Das Kreuz im Venn : Roman

By Clara Viebig

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Title: Das Kreuz im Venn

Author: Clara Viebig

Release date: October 11, 2024 [eBook #74557]

Language: German

Original publication: Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt

Credits: Peter Becker, Martin Oswald and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net (This file was produced from images generously made available by The Internet Archive)


*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DAS KREUZ IM VENN ***





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          Clara Viebig / Ausgewählte Werke




                    Clara Viebig

                 Ausgewählte Werke

                    Achter Band

            [Illustration: Verlagssignet]

          Deutsche Verlags-Anstalt Stuttgart
                 Berlin und Leipzig
                        1922




                    Clara Viebig

                  Das Kreuz im Venn

                       Roman

            [Illustration: Verlagssignet]

          Deutsche Verlags-Anstalt Stuttgart
                 Berlin und Leipzig
                        1922




                         *
               Alle Rechte vorbehalten
  Druck der Deutschen Verlags-Anstalt in Stuttgart




I


In die Enge der Gassen war die Sonne noch nicht hinabgedrungen.
Oben auf der Ley, wo das Kapellchen beim Kirchhof steht und Tannen
ihre Wipfel über den Garten des Todes recken, glänzte sie schon;
hell beschien sie die geweihten Ruhestätten derer, die man hier
hinaufträgt in Frühlingsluft wie in Sommerglut, in Herbstschauern wie
in Winterschnee. Jeden einzelnen auf den Schultern. Denn tief unten
im Talspalt liegt die Stadt, neben den Fluß gequetscht, ein Haufe
altersgedunkelter Schieferdächer. Zwei schmale Längsstraßen nur hat
sie. Finster blickt der verfallene Wachtturm auf Kirche und Apotheke
am Markt nieder. Und von der anderen Seite am jenseitigen Berghang
schaut die alte Burg herunter auf die schieferigen, schlüpfrigen
Treppenplatten, die aus dem Märchen des Mittelalters hinabführen
in die enge Wirklichkeit: in den Alltag der Bürgerhäuser und der
klingenden Ladentürchen, der rauchenden Fabrikschlöte und der gellenden
Dampfpfeife; des murmelnden Betens der Lumpensortiererinnen und des
regelmäßigen Geplappers vieler nägelbeschlagener Schuhe auf spitzigem
Pflaster; des gemütlichen Schwatzens der Skatbrüder beim Schoppen, des
Weibergeträtsches und des Sporenklirrens der Herren vom Schießplatz,
die ihre freie Zeit benützen zu einer Flasche Sekt und einem guten
Diner bei der schönen Helene im »Weißen Schwan«.

Der Weiße Schwan war heute so wie immer der Sammelplatz. Vor seiner
verschnörkelten Barocktür, darüber der Schwan, künstlich aus
Kupferplättchen gehämmert, schon ein Jahrhundert sich schaukelt,
drängten sich die Herren. Alle in Zylindern und schwarzen Röcken; doch
auch einige Uniformen waren unter dem feierlichen Schwarz.

Der Wirt vom Schwan war gestorben, noch ein junger Mann, der einen
guten Wein und eine gute Küche geführt hatte.

»Armer Kerl,« sagte Adjutant von Scheffler, der eigens vom Platz
herunterbeordert worden war, das Offizierkorps zu vertreten. »War immer
höchst fidel und wußte sich doch dabei in den ihm zukommenden Grenzen
zu halten. Und engherzig in keiner Weise – nee, wahrhaftig nicht!« Er
lächelte flüchtig.

Der junge Leutnant Abeking lächelte auch. Die Augen halb schließend,
blinzelte er in den jetzt schnell in die Gasse niedersteigenden
Sonnenschein; er konnte das Lächeln nicht unterdrücken, das ihm kam,
wenn er der vorigen Sonntagnacht gedachte, in der die schöne Helene
bei einer fröhlichen Bowle ihm Blicke zugeworfen hatte – Blicke! Und
ihr Fuß hatte den seinen gesucht, und neben ihn war sie gerückt, hatte
sich gar nicht mehr um die andern gekümmert, hatte ihm zugetrunken und
ihr Knie an dem seinen gerieben! Noch jetzt fühlte er, wie der Strom
Leben, der von ihr ausging, ihm durch den Körper rieselte. Und der
dicke Wilhelm hatte sein behagliches Lachen dazu gelacht und listig
geblinzelt und noch an kein Arg gedacht. Daß der so schnell hatte
sterben müssen!

Ein plötzlicher Schauer überrann den jungen Offizier. Scheußlich, so
aus dem vollen Leben und von einem so famosen Weibe weg zu müssen!

»Am Suff ist er gestorben,« sagte jetzt plötzlich jemand ganz laut.
Das war der Tierarzt. Verschiedene lächelnde und auch einige unwillige
Gesichter wendeten sich dem kleinen, untersetzten, immer echauffiert
aussehenden Manne zu: natürlich, der Dreiborn konnte wieder seinen Mund
nicht halten! Aber diesmal hatte er recht!

Und nun wußte der Apotheker auch Näheres: Herz und Nieren waren längst
krank gewesen, der Doktor hatte ihm immer schon Wein und Bier verboten.
Aber beides im Keller, und dann nicht davon trinken dürfen! Der dicke
Wilhelm hatte eben weiter getrunken, bis ihn die Helene, als sie
vergangene Sonntagnacht, sehr spät – na, eigentlich war’s grauender
Montagmorgen – nach oben kam, röchelnd im Bett fand.

»Pardon,« der junge Leutnant trat näher, »hat jemand von den Herren sie
schon gesprochen? Ob sie sehr unglücklich ist?«

»Unglücklich?!« Der Tierarzt ließ ein Lachen vernehmen, so laut, daß
Abeking verletzt zusammenzuckte. Er sah sich verlegen um, aber heute
schien der Tierarzt keinen Anstoß zu erregen; überall gleichgültige,
wenn nicht heitere Mienen. Man unterhielt sich zwanglos. Nur als jetzt
der Landrat, vom Amt her, eilig über die Gasse schwenkte, zusammen mit
dem Bezirkskommandeur, legten sich die Gesichter in ernstere Falten.
Man grüßte.

Der Landrat dankte verbindlich. Aber es war eine gewisse Unsicherheit
in seinem Gruß; sein kluges, vornehmgeschnittenes Gesicht zeigte
einiges Unbehagen. Das war eine recht mißliche Geschichte, zu
diesem Leichenbegängnis zu gehen! Der Landrat hinter dem Sarg eines
notorischen Säufers! Aber die schöne Helene würde ihm sein Fernbleiben
nie verzeihen, und dann – er warf einen raschen Blick über die Gasse –
sie waren ja alle gekommen! Da waren der Kreisphysikus und der zweite
Arzt, der Bürgermeister, der Notar, der Amtsrichter, der Bauinspektor,
der Apotheker und so weiter – ah, sieh da, selbst Schmölder von der
Tuchfabrik! Und dann die Herren vom Militär.

Das gab ihm Sicherheit. Er richtete flüchtig ein paar Worte an
die Ärzte, an den Bürgermeister, den Notar, den Amtsrichter,
den Bauinspektor, den Apotheker und so weiter, um dann mit dem
Fabrikanten, dem reichsten Mann des Orts, ein paar Schritte zur Seite
zu treten. Sie unterhielten sich eine Weile halblaut, langsam dabei auf
und nieder gehend. Sie mußten lange warten.

»Jeht et denn noch nicht bald los?« fragte plötzlich laut der
Fabrikant. »Zum Donnerwetter, nu hab ich’t aber bald satt, hier zu
stehen!«

»St!«

In diesem Augenblick fingen die Glocken der Kirche dumpf an zu läuten;
es öffnete sich die verschnörkelte Barocktür. Beide Flügel wurden weit
aufgeschlagen, von innen drang ein Schluchzen heraus auf die Gasse. Die
Herren vor der Tür gaben den Durchgang frei. Wie sich die Helene hatte!

Hinter der Geistlichkeit, die mit Kreuz und Weihrauchduft die Stufen
des Schwans hinabschritt, schleppten die Träger den Sarg heraus. Er
war lang und breit, kaum konnte er durch die Tür; der Verstorbene
war groß und schwer bei Leibe gewesen. Die vier, die ihn trugen,
blickten schier bänglich: würden sie’s schaffen, bis die vier anderen
sie ablösen? Sie hoben den Sarg auf die Bahre, der Zug setzte sich
in Bewegung, Kinder mit Kränzen vorauf. Dicht hinter dem Sarg trug
der Deputierte des Schützenvereins das Kissen mit sämtlichen Preisen
und Ehrenzeichen; Wilhelm aus dem Schwan war, ehe noch seine Hand so
zitterte, ein berühmter Schütze gewesen, totsicher hatte er allemal
getroffen. Jetzt hatte der Tod ihn sicher getroffen. Die Witwe hatte
laut aufgeschluchzt, als der Deputierte des Schützenvereins ihr mit
diesen Worten, wohl gesetzt, seine Kondolation dargebracht hatte. –

    »Gegrüßet seist du, Maria,
    Gebenedeite unter den Weibern –«

    »Heilige Maria, bitte für uns,
    Jetzt und in der Stunde unseres Todes!«

       *       *       *       *       *

Unablässig, sich immer wieder erneuernd, klang das murmelnde Beten.
Die Glocke dröhnte mächtig dazu, mit gemessenem, schwerem Anschlagen.
Vor einer langen Reihe schwarzgekleideter Frauen her wankte die Witwe.
Man konnte ihr Gesicht nicht sehen; sie hielt es verborgen hinter dem
schwarzgeränderten Taschentuch, das sie sich vor die Augen preßte, und
hinter dem dichten Kreppschleier, der, vorn und hinten, lang bis zum
Saum des schleppenden Kleides, niederfiel.

Sie schien wirklich aufrichtig betrübt! Der kleine Leutnant machte
einen langen Hals, aber er konnte nichts von ihr erblicken, als über
der Pelzboa ein Streifchen der Haut im Nacken, die trotz des schwarzen
Schleiers weiß schimmerte, und ein Weniges von dem blonden Haar, das
ein Strählchen der Morgensonne jetzt vergoldend küßte.

    »Heilige Maria, bitte für uns,
    Jetzt und in der Stunde unseres Todes!«

Die Chorknaben schwangen den Weihrauchkessel. Der Sonnenglast drückte
nieder, es war trotz früher Jahreszeit eine schwere Luft in der Gasse.
Der Weihrauchdunst konnte nicht höher steigen als bis zum ersten
Stockwerk der schieferbekleideten, hochgegiebelten Häuser, die in zwei
gepreßten Reihen sich so nahe gegenüberstehen, daß sie sich bis ins
Herz hineinsehen können.

An allen Scheiben Neugierige. Über Töpfe mit blühenden Zimmerblumen
weg reckten sich Mädchenköpfe aus geöffneten Fenstern. »Ha, ’ne
finge Liechezog, ’ne finge jruße!« Die Helene konnte sich wirklich
was einbilden; wer da alles mitging! Sie machten sich gegenseitig
aufmerksam auf den und jenen: »Jesses Maria un Jusep, nee, ooch der
Landrat!« Ein hübscher Herr und sehr vornehm, der von Mühlenbrink!
Ein schöner Mann! Beinahe so schön wie der von Scheffler mit dem
aufgedrehten Schnurrbart. Der kleine Leutnant konnte dagegen nicht an,
von den anderen gar nicht zu reden.

Als fühlte Landrat von Mühlenbrink alle auf ihn gerichteten Blicke,
so ging er, behutsam, mit kleinen Schritten. Er sah nicht auf. Es
genierte ihn doch etwas, hinter diesem Sarge herzugehen. Aber was tut
man nicht! Hier hieß es, mit den Wölfen heulen, und des war er sicher,
heute würde seine Popularität erheblich steigen. Auch hierdurch macht
man sich Stellung. Und er wollte sich Stellung machen, um jeden Preis.
Ein Landrat, der in seinem Kreise populär ist, ist wie ein König.
Und dieser Kreis war interessant genug, er stellte Anforderungen, er
brauchte eine ganze Kraft. Und war er denn nicht diese Kraft? Gewiß!
Sonst hätte man ihn doch nicht hierhergesetzt. Er war noch jung, es
war eine Auszeichnung – einen so großen Kreis! Es gab hier vieles zu
schaffen; vorerst galt es einmal mit dem alten Schlendrian aufzuräumen,
in diese teils kleinstädtische Enge, teils verdummte Bäuerischkeit
Licht und Luft zu bringen. Und dann –?! Er hob den Kopf. Wenn es erst
hieß: »das hat unser Landrat ins Leben gerufen, das haben wir dem zu
verdanken – unser Landrat, unser Landrat« – ah, was ließ sich auf
diesem so lange verabsäumten Boden nicht noch alles schaffen, ins Leben
rufen! Ein tiefer Atemzug wölbte seine Brust. Eine Fülle segensreicher
Einrichtungen! Unwillkürlich reckte er sich: nein, er vergab sich
nichts, hinter diesem Sarge herzuschreiten; das schaffte Vertrauen,
und Vertrauen muß sich einer erwerben, der wirken will! Sie gingen ja
auch alle mit – wahrhaftig, da hinten ja auch der Bürgermeister von
Heckenbroich!

Er hatte sich flüchtig umgesehen, ihm war, als ruhe ein langer, fester
Blick ihm im Rücken, und er hatte sofort den Mann bemerkt, der die
anderen, die vor und neben ihm schritten, um Haupteslänge überragte.
Den mußte er doch gleich nachher einmal abfassen! Der machte sich ja so
rar hier unten!

Der Zug, unter Gebet und Glockengeläut, war jetzt zur Stelle gelangt,
wo der Weg sich teilt. Rechts steigt das Gäßchen zum Kirchhof hinan,
links führt eine Straße zum Bahnhof hinauf. Hier, wo die Träger
wechseln, pflegen die abzuschwenken, die der Höflichkeitspflicht
Genüge getan haben; nur die nächsten Leidtragenden folgen in schmaler
Prozession, wie ein schwarzer Wurm unter den fast überhängenden letzten
ärmlichsten Häusern des Städtchens hinkriechend, der Leiche die
steile Felsstiege hinan. Schon drückte sich da einer und dort einer;
man pflegte das meist heimlich zu tun, wie unabsichtlich ein wenig
zurückbleibend, aber heute verstellte ein Trupp Männer die rettende
Ecke.

Sie standen da und gafften mit stumpfen Augen den Zug an. Fünfzehn
Männer in Drillichkitteln; einer wie der andere mit geschorenem Kopf.
Und bei ihnen, mit dem Falkenauge sie überwachend, ein schwarzer
Kerl, nicht vertrauenerweckender als sie; auch in einer ihren Kitteln
ähnelnden Drillichjacke, in Militärhosen und mit einem Karabiner über
dem Rücken. Das war der Aufseher, und das waren die Gefangenen.

Aha! Der Landrat kniff die Augen halb zu und trat dann rasch näher. Da
war ja der avisierte Kolonisationstrupp! Schon?! Er hatte die Leute
eigentlich etwas später erwartet. Aber auch gut so, das Wetter war ja
fast frühlingsmäßig, als ob es schon April wäre und nicht erst März.
Es konnte immerhin begonnen werden! Mit der Miene des Vorgesetzten
musterte er den Aufseher. Der Mann gab ruhig seinen Blick zurück.

Mühlenbrink räusperte sich. »Ich bin der Landrat! Wie heißen Sie?«

»Bräuer.«

»Sie kommen soeben mit dem Morgenzuge von Aachen?«

»Ich habe mich bei der Polizeibehörde zu melden.« Eine gewisse Unlust
knurrte in des schwarzen Mannes Stimme, man merkte es ihm an, er liebte
es nicht, ausgefragt zu werden.

»Ich bin die Behörde,« sagte der Landrat scharf. Er ärgerte sich über
die knappe Antwort dieses Menschen und winkte hochmütig ab: »Sie können
jetzt gehen. Ich werde mich bald davon überzeugen, wie die Sache
vorangeht!«

»Zu Befehl!« Des Schwarzen scharfes Auge, das hell war, graugrün, mit
einem dunklen Ring um den Augapfel wie bei einem Falken, flog über die
Drillichkittel; mit einem einzigen Blick umfaßte er sie alle. »Marsch!«

Die fünfzehn, ohne einen Moment des Besinnens, schulterten ihre Bündel,
die sie im Stehen hatten sinken lassen. Trapp, trapp. Hart klapperten
ihre groben Schuhe auf dem Steinpflaster.

Wie ein bissiger Hund, der seine Herde bewacht, bald nebenher, bald
hinterher, lief der Aufseher. Finster waren die Blicke, die er auf
neugierige Gaffer in der Straße schoß. Was blieben sie denn stehen und
glotzten ihn und seine Kerls an? Es lief mancher Halunke noch frei in
der Welt herum, der eigentlich hier zwischen die Drillichkittel gehörte!

»Voran, marsch!« sagte er noch einmal und schlug einen noch schärferen
Trab an. Gehorsam fiel seine Schar in den gleichen Tritt.

Der Landrat stand noch und besann sich, ob er den Mann nicht noch
einmal zurückrufen und ihm noch einige Instruktionen geben sollte, als
auch schon der Trupp um die Krümmung der Längsstraße verschwunden war.

»Stramme Kerls, was?« sagte der Platzkommandant und stellte sich neben
dem Landrat auf. »Und gedrillt wie Rekruten. Der Schwarze ist natürlich
Unteroffizier gewesen; merkt man gleich, noch gute militärische Zucht
drin!«

»Mag sein, aber ein sackgrober Kerl!« Es war etwas Gereiztes in
Mühlenbrinks Ton.

Der andere lachte. »Alle Unteroffiziere sind grob, müssen grob sein,
sonst sind sie nicht zu gebrauchen. Ich gehe jetzt zum Frühschoppen,
kommen Sie mit? Fatal, mit dem Schwan ist’s heute nichts, wir müssen
uns schon mit der Gans begnügen!« Der gemütliche Herr belachte seinen
Witz. »Sie sind ja heute so schlechter Laune, Mühlenbrink, was ist denn
los?«

»Geschäfte!« Der Landrat krauste die Stirn.

»Äh, was, Geschäfte! Adieu!« Der alte Major schwenkte hinüber in das
andere Gasthaus, dessen Wirt schon in der Türe stand und sich für
heute, da der Schwan geschlossen blieb, viel Zuspruch erhoffte.

Einer der Leidtragenden nach dem andern verschwand im Bierlokal. Nur
der, auf den Mühlenbrink, langsam die Gasse hinabschlendernd, wartete,
spazierte noch immer nicht in die Wirtshaustür. Wo steckte denn der
Bürgermeister von Heckenbroich? War er am Ende mit bis zum Kirchhof
hinaufgegangen?

Der Landrat war schon ein paarmal bis zum Gäßchen zurückgeschritten und
hatte ungeduldig den Weg emporgesehen, der, teils in Treppenstufen,
teils über schieferige Platten führend, zur Kirchhofsley ansteigt.
Ein paar Eidechschen schlüpften, vom stechenden Frühlingsschein
hervorgelockt, über die Gasse und verschwanden schwänzelnd in den
Spalten des bröckligen Mauerwerks, über das das Obergeschoß der
Häuschen weit vorspringt.

Mit rüstigem Schritt, den rauhhaarigen Zylinder in der Hand tragend,
kam jetzt der Bürgermeister von Heckenbroich die Gasse herunter. Man
sah es, er war mit bis oben gewesen, seine Stirn war feucht von Schweiß.

»Endlich! Na, wo stecken Sie denn so lange, lieber Herr Bürgermeister?«
Der Landrat schüttelte ihm die Hand.

»Ich hab dem Wilhelm noch die letzte Ehre erwiesen,« sagte ernst
Bartholomäus Leykuhlen.

»Eine halbe Stunde warte ich auf Sie. Sie machen sich ja so rar! Ich
wollte doch nicht versäumen, Ihnen einmal guten Tag zu sagen!«

»Zuviel Ehre für mich!« Der bäuerliche Mann wischte sich ruhig mit der
flachen Hand den Schweiß von der Stirn und setzte dann den altmodischen
Zylinder wieder auf. »Darf ich fragen, was der Herr Landrat von mir
wissen möcht?« Das frische Gesicht unter dem schon ergrauenden Haar
blieb ganz unbewegt. In den klaren Augen, die den andern frei ansahen,
konnte man nur eine gewisse erstaunte Frage bemerken, aber nichts von
der Ironie, die doch das mißtrauische Ohr aus dem Ton der Stimme zu
hören geneigt war.

»Ich – ich? Wissen?« Mühlenbrink lachte ein wenig nervös. »Nein, wissen
will ich garnichts von Ihnen. Aber wie steht’s denn eigentlich bei
Ihnen oben? Was denken Sie, wird es viel Futter geben, dies Jahr? Und
wie ist der Gesundheitszustand?«

»Sehen Sie, da wollen Sie ja als wat wissen!« Leykuhlen lachte
ungeniert. »Und wat viel auf einmal. Herr Landrat, dat weiß nur der
Himmel. Dat Frühjahr läßt sich trocken an, diesen Winter haben wir auch
ausnahmsweis wenig Schnee jehabt; wird wohl knapp mit Wasser werden
dies Jahr!«

»Aha, sehen Sie, lieber Freund! Sagte ich’s Ihnen nicht längst?
Wasserleitung müßten Sie anlegen!«

»Wat tut dat zur Sach! Wasserleitung – wat soll die wohl unserm
Jras nützen?! Ob wir viel Futter kriegen oder wenig, da ändert kein
Wasserleitung wat dran!«

»Aber für den Gesundheitszustand ist es doch höchst wichtig. Ich bitte
Sie, lieber Freund, diese veralteten Brunnen! Bauen, bauen, nicht so
rückständig sein! Eine Wasserleitung bauen, schleunigst!«

»Wir haben kein Jeld,« sagte trocken der Bürgermeister.

Der andere triumphierte. »Sie haben aber doch eine so große
Kirche gebaut – ein Dorf solche Kirche – schöner Unsinn! Für die
hundertfünfundsiebzigtausend Mark – oder wieviel war es doch gleich,
was die Gemeinde vom Militärfiskus für Abtretung des Weidelandes
bekommen hat? – na, eine anständige Summe jedenfalls. Die Gemeinde
konnte auf einen grünen Zweig kommen. Statt dessen – zu dumm, zu dumm!«

»Sie waren eben damals noch nit unser Landrat, Herr von Mühlenbrink,«
sagte Bartholomäus Leykuhlen mit einem Lächeln.

Der andere nahm das als Schmeichelei.

Ȇbrigens ist die Kirch nit von dem Jeld jebaut, Sie irren, Herr
Landrat! Dafür haben wir jespart, jespart, schon seit Jahrzehnten.
Aus freiwilligen Beiträgen ist sie erbaut. Et ist uns en Herzenssach
jewesen. Dat Jeld vom Militärfiskus haben wir noch!«

»Sie sind wirklich der einzig vernünftige Mensch hier,« sagte der
Landrat halblaut und legte vertraulich dem großen Mann seine Hand auf
den groben Tuchrockärmel. »Kommen Sie ein bißchen mit mir, wir trinken
ein Glas Wein bei mir zu Haus. Hier wird einem ja aus jedem Fenster
zugehört!«

»Ich danke, Herr Landrat!« Leykuhlen machte sich frei und lüftete den
Zylinder. »Aber ich bin heut zu sehr pressiert. Die beste Kuh will
kalben, da muß der Uehm[1] selber zu Haus sein. Empfehle mich!«

[1] Hauswirt.

Fort war er. Wie ein verdutzter Knabe sah der andere ihm nach.
Wieder ausgewichen! Eine Röte stieg ihm in die Stirn. Im Grunde ein
eingebildeter Patron – wenn man ihn nur nicht so nötig brauchte! Kein
Mensch hier, bei dem man sich bessere Informationen über Land und Leute
holen konnte. Und keiner, der soviel Einfluß hätte bei diesen Bauern.
Man mußte ihn für die Wasserleitung zu gewinnen suchen – diese war
durchaus nötig. Das Geld hatte die Gemeinde also doch noch nicht ganz
verplempert? – die Regierung würde zusteuern – es wäre wirklich ein
kolossaler Erfolg, könnte man die Wasserleitung durchsetzen! – – – –

Mit starken Schritten weit ausholend hatte Bartholomäus Leykuhlen das
Pflaster bald hinter sich. Gott sei Dank, da war er in der Au! Er
schüttelte sich und atmete tief auf. Noch einmal schaute er zurück, wie
etwas Unangenehmem glücklich entronnen.

Er schlug den Fußweg nach Heckenbroich ein. Zwischen gewaltigen Tannen,
an deren Ästen lange Bärte von Moos hängen, führt der steinige Pfad
jäh bergan, während die Fahrstraße noch unten im Tal bleibt, um erst
bei der Schmölderschen Fabrik in großen Kehren langsamer nach oben zu
steigen.

Unten im engen Tal in einem Felskessel eingepreßt blieb das Städtchen
zurück, mit seiner überragenden Burg, mit seinen Treppen und Treppchen,
seinen Winkeln und Gäßchen, mit seinen hoch an den Felsen hängenden,
auf Ziegenpfaden nur erreichbaren Gartenfleckchen, mit seiner ganzen
mittelalterlichen Aufeinandergebautheit, mit seinem düsteren Blau und
Grau von altersgedunkeltem Schiefer und verwittertem Felsgestein.

Der Landmann schüttelte den Kopf: wie man das nur schön finden konnte
und malerisch! Ihm konnte das gar nicht gefallen. Wenn es nicht des
Wilhelms wegen gewesen wäre, den er doch kannte, seit er als Junge
mit seinem Vater selig zur Kirmeß oben auf den Hof gekommen war, um
ein Stück Reiskuchen zu essen, – weiß Gott, er wäre heut nicht da
heruntergekrochen. An so einem lichten Tag erst recht nicht!

Der grauhaarige Mann fing an zu pfeifen wie ein Knabe. Wie warm
das schon war! Wunderschön! Der Himmel rein blau, ohne Wolken, wie
gefegt; und immer klarer der Sonnenschein, je weiter man von dem Neste
abkam. Leidiges Pflaster! Und was dem Mühlenbrink nun schon wieder
einfiel! Leykuhlens Stirn umwölkte sich. Fing der schon wieder an
zu tripelieren?! Gesundheitszustand – veraltete Brunnen – ja wohl!
Leykuhlen lachte auf und fing dann an, laut zu sprechen, als ging
noch einer neben ihm: »Wat de sich denkt! So dumm sind wir nit, unser
jut Jeld eso eraus zu schmeißen! Wasserleitung – ha, ha!« Er lachte
wieder. »De is wohl jeck! Unsere Brunnen sind jut; Wasser drin kalt
und klar. Un wenn et emal knapp is – no, Wasserleitungswasser würd
doch kein Bauer trinken, wer weiß, wat da für ’ne Dreck drin is!
Jesundheitszustand, Jesundheitszustand – jesund un krank, dat steht in
Jottes Hand. Dat verjißt der Herr Landrat!«

Der Bürgermeister von Heckenbroich blieb stehen und ließ seine Augen
mit Wohlgefallen schweifen. Wie schön war dieses Land, diese mißachtete
Eifel! Und auch gesund. Fünfzig Jahre stand er nun schon auf dieser
Erde, hatte die langen Winter und die noch längeren Regenzeiten
über sich hingehen lassen, hatte vom einsamen Hof, weit draußen am
Schieferbruch, wo er aufgewachsen war, täglich eine Stunde Marsch zur
Dorfschule gehabt und eine wieder zurück, sowohl im Sonnenbrand als
wenn der Westwind schnaufte; war tropfnaß geworden und wieder trocken,
und war doch alle Zeit gesund gewesen bis auf den heutigen Tag. Er
streckte den Arm aus, an dem die Muskeln kraftvoll schwollen, und
schlug sich dann auf die Brust. Das war ein Brustkasten! Noch einmal.
Der Arm hier konnte frei in der Schwebe an die hundert Pfund halten
ohne zu zittern – das Mariechen war ihm auch nicht zu schwer! Er freute
sich an der eigenen Kraft.

»Sie machen wohl Freiübungen?« sagte plötzlich eine Stimme.

Leykuhlen sah auf.

An der Wegseite, hinter einem großen Felsbrocken, den die Ley, deren
Nase schroff über die Tannenwipfel ragte, heruntergespuckt zu haben
schien, saß ein Mann. Dieser sprang jetzt lebhaft auf: »Tag, Leykuhlen!
Kennen Sie mich noch? Ich habe Sie schon von weitem erkannt!«

»Tag, Josef!« Leykuhlen streckte seine Hand hin. »Biste wieder hier?
Ich hatt et als jehört!«

Der andere blickte einen Augenblick verwundert, das »Du« war ihm
doch ungewohnt, nachdem man sich so viele Jahre nicht gesehen hatte.
Aber er fand sich in den Ton. »Bärtes«, sagte er herzlich, und ein
liebenswürdiges Lächeln verschönte sein Gesicht, »das ist wahrhaftig
nett von dir, daß du mich noch kennst. Mich haben nicht viele hier
gekannt – oder sie wollten mich nicht kennen.« Das letzte sagte er mit
einiger Verbissenheit. »Es ist eine verflucht schwere Situation, der
Vetter eines reichen Mannes zu sein und selber kein Geld zu haben!«
Er starrte zur Seite hinunter in das Tal, wo zwischen dem weißen Band
der Chaussee und dem Bach, der mit starkem Gefälle die Au durchströmt,
die Tuchfabrik aufragt. »Da hat der Heinrich nun mit seinem Kasten
das schöne Tal schimpfiert – der Banause! Sieh an, Bärtes, wie der
Schornstein sich frech gegen die Tannen reckt! Und der Rauch stinkt –
stinkt nach Lumpen, pfui!« Er spuckte aus. »Und nach Geld!«

Leykuhlen nickte. »Dat is wahr, zur Verschönerung trägt die Fabrick
jrad nit bei. Ich hab mich als oft jenug drüber jeärjert. De hätt
können drinnen im Nest bleiben. Aber mer darf doch nix sagen –« er
zuckte die Achseln – »so wat jibt Brot!«

»Brot, Brot – trauriges Brot das! Morgens um sieben anfangen, abends um
sieben aufhören – Lumpen, Gestank, erstickender Rauch – nicht mal Zeit
am Mittag, was Warmes essen zu gehen. Ich habe zugesehen von hier oben,
schon seit ein paar Tagen lungere ich hier herum – siehst du, Bärtes?
Jetzt, jetzt!« Aufgeregt ergriff er den andern beim Ärmel und zerrte
ihn bis dicht zum Rand.

Unten, gerade unter ihrem Standpunkt lag die Fabrik. Es hatte eben
Mittag geläutet. Die Türe des Saales hatte sich geöffnet, heraus
strömte ein ganzer Schwarm; ein Summen drang bis zu ihnen herauf.

»Siehst du, Bärtes, siehst du die Mädchen mit den roten Kattuntüchern
um die Köpfe?« Er wies mit unruhigem Finger hinab. »Da – eine, zweie,
dreie! Da sitzen sie nun auf den Lumpenballen, und mit denselben
Fingern, die eben noch Lumpen sortiert haben – fremde Lumpen, Gott weiß
woher, Lumpen, an denen die Pest sitzt, Tuberkulose, Krebs, was weiß
ich für scheußliche Krankheiten – mit diesen selben Fingern brechen nun
die armen Dinger ihr Brot. Ich habe zu Heinrich gesagt: ›du bist ein
Volksvergifter!‹ Da hat er mich ausgelacht: ›Volksbeglücker, willst du
sagen. Was sollten die Leute denn anfangen, wenn sie meine Fabrik nicht
hätten? Aus allen Ortschaften, drei Stunden weit, kommen die Mädchen
gerannt, sie reißen sich um den Verdienst. Laß sie sich doch waschen,
wenn ihnen meine Lumpen nicht rein genug sind, ein Brunnen steht im
Hof, und im Bach ist Wasser genug.‹ So spricht mein Vetter – was sagst
du dazu, Bärtes?!« Mit Dringlichkeit blickte der Aufgeregte dem andern
ins Gesicht.

»Ja,« – Leykuhlens heiteres Gesicht war ernst geworden – »dat is
freilich mit den Lumpen en schmierige Sach, un an et Waschen sind
die Leut nit so recht dran zu kriegen. Sie sind et eben gewöhnt, mit
Arbeitshänden ihr Brot zu essen. Dat macht auch nix, sie werden nit
jleich Pest und Cholera dervon kriegen. Und der Heinrich hat auch janz
recht, wenn der sagt, dat seine Fabrick Verdienst in die Dörfer bringt.
Un doch wär et besser, sie ständ nit da. Et is wahr, nit alle können zu
Haus bleiben, et sind Kinder und Alte jenug da, um et Vieh zu hüten.
Aber mögen die Jungens jehen, meinswegen, laß die in die Fabricken
zu Aachen, zu Düren und über die Jrenz nach Verviers jehen – um die
Mädchens, die in die Fabrick jehen, um die is et mir leid!«

»Die Schwindsucht rennen sie sich an den Hals,« rief der andere heftig.
»Sieh dir die Mädchen an, sehen die etwa stark aus? Spitznasig,
schmalwangig, engbrüstig. Nicht wie Landmädchen, deren Wangen leuchten
sollen wie rote Äpfel, deren Brüste das Mieder schwellen sollen, fest
und rund!«

»No, no!« lächelnd klopfte ihm Leykuhlen auf die Schulter. »Biste
noch immer der alte, Josef? Immer noch derselbe Haselebaues,[2] der
du in der Klass’ schon warst? Haben dich zwanzig Jahre noch nit klein
jekriegt? Wir haben aber doch hübsche Mädchens, wenn ich auch sagen
muß: Fabricksarbeit taugt ihnen nix. Wat sie da lernen, is keine jute
Sitt – un dat is dat Schlimmste!«

[2] Hitziger, fahriger Mensch.

»Sitte hin, Sitte her! Aber sind das Mädel, die kräftige Kinder gebären
können, die einem neuen Geschlecht das Leben geben sollen?«

»Oh, Kinder haben wir jenug im Dorf,« sagte trocken der Bürgermeister.
»Beruhig dich, Josef! Und nette Kinder. Besuch du uns bald emal,
da sollste wat zu sehen kriegen. In jedem Haus ihrer fünf, sechs –
mindestens. Da is der Jörres Huesgen, der Weber, de hat en janze Heck
voll. Acht Stück; un dat neunte is unterwegs!«

»Um Gottes willen!«

»No siehste! Die Eifel stirbt so bald noch nit aus! Und wat die
Mädchens anbelangt, so haben die fast all en Schatz und werden auch
schon –«

»Genug davon, Bärtes!« Josef Schmölder legte ihm hastig die Hand auf
den Mund. »Ich mag nichts mehr davon hören. Es beelendet mich. Überall
das gleiche. Und ich dachte, hier würde es anders sein – besser. Hier
auf dieser Höhe, der der Himmel so nahe ist!« Mit Schwärmerei im Blick
sah er sich um und breitete dann plötzlich beide Arme aus: »Mensch,
was hast du es so gut, hier oben immer gelebt zu haben! Wie schön, wie
unbeschreiblich schön!«

Sie waren im Gespräch weiter gegangen; nun hielten sie auf einer
Lichtung, deren trockene Heidegräser versilbert standen in einer Flut
von Licht. Kein Haus, kein höherer Berg hemmten hier die Aussicht. Wie
verklärt vom ersten Sonnenschein des jungen Jahres zeigte sich rundum
die Ferne, sie enthüllte sich schleierlos; und die Luft war leicht,
von jeder irdischen Schwere befreit, und durchsichtig klar, klarer
als das reinste Glas. Da lagen unendliche Züge einsamer Heide mit
schweigenden Tannenwäldern und tief einschneidenden Schluchten; im
Grunde der Schluchten flossen Bäche, man sah nicht bis zu ihnen hinab,
aber man sah den von der Sonne vergoldeten Duft, der von ihnen zu den
Schluchträndern aufstieg. Noch zeigten die Matten von Heckenbroich
nicht ihr saftiges Sommergrün, noch stieß der braune Rücken des Venns
schwer und tot gegen die Helle des Horizonts, aber doch regte sich
schon heimlich neues Leben in der Natur. Jene Wälder, deren Blau den
ganzen Winter kalt und stumpf die Wellenlinie des Hochlandes gesäumt
hatte, zeigten nun tieferes, wärmeres, ein besonntes Blau. Die
Weidenbüsche an den Moorlachen trugen weiche, grausilberige Kätzchen;
der Haselstrauch schüttelte lange, goldbepulverte Blütenräupchen.

»Et will lenzen!« sprach der Landmann froh.

Josef Schmölder seufzte. Er stand in sich gekehrt; das, was ihn eben
noch so entzückt hatte, schien ihm jetzt nicht mehr zu gefallen.

»Du has’ höck keene jute Dag,« sagte Leykuhlen teilnahmvoll. Ihn faßte
plötzlich ein Mitleiden, als er den andern betrachtete, der, vornüber
geneigt, mit grauem Gesicht und gegen den Wind hüstelnd, neben ihm
stand: arg mitgenommen sah der Josef aus, als ob er ebenso hoch in
die Fünfzig zählte, wie er noch in den Vierzig war! Aber was sie im
Städtchen über ihn klatschten, daß er sein Leben verlüdert, und daß er
dem reichen Vetter recht zum Possen heimgekehrt sei, nein, das glaubte
er nicht! Dem alten Kameraden, mit dem er ein paar Jahre unten in der
Lateinschule zusammen gesessen hatte, die Hand auf die Schulter legend,
sprach Leykuhlen herzlich: »Laß die Jrillen, Jung! Und wenn se dir
unten zu viel Fisematenten machen, dann kömmste erauf bei uns. Du bist
herzlich willkommen, Josef. Mariechen wird sich auch sehr freuen!«

»Danke, danke!« Josef Schmölder drückte Leykuhlen die Hand, aber kein
Lächeln der Freude erhellte sein abgespanntes, von vielen feinen
Kritzchen frauenhaft verfältetes Gesicht. »Du bist ein guter Kerl,
Bärtes! Aber ich glaube an Freundschaft nicht mehr. Du mußt mir das
nicht übel nehmen. Ich habe viel Freunde in meinem Leben gehabt –
wo sind sie?!« Er spitzte den Mund und blies in die Luft, wie man
ein Stäubchen fortbläst. »Es mag an mir liegen. Ich tauge eben zu
nichts. Ich kann mich nicht in den Alltag schicken. Ich möchte alles
anders haben, als es ist, besser, schöner – nenn es Egoismus, nenn es
Menschenliebe, wie du willst. Ich weiß es selber nicht. Jedenfalls
gefällt es mir nicht auf der Welt. Ich habe mich da und dort versucht.
Erst war ich in London, dann in New York, sollte Propaganda machen für
Schmölder und Kompagnie – damals lebte der Alte noch, und Heinrich war
Kompagnon – ich konnte den Leuten nicht das Lumpentuch anschmieren.
Tuch aus Lumpen gemacht! Haha! ’s ist nichts wert – ich glaube, das
habe ich gesagt!«

Leykuhlen sah ihn ganz verdutzt an. »Aber, Josef, sie machen doch jar
kein Hehl draus, dat sie Lumpen zur Fabrikation verwenden! Ihre Tuche
sind eben drum billiger. Und manchem tun sie et doch auch.«

»Lug und Trug, darin wie in allem!« Heftig stampfte Josef Schmölder
mit dem Fuß auf. »Ich tauge nicht zum Kaufmann. Das haben sie auch
eingesehen. Gelernt hab ich nichts anderes, Talente hab ich auch weiter
nicht, meine Gesundheit ist zum Teufel, nervös bin ich, ha, so nervös«
– er faßte sich an den Kopf mit beiden Händen und hielt ihn sich –
»Geld habe ich keins, nie habe ich was in der Tasche halten können,
die Finger haben mich gejuckt, bis es raus war – rausgeschmissen, wenn
du willst – nun bin ich untergekrochen. Nun esse ich das Gnadenbrot.«
Er lachte bitter auf. »Wenig stolz, wirst du sagen! Hast recht, ich
bin ein Lump, ein Feigling, ein – ein« – er suchte noch nach einem
stärkeren Ausdruck, fand ihn aber nicht und sagte dann kleinlaut: »ein
gänzlich reduzierter Mensch!«

Leykuhlen stand betroffen: also, es war doch wahr, was sie unten
sagten? Verjuxt hat der Josef alles, und nun war er heimgekommen. Schön
war das weiter nicht und dem Heinrich Schmölder nicht zu verdenken, daß
er ein schiefes Gesicht zog. Aber schlecht war der Josef nicht, nein,
wahrhaftig nicht! Er hatte Herz; er hatte nur keine Willenskraft! Und
sich selber in seiner ganzen bäuerischen Kraft reckend und die breite
Brust frei gegen den hier oben stärker wehenden Wind kehrend, schrie
er laut: »Jung, du machst dich viel schlechter als du bist! Du bist
keine Lump und auch keine Feigling, dir fehlt nur dat, wat uns stark
macht und frei und aufrecht – zu zufriedenen Leut! Und du hast auch
kein rechtes Zuhaus. Siehste, ich sag et ja immer: am jlücklichsten
die, die derheim bleiben können. En eigen Haus, en eigen Stück Land –
un sei et noch so jering – dat jibt ’ne Stolz: hier steh ich auf meinem
Jrund; nur Jott über mir!« Er hatte sich in Feuer geredet. Es war
etwas Leidenschaftliches über den ruhigen Mann gekommen; man sah es an
seinen Augen, ihr Graublau war dunkler geworden, und es sprühte darin.
»Weißte, Josef,« – er schlug dem Jugendfreund mit einem so kräftigen
Schlag auf die Schulter, daß diesem fast die Kniee einknickten –
»besuch mich nächsten Sonntag. Da hab ich Zeit. Da wollen wir weiter
über die Sach reden. Et interessiert mich, wat du derjegen zu sagen
hast!«

»Ich habe ja gar nichts dagegen zu sagen!« Plötzlich erheitert, lachte
der andere fast. Aber sein Gesicht verdüsterte sich rasch wieder. »Es
ist eben nicht jedem vergönnt, auf eigener Scholle zu sitzen. Man
möchte hadern gegen den Gott – wenn es einen gibt – der die Lose so
ungleich verteilt hat.«

»Nu hör aber auf!« Der Bürgermeister wurde grob. »Wenn du mit
Philosophieren anfängst, dann haste verspielt. Da kömmt nix bei eraus.
Du bist wohl rein jeck? ›Wenn et ’ne Jott jibt‹ – da schlag doch en
Donnerwetter drein, jewiß jibt et ’ne Jott, wenn wir uns ihn auch nit
eso vorstellen können, wie die Kinder sich ihn denken, mit ’m langen
weißen Bart auf ’nem joldnen Stuhl. Jott ist über uns, er sieht uns und
kehrt bei uns ein im heiligen Sakrament. =Den= Jlauben soll mir keiner
nehmen, nee!«

»Du Glücklicher!« Josef Schmölder lächelte trüb, und dann streckte er
dem Jugendfreund die Hand hin: »Adjüs, Bärtes! Ich komme dich besuchen.
Grüß deine Frau – und nichts für ungut!«

Sie schüttelten sich die Hände; lange genug hatten sie hier oben auf
zugiger Höhe gestanden, der noch nicht an die starke Luft Gewöhnte
fühlte, wie der Wind ihm erkältend alle Knochen durchblies. Sie wollten
sich eben trennen, als sie von einem Mädchen gestreift wurden. Eiligen
Schritts, fast im Lauf, stürmte die junge Person den Fußpfad herauf.

»No, Bäreb,« sagte Leykuhlen, »wo köst du dann här? Jehst du dann net
mieh no’r Fabrick?«

Die schwarzen Augen blickten nur rasch von der Seite. »Dag zusammen,«
sagte das Mädchen atemlos.

»Wat löfst du dann esu der Berg erop?« Der Bürgermeister hielt sie auf.
»Willste dir de Lung us ’m Hals renne?«

Das Mädchen schien das für einen Witz zu nehmen, es kicherte in sich
hinein; aber dann machte es sich, ernst werdend, rasch wieder frei:
»Loßt mich jonn, Hähr! Mi Motter es arg krank, seit diese Morje. Do
konnt ich nit no’r Fabrick jonn. Mir hant de Frau jehollt, do saat di:
hollt der Dokter. Do bin ich geloofe, han en äwer nit ajetroffe, de wor
no’m Begräfniß vom Hähr aus ’m Schwan, un dann bei der Witfrau, der war
et kollig[3]. Do bin ich no’m angere jejange, de wor beim Fröhschoppe,
äwer de wellt nu diese Vormittag komme!«

[3] Unwohl.

»Wie is et dann mit der Motter, Bäreb? Es et Köngd als do?«

»Jo, ’ne düchtige Jong, Hähr Burjermeester,« sagte das Mädchen mit
Stolz. »Äwer mi Motter es siehr schwaach. Se liegt janz still un säät
nühst.«

»Wer es dann bei ihr?«

»De Tünnes on et Drückche, de Jilles on de Dores; de angeren sin no’r
Scholl.«

»Biste jeck?« Ganz wütend fuhr Leykuhlen das Mädchen an. »Läuft dat
fort und läßt die kranke Frau mit den kleinen Kindern janz allein
liegen!«

Das Mädchen brach in Tränen aus. »Wat soll ich dan maache?! Mi Vatter
es in Aoche, de könt net bis Samstig Aowend. Oß Doresche krog jester
de Krämp, doröwer hat de Motter sich esu erfirrt[4] se hätt jut drinn
bliewe könne, hat de Frau gesaat!«

[4] Erschreckt.

»Dat es en Öwerläg!«[5] Der Bürgermeister wischte sich über die Stirn.
»Loof ens flott, Bäreb, loof! Loof bi ming Frau, se soll jleich mit
dich jonn; un aus dem Keller soll se de Flasch Champagner holln –
Champagnerwein, Bäreb, verstehste mich – davon jebt der Motter alle
halw Stund ’ne Löffel ein. Ich hollen der Doktor!«

[5] Bedenkliche Sache.

»Laß mich ihn holen! Geh du mit dem Mädchen; das ist besser!« Rasch
entschlossen hielt Schmölder den Freund zurück. »Ich möchte auch was
tun – helfen! Ich bitte dich, geh mit ihr. In zwanzig Minuten bin ich
schon unten – oh, ich kann rennen – adieu – ich schicke ihn sofort
herauf!«

Er wartete gar keine Entgegnung mehr ab. Er hörte kaum mehr, daß der
andere hinter ihm drein schrie: »Huesgen, Weber Huesgen, am grünen
Klee!« In elastischen Sprüngen, plötzlich jünger geworden, setzte Josef
den steilen Pfad hinunter. Loses Geröll prasselte hinter ihm drein.




II


Es hatte lenzen wollen, zu früh in diesem Jahr. Nun kam der Schnee
noch nach. Kein tiefer, fester Winterschnee, der unter den Tritten
knarrt und die breiten Äste der Tannen belastet mit glitzernder Pracht,
der für Wochen und Wochen Heide und Weide in flaumweiche schützende
Decken einwickelt und erst schmilzt, wenn wahrhaftiger Frühling kommt
und die Schneelasten zu tauenden, befruchtenden Quellen wandelt, die
die Bäche füllen, die Brunnen versorgen, jede Graswurzel tränken.
Flüchtig weilende Flocken wirbelten dahin, aber sie näßten, erkälteten,
durchschauerten bis ins Mark. Atemberaubend fauchte der Wind in Stößen,
zerrte an den Kleidern, raffte Schnee zusammen und warf ihn wütend
denen ins Gesicht, die sich ihm entgegen zu stemmen wagten.

Hinter seinen hohen Hainbuchenhecken, die sich giebelhoch, mit
mauerfestem Astgefüge schützend vor jedes Haus im Dorf stellen, duckte
sich Heckenbroich. Aber weiter hinauf oben auf dem Vennbuckel gabs
keine schützenden Hecken mehr. Überhaupt keinen Schutz. Einem Ungeheuer
gleich, gierig, zischend, pfeifend, schnaufend, bellend, brüllend tobte
der Nordweststurm. Gewaltige Wolkengebilde rollten ihre schweren
Leiber übers raschelnde Kraut. Keine Ahnung von Himmelsblau, kein
Durchblick in die Ferne; alles grau, erloschen, verhangen, stumpf, tot.
Und trostlos.

Und doch bauten sie. Die fünfzehn unter Simon Bräuer. Wie aus Stein
stand der schwarze Kerl, die Beine breit gesetzt, den Kopf steil
aufrecht; der Wind tat ihm nichts, er zwinkerte nicht einmal, wenn
ihm eine Ladung Schnee wie nasser Sand gegen die Augen flog und sich
ihm an die Wimpern klebte. Mit dem Auge des Raubvogels, dem runden,
weitsichtigen, stoßsicheren, beäugte er seine Leute. Und sein Ton
war hart, wenn er kommandierte. Pah, so ein bißchen Windrumoren und
Nebelspreuen, was machte das? Es konnte hier noch ganz anders blasen.
Er kannte das. Nicht umsonst hatte er als verwaister Junge hier oben
den Bauern das Vieh gehütet und Beeren zwischen den Mooren gesammelt
und später Torf gestochen und aufgesetzt und, knöcheltief im Wasser
stehend, das Vennheu gemäht. Hier war er herumgestoßen worden von einem
zum andern, hier hatte er gefroren und oft auch gehungert, und doch,
und obgleich es ihm beim Militär so gut gegangen war – satt Essen und
Trinken, warme Montur, freie Wohnung in den Kasematten in Köln, nie
Arrest – er hatte sich doch immer hierher zurückgesehnt. Hier war seine
Heimat.

Simon Bräuer, dem langgedienten Unteroffizier, der dann Aufseher
zu Siegburg gewesen war, hatte man es gern bewilligt, als Pionier
voranzugehen; es hatten sich ohnehin nicht viele gemeldet zur
Kolonisation oben im Venn. Er hatte sich dazu gedrängt. Seine Frau
hatte zwar geweint, seine Kinder sich an ihn gehängt – nein, dahin
wollten sie nicht mit ihm gehen – aber er hatte kurz gesprochen: »Ich
geh!« Wenn die Geschichte hier oben erst ordentlich im Gang war, zum
Sommer vielleicht, dann sollten sie nachkommen.

Und nun atmete Simon Bräuer wieder Vennluft. Die Nasenflügel gebläht,
die unter dem Schnauzbart sonst so fest aufeinandergesetzten Lippen
halb geöffnet, schlürfte er den feuchten Schneedunst ein. Das tat ihm
gut. Er hatte nicht einmal den dicken Uniformrock angetan, er ging im
Leinenkittel; ihm war warm. Was froren denn die Kerle, warum klapperten
sie mit den Zähnen?! Er fuhr sie an: hier wurde nicht geschnattert, wie
alte Weiber tun, und auch nicht gehustet. Hier wurde frisch drauf los
geschafft, nicht in die Hände gepustet und mit den Füßen gestampft! Er
lachte.

»Frieren dir die Poten ab?« sagte er zu einem jungen Menschen, der,
blau vor Kälte, in seinen Holzschuhen schlotterte. »Wenn du arbeitest,
frierste nit – voran!«

Einen bösen Blick unter gesenkten Lidern herauf schoß der Sträfling,
nur einen einzigen, Sekunden dauernden, kurzen Blick, aber der Aufseher
schrie ihn an: »Hier wird nit jemuckst!«

Nein, sie hätten ja auch kein Wort gewagt. Mit gesenkten Köpfen, wie
eine Herde, betäubt von Unwetter mit Blitz und Donnerschlag, so duckten
sie stumm unter. Vor ihnen lag das Venn, ohne Schranken, frei und
offen; sie hatten zwei Beine, Füße zum Laufen, wer wollte sie hindern,
davonzurennen, dahinzuschießen wie ein Pfeil, vom straffen Bogen
geschnellt? Dieser einzelne Mann doch wohl nicht?! Und doch rannte
keiner. Sie waren wie geschlagen, wie gelähmt.

Nun arbeiteten sie schon ein paar Wochen hier; vom ersten Tagesstrahl
an bis in den sinkenden Abend, bis die Nebel so dicht übers Venn
krochen, daß sie wie in Wolken standen, daß keiner zehn Schritt
weit den andern sehen konnte. Es war jetzt über sie selber eine
Hast gekommen, war es doch ein zu schlechtes Kampieren in dem
alten Torfschuppen, der an der Chaussee steht, die das Venn quer
durchschneidet.

Dort schloß der Aufseher sie des Nachts ein; er selber schlief im
nächsten Haus des Dorfes und machte nur dann und wann unvermutet einmal
die Runde. Er hätte auch das nicht nötig gehabt. So oft er aufschloß
und mit der Laterne die fernsten Winkel der Strohhütte beleuchtete, sie
waren alle da, und keiner von ihnen rührte sich.

Man hatte die kräftigsten unter den Gefangenen zu der Arbeit im Venn
ausgesucht. Es hatten sich auch viele unter ihnen dazu gemeldet,
mancher mochte wohl gedacht haben: da oben kannst du gut weg.
Jetzt aber lagen sie hier ganz gleichgültig, wie Hunde in sich
zusammengekrochen, und was sie sich auch gedacht und erwartet haben
mochten von der größeren Freiheit, jetzt hatten sie nur das eine
Verlangen: schlafen, schlafen. Sie waren totmüde und eiskalt. –

Ein Stück Land war schon gerodet und planiert, man hatte Strünke und
Heidegestrüpp abgebrannt und einen Zaun darum aufgeführt, roh aus
Fichtenstangen zusammengeschlagen. Nun erhob sich in halber Manneshöhe
bereits der Bau.

Die Dörfler hatten etwas zu bereden und zu besehen auch; sie standen
von weitem halb neugierig, halb scheu. Man hatte den Frauen und Kindern
verboten, nahe heran zu gehen – rumorten nicht jene Gestalten da wie
die bösen Geister des Venns, den Sümpfen entstiegen?! Mit unheimlichem
Druck lastete diese Nachbarschaft auf Heckenbroich.

Der Bürgermeister bekam in der nächsten Gemeinderatssitzung etwas
anzuhören: wofür war er denn Bürgermeister und hatte das Wohl der
Gemeinde zu vertreten, wenn er so was zustande kommen ließ? Nicht
sicher war man jetzt mehr im eigenen Haus, man mußte zuschließen. Und
wie sollte das erst werden, wenn die Beeren reiften im Herbst? Konnte
man dann noch Frauen und Kinder sammeln schicken auf das Venn, wo die
Verbrecher, die Halunken – Mörder wohl gar – sich herumtrieben?! Lange
Jahre hatte man in Frieden im Dorfe gelebt, nun hatte man zu einer Hand
das Lager – schlimm genug, daß die Soldaten den Mädchen nachpfiffen und
daß man sich fürchten mußte auf dem eigenen Acker, wenn Scharfschießen
war – aber schlimmer noch war das Haus, das sie einem da im Rücken
bauten. Das würde man sich nicht gefallen lassen! Hundert Jahre und
darüber hatte das Venn dem Bauer gehört, er hatte sich dort Holz
gehauen, wenn’s ihm beliebte – ganze Tannen waren verschwunden in den
Öfen von Heckenbroich – Torf hatte man sich gestochen und Streu geholt,
wenn’s Stroh knapp war, und nun kam auf einmal die Regierung, die sich
sonst einen Dreck um das Venn gekümmert hatte, und legte die Hand
darauf und setzte einem Gesindel her, vor dem man sich grausen mußte.
Steine sollte man den Kerlen nachwerfen, wenn sie Sonntags durchs Dorf
zur Kirche getrieben wurden – mochten sie beten, wo sie wollten, nicht
hier!

Der Bürgermeister hatte viel zu beschwichtigen. War es etwa seine
Schuld, daß man ihnen die Strafkolonie so auf den Hals gerückt
hatte?! Da hätte man sich eben selber daran machen müssen, das Venn
anzubauen. Ganz verschließen konnte man sich da der Einsicht nicht,
daß die Neu-Anforstungen, gegen die man auch erst sich so mächtig
gewehrt hatte, jetzt schon das Klima verbessert hatten, dem Wild Schutz
gewährten und dem Wanderer, der ohne diese Schonungen sich ganz und
gar verloren haben würde, wenigstens in etwas die Richtung angaben?!
Diese weiten, öden Strecken von Sumpf und Heide – verlorenes Land –
konnten sie der nächsten Generation nicht schon vielleicht Wiesen und
Kartoffel- und Roggenäcker bieten?!

Bürgermeister Leykuhlen machte viele Worte, aber er überzeugte nicht.
Es gab ein dröhnendes Gelächter im Gemeinderat.

»Dat sinn woll ooch eso ’n neumodsche Ideen, Hähr Burjermeester? Für
eso jet sin mir net zo han. Ihr sedd im Jrongd jo ooch net dofür!«
sagte der Bauer Balthasar Adams vom Hof am grünen Klee, einer der
gewichtigsten von Heckenbroich und der höchste Steuerzahler. Er wurde
ganz energisch: »Nee, mir bliewe beim Alde. Mir trecke oß Vieh, mir
mähe oß Jras, un wann mer zo wennig han, dann welle mir oß Venn behalde
för oß uszehelfe. Oß Äldere woren domit zofredde, oß Jrußäldere ooch –
nu hammer als die Iserbahn, dat is mieh wie jenug!«

Wahrhaftig, da hatte der Adams ganz recht! Es war gar kein Glück,
wenn immer alles anders wurde, als es früher gewesen war. Wenn die
Regierung helfen wollte, sollte sie lieber dem armen Mann ein Sümmchen
vorstrecken, bar, gegen geringe Zinsen oder gegen gar keine, daß er
sich noch eine Kuh zukaufen und sein Anwesen ausbauen konnte. Und in
Futtermangelzeiten sollte sie Heu liefern und der Gemeinde überhaupt
von den Steuerlasten abhelfen. =So= war der Eifel gedient. Dann würde
bald nicht mehr geschrieen werden: »Arme Eifel!«

»Aber wir sind ja jar nit arm!« Leykuhlen schlug mit der Faust auf den
Tisch, daß der Federhalter, der beim Tintenfaß lag, zu rollen anfing.
Er ärgerte sich. »Wie könnt ihr dat nur immer nachsprechen! ›Arm,
arm‹ – wer dat saat, kennt unsre Verhältniss’ jar nit. Weil wir nit
mit allem eso voranjejangen sind, darum sagen sie ›arm‹! un wir wären
rückständig!«

»Oho, nit mit voranjejangen? Rückständig?! Oho!« Nun wurde der Adams
noch hitziger, und er war doch sonst ein ruhiger Mann. »Wer sät dann
immer, oß Kinder solle net no’r Fabrick jonn?!«

»Hm!« Der Bürgermeister räusperte sich; er war über sich selber
einen Augenblick im Zweifel. Richtig war’s, er hatte immer gegen das
Fabrikenlaufen geredet, er war auch dem Landrat schroff begegnet,
wenn dieser ihm von Wasserleitung und so weiter gesprochen hatte, er
schätzte das Althergebrachte und hing an dem von Eltern und Voreltern
Überkommenen wie nur einer. – Und doch – er warf den Kopf in den
Nacken – nun wußte er wieder, woran er war. Er mußte gegen das eigene
Herz sprechen: von »rückständig« mußte er sprechen. Denn es war eine
Kurzsichtigkeit, offenbar eine Dummheit, sich gegen die Kolonisation da
oben zu sperren. Erstens gehörte das Venn ja gar nicht der Gemeinde,
sondern dem Fiskus, so war also überhaupt nichts anzufechten. Zweitens
hatten die Gefangenen den Simon Bräuer über sich, einen Aufseher, der
mehr in Banden hielt, als Schloß und Riegel; Mörder waren so wie so
nicht unter ihnen. Drittens konnte es der Gemeinde nur von Vorteil
sein, wenn kolonisiertes Land ihre Ländereien begrenzte. Ja, es mußte
einem doch wohl einleuchten: hat man gutes Wiesenland neben sich, so
ist die eigene Wiese auch besser, und hat man Ackerland neben sich, so
weht einem der Wind keinen Unkrautsamen ins Korn. Es ging nicht anders,
man mußte die Leute, die in harter Fron harte Arbeit taten, wohl dulden!

Aber er sprach vor tauben Ohren. Kaum konnte man sich erinnern, daß
eine Gemeinderatssitzung je so stürmisch geendet hätte. Die Bauern
schimpften. Ohne Handschlag ging der Bürgermeister von ihnen fort. Sie
blieben noch stehen in einem Trüppchen vor der Schule und disputierten
laut und heftig untereinander. Leykuhlen sah sich nicht mehr nach ihnen
um, obgleich er wußte, daß sie ihn beredeten. Ja, wie sollte das hier
noch einmal werden?! Oh, sie waren durchaus nicht dumm, sie hatten es
auch gelernt, beim Viehhandel ihren Vorteil wahrzunehmen und sich durch
den schlauen Käufer von auswärts nicht überlisten zu lassen. Aber war
das wohl eine Klugheit, die nur das Naheliegende sieht und nicht auch
weiter in die Zukunft?! Die Stirn gerunzelt ging er langsam heim.

»Mariechen!« rief er übers halb-offene Gadder in den Flur hinein.

Es war ein altes Haus, in das er trat. So war das schon zu Lebzeiten
von Mariechens Eltern gewesen, und die Großeltern hatten auch so
gewohnt, und deren Eltern schon; »1724« stand, aus hölzernen Buchstaben
gefügt, über dem niedrigen Eingang, durch den vor nunmehr zwanzig
Jahren auch sie eingegangen waren, ein junges, glückliches Paar. Er
hatte nichts ändern mögen am alten Familienhaus der Endepohls. So wie
einst reichte auch heute noch das Dach an der Seite fast bis zur Erde
herab, nur daß man das dick-bemooste, grün-braun gewordene Stroh hatte
entfernen müssen und statt seiner Schieferplatten gelegt hatte. Das war
nun längst nicht mehr so schön wie früher, als die bunten Feldblumen,
Weidenrose und Klatschmohn, Klee und die weißen Sterne der Wucherblume
lustig auf dem alten Dach geblüht hatten, und nur ungern hatte sich
Leykuhlen dazu entschlossen. Aber das Gadder war noch keiner modernen
Haustür gewichen, es zeigte noch sein kräftiges Tiefgrün mit den weißen
Schnörkelverzierungen und dem schweren eisernen Klopfer in der Mitte.
Der Backofen bauchte sich noch aus der Wand heraus wie ein Bienenstock,
Kapuzinerkresse und ein Centifolienstrauch klammerten sich im Sommer
an ihn an und putzten die zartblaue Tünche mit feurigem Gelbrot und
sanftem Rosa. Noch so wie einstmals waren die Balken der Länge und
Quere nach braun gestrichen und karierten die Außenwände. Stall- und
Scheuertüren leuchteten in freudigem Tiefblau. Farbenfroh lag das
alte Haus hinter der mehrhundertjährigen Hecke. Diese war die schönste
im Dorf, Leykuhlen hatte sie nicht niedergelegt, obgleich sie ihm das
Licht nahm; sie war der Stolz der Vorfahren gewesen. So hielt auch er
sie sorglich; fein gerade geschoren auf den Strich ragte sie wie eine
Mauer, nur oben das Giebelfensterchen, Dachfirst und Schornstein ragten
über sie weg.

»Mariechen!« Leykuhlen war aus dem dunklen Flur in die Küche getreten;
auch hier war die Frau nicht. Einsam standen die silberblanken
Melkeimer auf der weißgescheuerten Bank; der große, weitbauchige
Milchkessel glänzte wie Gold daneben. Zerstreut sah er die vielen
buntblumigen Teller an der Wand – »Zum Andenken« – »Sei glücklich« –
»Aus Freundschaft« – »Aus Liebe« – wo war sie denn nur?! Wenn sie doch
käme! Er sehnte sich nach ihr, heute mehr noch denn sonst. »Bärtes,«
würde sie sprechen und ihm die Hand auf den Ärmel legen, »was ärgerst
du dich? Hast du dich nicht schon oft über sie geärgert? Aber ruhig,
sie kommen dir schon wieder, sie können ja garnichts machen ohne dich –
oder ärgerst du dich am Ende über dich selber?« Ja, da hatte sie recht,
wie immer, wie in allem! Das Herz wallte ihm plötzlich auf, wie einem
ganz jungen und noch verliebten Ehemann. Er rief noch lauter, noch
ungeduldiger: »Mariechen!«

Die Seitentür öffnete sich, die aus der Küche gleich in den
Kuhstall führte, aber es war nur die Magd, die den schwarzhaarigen,
glattgescheitelten Kopf hineinstreckte: »Se is nor Huesgens gangen. De
Dores hat als widder de Krämp; dat Kathrinche kam se hollen!«

Also bei Huesgens war sie? Nun, da ging er ihr eben dorthin nach!

Es litt den Mann nicht mehr allein im Haus: was sollte er so einsam
in der Stube sich Gedanken machen, die sie mit einem Wort vertreiben
konnte?! Rascher, als er gekommen war, ging er wieder zum Haus hinaus.
Eben als er in den Heckenausschnitt trat, rasselte ein Wagen übers
holprige Pflaster vorüber; so rasch der auch fuhr, er erkannte doch
den Landrat im Fond und trat unwillkürlich hinter seine Hecke zurück.
Jetzt mochte er den nicht sprechen. Wo fuhr der hin? Zur Strafkolonie
natürlich! Schon ein paar Briefe hatte er vom Landrat erhalten, worin
der ihn aufforderte, doch einmal mit ihm dorthin zu fahren. Der
interessierte sich sehr für die Kolonisation – wie eben für alles! Mit
einem Seufzer, der mehr nach Unlust wie nach Befriedigung klang, trat
Leykuhlen wieder hinter seiner Hecke hervor und sah dem Wagen nach.
Nein, das war heute nicht die Hotelequipage vom Schwan, die der Landrat
sonst immer zu seinen Ausfahrten benützte, es war der Krümperwagen oben
vom Platz; sie hatten ihn wohl heruntergeschickt. Der Landrat fuhr zum
Diner ins Offizierkasino. Richtig, die Pferde bogen links um, trabten
nicht weiter die lange Dorfstraße hinunter.

Leykuhlen ging die Dorfstraße abwärts, die so lang ist, weil kein Haus
dicht neben dem andern liegt, sondern jedes mit Weide und Gärtchen
und Gemüseland ganz allein für sich hinter seiner bergenden Hecke. Er
atmete auf: nun, der Landrat kam ihm heute nicht in die Quere! Aber,
vielleicht, daß Mariechen Lust hatte, dann wollte er wohl einmal mit
ihr zur Strafkolonie gehen und sehen, wie die Leute da voran kamen. Es
war ja nicht weit, von Huesgens Haus nur eine halbe Stunde. Und das
Wetter war heute lind, angenehmer als in all den letzten Wochen.

Schon schwollen die Knospen dick und braun und wie glänzend lackiert
an den Hainbuchenhecken. Wo es ganz geschützt war, geduckt unter dem
knorrigen Hauptstamm, wagte sich allerhand Kraut hervor. Noch schliefen
die Farne, die im Sommer so üppig unter den Hecken emporschießen,
zu braunen Schnecken zusammengerollt; es war nur Unkraut, was jetzt
grünte, aber es hatte gelbe Blütchen, wie winzige goldene Sternchen,
und jetzt kam ein Kind gelaufen, hatte die ganze Faust voll davon und
streckte sie dem Manne entgegen: »Dag, Hähr Burjermeester!«

Er nahm die Blümchen aus der Kinderhand und sah die Kleine freundlich
an; sie war sehr hübsch, hatte ein rundes Gesichtchen mit großen,
sanften, tiefschwarzen Augen. Aber das runde Gesichtchen war blaß, und
die Augen hatten keinen blanken Glanz. Es war etwas Ernstes in dieser
Kindheit. Dieses Kind kriegte sicherlich Kartoffeln und Kaffee und
wieder Kaffee und Kartoffeln und ein Stück Brot, und weiter nichts.

»Ah, du bis et, Kathrinchen,« sagte Leykuhlen, die Kleine jetzt
erkennend. Es war die Elfjährige von Jörres Huesgen.

Er griff ihr unters Kinn und hob so das blasse Gesichtchen zu sich auf:
»Sag ens, kocht din Motter ooch alle Dag wat?«

Kathrinchen nickte stumm.

»Wat dann?«

»Kaffee,« sagte sie leise.

»On Erdäppel?«

Sie nickte wieder.

Aha, gerade so, wie er sich’s gedacht hatte! »Nühst angersch?« Schade,
dieses zarte Ding würde auch bald in die Fabrik laufen wie seine ältere
Schwester, die Bäreb, und würde schmalbrüstig werden und den Husten
kriegen beim Rennen durch Wetter und Wind. Schade! Der Huesgen Jörres,
der seine Not hatte, eins satt zu kriegen, hatte ihrer acht – nein,
neun lebendige Kinder, da war ja erst neulich wieder eins angekommen
– und mancher wohlhabende Mann, der sein halbes Besitztum gern dafür
hingegeben hätte, der hatte keins! Es zog eine schmerzliche Erinnerung
über das kräftige Männergesicht. Wie in einen Traum verloren, sah
Leykuhlen in das weiche Kinderantlitz.

Die Kleine stand starr da, das Gesichtchen durch seine Hand
emporgehalten; sie wagte nicht, sich zu rühren. Da gab er sie endlich
frei. Er holte tief Luft: »So is et!« Und dann, wie sich besinnend:
»No, Kathrinchen, sag ens, wat kocht din Motter als noch?«

»Nühst!« Das Mädchen sah ihn ganz verwundert an: das war doch wohl gut,
Kaffee und Kartoffeln und ein Stück Brot – wenn man nur immer genug
davon hätte. »Mi Motter is immer krank,« sagte sie schüchtern und tief
errötend. »On oß Bäreb jeht no’r Fabrick. Ich koche dat. Dat kann ich
als!«

Leykuhlen strich ihr übers Haar. »Komm, Kathrinchen,« sagte er und nahm
sie an die Hand. Er hielt sie so ganz fest; die kleinen kalten Finger
erwarmten zwischen den seinen und fingen an zu schwitzen. Sie gingen
miteinander immer weiter über die lange Straße, aber sie sprachen
nicht mehr. Der Mann war in Gedanken und das Kathrinchen traute sich
kein Wort. Es wäre gern davongesprungen, aber erst vor der halb
eingefallenen Hecke, hinter der ganz niedrig, wie zusammengesunken, das
Huesgensche Häuschen lag, wagte es, sein Händchen dem festen Griff zu
entziehen. Hurtig und lautlos wie eine Maus huschte es in die dunkle
Hütte und war verschwunden.

Sich tief bückend, um den Kopf nicht zu stoßen, folgte Leykuhlen dem
Mädchen. Die Tür der Stube stand offen, er konnte aus dem Flur, der als
Küche diente, gerade dort hineinsehen. Dunstig wie in einem Stall war
die Atmosphäre, eine überwarme, dicke Luft in selten gelüftetem Raum.
Er konnte sich nicht zu seiner ganzen Größe aufrichten, die schiefe
Balkendecke hing ihm dicht überm Scheitel; er fühlte, wie ihm das Blut
in die Stirn schoß – oder machte ihm das, was er sah, so seltsam heiß?!

Drinnen in der Stube neben dem Ehebett, auf dem die Huesgen lag, saß
Mariechen auf dem Schemel. Sie hielt das Kleinste auf dem Schoß,
ausgebündelt, ganz splitterfasernackt, als sei es eben geboren, und
blickte darauf nieder mit einem Lächeln, wie er es nur einmal an ihr
gesehen hatte.

»Mariechen!« wollte er rufen, aber er hielt an sich: nein, er wollte
sie nicht stören, er durfte sie nicht stören. So war sie ganz in ihrem
Element. Auf den Zehen ging er langsam rückwärts hinaus und sah dabei
noch immer hin, obgleich er eigentlich gar nicht sehen wollte. Sie
selber würde ja niemals mehr ein Kind bekommen, das hatte ihnen der
berühmte Arzt in Aachen gesagt, sie hatten sich auch darein geschickt –
aber – er seufzte – es war schwer! Zögernd nur entfernte er sich, ihr
Lächeln bannte ihn. Und als er schon längst draußen war, sah er noch
immer sein Mariechen vor sich mit diesem stillen, seligen und zugleich
doch ein wenig schmerzlichen Lächeln.

Ohne daß er es wußte, hatte er den Weg höher hinauf zum Venn
eingeschlagen. Er wurde dessen erst inne, als er die letzten Hecken und
auch das Weideland, das ein dunkler Tannenbusch begrenzt, hinter sich
hatte. Er sank plötzlich tief in weichen, schwarzen Moorboden. Jetzt
war alles naß hier; die verdorrten Heidekrautbüschel ragten wie Schöpfe
aus den Lachen, man mußte Obacht geben, wohin man trat. Das stöberte
ihn aus seinen Sinnen auf, er sah um sich. So oft er auch hier oben
gestanden hatte, hinter sich die unermeßliche Weite des Venns, vor sich
die Hecken des friedlichen Dorfes, hinter denen die Häuser zu schlafen
schienen, er empfand immer wieder die Wohltat dieser Unbegrenztheit,
die Beruhigung dieser ungeheuren weltentrückten Stille. Daß er so
lange nicht hier gewesen war! Wie sah es jetzt hier aus? Nun, viel war
noch nicht zu sehen! Es war nicht viel anders als sonst; nur daß sie
dort, wo der einsame Baum steht, der Galgenbaum, der wie ein dürrer
Pfahl ragt und nur im Sommer einen kurzen, nach der Seite gewehten
Schopf zeigt, jetzt rohe Balken aufeinandersetzten. Ein primitiver Bau!
Hui, mußte der Wind durch die Lücken pfeifen! Er ging darauf los.

Ein harter Zuruf hielt ihn an: »Halt!«

Mit starken Schritten kam der Aufseher heran.

»Was wollen Sie?«

Das klang drohend, und selbst, als jetzt Simon Bräuer den
Heckenbroicher Bürgermeister erkannte, wurde sein Gesicht nicht viel
freundlicher. Der Landrat war so und so oft hier gewesen und hatte ihn
aufgehalten mit seinen Vorschlägen und Verbesserungen, und nun kam der
Bürgermeister auch noch angerannt! Widerwillig gab er Auskunft: nun ja,
sie waren am Arbeiten, das mußte ja auch so sein, das koste den Staat
eine Masse Geld hier oben und würde noch mehr kosten, noch viel mehr.
Drainiert mußte der Boden zu allererst ordentlich werden – wo sollte
sonst all die Nässe hin?! Aber dann, dann – ein freundlicher Strahl
huschte jetzt über das finstere Gesicht – dann konnte es hier wohl was
werden. Es mußte was werden!

Leykuhlen hörte die große Energie heraus in Wort und Ton. Bräuer
war ihm nie sonderlich angenehm gewesen – ein verschlossener,
unzugänglicher, finsterer Mensch – er erinnerte sich seiner noch
als Junge, und daß er andere Jungen, die ihn auf der Weide täppisch
neckten, mit Steinen blutig geworfen hatte; aber jetzt interessierte
er ihn. Das war doch ein Kerl, mit dem etwas auszurichten war! Wie
kam dieser arme Junge, der nie ein Bröckelchen Land zu eigen besessen
hatte, der seine zwölf Jahre in den Kasematten von Köln verbracht und
dann noch ein paar dazu als Aufseher hinter den Mauern von Siegburg, zu
diesem lebhaften landwirtschaftlichen Interesse?!

»Wenn wir nach dem Drainieren den Boden umbrechen, schiffeln und
kalken, dann sollen wir wohl wat eraus kriegen. Wo Vennheu wächst, ist
am End auch Kleeheu zu kriegen, mer darf nur nit die Jeduld verlieren,«
sagte Bräuer jetzt ganz von selber. Man merkte es ihm an, wie diese
Idee ihn erfüllte. Mit einem scharfen Blick sah er sich um, hob seine
Rechte und machte eine weit-umfassende Bewegung: »Wer hat dat je
erlebt, Roggen und Hafer auf dem hohen Venn?!«

»Oha!« Leykuhlen lächelte: das waren denn doch noch weitaussehende
Pläne!

Aber wie beleidigt fuhr der andere auf: »Da is nix zu lachen. Wenn
Sie et nit jlauben, wat kommen Sie dann hierhin? Un ich sag Ihnen:
hier wächst Hafer!« Er hob wiederum die Hand und zeigte wie ein
Gebieter über die unwirtliche Fläche. »Un hier wächst Roggen! – –
– Voran, ihr Kerls!« Unsanft fuhr er ein paar Gefangene an, die
langsam, schlorrenden Schritts eine schwere Karre voll Steine zum Bau
hinschafften.

Der eine hatte sich vorgespannt, der Strick schnürte ihm die Brust
ein; er zerrte mit vorgestrecktem Halse, die Augen waren ihm
herausgequollen, die Sehnen zum Reißen angespannt. Tief sank das
Gefährt in den schlammigen Boden ein. Der andere stieß von hinten
dagegen, den Kopf ganz tief zwischen die Schultern gezogen, wie ein
Tier fast auf Vieren laufend. Man konnte sein Gesicht nicht sehen, man
hörte nur sein Keuchen. Jetzt blieben sie stecken.

»Voran!« Simon Bräuer hob befehlend den Arm. »Voran, ihr Faulenzer!«

Da duckte sich der hintere, der für ein paar Augenblicke sein blasses,
schweißbedecktes Gesicht emporgehoben hatte, wieder, und der vordere
ruckte an, wie ein marodes Pferd zur letzten verzweifelten Anstrengung
angepeitscht. Der Karren schob weiter.

»Schwere Arbeit hier,« sagte Leykuhlen. Dies hier war wahrhaftig
Pferde-, aber keine Menschenarbeit! »Bräuer, werden Ihnen die Leut dann
nit krank?«

Das unerbittliche Gesicht verzog sich zu einem verächtlichen Lächeln.
»Fünf Schwachmatikusse hab ich als nach Aachen zurückjeschickt, hab
andere Leut dafür jekriegt. Et sitzen ihrer ja jenug hinter Schloß
un Riegel, die jern heraus wollen. Is hier doch immer noch besser in
freier Luft, wat, Jacobs?« schrie er den jungen Menschen an, der den
Karren geschoben hatte, und jetzt, am Bau angelangt, sich emporrichtete
und die steifgewordenen Arme umeinanderschlug. »Is doch besser hier als
im Kaschöttchen?«

Es kam keine verständliche Antwort, ein heiseres Husten erstickte sie.
Aber der Sträfling nickte und machte sich daran, die Steine abzuladen.

Sah der Mensch elend aus! Und ein unangenehmes Gesicht, die richtige
Verbrecherphysiognomie! »Wat hat de dann pekziert?« fragte Leykuhlen
halblaut. Es überlief ihn plötzlich eine schaurige Empfindung: dem
möchte man nichts Wehrloses in den Weg schicken auf einsamem Venn.
Diese roten Haare, diese abstehenden Ohren, diese unsteten Augen in dem
abgezehrten, sommerfleckigen Gesicht! So konnte sich ein ängstliches
Gemüt wohl einen Mörder vorstellen. »Wat hat de dann verbrochen?«

»O – – – –!« Bräuer zuckte gleichgültig die Achseln. »Wird wohl
nur wegen Wechselfälschung oder Mundraub oder vielleicht wegen
Sittlichkeit seine paar Jährchen jekriegt haben – ich weiß nit. Wer
kann dat all behalten! Aber wenn Sie et jern wissen wollen – Jacobs!«
Er winkte.

»Nee, nee!« Leykuhlen legte ihm rasch die Hand auf den Arm. »Fragen Sie
ihn selber nit! Nee, nit vor mir!«

»No, dann nit!« Der Aufseher lachte grimmig. »Daraus macht sich so ’ne
Kerl doch nix. Der hat so oft sein Sünden anzuhören jekriegt, bis auf
Herz un Nieren is de ausjezogen worden im offenen Jerichtssaal, dat et
dem janz Wurscht is, wat ich ihn hier frag, oder Sie un ich. Dem is dat
viel ärger, wenn Ihre Dorfmädchens ihn anjaffen wie en wild Tier und
die Jungens hinter ihm dreinkreischen – Mädchens, mit denen er sonst
poussieren würd, Bengels, mit denen zusammen er Kegel schieben würd.
Dat is viel schlimmer für so einen, als wenn wir ihn fragen. Wir wissen
doch auch, wat Versuchung is!«

»Sie haben recht!« Ganz betroffen sah Leykuhlen den Aufseher an: der
Bräuer war doch nicht so roh, wie es den Anschein hatte! »Sie haben
Verständnis für Ihre Leut!«

»No, wenn ich dat nit hätt! Ich bin doch drei Jahr in Siegburg jewesen.
Beim Militär is et auch nit viel anders – pariert muß werden – nur die
Montur is besser. Herr Burjermeister, wenn Sie sich aber interessieren,
so schaffen Sie mir doch ein paar Bund Stroh!« Es kam etwas wie eine
Bitte in die harte Stimme. »Die Kerls liegen hundsmiserabel. Un wenn
ich wat alte Leinwand kriegen könnt! Die Halunken verschweinigeln sich
die offenen Frostbeulen mit Absicht, sie denken, wenn sie humpeln, dann
brauchen sie nit zu arbeiten – ja wohl, ich werd ihnen! Aufjepaßt!«
brüllte er einen Sträfling an, der sich eben verstohlen bückte, um
mit der hohlen Hand Wasser aus einer Lache zu schöpfen. »Hab ich nit
verboten: jetrunken wird nit?!«

Erschrocken fuhr der Sträfling zurück. Er stammelte etwas von »Durst«;
es klang wie ein Winseln.

»Wenn du Bauchschmerzen kriegst, scheuer ich dir noch die Huck,« schrie
der Aufseher böse.

»Sie sind sehr streng,« sagte Leykuhlen vorwurfsvoll. Es stieß ihn
plötzlich wieder etwas von dem Manne zurück.

Aber der Aufseher zuckte die Achseln: »Wenn ich nit streng wär, könnten
wir nur einpacken hier. Entweder, sie jingen mir alle ein, oder sie
schlügen mich tot. Adjüs!« Damit kehrte er sich kurz um und ließ den
andern stehen.

Leykuhlen sah ihm nach, wie er mit starken Schritten auf die andere
Seite des Bauplatzes ging und dort ein paar Sträflinge aufjagte, die
sich in einem wärmenden Sonnenstrahl auf einem Balken niedergekauert
hatten und ein wenig rasteten. Er sah sie auseinander fahren wie
Hühner, zwischen die der Habicht stößt. Arme Teufel! Es war nun schon
Ende April, aber es war doch noch recht kalt.

Ein Wind ging, der selbst den an Vennluft Gewöhnten durchschauerte;
Leykuhlen knöpfte seinen Rock zu. Die in Leinenkittel Gekleideten
ragten wie Vogelscheuchen, denen der Wind die Fetzen abzerren will, aus
der baumlosen Fläche auf. So braun, so dürr noch das einsame Land!

Eine von ihm selbst nicht verstandene Traurigkeit senkte sich plötzlich
auf Leykuhlens Seele. Der Himmel trüb, schwere Wolken hatten jetzt
jedes Strählchen von sonnigem Licht verjagt; die Luft war wie Rauch,
voll von beklemmendem Nebeldunst. Die Ferne so fern. Wo waren Städte
und Menschen, fröhliche Menschen, und fruchtbare Felder?! Fern, sehr
fern! Noch war kein Frühling im dunklen Moorland.




III


Im Städtchen wurde auf jeder Kaffeevisite und abends am Stammtisch,
von Männern und Frauen mit gleichem Interesse, die Strafkolonie bei
Heckenbroich besprochen. Wie der Landrat tat, der alle paar Tage
hinauffuhr und sich sogar Besuch dazu eingeladen hatte, Herren von der
Regierung in Aachen, so machten es viele. Man spazierte zu Fuß hinauf
oder nahm einen Wagen an; die Ausgabe lohnte sich schon, nun bekam man
doch einmal einen wirklichen Einblick in das Verbrecherleben. Kerle,
Kerle! Was die für Arme hatten, hager und sehnig! Und tätowiert waren
sie alle über und über, die Arme, die Brust. Jetzt stach die Maiensonne
um die Mittagszeit schon heiß oben auf der ungeschützten Höhe, wenn’s
in den Nächten auch noch Eis fror, sie trugen die Leinenkittel offen;
man konnte alles sehen. Welche von ihnen waren weiß und fett, andere
mager und haarig wie die Wölfe. Die Damen erschauerten.

Simon Bräuer hatte zu tun, die Neugierigen abzuhalten. Bis in die
innersten Winkel des Hauses, dessen Gebälk jetzt schon fertig gerichtet
stand, hätten ihm die Frauenzimmer kommen mögen. Zwar stand ein Pfahl
am Zaun mit einem Schild: »Eintritt verboten« – aber wer störte sich
hieran? In hellen Kleidern, wie Sommerfalter, kamen die Weiber; sie
machten den Mann kribblig. »Da schlag ’n Donnerwetter drein!«

Schon wieder kam heut ein Wagen langsam die Venn-Chaussee
heraufgekrochen; eine Equipage. Am alten Torfschuppen mußte jedes
Fuhrwerk halten; von da an mußte man zu Fuß das Venngestrüpp, die
Ginsterbüsche und allerlei versteckte Löcher durchqueren.

»Dat sie doch all in’t nächste Torfloch plumpsten bis an den Hals!
Verdammt!« Bräuer fluchte. Er sah, wie seine Kerls die Köpfe von ihrer
Arbeit hoben und hinstierten mit ihren grassen, hungrigen Augen.

Ein hellgekleidetes Mädchen lief den anderen vorauf. Bräuer brummte in
sich hinein: »Die macht ja Sprüng wie en jung Kalb!« Wieder Weiber!
Die sollten ihm wohl vom Halse bleiben. Das Gewehr über die Schulter
hängend, ging er den Kommenden entgegen.

»Papa,« sagte gerade Fräulein Schmölder, »hier steht es ja: ›Eintritt
verboten‹!«

»Für uns nit!« Der Fabrikant wollte seine Damen vorangehen lassen –
seine Frau war auch neugierig gewesen, die Kolonie zu sehen, und Hedwig
brannte auf die Verbrecher – aber breit stellte sich jetzt der Aufseher
vor den Zauneingang. Sein Blick war so zurückschreckend, daß Heinrich
Schmölder unwillkürlich »Juten Tag!« sagte und an den Hut faßte. »Wir
wollen uns dat hier mal ansehen!«

»Es ist nicht erlaubt.« Der Aufseher gab den Eintritt nicht frei.

»Ich bin der Fabrikant Schmölder. Sie kennen mich doch?« Dem reichen
Mann stieg das Blut in die Stirn. Das war denn doch keine Art! Und
dazu war Vetter Josef noch dabei, der sich so wie so schon über alles
und jedes mokierte! »Wenn Sie uns nit hereinlassen, werde ich mich
beschweren, beim Landrat, bei unserem Bürgermeister!«

»Dat können Sie tun. Dat jeht die Herren aber jar nix an. Ich hab nach
meiner Instruktion zu handeln.«

»Nun, dann eben bei der zuständigen Behörde!« Heinrich Schmölder wurde
heftig, er glaubte hinter sich das maliziöse Lächeln seines Vetters zu
sehen.

Der Aufseher zuckte die Achseln. »Tun Sie dat. Wenn Sie ’ne
Erlaubnisschein vorzeigen, können Sie jederzeit passieren. Sonst nicht!«

»Gib ihm was, gib ihm was,« wisperte Frau Schmölder hinter ihrem Gatten.

Heinrich Schmölder griff in die Tasche. »Na, Sie werden wohl mal ein
Aug’ zudrücken.« Ein verständnisvoller Händedruck – das Dreimarkstück
brannte Bräuer zwischen den Fingern. Das bessere Teil in ihm empörte
sich, er hätte es fortschleudern mögen: »Herr, was unterstehen Sie
sich, bestechen ist nicht« – und er nahm es doch. Der Eintritt war frei.

Mit finsterem Gesicht, an der Lippe nagend, schritt der Aufseher vor
den Eindringlingen her. Er hätte sie umbringen mögen. Was das Fräulein
schwatzte, lachte, dumm fragte!

»Sind Sie ganz allein hier?«

»Ja.«

»Wieviel Gefangene sind denn hier?«

»Vierzig.«

»Sind auch Mörder drunter?«

»Nein.«

»Haben Sie aber nicht doch Angst?«

»Nein.«

Zum Donnerwetter, das Frauenzimmer konnte einen verrückt fragen! Hätte
er ihnen doch das Geld vor die Füße geworfen! Ein wütender Zorn gegen
sich selber überkam den Mann: er hatte nicht widerstehen können,
Trinkgeld genommen – Geld! Geld – er hatte es entbehren müssen die
ganze Zeit seiner Jugend. Er hatte auch jetzt noch nicht viel, das
Gehalt war nicht groß, und seine Familie wollte doch leben – drei Mark
waren immerhin drei Mark. Aber nein, nein, pfui! Ihm ekelte vor sich
selber.

»Sehen Sie sich um,« stieß er rauh heraus. Er konnte es nicht mehr
ertragen. Ohne ein weiteres Wort sprang er über einen aufgeworfenen
Graben und rannte, ein paar der Sträflinge, die gaffend dagestanden
hatten, mit rauhen Worten vor sich hertreibend, immer weiter vom Bau ab
ins Venn hinein.

»Ein greulicher Mensch! Ordentlich unheimlich!« Frau Schmölder raffte
ihr Kleid hoch auf und setzte vorsichtig die Füße, sich immerfort ein
wenig scheu umsehend. »Was ist denn nun eigentlich zu sehen, Heinrich?
Ich sehe hier doch gar nichts Besonderes. Das war wirklich eine
komische Idee von dir!«

»’ne Kater-Idee,« sagte Josef Schmölder.

»Wieso?« Der ohnehin schon Gereizte wurde noch gereizter: da war ja
richtig das infame Gesicht, das Josef zuzeiten zu schneiden beliebte.
»Hättest du weniger Kater-Ideen in deinem Leben jehabt wär et besser
für dich jewesen un –«

»– und für uns,« ergänzte Josef. Er nahm’s heute humoristisch. Der
Himmel blaute, das Wetter war herrlich, richtiges Frühlingswetter, und
da – sieh da! Er hielt die Hand vor die Augen. Da schimmerte ein ganzes
Stück Venn helleuchtend wie Gold. Das waren die gelben Narzissen, die
blühten jetzt im üppigsten Flor.

»Ärgere dich nicht, Onkel Josef,« wisperte die Nichte und hing sich an
seinen Arm. Sie mochte glauben, er lege die Hand vor die Augen, weil
die Anzüglichkeit ihres Vaters ihn verletzt hatte.

»I wo, Hedde!« Er fing leise an zu pfeifen. »Sieh mal an, da, die
Narzissen!« Und dann breitete er plötzlich die Arme aus: »Kind, das ist
ein Meer von Gold, in dem ich wohl ertrinken möchte. Sonst pfeife ich
aufs Gold – es macht hart, egoistisch, ungerecht – aber dieses Gold ist
schön, es ist ein Trost fürs Auge, ein Labsal fürs Herz. Und daß diese
armen Schlucker das immer so vor Augen haben, ordentlich darin waten
können, das ist ein Ausgleich der barmherzigen Natur!«

»Wie poetisch!« spöttelte Heinrich.

Aber Frau Schmölder nickte. Sie war dem Vetter gut, und – lieber Gott,
wo so viele aßen, konnte er auch noch mitessen! Ein bißchen verstiegen
war er freilich zuweilen.

Josef sah und hörte nicht. »Komm, Hedde, wir wollen Narzissen pflücken!
Einen goldenen Strauß!« Er riß die Nichte mit sich fort.

Leichtfüßig liefen die beiden durch das struppige Heidekraut; der Mann
schien nicht minder jung, als die Siebzehnjährige, deren Zopf mit einer
himmelblauen Schleife noch kindlich, lang auf den Rücken baumelte.

Heinrich Schmölder war sehr schlechter Laune, und er war doch so
guter gewesen, als er heute aus dem Schwan zum Mittagessen nach Hause
gekommen war und die Fahrt zur Strafkolonie vorgeschlagen hatte. Der
Josef verdarb einem eben immer die Stimmung. »Verrückter Mensch!« sagte
er zu seiner Fraun.

Sie suchte ihn abzulenken. »So, nun zeig mir doch auch mal was hier!
Nun sei doch nicht so, nun bist du ihn ja los!«

»Auf wie lang?« Sie hatte nicht das Richtige getroffen, Heinrich
Schmölders Stirn zog sich in immer ungeduldigere Falten. »Mit dem
Menschen ist ja nicht zu leben. Er macht einen selber janz verdreht
mit seiner fahrigen Art. Ein Mann wie ein Weib! Ein Mensch, der in
seinem Leben nie an seinem Platz jewesen is. Nun jeht er auf et End der
Vierzig los und hat noch nie wat vor sich jebracht! Aber wat soll man
da machen!« Er seufzte. Ehe man den Jungen in der Welt herumflanieren
ließ und Dummheiten machen auf den Namen Schmölder, eher wollte man
sich denn doch die Pönitenz auferlegen und ihn bei sich behalten, so
fatal es auch war, die Bummelei mit anzusehen.

»Gott, Heinrich,« sagte die Frau gutmütig, »er stört dich doch nicht!«

»So – er stört mich nicht? Wat du weißt!« Heinrich Schmölder konnte
recht grob gegen seine Frau werden, wenn er es auch nicht immer so böse
meinte. »Sie ist ihm zu beschränkt,« – so hatte die schöne Helene aus
dem Schwan schon längst herumerzählt.

Frau Schmölder hatte eine gute Art, zu schweigen. Sie war bequem
geworden mit den Jahren, behäbig und bequem. Auch hier war es ihr
unbequem, noch mehr zu sehen, sie hatte schon genug. »Laß uns gehen,«
sagte sie und zupfte ihren Mann am Ärmel.

Aber er brummte: »Drei Mark erausjeschmissen! Ich dacht, der Kerl würde
uns was herumführen, einem die janze Idee der Anlage was erklären. Na,
ich interessiere mich auch jar nit für die Jeschichte hier – is mir
janz Wurst, was sie hier machen! Ja, wir jehen jetzt – ruf Hedde –
Dummheit mit den Blumen – es is höchste Zeit!«

Frau Schmölder rief nach der Tochter. Aber erst als der Vater ganz
energisch sein »Hedwig, kommt sofort!« ins Venn hinausbrüllte, wo ihr
helles Kleid im Sonnenglanz schimmerte, bald im Kraut untertauchte,
bald aufflatterte, kam sie angeflogen.

Ihre runden Wangen waren dunkelrot, ihre Augen glänzten. Sie war
ganz atemlos. Einen großen Strauß hastig abgerissener, in dem Eifer
des Pflückens schon halb zerdrückter Narzissen trug sie in der Hand.
Und ein Sträußchen hatte sie im Gürtel. »Die hat mir Onkel Josef
angesteckt,« sagte sie mit heimlichem Stolz. »Er sagt, das sähe hübsch
aus.«

»Dummheit!« Der Vater riß ihr die Blumen aus dem Gürtel und warf sie
fort. »Da, siehst du, lauter Flecke von den zerquetschten Stengeln.«

Die Tochter ließ den Mund hängen. Mit den Tränen kämpfend ging sie
hinter den Eltern her, tupfte mit dem Taschentuch bald an dem hellen
Bandgürtel herum, bald an ihren Augen.

»Wo ist denn eigentlich der Josef?« fragte die Mutter.

»Er sagte, wir sollten nur fortfahren, er käme zu Fuß nach Haus. Ach,
es wäre viel netter, er wäre mitgefahren!«

Heinrich Schmölder drehte sich um nach seiner Tochter und warf einen
raschen Blick in ihr Gesicht – na, das wäre! Sollte die sich etwa in
den alten Sünder vergafft haben?! Einem überspannten Backfisch war
alles zuzutrauen. Und der Josef hatte immer Glück bei Weibern gehabt,
viel zu viel Glück. Hatte nicht selbst Lenchen neulich gesagt: »Bring
doch mal deinen Vetter her, Schmölderchen!« Jawohl, er würde sich
schwer hüten! Daß die Helene mit dem zu poussieren anfing und er den
Sekt bezahlen mußte!

»Frag doch nit nach ihm,« sagte er jetzt ärgerlich zu seiner Frau.
»Ich möcht wohl wissen, warum du dich so um ihn kümmerst? Laß ihn
kommen oder nit kommen. Aber der Josef hat immer Eindruck auf dämliche
Frauenzimmer jemacht. Aber es steckt nix hinter seinen irjendwo
anjelesenen Redensarten; ›alles Mumpitz‹, wie der Berliner sagt!« Dabei
beobachtete er scharf seine Tochter; aber aus dem ausdruckslosen jungen
Mädchengesicht mit dem blühenden Rund war nichts herauszulesen. »Hier
komm neben mich,« sagte er zu ihr, und behielt sie an seiner Seite, bis
sie das Stück Venn durchstampft hatten und sicher in ihrer Equipage
saßen – ohne Josef – die Tochter auf dem Rücksitz den Eltern gegenüber.

Josef Schmölder lag weit drinnen im Venn zwischen blühenden Narzissen.
Eben war der Aufseher von ihm fortgegangen; sie hatten eine ganze
Weile zusammen gesprochen. Der Aufseher war etwas aufgetaut, als Josef
ihm auseinandergesetzt hatte, welch vorteilhaften Einfluß es auf die
Gemütsverfassung der Sträflinge haben müsse, hier unter freiem Himmel
arbeiten zu können. »Den freien Blick kann ihnen doch niemand nehmen,
den Blick zum Himmelsblau, den Blick auf die Blumen und die Tannen, den
Blick in die Weite, in unbegrenzte Weiten – die Natur ist die einzige
Trösterin und Heilbringerin!«

»Oh ja, dat Venn is wohl schön,« sagte Simon Bräuer. »Man muß et nur
kennen wie ich. Von klein auf!«

»Nun, sehen Sie, ich bin doch nicht hier in der Gegend geboren und
finde es auch schön, unendlich stimmungsvoll! Ich bin hier bei meinen
Verwandten, unten in der Stadt – Schmölders – die kennen Sie doch wohl?«

»Ich kenn =Sie= auch. Sie sind der Vetter, der nit jut getan hat!«
Simon Bräuer lachte, ein etwas grimmiges Lachen, bei dem er die
Oberlippe von den scharfen weißen Eckzähnen hob und den anderen, der
faul im Heidekraut lag, mit seinen Falkenaugen anblitzte. »Wären Sie
nit der vornehme Herr un hätten wat Besseres vor sich jesehen, wer
weiß, Sie jingen vielleicht auch zwischen denen da!« Er nickte nach
seinen Kerlen hinüber.

Der war recht geradezu! Josef Schmölder zog das elegante Etui aus rotem
Juchten, das ihm Cousine Schmölder zum Namenstag verehrt hatte, aus der
Brusttasche und bot dem Mann eine Zigarre an.

Aber da stierte ihm dieser mit einem fast wilden Blick ins Gesicht:
»Nee, ich nehm nix mehr an!«

Er war davongerannt wie einer, der ein schlechtes Gewissen hat. –

Nun war Josef allein. Mit halbgeschlossenen Augen träumte er. Gleichsam
durch einen Schleier sah er fernhin – Schafe, die da weiden, – die
hellen Kittel auf der Fläche. Und ihr Hüter, der Hirt, stand dabei, so
hochaufgerichtet, so lichtumflossen in der unbeschatteten Helligkeit
des Venns, daß er größer erschien, als er war; alles überragend. Josef
hatte immer das Entschlossene, das Energische bewundert – wie dieser
Mann in diese Natur hier paßte! Verschlossen, herb wie sie. Und doch
Größe in beiden. Wer doch auch so sein könnte!

Eine haltlose Traurigkeit überkam plötzlich den ins Venngras
Hingelagerten. Ihm war es, als müsse er mit beiden Händen in dies
karge, zähe Grün fassen und sich daran halten, sich anklammern: mach
mich stark du, lehre mich zu sein wie du, Stürmen zu trotzen und
standzuhalten! Er seufzte tief.

Solche Stunden hatte Josef Schmölder oft; sie kamen ihm mitten im
Lachen. Dann machte er sich Vorwürfe über Vorwürfe: nein, er konnte nun
und nimmer aus sich heraus, er blieb ein Halber, ein immer Wollender
und nie Vollbringender! Hätte er nicht auch Weib und Kind haben können
wie Vetter Heinrich, und ein gutes Renommee und viel Geld dazu? Es
brauchte ja nicht gerade in Lumpen verdient zu sein. Wenn er jetzt Geld
hätte, wie würde er andere glücklich machen! Diese armen Fabrikmädchen!
Sie sollten nicht mehr auf den Lumpensäcken ihren Happen verzehren
mit schmutzigen Fingern, die Kehle trocken vom gefährlichen Staub.
Eine Küche würde er einrichten, sie daraus zu speisen – gutes, warmes,
auskömmliches Essen – und einen Raum würde er ihnen bauen, groß und
luftig und licht, darin sie sich erfrischen konnten und ausruhen. Wie
gut hätten sie’s da! Und diese Schafe, die hier weideten, die sollten
auch nicht irre gehen fürder mehr. Wie ein guter Herr wollte er sie
um sich sammeln und sie nicht fragen: wo bist du gewesen, was hast du
getan? Ah, wie vieles ließe sich schaffen, wie vieles gutmachen, was
die Gesellschaft verbrochen hatte! Diese Gesellschaft, diese satten
Philister, die hier heraufkamen, die armen Kerle anzuglotzen. War es
etwa ihr Verdienst, daß sie da unten ehrlich in ihren Häusern saßen?!

Josef war aufgesprungen, die Faust schüttelte er in die Luft. So eng
wie ihre Gassen waren sie, so verbaut in ihren Gefühlen wie ihre
verschnörkelten Häuser; über ihren Bergrand sahen sie nicht weg. Da war
Cousine Schmölder, eine herzensgute Frau, aber – nur ihr Haus, ihre
Familie. Und das Mädel?! Nun, Hedde war allerliebst. Jugend, und sei
sie noch so nach der Schablone, ist immer reizend. Aber sie würde ja
nur allzubald den Sohn des Konkurrenten aus Aachen heiraten und genau
so werden, wie ihre Mutter jetzt war – sie sah ihr jetzt schon zuweilen
erschreckend ähnlich – oder vielleicht den Oberleutnant aus dem Lager,
den Adjutanten von Scheffler, von dem sie ihm schon mehrmals mit tiefem
Erröten erzählt hatte. Nun, was ging’s ihn an?!

Er mußte lachen, mitten aus seinem Ernst heraus. So ging es ihm immer,
er konnte sich eben selber nicht ernst nehmen – und er, er wollte
andere glossieren?! Das spöttische Lachen schwand rasch von seinem
Gesicht. Er sah auf einmal wieder alt aus und müde und traurig, als
er jetzt das Antlitz nach jener Seite kehrte, wo die Sonne groß und
leuchtend überm Vennrand hing und das Kreuz auf der Marienley, dem
einsamen Felsen mitten im Heidemeer, in einen Glorienschein hüllte.

Langsam, fast widerwillig das Auge losreißend, das doch die Fülle des
Lichtes nicht ertragen konnte und zu tränen begann, schickte er sich
zur Heimkehr an. Er mußte lange geträumt haben. Wie viel Uhr es wohl
sein mochte? Nun, Feierabend noch nicht. Noch immer irrten die Schafe
durchs Heidemeer, und der Hirt trieb sie vor sich her. So früh gabs
keine Rast für die Arbeiter auf dem Venn. Halbgebückt standen sie – die
einen hackten, die anderen gruben – oh weh, ihnen mußte ja der Rücken
fast brechen!

Es war ein Feuer angezündet, langsam schwelend fraß die Flamme Wurzeln
und Gestrüpp; ein schwerer Rauch kroch über den Moorboden und stieg an
gegen die Sonne. Das war ein Kampf wie der Kampf der Finsternis gegen
das Licht. Aber der schwarze Rauch war der Stärkere, er verschlang das
Licht.

Pfui, wie der stank! Unangenehm berührt, rümpfte Josef Schmölder die
Nase. Und dann schauerte er zusammen: hu: kalt war das mit einem Mal,
nun die Sonne verschwunden war und die Nebel über dem Vennrücken
lagerten! Nur um das Kreuz der Marienley war es noch hell, als habe
sich alles Licht des scheidenden Tages darum versammelt. Schwarz hob
sich die Kreuzesform vom Goldgrund ab. Ob die Blicke jener Elenden sich
jetzt wohl auch dorthin richteten? Ob sie das Kreuz wie einen Trost,
wie eine Verheißung sahen, oder ob es ihnen drohend erschien, grausig
und blutig, eine Mahnung an das eigene Geschick?! Sie alle waren ans
Kreuz geschlagen. Wer im Leben wäre das nicht?!

Mit einem Seufzer schickte sich Josef Schmölder nun zum Gehen an. Er
stapfte durchs struppige Kraut der Chaussee zu. Was sollte er noch hier
oben? Wenn er den armen Teufeln noch helfen könnte!

Dicht kam er an einem Paar vorüber. Er grüßte sie aus seiner leidvollen
Stimmung heraus mit einem weichen: »Guten Abend!«

Die blassen, verschwitzten Gesichter starrten ihn einen Augenblick
an. Dann wandten sich die Sträflinge wieder ihrer Arbeit zu; kein
Gegengruß, kein Zug der stumpfen Gesichter verriet, daß sie das »Guten
Abend« verstanden hatten.

Wie wenig Freundlichkeit mußten diese erfahren haben! Ein ungeheures
Mitleid schwellte Josef die Seele. Da hörte er ein Lachen hinter
sich; rasch blickte er sich um. Sie standen und gafften ihm nach.
Zwei häßliche, rohe, gemeine Gesichter. Der Rothaarige, dem die Ohren
so weit vom Kopfe abstanden, lachte hinter ihm drein. Es war nur ein
kurzherausgestoßenes, sekundenlanges Auflachen, ein heiseres Keuchen,
aber Josef fühlte wohl, dieses Lachen galt ihm. Sie lachten über den
Herrn, der mit hellen Hosen, mit braunen Schuhen, mit steifem Hut hier
oben herumspazierte. Er schämte sich plötzlich seiner Kleidung – die
waren halbnackt, er ging wie ein Stutzer.

Mit hastigen Schritten lief er weiter. Nur rasch! Übrigens, denen hätte
er nicht begegnen mögen ganz allein im stillen Wald oder noch weiter
draußen auf dem Venn! Hätten sie da nicht ein gewisses Anrecht gehabt,
zu sagen: »Her mit dem Rock, den Stiefeln, mit dem Hut?!« Nackt wie sie
war auch er auf die Welt gekommen – alle gleich – das Schicksal hatte
nur mit ihnen gespielt, hatte den einen besser angezogen, den anderen
mit Lumpen behangen. Eigenes Zutun war verflucht wenig dabei!

Josef fühlte, wenn jetzt so einer gekommen wäre, er hätte sich
ausgezogen bis aufs Hemd, ihm alles gegeben. Freiwillig. Aber es war
doch gut, daß keiner kam. Gut auch, daß er jetzt die harte Straße,
die, ohne Chausseebäume, ohne menschliche Behausung, als einzige
Verkehrsader das Venn in zwei Teile scheidet, unter seinen Sohlen
fühlte. Er lüftete den Hut und wischte den Schweiß von der Stirn. Ah,
jetzt ging sich’s gemächlich bergab! Durch grüne Matten schlängelte
das Flüßchen, dem Vennsumpf entsprungen, sein jetzt schon ganz klares
Wasser und ließ die Forellen sehen, die silbern aufschnellten und im
Abendstrahl nach Mücken schnappten. Vom alten Torfschuppen an war alles
schon Heckenbroicher Weideland.

Friedlich klang die Abendglocke, und über die Hecken stiegen
kerzengerade zarte Rauchsäulchen in den silbrigen Aether. Die harte
Vennchaussee war zur gepflasterten Dorfstraße geworden. Hinter den
Hecken brüllte das Vieh, und Melkeimer klapperten, und Stalltüren
knarrten. Von Menschen nichts zu sehen, alles war wie ausgestorben, und
doch belebt von einem heimlichen Leben, das sich hinter jenen Hecken
abspielte, die wie Schutzwehren gegen alles Ungemach standen, wie
Hüterinnen eines bescheidenen, weltfernen, friedvollen Glücks. Wer doch
so wohnen könnte!

Vorhin, als sie in der Equipage durchgerasselt waren, hatte Josef den
Zauber des stillen Dorfes nicht so empfunden wie jetzt. Leykuhlen war
wahrhaftig ein beneidenswerter Mensch, daß er hier residieren konnte!
Warum er ihn eigentlich noch nicht aufgesucht hatte?

Seit jenem lichten Vorfrühlingstag, an dem sie sich begegnet waren auf
dem Fußpfad oberhalb der Fabrik, glaubte Josef schon alle Tage den
Wunsch zu diesem Besuch gehabt zu haben, aber er war eben nie dazu
gekommen. Es war noch nicht spät; wenn es auch nicht gerade Besuchszeit
mehr war, er konnte wirklich einmal bei Leykuhlen vorsprechen. Aber
wo lag dessen Haus? Rechts oder links hinein, oder geradeaus auf die
Kirche zu? War niemand hier, den man fragen konnte? Er schaute sich um.
Da hörte er Kinderstimmen.

Ein kleines Mädchen kam hinter einer schlecht gehaltenen Hecke hervor;
die Füßchen der Kleinen traten leicht und lautlos, obgleich sie einen
Jungen auf dem Arm schleppte, dessen dicker Kopf größer war als der
ihre.

Der Junge greinte, als der Fremde auf sie zutrat. »Kinder, wo wohnt
denn der Herr Bürgermeister?«

»Still, bis still, Doresche,« flüsterte die Kleine und drückte den
dicken Kopf des Jungen mit der Zärtlichkeit einer Mutter an ihren Hals.
Dann hob sie die Augen zu dem Herrn.

Josef war ganz überrascht von dem Blick dieser sanften schwarzen Augen.
Wo hatte er solch ähnliche nur schon einmal gesehen? Er konnte sich
nicht entsinnen. »Nun, Kleine?« sagte er freundlich und klopfte ihr das
blasse Bäckchen.

Die Kleine wurde rot. »Bis still, Doresche, bis still!« Und dann sagte
sie leise, wie zur Entschuldigung: »Der Bruder ist nicht an Fremde
gewöhnt. Und er ist immer krank!« Sie mühte sich, hochdeutsch zu
sprechen, jeden Konsonanten scharf betonend, besonders das »r«; fast
fremdartig mutete dadurch ihre Sprache an, fremdartig wie ihre ganze
Erscheinung.

Was für ein schönes Kind, feingliedrig und zart, nicht so, wie die
Kinder aus anderen Dörfern! Josef betrachtete sie mit Interesse. Auch
der Junge war nicht häßlich trotz seines dicken Kopfes; er wäre hübsch
gewesen, wäre ihm nicht der Speichel über die hängende Unterlippe
geflossen und hätten seine Augen nicht so glanz- und verständnislos
geblickt. »Was fehlt denn deinem Brüderchen?« fragte er. Der Junge war
wohl blöde? Schlaff hingen die welken Hände an der Schwester Hals; er
mußte dem zarten Kinde eine fast unerträgliche Last sein. »Ich will dir
den Jungen tragen. Wo willst du denn hin?«

Aber die Kleine schüttelte den Kopf. »Nee. Der Dores geht nicht bei
fremde Leute. Ich will Euch zeigen, wo Ihr gehen müßt. Der Dores ist
mir nicht zu schwer!« Sie schritt leichtfüßig vor ihm her, verstohlen
den greinenden Bruder tröstend.

Josef hielt sich dicht hinter ihr. Unverzagt schritt sie aus; ihr
Köpfchen mit dem hellen Kattuntüchelchen, unter dem sie das Haar
verborgen trug, schmiegte sich bald links, bald rechts an den dicken
Kopf. Wie eine Klette hing ihr der Junge am Halse; sie schleppte sich
redlich. »Wie weit ist es denn noch?« fragte Josef ungeduldig; ihn
dauerte die Kleine. »Sage mir nur, wo es ist, ich finde mich schon hin!«

»Ich gehe auch dorthin,« sagte sie verschämt, und ein leicht
schelmisches Lächeln erhellte ihr ernsthaftes Gesichtchen.

Er war ganz entzückt. Wenn sie nur mehr plaudern wollte! Er machte sich
an ihre Seite. Sie hatten wohl noch einen weiten Weg, das Dorf war ja
endlos lang? Aber es gelang ihm nicht, viel aus ihr herauszubekommen;
nur, daß der Dores, wie er noch ganz klein gewesen war, schon die
Krämpfe bekommen hatte, und daß er nun schon sieben Jahre war, aber
noch immer nicht in die Schule gehen konnte. Auch daß Vater schon
einmal und die Mutter schon zweimal bitten gegangen waren nach
Mariawald.

»Betest du auch für ihn?« fragte er.

»Ja!« Sie nickte wichtig. »Ich gehe alle Sonntag zur Maria im Stein
nach der Ley. Aber –« sie seufzte auf, und ihr Hochdeutsch vergessend,
sagte sie tief errötend: »Et notzt nühst!«

Er lachte auf; das klang so komisch. Komisch und rührend zugleich. Er
wollte sie streicheln, aber sein Lachen hatte sie scheu gemacht; nun
sprach sie auch nicht mehr. Eiliger als zuvor lief sie wieder vor ihm
her, bis sie die hohe Hecke gegenüber der Kirche erreicht hatten, die
schönste Hecke in ganz Heckenbroich. Da drehte sie sich um und nickte
bedeutsam, und verschwand dann so rasch hinter der Hecke, daß er nicht
einmal Zeit hatte, ihr die Groschen, die er ihr geben wollte, ins
Händchen zu drücken.

Er stand vor Bürgermeister Leykuhlens Haustür. Das angelehnte Gadder
aufstoßend, trat er in den Flur, der dunkel war wie in allen Häusern.
Aber nun öffnete sich eine Tür im Hintergrund, im schmalen Lichtstreif
stand eine schlankgewachsene Frau: »’n Abend!«

Er nahm den Hut ab: aha, das war wohl die Frau Bürgermeister, das
Mariechen?! Er glaubte sie nie früher gesehen zu haben.

Sie aber kannte ihn. Freundlich reichte sie ihm die Hand: »Mein Mann is
noch nit zurück. Aber die Sitzung muß jleich aus sein. Bitte, treten
Sie so lang als ein, Herr Schmölder! Nehmen Sie so lang als Platz!«

Sie führte ihn in die Stube und bot ihm einen Sitz auf dem
Ledertuchsofa an, über das sie zuvor rasch mit der Schürze wischte.
Das wäre nicht nötig gewesen; es war so sauber in der Stube, trotz des
Dämmerlichtes blinkten Stühle und Tisch und Schrank und Kommode wie
neupoliert. Bunte Tassen und Väschen standen auf der Kommodendecke. Vor
der kleinen Statue der Muttergottes über der Stubentür brannte hinter
rotem Glas das ewige Lämpchen. Am Spiegel steckten geweihte Palmzweige.
Beim Fensterplatz, wo der Nähtisch stand, hing ein porzellanenes
Weihwasserkesselchen, und überm Sofa, breit eingerahmt, in schwarzer
Seide und Perlen gestickt:

    »_Erkannt, gelobt, gebenedeit, geliebt, verehrt, verherrlicht
    allzeit das göttliche Herz Jesu und das reinste
    Herz Mariä!_«

Der aus der freien Luft Gekommene sah sich um: so sauber, so
wohlgeordnet, es roch nach frischem Wasser und ein wenig nach gutem
Heu. Ein angenehmer Geruch, und doch beklemmte ihn etwas. Seine
Augen hafteten auf dem gestickten Spruch über dem Sofa: warum hatten
die Leute da nicht lieber ein schönes Bild hängen? Es gab so gute
Reproduktionen. Es überkam ihn wie eine leichte Verlegenheit: was
sollte er mit dieser Frau nun reden?

Da sagte sie schon: »Sie werden sich wundern, Herr Schmölder, dat ich
Sie jleich jekannt hab. Der Bärtes hat mir auch neulich von Ihnen
erzählt. So mußten Sie aussehen und nit anders. Wie jeht et Ihnen dann,
jefällt et Ihnen jetzt besser unten? Ich hab als oft daran jedacht, wat
Sie zum Bärtes von unsern Fabrickmädchens jesagt haben.«

Er sah sie verwundert an, da lächelte sie. »Wissen Sie, Herr Schmölder,
in unsrer Still fällt so’n Wort wie ’ne Stein in den Brunnen. Man hört
dat weit und noch lang hernach. Et is schön von Ihnen, Herr Schmölder,
dat Sie Intress’ für unsre Leut haben!« Sie reichte ihm die Hand. »Sie
würden sich ’ne Jotteslohn verdienen, wenn Sie Ihrem Vetter sagen
täten, er soll den Mädchens mittags wat mehr Zeit jeben, dat sie in
die Stadt ereinjehen könnten. Da haben doch ihrer viele Bekannte oder
Verwandte, da könnten sie doch en warm Supp kriegen; wenigstens im
Winter!«

Eine nette und ganz verständige Frau! Josef setzte an, ihr seine Pläne,
die ihm jetzt auf einmal wieder so lebendig wurden, als hätte er sie
erst gestern ausgeheckt, mitzuteilen, als ein Kraspeln draußen auf dem
Flur hörbar wurde. Und jetzt ein Singen, zart und fein.

»Aha, dat Kathrinche mit ’m Doresche. Huesgens Kinder – arme Leut!« Die
Frau sprang auf.

Draußen erklang noch zaghaft, aber doch schon ein wenig stärker:

    »O Maria, sei gegrüßt,
    Die du voller Gnade bist!
    Sei gegrüßt, du schönste Zier,
    Gott, der Herr, ist selbst mit dir.
    Du bist hochgebenedeit – –«

Der Gesang verstummte jäh, Frau Leykuhlen hatte die Tür geöffnet. »He,
wo steckt ihr dann?«

Das Kathrinchen war erschrocken in den dunkelsten Winkel entwichen. Es
traute sich nicht vor, weil der fremde Herr es so anlachte. Erst auf
ein zweites Geheiß kam es heran mit gesenktem Kopf, immer den Dores
auf dem Arm, und hielt stumm der Frau Bürgermeister den blechernen
Henkeltopf hin, darin es alle Mittag und Abend eine Suppe für die
Mutter holte.

»Du singst ja so hübsch,« sagte Josef.

»Oh ja, dat Kathrinche kann schön singen,« sagte die Frau und strich
der Kleinen eine dunkle Haarsträhne unters Kopftüchelchen. »Setz doch
de schwere Jung hin, drag den nit ümmer, Köngd!« Und als die Kleine
zögernd flüsterte: »Da kriescht he!« nahm sie kurz entschlossen den
Jungen selber auf den Arm. »Bis still, Dores, laaß dat Kathrinche dem
Hähr jet singe! Sing ens, Köngd, sing ens, Kathrinche, wat du Christdag
jesongen hast in der Scholl!«

Das Kathrinchen stellte sich in Positur, es wagte nicht zu
widerstreben. Es faltete die Hände, ergeben-demütig.

Ah, das wurde einmal eine, die ihr Kreuz trug ohne Murren! Eine Rührung
überkam den Junggesellen.

Nun öffnete das Mädchen sein Mündchen; in die dunklen Augen unterm
Kopftüchelchen kam ein hellerer Strahl, es schlug sie weit auf.

    »O du liebes Jesukind,
    Laß dich vielmals grüßen,
    Alle Kinder, die hier sind,
    Fallen dir zu Füßen.
    All um deine Liebe bitten,
    Die so viel für uns gelitten.
    Schenk uns deine Liebe!«

Die kindliche Stimme stieg hell und klar in die Höhe. Josef nickte
wohlgefällig: hübsch musikalisch, sicher und rein!

»Oh ja, die kann et jut,« sagte die Frau und dann hielt sie dem Dores
den Mund zu: »Bis doch still, Jöngelche!« Der Dores wollte durchaus
mitbrummen.

    »O du liebes Jesukind,
    In der Kripp’ im Stalle
    Wehte gar so kalt der Wind,
    Littst du für uns alle.
    Aber jetzt sollst warm du liegen,
    Jetzt soll unser Herz dich wiegen.
    Komm in unsre Herzen!«

»Du brauchst dat janze Liedche nit zu singe,« sagte die
Bürgermeisterin; sie konnte den Dores kaum bändigen, eigensinnig
stieß er immer ihre Hand weg von seinem Mund und trat ihr mit den
welken Beinen gegen den Leib. Schon fing er an, falsch in den Gesang
hineinzukrähen.

Aber Kathrinchen, stärker und heller als zuvor, die Augen unverwandt
emporgerichtet, sang die Schlußstrophe:

    »O du süßes Jesukind,
    Höre unser Flehen:
    Laß die Kinder, die hier sind,
    In den Himmel gehen,
    Daß sie mit den Engeln droben
    Dich und deine Mutter loben.
    Jesum und Maria!«

Josef Schmölder sagte kein Wort, er hatte gelauscht mit geneigtem Kopf.
»Laß die Kinder, die hier sind, in den Himmel gehen« – das hatte ihn
tief gerührt. Er fühlte, wie ihm Tränen in die Augen stiegen; unter
einem Scherz suchte er seine Stimmung zu verbergen. Musikalisch, wie er
war, pfiff er die Melodie des eben gehörten Liedes nach, und dann sagte
er: »Ich denke, es gibt keinen Singvogel im Venn?! Da hätten wir ja
doch einen!« Er versuchte, die zurückweichende Kleine in die Wange zu
kneifen.

Aber die Bürgermeisterin blieb ernst. »Der heilige Schutzengel
behüte dich!« sagte sie und legte dem Kind die Hand auf den Kopf.
»So, Kathrinche, nu komm, nu kriegste de Zupp. Entschuldigen Sie ’ne
Augeblick!«

Sie ging mit den Kindern in die Küche. Als sie nach kurzer Zeit
wiederkam, fand sie ihren Gast zum Aufbruch gerüstet; er hatte den Hut
aufgesetzt und den Spazierstock wieder zur Hand genommen.

»Wollen Sie nit auf meine Mann warten?«

»Nein, Frau Bürgermeister« – er warf einen raschen Blick durchs Fenster
– »es wird mir sonst zu dunkel.«

»Aber ’n Jläsche Wein – nee, Sie müssen doch ’ne Schluck trinke!« Sie
nötigte ihn; sie hatte eine Flasche unterm Arm mit hereingebracht und
auf einem Tablett ein paar Gläser.

Aber er nahm nichts an, er wollte auch nicht länger mehr warten. »Ich
komme wieder, ich komme bald wieder, grüßen Sie den Bärtes einstweilen
vielmals!« Er drückte ihr die Hand.

Und nun war er draußen. Es war ihm auf einmal eng geworden in der
dämmerigen Stube. Nun das kleine Mädchen mit den tiefdunklen Augen fort
war, fehlte ihm der poetische Anreiz. Eine nette Frau, das Mariechen,
nett, sauber, aber nüchtern wie ihre wohlgeordnete Stube mit dem vielen
heiligen Krimskrams drin! Huesgen, – Huesgen, wo hatte er doch den
Namen schon einmal gehört? Huesgen –? Er konnte sich nicht entsinnen.

Es war schon spät. Unten in der Stadt war es sicher schon ganz dunkel,
wenn hier oben der Himmel auch noch einiges Licht spendete. Alles – die
Viehweiden mit den vereinzelt ragenden Hainbuchen, die Dachgiebel, die
Hecken, die gepflasterte Straße, die Kirche, die Schule, das Wirtshaus
– war von silbrigem Grau umzittert. Nur ein Hauch noch von zartem
Rosenrot war in diesem Silbergrau; bald würde alles Licht tot sein.
Doch da – unwillkürlich hatte er sich nach der Richtung umgedreht, aus
der er vorhin gekommen war – wie wunderbar! Da brannte es. In höchster
Glut. Als sei das Venn ein Meer von Glanz und Farbe, das den Sonnenball
in sich geschluckt hatte und nun selber eine Quelle des Lichts war.
Der Horizont, der seinen Scheitel begrenzte, glühte tiefrot. Wie
Flammen leckten feurige Zungen in den bleiernen Nachthimmel hinauf. Ein
Glanz kam von dort her, eine Farbenpracht, daß jetzt die Dorfstraße
mit ihrem Grau von Steinen und Staub zum rosigen Band wurde und die
weiße Wand der kahlen Kirche wie ein Spiegel den Vennglanz auffing und
widerstrahlte.

Vom Blut des Abends getränkt, erschien alles verklärt. Frommen Pilgern
gleich zogen Männer und Frauen des Weges. Das waren die müden Arbeiter
und Arbeiterinnen, die jetzt nach Hause kamen aus Schmölders Fabrik.
Die Tür der Kirche stand weit geöffnet; von der Straße aus sah man die
glimmende Lampe vorm Hochaltar. Die Männer zogen die Hüte; von den
Weibern aber wäre keines vorübergegangen. An ihren Strümpfen unablässig
strickend, waren sie bergan gestiegen, nun ruhten die rasselnden
Nadeln, dafür wurden die Rosenkränze aus den Taschen gezogen. Die
Kügelchen rollten. Müde, hungrige Gesichter neigten sich über gefaltete
Hände. Es war schon spät, dunkel war’s auch schon in der Kirche, die
Mägen knurrten, aber ein paar Ave oder ein Vaterunser mußten hier doch
noch gebetet werden.

Des Huesgen-Jörres Bäreb war als Letzte in die Kirche getreten.
Langsamer als die anderen war sie bergan gegangen; die Füße waren
ihr dick; sie hatte die ganze Nacht zu waschen gehabt, beim ersten
Sonnenstrahl schon hatte sie aufgehängt; und dann, ohne das Bett zu
berühren, das sie mit dem Kathrinchen und dem zweijährigen Drückchen
teilte, war sie zur Fabrik hinuntergegangen, als der Tau noch gefroren
die Gräser bereifte und es sie eisig durchfröstelte nach durchwachter
Nacht. Brennend hatten ihre Augen nach Schlaf verlangt den ganzen
Tag. Während die andern Mittagszeit machten, ihr Brot verzehrten und
von ihren Liebsten sich was erzählten, hatte sie sich zwischen den
Lumpensäcken lang hingestreckt. Sie mochte nicht essen, und von einem
Liebsten zu erzählen hatte sie auch nichts.

Die junge Bäreb hatte noch keinen Schatz. Was erzählten die andern
nicht alles in diesen langen Stunden, die man zusammenhockte bei der
Arbeit, zu der man nicht Herz und Gedanken, kaum Sinne brauchte, nur
die Finger. Die Anna von der Lämmerheck, die war voller Jubel; der ihr
Schatz kam jetzt bald frei vom Militär, dann wollten sie heiraten.
Und die Angenieß, deren Bruder als Hausknecht unten im Schwan diente,
– Jesus, was wußte die nicht alles zu erzählen! Erst leise kichernd
und dann vor Lachen fast berstend, hörten die Mädchen zu, was die
Angenieß von der Madam für Stückchen erzählte. »Ba!« stieß dann die
Bäreb wohl heraus und wandte die Augen ab. Ein glühendes Rot der Scham
und des Schrecks färbte ihr bleiches Gesicht: was, der Herr hier, der
Herr Schmölder selber ging auch zu der Madam? Das war nicht fein! Und
doch durchrieselte es sie von Kopf bis zu den Füßen mit einem seltsam
heißen, unruhigen Fluten. Mit zitternden Händen mechanisch ihre Arbeit
tuend, blickte sie starr auf diese, und ihre Lippen, die sie sich
blutrot gebissen hatte, zuckten wie von verhaltenem Weinen. Gut, daß
die Angenieß dann mit der Litanei anhub:

    »Heiliges Herz, Mariä,
    Herz Mariä, ohne Sünde empfangen –«

und sie dann alle murmelnd einzufallen hatten:

    »Bitte für uns!«

       *       *       *       *       *

Mit einem Seufzer sah Bäreb von ihrem Rosenkranz auf – die Kirche war
leer. Nun war auch sie fertig. Den Rock herunterstreifend, den sie
zum Knieen vorn aufgeschlagen hatte, tunkte sie die Finger in den
Weihwasserkessel an der Tür, betupfte sich Stirn und Brust und trat
dann hinaus.

Draußen war alles Rot erloschen; nur ein gelblicher Streifen über
der purpurnen Finsternis des Venn-Rückens kündete, daß es noch nicht
tiefe Nacht war. Sonst war es dunkel. Keine Laterne brannte die lange
Dorfstraße auf und ab. Fast wäre die verspätete Beterin in ihrer Eile
gegen eine Männergestalt gerannt, die auf den Kirchstufen stand,
unbeweglich, den Kopf zum Venn hingewendet. Sie prallte zurück.
»Hoppla!« hatte der Mann gesagt und eine Bewegung gemacht, als wolle er
sie auffangen. Sie bekam einen großen Schreck.

Josef Schmölder war es. Er, der so rasch hatte heimgehen wollen, hatte
sich erst überm Anblick des Sonnenuntergangs verzögert, und dann hatte
er sich nicht losreißen mögen von den leisen Stimmen der Nacht, denen
zu lauschen er hier auf den Stufen stehengeblieben war. Die Schwalben,
die unterm Dach der Kirche Nest bei Nest angekleckst hatten und mit
immerwährendem jauchzenden Abendschrei ihre Wohnstätten umsegelten,
schwiegen jetzt; dafür ließen die Unken ihre Stimmen hören. Hier unter
den großen Steinplatten vor der Kirchtür mußte die eine sitzen und
drüben am Kirchhof die zweite. Sie antworteten sich unausgesetzt. Wie
das leise Anschlagen eines silbernen Glöckchens hörte es sich an.
Lieblich und doch in seiner Monotonie wehmütig. Warum klagten die
Tierchen so?!

Josef war nicht minder erschrocken als das Mädchen, das gegen ihn
anlief. Zwei schwarze Augen blickten ihn an – er sah sie ganz deutlich
in einem plötzlichen Mondstrahl – und nun schob der Mond völlig das
Nachtgewölk beiseite, das ihn bis jetzt verdeckt hatte, kalt und klar
stand er mit einemmal über dem Kirchhof, die einzel-ragenden Bäume mit
ihren wehenden Schöpfen kitzelten ihm das rundliche Gesicht.

Ei – Josef blickte in ein verlegenes, ihn scheu anlächelndes
Mädchenantlitz – war das nicht das Mädchen, für dessen Mutter er damals
den Doktor heraufgeholt hatte?!

Auch Bäreb erkannte den Herrn wieder, dessen sie so oft im Gebet
gedacht hatte. Wie oft hatte sie danach verlangt, ihm sagen zu können:
»Unser Herrjott jeb Uech der Lohn!« Ihre Schüchternheit überwindend,
streckte sie ihm die Hand hin; sie schüttelte ihm die seine fast
aus dem Gelenk. Und dann wurde sie rot über die eigene Kühnheit und
wußte nicht mehr, wie loskommen. Sie hielt noch immer des Herrn Hand
gepackt, ihre Augen, zutraulich und doch scheu, guckten auf zu ihm mit
einer gewissen Andacht: ach, wäre der damals nicht hinuntergelaufen so
geschwind und hätte den Doktor heraufgeschickt, wer weiß, die Mutter
wäre damals sicher gestorben!

Josef lächelte; nun wußte er auf einmal, an wen des Kathrinchens Augen
ihn erinnert hatten. »Du,« sagte er und hielt die arbeitsharte Hand
fest, »sag mal, hast du eine Schwester, die Kathrinchen heißt?!«

»Ja, oß Kathrinche!« Das Mädchen lächelte, Grübchen vertieften sich in
Wangen und Kinn.

»Und einen Bruder, den Dores?«

Da wurde das hübsche Mädchengesicht trüb.

Josef klopfte ihr die Wange: »Na, dann weiß ich Bescheid. Und deine
Mutter ist noch immer schwach, der Dores ist auch noch immer nicht
besser, und du und das Kathrinchen, ihr habt eure liebe Not!«

Fast entsetzt, mit offenem Mund, starrte Bäreb ihn an: woher wußte
der Herr denn das alles? Wußte er am Ende auch, daß sie heimlich oft,
oh, sehr oft, seiner gedacht hatte und immer gewünscht, sie möchte
ihn noch einmal wiedersehen?! Sie stotterte, sie stammelte etwas
Unverständliches. Dann aber riß sie ihre Hand aus der seinen mit einem
hastigen: »Adjüs!« Jesus, Maria, was hielt der Mann sie wohl für dumm
und ohne Manier?!

Mit hartem Geklapper ihrer Nägelschuh trabte sie davon. Ganz außer Atem
und aufgeregt hemmte sie ihren Lauf erst, als sie schon ein weites
Stück von der Kirche entfernt war. Nun wagte sie es, sich noch einmal
umzudrehen. Aber sie sah ihn nicht mehr. Kahl und weiß schimmerten die
leeren Kirchenstufen im kalten Mondlicht.




IV


»Et is ’ne Skandal,« sagte Bürgermeister Leykuhlen zu seiner Frau, als
er auf dem Ledertuchsofa in der Stube den Sonntagsnachmittagskaffee
trank.

Sie sagte nichts, sie strich ihm nur ein Stück Blatz, schenkte ihm
noch einmal ein und setzte sich dann auf ihren Stuhl am Fenster. Da
lag auf dem Nähtisch, sorgfältig in sauberes Leinen eingeschlagen,
die Altardecke, die bald fertig sein mußte; an der sie stickte, oft
halbe Nächte, damit die aufliegen konnte zu Pfingsten, wenn die
Waller auszogen zu den Prozessionen nach Heimbach und Mariawald oder
anderswohin zu heiligen Orten. Aber heute stickte sie nicht, so sehr es
auch drängte; heute war Sonntag, heute hielt sie ein Andachtsbuch in
den Händen.

»Et is ’ne Skandal, Marieche,« sagte Leykuhlen wieder, und dann, als
sie noch nichts darauf erwiderte, zum dritten Male: »’ne Skandal,
Marieche!«

Sie hob den Kopf und sah ihn einen Augenblick an: mit was war es
denn ein Skandal? Sie wußte nicht genau, meinte er damit seinen
jetzt ständigen Ärger mit dem Landrat, oder seinen Ärger mit den
Gemeindeältesten, oder ärgerte ihn draußen das Wagenrollen und
Hufegeklapper auf der früher stets so sonntäglich-stillen, nur zur Zeit
des Hochamts- oder des Vesperläutens belebten Straße?!

Eben rasselte schon wieder ein Wagen vorüber, er streifte fast die
Hecke.

»Dat Fraumensch!« Der Bürgermeister fuhr vom Sofa auf. »Zapperlot, sind
se denn all jeck?«

Seit das Lager oben voller Militär lag, war dieses Vorbeirasseln des
Bürgermeisters steter Ärger. Was ging es ihn an, wenn die Herren sich
unten volltranken und ihre Taler ausgaben, als wären es Pfennige?!
Aber das wurmte ihn, daß hier im Lande Eine sich finden ließ, die den
Herren so gefällig war, daß die es sogar riskierten, sich die Hälse
zu brechen, wenn sie toll und voll durch die Nacht heimritten oder
-fuhren. Leykuhlen lachte zornig auf: das fehlte noch, daß sich noch
mehrere fänden, die es der da unten nachmachten! Ach ja – er seufzte –
es war leider nicht mehr so wie früher! Im Rücken die Sträflingskolonie
– von der einen Seite das Lager – von der anderen die Helene – eine
böse Umzingelung für Heckenbroich! Daß der Teufel alle miteinander hole!

»Du mußt nit eso auf dat Lenche kiefe, Bärtes,« sagte die Frau. »Janz
allein is dat nit schuld. En lustige Flieg war die als in der Schul.
Aber hätten wir dat Lager nit herjekriegt, so wär dat doch nit mit ihr
jeworden. Dat Militär is dran Schuld. Unsren Mädcher kucken se auch als
nach. Un die?! No, du sollst emal sehen, wat dat is, wenn die Soldaten
hier langs kommen! Alles am Tor! Un die Kerls lachen und pfeifen und
werfen Kußhändcher, un uns Mädcher machen ’ne Hals – eso lang! Du
mußt et dem Herr Pastor sagen, dat de ens davon predigt. Wo Militär
hinkommt, da is auch leicht Malheur!«

»No, Marieche! Hätten wir den Militärübungsplatz nit hier oben und nit
dat viele Jeld für unser Land jekriegt, wir hätten auch unsre neue
Kirch nit bauen können, unsre schöne neue Kirch. Dat war uns ja, wie
’ne Jnad von Jott, dat viele Jeld. Un da hat jeder jern jejeben für den
heiligen Zweck – aus freien Stücken, aus Dankbarkeit. Un wat mein Vater
sich immer jewünscht hat, un wat er immer zu mir jesagt hat, als ich
noch ’ne dumme Jung war – ›En neue Kirch, et is en Schand, dat wir noch
kein neue Kirch han!‹ – un wat dein Vater, unser alter Bürjermeister,
anjestrebt hat zeit seines Lebens, dat hat sich nu realisieren lassen,
dat haben wir jetzt!« Er war über dem Sprechen rot geworden in einer
freudigen Erregung.

Ja, freilich, die Kirche war schön, die war ein Werk, auf das man
stolz sein konnte. Weit hinein ins Land ragte sie, ein stolzer Dom,
stattlicher als manche Stadt sie aufwies, aber – ein leichtes Sinnen
ging über der Frau Gesicht – hatte man denn nicht auch in der alten
und kleinen Kirche gut beten können? Sie stand auf und legte mit einem
Lächeln ihrem Mann die Hand auf die Schulter: »Bärtes, wenn ich drüber
nachdenk, die heilige Jungfrau, die Heiligen all haben uns auch in der
alten Kirch gehört!«

Da sah er sie ganz bestürzt an: das sagte Mariechen?! Die kam ja
bald mit dem Landrat überein, der ihm immer und immer zu hören gab,
wieviel vernünftiger es gewesen wäre, lieber eine Wasserleitung zu
bauen, eventuell ein Krankenhaus oder anderes Gemeinnütziges. Er
lachte bitter auf: »Für das viele Geld!« sagte der Landrat! Gelangt
hatte das Geld doch nicht, Schulden waren doch noch übrig geblieben
vom Kirchenbau. Aber Strich darunter und gesehen, wie man die Schulden
abgezahlt kriegte mit der Zeit! Er ärgerte sich heut fast zum ersten
Mal über sein Mariechen: wie konnte sie so etwas Dummes sagen?!

Er verließ die Stube und ging eilenden Schritts über den Kirchplatz
hinüber zum Pastorat. Beim Pastor, hinter der dicken Mauer, hörte man
das verdammte Wagengerassel nicht so. –

Nicht nur zu Wagen und zu Pferd, auch zu Rad und zu Fuß kamen die
Herren vom Platz die lange Dorfstraße herunter. Man mußte hinunter,
auf jeden Fall, es war zum Blödsinnigwerden oben auf der Heide; rein
stumpfsinnig wurde man bei dem steten Einerlei. So viel man auch
schon vom Truppenübungsplatz hatte munkeln hören, so trostlos hatte
man es sich doch da nicht vorgestellt. Das war ja ein Sibirien, eine
Verbannung. Nichts als Venn, endloses Venn, Moor und Himmel. Und die
Mädchen, die man ab und zu bei Ritten durch das Dorf vor Augen bekam,
waren blöd und unzugänglich, stupide Kreaturen. Ein Glück nur, daß
die lustige Witwe unten auf einen guten Keller hielt und auch auf die
nötige Laune. Sie setzte zwar etwas reichlich an, mit der Zeit würde
sie recht fett werden, auch konnte sie mitunter fast lästig sein in
ihrer Liebenswürdigkeit, aber –! Wenn die Helene nicht wäre, weiß Gott,
man hätte sich aufhängen können am krummen Ast. Ein Teufelsweib, so
blond sie war, und so naiv sie auch tat! Achtung, sonst kam man ihr
nicht wieder aus den Krällchen!

Egon von Scheffler gab dem kleinen Abeking einige Verhaltungsmaßregeln.
Sie hatten sich zusammen mit einem Stabsarzt und mit einem Leutnant,
dem Abkommandierten Schmidt von den Deutzer Kürassieren, das Break vom
Wirt an der Bahn gemietet; sämtliche Krümperwagen waren längst voraus
vergriffen gewesen. Der Wirt würde zwar wieder gehörig schinden – oh
ja, es kam heute schon was zusammen mit der Rechnung bei Helenchen,
aber – na, man mußte den Leuten doch was zu verdienen geben! Nicht nur
Manieren, auch Geld brachte man in diesen entlegenen Erdenwinkel. ›Das
Militär ist ein Hauptfaktor der Zivilisation!‹ Exzellenz hatte das
neulich in seiner Rede beim Liebesmahl im Kasino sehr energisch betont.

Abeking hatte anfänglich ein wenig beklommen dagesessen, er hatte weder
soviel Geld wie der reiche Schmidt, der Sohn eines Großindustriellen,
noch war er so leichtlebig wie der Adjutant von Scheffler. Aber die
Sonne schien hell, Sonntag wars, und man konnte sich doch nicht gut
ausschließen, wenn die so viel älteren Kameraden aufforderten. Und dann
– zwar hätte ers sich nicht einmal eingestanden – sein Herz klopfte,
wenn er des schönen Weibes im Weißen Schwan gedachte. Es verdroß den
jungen Leutnant immer, wenn er die anderen in so leichtem Ton von
ihr sprechen hörte. Der Respekt verbot ihm, ihnen über den Mund zu
fahren, aber, weiß Gott, kalten Blutes hätte er Scheffler zuweilen
niederknallen können, respektloser konnte man ja von einer Viehmagd
nicht reden! Wenn ihnen Helene nicht salonfähig erschien, warum rannten
sie denn alle hin?! Mochten sie doch wo anders hingehen und ihm das
Feld allein überlassen!

»Warum starren Sie denn so finster drein, Abeking?« fragte Scheffler
und lachend sagte der Kürassier: »Er ist schon eifersüchtig!«

»Keine Spur!« Der junge Leutnant bemühte sich, das ganz ruhig zu sagen,
aber er warf die Lippen auf wie ein schmollender Knabe. Die beiden
Gewitzten lasen ihm die Gedanken vom Gesicht ab wie aus einem offenen
Buch. Heiliges Kanonenrohr, Abeking war wirklich ernsthaft in die
Helene verliebt. Wie finster er immer die Brauen zusammenschob, wenn
von ihr die Rede war, und Blicke schoß er, die Dolchstößen gleichkamen!

Nun machten sie sich ein Vergnügen daraus, immer wieder und wieder von
Helenchen zu reden. Alle die Liebhaber, die sie schon gehabt hatte, –
Militär und Zivil, – wurden der Reihe nach aufgezählt. Der Stabsarzt
hatte auch zu ihnen gehört; jedenfalls ließ er sich’s ruhig gefallen,
als man in der langen Reihe auch seinen Namen nannte, und widersprach
nicht. Hier oben war wenigstens das eine Gute: hier, fern aller
Zivilisation, brauchte man sich nicht den gleichen Zwang auferlegen,
wie anderswo.

»Abeking,« schrie Scheffler laut, um sich im Rasseln der Räder, die
mit einem furchtbaren Lärm über die schlechtgepflasterte Dorfstraße
rollten, verständlich zu machen, »nichts für ungut, einen famosen
Geschmack haben Sie aber doch entwickelt! Beichten Sie mal, wie
weit sind Sie denn mit ihr gekommen? Schreibt sie Ihnen auch schon
Briefchen? Vorigen Sommer, der Radebruk, konnte ein paar Dutzend
aufweisen!«

»Radebruk – Radebruk?!« stammelte der Eifersüchtige nach und sah wild
um sich.

»Ja wohl, Radebruk, Hauptmann von Radebruk! Sie wissen doch, der bei
den Saarlouiser!«

»Der –?« Abeking atmete erleichtert auf. »Der ist ja verheiratet!«

»Na, wenn schon!« Scheffler brach in ein Gelächter aus, und dann
wechselte er mit den anderen beiden Herren Blicke: oh diese Unschuld!
Aber sie sagten nichts mehr, kränken wollten sie den jüngeren Kameraden
denn doch nicht.

Nun waren sie auf weicherem Boden, das Rädergerassel hatte aufgehört,
das Dorf lag ihnen im Rücken; in großen Kehren schlängelte sich die
Chaussee zwischen mächtigen Tannen und Mattengrün hinab zur Au. Noch
verdeckten die Riesentannen den ragenden Schornstein der Schmölderschen
Fabrik. Schroff, scheinbar noch von keinem Fuß betreten, reckten
Felsklippen ihre grauen Fratzen vom Waldhang jenseits; silbern, in
Sprüngen und Sprüngchen, plätschernd, murmelnd, glucksend hüpfte ein
Forellenbach zu Tal. Die Landschaft war wild und doch lieblich, aber
keiner der Herren im Wagen hatte heute ein Auge dafür.

Selbst Abeking nicht; wenn er auch nicht schlief, wie der Stabsarzt,
und gelangweilt gähnte, wie Schmidt und Scheffler, die eine Zigarette
nach der andern ansteckten. Er überlegte, wie er es anfangen sollte,
mit der schönen Helene einmal allein zusammen zu sein. Ob er’s
versuchte, die andern zu überdauern? Aber wie kam er dann wieder
herauf, ins Lager zurück? Nun, so schlimm würde das nicht sein, zu Fuß
einfach. Er verkrümelte sich eben ein bißchen, ließ sich nicht eher
finden, als bis die anderen abgefahren waren – um Eins spätestens hatte
Scheffler dem Wirt versprochen, ständen seine Gäule wieder im Stall
– nun, und wenn sie dann alle glücklich weg waren, dann – dann –! Er
hatte sie ja ewig nicht unter vier Augen gesprochen; seit dem Tode
ihres Mannes überhaupt noch nicht. Er hatte ihr einen Kondolenzbrief
geschrieben, ein schweres Stück Arbeit – kondolieren konnte man ihr ja
eigentlich nicht, es war doch eine Erlösung für sie, daß sie den Säufer
losgeworden war – aber sie hatte ihm nicht darauf geantwortet. Hatte
er sie etwa beleidigt dadurch? Sie war doch sonst stets für Offenheit,
eine ehrliche Natur, die sich gab, wie sie war, nicht besser, nicht
schlechter. Das imponierte ihm ja gerade so.

Ein Husten Schefflers und ein Schimpfen von Schmidt schreckten ihn
aus seinen Gedanken auf; auch der Stabsarzt fluchte. Sie waren in eine
Wolke von Staub geraten; wie graues Mehl flog er, von Rädern und Hufen
aufgewirbelt. Hier mußte die reine Völkerwanderung gewesen sein. Und
nun kam auch noch ein Tuten den Berg herab. Wie ein Ungetüm sauste ein
belgisches Automobil hinter ihnen drein, kaum daß der Bauernbursche
auf dem Bock noch zur Seite lenken konnte. An den entsetzten Pferden
flog es vorbei im Hui. Unwillkürlich waren die Herren im Wagen
aufgesprungen: das fehlte auch noch, ein Auto! Und natürlich auch zur
Helene – verdammt! Sie schimpften laut hinter dem Automobil drein, das
längst nicht mehr zu sehen war, ihnen nur einen pestilenzialischen
Benzingestank hinterlassen hatte.

»So fahren Sie doch, Kerl, fahren Sie zu in drei Teufels Namen!«
brüllte der Adjutant den Kutscher an.

Der Wallone antwortete nicht, er tat, als verstände er kein Deutsch;
ganz gemächlich setzte er sich wieder in Fahrt. Lange nach dem
Automobilisten kamen sie im Städtchen an.

Im Weißen Schwan war es sehr lebhaft. Die tiefen Fenster des
Speisesaals standen geöffnet, die Gardinen blähten sich im Zugwind; Tür
und Fenster gegeneinander auf, denn es war drinnen voll und heiß. Es
hatten schon welche zu Mittag gegessen und waren jetzt, zwischen Mokka
und Maibowle, beim Skat; andere wollten noch dinieren, viele bestellten
schon Abendbrot. Und zu trinken, alle zu trinken.

Ein Aushilfskellner im schmierigen schwarzen Jackett und der Hausknecht
mit groben Fäusten rannten gehetzt hin und her. Jean, das Faktotum, das
jeden Gast kannte, empfing mit vertraulichem Nicken die Wünsche der
Kunden.

»Unverschämter Kerl!« murmelte Scheffler, als der Kellner die Achseln
zuckte: »Bedaure sehr, Herr Oberleutnant, hier ist alles besetzt,«
zugleich aber mit bedeutungsvollem Augenzwinkern auf ein verstecktes
Türchen neben dem Büfett wies.

»Dreister Halunke!«

»Wie der Herr, so’s Gescherr,« sagte der Stabsarzt. Aber sie stapelten
doch durch das versteckte Türchen in einen engen und dunklen Gang und
durch diesen auf das heimliche Zimmer los.

Es war nicht leer, wie sie dies Privatgemach der schönen Helene zu
finden erwartet hatten. Der kleine Sofatisch war in die Mitte gerückt,
sechs Einjährige zwängten sich darum. Und zwischen ihnen, dicht
Schulter an Schulter, die Ellenbogen auf den Tisch gestemmt, die schöne
Helene. Eine Riesenbowle stand auf dem Tisch, der Sektkühler auf dem
Boden – aha, die mußten es sich hier ja schon recht wohl haben sein
lassen!

Vor dem musternden Blicke der Offiziere sprangen die sechs auf wie
ein Mann. Hand an der Hosennaht, den Hals steif wie in Eisen, standen
sie so stramm, wie sie nur konnten. Ihre vom Wein geröteten Gesichter
wurden jetzt noch röter.

Der Adjutant winkte ab, aber er tat es mit geheimer Wut: grüne Jungens,
wie konnten die sich unterstehen, sich hier so breit zu machen! Ein
zorniger Blick streifte die Wirtin.

Helene saß auf ihrem Stuhl und lachte, lachte, daß sie sich schüttelte.
Der Schreck von den armen Jungens! Haha, das war zum Totlachen, das war
ein Spaß! »Hahahaha!« Sie konnte gar nicht aufhören mit Lachen. Keine
Spur von Verlegenheit zeigte sie; Schefflers zornigen Blick mit einem
ganz harmlosen erwidernd sprang sie jetzt auf und auf die Neugekommenen
zu: »Tag zusammen, Tag, Tag!« Dann machte sie den Einjährigen einen
Knix und zeigte ihnen lachend ihre weißen Zähne: »Adjüs, meine
Herren!« Ihnen den Rücken kehrend und die Zungenspitze zwischen den
Zähnen vorstreckend, sagte sie dann ziemlich laut: »Jott sei Dank, die
Jüngeskens wurden mir als langweilig. No, Kinder, nu kommt!«

Die Tür mit dem Fuß aufstoßend und ihre Freunde vor sich
hinausschiebend, schwatzte sie: »Laßt mir aber die armen Jüngeskens in
Frieden, die wollten sich auch emal ’ne jute Tag machen. No, Herr von
Scheffler, sind Sie bös mit mir, Sie kucken mich heut ja jar nit an?«
Sie wollte sich an ihn heranmachen.

Er raunte verlegen und ärgerlich: »Ruhig doch! Du bist ja schon
beschwipst!« Und laut sagte er: »Gehen wir lieber, meine Herren, hier
ist ja kein Platz. Sehen wir zu, wo anders unterzukommen!«

Das wollte Helene nun um keinen Preis zugeben. Ehe sie ihre Herren
gehen ließ, schmiß sie lieber die Einjährigen, die dummen Jungens,
heraus, so leid es ihr auch um die tat, und so gut die auch verzehrt
hatten. Ihre Herren Offiziere ließ sie nicht: »Nee, nee, nee!« Fast
weinend verstellte sie ihnen den Weg.

Abeking fühlte den Ärger hinschmelzen, den er empfunden hatte, als er
sie so intim mit den Einjährigen hatte sitzen sehen. Aber Scheffler und
Schmidt blieben hart, bis der Stabsarzt einen Vergleich vorschlug: »Die
Helene hat in unsere Stube Fremde reingelassen, Einjährige noch dazu,
zur Strafe darf die Helene sich heut an keinen anderen mehr kehren,
sie muß sich verpflichten dazu. Bei uns sitzen bleiben muß sie, ’nen
Schwank aus ihrem Leben erzählen – was, Helenchen, das paßt Ihnen so?
Und trinken soll sie mit uns, ’ne Pulle Sekt trinken, was?«

»Och, warum denn nit? Jern!« Die hübsche Frau lachte hell auf. Sie
blitzte mit ihren kecken Augen ihren einstmaligen Verehrer zärtlich an:
»Wahrhaftigens Jott, der dicke Stabsarzt is doch noch der allernettste,
jar nich jleich so krabitzig wie jewisse andere Leut!« Sie machte ein
Mäulchen.

Der junge Leutnant hätte ihr am liebsten einen Kuß darauf gedrückt –
so lange hatte er keine weichen Lippen unter den seinen gefühlt. Nervös
zwirbelte er an seinem schüchternen Schnurrbärtchen, sein hübsches
Gesicht wurde knabenhaft rot.

Scheffler und Schmidt aber waren gewiegte Diplomaten, so leicht ließen
sie sich nicht herumkriegen, da mußte die Helene erst noch ganz andere
Seiten aufziehen.

Es war ein langes Parlamentieren auf dem engen, fensterlosen Gängelchen
zwischen Privatgemach und Eßsaal. Keiner konnte den anderen recht
sehen. Aber Abeking glaubte zu fühlen, daß Helene sich dichter an ihn
drückte, als suche sie bei ihm den nötigen Beistand. Verstohlen legte
er den Arm hinter sie und legte ihn leicht um ihre Taille; da trat sie
ihm bedeutungsvoll auf den Fuß. Der ganze enge Gang war voll von ihrer
Wärme, ihre Röcke raschelten, ihr gekraustes Haar kitzelte ihn unter
der Nase.

»Na, denn man los,« sagte Scheffler und stieß die Tür nach dem Eßsaal
auf. »Blödsinnige Luft hier in dem engen Loch!«

Abeking fand das gar nicht.

Aber wo sollten sie nun Platz nehmen? Helene schlug den Tisch draußen
an der Haustür vor, der war noch frei, aber Scheffler sagte ziemlich
unverblümt: »Verrückt! Ich werde mich doch nicht mit d..« das ›dir‹
unterdrückte er noch rechtzeitig, räusperte sich und verbesserte: »mit
meinem Wein auf die offene Gasse setzen!«

Helene hatte wohl gemerkt, was er eigentlich hatte sagen wollen, sie
bekam einen roten Kopf, aber sie zeigte keinerlei Empfindlichkeit. Sie
rief den Hausknecht, und er mußte die großen Efeuwände herbeischleppen,
die, in Ermangelung eines Gartens, mit ihrem verstaubten Grün die
Wände eines winzigen dumpfen Höfchens maskierten. Jetzt wurden sie vor
dem Tisch auf der Gasse ausgestellt, man saß dahinter wie in einer
versteckten Laube. Und sogleich war die nötige Stimmung hergestellt.

Der übelgelaunte Scheffler ließ seine Mißstimmung fahren. Schmidt
erzählte Anekdoten aus seiner Vaterstadt Köln, nicht gerade
salonfähige, aber höchst scherzhafte. Der Stabsarzt, ein Pommer, blieb
an Derbheit nicht zurück; es waren gepfefferte Geschichten. Der kleine
Leutnant verwunderte sich eigentlich, daß Helene darüber so lachen
konnte. Nun, sie war eben noch recht naiv, verstand er doch sogar die
Pointen nicht einmal alle.

Um die hochgegiebelten alten Schieferdächer mit ihren vorgebauten
Bodenluken, zu denen einst der überall auch jetzt noch vorhandene
Krahnen die Warenballen aufgehißt hatte, fingen die Fledermäuse an
zu flattern. Sie hatten hier Schlupfwinkel genug. Lauter schien der
Fluß in seinem engen Bett, eingepreßt zwischen Fels und Häuserzeile,
dahinzugrollen. Oben auf der Kirchhofsley lag noch Sonnenglanz, man sah
die Kreuze der Gräber scharf-umrissen in den Aether ragen; hier unten
in der Gasse vor der Wirtshaustür war es schon ganz dämmerig. Das helle
Gesicht der Frau über dem schwarzen Trauerkleid schimmerte nur mehr wie
ein weißer Fleck.

Den jungen Offizier fröstelte es plötzlich wie damals, als er hier zum
Begräbnis gewesen war – sterben, ah, schrecklich! Ob denn keiner an den
einstmaligen Wirt mehr dachte? Der lag nun dort oben, und seine Frau
lachte hier unten. Noch nicht viel länger als ein Vierteljahr war’s
her – wie rasch man vergessen wird! Er dehnte sich mit einem Seufzer,
lehnte im Stuhl hintenüber und starrte in die Höhe, am hohen Giebel des
Schwan, um den wie unruhige Gedanken im Zickzackflug fortwährend dunkle
Fledermäuse flatterten, empor, und weiter hinauf in den dunstigen
Abendhimmel. Der Abendstern zeigte sich im Gewölk, aber er rutschte
fort, hinter das alte Burggemäuer. Kein Stern stand über diesem Haus.

»Sind Sie müd, Herr Leutnant?« Helene legte ihm die Hand auf den Arm.

Er war blaß geworden; nun erschrak er: »Ah, Pardon, was sagten Sie?«

»Ob Sie müd sind?« Ganz nah reckte die Frau ihr lächelndes Gesicht an
das seine, aus nächster Nähe sah er ihre glitzernden, schimmernden
Augen. Unterm Tisch fühlte sie nach seiner Hand. Er preßte die ihre mit
heftigem Druck und behielt sie in der seinen.

Was fehlte ihm denn? War er schon betrunken oder war er plötzlich toll
geworden? Die älteren Kameraden sahen nach ihm hin.

Abeking war aufgesprungen. Das Sektglas hochhebend, den Kopf hintenüber
geworfen, rief er laut: »Ein Pereat den Toten! Wir leben und lieben –
prost, schöne Frau, auf Ihr Spezielles!«

»Pröstchen, pröstchen!« Die Sektgläser klingelten.

»Sie sind ja en ganz höll’scher Kerl,« sagte der Pommer.

Helene fühlte sich sehr geschmeichelt, sie zeigte ihre weißen Zähne:
das war mal ein netter Junge, den sie wohl leiden mochte!

Sie waren schon mit der zweiten Flasche zu Ende. Helene klatschte in
die Hände, da erschien auch bereits die dritte, in Eis gekühlt.

»Wenn das so weiterjeht, sind wir all voll bis Mitternacht,« sagte der
Kölner.

»Ich empfehle mich für ein halbes Stündchen, meine Herren!« Scheffler
stand auf. »Ich muß noch einen Besuch machen. Ich habe es versprochen.
Ich muß mich erkundigen, wie den Damen Schmölder ihr neulicher Besuch
zur Besichtigung des Lagers bekommen ist!« Er grüßte leicht die
Kameraden, drohte Helene mit dem Finger und ging dann davon, schneidig,
eine elegante Offizierserscheinung. Seine schlanke Gestalt verschwand
schnell im dunkelnden Gäßchen.

Der Stabsarzt und Schmidt spöttelten hinter ihm drein: der ging auf
Freiersfüßen! Na, der Schwiegervater in spe würde auch keine besondere
Freude haben, wenn er mit dem roten Kopf ankam! Und so spät war’s, acht
Uhr fast! Aber freilich, hier brauchte man’s nicht so genau zu nehmen –
Entfernung, Dienst, Überbürdung selbst am Sonntag – es ließen sich so
viel Entschuldigungen finden. Die Leutchen freuten sich am Ende immer
noch, wenn der schöne Adjutant von Scheffler erschien!

»No,« sagte Helene und warf die Lippen auf, »dat weiß ich doch noch
nit so jenau. Der Heinrich Schmölder is lang nit so dumm, als wie
ihr denkt. Helau!« sie legte den Daumen auf die Nase und spreizte
die übrigen Finger der Hand. »Der weiß janz jenau, dat et auf sein
Portemonnaie abjesehen is! Der Ladewig, der Ladewig –« sie fing
plötzlich an zu singen – »de hat dat jrößte Portemonnaie!«

Keiner machte »sst!« Nun Scheffler fort war, nahmen sie gar keine
Rücksicht mehr; die Helene hatte sowieso schon einen Spitz, und dann
war sie am alleramüsantesten. Bald war die dritte Flasche Sekt geleert.
Nun trank man Bowle.

Währenddes saß der Adjutant bei Schmölders. Die Familie hatte sich eben
zum Abendbrot setzen wollen, er wurde eingeladen, mitzuspeisen. Es gab
Rehbraten; Herr Schmölder hatte das Reh selber geschossen, er war ein
großer Nimrod. Oben der Waldbestand um die Fangeuse war sein eigenes
Revier, leider nur ein zu kleines; er hätte gern alles andre drum herum
noch dazu gepachtet. Aber ein Teil des Forstes gehörte dem Fiskus, der
andere der Gemeinde Heckenbroich, und mit den Kerls war ja nichts
zu machen, die forderten ja jetzt eine Pacht – eine Pacht! Schmölder
zitterte vor Ärger, als er dem Offizier von den habgierigen Bauern
erzählte.

»Und da is der Leykuhlen dran schuld, niemand anders als der – für ein
Butterbrot hat sie mein Vater früher jehabt – aber der, der möchte Jott
weiß wieviel Jeld zusammenschrappen für seine Jemeinde! Nur um die
Schulden zu bezahlen, die sie haben von dem verfl..... Kirchenbau her!«

»Aber Schmölder!« Ganz erschrocken starrte ihn seine Frau an; es war
ihr schrecklich, daß ihr Mann so sprach.

»No ja, ja,« – er lenkte ein, als er das entsetzte Gesicht seiner
Frau und die flehenden Blicke seiner Tochter sah – »na, was ich sagen
wollte! No, ja, seit die Bauern oben die Riesenkirche jebaut und sich
deswegen Schulden auf den Hals jeladen haben, soll ich der dumme Peter
sein, der sich von ihnen über den Löffel barbieren läßt. Aber ich biet
nit mit bei der Jagdversteigerung – sie werden ja sehen, wie sie sitzen
bleiben!«

»Das ist aber doch schade, zu schade, um die famose Jagd!« Herr von
Scheffler bedauerte lebhaft. Er hatte es sich schon so fein ausgedacht,
mit dem Schwiegervater auf diesem großartigen Terrain zu jagen.
Betroffen sah er auf seinen Teller nieder: das war entschieden eine
Lockung weniger. Aber dann dankte er mit verbindlichem Lächeln der Frau
des Hauses, die ihm noch einmal Rehbraten anbot: »Danke sehr, gnädigste
Frau – o nein, ich esse gar nicht wenig, aber bei der Hetzerei oben
gewöhnt man sich eben das Essen ein wenig ab. Man hat ja nie Zeit!«

»Haben Sie denn soviel zu tun, Herr Oberleutnant?« fragte errötend
Hedwig. Sie errötete heute in einem fort. Ohne jeden Grund, wie Josef
feststellte. Sonst mochte er die junge Nichte gern, sie hatte sich
mit offener Zuneigung ihm angeschlossen, aber heute gefiel sie ihm
nicht. Wie konnte ein Mädel wie Hedwig, das mal gewiß seine drei,
vier Millionen kriegte und vor allem ein gutes, hübsches Kind war,
gleich so den Kopf verlieren, wenn eine bunte Jacke mit aufgewichstem
Schnurrbärtchen auf der Bildfläche erschien?! Das war doch zu dumm! Er
nahm sich vor, ihr einmal ins Gewissen zu reden. Aber vorderhand war
nichts zu machen.

Wenn auch beide Vettern Schmölder mit ziemlich verdrossenen Mienen die
brillante Unterhaltung des Leutnants über sich ergehen ließen – er
sprach von Bällen, von Ritten, von Vorgesetzten, von Kameraden, von
Pferden, von Avancement – die Tochter errötete, lächelte und strahlte.
Und auch die Mutter schien lebhaftes Wohlgefallen an dem hübschen
Offizier zu finden: das war doch kein oberflächlicher grüner Junge
mehr, das war ein ernsthafter, tüchtiger, liebenswürdiger Mensch, aus
gutem Hause, und trotz seines Adels strebsam und solide gesinnt!

Scheffler empfahl sich bald nach dem Abendbrot. Er bedauerte unendlich,
aber er mußte fort: morgen in aller Frühe schon Dienst, er hatte nur
nicht versäumen wollen, in der ihm so knapp bemessenen Zeit den Damen
wenigstens seine Aufwartung zu machen. Mutter und Tochter gaben ihm das
Geleit bis zur Gartentür.

Der Vater war abgerufen worden; der Verwalter oben von der Fangeuse war
da, er hatte den Herrn Schmölder dringend zu sprechen verlangt.

Josef war hinter den Damen hergeschlendert. Kein Mensch kümmerte sich
um ihn; er kam sich überzählig vor.

Am Himmel, den man hier nur wie in einem Ausschnitt sah zwischen
Tannen, Felsen und alten Giebeln, flimmerten jetzt die Sterne. Dies
reich bestickte Tuch würde sonst sein Auge entzückt haben, heute sah
er es nicht an. Der Garten, der im Schutze der Felswand, die jeden
Mittagssonnenstrahl auffing, grünte und blühte und duftete in fast
südlicher Fülle, war eine Oase mitten im herben Eifelland; aber heute
steckte Josef seine Nase nicht in die üppigen Fliederbüsche. Den
roten Piruszweig, der sich über den Weg streckte, stieß er unsanft
beiseite. Er war verdrießlich, unangenehm von allem berührt; so tödlich
gelangweilt vom Geschwätz am Abendtisch, daß er am liebsten auf und
davon gelaufen wäre. Aber wohin? Kein Geld, keine Stellung, kein Platz,
der sein eigen war – es war zum Verzweifeln. Und das Geschwätz ging an
der Gartentür noch immer fort! Zornige Ungeduld übermannte ihn. Es war
ein Aufbäumen in ihm gegen die Enge, gegen die Kleinlichkeit, und doch
fühlte er’s mit heftiger Schmerzlichkeit: nie, nie kam er wieder hier
heraus! Hier wurde er festgehalten durch eigene Schuld, hier war er
begraben mit Haut und Haar, mit allem, was in ihm war an höherem Flug,
und er selber hatte sich die Grube gegraben. Drin liegen bleiben mußte
er nun, verrotten bei lebendigem Leibe. Dieses verdammte Geschwätz!

Des Leutnants Rede ergoß sich. Cousine Schmölder sagte nur zuweilen:
»ah« und »oh« und »wie nett!«, und das kleine Mädchen lachte
glückselig-verlegen dazu.

Josef drehte kurz um und ging ins Haus zurück. Lieber den Garten
missen, als sich so die Laune verderben lassen! Pfeifend, die Hände
in den Taschen seines braunen Sommerjacketts, schlenderte er ins
Wohnzimmer.

Da saß Heinrich auf dem Sofa in seiner alten grünen Tuchjoppe, und der
Mann von der Fangeuse stand vor ihm und drehte verlegen seinen Hut in
den Händen.

»Also, kurz, warum kündigt Ihr mir?« sagte Schmölder knapp. »Macht nit
so viel Worte – also warum?«

»Herr Schmölder, Ihr müßt entschuldigen, et wird mir schwer, Uech zu
kündige, Herr Schmölder. Ich war ooch janz jern oben, ich hatt nühst
zu klage. Äwer dat Settche will’t nu absolut nit mieh, et saat, et
wär him zu afjeleje do. Un der Schollweg is zu wiet für ose Jung. Im
Winter kann hä jo jar nit hinjonn. On zu Ostere kömmt oß Mädche ooch in
Scholl. Drei Jahr hammer et do owen usgehaalde, länger als de vürige
do is bliewe. Do is keen Dorf on keen Huhs, kee menschliche Seel! Bis
Heckenbroich is et so wiet, un jut drei Stund hammer no ’r Kirch. Nit
ens Erdäppel könne mer trecke,[6] de Säu wühlen alles up. On de Hirsch
kömmt bis in ’ne Jart[7] – Herr Schmölder, Ihr wißt doch noch, dat Ihr
selwer eine jeschosse habt aus oser Kammerfenster? Nix för unjut, Herr
Schmölder, ich hätt Uech nit jekündigt, äwer dat Settche will absolut
nit mieh bliewe. Et saat, wir sind zu wiet von Kirch on Scholl, dat
jeht nit mieh, mit dene Köngd!«

[6] ziehen.

[7] Garten.

»Zum Kuckuck, so laßt se doch nit nach Kirch un Schul jehen,« schrie
Schmölder. Er fuhr den Mann an, als habe er was verbrochen. War das
eine Art, ihm zu kündigen, einfach weil es dem dummen Weibsbild nicht
mehr paßte? Nun ging die Sucherei wieder von neuem los! Einen Menschen
mußte er doch da oben im Moorhaus haben, der Obacht gab, sonst fiel
die Bude noch über Nacht mal zusammen. Und wenn er zur Jagd heraufkam,
im Winter auf Sauen, im Sommer auf Böcke, im Herbst auf Hirsche, da
wollte er doch sein Bett gemacht haben, geheizt und den Kaffee gekocht.
Die Frau vom Jilles hatte das immer besorgt, auch die Rehleber, mit
Tannennadeln gespickt, auf Weidmannsart zu braten verstanden! So genau
Heinrich Schmölder sonst mit dem Gelde umging, hier wollte er etwas
springen lassen.

»Ich will Euch wat sagen, Jilles,« lenkte er ein, »ich will Euch
zulegen, pro Monat zehn Mark, macht auf’t Jahr hundertzwanzig –
einhundertundzwanzig Mark! Mann, dat ’s en Wort! Und die Frau soll auf
Christtag en anständig Präsent von mir kriegen, und Ihr und der Jung
Buckskin zum Anzug. So, un nu is et jut!«

Er schien die Sache für abgemacht zu halten, aber der Mann von
der Fangeuse räusperte sich und blieb noch stehen. In hülfloser
Verlegenheit zerknüllte er seinen Sonntagshut. Über sein hartes Gesicht
zuckten Begehren und Abneigung: einhundertundzwanzig Mark, das war ein
Stück Geld! Er sah nieder an seinem ärmlichen Rock und gedachte einer
Kuh, die er zu Heckenbroich in einem Stall gesehen hatte und die zum
Verkauf stand.

»Herr Schmölder,« sagte er gedrückt, aber nach und nach wurde seine
Stimme sicherer, »ich kann nit, wahrhaftigen Jott nit, et jeht nit. Dat
Settche kriet dat arm Dier.[8] Nit Kirch, nit Laden, nit Straß, zweimal
die Woch nur der Briefdräger, als dann on wann emal ’ne Camis’;[9]
sonst keen Mensch! On kömmt ens einer, muß mer de Dür noch verschließe;
wir sind eso nah an der Jrenz – en halw Stund bis Belligen – wer weiß,
ob et nit einer von denen is!« Er deutete mit dem Daumen über die
Schulter und machte ein verächtliches und zugleich doch verängstetes
Gesicht. »Von denen do! Seit die im Venn sin, könne wir nit mieh ruhig
schlaafe. Kömmt letzt ’ne Kerl, stößt de Dür up on saat: ›Jude Morje!‹
On ob er en Flasch Bier krieje könnt! Modderselig allein war dat
Settche zo Huhs, die kriet ’ne Schrecke. On, Herr Schmölder, de Kerl
wollt nit jonn!« Er machte eine Pause und sah erwartungsvoll seinen
Herrn an: was würde er nun sagen?!

[8] wird melancholisch.

[9] Grenzjäger.

»Nun – und?« Josef, der, am Büfett lehnend, alles mit angehört hatte,
beugte sich interessiert vor. »Nun?!« War das wirklich so ein armer
Teufel von Sträfling gewesen, hatte es einer riskiert, auszurücken, der
Grenze zuzueilen durch dick und dünn?!

»Et war ’ne Torfstecher, ich kam drüber heem,« sagte der Mann. »Äwer
et konnt doch jrad so jut einer von denen do sein, so ’ne Räuber und
Mörder. Nee, nee, Herr Schmölder –« ganz energisch schüttelte er den
Kopf und ließ all seine Schüchternheit fahren, – »sucht Uech ’ne
angere. ’n Awend zosammen!« Er setzte seinen zerknüllten Hut auf und
trabte rasch aus dem Zimmer.

Heinrich Schmölder öffnete schon den Mund, ihm noch einmal
nachzuschreien, aber dann besann er sich: ein Schmölder bittet doch
so einen dummen Kerl nicht?! Wenn der Esel nicht wollte, nahm er sich
eben einen anderen Verwalter. Aber selbst für Geld und gute Worte ging
keiner so leicht aufs Moor hinauf. »Da haben wir’t,« sagte er grimmig
laut und schlug auf den Tisch, daß der Aschbecher stäubte, »mußt uns
die verdammte Rejierung auch ihre Verbrecher so auf die Nas’ pflanzen
– en Unverschämtheit! Natürlich, wegen der Nachbarschaft bleibt mir
der Jilles nit! Un verdenken kann ich et ihm nit emal. Dem Landrat
werd ich aber meine Meinung sagen, der soll mir noch kommen mit seiner
Kolonisation! Wat fang ich nu an?«

»Heinrich, setz mich doch hin,« sagte Josef rasch. Es war über ihn
gekommen wie eine Erleichterung.

»Dich –?!« Schmölder sah den Vetter an, als habe er gesprochen: ›Setz
mich auf den Mond!‹ »Laß doch die Dummheiten,« sagte er unwirsch. »Ich
mach jetzt nit Spaß, ich bin wirklich in Verlejenheit. Janz leer
stehen kann ich die Bude nit lassen, un hin jeht mir so leicht keiner!«

»Heinrich, es ist mein Ernst!« Josef war näher herangetreten und legte
ganz entschlossen und kräftig die Hand auf den Tisch. »Setz mich dahin,
ich gehe mit Freuden!«

»Och, du bist ja verrückt!« Heinrich sah Josef an und lachte dann
unbändig: »Wieder janz de Josef! Immer wat Neues, und dann kein
Bestand! Nee, da laß du die Finger von. Die Fangeuse hat et an sich.
Schon mein Alter hat seine Not jehabt, un jetzt werden die Leut ja
mit Jewalt raffiniert jemacht – da will sich keiner bejraben. Schnee
im Winter, zum Ausschaufeln hoch, ewige Stürme; dat braust von der
belgischen See her, aus Nordwest, im Winter wie im Sommer fast immer
egal. Und im Frühjahr Wasser im Venn fast bis an et Haus, du kannst
kahnfahren!« Er lachte noch einmal amüsiert auf, fast vergaß er
seinen Ärger darüber. »Du hast jar kein Ahnung, mein Sohn!« Mit einem
geringschätzigen Blick maß er des Vetters schlanke, etwas schwächliche
Gestalt. »Bist du überhaupt schon mal oben jewesen auf der Fangeuse?
Nicht?!« Josef hatte verneint. »No, dann halt’s Maul jefälligst!«

Josef zuckte zusammen: wie grob der Heinrich wieder war! Er fühlte, wie
der andere ihn mißachtete, und das tat ihm weh.

»Am liebsten schlüg ich die Barack los mit allem, wat drum und dran is,
die janze Fangeuse! Viel wert is dat sumpfige Dreckloch doch nit. Wenn
nur nit die Jagd da so jut wär! Und wer würd se mir auch abkaufen?!«

»Heinrich, ich sage dir noch einmal, ich ziehe hinauf,« sagte Josef
bestimmt. Es war ihm plötzlich heilig ernst um seinen Entschluß, und je
mehr der andere ihn höhnte, desto ernsthafter wurde es ihm darum. »Ich
fühle mich hier höchst überflüssig. Und ob ich das Gnadenbrot nun da
oder dort esse, kann dir doch gleich sein. Mir aber wird es nicht so –
so –« er suchte nach einem Ausdruck – »nicht so drückend sein, wenn ich
weiß, daß ich doch irgend etwas dafür leiste. So gut wie ein anderer
kann ich auch aufpassen dort. Und ich fürchte mich nicht. Heinrich,
laß mich doch!« Es war ihm, als hinge seine Seligkeit davon ab. Die
Fangeuse – Fangeuse – die Sumpfige, wie geheimnisvoll das klang! Nein,
ihm graute nicht vor Sumpf und Einsamkeit. Ihm würde es eine Erlösung
sein, nur Moor und Tannen und segelnde Vennwolken um sich zu sehen –
endlich einmal keine Menschen im Alltagskleid! Seine Stimme wurde immer
dringender: »Ich bitte dich, versuche es doch mit mir! Ich bitte dich
herzlich! Heinrich, du sollst sehen, da halte ich aus, das ist was für
mich. Ah,« – er atmete tief auf – »endlich das Rechte! Ich liebe die
Natur, ich verstehe die Natur, sie beruhigt mich, sie beglückt mich!«
Er redete sich immer mehr in Begeisterung hinein, sein Gesicht rötete
sich, die Augen leuchteten ihm. Wie er so im Lampenschein dastand,
den Kopf frei gehoben, den Blick wie suchend in die Ferne gerichtet,
erschienen seine Züge fein und edel und merkwürdig jung.

»Dat is all exaltierter Blödsinn,« sagte Heinrich Schmölder trocken,
»daraus kann nix werden. Du mußt schon wo anders Beglückung und
Beruhigung suchen!« Das plötzlich matt und blaß werdende Gesicht
vor ihm ließ ihn seinen Spott aufgeben. Diesmal tat ihm der Josef
ordentlich leid. »Alter Jung, red dich doch nit in so wat erein! Wenn
du jern en bißchen eraus willst, kannst du ja mit der Sophie und der
Hedwig diesen Sommer vierzehn Tage nach Ostende reisen. Sie wollen
absolut hin, Toiletten sehen. Jeh meinetwegen mit, chaperonniere sie!
Ich danke, ich bleibe lieber hier. Wat denkst du denn eigentlich, wer
soll dir denn auf der Fangeuse haushalten? Du mußt doch essen und
trinken. Un wer soll dir dat Bett machen und die Stub kehren? Dat
kannst du doch nit? Und wenn ich komm zur Jagd, wer soll mir dat Bett
machen und mir wat zu essen kochen, he? Dat kannst du doch auch nit!«

»Nein, das kann ich nicht.« Kleinlaut ließ Josef den Kopf hängen.
»Selbstverständlich müßte ich eine Person haben, eine Magd, die das
alles besorgt.«

»Such dir eine!« Heinrich Schmölder lachte schallend auf. »Und wenn du
eine hast, dann komm wieder zu mir, dann kannst du auf die Fangeuse
ziehen. Mir soll et recht sein!«




V


Bartholomäus Leykuhlen war im Kampf mit seinen Bauern. Das war
wieder einmal eine erregte Gemeinderatssitzung. Sie schrieen alle
gegen ihn an. Es war, als seien diese ruhigen, gesetzten, nüchternen
Leute plötzlich ein Schwarm von Hornissen geworden, die, durch einen
Steinwurf aufgescheucht, den Stachel löcken, bereit, mit Summen und
Brummen über den Feind herzufallen.

»Seid Ihr jeck?« sagte gerade der Adams vom Hof am grünen Klee und
ließ allen Respekt vorm Herrn Bürgermeister beiseite, »solle mir oß
Pötze[10] ongersüke[11] loße, oß jut Wasser?! Oß Äldere, oß Jrußäldere
han’t drus jedronke, on nu soll et up eemol nit tauge? Ich loßen et mer
net jefalle. Wenn de Kommissiun kömmt, schmissen ich se erus!«

[10] Brunnen.

[11] untersuchen.

»Dat werdet Ihr nit tun, Baltes,« sagte Leykuhlen ernst. »Dat wär ja
noch schöner. Wenn die Kommission kömmt, von der Regierung jeschickt,
werden wir sie höflich empfangen. So jehört sich dat!«

»Höflich, höflich?« Der reiche Bauer gab sich nicht drein. »Wat kömmt
dann erus dobei? Nix als Kosten on Ärjer.

Nit ene Penning jeb ich für minge Pötz us, de is noch lang jut!«
Der Zorn und die Angst, vielleicht zu einer Reparatur des Brunnens
gezwungen zu werden, raubten ihm seine sonst so kühle Überlegung. »Ihr
mit Euren ›Höflichkeiten‹! Ihr solltet lieber nit mit dem Landrat unter
einer Deck stecken, Ihr solltet mieh mit oß haalde! Dat han mir nu von
Eurer Freundschaft mit dem von Mühlenbrink – nühst als Verdruß. Verdruß
on Unkosten. Eso is et!«

Leykuhlen verlor die Fassung noch nicht. »Ihr seid unjerecht,« sprach
er ganz ruhig. »Der Landrat is ja mein Freund jar nit – durchaus nit.
Wenigstens ich bin nit der seine, ich hab ihn nie jesucht. Aber, ich
muß Euch die Verordnung bekannt jeben, et is mein Pflicht. Wat ich
dabei denk, tut nix zur Sach. Ich hab et Euch vorjelesen, dat bald nach
nächstem Ersten en Kommission kommen wird, die dat Wasser sämtlicher
Brunnen im Dorf, auf jedem Jrundstück, einer jenauen Inspektion
unterzieht. Man befürchtet Typhus. Wir wohnen im Venn, et sind en Meng
Truppen auf dem Platz, die Jefahr liegt nah. Aber sie werden sich ja
bald davon überzeujen, dat unser Wasser rein Quellwasser is. Laßt se
doch ruhig nachsehen, wat schad’t Euch dat?!«

»Nee, nee, nee!« Der Baltes schlug sich auf die Knie, daß der Staub aus
dem dicken Buckskin flog. »Ich jeb et nit zo. Up mingen Hof kömmt mir
keen Spürnas’! Dat se mir in mingem Mist erumstochere on noch saane,
de Jauch löft in minge Pötz! Dat is immer eso jewäeß: de Brunnen on de
Mist. En Meil kann doch nit dazwischen sin!«

»Dat schadt ooch jar nühst,« bekräftigte ein anderer. Es war der
Nachbar des Balthasar Adams, der Bettes Zumstädtchen, auch ein
vermöglicher Mann mit stattlicher Hecke. Es trennte den Baltes und den
Bettes nur das erbärmliche Anwesen des Webers Huesgen.

Die beiden Nachbarn wechselten Blicke. »Wat maache mir dann, Herr
Burjermeester,« sagte der Bettes schlau, »wenn se nu saane: dat Wasser
doogt nit! Trinken muß doch der Mensch, he brucht doch dat Wasser!«
Er zwinkerte den Adams auffordernd an, ihm zuzustimmen. »Da hätt ihr
eben die Kirch nit baue solle, die jruß Kirch! Da hätte mir nu en
Wasserleitung, wie de Hähr Landrat saat, on keen Typhusjefohr!«

Ein Murmeln der Zustimmung ließ sich vernehmen. Die zwölf
Gemeindeältesten, die seinerzeit nichts anderes gewußt hatten, als eine
Kirche zu bauen, die mit ihrem Bürgermeister so einverstanden gewesen
waren wie eine Familie mit ihrem Haupt, waren nun anderer Meinung. Nun
es an den eigenen Hals ging, machten sie Vorwürfe. Da war auch nicht
einer, der seinem Brunnen ganz traute: die Mauerung war schon so alt,
die Erde gelockert, wer weiß, ob nicht was durchsickerte!

»Ruhe!« donnerte Leykuhlen. Nun wurde er zornig. »Wart ihr selber dann
nit für den Kirchenbau – ja oder nein?«

»Jo, dat ware mir wohl, Hähr Burjermeester, äwer Ihr hatt et doch
vürgeschlaane, Ihr seid de Hauptschold dran. Oß ald Kirch wär noch net
zo klein gewäß, äwer Ihr on de Hähr Pastur, de Kirchevorstand, Ihr
hatt oß de jruß up de Hals jekallt.[12] Nu sitze mir drin, nu hammer
Scholde, Jott weiß, wie viel!«

[12] kallen = schwatzen.

»Sie sind nit so jroß!« Leykuhlen biß sich auf die Lippen, er schaute
vor sich nieder, das Herz schlug ihm hart. Ganz so unrecht hatten die
Bauern nicht: wenn der Kirchenbau nicht gewesen wäre, die Gemeinde
stände ohne Schulden da. Nun aber –?! Das Geld von dem Schießplatz
hatte sie freilich noch, aber das war angelegt, auf Zinsen geliehen; es
ging nicht so leicht an, das wieder flüssig zu machen.

»Ihr hatt vill zu jruß jebaut,« sagte Zumstädtchen vorwurfsvoll,
und die anderen nickten Beifall. »Oß Jeld, oß schien Jeld, alles
verpulvert!«

»Nit verpulvert, jut angelegt, am allerbesten!« Leykuhlen fuhr auf.
Die Freude, die er damals empfunden hatte, eine hohe und heilige
Freude, als ganz Heckenbroich geschmückt und bekränzt gewesen war,
als Hunderte aus Dörfern und Höfen herbeigeströmt waren, um das Fest
der Einweihung mitzufeiern, diese Freude ließ er sich auch heute
noch nicht verkümmern. Die Geistlichen des Orts, die Geistlichen der
Nachbargemeinden, der Bischof selber vor dem neuen Altar! Es war der
stolzeste Tag von Heckenbroich gewesen. Mochten die Kurzsichtigen
schwatzen, was sie wollten! War ihnen nicht das Geld, das viele Geld
für den Schießplatz wie vom Himmel in den Schoß gefallen? Ödland war
es meist gewesen, gar nichts wert, sie aber hatten Geld, schweres
Geld dafür bekommen. War es nun nicht recht und billig, dem Himmel
dafür einen Dank zu entrichten? Die Kollekte für den längst geplanten
Kirchenbau war wieder einmal rundum gegangen, und siehe da, unerwartet,
fast unbegreiflich groß waren die Spenden gewesen. Man hatte angefangen
zu bauen in Gottes Namen, im Vertrauen auf seine weitere Hilfe. Und er
würde auch von den Schulden abhelfen!

Leykuhlen richtete sich kräftig auf, in seiner ganzen stattlichen
Mannhaftigkeit. Und jetzt sollten die Quengler und Quereler schweigen!
Mit der ganzen Wucht seiner Stimme donnerte er in die Versammlung
hinein, die niedrige Stube war zu eng für den starken Klang: »Wat
jeschehen is, is jeschehen, et is nix dran zu ändern. Un et is jut so.
Die Kirch steht, Jott sei Dank! Wenn unsere Leiber als lang zu Staub
zerfallen sind, wird sie noch stehen. Die überdauert uns all. Die wird
aber auch Zeugnis jeben, daß selbst in einer armen Eifeljemeinde hoch
oben im Venn Menschen lebten, die ihre kleinlichen Sonder-Interessen
unterzuordnen verstanden dem jroßen Wohl!«

Er ließ seine blauen Augen scharf blickend und feurig von Mann zu Mann
blitzen. Mochten sie nun nach Hause gehen und sich das bedenken! »Für
heut sind wir fertig. Ich erkläre die Sitzung für aufjehoben!« Er
schlug den blauen Aktendeckel zu, darin er die Verordnung der Regierung
verwahrt hatte, und ging zur Tür. »Adjüs zusammen!«

Ein undeutliches Brummen nur sagte ihm »Adieu«. Sie waren alle wie
vor den Kopf geschlagen; teils verdutzt, teils empört. Er kehrte sich
nicht daran. Im frohen Gefühl eines Sieges ging er über die Straße. Was
scherte es ihn, daß sie brummten, sie würden schon wieder gut werden!

Über der Kirche stand ein goldener Stern, mit Wohlgefallen sah er
hinüber. Es war schon spät Abend, der Stern leuchtete hell, mit
sicherem Licht, wie eine Verheißung. Eine große Ruhe kam in des Mannes
Seele, der ganze Ärger ließ ihn jetzt kühl. Was man für das beste
erkannt und getan hat, muß man niemals bereuen. Wenn eine Wasserleitung
wirklich so nötig täte, wie der Landrat behauptete und auch der
Kreisphysikus, dann konnte die später immer noch gebaut werden, wenn
die Gemeinde dazu in der Lage war; jetzt hieß es sparen, erst die
Schulden abtragen! Schade, daß die Kirche noch keine Uhr hatte! Er sah
wieder hin. Der Platz dafür war schon vorgesehen, aber traurig und
häßlich, wie eine Augenhöhle ohne Auge, blickte jetzt die leere Rundung
aufs Dorf herab.

Als Leykuhlen hinter seine Hecke trat, sah er noch Lampenschein
drinnen in der Stube. War Mariechen noch auf, trotzdem es bald
Mitternacht war?

Er wollte die Tür aufdrücken und war erstaunt, sie verschlossen zu
finden. Warum das? Aha, seit die Sträflinge oben im Venn arbeiteten,
war es Mode geworden im Dorf, die Türen zur Nacht zu verriegeln; selbst
Mariechen tat das.

Er rappelte mit dem Klopfer. Da kam sie und machte ihm auf. Sie war
völlig angekleidet, sie hatte noch bei der Arbeit gesessen. Um den Hals
hing ihr die seidige Glanzgarnsträhne, ihre Augen waren leicht gerötet
vom angestrengten Sehen; aber sie blickten doch nicht müde, ein Glanz
war in ihnen.

»Als wieder an der Altardeck?« sagte er. Es lag kein Vorwurf in seiner
Frage, im Gegenteil, eine heimliche Freude.

Sie war hastig und rot, die ruhig-kühle Frau von einer fast bräutlichen
Wärme.

Was war ihr denn nur? Er hatte ihr einen derben Kuß auf beide Wangen
gegeben.

»Du kömmst jo so spät?« sagte sie, und er glaubte zu fühlen, daß sie
vor Ungeduld bebte.

»Ja, et hat lang jedauert, wir haben uns tüchtig erumjezankt!« Er
lachte heiter. »Aber ich bin ihrer doch Meister jeworden!«

Zu anderer Zeit hätte sie ihn gefragt, was für einen Streit es denn
in der Sitzung gegeben habe – Leykuhlen hatte sich durch Jahre daran
gewöhnt, mit seiner Frau auch das zu besprechen, was eigentlich über
den Weiberhorizont ging – aber heut zeigte sie kein Interesse für das,
was verhandelt worden war im Gemeinderat.

»Bärtes,« sagte sie und drückte sich fester an ihn, »ich han dir jet zu
verzähle!«

»So?« Er hatte noch keine Neugier.

»Komm in die Stub!« Sie zog ihn hinein, wo im Schein der beschirmten
Lampe die Altardecke halb fertig auf dem Tische lag, weiß und rein
wie Blütenschnee. Er setzte sich auf das Kanapee; sie nahm die Arbeit
wieder auf und zog lange Fäden, aber nur für Minuten, dann sanken die
Hände in den Schoß.

»Ich kann nit mieh,« flüsterte sie, »et läuft mer alles rund. Bärtes,
wat sagste nu« – sie ergriff seine Hand und sah ihn an mit ein wenig
unsicheren und doch strahlenden Blicken – »die Huesgen-Annelies hat ene
Jeist jesehen!«

»Ene Jeist?« Was redete doch Mariechen für dummes Zeug!

»Ene Jeist is nit richtig,« verbesserte sie sich rasch, »et saat, et
hat en Erscheinung jehatt. Och, ich muß et dir verzähle!« Sie war so
aufgeregt, daß ihre Stimme zitterte; ein fliegendes Rot bedeckte ihre
Wangen. Die Frau war heut eine andere schier.

Wenn es auch kaum zu glauben war und sie anfänglich auch ein wenig
hatte lächeln wollen, als die Annelies gelaufen gekommen war – sie
unterbrach sich – war das denn nicht schon wie ein Wunder, daß die
schwache Frau, die heute schon bis zur Ley gewesen war, daß die
leichten Fußes noch bis hierher hatte laufen können, den weiten Weg
durchs ganze Dorf?! »Och, Bärtes!« Mariechen faltete die Hände, in
einem heiligen Schauer bewegten sich ihre Lippen: »Et saat, et wär en
Dam, eso fein, wie us ’m Himmel! Und so freundlich hat sie zum Annelies
jesproche, wie dat nit weit von der Marienley – weißte, da, wo die
Tannen so dick stehen – up enen Stein saß un am Weinen war. Et war so
müd. Et wollt selber de Bittjang tun, ’ne Kranz aufhängen vor der Maria
im Stein, den die Kinder jeflochten hatten aus lauter Maiblumen. Aber
et konnt nit bis hin kommen, et war sterbensmüd. Da hat die Dam zu ihm
jesaat, et soll nit eso krieschen, un wat et denn eijentlich drückt,
et soll sich aussprechen. Dat Annelies saat, et hätt auf einmal reden
jekonnt wie nie zuvor; un dat wär ihm jewesen wie en Erlösung. Du weißt
et doch, Bärtes, die Leut klagen sonst nit!«

»Dat soll wohl sein!« Der Bürgermeister nickte.

Mit glänzenden Augen fuhr die Frau fort: »Et saat, un je mehr et der
feinen Dam erzählt hätt, desto leichter wär ihm um’t Herz jeworden. Et
hat ihr alles gesaat: wie arm sie sind, nur en einzig Kuh, die jetzt
dazu noch so wenig Milch jibt, un eso vill Kinder, un alles is so düer,
un bloß een Verdienst. Aber dat wär ja all so schlimm nit, wenn – dat
Annelies saat, et hat sich dabei so recht satt jeweint – wenn et nur
selber wieder zu Kräften kommen könnt, et wär eso schwach, och, so
siehr schwach! Da hat die Dam gesaat: ›Betet Ihr auch recht andächtig?‹
Un hat ’ne Rosekranz aus der Tasch jezogen – ’ne einfache Rosekranz
mit ’m Kreuzche dran – un en Bildche ›=Heiligste wundertätigste Mutter
Gottes von Lourdes=‹ un hat der Annelies dat jeschenkt un jesaat:
›Betet mit Euren Kindern alle Abend den Rosenkranz zur heiligsten
wundertätigsten Mutter Gottes von Lourdes, dann wird Euch geholfen!‹
Et Annelies saat, et hat jleich jefühlt, et war en Wunder. Et hat sich
bekreuzt, un wie et dat Bildche jeküßt hat, da is et eso froh jeworde,
eso froh, un hat auf einmal Kraft jespürt in allen Jliedern. Ich hab
selber dat Bildche jesehen, Bärtes, klein war et nur, so für in ’t
Jebetbuch zu legen, aber ich hab der Huesgen versprochen, ich will et
ihr unter Jlas in en Rähmche machen lassen für über ihr Bett. Nit wahr,
Bärtes?« Erregt stand sie vor ihm, vom raschen Erzählen ganz atemlos.

»Es wird eine gewesen sein, die auffordern wollt, für nach Lourdes
zu pilgern,« sagte er. Aber seine Stimme klang nicht ganz sicher.
»Um diese Zeit reisen sie durch et Land, überall herum, um Propaganda
zu machen für die Wallfahrt dahin. Et wird unseren Pilgern sehr
erleichtert dadurch, janze Züge stellt man zusammen.«

»Nee, och nee!« Sie schüttelte energisch verneinend den Kopf. »Wat
redst du doch Bärtes, dat jlaubst du doch selber nit. So eine war dat
doch nit!« Ihre Stimme wurde leiser, Sie raunte geheimnisvoll: »Nee,
Bärtes, dat muß jemand janz anderes jewesen sein. Als sie vom Annelies
nu fortjehen wollt, fiel der plötzlich ein: Jesus, oß Dores! Un sie
krieht die Dam noch hinten am Kleid zu packen und schreit hinter ihr
her: »Oß Doresche, och, oß Doresche! De hat eso vill de Krämp, de
kann nit no’r Scholl jonn, de is wie en janz klein Könd, un dat is
dat Schlimmste!« Da dreht sich die Dam noch einmal erum: freundlich
gelächelt hätt se, saat de Annelies, un spricht: ›Warum geht Ihr denn
nicht nach Echternach springen?‹ Un eh sich dat Annelies dat noch
bedenkt, is se ooch schon fort un nit mieh zu sehen!« Mit einem tiefen
Aufatmen schwieg Frau Leykuhlen.

»Hm!« Der Mann blickte ernsthaft; von Zweifel war nichts auf seinem
Gesicht zu sehen, wohl aber von Rührung. Wer weiß, was die Huesgen
sich zurechtphantasiert hatte – aber selig war das Weib doch in seinem
Glauben. Das war gewiß! Er nickte seiner Frau zu.

Sie nickte ihm wieder zu, ein Glanz heiterer Freudigkeit verschönte
ihr Gesicht. »Un denk ens an, Bärtes, als dat Annelies noch hier bei
mir is, – et konnt sich ja jar nit jenug tun mit Erzählen – da kömmt
de Herr Schmölder, de Josef. Er kömmt in die Dür erein un frägt nach
dir: er wollt dich jet fragen, sagt er, er hätt doch sicher jehofft,
dich diesen Abend anzutreffen. Ich bot ihm ’ne Stuhl an. Ich konnt nit
jut anders – mer war doch zu voll dervon – ich erzählt ihm wat von
dem Annelies seiner Jeschicht. Siehste, Bärtes,« – sie triumphierte
laut lachend vor Glück – »un dat war nun schon die erste Hülf, die der
Huesgen versprochen wurd. Kaum sieht er die an – se sieht ja noch sehr
erbärmlich aus – da zieht er auch schon sein Portemonnaie aus der Tasch
un schütt ihr alles, wat er drin hatt, in’ ne Schoß. Einen Taler, un
Jroschens – ja, jewiß an die zehn Mark – un noch en Joldstück extra! Et
Annelies traut seinen Augen nit, et war wie verstuert.[13] Er klopft
him äwer auf de Schulder un saat: ›Nun, gehen Sie, liebe Frau, tun Sie
sich und den Kindern was zu gut dafür!‹ Bärtes, ich jlaub, ich hab ihm
auch kaum ›Danke‹ jesaat, ich war wie dat Annelies: janz verstuert.
Och, dat is doch ’ne jute Mensch!«

[13] Verstört.

»Ja, dat soll wohl sein,« sagte Leykuhlen, »’ne jute Mensch, sehr
jut – aber –!« Er seufzte in einem gewissen Mitleid. »Äwer nu komm,
Mariechen, laß uns jetzt nach oben jehn. Ich werd heut nacht jut
schlafen.«

»Ich will auch beten für ihn,« sagte die Frau in ihrer Erkenntlichkeit.

Sie stiegen zur Giebelstube hinauf, in der die Betten unter dem
Kruzifix an der Wand standen. Das Fensterchen war offen, die ganze
Kammer war hell von blinkender Sauberkeit und von Mondenschein. Er
konnte nicht widerstehen, ehe er das Fenster schloß, lehnte er sich
hinaus und guckte noch hinüber zur Kirche.

Die ragte mit ihrem mächtigen Turm wie ein Wahrzeichen des Dorfes weit
in die Gegend hinein. Wo man auch stand, ob auf der Höhe, ob im Grund,
überall sah man sie.

Ein Gefühl der Glückseligkeit durchdrang den Mann. In Tagen, in Wochen,
im ganzen Leben war oft soviel Ärger, oft soviel Verdruß, aber ein Abend
wie dieser, der machte alles wieder gut! Er rief seine Frau neben sich
und schaute Schulter an Schulter mit ihr hinauf in den hellen Himmel der
Mainacht.

Mariechen konnte es doch nicht lassen, sie mußte noch einmal von dem
Ereignis anfangen. »Wie et dem Annelies nu wohl zu Mut sein mag?«

»Haste ihr jesagt, se soll nit so vill dervon trätschen?«

»Nee, dat hab ich nit! Warum soll se denn nit dervon erzählen? Wer jut
is, freut sich doch drüber. Laß die bösen Leut nur sagen, et is nit
wahr – aber, Jott sei Dank, so haben wir ja kein hier im Dorf!«

Er nickte zustimmend: da hatte sie recht. Im Dorf würde man die
Wundermär aufnehmen, so wie sie erzählt ward: mit frommer Andacht. Nur
draußen gab’s Zweifler und Spötter.

»Die jeht nu sicher nach Echternach,« sagte leise Mariechen.
Eine Sehnsucht durchzog ihr Herz. War sie nicht auch wallfahrten
gewesen, damals, als sie noch hoffte? Da hatte sie Jahr um Jahr
fast die Prozession mitgemacht, nach Heimbach und nach Mariawald,
dem Trappistenkloster im Kermeter. Wie die anderen, jeder in seiner
besonderen Angelegenheit, war auch sie gegangen durch den Staub
der Pilgerstraße, hügelauf, hügelab, hatte laut im Chor und noch
inbrünstiger heimlich bei sich gebetet. Ihre Bitte hatte nicht die
Gewährung gefunden. Die Heiligen allein wußten, warum sie ihr Geschenk
gleich wieder fortgenommen hatten. Aber Mariawald kam ja auch längst
nicht an gegen Echternach. Was für Frankreich Lourdes, das war für
die Deutschen Echternach. Aus hiesiger Gegend war schon manch einer
dort gewesen und hatte die große Entfernung ins Luxemburgische nicht
gescheut. Jetzt gingen auch Pilgerzüge dorthin, man brauchte den
weiten Weg nicht mehr zu Fuß zu machen wie früher. Ach ja – die in
die Mondnacht Hinausträumende seufzte auf einmal tief auf – die Mutter
würde ihr Doreschen zu Echternach schon gesund kriegen! Das Kind, das
ihr am meisten am Herzen lag, weil es ein unglückliches war.

Bürgermeister und Bürgermeisterin blieben stumm. Als ob er die
Gedanken, die die Seele seiner Frau bewegten, heute wie damals in
erster Ehezeit, geahnt hätte, legte er den Arm fest um ihre Schulter
und zog sie näher zu sich heran.

Es war ein heiliges Schweigen in der Mondnacht. Stiller konnte kein
Dorf sein und stiller auch keine Menschen. Traumhaft wob das Mondlicht
um Hecken und Giebel; wo ein Stückchen weiße Hauswand hervorlugte,
glänzte sie, und die breite Dorfstraße blinkte wie Schnee. Alle
Fenster waren dunkel, alle Leute lagen und schliefen. Die Samstagnacht
kündigte den Sonntag an. Ein Sabbatrot war auf Höhen und Tiefen, ein
andächtiger Frieden über Häusern und Hecken. Wächtern gleich standen
die Hainbuchen, heute nicht zerzaust und zerschüttelt und die schlanken
Stämme gebeugt unterm sausenden Vennwind; es war eine windstille
Nacht. Kein lauter Atem. Glatt, wie Säulen aus Marmor, ragten die
schlanken Schäfte der Bäume, ihre Schöpfe hingen ruhig herab wie sanft
geglättetes Haar. Um das große Missionskreuz, nah der Kirche, standen,
weiß beschienen, friedlich die Kreuze und Kreuzchen des Kirchhofs;
dort schliefen die Toten des Dorfes in ihren geweihten Gräbern ruhig
dem jüngsten Gericht entgegen. Hier war der Tod wie ein Schlaf, der
Kirchhof nur eine Beruhigung mehr im stillen Dorfe.

Plötzlich schreckten Mann und Frau zusammen: ein Lärmen kam die Straße
herauf, ein Rasseln und Rollen, ein Poltern und Trappeln, das doppelt
laut wirkte in der todstillen Nacht. Von der Chaussee her jagte ein
Wagen. Nun kam’s übers Pflaster mit Geknall und Gejohle. Zwei auf dem
Bock, die Kutsche gerappelt voll, so voll, daß noch je einer lag und
die Beine zum Wagenschlag heraushängte.

So fest schliefen die Bauern von Heckenbroich denn doch nicht, daß sie
das nicht gehört hätten. Überall, wo die Kutsche vorbeirasselte, fuhr
rasch ein Kopf aus dem Fenster. Das waren die Offiziere! Von der Stadt
herauf kamen sie.

Wie wachsame Augen brannten die Laternen rechts und links vom Bock des
Wagens, die drinnen saßen, konnten ja selber nichts mehr sehen; auch
der Soldat, der kutschierte, war nicht sicher mehr. Die Wirtin vom
Weißen Schwan hatte ein Herz auch für Burschen; während die Herren im
Speisesaal tranken, wurde der Kutscher in die Küche gelassen.

Leykuhlen schlug sein Fenster zu: so lange würde das noch gehen, bis
sie einmal gehörig umschmissen oder sich festfuhren im Sumpf. Wenn sie
doch wenigstens still wären, das war ja ein wüstes Gegröhle!

Lange noch hörte das lauschende Dorf die weinrauhen Stimmen und Gesang,
Gelächter, Gejohle zwischen Rädergerappel und Hufegeklapper.

       *       *       *       *       *

»Wat ich dir noch sagen wollt,« sprach die Bürgermeisterin am anderen
Morgen zu ihrem Mann, als sie miteinander in der Küche den Kaffee
tranken, »de Josef kam darum erauf, weil er dich fragen wollt, ob du
nit en Magd für ihn wüßt? Ich bin et jestern janz verjessen. Er will en
Magd haben, für auf die Fangeuse wohnen zu jehn, Bärtes!« Man merkte
ihrem Ton an, daß sie dachte: welch ein Unsinn, auf der Fangeuse wohnen
zu wollen!

Leykuhlen legte sein Butterbrot hin und fing laut an zu lachen: »Wat de
für Ideen hat!«

»Mir scheint, de fühlt sich sehr unjlücklich unten bei seinem Vetter.
Nu hat der Jilles oben im Moorhaus dem Schmölder jekündigt, un da hatt
der Josef Lust jekriegt, anstatt dem Jilles nach oben zu ziehen. Aber
er braucht doch en Magd – weißt du ein’, Bärtes?«

Leykuhlen schüttelte den Kopf: das würde schwer halten! Sämtliche
Witwen und ältliche Frauenspersonen im Dorf ließ er an seinen Gedanken
vorüberziehen. Da war die Witwe vom May aus der Tuchfabrik, der letztes
Jahr an der Schwindsucht gestorben war, die war aber selber nicht fest
auf der Brust, die hielt oben die Stürme und Nebel nicht aus. Da war
zweitens die Witwe vom Johann Peter, der Anno siebzig als junger Kerl
sein Bein verloren hatte, die war wohl noch rüstig und stark, aber die
hatte zehn Kinder, die jüngsten davon mußten noch in die Schul – mit
der war es auch nix. Da war die Hoefen, die war blind auf einem Auge
geworden, und auf dem andern sah sie fast auch nichts mehr vom Weinen;
der ihr Mann war vor zehn Jahren ausgezogen mit Karren und Gaul ins
wallonische Venn, um Torf zu stechen, und war nicht mehr gesehen worden
seit jenem Tag. Da war auch die alte Frau, die Lenzen Tring, aber die
war fünfzehn Mal Großmutter schon, die hatte zu viele Enkel zu wiegen.
Das Bertchen, die ledige Näherin, die nicht mehr in die Fabrik gehen
konnte und jetzt nähte und flickte und Kinder das Stricken lehrte, die
hatte zu feine Knochen für so was. Das Lieschen, das Bükelchen, das von
der Gemeindewohltätigkeit lebte, die würd sich gewiß gern was verdienen
– aber da hinauf, nein, da würde die auch nicht hinziehen!

Leykuhlen schüttelte den Kopf: »Ich weiß kein’!«

»Et müßt eijentlich en Junge un Kräftige sein,« sagte Mariechen
nachdenklich.

»En Junge? Dat würd sich doch schlecht schicken. Dat leidt auch unser
Pastor nun un nimmer, selbst wenn die Eltern et zujäben!«

»Och!« Sie lachte ihn hell aus ob dieses Bedenkens. »An so wat denkt
doch de Josef nit mieh, da is de doch viel, viel zu ältlich für!«

»Zwei Jahr jünger als ich!« Leykuhlen lachte auch, streckte prüfend die
kräftigen Arme aus und zog seine Frau plötzlich an sich. »Dat sag nit,
Mariechen! Zwei Jahr jünger noch is de Josef als ich – mer soll nix
verschwören!«

Errötend wie eine ganz Junge machte sich die Frau von ihm los und gab
ihm einen Klaps. »Och, Bärtes! Ich bin doch dein Frau, dat is doch wat
janz anderes! Un denn, du bist doch ’ne andere als de Josef!« Sich
mit beiden Händen den Scheitel wieder glatt streichend, den er ihr
verwirrt hatte, musterte sie mit Stolz und Liebe im Blick ihres Mannes
Kraftgestalt. »Wat bist du für ’ne Kerl – un wat is de für eine! Recht
erbärmlich – eso schwach – janz jries is sein Haar als!«

»Meins is ja auch als jrau,« sagte er neckend.

»Och, deins!« Sie fuhr ihm mit beiden Händen auf den ein wenig
strubbligen Kopf. »Du bist ja noch akkurat so, als ob du noch schwarz
wärst!« – – – – – – – –

Es war ein heller Morgen. Kein Morgen freilich, wie er am ersten Juni
in anderen Dörfern zu sein pflegt. Hier schoß noch keine Saat in die
Halme und neigte und wiegte sich in einem Wind, der schon Sommerwärme
in sich hatte. In der Rheinebene hatten die Obstalleen längst
abgeblüht, zwischen dem dunkelnden Sommerlaub kündeten schon kleine
Früchtchen die künftige Ernte; aber zu Heckenbroich waren eben erst die
Hecken grün geworden. Die Hecke vor Huesgens armseligem Haus zeigte
sogar noch viel braunes und dürres Winterlaub; nur wo die Sonne so
recht ankommen konnte, grünten schwächliche Sprießer.

Heute brauchte Weber Huesgen nicht in die Fabrik zu gehen. Gestern
abend war er mit dem letzten Arbeiterzug von Aachen gekommen, staubig,
verwahrlost und verdrossen dazu. Das war doch ein schweres Leben! Nun,
da er anfing, seine Jahre zu fühlen, wurde ihm die Woche oft sauer.
Immer arbeiten, und kein Familienleben dazu; mit den ledigen Kerlen in
der Herberge umherliegen. Und wenn man einmal die Woche nach Hause kam,
dann zu allem noch eine kranke Frau! Nun hatte er auch gar kein Pläsier
mehr.

Spät am Abend noch hatte sich Huesgen scheren lassen – die blaugrauen
Stoppeln überwucherten ihm das Gesicht wie ein Gestrüpp – dann hatte
Kathrinchen den Zober herbeigeschleppt, ihm die Füße zu waschen,
und Bäreb hatte sich gleich an des Vaters Sachen gemacht, um sie zu
flicken. Die Frau aber saß bei ihrem Ehemann auf dem Bettrand, den
schlafenden Säugling an der Brust, und hielt seine schwielige Hand in
der ihren. Sie hatte ihm ja so viel, so viel zu erzählen.

Unter ihrem Wunderglauben hatte sich sein gesunkener Mut aufgerichtet
wie ein schnell-wachsender Baum. Er ließ Müdigkeit und Verdrossenheit
fahren und wurde so vergnügt, als hätte er einen Schoppen getrunken.
Oh, und die Frau war ja soviel besser als letzten Samstag! Ordentlich
Rot hatte sie auf den Backen, sie war wie verjüngt. Er hatte kräftig
geschmaust. Sie hatte ihm Eier mit Speck gebraten, und sie, die
vorher nichts hatte essen mögen, teilte heut mit ihm; die Kinder,
die großäugig zusahen, bekamen vom Vater auch eins nach dem andern
einen Happen Brot, in Fett getunkt, in den Mund gesteckt, der gierig
zuschnappte. Weber Huesgen lachte darüber und klopfte ihnen die Köpfe:
hübsche Kinder doch alle, staatse Kinder! Und mit dem Dores würde
sich das ja nun auch bald bessern! Väterlich betrachtete er auch den
schlummernden Säugling; die Frau mußte den auswickeln und ihm zeigen,
wie stark er gebaut war. Nein, es waren der Kinder nicht zu viele, die
waren ein Geschenk von Gott im Himmel!

Draußen zog der Mond friedlich seine Bahn. Hier am Ende des Dorfes kam
kein Lärm vorüber; still, ganz still war’s und traulich. Es ward eine
glückliche Nacht unter dem armen Dach. –

Nun aber läuteten die Glocken. Weber Huesgen ging mit seiner Frau zum
ersten Mal zum Hochamt. Jetzt traute sie sich das schon.

In einer ununterbrochenen Reihe, zu zweien und zu dreien strebten die
Dörfler zur Kirche hin. Viele hatten einen weiten Weg, denn oft, wo
man’s gar nicht mehr vermutete, lag noch ein Häuschen hinter seiner
hohen Hecke versteckt.

Auch die vom Venn waren heute gekommen, sie wurden heruntergetrieben
zu zweien und zweien. Simon Bräuer hatte sie gut im Zug. Los und
ledig gingen sie, wie andere Leute auch; aber wenn sie auch nicht
gebunden waren, sie gingen doch wie gefesselt, die Köpfe gesenkt,
die Blicke zu Boden geschlagen. Trapp, trapp. Harte Tritte hatten
sie in grobgenagelten Schuhen. Sie waren heute im Sonntagsstaat, in
reingewaschenen Kitteln und dunklen Mützen; ganz ordentlich sahen sie
aus. Aber mißbilligende Blicke streiften dennoch die Kolonne; es blieb
ein großer Abstand zwischen ihr und der übrigen Schar der Kirchgänger.
Die Frauen guckten scheu; sie eilten sich noch mehr, daß sie in die
Kirche kamen.

Wie ein Beet von bunten Tulipanen prangten dicht gefüllt die Bänke der
Weiber. Sie hatten alle ihre besten Kopftücher um – rot und gelb, grün
und violett, blau und orangefarben – Wolle mit Seide durchschossen in
großblumigen Mustern.

Von ihrem Platz sah die Frau Bürgermeisterin nach jenen Bänken hin.
Sieh da, mitten zwischen frischeren und gesünderen Gesichtern das
blasse der Huesgen! Ah, das war recht, daß die heut nicht fehlte, die
hatte ja zwiefach Grund, hier zu knieen! –

    »_In nomine patris et filii et spiritus sancti!_
    Amen!«

In tiefer Andacht neigte sich die Gemeinde. Der Pastor, trotz seiner
Siebenzig noch im Amt, hielt das Staffelgebet. Und Confiteor und
Introitus folgten. Die hohe Wölbung verschluckte die lateinischen
Worte; die hohle Stimme des greisen Priesters am Altar und die näselnde
des ihm antwortenden Dieners vom Chor gaben ein immerwährendes Echo.
Man konnte nicht viel verstehen. Aber der Weihrauch duftete, die
Chorknaben knieten, die ewige Lampe ergoß blutrot dämmernden Schein auf
den Leib des Erlösers, der lebensgroß, in natürlichen Farben angemalt,
der Gottesmutter im Schoße ruhte.

Das Sonnenlicht war draußen geblieben; durch die bunten Scheiben brach
nur ein einziger Strahl herein. Wie eine goldene Leiter, auf der
Millionen von flimmernden Sternchen auf und nieder tanzten, leitete er
hin zur Monstranz, die auf dem weißgedeckten Altar erstrahlte.

    »_Gloria in excelsis Deo!_«

Kein Räuspern war mehr hörbar, kein Scharren mit den Füßen. Alles lag
auf den Knieen. Das war wie ein reifes Ährenfeld, das lautlos fällt in
dichten Schwaden.

Trotz der kellerigen Kühle des hohen Gewölbes ward es schwül. Hunderte
schwitzten in emsiger Andacht; Männer und Weiber und Kinder dazu. Das
ganze Dorf war hier versammelt; nur die Gichtbrüchigen fehlten, und
die Uralten, die nicht mehr vom Bette auf konnten, die Wöchnerinnen
und die ganz kleinen Kinder. Es roch nach Seife, nach der Pomade der
glattgestrählten Köpfe, nach den Sonntagskleidern, die man nur einmal
vorholte in acht Tagen aus dem alten wurmstichigen, nie gelüfteten
Schrank, der das Beste verwahrte; nach der Tünche der Wände, deren
neuer Bewurf noch nicht völlig getrocknet war in diesem Frühjahr.
Die Luft wurde dick, die Gesichter wurden rot, die Füße eiskalt. Ein
heiliges Schauern zog durch die Seelen, ein Frösteln durch Mark und
Bein.

    »_Dominus vobiscum!_«

Der Greis am Altar kehrte sich gegen seine Gemeinde, er breitete die
Hände aus und schloß sie wieder.

War Gott nahe?!

Ein Seufzer ertönte aus den Bänken der Frauen. Trotz der Andacht
drehten alle die bunt-verhangenen Häupter sich um. Wer seufzte da? Fast
klang’s wie ein Stöhnen. Unwillige Blicke bohrten sich in das noch
blasser werdende Gesicht der Huesgen-Annelies. War’s nicht besser, sie
ging aus der Kirche, ehe sie schwach wurde? Flüsternd neigte sich die
Nachbarin zu ihr, aber Annelies schüttelte den Kopf: nein, ihr war nur
auf einmal so kalt geworden, ihr war schon wieder wohl! Sich einen
Augenblick hinsetzend, um sich zu erholen, und dann doch gleich wieder
niederknieend auf das schmale Bänkchen, betete sie eifrig im Oremus.

Die Epistel ging vorüber, nun das Credo; jetzt kam bald die Opferung.
Die Huesgen hatte heute noch nichts genossen. Brot und Wein waren ja
da auf dem Tische des Herrn. Nun opferte der Priester die Hostie, nun
vermischte er Wein und Wasser, nun wendete er sich zu allen und doch zu
jedem einzelnen:

    »_Sursum corda!_«

Und die Gemeinde antwortete murmelnd:

    »_Habemus ad dominum!_«

Unruhig blickte die Huesgen um sich; vor ihren Augen schwankte das
Schiff der Kirche: war es noch nicht bald aus? Noch nicht? Der Schweiß
fing ihr an zu rinnen. Noch nicht bald?! Sie hörte kaum etwas mehr.
Endlich ein Klingeln. Dreimal anschlagend. Ah, die Wandlung! Der
Priester erhebt die heilige Hostie und dann den Kelch; tief anbetend
schlägt alles die Brust. Wieder das silberne Glöcklein und wieder.

Die Huesgen riß weit die Augen auf, vor ihren Ohren ward das zarte
Klingeln zum gewaltigen Läuten. Es erschütterte die Leere ihres Leibes;
es schwieg nicht, es betäubte sie schier. Es läutete immerfort in
feierlich rhythmischem Dröhnen. Vor ihren Augen erstand ein Flimmern
– so wie jetzt im goldenen Strahl, so hatte die Mutter Gottes gestern
vor ihr gestanden! Jesus, Maria, Josef! Jetzt erst fühlte sie einen
tödlichen Schreck. Sie schloß aufseufzend die Lider.

Man hatte die Huesgen aus der Kirche führen müssen, sie fast tragen.
Das Hochamt war doch noch zu anstrengend für sie gewesen; sie war in
Ohnmacht gefallen. Jetzt lag sie daheim auf dem Bett; der Mann saß
ganz betreten bei ihr. Er war verlegen und unglücklich und kam sich
schuldig vor: das hatte er doch nicht gedacht, daß sie noch so schwach
wäre! Und – er warf einen schweren Blick auf den Dores, der beschmutzt
und greinend auf dem Estrich herumkroch und dem Kathrinchen, das ihn
aufheben wollte, sich ungebärdig widersetzte – nun würde es auch mit
dem Dores nicht anders werden! Wie sollte die Frau auch nach Echternach
springen gehen?!

Das übermannte ihn schier. Er ging hinaus von der Frau aus der Stube,
und da er nicht wußte wohin, um seinen Kummer zu verbergen – was
sollten die Kinder wohl denken, wenn sie ihren Vater weinen sahen? –
ging er zur Kuh in den Stall.

Die stand trächtig. Ihr großer, runder Leib füllte fast den ganzen
winzigen Stall aus. Er klopfte sie seufzend; er konnte sie nicht recht
sehen im dumpfen, lichtlosen Raum, aber sie war doch eine Hoffnung.
Wenn die Kuh ein Kalb bekam, dann war das ein großer Segen. Man konnte
es aufziehen oder man konnte es auch bald verkaufen, je nachdem.

Die Kuh stand unruhig, sie machte einen Satz.

»He, Maiblum!« Liebkosend legte der Mann seinen Kopf an die breite
Stirn des schnaufenden Tiefes und stand so, gebückt, ein Weilchen. Das
gab ihm Ruhe. Morgen früh, ehe die Sonne noch aufgegangen war, mußte
er wieder fort nach Aachen, die ganze Woche wegbleiben – aber saß denn
nicht noch die heilige Dreifaltigkeit oben im Himmel?!

Bäreb, die Älteste, hatte den Vater in den Stall gehen sehen. Nun kam
sie ihm nach. Auch sie mußte sich bücken, sie war noch gewachsen in
letzter Zeit.

»Wat willste?« Er richtete sein hageres, schlecht rasiertes Gesicht von
der Stirn der Kuh auf und sah sie erschrocken an: »Is et schlechter mit
der Motter?«

»Nee!« Sie schüttelte den Kopf. Sie hatte noch nicht das Sonntagskleid
austun können, aber sie hatte es hochgeschlagen; und nun, im Schmutz
des Stalles, in dem es nur wenig Streu gab, zog sie ihre Röcke zwischen
die Beine hoch und klemmte sie so fest. Sie war ein reinliches Mädchen.
»Ich muß Uech ens spreche,« sagte sie und errötete tief.

Warum wurde sie denn so rot? Der Vater bekam einen plötzlichen Schreck:
die Bäreb war jung, auch hübsch – sollte noch neues Unheil zum anderen
dazu kommen?! »Nu sag et als rasch,« sagte er müde und matt.

»Ich will no’r Echternach jonn – über vierzehn Tag – springen!« Sie
hatte sich Mut gefaßt: warum sollte der Vater denn auch dawider sein?
Und sie hatte sich schon fleißig umgehört, jeder im Dorfe wußte davon
zu erzählen, sie war ganz genau unterrichtet. Teuer war’s nicht sehr
bis nach Echternach, die Eisenbahnfahrt war ermäßigt, es kostete
vierter Klasse nicht viel. Und viele würden wallfahrten, sie war nicht
allein, sie fand Anschluß genug. Ihr brauchte nicht zu grauen. Und
zu Haus mußten sie sich eben ein paar Tage behelfen ohne sie, das
Kathrinchen war ja auch schon so verständig; und wenn sie den Dores gar
mitnehmen würde zum heiligen Willibrord – ja, das war das beste, dann
sah der das Kind gleich selber – dann war ohnehin die größte Last aus
dem Haus.

»Ich jonn,« sagte sie entschlossen. »Ich denk, Ihr werdt nühst derje’n
han, Vatter, ich wollt et Uech bloß saone. Die Motter hält de Bittjang
doch nit uhs. Ich bin die nächste derzu – hui, on ich kann springe!«
Die Lust dazu flammte in ihr auf, ihre Augen blinkten.

Der Alte sagte nicht viel, er nickte nur: »Wenn de meinst!«

Da sagte sie, aussprechend, was ihr nun schon den ganzen Tag, seit die
Mutter wieder so elend dalag, im Kopfe herumging: »Ich will ooch janz
jenau so springen, wie et vorjeschriewen is, ich machen et mir nit
kommod. Ich bin so jung, ich kann dat jut uhshaalde. Fünnef Schritt vor
und vier zorück! On den Dores, wenn den nit mieh laufe kann, dann will
ich him drage. Heiliger Willibrord, bitt für uns!« Sie bekreuzte sich,
und dann lachte sie, heiter und zuversichtlich: »Dann hilft de oß
Motter, on oß Doresche ooch. Dat is janz sicher!«

Der Weber nickte. Er hatte sonst gegen den Plan der Tochter nichts
einzuwenden, aber Arbeitstage würde sie versäumen – den Mittwoch
sicherlich, wenn nur nicht auch noch den Donnerstag!

Bäreb rechnete an ihren Fingern ab: Sonntag und Montag waren Feiertage,
da hatte sie übrig Zeit, hinzukommen, konnte schon Montag mittag an Ort
und Stelle sein. Am dritten Feiertag, am Dienstag, war die Prozession.
Da konnte sie abends noch ein Stück wieder zurückkommen, und Mittwoch
abend war sie dann zu Hause; nur ein Arbeitstag brauchte also versäumt
zu sein. Donnerstag war sie schon wieder in der Fabrik, als wäre nichts
gewesen. Ihre ganze Kraft, ihr ganzer Jugendmut lag in dieser Rechnung.
Wie konnte sie müde werden, was brauchte sie auszuruhen?!

Die Kuh muhte dumpf, ihr Leib zitterte, als empfände sie Schmerzen.

»Maiblum, no?« Das Mädchen sah besorgt nach ihr hin, dann gab es ihr
einen Schlag mit der flachen Hand, kräftig-liebkosend: »Maiblum, ich
saon der, wart, bis ich wieder daheem bin, maach keen Saachen!«

Der Weber schmunzelte. In aller Not hatte er doch noch Glück, ein
großes Glück: brave Kinder hatte ihm der Herrgott gegeben!

Im dumpfen Stall, wo sie beide gebückt stehen mußten, so niedrig war
er, legte der Vater der Tochter die Hand auf. Eine gewisse Würde war in
dem Ton, mit dem er sprach: »Da jeh denn in Jottes Namen!«




VI


Die lang-angedrohte Kommission war ins Dorf gekommen, hinter jede Hecke
schnüffelte sie. Der Kreisphysikus war bei den Herren, er geleitete
den Wasserbauinspektor und einen Brunnenmeister. Da hatte der Adams
vom grünen Klee, der in der letzten Gemeinderatssitzung so ein großes
Maul gehabt hatte, doch nicht das Herz, der Kommission den Zutritt
auf seinen Hof zu verwehren. Und sein Kamerad, der Zumstädtchen,
sagte auch kein Wort mehr. Freilich, eines sehr guten Empfanges
konnten sich die Herren überall nicht rühmen. Freundlich die Mütze
lüftend stand keiner der Bauern am Heckeneingang, keiner machte selber
den Führer zum Ziehbrunnen hinters Haus, auf dem schmalen Pfädchen
die Stallwand entlang, wo kaum zu treten war vor Brennesseln und
Jauchepfützen. Die Frauen mußten heran, die waren wortreicher, die
versicherten wiederholt, wie gut das Wasser sei, immer kühl und gesund
seit Menschengedenken. Die Herren verstanden nichts vom Schwatzen der
Weiber, einzig der Kreisphysikus kannte sich aus: wo die Weiber so arg
viel redeten, da lag der Brunnen gewiß dicht bei der Jauchegrube.

»Es ist eine Schande,« sagte der Wasserbauinspektor zum Kreisphysikus,
»daß die Leute hier keine Wasserleitung anlegen – doch so ein großes
Dorf und eine ganz wohlhabende Gemeinde!«

»Sie haben erst kürzlich die Kirche gebaut!« Der Kreisphysikus zuckte
die Achseln.

»Alles in Ehren,« sagte der andere wieder, »die Kirche – hm – aber eine
Wasserleitung hätte nötiger getan. Acht Brunnen haben wir nun schon als
verdächtig geschlossen; =ein= Brunnen genügte schon, die ganze Gegend
zu verseuchen. Ich würde hier kein Wasser trinken; nicht ’nen Tropfen!«

»Ich auch nicht!« Die Herren hatten sich in ihrem Wagen das Frühstück
mitgebracht, er hielt beim Wirtshaus. Sie gingen dorthin zurück, aber
das dünne Bier, das die Bauern am Sonntag trinken, mundete ihnen nicht
– konnte das nicht auch mit Wasser versetzt sein? Sie beschlossen,
beim Bürgermeister anzuklopfen, der sicher einen trinkbaren Tropfen im
Keller hatte.

Leykuhlen schien sie erwartet zu haben, die Frau kam schon mit Gläsern.

Den ganzen Morgen war der Bürgermeister im Hause hin und her
geschritten, er hatte nicht hinaus mögen; zwar hatte er keine Angst –
das Wasser war ja gut – aber doch trieb ihn eine heimliche Unrast um.
»Nun?« fragte er jetzt gespannt.

»Schon so viele!« Der Kreisphysikus hielt acht Finger in die Höhe.

»Wie?!« Leykuhlen wurde rot. »Haben Sie denn da schlechtes Wasser
jefunden?«

»Genaues läßt sich natürlich jetzt noch nicht feststellen, das
wird erst die Untersuchung ergeben. Aber verdächtig, immerhin sehr
verdächtig – nicht wahr, Herr Wasserbauinspektor?«

Der Wasserbauinspektor machte ein ernstes Gesicht. »Ich mache Sie
darauf aufmerksam, Herr Bürgermeister, daß Ihre Gemeinde in einer
ernstlichen Gefahr schwebt. Der Herr Kreisphysikus hat mir mitgeteilt,
daß Sie hier im vergangenen Herbst zwei Typhusfälle hatten, das Jahr
vorher sogar drei. Hier sind ganz unzulässige, gesundheitswidrige
Einrichtungen. Beim Bauer Adams am grünen Klee – soll ja sogar ’n
reicher Kerl sein – läuft entschieden von den Abflüssen der Ställe
in den Brunnen. Das ist ja da alles so dicht beisammen, und die Erde
ist durchlässig, es ist gar nicht anders möglich. Bei dem Nachbar
ist’s auch nicht geheuer. Und so in vielen Fällen. Sagen Sie mal, Herr
Bürgermeister, was würden Sie denn machen, wenn wir Ihnen nun hier
sämtliche Brunnen schlössen?«

»Wir würden aus unsern Bächen Wasser schöpfen,« sagte Leykuhlen
gelassen. Ihm war plötzlich eine Verachtung dieser Besserwisser
gekommen. »Menschenweisheit und Menschenhand können doch nicht allem
vorbeugen!«

»Na,« der Kreisphysikus lachte hell auf, »das muß mich aber doch von
Ihnen wundern, Leykuhlen, daß Sie so was sagen. Natürlich, wenn so ein
dummer Bauer das sagt!«

»Ich bin auch ’ne Bauer, Herr Kreisphysikus! Wir haben seit Jahren und
Jahren aus unseren Brunnen jetrunken und sind leidlich jesund geblieben
– ein Krankheitsfall kommt eben überall mal vor – warum sollten wir nit
auch aus unseren Bächen trinken, wenn’t sein müßt? Ich weiß wohl, ich
weiß wohl, wat Sie sagen wollen,« fuhr er fort, ohne sich unterbrechen
zu lassen, »Vennwasser is Vennwasser, – ich warne ja auch davor – aber
im jeheimsten Winkel meines Herzens denk ich: wer jesund bleiben soll,
bleibt doch jesund. Wir stehen all in Jottes Hand!«

Die Herren wechselten einen Blick: der war in der Tat ein Bauer, kein
Jota aufgeklärter!

Leykuhlen sah und verstand den Blick, aber er ärgerte sich nicht
darüber. In ihm war eine große Ruhe: mochten sie reden, was sie
wollten! Er stieß mit den Herren an: »Auf jute Jesundheit!«

In diesem Augenblick rasselte draußen jenseits der Hecke ein Wagen
und hielt an. Frau Mariechen, die jedes geleerte Glas sofort wieder
füllte, sich sonst aber ganz stumm in der Stube zu schaffen gemacht
hatte – ihr war, als dürfe sie ihren Mann heute nicht verlassen – ging
hinaus und kam gleich wieder mit einem roten Kopf. Sie flüsterte ihrem
Mann etwas zu.

Leykuhlen stand langsam auf: »Der Landrat!«

Mühlenbrink hatte es sich nicht versagen können, selber nachzusehen,
es war ihm denn doch zu wichtig, was die Herren konstatierten. Nun
triumphierte er: aha, wer hatte nun recht gehabt?! Hatte er’s nicht
hier dem verehrten Freund schon mehr als ein Dutzend Mal gesagt: eine
Wasserleitung muß gebaut werden?! Das war wirklich ein Glück, daß er
sich so dahinter gesetzt hatte. Angenehm war freilich die Mission,
Besserung der Verhältnisse und höhere Kultur zu schaffen, nicht; man
erntete selber nie Dank! Er sagte das nicht ohne Bitterkeit; der allzu
Rührige hatte schon seine Erfahrungen gemacht.

»Ein schöner Kreis, ein interessanter Kreis! Aber wie vieles noch im
argen!« Er seufzte. »Den Typhus werden wir hierzulande nie ganz los,
die Verdummung der Leute geht eben über die Hutschnur. Als ich aus
meinem früheren Kreis, aus Ostpreußen, hierherkam, war ich ganz paff.
Ich bin doch auch ein gläubiger Christ, aber so etwas wie hier ist mir
denn doch noch nicht vorgekommen. Das ist schon verbohrt!«

»Und wir werden doch nit die Wasserleitung bauen, und wenn uns die
Rejierung sojar die Hälft dazu jäb,« sagte Leykuhlen plötzlich
energisch und reckte sich unwillkürlich. Alles, was in ihm war, empörte
sich. Dieser junge Mann, dieser Hans in allen Gassen, dieser nannte
sich einen rechtgläubigen Christen und wagte es doch, so zu sprechen?!
»Ich will Ihnen wat sagen, Herr Landrat,« sprach er geradezu, und der
Trotz, der sich in ihm rührte, gab seinem Ton Härte und Schärfe. »Herr
Landrat, Sie haben ja jar kein Ahnung, wat unser Bauer bedarf und
wat er nit bedarf. Dat muß ich besser wissen. Sein Jlaube macht ihn
jlücklich und zufrieden – Ihre Wasserleitung kann ihn weder jlücklich
noch zufrieden machen. Ich pfeif auf Ihre Wasserleitung und auf all
dat, wat drum und dran hängt!«

Das war stark! Ein saugrober Eifler! Die Herren sahen sich einen Moment
ganz verdutzt an.

Der Landrat wurde blutrot, aber dann faßte er sich gewandt: nur es
nicht mit dem Mann verderben, der war doch zu wichtig! Einlenkend legte
er dem Erregten die Hand auf den Ärmel: »Lieber Herr Bürgermeister, Sie
scheinen zu glauben, daß mir das Wohl und Wehe des Bauern hierzulande
nicht ebenso am Herzen liegt, wie Ihnen? Da sind Sie sehr im Irrtum.
Ich denke Tag und Nacht darüber nach, wie man glückliche Wandlungen
schaffen könnte. Es ist nötig, glauben Sie’s nur! Sie selbst sind
doch von einer viel zu hohen Intelligenz, um nicht einzusehen, daß
der Eifler nicht so fortwirtschaften kann wie vor dreißig Jahren. Um
Gottes willen, nur keine Mißverständnisse, lieber Leykuhlen!« Er nahm
sein Glas und führte es an das Glas des anderen. »Wir alle sind hier ja
Pioniere, Apostel, wie Sie’s nennen wollen, wir alle wollen das Beste
bringen. Das öde Venn, es wandle sich in fruchtbarere Gefilde! Prosit!
Auf unser Vennland!«

Der Bürgermeister konnte nicht anders, er mußte anstoßen, aber er tat
es mit einem so starken Stoß, daß er Wein verschüttete. Die Frau kam
rasch mit einem Tuch, das Naß von der Decke zu wischen, er wies sie
zurück: »Laß nur, Mariechen!«

Er war blaß geworden; man sah es trotz des gesunden Braunrots, das
sein Gesicht so gleichmäßig überzog. Er biß sich auf die Lippen.
»Herr Landrat,« sagte er dann ruhiger, aber man spürte in seinem
Ton noch den Groll, »Sie sind redejewandter als ich, Sie wissen Ihre
Worte zu setzen. Herr Landrat, aber janz herausreden können Sie sich
doch nit. Jewiß, Sie mögen et jut meinen, ich verkenn dat jar nit;
Sie denken darüber nach, wat besser sein könnte hier – vieles, dat
sag ich auch. Aber wir hängen nu mal am Herjebrachten; dat hängt auch
viel zu sehr mit dem zusammen, wat unser Teuerstes ausmacht, als daß
sich dat herausreißen ließ ohne Schaden. Sie sagen, Sie lieben unser
Land – jut, Herr Landrat, Sie lieben es, aber mit dem Verstand. Sie
wollen schaffen, erneuern, sich betätigen, ausjestalten, Ihre Ideen
ins Werk setzen. Ich, Herr Landrat,« – er schlug sich auf die Brust
mit Heftigkeit – »ich aber lieb es mit der Seele. Und dadrin liegt der
Unterschied. Und darum versteh ich Sie manchmal nit und Sie mich nit.
Nühst für unjut, Herr Landrat!« Ein Beben war in seine starke Stimme
gekommen; er streckte, sich selber überwindend, dem soviel jüngeren
Manne die Hand hin.

Mühlenbrink schlug ein und lächelte, wenn auch mit einer gewissen
Bittersüße. Sie schüttelten sich die Hände.

Die Debatte war geschlossen, aber eine angenehme Unterhaltung wollte
doch nicht in Fluß kommen. Die Herren tranken aus und empfahlen
sich; sie hatten heute noch viel zu tun, in einem Tage war’s ohnehin
kaum zu schaffen. Der Landrat begleitete sie, er forderte auch den
Bürgermeister auf, mitzukommen. Dieser lehnte ab; aber als sie eine
halbe Stunde fort waren und er am Fenster gestanden hatte und auf das
Glas getrommelt, ging er ihnen doch nach. – – –

Es wurden mehr Brunnen im Dorfe geschlossen, als man anfänglich
vermutet hatte; gut die Hälfte der vorhandenen. Die Heckenbroicher
waren außer sich: nun mußten sie, Gott weiß wie weit laufen und die
schweren Eimer Wasser schleppen, während sie es sonst so bequem gehabt
hatten, gleich hinter dem Stall. Und das war noch weniger angenehm,
immer beim Nachbar drum ansprechen zu müssen – jeder für sich – man
mochte bei aller getreuen Nachbarschaft es auch nicht gern, wenn einem
immer einer hinter die Hecke gelaufen kam.

Die Höfen, die halbblinde Witwe, fiel den Bürgermeister förmlich an,
als er eines Tages an ihrem Hause vorbeiging und sie, gerade vom
Nachbar kommend, einen Eimer Wasser hinter ihre Hecke schleppte. Da
hatte der Gendarm ihr gestern einen Brief ins Haus gebracht – »Maria
Jusep! So ’n Onjlöck, so ’n Onjlöck!« Nun sollte sie ihren Brunnen
ausschachten lassen und ummauern, sonst blieb er für immer geschlossen
und sie durfte nie, nie mehr daraus trinken. Ihr Brunnen! Ihr Josef
selig hatte das Wasser immer so gerühmt, er hatte sich noch daran
gelabt, ehe er mit dem Gaul ins Venn gefahren war. Ihre Mutter selig
hatte daraus getrunken – ihr Sohn, ihre Tochter, die an der Krankheit
gestorben war – die Lieben alle, die sie auf dem Kirchhof liegen hatte,
und der Lennerd auch, der jetzt in Amerika war, und ihre Bill, die
nach Köln weggeheiratet hatte. Und nun sollte sie nicht mehr daraus
trinken?! Aus ihren erblindenden Augen flossen Tränen.

Es erbarmte Leykuhlen. Aber was sollte er machen? Überall der gleiche
Verdruß. Aus diesem Haus und aus jenem gingen ihn die Besitzer an, er
sollte doch machen, daß die Sperre aufgehoben würde. Man brauchte das
Wasser, jetzt, da Pfingsten so nahe war, doppelt; man wollte waschen
und scheuern und Brotteig einmachen, man hatte zu tun und konnte das
Wasser nicht so von weither schleppen.

Aber der Landrat blieb fest: »Mein lieber Bürgermeister, dabei kann ich
gar nichts machen, so gern ich Ihnen auch gefällig sein möchte.«

»Und daran sind Sie schuld,« grollte Leykuhlen. Er war sehr verstimmt;
er hatte sogar Stunden, in denen er sich Vorwürfe machte, doch nicht
lieber die Wasserleitung statt der Kirche gebaut zu haben. Aber wenn er
sie dann aus dem Giebelfenster seines Hauses wieder ansah, war es ihm,
als habe er in seinen Gedanken ein Unrecht begangen. Das Geläut der
Glocken dröhnte ihm wie eine Mahnung – zu bezahlen waren sie ja noch,
aber wenn man die Gemeindejagd gut verpachtete, trug man die Schuld
schon ab. Sie läuteten ihm Friede und Freude ins Herz.

Sie läuteten das heilige Pfingstfest ein. Überall war geschmückt mit
Maien. Am Kircheneingang standen zwei ganze Bäume, ihre silbrigen
Stämme und das zarte Blattgrün zierten wunderschön das dunkle Portal.

Birken gabs genug auf den Ödländereien von Heckenbroich, auf hungrigem
Boden, wo kein anderer Baum mehr fortkommen wollte. Nach dem
Schießplatz zu waren ganze Trupps zu finden, die ihre langen Haare im
streichenden Winde wehen ließen.

Etwas erhöht, auf einer Erdwelle stand eine besonders große Birke, ganz
einsam, weit hinragend, hoch wie eine Stange. Den einzigen starken Ast,
der sich vom Wipfel abkrümmte wie ein gebogener Arm, streckte sie weit
von sich. Hier war immer der Platz des Kommandierenden, wenn auf der
weiten Heidefläche sich die Parade entwickelte, und die verschiedenen
Truppenkörper in ihren verschiedenen Uniformen die endlose Monotonie
belebten. Hier standen auch die Offiziere, um die Wirkung der neu zu
erprobenden Geschütze zu konstatieren. Und hier, ›am krummen Ast‹,
stand auch oft Hans Abeking, am Abend des großen Schießens, wenn seine
Leute das Gelände nach verlorenen Geschossen und auf Blindgänger
absuchten.

Er starrte träumerisch in den sinkenden Sonnenball. Von hier aus
gesehen war die Heide ein Meer mit Wellen und Wellchen, und die Sonne
tauchte unter wie ins große Wasser, die ganze Flut rotfärbend mit ihrer
Glut. Die Augen gingen ihm über. Heut dachte er an seine Mutter und an
seine Schwester, die mit einem ebenso jungen Leutnant, wie er einer
war, verlobt war, und er ärgerte sich, daß er unten bei Helene so viel
Geld ausgab, sich gänzlich verausgabte und doch noch Schulden hatte
bei seinem Freund Scheffler und sogar bei dem dicken Stabsarzt. Das
war scheußlich! Die Mutter knappte sich die Zulage ab; er wußte das,
wenn sie’s ihm auch nie sagte. Er machte sich die größten Vorwürfe:
wahrhaftig, er war es wert, an diesem krummen Ast aufgehängt zu werden!
Mit verschleierten Blicken maß er den einsamen Baum.

Aber dann sah er hinüber zum Lager, dessen Wellblech-Baracken jetzt
im sinkenden Licht all ihre Nüchternheit verloren hatten. Die
platten Dächer sprühten nicht mehr Funken wie unterm erbarmungslosen
Mittagsstrahl, sie erglänzten jetzt gleich mattem Silber, und
freundlich aus den paar Tannen heraus blinkte das weiße Kasino. Bei
aller Knappheit war es doch famos, Offizier zu sein!

Abeking seufzte auf: nein, er hätte sich doch in keinen anderen Beruf
hineindenken können. Sein verstorbener Vater war Militär gewesen,
Großpapa auch – warum sollte nicht auch er Karriere machen, wie die
beiden sie bei verhältnismäßig jungen Jahren doch schon gemacht
hatten?! Und Schulden würden sie auch gehabt haben – überhaupt, was
machte das, so ein paar kleine Schulden? Es ging gar nicht anders.

Sein Blick strahlte auf: morgen, Pfingstsonntag, fuhren sie wieder
hinunter. Es waren jetzt immer noch ein paar Kameraden mit von
der Gesellschaft, in Helenens Zimmer wurde zuweilen ein Spielchen
gemacht, ein höchst harmloses; aber man konnte doch höllisch dabei
verlieren. Helene gewann immer; sie setzte oft da und dort, geschwind
hineinguckend und sich für ein paar Augenblicke über die Schulter
dieses und jenes Herren beugend. Aber an seiner Schulter hatte sie doch
am längsten gelehnt! Noch glaubte er den Schlag ihres warmen Herzens
zu fühlen; sie hatte sich vor Freude über den Einsatz den er für sie
getan, dicht, ganz dicht über ihn geneigt und mit lachenden Augen den
Fall der Karten beobachtet. Sie war so ganz beim Spiel, sie hatte gar
nicht acht, daß sie ihn fast zerdrückte mit ihrer weichen Fülle – aber
– ah, es war sehr schön so gewesen!

Der junge Mann seufzte wieder: nein, morgen würde er doch nicht
mittun! Und wenn es nur zehn Mark waren, die man verlieren konnte. Die
Feiertage würden ohnehin viel verschlingen. Lieber Gott, man konnte
doch das Fest nicht hier in der Heide vertrauern! Es war ja nicht immer
die Stunde des Sonnenuntergangs, die alles verklärte, und in dieser
Öde, in der sie alle seufzten und in der man gewaltsam Zerstreuung
suchen mußte, um nicht melancholisch zu werden, Bilder zeigte, so
reizvoll-lockend, wie den Wandrern der Wüste die Fata Morgana.

Röter und röter erglühte die Heide. Ihr Braun ward jetzt tiefpurpurn,
von einer solchen Kraft des Leuchtens, daß der Himmel blaß und farblos
dagegen erschien. Von dem Sonnenball war nichts mehr zu sehen, er war
gesunken; aber röter, noch immer röter flammte das Heidekraut, und alle
Lachen im Venn flammten mit. Wie in einem gewaltigen Brand lohte das
ganze Moorland. Und nun stieg auch Dampf auf; schier ein Rauch wie bei
einem Brande. Er wurde dicht und dichter, schnell und schneller sich
aus kriechender Stellung zu Mannshöhe erhebend.

Der Leutnant gab das Zeichen zum Aufbruch. Jetzt war die geeignetste
Stunde, sich das Fieber zu holen, die Kerls sahen ja ohnehin nichts
mehr. Teufel, wie schneidend kalt es auf einmal war!

Fröstelnd, unwillkürlich in einen starken Trab verfallend, trottete die
Kolonne in die Baracken zurück.

       *       *       *       *       *

Es war Nacht. Eine Nacht, so bitterkalt, daß man kaum glauben konnte,
im Juni zu sein. Als könnte es frieren, so hell-weiß schimmerte der
Mondenschein und machte die dunklen Lachen zu blitzblanken Schilden,
mit denen das Moorland die Pfeile des Himmels auffing. Wie grausame
Augen, unbarmherzig, spähten die Sterne herab auf den Hahnheister
Busch und auf das Haus, das, toteinsam und gemieden wie ein Pesthaus
zu mittelalterlicher Zeit, vor den struppigen Kusseln des Buschrandes
liegt.

Das Venn fror es nicht, und weder das saure Gras noch seine Blumen, die
gelbe Narzisse, die weiße Maiglocke, die rote Orchis mit den schwarzen
Flecken und die zarten rosa und weißen Glöckchen der Venn-Erika froren.
All das blühte hier zusammen, nicht so streng geschieden nach Sippe und
Blütezeit wie anderswo; es war froh, überhaupt erblühen zu können, und
hart gewohnt.

Nur die Menschen fror es unter dem Ziegeldach des einsamen Hauses.
Das heißt, Simon Bräuer fror es nicht, der war ins Dorf gegangen,
der kalte, harte Mann heut heiß vor Freude. Sein Weib war heute im
Wirtshaus von Heckenbroich abgestiegen. Nun ging er, sie zu küssen. Sie
war gekommen für die paar Feiertage; es gab dann weniger Arbeit für
ihn, ein Hilfsaufseher konnte ihn dann wohl einmal vertreten, und im
übrigen schloß er seine Vierzig ein.

In langen, ungeduldigen Sätzen sprang der frohe Mann in der gradesten
Richtung durchs eiskalt betaute Kraut. Und wenn er es auch sonst nicht
so zeigte, er liebte sie doch. Und gerade weil er sie so lange hatte
entbehren müssen, liebte er sie doppelt; viel mehr denn je. Er glaubte
es jetzt kaum länger ertragen zu können, von ihr getrennt zu sein.
Es half nichts, sie mußte her, und wenn sie auch anfänglich nicht
wollte! Bei der Höfen war Platz zu finden, die blinde Witwe brauchte
nur ein Stübchen vom Haus, da konnte die Therese gut unterkommen
mit den Kindern. Ach ja, die Kinder! Ein weiches Gefühl faßte den
Dahinstürmenden: wie lange hatten sie den Vater entbehrt! Den Vater,
der sie zwar streng hielt und oftmals prügelte, und dem sie doch
teurer waren als sein Herzblut. Ob das Johannchen auch brav lesen und
schreiben lernte in der Schul’? Ob der Anna Zöpfchen schon ein Stück
länger gewachsen war? Ob das Peterchen schon die ersten Hosen anhatte?
Und ob das Kleine, das ganz Kleine, etwa schon »Pappa« sagen konnte?!

Im einsamen Venn, in der eiskalten Nacht, glaubte der Vater ein
lallendes Stimmchen zu hören.

Hätten die Sträflinge jetzt Simon Bräuers Gesicht gesehen, sie hätten
sich nicht mehr geduckt in hündischer Furcht – jetzt war er einer,
dessen Mund lächelte. – – – – – –

Im Schlafsaal, dem langgestreckten Schuppen-Anbau, wälzten sich die
Vierzig unterm tiefhängenden Dach. Seine Ziegel schlossen nicht fest
aufeinander, sie ließen Hitze und Kälte gleich ungehindert durch. Die
Vierzig konnten nicht Ruhe finden, obgleich sie todmüde waren. Der
Aufseher hatte heut mehr denn je kommandiert. Sie hatten das neue Haus
scheuern müssen vom obersten Dachsparren herab bis zur untersten Stufe
des Eingangs, er hatte mit scharfen Augen jedes Stäubchen gesehen,
jedes Fleckchen. Die einen hatten Wasser geschleppt, weither aus dem
Tümpel, darinnen die Frösche sprangen und heute quarrten, als wär’s
eine Sommernacht; andere hatten gefegt mit den Birkenbesen, die sie
selber gebunden hatten, wieder andere mußten Maien schneiden und
mit ihnen das Haus rund umstecken. So sah es viel weniger kahl und
unfreundlich aus.

Sie hatten alle weidlich geschafft. Einen Kalender hatten sie nicht,
aber an der verdoppelten Arbeit hatten sie gemerkt, daß morgen
Pfingsten war. Den besseren Weg, den sie begonnen hatten, hatten
sie noch vollends geschwind abstechen müssen und ausschaufeln und
festtreten vom Haus bis nach der Chaussee hin. Eine Pferdearbeit war
das gewesen im beschleunigten Tempo; am Mittag hatte die Sonne auf den
Buckel geprickelt wie mit Nadeln, morgens und abends hatten die steifen
Finger kaum Spaten und Hacke regieren können.

Und all das für das Fraumensch, das er erwartete! Sie hatten wohl
gehört, was der eilfertige Bote, der Hütejunge, gestammelt hatte: »Se
is nu do! Se läßt Uech jrüße!« Sie hatten das glühende Rot gesehen,
das über sein Bronzegesicht schoß. In den Schlafsaal hatte er sie
früher denn je getrieben, sie da eingesperrt ganz ohne Licht; nur der
Mond, der durch die Ziegel fiel und durch die Ritzen zwischen den
rohbehauenen Steinen, gab ein wenig Helle. Er selber war davongerannt.
Wie grinsende Affen hinter Käfigstäben hatten sie am Gitter des
Fensterchens ihm nachgeglotzt. Wie er rannte, wie er rannte! Er konnte
es nicht abwarten, bis er bei seinem Frauensmensch war!

Mit höhnischem Lachen drehte Jacobs, der Rotfuchs, sich vom Fenster
ab und hüstelte heiser. Er war hier oben immer erkältet, die Vennluft
tat ihm nicht gut und auch nicht die Landarbeit. Er war seines
Zeichens Kunsttischler. Drei Jahre hatte er gekriegt – viel, viel zu
viel! Was hatte er denn der Trine groß getan, die er antraf, als er
die Landstraße auf Köln zutippelte? Sie war am Rübenausziehen im
Feld. Warum war sie denn so allein und nicht mit Vater oder Bruder?
Verwünschtes Weibsbild! In den Graben hatte er sie geworfen. Erst
hatte sie sich gar nicht gemuckt, dann aber hatte sie geschrieen,
ganz mörderlich. Es war ihm blutrot vor den Augen geworden. Er hatte
gefühlt, wie es in seinen Händen zuckte, wie es ihn hinriß gegen seinen
Willen – ha, zupacken, zudrücken, die kalten, zitternden Hände um die
weiße Kehle klammern! Fest – noch fester – warum schrie die Trine auch
so?! So –! Sie würde das verdammte Schreien jetzt wohl sein lassen! –
– – Aber er hatte sie ja gar nicht gewürgt. Leute waren hinzugekommen,
er hatte sich auf die Flucht gemacht, aber laufen konnte er nicht so
rasch wie die Verfolger, der Atem war ihm ausgegangen. Sie griffen ihn.
Und er hatte seine drei Jahr gekriegt. Es wären nicht drei geworden,
wäre ihm nicht eine ähnliche Geschichte schon einmal früher passiert.
Daß der Teufel all das Weiberpack hole! Hier oben, Gott sei Dank, hier
gab’s keine Weiberröcke! Weit war das Dorf, hier war er sicher vor
Weibervolk. Wahrhaftig, und wenn’s auch entsetzlich hier oben war, man
war doch sicher – bis jetzt!

Er erzitterte. Ein Gedanke war ihm plötzlich gekommen, der ihn packte
und schüttelte und ihn nicht locker ließ – – – wie der rannte, rannte!
Er stellte sich alles vor, er dachte sich alles aus. Wie er sie
umhalste! Wie das Frauenzimmer ihm in die Arme fiel! – – – Wenn das
Fraumensch nur nicht bis ganz dicht hierher kam!

Ein Grausen schüttelte ihn. Wie die Meute den Eber, den sie hetzt und
stellt und von allen Seiten umkläfft, so fielen ihn gierige Gedanken
an. Da half kein Wehren.

Der bleiche Mensch, der auf der harten Eisenbettstatt lag, stöhnte auf;
ihn fror trotz der härenen Decke, er zog sie sich zitternd höher an
den Hals. Sie war sehr dünn, und doch fing er jetzt an zu glühen und
mächtig zu schwitzen. Mit feuchten Händen strich er sich über Stirn und
Augen – Teufel, könnte er doch aufwachen wie aus einem bösen Traum! In
seinen Schläfen stach und hämmerte es, vor seinen Augen tanzte es rot
im Dunkeln. Er fühlte sich sterbenselend, rasend über sich selber und
doch rasend vor Verlangen. Wieder stöhnte er auf.

Der ›Torfdrücker‹[14], der im Bett dicht über ihm lag, schob vorsichtig
seinen Kopf über den Bettrand und blinzelte zu ihm herunter. Auch
der ›Süßchenbäcker‹,[15] der rechts im Nebenbett lag, und der
›Betnoster‹[16] zur Linken wurden aufmerksam. Sie flüsterten. Sie waren
so an das Flüstern gewöhnt, daß sie selbst heute, wo sie den Aufseher
fort wußten, wo nichts um sie war als die Nacht und das Venn, daß sie
selbst jetzt kein lautes Wort wagten. »Was ist los?«

[14] Dieb.

[15] Pferdeschlächter.

[16] Betbruder.

»Nix,« sagte Jacobs heiser und unterdrückte sein Stöhnen.

Der Rotfuchs war immer unfreundlich und borstig wie seine Haare, sie
mochten ihn alle nicht; da waren der Süßchenbäcker und selbst der
Torfdrücker – pfui, ein Gannef, ein Dieb ist was Verächtliches, – doch
noch besser zu leiden. Aber die Kameradschaft regte sich jetzt doch in
ihnen. Der Rotfuchs sah immer elend aus, war der am Ende krank geworden?

»Was haste für’n Schlamassel?« fragte leise der Dieb von oben herunter.

»Kümmer dich um deine eignen Masematten,« war die verbissene Antwort.

Aber der alte Landstreicher, der Betnoster, wie sie ihn nannten, weil
er morgens und abends und mittags sich bekreuzte und betete, fragte
treuherzig: »Haste Hunger, minge Sohn?« Ihm schmeckten Suppe und
schwarzes Brot immer so köstlich, er hatte sonst niemals so satt
gekriegt. »Da!« Er zog aus seinem Strohsack einen Kanten Brot hervor
und langte ihn dem anderen herüber. »Iß, dann kriegste neue Kurasch!«

Der Rote nahm die Gabe nicht: pah, Hunger war nichts gegen das, was ihn
quälte! Er dankte nicht einmal. Was wollte der ›Achelpeter‹?[17] Ohne
Laut stierte er geradeaus, die Kniee hochgezogen im Bett sitzend, die
Ellenbogen aufgestemmt, den Kopf zwischen die Fäuste gequetscht wie
zwischen eiserne Schrauben. In der falben Helle, die ein Mondstrahl
warf, schimmerte sein Gesicht totenbleich. Er knirschte mit den Zähnen.

[17] Fresser.

Der Torfdrücker und der Süßchenbäcker gaben das Fragen auf: wenn der
nicht reden wollte, sollte er’s bleiben lassen, ihnen war es egal! Aber
sie waren nun einmal in eine Art von Unterhaltung gekommen; am Tag
draußen bei der Arbeit redeten sie kein Wort, jetzt konnte man sich ja
ein bißchen besprechen.

Von Bett zu Bett fing ein Tuscheln an, ein Raunen und Lispeln. Auch
andere nahmen bald teil daran, erst die zunächst Liegenden, dann auch
die Ferneren.

Im bleichen Mond saßen sie aufrecht in ihren Betten, mit struppigen
Haaren und verdunsenen Gesichtern; die Mücken des Venns, die
erbarmungslosen Quälgeister, hatten sie schon weidlich zerstochen.
Hier huschte ein Mondenstrahl und dort einer – bläulich schimmerten
tätowierte Brüste – es tauchte für Augenblicke wieder ein neues
verquollenes Gesicht auf mit struppigen Haaren und stieren Augen.

Sonst waren sie stumm, die heutige Nacht hatte sie beredt gemacht.
Sie dachten alle an den Aufseher, der nun bei seiner Frau war. Und
sie beneideten ihn, die Ledigen sowohl wie die Verheirateten. Der
Roßschlächter, der Süßchenbäcker, sagte roh: »Der Teufel soll ihm
en Bein stellen, wenn er zu seiner Keife geht! So ’n Hannes, so ’n
Blechseppel! Ich hab auch en Frau zu Haus. Mer sollt den Kerl abstechen
wie en Sau!«

»Der hat schon mal einen totgeschlagen,« flüsterte es aus der
entferntesten Ecke, ganz leise. Aber der Roßschlächter hatte es doch
gehört, er brüllte: »Jickesjackes, totjeschlagen! Redt keinen Stuß.
Anjetippt hab ich ihn nur in der Besoffenheit, da war er jleich Mus.
Wat kann ich dafor? Wenn dat wat Schlimmes jewesen wär, hätt mich der
Zwicker[18] schon um ’ne Kopp kürzer gemacht. Et hat noch emal jut
jegangen!« Er lachte auf. »Bald bin ich eraus. Wie lang habt ihr dann
noch?«

[18] Henker.

Sie sagten alle ihre Strafzeitdauer.

Der Landstreicher rieb sich schmunzelnd die Hände; er wollte gar nicht
fort, es gefiel ihm ja so gut hier. Wenn man auch arbeiten mußte, man
hatte doch immer satt, und Sattessen war das Beste!

»’ne komische Kauz,« sagte lachend einer, der nicht weit von ihm lag.
Aber dann fuhr er wild auf: »Lieber acht Tag hungern, als in’t Kittchen
– nur nit in’t Kittchen!« Er wollte die Fäuste recken: frei sein, nur
frei! Aber unsanft stieß er gegen das obere Bett, das, wie in einer
Schiffskoje, dicht über dem seinen war. Mit einem Fluch legte er sich
wieder hin.

»He,« sagte der Roßschlächter, »wie heißt du?«

»Ohligs!«

»Von welcher Sort?«

»Schuster!«

»Äh, du Pechhengst, so mein ich dat ja nit! Aber du sagst, ›nur frei
sein‹ – komm, lasse mir zwei Schibes machen!«[19]

[19] auskneifen.

»Süßchenbäcker, biste meschugge?« sagte irgendwoher eine Stimme, »dat
is nit so leicht!«

Aber der Süßchenbäcker nahm den Mund voll, er prahlte gewaltig: »Ich
bin stark, stärker wie’n Peerd, zehnmal stärker als der Bräuer;
den schmeiß ich um. Un dann käpernicken wir auf und dervon. Zwei
Kochemer[20] wie wir, dufte Jungens, kommen überall durch. In ’ner
Stund oder zwei sind wir über der Jrenz, wir drehen den Blauen en lange
Nas’, wir sind frei, frei!« Er dehnte den gewaltigen Körper.

[20] Schlaue.

»Dann kannste nie mehr nach Haus,« sagte eintönig der Landstreicher.
»Tu dat nit, ich rat dir!«

»Ach wat, armer Pracher! Du Schnorrer, halt deine Brotlad!«[21] Die
beiden Kerls lachten roh.

[21] Mund.

»Wandern, immer wandern, dat is en schlecht Jeschäft!« Der
Landstreicher schüttelte traurig den Kopf. »Ich kann en Lied dervon
singen. Hätt ich dazumal en Stück Brot jehabt, da hätt ich beim Bauer
die Eier nit aus dem Stall zu holen jebraucht und wär nit trinken
jegangen an die Kuh. Ich war nachher als noch öfter da, oh ja. Den
ganzen Sommer hab ich nahbei im Feld jeschlafen, en Höhl hatt ich da.
Aber hätt ich dat Jlück nit jehabt, dat der Grüne mich jekriegt hätt,
ich hätt doch wieder Land auf, Land ab streichen müssen, wenn der
Winter kam un meine Höhl zujefroren war im Feld. Nee, Jungens, nee,
frei sein is nur schön, wenn mer auch wat zu acheln hat un nit immer zu
tippeln braucht, zu tippeln von Städtchen zu Städtchen, von Dorf zu
Dorf!«

»Du Schlemihl, du Schaute!« Sie lachten ihn aus; aber sie sprachen
nicht mehr vom Freisein. Die Unterhaltung, die lauter geworden war im
Eifer, verstummte wieder; nun flüsterten sie nur noch, scheu-ängstlich.
Wie Windesgelispel und wie Geseufz ging’s durch den wüsten Raum unterm
nackten Sparrengebälk.

Selbst der Süßchenbäcker hatte sein lautes Prahlen gelassen, er
hatte sich zu dem Schuster auf den Bettrand gesetzt; die Köpfe
zusammensteckend, tuschelten sie ganz heimlich miteinander.

Der Landstreicher neigte sich zu Jacobs hinüber: »Rotfuchs,« sagte er,
»warum bist du hier?«

»Darum!« sagte der patzig.

Aber der Alte ließ nicht locker. »Nu sag doch, sag ens! Haste jetippelt
wie ich? Haste Schlamassel gehabt in der Besoffenheit – haste einen
jestoch?«

Als Antwort kam nur ein dumpfes Knurren.

»Sag ens! Et sind’r auch welche hier, dat sind Linker und Freischupper.
Der Ohligs is wegen Meineid hier. Der hat noch Jlück jehabt –
fahrlässigen Meineid – sonst säß de im Zuchthaus. Un einer is hier, de
hat Wechsel gefälscht, de is janz vornehm. Jung, sag et doch, warum
bist du dann hier? Mir kannste et ruhig sagen!« Der alte Kunde war sehr
neugierig, um so neugieriger, je hartnäckiger der andere schwieg. »Ich
bin soviel erumjekommen auf der Walze, oh, ich weiß Bescheid!«

»Paragraph hundertsiebenundsiebzig,« murmelte der Blasse zwischen
zusammengebissenen Zähnen. Er wußte selbst nicht, warum er es nun doch
sagte; er hatte es nicht sagen wollen, aber der alte Kerl reizte ihn
ja dazu. Was würde der zudringliche Pracher nun wohl für ein Gesicht
schneiden?!

»Ah so!« Der Vagabond hatte keine Ahnung von Paragraph
hundertsiebenundsiebzig, aber die Blöße wollte er sich doch nicht
geben, das einzugestehen. »Ah, so,« machte er noch einmal, ganz
befriedigt.

Der andere verwunderte sich. Wie, es graute dem Alten nicht? Und ihm
graute es doch vor sich selber. Nicht immer, aber heute, heute in
dieser Mondscheinnacht, in der von weit her das Quarren der Frösche
kam in leidenschaftlichem Chor; in dieser Nacht, in der die Gedanken
wanderten, immer hinter dem Manne her, der jetzt wohl längst schon bei
dem Weibe war. Das Weibsbild – das Weibsbild!

Der Rotfuchs hätte aufschreien mögen in Wut und Qual, er warf sich mit
einem Ruck auf die andere Seite herum und unterdrückte ein Wimmern.
Aber es wurde doch hörbar in der totstillen Nacht.

»Halt dein Bonum,« schrie einer, der jetzt schlafen wollte, »ich
schmeiß dir sonst meine Holzklumpen druf!« Es polterten ein paar
Holzschuhe nieder.

»Bet dich, bet dich, meine Jung,« flüsterte der alte Landstreicher,
»dann kannste jut schlafen!« Er selber bekreuzte sich und legte sich
dann zurecht, die Hände auf der Brust gefaltet. »Morjen is Feiertag, da
krieje wer Wurst oder Speck bei die Linsensupp, un nachmittags Schmalz
auf et Brot – un vielleicht ’ne Kaffee!«

Das letzte hatte er schon undeutlich gemurmelt wie in einem glücklichen
Traum; nun schlief er bereits, halb im Sprechen noch, schon fest wie
ein Kind.

Aber der Rotfuchs konnte den Schlaf nicht finden; bei allen anderen
war der, nur nicht bei ihm. Zitternd, frierend und doch glühend, sich
schüttelnd in Fieberschauern kauerte der Sträfling unter seiner Decke.

Der Mond war weiter gegangen hinter den dunklen Rand des Hahnheister
Busches; nun war es stockfinster im Schlafsaal, aber der Schlaf kam
und kam nicht zu Jacobs. Es packte ihn wie Verzweiflung: schlafen,
schlafen, nicht mehr den Mann sehen, der über das Venn rannte! Nicht
mehr das Weib sehen, das dem Mann am Halse hing! Im Schlaf Ruhe finden,
vergessen, was sich gar nicht mehr vergessen ließ!

Aber der Schlaf kam nicht. Sollte er beten, wie der alte Paternapgacker
es ihm angeraten hatte? Pah, das half ja doch nicht! Und fluchen, sich
mit den Fäusten gegen die Stirn schlagen, gegen die Brust, sich mit
scharfen Zähnen in die emporgestreckten Arme beißen, sich verbeißen
darin wie ein wildes Tier, das half auch nicht.

Bittere Tränen fing der Ruhelose an zu weinen. Wie weh ihm die Brust
tat! Kein Atemholen ohne Stich. Der trockene Husten hatte die anderen
schon manche Nacht gestört, heute kam ein ganz besonders starker
Hustenreiz. Mit fliegender Brust, hoher Röte auf den Backenknochen
kauerte der Sträfling halbaufgerichtet. Wenn doch der Morgen käme!
Wurde es denn nie, niemals mehr Tag?!

Er erwartete das Licht mit sehnsüchtiger Gier.




VII


Gegen die Stunde des Sonnenaufgangs ist es kalt auf dem hohen Venn,
mag der Tag auch noch so warm werden. In einer bleichen Kühle, vom Tau
genäßt, lagen Strafkolonie und Heiderücken, Weide und Dorf und die
ragenden Hainbuchen. Hinter den Hecken hervor tönte das Muhen der eben
aus dem Schlaf erwachten Kühe, ein Ochse brüllte, ein Hahn krähte, ein
Kalb blökte.

Beim Bauer Adams am grünen Klee war die ganze Nacht Licht gewesen, und
auch jetzt, da das ganze übrige Dorf noch schlief, war man dort schon
auf den Beinen. Man erwartete den Tierarzt, der Knecht war schon vor
Morgengrauen hinuntergefahren, den Dreiborn zu holen. Der Hausherr
selber war im Stall aufgeblieben, aber noch zeigte sich kein Absehen
der Qual. Sollte die Braune, das schönste Stück Vieh, eingehen? Ihr
schmerzliches Muhen ging den Menschen durch Mark und Bein.

Bis hinüber zu Huesgens war es gut zu hören, trotzdem die Stalltür
geschlossen blieb und die Hecke, die der stolze Bauer als
Trennungsschranke auch an der Nebenseite seines Hofes aufrechthielt,
hoch und stark und dicht war. In die schmalen Lücken ihres knorrigen
Astgefüges hatten sich die kleinen Huesgens eingezwängt; ihre schmalen
Körper schlüpften überall durch. Sie waren früh vom Strohsack
geklettert und lauschten nun mit ängstlich-neugierigen Augen. Ihre Kuh,
die liebe Maiblum, die sollte auch bald kalben, wenn es der nur nicht
auch so schlecht erging wie der großen braunen beim Bauer Adams!

»Du,« sagte das Kathrinchen zum Bruder Tönnes und zum Drückchen und
tupfte den kleineren Geschwistern einem nach dem anderen auf den Kopf:
»Du, bet dich für oß Maiblum! Wie dat arm Dier sich quäle moß!«

Nebenan ging das dumpfe Brüllen und Angstgestöhn immer weiter und
erfüllte die Herzen der lauschenden Kinder mit banger Furcht. Mitunter
kam eine Pause, aber dann setzte das Angstgebrüll um so stärker wieder
ein.

»De Mathes is der Doktor holle,« sagte der Tönnes. »Mir ha ke Jeld, für
der Dokter zu holle!«

Kathrinchen nickte bekümmert: freilich, die Mutter hatte schon so viel
gekostet! Sie konnten nichts weiter tun als beten. Unter dem dünnen
Schürzchen, das sich im Morgenwind blähte, faltete die Kleine die
Hände: ach ja, das würde sie der Bäreb recht ans Herz legen, wenn die
heut nach Echternach springen ging für die Mutter und den Dores, daß
sie auch mitbetete für die liebe Maiblum! Wie von einem glücklichen
Gedanken freudig erregt, ließ das Kathrinchen die Geschwister an der
Hecke zurück und lief hinein ins Haus zu Mutter und Schwester.

Drinnen bei Huesgens war rege Bewegung. Auch hier hatte fast die
ganze Nacht das Lämpchen gebrannt. Bäreb hatte noch, als sie aus der
Fabrik heimgekommen war, die Kirche besucht und dann die halbe Nacht
in der Küche aufgesessen, geflickt, genäht und sich gerüstet. Wenn
sie auch keinen großen Staat machen konnte mit ihrem Anzug, sauber
und ganz mußte der Rock wenigstens sein – wie sollte sie sonst wohl
bestehen vorm heiligen Willibrord?! Auch auf die Hosen des Dores, die
er immer durchscheuerte bei seinem Rutschen, hatte sie einen neuen
Flick aufgesetzt und die Flecken verwaschen und gebürstet, so gut es
anging. Kaum eine Stunde hatte sie bei den Geschwistern gelegen, beim
Morgenrot weckte sie schon wieder das Brüllen der Kuh von nebenan.
Bange Sorge erfüllte ihr Herz: auch die Maiblum war die letzten Tage
so unruhig, brüllte so viel und fraß nicht wie sonst! Jesus Maria, es
würde doch nicht schlimm werden mit der Kuh?! Es war ihr recht, daß die
Geschwister hinausliefen, um an der Hecke zu lauschen. Der Tönnes war
schlau, der würde schon dahinter kommen, wie’s mit der Kuh vonstatten
ging!

Bäreb vergaß fast ihre Reise darüber und was sie alles vorhatte am
heutigen Tag. Mit der Bahn mußte sie heute noch bis Ettelbrück kommen,
da hatte die Mutter eine Base wohnen, bei der kam sie wohl unter
mit dem Dores für eine Nacht. Und morgen würde sie aufbrechen nach
Echternach, so früh, daß sie dort eintraf zu rechter Zeit, schon zur
Vorfeier in der Pfarrkirche, die oben an der steilen Treppe liegt, die
man Pfingstdienstag hinaufspringen muß. Oh, sie wußte so genau Bescheid
zu Echternach, als wäre sie zehnmal schon dort gewesen! Mit großer
Sorgfalt kleidete Bäreb sich heute an, wusch und kämmte sich dreimal so
tüchtig als sonst. Aber der Dores wollte sich durchaus nicht waschen
lassen, sein Geschrei weckte die Mutter.

Frau Huesgen kam angeschlichen im Unterrock; man sah es, wie schwach
sie war, sie hielt sich kaum auf den Füßen. Sie weinte, als sie den
Dores sich wie ein Tier gebärden sah; er wälzte sich auf dem Estrich
und stopfte sich brüllend Sand in den Mund, und was er sonst fand an
Unrat. Jesus, barmherziger Heiland, würde es denn nie besser werden mit
ihm? Niemals?! Sie jammerte laut.

»Motter,« sagte die Tochter vorwurfsvoll, »ich jonn jo springe!«

Aber Frau Huesgen war heute kleinmütig. Die Kraft, die die wundersame
Begegnung ihr verliehen hatte, hielt nicht immer vor; wenn es auch
besser, viel besser mit ihr geworden war, heute fühlte sie doch wieder
die Schwäche. Das schreckliche Brüllen der Kuh nebenan verstörte sie
ganz. Wenn’s mit der Maiblum nun ebenso ging, Jesus Maria! Die war ihr
einziges Hab und Gut.

Das Kathrinchen kam herein, hinter ihr her stürmte der Tönnes.

»De Doktor ös do,« kreischte er atemlos, »nu jeht er in der Stall. Ich
moß kicke!« Wie der Wind fegte er wieder hinweg, um draußen an der
Hecke abermals zu lauschen.

Kathrinchen aber faßte die große Schwester um den Hals und flüsterte
ihr eifrig etwas ins Ohr, und Bäreb horchte und nickte verständnisinnig
und lächelte dann. Sie lächelten beide. Dann lauschten sie alle;
selbst der Dores, als ob er die ängstliche Spannung, die Erwartung,
verstünde, ließ jetzt sein Schreien. – – –

Der Bauer Adams kraute sich in Verzweiflung den Kopf: das Kalb lag
verkehrt herum, drum kam’s nicht heraus. Es hatte sich mit den Beinen
verfangen, es verletzte die Kuh.

Frau Adams hielt sich die Schürze vor und weinte wie bei einer Leiche.
»Eso ’n fing Kuh, oß fingste Kuh! Jesesmarijusep!«

Ihr Gejammer machte den Tierarzt nervös. »Schmeißt Euer Frau eraus!«
sagte er grob zu dem Bauer.

Das tat der nicht mehr wie gern. Hatte er ihr nicht schon zehnmal
gesagt, sie sollte in die Stube gehen?! Er selber war auch kaum fähig,
andere Hilfe zu leisten, als daß er im dunklen Stall die Laterne hielt
und dabei stand mit leis sich bewegenden Lippen, während der Doktor und
der Knecht an der stöhnenden Kuh hantierten.

Der Dreiborn war ein geschickter Mann, geschickter als mancher
Menschendoktor. Aber während er fast blindlings sein Geschäft
verrichtete, denn zu sehen war kaum etwas bei dem erbärmlichen
Lichtgefunzel, räsonierte er laut: längst hätten sie ihn holen müssen,
aber immer erst kamen sie, wenn’s zu spät war! Diese Bauern, diese
verdammten Dickschädel, nichts weiter konnten sie als beten und
plärren! »Halt dat Licht ruhig,« brüllte er den Adams an, »wenn Ihr so
dermit wackelt, komm ich nit zu Stand. Wat hatt Ihr dann mit der Kuh
jemacht? Dat Kalb stirbt ab, dat krieg ich nu un nimmer lebendig eraus.
Dämliches Bauernpack!«

Der kleine Mann pustete vor Wut; er war komisch anzusehen, aber heute
hatte der große Bauer doch Respekt vor ihm. »Mir han nühst =jemaat=,
mir han nur jebet,« sagte er ganz kleinlaut.

»Äh wat, jebet – nur jebet, dat is et ja jrad!« Dreiborn pustete immer
zorniger; er war ein aufgeklärter Mann, ›ein Mann der Wissenschaft‹,
wie er sich selber nannte. »Leben wir im neunzehnten Jahrhundert oder
im Zeitalter des dunkelsten Aberglaubens? Fast möchte man dat Letztere
meinen. Aber so seid Ihr, alles wird bebetet, un dann seid Ihr ruhig:
so, da sorgt nu der liebe Jott für! Der hätt viel zu tun, wenn der Euer
Jeplärr immer hören wollt. Heut betet Ihr um Regen und morgen wollt Ihr
schon wieder Sonnenschein, oder umjekehrt, – akkurat wie Ihr’t braucht.
Dat wär ja ne nette Jeschicht, wenn Euer Beten immer jehört werden
würd! Paßt auf, lernt wat, nützt die Zeit und stellt Euch auf Euch
selber – dat andere all is Unsinn!«

Der Knecht riß das Maul auf und grinste dumm: das war was ganz Neues,
was er da zu hören kriegte! Der Bauer kniff die Lippen zusammen, am
liebsten hätte er dem Dreiborn eins auf den Mund gegeben: sich so was
anhören zu müssen, noch dazu im eigenen Stall! Aber seine kostbare Kuh
stöhnte so kläglich; er konnte nur schweigen und still die Heiligen
bitten, ihm das Anhören dieser Gottlosigkeiten nicht als Sünde
anzurechnen. – – –

Es war um die zehnte Stunde, als Dreiborn den Hof am grünen Klee
verließ. Das Kalb hatte er nicht mehr retten können, die Kuh hoffte
er jedoch durchzubringen; aber das arme Tier war gewaltig matt. »So’n
Unverstand, so’n Unverstand,« brummte er vor sich hin, als er aus der
Hecke trat, und brummte noch immer weiter, als er sie schon längst
hinter sich hatte.

Schon geriet er in den Strom der Kirchgänger, und das besserte seine
üble Laune nicht. Mit seinen scharfen Augen musterte er die einzelnen
Gestalten. Da, der zitternde Alte, der am Stecken schlorrte, täte
auch besser, sich daheim ins Bett zu legen! Und da die Frau, die alle
Augenblicke niederkommen konnte, gehörte auch nicht mehr in die
überfüllte Kirche! Und hier die Kinder, Dreikäsehochs, die sollte
man lieber draußen herumspringen lassen beim schönen Sonnenschein,
als ihnen mit unverständlichem Singen, mit barem Unsinn den klaren
Kinderverstand zu verwirren!

Den Kopf vorgestreckt, die Augen herausgedrückt, hochrot im Gesicht,
rannte der Cholerische weiter.

Die Leute grüßten ihn, sie kannten alle den Doktor Dreiborn. Schon
manches Stück Vieh hatte er ihnen gerettet, aber sonst war er ein
komischer Herr! Sie tippten auf die Stirn und warfen sich bedeutsame
Blicke zu, als er vor ihnen herlief mit seinen dicken Beinchen, die
Hände, die den Hut hielten, auf den Rücken gelegt, nur durch ein kurzes
Nicken die Grüße erwidernd, die ihm zuteil wurden. Nach jedem scharfen
Blick, den er um sich warf, räsonierte er aufs neue halblaut vor sich
hin.

Der unterbrochene Strom der Kirchgänger, aus dem es ihm nicht gelang,
herauszukommen, versetzte ihn in immer größere Erregung. Dieses
verdammte Gerenne! Konnten sie nicht ruhig daheim bleiben und ihre
Wirtschaft beschicken? Aber das Vieh konnte brüllen, die Kinder weinen,
der Vater bettlägerig sein, die Mutter im Sterben liegen, wenn die
Glocken zu läuten anfingen, mußte gelaufen werden!

Der Bürgermeister kam ihm gerade zu paß. Leykuhlen war eilig, Mariechen
war schon voraufgegangen, aber nun hielt der Tierarzt ihn am Rockknopf
fest. Es gab kein Loskommen.

Leykuhlen kannte den Mann seit Jahren schon und schätzte ihn als
tüchtig in seinem Beruf, nun aber wurde er ungeduldig. Ins feierliche
Getön der Glocken hinein, in die Lautlosigkeit der andächtigen Waller,
die wie Wellen dem Felsen der Kirche zuströmten, sprudelte der ihm
seine ganze törichte Lebensauffassung ins Gesicht! Er aber wollte sich
nicht den heiligen Pfingsttag verkümmern lassen. »Ich muß jehen, ich
komm sonst zu spät,« sagte er und suchte sich freizumachen.

Aber der andere hielt ihn fest: »Ich sag Ihnen, Bürjermeister, Sie sind
auch so en Art Doktor: für die geistigen Schäden unserer Gemeinde sind
Sie verantwortlich wie ein Arzt für die Gebrechen des Körpers. Sie
müssen ran! Sie haben doch auch an der Wissenschaft Brüsten jesogen,
nu immer ran un die Leut aufjeklärt, damit wir kein Heer von Idioten
züchten, sondern von denkenden Wesen!«

»Da fangen Sie nun erst mal bei =Ihren= Patienten mit an, Herr
Tierarzt,« sagte Leykuhlen. Jetzt nahm er den kleinen Viehdoktor nur
noch komisch: nein, über den konnte man sich wirklich nicht ärgern! Er
legte ihm freundschaftlich den Arm um die Schulter und patschte ihn
scherzhaft: »Un ich sag Ihnen, Dreiborn, behalten Sie Ihre Weisheit für
sich oder tragen Sie die Ihren Ochsen un Kühen vor – wir sind hier kein
Rindvieh!« – – – – –

Derweilen saß die Bäreb im Eisenbahnzug und fuhr durch Gegenden, die
sie längst nicht mehr kannte. Das war wohl noch Venn, aber nicht mehr
so, wie es sich um Heckenbroich dehnte. Die Ginstersträucher, die jetzt
um die Ley und am Truppen-Übungsplatz überall wie goldene Flammen
leuchteten, standen hier schwarz, so weit das Auge sehen konnte.
Hatte man sie angebrannt, um sie dann umzugraben, mit ihrer Asche den
Weideboden zu düngen? Nein, auch die vielen kleinen Schonungen waren
angekohlt, die Nadeln, sofern noch welche an den Tännchen hafteten,
dürr und rostbraun. Über dem Strich Venn, den ein Waldbrand abgerast
hatte, flimmerte ein Sonnenglast, der ihn noch viel trauriger machte.

Bäreb seufzte: es war doch viel schöner um Heckenbroich. Hier gab es ja
gar kein Weideland mehr!

Langsam keuchend und bimmelnd kroch der Zug immer bergan, immer noch
weiter so hinauf bis St. Vith. Da hieß es ein paar Stunden warten.
Bäreb hatte nichts davon gewußt, daß sie umsteigen mußte; alle
Mitfahrenden in der vierten Klasse waren ausgestiegen, sie aber saß
noch immer geduldig am einen Ende der Bank, ihr Bündel zu Füßen, den
Dores auf dem Schoß. Es war ein Glück, daß der Schaffner noch einmal in
den Wagen sah.

»Echternach?« hatte sie schüchtern gefragt. Sie war des Fahrens schon
herzlich satt. War es noch weit bis dahin? War man nun bald da?

Der Mann hatte sie ganz empört angeschrieen: »Aussteigen,« und hatte
sie am Arm gegriffen, sie gerade noch herausgerissen, sie und das Kind
und das Bündel, ehe der Zug abfuhr, der sie mit davongeführt hätte,
weiß Gott, wohin in die fremde Welt.

In den Wartesaal traute sich Bäreb nicht, da mußte man was verzehren;
auch schrie der Dores, den das »Aussteigen!« des Schaffners erschreckt
hatte, so mörderlich, daß sich das Mädchen gar nicht in Menschennähe
wagte. So ging sie den Bahnsteig zu Ende bis zum Güterschuppen, setzte
sich da auf eine der umherliegenden Kisten, lehnte den Rücken gegen die
beschienene Schuppenwand und sonnte sich.

Allmählich beruhigte sich der Dores; sie gab ihm zu essen aus ihrem
Bündel, und er beschmierte sich ganz und gar, aber er war doch
wenigstens zufrieden. Unbekümmert um das Fremde, was um ihn war, kroch
er zu ihren Füßen im Kies des Bahnsteigs, steckte von den weißen
Steinchen, die in der Sonne blinkerten, in den Mund, probierte, ob das
ein Zückerchen sei, spuckte den Stein dann wieder aus, um ihn wiederum
ins Händchen zu nehmen und zur Schwester emporzuhalten: »Pä, pä!« Das
war sein gewöhnlicher Ausdruck für alles, was ihn verwunderte oder
erfreute; mehr sagte er nicht.

Bäreb wurde sehr müde; nun spürte sie doch die durchwachte Nacht.
Sie liebkoste den Bruder und versuchte, mit ihm zu spielen, aber der
Schlaf war stärker als der gute Wille. Wie im Traum hörte sie plötzlich
die Mutter sprechen, die Maiblum brüllen, die Geschwister schreien
– vor ihr lag das Haus hinter der Hecke – ein Gefühl der Wohligkeit
durchrieselte sie, die Augen fielen ihr zu. – – –

Als sie erwachte, lag der Dores vor ihr im Kies und schlief. Die Sonne
war fort, aber auch ihr Zug.

»Nach Echternach, nach Echternach?!« Der Mann mit der roten Mütze,
gegen den sie verzweifelnd anrannte, zuckte die Achseln: ja, da hätte
sie eben besser aufpassen müssen, der Zug dahin war schon eine Weile
fort!

»Jesus Maria!« Sie brach in heiße Tränen aus: was nun?! Ach, sollte
sie nicht lieber umkehren? Es ging doch gewiß noch ein Zug zurück nach
Heckenbroich. Aber dann schämte sie sich und nahm sich zusammen: sie
mußte ja springen gehen, sie hatte so vieles zu erbitten, sie durfte
nicht umkehren. Ganz vernünftig erkundigte sie sich, ob’s denn nicht
noch einen weiteren Zug nach Ettelbrück gäbe? Ei gewiß, auf den Abend
noch. Da ward sie wohlgemut. Ach, wenn sie nur hinkam, wenn sie nur
hinkam! Keinen Gedanken mehr schickte sie zurück in die verlassene
Heimat, all ihr Sinnen, ihr Herz und ihren Verstand richtete sie voran.

Sie hatte ein Büchlein bei sich, das »St. Willibrordus Büchlein«,
enthaltend das Leben des Heiligen, die Gebete zu seiner Verehrung
und zur Wallfahrt nach Echternach. Das hatte die Frau Bürgermeister
der Mutter für sie gegeben. Nun las sie darin. Sie las vom heiligen
Willibrord, dem Vorbild der Demut, dem Muster des Gehorsams; vom
Glaubenseifer des heiligen Willibrord, von seiner Liebe zu Gott und
seiner Nächstenliebe, von seinem Gebetseifer, von seinem Bußgeist,
von seiner Sanftmut und endlich von der reinen Absicht des heiligen
Willibrord bei allen seinen Werken. Mußte das ein guter Heiliger sein!
Sie las mit leuchtenden Blicken, las sich immer mehr und mehr in die
feste Überzeugung hinein, daß er allen half, die zu ihm kamen nach
Echternach. ›Heiliger Willibrord, bitt für uns‹ – das schwebte ihr
immerfort auf den Lippen.

Sie hatte ihren alten Platz auf der Kiste wieder eingenommen und las
eifrig, halblaut jedes Gebet, das sie herausbuchstabierte, leise
mitmurmelnd. Erst als ihr die Sonnenstrahlen nicht mehr aufs Büchlein
fielen, merkte sie, daß es Abend ward.

Es war kühl hier auf dem Bahnsteig der höchstgelegenen Station; von
allen Seiten konnte der Wind ankommen, hohe Zäune aus Latten mußten
die Schienenstränge schützen gegen die Schneewehen des Winters. Es
tat nicht gut mehr, auf der Kiste zu sitzen. Nun Bäreb nicht mehr
vom heiligen Willibrordus las, fühlte sie sich auf einmal allein und
verlassen; der Dores war doch so gut wie niemand.

»Pä, pä,« sagte er jetzt und riß sie am Kleide. Sie gab ihm eine
Semmel, dann hob sie ihn auf aus dem Kies und ging langsam mit ihm zum
Bahnhofsgebäude. Es half nichts, nun mußte sie doch in den Wartesaal
hinein, es war für das Kind zu kalt und zugig draußen. Ein Glück, daß
der Dores heute so lieb war; er hatte sich noch nicht seine Hosen
beschmutzt, er spielte mit ein paar Steinchen ganz stillvergnügt und
schrie nicht.

Den Bruder an sich pressend betrat sie den Wartesaal. Sie konnte nichts
sehen vor Qualm und Tabaksrauch; mit niedergeschlagenen Blicken tappte
sie zum entlegensten Plätzchen.

Mit großen Augen starrte der Dores drein. »Pä pä,« sagte er wiederholt
und riß die Schwester am Ohrzipfel. Ein Soldat hatte ihm vom Nebentisch
mit einem Bierglas gewinkt. Er strebte hin, er wollte einmal trinken:
»Pä, pä, pä!«

Die Soldaten, die um den Tisch saßen, lachten laut. Es waren vier
muntere stramme Kerle, die Urlaub hatten über die Pfingstfeiertage und
die sich nun freuten, nach Hause zu kommen. »Komm, komm her,« sagte der
eine und winkte dem Kind mit dem Finger.

»Pä, pä, pä!«

Bäreb konnte den Jungen kaum halten, er wollte von ihrem Schoß, und als
sie ihm wehrte, biß er sie.

»Fräulein, lassen Sie doch das Kind,« sagte der Soldat. Und als sie den
strampelnden Jungen doch nicht losließ, war der hübsche Soldat mit zwei
Schritten bei ihr im Winkel zwischen Ofen und Wand und nahm ihr eins,
zwei, drei, das Kind vom Schoß und ließ es an seinem Bierglas trinken.
Ei, wie der Bengel schmatzte! Die Vier wollten sich ausschütten vor
Lachen.

Bäreb wurde blutrot. Aber böse konnte sie doch nicht sein: die waren ja
so freundlich! Verstohlene Blicke ließ sie zu dem Tisch hinübergleiten.

»Fräulein, wohin reisen Sie dann?« fragte wieder einer.

Sie wollte erst nicht antworten, aber dann besann sie sich: das wäre
doch zu grob, die hatten ihr ja nichts getan. So antwortete sie
verschämt-leise: »No Echternach!«

»So, Sie wollen wohl springen da?«

Sie nickte.

Die Soldaten zwinkerten sich zu; drei von ihnen hatten Lust, zu
lachen, aber der vierte, der allerhübscheste, sagte ernsthaft: »Aber,
Fräulein, da kommen Sie heut abend ja jar nit mehr hin!«

Ja, das wußte sie wohl! Sie erzählte von ihrem Malheur mit dem Zug.
Ach, es tat ihr so gut, mit einem freundlichen Menschen zu sprechen!
Sie genierte sich gar nicht mehr; das waren ja welche, die ihre Heimat
kannten. Sie waren vom Platz.

Es dauerte nicht lange, so saß Bäreb bei den Soldaten am Tisch. ›Kommen
Sie nur eraus, aus Ihrem Loch da,‹ hatte der hübscheste gesagt. Einer
so freundlichen Aufforderung hatte sie nicht widerstehen können. Und
Durst hatte sie auch. Sie ließen sie alle einmal trinken. Der Dores
wanderte von Schoß zu Schoß. Ei, es war doch ganz schön, auf Reisen zu
gehen! Das Bunt der Uniformen, das Rot der Kragen, die blanken Knöpfe
zogen Bärebs Blicke unwiderstehlich an. So nah hatte sie noch nie
einen Soldaten gesehen. Und als der allerhübscheste sagte, nun wäre er
ganz zufrieden, den ersten Zug, der aus der Lausegegend hier fortfuhr,
wo man nachts frieren und mittags braten müßte, versäumt zu haben,
lächelte sie glücklich und litt es, daß er den Arm auf ihre Stuhllehne
legte und ihr näher rückte.

Schade, daß sie nicht =einen= Weg zusammen hatten! Nur eine Strecke
konnten sie noch zusammen fahren.

Bäreb fühlte eine lebhafte Freude: Gott sei Dank, nun brauchte sie
nicht so ganz allein in die Dunkelheit hinein! Die Lustigkeit der Vier
steckte sie an; solch eine Fröhlichkeit hatte sie noch nie kennen
gelernt in ihrem Leben. Die berauschte sie ganz. Zu Haus war man so
anders, da hatte man immer zu sorgen und zu bedenken, man war still
und ernsthaft. Als habe sie nicht vor sechs Stunden noch das Kreuz
der Marienley über die Tannen ragen sehen, so war ihr jetzt zumute.
Das lag jetzt alles so weit, so weit. Sie hörte nicht mehr die Mutter
sprechen, die Maiblum brüllen, die Geschwister spektakeln – der Arm des
Burschen, der bis jetzt auf ihrer Stuhllehne geruht hatte, legte sich
nun um ihre Schultern. Sie trank aus seinem Glase und lachte aufgeregt.
Sie wurde so hübsch in ihrer strahlenden Freude, daß alle Vier ihr
zutranken: »Prost, Schätzchen,« und sich darum rissen, aus wessen Glas
sie trinken sollte. Sie machten ihr Komplimente, die feinsten waren es
nicht; aber sie nahm’s nicht so genau damit. Wer sie unterm Tisch auf
den Fuß trat, den trat sie wieder, und wenn einer zu ihr sagte: »Du,
Mädchen, ’ne Kuß krieg ich aber von dir,« antwortete sie frischweg:
»Morjen öm dies Zitt,« und zeigte lachend ihre gesunden Zähne.

Hätte das ein Mensch von der Kleinen gedacht, daß die so fidel sein
könnte! Erst hatte sie kein Auge aufgeschlagen, nun ging sie auf jeden
Spaß ein. Sie fragten neckend: »Fräulein, dat is doch Ihre Jung?« und
sie antwortete blitzgeschwind, gar nicht um die Antwort verlegen:
»Dafür bin ich noch vill zu jung. De Dores es als sibbe un ich achzehn,
ich hatt jrad minge Namensdag!«

Wer hätte gedacht, daß hinter den Hecken von Heckenbroich so was
stecken könnte! Die Vier, die lange mit keinem Mädchen poussiert
hatten, zeigten sich heftig entflammt; besonders der hübscheste,
Lohgerber seines Zeichens, machte ihr Augen, daß es Bäreb überrieselte
in einem Schauer von Glück.

›Heiliger Willibrord, bitt für uns,‹ betete sie heimlich. Wenn der es
zu allem noch vermochte, daß sie einen hübschen und braven Schatz von
der Wallfahrt mitbrachte?! –

Das war eine Fahrt durch die dämmerig und mild werdende Höhenlandschaft
zwischen Venn und Ardennen! Der Dores schlief auf der Bank, und Bäreb
bekam soviel Schönes und Liebes zu hören, daß ihr die Ohren summten
und der Kopf schwirbelig wurde. Aber es war ein seliger Schwirbel. Sie
erwachte auch noch nicht aus ihm, als die Vier in Ulflingen ausstiegen,
um ihre Straße zu ziehen. Die Hände im Schoß gefaltet, das Gesicht mit
den geschlossenen Augen, wie in die Ferne lauschend, gehoben, saß sie
ganz still. Noch immer fühlte sie die verliebten Küsse, die sie ihr
aufgedrückt hatten, noch immer hörte sie das schmeichelnde Flüstern:
›Lieb Mädchen‹, ›Schön Schätzchen‹, ›Allerschönst Bärbchen auf der
Welt‹! Sie saß kerzengerade auf der Bank. Jesus, sie hörte in süßem
Schrecken das alles noch – und dazwischen: ›Heiliger Willibrord, bitt
für uns – heiliger Willibrord – heiliger Willibrord!‹

Nein, das war keine Täuschung mehr! Längs des Bahnstrangs hin, auf dem
der Zug jetzt langsamer fuhr, rannte es mit eiligem Beten. Sie fuhren
in einen Bahnhof ein, die Türen der vierten Klasse wurden aufgerissen,
herein stürzte sich in Hast ein Menschenschwall. Man trat sie auf die
Füße, man stupste den kreischenden Dores von der Bank; alle fanden
nicht Platz, man drängte sich, man stand fast aufeinander, es war schon
spät Abend, man mußte bis Ettelbrück, um morgen beizeiten in Echternach
zu sein.

Bäreb erschrak: das waren ja so viele, so viele Menschen, es war ja
fast gar kein Platz mehr für sie da! Man bedrängte sie hart. Auf einem
Knie hielt sie den Dores, auf dem andern saß ihr ein dicker Mann. Eine
Frau mit riesigem Kropf ihr gegenüber stieß mit dem großen Henkelkorb,
den sie auf dem Schoß hatte, immerfort gegen sie an. Selbst im Rücken
spürte die Eingeklemmte das Gedränge. Man lehnte sich von hinten fest
gegen sie, man drängte sie so fast vom Sitze herab. Sie klebte nur mehr
noch am Bankrand. Und so ungebärdig war der Dores noch nie gewesen.
Er strampfte der Frau mit dem Kropf mit seinen Füßen gegen den
Henkelkorb, und diese fing an, sich empört zu beklagen.

»Haald Eier Könd doch bei Euch, Framensch! Es dat en Manier, fremde
Leit zu troten, ei’m de Saachen zu runjenieren, dat Sonndagsklaad?!
Esu’n Biwak, esu’n frech Könd!«

Bäreb verstand die Frau nicht recht, die sprach anders, als man
daheim zu sprechen pflegte, aber sie merkte doch, daß die Frau mit
dem Kropf ihrem Doreschen böse war. »Bis still, Doresche, bis still,«
flüsterte sie dem Bruder ins Ohr und hielt seine strampelnden Beinchen
mit ängstlicher Hand fest. Der Traum war verflogen. Sie hätte weinen
mögen, fassungslos, hilflos; aber der heilige Willibrord machte ihr
wieder Mut. Sie hörte ringsum seinen Namen. Alle Mitreisenden sprachen
von ihm. Es waren einige darunter, die waren schon voriges Jahr oder
vor Jahren bei ihm gewesen, und sie belehrten jetzt die Neulinge, die
zum ersten Mal zu ihm gingen. Oh, der Wunder, die da geschahen, waren
unzählig viele!

Der dicke Mann auf Bärebs Knie, der schwerer war wie ein Sack von zwei
Zentnern Gewicht, wußte was zu erzählen: nach einer Krankheit war er
so dünn geworden, so dürr wie eine Hopfenstange. Das Fleisch war ihm
von den Knochen gefallen, kein Essen schmeckte ihm, so schwach war
er geworden, daß er nicht mehr allein gehen konnte. Selber springen
hatte er nicht können, aber seine Frau war hingefahren nach Echternach
und war für ihn gesprungen, und als sie wieder heimkehrte von der
Pilgerfahrt, da hatte er ihr schon entgegengehen können bis vor das
Haus, und Fleisch hatte er auch wieder ein paar Pfündchen gekriegt, so
daß er doch nicht war wie lauter Knochen. Das nächste Jahr hatte er
wieder springen lassen – das heißt, seine Frau war nicht hingefahren,
die war gestorben derweil – aber er hatte jemanden dort gedungen, zwei
Mark kostete das. Geholfen hatte das auch wieder sehr!

Bäreb schielte ihn von der Seite an: ja, der war gut bei Leibe!

»On eweil,« fuhr der dicke Mann ganz glücklich fort, »eweil sein eich
kerngesund, eich sein stark on dick. Eweil giehn eich zum Dank sälwer
springen!« Er pustete und rang nach Luft, die hastige Erzählung hatte
ihm gänzlich den Atem genommen, förmlich blaurot wurde sein glänzendes
Fett; er wischte sich immer wieder den Schweiß ab.

Pah, das war noch gar nichts! Die Erzählung des Dicken schien den
Hörern noch gar nicht so wunderbar, die wußten noch ganz anderes zu
berichten. Es war einmal eine gewesen, die war lahm und krumm und litt
grausige Schmerzen, die ließ sich tragen an des Heiligen Grab und
betete daselbst fünfzigmal die Litanei zum heiligen Willibrord, und da
konnte sie auf einmal ihre Glieder wieder bewegen und sprang sogar mit
in der Prozession im nächsten Jahr. Und ein Jüngling aus Steinheim,
der mit allen Gliedern geschlenkert hatte, den Kopf nicht hatte in die
Höhe halten können, sondern ihn baumeln lassen mußte bald rechts und
bald links, der war voriges Jahr auf der Stelle, als er nur das braune
Bußkleid des Heiligen, das hinter Glas beim Altar der Pfarrkirche
hängt, angesehen hatte im stummen Gebet, geheilt worden. Den würde
man sicher auch dieses Jahr wieder zu sehen kriegen, aber kerzengrad
aufrecht und ohne Schlenkern.

Bäreb riß Augen und Ohren auf. Den Mund konnte sie kaum mehr zubringen,
ein Ruf wollte sich ihm entringen, ein Schrei der Entzückung und der
inbrünstigen Bitte: ›Heiliger Willibrord, bitt auch für uns!‹ Den
Dores drückte sie fest, ganz fest an ihr heftig pochendes Herz: ach,
die garstigen Krämpfe, die er zuzeiten so oft gehabt hatte, und die
auch jetzt noch zuweilen wiederkehrten, diese Krämpfe, die ihm alle
Glieder durcheinander warfen, in denen er die Daumen einkniff, die
Augen verdrehte, die Zähne aufeinanderbiß, diese Krämpfe würden ihn nun
bald nicht mehr plagen! Er würde bald nicht mehr so blöde dreinschauen,
ein gesunder Junge würde er sein, wie die Brüder auch. Auch der
geschwächten Mutter wurde wieder neue Kraft gegeben – ach, und alles,
alles wurde gut! –

Bäreb hatte die hübschen Soldaten, ihre zärtlichen Worte und das Glück,
das sie dabei empfunden, jetzt gänzlich vergessen. Ihre schwarzen
Augen ließ sie rundum gehen in dem dunklen, verqualmten, nur von einer
erbärmlichen Deckenflamme notdürftig beleuchteten Waggon. So viele,
so viele, und allen sollte der Heilige helfen oder hatte ihnen schon
geholfen! Sie spähte in jedes Gesicht: wenn sie doch weiter erzählen
möchten! Sie hörte so gern zu.

Die Frau mit dem Kropf und dem Henkelkorb riß den Mund weit auf: das
war alles noch nichts gegen das, was sie wußte! Sie kam von Roth,
in ihrem Dorf waren reiche Leut – ein großer Bauer und seine Frau –
zwanzig Kühe hatten sie auf der Weide, vier Pferde im Stall, eine
richtige Ackerwirtschaft – und denen ihre Tochter war blind. Aber sie
waren mit der nach Echternach gefahren und hatten ihr mit dem Wasser
des St. Willibrordusbrunnens die Augen gewaschen, hatten auch ein
Dutzend Flaschen am Brunnen gefüllt und mit heimgebracht und sich
darangehalten, dem Mädchen alle Morgen und Abend die Augen damit
zu waschen. Am dritten Morgen schon sprach das Kind: ›Ich sehe was
glimmern‹ – das war die Sonne, die sah es wie hinter grauen und dichten
Wolken. Am dritten Abend aber sprach es: ›Ich sehe was flimmern‹ – das
war die Sonne, die goldig-rot unterging. Am vierten Morgen sprach es:
›Es tut mir weh in den Augen, was sticht da so?‹ – das war die Sonne,
die vom Himmel strahlte. Am fünften Morgen sprach es: ›Ich sehe es
flammen, was brennt da so?‹ Am sechsten Morgen sprach es: ›Ich sehe was
leuchten – ah, wie ist das so schön!‹ Aber am siebenten Morgen schrie
es laut: ›Ich sehe, ich sehe – da steht sie, die Sonne!‹

›Seit dat sich zujedraon hat in unsem Dorf, giehn mir ahl nao
Echternach,‹ schloß die Frau. ›On eweil giehn eich aach für zo springe.
Kucktelhei!‹ Sie band das Tuch ab, das sie um den Hals trug, und
entblößte ihren ganzen schrecklichen Kropf: ›Dän gänn eich eweil quitt!
Bitt für uns, heiliger Willibrord!‹

Irgend eine Stimme hob mit der Litanei des heiligen Willibrord an, und
bald vereinten sich alle Stimmen im Wagen:

    »Heiliger Willibrord, bitt für uns!
    Heiliger Willibrord, ein Lehrer der Wahrheit,
    Heiliger Willibrord, ein Zertrümmerer der Götzen,
    Heiliger Willibrord, eine Zierde der römischen Kirche –«

und immer noch weiter:

    »Heiliger Willibrord, eine Blume der Demut,
    Heiliger Willibrord, ein Spiegel der Reinigkeit,
    Heiliger Willibrord, eine Lilie der Keuschheit,
    Heiliger Willibrord, ein Muster der Geduld,
    Heiliger Willibrord, ein Heil der Kranken,
    Heiliger Willibrord, ein Vater der Armen,
    Bitte für uns, heiliger Willibrord!«

Bäreb wunderte sich im stillen, wie die Leute das alles so auswendig
wußten. Ja, so mußte man’s können! Wenn nur ein wenig mehr Licht
im Wagen gewesen wäre, sie hätte gern ihr Büchlein hervorgeholt
und daraus die Litanei mitgebetet, so aber mußte sie sich darauf
beschränken, nachzumurmeln, was die anderen vorbeteten.

    »Heiliger Willibrord, ein Schild deiner aufrichtigen Verehrer,
    Heiliger Willibrord, ein mächtiger Fürsprecher im Himmel,
    Bitte für uns, heiliger Willibrord!«

In demütigem Glauben, in Liebe und Hoffnung wendete Bäreb ihr Herz dem
Heiligen zu.

Die Fahrt wurde ihr gar nicht lang. Als ob das gemeinsame Gebet
sie alle miteinander bekannt gemacht hätte und freundlicher und
verträglicher gesinnt, so wurden die vorhin Rücksichtslosen
teilnehmender. Der dicke Mann sagte: »Exkusört, eich drücken Euch
wohl,« und rutschte zur Seite, und die Frau mit dem Kropf stellte
ihren Henkelkorb zu Boden und zog dafür die Beine des Dores, der gern
schlafen wollte, sich auf den Schoß: »Lägt dat schwer Könd noren
unscheniert heihin – esu – der Läng lang, dat dat arm Könd eweil ebbes
Schlaof kriet!«

Die Sterne standen am Himmel. Je weiter sie abkamen von den Eifelhöhen,
desto weicher wurde die Luft. Es fuhr sich schön mit dem Bummelzug in
die Sternennacht hinein. Der Dores schlief, der Bäreb Kopf war dem
Dicken nebenan auf die Schulter gesunken; er ließ sie ruhig da liegen.

»Ob dat dat Könd von dem Mädche lao is?« fragte eine Neugierige und
zeigte mit ausgestrecktem Finger auf den Dores hin.

»Ihr seid wohl geckig?« Der dicke Mann wurde ordentlich grob. Sah sie
denn nicht, was für ein junges Blut das noch war, die konnte doch
nicht so einen Jungen schon haben? Er taxierte ganz richtig: das war
ihr Brüderchen, das brachte sie hin zum heiligen Willibrord, man sah’s
ja gleich auf den ersten Blick: der Junge war krank, er hatte seinen
richtigen Verstand nicht.

Alle setzten die Augen ein. Viel neugierige Blicke hefteten sich auf
das schlafende Geschwisterpaar. Bäreb mit ihrem hübschen Gesicht, das
noch schmaler erschien in der Müdigkeit, mit den schwarzen Wimpern,
die wie Schatten auf den Wangen lagen, fand Gnade vor den Augen der
Männer. Den Frauen gefiel der Dores besser, trotz seines dicken Kopfes
und der hängenden Unterlippe. Sie bedauerten ihn: warum war seine
Mutter nicht bei ihm? So eine ledige junge Person weiß ja gar nicht
mit einem Kind umzugehen. Wie ungeschickt sie es hielt – da – beinahe
hätte sie’s fallen lassen! Bäreb hatte von den hübschen Soldaten
geträumt, unwillkürlich hatte sie die Arme geöffnet, der Dores wäre
ihr vom Schoße gerutscht, hätten nicht barmherzige Hände zugegriffen.
Und so lange wurde nun am Dores gezupft und gezogen, zurechtgerückt
und gestreichelt, bis er die müden Augen aufriß, die fremden Gesichter
entsetzt anstarrte und in ein lautes Gekreisch ausbrach. Das wollte
nicht enden, trotz allen Zuredens. Die freundlich Besorgten wurden
zuletzt unwillig, und die arme Bäreb wußte nicht, wo hinsehen vor
Verlegenheit. Sie fühlte, wie der Junge sie durchnäßte in seiner Angst
– ach, wären sie nur erst an Ort und Stelle!

Da – der Zug verlangsamte jetzt seinen Lauf, er pfiff und verschnaufte
sich – Ettelbrück! Der Schaffner riß die Wagentüren auf. Gottlob,
Ettelbrück, Ettelbrück! Aber Echternach noch so weit! – – –

Es war einmal vorgekommen, daß Leute, die gelobt hatten, zu springen
vorm heiligen Willibrord, ihr Gelübde nicht hielten. Da wurden ihre
Kinder und ihr Vieh im Stall von einer Krankheit befallen, in der sie
die Köpfe warfen und mit den Gliedern schlenkerten, unfreiwillig alle
die Sprünge und Bewegungen machen mußten, alle Gebärden der Springer
zu Echternach.

Aber wenn Bäreb auch diese Erzählung nie gehört hätte, sie wäre doch
ihrem Gelübde nicht untreu geworden; sie wäre nicht umgekehrt und wäre
es ihr noch viel schlechter ergangen als heute nacht. Es war viel
zu spät gewesen, die Base der Mutter aufzusuchen, alle Häuser von
Ettelbrück lagen dunkel in der Ferne, man sah nirgend ein Licht mehr
glänzen. Wie die meisten der Wallfahrer war auch sie auf dem Bahnhof
geblieben; in eine Herberge zu gehen, kostete zu viel, und wo wäre denn
auch eine gewesen? Sich der Frau mit dem Kropf anzuschließen, die noch
in den Ort hineinging, traute sie sich nicht, sie hielt sich lieber an
den Dicken, der war so gutmütig; er kaufte ihr sogar am Morgen, als
sie fröstelnd und übernächtig recht erbärmlich dasaß, am Büfett einen
tüchtigen Kornschnaps. Sie wollte ihn erst nicht annehmen, sie hatte
noch nie Schnaps getrunken; aber nun trank sie doch, und er tat ihr
gut. Wenigstens glaubte sie so; denn daß ihr der Kopf schwer wurde,
das kam nicht vom Schnaps. Das kam von all dem Ungewohnten, von dem
schlechten Schlafen auf der Bahn, von der Hitze und Fülle im Wartesaal.
Selbst auf den Boden hatten sich welche hingestreckt, das Bündel unter
dem Kopf.

Wenn Bäreb geglaubt hatte, das seien schon viele Menschen, die sich
im Wartesaal versammelt hatten, so wurde sie jetzt noch eines anderen
belehrt. Draußen auf dem Perron: Menschen, Menschen, Menschen. Hier kam
wohl die ganze Welt zusammen?!

Seit es Morgen war, rasselten immer wieder neue Züge auf dem
Bahngeleise vor. In den Wartesaal war nicht mehr hineinzukommen,
draußen auf dem Bahnsteig stand es Kopf an Kopf. Mit Fahnen, mit
Kreuzen, mit ihren Musikchören und ihren Geistlichen standen da ganze
Dorfgemeinden.

    »Heiliger Willibrord, eine Flamme der göttlichen Liebe,
    Heiliger Willibrord, ein besonderer Schützer hiesiger Gegend!«

Heiliger Willibrord, heiliger Willibrord, wohin man sah, wohin man
hörte. Nur =ein= Gedanke belebte all diese Köpfe, all diese müden
Gesichter, all diese Seelen: Echternach.

Bäreb sah auch manchen Kranken, vor dessen Anblick ihr grauste. Es
kamen Blöde und Taube, Stumme und Lahme, Blinde und mit Geschwüren
Behaftete; und solche, die äußerlich nicht so ihre Krankheit zeigten,
zeigten ihr Leid doch in blassen, abgezehrten, verhärmten Gesichtern.
Bäreb ging abseits, um all das nicht zu sehen. Oh, so schlimm war es
mit ihrem Dores doch noch nicht! Sie küßte ihn, und er patschte sie mit
den welken Händen ins Gesicht; je näher sie Echternach kamen, desto
lieber wurde er.

Besonders eine war in der Menge, vor der es Bäreb graute; sie wußte
nicht recht, warum, aber es gruselte sie. Und doch glitten ihre Blicke
immer wieder hin in ängstlicher Neugier. Was fehlte der nur?! Die sah
ja so gesund aus, stark und dick; sie mochte im gleichen Alter mit ihr
stehen, aber sie hatte mehr Fleisch an sich. Auf einer Seite wurde sie
von ihrer Mutter geführt, einer behäbigen Bäuerin, auf der anderen von
einer ältlichen Frau, wohl auch einer Anverwandten.

Mit unruhig-flackernden Augen sah das Mädchen um sich, es drängte immer
voran, die Frauen konnten es kaum zurückhalten. Und in Absätzen schrie
es ganz laut: »Heiliger Willibrord, heiliger Willibrord!« Beinahe wäre
es unter die Räder gekommen; vor den nun einlaufenden Zug drängte es
sich hin, es wollte durchaus zuerst hinein, vor allen anderen. Es
konnte es gar nicht abwarten.

In einem Tumult, der etwas Beängstigendes hatte, stürmten die
Wallfahrer die Coupés. Es war ein Durcheinanderschreien, ein Trappeln,
ein Stoßen, ein Stürmen, ein Drängen, ein Drohen, ein Brüllen, ein
Schelten und ein Sich-beklagen, daß Bäreb selber nicht wußte, wie sie
eigentlich auch in einen Wagen gekommen war. Zu ihrem Schrecken sah
sie das Mädchen sich gegenüber. Es hatte starke hellblonde Zöpfe um
den Kopf liegen und war gut gekleidet – ei, war die blaue Taille fein
mit dem Sammetbesatz, und der Rock mit den Volants! Das Mädchen war
eigentlich sehr hübsch. Es lächelte Bäreb an, aber diese traute sich
nicht, wieder zu lächeln: Jesus Maria, das blonde Mädchen lächelte
wohl freundlich, aber seine Augen blieben so leer dabei, als wären die
Gedanken weit weg.

Mit großer Gesprächigkeit fing die Mutter, die behäbige Bauerfrau,
eine Unterhaltung an. Sie fragte Bäreb, ob sie auch springen wolle
zu Echternach? Sie und ihre Angela und die Base Piette wollten auch
springen; sie kamen aus dem Luxemburgischen, der Knecht hatte sie
gefahren bis zur Bahnstation, sie hatten Wagen und Pferd. Die Angela
war krank. Von Kind an war sie anders gewesen als andere Mädchen,
selbst bei den lieben Nönnchen, wohin man sie zwei Jahre in »Penßjohn«
getan hatte, war es nicht besser geworden mit ihr. Einen teueren Arzt
in der Stadt hatte man auch zu Rat gezogen, der hatte die Krankheit mit
einem gelehrten Namen benannt.

»Aber dat is all nit wahr, uns Anschela« – die Frau dämpfte die Stimme
und raunte der lauschenden Bäreb ganz geheimnisvoll ins Ohr: »der is
wat angedahn!«

Bäreb riß ihre dunklen Augen weit auf und hielt sich unwillkürlich
zurück, daß der Atem der Blonden sie nicht streifte. Sie hatte wohl
schon gehört, daß, wenn die Kühe keine Milch gaben, man sagte, denen
sei was angetan. Aber bei Menschen, o nein, das hatte sie noch nicht
gewußt! Scheu richtete sie ihre Augen auf das Mädchen.

Das war aber sehr vergnügt; es schwatzte in einem fort und preßte mit
beiden Händen seine blaue Taille herunter, damit sie straff und glatt
über der vollen Brust saß. Ab und zu betete es auch ein Sätzchen. Aber
dann wurde sein rundes, blühendes Gesicht jedesmal ein ganz anderes.
Zwischen den Brauen grub sich eine tiefe Falte ein, die vollen Lippen
wurden schmäler und erschienen blässer, die flackernden Augen hoben
sich empor und starrten unbeweglich auf einen Punkt:

    »Herr, erbarme dich unser,
    Christe, erbarme dich unser!«

Die Blonde stöhnte laut, ihre Züge verzerrten sich wie bei einem
heftigen Schmerz; sie schlug sich an die Brust, unruhig scharrten ihre
Füße.

    »Heiliger Willibrord, bitte für uns!« –

Leiernd fielen Mutter und Base ein: »Wir bitten dich, heiliger
Willibrord, erhöre uns!«

Unwillkürlich fing auch Bäreb mit an; wenn alle beteten, sollte sie da
nicht mitbeten? Der ganze Wagen, alle Leute, die darin saßen, nahmen
Teil.

Wie eine Vorbeterin, mit erhöhtem Ton, begann das Mädchen aufs neue.
Es hatte etwas Heißes, etwas gewaltsam mit sich Fortreißendes, Bäreb
konnte nicht widerstehen. Mit Mühe nur hielt sie an sich; wenn sie sah,
wie das Mädchen an allen Gliedern zuckte, wie es sich bäumte in seinem
Gebet, konnte auch sie kaum ruhig bleiben. Aufspringen hätte sie mögen
von der Bank, wie jetzt das Mädchen tat, hineinschreien in das Rasseln
und Schnauben des Zuges, es überbieten mit der Stimme:

    »Heiliger Michael,
    Heiliger Gabriel,
    Heiliger Raphael,
    Heiliger Josef,
    Heiliger Petrus,
    Heiliger Paulus,
    Heiliger Thomas,
    Heiliger Philippus,
    Heiliger Bartholomäus,
    Heiliger Matthäus,
    Heiliger Markus,
    Heiliger Stephanus,
    Heiliger Laurentius, Vincenzius, Fabian und Sebastian,
    Alle heiligen Chöre seliger Geister, bittet für uns!«

Die blonde Angela schrie alle Engel und Erzengel, alle Jünger des
Herrn, alle Propheten und Märtyrer, alle heiligen Bischöfe und
Beichtiger, Priester und Leviten, Mönche und Einsiedler in unendlicher
Reihe auf sich herab.

Es schwindelte Bäreb. Wie war es möglich, die ganze Litanei zu allen
Heiligen im Kopf zu behalten?! Sie fing an, das Mädchen zu bestaunen.
Auch die anderen Waller hefteten bewundernde Blicke auf die Beterin.
Wahrhaftig, das war keine Kranke, das war eine besonders Begnadete!

Die Mutter, die erst verlegen dareingeschaut und versucht hatte, durch
ein Zupfen am Ärmel die Tochter zu leiserem Beten zu bestimmen, verzog
nun den Mund in geschmeicheltem Stolz. Ja, das war wahr, ihre Angela
war ein sehr frommes Kind, die sollte auch ins Kloster gehen, sowie sie
gesund war. Und wenn’s auch ihre einzige Tochter war, die gelobte sie
Gott. Jetzt ermunterte sie die Tochter zu weiterem Beten noch.

Wo die nur all diese Worte her hatte?! Das war ein Schwall, ein Erguß,
ein Strömen, ein Fließen von heiligen Worten, daß es schier betäubte.
Bäreb, der schon am Morgen der Kopf schwer gewesen war, fühlte ihn
immer schwerer werden. Sie war wie im Rausch, wie am Tage vorher, da
die hübschen Soldaten ihr soviel Verliebtes ins Ohr geflüstert hatten.
Gestern so wie heut – heut so wie gestern! Sie konnte gar nicht mehr
klar denken.

       *       *       *       *       *

Wo war der Tag geblieben? Die Stunden waren so rasch verronnen wie ein
Traum. War das Echternach? Ja, das war Echternach.

Willenlos, gedankenlos war Bäreb der führenden Menge ins Städtchen
hineingefolgt. Sie sah nicht, wie lieblich das lag zwischen Gärten, in
denen Apfel- und Birnbäume eben abgeblüht hatten und Kirschbäume schon
sich rötende Früchte zeigten, die daheim nie reiften.

An die Spitze der einziehenden Wallfahrer hatte sich ein Musikkorps
gestellt, dahinter reihten sich die Gemeinden; die geistlichen Hirten
ordneten ihre Herden. Viele, viele gläubige Schäflein aus vielen
Ortschaften, aus Nähe und Ferne; Staub auf den Kleidern, aber im Herzen
Seligkeit. Nun war es erreicht, zu Fuß und zu Wagen, mit Not und
Ermüdung, mit Anstrengung und Kosten. Hier war gelobtes Land, hier war
man endlich in Echternach!

Das vorderste Musikkorps spielte, andere Musikkorps wollten nicht
zurückbleiben – jede Gemeinde hatte ihren Ehrgeiz – sie spielten zum
Einzug das Willibrorduslied, und tausend Kehlen stimmten jubelnd an:

    »Schau, heiliger Apostel, o Willibrord,
    Herab auf die Scharen der Beter,
    O sei uns des Landes mächtiger Hort,
    Beschirme den Glauben der Väter.
    O heil’ger Patron, komm, hilf uns in Not,
    In Ängsten, Gefahren und Leiden,
    Und stehe uns schützend bei in dem Tod,
    Daß siegreich von hinnen wir scheiden!«

Die abgespannten Gesichter wurden erwartungsvoll rot: hah, da ragte
vom höchsten Punkt der Stadt die Pfarrkirche, darinnen unterm
Hauptaltar der wundertätige Heilige begraben liegt! Glocken läuteten.
Aus allen Giebeln wehende Fahnen, um alle Mauern grüne Girlanden;
in allen Fenstern der heilige Willibrord, als Bild, als Statue, als
Photographie, und sei’s nur auf Postkarten. Die Echternacher empfangen
die Waller, die ihnen Ruhm und Gewinn und Verdienst und Getriebe ins
sonst so weltabgelegene Städtchen bringen.

    »Heiliger Willibrord, bitt für uns!«
    »»Bitte für uns, heiliger Willibrord!««

Das ist der Gruß, mit dem Städter und Waller sich begrüßen. Von Gasse
zu Gasse pflanzt sich das Gemurmel fort. Nun ist man am Marktplatz:
Schaubude, Würfelbude, Schießbude, Schaukel, Karussell, Glücksrad,
Pfefferkuchenstand, Menagerie, Wahrsagerin. Ei, was gibt’s da alles
zu sehen, zu kaufen, zu naschen, zu belachen! Und dazwischen Kinder,
Knaben und Mädchen, und auch viele erwachsene Leute, die sich an den
Fremden heranmachen, ihn förmlich bedrängen:

    »Wellt’ er mech dangen,
    Fir met ze sprangen?«

Unsanft fühlte sich Bäreb vom Bruder an der Nase gerissen, sonst hätte
sie noch lange gestanden und mit verwirrten Augen in das Marktgewimmel
gestarrt. So etwas hatte sie noch nie gesehen, so etwas gab’s nicht in
Heckenbroich, nicht einmal in der Kreisstadt. Eine neue Welt war das.
Noch konnte sie sich nicht hineinfinden.

Die Herrlichkeiten des Marktes waren es weniger, die ihren Sinn
verwirrten, als das Läuten der Glocken, die geschmückten Straßen, die
Fahnen, die Kränze, die brennenden Lichter um Heiligenbilder. Und dann
die Melodie, diese unruhig hüpfende Melodie, die, von Querpfeifen
gepfiffen, von Trompeten geblasen, von Leierkasten gedudelt, überall zu
vernehmen war.

Ein Trupp spielender Kinder kam jetzt gezogen; ein Kleiner voran, den
Mund beschmiert mit Kirmeskuchen, schlug den Takt, und die Kameraden
pfiffen und parpten, schlugen mit Deckeln und sangen dazu:

    »Adam hatte sieben Söhn’,
    Sieben Söhn’ hatt’ Adam,
    Sieben Töchter muß er han,
    Eh er sie bestaden kann!«

Aus einem geöffneten Fenster drang in rauschender Reihenfolge von
Tönen, auf die Tasten getrommelt, die gleiche Weise an Bärebs Ohr. Und
wenn das Stück zu Ende war, fing es wieder von vorne an; immer von
neuem, immer von neuem, und immer dasselbe.

Bäreb hätte sich die Ohren zuhalten mögen. Nun fiedelte irgendwo noch
eine Violine. Ein Quinkelieren ohne Ende, ein Hämmern, ein Tuten, ein
Dudeln, ein Kratzen; man wurde taub davon. Was war das?! Man konnte
nicht sagen, woher es kam – Bäreb drehte sich wie ein Kreisel, bald
hierhin, bald dorthin – ganz Echternach war voll der Melodie. Von den
schwarzgrauen Dächern kam sie nieder, aus dem zerstampften Pflaster
stieg sie auf, um alle Ecken zog sie, aus allen Fenstern flog sie, die
Luft war dick von ihr.

»Pä, pä!« Dores hob lauschend das Fingerchen; er mochte Musik gern
leiden, er fing an zu hüpfen auf der Schwester Arm.

Was war das, was war das?! Bäreb riß die erschrockenen Augen noch
größer auf; in ihren Schläfen stach es, in ihren Ohren surrte es, ihr
Kopf dröhnte, als schlüge darin einer mit Hämmern auf Eisen, und in
ihren Füßen zuckte es. Jesus Maria, was war das denn? Das quälte ja so!

Sie wollte entfliehen und war doch froh, daß sie gegen den dicken
Mann anrannte, den sie kannte. »Wat es dat? Hört doch!« sagte sie und
drängte sich an ihn.

Er lachte froh: »Dat is der Springprozessionsmarsch, Mädche, da
springen mir all morjen nach! Adam hatte sieben Söhn,« fing er an
zu trällern und probierte mit seinen dicken Beinen einen flotten
Hüpfschritt.

War der nicht recht bei Trost oder hatte er sich betrunken? Ganz scheu
guckte Bäreb ihn an.

Er aber strich ihr freundlich die Wange: »No, Mädche, du kuckst ja ganz
verdattert? Wo giehste eweil hin mit ’m Brüderche? Komm noren, eich
will dech traktieren!«

Gutmütig führte er die Willenlose mit sich fort. Ja, essen wollte sie
gern etwas, und sie war auch sehr müde. Er führte sie in ein Bierhaus
am Markt. Da gab’s den ganzen Tag warme Würste, und dem Dores, der
schon alles mit den Augen verschlang, ließ er eine Suppe bringen und
ein großes Stück Kirmeskuchen. Bäreb aß und trank, trank mehr als
sie aß; Hunger hatte sie eigentlich doch nicht, sie hatte Brot genug
gehabt, aber Durst quälte sie, ein furchtbarer Durst, der ihre Kehle
ganz austrocknete. All der Staub, den sie hatte schlucken müssen, saß
ihr noch darin. Auch der Dicke hatte einen gewaltigen Durst, und so
alle, die um sie her saßen.

Wie durch einen Schleier sah Bäreb die roten Gesichter. Und dann sah
sie an den Wänden Gestalten sich drehen, Frauen mit Hauben, Ritter mit
Schwertern, langzopfige Mädchen von jungen Burschen umschlungen –

    Adam hatte sieben Söhn’,
    Sieben Söhn’ hatt’ Adam –

die tanzten alle im Marsch der Springprozession, und St. Willibrordus,
die Fahne im Arm, die Bischofsmütze auf dem Kopfe, hob zwei Finger
seiner Rechten und segnete sie. So war es an die Wände gemalt, aber
Bäreb sah es, als wäre es wirklich.

Mechanisch führte sie die Hand ans Glas, mechanisch hob sie das Glas
an den Mund, mechanisch dankte sie dem Dicken, mechanisch nickte sie,
als er ihr anempfahl, sich nach einer Herberge umzusehen. Die Stadt war
voll, an Dreißig- bis Vierzigtausend kamen hier zusammen, wo wollte sie
nächtigen, wenn sie nicht Verwandte am Ort hatte, oder gute Bekannte?

Stumpf trottete sie von dannen. Sie irrte durch die Straßen; der Dores
schlief schon, schwer lastete er auf ihrer Schulter. Unwillkürlich
suchte sie einsame Wege. Sie war das nicht gewohnt hinter ihren Hecken;
das Lärmen, die Musik waren zuviel für sie. Ganz betäubt wankte sie
einem grünen Dickicht zu, das sie sah am Ufer der Sauer.

Sie trat durch ein Gatter, verschlossen war es nicht; ein alter Park
mit Bäumen, die höher waren als die Tannen im Venn, umrauschte sie.
Ah, hier war’s gut sein! Sie fragte nicht: ist’s erlaubt? Sie sah
sich nicht weiter um – gepriesen sei der Schutzengel, der sie hierher
geführt! Das Lärmen war verstummt, sie legte den Bruder ins Gras und
sich dicht daneben; bald schlief sie fest.

In dem einsamen Park, der abends verschlossen wird, weil die
Liebespaare sich sonst drein verkriechen und die Landstreicher, alle,
die das heimliche Dunkel lieben, schliefen die müden Geschwister. Um
sie flatterten Schmetterlinge, gaukelten im Liebesspiel und setzten
sich ermattet auf die wilden Blumen im Schatten. Jasminbüsche dufteten
berauschend, wie weiße gewölbte Glocken standen sie mit der Blütenlast
ihrer hängenden Zweige im dunkelnden Laubgewirr. Hier war eine Wildnis.
Faune mit abgeschlagenen Nasen grinsten aus dichtverwachsenen Bosketts,
Nymphen mit ausgestreckten Armen fingen mit dem Marmorweiß ihrer
nackten Leiber verstohlene Sonnenstrahlen auf. Verschlafen rauschte die
Sauer vorüber am verfallenen Pavillon; dessen Stuck war abgefallen,
seine Malereien entblättert, aber noch schützte das Dach, und noch
sah man innen im Kuppelgewölbe die Amoretten sich tummeln um die
schaumgeborene Göttin der Liebe.

Fern war das Treiben des Marktes, fern waren die vielen Füße. In der
Stille der schützenden Bäume schlief Bäreb tief, aber nicht sanft. Es
verfolgte sie etwas in ihrem Traum, das saß ihr im Ohr; das quälte
sie selbst im Schlafen. Sie warf sich unruhig, atmete laut und zog
die Stirn kraus. War es der Jasminduft, der sie belästigte, oder eine
Erinnerung? Mit einem Schrei wachte sie auf. Grau-dämmerig war’s
im Blättergewirr – wo war sie? Mit beiden Händen faßte sie sich an
den Kopf. Ein Läuten hub an, das sie erschreckte. Sie riß den noch
schlafenden Dores auf: zur Vesper, zur Vesper! Es läutete schon!

Die Maximiliansglocke läutete mit feierlichem Dröhnen das Fest des
heiligen Willibrord ein; sie lud die Pilger zur Abendandacht an
seinem Grabe. Von allen Seiten kam das gelaufen, was schon in der
Stadt versammelt war; Scharen, Scharen, Scharen. Bäreb sah viele, die
sie schon gestern und am Morgen gesehen hatte, aber noch hundert und
aberhundert neue Gesichter dazu.

    »Heiliger Willibrord, bitt für uns, –
    Bitte für uns, heiliger Willibrord!«

Da war es wieder, das gewohnte Gemurmel. Mit ausgeruhter Stimme fiel
Bäreb ein. Dabei glitten ihre Augen rastlos umher: es gab so viel, zu
viel zu sehen beim heiligen Willibrord.

Da waren Buden am Fuß der großen Treppe, Buden über Buden mit
Rosenkränzen – solche aus weißen Perlen, solche aus blauen Perlen
und duftende braune aus Rosenholz – und Weihwasserkesselchen gab
es da, und Betbücher, und Heiligenlegenden mit bunten Bildern, und
Willibrord-Statuen aus Porzellan und Stuck; und noch viel mehr der
heiligen Andenken an Echternach.

Sie raffte sich gewaltsam aus ihrer Zerstreuung auf. In die Pfarrkirche
sich drängend zwischen allem Volk, kniete sie nieder, wo es gerade war,
schlug ihr Büchlein auf und begrüßte den Heiligen demütig:

»Sei mir gegrüßt, großer Freund Gottes, heiliger Willibrord, der du von
den Gläubigen in dieser Kirche besonders verehrt und angerufen wirst.
Dir zu Ehren bin ich hierher gewallt und hoffe zuversichtlich, ich
werde durch deine Fürsprache von Gott Gnade und Erlösung erlangen.«

Rote und blaue zuckende Lichter fielen durch die bunten Kirchenfenster
auf das St. Willibrordus Büchlein. Geblendet stierte Bäreb hinein, sie
konnte nicht weiterlesen. Ach, das war keine Andacht, die war ja hier
nicht möglich! Mit Scharren und Trappeln, mit Murmeln und Seufzern
zogen tausend bei ihr vorüber. In endloser Prozession zu zweien und
dreien; Väter und Mütter mit ihren Kindern, Greise und Greisinnen
wankend am Stabe, Arme und Kranke, Junge und Alte, Aufrechte und
Verkrüppelte, alle zogen sie hintereinander durchs Kirchenschiff zum
Grab des heiligen Willibrord.

Bäreb stellte den Dores auf die Beine: hin, hin! Er stolperte eilig
auf seinen wackligen Füßchen, er kam sich selber nicht rasch genug
voran. »Pä, pä!« Er riß sie vorwärts mit ungeduldigem Straucheln.

Da lag St. Willibrordus auf seinem vergoldeten Sarg, aus Holz
geschnitzt, wie ein Bischof angetan, ein wenig aufgerichtet, gerade so,
als wäre er lebend. Im Schauer der Ehrfurcht neigte sich jedermann.

    »Heiliger Willibrord, bitt für uns,
    Bitte für uns, heiliger Willibrord!«

Das Schiff der Kirche war erfüllt vom steigenden Murmeln, hundertfach,
tausendfach; die Wölbung, gegen die es anstieß, hallte es noch dreifach
zurück. Um das Grab herum, hinter dem Altar her, immer:

    »Heiliger Willibrord, heiliger Willibrord!«

Bäreb hätte noch gern länger am Grabe verweilt. Ach, wenn der Dores nur
das äußerste Eckchen des Sarges anrühren könnte! Aber die Menge stieß
sie weiter, um das Grab herum, hinter dem Altar her, und hinein in die
Sakristei.

Da saßen am Tische die Priester, feierlich ernst, ohne Wort und ganz
vertieft in ihr Geschäft. Hunderte, tausende von Händen streckten
sich – eine Hand nach der anderen legte die Opferspende dem heiligen
Willibrord fromm auf den Tisch.

    »Wir bitten dich, heiliger Willibrord, erhöre uns!«

Zur einen Tür herein, zur anderen Tür heraus; es entstand kein
Gedränge. Alles ging still vor sich, nur das Geld klapperte und
klingelte auf dem Tisch.

Auch Bäreb nahte dem Tische. Nah vor ihr war die Frau mit dem Kropf,
sie konnte gut sehen, was die opferte: einen harten Taler! Und andere
gaben nicht weniger. Da, die Frau mit dem blonden Mädchen legte ein
blinkendes Goldstück hin, und dort ein Herr gab gar ein paar solcher
goldenen Dinger! Bäreb erschrak bis ins innerste Herz: soviel hatte sie
nicht. Was sollte sie tun?! Aber am Ende besann sie sich: wer nicht
viel hat, kann nicht viel geben, auch geringere Scherflein nahm der
heilige Willibrord.

    »Heiliger Willibrord, bitte für uns!«

Mit Mut und Entschlossenheit fuhr sie in die Tasche – da hatte sie die
Mark, ihre einzige Mark, die ihr noch übrig geblieben war, erfaßt. Mit
der Linken ihr Brüderchen an sich ziehend, trat sie vor und legte mit
der zitternden Rechten ihre Mark auf den Opfertisch. Die klimperte
nicht hell wie ein größeres Silberstück. Bäreb wurde rot und dann blaß;
ihr war es, als habe der geistliche Herr sie einen Augenblick streng
angesehen. Hatte sie denn nichts, gar nichts mehr, hatte sie denn auch
alles, alles geopfert? Heiliger Willibrord! Noch einmal fuhr sie mit
Hast in die Tasche – da, noch ein Fünfzigpfennigstück! Sie gab auch
dieses.

Zur einen Tür herein, zur anderen Tür heraus; alles ging wohl geordnet,
ohne Gedränge. Bäreb stand draußen, sie wußte selber nicht, wie
rasch. Innen verhallten die Klänge; die Vesper zu Ehren des heiligen
Willibrord war zu Ende. Sie faltete die Hände beim Bimmeln des
Betglöckleins, das von unten aus dem Kloster ›Zum guten Kinde Jesu‹
zur mächtigeren Schwesterglocke heraufrief. Und noch andere Glöckchen
fielen ein; es waren soviel geistliche Stifte zu Echternach.

Bäreb fühlte jetzt auf einmal ihre ganze Verlassenheit. Der Bruder
weinte vor Müdigkeit, auch ihr kamen beinahe die Tränen. Wo sollte
sie hin?! Der Abend brach herein, um das alte Gemäuer der Pfarrkirche
wischten die Fledermäuse. Und Menschen, Menschen, Menschen eilten in
Scharen mit lautem Geschwatz, in hastiger Eilfertigkeit die steile
Treppe zur Stadt hinab. Das waren Tausende, und alle wollten sie
unterkommen.

Jetzt beschleunigte auch Bäreb ihre Schritte; wie aus einer Erstarrung
erwacht, eilte sie flüchtigen Fußes die Treppe hinab. Sie hatte das
Kind wieder auf den Arm genommen, sie durchirrte mit ihm die Gassen.
War es denn so schwül, so unerträglich schwül in der Enge zwischen den
grauen Häusern, oder trieb nur der rasche Lauf ihr den Schweiß auf die
Stirn – oder die Angst? Überall Herbergen; fast jedes Haus hatte seine
Tür geöffnet, die Fenster waren erleuchtet, Stimmengewirr schallte
heraus, alles war voll, voll bis unters Dach. Auf dem Markte Gedudel,
da ging es laut her. Das Karussel drehte sich mit seinen Flittern und
glitzernden Glasbehängen bei Drehorgelmusik, am Schießstand zerkrachten
die Tonpfeifen, und der große Löwe, das Hauptziel der Schützen, sperrte
brüllend den Rachen auf. Auf der Rampe der Schaubude schwang ein wilder
Mann mit Geheul seine Keule – er fraß Feuer – und eine dicke Frau, die
Arme und Beine ganz nackend hatte, die nichts, gar nichts an hatte als
ein rotes Atlasmieder und ein kurzes Sammetröckchen, zeigte sich der
Menge.

Junge Burschen hatten sich untergefaßt und versperrten in breiter Reihe
die Straße; ängstlich wich Bäreb den Halbtrunkenen aus und quetschte
sich dicht an den Häusern vorbei. Wo es ihr nicht so überfüllt
erschien, fragte sie schüchtern um Nachtquartier an. Sie hatte kein
Glück; die einen achteten ihrer gar nicht, hörten kaum ihre Frage, die
anderen zuckten die Achseln: längst alles besetzt. Endlich, todmüde
und ganz verzagt, fand sie eine Alte in einem winzigen Kramlädchen,
die ihr wohl Unterkunft geben wollte für die Nacht: sie könnte auf dem
Stuhl vorn im Laden sitzen, wenn zugemacht war, und das Kind unter den
Ladentisch legen, aber eine Mark kostete das, und im voraus.

Schon fuhr Bäreb in die Tasche: ja, ja, nur unterkommen, nur ein Dach
über sich haben, was es auch kostete! Da fiel ihr plötzlich ein: sie
hatte ja kein Geld mehr! Entsetzt starrte sie drein, das Herz stand ihr
still. O weh, wenn sie nicht schon die Eisenbahnkarte zur Rückfahrt
gehabt hätte, sie wäre nicht einmal mehr nach Haus gekommen! Plötzlich
hörte sie die Maiblum brüllen, die Mutter sprechen, die Geschwister
spektakeln, und eine heiße Sehnsucht fiel sie an nach der Stille der
Heimat, nach dem Geborgensein hinter der Hecke.

Sie stolperte fort übers Pflaster, blind vor rinnenden Tränen. Ach,
wenn ihr doch nur ein Mensch begegnen würde, den sie kannte! Wo war
der gutmütige dicke Mann, der sie heute mittag so freundlich gespeist
hatte?! Er war nicht zu finden. Aber ein Tuten kam jetzt vom Marktplatz
her, das sie entsetzte. Die dunkle Gasse ward plötzlich hell. Brannte
es wo? Das war ja Feuerschein! Um die Ecke bog’s ihr entgegen –
johlende Jungen vorauf, johlende Jungen hinterdrein – der wilde Mann,
jetzt ohne Keule, aber lodernde Fackeln hochschwingend, daß die Funken
flogen, fletschte grinsend die Zähne, und das dicke Weibsbild im kurzen
Sammetröckchen verzog das traurige Gesicht zu einem Lächeln, winkte mit
den Augen und warf Kußhände. Auf dem Markt war die Bude geschlossen,
sie luden ein verehrliches Publikum zur Vorstellung im Freien am Platz
vor der Brücke ein: gleich würden sie dort beginnen.

Auch Bäreb folgte, willenlos, getrieben von der Menge. Aber sie sah
nichts von dem, was der Mann verschlang – nicht bloß Feuer, nein, auch
Glas und Eisen hatte er versprochen zu fressen, rostige Nägel und
zerbrochene Fensterscheiben – sie sah kaum das Seil, das weit über
mannshoch von der Erde zwischen zwei Pfählen gespannt war, auf dem die
berühmteste Seiltänzerin der Welt, die dicke Frau, ihre Kunst jetzt
zeigen wollte. Ein Trupp junger Burschen hatte Bäreb aufgespürt und
umkreiste sie beständig. Sie ließen ihr keine Ruhe, sie neckten sie
unablässig. Und sie, so zag heute abend in ihrer Obdachlosigkeit, floh.

Jesus Maria, nur ein Mensch, ein Mensch, bei dem sie sich sicher
fühlte! Es brauchte ja gar nicht einmal ein Bekannter zu sein.

An den Ufern der Sauer hinab und hinauf nächtigten viele. Wie Schatten
bewegten sich Gestalten um lodernde Feuerchen; ganze Familien
kampierten da. Sie kochten Kaffee; in Hotten und Kärrchen und Bündeln
hatte man das Nötigste mitgebracht. Weit, weit kamen sie her zu Fuß,
sie hatten nicht Geld gehabt, um zu fahren. Ein Geruch der Armut
durchwehte die Sommernacht, ein Geruch, der stärker war, als der weiche
Duft des Jasmins und der Lindenblüte, ein Geruch des Elends, ein Geruch
der bittersten Leibes- und Seelennot.

Heiliger Willibrord, bitt für uns, bitte für uns, heiliger Willibrord!

Da waren manche, die kein Dach über sich hatten diese Nacht. Bäreb
fühlte schon etwas wie Trost: ei, so konnten sie ja auch draußen
schlafen. Vertrauend näherte sie sich einem Feuerchen. Doch sie wurde
aufs neue gescheucht; ein verwildert aussehender Mann schrie sie grob
an, und ein Weib kreischte in höchsten Tönen: »Hei, dat is unsen
Plaatz! Wat will dat Frechmensch hei?!« Auch hier war ihres Bleibens
nicht.

Verwirrt, verstört, von überall verjagt, rannte Bäreb sinnlos weiter.
Wohin, wohin?! Schon glaubte sie wieder die Quälgeister von vorher
hinter sich zu vernehmen – ›Hetz, hetz, hussa, fangt sie, die Katz,
kß kß‹ – sie rannte davon, atemlos, rannte, daß sie keuchte, rannte
vom Ufer hinauf, wieder den Straßen zu. Menschenleer lagen sie jetzt,
still, wie ausgestorben, alle Läden geschlossen. Blindlings rannte sie
gegen die Ecke einer Mauer an, prallte zurück und rannte dann – einem
Mann in die Arme.




VIII


Die Sauer rauschte sanft gegen die Ufer, die Sterne schienen nieder auf
die Stadt des heiligen Willibrord. Flußauf, flußab tiefes Schweigen.
Erschöpft, ermüdet von Wanderung, Gebet und Marktgetriebe schliefen die
Pilger.

Auch Bäreb schlief, den Dores im Arm; sie schlief sanft und
wohlbehütet. Die dunklen Wimpern schienen noch feucht von den Tränen,
die sie in ihrer Verlassenheit geweint hatte, aber ihr Mund lächelte.
Sie hatte es ja so gut getroffen, St. Willibrord hatte sie in seiner
Stadt doch nicht zu Schanden werden lassen. Nun hatte sie einen
Beschützer gefunden, einen, der jung war wie sie selber, einen, der
gekommen war, gläubig wie sie: warum sollte der heilige Willibrord
nicht auch dazu verhelfen können, daß man nicht zu dienen brauchte beim
Militär? Es hatte zwar noch keiner gehört, daß St. Willibrord sich auch
ums Nicht-Soldat-werden-müssen verdient gemacht hätte, aber wer Wunder
vollbringt, so große Wunder, kann auch dieses vollbringen.

Treuherzig, offen und der Mitteilung froh, hatte der Jüngling das dem
Mädchen erzählt. Er war auch ganz fremd in der Stadt, hatte keine
Bekannte; und sehr viel mehr Geld als Bäreb hatte auch er nicht in
der Tasche. Flüsternd tauschten die beiden jungen Menschen ihre
Geschichten aus. Sie war aus der Eifel, er war aus der Eifel, wenn
Bäreb auch niemals früher den Namen seiner Ortschaft gehört hatte;
auch jetzt hörte sie den kaum, er war nur ein Schall, an ihrem Ohr
vorübergleitend. Aber den Namen des jungen Burschen behielt sie:
Niklas. So hießen auch viele in Heckenbroich – Klos. Man war gleich
gut bekannt miteinander. Niklas hatte ihr den Dores abgenommen, und
der ließ sich auch willig von ihm tragen, als ob er’s gefühlt hätte in
seiner Schlaftrunkenheit, wie gut der Klos war. Und Bäreb selber hatte
der freundliche Bursche an die Hand genommen und gesprochen: »So, eweil
komm, Bärbche, eweil suche mir uns en Platz für zo schlaofen. Brauchst
keen Angst mieh zu han, ech schützen dech!«

Er war noch so jung, nicht viel älter als achtzehn; er fühlte sich
stolz, eines Mädchens Beschützer zu sein. Sie teilte ihm von dem
Brot mit, das sie noch in ihrem Bündel verwahrte; er hatte noch ein
Stück Wurst. Mit ihren jungen Zähnen bissen sie in das vertrocknete
Brot und in die Wurst, die im Rauchfang so lange gedörrt hatte, bis
sie hart genug geworden war, um den ganzen Sommer zu halten. So gut
hatte es Bäreb heute mittag in dem großen Wirtshaus am Markt lange
nicht gemundet; sie fühlte sich jetzt so sicher. Schulter an Schulter
saßen sie platt auf der Erde, hinter sich die schlafende Stadt, vor
sich den im Sonnenlicht leise gleitenden Fluß. Er hatte sie ein wenig
abseits geführt, noch weiter den Fluß hinauf dem Parke zu, aus dessen
umfriedetem Dickicht in langen Trillern die Nachtigall schlug. Zu
trinken hatten sie nichts, aber mit geblähten Nasenflügeln, den Mund in
eifrigem Kauen halb geöffnet, sogen sie zu Brot und Wurst den feuchten,
laulichen Wasserdunst ein und den Tauduft des Grüns und den süßen
Geruch des Jasmins. Unablässige Duftwellen strömten vom Parke her,
der die Schatten seiner uralten Bäume schwer und schwarz über den Fluß
hin legte. Wie Glühwürmer glimmten die Feuerchen der Pilger hüben und
drüben, an den beiden Ufern der Sauer; mählich verlöschten sie. Eine
Turmuhr in der Stadt schlug dumpfschnarrend Zwölf.

»Schlaof eweil, schlaof,« hatte Niklas gesagt. »Leg dich der Läng lang,
dat de de Glidder ruhst, morje müsse mir springen!«

Sie seufzte auf; sie litt es in wohligem Behagen, daß er eine
Flauschjoppe, die er bei sich führte, über sie und den Dores breitete
und sich dann selber dicht neben sie streckte. Sein Atem bestrich sie.
Jedes von ihnen hatte seinen Kopf auf seinem Bündel; das Gesicht zu den
Sternen gekehrt, lagen sie ganz gut. Sehr gut, dachte Bäreb.

Plötzlich fiel’s ihr ein: »Ich han mich noch nit jebet!«

»Bet doch, bet doch,« flüsterte er.

Sie bekreuzte sich:

    »O heiliger Schutzengel mein,
    Laß mich dir stets empfohlen sein,
    In allen Nöten steh mir bei
    Und halte mich von Sünden frei.
    In dieser Nacht, ich bitte dich,
    Bewahre, schütze, führe mich!«

Der Bursche kannte das Abendgebet, er hatte es halblaut mit ihr
gebetet. Nun bekreuzten sie sich noch einmal.

»Aomen. Schlaof wohl, Bärbche!«

»Aomen. Du ooch, Klos!«

Und sie hatten die Gesichter von den Sternen abgewendet und sie,
lächelnd im Dunkeln, einander zugekehrt. – – –

Noch war die Sonne nicht lange aufgegangen, als der Bursche erwachte.
Er war das Frühaufstehen gewohnt, er arbeitete als Knecht, sein Vater
und seine Mutter waren arme Leute – wenn er zum Militär müßte, müßten
sie hungern!

    »Bitt für uns, heiliger Willibrord!«

Schon hörte man wieder das alte Gemurmel, die Eintönigkeit des
gleichen, des immerwährenden Anrufs. An den Ufern der Sauer war schon
Bewegung; die dort gelagert hatten, wuschen und kämmten sich und
packten ihre Habseligkeiten zusammen.

Die grüne Höh, drüben auf der preußischen Seite der Sauer, vergoldete
sich, die weißen Häuser von Echternacherbrück wurden eben rosig
bestrahlt, als auch schon wieder Prozessionen eintrafen. Die waren die
Nacht durch gewandert von ihren Ortschaften her; nun begrüßten sie das
St. Willibrorduskreuz, unweit des schwarzweißen Grenzpfahls, wo die
Kanzel errichtet ist und der Priester die Gläubigen segnet zu Beginn
der Springprozession. Sie begrüßten Kreuz und Kanzel mit frommem Gesang:

    »Zu deiner Ehr, Gott, wallen wir,
    Kyrie eleison,
    All unsre Not wir klagen dir,
    Alleluja, alluja,
    Bitt Gott für uns, Sankt Willibrord!«

Der Niklas hatte sich auf den Ellenbogen gestützt und betrachtete im
goldhellen Morgenlicht das Gesicht des schlafenden Mädchens neben
sich. Gestern hatte er ihr Gesicht nicht mehr gut erkennen können, er
hatte nur die junge zitternde Stimme gehört und das dankbare Schmiegen
an seine Seite gefühlt, heute sah er erst, wie hübsch Bäreb war. Er
betrachtete sie lange und mit Wohlgefallen: das war ein liebes Mädchen,
ein arg hübsches Mädchen, eines, wie er daheim noch keins gesehen
hatte!

»Bärbche!« Flüsternd sprach er ihren Namen aus; aber sie schlief
noch fest, sie rührte sich nicht. Was sie für schöne Bäckchen hatte,
zartgelblich und ein Rot drauf in einem Flaum, wie die Frucht ihn
hat, wenn sie reifen will. Und lange Wimpern hatte sie wie schwarze
Seide; schwarze Augen mußte sie haben. Die mochte er gern. Er konnte
nicht erwarten, daß sie sie aufschlug. Vorsichtig nahm er die wärmende
Joppe von ihr und dem Knaben und sprach leise: »Bärbche, stieh up, et
is eweil höchste Zeit!« Er wagte es, ihr mit seiner Hand die Wange zu
streicheln.

Da schauerte sie zusammen, seufzte, schlug die Augen auf und sah ihn
an. Ihre schwarzen Augen erglänzten: oh ja, sie wußte gleich, wo sie
war, da war ja der Klos! Sie lachte ihn an, sie war so froh, ihn zu
sehen: nun war sie nicht mehr allein in aller Christenheit, sie waren
zu zweien.

»Jute Morje, Klos!«

»Gude Morge, Bärbche!«

Dann bekreuzte sich Bäreb und sprach ein Morgengebet, und der Bursche
bekreuzte sich auch und sprach mit, sie froh betrachtend:

    »Es segne mich die Jungfrau rein
    Mit ihrem lieben Kindelein!
    Amen!«

Er half ihr, den Dores wach machen. Der Knabe sah blaß aus und schlief
wie ein Toter; unter seinen geschlossenen Äugelchen lagerten die
Schatten schwarzblau, und sein Mund war schmerzlich verzogen.

»Wenn et eso ’ne heiße Dag wierd, dann es hen immer nit eso jot,«
seufzte Bäreb. Aber dann lächelte sie: ob heiß oder kalt, bald würde er
ja keinen Unterschied mehr empfinden, bald war er gesund! Sie machte
das Zeichen des Kreuzes über dem Brüderchen: »Bitt für ihn, heiliger
Willibrord! Wir bitten dich, heiliger Willibrord, erlöse ihn!« Dann
wusch sie ihn mit dem Wasser des Flusses und wusch sich auch selbst
Gesicht und Hände.

Ohne Scheu vor dem gaffenden Burschen löste sie ihr langes Haar und
strählte es mit dem Kamm aus ihrem Bündel. Puh, wurde es aber mächtig
heiß! Sie lüftete sich das Kleid am Halse. O weh, schon stach die
Sonne, als wollte es ein Gewitter geben!

Hinter der Berglinie starrten Wolken wie Spitzen. Das Sauertal war voll
von glimmerigem Duft.

Als die Maximiliansglocke ihr Dröhnen anhub, und man aus der Stadt das
Veni Creator der Geistlichkeit schallen hörte, die von der Kirche zur
Brücke hinabzog, war es noch zeitig am Morgen, aber schon trockneten
sich viele den Schweiß ab, und man sah große Regenschirme aufgespannt
zum Schutz gegen den Sonnenbrand. Doch der Gendarm befahl, sie
zuzumachen.

»Paaß up, dat de mich nit verlierst,« flüsterte Niklas noch rasch Bäreb
zu im wilden Gedränge. »Nach der Prozession, unner de Trepp am St.
Willibrordus-Brunnen, lao stiehn ech!«

Sie nickte nur, sie wagte nicht mehr zu sprechen.

Das war etwas Gewaltiges, etwas Herrliches, etwas nie Geahntes!

Voran mit blitzenden Pieken drei Männer in langen, leuchtend-roten
Gewändern, ein Trupp von Chorknaben hinter ihnen mit Kreuz und Fahne.
Und dann singend und betend viel tausend Männer:

    »Heiliger Willibrord, ein Lehrer der Wahrheit,
    Heiliger Willibrord, ein eifriger Ausleger der Lehre Christi,
    Heiliger Willibrord, ein sanfter Wegweiser der Irrenden,
    Heiliger Willibrord, eine wahre Stimme Gottes,
    Heiliger Willibrord, ein unermüdlicher Arbeiter im Weinberg des
        Herrn,
    Heiliger Willibrord, hell glänzender Stern unsres Landes, eine
        unerschütterliche Grundsäule des wahren Glaubens,
    Heiliger Willibrord, bitte für uns!«

»Erhöre uns, heiliger Willibrord, erhöre uns!« Hohe Weiberstimmen
mischen sich zeternd ein, gellende Kinderstimmen kreischen im höchsten
Diskant.

    »Heiliger Willibrord, heiliger Willibrord!«

Mächtiger schwellen die Stimmen der Psalmodierer, ein Strom von
Anrufungen wälzt sich vor den Geistlichen her; mit der Fahne des
heiligen Willibrord, mit der prächtig strahlenden, folgt die den
Sängern.

Geistliche Herren, und immer wieder geistliche Herren, ihr Zug nimmt
kein Ende. Große und kleine, dünne und dicke, schwarze und blonde, alte
und junge; von weit her, von nah her, aus Klöstern, aus Kirchen, aus
Städten, aus Dörfern, aus Deutschland, aus Frankreich, aus Belgien, aus
England, aus Holland, aus Italien, aus aller Herren Ländern, aus aller
Welt. Lauter Brüder in Christo, Söhne der Kirche, verstreut über die
ganze Erde, heut sich zusammenfindend unter dem Banner des heiligen
Willibrord.

    »Heiliger Willibrord! Heiliger Willibrord!«

Von den Bergen hallt es im Echo, alle Glocken der Stadt rufen es
dröhnend, durch die heiße Luft zittert es in stetem Vibrieren, im Auf-
und Abschwellen, bald hoch und bald tief, bald laut und bald leise,
bald jauchzend, bald klagend, bald freudig, bald schmerzvoll; hundert-
und tausend- und abertausendfach, und zum hundertsten und tausendsten
und abertausendsten Male: »Heiliger Willibrord, bitt für uns!«

Die Stadtmusik hebt den Springprozessionsmarsch an:

    ›Adam hatte sieben Söhn’
    Sieben Söhn’ hatt Adam‹ –

Wer könnte da stille stehn?!

Bäreb fühlte sich mit fortgerissen im hüpfenden Wirbel. Fünf Schritte
vor, wieder drei Schritt zurück – so sprangen alle.

In langen Reihen hüpften die Schulkinder, die Waisenkinder, die
Zöglinge aus all den Klöstern; die Knaben in Hemdärmeln, wie zum Spaß,
wie Bachstelzen zierlich die Mädchen. Ihnen wird es leicht, noch zieht
die Bürde von Leib und Seele sie nicht zu Boden.

    ›Sieben Töchter muß er han,
    Eh er sie bestaden kann!‹

Das ist eine Musik! Sie dreht einem die Seele im Leibe herum, sie
lockert alle Gelenke, die Füße heben sich wie von selber im Takt; es
geht gar nicht anders, man muß mit, muß hüpfen, springen, da hilft kein
Widerstand. Alte werden zu Jungen, Gichtgeplagte zu munteren Böcklein.
Fünf Schritte vor und drei zurück – man kommt nicht aus der Stelle und
springt doch so hoch, springt, springt, springt – fünf vor und drei
zurück. »Heiliger Willibrord, bitt für uns! Bitte für uns, heiliger
Willibrord!«

»Heiliger Willibrord!« Hinter Bäreb schrie eine gellend laut. Das war
die Blonde! Bäreb erkannte die Stimme gleich; sie mußte sich wenden,
sie verfehlte dadurch einen Sprung, sie kam aus der Reihe – nun war
sie nahe der Schreienden. Widerwillig guckte sie hin und war doch
gezwungen, unverwandt hinzusehen. Was schrie die so laut, was sprang
die so hoch?!

Über das rote Gesicht der Blonden lief stromweis der Schweiß, den Hut
hatte sie verloren. Alle die großen Haarnadeln spießten ihr aus dem
Haar; jetzt fielen die mächtigen Zöpfe herunter, bei jedem Sprung
patschten sie auf den Rücken. Die Eifrige hatte keine Zeit, sie wieder
aufzustecken; sie hatte sich mit Mutter und Tante angefaßt, aber nicht
an den Händen, sie hielten je ein leinenes Handtuch zwischen sich.

Und Bäreb sah, daß es viele so machten; die Schuljungen hielten die
Kittelchen zwischen sich, die Mädchen Taschentücher, viele Männer
benutzten ihre Röcke dazu, die Weiber ihre Schürzen; was sie gerade
hatten, nur mußte es stark sein, daß es nicht riß beim gewaltigen
Zupfen und Zerren. Wie in einer Schaukel ging’s auf und nieder. Bald
schwuppte die Welle der Springer zur Linken und bald zur Rechten.
Straff wurden die Tücher gespannt, wo einer strauchelte, riß man ihn
daran wieder in die Höhe.

Bäreb sprang ganz allein; sie hatte sich mit niemandem angefaßt, sie
hatte ja auch gar keine Hand frei gehabt, der Dores hing ihr am Halse.
Schon wurde ihr der rechte Arm, auf dem er saß, schwach, sie mußte die
linke Hand noch stützend unterhalten. Fünf Schritt vor und drei zurück.
Sie machte gewissenhaft den vorgeschriebenen Sprung – ach, daß sie nur
besser dabei beten könnte! »Heiliger Willibrord, bitt für uns! Wir
bitten dich, heiliger Willibrord, erhöre uns!« Ihre Lippen bewegten
sich; sie murmelte, wie alle unausgesetzt murmelten, aber ihre Gedanken
fuhren umher. Sie hatte den Heiligen so inbrünstig bitten wollen, dem
Dores zu helfen, der Mutter zu helfen, – nun dachte sie gar nicht
daran. Die Schreie der Blonden gellten ihr im Ohr.

War die denn nicht recht bei Trost, daß sie so hopste?! Von Mutter
und Tante hatte sie sich losgerissen, Sprünge machte sie eine halbe
Elle hoch; den Mund hielt sie offen, die Augen drückte sie heraus, wie
Schaum trat der Speichel ihr auf die Lippen. Die Zöpfe waren ihr jetzt
ganz aufgegangen, die losen Haarsträhnen züngelten wie Schlangen bei
jedem Sprung. Oh, das war gräßlich anzusehen!

    »Heiliger Willibrord, bitt für uns!
    Bitte für uns, heiliger Willibrord!«

Ah, sieh da, die ganz alte Frau mit dem uralten Mann! Bäreb blieb
vor Staunen der Mund offen. Ein altes Pärchen überholte sie. Sie mit
schlohweißem Haar, und er mit schlohweißem Haar; sie hielten sich an
den Händen, sie sprangen so sicher im gleichen Takt, sie brauchten
keinen anderen verbindenden Halt. Ordentlich schön sah sich das an; die
alten Gesichter unterm weißen Haar stachen so freundlich ab gegen die
glühenden, verschwitzten rund um sie her. Ei, die konnten es gut, die
sprangen gewiß schon zum hundertsten Mal!

Bäreb fühlte sich lahm werden. So jung sie war, sie war doch müde,
der Dores war schwerer, als sie gedacht hatte. »Heiliger Willibrord!«
Sie tat einen Stoßseufzer. Das blonde Mädchen war ihr schon aus dem
Gesicht, auch der Greis und die Greisin; andere Gesichter tauchten auf
und tauchten unter um sie her, andere Gestalten.

Mit Schnedderengdeng spielte die Musik den Springprozessionsmarsch.
Die Gemeinden hielten sich zusammen, vorn ein Musikkorps, hinten ein
Musikkorps, keines stimmte zum andern; wenn das eine den Anfang blies,
fiedelte das andere gerade den Schlußsatz. Aber im Wirrwarr der Töne,
im Durcheinander der Instrumente – Pfeife und Geige, Trompete und
Flöte, Trommel und Harmonika, Pauke und Cymbel – rang doch die Melodie
sich siegreich durch, sprangen doch die tausend und abertausend Füße
gemeinsam:

    ›Adam hatte sieben Söhn’,
    Sieben Söhn’ hatt’ Adam!‹

An den Fenstern der Häuser drängten sich Zuschauer; sie hingen zu
den Fenstern hinaus, förmlich übereinander. Bäreb sah nicht hinauf
zu ihnen, sah nicht, daß viele nach ihr hingafften. Es blieb ein
wenig Platz hinter ihr und ein wenig vor ihr, sie sprang so ganz für
sich allein; das willenlose Haupt des Knaben baumelte ihr über die
Schulter, in einem schmerzlichen Erstaunen waren ihre Augen weit
aufgetan. Sie bemerkte es gar nicht, daß sich blitzgeschwind mehr als
ein Kodak auf sie richtete. Man photographierte einzelne Gruppen der
Springprozession, man photographierte auch sie.

»Heiliger Willibrord, bitt für uns!« Mit starkem Anruf stürmten neue
Springer heran.

Ein Brummen von Tönen, ein Summen von Gebeten umschwirrte Bäreb. Sie
sah bekannte Gesichter: da war die Frau mit dem Kropf! Da der dicke
Mann! Die Frau mit dem Kropf sprang an der linken Flanke einer Reihe
von Weibern, ihren Henkelkorb hatte sie noch am Arm, mit der freien
Hand hielt sie sich an der Nachbarin; sie jappte und ächzte, ihr dicker
Kropf schütterte bei jedem Sprung, er baumelte ihr am Hals wie ein
schweres Säckchen. Ah, und der Dicke! Josef Maria, wie sah der denn
aus?! Bäreb fühlte ein heftiges Mitleid; sie hätte ihm gern ihren Arm
zur Stütze geboten, aber sie konnte ja nicht, sie hatte genug am Dores
zu schleppen.

Sie kam dem Dicken jetzt vor, aber sie wendete den Kopf noch ein paar
Mal nach ihm. Ach, der freundliche Mann, der sie mit Bier und Wurst
traktiert hatte, jetzt sah er gar nicht mehr freundlich aus! Den Kragen
riß er sich vom Hals, als würge ihn der, den Rock riß er voneinander,
als quetsche der ihm den Leib ein. ›Heili – ger – Willi – brord!‹ Sie
hörte ihn stöhnend beten. Er stammelte immer nur eine Silbe zwischen
zwei schnappenden Atemzügen. Er trocknete sich nicht einmal das Gesicht
ab; das rotgelbe Sacktuch hielt er wohl in der Hand, aber gebrauchen
tat er’s nicht mehr, er ließ das rinnen, was wie ein Bächlein von ihm
ablief an Angstschweiß. Auch Bäreb schwitzte.

Wer sollte heute nicht schwitzen? Wie Feuer fällt es vom Himmel, hinter
den Wolken sticht die Sonne herab und sengt durch die Kleider. In
einen undurchdringlichen Dunst von Staub und Schweiß gehüllt, hüpfen
die Springer. In den engen, überfüllten Gassen, die die Prozession
durchwogt, fächelt kein Lufthauch. Bleischwer die Luft, bleischwer die
Glieder, dumpfer das Beten.

    »Heiliger Willibrord, bitt für uns,
    Erlöse uns, heiliger Willibrord!«

Schon versagen ein paar. Eine junge Frau schwankt, schwach werdend, aus
der Reihe; man lehnt sie gegen ein Haus, man labt sie, man setzt ihr
einen Stuhl vor die Haustür, aber sie nimmt ihn nicht an, sie rafft
sich auf. Schon springt sie wieder, sie schließt sich einer neuen Reihe
von Weibern an.

Fester umklammern die verschwitzten Hände die verbindende Brücke,
zu Stricken sind Röcke und Tücher zusammengedreht; die gesteiften
Hemdärmel der Männer sind schlapp geworden, die Hüte der Frauen sind
ins Genick gerutscht, das Haar hängt in Strähnen. Erschöpfung, Ermüdung
auf allen Gesichtern, aber –

    ›Adam hatte sieben Söhn’,
    Sieben Söhn’ hatt’ Adam –‹

fünf Schritte vor, drei Schritt zurück. Wer den Sprung nicht
gewissenhaft tut, findet keine Erhörung. Und noch sind so viele Sprünge
zu springen, ehe man vom Vulpert her durch die Schulergasse den
Willibrordusbrunnen erreicht hat und die Treppe zur Pfarrkirche, die der
steilen Stufen dreiundsechzig zählt. Ein Weg, zwölfhundertundfünfzig
Meter lang, dreifach, nein, fünffach zu machen!

Wenn die Musikanten Luft schöpfen, den Speichel aus ihren Trompeten
schütteln, wenn das sinnverwirrende Chaos von Tönen ein paar
Augenblicke schweigt, dann verschnaufen sich die Springer. Sie ringen
nach Luft, sie stöhnen beim Atmen, sie zittern, sie ächzen: »Heiliger
Willibrord!« Wasser und Wein in Krügen und Eimern, Limonade in Kübeln
wird gereicht aus den Häusern; die Bürger von Echternach laben die
Springer. Mit Gier reißt man dem Spender den Krug aus der Hand, man
schluckt, man schüttet das Naß in sich hinab, man säuft wie ein Tier,
das am Verschmachten ist, ohne Besinnen; man gießt sich das Wasser
schier über den Kopf. Volle Eimer sind in Augenblicken geleert, nichts
ist kühlend genug, nichts ist durstlöschend. Feuer vom Himmel, Feuer in
der Kehle, Feuer im ganzen Gebein; aber auch Feuer im Herzen.

    ›Adam hatte sieben Söhn’ –‹

Kaum daß die Melodie sich wieder erhebt, so tritt man auch schon wieder
zum Tanze an; man ist entbrannt, zu springen, man ist entflammt zum
heiligen Willibrord.

Lauter erheben sich die Gebete. Je matter die Füße werden, desto
inbrünstiger die Litaneien. Die Sonne gibt keinen Schein mehr, unter
dem bleiernem Himmel gellen die Anrufe: »Heiliger Willibrord, höre uns!
Heiliger Willibrord, erhöre uns! Heiliger Willibrord, erlöse uns!«

Die Röte der Gesichter ist verblichen; heiß sind sie noch, aber blaß
sind sie geworden, sehr blaß. Hier wankt einer halb ohnmächtig, vom
Nebenmann rechts und vom Nebenmann links unterm Arme gehalten; er hat
die Augen geschlossen, er sieht nicht mehr, er hört nicht mehr, aber er
springt – er springt.

Dort hat ein Epileptiker seine Zuckungen wieder, er rollt mit den
Augen, seine Glieder schlenkern, noch springt er im Takt. »Heiliger
Willibrord!« Mit schäumendem Mund stürzt er jäh hin aufs Pflaster. Man
läßt ihn liegen, es rasen die Waller an ihm vorbei, sie treten ihn fast
unter die Füße.

    ›Sieben Söhn’ hatt’ Adam –‹

Man muß springen, springen. Weiter, immer weiter im Takt – fünf
Schritte vor, drei wieder zurück – heiliger Willibrord, heiliger
Willibrord!

Bäreb fühlte ihr Herz klopfen, als hämmere ein Hammer darin. »Heiliger
Willibrord!« Sie schrie es laut vor Angst. Kam denn noch immer der
Brunnen nicht? Und dann die Treppe? Wie lange sollte das Springen
noch währen? Sie konnte nicht mehr. Wie Blei drückte der Bruder auf
ihrer rechten Schulter, sie warf ihn auf ihre linke herum. Heiliger
Willibrord, hilf! So ging’s wieder ein Weilchen. Wie Schwalben im
eiligen Flug den Gewitterhimmel durchqueren, so durchschossen Gedanken
ihr betäubtes Hirn: warum sprangen denn alle die Leute hier wie die
Tollen? Tat’s denn nicht ein Wallen zum Gnadenbild auch, oder ein
frommes Gebet zu Gott oben im Himmel? Nein, nein – fünf vor und drei
zurück – heiliger Willibrord, heiliger Willibrord – Adam hatte sieben
Söhn’, sieben Söhn’ hatt’ Adam – wer nicht sprang bis zuletzt, die
Treppe hinauf, zur Kirche hinein, durchs linke Schiff bis zum Chore
hin, bis zum Grabe des Heiligen und um dieses herum, und weiter, immer
weiter, durchs rechte Schiff der Kirche wieder hinaus, und unter
die Kastanien und Linden, die draußen stehen, und dreimal ums große
Missionskreuz herum, der hatte seine Wallfahrt nicht wohlgetan!

Bäreb nahm all ihre Kräfte zusammen; jetzt zog nichts, weder rechts
noch links, weder vor noch hinter ihr, ihre Gedanken mehr ab.

An ihrem Hals greinte der Bruder. Sie preßte ihn krampfhaft mit beiden
Armen fest. So wollte sie ihn emporheben, so dem Heiligen hinhalten,
daß der ihn auch sah!

»Heiliger Willibrord, heiliger Willibrord!« Der Schrei steckte an; sie
schrie wie die anderen. Wie Rasende stürmten die Weiber dahin, sie
wollte die Letzte nicht sein. Voran, zum heiligen Willibrord, wer sich
ihm naht, den erlöst er! Einer Trunkenen gleich stolperte sie sinnlos
weiter; sie waren alle im Rausch. Die schwirbelnde Tanzmusik hatte
alle erfaßt, die riß auch die zum Tod Matten mit weiter. Da – einen
Augenblick stockte der tanzende Marsch.

Ein Mann lag am Boden; er lag wie gefällt, blaurot im Gesicht. Oh, der
Dicke! Von einem flüchtigen Bedauern durchzuckt, erkannte ihn Bäreb.
Aber –

    ›Adam hatte sieben Söhn –‹

schon hüpfte sie weiter; sie dachte seiner nicht mehr.

Sie konnte nichts denken, sie konnte nichts fühlen, sie konnte nur
springen. Keine Ermattung empfand sie mehr, und nicht mehr die Last
des Dores, federleicht dünkte der Knabe sie schier, sie sprang wie ein
Fohlen.

Heiliger Willibrord, heiliger Willibrord! Jetzt war sie ihm nahe!
Abgetreten schleppte ihr Kleidersaum, ihre Schuhbänder schleiften. So
wie die Blonde mußte man’s machen! Jetzt sah Bäreb wieder. Aber was sie
vordem entsetzt hatte, das bestaunte sie nun. Oh, so wie die, die rief
den Heiligen gewaltig auf sich herab!

Wie eine Mänade flog das blonde Geschöpf. Es hatte sich die Taille
aufgerissen, die Brüste quollen über den Leibchenrand, das rosige volle
Fleisch glühte in zuckender Brunst. Mutter und Tante beteten laut, es
beteten alle rund um sie her, sie übertönte alle: »Heiliger Willibrord,
heiliger Willibrord!« Ihre Augen glühten in irrsinniger Lust. Ein
Satz, und sie war am Brunnen vorbei – ein Satz, und sie flog die Stufen
hinan. Hoch sprang sie, höher als alle, bis ans Knie schwuppten ihr
die Röcke hinauf, als Mähne flatterte das gelöste Haar um sie her.
Jetzt ein gellender Schrei, fast klang’s wie ein Brüllen: »Heiliger
Willibrord!« Sie streckte die Hände aus – jetzt war sie fast oben – da
– ein Gurgeln, ein Bäumen – Mutter und Tante packten noch gerade zu: da
lag sie in Krämpfen.

    ›Heiliger Willibrord, bitte für uns,
    Erlöse uns, heiliger Willibrord!‹

       *       *       *       *       *

Um acht Uhr am Morgen hatten die Springer zu springen angefangen,
jetzt war es zwei Uhr Nachmittagszeit; die Prozession war zu Ende, die
unruhig hüpfende, antreibende, anfeuernde, beschwörende, betörende
Melodie verstummt. Zwanzigtausend und mehr waren gesprungen. Nun
sprangen sie nicht mehr, aber der Rausch war noch nicht verflogen.

In den Wirtschaften am Markt drängte es sich; solche, die sonst kaum
einen Groschen hatten fürs Allernotdürftigste, heute hatten sie Geld.
Sie aßen, sie tranken, sie ließen sich’s wohl sein, St. Willibrordus,
der Wunder tut, der hatte auch sie erhört an seinem Feste. Wo war alles
Leid? Es war vergangen.

Am St. Willibrordusbrunnen stand Bäreb und kühlte mit dem Wasser
ihr erhitztes Gesicht und schlürfte mit brennenden Lippen. Auch dem
weinenden Dores gab sie zu trinken, und er ward still. Vor ihr hatte
ein Vater geschöpft und seinem Kinde den häßlichen Grind am Brunnen
gewaschen; ihr ekelte nicht. Köstliches Wasser, heiliges Wasser! Es
heilte alle Gebrechen. Feuerwehrleute schleppten einen Körper herbei,
sie trugen ihn vorüber ins Kloster zum Guten Kind Jesu. Ach, der Dicke!
Bäreb erkannte plötzlich den, den sie trugen. Und sie schöpfte rasch
mit der hohlen Hand und rannte der Leiche nach und besprengte sie mit
dem erlösenden Wasser.

Und dann dachte sie an den Klas. Er war noch nicht am Brunnen.
Stundenlang hatte sie nicht seiner gedacht, nun aber; und noch in
demselben Rausch wie vordem bebten ihre entflammten Sinne. Wenn er doch
käme! Es verlangte sie heiß nach ihm. Sie mußte sich mitteilen, ihr
Herz war zu übervoll. Heiliger Willibrord – Klas, Klas – wo blieb er
denn?! Ah, da stand er ja! Sie stürzte auf ihn zu.

Er hatte schon lange hier gestanden und auf sie geharrt, sie hatten
sich nur nicht gesehen in der strömenden Menschheit. Sie preßten sich
jetzt die Hände, froh, sich wiedergefunden zu haben. Er war heiß
und erregt und froh wie sie. Er hatte ja gut gesprungen, er war so
gewiß, daß der Heilige ihn gehört hatte. Im Schatten der Kirche, in
einem Winkelchen, zog er sie an sich. Sie ließ sich gern streicheln –
heiliger Willibrord! Der segnete sie heut.

Sie flüsterten, sie tuschelten, die Wangen nah zu einander geneigt.
»Biste müd?« fragte er zärtlich.

Sie verneinte lachend. Oh nein, müde war sie nicht, nur ein Beben in
den Knieen war ihr geblieben, ein Rieseln durch den ganzen Leib.

Er trug ihr den Dores, sie hatte sich in seinen anderen Arm eingehenkt.
Ihr Herz war so leicht, so voll seliger Lust: nun war es vorüber, es
war geschafft! Aber noch einmal hätte sie springen können, so frisch
war sie jetzt. Sie schwatzte in aufgeregter Heiterkeit; auf ihren
Wangen flammten zwei Rosen. Soviel hatte sie sonst nicht in Wochen
gesprochen, die Worte sprudelten ihr vom Mund, sie war eine andere.
Fromme Gedanken und Gedanken der Lust rüttelten ihr die Sinne. Zum
Markt, zum Markt!

Er wollte ihr etwas kaufen. Glückstrahlend nahm sie von ihm ein
Pfefferkuchenherz; sie aß die Hälfte, er aß die Hälfte, nun waren sie
wie verlobte Leute, nichts konnte sie trennen. Aber weiter wollte sie
nichts von ihm annehmen, er hatte ja auch nicht viel, sie mußten doch
heute noch leben. Heute, nur heute noch; an das Morgen dachte keines
von ihnen beiden. Heut war der große Tag, der größte ihres Lebens
vielleicht – was ging sie das Morgen an?

Auch an Heimat oder Heimkehr dachte jetzt Bäreb nicht; die Stunden
flogen, es ging auf den Abend schon. Aber keine Kühlung war zu finden
in der Stadt des heiligen Willibrord; noch dunsteten die Gassen, die
Pflastersteine sprühten die Hitze aus. Bier um Bier schüttete sie
hinab, es löschte den Brand nicht. Er hatte sie auf dem Karussell
fahren lassen, hoch vom sich bäumenden Schimmel lachte sie herunter zu
ihm und dem Dores, der auch hinauf wollte und die Ärmchen ausstreckte:
»Pä, pä!« Zuletzt, damit der Kleine nicht gar zu sehr weinte, gingen
sie fort mit ihm; ihr war ohnehin schwindelig.

Wie von geheimer Beängstigung getrieben, lenkten sie ihre Schritte
in entlegenere Gäßchen; zwischen dunkelnden Mauern küßten sie sich.
Und dann gingen sie weiter und weiter dem Parke zu. Noch war er nicht
geschlossen. Ah, hier war Kühlung! Lechzend vor Glut, die Nasenflügel
gebläht, mit offenen Lippen traten sie ein.

Aber hier unterm dichten Laubdach war’s doch auch stickig – oder war
ihnen, nur ihnen allein so verbrennend heiß?!

Der Dores wollte schlafen, er verdrehte die Äugelchen schon und sagte
kein ›Pä‹ mehr. Sie mußten ein Plätzchen suchen; und wenn sie auch hier
eingeschlossen wurden, was schadete das? Waren sie nicht zu zweien?
Klas war noch nicht hier gewesen, sie zeigte ihm die weißen Frauen im
Gebüsch, die nackten Leiber der Nymphen, und er verwunderte sich. Was
taten die hier? Ah, hier war’s mal schön!

Von der Stille und der Einsamkeit kühn gemacht, umschlang er sie
heftig. Den Dores legten sie in das Gras. Fern grollte ein Donner, sie
hörten ihn nicht. Die Bäume waren so hoch, das Dickicht stand so dicht,
die Stimmen des Himmels durchdrangen nicht das grüne Gewirr des Gartens.

Und rings erhob sich ein Schlagen der Nachtigallen in den dunkelnden
Büschen, ein Locken und Schmettern, ein triumphierendes Lied, das
alles andere verdeckte. Es versetzte sie in Entzücken. Sie hatten
beide bisher nie solchen Vogel gehört; in der Eifel gibt’s keine
Nachtigallen. Sie lauschten, im Grase sitzend, unweit des schlafenden
Kindes, die Arme sich um die Schultern legend; beide bleich im
wachsenden Dämmerlicht, und in der immer und immer wachsenden
inneren Benommenheit. Achtzehn Jahr, und soviel gebetet, und so weit
hergekommen, und soviel gesprungen, und nun endlich die erste selige
Rast!

Betäubend rochen Jasmin und Flieder, die schwüle Nacht hatte alle
Blüten erschlossen; von dem Lindenbaum kam es wie Fluten von Duft, aus
der Erde stieg es wie Opferrauch.

Sie taumelten auf – heiliger Willibrord! Ah, sie hatten schon geträumt.
Sie wehrten sich gegen eine erschlaffende Mattigkeit, sie taumelten
weiter. Da war der Pavillon. Schwül ward es um sie, immer schwüler. Da
drinnen mochte es besser sein! Ferne Blitze leuchteten ihnen und die
hunderte von Glühwürmchen im verlassenen Park.

Horch, jetzt ein Donnerschlag! »Heiliger Willibrord!« Erschrocken barg
Bäreb ihren Kopf an des Beschützers Brust.

Aber sie flohen doch nicht. Süß lächelte über ihnen, aus der
zerfallenen Kuppel herab, die Göttin der Liebe.

Die kannten sie noch nicht. – – –




IX


Dem ›Weißen Schwan‹ hatten die Pfingsttage keinen geringen Trubel
gebracht. Seit die Automobile aufgekommen waren, schien es bei den
Belgiern Mode geworden, von Verviers über die Baraque in sausendem
Tempo über Heckenbroich bis hinunter zur Kreisstadt zu fahren. Gegen
diese Geschwindigkeit konnten selbst die Herren Offiziere in ihrem
Krümperwagen nicht an, und wenn die Burschen noch so auf die Pferde
peitschten.

Leykuhlen hatte während des Festes viel Ärger gehabt. Nicht nur, daß
tagsüber das Gerassel in einem fort abwärts ging, auch nachts fand er
vorm Rollen der Räder, vorm Rumoren der Heimkehrenden, vorm Hallo der
Angeheiterten, vor ihrem lauten Sprechen und Durcheinanderschreien
und vor dem huschenden Laternenschein nicht Ruhe. Oder quälte ihn
etwas anderes so, daß er nicht schlafen konnte? Wenn er die Kirche
ansah, ärgerte er sich erst recht. Noch war kein endgültiges Ergebnis
der Wasseruntersuchung eingetroffen – nun, sie würden ja auch nichts
finden, das Heckenbroicher Wasser war gut!

Er verschloß seine Ohren, wenn er hörte, daß nachts an den Brunnen
hantiert wurde; die Eimer rappelten, die Kette, die sie heraufzog,
klirrte, die verrosteten Angeln der Tür quietschten. Wer konnte es den
Leuten verdenken, daß sie sich heimlich ein paar Eimer voll ins Haus
holten, um nicht am Festtag das Wasser so weither schleppen zu müssen?!
Zudem war es sehr warm; es drohte ein heißer Sommer zu werden, und ein
heißer Sommer heißt ein trockener fürs Vennland.

Es waren selten klare und warme Pfingsten. Sonst hatte man immer noch
den ganzen Tag heizen müssen, diesmal bedurfte es nur am Morgen eines
leichten Feuerchens. Die Mittage waren auch hier oben schon heiß,
doppelt heiß erst unten im Städtchen.

Der Kellner und der Aushilfskellner, der Hausknecht und die Magd
im Schwan konnten nicht genug Getränke herzuschleppen. Wer Selters
verlangte, dem machte die schöne Wirtin ein unfreundliches Gesicht,
selbst Bier schenkte sie nicht gern aus. Wein: Moselwein, Rheinwein,
Bowle und Sekt; so war sie’s von ihren Stammgästen, den Herren
Offizieren, gewohnt. Einen kleinen Chartreuse, einen echten Cognac oder
Benediktiner hinten nach, das ließ sie auch gelten. Es waren Erdbeeren
aus Metz zur Bowle gekommen und französische Treibhauspfirsiche, in
Watte verpackt. O, die kostbaren Früchte wurde sie schon alle los,
darum war ihr nicht bange! Sie hatte sich zum Pfingstfest in Aachen
ein neues Kleid machen lassen, bei einer guten Schneiderin mit
Brüssler Geschmack; sie konnte doch hier nicht in dem Nest schneidern
lassen, wenn der Heinrich Schmölder auch die Geschmacklosigkeit besaß,
seine Tochter solche Kleider anziehen zu lassen. Wie er die Kleine
verschimpfierte! Und die sollte nun bald die Braut des eleganten von
Scheffler sein?!

»Hihi!« Die schöne Helene lachte hinter Schmölder her, der, wie
fast täglich, beim Frühschoppen bei ihr gesessen und ihr sein Herz
ausgeschüttet hatte. Der Scheffler, der würde das Geld schon unter
die Leute bringen! Sie wußte nicht recht, warum sie das dem Heinrich
eigentlich gönnte. Er war doch ihr ältester Freund, er hatte ihr schon
die Backen gekniffen, als sie noch in die Schule ging. Sie zuckte die
Schultern, die unter dem neuen schwarzen Kleid, das dünn wie ein Flor
war, glatt und weiß in ihrer appetitlichen Fülle durchschimmerten. Ihr
Rock, auf Seide gearbeitet, rauschte und raschelte; sie lehnte die
Arme auf das rote Kissen im geöffneten Speisesaalfenster und gaffte
ihrem langjährigen Verehrer nach. Hm, der Heinrich wurde alt! Wie
vorsichtig er zutrat, die Jagd machte ihn steif in den Beinen. Den Hut
trug er in der Hand, es war ihm heiß, obgleich die Haare dünn waren.
»Hihi!« Sie kicherte wieder. Warum saß er denn nicht in der Kirche
bei seiner Frau und der Hedwig, da war’s ja hübsch kühl. Einen Bauch
kriegte er auch, bah! Sie hielt eine grausame Musterung. Dabei zog sie
die kurze Oberlippe noch kürzer herauf, daß man hinter dem feuchten
Rot die spitzigen Zähne sah. Wenn der sich einbildete, daß sie ihn
leiden möchte! So ein Alter! Immer hatte er etwas zu grämeln. Auf den
Scheffler schimpfte er: »Ein Windhund!« Ja, ein Windhund war der, da
mußte sie ihm recht geben, aber ein hübscher. Ein famoser!

Frau Helene nahm’s dem schönen Adjutanten weiter nicht übel, daß er
von ihr abgeschwenkt war zu dem kleinen Goldfisch – so was wurde man
mit der Zeit gewohnt – im Gegenteil, sie behielt immer eine gewisse
Fürsorge für ihren früheren Verehrer. Warum wollte der Heinrich dem
schneidigen Menschen denn eigentlich seine Tochter nicht geben? Na
warte, sie würde die Sache mal in die Hand nehmen, sie würde es schon
fertig bringen! Das hatte sie auch dem Scheffler versprochen.

»Warum willst du denn nicht?« hatte sie vorhin zu ihrem ältesten Freund
gesagt und ihn mit ganz bösen Augen angeblitzt. »Bist du denn kein
Windhund? Deine Frau redste wat vor, janz notwendig haste immer wat zu
tun. Nach Ostende jehste auch nit mit, deine Jesundheit verträgt die
See nit – haha – nu denn sitzte bei mir! Och du!« Sie zupfte ihn am
Ohrläppchen. »Mach du dich nit mausig, lieber Mann!«

Er hatte auffahren wollen, aber eins, zwei, drei saß sie ihm auf den
Knieen.

Sie waren allein im großen Speisesaal, in dem die Tische noch mit
saucenbefleckten Tüchern vom vorhergehenden Abend gedeckt waren, und
ganze Massen von Tellern und ungewaschenen Gläsern umherstanden. Es war
noch nicht aufgeräumt. Wer sollte auch sonst wohl so früh kommen?

Heinrich Schmölder, der zu Hause jede kleinste Abweichung von der
gewohnten Ordnung streng rügte, sah hier nichts von Unordnung. Er
schmunzelte, als die flinken Finger der molligen Frau ihm auf dem
Schädel herumkrabbelten. »Du kriegst en Jlatz!« sagte sie, spitzbübisch
lachend.

Er wurde verlegen. »Laß, Lenchen, laß! Laß die Dummheiten!« Aber dabei
hielt er sie doch fest; es kostete ihr Mühe, sich ihm zu entwinden. Ihr
neues Kleid, das sich so prall über den Busen spannte, zog seine Blicke
unwiderstehlich an; und auch seine Finger. Er war rot und heiß. Sie
hatten in aller Frühe schon einer schweren alten Flasche Rheinwein den
Hals gebrochen und einen Cognac vorabgeschickt.

»Wat sagste dann, wenn du nu nach Haus kömmst, woher du so heiß bist?«
fragte sie boshaft und schlug ihm auf die Finger. Sie gab sich dann
selber die Antwort, indem sie ihm nachäffte, wobei sie das Kinn und die
Mundwinkel herabsinken ließ und die Stirn krauste: »Jeschäfte. Selbst
am Sonntag hat man keinen freien Moment!«

Er wußte nicht, sollte er lachen oder böse werden. Lachen war das
Gescheitere, so lachte er denn: in der Tat, so pflegte er zu seiner
Frau zu sagen! Heinrich Schmölder war nicht ohne Humor; den hatten die
Schmölders alle, dafür waren sie aus dem Rheinland gebürtig. »Frech
Dingen,« sagte er schmunzelnd. Er betrachtete sie mit Wohlgefallen. Ja,
das Lenchen! Wenn er daran dachte, daß er einmal seinen Frühschoppen
ohne sie trinken müßte, konnte ihm jede Lust dazu vergehen; das ganze
Nest war leer und öde ohne diesen lustigen Vogel. O, und Verstand hatte
sie auch! Sie traf den Nagel auf den Kopf.

Die schöne Helene hatte nicht geflunkert, wenn sie behauptete,
Heinrich Schmölder bespräche alles mit ihr. In der Tat war es so; sie
gab an, was für Anordnungen in der Fabrik getroffen wurden – was für
Bestimmungen im Hause getroffen wurden – ob Hedwig in Pension kommen
sollte oder nicht in Pension – ob Frau Schmölder ins Bad reisen sollte
oder nicht ins Bad – ob sie ein neues seidenes Kleid bekommen sollte
oder keins – ob andere Kutschpferde gekauft werden sollten oder nicht
– und jetzt endlich, ob Hedwig Frau Oberleutnant von Scheffler werden
sollte oder nicht.

»No, nu mal ernsthaft, Lenchen, wat rätst du mir?« hatte Schmölder
besorgt gefragt. »Man will doch nit seine einzige Tochter so wegjeben,
sie nur jeheiratet sehen des Jeldes wegen! Man will sie doch jeliebt
wissen, wirklich jeliebt!«

»Jeses, er liebt sie ja!« Sie schrie es lachend. »Du altes Schaf, er
liebt sie ja, siehste dat dann nit?«

Nein, das hatte er nicht gesehen. Galant war Scheffler gegen die Hedde,
aber das war doch noch keine Liebe!

»Lehr du mich die Liebe kennen!« schrie sie ganz erbost und lachte
sich doch gleich darauf eins. Ja, dumm war der Heinrich noch lange
nicht, er hatte es im Gefühl, daß es seinem Beutel galt. Aber wart,
sie wollte ihn schon dumm machen! Beide Grübchenellenbogen, die der
kurze Ärmel frei ließ, auf den Tisch stemmend, das Gesicht in die Hände
stützend, so sich nahe, ganz nahe zu ihm hinüberneigend und ihm einen
Blick zuwerfend, unter dem es ihm heiß wurde, sagte sie weich, fast
träumerisch: »O, ich weiß, wat Liebe is! Und ich sag dir, der Scheffler
liebt sie. Er hat sie janz schrecklich jern. Hier –« sie zeigte auf
irgend einen Stuhl – »hier hat er jesessen, abends, als sie alle
fortwaren, janz allein –«

»So – janz allein?« Er unterbrach sie eifersüchtig. »Und wo warst du?«

»Jott im Himmel, laß mich doch ausreden! Hier –« sie verfiel wieder
in den vorigen pathetischen Ton – »hier hat er jesessen, janz allein,
und hat jeseufzt, dat sich mir dat Herz im Leib erumjedreht hat. Wir
waren müd, wir wollten jern zumachen. ›Herr von Scheffler,‹ sag ich zu
ihm – er hört nit. ›Herr Oberleutnant,‹ sag ich zu ihm – er hört nit.
Ich wurd schon kribbelig. ›Herr Adjutant‹ – er hört wieder nit. ›Herr
Hauptmann‹ – da hört er endlich. ›Haben Sie Zahnping?‹ ›Nein!‹ Er wird
janz rot. ›Herzping?‹ Ich hab ihn jenau beobachtet, ich wußt doch von
dir die Jeschicht mit der Hedwig. Ich sag dir, man sah et ihm an, wie
schlecht dat et ihm zu Mut war! ›Herzweh!‹ – er nickt. ›Ach, werte
Frau, was bin ich so unglücklich!‹ Und dann legte er los, er hat mal
ordentlich sein Herz ausjeschüttet. Nee, die Hedwig wär so reizend,
so süß, und er möcht sich so schrecklich jern mit ihr verloben, et
wär ihm so, als könnt jede Stund ’ne andere kommen, der sie ihm
wegschnappt. Und sie wär ihm auch so jut, dat wüßt er wohl. Weißte dat
dann, Heinrich?« – sie beobachtete den verdutzten Vater unter halb
zusinkenden, blinzelnden Lidern – »wenn er sie ansieht, schlägt sie die
Augen nieder, wenn er ihr die Hand drückt, drückt sie wieder, wenn er
sie auf den Fuß tritt, tritt sie –«

»Dat is nit wahr,« brüllte Schmölder und schlug auf den Tisch, daß die
Gläser zu klirren anfingen. »Dat tut meine Tochter nit! Dat denkst du
dir aus – dat tust du bloß!«

»No, denn – –!« Sie zuckte die Achseln; sie sah ein, sie hatte da etwas
Dummes gemacht und zog geschwind wieder zurück. »Wat du dir auch jleich
denkst,« schmollte sie, »wenn du mich nit ausreden läßt! Ich sag dir,
er sprach so, als ob sie ’ne Engel vom Himmel wär! ›So jut, so rein, so
unschuldig – riesig wohlerzogen‹ – ich sag dir, zum Heulen schön! Aber
du, du wärst immer so jarstig zu ihm, so abwesend, so mißtrauisch, als
wollt er dich bestehlen – und dann hat er jeweint!«

»Och, Dummheit! ’ne Mann, der weint, den mag ich nit,« sagte Heinrich
Schmölder trocken. »Tränen – ich pfeif drauf! Da steckt nix hinter als
die Angst: wie krieg ich meine Schulden bezahlt?!«

»Dat is aber jemein von dir!« Nun wurde sie wirklich böse: sollte all
ihre Mühe an dem Dickkopf hier so verschwendet sein?! Wütend stieß sie
gegen den Tisch, daß die geleerte Flasche herunterpolterte und auf der
Diele zerklirrte. »Dann jeh wo anders hin, wenn du mir nit mehr jlauben
willst – ich bin beleidigt.« Sie warf die Lippen auf und den Kopf in
den Nacken. Ihr Kleid raschelte der Saaltür zu.

»Wat fällt dir denn ein, wat tu ich dir denn? Lenchen!« Er schrie
hinter ihr her, sprang auf und wollte sie halten, aber sie war
geschwinder. Fort war sie.

Erst als Schmölder gegangen war, unwirsch, unzufrieden mit sich selber
und verstimmt über diesen unangenehmen Abschluß seines gewohnten
Frühschoppens, war sie wieder zum Vorschein gekommen. Sie machte eine
lange Nase hinter ihm drein: was der jetzt lief! Er wollte gewiß noch
vor seiner Frau zu Haus sein! Sie lachte in sich hinein: als ob das
was machte, wenn die es merkte, daß er hier bei ihr gesessen hatte!
Freilich, zuerst hatte die sie geschnitten, den Kopf weggedreht, wenn
der Weg sie am Schwan vorüberführte, aber nun –!

Die Glocken fingen an zu läuten, das Hochamt war aus. Helene blieb im
Fenster liegen und ließ die Kirchgänger bei sich vorüber passieren.
Alles mußte hier vorüber, das breite Eckhaus des Weißen Schwans
beherrschte zwei Straßen, die beiden Hauptstraßen der Stadt; außer
diesen gab’s nur noch ein paar winzige Gäßchen, durch die niemand ging.
Die Wirtin vom Schwan bekam viele Grüße; da war nicht einer unter den
Herren, der nicht den Hut gezogen hätte.

Auch der Landrat grüßte, ein wenig steif, ein wenig förmlich; wie
immer korrekt. Sie errötete leicht – oh, sie konnte auch grüßen wie
eine Dame, nicht nur nicken! Aber dabei stieß es sie inwendig vor
Lachen: den hatte sie auch schon anders gesehen, nicht immer war er so
unnahbar! Ein schöner Mann, ein feiner Mann. Wenn kein Militär oben
lag, den langen Winter durch, war er die einzige Erholung!

Jetzt kam Frau Heinrich Schmölder vorüber. Aha, sie rauschte in Seide!
Puh, wie nobel, aber doch kleinstädtisch! Die Blicke der beiden Frauen
trafen sich. Jede zögerte einen Augenblick: wer mußte nun zuerst
grüßen? Dann nickte die Besitzerin des Schwans und Frau Heinrich
Schmölder nickte wieder, ganz gleichgültig – nein, nicht gleichgültig,
recht freundlich, so daß Helene sich gedrungen fühlte, zu rufen:
»Anjenehme Feiertage, Frau Schmölder!«

»Danke sehr, gleichfalls!«

Hedwig war nicht bei der Mama. Sie kam erst ein ganzes Weilchen
später, sie war noch beim Konditor gewesen, um an die Rahmtorte für
heute mittag zu erinnern. Ach, wer weiß, vielleicht machte ›Er‹
heute am Feiertage einen Besuch! Papa konnte ihn dann doch unmöglich
hinauswerfen, Mama würde ihn sicherlich auffordern, zum Essen
dazubleiben. Hedwigs rundes Kindergesicht war ein bißchen schmäler
geworden; wenn sie sich in dem Spiegel sah, seufzte sie immer. Ach, er
war doch so nett – warum Papa nur eigentlich durchaus nicht wollte?
Onkel Josef war auch so eklig. Früher hatte sie ihn schrecklich gern
leiden mögen, förmlich für ihn geschwärmt – er war doch so besonders,
ganz anders wie Papa – aber nein, nun mochte sie ihn gar nicht mehr.
Er hatte neulich zu Papa gesagt, als der so loswetterte über den
unvermuteten Abendbesuch des Herrn von Scheffler: ›Du hast ganz recht,
Heinrich. Diesmal bin ich deiner Meinung!‹ Wie scheußlich von Onkel
Josef, ganz greulich, daß er nun auch noch gegen sie Partei nahm. Ach,
lieben heißt leiden. Ach ja, alles war gegen ihre Liebe! Sie hatte
schon so viele Tränen darum vergießen müssen.

Hedwig Schmölder glaubte oft, sehr unglücklich zu sein. Und dazu kam
noch die Ungewißheitsqual: liebte er sie denn wirklich? Papa war so
gräßlich verletzend, er sagte: ›Ach was, Liebe! Dein – will sagen,
=mein= Geld hat er im Auge!‹ Und Onkel Josef sagte Ähnliches, wenn
auch nicht ganz so grob; aber es schmerzte darum nicht weniger. Die
Siebzehnjährige seufzte im strahlenden Pfingstsonnenschein, als sie
niedergeschlagenen Blickes über das spitzige Pflaster der uralten Gasse
schritt, im blaßblauen Kleid zarter erscheinend als sonst, zart wie die
blaue Blume des Flachses im goldenen Korn, und blütenjung.

»Nanu, Hedchen?«

»Guten Tag!« Hedwig errötete. Eigentlich mochte sie die da, die aus
dem Fenster so lustig auf sie herunterlachte, gar nicht leiden; aus
verschiedenen Gründen nicht. Erstens war die immer so dreist – Onkel
Josef hatte sie mal mit einem schrecklichen Wort benannt – zweitens
war es eine Unverschämtheit, immer noch ›Hedchen‹ zu sagen, und
drittens hatte Scheffler einmal gesagt: ›die schöne Frau im Weißen
Schwan!‹ Schön, schön, die war doch nicht schön?! Und viertens – nun,
viertens mochte sie sie überhaupt ganz und gar nicht leiden. Warum
eigentlich nicht? Darüber wurde sich Hedwig nicht ganz klar, aber es
stieß sie immer etwas zurück von der blonden Frau, die von aller Welt
gekannt und eigentlich von aller Welt gut gelitten war. Aber heute
konnte sie nicht mit knappem Gruß vorüber. Die Frau sah sie mit einer
so bedeutungsvollen Miene an, als habe sie ihr etwas zu sagen. Wie
bezwungen trat Hedwig dem Fenster näher, erwartungsvoll hob sie ihr
junges Gesicht.

Helene lehnte sich weiter hinaus, das volle Weiß des Busens quoll fast
zum Ausschnitt des Kleides heraus. »No, Hedchen, so traurig heut?«

Hedwig wurde rot, sie fühlte es und ärgerte sich über sich selber;
unwiderstehlich schossen ihr Tränen in die Augen.

»No, no,« tröstete die andere, »man macht doch kein so ’n trübseliges
Jesicht, wenn die Sonn so hell scheint! Hat der Papa als emal wieder
jeschimpft? Laß doch den Alten reden – wat de will!« Sie schlug ein
Schnippchen. »Jegen die Lieb is nix zu machen, die setzt doch ihren
Kopf durch!«

»Meinen Sie?« Unsicher sah das junge Mädchen zu der Frau empor.

Jetzt lachte Helene spöttisch hell auf: war die noch dumm! Aber dann
kam ihr die Gutmütigkeit: wahrhaftig, ein lieb Dingelchen, mit der
würde der Scheffler grad machen können, was er wollte! Sie streckte
ihre weiße Hand aus, an der die zwei Eheringe breit-golden glänzten,
und streichelte das erwartungsvoll zu ihr aufgehobene Gesichtchen.
»Besuch mich doch mal, Hedchen – pardon, besuchen =Sie= mich doch mal!«
Sie lachte neckend: »Ich muß doch nu ›Sie‹ sagen, wenn eine bald Braut
wird, nit wahr?«

»Ich – ich bin ja gar nicht bald Braut,« stammelte die Verwirrte.

Die lachende Frau gab ihr einen freundschaftlichen Nasenstüber: »Tu
dich nit so, mir macht ihr kein X für ’n U. Ich weiß Bescheid. Ich kenn
doch den Scheffler als lang jenug – de brennt lichterloh!«

Hedwig stockte der Atem: war das wahr, wirklich wahr, liebte er sie
wirklich so sehr? Ein freudiger Schreck durchrieselte sie. Sie fragte
nicht, woher die blonde Frau das wußte, es fiel ihr auch gar nicht
ein, sich darüber zu wundern. Glückselig, von einem Rosenschimmer
überstrahlt, der ihr unbedeutendes Gesichtchen verschönte, sagte sie
leise: »Ist das auch wirklich wahr?«

»Auf Ehre!« Die warme, mollige Frauenhand drückte kräftig die ganz kalt
gewordenen Mädchenfinger. »Ich jratuliere, Kind! Der Scheffler ist
reizend, so jibt’s jar keinen zweiten mehr!«

»Aber Papa will doch nicht!« Schon wieder senkte die Kleine betrübt den
Kopf. »Er schilt immer so, wenn Egon Besuch macht. Ach, wann soll sich
Egon denn erklären?«

»Och, der!« Die schöne Witwe schlug eine helle Lache auf. »Der findt
schon en Jelejenheit!« Und dann flüsterte sie vertraulich: »Heut kommt
er her – janz bestimmt – um zwei Uhr hat er Diner bestellt – kannste
nit mal vorkommen, so janz wie von unjefähr?«

Er kam, er kam! Selig strahlte Hedwig. Aber hier herkommen?! Nein, das
tat sie nicht.

Helene zuckte die Achseln: »Jott nee, so etepetete?! Aber wat tut man
nit für verliebte Leut! Der Scheffler is ja ’ne alte Freund von mir,
und – weißte wat, Hedchen?« Flüsternd neigte sie ihr hübsches Gesicht
auf das des jungen Mädchens herunter, daß dieses den ganzen warmen
Duft, den ganzen süßlichen Parfümgeruch einatmete, der die schöne Frau
immer umwogte. »Weißte wat, sei heut nachmittag, so um fünf erum, in
eurem Jarten – mach die Jattertür auf, dat er nit zu schellen braucht
– ich schick ihn hin – dann könnt ihr euch jut aussprechen. Wenn
=ihr= erst emal einig seid, muß der Alte auch ja sagen. Haste mich
verstanden? Um fünf, nach dem Diner – dat is heut sehr fein, Sekt
trinkt er auch – ich schick ihn – –«

Sie fuhren auseinander. Es kamen gerade Bekannte die Straße entlang,
und der erste Wagen mit Gästen fuhr beim Schwan vor. Hedwig hatte nur
noch gerade Zeit, bedeutungsvoll ›Ja‹ zu nicken. Jetzt gab’s keine
Bedenken mehr. –

Eine Stunde später strömten die Gäste schon. Wagen auf Wagen, und die
verhaßten Automobile. Wie Ungetüme saßen die Automobilisten darauf,
um sich dann zu entpuppen als elegante Kavaliere aus Belgien, die mit
ihren schicken Damen hier das Pfingstfest zu feiern gedachten.

»Hören Sie mal, Donnerwetter, Helene, so hören Sie doch mal!«

Die Herren vom Lager fühlten sich heute etwas hintenangesetzt: es waren
zu viel Fremde da, die auch gut dinierten und Sektpropfen springen
ließen. Die schöne Frau Wirtin wußte nicht, wem sie zuerst ihr Lächeln
schenken sollte.

»Die Frau muß ’nen Docht haben, ’nen höllschen Docht!« Der Stabsarzt
konnte nicht umhin, dies bewundernd anzuerkennen. Nun ging es schon
auf fünf Uhr, und sie war noch auf keinen Sitz gekommen. Bald hierhin,
bald dorthin; bald wurde da was gewünscht, bald da. Der ganze Saal
rappelvoll, Tisch eng an Tisch gerückt; kaum zum Durchwinden, und dabei
eine Hitze, ein Lärm, ein Geklapper! Und sie immer mitten dazwischen,
immer lächelnd, immer fidel, nicht ein bißchen müde, appetitlich, zum
Anbeißen nett in dem klaren Kleid, das unter seinem dünnen schwarzen
Flor den Busenansatz und die weiße Atlashaut schimmern ließ.

Wo’s not tat, griff Frau Helene, sie, die sonst so träge war, selber
mit an; heute galt’s. Das war eine Ernte, nicht nur an Geld, nein,
auch an bewundernden Blicken. Mit ihren schönen Armen hob sie eine
Schüssel, reichte sie über Tische und Stuhllehnen und trug sie, ein
wenig erhoben, trotz ihrer Schwere. Sie fühlte es, daß sie sich so gut
machte, und das gab ihr die Lust, selber mit einzugreifen. Ihre Blicke
jagten die Kellner.

Wie eine Königin, dachte Abeking. Nein, wie ein Bild! Er stieß den
Stabsarzt an: »Sieht sie nicht aus wie Tizians Tochter?«

»Nanu!« Der gemütliche Stabsarzt lachte sich eins. »Die Dicke, in der
Tat, die haben beide gemeinsam!«

»Von wem reden Sie denn eigentlich?« Scheffler wußte nichts von Tizians
Tochter; er war im Kadettenkorps erzogen, er hatte nicht Zeit gehabt,
Galerien zu besuchen.

»So so, ganz recht,« sagte er zerstreut, als Abeking, empört über den
Stabsarzt, der von ›Dicke‹ sprach, den Streitfall vorlegte. »Sehr nett,
ja ja!«

Was kümmerte es ihn, ob Helenchen dick oder dünn war? Er legte sich
in Gedanken eine Liebeserklärung zurecht. ›Um fünf,‹ hatte ihm Helene
vorhin zugeflüstert, ›um fünf is Hedwig Schmölder janz allein im
Jarten. Dat Tor steht offen. Ran, immer ran an die Jewehre! Die Kleine
is verliebt bis über die Ohren. Na, nu macht schon voran, ihr zwei!‹
Ja, in der Tat, Helene hatte ganz recht, es war Zeit! Wie lange noch,
und das Kommando auf dem Platz hatte ein Ende, er kam in die Garnison
zurück; und wenn er auch wohl nächstes Jahr wiederkam, dann schwamm der
kleine Goldfisch vielleicht schon in eines anderen Teich. Verdammt! Er
zerknickte einen Zahnstocher in winzige Stückchen und grübelte vor sich
hin. Es war doch schwer, schwerer als er sich’s gedacht hatte, sich so
hinterrücks der Tochter zu versichern, wenn man weiß, daß einem der
Vater nicht grün ist. Es vertrug sich nicht so recht mit dem Begriff
der Ehre. Aber was half’s, machten’s andere Kameraden nicht auch so?
Wie sollte man sonst zu einer reichen Frau kommen? Und die mußte er
haben!

Energisch den Stuhl zurückstoßend, stand der Offizier auf. Er zog
die Uniform stramm herunter, preßte die Brust heraus und zwängte die
Handschuhe an. »Ich komme nachher wieder,« murmelte er gepreßt zwischen
den Zähnen. »Es ist mir zu heiß hier – unerträglich! Adieu, auf
Wiedersehen – nein, Kaffee will ich nicht, nachher Bowle!« Er schlug
die Hacken zusammen, er hatte nicht den Mut, die Kameraden anzusehen.

Leutnant Schmidt machte einen seiner Witze hinter ihm drein. Der
Stabsarzt lächelte ein wenig malitiös. Sie wußten schon, wohin
Scheffler stapelte.

Der kleine Abeking blieb ganz ernsthaft: das war doch immerhin eine
Sache, sich so für’s Leben zu binden, ein großer Schritt, ein gewagter
Schritt! Auch er hatte einstmals von Verloben geträumt, mit einem
jungen Mädchen im weißen Kleid. Er hatte sich das immer entzückend
gedacht, jetzt langweilte ihn das zum Sterben. Er gähnte und trommelte
auf den Tisch: wie konnte Scheffler nur?! Sein Blick suchte Helene.
Ob sie denn nun nicht bald Zeit fand, hierher an den Tisch zu kommen?
Er winkte ihr mit den Augen – sie sah gerade her zu ihm und lachte –
eine stürmische Bitte sprach aus seinem hübschen Gesicht. War er denn
dazu hier heruntergekommen, gab er denn dazu soviel Geld aus, noch dazu
Geld, das nicht einmal das seine war, um sie mit so vielen zu teilen?!
Die Röte des Zorns und der Eifersucht schlug ihm zu Kopf; er hatte auch
hastig getrunken, bei der Hitze wirkte alles doppelt. Er hätte alle
diese hier, die sie mit den Blicken verfolgten, niederknallen mögen,
und sie dann in seine Arme reißen und küssen – ha, küssen! Seine Blicke
verschlangen sie.

Schelmisch abwehrend schüttelte die schöne Frau den Kopf. Dabei
spitzte sie aber doch den Mund wie zum Kusse. Ihre Lippen bewegten
sich jetzt leise, er glaubte ein ›Nachher‹ oder ›Später‹ von ihnen
abzulesen. Unruhig rutschte er auf seinem Stuhl. Es war unsagbar öde;
die Anekdoten von Schmidt kannte er schon alle, oder wenn er sie noch
nicht kannte, wußte er doch, worauf sie hinausliefen – wie konnte der
Stabsarzt nur so darüber lachen?! Zu blöd! Seine Gedanken folgten
wieder Scheffler: der verlobte sich nun – auch gräßlich – wie konnte
sich ein Mann, ein Offizier, mit solch einer törichten, kleinen Person
verloben, die noch von nichts eine Ahnung hatte, die kalt war wie eine
Blüte im Schnee, ohne Glanz, ohne Duft?!

Sein Blick suchte wieder die schöne Frau. Jetzt sah er sie an
einem Tisch stehen und mit ein paar Belgiern scherzen. Unerhört,
unerträglich! Er hielt es nicht mehr aus. Wie Scheffler vorhin, so
stieß auch er jetzt seinen Stuhl zurück und hörte nicht darauf, daß die
Kameraden sagten, er solle doch noch sitzen bleiben, sie kämen nachher
auch mit an die Luft. Er rannte aus dem Saal.

Ah, diese Qualen! Er glaubte nie ähnliche empfunden zu haben. Er hätte
weinen mögen. Und doch konnte er ihr nicht böse sein, ihr nichts
vorwerfen, es lag ja in ihrem Geschäft, mit jedem freundlich sein zu
müssen. Ach, daß sie dazu verdammt war, Wirtin im Weißen Schwan zu
sein! Würde sie denn nicht auch wo anders hin passen? Nein, nein – ja
natürlich – ja, ja, ganz entschieden! Wer sagte da: nein?! Wie ein
Wilder sah er sich um. Auch in anderer Lebenslage, in jeder Situation
würde Helene am Platze sein. Besser als hier; für hier war sie viel zu
schade! – –

Wenn sie nun herauskäme aus dieser Sphäre?! Ein Gedanke, so groß und
ungeheuerlich schoß ihm plötzlich durch den brausenden Kopf, daß er vor
sich selber davonrannte.

Er rannte die Gasse zu Ende, über Treppen und Treppchen, den steilen,
schmutzigen, zwischen zerbröckelnden Mauern verborgenen Engpaß hinan,
der zur Burgruine hinaufführte. Dort war er ganz einsam. Aus dem
Städtchen herauf kam ein Sumsen, aber es wirkte hier oben nicht anders
wie Bienengesumm.

Den Kopf in die Hand gestützt, saß der Leutnant auf einem Mauerrest
und blickte starren Auges hinab in die Enge der Gäßchen, die unter
ihm lagen. Auf das hochgegiebelte Schieferdach des Weißen Schwans –
die Wetterfahne, ein sich ringelndes Weib mit dem Fischschwanz, stand
gerade auf ihn gerichtet – hätte er spucken können. Er stierte auf den
im Nachmittagssonnenlichte glitzernden und glimmenden alten Schiefer.
Da unten wohnte sie – ah, eine Nymphe, eine Nixe, von den Drachen
bewacht, die an den Ecken der Dachrinnen auf die Straße spieen! Er
seufzte und starrte, bis ihm die Augen übergingen. Wenn er nun den
Abschied nähme, ihr zuliebe –?!

Das war ein abenteuerlicher Gedanke, ein ganz verrückter Gedanke, der
nirgendwo anders entspringen konnte, als auf dem Moorgrund des öden
Schießplatzes, als hier in der Enge der versunkenen Stadt. Er hatte ihn
behext, das fühlte er wohl. Er wurde ihn nicht los. Und ihm war, als
hätte er erzählen hören, der schönen Helene wegen hätten sich schon
einmal zwei Offiziere duelliert. Warum auch nicht? Sie konnte schon
junges Blut dazu bringen. Man war doch kein Fisch, wenn man auch hier
kaltgestellt war – ah, so kalt! Mit einem Laut des Unmuts reckte sich
der junge Offizier und heftete dann seinen Blick auf seine blanken
Stiefelspitzen; er konnte nicht mehr dahinabsehen, es zog ihn sonst
hinunter mit Allgewalt.

Es war doch schon manches Mal vorgekommen, daß Offiziere einer Heirat
wegen den Abschied nehmen mußten! Erst kürzlich war ein Bekannter von
ihm zu Krupp gegangen – es ging ihm da sehr gut – sie lebten sehr
glücklich. Warum sollte nicht auch er bei Krupp ankommen?!

Wahrheit und Dichtung vermischten sich in des jungen Mannes Kopf; dabei
war er benommen vom hastig getrunkenen Wein, seine Augen sahen nicht
klar mehr, der blinkernde Schein, der auf dem besonnten Schieferdach
lag, machte ihn ganz verdreht. Er schloß die Augen, um nicht mehr
hinsehen zu müssen. Er schlief ein, aber in seinen Träumen spukte
die schöne Helene, viel schöner, viel hübscher noch, als sie in
Wirklichkeit war. Mit einem lauten Ruf fuhr er auf und streckte die
Arme aus – ah, eben war sie ihm an die Brust gesunken!

       *       *       *       *       *

Es war nicht möglich, noch länger auf Scheffler zu warten. Abeking
war zwar dafür gewesen, noch eine Stunde sitzen zu bleiben. Er war so
unbefriedigt, so unglückselig – sollte er wirklich =so= gehen?! Helene
hatte noch immer nicht Zeit gefunden, sich zu ihnen zu setzen; nur
einen zärtlichen Blick hatte sie ihm dann und wann zuwerfen können, und
es war ihm gelungen, ihr hinter dem hohen Büfett, das gegen die Blicke
aus dem Saal schützte, einen flüchtigen Kuß zu rauben. Er hätte bis zum
Morgengrauen geharrt.

Aber die beiden anderen, die übergenug hatten, fanden es rücksichtslos
von Scheffler, so unpünktlich zu sein. Sie bestanden darauf, anspannen
zu lassen; Schwiegervater würde Egonchen schon in der Equipage nach
Hause schicken.

Wie ein Träumender bestieg Abeking den Wagen: Helene hatte ihm eben
noch ein Zeichen gegeben, ein Zeichen! Was meinte sie damit? Als sie
aufgebrochen waren, an den Kellner gezahlt und mit Geklirr und Gerassel
das Lokal verlassen hatten, war sie ihnen gefolgt in den Hausflur. Dort
brannte nur eine einzige Lampe; es war viel zu wenig Beleuchtung für
den tiefen und hohen, wie in einem Kloster gewölbten Gang. Aber ihm
war’s heut gerade recht so. Während der Stabsarzt und Schmidt scheltend
nach ihren Mänteln suchten, hatte sich Helene dicht an ihn geschmiegt,
er fühlte ihre weiche Hand an seiner Wange. Sie war heiß und erregt,
er roch den Weindunst ihres Atems, aber das, was ihn bei einer anderen
zurückgestoßen haben würde, fiel ihm bei ihr nicht auf, oder es störte
ihn doch nicht. Arme Frau – sie hatte so vielen zutrinken müssen! Er
fühlte sich plötzlich wie ihr Erretter, ihr Ritter.

Und sie hatte heute nichts von der Schnippischkeit, von dem
neckend-überlegenen Ton, mit dem sie sonst die jungen Leutnants
abzufertigen pflegte. Der kleine Abeking mit den treuherzigen Augen
gefiel ihr gut: so jung, so jung, ah, so ein ganz junger war doch
tausendmal netter, als so ein alter ›Knopp‹ wie Schmölder zum Beispiel!
Netter auch als der Stabsarzt seligen Angedenkens, netter selbst als
der schöne Egon, netter als viele, viele andere. Er war schüchtern, er
traute sich nicht so wie die anderen, das gefiel ihr am allerbesten
an ihm. Ein Gesicht hatte er fast wie ein Mädchen, fein und zart,
trotzdem er schon braun gebrannt war wie eine Haselnuß. Und was
er für ein niedliches Schnurrbärtchen hatte! Sonst, wenn er daran
herumzwirbelte, während seine Blicke an ihr hingen, hätte sie immer
sein hübsches Gesichtchen zwischen beide Hände nehmen mögen: ›Da haste
en Bützken, lieber Jung!‹ – aber heute kam er ihr männlicher vor,
unternehmender. Als er ihr heute hinter dem hohen Büfett einen heftigen
Kuß aufdrückte, hatte sie etwas von einer Leidenschaft gefühlt, die
auch ihr immer bereites Herz gleich mit in Flammen setzte. Als sie sich
jetzt im dunkelnden Flur an ihn drückte, mit weichen Fingern seine
Wange streichelte, war Verliebtheit in ihrem Tun: wahrhaftig, das war
kein dummer Junge mehr, mit dem man ein bißchen liebäugelte, den man
hinhielt von einem Mal zum andern, das war ein Mann, ein richtiger
Mann! »Komm wieder,« flüsterte sie und streifte mit ihren Lippen sein
Ohr.

Weiter hatte sie nichts sagen können. Die Kameraden rissen ihn mit
fort: »Kommen Sie, kommen Sie, Abeking, wollen in die Klappe!«

Nun fuhren sie alle drei schweigsam zum Lager hinauf. Solange sie noch
übers Pflaster des Städtchens holperten, hatten sie von Scheffler
gesprochen – der übte sich ja nun in Bräutigamsgefühlen – aber als
der Wagen ruhiger und langsamer die steigende Chaussee hinanrollte,
verstummte die Unterhaltung. Die beiden gähnten und wickelten sich in
ihre Mäntel. Abeking, ihnen gegenüber, machte einen langen Hals und
spähte ihnen ins Gesicht: aha, sie schliefen schon! Wenn er nun aus dem
Wagen spränge, das Endchen zurückliefe? Eine halbe Stunde kaum, und er
wäre bei ihr! Nein, es war noch zu früh, längst noch nicht Mitternacht,
der Schwan war noch voller Lärm und Lichter. Schade! Eine glühende
Sehnsucht packte ihn, die schöne Frau zu umarmen. ›Komm wieder,‹ hatte
sie in sein Ohr geflüstert – was meinte sie damit? Morgen? Übermorgen?
Oder – heute noch?!

Während die Kameraden schon fest schliefen, fand er keinen Schlaf,
obgleich die Augen ihm fast zufielen und der Kopf ihm verworren war.
Sie hatten ihm so oft eingeschenkt; sie hatten’s gut damit gemeint,
aber er konnte nicht viel davon vertragen. Nun hörte er in einem
fort, wie aus weiter Ferne und doch nah, ganz nah, das ›Komm wieder!‹
Verdammt noch mal, wie sollte er das denn machen?! Er schätzte den
Sprung, vom Wagen herab auf die Straße. Merken würden die beiden es
jetzt nicht, aber nachher, wenn sie ausstiegen; nachher. Nein, jetzt
ging es nicht!

Mit einem Seufzer der Ungeduld zwirbelte der junge Mann sein Bärtchen.
Er atmete zitternd-beklommen, in seinen Adern floß es wie Feuer, er
hatte kaum die Beherrschung, ruhig sitzen zu bleiben. Mit brennenden
Augen stierte er über den Wagenrand. Aber er sah nichts von dem Zauber
der schönen Nacht, er sah nur gespenstische Umrisse. Daß da links vom
sich windenden Band der Straße tief unten im Tälchen der silberne Bach
glänzte, und goldene Sterne sich in ihm spiegelten, sah er nicht.
Er sah nur immer die begehrlichen Augen der schönen Frau. In dem
Murmeln und Plätschern, das der über Steine herabfallende Bach zu ihm
heraufsandte, hörte er nur die flüsternde Stimme: ›Komm wieder!‹

In dieser Nacht brauchte es keiner Nachtigallen-Lockung. – – ›Komm
wieder!‹ – –

Der junge Mensch fieberte. Es klopften ihm alle Pulse. Er mußte zu ihr
– ›Komm wieder!‹ – er mußte, es litt keinen Aufschub! Wenn er nun mit
den Kameraden hinaufführe bis vors Lager, wenn er dann, während sie
schlaftrunken davonwankten, dem Kutscher ein Zeichen machte, ihm einen
Taler in die Hand drückte, sich einen Gaul beim Zügel langte, sich
hurtig aufschwang und noch einmal hinuntergaloppierte ins Städtchen? Zu
ihr!

    Und hurre hurre, hopp hopp hopp,
    Ging’s fort in sausendem Galopp,
    Daß Roß und Reiter schnoben
    Und Kies und Funken stoben.

Dies Gedicht fiel ihm immerwährend ein, er konnte den Rhythmus gar
nicht loswerden: hurre hurre, hopp hopp hopp. Drunten war’s still, die
Lichter waren alle erloschen, an den Laden schlug er, klirrend stieg
er ab – trapp trapp trapp – des Rosses Hufe dröhnten – sie würde ihn
hören. Sie wartete ja schon auf ihn. Hurre hurre, hopp hopp hopp –
haha, das war eine Idee, ein toller Streich! Ein toller Ritt, aber –
– wenn die Sonne aufging, war er wieder oben im Lager. Niemand merkte
etwas, das Pferd stand im Stall, er selber lag in seinem Bette; nur
zum Schein, was braucht es der Rast, wenn man beim Liebchen gewesen
ist?!

»Und hurre hurre, hopp hopp hopp!« Er murmelte es in das dumpfe Rollen
des Wagens, in das gleichmäßige Schnarchen der Kameraden hinein.

Die Pferde schnauften; der müde Kutscher trieb sie nicht mehr an,
aber sie trabten von selber, sie witterten den Stall. Der Mond fing
an zu scheinen. Jedes Hälmchen am Wege zitterte tau-beperlt. Die
großen Tannen am Chausseerand, die, riesenhaft, vom Bachtal bis hier
heraufragen, schimmerten silberig und fingen den Mondglanz mit ihren
Ästen auf.

Weitoffenen Auges fuhr der Trunkene in den huschenden Glanz hinein,
aber er sah nicht. Wie Leichensteine, weiß und gespenstisch, ragten
die Meilensteine am Rand der steil-abstürzenden Böschung. Sein Gesicht
schimmerte geisterbleich; er lächelte in sich hinein.




X


Egon von Scheffler war glücklicher Bräutigam. Es hatte schwere Mühe
gekostet, den Alten herumzukriegen; vieler Tränen des Töchterchens
hatte es bedurft, und vieler Versicherungen des Offiziers. Aber die
Helene hatte das höchst schlau eingefädelt – was sollte der Vater jetzt
noch machen?!

Es war eine unangenehme Überraschung für Heinrich Schmölder gewesen,
als am hellen Pfingstnachmittag seine Hedwig plötzlich zu ihm in
die Stube stürmte, wo er auf dem Sofa lag und rauchte, hastig, mit
glühenden Wangen und glänzenden Augen sich auf ihn stürzte, die Arme
um seinen Nacken schlang und ihr Gesicht an das seine preßte: »Ach,
Papa, Papachen, ich bin ja so glücklich!« Was hatte sie sich denn so?
Er wußte nicht, wie ihm geschah. Aber als er, sich ein wenig vom Sofa
aufrichtend, Herrn von Scheffler in der Tür stehen sah, etwas verlegen
lächelnd, aber doch mit einer gewissen Siegermiene, da wußte er alles.
Zum Donnerwetter, wie war der denn hereingekommen? Er hatte es doch gar
nicht klingeln hören!

Auch Frau Schmölder war, trotzdem ihr der Offizier so wohl gefiel,
von der Plötzlichkeit der Sache nicht sehr erbaut: Hedwig war doch
noch so jung, man hätte doch noch erst überlegen sollen! Sie sah ihre
Tochter so böse an, wie sie nur konnte: fragt man nicht erst seine
Mutter um Rat? Und Heinrich sah wiederum seine Frau böse an: sie war
an allem schuld, sie hatte die Sache protegiert! Aber Hedwig schien
so glückselig, und sie war das einzige Kind. Schulden hatte übrigens
Scheffler nicht. Er hatte sofort, nachdem ihn Schmölder zu einer
Unterredung in sein Privatkontor gebeten hatte, seine Verhältnisse
unumwunden klargelegt: Vermögen hatte er keins, nur eine Zulage gehabt,
aber ein gutes Avancement hatte er vor sich, und er war auch niemandem
etwas schuldig. Dies gab den Ausschlag.

Mit umwölkter Stirn sagte der Fabrikant ja. Er hätte lieber jeden
anderen zum Schwiegersohn gehabt, als einen Offizier; aber wenn er
gerecht sein wollte, mußte er sich eingestehen, daß der, an dem er
so gern etwas zu tadeln finden wollte, untadelig aus seinem Verhör
hervorgegangen war. Die beiden Männer reichten sich die Hände.

»Machen Sie meine Hedwig jlücklich,« sagte der Vater. Es lag eine Bitte
in dem sonst so trockenen Ton Heinrich Schmölders, und zugleich ein
leis-bange Frage, die der Bräutigam wohl heraushörte.

Er verbeugte sich gehalten: »Ich werde alles tun, was in meinen
Kräften steht, Ihr Fräulein Tochter glücklich zu machen. Mein
Ehrenwort!«

Ein paar Stunden später nannte man sich schon ›Egon‹ und
›Schwiegerpapa‹, wenn auch vorerst das ›Sie‹ noch beibehalten wurde.
Heinrich Schmölder hatte einen feinen Wein heraufbringen lassen; es
wurde ein ganz fröhliches Abendbrot. Die Eltern sahen immer wieder ihr
Kind an, und das Kind den Bräutigam.

Scheffler selbst war in einer strahlenden Laune. Es war alles so glatt
gegangen, es hatte gar nicht vieler Worte bedurft in dem blühenden,
lauschigen Garten zwischen den Felsen, und das kleine Mädchen war ihm
an die Brust gesunken, errötend, zitternd, und er hatte ihr einen
zarten Kuß aufgedrückt. Nun hielt er die Hand der Braut beständig in
der seinen. Er sah wohl den immer wiederkehrenden ängstlich-forschenden
Blick des Vaters, der ihn über den Tisch weg fast durchbohrte, aber
er lächelte zuversichtlich: ja, er hatte dies kleine Mädchen wirklich
lieb, herzlich lieb, viel lieber, als er eigentlich gedacht hatte. Es
würde schon ganz gut mit ihr gehen!

Es wurde spät, bis der Bräutigam sich verabschiedete, und als ihm dann
die Braut das Geleit bis zur Gartentür gab, und er sie da noch einmal
küßte, seine Lippen auf die warmen jungen Lippen drückte, mischte sich
in diesen Kuß ein aufflackerndes Begehren: wahrhaftig, das hatte er
sich doch nicht so reizend gedacht, so ein junges Ding die Liebe zu
lehren!

Der Schwiegervater hatte ihn mit der Equipage heraufgeschickt. In der
bequemen, weichgepolsterten Ecke lehnte träumerisch der Offizier; er
dachte daran, daß der Alte doch eigentlich ein famoser Kauz sei, der,
der Tochter zuliebe, auch dem Schwiegersohn so leicht nicht etwas
abschlagen würde. Oh, wie klug hatte er doch daran getan, der kleinen
Hedwig Schmölder, die die anderen Kameraden etwas unbedeutend fanden,
den Hof zu machen! Zufrieden lächelte er in sich hinein. Nun würden
sie ihn beneiden! Er strich sich den schönen Schnurrbart. Gedanken,
angenehme Gedanken strömten ihm in Menge zu; er war ganz darein
vertieft.

Da merkte er doch plötzlich auf. Wie ein Schatten flog etwas an ihm
vorüber, ein beschlagener Huf sprühte Funken, ein Pferdeatem, heiß und
keuchend, schnob am Wagen vorbei. Was war das?! Er wollte sich erheben,
sich umsehen – da – da war auch schon alles verschwunden. Ein Traum,
eine Halluzination, eine Täuschung der Sinne. –

       *       *       *       *       *

Am folgenden Morgen pochte der Bursche vergebens an Abekings Tür.
Der Herr Leutnant hatte mal einen festen Schlaf, aber wenn auch noch
Festtag war, er mußte doch Appell abhalten! Der Bursche räusperte und
scharrte mit den Füßen, zuletzt donnerte er mit der Faust gegen die
Tür. Diese war nicht verschlossen; als er sich endlich ohne ›Herein‹
hineintraute, war sein Leutnant nicht da, das Bett gar nicht berührt.

Er stieß unwillkürlich einen Laut des Erstaunens aus, der die ganze
Enge der Offiziersbaracke durchhallte.

Adjutant von Scheffler steckte den Kopf mit der Schnurrbartbinde und
den mit Creme gesalbten Wangen zu seiner Tür heraus, aus einer anderen
fuhr der Stabsarzt; Leutnant Schmidt und noch mehrere zeigten sich im
Negligé. Was war denn los? Was brüllte der Kerl denn so und glotzte wie
ein abgestochenes Kalb?! –

Wenige Stunden später erschienen verschiedene der Herren in
Heckenbroich. Die Leute, die in Hemdsärmeln in ihrem Heckenausschnitt
standen, den zweiten Pfingsttag anrauchten und sich des warmen Wetters
freuten, wurden ausgefragt: hatten sie heute nicht etwa einen Herrn
vom Lager gesehen, einen Unterleutnant von der Artillerie? So und so
sah er aus! Man gab ein genaues Signalement. Aber keiner der Bauern
wollte ihn gesehen haben.

Kopfschüttelnd kehrten die Herren wieder ins Lager zurück.
Donnerwetter, wo steckte der Abeking denn? Vom Platz konnte man sich
doch nicht mir nichts dir nichts entfernen. Heute gegen Mitternacht war
er mit Schmidt und dem Stabsarzt heimgekommen, sie hatten sich alle
schlafen gelegt, und nun war er auf einmal nicht mehr da, und kein
Posten hatte ihn sich entfernen gesehen! Es ging nicht anders, man
mußte Meldung machen.

Scheffler übernahm diese heikle Mission. Er entledigte sich ihrer mit
der ihm eigenen Gewandtheit und Delikatesse, aber er entging doch
nicht dem Donnerwetter der Ungnade. Man liebte es so wie so nicht,
daß die Herren soviel umherstreiften und in der Nacht erst nach Hause
kamen – der Offizier hat ein Vorbild zu sein, sowohl was Pünktlichkeit
anbelangt als Solidität – und nun diese Geschichte! Erst als es
Scheffler gelang, die vertrauliche Mitteilung seiner Verlobung beim
Höchst-Vorgesetzten anzubringen, wurde dieser gnädiger. Er gratulierte
seinem Adjutanten in schmeichelhaften Worten: war wirklich nett, sehr
nett, diese Verlobung. Schmölders sehr nette Leute, alt-eingesessenes
Patriziergeschlecht. Wenn nur alle Kameraden immer so das Richtige
träfen!

»Aufrichtigen Glückwunsch, lieber Scheffler. Nun, wenn Sie Hauptmann
sind, wird wohl geheiratet, was?«

»Zu Befehl, Herr Oberst!«

Der kleine Abeking war wieder in den Hintergrund gerückt. Die Verlobung
von Scheffler wurde allgemein besprochen. Aber als es Mittag wurde
und Nachmittag, und der Leutnant noch immer nicht da war, fingen die
Kameraden wieder an, und zwar besorgter, auf ihn zu harren. Es war ihm
doch wohl nichts passiert?!

Eine glühende Sonne, viel heißer noch als die gestrige, brannte
dörrend aufs Lager herab. Die Wellblechbaracken sprühten. Die meisten
der Offiziere lagen bei verhängten Fensterchen auf ihren Betten und
druselten, einige gähnten im Kasino. Alle hatten sie noch einen
gewissen Katzenjammer von gestern, es war das beste, man schlief
erst einmal ordentlich aus; zu morgen war ohnedies Felddienstübung
anberaumt. Keinem Menschen war es behaglich. – –

Es war schon spät, als es an Bürgermeister Leykuhlens Tür klopfte. Ein
paar erhitzte Radfahrer standen draußen.

Bis zum Dunkelwerden hatte man im Lager noch geduldig auf Leutnant
Abeking gewartet, aber nun es Nacht zu werden anfing, zudem ein
Gewitter drohte – fernes Wetterleuchten durchzuckte ab und zu
den sternenlosen Himmel – hatte man plötzlich Angst bekommen. Es
mußte Abeking irgend etwas passiert sein, nicht anders war sein
unerklärliches Verschwinden möglich. Sämtliche Leute wurden ausgefragt,
Unteroffiziere wie Gemeine, Infanterie wie Kavallerie und Artillerie;
sie kannten ihn längst nicht alle, aber wenn sie ihn auch nicht gekannt
hatten, jetzt kannten sie ihn, bis aufs Tüpfelchen wurde er ihnen
beschrieben. Das ganze Lager war aufgestöbert.

War das eine Geschichte! Es surrte wie ein Bienenschwarm. Diese
gottverfluchte Gegend, diese verdammte Ödenei! Was einem hier alles
passieren konnte! Wie in Südwestafrika; schlimmer war’s in den Wüsten
und bei den Hottentotten auch nicht, als hier in der Heide und im Moor.
Vielleicht daß der Leutnant nicht hatte schlafen können vor Hitze –
’s war ja auch in den Käfterchen unter dem Wellblech zum Ersticken –
er mochte wieder aufgestanden und ungesehen hinauspassiert sein, um
sich draußen Erquickung zu holen. Diese verdammten Venn-Löcher, die
zugewachsen waren mit Wollgras, die man nicht eher merkte, als bis
man drin steckte! Er mochte eingebrochen sein im Halbdunkel, der arme
Kerl, in ein tiefes Loch, vielleicht bis an den Hals. Er hatte sich
nicht mehr herausarbeiten können. Oder ob ihn einer überfallen hatte,
Geld bei dem Offizier vermutend? Vielleicht lag er irgendwo erschlagen
hinter einem Busch, war ins Dickicht einer Tannenschonung verschleppt
worden! Die Kolonie der Verbrecher, zwischen Lager und Dorf, war nicht
weit. Was hat so ein Kerl denn noch zu verlieren?! Wenn er entdeckt
wurde, Kopf ab; das war auch nicht viel schlimmer, als da oben zu
hacken und zu roden!

Die abenteuerlichsten Gerüchte schwirrten durchs Lager. Wer zuerst
solch grausige Befürchtung ausgesprochen hatte, wußte man nicht.
Aber wo Zwei, Drei zusammenstanden, sprach man davon. Jetzt war die
Befürchtung fast zur Gewißheit geworden: krank war Leutnant Abeking ja
nicht gewesen, nein, ganz normal bei Kräften und bei Sinnen! Gesund und
munter war er gestern mit Schmidt und Scheffler und dem Stabsarzt zum
Diner in den Schwan gefahren, mit Schmidt und dem Stabsarzt auch wieder
gesund und munter heraufgekommen. Nicht mit dem Krümperwagen waren
sie gefahren, mit dem Break vom Bahnhofswirt. Ob der vielleicht etwas
wüßte? Man mußte doch einmal hören. Einige eilten dorthin.

Aber der Bahnhofswirt zuckte die Achseln: er wußte nichts.
Dienstbeflissen wollte er aber gleich einmal seinen Knecht fragen, den
Kutscher, der die Herren gefahren hatte. Vielleicht daß der eine Ahnung
hatte! Die Herren tranken derweil am Büfett einen Cognac, der Wirt
ging in den Stall zum Knecht.

Er blieb lange aus, endlich kam er mit einem ganz eigentümlichen
Gesicht wieder. Er war blaß, und heftige Erregung zitterte in seiner
Stimme: da wäre ihm ja bald sein Pferd ruiniert worden, sein bestes
Pferd! Eben hatte der Wallone es eingestanden, als er das Tier
zerschunden und blutrünstig im Stall stehen fand, ganz lahm und
abgetrieben. Bei den Ohren hatte er den Burschen gepackt, es aus
ihm herausgeschüttelt: was war mit dem Gaul passiert? Da hatte der
Junge geheult: der Herr Leutnant, den er gestern abend bis vors Lager
gefahren hatte, der war noch einmal umgekehrt, gerade als er die Pferde
in den Stall führen wollte, hatte ihm, ehe er sich dessen versah, den
einen Gaul aus der Hand gerissen, selber Decke aufgeschnallt, Halfter
angelegt, sich aufgeschwungen – heidi, auf und davon. Vergebens war er
ihm nachgelaufen, vergebens hatte er ›Halt‹ geschrieen. Die ganze Nacht
hatte er nicht schlafen können deswegen: was geschah mit dem Pferd?
Aber am Morgen, eine Stunde nach Sonnenaufgang, zur ersten Futterzeit,
da hatte der Gaul sich wieder vorm Stall eingefunden – und so sah er
aus! Er hatte dem Tier schon die geschrammten Stellen gekühlt.

Nun verlangte der Wirt sehr energisch eine Entschädigung: das ging denn
doch nicht an, daß ihm die Herren Offiziere die Pferde so kujonierten
und zurichteten! Schwer genug mußte man sich’s hier werden lassen,
alles anschaffen für die Bedürfnisse der Herren, und wenn sie dann
zuletzt abzogen, blieb man mit dem übrigen sitzen, und doch wurde immer
und immer noch geredet über ›hohe Preise‹ und ›Geldschneiderei‹!

Die Herren vom Lager bekamen einige sehr unangenehme Wahrheiten zu
hören. Der Bahnhofswirt wurde ausfallend; daß man ihm sein Pferd so
mir nichts dir nichts entführt hatte, das brachte ihn aus der Fassung.

Die Herren straften ihn mit der gebührenden Verachtung; aber sie
schrieben ihren Ärger Abeking aufs Konto: wie konnte der Mensch
solch unglaubliche Geschichten machen! Sie waren geradezu wütend:
erst betrank sich der Junge und benahm sich dann wie ein Toller!
Wahrscheinlich lag er nun irgendwo und schlief seinen Rausch aus.

Fast hätte man Lust gehabt, das Suchen aufzugeben. Patrouillen waren
ja schon längst ausgeschickt worden, ein paar Trupps suchten den
Schießplatz ab und das ganze anstoßende Gelände; zwanzig Mann waren ins
Venn hinaufmarschiert mit der Order, jede Schonung zu durchstöbern,
jeden Tümpel zu durchforschen, besonders in der Nähe der Strafkolonie.
Aber es war nichts gefunden worden.

Scheffler mußte jetzt zu seiner Braut, der Krümperwagen wartete schon.
Aber der Stabsarzt wollte sich doch noch nicht zufrieden geben: man
hatte so oft mit dem jungen Kameraden fröhlich zusammengesessen, sollte
man ihn nun in irgend einer Patsche stecken lassen?! Er war ein guter
Radfahrer, Leutnant Schmidt auch. Die beiden befuhren nun jede Strecke,
die nur irgendwie zu befahren war; rechts vom Lager, links vom Lager,
und in weitem Bogen um dasselbe herum. Sie riefen, sie schrieen:
»Abeking! A–a–beki–i–ing!«

Das Echo am Krummen Ast spottete ihnen nach; auch aus den Tannen äffte
es sie. Es wurde dunkel, sie konnten nicht überall fahren, sie mußten
absteigen und schieben; sie fluchten und schwitzten. Wie verflogene
Glühwürmer irrten ihre Laternen durch die totstille Einsamkeit. – –

Auch sie hatten ihn nicht gefunden. Nun waren sie noch einmal nach
Heckenbroich gekommen.

»Meine Herren, waren Sie dann als nach der Stadt erunter?« fragte
Leykuhlen, als sie jetzt erhitzt, die dampfenden Stirnen sich wischend,
in einer gewissen Nervosität vor ihm standen.

Nach der Stadt?! Sie belächelten fast die Frage. Da war der Kamerad ja
gerade hergekommen! Und überdies hätte man von dort längst Nachricht
erhalten; Abekings Verschwinden war jedenfalls dort ebenso bekannt
geworden wie hier.

Der Bürgermeister schüttelte den Kopf: die Herren irrten, hier im Dorf
erregte das auch weiter kein großes Aufsehen, die Leute saßen hinter
ihren Hecken. Aber wenn es den Herren darum zu tun war, wollte er wohl
noch einmal mit ihnen suchen gehen.

Er rief nach seiner Frau: »Bring mir en Latern, Mariechen!«

Und dann gingen sie, die Offiziere ihre Räder führend, er ihnen vorab
mit starkem Schritt. Er schlug die Richtung nach der Stadt ein.

Die Nacht war sternenlos, das zuckende Leuchten am Himmel kam näher und
näher. War es so schwül, daß ihnen immer wieder und wieder der Schweiß
von den Stirnen rann, oder machte eine seltsame Unruhe, die wohl durch
das lange Umherirren hervorgerufen worden war, ihnen so unangenehm
heiß? Die beiden Offiziere sprachen flüsternd zusammen.

»Fangen Sie auch an, was unruhig zu werden, Doktor?« fragte leise
Schmidt.

»Na, und ob!« Der Dicke wischte sich den Schweiß ab. Dann sagte er
lauter: »Herr Bürgermeister, wirklich sehr freundlich von Ihnen, daß
Sie mit uns gehen!« Und der andere setzte hinzu: »Ja, ganz famos!«

Der Bürgermeister gab keine Antwort. Er hatte von dem Verschwinden
des jungen Offiziers heute vormittag schon gehört, nun war es
Nacht, derselbe noch nicht wieder da – sollte wirklich ein
ernstlicher Unfall ihm zugestoßen sein? Oder steckte da irgend eine
Weibergeschichte dahinter? Seine Mundwinkel zogen sich herab in einem
leis-geringschätzigen Lächeln: kein Mädchen von Heckenbroich würde
sich zu so etwas hergeben. Aber es gab ja noch andere Frauenzimmer?!
Es durchzuckte ihn plötzlich, er schlug sich vor die Stirn: die
Helene?! Fast hätte er’s laut herausgeschrieen: zu der mußte man
gehen, die einmal ordentlich ins Verhör nehmen! Aber er biß sich auf
die Lippen: still, was ging’s ihn an, mochten sie selber ihre Klugheit
erweisen, die Herren vom Lager, er hatte sie nur zu führen. Jetzt
war es nicht an der Zeit, harte Worte zu sprechen – warum mußten sie
immer herunterfahren und erst zurückkommen bei Nacht und Nebel und
den Frieden des Dorfes stören mit Rädergerassel und Hallo? – Nein,
jetzt nichts davon! Jetzt galt es, einen Menschen zu suchen, der
sich verloren hatte, der – er stockte in seinen Gedanken – war der
Leutnant am Ende doch verunglückt?! Ein toller Ritt bei der Nacht auf
ungesatteltem Pferd! Er schüttelte nachdenklich den Kopf.

Sie waren jetzt bei der ersten scharfen Biegung der zu Tal führenden
Straße angelangt. Heut schimmerte das sich windende Band der Chaussee
nicht so weiß wie gestern im Mondenschein. Unsicher ging man durchs
Dunkel, die Laternen warfen nur einen kleinen Lichtkreis; fratzenhaft
tauchte für Momente irgend ein abgehauener Strunk darin auf oder ein
Meilenstein am jäh abstürzenden Rande. Unten rauschte das Wildwasser,
heute lauter denn sonst, weil kein Windhauch die Tannenwipfel rührte.
Regungslos standen sie, Urwaldbäume, gewaltige Riesen, die Dunkelheit
noch verdunkelnd durch ihre schwarz ragende Wand.

»Glauben Sie, daß ihm etwas Ernstliches zugestoßen sein könnte, Herr
Bürgermeister?« fragte plötzlich der Stabsarzt. Beklommenheit war
in der Frage. Und gleich darauf erhob er seine Stimme: »Abeking!
A–a–beki–i–ing!«

»Schreien Sie doch nicht so! Warum schreien Sie denn so wie ein Kind im
Dunkeln!« wollte Schmidt spötteln. Aber der Spott kam nicht heraus; in
seinen Ton mischte sich etwas anderes. War es Angst?

Ein Huhuhen ging durch die Tannen. Jetzt ein schriller Pfiff. Man sah
nichts, aber man hörte etwas. Allerlei Nachtgevögel, durch den Ruf
aufgeschreckt, ließ sich vernehmen.

»A–a–beki–i–ing!«

»Doktor, was fällt Ihnen de – –«

»Halt!« sagte plötzlich Leykuhlen. Seine Hand legte sich mit eisernem
Griff dem Offizier auf den Arm. Er hatte seine Laterne gehoben und
dann wieder gesenkt; ihr Strahl fiel auf den weißen Meilenstein, der
gespenstisch ragte wie ein Grabmal, auf das der Mond scheint. Er
leuchtete rundum und bückte sich dann nieder. Die schmale Grasnarbe,
die noch zwischen Straße und Absturz läuft – hier an der schärfsten
Biegung wie ein Vorsprung über der Bergschlucht hängt – war aufgewühlt.
Hier hatte ein Pferd gescharrt – gescheut! Man sah noch den Schlag des
Hufes wider den Meilenstein.

Alle drei Männer sahen es und schwiegen. Es durchfröstelte die
Offiziere. Das Wildwasser rauschte herauf durch die Dunkelheit.

Jetzt ein Brechen, ein Knacken von Zweigen. Leykuhlen fing an, von
der Chaussee die senkrechte Böschung abwärts zu klettern. Die anderen
folgten ihm.

»Hören Sie nichts?« Leykuhlen drehte den Kopf nach den ihm Folgenden.

Nein, sie hörten nichts! Aber der Ton ihres Führers machte sie stutzen.
Ihre Räder hatten sie am Chausseerand hingeworfen, die Laternen waren
erloschen; des Bürgermeisters Laterne allein leuchtete ihnen notdürftig
durch Gestrüpp und Dornengerank und Strünke und Schiefergeröll. Immer
steil abwärts ging es, ein böser Absturz. Sie rutschten und kletterten.
Hätte man sich nicht an den tiefhängenden Ästen der Tannen anhalten
können, man wäre unbarmherzig gestürzt.

»Donnerwetter!« ächzte der Stabsarzt. Aber dann wurde sein Ton
plötzlich noch besorgter, er stieß hastig heraus: »Hier scheint schon
mal einer vor uns heruntergerutscht zu sein – Achtung! A–a–be–king!«

»Rufen Sie, rufen wir noch emal,« befahl Leykuhlen. »All zusammen!«

Sie schrien jetzt alle drei: »A–a–be–ki–i–ng! A–a–be–ki–i–ng!«
Langgezogen und fragend erklang es. Langgezogen und klagend hallte
die jenseitige Steilwand der Talschlucht ihre Rufe zurück. Nachtvögel
fuhren um sie auf, hinter ihnen prasselten dumpf die Steine und
schossen dann nieder, bis sie aufklatschten unten im Bach.

Aber jetzt vernahmen die Offiziere noch etwas anderes; es klang wie ein
schwacher Ruf. Ein Stöhnen hintennach. Ihr Kamerad, war er das?!

»Abeking, sind Sie da? Wo? Geben Sie Antwort! Wo?«

In rücksichtsloser Eile stürzten sie abwärts, die Mützen wurden ihnen
durch die Zweige von den Köpfen gerissen, an ihren Uniformknöpfen
zerrten die Dornranken. Eine fieberhafte Aufregung hatte sich ihrer
bemächtigt: war’s Abeking? Er gab jetzt keine Antwort mehr. Wo, wo?

»Hier,« sagte jetzt Leykuhlen und kniete rasch nieder.

Seine Laterne beleuchtete den Gestürzten – das Gesicht war totenbleich,
die Augen geschlossen, das blonde Haar klebte an der Stirn. Als
Leykuhlen den Kopf des Leutnants ein wenig hob und ihn sich in den
Schoß bettete, rann es ihm feucht über die Finger.

Und jetzt kam das Gewitter herauf, das schon lange gedroht hatte. Aber
es war doch wie eine Erlösung, die Beklemmung wich, es brachte Licht.

Der Schein der Blitze leuchtete ihnen, als sie den Besinnungslosen
ein Stück weiter bach-abwärts trugen, um ihn dann hinauf zu schaffen
zur Chaussee an einer weniger steilen Stelle. Sie brachten ihn zu
den Rädern; diese wurden mit Taschentüchern zusammengebunden, der
regungslose Körper quer über die Sättel gelegt. Die Riesenkraft
Leykuhlens hielt ihn da fest; der eine Kamerad führte, der andere schob.

»’ne traurige Fuhre,« murmelte der Stabsarzt. Lebte der Junge? Ja,
er lebte. Aber, ob er sich nicht so ernstlich verletzt hatte, daß
er sein Leben lang daran zu tragen hatte, das war in der Eile, bei
der nur flüchtigen Untersuchung unter unsicherer Beleuchtung, nicht
festzustellen. Eine niederdrückende Bestürzung lag über den Kameraden
und eine quälende Ungeklärtheit: wie war das nur zugegangen?! Abeking
war doch ein so guter Reiter! Aber freilich, bei Nacht und auf einem
fremden Gaul ohne Sattel – Herr des Himmels, wie war der Junge
überhaupt auf die Idee zu einem solchen Ritt gekommen?! Warum?!

Leykuhlen sagte kein Wort. Er fühlte ein Mitleid, das er sich selber
nicht eingestehen mochte. Dies hier war ja noch schlimmer, am Ende viel
schlimmer noch, als die beiden, die sich jetzt mit Fragen bestürmten,
ahnten! Wer weiß, ob es nicht besser wäre, der Mund des jungen
Offiziers, der jetzt so stumm war, bliebe für immer geschlossen? Was
würde man zu hören bekommen? Nicht viel Gutes!

O du Frauenzimmer! Der Bürgermeister ballte die Faust im Sack. Aber
neben seinem geheimen Zorn regten sich auch Stolz und Scham in ihm:
nein, nichts von diesen Vermutungen sagen, Fremde brauchten es nicht zu
erfahren, was die da unten für ein Schandfleck war im Land!

Stumm und langsam rückten die Männer mit dem Gestürzten die Chaussee
hinan. Die Offiziere sprachen jetzt auch nicht mehr; die Lust zum Reden
war ihnen vergangen. – –

Als Adjutant von Scheffler um Mitternacht mit dem Krümperwagen von
seiner Braut zurückkehrte, rief ihn auf der Dorfstraße jemand an.
Hinter seiner Hecke kam der Bürgermeister hervor – er mußte da gewartet
haben – und trat an den Schlag.

»Steigen Sie aus, Herr Oberleutnant, wir haben als auf Sie jelauert.
Sie können ihn mitnehmen, er liegt da drin!« Er nickte nach seinem
Hause hin.

»Was – wer – Abeking?!« Hastig sprang Scheffler aus dem Wagen; er
war bleich und nervös. Als er jetzt in die Stube trat, wo auf dem
Kanapee, den Kopf mit nassen Kompressen belegt, die von Frau Leykuhlen
unablässig erneuert wurden, der junge Leutnant lag, zuckte er zusammen.
Am Tisch saßen der Stabsarzt und Schmidt, die Köpfe gesenkt; sie
sagten kein Wort. Scheffler nickte ihnen zu, und dann trat er näher
zum Kanapee und betrachtete das scheinbar leblose, entstellte Gesicht
mit seltsamen Blicken unter halb-geschlossenen Lidern. »Bös, bös!«
Er runzelte die Brauen. Und dann winkte er dem Stabsarzt: »Einen
Augenblick, Doktor, wenn ich bitten darf!«

Sie gingen hinaus vor die Hecke und wandelten dann, außer Hörweite des
wartenden Kutschers, langsam auf und nieder. Sie sprachen heimlich.
»Zu unangenehm, mir riesig fatal,« sagte zuletzt der Adjutant lauter.
»Wenn nur mein Schwiegerpapa nichts davon erfährt! Er könnte ja sonst
einen netten Begriff kriegen!«

»Hoffentlich spricht der andere Herr Schmölder – nicht wahr, es ist
der Vetter von Ihrem Herrn Schwiegervater, der es Ihnen erzählt hat? –
nicht weiter darüber?«

»Ich habe sein Ehrenwort verlangt!«

»Na, hoffen wir denn das beste! Sonst –« der Stabsarzt zuckte die
Achseln und machte ein bekümmertes Gesicht – »sonst ist der arme Junge
geliefert. Dann wäre es besser gewesen, er hätte gleich den Hals
gebrochen!«

       *       *       *       *       *

Josef Schmölder hätte sich prügeln können, daß er heute wider Willen
den Verräter gespielt hatte. Wer hatte ihn nur geheißen, als er den
Bräutigam sein Spätkommen damit entschuldigen hörte, daß ein Kamerad
verloren gegangen sei – Leutnant Abeking, man hatte ihn den ganzen
Tag gesucht, in der Furcht, er sei verunglückt – was hatte ihn da nur
angetrieben, ein wenig zu lächeln und eine jener Bemerkungen zu machen,
die ihm schon so oft einen vorwurfsvollen Blick der Cousine und von
Heinrich ein ›Donnerwetter‹ eingetragen hatten?! »_Cherchez la femme!_«
Weiter hatte er nichts gesagt. Aber Scheffler hatte ihn bald nachher
bei Seite gezogen und ihn dringend gebeten, wenn er nur irgend welche
Vermutung habe, sie ihm, ihm ganz allein, anzuvertrauen – des Kameraden
wegen, den sie alle sehr lieb hätten, der fast noch ein Knabe sei, und
um den sie sich aufs schwerste beunruhigten.

Josef konnte freilich nicht sagen, ob der, den er gestern in der Nacht
in einer so seltsamen Situation gesehen hatte, der Leutnant Abeking
gewesen war. Aber er fühlte sich doch jetzt verpflichtet, seine
Beobachtungen mitzuteilen. Fast ein Knabe noch – wer weiß, ob er da
nicht helfen konnte?! Und er hatte erzählt. Aber als er alles erzählt
hatte, fortgerissen von der eigenen Schilderung, war ihm das kalte
Gesicht des Offiziers auf einmal wieder so unangenehm gewesen, daß
er es bereute, nur ein Wort verloren zu haben. Arme Hedwig, dummes,
kleines Mädchen, so kalt, so kalt war dieses Gesicht! Würde dieser
jetzt so liebenswürdige Mann einst rauh und hart zu der kleinen Frau
sein und – würde er sie vielleicht auch noch betrügen?!

Josef fühlte einen immer mehr sich steigernden Widerwillen gegen den
Bräutigam. Vom ersten Tage an hatte er diese Abneigung gehabt, vom
ersten Abend an, als er dem lächelnden, sich an den Händen haltenden
Brautpaar gegenüber gesessen hatte. War denn Heinrich ganz verblendet?
Merkte er denn nicht, wie geschmeidig der Leutnant sich den Interessen
des Hauses anzupassen suchte? Tappten denn Vater und Mutter blind zu?
Und das sollte man mit ansehen, alle Tage?

Es war Josef, als sei die Enge des Hauses noch unerträglicher geworden
durch den Eintritt dieses neuen Elements. Nun kam zu allem auch noch
die Berechnung dazu.

»Du machst ja ein Jesicht, ein Jesicht – wahrhaftig, dat ’s doch
kein Jesicht, wenn sich Hedde verlobt hat!« schrie Heinrich, als der
Bräutigam sich endlich verabschiedet hatte. »Wat soll denn der Mann von
unserer Familie denken? Massakriert dich hier einer?«

»Gute Nacht,« hatte Josef gesagt und war aufgestanden. »Ich will mich
heut nicht mit dir zanken – ein andermal!«

»Bleib,« schrie der Vetter und versuchte, ihn am Rock festzuhalten.
»Sag mal, wie jefällt dir denn eigentlich der Scheffler?!« Und als
keine Antwort kam, setzte er gereizt hinzu: »Mir sehr jut!«

»Leider!« Es hatte Josef förmlich auf der Zunge geprickelt, er hatte
dieses ›leider‹ aussprechen müssen.

Heinrich hatte es sehr übel genommen. ›Neidisch‹, ›hämisch‹,
›vielleicht selber auf Hedwig spekuliert‹, das alles hatte sich Josef
an diesem Abend sagen lassen müssen. Und dann war er hinausgegangen;
er hatte sich nicht aufregen wollen; und doch hämmerte es ihm in den
Schläfen.

»Ah!« In einem tiefen, erlösenden Seufzer dehnte sich seine Brust, als
die Luft des Gartens ihn bestrich. Aber sie war ihm noch nicht frei
genug. Mehr Luft, freiere Luft, hinaus aus der Enge, höher hinauf! Er
schloß ein Seitenpförtchen auf und trat auf die Straße; er ging sie
zu Ende und ging immer weiter, bis in die Au hinein, schlug dann, ehe
er an die Fabrik kam, den Fußpfad nach Heckenbroich ein und stieg ihn
langsam, öfter stehen bleibend und tief atmend, hinan.

Wie herrlich! War das eine Nacht! Eine Nacht, wie geschaffen zum Lieben
und Glücklichsein. Ein Hauch von Erinnerungen war in der linden Luft –
von süßen Erinnerungen – ach, das war jetzt alles vorbei, er war alt
geworden, wenigstens zu alt für die Torheiten der Liebe!

Er seufzte auf und sah sich um. Weit hinten, in ihrem Kessel schon ganz
versunken, lag die Stadt; nur die Burg war noch im Mondlicht zu sehen
und die Felsen, die wie ein Tor die Chaussee umbauen. Noch stand der
Mond nicht hoch, aber nicht lange mehr, und er würde ganz hinter der
jenseitigen Höhenwand hervorgewandelt sein, senkrecht über dem Tale
stehen und es übergießen mit vollem Licht. Dann mußte die Nacht noch
herrlicher werden, noch traumhafter schön, noch überirdischer. Es galt
zu warten. Wer vermißte ihn denn auch?! Die im Hause schliefen, er
konnte hier nächtigen, wenn er wollte, keiner wurde es gewahr.

Eine schier jungenhafte Seligkeit überkam ihn, heute noch einmal seine
Freiheit auszukosten. Wenigstens hier war er frei, frei! Hier durfte er
ganz er selber sein!

Mit einem tiefen Aufatmen warf sich Josef auf den Boden und dehnte sich
lässig in fauler Wonne. Als Kopfkissen diente ihm das Moospolster, das
sich zwischen den herausstehenden Wurzeln einer Riesentanne eingebettet
hatte. Von dem glatten Schiefergerutsch, auf dem er lag, fühlte er es
warm aufsteigen. Oben auf der Höhe mochte es wohl schon kühl sein,
aber hier zwischen den Talwänden saß noch die ganze Wärme und Lauheit
der Sonne. Eine köstliche Behaglichkeit überkam ihn, wie er sie lange
nicht gefühlt hatte – da noch nie! Er drehte den Kopf dorthin, wo das
Städtchen versunken lag. Gott sei Dank, man sah nichts mehr davon!
Hier war er allein, allein mit der Natur, die er immer geliebt hatte,
geliebt und begehrt wie eine, um die man wirbt, und die man doch nie
ganz besitzen kann. Er seufzte, lächelte, verschränkte die Arme hinter
dem Kopf und blinzelte in den Mond. Daß die Welt so schön sein kann! Er
hatte das ganz vergessen. Aber jetzt war alle Bitterkeit weggespült,
alles Häßliche, Niedrige und Gemeine, alles, was ihn quälte, und auch
das, was ihn traurig machte.

Unten in der Au lag die Fabrik jetzt still, ohne Dampf und Gestank;
nur das einsame Lichtchen des Wächters, der die Runde durch die Säle
machte, flinzelte wie ein Sternchen zu ihm herauf. So weiß glänzte die
rußige Stätte der Arbeit, so ruhevoll und freundlich, als sei sie eine
Stätte der Freude. Traumhaft ragte darüber die jenseitige Talwand;
der Mond beglänzte die Leyen, daß sie alles Krasse und Fratzenhafte
verloren und zu Gesichtern wurden von wohlwollenden Riesen, die über
den Tannenwald herüberlugten. Tief unten rauschte der Bach. Sein
Rauschen, das immer stark war, denn er fließt ständig bergab mit
starkem Gefälle, hatte jetzt etwas unsagbar Mildes, Einlullendes.

»Rausche, rausche,« murmelte Josef und schloß die Augen. Er hörte die
Stimme der Natur. Ah, sie sprach zu ihm, zu denen, die Ohren haben,
zu hören, und Herzen, um noch zu glauben an alles Schöne und Gute! Es
war Josef, als sei er auf einmal wieder stark und jung und gesund und
stände noch einmal an jenem Punkt, da das Leben noch jauchzt um den
jungen Menschen und willenskräftig frohlockt sein starkes ›Es werde!‹

Wie lange er so dagelegen und geträumt hatte, wußte er nicht. Als er
die Augen wieder aufschlug, stand der Mond ganz voll überm Talgrund. Es
war so hell, so hell, daß jeder Tannenzweig sich abhob, daß man jede
Welle im silbernen Bergwasser hüpfen sah, jeden Stein im Bachbett zu
erkennen glaubte – oder sah man ihn wirklich? Da war noch ein zweiter
Mond. Der droben am Himmel stand, spiegelte sich tief drunten im Bach –
Mond oben, Mond unten. Josef lächelte: in New-York hatte er herrliche
Theaterdekorationen gesehen, aber keine von ihnen wäre dieser gleich
gekommen. Und sieh, die Staffage fehlte ja auch nicht!

Das wundersame nächtliche Landschaftsbild hatte sich belebt.

Josef reckte den Hals, eine plötzliche Neugier war in ihm erwacht: wer
war denn das?! Wie im Märchen! Träumte er oder wachte er?! Er rieb sich
die Augen. Und dann richtete er sich aus seiner lässigen Lage ein wenig
auf, um besser hinabblicken zu können auf die beglänzte Straße zwischen
den Tannenwänden.

Langsam, fast feierlich, trottete ein schwerer Ardennengaul daher. Als
trüge er Prinz und Prinzessin ins Zauberreich. Der Mann saß hinten,
die Frau hatte er vor sich; man sah ganz deutlich, daß er den Arm um
ihren Leib hielt, daß er sie jetzt an sich preßte und küßte, und daß
sie den Kopf an seine Schulter legte und das weiße Gesicht zu ihm
aufhob, und daß er sie noch einmal küßte, und noch einmal, und noch
einmal.

Der Mond beschien hell die Reitenden. Ein Bauernbursche und sein
Mädchen waren das nicht! Der Beobachtende sah blanke Uniformknöpfe
unter neugierigen Strahlen aufblinkern. Aha, ein Soldat! Aber wie kam
der jetzt hierher? Nein, so saß kein gemeiner Soldat zu Pferde! Es
war ein Offizier, schlank und biegsam. Und sie saß auch gut, keck und
unerschrocken.

Ein leises Lachen klang herauf, es mischte sich in das Rauschen des
Baches und verklang.

Oh, war das schön, war das schön, wie die beiden dahinritten! Ein
Bild, ein ganz wunderbares Bild. Man brauchte kein Wort von dem zu
vernehmen, was sie flüsterten, man wußte es, sie sprachen von Liebe.
Und Liebe atmete die ganze Natur: die Mondnacht, die Tannen, der
Wildbach. Niemand auf der Welt, als nur diese zwei. So mochte es damals
im Paradiese gewesen sein, so einlullend-schön, so verführerisch-still,
als Adam den Apfel nahm, den Eva ihm bot, und davon aß.

Jetzt waren die Reitenden gerade unter dem Lauscher, er beugte sich
über den Rand des Felsens mit weitgeöffneten Augen.

Der Mond beschien zwei blonde Köpfe, die ohne Mütze, ohne Hut, ohne
Tuch, die Stirnen dem kühlenden Atem der Nacht preisgaben. Ihnen machte
die Liebe heiß. Es trabte der Gaul – trapp, trapp – er hatte einen
Hackenstoß bekommen, sein Huf schlug so hart aufs Gestein der Straße,
daß Funken sprühten. Trapp, trapp. Jetzt ein jäher Halt. Der Reiter
hatte sich abgeschwungen. Da war ein kleines, verstecktes Pfädchen,
das von der Chaussee zum Bach niederwärts führte, zu samtigem, duftigem
Gras, zu weicher Ruhestatt. Der Reiter hob die Geliebte herab.

An eines der kleinen, neugepflanzten Ahornbäumchen wurde der Gaul
gebunden. Er scharrte ungeduldig, man hörte die Hufe klappern; es
plagten ihn die Mücken in der lauen Nacht. Ah, sie würden ihn noch
lange plagen, der hatte gut warten! Hoch erhoben, wie ein Sieger die
Beute, hatte der Liebende die Geliebte ins Versteck getragen – zusammen
schlugen die Äste, man sah nichts mehr von Adam und Eva.

Wie vordem lag die nächtliche Landschaft wundersam beschienen, ein
herrliches Bild, die schönste Dekoration zum schönsten Spiel. Aber
Josef behagte sie jetzt nicht mehr. Was klapperte der Gaul denn so
ungebärdig und schlug nach den Mücken und stampfte und schnaufte! Das
störte den Frieden.

Langsam, zögernd machte sich Josef auf den Heimweg. Noch ein paar Mal
schaute er sich um: der Gaul stand noch immer einsam, riesenhaft groß
im Märchenschein, und scharrte die Straße. Die Glücklichen! Eine Nacht,
geschaffen für die Jungen und Begehrenden. Mochten sie leben, genießen!
Was ging’s ihn an, wer sie waren, woher sie kamen, wohin sie gingen?!
Sie gehörten in diese mondbeglänzte Nacht, die Netze spinnt, in die
alle Kreatur sich verstrickt. Er aber gehörte nicht mehr hierher.

»Josef, geh du nach Haus, leg du dich ins Bett,« sagte er, jetzt
plötzlich ernüchtert, laut zu sich selber. Da – er nieste – schon ein
Schnupfen! Mit lächelnder Selbstironie zuckte er die Achseln: das
Liegen im Tau bekam einem eben nicht mehr!

Er beschleunigte seinen Schritt, bald war er im Städtchen. Die Turmuhr
schlug Zwei. Alle Lichter waren längst erloschen, unter dunklen Dächern
schliefen die Bürger. Der Nachtwächter schlief, auch der Mond ging
jetzt schlafen. Josef hatte leise die Haustür hinter sich zugemacht.
Kein Mensch war mehr draußen.

Aber einsam stand noch immer der Ardennergaul auf der dämmrig und
dämmriger werdenden Chaussee. Immer ungeduldiger schlug sein Huf die
Steine, er zerrte am Halfter, daß das junge Bäumchen sich bog, nicht
viel fehlte, und er hätte es ausgerissen. Er wollte nach Haus, in den
Stall, er wollte an die Raufe. Wütend schlug er mit Schwanz und Huf
nach dem Geziefer. Er konnte nicht traben, nicht galoppieren, es durch
den Luftzug verscheuchen; es bohrte sich ihm ins Fell, bald vorn an
der Brust, bald hinten auf den Schenkeln, unterm Bauch, auf der Krupp.
Er schnaufte, er brustete, seine Flanken schäumten. Er blähte die
Nüstern, sie schienen Feuer zu sprühen durch die Nacht. Jetzt stieß
er ein Wiehern aus, daß die Stille sich erschreckte, und machte einen
entsetzten Satz, bei dem er die Hinterfüße hoch in die Luft warf, den
Kopf fast vorn bis zur Erde stieß. Ein Wiesel war vor ihm hergehuscht,
ein Fuchs, ein Iltis, oder sonst irgend ein Nachtgetier.

Er zitterte schreckhaft und zerrte am Halfter in nervöser Ungeduld.
– – –




XI


Nun war das Pfingstfest vorüber. Vater Huesgen war mit dem Arbeiterzug
in aller Frühe um vier schon nach Aachen gefahren; er kam erst nächsten
Samstag wieder, aber wenn er dann heimkehrte, fand er die Mutter gewiß
ganz munter, denn die Bäreb kehrte ja heut zurück. Darauf hofften sie.
Gestern war sie gesprungen zu Echternach, und heute schon glaubte Frau
Huesgen die wohltätige Wirkung zu verspüren. Sie fühlte sich frischer;
was sie lange nicht getan hatte, sie schürzte ihr Kleid und fing an,
den Melkeimer zu scheuern, und dann die Eimerbank und das Fäßchen,
in dem sie so lange keine Butter mehr gedreht hatte. Wer weiß, wenn
das weiter so ging, konnte sie bald Butter machen, ein paar Klütchen
hinuntertragen zum Verkauf in die Stadt.

Von dem Sonnenschein des Festes lag noch über Hecken und Halden. Die
Kinder zirpten noch lose wie sommerfrohe Spatzen zwischen den Hecken,
sie hatten erst morgen Alltag, wenn die Schule anfing. Die kleinen
Huesgens waren zur Eisenbahn gerannt, die Schwester zu holen; sie
belagerten den Bahnsteig, bis der Zug aus St. Vith ankam. Aber Bäreb
war nicht darin. Das war eine Enttäuschung. Ein Teil der Kinder lief
heim, um der Mutter zu verkünden, daß die Bäreb nicht gekommen sei;
die anderen blieben unten am Bahndamm sitzen, flitschten Steine in den
vorüberquirlenden Fluß und warteten geduldig. Es kam ja noch ein Zug
von St. Vith, freilich erst gegen Abend. Hei, wer zuerst die Bäreb sah
und den Dores, und das der Mutter verkündete, der war König!

Kathrinchen war nicht bei den Geschwistern. Sie hütete. Bartholomäus
Adams, der Nachbar am grünen Klee, hatte viel Vieh, und der hatte sie
gedungen für den ganzen Sommer. Nun brauchte sie nicht wie sonst in die
Schule; das tat ihr eigentlich leid, es war so schön da, und sie lernte
gern, aber der reiche Bauer gab fünfundzwanzig Mark für den Sommer und
was zu essen, und zum Herbst ein paar neue Schuh. Und schön war’s ja
auch draußen, wo die Bienen am Rain summten und die Hirsche, wenn der
Abend kam, ganz dreist aus dem Dickicht traten und unterm Vieh grasten.

Der Bauer hatte Kathrinchen die Kühe besonders auf die Seele gebunden,
war ihm doch die schöne braune Kuh gestorben, trotz Doktor Dreiborn,
und trotzdem man das Kalb in Stücke geschnitten hatte. »Paß op, dat se
net zo viel loofe on schlag se net mö’m Stecke! De Dreiborn, de Esel!
Verklagen müßt ich de Kerl! Äwer de kümmt jo su wie su in de Höll.
Jibst du äwer net Aacht, dat roden ich dir, da krißte de Huck jeschurt!«

Kathrinchen hatte verständnisvoll genickt: ach ja, das war ein Verlust,
die braune Kuh, da konnte man wohl drüber weinen. Aber sie würde schon
Obacht geben, der ›Uehm‹ konnte ganz ruhig sein, ihr kam keine zu
Schaden, der liebe Gott war ja immer bei ihr und den Kühen. Der Bauer
hatte geschmunzelt: »Da krißte ooch jet, wann Markt is!«

Kathrinchen hatte sich aufgemacht, als noch der Morgentau lag, und
hatte seine sieben Stück vor sich hergetrieben zum Venn hinauf. Die
Wiese des Bauern war noch nicht gemäht, drum hütete es so lange hier
oben.

Die Marienley war nicht fern, auf dem großen Kreuz blinkerte so
hell die Sonne, daß es strahlte wie in einem Glorienschein. Der
Eisenbahndamm war von hier oben gesehen ganz niedrig, die Schienen
waren nicht dicker als Haare, und der Fluß, der am Damm vorbeilief, war
wie ein Faden. Und es war so still hier, gerade noch, als sei es hoher
Feiertag. Vom Dorf herüber kam kein Laut, nur vom Truppenübungsplatz
hörte man das dumpfe Schießen.

Jetzt sah Kathrinchen auch etwas von den Soldaten: Pferde trabten
geschwind – Fähnchen flatterten im Morgenwind – Staubwirbel ballten
sich zu Wolken – mächtige Gäule galoppierten, Karren auf hohen Rädern
schleppten sie hinter sich her. Das waren die Geschütze. Ei, das war
lustig anzusehen hier aus sicherer Entfernung! Kathrinchen setzte
sich behaglich auf einen der Felsbrocken unweit der Ley. Sie fühlte
sich so wohl hier in der Einsamkeit, von niemandem gesehen und selber
die Menschen nur sehend, als seien es Puppen. Kein Gedanke von Furcht
beschlich sie, die Mutter Gottes war ja so nah dort im großen Stein,
den dunklen Felsspalt erhellend mit ihrer Lieblichkeit. Wer sollte ihr
hier wohl was tun?! Und Wölfe gab’s schon seit vielen Jahren nicht
mehr hierzuland; früher, ja früher, wie der Herr Lehrer erzählte, da
waren sie aus den Ardennen herübergelaufen gekommen in die Eifel,
verhungert und gierig, und hatten Hühner gefressen und Lämmer gewürgt.
Weinen hatte Kathrinchen müssen, als der Lehrer das erzählt hatte – so
ein Lamm, so ein armes weißes Lämmchen zu Tode gewürgt!

Jetzt zog sie ihr Strickzeug aus der alten Strohtasche, die auch Bäreb
schon umgehängt hatte, als sie noch hüten gegangen war. Kathrinchen war
immer fleißig, es hatte dem Vater schon ein paar Strümpfe gestrickt
und den Brüdern der Reihe nach. Nun war der Dores daran, aber für den
brauchten die Strümpfe nicht so lang und weit zu sein; das ging rasch.

Ehe Kathrinchen anfing, mit den groben Nadeln zu rasseln, richtete sie
die Augen zum Himmel auf, daß ihre samtige Schwärze sich erhellte vom
goldigen Licht, das in sie herniederfloß, und hub ein Morgenlied zu
singen an:

    »Im Namen Jesu wach ich auf,
    Im Namen Jesu steh ich auf
    Und ziehe sittsam an mein Kleid,
    Im Namen der Dreifaltigkeit.

    Hochheiligste Dreifaltigkeit,
    Gott Vater, Sohn und heilger Geist,
    Ach schütze mich in aller Not,
    Vor Feuer, Wasser, schnellem Tod!«

Die klare Stimme klang hell und weit übers Venn. Es war, als ob ihr
alles lauschte. Der Morgenwind hatte sein Wehen eingestellt, die Kühe
hoben die Köpfe, guckten mit den schönen dummen Augen nach der Hirtin
und ließen das kurze, harte Rupfen sein, mit dem sie das zähe Gras vom
Boden abrissen.

Immer höher stieg die Kinderstimme in die Luft, immer weiter klang sie
hinaus:

    »Auch bitt ich dich, o Gott, verleih
    Mir gnädiglich der Engel drei,
    Die heute mir und jederzeit
    Geleiter sei’n zur Seligkeit.

    Der erste mög mir Führer sein,
    Der zweite Kraft im Kampf verleihn,
    Der dritte schütz mich immerdar,
    Daß mir nichts Böses widerfahr!«

Kathrinchen kannte viele solche schönen Lieder, aber dieses Lied
liebte sie am meisten. Sie hatte es heute beim Aufstehen, und während
sie im Herd das Feuer anblies, schon vor sich hin gesagt, aber der
Rauch war ihr in die Kehle geschlagen, sie hatte es nur in sich
hineinmurmeln können, schon um die Mutter nicht zu wecken, die sich
noch einmal niedergelegt hatte, nachdem der Vater fortgegangen war.
Hier aber konnte sie laut nach Herzenslust singen. Hier kamen auch die
Geschwister nicht immerfort gerannt, zupften sie hier, zupften sie
da, wollten bald dieses, bald jenes. Ach, die Jungens! Kathrinchen
schüttelte altklug das Köpfchen, wenn sie daran dachte, daß sich die
großen Jungen noch immer nicht selber einen Hosenknopf annähen konnten
und ihr das Bein hinstreckten: »Bind mer ens de Rieme!«

O, hier war es gut sein, hier hatte sie Ruh! Die Kühe fingen wieder an
zu rupfen, aber es war, als ob sie im Takt rupften und dazu nickten,
das machte Kathrinchen Spaß. Sie sang voller Lust und sang immer lauter
und heller der Reihe nach alle Lieder, die sie konnte und warf dabei
den groben Wollfaden auf dem gestreckten rechten Zeigefinger über die
langen eisernen Nadeln, die sie unter die Arme gesteckt hatte, so
flink, daß das Strümpfchen zusehends wuchs. Ei, der Dores hatte ja so
dünne Bein’, das war ihm bald maß!

Das Strümpfchen vor sich hinhaltend und es freudig anblinzelnd, saß
sie sonnenbeschienen auf dem Stein, mit ihren Füßen baumelnd. Man sah
ihr Figürchen schon von weit her. Sonst war nichts ragendes auf der
Hochfläche, als die Ley mit ihrem Kreuz im schwarzen Dickicht der
Tannen.

Simon Bräuer kam von der Strafkolonie her. Deren tiefgehendes neues
Ziegeldach schrie wie Blut aus dem Braun des Moorlands; noch blühte
das Venn nicht überall, seine Farbe war noch eintönig. Zögernd
hatte sich der Aufseher erst noch ein paar Mal nach dem Hause
zurückgewendet: würde der Hilfsaufseher auch gut aufpassen? Er war
erst kürzlich eingetreten, und die Kerls waren jetzt so renitent; am
ersten Pfingstfeiertage war der Süßchenbäcker frech geworden. Der Kerl
protzte wohl auf seine Kraft? Hei, den hatte er aber zu Boden geduckt
mit einem Blick, daß er sich nicht mehr muckte. Der Rotfuchs, der war
auch wie ein Toller gewesen, wollte nicht mit zur Kirche, hörte auf
kein Kommando, lief herum wie ein wildes Tier im Käfig, hatte sich auf
sein Bett geschmissen, den Kopf gegen die Wand gekehrt, so daß er ihn
zum Sich-besinnen mal ins Kaschöttchen hatte führen müssen, in das
enge, stockdunkle Käfterchen hinter der schweren Bohlentür mit den
eisernen Haspen. Ohne Licht, ohne Beschäftigung, ohne Suppe hatte er
darin gesessen, bis er zahm geworden war am andern Tag. Was fiel den
Kerlen denn ein, steckte ihnen der Frühling im Blut, der auch aus den
elendesten Knorren Schößlinge treibt? Freilich – Simon Bräuer sah sich
um, ließ seine Falkenaugen schweifen von Ost nach West, von Süd nach
Nord – arme Teufel, jetzt war es lockend! Die Ferne blaute im Duft, aus
dem Moorgrund stieg ein kräftiger Geruch; bald würde hier alles rosa
blühen von den Glöckchen der Vennheide. Jetzt hieß es aufpassen!

Er setzte die Zähne aufeinander. Aber seine Frau brauchte keine Angst
zu haben – sie war gestern hier oben gewesen, er hatte ihr rund
ums Haus alles gezeigt – es passierte schon nichts! Was die Weiber
so schreckhaft sind! Er hatte mit ihr draußen gestanden, ihr etwas
erklärt, sie hatte an seinem Arm gehangen, da hatte sie plötzlich
aufgeschrieen und den Kopf an seiner Brust versteckt. Nun, was war denn
los? Sie hatte nachher selber darüber gelacht und sich geniert, daß sie
so furchtsam gewesen war. An die Gitterstäbe des Schlafsaals hatte der
Rotfuchs seine Nase gedrückt – nun ja, schön war der gerade nicht, es
gab Schönere, aber zum Fürchten war er doch auch nicht. Aber sie hatte
sich immer wieder geschüttelt: buh, sah der einen an! Sie war gar nicht
davon abzubringen, immer wieder fing sie an von dem Kerl zu sprechen.
Verwünscht! Beinahe hätte der verdammte Kerl ihren ganzen schönen
Entschluß wieder über den Haufen geworfen. Auf einmal wollte sie sich
nicht mehr recht entschließen, mit den Kindern herzuziehen: es wäre
doch gar zu verlassen, zu einsam hier oben. Sie fürchtete sich aufs
neue. Und sie hatte doch fest versprochen gehabt, zum ersten August
spätestens oben zu sein! Er wollte dann darum einkommen, daß er ein
Häuschen für seine Familie gebaut bekam, nicht allzuweit ab, etwa auf
halbem Weg zwischen Heckenbroich und der Strafkolonie, sodaß man doch
Weib und Kind sehen konnte, wenn es einem gar so gelüstete. Er hatte
sich das so schön gedacht – und nun?!

Bräuer zog die Stirn zusammen, sein Gesicht wurde streng: sie =mußte=
herauf. Sie waren Mann und Weib, und das Weib hatte dem Mann zu folgen.
Das wollte er ihr heut sagen zum Abschied.

Er zog die Uhr und sah finster darauf: elf Uhr. Nur noch eine Stunde,
und Thereschen war fort! Dann rollte sie da unten hin in dem schwarzen
Zuge über die Geleise, und er hatte das Nachsehen. Er seufzte auf.
Unwillkürlich beschleunigte er seine Schritte: je früher er zum Bahnhof
kam, desto länger hatte er noch was von ihr. Er lief fast Trab, und
dabei grübelte er in sich hinein: wie sollte er’s nur anstellen, sie
sobald als möglich wieder hier oben zu haben? Es dünkte ihn jetzt
viel unmöglicher, ohne sie zu sein, als da er das erste Mal von ihr
geschieden war.

Eine bittende Stimme schreckte ihn auf. »Könt Ihr mir saone, wie vill
Uhr et is?« Die kleine Hirtin saß auf einem Stein, nicht weit von den
Tannen. Jetzt rutschte sie von ihrem Sitz herab, legte ihr Strickzeug
sorglich nieder und kam mit trippelnden Schrittchen lächelnd auf ihn zu.

Sein finsteres Gesicht wurde ein wenig freundlicher: so würde sein
Töchterchen vielleicht auch einmal aussehen, nur daß es Flachszöpfchen
hatte, nicht so dunkele Haare wie die hier. Er antwortete: »Elf Uhr!«

»Merci. Da moß ich baal no hem driwe. Dä Küh weiden äwer noch esu jot!«
Sie nickte und wollte wieder zu ihrem Sitz zurück, zierlich durch das
Heidekraut trippelnd trotz der plumpen, schwergenagelten Schuhe, die
aufs Wachstum berechnet, viel zu weit um ihre zarten Knöchel schlorrten.

Er sah sie flüchtig an, dann betrachtete er sie interessierter; das
ernsthafte Gesichtchen unter dem weißen, rot-gepunkteten Kopftüchelchen
gefiel ihm wohl. Daß die Eltern dies junge Kind so ganz allein in die
Einsamkeit schickten! Er vergaß ganz, daß er selbst einst auch draußen
im Venn, noch viel weiter draußen, noch viel ferner von jedem Menschen,
das Vieh gehütet hatte. Aber er war ein Junge gewesen, dies hier war
ein Mädchen. »Biste nit bang?« fragte er.

Sie sah ihn groß an und schüttelte, ganz verwundert, verneinend den
Kopf.

»Wem biste?«

»Huesgens – ich bin jo dat Kathrinche!« Sie nahm es als ganz
selbstverständlich an, daß er sie nun kannte; jeder im Dorfe kannte sie
ja.

Aber er sagte: »Huesgen – Huesgen?«

»Huesgen-Jörres, am jrünen Klee, wo dir immer vorbeijeht, wenn dir nor
Kirch jeht!«

»Kennste mich denn?«

»Oh, ich kennen Uech siehr jot, dir sed der Herr Bräuer von dem Huhs
do!« Sie nickte nach dem roten Dach hin, das über eine Erdwelle
hervorleuchtete. »Dat sieht mer jo esu wiet. On wann dir möt Uehre Leut
vorbeikott, da kieken ich ömmer hinger der Heck eruhs.«

»Schmeißt du auch mit Steinen oder streckste de Zung eraus?«

Sie wurde ganz dunkelrot und sagte kein Wort.

»No, dann adjüs,« sagte er gutmütig und streckte ihr die Hand hin.

Aber sie gab ihm die ihre nicht. »Adjüs,« sagte sie nur und nickte; sie
war gekränkt: wie konnte er nur denken, sie würde die armen Leute mit
Steinen schmeißen?!

Er sah noch einmal nach ihr zurück, ehe er in die Senkung zur Bahn
hinabstieg. Ein Trupp seiner Strafgefangenen näherte sich jetzt der
Ley, die Schaufeln geschultert; sie fingen nicht weit von dem Platz der
Hirtin zu arbeiten an. Bräuer krauste die Stirn: er mußte doch wirklich
den Huesgens mal sagen, daß die ihr Mädchen wo anders zum Hüten
hinschickten. Es gab ja noch Plätze genug. Warum denn gerade hier, so
nahe der Kolonie?!

Aber er dachte nicht mehr weiter daran, als er jetzt an der Station
stand und sein Thereschen im Arm hielt. Die Frau weinte bitterlich,
viel heftiger, als da er fortgezogen war im Februar. Jetzt war ihr Herz
geteilt: sie hatte ihn ja so lieb und fürchtete sich doch so sehr. Ihr
schöner, stattlicher Mann – ach, würde sein starker Arm sie doch bald
wieder umfassen! Und doch – der Rotfuchs, die Kerle alle! Und dann das
Venn!

Er sprach kein Wort von ihrer Übersiedlung hierher. Er stieß nur
heraus: »Jrüß die Kinder, jrüß die Kinder,« und preßte ihr die Hand
dabei so fest, daß sich ihr der Trauring schmerzhaft ins weiche Fleisch
drückte. Als sie schon im Coupé saß, stand er noch auf dem Trittbrett
und drückte ihr die Hand. Er sprang erst ab, als der Zug schon in
Bewegung war. »Jrüß die Kinder!« Ein Ruf, ein Winken, ein lautes
Aufschluchzen im Coupé – fort war die Frau, und der Aufseher Simon
Bräuer wieder allein mit seinen Vierzig auf einsamem Venn.

Festen Schritts, aber den Kopf gesenkt, verließ der Mann den Bahnhof.
Nun fiel es ihm ein, nun, da es zu spät war, was er ihr hatte sagen
wollen: sie =mußte= herkommen, sie =mußte=. Spätestens zum ersten
August! Er machte eine Handbewegung: egal, es gab ja auch Feder und
Papier, er würde es ihr sofort schreiben. Und er glaubte auch zu fühlen
– ja, er hatte es gefühlt an ihrem letzten Kuß – daß er sie kaum zu
treiben brauchte. Sie kam her, sie kam bald her, so schwer es ihr auch
wurde!

Die Traurigkeit abschüttelnd, überlegte Simon Bräuer, daß, nun er
den Hilfsaufseher doch einmal bestellt hatte, es ganz gut wäre, wenn
der sich schon mit den Kerls ein wenig einlebte. Wenn die Frau erst
da war, würde er doch öfter fort sein; und auch nachts. Er beschloß,
auf einem anderen Wege, in einem Bogen durchs Dorf, nach der Kolonie
zurückzugehen. Bei dieser Gelegenheit konnte er sich gleich einmal nach
einer Wohnung für Thereschen umsehen. Bis das Häuschen für sie gebaut
war, würde es doch zu lange dauern.

Oben auf dem Venn hatten sich die Strafgefangenen zerstreut. Heute
waren sie nicht unter so strenger Hut. Der Roßschlächter und der
Schuster hatten sich zusammengefunden. Sie arbeiteten nebeneinander,
stachen aber nur blindlings mit ihren Spaten drauf los; ihre Augen
funkelten, sie wisperten hastig miteinander.

»Los, los, lassen mir jetzt auf und davonrennen!« flüsterte der
Süßchenbäcker. Pah, der Hilfsaufseher war nur ein schwacher Kerl, den
schlug er mit einem Spatenhieb nieder!

Der andere wurde blaß und rot. Auch seine Nüstern blähten sich, er
witterte schon die Freiheit. Frei, frei! Er stöhnte, seine Hände
umklammerten den Spaten wie eine Waffe; aber er erhob ihn noch nicht,
er stürmte noch nicht los wie ein Wilder. Er traute sich doch nicht.

»Los, los!« hetzte der andere. »So jut treffen wir dat nie mehr wieder.
Der Bräuer is sein Frau fortbringen – voran, – voran – bald kömmt de
retour!«

Sein Flüstern hatte etwas Anfeuerndes. Und etwas Betörendes hatte die
Luft, die heute so selten warm, so lind wehte, als wollte sie Wangen
und Stirnen umschmeicheln. Und es war alles hell, man konnte sehen,
wohin man trat, man brauchte nicht die Sumpflöcher zu fürchten. Ehe es
dunkelte, war man bereits über die Grenze. Da – da – sah man sie denn
nicht?!

Der Süßchenbäcker machte »Pst!« und winkte dem Genossen mit den Augen,
kaum merklich mit dem Kopfe hinnickend: da, wo das Venn und der Himmel
zusammenflossen, als wären sie eins, – alles wie blaue Luft – da, wo
der winzige Würfel in der blauen Luft sich abzeichnete und daneben drei
Strichelchen standen, wie Haare so dünn, da war das Grenzhaus, die
Baraque mit den drei Bäumen! Daran mußten sie sich vorbeischleichen.
Vorsicht, Grenzjäger patrouillierten da herum, um alles Zollpflichtige
aufzuschnappen. Haha! Heimliches Lachen stieß den starken Mann: wofür
war er denn ein Schlächter? Einen Knüttel hatte er sich unterwegs
aufgelesen, mit dem gab er dem Störenfried, der ihnen in den Weg trat,
eins vor die Stirn, daß er betäubt zu Boden fiel. Und dann eins, zwei,
drei über die Grenze weg! Da, da! Er puffte den Kameraden in die Seite
und sagte fast laut: »Da is Belligen, da sind wir frei!«

Niemand hatte es gehört. Der Hilfsaufseher hatte nicht so scharfe Ohren
wie Bräuer und auch nicht so scharfe Augen. Er hatte genug zu tun mit
dem Rotfuchs; der arbeitete nicht, wie sich’s gehörte.

Der Roßschlächter lachte: »Dat is jut, dat is jut, der Rotkopp kriegt
de Huck voll! Los, Kamerad, nu lasse mir käpernicken!« Er hob den
Spaten, er wollte davonstürmen, er öffnete den Mund, als wollte er
›Hurra‹ schreien, da hemmte ihn ein unterdrückter Fluch des anderen.

Ohligs hatte den Kopf gehoben – frei sein, nur frei, schon atmete
er die Freiheit – aber der Strahl in seinen Augen erlosch jäh. Ein
unterdrückter Schrei der Wut und der Enttäuschung entfuhr ihm: da
kribbelte es ja plötzlich in der Weite des Venns wie ein Bienenschwarm.
Es schwärmte dahin, es schwärmte dorthin – Fähnchen wimpelten –
Lanzenspitzen blinkerten – Pferdebeine trappelten und stampften Staub
aus dem Heidegrund – Kommandos schallten, scharf und schneidig – der
Trupp schwenkte ab. Aber andere Trupps tauchten auf, tauchten unter:
woher, wohin? Und Fußvolk marschierte in einer Kolonne heran, man hörte
aus der Ferne das dumpfe Stampfen; schnell formierte sich eine lange
Linie: Seitengewehre vor – bum, ein Kanonenschuß von irgendwo her – und
nun Geknatter. Kleingewehrfeuer. Eine Gefechtsübung.

»Verflucht!« Der Süßchenbäcker schleuderte den Spaten hin, daß er vom
Stiel abflog: nun war nichts mehr zu wollen! Mit einem Wutgebrüll
schmiß er sich auf den zerbrochenen Spaten nieder und rührte sich nicht.

Der Hilfsaufseher kam eilig herbeigelaufen: was ging denn hier vor?
Nun hatte er doch etwas gehört. Aber er war kein Simon Bräuer; wenn
er auch die Flinte umfaßt hielt, ganz umsonst gebot er, der Sträfling
stand nicht vom Boden auf, gehorchte auch keinem Fußtritt und keinem
Rippenstoß. Vergebens fluchte er und schrie, der Süßchenbäcker wälzte
sich am Boden und heulte wie ein Besessener. Verzweifelt blickte der
Hilfsaufseher aus: wenn doch Bräuer zurückkäme! Aber der war noch
nirgend zu sehen. Es blieb ihm nichts übrig, als den sich Wälzenden von
ein paar stämmigen Genossen an Armen und Beinen packen und nach dem
Hause hinschleifen zu lassen.

Der Sträfling widersetzte sich nicht mehr; wie ein Toter ließ er sich
abschleifen und ins Kaschöttchen werfen. Dabei lachte er heimlich in
sich hinein: wenn er auch jetzt bei Wasser und Brot im Dunkeln sitzen
mußte, der Kerl, der Hampelmann, die Bangbüx von Hilfsaufseher, kam
erst recht in des Teufels Küche! Dies auszudenken machte ihm Spaß,
soviel Spaß, daß ihm fast die Wut verging über die vereitelte Flucht.

Während der Hilfsaufseher drinnen im Haus zu schaffen hatte, die
schwere Bohlentür vor dem dunklen Loche zuschlug und die Riegel
vorlegte, irrte draußen die übrige Herde führerlos.

Viele arbeiteten nach wie vor, stumpfsinnig, als sei nichts geschehen.
Sie hatten bei dem Lärm nicht einmal die Blicke erhoben; wie Lasttiere,
das Joch auf dem Nacken, trotteten sie Schritt für Schritt weiter,
stachen die viereckigen Ausschnitte aus dem Boden und stülpten sie auf.
Was ging es sie an, wenn einer revoltierte?! Das verbesserte ihre Lage
doch nicht; höchstens wurde der Bräuer noch strenger.

Der alte Kunde, der Paternoller, hatte sich an Jakobs herangemacht;
seit der Rotkopf neulich so gestöhnt hatte, war es dem Alten, als müsse
er dem Jungen etwas zugute tun. »Ruh dich aus, ruh dich wat aus,«
mahnte er. »Jetzt sieht dich niemand. Jung, du kannst ja nit mehr!«

Der Blasse hatte bis jetzt fortgearbeitet; Schweiß troff ihm von der
Stirn, seine Brust zitterte unter angestrengtem Atmen. Nun, da der
Alte ihn anredete, schreckte er auf: »Laß mich in Ruh!« Aber dann
stöhnte er: ja, er konnte nicht mehr! Scheu sah er sich um – niemand
beobachtete ihn – und der Alte hier würde ihn nicht verraten! Mit ein
paar Sätzen war er hinter dem nächsten Gebüsch, warf sich da lang
hin und keuchte sich aus. Aber bald, nun er ruhte, ließ das Arbeiten
in seiner Brust nach, er fühlte etwas wie Wohlbehagen. Ah, die Luft
war heut schön! Der Duft der großen Tannen an der Ley kam herüber
und mischte sich mit dem strengen und doch wohltuenden Geruch des
Heidekrauts. Blaßrosa Glöckchen in niedrigen kleinen Büschelchen
blühten zwischen dem anderen höheren Kraut. Der Sträfling riß ein paar
Stengelchen davon ab und steckte sie zwischen die Lippen. Er saugte
daran; harzig und bitter schmeckte das, aber es tat seinem immer
trockenen Munde doch wohl. Er schloß die Augen.

Um ihn summte es – Bienen im Wind – oder war es der Wind selber in den
Ästen der Tannen? Sonst nichts. Nicht die harte Stimme des Aufsehers.
Da, plötzlich ein Singen! Er erschrak; ein Anruf des Aufsehers hätte
ihn kaum so erschreckt.

    »Der dritte schütz’ mich immerdar,
    Daß mir nichts Böses widerfahr’!«

Da stand ein kleines Mädchen nicht weit von ihm in der Heide, bückte
sich und pflückte von den rosa Glöckchen. Einen dicken Strauß hielt es
schon in den Händen. Er glotzte.

Das Kathrinchen war gar nicht erschrocken über den Mann, der da
plötzlich hinter einem Brombeergestrüpp vor ihm lag: ei, der war
müd, der ruhte sich aus! Emsig pflückte es weiter: hier blühten die
Glöckchen am allerschönsten, ein Kranz davon mußte die Mutter Gottes in
der Ley herrlich kleiden!

Es war Kathrinchen plötzlich eingefallen, der Maria im Stein einen
Kranz zu binden, als sie so still dagesessen und gestrickt hatte.
Die Kühe waren ja brav, die liefen nicht weg, sie konnte sich
schon getrauen um den großen Felsen und um die schwarzen Tannen
herumzuwandern und Blumen zu pflücken, da, wo sie am schönsten blühten.

Sie lächelte den Mann an.

Er sagte nicht ›Guten Tag‹, er wies nur mit ausgestrecktem Finger auf
ihren Rocksaum.

Sie guckte an sich herunter. O weh! Mit Schrecken sah sie, was sie
angerichtet hatte: ihr Strickzeug, Jesus, ihr Strickzeug! Sie schleifte
es hinter sich her, der Wollfaden hakte an den scharfen Pinken ihrer
Schuhe fest; er war nicht gerissen, aber ganz verwirrt, vom Knäuel
abgewickelt und mit Strümpfchen und Nadeln und allerlei dürrem Kraut
unentwirrbar zusammengedreht. Sie stieß einen Jammerruf aus, ließ
ihren Strauß fallen und faßte mit beiden Händen nach dem Strickzeug.
Der Faden hatte sich ihr wohl zehnmal ums Bein geschlungen, sie saß wie
in einer Fessel, sie kam nicht heraus.

Der Mann lag auf dem Bauche, das Gesicht zwischen die Hände gestemmt,
und beobachtete sie. Er rührte sich nicht: war die niedlich! Die
blassen Lippen seines mageren Gesichts verzogen sich, er zeigte
in einem stummen Lachen das ganze Gebiß. Solch niedliches kleines
Dingelchen hatte er wahrhaftig noch nie zu sehen gekriegt! Das Wasser
lief ihm im Munde zusammen. Aber das Dingelchen kriegte den Faden nicht
los vom Bein, es verzog das Gesicht zum Weinen. Da fletschte er die
Zähne: »Wart, ich helf dir!«

Geschmeidig kroch er heran, immer auf dem Bauch rutschend; kroch immer
näher an sie heran und nahm ihr Beinchen in die Hand. Der Strumpf
war heruntergerutscht, er fühlte das nackte Fleisch, warm und weich.
Ein Schauer durchrieselte ihn; er stieß einen zittrigen Seufzer aus.
Langsam begann er, den Faden vor dem Beinchen abzuwinden.

»Merci,« sagte Kathrinchen jetzt erleichtert. Aber dann schlug sie
die Hände zusammen: oh weh, wie sah das Strickzeug aus, die Maschen
waren von den Nadeln gerutscht, alles kaputt! Geschwind kauerte
sie sich nieder: schnell, schnell, daß nur nicht noch mehr Maschen
herunterfielen! Sie wurde blutrot, ihre Hände fingen an zu schwitzen,
Tränen schossen ihr in die Augen; sie kam nicht mit der Arbeit zustande.

»Heul nicht,« sagte der Sträfling und nahm ihr das Gestrick aus den
Händen. Das Stricken hatte er gelernt, als er das erste Mal gesessen
hatte; nun kam es ihm zu paß.

Sie sah ihm zu mit großen Augen, ganz hingenommen von seiner
Geschicklichkeit. Er raffte die Maschen auf und strickte ein paar Male
herum. Sie sprang auf und wollte hell jubeln. Er aber riß sie heftig
am Rock wieder nieder: »Halts Maul!« und nickte mit den scheuen Augen
aufs Venn hinaus zum Hause mit dem roten Dach hinüber.

Da sah Kathrinchen erst, daß er Sträflingskleidung trug. Aber auch
jetzt war sie nicht bange: der war ja so gut! Verständnisvoll nickte
sie: er wollte sich wohl hier ausruhen von seiner schweren Arbeit, und
nun mußte sie still sein, sonst kam der Aufseher und holte ihn! Sie
duckte sich ganz geschwind wieder nieder zu ihm hinter den dichten
Busch. St, ganz still!

So blieben sie noch eine Weile zusammen. Er lag auf dem Bauche, die
Ellenbogen aufgestemmt, das Gesicht zwischen den Händen und betrachtete
sie immerwährend. Sie hatte ihre Kühe ganz vergessen, strickte
eifrig, das Versäumte wieder einzubringen. Und dabei unterhielten sie
sich, ganz leise, flüsternd, damit niemand sie höre. So scheu sonst
Kathrinchen vor Fremden war, so gesprächig war sie jetzt; sie erzählte
von der Schule, von den Eltern, von den Geschwistern und von der
Maiblum daheim. Sie hatte ja den ganzen Tag so still sein müssen.

Er hörte ihr zu mit offenem Munde und verschlang sie fast mit den
Blicken. Plötzlich schreckte er auf, eine Stimme hallte laut. Der
Bräuer, kam der schon wieder?! Nun hieß es, sich davonmachen. »Bis auf
ein andermal,« flüsterte er heiser. Ob sie ihm wohl die Hand geben
würde?

Sie gab ihm freiwillig die Hand.

Oh, wie tat ihm das wohl, daß das Kind sich nicht vor ihm fürchtete!
Starr, unverwandt hingen seine Blicke an ihr. Die Furcht saß hinter ihm
– da war ja schon der Bräuer – aber er konnte sich gar nicht trennen.
Ein heißes Verlangen kam ihm plötzlich, die Kleine zu küssen. Kaum
bezähmte er sich: nur nicht sie erschrecken! Wenn er das tat, sie in
seine Arme packte, dann kam sie vielleicht nicht wieder, nie wieder
– und sie sollte, sie mußte wiederkommen. Er mußte sie noch einmal
antreffen hier hinter dem Busch!

       *       *       *       *       *

Als Kathrinchen diesen Abend nach Hause trieb, war sie glücklich; der
Tag war ihr gar nicht lang geworden. Ihre sieben Stück waren auch brav
gewesen, hatten sich so satt gefressen, daß sie keine Seitensprünge
mehr machten, sondern bedächtig hintereinander gingen mit wackelnden
Bäuchen. Es bedurfte keines Knalls und keines Schlages mit der langen
Peitsche, die noch einmal so lang war, wie die Hirtin selber. Der Bauer
hatte Kathrinchen einen Hund mitgeben wollen, aber sie hatte keinen
gewollt; sie hatte ein bißchen Angst vor Hunden, die bellten so laut.

Die Hirtin sang leise vor sich hin während des ganzen Weges. Um das
Kreuz der Ley verglühte das Abendrot; es hüllte auch sie mit in seinen
Schimmer. Das Rot des Himmels strahlte weit; der Fluß im Talgrund,
drunten das weiße Bahnhofsgebäude und die Gleise, oben das einsame Haus
auf dem Venn, das Dorf, an Mattenhängen sich langziehend, seine Hecken
und der überragende Kirchturm, alles war rosig bestrahlt.

Holzarbeiter kehrten heim aus den Wäldern, ein Angler kam vom
Forellenfang, die Torfstecher kamen zurück, ein Bauer trieb seinen
Ochsen zum Schmied weiter ins Dorf hinein, um ihn beschlagen zu lassen,
und durch die Heckenausschnitte sah man die Frauen auf den Türschwellen
sitzen und Kartoffeln schälen. Kathrinchen grüßte, manch freundlicher
Gegengruß wurde dem Hütekind.

An der Hecke beim Adams stand schon die Bäuerin und nahm die Kühe
in Empfang; sie gab Kathrinchen ein Schmierchenbrot. Gern hätte
Kathrinchen das selber gegessen, ganz verstohlen leckte sie einmal
daran im Schutz der Hecke – ha, wie lecker! – aber sie gönnte es sich
nicht. Das sollte die Mutter haben oder die Bäreb.

Aber Bäreb war noch nicht daheim. Den Geschwistern war es zu lang
geworden, auf den letzten Zug unten am Bahndamm zu lauern: wer weiß, am
Ende kam die Bäreb auch mit dem Zuge noch nicht! Frau Huesgen war in
einiger Unruh: die Bäreb hatte doch so bestimmt gesagt, daß sie heute
wiederkommen würde. Und morgen mußte sie ja wieder in die Fabrik. Und
nun war es schon so spät!

Den Kindern, die um den Tisch saßen, glänzten die Augen: ha, Milchsuppe
mit Brotbrocken drin, wie lange hatte es keine solch gute Suppe
gegeben! Die liebe Maiblum! Wenn doch die Bäreb käme, was würde die
dazu sagen! Sie platzten fast vor Begier, der Schwester etwas zu
verkünden.

Es war dunkel in der niedrigen Küche, ein Lämpchen wurde jetzt nicht
mehr angezündet wie im Winter, das sparte man. Man sah fast nichts
mehr, nur mitunter glitzerten beim Fallen von Funken im Aschenloch die
hurtig sich drehenden Augäpfel der Kinder. Der Suppennapf war geleert,
die Blechlöffel auf den Tisch gesunken, müde gähnten die Kleineren. Wie
spät mochte es wohl sein? Sie konnten den Himmel nicht sehen, hatten
keine Uhr im Haus, und auch keine schlug von der Kirche. Ob die Bäreb
nun noch kommen konnte?! Unruhig ging die Mutter zur Tür hinaus und kam
ebenso unruhig wieder zurück. Es half nichts, man mußte ohne Bäreb den
Rosenkranz beten. Frau Huesgen kniete nieder, ihre Kinder knieten um
sie her. Ein Ave reihte sich an das andere.

Obgleich das Fenster geschlossen blieb und draußen die Hecke hoch
ragte, hörte man doch das betende Murmeln bis auf die Straße hinaus.
So hört man’s um diese Zeit, da Nacht sich senken will und die Hecken
schwarz ragen, fast aus jedem Hause von Heckenbroich. Die Mutter
betete vor mit einigen Kindern: »Gegrüßet seist du, Maria,« und
im Zusatze: »der uns den heiligen Geist gesandt hat!« Die anderen
antworteten: »Heilige Maria, bitte für uns Sünder!«

In Frau Huesgens Seele zog Ruhe ein: was hatte sie denn, daß sie sich
so aufregte? Ihre Kinder standen ja unter der Heiligen Schutz! Sie
bekreuzigte sich fromm.

Da wurde die Tür hastig aufgerissen – ein wohlbekannter Tritt – da
stand die Bäreb. Ja, sie war’s, obgleich man sie im Dunkeln kaum
erkennen konnte. Der Dores greinte.

Die Mutter riß ihn in ihre Arme und küßte das übermüdete, weinende
Kind: Dores, ihr Doreschen, nun war er wieder da, und war so viel
besser!

»’n Abend zusammen,« sagte Bäreb. Aber ihre Stimme klang gedrückt; es
war nichts von der Freude darin, wieder daheim zu sein.

Die Geschwister umringten sie, Kathrinchen schmiegte sich an sie, die
Jungen rissen ihr fast den Rock vom Bund; jeder wollte sie anfühlen,
jeder wollte ihr die Wangen patschen, und jeder ihr gleich ins Gesicht
schreien: »Oß Maiblum, oß Maiblum! De hat e Kalev krigge, esu e fing
Kalev!«

Bäreb war zusammengezuckt, sie sagte kein Wort, sie lachte auch nicht
mit den Geschwistern. Langsam, schwer tappte sie hin zum Tisch und
setzte sich auf die Bank. Sie stützte den Kopf, und dann brach sie
plötzlich in ein heftiges, schluchzendes Weinen aus.

Die Kinder standen verdutzt: die Bäreb weinte, weil die Maiblum ein
Kalb gekriegt hatte? Was fiel der denn ein?! Aber Frau Huesgen nahm’s
nur als Freude, sie wußte, wie Bäreb an der Maiblum hing. Und konnte
sie denn nicht auch vor Freuden weinen, daß ihre Wallfahrt so gut
geholfen hatte?! Sie strich der Tochter übers Haar, von dem das
Kopftuch heruntergeglitten war. Rauh und verwahrlost lagen die Haare
an den Schläfen, und als Kathrinchen jetzt doch eine Lampe angezündet
hatte, sah die Mutter, wie blaß und verstört die Bäreb aussah, gar
nicht zum Kennen, förmlich alt und herabgekommen vor übergroßer
Müdigkeit. Ja, es war eine harte Tour gewesen, noch dazu mit dem Dores!
Aber der Herrgott im Himmel würde es der Bäreb schon lohnen, was die
aus Liebe zu den Ihren getan hatte. Und nun, wie war’s denn gewesen,
wollte sie denn gar nichts erzählen von Echternach?! Sie brannten alle
darauf.

Aber Bäreb schüttelte stumm-verneinend den Kopf.

Nun morgen, bis morgen würde man sich ja noch gedulden, da würde
man schon alles zu hören kriegen, jetzt war die Bäreb zu müde! Frau
Huesgen trieb die Kinder zu Bett. Gleich darauf lag auch Bäreb neben
Kathrinchen und schlief wie eine Tote. –

So müde auch Bäreb gewesen war, am Morgen war sie doch schon wieder
früh auf, so früh, daß sie bereits zur Fabrik gegangen war, als die
Mutter erwachte. Und am Abend kam sie so spät wieder, daß es schon
dunkel war in der Hütte, als sie eintrat. Und so ging es Tag für Tag,
Woche um Woche; immer war’s so.

Und es war, als sei Bäreb nie fortgewesen, als sei kein Echternach in
ihr Leben getreten. Nur am Sonntag, wenn auch der Vater daheim war,
dann hatte Bäreb Zeit, an Echternach zu denken; dann erzählte sie wohl
auch – Wunderdinge – ihre blassen Wangen röteten sich dabei, und Eltern
und Geschwister lauschten, die Augen aufgerissen, in einer andächtigen
Scheu.

       *       *       *       *       *

Der Juli war auf seiner Höhe, die Matten um Heckenbroich in die Halme
geschossen; zartes Reihgras mit tausenden von Blumen durchsetzt, stand
in leuchtenden Farben. Bunten Teppichen gleich, in allen Schattierungen
von rot und blau, von gelb und weiß, säumten die Wiesen den Fluß-Grund
und stiegen an den Hängen hinauf, bis hoch zum Venn.

Das dörrte jetzt schweigend im Sonnenbrand. Wo sonst grünes Gras aus
feuchtem Grund gewuchert hatte, war es jetzt trocken und das harte
Sauergras war gelb und schilfig geworden. Die Rinnsale alle, die das
Venn durchschleichen, die Bächlein, schmal, zweihandbreit, die man
kaum sieht im buschigen Grund, unterm Grün der Preißelbeere zwischen
den Moospolstern, wollten jetzt versiegen. Nur der Fluß im Tal und der
Bach in der Au hatten noch Wasser; aber auch sie rauschten und sprangen
nicht mehr in sprudelnder Frische über die Steine, langsamer zogen sie
hinab, wie müde geworden.

Das Venn tat sein Maul auf. Der moorige Grund schrumpelte ein in
unzählige Falten und Fältchen, wie ein runzliges, altes Gesicht; und
dann riß die Erde in handbreite Spalten. Stundenweit konnte man jetzt
trockenen Fußes gehen, wo man sonst hatte waten müssen; nur die ganz
tiefen Löcher hatten noch Wasser, aber es war von einer trügerischen
Grasnarbe zugedeckt. Die ganze Fläche war besetzt mit den schwarzen
Haufen der Torfstücke, die die Torfstecher aufgesetzt hatten zum
Dörren; Totenhügeln glichen sie nach einer mordenden Schlacht.

Ab und zu ragte ein Kreuz, verwittert, kohlschwarz, schief auf
die Seite gesunken, einem Toten zum Gedächtnis gesetzt in dieser
schattenlosen, angeprallten, atem-anhaltenden Einsamkeit.

Regungslos standen die Grenzen der Tannenwälder. Das Wild trat heraus
am hellichten Tage, es wartete nicht mehr den Abend ab; in Rudeln kam
es bis dicht vors Dorf, um in den beblümten Matten zu äsen. Es hatte
Hunger, denn die zarten Farrenwedel, die unter den Tannen grünen,
waren längst geknickt von der Hitze, Moos und Gras versengt von den
Strahlenschwertern, die an den nackten Tannenstämmen niederfuhren bis
zum Grund. Erbarmungslos war jeder Stengel geköpft. Die Preißelbeere
zeigte die Notreife, und die Heckenbroicher besprachen schon die
Aussichten dieser Beerenernte. Aber vorerst hatten sie noch ihre erste
Ernte einzubringen: das Heu.

Überall wurden die Wiesen gemäht, überall duftete es nach Heu. Zu rasch
fast trocknete es, wie Pulver zerrieb es sich zwischen den Fingern, man
konnte nicht eilends genug es wenden; das war ein jähes Dörren, fast
dem Verkohlen gleich. In der glühenden Luft ging aller Saft verloren,
alle Kraft, die doch darin bleiben muß, soll das Vieh sich gut nähren.
Und es wurde noch heißer, immer noch heißer. Jeden Tag die gleiche
eintönige Bläue, die nicht vom kleinsten Wölkchen durchsegelt ward;
ein Himmel von eherner Monotonie. Die Augen sehnten sich nach Grau,
nach trüber Beleuchtung; es tat ihnen weh, immer in diese blinkernde,
blendende Weite zu sehen.

Balthasar Adams vom grünen Klee kratzte sich bedenklich den Kopf. Er
hatte die meisten und besten Wiesen, aber auch er hatte dies Jahr zu
klagen: das Heu hatte gar keinen Gehalt. Und noch immer keine Aussicht
auf andere Witterung. Sonst hatte man den Regen in der Heuernte
immer gefürchtet, jetzt hätte man ihn gern haben mögen; acht Tage
hintereinander, das wäre nicht zuviel gewesen. Was sollte man machen,
wenn das Wetter so blieb?! Dann verbrannte auf den gemähten Wiesen
die Grasstaude bis in die Wurzel, sie trieb nicht mehr aus; es gab
eine erbärmliche Weide fürs Vieh diesen Herbst. Und man hatte selber
bald kein Wasser mehr; tief, tief mußte man jetzt schon den Eimer
hinablassen in den Brunnen, so tief als die Kette reichte, und brachte
dann doch nur trübes und grundiges Wasser herauf. Eine Dummheit war’s
von dem Leykuhlen gewesen, fast eine Fahrlässigkeit war’s zu nennen,
daß er, anstatt den Kirchenbau so zu betreiben, nicht lieber eine
Wasserleitung gebaut hatte! Er war Bürgermeister – der geistliche
Herr war schon alt – er, er mußte es doch wissen, was der Gemeinde am
nötigsten tat. Wie lange würde es noch dauern, und man hatte, wenn das
Wasser so schlecht wurde, die Krankheit hier, die wie ein Gespenst sich
zuzeiten immer wieder sehen ließ im Land.

Der Bauer Adams trank längst wieder aus seinem Brunnen. Was kümmerte es
ihn, daß es verboten war?! Sein Nachbar Zumstädtchen tat es ja auch.
Aber ein gutes Gewissen hatte er doch nicht dabei. Ja, hätte man nun
eine Wasserleitung, wie man sie hätte haben können, vom reinen Wasser
des Aubachs, man wäre aller Unruh und allen Ärgers ledig gewesen. Der
Leykuhlen, der Leykuhlen mit seiner Kirch, der Teufel sollte ihn holen
mitsamt seinem Frommsein!

Ein grimmiger Zorn gegen den Bürgermeister faßte den Bauer. Ein um
so größerer, als er klug war, um sich nicht selber auch einen Teil
Schuld beizumessen. Er war die gewichtigste Stimme, hatte die meisten
Weiden, das meiste Vieh, warum hatte er denn nicht das Maul aufgetan
und dagegen gesprochen, als sie alle schrieen: En neue Kirch, en neue
Kirch, und dem Bürgermeister zustimmten?!

Seitdem man dem Adams seinen Brunnen verschlossen hatte – seinen
eigenen Brunnen, auf seinem eigenen Grund und Boden, so daß er nur
nächtens daraus schöpfen konnte, heimlich daraus stehlen mußte wie
ein Dieb! – seitdem hatte sich seine Meinung völlig geändert. Eine
Wasserleitung mußte sein, eine Wasserleitung hätte längst sein müssen,
daß man nicht solchen Unannehmlichkeiten ausgesetzt war! Seine Hände,
die er in beiden Taschen der Buckskinhose stecken hatte, ballten sich
unwillkürlich zu Fäusten. Er sah den Leykuhlen da hinten durch die
Wiesen schreiten – aha, der sah nach seinen Knechten, die dort mähten –
der kam ihm gerade recht!

»Hela!« Er schrie ihn an, und als der andere nicht gleich hörte, weil
selbst die starke Männerstimme in der großen Weite verflatterte wie ein
schwacher Kinderruf, legte er die beiden Hände als Schallrohr an den
Mund und brüllte hinein mit Aufbietung aller Kräfte: »Hela!«

Da stutzte Leykuhlen und sah sich um.

Jetzt hatten sie sich ins Auge gefaßt. Der dürre Adams schwenkte die
Arme und gestikulierte. Sie kamen aufeinander zu.

»Burjermeester,« sagte der Bauer, »da ’s jot, dat ich Uech ens treff!
Wie is et dann mit der Wasserleitung? Solle mir noch lang dat Wasser
saufe uhs oß Pötze? De Frösch springen drin!« Er sah den andern
blinzelnd an: das war ja ein bißchen übertrieben, aber das schadete
nichts, der Bürgermeister sollte merken, daß es ihnen nun Ernst war,
daß sie nicht damit einverstanden waren, daß das Geld, das schöne Geld
der Gemeinde so verbaut worden war! Er knurrte grimmig: »Hm, is dat en
Trockenheit – Jeses, en Hitz! – und wann mir keen Wasser mieh hant, wat
dann?«

Leykuhlen war blaß, aber eine heiße Röte trat ihm jetzt auf die Stirn.
»Bin ich der liebe Herrjott? Kann ich rejnen lassen über Nacht und
am Tag die Sonn scheinen? Akkurat esu, wie et Uech passend wär?!« Er
zuckte die Achseln und sah niedergeschlagen und abgespannt aus.

»Davon is jo keen Red!« Adams brauste auf: was stellte der
Bürgermeister sich denn so dumm? »En Wasserleitung hätt’r baue solle,
dozumal, wie m’r esu jot bei Kass’ wore! Wat fange mir mit der jruße
Kirch an? Die alt war noch lang jot. Do bruchte mir keen Angst ze han,
dat oß Pötze zu End jonn. Der Zumstädtchen hat heut nühst wie Schlamm
eropjehollt!« Mit bösen Augen sah er dem Bürgermeister ins Gesicht.

Leykuhlen hielt den Blick ruhig aus. »Wat regt Ihr Uech esu op, Adams,«
sagte er dann. »Et is wahr, et is en schlimm Zeit, äwer de Sonn hat
oß noch nie jeschadt!« Er legte dem Bauern die Hand auf die Schulter
und versuchte ein Lächeln. »Ihr seid doch ’ne kloge Mann, laßt doch
nit jlich der Mut falle! Et hat noch immer, immer jot jejange. Wenn et
esu bleibt, müsse wir uns eben Wasser fahren, aus dem Aubach erop, in
Fässern. Dat is dann nit angersch!«

»So?« Zornsprühend sah ihn der sonst so ruhige und gehaltene Bauer
an. »So, un wer soll dann in dieser Zeit oß Heu einfahre? Et hat nit
jeder esu vill Ochse, wie Ihr habt. Un noch zwei Perd. En halev Stund
erunter, en Stund erup – wat sollen die Leut dann maache, die kee
Fuhrwerk han?«

»Wir werden ihnen aushelfen, dafür sind wir Heckenbroicher. Mer soll
von uns nit sagen, dat wir Brüder im Stich jelassen hätten!«

»Jo woll, jo woll,« höhnte Adams, »predigt Ihr nur esu weiter, dat hört
sich alles siehr schön an. Ihr hätt oß nur früher nit im Stich losse
solle. Jo, Ihr, Ihr!« Er fuchtelte dem andern mit seinem Finger immer
vor der Nase herum. »Et is jot fromm sein in anger Leuts Tasch. So’n
Dommheit, so’n Unsinn, esu en jruße Kirch zu baue, wenn et Nötigste im
Dorf fehlt!« Er räusperte sich zornig und spuckte aus in großem Bogen.

Sie standen in der Prallsonne, die Hecke, die hinter ihnen die Weide
abschloß, gab nur einen schmalen Streifen Schatten. Die Röte, die der
Bürgermeister vordem nur auf der Stirn gehabt hatte, zog sich immer
tiefer herab über sein ganzes Gesicht. Er schwitzte und dabei fror ihn.
Der starke Mann schüttelte sich wie in innerem Frost: der Bauer hatte
so unrecht nicht, ja, es war schlimm, sehr schlimm jetzt, daß sie keine
Wasserleitung hatten!

Unbarmherzig fuhr Adams fort: »So, un wenn mir nu de Krankheit kriege –
mer soll doch dat Wasser nit trinke, et wär unjesund – die is doch nit
et erschte Mol he. Wenn se nu wiederkömmt?!« Er sah dem Bürgermeister
mit einem gewissen Triumph ins Gesicht: »Wenn se nu wiederkömmt, he?«

»Se is schon da,« sagte der andere erbleichend.

       *       *       *       *       *

Es war so. Bürgermeister Leykuhlen mußte es ja wissen, und er wußte
es bereits seit zwei Tagen: drei Fälle von Typhus waren im Lager.
Man hatte erst Hitzschlag angenommen; die Leute waren bei einer
Gefechtsübung gewesen, die Sonne hatte geprallt, als schösse sie mit
mörderischen Pfeilen. Aber nun schüttelten die Ärzte die Köpfe: wo
hatten sich die Kerls den Typhus geholt?! Jedenfalls außerhalb des
Lagers. Es war ja bekannt, diese Gegend war verseucht; es gab ein Dorf
hier, nicht allzu weit, dort hatte der Typhus in einem Jahre so gemäht,
daß der Kirchhof zu klein geworden war, und man flugs einen neuen
anlegen mußte. Und Tage waren es jetzt, so heiß wie unterm Äquator,
und die Nächte trotzdem eisig kalt. Eine Gegend wie Sibirien! Dazu die
ablehnende Verschlossenheit der Bevölkerung gegen alle Neuerungen. Wer
weiß, wo die Soldaten sich herumgetrieben hatten?!

Die strengsten Absperrungsmaßregeln wurden auf dem Platz durchgeführt.
Urlaub gab’s nicht, kein Soldat durfte das Lager verlassen, die
Posten wurden verdoppelt. Auch das Sitzen abends vor den Baracken,
unter deren Wellblech keiner gern hineinging, wurde den Leuten nicht
mehr gestattet. Es war die einzige Annehmlichkeit gewesen, abends wenn
die Dämmerung aufs rote Heidekraut sank und die Nebel vom Moorland
aufstiegen, sich draußen abzukühlen. Weit, weit bis ins Venn hinein war
der Gesang der Soldaten erklungen.

    »Es waren drei Soldaten,
    Dabei ein junges Blut,
    Sie hatten sich vergangen,
    Der Graf nahm sie gefangen
    Setzt sie bis auf den Tod!«

Der junge Leutnant Abeking hatte den Leuten oft zugehört, gern
zugehört. Schön waren die Lieder, mehrstimmig, von den starken Kehlen
gesungen, deren Ungeschultheit hier nichts das Ohr Verletzendes hatte.
In der großen Unbegrenztheit klangen die Sänge weich und getragen.

    »Des Abends kann ich nicht schlafen gehn,
    Ich muß erst meine Herzliebste sehn –
    Steh auf, mein Schatz, und laß mich ein« –

Das war wie ein Anruf, das pflanzte sich fort von Baracke zu Baracke;
das ganze Lager war voll davon. Naturlaute, Sehnsuchtsklänge. Sie
wurden eins mit dem Locken des Bächleins, mit dem leidenschaftlichen
Liebeskonzert der Frösche.

Nun war auch das Singen verboten. Wer draußen gesehen wurde nach
Sonnenuntergang, bekam drei Tage Mittelarrest.

Auch die Offiziere fuhren längst nicht mehr so oft hinunter ins
Städtchen, Leykuhlen brauchte sich nicht über unausgesetztes
Rädergerassel und spätes Heimkehren bei Nacht zu kränken; die
Geschichte mit Abeking hatte ihnen die Lust dazu etwas benommen.

Der junge Leutnant war fort. Seine Kopfwunden gingen nicht ans Leben,
aber er war doch fort; nicht in seine Garnison zurück, er hatte Urlaub
bekommen – auf unbegrenzte Zeit. Und der Abschied würde nachfolgen, das
wußten alle mit den Verhältnissen Vertraute. Das legte einen Druck auf
die Gemüter.

Kein Mensch wußte zu sagen, wie die Geschichte eigentlich ruchbar
geworden war – was wäre denn sonst so Schlimmes dabei gewesen: ein
junger Mensch reitet im Dusel einmal zum Liebchen, unvorsichtig,
tollkühn, er stürzt – aber nun, nun?! Es war alles zu offenkundig. Es
war unmöglich, Abeking konnte nicht bleiben.

Leutnant Schmidt und der Stabsarzt hatten sich bis jetzt noch immer
nicht entschließen können, wieder im Schwan zu kneipen. Aber die
Neugier plagte sie: was mochte die schöne Helene wohl für ein Gesicht
machen?! Es war ein Jammer um den Abeking, ein so netter Junge, ein
so lieber Mensch, und Offizier dazu mit Leib und Seele! Was fing er
jetzt an? Er saß nun zu Hause bei Muttern. Eine verkrachte Existenz,
ein zerstörtes Leben, ehe es noch eigentlich recht angefangen hatte.
Als Mann konnte man ihn voll und ganz verstehen: es war ja nur
eine Dummheit gewesen, eine verliebte Torheit. Diese Helene, dies
Teufelsweib! Daß sie es gewesen war, die der verliebte Junge zu einem
Schäferstündchen im Waldesdunkel entführt hatte, von dem er dann, wie
im Rausch, davongesprengt war, so blind und toll, daß der Gaul, erregt
durch die Erregung des Reiters, wild wurde und scheute, das zirpten
alle Spatzen von den Dächern. In den Augen ihrer Freunde hatte die
schöne Frau darum aber nicht verloren: im Gegenteil; sie war nun mal
so! Und sie hielt schadlos für manches andere. Was hätte man denn
sonst machen sollen, in dieser völligen Weggesetztheit?!

»Ich seh et schon, lang dauert et nit, und wir sind wieder am
Herunterfahren,« sagte der Rheinländer. Und der Stabsarzt sagte ganz
ernsthaft: »Dann wollen wir aber alle drei an Abeking ’ne Postkarte
schreiben. Der arme Kerl!«

Vorläufig fuhr nur Scheffler herunter, so oft der Dienst es erlaubte;
er war ein sehr verliebter Bräutigam. –

»Bärtes, es ist nicht mit anzusehen,« sagte Josef Schmölder, als
er heute heraufkam, den Freund zu besuchen. Er hatte es nicht
mehr ertragen können, unten nur von der Ausstattung, von Wäsche –
Leibwäsche, Tafelwäsche, Bettwäsche – von Silber und von Möbeln
reden zu hören. Scheffler drängte darauf, daß die Hochzeit schon zum
Winter sein sollte, aber – »Gott sei Dank, da ist Heinrich doch fest
geblieben,« sagte Josef. »Er gibt Hedwig allerfrühestens nächstes
Frühjahr fort. Der Herr Bräutigam ist zwar ganz unparlamentarisch
geworden, und die kleine törichte Person hat geweint; aber es hilft
ihnen alles nichts. ›Mai frühestens, so wahr ich Heinrich Schmölder
bin‹, hat er gesagt. ›Und wenn Ihnen das nicht paßt, so lassen Sie’s
bleiben!‹ Dabei hat er dem Monsieur ganz unverfroren ins Gesicht
gesehen!« Josef lachte. »Das hat mir ordentlich gefallen vom Heinrich –
er ist doch ein Kerl! Es sei ihm darum manches verziehen, was er mir an
den Kopf geworfen hat, der Grobian!«

Leykuhlen lachte nicht mit. Er war heut nicht wie sonst, seine Frische
war fort. Josef glaubte auf dem glatten, braunroten Landmannsgesicht
Furchen zu sehen, die ein Kummer gepflügt hatte.

»Was ist das heute mit dir, Bärtes,« sagte er herzlich und sah dem
großen Mann, der vor dem Kanapee stand, in dessen ausgesessene weiche
Ecke er sich bequem hineingedrückt hatte, von unten her in die Augen.
»Hast du Ärger gehabt? Du bist auch traurig; das paßt gar nicht zu dir!«

»Er macht zu viel Jedanken,« sagte Frau Mariechen, die aus dem Schrein
die buntblumigen Kaffeetassen hervorholte und auf den mit weißer
Serviette gedeckten Tisch stellte. Auch sie sah von unten her ihren
Mann an; es war eine demütige Besorgnis in ihrem Blick. »Ach, sagen Sie
et ihm doch, Herr Schmölder, dat er recht dran jetan hat, die Kirch zu
bauen. Und dat er doch nit dafor kann, dat die Krankheit nu auch im
Dorf is!«

Wie, war hier auch Typhus? Josef machte ein betroffenes Gesicht. Aber
ehe er etwas sagen konnte, sagte Leykuhlen schon: »Wir haben bereits
zwei Fäll im Dorf. Vorjestern der Peter Jans, unten in der Lämmerjaß;
jestern der Mechernich am jrünen Klee. Torfarbeiter, arme Leut mit
vielen Kindern. Und wer kömmt nu an die Reih?« Mit einem tiefen Seufzer
setzte er sich schwer auf den Stuhl an den Tisch und stützte den Kopf
in die Hand.

Die Frau trat dicht neben ihn, sie legte den Arm um seinen Nacken.
»Bärtes, wat machste dir für Jedanken – o, ich kenn se all!« Sie
klopfte ihm gegen die heiße Stirn. »Du denkst, wenn die Leut sterben,
die Männer von ihren Frauen weg, die Ernährer von ihren Kindern, dann
bist du dran schuld, weil wir noch kein Wasserleitung haben im Dorf.
Weil die Leut immer noch aus ihren Pötzen trinken. Ach, dat is ja all
dumm Zeug!« Sie versuchte zu lächeln; es gelang ihr auch, ihre Stimme
klang heiter: »Bärtes, du hast zu schwer Blut! Herr Schmölder« – sie
wandte den Blick ihrer klaren Augen jetzt Josef zu – »ich kenn meine
Mann jetzt jar nit mehr, er is doch sonst auf ’m Platz, zu juter wie zu
böser Zeit. Und er hat doch auch sonst immer jewußt, dat über uns einer
is, der alles so macht, wie et jut is. Laß se doch reden, Bärtes, laß
se doch schimpfen, laß se doch schreien: en Wasserleitung hätt jebaut
werden müssen! Laß se doch, Bärtes! Ich, dein Frau, ich sag dir: recht
haste jetan, janz recht!« Sie reckte ihre Gestalt mit dem sonst immer
ein wenig geneigten Kopf zu ihrer schlanken Höhe auf: »Recht haste,
Bärtes!«

War das eine Energische! Josef hätte das gar nicht von der
zurückhaltenden, sonst immer wenig Worte machenden Frau erwartet.
Jetzt floß ihr ja die Rede vom Mund – und aus dem Herzen; und das war
die Hauptsache. Eine prächtige Frau, auch eine schöne Frau! Das war
ihm vordem nie aufgefallen. Aber auf diesem Gesicht mit den einfachen
Linien lag jetzt soviel Hingabe, soviel felsenfestes Vertrauen, daß es
schön wurde und auch jung, ohne doch eigentlich jung mehr zu sein. Und
ihre Stimme klang frisch.

Als Frau Mariechen jetzt ihre Wange auf die Stirn ihres Mannes legte,
schien sie des Fremden Anwesenheit völlig vergessen zu haben. »Bärtes,«
flüsterte sie in ihn hinein, »Bärtes, sei doch nit esu bang!« Und dann
wurde ihre Stimme ermutigend; das Anfeuernde lag noch mehr im Ton als
in den Worten. Sie faßte ihn bei beiden Schultern und sah ihm tief in
die Augen: »Mann, Mann, wer ein rein Jewissen hat, der braucht doch
keine Mensch zu scheuen. Und du hast en rein Jewissen, Bärtes, so wahr
ein Jott lebt!«

»Deine Frau hat ganz recht, Bärtes,« sagte Josef und nickte dem Freund
zu. Er wollte auch Frau Mariechen zunicken, aber sie hatte sich
losgemacht und war rasch hinausgeeilt, errötend wie ein Mädchen, dessen
Liebesgeständnis ein Unbefugter belauscht hat. »Du hast ’ne famose
Frau, Bärtes!«

»Dat weiß ich, dat weiß ich!« Der Bürgermeister lächelte, aber es war
nur ein flüchtiger Glanz, der über sein Antlitz huschte. »Sie jlaubt an
mich. Sie weiß ja auch, wie ich’t jemeint hab – wenn ich nur andere
davon auch überzeugen könnt! Oft mein ich jetzt, ich hab doch nit
dat Richtge jetan. Jott, Jott –« er verstärkte plötzlich seinen Ton,
stützte beide Arme auf den Tisch und den schweren Kopf zwischen sie –
»wenn ich dächt, dat durch en Wasserleitung die Typhusjefahr abjewendt
wär, ich könnt mir die Haar aus ’m Kopf reißen, dat se noch nit jebaut
is!« Er faßte sich mit beiden Händen in die Haare und riß daran. »Ich
Esel, ich Schafskopp, ich Doof-Uehl!«[22] Er stöhnte auf und schloß die
Augen wie in einem Schwindel.

[22] Scheltwort: taube Eule.

Es war heiß und still in der Stube, man hörte das Fliegengesumm.
»Josef!« Etwas ruhiger geworden, hob der Bürgermeister jetzt wieder
von neuem an: »Siehste, Josef, mer meint et so jut und macht et doch
immer all verkehrt – und dat macht eso traurig. Is et dir auch als so
erjangen?« Fast hilflos sah er den andern an, auf seiner Stirne perlte
der Schweiß.

»Und ob!« Josefs Mund verzog sich zu einem leicht-ironischen und doch
auch bitter-traurigen Lächeln. »Ob’s mir so ergangen ist?!« Er sagte
mehrmals rasch hintereinander: »Immer! Öfter als dir, Bärtes, das kann
ich dir sagen. Du bist doch ein anderer Kerl. Dich möchte ich beneiden
– jetzt doppelt, weil ich weiß, was du an deinem Mariechen hast. Ich
habe niemanden!« Er seufzte. Aber rasch die Bewegung abschüttelnd, die
ihn erfaßt hatte, lachte er auf. »Wir leben nun einmal, alter Junge,
leben, um alles verkehrt zu machen. Das ist nicht anders. Wie’s uns
ergeht, geht es noch vielen; ich könnte dir Exempel von Beispielen
erzählen – oh! Aber ich denke, wenn wir wenigstens das Gute anstreben,
das, was wir als das Gute erkannt zu haben glauben, das ist doch schon
immer etwas!«

»Dat is nit jenug,« sagte der Bürgermeister langsam und stand
schwerfällig auf. »Ich will dir wat sagen, Josef! Et jibt en Lied in
der Kirch – du kennst et jewiß nit mehr – dat lernt mer auch schon in
der Schul. Et heißt drin:

    ›Unser Wissen und Verstand
    Ist mit Finsternis umhüllet,
    Wenn nicht deines Geistes Hand
    Uns mit hellem Licht erfüllet.‹

Und dat is gewißlich wahr, Josef! Dat is die einzige Erkenntnis, die
wir haben!«




XII


Überall rührte sich der alte Feind. Die Fälle von Typhus im Lager und
die Fälle zu Heckenbroich waren der Anfang; andere folgten nach in
den Dörfern, die wie Oasen, grünen Tellern gleich, im roten Heidemeer
schwimmen. Da und dort. Noch war es keine Epidemie, wie sie zu früheren
Zeiten wohl geherrscht hatte, aber doch ging ein Grausen durch alle
Gemüter.

Der Kreisphysikus erstattete Bericht nach Aachen; der Landrat runzelte
die Stirn.

Bei der schönen Helene im Weißen Schwan kamen die Herren zusammen;
sie waren ganz ein und derselben Meinung, auf Leykuhlen wurde viel
geschimpft. Dieser dickschädelige Bauernbürgermeister! Es war kaum zu
glauben, daß ein sonst doch ganz intelligenter Mann sich so gegen alle
Neuerungen verschloß! Der Kreisphysikus kannte die Bauern: natürlich
soffen sie aus den geschlossenen Brunnen! Am grünen Klee, wo das Wasser
am schlechtesten war, war ja auch der erste Fall gewesen. Diese
unvernünftigen Leute konnten es nicht lassen, sie glaubten es eben
nicht; nachts wurde geschöpft, weil es am Tage des Verbotes wegen nicht
möglich war, und der Bürgermeister, der doch sicher drum wußte, drückte
nicht nur ein Auge, nein, alle beide zu. Unerhört!

Es war an einem heißen Vormittag, als Kreisphysikus und Landrat beim
Frühschoppen im Schwan saßen und durchs geöffnete Fenster drüben auf
der anderen Gassenseite den Bürgermeister von Heckenbroich vorübergehen
sahen. Er ging langsam mit gesenktem Kopf und suchte den Schatten; sein
Gesicht war hochrot, das Taschentuch, mit dem er den Schweiß wischte,
hielt er in der Hand.

Helene mit ihren Luchsaugen war die erste gewesen, die ihn erspäht
hatte. Sie machte »pst!« und winkte ihm mit dem Finger. Er mußte das
wohl bemerkt haben, aber er tat, als hätte er nicht Auge noch Ohr. Erst
als der Landrat ans Fenster trat, und auch der Kreisphysikus diesem
über die Schulter weg rief: »Hela, Leykuhlen! Guten Morgen! Hören Sie
denn nicht?« blickte er zum Schwan hinüber.

Die Herren winkten; nun konnte er nicht anders. Unwillkürlich hob er
den Kopf: nein, das sollten sie nicht denken, daß er ihnen auswich! Mit
ein paar großen Schritten war er über der Gasse; nun stand er unter dem
Fenster: »Tag zusammen!«

»Kommen Sie denn nicht herein?«

»Ich bin et nit gewohnt, hier ’ne Frühschoppe zu trinken!« Aber wenn
die Herren ihm etwas zu sagen hatten, kam er schon herein. Er trat ein
und setzte sich zu ihnen an den Tisch.

Der schönen Wirtin Augen funkelten; sie machte sich am Büfett zu
schaffen und räumte, was sie sonst nie tat, zwischen den Gläsern auf.
Das wollte sie doch auch gern mal hören, wie die den Bürgermeister
zwischennahmen. Das gönnte sie ihm. Es regte sich etwas wie
instinktiver Haß in ihr gegen diesen Mann, der ihr abgeneigt war;
und daß er das war, das fühlte sie seit langem schon. Was hatte sie
ihm eigentlich getan? Er war doch ein stattlicher, ansehnlicher Mann
– warum war er denn so eklig gegen sie?! Eine starke Röte stieg ihr
in die weiße Stirn: der, der hätte am liebsten alle abgehalten, hier
herunter zu kommen! Der, der war gar am Ende dran schuld, daß der
arme Junge, der Abeking, geschaßt worden war?! Ob er sie und Abeking
wohl auf dem Gaul hatte reiten sehen als verliebtes Pärchen in der
Mondscheinnacht?! Mit unsicheren Blicken lauerte sie zu ihm herüber.

Leykuhlen saß das Gesicht ihr zugekehrt, aber er achtete ihrer gar
nicht. Das war sie nicht gewohnt, das boste sie gewaltig. Wenn sie ihm
nur ordentlich die Hölle heißmachten! Sie hob sich unwillkürlich auf
den Zehenspitzen und reckte den Hals lang, ihre Zungenspitze züngelte
im Lächeln zwischen den Zähnen vor: aha, jetzt kriegte er’s aber mal!

Der Landrat hatte gesprochen: »Wie steht’s bei Ihnen oben,
Bürgermeister? Noch sind mir keine neuen Fälle gemeldet worden, aber
mit dem einen Ihrer Erkrankten soll’s ja sehr schlecht stehen. Ist dem
so?«

»In der Tat!« Leykuhlen hatte den Rücken von der Stuhllehne gehoben und
saß nun da, ohne Lehne, kerzengerade. Aha, ein Verhör! »In der Tat,
Herr Landrat, dem Mechernich wird et wohl an den Kragen jehen!« Er tat
gleichgültig, aber die Stimme konnte seine innere Erschütterung nicht
verhehlen.

»Das ist der Fall am grünen Klee, da, wo die Brunnen besonders schlecht
sind, Herr Landrat,« erklärte der Kreisphysikus.

»Ja ja, ich weiß, ich weiß, ich bin ganz genau orientiert!« Der
Landrat zog die Brauen hoch. »Es ist sehr bedauerlich. Das brauchte
nicht zu sein. Die Familie brauchte nicht des Ernährers beraubt zu
werden!« Er wechselte einen raschen Blick mit dem Kreisphysikus und
neigte sich dann mit einer impulsiven Bewegung zu Leykuhlen hinüber:
»Bürgermeister, Bürgermeister, warum habt ihr nicht längst eine
Wasserleitung gebaut?! Nun heißt es wieder: Venn, Venn, Sumpf – aber
das schlimmere, viel schlimmere Übel ist eure Verbohrtheit! Ohne
gesundes Wasser keine gesunde Bevölkerung. Und Licht, Luft in die
Häuser! Die Hecken nieder, die Fenster auf, und Wasserleitung in jedes
Haus!«

»Und ein Krankenhaus an den Ort,« ergänzte der Physikus. »Wie oft ist
unser städtisches Spital überfüllt, so überfüllt, daß wir unbarmherzig
abweisen müssen!«

»Und –« der Landrat wollte noch etwas sagen, um wiederum den
Kreisphysikus zu ergänzen, aber der Bürgermeister schnitt ihm gegen
alle Regeln der Höflichkeit die Rede ab.

»Ich denk, wenn wir en Wasserleitung hätten, wären wir all so gesund,
dat wir kein Krankenhaus mehr gebrauchten,« sagte er ohne allen Hohn,
aber mit Nachdruck. Und dann stand er auf: »Nu weiß ich ja Bescheid,
nu kann ich wohl jehen, meine Herren!« Er reckte sich in seiner ganzen
Größe; dann ließ er seine blauen, jetzt so feurigen Augen rasch nach
dem Büfett hinblitzen: wer hatte da gekichert?!

Die schöne Helene wurde dunkelrot. Ein Blick der Verachtung hatte
sie getroffen, einer so sprechenden, einer so deutlichen Verachtung,
daß ihre Kniee zu beben anfingen. Sie stahl sich zum Türchen hinaus.
Draußen im kleinen Gang, der zu ihrem Privatgemach führte, stand sie,
zitternd vor Wut, und preßte doch die Fäuste gegen den Mund, um nicht
laut herauszuweinen. Sie schämte sich auf einmal so – warum? Sie wußte
es selber nicht. Unklare Empfindungen stürmten auf sie ein. –

Die drei Männer am Stammtisch waren aufgestanden. Es war eine
gewisse Kühle in dem Händedruck, mit dem die beiden Herren Leykuhlen
verabschiedeten. Er fühlte die Kälte. Den Nacken hielt er steif. Nun
noch das Letzte gesagt! Und er sagte mit einem tiefgeschöpften Atemzug,
ohne mit der Wimper zu zucken: »Nu will =ich= Ihnen auch not wat sagen,
Herr Landrat, und Ihnen, Herr Kreisphysikus! Ich bin herunterjekommen,
weil, weil – ich hab et dem Doktor mitjeteilt – mich wundert, dat Sie
et nit schon zu wissen jekriegt haben – seit heut morgen ist auch ein
Knabe vom Weber erkrankt. Der wohnt auch am jrünen Klee. Et wird wohl
auch Typhus sein. Morgen zusammen!«

Er ging, ohne sich noch einmal umzusehen. Sie riefen ihn auch nicht
zurück. Sie standen ein paar Augenblicke da und sahen sich stumm an,
und dann setzten sie sich stumm wieder nieder zu ihrem Wein. Aber er
schmeckte ihnen nicht mehr.

Bleiern lastete der Himmel über der Gasse. Unter dem bleiernen Himmel
schritt Leykuhlen hin. Solange er noch in der Stadt war, behielt
er seine aufrechte Haltung bei; aber nun, da die hochgegiebelten
Schieferdächer hinter der Felsnase des Burgfelsens untergetaucht waren,
veränderte sich seine Haltung. Er sank förmlich in sich zusammen. An
der steinernen Brüstung der Straße, hinter der große, rundgewaschene
Felstrümmer das Flußbett füllen, stand er still. Ein Zittern war in
seine starken Knie gekommen, er lehnte sich gegen das Steinmäuerchen.
Sie hatten ihn doch nicht klein gesehen! Aber kein Triumph war in
seinem Innern – denn hier war er allein, und hier war er, ach, so klein!

Einen schweren Blick ließ er rundum gleiten. Da war die liebliche
Au, und über die Tannen der Höh guckten die Leyen. Aber heute atmete
er hier nicht auf, wie sonst, wenn er der Stadt entronnen war. Heute
dünkte ihn der Sommertag unerträglich. Diese Hitze! Hier unten gaben
die Talwände noch einigen Schatten, am Wasser war das Grün sogar
noch grün, aber oben, oben waren die Matten ja längst gelb, das
Gras verdorrt bis in die Wurzeln. Wie sollte das noch werden?! In
diesem Jahr gab es keine Weide mehr; und wenn man jetzt schon vom
eingebrachten Heu zehrte, womit sollte man das Vieh denn durchfüttern
den langen, endlosen Winter? Und wenn die Regierung auch aushalf,
wie in anderen futterarmen Jahren, viel Vieh würde doch verkauft
werden müssen, losgeschlagen um jeden Preis. Zu helfen stand nicht in
Menschenmacht – einzig helfen konnte nur der, der da droben!

Er richtete seine Augen zum Himmel. Wenn er regnen lassen wollte!
Tagelang, nächtelang, daß sich der vertrocknete Boden vollsog, daß die
Wurzeln noch einmal ausschlugen, daß die Weiden sich neu begrünten, daß
die geborstene Erde ihr durstig geöffnetes Maul schloß. Dann konnte
noch alles gut werden. Nur Regen, Gott im Himmel, nur Regen!

Die Sonne hatte sich für wenige Augenblicke hinter bleierne Wolken
verzogen. Ha, da war sie schon wieder! In geradezu quälender Helle
strahlte sie nieder. Es schwamm Leykuhlen vor den Augen, mit einem
Seufzer drückte er die Lider zu: und wie sollte es mit der Krankheit
werden? In dieser Luft wurde es damit nicht besser. Nun war der Knabe
erkrankt, der Dores – war es auch Typhus? Noch wußte man es nicht
bestimmt, der Doktor sollte es erst feststellen; aber die völlige
Bewußtlosigkeit, in der das Kind lag, ließ wohl kaum eine andere
Deutung zu. Der blöde Knabe kroch überall herum, wer weiß, was er sich
in den Mund gestopft hatte! Mariechen war gleich zu den Huesgens
gegangen, als Kathrinchen die Krankheit melden gekommen war, und er
war herunter zum Doktor gelaufen. Ach, es war doch eine Wohltat, sich
wenigstens in etwas zu betätigen! Zu viel, allzuviel hatte er schon
versäumt – konnte er es je wieder einbringen?!

Mit heftiger Gebärde riß der Mann die Lider wieder auf, seine Augen
fuhren umher: ›Gott Vater, Sohn und heiliger Geist, seht uns arme
Sünder, seht mich armen Sünder zumal, erbarmt euch!‹

Die Hände vor sich gefaltet, die Augen groß und starr geradeaus
gerichtet, schritt der Bürgermeister bergan. Ein Kummer war in seiner
Seele und ein Verzagen.

Die Sonne gloste ob seinem Haupt, wie ein tiefgefärbtes blaues Tuch
spannte sich der Himmel, kein Regen war in Sicht über Heckenbroich;
ausgedorrt alles Land, so weit das sehnende Auge reichte. Wie stickiger
Dunst stieg’s empor vom Venn, ein Brodem kroch übers Moorland; schwer
und befangend legte er sich auf Gemüt und Körper. Müdes Schweigen
zwischen Himmel und Erde. Da plötzlich ein Läuten – horch, das
›Angelus‹!

Der Wanderer hielt an. Sieh, da war ja der Turm von Heckenbroich! Und
sieh, da war sie auf einmal voll da, sie, die Kirche, die man noch
nicht hatte sehen können vom letzten Aufstieg! Zwischen hohen Tannen
ragte sie, schöner noch, und viel höher als diese. Vom Dorf war noch
nichts zu entdecken, das lag versunken hinter den Hecken, aber hier,
im Ausschnitt der Tannen, die wie lebende Pfeiler das schöne Bild
einrahmten, stand die Kirche von Heckenbroich, klar und deutlich auf
dem Goldgrund der ewigen Sonne und grüßte weit übers Hochland hin.

Mit einem tiefen Aufatmen nahm der vom raschen Aufstieg Keuchende den
Hut ab. Er neigte den Kopf; ein Aufleuchten ging dabei über sein
bekümmertes Gesicht: da war sie ja, die Kirche, die neue Kirche von
Heckenbroich, der Eifler Dom!

       *       *       *       *       *

Es war am Tage des ewigen Gebetes. Feierabend – Mitternacht – die ganze
Nacht hindurch das gleiche murmelnde Beten.

Sie füllten das dämmernde Schiff der Kirche, sie knieten auf den
schmalen Betbänken, die Hände mit dem Rosenkranz an die leis sich
bewegenden Lippen gehoben, und beteten das Gebet der Bittwoche:
»Heilige Maria, du Hilfe der Christen, bitte für uns! Ihr Heiligen
insgesamt, flehet für uns am Throne Gottes!«

Auf seiner Betbank kniete der Bürgermeister. Wenn die anderen einmal
wieder sich niedersetzten, um auszuruhen, kniete er immer noch. Ohn
Unterlaß betete er auf dem bretternen Bänkchen, das viel zu schmal war
für seine Knie und viel zu niedrig für seine Größe. Er fühlte nicht,
daß die gekrümmten Füße ihm abstarben, und daß seine Knie steif wurden.
Das Gesicht hielt er in die Hände gedrückt, in seiner Seele schrie es:

    ›Der du ins Verborgene siehest,
    der du deine Sonne aufgehen lässest über Gute und Böse,
    der du regnen lässest über Gerechte und Ungerechte,
    du unsere einzige Zuflucht und Hoffnung, sei uns gnädig!‹

Seine Augen schmerzten. Er hob das Gesicht aus den Händen, er bohrte
den brennenden Blick durchs Dämmerlicht der Kirche, bis er haftete
auf dem Fenster überm Hochaltar, durch dessen Glas die Gestirne
hereinleuchteten in unumwölkter Klarheit.

Am Dach der Kirche stand der Mond, nicht silbern, wie sonst, nein, rund
und voll und rot, eine zweite Sonne, die die Sonne des Tages ablöste
auf ihrer Bahn. Und um sie her stand der Chor der Sterne, flinzelnd
vor blankem Glanz, wie sonst nur in eiskalter Winternacht.

    ›Schöpfer und Herr der Natur,
    alles zittert, alles dienet dir.
    Du machst die Wolken zu deinem Wagen
    und fährest auf den Flügeln der Winde.‹
    – – – – – – – – – – –
    – – – – – – – – – – –
    ›Herr Gott, ich bekenne vor dir,
    daß ich ein Sünder bin.‹

In das Murmeln der Gemeinde mischte der Bürgermeister laut seine Stimme:

    »Herr, strafe uns nicht in deinem Zorn –
    Herr Gott, laß regnen, laß regnen!
    Heilige Maria, die Stillung der Stürme,
    du Morgenstern, bitte für uns, sei uns gnädig!«

Er wußte nicht, daß es nicht nur die Worte mehr waren, wie sie
vorgeschrieben stehen im Andachtsbuch; er fügte Eigenes hinzu in der
Bedrängnis seines Herzens.

Es trieb ihn um bei Tag und Nacht. Es litt ihn nicht im Bett, er konnte
ja doch nicht schlafen; vor Morgengrauen schon war er aufgestanden
und war hinausgeschritten auf die Höhe des Venns und hatte nach Osten
gestarrt, wo die Wolken sich in leuchtendem Purpur färbten. Wenn
sie doch, ach, wenn sie doch endlich, endlich einmal nicht mehr so
strahlend erstünde, die unbarmherzige Sonne!

Alle Quellen waren versiegt. In den tiefsten Brunnen stand nur
noch ein Pfützchen trüben, schlecht riechenden, fauligen Wassers.
Kaum daß man das Vieh tränken konnte, es verschmachtete; denn auch
kein Hälmchen saftigen Grüns war mehr zu finden. Und in den beiden
Torfarbeiterhäusern lagen die Männer noch immer und quälten sich in
wilden Delirien. Es war der Krankheit noch gar kein Absehen.

Was war das für ein Leid, was war das für eine Angst! Das Dorf lag
geduckt wie unter einem dräuenden Alp. Alles atmete beklommen. Soviel
gebetet war noch kaum worden zu Heckenbroich. Aber beklommener denn
alle atmete Leykuhlen, er fühlte sich in tiefster Seele betroffen.
Mariechen hatte viel zu reden, viel zu ermutigen: ›Mach dir nühst
draus, Bärtes, laß sie doch reden! Wat kannst du dafür? Unser Herrjott
schickt die Trockenheit und die Krankheit; wir müssen sie nehmen aus
seiner Hand!‹ Aber heimlich kränkte sie sich: wie die Undankbaren
ihren Mann verkannten! Und er hatte doch alles zu =ihrem= Besten
getan! In heimlicher Sorge ging sie umher, und nachts tat sie, als ob
sie schliefe; aber sie schlief nicht, sie horchte auf ihres Mannes
rastloses Wälzen und unruhiges Atmen, und wußte dann nichts anderes zu
tun, als inbrünstig bei sich zu beten. Gestern hatte jemand ganz laut
draußen vor der Hecke auf den Bürgermeister geschimpft – wer war’s
gewesen? Sie hatte es nicht sehen können – das war ja auch gleichgültig
– wenn nur er, er es nicht gehört hatte!

Besorgte Blicke warf die Frau auf ihren Mann, der stundenlang jetzt in
der Kanapee-Ecke saß, und sich die Zeitung so vorhielt, daß sie sein
Gesicht nicht sehen konnte. Es wollte ihr dünken, als sei das leichte
Blatt zu schwer für seine starke Hand. Jesus Maria, wenn er wüßte, daß
ihr, als sie zum grünen Klee gegangen war, die Kranken zu besuchen,
ein Rudel Kinder nachgerannt war, erst mit schüchternem Gekicher, dann
mit dreisterem Lachen, zuletzt mit ungezogenen Redensarten. Das waren
freilich nur Kinder, unverständige Kinder, aber sie sprachen das nach,
was die Erwachsenen sagten. Wenn es nur regnen wollte, endlich regnen,
barmherzig, erquicklich, dann würden sie im Dorf auch einsichtiger
werden, und ruhiger!

Die Bürgermeisterin kannte ihre Heckenbroicher gar nicht mehr wieder.
Aber sie, die sonst mit ihrem Mann alles besprochen hatte, sagte ihm
kein Wort davon. Er selber schwieg auch beharrlich. –

Es war eine Nacht, so drückend heiß, daß niemand Schlaf finden konnte.
Hinter den Hecken brütete die Schwüle. Leykuhlen und seine Frau saßen
noch unten in der Wohnstube beisammen; er saß in der einen Ecke des
Kanapees, sie in der anderen. Die Lampe hatten sie nicht angezündet,
selbst dies bißchen Licht war zuviel, man hatte nach all der Blendung
des Tages eine Sehnsucht, fast eine Gier nach der Dunkelheit. Ach, daß
doch Wolken hängen möchten, tief herab, und sich entladen mit Donner
und Blitz! Und sei es ein Ungewitter mit heulendem Sturm, wenn nur
Regen dabei war, erlösender Regen! Schwül genug war es.

Aber wie sie die Ohren auch spitzten, kein Rauschen war draußen
vernehmbar auf den Blättern der Hecke, nicht einmal ein Tröpflein. Der
Himmel war verschlossen. So ging es nun schon an die zwei Monate, es
gab keinen Regen mehr. Die Welt mußte verdursten.

»Jesus Maria,« sagte die Frau plötzlich und neigte sich gegen den Mann,
»hörste nühst, Bärtes? Wär et am End doch am Regnen?!«

Sie irrte sich. Jetzt war wohl ein Rauschen hörbar im Blattwerk der
Hecke, aber so tat kein Regenguß. Das waren Hände, Arme, Füße, die
sich durcharbeiteten durchs raschelnde Laubwerk, Körper, die sich
durchwanden durchs dichte Gefüge. Von der Seite her brach es ans Haus
heran.

Wenn jemand was wollte, warum ging er denn nicht vorne herum, offen und
ehrlich durchs Heckentor?!

»Still, bis still, Mariechen,« sagte der Mann und legte der Frau die
Hand auf den Mund. Sie hatte aufschreien wollen in plötzlichem Schreck.

Ein Stein war oben gegen das Giebelfenster gekracht das vom Mondschein
hell beglänzt wie ein Auge über die Hecke lugte. Die Scheibe brach
und klirrte. Und nun klatschte es dumpf. Sie warfen mit Kuhdung,
mit Dreckfladen, mit allerlei Schmutz und Unrat; was sie gerade
aufschnappten von Straße und Hof. Und ein Gequäk und Gekrächz erhob
sich, ein Gewieher und Gegrunze, ein Gemauze und Geknauze, als sei die
ganze Tierwelt lebendig geworden. Ein Hund bellte, eine Katze miaute,
ein Ochse brüllte, ein Esel iate; es war eine Höllenmusik.

Mit beiden Armen hielt Frau Leykuhlen ihren Bärtes umfangen; sie
preßte ihn fest an sich: oh, daß sie seine Ohren nur zuhalten könnte,
verstopfen, daß er nichts hörte von dem abscheulichen Konzert. Sie
brachten ihm eine Katzenmusik, wie man sie nur dem bringt, der sich
Ungebührliches hat zu Schulden kommen lassen. Dieses entehrende
Ständchen ihm, dem Bürgermeister, von seinen Heckenbroichern selber
dargebracht?! Die Frau zitterte, sie hätte in Tränen ausbrechen mögen.
»O Bärtes, Bärtes, mach dir nühst draus!«

»Bis still, Mariechen,« sagte er wieder wie vorhin. Er war ganz ruhig.
Seine Stimme klang nicht einmal zornig, nur traurig, als er jetzt das
Fenster aufriß und in die Nacht hinausrief: »Jetzt is dat äwer jenug!
Nu laßt de Dummheiten! Joht no hehm!«

Einen Augenblick war es still; dann raschelte es wieder in der Hecke.
Liefen sie hastig fort, beschämt, hatten sie es doch mit der Angst
bekommen?!

Die Frau, die sich neben ihren Mann ins Fenster gezwängt hatte, fuhr
plötzlich zurück – klatsch! Ihr Bärtes, o, ihr Bärtes! Eine Ladung
Kot war ihm ins Gesicht geflogen, sie wurde noch mit davon bespritzt.
Und eine Stimme, – es war nicht zu erkennen, wem sie gehörte, denn sie
verstellte sich – äffte ihm nach: »Laßt de Dummheiten, joht no hehm!«
Ein wieherndes Lachen erscholl – wieder ein hastiges Rauschen und
Rascheln – die Nachtbuben rannten davon.

»Jesus Maria!« Entsetzt drückte die Frau den Kopf an ihres Mannes
Brust. Jetzt konnte sie nicht anders, sie mußte laut weinen: daß man
ihn so kränkte, ihn!

Er strich ihr über den Scheitel: »Bis still, Mariechen, bis still! Laß
se schreien. Wer kann sich an so wat kehren!«

War er wirklich so ruhig, war er wirklich so besonnen, wollte er nicht
hinter ihnen drein rennen, sie einholen, sehen, wer es gewesen war?!
Sie hob den Kopf und forschte angstvoll in seinem Gesicht. Es war zu
dunkel, sie konnte seine Züge nicht erkennen, sie fühlte nur seine
Hand, eiskalt trotz der Hitze, schwer auf ihrem Scheitel liegen.

»Jeh nach oben, Mariechen, jeh! Kuck, wat die Nixnutze da anjericht
haben!«

Er machte nicht Miene, mit ihr hinaufzusteigen in die Giebelstube. Sie
zögerte; aber sein Ton wurde heftig: »Jeh, jeh!« Da ging sie; ungern
nur ließ sie ihn hier unten allein.

Mit zitternden Händen schaffte sie oben Ordnung, bis auf die Betten
waren die Glassplitter geflogen, Boden und Wände waren beschmutzt;
die Buben hatten gut gezielt durch das im Mondschein spiegelnde
Fenster. Sie kehrte und wischte, die Kniee bebten ihr, aber sie hätte
die Magd nicht zu Hilfe rufen mögen. Gott sei Dank, daß die nach der
anderen Seite heraus schlief! Wie sollte die sonst Respekt behalten,
wenn sie so was mit angesehen hätte! Eine tiefe Scham kam über die
Bürgermeisterin; sie konnte nichts sehen vor bitteren, gekränkten
Tränen, die ihr unaufhaltsam über das heiße Gesicht rollten. Ach,
ach, das waren keine Kinderstreiche mehr, keine Dummheiten, wie
Bärtes sagte, das waren Niederträchtigkeiten! Wer hätte das je von
den Heckenbroichern gedacht?! Ihr ganzes Leben war im Dorf verflossen
– vierzig Jahre sind lang – und nie hatte sie in all dieser Zeit
geglaubt, es könnte hier einer sein, der sie so kränke. Nicht sie –
ach nein, es war ja nicht um ihrer selbst willen, daß ihr Tränen des
Schmerzes, des Zornes und der Scham über das Gesicht liefen, es war um
seinetwillen. Was er jetzt wohl machte? Was er wohl denken mochte so
ganz allein bei sich?!

Sie rannte hinab, die angezündete Lampe hochgehoben in der Hand. Einen
Augenblick zögerte sie vor der Stubentür – drinnen war’s noch dunkel,
sie hörte keinen Laut, war er nicht mehr da?! Behutsam drückte sie die
Klinke nieder, leuchtete in die dunkle Stube hinein.

Da lag er auf den Knieen vor dem Tisch, hatte die gefalteten Hände auf
den Tischrand gelegt und sein Gesicht auf die Hände. Sie sah nur seinen
Rücken, aber sie sah doch, wie heftige Atemzüge ihn erschütterten.

Da zog sie sich leise zurück. Das fühlte sie, jetzt durfte selbst sie
nicht stören. –

In dieser Nacht schliefen sie nicht. Aber auch nur wenige im Dorf
schliefen. In den Häusern, eingeschlossen hinter den Hainbuchenhecken,
war die Luft dick und schwül. Nur Regen, nur Regen! Mit offenen Mäulern
lagen die Menschen auf ihren Betten und schnappten nach Luft. Die
Kinder greinten, selbst sie fanden keinen Schlaf. Da und dort flinzelte
Lämpchenschein, man hörte Stimmen, die Mutter vertröstete die Kleinen.
In den dunstigen Ställen brüllte heiser das durstige Vieh. Der und
jener schlich vor sein Heckentor und schaute prüfend den Himmel an:
zog da nichts auf von Gewölk im Westen? Er blinzelte angestrengt,
das harte Bauerngesicht erhellte sich für Augenblicke wie von einem
Hoffnungsstrahl; aber enttäuscht sank der Blick gleich wieder: nein,
das war kein Gewölk, das Regen brachte. Das war nur ein Rauch, ein
Dunst, als sei die Erde ein Feuerherd und pustete den Dampf ihrer Glut
zum Himmel.

Es war keine Nacht zum Schlafen. Es war eine Nacht, um wach zu liegen,
sich zu wälzen in banger Sorge. – – –

Eine müde, überwachte Stille lag mit dem neuen Tag über Heckenbroich.
Feurig ging eben die Sonne im Osten auf, als es auf der Straße
bimmelte. Leykuhlen fuhr mit dem Kopf zum Schlafkammerfenster heraus, –
er brauchte es ja nun nicht mehr aufzutun – das klang ja, als schellte
der Meßner vorm Priester her, der den Leib des Herrn über die Straße
trägt?!

Was – wer – wo?! Wer sollte versehen werden?! Der Bürgermeister riß die
Augen weit auf, er stierte und starrte. Richtig, da schritt der junge
Hilfsgeistliche das Röcklein übergeworfen! Vor ihm her schlorrte der
Küster, ungewaschen, ungekämmt, wie einer, den man eilig aus dem Bette
geholt hat. Er klingelte mit dem allbekannten Glöcklein.

Mit einem Arm das Fensterkreuz umschlingend, beugte der Bürgermeister
sich weit, weit über die Hecke hinüber. Mit Blicken, die seine Augen
fast aus den Höhlen drängten, folgte er den Dahinziehenden. Da gingen
sie hin, Priester und Meßner – klingling – leise tönte das silberne
Schellchen. Da gingen sie und brachten einer scheidenden Seele die
letzte Wegzehrung.

Aber wo gingen sie hin – zu wem – ach, wohin?! Leykuhlen wollte rufen
und konnte nicht, der Mund war ihm wie zugehalten, nur ein heiser
herausgestoßenes ›Herr, erbarme dich‹, brachte er über die Lippen.

Nun waren sie am Eckhaus. Gingen sie nun geradeaus, die Hauptstraße zu
Ende, oder schwenken sie links ab zum grünen Klee! Sie schwenkten links
ab.

Am grünen Klee lag der Mechernich, mit dem war es schon gestern sehr
schlecht gewesen; nun reichten sie ihm die heiligen Sterbesakramente,
daß er in Frieden abfahren konnte von dieser Welt. Aber ein verlassenes
Weib schrie hinter ihm her, eine Schar kleiner Kinder weinte nach
Brot. Ein Schauer überrieselte den Bürgermeister. Und daran sollte er,
wirklich er, schuld sein? Wasserleitung – eine Wasserleitung anstatt
der Kirche – ohne gesundes Wasser keine gesunde Bevölkerung – die
Brunnen taugen nichts! Er hatte es zugegeben, daß sie doch daraus
tranken. Gott im Himmel, wie sollte er sich verantworten vor dem
höchsten Richterstuhl?!

Gedanke auf Gedanke wälzte sich heran, Vorwurf auf Vorwurf. Der Mann
war erdrückt, wie zu Boden geschmettert; mit beiden Händen faßte
er sich nach der glühenden Stirn und stöhnte auf. Da innen saß ein
sausendes Rad, das sich drehte in unaufhörlichem Schwunge: wenn der
Mechernich starb, was machte er dann – und wenn noch andere starben,
was dann? Er konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen, er wußte
nicht mehr, hatte er recht oder unrecht getan, war er beladen mit
einer Schuld oder durfte er ihrer sich ledig sprechen? Sein Geist war
verwirrt. O, wer sagte ihm, hatte er recht getan oder unrecht?!

Er krampfte die Hände in einander, der kalte Schweiß perlte ihm auf
der Stirn. Kommt zu Hilfe, ihr Heiligen Gottes! Herr, erbarme dich, –
gib ein Zeichen! Tue deinen Himmel auf, laß regnen! Vater unser – – –
gegrüßet seist du, Maria – – – laß regnen, gib mir ein Zeichen – – – o
du Lamm Gottes, welches hinwegnimmt die Sünde der Welt, erbarme dich!

Der Himmel glühte über Heckenbroich. Und das Venn flammte weit hinaus
im leuchtenden Rot seiner höchsten Blüte. Die Luft stand still überm
staubbedeckten Scheitel der sonnenflimmernden Dorfstraße. Heute war
Sonntag, der Tag des Herrn.

Langsam, wie matte Fliegen, krochen die Menschen zum Hochamt; sie
waren in Sonntagskleidern, aber Sonntagsmienen zeigten sie nicht.
Niedergeschlagene Gesichter, ohne Hoffnung, ohne Freudigkeit. In einer
stumpfen Resignation schleppte man sich zur Kirche. Nun hatte man schon
soviele Rosenkränze gebetet, Kerzen gestiftet, Wallfahren gelobt,
und alles sollte umsonst sein! Die Weiden waren hart wie Tennen, nie
mehr konnte da Gras sprossen. Und der Mechernich lag im Sterben. Ein
ängstliches Raunen ging von Mund zu Mund: die Sterbesakramente hatte er
bereits empfangen. Wie lange noch, und mit den anderen Erkrankten ging
es ebenso. Wer kam dann an die Reihe? Und morgen früh wurde der Dores
begraben, der kleine Junge vom Huesgen-Jörres. Da ging der Vater!

Den Kopf gesenkt, den Blick auf die gefalteten Hände niedergeschlagen,
schritt Weber Huesgen zur Kirche. Aber es war nicht der Tod des Kindes
allein, der sein Haupt senkte. Eine Woche voll rastvoller Arbeit in
grenzenloser Hitze lag hinter ihm; neue Runen waren zu denen seines
arbeitsverfurchten Gesichts noch hinzugekommen. Regen, ach, nur Regen,
Erlösung, Regen! Es trieb ihn in die Kirche, in dem dämmerig gehaltenen
hochgekuppelten Raume war’s noch am erträglichsten; daheim weinte das
Weib, und die Geschwister schauten mit erschreckten Augen auf die
Leiche des Dores, die im Tannensärgelchen auf zwei Schemeln im Schuppen
stand, mit einer Girlande geschmückt, die das Kathrinchen gewunden
hatte aus Schlangenmoos und blühendem Heidekraut. Der Dores war nicht
am Typhus gestorben, den hatte er gar nicht gehabt; die Hitze hatte
ihn mitgenommen. Die hatte er nie gut vertragen können. Seit die Sonne
alles verbrannte, war auch er verbrannt wie ein flackerndes Lichtlein.
Nun war das wächserne Gesichtchen freundlich, die welken Händchen auf
der Brust umfaßten das Kruzifixchen, das man ihnen zu halten gegeben
hatte.

Ein Kind weniger! Der Weber seufzte. Er war ein liebevoller Vater; aber
daß der Herrgott den Dores zu sich genommen hatte, das war mehr eine
Gnade als eine Heimsuchung zu nennen, wenn die Annelies auch jetzt noch
bitterlich weinte. Sie würde sich trösten. Sie hatte nun einen Engel im
Himmel, der Fürbitte tat. Aber warum die Bäreb sich so arg anstellte?!
Ordentlich ärgerlich war Jörres Huesgen auf seine Älteste. Statt der
Mutter bei der Hand zu sein, kniete sie immer bei der Leiche, starrte
sie an mit vom Weinen verschwollenen Augen und schluchzte dann auf, so
heftig, daß es ihr fast das Herz abstieß. Freilich, Leben und Sterben
ist ein ernstes Ding – wurde das die Bäreb erst jetzt gewahr?

Der Weber seufzte, als er beim Summen der Orgel auf der Betbank
niederkniete, und trocknete sich mit dem roten Sacktuch den Schweiß ab.
War das eine Hitze! Selbst hier war heut nicht die Kühle zu finden, die
so wohltat, wie in einem tiefen Keller, wenn draußen die Sonne glühte.
Auch in die Kirche war die Schwüle gedrungen. Ein erstickender Dunst
lastete im Raum, dessen Wölbung heute niedriger schien.

Und um den Weber seufzten und schwitzten noch viele; die Leiber der
knieenden Andächtigen dampften. Matt die Stimme des Priesters am Altar,
fast erstickt durch die dicke Luft, matt die Responsorien des Dieners,
matt der Gesang vom Orgelchor, kraftlos, ohne Frische und Fülle, und
matt auch die Gebete. Hier schlief eine, dort schlief einer. Diese war
auf die Bank zurückgesunken, legte den Kopf hintenüber und schnarchte
mit offenem Mund; jener schlief gar im Knieen, das Haupt war ihm
haltlos aufs Gebetbuch genickt. Geknickten Blumen gleich hingen die
bunt-betuchten Köpfe der Frauen. Jetzt wurde eine gar ohnmächtig, es
gab für Minuten ein Scharren, ein Poltern, man schaffte sie hinaus.
Dann wieder die vorige bleierne, lähmende Stille.

Der alte Pastor bestieg die Kanzel, heute ließ er es sich nicht nehmen,
selber in der Predigt zu seiner Gemeinde zu sprechen; es war eine
schwere Zeit. Er redete mit zitternder Stimme von der weisen Anordnung
Gottes, die alles, was da lebt, mit Segen erfüllt, die zur Zeit Regen
und Sonnenschein gibt, die aber mit Entziehung des Segens heimsucht, wo
sie Reue erwecken will und bußfertige Gesinnung.

Die Gemeinde hatte das Bußlied gesungen:

    »O Gott, streck aus dein milde Hand,
    Erfüll mit Segen Leut und Land,
    Halt ab in gütger Vaterhuld
    Die Strafen für die Sündenschuld!«

Der Bürgermeister neigte sein Haupt tiefer und tiefer. Er wagte nicht
aufzusehen; es war ihm, als müßten sich aller Blicke vorwurfsvoll
auf ihn richten, als nagelten sie ihn alle fest mit ihren müden,
umschatteten Augen.

Es brauste vor seinen Ohren, es hämmerte in seinen Schläfen, es siedete
ihm in den Adern. Er hörte nichts mehr von dem, was der Pastor noch
weiter sagte, er hörte nur immer das Schellchen des Meßners, der vor
dem Priester her zum Sterbenden schritt. Mußte der Mechernich wirklich
sterben? War er am Ende schon tot?! Zwischen dem Tönen des Schellchens
vernahm er die Sterbeseufzer, das Jammern des Weibes, das Weinen der
Kinder. Ströme von Schweiß rannen Leykuhlen über den Leib. Von einem
Schwindel gepackt, wollte er die Augen schließen, aber es riß sie ihm
wieder auf, er mußte sehen, alles das sehen, was er, er angerichtet
hatte.

– – ›Ich begreife nicht, wie ein sonst so intelligenter Mensch sich so
gegen alle Neuerungen verschließen kann‹ – ›Eine Wasserleitung ist das
Allernotwendigste, wir werden den Typhus sonst hier nie los‹ – so, oder
ähnlich doch hatten sie gesprochen. Schon lange, ach lange schon waren
sie an ihm. Aber er hatte die Kirche gebaut. Er hatte die Gemeinde dazu
bewogen. Hätte er sie nicht ebensogut zu etwas anderem bewegen können?!
Sein, ja sein war die Schuld!

Wie ein Kranker wankte Leykuhlen aus der Kirche. Er bemerkte nicht,
daß die Grüße, die ihm sonst ehrerbietig und willig zu teil wurden,
heute ganz anders waren. Man grüßte, weil es eben sein mußte; keine
Freundlichkeit erhellte diese Grüße. Die Bürgermeisterin hielt sich
dicht neben ihrem Mann, ihr war, als müsse sie ihn schützen, wie
gestern abend; und doch fiel jetzt kein Stein.

Die reichen Bauern, der Adams und der Zumstädtchen, kamen jetzt
zusammen an ihnen vorüber; sie taten, als sähen sie den Bürgermeister
nicht. Sie gingen stracks hinüber auf die andere Straßenseite und
sprachen so eifrig auf einander ein, als hätten sie den wichtigsten
Handel zu bereden. Sie waren grimmig. Nun hatten sie schon ein paar Mal
den Dreiborn nach oben holen müssen – was das kostete! – und andere im
Dorfe hatten ihn auch holen müssen.

Der Tierarzt war noch röter geworden als sonst und hatte noch mehr mit
den Augen gekugelt als gewöhnlich, und hatte noch mehr räsonniert, als
zu anderer Zeit: was verlangten sie denn, wie sollte das unvernünftige
Vieh gesund bleiben, wenn der vernünftige Mensch sich krank säuft?!
Er ereiferte sich sehr: weiß der Himmel, er wollte lieber Kaffern und
Hottentotten kurieren, als Eifler Vieh. Was nutzte ihm alles, was er
gelernt hatte, was war überhaupt die ganze Wissenschaft nutze, wenn ihr
hier eine solche Borniertheit entgegengesetzt wurde? ›Ihr seid schwarz,
schwarz bis in die Knochen – dat is euer Malheur!‹ Zu anderen Zeiten
hätten die Bauern über ihn gelacht: was ereiferte sich der Viehdoktor
denn so?! Oder sie hätten sich auch geärgert: so einer, der doch auch
aus der Eifel stammte und nun in keine Kirche mehr ging, so einer,
der seinen ganzen Glauben verloren hatte überm Studieren! Aber in der
Stimmung, in der sie jetzt waren, hörten sie ihn an; sie verstanden
ihn nicht ganz, aber das hörten sie doch heraus, daß der Dreiborn,
der immerhin ein kluger Mann zu nennen war, und ums Vieh gut Bescheid
wußte, nicht zufrieden war mit dem, wie es so war. Nein, sie auch
nicht! Ganz und gar nicht!

Völlig erschöpft kam Leykuhlen heim. Schwer ließ er sich in seine
Kanapee-Ecke fallen und stützte den Arm auf. Als die Frau ihn etwas
fragte, schüttelte er nur den Kopf verneinend; weitere Antwort gab er
nicht.

Jesus, ihr Mann wurde doch am Ende nicht auch krank?! Mit tränenden
Augen stand die Bürgermeisterin in der Küche und blies das Feuer an.
Die Magd konnte nicht damit zurechtkommen, es wollte heute nicht
brennen; die Sonne gloste über dem Schornstein, die drückende Luft
schlug jedes Dampfwölkchen, das aufsteigen wollte, wieder hinab in
den Kamin. Die Küche war voll von Rauch und vom brenzlichen Gestank
des langsam schwelenden Torfes. Immer wieder stocherte die Frau im
Feuerloch, ganz mechanisch, ihre Gedanken waren nicht bei diesem Werk.
Sie merkte es nicht einmal, daß sie in eine Wolke von beißendem Dampf
gehüllt stand, daß sie nichts sehen konnte vor Rauch und Tränen. Die
Magd war dem erstickenden Qualm entwichen, die Frau war allein.
»Jesus,« seufzte sie aus tiefster Seele, »Jesus Christus erbarm dich!«

Da wurde hastig die Tür aufgerissen. Der, um den ihre Gedanken kreisten
in unablässiger Sorge, war plötzlich bei ihr mit zwei Schritten,
mit seinen alten, kräftigen Schritten. Er faßte sie um den Leib.
»Mariechen, Jott sei Dank!« Es war wieder etwas in seiner Stimmen von
frischem Klang. »Denk ens an, Mariechen, mit dem Mechernich steht et
besser. Dat war die Krisis. ›Den kriegen wir durch,‹ sagt der Doktor.
Eben war er bei mir. Haste ihn nit jehört?«

Sie hatte nichts gehört, keinen Wagen, keinen fremden Schritt im Flur,
sie war so ganz in ihren Sorgen befangen gewesen. »Wahrhaftig?« fragte
sie, noch ungläubig, und blinzelte ihren Mann an.

»Mit Jottes Hilf,« sagte er ernst. Aber dann drückte er sie an sich
in einer jähen Aufwallung des Gefühls: »Jott sei jelobt, Mariechen,
ich kann et dir nit sagen, wie jlücklich ich bin! Wenn der Mechernich
durchkömmt, dann« – er lächelte sie an – »Mariechen, dann stift ich die
Uhr, die noch fehlt an der Kirch. Wenn et dir recht is, Mariechen?!«

Ob es ihr recht war!

       *       *       *       *       *

Seit der Mechernich am grünen Klee die letzte Ölung empfangen hatte,
war es besser geworden mit ihm. Merkwürdig, und doch nicht merkwürdig!
Vor dem Häuschen des Torfarbeiters standen die Leute und besprachen
den Fall mit einer von ihrer sonstigen Verschlossenheit und Ruhe stark
abstechenden Lebhaftigkeit. Ja, als das heilige Öl seine Stirn salbte,
da hatte er die Augen, die er geschlossen gehalten hatte seit Tagen
schon, auf einmal wieder aufgemacht. Und er hatte gesprochen, ganz
vernünftig, gar nicht mehr wirres Zeug. Er hatte die Frau erkannt und
die Kinder und hatte ihnen die Hand gegeben – nicht zum Abschied,
nein, zum Willkommen. Und gesagt hatte er, daß er wohl gewußt hätte, es
sei nicht gut, im Venn von dem Wasser zu trinken, daß sie aber einen
so argen Durst gekriegt hätten beim Torfaufsetzen in der großen Hitze,
und daß sie gedacht hätten, es würde ihnen schon nicht schaden, die
Soldaten hätten ja auch getrunken, oft schon da oben im Venn.

Also die Brunnen waren doch gut?! An denen hatte es nicht gelegen, daß
der Mechernich und der Peter krank geworden waren. Venn-Wasser hatten
sie getrunken, von dem rostigbraunen, mit Schaumblasen bedeckten,
das oben in den Gräben steht, und vor dem man oft, sehr oft schon,
ernstlich gewarnt worden war. Ei, wer nicht hören will, muß fühlen.
Recht war ihnen eigentlich geschehen, ganz recht, warum hörten sie
nicht auf das, was ihnen gesagt wurde?! Aber dem Leykuhlen war
Unrecht geschehen. Wahrhaftig. Die Brunnen waren doch gut – gutes,
reines, gesundes Wasser! Sie fühlten alle Scham. Wozu denn auch
eine Wasserleitung?! Das Geld für die brauchte man wahrlich nicht
herauszuschmeißen, wenn man selber so gute Brunnen im Dorfe hatte! Ein
befreiendes Lachen ging durch Heckenbroich.

Als die Bürgermeisterin am Nachmittag aus der Vesper kam, fühlte
sie, wie schnell sich die allgemeine Gesinnung geändert hatte. Die
Grüße waren ehrerbietig, fast ehrfurchtsvoll. Wieder streiften
sie viele Blicke, aber jetzt waren sie nicht unfreundlich, wie am
Vormittag, es war wieder etwas von der alten vertraulichen Zuneigung
in ihnen. Noch steckte in der Kirche die ganze Schwüle, die der
Vormittags-Gottesdienst mit seiner Überfüllung darin zurückgelassen,
aber man hatte sie jetzt nicht mehr in ihrer ganzen Unerträglichkeit
empfunden. Ein befreiender Windstoß war in die bange Schwüle gefahren:
die Brunnen waren gut, das Wasser von Heckenbroich war gesund, der
Bürgermeister hatte doch recht getan, wer da von Wasserleitung noch
redete, sprach dummes Zeug!

Es war ein Sonntagnachmittag, wie ein solcher lange nicht zu
Heckenbroich gewesen war. Die Bauern schritten wieder ihre Weiden ab;
sie hatten bisher nicht den Mut dazu gefunden. Am Ende stand’s doch
nicht ganz so schlimm, wer weiß, wenn man jetzt bald Regen bekam,
schlugen die verdorrten Wurzeln doch noch einmal aus. Die Witwe Höfen
trieb sogar ihre Kuh auf ihr Stückchen Grasland, und das Tier fand
doch noch ein Hälmchen zum Rupfen. Viele prüfende und sehnsüchtige
Blicke richteten sich zum Himmel auf; alle Wetterkundigen ließen sich
vernehmen. Aber noch war kein Regen in Sicht; wenn der kommen wollte,
wehte der Wind ganz wo anders her, und dann stand das Kreuz der
Marienley nicht so fern in goldigem Blinken, dann ragte es nah, zum
Greifen nah, hob sich schwer aus den blauschwarzen Tannen auf einem
weißwolkigen, unruhigen Hintergrund. Noch war nicht an Regen zu denken.

Wie immer versank die Sonne flammend im roten Venn, der Himmel glühte
bis zum fernsten Streifen mit Rosen- und Goldgewinden. Purpurne
Dämmerung sank nieder auf Heckenbroich.

Es kam die Nacht, heiß, unerquicklich, heute vielleicht noch dunstiger
als all die Nächte vorher. Die Ferne blinkte nicht so golden, sie war
mit einem grauen Hauch überzogen.

Und doch schliefen die Leute von Heckenbroich. Eine Ermattung war übers
Dorf gekommen, die Ermattung der Beruhigung: wenigstens das Wasser war
gesund, wenigstens die Brunnen waren tauglich!

Auch Leykuhlen schlief, nach vielen schlaflosen Nächten von einer
tiefen Ermüdung befallen. Als Mariechen das Licht ausblies, hatte er
noch mit ihr sprechen wollen, aber die Worte verloren sich ihm.

Es war ein köstlicher Traum, der seine Gedanken verwirrte – ah,
wie es rauschte, so sanft und lind! Himmlische Musik! Es rauschte,
als wollte es regnen. Er schlief, erquicklich wie lange nicht, von
feuchtkühlenden Lüften bestrichen; vom gleichmäßigen Rauschen war sein
Ohr umschmeichelt. Er lag und atmete tief und gleichmäßig, die Stirn
glatt und erhellt im beglückenden Traum. Er hörte nichts vom hellen
Ausruf seiner Frau; erst als sie ihn kräftig rüttelte, wachte er auf.
War es schon Morgen?!

»Bärtes, et regent! Hör, wie et am Regnen is!«

Da war er mit gleichen Füßen auch schon aus dem Bett. Das war
kein Traum. Es rauschte nicht nur in den Lüften, als wollte es
regnen, nein, es regnete wirklich schon rauschend nieder in
gleichmäßig-eindringlichem Fluß. Kein Donner und Blitz, kein
plötzlicher Guß, der rasch wieder aufhört, wie er gekommen: das war
Landregen. Der Himmel ohne Licht, alle Sterne verkrochen. Regen, Regen,
Erlösung, Segen!

Beide Arme in den Regen hinausstreckend, gab der Mann seine offene
Brust den schweren Tropfen und den kühlenden Lüften preis. Was nutzte
alle Wetterkunde? Die Wetterkundigen hatten noch lange keinen Regen
prophezeit, und nun war er doch da, ungeahnt gekommen über Nacht, weil
er, der die Wolken macht zu seinem Wagen und dahinfährt auf den Flügeln
der Winde, weil er geboten hatte, und siehe, es geschah!

Leykuhlens Blick flog hinüber zu den dunklen Umrissen der Kirche.
Schimmerte da nicht schon ein Glanz? Nein, es war nur das Dämmern der
ewigen Lampe, die rötlich durchs schwarze Fensterglas glimmte!

Er fuhr in die Kleider. Auf der Straße war es schon lebendig. Das war
ein Geschwatz und Gelächter, ein Rufen und Laufen, ein Rappeln, ein
Schleppen mit Kübeln und Fässern im Morgengrauen. Die Leute fingen den
Regen auf. Nur notdürftig waren sie bekleidet, aber mit Wonne ließen
sich Männer und Weiber naß regnen bis auf die Haut. Das war ein Genuß.
So hell hatten die Stimmen lange nicht geklungen. Man patschte durch
die dunklen Regenpfützen, man öffnete die Stalltüren, ließ auch dem
Vieh einen Mund voll der köstlichen Luft zukommen; trat einer in eine
der Pfützen, die sich mit Zauberschnelle gesammelt hatten, so daß sie
hoch aufspritzte, wurde sein Gelächter erst recht hell.

Ein Bann war gelöst. Die Dürre, die so lange Zeit mit eisernem Reifen
Land und Leute umspannt hatte, war gewichen. Wie befreit dehnte sich
die Brust und das Herz in ihr. Es regnete, es regnete!

Als Leykuhlen hinter seiner Hecke hervortrat, bemerkten sie ihn gleich:
de Burjermeester, de Burjermeester! Sie umringten ihn. »Et räent, Hähr
Burjermeester, et räent jo! Dat is jot!« In den rauhen Stimmen war’s
wie ein Jauchzen. Sie begrüßten ihn, sie machten sich an ihn heran; die
Männer schüttelten ihm die Hände, die Weiber schwatzten auf ihn ein, es
war ihnen allen die Zunge gelöst. Daß sie ihm noch am gestrigen Tage
ernstlich gegrollt hatten, das wußte kein Mensch mehr. Sie sahen ihn
an, als sei er der, der den Regen gemacht hatte.

Leykuhlen stand unbedeckten Hauptes inmitten seiner Getreuen. Der
Regenwind schnob daher und spielte mit seinen Haaren. Es überrieselte
ihn, er empfand die Kühle wie einen heiligen Schauer. Sein Herz war
übervoll einer gewaltigen Freude: da war ja der Regen! Und das Zeichen,
das er begehrt hatte! Über ihn rann der Guß und badete ihm Gesicht und
Seele. Er mußte an sich halten, seine Würde wahren, sonst hätte er laut
herausgeschrieen wie ein Knabe, in höchstem Jubel: die Brunnen waren
doch gut, und er hatte doch recht getan! Gott sei Dank! Er neigte die
Stirn, die der Regen wusch; er fühlte den Finger Gottes.

Zur Kirche! Schon läutete es zur Messe. Die Fenster wurden helle
vom ersten scheuen Morgenschein, der das feuchtdampfende Land, die
triefenden Hecken, die getränkten Matten nun noch deutlicher zeigte.
Wie mit freundlichen Augen lugte die Kirche von Heckenbroich; ihre
Türen öffneten sich weit. Es eilten die Männer, die Frauen, die Alten
und die Jungen, das ganze Dorf strömte herbei.

Weit ins morgendämmernde Land hinaus durchs offengebliebene Portal
brauste Orgelklang. Der Bürgermeister hatte nicht erst beim
Pastor angefragt, eigenmächtig hatte er den Lehrer auf den Chor
hinaufbeordert, der Bälgetreter mußte eilends herbei, nun hieß es, alle
Register gezogen. Es rauschte und brauste mit Jubelgetön: Gott den
Dank, allen Heiligen den Preis. Der Bürgermeister selber mit all seiner
Lungenkraft intonierte das _Te deum laudamus_:

    »Großer Gott wir loben dich,
    Herr, wir preisen deine Stärke!«

       *       *       *       *       *

Bürgermeister Leykuhlen hatte immer ein gutes Ansehen in Heckenbroich
und Umgebung genossen, aus der ganzen Gegend kam man zu ihm sich Rat
holen, aus der Kreisstadt sowohl als aus dem entlegensten Venndorf.
Aber nun war es doch noch anders geworden. Er war in den Augen der
Leute noch gewachsen. Man hätte sich kaum mehr getraut, etwas zu tun,
ohne ihn zu befragen; er war der Klügste und ein gottesfürchtiger Mann
dazu. Die Mützen flogen von den Köpfen.

›Der König von Heckenbroich!‹ Das hatte der Tierarzt mit einem gewissen
Spott aufgebracht, und andere sprachen es nach. Der Landrat nicht ohne
Ärger. Da war er mit all seinem Eifer, mit all seinem guten Willen
und seiner Betriebsamkeit, mit der Vielseitigkeit seiner Interessen
nicht halb so weit gekommen, wie dieser Bauernbürgermeister mit seiner
Einseitigkeit. Weiß Gott, wenn’s wieder zu den Wahlen kam, stellten
sie ihn noch als Abgeordneten für den Kreis auf! »Da sei Gott vor!«
schrie Dreiborn in einem Entsetzen, das so komisch war, daß seine
Zuhörer lachten. Aber ihm selber war’s nicht komisch, ihm war ernst
dabei zu Mut, traurig sogar. Er hatte doch auch das Land lieb, auf
seine Weise. Wenn doch einer käme, der den Leuten ein Licht aufsteckte!
So geriet man ja immer tiefer ins Mittelalter hinein! Er pustete und
wurde rot und röter, wenn er von dem Bauernbürgermeister hören mußte;
und doch konnte er dem Mann eine gewisse Anerkennung nicht versagen:
der Pfaffenknecht tat auf seine Weise das Beste – aber eben auf =seine=
Weise!

Leykuhlen hatte keine Ahnung davon, daß in der Kreisstadt viel über
ihn gesprochen wurde. Das _Te Deum_, das er so ganz aus eigener
Machtvollkommenheit nach Anbruch des großen Regens in der Kirche von
Heckenbroich hatte singen lassen, konnte nicht unbesprochen bleiben. So
etwas war noch nicht dagewesen. Aber nur wenigen war es ein ärgerlicher
Anstoß, die meisten standen ihm voller Sympathie gegenüber.

Auch Heinrich Schmölder erzählte davon zu Hause. Ihm war es im Grunde
ganz gleichgültig, er hatte den Kopf voll mit eigenen Angelegenheiten
– sollte er Hedwigs Mitgift nicht lieber doch noch in Händen behalten
und dem jungen Paar nur eine Rente geben? – aber Lenchen hatte so
lange gespöttelt und gehetzt, bis auch er von ›Betbruder‹ sprach. Dem
Gatten so wenig als möglich zu widersprechen, war einer der Grundsätze
von Frau Schmölder; aber jetzt echauffierte sie sich doch: wie konnte
Heinrich so etwas sagen?! Man hätte wirklich annehmen können, er wäre
kein guter Christ, wenn man’s nicht besser wüßte. Und was sollte der
Bräutigam davon denken, der mit am Tische saß?

Aber Scheffler lächelte nur verbindlich; er hatte kaum hingehört, was
der Schwiegervater sagte, er tändelte mit der Braut. Hedwigs Hand in
der seinen haltend, zog er ihr spielend den goldenen Reif vom Finger
und schob ihn ihr wieder auf. Das war ihnen beiden sehr unterhaltsam.

Josef saß dabei und biß sich auf die Lippen; in seinem Gesicht
vibrierte es nervös. Nun hielt er nicht mehr an sich; dies verliebte
läppische Getändel alle und alle Tage mit anzusehen, das war zuviel.
Gereizt fuhr er auf: »Leykuhlen ist durchaus kein Betbruder, und auch
kein Pfaffenknecht, wie ihn gewisse Leute zu nennen belieben. Er ist
ein Mann, ein ganzer Mann, der genau weiß, was er zu tun hat. Ich
wollte, ich wäre so einer!«

»No, und wat dann?« fragte der Vetter mit seinem breiten Lächeln.

»Dann stünde ich auf und schöbe den Stuhl unter den Tisch: prost
Mahlzeit,« stieß der andere heftig heraus. Er sprang auf. »Ihr habt ja
gar keine Ahnung von Größe; keinen Schimmer! Wenn ihr nur eueren guten
Tag lebt, damit basta. Aber der Mann da oben, der hat selbstlose Ideen.
Der ist wohl auch der Berufene, der Einzige vielleicht, der geeignet
ist, Kreis und Land zu vertreten. Klug, kräftig, männlich, geradezu,
unerschrocken –«

»Und dazu noch en jute Portion Selbstbewußtsein,« setzte, halb tadelnd,
halb anerkennend, der Fabrikant hinzu. »Kreisphysikus und Landrat
können ein Lied davon singen. Haha!« Er amüsierte sich noch in der
Erinnerung; er hatte gehört, wie Leykuhlen denen gegenübergetreten war.

Josef schob seinen Stuhl unter den Tisch. »Gesegnete Mahlzeit,« sagte
er kurz. Seiner Cousine nickte er zu: »Dein Diner war sehr gut, Sophie,
ausgezeichnet wie immer; danke. Aber ich äße lieber Brot und Kartoffeln
oben auf der Fangeuse!« Und damit ging er zur Tür hinaus.

»Was hat er denn nun schon wieder?« fragte Frau Schmölder ganz
erschrocken. »Rebhühner ißt er doch sonst so gern. Er war ja so
ungemütlich!«

»Verrückt,« sagte Heinrich, zuckte die Achseln und lachte hinter dem
Vetter drein. Er nahm Josef jetzt nur mehr komisch: was sollte er sich
denn noch über den ärgern?!

Dann sprachen sie von etwas anderem. Es war so selbstverständlich, daß
das junge Paar die neuen Reitpferde, die Egon sich als demnächstiger
Hauptmann anschaffen würde, auch einfahren ließ. Nur in welcher Farbe
der Wagen ausgeschlagen werden sollte, oder ob ein Selbstfahrer
eleganter wäre, darüber war man sich noch nicht einig.

Josef stürmte hinaus. Er war ingrimmig, alles widerte ihn an; und doch
sagte ihm der eigene Verstand, daß er eigentlich gar keine Berechtigung
habe, so aufgebracht zu sein, kein Mensch hatte ihm ja etwas getan.
Aber er konnte sein Gleichgewicht nicht wiederfinden, wie sehr er
auch bergauf und bergab rannte. Wo sollte er hin? Einen Augenblick
dachte er an Leykuhlen, Frau Mariechen hatte etwas so Beruhigendes;
aber er schämte sich, dem Freund in dieser Verfassung unter die Augen
zu treten. Bärtes war so ruhig, so gleichmäßig, ein so ganz in sich
gefestigter Mensch; was sollte er wohl bei diesem, er, der heute noch,
den Fünfzigen nicht allzu fern, wie einer von achtzehn war?!

Er spazierte ziellos umher den ganzen Nachmittag, lief in sich gekehrt,
mit gerunzelter Stirn; schon war er todmüde, aber er mochte doch noch
nicht zurückkehren. Endlich fand er sich, oberhalb der Au, am Fuß
der großen Tanne, zwischen deren Wurzeln er einmal so sanft geruht
hatte in einer Mondscheinnacht. Heute war noch Sommerabendsonne, die
Landschaft nicht so traumhaft verklärt wie im Mondschein, auch nicht
so poetisch; wirklicher, leibhaftiger, kräftiger in den Farben, aber
doch auch schön und vor allem beruhigend. Die Stille tat ihm wohl.
Seine Mißstimmung verlor sich im Anschauen der Landschaft. Dunkel,
so dunkel der Tannenwald, saftgrün das Wiesental. Schon schwebte ein
leiser, silberiger Duft über Grund und Hängen, der Hauch des Herbstes.
Bald würden die wenigen Laubkronen, die zwischen den dunklen Tannen
verstreut waren, sich rostbraun färben, und dann –?! Es packte ihn noch
einmal wieder: Himmel, der Herbst so nahe, und noch einmal ein Winter
da unten – entsetzlich! Er schüttelte sich.

Harte Tritte klapperten; der steinige Boden leitete den Schall weit.
Da kamen sie herauf, die müden Arbeiterinnen, die, nun die Dampfpfeife
gepfiffen und das Glöckchen oben im Türmchen der Fabrik gebimmelt
hatte, matt und hungrig den Heimweg antraten. Arme Dinger! Er sah
ihnen entgegen, wie sie den Fußpfad heraufstiegen, zu zweien und
dreien nebeneinander die Breite des Pfades einnehmend; alle trugen ein
Körbchen am Arm, alle neigten die glattgestrählten Köpfe nieder auf
das Strickzeug, dessen grobe Nadeln in ihren Händen rasselten. Selbst
jetzt noch fleißig! Er bewunderte sie. Sie sprachen mit einander,
mitunter sagten auch ein paar das ›Gegrüßet seist du,‹ her. Als sie
bei ihm vorüberkamen, sagte er ›Guten Abend‹. Sie stießen sich an und
kicherten: der Herr, der da auf dem Boden lag und sie zuerst gegrüßt
hatte, erregte ihre Heiterkeit. Sie beguckten ihn rasch von der Seite,
und dann lachten sie noch im Weitergehen: der war ja närrisch!

Es war ihm peinlich. Warum lachten sie denn so? Dumme Dinger! Er sprang
auf und kroch die Berglehne etwas höher hinan und lagerte sich dort
hinter ein Brombeergestrüpp. Nun konnte er sehen, ohne selber gesehen
zu werden. Ganz hübsche Mädchen, sahen nur alle älter aus, als sie wohl
sein mochten! Der Schönheitskenner rümpfte die Nase. Aber da, da kam
eine hintennach, die war wirklich noch hübsch, vollkommen hübsch! So
taufrisch, gänzlich unberührt.

Es war Bäreb. Sie kam als allerletzte. Langsam, wie sehr müde, ging
sie; ein großer Abstand blieb zwischen ihr und den übrigen Mädchen. Sie
strickte auch nicht wie jene, sie betete auch nicht, obgleich sie die
Hände vor sich gefaltet hielt. Ihr schwerer Blick starrte geradeaus,
weit, weit weg in den dämmernden Abend.

»Hela!« Es reizte Josef, sie anzurufen.

Sie erschrak heftig. Als sie nach ihm hinsah, erkannte er sie: ah,
dieses hübsche Mädchen war ja die Huesgen! Schon einmal hatte er sie so
erschreckt, oben vor der Kirche – war er denn so schrecklich?! Schnell
rutschte er den Hang hinunter und stand mit einem Scherzwort vor ihr.
Sie sagte »Juten Abend«; er merkte, daß auch sie ihn erkannte, aber sie
lächelte nicht. Ihr mattes Gelblich-weiß errötete nicht, sie sah an ihm
vorbei mit einem verlorenen, traurigen Ausdruck.

Nun, die machte ja ein so unglückliches Gesicht? Warum denn? War ihr
der Schatz untreu geworden? Er fragte es sie scherzend.

Da schoß ihr das Blut jäh ins blasse Gesicht, und seine Hand
fortstoßend, die ihr unters Kinn greifen wollte, sagte sie hastig: »Ich
han keene Schatz. Ich will ooch keene – oß Dores is duet – vürletzte
Sonndag hammer hen bejrawe!« Sie hielt sich die Hände vors Gesicht und
fing an, herzbrechend zu weinen.

Josef war betroffen. Also der kleine Dores war tot? Er erinnerte sich
des Kindes noch ganz genau. Aber war das denn so ein Jammer um den
blöden Knaben? Er wurde ganz verlegen bei ihren Tränen. Was sollte er
sagen?

Sie hielt sich die harten braunen Finger vors Gesicht, und er sah die
Tränen zwischen ihnen durchrinnen. Die mußte ein weiches und warmes
Herz haben! Er begann, ihr freundlich zuzureden. Sie weinte in einem
fort, sie hörte nicht auf das, was er ihr zum Trost sagte; aber als er
sie nach der Wurzel der großen Tanne hinzog, die wie eine Bank, mit
Moos gepolstert, herausstand, ließ sie sich willenlos ziehen.

Er sprach recht väterlich. Er war fast erstaunt, wie gut er das konnte.
Im stillen machte er sich über sich lustig, aber zugleich rührte ihn
dieses bitterliche Weinen, diese ganze Hilflosigkeit, die sich in der
geknickten Mädchengestalt offenbarte. Und um den blöden Jungen weinte
sie so? Oder war da noch ein anderer Kummer?!

Der leis-spöttelnde Zug, der seine Mundwinkel herabgezogen hatte,
schwand; es war herzliches Mitgefühl in seinem Ton: »Warum weinst du
denn so? Kannst du es nicht sagen?«

Da hob sie das verweinte Gesicht aus den Händen. Ein Blick traf ihn aus
den dunklen Augen, vor dem er stutzte. »Nee,« stieß sie schluchzend
hervor. Ihr blasses Gesicht wurde flammendrot bis unter das schwarze,
an den Schläfen ein wenig wellige Haar. »Nee – ich kann et nit saone
– nee!« Sie schüttelte sich wie in einem inneren Krampf und warf
den Oberkörper vornüber. Ihr Gesicht lag auf ihren Knieen. Die Arme
schlang sie um die Kniee und preßte sie fest, als müsse sie sich so
zusammenhalten, um nicht zu zerspringen vor heftigem Schluchzen.

Und alles dies um den blöden Jungen? Das war ja kaum möglich! Aber
wenn sie es denn nicht sagen wollte, wollte er sie auch nicht weiter
ausfragen. Was ging’s ihn auch an?! Aber er blieb doch noch neben ihr
sitzen. Mit leichter Hand strich er ihr über den gebeugten Kopf: »Wein
dich aus, Anna, Maria, Lenchen – na, Mädchen, wie heißt du doch gleich?«

»Bäreb,« flüsterte sie, kaum hörbar.

Aber sein feines Ohr fing es doch auf. »Nun, Bäreb, wein dich aus! So
–« er klopfte ihr den Rücken – »das tut wohl! Wenn man noch so weinen
kann wie du, Kind, dann wird man auch bald wieder froh!«

»Och, Hähr?!« Sie hob den Kopf und sah ihn angstvoll-fragend, ungläubig
an.

Er nickte lächelnd: »Ja, auf mein Wort!«

Einen Augenblick huschte es wie ein Hoffnungsschimmer erhellend über
ihr Gesicht, dann wurde es wieder trüb. »Ich jlöw dat nit,« murmelte
sie und ließ den Kopf wieder hängen. »Nee, nee!« In ausbrechendem
Jammer, nicht mehr achtend, daß ein Herr, ein Fremder neben ihr saß,
warf sie den Kopf wieder auf ihre Kniee und schluchzte aufs neue.

Was sollte er tun? Zu sagen war da nichts, er kannte ja auch nicht
ihren Kummer; helfen konnte er auch nicht. Aber sie dauerte ihn so:
armes, geplagtes Fabrikmädchen, gewiß hatte sie es auch noch schlecht
zu Hause! Stumm legte er den Arm um ihre Schulter. Er fühlte ihre ganze
Wärme. War das ein kräftiger junger Körper, trotz all der mageren
Schlankheit. »Tröste dich!« Er drückte sie leicht.

Da richtete sie sich hastig auf. Jetzt erst ward sie sich ihrer
Unschicklichkeit bewußt. Errötend, den Blick erschrocken
niederschlagend, sprang sie auf die Füße. O, was sollte der Herr wohl
von ihr denken?! Sie war ganz verwirrt.

Josef lächelte flüchtig: die Kleine sah so allerliebst aus in ihrer
Beschämung. Aber dann wurde er ernst. Ein Gedanke war ihm plötzlich
durch den Kopf geschossen, der sich seiner ganz und gar bemächtigte,
wie ein brennender Wunsch. Wenn die mit ihm ginge! Sie schien ja
unglücklich hier zu sein, vielleicht, daß sie gern auf die Fangeuse
hinauf zöge?!

       *       *       *       *       *

Es war nun ausgemachte Sache, daß Josef Schmölder die Fangeuse bezog.
Heinrich Schmölder schüttelte den Kopf: was der Josef doch für einen
Dusel bei den Weibern hatte, trotz seiner angegrauten Haare! Fand
wahrhaftig eine, die mit ihm da hinaufzog, noch dazu eine, die blutjung
war und die hübscheste von allen in der Fabrik! Na, wenn das nur gut
ging! Aber dem Josef war ja nicht zu raten, der hörte ja doch nicht.
Und er, Heinrich, hatte sich auch des Rechtes begeben, ein Veto
einzulegen; hatte er nicht gesagt: wenn du eine Magd findest, dann zieh
hinauf! Übrigens, für ihn selber war es ja auch ganz angenehm, wenn
in den Jagdtagen ein so hübsches Mädchen ihm das Bett machte und den
Kaffee kochte.

Josef rüstete in fieberhafter Ungeduld; der frühere Hüter der Fangeuse
war zum August bereits abgezogen. Und nun färbten sich schon die
einzelnen Laubbäume gelb, und Astern und Georginen blühten im Garten.
Wenn man jetzt nicht eilte, entging einem der Herbst da oben, der
köstliche Herbst mit seinen Nebelmorgen und den um so leuchtenderen
Mittagen, mit seiner kristallenen Klarheit und dem lichten Himmel,
der sich so leicht über die Erde spannt. Er lachte seine Cousine aus,
die von wollenen Hemden sprach und eine ganze Ausrüstung für ihn
zusammenstellte. Konserven aller Art, Würste, Schinken, Kolonialwaren
wurden eingepackt. Wie zur Verproviantierung einer Festung. Die gute
Sophie! Es war wirklich nett von ihr. Aber als ob man nicht jeden
Augenblick herunterkommen könnte, wenn man etwas gebrauchte! Aber man
würde nicht kommen.

Endlich war es erlangt, wonach er sich immer gesehnt hatte. Endlich
würde er allein sein, endlich einmal ohne das Geschwätz des Alltags,
das ihn nervös und traurig machte. Um ihn würde nur die Natur sein, die
er so unendlich liebte, mit der man Zwiesprache halten kann wie mit der
Geliebten, und die, je vertrauter man mit ihr wird, dem Glücklichen
immer neue und immer noch größere Schönheiten offenbart. Josef war in
einer gehobenen Stimmung, er pfiff und trällerte den ganzen Tag.

»Wie’n Liwerlink,«[23] sagte Heinrich mit Spott. Josef war froh, aber
auch er war froh, der Josef war ihm öfter doch recht unbequem gewesen.
Frau Schmölder aber war ganz betrübt, daß der Vetter hinaufzog, er war
immer galant, viel galanter als Heinrich. »Du freust dich ja so, daß du
von uns fortkommst,« sprach sie, nicht ohne Vorwurf im Ton.

[23] Lerche.

Da faßte er sie um die Taille und schassierte mit ihr ein paar Mal
durchs Zimmer, bis ihnen beiden der Atem ausging. »Sophie, nichts
für ungut – haha – ja, Sophiechen, ich freue mich unbändig auf die
Fangeuse!«

»Erkälte dich nur nicht, du weißt, du bist nicht der Stärkste. Es ist
rauh im Venn – huh, ich möchte im Winter nicht da oben sein!«

Sie schauderte und sah ihn besorgt an. Es würde ja nun hier unten viel
friedlicher sein, es war immer so peinlich, wenn Heinrich und Josef
sich zankten; aber wenn er sich nur nichts holte da oben, sie sagten
doch alle, das Venn sei nicht zum Spaßen!

Nein, es war auch nicht zum Spaßen. Aber zum Bewundern. Stumm saß
Josef Schmölder auf dem Bock neben dem Kutscher, der ihn hinauffuhr.
Die Schmöldersche Equipage war dazu nicht tauglich, man hatte zwei
Arbeitspferde vor einen Karrenwagen aus der Fabrik gespannt. Wo sonst
die Ballen und Lumpensäcke aufgestapelt waren, lagen jetzt die Koffer
und Kisten und Körbe, und hintenauf saß Bäreb mit ihrer Lade und hielt
noch ein Bündel auf dem Schoß.

Ihr Gesicht war ruhig und zufrieden. Die Mutter hatte zwar geweint
beim Abschied und ihr noch viele Ermahnungen mitgegeben. Die Eltern
hatten überhaupt anfänglich gar nichts davon wissen wollen, daß sie
zu einem einzelnen Herrn zog, und der Herr Pastor war auch dagegen
gewesen; aber Bäreb hatte es durchgesetzt. Ja, sie wollte fort! Gern!
Es war ihr, als müßte sie fliehen vor Erinnerungen. Und war der Herr
Josef denn nicht schon so ein alter Mann, zudem der Vetter vom Herrn
Schmölder?! Bürgermeister und Bürgermeisterin hatten auch die Eltern
beruhigt. Und Bäreb lachte: was sollte es ihr wohl da oben zu einsam
sein? Ihr war es gerade recht, so einsam. Und verdienen tat sie ja bei
dem Herrn ebensogut wie in der Fabrik, besser noch, denn sie kriegte ja
auch Essen und Trinken. Da hatte denn niemand mehr etwas sagen können.
Kathrinchen konnte zudem der Mutter das Nötigste helfen – ach, und der
Dores war ja nicht mehr da!

So stieg Bäreb wohlgemut auf den Wagen, der vor der Hecke der Eltern
hielt. Auch bei Leykuhlens hatte Josef noch halten lassen. Der
Bürgermeister aber war gestern nach Mariawald gegangen; das tat er alle
Jahr vor Winters, um bei den frommen Brüdern im Trappistenkloster zu
beichten. Die Bürgermeisterin versprach, daß Bärtes bald hinauf kommen
würde, den Herrn Josef besuchen. »Aber werden Sie et da auch aushalten
können?« fragte sie. »Bald kömmt der Schnee!«

Da lachte er sie aus.

Und jetzt saß er und staunte mit großen Augen. So hatte er das Venn
noch nicht gesehen. So doch noch nicht! Immer nur war er nicht
weit über Heckenbroich hinausgekommen. Jetzt aber breitete sich
die Moorfläche in ihrer ganzen Unabsehbarkeit aus; vor ihm, hinter
ihm, rechts und links. Das letzte Haus, was sie sahen, war das der
Strafkolonie; nun verschwand es auch hinter einer Erdwelle. Das rote,
im klaren Herbstlicht weithin leuchtende Dach war plötzlich weg, als
sei es gar nicht da. Immer frischer wurde die Luft; Winde standen auf
einmal auf aus der bräunlichen Heide, warfen den Pferden die Mähnen
durcheinander und bliesen den Menschen ins Gesicht.

»Et is als kalt hie oben, Herr Schmölder,« sagte der Kutscher.

Ja, die Decke war nun doch ganz gut, die Sophie mitgegeben hatte!
›Brauch ich nicht, brauch ich nicht‹, hatte Josef zwar gesagt; nun
breitete er sie doch über seine Kniee und ließ sie sich von dem
Kutscher an den Füßen einstopfen.

Es wehte. Hier oben weht es immer. Vom Meer her, von der Nordsee über
Belgien weg, viele, viele Meilen weit kommen die Lüfte. Aber sie haben
ihre ganze salzige Frische behalten. »Hah,« sagte Josef tiefaufatmend
und zog den starken Duft schlürfend ein wie einen köstlichen Wein. Man
hatte förmlich den Geschmack auf der Zunge. Aber dann sagte er nichts
mehr, er verstummte.

Eben noch hatte er mit dem Aufseher der Strafkolonie ein paar Worte
gewechselt. Jenseits der Chaussee arbeiteten die Gefangenen, sie
standen bis an die Kniee im Heidegestrüpp, hackten und schaufelten,
gruben und rodeten wie immer, wie alle Tage, wie seit Wochen und
Monaten, ob es regnete, ob die Sonne prallte. Für ein paar Augenblicke
ließen sie ihr Handwerkszeug sinken und starrten an, was sich ihnen
da nahte. Auch Simon Bräuer, der bei ihnen stand mit seiner Flinte,
hatte den Kopf gedreht. Er war dann langsam, aber mit ein paar
weitausholenden Schritten, die mehr schafften, als viele hurtige, zum
Wagen herangekommen.

»Schön hier oben,« hatte Josef zu ihm gesagt, »wunderschön!«

»O ja!« Der Aufseher ließ für einen Augenblick in einem grimmigen
Lächeln seine weißen Zähne aufblitzen. »Aber nit für jeden!« Mit
finsterem Ausdruck starrte er dann wieder drein.

Ja, da hatte der Mann wohl recht: für die da sicher nicht! Josef hatte
den Sträflingen, deren Leinenkittel sich im Winde blähten, zugenickt,
aber sie hatten seinen Gruß nicht erwidert. Sie starrten nur stumm.

»En schlechte Nachbarschaft, Herr Schmölder,« hatte der Knecht gemeint,
als sie dann außer Hörweite waren. »Do moß mer sich in Aacht vör holle!«

Aber Josef drehte sich noch einmal um und blickte nach den Sträflingen
zurück. Wieder dünkten sie ihn wie damals Schafe, die in der Irre
wandern. Und die sollte er fürchten?! Er hielt dem Kutscher eine
ordentliche Strafpredigt. Aber dann mochte er nicht mehr sprechen.
Je weiter sie ins Venn hineinkamen, desto stummer wurde er; auch der
Kutscher schwieg und das Mädchen hinten auf dem Wagen. Die schweigende
Landschaft hieß alle schweigen.

Wie ein Meer mit Wellen und Wellchen, eine Flut, endlos, ohne Ufer,
ohne Begrenzung dehnt sich das Venn, und der Wagen fährt wie ein
winziger Nachen in die Unendlichkeit. Noch war das Heidekraut nicht
verblüht, aber sein Purpur war blaß geworden, gebleicht vom Brand des
Mittags und vom Reif der Nächte. Nicht schwärmten tausende von Bienen
mehr, matt nur taumelten noch einige; hier stürzte schon eine und sank
hin ins Kraut, verklammt.

Simon Bräuer, der dem Wagen nachgeschaut hatte, lange, lange, ganz
verloren in eigenen Gedanken, sah sie fallen. Nun war der Sommer
dahin, und Thereschen war doch nicht gekommen! Nun würde sie auch
nicht mehr kommen; und wenn er es gut mit ihr meinte, durfte er sie
auch jetzt nicht mehr kommen heißen. Sein eisernes Gesicht wurde noch
eiserner, er kniff die Lippen aufeinander, als wollte er einen Seufzer
nicht herauslassen, der sie öffnen wollte. Verdammt! Erst die Hitze,
die Dürre, der Mangel an Wasser, die Krankheitsgefahr – wie hätte er
sie, die er liebte, herrufen können?! Und jetzt?! Er sah rundum. Sein
scharfes Auge, gegen dessen graue Pupille mit dem dunklen Ring der Wind
anpustete, als wolle er es zwingen, sich zu schließen, äugte in die
Ferne. Weit, weit dort niederwärts in dem tiefblauen Dunst, in dem die
Täler liegen und die Stätten der Menschen, da wohnte sie! Ob sie auch
an ihn dachte, bei Tag, bei Nacht, stündlich – immer?! Ach, sie hatte
ja an so vieles zu denken: an die Kinder, an die Verwandten, an die
Bekannten, an die Nachbarn rechts und links – er aber, er hatte nur sie!

Wenn er hier auf dem Venn stand, die Flinte im Arm, und in die ewige
Weite starrte, dann hatte er Muße genug, an die Frau zu denken; viel
zu viel Muße. Ragend wie ein einsamer Baum, von allen Seiten sichtbar,
brauchte er nicht bange zu sein, daß ihm einer aus der Horde ausbrach.
Wenn seine Kerls ihn nur von weitem stehen sahen, dann war’s schon
genug. Sie taten ihre Arbeit jetzt wie Maschinen; selten, daß er noch
einen einsperren mußte oder den Stock gebrauchen. Sie hatten gelernt,
parieren. Sie wußten, er setzte seinen Willen ein wie die eiserne
Pflugschar, die unbarmherzig ins öde Brachland Furchen reißt. Aber
hernach sät man doch auch Samen ins aufgerissene Land, auf daß dereinst
eine Ernte zu erhoffen ist. Langsam ging das freilich, langsam; aber
wer hätte überhaupt je früher daran gedacht – ein Erntefeld auf dem
hohen Venn?! Selbst diese armen Teufel, die nichts von dem genießen
würden, was sie hier säeten, hatten doch eine gewisse Freude daran,
eine Art Stolz. Der Schleichert, der alte Kunde, hatte sich neulich an
ihn herangemacht, ihm ganz strahlend an ein paar Stecklingen, aus denen
einst eine Hecke werden sollte, die ersten Knospen gezeigt. Und der
alte Landstreicher hatte dabei freudig gegrinst übers ganze Gesicht.

Simon Bräuer zuckte die Achseln: nein, ganz schlimm waren sie nicht,
seine Kerle! Wenn nur das Thereschen hier wäre! Wenn er die nur hätte,
dann wäre alles gut! Seit Pfingsten hatte er die nicht mehr gesehen.
Ob sie wohl unten ins Ehebett nun das Kleinste zu sich genommen hatte?
Daran dachte er, wenn er abends auf der schmalen eisernen Bettstatt den
Schlaf suchte und den Traum, in dem er sie wenigstens einmal zu sehen
bekam. Kotz Kuckuck, es war ein hartes Stück für einen verheirateten
Mann, hier oben so allein zu sitzen! Das halte einer auf die Dauer mal
aus – er nicht!

Mit einem Ruck richtete sich der Aufseher aus seiner nachdenklichen
Stellung auf. Mit so großen Schritten stapfte er im Kraut hin und
her, so unruhig wie ein Gefangener, trotz aller freien Weite, daß die
Sträflinge verstohlen nach ihm guckten. Wenn er =so= war, dann mußte
man sich hüten, von der Arbeit aufzusehen! Sie grinsten in sich hinein,
sie verstanden das wohl: er dachte an das Weib. War es nicht eine
Hübsche, Junge, die ihn geherzt hatte? Es war schon lange her.

Simon Bräuer hatte die Stirn in tiefe Falten gezogen. Das grimmige
Lächeln, in dem er vorhin, bei der Bewunderung des Herrn, seine
blitzenden Zähne gezeigt hatte, zuckte wieder auf. Ja, schön war es
schon hier, mehr als schön! Es hatte ihm ja auch so wohl hier gefallen,
daß er all die Jahre nicht hatte das Venn vergessen können, sich ohne
Zaudern, ohne Bedenken förmlich dazu gedrängt hatte, hier herauf zu
kommen. Nun war er wieder hier. Noch war es dieselbe Weite, derselbe
Himmel mit den fliehenden Wolken daran, nach dem er immer den Kopf
gereckt und gesucht hatte unten in der Enge der Städte; noch war es
derselbe starke Duft nach Moor, nach Heide, nach Wachholder, nach
Tannenharz, nach der herben Preißelbeere, und wieder war er hier der
Hüter, der Herr, wie dazumal, als er seine Peitsche über dem Vieh
schwang und seine Stimme scharf und klar allein hier gebot. Was war es
nur, das es nun so anders machte hier, warum litt es ihn nicht mehr
hier oben? Noch liebte er dieses Land ebenso sehr; er fühlte das, indem
es ihm schwer wie ein Stein auf die Brust fiel, bei dem Gedanken, es
zu lassen. Jenes Dach hatte er errichtet, das Haus gebaut, darin sie
wohnten, Wege hatte er gebahnt, schon Äcker eingeteilt und Gartenland
gerichtet, Hecken hatte er angepflanzt, sogar einen Fliederbusch,
und doch mußte er gehen. Man zögerte, ihm ein Haus für seine Familie
zu bauen, man wollte doch erst noch abwarten. Nun wohl, dann mochten
sie sich einen andern suchen. Ob sie einen fanden, der dazu taugte?!
Simon Bräuer war kein Bescheidener, er wußte, was er wert war. Wieder
lachte er sein grimmiges Lachen, sein Raubvogelauge blitzte dabei. Sie
kriegten nie einen solchen wieder! Wer kannte das Venn so wie er? Und
wer liebte es so wie er?!

Sein greller Blick wurde milder, verschleierter; er sah trübe rund
umher und auf die weißen Kittel, die im Vennwind flatterten. Die Kerle
würden ihn auch vermissen! Gerecht war Simon Bräuer immer gewesen,
streng, sie hatten ihre Strafe gekriegt, aber auch ihr Recht. Ob sie’s
wieder so kriegten? Und doch würde er gehen. Und wenn sie ihm auch für
seine Frau ein Haus bauen würden hier oben, durfte er sie denn hier
heraufnehmen, sie und die Kinder? Sie waren nicht Vennland und Vennluft
gewöhnt.

Der Schweiß brach ihm aus. Wohin er sah, er fand keinen Ausweg. Er sah
nur klar den Weg, auf dem es hinging zu ihr. Und den mußte er gehen; er
hielt es nicht mehr aus ohne sie.

Es war ein bitteres Gefühl, mit dem Simon Bräuer sich diese Nacht auf
seine Lagerstatt streckte. So weit hatte er’s nun gebracht, sehr weit
schon – was hatte ihm vor ein paar Tagen der Landrat nicht alles für
Komplimente gesagt, ganz erstaunt war er gewesen und voller Lob, wie
hier alles voranging – so weit, und doch reichte seine Kraft nicht
weiter mehr.

In der einsamen Dunkelheit seiner Lagerstatt stöhnte Simon Bräuer auf
und ballte die Fäuste in einem Zorn über sich selber.

       *       *       *       *       *

Und noch ein anderer unter dem roten Dach, das tief übers rohe
Sparrenwerk herunterhängt, stöhnte und wendete sich in ruheloser Qual.
Alles schlief im scheunenartigen Raum. Ein Schnarchen, rauh wie das
unablässige Schnarren und Schnurren eines Sägewerks, vereinigte alle
Schläfer. Mit glühenden trockenen Augen starrte der einzig Wachende im
Schlafsaal in die tiefe Dunkelheit.

Heute schien kein Mond draußen, der seine Strahlen wie blinkende
Schwerter durchs Gebälk stach; finster war es. Aber der Sträfling mit
seinen brennenden, sich ins Finstere bohrenden Blicken sah das Venn
draußen und hinter jedem Busch das Kind. Das Kind, das da hockte,
das ihm zulächelte, den Kopf rasch vorstreckte und ihm winkte, ihm
nickte, so oft er mit seinem Spaten in die Nähe kam. Der Aufseher paßte
jetzt lange nicht so scharf mehr auf wie vordem; man konnte jetzt,
ohne gleich angeschrieen zu werden, ruhig weiter hinausschlendern,
den Karren, den man schob, ein wenig weiter hinauskarren. O, wie das
Kathrinchen so vertraulich war! Wenn er neben sie hinter dem Busch
niederduckte, dann sah sie ihn immer so freundlich an mit ihren
schwarzen Augen. Zum Anbeißen, zum Aufessen! Ein hübsches Dingelchen,
ein Kind noch, und doch –!

Einen knurrenden, fauchenden Laut ausstoßend, wie ein in die Enge
getriebenes böses Tier, packte sich der Sträfling mit beiden Fäusten
ins kurzgeschorene Haar und rupfte sich die Borsten aus. Wenn er die
Augen auch zudrückte, so fest zukniff, daß ihm der Schweiß auf die
Stirn trat, er sah =sie= doch, immerfort. Gott im Himmel! Wenn Gott
im Himmel sich wirklich um jeden einzelnen kümmerte, auch um einen,
der hier in der Laushütte saß, dann mußte er jetzt den Schutzengel
schicken, den mit dem langen weißen Kleid und dem Lilienstengel in der
Hand, von dem Kathrinchen ein Bildchen hatte! Sie hatte es aus der
Tasche gezogen, es ihm gezeigt und es geküßt.

Die Hände ineinander faltend, sie zusammenpressend in krankhafter Hast,
versuchte der Sträfling zu beten. Ah, wenn er jetzt der Schleichert
wäre, der konnte paternollen! Er, er verstand das nicht so gut. Er
hatte zu selten gebetet, die Gebete, die er als Knabe gelernt hatte,
alle vergessen. Ob er den Kunden weckte? Der würde wohl mit ihm beten.
Sein eigenes Gebet beruhigte ihn nicht. Ha, die kleine Trine, die
verstand aber noch besser zu beten als der alte Paternapgacker; und
fromme Lieder konnte man die singen hören, wenn man die Ohren spitzte.
Weit, weit übers Venn klang ihr Gesang; wenn man dem nachging, konnte
man sie immer finden. Sie hütete das Vieh, sie sammelte von den roten
Beeren, Tag für Tag, vom Morgen früh, bis zum Abend spät; bis daß es
dunkelte. Bald war sie hier, bald dort. Ihr Ruheplatz aber war hinter
den schwarzen Tannen, ganz im Dickicht, im Busch am Fuß der Ley. Da
war es so still, so verborgen. Am Wochentag kam kein Beter hierhin,
verlassen stand dann die Muttergottes im Stein. Sie war allein – so
ganz allein!

Der Sträfling zuckte zusammen, er erschrak über die eigene Stimme;
heiser hatte er’s laut geächzt: »Ganz allein!«

Er schwitzte; der klebrige Schweiß rann ihm in Strömen am Leib
herunter. Er betete wieder. Es ward ein seltsames Gebet. Brocken
von einst Gelerntem fand er noch zusammen, aber mit Verwünschungen
vermengte er sie. Er fluchte sich und dem da oben und dem Kind hier
unten. Warum war ihm das Mädchen in den Weg gelaufen? Warum lachte es
ihn immer so an?! Würde sie auch noch lachen, wenn er sie zu packen
kriegte hinter diesem dichten Busch, wenn er sie – ha, schreien würde
sie sicher! Schreien!

Jetzt gellte es durch die Finsternis zu ihm. Er hatte ihn ganz deutlich
in den Ohren, den Schrei. Die verwünschte Trine! Er fletschte die
Zähne, er biß sie dann knirschend auf einander.

Und dann würde er ihr den Mund zuhalten: ›Biste still!‹ Er würde sie am
Halse packen – an dem kleinen, zarten Hälschen – – –

»Jesus, Jesus Christus, erbarme dich!« Erstickt schrie er auf. Er
schrie den Schutzengel an, den in dem weißen Kleid: ›komm du, sei du
bei ihr, sonst –!‹ Aber auch der konnte ihr nicht helfen, nein!

Sie war wieder da, sie, die ihn überfiel wie eine Krankheit, wie ein
Krampf, gegen den er sich nicht wehren konnte; sie, die Gier, die er
auch hier nicht losgeworden war. Sie war wieder da. Und nun hielt sie
ihn gepackt, fester denn je.

Die Augen rollten ihm, er bäumte sich jählings im Bett auf und wühlte
sich dann wieder ein ins Stroh und richtete sich wieder auf und kauerte
glühend und doch frierend, zitternd und mit den Zähnen klappernd,
weinend auf seiner Bettstatt. Wann kam das Licht? Ach, helles
Tageslicht! Kam es nicht endlich?! Ihm grauste in der Finsternis.




XIII


Nun war Josef Schmölder schon vierzehn Tage oben auf der Fangeuse,
und noch keine Stunde war ihm sein Entschluß leid geworden. Die erste
Nacht freilich hatte er nicht schlafen können, er hatte wach gelegen
in einer aufgeregten Neugier: was würde ihm die Nacht offenbaren? Wie
ein Geheimnis schien es ihm in der Stille zu lasten. War das still,
grabesstill hier! Eine tiefe, tiefe Ruh. In ihr mußte man selber zur
Ruhe kommen; die Seele mußte sich glätten wie ein stiller Bergsee,
um den die schützenden Wände von Alpen stehen, den kein Windzug mehr
kräuseln kann. Er setzte sich im Bette auf und lauschte den Stimmen der
Nacht.

In der Hecke, die das Haus völlig umgab, flüsterten die Winde;
horchte man angestrengt, so konnte man auch das Rauschen der Tannen
hören. Schwarz und hoch umstanden sie den kleinen Wiesenplan, auf dem
die Fangeuse sich hinter die Hecke duckte. Hier war man wahrhaftig
geschieden von aller Welt, hier konnte nichts, gar nichts von außen
heran; man war hoch über all dem kleinen Getriebe.

Mit einem großen Wohlgefallen blieb Josef wach. Sonst war er
ungeduldig, schier verzweifelt, wenn er nicht schlafen konnte, heute
wachte er gern. Er malte sich das Leben hier aus, so schön, daß er
selber kaum daran glauben konnte. Alle Tage in Frieden, kein Genörgel
von Heinrich – die paar Tage, die er zur Jagd heraufkommen wollte,
würden sich schon überstehen lassen – gar nichts von dem Spießbürgertum
der kleinen Stadt, von den alltäglichen Sorgen und Besorgungen der
Hausfrauen, die die gute Sophie so gern umständlich besprach. Hier
war er all das los. Die Bäreb würde ihn nicht weiter stören. Mochte
sie machen, was sie wollte! Sie hatte ihm zwar am Abend eine Suppe
vorgesetzt, vor der ihm noch grauste; aber er hatte sich mit Brot
und Schinken begnügt und die Suppe verstohlen zum Fensterchen hinaus
zwischen die Hecke gegossen. Er wollte sie doch nicht kränken.
Mochten die Mäuse des Feldes und die Raben, die, seit wieder Menschen
eingezogen waren, über der Fangeuse lauerten, sich die Brocken
herausholen!

Bäreb hatte sich augenscheinlich gefreut, daß er so viel von ihrer
Suppe gegessen hatte. Sie schaffte voller Freudigkeit im Haus. Kaum,
daß sie vom Wagen gestiegen waren und der Knecht die verschlossene
Haustür und die verrammelten Läden geöffnet und all das Gepäck
abgeladen hatte, hatte sie in der Küche ein Feuer angezündet,
Wasser vom Brunnen herangeschleppt, das Kleid geschürzt, die Ärmel
aufgestreift und angefangen zu scheuern. Die Möbel standen alle an
ihrem Platz, aber dicker Staub lag auf ihnen; die Fensterchen waren
blind, nicht zum Durchsehen. Der Kutscher hatte ihr bei der Arbeit
geholfen, und während die beiden so schafften, war Josef hinausgegangen
und hatte sein Reich umkreist in immer weiteren Kreisen. Er konnte
sich nicht satt sehen an dem blauen Duft der Ferne, in dem tief
unten, meilen- und abermals meilenweit, weit jenseits der Grenze, die
belgischen Städte und Städtchen auftauchten, wie weiße Flecke, beglänzt
vom Sonnenschein. Alle sah er sie, und sie sahen ihn doch nicht.

Als er endlich zurückkehrte ins Haus, war der Kutscher fort. Das war
ihm gerade recht, er wollte kein Alltagsgesicht mehr hier sehen;
er hatte Feiertag gemacht. In der Stube prasselte ein Reisigfeuer,
träumend saß er davor und sah die Funken springen.

So hatte er den ersten Abend hingebracht; er wußte nicht, daß es schon
fast Mitternacht war, als er endlich zu Bett ging. Noch immer schaffte
die fleißige Bäreb. Sie schlief dann aber auch gut. Die Zwischenwände
im Haus waren nur dünn, er hatte ihre tiefen, ruhigen Atemzüge gehört.

Und die hörte er jetzt alle Nacht. Sie mischten sich mit dem Rauschen
der Tannen, mit dem Säuseln in der Hecke; er hätte nicht ruhen können,
hätte er sie nicht mehr gehört. Am Tage wurde er wenig von dem Mädchen
gewahr. Er war immer draußen; die Tage waren so schön, herbstlich klar
und doch noch so warm hier oben, weil die Sonne hier am frühesten kam
und am spätesten ging. Wenn unten die Schatten schon düsterten, war
sein Wiesenplan noch golden beglänzt; er bedauerte alle, die da unten
hausen mußten. Aber lagern konnte man nicht mehr draußen, die Wiese war
Moorgrund und blieb tief innen feucht trotz aller Bestrahlung. Er hatte
es Bäreb anfänglich nicht geglaubt; er hatte sich hingelagert, zwar
auf seinem Plaid, aber der hatte doch nicht verhindern können, daß er
Schnupfen bekam und Reißen in allen Gliedern. Doch diese Stunden, auf
dem derb-duftenden Wiesenplan in der Sonnenflut verdämmert, waren es
wert gewesen.

»Ihr müßt ens schwitze, ich will Uech ’ne Tee holle jonn,« sagte Bäreb,
als er nieste und sich mit einem ›Au!‹ den schmerzenden Rücken hielt.

Das war das erste, was ihn hier oben verstimmte. So alt war er denn
doch nicht, daß sie ihm Tee zum Schwitzen kochen mußte! Oder ergriff
sie die Gelegenheit gern, um herunterzukommen, war’s ihr schon zu
langweilig hier oben bei ihm? Er fragte es in gereiztem Ton.

Sie sah ihn groß an: warum sollte sie nicht gern hier oben sein? Es
ging ihr ja gut!

War es ihr denn nicht zu einsam?

Einsam?! Sie sah ihn wieder verständnislos an, und dann lachte sie:
»Mir sein dat jo jewent. Un Ihr seid jo ooch do!«

Das versöhnte ihn. Aber er nahm sich doch vor, sich etwas mehr um sie
zu kümmern, mehr mit ihr zu sprechen als das Allernotwendigste. Sie war
so jung, immer allein – wer weiß, sie konnte doch Heimweh bekommen!
Oder am Ende bändelte sie aus langer Weile mit einem der Grenzjäger an,
die zuweilen hier vorüberstrichen.

So kam es, daß, als die Abende so früh herabsanken, daß sie lang
erschienen, Bäreb beim Herrn in der Stube saß.

Sie hatte es anfänglich nicht gewollt, in der Küche gefiel es ihr sehr
gut. Aber nachdem sie ihre Scham überwunden hatte, erschien sie jetzt
jeden Abend mit ihrem Strickzeug und setzte sich auf die Bank unterm
Fenster.

Er las. Zweimal die Woche brachte der Landbriefträger Zeitungen. Es war
eigentlich rührend von Sophie, daß sie die für ihn sammelte und dann
einen ganzen Packen heraufschickte! Aber er wollte ja gar nichts wissen
von der Welt. Und doch griff er aus Gewohnheit danach. Wenn er glaubte,
etwas gefunden zu haben, was auch Bäreb interessieren konnte, las er
es laut; sie saß ganz still, aber bald merkte er, daß sie doch nicht
zuhörte. Und an einem Abend schlief sie über seinem Lesen ein. Fast
freute er sich darüber: ja ja, sie sollte lieber ganz so bleiben, wie
sie war, das war ihr größter Reiz! –

In den Wochen, die er nun schon oben wohnte, hatte Josef außer mit
Bäreb nur noch mit Bräuer gesprochen. Auf einer weiten Streiferei war
er bis in die Nähe der Kolonie gekommen; sein altes Interesse für die
Sträflinge erwachte wieder. Die gehörten ja nicht zur Welt, die standen
jenseits. Er sah ihnen lange zu. Sie beachteten ihn nicht; selten, daß
einer oder der andere sich aus seiner gebückten Haltung aufrichtete,
die heruntergerutschte Hose mit beiden Händen heraufzog und so ein paar
Minuten, umflattert von den Fetzen des Kittels, stehen blieb und nach
ihm hinblickte. Wie die Scheuchen sahen die Kerle aus! Ob sie denn
nicht bald wärmere Kleidung bekamen?

Besonders der eine, ein schwächlicher Mensch mit käsigem Gesicht, mit
abstehenden Ohren unter kurzgeschorenen rötlichen Stoppeln, schien
einer wärmeren Jacke bedürftig. Er fiel Josef auf. Wie heiser der
Mensch hüstelte! Aber Bräuer wollte nichts von wärmerer Kleidung
wissen. Es war ja noch gutes Wetter, wie sollten sie denn den Winter
hinbringen, wenn man sie jetzt schon verzärtelte?! Er war überhaupt
abweisend. War das noch derselbe Mann, mit dem er im Frühjahr so
eingehend über die Gefangenen und das Kolonisationswerk gesprochen
hatte? Jetzt schien er verdrossen.

Fast feindlich blickte er, als Josef es wagte, ihn zu fragen: »Sie sind
wohl nicht gern mehr hier?«

»Sein Sie erst en Zeitlang hier, dann fragen Sie nit mehr so dumm!«
Und dann schrie er übers Venn, daß es hallte: »He, halt, wohin will
denn der Rotfuchs? Zusammenjeblieben! Hier wird sich nit von der Arbeit
jedrückt! Verfluchtes Luder, fauler Schlingel!«

Der blasse Mensch mit den roten Haaren fuhr erschrocken zusammen;
er hatte sich ein wenig von den anderen entfernt. Hatte er sich
davonmachen wollen? Jetzt kam er wieder angetrottet, den Kopf gesenkt,
und nahm die Arbeit wieder auf.

Sie schaufelten tiefe Gräben aus, in denen man sie kaum sehen konnte,
wenn sie darin standen; es sollten Drainröhren hineinkommen noch diesen
Herbst. Die Arbeit eilte.

Als Josef nach Haus spazierte, fröstelte ihn. Der Wind schnob schon
kräftig, obgleich die Sonne noch warm war. Überall im Venngras blickte
es rot von den korallenen Träubchen der Preißelbeeren, in dichten
Gebinden, Büschelchen bei Büschelchen, faßten sie alle die Rinnsale und
Rinnsälchen ein, die jetzt reichlich sickerten. Der ganze Grund war
naß, man mußte sich hüten, den schmalen Pfad zu verfehlen; ein Tritt
daneben und man sank knöcheltief. Josef mußte ab und zu einen Anlauf
nehmen und eine Lache überspringen; dann schwankte der Boden jedesmal
unter ihm, die tiefen Tappen, die sein Tritt machte, füllten sich rasch
mit Wasser. Hätte er den Umweg der Fahrstraße nicht gescheut, er wäre
bequemer gegangen, aber es reizte ihn, das Venn zu durchqueren. So lief
man geradewegs auf die Fangeuse zu und auf die Grenze. Die Sträflinge
hatten es doch eigentlich recht bequem, eine halbe Stunde hinter der
Fangeuse, und man war überm Grenzfluß. Aber man hatte noch von keinem
Fluchtversuch gehört. Ja, Bräuer war wohl der Mann, sie zu hüten. Aber
ein harter Mensch, ein grausamer Mensch. Wie er den armen blassen Kerl
angeschrieen hatte!

Ein Gefühl der Trauer beschlich den einsam Wandernden. Hier war nun
die Natur, rein, groß, unverfälscht – noch ganz Natur – nichts von dem
kleinlichen Gewese der Menschen, nicht ihre Wohnstätten mit Rauch und
Geschrei. Eine Stille, hehr, überwältigend, fast erdrückend in ihrer
Majestät. So mußte die Erde gewesen sein, als es hieß: ›Sie war wüst
und leer‹, und als Gott sprach: ›Es werde Licht!‹ Und doch war auch
hier schon vom Leid der Menschheit hergedrungen! Josef konnte die
Jammergestalt des Sträflings nicht vergessen.

Naß, müde, etwas verstimmt kam er auf der Fangeuse an. Er traf Bäreb
vor der Tür. Sie hatte Preißelbeeren gesammelt, einen mächtigen
Steintopf voll; nun saß sie außen an der Hecke und verlas sie. Den
schwarzen Kopf hielt sie emsig über das leuchtende Rot in ihrem Schoß
geneigt; eine weiße Katze, die sich halb verhungert im Holzstall
vorgefunden hatte, rieb sich schnurrend an ihrem Ärmel.

Josef stand unter den Tannen und betrachtete sie verstohlen eine
lange Weile. Halblaut sang sie vor sich hin. Sie hatte nicht dieselbe
Stimme wie Kathrinchen – unwillkürlich mußte Josef der leichten, hohen
Kinderstimme gedenken, die er in Leykuhlens Flur gehört hatte – der
Erwachsenen Stimme war rauher, tiefer, aber es war trotzdem etwas
darin, was an des Kindes Stimme erinnerte. Sie war ja auch noch ein
Kind, ein unschuldiges Kind! Er betrachtete sie mit Wohlgefallen, und
sein Gesicht erhellte sich.

Seine Stimme klang heiter, als er sie anrief: »He, Bäreb!«

»Seid Ihr et?« Sie lächelte, ohne zu erschrecken, und ohne den über die
Beeren geneigten Kopf zu heben. »Joht als erein!«

Drinnen fand er schon den Tisch gedeckt, das Feuerchen knistern und
seinen Sessel, den einzig bequemen, der im Hause war, zum Feuer
gerückt. Wie gut sie für ihn sorgte! Ein Gefühl der Rührung beschlich
ihn: ja, er hatte ihr wirklich zu danken, ohne sie hätte er doch nicht
hier sein mögen! Dann wäre es doch sehr einsam gewesen auf der Fangeuse.

       *       *       *       *       *

Die Hirsche schrieen. Nun war es völlig Herbst. Nebelschwaden lagerten
auf dem Wiesenplan, der Wind hatte genug zu tun, sie aufzustöbern und
den schwarzen Tannen wie Schleier an die Zacken zu hängen; erst die
Mittagssonne verjagte sie ganz. An Tagen, an denen die Sonne nicht
schien, verschwanden die Schleier nicht, dann blieben sie hängen von
Morgen bis Abend.

Bäreb sang schallend in der Küche; ihr machten die Nebel nichts, sie
kannte die. Aber Josef saß verdrießlich innen; er konnte nicht heraus,
der nasse Nebel legte sich ihm unangenehm auf die Brust. Er dachte
daran, daß jetzt Heinrich bald heraufkommen würde. Und das war auch
ganz gut! Aus dem Fensterchen vor Bärebs Kammer, vor dem in der Hecke
ein kleiner Durchschlag war, hatte Heinrich früher einmal einen Hirsch
geschossen, einen Vierzehnender, der im Sternenschein auf der Wiese
stand und in die Tannen hineinschrie.

Brunftzeit. Die Tiere wurden frech. Als achteten sie gar nicht des
Hauses der Menschen, so umzogen sie es bei Nacht; man hörte ihre Hufe
trappeln, die dumpf den Boden schlugen. Das war Josef was ganz Neues,
es regte ihn unbeschreiblich auf. Bei jedem leisen Orgeln, das nächtens
und oft ganz aus nächster Nähe an sein Ohr drang, fuhr er zusammen.
Dann lauschte er hinüber zu Bäreb: hatte sie es auch gehört?

Sie atmete ruhig, aber er blieb wach und horchte. Würde ein Alttier
antworten? Mit erregter Phantasie malte er sich das Bild draußen aus.
Da stand, nur durch die Hecke von ihnen getrennt, der majestätische
Kronenhirsch auf dem Wiesenplan; seine unruhigen Schalen scharrten
den Moorgrund, seine Stangen forkelten ihn auf – Moos und Grasbüschel
flogen – er stampfte wild. Und dann hob er den zum Grund gesenkten,
geweihbeschwerten, mächtigen Kopf, streckte den schwellenden Hals aus
und schrie, schrie dumpf, drohend und begehrlich zugleich, schrie, daß
das Echo zwischen den Tannen auftaumelte und nachschrie, daß die Ferne
lebendig wurde. Das ganze Venn war voll Hirschgeschrei. –

Sie saßen im Haus, schier belagert von den brünstigen Tieren. Abends
konnten sie gar nicht heraus. Bäreb wäre gern am Sonntag zu den Ihren
hinuntergegangen – so lange war sie nicht in der Kirche gewesen, und
wie mochte es der Mutter gehen, wie den Geschwistern, und was wohl
die Maiblum machte?! – aber auch das ging nun nicht; denn kaum daß es
dunkelte, hörten sie draußen ein Getrappel, ein Gestampf von Hufen und
dann ein heiseres Orgeln, so laut, so anhaltend, so gewaltig, daß es
ihnen in den Ohren dröhnte. Und eine Antwort dröhnte wider, so laut, so
anhaltend, so gewaltig, daß sie erschraken.

Sie lugten durchs Fenster, sie sahen aber nichts. Waren das wirklich
zwei Hirsche nur, oder waren’s ihrer viele? Ein ganzes Rudel schien
draußen. Das war ein Toben, ein Stampfen, ein Schnauben, ein Schnaufen
wie von einer Herde Ochsen, die, toll geworden, blind-wütend
durcheinander rennt.

Das hielt an. Sie saßen im Zimmer zusammen und hatten nicht Lust, zu
Bette zu gehen. Schlafen konnte man hierbei doch nicht. Bäreb fand zwar
den Mut, vor die Haustür zu treten, in die Hände zu klatschen und laut
zu schreien – das würde die Tiere verscheuchen – aber erschrocken, mit
einem gellenden Aufkreischen sprang sie zurück und schlug krachend die
Tür zu. Etwas Dunkles, Gewaltiges war an ihr vorübergeschossen mit
heiserem Keuchen, sie hatte einen glühenden Atem gefühlt. Nun hatte sie
Angst. Zitternd saß sie in der Stube.

Josef wollte sie zerstreuen, er fing an, über die Ihren daheim mit
ihr zu reden. Aber sie blieb einsilbig; und als er vom Dores sprach,
rollten ihr ein paar dicke Tränen über die Wangen. Er nahm ihre Hand
und streichelte sie, er behielt sie in der seinen.

Eng saßen sie bei einander in dem einsamen Haus, um sie nur Nacht und
wildeste Triebe.

Sie hörten das Orgeln bis gegen Tagesanbruch. Zuletzt einen röchelnden
Schrei.

Als sie am Morgen vor die Türe gingen, lag nahe auf dem zerstampften,
blutigen Plan ein mächtiger Sechzehnender. Der Leib war ihm
aufgeschlitzt, das schöne Haupt, das die Zunge herausstreckte, war zur
Seite gesunken.

Da schrieb Josef Schmölder an Heinrich Schmölder:

›Lieber Vetter! Komm jetzt herauf, die Hirsche schreien. Schieß ein
paar von den Bestien ab, sie werden uns lästig.‹

Und Heinrich antwortete; schon beim nächsten Erscheinen des
Zeitungspaketes war sein Brief dabei:

›Lieber Vetter! Teile Dir mit wendender Post mit, daß wir nächsten
Mittwoch, 20. Oktober, oben eintreffen werden, ca. zwölf Uhr mittags.
Zu essen schickt Sophie mit.‹

Wir – wir –?! Nun, hoffentlich kam doch niemand anders mit als
Leykuhlen? Den pflegte Heinrich immer zu seinen Jagden einzuladen. Eine
plötzliche Angst überkam Josef, es war ihm, als sollte sein idyllischer
Frieden unsanft gestört werden. Aber trotz schlimmer Vermutungen fühlte
er doch etwas wie freudige Spannung: wer es auch sein mochte, er sollte
ihm willkommen sein!

Draußen fiel Schnee. Es waren die ersten Flocken. So früh im Jahr? Aber
Bäreb versicherte, daß es manchmal schon im September geschneit hätte,
noch dazu tüchtig; ganz Heckenbroich hatte unter weißer Decke gelegen.
Vergangenes Jahr waren um diese Zeit längst alle Beeren im Venn
erfroren gewesen. Nun hielt es wohl so an; sie konnten auch unten nicht
mehr hüten gehen, die Kühe blieben im Stall und die Menschen im Haus.
Und es kam bald die Zeit, in der man sich ausschaufeln mußte, wenn man
herauswollte.

Josef ging vor die Hecke und sah sich erschrocken um. Ausschaufeln –?!
Ach, so schlimm konnte das hier ja nicht werden! Es hatte jetzt wieder
aufgehört zu schneien; auf dem feuchten Wiesenplan waren die Flocken
nicht liegen geblieben, nur auf den breiten Ästen der Tannen ruhte es
noch wie Schwanenflaum. Das sah schön aus. Überhaupt, es mußte ganz
herrlich hier sein, wenn Schnee lag. Eine Weiße, eine Reinheit, eine
bräutliche Weihe über allem – anders als Schnee in den Niederungen! Nun
hatte er keine Angst mehr.

Als am Abend Bäreb bei ihm in der Stube saß, neckte er sie mit ihrem
Ausschaufeln. Aber sie blieb dabei: sicher, der Schnee lag oft fast so
hoch wie die Hecke, und wenn er recht ruhig und gerade herunterfiel,
dann stopfte er die Lücke zwischen Haus und Hecke dicht zu, dann sah
man nichts mehr aus den Fenstern; dann wurde es ganz dunkel im Haus,
man mußte Licht brennen den ganzen Tag, und morgens konnte man die
Tür nicht aufkriegen, so sehr man auch dagegen stemmte und stieß.
Und hatte der Herr Josef denn nicht die Kreuze im Venn gesehen? Von
hier nicht weit, rechts und links von der großen Chaussee, da standen
ihrer manche. Man konnte die Aufschriften nicht mehr lesen, und die
Kreuze fielen auch bald um, sie waren ganz schwarz und vermorscht; sie
waren dahingesetzt worden für solche, die im Moor versunken, im Schnee
erfroren, im Nebel verirrt waren. Wie sie als Kind hüten gegangen,
hatte sie manchen Kranz drangehängt und ein Gebet gesprochen für die
arme Seele.

Ja, er hatte die Kreuze gesehen. Unvermutet war einmal eines vor
ihm aufgetaucht, – ein vermorschtes Holz – halb eingesunken in den
schwammigen Boden. Er war fast darüber gestolpert. Es schauderte ihn
noch.

Bäreb aber saß und strickte und sprach mit lachendem Mund von all
diesen Schrecknissen des Venns.

Nun fehlte nur noch, daß es hier auch Wölfe gab! Es war ihm wie eine
Beruhigung, daß der Vetter kam. Er selber war doch noch zu wenig
vertraut mit den Verhältnissen, Heinrich wußte hier besser Bescheid. –

Am Mittwoch kamen sie, etwas unpünktlich, sie hatten Mühe gehabt,
durchzukommen; auf dem Moor, das man passieren muß, wenn man von der
Chaussee abbiegt zur Fangeuse, waren sie zweimal auf dem schmalen Weg
stecken geblieben. Sie hatten alle absteigen und die Räder mit anheben
müssen, und wenn nicht zufällig noch ein Grenzjäger und ein Feldhüter
drüben aus dem Gemeindeforst ihnen zu Hilfe gekommen wären, so hätten
sie es überhaupt nicht fertig gebracht.

»Tag, Josef! Is dat ’ne Dreck,« sagte Heinrich, als er abstieg und dem
Vetter die Hand schüttelte. »Siehst ja janz wohl aus – no, dat wird
Sophie freuen!«

Mit einem wahren Schrecken sah Josef auch den Leutnant von dem
hochräderigen Jagdwagen absteigen. Auch der Landrat war mitgekommen.
Aber die Freude, Heinrich zu sehen, ließ die unangenehme Empfindung
nicht überwiegen. Doch wo steckte Leykuhlen?!

»Ja, der!« Heinrich Schmölder lachte. »Wat denkst du wohl, Jung, dein
Freund is jetzt en Persönlichkeit! ’ne populäre Mann! Der reist auf den
Dörfern herum, der macht sich lieb Kind – o, reden kann der janz jut!
Der wird jewählt, so sicher wie Amen in der Kirch. Der kömmt durch, da
is kein Zweifel dran!«

»Er wird unerhört poussiert von gewisser Seite,« sagte der Landrat
hinter der vorgehaltenen Hand, und sah sich vorsichtig um nach dem
Kutscher und dem Burschen des Leutnants, die Körbe und Decken vom
Wagen trugen. Es wäre doch unangenehm, wenn in streng ultramontanen
Kreisen solche Äußerung des Landrats kolportiert würde! Das könnte ihm
die Stellung sehr erschweren, ihn fast unmöglich machen!

»Kommt er denn nicht?« fragte Josef enttäuscht. Eine plötzliche
Sehnsucht nach dem Freund überkam ihn. »Kommt Leykuhlen denn wirklich
nicht?« fragte er nochmals hastig.

»No, no, immer mit die Ruhe!« Heinrich lachte. »Immer noch der Alte.
Die Fangeuse hat dich noch nit ruhig jekriegt, Josef! Leykuhlen kömmt
nach. Diesen Abend bestimmt; er hatte nur noch wat zu tun. Er kömmt zu
Fuß nach. So lang warten wir noch. Dann aber jeht et los! Wir kriegen
Mondschein. Nix für unjut, meine Herren« – er schmunzelte seine Gäste
an – »aber der Leykuhlen is doch noch der sicherste Schütz – nach mir!«

Der Leutnant riß an seinem Schnurrbart; er ärgerte sich über seinen
Schwiegervater, aber er schluckte den Ärger schweigend hinunter.

Josef fand den Tag längst nicht so angenehm, wie er ihn sich
vorgestellt hatte. Sophie hatte zwar ein ganzes Diner mitgeschickt:
kalten Braten, Krammetsvögel in Gläsern und Hummer in Büchsen. Bäreb
hatte nur Kartoffeln zu kochen, der Bursche war bei ihr in der Küche
und half. Josef hörte die beiden lachen und war verstimmt; seine ganze
Ruhe war gestört. Das Zimmer pafften ihm die Herren voll – und wo
sollten sie schlafen? Es war so eng im Haus: ein Zimmer nur und zwei
Kammern. Aber dann fiel ihm ein, sie würden ja die Nacht draußen auf
dem Anstand zubringen. Und morgen würden sie wieder hinunterfahren –
Gott sei Dank!

Draußen heulte der Wind. Über dem Wiesenplan hingen schwarze Wolken,
aber der Wind ließ sie nicht lange stehen bleiben, er jagte sie
immer wieder fort. Dann kam der Mond hervor, und sein bleiches
Licht leuchtete kalt und fast tageshell. Die Jäger waren entzückt:
gutes Jagdwetter! Bei der rasch wehenden, beständig umspringenden
Luft bekam der Hirsch nicht so leicht die Witterung, man konnte ihn
ruhig herankommen lassen vor den sicheren Schuß. Da – die Herren, die
gedrängt um den kleinen Tisch der Stube saßen, fuhren auf – da, da
orgelte wahrhaftig einer schon in der Ferne!

Wie heiseres Gebell eines gewaltigen Hundes erklang es vom Bach herauf,
der unten in der wilden Schlucht längs der Grenze fließt. Dort war
nicht Schmöldersche Jagd mehr; aber, nur noch Geduld, nicht lange, und
das Tier würde übertreten und auch hier schreien!

Sie konnten kaum mehr ruhig bleiben, das Jagdfieber hatte sie ergriffen.

»Jetzt könnt’ der Leykuhlen aber wahrhaftig kommen,« sagte Heinrich
Schmölder. »Um neun spätestens sollt’ er hier sein!« Er sah nach der
Uhr, öffnete vorsichtig den Laden und spähte ungeduldig hinaus.

»Es wird ihm doch nichts passiert sein?« Josef war ängstlich.

Der Vetter lachte ihn aus. »Pah, wer sich so jenau auskennt wie der,
dem passiert hier nix! Et is ja auch keine Nebel, man sieht ja, wo man
tritt!«

»Er hat wahrscheinlich etwas Wichtigeres vor,« sagte der Landrat; eine
kleine Gereiztheit war in seinem Ton. »Gehen wir doch immer heraus,
lieber Schmölder!«

»Ja, das sehe ich auch nicht ein, warum wir auf den warten sollen,
Papa!« Scheffler sprang auf und zog seine elegante Jagdjoppe stramm.
Auch der Landrat war in solch einem eleganten Jagdkostüm.

Desto schäbiger dagegen sah der Fabrikant aus. »Nee, wir warten
noch!« Und dann – es mußte ihm wohl auch aufgefallen sein, wie sehr
sein Anzug von dem der Gäste abstach – fing er an, lang und breit zu
erzählen, warum seine Joppe so geflickt war, und warum es seine Hosen
auch waren. Bei diesem Kittel hier hatte ihn eine verwundete Sau
letzten Winter zu packen gekriegt, als sie ihn annahm und er nicht mehr
Zeit genug hatte zu baumen. Aber er hatte ihr mit der Saufeder den
Todesstoß in den Nacken versetzt. Und die Hose hatte ihm ein starker
Bock so hübsch zugerichtet von unten nach oben. »Haha!« Er lachte,
jetzt noch strahlend über dies Abenteuer. Mit Weidenruten und harten
Gräsern hatte er sich die Fetzen ums Bein geschnürt, damit er sich doch
einigermaßen wieder sehen lassen konnte. Und dann hatte er den Bock auf
den Rücken geladen und hatte ihn selber aus dem Busch herausgeschleppt,
so weit, bis die Leute ihn finden konnten, die er nachher ihn holen
geschickt. Das, das hier war noch sein Schweiß! Er wies auf die braunen
eingetrockneten Flecken. Eine ganze Traufe war den Rücken herunter.

Mit Widerwillen sah Josef hin: wenn Heinrich auf die Jagd zu sprechen
kam, war er ohne jedes Empfinden, ohne jegliches Mitleid mit der armen
Kreatur. Was würden sie nun wieder für ein Blutbad anrichten! Und doch
hatte er sie selber heraufgerufen. Er hätte sich vor die Stirn schlagen
mögen: Dummkopf!

Er trat vom Tisch zurück, an dem die Jäger saßen, und lehnte sich
tief-verstimmt gegen den Ofen. Stumm verharrte er. Sie waren noch
einmal auf Leykuhlen zurückgekommen.

»Ja, meinen Sie denn wirklich, dieser Bauernbürgermeister wäre als
Abgeordneter ein Glück für den Kreis?« Der Landrat schien sich noch
immer nicht von diesem Thema losreißen zu können. »Er ist doch zu wenig
gebildet, zu wenig weitsichtig, zu eng!« Er sah sich um, als fürchte er
einen Lauscher, und sprach dann gedämpft: »Unter uns gesagt: zu bigott!«

Schmölder lachte. »No, ’nen Zentrumsmann wählen wir ja doch! Schwarz
ist Trumpf. Und da is der Leykuhlen am End ebensojut wie ’ne andere!
Mir is et übrijens janz Wurscht! Ich wünscht, ich schöß diese Nacht ’ne
Sechzehnender. Dat wär noch wat!« Er schlug sich aufs Knie.

»Ich meinesteils würde es für höchst bedauerlich erachten, und als
ein betrübendes Zeichen für unseren Kulturzustand,« sagte Mühlenbrink
scharf, »wenn man keinen anderen Mann fände als Leykuhlen. Ich lasse
ihm volle Gerechtigkeit widerfahren, er hat sich ohne Zweifel so weit
herausgemacht, wie sich so ein Bauer eben herausmachen kann. Aber ich
bitte Sie, er ist ja ganz verbohrt. Ich nehme es ihm kolossal übel, daß
er sich so gegen eine Wasserleitung sperrt, anstatt meine Bestrebungen
mit all dem Einfluß, den er ohne Zweifel besitzt, aufs lebhafteste
zu unterstützen. Die Typhusfälle will er nicht mit den Brunnen in
Verbindung gebracht wissen – aber selbstverständlich, ganz natürlich
kommen sie daher! Wissen Sie, was er mir sagte, als ich ihn deswegen
interpellierte, – vor ein paar Tagen war’s – da sagte er mir: ›Wir
stehen in Gottes Hand!‹ Selbstverständlich, das tun wir, aber man kann
sich doch nicht einfach dabei beruhigen. Nein, mit solch einem Mann ist
uns nicht gedient!«

»No, warum dann nit?« Heinrich Schmölder gähnte. »Ob der oder der!
So’ne sitzen ihrer ’ne janze Meng im Reichstag und Landtag, und dat
sind die schlechtesten noch nit. Wenn ich nur wüßt, wo der Leykuhlen
bleibt?! Da schreit schon wieder einer – Donnerwetter!«

Er war aufgesprungen und schritt nun ungeduldig mit knarrenden Stiefeln
im Zimmerchen hin und her. »Nu jeht’s aber bald los!«

Josef war an den Tisch getreten, an dem der Landrat noch sitzen
geblieben war. Er wußte selbst nicht, woher ihm heute die Kampfeslust
kam; er war gereizt. Er glaubte zu fühlen, daß der Bürgermeister in
diesem hier einen Widersacher habe. »Leykuhlen ist mein Freund,«
sagte er, »und ich glaube ihn besser zu kennen als Sie, Herr Landrat
– pardon! Sie sehen ihn eben nur vom geschäftlichen Standpunkt aus,
ich aber doch noch von einem anderen. Er ist der beste, selbstloseste,
edelste Mensch, den ich kenne. Und bei all seiner anscheinenden
Rückständigkeit von einem scharfen und klaren Verstand!« Immer lauter
erhob er die Stimme. »Wenn Leykuhlen nicht wie einer dazu berufen ist,
hier den Kreis zu vertreten, dann will ich nicht schwarz von weiß mehr
unterscheiden können! Leykuhlen, der Land und Leute so genau kennt wie
sonst keiner, der sie so liebt, ist der berufene Mann, er –«

»Dank dir, Josef,« sagte jetzt draußen eine Stimme. Es pochte an den
vorgelegten Laden, und gleich darauf trappte der starke Schritt einer
nägelbeschlagenen Sohle in den Flur.

»Da ist er!« Lebhaft eilte Josef zur Tür.

Leykuhlen trat ein: »’n Abend zusammen!« Er begrüßte die Anwesenden
ganz ohne Verlegenheit. Sein Gesicht war gerötet von der starken Luft
und angeregt durch einen weiten und scharfen Gang; seine Augen waren
hell, es war eine tief-innere Genugtuung und Freudigkeit, die aus ihnen
strahlte. Er sah um Jahre jünger aus, als zur Zeit der Dürre. Einen
Strom von Frische brachte er mit ins verqualmte Zimmerchen.

»Sie kommen ja so spät?« brummte Heinrich Schmölder.

»Ich bin pünktlich, Herr Schmölder. Hier« – er hielt die Uhr hin –
»Schlag neun. Ich wär aber schon wat eher dajewesen, wenn ich den
Bräuer nit anjetroffen hätt. Wir haben lang jestanden. Der Mann will
weg. Er wollt schon zum Oktober, aber sie haben ihn noch nit jelassen.
Nu jeht er April!«

»Ich weiß schon, ich weiß schon!« Der Landrat nickte. »Schade,
jammerschade! Die Sache ging unter ihm so wundervoll voran. Er war ganz
der Mann, den wir brauchen. Wenn wir ihn nur halten könnten!«

»Den halten Sie nit!« Leykuhlen lachte. »Den zieht dat Weib. Sie müssen
schon suchen, ’ne andere zu finden!«

»Aber wo?« Der Landrat seufzte und stützte bekümmert den Kopf: die
Kolonisation lag ihm doch so am Herzen, hatte ihm so ganz besondere
Freude gemacht, einen zweiten Bräuer, der das Gesindel so famos in
Ordnung und so zur tüchtigen Arbeit anhielt, fand man so leicht nicht
wieder!

»Ich finde ihn roh,« sagte Josef; er gedachte des blassen Sträflings
und der Schimpfworte des Aufsehers. »Etwas mehr Milde in der Behandlung
könnte nichts schaden. Man schickt doch die Leute hierher, nicht
allein, daß sie wie Lasttiere arbeiten, arbeiten, und immer wieder
arbeiten, sondern auch, daß sie durch dieses Leben ganz in und mit
der Natur selber einen Vorteil haben – innerlich. Diese armen Kerle!
Wieviel Qual, wieviel Verzweiflung mag sich unter diesen wehenden
Leinenkitteln bergen! Wenn ihnen diese große, ungehindert-strahlende
Sonne täglich ins Gesicht scheint, ob sie ihnen da wohl zuletzt auch
ins Herz scheint? Ich hoffe. Manches Dunkel wird sich da lichten. Und
diese vielen Blumen, die auf der weiten, duftenden Vennheide blühen,
blühen sie nicht auch für sie, für die, denen sonst keine Blume blüht
in der Welt der sogenannten Kultur, von deren Segnungen sie wenig,
von deren Nachteilen sie desto mehr verspürt haben?! Nein, dieser
Bräuer sollte nicht so grob schreien – es verletzt!« Josef hielt
sich die Hände gegen die Ohren; noch immer gellte ihm der barsche
Ton des Aufsehers darin. »Achtung vor diesen Leuten! Auch sie sind
Kulturbringer. Wir dürfen sie nicht gering achten!«

»Sie sind ein Dichter!« Der Landrat lächelte ein wenig maliziös.

Leykuhlen legte dem heiß und rot Gewordenen die Hand auf die Schulter:
»Dat is sehr nett von dir, Josef, dat du Mitleid mit den Leuten
hast, und dat du so en jute Meinung von unserm Venn hast. Ich bin
kein Dichter, ich muß dir sagen: mir wär et lieber, wir hätten die
Nachbarschaft nit. So ’ne Sträfling!« Er zuckte die Achseln. »Unsere
Heckenbroicher hatten bislang noch keinen zu sehen jekriegt. Und wat
wußten unsere Leut von all den Verjehen und Verfehlungen, von all
den Sünden, die sich jetzt da oben anjesammelt haben wie ’ne Haufen
Unflat. Jeh mir, Josef, mit deinen Kulturbringern! Überhaupt, Kultur –
wat redt man jetzt doch immer so viel von Kultur?! Dat is jetzt so’n
Schlagwort!« Er kehrte sich gegen Mühlenbrink: »Sie jebrauchen dat auch
immer, Herr Landrat! Die höchste Blüte der Kultur ist die christliche
Religion, Herr Landrat!« Er hatte das ganz ruhig gesagt, aber mit einer
gewissen triumphierenden Freudigkeit.

Und diese reizte den Landrat. Er fuhr auf: »Natürlich, von Ihnen habe
ich das ja gar nicht anders erwartet, von Ihnen, der Sie prinzipiell
gegen jeden Fortschritt sind, sei’s wo es sei, in wirtschaftlicher wie
in geistiger Beziehung! Sie =wollen= ja gar keine Aufklärung. Ebenso
wie Sie an Ihren licht- und luftraubenden Hecken festhalten, ebenso
halten Sie krampfhaft die Schranken aufgerichtet gegen jedes geistige
Moment!«

Der Bürgermeister lächelte. »Warum soll ich dat nit tun, Herr Landrat?
Sagen Sie mir, wat wir eintauschen, Herr Landrat? Wenn dat den
Eintausch wert is, dann will ich Ihnen jern recht jeben. Ich bin nit
verbohrt!«

»Doch sind Sie das!« Der Landrat wurde blaß und dann glühend rot.
»Sie lassen es ja auch noch zu, ja, Sie begünstigen es sogar – o, ich
weiß es wohl – daß man bei Ihnen nach Echternach springen geht. In
Heckenbroich läßt man sich nicht genügen mit Mariawald, mit Heimbach
und anderen Wallfahrtsorten hiesiger Gegend, man pilgert sogar bis
nach Echternach, um da zu springen. Springprozession – eine Sache, die
mir und auch anderen guten Katholiken eher ein peinlicher Anstoß ist
als eine Erbauung! Wir dürfen uns doch nicht ins dunkle Mittelalter
zurückschrauben. Das geht einfach nicht!«

»Dat wollen wir auch jar nit! Aber wenn Sie wüßten, wat für ’ne Segen
Echternach in diesem Fall – wir können nur von einem Fall sprechen,
nur die Barbara Huesgen aus unserem Dorf ist springen gewesen – wat
für ’ne Segen Echternach für die Leut jeworden is, Sie würden nit von
Mittelalter und von Dunkelheit sprechen. Aber sei dem wie ihm sei,«
– der Bürgermeister machte mit seiner großen Hand eine entsprechende
Bewegung – »et kömmt mir nit zu, zu trennen: hier Jlaube, da Aberjlaube
– hier fängt dat Wunder an und da der Humbug – spotten is immer billig,
und mer hat noch die Lacher auf seiner Seit – ich sag nur: der Jlaube
macht selig! Und der Jlaube schafft auch Wunder. Und hier hat er en
Wunder jetan. Den Huesgen ihr Dores, en blöd, armselig Jüngelchen, von
Krämpfen heimgesucht, von klein an en Plag für die armen Leut, für den
dat brave Mädchen in rührender Schwesterlieb springen gewesen is nach
Echternach, den hat der Heilige nun zu sich jenommen in die Seligkeit.
Und die Leut leben nun auf, die Mutter is jesund« –

Ein lautes Aufschluchzen unterbrach plötzlich Leykuhlen. Bäreb war
eingetreten, ungehört; sie hatte melden wollen, daß der Waldhüter
draußen sei, um nun mit den Herren zu gehen. Niemand hatte ihrer
geachtet; selbst Schmölder, trotz seiner Jagdunruhe, hatte aufmerksam
dem Bürgermeister gelauscht. Nun schraken sie alle zusammen, die Tür
klappte hastig zu.

Was hatte denn die Bäreb?! Josef eilte ihr nach. Als er den dunklen
Flur entlangtappte mit ausgestreckten Händen, fühlte er sie an der Wand
stehen, die Stirn gegen die kalte Mauer gelehnt.

»Bäreb, warum weinst du? Bäreb, was ist dir?!«

Aber sie gab keine Antwort. Förmlich besorgt wurde er; sie weinte wie
aufgelöst, wie hingenommen von einer großen seelischen Erschütterung.

»Bäreb, was ist dir geschehen? Hat dir jemand etwas zu leid getan? Hast
du Heimweh bekommen? Weinst du um das verstorbene Brüderchen? Bäreb,
Kind, Mädchen, so sage es doch!« Er bedrängte sie förmlich; dieses
Weinen ängstigte ihn.

Aber eine Antwort, die er verstand, bekam er doch nicht. Sie stieß
nur hervor unter einem zitternden, wie befreienden Atemzug: »Och, oß
Burjermeester, oß Burjermeester! Och, dat is ’ne Mann! De weiß doch
alles! Oß Doresche, oß Doresche, dem jeht et jo nu esu jot. Et hat ihm
doch jeholfen! Et hat ihm doch jeholfen! Jelobt seist du, heiliger
Willibrord!«

Das klang ja unter bitterem Weinen wie heller Jubel?! Merkwürdig! Aber
er war froh, daß sie sich nun beruhigte. Mit der Schürze wischte sie
sich die Augen aus; und als sie dann hineinging, um noch einmal den
Waldhüter zu melden, strahlte ihr hochgerötetes Gesicht von einer so
großen Freude, als ob sie ein seliges Glück zu verkünden hätte.

»Hübsches Mädel,« sagte Scheffler, sie fixierend.

Heinrich Schmölder rief sie zu sich heran und kniff ihr die Wange: »No,
Mädchen, wie jefällt et dir dann hier oben?«

»O, Herr Schmölder, de Herr Josef is jo esu jot!«

Da wollte sich Heinrich halbtot lachen. »Na, na!« Er drohte dem Vetter.
»Du du, sei nur nit zu jut, du alter Schwernöter!«

Josef wollte aufbrausen, aber Leykuhlen kam ihm zu Hilfe: Ȁrger dich
nit, Josef! Sehen Sie, Herr Landrat,« – er kehrte sich zu diesem hin
und reckte seine hohe Gestalt wie in stolzer Zuversichtlichkeit noch
höher – »sehen Sie, wo anders könnt dat wohl nit jut sein, en jung
Mädchen unter so ’nen Verhältnissen hier oben. Aber bei uns braucht mer
nit bang zu sein. So wat is ausjeschlossen bei uns, – wir haben eben
=unsere Kultur=!«

»Ja, du hast recht, Bärtes!« Josef legte ihm den Arm um die Schultern.
»Das ist ein Mädchen, so lauter, so rein, so unberührt wie euere Natur
hier – die Natur selber! Geht mir mit euerer Kultur!« Enthusiastisch
streckte er die Hand aus. »Was war ich denn da unten? Hier bin ich erst
Mensch geworden im höheren Sinne. Hier liege ich an der Brust der Natur
und gesunde. Du hast recht, Bärtes, daß du dich wehrst gegen alles von
außen! Ihr sitzt hinter eueren Hecken – mit beschränktem Horizont, das
will ich zugeben – ihr wißt nichts von der Welt da draußen, aber ihr
habt eine andere Welt hinter eueren Hecken, eine reinere, edlere. Laßt
euch die Hecken nicht niederreißen, erhaltet sie mit Bedacht! Was gibt
man euch denn für die Reinheit euerer Herzen, für die Einfalt euerer
Sitten, für die Zufriedenheit eueres Lebens?!«

»Und für die Jewißheit, zur ewigen Seligkeit einzujehen,« schloß
Leykuhlen lächelnd. »Mehr Kultur, denk ich, tut niemandem nötig, Herr
Landrat!«




XIV


Nun waren sie wieder allein. Josef sagte es sich mit tiefem Aufatmen;
aber ein bitterer Nachgeschmack war ihm doch geblieben, er konnte sich
nicht mehr mit so reinem Gefühl wie bisher dem Frieden des Lebens hier
hingeben.

Wie geschmacklos von Heinrich, ihm noch beim Aufsteigen auf den
Wagen, als er Abschied nehmend am Tritt stand und Bäreb in der Tür,
mit dem Finger zu drohen und dann nach dem Mädchen hinzublinzeln:
»Vorsicht, alter Junge!« Und dieser Scheffler hatte dazu gegrient.
Gräßlich, gräßlich! Ein Glück, daß die Bäreb Heinrichs Anspielung nicht
verstanden hatte!

Sie war unbefangen wie immer. Aber Josef war es nicht mehr. Fast scheu
ging er ihr aus dem Wege. Warum kam sie denn immer herein und störte
ihn und wollte schwatzen?! Er wollte nichts wissen. In Ruhe lassen
sollte sie ihn! Zum ersten Mal, seit sie miteinander hausten, fuhr er
sie unwirsch an, und hernach tat es ihm doch wieder leid; es kam ihm
vor, als hätte sie rotgeweinte Augen. Er entschuldigte sich. Aber da
stellte es sich heraus, daß sie gar nicht deswegen geweint hatte. O,
der Herr Josef konnte schelten mit ihr, soviel er wollte, der war wie
ihr Vater! Dabei sah sie ihn mit ihren schönen Augen so treuherzig
an, daß ihm das Blut zu Kopf schoß. Sie war wirklich rührend in ihrer
Demut; aber zugleich ärgerte er sich, daß sie ihn auf dieselbe Stufe
mit ihrem Vater stellte: zählte er auch vielleicht an Jahren nicht
viel weniger als der Weber, es war doch etwas anderes mit ihm als mit
diesem abgearbeiteten, verbrauchten Manne! Unwillkürlich richtete
Josef seine schlanke, noch sehr elastische Figur stramm auf und strich
den Schnurrbart, dessen Blond noch nicht wie das des Kopfes mit Grau
untermischt war. Wenn sie nicht deswegen geweint hatte, warum denn?
Da errötete sie und stammelte verlegen, daß sie gern wieder einmal
herunter zu den Ihren möchte. Und vor allem in die Kirche. Nun, seit
sie den Bürgermeister gesehen und gehört hatte, standen das Dorf mit
seinen Hecken, das Elternhaus mit all den Geschwistern, die Kirche mit
ihrem Turm, so lebendig vor ihr, daß es sie zog an Händen und Füßen.
Die Tränen kamen ihr schon wieder.

Da stieß er rasch heraus: »Geh, geh, wenn du willst, ich habe dir doch
nichts in den Weg gelegt. Geh!« –

Sie war am Sonntag aufgebrochen in aller Morgenfrühe, noch war es nicht
hell. Er hatte sie aufstehen hören und in der Kammer hin und her gehen.
Es war ihm ganz recht, daß sie fortging; nun genoß er doch einmal die
Einsamkeit ganz, aber auch ganz ungestört, in so vollen Zügen, als
wäre die Natur nur einzig für ihn allein da. Er blieb noch eine Weile
liegen. Sonst störte ihn oft am Morgen ihr Klappern in der Küche, das
Knarren der Kaffeemühle, das Klirren der Herdringe; heute hörte er
nichts. Nicht ein Atemzug war im Haus. Heute hätte er schlafen können
bis in die Unendlichkeit, aber heute konnte er nicht. Gähnend raffte
er sich auf: rasch nur jetzt auf und heraus! Die Sonne schien, es war
noch ein guter Tag. Und im Hause würde es heute wohl etwas frostig
sein?! Aber als er ins Wohnzimmerchen kam, knisterte dort das Feuer,
und in der Küche stand der Kaffee für ihn warm. Es war alles wie immer,
nur das bräunliche Gesicht mit den schwarzen Augen fehlte, das ihm
sonst alle Morgen zulächelte. Wie sehr man sich an jemanden gewöhnen
kann!

Den ganzen Tag trieb sich Josef draußen umher. An das Essen dachte
er nicht; sie hatten zwar gestern verabredet, daß es Bäreb in die
Herdröhre setzen sollte, aber er vergaß es. Nun war er Robinson, nun
lebte er auf einer wüsten Insel; er hatte sich das als Knabe immer
gewünscht. Und doch sollte das knabenhafte Entzücken sich heute nicht
mehr einfinden. Wohl fühlte er einen Schauer, als er allein, ganz
allein auf dem kleinen Wiesenplan stand – weltenfern die Stätten der
Menschheit – als er, einsam unter den schwarzen Tannen dahinschreitend,
deren Wurzeln tief ins Moor hinabreichen, sich sagen konnte: wenn du
jetzt rufst, es hört dich keiner! Aber es war ein leises Unbehagen in
diesem Schauer.

Huh, war das eine Öde! Er war durch eine Lücke aus den Tannen heraus
ins Freie getreten. Hier war die Jagdkanzel oben auf dem Baum, von hier
aus hatte Heinrich neulich den großen Hirsch geschossen, als er draußen
im offenen Venn stand und ins Freie orgelte. Ein Blitz, ein Knall, das
Tier hatte das stolze Haupt geschüttelt – ein Satz – hier, hier hatte
es sich noch davongeschleift, eine tiefe Spur hatte der schwere Leib im
Gestrüpp gezogen. Noch jetzt, nach Tagen, sah man die Fährte hundert
Ellen weit. Und hier war der Hirsch zusammengebrochen. Ein brillanter
Schuß. Der glückliche Schütze hatte gar nicht genug damit prahlen
können.

Josef sah den getrockneten Schweiß auf dem Moos und wendete sich
rasch ab; die Lust war ihm vergangen, hier zu spazieren. Er kehrte
in den Tannenwald zurück. Aber aus dem Dickicht wechselte plötzlich
eine Wildsau, und wenn er sie auch nicht fürchtete, es war doch kein
angenehmes Gefühl, ohne Flinte, ohne jegliche Waffe, selbst ohne Stock
zu sein.

Wohin er sich heute auch wendete, es behagte ihm nicht. Er war unruhig,
unzufrieden, von einer Nervosität befallen, die ihn bisher auf der
Fangeuse nicht heimgesucht hatte. Das war ja noch dieselbe unendliche
Weite, die wie die Heide der Niederung erscheint, fast flach, nur
leise wellenförmig bewegt, und auf der man doch nie vergißt, wie hoch,
hoch oben man ist. Blauer Horizont grenzte ihr purpurnes Braun ein.
Und dahinten, da weit, da ganz unten waren die Berge, die Flüsse, die
Täler, Menschen wohnten da, lachten und freuten sich, kämpften und
litten! Das war alles noch wie sonst. Hier war nur die Einsamkeit. Aber
sie ging wie eine graue Frau mit gesenktem Kopf über das dämmernde
Moorland und wob am Netze der Schwermut, dem niemand entrinnt.

Josef fühlte eine tiefe Bangigkeit. Er stand und starrte, hätte sich
gern losgerissen und konnte doch nicht. Es saugte ihm etwas an der
Seele. Langsam, wie mit geschlossenen Füßen, schob er sich voran.

Ein Stein lag mitten im Heidebraun, halb eingesunken, und doch noch
fast so groß wie ein Haus. Es gab deren viele im Venn, sie sollten
einstmals vom Himmel heruntergefallen sein. So sahen sie auch aus;
hingeschleudert, hingeworfen von Riesen in plötzlichem Unmut. Er kroch
auf den lagernden Block, den Regen und Stürme geschliffen hatten,
setzte sich oben nieder und starrte ins Weite. Eine ununterbrochene
Kette von Gedanken, deren Schlußglied sich nicht einfand, umschlang ihn
quälend.

Was sollte werden? Ewig konnte er doch nicht hier oben bleiben, denn
wenn Bäreb einmal fortging von ihm, dann blieb auch er nicht mehr
auf der Fangeuse. Nein! Er schüttelte, die Stirn in viele Falten
ziehend, den Kopf, und dann lächelte er wehmütig: sie würde ja einmal
fortziehen, sie mußte doch heiraten, solche Mädchen heiraten immer.
Ob sie heute recht glücklich war unten bei den Ihren? Sicherlich. Er
hatte ihr Geld geschenkt; das würde sie nun der Mutter schenken, und
den Geschwistern würde sie etwas mitbringen, ihnen kaufen, was sie nur
Schönes im Dorfladen fand. Es würde da unten ein Jubel sein. Er fühlte
fast Neid: schade, daß er das nicht mit ansehen konnte! Bäreb konnte
sich freuen wie ein Kind, nicht ganz so laut und nicht so heftig mehr,
aber ganz so unbefangen.

Ein plötzliches Frösteln überfiel ihn: huh, war das kalt! Nun fühlte
er, daß er ganz erstarrt war, Hände und Füße waren wie abgestorben; der
Vennatem hatte ihn durchhaucht. Durch die graue Luft kam’s angeflattert
mit klatschendem Flügelschlag und klagendem Ruf. Das waren die
Moorhühner – schwerfälliges, träges Gevögel – sie strichen ihm um den
Kopf, trübselig und graufarben wie Venn-Gedanken. Er sprang auf. Die
Heide hatte abgeblüht, dahin war der Schimmer. Fort, nur fort, daß er
aus der endlosen Weite fortkam zu begrenzterem Raum! Er kniff die Augen
zu. Hier war zu viel Raum, zu viel Endlosigkeit. Er ertrug sie heut
nicht.

Wie ein Zerschlagener kam er heim. Und dann fing die Ungewißheit an,
ihn zu peinigen: ob sie nun bald kam, oder erst spät auf den Abend?
Oder ob sie gar am Ende erst morgen früh wiederkam? Wer weiß, die Ihren
hatten sie nicht mehr fortgelassen, es ward ja schon dunkel! Er sah
nach der Uhr. Wenn sie nun nicht bald kam, ging er noch einmal hinaus
und ihr entgegen.

Der Wind, der den Tag über geweht hatte, war zum Sturm geworden. Mit
einer Gewalt schnob er von Westen her, daß selbst die Hecke, so dicht
gefügt sie auch war aus armesdickem Astwerk, ihn nicht abhalten konnte.
Das Haus erzitterte, die Türen sprangen auf, im Schlot erhob sich ein
Winseln und Heulen. Die Tannen ächzten; man hörte ihr Stöhnen bis
hinein ins Zimmer.

Der Einsame stand am Fenster und versuchte, den Himmel zu beobachten,
aber die ragende Hecke schnitt ihm jeden Ausblick ab. Im Zimmer war
es dunkel und dunstig. Rastlos schritt er auf und nieder; ihm war
bange. Eine dumpfe Traurigkeit schien über diesem Erdwinkel zu lasten,
eine plötzliche Trostlosigkeit machte seine Seele erschauern; wie
gejagt, wie vor sich selber fliehend, stürzte er zur Tür, er riß sie
auf: draußen konnte es ja nicht unerträglicher sein! Aber ein Zugwind
klatschte sie wieder zu. Er saß drinnen wie gefangen. Es fing an zu
regnen. Er hörte die gepeitschten Tropfen hart gegen die dürre Hecke
rasseln. Da war nun auch bald das letzte Blatt heruntergeschlagen,
Sommer und Herbst waren hin, der Winter war da – wie würde er ihn
überdauern?!

Zum ersten Mal kam auch ihm der Zweifel, den alle anderen schon vor ihm
gehabt hatten: würde er’s auch aushalten hier oben?! Er lehnte sich
niedergeschlagen gegen die kalte Wand im dunklen Flur und seufzte. Eine
lange, lange Reihe öder Tage gähnte ihn an – da hörte er plötzlich
draußen, in der atemschöpfenden Stille zwischen zwei lärmenden
Windstößen, einen hurtigen Tritt. Die Tür flog auf, Bäreb wehte herein
mit zerzausten Haaren, das bunte Kopftuch im Nacken, durchnäßt, erhitzt.

Ihre Augen strahlten ihn an, der dunkle Flur war auf einmal nicht mehr
so dunkel. »Do bin ich, Hähr Josef!«

Er konnte nicht an sich halten – er war ja so froh, sie wieder zu haben
– er riß sie heftig mit beiden Händen zu sich heran und küßte sie.

Sie ließ sich den Kuß gefallen; sie leistete nicht den geringsten
Widerstand, als er hastig, wie verdurstet, seine Lippen auf ihren Mund
drückte. War dieser Mund frisch, den hatte noch kein anderer vor ihm
berührt! Das Blut stieg ihm siedend zu Kopf, er fühlte sich auf einmal
wie neu belebt, verjüngt – – – aber dann wich ihm alles Blut jäh aus
dem Gesicht zurück: nein, das durfte nicht sein, dieses Mädchen durfte
er nicht küssen! Alle, alle Mädchen der Welt, es war kein Unrecht
dabei; aber diese, diese hier nicht!

Mit Mühe unterdrückte er das Beben seiner Stimme und zwang sich zu
ruhigem Ton: »Nun, mein Kind, war’s schön zu Haus?« Und dann drehte er
sich von ihr ab, ging zur Stube hinein und machte die Tür hinter sich
zu.

Aber sie kam ihm nach. Ihr Herz war zu voll, sie mußte es ihm erzählen,
wie gut es der Mutter jetzt ging, wie das Kleine trefflich gedieh, wie
die Maiblum so reichlich Milch gab, daß sie alle Tage Suppe kochen
konnten, und daß Kathrinchen vom reichen Adams außer den Schuhen noch
ein Extratrinkgeld bekommen hatte, weil von den Kühen, die sie ihm im
Sommer hüten gegangen, keine, aber auch gar keine zu Schaden gekommen
war. Nun konnte das Kathrinchen nicht mehr hüten, nun ging es wieder in
die Schule. Und auf des Dores Grab war ein Kreuzchen gekommen, darauf
stand zu lesen:

    ›Vater, Mutter, tröstet euch,
    Ich bin jetzt im Himmelreich!‹

Nun weinte die Mutter nicht mehr. Sie betete alle Abend zur
allerheiligsten Mutter von Lourdes, und alle Morgen zum heiligen
Willibrord; zu den zweien, denen sie am meisten zu danken hatte.

Bäreb lachte froh: ja, wenn der Mutter nicht dazumal, gerade als es ihr
am allerschlechtesten ging, die heilige Frau an der Ley begegnet wäre,
wer weiß, ob sie, die Bäreb, dann nach Echternach springen gegangen
wäre! Sie sprach es gedämpft, wie mit andächtiger Scheu. Und ein
nachdenklich-ernsthafter Zug, der ihrem harmlosen Gesicht sonst fremd
war, ließ es älter erscheinen.

Josef hatte gar nicht recht hingehört auf das, was sie sagte. Im
Lehnstuhl saß er, hatte den Arm auf die Seitenlehne gestützt und
beobachtete sie hinter der vorgehaltenen Hand. Wie hübsch sie aussah,
wie besonders hübsch! Auf ihren bräunlichen Wangen glühte ein tiefes
Rot, ihre Augen waren feucht. Es gab vielleicht Schönere! Josef
schloß einen Moment lächelnd die Augen, Gestalten huschten an seiner
Erinnerung vorüber. Er hatte viele schöne Frauen gekannt, die Welt war
weit, aber so, wie dieses Mädchen hier, hatte ihm doch keine gefallen!

»Geh,« murmelte er – er war ganz heiser – »geh, zieh dich um, du bist
ja ganz naß. Ich will allein sein!«

       *       *       *       *       *

Das wurde eine böse Nacht. Waren denn alle Geister des Venns lebendig
geworden und jammerten?

Josef hörte das Mädchen ruhig atmen – oh, die focht nichts an! Aber
ihn. Er fluchte dem Lärm draußen, er fand keinen Schlaf. Oder war es
etwas anderes, das ihm die Ruhe verscheuchte? Ihm war es heiß, glühend,
trotzdem es kalt in der Kammer war; der Wind schnob durch alle Ritzen
bis hin an sein Bett. Und dem Toben draußen gesellte sich der Aufruhr
innen. Hier – hier! Er schlug sich wütend mit der flachen Hand gegen
die Brust, so heftig, daß ihn ein Husten erschütterte. Sollte es
nun auch schon wieder aus sein mit ihm hier an diesem Platz, sollte
er so rasch wieder das Leben hier aufgeben, es wechseln, wie man ein
Kleidungsstück wechselt, das man noch gar nicht zu Ende getragen hat?!
Er war verzweifelt über sich selber. Alter Tor! Ja, Heinrich hatte ganz
recht, der wußte besser Bescheid über ihn, als er über sich selber:
er taugte zu nichts. Er hatte keine Energie. Nicht einmal diesem hier
war er gewachsen. Und – aber was war denn eigentlich weiter dabei,
daß er der schönen Bäreb einen Kuß gegeben hatte?! Sie würde den bald
vergessen. Vielleicht hatte sie ihn schon vergessen, ihn kaum gefühlt!

Er lauschte angestrengt: ob sie wirklich so ruhig schlafen konnte?
Es wurmte ihn, es kränkte ihn. Wie es an der Hecke riß, an den Läden
klapperte! Jetzt stürzte ein Dachziegel – krach. Aha, jetzt wälzte sie
sich! Jetzt tat sie einen zitternden Seufzer! Jetzt stammelte sie:
»Jesus Maria!«

Josef saß im Bett aufrecht, umstürmt und durchstürmt. Mit einer jähen
Aufwallung von Freude hatte es ihn durchzuckt: ah, sie konnte auch
nicht schlafen! Aber gleich darauf schämte er sich dieser Freude: nein,
alle Nacht sollte sie einen so friedlichen, unschuldigen, ungestörten
Schlaf haben, den harmlosen Schlaf der Kindheit!

Josef hatte Tränen in den Augen. Er war froh, daß es draußen gewaltig
stürmte, so konnte er es sich doch selber weismachen, daß er deshalb
nicht schlafen konnte. Mochte sie nebenan schlafen oder nicht schlafen,
ruhig atmen oder zitternd seufzen, er versenkte sich ganz in das
Toben der Nacht. Ob die sich anderwärts auch so wild gebärdete? Wie
mußte das Haus der Strafkolonie, das einsame Haus ohne Hecke, sich
ducken! Zitternd hockten die Menschen darin; mußten sie nicht wähnen,
weggefegt zu werden, nicht denken, Weltuntergang sei da?

Es toste in den Lüften, es brüllte und lärmte. Jetzt rollte ein Getöse
sich vom Grenzbach herauf. War das ein gewaltiger Hirsch, der da in
den Tannen orgelte? Nein, der Sturm, der Sturm. Er übertönte alles
Sterbliche. Das war eine ohrenbetäubende Musik, die Musik des jüngsten
Gerichts. Wohl dem, der sie hören konnte mit reinem Herzen!

Die Bäreb schlief wieder ganz fest – horch, wie sie gleichmäßig atmete!
Ja, die hatte nichts zu bereuen. Aber die armen Strafgefangenen! Huh,
wie sie zitterten in ihren Leinenkitteln, aufgestanden waren sie alle,
der barsche Aufseher hatte sie aufgetrieben; sie wußten ja nicht, ob
das Dach ihnen nicht über den Köpfen aufflog!

Josef stellte sich die nächtlichen Gestalten deutlich vor – ein
zitternder, erbärmlicher Spuk – er versuchte wieder das alte Mitleid
mit ihnen zu finden, und fand zuletzt doch nur Mitleid für sich allein.
War es nicht scheußlich für ihn, hier einsam zu liegen und sich so zu
quälen? Wenn er nun aufstünde, wenn er nun einträte nebenan –?! Pfui!
Er kniff die Augen zusammen und preßte die beiden Hände gegen das
Gesicht. Nein, das wäre gemein, an die Unschuld zu rühren! Das ging ihm
gegen die Ehre.

So lag er kämpfend, lange, lange, bis das Brüllen im Venn nachließ,
bis es aber auch schien, als sei kein Ziegel mehr auf dem Dach, kein
Laden am Haus mehr, kein Blatt mehr an der Hecke und auch keine Tanne
mehr im Forst. Alles mußte der Sturm weggerissen haben, weggeknickt,
wegrasiert, als sei es nie dagewesen. Resigniert schlief Josef ein.

Die Stimme Bärebs weckte ihn. Es klopfte an seiner Kammertür: »Hähr
Josef, Hähr Josef, nu stoht äwer up, et is esu spiet!«

Was, schon spät? Es war ja noch dunkel! Er sprang aus dem Bett. Was
wollte sie denn, konnte sie ihn denn nicht wenigstens jetzt in Ruhe
lassen?!

»Hähr, Hähr,« – Bäreb lachte fröhlich – »et is am Schneie, ärg am
Schneie! Mir schneien ein!« –

Und sie schneiten ein.

Die Tannen hatte der Sturm nicht weggefegt, noch standen sie
unversehrt, sie waren das starke Wehen gewohnt, aber nun schienen sie
doch fast brechen zu müssen unter Schneelasten. Ihre Wipfel neigten
sich demütig tief. Schnee, Schnee, Schnee, alle Tage und alle Nächte.
Die Stürme schwiegen. Ganz ohne Geräusch, sammetweich, sank der weiße
Flaum und schichtete sich höher von Stunde zu Stunde. Man sah ihn
steigen wie die Flut, unwiderruflich, unentrinnbar; aber eine Ebbe kam
nicht.

Erst hatten sie wacker geschafft auf der Fangeuse. Sie hatten sich
Ein- und Ausgang freigehalten; Josef half der Magd täglich einen Gang
schaufeln, von der Haustür bis zum Heckenausgang, von da zum Brunnen,
und von da weiter bis hin zum Wiesenplan. Er war in den ersten Tagen
tüchtig umhergestapft und hatte sich nicht satt sehen können an der
reinen, makellosen Weiße; es war ihm, als lägen auch alle Wünsche und
Begierden unter dieser Decke und schlummerten ein. Aber das stete Weiß
tat bald seinen Augen weh, sie brannten und flimmerten; die ungeheure
Monotonie des Weiß fing an, ihn zu langweilen, mehr als das, ihn zu
beängstigen. Er fühlte eine heimliche Angst. Vor was? Er hätte sie
nicht erklären können. Aber die Angst war da, er fühlte sie genau, sie
war keine Täuschung. Sie lauerte auf ihn in der endlos-unabsehbaren
Einöde von Schnee, hinter diesen weißen, tiefgeneigten Tannen, in
diesem Haus, das versunken lag hinter einer Mauer von Schnee. Die
Hecke war zum Schneewall geworden. Grau war die Luft, die Ferne
verhangen; man war wie geschieden von allem, was lebt, durch eine
graue Wand. Man wußte, da unten tief lagen Städte und Dörfer, in
denen Schlöte rauchten und Menschen wohnten, aber zu sehen war nichts
von ihnen, gar nichts. Nicht einmal bis zum Grenzbach konnte man
hinunterkommen, oder in anderer Richtung bis hin zur Chaussee gelangen.
Josef wollte dem Landbriefträger entgegengehen, es verlangte ihn so
nach den Zeitungen, aber er sank ein bis an die Kniee, und als er’s
doch erzwingen wollte, sogar bis an die Hüften. Mit Mühe nur kam er
wieder heraus. Geschwitzt, ermattet, fröstelnd, von bangen Ahnungen
durchschauert, kehrte er wieder ins Haus zurück.

Die Post blieb aus.

Im Haus war’s warm; an Heizmaterial hatten sie keinen Mangel, Holz und
Torf waren genug aufgeschichtet im Schuppen, und Bäreb hatte fleißig
Tannenäpfel und Reisig gesammelt. Nun war es eigentlich gemütlich in
der starkgeheizten Stube, die Fenster liefen an, man konnte nicht
einmal die Hecke draußen mehr sehen. Und es wurde am Mittag schon
dunkel; frühe Dämmerung sank hernieder, ebenso lautlos und geisterhaft
still wie der großflockige weiße Schnee. Am Himmel zwängte kein Stern
sich durch, einzige Helle gab nur noch der Schnee; aber diese Helle war
kein Licht, sie war nur bleicher, matter, gespenstischer Widerschein.
Und nirgend ein Laut.

Josef schrak zusammen, wenn Bäreb etwas sprach. Sie saß jetzt fast den
ganzen Tag hier innen; die Küche hatte Steinfliesen, man konnte sie bei
der Witterung doch nicht da sitzen lassen. Verstört fuhr er dann von
seinen Büchern auf. Er hatte lesen wollen und las doch nicht; er hatte
geträumt. In solcher Abgeschiedenheit müßte es schön sein, sehr schön,
wenn man glücklich ist! Ihm war sie schrecklich.

»Und so ist es immer bei euch, alle Winter?«

Sie lachte und nickte: ja, so war’s immer, wenn’s auch nicht gerad so
viel Schnee gab wie dieses Jahr.

Wenn doch der Postbote wenigstens morgen käme! Aber auch dann blieb er
aus. Über acht Tage hatte man nun schon keine Kunde mehr, daß es noch
eine Welt gab. Die da unten hatten ihn wohl ganz vergessen?!

Es war eine Erlösung, als endlich, an einem Mittag, als Josef schon
beinahe die Hoffnung aufgegeben hatte, der Briefträger erschien. Mit
einer an Gier grenzenden Eilfertigkeit riß Josef den Brief auf, den
er erhielt. Heinrich schrieb, man hätte Schnee unten, da hätte man
gewiß oben noch viel mehr Schnee, ob Josef nicht lieber herunterkommen
wollte? Er sollte Nachricht geben durch den Mann, damit ihn ein
Schlitten holen käme.

Sehr nett von Heinrich! Aber, aber – Josef sah nach Bäreb hin. Sie saß
auf der Bank unterm Fenster und sah zu, wie es dem Boten, dem sie eine
Tasse Kaffee heiß gemacht hatte, schmeckte. Wie blühend sie aussah,
wieviel gesünder und runder, als da sie noch unten in der Fabrik
arbeitete! Dann würde sie wieder dort arbeiten müssen – nein, es war
nicht möglich, daß er ging! Um Bärebs willen nicht. Er mußte aushalten.

Er gab dem Briefträger die Antwort an Heinrich mit: es gefiele ihm
noch ganz gut, noch immer sehr gut, und wenn es bald aufhören würde,
zu schneien, würde es sogar herrlich sein. Nein, er dachte gar nicht
daran, hinunter zu gehen! Mit einem gewissen Trotz schloß er das
Kuvert. Sie sollten auch nicht sagen, daß er nicht standgehalten hätte.

Mit der Miene eines Siegers übergab er dem Boten den Brief. Als aber
der Mann fortgestampft war, hätte er ihn gern zurückgerufen: nein, er
wollte doch lieber fort, sie sollten ihn doch lieber herunterholen!

Bäreb hatte die weiße Katze auf den Schoß genommen; der Winter hatte
das halbwilde Tier ins Haus getrieben. Nun sah Josef, wie sie sich
anschmiegte, wie sie schnurrte; er hörte, wie das Mädchen sie mit
zärtlicher Stimme liebkoste. »Heraus mit dir!« Unsanft jagte er das
Tier aus dem Zimmer. Aber als ihn dann Bärebs Augen vorwurfsvoll
anblickten, ging er hinaus, der Katze nach, und versuchte, sie wieder
hereinzulocken. Doch sie kam nicht. Auf der steilen Leiterstiege,
die zur Dachluke führte, saß sie und miaute kläglich. Er kletterte
ihr nach, er kletterte bis aufs Dach; da jagte die Katze über die
verschneiten Ziegel, lief hinüber bis zur Hecke, die mit dem Dach jetzt
fast eine Schneefläche bildete, und er konnte ihr nicht mehr nach.

Nun hatte er Bärebs einzige Unterhaltung verjagt, nun hatte sie gar
nichts mehr, was sie zerstreute. Es tat ihm leid. Er fand nicht den
Mut, sie zu fragen, ob es ihr langweilig sei, öde und traurig? Wenn
sie ›ja‹ sagte, würde er sich ärgern – und wenn sie ›nein‹ sagte, was
dann? Lieber nicht fragen! Er glaubte in ihrem Blick etwas zu sehen,
was er früher nicht darin gefunden hatte. Ihre Augen glänzten so
weich, so vertraulich. War es nicht natürlich, daß sie das Verlangen
nach Vertraulichkeit hatte? Sie hatte nicht Vater, nicht Mutter hier,
nicht die Geschwister, nun nicht einmal das Kätzchen mehr. Wer weiß,
vielleicht hatte sie auch einen Schatz da unten – was wußte er denn
von ihr? Er beobachtete sie verstohlen. Oft, wenn sie im dämmernden
Licht, das die kleine Lampe verbreitete, auf der Bank saß, ließ sie
jetzt ihr Strickzeug sinken und sah mit leicht geöffnetem Mund, mit
halb-geschlossenen, träumenden Augen ins Leere. An was dachte sie –
und an wen?! Ein Gefühl, das er nicht Eifersucht nennen wollte, und
das doch Eifersucht war, durchzuckte ihn. Ja, sie hatte einen Schatz!
So blickt ein verliebtes Mädchen! Und wenn sie vielleicht auch jetzt
keinen hatte, so hatte sie doch einen gehabt. Daß er das früher nicht
gesehen hatte! In diesen Augen, die so rund und harmlos in die Welt
blickten, versteckte sich in der Tiefe etwas, das in keinem Kinderauge
zu finden ist. Nun ja, sie war eben in den Jahren!

Er grübelte über sie; er lag förmlich auf der Lauer. Bald war es ihm,
als dürfe er die Hand nach ihr ausstrecken, ohne unrecht zu tun, und
bald verwies er sich schon diesen Gedanken hart. Nein, sie war noch
ganz Kind, noch ganz unschuldig – wie sagte doch Leykuhlen? ›Hier
braucht man nicht bange zu sein, so was ist ausgeschlossen bei uns!‹

Er sah wieder nach Bäreb hin: träumte sie? Nein, sie träumte nicht.
Ruhte nicht auf ihm, auf ihm ihr Blick, sinnend, glänzend, zärtlich?!

Da schrie er sie an: »Hast du einen Schatz?« Und als sie nicht gleich
antwortete, sondern die Augen rasch abwandte, vor sich niedersah,
verwirrt und dunkelrot, da schrie er noch einmal, in unverständlicher
Heftigkeit mit dem Fuß aufstampfend: »Willst du’s mir wohl sagen! Oder
hast du etwa einen Schatz gehabt?!«

Er war aufgesprungen, er stand nun bei ihr und packte sie fest am Arm.

Ihr Arm war sehnig und stark, trotz der Schlankheit, aber nun sagte sie
leise: »Au, Ihr tut mir weh!«

»Äh was, weh!« Er lachte grell. Er war plötzlich ein ganz anderer.

Sie sah scheu-erschrocken zu ihm auf: was machte der Herr Josef denn
für ein Gesicht?

Finster sah er auf sie nieder, all die Güte war aus seinem Gesicht
geschwunden. »Hast du einen Schatz?« Er murmelte es fast drohend, ließ
den Blick von ihr, schaute, blaß werdend, zu Boden und nagte an seiner
Lippe. Wenn sie jetzt sagen würde ›ja‹ – keinen Augenblick würde er
sich dann mehr besinnen. Warum denn auch? Nehmen würde er sie, wie eine
fällige Frucht, die gepflückt zu werden verlangt.

Aber sie sagte: »Nee!« Ernsthaft schüttelte sie den Kopf, fast traurig:
»Nee, Hähr Josef, ich han keene Schatz, dat könt Ihr mir jlöwe!«

Da ließ er ihren Arm, den er noch immer krampfhaft gepackt hielt,
fahren. Er stieß sie fast von sich. Knäuel und Strickzeug und Nadeln
rasselten zur Erde, verwirrt bückte sie sich und raffte alles zusammen.
Sie eilte hinaus, aber als sie schon in der Tür stand, schickte sie
noch einen Blick nach ihm zurück, der ihm zu denken gab. Warum war
sie so flammendrot, warum so erschrocken? Warum waren ihre Augen so
eigentümlich? Ihre Blicke so unsicher? Sollte sie ihn belogen haben?!

Gleich darauf hörte er draußen ihre kosende Stimme. Hatte die Katze
sich wieder eingefunden? Er hätte gern gewußt, mit wem sie so redete.
Aber er traute sich nicht hinaus. Diesen Abend ging er früher zu Bett
denn jemals, und als nebenan die wurmstichige Bettstatt zu knarren
anfing, da zog er sich die Decke bis über den Kopf und steckte sich die
Finger in die Ohren. –

Wenn man nur Menschen zu sehen bekäme, Menschen! Der Schnee fiel
nicht mehr, aber er lag fest; er lastete mit schwerer Decke, unter
der sich kein Weg abzeichnete und auch kein Gestein. Auch die Karrees
der Tannen-Anschonungen waren zugeweht. Nirgendwo gab es ein Merkmal
mehr, nach dem man sich richten konnte. Es trieb den Einsamen aus dem
Haus. Und war es auch in dem kristallenen, körnigen Schnee, den niemand
zusammengetreten hatte, der wie trockener Sand, lose und rinnend, in
eisiger Kälte bis zu den Knieen aufstieg, ein mühseliges Fortkommen,
er wollte es doch versuchen. Bis hin zur Chaussee wenigstens, da mußte
doch mal ein Lastwagen fahren oder die Post kommen. Alles konnte doch
nicht ein Ende haben. Da würde er dann in den Räderspuren leichter
weitergehen. Vielleicht auch, daß er einen Menschen antraf, einen
Grenzjäger, einen Waldhüter, einen Förster, nur irgend einen! Nur
einmal ein anderes Gesicht sehen, als ewig, ewig das des Mädchens!

Er floh vom Haus. Aber weit war er noch nicht gekommen, als er schon
fühlte, daß ihn alle Glieder schmerzten, daß in seiner Brust der
Atem keuchte. Er hielt an in dem tiefen Schnee. Ringsum Totenstille.
Er drehte den Kopf nach allen Seiten: kein Mensch, nicht einmal ein
Wild! Kein einziger dunkler Punkt, den das Auge hätte erhaschen können
in der Unendlichkeit des verschneiten Venns. Sein Auge suchte die
Richtung, in der tief unten die Stadt liegen mußte, aber nicht einmal
die Richtung war mehr zu bestimmen; man wurde völlig verwirrt von
dieser überall gleichen, eintönig weißen Weite. Ja, sie hatten sein
vergessen! Er stieß einen ungeduldigen Seufzer aus und lächelte bitter.
Selbst Hedwig, die sich doch sonst so oft an seinen Arm gehängt hatte,
kümmerte sich jetzt nicht mehr um ihn in ihrem bräutlichen Glück. Sie
hatte ja auch an etwas Besseres zu denken, als an ihn, den schrulligen,
überflüssigen Junggesellen. Die Ausstattung mußte nun bald fertig sein,
jedes Stück erregte das glühendste Interesse. Man schrieb und ließ
sich zur Auswahl senden, man packte aus und packte wieder ein, man
schrieb wieder und ließ sich wieder schicken, man reiste nach Aachen,
nach Köln, man suchte selber aus, man kaufte ein, man probierte an,
der Tag wurde zu kurz. Man hatte so viel zu tun, es war eine stete
Unruhe. Heinrich würde wohl manchmal dazwischenwettern, wenn er nicht
treten konnte vor Packen und Päckchen, vor gestickten Unterröcken
und zarten Negligés, vor Spitzen und Seidenschleifen, vor duftigen
Blusen und Staatskleidern. Pompös würde das Brautkleid ausfallen.
Josef sah ordentlich, wie die beiden Verlobten mit glänzenden Augen
die Stoffproben betrachteten. Der Bräutigam lispelte dabei der
kleinen Braut tausend dumme Dinge ins Ohr. Zeit hatten sie ja genug
zu dergleichen, das Militär war längst fort, der Platz geräumt; nur
das Wachkommando lag noch oben. Der Adjutant vom Platz mußte zweimal
die Woche hinauf, im übrigen aber hatte er die Vergünstigung, unten im
Städtchen zu wohnen. Also Gelegenheit genug zu Liebesgetändel – und sie
durften ja. =Sie= durften! Ende April schon würden sie heiraten. Jetzt
war es bereits Januar.

Ob der Schnee denn ewig liegen würde? Zwei Monate fast war man schon
begraben bei lebendigem Leib. Josef sah sich wild um. Aber so tief
man auch eingegraben war, das Herz gab sich doch nicht zur Ruhe, das
pochte nur um so lebendiger. Daß man doch davonrennen könnte – wohin?
Ganz gleich. Nur einmal andere Eindrücke, andere Gesichter, daß man auf
andere Gedanken kam!

Und doch mußte er immer wieder ins Haus zurückkehren, wo niemand war,
als die Bäreb und er.

Nun aßen sie schon lange altes Brot; zehn Tage war es her, daß der
Bote, der sonst alle Woche Vorrat heraufbrachte, zuletzt dagewesen war.
Blieb der etwa ganz aus? Es verlangte Josef nach frischem Brot; auch
hatte er eine geheime Angst: wenn es einmal so käme, daß er auch ohne
Licht sitzen müßte mit der Bäreb im dunklen Haus?! Ungeduldig harrte
er, aber der Mann kam nicht.

Da machte sich Bäreb auf den Weg. Er wollte sie nicht lassen, aber
sie lachte ihn aus: was war denn weiter dabei, sie war ja jung und
kräftig, sie kam schon durch! So ließ er sie gehen. Aber als sie fort
war, packte ihn die Reue. Er hatte dieselbe Unruhe wie damals, als sie
gegangen war, ihre Eltern zu besuchen – nein, eine noch weit größere
Unruhe. Es war ihm zu Mut, wie einem, der ein Kleinod verloren hat.

Er fing an, im Schuppen Reisig zu zerkleinern, aber er hieb sich dabei
auf die Finger; dann begann er, Schnee zu schippen. Sie würde sich
freuen, wenn er ihr einen recht breiten Pfad geschaufelt hatte bis hin
zum Brunnen. Aber als er eine Stunde geschippt, geschaufelt, gehackt
und gekarrt hatte, verließ ihn die Lust. Dieser Arbeit fühlte er sich
nicht gewachsen. O, was waren das doch für tausend Unbequemlichkeiten!
Zornig über die eigene Torheit, die ihn in eine solche Lage gebracht
hatte, ließ er Schaufel und Besen fallen, warf sich todmüde drinnen
aufs Bett und stierte die Decke an. Er war zu träge, um Licht
anzuzünden, er blieb so liegen in der Dunkelheit. Er lag wie in einer
Apathie. Nur das fühlte er, wenn es noch lange so anhielt, wenn das
noch immer, immer so weiterging, dann beging er noch viel größere
Dummheiten, als er bisher begangen hatte, oder – eine Schlechtigkeit.
Oder – er faßte sich mit beiden Händen an die pochende Stirn – er wurde
verrückt!

Diese Einsamkeit, diese Einsamkeit! Er stöhnte auf. Sie übte den
furchtbaren Druck. Alles Übel kam von dieser Einsamkeit. Er verwünschte
die Fangeuse. Hätte er sie nie betreten! Sie war der rechte Ort,
Gedanken auszuhecken, die nichts taugten. Heute begriff er nicht, daß
er hier einstmals Tage verlebt hatte, Tage solch reiner, solch hoher
Entzückungen, wie er solche noch nie im Leben gekostet hatte. Er
fühlte nichts mehr für Dankbarkeit für jene sonnenwarmen Herbsttage.
Wenn er jetzt an sie dachte, geschah es mit Achselzucken: verrückter
Schwärmer!

Tiefe, tiefe Dunkelheit draußen; tiefe, tiefe Dunkelheit drinnen. Eine
Trostlosigkeit kam ihm über das eigene nutzlose Leben. Was hatte er
denn schon geleistet? Hatte er wohl mit all seinem guten Willen für
das Wohl anderer je etwas Gutes geschafft? Immer hatte er Mitleid
mit den Menschen; Mitleid mit den jungen Dingern, die unten auf den
Lumpensäcken ihr Brot verzehrten, Mitleid mit den Sträflingen, die zur
Arbeit getrieben wurden in Wind und Wetter. Dummes törichtes Mitleid,
es hatte niemandem etwas genutzt! Wie konnte man nur daran denken,
dieses unwirtliche Land durch die Sträflinge urbar machen zu wollen?
Und wenn hundert und aberhundert Hände sich auch mühten, wenn man
immer neue Kolonien gründete, neue Arbeiter hier heraufschaffte, würde
nicht Venn doch Venn bleiben, ein finsteres Moorland? Gefangenen wies
man die Arbeit der Kolonisation zu, gedrückten, unfreien Menschen!
Er konnte jetzt das nicht mehr vertreten, was er an jenem Jagdabend
so enthusiastisch gesprochen hatte: ›Apostel – Kulturträger –
Kulturbringer‹ – konnten =die= Bringer des Lichtes einem dunklen Lande
sein, die selber unfrei waren?!

Er lag verdrossen. Wäre er nur fort von hier! Er sehnte sich nach
einer leichteren Luft, nach einer heitereren Sonne, nach lebhafteren
Menschen. Nicht immer diese Stille, diese lastende Stille;
Fröhlichkeit, Heiterkeit, ein rascher bewegtes Dasein, vielseitiger und
vielgestaltiger! Ach, gingen denn selbst Leykuhlens Interessen über den
Turm seiner Kirche hinaus?! Und diese gepriesene Frömmigkeit, diese
Einfalt der Sitten, diese Zufriedenheit – entstammten sie nicht einer
geistigen Armut?!

Heute gefiel ihm alles nicht mehr, er sah heute mit anderen Augen. An
solch kritischen Tagen hatte er unten immer mit Heinrich gezankt – ach,
hätte er jetzt nur einen zum Zanken! Da knarrte die Haustür – Gott sei
Dank, endlich die Bäreb! Er stürmte hinaus: so lange auszubleiben?!

Sie stand da, heiß und rot, ganz außer Atem, und streckte ihm den Laib
Brot entgegen. »Janz frisch, Hähr Josef, et is janz frisch. Ich han
et sälwer beim Bäcker uhs dem Ofen jehollt. Do hatt Ihr et nu!« Sie
strahlte ihn an.

Er fühlte, daß das Brot noch warm war. Glühend heiß mußte sie’s unter
ihr Tuch gesteckt haben, es im Arm gehalten haben, dicht an ihrem
Herzen. »Wie du außer Atem bist!« Er streichelte sie. »Nun, wie geht’s
deinen Eltern? Und den Geschwistern? Und der Maiblum?«

»Dat weeß ich nit!« Sie sah ihn groß an. »Ich bin nit derheem jewes,
dat war noch zu weit!«

Nicht zu Haus? Sie war doch nach Heckenbroich hinunter gegangen, hatte
Brot geholt und sonst allerlei, und sie war nicht zu Hause gewesen?!

»Ich kont doch nit!« Sie sagte es ganz verwundert. »Ihr woll’ doch so
jär frisch Bruet, do han ech mich plage mosse, für jetzt wedder hee zu
sin!«

Er war entwaffnet. Für ihn, für ihn allein war sie also gelaufen?! War
im Dorf gewesen, hatte sich aber nicht einmal Zeit genommen, Eltern,
Geschwister, an denen ihr Herz hing, wiederzusehen?! Er wußte nicht,
was er sagen sollte; das war mehr, als er erwartet hatte, mehr, als
er erwarten durfte. Von der Verdrossenheit, in der er vorhin gelegen
hatte, war urplötzlich nichts mehr in ihm. Er zog sie an sich. »Ich
danke dir,« flüsterte er.

Und sie flüsterte wieder: »Dat hat ich siehr jär für Uech jedon!«

Dann saßen sie in der Stube. Draußen war es dunkel und kalt, aber hier
innen war es warm und hell. Heute bediente er sie; er hatte die Lampe
angezündet, Holz aufgelegt, daß der Ofen glühte, sie gezwungen, in
seine warmen Filzschuhe zu schlüpfen und aß nun und rieb ihre Hände,
die eiskalt und blaugefroren waren.

O ja, es war schon schwer gewesen heute durchzukommen, der Wind hatte
einen förmlich durchblasen, als hätte man kein Tuch und kein Kleid an,
gar nichts auf dem Leib! Aber nun war sie froh. Sie erzählte ihm, daß
sie ein-, zweimal vom Wege abgekommen und schon so müde gewesen war,
daß sie sich hatte hinsetzen wollen; aber da hatte sie an den Herrn
Josef gedacht und wie dem so bange sein würde, wenn sie nicht bald
wieder da war, und da hatte sie sich wieder aufgerafft. Ihr Schutzengel
hatte sie denn auch richtig geführt. Zurück war der Weg leichter
gewesen; den Wind hatte sie im Rücken gehabt, er hatte sie vor sich
hergeblasen, daß sie kaum zu laufen brauchte, daß sie über den Schnee
hingeweht worden war. Raben waren über ihr geflogen während des ganzen
Weges, fast mit den Flügeln hatten die sie gestreift und sie immer
umkreist; aber sie hatte ihr Brot festgehalten und war gerannt und
gerannt. Sie lachte fröhlich.

Es war, als hätte der heiße Wein, den Josef dem erstarrten Mädchen
zu trinken gegeben hatte, es völlig verändert. So lebhaft war
Bäreb noch nie gewesen. Sie taute auf; da war nichts mehr von
Scheu und Zurückhaltung. Aber als sie jetzt plötzlich seine Hand
streichelte: »Ihr seid eso jot,« war doch keine Dreistigkeit in ihrer
Vertraulichkeit.

Mitten im Schwatzen wurde sie müde, wie einem Kinde fielen ihr die
Augen zu. Schwarz hoben sich die langen Wimpern von den durch die
scharfe Luft hoch geröteten Wangen. Sie hatte den Kopf gegen Josef
geneigt und nickte, das schlummermüde Haupt an seiner Schulter. Er saß
und rührte sich nicht und hielt den Atem an.

Er kam sich unsäglich lächerlich vor. Das mußte ihm, ihm passieren!
Aber er traute sich nicht, sie aufzuraffen, sie davonzutragen, wie
einen willigen Raub. Steif blieb er sitzen, bis sie ein Stündchen
geschlafen hatte und blinzelnd die Lider öffnete. Mit einem
wohlig-verschlafenen: »Sein ech äwer möd!« lächelte sie ihn an.

Er fühlte, jetzt brauchte er nur die Hand auszustrecken. Es war so
still im Zimmer, so warm. Ganz allein waren sie – wo war die Welt?! Die
fragte nicht nach ihnen.

Aber hastig rückte er zur Seite, daß ihr Kopf unsanft von seiner
Schulter glitt. »Gutnacht, Bäreb!« Es klang barsch.

Sie sah ihn verdutzt an mit schwimmenden Augen: war er bös mit ihr, der
Herr Josef?!

       *       *       *       *       *

Sein Ton blieb auch noch barsch am anderen Morgen. Er konnte es
ja nicht vermeiden, ihr zu begegnen. Sie wohnten sich zu nahe;
immerwährend streifte ihn ihr Rock, immerwährend umgab ihn ihre
Sorgfalt. Er konnte das heute nicht vertragen. Träume hatte er diese
Nacht gehabt, Träume, wie er sie sich nie mehr zugetraut hätte. Er
war sich bewußt gewesen, daß er träumte – nebenan hörte er ihren Atem
zittern – aber er hatte immer wieder die Augen zugedrückt und immer
wieder den gleichen Traum gesucht. Aber am hellen Tage mied er sie, um
die sich seine Träume gewoben. Der weiße Tag stand auf der Schwelle; er
floh aus dem Haus.

Draußen war es wie immer still und kalt; das heißt, nur still von
Menschenlaut. Es war ein Ächzen in den Tannen, ein lautes Knacken,
und ein Sausen von umherfahrenden Lüften zwischen Himmel und Schnee.
Merkwürdig, es dünkte ihn heute minder kalt; vielleicht fühlte er’s
weniger, seine Stirn brannte so. In seinen Augenhöhlen bohrte ein
Schmerz. Wie ein Planloser irrte er umher, der Tag draußen dünkte ihn
besser als der Tag drinnen.

So weit zu kommen war ihm bisher noch nie gelungen. Der Wind hatte
sich plötzlich gelegt, jetzt konnte er ganz gut gehen. Er fühlte die
Anstrengung nicht, seine Gedanken waren zu sehr beschäftigt. Er sah gar
nicht, was um ihn war, er sah immer nur nach dem Hause zurück. – – –
Nun räumte sie in seinem Zimmer auf – nun war sie in der Küche – nun
sang sie beim Kartoffelschälen – nun richtete sie das Mittagbrot – nun
wartete sie auf ihn, wartete mit heißen Wangen, mit blühenden Lippen –
ah, Mittag mußte es wohl schon sein?

Plötzlich aufschreckend, sah er sich um: war’s möglich, so weit war
er schon gegangen?! Da lag ja wie ein Würfel ein einsames Haus in
der unendlichen Schneeweite. Nur wo der Schnee nicht angeweht war,
schimmerte sein Gebälk dunkel, sonst war’s weiß, weiß wie das Land
rundum. Und das Dach schwer belastet. Tiefer noch hing es herab als
sonst über Tür und vergitterte Fenster. Die Strafkolonie!

Ein paar Raben krächzten; sie lauerten auf Fraß, aber keine Hand warf
Futter heraus. Nichts rührte sich. War das Haus verlassen? Nein, ein
schwacher Rauch stieg aus dem Schornstein empor; man sah ihn kaum, er
wurde gleich eins mit der grauen Luft. Josef hüstelte: es legte sich
heute so schwer auf die Brust. Nun fühlte er doch, daß er müde geworden
war. Er pochte an.

Drinnen rasselte es, ein Schlüssel wurde ins Schloß gestoßen, ein
Riegel zurückgeschoben. Simon Bräuer öffnete selber.

Er sah den Ankömmling finster an: »Wat wollen Sie?« Dann erst erkannte
er den Eindringling und wurde zugänglicher; aber man merkte, daß ihm
die Freundlichkeit Mühe machte. Es schien ihm sauer zu werden, den Mund
aufzutun. »Kommen Sie erein!«

Er scheuchte einen der Sträflinge auf, stieß ein Bündel Weidenruten und
einen halbfertigen Korb beiseite und ließ Josef Platz nehmen.

Es saßen ihrer Zwanzig in dem engen Raum auf roh zusammengenagelten
Schemeln. Auf dem Herd brodelte es in einem großen Topf, ein alter Mann
stand dabei und rührte mit einer riesigen Kelle. Im Herdloch fielen
die Funken wie glühender Regen; von dort kam ein rötlicher Schein –
das einzige Licht in dem winter-dunklen Raum. Aber trotzdem es im Ofen
knackte und knasterte, und man vors Fenster als Schutz ein dickes Brett
gestellt hatte, war es doch nicht warm hier; die Luft war nur dick.

Josef war ordentlich zurückgeprallt vor dem Dunst, der ihm
entgegenschlug. Mit erschrockenen Augen sah er sich um: so hausten die
hier im Winter? All diese Leute zusammengepfercht, und so Tag für Tag?!

Bräuer sagte: »Über die Hälft ist nach Aachen abjeschoben. Die kommen
erst wieder erauf, wenn die Arbeit draußen anjeht. Die hier flechten
Körb und binden Besen. Der da,« – er wies auf ein Gesicht, das Josef
bekannt vorkam – »der ist jeschickt, der hat uns die Schemel gemacht.
Nu schnitzt er Löffel. Zeig mal her!«

Der blasse Mensch, der den rotborstigen Kopf über seine Arbeit geneigt
hatte, stand auf und kam heran; er zeigte ein Besteck aus Birkenholz,
nur roh geschnitzt, aber an den abgeplatteten Stielen war als hübsche
Verzierung eine Blume eingekerbt.

»Setz dich wieder!« Man merkte der Stimme des Aufsehers trotz aller
Rauheit einen gewissen Stolz an.

Josef lobte die Geschicklichkeit des Sträflings. Der Gelobte wurde
rot, er hob den Blick und zum ersten Mal sah Josef in die grünen,
unruhigen Augen. Jetzt zog der Mensch in einem geschmeichelten Lächeln
den Mund breit, und Josef erschrak fast: ha, fletschte der Kerl die
Zähne! Unangenehme Physiognomie! Aber gesünder sah er aus, nicht mehr
so käseweiß, nicht so zum Erbarmen elend wie das letzte Mal. Und man
sollte doch denken, hier eingeschlossen im vergitterten Haus müßte er
elender aussehen als draußen in freier Luft?! Merkwürdig, dieser Mensch
schien jetzt ganz wohl und zufrieden!

»Wollen Sie wat von unserer Supp essen, Herr Schmölder?« fragte Bräuer.

Josef nickte; er war hungrig.

Der Alte am Herd nahm einen von den Blechnäpfen, die aufgestapelt einer
im andern standen, und füllte ihn mit seiner Kelle aus dem großen
Kessel. Es roch ganz gut: nach Erbsen, nach Schmalz, nach Zwiebeln und
nach Wärme. Aber als Josef ein paar mal den Blechlöffel in die dünne
Brühe getaucht hatte, hatte er genug. Das schmeckte doch nicht. Und
auch das Stück schwarzen säuerlichen Brotes mit der zähen geräucherten
Blutwurst wollte ihm nicht munden, obwohl der Alte, der ihm das
präsentiert hatte, mit aufglänzenden Blicken jeden Bissen verfolgte,
den er in den Mund steckte. Er erhob sich; ihm war, als müßte er
ersticken in dieser dumpfen Dunkelheit. Der letzte Bissen würgte ihn.
»Ich danke, Herr Bräuer. Adieu! Ich muß nun zurück!«

»Ich bring Sie en Stück längs!« Es mußte dem Aufseher nun doch zum
Bedürfnis geworden sein, mit jemandem zu reden. »Mer jewöhnt sich dat
Sprechen janz ab,« sagte er wie entschuldigend, als sie draußen durch
den Schnee stapften.

»Läuft Ihnen keiner fort? Sie haben ja nicht wieder zugeschlossen!«
Josef sah noch einmal nach dem verlassenen Haus zurück und schauderte.

»Wohin?« Bräuer machte eine umfassende Handbewegung. »Hier sind die
sicher verwahrt. Die sind ja auch janz zufrieden hier. Und ich bin auch
zufrieden mit ihnen!«

»Und doch wollen Sie fort, wie ich höre?«

Das Gesicht des Aufsehers, das sich eben ein wenig aufgehellt hatte,
wurde rasch wieder finster. Er zog die Stirn in Falten und schlug den
Blick zu Boden.

»Es ist schade, Herr Bräuer!« Josef sagte es warm. Wahrhaftig, er hatte
dem Menschen doch Unrecht getan, der war längst nicht so schlimm, als
er sich stellte. »Sie sollten nicht gehen, Herr Bräuer!«

»Ich muß!« Der Aufseher brummte es zwischen zusammengebissenen Zähnen,
und dabei zuckte es über sein Gesicht. Nun sagte er nichts mehr. Eine
Strecke trabten sie stumm nebeneinander her, dann stieß er plötzlich
heraus: »Ich hab en Frau zu Haus. Adjüs!« Er machte kurz kehrt.

Ehe Josef noch etwas sagen konnte, war er schon fort. Mit
weitausholenden Schritten rannte er zurück, kein Rufen erreichte ihn
mehr. Josef wendete sich ärgerlich: er hätte Bräuer doch noch einmal
fragen können, ob er hier auch auf dem richtigen Wege war?

Wie eine Wand hatte es sich plötzlich zwischen ihn und die Strafkolonie
geschoben. Grau, dick. Das war nicht Nacht, das war ein dichter Sack,
der sich einem urplötzlich über den Kopf stülpte.

Sollte das etwa Nebel sein? Venn-Nebel? Josef hatte schon oft
davon erzählen hören. Ei, das war ja ganz interessant, den einmal
mitzumachen! In London hatte er oft Nebel erlebt – nun, schlimmer war
der berüchtigte Londoner Nebel nicht, wie dieser hier! Pfui, wie sich
einem der schwere Dunst auf Hals und Brust legte!

Er nieste und hustete und knöpfte dann seinen Überzieher fester zu;
im Haus hatte er ihn aufgerissen gehabt in seiner Beklommenheit. Nun
fror ihn, obgleich es gar nicht mehr kalt war. Kein Lüftchen regte
sich, es war ganz still geworden, und trotzdem durchschauerte es ihn
bis ins Mark. Kältende Tropfen hingen an Schnurrbart und Wimpern; das
ganze Gesicht wurde feucht. Nur rasch nach Haus, es war zu unlustig, um
spazieren zu gehen!

Er rannte wie toll. Aber als er hundert Meter gelaufen war, stand er
plötzlich still: ging er denn auch richtig? Nur nicht die Richtung
verlieren! ›Immer mit die Ruhe‹, wie Heinrich sagte. Er ging langsamer.
Er strengte die Augen an: endlich mußte doch einmal ein Ausblick
kommen, irgend einen Ritz mußte dieser Sack doch haben. Nur ein Auslug,
und man wußte gleich wieder, wo man war.

Er ging und ging. Aber der Auslug kam nicht, der graue Sack wurde immer
dicker. Und enger; gleichsam, als würde er einem über dem Kopf fest
zusammengezogen. Er ging rascher. Er fühlte, daß er aufgeregt wurde.
Ganz niederträchtig, hier so herumrennen zu müssen! Sein Herz klopfte.
Hoffentlich war es nicht mehr weit bis zur Fangeuse! Aha, da schien
ja jemand gegangen zu sein. Nun immer ruhig den Fußtapfen nach, sie
nur nicht verlieren, dann kam man schon an ein Haus, an irgend einen
bewohnten Ort, wenn’s auch, schlimmstenfalls, nicht die Fangeuse war.

Er bückte den Kopf nieder und ging wie ein Spürhund der Fährte nach.
Noch immer Fußstapfen, noch immer. Bauerntappen waren das nicht.
Merkwürdig, wie seine Füße gerade da hineinpaßten – der rechte Fuß,
der linke Fuß – keine nägelbeschlagene Sohlen! Er zuckte plötzlich
zusammen und stieß einen Ausruf des Ärgers und der Verwunderung aus:
was machte er denn, rannte er denn auf der eigenen Fährte herum wie ein
Verrückter?! Er wollte lachen, aber er konnte nicht.

»He! Holla! Ho–ho–o–oh!«

›He–holla–ho–ho–o–oh!‹ äffte ihm irgend etwas nach.

War hier ein Echo? Scheu blickte er sich um.

»He, he! Hört denn niemand?!«

›Niemand!‹

Seine Stimme klang nur schwach im dicken Nebel; der dämpfte jeden
Schall. Er wischte sich über die Stirn; schon fing er an zu schwitzen,
die Anstrengung war groß, er wurde müde. Unter seinen Sohlen ballte
sich der Schnee, hing sich an die Absätze in Klumpen; je schwerfälliger
er zutrat in seiner Müdigkeit, desto lästiger klebten die Klumpen an.
Schwer stützte er sich auf seinen Stock. – – – – – –

Josef rief nicht mehr. Wer sollte ihm hier auch helfen? Hier mußte man
sich selber zu helfen suchen, wenn man nicht, wie die Bäreb, an einen
Schutzengel glaubte. Überall Fußtapfen, überall Fußtapfen. Aber er war
nicht mehr sicher, ob es nur die seinen waren; sie waren teilweise
verwischt, auseinandergetreten im Schnee. Und es war zu wenig licht, um
deutlich zu sehen. Mit beiden Händen faßte er seinen Stock und trieb
ihn tief hinein in den Schnee: daran würde er’s merken, wenn er wieder
an denselben Platz zurückkehrte. Ob er etwa in die Runde lief, immer
auf den eigenen Fußtapfen herum die ganze Zeit?!

Es wurde ihm schwer, den Stock zu entbehren, seine müden Füße
glitschten hin und her; es kostete ihn jedesmal eine Anstrengung, sie
zu heben, die Kniee waren steif. Aber er wankte weiter. Weiter mußte
er, er konnte sich doch nicht hinlegen hier. Nicht einmal hinsetzen.
Die größte Lust hatte er freilich dazu, er war so müde, und die
grenzenlose Stille des Nebels schläferte unwiderstehlich ein. Wenn er
sich nun hier hinlegen würde und einschlafen? Dann würde er nicht mehr
aufwachen – es wäre der sanfteste Tod! Einen Augenblick kam ihm dieser
Gedanke, trotz aller augenblicklichen Not. Nur immer weiter, weiter, so
leicht gibt man das Leben denn doch nicht auf.

Nun lief er, so rasch er konnte. Wie lange mochte er schon unterwegs
sein? Es war Mittagszeit gewesen, als er in der Strafkolonie
eingetroffen war; eine Stunde mußte seither wohl vergangen sein. Er sah
nach der Uhr und starrte erschrocken – drei?! Er hielt sie sich ans
Ohr, er rüttelte sie. Sie ging wie immer, gleichmäßig mit leisem Tick,
tick. Um himmelswillen, drei Stunden war er seither schon umhergeirrt?
Jetzt fühlte er erst ganz die Müdigkeit. Sie war lähmend. Wenn er
nun nicht mehr weiter konnte, wenn er hier im Nebel sich nicht bald
zurechtfand, was dann?! All das fiel ihm ein, was Bäreb erzählt hatte.

Überall, rechts und links, vor ihm, hinter ihm, tauchten Kreuze auf. Er
wußte, das war nur eine Halluzination, hier waren keine; aber er sah
sie so deutlich, als ständen sie da, schwarz und verwittert, denen zum
Gedächtnis, die im Schnee erfroren, die im Nebel verirrt waren.

Große Schweißtropfen rannen ihm von der Stirn, vom Kinn, und fielen
nieder in den Schnee. Noch ein paar Stunden, und es war vorbei. In der
Abenddämmerung ging kein Mensch mehr durchs Venn. Hoffentlich traf er
jetzt noch einen Grenzjäger an, ihr Dienst trieb die ja umher bei allem
Wetter! Mit geschärftem Ohr lauschte er: war da nichts zu hören? Aber
er hörte kein Klirren von Sporen, kein Traben eines Pferdes, kein ›Wer
da!‹ Gar nichts. Nichts.

Eine grauenhafte Stille umfing ihn. Erst war er aufgeregt gewesen im
Gedanken, so spät nach Hause zu kommen – Bäreb würde sich ja um ihn
ängstigen – aber nun kam ihm eine größere Angst. Sie überfiel ihn
plötzlich wie eine Pantherkatze in jähem Sprung. Sie saß ihm im Nacken,
er konnte sich ihrer nicht mehr erwehren, er wurde sie nicht los,
so sehr er auch rannte. Das Klopfen seines Herzens war zum Hämmern
geworden. Poch, poch – wie das gegen die Rippen anstieß, als wollte es
sie eindrücken. Es stach ihm im Rücken bei jedem Atemzug. Jetzt mußte
er langsamer gehen, so rasch ging es nicht mehr weiter. Er stand still,
die Hand gegen das klopfende Herz gestemmt. Mit wirren Blicken sah er
sich um.

Er war in seinem Leben schon in allerlei gefährlichen Lagen
gewesen, viel gefährlicheren als heut: in einem furchtbaren Sturm
auf der Überfahrt nach Amerika und bei einem Zusammenstoß von zwei
Eisenbahnzügen – die Passagiere waren schreiend durcheinandergerannt,
die Verwundeten hatten gewinselt und gestöhnt, er war ruhig geblieben.
Hier wurde es ihm schwer, die Fassung zu bewahren. So allein, so
mutterseelenallein. Und so gar nichts sehen können, keine zehn Schritt
vor sich! Das war entsetzlich.

Er stieß einen furchtbaren Schrei aus – er war gegen etwas gerannt,
sein Fuß strauchelte – er packte zu: es war sein Stock! Sein Stock,
den er hier in den Schnee gerammt hatte. Bei ihm war er nun wieder
angelangt. Also abermals in die Runde gelaufen?!

Er schlug sich vor die Stirn: warum tat er das, warum ging er denn
nicht nach rechts oder links? Er riß den tief eingebohrten Stock aus
dem Schnee heraus und stapfte nach links. Aber dann hielt er auf
einmal an: was nützte es, er kam ja doch nie, nie wieder hier heraus!
Warum noch die letzte Kraft erschöpfen? Besser stehen bleiben und
warten, bis der Nebel sich gelichtet hatte; der mußte sich wenigstens
doch etwas heben. Regungslos stand er, auf den Stock gestützt; ohne
ihn wäre er umgesunken. Die Überanstrengung verursachte ihm Schwindel;
im grauen Nebel tanzten rote Punkte, sie wurden größer und größer,
wurden zu rasch sich drehenden Kreisen. In seinen Schläfen stach es,
der Boden, auf dem er stand, schwankte wie ein Schiff; ächzend schloß
er die Augen. O, wie würde sie jammern, wenn er nicht wiederkam! Ob sie
nicht hinauslief, um ihn zu suchen?!

»Bäreb, Bäreb!«

Gellend war der Ruf der Brust entwichen. Er schrie den Namen des
Mädchens mit aller Anstrengung von Hals und Lunge. Aber nichts war
in diesem Ruf zu hören von der Angst, von der Verzweiflung, von der
Sehnsucht, die ihn herausgepreßt hatte; er klang matt und zahm. Die
Stille war zu groß. Sie hatte, ohne den Mund aufzutun, eine viel
gewaltigere Stimme, und die gebot: ›Schweig!‹ Der Mensch verstummte.

Josef riß die Uhr aus der Tasche. Vier Uhr! Wieder eine Stunde vorbei.
Nun war er sieben Stunden von Hause fort. Bald kam die Nacht. Er stand
und zitterte und rührte sich nicht mehr vom Platz, nur daß er zuweilen
die Füße aufstampfte und die Arme umeinanderschlug, um nicht ganz zu
verklammen. Durch seinen Kopf rasten die Gedanken; er wußte selbst
nicht, was er eigentlich dachte, ihm war dumpf und wirr im Gehirn. Die
Hoffnung, einem Grenzjäger zu begegnen, hatte er längst aufgegeben; die
saßen bei dem Nebel auch in einem Unterschlupf. Niemand war im Venn,
als er und die Kreuze der Toten.

Er sah wieder nach der Uhr. Er mußte sie sich dicht vor die Augen
halten, selbst so war’s kaum möglich mehr, sie zu erkennen. Halb fünf!
Die Kniee drohten unter ihm einzubrechen. Wenn jetzt nicht ein Wunder
geschah, dann – –

Horch, war das nicht ein Glöckchen?! Es klang so.

Klingelingeling!

Ein blechernes Anschlagen wie von den Schellchen, die die Pferde vorm
Schlitten tragen.

Er schrie nicht, er rief nicht Hilfe, der Mund war ihm wie zugehalten;
aber er wandte sich jetzt nach der Richtung des Klingelns. Er rannte,
er stürzte, er sank tief ein in den Schnee, er raffte sich wieder auf,
rannte wieder aufs neue – immer das leise Klingelingeling – jetzt
ward es schon stärker – jetzt noch stärker – jetzt ganz deutlich:
Klingelingeling!

»Halt!« Mit einem Schrei stürzte der Verirrte vorwärts und fiel der
Länge lang dem Karrengaul vor die Füße. Der blieb stehen.

Der Mann, der heute vormittag endlich den ersehnten Proviant nach der
Fangeuse heraufgeschafft hatte und jetzt auf der Rückfahrt begriffen
war, sich ganz auf den Instinkt seines Pferdes verlassend, lud den
Herrn auf seinen Schlitten und wendete noch einmal um.




XV


Über die sturmgepeitschte Fläche rannte das Mädchen. Der Schnee war
nicht mehr körnig wie eisiger Sand, er war weich geworden und ließ sich
zusammentreten; aber schwer war trotzdem das Weiterkommen. Erst recht
schwer. Bärebs Brust keuchte, sie mußte sich stemmen gegen den starken
Wind, der sie umwerfen wollte, und wütend, daß ihm das nicht gelang,
an ihren Röcken zerrte, um sie in Fetzen zu zerstückeln. Das Kopftuch
riß er ihr herunter, fast schmerzhaft peitschte es ihr den Nacken; die
Haarsträhnen schlugen ihr ums Gesicht. Weit war es, sehr weit bis
Heckenbroich, aber sie mußte hin. Der Tünnes würde dann schon rasch
hinunterlaufen zur Stadt, zum Doktor, zum Apotheker – ihr Herr war
krank, Jesus Maria!

Aus tränengefüllten Augen schickte Bäreb einen flehenden Blick gen
Himmel. Die ganze Nacht, nachdem er heimgekehrt war, hatte der Herr im
Fieber gelegen, er sprach irre, er erkannte sie nicht. Und heute Nacht
war ihm wieder so heiß gewesen, daß sie ihm alle Augenblicke zu trinken
geben mußte. Eiskaltes Wasser war noch nicht eiskalt genug. Und er
füllte sich so schwach, so krank, daß er nicht aufstehen konnte.

Jetzt schlief er. Jetzt konnte sie die Zeit benutzen: der Doktor
mußte zu ihm kommen. Der Tee, den sie zu kochen verstand, der nutzte
dem Herren nichts. Ob es schlimm mit ihm war? Er hatte sich das Blut
verkühlt, das war sicher; ganz matt hatte ihn ja der Knecht zur
Fangeuse gebracht, wie ein Toter lag er auf dem Wagen, kaum, daß er
hatte sagen können: ›Bäreb, da bin ich noch einmal wieder!‹ Gelächelt
hatte er freilich dazu; aber sie mußte weinen, wenn sie an dies Lächeln
dachte. Alles hatte sie getan, was sie tun konnte, um ihn zu erwärmen;
hatte seine Füße gerieben, ihren warmen Atem in seine Hände gepustet
– es hatte alles nichts genutzt. Noch im Bett hatte er mit den Zähnen
geklappert, so lange, bis die flammende Hitze kam. Ach, daß sie dem
Mann doch Auftrag gegeben hätte, den Doktor heraufzuschicken – aber wer
konnte gleich ahnen, daß es so schlimm werden würde mit ihm! Ihr Herr,
ihr lieber, guter Herr.

Es war Bäreb einen Augenblick, als hätte sie noch nie jemanden so lieb
gehabt, nicht einmal Vater und Mutter. Mit Ungestüm warf sie sich
dem Wind entgegen. Nein, sie kehrte nicht um, sie mußte durch! Eine
Schneegrube kam ihr in die Quere, dort ein aufgewehter Wall, sie
übersprang beides.

Es war ein harter Weg, eine mächtige Anstrengung. Der Schweiß troff ihr
vom Leibe, laut keuchend hob und senkte sich ihre Brust, ihre Pulse
klopften; es war ihr, als könne sie die Füße nicht mehr heben. Aber sie
mußte, sie wollte voran. So war es ihr gewesen, damals – ach, damals
zu Echternach! Aber jetzt war keine Musik dabei, keine anfeuernde,
lockende, beschwörende Melodie.

Warum ihr nur heute auf diesem Wege Echternach einfiel? Es war doch gar
keine Ähnlichkeit zwischen hier und dort!

Eine glühende Röte wie eine Flamme schoß ihr plötzlich übers ganze
Gesicht; ihr Blick wurde unsicher, sie senkte den Kopf gleich einer
Schuldbewußten und blieb zögernd stehen. Aber nur einen Augenblick,
dann bewegten ihre Lippen sich murmelnd, sie bekreuzte sich andächtig:
der heilige Willibrord war trotzdem ein mächtiger Fürsprecher für sie
im Himmel gewesen. »Heiliger Willibrord, bitt für uns, wir bitten dich,
heiliger Willibrord, erhöre uns!« Sie fing laut an zu beten.

       *       *       *       *       *

Viele Tage hatte Josef im Fieber gelegen; es war eine böse Erkältung.
›Knapp an einer Lungenentzündung vorbei,‹ sagte der Doktor. Auch den
Kreisphysikus schickte Heinrich noch herauf, es sollte dem Vetter nicht
an ärztlicher Behandlung fehlen. Er war sehr besorgt, wenn er auch am
Krankenbett polterte und wetterte: das kam von solch verrückten Ideen!
Er fühlte sich selber auch schuldig dabei: wie hatte er nur zugeben
können, daß der Josef mit seiner schwachen Konstitution einen Winter
auf der Fangeuse zubrachte?! Am liebsten hätte er den Kranken in Decken
gepackt und sofort herunter geschafft. Aber das ging nicht an. Bis zur
Fangeuse konnte man nicht mit dem Federwagen fahren, und den Patienten
per Karren herunter zu befördern, dem widersetzte sich der Arzt.

Auch Josef widersetzte sich. Nach Fieberwochen und hochgradiger
Erregung war eine sanfte Ruhe über ihn gekommen. Er glaubte sich nie
mehr einer Aufwallung fähig. Er fühlte sich jetzt wohl hier, so wohl
unter diesen braunen Arbeitshänden, die feiner geworden waren in der
Winterrast und weicher in seiner Pflege.

Sie war den ganzen Tag um ihn. Draußen gab es so gut wie nichts zu tun,
und es kam viel öfter ein Bote herauf, der ihnen alles brachte, was sie
bedurften; dafür sorgte schon Heinrich Schmölder, daß sein Vetter nicht
Mangel an irgend etwas hatte.

Der Arzt hatte vorläufig seine Besuche eingestellt. Man würde ja sehen,
was mit der Zeit nötig tat, vor der Hand nur nicht aus der Stube
heraus, und Ruhe, geistige und körperliche Ruhe!

Die hatte er. Um sie schwamm das Venn. Sie saßen wie auf einer Insel.
Alles das, was vordem gefroren gewesen, war jetzt aufgetaut; all die
Moorlöcher und Torfgruben hatten ihr Maul aufgetan und zeigten zwischen
schmutzigen Schneerändern ihren schwarzen Schlund. Jetzt war es am
unsichersten im Venn, jetzt am allerschlechtesten zu gehen; man wußte
nie, ob unterm nachgebenden Schnee nicht ein Sumpfloch lauerte.

Scharfe Februarsonne hatte um die Mittagsstunde mit spitzer Zunge
gestochen und gestöbert; der Schnee war noch nicht ganz fort – die
Lasten waren zu groß gewesen – aber schon zeigte sich unterm Scharren
des Wildes moosiges Grün. Die Tage waren länger. Mit mißtönendem Schrei
segelten Wildvögel über die Fangeuse. Josef hörte sie und rückte sich
bequemer in seinem Sessel. Was kümmerte es ihn, was draußen war? Ob
Grau und Grausen, um ihn war Friede und auch Friede in ihm.

In der wohligen Ermattung des Genesenden betrachtete er Bäreb: ein
liebes Mädchen, ein treues Geschöpf! Aber kein Wunsch war in ihm. Wer
dem Tod so nahe ins Auge geschaut hatte wie er, dem blieben solche
Wünsche für alle Mal fern. Oft nahm er ihre Hand, wenn sie ihm etwas
reichte, in die seine, ohne daß sein Puls darum rascher klopfte; oft
ruhte ihr Kopf fast auf seinem Schoß, wenn sie sich tief vor ihm
niederbückte, um ihm die Decke an den Füßen einzustopfen. Er fühlte
es dann mit Genugtuung: er spürte kein Verlangen mehr. Träumerisch
lächelte er wie bei etwas längst Überwundenem.

Nur als Bäreb am Sonntag herunterpatschte zur Messe – sie hatte fast
mehr Verlangen nach der Kirche als nach den Ihren – fühlte er etwas
wie einen eifersüchtigen Stich. Und die Zeit wurde ihm lang, bis sie
wiederkehrte. Sehr lang.

Dafür wußte sie dann aber auch viel zu erzählen. O, unten begann schon
der März sich zu rühren, die Hecken zeigten, daß Leben in ihnen war!
Die Hühner fingen an zu legen, und von der Maiblum hofften sie, daß
sie wieder kalben würde in diesem Jahre. Die Mutter war gesund, die
Geschwister waren sehr gewachsen, das Kathrinchen hatte ein Kleid
gekriegt von der Frau Bürgermeister, darin sah sie aus – o, so fein!
Der Rock war schon lang, es war darin bald wie ein erwachsen Mädchen.
Und Bauer Adams hatte sie schon im voraus gedungen; sie würde wieder
hüten gehen für ihn, wenn es an der Zeit war. Jetzt ging sie freilich
nur aufs Venn, um an den sonnigsten Stellen, bei der Marienley, nach
den gelben Blumen zu suchen, die bereits aus dem getauten Schnee zu
sprossen anfingen. Die ging sie dann verkaufen herunter nach der
Stadt. O ja, das Kathrinchen war fleißig! Die ältere Schwester war
ordentlich stolz auf die Kleine. Wenn die erst in die Fabrik ging und
in Akkord arbeitete, die verdiente tüchtig was!

Es durchzuckte Josef. Die Augen schließend, winkte er abwehrend mit
der Hand: er mochte nicht von der Fabrik hören. Wie sollte das werden,
wenn er nicht mehr hier oben war?! Würde Bäreb dann auch wieder in die
Fabrik gehen müssen?

Sie plauderte, sein verfinstertes Gesicht nicht beachtend, eifrig fort.
Auf dem Platz waren auch schon wieder Soldaten eingerückt. Und an der
Strafkolonie waren sie auch wieder am Bauen, das Dach war aufgeflogen,
sie deckten es neu. Viele waren draußen mit Karren und Schaufeln
und Pflug und Egge. Lustig hatte es ausgesehen, als ihrer zwei sich
vorgespannt hatten vor den Pflug, und die anderen sie angetrieben
hatten mit Hott und Hüh.

Also wieder das alte Lied?! Josefs Stirn verfinsterte sich immer mehr.
Ein rundes Jahr war herum, ein ganzes volles Jahr – schon wollten die
gelben Narzissen, die Märzbecher im Venn, wieder anfangen zu blühen –
und war man weiter gekommen in all dieser Zeit? Es war alles noch beim
alten, beim gleichen – Fabrik, Strafkolonie, Truppenübungsplatz – und
es würde auch lange noch so bleiben! Er stieß einen Seufzer aus. Und
hatte =er= denn etwas vor sich gebracht? Nichts, gar nichts; nur vage
Wünsche, Hoffnungen, Verbesserungen ins Blaue hinein!

Er fragte nach Leykuhlen. Was machte der Bürgermeister, warum war er
während seiner Krankheit denn gar nicht einmal zu ihm heraufgekommen?

»O, oß Burjermeester läßt Uech villmals jrüße,« sagte Bäreb rasch, rot
werdend ob ihrer Vergeßlichkeit. »He wor in der Kerch. De Leut saone,
de könt nu no Berlin, de wird siehr jruß on hat vill zu saone!«

So, – sehr groß – viel zu sagen! Josef lächelte in sich hinein, die
Bäreb war gar so wichtig. Und dann wurde sein Gesicht wieder ernst:
wäre es denn gut, wenn der so viel zu sagen hätte, wie die Leute
meinten? Wer weiß! Josef zuckte die Achseln. Er ärgerte sich über sich
selber. War er denn so nüchtern geworden, daß er nichts mehr von dem
Begeisterungsrausch wiederfinden konnte, der ihm vormals Kopf und Herz
warm gemacht hatte? ›Verbohrt‹, ›zu bigott‹ – so sagte der Landrat. War
denn Leykuhlen wirklich so bigott?!

Er hatte früher nie darüber nachgedacht. –

       *       *       *       *       *

Das Hindämmern hatte aufgehört, von Tag zu Tag hoben sich des
Genesenden Kräfte. Und jetzt kamen auch die Langeweile und die
Ungeduld. Nicht heraus zu können, wenn zu Stunden scheue Sonnenstrahlen
auf den Wiesenplan fielen, nicht wandern zu können, wenigstens bis
unter die Tannen! Aber bei jedem Tritt vors Haus sank man ein bis an
die Knöchel, der Boden war wie ein vollgesogener Schwamm.

Josef suchte sich durch Lesen die Zeit zu vertreiben. Die gute Sophie
schickte die Zeitungen treulich herauf, obgleich sie jetzt gerade so
vieles zu bedenken hatte; die Hochzeit kam immer näher. Sie sollte nun
doch schon am ersten Mai sein. Je weiter die Jahreszeit vorrückte,
desto mehr Militär kam herauf, und desto weniger Zeit blieb dem
Bräutigam für die Hochzeitsreise. Und die wollte das junge Paar doch
recht schön und weit machen; am liebsten im Automobil. Aber Heinrich
blieb fest: das auch noch? Nein, das gab’s nicht. Sie hatten Wagen und
Pferde, das war wahrhaftig genug!

Der Fabrikant sah griesgrämig aus; selbst bei Lenchen heiterte sich
sein Gesicht nicht so auf wie früher. Sie gab sich auch nicht mehr
viel Mühe mit ihm; spitzbübisch lachte sie hinter ihm drein. Und dann
ließ sie ihre Augen umherschweifen. Je völliger sie wurde, und je
weiter sie von den Zwanzigen abkam, desto mehr bevorzugte sie die ganz
Jungen.

Ob Josef die Hochzeit mitmachen würde? Frau Sophie zählte bestimmt
darauf, und auch, daß er ihr mit seinem feinen Geschmack bei den
Arrangements helfen würde. Er würde sicher auch einen reizenden
Toast ausbringen, er verstand ja so schön zu sprechen. Aber Heinrich
rechnete nicht darauf. Selbstverständlich war der Josef dann von der
Fangeuse herunter – so wie es ohne Schaden für ihn anging, mußte er
da fort – aber der Arzt hatte ihm im Vertrauen gesagt, daß gerade in
der Übergangszeit ein südlicheres Klima für den Patienten anzuraten
sei. Sollte der Junge haben, sollte er selbstverständlich haben!
Donnerwetter, daß der sich da oben auch so einen Knacks holen mußte!
Wiesbaden, Montreux, Riviera – was der Doktor für das Beste hielt!

Der Arzt brachte die Riviera in Vorschlag.

Aber als Heinrich Josef von den Reiseplänen sprach, lachte ihm dieser
ins Gesicht: »Nein, ich bleibe hier. Ich denke gar nicht daran,
fortzugehen. Kann sein, daß ich mal ein bißchen zu Euch herunterkomme,
wenn Hedde erst weg ist und Ihr allein seid. Aber nein, vor der Hand
mache ich keine Pläne, will ich keine Pläne machen!«

Josef =wollte= keine Pläne machen. Er wollte nicht denken, wie es
weiter werden sollte, es gar nicht wissen; und doch besaß er nicht
die Macht, Gedanken ganz abzuweisen, die ihm jetzt häufiger kamen.
Der Sommer würde ja vielleicht wieder leidlich angenehm sein – aber
noch so ein Winter hier oben? Huh, nein! Ein Frösteln überlief den
Rekonvaleszenten, der noch schwach in seinem Stuhle saß, das blasse
Gesicht sehnsüchtig nach dem Fenster gewendet, das man noch nicht
öffnen durfte, um Licht und Luft hereinzulassen. Es war noch zu rauh.
An der Hecke zeigte sich noch keine schwellende Knospe, noch kein
Trieb. Oh, es war zum Verzweifeln, wie lange der Frühling hier ausstand!

Unwillkürlich irrten Josefs Gedanken umher, bis sie Sonne und Wärme
fanden. An der Riviera mußte es jetzt herrlich sein, gerade die rechte
Zeit, der ganze südliche Frühling war da mit seiner üppigen Fülle.

Josefs lebhafte Phantasie rief den blauen Himmel herbei, das blaue
Meer, die im Sonnenlicht glänzenden Häuser, die Gärten mit ihren
Blüten, den ganzen Wohlgeruch der Orangenhaine – wie schön, wie schön!
Er schrak zusammen, als Bäreb eintrat. Was wollte sie?

Verwundert sah sie ihn an: nun, bei ihm bleiben, wie immer da auf der
Bank unterm Fenster sitzen und stricken. Oder sollte sie lieber wieder
gehen?

»Setz dich schon,« sagte er unwirsch. Aber gleich darauf fand er sich
unfreundlich und undankbar. Ob sie’s wohl empfand, daß er nicht mehr so
zu ihr war wie früher?!

Sie saß und strickte, ohne eine Miene zu verziehen. Aber er sah
einen Seufzer, der ihre Brust hob. Warum seufzte sie unhörbar
leise? Ihr ruhiges Gesicht reizte ihn. Das war nicht Ruhe, das war
Verschlossenheit.

Was sich wohl hinter dieser Mädchenstirn schon alles abgespielt haben
mochte – hatte sich überhaupt etwas abgespielt?! Er fing an, sie zu
beobachten. Und plötzlich fiel ihm Echternach ein. Warum, hätte er
nicht sagen können; er folgte einer jähren Eingebung. Sie war damals,
ganz gegen ihre Art, so aufgeregt, als von Echternach die Rede gewesen
war! Was hatte Leykuhlen doch gesagt? Josef konnte sich der Szene nicht
mehr genau erinnern. Und warum hatte sie so heftig geweint damals im
dunklen Flur? Hatten Erinnerungen sie überkommen? Jedenfalls, dieses
Echternach – es mußte ein großer Tag in ihrem Leben gewesen sein!

Er langweilte sich und wollte unterhalten sein. Ganz unvermittelt
fragte er: »Wie war das eigentlich in Echternach? Erzähle! Ich weiß
wohl, du hast gesprungen, aber du hast doch auch noch –«

»Ich –?« Sie unterbrach ihn mit einem hastigen Auffahren. Sie war
blutrot geworden.

Was hatte sie denn, warum erschrak sie so? Er sah sie an mit
verwunderten Augen.

Und sie starrte ihn wiederum an mit erschrockenen Augen. Eine
ängstliche Verwunderung war in ihnen, fast ein Entsetzen.

Nun erschrak auch er. Sein Herz fing auf einmal an heftig zu klopfen.
Ihr Erschrecken machte ihn argwöhnisch.

Er faßte sie scharf ins Auge: da war etwas nicht richtig! Das wurde ihm
auf einmal klar. Und plötzlich stand das lebhaft vor ihm, was er so oft
hatte erzählen hören von allerlei Unfug, von Schlimmerem noch, von all
dem, was sich so ereignete im Lauf einer Wallfahrt. Er hatte nie daran
geglaubt, und nun wollte es ihm auf einmal doch glaublich dünken – wohl
möglich. Wo so viele zusammenlaufen, wo so viele junge Leute zusammen
sind, Bursche und Mädchen – ledig, ohne Aufsicht, weit von Hause, ihrem
Alltagsleben entrückt, vom Beten exaltiert, vom Springen erhitzt, vom
hastigen Trunk berauscht, berauscht von dem Glauben an Wunder und
von dem Gefühl, gesegnet zu sein, berauscht von der Jugendkraft, die
den heilbringenden Sprung beendet hat – was konnte da nicht alles
geschehen?! Wieder sah er Bäreb an.

Sie stand am Tisch wie eine arme Sünderin, den Kopf gesenkt; jetzt
blaß, dann wieder glühend rot. Das Strickzeug lag am Boden, sie wagte
nicht, es aufzuraffen; schlaff ließ sie die Arme herunterhängen.

Da sagte er nicht mehr: erzähle! Er wollte gar nichts hören, nein,
gar nichts wissen. Was ging es ihn an, was sie da etwa getrieben
hatte?! Aber als sie hinausgegangen war, hinausgeschlichen, ohne daran
zu denken, daß ihr Strickzeug mit verwirrtem Faden am Boden liegen
geblieben war, da rannte seine Neugier hinter ihr her. Die plagte ihn
förmlich den ganzen Tag.

In der Nacht konnte er nicht schlafen. Was war er doch für ein
dummer Kerl, ein Esel, daß er mit ihr umgegangen war so schonend, so
rücksichtsvoll, so behütend – wie ein Vater! Er lachte sich selber nun
aus. Sie würde auch nicht anders als andere sein. Sie erschien nur
äußerlich so unberührt, so jungfräulich rein!

Er war ihr nicht böse – wie konnte man ihr darum wohl böse sein?

Seine Phantasie malte sich rege alle möglichen Situationen aus. Nun
glaubte er auf einmal zu wissen, was in dem tiefen Dunkel ihrer Augen
lauerte. Es überkam ihn ein Mitleid mit ihr und zugleich ein heftiges
Verlangen; sie erschien ihm wieder reizvoll, so reizvoll wie früher,
vielleicht reizvoller noch. Aber jetzt wehrte er sich kaum mehr gegen
diesen Reiz. – –

Es regnete den ganzen Tag in nicht endenwollenden dichten Strömen.
Es war, als käme eine Sündflut. Schwarz hingen die Wolken über der
Fangeuse, das Dach fast erdrückend mit ihrer Schwere.

Er saß einsam. Es wollte ihn bedünken, als traue sich Bäreb nicht
herein zu ihm. Da rief er sie. Und sie kam, wie immer, gehorsam, mit
dem alten freundlichen Gesicht; und doch glaubte er zu bemerken, daß
sie seinen Blick mied, daß sie in einer gewissen Scheu auf ihrem Platz
saß. Es war ihr alter Sitz, dieselbe Bank, aber sie, die darauf saß,
war nicht dieselbe mehr. Unruhig atmete sie, auf ihren Wangen kam und
ging das Rot. Das Licht der Lampe fiel voll auf sie, er sah jeden Zug
in ihrem Gesicht. Aus dem Halbdunkel der Ecke, den Kopf aufgestützt,
belauerte er sie hinter der vorgehaltenen Hand.

Sie seufzte zitterig. Er seufzte auch. Keiner von ihnen sprach ein Wort.

Draußen goß der Regen, es tobte der Frühlingssturm und rüttelte am
einsamen Haus trotz der Hecke. Das war ein Blasen des losgelassenen
Westes über den Wiesenplan, ein Orgeln des Sturmes in den Tannen. Die
gleiche Musik wie dazumal, als die Hirsche schrieen. Josef mußte daran
zurückdenken. Und er verspürte auch die gleiche Unruhe wie dazumal,
dasselbe Kreisen des Blutes, dasselbe Treiben – aber wozu sich jetzt
noch wehren gegen den Trieb?! Wenn er jetzt die Arme ausbreitete,
wenn er jetzt so auf sie zuginge?! Sie würde ihm nicht entweichen, er
brauchte sie nur zu nehmen, sie würde – – –

Da – sie erschraken beide heftig. Josef setzte sich hastig nieder auf
seinen Stuhl, von dem er sich schon halb erhoben hatte.

»Et klopft,« flüsterte die zitternde Bäreb.

Draußen am vorgelegten Laden tastete was. Jemand versuchte, ihn zu
öffnen. Und dann tappten Schritte an der Wand entlang zur Haustür.

Nun hörte man wieder nichts, der Wind tat zu gewaltig; er heulte, als
wollte er die ächzenden Tannen ausraufen und mit dem Haus zusammen auf
einen Haufen schleudern.

Aber jetzt rüttelte es an der verschlossenen Tür, eine Stimme wurde
hörbar, recht kläglich: »Macht mir doch auf! Jesus Maria Josef!« Es
klang, als ob ein Hund winselte.

Josef war aufgesprungen, er ging zur Tür, aber Bäreb drängte sich an
ihn: nein, allein ließ sie ihn nicht gehen, wer weiß, wer es war, der
da Einlaß begehrte! Sie zitterte.

Er zitterte auch; aber nicht aus Furcht, er fühlte des Mädchens Körper
an sich. Ohne zu fragen, wer Einlaß begehre, schloß er die Tür auf, und
hätte sie doch gern gleich wieder geschlossen. Denn kaum öffnete sie
sich spaltbreit, so drängte sich auch schon einer herein und schlug
die Tür wieder zu, als seien Verfolger draußen, und warf wild-rollende
Blicke um sich im nur spärlich-beleuchteten Flur.

Ein Strolch, ein Vagabund, eine scheußliche Fratze – der Rotkopf aus
der Strafkolonie!

Sie erkannten sich beide. Unwillkürlich war Josef einen Schritt
zurückgewichen: das war kein angenehmer Besuch.

Aber über des Blassen verelendetes Gesicht ging ein Grinsen. »Herr,«
sagte er heiser – es sollte bittend klingen, aber es war zugleich
etwas Drohendes darin – »Sie werden mich nit verraten. Ich – ich bin
dervonjelaufen. Ich hab – ich wollt –«

Das Weitere verlor sich in einem von röchelndem Husten erstickten
Gemurmel. Der Mensch ächzte; er schnappte nach Luft. »Ich bin so
jerannt – en janze Nacht schon – den Tag hab ich in der Schonung
jelegen – ich kann die Jrenz nit finden. Er is hinter mir. Aber nit
wieder zurück – och, Herr, sein Se so jut, nit wieder zurück!« Von
Schauern gerüttelt, sich windend wie in einem Krampf, packte er Josefs
Rock.

»Kommen Sie doch herein,« sagte Josef und drängte die entsetzte Bäreb,
die sich an ihn klammerte, von sich ab. »Geh in die Küche, mach Kaffee
warm!« Und dann ließ er den zerlumpten Kerl vor sich her in die Stube
treten.

Der zitternde Mensch sank auf die Bank hin, auf der vorher Bäreb
gesessen hatte. Er war völlig erschöpft; er war kaum imstande, den
Kaffee zu trinken, den Bäreb mit scheuen Blicken hereintrug. In kleinen
Schlucken nur brachte er ihn herunter. Vierundzwanzig Stunden hatte er
nichts genossen; es gab noch nichts, noch gar nichts im Venn, nicht
Beeren, nicht Vogeleier. Und das schmutzige Wasser der Lachen war ihm
wie Eis in den Magen geronnen, es hatte ihm Übelkeit und Leibschneiden
gemacht.

»Warum sind Sie denn weggelaufen? Überhaupt jetzt?!«

Keine Antwort. Ein scheu-lauernder Blick nur streifte Josef bei dieser
Frage.

»Sie schienen mir diesen Winter doch ganz zufrieden. Das sagte auch der
Aufseher. Warum denn nun auf einmal nicht mehr?«

»Et wird Frühling,« stieß rauh der Sträfling hervor. Und dann hustete
er, so entsetzlich, so erbärmlich, daß es den anderen durchschauerte,
stützte beide Arme auf den Tisch, den Kopf zwischen die Hände und sagte
kein Wort mehr.

Bäreb flüsterte hinter der Tür mit ihrem Herrn: ach nein, nein, den
nicht hier behalten! Da wollte sie lieber jetzt bei Nacht ganz allein
übers Venn bis hin zur Strafkolonie rennen und den Aufseher holen.
Mochte der ihn in Ketten legen! Aber Josef sagte kurz: »Er bleibt hier,
ich bin kein Verräter. Siehst du denn nicht, daß der arme Teufel dazu
noch krank ist?«

Krank schien der Rotkopf in der Tat, wie Fieber glühte es ihm aus den
Augen; dabei schüttelte ihn immerwährend der Frost, seine Borsten
standen gesträubt.

Josef kannte das: ah, diese Frostschauer waren schrecklich, die man
sich im Venn holte! Mit einer Geschäftigkeit, die er sich selber nicht
zugetraut hätte, bereitete er dem Frierenden ein Lager in der Küche.
Bäreb entschloß sich nun doch, eine Schütte Stroh aus dem Holzstall
herbeizuschaffen, und eine überflüssige Decke fand sich auch noch. Ein
paar Strümpfe und eine alte Hose gab Josef her; um den halbnackten
Menschen schlotterten nur noch Fetzen, das dichte Gestrüpp der Schonung
hatte ihm alles vom Leibe gerissen. Seine Holzschuhe hatte er gleich in
der ersten halben Stunde verloren, er war in Strümpfen gelaufen durch
den Morast. Eine triefende Spur bezeichnete seinen Tritt und Stand, es
war von ihm abgeflossen wie ein schlammiger Bach.

Nein, diesen Hilfesuchenden konnte man nicht hinausstoßen. Der kam
jetzt nicht mehr weit, nicht bis zum Grenzbach; schon an den Tannen
sank der um! Josef glaubte nie etwas Jammervolleres gesehen zu haben.

Er empfand keine Furcht, als er die Küchentür hinter dem Sträfling
geschlossen hatte und sich nun allein in der Stube befand. Bäreb hatte
er sich hinlegen heißen, er hörte, wie sie ihre Kammertür verriegelte
und verschloß – zum ersten Mal. Nun hätte das nicht mehr nötig getan!
Bäreb konnte so ruhig schlafen wie unter ihres Vaters Dach. Der elende
Mensch würde ihr nichts anhaben – und er?! Er hörte sie sich werfen und
zitternd seufzen; sie fand keinen Schlaf. Aber das erregte ihn jetzt
nicht mehr.

Er ging zu seinem Sessel und ließ sich da nieder. Das Feuer war im
Verglimmen, schon wurde es kalt in der Stube; er warf neuen Torf auf
und stocherte im Ofenloch, bis die Glut sich wieder entfachte. So würde
er sitzen und wachen die ganze Nacht, dem Knacken und Knistern im Ofen
lauschend, bis alles ausgebrannt war, tot und leer, bis im Morgengrauen
der Sturm sich legte und es ruhig über den Tannen ward.

Josef stützte den Kopf, er war ihm schwer, und er fühlte ein Beben in
den Knieen. Das war doch noch über seine Kraft gegangen. Aber er dachte
jetzt nicht mehr wie so oft über =sich= nach, er dachte an den Elenden
in der Küche. Was sollte er mit dem armen Kerl anfangen?!

Allerlei phantastische Pläne tauchten in Josef auf. Wenn er ihn morgen
nun bis zur Grenze führte, ihm Geld gab, daß er sich drüben weiter
forthelfen konnte? Ach, der war viel zu kaputt, der kam ja nicht
weiter. Und er selber war auch noch nicht stark genug, sich durch die
Wildnis des Grenztals durchzuarbeiten. Er kannte auch den Weg gar
nicht. Es würde nur ein Irre-Laufen zu zweien sein. Bäreb würde sich
schon eher zurechtfinden, sie hatte den Instinkt der Venn-Bewohner,
aber konnte er sie allein mit dem Sträfling schicken? Der Kerl hatte
ein Gebiß wie ein Wolf und grünliche unstete Raubtieraugen.

Josef lauschte nach der Küche hinüber; er ging noch einmal auf den
Flur und legte sein Ohr an die Küchentür: drinnen alles still. Nein,
jetzt ein Stöhnen, und dann ein Husten, so hohl und rauh, daß es dumpf
zwischen den Wänden hallte.

Zwei-, dreimal noch in dieser Nacht lauschte Josef so an der Küchentür.
Immer noch drinnen ein Stöhnen. Endlich ein Schnarchen, rasselnd und
raspelnd wie eine Säge, die durch widerstrebendes Material sich schwer
durcharbeitet. Aber der arme Kerl schlief doch wenigstens!

Mit einem Gefühl der Erleichterung taumelte Josef in die Stube zurück.
Auch er war todmüde. Frostschauer rüttelten ihn beim erlöschenden
Feuer, aber seine erregten Nerven ließen ihn nicht zur Ruhe kommen.

Endlich mußte er doch eingeschlafen sein. Träumte er noch oder war er
schon wach? Hörte er nicht Simon Bräuers Stimme?!

»Hela, holla, aufgemacht!« Mit kräftiger Faust wurde gegen die Tür
gepocht. Das dröhnte durchs Haus wie ein Donnerschlag. Josef fuhr auf,
so rasch es seine im Sitzen steif gewordenen Glieder zuließen. Das galt
seinem Schützling!

Er stürzte auf den Flur – die Küchentür lag weit in den Angeln zurück,
beim Herd die zerwühlte Strohschütte, die hastig abgeworfene Decke. Ein
Zugwind fuhr wie ein Messer durchs offenstehende Küchenfensterchen,
klappte mit der Tür und winselte im Raum. Die Küche war leer. Der
Sträfling fort. Durchs Fensterchen, nach der Rückseite zu entwichen.
Josef glaubte noch ein Rascheln im dürren Laub der Hecke zu hören und
ein Brechen im Astwerk – oder tat das der Wind, der sich neu wieder
aufmachte? –

Simon Bräuer suchte den ihm seit vorgestern Abend abhanden gekommenen
Sträfling. Er fluchte. Da war es noch schönes Wetter gewesen, die
Kerls hatten alle ruhig auf dem Venn gearbeitet, der vermaledeite
Halunke auch; er war dessen so sicher gewesen, er hatte ihn ruhig sich
entfernen lassen, ein wenig abseits gehen von den anderen.

»Ich denk, de muß mal austreten. Ich laß ihn. Ich seh ihn hinter den
Busch jehen, den Schweinigel. Er kömmt lang nit wieder. Wo bleibt
de? Ich ruf, ich schrei. Zum Donnerwetter noch mal, legt sich dat
faule Luder hin und läßt sich die Sonn auf den Buckel scheinen! Et
war Abendsonn, aber noch janz wärmlich. Ich steig hinter den Busch –
kein Jacobs da. Zum Kuckuck – wo? Ich kuck mich rasch um. Da kommt die
kleine Huesgen aus den Tannen hinter der Ley heraus, sie singt und
sucht von den gelben Blumen. ›Haste ’ne Kerl jesehn?‹ Da nickte sie und
winkt mit dem Kopf nach ’m offnen Venn. Und ich seh ihn noch laufen.
Aber de war zu weit fort, eh ich schießen konnt. Und in der Nacht war
nix mehr zu machen. Aber ich krieg ihn doch. Mir is et nit bang drum!«
Simon Bräuer schickte noch einen greulichen Fluch nach.

»Seit jestern hab ich die Spur – in der Schonung hat der Lauskerl
jelegen – über die Jrenz is er noch nit. Dem werden die Kaldaunen schon
so zusammenjeschnurrt sein, dat de froh is, wieder unterzukriechen bei
Wasser und Brot!«

So viele Worte hintereinander hatte Josef noch nie von dem Aufseher zu
hören bekommen. Der Mann war erregt, man sah’s an seinen blitzartig
umherfahrenden scharfen Blicken und an einem Zucken der Muskeln im
sonst so eisernen Gesicht. Er schien ganz allein zu sein. Es wunderte
Josef, keinen Gendarmen bei ihm zu sehen. »Sind Sie denn allein?«
fragte er zögernd. Ah, vielleicht war es dann doch noch möglich, daß
der arme Teufel entwischte!

»Janz allein!« Bräuer lachte auf. »Denken Sie vielleicht, ich bin bang?
Wenn ihn einer kriegt, krieg ich ihn. Und ich werd mich doch nit so
blamieren!«

Die Zähne zusammenbeißend, knurrte er böse. Und dann, die Blicke
umherschießen lassend, schrie er plötzlich auf: »Wer hat denn hier
genächtigt? Wat is dann dat?«

Vergebens hatte Josef versucht, ihm den Blick in die Küche zu
versperren. Der viel größere Mann guckte ihm über die Schulter weg.

Mit mächtigem Satz war der Aufseher in der Küche, mit einem zweiten bei
der Lagerstatt, mit einem dritten beim Fenster – ein Blick genügte ihm:
da hing ja noch ein Fetzen, und das Gefüge der Hecke zeigte deutlich
den Durchbruch! »So,« sagte er eiskalt und maß den Erschrockenen mit
durchbohrendem Blick, »Sie haben ihm Unterschlupf jejeben, diese Nacht,
Sie –«

Josef wollte ihn unterbrechen, etwas sagen von ›krank‹, von
›entsetzlichem Zustand, dem er sein Mitleid nicht habe versagen
können‹, aber Bräuer schnitt ihm die Rede ab: »Ich versteh, versteh,
Sie sind ’ne Mensch – aber ich bin ’ne Aufseher. Kommen Sie mal mit!
Nach wozu is er dann?«

Er nötigte Josef vors Haus, ließ ihm kaum Zeit, sich Mantel und Kappe
herzulangen. Sie standen draußen auf dem Wiesenplan, aber nach welcher
Richtung der Flüchtling gelaufen war, davon hatte Josef keine Ahnung.
Wahrscheinlich dem Grenzbach zu.

Der Aufseher lief wie ein flüchtiger Hirsch, er machte weite Sätze.
Josef hatte ihm längst nicht mehr zu folgen vermocht, obgleich auch ihn
die Aufregung vorwärts trieb und seine Kräfte verdoppelte.

Es war eine wilde Jagd über den Wiesenplan, zwischen den Tannen durch,
durch Gestrüpp und Geröll, über gestürzte Baumstämme, durch vermoorte
Wasserläufe, immer abwärts zum Grenzbach.

Da war ja Blut! Eine rote Lache auf schwarzem Grund! Josef stutzte
plötzlich: war hier ein Wild getroffen worden?

Ein Grausen überkam ihn, er rief nach dem Aufseher; der war nicht mehr
zu sehen. Keine Antwort wurde ihm. Er rannte wieder weiter und sah sich
scheu dabei um: wo hetzte jetzt der Unglückliche hin, ohne Schuhe, nur
in Strümpfen, und ohne Rock? Wo würde ihn der Aufseher fassen? Wenn er
jetzt hier, bei ihm, durchs Gebüsch bräche, er würde ihn ruhig laufen
lassen, ihn sicher nicht festhalten.

Josef wußte nicht, was er eigentlich wünschen sollte. Gewiß war der
Rotkopf der beste Bruder nicht – eine Galgenphysiognomie – aber hatte
er, Josef Schmölder, er denn das Recht, auf ihn herabzusehen? Der war
ein Verbrecher, in der Tat, – weiß Gott, was der schon alles begangen
hatte – aber er, Josef Schmölder, er hatte auch eine Schlechtigkeit
begehen wollen. Wäre nicht der Flüchtling dazwischen gekommen – oh! Es
war Josef, als sei er dem armen Kerl gewissermaßen Dank schuldig. Und
doch, durfte man, als dem Gesetze untertan, einem entlaufenen Sträfling
Vorschub leisten?!

Nach Atem ringend, stand Josef einen Augenblick unschlüssig. Da wurde
ihm schon die Antwort auf sein grübelndes Fragen. Ein Schuß krachte
plötzlich schreckhaft laut durch die Stille des Venns, lang-nachrollend
in einem furchtbaren Echo.

»Bräuer!« Josef schrie auf. O, diese Menschenjagd! Hatte er ihn
getroffen – erschossen?!

Gellend schrie Josef nach dem Aufseher. Er rannte umher, bald zur
Rechten, bald zur Linken. Wo waren sie? Wo war der Verfolger, wo der
Erschossene?!

»Holla!« Des Aufsehers starke Stimme wies ihn zurecht.

Da stand Bräuer unten im Grund, stark, aufrecht; um ihn vermodertes
Holz, wildes Gestrüpp, Sumpf, Felsgeröll, Steine, vom schmelzenden
Wildwasser rund gewaschen, und dazwischen noch übriggebliebener
schmutziger Schnee.

Der Flüchtling lag am Boden.

»Bräuer, um Gottes willen, Bräuer!«

»Beruhigen Sie sich!« Der Aufseher zog die Mundwinkel herab in einem
spöttisch-verächtlichen Lächeln. »Dat war nur ’ne Schreckschuß. Wo
werd ich denn! Dem is nix jeschehn!« Er bückte den Kopf ein wenig
zu dem am Boden Liegenden herunter und gab ihm einen Rippenstoß mit
dem Fuß: »Steh auf, mein Sohn! So, du verfluchtes Aas, nu heißt et,
wieder heimjehn. Haste dich drücken wollen? Wart du! Marsch!« Mit der
verkehrten Hand wischte er sich die Tropfen von der Stirn. Das hatte
doch Schweiß gekostet.

Aber der Sträfling stand nicht auf; er lag mit keuchender Brust platt
auf dem Rücken, sein Mund war offen, blutiger Schaum kam ihm über die
Lippen, mit einer seltsamen Glasigkeit stierten seine Augen zum Himmel.

»Willste wohl? Marsch, vorwärts, zu....rrück!« Der Aufseher riß ihn auf.

Aber kaum stand der schlotternde Mensch auf den Füßen, so fiel er auch
schon wieder nieder und umklammerte des Aufsehers Knie. Er röchelte:
»Barmherzigkeit, nit dahin – haben Se Barmherzigkeit, nur nit dahin!«
Er streckte den zitternden Finger in der Richtung der Strafkolonie.
»Nit zurück – überall hin – nur nit dahin!«

»Ja wohl, arbeiten möchste nit, da heißt et jearbeit. Faules Luder!
Mach keine Fisematenten, du hast mich jenug vexiert. Voran!« Der starke
Mann riß den Schwachen wieder auf und stieß ihn vor sich her.

Aber mit ungeahnter Kraft widersetzte sich der Rotkopf. Er warf sich
wieder lang hin und schlug die Hände wie Krallen ins nasse Moor. »Ich
will nit, ich will nit,« heulte er. Es klang wie das Brüllen eines
Tieres. Und ins Brüllen hinein fielen menschliche Worte. »Ich drück ihr
sonst doch noch den Hals zu – ich muß – kann nit anders – dat Mädche
– Barmherzigkeit – ach, dat kleine Dingelche – se is schon wieder auf
dem Venn – sucht Blumen – dann hütet se – Frühjahr, Sommer, – überall,
überall – o, Herr Aufseher, überall is se – über – all – über – a – –
–!«

Die Worte waren nicht mehr verständlich, sie gingen unter in Schluchzen
und Ächzen und Husten und Heulen.

Die Stirn krausend stand der Aufseher. Er war blaß geworden.

»Was sagt er?« flüsterte Josef. »Ich sagte es Ihnen ja, er ist krank.
Er spricht im Fieber!«

»De spricht nit im Fieber!« Finster starrte der Mann auf den anderen
im Moose. Und dann schlug ihm eine jähe Röte ins Gesicht. Er nickte
nachdenklich, schwer mit dem Kopf. »So is et,« sagte er langsam und
wischte sich mit der Hand über die Stirn. Und dann beugte er sich
tief zu dem am Boden Liegenden herunter und klopfte ihm mit der Hand
auf den Rücken: »So, nu komm, Rotfuchs, du mußt jetzt aufstehn. Aber
ich versprech dir, ich schick dich nach Aachen zurück; da siehste
kein Fraumensch. Und so lang bis du wegkömmst, schließ ich dich in’t
Kaschöttchen ein – da biste sicher!«

Da stand der Sträfling gehorsam auf. Sie nahmen ihn zwischen sich, aber
sie mußten ihn führen. Er konnte nicht mehr allein gehen.




XVI


Langsam fuhr der Wagen von der Fangeuse fort nach der Chaussee zu;
es spritzte der Morast um die Räder, es schwankte das hohe Gestell
im schlammigen Moor. Aber man kam doch jetzt schon durch mit dem
Jagdwagen. Und Josef war auch soweit, daß er, in Decken verpackt,
darauf sitzen konnte.

Der Schluß des Märzes hatte ihm noch einen bösen Rückfall gebracht.
Nun war der April da, ein lichter Himmel spannte sich übers Vennland.
Aber wo anders würde der noch viel lichter sein! Josef sehnte sich,
fortzukommen. An die Riviera.

»Dat is janz dat Rechte für dich. Immer Sonne, mehr Menschen,
allerlei zu sehen, Musik, schöne Bilder, Jondelfahrten. Da kömmste
auf andere Jedanken,« sagte Heinrich herzlich. Und Josef nickte dazu
mit halb-wehmütigem, halb-hoffnungsfreudigem Lächeln: ja, da konnte
Heinrich wohl recht haben.

Nur fort von der Fangeuse! Es litt ihn nicht mehr da, der Abschluß war
zu schrecklich gewesen. Und ihm grauste auch, wenn er an die Tage der
Schnee-Einsamkeit zurückdachte. Und doch wurde ihm das Scheiden schwer.

Bäreb stand Abschied nehmend am Wagen. Sie sollte erst noch im Haus
aufräumen, alles zuschließen und verwahren. Dann ging auch sie hinunter
nach Heckenbroich, und die Schlüssel schickte sie dann dem Herrn
Schmölder.

Sie weinte; mit der Linken hielt sie sich die Schürze vors Gesicht;
ihre Rechte hatte sie zum Wagen hinaufgereicht, sie ruhte in Josefs
Hand.

Er drückte sie ihr krampfhaft: »Leb wohl, Bäreb!«

Sie schluchzte laut. Jesus Maria, ach, es wurde ihr doch so arg schwer,
fortzugehen vom Herrn Josef! Von der Fangeuse, wo sie so gute, ach,
so sehr gute Tage gehabt hatte! Die ganze Nacht schon hatte sie mit
Weinen verbracht. Es hatte ihr immer noch wie ein Traum gedünkt, wie
ein recht böser, daß sie nun weg sollte von hier; aber nun mußte sie es
ja glauben, es war wirklich Ernst. Das Schluchzen sprengte ihr fast die
Kehle, es erschütterte ihre ganze Gestalt.

In Josefs Gesicht zuckte es. »Bäreb, wein doch nicht so! Bäreb, sieh
mich doch noch einmal an! Willst du mir denn nicht ordentlich Adieu
sagen, Bäreb?«

»Adjüs,« sagte sie halb erstickt. Aber ihr Gesicht ließ sie nicht
sehen, sie preßte nur noch fester die Schürze dagegen; die war schon
ganz naßgeweint.

»No, no, Mädchen!« Heinrich Schmölder beugte sich über den Wagenrand
und klopfte der Schluchzenden gutmütig den Rücken. So ein hübsches
Mädchen, und so anhänglich! Er war ordentlich gerührt. »Still, bis
still, Kind! Warste denn so arg jern hier oben?«

Sie nickte krampfhaft.

»No,« sagte der Fabrikant und schmunzelte; es war ihm plötzlich eine
famose Idee gekommen, die er auch auszuführen gedachte. Wenn die so arg
gerne hier oben war, dann konnte ihr ja geholfen werden – und zugleich
ihm selber. Tüchtig war sie, und es würde nett sein, in den Jagdtagen
ein so allerliebstes Gesicht um sich zu sehen. »Weißte wat, Bäreb,«
sagte er vertraulich, »ich weiß ’ne jute Ausweg. Ich engagier ’ne junge
Förster für hier. Ich hab ja nu doch noch die Jemeindejagd zujekriegt –
äh, et jeht mir jetzt doch so viel Jeld drauf, da will ich wenigstens
auch mein Pläsier haben. Und den jungen Förster, den heiratst du! Wat,
Bäreb?!«

Nun ließ sie doch die Schürze vom Gesicht sinken. Ihre nassen,
rotgeweinten Augen hoben sich fragend auf. »Is dat Uech Ernst, Hähr?«

»No, natürlich, mein Wort!«

Da lächelte sie ein bißchen. Ein Erröten huschte über ihre blassen
Wangen, sie flüsterte verschämt: »Wenn Ihr esu jot sein wollt, Hähr
Schmölder!« –

Die Pferde ruckten an, der Kutscher konnte sie nicht länger halten, sie
wollten fort von der zugigen Höhe, heim in den warmen Stall.

Ein Zungenschlag, ein Peitschenknall – zurück blieb die Fangeuse.

Solange man sie noch sehen konnte, solange wandte sich auch Josef
zurück. Da stand noch immer die Bäreb draußen vor der Hecke; versunken
dahinter das Häuschen, und über allem ragend die Tannen.

Lebe wohl, Bäreb! Josef sah ihr Kleid noch flattern, sie schirmte die
Augen mit der Hand gegen die Weite und sah ihm nach. Er winkte: »Adieu,
adieu!«

»Adjüs!« Das war ein heller und kräftiger Ruf. Jetzt riß sie die
Schürze ab und ließ sie wehen. Wie eine lustige Flagge wimpelte das
gestreifte Weiß und Rot.

Und nun kam eine Biegung, ein Erdwall – nun war alles verschwunden,
die ganze Idylle. Nichts da, als das große, öde, gewaltige Venn. Der
flüchtige Sonnenblick war schon erloschen, es durchschauerte Josef auch
heute am Frühlingstag.

»Frierst du?« fragte der Vetter besorgt.

Josef gab keine Antwort. Was sollte er sagen? Heinrich würde ihn ja
doch nicht verstehen. Und er traute es sich auch gar nicht zu, sich
klar genug auszudrücken. Es fror ihn ja nicht nur körperlich, es fror
ihm die Seele.

Seine Blicke irrten umher: wieviel Schweiß, wieviel Lebenskraft
verlangte dieser Boden! Und würde er denn überhaupt je von schwarzem
Moorland sich wandeln zu hellerem Gefilde?! Die auf ihm arbeiteten, an
ihm arbeiteten, waren ja Unfreie, Gebundene. Josefs Gedanken glitten
schnell von den Häftlingen der Strafkolonie hin zu dem König von
Heckenbroich: auch der war unfrei. Ein Befangener, ein Gebundener trotz
allem und allem!

Da lag die Strafkolonie! Der Tag wurde grauer und grauer. Düsterer denn
je dünkte Josef das einsame Haus, selbst das Rot des Daches schrie
heute nicht hell und niemand war draußen zu erblicken. Josef seufzte.
Aber dann war es wie ein Aufatmen: Gott sei Dank, so bald würde er das
nicht wiedersehen!

Noch ragte das Kreuz der Marienley schwarz auf aus den schwarzen
Tannen. Alles so düster, so schwer. Der Kutscher peitschte die Pferde.
Rasch rollte der Wagen voran, und immer rascher hinab ins Tal.

       *       *       *       *       *

Aus dem Haus der Strafkolonie kamen jetzt langsam Gestalten heraus. Sie
standen draußen herum mit gesenkten Köpfen, die Mützen in den Händen.

Nun erschien Bräuer; ein zweiter Aufseher mit einer Flinte neben ihm.
Sie schlossen den Stall auf, darin Holz und Torf aufbewahrt wurden –
und heute noch etwas anderes.

»Voran,« sagte Bräuer. Er hatte eigentlich nicht mehr zu kommandieren,
neben ihm war der Neue, der von morgen ab allein hier zu gebieten
hatte. Aber alle sahen doch nur nach ihm.

Vier traten an; sie spuckten in die Hände, und dann hoben sie den Sarg,
der auf ein paar zusammengebogenen Fichtenstämmchen im Stalle stand,
heraus. Leise zählte einer: »Eins – zwei – drei, hebt – auf!« Schwer
war die enge Tannenlade doch; wer hätte gedacht, daß der Jacobs noch so
ein Gewicht haben könnte.

Mit zusammengebissenen Zähnen gingen die Träger, hinter ihnen zu zweien
und zweien die übrige Schar. Sie alle folgten dem Sarg; zuletzt die
beiden Aufseher.

Der Neue hätte den Gang gern benutzt, um sich noch über manches zu
informieren, aber Bräuer blieb hartnäckig stumm. Er hielt die Hände vor
sich gefaltet wie es die Sträflinge auch taten; manch einer von ihnen
hatte einen Rosenkranz vorgesucht, nun rollten die Perlen.

Das Kreuz, das man sonst vor dem Sarge herträgt, hatten sie nicht.
Aber der alte Schleichert hatte eines zurechtgeschnitten aus glatten
Stöcken und zusammengebunden; nun ging er damit voran, ernsthaft und
andächtig. Es war ihm arg: ohne Beichte und Absolution, ohne noch
versehen worden zu sein, war der Junge gestorben! Sie hatten ihn
gefunden im Schlafsaal, tot im Bett, als das Morgenrot sie aus festem
Schlafe weckte. Sie hatten gar kein Röcheln gehört. Weiß und kalt lag
der Rotfuchs schon; die Hände hielt er ins Stroh gekrampft, wie Borsten
standen ihm die Haare, und die härene Decke war voll Blut gespieen.
Einen Priester hatte man nicht mehr holen können.

Aber der Landstreicher hatte ihm wenigstens rasch noch die Hände
ineinander gefaltet, ehe sie gänzlich erstarrten. Kruzifix und geweihte
Kerze waren nicht zur Hand; er hatte nur das Kreuzeszeichen über ihm
machen können. Dann war er an der Bettstatt niedergekniet und hatte
laut zu beten angefangen, was ihm gerade einfiel; und wenn er nicht
mehr weiter wußte, fing er wieder von vorne an.

Die anderen hatten lachen wollen über den alten Paternapgacker: was
fiel dem denn ein, so zu paternollen?! Aber dann hatte es sie doch
gepackt: der Tod war unter ihnen – wer weiß, an wen es nun kam?!

       *       *       *       *       *

Sie beteten emsig. Hoch reckte der Alte das Kreuz, sein stoppliges
Gesicht schielte nach oben. Er betete vor:

    »Herr, erbarme dich unser,
    Christus, erbarme dich unser!«

Als Echo wiederholte der Chor:

        »»Herr, erbarme dich unser,
        Christus, erbarme dich unser!««
    »Gegrüßet seist du, Maria, Gebenedeite unter den Weibern!«
        »»Heilige Maria, Mutter Gottes, bitt für uns, jetzt und in der
                Stunde unsres Todes!««
    »Amen!«

»Amen!« murmelte auch Simon Bräuer. Er senkte den Blick: nun war
es aus! Morgen um diese Zeit war er schon weit von hier. Bald bei
dem Thereschen! Aber keine Freude kam darob in sein Herz. Tief hing
er den Kopf – vor ihm trottete die Herde – er kam sich vor wie ein
Fahnenflüchtiger. Und doch, er =mußte= gehen!

Einen raschen, scheuen Blick warf er nach dem Sarg, der vor ihnen allen
herschwankte, und dann senkte er den Kopf noch tiefer: vielleicht daß
er wiederkam, wenn =sie= mitging, wenn er ein Haus für sie gebaut
kriegte, nicht allzu weit ab, und wenn es ihr gefiel – dann vielleicht!
Aber nur dann!

Langsam rückte der Zug voran. Die Träger wechselten häufig; es war
ein schweres Gehen mit der Last durchs struppige Vennkraut. Nur
der Schleichert gab sein Kreuz nicht ab, er trug es mit Stolz und
Hingebung. Bei jedem Windstoß, der über die Fläche fauchte, verstärkte
er seinen betenden Ton:

    »Rette, o Herr, seine Seele!«

Und die anderen verstärkten den ihren dann auch. Weithin streute der
Wind das betende Murmeln:

    »Laß ihn ruhen in Frieden!«

       *       *       *       *       *

An der Grenze von Heckenbroich stand der Bürgermeister; er sah den Zug
kommen und hörte das Beten. Er nahm den Hut ab, als sie vorüberzogen,
Mann bei Mann, zu zweien und zweien, ein sich windender Wurm, der
hinkroch durch den finsteren Tag nach dem Kirchhof von Heckenbroich.

»Herr, gib ihm die ewige Ruh!« betete der Alte.

Die anderen beteten nach: »Und das ewige Licht leuchte ihm!«

»Uns allen!« flüsterte Leykuhlen und bekreuzte sich. Er verneigte sich
tief.

Jetzt waren sie vorüber. Aber hinter ihnen ragte das Kreuz der Ley,
das einzig Ragende auf der weiten Fläche. Das alles Überragende – das
Wahrzeichen im schwarzen Land.




Romane und Novellen von Clara Viebig


Ausgewählte Werke

Acht Bände

1. Das tägliche Brot / 2. Die vor den Toren / 3. Rheinlandstöchter /
4. Einer Mutter Sohn / 5. Das schlafende Heer / 6. Die Wacht am Rhein /
7. Eifelgeschichten / 8. Das Kreuz im Venn


Unter dem Freiheitsbaum

Roman. 384 Seiten. 15. Tausend


Das rote Meer

Roman. 292 Seiten. 18. Auflage


Töchter der Hekuba

Ein Roman aus unserer Zeit. 351 Seiten. 45. Auflage


Eine Handvoll Erde

Roman. 297 Seiten. 27. Auflage


Heimat

Novellen. 244 Seiten. 13. Auflage


Das Eisen im Feuer

Roman. 383 Seiten. 20. Auflage


Die vor den Toren

Roman. 438 Seiten. 30. Auflage


Das Kreuz im Venn

Roman. 389 Seiten. 37. Auflage


_ABSOLVO TE_

Roman. 392 Seiten. 26. Auflage


Einer Mutter Sohn

Roman. 341 Seiten. 40. Tausend


Naturgewalten

Neue Geschichten aus der Eifel. 276 Seiten. 18. Auflage


Das schlafende Heer

Roman. 450 Seiten. 42. Auflage


Eifelgeschichten

476 Seiten. 28. Auflage


Die Wacht am Rhein

Roman. 389 Seiten. 40. Tausend


Das tägliche Brot

Roman. 400 Seiten. 40. Tausend


Das Weiberdorf

Roman aus der Eifel. 289 Seiten. 44. Auflage


Rheinlandstöchter

Roman. 408 Seiten. 32. Auflage


Kinder der Eifel

Novellen. 313 Seiten. 25. Auflage

Jubiläumsausgabe: 303 Seiten 4° auf Bütten mit Bildern von Professor
Fritz von Wille


Deutsche Verlags-Anstalt in Stuttgart




Liste korrigierter Druckfehler


Seite 10: »rauhharigen« durch »rauhhaarigen« (Mit rüstigem Schritt, den
rauhhaarigen Zylinder in der Hand tragend, ...)

Seite 13: Punkt am Satzende ergänzt (..., dat steht in Jottes Hand.)

Seite 22: »Trünen« durch »Tränen« ersetzt, einleitendes einfaches durch
doppeltes Anführungszeichen ersetzt (Das Mädchen brach in Tränen aus.
»Wat soll ich dan maache?! ...«)

Seite 37: »Aufsehen« durch »Aufseher« ersetzt (..., der seine zwölf
Jahre in den Kasematten von Köln verbracht und dann noch ein paar dazu
als Aufseher hinter den Mauern von Siegburg, ...)

Seite 40: Komma am Satzende durch Punkt ersetzt (»Sie sind sehr
streng,« sagte Leykuhlen vorwurfsvoll.)

Seite 44: »im üppigstem« ersetzt durch »im üppigsten« (Das waren die
gelben Narzissen, die blühten jetzt im üppigsten Flor.)

Seite 50: »imer« durch »immer« ersetzt (Noch immer irrten die Schafe
durchs Heidemeer, ...)

Seite 55: Komma am Satzende durch Punkt ersetzt (... ein leicht
schelmisches Lächeln erhellte ihr ernsthaftes Gesichtchen.)

Seite 60: »hate« durch »hatte« ersetzt (... er hatte den Hut aufgesetzt
...)

Seite 63: »Männergestelt« durch »Männergestalt« ersetzt (Fast wäre die
verspätete Beterin in ihrer Eile gegen eine Männergestalt gerannt, ...)

Seite 64: »Kahrintchens« durch »Kathrinchens« ersetzt (... nun wußte er
auf einmal, an wen des Kathrinchens Augen ihn erinnert hatten.)

Seite 69: »zusamen« durch »zusammen« ersetzt (... oh ja, es kam heute
schon was zusammen mit der Rechnung ...)

Seite 69: »entlegegen« durch »entlegenen« ersetzt (Nicht nur Manieren,
auch Geld brachte man in diesen entlegenen Erdenwinkel.)

Seite 75: »Schnurbärtchen« durch »Schnurrbärtchen« ersetzt (Nervös
zwirbelte er an seinem schüchternen Schnurrbärtchen, ...)

Seite 76: »unruhigen« durch »unruhige« ersetzt (... am hohen Giebel des
Schwan, um den wie unruhige Gedanken im Zickzackflug fortwährend dunkle
Fledermäuse flatterten, ...)

Seite 84: »gekomen« durch »gekommen« ersetzt (Es war über ihn gekommen
wie eine Erleichterung.)

Seite 88: »stechen« durch »stecken« ersetzt (Ihr solltet lieber nit mit
dem Landrat unter einer Deck stecken, Ihr solltet mieh mit oß haalde!)

Seite 116: »Brunen« durch »Brunnen« ersetzt (Nun sollte sie ihren
Brunnen ausschachten lassen und ummauern, sonst ...)

Seite 143: »un« durch »und« ersetzt (... und sie antwortete
blitzgeschwind, gar nicht um die Antwort verlegen:)

Seite 166: »Ecko« durch »Ecke« ersetzt (Um die Ecke bog’s ihr entgegen
...)

Seite 179: schließendes Anführungszeichen ergänzt (›... Sieben Söhn’
hatt’ Adam –‹)

Seite 179: »zwölfhundertund fünfzig« durch »zwölfhundertundfünfzig«
ersetzt (Ein Weg, zwölfhundertundfünfzig Meter lang, dreifach, nein,
fünffach zu machen!)

Seite 182: schließendes Anführungszeichen ergänzt (›Adam hatte sieben
Söhn –‹)

Seite 190: »hate« durch »hatte« ersetzt (O, und Verstand hatte sie
auch!)

Seite 211: Punkt am Satzende ergänzt (Man gab ein genaues Signalement.)

Seite 219: »Immmer« durch »Immer« ersetzt (Immer steil abwärts ging es,
ein böser Absturz.)

Seite 227: »kühlendem« durch »kühlenden« ersetzt (..., die ohne
Mütze, ohne Hut, ohne Tuch, die Stirnen dem kühlenden Atem der Nacht
preisgaben.)

Seite 243: »Vienen« durch »Bienen« ersetzt (Um ihn summte es – Bienen
im Wind ...)

Seite 247: »Muter« durch »Mutter« ersetzt (Unruhig ging die Mutter zur
Tür hinaus und ...)

Seite 248: »Muter« durch »Mutter« ersetzt (Die Mutter riß ihn in ihre
Arme und ...)

Seite 275: Komma ergänzt hinter »mehr« (... das waren keine
Kinderstreiche mehr, keine Dummheiten, ...)

Seite 275: »vier« durch »vierzig« ersetzt (Ihr ganzes Leben war im Dorf
verflossen – vierzig Jahre sind lang – und nie ...)

Seite 277: »Händen« durch »Hände« ersetzt (Er krampfte die Hände in
einander, ...)

Seite 282: »imerhin« durch »immerhin« ersetzt (..., daß der Dreiborn,
der immerhin ein kluger Mann zu nennen war, ...)

Seite 283: Punkt am Satzende ergänzt (Die Magd war dem erstickenden
Qualm entwichen, die Frau war allein.)

Seite 283: »Schriten« durch »Schritten« ersetzt (..., mit seinen alten,
kräftigen Schritten.)

Seite 290: Punkt am Satzende ergänzt (»No, und wat dann?« fragte der
Vetter mit seinem breiten Lächeln.)

Seite 297: einleitendes einfaches durch doppeltes Anführungszeichen
ersetzt (»Wie’n Liwerlink,« sagte Heinrich mit Spott.)

Seite 299: Punkt am Satzende ergänzt (Aber dann sagte er nichts mehr,
er verstummte.)

Seite 302: Punkt am Satzende ergänzt (Mit einem Ruck richtete sich der
Aufseher aus seiner nachdenklichen Stellung auf.)

Seite 313: »die« ergänzt (... eine weiße Katze, die sich halb
verhungert im Holzstall vorgefunden hatte, ...)

Seite 317: »kaum« durch »kam« ersetzt (Und es kam bald die Zeit, ...)

Seite 333: »forgelassen« durch »fortgelassen« ersetzt (Wer weiß, die
Ihren hatten sie nicht mehr fortgelassen, es ward ja schon dunkel!)

Seite 355: »hate« durch »hatte« ersetzt (Wie eine Wand hatte es sich
plötzlich zwischen ihn und die Strafkolonie geschoben.)

Seite 357: »Verrückten« durch »Verrückter« ersetzt (... rannte er denn
auf der eigenen Fährte herum wie ein Verrückter?!)

Seite 362: schließendes doppeltes durch einfaches Anführungszeichen
ersetzt (›Bäreb, da bin ich noch einmal wieder!‹)

Seite 387: einleitendes doppeltes Anführungszeichen ergänzt (»Amen!«)





*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DAS KREUZ IM VENN ***


    

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be renamed.

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goals and ensuring that the Project Gutenberg™ collection will
remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
and permanent future for Project Gutenberg™ and future
generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see
Sections 3 and 4 and the Foundation information page at www.gutenberg.org.

Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non-profit
501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
Revenue Service. The Foundation’s EIN or federal tax identification
number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by
U.S. federal laws and your state’s laws.

The Foundation’s business office is located at 809 North 1500 West,
Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up
to date contact information can be found at the Foundation’s website
and official page at www.gutenberg.org/contact

Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

Project Gutenberg™ depends upon and cannot survive without widespread
public support and donations to carry out its mission of
increasing the number of public domain and licensed works that can be
freely distributed in machine-readable form accessible by the widest
array of equipment including outdated equipment. Many small donations
($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
status with the IRS.

The Foundation is committed to complying with the laws regulating
charities and charitable donations in all 50 states of the United
States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
with these requirements. We do not solicit donations in locations
where we have not received written confirmation of compliance. To SEND
DONATIONS or determine the status of compliance for any particular state
visit www.gutenberg.org/donate.

While we cannot and do not solicit contributions from states where we
have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
against accepting unsolicited donations from donors in such states who
approach us with offers to donate.

International donations are gratefully accepted, but we cannot make
any statements concerning tax treatment of donations received from
outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.

Please check the Project Gutenberg web pages for current donation
methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
ways including checks, online payments and credit card donations. To
donate, please visit: www.gutenberg.org/donate.

Section 5. General Information About Project Gutenberg™ electronic works

Professor Michael S. Hart was the originator of the Project
Gutenberg™ concept of a library of electronic works that could be
freely shared with anyone. For forty years, he produced and
distributed Project Gutenberg™ eBooks with only a loose network of
volunteer support.

Project Gutenberg™ eBooks are often created from several printed
editions, all of which are confirmed as not protected by copyright in
the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not
necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper
edition.

Most people start at our website which has the main PG search
facility: www.gutenberg.org.

This website includes information about Project Gutenberg™,
including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks.