicher, neidischer_ Haß auf sie hinzugekommen war ... Übrigens,
ich will nicht behaupten, sie hätte das alles vollkommen _bewußt_ und
klar begriffen; dafür aber begriff sie vollkommen, daß ich ein gemeiner
Mensch war und vor allem einer, der nicht fähig war, sie zu lieben.

Ich weiß, man wird mir sagen, es sei unwahrscheinlich, –
unwahrscheinlich, daß man so grausam, so dumm sein könnte, wie ich es
war; oder vielleicht wird man noch hinzufügen, es wäre unmöglich
gewesen, sie nicht lieb zu gewinnen, wenigstens diese Liebe nicht zu
schätzen. Warum soll es denn unwahrscheinlich sein? Erstens konnte ich
überhaupt nicht mehr lieben, denn lieben bedeutete für mich –
tyrannisieren und moralisch überlegen sein. Mein ganzes Leben lang habe
ich mir eine andere Liebe nicht einmal vorstellen können, und sogar
jetzt glaube ich noch zuweilen, daß die Liebe gerade in dem vom
geliebten Wesen geschenkten Recht, es zu tyrannisieren, besteht. Auch in
meinen Einsamkeitsträumen im Dunkel habe ich mir die Liebe nie anders
vorgestellt, denn als Kampf, hab sie in Gedanken stets mit Haß begonnen
und mit moralischer Unterwerfung beendet, dann aber war’s mir unmöglich,
mir auch nur vorzustellen, was man mit einem unterworfenen Wesen noch
anfangen könnte. Und was kann denn hierbei unwahrscheinlich sein, wenn
ich mich moralisch schon so weit gebracht, mich vom „lebendigen Leben“
so entwöhnt hatte, daß ich sie beschämen wollte, als ich ihr vorwarf,
sie sei gekommen, um „mitleidige Worte“ zu hören, selbst aber nicht
einmal erriet, daß sie keineswegs deswegen gekommen war, um mitleidige
Worte zu hören, sondern daß sie gekommen war, um mich zu lieben, denn
für das Weib liegt in der Liebe die ganze Auferstehung, die ganze
Rettung vor einerlei welch einem Verderben, und die ganze Wiedergeburt,
die sich ja anders überhaupt nicht offenbaren kann, als gerade in ihrer
Liebe. Übrigens haßte ich sie gar nicht so sehr, als ich im Zimmer auf
und ab lief und durch die Spalte des Bettschirms lugte. Es war mir nur
unerträglich schwer zu Mut, gerade weil sie bei mir war. Ich wollte, daß
sie vom Angesicht der Erde verschwand. Nach „Ruhe“ sehnte ich mich, in
meinem Winkel allein bleiben wollte ich. Das „lebendige Leben“ erdrückte
mich, da ich es nicht gewöhnt war, dermaßen, daß mir sogar das Atmen
schwer wurde.

Es vergingen noch etliche Minuten, sie aber erhob sich immer noch nicht
– als ob sie alles vergessen hätte. Ich war so gewissenlos, leise an den
Schirm zu klopfen, um sie zu erinnern ... Sie fuhr erschrocken zusammen,
erhob sich hastig und suchte eilig ihre Sachen, Tuch, Mützchen, Pelz
zusammen, ganz als wollte sie sich vor mir retten ... Nach zwei Minuten
trat sie langsam hinter dem Schirm hervor und richtete einen schweren
Blick auf mich. Ich lachte boshaft auf, gezwungen natürlich,
_anstandshalber_, und wandte mich ab.

„Adieu,“ sagte sie und ging zur Tür.

Da trat ich schnell an sie heran, ergriff die Hand, legte hinein ... und
preßte sie wieder zu. Darauf kehrte ich mich hastig um und ging schnell
in die andere Ecke des Zimmers, um wenigstens nicht zu sehen ...

Soeben wollte ich lügen, – schreiben, daß ich dieses in Versehen, halb
bewußtlos, aus Dummheit, aus Kopflosigkeit getan hätte. Ich will aber
nicht lügen, und darum sage ich jetzt offen, daß ich es ... aus Bosheit
tat. Es fiel mir ein, das zu tun, als ich im Zimmer auf und ab lief und
sie hinter dem Bettschirm saß. Eines jedoch kann ich mit aller
Bestimmtheit sagen: ich beging diese Grausamkeit, wenn auch absichtlich,
so doch nicht aus meinem Herzen, sondern aus meinen schlechten Gedanken
heraus. Diese Grausamkeit war dermaßen unnatürlich, dermaßen „gedacht“,
absichtlich komponiert, so _literarisch_, daß ich sie selbst nicht eine
Minute lang ertrug – zuerst lief ich in die Ecke, um nicht zu sehn, dann
aber stürzte ich mit Scham und Verzweiflung im Herzen ihr nach. Ich riß
die Flurtür auf und horchte hinaus.

„Lisa! Lisa!“ rief ich halblaut, denn ich wagte es nicht, dreister zu
rufen.

Keine Antwort. Doch schien es mir, als hörte ich noch unten ihre
Schritte auf der Treppe.

„Lisa!“ rief ich lauter.

Keine Antwort. Da hörte ich, wie die schwere Haustür geöffnet wurde und
gleich darauf mit dumpfem Krach zuschlug. Der Widerhall schallte durch
das Haus.

Sie war fortgegangen. Nachdenklich kehrte ich in mein Zimmer zurück. Weh
und schwer wars mir ums Herz.

Ich blieb am Tisch nicht weit von dem Stuhl, auf dem sie gesessen hatte,
stehn und starrte gedankenlos vor mich hin. Es verging vielleicht eine
Minute. Plötzlich fuhr ich zusammen: gerade vor mir auf dem Tisch
erblickte ich ... kurz, ich erblickte einen blauen verknitterten
Fünfrubelschein, denselben, den ich ihr in die Hand gedrückt hatte. Das
war _derselbe_ Schein, ein anderer hätte es überhaupt nicht sein können,
in der ganzen Wohnung gab es keinen anderen! Also hatte sie noch Zeit
gehabt, ihn, als ich in die Ecke lief, auf den Tisch zu werfen.

Wie, was? Ich hätte es doch wissen müssen, daß sie es tun würde. Hätte
es wissen müssen? Nein. Ich war so weit Egoist, achtete die Menschen im
Grunde so wenig, daß ich von ihr niemals so etwas erwartet hätte. Das
ertrug ich nicht! Einen Augenblick später stürzte ich mich wie ein
Sinnloser in meine Kleider, zog mir an, was mir in die Hände kam, und
lief atemlos hinaus – ihr nach. Sie hätte noch keine zweihundert
Schritte gegangen sein können, als ich hinaustrat.

Es war ganz still auf der Straße, es schneite; die schweren Flocken
fielen fast senkrecht zur Erde und bedeckten den Fußsteig und die
einsame Straße mit weichen, weißen Schneekissen. Kein Mensch war rings
zu sehn, kein Laut zu hören ... nur Schnee. Wehmütig und nutzlos
schimmerten die Laternen. Ich lief an zweihundert Schritt, – bis zur
Querstraße und blieb stehn.

Wohin war sie gegangen? Und warum lief ich ihr nach?

Warum? Um vor ihr niederzufallen, vor Reue zu weinen, ihre Füße zu
küssen, um ihre Vergebung zu erflehen! Das, gerade das wollte ich. Meine
ganze Brust riß sich entzwei! Niemals, niemals werde ich gleichmütig an
diesen Augenblick zurückdenken können. Aber, – wozu? fragte ich mich.
Werde ich sie denn nicht vielleicht morgen schon hassen, weil ich ihr
heute die Füße geküßt? Werde ich ihr denn Glück bringen? Habe ich denn
heute nicht wieder, schon zum hundertsten Mal, erkannt, was ich wert
bin? Werde ich sie denn nicht totquälen!

Ich stand im Schnee, starrte in die trübe Dunkelheit und dachte darüber
nach.

„Und ist es nicht besser, ist’s nicht besser,“ fragte ich mich noch
oftmals, wenn ich später in den folgenden Jahren zu Hause mit
Phantasieen das lebendige Weh im Herzen betäuben wollte, „ist es nicht
besser, daß sie auf ewig die Beleidigung mit sich forttrug? Beleidigung
– ist doch Läuterung; das ist die allerätzendste und schmerzhafteste
Erkenntnis. Schon am nächsten Tage würde ich ihre Seele beschmutzt und
ihr Herz ermüdet haben. Die Beleidigung aber wird niemals in ihr
erlöschen und wie gemein auch der Schmutz, der sie umgibt, sein mag, –
die Beleidigung wird sie erheben und läutern ... durch Haß ... hm! ...
vielleicht auch durch Vergebung ... Aber wird es ihr denn davon leichter
werden?“

Und sagt mir doch – jetzt will ich von mir aus noch eine müßige Frage
stellen: was ist besser, – billiges Glück, oder erhabenes Leid? Nun, was
ist besser?

Sie stieg in mir auf, als ich an jenem Abend halbtot vor Seelenqual bei
mir zu Hause saß. Niemals noch hatte ich solch ein Leid, solch eine Reue
empfunden. Aber wie hätte denn, als ich hinaus- und ihr nachlief, noch
irgend ein Zweifel darüber bestehn können, daß ich nicht auf halbem Wege
umkehren und zurückkommen würde!?

Lisa habe ich nie mehr gesehn und auch nie etwas von ihr gehört. Ich
füge noch hinzu, daß mich die _Phrase_ von der Beleidigung und dem Haß
auf lange beruhigte, obgleich ich damals vor Leid fast krank wurde.

Selbst jetzt noch nach so langen Jahren scheint mir vieles in der
Erinnerung schlecht, aber ... Übrigens, sollte ich nicht hier meine
„Aufzeichnungen“ beenden? Ich glaube, es war falsch von mir, daß ich sie
überhaupt zu schreiben begann. Wenigstens habe ich mich während des
Schreibens die ganze Zeit geschämt: also ist das nicht mehr Literatur,
sondern Selbstgeißelung. Denn lange Geschichten erzählen zum Beispiel
darüber, wie ich mein Leben verfehlt habe durch moralische Verwesung in
meinem Dunkel, durch den gänzlichen Mangel oder vielleicht auch nur ein
zu Wenig an Mittelmäßigkeit, durch Entwöhnung von allem Lebendigen und
durch all die Bosheit, die ich gepflegt, – das ist, bei Gott, alles
andere, nur nicht unterhaltend. In einem Roman muß es einen Helden
geben, hier aber findet man alle Eigenschaften eines Anti-Helden. Und
die Hauptsache ist, daß das Ganze einen äußerst unangenehmen Eindruck
macht. Haben wir uns doch alle vom Leben entwöhnt, alle lahmen wir,
alle, – natürlich mehr oder weniger. Wir sind es ja sogar dermaßen nicht
mehr gewohnt, daß uns mitunter vor dem wirklichen „lebendigen Leben“
Ekel erfaßt, und darum ärgert es uns, wenn wir an dasselbe erinnert
werden. Sind wir doch sogar so weit gekommen, daß wir das wirkliche
„lebendige Leben“ fast für Mühe, für eine Last, fast für Dienst halten,
und im Geheimen sind wir vollkommen einig, daß es besser ist,
literarisch zu leben. Und warum nur krabbeln wir herum, was wollen wir
denn eigentlich? Das wissen wir ja selbst nicht. Wehe uns, wenn unsere
einfältigen Bitten in Erfüllung gingen! Nun, möge man es doch einmal
versuchen und uns z. B. größere Freiheit geben, einerlei wem von uns
einmal die Hände befreien, das Arbeitsfeld vergrößern, die Vormundschaft
zurückziehen, und wir ... ja, ich versichere Ihnen, meine Herren: wir
würden sofort wieder um eine Vormundschaft bitten. Ich weiß, daß Sie
sich wegen dieser Behauptung maßlos über mich ärgern und mir wütend
zuschreien werden:

„Reden Sie von sich und von Ihrer Misère so viel Sie wollen, aber
unterstehn Sie sich nicht, ‚wir alle‘ zu sagen!“

Erlauben Sie, meine Herren, ich will mich doch mit diesem „wir alle“
keineswegs etwa rechtfertigen!

Was aber mich speziell hierbei anbetrifft, so habe ich in meinem Leben
bloß das bis zum Äußersten geführt, was Sie nicht einmal bis zur Hälfte
zu führen wagen. Und diese Ihre Feigheit halten Sie ja noch für Vernunft
und trösten sich noch mit ihr, – sehen aber nicht ein, daß das
Selbstbetrug ist. So stellt es sich heraus, daß ich schließlich noch
lebendiger bin, als Sie, meine Herren. So blicken Sie doch nur
aufmerksamer um sich! Wir wissen ja nicht einmal, wo das Lebendige jetzt
lebt, was es eigentlich ist und wie es heißt. Man versuche es doch:
lasse uns allein, nehme uns die Bücher, und wir würden uns sofort
verlieren und verirren, würden nicht wissen, an wen uns anschließen, an
was uns halten, was lieben und was hassen, was hochachten und was
verachten. Es ist uns ja sogar lästig, Menschen zu sein, Menschen mit
wirklichem, _eigenem_ Leib und Blut. Wir schämen uns unseres Leibes,
halten das Natürliche für Schande und wollen irgend welche noch nie
dagewesene Allmenschen sein. Wir sind Totgeborene – werden wir doch
schon lange nicht mehr von lebendigen Vätern geboren ... und das gefällt
uns ja sogar immer mehr und mehr! Unser Geschmack gewöhnt sich daran.
Bald werden wir uns ausdenken, irgendwie von der Idee geboren zu werden.
Doch jetzt genug damit. Ich will nicht mehr „aus dem Dunkel“ schreiben.

                   *       *       *       *       *

Übrigens sind hiermit die Aufzeichnungen dieses paradoxen Menschen noch
nicht beendet. Er konnte es nicht lassen, und fuhr daher fort, zu
schreiben. Aber auch mir will es scheinen, daß man vorläufig hier
abbrechen kann.




                          Herr Prochartschin.


                            Eine Erzählung.

In der Wohnung Ustinja Fedorownas hatte sich im allerdunkelsten und
bescheidensten Winkel Semjon Iwanowitsch Prochartschin eingemietet, ein
älterer, nüchterner und vernünftig denkender Mensch. Da Herr
Prochartschin bei seinem kleinen Posten ein nur seinen dienstlichen
Fähigkeiten entsprechendes Gehalt bezog, so konnte Ustinja Fedorowna auf
keine Weise mehr als fünf Rubel monatlich für diesen Winkel von ihm
verlangen. Einige behaupteten, sie hätte dabei eine besondere Berechnung
gehabt; aber wie dem auch war, jedenfalls wurde Herr Prochartschin all
diesen bösen Zungen zum Trotz ihr Günstling – eine Auszeichnung, die nur
in anständigem und ehrenhaftem Sinne zu verstehn ist. Ich muß hier
bemerken, daß Ustinja Fedorowna eine sehr achtenswerte und wohlbeleibte
Dame war, die einerseits eine besondere Vorliebe fürs Essen und
Kaffeetrinken hatte, und andrerseits dann wieder übermäßiges Fasten
liebte, eine Dame, die bei sich etliche solcher Winkelmieter hatte, und
zwar sogar mehrere, die das Doppelte von dem zahlten, was sie von Semjon
Iwanowitsch erhielt, und die, wenn sie nicht friedlich waren – denn sie
waren alle bis auf den Letzten „böse Spötter“ – sehr in ihrer Achtung
fielen, so daß sie diese Herren, wenn sie nicht ihr Logis bezahlt
hätten, nicht nur nicht bei sich aufgenommen, sondern auch nicht einmal
in ihrer Wohnung empfangen haben würde. Zum Günstling wurde Semjon
Iwanowitsch erst, nachdem man den „Einen“ auf den Friedhof gebracht
hatte. Dieser „Eine“ außer Diensten hatte es aber, obgleich er nur ein
Auge und ein einziges Bein besaß, die er nach seinen Worten alle beide
aus Tapferkeit verloren, nichtsdestoweniger verstanden, die Geneigtheit
Ustinja Fedorownas zu erringen. Und wahrscheinlich wäre er noch lange
ihr allertreuester Gehilfe und Pensionär geblieben, wenn er sich nicht
bedauerlicher Weise zu Tode getrunken hätte. Aber das war schon früher
gewesen, als Ustinja Fedorowna noch auf den Peski[4] wohnte und nur drei
Mieter hatte, von denen ihr dann später beim Umzug in die neue Wohnung,
in der sie sich auf weit größerem Fuße einrichtete und wo sie zehn
Pensionäre hielt, nur Herr Prochartschin gefolgt war.

Ob nun Herr Prochartschin unverbesserliche Mängel hatte, oder ob nun an
seinen Kameraden die Schuld lag, jedenfalls konnte man sich, wie es
schien, beiderseits von Anfang an nicht gut verstehn. Hierbei sei
erwähnt, daß alle neuen Mieter Ustinja Fedorownas unter einander wie die
leiblichen Brüder lebten; einige von ihnen dienten sogar zusammen und
alle verspielten sie ihr Monatsgehalt schon am ersten, wenn sie sich zum
Kartenspiel zusammentaten; sie freuten sich auch zusammen ihres Lebens
„in den schäumenden Augenblicken des Erdendaseins“, wie sie sich
ausdrückten, und sie liebten es, vom Hohen und Erhabenen zu sprechen,
obgleich sich bei diesem Thema nie ein Streit vermeiden ließ; da aber
Vorurteile in ihrer Gesellschaft verpönt waren, so wurde die allgemeine
Harmonie doch nie dabei ganz aufgehoben. Von diesen Winkelmietern waren
besonders bemerkenswert: Mark Iwanowitsch, ein kluger und belesener
Mensch; darauf Oplewanjeff, Prepolowenko – gleichfalls ein bescheidener
und guter Mensch –, dann Sinowij Prokoffjewitsch, dessen Ideal es war,
in die höhere Gesellschaft zu kommen; zuletzt seien noch erwähnt der
Schreiber Okeanoff – der seiner Zeit Semjon Iwanowitsch Prochartschin
beinahe die Siegespalme des Bevorzugten und Günstlings streitig gemacht
hätte –, Ssudjbin, Kantareff und noch andere. Allen diesen Leuten war
Semjon Iwanowitsch scheinbar kein Kamerad. Böses wünschte ihm zwar
keiner von ihnen, umsoweniger, als sie gleich von Anfang an
Prochartschin Gerechtigkeit widerfahren ließen und mit den Worten Mark
Iwanowitschs vollkommen übereinstimmten, nämlich daß Prochartschin ein
friedlicher und guter Mensch sei – allerdings kein Weltmann, dafür aber
auch kein Schmeichler –, daß er natürlich seine Fehler habe, im Übrigen
aber, falls er einmal leiden sollte, dieses doch nur wegen gänzlichen
Mangels eines persönlichen Vorstellungsvermögens geschehen könnte. Doch
nichtsdestoweniger konnte Herr Prochartschin, obgleich man ihn auf diese
Weise ungefragt eines eigenen Vorstellungsvermögens beraubt hatte, weder
mit seiner Figur, noch mit seinen Manieren jemanden von einem für ihn
günstigen Standpunkte aus in Erstaunen setzen, worüber die Spötter sich
dann andrerseits natürlich gleich zu belustigen hatten. Aber, wie
gesagt, Mark Iwanowitsch, die Autorität in höheren Fragen, hatte ja
öffentlich und formell Semjon Iwanowitsch in den Schutz genommen, und
ziemlich geschickt in einem schönen, blütenreichen Stil erklärt, daß
Prochartschin ein erfahrener und solider Mensch sei, der schon längst
alles Elegische und Romantische im Leben abgestreift hätte. Also trug
denn doch Semjon Iwanowitsch, wenn er sich mit den anderen nicht
einzuleben verstand, ganz allein die Schuld daran.

Was allen zuerst auffiel, war zweifellos Semjon Iwanowitsch’s sparsame
Haushaltung und sein schmutziger Geiz. Das bemerkte man gar bald und
setzte es ihm dann auch sofort auf die Rechnung. Semjon Iwanowitsch
konnte z. B. niemals und niemandem seine Teekanne leihen, wenn auch nur
auf einen Augenblick; und das war um so mehr unrecht von ihm, als er
selbst fast nie Tee trank, sondern nur zuweilen, wenn er dessen sehr
bedurfte, einen angenehmen Aufguß von Kamillentee und anderen heilsamen
Kräutern, von denen er große Vorräte bei sich aufbewahrte, in dieser
Teekanne zu kochen pflegte. Übrigens speiste er auch nicht so, wie die
anderen Mieter. Niemals z. B. erlaubte er sich das ganze Mittagessen,
das Ustinja Fedorowna täglich ihren Pensionären verabfolgte, zu
verspeisen. Das Mittagessen kostete fünfzig Kopeken; Semjon Iwanowitsch
aß aber nur für fünfundzwanzig Kopeken und überstieg diese Summe kein
einziges Mal. Er aß entweder die Kohlsuppe mit Piroggen oder den Braten,
– und sehr oft aß er weder das Eine noch das Andere, sondern irgend
einen Mehlbrei mit Zwiebeln oder saure Milch mit gesalzener Gurke, was
weit billiger war. Wenn er aber seine natürlichen Instinkte nicht mehr
überwinden konnte, so kehrte er wieder zu seiner halben Portion
Mittagessen zurück ...

Ich muß gestehen, daß ich mich niemals entschlossen hätte, von solchen
niedrigen und sogar peinlichen Einzelheiten zu sprechen, wenn nicht
diese kleinen Einzelheiten gerade ein vorherrschender Charakterzug des
Helden meiner Erzählung gewesen wären; denn Herr Prochartschin war
längst nicht so geizig – wie er es selbst manchmal behauptete –, um sich
eine regelmäßige und gute Kost zu versagen, sondern er tat es, ohne
dabei die Kritik der anderen zu fürchten, bloß zur Befriedigung seiner
sonderbaren Launen; das waren: Sparsamkeit und übertriebene Vorsicht.
Auch kann ich nicht unterlassen zu bemerken – ich berufe mich hier nur
auf die Aussagen Ustinja Fedorownas –, daß er sich in seinem ganzen
Leben nicht entschließen konnte, seine Wäsche waschen zu lassen oder
wenigstens sich so selten dazu entschloß, daß man sich mitunter
zweifelnd fragen mußte, ob Semjon Iwanowitsch überhaupt Wäsche trug. Wie
sie sagte, hat Semjon Iwanowitsch ihr „Täubchen“ zweimal zehn Jahre lang
bei ihr einen Winkel gewärmt, Scham kannte er nicht, denn es fehlte ihm
nicht nur sein ganzes Erdenleben hindurch immerwährend an Socken,
Taschentüchern und anderen unentbehrlichen Gegenständen der
Leibesnotdurft, sondern „ich selbst, Ustinja Fedorowna, habe mit eigenen
Augen gesehn, dank der Altersrisse des großen Bettschirms, daß er, mein
Täubchen, nicht einmal etwas hatte, um sein weißes Körperchen zu
bedecken“. Solche Gerüchte verbreiteten sich aber erst nach dem Tode
Semjon Iwanowitschs, denn zu seinen Lebzeiten – und das war eine der
Hauptursachen aller Zwistigkeiten – konnte er es unter keinen Umständen
vertragen, ungeachtet der kameradschaftlichsten Beziehungen, daß irgend
jemand seine neugierige Nase in seinen Winkel steckte und wenn auch nur
infolge der Risse des alten Bettschirms. Er war ein schweigsamer,
unzugänglicher Mensch, der sich auf keine unnütze Unterhaltung einließ.
Ratgeber liebte er in keinerlei Gestalt, Vorwitzige aber noch weniger,
und konnte er einmal einen von ihnen auf der Stelle packen, so ließ er
ihn nicht früher wieder los, als bis er ihm ordentlich die Wahrheit
gesagt hatte. „Du dummer Junge Du, behalte Deine Ratschläge für Dich,
sieh mal erst in Deine Tasche, mein Herr, und zähle lieber nach, was Du
hast!“ Semjon Iwanowitsch war ein einfacher Mensch und sagte zu allen
ausnahmslos Du. Auch konnte er es nicht leiden, wenn irgend jemand, der
seine Gewohnheiten kannte, nur zum Scherz oder aus Unart ihn fragte, was
er denn eigentlich in seinem Koffer aufbewahrte ... Semjon Iwanowitsch
besaß nämlich einen sonderbaren Koffer: er stand bei ihm unter dem Bett
und wurde von ihm wie ein Augapfel behütet. Obgleich es alle wußten, daß
in ihm außer alten Lappen, außer zwei oder drei Paar alter, vertragener
Stiefel und überhaupt allem möglichstem Kram so gut wie gar nichts
enthalten war, schätzte Herr Prochartschin dieses sein bewegliches
Mobiliar doch sehr hoch; ja, einmal ließ er sogar etwas von seiner
Absicht verlauten, das alte, aber sehr starke Schloß des Koffers durch
ein neues Schloß deutscher Arbeit, das verschiedene kniffliche
Sicherheitsvorrichtungen und heimliche Federn haben sollte, zu ersetzen.
Als einmal Sinowij Prokoffjewitsch infolge seiner jugendlichen
Unbedachtsamkeit einen sehr taktlosen, ja groben Verdacht äußerte,
nämlich, daß Semjon Iwanowitsch wahrscheinlich in seinen Koffer
hineinsparte, um seinen „Nachkommen“ etwas zu hinterlassen, da waren
alle anwesenden Winkelmieter angesichts der außergewöhnlichen Folgen
dieser Unbedachtsamkeit Sinowij Prokoffjewitschs einfach sprachlos.
Erstens konnte Herr Prochartschin auf solch eine grobe Bemerkung nicht
sofort eine anständige Erwiderung finden. Dann aber stürzten über seine
Lippen nur Worte ohne jeglichen Zusammenhang, und erst nach langer Zeit
konnte man endlich erraten, daß Semjon Iwanowitsch den Sinowij
Prokoffjewitsch wegen einer altvergangenen schmutzigen Angelegenheit
beschimpfte; darauf prophezeite Semjon Iwanowitsch, daß Sinowij
Prokoffjewitsch nie in die höhere Gesellschaft gelangen und ihn der
Schneider, dem er noch einen Anzug schuldete, einfach durchprügeln
würde, unbedingt gerade durchprügeln, da der „dumme Junge“ doch nicht
bezahlen könnte; und „Du dummer Junge“ fügte Semjon Iwanowitsch hinzu,
„Du willst zu den Husaren übergehn, aber sieh, ich sage Dir, das wird
Dir nicht gelingen, da hast Du es, Du dummer Junge, und so wie die
Obrigkeit von Dir alles erfahren wird, wird sie Dich zum Schreiber
degradieren; siehst Du jetzt, wie’s ist! Du dummer Junge!“ Darüber
schien sich Semjon Iwanowitsch zu beruhigen. Aber siehe da, nachdem er
fünf Stunden lang wie in tiefes Nachdenken versunken ruhig dagelegen
hatte, fing er plötzlich, zum größten Erstaunen aller, zuerst nur vor
sich hin, dann aber wieder an Sinowij Prokoffjewitsch gewandt zu
schimpfen an. Damit aber war die Sache auch noch nicht abgetan, denn als
am Abend Mark Iwanowitsch und Prepolowenko einen Tee spendierten, da
kroch auch Semjon Iwanowitsch aus seinem Bett, setzte sich zu ihnen und
steuerte sogar seine fünfzehn oder zwanzig Kopeken dazu bei, und unter
dem Vorwand, daß er Tee trinken wollte, fing er an, sich sehr
weitschweifig über die Sache auszubreiten: daß er ein armer Mensch wäre
und sonst nichts mehr, und daß ein armer Mensch nichts einzuscharren
hätte. Bei der Gelegenheit gestand also Herr Prochartschin – und zwar
nur darum, weil es einmal zur Sprache gekommen –, daß er ein armer
Mensch war; noch vor drei Tagen hätte er den frechen Menschen um einen
Rubel anpumpen wollen, jetzt aber würde er es nicht mehr tun, weil der
dumme Junge sonst triumphieren könnte ... und sein Gehalt sei gerade so
groß, daß es kaum für ihn selbst ausreichte, er aber müßte noch, so arm
wie er war und wie es doch alle sahen und wußten, fünf Rubel monatlich
seiner Schwägerin nach Twerj schicken, und wenn er sie nicht schicken
würde, so würde die Schwägerin sterben, und wenn sie sterben würde, so
würde er sich sofort neue Kleider kaufen können ... Und lange noch und
ausführlich sprach Semjon Iwanowitsch vom armen Menschen, von den fünf
Rubeln und der Schwägerin, und wiederholte dasselbe des stärkeren
Nachdrucks halber den Zuhörern so lange, bis er sich endlich selbst ganz
verwirrte und verstummte. Aber nach drei Tagen, als schon niemand mehr
ihn anzugreifen beabsichtigte und alle ihn vergessen hatten, fügte er
plötzlich noch zum Schluß hinzu: „Wenn Sinowij Prokoffjewitsch zu den
Husaren geht, so wird man diesem frechen Menschen im Kriege die Beine
abschießen und wenn er dann in Holzbeinen betteln gehn wird, und ihn
bitten wird: ‚gib mir, guter Mensch, Semjon Iwanowitsch, ein Stückchen
Brot!‘, so wird er, Semjon Iwanowitsch, ihm _nichts_ geben und wird
diesen übermütigen Menschen Sinowij Prokoffjewitsch nicht einmal ansehn
und nur sagen: ‚geh Du nur jetzt mit Deinen Bohnenstangen! Siehst Du
jetzt, wie’s ist‘!“

Alles das, wie es ja auch nicht anders möglich war, wirkte sehr
sonderbar und zu gleicher Zeit sehr lächerlich. Ohne sich lange zu
bedenken, versammelten sich alle Winkelmänner zur weiteren Untersuchung
der Verhältnisse Semjon Iwanowitschs und sie entschlossen sich, ihn alle
zusammen endgültig anzugreifen. Da es Herr Prochartschin in der letzten
Zeit, in der er sich ihrer Kompagnie anschloß, sehr liebte, sich in
alles einzumischen und über alles auszufragen, was er wahrscheinlich aus
besonderen geheimnisvollen Gründen tat, so verschlechterten sich die
beiderseitigen Beziehungen, ohne jegliche vorhergefaßte Absicht, einfach
durch diese seine neue Eigenschaft ganz von selbst.

Semjon Iwanowitsch hatte sich nämlich eine sehr schlaue Taktik
ausgedacht, mittels der er sich auf anständige Weise des Abends zu den
Anderen gesellen konnte, ein Manöver, das dem Leser zum Teil bereits
bekannt ist: wenn er sah, daß die Anderen sich zusammentaten, um einen
Tee mit Likör oder sonstigen Zutaten zu trinken, so kroch er ganz
einfach aus seinem Bett, ging als bescheidener, kluger und
liebenswürdiger Mensch zu ihnen und legte seine obligatorischen zwanzig
Kopeken auf den Tisch, was bedeuten sollte, daß er sich zu beteiligen
wünschte. Die Gesellschaft tauschte darauf verständnisinnge Blicke aus
und – Semjon Iwanowitsch wurde einwandlos angenommen. Man bemühte sich
zuerst ein anständiges und vernünftiges Gespräch zu führen, darauf wurde
aber irgend ein freieres Thema gewählt und allmählich, als ob nichts
dabei gewesen wäre, ging man auf die Neuigkeiten über. Nun aber war die
Sache die, daß diese Neuigkeiten von dem Erzähler ganz willkürlich
erdacht und wiedergegeben wurden. Zum Beispiel erzählte man, wie seine
Excellenz Demid Wassiljewitsch gesagt, daß seiner Meinung nach die
verheirateten Beamten weit solider wären als die unverheirateten und
daher bei der Beförderung den Anderen stets vorzuziehen seien; denn
erstens wären sie ruhiger, und zweitens entwickle die Ehe in ihnen viel
mehr Fähigkeiten, und darum, fügte der betreffende Erzähler der
Nachricht von sich aus hinzu, werde auch er hinfort, um sich
auszuzeichnen und etwas erreichen zu können, bemüht sein, sich
baldmöglichst mit irgendeiner Fewronja Prokoffjewna zu verehelichen.
Oder, zum Beispiel, wie alle bemerkt hätten, daß die Unverheirateten
jeglicher angenehmen und guten Manieren eines Weltmannes entbehrten, und
deshalb in der Gesellschaft und besonders den Damen nicht gefallen
könnten. Um nun ähnlichen Unfug auszurotten, solle von dem Monatsgehalt
ein Teil abgezogen werden, und zwar zur Errichtung eines Saales, in dem
man das Tanzen erlernen, und bei der Gelegenheit Anstand, gute Manieren,
Höflichkeit, Ehrfurcht vor dem Alter, einen festen Charakter, ein gutes
Herz und weiß Gott was sonst noch alles erwerben könnte. Ja, es hieße
sogar, sagte der Erzähler, daß die Beamten, besonders die älteren und
allerältesten, ein Examen in allen Fächern würden ablegen müssen, um
schneller einen vorschriftsmäßigen Bildungsgrad zu erreichen und daß
infolgedessen viele von ihnen ihre Karten aus der Hand legen müßten ...
mit einem Wort, es wurden tausend solcher sinnloser Sachen besprochen,
und man tat, als ob man im Ernst an sie glaubte, als ob man selbst davon
betroffen wäre: einige machten eine traurige Miene, andere wiegten
bedenklich das Haupt und fragten um Rat, was sie tun sollten, um diesem
Schicksal zu entgehn? Es versteht sich von selbst, daß ein anderer
Mensch, der nicht so gutmütig und ruhig gewesen wäre, wie Herr
Prochartschin, sich in das allgemeine Gespräch eingemischt und erklärt
haben würde, mit ihren Ansichten nicht übereinstimmen zu können. Aber
augenscheinlich war Semjon Iwanowitsch viel zu stumpfsinnig und
beschränkt, um einen neuen Gedanken, an den sich sein Verstand noch
nicht gewöhnt hatte, sofort zu erfassen, und so war er denn, wenn er
einmal irgendwo einen neuen Gedanken hörte, genötigt, ihn erst
wochenlang zu bedenken und zu verdauen, um seinen Sinn zu begreifen;
gewöhnlich aber verwickelte er sich bei dieser Prozedur dermaßen, daß er
ihn dann schließlich nur auf eine ganz besondere, nur ihm eigene Weise
überwinden konnte. Infolge dieser Gespräche entpuppten sich bei Semjon
Iwanowitsch plötzlich ganz eigenartige und ganz unvorhergesehene
Eigenschaften ... Diese Gespräche mit Variationen und Zulagen wurden
später sogar in seiner Kanzlei bekannt. Besonderes Aufsehn erregte aber
die eine Tatsache, daß Herr Prochartschin, der seit undenklichen Zeiten
immer ein und dasselbe Gesicht gehabt hatte, plötzlich um nichts und
wieder nichts seine Physiognomie ganz und gar veränderte: sein Gesicht
wurde unruhig und er blickte scheu und mißtrauisch um sich; wenn er
ging, trat er leise auf, schrak oft zusammen, und mit einem Male liebte
er es über alles, sozusagen zur Vollendung seiner neuen Eigenschaften,
die Wahrheit zu erforschen. In der Liebe zur Wahrheit brachte er es
schließlich so weit, daß er es wagte, sich bei Demid Wassiljewitsch,
seinem Chef, selbst nach der Glaubwürdigkeit dieser Gerüchte zu
erkundigen, und wenn ich die Folgen dieses Wagnisses verschweige, so
geschieht das nur, um Semjon Iwanowitschs Reputation zu schonen. So
fanden denn alsbald seine sämtlichen Kollegen, daß er ein Misantrop wäre
und den gesellschaftlichen Anstand verachtete. Auch fanden sie, daß viel
Phantastisches an ihm war, und auch darin hatten sie Recht; es fiel
allgemein auf, daß Semjon Iwanowitsch sich manchmal ganz vergessen
konnte, mit offenem Munde unbeweglich und versteinert dasaß und die
Feder in der Luft hielt, so daß er mehr dem Schatten eines denkenden
Menschen, als einem denkenden Menschen selbst glich. Auch kam es nicht
selten vor, daß irgend einer der stumpfenden Schreiber, wenn er
plötzlich seinem unruhigen und suchenden Blick begegnete, zusammenfuhr,
erzitterte und auf das zu beschreibende Papier ein ganz unnötiges Wort
niederschrieb. Die Unzulässigkeit seines Benehmens beunruhigte und
beleidigte aufrichtig viele anständige Leute ... Als sich aber an einem
schönen Morgen in der Kanzlei das Gerücht verbreitete, daß Herr
Prochartschin sogar seinen Bureauchef Demid Wassiljewitsch erschreckt,
sich nämlich bei einer Begegnung im Korridor dermaßen eigenartig und
sonderbar benommen hatte, daß dieser genötigt gewesen war, ihm
auszuweichen, da war man allgemein überzeugt, daß die Entwicklung seines
Geistes eine gefährliche Richtung eingeschlagen hatte. Dieses Gerücht
kam auch schließlich ihm zu Ohren. Als er es hörte, stand er auf, ging
vorsichtig an allen Tischen und Stühlen vorüber, erreichte das
Vorzimmer, nahm eigenhändig seinen Mantel vom Kleiderständer, zog ihn
an, ging hinaus und – verschwand. Warum er verschwand? Wer kann das
wissen! Ob er den Mut vollständig verlor oder ihn etwas anderes fortzog,
das mag dahingestellt sein. Jedenfalls war er weder zu Hause noch in der
Kanzlei zu finden.

Ich werde nicht das Schicksal Semjon Iwanowitschs durch seine
phantastischen Neigungen zu erklären versuchen, doch muß ich bemerken,
daß unser Held – nichts weniger als ein Weltmann war, denn früher, als
er noch auf den „Peski“ wohnte, d. h. als er noch nicht in diese
Kompagnie der Winkelbewohner geraten war, hatte er in einer dumpfen,
undurchdringlichen Einsamkeit gelebt. Fast geheimnisvoll kam er einem
vor, denn er hatte die ganze Zeit über nur auf seinem Bett hinter dem
Schirm gelegen und geschwiegen und zu Niemandem in Beziehung gestanden.
Seine beiden alten Miteinwohner, Ustinja Fedorowna sowie der
Verstorbene, lebten ebenso zurückgezogen wie er; beide schienen sie
nicht weniger geheimnisvoll zu sein, beide lagen sie gleichfalls
fünfzehn Jahre lang hinter den Schirmen. In patriarchalischer Ruhe zogen
sich die glücklichen dämmerigen Tage und Stunden hin und da alles um sie
herum in derselben Ordnung seinen Gang nahm, so erinnerten sich später
weder Semjon Iwanowitsch noch Ustinja Fedorowna genau, wann das
Schicksal sie eigentlich zusammengeführt hatte. „Ob es zehn Jahre her
sind oder schon fünfzehn Jahre, oder vielleicht sogar schon
fünfundzwanzig,“ sagte sie ihren neuen Mietern, „daß er, mein Täubchen,
bei mir nistet und ich ihm die Seele wärme – wer kann’s wissen?“ – Und
darum war es nur natürlich, daß sie äußerst unangenehm erstaunt war, als
sich der Held unserer Erzählung, ihr solider, bescheidener Liebling, vor
einem Jahr in die Gesellschaft der neuen Winkelbewohner, dieser
lärmenden und unruhigen zehn „jungen Kinder“, einmischte.

Das Verschwinden Semjon Iwanowitschs verursachte nicht wenig Aufsehen in
den Winkeln. Allein schon, weil er der Günstling Ustinja Fedorownas war
und sodann, weil es sich erwies, daß sein Paß, den bis jetzt sie als
Wirtin aufbewahrt hatte, plötzlich verschwunden war. Ustinja Fedorowna
schluchzte natürlich – was sie in allen kritischen Augenblicken zu tun
pflegte; den Einwohnern machte sie zwei ganze Tage lang Vorwürfe, daß
sie ihn wie ein armes Küken verjagt hätten, daß sie ihn umgebracht
hätten „alle diese bösen Spötter“ und – am dritten Tage jagte sie alle
hinaus, ihn zu suchen, mit dem Befehl, den Flüchtling tot oder lebendig
einzufangen. Gegen Abend kam als erster der Schreiber Ssudjbin zurück
und erklärte, daß er auf seiner Spur wäre, daß er den Flüchtling auf dem
Trödelmarkt und noch an anderen Stellen gesehen hätte, daß er ganz in
seiner Nähe gestanden beim Feuerschaden in der „schiefen Gasse“, es aber
nicht gewagt hätte, ihn anzureden. Eine Stunde darauf erschienen
Okeanoff und Kantareff und bestätigten Ssudjbins Aussagen Wort für Wort:
auch sie hätten nicht weit von ihm gestanden, ihn anzureden hätten aber
auch sie nicht gewagt, und beide hätten sie bemerkt, daß Semjon
Iwanowitsch mit dem bekannten Trunkenbold Simoweikin gegangen wäre.
Dieser Vagabund war ein schlechter, schmeichlerischer Mensch, der auf
Semjon Iwanowitsch ersichtlich einen schlechten Einfluß hatte. Er
tauchte gerade eine Woche vor dem Verschwinden Semjon Iwanowitschs mit
seinem Freunde Remneff auf, lebte einige Zeit in den Winkeln und
erzählte allen, daß er um der Wahrheit willen litt, daß er früher in der
Provinz gedient hätte, dann aber, als der Revisor gekommen war, samt
seinen Genossen um der Wahrheit willen verjagt worden wäre, daß er dann
nach Petersburg gekommen und Porfirij Grigorjewitsch fußfällig gebeten
hätte, ihn durch seine Fürsprache in einer Kanzlei unterzubringen, aber
daß man ihn, dank seines grausamen Schicksals, auch von dort wieder
entfernt hätte, woran nur die Kanzlei die Schuld trüge; in die
neugebildete Gesellschaft der Beamten nehme man ihn aber nicht auf,
einesteils wegen seiner Unfähigkeit zum Dienst überhaupt, und
andrerseits wegen seiner Neigung zu einer anderen, ganz nebensächlichen
Sache, – alles zusammen genommen aber doch nur wegen seiner Liebe zur
Wahrheit und zu guter Letzt auch noch infolge der Ränke seiner Feinde.
Nachdem Herr Simoweikin die Erzählung seiner Lebensgeschichte beendet
hatte, während welcher er die ganze Zeit über seinem unrasierten Freunde
zugeblinzelt hatte, verabschiedete er sich der Reihe nach von allen, die
im Zimmer anwesend waren, auch Awdotja, die Magd, nicht ausgenommen,
nannte sie alle seine Wohltäter und sagte noch zum Schluß, daß er allein
ein unwürdiger, gemeiner, unsolider und dummer Mensch wäre, und daß gute
Menschen sein trauriges Schicksal nicht bemitleiden sollten. Nachdem er
dann alle um Schutz angefleht hatte, wurde Herr Simoweikin froh und
lustig, küßte Ustinja Fedorowna sogar die Hand, ungeachtet ihrer
bescheidenen Versicherungen, daß ihre Hand eine einfache, keine adlige
Hand wäre, und versprach am Abend der ganzen Gesellschaft sein Talent in
einem besonderen charakteristischen Tanze zu zeigen. Aber am
darauffolgenden Tage wurde er vor die Tür gesetzt, – vielleicht weil
sein Charaktertanz zu viel Charakter gehabt oder weil er Ustinja
Fedorowna nach ihren Worten „beleidigt und erniedrigt“ hatte, sie aber,
die selbst mit Jaroslaff Iljitsch bekannt war, folglich, wenn sie nur
gewollt, schon längst die Frau eines Oberleutnants hätte sein können. Er
ging, kehrte aber wieder zurück, wurde jedoch wieder als ehrlos
vertrieben. Da bat er denn Semjon Iwanowitsch, sich seiner anzunehmen,
nahm ihm so nebenbei seine neuen Hosen ab und erschien dann in der
Eigenschaft als Verführer Semjon Iwanowitschs wieder auf der Bildfläche.

Als nun die Wirtin hörte, daß Semjon Iwanowitsch noch lebte und gesund
war, und daß man somit seinen Paß nicht mehr zu suchen brauchte, ließ
sie das Trauern und beruhigte sich allmählich. Da fiel es aber einem von
der Kompagnie ein, dem Entlaufenen einen feierlichen Empfang zu
bereiten, und sofort waren alle dabei: sie öffneten den Riegel des
Bettschirmes, hoben ihn etwas weiter ins Zimmer, durchwühlten ein wenig
das Bett, nahmen den bekannten Koffer und legten ihn quer auf die
Fußstelle des Bettes; darauf machten sie aus den alten Kleidern der
Wirtin, aus einem Tuch, einer Haube und einem Schlafrock die „Schwägerin
aus Twerj“ und legten diese Puppe „zur Erholung von der Reise“ auf das
Lager des Entlaufenen. Bei seiner Ankunft wollten sie ihm dann
mitteilen, daß seine Schwägerin angekommen wäre und sich in seiner Ecke
eingerichtet hätte. Sie warteten und warteten aber vergeblich! Bis
Mitternacht hatte in der Erwartung Mark Iwanowitsch schon seine halbe
Monatsgage an Kantareff und Prepolowenko verspielt. Awdotja, die Magd,
hatte sich schon vollkommen ausgeschlafen und war bereits zweimal von
ihrem Bett aufgestanden, um den Ofen zu heizen. Sinowij Prokoffjewitsch
war bis auf die Haut durchnäßt, da er immer wieder auf den Hof
hinausgelaufen war, um nachzusehn, ob nicht Semjon Iwanowitsch endlich
kam; aber es erschien Niemand: weder Semjon Iwanowitsch, noch der
Simoweikin. Endlich legten sich alle schlafen und ließen für alle Fälle
die Schwägerin auf seinem Bett. Erst um vier Uhr nachts wurde an die
Pforte geklopft, und zwar so heftig, daß alle Erwartenden für ihre Mühen
reichlich belohnt waren. Das war er, er selbst, Semjon Iwanowitsch, Herr
Prochartschin, nur befand er sich in solch einem Zustande, daß alle
entsetzt die Mäuler aufsperrten und keiner von ihnen mehr an die
Schwägerin dachte. Der Verlorengegangene war ganz durchnäßt und
besinnungslos. Ihn brachte, oder richtiger gesagt, trug auf den
Schultern ein zerlumpter Droschkenkutscher. Auf die Frage der Wirtin, wo
sich denn der Arme so betrunken hatte, antwortete jener: „Betrunken ist
er nicht und ist es auch gar nicht gewesen; das kann ich Dir schon
versichern, wahrscheinlich hat ihn eine Ohnmacht überfallen oder ein
Krampf, oder der Schlag hat ihn gerührt.“ Man untersuchte ihn, brachte
den Schuldigen an den Ofen, und überzeugte sich, daß er weder betrunken,
noch vom Schlag gerührt war, sondern daß ihn irgend eine andere Sünde
überfallen haben mußte. Auch konnte Semjon Iwanowitsch seine Zunge nicht
bewegen, ihn schüttelte nur ein Fieberfrost und er blinkerte mit den
Augenlidern und stierte erstaunt den einen oder anderen Zuschauer in
ihren Nachtkostümen an. Man fragte darauf den Kutscher, woher er ihn
gebracht? „Von irgend woher“ antwortete dieser, „der Henker weiß woher,
Herren sind nicht Herren, wenn sie spazieren gegangen und lustige Herren
sind; haben sie sich geprügelt oder sonst was, Gott weiß es, was für
welche es waren, lustige Herren sind gute Herren!“ Man trug Semjon
Iwanowitsch auf sein Bett. Als Semjon Iwanowitsch aber seine
„Schwägerin“ berührte und seinen geliebten Koffer wiedersah, da schrie
er auf, bedeckte ihn mit seinem Körper, mit seinen Händen und starrte
die Anwesenden mit verzweifeltem, aber sonderbar entschlossenem Blick
an; dieser Blick schien auszudrücken, daß er eher zu sterben bereit war,
als auch nur den hundertsten Teil seiner armseligen Habe irgend jemandem
abzutreten ...

Semjon Iwanowitsch lag so zwei oder drei Tage lang in Fieber, durch
seinen Bettschirm von jeglicher Gotteswelt und all ihren Lebensstürmen
abgeschieden. Schon am nächsten Morgen hatten ihn alle vergessen, was ja
schließlich ganz in der Ordnung war; die Zeit flog dahin, Stunden
folgten auf Stunden, Tage auf Tage. Halbschlaf und Träume umlagerten den
heißen Kopf des Kranken; er lag ganz ruhig und still, stöhnte nicht und
klagte nicht; im Gegenteil, er schwieg und drückte sich an sein Bett wie
ein Hase, der sich vor Angst an die Erde preßt, wenn er die Jagd hört.
Zu einer gewissen Tageszeit trat in der Wohnung eine langandauernde
melancholische Stille ein – das Zeichen, daß alle Einwohner sich
entfernt hatten, in den Dienst gegangen waren, und der vor sich
hinträumende Semjon Iwanowitsch konnte so viel er wollte damit seinen
Kummer zerstreuen, daß er dem Geräusch in der nahen Küche zuhörte, wo
die Wirtin herumhantierte, oder den gleichmäßigen schlurrenden Schritten
Awdotja’s, der Magd, die von Zimmer zu Zimmer ging und krächzend und
stöhnend alle Winkel aufräumte, Staub wischte und die Ordnung wieder
herstellte. Ganze Stunden vergingen so in dieser schläfrigen, faulen,
eintönigen Weise, wie das Wasser, das man regelmäßig in der Küche vom
Krahn ins Becken tröpfeln hörte. Dann kehrten die Einwohner wieder
zurück, einzeln oder zusammen, und Semjon Iwanowitsch hörte, wie sie
über das Wetter schimpften, essen wollten, lärmten, sich herumzankten,
sich wieder versöhnten, Karten spielten, und wie die Tassen klirrten,
wenn sie sich anschickten, den Tee zu trinken. Semjon Iwanowitsch machte
ganz mechanisch den Versuch aufzustehn, um wie gewöhnlich an dem Tee
Teil zu nehmen, schlief aber mittlerweile wieder ein, und so schien es
ihm denn, daß er schon lange am Teetisch saß und sich mit ihnen
unterhielt, und daß Sinowij Prokoffjewitsch den Zufall benutzte, um in
das Gespräch ein Projekt über die Schwägerinnen im allgemeinen
einzuflechten und im besonderen über die moralischen Verpflichtungen
gewisser guter Leute ihnen gegenüber. Da beeilte sich Semjon
Iwanowitsch, sich zu verteidigen, aber siehe da, ihm wurde von allen
Gegnern auf einmal eine so mächtig ausgedrückte Antwort zu Teil, daß
Semjon Iwanowitsch sich weiter nichts Schöneres ausdenken konnte, als
schnell davon zu träumen, daß es der erste des Monats ist und er in
seiner Kanzlei viele Silberstücke erhält, und wie es ihm auf der Treppe
so ganz ohne Schwierigkeiten gelingt, die Hälfte der Summe in seinem
Stiefel verschwinden zu lassen, immer noch dort auf der Treppe. Und ohne
sich auch nur im geringsten darüber aufzuhalten, daß er sich in seinem
Bett befand, beschloß er, nach Hause zu gehn und das Nötige für Kost und
Logis der Wirtin zu bezahlen, darauf noch irgend etwas durchaus Nötiges
zu kaufen, und unbeabsichtigt, wie zufällig, Jedem zu zeigen, daß ihm
nach der Abrechnung nichts mehr verblieben, daß er jetzt nichts mehr
habe, um der Schwägerin zu schicken, bei der Gelegenheit seine
Schwägerin zu beklagen, viel von ihr morgen und übermorgen zu sprechen
und in zehn Tagen noch so nebenbei ihrer Armut zu erwähnen, damit die
Kameraden es nicht vergäßen. Wie er das aber noch gerade so beschließt,
sieht er plötzlich, daß Andrei Jefimowitsch, dieser selbe kleine ewig
schweigsame und kahlköpfige Beamte, der in der Kanzlei im dritten Zimmer
von Semjon Iwanowitsch seinen Platz hatte, und der ihm in fünfundzwanzig
Jahren kein einziges Wort gesagt, dort auf der Treppe neben ihm steht
und gleichfalls seine Silberrubel zählt, mit dem Kopf schüttelt und ihm
sagt: „Ja ja, das Geld! Wenn kein Geld ist, ist auch kein Brei,“ und wie
er die Treppe hinuntergeht, fügt er noch hinzu: „und ich habe sieben
Kinder.“ Dabei gab der rothaarige Mensch, augenscheinlich gleichfalls
ohne sich darum zu bekümmern, daß er nur ein Gespenst war, mit der Hand
die Größe seiner Sprößlinge an, indem er sie eine Elle hoch über dem
Fußboden hielt und sie dann ruckweis niedriger senkte; darauf murmelte
er noch, daß der Älteste das Gymnasium besuche, blickte dann Semjon
Iwanowitsch unwillig an, ganz als ob dieser daran Schuld wäre, daß er
ihrer sieben hatte – zog seine Mütze auf die Augen, schlug den Mantel
zu, kehrte nach links um und verschwand. Semjon Iwanowitsch erschrak,
obgleich er von seiner Unschuld an der Zahl der Sieben unter einem Dach
vollständig überzeugt war, aber es kam ihm doch so vor, daß Niemand
anders als gerade er die Ursache des Elends sein mußte. Er erschrak, wie
gesagt, und fing an zu laufen, denn es schien ihm, daß der rothaarige
Schreiber zurückkehrte, ihn verfolgte und ihm durchaus das empfangene
Monatsgehalt nehmen wollte, sich auf die unumstößliche Zahl Sieben
berief und jegliche Verpflichtung Semjon Iwanowitschs, seine Schwägerin
zu unterstützen, einfach ableugnete. Prochartschin lief und lief, der
Atem ging ihm aus ... neben ihm liefen eine Menge Menschen und bei allen
klapperte Geld in den Taschen: zuletzt liefen alle Menschen, die
Feuerwehr stieß in die Trompeten und ganze Volkswellen trugen ihn auf
den Schultern zu der Brandstätte, wo er das letzte Mal mit dem
Vagabunden gewesen war. Der Vagabund, sonst Herr Simoweikin genannt,
befand sich schon dort, empfing ihn feierlich, sorgte sich sehr um ihn,
nahm ihn an der Hand und führte ihn mitten in das Gedränge. So wie
damals wogte und dröhnte um sie herum die unübersehbare Volksmenge, die
sich längs dem Quai der Fontanka auf den zwei Brücken und in allen
Straßen und Nebenstraßen der Umgegend anstaute. Ganz wie damals wurden
er und der Vagabund auf dem großen Holzplatz wie mit Klammern an einen
Zaun gepreßt. Die Zuschauer strömten vom Trödelmarkt und von allen
umliegenden Häusern, Scheunen und Baracken herbei. Semjon Iwanowitsch
sah und hörte alles wie damals; in seinem Fiebertraum tauchten viele
sonderbare Gesichter auf. Er erinnerte sich einiger derselben. Eines von
ihnen gehörte dem außerordentlich aufdringlichen Herrn von hohem Wuchs
und mit einem meterlangen Schnurrbart, der während des Brandes hinter
seinem Rücken gestanden und der ihn aufgemuntert hatte, wenn er
seinerseits so etwas wie Begeisterung fühlte, der kühnen Arbeit der
Feuerwehr zu applaudieren. Ein anderes Gesicht gehörte dem Burschen, von
dem unser Held einen Rippenstoß erhalten hatte, als er im Begriff war,
über ihn hinwegzuklettern, um vielleicht irgend jemanden zu retten.
Desgleichen tauchte vor ihm die Figur eines Alten auf, der sich noch vor
dem Ausbruch des Brandes in die Bude begeben hatte, um Zwieback und
Tabak für seinen Mieter einzukaufen, und darauf mit den Sachen in den
Händen wie erstarrt dastand und zusehn mußte, wie seine Frau und seine
Tochter in Gefahr schwebten, zu verbrennen mitsamt seinen Ersparnissen –
fünfunddreißig Rubel, die in der Matratze eingenäht waren. Aber noch
deutlicher sah er ein altes Weib – das ihn die ganze Zeit schon in
seinen Fantasien verfolgte – in Lumpen, mit einem Krückstock und mit
einem Quersack auf dem Rücken. Sie überschrie die Feuerwehr und das
Volksgetöse, sie fuchtelte wie wahnsinnig mit dem Krückstock und mit den
Armen in der Luft herum, weil man sie von ihren Kindern getrennt und sie
dabei zehn Kopeken verloren hatte. Sie schrie und weinte, doch Niemand
begriff, was sie haben wollte, auch kümmerte sie sich nicht um den
Feuerschaden, nicht um die Menschen, nicht um die Funken und die Asche,
die auf sie niederfielen. Plötzlich aber empfand Herr Prochartschin
einen furchtbaren Schreck: er sah mit einem Mal, daß auch er nicht dem
Unglück entgehn konnte, daß sich dort nicht weit von ihm ein Mann mit
feurigem Haar und feurigem Bart erhob und anfing, das ganze Volk auf
ihn, Semjon Iwanowitsch, aufzuhetzen. Die Menge wuchs und wuchs, der
Mann schrie immer lauter und mit Schrecken erkannte Herr Prochartschin,
daß der Mann derselbe Droschkenkutscher war, den er gerade vor fünf
Jahren auf eine so unmenschliche Weise betrogen hatte, indem er ohne ihn
zu bezahlen durch eine Pforte verschwunden war und sich so schnell als
möglich aus dem Staube gemacht hatte. Der verzweifelte Herr
Prochartschin wollte sprechen, schreien, aber die Stimme versagte ihm.
Er fühlte, wie die ganze Volksmenge ihn wie eine bunte Schlange umwand
und zu ersticken drohte. Er nahm seine ganze Kraft zusammen und –
erwachte. Da sah er plötzlich, daß alles brannte, seine ganze Ecke, sein
Schirm, die ganze Wohnung mit Ustinja Fedorowna und all ihren
Winkelmietern, daß sein Bett, sein Kissen, seine Decke, sein Koffer und
zuletzt noch seine teure Matratze brannten! Semjon Iwanowitsch sprang
entsetzt aus dem Bett, ergriff die Matratze und lief, sie nach sich
ziehend, hinaus. Aber im Zimmer der Wirtin, wohin unser Held ohne
jegliche Gêne, barfüßig und im Hemd, gelaufen war, ergriff man den
Flüchtling und brachte ihn wieder zurück hinter den Bettschirm, dem es
natürlich gar nicht einfiel zu brennen, da es ja nur im Kopfe Semjon
Iwanowitschs brannte. So packte man ihn denn in sein Bett ein, wie der
herumziehende Komödiant sein Kasperle in den Kasten steckt, nachdem es
gelärmt, getobt, alle verprügelt, die Seele dem Teufel verkauft hat und
nun zusammen mit dem Teufel und all seinen Feinden bis zur nächsten
Vorstellung sein Dasein ruhig in der schmutzigen Schachtel verbringen
muß.

In feierlichem Kreise umstanden alle sein Lager und sämtliche Gesichter
drückten peinliche Erwartung aus. Endlich kam er zu sich: zuerst zerrte
er an seiner Decke und plötzlich zog er aus allen Kräften an ihr,
wahrscheinlich um sich vor den Blicken seiner mitfühlenden Kameraden zu
verbergen; die Decke aber gab nicht nach. Endlich unterbrach Mark
Iwanowitsch als Erster das Schweigen, und als kluger Mensch fing er an,
vernünftig auf Semjon Iwanowitsch einzusprechen: erstens, daß er sich
beruhigen müsse, zweitens, daß es schlecht sei, so zu erkranken,
drittens, daß das nur kleine Kinder täten und viertens, daß er gesund
werden müsse, um wieder in die Kanzlei gehn zu können. Und Mark
Iwanowitsch schloß sogar mit dem Scherz, daß Kranken noch kein
festgesetztes Gehalt ausgesetzt worden sei, somit hätte denn seiner
Meinung nach solch ein Beruf oder solch ein Zustand nicht einmal einen
materiellen Vorteil. Kurz, es war ersichtlich, daß alle sich für das
Schicksal Semjon Iwanowitschs interessierten und sich seiner annahmen.
Er aber lag, schwieg – was doch eine unverzeihliche Grobheit war – und
zog heftig an seiner Decke, um sich endlich ganz zu bedecken. Mark
Iwanowitsch hielt sich aber noch längst nicht für besiegt: er faßte sich
ein Herz und sagte Semjon Iwanowitsch noch etwas Angenehmes, wie man es
ja mit einem kranken Menschen zu tun pflegt. Aber Semjon Iwanowitsch
wollte nichts davon bemerken, im Gegenteil, er brummte nur was durch die
Zähne und plötzlich schielte er auf eine ganz mißtrauische Weise mit den
Augen unter der Stirn hervor nach links und rechts, als wollte er mit
seinen Blicken alle, die um ihn herumstanden, vernichten. Da war nichts
mehr zu wollen: Mark Iwanowitsch konnte denn auch nicht an sich halten,
als er einsah, daß der Mensch sich verschworen hatte, bei diesem
Benehmen zu verharren; geärgert und gekränkt erklärte er daher einfach
und geradeaus ohne jegliche höflicheren Redewendungen, daß es Zeit wäre,
aufzustehn, daß es nicht anginge, immer auf beiden Seiten zu liegen, Tag
und Nacht von Feuer, Schwägerinnen, Schlössern, Koffern und weiß der
Teufel noch wovon zu schreien, daß das dumm, unanständig und eines
Menschen unwürdig wäre, und wenn er, Semjon Iwanowitsch, jetzt nicht
ruhig schlafen wollte, so sollte er wenigstens die Anderen nicht daran
verhindern. Die Rede tat ihre Wirkung, denn Semjon Iwanowitsch wandte
sich plötzlich an den Redner und erklärte mit erstaunlicher Festigkeit,
wenn auch mit schwacher und heiserer Stimme:

„Du dummer Junge, Du, halt Deinen Mund! Du schwatzhafter Mensch, Du
Schandmaul! Hörst Du, Stiefel! Bist Du etwa ein Fürst? Was verstehst Du
denn eigentlich?“ Als Mark Iwanowitsch so etwas hörte, brauste er zuerst
auf, aber er sah bald ein, daß er es doch mit einem kranken Menschen zu
tun hatte, und war so großmütig, nicht gekränkt zu sein, und so
versuchte er denn auch nur, ihn zu beschämen – aber auch das gelang ihm
nicht, denn Semjon Iwanowitsch bemerkte sofort, daß er mit sich nicht zu
spaßen erlaube und Mark Iwanowitsch doch lieber seine Worte sparen
solle. Es folgte ein zwei Minuten langes Schweigen; endlich erholte sich
Mark Iwanowitsch von seinem Erstaunen und drückte sich klar, schön und
deutlich aus, übrigens mit großer Überlegenheit, daß Semjon Iwanowitsch
doch nicht vergessen dürfte, daß er sich unter fremden Menschen befand,
und daß „der allergnädigste Herr sich doch besinnen möge, wie man sich
unter anständigen Menschen zu betragen habe“. Mark Iwanowitsch verstand
es bei Gelegenheit sich schön auszudrücken und das auch seine Zuhörer
fühlen zu lassen. Seinerseits sprach Semjon Iwanowitsch, da er ja stets
zu schweigen gewohnt war, in einer etwas abgebrochenen Art und Weise,
und daher gebar denn, wenn er genötigt war, einmal eine längere Phrase
zu sagen, jedes Wort schon beim Entstehen ein anderes Wort und dieses
wieder ein drittes und das dritte wieder ein viertes usw., usw., so daß
er schließlich den ganzen Mund voll Worte hatte, die dann in der
allermalerischsten Unordnung zu Tage kamen. Das war der Grund, warum
Semjon Iwanowitsch, der doch sonst ein solider Mensch war, manchmal
solch einen Unsinn sprechen konnte.

„Du lügst,“ antwortete er jetzt Mark Iwanowitsch. „Du Lebemann! Wenn Du
Geld hast, putzt Du Dich auf, Du Freigeist, Du liederlicher
Herumtreiber, Du! Das laß Dir gesagt sein, Du Verseschmied!“

„Sie phantasieren wohl noch, Semjon Iwanowitsch?“

„Ach Du, der Dummkopf phantasiert, der Trunkenbold phantasiert, der Hund
phantasiert, aber der Weise dient dem Vernünftigen. Von Geschäften
verstehst Du nichts, Du liederlicher Mensch, Du Gelehrter, Du
geschriebenes Buch Du! Wenn Du aber brennst, so wirst Du sehn, wie Dir
der Kopf abbrennt. Siehst Du jetzt, wie’s ist!?“

„Ja ... das heißt, wie denn ... das heißt, wie meinen Sie, Semjon
Iwanowitsch, daß der Kopf ...“

Mark Iwanowitsch beendete seinen Satz nicht, denn es war ja klar, daß
Semjon Iwanowitsch noch nicht nüchtern war, sondern phantasierte; die
Wirtin konnte denn auch nicht mehr an sich halten und bemerkte, daß das
Haus in der Schiefen Gasse von einem rothaarigen Mädchen angezündet
worden sei, das mit dem Licht die Dachkammer in Brand gesetzt hätte, sie
selbst aber habe nicht gebrannt, und auch ihr Winkel wäre unversehrt
geblieben.

„Ja, Semjon Iwanowitsch!“ überschrie Sinowij Prokoffjewitsch außer sich
die Wirtin, „Semjon Iwanowitsch, sind Sie solch ein verlorener, naiver
Mensch, daß Sie diesen Scherz mit Ihrer Schwägerin oder mit den Examen
und den Tänzen ernst genommen haben? Haben Sie das wirklich geglaubt?“

„Nun höre Du jetzt,“ antwortete ihm unser Held und richtete sich, seine
letzten Kräfte zusammennehmend, wütend im Bett auf. „Wer ist hier der
Narr? Du Hund, Du närrischer Mensch, ich aber werde nicht auf Deinen
Befehl Dummheiten machen; hörst Du, dummer Junge, ich bin nicht Dein
Diener!“

Semjon Iwanowitsch wollte noch etwas sagen, fiel aber kraftlos auf das
Kissen zurück. Alle verloren den Kopf, alle rissen sie den Mund auf und
wußten nicht, was sie jetzt anfangen sollten; plötzlich knarrte die
Küchentür und gleich darauf steckte auch schon Herr Simoweikin den Kopf
durch die Tür und beroch, wie es so seine Art war, vorsichtig den Ort
und die Situation.

Alle schienen ihn erwartet zu haben; alle winkten sie ihm zu, schnell
zum Bett zu kommen, worüber Simoweikin äußerst erfreut war und sich
sofort bereitwilligst, ohne den Mantel abzunehmen, zum Kranken begab.

Man sah es ihm an, daß er die Nächte mehr im wachen Zustande verbrachte.
Die rechte Seite seines Gesichtes war irgendwomit verklebt; die
angeschwollenen Augenlider waren feucht von seinen eiternden Augen; der
Frack und die Kleider waren zerrissen, wobei die ganze linke Seite
seiner Kleidung irgendwomit bespritzt war, vielleicht mit Schmutz aus
irgendeiner Pfütze. Unter dem Arm trug er eine Geige, die er irgendwohin
zum Verkauf brachte. Augenscheinlich hatte man gut getan, daß man ihn zu
Hülfe gerufen, denn sofort wußte er, worum es sich handelte und so sagte
er denn auch mit der Miene und dem Tone eines Menschen, der weiß, worum
es sich handelt:

„Hörst Du Senjka, steh auf! Was tust Du Senjka, weiser Prochartschin,
nimm Vernunft an! Werde Dich fortschleppen, wenn Du hier noch so
herumrumorst; mach Dich hier nicht so wichtig!“

Solch eine kurze und strenge Rede setzte alle Anwesenden in Erstaunen;
aber sie erstaunten noch mehr, als sie bemerkten, daß Semjon Iwanowitsch
bei diesen Worten und beim Anblick dieses Gesichts so erschrak und so
bescheiden wurde, daß er kaum hörbar und nur durch die Zähne die nötige
Erwiderung murmelte.

„Geh fort, Du Unglücklicher,“ sagte er, „Du unglücklicher Dieb Du! Hörst
Du, verstehst Du? Ein Protz bist Du, ein protziger Mensch bist Du!“

„Nein, Bruder,“ antwortete in schleppendem Tone Simoweikin, ganz Herr
der Situation, „das ist nicht gut, Du weiser Bruder Prochartschin,
Prochartschinscher Mensch Du!“ parodierte Simoweikin und schaute sich
zufrieden im Kreise um. „Mache keine Stückchen! Beruhige Dich, Senja,
beruhige Dich oder sonst werde ich alles erzählen, Brüderchen, verstehst
Du?“

Es schien, daß Semjon Iwanowitsch alles verstand, denn er zuckte
zusammen, als er den Schluß der Rede hörte und sah plötzlich schnell und
mit ganz verlorenem Ausdruck um sich herum. Zufrieden mit dem Effekt
seiner Rede, wollte Simoweikin noch fortfahren, aber Mark Iwanowitsch
verbot ihm das Geschwätz und man wartete einige Zeit, bis Semjon
Iwanowitsch sich beruhigt hatte und wieder still da lag; dann erst
sprach er vernünftig auf ihn ein, wie z. B. daß ähnliche Gedanken, wie
die, die er soeben in seinem Kopfe hätte, erstens ganz unnütz und
zweitens nicht nur unnütz, sondern auch schädlich wären und zu guter
Letzt nicht so schädlich, als vielmehr unmoralisch, und die Folge von
alledem wäre nur die, daß Semjon Iwanowitsch alle irreführte und seinen
Nächsten ein schlechtes Beispiel gab. Von solch einer Rede erwarteten
alle nur eine vernünftige Wirkung. Zudem war Semjon Iwanowitsch ganz
still und antwortete gemäßigt. Es begann ein kleiner Streit. Man wandte
sich brüderlich an ihn und fragte ihn, was ihn denn eigentlich so
bedrückte? Semjon Iwanowitsch antwortete nur allegorisch. Man antwortete
ihm darauf und Semjon Iwanowitsch antwortete wieder. Man antwortete
beiderseits noch einmal, und dann mischten sich alle in das Gespräch,
alt und jung, denn man sprach von einem wunderbaren und sonderbaren
Gegenstand, so daß man wirklich nicht wußte, wie das alles ausdrücken.
Man verlor die Geduld, es kam zu Geschrei und zu Tränen, und Mark
Iwanowitsch ging schließlich, mit Schaum vor dem Munde, fort und
erklärte, daß er bis jetzt solch einen vernagelten Menschen noch nicht
gesehen hätte. Oplewanjeff spuckte, Okeanoff erschrak, Sinowij
Prokoffjewitsch weinte Tränen und Ustinja Fedorowna heulte wieder einmal
und jammerte, daß sie einen Mieter verliere, weil jener wiederum den
Verstand verloren hätte, daß ihr Täubchen, ohne ihr den Paß überlassen
zu haben, sterbe, daß sie eine Waise sei und daß die Polizei ihr zu
schaffen machen würde. Mit einem Wort, alle sahen es endlich klar ein,
daß ihre Aussaat gut gewesen war, daß das, was sie gesät hatten,
hundertfältig trug, und daß es ihnen gelungen war, den Verstand Semjon
Iwanowitschs auf eine unverbesserliche Weise zu bearbeiten. Alle
schwiegen, denn sie sahen, daß Semjon Iwanowitsch sich vor allem
fürchtete, und so wurden auch sie ganz kleinlaut und fühlten schließlich
Mitleid mit ihm.

„Wie!“ schrie Mark Iwanowitsch, „was fürchten Sie denn so? Worüber sind
Sie denn verrückt geworden? Wer denkt denn an Sie, mein Herr? Haben Sie
denn überhaupt das Recht, sich so zu fürchten? Wer sind Sie, was sind
Sie? Eine Null sind Sie, mein Herr, ein runder Pfannenkuchen, wissen Sie
das auch? Weil man ein Weib auf der Straße überfahren hat, glauben Sie,
daß man jetzt auch Sie überfahren wird? Weil man einem Trunkenbold Geld
aus der Tasche gestohlen hat, glauben Sie, daß man Ihnen gleich den
ganzen Rock abreißen wird? Weil ein Haus abgebrannt ist, muß auch bei
Ihnen gleich der Kopf abbrennen, wie? Ist es nicht so, mein Herr? Nicht
so, Väterchen, nicht so?“

„Du, Du, Du bist dumm!“ murmelte Semjon Iwanowitsch. „Man wird Dir die
Nase abbeißen und Du wirst sie auf Deinem Butterbrot verzehren, ohne daß
Du’s merkst!“

„Dumm wie ein Stiefel, meinetwegen dumm wie ein Stiefel,“ schrie Mark
Iwanowitsch, der die Prophezeiung ganz überhört hatte, „ich bin
meinetwegen ein dummer Mensch. Ja, ich habe es ja nicht nötig, Examen zu
machen, weder zu heiraten, noch zu tanzen, mir wankt der Boden nicht
unter den Füßen! Was Väterchen? Sie finden Ihren Platz nicht, der Boden
stürzt unter Ihnen zusammen, wie?“

„Wie, was, fragt man Dich darum? Schließt man sie, so ist sie
geschlossen.“

„Was soll man schließen? Was haben Sie da wieder?“

„Den Vagabunden hat man doch abgesetzt ...“

„Abgesetzt! Dafür ist er auch ein Vagabund, Sie und ich sind aber doch –
Menschen!“

„Menschen! Ist sie noch oder nicht? ...“

„Was ist noch, oder nicht? Von was für einer ‚sie‘ reden Sie?“

„Sie, die Kanzlei ... die Kan–ze–lei!!!“

„Ja, gesegneter Mensch, Sie! Sie ist doch nötig, Ihre Kanzlei ...“

„Sie ist nötig! fehlt noch! Heute ist sie nötig, morgen ist sie nötig
und übermorgen wird sie nicht mehr nötig sein! Siehst Du jetzt, wie’s
ist?“

„Aber man gibt Ihnen doch ein jährliches Gehalt?“

„Gehalt? Ich habe das Gehalt aber aufgegessen, Diebe kommen und nehmen
das Geld fort; ich habe noch eine Schwägerin, hörst Du? Eine Schwägerin!
Verstehst Du, wenn Du nicht vernagelt bist ...“

„Eine Schwägerin! Mensch, Sie ...“

„Mensch, ja, ich bin ein Mensch, Du aber bist mit Dummheit geschlagen,
ein vernagelter Mensch bist Du, verstehst Du? Ich spreche schon gar
nicht von Deinem Unsinn, den Du schwatzt. Das ist schon solch eine
Stelle, wenn es drauf ankommt, wird sie vernichtet. Demid Wassiljewitsch
sagt es selbst ...“

„Ach, Sie, Demid, Demid!“

„Ja, er löst sie auf und damit basta und dann sitzt man da ohne Stelle;
was wirst Du dann sagen ...“

„Ach, Sie lügen ja einfach nur, oder haben Sie den Verstand verloren?
Sagen Sie uns doch einfach, was Ihnen fehlt! Gestehen Sie uns doch Ihre
Sünden! Da ist ja nichts sich zu schämen! Oder ist es alle mit dem
Verstand, wie, Väterchen?“

„Der Kerl ist wahrhaftig verrückt geworden! Er hat den Verstand
verloren!“ tönte es in der Runde und man rang die Hände vor
Verzweiflung, die Wirtin aber umfing Mark Iwanowitsch mit beiden Armen,
damit er Semjon Iwanowitsch nur nicht weiter quälte.

„Ein Heide bist Du, eine heidnische Seele hast Du, Weiser!“ flehte ihn
Simoweikin an; „Senja, Du lieber gutmütiger Mensch, Du! Du bist
bescheiden, Du bist gut ... hörst Du? Das kommt von Deiner Großmut; der
unordentliche und dumme, das bin ich, der Bettler bin ich! Du hast als
guter Mensch mich nicht verlassen, fürchte nichts; Dir wird schon Ehre
zuteil werden; Dir und der Wirtin sage ich Dank! Siehst Du, ich mache
Dir eine Verbeugung bis zur Erde, siehst Du, siehst Du, ich bezahle
meine Schuld, liebe Wirtin!“ Simoweikin machte mit pedantischer Würde
rund herum seine Verbeugung bis zur Erde. Semjon Iwanowitsch wollte
fortfahren zu sprechen, aber man erlaubte es ihm nicht mehr, alle
stürmten auf ihn ein, flehten ihn an, sich zu beruhigen und erreichten
zuletzt, daß Semjon Iwanowitsch ganz beschämt und mit schwacher Stimme
bat, sich erklären zu dürfen.

„Ja, nun gut,“ sagte er, „ich bin liebenswürdig, angenehm, ruhig, hörst
Du, und wohltätig, ergeben und treu; weißt Du, meinen letzten Tropfen
Blut, hörst Du, dummer Junge, ... möge sie bestehn, die Stelle; ich bin
ja arm; wenn man sie mir nimmt, hörst Du ... schweige jetzt, verstehst
Du, man nimmt sie ... und dann, Bruder, ist sie nicht mehr da ...
verstehst Du? Und ich, Bruder, mit dieser Summe, hörst Du?“

„Senjka!“ brüllte außer sich Simoweikin, dieses Mal jegliches Lärmen
übertönend, „Freidenker Du! Ich werde sofort alles sagen! Was bist Du!
Wer bist Du! Du Schafsgehirn! Nur einen unsoliden und dummen wird man
ohne Abschied von der Stelle jagen; wer bist Du denn eigentlich?“

„Ja, dies und das ...“

„Was, dies und das?!“

„Geh Du nur mit ihm ...“

„Wie, geh Du nur mit ihm?“

„Ja, ich bin frei, er ist frei; wenn man so liegt und liegt und darüber
...“

„Worüber?“

„Bin ein Freidenker ...“

„Freidenker! Senjka, Du ein Freidenker!!“

„Halt an,“ schrie Herr Prochartschin, fuchtelte mit der Hand und
unterbrach das sich erhebende allgemeine Geschrei, „ich spreche nicht
davon ... Versteh doch nur, Du Hammel: ich bin heute ruhig, morgen ruhig
und übermorgen schon nicht mehr ruhig, werde frech; nun und ... mache
Dich fort, Freidenker! ...“

„Was sagen Sie!“ donnerte Mark Iwanowitsch endlich drein, er sprang vom
Stuhl auf, auf den er sich zur Erholung niedergelassen hatte und lief
voller Aufregung ans Bett, außer sich und zitternd vor Ärger. – „Wer
sind Sie? Ein Hammel sind Sie! Weder Fisch noch Fleisch! Sind Sie etwa
allein auf der Welt? Ist für Sie allein die Welt gemacht? Sind Sie etwa
Napoleon? Was sind Sie? Wer sind Sie? Sind Sie Napoleon oder sind Sie es
nicht?! Sagen Sie doch, mein Herr, Napoleon oder nicht Napoleon? ...“

Aber Herr Prochartschin antwortete nicht mehr auf diese Gewissensfrage.
Nicht, daß er sich geschämt hätte, Napoleon zu sein oder sich
gefürchtet, solch eine Verantwortung auf sich zu nehmen, nein, er konnte
ganz einfach nicht mehr streiten noch von Geschäften sprechen. Eine
krankhafte Krisis trat ein. Ströme von Tränen stürzten plötzlich aus
seinen grauen, fieberglänzenden Augen. Mit seinen knochigen, von der
Krankheit abgemagerten Händen bedeckte er seinen heißen Kopf, erhob sich
im Bett und schluchzend fing er an, zu klagen, daß er arm wäre, daß er
solch ein unglücklicher und einfacher Mensch wäre, dumm und stumpf, daß
ihm gute Menschen vergeben müßten, daß sie ihn doch beschützen und ihm
zu essen und zu trinken geben, ihn nicht der Armut preisgeben sollten,
und Gott weiß, worum Semjon Iwanowitsch noch sonst alles bat. Dabei
blickte er mit solch einer wilden Angst um sich, als ob die Decke
einstürzen oder der Boden sich vor ihm auftun müßte. Allen tat er leid,
der Arme, und alle Herzen erweichten sich. Die Wirtin heulte wie ein
altes Weib, sagte, daß auch sie eine Waise wäre und mühte sich, Semjon
Iwanowitsch besser zu betten. Mark Iwanowitsch sah es ein, daß er unnütz
ans Gehirn Napoleons gerührt hatte: ihn überkam plötzlich auch eine
gütige Anwandlung und so wollte er denn der Wirtin behülflich sein, den
Unglücklichen zu betten. Die Anderen, die auch irgendwas dazu tun
wollten, schlugen vor, ihm doch eine Himbeerlimonade zu stiften, da sie
von allem befreie und dem Kranken sehr angenehm sein würde; aber
Simoweikin widerlegte es und behauptete, daß bei seiner Verfassung
nichts besser wäre, als ein starker Kamillentee. Was nun Sinowij
Prokoffjewitsch mit seinem guten Herzen anbelangt, so weinte er heiße
Tränen der Reue, weil er Semjon Iwanowitsch mit erlogenen Sachen
geängstigt hatte. Doch die letzten Worte des Kranken, die Klagen über
seine Armut, brachten ihn auf eine Idee: er setzte sofort eine Liste
auf, eine Kollekte für den armen Kranken, die sich fürs Erste nur auf
die Einwohner der Winkel erstreckte. Alle jammerten und stöhnten, allen
tat es bitter leid, doch zwischendurch wunderten sie sich alle darüber,
wie sich der Mensch dermaßen hatte einschüchtern lassen. Und wodurch
eigentlich? Wenn er auf einem großen Posten gewesen wäre, eine Frau
gehabt und Kinder gezeugt hätte und wenn man ihn vor Gericht geladen
hätte: aber solch ein kleines Tierchen wie er, mit einem Koffer und dem
deutschen Schloß davor, lag schon seit zwanzig Jahren hinter dem Schirm,
schwieg, kannte die Welt nicht, hatte keinen Kummer, sparte, und
plötzlich fiel es jetzt diesem Menschlein ein, sich durch irgendein
unnützes, abgeschmacktes Wort den Kopf verdrehen zu lassen und ganz und
gar am Leben zu verzweifeln ... Und dabei denkt der Mensch garnicht, daß
es die Anderen ebenso schwer haben.

„Würde er doch nun das Eine in Betracht ziehn,“ sagte später Okeanoff,
„daß es allen schwer fällt, so würde er ja seinen Kopf behalten, würde
seine tollen Streiche lassen und leben und reden, wie es sich gehört.“

Den nächsten ganzen Tag über sprach man nur von Semjon Iwanowitsch. Man
kam zu ihm, erkundigte sich nach ihm, beruhigte ihn; aber zum Abend hin
halfen die Beruhigungen nicht mehr. Der Arme fieberte und phantasierte
und verlor von Zeit zu Zeit seine Besinnung, so daß man schon nach dem
Arzt schicken wollte; alle Einwohner beschlossen gemeinsam, der Reihe
nach bei Semjon Iwanowitsch die Nacht über zu wachen, ihn zu beruhigen
und falls irgend etwas geschehn sollte, die Anderen aufzuwecken. In
dieser Absicht fingen sie an Karten zu spielen, und ließen seinen Freund
Simoweikin, der schon den ganzen Tag über bei ihm gewesen war und von
ihnen die Erlaubnis erhielt, auch dort zu nächtigen, bei ihm. Da sie
aber kein hohes Spiel machten, so wurde es ihnen alsbald langweilig. Sie
brachen das Spiel ab und gerieten allmählich über irgendetwas in Streit,
lärmten und polterten und zogen sich schließlich in die Winkel zurück,
wo ein jeder noch lange in seinem Herzen den Anderen widersprach und sie
allesamt übertrumpfte, und da sie alle geärgert waren, so wollte Niemand
mehr wachen. So kam es denn, daß alle einschliefen: bald darauf wurde es
in den Winkeln so still wie in einem leeren Keller, um so mehr, als es
sehr kalt war. Einer von den Letzten, die einschliefen, war Okeanoff,
und wie er später erzählte, hatte er nicht gerade im Schlaf und auch
nicht gerade im wachen Zustande, neben sich kurz vor Morgengrauen zwei
Menschen miteinander sprechen gehört. Darauf aber hätte er Simoweikins
Stimme erkannt, der Remneff, seinen alten Freund weckte und lange mit
ihm leise sprach, dann habe er gehört, wie Simoweikin fortgegangen war
und wie er die Küchentür mit dem Schlüssel aufgeschlossen hatte. Der
Schlüssel – versicherte später Ustinja Fedorowna – habe immer unter
ihrem Kopfkissen gelegen und wäre seit dieser Nacht verloren gegangen.
Dann – erzählte Okeanoff – schien es ihm, daß beide hinter den Schirm
zum Kranken gingen und dort das Licht anzündeten. Mehr, sagte er, wisse
er nicht, seine Augen wären ihm zugefallen; er erwachte erst mit allen
anderen, die in den Winkeln schliefen und sprang mit ihnen zu gleicher
Zeit aus dem Bett, als plötzlich hinter dem Schirm Semjon Iwanowitschs
solch ein Geschrei ertönte, daß selbst die Toten erwacht wären – in dem
Moment aber schien es vielen, daß plötzlich das Licht hinter dem Schirm
ausgelöscht wurde. Es entstand eine allgemeine Verwirrung: hinter dem
Schirm hörte man Geschimpf, Geschrei und Kampf. Es wurde Licht gemacht
und man sah, daß Simoweikin und Remneff sich prügelten und jähzornig
beschimpften. Als man sie nun auseinander brachte, so schrie der eine:

„Nicht ich bin es, aber dieser Räuber da!“ und Simoweikin schrie
wiederum:

„Rühr mich nicht an, bin nicht schuldig; ich werde sofort schwören!“
Aber in der ersten Minute war es nicht um sie zu tun, denn – der Kranke
war verschwunden! Man entfernte die Vagabunden und siehe da: Herr
Prochartschin lag unter dem Bett, vollständig besinnungslos; auf ihm
lagen seine Decke und sein Kissen, so daß sich auf dem Bett nur noch die
schmutzige Matratze befand, – denn Bettücher besaß er nicht. Man zog
also Semjon Iwanowitsch unter dem Bett hervor und legte ihn auf die
Matratze und bemerkte da sofort, daß mit ihm nichts mehr zu machen war;
er war schon ganz steif, hin und wieder lief nur noch ein Zittern über
den Körper. Er wollte die Hände erheben, konnte es aber nicht, seine
Zunge bewegte sich nicht mehr, aber er blinzelte noch mit den Augen, wie
die Köpfe der Enthaupteten noch mit den Lidern blinzeln sollen, wenn das
Beil des Henkers sie schon vom Körper getrennt hat.

Allmählich wurde er ruhiger, der Todeskrampf ließ nach; Herr
Prochartschin streckte die Beine von sich und begab sich mit all seinen
Sünden ins Jenseits. Ob er sich nun so erschreckt hatte, oder ob er
einen Traum gehabt, wie später Remneff versicherte, oder ob dem eine
andere Sünde zu Grunde lag, das ist eine offene Frage. Die Sache war
aber die, daß, wenn jetzt selbst der Chef in der Wohnung erschienen
wäre, um persönlich Semjon Iwanowitsch den Abschied wegen Trunksucht,
Freidenkerschaft und Händeleien zu überbringen, und wenn durch die
andere Tür eine Bettlerin unter dem Titel einer Schwägerin Semjon
Iwanowitschs eingetreten wäre, ja selbst wenn er plötzlich zweihundert
Rubel Gratifikation erhalten hätte, oder das Haus in Flammen aufgegangen
wäre, Semjon Iwanowitsch doch nicht mehr geruht haben würde, auch nur
einen Finger zu rühren. Während die erste Erstarrung sich legte, die
Anwesenden die Sprache langsam wiedererlangten und ein Chaos von
Vorschlägen, Vermutungen und Geschrei entstand, – zog Ustinja Fedorowna
den Koffer unter dem Bett hervor und suchte in aller Eile unter dem
Kissen unter der Matratze, ja sogar in den Stiefeln Semjon Iwanowitschs
nach. Und während man Remneff und Simoweikin verhörte – bewies Okeanoff,
der bis jetzt allerunintelligenteste und stillste Winkelbewohner,
plötzlich die größte Geistesgegenwart, ja entdeckte vielleicht zum
ersten Mal seine Fähigkeiten und sein Talent, nahm seine Mütze und
verschwand bei der allgemeinen Verwirrung ganz unbemerkt. Und als alle
Schrecken des Chaos ihren Höhepunkt in den bis jetzt so friedlichen
Winkeln erreichten, öffnete sich die Tür und wie kalter Schnee auf heiße
Köpfe fällt, erschien zuerst ein Herr von anständigem Äußeren, aber mit
einem strengen, unzufriedenen Gesicht; ihm folgte Jaroslaff Iljitsch mit
seinem Beamten samt Allem, was dazu gehört; und ihnen folgte aufgeregt
Herr Okeanoff. Der strenge Herr von anständigem Äußern ging geradewegs
auf Semjon Iwanowitsch zu, befühlte ihn, machte eine Grimasse, zuckte
mit den Schultern und sagte, was alle schon längst wußten, daß der Tote
tot wäre, und fügte nur von sich aus noch hinzu, daß in diesen Tagen
einem sehr hohen und angesehenen Herrn dasselbe im Schlaf passiert sei,
und er daran gestorben wäre. Darauf behauptete er noch, daß man ihn ganz
unnütz belästigt hätte und ging zur Tür hinaus. Ihn ersetzte sofort
Jaroslaff Iljitsch, der Beamte, und während Remneff und Simoweikin den
Gerichtsdienern übergeben wurden, bemächtigte er sich des Koffers, den
die Wirtin schon zu verstecken versucht hatte, stellte die Stiefel auf
ihren früheren Platz zurück, bemerkte dazu, daß sie ganz durchlöchert
seien und daher fortgeworfen werden könnten, verlangte auch das Kissen
zurück, rief Okeanoff und bat um den Schlüssel zum Koffer, der sich
schließlich in Simoweikins Tasche fand und öffnete feierlich wie es sich
gehörte die Habe Semjon Iwanowitschs. Da lagen denn allen sichtbar: zwei
alte Hemden, ein Paar Socken, ein zerrissenes Tuch, ein alter Hut,
einige Knöpfe, alte Stiefelsohlen, ferner Schnüre, Seife, Salben, alle
möglichen Lumpen, die einen üblen Geruch verbreiteten; gut war nur das
deutsche Schloß. Man rief Okeanoff und sprach streng mit ihm; aber
Okeanoff war bereit zu schwören. Man verlangte das Kissen, sah es sich
an; es war nur schmutzig, glich aber sonst in jeder Beziehung einem
Kissen. Man hob die Matratze auf, legte sie wieder hin, bedachte sich
noch, was zu tun wäre, als plötzlich etwas Schweres, Klingendes auf den
Boden schlug. Man bückte sich, man suchte und fand eine Papierrolle mit
zehn Silberrubel. „Eh, eh, eh!“ rief Jaroslaff Iljitsch und zeigte auf
eine offene Stelle in der Matratze, aus der Roßhaar hervorlugte. Man
besah sich die Stelle und alle waren überzeugt, daß sie soeben mit dem
Messer gemacht worden war: man steckte die Hand hinein und zog ein
Küchenmesser hervor, das man wohl in aller Eile da hineingesteckt hatte,
nachdem man mit ihm vorher die Matratze aufgeschnitten. Kaum war es
Jaroslaff Iljitsch gelungen, das Messer herauszuziehn, als er schon
wieder „Ehe–e!“ sagte und bald darauf eine andere Rolle herausfiel und
nach ihr Fünfzigkopekenstücke, fünfundzwanzig Kopeken, und verschiedenes
Kleingeld, darunter auch ein gesundes, kupfernes Fünfkopekenstück. Alle
Hände griffen danach. Auch war man der Meinung, daß es nicht schlecht
wäre, die Matratze aufzuschneiden. Man verlangte eine Schere ...

Der heruntergebrannte Lichtstummel beleuchtete eine äußerst
interessante Szene. Ungefähr zehn Einwohner gruppierten sich in den
allermalerischsten Nachtkostümen um das Bett herum, alle ungekämmt,
unrasiert und ungewaschen und kaum vom Schlaf erwacht. Einige von ihnen
waren kreidebleich, bei anderen perlte der Schweiß auf der Stirn, die
Einen schüttelte der Frost, die Anderen die Hitze. Die Wirtin stand halb
bewußtlos da, hatte die Hände gefaltet und überließ sich der Gnade
Jaroslaff Iljitschs. Vom Ofen herab sahen erschrocken und doch neugierig
Awdotja, die Magd, und die Lieblingskatze der Wirtin. Zerrissene und
zerschlagene Bettschirme lagen überall im Wege; der geöffnete Koffer
zeigte sein unanständiges Innere; die Decke und das Kopfkissen zusammen
mit dem Inhalt der Matratze lagen auf dem Boden und auf einem kleinen
gebrechlichen hölzernen Tischchen glänzte der anwachsende Haufen der
verschiedensten Geldstücke. Nur Semjon Iwanowitsch allein behielt seine
Kaltblütigkeit: er lag friedlich auf dem Bett und schien seinen Ruin
überhaupt nicht zu ahnen. Als die Schere gebracht war und der Gehilfe
Jaroslaff Iljitschs, aus Wunsch behilflich zu sein, die Matratze ein
wenig zu hastig hob, um sie besser vom Rücken des Besitzers befreien zu
können, trat ihnen Semjon Iwanowitsch wohl aus Höflichkeit ein wenig
seinen Platz ab und kehrte sich auf die Seite; beim zweiten Ruck machte
er ihnen noch ein wenig Platz und drehte sich mit dem Gesicht aufs
Kissen, mit anderen Worten: drehte ihnen den Rücken zu, und plötzlich
ganz unerwartet fiel er mit dem Kopf voran aus dem Bett, so daß seine
beiden knochigen, mageren und blauen Beine wie zwei verkohlte Äste eines
abgebrannten Baumes in die Luft starrten. Da Herr Prochartschin sich
schon das zweite Mal an diesem Morgen unter das Bett begab, so erregte
das Verdacht und mehrere von den Einwohnern krochen sofort unter der
Anführung Sinowij Prokoffjewitschs unter das Bett, in der Absicht zu
untersuchen, ob nicht da noch was verborgen war. Aber die Suchenden
stießen bloß mit den Köpfen aneinander und da Jaroslaff Iljitsch sie
anschrie und ihnen befahl, sofort Semjon Iwanowitsch von seiner
schlechten Lage zu befreien, so packten ihn denn zwei von den
vernünftigeren mit beiden Händen je an ein Bein und zogen den
unerwarteten Kapitalisten wieder an die Oberfläche und legten ihn quer
aufs Bett. Währenddessen flogen Roßhaar und Watte umher und der silberne
Haufen wuchs – und wuchs und – oh Gott! was war da nicht alles zu
finden! ... Anständige Silberrubel, solide starke anderthalb
Rubelstücke, reizende Fünfziger, plebejischere Fünfundzwanziger und
Zwanziger, altes Kleingeld in Zehnern und Fünfern – alles in besonderen
Papierrollen methodisch und in solider Ordnung eingewickelt. Es waren
auch Seltenheiten dabei: ein Napoleond’or, eine unbekannte und sehr
seltene Münze ... Auch einige von den Silberrubeln waren von hohem
Alter, Elisabetheische, deutsche Kreuzer, Petermünzen, Katharinenmünzen;
auch waren da alte durchlöcherte Silbermünzen, solche, die man früher
als Gehänge trug, sogar Kupfer war dabei, aber schon ganz grün und
rostig gewordenes ... Auch fand man noch ein rotes Stück Papier – aber
das war denn auch alles. Als man endlich die ganze Operation beendigt
und den Überzug der Matratze um und um geschüttelt hatte und nichts mehr
in ihm klirrte noch klimperte, setzte man sich an den Tisch, um das Geld
zu zählen. Auf den ersten Anblick konnte man sich sehr täuschen und den
Geldhaufen auf eine Million schätzen – so groß war er! Aber eine Million
war es denn doch nicht, obgleich es keine geringe Summe war – genau 2497
Rubel und 50 Kopeken. Wenn die Einnahme der Kollekte, die Sinowij
Prokoffjewitsch am Abend vorher zur Unterstützung des _armen Kranken_
entworfen hatte, schon bar vorhanden gewesen wäre, so hätte es genau
2500 Rubel ausgemacht. Man nahm das Geld, versiegelte den Koffer des
Verstorbenen, hörte den Klagen der Wirtin zu und sagte ihr, wohin und an
wen sie sich mit ihrem Schuldschein des Verstorbenen zu wenden hätte.
Wie es sich gehörte, forderte man Unterschriften, man sprach auch dabei
von der Schwägerin, aber man versicherte sich gegenseitig, daß die
Schwägerin in gewissem Sinne nur eine Allegorie sein könnte, die
vielleicht nur in der krankhaften Einbildungskraft Semjon Iwanowitschs
entstanden war, was man nicht nur einmal dem Verstorbenen vorgehalten
haben wollte. Und damit war denn die Sache zu Ende. Als der erste
Schreck sich gelegt hatte, als die armen Winkelmieter mit
wiedergewonnenem Verstande erkennen konnten, wer der Verstorbene
eigentlich gewesen war, so wurden sie nachdenklich und in sich gekehrt
und sahen sich gegenseitig mißtrauisch an. Einige nahmen es sich sehr zu
Herzen und fühlten sich durch solch ein Verhalten Semjon Iwanowitschs
beleidigt ... Solch ein Kapital! Das hat der Mensch zusammengescharrt.
Mark Iwanowitsch, der seine Geistesgegenwart wieder erlangte, wollte
ergründen und untersuchen, warum Semjon Iwanowitsch plötzlich so allen
Mut verloren hatte, aber man hörte ihm nicht mehr zu. Sinowij
Prokoffjewitsch wurde sehr nachdenklich, Okeanoff trank zur Stärkung ein
wenig Schnaps, und die Übrigen fühlten sich gleichfalls sehr bedrückt.
Der kleine Kantareff, der sich nur durch seine Habichtnase auszeichnete,
verließ die Wohnung, nachdem er sorgfältig sein Hab und Gut
zusammengesucht hatte, und erklärte kühl auf die Fragen, warum er
fortginge, daß die Zeit schwer wäre und das Leben hier über seine Mittel
ginge. Die Wirtin heulte ununterbrochen und prophezeite, daß Semjon
Iwanowitsch in die Hölle käme, da er sie, eine arme Waise, ausgenutzt
und beleidigt hätte. Sie fragte Mark Iwanowitsch, warum der Verstorbene
sein Geld nicht in die Sparkasse gebracht habe?

„Mütterchen, er war zu naiv dazu, sein Vorstellungsvermögen reichte
nicht dazu aus,“ antwortete Mark Iwanowitsch.

„Nun, und auch Sie sind naiv, Mütterchen,“ schloß Okeanoff,
„fünfundzwanzig Jahre stärkte sich der Mensch bei Ihnen und von einem
kleinen Nasenstüber fiel er um, bei Ihnen aber kochte die Kohlsuppe,
hatten keine Zeit dafür! Ach Sie, ... Weibsbild! ...“

„Ach, das sagst Du mir! – und was Sparkasse!“ fuhr die Wirtin auf.
„Hätte er mir doch nur eine Handvoll davon gebracht und mir gesagt:
Nimm, Ustinjuschka, hier ist für Dich der Lohn, ernähre Du mich so
lange, wie mich die kühle Mutter Erde noch trägt, das wäre recht
gewesen, ich hätte ihn gefüttert, getränkt, bedient! Ach, dieser
Verführer, solch ein Betrüger! Betrogen hat er mich Waisenkind!“

Man ging wieder ans Bett Semjon Iwanowitschs. Er lag bereits wie es sich
gehörte in seinem besten und übrigens einzigen Anzug, das knochige Kinn
hinter einer Halsbinde, die ihm etwas ungeschickt umgebunden worden war,
gewaschen und gekämmt, aber nicht rasiert, weil ein Rasiermesser in den
Winkeln nicht vorhanden war: das einzige Messer, das Sinowij
Prokoffjewitsch gehört hatte, war schartig geworden und man hatte es auf
dem Trödelmarkt verkauft. Die Anderen gingen alle zum Barbier. Das
Zimmer hatte man aber noch nicht aufräumen können. Die zerrissenen
Schirme lagen noch kreuz und quer umher und entblößten die Vereinsamung
Semjon Iwanowitschs, ganz wie ein Emblem dessen, daß der Tod alle
Vorhänge vor unseren Geheimnissen und Intrigen zerreißt. Das Füllsel der
Matratze lag auch noch in Haufen zerstreut umher. Diesen plötzlich
zerstörten Winkel hätte man mit einem zerstörten Nest von Hausschwalben
vergleichen können, zerschlagen und zerrissen vom Sturm, das warme
Bettchen aus Federn und Wolle zerstört ... Übrigens, Semjon Iwanowitsch
selbst sah eher einem diebischen Spatz ähnlich. Er war ganz still
geworden und tat, als ob er nichts zu verhehlen hätte, an nichts Schuld
wäre und nicht gewissenlos und schamlos die besten Menschen auf die
allerunanständigste Weise betrogen hätte. Er hörte nicht mehr das Weinen
und Schluchzen seiner verwaisten und beleidigten Witwe. Im Gegenteil,
als erfahrener und geriebener Kapitalist, der selbst im Grabe nicht eine
Minute nutzlos verlieren wollte, schien er mit spekulativen Berechnungen
beschäftigt zu sein. Sein Gesicht drückte tiefes Nachdenken aus und die
Lippen waren zusammengepreßt. Er sah geradezu bedeutend aus, – eine
Eigenschaft, der man Semjon Iwanowitsch im Leben nicht hätte
verdächtigen können. Er schien klüger geworden zu sein. Das rechte Auge
war pfiffig zusammengezogen; auch wollte Semjon Iwanowitsch etwas sagen,
etwas sehr Nötiges mitteilen und erklären, um so schnell als möglich die
Geschäfte zu erledigen, denn er schien auch keine Zeit zu haben. Auch
glaubte man ihn sagen zu hören: „Was fehlt Dir? Höre auf zu weinen,
dummes Weib! Heul nicht! Du Mutter, mach’ ein Schläfchen, hörst Du! Ich
bin gestorben; jetzt ist schon nichts mehr nötig ... Was für eine
Wahrheit? Es ist schön so zu liegen ... Ich, hörst Du, spreche übrigens
nicht davon, Du bist ein Weib, hast mich verstanden? Jetzt ist es aus
mit dem Dienst; siehst Du jetzt, wie’s ist? – Dumm! ... fehlt noch!
Aber, weißt Du, wenn ich jetzt aufstehe, was würde dann sein, wie?“




                              Polsunkoff.


                            Eine Erzählung.

Ich sah mir diesen Menschen näher an. Sogar in seinem Äußeren hatte er
etwas so Besonderes, das einen unfreiwillig zwang, wie zerstreut man
auch gewesen wäre, ihn sich näher anzusehn, um dann sofort von einem
unüberwindlichen Lachkrampf befallen zu werden. So geschah es auch mit
mir. Die Äuglein dieses kleinen Herrn waren so beweglich oder vielmehr
er selbst war dem Magnetismus eines jeden auf ihn gerichteten Blickes
dermaßen unterlegen, daß er instinktiv erriet, wann man ihn betrachtete,
sich gleich nach seinem Beobachter umkehrte und unruhig dessen Blick zu
analysieren begann. Durch seine ständige Beweglichkeit und sein ewiges
hin und her ähnelte er tatsächlich auffallend einer kleinen Wetterfahne.
Sonderbar! Wie es schien, fürchtete er, daß man über ihn lachen könnte,
und doch verdiente er sich gerade damit sein Brot: er war Allerweltsnarr
und ließ sich, je nachdem in welcher Gesellschaft er sich befand, im
moralischen wie im physischen Sinne alles gefallen. Freiwillige Narren
tun einem ja nicht leid. Aber ich bemerkte sofort, daß dieses sonderbare
Geschöpf, dieser lächerliche Mensch kein Narr von Beruf war. In ihm
steckte noch etwas Anständiges. Seine Unruhe, seine ewig krankhafte
Angst vor der Lächerlichkeit sprachen zu seinen Gunsten. Mir schien es
vielmehr, daß sein Wunsch, anderen zu Diensten zu sein, nur aus seinem
guten Herzen entsprang, nicht aber aus Berechnung eines materiellen
Vorteils etwa. Er erlaubte es mit Vergnügen, daß man über ihn aus vollem
Halse und in der taktlosesten Weise lachte, zu gleicher Zeit aber – und
ich könnte es schwören – schmerzte ihm sein Herz, und das Blut stieg ihm
zu Kopf bei dem Gedanken, daß seine Zuhörer so gemein und herzlos sein
konnten, nicht nur über seine Witzchen allein, sondern auch noch über
ihn selbst, ja über seinen ganzen Menschen zu lachen. Ich bin überzeugt,
daß er in diesen Minuten die ganze Dummheit seiner Lage fühlte; aber der
Protest erstarb sofort in seiner Brust, um jeden Augenblick von neuem
geboren zu werden. Wie gesagt, ich bin überzeugt, daß bei ihm alles nur
vom guten Herzen kam und nicht aus Angst vor dem materiellen Schaden,
sagen wir, etwa fortgejagt zu werden und hinfort kein Geld mehr gepumpt
zu erhalten: dieser Herr borgte nämlich immer Geld, d. h., er bat in
dieser Form Almosen, und wenn er genug Faxen gemacht und andere auf
seine Rechnung belustigt hatte, glaubte er, sich teilweise diese Almosen
verdient zu haben. Aber, mein Gott, was war das für ein Pumpen! Und auf
welche Weise machte er diesen Pump! Man hätte es niemals voraussetzen
können, daß auf einer so kleinen Oberfläche, wie es das runzelige,
eckige Gesicht dieses Menschen war, zu ein und derselben Zeit, so viel
verschiedenartige Grimassen, so viel sonderbare, charakteristische
Ausdrücke und die Widerspiegelung soviel allerqualvollster Eindrücke
Platz finden konnten.

Was war doch alles auf ihm zu erblicken, – Scham und erlogene Frechheit,
Ärger, Bangen vor dem Mißerfolg, die Bitte um Verzeihung, daß er es
wagte, einen zu belästigen, das Bewußtsein des eigenen Wertes und
wiederum das vollkommene Bewußtsein seiner eigenen Nichtigkeit – alles
das ging wie Wetterleuchten über sein Gesicht. Ganze sechs Jahre lang
fristete er sein Dasein in dieser Weise auf der Gotteswelt und konnte
sich noch immer nicht in der wichtigsten Minute des Pumpes eine Haltung
geben. Versteht sich, er konnte nicht gefühllos werden oder gar gemein
handeln. Sein Herz war zu beweglich, zu heiß! Ja, meiner Meinung nach
war er der alleranständigste und ehrlichste Mensch auf der Welt, der
aber nur mit einer einzigen kleinen Schwäche behaftet war: er konnte
nämlich auf den ersten Befehl gutmütig und uneigennützig eine Gemeinheit
begehn, nur um den Nächsten einen Gefallen zu erweisen. Mit einem Wort,
als Mensch war er ein vollständiger Lappen. Aber am allerlächerlichsten
war es doch, daß er ebenso gekleidet war wie alle, nicht schlechter,
nicht besser, sauber und sogar mit einer gewissen Gesuchtheit, mit
Anspruch auf Solidität und persönliche Würde. Dieses Streben nach
äußerer und gewiß auch innerer Gleichheit, die Unruhe um sich selbst und
zu gleicher Zeit diese ununterbrochene Selbsterniedrigung – alles das
bildete den schreiendsten Kontrast und war des Mitleids und des
Gelächters wert. Wenn er in seinem Herzen überzeugt gewesen wäre, daß
alle Lacher die besten Menschen der Welt sind – was er trotz seiner
Erfahrungen immer noch glaubte –, und daß sie nur über die Tatsache der
Lächerlichkeit, nicht aber über seine Persönlichkeit lachten, so würde
er mit Vergnügen seinen Frack ausgezogen und ihn umgekehrt angezogen
haben und in diesem Gewande den Anderen zum Gefallen und sich selbst zur
Genugtuung durch die Straßen gegangen sein, nur um seine Gönner zu
erheitern und ihnen Vergnügen zu bereiten. Aber die Gleichheit konnte er
doch nie und nimmer und durch nichts erreichen. Übrigens noch ein Zug:
der sonderbare Kauz hatte ehrgeizige Anwandlungen und, wenn gerade keine
Gefahr vorhanden war, auch sogar großmütige. Man mußte nur sehn und
hören, wie er es verstand, zuweilen sogar ohne sich zu schonen, folglich
also mit einem Risiko, ja, fast mit Heldenmut, irgend jemanden von
seinen Gönnern, der ihn zu sehr gekränkt hatte, zu bearbeiten! Aber das
kam nur in seltenen Minuten vor ... Kurz, er war ein Märtyrer in des
Wortes vollster Bedeutung, aber der allernutzloseste und daher
allerlächerlichste Märtyrer der Welt.

Unter den Gästen erhob sich ein allgemeiner Streit. Plötzlich sah ich
wie mein Kauz vom Stuhle springt und aus allen Kräften schreit, man möge
doch ausschließlich ihm das Wort geben.

„Passen Sie auf,“ flüsterte mir der Wirt zu. „Er erzählt mitunter die
sonderbarsten Sachen ... Interessiert er Sie?“

Ich nickte mit dem Kopf und mischte mich unter die Zuhörer. Der Anblick
eines anständig gekleideten Herrn, der auf dem Stuhl stand und die ganze
Gesellschaft überschrie, erweckte die allgemeine Aufmerksamkeit. Viele,
die den Sonderling nicht kannten, sahen sich unwillig unter einander an,
andere wiederum lachten über ihn aus vollem Halse.

„Ich kenne Fedossei Nikolajitsch! Ich muß Fedossei Nikolajitsch von
allen am besten kennen!“ rief er von seinem erhöhten Platze aus. „Meine
Herren, ich bitte ums Wort! Ich werde von Fedossei Nikolajitsch
erzählen! Eine Geschichte, sag ich Ihnen – einfach wundervoll!“

„Erzählen Sie, Ossip Michailytsch, erzählen Sie!“

„Erzähl!!!“

„Hört doch ...“

„Hören Sie, hören Sie!!!“

„Ich beginne. Aber meine Herren, diese Geschichte ist sehr sonderbar
...“

„Gut, gut!“

„Diese Geschichte ist sehr lächerlich.“

„Schon gut, wundervoll, vorzüglich, – zur Sache!“

„Sie ist eine Episode aus dem Leben Ihres alleruntertänigsten ...“

„Nun, wozu gaben Sie sich dann noch die Mühe, zu versichern, daß sie
lächerlich ist!“

„Und sogar ein bißchen tragisch!“

„Ah????“

„Mit einem Wort, die Geschichte – beendigen Sie das Vergnügen bereitet,
mich zu hören, meine Herrn, – die Geschichte infolge der ich in eine für
mich so interessante Gesellschaft geraten bin!“

„Die Geschichte ...“

„Mit einem Wort, die Geschichte – beendigen Sie etwas schneller Ihren
Apolog – die Geschichte, die wohl wieder etwas kosten wird,“ fügte mit
heiserer Stimme ein junger Herr hinzu, steckte seine Hand in die Tasche
und zog wie zufällig statt des Taschentuchs seinen Geldbeutel hervor.

„Eine Geschichte, meine Herren, nach der ich gern viele von Ihnen an
meiner Stelle sehen würde. Und, endlich, die Geschichte, der zufolge ich
nicht geheiratet habe.“

„Geheiratet! ... Eine Frau! ... Polsunkoff wollte heiraten!! Du lieber
Gott!!“

„Ich muß gestehn ich hätte gern Mme. Polsunkoff gesehn!“

„Erlauben Sie, bitte, mich zu erkundigen, wer denn diese gewesene Frau
Polsunkoff war?“ piepste ein blondlockiger Jüngling, der sich dem
Erzähler näherte.

„Also, meine Herren, das erste Kapitel: es war genau vor sechs Jahren,
im Frühling, am 31sten März, – bemerken Sie das Datum, meine Herren – am
Vorabend ...“

„Des ersten April!“ rief der blondlockige Jüngling.

„Sie sind wirklich ungemein scharfsinnig. Also: es war Abend. Über die
Gouvernementsstadt N. verdichtete sich die Dämmerung und der Mond
schickte sich an, langsam am blauen Himmelszelt aufzutauchen ... mit
einem Wort, kurz, alles war wie es sich gehörte. Und siehe da, – in der
spätesten Dämmerstunde war’s, da tauchte auch ich ganz leise und
heimlich aus meiner kleinen Wohnung auf, nachdem ich mich noch vorher
von meiner ‚total verschlossenen‘ Großmutter verabschiedet hatte.
Entschuldigen Sie, meine Herren, daß auch ich diesen modernen Ausdruck
gebrauche, den ich erst neulich von Nikolai Nikolajitsch hörte. Aber
meine Großmutter war in der Tat vollkommen verschlossen: sie war blind,
taub, stumm und dumm, – mehr kann man doch nicht verlangen ... Ich muß
gestehn, ich zitterte am ganzen Körper, denn was ich vorhatte, war
bedeutungsschwer für mich; das Herz zitterte mir wie einem Kater, der
eine knöcherne Hand an seinem Genick fühlt.“

„Erlauben Sie, Mr. Polsunkoff.“

„Sie wünschen?“

„Erzählen Sie einfacher; bitte geben Sie sich nicht so große Mühe!“

„Zu Befehl,“ sagte Ossip Michailytsch ein wenig ungehalten über die
Unterbrechung. „Also ich ging zu Fedossei Nikolajitsch – in sein
wohlerworbenes Haus. Fedossei Nikolajitsch war bekanntlich nicht mein
Mitarbeiter, sondern mein gestrenger Vorgesetzter. Ich wurde angemeldet
und man führte mich sofort zu ihm in’s Kabinett. Ich sehe es noch jetzt
vor mir; ein fast, fast ganz dunkles Zimmer war’s; Licht wurde nicht
gebracht. Ich warte: da tritt auch schon Fedossei Nikolajitsch ein. Und
so blieben wir denn beide in der Dunkelheit ...“

„Was ging denn zwischen Ihnen vor?“ fragte ein Offizier.

„Ja, was meinen Sie wohl?“ fragte Polsunkoff, und wandte sich
unverzüglich mit zuckendem Gesicht an den Jüngling mit den Locken.

„Nun, meine Herren, es war eine sonderbare Situation. Das heißt,
sonderbar war an ihr eigentlich nichts, es war, wie man es so nennt,
eine rein praktische Gelegenheit – ich zog einfach aus meiner Tasche
einen Packen Papiere, das heißt Staatspapiere ...“

„Papiere?“

„Und er zog gleichfalls aus seiner Brusttasche einen Packen Papier
hervor und wir tauschten die beiden Packen aus.“

„Ich könnte wetten, daß es nach Sporteln roch,“ äußerte sich ein gut
gekleideter und gut frisierter junger Herr.

„Sporteln?“ griff sofort Polsunkoff das Wort auf, – „Ach!

   Wär ich doch ein Liberaler,
   Wie ich viele schon gesehn!

Wenn Sie einmal in der Provinz dienen sollten, so werden Sie sehn, daß
Sie Ihre Hände am Herd des Vaterlandes nicht wärmen können, wenn Sie
nicht ... Sagte doch ein Dichter: Selbst der Rauch des Vaterlandes ist
mir angenehm und lieb! Unser Vaterland ist unsere Mutter, unsere Mutter,
meine Herren, die leibliche Mutter, wir aber sind ihre Säuglinge, und so
saugen wir denn auch an ihm! ...“

Ein allgemeines Gelächter erhob sich.

„Aber glauben Sie mir, meine Herren, ich habe niemals Sporteln
genommen,“ sagte Polsunkoff, wobei er plötzlich mißtrauisch die ganze
Versammlung übersah. Doch wahrhaft homerisches Gelächter verschlang die
Worte Polsunkoffs.

„Nein, wirklich, meine Herren ...“

Er verstummte aber plötzlich, und betrachtete alle mit einem sonderbaren
Ausdruck. Vielleicht – wer kann es wissen – vielleicht kam es ihm in
dieser Minute in den Sinn, daß er ehrlicher und anständiger war als
viele hochgeehrte Herren dieser anständigen Gesellschaft ... Und bis zum
Schluß der allgemeinen Heiterkeit blieb der Ausdruck seines Gesichtes
ernst und nachdenklich.

„Also,“ begann Polsunkoff, als die Heiterkeit sich gelegt hatte,
„obgleich ich niemals Sporteln genommen, beging ich doch dieses Mal eine
Sünde: ich schob die Bestechung in meine Tasche ... die Bestechung von
einem bestechlichen Beamten ... Das heißt, in meinen Händen befanden
sich Papiere, die ... kurz, wenn ich es gewollt hätte, sie Jemandem zu
schicken, so wäre es Fedossei Nikolajitsch schlecht ergangen.“

„So kaufte er sie also von Ihnen zurück?“

„Das tat er.“

„Wieviel gab er Ihnen denn dafür?“

„Er gab soviel, für wieviel ein Anderer in unserer Zeit sein Gewissen
verkaufen würde, mit allen Variationen desselben ... wenn man ihm dafür
nur soviel geben würde. Ich aber war wie mit siedendem Wasser begossen,
als ich das Geld in meine Tasche steckte. Wirklich, ich weiß nicht,
meine Herren, wie das bei mir zuging, denn ich war weder tot, noch
lebendig, meine Lippen konnte ich kaum bewegen, die Kniee zitterten mir;
schuldig, schuldig fühlte ich mich, ganz furchtbar schuldig; machte mir
ein Gewissen, war sogar bereit, Fedossei Nikolajitsch um Vergebung zu
bitten ...“

„Nun, verzieh er Ihnen?“

„Aber ich tat es ja doch nicht ... ich erzähle doch nur, wie mir damals
zu Mute war; ich habe, das heißt ... ich habe ein heißes Herz. Ich sehe,
er blickt mir gerade in die Augen: ‚Gott fürchten Sie nicht, Ossip
Michailytsch?‘ Nun, was war da zu machen? Ich breitete so die Hände aus,
blickte zur Seite. – ‚Warum soll ich denn Gott nicht fürchten, Fedossei
Nikolajitsch?‘ Sage das nur so aus Anstand ... selbst bin ich bereit in
die Erde zu sinken. ‚Sie, der so lange der Freund unseres Hauses gewesen
sind, Sie, der Sie uns fast ein Sohn ... und wer weiß, was vom Schicksal
uns noch bestimmt gewesen wäre, Ossip Michailytsch! Und plötzlich,
bereiten Sie sich vor mich anzugeben! ... Was soll man nach alledem von
den Menschen denken, Ossip Michailytsch?‘ Ach, meine Herren, wie hat er
mir ins Gewissen geredet! – ‚Sagen Sie mir, was soll man nach alledem
von den Menschen denken, Ossip Michailytsch?‘ fragt er mich. – ‚Was,‘
denke ich, ‚was soll man denn denken?‘ Wissen Sie, die Kehle wurde mir
trocken und das Stimmchen zitterte mir, ich fühlte schon, daß ich weich
wurde und griff zur Mütze ... ‚Wohin wollen Sie, Ossip Michailytsch?
Werden Sie wirklich am Vorabend solch eines Tages ... werden Sie es mir
wirklich nachtragen? Was habe ich Ihnen denn Böses getan? ...‘ ‚Fedossei
Nikolajitsch,‘ sage ich, ‚Fedossei Nikolajitsch!‘ Mit einem Wort, meine
Herren, ich wurde windelweich, wie ein nasses Zuckerstück schmolz ich
zusammen. Und das Paket mit den Banknoten, das in meiner Tasche lag,
schien mir gleichfalls zuzurufen: ‚Undankbarer Räuber, ruchloser Dieb,
Du!‘ – und fünf Pud schwer dünkte es mich – wenn es doch in Wahrheit nur
fünf Pud gewogen hätte! – ‚Ich sehe, daß Sie es bereuen,‘ sagt Fedossei
Nikolajitsch – ‚Wissen Sie, morgen ist der Namenstag ... Nun, weine
nicht, genug: hast gesündigt und bereust es! Gehn wir! Vielleicht
gelingt es mir, Dich auf den rechten Weg zurückzuführen! Vielleicht
werden meine bescheidenen Penaten – erinnere mich ganz genau, der Räuber
sagte Penaten – Dich erwärmen, werden Dein Herz ...‘ Er faßte mich unter
den Arm und führte mich zu den Seinen. Mir lief es kalt über den Rücken;
ich zitterte. Mit welchen Augen werden sie mich ansehn? dachte ich. Sie
müssen nämlich wissen, meine Herren ... wie soll ich’s Ihnen sagen, es
gab da noch so eine delikate Geschichte ...“

„Etwa Madame Polsunkoff?“

„Marja Fedossejewna war es nicht bestimmt, solch eine Madame zu werden,
wie Sie sie zu nennen belieben. Doch Fedossei Nikolajitsch war im Recht,
wenn er sagte, daß ich im Hause fast für einen Sohn gehalten wurde. Vor
einem halben Jahre war das schon der Fall gewesen, nämlich als noch
Michail Maximytsch Dwigailoff, der Junker außer Diensten, lebte. Aber
nach einem höheren Ratschluß Gottes starb er und da er das
Testamentmachen immer aufgeschoben, so konnte man auch nachher nirgendwo
eines finden ...“

„Ah!!!“

„Nun, nichts zu machen, meine Herren, entschuldigen Sie, ich habe mich
versprochen, das war allerdings nicht schön, doch das will ja auch
nichts besagen, dafür aber war die Sache selbst um so schlechter, als
ich zurückblieb, sozusagen, bloß mit der Null in der Perspektive, denn
der Junker außer Diensten, wenn ich auch sein Haus nicht betreten durfte
– er lebte auf großem Fuße, wahrscheinlich weil er früher lange Finger
gehabt – so hielt er mich vielleicht doch nicht ganz irrtümlicher Weise
für seinen leiblichen Sohn.“

„Aha!!!“

„Ja, also so war’s! Nun, und da zeigte man mir bei Fedossei Nikolajitsch
lange Nasen. Ich bemerkte es denn auch sofort und war darob nicht wenig
verwundert, bezwang mich aber. Da kam plötzlich zu meinem Unglück – oder
vielleicht auch zu meinem Glück – wie kalter Schnee auf’s Haupt, in
unser Städtchen ein Remonteoffizier hereingesaust. Nun, wissen Sie,
seine Aufgabe wurde ihm nicht allzu schwer gemacht, Kavallerieplänkelei
... wenn er sich nur nicht bei Fedossei Nikolajitsch so festgesetzt
hätte, saß wie eine Kugel in der Wand! Ich, der langjährige Hausfreund
war vergessen ... und, wissen Sie, dumme Angewohnheit: nehme Fedossei
Nikolajitsch bei Seite und erkläre ihm so und so, warum denn gleich
beleidigen! Da ich doch in gewissem Sinne schon wie ein Sohn war ... Das
Väterliche, das Väterliche ... ach, nun ja, das heißt, ich meine, wie
soll ich’s denn abwarten!? Nun, er antwortete mir, das heißt, er
erzählte mir ein ganzes Poem in zwölf Liedern und Gesängen, schon allein
vom Zuhören fließt es einem wie Honig über die Seele, man leckt sich
bloß die Lippen. Fragst Du Dich aber nach dem Sinn der Worte, so stehst
Du wie ein Ochs am Berg: der Schuft dreht sich wie ein Aal, bleibt
nirgends stecken, geht ölglatt über alle Hindernisse hinweg. Mit einem
Wort, ein Talent hatte er, sag ich Ihnen, ein Talent, daß einem angst
und bange wurde, wirklich eine phänomenale Begabung! Weder ja noch nein,
denk Dir, was Du willst. Nun, Sie können sich denken, was ich mir
dachte! Schleppe ihr Romanzen zu, bringe Konfekt und brüte Witzchen aus,
seufze und stöhne, Ach und Weh, mein Herz schmerzt mir vor Liebe, sage
ich und weine Tränen, mache heimliche Geständnisse. Dumm ist der Mensch!
Der Alte hatte ja nicht in den Kirchenbüchern nachgeschlagen, wußte also
nicht, daß ich dreißig Jahre alt war! Fehlt noch! Wollte schlau sein!
Aber meine Sache glückte mir nicht, Spott und Gelächter rund um mich
herum ... da packte mich die Wut und preßte mir die Kehle zu. Ich ging
davon, gedachte in dieses Haus nie mehr meinen Fuß zu setzen – und die
Sache anzugeben. Ich gebe es zu, daß es gemein von mir war, den Freund
angeben zu wollen, aber Material dazu war viel vorhanden, kostbares
Material, wäre eine kapitale Sache gewesen! Tausendfünfhundert brachte
es mir ein, als ich es gegen Papierscheine eintauschte!“

„Ah! Da haben wir die Sporteln!“

„Ja, mein Herr, das wären Sporteln gewesen, die mir ein käuflicher
Mensch bezahlt hätte! Und das wäre doch wirklich keine Sünde gewesen.
Aber ich werde meine Erzählung jetzt wieder aufnehmen: wie Sie sich
vielleicht noch erinnern, zog er mich halbtot, also nur halb lebendig
ins Teezimmer; man empfängt mich: alle scheinen sie beleidigt, das
heißt, nicht gerade beleidigt, sondern so betrübt zu sein, daß es schon
einfach ... Mit einem Wort, niedergeschlagen, ganz niedergeschlagen, auf
ihren Gesichtern lag eine Feierlichkeit, sag’ ich Ihnen, eine Trauer in
ihren Blicken, so etwas Väterliches, Verwandtschaftliches ... der
verlorene Sohn kehrte wieder zurück. Kurz, man setzte sich an den Tisch,
um Tee zu trinken: mir selbst kochte ein Samowar in der Brust, meine
Füße waren eiskalt: ich zitterte, betete! Marja Fominischna, seine
Gemahlin, Hofrätin – jetzt ist sie Frau Kollegienrat – redete mich
sofort mit _Du_ an: ‚Warum bist Du, Väterchen, so abgemagert?‘ fragte
sie. – ‚Nur so, bin erkältet, Marja Fominischna,‘ sage ich ... das
Stimmchen zitterte mir. Und sie beginnt sofort, mir nichts, dir nichts,
die Sachen abzuwickeln, solch eine Viper: daß augenscheinlich wohl das
Gewissen mich quäle. ‚Unser verwandtschaftliches Salz und Brot, das Du
verraten wolltest, meine blutigen Tränen, die ich vergossen habe,
brennen Dir wohl auf dem Herzen‘. Bei Gott, das sagte sie, gegen ihr
eigenes Gewissen sagte sie das! Ein verwegenes Weib war sie! Saß da am
Tisch und goß den Tee ein. Warte, dachte ich, wenn Du auf dem Markt
wärest, würdest Du alle anderen Weiber überschreien. Solch eine war
unsere Hofrätin. Und zu meinem Unglück trat jetzt noch die Tochter Marja
Fedossejewna mit ihrer ganzen Unschuld ins Zimmer, ein wenig bleich, die
Äuglein wie von Tränen gerötet – ich war vernichtet, auf der Stelle
vernichtet! Später erfuhr ich es, daß sie die Tränen wegen des
Remonteoffiziers vergossen hatte: der hatte sich heimlich aus dem Staube
gemacht, die Flucht auf seine Weise ergriffen, denn es war für ihn Zeit
geworden, den Rückzug anzutreten ... doch war’s nicht etwa ein Befehl
von oben gewesen, der ihn dazu gezwungen hatte. Nein ... nachher erst
bemerkten es die Eltern, aber was war dann noch zu machen? Mußten das
Unglück in aller Stille beseitigen! ... Ich aber, ich war, als ich sie
erblickte, einfach vernichtet, ich griff nach meinem Hut, wollte so
schnell als möglich spurlos verschwinden ... aber man nahm mir den Hut
fort ... Ich wollte schon ohne Hut auf und davon – man schloß die Tür
zu, man lächelte, man blinzelte sich gegenseitig zu, – ich wurde ganz
konfus, ich stammelte irgend etwas, sprach vom Liebesgotte Amor: sie,
das Täubchen, setzte sich ans Klavier und sang in traurigen beleidigten
Tönen eine Romanze von einem Husaren, der sich auf seinen Säbel stützte.
Großer Gott! – ‚Ach, alles, alles soll vergessen sein, komm in meine
Arme!‘ rief mir plötzlich Fedossei Nikolajitsch zu. Ich, wie ich da war,
fiel mit meinem Gesicht auf seine Weste. ‚Mein Wohltäter, mein
leiblicher Vater,‘ rief ich und weinte heiße Tränen. Mein Gott! Die
Folgen waren fürchterlich! Er weinte, die Frau weinte, Maschenka weinte
... und noch eine blonde Dame war dort, und auch die weinte ...
plötzlich krochen aus allen Ecken und Enden Kinder hervor – Gott hatte
sein Haus gesegnet! – und auch die brüllten mit ... wieviel Tränen,
wieviel Verzeihen, welch eine Freude, einen Verlorenen brachte man
zurück, ich wurde beweint, wie ein Soldat, der in die Heimat
zurückkehrt! Man reichte Süßigkeiten herum, spielte Pfänderspiele und
blinde Kuh: ‚Oh, wie es schmerzt‘! – ‚Was schmerzt?‘ – ‚Das Herz!‘ –
‚Warum?‘ Sie wird rot, das Täubchen! Der Alte und ich tranken darauf
einen Punsch, – man ging endlich auseinander und hatte mich vollständig
eingezuckert ... Ich kehrte zu meiner Großmutter zurück. Mein Kopf ging
mir rund; auf dem ganzen Wege hatte ich vor mich hingelächelt, zu Hause
ging ich zwei geschlagene Stunden in meinem Zimmer auf und ab, weckte
die Alte auf, teilte ihr all mein Glück mit. ‚Hat er Dir das Geld
gegeben, der Räuber?‘ – ‚Hat gegeben Großmütterchen, hat gegeben, meine
Liebe, das Glück ist bei uns eingezogen, öffne nur die Arme!‘ – ‚Nun,
jetzt heirate aber, jetzt ist es Zeit, daß Du heiratest,‘ sagt mir die
Alte, ‚meine Gebete sind erhört worden‘. Ich weckte Ssofron. ‚Ssofron,
zieh’ mir die Stiefel aus! Nun, Ssofroscha! Jetzt kannst Du mir
gratulieren, kannst mich umarmen! Ich heirate einfach, Brüderchen, ich
heirate, kannst Dich morgen betrinken, kannst einmal durchgehn, liebe
Seele, so viel Du willst. Dein Herr heiratet!‘ Eitel Sonnenschein war in
meinem Herzen! ... Schon wollte ich einschlafen, aber wieder erhob ich
mich und dachte und dachte, und plötzlich ging es mir durch den Kopf:
morgen ist der erste April, solch ein heller, spielerischer Tag, wie
wär’ es – wenn? ... Und was glauben Sie, meine Herren, ich stand vom
Bett auf, zündete das Licht an und setzte mich an den Schreibtisch. Ich
war außer Rand und Band, hatte mich schon ganz vergessen, – wissen Sie,
meine Herren, wie es ist, wenn ein Mensch sich ganz im Spiel verliert?
Mit dem Kopf voran bin ich ins Unglück gerannt! Das liegt schon so im
Charakter: sie nehmen Dir etwas und Du gibst Ihnen alles, was Du sonst
noch hast. Sie geben Dir einen Backenstreich, Du aber bietest Ihnen zum
Vergnügen noch den ganzen Rücken hin. Sie zeigen Dir wie einem Hund ein
Stückchen Weißbrot, und Du greifst aus ganzer Seele und mit ganzem
Herzen mit Deiner dummen Pfote danach – und küßt Ihre Hände! Wenn das
wenigstens jetzt ... Meine Herren! Sie lachen und flüstern unter
einander, ich sehe es ja! Nachher, wenn ich Ihnen alle meine Geheimnisse
erzählt haben werde, so werden Sie über mich lachen, werden mich
hinausstoßen, ich aber werde Ihnen erzählen, erzählen, alles erzählen!
Wer hat mich dazu gezwungen! Wer hat es mir befohlen? Wer steht hinter
meinem Rücken und flüstert mir zu: erzähle, erzähle! Und ich erzähle und
krieche Ihnen damit in die Seele, als ob Sie meine leiblichen Brüder
oder Busenfreunde wären ... eh!“

Das Gelächter, das sich immer mehr und mehr verbreitete, übertönte
schließlich vollständig die Stimme des Erzählers, der wirklich in
Begeisterung geraten war; er hielt inne, seine Augen liefen einige
Minuten lang über die Versammlung hin, und plötzlich, wie vom Sturme
mitgerissen, fing er selbst zu lachen an, als ob er wirklich seine Lage
so lächerlich fand – und setzte dann erst wieder seine Erzählung fort:

„Ich schlief so gut wie überhaupt nicht, meine Herren; die ganze Nacht
fast kritzelte ich auf dem Papier herum; hatte mir einen Scherz
ausgedacht! Ach, meine Herren, wenn ich daran denke, so wird mir
schlecht zu Mut! Das kommt vom Nachtwachen, von verschlafenen Augen,
hatte mir da was ausgeheckt, was zusammengelogen! Am anderen Morgen
erwachte ich, hatte im ganzen nur zwei Stunden geschlafen, kleidete mich
an, wusch mich, frisierte und pomadisierte mich, zog mir einen neuen
Frack an und begab mich geradewegs zum Fest zu Fedossei Nikolajewitsch.
Das Papier hatte ich in den Hut gesteckt. Er empfing mich selbst mit
geöffneten Armen und wollte mich wieder an seine väterliche Weste
pressen. Ich aber nahm eine vornehme Haltung an und trat einen Schritt
zurück: ‚Nein, Fedossei Nikolajitsch, wollen Sie gefälligst dieses
Papier durchlesen,‘ sagte ich, und überreichte ihm das Papier, und
wissen Sie, was in dem Bericht enthalten war? Daß ein gewisser Ossip
Michailytsch aus diesen und jenen Gründen seinen Abschied einreicht, –
und unterzeichnet hatte ich es mit meinem vollen Rang und Namen! Großer
Gott, daß ich mir auch gerade das hatte ausdenken müssen! Klügeres
konnte mir natürlich nicht einfallen! Heute ist der erste April,
folglich werde ich mir den Spaß erlauben und eine Miene aufsetzen, als
ob ich mich noch gekränkt fühlte und mich über Nacht bedacht hätte, daß
ich Euch, meine verwandtschaftlichen Wohltäter und Eure Tochter
überhaupt nicht brauche; das Geld habe ich mir gestern in die Tasche
gesteckt, bin daher versorgt und reiche jetzt meinen Abschied ein.
Möchte vielleicht unter solch einem Vorgesetzten wie Fedossei
Nikolajitsch nicht dienen! Werde mir einen anderen Dienst suchen und
dann die Denunziation doch einreichen. Zu solch einem Schurken machte
ich mich, um sie zu erschrecken! Da war denn Grund genug vorhanden, um
erschrocken zu sein! Seit dem vergangenen Tage hing ich mit ganzem
Herzen an ihnen; werde mir einen Familienscherz erlauben, dachte ich,
werde das väterliche Herz Fedossei Nikolajitschs beängstigen ...

Er griff sofort nach dem Papier, öffnete es und ich sah, wie seine ganze
Physiognomie sich veränderte. ‚Wa–a–s, Ossip Michailytsch?‘ – ‚Erster
April! Prost Fest, Fedossei Nikolajitsch!‘ sage ich ihm wie ein
Dummkopf. Das heißt, wie ein kleiner Junge, der sich hinter dem Stuhl
der Großmutter versteckt hat und plötzlich um sie zu erschrecken ihr aus
vollem Halse Kikiriki ins Ohr schreit! Ja ... man schämt sich einfach,
so was zu erzählen, meine Herren! Nein, ich werde lieber nicht mehr
fortfahren ...!“

„Aber nein, weiter, weiter!“

„Nein, nein, erzählen Sie doch! Nein, unbedingt erzählen Sie, erzählen
Sie!“ tönte es von allen Seiten.

„Nun, meine Herren, man ächzte und seufzte und saß über mich zu Gericht.
Ein Schelm sei ich, und ein Spaßvogel sei ich und ich hätte sie so
erschreckt und so viel Süßes hörte ich, daß ich mich selbst schämte und
mit Schrecken daran dachte: ‚wie kann solch ein Sünder wie ich, solch
einen heiligen Platz einnehmen!‘ – ‚Nun, mein Werter,‘ quiekte die
Hofrätin, ‚hast mich so erschreckt, daß mir noch jetzt die Kniee zittern
und ich mich kaum auf den Füßen halten kann! Wie eine Halbwahnsinnige
lief ich zu Maschenka und frage sie, was wird aus uns werden! Sieh, als
was der Deinige sich entpuppt! So sündigte ich, mein Lieber, mußt mir
Alten schon verzeihen! Nun, dachte ich: gestern Abend ist er spät nach
Hause gekommen, hat sich’s dann noch überlegt, schien ihm vielleicht,
daß wir ihm gestern zu sehr den Hof gemacht, ihn beeinflußt haben. Laß
gut sein, Maschenka, brauchst mir nicht abzuwinken, Ossip Michailytsch
ist uns ja doch kein Fremder, und ich bin Deine Mutter, werde schon
nichts Unnötiges sagen! Gott sei Dank, lebe ja doch nicht erst seit
zwanzig Jahren auf der Welt, sondern schon seit ganzen fünfundvierzig!‘
...“

„Nun, was glauben Sie, meine Herren, ich wäre ihr beinahe zu Füßen
gestürzt! Man weinte wieder Tränen der Freude und umarmte sich, erlaubte
sich Scherzchen. Fedossei Nikolajitsch dachte sich auch einen
Aprilscherz aus! Er sagte, daß ihm der Vogel Phönix in seinem
brillantenen Schnabel einen Brief gebracht hätte. Man lachte viel
darüber. Man schämt sich rein, es zu erzählen!“

„Nun, meine Herren, jetzt komme ich zum Schluß meiner Erzählung. Wir
lebten so noch einen Tag, den zweiten, den dritten, die ganze Woche; ich
war also Bräutigam. Die Ringe waren bestellt, der Tag schon festgesetzt,
man wollte es nur vorläufig noch nicht veröffentlichen, da man den
Revisor erwartete. Ich erwartete ihn besonders ungeduldig, er störte
mein Glück. Wenn man ihn doch schon wieder vom Halse hätte, dachte ich.
Fedossei Nikolajewitsch aber überließ mir unter Scherzen und Lachen alle
Arbeit: Rechnungen und Berichte zu schreiben, die Bücher zu vergleichen
und was noch mehr. Die schrecklichste Unordnung herrschte überall, alles
war rückständig, voll von Häkchen und Hindernissen. Nun, denke ich, tue
es für den Schwiegervater! Der aber kränkelte die ganze Zeit schon und
es wurde mit ihm von Tag zu Tag immer schlechter und schlechter. Ich
selbst aber war schon so abgemagert wie ein Streichhölzchen, arbeitete
die Nächte durch und fürchtete mich bereits, ganz zusammenzubrechen.
Wurde aber doch mit der Arbeit bis zum Termin fertig. Plötzlich schickt
man einen Boten nach mir, ich möge doch so schnell als möglich kommen,
Fedossei Nikolajitsch ginge es schlecht. Ich laufe hin, und zerbreche
mir schon unterwegs den Kopf, was da wohl los sein könnte? Mein Fedossei
Nikolajitsch sitzt, den Kopf mit Essigkompressen umwickelt, krächzt,
stöhnt, seufzt: Och und Ach! ‚Mein Werter, mein Lieber,‘ sagt er, ‚ich
sterbe, wem werde ich meine Küken überlassen?‘ Frau und Kinder
jammerten, Maschenka war in Tränen aufgelöst – nun, und ich selbst fing
an zu weinen! ‚Nein, Gott wird nicht so ungerecht sein, daß er meine
Familie für meine Sünden strafen wird,‘ sagte er. Darauf befahl er ihnen
allen, das Zimmer zu verlassen, die Tür zu schließen und uns allein zu
lassen. ‚Habe eine Bitte an Dich!‘ – ‚Welch eine?‘ – ‚So und so,
Brüderchen, würde im Grabe keine Ruhe haben: habe Geld nötig!‘ – ‚Wie
denn das?‘

Ich stotterte und erbleichte. ‚Ja, Brüderchen, mußte von eigenem Gelde
in die Kasse legen; ich, Brüderchen, spare nicht, wenn es sich um den
allgemeinen Nutzen handelt! Schone nicht einmal mein Leben! Glaube nicht
Schlechtes von mir, man hat mich bei Dir verleumdet ... Der Kummer um
Dich machte mir mein Haar ergrauen. Der Revisor wird erwartet und bei
Matwejeff fehlen sieben Tausend Rubel in der Kasse, _ich_ muß dafür
verantworten, wer denn sonst! Von mir wird man sie verlangen, und von
Matwejeff ist doch nichts zu holen! Habe schon so wie so genug von ihm!‘

‚Alle Heiligen,‘ denke ich, ‚welch ein Mensch, was für eine Seele!!‘ –
‚Ja,‘ sagt er, ‚an die Aussteuer und Mitgift meiner Tochter will ich
nicht rühren: das ist eine heilige Summe! Habe ja auch noch eigenes
Geld, aber das ist bei Leuten, von denen jetzt nichts zu erwarten ist!‘
Ich fiel vor ihm auf die Kniee. ‚Mein Wohltäter,‘ rief ich, ‚habe Dich
beleidigt und gekränkt. Verleumder haben über Dich Schlechtes ausgesagt,
nimm das Geld zurück, das Geld, das Du mir gegeben hast!‘ Er sieht mich
dankbar an und die Tränen fließen ihm über die Wangen. ‚Das hatte ich
von Dir erwartet, mein Sohn, stehe auf; damals vergab ich Dir um der
Tränen meiner Tochter willen, jetzt verzeiht Dir auch mein Herz! Du hast
mir meine Wunden geheilt, sei gesegnet bis in alle Ewigkeit!‘ Nun, meine
Herren, als er mich gesegnet hatte, lief ich fast auf allen Vieren nach
Haus und brachte ihm die Summe: ‚Hier, Väterchen, ist alles, nur fünfzig
Rubel habe ich davon ausgegeben!‘ ‚Tut nichts,‘ sagt er, ‚man muß nicht
alles so genau nehmen; die Zeit eilt, schreib’ nur einen Zettel älteren
Datums aus, daß Du 50 Rubel Gage vorausbittest ...‘ Nun, was, meine
Herren! Was glauben Sie! Ich schrieb den Zettel! ...“

„Nun, und – wie endete denn alles? ...“

„Wie ich den Zettel geschrieben hatte, meine Herren, geschah Folgendes.
Ganz früh am anderen Morgen erschien ein versichertes und versiegeltes
Paket, und was finde ich in ihm? Meine Entlassung! Also arbeite und
schinde Dich und dann kannst Du Deines Weges gehn!“

„Wie denn das?“

„Ja, habe gleichfalls aus voller Kehle geschrieen, meine Herren, wie das
möglich wäre! Ich dachte nach: Sollte der Revisor angekommen sein? ...
Mein Herz krampfte sich zusammen. So wie ich war, lief ich zu Fedossei
Nikolajitsch: ‚Was bedeutet das?‘ fragte ich. ‚Ja, wie denn, das ist
doch die erwünschte Entlassung!‘ – ‚Welche erwünschte Entlassung? Ich
weiß nichts davon.‘ –

‚Aber die Entlassung aus dem Dienst!‘ – ‚Ja, habe ich denn überhaupt ein
Entlassungsgesuch eingereicht?‘ – ‚Gewiß, am ersten April haben Sie Ihr
Entlassungsgesuch eingereicht.‘ – ‚Fedossei Nikolajitsch, sehen denn
meine Augen recht, hören denn meine Ohren recht?‘ – ‚Wie kommen Sie
darauf, so etwas zu fragen?‘ – ‚Oh, mein Gott!‘ – ‚Ja, mein Herr, es tut
mir sehr leid, daß Sie schon so früh Ihren Dienst verlassen wollen! Ein
junger Mensch muß dienen, aber Sie, mein Herr, scheinen Wind im Kopf zu
haben. Was das Attestat anbelangt, seien Sie unbesorgt, ich werde schon
dafür sorgen. Sie haben sich ja immer so gut aufgeführt!‘ – ‚Ich habe
doch nur gescherzt, Fedossei Nikolajitsch, hatte mir mit diesem Papier
nur einen Familienscherz erlauben ...‘ – ‚Wie das! Was für einen Scherz?
Scherzt man denn mit solchen Dingen? Für solche Scherze wird man Sie
noch einmal nach Sibirien schicken! Leben Sie wohl, ich habe keine Zeit
mehr. Der Revisor ist da, die Dienstpflichten gehn allem voran, Sie
können Domino spielen, wenn Sie wollen, wir aber müssen arbeiten. Ich
werde Sie schon wie es sich gehört attestieren. Übrigens, was ich sagen
wollte, ich habe das Haus von Matwejeff gekauft, werde daher in diesen
Tagen umziehen, so daß ich wohl hoffen kann, Sie ferner nicht mehr bei
mir zu sehn!‘ Ich lief nach Haus. ‚Wir sind verloren, Großmütterchen,
verloren!‘ Die Alte weinte, die Arme! Gleich darauf folgte der
Laufbursche von Fedossei Nikolajitsch mit einem Vogelbauer, in dem ein
Staar saß, und überreichte mir einen Zettel. Auf ihm stand: ‚_1. April_‘
– und weiter nichts. Nun, meine Herren, wie gefällt Ihnen meine
Erzählung?“

„Und was geschah denn weiter???“

„Was weiter geschah? Ich begegnete noch einmal Fedossei Nikolajitsch auf
der Straße, wollte ihm ins Gesicht sagen ...“

„Nun?“

„Aber ich brachte es doch nicht über die Lippen, meine Herren!“




                           Der ehrliche Dieb.


                            Aufzeichnungen.

Eines Morgens, als ich mich gerade anschickte, in den Dienst zu gehn,
trat Agrafena, meine Köchin, Wäscherin und Haushälterin, zu mir ins
Zimmer und begann zu meinem großen Erstaunen ein Gespräch mit mir.

Bis dahin war dieses alte Weib so schweigsam gewesen, daß sie außer den
paar Fragen täglich, was sie zum Mittag bereiten sollte u. s. w., fast
seit sechs Jahren kein einziges Wort gesprochen hatte. Wenigstens hatte
ich keines von ihr vernommen.

„Sehn Sie, Herr, ich bin zu Ihnen gekommen,“ begann sie hastig, „denn
Sie müssen die kleine Kammer vermieten.“

„Was für eine Kammer?“

„Die da, neben der Küche. Man weiß doch was für eine.“

„Warum?“

„Warum? Darum, weil Menschen doch vermieten. Man weiß doch warum.“

„Aber wer wird sie denn mieten?“

„Wer wird sie mieten! Ein Mieter. Das weiß man doch wer.“

„Aber dort, Mütterchen, kann man doch kein Bett hinstellen! Es ist doch
viel zu eng! Wer kann denn dort leben?“

„Warum dort leben! Wenn er nur irgendwo schlafen kann; leben wird er auf
dem Fensterbrett.“

„Auf welch einem Fensterbrett?“

„Das weiß man doch auf welch einem, als ob Sie es nicht wüßten! Auf dem
im Vorzimmer. Er wird dort sitzen, nähen oder sonst was tun. Aber er
kann ja auch auf dem Stuhle sitzen. Er hat einen Stuhl, auch ein Tisch
ist da, alles ist da.“

„Was ist er denn für Einer?“

„Ein erfahrener, ein solider Mensch ist er. Ich werde ihm das Essen
kochen, und für die Wohnung und für die Beköstigung werde ich drei Rubel
Silber monatlich nehmen ...“

Nach großen Anstrengungen erfuhr ich endlich, daß irgend ein älterer
Mensch Agrafena überredet hatte, ihn als Mieter und Pensionär
aufzunehmen. Was aber Agrafena sich einmal in den Kopf gesetzt hatte,
damit mußte man sich so schnell als möglich einverstanden erklären, denn
ich wußte es aus eigener Erfahrung, daß sie mir früher doch keine Ruhe
geben würde. Wenn ihr irgendetwas nicht nach Wunsch ging, so wurde sie
nachdenklich und verfiel zuletzt in eine tiefe Melancholie. Dieser
Zustand dauerte dann wenigstens zwei bis drei Wochen an und in dieser
Zeit war das Essen ungenießbar, die Wäsche nicht gewaschen und das
Zimmer nicht gesäubert, mit einem Wort es gab dann viel Unangenehmes.
Ich hatte schon längst bemerkt, daß diese schweigsame Frau nicht im
Stande war, von sich aus einen Entschluß zu fassen, geschweige denn auf
einen neuen ihr selbst angehörigen Gedanken zu kommen. Aber wenn sich in
ihrem schwachen Verstande einmal irgendetwas einer Idee oder gar einem
Entschluß Ähnliches festsetzte, so konnte man sie durch ein Verbot oder
einen Widerspruch auf einige Zeit moralisch vernichten. Weil ich nun um
alles in der Welt nicht in meiner Ruhe gestört sein wollte, so willigte
ich auch dieses Mal sofort ein.

„Hat er wenigstens irgendwelche Papiere, einen Paß oder so etwas?“

„Wie denn nicht? Man weiß doch, was er ist. Ein solider, erfahrener
Mensch. Drei Rubel hat er versprochen zu geben.“

Am anderen Morgen erschien also in meiner einfachen Junggesellenwohnung
der neue Einwohner, was mich genau genommen nicht einmal kränkte; im
Gegenteil, ich war innerlich sogar sehr zufrieden. Ich lebe einsam, wie
ein Einsiedler. Bekannte habe ich so gut wie überhaupt keine, selten
gehe ich aus. Zehn Jahre bin ich schon so allein. Freilich hatte ich
mich an die Einsamkeit gewöhnt, aber zehn, fünfzehn Jahre oder noch mehr
solcher Einsamkeit, mit solch einer Agrafena in solch einer
Junggesellenwohnung – ist eine farblose Perspektive. Unter solchen
Umständen ist denn ein friedlicher Mensch mehr – eine himmlische
Wohltat.

Agrafena hatte nicht gelogen: mein Einwohner war einer von den Soliden.
Nach dem Paß erwies es sich, daß er Soldat gewesen war, was ich freilich
auch ohnedem auf den ersten Blick erraten hatte. Das erkennt man sofort.
Also mein Einwohner Astaphij Iwanytsch war unter seinen Standesgenossen
einer der Besseren. Wir lebten gut zusammen. Das Beste war aber doch,
daß Astaphij Iwanytsch Geschichten und Erlebnisse aus seinem Leben zu
erzählen wußte. Bei der immerwährenden Langweile meines Lebens war solch
ein Erzähler einfach ein Schatz. Eine seiner Erzählungen machte auf mich
einen nachhaltigeren Eindruck, und so will ich sie denn hier
wiedergeben, und auch, bei welch einer Gelegenheit er sie mir erzählte.

Ich blieb einmal allein in der Wohnung. Astaphij wie auch Agrafena waren
ausgegangen. Plötzlich hörte ich aus meinem Zimmer, daß irgendjemand ins
Vorzimmer trat, wie es mir schien, ein Fremder; ich ging hinaus, und
tatsächlich war im Vorzimmer ein fremder Mensch, klein von Wuchs und
trotz der kalten Herbstzeit nur im Rock.

„Was suchst Du?“

„Den Beamten Alexandroff. Wohnt er hier?“

„Solch einen gibt es hier nicht, Brüderchen, adieu.“

„Wie denn, der Hausknecht hat mir doch gesagt, daß er hier ...“ murmelte
der Besucher und zog sich vorsichtig zur Tür zurück.

„Mach daß Du hinauskommst, mein Lieber.“

Am andern Tage nach dem Mittagessen, gerade als Astaphij Iwanytsch mir
meinen Rock anpaßte, den er mir ummachte, trat wieder Jemand ins
Vorzimmer. Ich öffnete ein wenig die Tür.

In diesem Augenblick nahm der gestrige Besucher vor meinen Augen meinen
Pelz vom Kleiderständer, steckte ihn unter den Arm und ging damit zur
Wohnung hinaus. Agrafena sperrte vor Erstaunen nur Mund und Augen auf,
tat aber sonst nichts zur Verteidigung meines Pelzes. Astaphij Iwanytsch
lief wohl dem Schurken nach, kehrte aber schon in zehn Minuten ganz
außer Atem und mit leeren Händen zurück. „Wie unter der Erde
verschwunden ist er!“

„Welch ein Pech! Ein Glück, daß er Ihnen noch den Mantel gelassen hat.
Er hätte uns ja sonst gänzlich aufs Trockene gesetzt, der Schuft!“

Astaphij Iwanytsch war aber so erschüttert, daß ich vor Verwunderung
über ihn den Diebstahl bald ganz vergaß. Er konnte es garnicht fassen,
wie das alles so hatte geschehen können. Jeden Augenblick legte er die
Arbeit wieder aus der Hand und begann von Neuem, die Sache zu erzählen:
wie das alles geschehen war, wie er gestanden, wie man vor seinen Augen,
zwei Schritte von ihm entfernt, den Pelz genommen hatte, und wie es
gekommen war, daß er ihn nicht hatte packen können. Nach einiger Zeit
setzte er sich an die Arbeit, aber es dauerte nicht lange und er warf
sie wieder fort. Bald darauf sah ich ihn zum Hausknecht laufen, um ihm
die ganze Geschichte zu erzählen, und ihm Vorwürfe zu machen, daß auf
seinem Hofe so etwas hatte geschehen können. Darauf kam er zurück und
schimpfte Agrafena aus, und als er sich dann wieder an die Arbeit
setzte, murmelte er noch lange vor sich hin: wie sich das alles
zugetragen, wie er _dort_ gestanden hätte und ich _dort_ und wie jener
vor seinen Augen, zwei Schritt von ihm entfernt, den Pelz genommen hatte
u. s. w. u. s. w.

Am Abend desselben Tages brachte ich ihm ein Glas Tee, um mir meine
Langeweile zu vertreiben, da ich wußte, daß er wieder vom gestohlenen
Pelz erzählen würde, was mich infolge der häufigen Wiederholung und
tiefempfundenen Aufrichtigkeit des Erzählers nachgerade ungemein
erheiterte.

„Man hat uns zum Besten gehabt, Astaphij Iwanytsch.“

„Zum Narren, Herr. Ja, selbst einen Unbeteiligten kränkt das, und die
Wut packt mich, wenn es auch nicht mein Mäntelchen war. Weiß Gott, es
gibt doch nichts Schändlicheres auf der Welt, als einen Dieb. Wie oft
stiehlt solch ein Dieb einem ehrlichen Menschen das Letzte fort, was er
sich mit Mühe und saurer Arbeit erworben hat, stiehlt ihm die Zeit, die
ganze Ersparnis fort ... Pfui! Man will gar nicht daran denken. Aber ist
es denn Ihnen um Ihr Gut nicht leid, Herr?“

„Ja, Du hast Recht, Astaphij Iwanytsch, es würde mir weniger leid tun,
wenn die Sache verbrannt wäre, aber sie so einem Diebe abtreten zu
müssen ist ärgerlich: das will man nicht.“

„Ja, das ist schon so, das will man nicht. Ein Dieb ist wie der andere
... Aber, wissen Sie, Herr, ich kannte einmal einen Dieb, der doch
ehrlich war.“

„Wie das ehrlich? Welch ein Dieb ist denn ehrlich, Astaphij Iwanytsch?“

„Das ist schon wahr, Herr! Welcher Dieb ist denn ehrlich, – solch einen
gibt es gar nicht. Ich wollte nur sagen, daß er ein ehrlicher Mensch
war, wenn er auch gestohlen hatte. Er konnte einem leid tun.“

„Wie ging denn das zu, Astaphij Iwanytsch?“

„Ja, Herr das war vor zwei Jahren. Ich war damals fast ein ganzes Jahr
ohne Stellung. Aber schon vorher, als ich noch im Dienst war, lernte ich
einen ganz verkommenen Menschen kennen. In der Volksküche trafen wir
uns. Solch ein Trunkenbold, Herumtreiber und Tagedieb war er; er hatte
irgendwo früher gedient, war aber seines Suffes wegen von seiner Stelle
verjagt worden. Solch ein Unwürdiger! Seine Kleider waren schon Gott
weiß wie! Oft wußte man wirklich nicht, ob er noch ein Hemd unter dem
Mantel anhatte: alles was er hatte, vertrank er. Dabei war er gar kein
Raufbold; war so still, so zärtlich und gut, nie bat er um etwas, immer
schämte er sich: aber man sah es ja, wie sehr der Arme trinken wollte
und gab ihm dann von selbst. Und so fanden wir uns zusammen, das heißt,
er hing sich mir an den Hals. Mir war alles gleich. Und was war das für
ein Mensch! Wie ein Hündchen hinter einem her, man geht hierhin,
dorthin, er folgt einem immer nach. Dabei hatten wir uns nur ein
einziges Mal gesehn. Solch ein Schwächling! Zuerst erlaube, daß er bei
Dir nächtigt – nun, ich ließ ihn: sein Paß war in Ordnung, auch der
Mensch ging an. Am anderen Tage, laß ihn wieder nächtigen, am dritten
kam er schon auf den ganzen Tag, saß bei mir auf dem Fenster und blieb
dann wieder zur Nacht. Nun, dachte ich, jetzt hast Du ihn auf dem Halse,
gib ihm zu trinken, zu essen und noch dazu ein Nachtlager. Jetzt hast
Du, der Du selbst arm bist, noch einen anderen zu ernähren. Früher hatte
er sich auch an einen Anderen gehängt, an einen Beamten. Sie tranken
zusammen und der Beamte trank sich bald zu Schanden und starb vor
Kummer. Diesen hier nannte man Emeljan Iljitsch. Ich dachte und dachte,
was soll ich mit ihm anfangen? Ihn fortjagen, dazu tat er mir zu leid:
solch ein erbärmlicher und verlorener Mensch, daß Gott erbarme! Solch
ein Stiller, Sanfter, fragt nichts, sitzt nur und sieht einem wie ein
Hündchen in die Augen. Wie der Suff doch einen Menschen herunterbringen
kann! Denke bei mir, werde ihm einfach sagen: gehe fort, Du
Emeljanuschka! hier hast Du nichts zu suchen; bist nicht auf den Rechten
gestoßen; habe bald selbst nichts mehr zu beißen, wie kann ich denn auch
noch Dich aus meinem Brotsack ernähren? Sitze und denke, was wird er
machen, wenn ich so was sage? Und ich stelle mir vor, wie er lange mich
ansehn wird und wie er dasitzt, ohne zuerst auch nur ein Wort zu
verstehen, wie er aber dann, wenn er es endlich verstanden hat, vom
Fenster aufsteht und sein Bündelchen nimmt – ich sehe es jetzt noch vor
mir, dieses rotkarrierte Bündelchen, voller Löcher, in dem weiß Gott was
eingebunden war und das er überall mit sich herumschleppte – wie er
seinen Mantel zurechtzieht, damit er etwas anständiger aussieht und man
die Löcher nicht sieht – solch ein feinfühliger Mensch war er! Dann
würde er die Tür öffnen und mit Tränen in den Augen hinausgehn. Ich kann
doch den Menschen nicht ganz zu Grunde gehn lassen ... mir tat er so
leid. Da dachte ich denn auch, was willst Du selbst bald beginnen! Warte
mal, denke ich bei mir, Emeljanuschka, nicht lange kannst Du bei mir
feiern: bald werde ich von hier fort müssen, dann wirst Du mich hier
nicht mehr vorfinden. Nun, Herr, so war es auch: Alexander
Philimonowitsch, mein Brotherr – jetzt ist er tot, ruh in Frieden seine
Seele! – sagte mir: ‚Ich bin sehr zufrieden mit Dir, Astaphij, wenn wir
vom Gut zurückkehren, werde ich Dich wieder beschäftigen, werde Dich
nicht vergessen.‘ Ich lebte bei ihm als Hausknecht, ein guter Herr war
es, leider starb er in diesem Jahr. Nun, wie also Emeljan fortgefahren
war, nahm ich mein Hab und Gut und mein bißchen Geld, zog zu einem alten
Mütterchen und mietete bei ihr einen Winkel, denn sie hatte nur noch
einen Winkel frei. Sie war irgendwo Amme gewesen, erhielt eine Pension
und lebte ganz allein. Nun, so dachte ich, leb’ jetzt wohl,
Emeljanuschka, lieber Mensch, wirst mich jetzt nicht mehr finden! Was
glauben Sie, Herr? Ich kam am Abend nach Haus, hatte einen alten
Bekannten besucht, und was sehe ich? Emelja sitzt bei mir auf meinem
Koffer, hat das karrierte Bündelchen neben sich, sitzt im Mantel und
erwartet mich! ... Von der Alten hat er sich sogar eine Bibel geben
lassen und so sitzt er und liest in ihr, hat aber das Buch umgekehrt
aufgeschlagen. Er hatte mich also doch gefunden! Ich ließ die Hände
sinken. Nun, dachte ich, jetzt ist schon nichts mehr zu machen, warum
habe ich ihn nicht schon früher fortgejagt? Und ich frage ihn nur
einfach: ‚Hast Du Deinen Paß mitgebracht, Emelja?‘

„Ich setzte mich dann hin, Herr, und fing an nachzudenken, wieviel
Beschwerden mir wohl solch ein Vagabund bereiten könnte. Ich dachte nach
und es schien mir nicht allzuviel. Er muß doch essen, sagte ich mir.
Nun, dachte ich, am Morgen ein Stückchen Brot, und damit es
schmackhafter ist, mit ein wenig Zwiebeln dazu. Um die Mittagszeit dann
auch wieder Brot mit Zwiebeln. Am Abend Zwiebeln mit Kwaß und auch noch
etwas Brot, wenn er Brot haben will. Hin und wieder noch eine Kohlsuppe,
dann werden wir ja beide bis zum Halse voll sein. Essen, nun ich esse
nicht viel und ein Trinker ißt ja, wie Sie wissen, überhaupt nichts.
Aber mit seinem Trinken wird er mich ja zum Äußersten bringen – doch da
kam mir, Herr, plötzlich was anderes in den Sinn und es packte mich
gewaltig. Wie wenn Emelja fortginge, ich wäre ja meines Lebens nicht
mehr froh! Da nahm ich es mir denn vor, sein Vater und Wohltäter zu
werden. Ich werde ihn, dachte ich, vor dem Verderben bewahren, werde ihn
vom Gläschen entwöhnen. Wart mal, dachte ich, gut, Emelja, bleibe hier,
aber ich sage Dir: daß Du Dich gut hältst! Und ich dachte bei mir: wir
wollen Dich schon an die Arbeit gewöhnen, braucht ja nicht gleich zu
sein, Du kannst noch ein wenig herumstreichen, ich werde inzwischen
zusehn und untersuchen, wozu Du, Emelja, Fähigkeiten besitzt. Weil doch,
Herr, zu jeder Arbeit im voraus eine menschliche Fähigkeit nötig ist.
Also, ich fing daraufhin an, ihn so im Stillen zu beobachten. Was sehe
ich: ein ganz verlorener Mensch bist Du, Emeljanuschka! Ich begann erst,
Herr, mit guten Worten: so und so, sage ich, Emeljan Iljitsch, wie wäre
es denn, wenn Du etwas mehr auf Dich geben würdest? Genug mit dem
Bummeln! Sieh Dich doch an, Du gehst ja schon in Lumpen! Dein Mantel,
mit Erlaubnis gesagt, ist ja beinahe schon ein Sieb, das geht nicht mehr
so weiter, es ist Zeit, sich seiner Ehre zu erinnern! Mein Emeljanuschka
sitzt da mit gesenktem Kopf. Was sagen Sie, Herr! Er war schon so weit
gekommen, daß er seine Sprache vertrunken hatte, daß er schon kein
gescheidtes Wort mehr sagen konnte! Spricht man ihm von Gurken, so redet
er von Bohnen. Nun, er hörte mir zu, lange hörte er mir zu und seufzt.
Was seufzt Du, frage ich ihn, Emeljan Iljitsch?

„‚Ja, so–o, nichts, Astaphij Iwanytsch, beunruhigen Sie sich nicht.
Wissen Sie, Astaphij Iwanytsch, heute haben sich zwei alte Weiber auf
der Straße geprügelt. Eine hatte der Anderen den Korb mit Moosbeeren aus
Versehn umgeworfen.‘

„Na, was ist denn dabei Neues?“

„‚Diese hat denn der Anderen absichtlich deren Korb umgestoßen und dann
hat sie mit den Füßen die Beeren zerstampft.‘

„Nun, und was weiter, Emeljan Iljitsch?“

„‚Nichts, Astaphij Iwanytsch, ich habe nur so ...‘

„Nichts, nur so. Ach, denke ich Emeljan, Emeljanuschka, hast Deinen Kopf
vertrunken!“

„‚Ein Herr hatte Papiergeld auf der Ecke der Gorochowaja und Ssadowaja
verloren. Ein Mann sah es und sagte: das habe ich gefunden; ein Anderer
sah es auch und sagte: nein, das habe ich gefunden! Ich habe es früher
als Du gesehn ... Und sie prügelten sich, Astaphij Iwanytsch. Ein
Schutzmann kam, hob das Geld auf und gab es dem Herrn zurück. Ihnen aber
drohte er, sie auf die Wache zu bringen.‘

„Nun, und was weiter? Was ist denn daran so Erbauliches, Emeljanuschka?“

„‚Ja, – ich nichts ... Das Volk lachte, Astaphij Iwanytsch.‘

„Ach, Du Emeljanuschka! Das Volk! Hast Deine Seele für einen kupfernen
Dreier verkauft. Weißt Du was, Emeljan Iljitsch, was ich Dir sagen
werde?“

„‚Was denn, Astaphij Iwanytsch?‘

„Nimm doch irgendeine Arbeit, wirklich, zum hundertsten Male sage ich es
Dir. Suche Dir einen Dienst, hab doch selbst Mitleid mit Dir!“

„‚Was soll ich denn für eine Anstellung suchen, Astaphij Iwanytsch? Ich
weiß doch nicht, was für eine ich nehmen soll, und mich nimmt ja doch
Niemand, Astaphij Iwanytsch.‘

„Warum hatte man Dich denn aus dem Dienst gejagt, Emelja, Du durstiger
Mensch, Du?“

„‚Wlasja, der Schenkwirt, ist heute ins Kontor gerufen worden, Astaphij
Iwanytsch.‘

„Warum hat man ihn denn gerufen, Emeljanuschka?“

„‚Das weiß ich nicht, Astaphij Iwanytsch. Es war wohl nötig so, man
hatte es verlangt ...‘

„Ach, denke ich, wir sind beide verloren, Emeljanuschka! Für unsere
Sünden wird uns Gott strafen! Nun, sagen Sie doch selbst, Herr, was kann
man mit solch einem Menschen anfangen?“

„Oh, es war ein schlauer Bursche! Er hörte mir ja zu, aber wurde es ihm
langweilig oder merkte er, daß ich böse wurde, so nahm er seinen Mantel
und verschwand einfach ... Den Tag über bummelte er dann und kam am
Abend betrunken nach Haus. Wer ihm zu trinken gab, woher er das Geld
dazu hernahm, – das weiß nur Gott allein; ich wußte es nicht!

„Nein, sage ich Emeljan Iljitsch, Du wirst bald nicht mehr im Stande
sein, Deinen Kopf zu tragen! genug getrunken, hörst Du, genug! Wenn Du
noch einmal betrunken heimkehrst, wirst Du auf der Treppe nächtigen. Ich
werde Dich nicht mehr hereinlassen! ...

„Nach dieser Drohung saß mein Emelja einen Tag und noch einen anderen
bei mir; am dritten Tag war er aber wieder verschwunden. Ich warte und
warte – er kommt nicht! Nein wirklich, Herr, ich sorgte mich um ihn, er
tat mir, weiß Gott, doch leid. Wo wird dieser armselige Mensch jetzt
hingekommen sein? Mein Gott, verliert sich am Ende noch ganz und gar. Es
wurde Nacht – er kommt immer noch nicht ... Am anderen Morgen gehe ich
auf die Treppe hinaus, und was sehe ich? – er hat dort übernächtigt. Den
Kopf hat er auf die Stufe gelegt und liegt da ganz erstarrt vor Kälte.

„Was tust Du, Emelja? Großer Gott, wo bist Du hingeraten?“

„‚Astaphij Iwanytsch, Sie waren doch böse auf mich, Sie sagten doch, ich
soll auf der Treppe schlafen ... so wagte ich nicht hineinzugehn,
Astaphij Iwanytsch, und legte mich hier schlafen ...‘

„Wut und Mitleid packten mich!

„Ach, Du Emeljan, wenn Du doch etwas anderes tun würdest, als Treppen
wischen!“

„‚Was denn sonst, Astaphij Iwanytsch?‘

„Wenn Du doch, Du verlorene Seele, sage ich – mich packte solch eine
Wut! Wenn Du doch wenigstens etwas schneidern lernen wolltest. Sieh
doch, was Du für einen Mantel hast! Nicht, daß er nur in Fetzen ist, Du
wischst auch noch die Treppen mit ihm! Wenn Du doch wenigstens eine
Nadel nehmen und Deine Löcher zustopfen würdest, wie es die Ehre
verlangt. Ach Du, Trunkenbold Du!“

„Und was glauben Sie, Herr! Er nahm eine Nadel. Ich hatte nur so im Zorn
gesprochen, er aber wollte sich doch bessern, wie es schien. Er zog
seinen Mantel aus und begann die Nadel einzufädeln. Ich sehe ihm zu;
nun, man weiß ja: die Augen entzündet und voll Eiter, die Hände zittern
– nichts zu wollen! Er steckt und steckt, der Faden geht nicht hinein;
wie er ihn auch leckt und steckt – vergeblich! Schließlich gibt er es
auf und sieht mich an ...

„Nun, Emelja, wolltest mir wohl einen Gefallen tun? Gott mit Dir, laß ab
von diesen Sünden! Sitze da, wenn Du willst, mach mir aber keine
Schande, wie auf der Treppe nächtigen! ...

„‚Was soll ich denn tun, Astaphij Iwanytsch; ich weiß es ja selbst, daß
ich immer betrunken bin und zu nichts tauge ... und nur Ihnen, meinem
Wo–Wo–Wohltäter das Herz schwer mache.‘

„Da fangen denn plötzlich seine blauen Lippen zu zittern an und ein
Tränchen rollt ihm über die bleiche Wange. Wie nun dieses Tränchen auf
seinem ungepflegten Bart erzittert, quillt plötzlich ein ganzer Sturz
von Tränen hervor ... Väterchen! Wie mit Messern schnitt mir das ins
Herz.

„Ach Du, gefühlvoller Mensch Du! Das hätte ich gar nicht von Dir
geglaubt! Wer hätte das denken, wer hätte das erraten können! ... Nein,
denke ich bei mir, Emelja, Dich gebe ich auf; verkomme wenn Du willst,
wie ein Lappen!

„Na, Herr, was ist da noch viel zu erzählen! Die ganze Sache ist doch so
leer, erbärmlich und nichtig, nicht der Mühe wert, zu erzählen. Sie
Herr, zum Beispiel gesagt, würden für sie nicht zwei Kopeken geben, ich
aber hätte gern viel dafür gegeben, wenn ich nur was gehabt hätte, damit
alles das nicht geschehen wäre! Ich hatte, Herr, ein Paar Pumphosen,
weiß der Kuckuck, gute, wundervolle Pumphosen, blau-karrierte, ein
Gutsbesitzer hatte sie bei mir bestellt, überließ sie mir aber, weil er
behauptete, daß ich sie ihm zu eng gemacht hätte; so blieben sie denn
bei mir. Nun, denke ich: eine wertvolle Sache! Auf dem Trödelmarkt würde
man vielleicht fünf Rubel für sie geben, wenn nicht, so mache ich aus
dieser einen Hose für die Petersburger Herren zwei Hosen draus und dann
bleibt mir noch ein Schwänzchen zu einer Weste für mich. Einem armen
Menschen, wie unsereiner, ist alles gut genug! Mein Emeljanuschka
verlebte inzwischen eine harte, traurige Zeit. Er trinkt den einen Tag
nichts, den anderen auch nichts, den dritten wieder nichts. Kein
Branntwein kommt über seine Lippen, er ist ganz wie vor den Kopf
geschlagen, trübsinnig stützt er seinen Kopf in beide Hände, kann einem
leid tun. Also Bursche, denke ich bei mir, wenn Du kein Geld mehr haben
wirst, kommst Du schon von selbst wieder auf den Weg Gottes zurück, habe
ja auch genug gesprochen, hast vielleicht endlich Vernunft angenommen.
So lagen die Sachen, Herr, als die großen Feiertage begannen. Ich war
zur Abendmesse gegangen: komme nach Haus und was sehe ich? Mein
Emeljanuschka sitzt betrunken auf dem Fensterbrett, schaukelt bloß hin
und her. He he, denke ich, also so bist Du wieder, Bursche! Ich weiß
nicht warum, ich ging aber gleich zu meinem Koffer. Nun ja, die
Pumphosen waren fort! Ich suche sie hier und dort: verschwunden! Etwas
fing in meinem Herzen zu nagen an. Ich stürzte zur Alten, beschuldigte
sie zuerst, denn auf Emelja verfiel ich nicht einmal, er war ja wohl aus
dem Hause gegangen und betrunken zurückgekehrt, aber ...

„‚Gott mit Dir, mein Kavallerist, was mache ich mit Deinen Reithosen,
soll ich sie etwa tragen?‘ sagt die Alte. ‚Mir ist selbst ein Rock
verschwunden, durch Ihre Güte an diesem sauberen Herrn Bruder dort ...‘

„Wer war hier? frage ich sie.

„‚Niemand kam, Niemand war hier, ich bin die ganze Zeit zu Hause
gewesen. Emeljan Iljitsch war hier und ging darauf aus, kam dann wieder,
da sitzt er ja! Frage ihn doch!‘

„Hast Du nicht, Emelja, aus irgend einem Grunde meine Pumphosen
genommen, Du weißt doch, die, die ich für den Gutsbesitzer arbeitete?

„‚Nei–ein, Astaphij Iwanytsch,‘ sagte er, ‚ich ... ich habe sie nicht
genommen!‘

„Welch ein Unglück! Wieder fing ich an, sie zu suchen, suchte und suchte
– nichts! Emelja sitzt da und schaukelt sich. Ich saß, Herr, vor ihm auf
einem Koffer, so vor ihm niedergekauert und sah so mit einem Auge auf
ihn. He, denke ich, und plötzlich fängt mir das Herz in der Brust zu
brennen an und das Blut stieg mir zu Kopf. Plötzlich sieht auch Emelja
auf mich.

„‚Nein,‘ sagte er hastig, ‚Astaphij Iwanytsch, ich habe Ihre Hosen nicht
... Sie glauben vielleicht, weil ... daß ... aber ich habe sie nicht
genommen.‘

„Wo sind sie denn geblieben, Emeljan Iljitsch?

„‚Ich weiß es nicht,‘ sagte er, ‚ich habe sie überhaupt nicht gesehn.‘

„Nun, Emeljan Iljitsch, dann sind sie wohl also von selbst verloren
gegangen?

„‚Kann sein, Astaphij Iwanytsch. Ich weiß es nicht.‘

„Ich stand auf, ging zu ihm ans Fenster, zündete die Lampe an und setzte
mich an die Arbeit. Ich wandte die Weste des Beamten um, der über uns
lebte. In meiner Brust aber nagt und brennt es. Leichter wäre mir
gewesen, wenn ich mit meiner ganzen Garderobe den Ofen geheizt hätte.
Emelja aber fühlte es doch, daß Wut mein Herz packte. Wenn der Mensch
was Böses verbrochen hat, Herr, so wittert er das Unglück voraus wie die
Vögel des Himmels das Unwetter.

„‚Astaphij Iwanytsch,‘ begann Emeljanuschka, aber seine Stimme zitterte
dabei, ‚heute hat Antip Prochorytsch, der Feldscher, die Witwe des
Kutschers, der vor kurzem starb, geheiratet.‘

„Ich aber, ich sah ihn an, sah ihn nur an ... daß er wohl verstand! Was
sehe ich: er steht auf, geht ans Bett und fängt da an herumzustöbern.
Ich schweige still, er kramt und kramt und spricht dabei: ‚nicht und
nicht, wohin mögen diese dummen Dinger nur hingeraten sein?‘ Ich warte
ab, was nun weiter sein wird und was sehe ich? – Emelja kriecht unter
das Bett! Da konnte ich nicht mehr an mich halten.

„Was, sage ich, Emeljan Iljitsch, was rutschen _Sie_ da auf den Knieen
herum?

„‚Ich sehe nur, Astaphij Iwanytsch, ob nicht die Hosen hier irgendwo
umherliegen.‘

„Was tun Sie, mein Herr – aus Ärger sagte ich ‚Sie‘ zu ihm, und „Herr“ –
lohnt es sich denn, sich eines armen einfachen Menschen wegen so
abzumühn, auf den Knieen herumzurutschen!

„‚Ach, Astaphij Iwanytsch, das tut doch nichts ... man wird sie doch
irgendwo finden müssen, wenn man sie sucht.‘

„Hm! ... sage ich, höre mal, Emeljan Iljitsch ...

„‚Was, Astaphij Iwanytsch?‘

„Hast Du sie nicht einfach von mir gestohlen, wie ein Dieb und ein
Schurke, aus Dankbarkeit für mein Brot, das ich Dir gegeben habe? – Sehn
Sie, er wollte mich damit rühren, daß er auf den Knieen vor mir auf dem
Fußboden herumrutschte.

„‚Nein ... Astaphij Iwanytsch ...‘

„Und so wie er da huckte, blieb er noch lange unter dem Bett; endlich
kam er wieder hervorgekrochen. Und was sehe ich, ganz bleich ist der
Mensch, wie ein Handtuch. Er erhob sich, setzte sich neben mich aufs
Fenster und saß so zehn Minuten lang.

Plötzlich steht er auf und tritt auf mich zu, ich seh’ ihn noch jetzt
vor mir, furchtbar wie die Sünde.

„‚Nein,‘ sagt er, ‚Astaphij Iwanytsch, ich habe mir nicht erlaubt, Ihre
Hosen zu nehmen.‘

Dabei zittert er am ganzen Körper und die Stimme zittert ihm und er
stößt sich mit dem Finger vor die Brust, so daß ich selbst verzagte und
ganz starr und steif wurde, als ob ich am Fensterbrett angewachsen wäre.

„Nun, sage ich, Emeljan Iljitsch, wie Sie wollen, verzeihen Sie, wenn
ich ein dummer Mensch bin, Sie umsonst beschuldigt habe. Gott mit den
Hosen. Verloren, verloren, nichts zu machen! Wir werden ohne sie nicht
umkommen. Gott sei Dank, Hände habe ich noch, um zu arbeiten. Stehlen
werde ich nicht gehn. Bei armen Menschen Almosen betteln werde ich auch
nicht ...

„Emelja steht und steht und hört was ich sage, endlich – setzt er sich.
So saß er den ganzen Abend, ohne sich zu rühren; ich legte mich schon
schlafen – immer saß er noch auf demselben Platz. Am nächsten Morgen wie
ich aufstehe, sehe ich, er liegt eingewickelt in seinem Mantel auf dem
Fußboden. Hat sich zu sehr erniedrigt gefühlt, kam deshalb nicht auf’s
Bett. In der Zeit, Herr, liebte ich ihn nicht, ja, ich haßte ihn sogar.
Gerade, als ob mein leiblicher Sohn mich bestohlen und mir blutig weh
getan hätte. Ach, denke ich, Emelja, Emelja! Was glauben Sie, Herr,
Emelja trank zwei Wochen ununterbrochen. Er war wie rasend geworden, er
trank sich zu Schanden! Am Morgen ging er fort und kam betrunken in der
Nacht nach Haus. Wenn ich in diesen zwei Wochen auch nur ein Wort von
ihm gehört hätte. Wahrscheinlich wollte er mit Absicht zu Grunde gehn.
Endlich, da er alles vertrunken hatte, hörte er auf und saß wieder bei
mir auf dem Fensterbrett. Ich weiß noch, er saß und schwieg dreimal
vierundzwanzig Stunden lang. Plötzlich sehe ich, der Mensch weint. Er
sitzt, Herr, und weint – und wie! Wie ein Brunnen und selbst scheint er
es gar nicht zu wissen, daß er weint. Es ist schwer zu sehn, Herr, wenn
ein erwachsener Mensch weint, wenn ein so alter Mensch wie Emelja vor
lauter Armut und Kummer zu weinen anfängt.

„Was fehlt Dir, Emelja?

„Er fuhr zusammen. Ich hatte zum ersten Mal seit jenem Tage wieder ein
Wort mit ihm gesprochen.

„Um Gottes willen, Emelja, was sitzt Du denn da wie eine Eule? – Er tat
mir leid, der Arme.

„‚Nur so, Astaphij Iwanytsch, nur so. Möchte Arbeit suchen ... Astaphij
Iwanytsch ...‘

„Was für eine Arbeit denn, Emelja Iljitsch?

„‚Irgendeine. Vielleicht finde ich so eine Stelle, wie ich sie früher
hatte ... ich bin schon zu Fedor Iwanytsch gegangen, habe ihn gebeten
... Es ist nicht gut, Astaphij Iwanytsch, daß ich Sie mit meiner
Gegenwart beleidige. Ich werde Ihnen, Astaphij Iwanytsch, so wie ich
eine Stelle finde, alles zurück geben und für alle Ihre Sorgen ...‘

„Genug, Emelja, genug! Das war eine Sünde, nun, sie ging vorüber! Der
Kuckuck mag sie holen! Wir aber wollen wieder nach dem Alten leben!

„‚Nein, Astaphij Iwanytsch, Sie meinen vielleicht, daß ... aber ich habe
mir nicht erlaubt, Ihre Hosen zu nehmen.‘

„Nun, wie Du willst, Gott mit Dir, Emeljanuschka.

„‚Nein, Astaphij Iwanytsch, ich sehe, ich kann nicht mehr hier bleiben.
Entschuldigen Sie mich, Astaphij Iwanytsch, aber ...‘

„Gott mit Dir, sage ich, wer beleidigt Dich denn, Emeljan Iljitsch, wer
jagt Dich denn von hier fort, ich etwa?

„‚Ja, es ist von mir unanständig, so bei Ihnen zu wohnen, Astaphij
Iwanytsch ... Ich werde schon besser gehn.‘

„Er war beleidigt. Er stand wirklich auf und nahm seinen Mantel ...

„Wohin gehst Du denn, Emeljan Iljitsch? Sei doch vernünftig. Wohin
willst du denn gehn?

„‚Leben Sie wohl, Astaphij Iwanytsch, halten Sie mich nicht mehr zurück‘
– hier weinte er schon wieder – ‚ich gehe schon von der Sünde weg,
Astaphij Iwanytsch. Sie sind schon nicht mehr so wie früher zu mir ...‘

„Wie, nicht so? Du bist ja wie ein kleines unvernünftiges Kind, wirst
doch allein untergehn, Emeljan Iljitsch.

„‚Nein, Astaphij Iwanytsch, jetzt verschließen Sie immer Ihren Koffer
und ich muß das sehn und dann weine ich ... Nein, lassen Sie mich
lieber, Astaphij Iwanytsch, und verzeihn Sie mir, wenn ich Sie beleidigt
habe ...‘

„Und was glauben Sie, Herr – der Mensch ging wirklich fort! Ich warte
einen Tag, denke bei mir, er kommt am Abend – nein! Am zweiten Tag –
wieder nicht, am dritten auch nicht. Die Sorge quälte mich, ich konnte
nicht essen, nicht trinken, nicht schlafen. Er hatte mich ganz
entwaffnet, dieser Mensch! Am vierten Tage ging ich in die Kneipen, um
ihn zu suchen, frage überall nach ihm – nichts! Emeljanuschka ist
verschwunden! Hast Deinen armen Kopf verloren, denke ich. Oder
vielleicht liegst Du Trunkenboldchen irgendwo am Zaun wie verfaultes
Holz? ... Halbtot kam ich zu Hause an. Am anderen Tage suchte ich ihn
wieder und verwünschte mich selbst, weil ich solch einem dummen Menschen
seinen freien Willen gelassen hatte. Endlich am fünften Tage, es war ein
Feiertag – es tagte kaum – da knarrte die Tür. Und siehe, Emelja kam!
Ganz blau, die Haare voller Schmutz, als ob er auf der Straße geschlafen
hätte, und mager war er geworden wie ein Holzspan! Zieht seinen Mantel
aus, setzt sich zu mir auf den Koffer und sieht mich an. Ich freute
mich, ihn wiederzusehn, doch der alte Kummer kam, wenn auch nur auf
einen kurzen Augenblick, noch stärker über mich. Denn es ist doch so,
Herr, hätte ich solch eine Sünde begangen, so hätte ich eher wie ein
Hund am Zaune krepieren wollen, als so wiederkommen! Aber Emelja kam
zurück. Nun, natürlich ist es schwer, einen Menschen in solch einer Lage
zu sehn. Ich streichelte und tröstete ihn: Emeljanuschka, sage ich, bin
froh, daß Du wieder da bist! Wenn Du auch heute nicht gekommen wärst, so
wäre ich Dich wieder in allen Kneipen suchen gegangen. Hast Du
gegessen?“

„‚Ja, Astaphij Iwanytsch.‘

„Das wirst Du wohl kaum getan haben? Hör mal, Brüderchen, von gestern
ist noch Kohlsuppe nachgeblieben; haben nicht gefastet, haben sogar
Fleisch gehabt. Hier sind auch Zwiebeln mit Brot. Iß, sage ich Dir, iß
zur Gesundheit.

„Gab ihm zu essen und da sah ich denn, daß der Mensch vielleicht drei
Tage nichts gegessen hatte – solch einen Hunger hatte er.

„Wie freue ich mich über Dich, Lieberchen! Warte, ich laufe und hole Dir
noch einen Liter Branntwein, damit Du Deine betrübte Seele vergessen
kannst! Machen wir Schluß mit allem, was gewesen ist, genug damit, ich
bin nicht mehr böse auf Dich, Emeljanuschka! Ich brachte ihm den
Branntwein.

„Nun, Emeljan Iljitsch, trinken wir auf den Feiertag. Willst Du? Zur
Gesundheit!

Gierig streckte er seine Hand darnach aus, schon wollte er zugreifen,
doch plötzlich zögerte er einen Augenblick; dann griff er wieder zu und
führte das Liter Branntwein an den Mund. Seine Hand zitterte dabei so,
daß er den Branntwein verschüttete. Was sehe ich aber, – er stellt ihn
doch wieder ohne zu trinken auf den Tisch zurück!

„Was ist Dir denn, Emeljanuschka?

„‚Nichts. Ich ... Astaphij Iwanytsch ...‘

„Wie, Du trinkst nicht?

„‚Ja, ich ... Astaphij Iwanytsch ... ich werde nicht mehr trinken ...
Astaphij Iwanytsch ...‘

„Was, Du hast also ganz aufgehört zu trinken, Emeljanuschka, oder
trinkst Du nur heute nicht?

„Er schwieg. Nach einiger Zeit stützt er seinen Kopf in beide Hände.

„Bist Du nicht am Ende krank, Emelja?

„‚Ja, so, fühle mich schlecht, Astaphij Iwanytsch.‘

„Ich legte ihn zu Bett. Es ging ihm wirklich schlecht. Der Kopf brannte,
und Fieber schüttelte ihn. Den Tag über saß ich bei ihm. Zur Nacht wurde
ihm noch schlechter. Ich tat in den Kwaß etwas Butter und Zwiebeln,
bröckelte etwas Brot hinein.

„Nun, sage ich, iß die Brotsuppe, es wird Dir dann besser werden! ... Er
schüttelt mit dem Kopf.

‚Nein,‘ sagt er, ‚heute werde ich nichts essen.‘

„Die Alte hat sich auch angestrengt für ihn; ich habe ihm Tee gemacht –
hilft alles nichts, es geht ihm nicht besser. Nun, denke ich, jetzt
wird’s schlimm! Am dritten Morgen ging ich zum Arzt. Der kam, sah ihn an
und sagte: ‚Es lohnte sich nicht mehr, mich zu rufen. Man kann ihm ja
Pulver geben ...‘ Nun, Pulver habe ich ihm nicht gegeben, dachte, der
Arzt will ihn nur verwöhnen. Inzwischen kam aber schon der fünfte Tag.

„Er lag vor mir auf dem Bett, Herr. Ich saß auf dem Fenster, hielt
gerade die Arbeit in der Hand. Die Alte heizte den Ofen. Wir schwiegen
alle. Mir schmerzte das Herz zum Zerreißen, als ob ich meinen leiblichen
Sohn verlor. Ich wußte, daß Emelja mich ansieht. Schon am Morgen
bemerkte ich, daß er sich anstrengte, mir was zu sagen, es aber doch
nicht wagte. Wie ich nun aufsehe, lag solche Trauer in seinen Augen. So
wie er aber bemerkte, daß ich ihn ansah, wandte er gleich seinen Blick
von mir ab.

„‚Astaphij Iwanytsch?‘

„Was, Emeljanuschka?

„‚Wie, wenn man, zum Beispiel, meinen Mantel auf dem Trödelmarkt
verkaufen würde, wieviel würde, wieviel würde man für ihn geben,
Astaphij Iwanytsch?‘

„Nun, wieviel würde man denn geben? Drei Rubelchen vielleicht, Emeljan
Iljitsch.

„Versuch’s mal, bring ihn nur hin, dachte ich bei mir, nichts würde man
Dir in Wirklichkeit dafür geben! Dich auslachen würde man, daß Du solch
eine Sache verkaufen gehst. Sage ihm nur so zur Beruhigung, kenne doch
den Menschen Gottes und seinen gutmütigen Charakter.

„‚Ja, ich denke auch, Astaphij Iwanytsch, daß man drei Rubel für ihn
geben würde. Es ist doch eine Sache aus Tuch, Astaphij Iwanytsch.‘

„Ich weiß nicht, Emeljan Iljitsch, sage ich, wenn Du ihn hinbringen
willst, dann mußt Du zuerst drei Rubel fragen.

„Emelja schwieg darauf eine Weile.

„‚Astaphij Iwanytsch?‘

„Was, Emeljanuschka?

„‚Verkaufen Sie den Mantel, wenn ich gestorben bin, beerdigen Sie mich
nicht in ihm. Ich kann auch so liegen; er ist eine wertvolle Sache, Sie
können ihn brauchen.‘

Das packte mich so, Herr, daß ich nichts mehr sagen konnte. Fühle nur,
daß der Tod schon an sein Herz klopft. Wieder schwiegen wir alle. Eine
Stunde verging so. Ich sehe heimlich zu ihm hinüber: immer sieht er mich
noch an. So wie sich aber sein Blick mit dem meinen kreuzt, sieht er
fort.

„Willst Du nicht vielleicht ein Schluckchen Wasser trinken, Emeljan
Iljitsch?

„‚Geben Sie, Astaphij Iwanytsch.‘

„Ich gab ihm zu trinken. Er trank gierig. ‚Danke, sagt er, Astaphij
Iwanytsch.‘

„Willst Du sonst noch was, Emeljanuschka?

„‚Nein, Astaphij Iwanytsch, ich habe nichts nötig, ich wollte nur ...‘

„Was?

„‚Davon ...‘

„Wovon, Emeljanuschka?

„‚Die Pumphosen ... Davon, daß ... ich hatte sie damals von Ihnen
genommen, Astaphij Iwanytsch.‘

„Nun, sage ich, Gott wird Dir verzeihn, Du Armer, gehe in Frieden ...
Mir selbst aber, Herr, blieb der Atem stehn. Die Tränen stürzten mir aus
den Augen, mußte mich abwenden.

„‚Astaphij Iwanytsch ...‘

„Ich kehre mich um und sehe, Emelja will mir noch was sagen, er will
sich mit aller Gewalt aufrichten, er bewegt die Lippen ... Plötzlich
wird er ganz rot im Gesicht und sieht mich an ... Darauf wird er immer
blasser und blasser, wirft den Kopf zurück, seufzt noch einmal tief auf
... und dann ging seine Seele zu Gott. -- -- --




                         Eine dumme Geschichte.


Diese dumme Geschichte datiert aus der Zeit, da die Wiedergeburt unseres
lieben Vaterlandes zu neuem Leben und das Streben all seiner tapferen
Söhne nach neuen Zielen mit einer so unbezwingbaren Macht und in so
rührend-naiver Weise gerade erst begonnen hatte. An einem klaren,
frostigen Winterabend – übrigens ging es schon auf zwölf – saßen in
einem reich ausgestatteten, doch gemütlichen Kaminzimmer eines schönen
zweistöckigen Hauses auf der „Petersburger Seite“ drei hochangesehene
Herren beisammen, und sprachen ernst und wohlbedacht über ein ungemein
wichtiges Thema. Alle drei hatten es schon bis zur Exzellenz gebracht.
Sie saßen um einen runden Tisch in großen weichen Sesseln und schlürften
während des Gesprächs hin und wieder behaglich aus ihren
Champagnergläsern. Die Flasche stand vor ihnen mitten auf dem Tisch in
einem silbernen Kühler. Der Hausherr, Geheimrat Stepan Nikiforowitsch
Nikiforoff, ein alter Junggeselle von fünfundsechzig Jahren, hatte
nämlich zur Einweihung seines neugekauften Hauses und zu gleicher Zeit
auch zur Feier seines Geburtstages – den er sonst nie festlich zu
begehen pflegte – seine Freunde zum Abend eingeladen. Übrigens war die
Feier nicht Gott weiß wie großartig; wie gesagt, es waren nur zwei
Herren zu Gaste, beides frühere Kollegen des Hausherrn: der Wirkliche
Staatsrat Ssemjon Iwanowitsch Schipulenko und der ebenfalls Wirkliche
Staatsrat Iwan Iljitsch Pralinski. Sie waren gegen neun Uhr zum Tee
gekommen, tranken jetzt Champagner und wußten beide, daß sie sich um
punkt halb zwölf erheben und verabschieden mußten. Der Hausherr liebte
Regelmäßigkeit. Bei der Gelegenheit zwei Worte über ihn: seine Karriere
hatte er als kleiner unversorgter Beamter begonnen, hatte ruhig seine
Karre fünfundvierzig Jahre lang gezogen, hatte genau gewußt, zu was er
sich aufdienen würde, konnte es nicht leiden, „vom Himmel Sterne zu
pflücken“, obgleich er ihrer schon zwei auf der Brust hatte, und liebte
es ganz besonders nicht, in einerlei welch einer Angelegenheit, und wenn
es auch die wichtigste gewesen wäre, seine persönliche Meinung zu
äußern. Er war ein ehrlicher Mensch, d. h. er hatte keine Gelegenheit
gehabt, irgend etwas besonders Unehrliches zu begehen; war
unverheiratet, da er Egoist war; war keineswegs dumm, konnte es aber,
wie gesagt, ganz und gar nicht leiden, seinen Verstand leuchten zu
lassen; ganz besonders mißfielen ihm Unordnung und Begeisterung, da er
letztere für moralische Unordnung hielt, und am Abend seines Lebens
versenkte er sich vollständig in eine gewisse komfortable Behaglichkeit
und systematische Einsamkeit. Wenn er auch selbst zuweilen bei besseren
Leuten zu Besuch war, so war es ihm doch von Jugend auf unangenehm,
Gäste auch bei sich zu empfangen, in der letzten Zeit aber begnügte er
sich, wenn er nicht gerade Grande-patience legte, mit der Gesellschaft
seiner Stutzuhr, deren eigensinnigem Ticken unter der Glasglocke auf dem
Kamin er unerschütterlich ganze Abende lang zuhörte. Sein Äußeres war
sehr anständig: glattrasiert, schien er etwas jünger, als er war, hielt
sich gut, versprach noch lange zu leben und war stets vom Scheitel bis
zur Sohle durchaus Gentleman. Zu arbeiten brauchte er nicht mehr; er
bekleidete zwar noch einen Posten, doch hatte er dabei nur zu
präsidieren und zu unterschreiben. Mit einem Wort, man hielt ihn für
einen prachtvollen Menschen. Nur eine einzige Leidenschaft hatte dieser
Mensch oder, sagen wir, einen einzigen heißen Wunsch: ein eigenes Haus
zu besitzen, und zwar ein herrschaftliches, keine Mietskaserne. Endlich
verwirklichte sich denn auch seine Sehnsucht: er fand schließlich ein
Haus auf der „Petersburger Seite“, das allerdings vom Zentrum der Stadt
etwas weit ablag, dafür jedoch sah es vornehm aus und hatte dazu noch
einen Garten – und so kaufte er es denn. Ja, der neue Hausherr hielt es
sogar für einen entschiedenen Vorzug, daß das Haus weiter lag: bei sich
zu empfangen liebte er nicht, um aber andere zu besuchen oder in die
Versammlungen zu fahren, dazu hatte er eine schöne Equipage von
schokoladenbrauner Farbe, seinen Kutscher Michei und zwei kleine, doch
starke und hübsche Pferdchen. Alles war durch vierzigjährige strenge
Ökonomie erworben, so daß sein Herz sich beim Anblick seiner Habe freuen
mußte. Das war auch der Grund, warum Stepan Nikiforowitsch Nikiforoff,
nachdem er in sein neues Haus eingezogen war, sogar Gäste einlud und
noch dazu sagte, daß er seinen Geburtstag feiern wollte, diesen Tag, den
er sonst ängstlich sogar seinen besten Freunden verheimlicht hatte.
Zudem gab es für diese Einladung noch einen besonderen Grund. Er
bewohnte im Hause nur den oberen Stock, den unteren aber, der ganz so
wie der obere gebaut war, hätte er gar zu gern vermietet. Nun hoffte
Stepan Nikiforowitsch für diesen unteren Stock Ssemjon Iwanowitsch
Schipulenko zu gewinnen, und so brachte er denn an jenem Abend das
Gespräch zweimal auf dieses Thema, ohne aber das gewünschte Ziel zu
erreichen, denn Ssemjon Iwanowitsch schwieg hartnäckig über seine Pläne
in Betreff eines etwaigen Wohnungswechsels. Dieser Schipulenko, der sich
gleichfalls schon seit langer Zeit mühsam seinen Weg bahnte, war
verheiratet, ein mürrischer Stubenhocker, im Hause ein Despot und diente
mit großem Selbstbewußtsein. Auch er wußte genau, wie weit er es bringen
würde, und noch besser, wie weit er es nicht bringen würde. Inzwischen
saß er auf einem guten Posten und saß auf ihm sogar ungewöhnlich fest.
Auf die neueingeführten Reformen blickte er allerdings nicht ohne Galle,
regte sich aber ihretwegen doch nicht sonderlich auf: er war, wie
gesagt, sehr selbstbewußt und hörte nicht ohne spöttische Bosheit der
Schönrednerei Iwan Iljitsch Pralinskis zu, der über die neuen Themata
nie genug reden konnte. Sie hatten alle etwas mehr als gewöhnlich
getrunken, so daß denn auch der Hausherr sich zu einem kleinen Disput
mit Herrn Pralinski über die neuen Ordnungen herabließ. Doch jetzt muß
ich einige Worte auch über seine Exzellenz Herrn Pralinski sagen, um so
mehr, als er der Held dieser Erzählung ist.

Der Wirkliche Staatsrat Iwan Iljitsch Pralinski erfreute sich im ganzen
erst seit vier Monaten des schönen Titels „Exzellenz“, war also mit
anderen Worten eine sehr junge Exzellenz. An Jahren war er gleichfalls
noch sehr jung, höchstens dreiundvierzig, jedenfalls bestimmt nicht
mehr, dem Ansehen nach aber schien er – und wollte er auch scheinen –
noch viel jünger. Er war ein schöner Mann, hoch von Wuchs, elegant, doch
nicht auffallend, sondern stets gesucht vornehm gekleidet, und verstand
es vorzüglich, seinen bedeutenden Orden am Halse zu tragen; hatte es
seit Kindesbeinen verstanden, vornehme Angewohnheiten anzunehmen, und
träumte, da er noch unverheiratet war, von einer reichen und warum nicht
gar aristokratischen Braut. Allerdings träumte er auch noch von manchem
anderem, wenn er auch durchaus nicht so dumm war. Bisweilen konnte er
sehr gesprächig sein und dann nahm er gern parlamentarische Posen an. Er
stammte aus guter Familie; sein Vater war General gewesen und als Kind
hatte man ihn in Sammet oder Batist gekleidet; in einer aristokratischen
Anstalt war er darauf erzogen worden und wenn er sie auch nicht mit
großen Kenntnissen verlassen hatte, so schien er im Dienst doch guten
Erfolg zu haben, denn er brachte es in Bälde bis zur Exzellenz. Die
Vorgesetzten hielten ihn für einen äußerst befähigten Menschen und
setzten sogar große Hoffnungen auf ihn. Herr Nikiforoff aber, unter dem
er fast bis zur Exzellenz gearbeitet hatte, hielt ihn dagegen keineswegs
für etwas Besonderes und setzte keine besonderen Hoffnungen auf ihn. Es
gefiel Herrn Nikiforoff, daß Herr Pralinski guter Herkunft war, gute
Einkünfte, d. h. ein großes Haus mit einem Verwalter hatte, nicht mit
den letzten Leuten verwandt und schließlich gut angesehen war. Das
hinderte jedoch nicht, daß er ihn im geheimen wegen Mangel an Einsicht
und wegen großen Leichtsinns tadelte. Pralinski fühlte es zuweilen sogar
selbst, daß er allzu viel Eigenliebe besaß und in diesem Punkte etwas
sehr kitzlich war. Mitunter hatte er nämlich Anfälle geradezu
krankhafter Gewissensbisse und sogar einer gewissen Reue in manchen
Dingen. Dann gestand er sich mit heimlichem Kummer im Herzen, daß er
durchaus kein so großes Tier war, wie er sich selbst glauben machen
wollte. In solchen Augenblicken wurde er sogar ganz melancholisch; zwar
geschah das gewöhnlich nur, wenn er Leibweh hatte; dann nannte er sein
Leben ^une existence manquée^, hörte sogar auf, an seine
parlamentarischen Fähigkeiten zu glauben, nannte sich einen Parleur,
Phraseur, und obgleich das alles ihm natürlich viel Ehre machte,
hinderte es ihn doch nicht, schon nach einer halben Stunde sein Haupt
von neuem zu erheben und um so hartnäckiger, um so anmaßender sich zu
versichern, daß er es noch verstehen würde, sich hervorzutun, und nicht
nur ein hoher Würdenträger, sondern ein Staatsmann ersten Ranges zu
werden, „den Rußland nimmer vergessen wird“. Ja, es kam dann so weit mit
ihm, daß er sich schon in Bronze gegossen oder in Marmor gemeißelt auf
einem Pralinskiplatz sah. Daraus ersieht man, daß er nach Großem
strebte, wenn er auch diese Träume und Hoffnungen tief und fast
ängstlich in seinem Innersten verbarg. Kurz, er war ein guter Mensch und
in der Seele sogar ein Dichter. In den späteren Jahren suchten ihn die
krankhaften Augenblicke der Verzweiflung immer häufiger heim. Er wurde
ganz besonders reizbar und mißtrauisch und war schließlich bereit, jeden
Widerspruch für eine Beleidigung zu halten. Doch da kam plötzlich das
liberale Rußland und flößte ihm wieder große Hoffnungen ein. Und die
„Exzellenz“ tat dann noch das ihrige hinzu. Er richtete sich auf; er
warf den Kopf in den Nacken. Er redete plötzlich schön und viel,
natürlich nur über die neuesten Themata, die er sich ungemein schnell
und bis zur Leidenschaft angeeignet hatte. Er suchte Gelegenheiten zu
reden, besuchte bekannte Persönlichkeiten und wurde denn auch bald als
verzweifelter Liberaler bekannt, was ihm ungeheuer schmeichelte. An
jenem Abend aber kam er nach dem vierten Glas ganz besonders in Schwung.
Er wollte plötzlich den Hausherrn in allem bekehren. Er hatte ihn vorher
lange nicht mehr gesehn, ihn immer sehr geachtet, und hatte sonst stets
auf seinen Rat gehört. Plötzlich aber hielt er ihn für äußerst
konservativ und griff ihn daher mit ungewöhnlichem Eifer an. Nikiforoff
antwortete fast überhaupt nicht, sondern hörte ihm nur verschmitzt
lächelnd zu, obgleich ihn das Thema interessierte. Pralinski dagegen
ereiferte sich immer mehr und führte in der Hitze des vermeintlichen
Disputs sein Glas weit häufiger als es sich gehörte an die Lippen. Da
griff denn der Hausherr immer wieder zur Flasche, um das geleerte Glas
zu füllen, was Herr Pralinski aus unbekannten Gründen plötzlich nicht
gerade höflich fand, um so mehr, als Ssemjon Iwanowitsch Schipulenko,
den er ganz besonders verachtete, und obendrein noch wegen seines
Zynismus und seiner witzigen Bosheit fürchtete, an seiner Seite höchst
verdächtig schwieg und gleichfalls häufiger als angebracht zu lächeln
beliebte. „Ich glaube, sie halten mich für einen dummen Jungen,“ dachte
er eine Sekunde lang.

„Nein,“ fuhr er darauf mit noch größerem Aplomb fort, „nein, es ist
Zeit! Wir sind zu sehr zurückgeblieben und meiner Meinung nach ist
Humanität die erste Bedingung, Humanität in der Behandlung der
Untergebenen, denn, nicht zu vergessen, auch _sie_ sind Menschen!
Humanität wird alles retten und alles auf den richtigen ...“

„Hihihihi!“ ertönte es da halblaut aus der Richtung Herrn Schipulenkos.

„Ja, aber mein Lieber, warum waschen Sie uns denn so den Kopf?“ fragte
endlich der Hausherr mit liebenswürdigem Lächeln. „Ich muß gestehen,
Iwan Iljitsch, es ist mir bis jetzt noch nicht klar geworden, was Sie
uns eigentlich erklären wollen. Sie betonen immer die Humanität. Das
bedeutet doch Menschlichkeit, nicht wahr?“

„Ja, schön, meinetwegen auch Menschlichkeit. Ich ...“

„Erlauben Sie! Soweit ich darüber urteilen kann, handelt es sich aber
nicht nur darum. Menschlichkeit ist selbstverständlich. Die Reformen
jedoch beschränken sich nicht nur auf das Moralische. Da haben wir jetzt
die Bauernfragen, die Leibeigenschaft, die neuen Gesetze, die Rechte,
die moralischen Fragen und ... und ... sie nehmen ja kein Ende, diese
Fragen, und alle zusammen, alles zusammen kann plötzlich große, sagen
wir, Erschütterungen verursachen. Das ist es, was wir befürchten, aber
gegen die Humanität haben wir nichts einzuwenden ...“

„Tja, die Sache liegt etwas tiefer,“ meinte Herr Schipulenko trocken.

„Das verstehe ich sehr wohl, und erlauben Sie, Ssemjon Iwanowitsch,
Ihnen zu bemerken, daß ich keineswegs glaube, Ihnen in der Tiefe der
Auffassung dieser Sache nachzustehn,“ bemerkte gereizt und fast zu
schroff Herr Pralinski, „einstweilen aber erlaube ich mir, auch Ihnen,
Stepan Nikiforowitsch, zu bemerken, daß Sie mich gleichfalls durchaus
nicht verstanden haben ...“

„Hab’s auch nicht.“

„Währenddessen aber halte ich mich an die Idee, die ich auch überall
durchführe, daß Humanität, und besonders Humanität den Untergebenen
gegenüber, vom Beamten bis zum Schreiber, vom Schreiber bis zum
Hausknecht, vom Hausknecht bis zum Bauer, – daß die Humanität, sage ich,
als, sagen wir, als Eckstein der bevorstehenden Reformen und überhaupt
der Erneuerung der Dinge dienen kann. Warum? Das werde ich Ihnen sofort
sagen. Nehmen wir einen Syllogismus: ich bin human, folglich liebt man
mich. Liebt man mich, so hat man Zutrauen zu mir. Hat man Zutrauen zu
mir, so glaubt man auch an mich; glaubt man an mich, so wird man mich
folglich auch lieben ... das heißt, nein, ich will nur sagen, daß, wenn
man an mich glaubt, man dann auch an die Reform glauben und begreifen
wird, worin das Wesen der Sache besteht, sagen wir, sich moralisch
umarmen und die ganze Sache freundschaftlich und gründlich machen wird.
Worüber lachen Sie, Herr Schipulenko? Können Sie das nicht begreifen?“

Der Hausherr zog schweigend die Brauen in die Höh; er schien erstaunt zu
sein.

„Ich glaube, ich habe etwas zu viel getrunken,“ meinte Herr Schipulenko
nicht ohne bissigen Spott, „und bin daher wohl etwas schwerfällig im
Begreifen. Die Spannkraft meines Gehirns hat, glaub ich, etwas
nachgelassen.“

Pralinski fühlte einen Stich im Herzen.

„Wir werden es nicht aushalten,“ sagte plötzlich der Hausherr nach
kurzem Nachdenken.

„Wieso, wie meinen Sie das – nicht aushalten?“ erkundigte sich Herr
Pralinski, den die plötzliche und kurze Bemerkung des Hausherrn
wunderte.

„So. Ganz einfach, werden’s nicht aushalten.“ Augenscheinlich wollte er
sich über seine Meinung nicht weitläufig verbreiten.

„Sie meinen das doch nicht etwa in Betreff des neuen Weines und der
neuen Schläuche?“ fragte ironisch Pralinski. „Nun, für mich garantiere
ich.“

Da schlug die Stutzuhr halb zwölf.

„Da sitzen wir und sitzen und gehn nicht fort,“ sagte sich langsam
erhebend Herr Schipulenko. Herr Pralinski jedoch kam ihm zuvor, erhob
sich elastisch aus dem niedrigen Sessel und nahm vom Kamin seine
Zobelmütze. Er schien beleidigt zu sein.

„Und wie bleibt es denn damit, Ssemjon Iwanowitsch, mit der Wohnung?“
fragte noch einmal der Hausherr, als er die Gäste begleitete.

„Mit der Wohnung? Ich werde sehn, ich werde sehn.“

„Jedenfalls benachrichtigen Sie mich bald.“

„Immer von Geschäften die Rede?“ erkundigte sich liebenswürdig Herr
Pralinski. Seine Stimme klang wieder recht versöhnlich. Er wartete auf
eine Antwort und spielte mit seiner Mütze. Es schien ihm, daß man ihn
nicht sonderlich beachtete.

Der Hausherr zog wieder die Brauen in die Höh und schwieg zum Zeichen
dessen, daß er die Gäste nicht aufhalten wollte. Herr Schipulenko
verabschiedete sich denn auch eiligst.

„Ah ... so ... nun, wie Ihr wollt ... wenn Ihr nicht einmal eine
einfache Liebenswürdigkeit versteht ...“ dachte Herr Pralinski bei sich
und streckte seine Hand möglichst unabhängig dem Hausherrn entgegen.

Im Vorzimmer hüllte sich Herr Pralinski in seinen leichten teuren Pelz
und bemühte sich aus irgend einem Grunde, den vertragenen Waschbär Herrn
Schipulenkos nicht zu bemerken.

„Unser Alter scheint irgend etwas übelgenommen zu haben,“ sagte, als sie
die Treppe hinabstiegen, Herr Pralinski zu Herrn Schipulenko.

„Wieso das? Ich glaube nicht,“ meinte ruhig und kühl der andere.

„Borniert!“ dachte bei sich Pralinski von seinem Begleiter.

Sie traten auf die Straße. Schipulenkos Schlitten fuhr vor. Sein Hengst
war gerade nicht sehr schön.

„Teufel! Wo mag denn Trifon mit meinem Schlitten stecken!“ rief
ungeduldig Herr Pralinski, da er sein Gefährt nicht erblicken konnte.

Hierhin, dorthin – der Schlitten war nicht zu sehn. Der Hausknecht
konnte auch keine Auskunft geben. Da fragte man schließlich Warlam, den
Kutscher Schipulenkos, und erfuhr von ihm, daß der andere die ganze Zeit
gleichfalls gewartet habe, nun aber nicht mehr da sei, wie man ja sehen
könne.

„Dumme Geschichte!“ meinte Herr Schipulenko. „Wollen Sie – ich bringe
Sie nach Haus?“

„Solch ein Gaunervolk!“ schimpfte wütend Herr Pralinski. „Die Kanaille
wollte sich bei mir vorhin die Erlaubnis ausbitten, hier auf der
Petersburger Seite eine Hochzeit mitzumachen, irgend eine Verwandte von
ihm soll heiraten – daß sie der Henker hole! Und ich verbot ihm
strengstens, sich von hier zu entfernen. Ich könnte wetten, daß er
dorthin gefahren ist!“

„Ja,“ bemerkte Warlam, „er ist auf diese Hochzeit gefahren, wollte aber
gleich wieder umkehren und zur angesagten Zeit hier sein.“

„Da haben wir’s! Ich ahnte es ja! Der soll mir aber büßen!“

„Versohlen Sie ihn lieber zweimal wie es sich gehört, dann wird er
gehorsamer sein,“ sagte Schipulenko, der schon die Schlittendecke
zuknöpfte.

„Seien Sie unbesorgt, Ssemjon Iwanowitsch!“

„So wollen Sie nicht? Ich bringe Sie gern nach Haus.“

„Danke, nein. Und glückliche Reise!“

Schipulenko fuhr fort, Pralinski aber ging gereizt zu Fuß auf den
Bretterstegen durch das öde Vorstadtviertel dem Zentrum der Stadt zu.

                   *       *       *       *       *

„Warte nur, Spitzbube, Du sollst mir aber büßen! Gehe jetzt zum Trotz zu
Fuß, damit Du Angst bekommst! Wenn er zurückkehrt, wird er sofort
erfahren, daß sein Herr zu Fuß gegangen ist ... Solch ein Spitzbube!“

Herr Pralinski hatte noch niemals innerlich so geflucht. Er war aber
auch wirklich so gereizt und zudem brummte noch sein Kopf. Da er sonst
kein Trinker war, so wirkten die fünf bis sechs Glas Champagner ziemlich
schnell. Die Nacht war wundervoll. Es war kalt und klar und ungewöhnlich
windstill. Der sternklare Himmel wölbte sich hoch, hoch, und der Mond
breitete über die Erde matten, luftlosen Silberschein. Es war so schön,
daß Pralinski schon nach kurzer Zeit seinen ganzen Ärger vergaß. Es
wurde ihm plötzlich so wunderlich angenehm zu Mut. Es ist ja eine
bekannte Tatsache, daß Menschen, die ein wenig getrunken haben, sehr
schnell ihre Eindrücke und Empfindungen wechseln. Ihm gefielen plötzlich
sogar die unscheinbaren Holzhäuschen der öden Straße.

„’S ist doch schön, daß ich zu Fuß gegangen bin,“ dachte er bei sich,
„für Trifon ist’s eine Lehre und mir ist es ein Vergnügen. Man müßte
wirklich öfter zu Fuß gehn ... Auf dem großen Prospekt werde ich ja
sofort einen Schlitten finden. Prachtvolle Nacht! Was das hier für
Häuschen sind. Wahrscheinlich Kleinbürger, Beamte ... Kaufleute,
vielleicht ... Dieser Stepan Nikiforowitsch! Und was für Reaktionäre sie
sind, diese Schlafmützen! ^Oui^, Schlafmützen, ^c’est le mot^. Er ist
übrigens ein kluger Mensch; hat diesen ^bonsens^, das nüchterne,
praktische Begreifen der Dinge. Dafür aber sind’s ja Greise, Greise!
Dieser ... äh, wie heißt doch gleich der Kerl! ... Nun ja, was nicht
noch ... Werden es nicht aushalten! Was mag er damit gemeint haben? Er
versank ja sogar in Gedanken, als er das sagte. Übrigens hat er mich
überhaupt nicht verstanden. Und wie _das_ nicht verstehn! Das _nicht_ zu
verstehn ist ja schwerer, als zu verstehn. Die Hauptsache ist, daß ich
überzeugt bin, im Herzen überzeugt ... Humanität ... Menschlichkeit. Den
Menschen zu sich selbst zurückführen ... seine eigene Würde erwecken und
dann ... macht Euch dann mit dem neuen Material an die Arbeit! Man
sollte meinen, daß das klar ist! Ja–hm! Erlauben Sie mal, Exzellenz;
nehmen Sie einen Syllogismus: ich treffe z. B. einen Beamten, einen
armen Beamten, einen verprügelten, eingeschüchterten Menschen. Nun ...
was bist Du? Antwort: Beamter. Also gut, Beamter; weiter: was für ein
Beamter? Antwort: so und so. – Dienst Du? Ja, ich diene. – Willst Du
glücklich sein? Will. – Was hast Du zum Glücklichsein nötig? Das und
das. – Warum? Darum. – Und siehe, der Mensch begreift mich nach zwei
Worten, der Mensch ist gewonnen, ist, sagen wir, bestrickt, der Mensch
gehört mir und ich mache mit ihm, was ich will, d. h. natürlich nur zu
seinem Besten. ’N gemeiner Mensch, dieser Schipulenko! Und welch eine
scheußliche Fratze er hat ... ‚Versohlen Sie ihn!‘ – das hat er
absichtlich so gesagt. – Nein, mein Lieber, das kannst Du selbst
besorgen, wenn es Dich reizt; ich aber werde es _nicht_ tun; ich werde
meinen Trifon mit einem einzigen Wort zu erziehen verstehn: ein kurzer
Tadel – das genügt, er wird’s schon fühlen. Was jedoch die Prügelstrafe
anbetrifft, hm! ... ungelöste Frage das ... hm! Pfui, Teufel, diese
verfluchten Bretterstege!“ rief er plötzlich wütend; er hatte auf den
Weg nicht acht gegeben und war gestolpert. „Und das will eine Hauptstadt
sein! Oh Zivilisation! Hier kann man sich ja die Beine brechen! Hm! ...
Ich hasse diesen Schipulenko; unsympathischer Kerl. Vorhin lachte er
über mich, als ich sagte, man würde sich moralisch umarmen. Nun, man
wird es auch, was geht das Dich an? Hab keine Angst, Dich werde ich
nicht umarmen; eher einen Bauern ... Wenn ich jetzt einem Bauern
begegnen sollte, so werde ich ihn anreden. Übrigens war ich etwas
angetrunken und drückte mich vielleicht nicht so aus ... Hm! Werde nie
mehr trinken. Was man am Abend schwatzt, das bereut man am nächsten
Morgen. Wie!? Ich gehe doch ganz gerade ... Aber, weiß Gott, sie sind
doch alle Spitzbuben!“

Das waren die zusammenhanglosen Gedanken, die Herrn Pralinski durch den
Kopf gingen, als er auf den Bretterstegen nach Hause schritt. Die
frische Nachtluft tat ihm gut, sie rüttelte ihn wieder wach, wie man zu
sagen pflegt. Nach fünf Minuten aber hätte er sich wieder beruhigt und
wäre dann vielleicht schläfrig geworden. Doch plötzlich, wenige Schritte
vor dem großen Prospekt, hörte er Musik. Er blickte sich um. In einem
alten einstöckigen, doch langgestreckten Holzhause, das einsam an der
anderen Straßenseite lag, schien ein Fest zu sein: eine Geige, ein
Kontrabaß und eine Flöte taten ihr Bestes, um tanzlustigen Leuten eine
Quadrille aufzuspielen. Unter den Fenstern drängten sich Zuschauer,
meistens Weiber in wattierten Mänteln und großen Tüchern; sie bemühten
sich eifrig, durch die Spalten der Läden irgend etwas zu sehn. Das
Gestampf der Tanzenden konnte man sogar auf der anderen Straßenseite
hören. Pralinski erblickte nicht weit von sich einen Schutzmann und ging
auf ihn zu.

„Wem gehört dieses Haus, mein Lieber?“ fragte er ihn kurz, wobei er
seinen kostbaren Pelz am Halse etwas zurückschob, genau so viel, daß der
Schutzmann seinen Orden erkennen konnte.

„Dem Beamten Pseldonimoff, dem Registrator,“ antwortete der Schutzmann,
der natürlich den Orden sofort erkannt und eine stramme Haltung
angenommen hatte.

„Pseldonimoff? Hm! Pseldonimoff! ... Und was ist denn da los? Heiratet
er vielleicht?“

„Ja, Ew. Hochgeboren, er heiratet die Tochter eines Titularrats.
Mlekopitajeff, Titularrat ... hat an der Behörde gedient. Dieses Haus
bekommt jetzt der Schwiegersohn.“

„Also gehört es jetzt Pseldonimoff und nicht mehr Mlekopitajeff?“

„Pseldonimoff, jawohl, Ew. Hochgeboren, Mlekopitajeff gehörte es früher,
jetzt aber gehört es Pseldonimoff.“

„Hm! Ich habe mich nur erkundigt, weil ich nämlich sein Vorgesetzter
bin.“

„Zu Befehl, Exzellenz.“

Der Schutzmann nahm eine wenn möglich noch strammere Haltung an, Herr
Pralinski aber schien nachzudenken. Er stand und überlegte ...

Ja, tatsächlich, dieser Pseldonimoff diente in seiner Kanzlei; das wußte
er ganz genau. Er war ein kleiner Beamter, der etwa zehn Rubel monatlich
erhielt. Da Herr Pralinski erst seit kurzer Zeit Chef seiner Kanzlei
geworden war, so hätte er sich schließlich seiner Untergebenen nicht
allzu genau erinnern können; Pseldonimoffs jedoch erinnerte er sich
deutlich und zwar nur des Namens wegen: der war ihm sofort aufgefallen
und so hatte er sich denn den Besitzer desselben etwas genauer angesehn.
Er erinnerte sich eines noch sehr jungen Menschen mit einer langen
gebogenen Nase mit blondem, strähnigem Haar, der krankhaft mager war,
einen unmöglichen Rock und noch unmöglichere Unaussprechliche trug. Er
erinnerte sich noch, daß ihm damals beim Anblick dieser Figur der
Gedanke gekommen war, dem Armen zu Weihnachten einige zehn Rubel zur
Aufbesserung der Toilette zukommen zu lassen. Da aber das Gesicht dieses
Armen ungeheuer einfach wirkte und der Blick sogar sehr unsympathisch
war, so verdunstete der gute Gedanke allmählich ganz von selbst, und
Pseldonimoff erhielt kein Geschenk. Um so mehr setzte ihn aber dann
dieser selbe Pseldonimoff in Erstaunen, als er ihn vor einer Woche um
die Erlaubnis bat, heiraten zu können: Pralinski erinnerte sich noch,
daß er damals keine Zeit gehabt hatte, sich mit der Sache eingehender zu
beschäftigen, und so war denn die Heiratsgeschichte schnell erledigt
worden. Trotzdem jedoch wußte er noch ganz genau, daß Pseldonimoff mit
der Braut noch ein einstöckiges Holzhaus und vierhundert Rubel bar
erhalten sollte. Dieser Umstand hatte ihn damals sogar etwas in
Erstaunen gesetzt; und dann wußte er auch noch, daß er über die Namen
Pseldonimoff und Mlekopitajeff einen Kalauer gemacht hatte. Dessen
erinnerte er sich noch ganz genau.

Herr Pralinski verfiel immer mehr und mehr in Gedanken. Bekanntlich
können zuweilen ganze seitenlange Betrachtungen oder Erwägungen in einer
einzigen Sekunde durch unseren Kopf gehn, sagen wir, in Form gewisser
Gefühle, die sich in menschlicher Sprache nicht so einfach ausdrücken
lassen. So werde ich denn auch alle diese Gefühle unseres Helden nicht
weiter auszudrücken versuchen, sondern nur das Wesen dieser Gefühle so
gut ich es kann wiedergeben, sagen wir, nur das, was in ihnen das
Notwendigste und Wahrscheinlichste war, denn viele unserer Empfindungen
würden, in die menschliche Sprache übersetzt, vollkommen
unwahrscheinlich sein. Das ist ja der Grund, warum sie niemand hört,
obgleich sie doch ein jeder hat. Natürlich waren die Empfindungen und
Gedanken Pralinskis ein wenig zusammenhanglos, doch wir wissen ja, warum
sie es waren.

„Da reden wir nun und reden,“ zuckte es ihm durch den Kopf, „kommt es
aber zum Handeln – so tun wir doch nichts. Da haben wir jetzt ein
Beispiel, nehmen wir meinetwegen diesen Pseldonimoff: er ist heute
erregt aus der Kirche heimgekehrt, hoffnungsfroh, freudig ... Dieser Tag
ist einer der seligsten seines Lebens ... Jetzt hat er mit den Gästen zu
tun, gibt ein Fest – ist bescheiden und arm, aber doch heiter, froh,
aufrichtig ... Wie, wenn er jetzt erfahren würde, daß in diesem
Augenblick ich, ich, sein Vorgesetzter, sein höchster Vorgesetzter,
Exzellenz Pralinski, hier vor seinem Hause stehe und seiner
Hochzeitsmusik zuhöre? Nein, tatsächlich, was würde dann mit ihm
geschehn? Was würde er tun, wenn ich jetzt einfach den Entschluß fasse
und bei ihm eintrete? Hm! ... zuerst würde er natürlich vor Schreck
verstummen: Ich würde ihm seine Hochzeitsfeier verleiden, würde alles
verderben ... Ja, das würde das Erscheinen jedes anderen so hohen
Vorgesetzten zweifellos tun, nicht aber, wenn ich ... Das ist es ja, daß
jeder andere stören würde, nur ich nicht ...

„Ja, ja, mein lieber Nikiforoff! Vorhin konnten sie mich nicht verstehn,
da haben sie jetzt ein fertiges Beispiel.

„Hm – ja. Wir alle reden von Humanität, doch zu Heroismus, zu
Heldentaten sind wir noch immer nicht fähig.

„Was für eine Heldentat? Nun, urteilen Sie doch selbst: bei der jetzigen
Gesellschaftseinteilung soll ich, ich um zwölf Uhr nachts zu meinem
Registrator, der sich nur auf zehn Rubel monatlich steht, gehn! – Das
ist doch Wahnsinn, ist doch Rotation aller Kulturideen, Sodoms Ende und
Pompejis Untergang! Das würde niemand verstehn. Nikiforoff wird sterben,
ohne das zu begreifen. Er sagte ja doch: wir werden es nicht aushalten.
Ja, aber diese ‚wir‘ sind Sie, meine Herren, nicht ich; das sind Leute
der Lähmung und Stagnation, ich aber, ich werde es aushalten! Ich werde
den letzten Tag Pompejis in den schönsten Freudentag meines Untergebenen
verwandeln und dieser unerhörte Schritt wird eine normale,
patriarchalische, hohe und moralische Handlung werden. Wie das? So.
Bitte aufzumerken ...

„Nun, nehmen wir an ... ich trete ein: sie sind erstaunt, erschrocken,
unterbrechen den Tanz, blicken sich scheu nach allen Seiten um, drängen
sich vor mir zurück. Schön; da aber trete ich vor: ich gehe geradenwegs
auf den entsetzten Pseldonimoff zu und sage ihm mit dem
liebenswürdigsten Lächeln: so und so, war bei Seiner Exzellenz, Herrn
Nikiforoff, hier in der Nähe .. Nun, und dann erzähle ich so in spaßiger
Art und Weise mein Pech mit diesem Trifon und gehe dann darauf über, wie
es kam, daß ich zu Fuß ging ... Nun, und da hörte ich denn plötzlich
Musik, erkundige mich beim Schutzmann und erfahre, daß Sie, mein Lieber,
heute Ihre Hochzeit feiern. Ach, denke ich, da mußt Du doch hingehen,
mußt doch einmal sehn, wie Deine Beamten sich amüsieren und ...
heiraten. Ich hoffe, Sie werden mich nicht vor die Tür setzen! – Haha,
vor die Tür setzen! Das einem Untergebenen! Ich glaube, er wird den
Verstand verlieren, wird Hals über Kopf alle Sessel zusammenschleppen,
um mir eine Sitzgelegenheit zu bieten, wird vor Entzücken erbeben, wird
sich überhaupt nicht besinnen können! ...

„Nun, was kann es Einfacheres, Vornehmeres als solch eine Handlung
geben! Warum ich eingetreten bin? Das ist eine andere Frage! Das ist die
moralische Seite der Sache ...

„Hm ... Woran dachte ich eigentlich? Ach so!

„Natürlich werden sie mich mit dem vornehmsten Gast zusammenbringen, mit
irgend einem Titularrat oder Verwandten, einem abgesetzten Hauptmann mit
einer verfänglich roten Nase ... Gogol hat sie doch prachtvoll
geschildert, diese Originale! Nun, ich lerne natürlich die junge Frau
kennen, lobe sie, ermuntere die Gäste, bitte sie, sich nicht stören zu
lassen, den Tanz wieder aufzunehmen, mache Bonmots; mit einem Wort – bin
bezaubernd liebenswürdig. Ich bin immer bezaubernd liebenswürdig, wenn
ich mit mir zufrieden bin. Hm! ... das ist es ja, daß ich immer noch so
ein wenig, natürlich nicht gerade betrunken, aber so ...

„... Versteht sich, als Gentleman stehe ich auf gleichem Fuß mit ihnen
und verlange nicht im geringsten irgend welche ... Aber moralisch,
moralisch – das ist eine andere Sache: sie werden es begreifen und
würdigen ... Meine Handlung wird Edelmut in ihnen erwecken ... Und dann
bleibe ich so eine halbe Stunde .. Meinetwegen auch eine Stunde. Gehe
selbstverständlich kurz vor dem Essen; sie werden natürlich alles
mögliche zusammenbraten, mich himmelhoch zu bleiben bitten, ich aber
erhebe nur meinen Pokal, spreche meinen Glückwunsch aus und danke für
das Essen. Sage einfach – die Arbeit drängt. Dieses Wort wird genügen:
sofort werden sie ehrerbietig-ernste Gesichter machen. Und damit gebe
ich zu gleicher Zeit in delikater Weise zu verstehn, daß ich und sie –
zwei verschiedene Dinge sind. Himmel und Erde. Ich meine, ich sage das
nicht, um ... aber man muß doch ... im moralischen Sinn ist es sogar
unbedingt nötig, was man auch einwenden mag. Übrigens kann ich ja sofort
wieder lächeln, kann sogar lachen, und alle werden sie wieder Mut fassen
... Scherze noch ein wenig mit der Jungen; hm! ... ich könnte ja sogar
andeuten, daß ich nach einer bestimmten Anzahl Monate wiederkommen würde
als Taufpate, he–he! Sie wird sich dann bestimmt bemühen, pünktlich zum
Termin einen kleinen Pseldonimoff auf die Welt zu setzen. Vermehren sich
ja wie die Kaninchen. Nun, man wird natürlich lachen, sie wird feuerrot,
gefühlvoll küsse ich sie dann auf die Stirn, segne sie womöglich noch
... und morgen kennt dann die ganze Kanzlei meine Heldentat. Am nächsten
Tage bin ich wieder streng, anspruchsvoll, sogar unerbittlich, doch alle
wissen dann bereits, wer ich bin. Kennen mein Innerstes, mein geheimstes
Wesen: ‚Als Vorgesetzter ist er streng, doch als Mensch ist er – ein
Engel!‘ Und da habe ich denn gesiegt; habe mit einer einzigen kleinen
Handlung alle Herzen erobert: sie gehören mir; ich bin ihr Vater, sie
sind meine Kinder ... Nun, Exzellenz Stepan Nikiforowitsch, versuchen
Sie doch einmal, etwas Ähnliches zu machen ...

„... Ja, wissen Sie auch, begreifen Sie auch, daß Pseldonimoff seinen
Kindern und Kindeskindern erzählen wird, wie seine Exzellenz in eigener
Person auf seiner Hochzeit erschienen ist! Und die werden es noch ihren
Enkeln als heiligste Familiengeschichte erzählen, wie der Würdenträger,
der große Staatsmann – der ich dann bestimmt schon sein werde – sie
einst der Ehre gewürdigt u. s. w., u. s. w. Aber das wäre ja doch einen
Erniedrigten moralisch erheben, ihn sich selbst wiedergeben! ... Er
bekommt ja nur zehn Rubel monatlich! ... Sollte ich etwas Ähnliches
fünfmal wiederholen, so bin ich ja populär, ohne ... Werde in allen
Herzen eingeschlossen sein und der Teufel weiß, was daraus noch alles in
Zukunft entstehen kann, aus dieser Popularität! ...“

So, oder ungefähr so dachte Herr Pralinski. (Meine Herren, als ob der
Mensch zuweilen wenig bei sich denkt, und besonders noch, wenn er in
einer etwas exzentrischen Stimmung ist!). Diese Gedanken durchzuckten
ihn vielleicht in kaum einer halben Minute, und natürlich würde er sich
mit den Traumgebilden und der gedanklichen Beschämung Nikiforoffs
zufrieden gegeben haben und würde weiter nach Haus und zu Bett gegangen
sein – unter normalen Umständen. Doch der Jammer war bloß der, daß er in
jenem Augenblick etwas exzentrisch war.

Wie vom Schicksal heraufbeschworen sah er plötzlich im entscheidenden
Augenblick die zufriedenen Gesichter Nikiforoffs und Schipulenkos vor
sich.

„Werden’s nicht aushalten!“ wiederholte Stepan Nikiforowitsch mit
hochmütigem Lächeln.

„Hihihi!“ sekundierte Ssemjon Iwanowitsch mit seinem scheußlichen
Gekicher.

„Das wollen wir mal sehn! Ich werde sofort beweisen, wie ich’s
aushalte!“ sagte entschlossen Herr Pralinski und es stieg ihm sogar heiß
zu Kopf.

Er verließ den Brettersteg und ging mit festen Schritten über die Straße
auf das Haus seines Untergebenen, des Registrators Pseldonimoff zu.

                   *       *       *       *       *

Sein Stern riß ihn mit sich. Mutig schritt er durch die offene Hoftür,
schob verächtlich mit dem Fuß einen kleinen, zottigen Spitz bei Seite,
der ihm mehr anstandshalber als um der Sache willen mit heiserem Gekläff
an die Beine fuhr. Auf den Brettern, die von der Hoftür bis zur Haustür
führten, schritt er munter weiter und stieg dann die drei alten
Holzstufen hinan, die unter einem kleinen Giebel einen Vorbau wie etwa
ein Wächterhäuschen bildeten, und trat in einen erbärmlich kleinen Flur.
Zwar brannte daselbst irgendwo in einer Ecke so etwas wie ein Licht oder
eine bunte Laterne, doch hinderte das Herrn Pralinski nicht, so wie er
war, in Galoschen, mit dem linken Fuß in eine Schüssel mit Gelée, die
zum Kaltwerden herausgestellt worden war, hineinzutreten. Herr Pralinski
beugte sich interessiert nieder, um den weichen Boden zu betrachten und
erkannte mit Schrecken, was er angerichtet hatte; zu gleicher Zeit
bemerkte er auch, daß neben ihm noch zwei Schalen mit irgend etwas
Eßbarem, und zwei Formen mit einer süßen Speise, augenscheinlich mit
Blanc-manger, standen. Das zerdrückte Gelée verwirrte ihn allerdings ein
wenig und eine kurze Sekunde lang dachte er wohl, ob es nicht besser
wäre, noch leise umzukehren und sich aus dem Staube zu machen. Doch
gesinnungstüchtig wies er diesen Gedanken als niedrige Anwandlung weit
von sich. Er überlegte, daß ihn doch niemand gesehn und man daher auch
bestimmt nicht auf ihn verfallen würde, wischte schnell seine Galosche
ab, um alle Spuren zu verstecken, tastete dann an der filzbeschlagenen
Tür nach der Klinke, öffnete die Tür und trat in ein ganz kleines
Vorzimmer. Die eine Hälfte desselben war mit Mänteln, Pelzjacken,
Überziehern, Tüchern, Muffs und Galoschen total verbaut, in der anderen
hatte man die Musikanten untergebracht: zwei Geigen, eine Flöte und ein
Kontrabaß, im ganzen also vier Mann. Sie saßen um einen kleinen,
ungestrichenen Holztisch, auf dem ein einziges Talglicht brannte, und
fiedelten was das Zeug hielt die letzte Tour der Quadrille herunter.
Durch die offene Tür konnte man im Saal die Tanzenden sehn, die sich in
Staub-, Rauch- und Dunstwolken drehten. Es ging ausgelassen-lustig zu.
Man hörte Gelächter, Schreie, Damengekreisch. Die Kavaliere stampften
wie eine Eskadron Pferde, und aus dem ganzen Sodom klang das Kommando
des Tanzordners, der, wie es schien, ein sehr freier Herr mit
aufgeknöpftem Rock war: „^Avancez Messieurs, chaine de dames,
balancez!^“ u. s. w., u. s. w. Herr Pralinski warf einigermaßen erregt
seinen Pelz von den Schultern, schob die Galoschen ab, und trat mit der
Mütze in der Hand in den sogenannten Saal. Übrigens hatte er schon
aufgehört zu denken.

Im ersten Augenblick bemerkte ihn niemand: alle tanzten in wildem Galopp
oder Walzer die Quadrille zu Ende. Pralinski stand wie betäubt und
konnte in diesem Wirrwarr nichts unterscheiden. Helle Damenkleider,
Frack- und Rockschöße, Herren mit einer Zigarette zwischen den Zähnen
schwirrten vor seinen Augen, und zwischen ihnen irgend eine
vorüberfliehende Dame, deren lange flatternde hellblaue Schärpe mit
Fransen ihm über die Nase wischte. Ihr setzte in heller Begeisterung ein
Student nach, der dabei den Eingetretenen unsanft stieß. Darauf drehte
sich vor ihm irgend ein Offizier, der länger als eine Werst lang war.
Irgend jemand rief vor Begeisterung mit ungewöhnlich hoher Stimme im
gemeinsamen Vorüberfliegen: „E–e–ech Pseldonimuschka!“ Herrn Pralinski
schien es, als klebten seine Sohlen am Fußboden: der war mit Wachs oder
Stearin gebohnt. In dem Zimmer, das übrigens nicht klein war, tanzten
etwa dreißig Menschen.

Doch nach einer Minute war die Quadrille beendet und fast im selben
Augenblick geschah genau dasselbe, was sich Herr Pralinski schon auf dem
Bretterstege gedacht hatte. Unter den Gästen, die noch nicht Atem
geschöpft, noch nicht den Schweiß von den Gesichtern gewischt hatten,
verbreitete sich plötzlich ein ganz ungewöhnliches Tuscheln. Aller
Augen, alle Gesichter wandten sich erschrocken schnell auf den
eingetretenen Gast. Und gleich darauf begann ein allgemeines Reculement,
alle schoben sie sich wie die Krebse rückwärts. Die ihn noch nicht
bemerkt hatten, wurden an den Kleidern gezupft und eines Besseren
belehrt. Herr Pralinski stand immer noch in der Tür und wagte keinen
Schritt vorzutreten, zwischen ihm aber und den Gästen wurde der freie
Zwischenraum immer größer und größer und schließlich war das halbe
Zimmer leer, abgesehen von den Zigarettenstummeln und Konfektpapierchen,
die friedlich den Fußboden verzierten. Da löste sich plötzlich aus
diesem enggepreßten Publikum schüchtern ein junger Mensch in einem
Gehrock los und trat vor in den leeren Raum: er hatte strähniges blondes
Haar und eine gebogene Nase. Er schob sich zaghaft näher, machte einen
Bückling nach dem anderen und blickte dabei auf den unerwarteten Gast
genau so wie ein Hund, der sich mit gesenkter Rute an seinen ihn
rufenden Herrn heranschlängelt, um verdiente Schläge in Empfang zu
nehmen.

„Guten Abend, Pseldonimoff, erkennen Sie mich?“ sagte Herr Pralinski und
fühlte doch im selben Augenblick, daß er es furchtbar ungeschickt sagte
und vielleicht eine unglaubliche Dummheit beging.

„Eu–eu–eure E–exzellenz!“ murmelte Pseldonimoff.

„Ach was, Exzellenz, – bin, mein Lieber, ganz zufällig bei Ihnen
eingetreten, wie Sie es sich wahrscheinlich denken können ...“

Doch Pseldonimoff konnte augenscheinlich überhaupt nicht denken. Er
stand mit weit aufgerissenen Augen vor seinem Vorgesetzten und nur das
Entsetzen des totalen Nichtverstehenkönnens drückte sich auf seinem
bleichen Gesichte aus.

„Ich nehme an, daß Sie mich doch nicht vor die Tür setzen werden ... Ob
willkommen oder nicht, aber einen Gast muß man stets empfangen! ...“
fuhr Herr Pralinski fort, wobei er wieder fühlte, daß er sich bis zu
unanständiger Schwäche verwirrt, daß er lächeln will und doch selbst das
nicht mehr kann; daß die humoristische Erzählung vom Ausbleiben seines
Trifon immer unmöglicher wird. Pseldonimoff aber verharrte wie zum Trotz
in seiner Erstarrung und fuhr bewegungslos fort, ihn blödsinnig
anzublicken. Pralinski durchzuckte es, er fühlte: „noch eine solche
Minute und es geschieht etwas Unerhörtes!“

„Oder habe ich vielleicht gestört ... dann werde ich natürlich sofort
...“ sagte er halbmechanisch und an seinem rechten Mundwinkel erzitterte
ein kleiner Nerv ...

Da aber besann sich endlich Pseldonimoff.

„Ew. Exzellenz, bitte, geruhen ... Ehre ...“ stotterte er unter erneuten
Bücklingen, „geruhen Platz zu nehmen ...“ Und noch etwas mehr zu sich
gekommen, wies er plötzlich mit beiden Händen auf das Sofa, das ohne
Tisch an die Wand geschoben war, um den Tanzenden nicht im Wege zu sein
...

Herr Pralinski atmete innerlich auf und ließ sich wie erlöst auf das
Sofa nieder; sofort beeilte sich einer der Herren, den bei Seite
geschobenen Tisch wieder vorzuschieben Flüchtig blickte er sich um und
da gewahrte er, daß außer ihm niemand saß: alle, auch die Damen standen.
Das war ein schlechtes Zeichen. Doch war es noch nicht Zeit, zu
ermuntern. Die Gäste standen noch immer scheu zurückgedrängt und vor ihm
hielt sich Pseldonimoff immer noch krumm wie ein Haken und begriff immer
noch nichts und war immer noch weit entfernt vom Lächeln. Es war einfach
schändlich – oder kurz: in diesem Augenblick erlitt unser Held soviel
Leid, daß sein Harûn-al-Raschid würdiges Unternehmen um des Prinzips
willen wohl für eine Heldentat angesehn werden konnte. Da befand sich
noch eine Gestalt plötzlich neben Pseldonimoff, die einen Bückling nach
dem anderen machte. Zu seiner unbeschreiblichen Freude, ja, und auch zu
seinem Glück erkannte Herr Pralinski in ihm den Sekretär aus seiner
Kanzlei, Akim Petrowitsch Subikoff, den er zwar nicht gesellschaftlich,
dafür aber als tätigen, schweigsamen Beamten kannte. Vor Freude erhob er
sich sofort und streckte Subikoff seine Hand entgegen, die ganze Hand
und nicht nur zwei Finger. Subikoff drückte sie vorsichtig in tiefster
Ehrerbietung. Exzellenz triumphierte: alles war gerettet!

In der Tat, jetzt war Pseldonimoff nicht mehr, sagen wir, die zweite,
sondern einfach die dritte Person. Man konnte sich mit der Erzählung
direkt an Subikoff wenden, ihn in der Not wie einen Bekannten behandeln,
sogar wie einen nahen Bekannten, Pseldonimoff aber konnte dann schweigen
und zittern soviel er wollte. Folglich war der Anstand gewahrt. Die
Erzählung aber war unbedingt nötig, das fühlte Herr Pralinski; er sah,
daß alle Gäste etwas erwarteten, daß in beiden Türrahmen sich sogar das
ganze Hausgesinde versammelt hatte und fast schon aufeinander kroch, um
ihn besser sehn und hören zu können. Unangenehm war bloß, daß der
Sekretär sich in seiner Dummheit immer noch nicht setzen wollte.

„Aber so setzen Sie sich doch!“ sagte Herr Pralinski und wies etwas
ungeschickt neben sich auf das Sofa.

„Ich ... ich ... ich ... ich kann auch hier ...“ stotterte Akim
Petrowitsch Subikoff verlegen und setzte sich flink auf einen Stuhl, der
ihm im Handumdrehen von Pseldonimoff, der selbst nicht Platz zu nehmen
wagte, in die Kniekehlen geschoben wurde.

„Denken Sie doch nur, was mir soeben passierte,“ begann Herr Pralinski
mit einer zwar noch etwas unsicheren, aber immerhin liebenswürdigen
Stimme ausschließlich zu Akim Petrowitsch gewandt. Er reckte sogar die
Worte möglichst in die Länge, sprach die Silben langsam und das a fast
wie ein e aus, kurz, er fühlte und begriff, daß er sich nicht natürlich
gab, doch konnte er sich nicht mehr beherrschen. Und überhaupt erkannte
und begriff er in jenem Augenblick furchtbar viel, weswegen er denn auch
doppelt litt.

„Können Sie sich vorstellen: ich komme von Stepan Nikiforowitsch
Nikiforoff, dem Geheimrat, Sie haben vielleicht von ihm gehört ...“

Subikoff beugte sich ehrerbietig mit seinem ganzen Oberkörper vor, als
wollte er sagen: „Exzellenz, wie sollte ich nicht!“

„Er ist jetzt Ihr Nachbar,“ fuhr Herr Pralinski fort und wandte sich
anstandshalber an Pseldonimoff, doch kehrte er sich sofort wieder von
ihm ab, da er an den Augen Pseldonimoffs nur zu deutlich gesehn hatte,
daß es ihm vollkommen gleichgültig war.

„Er hat sich immer ein Haus kaufen wollen ... Nun, und jetzt hat er es
sich glücklich gekauft. Ein ganz allerliebstes Häuschen. Ja ... Und da
kam es denn noch hinzu, daß heute sein Geburtstag ist und so hat er ihn
denn diesmal vor lauter Freude über sein neues Haus uns nicht
verheimlicht, wie er es sonst immer zu tun pflegte, hehe! Wie gesagt, er
hatte uns zu sich eingeladen, mich und Ssemjon Iwanowitsch. Sie kennen
ihn doch: Schipulenko.“

Subikoff machte mit seinem Oberkörper wieder eine respektvolle
Verbeugung; er tat es sogar mit großem Eifer. Herr Pralinski beruhigte
sich ein wenig, denn er hatte schon gefürchtet, sein untergebener
Sekretär könnte es vielleicht erraten, daß er der einzige rettende
Stützpunkt Seiner Exzellenz war. Das wäre gar zu dumm gewesen.

„Nun, wir saßen, tranken Champagner, sprachen über Regierungssachen, ...
über dieses und jenes ... über verschiedene Prob–leme ... disputierten
sogar ... Hehe!“

Subikoff machte ein ungewöhnlich ehrerbietiges Gesicht.

„Aber darum handelt es sich ja nicht hier. Ich verabschiedete mich
schließlich, denn, wissen Sie, Stepan Nikiforowitsch ist sehr pünktlich,
er geht stets um halb zwölf zu Bett ... er ist ja auch schon bejahrt.
Ich trete hinaus – mein Trifon ist nirgends zu sehn. Gehe hin und her,
erkundige mich: es stellt sich heraus, daß er sich in der Hoffnung, ich
würde länger sitzen bleiben, auf eine Hochzeit – zu irgend einer
Verwandten oder Schwester – begeben hatte ... gleichfalls hier irgendwo
auf der Petersburger Seite. Und auch den Schlitten hatte er natürlich
mitgenommen.“

Exzellenz blickte wieder vorsichtig zu Pseldonimoff hinüber, was diesen
sofort veranlaßte, sich krummzubiegen, doch keineswegs in der Art, wie
es Exzellenz haben wollte, und daher schloß er: „Dieser Mensch hat ja
überhaupt kein Herz.“

„Nein, so etwas!“ sagte tief erschüttert Akim Petrowitsch Subikoff. Ein
Schauer der Verwunderung lief tuschelnd gleichfalls über die
dichtgedrängte Schar der übrigen Gäste.

„Nicht wahr? Sie können sich meine Lage denken ...“ Herr Pralinski ließ
seinen fragenden Blick über alle Anwesenden schweifen. „Es war natürlich
nichts zu machen, gehe also zu Fuß. Ich denke mir, nun, Du gehst bis zum
großen Prospekt, dort wirst Du bestimmt noch einen Schlitten finden ...
hehe!“

„Hihihi!“ tönte pflichtschuldig das Echo von Subikoff zurück, und
wiederum ging ein Getuschel durch die gedrängte Gästeschar. In diesem
Augenblick platzte mit lautem Knall der Zylinder der Wandlampe. Irgend
jemand stürzte sofort eilfertig hin, um nachzusehn oder irgend etwas zu
retten. Pseldonimoff fuhr zusammen und warf einen strengen Blick auf die
Lampe, Exzellenz aber beachtete sie überhaupt nicht, und so beruhigte
man sich bald.

„Ich gehe also zu Fuß ... Die Nacht ist wundervoll, ganz windstill. Da
höre ich plötzlich Musik, Tanzmusik! Erkundige mich beim Schutzmann und
erfahre, daß Pseldonimoff seine Hochzeit feiert. Mein Lieber, Ihr Fest
ist ja auf der ganzen Petersburger Seite hörbar! Hahaha!“

„Hihihi! Stimmt ...“ meinte auch Subikoff; die Gäste flüsterten und
bewegten sich wieder; dumm war nur, daß Pseldonimoff sogar nach diesem
Scherz nicht lächelte, sondern wieder nur seinen Bückling machte –
wirklich als ob er von Holz gewesen wäre. „Der Kerl scheint ja total
borniert zu sein!“ dachte verwundert seine Exzellenz, „wenn der Esel
doch einmal lächeln wollte, wäre ja alles gut.“ Die Ungeduld tobte in
seinem Herzen.

„Halt! denke ich, wie wär’s, wenn Du einmal bei Deinem Untergebenen
vorsprächst? Ob ich ihm willkommen bin oder nicht, er wird mich doch
nicht vor die Tür setzen ... Sie verzeihen mir doch, mein Lieber ...
Natürlich, wenn ich gestört habe, so werde ich schleunigst wieder gehn
... Ich bin ja eigentlich nur angekommen ...“

Allmählich aber hatte sich eine gewisse Bewegung unter den Gästen
bemerkbar gemacht. Subikoff lächelte verklärt, als wollte er sagen:
„Gütiger Himmel, wie kann nur Eure Exzellenz stören!“ Und auch an den
übrigen Gästen waren die ersten Anzeichen des Zutrauens bemerkbar. Die
Damen saßen schon fast alle: ein gutes, positives Zeichen. Die Keckeren
von ihnen fächelten sich bereits mit den Taschentüchern zu. Eine von
ihnen – es war eine Dame in einem vertragenen Sammetkleide – sagte
absichtlich einige Worte etwas lauter. Der Offizier, an den sie
gerichtet waren, wollte ihr gleichfalls etwas lauter antworten, doch da
sie beide die einzigen mutigen waren, so führte er sein Vorhaben nicht
aus. Die Herren, meistens Kanzleibeamten und zwei oder drei Studenten,
tauschten untereinander Blicke aus, als wollten sie sich gegenseitig
anfeuern, irgend etwas zu unternehmen; vorläufig aber räusperten sie
sich nur oder traten von einem Fuß auf den anderen, um sich ein wenig
von der Stelle zu rühren. Im Grunde hatte kein einziger Angst; sie waren
nur ein wenig scheu und genau genommen blickten sie alle feindselig auf
den Unglücklichen, der gekommen war, um ihr Vergnügen zu stören. Der
Offizier, der sich schließlich seines Kleinmutes schämte, faßte sich ein
Herz und näherte sich ein wenig dem Tisch.

„Äh, mein Lieber, gestatten Sie, nach Ihrem und Ihres Vaters Namen zu
fragen?“ wandte sich Herr Pralinski an Pseldonimoff.

„Porfirij Petroff, Exzellenz,“ antwortete der sofort, als ob er Rapport
erstattete.

„Nun, Porfirij Petroff, wann werden Sie mich denn mit Ihrer jungen Frau
bekannt machen ... Führen Sie mich doch ... ich ...“

Und er bekundete schon die Absicht, sich vom Sofa zu erheben. Wie
Pseldonimoff das bemerkte, stürzte er sofort ins Nebenzimmer. Die
Neuvermählte stand übrigens an der Tür, als sie aber hörte, daß von ihr
die Rede war, schlüpfte sie sofort zurück und versteckte sich.
Nichtsdestoweniger führte Pseldonimoff sie nach einer Minute an der Hand
wieder in den Saal. Man trat sofort auseinander, um ihnen Platz zum
Durchgehen zu geben. Exzellenz erhob sich feierlich und wandte sich mit
liebenswürdigem Lächeln an die Neuvermählte:

„Es freut mich ungemein, Ihre Bekanntschaft zu machen,“ sagte er mit der
elegantesten Halbverbeugung, „und um so mehr, als es gerade an solch
einem Tage ...“ u. s. w.

Er lächelte verschmitzt. Die Damen waren angenehm erregt.

„Charmant,“ sagte die Dame im Sammetkleide fast laut.

Die Neuvermählte war ihres Gatten wert. Sie war ein kleines mageres
Persönchen von sechzehn Jahren, bleich, mit einem kleinen Gesicht, in
dem ein kleines spitzes Näschen saß. Ihr kleinen Augen blickten durchaus
nicht verwirrt, im Gegenteil, sie sahen aufmerksam und sogar mit einer
gewissen Feindseligkeit den liebenswürdigen Vorgesetzten an. Ihr
Brautkleid war aus weißem Musselin auf einem rosa Unterkleide. Ihr Hals
war erschreckend mager und ihr Körper war dem eines jungen Huhnes nicht
gerade unähnlich. Auf die liebenswürdigen Worte seiner Exzellenz wußte
sie so gut wie nichts zu sagen.

„Ich kann Ihnen zu Ihrem Geschmack nur gratulieren,“ sagte er zu
Pseldonimoff gewandt halblaut, jedoch absichtlich so, daß sie es
unbedingt hören mußte.

Pseldonimoff Antwortete aber auch auf diese Liebenswürdigkeit nur mit
Schweigen; ja, diesmal vergaß er sogar, sich zu verbeugen: er rührte
sich nicht. Herrn Pralinski schien es plötzlich, daß in seinen Augen
etwas Kaltes, wenn nicht Feindseliges aufblitzte. Und doch hieß es für
ihn mit aller Gewalt, was es auch koste, die gewünschte Stimmung
erreichen. Deswegen war er ja überhaupt eingetreten!

„Das ist mir mal ein Pärchen!“ dachte er bei sich. „Übrigens ...“

Und er wandte sich von neuem an die Junge, die sich neben ihm auf das
Sofa niedergelassen hatte, erhielt aber auf seine Fragen nur ein „Ja“
oder „Nein“, und zuweilen selbst das nicht einmal.

„Wenn sie doch wenigstens verlegen werden wollte!“ dachte er wütend.
„Ich könnte dann mit ihr scherzen. Aber so ist ja meine Lage einfach
aussichtslos!“

Und auch Subikoff schwieg wie zum Trotz, wenn er es auch aus Dummheit
tat, so blieb es doch immerhin unverzeihlich.

„Aber meine Damen und Herren! Ich habe Sie doch nicht in Ihrer
Geselligkeit gestört?“ wandte er sich an alle Gäste.

Er fühlte schon, daß sogar seine Handflächen transpirierten.

„Oh nein, Exzellenz, wir werden sofort weitertanzen, augenblicklich ...
erholen wir uns ein wenig,“ antwortete ihm darauf der lange Offizier,
auf dem die Neuvermählte wohlgefällig ihre Blicke ruhen ließ: er war
noch nicht alt und sah gut aus in seiner Uniform. Pseldonimoff stand
noch immer unbeweglich und seine gebogene Nase nahm sich noch größer
aus. Er stand und hörte zu wie ein Diener, der mit Pelzen und Mänteln
auf dem Arm dem Abschiedsgespräch seiner Herrschaft zuhört. Diesen
Vergleich machte Herr Pralinski in Gedanken beim wiederholten Anblick
seines Registrators. Ja, unser Held fühlte sich sehr ungemütlich, er
fühlte, wie er den Boden unter den Füßen verlor, er fühlte, daß er
irgendwohin hineingeraten war und sich nicht mehr herausziehen konnte.

                   *       *       *       *       *

Da traten die Gäste an der Tür wieder auseinander, um, wie es schien,
jemandem Platz zu machen: es erschien eine mittelgroße, ziemlich
stämmige ältere Frau, die einfach angezogen war, ein Tuch, das sie unter
dem Kinn festgesteckt hatte, um die Schultern trug und an die Haube, die
ihren Kopf schmückte, augenscheinlich noch nicht gewöhnt war. In den
Händen hielt sie ein rundes Teebrett, auf dem eine volle, aber schon
aufgekorkte Flasche Champagner und zwei Gläser standen – zwei, nicht
mehr und nicht weniger. Ersichtlich war die Flasche nur für zwei
Menschen gekauft worden.

Die Frau näherte sich ruhig dem Sofa.

„Bitte, Exzellenz, nehmen Sie vorlieb,“ sagte sie nach einem Gruß und
einer Verbeugung, „wenn Sie uns schon einmal die Ehre erweisen zur
Hochzeit meines Sohnes in eigener Person zu kommen, so bitte ich Sie
gefälligst, begrüßen Sie auch schon das junge Paar mit einem Glas.
Verachten Sie es nicht, erweisen Sie uns schon die Ehre.“

Herrn Pralinski erschien sie wie ein rettender Engel. Sie war noch
durchaus nicht alt, vielleicht fünf- oder sechsundvierzig – nicht mehr.
Aber sie hatte solch ein gutes, frisches, solch ein offenes, rundes
russisches Gesicht, sie lächelte so gutmütig, begrüßte ihn so einfach,
daß Herr Pralinski wieder Mut schöpfte.

„Also S–s–sie sind die Mutter Ihres Sohnes?“ fragte er, sich erhebend.

„Ja, Exzellenz, meine Mutter,“ bestätigte Pseldonimoff, wobei er seinen
langen Hals noch mehr ausreckte und seine gebogene Nase noch weiter
vorschob.

„Ah! Freut mich, freut mich ungemein!“

„So erweisen Sie uns schon die Ehre, Exzellenz.“

„Aber mit dem größten Vergnügen.“

Das Teebrett wurde auf den Tisch gestellt und Pseldonimoff goß eilfertig
den Wein ein. Herr Pralinski nahm seinen Pokal.

„Ich freue mich, ich freue mich ganz besonders der Gelegenheit ...“
begann er, „daß ich bei der Gelegenheit ... Mit einem Wort, als
Vorgesetzter mein Wohlwollen bezeugen kann ... Ich wünsche Ihnen, meine
Gnädigste“ – er wandte sich an die Neuvermählte – „und auch Ihnen, mein
lieber Porfirij Petroff, volles, seliges, leuchtendes Glück!“

Er erhob seinen Pokal und leerte ihn mit tiefem Gefühl auf einen Zug –
es war der Zahl nach der siebente an jenem Abend. Pseldonimoff blickte
ernst und mürrisch drein und Exzellenz fühlte, daß er ihn schon qualvoll
haßte.

„Und diese verfluchte Bohnenstange“ – er blickte wütend auf den langen
Offizier, „kann der Kerl denn wirklich nicht einmal Hurra schreien!?
Damit würde er ja alles retten ...“

„Und auch Sie, Akim Petrowitsch, – bitte, trinken Sie auch auf das Glück
des jungen Paares,“ wandte sich die Alte an den Sekretär. „Sie sind sein
Vorgesetzter, beschützen Sie meinen Sohn, ich bitte Sie, wie eine Mutter
bittet. Und auch hinfort vergessen Sie uns nicht, mein Liebling, ein
guter Mensch sind Sie, Akim Petrowitsch!“

„Wie reizend doch diese alten russischen Frauen sind!“ dachte Herr
Pralinski bei sich. „Alle hat sie belebt. Hm, ich habe ja immer gesagt:
ich liebe alles, was volklich ist ...“

In dem Augenblick wurde noch ein Teebrett zum Tisch gebracht: eine Magd
in einem steifen, noch ungewaschenen Zitzkleide mit einer Krinoline trug
es herein; doch kaum konnte sie es fassen – so groß war es. Auf ihm
standen eine Menge Schalen, Teller und Vasen mit Äpfeln, Konfekt,
Marmeladen, Kuchen, Nüssen u. s. w. Dieses Teebrett hatte bis dahin im
Nebenzimmer gestanden, zur Bewirtung der Gäste, vornehmlich der Damen.
Nun wurde es aber zum Ehrengast gebracht.

„Verschmähen Sie nicht, Exzellenz, was wir Ihnen bieten können. Was wir
haben, dessen freuen wir uns,“ sagte wieder gutmütig die Alte.

„Aber, ich bitte Sie! ...“ rief Herr Pralinski und nahm sogar mit
Vergnügen eine Wallnuß, die er mit den Fingern zerdrückte. Er hatte sich
entschlossen, bis zum Schluß populär zu sein.

Plötzlich kicherte die Neuvermählte neben ihm.

„Wie?“ erkundigte sich Herr Pralinski lächelnd, sichtlich sehr erfreut
über die unvermuteten Lebensanzeichen.

„Hihi, Iwan Kostenjkinytsch scherzt wieder,“ entgegnete sie diesmal mit
gesenktem Blick.

Er bemerkte tatsächlich einen hübschen blonden Jüngling, der sich auf
einem Stuhl neben dem Sofa niedergelassen und sich halb hinter der Lehne
und der jungen Pseldonimowa, der er etwas zuflüsterte, versteckt hatte.
Der Jüngling erhob sich sofort. Er schien sehr schüchtern und noch sehr
jung zu sein.

„Ich habe ihr nur vom Traumbuch erzählt, Exzellenz,“ sagte er, als
wollte er sich entschuldigen.

„Von was für einem Traumbuch?“ fragte Herr Pralinski herablassend.

„Es gibt jetzt ein neues, ein literarisches. Ich hab ihr gesagt, daß,
wenn man Herrn Panajeff im Traum sieht, das bedeutete dann, daß man sich
das Chemisette mit Kaffee begießen würde.“

„Himmlische Unschuld!“ dachte Exzellenz nicht ohne Wut bei sich.

Der junge Mann errötete zwar, als er seine Erklärung gab, doch war er zu
gleicher Zeit unglaublich stolz auf seinen Mut.

„Nun ja, schön, ich habe so etwas gehört ...“ meinte Exzellenz.

„Und was noch amüsanter ist,“ sagte plötzlich eine neue Stimme dicht
neben Herrn Pralinski, „es wird ein neues Lexikon herausgegeben, und so
heißt es denn, Herr Krajeffski würde palemische Artikel schreiben ...“

Der das sagte war ein junger Mensch, der aber durchaus nicht verlegen
schien, sondern eine gewisse Sicherheit in seinem Auftreten hatte. Er
war in Handschuhen und weißer Weste und behielt die ganze Zeit seinen
Hut in der Hand. Er tanzte nicht, gab aber sonst den Ton an, blickte auf
die übrigen Gäste von oben herab, denn er war schon Mitarbeiter an einem
satyrischen Blatt, „Der Feuerbrand“, und war gleichsam als Ehrengast zur
Hochzeit eingeladen worden. Er hatte schon ziemlich viel Wodka getrunken
und war zu diesem Zweck des öfteren in ein bescheidenes Hinterzimmer, zu
dem alle Herren den Weg kannten, gegangen. Seiner Exzellenz gefiel er
ausnehmend wenig.

„Und das ist nur darum so komisch,“ unterbrach ihn plötzlich freudig der
blonde Jüngling, der von der Chemisette erzählt hatte und den der
„Mitarbeiter“ haßerfüllt anblickte, „so furchtbar komisch, weil der
Herausgeber so tut, als ob Herr Krajeffski die Rechtschreibung nicht
könnte und wirklich glaubte, man müsse statt ‚polemisch‘ ‚palemisch‘
sagen ...“ Der arme Jüngling sprach kaum zu Ende, was er sagen wollte.
Er erkannte an den Augen seines Zuhörers, daß er eine bekannte
Geschichte erzählte, denn seine Exzellenz wurde gleichfalls verlegen,
und das natürlich nur, weil er sie schon selbst längst kannte. Der junge
Mann schämte sich entsetzlich: er zog sich so schnell als möglich zurück
und die ganze Zeit nachher war er tief melancholisch. Dafür aber trat
der Mitarbeiter des „Feuerbrandes“ noch näher an seine Exzellenz heran
und schien die Absicht zu haben, sich irgendwo in der Nähe
niederzulassen. Solch eine liebenswürdige Annäherung schien aber Herrn
Pralinski etwas kitzlich.

„Tja! was ich sagen wollte, Porfirij Petroff,“ begann er plötzlich zu
diesem gewandt, bloß um etwas zu sagen, „warum – ich wollte es Sie schon
längst fragen –, warum nennen Sie sich Pseldonimoff und nicht
Pseudonimoff? Denn Ihr Name lautet doch zweifellos Pseudonimoff?“

„Das kann ich leider nicht genau erklären, Exzellenz,“ entgegnete
Pseldonimoff.

„Das hat man wohl schon früher verwechselt, als sein Vater in den Dienst
trat, ich meine, in den Papieren,“ bemerkte Akim Petrowitsch Subikoff.
„Das kommt zuweilen vor.“

„Un–be–dingt!“ griff Exzellenz eifrig den Gedanken auf. „Unbedingt!
Denn, urteilen Sie doch selbst: Pseudonimoff würde von dem literarischen
Wort Pseudonym herkommen. Was aber bedeutet Pseldonimoff? – Überhaupt
nichts!“

„Aus Dummheit,“ fügte plötzlich Subikoff noch hinzu.

„Das heißt, wie meinen Sie das – aus Dummheit?“

„Das russische Volk verwechselt zuweilen aus Dummheit die Buchstaben und
spricht überhaupt die Fremdwörter auf seine Art aus. So sagt es z. B.
Nevalide, während man doch Invalide sagen muß.“

„Ach so ... Nevalide, hehehe ...“

„Auch hört man häufig ‚Mummer‘ sagen, Exzellenz,“ fiel der lange
Offizier ein, den die Lust, sich gleichfalls irgendwie auszuzeichnen,
schon lange plagte.

„Wie das, ‚Mummer‘?“

„Mummer anstatt Nummer, Exzellenz.“

„Ach so, Mummer anstatt Nummer ... ja ja ... hehehe? ...“ Exzellenz war
gezwungen, auch dem Offizier Beifall zu zollen.

Der Offizier zupfte an seinem Kragen.

„Und dann sagt man auch noch ‚vurbei‘,“ mischte sich der „Mitarbeiter“
des „Feuerbrandes“ in das Gespräch. Exzellenz aber tat, als hätte er die
Bemerkung ganz überhört. Er konnte doch nicht für alle lächeln!

„_Vurbei_ anstatt _vorbei_,“ wiederholte der „Mitarbeiter“ ersichtlich
gereizt.

Exzellenz blickte ihn streng an.

„Wozu drängst Du Dich so vor?“ flüsterte Pseldonimoff dem „Mitarbeiter“
zu.

„Wieso, darf ich denn etwa nicht sprechen!“ fragte der flüsternd zurück,
schwieg aber doch und verließ mit heimlichem Ingrimm das Zimmer.

Er begab sich wieder in das anziehende Hinterzimmer, in dem für die
Herren auf einem kleinen Tisch, der mit einem jaroslawschen Tischtuch
bedeckt war, zwei Sorten Schnaps, Hering, Kaviarbrötchen und noch eine
Flasche des allerstärksten Sherry aus einem russischen Keller zur
Erfrischung hingestellt waren. Mit Wut im Herzen goß er sich ein
Gläschen ein, als plötzlich der Student der Medizin hereinstürzte,
hastig die Karaffe ergriff und sich eingoß.

„Es wird gleich wieder losgehn!“ sagte er, der erster Tänzer auf dieser
Hochzeit Pseldonimoffs war. „Komm zusehn: werde ein Solo auf den Händen
tanzen, d. h. mit den Beinen in der Luft und nach dem Essen will ich
’nen ‚Fisch‘ riskieren. Der paßt zur Hochzeit: sozusagen unserem
Pseldonimoff ein freundschaftlicher Wink ... Famoses Weib, diese
Kleopatra Ssemjonowna, man kann bei ihr faktisch alles riskieren.“

„Das ist ja ein Reaktionär,“ sagte finster der Mitarbeiter und stürzte
sein Glas hinab.

„Wer das?“

„Die hohe Persönlichkeit, vor der man sämtliche Süßigkeiten plaziert
hat. Ein Reaktionär vom reinsten Wasser, sag ich Dir.“

„Ach!“ rief der Student gleichgültig und stürzte hinaus, da er die
ersten Takte der Quadrille hörte.

Der Mitarbeiter goß sich, allein zurückgeblieben, ein noch größeres Glas
ein, um sich etwas Mut anzutrinken, darauf nahm er ein Kaviarbrötchen –
und noch niemals hatte sich der wirkliche Geheimrat Pralinski einen
schrecklicheren Feind und unerbittlicheren Rächer erworben, als es der
von ihm übersehene Mitarbeiter des „Feuerbrand“ war, besonders nach dem
zweiten Glase Schnaps. Doch wehe! Herr Pralinski ahnte nichts.
Desgleichen ignorierte er völlig noch einen anderen wichtigen Umstand,
der aber auf das weitere Verhältnis der Gäste zu seiner Exzellenz einen
unheilvollen Einfluß haben sollte. Die Geschichte war nämlich die, daß
seine Erklärung, warum er zu seinem Untergebenen gekommen war, niemand
befriedigt hatte und die Gäste fortfuhren, sich zu ängstigen oder
wenigstens sich bedrückt zu fühlen. Plötzlich aber veränderten sich alle
wie durch einen Zauberschlag: alle beruhigten sich und waren sofort
bereit, wieder zu tanzen, zu lachen, zu schreien, ganz als ob der
unerwartete Gast überhaupt nicht zugegen gewesen wäre. Die Ursache
dieser Veränderung war das auf unerklärliche Weise entstandene Gerücht,
der Gast sei nicht ganz ... nüchtern! Und wenn dieses Gerücht auch den
Stempel der schrecklichsten Verleumdung auf sich trug, so fand es
allmählich doch immer mehr und mehr Glauben unter den Gästen und bald
wurde es allgemein als unzweifelhafte Tatsache angesehn. Daher ging es
denn plötzlich ungemein frei her. Die letzte Quadrille vor dem Essen
begann.

Gerade als Herr Pralinski sich wieder an die Neuvermählte wenden wollte,
um diese Festung mit einem Scherz zu stürmen, erschien plötzlich der
lange Offizier und ließ sich unverhofft auf ein Knie vor ihr nieder. Sie
erhob sich sofort und flog selig mit ihm davon, um sich in die Reihe zu
stellen. Der Offizier machte nicht einmal seine Entschuldigung, als er
sie entführte, und sie schenkte seiner Exzellenz nicht einmal einen
Blick, als ob sie froh gewesen wäre, ihren Platz verlassen zu können.

„Im Grunde ist sie ja in ihrem Recht,“ dachte Herr Pralinski, „aber was
ist denn das für ein Benehmen!“ – „Hm! ... mein lieber Porfirij
Petroff,“ wandte er sich an Pseldonimoff, „vielleicht haben Sie
irgendetwas anzuordnen ... das heißt, ich meine ja nur ... bitte lassen
Sie sich dann nicht abhalten ...“ – „Der Kerl tut wirklich, als müsse er
hier auf mich aufpassen,“ dachte er bei sich ungehalten.

Dieser Pseldonimoff, der mit seinem langen Hals und seiner gebogenen
Nase neben ihm stand und seinen Blick nicht von ihm abwandte, wurde ihm
unerträglich. Kurz, das war alles nicht das, längst nicht das, was Herr
Pralinski sich gedacht hatte, aber er war noch lange nicht bereit, sich
das einzugestehn.

                   *       *       *       *       *

Die Quadrille begann.

„Gestatten Exzellenz?“ fragte ehrfürchtig Akim Petrowitsch Subikoff, der
zaghaft die Champagnerflasche in der Hand hielt und sich halbwegs
anschickte, seiner Exzellenz einzugießen.

„Ich ... wirklich, ich weiß nicht, ob ...“

Doch schon goß Subikoff mit andächtig leuchtendem Gesicht den Champagner
ein. Als das Glas bis zum Rande gefüllt war, entschloß er sich, auch
sein Glas zu füllen, doch tat er das gleichsam unter Gewissensbissen,
verlegen und betreten und mit dem Unterschied, daß er in sein Glas etwa
einen Fingerbreit weniger eingoß, was seiner Meinung nach etwas
höflicher war. Er fühlte sich wie eine Frau in Kindesnöten, als er neben
seinem hohen Vorgesetzten saß. Wovon sollte er sprechen? Sprechen aber
mußte er unbedingt, da er nun einmal die Ehre hatte, neben seiner
Exzellenz zu sitzen: dafür mußte er doch wenigstens unterhaltend sein!
Da mußte denn der Champagner retten. Seiner Exzellenz war es sogar
angenehm, daß jener eingoß, nicht des Weines wegen, denn der war warm
und überhaupt irgendein widerliches Zeug, sondern – gewissermaßen
moralisch angenehm.

„Der Alte will natürlich selbst gern trinken,“ dachte Herr Pralinski,
„allein aber wagt er es nicht. Ich kann ihn doch nicht des Genusses
berauben. Und ’s wäre ja auch lächerlich, wenn die Flasche so
unangerührt zwischen uns stände.“

Er nahm einen Schluck, denn das schien ihm besser, als so zu sitzen.

„Ich bin ja nur her–gekommen,“ begann er wieder in seiner „vornehmen“
Art und Weise, „ich bin ja nur, wie man sagt, zufällig her–gekommen, und
vielleicht werden einige finden ... daß ich ... daß es mir, wie man
sagt, nicht zu–steht, in solch einer ... Gesell–schaft zu sein.“

Subikoff schwieg und hörte nur in scheuer Neugier zu.

„Aber ich hoffe, daß Sie wenigstens verstehn, warum ich hergekommen bin
... Hehe ...“

Subikoff wollte zwar gleichfalls ehrerbietig lächeln, doch plötzlich
ging es nicht und Herr Pralinski hörte wiederum nichts beruhigendes von
ihm.

„Ich bin her–gekommen ... um, wie man sagt, zu ermuntern ... um zu
zeigen, daß es ein, wie man sagt, moralisches Ziel gibt,“ fuhr Pralinski
fort, doch die Stumpfheit seines Zuhörers ärgerte ihn und plötzlich
verstummte auch er. Der arme Subikoff wagte nicht einmal aufzublicken,
ganz als ob sein Gewissen Gott weiß wie schuldbeladen gewesen wäre. Ein
wenig verwirrt nahm Exzellenz sein Glas und trank wieder einen Schluck,
worauf Subikoff wie nach seinem letzten Strohhalm wieder nach der
Flasche griff und von neuem einschenkte.

„Deine Ressourcen können doch unmöglich groß sein,“ dachte Herr
Pralinski und betrachtete streng den armen Subikoff. Als dieser den
Blick seines hohen Vorgesetzten auf sich ruhen fühlte, beschloß er
endgültig, den seinen nicht mehr zu erheben. So saßen sie sich denn
stumm gegenüber – das war für Subikoff eine furchtbare Zeit.

Dieser Subikoff war einer von den alten Unterbeamten, die jetzt so
ziemlich ausgestorben sind. In Ehrerbietung und Gehorsam aufgewachsen,
war er einerseits friedsam wie ein Huhn, und andrerseits ein guter und
sogar edler Mensch. Er war ein Petersburger Russe, d. h. sein Vater und
sein Urgroßvater waren in Petersburg geboren, aufgewachsen und
schließlich gestorben, ohne diese Stadt auch nur ein einziges Mal
verlassen zu haben. Das ist ein ganz besonderer Typ Russen. Von Rußland
haben sie nicht die geringste Ahnung, was sie aber auch nicht im
geringsten beunruhigt. Ihr ganzes Interesse ist auf Petersburg
beschränkt und hauptsächlich auf ihren Dienst. Alle ihre Sorgen drehen
sich um die Kopekenpréférence, die nächste Kolonialwarenhandlung und ihr
Monatsgehalt. Sie kennen keinen einzigen russischen Brauch, kein
einziges russisches Volkslied, ausgenommen das eine vom „Kienspanfeuer“
und auch das nur, weil die Drehorgeln dieses Motiv leiern. Übrigens gibt
es zwei bestimmte Anzeichen, an denen man unfehlbar den Petersburger
Russen von dem echten Russen unterscheiden kann. Erstens: alle
Petersburger Russen, alle ohne Ausnahme, sagen „Die Akademischen
Nachrichten“ und niemals „Petersburger Nachrichten“, wie das Blatt doch
eigentlich heißt. Und zweitens: der Petersburger Russe wird, wenn er
„Frühstück“ sagen will, niemals das russische Wort „Sawtrak“ gebrauchen,
sondern immer „Frjühstick“ sagen, wobei er noch ganz besonders die erste
Silbe betonen wird. An diesen beiden eingewurzelten Kennzeichen kann man
sie genau unterscheiden.

Akim Petrowitsch Subikoff gehörte also zu jenen friedlichen
Beamtentypen, die sich in den letzten fünfunddreißig Jahren endgültig
ausgearbeitet haben. Übrigens war er keineswegs etwa dumm. Hätte
Exzellenz ihn andere Dinge gefragt, Dinge, die in sein Fach schlugen, so
würde er selbstverständlich geantwortet haben und vielleicht wäre dann
das Gespräch gar nicht so uninteressant gewesen. Was aber hätte er als
Untergebener auf solche Fragen, wie sie Exzellenz stellte, antworten
sollen? Es wäre ja einfach unhöflich gewesen! Und doch hätte er für sein
Leben gern etwas genaueres von den wirklichen Absichten seiner Exzellenz
erfahren ...

Währenddessen aber versank Herr Pralinski immer mehr und mehr in
stumpfes Nachdenken. In der Zerstreutheit griff er immer häufiger nach
dem Glase um wieder einen Schluck zu tun. Und sein Nachbar ergriff
jedesmal die Gelegenheit, um das Glas wieder bis zum Rand zu füllen.
Beide schwiegen sie. Da fiel es Exzellenz plötzlich ein, daß man vor ihm
tanzte, und alsbald nahm die Gesellschaft seine Aufmerksamkeit mehr in
Anspruch. Mit einem Mal aber fiel ihm etwas auf und setzte ihn sogar in
nicht geringe Verwunderung.

Man war allerdings etwas ... sehr lustig. Man tanzte, um sich zu freuen
und womöglich auch um sich auszutoben. Gute Tänzer gab es nicht gerade
viel, aber die schlechten drehten sich und stampften dermaßen, daß man
auch sie für gewandte Tänzer halten konnte. Vor allen anderen zeichnete
sich der Offizier aus: er liebte besonders Figuren, in denen er allein
blieb und gewissermaßen ein Solo tanzen konnte. Dann, d. h. wenn er
allein blieb, verbog und verrenkte er sich wirklich bewunderungswürdig,
und zwar in folgender Weise: groß und eine Werst lang wie er war, beugte
er sich plötzlich auf eine Seite, so daß man glaubte, er sei in der
Taille gebrochen und würde sofort gänzlich umfallen; doch siehe, mit dem
zweiten Schritt richtete er sich wieder werstlang auf und mit dem
dritten beugte er sich unter demselben schrägen Winkel auf die andere
Seite. Der Ausdruck seines Gesichts blieb dabei unveränderlich ernst,
und überhaupt tanzte er ersichtlich mit der vollen Überzeugung, daß alle
ihn bewunderten. Ein anderer Kavalier, der allzu häufig in das
Hinterzimmer gegangen war, schlief in der zweiten Tour neben seiner Dame
ein, so daß diese gezwungen war, allein weiterzutanzen. Ein junger
Registrator, der den ganzen Abend nur mit einer einzigen Dame tanzte,
mit derselben, deren blaue Schärpe seiner Exzellenz über die Nase
geflogen war, hatte sich etwas ganz besonderes ausgedacht: er blieb
immer ein wenig hinter seiner Dame zurück und so konnte er denn in den
Touren, beim Vorübergehn u. s. w. auf das schnell aufgefangene Ende
dieser Schärpe zehn bis zwanzig Küsse drücken. Die Dame aber schwamm vor
ihm im Tanz einher, als ob sie ein Schwan wäre und nichts von seinen
Küssen bemerkte. Der Student der Medizin tanzte tatsächlich ein Solo auf
den Händen und hatte unglaublichen Erfolg: die Begeisterung, die er
hervorrief, war geradezu erschütternd. Mit einem Wort, die ganze
Gesellschaft benahm sich vollkommen ungezwungen. Herr Pralinski, auf den
der Wein seine Wirkung hatte, ließ sich herab, sogar zu lächeln, doch
allmählich schlich sich eine etwas sonderbare Enttäuschung in seine
Seele: oh, er liebte natürlich sehr ungezwungenes, natürliches Benehmen;
wie hatte er es herbeigewünscht, als die Gäste noch scheu zurückgetreten
waren, und plötzlich überschritten die gerufenen Geister alle Grenzen!
Eine Dame in einem vertragenen blauen Sammetkleide z. B. steckte sich in
der sechsten Tour den Rock mit Stecknadeln derart auf, daß es aussah,
als hätte sie Hosen angehabt. Das war dieselbe Kleopatra Ssemjonowna,
bei der man, allerdings nach dem Ausdruck ihres Kavaliers, des Studenten
der Medizin, „alles riskieren konnte“. Von diesem Studenten der Medizin
lohnt es sich nicht, zu reden: einfach ein zweiter Fokin[5]. – Wie kam
das nur? Noch vor so kurzer Zeit waren sie scheu vor dem neuen Gaste
zurückgewichen und mit einem Mal sah er sie so emanzipiert vor sich? Es
wäre ja weiter nichts dabei gewesen, aber, aber dieser schnelle Übergang
war doch etwas sonderbar: er schien etwas zu bedeuten. Es hatte wirklich
den Anschein, als hätten sie ganz vergessen, daß Exzellenz zugegen war.
Versteht sich, Exzellenz war der erste, der lachte und er ließ sich
sogar herab, Beifall zu klatschen. Subikoff kicherte pflichtschuldigst
mit, doch tat er es nicht nur gezwungen, sondern mit augenscheinlichem
Vergnügen, – ahnungslos, daß Exzellenz bereits einen neuen Wurm in
seinem Herzen nährte.

„Sie tanzen ja großartig!“ sagte Exzellenz, als der Student in der
letzten Tour an ihm vorüber ging.

Der Student wandte sich hastig zu ihm um, schnitt eine unglaubliche
Grimasse und näherte sein Gesicht blitzschnell bis auf eine unhöflich
nahe Entfernung und – krähte plötzlich aus voller Kehle. Das war aber
denn doch zu viel! Exzellenz erhob sich. Eine wahre Lachsalve
erschütterte das Haus, denn die Grimasse des Studenten war dermaßen
unerwartet gekommen und er hatte so naturgetreu gekräht, daß das
Gelächter nur zu erklärlich war. Exzellenz stand immer noch halb
bewußtlos, als plötzlich Pseldonimoff erschien und ihn unter Bücklingen
zum Essen aufforderte. Gleich nach ihm kam auch seine Mutter.

„Väterchen, Eure Exzellenz,“ sagte sie, „erweisen Sie uns die Ehre,
verabscheuen Sie nicht unser bescheidenes Mahl ...“

„Ich – ich weiß wirklich nicht ...“ stotterte Exzellenz, „ich bin doch
nicht mit der Absicht ... ich ... wollte schon längst ...“

Allerdings hielt er noch seine Zobelmütze in der Hand. Ja, er gab sich
sogar im selben Augenblick das Ehrenwort, sich unbedingt sofort zu
verabschieden, um nichts in der Welt zum Essen zu bleiben und ... und
blieb natürlich doch. Nach einer Minute schritt er als erster zu Tisch.
Pseldonimoff und die Alte gingen vor ihm her, um ihm den Weg zu bahnen.
Man wies ihm den Ehrenplatz an und wieder stand eine volle
Champagnerflasche vor seinem Gedeck. Zuerst gab es einen Imbiß: Hering
und Schnäpse. Er streckte – nicht ganz bewußt dessen, was er tat – die
Hand nach der Schnapskaraffe aus und goß sich ein volles großes Glas
ein. Es war ihm, als ob er von einem Berge hinabflog, er glaubte zu
fallen, zu fallen, zu fallen und fühlte, daß er sich an irgend etwas
halten, anklammern mußte, doch wußte und fand er nicht, was das hätte
sein können.

Seine Lage wurde wirklich immer exzentrischer. Er fühlte den Spott des
Schicksals. Gott weiß was mit ihm alles in einer kurzen Stunde geschah.
Als er eintrat, breitete er, wie man sagt, seine Arme aus, um die ganze
Menschheit und alle seine Untergebenen an sein Herz zu drücken; und nach
kaum einer Stunde wußte er unter allen Schmerzen seines Herzens, daß er
diesen Pseldonimoff haßte und ihn samt seiner Frau und Hochzeit zu allen
Teufeln verwünschte. Und zum Überfluß erkannte er noch an dessen Gesicht
und Augen, daß auch er von ihm gehaßt wurde: das hatte ihm schon längst
der feindselige Blick des jungen Mannes nur allzu deutlich verraten.

Selbstverständlich hätte sich Herr Pralinski, als er sich zu Tisch
setzte, eher die Hand abschlagen lassen, als daß er sich selbst wirklich
die ganze Wahrheit eingestanden hätte. Aber der Augenblick, da das hätte
geschehen können, war noch nicht gekommen, und vorläufig gab es, wie man
zu sagen pflegt, noch ein moralisches „Balancé“. Aber das Herz, das Herz
... oh, das tat so weh! es drängte hinaus, in die Freiheit, an die Luft,
zur Erholung! Es war doch wirklich ein gar zu guter Mensch, dieser Iwan
Iljitsch Pralinski!

Er wußte doch, wußte es ja ganz genau, daß er schon längst hätte
fortgehn müssen, und nicht nur einfach fortgehn, sondern sich geradezu
hätte retten müssen; daß sein ganzes Unternehmen vollkommen
fehlgeschlagen, keineswegs das war, was er sich auf dem Brettersteg
gedacht hatte!

„Warum bin ich denn hergekommen? Doch nicht, um hier zu essen und zu
trinken?“ fragte er sich, als er den Hering aß. Er wurde sogar ganz
Pessimist, und in seinem Herzen fühlte er, daß er sich selbst zuweilen
lächerlich fand in seiner Heldenrolle. Ja, es kam sogar so weit mit ihm,
daß er allmählich selbst nicht mehr begriff, warum er eigentlich
eingetreten war.

„Wie hätte ich denn früher fortgehn sollen? So fortgehn, ohne die Sache
bis zu Ende durchgeführt zu haben, war unmöglich. Was würde man sagen?
Man würde sagen, daß ich mich an unanständigen Orten herumtreibe. Und
das würde ja auch so sein, wenn ich es, wie gesagt, nicht durchführte.
Was wird aber morgen – bis dahin wird es ja schon überall bekannt sein –
z. B. Stepan Nikiforowitsch sagen, und Ssemjon Iwanytsch? Und was wird
man in der Kanzlei sagen? Und bei Schembels? Und bei Schubins? Nein, ich
muß so fortgehen, daß sie alle begreifen, warum ich überhaupt gekommen
bin, ich muß den moralischen Zweck meines Erscheinens klarlegen ...“ Und
doch wartete er vergeblich auf den pathetischen Moment. „Sie achten mich
ja nicht einmal,“ fuhr er fort, zu denken. „Worüber mögen sie jetzt nur
lachen? Sie sind so lustig, als ob sie ganz gefühllos wären ... Ich habe
es ja immer gesagt: die ganze neue Generation taugt nichts: gefühllos.
Ich muß bleiben, was es auch koste, ich muß! ... Bis jetzt haben sie
getanzt, hier aber bei Tisch sind sie alle beisammen ... Ich werde
einfach von den Tagesfragen reden, hm! ... von den Reformen, der Größe
Rußlands ... oh! ich werde sie schon fortreißen! Ja! Und vielleicht ist
überhaupt noch nichts verloren ... Vielleicht ist es in der Wirklichkeit
immer so. Womit soll ich nur beginnen, um sie sofort zu fesseln? Hm! man
müßte so einen besonderen Kniff erfinden ... Ich weiß wirklich nicht ...
Und was wollen sie nur, was verlangen sie eigentlich? ... Wie ich sehe,
lachen sie dort schon wieder. Sollten sie etwa über mich ...?
Grundgütiger Himmel! Aber was will ich denn ... warum bin ich denn hier,
warum gehe ich nicht fort, was will ich eigentlich? ...“ Und plötzlich,
noch als er das dachte, befiel ihn eine tiefe Scham, eine unerträgliche
Scham, die ihm das Herz zu zerreißen drohte.

                   *       *       *       *       *

Es war nichts mehr zu machen: das war einfach Verhängnis.

Genau zwei Minuten nachdem er sich zu Tisch gesetzt hatte, überfiel ihn
ein furchtbarer Gedanke, ein Gedanke, der ihm kalten Schweiß auf die
Stirn herauspreßte. Er fühlte plötzlich, daß er furchtbar betrunken war,
d. h. nicht so, wie vorher, sondern wirklich total betrunken, und zwar
infolge des einen Schnapses, den er nach dem vielen Champagner
hinuntergestürzt hatte, und der alsbald seine Wirkung tat. Er fühlte es
mit seinem ganzen Bewußtsein, daß ihn alle Kräfte verließen. Den Mut
verlor er zwar deswegen nicht im geringsten, im Gegenteil, der nahm
sogar noch ungeheuer zu, aber sein Bewußtsein verließ ihn keinen
Augenblick und schrie ihm ununterbrochen in das linke Ohr: „das ist
schlecht, sehr schlecht, sehr schlecht und sogar ganz unanständig!“
Selbstverständlich blieben die trunkenen Gedanken nicht bei diesem einen
Punkte stehn: in ihm tat sich plötzlich, fast greifbar für ihn selbst,
eine Duplizität seines Ichs kund. Sein erstes Ich war: Mut, das
Verlangen den Feind zu schlagen, zu siegen, und die verzweifelte
Überzeugung, daß er sein Ziel noch erreichen würde. Das zweite Ich aber
tat sich durch dumpfen, quälenden Kopfschmerz kund: „was wird man sagen?
Wie wird das enden? Was wird morgen sein, morgen, morgen!? ...“

Zuerst fühlte er nur gewissermaßen stumpfsinnig, daß er unter den Gästen
Feinde hatte. „Das kommt daher, daß ich auch vorhin betrunken war,“
dachte er unter peinigenden Zweifeln. Wie groß aber war sein Entsetzen,
als er wirklich an unzweifelhaften Anzeichen einsehen mußte, daß er am
Tisch tatsächlich Feinde hatte.

„Und weswegen nur? Weswegen?“ fragte er sich.

An diesem Tisch saßen alle Gäste, etwa dreißig an der Zahl, doch waren
von ihnen einige schon ganz und gar „unterm Tisch“. Und die anderen
führten sich so sonderbar auf, mit solch einer bösartigen
Ungezwungenheit, schrieen, sprachen alle laut durcheinander, kündeten
vorzeitig Toaste an, schossen mit Brotkugeln auf die Damen ihrer
^Vis-à-vis^. Irgend ein Herr in einem fettigen Rock fiel, als er sich zu
Tisch setzen wollte, unter den Tisch, wo er ruhig liegen blieb –
vielleicht bis zum nächsten Morgen. Ein anderer wollte unbedingt auf den
Tisch steigen, um einen Toast zu halten, und nur dem Offizier, der ihn
an den Rockschößen ergriff, gelang es noch, ihn von seinem vorzeitigen
begeisterten Vorhaben abzubringen. Das Essen war, was die Güte anbetraf,
sehr verschiedenartig, obgleich man einen Koch, den Leibeigenen irgend
eines Generals, um Rat und Hilfe gebeten hatte; es gab Eisbein,
gebratene Zunge mit Kartoffeln, Fleischplätzchen mit grünen Erbsen,
endlich gab es noch eine Gans und zum Schluß noch Blanc-manger. An
Getränken hatte man Bier, Schnaps und Sherry. Die Champagnerflasche
stand dicht vor seiner Exzellenz, was ihn zwang, sich wie Subikoff
selbst einzugießen, besonders da letzterer bei Tisch nicht mehr aus
eigener Initiative zu handeln wagte. Zu den Toasten auf das Wohl des
jungen Paares war irgend ein roter Wein bestimmt. Der Tisch an und für
sich bestand aus vielen Tischen, unter denen sich auch ein Kartentisch
befand, und bedeckt waren sie gleichfalls mit vielen Tischtüchern, unter
denen sich wiederum ein geblümtes jaroslawsches hervortat. Die Gäste
saßen in bunter Reihe. Pseldonimoffs Mutter hatte nicht am Tisch sitzen
wollen; sie hatte in der Küche zu tun. Dafür erschien ein anderes, aber
bösartiges Frauenzimmer, das sich vorher nicht gezeigt hatte, in einem
rotseidenen Kleide, mit verbundener Backe und entsetzlich hoher Haube.
Es war das die Mutter der Neuvermählten. Sie hatte sich endlich
herabgelassen, zum Essen zu erscheinen; bis dahin war sie nicht zu
bewegen gewesen, das Hinterzimmer zu verlassen, und das nur infolge
ihres unversöhnlichen Hasses auf die Mutter ihres Schwiegersohnes; aber
darauf werde ich noch später zurückkommen. Exzellenz wurde von dieser
Dame gehässig, ja fast spöttisch betrachtet, und augenscheinlich wollte
sie ihm nicht einmal vorgestellt werden. Das schien ihm sehr verdächtig.
Doch außer ihr gab es noch andere Gesichter, die ihm verdächtig schienen
und nicht wenig Sorgen bereiteten. Es schien ihm sogar, daß sie sich
alle untereinander gegen ihn verschworen hatten, und während des Essens
überzeugte er sich noch immer mehr und mehr davon. Vor allen anderen
erschien ihm sehr bösartig: ein Herr mit einem kleinen Bart – irgend ein
freier Künstler –, der mehrmals Exzellenz ostentativ betrachtete und
sich dann wieder an seinen Nachbar wandte, um ihm etwas Spaßhaftes ins
Ohr zu flüstern. Zweitens, ein Jüngling, der allerdings ganz betrunken
war, aber nach einigen Anzeichen zu urteilen, doch keine Sympathieen für
ihn übrig zu haben schien. Dasselbe konnte man auch von dem Studenten
der Medizin sagen. Und sogar der Offizier war nicht ganz zuverlässig.
Doch ganz unverhohlenen Haß brachte ihm der Mitarbeiter des
„Feuerbrandes“ entgegen: der lag so nachlässig auf seinem Stuhl, blickte
so stolz und herausfordernd drein, lachte so frech und frei. Und als
plötzlich ein großes, dickes, wohlgezieltes Brotkügelchen neben seinem
Teller niederfiel, da war Exzellenz fest überzeugt und hätte seinen Kopf
auf die Wette gesetzt, daß der Absender dieses Geschosses niemand
anderes als dieser „Mitarbeiter“ gewesen war.

Alles das beeinflußte ihn natürlich in bedauerlicher Weise.

Besonders unangenehm war auch noch eine andere Beobachtung. Herr
Pralinski überzeugte sich nämlich, daß es ihm bereits einige
Schwierigkeiten machte, die Worte auszusprechen, daß er sehr vieles
sagen wollte, die Zunge sich aber nicht mehr so ganz bewegen ließ; und
darauf, daß er sich allmählich in Gedanken verlor und plötzlich ohne
jeden Grund lachte. Dieser Zustand verging aber bald nach einem neuen
Glase Champagner, das er sich zwar selbst eingegossen hatte, doch im
Grunde überhaupt nicht hatte trinken wollen, und das er dann plötzlich
doch ganz in Versehen hinabstürzte. Darauf hätte er am liebsten geweint.
Er fühlte, daß ihn wieder die exzentrischste Sentimentalität überkam,
daß er wieder bereit war, alle zu lieben, alle, alle, selbst
Pseldonimoff, selbst den Mitarbeiter des „Feuerbrandes“. Er wollte ihnen
um den Hals fallen, sich mit ihnen versöhnen, alles vergessen. Ja, er
wollte ihnen sogar alles erzählen, alles, alles, d. h. was für ein guter
und lieber Mensch er war, welche prachtvollen Gaben er hatte, wie er dem
Vaterlande nützlich sein würde, wie er die Damen zu unterhalten
verstände und vor allen Dingen, welch ein Fortschrittler er wäre, wie
human, wie bereit, zu allen hinabzusteigen, selbst zu den
allerniedrigsten; er war sogar bereit, ihnen aufrichtig alle Motive zu
erzählen, die ihn bewogen hatten, uneingeladen bei Pseldonimoff zu
erscheinen, bei ihm zwei Flaschen Champagner auszutrinken und ihn dafür
mit seiner Gegenwart zu beglücken.

„Die Wahrheit, die heilige Wahrheit vor allen anderen Dingen und die
Aufrichtigkeit! Das ist’s: mit Aufrichtigkeit werde ich sie nehmen. Sie
werden mir sofort Glauben schenken, ich sehe es schon kommen. Jetzt
blicken sie noch feindselig, wenn ich ihnen aber alles sage, werde ich
sie alle besiegen. Sie werden ihre Gläser füllen und sie mit einem Hoch
auf mich austrinken. Der Offizier wird sein Glas natürlich an seinem
Sporn zerschlagen. Sie könnten meinetwegen sogar Hurra schreien. Ja,
selbst wenn sie mich auf Husarenart aufheben wollen, werde ich es ihnen
nicht verbieten; es würde sich sogar sehr gut machen. Die Junge küsse
ich dann auf die Stirn; sie ist doch wirklich ganz nett. Dieser Subikoff
ist auch ein guter Mensch. Pseldonimoff wird sich mit der Zeit natürlich
bessern. Ihm fehlt noch, wie man sagt, der gesellschaftliche Schliff.
... Und obgleich der ganzen neuen Generation diese gewisse
Herzensvornehmheit abgeht, so ... aber ich werde von der gegenwärtigen
Bedeutung Rußlands unter den anderen Mächten reden. Werde auch die
Bauernfrage erwähnen, ja, und ... und alle werden sie mich lieben und
ich werde als Sieger dieses Haus verlassen! ...“

Diese Gedanken waren natürlich sehr angenehm, aber unangenehm war nur,
daß er plötzlich zwischen all diesen rosaroten Hoffnungen ganz
unerwartet eine neue Eigenschaft an sich entdeckte, nämlich: unbewußt zu
spucken. Wenigstens sah er, wenn er sprach, daß sein Speichel ganz gegen
seinen Willen nur so spritzte. Zum ersten Mal bemerkte er es im Gespräch
mit Subikoff, dem er plötzlich die Wange total bespritzte und der vor
lauter Ehrfurcht nicht wagte, sie sich abzuwischen. Da nahm denn
Exzellenz seine Serviette und wischte ihm selbst die Wange ab. Doch im
selben Augenblick schien ihm was er tat dermaßen ungereimt, dermaßen
gegen alle gesunde Vernunft, daß er verstummte und aus einer
Verwunderung in die andere geriet. Subikoff saß wie abgebrüht auf seinem
Stuhl. Da erinnerte sich Herr Pralinski, daß er schon seit einer
Viertelstunde über ein äußerst interessantes Thema zu ihm sprach, dieser
Subikoff aber, wenn er auch zuhörte, doch verlegen zu sein schien oder
gar sich vor irgend etwas fürchtete. Pseldonimoff, der einen Stuhl
weiter von ihm saß, streckte gleichfalls seinen langen Hals näher zu ihm
und hörte mit dem allerunangenehmsten Gesichtsausdruck zu. Nein, es
hatte wirklich den Anschein, als fühlte sich sein Registrator
verpflichtet, auf ihn acht zu geben. Er überflog die Gäste mit seinem
Blick und bemerkte, daß viele ihn ansahen und auslachten. Das Sonderbare
war dabei nur, daß es ihn nicht im geringsten verwirrte; er tat noch
einen Schluck aus seinem Glase und hob plötzlich laut zu sprechen an:

„Ich habe schon einmal gesagt,“ begann er möglichst laut, „meine Damen
und Herren, ich habe schon einmal gesagt, und soeben habe ich es auch
Akim Petrowitsch gesagt, daß Rußland ... ja, gerade Rußland ... mit
einem Wort, Sie verstehen, was ich sa-sa-sagen will ... Rußland
durchlebt jetzt, wenigstens meiner festen Überzeugung nach, eine Epoche
der Hu-hu-manität ...“

„Hu-hu-humanität!“ tönte es vom anderen Tischende zurück.

„Huhuhuu!“

„Tututuu!“

Exzellenz verstummte. Pseldonimoff erhob sich und blickte streng
hinüber: er wollte wissen, wer es geschrieen hatte. Subikoff schüttelte
gleichsam heimlich ein wenig den Kopf, als ob er die Gäste warnen
wollte. Exzellenz bemerkte es wohl, schwieg aber unter seinen Qualen.

„Humanität!“ fuhr er hartnäckig fort, „und vorhin, gerade vorhin sagte
ich Stepan Niki–ki–fo–rowitsch ... ja, ... daß ... daß die Erneuerung,
wie man sagt, der ...“

„Exzellenz!“ ertönte es laut am anderen Tischende.

„Wie beliebt?“ fragte der unterbrochene Redner, bemüht den Schreier zu
entdecken.

„Nichts, Exzellenz, ich meinte nur so. Fahren Sie fort!
Fah–ren–Sie–fort!“ ertönte von neuem dieselbe Stimme.

Herr Pralinski fühlte sich gekränkt, aber doch nicht allzu sehr.

„Die Erneuerung, wie man sagt, dieser selben ...“

„Exzellenz!“ rief die Stimme von neuem.

„Was wollen Sie?“

„Leben Sie hoch!“

Da hielt es Herr Pralinski nicht mehr aus. Er verstummte und wandte sich
mit strenger Miene an den Friedensstörer und Beleidiger. Es war ein
junger Gymnasiast, der viel getrunken hatte und große Befürchtungen
erregte. Er hatte schon ein Glas und zwei Teller zerschlagen, unter dem
Vorwande, daß man es auf einer Hochzeit so tun müsse. Als Herr Pralinski
sich an ihn wandte, wies ihn der Offizier streng zur Ruhe.

„Was fehlt Dir eigentlich? Warum brüllst Du? Wenn Du nicht schweigst,
werde ich Dich vor die Tür setzen!“

„Nicht von Ihnen, Exzellenz, nicht von Ihnen ist hier die Rede! Fahren
Sie fort!“ schrie der heitere Schuljunge, auf seinem Stuhl in
ungenierter Pose zurückgelehnt. „Fahren Sie fort, ich höre zu und bin
mit Ihnen sehr zufrieden! Großartig, groß–artig!“

„Ein betrunkener Schulbub!“ raunte Pseldonimoff seinem Vorgesetzten zu.

„Das sehe ich, aber ...“

„Ich habe ihm vorhin eine Geschichte erzählt, Exzellenz,“ begann der
Offizier, „von einem Leutnant unseres Regiments, der genau so mit seinem
Vorgesetzten sprach; und jetzt kopiert er ihn. Zu allem, was sein
Regimentschef sprach, sagte er: ‚groß–artig, groß–artig!‘ Dafür wurde er
denn vor zehn Jahren aus dem Dienst entlassen.“

„Wa–wa–was ist denn das für ein Leutnant?“

„Ein Leutnant unseres Regiments, Exzellenz. Er war auf dem ‚groß–artig‘
einfach übergeschnappt. Zuerst bekam er Hausarrest, dann Verweise und
dann Karzer ... Der Regimentschef redete ihm wie ein Vater zu, er aber
sagt ihm: ‚groß–artig, groß–artig!‘ Und sonderbar: er war wirklich ein
mutiger Offizier. Man wollte ihn schließlich vor’s Gericht stellen, aber
da stellte es sich von selbst heraus, daß er irrsinnig war ...“

„Das bedeutet also ... ein Schuljunge. Für Schuljungenstreiche braucht
man auch nicht so streng ... Ich bin meinerseits bereit, zu verzeihen
...“

„... was die Ärzte auch sofort bestätigten.“

„A–ber er war doch ganz lebendig? Wie, wie konnte man ihn denn
anatomieren?“

Eine laute Lachsalve erhob sich. Das hatten sich die Gäste bis dahin
denn doch noch nicht erlaubt! Exzellenz wurde wild.

„Meine Herren! Meine Damen und Herren!“ rief er, ohne auch nur ein
einziges Mal zu stottern. – „ich weiß es sehr gut, daß man einen
lebendigen Menschen nicht anatomieren kann. Ich nahm, wie gesagt, nur
an, daß er im Wahnsinn nicht mehr lebendig war ... das heißt, schon
gestorben war ... das heißt, ich meine nur ... daß Sie mich nicht lieben
... Ich aber liebe Sie alle ... ja, und ich liebe auch Dich, Por...
Porfirij ... Ich erniedrige mich, wenn ich so spreche ...“

In dem Augenblick spritzte aber wieder Speichel von seinen Lippen und
flog auf das Tischtuch – gerade auf die sichtbarste Stelle. Pseldonimoff
stürzte sofort herbei, um abzuwischen. Dieses letzte Unglück vernichtete
seine Exzellenz vollständig.

„Nein, das ist zu viel!“ rief er verzweifelt.

„Nur ein betrunkener Schuljunge, Exzellenz!“ flüsterte ihm wieder
Pseldonimoff zu.

„Porfirij! Ich sehe, daß Ihr ... alle ... alle ... ja! Ich sage, daß ich
hoffe ... ja, ich fordere alle auf, zu sagen: wodurch habe ich mich
erniedrigt?“

Exzellenz war dem Weinen nahe.

„Aber Exzellenz! Wie kommen Exzellenz auf so etwas!“

„Porfirij, ich wende mich an Dich. – Sage, warum ich gekommen bin ... ja
... ja, auf die Hochzeit, ich hatte doch ein Ziel! Ich wollte moralisch
erheben ... ich wollte, daß man fühlt ... Ich wende mich an alle:
verehrte Anwesende! Bin ich in Ihren Augen sehr gesunken oder nicht?“

Grabesschweigen. Aber das war ja das Unglück, daß auf seine kategorische
Frage nur allgemeines Schweigen die Antwort war. „Was würde es sie
kosten, jetzt hurra zu schreien!“ zuckte es Exzellenz durch den Kopf.
Aber die Gäste tauschten nur stumm vielsagende Blicke untereinander aus.
Subikoff war weder tot noch lebendig und klammerte sich nur krampfhaft
an seinen Stuhl; Pseldonimoff stellte sich, stumm vor Schreck, immer
wieder die furchtbare Frage:

„Was wird mit mir dafür morgen geschehn?“

Plötzlich wandte sich der Mitarbeiter des „Feuerbrand“, der schon längst
betrunken war, doch bis dahin in finsterem Schweigen vor sich hin
gebrütet hatte, direkt an seine Exzellenz und antwortete im Namen der
ganzen Gesellschaft:

„Ja!“ rief er mit lauter Stimme und seine Augen glänzten. „Ja! Sie haben
sich erniedrigt, Sie sind ein ... Reaktionär!“

„Junger Mann, besinnen Sie sich! Mit wem Sie, wie man sagt, sprechen!“
rief heftig Herr Pralinski und sprang wieder von seinem Platz auf.

„Mit Ihnen, und zweitens bin ich kein ‚junger Mann‘ ... Sie sind
hergekommen, um hier eine schöne Rolle zu spielen, um populär zu
werden.“

„Pseldonimoff, was bedeutet das!“ schrie Exzellenz außer sich.

Pseldonimoff sprang in solch einem Entsetzen auf, daß er zuerst steif
und betäubt stehen blieb, und nicht wußte, was er tun sollte. Die Gäste
verstummten gleichfalls auf ihren Plätzen. Der freie Künstler und der
Schüler klatschten Beifall und schrien „bravo, bravo!“

Der Mitarbeiter aber fuhr in unbändigem Eifer fort zu schreien:

„Ja, Sie sind hergekommen, um Ihre Humanität zu beweisen! Sie haben das
allgemeine Vergnügen gestört! Sie haben Champagner getrunken und nicht
bedacht, daß Champagner viel zu teuer ist für einen Beamten, der zehn
Rubel monatlich erhält, und ich vermute sogar, daß Sie zu jenen
Vorgesetzten gehören, die auf die jungen Frauen ihrer Untergebenen
geschliffen sind! Ja, und ich bin sogar überzeugt, daß Sie Schmiergelder
nehmen ... Ja, ja, ja!“

„Pseldonimoff, Pseldonimoff!“ rief Exzellenz und streckte in der
Verzweiflung die Arme nach ihm aus. Er fühlte, daß jedes Wort des
Mitarbeiters ein neuer Dolchstich für sein Herz war.

„Sofort, Exzellenz, beunruhigen Sie sich nicht!“ rief energisch der
wieder zu sich gekommene Pseldonimoff, lief zum Mitarbeiter, packte ihn
am Kragen und schleifte ihn hinaus. Solch eine physische Kraft hätte
niemand von dem schwächlichen Pseldonimoff erwartet. Der Mitarbeiter war
aber sehr betrunken und Pseldonimoff vollkommen nüchtern. Darauf gab er
ihm noch einige Rippenstöße und schloß dann die Tür hinter ihm zu.

„Alle seid Ihr Schufte!“ schrie der Mitarbeiter hinter der Tür. „Ich
werde Euch morgen alle im ‚Feuerbrand‘ karrikieren! ...“

Erregt sprangen sofort alle auf.

„Exzellenz, Exzellenz!“ riefen Pseldonimoff, seine Mutter und noch
einige Gäste, die sich um den Ehrengast drängten, „Exzellenz! Beruhigen
Sie sich!“

„Nein, nein!“ rief Exzellenz, „ich bin vernichtet ... Ich kam ... ich
wollte, sozusagen, taufen. Und das! Das habe ich dafür ... für alles,
für alles! ...“

Er sank halb bewußtlos wieder auf seinen Stuhl, legte beide Arme auf den
Tisch und beugte seinen Kopf auf sie nieder – d. h. gerade auf seinen
Teller mit Blanc-manger. Ich glaube, es ist überflüssig, das allgemeine
Entsetzen zu beschreiben. Nach einer Minute erhob er sich wieder,
augenscheinlich in der Absicht fortzugehn, wankte aber, stieß an einen
Stuhlfuß und fiel der Länge nach platt hin.

Das geschieht zuweilen mit Nichttrinkern, wenn sie sich einmal zufällig
angetrunken haben. Bis ins Kleinste, bis zum letzten Augenblick behalten
sie ihr Bewußtsein, dann aber fallen sie plötzlich wie vom Blitz
getroffen hin. Exzellenz lag vollkommen bewußtlos auf dem Boden.
Pseldonimoff fuhr sich in die Haare und erstarrte in dieser Bewegung.
Die Gäste beeilten sich, nach Haus zu gehn, und alle sprachen sie über
das Vorgefallene. Es war schon gegen drei Uhr morgens.

                   *       *       *       *       *

Das wirklich Schlimme war nur, daß die Verhältnisse Pseldonimoffs viel
schlechter waren, als man es sich damals hätte denken können, ganz
abgesehen selbst von der Peinlichkeit seiner Lage am Hochzeitstage.

Noch vor einem Monat hatte er im aussichtslosesten Elend gelebt. Er
stammte aus der Provinz, wo sein Vater Beamter gewesen war. Fünf Monate
vor seiner Heirat, nachdem er sich ein ganzes Jahr lang vorher brotlos
in Petersburg herumgetrieben, hatte er schließlich diese Stelle von zehn
Rubel monatlich erhalten. Er wäre körperlich und geistig
wiedererstanden, wenn sich nicht bald darauf seine Verhältnisse wieder
verschlimmert hätten. Auf der Welt gab es im ganzen nur zwei
Pseldonimoffs, ihn und seine Mutter, die nach dem Tode ihres Mannes die
Provinz verlassen hatte. Mutter und Sohn waren beide obdachlos, und
wären in der Kälte beinahe elend umgekommen: sie nährten sich nur von
zweifelhaften Dingen. Auch gab es Tage, an denen Pseldonimoff selbst mit
einem Krug zur Fontanka ging, um mit dem schmutzigen Flußwasser seinen
Durst zu stillen. Als er die Stelle erhalten hatte, mietete er mit
seiner Mutter einen Winkel. Sie wurde Wäscherin und er sparte drei, vier
Monate, bis er sich ein Paar Stiefel und einen Paletot kaufen konnte.
Und wieviel Unangenehmes mußte er in der Kanzlei erdulden: Vorgesetzte
erkundigten sich bei ihm, ob er auch eine Badstube kannte? Über ihn
verbreitete sich das Gerücht, daß im Kragen seiner Uniform sich Wanzen
Nester bauten. Aber Pseldonimoff hatte einen festen Charakter. Er war
ein friedlicher und stiller Mensch; seine Bildung war nur sehr gering,
und sprechen hörte man ihn fast nie. Daher konnte man auch nicht wissen,
ob er dachte, ob er Pläne machte und Systeme baute oder sich nach
irgendetwas sehnte. Zum Ersatz dafür hatte sich aber bei ihm instinktiv
der feste Entschluß entwickelt, sich aus dieser schlechten Lage
herauszuarbeiten. Er besaß eine wahrhaft ameisenhafte Zähigkeit:
zerstört man den Ameisen ihr Nest, so fangen sie bekanntlich sofort an,
sich ein neues zu bauen, zerstört man auch dieses, so bauen sie sich
wieder ein neues, und so weiter unermüdlich. Er war ein aufbauender und
häuslicher Charakter. Es stand auf seiner Stirn geschrieben, daß er sich
doch sein Nest bauen und vielleicht noch Vorräte ansammeln würde. Auf
der ganzen Welt liebte ihn nur seine Mutter, die aber liebte ihn bis zur
Grenzenlosigkeit. Sie war gleichfalls eine Frau von Charakter, war
unermüdlich arbeitsam und von großer Güte. So hätten sie in ihrem Winkel
unter diesen Verhältnissen vielleicht noch fünf oder sechs Jahre gelebt,
wenn sie nicht mit dem Titularrat außer Diensten, dem alten
Mlekopitajeff zusammengetroffen wären, der auch früher einmal in der
Provinz gelebt und sich erst in letzter Zeit mit seiner Familie in
Petersburg niedergelassen hatte. Mit Pseldonimoff war er bekannt und
seinem Vater sogar einmal verpflichtet gewesen. Er war bemittelt,
allerdings nicht sehr, wieviel er aber in Wirklichkeit besaß, das wußte
Niemand, weder seine Frau, noch seine Tochter, noch sonst seine
Verwandten. Er hatte zwei Töchter und da er ein eingebildeter
Trunkenbold, ein Haustyrann und außerdem noch ein kranker Mensch war, so
fiel es ihm plötzlich ein, die eine Tochter mit Pseldonimoff zu
verheiraten: „Ich kenne ihn, sein Vater war ein guter Mensch, also wird
auch er ein guter Mensch sein.“ Und was Mlekopitajeff wollte, das führte
er auch durch: gesagt – getan. Er war ein sonderbarer Kauz. Den größten
Teil seines Lebens brachte er im Lehnstuhl zu, da er sich infolge einer
Krankheit seiner Beine kaum bedienen konnte, was ihn indessen nicht
hinderte, Schnaps zu trinken. Tagelang konnte er trinken und –
schimpfen. Da er ein boshafter Mensch war, so mußte er immer irgend
jemanden haben, den er ununterbrochen quälen konnte. Zu diesem Zweck
unterhielt er bei sich einige entferntere Verwandte: seine Schwester,
die ebenfalls krank und zänkisch war, zwei Schwestern seiner Frau, die
der seinen in nichts nachstanden, und eine alte Tante, die sich bei
irgendeiner Gelegenheit einmal eine Rippe gebrochen hatte. Dann gab es
dort noch eine verrußte Deutsche, die er gleichfalls unentgeltlich bei
sich hielt, weil sie ihm so schöne Märchen „aus Tausend und einer Nacht“
zu erzählen wußte. Sein ganzes Vermögen bestand darin, diese
unglücklichen freien Kostgänger jeden Augenblick und bei jeder
Gelegenheit zu schimpfen und aufzusticheln, seine Frau übrigens nicht
ausgenommen, – ein Wesen, das mit Zahnschmerzen bereits auf die Welt
gekommen war –, und sie alle wagten ihm nicht ein Wort zu erwidern. Er
hetzte sie auch gegeneinander auf, erfand und verbreitete unter ihnen
Klatschgeschichten und lachte und freute sich dann, wenn sie sich
gegenseitig beinahe in die Haare gerieten. Ebenso freute er sich sehr,
als seine älteste Tochter, die mit einem armen Offizier verheiratet
gewesen war und zehn Jahre in der größten Armut gelebt hatte, jetzt als
Witwe mit drei kleinen Kindern zu ihm übersiedelte. Ihre Kinder konnte
er zwar nicht leiden, da sich aber dadurch das Material zu seinen
täglichen Experimenten vergrößerte, so war der Alte schließlich doch
ganz zufrieden damit. Diese Sammlung böser Weiber und kranker Kinder
lebte samt ihrem Peiniger zusammen gedrängt in dem Holzhause auf der
Petersburger Seite, konnte sich weder sattessen, denn der Alte war
geizig und gab nur kopekenweise das Geld her, obgleich er sonst zum
Schnaps immer genügend Geld hatte, noch sich ausschlafen, denn der Greis
litt an Schlaflosigkeit und wollte unterhalten und zerstreut werden.
Kurz, alle verwünschten sie ihr Schicksal. Und da war es denn, daß ihm
plötzlich Pseldonimoff auffiel. Er war erstaunt über dessen lange Nase
und ergebenen Gesichtsausdruck. Seine kränkliche und unansehnliche
jüngere Tochter erreichte gerade das Alter von siebzehn Jahren. Wenn sie
auch früher einmal so etwas wie eine deutsche Schule besucht hatte, so
hatte sie es doch nicht weiter als bis zum Lesen und Schreiben gebracht.
Sie wuchs auf, mager und skrophulös, unter dem Krückstock eines
betrunkenen Vaters, in einem Sodom von häuslichen Klatschereien,
Spionage und Verleumdungen. Freundinnen hatte sie niemals gehabt. Sie
war zu allem zu dumm. Heiraten wollte sie aber schon längst. In
Gegenwart von fremden Menschen sprach sie kein Wort, zu Hause aber war
sie böse und zänkisch wie eine kleine Viper. Besonders liebte sie die
Kinder ihrer Schwester zu kneifen und zu stoßen, sie anzugeben, wenn sie
Zucker oder Brot gestohlen hatten, weshalb denn zwischen ihr und der
älteren Schwester ein ewiges unerbittliches Gezänk war. Der Alte selbst
bot seine Tochter Pseldonimoff an. Wie sehr sich dieser darüber auch
unglücklich fühlte, so bat er sich doch eine Bedenkzeit aus. Lange
berieten Mutter und Sohn miteinander, was zu tun war. Aber das Haus
wurde auf den Namen der Braut geschrieben und wenn es auch ein
unansehnliches einstöckiges Holzhaus war, so hatte es doch immerhin
einen Wert. Außerdem bekam sie auch noch vierhundert Rubel Mitgift, wie
aber sollte man sich die je zusammensparen! „Ich nehme mir diesen
Menschen in’s Haus,“ schrie der betrunkene Alte, „erstens weil ihr alle
Weiber seid und das Weibspack allein langweilt mich. Ich will, daß auch
Pseldonimoff nach meiner Flöte tanzt, weil ich sein Wohltäter bin.
Zweitens, nehme ich ihn darum, weil Ihr ihn alle nicht wollt und Euch
darüber ärgert. Und so nehme ich ihn denn Euch zum Trotz. Was ich aber
gesagt habe, das werde ich auch ausführen. Du aber, Pseldonimoff, haue
sie, wenn sie Deine Frau wird; ihr sitzen von Geburt an sieben Teufel im
Leibe. Jage sie alle hinaus!“

Pseldonimoff schwieg, er hatte sich entschlossen. Man nahm ihn und seine
Mutter bereits vor der Hochzeit ins Haus, wusch und kleidete sie und gab
ihnen Geld. Der Alte protegierte sie vielleicht nur darum, weil die
ganze Familie sich über sie ärgerte. Pseldonimoffs Mutter gefiel ihm
sogar sehr und er enthielt sich ihr gegenüber jeglicher Gemeinheiten.
Übrigens, ihrem Sohn befahl er alsbald, vor ihm den Kasatschock zu
tanzen. „Nun, genug, ich wollte nur sehn, ob Du Dich mir gegenüber
vergessen wirst,“ sagte er, nachdem er sich am Tanzen sattgesehen hatte.
Geld zur Hochzeit gab er wie es sich gehörte und er lud sogar alle seine
Verwandten und Bekannten ein. Von Seiten Pseldonimoffs waren der
Mitarbeiter des „Feuerbrandes“ und Akim Petrowitsch Subikoff die
Ehrengäste. Pseldonimoff wußte es sehr gut, daß seine Braut für ihn nur
Widerwillen empfand und daß sie den langen Leutnant heiraten wollte,
nicht aber ihn. Er ließ jedoch alles über sich ergehn, – das hatte er
mit der Mutter so verabredet. Den ganzen Tag über und selbst am
Hochzeitsabend noch hatte der Alte mit den gemeinsten Worten geschimpft
und wieder gehörig getrunken. Die ganze Familie hatte sich des Festes
wegen in die hinteren Zimmer zurückgezogen, wo es bis zum Ersticken heiß
und eng war. Die vorderen Zimmer dagegen waren zum Tanz und Festessen
bestimmt. Endlich, als der Alte vollständig betrunken einschlief,
ungefähr um elf Uhr Abends, entschloß sich die Mutter der Braut, die
sich diesen Tag ganz besonders schlecht zur Mutter Pseldonimoffs
verhalten hatte, den Ärger in Güte zu verwandeln und sich am Fest zu
beteiligen. Das Erscheinen seiner Exzellenz verdarb aber alles. Frau
Mlekopitajeff verlor die Fassung, fühlte sich beleidigt und schimpfte,
warum man es ihr nicht gesagt, daß man seine Exzellenz eingeladen hatte.
Man versicherte ihr, daß er von selbst, uneingeladen gekommen wäre – sie
aber war so dumm, daß sie es nicht glauben wollte. Man mußte Champagner
reichen. Bei der Mutter fand sich noch ein Rubel Silber, Pseldonimoff
selbst aber hatte keine Kopeke mehr. Man mußte also die alte wütende
Mlekopitajeff anflehen, Geld für die eine und dann noch für die zweite
Flasche zu geben. Man hielt ihr die Zukunft, die Karriere ihres
Schwiegersohnes vor, die man durch solche Verbindungen machen könnte und
sie gab denn auch zu guter Letzt von ihrem eigenen Gelde, doch mußte
Pseldonimoff einen so bitteren Kelch dabei leeren, daß er wie wahnsinnig
ins Zimmer lief, wo das Ehebett schon bereitet war, und sich mit beiden
Händen sein Haar raufte und seinen Kopf in die schönen Kissen preßte,
die doch nur zu paradiesischen Genüssen bestimmt waren, und vor
ohnmächtiger Wut am ganzen Körper zitterte. Ja, Exzellenz ahnte es
nicht, was diese zwei Flaschen Sekt, die er am Abend getrunken, gekostet
hatten! Wie groß aber war das Entsetzen Pseldonimoffs, sein Kummer und
seine Verzweiflung, als es mit seiner Exzellenz auf solche Weise endete!
Wieder standen ihm die größten Sorgen bevor und die ganze Nacht über
mußte er den Tränen seiner kapriziösen jungen Frau und den Vorwürfen der
dummen Verwandten Widerstand leisten. Ihn schmerzte schon sowieso der
Kopf und es wurde ihm schwarz vor den Augen. Aber man mußte doch seiner
Exzellenz zu Hilfe eilen, mußte ihm doch um drei Uhr morgens einen Arzt
und einen festen Wagen suchen, denn auf einem kleinen offenen Schlitten
konnte man solch eine Persönlichkeit und in solch einem Zustande nicht
nach Hause bringen. Und woher das Geld für den Wagen nehmen? Die
Mlekopitajeff, die darüber wütend war, daß der „General“ ihr nicht ein
Wort gesagt noch sie bei Tisch angesehen hatte, erklärte einfach, sie
hätte keine Kopeke mehr. Vielleicht hatte sie auch wirklich keine mehr.
Wo also sollte man das Geld hernehmen? Was sollte man machen? Ja, es war
genug Grund vorhanden, sich die Haare zu raufen.

                   *       *       *       *       *

Vorläufig hob man seine Exzellenz auf ein kleines Ledersofa, das im
Speisezimmer stand, und während man im Zimmer Ordnung schaffte und alles
abräumte, lief Pseldonimoff vom Einen zum Andern, um Geld aufzutreiben.
Zuerst versuchte er es bei der Magd, doch stellte es sich heraus, daß
niemand welches hatte. Er wagte es sogar Akim Petrowitsch Subikoff, der
noch nicht fortgegangen war, zu beunruhigen. Der aber geriet in solch
eine Verwirrung, wenn er auch sonst ein guter Mensch war, und erschrak
dermaßen, als von Geld die Rede war, daß er den unglaublichsten Unsinn
zusammensprach:

„Ein anderes Mal werde ich mit Vergnügen,“ murmelte er, „... aber jetzt
... wirklich, entschuldigen Sie mich ...“

Er nahm seine Mütze und lief so schnell als möglich zum Hause hinaus.
Schließlich blieb nur noch der gutmütige Jüngling übrig, der von dem
Traumbuch erzählt hatte. Auch er war länger zurückgeblieben und nahm an
dem Unglück Pseldonimoffs herzlichen Anteil. Alle drei beschlossen sie,
nicht mehr nach dem Doktor, sondern nur nach einem Wagen zu schicken, um
den Kranken in seine Wohnung überzuführen, sonst aber an ihm Hausmittel
anzuwenden: die Schläfen und den Kopf mit kaltem Wasser abzureiben,
Eiskompressen zu machen und Ähnliches. Das übernahm die Mutter
Pseldonimoffs. Der Jüngling aber lief davon, um den Wagen zu besorgen.
Da aber auf der Petersburger Seite um diese Zeit nicht einmal Schlitten
zu finden waren, so mußte er sich auf einen weit entfernten Droschkenhof
begeben und dort erst die Kutscher aufwecken. Man handelte und sprach
noch lange hin und her, daß fünf Rubel zu solch einer Stunde für einen
geschlossenen Wagen zu wenig wären. Indessen kam man doch mit drei
Rubeln überein. Als aber der Jüngling um vier Uhr morgens mit dem Wagen
bei Pseldonimoff vorfuhr, hatten sie ihren Entschluß schon längst
geändert. Es erwies sich, daß Herr Pralinski, der noch immer nicht zu
sich kam, so schwer erkrankt war, so ächzte und stöhnte und sich hin und
her warf, daß es einfach unmöglich und viel zu gewagt schien, ihn in
solch einem Zustande nach Hause zu fahren.

„Was wird aus alledem noch werden?“ rief Pseldonimoff immer wieder
fassungslos.

Was sollte man tun? Es stellte sich jetzt eine neue Frage: wenn man ihn
nun einmal im Hause behalten mußte, wo sollte man ihn dann betten? Im
ganzen Hause waren nur zwei Betten: ein großes zweischläfriges Bett, in
dem der alte Mlekopitajeff und seine Frau schliefen, und das neugekaufte
zweischläfrige Bett, das für die Neuvermählten bestimmt war. Alle
anderen Einwohner oder richtiger Einwohnerinnen des Hauses schliefen auf
dem Fußboden, d. h. auf Matratzen, die meistens sehr zerrissen waren,
aber auch diese waren alle besetzt. Wohin sollte man den Kranken legen?
Ein Federbett würde sich zur Not noch haben finden lassen, man hätte es
im äußersten Falle unter irgend einer Schläferin hervorgezogen, aber wo
und worauf sollte man ihn betten? Im Saal natürlich, da es das
entlegenste Zimmer war, von dem Familiennest etwas weiter entfernt lag
und einen besonderen Ausgang hatte. Aber worauf betten? Doch nicht etwa
auf Stühlen? Bekanntlich wird den Gymnasiasten, wenn sie am Sonnabend
Abend aus der Schule zum Sonntag nach Hause kommen, auf Stühlen eine
Schlafstelle bereitet, – aber solch einer Persönlichkeit gegenüber wäre
das ja einfach unerhört respektlos gewesen. Was würde er am nächsten
Morgen sagen, wenn er sich auf Stühlen gebettet fände? Pseldonimoff
wollte davon überhaupt nichts hören. Es blieb nur eines übrig: ihn auf
das Bett der Neuvermählten zu bringen. Dieses Brautlager war, wie ich
schon erwähnte, in einem kleinen Raum neben dem Speisezimmer
hergerichtet. Auf dem Bett war eine neue zweischläfrige Matratze, reine
Wäsche, vier Kissen aus rosa Kaliko mit weißen Musselinschleiern, die
mit Rüschen besetzt waren. Die rosa Atlasdecke war mit Mustern bestickt.
Aus einem goldenen Ring hingen Musselin-Bettvorhänge von oben herab. Mit
einem Wort, es war wie es sein mußte, und die Gäste, die sich fast alle
das Brautgemach angesehn hatten, waren von der Einrichtung sehr entzückt
gewesen. Die Braut aber lief während des Abends, obgleich sie
Pseldonimoff nicht leiden konnte, einige Mal hierher, um es sich
anzusehn. Man kann sich denken, wie groß ihr Unwille, ihre Wut war, als
sie erfuhr, daß man auf ihrem Brautbett den Kranken, der vielleicht
sogar an der Cholera erkrankt war, betten wollte! Auch ihre Mutter trat
für sie ein, schimpfte gehörig und versprach am anderen Tage sich bei
ihrem Manne zu beklagen: aber Pseldonimoff blieb dabei und bestand
darauf: Exzellenz wurde aufs Bett gebracht und den Neuvermählten
bereitete man im Gastzimmer ein Lager auf Stühlen. Die Neuvermählte
weinte, war bereit, alle zu kneifen, wagte aber doch nicht zu
widersprechen: sie wußte, daß Papachen einen Krückstock hatte, und der
war ihr nur zu gut bekannt, und sie wußte gleichfalls, daß Papachen am
nächsten Tage Rapport verlangen würde. Zu ihrer Beruhigung brachte man
ihr noch die rosa Decke und die Kissen mit den Musselinbezügen. In
demselben Augenblick kam der Jüngling mit dem Wagen an, und als er
erfuhr, daß der Wagen nicht mehr nötig war, erschrak er furchtbar. Er
mußte also den Wagen bezahlen, obgleich er in seinem ganzen Leben noch
keine zehn Kopeken besessen hatte. Pseldonimoff erklärte sich für
vollkommen bankerott. Man versuchte den Kutscher zu bereden, doch wollte
der von alledem nichts wissen, er wütete nur und schrie. Womit das
endete – weiß ich nicht genau. Ich glaube, der Jüngling begab sich
sozusagen als Gefangener des Kutschers im Wagen in den Stadtteil Peski,
wo er einen ihm bekannten Studenten, der bei Bekannten übernächtigte,
aufzuwecken und anzupumpen gedachte. Es war schon fünf Uhr morgens, als
man die Neuvermählten allein ließ und sie sich im Wohnzimmer
einschlossen. Am Bette des Kranken blieb die alte Pseldonimoff. Sie
wickelte sich in einen Pelz und legte sich auf den Teppich neben dem
Bett, aber schlafen konnte sie nicht, denn sie war gezwungen, alle
Augenblicke aufzustehn: Exzellenz litt an einem furchtbar verdorbenen
Magen. Frau Pseldonimoff, eine tapfere und großmütige Frau, entkleidete
ihn eigenhändig, pflegte ihn wie ihren eigenen Sohn und brachte die
ganze Nacht über das nötige Geschirr hinaus und wieder zurück. Indessen
hatten die peinlichen Überraschungen dieser Nacht noch lange nicht ihr
Ende erreicht.

                   *       *       *       *       *

Es waren, seitdem man das junge Ehepaar allein gelassen hatte, noch
keine zehn Minuten vergangen, als man plötzlich ein ohrenzerreißendes
Geschrei hörte, keinen Schrei des Entzückens, nein, sondern ein sehr
boshaftes Gekreisch. Nach dem Geschrei hörte man Lärm und Gepolter wie
ein Fallen von Stühlen und im Augenblick stürzte völlig unerwartet in
das dunkle Zimmer eine ganze Eskadron erschrockener und jammernder
Frauen herein, die alle in den unmöglichsten Nachtkostümen staken. Diese
Frauen waren: die Mutter der Jungen, deren ältere Schwester, die in
diesem Moment selbst ihre drei kranken Kinder verlassen hatte, drei
Tanten, darunter auch die eine mit der gebrochenen Rippe, ja sogar die
Köchin war dabei, und auch die Deutsche, die so schöne Märchen erzählen
konnte, und der man das einzige, was sie besaß, nämlich ihre Matratze, –
die beste im ganzen Haus – unten weggezogen hatte, um sie dem jungen
Paar zu geben, auch sie stürzte mit den Andern zusammen herein. Alle
diese achtenswerten Frauen hatten sich schon seit einer Viertelstunde
auf den Zehenspitzen herangeschlichen, um aus einer ganz unerklärlichen
Neugier an der Tür zu lauschen. Man machte also sofort Licht und ihnen
allen bot sich ein ganz unerwartetes Schauspiel. Die Stühle, von denen
die breite Matratze nur an den Rändern gestützt worden war, hatten der
doppelten Schwere nicht Widerstand leisten können und waren auseinander
gerutscht, die Matratze war daher zwischen ihnen auf den Fußboden
gesunken. Die junge Frau weinte vor Wut, dieses Mal war sie wirklich
tief gekränkt. Moralisch vernichtet und wie ein Verbrecher stand der
arme Pseldonimoff da – öffentlich der Gemeinheit überführt. Er vermochte
nicht einmal sich zu verteidigen. Von allen Seiten hörte man Gekreisch
und Geschrei. Auf diesen Lärm hin lief auch die Mutter Pseldonimoffs
herbei, doch die Mutter der Neuvermählten behielt das Übergewicht. Sie
überschüttete Pseldonimoff mit sonderbaren und ganz ungerechten
Vorwürfen, wie: „Was bist Du denn nach alledem eigentlich für ein Mann!
Wozu taugst Du denn überhaupt noch nach solch einem Skandal?“ und so
weiter, nahm darauf ihre Tochter am Arm und führte sie fort, nachdem sie
persönlich die Rechtfertigung dieser Handlung vor ihrem gefürchteten
Manne auf sich genommen hatte. Ihr folgten kopfschüttelnd und klagend
all die anderen Frauen. Nur die Mutter Pseldonimoffs verließ ihren Sohn
nicht und versuchte ihn zu trösten. Aber er jagte auch sie hinaus.

Ihm war nicht nach Trost zu Mut. Er setzte sich, so wie er war, im Hemd
und barfüßig, aufs Sofa und verfiel in trübes Sinnen. Gedanken
durchkreuzten und verwirrten seinen Kopf. Ganz mechanisch sah er sich im
Zimmer um, in welchem sich noch vor ein paar Stunden die Tanzenden
gedreht hatten und wo in der Luft noch der Zigarettenrauch stand.
Zigarettenstummel und Konfektpapier lagen auf dem begossenen und
staubigen Fußboden umher. Das zerstörte Ehelager und die umgeworfenen
Stühle zeugten von der Vergänglichkeit der besten und aufrichtigsten
Erdenträume und Hoffnungen. So saß er eine ganze Stunde lang. Ihm gingen
schwere Fragen durch den Kopf, zum Beispiel: was ihn jetzt im Dienst
erwarten würde? Es war ihm schmerzlich einzusehn, daß er seine Stelle
verlassen mußte, denn nach allem, was an diesem Abend geschehen war,
konnte er unmöglich auf seinem Posten bleiben. Auch dachte er an
Mlekopitajeff, der ihn vielleicht morgen schon wieder den Kasatschock
tanzen lassen würde, um seine Bescheidenheit zu erproben. Fünfzig Rubel
hatte er ihm zur Hochzeit gegeben, die waren aber bis auf die letzte
Kopeke verausgabt worden, doch die vierhundert Rubel Mitgift
auszuzahlen, daran dachte der Alte auch nicht einmal. Ja, auch von dem
Besitz des Hauses hatte er keine formelle Bescheinigung. Dann dachte er
noch an seine Frau, die ihn in der kritischsten Minute seines Lebens
verlassen hatte und an den langen Offizier, der vor seiner Frau aufs
Knie gesunken war, dachte dann an die sieben Teufel seiner Frau, auf die
er von dem Schwiegervater selbst aufmerksam gemacht worden war ...
Freilich fühlte er die Kraft in sich, Vieles ertragen zu können, aber
das Schicksal brachte ihm solche Überraschungen, daß es wohl
verständlich war, wenn er an den eigenen Kräften verzweifelte. So
trauerte Pseldonimoff in der Unglücksnacht. Währenddessen brannte der
Lichtstummel aus, sein flackernder Schein fiel gerade auf das Profil
Pseldonimoffs und malte an die Wand in riesigen Dimensionen sein
Schattenbild: seinen langen Hals, seine gebogene Nase und die zwei
Haarbüschel am Kopf, den einen am Kopfwirbel, den anderen über der
Stirn. Endlich beim ersten Morgengrauen, als es ihn fröstelte, legte er
sich auf die Matratze, ohne das Licht auszulöschen, ohne etwas zu
ordnen, ohne sich ein Kissen unter den Kopf zu schieben. Ihn überfiel
ein bleierner Schlaf, wie ihn nur zum Tode Verurteilte am Tage vor der
Hinrichtung zu haben pflegen.

                   *       *       *       *       *

Und andrerseits – womit hätte man diese qualvolle Nacht vergleichen
können, die Herr Pralinski auf dem Brautbett des unglücklichen
Pseldonimoff verbrachte! Die Kopfschmerzen, die Übelkeit mit allen ihren
Folgen verließen ihn keinen Augenblick. Das waren Höllenqualen! Das
Bewußtsein, wenn es für einen Moment in seinem Kopfe auftauchte,
beleuchtete solche Abgründe des Entsetzens, so trübe und widerliche
Bilder, daß es besser für ihn war, nicht zur Besinnung zu kommen.
Übrigens drehte sich ihm alles im Kopf herum. Er erkannte, zum Beispiel,
die Mutter Pseldonimoffs, hörte ihre tröstenden Beruhigungen, in der Art
wie: „Halt aus, mein Täubchen, halt aus Väterchen, es kommt alles auf
Gewohnheit an,“ er erkannte und hörte sie, konnte sich aber doch keine
logische Rechenschaft geben über ihre Anwesenheit. Unangenehme Bilder
verfolgten ihn; am häufigsten erschien ihm Ssemjon Iwanowitsch
Schipulenko; strengte er sich aber an, ihn sich näher anzusehn, so war
es wiederum nicht Ssemjon Iwanowitsch Schipulenko, sondern die Nase
Pseldonimoffs. Auch tauchten vor ihm der freie Künstler, der Offizier
und die Alte mit der verbundenen Backe auf. Aber am meisten beschäftigte
ihn der goldene Ring, der über seinem Kopfe hing und an dem die Vorhänge
befestigt waren. Er sah den Ring ganz genau bei dem kargen Schein des
Lichtendchens, das nur trübe das Zimmer beleuchtete, und strengte sich
an zu denken: wozu dieser Ring dient, warum er hier hängt und was er
bedeutet? Er fragte sogar einige Mal die Alte danach, doch konnte er
sich augenscheinlich nicht deutlich genug ausdrücken, denn wie er sich
auch anstrengte, die Alte verstand ihn nicht. Erst gegen Morgen hörten
die Anfälle auf und er schlief fest und traumlos ein. So schlief er
ungefähr eine Stunde und als er schließlich erwachte, war er bei voller
Besinnung, fühlte aber nur einen unerträglichen Kopfschmerz und seine
Zunge schien sich in ein Stück Tuch von schlechtestem Geschmack
verwandelt zu haben. Er erhob sich ein wenig, blickte sich um und dachte
nach. Das bleiche Licht des Morgens stahl sich als heller Streifen durch
die Ritze der Fensterläden und erzitterte an der Wand. Es war ungefähr
sieben Uhr morgens. Als er sich aber plötzlich alles dessen erinnerte,
was mit ihm am Abend vorher geschehn war, als er sich aller Einzelheiten
beim Abendessen erinnerte, seiner fehlgeschlagenen Eroberung, seiner
Rede bei Tisch, und sich plötzlich mit der erschreckendsten Klarheit
alle Folgen, die sich daraus für ihn ergeben würden und was man über ihn
denken würde, vorstellte, als er sich umblickte und gewahr wurde, in
welch einen traurigen und ekelhaften Zustand er das friedliche Ehelager
seines Untergebenen gebracht hatte – oh, da überfiel ihn solch eine
Scham, da fühlte er solche Qualen, daß er sein Gesicht mit beiden Händen
bedeckte und sich verzweifelt in die Kissen warf. Aber sofort richtete
er sich wieder auf, sprang aus dem Bett, ergriff seine Kleider, die
schon gereinigt und gesäubert neben ihm auf dem Stuhle lagen, und zog
sie so eilig an, als ob er irgend jemandem entfliehen wollte. Dort auf
dem anderen Stuhle lagen auch sein Pelz, seine Mütze, und in der Mütze
seine gelben Handschuh. So wollte er leise verschwinden, als sich
plötzlich die Tür öffnete und die alte Pseldonimowa mit einer tönernen
Waschschale und mit einem reinen Handtuch über der Schulter eintrat. Sie
stellte die Schüssel hin und erklärte ruhig und ohne Umschweife, daß er
sich waschen müsse.

„Wie denn, Väterchen, wasche Dich doch, es geht nicht so, man muß sich
zuerst waschen ...“

Und in diesem Augenblick fühlte er plötzlich, daß, wenn es auf der Welt
ein Wesen gab, vor dem er sich weder zu schämen noch zu fürchten
brauchte, es diese alte Frau war. Er wusch sich. Lange noch nachher
erinnerte er sich in den schweren Minuten seines Lebens dieser ganzen
Situation, der tönernen Waschschüssel mit dem kalten Wasser, in dem noch
Eisstückchen schwammen, und der Seife im rosa Papier mit erhabenen
Buchstaben, die fünfzehn Kopeken kostete und für die Neuvermählten
gekauft worden war und an deren Stelle er sich nun ihrer bediente, „der
Alten“ mit dem gewürfelten Handtuch auf der linken Schulter. Das kalte
Wasser erfrischte ihn; er trocknete sich ab, sagte kein Wort, dankte
nicht einmal seiner barmherzigen Schwester, ergriff die Mütze, nahm
seinen Pelz, den sie ihm reichte, um die Schultern und lief durch den
Korridor, durch die Küche, wo die Katze sich streckte und miaute und die
Köchin ihm in gieriger Neugier nachglotzte, lief auf den Hof, auf die
Straße und warf sich in den ersten Schlitten, den er erblickte. Der
Morgen war kalt und frostig, ein gelber Nebel hüllte alles ein. Herr
Pralinski schlug seinen Pelzkragen auf. Es schien ihm, daß alle ihn
ansahen, alle ihn kannten und alle alles wußten.

                   *       *       *       *       *

Acht Tage ging er nicht von Hause, acht Tage erschien er nicht in seiner
Kanzlei. Er war krank, qualvoll krank, – aber doch mehr moralisch, als
physisch. Diese acht Tage durchlebte er wie in der Hölle, und es ist
anzunehmen, daß sie ihm im Jenseits angerechnet werden. Es gab Minuten,
da er glaubte, er müsse Mönch werden. Seine Phantasie entwickelte sich
ganz außerordentlich nach dieser Seite hin. Er sah sich bereits in der
einsamen Zelle, hörte unterirdische Gesänge, sah geöffnete Gräber, grüne
Wiesen und Gefilde; aber sobald er wieder zu sich kam, erkannte er
sofort, daß das doch nur der schrecklichste Unsinn wäre, Mönch zu
werden, und dann schämte er sich seiner Phantasie. Darauf bekam er
moralische Anfälle, die sich aus seiner vermeintlichen ^existence
manquée^ ergaben. Dann flammte wieder die Scham in seiner Seele auf und
verbrannte und zerstörte alles, was in ihr war. Er erzitterte bei der
Vorstellung verschiedener Bilder: was man von ihm sagen wird, was man
von ihm denken wird, wie er in die Kanzlei gehen wird, welch ein
Geflüster ihn verfolgen wird, das ganze Jahr, zehn Jahre lang, sein
ganzes Leben lang. Die Geschichte wird sich noch in seiner
Nachkommenschaft fortpflanzen! Er verfiel sogar von Zeit zu Zeit in
solch einen Kleinmut, daß er bereit gewesen wäre, zu Semjon Iwanowitsch
Schipulenko zu fahren und ihn um seine Verzeihung und Freundschaft zu
bitten. Sich selbst verteidigte er überhaupt nicht mehr, er gab sich
vollständig auf.

Auch dachte er daran, seinen Abschied einzureichen und so in der
Einsamkeit sich dem Glücke der Menschheit zu widmen. Jedenfalls war es
unbedingt nötig, mit allen früheren Bekannten zu brechen und jegliche
Erinnerung an sich auszulöschen. Darauf schien es ihm wieder, daß auch
das ein Unsinn wäre und daß man durch verstärkte Strenge zu den
Untergebenen die ganze Sache wieder retten könnte. Von dem Augenblick an
faßte er wieder Mut und so fing er denn wieder zu hoffen an. Endlich,
nach Verlauf von zehn Tagen der größten Zweifel und Qualen fühlte er,
daß er die Ungewißheit nicht länger ertragen konnte und beschloß daher
^un beau matin^ wieder in die Kanzlei zu gehn.

In seiner Verzweiflung hatte er sich wenigstens tausendmal vorgestellt,
wie es sein würde, wenn er in die Kanzlei tritt. Mit Entsetzen
überzeugte er sich, daß er durchaus ein zweideutiges Geräusch hören,
zweideutige Gesichter und auf ihnen ein zweideutiges Lächeln bemerken
wird. Wie groß war daher sein Erstaunen, als in Wirklichkeit von alledem
nichts geschah. Man empfing ihn ehrerbietig; man grüßte ihn, alle waren
ernst und alle waren beschäftigt. Freude erfüllte sein Herz, als er in
sein Kabinett eintrat.

Er erledigte sofort seine Arbeit, hörte aufmerksam allen Erklärungen und
Berichten zu und traf verschiedene Bestimmungen. Er fühlte es, daß er
noch nie so klug und so sachlich alles bestimmt und erledigt hatte, wie
an diesem Morgen. Er sah es, daß man mit ihm zufrieden war, daß alle ihm
ergeben waren, und daß man sich zu ihm ehrerbietig verhielt. Auch das
allergrößte Mißtrauen hätte nichts anderes bemerken können. Die Sache
ging also großartig.

Schließlich erschien auch Akim Petrowitsch Subikoff mit irgend welchen
Papieren. Bei seinem Erscheinen stach Herrn Pralinski etwas ins Herz,
aber nur auf einen Augenblick. Er beschäftigte sich mit Akim
Petrowitsch, zeigte und erklärte ihm, was er zu tun hatte. Er bemerkte
nur, daß er es vermied, ihm längere Zeit in die Augen zu sehn oder daß
vielmehr Akim Petrowitsch es vermied, _ihn_ anzusehn. Und als die Sache
erledigt war, stand Akim Petrowitsch auf und suchte seine Papiere
zusammen.

„Und dann ist hier noch ein Gesuch,“ begann er so trocken als möglich,
„des Beamten Pseldonimoff; er bittet um seine Überführung in die ...
Kanzlei ... Seine Exzellenz Semjon Iwanowitsch Schipulenko haben ihm
eine Stelle versprochen. Er bittet Exzellenz um eine gütige Fürsprache.“

„Also er geht über,“ sagte Exzellenz und fühlte dabei, wie ihm etwas
Schweres vom Herzen genommen wurde. Er sah auf, und in dem Augenblick
begegneten sich ihre Blicke.

„Nun, ich meinerseits ... ich werde ... ich bin bereit ...“ antwortete
er.

Akim Petrowitsch wollte augenscheinlich so schnell als möglich
verschwinden. Exzellenz jedoch entschloß sich plötzlich – in einem
Anfall von Edelmut – sich darüber auszusprechen. Ihn überfiel wieder
eine gewisse Begeisterung.

„Übergeben Sie ihm,“ begann er, wobei er einen hellen und
bedeutungsvollen Blick auf Akim Petrowitsch richtete, „übergeben Sie
ihm, daß ich ihm nichts Böses nachtrage, ja, nichts Böses! ... Daß ich,
im Gegenteil, bereit bin, alles Gewesene zu vergessen, alles, alles ...“

Aber plötzlich erstarrte Exzellenz förmlich, als er zu seinem Erstaunen
das sonderbare Betragen Akim Petrowitschs bemerkte, der sich, unbekannt
warum, aus einem vernünftigen Menschen in einen Dummkopf verwandelte.
Anstatt nun aufmerksam zuzuhören, was er ihm sagte, errötete er über und
über, verbeugte sich eilig mit kleinen Bücklingen und zog sich ängstlich
zur Tür zurück. Sein ganzes Aussehn verriet, daß er den Wunsch hatte, in
die Erde zu versinken, oder besser gesagt, sich an seinen Tisch
zurückzuziehen. Herr Pralinski, der allein blieb, erhob sich in der
Verwirrung vom Stuhl. Er blickte zwar in den Spiegel, doch tat er es,
ohne sich dabei zu sehn.

„Nein, Strenge, Strenge, nur Strenge!“ flüsterte er sich selbst unbewußt
zu, und plötzlich bedeckte heiße Röte sein Gesicht. Er schämte sich
dermaßen, wie er sich nicht einmal in den schrecklichsten Minuten seiner
achttägigen Krankheit geschämt hatte. „Konnte nicht aushalten!“ sagte er
sich und sank kraftlos auf seinen Stuhl zurück.




Letzte Novellen.





                              Die Kleine.


                     Eine phantastische Erzählung.


                            Erstes Kapitel.


I. Wer ich war und wer sie war.

... So lange wie sie hier liegt, – ist ja noch alles gut: jeden
Augenblick gehe ich zu ihr hin und betrachte sie ... Aber morgen, wenn
man sie fortbringt – wie ... wie soll ich dann allein bleiben? Sie liegt
jetzt im Gastzimmer auf dem Tisch; man hat dort zwei Lhombretische
zusammengeschoben; der Sarg wird erst morgen kommen, ein weißer, mit
weißem Gros de Naples überzogen, übrigens, nicht davon wollte ich jetzt
... Ich gehe die ganze Zeit auf und ab und versuche mir das alles zu
erklären. Schon sechs Stunden mühe ich mich damit, doch kann ich meine
Gedanken noch immer nicht zusammenhalten. Es ist ja nur, daß ich
ununterbrochen gehe, und gehe, und gehe ... Das war nämlich so. Ich
werde einfach nach der Reihenfolge erzählen. Nach der Reihenfolge! Ich
bin kein Literat, und Sie werden das ja selbst sehn. Einerlei: Aber
erzählen werde ich es doch so, wie _ich_ es verstehe. Ach, darin, gerade
darin liegt ja mein ganzes Entsetzen, daß ich alles verstehe!

Das war, wenn Sie wissen wollen, – das heißt, wenn ich ganz von Anfang
beginnen soll: ... sie kam damals ganz einfach zu mir ihre Sachen
versetzen, um in der „Stimme“ annoncieren zu können, nun, daß, so und
so, eine Gouvernante eine Stelle sucht, meinetwegen sogar auf dem Lande,
sonst aber auch außer dem Hause Stunden geben würde, usw., usw. Das war
ganz zu Anfang und sie fiel mir natürlich nicht weiter auf: sie kam, wie
alle anderen gleichfalls kamen, – und das war alles. Dann aber fiel sie
mir doch einmal auf: sie war solch ein schlankes, schmales Persönchen,
von mittlerer Größe, mit blondem Haar, und im Verkehr mit mir immer so
unbeholfen, so zurückhaltend, als ob sie in meiner Gegenwart geniert
gewesen wäre. (Ich glaube, sie ist allen Fremden gegenüber ebenso
gewesen, und ich war ihr natürlich genau so gleichgültig, wie dieser
oder jener, versteht sich, nicht als Pfandleiher, sondern als Mensch
genommen.) So wie sie das Geld bekommen hatte, drehte sie sich sofort um
und ging. Und dabei immer ohne ein Wort zu sagen. Andere bitten noch,
wollen mehr haben; sie aber nicht, nahm, was man ihr gab ... Ich glaube,
meine Gedanken verwirren sich fortwährend ... Ja: zuerst wunderten mich
ihre Sachen; kleine silbervergoldete Ohrringe, ein armseliges altes
Medaillon, – Sachen zu zwanzig Kopeken. Sie wußte es auch selbst, daß
sie für mich keinen Wert hatten, doch konnte man es an ihren Augen sehn,
wie wertvoll ihr diese Dinger trotzdem waren, – und wirklich, hab’s
später erfahren: das war alles, was sie noch von den Eltern besaß. Nur
einmal erlaubte ich mir, über ihre Sachen zu lächeln. Das heißt, sehen
Sie mal, ich erlaube mir so etwas nie, ich gehe mit dem Publikum stets
taktvoll um: wenig Worte, höflich und streng. „Streng, streng und
streng“ – erste Regel. Als sie es aber einmal wirklich für möglich
hielt, mir die Überbleibsel – ja, buchstäblich – die Überbleibsel einer
alten Hasenfelljacke zu bringen, nun, da konnte ich mich nicht
beherrschen und sagte ihr plötzlich irgend etwas, ... so was wie eine
Bemerkung. Herrgott, wie sie zusammenfuhr und rot wurde! Sie hat blaue
Augen, große, nachdenkliche, – wie die aufblitzten! Aber sie sagte kein
Wort, nahm ihre „Überbleibsel“ und – ging. Da war es denn, daß ich sie
zum ersten Mal _besonders_ bemerkte und etwas in der Art von ihr dachte,
wollte sagen, gerade so etwas in gewissem Sinne ... Ja: ich erinnere
mich noch eines Eindrucks, wenn Sie wollen, des Haupteindrucks, – der
Synthese des Ganzen: daß sie furchtbar jung war, so jung, daß man sie
für vierzehnjährig halten konnte, während sie damals doch schon fünfzehn
Jahre und neun Monate alt war ... Übrigens, nicht das wollte ich sagen,
nicht darin lag die Synthese. Am nächsten Tage kam sie wieder. Später
erfuhr ich, daß sie auch bei Dobronrawoff und bei Moser mit diesen
Überbleibseln ihrer Hasenfelljacke gewesen war, die aber nehmen außer
Gold überhaupt nichts – haben sie nicht mal zu Wort kommen lassen. Ich
aber hatte von ihr einmal eine Gemme angenommen – solch ein billiges
Ding – und als ich damals, nachdem es schon geschehen war, nachdachte,
wunderte ich mich noch selbst darüber: ich nehme ja außer Gold und
Silber auch nichts an, von ihr aber hatte ich diese Gemme angenommen!
Das – ich weiß es noch genau – war der zweite Gedanke, den ich über sie
hatte.

Das nächste Mal, also nach Moser, brachte sie eine
Bernsteinzigarrenspitze, – kein übles Dingelchen, so ’n
Liebhabergegenstand, für mich aber wertlos, denn „wir nehmen ja nur
Gold“, wie gesagt. Es war gleich am zweiten Tag nach jener kleinen
Szene, von der ich gesprochen. Ich empfing sie deshalb mit strenger
Miene. Meine Strenge ist – Trockenheit. Doch als ich ihr die zwei Rubel
dafür gab, konnte ich mich nicht enthalten, ihr, gewissermaßen als ob
ich gereizt wäre, zu sagen: „Ich tue es ja nur _für Sie_, Moser würde so
etwas niemals annehmen.“ Die Worte: „_für Sie_“ betonte ich besonders
und gerade so in gewissem Sinne. War wütend. Sie flammte wieder auf, als
sie dieses „_für Sie_“ hörte, schwieg aber, warf das Geld nicht zurück,
nahm’s ... Ja, ja –: die Armut! Wie sie aber rot wurde! Ich begriff, daß
ich sie verletzt hatte. Als sie fort war, fragte ich mich: also ist Dir
dieser Triumph über das kleine Ding wirklich zwei Rubel wert? He – he –
he! Ich weiß: noch zweimal stellte ich mir diese Frage: „Ist er’s wert?
Ist er’s?“ Und lachend bejahte ich sie. Wurde damals schon gar zu
heiter. Aber das war kein schlechtes Gefühl: ich tat’s doch mit Absicht,
mit Absicht! Ich wollte sie prüfen, denn mir waren plötzlich in Bezug
auf sie einige Gedanken gekommen. Das war mein dritter _besonderer_
Gedanke über sie.

... Nun, und seit der Zeit hat denn alles angefangen. Versteht sich: ich
bemühte mich sofort, auf Umwegen Näheres über sie zu erfahren und
erwartete ihr Kommen mit ganz besonderer Ungeduld. Ich ahnte es ja, daß
sie bald kommen würde. Als sie kam, knüpfte ich ein liebenswürdiges
Gespräch mit ihr an, natürlich ungemein höflich. Bin doch gut erzogen,
habe gute Manieren ... Hm! – Da erriet ich denn, daß sie gut und
sanftmütig war. Gute und sanftmütige Menschen widersetzen sich nicht
lange, und wenn sie auch nicht gleich sehr mitteilsam sind, so verstehen
sie es doch nicht, dem Gespräch auszuweichen: sie antworten kurz, aber
sie antworten und je weiter, desto mehr, man muß nur selbst nicht müde
werden, wenn einem etwas an dem Gespräch gelegen ist. Natürlich hat sie
mir damals nichts gesagt. Auch das von den Annoncen in der „Stimme“ und
alles übrige erfuhr ich erst später. Sie annoncierte damals noch für
ihre letzten Kopeken, zuerst selbstverständlich ganz stolz: „Gouvernante
sucht Stelle – auch auf dem Lande – Bedingungen in geschlossenem Brief
erbeten –“ etc., etc., dann aber: „– zu allem bereit – zu unterrichten –
als Gesellschaftsdame – nach dem Haushalt zu sehn – oder Kranke zu
pflegen – verstehe auch zu nähen ...“ und wie man das so gewöhnlich
annonciert, wir kennen’s ja! Alles das wurde natürlich immer in
verschiedener Form publiziert, zum Schluß aber, als die Verzweiflung
kam, da sogar: „ohne Gehalt, für Beköstigung“. Nein, sie fand keine
Stelle! Da beschloß ich, sie noch einmal zu prüfen: plötzlich nehme ich
die letzte Nummer der „Stimme“ und zeige ihr eine Annonce: „Eine junge
Person, Ganzwaise, sucht Gouvernantenstelle bei kleinen Kindern,
vorzugsweise bei älterem Witwer. Kann im Haushalt helfen“.

„Sehen Sie,“ sagte ich, „die hat heute morgen annonciert und zum Abend
wird sie sicher eine Stelle gefunden haben. Sehen Sie, so muß man
annoncieren!“

Wieder wurde sie feuerrot und wieder blitzten ihre Augen auf; sie kehrte
sich sofort um und ging. Das gefiel mir sehr. Übrigens war ich damals
schon sicher und fürchtete nichts mehr: Zigarrenspitzen wird niemand
annehmen. Sie aber besaß selbst die nicht mehr. So war es denn auch: am
dritten Tage kam sie wieder, ganz bleich und aufgeregt, – ich begriff
sofort, daß es bei ihr zu Hause zu irgend etwas Schlimmem gekommen sein
mußte, und so verhielt es sich auch in der Tat. Ich werde später
erzählen, wozu es gekommen war, jetzt aber will ich mich erst erinnern,
wie ich ihr damals mit einem Mal imponierte, in ihren Augen wuchs; und
zwar hatte ich mir das ganz plötzlich so vorgenommen ... Richtig, so
war’s: sie brachte dieses Heiligenbild – hatte sich entschlossen, es zu
bringen ... – Ja, richtig! jetzt, jetzt fällt mir alles ein, warten Sie,
warten Sie, vorhin war ich ja noch ganz verwirrt ... Jetzt aber will ich
mich all dessen entsinnen, jeder kleinen Einzelheit, jedes
Strichelchens. Ich will die ganze Zeit meine Gedanken auf einen einzigen
Punkt konzentrieren. Doch noch immer gelingt es mir nicht; und werde ich
es überhaupt können? Doch diese Strichelchen, Strichelchen ...

Das Bild der Muttergottes. Die Jungfrau mit dem Kinde, ein
Familienheiligenbild, ein altes, die Verzierung aus vergoldetem Silber;
wert – nun, sechs Rubel wert. Ich sehe, lieb hat sie das Heiligenbild,
versetzt es ganz, – ohne die silberne Bekleidung abzunehmen. Ich sage
ihr: besser, man nimmt das Silber ab, dann können Sie das Bild wieder
mitnehmen; denn sonst ein Heiligenbild zu versetzen, das ist doch
immerhin ...

„Dürfen Sie es nicht nehmen? Ist es Ihnen denn verboten?“

„Nein, nicht daß es verboten wäre, ich meinte nur, daß es vielleicht
Ihnen selbst ...“

„Nun gut, nehmen Sie es ab.“

„Wissen Sie was, ich werde es lieber nicht abnehmen; ich werde es dort
in meinen Heiligenschrank stellen,“ sagte ich, nachdem ich etwas
nachgedacht hatte, „zu den anderen Heiligenbildern, unter das Lämpchen“
(seitdem ich mein Pfandgeschäft eröffnet hatte, brannte das Lämpchen bei
mir Tag und Nacht) „und nehmen Sie einfach zehn Rubel.“

„Zehn brauche ich nicht, geben Sie mir fünf, ich werde es unbedingt
auslösen.“

„Sie wollen nicht zehn? So viel ist es wert,“ fügte ich noch hinzu, da
ich bemerkte, daß ihre Augen wieder dunkler wurden.

Sie schwieg darauf. Ich brachte ihr fünf Rubel.

„Verachten Sie niemanden ... ich bin selbst in Verlegenheit gewesen, ja,
in noch schlimmerer, und wenn Sie mich jetzt bei dieser Beschäftigung
sehen, ... so ist das doch, nach allem, was ich ertragen habe ...“

„Sie wollen sich an der Gesellschaft rächen? Ja?“ unterbrach sie mich
plötzlich mit ziemlich bitterem Spott, in dem aber viel Unbeabsichtigtes
lag (das heißt, Unpersönliches, denn damals unterschied sie mich
bestimmt noch nicht von den anderen, so daß sie es fast unverletzend
sagte.)

„Aha!“ dachte ich, „also so bist Du! Der Charakter tut sich kund, hm,
gehört zur neuen Richtung.“

„Sehen Sie,“ bemerkte ich sofort halb scherzend, halb geheimnisvoll:
„Ich – ‚ich bin ein Teil jenes Teiles des Ganzen, der stets das Böse
will, doch stets das Gute schafft‘ ...“

Sie blickte schnell und mit großem Interesse zu mir auf – viel
kindliches lag darin.

„Warten Sie ... Was ist das für ein Gedanke? Woher ist dieser Ausspruch?
Ich habe ihn irgendwo gehört ...“

„Oh, zerbrechen Sie sich nicht den Kopf darüber; mit diesen Worten
empfiehlt sich Mephistopheles dem Faust. Haben Sie den Faust gelesen?“

„N – nicht aufmerksam ...“

„Das heißt wohl so viel, daß Sie ihn überhaupt nicht gelesen haben. Das
müssen Sie aber tun. Doch übrigens bemerke ich, daß Sie wieder spöttisch
zu lächeln belieben. Bitte glauben Sie nicht, ich wäre so geschmacklos,
meine Rolle als Pfandleiher durch die Rekommandation Mephistos
verschönen zu wollen. Ein Pfandleiher bleibt Pfandleiher – wissen wir.“

„Wie, wie sonderbar Sie sind! ... Ich habe Ihnen durchaus nicht so etwas
sagen wollen ...“

Sie hatte sagen wollen: „Ich hätte nicht gedacht, daß Sie ein gebildeter
Mensch sind,“ aber sie sagte es nicht; dafür jedoch wußte ich, daß sie
es gedacht hatte; jedenfalls gefiel ihr meine Bemerkung sehr.

„Sehen Sie,“ sagte ich, „auf jedem Gebiet kann man Gutes tun. Ich rede
natürlich nicht von mir: ich tue, sagen wir, außer Bösem überhaupt
nichts, doch ...“

„Natürlich, selbstverständlich kann man überall Gutes tun,“ unterbrach
sie mich eilig, und sah mich dabei so aufrichtig an. „Gerade auf jedem
Gebiet,“ fügte sie plötzlich noch hinzu.

Oh, ich weiß noch, ich erinnere mich noch deutlich dieser Augenblicke!
Wenn diese Jugend, diese liebe Jugend irgend etwas so Kluges und
Durchdachtes sagen will, dann kann man es auf ihrem naiven, aufrichtigen
Gesicht förmlich lesen, was sie dabei denkt –: „siehst Du, jetzt sage
ich Dir etwas Kluges, Durchdachtes!“ – Und nicht, daß sie es etwa aus
Ruhmsucht täte, wie zum Beispiel unsereiner! Man sieht es ja, daß diese
Jugend es selbst furchtbar hochschätzt, und daran glaubt, und es achtet,
und daß sie denkt, man achte es gleichfalls ganz so, wie sie. Oh
Aufrichtigkeit! Das ist’s ja, womit diese Jugend besiegt! Und wie war
das doch so schön an der Kleinen!

... Ich weiß noch, hab nichts vergessen! Als sie hinausgegangen war,
faßte ich mit einem Mal meinen Entschluß. Am selben Tage noch ging ich
aus, um das Letzte über sie, ihre Umgebung und ihre Verhältnisse zu
erfahren; das Meiste wußte ich bereits durch Lukerja, ihre Küchenmagd,
die ich schon vor ein paar Tagen bestochen hatte. Was ich erfuhr, war so
schrecklich, daß ich nicht begriff, wie man noch, wie sie vorhin, lachen
und sich für Mephistos Worte interessieren konnte, – wenn man selbst
unter solch einem Entsetzen lebte! Aber – das ist eben die Jugend!
Gerade dieses dachte ich damals stolz und freudig über sie, denn hierbei
war doch auch Hochherzigkeit: selbst steht sie am Rande des Verderbens,
doch nichtsdestoweniger werden die großen Worte Goethes verehrt. Die
Jugend ist immer hochherzig, – wenn auch nur ein kleines wenig, und wenn
auch in falscher Richtung. Das heißt, ich spreche ja nur von ihr, von
ihr allein. Und vor allen Dingen, damals betrachtete ich sie schon als
die _Meine_, und zweifelte nicht mehr an meiner Macht über sie ...
Wissen Sie, wunder-wunderbar ist dieser Gedanke, wenn man schon nicht
mehr zweifelt ...

Doch was ist mit mir! Wenn ich so fortfahre, wann werde ich dann alles
in einen Punkt zusammenfassen? Schneller, – kurz und gut, – ach, es
handelt sich ja nicht darum! – oh Gott!


                         II. Der Heiratsantrag.

Alles, was ich über sie erfuhr, ist kurz folgendes: ihre Eltern waren
schon tot, vor drei Jahren gestorben und sie war bei – hm! – bei
unordentlichen Tanten zurückgeblieben. Es ist eigentlich zu milde, sie
bloß unordentlich zu nennen. Die eine von ihnen war Witwe, die andere
eine scheußliche alte Jungfer. Ihr Vater war ein kleiner Beamter
gewesen. Mit einem Wort: alles war günstig für mich. Ich kam wie aus
einer höheren Welt: immerhin war ich Hauptmann eines glänzenden
Regiments, wenn auch außer Diensten, war Edelmann, unabhängig u. s. w.,
und was meine Pfandkasse anbetrifft, nun, so konnten die Tanten vor ihr
nur Respekt haben. Bei den Tanten war sie drei Jahre lang in der
Sklaverei gewesen; trotzdem aber hatte sie irgendwo das Examen
bestanden, hatte es fertig gebracht, das Examen zu bestehn, sich die
Zeit dazu abgespart von ihrer täglichen unbarmherzigen Arbeit; – das
aber hatte doch etwas zu bedeuten, solch ein Streben nach dem Höheren
und Edleren! Warum wollte ich sie denn heiraten? Ach, übrigens, zum
Teufel mit mir, davon später ... Und handelt es sich denn darum! – Die
Kinder der Tante mußte sie unterrichten, Wäsche nähen und zum Schluß
sogar (sie mit ihrer schmalen Brust!) die Dielen scheuern!! Und zum Lohn
dafür haben sie ihr noch ihr tägliches Stück Brot vorgehalten und zu
guter Letzt ihr sogar Schläge verabreicht. Es endete damit, daß sie sie
einfach zu verkaufen beschlossen. Pfui Teufel! Den Schmutz der
Einzelheiten übergehe ich lieber ... Später hat sie mir alles
ausführlich erzählt.

Alles dieses beobachtete ein ganzes Jahr lang ihr Nachbar, ein dicker
Kaufmann, und zwar kein gewöhnlicher, sondern einer, der zwei
Kolonialwarenhandlungen besaß. Er hatte schon zwei Frauen unter die Erde
gebracht und suchte nun die dritte: und da war denn seine Wahl auf sie
gefallen. Hm –: „Sie ist still und sanft, in Armut aufgewachsen, ich
aber heirate nur, um meinen verwaisten Kindern eine Mutter zu geben“ –
und ähnliche schöne Worte – kennt man ... Er hatte tatsächlich Kinder
von den beiden ersten, zu Tode gequälten Frauen. Da bewarb er sich denn
um sie, hatte schon mit den Tanten gesprochen. Er war dabei fünfzig
Jahre alt. Sie in Angst, entsetzt! Und eben in dieser Zeit war es denn,
daß sie so oft zu mir kam, um in der „Stimme“ annoncieren zu können.
Endlich bat sie die Tanten, man möge ihr doch noch ein wenig, ein
kleines wenig Zeit zum Nachdenken geben. Nun, die gab man ihr denn
schließlich, aber nur ein wenig, ließ ihr keine Ruh –: „Wissen auch ohne
Deinen überflüssigen Mund nicht, was wir selber beißen sollen.“ Das
alles wußte ich bereits, und so entschloß ich mich denn, wie gesagt, zu
handeln. Das war an jenem Tage nach dem Gespräch am Vormittag. An jenem
Abend war gerade der Kaufmann gekommen und hatte aus seinem Geschäft ein
Pfund Konfekt – zu 50 Kopeken – mitgebracht. Sie saß mit ihm im
Gastzimmer, ich aber rief Lukerja aus der Küche und sagte ihr, sie solle
zu _ihr_ gehn und ihr heimlich zuflüstern, daß ich an der Hoftür sei und
ihr etwas sehr Wichtiges zu sagen wünschte. Ich war zufrieden mit mir.
Überhaupt war ich an jenem ganzen Tage ungemein zufrieden.

Und dort an der Hoftür erklärte ich ihr – die allein schon deswegen
verwundert war, daß ich, ein ihr ganz fremder Mensch, sie plötzlich
hatte rufen lassen – in Lukerjas Gegenwart, daß ich mich glücklich
schätzen würde und es mir als Ehre anrechnete, sie zu heiraten ...
Zweitens: sie solle sich nicht über mein Auftreten wundern, und daß ich
an der Hoftür, u. s. w. Hm, –: „bin ein aufrichtiger Mensch, trage den
Umständen Rechnung ...“ Und ich log nicht, als ich sagte, daß ich
aufrichtig bin. Nun, – zum Teufel damit! Sprach ich doch nicht nur wie
es sich gehört, wie ein wohlerzogener Mensch, sondern auch „originell“;
das aber ist ja die Hauptsache. Wie? – ist’s denn etwa Sünde, das zu
bekennen? Ich will mein eigener Richter sein; ich muß also ^pro^ und
^contra^ reden, und so tu ich’s denn. Auch später habe ich mich dessen
immer mit Genugtuung erinnert, wenn’s auch dumm ist. Ich erklärte ihr
damals unumwunden, ohne jede Verwirrung, daß ich, erstens, nicht
besonders talentiert, nicht besonders klug, vielleicht sogar nicht mal
besonders gut, ein ziemlich billiger Egoist sei (hab noch den Ausdruck
behalten, hatte ihn mir auf dem Wege dahin ausgedacht und war mit ihm
zufrieden), und es sehr, sehr leicht möglich sein könne, daß ich auch in
anderen Beziehungen sehr viel Unangenehmes habe. Das war alles mit einer
bestimmten Art von Stolz gesagt, – wir wissen ja, wie so etwas gesagt
wird. Selbstverständlich war ich nicht so geschmacklos, daß ich, nachdem
ich edelmütig meine Fehler aufgezählt hatte, nun auch anfing, meine
guten Seiten hervorzuheben, wie etwa: „dafür aber bin ich so und so und
so.“ Ich bemerkte sehr wohl, daß sie noch furchtbar bange war, ließ mich
aber doch nicht rühren; ja, umgekehrt, ich verschlimmerte noch
absichtlich: sagte ihr gerade heraus, daß sie immer satt zu essen haben
würde, aber Theater, Bälle, Toiletten – „davon gibt’s nichts, –
vielleicht später einmal, wenn ich mein Ziel erreicht habe.“ Dieser
strenge Ton bezauberte mich. Ich fügte noch hinzu, gleichfalls so
nebensächlich als möglich, daß ich, wenn ich auch solch eine
Beschäftigung gewählt hätte, es eben nur mit einem besonderen Ziel
getan, hm, – so aus einem ganz besonderen Grunde ... Glauben Sie mir,
ich habe doch selbst mein Leben lang diese Pfandkasse gehaßt, aber in
Wirklichkeit, – wenn’s auch lächerlich ist, sich selbst geheimnisvolle
Phrasen zu sagen, aber – „ich wollte mich doch an der Gesellschaft
rächen!“ Ja ja, – wirklich, wirklich, wirklich! So daß ihre spitze
Bemerkung am Vormittag darüber, daß ich mich „rächte“, doch nicht so
falsch gewesen war. Das heißt, sehen Sie mal: würde ich ihr einfach
gesagt haben: „Ja, ich räche mich an der Gesellschaft,“ so hätte sie
mich ausgelacht, so wie vorhin am Morgen, und es wäre auch wirklich
lächerlich gewesen. Nun aber, mit einer indirekten Anspielung, so mit
einer geheimnisvollen Phrase, – damit konnte man, wie es sich erwies,
leicht die Einbildungskraft bestechen. Zudem fürchtete ich damals ja
schon nichts mehr: ich wußte doch, daß ihr der dicke Kaufmann jedenfalls
widriger war, als ich, und daß ich, als ich an der Hoftür stand, wie ein
Befreier erschien. Das begriff ich doch. Oh, die Gemeinheit begreift der
Mensch vorzüglich! Aber – war’s denn wirklich Gemeinheit? Wie soll man
nun den Menschen richten? Liebte ich sie denn etwa nicht schon damals?

... Warten Sie: von Wohltat sagte ich ihr damals natürlich kein Wort; im
Gegenteil, oh, ganz im Gegenteil: „_ich_ bin’s, dem Wohltat erwiesen
wird, aber nicht Sie.“ So daß ich es sogar in Worten aussprach, konnte
mich nicht bezwingen und es kam vielleicht dumm heraus, denn ich
bemerkte ein flüchtiges Lächeln auf ihren Lippen. Doch so im Ganzen
gewann ich zweifellos. Warten Sie ... wenn man sich schon einmal diese
ganze Schändlichkeit ins Gedächtnis zurückruft, so will ich mich auch
noch der letzten Schändlichkeit erinnern: ... als ich so vor ihr stand
... schlich sich plötzlich ganz leise durch meine Gedanken: „Du bist
wohlgestaltet, schlank, gut erzogen und schließlich, ganz ohne Prahlerei
gesagt, bist nicht häßlich.“ Das war’s, das war’s, was in jenem
Augenblick in meinem Hirn spielte! Selbstverständlich sagte sie mir noch
dort unten an der Hoftür „_ja_“. Aber ... aber ich muß hinzufügen: dort
an der Hoftür dachte sie noch lange nach, bevor sie „ja“ sagte. So tief,
so tief dachte sie nach, daß ich schon beinahe fragen wollte: „nun,
wie?“ – ja, ich tat’s ja auch, konnt’s nicht zurückbehalten. „Nun, wie
denn?“ fragte ich, ja ja, gerade mit „denn“, ich weiß es noch ganz
genau!

... Warten Sie, ich werde nachdenken ...

... Und solch ein ernstes Gesichtchen machte sie, solch ein ... – daß
ich schon damals hätte begreifen können! Ich aber fühlte mich gekränkt.
„Sollte sie wirklich,“ dachte ich, „noch zwischen mir und dem Krämer
wählen?“ Oh, damals begriff ich noch nichts! Nichts, nichts begriff ich
damals! Bis auf den heutigen Tag habe ich nichts begriffen! Ich weiß
noch: Lukerja kam mir nachgelaufen, hielt mich mitten auf der Straße auf
und sagte atemlos: „Gott wird’s Ihnen lohnen, Herr, daß Sie unser liebes
Fräuleinchen nehmen! Nur sagen Sie ihr das ja nicht, sie ist so stolz
...“

Nun, – stolz! Liebe selbst, dachte ich, die Kleinen, Stolzen. Die
Stolzen sind ganz besonders schön, wenn ... nun, wenn man an seiner
Macht über sie nicht mehr zweifelt, – wie? Oh niedriger, ungeschickter
Mensch! Wie war ich zufrieden! Wissen Sie, als sie damals an der Hoftür
stand und nachdachte, ob sie „ja“ sagen sollte oder nicht, und ich mich
über dieses Bedenken wunderte, – wissen Sie auch, daß sie damals sogar
solch einen Gedanken hätte haben können, wie: „Wenn schon einmal
Unglück, hier wie dort, sollte es da nicht besser sein, das größere
Unglück zu wählen, also den dicken Kaufmann? Mag der mich schneller in
der Trunkenheit totprügeln!“ – Wie? Was meinen Sie, hätte sie solch
einen Gedanken haben können?

Doch auch jetzt verstehe ich nicht ... selbst jetzt verstehe ich nichts!
Soeben habe ich gesagt, daß sie diesen Gedanken hätte haben können: das
größere Unglück zu wählen, das wäre – etwa der dicke Kaufmann –? Wer
aber war ihr damals widerlicher: – ich oder der Kaufmann? Der Kaufmann
oder der Goethe zitierende Pfandleiher? Das ist noch eine Frage! ... Was
für eine Frage? Und das verstehst Du nicht? – Die Antwort ist doch
sonnenklar, Du aber sagst, es sei noch eine Frage! Ach, zum Teufel mit
mir! Nicht um mich handelt es sich jetzt ... Doch, bei der Gelegenheit:
was ist denn jetzt für mich wichtig: – handelt es sich nun um mich oder
nicht? Ach, diese Frage, die kann ich überhaupt nicht beantworten ...
Besser, ich lege mich schlafen. Mein Kopf tut mir weh.


       III. Bin der edelste Mensch, glaub’s jedoch selbst nicht.

Kann nicht schlafen. Wie soll ich denn: die ganze Zeit über tuckt mir
irgend ein Puls im Kopf. Ich will alles erfassen, die ganze
Schändlichkeit. Oh, aus welch einem Schmutz ich sie damals herauszog!
Das mußte sie doch begreifen und meine ganze Handlung schätzen! ... Auch
gefielen mir verschiedene Gedanken, wie zum Beispiel, daß ich
einundvierzig war, sie aber erst sechzehn. Es bezauberte mich geradezu,
dieses Gefühl der Ungleichheit ... süß ist’s, so süß ist es ...

Ich wollte, zum Beispiel, daß die Trauung ^à l’anglaise^ sei, mit
höchstens zwei Zeugen, Lukerja und noch irgend jemand, und dann direkt
in den Waggon und so auf zwei Wochen nach Moskau in ein Hôtel (ich hatte
dort gerade Geschäftliches zu erledigen). Sie aber widersetzte sich dem
und ich war gezwungen, zu den Tanten zu fahren, um ihnen, als
Anverwandten, von denen ich sie erhielt, meine Aufwartung zu machen.
Schön, ich gab nach und den Tanten wurde die nötige Ehrerbietung
erwiesen, so wie sich’s gehört. Ich gab diesen Kreaturen sogar
zweihundert Rubel, jeder von ihnen hundert, und versprach noch mehr zu
geben; versteht sich, ohne ihr etwas davon zu sagen, um sie nicht durch
die Niedrigkeit ihrer Umgebung zu kränken. Die Tanten wurden natürlich
sofort zuckersüß. Auch gab es Streit wegen der Aussteuer: sie hatte
nichts, fast buchstäblich nichts, aber sie wollte auch nichts.
Einstweilen jedoch gelang es mir, ihr klar zu machen, daß es ganz ohne
Sachen nicht ginge, und so kaufte ich also die Aussteuer, denn wer hätte
es sonst für sie tun sollen? Nun, ach zum Teufel mit mir ... Immerhin
fand ich noch Zeit, ihr einige meiner Gedanken auseinanderzusetzen,
damit sie sie wenigstens kennen lernte. Ich beeilte mich sogar mit dem
Auseinandersetzen. Das Wichtigste aber war, daß sie mir schon gleich zu
Anfang, wie sehr sie sich auch zu bezwingen suchte, ihre ganze Liebe
entgegenbrachte. Wenn ich des Abends angefahren kam, empfing sie mich
immer ganz begeistert, erzählte mir dann in ihrer kindlich-stammelnden
Weise – wie reizend war das an ihr! – ihre ganze erste Jugend, erzählte
von ihrem Elternhause, vom Vater und von der Mutter. Ich aber begoß
diese ganze Verzückung sofort mit kaltem Wasser. Gerade darin lag ja
mein ganzer Plan. Auf diese Ekstasen antwortete ich mit Schweigen, mit
wohlwollendem, natürlich, ... aber sie begriff doch bald, daß wir
verschiedene Menschen waren und ich – ein Rätsel. Das aber wollte ich
doch gerade, das bezweckte ich ja nur – ein Rätsel scheinen! Um ihr
dieses Rätsel zu raten zu geben, – hatte ich ja vielleicht die ganze
Dummheit ausgedacht! Erstens: Strenge, – damit führte ich sie auch in
mein Haus. Kurz, damals dachte ich mir ein ganzes System aus. Oh, das
ergab sich eigentlich ohne jede Anstrengung ganz von selbst. Und es war
doch anders gar nicht möglich, ich mußte doch dieses System schaffen, –
gezwungen durch eine unabweisbare Tatsache ... Ich weiß wirklich nicht,
warum ich mich da immer noch selbst beschuldige! Ein wirklich erlebtes
System war’s. Nein, hören Sie mal, wenn man schon einmal einen Menschen
beurteilt, so muß man es nur mit Kenntnis aller Umstände tun ... Hören
Sie:

... Wie soll man da eigentlich beginnen? ... Das ist nicht so leicht zu
erzählen. Sobald man anfängt sich zu rechtfertigen – wird es sofort
schwer. Sehen Sie: Die Jugend verachtet z. B. – das Geld. Ich aber legte
sofort Gewicht auf das Geld, betonte es fortwährend, so daß sie immer
mehr und mehr verstummte. Sie machte große, verwunderte Augen, hörte,
sah und – verstummte ... Sehen Sie mal: Die Jugend ist hochherzig, d. h.
gute Jugend, hochherzig, aber heftig: hat wenig Duldsamkeit. Ist etwas
auch nur ein wenig anders, so wird es sofort verachtet. Ich aber wollte
ihr das „Alles-verstehen“ direkt ins Herz einimpfen, direkt in die
Auffassung ihres Herzens, – nicht wahr? Nehmen wir nun ein triviales
Beispiel: wie hätte ich diesem Charakter, sagen wir, meinen freiwillig
erwählten Beruf erklären sollen? Ich fing natürlich nicht direkt an,
davon zu sprechen; sonst hätte es ja geschienen, daß ich seinetwegen um
Verzeihung bäte, ich aber handelte stolz, sprach durch Schweigen. Oh,
darin bin ich Meister! Habe mein ganzes Leben lang schweigend
gesprochen, habe mit mir selbst ganze Tragödien schweigend durchlebt.
Oh, auch _ich_ war doch unglücklich! Ich war von allen verstoßen,
verstoßen und vergessen, und keiner, kein einziger wußte das! Und
plötzlich schnappte diese Sechzehnjährige von gemeinen Menschen
Klatschgeschichten über mein Leben auf und glaubte, daß sie bereits
alles wisse, während doch das Kostbare, der Schatz, einzig in der Brust
dieses Menschen selbst verschlossen blieb! Ich schwieg die ganze Zeit
über und besonders, besonders wenn ich mit ihr zusammen war, schwieg ich
– bis auf den gestrigen Tag! – Warum ich schwieg? Weil ich eben ein
stolzer Mensch war. Ich wollte, daß sie das selbst begriff, ohne mein
Dazutun, aber nicht aus den Erzählungen gemeiner Klatschbasen, sondern
daß sie diesen Menschen _selbst erriet_ und ihn begriff! Als ich sie in
mein Haus nahm, verlangte ich von ihr volle Achtung meiner Person
gegenüber. Ich wollte, daß sie mich für meine Leiden anbetete – und ich
war’s wert. Oh, ich bin immer stolz gewesen, ich habe immer entweder
alles – oder nichts gewollt! Und gerade, weil ich kein armseliges
Stückchen Glück, sondern ein ganzes, großes haben wollte – gerade
deswegen war ich gezwungen, so zu handeln. – „Errate selbst und werte
dann!“ Denn, nicht wahr, Sie müssen mir doch zugeben, wenn ich selbst
angefangen hätte, ihr zu erklären und vorzusagen, Finten zu machen und
Achtung zu erflehen, – dann wär’s doch gleichbedeutend gewesen, mit –
Almosen erbetteln ... Übrigens ... übrigens – wozu rede ich davon!

Dumm, dumm, dumm und nochmals dumm! Ich erklärte ihr damals in zwei
Worten, ohne Umschweife, unbarmherzig (ich betone es, daß es
unbarmherzig war), daß die Hochherzigkeit der Jugend an sich ja
wunderschön, aber – keine Kopeke wert sei. Warum nicht? – Weil sie ihr
billig zufällt, weil sie ihr zu Teil wird, noch bevor sie gelebt hat;
alles das sind, wie man zu sagen pflegt, „die ersten Eindrücke des
Seins“. Wollen wir aber mal erst abwarten, wie Ihr Euch in der Not
bewährt! Billige Hochherzigkeit ist immer leicht, billige Großmut immer
flach; sogar das Leben fortzugeben – auch das ist dann billig, denn da
kocht nur das junge Blut und schäumen die Kräfte des Überflusses.
Schönheit, Schönheit verlangt man leidenschaftlich! Nein, nehmt eine
andere Heldentat der Hochherzigkeit, die schwere, stille, unhörbare,
ohne Glanz, die, die viele, viele Opfer verlangt und keinen Tropfen Ruhm
einbringt, – wohl aber bittere Verleumdung; – wo der wertvollste Mensch
von der ganzen Welt als Schurke hingestellt wird, während er doch
ehrlicher ist, als alle Ehrenmänner der Welt zusammengenommen. – Nun,
versucht mal solch eine Heldentat zu vollbringen! – Nein, dafür werdet
Ihr danken! ... Ich aber, – ich aber habe mein ganzes Leben lang nichts
anderes getan, wie diese Heldentat – getragen.

Zuerst widersprach sie; ach Gott, wie sie mit mir stritt! Dann aber
verstummte sie allmählich, zuletzt sogar ganz. Nur die Augen öffnete sie
furchtsam weit, wenn sie mir zuhörte: so groß, groß waren diese Augen,
so aufmerksam. Und ... und plötzlich bemerkte ich ein Lächeln, ein
mißtrauisches, schweigsames, kein gutes ... Und mit diesem, mit diesem
selben Lächeln war’s, daß ich sie in mein Haus führte. Allerdings, sie
hatte sonst niemanden, zu dem sie hätte gehen können ...


                      IV. Lauter Pläne und Pläne.

Wer von uns fing damals zuerst an?

Keiner. Es fing von selbst an, vom ersten Schritt. Ich habe gesagt, daß
ich sie unter Strenge ins Haus führte, einstweilen aber milderte ich die
doch schon am ersten Tage. Noch vor der Trauung hatte ich ihr gesagt,
daß sie die Pfänder in Empfang nehmen und das Geld herausgeben würde –
und sie hatte damals nicht widersprochen (bitte das nicht zu vergessen).
Ja, sie machte sich sogar mit Eifer an die Sache. Nun, versteht sich,
die Wohnung, die Einrichtung, – alles blieb so, wie es war. Zwei Zimmer,
– das eine, ein großes – das Wohnzimmer, in dem für die Kasse eine
Hälfte abgeteilt ist, das andere, gleichfalls groß, unser Schlafzimmer.
Meine Möbel sind ärmlich, sogar die Tanten hatten bessere. Mein
Heiligenschrank mit dem Lämpchen hängt im ersten Zimmer, dort wo die
Kasse ist; bei mir aber, in meinem Zimmer, steht mein Schrank, in dem
auch einige Bücher liegen, und mein Koffer; die Schlüssel trage ich bei
mir. Nun und dann natürlich noch das Bett, Tische, Stühle. Bereits vor
der Trauung hatte ich ihr gesagt, daß zu unserem Unterhalt, d. h. zur
Beköstigung für mich, für sie und Lukerja, die ich zu uns genommen
hatte, täglich ein Rubel und nicht mehr verausgabt werden würde –: „Muß
in drei Jahren dreißig Tausend haben, anders aber kommt man nicht zu
Geld.“ Sie widersprach nicht, aber ich legte selbst noch dreißig Kopeken
hinzu. Desgleichen Theater. Ich hatte ihr gesagt, daß wir nicht ins
Theater gehen würden, beschloß aber dann doch einmal im Monat mit ihr
ins Theater zu gehn, und anständig – Parkett. Wir gingen zusammen, waren
zweimal, sahen, glaub ich, „Die Jagd nach dem Glück“ und „Singvögel“ –
oh, zum Teufel, zum Teufel damit! – Schweigend gingen wir hin und
schweigend kamen wir nach Haus. Warum, warum wir uns von Anfang an
vorgenommen hatten zu schweigen? Zuerst gab es doch noch keine
Streitigkeiten zwischen uns – nur Schweigen. Ich weiß noch, damals sah
sie mich immer heimlich an; ich aber, als ich das bemerkte, da schwieg
ich erst recht. ’S ist allerdings wahr: _ich_ war es, der auf dem
Schweigen beharrte, nicht sie. Ihrerseits gab’s sogar ein- oder zweimal
leidenschaftliche Ausbrüche: stürzte zu mir, umarmte mich. Da aber diese
Ausbrüche krankhaft waren, hysterisch, ich jedoch ein _starkes_ Glück
brauchte, und als erstes ihre volle Achtung, so blieb ich natürlich
kühl. War auch im Recht: jedesmal nach diesen Ausbrüchen gab’s am
nächsten Tage Streit.

Das heißt, Streit gabs eigentlich nicht, aber es gab Schweigen und – und
immer dreisteres, frecheres Aussehen ihrerseits. „Rebellion und
Unabhängigkeit“ – das war’s, nur verstand sie’s nicht. Ja, dieses sanfte
Gesicht nahm einen immer vermesseneren Ausdruck an. Glauben Sie es mir,
ich wurde ihr einfach zuwider; – ich kenne das, hab’s doch selbst
erlebt. Jedenfalls: daß sie zuweilen außer sich geriet, – daran war
nicht zu zweifeln. Nun wie, zum Beispiel, nachdem man aus solchem
Schmutz, aus solcher Armut herausgekommen ist, wie kann man denn da
plötzlich über unsere Armut die Nase rümpfen! Sehen Sie mal: es war
keine Armut, aber es war Ökonomie und dort, wo es sich gehörte, sogar
Luxus, – in der Wäsche, zum Beispiel, in der Sauberkeit. Ich habe immer
gedacht, daß die Sauberkeit der Männer den Frauen angenehm sein muß.
Übrigens tat sie’s nicht über die Armut, sondern über meinen, wie sie
glaubte, schmutzigen Geiz –: „Behauptet, er verfolge ein Ziel, will
Charakter beweisen!“ Für das Theater dankte sie plötzlich selbst. Und
immer spöttischer, immer spöttischer wurde der Zug um ihren Mund ... ich
aber verstärkte das Schweigen, ich aber verstärkte das Schweigen.

Konnte doch nicht anfangen, mich zu rechtfertigen!? Die Hauptrolle
spielte dabei natürlich die Leihkasse. Sehen Sie: ich wußte, daß eine
Frau, und noch dazu eine sechzehnjährige, nicht umhin kann, sich dem
Manne ganz und gar unterzuordnen. Es ist keine Originalität in den
Frauen, das – das ist ein Axiom, sogar jetzt noch, sogar jetzt noch ein
Axiom für mich! Was ist’s denn, was dort im Saal auf dem Tische liegt:
Wahrheit bleibt Wahrheit, an der kann selbst Mill nichts ändern! Aber
die liebende Frau, – oh, die liebende Frau, – die vergöttert selbst die
Laster, selbst die Verbrechen des Geliebten. Er wird für seine
Verbrechen niemals solche Rechtfertigungen finden können, wie sie sie
ihm ausdenken wird. Das ist großmütig, aber nicht originell. Einzig die
Unoriginalität hat die Frauen ins Verderben gebracht. Und warum nun,
wiederhole ich, zeigen Sie denn dort hin auf den Tisch? Ja, ist denn das
etwa Originalität, was dort auf dem Tisch liegt? O – oh!

Hören Sie: von ihrer Liebe war ich damals überzeugt. Warf sie sich doch
stürmisch an meinen Hals. Also liebte sie doch, richtiger – wollte sie
doch lieben. Ja ja, so war es auch: sie wollte lieben, sie versuchte zu
lieben. Aber die Hauptsache lag eben darin, daß ich ja gar nicht solche
Verbrechen begangen hatte, für die sie sich hätte Entschuldigungen
ausdenken müssen. Sie sagen: „ein Pfandleiher“! – ja, und alle sagen es.
Aber was will denn das sagen, – „Pfandleiher“? Also muß es doch Gründe
gegeben haben, daß der großmütigste Mensch zum – Pfandleiher geworden
ist? Sehen Sie: es gibt Ideen ... das heißt, sehen Sie mal, es gibt
manche Ideen, die, wenn man sie ausdrücken, in Worten aussprechen will,
furchtbar dumm erscheinen. Wirklich – so dumm, daß man sich schämt. Und
woher kommt das? – Einfach so. Weil wir alle Lumpen sind und die
Wahrheit nicht ertragen können, oder ... ich weiß wirklich nicht ... Ich
sagte vorhin: „der großmütigste Mensch“. Das ist lächerlich.
Währenddessen aber war es doch wirklich so. Das ist doch _Wahrheit_, was
ich sage, die allerallerwahrhaftigste Wahrheit! Ja; ich _hatte damals
das Recht_, mich pekuniär sicher stellen zu wollen und dieses
Pfandgeschäft zu eröffnen. „Ihr habt mich verstoßen, Ihr (Ihr Menschen
natürlich), Ihr habt mich mit verachtendem Schweigen fortgejagt! Auf
meinen leidenschaftlichen Drang zu Euch habt Ihr mir mit einer
Beleidigung für mein ganzes Leben geantwortet. Somit war ich denn im
_Recht_, als ich mich von Euch trennte, zwischen Euch und mir eine Mauer
zog; bin im _Recht_, wenn ich diese dreißig Tausend Rubel ersparen und
irgendwo in der Krim, am Schwarzen Meere zwischen Bergen und Weingärten
auf meinem für diese dreißig Tausend gekauften Gute mein Leben
beschließen will. Und vor allen Dingen: ich will ohne Groll auf Euch,
aber nur fern von Euch leben, leben mit dem Ideal in der Seele, zusammen
mit meiner herzliebsten Frau und mit meinen Kindern, wenn Gott sie uns
schenken sollte. Und den Freunden und Nachbarn in der Not würde ich eine
helfende Hand sein.“ Gut, wenn ich das jetzt allein zu mir sage, was
aber hätte es Dümmeres geben können, als wenn ich damals ihr das
vorerzählt und ausgemalt hätte? Das war’s ja, warum ich stolz schwieg,
warum wir uns schweigend gegenübersaßen. Was hätte sie denn davon
begriffen? Sechzehn Jahre – das ist ja doch noch die erste Jugend! Und
was hätte sie denn verstehen können von meinen Rechtfertigungen, von
meinen Leiden? Offenherzigkeit, Unkenntnis des Lebens, jugendliche,
billige Überzeugungen, wahre Hühnerblindheit der „prachtvollen Herzen“,
aber vor allen Dingen – da war ja die Leihkasse und das genügte! – War
ich denn etwa ein Räuber, hatte sie denn nicht selbst gesehn, wie ich
war und daß ich nichts Unrechtmäßiges nahm? Oh, wie furchtbar ist die
Wahrheit auf Erden! Dieses reizende Wesen, diese sanfte Kleine, dieser
Himmel – war mein Tyrann, war der unerträgliche Peiniger meiner Seele!
Würde ich mich doch selbst anschwärzen, wenn ich das nicht sagte! Sie
glauben vielleicht, daß ich sie nicht geliebt habe? Wer kann mir sagen,
ich hätte sie nicht geliebt? Sehen Sie: hieraus wurde boshafte Ironie
des Schicksals und der Natur! Wir sind verflucht, das Leben der Menschen
ist verflucht! – meines noch ganz besonders! – Ich begreife jetzt, daß
ich mich hierbei in irgend etwas versehen hatte! Hierbei kam etwas
_nicht so_ heraus. Alles war doch so klar, so klar wie der Himmel war
mein Plan: „Hart, stolz, braucht niemandes moralischen Trost, leidet
schweigend.“ So war’s ja auch, ich log doch nicht, ich log doch
wahrhaftig nicht! „Sie wird dann selbst die Hochherzigkeit entdecken,
nur versteht sie vorläufig noch nicht, sie zu bemerken; doch wenn sie
das irgend einmal errät, so wird sie es dann zehnfach zu schätzen wissen
und in den Staub vor mir niederknieen, mit betend gefalteten Händen.“ –
Das war der Plan! Aber hier mußte ich etwas vergessen oder aus dem Auge
gelassen haben. Irgend etwas habe ich hier nicht zu machen verstanden.
Doch genug, genug! Und wen soll ich denn jetzt um Verzeihung bitten?
Ist’s aus, dann ist’s aus. Mutiger, Mensch, und sei stolz! Nicht du
trägst die Schuld! ...

Nein, ich sage die Wahrheit, ich fürchte mich nicht, vor das Angesicht
der Wahrheit hinzutreten: _sie_ trägt die Schuld daran, _sie_ trägt die
Schuld! ...


                       V. Die Kleine revoltiert.

Die Uneinigkeit begann damit, daß es ihr plötzlich einfiel, das Geld wie
es ihr gut dünkte auszugeben, die Pfänder über ihren Wert einzuschätzen,
und zweimal geruhte sie sogar, über dieses Thema mit mir zu streiten.
Ich erklärte mich damit nicht einverstanden. Und da kreuzte denn noch
diese Offizierswitwe unseren Weg.

Es kam eine alte Frau, die Witwe eines Hauptmanns, mit einem Medaillon,
– Geschenk des verstorbenen Gatten, nun, man weiß ja: eine Erinnerung.
Ich gab ihr dreißig Rubel. Da hob denn das Weinen an –: man solle das
Ding nur ja gut aufbewahren. – Selbstverständlich bewahren wir es gut
auf. Nun, kurz und gut, plötzlich, nach fünf Tagen kommt sie wieder, um
das Ding gegen ein Armband, das nicht mal acht Rubel wert war,
einzulösen. Ich schlug ihr’s natürlich ab. Wahrscheinlich hat sie wohl
damals schon etwas aus den Augen meiner Frau erraten, denn als sie das
zweite Mal in meiner Abwesenheit kam, tauschte die es tatsächlich gegen
ihr Medaillon ein.

Als ich das noch am selben Tage erfahren hatte, sprach ich sanft, doch
bestimmt und vernünftig mit ihr. Sie saß auf dem Bett, sah zu Boden und
baumelte mit dem rechten Fuß – ihre charakteristische Angewohnheit –,
wobei sie mit dem Schuhspitzchen immer über den Betteppich fuhr; ein
häßliches Lächeln lag auf ihren Lippen. Da erklärte ich ihr ruhig, ohne
auch nur die Stimme zu erheben, daß das Geld _mir_ gehöre, daß ich das
Recht habe, auf das Leben mit _meinen_ Augen zu sehn, und – daß ich, als
ich sie um ihre Hand gebeten, ihr doch nichts verheimlicht hatte.

Sie sprang auf, erzitterte am ganzen Körper und – was glauben Sie wohl –
stampfte plötzlich wie wahnsinnig mit den Füßen los! Das war einfach ein
Tier, das war ein Anfall, das war ein Tier im Krampf!! Ich war starr vor
Erstaunen: solch einen Ausfall hätte ich nie und nimmer erwartet! Verlor
aber nicht den Kopf, zuckte nicht einmal und erklärte nur, wieder mit
derselben ruhigen Stimme, daß ich ihr von nun ab die Anteilnahme an
meinen Beschäftigungen entziehen würde. Sie lachte mir ins Gesicht und
ging, – ging aus der Wohnung.

Die Sache war aber, daß sie nicht das Recht hatte, die Wohnung zu
verlassen. Nicht ohne meinen Willen auszugehen – so war es zwischen uns
noch während der Brautschaft abgemacht worden. Zum Abend kehrte sie
zurück; ich sprach kein Wort.

Am nächsten Tage ging sie wieder gleich am Morgen aus, am übernächsten
wieder. Ich schloß die Kasse und begab mich zu den Tanten. Mit ihnen
hatte ich gleich nach der Trauung jegliche Beziehungen abgebrochen –:
weder kamen sie zu uns, noch wir zu ihnen. Es stellte sich heraus, daß
meine Frau nicht bei ihnen gewesen war. Sie hörten mir neugierig zu,
lachten mich aus: „Geschieht Ihnen recht.“ Aber ich hatte es ja nicht
anders erwartet. Bei derselben Gelegenheit gewann ich die jüngere Tante,
die Jungfer, bestach sie mit hundert Rubeln, von denen ich ihr
fünfundzwanzig sofort einhändigte. Nach zwei Tagen kam sie zu mir.

„Da ist ein Offizier,“ sagte sie, „ein Leutnant Jefimowitsch, Ihr
früherer Regimentskamerad, im Spiel.“

Ich war sehr verwundert. Von diesem Jefimowitsch hatte ich im Regiment
am allermeisten Bosheit erfahren müssen. Vor einem Monat aber war er,
schamlos wie er stets gewesen, zweimal unter dem Vorwand etwas versetzen
zu wollen, zu uns gekommen. Ich weiß noch, daß er damals mit meiner Frau
zu scherzen versucht hatte. Da war ich denn an ihn herangetreten und
hatte ihm gesagt, er solle es nicht wagen, wiederzukommen, – so wie
unsere Beziehungen nun einmal stünden. Doch nicht mal ein Gedanke an
irgend so etwas war mir in den Kopf gekommen; ich dachte einfach, daß er
nichts als frech und zudringlich war. Und nun sagte mir plötzlich dieses
Weibsbild von Tante, daß sie sich ein Rendezvous geben werden, und daß
die ganze Geschichte von einer früheren Bekannten der anderen Tante,
einer Julija Ssamssonowna, die noch dazu Witwe eines Obersten sein
sollte, unterstützt würde. – „Und zu dieser Witwe geht Ihre Frau.“

Ich werde mich kürzer fassen. Im ganzen kam mich die Sache auf zirka
dreihundert Rubel zu stehn; dafür aber war es nach zweimal
vierundzwanzig Stunden abgemacht, daß ich im Nebenzimmer hinter der Tür
stehen und auf diese Weise dem ersten ^tête-à-tête^ meiner Frau mit
Jefimowitsch beiwohnen sollte. In der Erwartung dessen kam es nun noch
am Abend vorher zu einer kurzen, doch nur zu bedeutsamen kleinen Szene
zwischen ihr und mir.

Sie kam kurz vor Abend zurück, setzte sich aufs Bett, blickte mich
spöttisch an und baumelte wieder mit dem Beinchen überm Teppich. Da, als
ich sie so sah, fiel es mir plötzlich auf, daß sie in diesem ganzen
letzten Monat oder wenigstens in den letzten zwei Wochen – ja gar nicht
mehr sie selbst gewesen war. Das war plötzlich ein wildes,
unordentliches Geschöpf geworden, das bereit war, sich ins Verderben zu
stürzen, das den Strudel geradezu suchte. Solch ein Wesen kann sich mit
seiner Vernunft und seinem Schamgefühl, wenn es einmal die Grenzen
überschritten, nicht mehr zurechtfinden. Es gerät in einer Weise aus dem
Gleise, wie man es nie für möglich gehalten hätte. Dagegen wird sich
eine verderbte Seele immer zu mäßigen wissen, wird vielleicht das
Gemeinste tun, aber dabei doch immer noch Ordnung und Anstand wahren und
obendrein womöglich noch die Anmaßung haben, einem überlegen zu sein.

„Ist es wahr, daß man Sie aus dem Regiment fortgejagt hat, weil Sie aus
Furcht ein Duell ausgeschlagen haben?“ fragte sie plötzlich und ihre
Augen erglänzten.

„Ja, es ist wahr. Man bat mich nach dem Urteilsspruch der Offiziere, das
Regiment zu verlassen, obgleich ich übrigens schon vorher selbst mein
Abschiedsgesuch eingereicht hatte.“

„Als Feigling fortgejagt?“

„Ja, ich wurde als Feigling verurteilt. Doch hatte ich das Duell nicht
aus Furcht ausgeschlagen, sondern weil ich mich nicht ihrem tyrannischen
Urteilsspruch fügen wollte: zum Duell herauszufordern, wenn ich selbst
eine Beleidigung nicht anerkennen konnte ... Wissen Sie,“ – sagte ich
plötzlich, denn ich konnte nicht an mich halten – „daß mit der Tat sich
gegen solche Tyrannei auflehnen und alle Folgen dieser Handlung auf sich
nehmen, viel mehr Männlichkeit beweisen hieß, als zu einem Duell
herausfordern.“

Ich hatte mich nicht beherrschen können und mit den letzten Worten
gleichsam mich zu rechtfertigen begonnen; das aber wollte sie ja nur,
diese meine neue Erniedrigung! Sie lachte boshaft auf.

„Und ist es wahr, daß Sie sich darauf drei Jahre lang in den Straßen
Petersburgs wie ein Strolch herumgetrieben haben, um zehn Kopeken die
Leute angesprochen und unter den Billards genächtigt haben?“

„Ich habe sogar in der Ssennaja im Wjäsemskischen Hause[6] genächtigt.
Ja, es ist wahr; in meinem Leben war später, nach dem Ausschluß aus dem
Regiment, viel Schmach und Verkommenheit, doch keine moralische
Verkommenheit, denn ich war ja doch selbst der erste, der mich und meine
Handlungen haßte. Das war bloß eine Ohnmacht meines Willens, die durch
die Verzweiflung meiner Lage hervorgerufen wurde ... Aber das ist jetzt
vorüber, ist gewesen ...“

„Oh, natürlich. Jetzt sind Sie ja eine große Persönlichkeit: ein
Finanzmann!“

Das war natürlich eine Anspielung auf die Pfandkasse. Doch ich
beherrschte mich schon wieder. Ich sagte mir, daß sie es ja doch nur auf
Erklärungen meinerseits abgesehen hatte, die mich erniedrigen sollten
und – ich schwieg. Zudem klingelte gerade jemand und so ging ich denn
aus dem Schlafzimmer an meine Kasse. Darauf, nach einer Stunde ungefähr,
als sie sich angekleidet hatte, um wieder auszugehn, blieb sie plötzlich
noch vor mir stehen und sagte:

„Vor der Hochzeit aber haben Sie mir nichts davon gesagt?“

Ich antwortete nicht und sie ging.

Und so war’s denn am folgenden Tage, daß ich dort in jenem Zimmer hinter
der Tür stand und zuhörte, wie sich mein Schicksal entschied, – doch in
meiner Tasche hatte ich einen Revolver. Sie war sorgfältig angekleidet,
saß hinter dem Tisch auf dem Sofa und Jefimowitsch gab sich alle Mühe.
Nun, und –: es geschah das (ich sage es zu meiner Ehre), es geschah
genau das, was ich vorausgefühlt hatte, was ich angenommen, daß
geschehen würde ... wenn ich mir auch dessen nicht bewußt war, daß ich
es tat ... Ich weiß nicht, ob ich mich verständlich ausdrücke.

Und zwar geschah folgendes: Ich hörte eine ganze Stunde lang zu, eine
ganze Stunde lang dem Zweikampf eines Weibes, des edelsten und
keuschesten, mit einer stumpfen, verderbten Lebeweltkreatur. Und woher –
fragte ich mich erstaunt, woher kann diese naive, diese keusche, diese
unerfahrene junge Seele alles das wissen? Selbst der geistreichste Autor
einer mondänen Komödie hätte nicht solch eine Szene erdichten können,
solch einen Spott, solch ein allernaivstes Lächeln mit dieser heiligen
Verachtung, die der reine Mensch für das Laster hat. Und wieviel Geist
war doch in ihren Worten und kleinen Wörtchen, welch ein Scharfsinn in
ihren schnellen Antworten und welche Sicherheit und Wahrheit in ihren
Urteilen. Und zu gleicher Zeit wieviel – ich möchte sagen – mädchenhafte
Gutmütigkeit! Auf seine Liebeserklärungen hin lachte sie ihn einfach
aus. Er, der mit seinen rohen Absichten gekommen war, saß plötzlich ganz
kleinlaut da und wußte nicht, wie ihm geschah. Zuerst hätte ich glauben
können, daß es ihrerseits nur Koketterie war – „Koketterie eines, wenn
auch verderbten, so doch jedenfalls geistreichen Weibes, um sich
kostbarer zu machen“. Aber nein, die Wahrheit war so sonnenklar, daß ein
Zweifel überhaupt nicht bestehen konnte. Nur aus Haß zu mir, aus sich
selbst vorgetäuschtem, eingebildetem plötzlichem Haß zu mir, hatte sie,
dies unerfahrene Ding, sich zu diesem Rendezvous entschließen können;
sobald es aber zur Tat kam – erwachte sie sofort. Sie quälte sich
selbst, um mich irgendwie, einerlei wodurch, zu beleidigen, doch ist es
ja nur zu verständlich, daß sie, die sich zu etwas so Scheußlichem
entschlossen zu haben schien, sofort auf diesem Wege stehen blieb und
umkehrte, als sie ihm gegenüberstand: sie ertrug es nicht. Und sie,
diese sündenlose, keusche Seele, die ihr Ideal besaß, hätte solch ein
Jefimowitsch oder einerlei wer von diesem Lebeweltgesindel verführen
können? Er rief ja bei ihr nur Gelächter hervor. Die ganze Wahrheit
erhob sich in ihrer Seele und der Unwille erweckte bloß Spott in ihrem
Herzen. Ich wiederhole: dieser Narr saß zum Schluß ganz verdutzt auf
seinem Stuhl, blickte mürrisch drein und antwortete kaum, so daß ich
schon befürchtete, er würde vielleicht aus niedriger Rachsucht sie zu
beleidigen suchen. Und ich wiederhole nochmals, zu meiner Ehre sei es
gesagt –: ich hörte das ganze Gespräch so gut wie ohne jegliche
Verwunderung an. Es war mir, als ob ich etwas Bekanntes wiederfand. Ich
war gleichsam nur deswegen hingegangen, um dieses Bekannte
wiederzufinden. Ich ging hin, ohne einer einzigen Beschuldigung zu
glauben, obgleich ich mir den Revolver in die Tasche gesteckt hatte –,
das ist die ganze Wahrheit. Und wie hätte ich sie mir denn überhaupt
anders denken können? Warum liebte ich sie denn, warum schätzte ich sie
denn so hoch, warum hatte ich sie denn geheiratet? Oh, natürlich wurde
mir klar, wie sehr sie mich haßte, doch wurde mir auch das klar, wie
unverdorben, wie rein sie war. Ich machte der Szene plötzlich ein Ende,
indem ich die Tür öffnete. Jefimowitsch sprang auf; ich bot ihr den Arm
und bat sie, mit mir das Haus zu verlassen. Jefimowitsch faßte sich
ziemlich schnell und lachte belustigt laut auf.

„Oh, gegen die geheiligten Gattenrechte habe ich natürlich nichts
einzuwenden! Bitte, führen Sie sie fort, bitte! Und wissen Sie,“ rief er
mir noch nach, „obgleich sich ja ein anständiger Mensch mit Ihnen
eigentlich nicht schlagen kann, so stehe ich doch, aus Achtung vor Ihrer
Frau, zu Ihrer Verfügung ... Wenn Sie, übrigens, selbst riskieren
sollten ...“

„Hören Sie!“ sagte ich ihr, und hielt sie noch einen Augenblick auf der
Türschwelle zurück.

Darauf den ganzen Weg bis nach Haus kein Wort. Ich führte sie an der
Hand und sie widersetzte sich nicht. Im Gegenteil, sie war furchtbar
betroffen, und das nicht nur auf dem Wege bis zu unserer Wohnung. Bei
uns angekommen, setzte sie sich auf einen Stuhl und richtete dann starr
ihren Blick auf mich. Sie war ungewöhnlich bleich; wenn sich auch ihre
Lippen sofort wieder spöttisch verzogen, so sah sie mich doch mit einem
Blick stolzer Herausforderung an und war, glaube ich, fest überzeugt,
wenigstens in den ersten Minuten, daß ich sie nun sofort niederschießen
würde. Ich aber zog meinen Revolver schweigend aus der Tasche und legte
ihn auf den Tisch. Sie blickte von mir auf den Revolver, vom Revolver
auf mich. (Beachten Sie folgendes: dieser Revolver war ihr schon
bekannt. Ich hatte ihn mir gekauft, weil ich nicht beabsichtigte, große
Hunde oder einen starken Diener, wie ihn zum Beispiel Moser hat, zu
halten. Bei mir öffnet die Magd die Tür. Andrerseits aber können wir uns
doch nicht ganz des Selbstschutzes berauben, – wenn die Leute nun einmal
wissen, daß man immer Geld im Hause hat. Und so hatte ich mir denn
diesen Revolver gekauft. Sie nun, als sie zu mir ins Haus kam,
interessierte sich in den ersten Tagen ganz besonders für das Ding und
ich erklärte ihr daraufhin das ganze System und beredete sie sogar
einmal, nach einem Ziel zu schießen. Bitte sich das zu merken.)

Ohne ihren erschrockenen Blick weiter zu beachten, legte ich mich halb
ausgekleidet auf das Bett. Ich war nicht wenig erschöpft. Es war schon
elf Uhr. Sie blieb auf ihrem Platz sitzen, ohne sich zu rühren, ungefähr
noch eine Stunde lang. Darauf löschte sie das Licht aus und legte sich,
gleichfalls angekleidet, an der Wand auf den Diwan. Zum ersten Mal legte
sie sich nicht mit mir nieder. – Das bitte gleichfalls zu behalten.


                    VI. Eine furchtbare Erinnerung.

Jetzt ist es eine furchtbare Erinnerung ...

Ich erwachte am Morgen, ungefähr um acht. Im Zimmer war es fast schon
ganz hell. Ich erwachte plötzlich mit vollem Bewußtsein und schlug die
Augen auf: sie stand am Tisch und hielt den Revolver in der Hand. Sie
bemerkte es nicht, daß ich aufgewacht war und sie beobachtete. Und
plötzlich sehe ich: sie bewegt sich auf mich zu, mit dem Revolver in der
Hand ... Ich schloß sofort die Augen und stellte mich schlafend.

Sie kam bis ans Bett und beugte sich über mich ... Ich hörte alles ...
wenn es auch totenstill war, so _hörte_ ich doch diese Stille ... Da –
es war eine krampfhafte Bewegung –: ich schlug plötzlich, gegen meinen
Willen die Augen auf: sie stand über mich gebeugt und sah mich an,
blickte mir gerade in die Augen – und der Revolver war schon dicht an
meiner Schläfe. Unsere Blicke trafen sich. Wir sahen einander nicht
länger als eine Sekunde an. Mit Anstrengung all meiner Kräfte schloß ich
wieder die Augen und im selben Moment faßte ich auch aus der ganzen
Kraft meiner Seele den Entschluß, mich nicht mehr zu rühren und nicht
mehr die Augen zu öffnen, einerlei, was mich auch erwarten mochte.

Es kommt in der Tat zuweilen vor, daß auch ein festschlafender Mensch
plötzlich die Augen aufschlägt, sogar den Kopf erhebt und sich im Zimmer
umblickt, darauf, nach einer Sekunde, den Kopf wieder auf das Kissen
legt und einschläft, ohne sich seiner ganzen Bewegung bewußt zu sein
oder sich später noch ihrer zu entsinnen. Als ich, nachdem sich unsere
Blicke getroffen und ich den Revolver ganz nah an meiner Schläfe gesehn
hatte, plötzlich wieder meine Augen schloß und mich regungslos verhielt,
wie ein Festschlafender, – da konnte sie entschieden glauben, daß ich
tatsächlich schlief und nichts gesehn hatte, um so mehr, als es doch
ganz unwahrscheinlich sein mußte, ich hätte, nachdem ich das gesehn, was
ich gesehn, in _solch_ einem Augenblick die Augen wieder schließen
können.

Allerdings war es unwahrscheinlich. Aber trotzdem hätte sie doch die
Wahrheit erraten können, – das war’s ja, was mir plötzlich in diesem
selben Augenblick durch die Gedanken zuckte. Welch ein Wirbelsturm von
Gedanken und Gefühlen in weniger als einer Sekunde durch meine Seele
stob! – oh, Elektrizität des Menschengedankens! In diesem Falle – wenn
sie die Wahrheit erraten hatte und wußte, daß ich nicht schlief – mußte
ich sie schon durch meine Bereitwilligkeit, in den Tod zu gehn,
niederdrücken, vernichten ... und ihre Hand hätte zurückzucken müssen.
Die anfängliche Entschlossenheit hätte an einem neuen ungewöhnlichen
Eindruck zerschellen können. Man sagt, wer auf der Höhe steht, fühle
sich unwillkürlich hinabgezogen in den Abgrund: Ich glaube, viele
Selbstmorde und Morde sind nur begangen worden, weil der Revolver schon
in der Hand war. Da ist es gleichfalls ein Abgrund, ein Abhang von
fünfundvierzig Grad und da kann man nicht umhin, diesen Abhang
hinunterzugleiten und es ist da etwas, was einen unwiderstehlich
herausfordert, den Hahn abzudrücken. Doch wenn sie sich sagte, daß ich
alles gesehn habe, alles weiß und schweigend von ihr den Tod erwarte –
dieser Gedanke hätte sie doch vielleicht auf dem Abhange aufhalten
können.

Die Stille dauerte an und – plötzlich fühlte ich an der Schläfe, dicht
an meinem Haar die kalte Berührung des Eisens ... Sie werden mich
fragen, ob ich immer noch auf eine Rettung hoffte? Ich will Ihnen wie
meinem Gott antworten: ich hatte nicht die geringste Hoffnung, außer
vielleicht wie eins zu hundert, nicht erschossen zu werden. Warum –
fragen Sie mich – nahm ich dann den Tod von ihr entgegen? Ich aber
frage: was war mir denn das Leben noch, nachdem das von mir vergötterte
Wesen den Revolver auf mich angelegt hatte? Außerdem fühlte ich mit
meinem ganzen Ich, daß in diesem Augenblick zwischen uns ein Kampf vor
sich ging, ein furchtbarer Zweikampf auf Leben oder Tod, der Kampf mit
diesem selben früheren „Feigling“, der von den Kameraden wegen
„Feigheit“ fortgejagt worden war! Ich wußte das, und auch sie wußte das,
wenn sie nur die Wahrheit erraten hatte, – daß ich nicht schlief!

Vielleicht ist es auch nicht so gewesen, vielleicht habe ich all das in
dem Augenblick auch nicht gedacht, aber das hätte doch alles so sein
müssen, wenn auch ohne Gedanken. Ich habe ja nachher sonst nichts mehr
getan, als in jeder Stunde meines Lebens _daran_ gedacht.

Doch Sie können noch eine andere Frage stellen: warum bewahrte ich sie
nicht vor dem Verbrechen? Oh, ich habe mir selbst nachher wohl an
tausendmal diese Frage gestellt – jedesmal, wenn ich mir mit einem
Schauer im Rücken diesen Augenblick zu vergegenwärtigen suchte. Doch
meine Seele war damals in finsterer Verzweiflung: ich ging unter, ich
ging selbst unter, wen hätte ich da noch retten können!? Und woher
wissen Sie, ob ich da überhaupt noch jemanden hätte retten wollen? Woher
soll man’s wissen, was ich damals habe fühlen können.

Einstweilen war mein Bewußtsein überwach, siedete, kochte in mir ... Die
Sekunden kamen und gingen, es war totenstill ... Sie stand immer noch
über mich gebeugt – und plötzlich durchzuckte mich eine Hoffnung! – Ich
schlug schnell die Augen auf: sie war nicht mehr im Zimmer. Ich erhob
mich vom Bett. – _Ich_, _ich_ hatte gesiegt! – und sie war auf ewig
besiegt!

Ich ging in das vordere Zimmer zum Frühstück. Der Samowar wurde bei uns
immer im ersten Zimmer aufgestellt und den Tee goß stets sie ein. Ich
setzte mich schweigend an den Tisch und nahm von ihr mein Glas in
Empfang. So nach fünf Minuten sah ich zum ersten Mal auch zu ihr
hinüber: sie war entsetzlich bleich, noch bleicher, als am Tage vorher,
und blickte mich an. Und plötzlich – und plötzlich, als sie gewahr
wurde, daß ich sie betrachtete, verzog sie ihre bleichen Lippen zu einem
blassen Lächeln, mit scheuer Frage in den Augen ... So zweifelt sie
immer noch? fragt sich wohl: weiß er es oder weiß er es nicht, hat er
gesehn oder hat er nicht gesehn? Gleichmütig wandte ich meinen Blick von
ihr ab.

Nach dem Tee schloß ich die Kasse, ging auf den Markt und kaufte ein
eisernes Bett und einen großen Bettschirm. Nach Haus zurückgekehrt, ließ
ich das Bett im ersten Zimmer aufstellen und mit dem Schirm gleichsam
das Zimmer abteilen. Das war ein Bett für sie, doch sagte ich kein Wort
davon. Auch ohne Worte begriff sie durch dieses Bett, daß ich „alles
gesehn habe und alles weiß“. Für die Nacht legte ich den Revolver wie
immer auf den Tisch. Spät abends legte sie sich in dieses neue Bett: die
Ehe war aufgelöst. – „Sie war besiegt, doch war ihr noch nicht
verziehen.“ In der Nacht fing sie an zu phantasieren und am nächsten
Morgen hatte sie hohes Fieber. Sechs Wochen lag sie.


                            Zweites Kapitel.


I. Ein stolzer Traum.

Lukerja hat mir soeben erklärt, daß sie hinfort nicht mehr bei mir
bleiben will und fortgehen wird, sobald die gnädige Frau beerdigt ist.
Habe kniend fünf Minuten gebetet, wollte zuerst eine ganze Stunde lang
beten, doch denke ich, denke ich die ganze Zeit; alles nur kranke
Gedanken und ein schmerzender Kopf, – was da beten! – wäre ja Sünde ...
Sonderbar, daß ich nicht schlafen will. In großem, allzu großem Leid
will man doch nach den ersten, stärksten Ausbrüchen immer schlafen. Zum
Tode Verurteilte sollen, wie man sagt, in der letzten Nacht ungewöhnlich
fest schlafen. Ja, das muß auch so sein, – das verlangt die Natur, sonst
würden die Kräfte nicht ausreichen ... Ich legte mich auf den Diwan,
konnte aber nicht einschlafen ...

                   *       *       *       *       *

... Sechs Wochen pflegten wir sie Tag und Nacht: ich, Lukerja und die
Krankenwärterin aus dem Hospital. Geld sparte ich nicht, ich hatte
geradezu das Bedürfnis, für sie auszugeben. Von Ärzten rief ich auch
Schröder zu ihr und zahlte ihm zehn Rubel für jede Visite. Als sie
allmählich das Bewußtsein wiedergewann, ging ich seltener zu ihr. Doch
wozu beschreibe ich das lang und breit. Als sie schließlich aufstand,
das Bett verließ, da setzte sie sich leise und schweigend in meinem
Zimmer an den kleinen Tisch, den ich mittlerweile gleichfalls für sie
gekauft hatte ... Ja, es ist wahr, wir schwiegen ganz und gar; später
fingen wir auch zuweilen an, über irgend etwas zu sprechen, aber – immer
über Gleichgültiges. Ich war natürlich mit Absicht nicht gesprächig,
doch bemerkte ich sehr wohl, daß auch sie froh war, kein überflüssiges
Wort sagen zu müssen. Das erschien mir ihrerseits ganz natürlich: „Sie
ist viel zu erschüttert, viel zu sehr besiegt,“ dachte ich, „und man muß
ihr eben Zeit geben, zu vergessen und sich wieder einzuleben.“ So
schwiegen wir denn beide, doch bereitete ich mich im Herzen jeden
Augenblick auf das Zukünftige vor. Ich glaubte, daß auch sie dasselbe
tat und bemühte mich fortwährend zu erraten, woran sie eigentlich bei
sich jetzt denken könnte.

Natürlich ahnt kein Mensch, wieviel ich gelitten habe, als ich während
ihrer Krankheit bei ihr wachte. Selbst vor Lukerja verbarg ich es. Ich
konnte es mir nicht vorstellen, konnte es nicht einmal in der Annahme
zulassen, daß sie sterben könnte, bevor sie alles erfahren haben würde.
Als sie aber die Gefahr überstanden hatte und die Gesundheit allmählich
wiedererlangte, da, ich weiß es noch genau, beruhigte ich mich gar bald
und zwar vollkommen. Ja, ich beschloß sogar, _unsere „Zukunft“ so weit
als möglich hinauszuschieben_ und vorläufig alles so wie es war seinen
Gang gehen zu lassen. In der Tat, es geschah damals mit mir etwas
Sonderbares und Besonderes, – anders verstehe ich es nicht zu
bezeichnen: ich hatte gesiegt, und schon die bloße Erkenntnis dessen
erwies sich für mich als vollkommen genügend. Und so verging denn der
ganze Winter. Oh, was mich anbetraf, so war ich so zufrieden, wie noch
nie zuvor ... und das war ich den ganzen Winter über.

Sehen Sie: in meinem Leben gab es ein furchtbares äußeres Verhängnis,
das bis zu der Zeit, das heißt, bis zum Tage der Katastrophe mit meiner
Frau, mich jeden Tag, jede Stunde bedrückte: das war der Verlust meiner
Reputation und jener Ausschluß aus dem Regiment. Kurz: an mir war
tyrannisch Ungerechtigkeit verübt worden. Es ist wahr, meine Kameraden
liebten mich nicht wegen meines schweren Charakters und, vielleicht
auch, wegen meines sonderbaren Charakters, obgleich es doch häufig
vorkommt, daß das, was der eine hochhält, schätzt und achtet, zu
gleicher Zeit aus irgend einem Grunde den anderen lächerlich erscheint.
Auch in der Schule hat man mich niemals geliebt. Immer und überall hat
man mich nicht geliebt. Auch Lukerja mag mich nicht. Der Zwischenfall im
Regiment – wenn er auch im Grunde die Folge meiner Unbeliebtheit sein
mochte, war doch jedenfalls zufällig. Ich sage das nur, weil es nichts
Kränkenderes und Unerträglicheres gibt, als durch einen Zufall zu grunde
zu gehen, durch einen Zufall, der ebenso gut auch nicht hätte sein
können, durch das unglückliche Zusammentreffen von Umständen, die sonst
vielleicht wie eine Wolke vorübergezogen wären. Für einen intelligenten
Menschen ist das geradezu erniedrigend.

Der Fall war folgender:

Im Zwischenakt im Theater ging ich hinaus ans Buffet. Da trat der
Husarenleutnant A–ff plötzlich gleichfalls ein und erzählte zwei anderen
Husaren aus seinem Regiment mit ziemlich lauter Stimme – wenigstens so,
daß es alle anwesenden Offiziere und das Publikum hören konnten –, daß
ein Hauptmann unseres Regiments, Besumzeff, im Korridor Skandal gemacht
habe und – „wahrscheinlich betrunken sei“. Es entspann sich weiter kein
Gespräch darüber, und dazu war es auch noch ein Irrtum, denn der
Hauptmann Besumzeff war weder betrunken gewesen, noch hatte er
besonderen Skandal gemacht. Die Husaren gingen auf ein anderes Thema
über und damit war’s abgetan. Am nächsten Tage jedoch wurde die
Geschichte in unserem Regiment bekannt und sofort wußte man auch, daß
von Offizieren unseres Regiments nur ich allein zugegen gewesen und auf
den Leutnant A–ff nicht zugetreten war, als er sich in ungeziemender
Weise über Hauptmann Besumzeff geäußert, um ihn wenigstens durch eine
Bemerkung zurechtzuweisen. Doch – aus welchem Grunde hätte ich das tun
sollen? Wenn er etwas gegen unseren Hauptmann Besumzeff hatte, so war
das doch eine persönliche Angelegenheit, aus welchem Grunde hätte ich
mich da hineinmischen sollen? Meine Kameraden jedoch fanden, daß die
Sache keine persönliche gewesen war, sondern das ganze Regiment anging:
ich hätte durch mein Verhalten allen am Buffet anwesenden Offizieren und
dem Publikum gezeigt, daß es in unserem Regiment auch Offiziere gibt,
die in Betreff ihrer wie des Regimentes Ehre nicht gerade empfindlich
sind. Mit dieser Auffassung konnte ich nicht übereinstimmen. Man gab mir
zu verstehn, daß ich noch alles gutmachen könnte, wenn ich mich noch
nachträglich mit A–ff auseinandersetzen wollte. Das aber wollte ich
nicht und da ich gereizt war, so weigerte ich mich stolz. Gleich darauf
reichte ich mein Abschiedsgesuch ein. Das ist die ganze Geschichte.
Äußerlich stolz, doch innerlich gebrochen ging ich fort: krank am
Willen, kraftlos im Geiste. Da kam gerade noch hinzu, daß mein Schwager
in Moskau unser kleines Kapital verlor und ich somit auch meines Teiles
verlustig ging. Und so blieb ich denn ohne eine Kopeke auf der Straße.
Ich hätte ja in einen Zivildienst eintreten können, doch tat ich es
nicht: nach dem glänzenden Waffenrock mochte ich keine einfache Uniform
tragen, irgendwo an der Eisenbahn dienen. Sollte einmal Schande in
meinem Leben sein, nun – dann eben Schande, je schlimmer, desto besser –
das war’s, was ich vorzog. Darauf folgten dann drei Jahre dunkle
Erinnerungen und darunter auch solche aus dem Wjäsemskischen Hause ...
Vor anderthalb Jahren starb in Moskau eine reiche alte Frau, meine
Taufmutter, und hinterließ mir, wie allen ihren Taufkindern, ganz
unerwartet dreitausend Rubel. Das gab mir den Anstoß, nachzudenken, und
ich entschied mein Schicksal. Ich entschloß mich für die Pfandkasse,
ohne mich um die Menschen weiter zu kümmern: erst Geld erwerben, dann
einen Winkel und – neues Leben fern von alten Erinnerungen: – das war
mein Plan ... Nichtsdestoweniger quälten mich das dunkle Vergangene und
die auf ewig verlorene Ehre in jeder Stunde, in jeder Minute meines
Lebens. Dann heiratete ich. Ob zufällig oder nicht – ich weiß es nicht.
Jedenfalls glaubte ich, als ich sie in mein Haus führte, daß ich einen
Freund einführe, denn einen Freund hatte ich nur zu nötig. Ich erkannte
aber deutlich, daß dieser Freund erst vorbereitet, erzogen, sogar
besiegt werden mußte. Und wie hätte ich denn dieser voreingenommenen
Sechzehnjährigen so mit einem Schlage irgend etwas erklären können? Zum
Beispiel, wie hätte ich sie ohne die zufällige Hilfe der furchtbaren
Katastrophe mit dem Revolver überzeugen können, daß ich kein Feigling
bin und daß man mich im Regiment mit Unrecht als Feigling verurteilt
hatte? Doch die Katastrophe kam zur rechten Zeit. Als ich den Revolver
aushielt, rächte ich mich an meiner ganzen finsteren Vergangenheit. Und
wenn das auch niemand erfuhr, so erfuhr es doch _sie_, sie aber war
alles für mich, denn sie selbst war mir alles, war in meinen Gedanken
die ganze Hoffnung meiner Zukunft! Sie war der einzige Mensch, den ich
ganz für mich bestimmte, einen anderen brauchte ich nicht mehr, – und da
hatte sie denn nun alles erfahren. Sie hatte wenigstens erfahren, daß es
von ihr Unrecht gewesen war, sich meinen Feinden anzuschließen. Der
Gedanke an meinen Sieg beruhigte mich. In ihren Augen konnte ich
folglich nicht mehr gemein sein, vielleicht höchstens noch ein
sonderbarer Mensch, doch auch das war mir nach allem, was geschehen war,
durchaus nicht so unlieb: Sonderbarkeit ist kein Laster, im Gegenteil,
gefällt zuweilen sogar dem weiblichen Charakter. Kurz, ich schob
absichtlich die Lösung der Sache hinaus: das Geschehene war vorläufig zu
meiner Beruhigung übergenug und enthielt solch eine Fülle von Bildern
und Material für meine Träume! Das ist ja die Gemeinheit, daß ich eben
ein Träumer bin: mir genügten die Träume, von ihr aber dachte ich, daß
sie _warten_ würde.

So verging der ganze Winter, gewissermaßen wie in Erwartung irgend eines
Ereignisses. Ich liebte es, sie heimlich zu betrachten, wenn sie so an
ihrem Tischchen saß. Sie beschäftigte sich mit einer Handarbeit, nähte
an der Wäsche, des Abends aber las sie Bücher, die sie dann aus meinem
Schrank nahm. Die Auswahl der Bücher, die ich besaß, mußte in ihrer Art
zu meinen Gunsten sprechen. Sie ging fast nirgendwo hin. Vor der
Dämmerstunde, nach dem Essen, ging ich jeden Tag mit ihr spazieren, und
wir machten uns Bewegung, doch geschah das stets vollkommen schweigend,
ganz so wie früher. Ich bemühte mich gerade so zu tun, als ob wir nicht
schwiegen und in allem wortlos übereinstimmten, doch, wie gesagt,
vermieden wir beide überflüssige Worte. Ich tat es mit Absicht und ihr,
dachte ich, muß man unbedingt „Zeit geben“. Eines ist allerdings
sonderbar: es kam mir kein einziges mal in den Sinn, daß ich es liebte,
sie heimlich zu betrachten, andererseits hatte ich aber während des
ganzen Winters kein einziges mal bemerkt, daß auch ihr Blick auf mir
ruhte. Ich glaubte, das wäre ihre Schüchternheit. Und zudem war sie von
solch einer scheuen Sanftmut, sah sie so kraftlos nach der Krankheit
aus. „Nein, warte lieber ab und – und sie wird plötzlich selbst zu Dir
kommen ...“

Dieser Gedanke bezauberte mich unwiderstehlich. Füge noch eines hinzu:
zuweilen geschah es, daß ich mich selbst gewissermaßen aufhetzte und
meinen Geist und meine Vernunft so weit brachte, daß ich sie haßte. Und
das dauerte dann so eine geraume Zeit. Doch konnte sich dieser Haß nie
so recht in meiner Seele einnisten. Und ich fühlte doch auch selbst im
Geheimen, daß es eigentlich nur ein Spiel war. Und sogar damals habe
ich, wenn auch ich es war, der unsere Ehe zerriß, indem ich das Bett und
den Wandschirm kaufte, – sogar damals habe ich niemals, niemals in ihr
eine Verbrecherin sehen können. Und nicht etwa, weil ich ihr Verbrechen
leichtfertig beurteilt hätte, nein, weil ich mir vorgenommen hatte, ihr
ganz und gar zu vergeben, schon vom ersten Tage an, sogar schon bevor
ich noch das Bett kaufte! Mit einem Wort, das war eine Sonderbarkeit
meinerseits, denn ich bin moralisch streng ... Im Gegenteil, in meinen
Augen war sie dermaßen besiegt, dermaßen erniedrigt, dermaßen
vernichtet, daß sie mir zuweilen in der Seele leid tat, obgleich mir
andererseits bei all dem der Gedanke an ihre Erniedrigung entschieden
wohlgefiel. Ja, ja, der Gedanke an diese unsere Ungleichheit gefiel mir
...

In diesem Winter tat ich absichtlich viel Gutes. Stundete unter anderem
zwei Schuldnern und gab einer armen Frau ohne jedes Pfand Geld. Meiner
Frau sagte ich nichts davon und tat es auch nicht, damit sie es erfahren
sollte; aber die arme Frau kam von selbst, um sich bei mir zu bedanken,
– hätte nicht viel gefehlt, so wäre sie auf die Kniee gefallen. So
erfuhr sie es denn doch; es schien mir, daß es ihr wirklich Freude
machte, dieses von der armen Frau zu hören.

Da kam der Frühling; es war schon Mitte April, die Vorsatzfenster wurden
herausgenommen und die Sonne warf bereits leuchtende Strahlenbündel in
unsere schweigenden Zimmer. Doch die Binde war noch vor meinen Augen und
machte mich blind. Die verhängnisvolle furchtbare Binde! Wie kam es nur,
daß es mir plötzlich wie Schuppen von den Augen fiel und ich mit einem
Male alles sah und alles begriff. Ob es ein Zufall war, oder war’s der
Tag einer abgelaufenen Frist, oder war’s ein Sonnenstrahl, der in meinem
stumpfgewordenen Geiste den Gedanken und die Wahrheit entzündete? Nein,
da war nichts von Gedanken noch von Bestimmung, da erzitterte nur
plötzlich eine kleine Ader, eine bis dahin scheintot gewesene Ader, die
plötzlich zusammenzuckte und sich belebte und meine ganze
stumpfgewordene Seele erleuchtete und meinen ganzen teuflischen Hochmut,
so daß ich damals geradezu aufschnellte von meinem Stuhl. Und geschah es
doch so plötzlich, so unvermutet. Es geschah gegen Abend, so um fünf Uhr
nachmittags ...


                          II. Die Binde fiel.

Zuerst noch zwei Worte. Schon vor einem Monat war mir an ihr eine
sonderbare Nachdenklichkeit aufgefallen; das war nicht mehr
Schweigsamkeit, sondern solch ein tiefes Sinnen. Das hatte ich
gleichfalls ganz plötzlich bemerkt. Sie saß damals mit einer Handarbeit,
den Kopf gebeugt und bemerkte nicht, daß ich sie betrachtete. Und da
fiel es mir denn plötzlich auf, daß sie so schmal, so mager geworden
war, das Gesichtchen so bleich und die Lippen so blaß, – und zudem noch
die stille Nachdenklichkeit erschreckte mich mit einem Mal ungewöhnlich.
Auch früher schon hatte ich sie von Zeit zu Zeit ein wenig trocken
husten gehört, besonders des Nachts. Ich erhob mich sofort und begab
mich zu Schröder, um ihn zu uns zu bitten – ohne ihr etwas davon zu
sagen.

Schröder kam am nächsten Tage. Sie war sehr verwundert und sah erstaunt
bald mich, bald Schröder an.

„Aber ich bin doch ganz gesund!“ sagte sie darauf mit einem unbestimmten
Lächeln.

Schröder untersuchte sie nicht sonderlich genau – diese Mediziner sind
nicht selten vor lauter Eigendünkel nachlässig – und sagte mir dann im
Nebenzimmer, es hätte weiter nichts auf sich, sei noch von der Krankheit
nachgeblieben und es wäre vielleicht nicht schlecht, wenn sie den Sommer
am Meere verbringen könnte oder, falls das nicht möglich sein sollte,
irgendwo auf dem Lande. Mit anderen Worten: er sagte nichts, außer, daß
es Schwäche wäre oder so etwas Ähnliches. Als Schröder fortgegangen war,
sagte sie mir, indem sie mich furchtbar ernst anblickte, plötzlich
nochmals:

„Ich bin wirklich, wirklich ganz gesund.“

Doch kaum hatte sie es gesagt, als sie plötzlich errötete,
augenscheinlich vor Scham. Selbstverständlich war das Scham! Oh, jetzt
verstehe ich es: sie schämte sich, daß ich noch _ihr Mann_ war, mich um
sie sorgte. Damals jedoch begriff ich es nicht und schrieb das Erröten
der Demütigung zu.

Und ... ... – nach einem Monat war’s, so um fünf Uhr nachmittags, im
April an einem klaren, sonnigen Tage. Ich saß an der Kasse und rechnete.
Plötzlich höre ich, daß sie in meinem Zimmer an ihrem Tischchen bei der
Handarbeit – leise, ganz leise ... singt. Das kam so unerwartet, machte
auf mich einen so erschütternden Eindruck ... Bis dahin hatte ich sie
fast nie singen gehört, höchstens in den allerersten Tagen, nachdem ich
sie in mein Haus geführt, als wir noch Mutwillen treiben konnten, ins
Ziel schießen und ähnliches ... Damals war ihre Stimme ziemlich stark
und gesund und wenn auch ungeschult, so doch seltsam angenehm und klar
gewesen. Jetzt aber war das Liedchen so schwach, – oh, nicht daß es
melancholisch gewesen wäre – es war irgend eine Romanze –, aber es war,
als ob in der Stimme etwas Gesprungenes, Zerbrochenes klang, als ob das
Stimmchen sich nicht zurechtfinden konnte, als ob das Lied selbst krank
gewesen wäre. Sie sang nur halblaut, und plötzlich, bei einer höheren
Note, brach die Stimme ab, – solch ein armes Stimmchen, so leid tat’s
einem, als es abbrach! Sie hustete ein wenig und begann dann wieder
leise, ganz leise, kaum, kaum hörbar zu singen ...

Man wird über meine Aufregung lächeln, doch niemals wird jemand
begreifen, warum ich plötzlich so erregt war. Nein, sie tat mir noch
nicht leid ... Es war etwas ganz anderes. Zuerst, wenigstens in den
ersten Minuten, kam über mich plötzlich ein Nicht-begreifen-können, eine
furchtbare Verwunderung, ja: eine furchtbare und sonderbare, krankhafte
und fast mystische Verwunderung: „Sie singt, und das in meiner
Gegenwart!? _Sollte sie mich etwa vergessen haben?_“

Ganz erschüttert blieb ich auf meinem Platz. Dann stand ich plötzlich
auf, nahm meinen Hut und ging hinaus, gewissermaßen ohne daran zu
denken, was ich tat. Wenigstens weiß ich nicht wohin und warum ich ging.
Lukerja brachte mir meinen Mantel.

„Sie singt?“ fragte ich sie unwillkürlich. Sie verstand mich nicht und
sah mich verwundert an; übrigens war ich auch wirklich unverständlich.

„Singt sie jetzt zum ersten Mal?“

„Nein, wenn Sie fort sind, singt sie zuweilen,“ antwortete Lukerja.

Ich weiß noch. Ich ging die Treppe hinunter, trat auf die Straße und
ging dann geradeaus weiter, ging bis zur Ecke, blieb dort stehn und
blickte angestrengt irgendwohin. Man ging an mir vorüber, stieß mich,
ich fühlte es nicht. Ich rief eine Droschke an und sagte dem Kutscher,
er solle zur Polizeibrücke fahren; warum dorthin, weiß ich nicht. Doch
stieg ich plötzlich aus und gab ihm einen Zwanziger.

„Für die Ruhestörung,“ sagte ich, sinnlos ihm zulächelnd, doch in meinem
Herzen erhob es sich plötzlich wie ein Rausch.

Ich kehrte nach Haus zurück; beschleunigte den Schritt. Die kleine
gesprungene, armselige Note erklang plötzlich wieder in meiner Seele.
Mir blieb der Atem stehn. Die Binde fiel, fiel von meinen Augen! Wenn
sie in meiner Gegenwart zu singen angefangen hatte, so hatte sie mich
vergessen, – das war’s, was ich klar begriff, das war das Furchtbare!
Das fühlte das Herz. Doch die Begeisterung erfüllte meine Seele und
überwältigte die Angst.

Oh Ironie des Schicksals! War doch ... konnte doch in meiner Seele
diesen ganzen Winter über nichts anderes sein, außer dieser selben
Begeisterung, diesem selben Entzücken – wo aber war ich selbst diesen
ganzen Winter über gewesen? wo war denn meine Seele gewesen? Ich lief
eilig die Treppe hinauf, weiß nicht, ob ich schüchtern eintrat. Erinnere
mich nur noch, daß der ganze Fußboden unter mir wie ein Meer zu wogen
schien und ich gleichsam wie in einem breiten Strome schwamm. Ich trat
ins Zimmer: sie saß auf ihrem früheren Platz, nähte, den Kopf über die
Arbeit gebeugt, doch sang sie nicht mehr. Sie warf einen flüchtigen,
gleichgültigen Blick auf mich, doch war das eigentlich kein Blick,
sondern nur so eine Bewegung, eine gleichgültige, so wenn irgend jemand
ins Zimmer tritt.

Ich ging direkt zu ihr und setzte mich neben sie auf einen Stuhl, ganz
dicht neben sie, wie ein Wahnsinniger. Sie blickte schnell zu mir auf,
als hätte ich sie erschreckt: ich ergriff ihre Hand. Ich weiß nicht
mehr, was ich ihr sagte oder was ich ihr sagen wollte, denn ich konnte
ja nicht mal recht sprechen. Meine Stimme riß immer ab und wollte mir
nicht gehorchen. Und ich wußte ja auch gar nicht, was ich sagen sollte,
war nur ganz atemlos.

„Sprechen wir ... weißt Du ... sag etwas!“ brachte ich plötzlich
stotternd irgend so was Dummes hervor, – oh war’s denn um Klugheit zu
tun! Sie zuckte wieder zusammen und bog sich erschrocken zurück, starrte
mich entsetzt an, doch plötzlich drückte sich in ihren Augen – _strenge
Verwunderung_ aus. Ja, Verwunderung, und _strenge_ Verwunderung! Mit
großen Augen sah sie mich an. Diese Strenge, diese strenge Verwunderung
zermalmte mich wie mit einem Keulenschlage: „So willst Du noch Liebe?
Liebe?“ – fragte es mich plötzlich aus dieser Verwunderung heraus, wenn
sie auch schwieg. Doch ich las alles in ihrem Blick, alles. Alles
erzitterte in mir und ich stürzte zu ihren Füßen. Ja; ich fiel vor ihr
nieder. Sie sprang schnell auf, doch ich hielt sie mit all meiner Kraft
an beiden Händen zurück.

Und ich begriff vollkommen meine Verzweiflung, oh ich begriff sie! Doch,
werden Sie’s mir glauben, das Entzücken kochte in meinem Herzen so
unbezwingbar, daß ich glaubte, ich stürbe. In Verzweiflung und Glück
küßte ich ihre Füße. Ja, in Glück, in grenzenlosem, endlosem Glück, und
das beim vollen Begreifen meiner ganzen hoffnungslosen Verzweiflung? Ich
weinte, sagte etwas, konnte jedoch nicht sprechen. Der Schreck und die
Verwunderung wurden in ihr plötzlich von irgend einem besorgten Gedanken
verdrängt, von einer furchtbaren Frage, und sie blickte mich so
sonderbar an, fast wild, sie strengte sich an, irgend etwas schneller zu
begreifen und – sie lächelte. Sie schämte sich furchtbar, daß ich ihre
Füße küßte und zog sie immer zurück, doch da küßte ich die Stelle des
Fußbodens, wo ihr Fuß gestanden hatte. Sie sah das und plötzlich fing
sie an, vor Scham zu lachen (wissen Sie so, wenn die Menschen vor lauter
Scham lachen). Da begann die Hysterie, ich sah es wohl, ihre Hände
zuckten, – doch ich dachte nicht daran und flüsterte immer nur, daß ich
sie liebe, daß ich nicht aufstehn würde, – „laß mich nur Dein Kleid
küssen ... das ganze Leben lang Dich anbeten“ ... Ich weiß nicht mehr,
erinnere mich nicht, – und plötzlich schluchzte sie auf und erzitterte:
ein furchtbarer Nervenanfall. Ich hatte sie erschreckt.

Ich trug sie auf das Bett. Als der Anfall vergangen war, setzte sie sich
auf, so zerschlagen sah sie aus, erfaßte meine Hände und bat mich, mich
zu beruhigen: „Lassen Sie’s gut sein, quälen Sie sich doch nicht so,
beruhigen Sie sich!“ und wieder weinte sie. Diesen ganzen Abend ging ich
nicht von ihr fort. Sagte ihr in einem fort, daß ich sie nach
Boulogne-sur-mer bringen würde, damit sie Seebäder nehmen könne, jetzt,
sofort, oder höchstens nach zwei Wochen, daß sie solch eine gesprungene
Note im Stimmchen hätte wie ich vorhin gehört, daß ich die Pfandkasse
schließen und an Dobronrawoff verkaufen würde, daß „alles nun von neuem
beginnen wird, aber zuerst – nach Boulogne, nach Boulogne!“ Sie hörte zu
und fürchtete sich. Immer mehr und mehr fürchtete sie sich. Doch die
Hauptsache war für mich, daß ich immer unbezwingbarer wieder ihr zu
Füßen liegen und wieder den Boden, auf dem ihre Füße standen, küssen
wollte, und sie anbeten und – „sonst werde ich nichts, nichts mehr von
Dir bitten,“ wiederholte ich immer wieder, – „antworte mir nichts,
beachte mich überhaupt nicht, laß mich nur Dich von einem Winkel aus
ansehn, verwandele mich in Deinen Sklaven, in Dein Hündchen“ ... Sie
weinte.

„_Und ich dachte, Sie würden mich einfach so lassen_,“ – kam es
plötzlich ganz gegen ihren Willen aus ihr heraus, – so daß sie es
vielleicht selbst nicht mal bemerkte, wie sie es sagte, währenddessen
aber, – oh, das war das allerwichtigste, allerverhängnisvollste Wort von
ihr, und das für mich an jenem Abend allerverständlichste, und es war
mir, als glitt mir von ihm ein Messer durch das Herz! Alles erklärte es
mir, alles, doch so lange wie sie bei mir war, vor meinen Augen, hoffte
ich unbezwinglich und war unbeschreiblich glücklich. Oh ich habe sie
maßlos ermüdet an jenem Abend, was ich natürlich sehr gut wußte, doch
glaubte ich immer, ich würde so alles sofort gutmachen können. Endlich,
in der Nacht war sie schon ganz erschöpft; da beredete ich sie denn,
einzuschlafen und sie schlief auch im Augenblick ein. Ich blieb bei ihr
und wartete, ob sie nicht phantasieren würde: sie tat’s auch, doch nur
ein wenig, ganz leicht. In der Nacht erhob ich mich jeden Augenblick,
ging leise in den Morgenschuhen zu ihr, um sie zu betrachten. Ich rang
die Hände über ihr, als ich dieses kranke Wesen sah, auf diesem
armseligen Lager, in diesem eisernen Bettchen, das ich ihr für drei
Rubel gekauft hatte. Ich kniete nieder, doch wagte ich es nicht, die
Füße der Schlafenden zu küssen – ohne ihre Erlaubnis ... – Ich wollte zu
Gott beten – konnt’s aber nicht: sprang auf. Lukerja betrachtete mich
ganz verwundert und kam fortwährend aus der Küche. Ich ging zu ihr
hinaus und sagte ihr, sie solle schlafen gehn; morgen würde etwas „ganz
Anderes“ beginnen.

Und ich glaubte selbst daran – glaubte blind, sinnlos, furchtbar! Oh,
das Entzücken, das Entzücken überflutete mich! Ich erwartete nur den
nächsten Tag. Vor allen Dingen: ich glaubte an kein Unglück, trotz der
Symptome. Die gesunde Vernunft war noch nicht ganz zurückgekehrt, trotz
der gefallenen Binde und lange, lange kehrte sie noch nicht zurück, –
oh, bis auf den heutigen Tag nicht, bis auf den heutigen Tag!! ja, und
wie, wie hätte sie damals auch wiederkehren sollen: lebte sie doch
damals noch, war sie doch hier vor meinen Augen und ich vor ihr: „Morgen
wird sie aufwachen, und ich werde ihr dann alles sagen und sie wird dann
alles verstehn!“ – Das waren meine Gedanken, einfach und klar, darum
auch das Entzücken! Die Hauptsache war dabei diese Fahrt nach Boulogne.
Aus irgend einem Grunde glaubte ich, daß Boulogne – alles, daß Boulogne
etwas Entscheidendes wäre. „Nach Boulogne, nur schnell nach Boulogne!“
... Sinnlos erwartete ich den Morgen.


                       III. Verstehe nur zu gut.

Das war doch im ganzen nur vor ein paar Tagen, vor fünf Tagen, im ganzen
nur fünf Tagen, am vorigen Dienstag! Nein nein, hätte sie doch nur noch
einen Augenblick gewartet und – und ich hätte die Finsternis
verscheucht! – Hatte sie sich denn etwa nicht beruhigt? Hörte sie mir
doch schon am nächsten Tage mit einem Lächeln zu, trotz der Verlegenheit
... Das war’s ja: in dieser ganzen Zeit, in diesen fünf Tagen war sie
entweder verlegen oder sie schämte sich. Auch fürchtete sie sich, oh,
sie fürchtete sich sehr. Schon gut, ich sage ja nichts, ich werde nicht
wie ein Sinnloser widersprechen: es war Angst. Aber wie hätte sie sich
denn nicht ängstigen sollen? Waren wir uns doch schon so fremd geworden,
hatten uns doch schon so lange von einander entwöhnt und plötzlich all
das ... Ich beachtete ihre Angst nicht weiter, die Zukunft leuchtete!
... Es ist wahr, es ist zweifellos wahr, daß ich einen Fehler begangen
habe. Und vielleicht habe ich sogar viele Fehler begangen. Gleich am
Morgen schon, sofort nachdem wir aufgewacht waren, das war also am
folgenden Tage, am Mittwoch – beging ich einen großen Fehler: ich machte
sie plötzlich zu meinem Freunde. Nur – beeilte ich mich damit zu sehr,
allzu sehr ... aber die Beichte war doch notwendig, unvermeidlich. Ach,
was sage ich „Beichte“! – Das war doch weit mehr! Ich verbarg ihr nicht
einmal das, was ich auch vor mir selbst mein Leben lang verborgen hatte.
Ich sprach es offen aus, daß ich in diesem ganzen Winter von ihrer Liebe
überzeugt gewesen war. Ich setzte ihr auseinander, daß die Pfandkasse
nur die Folge meines gebrochenen Willens und Geistes war, meine
persönliche Idee von Selbstgeißelung und Eigenqual. Ich erklärte ihr,
daß ich damals am Buffet tatsächlich den Mut verloren hatte und zwar
einfach aus meinem Charakter heraus, aus Mißtrauen zu mir selbst, wenn
man will; mich hatte die Umgebung eingeschüchtert, es ängstigte mich
das: „wie werde ich da nun so vortreten und – wird es sich nicht
vielleicht lächerlich ausnehmen?“ Hatte nicht das Duell gefürchtet, wohl
aber, daß es sich „lächerlich ausnehmen könnte“ ... Dann aber hatte ich
das schon nicht mehr eingestehn wollen und mich und alle anderen
deswegen gequält und auch sie deswegen gequält, und sie auch nur
geheiratet, um sie deswegen zu quälen. Überhaupt sprach ich die ganze
Zeit wie im Fieber. Sie erfaßte meine Hände und bat mich, aufzuhören:
„Sie übertreiben ... Sie quälen sich,“ und wieder brach sie in Tränen
aus, wieder kam es fast zu Anfällen! Immer wieder bat sie mich, nicht
mehr davon zu sprechen und überhaupt nicht daran zu denken.

Ich beachtete ihr Flehen nicht oder nur wenig: ich dachte an den
Frühling, an Boulogne! Dort ist Sonne, dort ist unsere neue Sonne! und
nur davon sprach ich. Ich schloß die Pfandkasse und übergab die Sachen
Dobronrawoff. Ich schlug ihr plötzlich vor, alles den Armen zu geben,
außer den ersten drei Tausend, die ich von meiner Taufmutter erhalten
hatte, um mit diesen nach Boulogne zu fahren – „und dann,“ sagte ich,
„kehren wir zurück und beginnen ein neues arbeitsames Leben“. Dabei
blieb’s auch, denn sie erwiderte mir doch nichts darauf ... Sie lächelte
nur. Ich glaube, sie lächelte mehr aus Zartgefühl, um mich nicht zu
betrüben. Ich sah es doch, daß ich ihr zur Last fiel, glauben Sie nicht,
ich wäre so dumm und solch ein Egoist gewesen, daß ich das nicht hätte
sehen können. Ich sah alles, alles bis auf den letzten Haarstrich, sah
und wußte besser als alle anderen; meine ganze Verzweiflung stand mir
doch klar vor Augen!

Ich sprach immer nur von mir und von ihr. Auch von Lukerja. Ich erzählte
ihr, daß ich geweint hatte ... Oh, ich wechselte doch auch das Gespräch,
bemühte mich doch, gewisser Dinge mit keinem Wort zu erwähnen. Und sie
belebte sich dann auch sogar, hin und wieder, – ich erinnere mich doch
noch dessen, ich sah doch alles ganz genau! Wieso ..., was sagen Sie da,
ich hätte gesehn und dabei doch nichts bemerkt? – Wenn nur _das_ nicht
geschehn wäre, so wäre alles gut geworden! Erzählte sie mir doch noch
vor drei Tagen, als das Gespräch auf die Lektüre kam, darauf, was sie in
diesem Winter gelesen hatte, – erzählte sie mir da doch alles ganz
munter und als ihr die Szene aus dem Gil-Blas mit dem Erzbischof von
Granada einfiel, – da lachte sie doch! Und welch ein kindliches Lachen,
wie lieb war’s, – ganz wie früher, als wir noch verlobt waren – einen
Augenblick! einen Augenblick! Wie froh ich war! Übrigens setzte mich
dieses vom Erzbischof ungemein in Erstaunen: also mußte sie doch im
Winter, als sie hier so allein saß, soviel Seelenruhe und Glück gefunden
haben, daß sie über ein ^Chef-d’oeuvre^ lachen konnte. Folglich war sie
auf dem Wege, fest zu glauben, daß ich sie einfach _so_ lassen würde ...
„Und ich glaubte, Sie würden mich einfach so lassen!“ – hatte es sich
doch an jenem Dienstag aus ihr herausgerungen! Oh, Phantasie eines
kleinen, zehnjährigen Mädchens! Und sie glaubte doch, glaubte doch
ernstlich, daß ich sie wirklich einfach _so_ lassen würde: sie an ihrem
Tisch und ich an meinem und so bis zum sechzigsten Jahre. Und plötzlich
– tauche ich wieder auf, ich, der Mann, und der Mann braucht Liebe! Oh,
meine Blindheit, oh mein Mißverstehen! Ach, warum verstand ich es nicht
richtig, ach warum war ich so blind!

Ein Fehler war es gleichfalls, daß ich in Ekstase zu ihr aufsah; hätte
mich beherrschen sollen, denn diese Ekstase schreckte natürlich. Aber
ich beherrschte mich doch auch, küßte ich doch nicht mehr ihre Füße.
Kein einziges Mal ließ ich es merken, daß ... nun, daß ich Mann bin, –
oh, auch in meinem Geiste war nichts davon, ich betete nur! Aber ich
konnte doch nicht ganz und gar schweigen, konnte doch nicht überhaupt
nicht sprechen! Ich sagte ihr plötzlich, daß ihr Gespräch mich entzückte
und daß ich sie seelisch für unvergleichlich, unvergleichlich gebildeter
und entwickelter hielte, als mich. Sie errötete darauf furchtbar und
sagte ein wenig verwirrt, ich übertriebe. Da war es denn, daß ich dummer
Weise – konnte es nicht zurückhalten, – erzählte, wie entzückt ich
gewesen war, als ich, hinter der Tür stehend, damals ihrem Zweikampf
zugehört hatte, dem Zweikampf der Unschuld mit jenem Lump, und wie mich
ihre Klugheit, ihre so geistreichen Antworten bei aller kindlichen
Gutmütigkeit, bezaubert hatten. Sie erzitterte am ganzen Körper,
stammelte zwar wieder, ich übertriebe, doch plötzlich bedeckte sie ihr
Gesicht mit den Händen und schluchzte auf ... Da hielt auch ich es denn
nicht mehr aus: wieder fiel ich vor ihr nieder, wieder küßte ich ihre
Füße und wieder kam es zu einem Nervenanfall, ganz so, wie an jenem
Dienstag. Das war gestern abend, und am nächsten Morgen ...

Am nächsten Morgen?! Wahnsinniger, dieser Morgen war doch heute, vorhin
noch, noch kürzlich, noch ganz kürzlich!

Hören Sie und begreifen Sie es: als wir uns vorhin beim Samowar trafen –
also nach dem gestrigen Anfall –, da setzte sie mich doch noch durch
ihre Ruhe in Erstaunen, ja, so war’s doch! Ich aber hatte die ganze
Nacht aus Angst vor den Folgen der letzten Szene gezittert. Doch
plötzlich tritt sie zu mir, stellt sich vor mich hin mit gefalteten
Händen – vorhin, vorhin! –, sagt, daß sie – eine Verbrecherin sei, daß
sie es sehr wohl wisse, daß das Verbrechen sie den ganzen Winter gequält
hätte, auch jetzt quäle ... daß sie meine Großmut nur zu sehr schätze
und ... „ich werde ... Ihre treue Frau sein, ich werde Sie achten ...“
Da sprang ich auf und wie ein Wahnsinniger umarmte ich sie! Ich küßte
sie, küßte ihr Gesicht, küßte ihre Lippen, küßte sie, wie ein Mann nach
langer Trennung küßt! Und warum nur ging ich vorhin fort ... im ganzen
nur auf zwei Stunden ... unsere ausländischen Pässe ... Oh Gott! Wär’
ich nur fünf Minuten früher zurückgekehrt! ... Und da steht diese
Volksmenge an unserer Haustür, diese Blicke auf mich ... oh Gott!

Lukerja sagt – ach, auf keinen Fall lasse ich jetzt Lukerja fort, für
keinen Preis, sie weiß alles, sie war den ganzen Winter zugegen, sie
wird mir alles erzählen –, sie sagt, daß sie im ganzen nur so zwanzig
Minuten vor meiner Rückkunft zur gnädigen Frau in unser Zimmer gegangen
war, um etwas zu fragen, ich weiß nicht mehr was, und da hatte sie
gesehn, daß ihr Heiligenbild (dieses selbe der Muttergottes) vor ihr auf
dem Tisch steht, die gnädige Frau aber ganz so steht, als ob sie gerade
vor ihm gebetet hätte.

„Was ist Ihnen, gnädige Frau?“

„Nichts, Lukerja, geh nur ... wart, Lukerja,“ sie ist zu ihr gekommen
und hat sie geküßt.

„Sind Sie jetzt,“ frage ich, „glücklich, gnädige Frau?“

„Ja, Lukerja.“

„Ja ja, der Herr hätte gnädige Frau schon längst um Verzeihung bitten
müssen ... Gott sei Dank, daß Sie sich jetzt versöhnt haben.“

„Schon gut, Lukerja,“ sagt sie, „geh jetzt, Lukerja,“ und sie lächelte
so, ja, so sonderbar ... So sonderbar, daß Lukerja nach zehn Minuten
zurückgekommen war, um nochmals nach der gnädigen Frau zu sehn.

„Ich sehe, sie steht an der Wand, ganz nah am Fenster, hat die Hand an
die Wand gelegt und preßt den Kopf in die Hand, steht so und denkt. Und
steht so tief nachdenklich, daß sie gar nicht bemerkt hat, wie ich
hereingekommen bin, und sie dort aus dem anderen Zimmer betrachte. Ich
sehe, sie scheint so zu lächeln, steht, denkt und lächelt. Ich
betrachtete sie, drehte mich dann leise um und ging wieder zurück, denke
noch so bei mir selbst; nur höre ich plötzlich das Fenster öffnen. Ich
ging sofort wieder hin, um zu sagen, daß es kalt ist, gnädige Frau, Sie
könnten sich erkälten – und plötzlich sehe ich: sie steigt auf das
Fenster und steht schon ganz aufgerichtet im offenen Fenster, mit dem
Rücken zu mir, hält in den Händen das Heiligenbild. Mein Herz blieb mir
stehn, schreie: Frau! Frau! Sie hörte es, wollte sich so wie zu mir
umkehren, kehrte sich aber nicht um, und – trat vorwärts, preßte das
Heiligenbild an die Brust und – stürzte!“

Ich erinnere mich nur noch, daß sie, als ich an der Haustür ankam, noch
warm war. Und alle sehen sie mich an. Zuerst schrien sie und sprachen,
und plötzlich ist alles still und verstummt und ... da treten sie vor
mir zurück und ... und da sehe ich sie liegen mit dem Heiligenbild. Ich
erinnere mich nur noch, wie durch einen dichten Nebel, daß ich
schweigend zu ihr trat und lange vor mich hinsah. Und alle umringen sie
mich, und sprechen etwas zu mir. Lukerja soll auch dort gewesen sein,
ich weiß es nicht, ich habe sie nicht gesehn. Sie sagt, sie hätte mit
mir gesprochen. Ich erinnere mich nur noch jenes Bauern: er rief mir die
ganze Zeit zu: „nur ein Löffelvoll Blut ist aus dem Mund geflossen, nur
ein Löffelvoll, Löffelvoll!“ und wies, zu mir gewandt, immer auf das
bißchen Blut daselbst auf dem Stein. Ich, ich glaube, – ich berührte das
Blut mit dem Finger, beschmutzte den Finger, betrachtete darauf meinen
Finger (dessen erinnere ich mich noch ganz genau), er aber schreit noch
fortwährend: „ein Löffelvoll, ein Löffelvoll, ein Löffelvoll!“

„Was ist das für ein Löffelvoll!?“ soll ich plötzlich wütend
aufgeschrien haben. Man sagt, ich habe die Hände erhoben und mich auf
ihn gestürzt ...

Oh Wahnsinn! Mißverständnis! Unmöglichkeit! Unmöglichkeit!


                IV. Im ganzen nur fünf Minuten zu spät.

Etwa nicht? Ist denn das wahrscheinlich? Kann man denn sagen, das wäre
möglich? Wozu, warum starb diese Frau?

Ach, glauben Sie mir, ich verstehe es vollkommen, doch wozu ist sie
gestorben – das bleibt immer noch eine Frage. Meine Liebe hat sie
erschreckt, sie hat sich gewissenhaft gefragt: soll ich sie annehmen
oder soll ich nicht, und hat die Frage nicht ertragen und ist lieber in
den Tod gegangen. Ich weiß, ich weiß, es hat keinen Sinn, sich darüber
den Kopf zu zerbrechen: sie hatte zu viel versprochen, sie erschrak,
fürchtete, daß sie es nicht würde halten können, – es ist doch klar.
Hier gibt es ganz furchtbare Gründe ...

Aber wozu ist sie gestorben? – das bleibt immerhin die Frage. Diese
Frage klopft, klopft in meinem Hirn, klopft, klopft ... Ich hätte sie
doch einfach _so_ in Ruh gelassen, wenn sie gewollt hätte, daß es
einfach _so_ bliebe. Sie aber konnte nicht daran glauben, das war’s!
Nein nein, ich lüge, gar nicht das war’s. Einfach, weil man mit mir
ehrlich sein mußte: lieben, dann auch ganz lieben, nicht aber so, wie
sie den Kaufmann geliebt hätte. Da sie aber zu keusch war, zu rein, um
sich mit solch einer Liebe, wie sie der Kaufmann braucht, abzufinden, so
wollte sie mich nicht betrügen. Wollte mich nicht mit einer Halb-Liebe
unter dem Anschein der Liebe betrügen oder mit einer Viertel-Liebe.
Solche sind schon allzu ehrlich, das ist’s! Hochherzigkeit hatte ich ihr
einimpfen wollen, wissen Sie noch? Sonderbarer Gedanke.

Ungemein interessant wäre doch zu wissen, ob sie mich überhaupt geachtet
hat? Ich weiß nicht, hat sie mich verachtet oder nicht? Ich glaube
nicht, daß sie mich verachtet hat. Wie sonderbar: warum ist es mir kein
einziges Mal in den Sinn gekommen, im ganzen langen Winter, daß sie mich
verachtet? Ich war im höchsten Grade vom Gegenteil überzeugt bis zu
demselben Augenblick, da sie mich damals plötzlich mit _strenger
Verwunderung_ anblickte. Gerade mit _strenger_. Da begriff ich denn mit
einem Mal, daß sie mich verachtete. Begriff es unwiderruflich, auf ewig!
Ach, gut, gut, möge sie mich verachten, meinetwegen das ganze Leben
lang, aber – möge sie nur leben, leben! So kürzlich war es noch, daß sie
hier herumging, sprach. Ich begreife wirklich nicht, wie sie sich aus
dem Fenster gestürzt hat! Und wie hätte ich mir das nur fünf Minuten
vorher denken können? Ich rief Lukerja. Oh, die Lukerja, die lasse ich
jetzt auf keinen Fall fort, auf keinen Fall!

Wir hätten uns ja noch besprechen können, wir waren doch schon
übereingekommen. Nur hatten wir uns im Winter so entwöhnt von einander,
– aber hätten wir uns denn nicht wieder aneinander gewöhnen können?
Warum, warum hätten wir nicht wieder eine Ehe führen und ein ganz neues
Leben beginnen können? Ich bin großmütig und sie ist es gleichfalls – da
hätten wir ja schon einen Einigungspunkt! Noch ein paar Worte, noch zwei
Tage – nicht mehr, das hätte genügt, und sie würde alles begriffen
haben.

Vor allen Dingen ist das kränkend, daß es nur ein Zufall war, – ein
gewöhnlicher, barbarischer, passiver Zufall! Das ist ja das
Beleidigende! Fünf Minuten, im ganzen, im ganzen nur fünf Minuten bin
ich zu spät gekommen! Wäre ich fünf Minuten früher zurückgekehrt – und
der Augenblick wäre wie eine Wolke vorübergezogen, und es wäre ihr nie
wieder in den Sinn gekommen. Und schließlich hätte sie alles begriffen.
Jetzt aber sind die Zimmer wieder leer, wieder bin ich allein. Dort
tickt der Pendel, ihn geht es nichts an, ihm tut nichts leid. Niemand
ist bei mir – das ist das Unglück!

Ich gehe, die ganze Zeit gehe ich ... Ich weiß, ich weiß, sagt mir nicht
vor: Ihr lächelt darüber, daß ich den Zufall anklage und die fünf
Minuten? Aber hier liegt es doch auf der Hand! Bedenken Sie bloß eines:
sie hat nicht mal einen Zettel hinterlassen, daß ... nun, so, wie ihn
alle hinterlassen. Anderenfalls hätte sie sich doch sagen müssen, daß
man jetzt sogar Lukerja verdächtigen könnte ... „Bist ganz allein mit
ihr gewesen, also hast Du sie zum Fenster hinausgestoßen.“ Wenigstens
hätte man Lukerja doch beunruhigen können, wenn nicht zufällig vier
Zeugen vorhanden wären, die aus ihren Fenstern gesehen haben, wie sie
mit dem Heiligenbild im offenen Fenster gestanden und sich selbst
hinuntergestürzt hat. Das ist doch ein reiner Zufall, daß diese vier es
gesehn haben. Nein, das Ganze – war nur ein Augenblick, bloß ein
willkürlicher Augenblick, in dem sie sich von ihrer Tat nicht
Rechenschaft ablegte ... Plötzlichkeit und Phantasie! Was will’s
besagen, daß sie vor dem Heiligenbild gebetet hat? Das bedeutet doch
nicht, daß sie vor dem Tode ... Dieser Augenblick hat vielleicht im
ganzen nur irgend welche zehn Minuten gedauert, den ganzen Entschluß hat
sie gefaßt – gerade als sie, den Kopf in die Hand gestützt, an der Wand
stand und lächelte. Der Gedanke ist ihr plötzlich durch den Kopf
gegangen, hat ihr Schwindel verursacht und – und sie hat ihm nicht
widerstehen können.

Das war ein augenscheinliches Mißverständnis – was Sie da auch einwenden
mögen. Mit mir könnte man doch leben ... Wie aber, wenn es Blutarmut
war? ... Einfach aus Blutarmut, aus Erschöpfung der Lebensenergie? Müde
war sie geworden im Winter, das war’s ...

Zu spät!!!

Wie schmal sie im Sarge ist, wie das Näschen sich zugespitzt hat! Die
Wimpern liegen wie kleine Zeiger. Und wie sie doch gefallen ist – nichts
hat sie sich zerschlagen, nichts verunstaltet! Nur dieser eine „Löffel
voll Blut“, nur ein Teelöffelvoll. Innere Verblutung.

Sonderbarer Einfall ... wenn es möglich wäre, sie _nicht_ zu beerdigen?
Denn, wenn man sie fortträgt ... oh, nein, sie fortbringen ist fast
unmöglich! Oh, ich weiß ja, daß man sie fortbringen muß, ich bin doch
nicht wahnsinnig, ich phantasiere doch nicht, im Gegenteil, – nie noch
ist mein Verstand so wach gewesen, aber wie soll denn das wieder so: –
wieder kein Mensch im Hause, wieder zwei Zimmer und wieder ich allein
mit den Pfändern ... Fieberphantasie, Fieberphantasie ... das ist ja
Fieberphantasie! Ich habe sie zu Tode gequält – das ist’s!

Was sind mir jetzt Eure Gesetze? Was sollen mir jetzt Eure Gebräuche,
Eure Sitten, Euer Leben, Euer Staat, Euer Glaube? Möge mich Euer Richter
richten, möge man mich vor Euer Gericht schleppen, vor Euer
Geschworenengericht, und ich werde sagen, daß ich nichts anerkenne! Der
Richter wird mich anschreien: „Schweigen Sie, Offizier!“ Ich aber rufe
zurück: „Woher willst Du solch eine Macht nehmen, daß ich Dir jetzt
gehorchte? Warum hat finstere Passivität das zerschlagen, was mir am
teuersten war? Was sind mir denn jetzt Eure Gesetze?! Ich scheide mich
aus! Oh, ist mir doch alles gleich!“

Du blindes, blindes Wesen du! – Tot, – sie hört nicht – ... Du weißt
nicht, mit welch einem Paradies ich Dich umgeben hätte. Das Paradies war
in meiner Seele, ich hätte es um Dich gepflanzt! Gut, Du hättest mich
nicht geliebt, – sei’s drum, nun, und – was? Alles wäre jetzt einfach
_so_ und würde auch einfach _so_ bleiben. Würdest mir nur wie einem
Freunde erzählen, – und da würden wir uns denn freuen, würden zusammen
lachen, freudig uns in die Augen blicken. Und so würden wir denn gelebt
haben ... Und wenn Du einen anderen lieb gewinnen solltest, – nun, sei’s
drum, sei’s drum! Du würdest dann mit ihm gehn und lachen, ich aber
würde nur von der anderen Straßenseite sehn ... Ach, alles alles! nur
möge sie noch einmal die Augen aufschlagen! Nur auf einen Augenblick,
nur auf einen! mich anblicken, so wie vorhin, da sie vor mir stand und
schwor, daß sie mein treues Weib sein würde! Ach, mit einem einzigen
Blick würde sie alles begreifen!

Oh Natur! Die Menschen sind einsam auf der Erde – das ist das Unglück!
„Sprich, Ferne, lebt in dir ein Mensch?“ rief einstmals, wie unser
Heldensang uns sagt, in alten Zeiten der fahrende russische Held. So
rufe auch ich, doch niemand gibt mir Antwort und die Ferne verschlingt
das Echo. Es heißt, die Sonne belebe das Weltall. Wenn die Sonne aufgeht
– so seht sie doch an, – ist das nicht eine Leiche? ist sie nicht tot?
... Alles ist tot und überall sind Tote. Allein die Menschen sind noch,
doch um sie herum ist Schweigen – das ist die Erde! Es tickt ... tickt
... tickt der Pendel, gefühllos, widerlich ... zwei Uhr nachts. Ihre
Schuhchen stehn am Bett, ganz als ob sie sie erwarteten ... Nein, im
Ernst, wenn man sie morgen fortträgt – was soll ich dann?




                                Bobock.


Dieses Mal bringe ich meinen Lesern die „Aufzeichnungen eines gewissen
Menschen“. Dieser Mensch bin nicht ich; das ist vielmehr ein ganz
anderer. Ich glaube, ein Vorwort ist weiter nicht nötig.


                Aufzeichnungen eines gewissen Menschen.

Fährt mich da plötzlich dieser Ssemjon Ardaljonowitsch ganz ohne
weiteres an:

„Sag’ doch bitte, Iwan Iwanytsch, wirst Du überhaupt einmal nüchtern
werden oder nicht!?“

Sonderbare Anforderung! Fühle mich aber nicht gekränkt. Bin ein
schüchterner Mensch. Einstweilen aber hat man mich schon für verrückt
erklärt. Ein Maler hat mich porträtiert. Ganz zufällig. „Bist doch,“
sagt er, „immerhin Literat!“ Meinetwegen. Und so saß ich ihm dreimal.
Jetzt hat er’s ausgestellt. Kurz darauf lese ich: „Man beeile sich,
dieses kranke, dem Wahnsinn nahe Gesicht anzusehen!“

Meinetwegen. Aber trotzdem: wie kann man das nur so öffentlich in der
Zeitung sagen? Schreiben muß man doch nur Edles; Ideale tun not; und da
schreiben sie nun so was! ...

Sag’ es doch wenigstens indirekt, dazu gibt es doch Redewendungen! Nein,
er will es nicht mehr indirekt sagen. Humor und guter Stil verschwinden
heutzutage spurlos und Geschimpf wird jetzt für Witz und Scharfsinn
gehalten. Nein. Fühle mich nicht gekränkt: bin nicht Gott weiß was für
ein Literat, um verrückt zu werden. Schrieb mal eine Novelle – wurde
nicht gedruckt. Schrieb ein Feuilleton – wurde abgewiesen. Solcher
Feuilletons habe ich etliche in verschiedene Redaktionen geschleppt:
vergeblich. „Sie haben,“ heißt es, „kein Salz in Ihren Schriften.“

„Was wollen Sie denn für ein Salz,“ frage ich spöttisch, „– etwa
attisches?“

Begreifens nicht einmal. Übersetze größtenteils für Buchhändler aus dem
Französischen. Schreibe auch Reklameannoncen für Kaufleute: „Seltenheit!
Prima Sorte! Roter Tee von eigenen Plantagen! ...“ Zapfte auch einmal
dem seligen Pjotr Matwejitsch ein stattliches Sümmchen für einen
Panegyrikus ab. Schrieb: „Die Kunst gefällt dem schönen Geschlecht“ auf
Bestellung des Buchhändlers. Ja, solcher Büchelchen habe ich schon an
sechs Stück in meinem Leben verfaßt. Will zwar schon lange Voltaires
Bonmots sammeln, fürchte aber, daß man sie fade finden wird. Was soll
man heutzutage noch mit Voltaire! Knüppeldummheit, aber nicht Voltaire!
Würden einander die letzten Zähne einschlagen. Das wäre also meine ganze
literarische Tätigkeit. Es sei denn, daß man noch mitrechnete, was _ich_
so an ganz uneigennützigen Briefen an die Redaktionen verfaßt habe.
Schicke sie stets mit meiner vollen Unterschrift. Ermahne, gebe
Ratschläge, kritisiere und weise auf den richtigen Weg. An eine dieser
Redaktionen habe ich in der vorigen Woche den vierzigsten Brief gesandt;
macht vier Rubel allein für Postmarken. Mein Charakter taugt nichts, das
ist’s.

Ich glaube, der Maler hat mich nicht wegen der Literatur gemalt, sondern
wegen der zwei symmetrisch auf meiner Stirn wachsenden Warzen: ein
Phänomen, sagt man. Haben ja keine Ideen mehr, da versuchen sie es denn
jetzt mit den Phänomena. Dafür aber, wie sind bei ihm meine Warzen auf
dem Bilde herausgekommen? – _lebendig_, sag ich Ihnen! Das nennen sie
jetzt Realismus.

Was aber das Verrücktsein anbetrifft, so haben sie ja bei uns im vorigen
Jahre viele für verrückt erklärt. Und noch dazu in welch einem Stil:
„Solch ein selbständiges Talent!“ schreiben sie zuerst verwundert, dann
zum Schluß des Artikels: „übrigens war es schon längst vorauszusehen
...“ Das ist ja noch ganz gerieben. Könnte es vom Gesichtspunkte der
reinen Kunst sogar loben. Warum auch nicht? Sie selbst aber sind dann
plötzlich ungemein klug. Das ist’s ja! für verrückt erklären, das kann
man bei uns schon, aber irgend jemanden klüger machen, das bringt man
doch noch nicht fertig.

Der klügste ist meiner Meinung nach, wer sich freiwillig wenigstens
einmal im Monat selbst einen Esel nennt, – heutzutage eine unerhört
seltene Begabung. Früher sagte sich der Esel mindestens einmal im Jahr,
daß er ein Esel ist, jetzt aber – nie und nimmer. Und derart haben sie
jetzt alles verdreht, daß man, Hand aufs Herz, den Klugen wahrlich auf
keine Weise mehr vom Esel unterscheiden kann. Das haben sie natürlich
mit Absicht getan.

Soeben fällt mir eine spanische Anekdote ein. Man sagte dort vor
zweieinhalb Jahrhunderten, als die Franzosen das erste Tollhaus bauten:
„Die haben alle ihre Dummköpfe in ein besonderes Haus eingesperrt, um
glauben zu machen, daß sie selbst kluge Leute sind“. Die Spanier haben
recht: damit, daß man den anderen in die Irrenanstalt einsperrt, will
man ja nur seinen eigenen Verstand beweisen. „X. ist verrückt geworden,
– daraus folgt, daß wir jetzt klug sind.“ Nein, das folgt daraus noch
längst nicht.

Hm! ... Teufel! – wozu mache ich auch mich denn mit meinem Verstande so
breit? Schwatze, schwatze ... Sogar der Dienstmagd bin ich langweilig
geworden: will mir nicht einmal mehr zuhören. Hat’s satt. Gestern kam
ein Bekannter zu mir.

„Dein Stil,“ sagt er, „verändert sich: wird gehackt. Du hackst, hackst –
und das soll dann eine Einleitung sein. Und dann kommt zu dieser
Einleitung noch eine Einleitung, und die hat wiederum ein Vorwort, und
dann schickst Du in Klammern noch etwas voraus, und dann geht das Hacken
von neuem los.“

Er hat recht. Es geschieht wirklich etwas Sonderbares mit mir. Auch mein
Charakter ändert sich und der Kopf tut mir weh. Ich fange schon an, ganz
absonderliche Sachen zu hören und zu sehen. Nicht, daß es gerade Stimmen
wären, aber es scheint mir immer, als ob irgend etwas oder irgend jemand
neben mir gluckst: „bobock, bobock, bobock!“

Was zum Teufel ist das für ein „bobock“? Muß mich zerstreuen.

                   *       *       *       *       *

Ging mich zerstreuen, stieß auf eine Beerdigung. Entfernter Verwandter.
Einstweilen aber doch Kollegienassessor. Eine Witwe, fünf Töchter – alle
ledig. Allein, wenn man die Stiefel berechnet, was kostet das! Der
Selige verstand noch zu verdienen, aber jetzt – Pensiönchen. Müssen aber
auch auskommen. Mich haben sie immer ungern empfangen. Wäre auch jetzt
nicht hingegangen, wenn’s nicht solch ein Ausnahmefall gewesen wäre.
Ging bis zum Friedhof mit den anderen zusammen; wenden sich von mir ab,
tun wichtig. Allerdings, mein Überzieher ist wirklich schon etwas
schäbig. Es werden wohl so fünfundzwanzig Jahre her sein, daß ein
Friedhof mich nicht mehr gesehen hat. Das wäre noch so ein Plätzchen!

Aber der Geruch! An Leichen waren etwa fünfzehn angekommen. Särge zu
verschiedenen Preisen; sogar zwei Katafalke gab es: für einen General
und irgend eine Dame. Viel traurige Gesichter, viel auch geheuchelte
Trauer, und viel unverhohlene Fröhlichkeit. Die Geistlichkeit hat nicht
zu klagen: gute Einkünfte. Aber der Geruch, der Geruch! Würde hier nicht
Geistlicher sein wollen.

Nur vorsichtig blickte ich in die Särge, den Toten ins Gesicht[7]: kann
nicht wissen, was für einen Eindruck sie auf mich machen werden.
Zuweilen haben sie einen sanften Ausdruck, zuweilen einen unangenehmen.
Überhaupt – ihr Lächeln ist nicht gut, und bei manchen ist’s sogar
schrecklich. Lieb’s nicht. Spuken dann im Traum.

Nach der Messe ging ich aus der Kirche an die frische Luft; der Tag war
ein wenig trübe, dafür aber trocken. Und auch kalt; nun, wir haben ja
schon Oktober. Ging zu den anderen. Verschiedene Klassen. Die dritte zu
dreißig Rubel: anständig und doch nicht so teuer. Die ersten zwei in der
Kirche; natürlich nur für große Beutel. Drittklassig wurden diesmal an
sechs beerdigt, darunter auch der General und die Dame.

Warf einen Blick in die Gräber – furchtbar: Wasser, und welch ein
Wasser! vollkommen grün und – ’s ist wahr, wahrhaftig! – der Totengräber
schöpfte es fortwährend heraus. Ging, so lange die Messe noch gelesen
wurde, ein wenig auf die Straße – spazieren. Dort ist gleich das
Armenhaus und etwas weiter ein Restaurant. Und durchaus kein übles:
Imbiß, Frühstück, Schnäpse. War voll von den Begleitenden. Bemerkte viel
aufrichtige Lustigkeit und Begeisterung. Ich trank mein Glas und aß ein
Brötchen dazu. –

Darauf beteiligte ich mich eigenhändig an der Überführung des Sarges aus
der Kirche zum Grabe. Warum werden die Menschen als Leichen immer so
schwer im Sarge? Man sagt, infolge irgend einer Inertie, weil der Körper
sich nicht mehr selbst trage ... oder sonst einen Blödsinn ähnlicher
Art; widerspricht der Mechanik und dem gesunden Menschenverstand. Kann’s
nicht leiden, wenn man mit einer bloß allgemeinen Bildung über
Spezialfragen urteilen will; bei uns aber tun das alle ohne Ausnahme.
Zivilbeamte lieben es, über Militär oder gar Generalstabsfragen zu
urteilen, und Ingenieure über Philosophie und Staatsökonomie.

Fuhr nicht zum Totenschmaus. Bin stolz, und wenn man mich nur im
äußersten Notfall empfängt, wozu soll ich mich dann an ihre Tische
drängen, selbst wenn es sich um einen Toten handelt? Begreife nur nicht,
warum ich auf dem Friedhof blieb. Setzte mich auf einen Grabstein und
verfiel in entsprechende Gedanken.

Begann mit der Moskauer Ausstellung und endete schließlich bei dem „sich
wundern“ – letzteres im allgemeinen genommen, so als Thema überhaupt.
Kam über dieses „sich wundern“ zu folgendem Schluß:

„Sich über alles wundern ist natürlich dumm, sich aber über nichts
wundern ist viel hübscher und aus irgend einem Grunde sogar guter Ton.
Doch ist es in Wirklichkeit wohl kaum so. Meiner Meinung nach ist sich
über nichts wundern viel dümmer, als sich über alles wundern, ja, ist
fast dasselbe, wie nichts achten. Aber ein dummer Mensch versteht ja
auch nicht zu achten.“

„Vor allen Dingen will ich achten! Ich _lechze_ danach, achten zu
können,“ sagte mir vor ein paar Tagen einer meiner Bekannten.

Lechzt danach, achten zu können! Herrgott, dachte ich, was würde wohl
aus dir werden, wenn du es jetzt wagtest, das drucken zu lassen!

Verlor mich darüber in Gedanken. Liebe es nicht, die Grabinschriften zu
lesen; ewig dasselbe. Neben mir auf der Marmortafel lag ein angebissenes
Butterbrot; dumm und nicht am Platz. Warf es auf die Erde, denn das war
ja kein Brot; bloß ein Brötchen. Übrigens ist auf die Erde Brot werfen,
glaub ich, nicht Sünde; nur auf den Fußboden. Vielleicht ist’s auch
umgekehrt. Muß in Ssuworins Kalender nachschlagen.

Es ist anzunehmen, daß ich lange saß, sogar zu lange; wollte sagen, daß
ich mich auf der großen Marmorplatte sogar ausstreckte. Und wie das
eigentlich so kam, daß ich plötzlich verschiedene Dinge hörte? Beachtete
es zuerst natürlich nicht weiter; fand’s verächtlich. Einstweilen aber
setzte sich das Gespräch fort. Höre –: dumpfe Laute, als ob man ihnen
den Mund mit Kissen zugedrückt hätte; und bei alledem waren die Stimmen
doch deutlich vernehmbar, als ob sie ganz nah gesprochen hätten. Ich
erwachte, richtete mich auf, setzte mich und hörte aufmerksam zu.

„Aber Exzellenz, ich bitt’ Sie, das geht doch wirklich nicht! Sie sagten
Coeur an, ich nehme das Spiel auf und plötzlich haben Sie Carreau
sieben! Das hätte man doch im voraus abmachen müssen, ich bitt’ Sie!“

„Wie, was – also auswendig, aus dem Gedächtnis spielen? I, wo bleibt
denn da die Gemütlichkeit?“

„Das geht nicht, Exzellenz, ich bitt’ Sie, ohne Garantien geht’s
wirklich nicht! Sie müssen noch einmal die Karten geben, aber vergessen
Sie diesmal nicht den Schafskopf ...“

„Nun, einen solchen gibt es hier wohl kaum, dächte ich.“

Welch hochmütige Worte! Ganz sonderbar und wie unerwartet! Die eine
Stimme so selbstbewußt, solide, die andere süßlich schmeichelnd. Hätt’s
wirklich nicht geglaubt, wenn ich es nicht mit eigenen Ohren gehört
haben würde. Zum Leichenschmaus war ich, glaub ich, doch nicht gegangen
... Hier Préférence zu spielen! Und was ist das für eine Exzellenz? Daß
die Stimmen aus den Gräbern kamen, daran war nicht zu zweifeln. Ich
rückte etwas zur Seite und las die Inschrift auf dem Marmor.

„Hier ruht Generalmajor Perwojedoff ... Ritter dieser und dieser Orden,
... gest. im August ... im siebenundfünfzigsten ... Ruhe sanft bis zur
seligen Auferstehung!“

Hm, wahrhaftig ein General! Auf dem andern Grabe, aus dem die
schmeichlerische Stimme kam, war noch kein Denkmal: nur eine kleine
Steinplatte; wohl ein Neuling. Der Stimme nach ein Hofrat.

„Och – chohoho!“ ertönte plötzlich eine neue Stimme, ungefähr fünf
Schritt vom Generalsgrabe, unter einem noch ganz frischen Hügel hervor;
eine Männerstimme, so eine einfachere, wie man sie im Volke hört; jetzt
aber andächtig-gerührt und ein wenig schwach.

„Och – chohoho!“

„Ach, schon wieder stöhnt er!“ erklang plötzlich die launische,
anmaßende Stimme einer gereizten Dame der höheren Gesellschaft, wie’s
schien. – „Wirklich ein Kreuz, neben diesem Krämer zu liegen!“

„Hab gar nicht gestöhnt, hab doch schon lange nichts gegessen, das ist
einzig nur so meine natürliche Gewohnheit. – Und immer können Sie,
Gnädige, von Ihren Launen noch nicht lassen.“

„Warum haben Sie sich denn hierher gelegt?“

„Hab mich nicht selbst hierher gelegt, begraben haben mich meine Frau
und meine kleinen Kinderchen, nicht selbst hab ich mich hier hingelegt.
Das ist eben das Geheimnis des Todes! Hätt ich mich doch selber nie und
nimmer neben Sie gelegt, für kein Gold der Welt! Liege hier nur infolge
meines eigenen Kapitals, nach dem Preis zu urteilen. Denn das können
wir, daß wir für unser Grabchen drittklassig zahlen.“

„Will’s gern glauben; auf das Leutebetrügen werden Sie sich schon
verstehen.“

„Wo soll man Sie denn betrügen, wenn Sie schon seit dem Januar nichts
mehr bezahlt haben. Ich hab noch eine nette Rechnung für Sie in meinem
Kassenbuch.“

„Das ist aber wirklich stark! Da sehen wir’s ja, wie Sie sind! Sogar
hier noch wollen Sie Ihre Rechnungen einkassieren! Gehen Sie nur nach
oben. Fragen Sie bei meiner Nichte; die ist die Erbin.“

„Ach Gott, wo soll man jetzt noch fragen, und wohin gehn! Sind beide
begraben und vor Gott beide in Fehl und Sünde gleich.“

„In Fehl und Sünde!“ spottete die Tote verächtlich. „Unterstehen Sie
sich nicht, mit mir zu sprechen!“

„Och – chohoho!“

„Aber der Krämer gehorcht ihr doch, Exzellenz.“

„Warum sollte er denn auch nicht gehorchen?“

„Das schon, aber hier gibt es doch bekanntlich eine neue Ordnung,
Exzellenz.“

„Was ist denn das für eine neue Ordnung?“

„Aber wir sind doch, wie man zu sagen pflegt, gestorben, Exzellenz.“

„Ach ja, richtig! Nun, aber immerhin eine Ordnung ...“ –

Na, das muß ich sagen, die haben mich wirklich zerstreut! Wenn es schon
hier dazu kommt, was soll man dann noch von der oberen Etage erwarten?
Was für Späßchen, in der Tat! Fuhr einstweilen fort, zuzuhören, wenn
auch mit tiefem Unwillen.

                   *       *       *       *       *

„Nein, ich würde aber leben! Nein ... ich, wissen Sie ... ich würde aber
leben!“ hörte ich da plötzlich eine neue Stimme, irgendwoher, so in der
Mitte zwischen dem General und der reizbaren Dame.

„Hören Sie, Exzellenz? Unser Alter fängt wieder an. Schweigt, schweigt
drei Tage lang womöglich, und mit einem Mal: ‚Ich würde aber leben,
nein, ich würde aber leben!‘ Und mit solch einem, wissen Sie, Appetit,
sagt er es, hi – hi!!“

„Und Leichtsinn.“

„Ihm geht’s schon nah, Exzellenz, und, wissen Sie, er schläft schon ein,
ja, ja, er fängt bereits an, ganz einzuschlafen, ist doch seit dem April
hier – und plötzlich: ‚ich würde aber leben!‘“

„Ziemlich langweilig,“ bemerkte seine Exzellenz.

„Langweilig, Exzellenz? Sollte man dann nicht wieder Awdotja Ignatjewna
ein wenig necken, hi – hi, – wie?“

„Nein, da muß ich Sie doch bitten, mich mit der ungeschoren zu lassen.
Kann diese keifende Schachtel nicht ausstehen.“

„Ich aber kann Sie alle beide nicht ausstehen!“ schrie sofort die
Schachtel erbost zurück. „Alle beide sind Sie sterbenslangweilig, und
keiner von Ihnen versteht etwas Ideales zu erzählen. Ich aber könnte,
wenn ich wollte, ein Geschichtchen von Ihnen, Exzellenz, – bitte seien
Sie nicht so hochnasig –, könnte ein Geschichtchen von Ihnen erzählen,
... wie ein Diener Sie früh morgens mit dem Besen unter einem Ehebett
hervorgekehrt hat ...“

„Gemeines Frauenzimmer!“ stieß der General brummend zwischen den Zähnen
hervor.

„Mütterchen Awdotja Ignatjewna,“ rief plötzlich wieder der Kaufmann
dazwischen, „sag mir doch, meine Herrin, ohne des Bösen zu gedenken, sag
mir doch, muß ich jetzt alleweil die Übergänge und Zustände der Seele
nach dem Tode erst durchmachen, oder was ist das sonst?“

„Ach, da kommt er schon wieder damit, ahnte ich’s doch! Also von ihm
rührt dieser Geruch her, also er verwest jetzt schon!“

„Ich verwese noch längst nicht, Mütterchen, und ich kann nicht sagen,
daß von mir irgend solch ein besonderer Geruch ausginge, hab mich noch
wie ich war an ganzem Leibe erhalten, aber Sie, Gnädige, Sie fangen ja
schon an, in einen anderen Zustand überzugehen – denn der Gestank ist
wirklich stark, sogar bis zu mir her. Schwieg bis jetzt nur aus
Höflichkeit.“

„Ach, Sie schändlicher Lügner! Von ihm riecht es, daß man ohnmächtig
werden könnte, und er hat noch die Frechheit, es auf mich zu schieben!“

„Och – chohoho! Wenn doch bald mein vierzigster Tag[8] käme: hörte dann
ihre traurigen Stimmen über mir, meines Weibes Schluchzen und der Kinder
stilles Weinen! ...“

„Ach, hört doch, worüber der trauert! Die werden schon den Reis[9] zu
deiner Totenfeier verzehren, da sei Du unbesorgt! Ach, wenn doch
wenigstens jemand erwachen würde!“

„Awdotja Ignatjewna,“ rief sofort der Beamte – ein Hofrat, glaub ich –
„warten Sie nur noch einen Augenblick, bald werden Neue erwachen!“

„Ach, gibt es auch Junge unter ihnen?“

„Gewiß, gewiß, auch Junge – sogar Jünglinge!“

„Ach, das ist ja herrlich!“

„Wie, sind sie denn noch nicht erwacht?“ erkundigte sich seine
Exzellenz.

„Selbst vorvorgestrige sind noch nicht erwacht; Exzellenz wissen es doch
selbst, daß man sie gestern, vorgestern und heute mit einem Mal ganz
plötzlich und zu gleicher Zeit angefahren hat. Sonst sind doch um uns
etwa zehn Schritt in der Runde alles vorjährige.“

„Hm! interessant!“

„Und wissen Sie, Exzellenz, heute hat man den Wirklichen Geheimrat
Tarassewitsch beerdigt. Ich erkannte die Stimmen. Seinen Neffen kenne
ich sehr gut, – der half vorhin den Sarg versenken.“

„Hm – wo liegt er denn hier?“

„Etwa fünf oder sechs Schritt links von Ihnen, Exzellenz. Fast gerade
Ihnen zu Füßen ... Wie wär’s, Exzellenz, wenn Sie sich mit ihm bekannt
machen würden?“

„Hm, nein – wie denn!? ... ich kann doch nicht als erster ...“

„O, er wird schon selbst anfangen, Exzellenz. Er wird sich sogar sehr
geschmeichelt fühlen, überlassen Sie es nur mir, Exzellenz, ich ...“

„Ach, ach ... ach, was ist mit mir?“ ließ sich da plötzlich ein neues,
keuchendes, ganz erschrockenes Stimmchen hören.

„Ein Neuer, Exzellenz, ein Neuer, Gott sei Dank, und wie schnell
erwacht! Zuweilen schweigen sie ja eine ganze Woche.“

„Ach, ich glaube, es ist ein junger!“ rief Awdotja Ignatjewna verzückt
aus der Fistel.

„Ich ... ich ... ich bin an einem Rückfall und so plötzlich!“ stammelte
wieder der Jüngling. „Noch am Abend untersuchte mich Schulz: Sie haben
sich wieder erkältet, sagte er, haben einen Rückfall, und am Morgen
starb ich plötzlich. Ach! Ach!“

„Nun, nichts zu machen, junger Mann,“ meinte der General,
augenscheinlich gnädigst über den Neuling erfreut, „– man muß sich
trösten! Willkommen in unserem, wie man sagt, Tale Josaphat. Wir sind
gute Menschen; Sie werden uns ja selbst kennen und schätzen lernen.
Generalmajor Wassili Wassiljewitsch Perwojedoff, zu Ihren Diensten.“

„Ach, nein! Nein, nein, das kann ich auf keinen Fall! Ich, wissen Sie,
bei mir hat sich eine Verschlimmerung eingestellt, zuerst war’s nur die
Brust und der Husten, dann aber erkältete ich mich: Brust und
Katarrhalfieber ... und dann plötzlich ganz unerwartet ... das ist es
ja, daß es so ganz unerwartet kam!“

„Sie sagen, zuerst war es nur die Brust?“ mischte sich mit freundlicher
Stimme der Beamte ein, ganz als ob er den Jüngling ermuntern wollte.

„Ja, die Brust und Schleimauswurf, dann aber hörte der plötzlich auf und
– ich kann nicht mehr atmen ... und wissen Sie ...“

„Ich weiß, ich weiß. Aber wenn’s die Brust war, so hätten Sie zu Eck
gehen sollen, aber nicht zu Schulz.“

„Ich aber, wissen Sie, wollte immer zu Botkin gehen ... und plötzlich
...“

„Nun, Botkin schneidet,“ bemerkte der General.

„Ach nein, das ist gar nicht wahr, er schneidet gar nicht! Ich habe
gehört, er soll so aufmerksam sein, und alles voraussagen.“

„Seine Exzellenz meinte es nur in betreff des Preises,“ berichtigte der
Beamte.

„Ach – gar nicht, nur drei Rubel und er untersucht so gut und das Rezept
... und ich wollte es unbedingt, weil man mir gesagt hatte ... Ja, wie
denn nun, meine Herren, was soll ich tun, zu wem soll ich jetzt: zu Eck,
oder zu Botkin?“

„Wie? Wohin?“ fragte interessiert der General und in gemütlichem Lachen
schüttelte sich seine Leiche. Der Beamte sekundierte ihm natürlich
sofort in der Fistel.

„Mein lieber Junge, mein lieber fröhlicher Junge, wie ich Dich liebe!“
fiel bezaubert Awdotja Ignatjewna etwas kreischend ein. „Ach, wenn man
doch solch einen neben mich gebettet hätte!“ –

Nein, das ist aber doch unmöglich. Und das soll ein Toter unseres
Jahrhunderts sein! Einstweilen kann man aber noch zuhören und mit dem
letzten Urteil noch etwas warten. Dieser grüne Neuling – ich erinnerte
mich noch, wie er vorhin im Sarge aussah: Ausdruck eines erschrockenen
Huhnes, der allerwiderlichste der ganzen Welt! Aber was weiter.

                   *       *       *       *       *

Doch was dann kam, war solch ein Chorus von Stimmen, daß ich alles nicht
einmal behalten konnte, denn es erwachten sehr viele zu gleicher Zeit,
unter anderen auch ein höherer Beamter, einer von den Staatsräten, der
mit dem General sofort ein Gespräch anknüpfte über das Projekt einer
Unterkommission im Ministerium der öffentlichen Arbeiten und die
mutmaßlich damit in Verbindung stehende Versetzung der Amtspersonen, –
wodurch er den General ersichtlich ungemein, ganz ungemein zerstreute.
Ich muß gestehen, daß auch ich bei der Gelegenheit viel Neues erfuhr, –
schüttelte noch mein Haupt über die sonderbaren Wege, auf denen man hier
in dieser Hauptstadt administrative Neuigkeiten erfahren kann. Darauf
erwachte auch halb und halb ein Ingenieur, schwätzte jedoch noch lange
allerhand Unsinn, sodaß die anderen ihn vorläufig nicht belästigten,
sondern ihn erst „sich ausliegen“ ließen. Zum Schluß bekundete auch noch
die am Morgen unter dem Katafalk beerdigte vornehme Dame einige
Anzeichen der Grabesbeseelung. Lebesätnikoff, – es stellte sich nämlich
heraus, daß der schmeichlerische, mir verhaßte Hofrat, der sich neben
dem General Perwojedoff befand, Lebesätnikoff hieß – nun ja, war
furchtbar verwundert und in Anspruch genommen durch den ungewöhnlichen
Umstand, daß dieses Mal die meisten so bald erwachten. Muß gestehen:
auch mich nahm’s ein wenig wunder. Übrigens waren einige von den
Erwachenden bereits vor drei Tagen beerdigt worden, wie z. B. ein ganz
junges Mädchen, eine Sechzehnjährige, die aber die ganze Zeit über nur
kicherte ... Widerlich.

„Exzellenz, Geheimrat Tarassewitsch ist soeben im Begriff, zu erwachen,“
meldete plötzlich Lebesätnikoff mit ungewöhnlicher Eilfertigkeit.

„A? was?“ fragte da auch schon – ein wenig wie im Halbschlaf – der
erwachende Geheimrat mit einer anmaßenden, quäkenden Stimme, in der
etwas Eigensinnig-Befehlendes lag. Ich horchte interessiert auf, denn in
den letzten Tagen hatte ich viel von diesem Tarassewitsch reden gehört –
im höchsten Grade Verfängliches und Aufregendes.

„Das bin ich, Exzellenz, vorläufig nur ich.“

„Was wollen Sie?“

„Einzig mich um das Befinden Eurer Exzellenz erkundigen; aus
Ungewohnheit fühlt sich hier fast jeder anfänglich ein wenig beengt.
Entschuldigen Sie ... General Perwojedoff würde es sich zur Ehre
anrechnen, die Bekanntschaft Eurer Exzellenz zu machen, und hofft ...“

„Kenne nicht.“

„Unmöglich, Exzellenz, General Perwojedoff, Wassili Wassiljewitsch ...“

„Sie sind also General Perwojedoff?“

„Nein, Verzeihung, Exzellenz, nicht ich, ich bin im ganzen nur Hofrat
Lebesätnikoff, und stehe zu Ihren Diensten, aber General Perwojedoff
...“

„Blödsinn! Tun Sie mir den Gefallen, mich nicht zu stören.“

„Lassen Sie ihn,“ hielt schließlich würdevoll General Perwojedoff selbst
die unvornehme Eilfertigkeit seines Grabklienten auf.

„Er ist ja noch nicht ganz erwacht, Exzellenz, das muß man doch in
Betracht ziehen; das ist ja bei ihm vorläufig nur Ungewohnheit: wenn er
ganz erwacht, wird er es natürlich anders aufnehmen ...“

„Lassen Sie ihn,“ wiederholte nur der General.

                   *       *       *       *       *

„Wassili Wassiljewitsch! Heda, Exzellenz!“ rief plötzlich laut und
verwegen dicht neben Awdotja Ignatjewna eine ganz neue Stimme, – eine
etwas blasierte „Herren“stimme mit jener gewissen müden Note und frechen
Dehnung einzelner Silben in der Aussprache, wie sie jetzt in der
Gesellschaft Mode ist. – „Ich beobachte Sie alle schon geschlagene zwei
Stunden. Liege doch bereits drei Tage hier, Sie erinnern sich wohl
meiner, Wassili Wassiljewitsch? – Klinewitsch. Haben uns bei Wolokonskis
getroffen, wo man Sie – ich weiß übrigens nicht warum – gleichfalls
empfing.“

„Wie, Graf Pjotr Petrowitsch ... sollten Sie denn wirklich schon ... und
in so jungen Jahren! Wie ich’s bedauere!“

„Tja, bedaure es natürlich gleichfalls, bloß ist es mir jetzt ziemlich
egal, und zudem will ich aus allem das möglichst Beste exstirpieren. Und
– bin nicht Graf, sondern Baron, im ganzen nur Baron. Wir sind ja irgend
solche räudige Barönchen von Lakaienabstammung, tja, und ich weiß auch
wahrhaftig nicht warum, – äh, ’s ist doch übrigens ganz egal. Ich bin
bloß ein Taugenichts der pseudo-höheren Gesellschaft und man hält mich
für einen ‚lieben Polisson‘. Mein Vater, äh, – so ein armseliger
General, und meine Mutter ist einmal ^en haut lieu^ empfangen worden.
Habe mit dem elenden Hebräer Siffel im vorigen Jahre an fünfzigtausend
falsche Scheine fabriziert, und ihn dann angezeigt, doch mit dem Gelde
ist mir Julchen Charpentier de Lusignan exgezogen – äh – nach Bordeaux,
glaube ich. Und denken Sie sich nur, ich war schon so gut wie verlobt –
mit der kleinen Schtschewalewski, drei Monate fehlten ihr noch an
sechzehn Jahren, ist noch im Institut, erbt Neunhunderttausend. Äh,
Awdotja Ignatjewna, erinnern Sie sich noch dessen, wie Sie mich vor etwa
fünfzehn Jahren, als ich noch vierzehnjähriger Page war, verdarben?“

„Ach, das bist Du, Nichtsnutz! Obgleich Dich wohl Gott gesandt hat, aber
sonst wäre es ...“

„Sie haben umsonst Ihren Nachbar, den Negoziant, der Verbreitung des
üblen Geruchs verdächtigt ... Ich schwieg nur und lachte im stillen; –
das geht doch von mir aus; man hat mich ja schon in geschlossenem Sarge
hergebracht.“

„Ach, wie abscheulich er ist! Aber es freut mich trotzdem; Sie können
sich nicht denken, Klinewitsch, werden es sich bestimmt nicht vorstellen
können, welch ein Mangel an Leben und Esprit hier herrscht!“

„Nun ja, nun ja, ... Tja ich beabsichtige hier etwas Originelles
einzuführen, Exzellenz, – nicht Sie, Perwojedoff, – Exzellenz, ich meine
den anderen, Herr Tarassewitsch, äh, Geheimrat! So antworten Sie doch! –
Klinewitsch, der Sie zur Fastenzeit zu Mademoiselle Füry brachte, hören
Sie mich?“

„Ich höre Sie, Klinewitsch, freue mich sehr, und glauben Sie mir ...“

„Glaube Ihnen nicht ein Wort – übrigens, ’s ist doch ganz egal. Ich
möchte Sie, lieber Alter, gerne abküssen, doch kann ich’s Gott sei Dank
nicht. Wissen Sie denn, verehrte Anwesende, was dieser ^grand-père^
angestiftet hat? Er ist vor drei oder vier Tagen gestorben und, – können
Sie sich vorstellen – hat rundum Vierzigtausend Kassendefizit
hinterlassen! Geld der Witwen und Waisen, und er hat aus irgend einem
Grunde ganz allein gewirtschaftet, sodaß man ihn oder vielmehr seine
Bücher etwa acht Jahre nicht mehr revidiert hat. Äh, ich kann mir
denken, was die jetzt dort für lange Gesichter machen werden, und wie
sie seiner gedenken! ^N’est-ce pas^, wonniger Gedanke! Konnte es mir
schon das ganze letzte Jahr nicht erklären, woher diesem siebzigjährigen
Klappergreis, Podagristen und Chiragriker noch Kräfte zu einem so
ausschweifenden Leben verblieben waren und – äh, da haben wir jetzt die
Lösung des Rätsels! Diese Witwen und Waisen – tja, du lieber Gott, schon
der bloße Gedanke an sie mußte ihn doch erglühen machen! ... Ich war der
einzige, der es wußte, die Charpentier hatte mir alles erzählt, und
sofort nachdem ich es erfahren hatte, ging ich zu ihm, und setzte diesem
heiligen Sünder moralisch den Revolver auf die Brust, – äh, so wie’s
sich Freunden geziemt –: ‚Sofort fünfundzwanzigtausend her, wenn nicht,
kommt man morgen revidieren‘. Was glauben Sie wohl, meine Herren, er
konnte nicht mehr wie dreizehntausend zusammenbringen, so daß er jetzt,
wie’s scheint, sehr zur rechten Zeit gestorben ist. ^Grand-père,
Grand-père^, hören Sie?“

„^Cher^ Klinewitsch, ich bin mit Ihnen vollkommen einverstanden, aber es
ist ganz überflüssig ... daß Sie sich in solchen Details ergehen. Es
gibt im Leben so viel Leid und Qual und so wenig Lohn dafür ... ich
hatte den Wunsch, mich endlich zu beruhigen ... Und insoweit ich mir
darüber klar bin, wird sich auch von hier noch vieles herausziehen
lassen ...“

„Haha, ich könnte wetten, daß er schon Katjisch Berestowa
herausgewittert hat!“

„Wen? ... Was für eine Katjisch?“ fragte sofort sinnlich vibrierend die
Stimme des Alten zurück.

„A–ah? Also was für eine Katjisch? Äh, nun, hier links, etwa fünf
Schritt von mir, – von Ihnen zehn. Sie liegt hier schon seit fünf Tagen.
Wenn Sie wissen würden, ^Grand-père^, was das für ein Mädel ist ... Aus
gutem Hause natürlich, wohlerzogen und – ein ^monstre, un monstre^ im
höchsten Grade! Ich habe sie dort niemandem gezeigt, ich allein wußte es
nur ... Katjisch, eh!?“

„Hi – hihi!“ kam als Antwort das kichernde Lachen einer feinen, hohen
Mädchenstimme zurück, doch klang in ihm etwas, das wie ein Nadelstich
war. – „Hi – hi – hi!“

„Und ... ist ... sie ... blond?“ stieß lispelnd, kurzatmig ^Grand-père^
in vier Lauten hervor.

„Hi – hi – hi!“

„Mir ... mir gefiel schon lange ...“ fuhr der Alte atemlos lispelnd
fort, – „schon lange der Gedanke an ein Blondköpfchen ... ein ... ein
fünfzehnjähriges ... und gerade unter solchen Umständen wie hier ...“

„Ungeheuer!“ rief Awdotja Ignatjewna empört.

„Genug!“ entschied Klinewitsch. „Ich sehe schon, daß das Material
vortrefflich ist. Wir werden uns hier bald famos einrichten. Die
Hauptsache ist, daß man die übrig gebliebene Zeit lustig verbringt; doch
was für eine Zeit ist das eigentlich? Heda, Sie, irgend ein Beamter, der
Sie da sind, Lebesätnikoff – nicht? – ich glaube, man nannte Sie vorhin
so?“

„Gewiß, gewiß, Lebesätnikoff, Hofrat, Ssemjon Jewssejitsch, stehe zu
Ihren Diensten, und freut mich, freut mich, ungemein.“

„Äh, ’s ist mir wirklich ganz egal, ob es Sie freut, nur scheinen Sie
hier alles zu wissen. Sagen Sie mal vor allen Dingen – ich wundere mich
noch seit gestern darüber, – – auf welch eine Weise sprechen wir denn
hier eigentlich? Wir sind doch tot, gestorben – nicht wahr, – trotzdem
aber sprechen wir; ja es ist auch gleichsam, als ob wir uns sogar
bewegten, währenddessen aber bewegen wir uns weder noch sprechen wir?
Was soll das alles?“

„Das, oh das, wenn Sie wünschen, Baron, könnte Ihnen Platon
Nikolajewitsch besser erklären als meine Wenigkeit.“

„Was für ein Platon Nikolajewitsch? Quatschen Sie nicht dummes Zeug –
zur Sache.“

„Platon Nikolajewitsch ist hier unser einheimischer Philosoph,
Naturforscher und Professor. Hat bei Lebzeiten mehrere philosophische
Bücher verfaßt, doch werden es jetzt wohl schon drei Monate sein, daß er
sich anschickt, ganz einzuschlafen, daher wird es wohl schwer fallen,
ihn jetzt noch wachrütteln. Er brummt jetzt höchstens einmal in der
Woche einige zusammenhanglose Worte, die eigentlich nicht zur Sache
gehören ...“

„So kommen Sie doch wenigstens zur Sache!“

„Er – er – er erklärt das mit der ganz einfachen Tatsache, und zwar
gerade mit der, daß wir oben, das heißt, als wir noch lebten, den
dortigen Tod ganz irrtümlich für einen Tod hielten. Der Körper belebt
sich hier gewissermaßen nochmals, die Reste des Lebens konzentrieren
sich, aber nur im Bewußtsein. Das – ich kann Ihnen das nicht so recht
sagen, ich weiß eigentlich nicht, wie ich mich ausdrücken soll, das
Leben setzt sich hier gewissermaßen durch die Inertie fort. Alles
konzentriert sich seiner Meinung nach irgendwo im Bewußtsein und lebt
dort noch drei oder vier Monate lang fort, zuweilen sogar ein ganzes
halbes Jahr ... Es gibt hier zum Beispiel einen, der sich schon total
zersetzt hat, doch einmal in etwa sechs Wochen murmelt er plötzlich doch
noch ein Wort, natürlich ein sinnloses, von irgend einem Bobock: bobock,
bobock, bobock, – also glüht doch auch in ihm noch ein Lebensfünkchen
...“

„Alles ziemlich dumm, was Sie da sagen. Aber wie kommt es, daß ich, ohne
Geruchssinn zu haben, doch diesen Gestank hier rieche?“

„Das ... he–he ... Nun, was das anbetrifft, so wurde unser Philosoph,
offen gestanden, schon etwas schleierhaft in seiner Erklärung. Gerade
über den Geruchssinn bemerkte er, man rieche hier nur, he–he, sozusagen
den, he–he, moralischen Gestank! Den Gestank, heißt es, der Seele, um
sich in diesen zwei–drei Monaten noch besinnen zu können ... und dieses
wäre sozusagen noch die letzte Barmherzigkeit, die uns ... Nur glaube
ich, Baron, das ist alles schon mystische Phantasterei, natürlich
entschuldbar durch seine Verfassung ...“

„Danke, ich bin überzeugt, daß alles weitere Unsinn ist. Es genügt, daß
wir jetzt wissen, woran wir sind –: also zwei oder drei Monate Leben und
zum Schluß – bobock. Ich schlage allen vor, diese zwei Monate möglichst
angenehm zu verbringen, und uns zu dem Zweck neue Grundsätze zu wählen.
Meine Damen und Herren! ich schlage vor, _sich überhaupt nicht mehr zu
schämen_!“

„Ach ja, ach ja! wollen wir uns nicht mehr schämen!“ riefen sofort viele
Stimmen und sonderbar, es ließen sich auch viele ganz neue Stimmen
hören, was natürlich bedeutete, daß inzwischen noch andere erwacht
waren. Mit ganz besonderer Bereitwilligkeit und dröhnendem Baß aber
äußerte der bereits völlig belebte Ingenieur seinen Beifall. Katjisch
kicherte erfreut.

„Ach, wie gern ich mich keiner einzigen meiner Handlungen schämen will!“
rief begeistert Awdotja Ignatjewna.

„Hören Sie, wenn schon Awdotja Ignatjewna sich keiner Sache mehr schämen
will! ...“

„Nein nein nein, Klinewitsch, ich habe mich wirklich geschämt, immerhin
habe ich mich doch geschämt, aber hier will ich mich furchtbar,
furchtbar gern nicht mehr schämen!“

„Ich verstehe, Klinewitsch,“ meinte mit dröhnendem Baß der Ingenieur,
„daß Sie vorschlagen, das hiesige, sagen wir, Leben auf neuen
vernünftigen Grundsätzen aufzubauen ...“

„Äh, das ist mir wirklich ganz egal! Was das anbetrifft, wollen wir
lieber Kudejaroff abwarten, – gestern beerdigt. Wenn er erwacht, wird er
Ihnen alles erklären. ’N großartiger Kerl! Morgen, denk ich, wird man
noch so einen Naturalisten ’ranschleppen, einen Leutnant jedenfalls
bestimmt, und wenn ich mich nicht täusche, nach drei–vier Tagen einen
Feuilletonisten – vielleicht mitsamt dem Redakteur. Übrigens, hol sie
der Henker, nur wird sich hier bei uns ein geschlossener Kreis bilden
und, na ja, es wird sich dann schon alles ganz von selbst machen. Doch –
eine Bedingung! –: _ich verlange, daß man nicht lügt_. Nur dieses eine
verlange ich, denn das ist doch die Hauptsache. Auf der Erde leben und
nicht lügen ist unmöglich, denn Leben und Lüge sind synonym; hier aber
wollen wir zur Erhöhung der Heiterkeit einmal _nicht_ lügen. Der Teufel
noch eins! – es hat doch etwas zu bedeuten, daß man im Grabe liegt! ...
Wir werden alle laut unsere Lebensgeschichte erzählen und uns keiner
einzigen Sache mehr schämen. Ganz zuerst werde ich von mir erzählen.
Ich, wissen Sie, gehöre zu den wollüstigen ... Dort oben war alles mit
faulen Schnüren zusammengebunden. Reißen wir sie ab, diese faulen
Schnüre, fort mit ihnen, und lassen Sie uns diese zwei Monate in der
schamlosesten Wahrheit verleben! Entblößen wir uns alle, und zeigen wir
uns nackt!“

„Ach ja, ja! Entblößen wir uns, entblößen wir uns!“ riefen alle Stimmen
aus vollem Halse.

„Ach, ich will mich furchtbar, furchtbar gern entblößen!“ rief Awdotja
Ignatjewna und ihre kreischende Stimme klappte vor lauter Begeisterung
über.

„Ach ... ach ... ach, ich sehe schon, es wird hier lustig werden, ich
will nicht mehr zu Eck!“

„Nein, ich würde aber leben, nein, wissen Sie, ich würde aber leben!“

„Hi–hi–hi!“ kicherte Katjisch.

„Vor allen Dingen kann uns niemand etwas verbieten und wenn sich auch
Perwojedoff, wie ich sehe, ärgert, so kann er mich doch nicht kneifen,
noch sonst mir etwas antun. ^Grand-père^, sind Sie einverstanden?“

„Oh, oh, ich bin durchaus, durchaus einverstanden und mit dem größten
Vergnügen, aber nur mit der Bedingung: daß Katjisch als erste ihre
Bi–o–graphie zum besten gibt.“

„Ich protestiere! Ich protestiere mit allem Nachdruck! ...“ erklärte
plötzlich mit fester Stimme General Perwojedoff.

„Exzellenz!“ flehte sofort in ängstlicher Erregung und mit gesenkter
Stimme der Nichtsnutz Lebesätnikoff – er wollte ihn eines Besseren
überzeugen: „Aber, Exzellenz, es ist doch für uns sogar vorteilhafter,
wenn wir zustimmen. Hier ist, wissen Sie, dieser Backfisch ... und
schließlich, alle diese kleinen Späßchen ...“

„Nun schön, gesetzt – ein Backfisch, aber ...“

„... Vo–vo–vorteilhafter, Exzellenz, bei Gott, es wäre vorteilhafter!
Sagen wir meinetwegen nur so zum Beispiel, nur so zur Probe ...“

„Selbst im Gra–abe läßt man einen nicht zur Ruhe kommen!“

„Erlauben Sie, General –,“ unterbrach ihn Klinewitsch gemessen,
„Erstens: Sie geruhten vorhin selbst im Grabe Préférence zu spielen und
zweitens – sind Sie uns ganz egal – aber ganz!“

„Mein Herr, ich bitte Sie, sich nicht zu vergessen.“

„Was? – Tja, Sie können mich doch nicht erreichen und ich kann Sie ja
von hier aus necken so viel ich will – wie Julchens Mops. Und übrigens,
– äh, meine Herren, was ist er denn hier noch für ein General? Dort mag
er ja auch General gewesen sein, hier aber ist er nichts – überhaupt
nichts!“

„Nein, mein Herr, auch hier bin ich ...“

„Hier werden Sie im Sarge verfaulen und was von Ihnen übrig bleibt –
sind sechs silberne Knöpfe.“

„Bravo, Klinewitsch, haha–ha!“ gröhlten lachende Stimmen.

„Ich habe meinem Kaiser gedient ... ich ... ich besitze einen Degen!“

„Äh, mit Ihrem Degen kann man jetzt Mäuse spießen und zudem haben Sie
ihn doch noch nie gezogen.“

„Das ... bleibt sich gleich. Ich machte einen Teil des Ganzen aus!“

„Als ob es wenig Teile des Ganzen gäbe!“

„Bravo, Klinewitsch, bravo, ha–ha–ha!“

„Ich begreife nicht, was solch ein Degen überhaupt bedeuten soll,“
meinte spöttisch der Ingenieur.

„Vor den Preußen werden wir wie die Mäuse ausreißen, die werden uns doch
zu Staub zerklopfen!“ schrie eine entferntere, mir noch unbekannte
Stimme, die aber buchstäblich vor Begeisterung erstickte.

„Der Degen, mein Herr, ist die Ehre!“ schrie wohl noch der General,
wenigstens konnte ich nur noch seine Stimme unterscheiden, denn es erhob
sich ein wütendes, unbändiges Geschrei, das wie ein Getöse dahinbrauste,
und das nur noch von dem ungeduldigen hysterischen Gekreisch Awdotja
Ignatjewnas durchschnitten wurde.

„Ach schneller, schneller doch! Ach, wann werden wir denn endlich
anfangen, uns nicht mehr zu schämen!“

„Och–chohoho! Wahrlich, wahrlich, meine Seele durchlebt das Fegefeuer!“
hörte ich zwar noch die Stimme des Kaufmanns, aber ...

Aber da nieste ich plötzlich. Es kam ganz plötzlich und unbeabsichtigt,
doch die Wirkung war verblüffend: alles verstummte, verging wie ein
Traum. Wahre Grabesstille brach an. Glaube nicht, daß sie sich vor mir
schämten: sie hatten doch beschlossen, sich überhaupt nicht mehr zu
schämen!

Ich wartete noch fünf Minuten –: kein Wort, kein Laut. Es ist doch nicht
anzunehmen, daß sie eine Anzeige an die Polizei fürchteten; denn was
könnte die Polizei hierbei tun? Schließe daraus, daß sie immerhin irgend
solch ein Geheimnis haben müssen, eines, das uns Sterblichen unbekannt
ist, und das sie sorgfältig vor uns bewahren.

„Nun, meine Lieben,“ dachte ich, „Euch werde ich noch oftmals besuchen.“
Und mit diesen Worten verließ ich den Friedhof.

                   *       *       *       *       *

Nein, das kann ich nicht zulassen; nein, wahrhaftig nicht! Da habe ich
nun in Gräbern mein bobock gefunden! ... Hab ja weiter keine Angst
davor, aber ...

Verderbnis an solch einem Ort, Verderbnis zerfallender, verwesender
Leichen und das noch in dem letzten Augenblick der Besinnung, angesichts
der letzten Zuversicht! Diese kurzen Augenblicke sind ihnen gegeben,
geschenkt, um ... Doch die Hauptsache, die Hauptsache, – an solch einem
Ort! Nein, das kann ich nicht zulassen! ...

Werde zu den anderen Klassen gehen, werde überall zuhören. Das ist’s ja
eben, daß man überall zuhören muß, und nicht nur irgendwo am Rande an
einer einzigen Stelle, um sich eine richtige Vorstellung machen zu
können. Wer weiß, – vielleicht werde ich auch auf etwas Tröstendes
stoßen.

Doch zu denen werde ich bestimmt noch zurückkehren. Versprachen doch
ihre Biographien und verschiedene Geschichtchen ... Pfui! Aber ich werde
überall hingehen, unbedingt werde ich hingehen! Gewissenssache!

Will es in die Redaktion des „Bürger“ bringen; dort hat man auch das
Bild eines Redakteurs ausgestellt. Vielleicht drucken sie’s.




                 Der Traum eines lächerlichen Menschen.


                     Eine phantastische Erzählung.


                                   I.

Ich bin ein lächerlicher Mensch. Jetzt halten sie mich sogar für
irrsinnig. Das wäre ja eine Rangerhöhung, wenn ich dabei nicht immer
noch lächerlich für sie bliebe. Jetzt aber ärgere ich mich nicht mehr
darüber, jetzt sind sie mir alle lieb, auch wenn sie über mich lachen –
ja dann sind sie mir aus irgend einem Grunde noch ganz besonders lieb.
Ich würde gern mit ihnen lachen, – nicht gerade über mich, wohl aber aus
Liebe zu ihnen, wenn mich nur ihr Anblick nicht so traurig machte.
Traurig, weil sie die Wahrheit nicht wissen. Ich aber weiß die Wahrheit.
Oh Gott, wie schwer ist es doch, ganz allein die Wahrheit zu wissen!
Doch das werden sie nicht verstehn. Nein, das werden sie nicht verstehn.

Früher schuf es mir viel Leid, daß ich lächerlich schien. Nein, nicht
schien, sondern war. Ich war immer lächerlich, und das weiß ich
vielleicht schon seit meiner Geburt. Vielleicht wußte ich es schon mit
sieben Jahren, daß ich lächerlich war. Später besuchte ich die Schule,
dann die Universität, aber – je mehr ich lernte, desto mehr erkannte
ich, daß ich lächerlich bin. So daß meine ganze Universitätswissenschaft
zum Schluß für mich nichts anderes bedeutete, als mir in dem Maße, wie
ich mich in sie vertiefte, zu beweisen und zu erklären, daß ich
lächerlich bin. Und im Leben erging es mir ähnlich wie in der
Wissenschaft. Mit jedem Jahr wuchs und befestigte sich in mir dieselbe
Erkenntnis meiner Lächerlichkeit in jeder Lebensbeziehung. Über mich
haben immer alle gelacht. Aber kein einziger von ihnen wußte oder erriet
es wenigstens, daß, wenn es irgendwo in der Welt einen Menschen gab, der
besser als alle anderen wußte, wie lächerlich ich bin, ich dieser Mensch
war. Und gerade das war es, was mich am meisten kränkte: daß sie das
nicht wußten. Aber daran war ich selbst schuld: ich war immer so stolz,
daß ich es um nichts in der Welt einem Menschen gestanden hätte. Und
dieser Stolz wuchs in mir noch mit den Jahren, und wenn es geschehen
wäre, daß ich mir erlaubt hätte, irgend jemandem, einerlei wem, sei es
wem es sei, einzugestehen, daß ich lächerlich bin, so würde ich mir
sofort, noch am Abend desselben Tages eine Kugel durch den Kopf
geschossen haben. Oh, wie litt ich in meiner Jugend unter der Angst, ich
könnte es vielleicht nicht aushalten, und es plötzlich selbst meinen
Kameraden sagen. Doch seit der Zeit, da ich schon ein junger Mann wurde,
wenn ich dabei auch mit jedem Jahr immer mehr und mehr meine furchtbare
Eigenschaft erkannte, wurde ich doch aus irgend einem Grunde ruhiger ...
Gerade aus irgend einem Grunde, denn ich kann bis jetzt noch nicht sagen
warum. Vielleicht weil in meiner Seele die Angst einer bestimmten
Erkenntnis, die menschlich höher war als mein Ich, gerade damals wuchs
und wuchs: – das war die mich ergreifende Überzeugung, daß in der ganzen
Welt _alles einerlei_ ist.

Ich hatte es schon sehr lange vorausgefühlt, aber die volle Überzeugung
überkam mich erst im letzten Jahre und irgendwie ganz plötzlich. Ich
fühlte mit einem Mal, daß es mir _ganz einerlei_ wäre, ob die Welt
existierte, oder ob es überhaupt nichts gäbe. Allmählich sah und fühlte
ich mit meinem ganzen Wesen, daß _es nichts außer mir gab_. Zuerst
schien es mir immer, daß es dafür früher vieles gegeben hatte, dann aber
erriet ich, daß auch früher nichts gewesen war, sondern nur aus irgend
einem Grunde geschienen hatte. Und allmählich überzeugte ich mich, daß
es auch hinfort niemals etwas geben wird. Da hörte ich plötzlich auf,
mich über die Menschen zu ärgern, und ich bemerkte sie fast nicht mehr.
Und das tat sich bald in den kleinsten Dingen kund, z. B. kam es vor,
daß ich, wenn ich auf der Straße ging, mit den Leuten zusammenstieß. Und
das nicht etwa, weil ich in Gedanken versunken gewesen wäre: woran hätte
ich denn denken sollen, ich hatte damals ganz aufgehört, zu denken: mir
war alles einerlei. Und wenn ich doch wenigstens Fragen gelöst hätte!
Oh, keine einzige habe ich gelöst, und doch gab es ihrer wahrlich nicht
wenig! Aber mir wurde _alles einerlei_, und die Fragen entfernten sich
von selbst.

Und dann, plötzlich erfuhr ich die Wahrheit. Die Wahrheit erfuhr ich im
vorigen November, genau am dritten November und seit der Zeit erinnere
ich mich jedes Augenblicks meines Lebens. Es war in einer finsteren, so
finsteren Nacht, wie ich sie dunkler noch nie gesehn. Ich kehrte damals
um elf Uhr abends heim, und ich weiß noch, ich dachte gerade, daß es
eine noch finstrere, dunklere Zeit nicht geben könnte. Sogar in
physischer Beziehung. Der Regen hatte den ganzen Tag gerieselt, und das
war der allerkälteste, allerfinsterste Regen gewesen, so ein die Seelen
ängstigender Regen, das weiß ich noch, der so eine fühlbare
Feindseligkeit zu den Menschen hatte. Und plötzlich, um elf Uhr nachts,
hörte er auf, und es begann eine furchtbare Feuchtigkeit, die noch
feuchter und noch kälter als der Regen war, und von überall her erhob
sich ein Nebel, wie Dampf, von jedem feuchten Steine der Straße und aus
jeder Quergasse, wenn man im Vorübergehn in sie tiefer hineinblickte,
dorthin, wo die beiden Häuserstreifen sich ineinander näherten und im
Dunkel verschwanden, stieg er auf. Ich dachte plötzlich, daß es doch
viel wohltuender wäre, wenn das Gas erlöschen würde, denn die
Beleuchtung machte das alles sichtbar, und so wurde es dem Herzen nur
schwerer. Ich hatte an jenem Tage fast nichts gegessen und seit der
Dämmerstunde war ich mit zwei anderen bei einem Ingenieur gewesen. Ich
hatte die ganze Zeit geschwiegen und war ihnen wahrscheinlich langweilig
gewesen. Sie sprachen über irgend etwas und plötzlich gerieten sie sogar
in Meinungsverschiedenheiten und Streit. Aber es ging sie im Grunde doch
nichts an, das wußte ich, und sie ereiferten sich nur um des Ereiferns
willen. Das sagte ich ihnen denn auch plötzlich: „Hört, es ist Euch doch
alles einerlei.“ Sie waren deswegen nicht gekränkt, sondern lachten nur
über mich. Weil ich es ohne jeden Vorwurf gesagt hatte, einfach weil mir
alles einerlei war. Sie sahen es denn auch ein, daß mir alles einerlei
war, und wurden wieder guter Laune.

Als ich auf der Straße an das Erlöschen der Gasbeleuchtung dachte,
blickte ich zum Himmel auf. Er war unheimlich dunkel, doch deutlich
konnte man hellere, zerrissene, zerflatterte Wolken unterscheiden und
zwischen ihnen bodenlose schwarze Flecke. Plötzlich erblickte ich in
einem dieser Flecke einen kleinen Stern: ich blieb stehn und betrachtete
ihn aufmerksam. Ich tat es nur, weil mir dieser kleine Stern einen
Gedanken gab: ich beschloß, mich noch in derselben Nacht zu erschießen.
Das hatte ich schon vor zwei Monaten fest beschlossen, und wie arm ich
auch war, ich hatte mir doch einen schönen Revolver gekauft und ihn noch
am selben Tage geladen. Und doch waren schon zwei Monate vergangen und
er lag immer noch in meinem Kasten; es war mir alles dermaßen einerlei,
daß ich einen Augenblick, in dem mir nicht alles so einerlei sein würde,
abwarten wollte, warum – weiß ich nicht. Und so kam es denn, daß ich in
diesen zwei Monaten in jeder Nacht, wenn ich heimkehrte, glaubte, ich
würde mich in dieser Nacht erschießen. Ich erwartete immer den
Augenblick. Und plötzlich gab mir dieser kleine Stern den Gedanken, und
ich beschloß, daß es _unbedingt_ in _dieser_ Nacht geschehen sollte.
Warum mir aber der Stern den Gedanken gab – das weiß ich nicht.

Und da war’s denn, daß mich, als ich in den Himmel blickte, plötzlich
dieses kleine Mädchen am Ellenbogen zupfte. Die Straße war schon ganz,
ganz still, kein Mensch war ringsum zu sehn. Nur in der Ferne schlief
ein Droschkenkutscher auf seinem Bock. Das Mädchen war vielleicht acht
Jahre alt, in einem dünnen Kleidchen, hatte nur ein kleines Tuch um, war
ganz durchnäßt, doch am meisten fielen mir ihre nassen zerrissenen
Stiefel auf und auch jetzt noch erinnere ich mich ihrer deutlich. Sie
stachen mir ganz besonders in die Augen. Sie zupfte mich plötzlich am
Ärmel und rief irgend etwas. Sie weinte nicht, aber sie stieß wie
bellend irgend welche Worte hervor, Worte, die sie nicht deutlich
aussprechen konnte, da sie vor Kälte am ganzen Körper zitterte. Sie war
so erschrocken, so entsetzt, daß sie in ihrer Verzweiflung nur stockend
immer ein und dasselbe rief: „Mammi! Mammi!“ Ich blickte mich zwar
einmal nach ihr um, sagte aber kein Wort und ging weiter, sie aber lief
mir nach und zupfte mich immer am Ärmel und in ihrer Stimme klang jener
Ton, der bei erschrockenen Kindern Verzweiflung bedeutet. Ich kenne
diesen Ton. Wenn sie auch ihre Worte nicht aussprach, so begriff ich
doch, daß ihre Mutter irgendwo im Sterben lag, oder daß bei ihnen sonst
etwas Furchtbares geschehen sein mußte, und sie hinausgelaufen war, um
irgend jemanden zu Hilfe zu rufen, um irgend etwas zu finden, ihrer
Mammi zu helfen. Ich aber folgte ihr nicht, wohin sie mich rief, im
Gegenteil, es fiel mir sogar ein, sie fortzujagen. Zuerst sagte ich ihr
noch, sie solle den Schutzmann suchen. Sie jedoch faltete plötzlich die
Händchen zusammen und lief schluchzend, atemlos, neben mir her:
wahrscheinlich hatte sie Angst mich zu verlassen. Und da war es denn,
daß ich plötzlich mit dem Fuß stampfte und sie anschrie. Sie rief nur
angstvoll: „Herr, lieber Herr! ...“ dann aber blieb sie stehn und
plötzlich lief sie schnell über die Straße: dort ging eine Gestalt, und
so verließ sie mich, um zu dem anderen Menschen hinüber zu laufen.

Ich stieg in meinen fünften Stock. Ich wohne hier bei einer Frau, die
Zimmer vermietet. Mein Zimmer ist ärmlich und klein; es hat nur ein
halbrundes Dachfenster. Ich habe einen mit Wachstuch bezogenen
Schlafdiwan, einen Tisch, auf dem meine Bücher stehn, zwei Stühle und
einen Lehnstuhl, der zwar alt, uralt, dafür aber bequem ist. Ich setzte
mich, zündete das Licht an und kam ins Denken. Im Nebenzimmer, das nur
durch eine dünne Wand von meinem Zimmer geschieden ist, zog sich das
Gelage schon den dritten Tag hin. Dort wohnte ein verabschiedeter
Hauptmann und bei ihm waren wieder Gäste – sechs Mann; gewöhnlich
tranken sie Schnaps und spielten mit alten fettigen Karten irgend ein
Hazardspiel. In der vergangenen Nacht war es bei ihnen zu einer Prügelei
gekommen und ich weiß, daß zwei von ihnen sich lange gegenseitig in den
Haaren gelegen hatten. Die Wirtin wollte sich beklagen, wagte es jedoch
nicht, da sie vor dem Hauptmann furchtbar Angst hatte. Sonst gibt es
hier an Mietern nur noch eine kleine, magere Dame, eine angereiste, mit
ihren drei kleinen und hier bei uns erkrankten Kinderchen. Sie wie die
Kleinen fürchten den Hauptmann bis zur Lächerlichkeit und wenn er wieder
Gäste hat, so schlafen sie die ganze Nacht nicht, zittern und bekreuzen
sich und das kleinste soll vor Angst schon irgend welche Krämpfe gehabt
haben. Dieser Hauptmann bettelt zuweilen, wie ich genau weiß, die
Menschen auf dem Newsky an, eine Stelle sucht er sich nicht, doch
sonderbarer Weise – deswegen erzähle ich ja nur von ihm – hat mich
dieser Hauptmann während der ganzen Zeit, die er bei uns wohnt, noch
kein einziges Mal gestört. Seinem Verkehr war ich allerdings gleich zu
Anfang ausgewichen, und ich wurde ihm auch schon bei seinem ersten
Besuch in meinem Zimmer furchtbar langweilig, doch wie laut sie auch im
Nebenzimmer schreien mochten – mir war immer alles einerlei. Ich sitze
die ganze Nacht in meinem Lehnstuhl, und wirklich, ich höre sie
überhaupt nicht – so weit konnte ich sie und ihr Geschrei vergessen.
Schlafe ich doch in keiner einzigen Nacht – und das tue ich jetzt schon
ein Jahr lang. Ich sitze bis zum Morgengrauen in meinem Sessel und mache
nichts. Bücher lese ich nur des Tags. Ich sitze und denke nicht einmal,
ich sitze einfach so, irgend welche Gedanken schweifen umher und ich
lasse sie ruhig gewähren. Das Licht brennt in der Nacht ganz aus. Ich
setzte mich an den Tisch, nahm meinen Revolver und legte ihn vor mich
hin. Ich weiß noch – als ich ihn vor mich hinlegte, fragte ich mich:
„Ja?“ und vollkommen ruhig antwortete ich mir: „Ja.“ Also hatte ich
beschlossen, mich noch in derselben Nacht zu erschießen. Ich wußte, daß
ich mich in dieser Nacht bestimmt erschießen würde, wie lange ich aber
vorher noch so sitzen würde – das wußte ich nicht. Und zweifellos hätte
ich mich auch erschossen, wenn nicht jenes Mädchen ...


                                  II.

Sehen Sie: wenn mir auch alles einerlei war, so fühlte ich doch, zum
Beispiel, den Schmerz, den fühlte ich doch. Hätte mich jemand
geschlagen, so würde ich bestimmt den Schmerz gefühlt haben. Und ebenso
auch in moralischer Hinsicht: wäre etwas sehr Trauriges geschehn, so
würde ich Mitleid empfunden haben, ganz wie früher, als mir noch nicht
alles im Leben einerlei war. Und so hatte ich denn auch jetzt Mitleid
gefühlt: einem Kinde würde ich doch unter allen Umständen geholfen
haben. Warum hatte ich dann dem kleinen Mädchen nicht geholfen? Weil mir
gerade in dem Augenblick ein Gedanke gekommen war: als sie mich rief und
zupfte, hatte sich vor mir gerade eine Frage erhoben, die ich nicht
lösen konnte. Sie war müßig, aber sie ärgerte mich doch. Ärgerte mich
wegen der logischen Folgerung, daß mir, wenn ich beschlossen hatte, mich
noch in derselben Nacht zu erschießen, folglich alles auf der Welt mehr
denn je gleichgültig sein mußte. Warum aber fühlte ich dann plötzlich,
daß mir nicht alles gleichgültig war und daß ich das Mädchen
bemitleidete? Ich weiß noch, daß sie mir wirklich leid tat; sogar bis zu
einem ganz sonderbaren Schmerz tat sie mir leid, der doch in meiner Lage
ganz unwahrscheinlich und unangebracht schien. Nein, ich kann mein
damaliges vorübergehendes Empfinden nicht gut wiedergeben, aber es
dauerte noch an, als ich schon in meinem Zimmer war, als ich mich schon
an den Tisch gesetzt hatte; und ich war so aufgebracht, wie ich es seit
langer Zeit nicht mehr gewesen war. Erwägung zog nach Erwägung vorüber.
Es ist doch klar, daß ich, wenn ich ein Mensch und noch keine Null bin,
d. h. mich noch nicht in eine Null verwandelt habe, daß ich dann lebe –
und folglich kann ich mich dann noch ärgern, kann ich noch leiden, und
wegen meiner Handlungen Scham empfinden. Schön. Meinetwegen. Aber wenn
ich mich, zum Beispiel, nach zwei Stunden töte, was ist mir dann dieses
kleine Mädchen und was geht mich dann die Scham an und überhaupt die
ganze Welt? Ich verwandle mich in eine Null, in eine absolute Null. Und
konnte denn wirklich die Erkenntnis, daß ich alsbald _überhaupt nicht_
mehr sein würde, folglich aber auch sonst überhaupt nichts mehr sein
würde, weder auf das Gefühl des Mitleids mit dem kleinen Mädchen, noch
auf das Gefühl der Scham nach der begangenen Rohheit nicht den
geringsten Einfluß haben? Nur deswegen stampfte ich doch mit dem Fuß und
schrie ich das arme Kindchen so wütend an, weil ich zeigen wollte, daß
ich – nicht nur kein Mitleid empfinde, sondern auch die unmenschlichste
Rohheit begehen kann, da nach zwei Stunden alles erlöschen und es dann
nichts mehr geben wird. Werden Sie es mir glauben, daß ich sie deswegen
anschrie? Ich bin jetzt fest überzeugt davon. Es war mir in jenem
Augenblick vollkommen klar, daß das Leben und die Welt gleichsam nur von
mir abhängen. Ja, ich kann es sogar so sagen: daß die Welt jetzt
gleichsam nur für mich allein geschaffen ist – erschieße ich mich, so
hört die Welt auf zu sein, wenigstens für mich. Ganz abgesehen davon,
daß es vielleicht auch wirklich für niemanden mehr etwas nach mir geben
wird, und die ganze Welt, sobald nur meine Erkenntnis erlischt,
gleichfalls wie eine Vision vergeht, wie ein Attribut bloß dieser meiner
Erkenntnis, und sich aufhebt: denn vielleicht ist diese ganze Welt und
sind alle diese Menschen – nur ich selbst ganz allein. Ich weiß noch,
daß ich diese neuen Fragen, die sich eine nach der anderen
herandrängten, in das Entgegengesetzte umkehrte und mir etwas ganz Neues
ausdachte. Das war, als ich in meinem Lehnstuhl saß und grübelte. So kam
mir u. a. plötzlich auch ein sonderbarer Gedanke: wenn ich, zum
Beispiel, früher auf dem Monde oder auf dem Mars gelebt und daselbst
irgend eine unglaublich ehrlose, schändliche Tat begangen hätte, die
schändlichste, die man sich nur denken kann, und wenn ich dort für diese
Tat so beschimpft und entehrt worden wäre, wie man es sich höchstens im
Traum zuweilen vorstellen, unter einem Alpdruck fühlen kann, und wenn
mich dann auf der Erde die Erinnerung an das, was ich auf dem anderen
Planeten getan, nicht verlassen und ich außerdem noch wissen würde, daß
ich niemals mehr, unter keinen Umständen auf jenen anderen Planeten
zurückkehren werde, so, frage ich mich, würde mir dann, wenn ich von der
Erde aus auf den Mond blickte, – _alles einerlei_ sein oder nicht? Würde
ich mich dann dieser meiner Tat schämen oder nicht? Die Fragen waren
müßig und überflüssig, da der Revolver schon vor mir auf dem Tisch lag,
und ich mit meinem ganzen Wesen wußte, daß es bestimmt geschehn würde –
aber sie regten mich auf und ich ärgerte mich. Es war mir, als könnte
ich nicht mehr sterben, bevor ich nicht etwas – Unbestimmtes gelöst
hatte. Kurz, dieses kleine Mädchen rettete mich, denn durch die Fragen
schob ich den Tod auf. Beim Hauptmann im Nebenzimmer wurde es
mittlerweile still: sie hatten ihr Kartenspiel beendet und richteten
sich zum Schlafen ein, inzwischen aber brummten sie noch oder schimpften
schlaftrunken zu Ende. Und da geschah es denn, daß ich plötzlich
einschlief, was mit mir sonst noch nie vorgekommen war: am Tisch im
Lehnstuhl. Ich schlief, mir vollkommen unbewußt, ein.

Träume sind bekanntlich eine äußerst sonderbare Sache: das Eine sieht
man mit erschreckender Deutlichkeit, mit schmuckstückhafter Ausarbeitung
der Einzelheiten, anderes dagegen übergeht man fast ganz, als ob es
überhaupt nicht vorhanden wäre, so z. B. Raum und Zeit. Ich glaube,
Träume träumt nicht die Vernunft, sondern der Wunsch, nicht der Kopf,
sondern das Herz, und doch: welch komplizierte Dinge überwand meine
Vernunft zuweilen im Traum! Ganz unbegreifliche Dinge! Zum Beispiel:
mein Bruder ist vor fünf Jahren gestorben, ich sehe ihn aber sehr oft im
Traum: er nimmt Anteil an meinen Interessen, wir sprechen sehr sachlich
über alle möglichen Dinge, währenddessen aber weiß ich doch die ganze
Zeit über genau und vergesse es keinen Augenblick, daß mein Bruder schon
tot und längst begraben ist. Wie kommt es aber, daß ich mich nicht im
geringsten über sein Erscheinen wundere? Daß der Tote neben mir sitzt
und mit mir spricht? Warum läßt meine Vernunft so etwas ruhig zu? Doch
genug. Ich komme jetzt zu meinem Traum. Ja, damals hatte ich jenen
Traum, meinen Traum vom dritten November! Jetzt necken Sie mich damit,
daß es ja doch nur ein Traum gewesen ist. Aber ist es denn wirklich
nicht ganz gleichgültig, ob es ein Traum gewesen ist oder nicht, wenn
nur dieser Traum mir die Wahrheit offenbart hat? Denn wenn man einmal
die Wahrheit erkannt, sie nur einmal gesehn hat, so weiß man doch, daß
sie die einzige Wahrheit ist und es außer ihr eine andere überhaupt
nicht mehr geben kann, einerlei ob man schläft oder lebt. Nun gut, mags
ein Traum sein, meinetwegen, aber dieses Leben, das Ihr so preist,
wollte ich mit einem Selbstmord von mir werfen, mein Traum aber, mein
Traum – oh, mein Traum offenbarte mir ein neues, großes, wundervolles
Leben!

Hört.


                                  III.

Ich sagte, daß ich ganz unmerklich einschlief; es war mir, als ob ich
nur fortfuhr über dieselben Fragen nachzugrübeln. Plötzlich nehme ich
den Revolver – d. h. es schien mir im Traum, daß ich ihn nahm – und
setze ihn gerade an das Herz, – an das Herz, und nicht an die Stirn; ich
aber hatte vorher fest beschlossen, mich durch einen Schuß in den Kopf,
unbedingt in den Kopf, und zwar gerade durch die rechte Schläfe zu
töten. Nachdem ich den Lauf auf die Brust gesetzt hatte, wartete ich
eine, nein, zwei Sekunden lang und mein Licht, der Tisch und die Wand
vor mir kamen plötzlich wie näher und fingen zu schaukeln an. Ich
drückte schnell den Hahn ab.

Im Traum fällt man zuweilen von einer Höhe herab oder man wird ermordet,
oder geschlagen, doch fühlt man dabei niemals einen Schmerz, es sei
denn, daß man sich selbst irgendwie am Bett beschädigt: dann allerdings
fühlt man einen Schmerz, von dem man denn auch gewöhnlich erwacht. So
war es auch in meinem Traum: Schmerz fühlte ich nicht, aber es war mir,
als ob durch meinen Schuß alles in mir – erschüttert wurde und plötzlich
erlosch, und um mich herum alles furchtbar dunkel wurde. Ich wurde
gleichsam blind und stumm, und siehe da, ich liege auf etwas Hartem
ausgestreckt, auf dem Rücken, sehe nichts und kann nicht die geringste
Bewegung machen. Um mich herum wird gegangen und geschrieen, ich höre
die Baßstimme des Hauptmanns und die Fistelstimme meiner Wirtin, – und
plötzlich wieder eine Unterbrechung ... und da trägt man mich schon in
geschlossenem Sarge. Und ich fühle wie die Träger beim Gehen den Sarg
schaukeln und denke noch so darüber nach, und plötzlich fällt mir zum
ersten Mal der Gedanke auf, daß ich ja doch gestorben bin, daß ich tot
bin, daß ich es weiß und nicht daran zweifeln will, nicht sehe und mich
nicht bewege, trotzdem aber fühle und denke. Doch ich söhne mich schnell
damit aus und nehme, wie man es gewöhnlich im Traum tut, die
Wirklichkeit widerspruchslos an.

Und siehe, da senkt man mich in ein tiefes Grab hinab und begräbt mich
in der Erde. Alle gehen fort, ich bin allein, vollständig, ganz und gar
allein. Ich rühre mich nicht. Wenn ich mir früher vorstellte, wie man
mich beerdigen würde, so verband ich mit dem Begriff Grab eigentlich nur
das Gefühl von Feuchtigkeit und Kälte. Und so wars denn auch: ich
fühlte, daß ich es sehr kalt hatte, besonders an den Zehenspitzen, doch
sonst fühlte ich nichts.

Ich lag und, sonderbar, – erwartete nichts, da ich widerspruchslos
annahm, daß ein Toter nichts zu erwarten hat. Aber es war feucht. Ich
weiß nicht, wieviel Zeit inzwischen verging, – eine Stunde oder einige
Tage, oder viele Tage. Doch plötzlich – fiel auf mein linkes
geschlossenes Auge ein durch den Sargdeckel durchgesickerter kalter
Wassertropfen ... es verging eine Minute und es fiel ein zweiter – nach
ihm ein dritter, und so weiter, und so weiter, immer nach einer Minute.
Heftiger Unwille entbrannte darob mit einem Mal in meinem Herzen und
plötzlich fühlte ich in ihm einen physischen Schmerz: „Das ist meine
Wunde,“ dachte ich, „dort sitzt die Kugel“ ... Der Tropfen aber tropfte
in jeder Minute und immer gerade auf mein linkes geschlossenes Auge. Da
rief ich, nicht mit der Stimme, denn ich war unbeweglich, sondern mit
meinem ganzen Wesen zum Beherrscher alles dessen, was mit mir geschah:

„Wer Du auch seist, doch wenn Du bist, und wenn es etwas Vernünftigeres
gibt, als das, was soeben mit mir geschieht, so gebiete ihm auch hier zu
sein. Wenn Du mich aber für meinen unvernünftigen Selbstmord mit dem
Blödsinn eines weiteren Seins strafen willst, so wisse, daß sich nichts
von dem, was mich auch erwartet, mit meiner Verachtung wird messen
können, mit meiner Verachtung, die ich schweigend empfinden werde, und
wenn auch im Verlauf von Jahrmillionen der Qual und des Märtyrertums!
...“

Ich rief es und verstummte. Fast eine ganze Minute lang dauerte das
tiefe Schweigen an, und es tropfte sogar noch ein Tropfen auf mein
geschlossenes Auge herab, doch ich wußte, grenzenlos und
unerschütterlich wußte ich, und ich glaubte daran, daß sich unbedingt
sofort alles verändern würde. Und siehe, plötzlich tat sich mein Grab
auf. Das heißt, ich weiß nicht, ob es gerade aufgegraben wurde, ich weiß
nur, daß ich von einem dunklen, mir unbekannten Wesen aufgenommen wurde
und wir befanden uns im Weltenraum. Und plötzlich ward ich wieder
sehend: Es war tiefe Nacht und niemals, niemals noch hatte es solch eine
Dunkelheit gegeben! Wir durchzogen den Weltraum schon weit entfernt von
der Erde. Ich stellte an den, der mich trug, keine einzige Frage, ich
wartete und war stolz. Ich versicherte mir, daß ich mich nicht
fürchtete, und erstarb fast vor Entzücken bei dem Gedanken, daß ich mich
nicht fürchtete. Ich weiß nicht mehr, wie lange wir so schwebten und ich
kann mir auch nicht recht vorstellen: geschah alles so, wie es
gewöhnlich im Traum zu geschehen pflegt, wenn man Raum und Zeit und die
Gesetze der Vernunft überspringt und nur auf den Punkten stehn bleibt,
von denen das Herz träumt. Ich erinnere mich noch, daß ich plötzlich in
der Dunkelheit einen kleinen Stern erblickte.

„Ist das der Sirius?“ fragte ich mit einem Mal ganz gegen meinen Willen,
da ich nichts fragen wollte.

„Nein, das ist derselbe Stern, den Du zwischen den Wolken erblicktest,
als Du nach Hause gingst,“ antwortete mir das Wesen, das mich trug. Ich
wußte nur, daß es ein menschenartiges Antlitz hatte. Doch sonderbar: ich
liebte dieses Wesen nicht, ich empfand sogar eine tiefe Abneigung gegen
dasselbe. Ich hatte vollkommenes Nichtsein erwartet und mit dieser
Annahme hatte ich mir den Tod gegeben. Und siehe, ich bin in den Armen
eines Wesens, natürlich keines menschlichen Wesens, aber trotzdem eines
Wesens, das wirklich _ist_.

„Also gibt es auch nach dem Tode ein Leben!“ dachte ich mit dem
sonderbaren Leichtsinn des Traumes, doch das Wesen meines Herzens blieb
mit mir in seiner ganzen Tiefe. „Und wenn ich von neuem _sein_ muß,“
dachte ich, „und wieder nach irgend jemandes unabwendbarem Willen leben
muß, so will ich nicht, daß man mich besiegt und erniedrigt!“

„Du weißt, daß ich mich vor Dir fürchte, und verachtest mich deswegen,“
sagte ich plötzlich zu meinem Gefährten: ich hatte mich nicht bezwingen
können und so war denn die erniedrigende Frage, die das Bekenntnis in
sich schloß, gestellt, und in meinem Herzen fühlte ich den Schmerz
meiner Erniedrigung wie den Stich einer Stecknadel. Das Wesen antwortete
auf meine Frage nicht, doch fühlte ich plötzlich, daß man mich nicht
verachtete, und nicht über mich lachte, und daß man mich nicht einmal
bemitleidete, und daß unser Flug sogar ein Ziel hatte, ein unbekanntes
und geheimnisvolles, und das nur mich allein anging. Und die Angst wuchs
in meinem Herzen. Irgend etwas ging von meinem stummen Gefährten
schweigend, doch qualvoll auch auf mich über und durchdrang mich. Wir
durchzogen dunkle, unbekannte Sphären. Schon längst waren die meinem
Auge bekannten Gestirne verschwunden. Ich wußte, daß es im Weltenraum
Sterne gibt, deren Strahlen erst in Jahrtausenden oder Jahrmillionen die
Erde erreichen. Wir aber hatten vielleicht schon größere Entfernungen
durchmessen. Ich erwartete irgend etwas und die Sehnsucht quälte mein
Herz. Und plötzlich überkam mich ein bekanntes, heimisches Gefühl: ich
erblickte unsere Sonne! Ich wußte, daß es nicht _unsere_ Sonne sein
konnte, die Mutter unserer Erde, die _unsere_ Erde geboren hat, aber ich
erfuhr durch irgend etwas, ich weiß nicht wodurch, doch mit meinem
ganzen Wesen erfuhr ich es, daß es ganz eben solch eine Sonne war wie
die unsrige, ihre Wiederholung und ihr Doppelgänger. Ein süßes,
herrliches Gefühl durchdrang voll Entzücken meine Seele: die Kraft des
Lichts, die jener Kraft verwandt war, die mich hervorgebracht, fand in
meinem Herzen einen Widerschein und erweckte es wieder zu neuem Leben,
und ich fühlte das Leben, das frühere Leben zum ersten Mal nach meinem
Grabe.

„Aber wenn das die Sonne ist, wenn das ganz genau solch eine Sonne ist,
wie die unsrige,“ rief ich, „– wo ist dann die Erde?“ Und mein Gefährte
wies auf einen kleinen Stern, der in smaragdgrünem Glanze strahlte. Wir
schwebten gerade auf ihn zu.

„Wie ist es möglich, daß es solche Wiederholungen im Weltall gibt, ist
denn wirklich derart das Weltgesetz? ... Und wenn das dort die Erde ist,
so sag mir doch, ist es eben solch eine Erde wie die unsrige? ... genau
solch eine unglückliche, arme, doch so teure und ewig geliebte Erde, die
ebenso qualvolle Liebe selbst in ihren undankbarsten Kindern zu sich
erweckt, wie unsere Erde? ...“ rief ich, zitternd vor unbezwingbarer
berauschender Liebe zu jener heiligen Mutter, der feuchten, sonnigen
Erde, die ich verlassen hatte. Und die Gestalt des kleinen Mädchens, das
ich angeschrieen hatte, tauchte auf einen Augenblick in meiner
Erinnerung auf.

„Du wirst es selbst sehn,“ antwortete mein Gefährte und eine gewisse
Trauer klang durch seine Worte. Wir näherten uns schnell dem Planeten.
Er wuchs in meinen Augen, ich konnte schon die Ozeane unterscheiden,
dann die Konturen Europas und plötzlich lohte eine große heilige
Eifersucht in meinem Herzen auf:

„Wie darf es solch eine Wiederholung geben, und zu welch einem Zweck
gibt es sie? Ich liebe und _kann_ ja nur jene Erde lieben, die ich
verlassen habe, auf der die Tropfen meines verspritzten Blutes blieben,
als ich, ich Undankbarer, mein Leben durch Selbstmord von mir warf! Doch
niemals, niemals habe ich aufgehört, unsere Erde zu lieben, und sogar in
jener Nacht, in der ich sie verließ, habe ich sie vielleicht heißer,
qualvoller denn je geliebt! Gibt es auch auf dieser neuen Erde Qual? Auf
unserer Erde können wir nur mit Qualen oder durch Qualen wahrhaft
lieben! Anders verstehn wir nicht zu lieben und wir kennen keine andere
Liebe. Ich will Qual, um lieben zu können. Ich will, oh, ich lechze
jetzt, in diesem Augenblick danach, tränenüberströmt einzig und allein
die Erde küssen zu können, die ich verlassen habe! Und ich will nicht,
ich nehme kein anderes Leben an, als nur eines auf unserer Erde! ...“

Mein Gefährte aber hatte mich schon verlassen. Für mich ganz unmerklich,
war ich auf jener anderen Erde angekommen, im grellen Sonnenlicht eines
paradiesisch schönen Tages. Ich stand, glaube ich, auf einer jener
Inseln, die auf unserer Erde den Griechischen Archipel ausmachen, oder
vielleicht war es irgendwo an der Küste des Festlandes, das dort das
Ägäische Meer umgibt. Oh, alles war ganz so wie bei uns, nur schien
alles in einer Feststimmung zu sein, und in einem großen, heiligen,
endlich erreichten Siege zu leuchten. Das freundliche tiefblaue Meer
plätscherte leis an das Gestade und drängte sich zu ihm wie in
unendlicher, sichtbarer, fast bewußter Liebe. Die hohen schattigen Bäume
standen in der ganzen Pracht ihrer Blüten, und ich bin überzeugt, daß
mich ihre unzähligen Blättchen mit ihrem sanften freundlichen Rauschen
willkommen hießen und mir unbekannte Worte der Liebe zuflüsterten. Das
Gras war von so leuchtendem frischen Grün, die Vögel durchzogen in
Scharen die Luft und die kleinen setzten sich mir furchtlos auf die
Schulter und Arme und schlugen mich freudig mit ihren lieben bebenden
Flügelchen, und schließlich erblickte und erkannte ich auch die Menschen
dieser glücklichen Erde. Sie kamen von selbst zu mir, umringten und
küßten mich. Es waren Kinder der Sonne, Kinder ihrer Sonne, – oh, wie
sie schön waren! Niemals noch hatte ich auf unserer Erde solch eine
Schönheit im Menschen gesehn. Höchstens in unseren Kindern, in ihren
ersten Lebensjahren hätte man einen entfernten, wenn auch schwachen
Widerschein dieser Schönheit finden können. Die Augen dieser seligen
Menschen waren licht und klar. Aus ihren Gesichtern sprach Vernunft und
eine, ich möchte sagen, bis zur Ruhe vollkommene Erkenntnis, doch waren
diese Gesichter ausnahmslos heiter; in den Worten und der Stimme dieser
Menschen klang kindliche Freude. Oh, sofort, schon beim ersten Blick auf
diese Gesichter, begriff ich alles, alles! Das war die Erde, die nicht
durch den Sündenfall entweihte Erde, auf ihr lebten Menschen, die nicht
gesündigt hatten und sie lebten in ebensolch einem Paradiese, wie das,
in dem nach den Überlieferungen der ganzen Menschheit auch unsere
Urväter vor dem Sündenfall gelebt haben, nur mit dem Unterschied, daß
die ganze Erde hier überall ein und dasselbe Paradies war. Diese
Menschen drängten sich freudig und lächelnd zu mir und liebkosten mich;
sie führten mich zu sich und ein jeder von ihnen wollte mich beruhigen.
Oh, sie fragten mich nicht, sie schienen schon alles zu wissen, und sie
wollten nur schneller das Leid aus meinem Gesichte verscheuchen.


                                  IV.

Sehen Sie, wiederum: Nun gut, mag das nur ein Traum gewesen sein! Aber
die Empfindung der Liebe dieser unschuldigen, schönen Menschen zu mir
ist für alle Zeiten in mir geblieben, und ich fühle, daß ihre Liebe sich
auch jetzt auf mich fernher von ihnen ergießt. Ich sah sie selbst, ich
lernte sie kennen und ich liebte sie und litt für sie später. Oh, ich
begriff sofort, sogar damals, daß ich sie in vielem überhaupt nicht
würde verstehen können, es schien mir als zeitgenössischem russischem
Fortschrittler und garstigem Petersburger unbegreiflich, warum sie, die
so viel wußten, nicht unsere Wissenschaft hatten? Doch sah ich bald ein,
daß ihr Wissen durch andere Erkenntnisse genährt wurde, als das Wissen
auf unserer Erde, und daß ihre Bestrebungen gleichfalls ganz anderer Art
waren. Sie wünschten sich nichts; sie waren ruhig und zufrieden, sie
rangen nicht nach der Erkenntnis des Lebens so, wie wir es tun, denn ihr
Leben war vollkommen ausgefüllt. Doch war ihr Wissen ein tieferes und
höheres, als das unserer Wissenschaft; denn unsere Wissenschaft versucht
das Leben zu erklären, will es selbst ergründen, um die Menschen zu
lehren, wie sie leben sollen; sie aber wußten schon, wie sie zu leben
hatten, und das begriff ich, aber ihr Wissen konnte ich nicht begreifen.
Sie wiesen auf ihre Bäume hin, ich aber konnte diese Größe der Liebe,
mit der sie sie betrachteten, nicht nachfühlen: als ob die Bäume
Menschen wie sie gewesen wären. Und wissen Sie, vielleicht täusche ich
mich nicht, wenn ich sage, daß sie auch mit ihnen sprachen! Ja, sie
kannten deren Sprache und ich bin überzeugt, daß die Bäume sie
verstanden. Und so sahen sie auch auf die ganze übrige Naturwelt, auch
auf die Tiere, die friedlich bei ihnen lebten, sie nicht angriffen,
sondern liebten, da sie durch ihre Liebe besiegt waren. Sie deuteten auf
die Sterne, und sprachen zu mir etwas, das ich nicht begreifen konnte,
doch bin ich überzeugt, daß sie durch irgend etwas mit den Sternen des
Himmels in Verbindung standen, nicht nur durch den Gedanken, sondern
noch auf eine andere Weise. Oh, diese Menschen trachteten nicht danach,
daß ich sie verstand, sie liebten mich auch so schon, doch dafür wußte
ich, daß sie auch mich niemals verstehen würden, und darum erzählte ich
ihnen auch nichts von unserer Erde. Ich küßte nur in ihrer Gegenwart die
Erde, die sie bewohnten, und vergötterte sie selbst, und sie sahen es
und ließen es wortlos geschehn, ohne sich deswegen zu schämen, daß ich
sie liebte, weil sie so viel liebten. Sie litten nicht für mich, wenn
ich tränenüberströmt zuweilen ihre Füße küßte, da ich ja wußte, welch
eine Liebe sie mir dafür entgegenbrachten. Zuweilen fragte ich mich
verwundert: wie konnten sie nur einen Menschen wie mich kein einziges
Mal beleidigen, und wie kam es nur, daß sie in mir kein einziges Mal das
Gefühl der Eifersucht oder des Neides hervorriefen? Oftmals fragte ich
mich, wie ich, solch ein Prahlhans und Lügner, ihnen nicht von meinen
Erkenntnissen einiges mitteilte, von denen sie natürlich keine Ahnung
hatten, um sie in Erstaunen zu setzen oder auch nur aus Liebe zu ihnen?
– Sie waren mutwillig und fröhlich wie Kinder. Sie wandelten durch ihre
prachtvollen Haine und auf den blumigen Wiesen umher, sie sangen schöne
Lieder, sie nährten sich von den Früchten ihrer Bäume und der Milch der
sie liebenden Tiere. Für ihre Nahrung und Kleidung mühten sie sich nur
wenig. Es gab bei ihnen Liebe und sie gebaren Kinder, doch niemals
gewahrte ich bei ihnen Ausbrüche jener _grausamen_ Wollust, die fast
alle Menschen auf unserer Erde überkommt, alle und jeden, und die der
einzige Ursprung fast aller Sünden unserer Menschheit ist. Sie freuten
sich mit den Neugeborenen als neuer Teilhaber ihrer Seligkeit. Es gab
weder Streit noch Eifersucht unter ihnen, und sie wußten nicht einmal,
was das war. Ihre Kinder waren die Kinder aller, denn alle bildeten sie
eine einzige Familie. Sie hatten fast überhaupt keine Krankheiten,
obgleich sie doch starben; aber ihre Greise schieden so sanft hin, als
ob sie einschliefen, umringt von den sie liebenden Menschen, segnend,
lächelnd und von ihnen mit klaren, heiteren Blicken begleitet. Niemals
sah ich Trauer oder Tränen bei einem Sterbebett, nur eine bis zur
Verzücktheit, bis zu einer ruhigen, geklärten Begeisterung gesteigerte
Liebe. Man hätte glauben können, daß sie mit ihren Toten sogar noch nach
dem Tode in Verbindung standen, und daß ihr Erdenleben nicht durch den
Tod unterbrochen wurde. Sie begriffen mich kaum, als ich sie nach dem
ewigen Leben fragte, doch waren sie augenscheinlich dermaßen fest von
ihm überzeugt, daß für sie überhaupt kein Zweifel mehr darüber bestehen
konnte. Sie hatten keine Tempel, aber es war bei ihnen so ein lebendiges
Einssein mit dem All; sie hatten keinen Glauben, dafür aber das
überzeugte Wissen, daß dann, wenn ihre irdische Freude die Grenze der
irdischen Natur erreicht haben würde, für sie, für die Lebenden wie für
die Verstorbenen, eine noch größere Berührung mit dem All eintreten
müßte. Freudig erwarteten sie diesen Augenblick, doch sehnten sie sich
weder nach ihm, noch litten sie um ihn, sie hatten ihn gleichsam schon
als Vorgefühl in ihren Herzen, und dieses Vorgefühl teilten sie einander
mit. Des Abends vor dem Schlafengehn liebten sie es, in harmonischen
Chören zu singen. In diesen Abendgesängen gaben sie die Gefühle wieder,
die der vergangene Tag ihnen gebracht hatte, und sie lobten und priesen
ihn und verabschiedeten sich von ihm. Sie priesen die Natur, die Erde,
das Meer, die Wälder. Sie dichteten Lieder über einander und lobten
sich, wie Kinder sich loben; es waren einfache Lieder, doch sie ergossen
sich aus dem Herzen und gingen zu Herzen. Und nicht nur in Liedern, nein
im ganzen Leben taten sie nichts anderes, als sich lieben. Das war
geradezu eine gegenseitige Verliebtheit, eine große, allgemeine
Verliebtheit. Einige aber ihrer Lieder, die triumphierend und begeistert
klangen, konnte ich fast überhaupt nicht verstehn. Obgleich ich die
Worte begriff, konnte ich doch nicht ihre ganze Bedeutung erfassen. Sie
waren meinem Verstande unzugänglich, nur mein Herz durchdrangen sie
immer mehr und mehr, ohne daß ich mir von dem Vorgang hätte Rechenschaft
ablegen können. Ich sagte ihnen oftmals, daß ich das alles schon früher
vorausgeahnt hatte, daß die Ahnung dieser ganzen Seligkeit, dieses
freudigen Preisens sich in mir schon auf unserer Erde in ohnmächtiger
Sehnsucht, die sich mitunter bis zu übergroßem Leid gesteigert, geäußert
hatte; daß ich sie alle geahnt hatte in den Träumen meines Herzens und
in den Gedanken meiner Sinne, daß ich auf unserer Erde gar manches Mal
die untergehende Sonne nicht ohne Tränen hatte ansehn können ... Daß in
meinem Haß auf die Menschen unserer Erde immer Leid gewesen war: warum
konnte ich sie nicht hassen, wenn ich sie doch nicht liebte, warum
konnte ich ihnen nicht verzeihen, war doch in meiner Liebe zu ihnen
Leid, warum konnte ich sie nicht hassend lieben? Sie hörten mir zu und
ich sah, daß sie sich das nicht vorstellen konnten, was ich sprach, aber
es tat mir nicht leid, daß ich ihnen davon gesprochen hatte: ich wußte,
daß sie die ganze Macht meiner Sehnsucht nach denen, die ich verlassen
hatte, begriffen. Ja, wenn ich ihren klaren, liebedurchdrungenen Blick
auf mir ruhen fühlte, wenn ich fühlte, daß unter ihnen auch mein Herz so
unschuldig und rein wurde, wie ihre Herzen, so tat es mir weiter nicht
leid, daß ich sie nicht verstehen konnte. Vor lauter Fühlen der
Lebensfülle verging mir der Atem, und schweigend betete ich sie an.

Oh, alle lachen mir jetzt ins Gesicht und versichern mir, daß man so
etwas nicht sehen könnte, wie ich es jetzt wiedergebe, daß ich in meinem
Traum bloß ein einziges Gefühl empfunden hätte, eines, das mein eigenes
Herz geschaffen, diese Einzelheiten aber später, nachdem ich aufgewacht,
hinzugedacht hätte. Und als ich ihnen gestand, daß es vielleicht in der
Tat so gewesen ist – Gott, welch ein Gelächter sie da anstimmten, welch
eine Heiterkeit meine Worte hervorriefen! Oh, natürlich war ich nur von
dem Gefühl des Traumes beherrscht, und nur dieses eine Gefühl allein
blieb in meinem blutigwunden Herzen zurück. Dafür aber waren die
wirklichen Bilder und Gestalten meines Traumes, d. h. diejenigen, welche
ich gerade in der Stunde meines Traumes sah, in solch einer Harmonie
abgeschlossen, so vollendet, dermaßen bezaubernd, berauschend und schön,
daß ich, als ich erwacht war, selbstverständlich nicht fähig war, sie in
unseren schwachen Worten lebendig werden zu lassen, so daß sie in meinem
Bewußtsein natürlich erbleichen, zergehen mußten und somit war ich
vielleicht wirklich gezwungen, unbewußt später die Einzelheiten zu
erdichten, wobei ich sie bestimmt entstellt haben werde, bei meinem
leidenschaftlichen Wunsch, das große Gefühl doch wenigstens irgendwie
wiederzugeben. Darum aber – warum soll man mir nicht glauben, daß alles
wirklich so war? Vielleicht war es noch tausendmal besser, heller,
schöner, als ich es schildere? Mag es auch ein Traum gewesen sein, aber
all das konnte doch nicht _nicht_ sein. Wissen Sie, ich werde Ihnen ein
Geheimnis sagen: das ganze war vielleicht überhaupt kein Traum! Denn
hier geschah etwas Derartiges, etwas bis zu solch einem Entsetzen
Wahres, daß es einem ja gar nicht hätte träumen können, _nur_ träumen!
Mag der Traum auch mein Herz erweckt haben, aber wie konnte denn mein
Herz allein jene furchtbare Wahrheit erwecken, die ich dann später sah?
Wie hätte ich sie denn allein ausdenken oder mein Herz allein es sich
erträumen können? Wär’s möglich, daß mein kleinliches Herz und mein
flacher, launischer Verstand sich zu solch einer Offenbarung der
Wahrheit emporschwingen könnten! Oh, urteilt doch selbst: bis jetzt hab
ich’s verschwiegen – aber jetzt will ich die ganze Wahrheit sagen. Es
endete damit, daß ich ... sie alle verdarb!


                                   V.

Ja, ja, es endete damit, daß ich sie alle verdarb! Wie das geschehen
konnte – weiß ich nicht. Ich weiß es nicht mehr, wie es geschah. Der
Traum durchflog Jahrtausende und hinterließ in mir nur die
Gesamtempfindung. Ich weiß nur noch, daß die Ursache des Sündenfalles
ich war. Wie eine scheußliche Trichine, wie eine Pestbazille, die ganze
Erdteile verwüstet, so verpestete auch ich diese ganze glückliche,
sündenlose Erde. Sie lernten das Lügen und gewannen die Lüge lieb und
erkannten die Schönheit der Lüge. Oh, das begann vielleicht ganz
_unschuldig_, nur als Spiel, aus Tändelei, es ging in der Tat vielleicht
nur von einer Bazille aus, doch dieses Atom Lüge drang in ihre Herzen
und gefiel ihnen. Darauf entstand bald Sinnenlust, und diese Sinnenlust
zeugte Eifersucht, und die Eifersucht Grausamkeit ... Oh, ich weiß
nicht, ich erinnere mich nicht mehr, doch bald, sehr bald ward das erste
Blut vergossen: sie waren zuerst nur erstaunt, dann erschraken sie aber
und begannen, auseinander zu gehen und sich zu entzweien. Es entstanden
Verbindungen, doch waren es bereits Verbindungen gegen einander. Es kam
zu Vorwürfen und Beschuldigungen. Sie erkannten die Scham und erhoben
die Scham zur Tugend. Es entstand der Begriff der Ehre und jede Gruppe
sammelte sich unter einer besonderen Fahne. Sie fingen an, die Tiere zu
quälen, und die Tiere entfernten sich von ihnen und verkrochen sich in
den Wäldern und wurden ihnen feind. Es begann der Kampf um die
Entzweiung, um die Absonderung, um die Persönlichkeit, um Mein und Dein.
Sie fingen an, in verschiedenen Sprachen zu sprechen. Sie lernten das
Leid kennen und gewannen es lieb, sie lechzten nach Qual und sagten, daß
die Wahrheit sich nur durch Märtyrertum erkaufen lasse. Da kam die
Wissenschaft zu ihnen. Als sie böse geworden waren, fingen sie an von
Brüderschaft und Humanität zu sprechen und sie begriffen diese Ideen.
Als sie Verbrecher wurden, erfanden sie die Gerechtigkeit und schrieben
sich Kodexe vor, um sie zu erhalten, und zur Sicherstellung der Kodexe
errichteten sie die Guillotine. Kaum, kaum erinnerten sie sich dessen,
was sie verloren hatten, ja, sie wollten es fast nicht glauben, daß sie
einmal schuldlos und glücklich gewesen waren. Sie lachten sogar über die
Möglichkeit dieses ihres früheren Glücks und nannten es einen
phantastischen Traum. Sie konnten sich diesen Zustand nicht einmal
vorstellen, doch war dabei eines sonderbar: nachdem sie allen Glauben an
das gewesene Glück verloren hatten und es ein Märchen nannten, wollten
sie dermaßen gern wieder unschuldig und glücklich sein, daß sie vor den
Wünschen ihres Herzens niederknieten wie Kinder, dieses Wünschen
vergötterten, ihm Tempel bauten und zu ihrer eigenen Idee, ihrem eigenen
„Wollen“ beteten, während sie dabei doch unerschütterlich an die
Unerfüllbarkeit, Unverwirklichbarkeit derselben glaubten, trotzdem aber
beteten sie sie weinend an und sanken sie vor ihr auf die Kniee. Und
doch, – wenn es hätte geschehen können, daß sie zu diesem unschuldigen
und glücklichen Zustand, den sie verloren hatten, wieder hätten
zurückkehren können, wenn ihn jemand ihnen wiedergezeigt und sie gefragt
hätte: wollt Ihr zu ihm zurückkehren? – so würden sie bestimmt nicht
gewollt haben. Sie sagten mir: „Gut, mögen wir verlogen, böse, ungerecht
sein, wir _wissen_ es und weinen darob, und quälen uns deswegen selbst,
und martern uns und bestrafen uns dafür vielleicht mehr, als es jener
barmherzige Richter tun würde, der uns einstmals in Zukunft richten
wird, doch dessen Name uns unbekannt ist. Aber wir haben die
Wissenschaft und durch sie werden wir von neuem die Wahrheit finden,
doch werden wir sie dann bereits _bewußt_ annehmen. Das Wissen steht
über dem Gefühl, die Erkenntnis des Lebens – steht über dem Leben. Die
Wissenschaft wird uns allwissend machen, die Allwissenheit kennt alle
Gesetze, die Kenntnis aber der Gesetze des Glücks – steht über dem
Glück.“ Also sprachen sie zu mir, und nach solchen Worten wurde sich ein
jeder von ihnen noch lieber, wurde sich ein jeder der liebste von allen,
ja – hätte es doch anders überhaupt nicht geschehn oder sein können. Ein
jeder wurde so eifersüchtig auf sein Ich, daß er das Ich seines Nächsten
mit allen Mitteln zu erniedrigen, zu unterdrücken und zu verringern
trachtete; und nur darin setzte er sein Leben voraus. Es entwickelte
sich die Sklaverei, es gab sogar freiwillige Sklaven; die Schwachen
unterwarfen sich gern den Starken, doch nur mit der einen Bedingung, daß
jene ihnen halfen, die noch Schwächeren zu unterdrücken. Es kamen
Propheten zu diesen Menschen, und weinend sprachen sie zu ihnen von
ihrem Stolz, dem Verlust des Maßes und der Harmonie, über die Einbuße
der Scham. Sie wurden verlacht und verspottet und schließlich
gesteinigt. Heiliges Blut rann über die Schwellen der Tempel. Dafür aber
kamen Menschen, die anfingen sich auszudenken: wie wäre es möglich, daß
alle sich wieder vereinigten, daß ein jeder, ohne aufzuhören sich selbst
am meisten zu lieben, zu gleicher Zeit keinen anderen störte, und daß
somit wieder alle zusammen lebten, als ob sie eine einzige friedliche
einmütige Gesellschaft wären. Es kam zu ganzen Kriegen wegen dieser
Idee. Alle Kämpfer glaubten zu gleicher Zeit, daß die Wissenschaft, die
Allwissenheit und der Trieb der Selbsterhaltung den Menschen schließlich
zwingen würden, sich mit allen zu einer vernünftigen und einmütigen
Gesellschaft zu vereinigen, darum aber trachteten die „Allweisen“ zur
Beschleunigung der Sache alle „Nichtallweisen“ und die, die ihre Idee
nicht begreifen konnten, auszurotten, auf daß sie ihren Sieg nicht
verhinderten. Aber das Gefühl der allgemeinen Selbsterhaltung fing bald
an abzunehmen, es kamen stolze Wollüstlinge, die offen entweder alles
oder nichts verlangen. Man ging zu Freveltaten aller Art über, und wenn
man durch sie nichts erreichte – zum Selbstmord. Es kamen Religionen mit
dem Kult des Nichtseins und der Selbstzerstörung um willen der ewigen
Ruhe im Nichts. Endlich aber ermüdeten diese Menschen in der sinnlosen
Mühe und auf ihren Gesichtern erschien das Leid, und diese Menschen
verkündeten: das Leiden ist Schönheit, denn nur im Leiden liegt ein
Sinn. Und sie besangen das Leiden in ihren Liedern. Ich ging verstört
unter ihnen umher, rang die Hände und weinte über sie, aber ich liebte
sie vielleicht noch mehr als früher, als auf ihren Gesichtern noch kein
Leid war und sie noch so unschuldig und so schön waren. Mir wurde die
von ihnen entweihte Erde noch teurer denn früher als Paradies, und das
nur, weil auf ihr das Leid erschienen war. Oh, ich habe immer das Leid
und die Trauer geliebt, aber nur für mich, für mich! Da sie es aber
hatten, weinte ich vor Mitleid über sie. Ich streckte ihnen meine Arme
entgegen und in der Verzweiflung beschuldigte, verfluchte und verachtete
ich mich. Ich sagte ihnen, daß ich alles getan hatte, daß ich die Schuld
an allem trug, ich, ich allein! Daß ich ihnen Verderbnis, Pest und Lüge
gebracht! Ich flehte sie an, mich zu kreuzigen, ich lehrte sie ein Kreuz
zu zimmern und zu errichten. Ich konnte nicht mich selbst töten, ich
hatte nicht die Kraft dazu, aber ich wollte von ihnen Qualen empfangen,
ich lechzte nach Qualen, ich lechzte danach, daß in diesen Qualen mein
Blut bis auf den letzten Tropfen vergossen würde! Sie aber lachten nur
über mich und schließlich sagten sie mir, ich sei ein blödsinniger Narr.
Sie verteidigten mich sogar; sie sagten, sie hätten bloß das bekommen,
was sie sich selbst gewünscht, und das alles, was bei ihnen ist,
überhaupt nicht hätte _nicht_ sein können. Und zum Schluß erklärten sie
mir, daß ich für sie gefährlich wäre und sie mich in ein Irrenhaus
einsperren würden, wenn ich nicht endlich aufhörte davon zu sprechen. Da
wurde das Leid, das meine Seele durchdrang, so übergroß, daß mein Herz
sich zusammenkrampfte, und ich fühlte, daß ich starb, und ... da
erwachte ich aus meinem Traum.

                   *       *       *       *       *

Es war schon Morgen, das heißt, die Sonne war noch nicht aufgegangen:
die Uhr war erst sechs. Ich erwachte in meinem Lehnstuhl, das Licht vor
mir war schon ganz heruntergebrannt, im Nebenzimmer beim Hauptmann
schlief man und es herrschte eine in unserer Wohnung seltene Stille.
Zuerst sprang ich verwundert auf; noch nie war mit mir Ähnliches
geschehen, selbst die kleinsten Dinge waren auffallend: z. B. war ich
noch nie so im Lehnstuhl eingeschlafen. Und dann – während ich stand und
zu mir kam, erblickte ich plötzlich meinen Revolver, den geladenen
Revolver, – doch im selben Augenblick stieß ich ihn weit von mir! Oh,
Leben, großes, heiliges Leben! Ich breitete meine Arme aus und rief die
ewige Wahrheit an; ich schluchzte: Begeisterung, unermeßliche
Begeisterung erhob mein ganzes Ich. Ja, Leben und – Verkünden! Das
Verkünden beschloß ich in demselben Augenblick, – beschloß es für das
ganze Leben! Ich gehe predigen, ich will verkünden – was? Die Wahrheit,
denn ich habe sie gesehn, habe sie mit eigenen Augen gesehn, und habe
ihre ganze Herrlichkeit erkannt!

Und seit der Zeit verkünde ich! ... Ich liebe alle, und die, die über
mich lachen, liebe ich am meisten. Warum ich diese mehr liebe – weiß ich
nicht und ich kann es auch nicht erklären, aber mag es so sein. Sie
sagen, daß ich mich schon jetzt verirre, – wenn ich mich aber schon
jetzt so verirrt habe, was würde dann noch weiter geschehn? Ja, es ist
wahrhaftig wahr: ich verirre mich und je weiter, desto schlimmer wird es
vielleicht werden. Natürlich werde ich noch oftmals fehlgehn, bevor ich
es erlernen werde, wie man predigen muß, d. h. mit welchen Worten und
welchen Taten, denn es ist schwer, das zu erfüllen. Es ist mir ja jetzt
schon so klar wie der Tag, aber hört mal: wer irrt sich denn nicht? Und
dabei streben doch alle zu ein und demselben, alle, angefangen vom
Weisen bis zum letzten Verbrecher, nur tun sie es auf verschiedenen
Wegen. Das ist eine alte Wahrheit, doch eines ist hierbei neu: ich kann
mich ja gar nicht so sehr verirren. Denn ich habe doch die Wahrheit
gesehn, ich weiß, daß die Menschen schön und glücklich sein können, ohne
dabei die Fähigkeiten auf der Erde zu leben, verloren zu haben. Ich will
nicht und ich kann auch nicht glauben, daß das Böse der Normalzustand
der Menschen sei. Sie aber lachen ja nur über diesen meinen Glauben!
Aber wie soll man mir denn nicht glauben! Ich habe die Wahrheit gesehn,
– nicht, daß ich sie mit meinem Verstande erfunden hätte, nein, ich habe
sie gesehn, gesehn, und ihr _lebendiges Angesicht_ hat meine Seele bis
in alle Ewigkeit erfüllt. Ich sah sie in solch einer vollendeten
Ganzheit, – wie soll ich nun glauben, daß es diese Wahrheit nicht auch
bei den Menschen geben kann? Und wie, wie soll ich mich denn verirren?
Vielleicht werde ich etwas vom Wege abgeraten, vielleicht sogar mit
fremden Worten sprechen, aber nicht lange: das lebendige Ebenbild
dessen, was ich gesehn, wird ewig in mir sein und mich führen und
leiten. Oh, ich bin mutig und guter Hoffnung und ich gehe und gehe und
wenn auch auf tausend Jahr. Wißt, ich wollte es zuerst sogar
verheimlichen, daß ich sie alle verdorben hatte, aber das wäre ein
Fehler von mir gewesen, – da hätten wir schon den ersten Fehler! Doch
die Wahrheit flüsterte mir zu, daß ich log und bewahrte mich vor der
Verirrung und lenkte mich auf den rechten Weg. Wie aber das Paradies
errichten, das weiß ich nicht, denn ich kann es nicht in Worten
wiedergeben. Nach meinem Traum habe ich die Worte verloren. Wenigstens
alle notwendigen Worte, die nötigsten. Doch mag es sein; ich werde gehen
und verkünden, unermüdlich verkünden, denn ich habe es doch immerhin mit
eigenen Augen gesehn, wenn ich es auch nicht wiedergeben kann, was ich
gesehn habe. Aber das ist es ja gerade, was die Spötter nicht begreifen
können. „Hat einen Traum gehabt, wie er sagt, irgend ein Fieberwahnbild,
Halluzination.“ Ach! Ist denn das weise? Und wie stolz sie dabei sind.
Ein Traum? Was ist ein Traum? Ist denn unser Leben kein Traum? Wartet,
ich werde Euch noch mehr sagen! Gut, nun gut, das wird niemals in
Erfüllung gehn und das Paradies wird sich nie verwirklichen (das sehe
ich doch selbst ein!) – gut, aber ich werde doch verkünden. Und
trotzdem, wie einfach wäre es: in einem Tage, _in einer einzigen Stunde_
– würde sich alles verwandeln! Liebe die Menschheit wie Dich selbst! –
das ist das ganze, das ist alles, weiter ist nichts mehr nötig: sofort
wirst Du wissen, wie Du leben sollst. Und währenddessen ist das ja doch
nur eine – alte, ganz alte Wahrheit, die aber- und abertausendmal
wiederholt worden ist, und doch hat sie sich nirgendwo eingelebt! „Die
Erkenntnis des Lebens – ist höher als das Leben, die Erkenntnis der
Gesetze des Glücks – ist höher als das Glück“ – das ist es, womit man
kämpfen muß! Und ich werde es. Wenn nur alle _wollten_, so würde sich
sofort alles auf Erden verändern.

                   *       *       *       *       *

Aber jenes kleine Mädchen habe ich doch aufgesucht ... Und jetzt gehe
ich. Und jetzt gehe ich ...




                               Fußnoten.


[1] Natürlich sind beide, sowohl der Autor wie die Aufzeichnungen, von
mir erdacht. Doch nichtsdestoweniger kann es solche Leute, wie den
Verfasser dieser Aufzeichnungen, oder richtiger, muß es sogar solche
Leute in unserer Gesellschaft geben, wenn man die Verhältnisse, unter
denen sich unsere Gesellschaft gebildet hat, in Betracht zieht. Ich
wollte dem Leser einen Menschen vorführen, der von den anderen Leuten
etwas absticht, einen Charakter aus der jüngst vergangenen Zeit – einen
der Vertreter der jetzt erst ihr Leben allmählich beschließenden
Generation. In diesem ersten Teil – „Das Dunkel“ betitelt – empfiehlt er
zuerst sich selbst und seine Anschauungen, und will gewissermaßen die
Gründe erklären, warum er zu uns gekommen ist oder warum er zu uns hat
kommen müssen. Erst im zweiten Teil – „Bei nassem Schnee“ – bringe ich
die wirklichen „Aufzeichnungen“ einiger seiner Erlebnisse. Fedor
Dostojewski.

[2] Anführer des Kosakenaufstandes von 1667-1671, wurde 71 hingerichtet.
E. K. R.

[3] Der sogenannte Heumarkt in Petersburg. E. K. R.

[4] Stadtteil in Petersburg. E. K. R.

[5] Berühmter russischer Klown und Akrobat. E. K. R.

[6] Berüchtigtes Nachtasyl am großen „Heumarkt“. E. K. R.

[7] In Rußland wird der Sarg erst kurz vor der Versenkung in die Gruft
geschlossen. E. K. R.

[8] Tag der ersten Seelenmesse.

[9] Gericht mit Honig und Rosinen, das bei der Totenfeier zum Einsegnen
in die Kirche gebracht wird. E. K. R.


                     Anmerkungen zur Transkription.

Die „Sämtlichen Werke“ erschienen in der hier verwendeten ursprünglichen
Fassung der Übersetzung von E. K. Rahsin in mehreren Auflagen und
Ausgaben 1906–1922 im Piper-Verlag. Dieses Buch wurde transkribiert
nach:

                  F. M. Dostojewski: Sämtliche Werke.
                   Zweite Abteilung: Zwanzigster Band
           R. Piper & Co. Verlag, München und Leipzig, 1907.

Die Anordnung der Titelinformationen wurde innerhalb der „Sämtlichen
Werke“ vereinheitlicht und entspricht nicht der Anordnung in den
ursprünglichen Ausgaben. Alle editionsspezifischen Angaben wie Jahr,
Copyright, Auflage usw. sind aber erhalten und wurden gesammelt direkt
nach der Titelseite eingefügt.

Fußnoten wurden am Ende des Buches gesammelt.

Wiederholungen der Überschriften an den Anfängen der jeweiligen Novellen
wurden entfernt.

Zu den Anführungszeichen: Gespräche wurden in doppelte Anführungszeichen
(„“) eingeschlossen. Die Wiedergabe von Äußerungen anderer innerhalb von
Gesprächen wurde in einfache Anführungszeichen (‚‘) eingeschlossen.

Besonderheiten der Transliteration russischer Begriffe und Namen: Der
Buchstabe „ä“ (oder auch „jä“) steht für den kyrillischen Buchstaben
„ja“. Die Schreibweise häufig vorkommender Namen und Begriffe wurde
vereinheitlicht (nicht verwendete Varianten in Klammern):

   Klinewitsch (Klinéwitsch)
   Newsky (Newski)
   Ssemjon (Semjon)

Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Weitere
Änderungen sind hier aufgeführt (vorher/nachher):

   [S. 22]:
   ... viel Tränen, und – versteht sich – betrog mich ...
   ... viele Tränen, und – versteht sich – betrog mich ...

   [S. 261]:
   ... werden daher in diesen Tagen umziehen, so daß ich wohl ...
   ... werde daher in diesen Tagen umziehen, so daß ich wohl ...






*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK SÄMTLICHE WERKE 20: AUS DEM DUNKEL DER GROSSSTADT ***


    

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