Fetzen : Aus der abenteuerlichen Chronika eines Überflüssigen

By Alexander Weicker

The Project Gutenberg eBook of Fetzen
    
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Title: Fetzen
        Aus der abenteuerlichen Chronika eines Überflüssigen

Author: Alexander Weicker

Release date: June 15, 2025 [eBook #76308]

Language: German

Original publication: München: Georg Müller Verlag, 1921

Credits: Jens Sadowski, Richard Scheibel, and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net


*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK FETZEN ***


                            [Illustration]

                       ALEXANDER WEICKER / FETZEN

                            [Illustration]


                           ALEXANDER WEICKER




                                 FETZEN


                        AUS DER ABENTEUERLICHEN
                      CHRONIKA EINES ÜBERFLÜSSIGEN

                            [Illustration]


                                  1921
                      GEORG MÜLLER VERLAG MÜNCHEN




                                VORREDE


                                   Mein erstes Publikum war ein
                                   Blinder; er sagte: so habe ich die
                                   Welt noch nie gesehen.

Ich will ehrlich sein und, obwohl ich selbst zur Kaste der
Zeilenschinder und Tintenreiter gehöre, behaupten, daß die Ehrlichkeit
nicht das Wesen der Schriftsteller ist. Weil ich die Vorrede zu
allerletzt geschrieben, müßte ich sie eigentlich Nachrede nennen. Aus
dieser Tatsache ziehe ich daher den geistreichen Schluß, daß es für den
Leser nicht von Wichtigkeit ist, das Buch zu kennen, bevor er die
Vorrede liest. Für den Verfasser ist diese Kenntnis um so wichtiger.

Wenn ich an die Geschichte der Entstehung des Buches denke, will mich
die Trauer schier nicht mehr verlassen. Uebrigens weiß alle Welt von dem
tragischen Tod – die Tragik des Wortes Tod will es, daß das Wort vorne
hart und hinten weich, in der Mitte aber oval ist, wie bei einem Krebs,
wo man eigentlich nie weiß, was hinten ist – also alle Welt weiß von dem
tragischen Tod meines Freundes. Ich überlege immer, ob ich normal bin,
weil der Vergleich, der überdies noch ganz krebsig ist, mich trotz des
traurigen Vorkommnisses zum Lachen reizt. Da ich aber nicht antizipieren
will, verrate ich in der Vorrede nur, daß ich eines Morgens aus meinem
vierten Schlaf geklingelt wurde und der Postbote mir ein Paket mit einem
Stoß halb unleserlicher Aufzeichnungen brachte, denen, in feinstes
Stanniol gewickelt, eine lebendige Kröte beigefügt war (siehe Seite 9).
Ferner enthielt das Paket einen richtigen Abmeldeschein, der
vorschriftsmäßig-korrekt ausgefüllt war. Nur der Bestimmungsort machte
mich stutzig und nachdenklich. Ich las: Ziel der Reise – Jenseits.

Mein Freund ist also ein Selbstmörder und obwohl ich mit der
menschlichen (fast schrieb ich unmenschlichen) Gesellschaft gegen den
Selbstmord bin – prinzipiell! – will ich doch noch ein gutes Wort für
meinen Freund reden, weil es von Vorteil für meine viel wichtigere
Persönlichkeit ist.

Das bedarf einer Erklärung für die, welche das Verhältnis zwischen mir
und meinem Freunde nicht kennen. Ich bin überzeugt, daß man keinerlei
Verpflichtungen gegen einen toten Freund, wohl aber gegen eine lebendige
Umwelt hat. Deshalb will ich meinem Bekanntenkreis, ich rechne darunter
alle Leserinnen und Leser, deren lebhaftester Anteilnahme ich sicher
bin, alles rückhaltlos beichten. Mein Freund hat mich zum Universalerben
einer Schuld von fünfundsiebzigtausend Mark in bar eingesetzt. An
beweglichem Inventar die lebende Kröte und als eigentliches Gut der
„Toten Hand“ das Manuskript mit Aufzeichnungen aus seinem Leben. Er hat
mich beschworen, ja alle seine Schulden zu bezahlen, weil seine
Gläubiger sehr harmlose, wenn auch reiche Gönner waren. Diese
Beschwörung habe ich als identisch mit einem von mir gegebenen Ehrenwort
angesehen und mich an die Aufgabe herangemacht, das Material zu sichten.
Das Manuskript ist eigentlich ein lustiges Studententagebuch mit
tragischem Ausgang und ziemlich unvernünftigen Verwickelungen. Die
Figuren sind meist überlastete Sammelfiguren und verzerrte Symbole.

Ueber Wetter und Zeit konnte ich im – nennen wir es schlechthin – Roman
nur spärliche Andeutungen machen, weil mein Freund, ich muß es zu seinem
Schimpfe leider sagen, mathematisch exakt gebildet war, also weil mein
Freund eine ganz spezielle Behandlungsweise auf Zeit und Wetter
angewandt hat. Abgesehen von den kosmischen Theorien hat er sein
Zeit-Wettersystem nach den Grundsätzen der Wahrscheinlichkeitsrechnung
aufgebaut, und ist dabei auf komplizierte Integrationskurven gestoßen,
die ich dem Publikum vorenthalten will, zumal die Literarhistoriker von
dieser Art der Behandlung noch keine Kenntnis zu nehmen geruht haben.
Zudem bin ich der Ansicht, daß Romane, die von Zeit oder Wetter abhängig
sind, leicht zu spät kommen oder verregnen, wenn sie nicht vorher
eingetrocknet sind.

Mit dem Risiko dieser Ansicht habe ich es übernommen, das Tagebuch zu
veröffentlichen und nach dem juristischen Erbrecht muß ich unbedingt
einen hohen Gewinnanteil haben. Daher warne ich alle Rezensenten, ihre
Feder gegen mich in die Tinte zu tunken, denn ich schwöre es bei meiner
Erbkröte, daß ich sie wegen Kreditschädigung auf Schadenersatz verklagen
werde ... andernfalls aber bereit bin, mit ihnen zu paktieren und ihnen
ihre unveröffentlichten persönlichen Verbalinjurien nach dem alten
publizistischen Verlagsrecht zu honorieren.

Ich fühle mich um so mehr berechtigt, dieses Kompromiß zu schließen,
weil ich weiß, daß der Kampf nicht der Sache wegen geführt wird, sondern
des Futters wegen. Nebenbei erachte ich es auch noch als eine große
Wohltat, die ich dem Publikum erweise, wenn ich es mit diesem kritisch
duftenden Bocksmist verschone. Und weil Gott alle Tiere zu seiner
größeren Freude erschaffen hat, so soll man auch diese Menschen von
edelstem Futtererwerb leben lassen.

Daher bekenne ich öffentlich, daß ich nie ein Tier, wenn es auch noch so
ekelhaft war, zu töten gewagt habe.

Um mir selbst den Vorwurf des unlauteren Wettbewerbs zu ersparen,
steuere ich dem Schlußpunkt meiner Vorrede zu, und sage: Die Ausmistung
des Augiasstalles ist nur eine Sage von fabelhaftem Unrat.




                             ERSTES KAPITEL


                                   Wer mit dem Stock erzieht,
                                   verwandelt den physischen
                                   Widerstand des Kindes in Ironie.
                                   Deshalb haben wir den Klöstern die
                                   köstlichste Frucht des
                                   menschlichen Geistes zu danken.

Jappes war ein Kerl.

Die Instinkte ersetzten bei ihm die bestvernachlässigte Erziehung. Ein
wild-stürmischer Gang, ein krauser Tituskopf, eine kühne Nase, am linken
Arm drei Pockennarben: Originalstiche! Weshalb gleich ein Steckbrief, er
hat ja noch nichts verbrochen! Vielleicht noch ein Wort zum Hausklatsch
für die Vorwitzigen: Seine Mutter hatte neun Monate mit ihm unter
gesegneten Umständen verbracht und ihn ihrem Mann am Geburtstag ins Bett
geworfen: Da hast du das Balg!

Sein Vater war ein alter Narr, der keinen Namen hatte, denn die Mutter
nannte ihn immer: Du. Eines Tages sprach er zu Jappes: „Du wirst gewiß
in einem Sumpf sterben – und ich wünsche immer, du wärest als Kröte auf
die Welt gekommen.“ Dann hatte Jappes geweint und die tröstende Mutter
sagte: „Spar deine Tränen, dein Vater ist ja ein Simpel!“

Und darum weinte er eben.

Als „Du“ starb, trug man ihn feierlich durchs Dorf unter Gesang und
Weihrauchduft. Es war ein sonnenlichter Tag. Die Mutter freute sich, daß
Jappes schon geboren war.

Die Gute, sie hieß Angelica.

Eines Tages weinten beide um den Tod des Vaters: „Geh in deine Kammer,“
sagte Angelica, „das Gute müssen wir im Verborgenen tun.“ Und Jappes
fragte: „Das Böse auch?“

Es kamen viele Tage, an denen nichts geschah, außer, daß Jappes
körperlich und geistig gegerbt wurde. Mit der Beize wurde nicht gespart,
denn Jappes war eine rohe Haut. Der Lehrer und Angelica schlugen sich
abwechselnd außer Atem und wenn Jappes dann die Luftknappheit zu seinem
Vorteil ausnutzte, geschah es mehr aus Instinkt als aus Feigheit – wenn
nicht gar Feigheit ein Instinkt ist! Jappes war nicht feig. Er hatte
mehr Hosenböden und mehr vorsätzliche Katzenmorde auf dem
Zivil-Gewissen, als eine ganze keimende Dorfgeneration zusammen. Wie für
den Indianer der Skalp das Kriterium der Tapferkeit, so für Jappes die
Katzen- und Hosenleichen.

Angelica wunderte sich, daß ihr Sohn immer unter Arbeitern steckte, wo
es nur Schnaps und Hering und Limburger Käse geben konnte. An einem
grauen Regentage untersuchte sie ihn, ob er noch keine Tätowierungen
habe. „Gottlob,“ sagte sie, „du bist blank wie ein gescheuerter
Bottich,“ und Jappes erhielt einen freundschaftlichen Klaps. Angelica
war eine gute Mutter, die ihren Sohn immer schlug, nur die Beweggründe
wechselten. Jappes wurde auf diese Art ein gutgedrillter Bursche, der
mit den schlagenden Beweisen einer schonungslosen und unerbittlichen
Erziehungsmethode vertraut war.

Beim Arbeitervolk ging es auch nicht immer sachte zu und deshalb liebte
er das gewohnte Milieu! Er war klug und dachte in seinem jungen Hirn:
Arbeit ist kein Laster, steckt also nicht an.

Denkende Köpfe finden ein anderes Betätigungsfeld, dachte Angelica, und
war stolz auf ihre Leibesfrucht.

Dann kam die Wandlung.

Jappes wurde den Musen geweiht und Angelica wußte, daß sie etwas tat,
was sie sich und ihrer Stellung schuldig war.

Ungeratene Söhne pflegen immer wohlgeratene Mütter zu haben!

Angelica ging mit dem Sohne das pfarrherrliche Orakel zu befragen.
Pfarrer Trumb war ein grundgütiger Herr, denn er predigte immer Demut.
Weil er stets zur Enthaltsamkeit und Mäßigkeit mahnte, hatte ihn Gott
mit einer Fettschicht begabt, durch welche die Transpiration vollkommen
nach göttlich weiser Anordnung funktionierte. Die Köchin, ein
jovialisiertes Frauenzimmerchen mit einem heilig ergebenen Demutsblick,
wie eine süße Raffaelmadonna, empfing Angelica: „So, Frau Angelica, Sie
kommen wegen dem Sohn“ – und hier unterbrach sie sich, um die gute
Mutter von der Last eines Schinkens – in größter Ausgabe – zu befreien.
Pfarrer Trumb kam. Gut-gütig lächelnd: „Ach! Herr Studiosus“ – und
verstohlen schaute er den Schinken an, „dann beginnt jetzt ein neues
Leben.“ Segnete Jappes, sprach ein paar Worte von aufopfernder
mütterlicher Hingabe, redete, bis die gute Angelica mit der
pfarrherrlichen Magd Gottes weinte, und fand noch ein paar rührende
Trostesworte. Darauf gingen Mutter und Sohn.

Angelica sagte: „Der Herr Pfarrer ist ein grundguter Mann. Er redet mit
Worten, die selten sind und Trost bringen. Sein Segen wird dir nützen.“

Jappes fragte: „Mutter, welchem Armen wird er unseren Schinken wohl
schicken!“

Angelica: „Das wird Gott ihm eingeben.“

Jappes war interner Pennäler bis zu seiner Emanzipation. In der fünften
Lateinklasse trat der Typus Weib in sein Leben. Die Romanfiguren nahmen
greifbare Gestalt an. Gott schickte das Weib, auf daß sich der Mann
nicht selbst quäle. Die Technik des Umgangs war Nebensache, denn junge
Mädchen lieben unter normalen Verhältnissen die Pennälermützen nur.
Gerissen und verschmitzt wie ein Fuchs, verstand er nach einer
klugtaktischen Strategie das Weib mit ihren eigenen Mannen zu schlagen.
Er wußte: Der Feind der Frau steht in ihr selbst. Er kämpfte seine
Vorpostengefechte der Liebe, eroberte lodernde Küsse, stürmte zuckende
Brüstchen, die Redouten der Festung. Manchmal fand er freies Gelände und
offene Schanzen und freie Bastionen. Er wußte, dort hatte der Feind
gehaust.

Als die Sonne der Weisheit sein Hirn gereift hatte, und er das Pennal
verließ, wußte er aus Caesar: Greife den Feind eher durch List als mit
deinen Kräften an, und aus Erfahrung wußte er, daß noch kein Mädchen an
hysterischen Weinkrämpfen gestorben war.

Er sagte der Verziehungsanstalt Valet.

Angelica war voll stolzer Bedenken, ob ihr Sohn, der nun geistig reif
war, nicht etwa auch vom Bazillus der modernen Ungläubigkeit angesteckt
sei. Sie klebte drei Wachskerzen hinter die Tür und ließ eine
zweipfündige Kerze in der Kirche verbrennen.

Jappes bezog die Universität mit einem klaren Kopf, tollen Erinnerungen,
mit krauser Stirnlocke, Reifezeugnis und seligbangen Zukunftsplänen.

Das wurde alles immatrikuliert.




                            ZWEITES KAPITEL


                                   Eine befangene Seele kann
                                   Alltägliches sogar als Ausnahme
                                   genießen. Und der Alltag bietet so
                                   viel Alltägliches.

Jappes schlenderte durch die Stadt, sog seine Seele voll von neuen
Eindrücken und frischte alte auf. Er merkte sich alle Namen, die komisch
klangen, und besah die mit Modeartikeln gespickten Schaufenster. Er
dachte: die Menschen kaufen ihre Sachen hier und sehen doch so
unappetitlich aus im Vergleich zu den leckeren Schaufenstern. Manchmal
streifte eine Modepuppe an ihm vorbei mit wiegender Hüfte; hinter ihr
drein ein Duftschweif von Oppoponax oder Lavendel oder –. Dann war er
immer etwas befangen. Weshalb ziehen die Weibchen sich so duftig an?
Weshalb der süßprickelnde Duftschleier über der angemalten Anmut? Sieht
doch eine aus wie die andere und ist das kein Trost für die Häßlichen!

Manchmal grüßte er ulkig aussehende Männer – ach! so viele Männer sehen
ulkig aus – um sich an den verdrehten Institutsbücklingen zu freuen, die
sie ihm machten. Aber er tat, als habe er Eile, um zu verhindern, daß
jemand ihn anrede. So machte er sich allerlei Gedanken darüber, wen er
wohl gegrüßt habe und freute sich, weil der andere nicht wußte, daß er
angeulkt worden war.

Die Straße war glühend heiß. Die Häuser standen bleich und starr und
hatten wehe Augen. Jappes sog sein Teil Benzin- und Menschen- und
Roßäpfelduft ein und fluchte: „Verdammt, ist das eine Luft!“

Ein Wagen mit Obst. Die Birnen waren feuchtschmierig, wie gepuderte
Damen, die zu lange getanzt haben. Am Wagen ein Mann und ein anderer
Esel. Jappes fragte: „Kosten?“ „’s Pfund eine Mark!“ „Bitte ein Pfund.
Ist der Esel schon alt?“ „So alt wie Sie, Herr, wird er schon sein,
Herr,“ und reichte die Birnen, „aber gut ist er schon. Halt wie ein
Zugpflaster, man muß tüchtig aufschmieren und ziehen lassen.“

Der graue Zögling spitzte die Ohren.

Ein Batisttaschentüchlein mit feinen Spitzchen rettete ein Damennäschen
vor Ueberschwemmung. Jappes staunte, daß eine so unappetitliche Prozedur
mit soviel Grazie vollzogen wurde, und er wagte es nicht, sein gemaltes
Sacktuch hervorzuziehen, auf welchem irgendeine rührende Liebesszene
dargestellt war. Bunte Taschentücher der Landleute haben etwas originell
Anschauliches; vielleicht sind so viele bunte Motive auf den Tüchern der
Alten, weil sie gewohnt sind, ihre Nase in alles zu stecken! Vom
Taschentuch bis zum Schnupfen ist nur ein Schritt, dachte Jappes, als es
kühl wurde. Abends weinte sein grobes Leinen, weil es allein war und vom
duftigen Spitzenbatist träumte.

Schau, sagte Jappes, auch ich bin einsam, und da war das Taschentuch
sein Trost in Tränen.

                                   Wenn wir vor unseren dummen
                                   Gedanken fliehen sollten, wären
                                   wir beständig auf der Flucht.

Nachts schrieb Jappes seinem Tagebuch:

Liebes Tagebuch, du weißt, daß ich ein guter Kerl bin und du immer der
Sarg meiner Gefühle warst, daß ich mich immer an den Bibelsprüchen
erbaut und nie eine Geige gestrichen habe; daß ich meinen Geist, die
beste Kuh, die ich in allen Notlagen melken kann, nie auf unrechte Weise
führte. Um recht in das Stadtbild zu passen, muß ich meine äußere
Fassade etwas aufputzen, denn ich bin nun einmal in den Kulturtopf
umgepflanzt. Du weißt, ich stehe genau wie du auf den untersten Sprossen
der sozialen Erwerbsleiter und werde wohl die neunundzwanzig letzten
Tage des Monats ohne Geld bleiben. Das sage ich dir, weil ich mich in
Zukunft auch mit Kleinigkeiten abgeben will, und die eigenen Mängel
können wir autobiographisch am besten vertuschen, denn die Dialektik ist
der Vatermörder für den Kropf unserer Verbildung. Ja, mein liebes
Tagebuch, ich weiß bestimmt aus einer Chronik, daß ein reicher Herr den
Vatermörder erfinden ließ, um seinen Kropf zu verdecken: Eine Erfindung,
die wie gute Kragen glänzend, aber ebenso steif ist.

Ich warne dich vor Vatermördern, denn es haftet der Fluch daran, das
heraufzubeschwören, was sie verdecken sollen. Fatales Gesetz der dunklen
Magie. Zudem ist die Unterlassung von Modenarreteien ein sparsames
Hausrezept. Verzeihe, daß ich über etwas geschrieben habe, was ich mir
noch nicht leisten kann, aber du weißt selbst, wieviel Trost es bringt,
uns über Unerreichbares hinwegzuekeln. Könnte ich das immer! Heute war
zum Beispiel ein jungatmiges Spitzentuch – – – – doch nein! Ich will
unsere Wehmut nicht kitzeln.

Noch ein Wort über die Stadt: Sie hat eine staubige Atmung und ich weiß
wie du aus Erfahrung, daß ein Bauer sieben Kilogramm Staub schluckt –
über die Zeit ist nichts gesagt –, aber dabei gesund und grob ist! Darum
will ich Betrachtungen über die Unterschiede des Stadt- und des
Landstaubes anstellen; werde gelehrsame Meditationen über die Wirkung
des Stadtstaubes auf Landbewohner und umgekehrt halten. Der Wissenschaft
zuliebe will ich mich als Versuchskarnickel opfern. So wälze ich die
staubigsten Probleme in meiner Gehirnhöhle: sagte die gute Mutter nicht
immer, ich sei ein problematischer Kerl.

Was Mütter gefühlsmäßig sagen, soll man immer glauben.

Mein liebes Tagebuch! Die Fliegen umsummen die Lampe und lärmen unruhig.
Ich schließe und lösche, denn es ist wirklich Zeit, daß die Tierchen
schlafen gehen, und schlafend erwartet man am sichersten den nahenden
Tag.

                                   Die Worte, die wir morgen reden,
                                   waren heute noch nicht wahr.

Jappes forderte im Schlaf das Recht der Jugend, ruhend zu träumen.

Ein Traum setzte sich kitzelnd wie eine Fliege auf die Nasenspitze
seiner Einbildung: Das zweibeinige seidenrauschende Riechfläschchen, das
ihm beim Stadtbummel in die Nase gestiegen war, erschien. Es trippelte
kühn vor ihm her, trippelte, trippelte, langsam und schwupp drehte es
sich um.

„Freund, erschrick nicht! was starrst du mich so an, meine Dekolletage?
Die Polizeigrenze verläuft tiefer, seitdem die Zensur aufgehoben ist.“
Unterfaßte ihn und ging mit ihm in den Abend hinein, wo das Licht blind
wurde. Da bat er um ihren Mund. Sie sagte: „Es kommt jemand, er sieht
unsere Silhouetten.“ Und Jappes: „Laß den Silhouettenjäger, komm, sei
gut –“

Ein Klaps übers Ohr von weicher Hand, daß er erwachte: „Gott ja! was hab
ich nur geträumt? Oh! ich weiß, wir träumen immer, was wir nicht haben
können.“

Er dachte an seine Mutter und hatte Sehnsucht nach Prügeln.

Der Morgen brachte einen Brief. Das Tagebuch schrieb: Mein staubiger
Problematikus: Du schreibst: Heute war zum Beispiel ein jungatmiges
Spitzentuch – – – – Die zwei letzten Gedankenstriche voller Ironie
hättest du dir sparen können. Die beiden ersten haben mich traurig
gestimmt, weil ich weiß, daß du wieder auf der Pirsch nach Freiwild
bist. Weshalb betrügst du mich nicht und schweigst über diese Sachen!
Mich als sächliches, geschlechtsloses Tagebuch muß es um so tiefer
kränken; „der“ und „die“ können zusammen poussieren, aber „das“ muß
immer verzichten. Daß ich nie Vatermörder trug, weißt du schon, weil ich
keine Vatermörderkragenhalshöhe habe: mithin technisch unmöglich.
Spintisierender Staubfänger, du willst das Opfer der Wissenschaft
werden. Nur Mut! Du bist das richtige Karnickel dazu. Der ekle Rest
deiner übrigen Andeutungen über Personalveränderungen ist trieblos
spröde und in puncto Freundschaft bin ich sehr ernüchtert, weil du
gewaltsame Aenderungen durch allerlei Modekrempel an dir vornehmen
willst. Ueberhaupt – ich kündige dir die Freundschaft auf acht Tage!

Jappes lachte und freute sich, daß das Tagebuch sächlich war. Er
brummte: Bauer, du bist doch nur mein Waschzettel, also fort mit dir.
Nach acht Tagen, wenn wieder großes Reinemachen ist, werde ich mit
meinen Siebenmeilenstiefelgedanken deinen Groll schon dämpfen.

Das Tagebuch war dickköpfig und unwiderruflich, wie alles Geschriebene.
Doch kaum war der Brief weg, als es leise-zitternd wimmerte: Acht Tage
ist halt doch eine lange Frist!

Die Sehnsucht aber baute ihr Nest an dem Ausblick auf einen
Jappesschrieb.




                            DRITTES KAPITEL


                                   Die Wirklichkeit ist oft kühner
                                   als der Traum. Aber es gibt auch
                                   wirkliche Träume.

Jappes wohnte bei Frau Wertheim in der Frans-Hals-Straße auf Nummer 12
im dritten Stock. Er wunderte sich selbst, wie er sich da hatte
einmieten können. Auf seinem Bummel las er an einem Aushängeschild, daß
ein vornehm möbliertes Zimmer gegen zivile Vergütung an einen besseren
soliden Herrn abzugeben sei. Er war schnell handelseinig, zahlte den
ersten geforderten Preis im voraus, weil Frau Wertheim sagte: Für die
Herren, die im voraus zahlen, könne man eher mehr Aufmerksamkeit
aufwenden und es sei den Herren Studenten ja auch leichter, am Anfang
als am Ende des Monats zu bezahlen. Dabei blinzelte sie verstohlen und
sagte: „Kenne das schon, mein Sohn war auch Student!“ Jappes hatte Geld
und zahlte willig, weniger weil die Wirtin ihn überreden wollte als aus
Gutmütigkeit. Zudem lag ihm blutwenig an seinem Geld.

Seine Bude war ein wackelig möbliertes Zimmerchen mit vergilbten Tapeten
und alltäglichen Möbelstücken. An der Wand hingen ein paar Bilder, die
nicht so ganz recht zum Prädikat solide paßten, und Frau Wertheim sagte:
„Der Herr wird halt keinen Anstoß an den Bilderchen nehmen, es ist
Münchener Kunst!“ Die Wirtin war das komischste Möbel im ganzen Zimmer.
Wenn sie lachte, sah sie aus wie eine weinerliche Heiligenfigur, die von
Güte durchschauert ist, oder wie eine Dolorosa, die ekstatisch verzückt
Sieben-Wunden-Leiden zu erdulden hat. Sie legte die mit einem zittrigen
„dankend erhalten“ quittierte Rechnung hin, empfahl sich, kehrte noch
mal um und bat, wenn der Herr Doktor was benötige, von der Klingel
Gebrauch zu machen. Dann schlorpte sie davon.

Jappes blieb allein mit seinen Gedanken. Hoh! rief er, vornehm
möbliertes Zimmer! Er stieß an den Schrank, an den Tisch, stieß an die
Toilette, alles wackelte, wackelte vornehm. Er dachte: Das
Aushängeschild schicke ich meiner Mutter, es ist das beste
Leumundszeugnis: Ein solider Herr, hehe! Es schmeichelte ihm, daß er ein
besserer Herr war und solid, alles für fünfzig Mark und noch obendrein
Herr Doktor. Der schlotterbusigen Tänzerin an der Tapete schnitt er eine
höhnische Grimasse, tippte die Klingel, pfiff eine mädelsüße Melodie und
sagte zu Frau Wertheim: „Ich hole meinen Kram von der Bahn! Addio!“

Und er holte seinen Kram.

Frau Wertheim sagte: „Den Anmeldeschein habe ich schon hingelegt. Der
Herr Doktor wird geruhen, ihn auszufüllen.“

Und Jappes: „Herr Doktor ist gut – so schnell promoviert man nur hier.
Herr Doktor Jappes klingt nicht schlecht. Ja! das kommt alles vom guten
Klang; wie soll ich Sie nennen, Frau Wirtin? Haben Sie auch einen so
hohen Kosenamen?“

Er ging zum Schreibpult: Familienname, Vorname. Jappes Paul, geboren 16.
Oktober 1893 auf dem Schlapphof. Die Geburtswehen fallen mit den
Nachwehen des Namenstags meiner Mutter zusammen. Vater: Ist tot. War ein
Simpel und im Nebenberuf Landwirt. Starb ohne höhere Bildung. Mutter:
Angelica, von Beruf Mutter. War zwölfmal erfolgreich schwanger. Ledig:
Ich glaube – schließlich kann man es noch so nennen, das Gesetz ist ja
noch nicht durch die Heirat verletzt. Religion: Orthodox mammonistisch.
Strich.

„Nun, Frau Wirtin, bringen Sie das der Polizei, einen schönen Gruß, sie
sollen mal was von sich hören lassen.“

„Der Herr Doktor ist in gutem Humor,“ sagte die Wirtin, und Jappes: „Ach
ja, der Herr Doktor!“

                                   Sieh Mutter, es kommt ein Sturm,
                                   sagte der Sohn. Da spannte sie den
                                   Regenschirm auf.

Als es dunkelte, knipste er die Glühbirne an, hängte die saloppen Bilder
verkehrt an die Wand, flegelte sich auf die Ottomane und spann seine
Gedanken hinüber zur Universität: Ein heilig-ernster Schauer
durchrieselte seine langen Glieder. Er war voll frommer Ehrfurcht vor
dieser mächtigen Geisteszentrale, wo die antwortdurstigen
Studentenseelen mit dem klaren Quell reiner Vernunft getränkt wurden. Er
malte sich eine geistige Sahara, wo die durstigen Studenten lechzend
harrten, bis die Professoren wie Kamele, mit den Schläuchen ihrer
Weisheit zum Labetrunk erschienen. Er verglich die Professoren mit
zweibeinigen wandelnden Lexicis, Vertretern verschiedener Fakultäten:
Meyer, Brockhaus, Herder, die alle dasselbe sagten, aber in einer
anderen genialen Ausstaffierung. Oder mit tantenhaft peinlich geordneten
Zettelkästen. Männer, die wie eine Uhr funktionierten, die schwer zum
Lachen zu bringen waren, es sei denn über eigene dumme Witze. Und der
Neid, der schlimme Nager, befiel ihn, als er dachte, wie die Professoren
mit klassischer Gebärde ganze Bücher hersagen konnten. Ja! der Neid
frißt das Beste im Menschen.

Dann marschierten seine Vorstellungen über das Studentenleben auf, um in
ihrer Glorie zu paradieren. Romantisch-sentimentale Lockenköpfe mit
nachlässig geschlungener Binde. Jünglinge mit kritischen Denkrunzeln
über der Stirn, Verse murmelnd, träumerische Augen und krankhaft
bleicher Teint, das Wasserzeichen des Genies in stillen Nächten durch
musische Arbeiten eingeprägt. Angesäuselte Studenten mit Mandoline und
Sackpfeife im klingenden Tonfall eine Holde besingend, Schabernack und
ulkige Nächte in Braus und Schwulitäten. Jappes wurde misepetrig zumut
beim Gedanken, daß es auch solche gab mit bunten Mützen und farbigen
Bändern, wie sie kapitale Ochsen bei Viehausstellungen in seiner Heimat
trugen, die, wenn man ihnen zu lange – und Gott, die Herren leben rasch!
– ins Einglas schaute, einem auf zehn Schritt Entfernung Löcher in die
Haut knallten.

Das war der erste lebensgefährliche Gedanke, welcher Jappes je befallen
hatte und sinnend lag er mit zuckender Seele, als es an die Tür klopfte:
„Herr Doktor braucht gewiß sehr viel Licht, doch das ist weiter nicht
schlimm, wollte auch gar nicht stören; es ist nur wegen dem Bezahlen.“
Jappes klopfte der Wirtin auf die Schulter: „Ich kann schließlich auch
im Dunklen denken und brauche die Bilder an der Wand nicht umzuhängen.
Ich wünsche eine gute Nacht.“ Aergerlich schlug er sich in die Daunen.
Beim Frühstück fragte Frau Wertheim, wie er geschlafen habe:

„Ohne Licht!“ sagte er barsch, biß seine Semmeln hinunter, packte seine
Papiere und ging. Ein leichter Regen weinte über die Stadt, die
Sehnsucht nach einem schönen Tage hatte.




                            VIERTES KAPITEL


                                   Gott erschuf den Gespielen der
                                   Frau und nannte ihn Kavalier.

Jappes wurde feierlich zum akademischen Bürger ernannt und Seine
Magnifizenz der Rector Magnificus drückte ihm hochselbst die Hand. Damit
war er Studierender und hatte seine Ausweiskarte.

Angelica erhielt einen Brief. Liebe Mutter! Dein Sohn schreibt Dir
Erfreuliches. Heute war sein erster großer Tag: die feierliche Aufnahme
in den Organismus des Studentenkörpers. Der Rektor, ein glattrasierter
Herr im Brautanzug, drückte mir die Hand vor über tausend Studenten.
Denk Dir einen großen Saal, so groß wie unsere Scheune und die Remise
dazu. Mutter, nun muß ich immer viel denken, bis ich auch ein großes
Tier bin.

Angelica zerdrückte eine Träne, war stolz auf ihren großen Sohn und
sagte: Das ist der Segen des Herrn Pfarrers.

Jappes stand im Lichthof der Universität und lauschte dem murmelnden
Geräusch, das sich an dem hohen Kuppelgewölbe brach. Eilige Studenten
zogen vorüber, knipsten die Asche wichtig von der Zigarette, verrieten
durch Haltung der Handschuhe, daß sie eine gute Kinderstube absolviert
hatten. Man sieht jedem Menschen die Kinderstube an, dachte Jappes, und
ich schmeichle mir, daß ich im Freien aufgewachsen bin. Fesche Burschen,
deren Beinkleider von betörendem Schnitte waren, lachten über
irgendeinen Witz, stiegen die Treppe hinauf und tippten mit dem Stock
auf die Stufen. Dandys, denen der Snob in den Nacken gebaut hatte,
bildeten eine Gruppe. Peinlich korrekte Ehrenmänner mit Bügelfalten wie
Anstandslehrer, Schlipsen, die Ladenschwengelrepräsentationsschleifen
ausstachen. Einer hielt ein Päckchen Keks unter dem Arm und naschte sie
zierlich hinunter. Es gab Ein- und Zweigläser in der Gruppe; die
Zweigläser schienen die Klügsten.

Als sie gingen, wußte Jappes, daß sie zum Segeln wollten, falls Egon zu
pumpen beliebe.

Die Weibsen sind an der Universität in der Minderheit. Jappes sah zwei
Arten, die einen mit Kavalier, die anderen, die noch keinen hatten.
Etliche gingen sinnend vorüber und schleppten sich müde an ruppigen
Büchermappen. Jappes sagte: Das sind die fleißigen Arbeitsbienen, denen
vielleicht nur der literarische Stachel fehlt. Andere klapperten mit
Holzsandalen vorbei, hatten sonnengebräunte Gesichter: Töchter der
Rucksackkultur. Jappes sah, daß die meisten blond waren und ihm schien,
als wären sie noch nicht schlüssig in der Wahl zwischen Kavalier oder
Studium. Selbst unter den Büchertragenden gab es noch solche, die Jappes
Zweifel einflößten: Ob die Büchertaschen nicht gar Attrappen seien?
Oja-duftige Bürgertöchter hingen lässig am Arm ihrer ehe- und
pensionssicheren (in spe!) Kavaliere. Gierig tranken sie den Honig der
Worte, der von den angebeteten Lippen floß, hörten die vernichtende
Kritik gegen ein Buch, gegen einen Vortrag und hauchend: Gelt, wenn’s
Doktor bist, hältst auch Vorträge – aber andere, weißt! ... Es war eine
bunte Mappe von dünnen und dicken, von lachenden und ernsten
Studentinnen. Im Gewimmel glänzende Mitternachtstulpen und göttliche
Flirtmaschinen. Jappes dachte: Wie heißt wohl der Geist, den sie suchen
mit der Lampe des Geschlechts? Er stieg die Treppe hinauf zur Quästur.
Zwei Studentinnen gingen vor ihm. Eine hatte kuhmagdpralle Waden. Sie
sagte: „... möglich, daß vom ästhetischen Standpunkt aus etwas
einzuwenden wäre, aber die Form ist doch die Hauptsache – übrigens
willst du jetzt eine Kässtulle?“

Die andere piepste: „Ja, eine kleine!“ Jappes dachte: Gottlob, daß es
auch noch natürliche Menschen gibt, die nicht nur metaphysische
Bedürfnisse zu befriedigen haben. Und das dralle Kind stahl sich in
seine Sympathie. Jappes belegte so viele Vorlesungen, bis sein Geld fast
alle war. Aber er war glücklich, daß er nicht zu knapp eingekauft hatte.




                            FÜNFTES KAPITEL.


                                   Beichtstuhl und Pfandhaus: Es wird
                                   nur Speicherkram eingeliefert
                                   gegen einen Vorschuß auf Rückfall.

Wer wollte die unverschuldete Geldlosigkeit eines Studenten nicht
entschuldigen, zumal wenn er nach ehrlichen Mitteln greift, um seine
Finanzen aufzubessern? Alle Studenten sind, von den Ausnahmen abgesehen,
ehrliche Burschen.

In der Regel gibt es zwei Wege, um aus der Klemme zu kommen, den Vater
der Braut um einen unkündbaren Vorschuß anzuhauen – doch dazu ist eine
Braut und ein bemittelter Vater vorausgesetzt. Dazu kommt die Gefahr,
daß Herr Studio im Verweigerungsfalle nicht nur den Vorschuß, sondern
auch die Braut verliert, was um so peinsamer ist, wenn die Braut den
Vorschuß wirklich aufwiegt. Aber wie oft ist die Braut nur ein Vorschuß
auf Liebe! Der andere Weg ist, in aller Demut und Gelassenheit mit
irgendeinem versetzbaren Gegenstand die große Bedürfnisanstalt der Stadt
aufzusuchen, um auf rechtmäßigem Wege das Allernötigste leihweise
aufzunehmen. Durch weise Verordnungen der respektiven Stadtväter sind
diese Anstalten gegründet. Die Abschätzer, welche den Preis für die zu
versetzenden Gegenstände festsetzen, sind nur bis zur Hälfte der
normalen Wertskala geeichte Männer, sind also nur halbanrechnungsfähig:
Die Begründer der Versatzämter waren sicher Juden, die eine bewegte
Studentenzeit hinter sich hatten.

Jappes ging den Weg, den so viele schon gegangen sind, denn er war
Student und hatte nichts Wertvolles zu versetzen, weil er nie große
Bedürfnisse hatte. – – –

Im Pfandhaus:

Ein vielfältiger Duft umkitzelt die Nase und weckt die kühnsten Bilder,
erinnert an Sachen, die man sonst nicht leicht zu denken wagt. Geruch
von Windeln, Kleinkinderstube, Affenhaus, Hunden in der Brunstzeit,
schweißstinkigen Wäschestücken, stickigem Qualm – Nase trink dir genug!
Ein Archenduft, wo alles um Vater Noah versammelt stank. Jappes hatte
eine gute Nase. Er war noch Novize, aber nicht schüchtern. Er tat wie
ein Esoteriker, wie ein alter Pfandgast. Verordnungen und Bestimmungen
waren an die Wand genagelt:

   Außer Kindern unter vierzehn Jahren, Geisteskranken und betrunkenen
   Personen wird jedermann als Verpfänder zugelassen. Dem Pfandgast
   steht es frei, sich beim Abschluß des Pfandgeschäftes des eigenen
   oder eines willkürlich gewählten Namens zu bedienen ... usw.

Jappes überlegte: vierzehn Jahre hatte er, war nicht geisteskrank, nicht
betrunken. Er las alle Tafeln durch, hörte Namen rufen, alle mit
derselben Betonung, wie Nummern; denn auch vor dem Pfandgesetz sind alle
gleich. Alle, die versetzen, sind bedürftig und nur die Bedürftigen
beugen sich einem Gesetze.

Durch ein Schalterfenster kam der krähende Diskant eines Buckligen, der
mit fiebernder Eile Zahlen hersagte. Er sah aus wie ein Fragezeichen und
hatte ein zerknittertes Gesicht. Ein schwammiges Biergesicht daneben
verfolgte die schreibenden Finger, die wie Würstchen über eine lange
Zahlenliste glitten.

Frauen mit Körben voll von Wäschestücken, Kleidern und Schachteln, kamen
und gingen, bettelnd und fluchend, weil ihr Saumann kein Geld herausgab.
Eine brachte Bilder und heraldischen Schnickschnack, eine andere eine
ziselierte Lampe, eine wertvolle Uhr, eine nackte Bronzefigur. Ein
zerschossener Soldat kam mit Regenschirm und Tripperspritze, den
Werkzeugen seiner zivilen Praxis. Der Schätzer lehnte ab:
„Luxusgebrauchsartikel nehmen wir nicht an, lesen Sie die Verordnung!“

Ein Kind schrie auf und die Mutter schob es an ihre Naturmilchflaschen.
Buntes Stilleben! in welchem die Frauen die Staffage sind! Jappes
versetzte ein Schachspiel mit Figuren aus Elfenbein geschnitzt und war
mit dem Erlös zufrieden. Nach ihm kam ein Mädchen an die Reihe. Sie war
nie auf dem Versatzamt gewesen und paßte auch nicht hin. Verschüchtert
bat sie um fünfzig Mark für ein Opernglas. Der Schätzer gab dreißig. Sie
verzog die Lippen zu einer weinerlichen Grimasse und sagte: „Dann langt
es noch nicht.“ Jappes bat: „Fräulein, verzeihen Sie, ich kann Ihnen mit
etwas aushelfen.“ Sie zuckte zusammen und erwiderte:

„Glauben Sie, ich schäme mich nicht, hier zu sein, es ist so hart. Die
Mutter ist gestorben und ich will einen Kranz aufs Grab kaufen.“ Dann
weinte sie und war still. Jappes gab ihr sein Geld, sie bat um seine
Adresse und ging.

Auf seinem Pfandschein stand: Doktor Jappes. Der Bucklige musterte ihn
scharf: Doktor Jappes? und der Student haßte das Fragezeichen. Draußen
schrieb er mit Bleistift an die Wand: Empfindsame Nasen sollen
Karbolwatte einstecken! Dann spuckte er hin und sagte: Wozu war ich nun
hier?




                            SECHSTES KAPITEL


                                   Wem Gott eine Begierde gab, dem
                                   gab er auch Gelegenheit, sie zu
                                   befriedigen.

Nacht! Von den Gaslaternen tropft ein müdes Licht und zerspritzt auf dem
Pflaster. Paare flüstern Geheimnisse im Schatten. Andere gehen müde
umschlungen, zucken auf im Licht, wenn sie ihre Gesichter sehen. Stehen
eine Sekunde still, gebannt vom Gedanken, daß sie im Wonnetaumel eine
Sünde taten: die Sünde! Ihre Blicke streifen aneinander vorbei und zag:
Wir verlassen uns nicht. Sie wissen, daß sie müde sind und sich doch
nicht verlassen können, obwohl sie allein sein wollen. Müde sein und
nicht ruhen dürfen ist Qual. Ist Qual nicht der Fluch der Lust, wenn sie
die Jugend mordet! Sie gehen in den Abend und ihre Seelen hüllen sich in
den Schatten der Nacht. Andere kommen. Ihre Herzen sind trunken von
Sehnsucht nach dem Geheimnis. Stehen still, als wollten sie sich noch
etwas Wichtiges sagen, wozu ihnen der Mut fehlt. Schweigend küßt er ihr
die Stirne und hauchend, oh, du! Lächelnd drückt sie ihm die Hand. Sie
gehen und träumen vom Glück, das der Erfüllung harrt. Durch die Straßen
geht die Begierde hingebungsvoll, geil, einladend, schüchtern. Verführte
Verführung, tierisch-triebhaft. Betrügt das Leben um seine Inhalte und
lacht den Hohn der Verworfenheit, gleitet durch die Nacht, reicht die
Schale der verdorbenen Frucht und träufelt den Mohn des Vergessens mit
lässiger Hand in die Wunden des verlorenen Selbst.

So geht sie und dichtet die Parodie der Liebe.

Das Haus schlief schon, als Jappes in seine Bude stieg, und der Mond lag
wachend in der Treppe, gelb wie Safran. Er rasselte geräuschvoll mit den
Schlüsseln und warf die Tür ins Schloß. Nach einer Weile:

„Nun liegt sie drunten in der Erde und hat einen Kranz aus
Pfandhausblumen.“ Die Trauer wuchs in ihm, als er an das Mädchen dachte.

                   *       *       *       *       *

Draußen ging ein müder Wind. Jappes schrieb auf ein Blatt: Der Tod ist
der höchste Gott, weil wir ihm unser letztes Opfer bringen; aber wozu an
den Tod denken! Er ist ja doch immer das letzte! Er riß eine Schublade
auf und langte ein paar Aepfel hervor: Das ist ein anderes Kraut; die
Mutter hat sie selbst eingepackt, ein Borsdorfer, eine Kalville; Herr
Doktor Jappes speist schöne Aepfel und denkt nicht mehr an die letzten
Dinge. Puh! der dürre Tod. Und lustig: Im Anfang war der Apfel!

Aber eine Träne stahl sich durch die Wimper, als Jappes durchs Zimmer
ging und sich zwang, lustig zu sein. Da hörte er ein leises schüchternes
Klopfen an der Tür. Im Türspalt erschienen zwei sanft bittende Augen und
eine schmiegsame Stimme klang: „Störe ich nicht, Freund, ich bin so
einsam, so arm heute ...“

„Mich stört man nie,“ sagte Jappes, „ich gebe Ihnen einen Apfel, dann
sind Sie nicht mehr so einsam.“

„Da muß ich lachen,“ sagte die Stimme, „wie ist das komisch! Fast wie im
Paradies.“ Er gab ihr den Apfel und sie aß. „Schmeckt sehr schön, danke,
wie ulkig! Ich muß immer lachen. Heiße übrigens Reinette. Das ist auch
ein Apfelname. Der Apfel ist ein gefährliches Talent. Freund! Ich habe
so eine seichte Natur, bin immer ein bißchen verliebt – ja Gott! wie
lustig: In Paris habe ich auch so einen Studenten gekannt, ein toller
Bursche, er hat mich auf der Straße aufgegabelt, in sein Zimmer hat er
mich eingesperrt und ist davon gerannt – – – – willst du den Rest auch
hören, ja?“

Jappes nickte: „Nun ja!“

„Eine Viertelstunde war er weg und kam wieder: ‚Reinette, zieh dich
aus!‘ Er legte mir ein neues Korsett an. Ich mußte lachen, daß ich mir
den Bauch in Falten zog. Wie eine Gipsfigur stand er vor mir und sagte:
‚So, nun hast du eine schöne Figur; ich bin Aesthet und Philosoph, weißt
du, Reinette, Menschen, die alles mit dem Verstande tun, selbst das
Gute.‘ Es war zum Heulen komisch. Er schmiß mich die Treppe hinunter und
rief: ‚Mit der Vernunft kommt man der Liebe nicht bei.‘ Ist das nicht
zum, Schieflachen?“ Während sie lachte, schüttelte sie ihre Ponnylocken
und dann: „Wohne da nebenan, sehr schön und bequem und üppig.“

Jappes: „Kleine, du bist wie die Pointe zu einem zotigen Witz.“

Reinette: „Das versteh ich nicht recht. Ach so, ja! Mein ganzes Leben
ist so ein schwüler Witz,“ – und zärtlich – „hast du mich denn gar nicht
lieb? Ich bin doch so manierlich und gefällig.“ Sie lachte durch die
Nasenflügel und warf sich auf die Ottomane. Eine glühenddunkle Macht
peitschte ihr Wesen und zuckend krampfte sie ein Kissen in den Händen.

Jappes: „Du spreizt dich ja verlangend wie eine Kokotte und wenn ich
dich enttäusche und keiner von der Sorte bin, die ...“ Sie unterbrach
ihn:

„Von was für einer Sorte?“

Und er: „Wenn ich kein Schrittmacher der Liebe bin.“ Reinette: „Sei
nicht gar so sportlich und nenn mich Reinette.“ Verlangend hielt sie ihr
Händchen hin und bittend: „Noch einen Apfel!“ Jappes saß auf der
Tischkante: „Da fang!“

„Komm, Jappeschen, setz dich her und erzähle mir von deiner Liebe. Komm!
Ich hab dich ja so lieb ...“

Jappes lachte ihr ins Gesicht: „Du bist so eine Amorette.“

„Ach ja, Jappeschen, nenn mich Amourette, wie der Baron und schau mich
nicht so zynisch an, du willst mich ja doch nur quälen und hernach bist
du nett zu mir, genau wie der Baron: Abholen mit Auto und Dressing-gown
und Orchidee im Knopfloch, küßt mir die feinen Schweden, zwinkert durchs
Monokel, aber zu Hause ist der Teufel los, ich glaube, der Kerl ist
eifersüchtig, bin auch eine feine Nummer, die mit Baronen umzugehen
weiß, Ach! Komm, Jappeschen, ich erzähle dir: Der Baron sitzt vor mir
mit übergeschlagenen Beinen, im persischen Salon, der Kerl ist
blödsinnig reich, mustert mich scharf und fragt: ‚Wo warst du die Nacht,
Amourette? bist so sanguinisch frisiert!‘ Dabei sieht er so blasiert
aus, wenn er den Schwedenpunsch mit dem Halm schlürft – ‚Brauchst mir
gar nicht zu antworten, weiß, daß du nicht allein warst, mir nicht treu
bist!‘ Wenn ich dann weine, weil ich wirklich allein war, wird er immer
so nett und sein Herz schmilzt. Von der Anrichte nimmt er ein Fläschchen
Barcarole, bespritzt mich damit und sein bißchen Verstand wird brüchig.
Wenn ich weiterschluchze, setzt er sich zu mir auf den Diwan und
tätschelt mir die Beinchen: ‚Deine Wade ist so fein modelliert, und du
bist so süß, Amourette.‘ Dann bring ich ihn zur Verzweiflung und
wimmere: ‚Das sagt mir jeder!‘ Jappeschen, gelt, das ist langweilig,
wenn man über die Liebe der anderen sprechen hört.“ – Sie legt ihren
Kopf an seine Brust. – „Die Geschichte mit dem Baron artet immer in ein
paar angenehme Tätlichkeiten aus, ach! die Männer fallen immer auf uns
herein.“

Jappes bewußt: „Ich falle nie herein. Dein Baron ist ein Affe!“

Reinette schmollte: „Ja, stimmt, ich halte mich immer mit Affen auf. Das
hat schon ein junger Privatdozent gesagt, ein ganz flaumbärtiger, aber
eine Glatze hatte er schon mit dreißig Jahren und mordsgescheit! eine
Kapazität oder was Aehnliches, er hat es mir selbst gesagt. Jappeschen,
hast du schon so ein kleines Mädchen liebgehabt?“ Sie kicherte.

„Gehabt schon, aber nicht lieb,“ meinte Jappes, „du bist ein
interessantes Weibchen, das schon ganze Romane erlebt hat.“

„Ja,“ sagte Reinette, „genau ganze Romane, wo sie sich am Schluß auch
immer kriegten. Ich kriege alle Männer herum, überhaupt Weiberröcke
bringen die stabilsten Grundsätze aus dem Gleichgewicht. Ein junger
Kaplan war einmal so weit, an mir Wohlgefallen zu finden, da läutete es
Angelus, er betete und kam auf andere Gedanken. Aber das ist eigentlich
nur ein Anfang ...“

„Glaubst du, daß Kapläne anders sind? Es sind doch auch Brüder wie wir.
Aus Fleisch und Blut und Begierden und sie beten zu ihrem Gotte der
Liebe.“

„Mit Gott halte ich es nicht,“ wehrte sie, „ich bete zum Teufel, der ist
zuverlässiger und schlauer und ...“

„Und? ...“ betonte Jappes.

„Puh! Du bist langweilig,“ sagte Reinette, „du hast keinen Takt, mit
Damen umzugehen und kein Gemüt und keine Liebe.“

„Kleine,“ flüsterte Jappes, „ich bin nicht gemütskrank.“

Und Reinette: „Sooo! Liebe ist eine Gemütskrankheit. Du bist gefühlsroh
und sadistisch und, und ...“

„Ja, und eifersüchtig,“ schrie Jappes, „dein Baron ist ein Lump, sonst
würde er dich heiraten. Ich weiß gar nicht, ob ich deine Anmut oder
deinen Witz am meisten bewundern soll. Ich bin so verblüfft und voll von
neuen Eindrücken.“

Amourette stand starr: „Mache ich einen solchen Eindruck auf dich,
Jappeschen? Du bist doch wirklich ein lieber, guter Kerl!“

Jappes nahm ihre Hand: „Armes Schwesterchen, du tust mir leid, ich denke
just, was aus dir wird, wenn du so alt bist, sagen wir so alt, bis der
Geschmack des Barons nicht mehr mitmacht. Reinette, Barone sind
konservativ, aber Weiberchen sind wandelbar und der feinste Puder frißt
den Teint.“

„Jappes, liebes Dummerchen, laß mich machen, überhaupt daran denkt man
nicht, vorerst gut gelebt! Ich quartiere mich schon bei einem alten
Krebs ein.“

„Alte Krebse zwicken und schnappen lieber junge Fliegen. Puh! mir
graust, wenn ich bedenke, wie du runzlig und abgeliebt aussiehst. Brrr.“

„Du quälst mich,“ schrie sie und lag zuckend auf der Ottomane; nach
einer Weile und schmollend: „dann geh ich in die Isar.“

„Trottel,“ sagte Jappes, „dann sterben die Fische.“

Reinette sprang zur Tür und keifend: „Lump, Betrüger, Komödiant, hast
wohl eine andere, gelt, eine jüngere. Zwanzig Jahre ist alt. Erst lockst
du mich mit Aepfeln, machst vor mir das süße Männchen, bist
eifersüchtig, schimpfst meinen Baron und ekelst mich zum Schluß zur Tür
hinaus. Der Baron wird mit dir reden. Jesus! Der Baron ein Affe! Mit
Kugeln wird er dich durchsieben. Herr Doktor Jappes, mich verführen Sie
nicht! Ich bin ein ehrbares Mädchen.“

Die Tür flog zu.

Jappes ging durchs Zimmer: Isartrottel! Deinen Baron hau ich dir zu
Brei. Ein nettes Lärvchen übrigens und nett zum Unterhalten. Aufs Hirn
ist sie nicht gefallen. Schade, daß ihre Instinkte so stark entwickelt
sind, aber das hat auch was für sich. Eine Liebe ohne Instinkte ist wie
Feuer ohne Zugluft. Er nahm zwei Aepfel: Wir werden Frieden schließen.
Das arme Schindluderchen weint sich noch tot die Nacht. Und weshalb
heißt sie auch Amourette? Ohne zu klopfen öffnete er ihre Tür.

„Bravo, Freund, du bist tapfer, du suchst den Löwen in seiner Höhle auf.
Ich wußte, daß du kommst,“ jauchzte Reinette.

Jappes sanft: „Du sagst Löwe, ich sage Katze, lassen wir die Tiere, hier
ist ein Apfel, knabbere den und sei meine Amourette.“

Die Luft war duftgeschwängert und jede Sitzgelegenheit war einladend
weich. Ein Tisch mit Lichtbildern: „Darf ich vorstellen, meine letzten
Freunde. Die vergriffenen liegen dort im Koffer.“ Auf einer Kredenz
Schokolade, Sardinen, Keks, Vol au vent und Pralinés und Schrippen. Eine
smaragdene Flasche Anisette und zwei Gläser. Auf der Toilette
Duftflaschen, Puder und Schminke und diskretes Werkzeug. Ueber dem Bett
eine einladende Nymphe vor einem grinsenden Faun und die Aufschrift:
„Treu für eine Nacht!“

Jappes fragend: „Und wenn dein Herr Baron das sieht.“

„Hat er mir ja selbst geschenkt, Freundchen,“ und sie hüpfte durchs
Zimmer.

Frau Wertheim trat ein: „Herr Doktor, das Zimmer kostet zehn Mark die
Nacht, darf ich bitten.“

„Zahle morgen,“ sagte er kurz, „zudem habe ich nur einen Apfel
gebracht.“

„Ich lege es aus,“ wehrte Reinette.

Jappes bemerkte: „Das Haus ist solid!“

„Und reell,“ sagte die Dirne.




                           SIEBENTES KAPITEL


                                   Der Glaube macht selig, aber wer
                                   glaubt, wird über die Ohren
                                   gehauen.

Bei Wertheims gab es ein großes Essen und Jappes war eingeladen. „Herr
Doktor wird heute mit uns speisen, mein Mann wünscht seine Bekanntschaft
zu machen,“ hatte die Wirtin ausgerichtet.

Sie saßen zu dritt bei Tisch.

Herr Wertheim, ein ramponierter Ehegatte. Ein müdgraues breites Gesicht.
Um den Mund spielte eine zuckende Ironie und sprang von den Lippen über
die vorstehenden Backenknochen auf die Stirnrunzeln. Ein
quecksilbrig-bewegliches Köpfchen mit wallendem Prophetenhaar. Er trug
einen grünen Kaftan, wie ihn die Emire tragen, um ihre Verwandtschaft
mit Mohammed anzudeuten. Herr Wertheim war weder Jude noch Türke trotz
Kaftan und Name und Fes. Er war ein sehr gesprächiges Männchen, das
trotzdem den Redefreiheitsparagraphen bei seiner besseren Hälfte nicht
zu erzwingen imstande war und viele Gedanken verkümmerten in seinem
regen Geiste, weil er nie Gelegenheit hatte, sie auszusprechen. Mit
gönnerhafter Gebärde stellte er sich vor und lud zu Tische ein: „Wir
werden zusammen tafeln,“ sagte er feierlich, „und ein wenig plaudern;
ich habe mich bereits ans Leben gewöhnt und auch ans Erleben. Der Herr
Studiosus wird eine interessante Unterhaltung gewiß nicht ausschlagen.“

Jappes: „Im Gegenteil, ich habe eine Schwäche für Belehrungen und Herr
Wertheim ist ein interessanter Kopf, der gewiß was Interessantes zu
erzählen weiß.“

Der Alte: „Ich liebe es sehr, jungen Leuten interessant genug zu sein,
aber manchmal ist es gefährlich, interessant zu sein. Ich erinnere mich,
auf einer meiner Reisen in Italien besuchte ich das Grabmal des großen
Michelangelo zu Florenz, in Santa Croce. Im rechten Seitenschiff des
alten Franziskanerklosters, es war an einem schwülen Spätsommertag,
zwischen dem ersten und zweiten Altar, stand ich vor dem Grabmal
Buonarrotis, vertieft im Andenken an den großen Meister, wie er im
Gefühl der Liebe und der Verklärtheit seine Werke auf der Basis
idealisierter Anschauungen schuf – – – da plötzlich entstand ein
Gemurmel um mich, dann ein Fragen und Rufen: ‚Heil dem großen Meister!
Michelangelo ist auferstanden!‘ Vier Männer trugen mich über den
wimmelnden Santa-Croce-Platz durch die Via San Cristoforo in die Via
Ghibellina ins Haus Nummer 64 ... Gelt, Schatz, Nummer 64 wohnte der
Florentiner?“ fragte er seine Frau, welche zustimmend nickte. „Die
begeisterte Menge war kaum zu überzeugen, daß ich Deutscher sei und
Studien über Michelangelo mache und das Opfer einer verblüffenden
Aehnlichkeit geworden war. Sie sehen, Freund, es ist gefährlich, großen
Männern ähnlich zu sehen, wenn es auch schmeichelt. Einem Globetrotter
passiert doch manch köstliches Abenteuerchen.“

Da wagte Jappes zu bemerken: „Ich kenne kein Bildnis des großen
Meisters, aber ich bin überzeugt, daß er Ihnen sehr ähnlich gesehen
hat.“

Papa Wertheim mummelte zufrieden an seiner Pfeife, aber Jappes fand, daß
sie ihn gar nicht an türkische Rauchware erinnerte und daß das Brodeln
der Pfeife nicht sehr appetitlich klang. Der Alte war gerührt, als er an
die erhabenen Augenblicke dachte und wie ein Idiot sagte er mit
lallender Zunge: Sein Traum wäre es immer gewesen, ein großer Mann zu
werden, aber die Hemmungen des Alltags hätten seine Seele den
olympischen Flug nicht nehmen lassen. Er gab sich Mühe, ein
imponierendes Pathos anzuschlagen, seine Worte und seine Erregung
illustrierte er durch einen embryonalen Gestus. Manchmal erlaubte er
sich deklamatorische Abschweifungen, fing einen Satz an, ohne ihn zu
Ende zu bringen: „Es war in Palermo oder Ferrara, vielleicht auch in
Mailand, oder, Mutter, war es in Venedig? aber Mutter, du nickst ja ein!
Ihnen, Herr Doktor, ist es sicher auch langweilig, lassen wir die
anstrengenden Reisen. Stochern wir ein wenig im Psychologischen herum.
Ich las die Tage ein Traktätchen über den biologischen Wert der
Langweile, sehr interessant! Können sich’s mal ansehen. Sie finden ein
nettes Kapitelchen über das Instinktive im Menschen, das unbesiegbar
sein soll. Ein Brocken über den Wert der Lüge in der Gesellschaft und
eine bürgerliche Ansicht über die Gottesidee ...“

Jappes fuhr dazwischen: „Ein Bürger hat überhaupt keine Idee, und wenn
Gott nach dem Hirngespinst eines Bürgers geschaffen wäre, sollte er sich
wirklich nicht dazu hergeben, zu existieren. Und eine Lüge ist durchaus
nichts Schlimmes, wenn sie nur schädlich ist; ist doch die Wahrheit
selbst nur eine Parodie der Lüge.“

„Freund!“ unterbrach der Alte und legte seinen stinkigen Kloben auf den
Tisch. „Dann sind wir einig: Gott ist nur ein unrasierter
Anthropomorphismus, in der Kirche, der Hochburg für Volkstäuschung,
großgepäppelt. Wäre ein Aushängeschild für Frisierläden, aber für den
Allmachtsgedanken doch zu haarig. Ich gebe mir mein Ehrenwort, an einen
solchen Gott habe ich nie geglaubt. Jeder hat seine Religion in sich und
die meinige ist durch die Erfahrung meiner Jahre und durch meinen
sittlich-strengen Lebenswandel geheiligt.“ Jappes dachte, so siehst du
aus, und brannte eine Zigarre an, die der Alte zur Ablenkung reichte und
dann fortfuhr: „Wenn wir Fehler haben, ist es immer der Dämon unserer
Vergangenheit. Wir sind doch alle ein bißchen die Söhne unserer Väter!“

„Vielleicht sind wir nicht wir selbst,“ stimmte Jappes zu, „und der
verzwickte Verdammungsapparat wird sein Menetekel nur für einige
schreiben, wenn die große Bilanz im Tale Josaphat gezogen wird, und die
ganze Schuld unserer Sünden fällt auf den Stammvater Adam –“

„Oder auf den Affen, von dem wir stammen,“ lachte der Alte.

Jappes: „Vielleicht haben wir das Possierliche und Lustige gerade vom
Affen geerbt und wir müßten ihm danken und ihn laufen lassen, statt ihn
einzusperren.“

„Das Leben ist ein großer Rausch, und weil der Mensch vom Affen
abstammt, wird die spätere Menschheit sicher zum Kater kommen,“ meckerte
Herr Wertheim.

„Ich höre ihn schon schnurren,“ lachte Jappes.

Der Alte war ärgerlich, weil ihm der Witz nicht eingefallen war.

Jappes empfahl sich. Vater Wertheim steckte ihm noch eine Handvoll
Zigarren zu und die Wirtin begleitete ihn auf die Diele. „Der Hecht war
gut und mein Magen dankt Ihnen für die Flasche Bordeaux, in welcher er
nun rumschwimmt.“

„Nichts zu danken,“ sagte die Wirtin, „auch nicht für den Rehschlegel,
und den Likör zum Mokka. Mehr als zwanzig Mark rechne ich Ihnen nicht,
Herr Doktor“ – und leiser – „noch ein Wort: Mein Mann ist eine alte
Gurke, der vor Alter einen Knacks weghat, gereist ist er nie und Italien
kennt er nur aus den Büchern.“

„Aber erzählen tut er täuschend,“ meinte Jappes, „und geizig ist er auch
nicht. Ein bißchen Schwefel tötet die Mikroben der Langweile.“

Der Alte greinte durch die Tür: „Die Geschichte, welche ich erzählen
wollte, spielte in Padua!“

„An der Brenta,“ darauf Jappes, „ich bewundere Ihr Gedächtnis.“

„Alter Globetrottel,“ sagte die Wirtin und empfahl sich.




                             ACHTES KAPITEL


                                   Weil die Engel Gott gleich sein
                                   wollten, versuchten sie Menschen
                                   zu erschaffen, brachten aber nur
                                   uneheliche fertig.

Jappes saß auf dem Bett und rauchte eine Wertheim-Zigarre. Er dachte an
die Reisen des Alten. Mählich dämmerte ihm, wie die Literarhistoriker
behaupten konnten, Homer habe nicht gelebt. Er malte sich den epischen
Aufschneider in Kaftan und Fes mit brodelnder Pfeife. Nein! das war doch
unmöglich: Einer, der überhaupt nicht existiert, kann doch auch nichts
erzählt haben. Auf dem Flur schrillte die Klingel, Jappes horchte auf,
obwohl er niemand erwartete. Es ist eine sonderbare Erscheinung, daß
eine Klingel uns mit Blitzesschnelle aus unserer Gedankenwelt reißen
kann. Wir lassen die Reihe unserer Bekannten plötzlich vorbeidefilieren,
haben das Empfinden, als müsse etwas ganz Bestimmtes kommen, die
Empfindung verdichtet sich zur Vorstellung, – ein angstjammerndes
Telegramm, – eine himmelhochjauchzende Postanweisung – – – – nichts!
Alles ist still. Unsere Vorstellung assoziiert keine Phantasiebrocken
mehr. Und wenn der Vorwitz, das weibliche Organ unseres besseren Ich,
uns nicht zu sehr quält, erfahren wir nie, wer geklingelt hat. Es war
halt nichts für uns – und das ist unser Trost.

Aber es war etwas für Jappes: Das Pfandhausmädchen. Ein kleines, rundes
Ding, mit Anlagen zu zappeliger Fülle, harmonisch zusammengespielte
Details mit angenehmen Rundungen und sanften Uebergängen. Sie lachte ein
kleines, glückliches Lachen durch ihren Crêpeschleier und bebte, als
Jappes das „gnädige Fräulein“ empfing:

„Nennen Sie mich nicht gnädiges Fräulein,“ sagte sie untertänig, „ich
bin Ihnen zu sehr viel Dank verpflichtet, und ich will nicht, daß Sie
sich demütigen. Damals im Pfandhaus waren Sie so gut zu mir, und ohne
Sie hätte ich der Mutter den Kranz nicht kaufen können.“ Ihre Worte
wurden von Tränen erstickt. Brandrote Locken fielen über den Tisch, als
sie sich schluchzend nach vorne beugte. Sie weinte, bis sie ihrem Gemüt
Genüge getan hatte, und Jappes ging es nahe. Streichelnd hob er ihr
Köpfchen: „Armes, kleines Mädchen, mußt nicht heulen, ich bin ja bei
dir.“

„Ich bin so gefühlvoll,“ wimmerte sie.

„Das beweist eine gesunde Natur,“ erwiderte Jappes, „wie heißt du, komm,
sage mir? Ich will gut zu dir sein.“

Zwei große rotgeweinte Augen standen unter Wasser: „ich heiße ... meine
Freundin nennt mich eigentlich immer Pepy.“

„Mußt nicht weinen, Pepy,“ tröstete er, obwohl seine Augen selbst kaum
trocken blieben. Dann riß er sich zu seiner starken Natur zurück, wie
wir zu tun pflegen, wenn wir mit einem geliebten Wesen um einen Menschen
trauern, der uns beiden nahestand, und uns selbst die Rolle des Trösters
unserem Freunde gegenüber zufällt. Für Jappes war Trost ein Bedürfnis
schwacher Seelen. Er kannte zu wenig von dieser jungen Mädchenseele und
er schämte sich vor sich selbst, weil er mit abgedroschenen
Gemeinplätzen der Schulbank ein einsames Mädchen über den Tod seiner
Mutter hinwegtäuschen sollte. Die traurigen Empfindungen seiner eigenen
Seele hatte er niedergekämpft und seine Sprache hatte den Klang der
Unsicherheit: Die Saite des Mitleids darf im Trostakkord nicht fehlen.
Er sprach von der Unabänderlichkeit der ewigen Gesetze, von der
Vergänglichkeit alles Irdischen, vom Erwachen im Jenseits zum besseren
Sein, von der Erlösung von den Trieben und dunklen Gewalten. „Die Glorie
der Verklärtheit umstrahlt die Verblichene, die, von der Fessel des
Alltags ledig, in seraphischer Reinheit von der Erfüllung ihrer Träume
durchschauert, den Allspender des Glückes preist.“ ... Da fühlte er, daß
er log. Er wußte, wie weit er allem Pietistisch-Frömmelnden fernstand,
wie alles Sentimental-Weinerliche ihm fremd war. Er fluchte sich beim
Gedanken, daß er diesem Mädchen den Popanz überirdischer Vergeltung zum
Trost vorhielt, obwohl das Sterben für ihn ein biologisches Geschehen,
ein chemischer Prozeß, ein Auflösen der Materie in andere Daseinsformen
war.

Durchs Zimmer ging die Stille auf leisen Füßen. Pepy nach einer Weile:
„Ich bin sehr unglücklich!“

Jappes schwieg und er fühlte, daß seine Zunge am Leim der Lüge klebte.
Das Mädchen saß zusammengekauert und Jappes hielt ihre Hände. Und
unsicher: „Pepy, der Tod nimmt uns alle mit sich. Wir weinen und trauern
und können das Verhängnis nicht abwenden. Unsere Trauer ist Ohnmacht und
unsere Liebe zu den Toten ist ohne Sehnsucht. Unsere Seele wird vom
jähen Riß des Verlustes zerrissen. Wir trauern, weil wir vor dem letzten
Rätsel stehen und keine Lösung sehen. Und unsere Seele, die nach einer
Antwort ringt, zerfließt in ihrer Ohnmacht in Tränen. Ist die Seele uns
nicht anerzogen mit all ihren Attributen der Sehnsucht und Liebe? Unsere
Seele ist nichts oder etwas sehr Großes, das wir nicht fassen können.“

Pepy saß nachdenklich und ihr leuchtendes Gesicht lag verklärt unter dem
brandroten Gelock. Ein Zucken warf sich über ihren jugendlichen Leib,
ein Zittern, wie es durchs Boot läuft, wenn der Wind in die gebauschten
Segel greift, und jäh sprang es über ihre Lippen: „Die Seele ist unser
Verhängnis,“ und nach einem Augenblick: „Herr Jappes, ich bin ein
uneheliches Mädchen.“

Als er schwieg, fühlte sie, daß sie mit ihm einsam war.

                                   Wir gebrauchen manchmal Worte,
                                   die, aus dem Zusammenhang der Rede
                                   gerissen, ein Schlagwort sind, das
                                   ein Schicksal enthält.

Draußen kokettierte die Sonne mit den Abendschatten und warf ihnen
rosige Blicke zu. Jappes stand am Fenster und sog nervös an seiner
Zigarre, zählte die Fenster der gegenüberliegenden Häuser, zählte die
Vorübergehenden, gruppierte sie dutzendweise, fuhr mit dem Daumen die
Umrisse der Fensterscheiben entlang. Wieviel Uneheliche gehen wohl
vorüber? dachte er, und keinem sieht man es an. Dachte, ob es uneheliche
Zwillinge gäbe, ob Uneheliche ihren Vater lieben könnten, ihren Vater,
den sie nie gekannt. Dachte, daß sein Vater gestorben war. Sein Vater,
der sich nie um ihn gekümmert hatte. Er wußte, daß er ein großer hagerer
Mann war, mit unruhigen Augen, der immer schnell über den Hof ging,
immer im Hause herumarbeitete und doch nie etwas tat. Eines Tages war er
gestorben und Jappes wußte nichts von ihm. Eine Stimme in ihm sagte:

„Du bist unehelich seit dem Tod deines Vaters.“ Und Jappes dachte: Es
ist keine Unehre, unehelich zu sein, wenn man in Liebe gezeugt wurde.
Die Stimme in ihm flüsterte: „Die Väter sind nicht die Herren der
Kinder. Sie haben sie im Taumel gezeugt und etwas von ihrem Wesen
verloren, aus dem im Kinde ein neues fremdes Wesen entsteht.“

Jappes lauschte dem Locken eines Kreuzschnabels und dachte
verschwommene, uneheliche Gedanken. Hockte auf dem Fensterbrett und warf
die Zigarre in den Hof: „Kinder sind fleischgewordene Begierden, sonst
nichts,“ – dann saß er bei Pepy – „die in der Gemeinschaft der Begierde
Gezeugten sind nicht unehelich. Unehelich sind die in der Ehe Gezeugten
in Gedanken an einen anderen Gatten. Die Ehe ist die große Lüge, der
Ausgleich der Triebe ohne die Gemeinschaft der Seelen. Viele verehren in
der Ehe einen anderen Geliebten oder eine andere Geliebte und der
männliche oder weibliche Gatte ist nur der Altar, auf dem sie das Opfer
ihrer Sehnsucht bringen.“

„Verachten Sie mich deswegen, Herr Jappes?“

Er nahm ihre Hand: „Pepy, wir sind nicht verantwortlich für die Taten
unserer Väter. In der Ehe wissen unsere Väter nicht, was sie tun. Sie
können das Geschlecht der Seele so wenig bestimmen wie das Geschlecht
des Leibes. Im Zeugen ist der Mensch Tier; die Väter wissen vom Wesen
des Kindes am wenigsten; sie wissen nur um die Not und die Bedürfnisse
des Leibes. Unser größtes Glück ist es vielleicht, dem Einfluß des
Vaters früh zu entgehen.“

Pepy sagte leise: „Herr Jappes, Sie reden wie ein Verführer, sind Sie
etwa nicht stolz, daß Sie ein eheliches Kind sind?“

„Mein Vater ist nicht mehr, und ich weiß nur, daß er der Mann meiner
Mutter war, daß ich manchmal zufrieden bin, nicht zu sein, wie mein
Vater war. Das ist mein Ernst, jawohl! Ein uneheliches Kind zeugen, ist
kein Verbrechen, auch kein Vergehen. Das Zivilgesetzbuch hat es mit
keiner Strafe bedacht, obwohl die Ehe eine zivilrechtliche Gültigkeit
ist. Pepy, fühlst du dich nicht ebenso frei, wie ein anderes Mädchen,
bist du nicht aus dir selbst herausgewachsen ohne den traditionellen
Zwang der hierarchischen Familienbrödelei! Vom Wesen der Väter haben wir
nichts Wesentliches, manchmal eine leise Erinnerung, und dann zucken wir
auf, weil wir wissen, daß es nicht unsere eigene Regung ist, die in uns
wach wird.“

„Haben Sie Ihren Vater nicht liebgehabt?“

„Nein,“ sagte Jappes, „denn ich habe ihn nie gebraucht und nicht
gekannt, denn um einen Menschen zu lieben, muß man ihn kennen, und um
ihn zu kennen, muß man ihn gebrauchen – komm, Pepy! sag’ ‚du‘, ich werde
dein Freund sein, denn ich habe nichts vom Vater.“

Und Pepy: „Sie sind sonderbar und haben eine verzerrte Weltanschauung.
Mein Vater ist ein berühmter Mann und die Mutter ist aus Liebe zu ihm
gestorben. Sie dürfen nicht höhnen, weil ich die Frucht einer Liebe
bin.“

„Ich höhne nicht, denn ich sage dir, die in der Gemeinschaft der
Begierde Gezeugten sind nicht unehelich. Die Welt ist verzerrt und ich
schaue diese Verzerrung. Wir sind immer das Material der
Zufälligkeiten.“ Dann zerdrückte er eine Fliege und sagte: „Du sollst
nicht töten! ... Der Mensch lebt nicht allein, aber er lebt manchmal
einsam. Pepy, komm wieder, wenn du glaubst, daß ich dir was bin.“

Sie ging.

                                   Schlechte Hirtenbriefe sind meist
                                   gute Witze. Gute Hirtenbriefe sind
                                   meist schlechte Possen.

Jappes lag zu Bett und die Langweile kritzelte ihm ein dürres Kapitel.
Er spann seine Gedanken durch die Nacht: Die Ehe – Zwangsvorstellung der
Liebe. Die Instinkte sind die aktiven Kräfte, die uns die Sinne
verwirren, und uns die Echtheit unseres Gefühls vorzaubern. Wir vergehen
in der Schwüle der gegenseitigen Unausstehlichkeit. Wir wissen um unsere
geheimsten Tricks, um unsere intimsten Regungen, Wünsche. Die Begierde
bäumt sich hoch. Wir werden müde vom Taumel. Armseligkeit! Wir tragen
unsere Kinder mit uns in latentem Zustand. Wir suchen nach Namen und
suchen nach den Kindern, die zu den Namen passen. Bei jeder Geburt
verrinnt ein neuer Traum, das Kind paßt nicht zum Namen. Und wir haben
so viele Namen übrig. Wir verstäuben in der Ohnmacht des Alters und die
unmündige Hoffnung unserer Schöpferkraft trinkt sich genug am Kelch der
Enttäuschung. Wir sind die Opfer der Zufallsväter. Und es ist der Fluch
des Opfers, daß es andere Opfer will.

Er dachte daran, daß impotente Bischöfe in Fulda ein Manifest zur
Kindererzeugung zusammengepeitscht hatten. Erinnerte sich, daß auf dem
Gymnasium ein schwindsüchtiger Lehrer über die physikalischen und
biogenetischen Kräfte sprach und dabei einen Ohnmachtsanfall erlitt. Der
Ekel fegte sein Hirn blank, als er an die pensionierten Gefühle des
Alters dachte. Lauschte der Nacht, die draußen vorüberging, hörte
Gläserklang im Nebenzimmer, schmeichelndes Lachen eines Mädchenmundes
und dazwischen brünstige Laute eines Mannes. Dachte, daß Kinder um die
Existenz betrogen wurden, daß die Begierde sich ins Leere verspritzte
und die Lust sich selbst auffraß. Dachte an die Toten, die ihm
gleichgültig waren, um welche er nie geweint hatte, und laut: „Lasset
uns beten, auf daß sie nicht wieder auferstehen.“

Dann kam der Schlaf und trug ihn ins Vergessen.




                            NEUNTES KAPITEL


                                   Die Professoren sind Seifenblasen,
                                   die meistens durch ihren eigenen
                                   Wind platzen.

Die Sonne warf einen gelben Klecks an die Tapete. Wagen fuhren über die
Straße mit Hüh und Hott. Die Wirtin stellte den Kaffee auf den
Nachttisch und Jappes tat, als schliefe er noch. Er war ärgerlich und
die Langeweile durchzog seine Seele mit grauen Fäden. Er wollte etwas
erleben, was Neues hören. Rekelte sich aus dem Schlaf und warf sich in
die Kleider. Der Postbote brachte einen Brief von der Mutter. Jappes
legte ihn auf den Tisch und quälte sich, was wohl drin stehe.

Ging fort und ließ den Brief ungeöffnet.

Tagsüber war er an der Universität und schlürfte das Manna des Wissens
am Busen der Alma Mater. Lutschte sich stundenlang müde am ledernen
Lutschbeutel verbissener Pedanten, ließ sich anöden vom faden
Aesthetengeflunker, horchte der einschläfernden Musik verkrüppelter
Humanitätsduselei, hörte subjektive Anschauungen über objektive
Rhetorik, trieb im seichten Fahrwasser der sturmlosen Logik, geriet in
die Strömung lyrischer Ergüsse und lauschte dem Gesäusel romantischer
Seiltänzer. Und die Abwechslung reizte seinen Appetit, von allen Bissen
zu essen, die auf den Schanktischen der Universität angeboten wurden,
hörte, daß Moral keine Tugend sei, stocherte im geistigen
Riesenmüllkasten und fand nebst abgenagten Knochen die Asche der guten
Gedanken, ohne etwas vom Feuer der Kohle zu merken. An dieser Brutstätte
großer Gedanken gewahrte er, daß das Gefieder der Vögel buntschillernd
gespreizt war, daß die Vögel aber lauter faule Eier legten. Fand, daß
das Schönste das Getrampel war, das die Dozenten sich in der
akademischen Stunde ergreint hatten, zerbrach sich den Kopf darüber, wie
die Studenten die Rezepte der Weisheit nachschreiben konnten, statt
gegen den hirnzerschlitzenden Blödsinn Front zu machen, der dort
verzapft wurde. Die Professoren rieben sich gegenseitig aneinander, um
sich von den eigenen Unsauberkeiten freizumachen. Um sieben verließ er
die letzte Vorlesung. Ein Dozent hatte über den Empirismus geredet: Eine
erkenntnistheoretische Richtung, die alle Erkenntnis aus der Erfahrung
ableitet. Für Jappes praktische Begriffe einer praktischen Lehre. Neben
dem reflektierenden und kritischen Empirismus gefiel ihm der naive am
besten. Die Hörer drängten zur Tür. Zwei Studenten diskutierten, ob John
Locke oder Francis Bacon die Ehre gebühre, als Begründer des Empirismus
anerkannt zu werden. Jappes mischte sich ein: „Ich bin dafür, Wilhelm
Wundt aus Neckarau in Baden die Ehre zu geben, weil er den naiven
Empirismus erfunden hat und ich bin Badenser!“

„Ein glänzender Kopf – Wilhelm Wundt,“ sagte der eine Student, und
Jappes dachte an Pomade.

Er verfolgte eine üppige Bluse, die in ein Speisehaus lenkte. Saß
vis-à-vis von ihr und sah sie auf und nieder wogen. Eine duftige
handgearbeitete Guipurespitze wehrte dem kühnsten Auge, zu den gewölbten
Eigentümlichkeiten des Mädchens zu dringen. Die Dame bestellte zwei
Menüs, schlang sie hinunter und unterhielt sich mit Jappes über ihre
Appetitlosigkeit. Er war sprachlos und kaute ein wieherndes Beefsteak à
la tartare hinunter. Zahlte und empfahl sich: „Gnädiges Fräulein, lieben
könnte ich Sie, aber nicht füttern.“ Und sie: „Reiten Sie angenehm mit
Ihrem Roßbeef!“

Aus einem Kaffeehaus floß das sacharinsüßliche Ariengesäusel einer
Streichkapelle. Das viktoriaschwangere Gebrüll eines Veteranenvereins
zitterte durch den Tabaksqualm eines säuerlichen Bierlokals. In den
Anlagen standen junge Astronomen, die sich mit dem Teleskop der Liebe in
die Augensterne ihrer Geliebten verirrten. Jappes eilte vorüber, er
hatte Sehnsucht nach dem Brief, der am Morgen von seiner Mutter gekommen
war.

Während er las, betete Reinette im Nebenzimmer ihr Liebesbrevier. Der
Mutter ging es gut, und Pepy schrieb: Ich hole Dich morgen um sieben Uhr
ab. Wir gehen in den Lohengrin. Es hat seine Bedeutung.

Es hat seine Bedeutung, las er zum zweitenmal.




                            ZEHNTES KAPITEL


                                   Die Kunst bleibt rein, selbst wenn
                                   sie vom Pöbel beschmutzt wird.

Jappes führte Pepy aus. Beide in hoher Wichs. Er unterhielt und war
galant. Lässig schlenderte er mit ihr in den Wandelgängen. „Ja, Pepy,
wer ins Theater geht, sollte alle seine Sorgen in der Garderobe ablegen
können. Eine Oper soll man eigentlich genießen wie ein türkisches Bad:
den Zauber wohlig-prickelnd über sich ergehen lassen und dabei mit der
Nacktheit seiner Gefühle allein sein. Die Oper will ich durchaus nicht
mit einem türkischen Bade vergleichen. Nein!“ Pepy zerknitterte das
Programm in ihren Händen: „Jappes, du bist wieder toll!“

„Kleine, liebe Puppe,“ fuhr Jappes fort, „ich habe den Hang zum
Raffinierten und das viele wimmelnde Fleisch reizt mich. Dann könnte ich
eine Dummheit begehen, irgendeine Mastdame anrempeln und sie in den
großen Wandspiegel bugsieren. Die Lorgnetten machen mich nervös und ich
verspüre Lust, eine Dame in der Abendtoilette in die Schulter zu beißen.
Pepy, hier dürfen wir nicht oft herein, wenn du keinen Skandal aushalten
kannst. Schau den Dickwanst drüben! Die Verblüffung über seinen
plötzlichen Reichtum ist nicht mehr aus seinen Zügen gewichen und nun
geht er mit seinen plattfüßigen Metzgergefühlen eine Oper genießen.
Genußmenschen à hundertfünfzig Kilogramm Lebendgewicht. Da, der Kerl,
sieht aus wie ein geschundenes Gerippe, ein Kopf wie eine Blase, und
halluziniert der Kokotte, die neben ihm geht, die schlotterndsten
Liebesgefühle. Aber wahrlich, das Weib ist wie aus Milch und Rosenduft
und schön wie eine Sünde. Das Gefunkel der Geschmeide macht mich
verrückt. Pepy, fühlst du dich wohl in diesem Massengeflunker?“

„Du bist wirklich lächerlich, es ist doch nett.“

„Nein! ich amüsiere mich, wie köstlich! das reinste Panoptikum.
Korsettstramme Offizierlichkeiten, mit besäbelter Sicherheit im
Auftreten, vierdimensionale Damen, in ihren Zügen das flache Bedauern,
daß ihr Schoßhund fehlt. Junge flirtende Holdseligkeiten mit
halbgezwungen-flötender Drehung zu ihrem Manne gewandt. Ihr Mann, eine
selig-sichere Kotillon-Erinnerung. Rauschende Seidenpuppen durchlauern
die Gruppen, ziehen die Blicke auseinander und mustern, mustern. Und die
Männer sehen dasselbe ins Weibliche übersetzt, vielleicht zäher,
sicherer, brünstiger. Die Männer sind stärker, sicherer, zugeknöpfter!“

„Die Männer sind nicht alle wie du, komm, du machst wirklich noch einen
Alarm.“

„Ich sehe den Wind,“ entgegnete Jappes; „die Leute würden mich nie
langweilen, nicht einmal, wenn sie im Negligé wären. Ich weiß, wie sie
sind, und was sie nicht sind. Die hier alle sind verblassend wenig, weil
sie etwas zeigen oder etwas sehen wollen. Den Leuten steht die Form
ihrer Nachttöpfe auf der Nase geschrieben. Ich wollte, ich hätte keine
Nase.“

Pepy stieß ihn in die Seite – „Jappes!“ –

„Gehen wir hinein, die Menschen, die etwas sein wollen, sitzen drinnen
und sammeln sich, statt sich schon am Flitterkram zu zersplittern.
Schnell, dort wickeln sie die Stullen aus dem Papier, das Pack frißt
immer, schade, daß es nicht unsterblich ist!“

„Komm, Jappes,“ bat Pepy, „sei vernünftig.“

„Ich will es versuchen, Liebe. Es ist gefährlich, mit Menschen
zusammenzukommen, man muß immer auf etwas gefaßt sein. Du bist sehr
schön, wenn du so schweigend neben mir gehst. Hier die Plätze, ich
glaube, im Theater setzt sich die Dame rechts.“ Und Pepy: „Jappes, du
bist ein liebes Schaf.“

Er drückte ihre Hand.

                                   Die Kunstgelehrten streiten
                                   darüber, ob Lohengrin eine
                                   spaßhafte oder eine ernste Figur
                                   sei.

Die ersten Takte gerannen zur Melodie und das Orchester erzählte ein
Märchen:

Monsalvat im fernen Land ist eine heilige Burg. Ein lichter Tempel,
dessen Pracht die Rosen Schiras’ glühend neiden, liegt im Purpur eines
glückverklärten Scheins. Verzückte Engel tragen Liebessehnsucht auf dem
weichen Flaum der Flügel nieder. Im ätherklaren Schein harrt eine
Ritterschar des Wunders, das aus lichten Höhn herniederschwebt. Süßer
Duft umschmeichelt sanft die Wartenden. Und bebend legt die süße Furcht
das zage Herz in seinen Bann. Ein Purpurschein umloht ein Flaumgewölk,
das schwebend sich der Erde naht. Die Wartenden, vom Strahl der Liebe
heiß durchglüht, erschauern in verklärter Wonne. Die Schale mit dem Blut
des Herrn, in weißen Nebelflor gehüllt, erglüht im Flammenglanz der
ewigen Glut und senkt sich vor dem Auserkorenen der Schar, vor
Lohengrin, der seiner Sinne nicht mehr mächtig anbetend sich als Opfer
weiht. Segnend gibt der Gral dem Ritter seinen Weihekuß. Im Herzen des
Auserwählten verzehrt sich die Beseligung zur Wirklichkeit, indes die
lichte Schar dem ätherklaren Zelt entgegenschwebt. – – – –

Die viergeteilten Violinen verklangen in hoher Lage auf dem Gralmotiv
modulierend.

Jappes flüsternd zu Pepy: „Darf ich klatschen?“

„Wenn du etwas empfunden hast. Ja.“

„Ich habe sehr stark empfunden.“

Die fanfarenartig rauschenden Triolen, die König Heinrichs Rede
begleiteten, füllten Jappes mit hellem Jubel, daß er Pepys Hand fast
zerdrückte. Dem falschen Telramund wäre er am liebsten an den Hals
gesprungen. Telramund, der in seiner blechernen Rüstung und mit seiner
blechernen Anklage eine jämmerliche Figur bot. Als Oboe und Englischhorn
erklangen, als trauernde Zeugen von Elsas Unschuld, weinte Pepy, und
Jappes flüsterte: „Vergiß nicht, wo wir sind.“ Ein Herr zischte und
Jappes schwieg. Als der Schwan mit Lohengrin erschien, sagte er lachend:
„Der gefiederte Omnibus!“ Erneutes Zischen und Pepy schaute ihren
„Kavalier“ vorwurfsvoll an. Als das Warnungsmotiv im düsteren As-moll
unheilkündend vor Ungehorsam warnte, schaute Jappes den Zischenden
bedeutungsvoll an. Der erste Aufzug verlief unbefriedigend für Jappes,
weil Telramund nicht getötet worden war.

Pause.

Ein junger Künstler unterhielt sich mit Jappes über Wagner: Es sei
schauderbar, daß man Wagner früher ausgepfiffen habe. Und dazu die
unsinnigen Gerüchte, daß der Besuch einer Wagner-Oper Pest und Blattern
und Gallensteine nach sich ziehe. „Das ist mir neu,“ sagte Jappes, „ich
erinnere mich, daß ein Jahr vor meiner Geburt Lohengrin im Berliner
Opernhaus seine dreihundertste Aufführung erlebte. Uebrigens, haben Sie
den Draht gesehen, mit welchem der Schwan über die Bühne gezogen wurde.
Ich entdecke den Schwindel immer.“

Der Fremde lachte: „Wann sind Sie geboren?“

„Am 16. Oktober 1893.“

„So, ein merkwürdiges Datum.“

Da begann der zweite Akt.




                             ELFTES KAPITEL


                                   Guter Wein ist so erhaben, daß man
                                   keine schlechten Aphorismen
                                   darüber machen soll.

Jappes und Pepy saßen in einer Nische der holländischen Teestube. Sie
trank ein Glas Glühwein, er aß eine Schale Eis. Pepy überlegte, ob sie
Jappes ernst nehmen solle. Sie fand ihn entzückend und abstoßend. Mußte
ganz verbissen über seine Späße lachen, die manchmal brutal klangen,
dann stampfte sie mit dem Fuß auf: Teufel! Er warf ihr huldigende Blicke
zu und sagte: „Pepy, du bist bezaubernd, lockend schön, faszinierend wie
der Nabel des Buddha, wenn man ihn gesehen, kann man nicht mehr los.“

Pepy erfuhr gerne, daß sie reizend war, aber die Vergleiche zerstörten
die schauersüße und sinneglühende Romantik. „Du bist der beste Mann,
weil ich für dich schwärme, aber du sollst dich auch liebhaben und das
Gute nicht in dir töten durch das Grobe deines Benehmens.“

„Soll ich schön schweigen und mich vor Langeweile töten. Ich, Jappes,
genannt Paul vom Schlapphof. Ein tüchtiger Kerl, wer nicht am Weibe
verrückt wird. Pepy, du bist aus Dreck und ich bin aus Dreck und zwei
mal Dreck ist Dreck. Die längste Zeit waren wir zusammen, glaubst du
nicht auch? Feiern wir Abschied heute, ein bißchen Abschied voneinander,
wir haben nicht viel aneinander zu verlieren, weil wir noch nicht viel
gewonnen haben.“ Pepy war starr. Jappes bestellte eine Flasche
Affentaler, und mit sinnlicher Ungeduld fragte er Pepy, wieviel Männer
sie lieb habe.

„Aber Jappes, du bist wohl entgleist! Keinen einzigen, sage ich dir,
keinen!“

„So,“ sagte Jappes, „keinen?! Ich danke dir, daß du nicht einmal mich
lieb hast. Kapsele deine Gefühle ein, bis dein guter Ritter kommt und
die Schale der Ehe bringt. Hehe! Der Storch wird die Taube sein, die
alljährlich wiederkommt, um die Wunderkraft des Kelches neu zu stärken.“
Er lachte ein gedehntes, viehisches Lachen.

Pepy schluchzte, nahm seine Hand, und sagte weinend: „Jappes, ich habe
dich lieb.“

„Du willst wohl Ortrud sein und Rache nehmen, Schlange du, du glatte.
Komm, trink mit mir dies Trostgebräu, daß deine Tränensäcke nicht
versiegen.“ Er schenkte ein: „Prosit! Trinken wir auf das, was wir nicht
lieben.“ Sie tat ihm nicht Bescheid. Er trank die beiden Gläser leer.
Dann war es still.

„Soll ich gehen, Jappes?“ Er schwieg.

„Soll ich noch dableiben?“ Er schwieg.

„Was soll ich tun?“ Er schwieg.

Sie goß die Gläser voll, „Trink Jappes, und sprich, dein Schweigen ist
gräßlich und paßt nicht zu dir.“ Er trank. „Ich werde Arzt, prosit!
Nabelstrangspezialist. Weshalb schneidet man das Organ ab? Ich werde den
Nabelstrang kultivieren, pfropfen und ihn so drillen, daß er der
Rezeptator der okkulten Schwingungen wird. Ich sage dir, der Nabel wird
nicht umsonst in Indien verehrt; wenn wir ihn ausbauen, können wir alle
Geheimnisse durchschauen. Ja, du lachst, ich werde den Nabelstrang
ausbauen und eine Physiologie schreiben, eine Anatomie und eine
Psychologie. Da muß das Feinste der Seele hinein, das Animalische.
Freundin! es wird das zentrale Problem der medizinischen und okkulten
Forschung. Das Problem, um das sich alles dreht. Es wird der Nabel von
allem sein. Prosit!“ Er soff sein Glas leer. „Trink nicht zuviel,“ sagte
Pepy, „du bist schon an der Grenze des Ungenießbaren.“ „Ja,“ tat ihr
Jappes Bescheid, „es ist ungefähr die Grenze. Aber ich bin nicht so
dumm, wie ich mir die Mühe gebe zu scheinen.“ Ihr Lachen streichelte
seine grobe Stimme.

Jappes hob sein Glas: „Leben, ich küsse dich!“

„Du bist unberechenbar,“ sagte Pepy, „man weiß nie, was kommt.“

„Ich tue immer das Gegenteil von dem, was man erwartet.“

Da wurde Pepy traurig: „Weißt du, Jappes, ich kann dich nicht lieben,
weil ich keinen Halt an dir finde, weil dein Wesen mir immer entgleitet,
und ich muß dich lieben, weil du so bist. Ich kann das selbst nicht
verstehen.“

Er: „Da gibt es nichts zu verstehen! Bitte, Fräulein, zahlen.“

Als sie gingen, nahm Jappes die leere Flasche mit, aber er war traurig,
als er das Mädchen sah, das nach Liebe rang.

                                   Schlichte Naturen haben manchmal
                                   tiefe Gedanken, die uns heimlich
                                   von ihrem Wesen Kunde geben.

Nebelhaft und drohend starrten die Häuser in die Nacht, hier erlosch ein
Licht, dort ein anderes. Straßenkehrer säuberten die Schienen der Tram,
kehrten den Unrat der Straßen zusammen und schliefen dabei. „Die
Bedeutung, weshalb wir in Lohengrin waren?“ fragte Jappes.

„Hast du das Lohengrin-Motiv verstanden?“

„Ich glaube ja,“ sagte er und wurde ernst. „Sage mir etwas von deiner
Seele. Ich liebe deine Stimme, Pepy!“

„In der Lohengrin-Idee liegt etwas von meinem Leben. Ist es nicht das
göttliche Sehnen aus der Einsamkeit nach der Menschwerdung? Gott will
keine unterwürfige Demut, kein Zerfließen in Anbetung, er will durch die
Liebe erlebt und begriffen werden. Gott will ein fühlender Mensch sein
und in seiner Sehnsucht ruft er nach der Frau, nach dem Herzen. Ist es
nicht die Kraft, die sich in Liebe wandelt und die Tragik gebiert? Der
Mann, der sich läutert und die Frau, die aus Sehnsucht stirbt. Lohengrin
wieder rein vom Schmerz durch das Opfer der sterbenden Elsa. Jappes, das
wirst du verstehen, wenn du dies Büchlein gelesen hast.“ Und sie reichte
es ihm.

Zwölf Schläge rieselten durch die Nacht, und zwei Menschen dachten an
den Inhalt der vergangenen Stunden.




                            ZWÖLFTES KAPITEL


                      Tagebuch des Malers Geraldo

                                   Frag mich, was Kunst ist, ich sage
                                   Leben.

                                   Frag einer mich, was Leben ist,
                                   ich sage Kunst:

                                   Wie Vater und Sohn unwandelbar
                                   eins und doch ewig verschieden.

Mit seiner Lampe las Jappes das Tagebuch:

Frau Martha, die Geliebte des Malers Geraldo, war eine seltsame Frau.

Geraldo war ein phantastischer Mensch mit medialer Veranlagung, der nur
das Groteske und Spukhafte im Leben sah. Marthas Liebe steigerte seine
künstlerische Begabung und weckte das Dämonische in ihm, durch die
Begierde nach künstlerischer Selbstvollendung, mit Hilfe der geliebten
Frau. Er ging den Leidensweg zwischen den beiden Polen künstlerischen
Werdens, Analyse und Synthese, Geburt und Erlösung – den Kalvarienberg
der leidenden Erfüllung, des begierdelosen Opfertums. Sein Gott war die
werktätige, erzeugende Idee, das Sich-selbst-finden in der Kunst, das
Sich-über-sich-hinaussteigern. In Gott erkannte er das schaffende Wesen,
das sich ihm offenbarte auf dem Wege künstlerischer Erleuchtung. Bei der
religiösen Hingabe hat der Mensch ein rationales Bedürfnis, das
Bedürfnis der bewußten Anbetung eines Heiligsten. Aber immer wieder
erfährt er, daß für das Letzte, Tiefste die Vernunft ein unzureichendes
Werkzeug ist. Weder das suchende Licht der Vernunft noch ihr messendes
Lot reicht in die letzten Wesenstiefen des Gotterlebnisses hinunter. Dem
anbetenden und gottsuchenden Menschen bleibt immer ein ungeklärter und
unerfaßbarer Rest, von dem der religiöse Mensch gerade in Zeiten
tiefster Ergriffenheit und Bedürftigkeit ahnt, daß dieses begrifflich
nicht Definierbare, dieses der Vernunft Entschwindende der Wesenskern
der Religion ist.

Im Taumel des Schaffens hatte Geraldo seine Geliebte symbolisiert und
allen Phasen seiner Entwicklung eine Erinnerung geschaffen. Er schuf
sich eine Galerie der Liebe und feierte einen mystisch-brünstigen Kult.

Wie Beatrice bei Dante und Laura bei Petrarca die klassischen Typen der
Sehnsucht sind, in denen der Mann die letzte menschlich-männliche
Ergänzung bei der Frau auf dem Wege der Liebe sucht, so dachte Geraldo,
auch dieses Sehnen lebe in der Frau, nur unbewußter, scheuer,
verhüllter. Er fragte sich, warum der Dichter immer so viel Mann ist und
so wenig Mensch und weshalb er nicht auch einmal den Versuch mache, das
Problem von der weiblichen Seelensehnsucht aus zu lösen. Er verbiß sich
in den Gedanken und schuf ein Bild, das er wie eine Entdeckung und eine
erste Gestaltung der Welt offenbarte. Er nannte sein Bild Beatrice. Eine
neue Beatrice, geboren und geformt aus der Sehnsucht des sich
Entwachsen-wollens, des über sich Hinaus-wollens. Eine Beatrice im
Gefühl ihrer tiefen Sehnsucht, im Glauben an die Möglichkeit der
Selbststeigerung durch den Geliebten, den Mann. Zugleich gab Geraldo
seinem Bilde den Unterton des sehnsuchtsvoll Zweifelnden, des
sehnsuchtsvoll Sichern, des sehnsuchtsvoll Schmerzlichen.

Es war sein eigener Seelenkonflikt. Ein Ringen nach Selbsterlösung, eine
Sehnsucht nach dem großen Unbekannten, ein romantisches Streben, die
Sucht nach Ergänzung. Ein expressionistisches Bestreben, die
tiefinnersten Schwingungen seiner Seele ins Frauliche zu transponieren.
Wochenlang hatte er sich eingeschlossen und Skizze um Skizze entworfen,
bis ihm der große klassische Wurf seines Werkes gelang: Beatrice, die
vom Wesen der Liebe durchgeistigte Frau, durchschauert vom heiligen Odem
abgeklärter Sehnsucht.

Frau Martha hatte seiner überfließenden Seele oft in Stunden seliger
Andacht gelauscht und sie verzehrte sich vor Verlangen, das Werk zu
sehen, in welchem sie die Seele des Malers in reiner Anschauung fühlen
konnte. Sie wußte, daß es ihre eigene Seele geworden war, und daß
Geraldo mit magischer Gewalt ihre beiden Seelen in einem Bilde vereinigt
hatte. Da kam der Tag der Offenbarung und schweigend stand sie vor dem
Bilde ihres Traumes. Geraldo fühlte während der Arbeit an seiner
Beatrice, daß ihn das Problem seiner Liebe weitertreibe. Der flutende
Hauch des Genies umkoste seine Seele und trieb seinen Genius zur
Weitergestaltung. Und doch fühlte er mit einer leisen Enttäuschung, daß
die tiefste Wurzel seiner genialen Versenkungsweise in das Weibliche nur
die eigene glücksuchende Sehnsucht war: nur die eigene Sehnsucht. In
seiner Geliebten suchte er ein Wesen zu finden, das aus dem ähnlichen
Drängen wie er selbst nach dem anderen Wesen, dem Kinde, suchte. Aus
diesem Verdoppeln des Sich-finden-wollens erträumte er die Loslösung des
göttlichen Funkens. Nach qualvollen Tagen innerer Erschöpfung, kam er
auf den Verkündigungsgedanken: das Motiv zu einem zweiten Bilde.

Er spürte, daß auch in diesem alten Thema ein viel tieferes sich
symbolisiere, daß auch Gott sich nach einem Geschöpf sehne, das aus
seiner eigenen Sehnsucht heraus ihn erwartet. Geraldo malte im Engel den
Verkünder der Mutterschaft zu einem erlesenen Wesen, in Maria eine
Mischung von freudiger Selbstgewißheit, von demütiger Scheu und
rauschhafter Freude in der Ahnung des Kommenden. In anbetender
Betrachtung war der Maler vor dem fertigen Bilde hingesunken, und was er
künstlerisch geahnt und geschaffen, begehrte er mit der Leidenschaft
eines Faszinierten. Ein teuflischer Plan reifte in ihm: Er brauchte eine
neue Art von Modell zu seiner Weiterbildung, zu seiner Erlösung aus dem
Kampf mit den dunklen Gewalten seiner brodelnden Kräfte, die nach
Gestaltung rangen. Er brauchte ein suggerierbares Weib, ein Medium.

Seiner Freundin entwickelte er seine Gedanken, sagte ihr, was er von ihr
wollte, sprach ihr vom Wunder seiner Berufung ... In der Freundin fand
er eine leicht entzündbare Frau und merkte, daß er ihr nichts zu
suggerieren brauche, daß auch in ihrer Seele diese Sehnsucht nach
Erfüllung sich drängte. Er verspürte ein Glück, das ihm die Sinne
raubte: Er hatte eine Beatrice-Natur gefunden in seinem Sinne. Er fühlte
die willenlähmende Wirkung seines ersten Bildes und sah in Frau Martha
das Opfer seines Symbols; das sich vor Sehnsucht verzehrende Weib.

Geraldo war ein phantastisch-theosophischer Adept, der sich auf Grund
einer Vision als Werkzeug Gottes sah, seine künstlerischen Träume
plastisch zu gestalten. Er führte die Freundin zu seinem neuen Bilde:
der Verkündigung. Sprach ihr über die Gedanken, die ihn dabei geleitet,
offenbarte ihr mit zündender Begeisterung seine ringende und
glückdurchglühte Seele. Die Freundin erlebte sich selbst in der
Anschauung des neuen Bildes, mit verhülltem Gesicht saß sie lange und
dann rang sich der Gedanke durch: Es gibt einen Mann, der ein Wissen um
unser frauliches Schicksal hat.

Sie war durchdrungen vom Glauben, daß Gottes allmächtiger Wille die
Seele geschaffen habe, und daß sie durch die Geburt eines Kindes seinen
Willen erfülle. Gebannt durch den Gedanken, daß sie unter einem
fatalistischen Zwange ihren Weg durchs Leben zu gehen bestimmt sei, lag
ihr der Gedanke an die Sünde fern. Mit Geraldo glaubte sie: Durch den
geschlechtlichen Akt kann der Mensch Gott nicht zwingen, eine Seele zu
erschaffen, deshalb wird die Seele nicht nach der Empfängnis erschaffen,
muß also schon früher erschaffen worden sein. Das Kind ist die Erfüllung
des göttlichen Willens, ob es im Zwange der Ehe oder in den lockeren
Banden freier Liebe gezeugt wird. Wie seine Bilder die Form gewordene
Sehnsucht und die Beweise seiner hohen künstlerischen Berufung sind, so
ist das Kind das gestaltete Sehnen der Frau, der konkrete Inhalt
fraulicher Sehnsucht. In der Mutterschaft ist das Weiterleben der Mutter
in ihrem Kinde enthalten; die Mutter sieht darin ihr Ideal, an der
Menschheit weiterzuarbeiten, wie der Maler im Bilde sein innerstes
Erleben gestaltet und an der geistigen Fortentwicklung der Menschheit
wirkt. Die innere Erkenntnis muß die Frau bestimmen, sich dem Manne
anzuvertrauen, das Gefühl muß ihr sagen, ob er der Würdige ist, der
Gesinnungsgenosse, nicht nur der Zeugungsgenosse ... Dann rannen Bild
und Wirklichkeit zusammen. Geraldo nahm die Freundin in der Verzücktheit
des wallenden Blutes. Sie gab sich ihm im Schauer der Größe und im
Glauben an den Gedanken prophetischer Erfüllung.

Nach diesem doppelten Schöpfungsakte befiel den Maler ein doppelter
Ekel. Die Erfüllung des Wunsches war für ihn der Tod desselben. Die
Freundin und das geschaffene Bild waren ihm gleichgültig. Er fühlte, daß
er auf dieser Stufe der Entwicklung nicht bleiben konnte. Eine dunkle
Gewalt trieb ihn, neuen Stoff zu sammeln, an dem er seine Kräfte
betätigen könne. Es trieb ihn nach Italien. Er wollte seine Seele
läutern im klassischen Lichte erhabenster Kunst. Die Enttäuschung
lauerte auf ihn und wies ihn in die Schranken seiner düsteren
Problematik. Der ewig blaue und reine Himmel tat seiner Seele weh, das
Licht war zu grell für seine feuchte, nordische, kimmerisch-sagenhafte
Gedankenwelt. Er fühlte, wie seine besten Kräfte verwitterten unter
diesem zersetzenden Lichte. Und in seinem Herzen wurde die Sehnsucht
geboren, die Sehnsucht nach dem Norden. Das Heitere tat ihm weh, das
Ausgeglichene berührte ihn schmerzlich. In ihm gab es zu viele Fragen,
die sich gebieterisch aufdrängten: er war kein Fertiger, er war ein
Streber nach Neuem, Großem, Ungeahntem, nach sehnsüchtig Angehauchtem
und dämonisch Durchglühtem.

Seine Problematik war, das Sphinxhafte im Leben zu packen und es nicht
restlos vernunftmäßig zu erschöpfen. Er wollte noch Fragen offen lassen,
die man nur gefühlsmäßig bei der Anschauung beantworten konnte. Er floh
das Licht, die olympische Helligkeit und die ätherische
Durchsichtigkeit, er floh die grelle Linie, das gelöste Problem und er
ging den Weg zurück, den die Sehnsucht ihn wies.

Frau Martha ging mit einem Kinde schwanger und erstarb im Sehnen nach
dem geliebten Manne, den es hinausgetrieben hatte, sich wieder zu suchen
im Lichte der Anschauung. Die plötzliche Abreise des Malers hatte ihrer
Seele mit banger Qual zugesetzt. Sie wußte, daß sie ohne diesen Mann
nicht weiterleben konnte, weil er sie seine dunklen Wege geführt hatte
und sie aus eignen Kräften weder zurück noch vorwärts zu finden
vermochte.

In sich selbst zurückgeworfen, floh Geraldo Italien, beladen mit dem
Fluch der Enttäuschung. Sein Dämon trieb ihn zurück an die Stätte seines
Schaffens und seiner künstlerischen Auswirkung. Er eilte, die Freundin
zu treffen, die ihn mit freudiger Unruhe empfing. Er fühlte, wie sie
während seiner Abwesenheit durch die Sehnsucht viel inniger mit ihm
verwachsen, und er fühlte zugleich, wie weit sie durch den Zweifel von
ihm abgekommen war. Er empfand ein augenblickliches Mitleid mit ihr beim
Anblick ihrer vom Leiden durchgeistigten Züge, und bei seiner plötzlich
wiedererwachenden Liebe empfand er ein vorwurfsvolles Gefühl der
Ungerechtigkeit und inneren Untreue gegen die Freundin. Er erklärte der
Geliebten seine Wandlung, seinen Drang nach neuem Erleben, die Unrast
und die Zerfahrenheit seines suchenden Geistes. Ueber diesem Geständnis
zerfielen bei ihr alle Zweifel und Sorgen. Sie gehörten sich wieder in
innigem Beisammensein, und das brachte dem Maler endgültig die
Erkenntnis, daß er doch seinen Weg allein gehen müsse. Frau Martha
selbst fühlte mehr, als daß sie erkannte, sein Schicksal, das auch das
ihre war, und sie fügte sich ihm in schmerzlichem Verzicht.

Frau Martha hatte das Kind geboren. Der Maler war nicht von ihrem
Leidensbett gewichen. Dieses Kind war sein Werk wie diese Frau und wie
seine Bilder. Alles war entsprungen aus dem Drange des vollendeten
Schaffenwollens. Er war ergriffen, weil diese Frau ihm entsagte und ihr
eigenes Leid dem höchsten und heiligsten Mutterschmerz zu Füßen legte.
Er war voller Bewunderung für die zarte mütterliche Liebe und die Hoheit
der Empfindung; ihre durchgeistigten Züge spiegelten die Verklärtheit
des Schmerzes, schilderten das Erleben ihrer Trauer in bewußter
Ergebenheit bis zur Heiligkeit des schauervollen inneren Erlebnisses.

Geraldo schöpfte daraus den Gedanken und die Kraft zu einem neuen Bilde.
Er schuf sein letztes großes Werk: Die Pietà. Maria, die trauernde
Mutter, die ihren Sohn beweint. Der tote Sohn im Schoß der Pietà war
dieser Mutter der verlassene Mann, der von ihr die letzte große
Entsagung forderte. Frau Martha klammerte sich verzweifelt an das letzte
und einzige, was ihr geblieben war; an ihr Kind. Durch das Kind sprach
sie zu Gott, dem unendlich Weisen, unendlich Guten, in ihm liebte sie
den Maler, der ihrer Seele das Licht und ihrem Leben einen Inhalt
gegeben hatte.

Nach der Vollendung dieses Werkes ward dem Maler die Erkenntnis, daß die
expressionistische Ausdrucksform und -möglichkeit dem Wesen seines
Schaffensideals am nächsten kamen. Ein Ahasver der Kunst irrte er durch
alle Richtungen. Er spürte, daß für ihn ein neues Leben begann und
zugleich ein neues Golgatha.

Die Mutter war einsam zurückgeblieben. In schmerzlichem Verzicht war sie
von Geraldo geschieden. In dieser letzten größten heroischen Opfertat
hatte sie sich körperlich und geistig erschöpft: Sie siechte dahin und
die Pietà wurde zugleich ihr Grabmal.

                   *       *       *       *       *

Der Tag fand Jappes schlafend auf der Ottomane. Irgendein jäher Gedanke
warf ihn ins Bewußtsein. Kräfte! Kräfte! rief er, dunkle bestimmende
Kräfte. Ich erwarte die Dämonen.

Da kam die Wirtin und stellte sein Frühstück hin, „Herr Doktor hatte
gewiß Zahnschmerzen, weil er so stöhnte die Nacht?“

Und Jappes: „Grade habe ich es mit dem Weisheitszahn zu tun.“




                          DREIZEHNTES KAPITEL


                                   Die Weisheit ist der
                                   Schierlingsbecher, den selbst der
                                   weise Sokrates nicht vertragen
                                   konnte.

Jappes hatte eine kluge Maxime ausgetüftelt: Dem Dummen nutzen die
Bücher nichts und die Klugen haben sie nicht nötig – und pflegte er
hinzuzufügen – mit dem Satz kommt man immer aus als Student, einerlei,
ob man sich zu den Dummen oder zu den Klugen rechnet. Er rechnete sich
bald zu den einen, bald zu den anderen.

Manchmal ist es ein Vorteil, dumm zu sein!

Er hatte jene geheimnisvolle Scheu vor der Tiefe der Wissenschaft, wie
sie uns zu befallen pflegt, wenn wir auf einen abgrundtiefen Born der
Weisheit stoßen. So war er der Universitätsweisheit gar nicht abgeneigt.
Ihm widerstrebte vielmehr die ungeheure Komik der Professoren und der
Studenten, die sich während der akademischen Stunden mit
wissenschaftlichem Trockengemüse unterhielten, sich monatelang an
vorsintflutlichen Steckenpferden müde ritten, die widerspenstigen
Weisheitsgäule noch einmal bei den Semestralprüfungen oder beim
Staatsexamen im eingedrillten Parademarsch kabrieren ließen, um sie dann
auf alle Zukunft den Stallknechten der All- und Eintagssorgen zum
langsamen Abschinden zu überlassen. Sicher litt er an der Verstiegenheit
junger Studenten, die sich klüger als ihre Lehrer dünken, und den
Versuch machen, ein eigenes pädagogisches System auszuknobeln, um dann
in einen noch viel größeren Zopf zu verfallen, um in eine babylonische
Verwirrung zu geraten, eine Verwirrung, die sie über ihre eigenen Regeln
stolpern läßt. So entsteht in den jungen Hirnen der ewige Weichselzopf
von unentwirrbaren Verwicklungen, der vom widerspenstigen Geist der
Nörgelei geflochten wird. Gelingt es diesen „Autodidakten auf eigene
Gefahr“, sich einen Weg zu der höheren menschlichen Erkenntnis zu
bahnen, so gelingt es ihnen auch meistens, die Lampenweisheit, am grünen
Tisch erarbeitet, zu eklipsieren. Und ist es nicht eine geheime
Schadenfreude der Gelehrten, zu sehen, wie eigenmächtige Streber dem
Geist der Zersplitterung verfallen, um als tänzelnde Irrwische irgendwo
in einem Sumpf zu verlöschen!

Jappes besuchte um so eifriger die Vorlesungen des Privatdozenten
Professor Dr. Günther, bei welchem er seinen heißhungrigen
Oppositionsgeist mit allen Gerichten philosophischer Reaktion stillen
konnte. Besuchte literarhistorische Vorlesungen, war aber empört und
enttäuscht, weil er einen Marktschreier vorfand, der seine literarische
Boutique auskramte, einen geistigen Trottel, der im Wahn einer
pathologischen Genieerscheinung lebte. Er hatte ein Buch über die
Symbolik des Kuhfladens bei Homer geschrieben. Mit einer Stimme aus der
Vergangenheit redete er über die Zukunft mit einem Gegacker wie ein
Huhn, das ein Ei geboren hat. Ein Mann, der aus Schreck vor der sozialen
Revolution Vaterlandsparteiler geworden war, ein Fachsimpler mit
bewundernswertem Mangel an eigenem Denkvermögen.

In Jappes’ Kollegheft stand: Blödsinn in Permanenz! Vielleicht findet
man die Systematik bei Polonius unter: Wahnsinn mit Methode ...!!! Das
war seine einzige Hoffnung und er ging mit dem Bedauern, daß die anderen
mehr geschrieben hatten. Er schrieb seinem Tagebuch:

Schalte deine Denkvorrichtung um oder ganz aus, wenn du an die Erbauung
denkst, die ich an der Universität genieße. Die Wonnen der Wissenschaft
sind wie Senf auf nacktes Fleisch. Die Portionen sind groß und
ungenießbar. Die Sudelköche der Weisheit kochen das Ochsenfleisch der
fremden Gesinnung mit ein paar Lorbeerblättern ihres eigenen Ruhmes. Ich
tröste mich mit dem Leitsatz: Das Wesen der Philosophie ist, sich mit
wenigem zu begnügen. Ich brauche Erholung und fahre in die Berge, Addio!

                                   Die Berge sind Magneten, die nur
                                   für gewisse Naturen Affinitäten
                                   haben.

Am nächsten Tage saß er mit Pepy auf der Bahn. Das Abteil war voll
Tabaksqualm und Jappes sagte: „Zwar habe ich mir vorgenommen, sechs
Wochen lang nicht zu rauchen, aber hier muß ich den Qualm doch
einsaugen, drum rauche ich lieber auch.“ Er bot sich eine Zigarette an:
„Sehr liebenswürdig! da kann ich doch nicht ausschlagen.“ Sie fuhren
nach Oberstdorf. Es war ein Spätherbsttag und in der Altweibersonne
schwammen die Herbstfäden wie träumende Erinnerungen. Sie saßen auf der
Plattform und die Füße baumelten vom Trittbrett. Jappes griff in die
Brusttasche und langte sein Portefeuille hervor: „Unsere Visitenkarten!“
und er zeigte die Pfandscheine. Dann entfiel ihm sein Portefeuille, das
er zwischen den Knien preßte. Der Zug rasselte weiter und Pepy starrte
auf den Bahnkörper. Jappes saß nachdenklich und plötzlich schnalzte er
mit den Fingern.

„Bist du traurig, mein Freund?“ fragte Pepy.

„Nein! ich denke gerade, was drin war ... es sind nur Fetzen, Pepy,
Fetzen!“

Von ferne grüßten die Berge mit den leuchtenden Schneekoppen und den
wallenden Nebelschleiern. Am Bahnhof sagte Pepy: „Hier sehen wir die
ersten nackten Knie.“

Und Jappes: „Wir werden bald mehr sehen.“




                          VIERZEHNTES KAPITEL


                                   Wenn der Magen nicht erschaffen
                                   wäre, müßte man ihn erschaffen,
                                   sagte ein Bauer und machte einen
                                   philosophischen Knicks.

Als Jappes in die Ferien fuhr, gab es ein schweres Fest auf dem
Schlapphof. Ein Mastochse war verblutet, ein Schwein und eine Gans. Es
gab Knödel und Braten und Küsse und Suppe und Tränen. Fragen und Hasten.
Und Jappes sagte vergnügt: „Es ist Glück in der Bude!“ Und in der Bude
war Glück. Die Nachbarn waren vollzählig erschienen und alle kannten die
Briefe auswendig, welche Jappes im Laufe des Semesters geschrieben
hatte: „Mein Bub ist klüger als alle Professoren zusammen, weil er sich
über sie lustig macht, und mit keinem zufrieden ist,“ pflegte Angelica
zu sagen. Aber sie wagte es doch nicht mehr, so recht daran zu glauben,
seit der Herr Pfarrer ihr verraten hatte: „Die Universität ist ein
mühsames Studium. Die Erfahrung, Mutter Angelica, die Erfahrung!“ Der
Herr Pfarrer war wirklich klug und unfehlbar. Kein Zweifel, wenn er
sagte: „Das Studium an der Universität sei ihn hart angekommen.“

Die Gäste saßen in der großen Stube vor hochgetürmten Schüsseln und
Tellern, begannen ganze Berge von Fleisch abzutragen und feierten den
Gast mit kräftigem Geschmatze. Bauern verschlingen maßlos! Mutter
Angelica ließ die Nachbarn gerne an ihrer gesteigerten Freude
teilnehmen. Sie tranken Bier und reichten es in einer urgroßmütterlichen
Amphore herum. Jappes trank einen massigen Humpen mit einem Zuge leer
und rief: „Das könnte ich zehnmal!“ Da horchten selbst die geeichtesten
Säufer mit gespanntem Respekt.

„Du bist ein echter Student, mein Bub, und du siehst, alle sind stolz,
daß du so viel verträgst. Es ist schon ganz recht so, aber das darfst du
nicht mehr tun.“ Und Angelica küßte den Sohn.

„Werd ich auch nicht,“ rief Jappes, „und ich schwöre es bei diesem
Humpen.“ Dann trank er ihn zum zweitenmal leer, und die Bauern gröhlten
vor viehischer Freude.

Ein Bauer mit markigen Zügen fixierte Jappes eine Weile, lachte dann
plötzlich ein gutmütiges Lachen und meinte vertraulich in höchstem
Hochdeutsch: „Es ist viel Heiterkeit im Zimmer, gelt, Studiosus? Erzähl
Er einmal, was Er denn so studiert auf der hohen Schule – ...“

Da wurde der Waffenstillstand proklamiert. Löffel und Messer und Gabel
ruhten. Die Kau- und Schluckbewegungen, wurden eingestellt. Jede
Tellerverschiebung wurde untersagt. Es erwies sich unmöglich, die
Integrität der Fleisch- und Gemüseplatten wiederherzustellen und die
Reihen der fehlenden Stücke wieder aufzufüllen. Aber die Blicke ließen
erkennen, daß noch ein erbitterter Kampf bevorstand. Ja! eine Magd
schickte sich an, die Bierkanone frisch zu laden.

Da verkündigte Jappes das Evangelium seines Studienjahres: „Ich habe
alles studiert und auch nichts. Das erste Jahr verstudiert man so, um in
die Materie einzudringen. Die Studenten sagen: Die ersten Hunde ersäuft
man! Es ist ein akademisches Jahr, um die Bekanntschaft der Professoren
zu machen. Aber es ist derselbe Krach unter denen, wie unter den Bauern
auf dem Dorfe. Die einen beweisen, daß es einen Gott gibt, die anderen
beweisen, daß es keinen gibt. Das sind die, welche sich Philosophen
nennen und irgendwie mit oder gegen den Erzbischof gehen. Sie haben ihre
Zeitung und schimpfen sich drin; eine Art geistiger Volksbote mit
hochklingendem Phrasengetön und ganz pfundigen Schimpfreden.
Hauptsächlich unter ‚Verschiedenes‘ findet man den größten Krakeel, aber
was die Zeitung von einem gewöhnlichen Käsblatt unterscheidet, ist, daß
die Herren nicht über jeden herfallen, sondern sich selbst nur
gegenseitig anschimpfen. Die Herren sind Träger der höchsten Ideen, und
deshalb machen sie nur Musik für erprobte Ohren.“

„Du hältst es doch gewiß mit denen, die für Gott streiten,“ sagte die
besorgte Mutter, „deinen Gott darfst du nie verleugnen.“

„Ich gehe schon lieber gleich nicht mehr hinein zu den Raufbrüdern, man
könnte höchstens noch um seinen Glauben kommen. Aber so gehe ich immer
mit denen, die am stärksten schreien, und das tun die Klerikalen.“

„So soll’s sein,“ riefen die Bauern, „Angelica, dein Sohn verleugnet
seine Heimat nicht.“ – Da brachte die Magd den bauchigen Bierkrug, und
die Blicke der Bauern umstreichelten ihn. Mutter Angelica konnte sich
nicht enthalten und küßte dem Sohn die gläubigen Lippen.

„Wenn ich alles erzählen sollte, was man da lernt,“ fuhr Jappes fort,
„müssen wir schon noch einen Abend zusammenkommen.“

„O–o–o–h!“ riefen die Bauern wie aus einem Munde.

Da legte Jappes los:

„Psychobiologie und Kolloquium dazu, mexikanische Mythologie, ethische
Probleme der modernen Zivilisation, Systeme der Pädagogik und Didaktik,
koptische Kurse und altägyptische, hieratisch geschriebene Texte,
Einführung in die babylonisch-assyrische Schrift und Sprache,
keilschriftliche Uebungen, Entziffern südarabischer Inschriften,
neupersische Grammatik nach Salemann Shukovski, Einführung in die ältere
chinesische Sprache mit Lektüre von Mong-tsz’e, Rigveda mit dem
Kommentar des Sayana, Aristoteles’ Nikomachische Ethik,
Räthoromanisch, lateinische Paläographie, Astrophysik. Theorie der
Differentialgleichungen ...“

„Meiner Seel!“ grunzte ein Bauer begeistert, „wenn ich die Namen nur
wüßte.“ Ein anderer: „Du gebrauchst ja so gelehrte Ausdrücke, daß man
gar nichts mehr versteht.“ Und ein dritter: „Aber so von der
Landwirtschaft verstehen eure Herren nichts?“

„Und ob!“ begann Jappes von neuem, „alles wissen sie, alles! Sie wissen
alles von den Bauern bis hinauf auf die Aegypter im grauesten Altertum.
Die Aegypter verwendeten keinen Dünger und durch die künstliche
Bewässerung des Nilus hatten sie eine hohe Kultur. Die Griechen
mergelten und düngten und bewässerten. Wissen, daß Karl der Große ein
großer Landwirt war, kennen die Geschichte der Dreifelderwirtschaft aufs
Tipfelchen: Winterfeld, Sommerfeld und Brachwirtschaft. Alles hat seine
Geschichte, die Runkeln, die Rüben, der Klee. Und die Bauern machen den
Gelehrten manchmal nicht wenig zu schaffen. Die Gelehrten wissen alles
vom Vieh, kennen die Aetiologie und die Prophylaxis der Tierseuchen,
kennen die Krankheiten alle, den Rotz bei den Einhufern, den akuten und
den chronischen Verlauf. Reden über das Kalbefieber und beweisen, daß es
eine Lähmung des Rückenmarks und der Ganglien der Bauchorgane ist. Sie
gebrauchen nur gelehrte Namen dafür. So sprechen sie nicht von
Abführmitteln gegen das Gebärfieber der Kühe, sondern von
Purgiermitteln.“

„Und dafür nimmt man ganz gewöhnliche Kühe her?“ fragte ein Bauer.
Jappes nickte bejahend, als ein zweiter ihn bestürmte: „Aber odeln tun
die Herren doch nicht selbst?“

„Wenigstens nicht praktisch,“ erwiderte Jappes, „aber sie wissen ganz
genau, was Jauche ist, und beweisen, daß es kein stinkendes Wasser ist,
was sie allerdings auch nicht leugnen. Sie nehmen das alles vom
chemischen Standpunkt und sagen: Es ist eine Flüssigkeit, welche im
wesentlichen aus Harn besteht, und 0,15 Prozent Stickstoff und 0,5
Prozent Kali enthält – ich habe die Münchener Universität erschöpft und
im nächsten Semester geht’s nach Berlin.“

Einem pfiffigen Bäuerlein wurde der Gelehrtendünkel zu dumm: „Es ist
immer schön, wenn man weiß, was man riecht, aber ich habe auch ein paar
Fragen: Wieviel Jahre wird ein Roß älter, wenn es richtig Hafer kriegt?
und wie weh tut es, wenn ein Roß dich auf den Fuß tritt? sag es,
Studiosus!“

Hier wußte Jappes nicht mehr Bescheid, und die Bauern freuten sich
ungemein, daß einer der Ihren dem „Weisen“ eine Schlinge geworfen hatte.
Angelica aber küßte den Sohn, weil er so genau wußte, was Odel war.

Dann begann ein wütender Fraß und die Gesichter erglänzten gedunsen vom
Bier.

Plötzlich erhob sich die Mutter, und Tränen standen in ihren Augen:
„Lasset uns beten für den Vater und die abgestorbenen Geschwister! Vater
unser, der du bist –“

                                   Die Tiefe der Seele muß man in der
                                   naiven Art der Landleute
                                   studieren. Wer darüber lacht,
                                   kennt nur die schwindsüchtigen
                                   Surrogate der Kulturseele.

Die Nacht fand berauschte und satte Gestalten, und als der
Mitternachtsmond in die Stube schien, wankten sie alle nach Hause. Die
Schwester traf Jappes auf dem Flur: „Du, Paul, ein Gläubiger säuft nicht
so wie du, das tun höchstens die Türken und Juden. Wenn du wirklich
nicht glauben solltest, so glaube trotzdem, und gehe jedenfalls in die
Kirche, wenn du auch nicht glaubst.“

Jappes staunte das Mädchen einen Augenblick an und fand keine Worte.
Sein Schulfreund ging vorüber. Der zog ihn mit sich hinaus in den Hof:
„Jappes,“ fragte er forschend, „darf ich dich was fragen?“

„Selbstverständlich!“

„Jappes, hast du schon eine Braut?“

„Selbstverständlich!“

„So!?“ ... nach drei Schritten: „Und heißt?“

„Rudibub! Ich erkläre dir später, weshalb sie so heißt.“

Da war der Freund still, und dachte nach, wie ein Mädchen Rudibub heißen
könne.




                          FÜNFZEHNTES KAPITEL


                                   Damen-Bekanntschaften, welche mit
                                   der Visitenkarte gemacht werden,
                                   sind wie Suppen, die mit
                                   Maggiwürze gezaubert sind: eine
                                   Geschmacksache, die im Bereich
                                   eines jeden liegt.

Am Opernhaus in Berlin trat eine Dame zu Jappes: „Ich sehe Sie zum
drittenmal heute. Ich sah Sie in Pankow, in Tegel und nun an der Oper.
Ich brauche Sie, weil Sie so rasen. Ich gebe Ihnen Geld, viel Geld, nur
Geld. Nehmen Sie und suchen Sie mich heute noch auf. Im Baltic-Hotel,
Zimmer 29.“

Jappes bleckte die Zähne und zog die Lippen nach rückwärts: „Sie kommen
mir sehr gelegen. Ich bin voll von niedrigen Dingen, von armseligen
Dingen. Wir speisen bei Hiller, das frischt auf. Kennen Sie Hiller?“ –
Sie nickte. „Sie kennen mich wohl schon lange und ich Sie auch. Heute
sind unsere Wege erst zusammengestoßen. Madame sind kühn und ich habe
auf etwas Kühnes gewartet.“

„Unsere Wege stoßen noch öfter zusammen. Um zwei Uhr also oder früher!
Irgendwo! Möglich, daß wir uns treffen, eh wir es wünschen. Lesen Sie
diese Zeilen, ich habe Eile!“

Knapp vor einem Mietauto fegte sie über die Straße. Jappes ging und
dachte nichts. Dann überlegte er, wie sie aussah. Er fand keinen
Anhaltspunkt. Sicher hatte er sie nicht angeschaut. Vielleicht war es
nur eine Halluzination, ein Spuk im Straßenwirbel. Aber das Corpus
delicti hielt er in der Hand. Eine düstere Ahnung setzte sich in seiner
Seele fest. Ueber die Stadt zischte ein Sturm und die Menschen rannten,
rissen ihn mit, im Wirbel, im Taumel, nein, sie schleiften ihn mit,
seine Gedanken jagten sich wirr ... aber er blieb leer ohne Halt. Er
wußte von ihr und wußte doch nichts. Aber sie war und war für ihn.
Vielleicht ein Dämon? Wie war sie nur? Dann war er müde und fingerte
nervös an seinem Spazierstock. Ging weiter, und dachte an nichts mehr.
An einer Litfaßsäule bremste der Vorwitz ihn fest. Mechanisch las er die
farbigen Zettel und dachte an etwas ganz anderes: Ist sie aus einer
Neppbude, aus einem Irrenhaus, Kongregationsleiterin, eine Hysterische?
Ihre Worte überdachte er mit hartnäckiger Analyse, nein! er wußte gar
nichts und das quälte ihn am meisten. Sicher würde er sie nicht
wiedererkennen, wenn er sie träfe. War sie schwarz, blond oder braun???
... aber nein! Unbestimmt ohne Form, ohne Linie, sie war nicht und war
doch. Ein Wolkenbruch prasselte nieder. Er trat in ein Kaffeehaus und
ging wieder. Draußen sagte er seinen Namen: Jappes! und es antwortete in
ihm: Ich besitze dich noch. Da fuhr eine Droschke vorüber. Sie hielt und
eine seidene Dame musterte ihn mit einem langen ruhigen Blick. – Er sah
sie und dachte nichts.

Eine Stunde später streifte ihn eine Dame in elegantem Straßenkleid. Sie
hing nachlässig am Arm eines Offiziers, besah die Schaufenster und
schaute nachdenklich in Jappes’ Auge. Er wich dem Blick aus – und dachte
an nichts.

In der Frankfurter Allee drängten sich die Leute vor einem Haus. Ein
Feuerwehrmann stieg auf einer Leiter hoch und klopfte an ein Fenster.
Einer erzählte: ein Liebespaar hat sich erschossen! Ein anderer: eine
schwangere Jungfer hat sich mit Kreosot vergiftet. Noch ein dritter: ein
Student hat sich an der Türklinke erhängt. Er habe zweimal vorsprechen
wollen, in drei Tagen, wegen einer Geldforderung, das zweitemal habe der
Leichengeruch ihm durch das Schlüsselloch den Atem geraubt.

Jappes dachte, wie er wohl sterben werde: Ich lebe rasch und werde rasch
sterben.

Der Feuerwehrmann von der Leiter rief: „Damit das Publikum sich nicht
beunruhige, wisse es, daß es sich um eine Filmaufnahme handelt.“

Jappes dachte im Gegröhl der Menge, ob man bei seinem Tode auch kurbeln
werde? Dann lockte die Zeit ihn zu Hiller. Der Oberkellner geleitete ihn
dienernd an ein Ecktischchen. Das Dauerlächeln im Frack entfernte sich
wieder. Ein Boy brachte ein Briefchen auf einer silbernen Platte. „Man
muß sich geirrt haben,“ betonte Jappes, „ich kenne niemanden hier.“ „Ich
weiß auch nicht,“ knixte der Boy – „vielleicht kennt man Sie hier.“ In
seinem Blicke fehlte das Trinkgeld, das Jappes nicht zu geben pflegte.

                                   Solange Knigge und die
                                   Lebensmittelindustrie kein Rezept
                                   für Unterhaltungswürze finden,
                                   wird es noch raffinierte
                                   Tischgespräche geben.

Eine schwebend-blütenleichte Gestalt trat aus dem Spiegel auf Jappes zu.
Er hörte, wie Stühle gerückt wurden und wie die Genicke der Männer
knackten, die sich nach der Gestalt umbogen. Eine flaumweiche Hand faßte
seine Schulter und aus einer schmeichelnd-vibrierenden Stimme schmolz
sein Name: Jappes! Er war betäubt von der unerwarteten Berührung und ein
seltsamer Hauch durchwehte seine Seele. Er murmelte: „Vielleicht bist du
es, Freundin?“

„Zum dritten Male, mein Freund und für dich allein.“

Er erwies ihrer Hand seine Reverenz. Dann bemühten zwei Kellner sich um
das Ueberflüssige an der Dame, und nannten sie Fräulein Armida.

„Ich komme spät,“ hauchte sie, „was hast du von meinem Brief gedacht,
Freund?“

Jappes schob ihr den Brief zu: „Bei Briefen denke ich mir nie etwas. Ich
habe gewartet, was kommen soll. Ich warte seit Wochen auf etwas
Seltsames und bin enttäuscht, weil du so natürlich bist, und mir Fragen
stellst. Ich frage nie. Ich weiß immer, mit wem ich zu tun habe. Ich
hätte bis zur Nacht gewartet, und hätte dann bis zum Morgen gebrütet,
hätte dann Narr gesagt, und wäre gegangen. So war es ausgemacht. Ich
wollte warten, bis du kämest mir zu sagen, wer du bist. Aus deinem Munde
wollte ich es hören.“ Mit ihren weichen Augen trank sie seine Blicke
leer.

„Hast du nun genug?“ fragte Jappes.

„Mit einem Mal kann ich dein Wesen nicht trinken,“ lächelte sie, „und
das reizt mich, und während ich berauscht bin, fließt immer etwas Neues,
Eigenartiges in dein Wesen hinein. Weshalb bist du so unerschöpflich.
Darf ich dir eine Nelke anbieten, eine weiße Nelke, ich habe sie selbst
gezogen.“

„Danke,“ wehrte Jappes. „Nelken liebe ich nicht. Der Friedhofduft –“ ein
Schütteln fiel ihn an. Er erzählte ihr das Abenteuer in der Frankfurter
Allee. Ihre Zähne leuchteten weiß wie frischgeschälte Mandeln: „Der Mann
auf der Leiter war deine Freundin!“

„Albernheit,“ rekelte er gähnend, „ein Kinostern!?“

„Wäre ich abgestürzt ...?“ da zerbrach sie eine kostbare Reiherfeder und
ein nervöses Flimmern spielte um ihre Lippen.

„Dann wärest du nicht hier, und ich säße in schmerzlicher Einsamkeit!“
Er sagte es mit weichem Tonfall, und sein Blick bohrte sich in ihre
Alabasterstirn.

Nach der Suppe fragte sie: „Jappes, wer spricht aus dir?“ Er punktierte:
„Ein Gelangweilter.“ Und staccato: „Ich kann nicht warten ...“ Der Ober
deutete es für sich und eilte, den Fisch zu holen, servierte ihn mit
einer schmalzigen Entschuldigung bei Jappes.

„Fische sind laichdumm,“ griff sie das Gespräch wieder auf und Jappes
legte einen Karpfen auf ihren Teller.

„Zum Glück sind es Portionsfische,“ bemerkte er, „ich teil nie gerne,
darf ich dir Mayonnaise übergießen? So! das habe ich nie gegessen –
Karpfen mit Mayonnaise. Junge Karpfen sind geschmacklos wie alle jungen
Fische!“

„Und Backfische?“ forschte sie.

„Geschmacklos! ich kenne es aus Erfahrung, mit und ohne Mayonnaise,
Fische sind laichdumm hast du gesagt, es ist eine Fischerweisheit.“ An
ihrem Kinn lachte ein feines Grübchen.

„Deine Leibspeise möchte ich kennen,“ perlte es von ihren Lippen. „Senf
und Rhabarber,“ schnalzte seine Zunge, und das Grübchen zerfloß in eine
Falte.

„Ober,“ rief er über die Schulter, „eine Flasche ‚Chateau Lafitte‘.“ –
Ein Bleistift notierte den Namen und ergänzte den Preis, eine
dreizifferige Zahl.

Zwei Lilienfinger führten das Glas an die Lippen.

Ein Gaumen knurrte: „Ist das Chateau Lafitte?“ Der Ober vergrößerte die
Pupillen, als sein Ohr ihm sagte: das ist nicht Lafitte. Aus seiner
Brust quirlte es duckend: „Kommt aus dem besten Haus, mithin kein Anlaß,
eine falsche Marke zu liefern.“

„Ist nicht Lafitte,“ brummte Jappes. An seinen Augen las der Kellner,
daß er Kenner war. „Mag sein, daß er aus der unmittelbarsten Umgegend
ist,“ beschwichtigte der Ober.

Dann Jappes: „Stecken Sie mir den Zeigefinger vorne herein und den
Daumen hinten herein und riechen Sie. Die unmittelbarste Umgegend, aber
das Bouquet ist verflucht verschieden.“ Ein Grinsen schürzte die Lippen
des dienenden Bonzen, und Jappes sah, daß drei Nelken unter dem Tisch
zerfetzt wurden.




                          SECHZEHNTES KAPITEL


                                   Die Leidenschaft ist die Dichterin
                                   der Märchen, welche wir unseren
                                   jungen Begierden zu erzählen
                                   lieben.

Seit drei Tagen war Armida mit ihrem Freunde verkracht. Und seit vier
kannte sie ihn. An der Riviera hatte er eine Villa und hieß Arco
Calvandi. In der Bülowstraße hatte er sie in einer Bar gefunden, als sie
ihr Korsett im Pharao mit ihm verspielte. Er hatte zehntausend Mark
gesetzt, gegen die Bedingung, wenn Armida verliere, es selbst zu lösen.
Lachend war sie mit ihm nach Hause geautelt, und als er den linken
Straps löste, war er betäubt niedergesunken. Armida hatte ohne den
Einsatz das Haus verlassen und der Portier bemerkte, daß Calvandi die
Dame arg mitgenommen hatte – nicht einmal die Figur war ihr geblieben.
Hellichter Tag war es, als der Gewinner erwachte. Er fand einen Brief:
Arco Calvandi! Hebe den Gewinst gut auf. Wenn du einmal verspielst,
darfst du mir das Gerüst wieder anlegen, aber die Bedingungen bleiben
dieselben! Mit einer Gänsehaut rettete er sich nach Paris. Die Nacht
fraß seine Furcht, als er im D-Zug über die Grenze raste. Dann atmete er
frei und trank die Entfernung.

Oh! er war ein schöner Mann, Herr Arco Calvandi.

                   *       *       *       *       *

Der D-Zug donnerte in die Gare-de-l’Est. An der Sperre wartete ein
stiernackiger Chauffeur: Zwei flackernde Rattenaugen schwammen im
krebsroten Gesicht. Im Mundschlitz verzehrte sich eine Zigarette in
stiller Glut. Vor erregter Erwartung vergaß er den Rauch einzuschlürfen
... Eine Hand legte sich auf seine Oeljacke: „Sylvain angekurbelt,
Panthéon, dort Lunch, dann Rennen in St. Enghien. Habe Eile, laß die
Maschine das Letzte geben.“

– Wir werden ankommen! knurrte Sylvain und ein bläulicher Benzolschweif
wirbelte gegen die Porte St. Martin. Die Sorbonne und das Palais du
Luxembourg reichten sich die Hände, so raste Arco Calvandi. Er fieberte
in dumpfem Groll.

Seine Zimmer lagen vis-à-vis vom Panthéon und von seinem Rauchzimmer aus
sah er den Denker von Rodin. Er sprang die Treppe hinauf in den zweiten
Stock. Auf der Diele warf er seinen Mantel ab, lief in sein
Schlangenkabinett und öffnete seine Handtasche. Ueberall Schlangen,
Schlangen aus Glas, aus geädertem Porphyr, gemalte Terrakotta,
majolikaglatte Schlangen. Augen wie zuckende Lohe, wie glänzende Rubine,
weiße Milchaugen mit einem blauen Strich, Augen grün wie Malachit und
züngelnde Zungen, gespalten und pfeilartig und spitz. Kriechende
Schlangen an den Wänden von blauem Damast. Er riegelte die Tür ab und
schloß die Fensterläden, Kippte die Wippe einer Schaltvorrichtung und
eine pendelnde Schlange wurde elektrisch hell. Eine zitronengelbe,
geringelte Schlange mit roten körnigen Augen. Gläsern klang die Bewegung
der Zunge. Der Damast trank das zischende Geräusch und Arco Calvandi
erbebte. Riß ein Paket aus der Tasche, riß an der dünnen Verschnürung,
daß die Finger bluteten. „Schlange!“ kam es knirschend von seinen Lippen
und dann hielt er das Korsett in der Hand – „bist du mein Opfer oder bin
ich das deine?“ Mit sinnlicher Begierde preßte er es an seine Lippen.
Vom kleinen Finger rann das Blut und befleckte Armidas Palladium.
„Gebrandmarkt!“ rief er jauchzend. „Schlange, du hast mir eine List
ersonnen!“ – Dann ging er zum Lunch.

Speiste mit einem Freund und zwei Fremden. Sie hatten eine Gier in den
Augen und lebten von den Einkünften der anderen. „Gediegene Gestalten,“
schmeichelte Arco Calvandi Jerôme den Freund. Dann wurden vier Gaumen
gekitzelt und es dauerte länger als eine Stunde. „Von einem Abenteuer
komme ich,“ sprach Arco Calvandi, als der Stöpsel von der ersten Cave
Pommery knallte. „Prickelnd war es und schaumig, wie der Champagner,
aber nicht so kühl.“ Drei Augenpaare loderten von der Glut seiner Lüge,
und ein Lachen kollerte durch das Gehege der Zähne. Sie tranken und
horchten mit genäschigen Ohren: „Freunde, die Schönste von allen war
meine, wie ein Kätzchen so weich und geschmeidig. Ihr kennt ihren Namen:
Armida! es klingt wie die Sprache der Gläser. Trinkt auf ihr Wohl, sie
brachte ihre Unschuld als Opfer!“ –

Die Fremden tranken, aber Jerôme warf seine Stirne in Falten: „Sonst
pflegst du doch nicht zu lügen, mein Freund Arco Calvandi. Armida ist
alt in Sachen der Liebe.“

„Schweig!“ warnte Calvandi, „und tu mir Bescheid. Am Balkan herrscht die
Sitte, daß bräutliche Mädchen das Siegel der Tugend noch bringen. Ihr
versteht – – – daß das Linnen ein Tropfen noch trübe – – – ein Tropfen
des Bluts und, so wahr ich hier spreche, nehmt eure Gläser und folgt.“

Im Schlangensaal feierten sie die blutige Rüstung!

                                   Wer Eile hat, kommt auch ans Ziel.

Ein Rattern fraß sich durch den Staub der Straße und strebte verlangend
gegen St. Enghien. Eine Minute vor dem Start bestieg Arco die Tribüne
und ein Murmeln hüllte ihn ein:

„Das ist er! 125000 Franken! der Prix Calvandi und heute sein bestes
Roß, ein rassiges Vollblut, die Stute Armida.“

Oh! er ist ein schöner Mann, Herr Arco Calvandi!




                         SIEBENZEHNTES KAPITEL


                                   Die Könige und Hanswürste tragen
                                   nicht umsonst einen Purpurmantel.

Sie saßen im Wintergarten und die Berliner weideten ihre Augen an den
Schnörkeln einer tanzenden Korpulenz. Lüsterne Blicke hafteten an der
flaumigen Corsage und im Taumel rissen sie die Fetzen vom wirbelnden
Fleisch. Armida saß wie eine Königin. Um die Schultern ein brokatener
Shawl, ein funkelndes Diadem umlohte ihre weiche Frisur. Ihre Hand war
ohne Ringe und ihre Nägel rosig angehaucht wie Taubenfüße. Der prangende
Raum erzuckte im erotischen Taumel. Die Tänzerin wagte eine groteske
Spirale und die Musik erstarb in einem glühend-weichen Seufzer. Jappes
blies eine feine Three Castle in einen blühenden Akanthus, machte eine
Drehung und tippte Armida auf die Nägel. „Onglissa! Die Krallen sind
scharf und passen zur Musik – so erkünstelt –“

„Du sollst die Krallen einer Dame nicht höhnen. Die Ehre einer
Damenbegleitung weißt du nicht zu würdigen. Sieh, wie der Clown auf der
Bühne seine Dame graziös umtänzelt.“

„Verzeih, Liebling!“ bemerkte Jappes und feixte, „beides ist mir
furchtbar gleichgültig: Sowohl der Gegenstand auf der Bühne als der
Gegenstand meiner Begleitung. Wenn ich manchmal ein Gefühlchen hinüber
äußere, ist es nur die Routine des Angeborenen. Jappes ist sehr weit von
der Sache.“

– Hast du uns sonst nichts anzuvertrauen? baten zwei zitternde Löckchen,
die sich aus der Umklammerung des Haarreifs gerettet hatten. – Hast du
uns sonst nichts anzuvertrauen? baten zwei schattige Brauen, die um den
See zweier blauer Augen wuchsen. –

Jappes schneuzte sich geräuschvoll. Einer eingedorrten Dame mit
schlanker Turbanfrisur lief ein kalter Schauer über den dürren Rücken
und ein verachtender Blick krallte sich in seine zwinkernden Augen. Er
hüllte das Produkt seiner Anstrengung in das Linnen und wandte sich an
Armida: „Verzeih, Liebling! manchmal muß man Rücksicht auf sich nehmen
und die angehäuften Unannehmlichkeiten wegräumen. Die Dame ist eine von
den weichen, die aus der Not keine Tugend zu machen wissen. Ueberhaupt
will dieses späte Mädchen hier im freiesten Lokal seine Konservenbüchse
der Erziehung öffnen! Eine alte Jungfer kann nicht so leicht mit der
Vergangenheit brechen, weil sie nie in der Gegenwart gelebt hat.“

„Freiheit und Anstand sind blutsverwandte Begriffe und zieren jeden, der
sich ihrer zu bedienen weiß. Dein Spruch ist: zurück zur Natur. Es gibt
auch viel Natürliches, was häßlich ist –“

„Gewiß, meine Gnädigste,“ – trank ein Glas Wasser leer – „auf Ihr Wohl.
Das macht frisch im Kopf, es ist nichts schwieriger als gute Einfälle
haben. Um ehrbare Leute zu belästigen, bedarf es keines besonderen
Talentes. Man braucht nur ein Organ dazu. Liebling, die Menschen sind
komische Leute.“

Pause.

Polichinell sang auf der Bühne ein schleimiges Couplet. Er sah gar
komisch aus in seinem gewürfelten Pierrot und in seiner umgestülpten
Stranitzenkegelmütze. Ein buntes Mädchen fingerte eine quietschende
Melodie am Flügel und um ihren Mund war ein Lächeln gemalt. Der
Hanswurst sang:

   „Wer Arbeit kennt und sich nicht drückt,
   der ist verrückt.“

Dabei machte er schweißtriefende Sprünge und klapperte seine Armut über
die Bretter. Jappes rümpfte die Nase: „Wenn der Tintenfisch in Gefahr
ist, quetscht er seine Tintenblase leer und die Feinde sehen ihn nicht
mehr.“ Die Dürre wurde durch die Worte in ihrer Andacht gestört und die
Wut zog ihre Lippen zum Strich. „So ist sie sehr appetitlich, dachte
Jappes, alte Schote, dein olympischer Frühling ist vorbei!“ Am Applaus
merkte der Komiker, daß er gefallen hatte. Jappes war aufgebracht, weil
die knöcherne Dame ihm so viel vorwurfsvolle Aufmerksamkeit schenkte:
„Kannst du Runen lesen, meine Teuerste?“ fragte er Armida.

„Das hängt davon ab, wo sie geschrieben sind.“

„Versuch es einmal in dieser ledernen Visage,“ bat Jappes, „kannst du
nicht lesen, daß die Jungfer lebhaft bedauert, daß in ihrer Jugend
niemand sie um ihre Unschuld begaunert hat.“

„Du sollst nicht so viel von Unschuld reden,“ gab Armida zurück, „du
magst das Wesen des Clowns auf der Bühne nicht leiden und doch liebst du
es, selbst frech und lächerlich zu scheinen. Ich kann dein Wesen
verstehen, weil ich weiß, daß auch der Clown ein ernstes Wesen birgt.
Darum soll nichts dir zum Vorwurf gelten. Wir gehen, heute abend haben
wir noch Wichtiges vor und die Zeit geht auf zwölf.“ Sie bezahlte die
Zeche und Jappes tat, als ob er an einer Seite gelähmt sei: „Hol mir
meinen Mantel, mein Lieb, ich liebe es, wenn du mich bedienst.“ Armida
gehorchte.

„Geh vor mir her,“ – befahl sie auf der Straße – „es könnte uns lästig
werden, zu zweien zu gehen.“

„Du könntest vielleicht auch eine neue Bekanntschaft wünschen.“

Zehn Schritt hinter ihm trippelte Armida. Sie trank den Rhythmus seiner
Bewegungen und ihre Seele erbebte: Jappes ist Harmonie! Aber er wußte
nichts von ihren Gedanken.

                                   Die organische Funktionentheorie
                                   ist das Schoßhündchen der
                                   Psychologen – ist aber nicht immer
                                   stubenrein.

Armida wechselte ihre Wohnung zweimal in achtundvierzig Stunden. Ihre
Kleider jede dritte Stunde und ihr Wesen war ein stetes
Uebergangsstadium. Jappes versicherte sie: Er könne sich nie an diese
Eigenarten gewöhnen, wenn nicht seine zarte Ritterlichkeit ihm die Kraft
verleihe, das Ritual der Mode ihrer Gewohnheiten nachzubeten. Er nannte
Armida bald Zierstengelchen, bald Seidenäffchen, bald Leckerchen. Er
fand immer etwas Süßes, Rauschendes, sagte es aber so kühl, daß alle
Wirkung dabei in die Brüche ging. Er sagte: „Sternchen, ich liebe es,
tote Kinder des Geistes zu gebären, denn für die Geburtshilfe braucht
man den Fötus und für den Spiritus braucht man Verwendung. Meine
Gedanken saugen sich groß am Nabelstrang der Phantasie und der geistige
Trödelkram muß zum Lumpensammler kommen.“ Armida ließ ihn reden, sie
horchte nur der Melodie und der Text war ihr Luft. Und so gefiel es
beiden.

Ein Kraftwagen nahm beide in seine Arme und brachte sie schnaufend zum
Stettiner Hof. Sie fanden ein Telegramm vor:

                   Armida Grand Prix, Dresdener Bank
                   Tausend hundert und zwanzig fünf.

                                          Calvandi.

„Ein Codetelegramm?“ fragte Jappes.

„Eigentlich ist Calvandi nur ein Codewort,“ erklärte Armida, „und dann
mein Name. Das andere sind angenehme Ziffern.“ Zwei Ohren spreizten sich
neugierig. – Der bunte Bettschirm sah, daß ein braunes Kleid über einen
weißen Mädchenkörper gestülpt wurde, und er zitterte beim Gedanken an
doppelte Szenen seiner wachen Nächte in Treue.

Von einem Turm fiel ein Glockenschlag in die Nacht. Eins!




                          ACHTZEHNTES KAPITEL


                                   Die Gewohnheit macht selbst mit
                                   dem Tode vertraut.

Um zwei in der Nacht stand ein zitternder Wagen am Krankenhaus in Briez.
Armida zog einen Schlüsselbund aus ihrem „Ridicule“ und öffnete ein
Seitenpförtchen. Jappes schritt hinter ihr auf einem schmalen Pfad, der
mit Steinfliesen gepflastert war. Eine doppelte Zierbaumhecke stach in
schwarzen Linien vom matten Boden ab. Ein müder Wind führte einen
dumpf-süßen Bromgeruch mit sich. Eine Jodwelle löste ihn ab. An einem
schmalen Gitterfenster lehnte eine Krankenschwester. Dann verschluckte
das Haus die späten Wanderer. Schwere Bastläufer dämpften die Schritte
und geleiteten Armida und ihren Begleiter die Stiegen hinan. An einer
weißen Türe standen sie still. Sie klopften. Und die Tür wich ihnen aus.
Sie traten in einen weißen Saal und ein Mann in weißer Litewka stellte
sich vor: „Doktor Seraph.“ Armida sagte: „Molo.“ Dann kam ein Gruß mit
den Lippen.

Tische des Ekels und Tische voll röchelnder Schmerzen. Leichentische,
Operations- und Seziertische. In einer Ecke ein Laparotomietisch mit
Zinkplatte und weißem Emailleanstrich: Apparate für Narkose:
Chloroformmasken mit Rinne und Netz. Flaschen aus braunem Glas mit
federndem Verschluß. Aethermasken mit Bügeln und Stoffüberzügen und
sechsfacher Gazeschicht. Doktor Seraph hielt einen Apparat zur lokalen
Anästhesie in der Hand. Eine Tube mit Aethylchlorid und ein
Doppelgebläse.

In einer Desinfektionsschale Scalpelle und Sticheltrephinen.
Lupuslöffel, Curetten und Acupuncturnadeln, Pinzetten und Zangen und
Bistouris. Messer und Schere und Spatel.

Doktor Seraph sprach gedämpft, als wolle er die Tote nicht wecken, die
auf dem Leichentisch lag. Ihr Fleisch war grünlich gelb. Er nahm einen
Block mit Notizen und trat zu der Toten.

Milchdrüsenkrebs. Ein Ulcus mit torpidem Charakter. Die Sekretion des
Geschwürs serös, jauchig und stinkend. Die Jauche enthielt nekrotische
Gewebspartien. Parenchymatöse Blutungen hatten die Kräfte erschöpft. Die
Lymphdrüsen am Hals waren affiziert und verschlechterten die Prognose.
Die Frau war mager und schwach. Wir halfen mit Opiaten nach. Sie schlief
und vergaß ihre Schmerzen. Wir fürchteten, sie würde durch die
Ulceration und infolge der häufigen Blutungen an Anämie sterben, aber
die metastatische Geschwulst entwickelte sich rasch. Wegen Recidivs war
sie zweimal operiert, und infiltrierte Lymphdrüsen waren exstirpiert
worden; ein operativer Eingriff konnte sie nicht mehr retten.

Jappes bemerkte: „Man pflegt die Therapie der carcinomatösen Dyskrasie
als die ‚Partie honteuse‘ der Medizin und Chirurgie zu bezeichnen.“

„Ja,“ antwortete Doktor Seraph: „Einwandfreie Heilungen sind selten. Es
gibt noch heute kein Medikament und auch keine wirksame Art von Diätetik
gegen Carcinosis. Deshalb grassieren die Scharlatane und Kurpfuscher,
die das Gebreste durch besondere Arcana zu heilen wähnen. Die Aetiologie
der Krebskrankheit gibt leider für die Therapie keinen Anhaltspunkt. Wir
können nicht feststellen, weshalb die Tumoren so infektiös sind. Ein
Spezifikum für Carcinosis gibt es nicht, wenn man auch mit der
Condurangorinde und der Guackotinktur den Glauben der Patienten
zeitweise auffrischt.“

„Ermüde dich nicht, Molo,“ bat Armida, „unser junger Freund ist noch
nicht übers Physikum hinaus. Er wird noch Gelegenheit haben, die
chirurgische Pathologie und Therapie zu hören.“

Doktor Seraph fuhr belehrend fort: „Die Therapie beschränkt sich auf
eine indirekte innere Behandlung, ich sage indirekt, weil sie keine
direkten Angriffspunkte findet. Gegen Anämie gibt man Eisen oder Chinin.
Amarra zur Unterstützung der Verdauung. Das wirksamste der wenig
wirksamen Mittel ist das von alters her angewandte Arsenik. Wenn es die
Krankheit auch nicht zu heilen vermag, so verzögert sich doch der
Verlauf und schiebt den Tod hinaus.“

„Kann man sich etwas von den Heilquellen erwarten?“ fragte Jappes mit
lebhaftem Interesse.

Der Arzt: „Eher im Gegenteil! Die stark angreifenden Brunnen von Aachen,
Wiesbaden, Kreuznach und andere, sind eher schädlich. Die indifferenten
Thermen jedoch, wie Ems und Gastein können gegen andere Uebel gebraucht
werden, wenn der Patient carcinomös veranlagt ist. Sie fördern das
Wachstum der krebsigen Geschwulst nicht, der operative Eingriff und die
Narkose sind die einzigen Mittel, den Krebskranken das Leiden und den
Tod zu erleichtern.“ – Das sagte er mit einer unbeholfen-sachlichen
Ironie.

„Es gibt Aerzte, die prinzipiell keine Krebse operieren,“ füllte Jappes
die Pause.

„Die Operation mit dem Messer oder der Schere“, dozierte Seraph, „ist am
radikalsten und man hat eine Kontrolle, ob durch die blutige
Exstirpation die carcinomatöse Geschwulst beseitigt ist; weil aber in
der Regel Recidive auftreten, ist die Operation meist nur vom
physiologischen Standpunkt aus ein galanter Aderlaß ...“

Armida glättete sein ironisches Grinsen: „Komm, Freund Molo, die Nacht
ist schon weit, und du verlierst deine Kräfte in klinischer Prosa. Du
hast nicht nur für die Toten zu sorgen. Laß die gelehrten Reflexionen.
Töte den Krebs deiner müden Nächte durch die Narkose des Schlafes.“

Doch Jappes: „Eine plastische Operation kann man im Alter nicht machen
oder bei anämischen Patienten. Das wäre eine Kur nach Doktor Eisenbart.
Der Blutverlust wäre zu groß und die Qual würde jenseits des Acheron
enden.“

„Das wäre nicht das schlimmste,“ betonte Armida.

„Du sprichst recht,“ sagte die gelehrte Litewka: „Wo das Messer versagt
und die Schere, bleibt noch die quälende Aetzung. Die Idee hat etwas für
sich, weil kein Blut verloren geht und die ätzende Flüssigkeit bis in
die miterkrankten feinsten Lymphgefäße eindringt. So würde der örtliche
Krankheitsstoff zerstört. Doch nur im Prinzip! Die Erfahrung beweist,
daß das Gewebe, welches mit dem Aetzmittel in Berührung kommt, mit
demselben eine innige, feste Verbindung eingeht und das Aetzmittel
unwirksam macht. Auch dann noch treten Recidive auf und die Krankheit
beginnt von neuem. Erfolge hat man mit Chlorzink erzielt als Paste oder
als Aetzpfeil. Der Schmerz ist sehr heftig, den man nach der Aetzung
durch subcutane Morphiuminjektionen dämpfen kann. Die Geschwulst wird
ein mehliger Schorf.“

Doktor Seraph öffnete ein Schränkchen. – „Chlorgold und Antimonbutter
finden manchmal wirksam Verwendung. Von den Pasten Arsenik und die
Wiener Aetzpaste.“ Er reichte sie Jappes.

„Ist sie an Peritonitis gestorben?“ deutete Armida auf die Tote.

„Sie ist in Marasmus verfallen und ist mit starken Krämpfen in langem
Todeskampf verschieden.“

Jappes besah die Tote mit ihrer zerfetzten Brust. Sie lag mit
geschwollenen Lippen und gläsernem Blick. Aus ihrem Munde floß ein
bräunlicher Schleim. Ihn quälte die nächtliche Stille, die in
unbestimmten Intervallen von einem jammervoll-schmerzlichen Stöhnen
zerrissen wurde. Klänge wie gedämpfter Eulenruf, die in würgende Laute
verklangen ... Ihn quälte die tote Gestalt auf dem schreiend-nackten
Totengerüst. Vor den Fenstern lag die lauernde Nacht, und Wärter schoben
die verzerrten Leichen.

„Gegen den Tod kann man nicht prophylaktisch wirken, auch nicht
operativ,“ sagte Armida, „aber du könntest dich schonen, Molo, sonst
legt der knöcherne Mann dir bald die seltsame Schlinge.“ Sie grüßte ihn
kurz.

Armida und Jappes traten ins Dunkel. Von ferne krähte ein Hahn. „Es hat
wieder einer verleugnet,“ lachte Jappes und sprang zum Wagen. Am Steuer
lehnte der Chauffeur und gähnte dem Morgen entgegen.

Zwei Laternen fraßen die eilende Finsternis.

Jappes dachte an zwei seltsame Ringe, welche der Doktor an den Fingern
trug.




                          NEUNZEHNTES KAPITEL


                                   Man erzählt manchmal einen Witz,
                                   um über eine Pointe zu lachen.

Arco Calvandi hatte einen Witz erzählt: „Eine Landpomeranze hatte von
einem leckeren Schmeichler erfahren, daß sie angenehm empfunden würde.
Und die Schönheit sagte ihr: du bist wie ich. Das wollte sie im Bilde
sehen, weil der Spiegel ihr Bild immer wieder verlor. Sie suchte einen
Maler auf. ‚Mögen Sie mich malen,‘ flehte ihr weicher Sopran! Der Maler:
‚Gnädiges Fräulein entschuldigen: wie wünscht gnädiges Fräulein gemalt
zu werden?‘ Und die Holde: ‚Wie man so gemalt wird.‘ Der Maler witterte
das Wild: ‚Ich bin Historienmaler.‘ Sie sann und die Frage entfiel ihr:
‚Was ist ein Historienmaler?‘ Er: ‚Einer, der nach der Geschichte malt.‘
‚Gut,‘ sagte die Schöne errötend, ‚dann komme ich nach der Geschichte
wieder.‘ Sie ging, und ein Lachen prallte an die Staffelei des Malers.“

Aber Armida hatte eine richtige Geschichte, die war kein Witz. Alf
Skyölen, ihr Vater, in Saßnitz auf Rügen. Von Norwegen war er gezogen,
an der schwedischen Grenze. Mit einem Schiff und zwei Segeln hatte der
Wind ihn südwärts geblasen. An die Insel spie ihn das Meer. Dort fand er
ein Weib vom Wetter gebräunt. Er nahm es zur Frau. Sie bauten sich Kähne
und hielten sich Fischer; geteertes Holz und gegerbte Gesichter. Das
Jahr verschlang ein Boot und drei Fischer, er baute dann zehn und dang
sich die nötigen Mannen. Zu Ostern rissen die Netze, so schwanger vom
zappelnden Hering; im Sommer ruderten die Fischer die flache Last der
Flundern. Das Gold in der Truhe wuchs, die Summe der schwimmenden Fänge.

Alf Skyölen war stolz auf seine schwarze Armada. Sie beherrschte die
Küste und die laichenden Fische. Als ihm eine Tochter ward, nannten die
Fischer das Mädchen Armida. Sie kannten den Namen nur so und dachten an
die Herrin der Meere.

Da kam das Verhängnis von Westen. Netze und Fischer und Skyölen mit Frau
verschlangen die Tiefen.

Und von der Armada blieb nur Armida.

                                   Schornsteinfeger sind schwarz.
                                   Bäcker sind weiß. Ich sage, was
                                   vom Meere kommt, ist tückisch und
                                   bewegt.

Mit dem Gold und dem Traum nach der Ferne wuchs sie dann groß. Schön wie
das Meer und verschlagen wie dieses. Und ewig bewegt. Sich selbst
überlassen, wurde sie der Heimat fremd. In Greifswald war sie im
Pensionat und hörte Vorlesungen dortselbst, lebte in Heidelberg und
studierte ein Semester Jura, ein anderes Philosophie, zwei weitere
Theologie, im fünften Medizin. Das lockte sie. War zwei Monate lang in
München, studierte Kunstgeschichte, besuchte die Pinakotheken und die
Ausstellungen, blieb am Rembrandt haften und gewann Böcklin lieb. Ließ
alles im Stich und warf sich auf die Plastik und die Glyptothek erhielt
ihren Besuch fünf Monate. Am Tag in den Galerien, des Nachts im Café.
Abends im Theater und morgens verließ sie irgendeine Bude nach einer
wüst durchzechten Nacht. Sie lockte Menschen, umkoste sie und verschlang
sie mit tückischer Tiefe. Der Taumel küßte sie und Armida jagte die
Begierde. Sie war stürmisch und kühl und sie wußte: das Meer wuchs in
ihr. Fuhr in die Berge und stieg mit den Gemsen um die Wette. Holte
Edelweiß von den zerbröckelten Wänden und mit Lächeln im Blick erzählte
sie vom Locken der Tiefe. Hatte nur zweierlei Freunde: denen sie Geld
abnahm, denen sie Geld gab, und gegen beide war sie maßlos. Sie wußte,
in ihr gab es eine Ebbe, eine Flut, einen ruhigen Abgrund und eine
stürmische Brandung mit Gischt und mit donnerndem Wirbel. Das Meer wuchs
in ihr und sie wuchs mit dem Meere.

Da fand ihr Wesen den Damm und sie fühlte, daß es auch Menschen gab, die
fern von dem Einfluß der anderen sind. Sie traf in Berlin auf Molo
Seraph, und hier brachen sich die Fluten ihres wogenden Wesens. Er war
ihr der Damm und die Schleuse: Er lenkte sie weiter in gebändigtem Fluß.
Dann wurde sie mürrisch und trübe. Doktor Seraph folgte der geregelten
Bewegung, aber ihm grauste vor der schlingenden Tiefe.

... Sie war wie das Meer mit der steten Bewegung, mit Tang und mit
Schlick und weiter Gebärde. Sie war wie die Sehnsucht voll zuckender
Bilder, sie war wie der Abend voll dämmerndem Gram, sie war wie ein Fest
voll glänzender Freude. Sie war wie die Zeit voll fiebernder Eile.




                          ZWANZIGSTES KAPITEL


                                   Plato hat vergessen zu behaupten,
                                   daß alle Menschen grinsen.

Sie ist kein Mädchen, sagte Jappes und er dachte an Pepy. Sie ist auch
kein Bub und ist auch kein Zwitter. Sie steht zwischen den dreien, ein
doppelt Geschlecht und auch keines, sie ist ein Gebilde, ein Traum, ein
leuchtend Verhängnis, ein Fluch und ein Glück. Wer weiß! Und er nannte
sie Ruth, denn ihr Wesen war Ruth und ihr Name war Pepy.

Seine Seele erschrak. Sie schrieb von einem englischen Freunde, der
wollte sie retten im Hafen der Ehe. Die Engländer sind kluge Schiffer,
und mächtig und reich, und er wird sie wohl retten, so dachte sich
Jappes. An der Leine der Gedanken führte er die Sorge, und knurrend ging
sie mit ihm wie eine treue Hündin. Er war voll von Pepys flatterndem
Wesen, und seine Erinnerung bestieg die Leiter der vergangenen Tage. Er
dachte an eine Szene mit Pepy.

„Du liebst mich,“ hatte sie am Fuße der Berge gesagt. „Das ist unser
reinstes Verhängnis. Ich weiß, daß ich gleichgültig bin gegen Menschen,
die mir mit Liebe begegnen, mir fehlt das Organ für die Liebe und ich
muß Wache stehen bei meinem Geschlecht. Die Männer sagen alle dasselbe,
sie sprechen von Liebe und modulieren auf demselben Motiv und greinen
die Leier des Herzens ... Vielleicht tue ich dir Unrecht, vielleicht,
vielleicht ...?“ Auf einem Baumstumpf saß sie und preßte das Moos, und
die Berge grüßten von ferne. Sein Kopf lag in ihrem Schoß und sie haßte
die duckende Stellung. „Ich bin noch nicht klug,“ hob Jappes den Kopf
und verdrehte die glotzenden Augen. Pepy sah, daß die Ohren sich
spitzten, und sein wolliger Kopf lag in lockengespreizter Umrahmung.

„Es gibt eine Figur,“ hub Pepy nun an, „sie reizt mich immer zum Lachen:
Ein breites Gesicht, die Augen im Winkel, und zottige Locken zu Berge.
Golliwog! nennen’s die englischen Kinder.“

„Dann bin ich für dich nur ein Spielzeug, ein gemaltes und lachend
verzerrtes. Eine Skizze, ein hampelndes Männchen.“ Seine Augen lagen
schielend im Winkel. „Du bist mein Golliwog,“ kam es durch ihre
perlenden Zähne wie Emaille im roten Plüsche der Lippen.

Jappes im Echo: „Und du mein Rudibub.“

Dann waren sie lachend gegangen, triefend von Küssen. Tage kamen mit
Wandern und den Schauern der gierigen Nächte. Sie war kühl und dämpfte
die Glut der männlichen Sehnsucht. Fühlte, daß ihr Wesen eine Schwenkung
zur Freiheit machte, fühlte, daß der Mut zur Liebe wuchs, der Mut zur
leidenden Liebe. Der Dampf riß sie fort und die rollenden Räder. Jappes
nach Norden und Pepy nach Süden. In München wartete gähnend der
englische Schiffer, gähnend, als wollte er den Liebling verschlingen. So
war es gut, denn sein Herz bedurfte der Kühlung und Jappes dachte, sie
wird ihn schon kühlen.

Er schrieb ihr den Brief voll liebender Fülle, voll rasender Gier:

                                   Die Liebe kommt plötzlich wie ein
                                   Föhn und wütet in den stärksten
                                   Forsten, aber der Windbruch birgt
                                   viel Nutzholz.

Mein Rudibub! Montag ist’s wieder. Acht Tage sind’s her, seit der Zug
Dich entführte. Der Traum ist vorbei und die sonnigen Tage. Dein Name
kommt manchmal und klopft an mein Ohr – Rudibub. – Du Liebe, ich habe
Dich lieb. Vielleicht trübe ich Deine Freude, wenn ich Dir sage, daß
noch ein Mensch neben einem anderen ist. – Golliwog! – Einer, der um
Dich weiß. Von meinen Lippen tropft es: Ruth! – rollend – weich. Ich
höre Deine Stimme und in meinem Herzen ist ein Echo: – Rudibub! Die
Sehnsucht quält Jappes, die Sehnsucht an einen Traum. Und dehnt die
Zeit, die schrecklich tickende Zeit. Der Traum war Ruth. Fort bist Du
und hast einen Strich gemacht. Einen Strich hinter den Golliwog. Und
Golliwog verdreht die Augen: – Ruth! – Es ist ein Traum, ein weicher,
rollender Traum.

So war es schön.

Golliwog denkt an Tage voll Nähe und Liebe. Denkt an Nächte voll Schwüle
und Glück. An heiße Nächte und innige Nähe. Es springt über in ihm und
alles sammelt sich um Ruth. Er reicht ihr seinen Kuß. Schwester, wo bist
Du? Schwester meiner schwülen Nächte. Weißt Du noch etwas von meiner
Liebe? Weißt Du von meiner Sorge, als Du gingst. Ich denke an die blaue
Glut der Berge. Die Wege und Täler sind voll von Dir. Alles sagt mir,
Ruth war da, mein Rudibub. Sie war hüpfend wie ein Reh, und geschmeidig
wie eine Katze. Sie war Pepy zwei Tage und dann wurde sie lieb und trank
die fiebernde Nähe. Vier Tage war sie Rudibub – mit Tränen und Glück.
Golliwog gab ihr seine zitternde Liebe, und doch ging mein Rudibub. Die
Glut blieb und die Sehnsucht und die marternde Zeit.

Ein anderer pflückt die Blume ihrer Liebe. Golliwog wünscht, daß er sie
nicht nur zum Schmucke bricht. Pepy ist fort und Ruth ist mein Traum.
Die Kühle ging fort und in mir ist die Glut. Die Kleine ist da und sie
lacht. Ich sehe die Zähne, die Locken und bete – – –:

Ruth, mein Rudibub!

Grinsend rollt er die Augen

                                                        Dein Golliwog.

Jappes schämte sich fast, als er sah, daß ein junges Glück in seinem
Herzen zitterte.




                       EINUNDZWANZIGSTES KAPITEL


                                   Das Wesen einer typischen Tante
                                   ist Komik, und Komik ist immer
                                   etwas Ernstes.

Am Bubenbad in Stuttgart entdeckte Armida eine mütterliche Tante. Eine
schwäbische Schwäbin mit Runzeln im Blick und eine zierliche Zofe. Wie
eine Robbe war sie mit hängenden Armen und fettiger Schwarte. Ihr Kleid
von Kattun verdeckte die Trümmer der Ehe. Ihr bäuchiger Leib gemahnte an
das Kap der guten Hoffnung. Ihr treues Geleite war ein knurrender Mops,
der die Art der Möpse auf der Straße mit sachgemäßer Beschnüffelung
absolvierte. Ihr Blick war auf die Erde gerichtet, weil sie vom Himmel
nichts hoffte.

Armida nannte sie: Ida Telluren.

Sie war eine einsame Frau, die den Abend mit Patiencen verbrachte oder
im Gespräch mit der schleichenden Stille. Zwei Papageien hatten sich
unter ihren Liebkosungen zu Tode geschrien.

Papageien werden bei Tanten nicht alt, so dachte die gelenkige Nichte
Armida. Ihr Mann, der gesprenkelte Assessor, war hinter seiner Brille an
Gallenergüssen gestorben. Und die Witwe suchte den Schmerz im Gähnen der
Reisen zu töten. Sie war treu, obzwar noch viele die stramme Fülle
begehrten. Sie kannte die Lust der flaumigen Betten, die den Männern die
besten Sinne verwirren und sie kannte die eignen Pulse des Blutes. Bei
Tag war sie sicher vor dem Stachel des Satans. Nur die Nacht wob die
Besorgnis um das Pfand ihrer Treue. Ida Telluren war klug, denn sie
spürte sich noch nicht als vergöttertes Tantchen. Sie fand eine List,
die Männer vom Pfuhl ihrer Träume zu bannen: Im Hotel stellte sie neben
die zierlichen Hülsen der eigenen Füße ein Paar Stiefel aus derberem
Leder. So lebte sie abends im Gedanken an den seligen Mann; und draußen
hielten die Stiefel die Wache.

Die Jahre verspritzten die üppigen Formen und das Alter zeichnete die
Skizze der Tante. Die Nase quoll auf, und die Zähne entwichen. Die
Brüste schlotterten in fettiger Fülle. Wuchs der Geschmack für Kaffee,
für Schnäpse und Möpse. Ihr Wesen schrie auf: Nun werde ich zur Tante.
Der Ausgleich für ihr wackliges Tantengemüt bestand in der Liebe zur
jungfräulichen Nichte Armida. Mit verschlissenem Plaid, der Beute der
jagenden Reisen, spülte die Zeit sie hinunter nach dem schwäbelnden
Schwaben. Am Nesenbach lag ihre Kemenate und sie empfing nur gekrückte
Gestalten, die sie mit minniglicher Atzung von Tee und Kaffee und
Tantengebäck zu ermuntern suchte. Manchmal war Vollblut im Haus: die
niedliche Nichte Armida. Mit zierlichen Füßen küßte sie die Läufer der
Treppe. Dann wurde die Tante viel jünger, und geschwätzig floß ihr
Bächlein der Rede. Verließ die opalisierenden Schreier, mied den
gekniffenen Schwanz des Mopses und hielt das Kätzchen im Arme, die
weiche Armida.

Ihr Brevier waren die Räuber von Schiller. Sie wußte das Jahr, da sie
der junge medizinische Schiller in gefolterten Nächten bei grimmiger
Kälte geschrieben. Im Winter 1778/1779! – Die Finger rieb sie vor Kälte,
wenn sie des fröstelnden Jünglings gedachte. Mit heiliger Scheu ging sie
an der Solitude vorüber, wo das Große geboren worden war und starrte mit
geknicktem Genicke zu den lebendigen Gemälden der Decke. Hetsch und
Guibal und Heideloff hatten hier ihre Pinsel verewigt.

Ida Telluren liebte diluviale Gestalten. Sie selbst war ein Mammut aus
dem Diluvium der bräutlichen Schichte. Wisent und Ur bockten kämpfend im
Protz ihrer geräumigen Säle. An den Wänden spreizten sich die derben
Gerüste der knochigen Ichthyosaurier von kundiger Hand in Kohle
gehalten. In der Tantenstube ein Porträt von Victor Thaumatosaurus, aus
Holzmaden, der Jura-saurische Intimus von Ida Telluren. Knochen, nur
Knochen, denn Tante Telluren haßte das Fleisch. Im Staatsarchiv an der
Neckarstraße wohnten die betagten Skelette und Ida liebäugelte oft mit
den geognostischen Typen. Seufzend verließ sie den Saal, in Trauer über
die knochigen Riesen sinnend.

Tanten träumen seltsame Träume und Ida Telluren war Tante; auch Tante im
Traum: Sie sah schnäbelnde Ichthyosaurier auf einer Bank im
Mondenschein, _sie_ war so innig und ließ _ihn_ gewähren. Doch bald
befiel ihn die Lust nach südlicheren Früchten. Da erbebte die Tante und
schwitzte Besorgnis, hob die Hand und schrie zum Schutze der Unschuld.

Armida lag wachend und dachte: Der Schweiß einer Tante riecht seltsam!

Am Morgen ging Ida Telluren zu einem Traumatologen.




                       ZWEIUNDZWANZIGSTES KAPITEL


                                   Ein Ton in deiner Stimme sagt mir,
                                   daß dein Wesen Lüge ist.

Professor Günther war ein überflüssiges Möbel, obwohl er eine kluge
Glatze trug, wie einen Spiegel der Weisheit, in welchem der
Gelehrtendünkel und der Professorenwahnwitz jener verschrobenen Kaste
sich spiegelten. Er hatte den Tempel der Wissenschaft geplündert und
sich zum vielfachen Doktor gekrönt. Er wußte, daß er eine Potenz war.
Und das wurde sein Verhängnis, denn nichts ist schlimmer als das
Bewußtwerden der eigenen Größe.

Zwei Seelen wohnten in seiner Brust: im Privatleben die Seele eines
Schweines, im offiziellen Leben die Seele eines Berufspsychologen. Er
hatte eine Kurve seiner Gemütsbewegungen gezeichnet, kannte die Grade
der Verliebtheit von der errötenden Unberührten über das kanonische
Alter hinaus bis zum fast begierdelosen Weibe. Er hatte seine
Beobachtung nach empirischer Methode graphisch dargestellt, fand, daß
die Kurve bei der Frau aus dem Unendlichen kommt und bis zum
fünfundvierzigsten Jahre etwa mit regelmäßigen periodischen Schwankungen
parallel zur X-Achse verläuft und von da langsam abfallend mit
asymptotischer Annäherung an die Abszisse wieder ins Unendliche
überspringt. Beim Manne beginnt die Kurve im Pubertätspunkte, dessen
Abszisse das Alter, dessen Ordinate die Umgebung ist. Auch diese Kurve
hat einen konstant-flachen, aber schwankungslosen Verlauf, fällt indes
gegen siebzig Jahre steil ab. Die Flächen hatte er ausplanimetriert und
wußte alles zahlenmäßig auszudrücken. Für ihn galt die Zahl, die Nummer.
Jedes Gefühl hatte er in eine Formel gefaßt, die er für das einzelne
Individuum mit der Variablen des Temperaments multiplizierte. Nach ihm
war die Psychologie die Wissenschaft dessen, was man unter Seele
versteht.

Seine privaten Vorlesungen waren interessant, weil er seltsame
Widersprüche lehrte und dadurch das Staunen seines Auditoriums bis zur
Verblüffung steigerte, so daß er am Schlusse seines Vortrages mit
frenetischem Beifallstaumel hinausgetrampelt wurde. Der Einpauker
Günther bereitete im Gegensatz zur Universität die Studenten für die
praktische Seite des Doktor- und Staatsexamens vor. Jappes merkte sich
den Mann, und während dessen Sprechstunde stand er dem Seelenkundigen
gegenüber. Er platzte mit der Frage zur Tür hinein: „Ist Liebe ein
Affekt oder ein Instinkt?“

Professor Günther rollte seine mausgrauen Augen eine Weile musternd,
brachte die Glatze in Kampfstellung und kaute die Frage hervor: „Haben
Sie keine Visitenkarte?“ Jappes stand vor ihm mit eingeknicktem Fuß wie
ein Häuflein Elend. Von seinen Lippen schlotterte es demütig:
„Entschuldigen Sie, Herr Professor, ich bin immer etwas rasch und ich
war so geblendet von Ihrem Wissen, daß ich wie ein Falter in das
lockende Licht flatterte ...“ Hier überreichte er seine Visitenkarte:

                              Jappes Paul
                     cand. med. et. phil. et. cam.

                     Schlapphof              Baden

„Sie sind sehr vielseitig, Herr Kommilitone Jappes Paul vom Schlapphof.“

Eigentlich nur Vorder- und Rückseite, dachte Jappes, letztere, na ...
vielleicht würde der Herr Professor doch nicht von meinem Anerbieten
Gebrauch machen. Dann verschluckte ihn ein Klubsessel auf eine
einladende Handbewegung hin.

„Nun, Herr Kommilitone,“ spreizte sich Professor Günther vor Jappes, mit
lohender Zigarre und paffte einen wirbelnden Dunst an die Decke, –
„unterbreiten Sie mir Ihre Fragen, bitte!“ Hier machte er eine Geste mit
der Hand, als biete er einen Präsentierteller an: Bitte, bedienen Sie
sich!

„Meine Frage muß Ihnen doch lächerlich sein, Herr Professor, denn im
Vergleich zu den Studenten sind Sie ja unendlich klug und Sie vergessen
an einem Tage mehr, als unsereins in einem Jahre mühsam
zusammenstoppelt.“

Professor Günther lachte sich Grübchen und der Stolz perlte aus seiner
Stirne. Er wehrte mit der Hand ab. Jappes wiederholte: „Ist Liebe ein
Instinkt oder ein Affekt?“

Die Frage löste bei Professor Günther die strenge Sachlichkeit des
Gelehrten aus. Ein klassisches Räuspern leitete seine Erklärung ein:
„Entschieden, die Liebe ist ein Affekt. Eine heftige Gemütserregung mit
einer Reaktion auf den Körper. Jeder andere Bewußtseinsinhalt wird von
den Affekten hintangestellt. Die Vernunft ist ausgeschaltet, und unser
Handeln ist zwangsläufig und wir haben keine freie Ueberlegung, weder in
der Wahl noch in der Anwendung fester Grundsätze.“

„Wer liebt, ist also unvernünftig, unzurechnungsfähig,“ schlußfolgerte
Jappes, „es scheint doch eine Grenze zu geben, wo Affekte und Instinkte
zusammenlaufen. Der Instinkt ist doch die dauernde Disposition des
Nervensystems, den automatischen Ablauf einer komplizierten Handlung zu
bestimmen. Nach der Affektentheorie ist die Vernunft doch auch
ausgeschaltet und mithin wäre alles, was im Affekt geschieht, eine
automatische Handlung. Wir denken doch nichts dabei, wenn wir lieben, es
ist uns zur Selbstverständlichkeit geworden, wir beten das Ritual der
Liebe ohne den Glauben, automatisch. Die Liebe wäre also ein Instinkt
und kein Affekt?“

Professor Günther streckte die linke Hand vor, Daumen und Zeigefinger in
Schnabelstellung, die übrigen Finger gespreizt: „Distinguo! Wir
unterscheiden, Freund, zwischen objektiver Wahrnehmung und subjektiver
Empfindung. Denken Sie sich, Herr Kommilitone, zwei Liebende von einem
Dritten beobachtet.“

„Das wäre sehr unangenehm für alle drei,“ bemerkte Jappes.

Professor Günther verschluckte ein Lächeln: „Für den objektiven
Beobachter zweier Liebenden ist die Liebe unbedingt ein Affekt! ...“

Jappes entschuldigte eine Unterbrechung: „Es ist doch unmöglich eine
objektive Beobachtung über die Liebe anzustellen, weil unsere Instinkte
sich aus den einfachen Reaktionsvorgängen durch die äußeren Reize des
Geschauten entwickeln. Sind wir aber selbst verliebt, so entzieht sich
unsere Selbstanalyse der Kontrolle, weil durch den Affekt die freie
Ueberlegung ausgeschaltet ist!“

„Darauf wollte ich gerade zu sprechen kommen,“ bejahte der Psychologe,
„gerade das ist die Grenze, die Norm. Die platonische Liebe ist ein
Affekt, die praktische Liebe ist ein Instinkt: Entschuldigen Sie die
Frage, waren Sie schon verliebt?“

Und Jappes: „Platonisch noch nie, deshalb kam ich auf den Gedanken, die
Liebe sei kein Affekt.“ Und er dachte, er müsse mit Pepy darüber reden.

Jappes entschuldigte sich, er müsse gehen, er habe eine Verabredung mit
einer Freundin. Professor Günther drückte ihm die Hand: „Dann leben Sie
wohl, Herr Jappes Paul vom Schlapphof, und kommen Sie mal zu uns, unser
Haus steht Ihnen offen. Ihre Freundin können Sie mitbringen.“

Jappes entwich dankend dem Zigarrenqualm.




                       DREIUNDZWANZIGSTES KAPITEL


                                   Wenn ein Herr ein Tagebuch
                                   schreibt, will er etwas
                                   preisgeben. Wenn eine Dame ein
                                   Tagebuch schreibt, will sie etwas
                                   vertuschen.

„Ueber Nippsachen kann man immer etwas Spaßiges sagen,“ scharwenzelte
Jappes vor Armida; „heute siehst du aus wie eine Teepuppe. So weich und
flaumig und warm und duftig und prickelnd und ...“

„Zu Dummheiten bin ich heute nicht aufgelegt,“ fiel ihm Armida ins Wort,
„da, geh zur Bank und hole das Geld von Arco Calvandi.“ Sie gab ihm
einen Scheck. Er küßte ihre Hand und verließ ihr Zimmer.

Sie wohnte seit zehn Stunden in der Pension Ethos, ordnete ihre
Briefschaften, schrieb Forderungen, ihre Außenstände einzutreiben, bot
anderen große Summen zur Hilfeleistung an, ohne irgendwelche
Verpflichtungen. Redigierte ihr Tagebuch. Sie schrieb: Doktor Seraph,
ein verlorener Mensch, weil er seinen Beruf ernst nimmt, wohnt mit
seinem Schicksal zusammen, aber er gewöhnt sich nach und nach an die
Frau. Er freut sich, wenn ich komme und noch mehr, wenn ich gehe. Im
Grunde doch ein glücklicher Mann. In seiner Brautnacht wird er sicher zu
einem Sterbenden gehen. Heiraten sollte er nicht, denn er ist nicht fürs
Leben geschaffen. Der Tod hat ihm sein Siegel schon aufgedrückt: die
grauen, bohrenden Augen, der gramdurchsetzte Blick, das starre
Paragraphengesicht. Alles an ihm schreit Pflicht, Pflicht, Pflicht und
Dienst. Ein wertvoller Mensch, der uns zeigt, wie wir das Leben nicht
verleben sollen.

Es gibt zweierlei Gedanken: Gedanken, die wir denken und solche, die wir
schreiben oder sprechen. Korrupte Gesellschaft! Wir sitzen an einem
Tische, in feinster Umgebung, geschmackvoll präparierte junge Damen,
Schlangen im Blick, zischende Schlangen als Sinnbild des Geschlechts.
Sie kennen alle unsere Mängel und wissen unsere Vorzüge klug zu
verleugnen. Männer, außen Knigge und innen Canaille, legen ihre
geistreichelnde Unterhaltung ins Schaufenster und ihr Laden ist leer.
Trifft man sie oft, so merkt man den Staub auf den Ladenhütern. Ihre
Gefühle, die Ladenschwengel des Instinkts! Sagen garnierte
Liebenswürdigkeiten und denken die nacktesten Gedanken dabei. Kulissen
überall und Attrappen. Aber man macht mit, weil man vom Fach ist. Oh!
der Kitzel, sich hinter den Kulissen beobachtet zu wissen. Die Menschen
sind nur Zitate der Vergangenheit und stehen in den Gänsefüßchen der
Gegenwart. Taumelnde Gebärde ohne Kraft, Versteckspielen der Rede,
blinde Kuh der Gesellschaft. Das ist der Kitzel, daß man sich und die
anderen wissend betrügt! Der menschliche Geist ist ein Kolibri,
leuchtend-schillernd wie Changeant-Seide – kehrt man das Kolibri um,
dann ist es matt, schal, grau wie ein Zaunkönig, nur noch kleiner. Der
Mensch macht sich müde über sich nachzudenken. Das Leben eine große
Verdauungsübung, ein Fangballspiel mit den hüpfenden Tagen. – ––

Da war die Tinte zu Ende.

Ein roter Radler brachte einen Brief von Jappes:

„Sternchen,“ schrieb er, „zum Abendbrot mußt du auf meine gefräßige
Gegenwart verzichten. Ich weiß, Du entschuldigst mein Ausbleiben, denn
es gibt sogar Fälle, in denen Damen galant sein dürfen. Um zehn Uhr hole
ich Dich ab mit achtzig Prozent Sicherheit. Unterweilen sage ich Dir auf
Wiedersehen und wünsche Dir angenehme Empfindungen.“




                       VIERUNDZWANZIGSTES KAPITEL


                                   Ein literarischer Salon ist wie
                                   eine Kirche: Priester, die opfern,
                                   und Gläubige, die beten, aber es
                                   wird nicht immer richtig gesungen.

„Unser Roman geht weiter,“ sagte Armida zu Jappes und nahm das Geld in
Empfang, „betrage dich anständig, wir machen einen hohen Besuch.
Kommerzienrat Winterstein kennst du noch nicht? er ist unser Mann.“
Jappes hüpfte durchs Zimmer und lachte: „Kommerzienräte wollen gute
Manieren. Armida, rede mir nicht zu viel zu, sonst blamiere ich dich
durch sehr anständiges Betragen. Kommerzienräte können sich alles
leisten. Hast du ihm schon von mir erzählt?“

„Er weiß alles über dich, du darfst ganz Jappes sein.“

„Ich danke!“ und er reichte ihr den Arm.

Kommerzienrat Winterstein wohnte in einer Villa in Tempelhof. In
Geldsachen hatte er glänzende Erfahrungen gemacht. Er hatte eine
niedliche Tochter, ein Blaustrumpf in den begehrtesten Jahren. Seine
Villa war mit den Begierden seiner Frau möbliert, und obwohl Herr
Winterstein eine tiefdeutsche Gesinnung hatte, war alles im
Louis-XV-Stil gehalten. Wagen fuhren ein und aus. Lackierte Kutscher
lenkten die vernickelten Monturen durch das Parktor. Herr Kommerzienrat
Winterstein empfing die Gäste selbst: eine behäbige Lebhaftigkeit, der
man es auf eine Meile ansah, daß sie nicht so leicht aus dem Konzept zu
bringen war. Er war im Gesellschaftsanzug und einer Maréchal-Niel-Rose
erwies er die Ehre, in seinem Knopfloch duften zu dürfen.

„Unser neuer Freund Jappes,“ stellte Armida vor, Herr Winterstein
erstrahlte purpurn: „Sehr angenehm, dem Hause wird es eine Ehre sein,
den Freund Armidas zu Gaste zu haben.“ Neue Gäste kamen, und Jappes
sagte zu Armida: „Der Mann hat Gewicht, die Zähne sind schadhaft, aber
sein Mund ist eine Goldgrube. Das ist der erste Kommerzienrat, der mir
die Hand so angenehm geschüttelt hat.“

Dann schwammen sie im Strudel der Unterhaltung. Crêpe-de-Chine und Taft
und Tüll, strotzende, federnde Körper, Mädchen, die das erstemal in
Gesellschaft waren und die ihre fünf Sinne wie Antennen den Lockungen
und Reizen entgegenhielten: Kommt, wir sind reif und schmachtend!
Liebeblinzelnde Jungfern, die liebeblinzelnd in langjähriger Praxis im
gesellschaftlichen Verkehr auf der Suche nach dem Manne ihrer Wahl
waren, entschlossen, sich im Leben mit einem akademischen Grade zu
klassieren. Duft und perlende Weine. Frostige Matronen im Reif ihrer
Jahre frischten ihre Jugend wieder auf in der Retouche der
gesellschaftlichen Lüge: Ihre Reize: blitzende Geschmeide. Lachen, vor
dem Spiegel einstudiert, geglättet durch kluge Massage. Duftschwerer
Phlox in leuchtender Glut winkte von den Tischen. Die Männer in Smoking
und weißer Brustfläche – wie Silhouetten. Armida stellte Jappes vor:
jeder Gruppe anders, für die einen war er Kandidat Jappes, für die
anderen Medizinmensch, für dritte Publizist.

Armida sagte zu allen: „Das ist mein Freund!“ Jappes wurde in ein
Gespräch gezogen: „Sie sind Schriftsteller,“ sagte eine ältere Dame und
ein blendender Straußfächer kühlte ihre korpulenten Anstrengungen. „Man
hat uns gesagt, Sie sind auch so eine Art Dichter, eine Art Goethe oder
Hauptmann. Eine Ehre, mit Ihnen zusammen zu sein. Werden wir bald im
Theater etwas beklatschen können?“

„Die gnädigste Dame beklatscht jetzt schon tüchtig. Ich bin
Schriftsteller,“ hob Jappes mit leiser Ironie an, „ein Mensch, der allen
Geschmäckern gerecht zu werden sucht.“

„Sehr gut! Sehr gut!“ ging es durch die Gruppen.

„Wenn man dichtet,“ fuhr Jappes fort, „hat man gewöhnlich sehr viel
Allgemeines zu sagen. Die Schriftsteller, gnädigste Frau,“ wandte sich
Jappes zu der Dame, die ihn im Gespräch angezapft hatte, „die
Schriftsteller machen die Erfahrungen, die die anderen so gerne lesen.“

„Glänzend!“ sprühte ein gutgescheitelter Assessor, „der junge Mann hat
eine Zukunft. Wie machen Sie das eigentlich, die Gedanken so nach und
nach zu finden? jetzt muß ich schon dumm fragen.“

„Das Fragen bin ich schon gewöhnt; ein junger Dichter muß aufs
Interviewtwerden gefaßt sein. Aber das ist sehr einfach, ich trinke eine
Kanne Tee leer und melke die Muse.“

Der Assessor schüttelte sich vor Lachen: „Verwechseln Sie nicht manchmal
den Tee mit der Tinte?“

„Das ist ja weiter nicht schlimm,“ erwiderte Jappes, „solange das
Publikum nichts davon merkt.“

„Der Herr Assessor spricht Ihnen eine Zukunft zu,“ sagte die fächelnde
Dame, „mein Freund, der Herr Assessor, hat ein Auge für Größen.“

                                   Sogar sinnvolle Gedichte können
                                   verstanden werden.

Ein junger Klaviervirtuose spielte ein
triebhaft-schrankenlos-musikalisches Symbol und seine Akkorde fielen das
Ohr an wie eine kläffende Meute. Seine Gewalt hielt die Lippen in Bann
und die Ohren gefangen. Etwas Schreckhaft-Erotisches, etwas
Dunkel-Mystisches legte sich über die erhitzten Seelen.
Drängend-pulsierendes Leben schwebte durch den Saal, wie eine Narkose
nahm die Musik allmählich von den Sinnen Besitz, leise einschmeichelnd,
und als sie verklang, war es, als wolle der Zauber nicht weichen.

„Musik liebe ich nicht,“ sagte Jappes einer jungen Dame. „Wieso?!“
fragte das rosige Stimmchen, „Musik und Sekt ist das Schönste auf der
Welt und Cakes und Caesar Flaischlen!“

„Neben vielem anderen sind das Sachen für Damen. Backfische schwärmen
für platzend-prickelnde Sachen, für sacharinsüße Gedichte.“

„Machen Sie welche?“ fragte das Stimmchen.

„Ja!“

„Oh, bitte, bitte, bitte, erzählen Sie uns etwas von Ihren Gedichten,
das mag ich liebend gern.“

„Bedauere,“ darauf Jappes, „ich habe leider auch noch nichts davon
verstanden.“

„Das glaube ich,“ kicherte eine junge Fülle, „für das Geständnis müssen
Sie schon was hersagen.“ Sie drängten sich um Jappes, und im Tumult des
Saales sagte er ihnen vier Strophen:

   „Ein Hund vor meiner Tür
   und wedelt in die Nacht.
   Aus meiner Brust ein Laut, er lacht,
   ein Wächter meiner selbst, wie dieses Tier.

   Blume bebt im Mittagsfeld
   und trinkt von Sonne sich so voll und rot.
   Hoffnung, bang, durchzuckt die Welt
   – trinkt sich am Leben tot.

   Schöpfer spendet sprudelnd Licht,
   daß Seele dran sich labe;
   was störst du meine flüchtige Habe
   du neckisch kleiner Menschenwicht?

   Nicht zagen Muts! Taumel-wirr,
   trink auch vom roten Leben,
   trink dich am Leben irr
   und laß das Schicksal weben.“

„Das klingt so unverständlich, wie die Sachen von Stefan George,“
kicherte von neuem die junge Fülle, „all unsere jungen Dichter sind
Kanonenfutter für die Lyrik der Zukunft.“

Jappes: „Bei Stefan George ist nicht alles unverständlich. Wer
literarischen Takt hat, tut als ob er Modernes versteht. Die moderne
Richtung ist, unverständlich zu sein; denn alles was man verstehen kann,
ist schon gesagt. Es ist besser, etwas Unverständliches sagen, als das
Alte zu wiederholen, denn die Kunst kann nicht stille stehen.“

Fräulein Winterstein deutete ihre Ankunft durch ein elegisches Lächeln
an. Jappes grüßte sie sehr umständlich, obwohl er ihr schon vorgestellt
worden war: „Ich habe viel Ulkiges von Ihnen gehört,“ begann sie, „und
wünsche meine Ohren selber auf die Weide zu führen. Wie gefällt Ihnen
unser musischer Kreis? Lauter gebildete Menschen, gelt?“

Jappes machte eine Verbeugung: „Lauter Menschen, die den Anschein haben,
sehr gebildet sein zu wollen. Man spricht von Hölderlin-Bestrebungen,
vom Tempo eines Kasimir Edschmid, vom Sinne-kitzelnden Hanns Heinz Ewers
... Ueberall gelehrtes Gegacker; man kann sich hier allen Schliff holen,
den man sich im Lesesalon aneignen sollte. Und vor allem die
Interpretation der Bücher, sehr interessant, hochinteressant! Die Damen
haben direkt einen Flair für das Schöne.“

„Sie sind wohl auch einer von den Modernen, ein Skribifax, der allerlei
Industriewaren auf den Olymp schmuggelt und sich die lachende Gage des
Publikums erkitzelt? Unsere heutigen Schriftsteller sind alle ein
bißchen – – hm! wie soll ich sagen ...?“

„Geniale Schweine!“ ergänzte Jappes.

Das Fräulein lachte: „Wenn Sie es selbst sagen, ja! Man erkennt das Vieh
am Grunzen, aber es hat unsere ganze Sympathie, wenn es geschmackvoll
zubereitet ist.“ „Mit ein paar Trüffeln des Witzes,“ lachte Jappes.

Fräulein Winterstein: „Aber die Kritiker haben keinen richtigen
Anhaltpunkt, weil dem modernen Zeug so schwer beizukommen ist.“

„Die Schriftsteller schreiben manchmal absichtlich Blödsinn, um die
Kritiker auch zu inspirieren.“ Da wandte sich Jappes zu Herrn
Winterstein, um ihn zu begrüßen, lächelnd wie eine Putte war er
hinzugetreten. „Na,“ drückte er behäbig hervor, „interessante
Unterhaltung, was? Hoher Ton?“

„Wir haben über die Frauen geredet, Herr Kommerzienrat,“ sagte Jappes.
„Wenn einem das Thema ausgeht, kann man immer noch etwas über die Frau
sagen.“

„Interessantes Thema,“ bemerkte Herr Winterstein, „unerschöpflich!“

Frau Winterstein begrüßte ihre Gäste in wallender Abendtoilette. Wie
eine Göttin schwebte sie durch den ätherischen Tabaksqualm. Herr
Kommerzienrat nahm die Gelegenheit des Erscheinens seiner Frau wahr, um
sich auf französisch zu empfehlen und Jappes notierte, daß man sein
Verschwinden weder bedauerte, noch Herrn Kommerzienrat vermißte. Die
Unterhaltung war bis zu dem Punkte gediehen, wo es für Frauen
unterhaltend ist, zuzuhören. Frauen hören immer gern, daß irgendein
kleiner Dämon in ihnen steckt. Jappes traf mit dem Klaviervirtuosen
zusammen, dessen ganze Ausdrucksmöglichkeit auf die Noten konzentriert
war. Man sah ihm an, daß er es vorzog, nur von hinten angesehen zu
werden, wenn er im Reich der Töne phantasierte.

„Sie kennen sicher Schrekers Oper ‚Ferner Klang‘,“ bekräftigte Jappes.
„Gerade das Ueberspannte daran ist es, was einen reizt. Das Urgewaltige,
das Zischende und Brodelnde. Es sind nicht Töne für jedermanns Ohr. Die
neuen Sachen sind gottlob noch nicht zur klassischen Alltagskartoffel
geworden. Sie verstehen es, Noten zu lesen? Den wenigsten ist das
gegeben, und Sie wissen, Ihre Gefühle in Tönen auszudrücken.“

Der Musiker stellte eine dankende Ueberlegung an und sprach mit leiser,
vibrierender Stimme: „Fr–r–anz Schr–r–r–eker–r–r!“ Er rollte die R sehr
ausdrucksvoll. „Ueber Schreker bin ich hinaus. Ich wünsche russische
Musik. Das Neueste in Farbenvisionen. Rußland ist mein Traum. Die
verborgene Seele mit ihren phosphoreszierenden Gefühlen. Scrjabin kennen
Sie wohl nicht? Nein, er ist zu rezent, sein Prometheus?“

„Von den Russen kenne ich keine Tonwerke,“ gab Jappes zu, und fragend:
„ist es ein expressionistischer Künstler?“

„Vielleicht Wagner im Expressionismus, dieselbe Utopie, nur daß er auf
dem Realismus des Wahnsinns aufbaut. Das ist das Große, daß Scrjabin uns
aus der Sphäre unserer Bewußtseinsvorgänge reißt und es versteht, durch
ein paar Zaubertakte die musikalischen Lichtwirbel wieder zu dämpfen.“

Jappes fragend: „Das ist ja etwas wie telepathische Musik?!“ Der
Virtuose: „Nein, tatsächlich, Sie spaßen wohl? Die Russen gebrauchen zur
Aufführung der Symphonie ein Farben-Lichtklavier, das die opalisierenden
Tonwellen mit entsprechenden Lichtwellen illustriert. Sie sehen und
hören die Musik. Die Themata sind nach Farben gruppiert, Zinnober-Takte,
Karmoisin, Preußischblau, kurz Farben, alle Farben, Farben-Symphonien.
Sie kennen Kandinsky vielleicht?“ „Habe nicht die Ehre,“ sagte Jappes.

„Er ist ein Künstler,“ tönte der Virtuose, „und arbeitet auch auf dem
Gebiet der symphonischen Farben-Akustik. Er würde sicher durchdringen,
wenn die Kritiker ihn nicht so scharf anfahren würden und wenn er von
der Sache überzeugt wäre.“

„Das ist es, die Ueberzeugung, die Ueberzeugung,“ rief Jappes. „Das
elfte Gebot, du sollst überzeugt sein! Nicht wahr, gnädiges Fräulein?“
redete er Fräulein Flavia Winterstein an, die Nichte des Kommerzienrates
– die Tochter hieß Henny – „nicht wahr, gnädiges Fräulein, die Musik war
entzückend heute abend?“

„Wenn Sie es sagen, ist es ein großes Kompliment für Herrn Berendtsen.“
Der Künstler stellte sich vor und entschuldigte sich, daß er es bis
jetzt übersehen hatte: „Der Name tut nichts zur Sache,“ tröstete Jappes
den Virtuosen, „und Vergeßlichkeit ist ein Zeichen von Genie, denken Sie
an Beethoven.“

                                   Wer feine Finger hat, kann sogar
                                   mit einem Schmetterling spielen.

In einer Nische ließ er sich mit Fräulein Flavia nieder. „Ich will mich
ein wenig an Ihrer reizenden Gegenwart entzücken,“ komplimentierte
Jappes. „Sie sind mir den ganzen Abend aufgefallen durch Ihre
schmiegsame Art. Ihrem Verlobten kann man zu seiner glücklichen Wahl
gratulieren,“ fuhr er fort und zeigte auf ihren Verlobungsring.

„Oh, Sie Schmeichler!“ wehrte sie errötend.

„Gut, wenn Sie wollen, jedes Kompliment ist eine Schmeichelei. Ich sage,
die Venus von Milo ist schön, die Putten des Perugino sind entzückend,
die raffaelschen Engel sind himmlisch. Das sind alles Schmeicheleien.
Aber sie treffen die Sache. Es wäre eine doppelte Taktlosigkeit, Ihnen
zu sagen: Gnädiges Fräulein, Sie sind häßlich, erstens weil Sie es nicht
sind, und zweitens, weil Sie hübsch sind.“

„Sie sind ein Dämon,“ wehrte die dankend Geschmeichelte.

„Glauben Sie an das Dämonische im Menschen? gnädiges Fräulein, dann
waren Sie wirklich nie Backfisch!“

„Ich glaube an das Dämonische im Menschen,“ wiederholte sie.

Der Virtuose saß mit verschränkten Beinen auf einem Polster. Seine
Lackstiefel umarmten blaue Seidenstrümpfe. Jappes bemerkte: „Vielleicht
gibt es blaue Seidenstrumpftakte in der Musik?“

Flavia: „Seidenstrümpfe sind bei Herren geschmacklos.“

„Ich möchte sie nicht auf den Geschmack prüfen, nicht einmal bei Damen.“

„O Sie.“

Jappes schnalzte mit den Fingern: „So ein Luder von Virtuose redete mir
heute abend von spiritistischen Klopflauten, die er in der Nacht gehört
haben will, eine ganze Oper wurde geklopft, ganz hinreißend, sagte er.
Als er Licht anmachte und die Takte nachschreiben wollte, war der Spuk
zu Ende. Die Künstler leiden eigentlich immer an Halluzinationen.“

„O Sie! ...“ entfuhr es Flavia, „Sie sind ja selbst Künstler.“

Jappes: „Weshalb erklären Sie mich für halluzinatorisch? Ich lehne die
Künstlerschaft ab. In ihrer Jugend haben die Künstler irgendeine
Halluzination gehabt, und das ganze Leben suchen sie nach dem Inhalt und
der Gestaltung und sterben mit einer großen Enttäuschung. Die blaue
Blume der Romantik war nichts anders als der blaue Dunst einer
poetisch-ungereimten Halluzination, welche die Dichter in Reime zu
fassen suchten. Und das bläuliche Phosphoreszieren unserer Tage, die
ultravioletten Strahlen, alles blau, blau, blauer Dunst!“ Die Dame hatte
den Faden verloren ... „Die weiße Tür verletzt mein ästhetisches
Gefühl,“ lenkte sie ab, und zeigte auf eine Doppeltür in der rosa
Stofftapete. „Man müßte sich erkundigen, was hinter der Tür ist, und sie
dann öffnen lassen,“ sagte Jappes, aber da erschien Frau Kommerzienrat.

„Wünsche angenehme Unterhaltung,“ nickte sie gönnerhaft. „Das
Arrangement ist sehr geschmackvoll,“ lobte Flavia. „Sie müssen sich
verheiraten, Herr Jappes,“ ermunterte Frau Winterstein, „dann wird Ihre
Frau Ihnen auch solche geschmackvolle Abende bereiten.“

„Ich weiß nicht, ob meine Frau soviel Geschmack hätte!“

„Na, na, na, Sie Schmeichler,“ drohte Frau Kommerzienrat mit dem
funkelnden Finger. In einer Vase stand Flieder. Jappes nahm ein
Sträußchen: „Bitte, gnädiges Fräulein, lila-blaß-blau. Nehmen Sie den
romantischen Gruß.“ Verschüchtert wehrte sie: „Ach, ich danke Ihnen, ich
danke Ihnen wirklich, im Garten haben wir selbst Flieder. Wirklich, Herr
Jappes, wirklich.“ Sie entschwebte und lief einem verstört-besorgten
Verlobten in die Arme.

Armida traf auf ihrer Runde auf Jappes. Sie reichte ihm einen großen
amethystfarbenen Kußring: „Mein Freund, wie verbringst du den Abend?“

„Gut, danke, Freundin, sehr gut, ich füttere die Gänse.“




                       FÜNFUNDZWANZIGSTES KAPITEL


                                   Wer die Dämonologie studieren
                                   will, sollte mit der Frau
                                   beginnen, und – mit der Frau
                                   aufhören.

Mit dem Nachtschnellzug fuhr Jappes nach München. Er wollte Pepy sehen
und Professor Günther einen Besuch abstatten. Armida fuhr zu ihrer Tante
nach Stuttgart und stieg in Nürnberg um. Pepy erwartete Jappes am
Bahnhof: „Nett, daß du gekommen bist,“ empfing sie ihn. Jappes küßte sie
auf die Stirne: „Eine halbe Stunde Verspätung nach Bamberg und doch
fahrplanmäßig angekommen. Darf man sich erkundigen, wie es dir geht,
mein Rudibub?“ Pepy lachte: „Du bist der alte Golliwog, uns scheint es
beiden sehr gut zu gehen.“

Der Autokutscher der Vier Jahreszeiten nahm sein Gepäck und öffnete den
Droschkenschlag. „Ach, wir laufen das Stück,“ dankte Jappes und schmiß
ihm ein Trinkgeld. „Du siehst ja glänzend aus, mein Golliwog, und hast
Abenteuer erlebt, du mußt erzählen, o bitte, bitte!“ Jappes zog Pepy ins
Café Arkadia, und in zwei Plüschsesseln saßen sie vor ihrem Tee. „Wenn
du artig bist, erzähle ich dir von meiner Freundin Armida.“ Pepy setzte
sich in horchende Stellung: „Ich werde sehr artig sein.“ Und Jappes
erzählte:

„Armida ist ein Staatsweib. Kann alles, was die andern nicht können. Ist
Wassermädel und Putzmacherin. Reitet das feurigste Berberroß bei Busch
im Zirkus, trinkt wie drei Polen, frisiert sich à la vireloque und
improvisiert die ulkigsten Couplets. Lenkt selbst den Phaethon und frißt
die Entfernungen im Auto. Sie muß immer führen, immer eine Leistung,
wenn sie etwas beginnt und alles gelingt ihr. Hat sicher ein Bündnis mit
dem Teufel. Und Menschen kennt sie, kennt alle. Die Schuhwichser am
Anhalter Bahnhof, die Maquereaux der Motzstraße, Zeitungsfrauen und
Lohnkutscher, Ministerialbeamte, Räte, geheime und wirkliche und
Kommerzienräte. Hat tausend Engagements, sagt zu und schreibt im letzten
Moment ab. Wird immer wieder vorgemerkt. Ist überall Amateur und überall
erste Geige. Kann keine Frau ausstehen und tritt am schroffsten für die
Forderungen in der Frauenbewegung ein. Sie ist eine Maschine, man
braucht sie nur auf das Gewünschte umzuschalten. Weiß Geld zu machen aus
ihren Freunden, so daß die Geschröpften es noch angenehm empfinden. Das
ist die Kunst unserer Tage! Wohnt im Edenhotel, wo nur Nietzscheaner
Absteigequartier haben, und wohnt in den Spelunken an der Spree, wo ihre
Antipoden hausen. Hat tausend Pläne und führt sie alle aus. Ehe ich
wegfuhr, hat sie geäußert, sie wolle ein Asyl für heimlich Liebende
gründen.“

Und Pepy: „Das Unternehmen wird Erfolg haben, ein pfiffiger Gedanke!“

„Eine Aktiengesellschaft mit beschränkter Haftung, alle Zahlungen im
bargeldlosen Verkehr. Eine Größe im Film, spielt Charakter- und
Titelrollen, spielt die Rollen der entsagenden Liebe und der
hingebungsvollen Brunst. Hauptdarstellerin in den Oden von Horaz. Erste
Pantomime. Ihr neuestes Projekt im Film: Homer. Spielt alle Heldenrollen
und es gibt nur Helden in der Ilias und in der Odyssee. Alles aktive
Rollen, nur die passive Rolle des hölzernen Pferdes liegt ihr nicht.
Sino, dem man die Ohren abschneidet, will sie tragieren. Sie ist
imstande, sich die Ohren abschneiden zu lassen, um die Rolle naturgetreu
wiedergeben zu können. Bei Gott, es wäre schade, sie hat so schöne
Ohren!“

„Und wohin würde man ihr die Ohrringe hängen?“ Pepy lachte ihn aus.

„Oh, das ist das wenigste, dafür fände sie einen Ausweg. Und ein
seelenguter Mensch ist sie dazu, schleppt ganze Bündel Wäsche in die
armseligsten Baracken, kauft Nestles Kindermehl und füttert die junge
Brut, kocht es auf und pflegt die Wöchnerinnen, beglückwünscht den
Vater; kauft ihm eine Flasche Schnaps, macht ihn hagelvoll besoffen,
freut sich königlich an seinen wackligen Gebärden und bändigt die
gröbsten Wüteriche, wenn der Alkohol sie zu sehr reizt. In der
Havelgasse habe ich eine rührende Szene mit Armida erlebt: Eine Frau war
niedergekommen und war eines putzigen Knäbleins genesen. Der Vater stand
weinend am Bett und weinte wie Magdalena, weil es keine Zwillinge waren.
Armida vertröstete ihn so liebevoll auf das nächste Mal, daß der
Tränenquell versiegte.“

„Jappes,“ sagte Pepy, „du tust einen Griff ins Lateinische?“

„Auf Ehre, nein,“ schwor Jappes, „beim Nabel des Buddha, ich rede wahr.
Ein seltsames Weib ohne Schlaf und ohne Rast. Die Nächte pflegt sie die
Kranken. Leert die Urinflaschen und Spucknäpfe, führt die Kranken zu
Stuhl, reicht ihnen Medizin und Essen und wischt sie sauber vom Schleim
des Erbrechens. Säubert vom blutigen Gerinnsel mit Eiter vermengt, macht
Kompressen und legt Eisbeutel auf. Kühlt den Phantasierenden die heiße
Stirne und tröstet die Sterbenden in der Agonie.“

„Bist du begeistert von ihr,“ fragte Pepy, „willst du sie heiraten?“

„Sie heiratet nicht,“ beschwichtigte Jappes. „Sie ist keine Frau. Sie
hat keine Nerven. Tee trinkt sie die Masse und Kaffee und Wein. Raucht
spanische Zigarillos und ägyptische Zigaretten. Ohne Wirkung! Sie hat
mir gesagt, nur ein Inkubus könne sie befruchten, ein Inkubus mit kaltem
Samen.“

„Sie wird dein Verhängnis sein,“ warf Pepy dazwischen.

„Aber sie liebt das Leben, den Taumel, die Lust. Zersetzt und zerstäubt
und wer sie liebt, den zieht sie in den Abgrund. Ich sage dir, Pepy,
eine seltsame Frau. Beim Bakkarat hat sie eine fünfstellige Zahl
verloren. An einen jüdischen Grafen. Hat ihr Scheckbuch verspielt und
einen Kreditbrief dazu. Ohne Mucks hat sie alles hergegeben und ging
lächelnd vom Tisch, fragte den Grafen beglückwünschend nach seiner
Adresse und lud ihn ein für den Abend: ‚Wir machen einen
Mitternachtspoker, wenn die Gespenster tanzen, Sie kommen! – Ja? Ich
erwarte Sie!‘ Sie hing an meinem Arm und machte die tollsten Zicken.
Verabschiedete mich und klingelte mich um drei in der Nacht aus dem
Schlaf: ‚Meine Requisiten habe ich wieder.‘ Und sie zeigte das Geld, die
Schecks und den Brief. So ist meine Freundin. Pepy, wir brechen noch
einer Flasche den Hals.“

Sie tranken auf die Freundin Armida.




                      SECHSUNDZWANZIGSTES KAPITEL


                                   Es gibt drastische Wahrheiten, die
                                   wie Lügen klingen, aber viel
                                   gefährlicher sind.

Professor Günther stak in einer grauen Litewka mit braunen Kordeln. Ohne
die Lorbeeren am Kragen hätte er wie ein Husar ausgesehen. Saß in seiner
Bibliothek vor einem Stoß Manuskripte und rauchte aus einer aromatischen
Ruhla. Ein russisches Windspiel lag auf einem Bärenpelzfetzen neben dem
Spucknapf. Jappes hatte sich telephonisch angemeldet: Wenn es Herrn
Professor genehm sei, komme er auf einen Sprung vorbei, ob es nicht
störe, wenn die Freundin mitkomme? Im Gegenteil, hatte der Professor
verbindlich gesagt. Kommen Sie ungeniert. Auf Wiedersehen! Jappes und
Pepy wurden mit lebhafter Höflichkeit empfangen.

Es wurde Tee serviert und Frau Professor dazu. Ein schmuddeliges
Weibchen, das ihrem Manne alles mit talmudistischer Ueberzeugungstreue
glaubte und manch verworrene Ehekonflikte auf die unverständliche
Gelehrsamkeit ihres Mannes zurückzuführen gewußt hatte. Sie hatte sich
schon vom Leben zurückgezogen, weil alle ihre Wünsche erfüllt waren.
Einen berühmten Gatten, einen berühmten Sohn und eine geordnete
Häuslichkeit. Sicher war dieses ausgeglichene Wesen ein Werk des
Psychologen. Frau Günther hatte sich in ihren Betrachtungen eingekapselt
und lebte ihren Gedanken: von der Außenwelt um ihr Glück beneidet zu
werden. Ohne Bedürfnis nach fremden Männern, fand sie keine Worte für
Jappes außer den zeremoniellen Begrüßungsformeln:

„Wir haben allerliebste kleine Hunderl,“ platzte sie heraus, „ich liebe
sie so sehr. Vielleicht hat gnädiges Fräulein Lust, die zappelnden
Dingerchen zu sehen.“ Pepy warf Jappes einen fragenden Blick hin. Er
kniff die Augen zu und schürzte die Lippen: Geh halt mit der Frau! Pepy
und Frau Günther gingen zur Hundeschau.

„Die Frauen sind seltsame Dinge,“ begann der Professor. „Sie haben immer
ein Steckenpferd und es ist das Glück der Männer, wenn sie sich sehr
früh von ihnen abwenden: Der Instinkt vertritt bei ihnen den Geist und
immer zum Vorteil der Frau.“

„Das könnte ich nicht gerade behaupten,“ sagte Jappes, um nicht zu
schweigen. Und Professor Günther: „Wieso?“

Jappes: „Ich weiß auch nicht. Ich meine nur so.“

„Es gibt nur einen Glauben, das ist die Erfahrung. Glauben Sie mir,
Freund, die Frau ist nicht mehr als ein Prinzip, eine Idee, das Prinzip
der Zeugung, mehr strebt das Weib im Leben nicht an. Alles in der Frau
ist Liebe und was dazu führen kann.“

„Das ist doch weiter nicht schlimm oder ...?“

„Bewahre, bewahre,“ fuhr Professor Günther fort, „wenn der Auerhahn
balzt, versteckt er den Kopf. Er balzt nur in der Brunstzeit. Die Natur
hat ein Exempel statuiert. Sie will zeigen, wie die Liebe das blinde
Prinzip ist, das Lichtscheue.“

„Auch der Strauß versteckt seinen Kopf in den Wüstensand,“ warf Jappes
ein, „wenn er verfolgt wird, aber aus purer Furcht.“

„Liebe und Furcht ist dasselbe,“ lachte der Professor, „sehen Sie,
Freund, wenn das Mädchen verliebt ist, fürchtet es, keinen Mann zu
finden und findet es einen, so fürchtet es, ihn zu verlieren – von
anderer Furcht nicht einmal zu reden. Ergo, Liebe ist dasselbe wie
Furcht. Quod erat demonstrandum!“

„Die Ableitung ist sehr gut, eine akademische Form. Sicher und logisch,
aber das Weib muß sich doch seines Wertes auch bewußt sein, weil es mit
den Männern spielt. Im Flirt, dem spezifisch-weiblichen Attribut, ist
von der ‚lieblichen Blindheit‘ verdammt wenig dran.“

„Freund, Sie sehen etwas, aber nichts Genaues. Ich erkläre Ihnen den
Vorgang. Um banal zu sein: Der Flirt beruht auf Gegenseitigkeit.
Verstehen Sie mich recht! Sie haben eine Dame gefunden und wünschen ihre
Bekanntschaft zu machen. – Ich spreche Ihnen soviel Geschmack zu, daß
ich annehmen darf, die Dame hat noch viele andere Freunde. – Wenn Sie
der Dame den Hof machen, fühlt sie sich geschmeichelt und hat sie auch
Sympathie für Sie, so entwickelt sich der Flirt. Aus Courtoisie gegen
die Dame geben die Männer gesellschaftlich zu: der Flirt gehe von den
Damen aus. Unter uns gesagt, Freund Jappes, die Sachen liegen doch nicht
gar so pantoffelartig für uns. Wir sind scheinbar die Mucker und
Duckmäuser und doch führen wir die Frauen am Narrenseil!“

„Oh, das tu ich nicht und glaube nicht, daß man es tun kann mit
selbständigen Frauen.“

„Alle Frauen sind abhängig,“ sagte der Professor gereizt, „und
diejenigen, welche sich einbilden, am unabhängigsten zu sein, sind
gerade die Unselbständigsten. Noch ein Wort, mein Freund, was bei den
Frauen Koketterie ist, das ist es, womit wir spielen. Wir spielen also
mit dem Wesen der Frau, weil jede Frau kokett ist und mit sich spielen
läßt.“

„Das ist ein Sophismus,“ betonte Jappes, „meine Auffassung vom Wesen der
Frau ist grundverschieden. Ich denke, die Frau ist das, was den Mann
ergänzt und um so tiefer ergänzt, je unbewußter die Frau ist.“

„Wahr, wahr, Freund Jappes,“ beeilte sich der Professor zuzugestehen,
„sehr wahr für schlappe Pantoffelritter, für Lappschwänze, aber für
ganze Männer, nein. Die Frau ist da nur eine Begleiterscheinung der
Größe eines Mannes, der Nebel, der den Kometen begleitet. Ein astroides
Nebulargebilde.“ Dazu lachte er, daß das Zimmer wackelte. – „Sprechen
wir praktisch. Wir renommieren soviel mit den Frauen, die wir uns kirre
gemacht haben, wie es die Frauen tun, die uns den Kopf verdreht haben.“

„Eine Frau wird mehr umworben als ein Mann,“ stellte Jappes die
Antithese.

„Pflichte Ihnen nicht bei, Herr Jappes,“ sagte der Professor wichtig,
„nach der Ueberlieferung ist die Liebe beim Mann und bei der Frau eine
Parallelerscheinung. Der okkulte Kult der Aegypter erzählt, daß Osiris
und Isis sich schon im Mutterleibe geliebt haben. Die Aegypter haben uns
wichtige Papyri über die Frauen hinterlassen. Sicher ist, daß die Liebe
ein einträgliches Geschäft war. Einträglicher wie zu unserer Zeit, was
doch beweist, daß die Frau wirtschaftlich bedeutend gesunken ist.“

„Die Anspielung verstehe ich nicht,“ entgegnete Jappes nachdenklich. Und
Professor Günther belehrte ihn: „Als Cheops seine Pyramiden baute,
geriet er in Geldverlegenheit und um ihr abzuhelfen, gab er seine
Tochter den Edlen seines Hofes preis.“ – Und lächelnd fügte er bei –
„Die Prinzessin fand soviel Geschmack an der Erbauung der Pyramiden, daß
sie sich selbst eine Pyramide errichten ließ, alles von ihrem eigenen
Gelde.“

„Sie wollen daraus die Werterniedrigung der Frau ableiten, ich bin eher
der Ansicht, daß die Männer zur Zeit der Pyramide des Cheops noch nicht
so ausgepowert waren wie heute.“

„Wenn Sie Ihre Bemerkung nicht ernst auffassen, verzeihe ich Ihnen die
Wortklauberei recht gerne. Die Welt wäre längst mit den Gestirnen in
Kollision geraten, hätten nicht Kepler und Newton und Laplace und die
anderen siderischen Lokomotivführer ihre Bahnen und die Wege der
Gestirne erkannt. Da finden Sie keine Frau. Keine Erfindung segelt unter
der Flagge der Frau. Ueberall ist der Mann das Agens, die treibende
Kraft. Nennt man heute den Namen einer Frau, dann ist es immer im
Zusammenhang mit einem großen männlichen Namen.“

„Der Frau spricht man doch die Erfindung der Sünde zu, und all den
hysterischen Zappelfritzen der Geschichte hätte man kein Kind bis zur
Geburt anvertrauen können. Die Frau hat die Geduld, ein Kind zu gebären
und sie würde es vielleicht noch länger als dreiviertel Jahr verborgen
halten, wenn der Vorwitz danach bei ihr nicht so groß wäre. Das Monopol
der Menschenerneuerung wollen Sie der Frau doch nicht absprechen? Die
Frauen sind zu bescheiden, um den Ruhm für sich zu nehmen, deshalb
setzen sie ihre Trabanten in die Welt, ihre geistigen Kulis, die
Erfindungen zu machen und die Wissenschaften zu fördern. Jeder Gelehrte
hat sein Leben von einer Frau geschenkt bekommen, und die Arbeit eines
jeden Mannes ist Dienst zur Ehre des Weibes.“

Professor Günther wehrte mit der Hand ab. „Versuchskarnickel sind die
Weiber, glauben Sie meiner Erfahrung, mein Freund, Versuchskarnickel!“

                                   Die Gesellschaft ist ein
                                   Fünfuhrtee. Es wird leider meist
                                   Aufguß serviert.

Frau Professor und Pepy erschienen mit einem Körbchen junger, wippender
Boxerhündchen. Das Windspiel heulte auf und schlug Alarm, weil es sich
in seiner Hundeliebe zurückgesetzt fühlte. Frau Professor nahm es in
ihren Schoß und tröstete es über die Eifersucht auf die jungen Hunde.
Das Windspiel hatte einen russischen Namen: Duschitschko-Seelchen.
Professor Günther, dem das Winseln verhaßt war, klingelte dem
Zimmermädchen: „Bringen Sie den Hund Gassi-gassi, er möchte nach dem
Wetter sehen.“ Frau Günther hob ein zitterndes Hündchen aus dem Korb,
führte es mit einem jähen Ruck an die Lippen und knutschte es ab,
spielte Fangball damit und nannte es Mollchen, Knäuelchen, Bubele. Der
Herr Professor gab Aufschluß über die Eigenarten des deutschen
Boxerhundes und die Frau wandte sich stolz an Pepy: „Mein Gemahl kennt
sich aus in der Hundezucht.“

„Der Tee wird kalt, Mutter,“ beeilte sich Herr Professor Günther
einzuschenken. „Belieben gnädiges Fräulein Rum oder Zitrone?“

„Danke, Herr Professor, ich erlaube mir ein Stückchen Zucker und etwas
Milch.“ „Wie gnädiges Fräulein belieben!“ Und er reichte ihr das
Gewünschte. Frau Günther reichte eine Dose mit petits fours und biscuits
de Reims. Herr Günther servierte Himbeergelee: „Das Süße den Süßen,“
fügte er liebenswürdig und kavaliermäßig lächelnd hinzu. Er bediente
Pepy und seine Frau – die Mutter.

Pepy sprach sich belobigend über die tadellose Einrichtung aus. Frau
Günther nannte die Preise der einzelnen Möbel, nannte einen
übertriebenen Preis für den gemusterten Smyrnateppich und fand ihn
lächerlich billig für so ein Prachtstück. „Schöngeister“ – und sie
zeigte auf Professor Günther, „brauchen eine luxuriöse Umgebung, das
weckt die kühnsten Gedanken.“

Der Tee war alle und die Uhr ging auf zwölf. „Der Uhr geht die Zeit aus,
und wir möchten uns heute noch verabschieden,“ sagte Jappes. Frau
Günther geleitete die Gäste bis zur Tür: „Gelt, Fräulein Pepy, Sie
schauen mal nach den Hündchen.“ Pepy versprach zu kommen.

Dann traten sie in die Nacht.

                                   Vom Salon bis zur Küche ist oft
                                   nur ein Schritt.

„Eine liebe Frau,“ sagte Pepy, „ein glückliches Verhältnis, die zwei.“

„Sehr anständige Menschen,“ bemerkte Jappes, „die einem nicht sagen, daß
man überflüssig ist. Aber es ist schön, die Rolle des Geduldetwerdens zu
spielen.“

„Die Leute sind riesig nett,“ und Pepy hängte sich in Jappes’ Arm, „er
ist ein entzückend liebenswürdiger Mensch. Siehst du, wenn du den
Professor vom Katheder los machst, ist er auch ein Mensch ...!“

„Zu Hause ein Mordsvieh,“ unterbrach Jappes, „gewiß, aber immer noch
furchtbar klug und sehr beschränkt. Mag sein, daß ich Vorurteile habe,
für mich ist es eine Gesellschaft, die den Tee im Salon serviert, die
Schwarte vom Schinken und die Rinde vom Käse herunterschneidet – sie
aber in der Küche auffrißt, wenn der Besuch gegangen ist.“ Pepy zwickte
Jappes in den Arm: „Jappes, du bist ein Kerl. Wie kommst du auf einmal
auf den Gedanken? Mit dir kann man nicht reden. Sie waren doch sehr
aufmerksam gegen uns, weshalb redest du das konfuse Zeug?“

„Ich meine nur so,“ sagte Jappes.

Das Pflaster warf die hallenden Schritte durch die Nacht. Polizisten
drückten sich in die Ecken, in ihre blauen Pelerinen gehüllt. Sie sahen
aus, als fürchteten sie etwas Polizeiwidriges zu sehen. Aus der Ferne
rollte das dumpfe Gedröhne eines Eisenbahnzuges. Manchmal schlich eine
Katze duckend übers Trottoir und verschwand in einer Kellerluke. Der
Wind trieb die Wolken von Westen. Jappes brachte Pepy bis zur Pension,
wo sie wohnte. Ein Kuß, und dann Abschied.

„Gelt Jappes,“ sagte sie, „die Hundchen waren doch nett.“

„Sehr nett, Pepy.“

                                   Mitleid ist die letzte Form des
                                   Anstandes.

„Ich reise mit dem Frühzug nach Stuttgart,“ sagte Jappes zum Portier der
Vier Jahreszeiten, „richten Sie das Frühstück und wecken Sie mich um
fünf.“ In seinem Zimmer schrieb er an Pepy: Mein Rudibub, ich wollte Dir
den Abschied ersparen. In der Früh, um sieben Uhr, bin ich nach
Stuttgart gefahren. Schreib, wenn Du etwas, oder mich brauchst. Ich bin
Dein Freund.

                                             Herzlichst Dein Golliwog.

Er fügte eine Visitenkarte bei auf den Namen Doktor Golliwog. Er schrieb
darauf: Ich lasse meine Visitenkarten in Zukunft immer mit dem
Spitznamen drucken.




                      SIEBENUNDZWANZIGSTES KAPITEL


                                   Es gibt Menschen, die glauben, nur
                                   das Erhabene sei lächerlich.

Der D-Zug eilte mit Jappes nach Stuttgart. Armida lag schlafend wegen
Unpäßlichkeit. Ida Telluren bereitete Jappes einen emphatischen Empfang.
Als Geschenk brachte er eine Büste von Schiller. Die Tante war im
siebenten Himmel. „Herr Jappes,“ rief sie aus, „das ist schön von Ihnen,
oh! wie liebe ich Schiller! das ist schön, Herr Jappes. Wir müssen zur
Akademie hinüber, in die Solitude,“ sagte sie mit stolpernden Worten,
„dort ist mein Heiligtum. Wo Schiller die Räuber schrieb.“

Jappes dachte: ein romantisches Tantchen.

Ida Telluren führte den Gast in ihr Schillerkabinett: Gipsabgüsse,
Aquarelle, Marmorbüsten, Kupferstiche, Oeltempera, Terrakotta und
Majolika – alles Schillerdarstellungen. „Freund Armidas,“ nahm sie seine
Hand, „das Traurigste, was ich in meinem Leben empfand,“ – und sie
zeigte auf den Abguß einer überlebensgroßen Schillerbüste – „Sie wissen,
daß Dannecker in einem Anfall geistiger Umnachtung noch soviel Bosheit
fand, die Stirnlocken des Dichters wegzumeißeln.“ Mit zitternder Hand
strich sie über die fehlenden Locken und vertraute ihrer Schürze einen
salzigen Tropfen an, der von der tantigen Wimper troff. „Wir müssen am
Nachmittag auf den Bopser,“ unterbrach sie die schluchzende Rührung,
„nach der Schillerhöhe, ein Platz, der dem Dichter gebührt.“

Die weiße Haube einer Zofe gab zu an daß der Tee serviert sei. Jappes
und Tante Telluren überboten sich in Höflichkeitsphrasen, wem der
Vortritt gebühre. Die Tante als die Klügere gab nach. Mit der
Schillerbüste unter dem Arm, trat sie an den Teetisch. Ein Papagei
rollte modulierend L-o-o-r-r-a, Lorra. Nur durch die süße
Vermittlung eines Stückchen Zuckers war er stumm zu machen. Die
weichsamten-diaphanen Hände von Ida Telluren griffen nach der Teekanne.

„Ich weiß nicht, was für einen Trost ich in meinem Alter gefunden
hätte,“ seufzte die Tante, „wenn Schiller nicht geboren worden wäre.“
Sie servierte Jappes ein Stück Sandkuchen. Eine große Rosine gähnte in
dem körnigen Gebäck und mit einem bißchen Phantasie war es anzusehen wie
ein malaiischer Zyklop. Jappes liebte süße Aufmerksamkeiten: „Sie sind
noch jung, erlauben Sie, daß ich Sie Tante Telluren nenne,“ schmeichelte
er, „wenn man eine solche geräuschvolle Umgebung aushalten kann,“ – und
er zeigte auf den Papageienzwinger – „dann hat man noch gesunde
Empfindlichkeitssträhne.“

„Mit den Nerven bin ich nicht geplagt, gottlob, und Veronal nehme ich
selten. Höchstens als Gegenwirkung für Kaffee.“ Sie lächelte beschämt,
weil sie etwas Intim-Tantenhaftes preisgegeben hatte.

„Jedenfalls eine gesunde Konstitution,“ bemerkte Jappes, „mir wäre Opium
angenehmer,“ fügte er feinschmeckerisch hinzu, „wegen der üppigen
Träume, die man im Schlafe noch gratis vorgefilmt bekommt.“

„Opium hat einen lasterhaften Beigeschmack und ich leide eigentlich
nicht an Traumlosigkeit. Ich habe mich schon nach einem Antitraumin
umgesehen, aber die Apotheker führen das nicht. Ich habe manchmal
absonderliche Träume, wenn der Sturm draußen um die Fenster paukt: An
einem stürmisch-kalten Novemberabend träumte mir, ich erhalte hohen
Besuch. In der Eile goß ich eine Tasse Kaffee über das lilienreine
Tischtuch. Bin vor Schreck aufgewacht ... und dachte nach über den
Traum, es war klar, was er bedeuten sollte: Die Ankunft Schillers, denn
es war der 10. November, der Geburtstag des meistgefeierten Deutschen.
Heute beschleicht noch eine bittere Wehmut mein Herz, wenn ich daran
denke, daß der Kaffeeklecks – (übrigens ein wunderbarer Schillerkopf) –
mir das hold-elegische Gesicht vorenthalten hat, denn der Traumgott
hatte mich ausersehen, den hohen Gast zu bewirten.“

Jappes fand, daß seine Bildung noch lange nicht ausreichte, die Träume
der Ida Telluren zu deuten. An den traumdeutenden alttestamentarischen
Joseph dachte er nicht, denn Tante Telluren hatte mit Potiphars Weib
nichts gemeinsam, und es war keine Gefahr, einen Mantel zu riskieren.

                                   Die Frau ist eine Blume des
                                   Paradieses, die nach dem
                                   Sündenfall ihren Namen verloren
                                   hat, deshalb wird sie heute so
                                   verschieden klassifiziert.

„Ich hatte einen erbaulichen Traum,“ plapperte die unermüdliche Tante,
„ich sah meine Nichte in einer Nische der Kirche als Mutter der
immerwährenden Hilfe. Viele junge Männer kamen, Armida ihre Not zu
klagen. Sie erhörte alle. Von Milde und Güte war sie durchschauert, daß
ich mir das Bild von einem tüchtigen Pinsel in Farbe gewünscht habe.“

„Ein schöner Traum, ein erhabenes Bild, wahrlich, Armida kann jeden
Pinsel entzücken!“ Und Jappes begoß seine Zunge mit der würzighellen
arabischen Brühe.

„Ihr Wesen ist Liebe,“ sagte die Tante mit sanfter Gebärde. „Armida voll
Klang und Melodie. Klingt es nicht wie ein Teufelswort, wenn man sie die
Tochter Arbilans, des Königs von Damaskus, nennt. Doch täuschend ist ihr
Bild, so zauberisch-schön, und Männer wird sie auch dereinst verwirren
wie Arbilans Tochter mit den Christenhelden tat. Rinaldo war ein
tapferer Held, den sie in ihren Zaubergarten in Antiochia lockte und
durch Wollust seinem Tatendrang entzog.“

„Tante Ida, Sie sind eine kluge Sibylle. Armida ist verführerisch-schön
und weiß die Männer auch zu locken. Soll ich etwa ein Rinaldo sein,
meine kluge Sibylle, fürwahr, es wäre keine Schande, tatenlos in ihren
Gärten zu verweilen.“

„Tapferer Freund, am Teetisch lernt man eines Mannes Werte kennen. Herr
Jappes wird schon seinen Gottfried finden, der ihn vom süßen Taumel löst
im Zaubergarten der Armida; mir bangt nur, daß Torquato Tasso mit der
selten-ausgereimten Frucht der listig schönen Magd Armida meines
Schillers Räuber einst verdrängen wird?“

„Tante, in Ihrem großen Herzen wird wohl Platz für beide sein, Rinaldo
war doch auch ein Räuber ...“

„Recht, mein Freund,“ sprach Frau Telluren, „für ideale Räuber gab es
immer Platz in meinem Herzen und wenn mein neuer Räuber einst mein Neffe
wird, soll er in meinem Herzen eine warme Kammer haben.“

Die Abreise beweinte Ida Telluren in stiller Abgeschiedenheit. Erst die
abendliche Ruhe löste ihre Stimme.

„Ein schöner Tag im reinsten Licht,“ klang es der Zofe an die Ohren. Der
Tante Wunsch war, in der Nacht dem Neffen mit der Nichte still im
Liebeszwiegespräch zu lauschen. „Gott segne meine Träume,“ war ihr Gebet
voll Innigkeit.

Dann klappten ihre Augen zu.




                       ACHTUNDZWANZIGSTES KAPITEL


                                   Mitmann, wenn deine Freundin sich
                                   nach deiner Mitfreundin erkundigt,
                                   tut sie es nicht immer aus
                                   Eifersucht, sondern manchmal auch
                                   aus Neugierde.

„Vielleicht steigen wir in Erfurt aus und kaufen der Tante
Sonnenblumensamen für die Papageien,“ sagte Jappes in Ritschenhausen zu
Armida, „dort gibt es die größten und besten Sämereien.“

„Du scheinst dein Herz ummöbliert zu haben seit deiner Münchener und
Stuttgarter Reise,“ warf Armida nachlässig hin, „und wenn du mich ganz
ausrangieren willst, tu es bitte gleich und gebrauche keine langen
Flausen, dich von meiner Nebensächlichkeit zu überreden.“ Dabei sah sie
seltsam-schön aus. Um ihre Lippen zuckte ein nervöses Lächeln und ihre
Nasenflügel erbebten. Sie hielt die Augen geschlossen und die Locken
tropften über ihre Stirn. Ihr leichtbrauner Teint, der sich unter den
untern Lidern zum Halbbogen verdunkelte, diente dem kastanienbraunen
welligen Gelock als Folie. „Gott, die Circe ist schön,“ dachte Jappes.
So seltsam unruhig hatte er sie nie gesehen. „Die Galle muß ihr ins Blut
gelaufen sein,“ phantasierte er weiter, „sonst ist sie weiß wie
Alabaster und flaumig-rosig wie ein Pfirsich,“ aber von ihrem Gesichte
kam er nicht mehr los.

Sie saß unbeweglich und ein blaugesprenkelter Reiseshawl wehte um ihren
Kopf. Sie schien dem Poltern der Räder zu lauschen und ein rieselndes
Vibrieren durchlief sie. Die eigenartige Wollust des stampfenden Rollens
zeichnete zuweilen in ihren Zügen die Gier, sich von diesen drehenden
Rädern zermalmen zu lassen. Jäh zuckte sie dann zusammen und ein Schauer
krampfte in ihr. Ein Schauer, der ihr die Lider preßte. Sie riß die Knie
aneinander und biß die Eckzähne zusammen, daß ihr Gebiß aus der
klaffenden Muschel der Lippen leuchtete. Ein frostiger Schauer warf ihr
die Schulter hoch und eine Sekunde oder zwei schien sie im
Trancezustand, so entrückt war sie allem Irdischen. Wie das Meer war
sie, im jähen Wechsel zwischen körnigem Gekräusel und brüllender Gier
und glatter lauernder Ruhe.

Jappes liebte es, sie so zu sehen. Er wußte, dann gab es einen wilden
Kampf in ihr. Sie haßte die Gleichgültigkeit, mit welcher er sich ihr
gegenüber benahm und doch hatte sie ihm gesagt, er solle sich keine
Schmeicheleien erlauben, denn sie halte ihn keiner fähig, er solle ihr
nie den Hof machen und seine Aufmerksamkeiten nicht in eine
überschwengliche Form kleiden. Er solle Jappes sein, hatte sie ihm
befohlen, so wie sie sich ihn denke. Er liebte zu sprechen und als seine
Bewunderung für Armida bis zu dem Grade gesteigert war, daß er ihre
Stimme vernehmen wollte, lehnte er sich hinüber und flüsterte:

„Armida, heute möchte ich nicht Jappes sein. Heute ist es uns zu schwer,
die Harmonie unserer Seelen richtig zu finden. Hat dich die Reise
ermüdet?“

Armida hielt die Augen geschlossen und flüsterte zurück: „Ich ertrage
schwer, daß du nicht bei mir bist. Hat dein Münchener Rudibub dich so
fest umstrickt?“ Sie sagte es mit einem langgedehnten Satz, und ihre
Frage klang bestimmt wie ein Ausruf.

„Du verstehst das nicht mehr, Freundin. Die naive Liebe und Pepys
Jugendlichkeit haben meiner irrenden Seele viel Glück gebracht. Ich
lache, wenn ich das Fremdwort meiner Seele höre. Pepy liebt mich nicht.
Sie liebt etwas in mir, was sie ahnt und was mir nicht gehört, Pepy
liebt Menschen aus Mitleid und mich liebt sie, weil ich mit dem Glücke
spiele. Pepy ist das naive Verhängnis im Kampf mit den Urgewalten der
Triebe. Ich bin zu feig, um mich über das Glück zu freuen und Pepy ist
zu schwach, um das Glück zu genießen. Ich bin vermessen gegen das Glück
meiner Jugend und das ist mein erstes tödliches Gebot.“

„Und das zweite?“ fragte Armida ... Jappes fürchtete sich vor dem Blick,
der die drei Worte wie eine düstere Melodie begleitete.

„Das zweite in mir ist, mit Seelen zu spielen, wie wir es tun. Ich
möchte sagen das böse Prinzip, das Dämonische. Aber beide Gebote
schließen sich ein.“ Er sagte es mit einem fixierenden Blicke und
betonte jedes Wort, was dem Satze das Gepräge eines Vorwurfs gegen
Armida gab. „Ich bin müde,“ sagte sie, „meine Gedanken haben mich
ermüdet. Erzähle mir von Pepy und von deiner Liebe, ich freue mich an
eurem Glücke. – An eurem kranken, menschlichen Glück!“

Jappes erzählte ihr die uneheliche Geschichte der Mutter Pepys aus dem
Tagebuch des Malers Geraldo und erzählte ihr die Pfandhausszene. Jappes
liebte Pepy teils aus Mitleid, weil sie ein apokryphes Mädchen war,
teils aus Stolz, denn die Welt sieht nicht gern, daß uneheliche Mädchen
Verehrer haben! – Die Welt liebt es nicht, den Selbstmördern ein
liebevolles Andenken zu bewahren. Selbstmörder und Uneheliche sind
Menschen, denen ein apokalyptisches Zeichen anhaftet, das wir nicht zu
deuten vermögen: „Ihre piksüße Innigkeit“, fuhr Jappes in seiner
Erzählung fort, „und ihre schmiegsame Anhänglichkeit sind es, was ich an
Pepy liebe. Sie hat Künstlerblut und einen regen Geist, es gibt noch
vieles in ihr zu wecken, und viel Waches in ihr zu ergründen. Von Pepys
Seele habe ich dir mehr gesagt, als sie selbst davon weiß, der Verkehr
mit ihrer Seele ist mir kein Spiel. Mit einem Verhängnis kann man nicht
spielen.“

„Ich glaube, du wärest imstande, Pepy eine Liebeserklärung zu machen.“
Sie warf ihm einen kätzchenpfotenweichen Blick zu, und Jappes bemerkte:
„In einem süßen Blick liegt immer eine Schlinge.“

Armida: „Das Lächeln einer Frau ist eine Gunst, die sie dem Mann
erweist.“

Jappes: „Wenn Frauen geben, haben sie immer einen Wunsch. Ich fürchte
diese weiblichen Danaer.“

Sie: „Für mich ist es kein Grund zu trauern, wenn du eine gute Freundin
hast.“

Jappes war gereizt: „Wenn Frauen weinen, sind ihnen alle anderen Waffen
ausgegangen. Und du weinst nicht. Ich möchte ein wenig in deinem Arsenal
herumstöbern und deine Angriffsrequisiten ansehen. Tante Telluren hat
uns schon getraut. Wir sollen in der Ehegaleere durchs Leben schiffen.“

„Tanten vermischen oft Traum und Wirklichkeit,“ erwiderte Armida und
lachte ihr seltsames Lachen.




                       NEUNUNDZWANZIGSTES KAPITEL


                                   Die Menschen sind das beste
                                   Bildungsmaterial. Es wird durch
                                   unseren Umgang abgenützt, erneuert
                                   sich aber selbst an uns.

Pepy verlebte Tage harmlosen Glücks. Sie war in dem Alter, wo junge
Mädchen anfangen, über ihre Begierden nachzudenken, in den Jahren, wo
junge Mädchen noch selbst die knospende Fülle des Busens streicheln und
in schüchterner Sehnsucht an ihre Bestimmung denken. Uebermütig wie ein
junges Füllen, sanft wie ein Täubchen, lieb wie ein Kind und manchmal
der unglücklich-phantastische Zug, den sie wohl von Geraldo hatte. Sie
wußte, sie trug eine fatale Bestimmung mit sich.

Hatte eine große Vorliebe für illustrierte Romane und Märchen. Hatte
nicht durch Zufall Busch- und Andersen-Märchen gelesen, Meyrink und E.
T. A. Hoffmann nahm sie in Stunden der dunklen Gedanken. Merkwürdig
genug zu hören, daß alle ihre Vorstellungen in ihr irgendeine graphische
Form auslösten. Ihre Freude war nicht ohne Besorgnis, als sie ihr Talent
entdeckte und an die Mutter dachte, an den Weg, den diese gegangen war;
in Freude und Erwartung, in Schmerz und sterbender Enttäuschung.

Jappes hatte für Pepy gesorgt nach seiner Bekanntschaft mit Armida,
hatte sie in eine der besten Pensionen gesteckt und ihr Geld für ihre
Garderobe zur Verfügung gestellt. „Ich kann doch nichts annehmen von
dir,“ hatte sie anfangs gesagt, aber es war Jappes nicht schwer
geworden, sie zu überzeugen, daß eine schöne Ausstaffierung ihr gar
nicht unwillkommen sei. Sie fügte sich und sah es als einen guten Wink
ihres Schicksals an, daß ihr nach den paar Monaten großer Entbehrungen
auf einmal soviel Glück – denn Geld ist Glück! – in den Schoß fiel. Er
hatte ihr gesagt: „Pepy, du bist im Zeichen Merkurs geboren und wirst
immer Geld im Ueberfluß haben.“ Pepy glaubte ihm, vergaß aber, an die
Vergangenheit zu denken. Sie wußte, daß Jappes sein Wort hielt und er
hatte versichert: Er habe Geld, solange die anderen welches hätten, und
er sei nicht gesonnen mit dem Gelde der anderen sparsam zu wirtschaften.

Ehe die Reise- und Abenteuerlust Jappes nach Berlin verschlugen, pflegte
er mit Pepy zu beratschlagen, was aus ihr werden solle. Er nannte es den
„Familienrat“. Es war das reinste Idyll, wenn sie zur Beratung
zusammenkamen, immer in der Bude von Jappes. Er dachte gerne an die
Stunden zurück, wenn Pepy die Brote strich und er den Tee übers
Tischtuch goß, wenn Frau Wertheim der Sicherheit halber an der Türe
erschien, um zu fragen: Ob der Herr Doktor Jappes nichts benötige? Er
dachte gerne an die schwesterlich-traute Sorge, die Pepy für ihn hegte
und fühlte sein Herz von Bruderliebe durchpulst. Er sah es nicht als
Tugend an, daß er Pepy so gelassen hatte, wie sie zu ihm gekommen war.
Ihm schien alles wie ein romantischer Studentenwitz, ein junges Mädchen,
frisch und rosig, sein eigen zu nennen, dabei die Grenzen des
Unerlaubten nicht zu überschreiten. Pepy war ihm so ergeben, weil er
sich trotz seines lebhaften Temperamentes in der Tat sehr anständig
benahm. Jappes selbst deutete sein „kavaliermäßiges“ Benehmen Pepy
gegenüber nur als ein Schnippchen, das er dem allgemeinen Umgang zu
schlagen suchte – nicht so zu sein wie die anderen. Er war zu ehrlich
und zu klug, ein Mädchen verführen zu wollen, denn trotz allem
Barock-Burschikosen und allem Sinnlich-Unausgeglichenen stak ein guter
Kerl in ihm. Er war nicht nur Student, sondern auch Mensch, der den
Charitasgedanken nicht mit den leeren Worten tonsurierter Dunkelmänner
predigte, sondern auch in die Tat umsetzte.

Es ist schwer, das Rätsel der naiven Liebe zu ergründen. Man weiß nicht,
was sie ist, nicht was sie will. Nicht alle naiv-verliebten
Werthergestalten endigen mit einer Knallerbse. Dazu ist die moderne Zeit
nicht mehr dumm genug. Unsere Zeit ist eher dazu angetan, die Idee der
platonisch-naiven Liebe in einer Wertherform zu opfern und sich für
erlittene Unbill durch olympische Blasiertheit schadlos zu halten. Der
junge Werther in Sturm und Drang mit dem romantisch-knallenden Tode ist
eine Parallele zur enttäuschten Jugendliebe. Und ist der klassisch
abgebrühte Goethe nicht eine Parallele zum blasierten Junggesellentum? –
ein Parallelismus, der nicht mit Winkel und Reißschiene nachzuweisen
ist!

Jappes trug Pepy eine ganze Bibliothek Kunstschmöker zu. Sie beeilte
sich, die Lücken ihres Wissens in Gemeinschaft mit ihm zu füllen: „Wenn
du auch einstweilen nur über die Kunst orientiert bist, das aber weißt
du doch gründlich,“ meinte der Freund.

Pepy lachte, war stolz auf ihr Wissen und ihren geschäftigen Impresario.

                                   Wenn Gott kein Künstler wäre,
                                   hätte er keinen nackten Menschen
                                   erschaffen dürfen.

Pepy trat in die Kunstgewerbeschule ein. Dasio und Ehmke lehrten sie die
Kniffe der graphischen Praxis. Das Neue lockte sie. Der Holzstock und
die eigene Technik, welche aus der Uebung entstand. Das neue Leben
gefiel Pepy. Die strenge Arbeit, die Betätigung des ganzen Talentes, der
Ehrgeiz, eine gestellte Aufgabe originell zu lösen. Das Bewußtsein,
etwas zu können, der Wunsch, etwas Großes zu werden, die erbauenden
Stunden an der vollendeten Technik Holbeins und Dürers. Die Anregung der
Klasse selbst und deren Auffassung, das Lehrerkorps und die Studenten
beiderlei Geschlechts allegorisierend darzustellen. Das laute Hallo,
wenn ein Professor unter irgendeiner Tierform herumgereicht wurde. Mit
tropfenden Knüttelversen bekleckste Skizzierbogen, die lustig-intimen
Feste und kleinen Verschwörungen, die Großzügigkeit, mit welcher man
sich gegenseitig die Lächerlichkeiten austrieb. In ihrer Umgebung sah
Pepy die werdenden Künstler, das Sichloslösen von den Stänkereien des
Alltags, alles Allegorie und epigrammatische Zeichnungsmethode, neben
der zensurierbaren Arbeit der obligatorischen Stunden, welche Anspruch
auf ernste Auffassung haben mußten.

Die Kunstgewerbeschule ist kein Institut für Mädchen, deren rote
Hautpigmente zu nahe an der Oberfläche der Gesichtsfassade liegen. Für
künstlerisches Schaffen ist das sinnliche Gleichgewicht ein Postulat,
und das erotische Prinzip überdeckt ein großes Areal unserer sinnlichen
Welt.

Welcher Künstler könnte im Taumel ein großes Werk schaffen! Im Taumel
wird die Idee konzipiert und wenn der Künstler genügend Abstand gewonnen
hat, wenn alle Eindrücke auskristallisiert sind zur konsistenten Masse
schöpferischer Kraft, dann entsteht das Werk einer stilisierten oder
idealisierten Form, oder unter natürlicher Gestalt, beleuchtet von dem
Scheine künstlerischen Schauens. Anfangs fand Pepy Anstoß an der
Natürlichkeit des Akt-Zeichnens. Es dauerte nicht lange, bis sie alles
als künstlerische Natürlichkeit hinnahm. Das angenehme Gift lasziver
Perversität, das in den sprühenden Zötchen genießbar herumgereicht
wurde, machte Pepy mit der Theorie der sinnlichen Praxis vertraut.

                                   Die Wahrheit Salomons stammt aus
                                   dem Harem, seine Moral ist eine
                                   sündige Frucht in heiliger
                                   Packung.

Sind wir Männer nicht alle Bösewichte, die junge Mädchen verführen
wollen, und sehen wir nicht immer mit der größten Empörung, wenn ein
anderer dasselbe getan hat. Oh! wir geilen Bocksgesichter mit der Maske
des moralischen Anstandes können vor dem ewigen Richter nicht bestehen,
am Jüngsten Tage, wenn das Tal Josaphat von verführten Freundinnen
wimmelt. Trauern wir in Sack und Asche, ehe die Tage da kommen, von
denen der Prophet lamentiert: Ihr Berge fallet über uns und ihr Hügel
bedecket uns! Wer wollte beim großen Gerichte an die Brust schlagend
bekennen: Das Blut derer, die wir verführt haben, komme über uns selbst.
Wir lüsternen Feiglinge mit dem grinsenden Faunskopf haben der Frau in
ihrer aufopfernden Gläubigkeit die Fabel von der Schlange erzählt, um
sie kirre zu machen für unsere armseligen Hundebegierden. Wir
taumeltrunkenen Silene, Ritter vom Phallus, haben die groteske Gebärde
der Zeugung erfunden, weil unsere Begierde sich nicht genug an uns
fressen konnte.

Erdenwurm! du pflanzest deine Art fort in brünstiger Betäubung und auf
dem Todbett quält dich noch der Kitzel des Fleisches. Der Tag ist schon
nahe, an welchem alles in erotischem Wirbel ertanzt und Eros schwingt
seine Fackel um die gleißenden Fliegen des Alltags. Wir malen das
Fleisch mit raffinierter Exaktheit, unsere Musik erschauert vom Zucken
verhaltener Begierde. Schreit nicht alles: Komm, nimm mich, Leben!
Tanzen wir nicht die Begierde mit lässigem Schnörkel, sind unsre Tänze
nicht Symbole der Unzucht? Wie soll uns Erlösung werden aus dem Pfuhle
der Sünde! Christus kann sein consummatum est nicht mehr von Golgatha
rufen, Christus der Langverheißene, der bewußt in den Tod ging. Ein
göttlicher Selbstmörder, der sich im Freitod von aller Begierde
lossagte, aller Liebe entschwor, das Leben von sich warf, als Jugendsaft
ihm seine Lenden schwellte.

In Pepy wuchsen die Begierden der Jugend, erst weiche Pfötchen und
zahnlose Mäuler, dann spitzige Krallen und verschlingende Schlünde.
Jappes lehrte Pepy, die Tiere bändigen: „Durch Hunger macht man sie
zahm.“ Und Pepy hungerte nach Liebe. Alle die freundlichen Freunde
umlungerten Pepy: Die Musik und die Männer, die Tänze und ihr eigen
Geschlecht. Der fatale Geist ihrer dunklen Seele flüsterte: der Weg zur
Erlösung geht über die Trümmer des Verderbens!

Pepy wollte rasch zur Erlösung kommen und die Verführung lauerte, sie
ins Verderben zu jagen.




                          DREISSIGSTES KAPITEL


                                   Wer früh über seine Jugend
                                   urteilt, tut seinem Alter leicht
                                   Abbruch.

Arco Calvandi hatte drei Viertel seines Vermögens in Monte Carlo beim
Roulette verspielt. Zur Erholung von seiner entnervenden Anstrengung war
er nach Chamounix gefahren und von dort schrieb er einen Brief an
Armida:

Hochgnädige Teuerste, mein Vermögen ist bis auf ein Viertel den Lauf
alles Rollenden gegangen. Ueberzeugt, daß meine Kinder eine würdige
Nachkommenschaft sein werden, habe ich mich entschlossen, zu heiraten
und meine Rolle als Vater sehr ernst zu nehmen. In den Alpen ruhe ich
mich aus von den zukünftigen Strapazen. Einen Onkel, der auf dem Mars
gestorben ist, gilt es zu beerben. Ich verstehe es, zu erben. Die
Zuzugsbedingungen zum Mars sind sehr erschwert. Vorläufig bewerbe ich
mich um den Prix Montyon, denn tugendhaft können meine Vorsätze alle
genannt werden. Meine Kinder, oh, ich küsse die lieben Dingerchen in
zärtlicher Vaterumarmung, werde ich davor warnen, Glückspiele zu üben.
Quarante-et-un und Poker und Pharao und Roulette und Bakkarat sei die
verfemte Fünf, die nicht in ihr heilig-junges Leben spielen darf. Das
sind die fünf Laster der Reichen, werde ich ihnen sagen und heute bete
ich: Gott schütze meine Kinder vor Reichtum.

Hochallergnädigste Fraue!

Mein Leben ist ein Zickzack mit zwei Pfeilen. Darf ich zu Ihnen eilen,
den Balsam Ihrer Nähe zu trinken und mich an der Gleichgültigkeit
erbauen, mit welcher Sie meine Anwesenheit dulden. Darf ich zu Ihnen
kommen? Ich habe Ihnen so vieles zu verschweigen. Ich hoffe, Gnade bei
Ihnen zu finden, weil ich überzeugt bin, daß Sie ohne mich kaum
unglücklich werden könnten. – Sonst erschieße ich mich über sieben Tage
ab heute courant um 4.45 nachmittags in meinem Schlangenkabinett, auf
daß niemand mehr sage, kein Mensch weiß, wann und wo er stirbt.

Ihr alleruntertänigster hochfraulichen Wünschen lauschender

                                                        Arco Calvandi.

P. S. Meine Wahl habe ich getroffen, die Braut sollen Sie sein.

                                   Es gibt Fakultäten, für welche
                                   gewöhnliche Professoren zu klug
                                   sind.

Arco Calvandi war Doktor der sportlichen Fakultät und beehrte die Vie
Sportive mit gelehrten Artikeln über den Hürdenlauf. War Amateurreporter
der meisten sportlichen Veranstaltungen, setzte Preise aus in Auteuil,
Chantilly und Vincennes. Konkurrierte in Longchamps und in den
Maisons-Laffitte. Geschah etwas Verrücktes bei einem Rennen, so murmelte
man unwillkürlich den Namen Calvandi. War gewissenhaft wie ein
Beichtkind, verließ beim Sechs-Tage-Rennen das Velodrom keine Sekunde,
um alle Wechsel zu notieren. Ließ sich, während er schlief, von seinem
Diener vertreten, der bei Gott nicht wußte, weshalb die Rennfahrer
stundenlang Ellipsen fuhren.

Der Diener händigte Arco Calvandi den Notizblock unbeschrieben aus: „Sie
haben immer gewechselt, die Rennfahrer, und jetzt fährt nicht einer mehr
von den alten. Ich schrieb nichts, weil ich nicht wußte, wie schnell
auch die andern verschwinden würden.“ Arco Calvandi gab ihm ein
Trinkgeld so hoch, daß selbst der Diener sich schämte, es zu nehmen. Er
liebte es, die Dummheit zu bezahlen. Bei Ehre, er gab oft Trinkgelder,
weil er viel mit Menschen zusammen war.

Innenleben hatte Calvandi nicht, seine ganze Seele war mit erlebten
Tatsachen gepolstert. Zum Nachdenken hatte er keine Zeit, für die
Zukunft hatte er keine Berechnung. Er lebte dem Augenblick in maßloser
Verschwendung. Reiche Naturen sind verschwenderisch nach außen und nach
innen, leben das Leben der anderen und sind immer der Mittelpunkt, um
den sich ihre Umgebung dreht. Wenn ein Augenblicksmensch mit seiner
spontanen Handlungsentschlossenheit von der berechnenden Vernunft
überrumpelt wird, setzt es immer eine Katastrophe. Er war eine von den
seltenen Ausnahmen, die, wenn die Liebe über sie kommt, vernünftig
werden, weil die meisten Menschen, so die Liebe sie durchglüht, reif für
den Affenstein sind – und Arco Calvandi war unter normalen Verhältnissen
verrückt. Sein Benehmen war verrückt, obwohl seine Neigung zu Armida
sehr vernünftig war. Kaum hatte er den Brief abgesandt, als er zur Post
eilte und ein dringendes Telegramm aufgab: „Armida, laß dir zwei
Millionen und mich antrauen. Es wird mein Glück sein.“

Herr Arco war ein fünfundzwanzigjähriger Junggeselle, der mit dem Leben
abgerechnet hatte und darüber nachzudenken pflegte, wie er sich bei
einer zukünftigen Krankheit verhalten würde. Wenn er sich von seinem
Mittagsschläfchen erholt hatte, ließ er den Tee an den Diwan bringen und
seufzte: Armida.

Es ist schwer, die Psyche eines Junggesellen zu ergründen und sich in
den abgrundtiefen Schächten ihrer Junggesellenwelt zurechtzufinden, im
Gewimmel grinsender Schrullen und hüpfender Steckenpferde. Junggesellen
pflegen, wie der allmächtige göttliche Hagestolz, ihren eigenen Werken
die größte Bewunderung zu zollen, pflegen ihre Lieblinge mit der Gunst
ihrer Freigebigkeit zu beehren und den infamsten Groll über ihre
Widersacher zu entladen. Sie treiben ihre Liebe bis zur Entselbstung und
kommen dadurch meistens wieder zur Originalität zurück, die sie durch
den Mottenfraß ihrer Zurückgezogenheit in sich selbst eingebüßt haben.

Herr Arco Calvandi hatte seine Steckenpferde alle zu Tode geritten, und
was blieb ihm noch übrig, als seine aktiven Kräfte in der Narkose der
Ehe einzuschläfern?




                       EINUNDDREISSIGSTES KAPITEL


                                   Wäre die Kunst Gemeingut, man
                                   könnte den Sinai abtragen.

„Sie haben den reinsten Kunstsalon,“ sagte Pepy zu Professor Günther,
„das muß ich mir mal alles ansehen.“

„Oh, bitte, bitte,“ dienerte Herr Günther, „gnädiges Fräulein soll sich
ungeniert umsehen. Originalkopien und Originaldrucke!“ – „und wunderbare
Rahmen in passender Ausführung,“ ergänzte Pepy. Der Geschmack des
Professors fühlte sich angenehm gekitzelt. In der Sammlung gab es nur
feinste Kultur und höchste Rasse: Aus der oberdeutschen Schule die
leckere Frau Venus mit dem putzigen Cupidobuben von Cranach dem
Jüngeren. Von seinem künstlerischen Namensvetter, Lukas dem Alten, der
Untergang Pharaos. Zwei Originalkopien der holländischen Schule: eine
kranke Ziege von Du Jardin und ein seltsam juckendes Bild von Dou, eine
greise Mutter, welche junge Läusebrut auf einem Bubenkopf zerstört.

Pepy dachte, das ist höchste Rasse, würde Jappes sagen, weil sie obenauf
krabbeln.

Der Professor deutete ihr Lächeln auf das komische Motiv. Der
Barberinische Faun, in einer feuchten Nische von lebendem Efeu umrankt,
grinste sein übermütiges Satyrlachen im Schlaf. An der Wand die
seltsame, rätselumlauerte Medusa Rondanini, und des großen griechischen
Meisters Boethos Gans mit den ringenden Knaben. Der Kopf des
phantastisch-phantasierenden Homeros, mit einem Auge die olympischen
Ueberfreuden schauend, mit dem anderen das Tosen der Feldschlacht
verfolgend. Demosthenes, der klassischste Kopf Athens, der
Kieselstein-lutschende Bürger der Polis. Die große Allegorie mit den
Triumphen Petrarcas, aus der Schule von Andrea Mantegna: Ruhm und Zeit,
Ewigkeit, Keuschheit und Tod. Murillos Betteljungen, Trauben und Melonen
verspeisend.

Ein paar Gelegenheitsbilder, teils Geschenke, teils zufällige
Ankäufe – modern chaotische Farbenagglomerationen, sprühend
witzige Farbensynthesen, kraß grollendes Geschehen, hysterisch
zusammengeschweißte Koloraturen, taumelnde Bewegung, pointilliertes
Gestoppel auf schreiender Leinwand, drängend stoßendes Genie, im Ruck
des Zufalls Unverdauliches prostituierend, visionäre Gestalten,
apokalyptische Gebilde, hingerülpst, Unflat hingespuckt – da! –
Linienwelle, Punkt, strebende Fläche, Strich, Klecks, ein Name: Dada im
Bilde. Irrende Pinsel, und lachendes Niesen. Ein Stolpern der Farbe,
geile Fetzen im Traume der Lues, Krüppelwesen in verquetschten Formen,
krötige Brunst im Schlamme der Zeit, kreiselnder Drang und flatternde
Lappen.

                                   Klassik: Meine Eisstücke kühlen
                                   dein siedendes Hirn.

                                   Moderne Kunst: Meine fliessenden
                                   Wasser treiben deine Mühlen.

„Die Modernen machen sich das Handwerk leicht,“ begann Professor Günther
die Unterhaltung, „sie schöpfen nicht, sie erschöpfen sich, aber sie
scheinen ihre Kunst wirklich ernst zu nehmen.“ Pepy zog ihre Augen von
einer kolorierten Zeichnung von Paul Klee und zu Herrn Günther gewandt:
„Ist es nicht das erhabenste Opfer, sich im Dienste der Kunst zu
erschöpfen? Unsere Künstler leben im raschen Wirbel der Zeit und dürfen
nichts Ausgeglichenes schaffen. Sie müssen die Fetzen der Eindrücke
gobelinartig zusammensetzen, um nicht fremd zu erscheinen. Sie wollen
los von der Natur, von der Materie, sie wollen los von der klassischen
Form, von der geraden Gebärde. Die Antike ist überwunden. Der
beschleunigte Schritt der Zeit erlaubt nicht genau hinzusehen, sie
wollen Seelen malen und wandelbare Eindrücke. Die Körper sind alle
gezeichnet und das war nur ein Vorstudium für die Kunst der Gegenwart.
Die Kunst hat nie eine Vergangenheit, die lebendige Kunst. Ein Moderner
kann sich nicht an die Antike anlehnen, nicht an die Renaissance, nicht
an das Barock. Gesetzt, die moderne Kunst sei eine Krankheit, auch eine
Krankheit muß man ernst nehmen. Ein Künstler muß Lebendiges schaffen und
das Vergangene ist tot.“

Professor Günther: „Die Pflanze und das Tier bauen ihre Gewebe aus dem
Verfall ihrer Ahnen. Es ist die ewige Kette des Geschehens, in welchem
jedes Lebende nur ein auslösbares und ein einschaltbares Glied
bedeutet.“

Pepy: „Die Zeichentechnik ist das formhaft Kompakte, was der Moderne
braucht, aber sein Erlebnis ist die vitale Substanz. Das Erlebnis kann
so verschieden gedeutet werden, um den Ausgleich zwischen Außen- und
Innenwelt herzustellen. Wir sind alle etwas Künstler geworden und unser
Schaffen ist das Ringen unserer Seele, uns nach außen zu erleben. Unsere
Kunst ist das romantisch-ironische Spiel, unser Selbst vor uns zu
behaupten. Die Alten hatten das Monopol in ihrem künstlerischen
Schaffen, sie waren die Träger der Idee, des Absoluten. Die wenigen
Olympier hatten die Möglichkeit, ihre Träume nach eigenen festen
Gesetzen zu gestalten, es gab nur Mensch und Tier und Pflanze und
Träume. Ihr Betätigungsfeld war begrenzt. Sie schufen ihre Werke, um
sich über die Nöte der Zeit hinwegzuhelfen. Sie schufen ihre Werke, um
ihrem Ideal näher zu rücken. Aber sie schufen kein Leben, sie schufen
Natur durch getreue Kopie des Gegebenen. Die Deutung ihrer Werke hat
ihrem Schaffen den Inhalt gegeben.“

Professor Günther: „Ueber Ansichten kann man nicht streiten. Die
künstlerische Objektivität hat den sittlichen Relativismus geschaffen,
aus welchem die Gesetze unserer sozialen Entwicklungsrichtung geflossen
sind. Die Idee mußte in einer Form auskristallisiert werden und die
alten Meister vollführten die Sublimation in der Retorte ihres Geistes.
Das wortgewordene Prinzip hat die Richtlinien für unsere ethische
Entwicklung gezogen.“

„Die Modernen verleugnen die Antike nicht. Sie erkennen sie
stillschweigend an. Sie schaffen auf einem neuen Boden. Das neue Prinzip
in der Kunst ist die Anklage der Zeit, der Schrei der fiebernden Zeit,
das Sichhineinbohren in den Charakter der kino-dramatischen Zeit;
deshalb werden die Thesen der Kunstgelehrten zu schwindsüchtigen Dogmen.
Die Kunstideologie der führenden Männer fußt in der Tiefe des Irrtums
des individual Geschauten, und weil sie jedes Paktieren mit dem
Geschmack der Masse ablehnt, muß sie abseits und fremd dastehen wie jede
Utopie. Von ein paar Anhängern geglaubt, von ein paar Eingeweihten zum
Popanz erhoben, sind die Kunstideen in klassischer Fassung unverdaulich
für die praktische Sucht der Allgemeinheit. Der starre Dogmenglaube hat
in der Philosophie den Skeptizismus geschaffen; so weckt auch die
bedingungslose Unterwürfigkeit der kompromißlosen Klassik die Skepsis
gegen das stereotyp-traditionelle Artistentum, gegen die Regel, die
Schablone, gegen die Prinzipien.

Kunst ist ein Lavieren zwischen Geist und Materie. Kunst entsteht in der
Siedeglut der keimenden Jahre, und unsere Zeit ist zerfetzt. Ein ewiges
Fließen und Wirbeln in zügellosem Rasen der Zeit. Wir sind alle mehr
Künstler denn je, die Bewegung, die Fläche und die Linie stehen in einem
anderen Verhältnis zwischen Anschauung und Wirklichkeit. Der Idee kommt
man näher durch Schaffen illusorischer Typen als durch die Methode des
naturgetreuen Konterfeis. Wie könnten die Klassiker unsere dröhnende
Zeit malen! ... Wie gelänge es den größten, die stampfende Eile zu
bannen ... Wie würde Goethe die bebende Hast der keuchenden
Industrieapparate besingen ...? Die Alten verstehen die klassische
Gebärde, aber nicht die wogende Bewegung der Seele. Die Antiken zeichnen
ingenieurmäßig die verdauliche Behäbigkeit der hämmernden Mittelpunkte,
aber die Bewegung fehlt, die weltflüchtige kämpfende Gier.

Das Bestreben der Modernsten ist das Loslösen der Bewegung von der Form,
und die Kritik will ihnen das Suchen verbieten. Die Kleinen sind die
Vorläufer, die Verheißer der neuen Epoche, unwürdig im Vergleich zu dem,
der da kommen wird, die Seele der pulsierenden Kräfte zu fassen. Die
vielen suchenden Künstler im drängenden Sturm sind die Steine zum Aufbau
der mächtigen Pyramide, auf deren Spitze der Große erscheint, um den
Anachoreten der Wüste zu predigen ...“

Pepy war erschöpft von der langen Tirade, und Professor Günther stand
bewundernd vor der jungen Kampfnatur, die ihm ihr unausgeglichenes Wesen
zur Schau stellte. Er staunte den Willen des Mädchens an, weil sie die
Tradition verleugnete und sich eine neue Welt zu schaffen gesonnen war.
Ihre wirren, brandroten Locken über der pochenden Schläfe reizten ihn,
und ihre junge lebende Fülle lockte wie die zittrige Glut ihrer
Ausführungen. Ihre Begeisterung hatte ihn einen Augenblick gebannt, dann
kam es ihm wieder ins Bewußtsein, daß er dieses junge Mädchen nicht zu
sich geladen hatte, um Kunstprobleme mit ihr zu erörtern ...




                      ZWEIUNDDREISSIGSTES KAPITEL


                                   Christus hat uns sein Reich
                                   gepredigt, aber er hat uns keinen
                                   Fingerzeig gegeben, wie wir es
                                   erkennen können, deshalb ist unser
                                   Irrtum Unwissenheit und schuldlos.

Bei Kommerzienrat Winterstein drängten sich die Gäste. Die Zeit webte
den Abend am westlichen Himmel. Lässige Paare schlenderten raschelnd
durch das Laub der Parkwege der Villa in Tempelhof. Leicht erregte
Gestalten, in animierter Stimmung, im Gespräche, von Tee und Wein und
Kaffee, von Zigarren- und Zigaretten-Wirkung diktiert. Leicht fröstelnde
Damen mit übergeworfenem Shawl, gütig gelangweilt der Unterhaltung
lauschend. Die Kavaliere interessiert erzählend. Ein wohliger Rhythmus
schwebte durch die Abendschatten, und taumelnd sanken dürre Blätter
nieder. Ueber den spärlich nackten Baumgipfeln grinste der Mond, gelb
wie eine Kunsthonigscheibe, auf die gesellschaftlichen Feinschmecker.
Der Abend streute herbstlich herbe Gerüche in die steigenden Nebel.

Frau Kommerzienrat in ihrer leichtgerafften Robe redete ihrem Gemahl
eindringlich zu, und neben seiner geschwollenen Fleischigkeit sah sie
aus wie die geschmackvolle Garnitur einer appetitlichen Platte. Armida
und Jappes sprachen über Calvandis Brief. Herr Arco Calvandi wurde für
den Abend erwartet, auch Doktor Seraph war geladen.

Das Kicksen der Billardbälle sprang aus einem offenen Fenster in den
Park: „Die Leute drinnen arbeiten tüchtig am Billard,“ begann Jappes,
eine Zigarette inhalierend, „arbeitsames Volk, muß immer den Bizeps
betätigen und Gehirngymnastik machen im Zusammenzählen der Pointen ...“
Armida im eleganten Ballkleid mit übergeworfener Mantille ging
nachdenklich und achtete nicht auf das, was Jappes sagte. Ihre Gedanken
weilten in der Welt ihrer Träume, Bekannten lachte sie ein automatisches
Lächeln im Vorübergehen, oder sandte einen zeremoniellen Gruß hinüber.
Jappes trat Kastanien entzwei, welche am Boden lagen und schnalzte zu
dem knirschenden Platzen der aufspringenden Stachelschalen. Stieß hie
und da einen unzufriedenen, einsilbigen Ruf aus: „Pf! ... Blöd! ... Puh!
... Hm ... Uuuh! ...“

„Du illustrierst deine Langweile,“ spöttelte Armida, „du hast nur ein
Ohr für Lächerlichkeiten, auch deine Art, dich zu benehmen, treibt
manchem die Galle auf. Meide die Gesellschaft, wenn sie dich ärgert.
Auch in deiner Welt ist nichts wahr. Nichts ist originell, alles ist
Gegenteil, Geist oder Widerspruch, Täuschung und Betrug an dir selbst.
Dein Leben ist Ichsucht und Verleugnung der bestehenden Ordnung ohne
Ersatz für dich. Deine mitleidlose Sittlichkeit ist für deine eigene
Bequemlichkeit zugeschnitten, und der ätzende Humor mit der
hingeluderten Ausdrucksform ist kein Beweis von Geist. Jappes, du bist
mein größter Irrtum!“

„Mäßige deinen göttlichen Eifer,“ begegnete ihr Jappes ironisch, „der
Narr ist mir noch nicht geschnitten, solange ich warm bin, hast du noch
Aussicht, daß ich mich bessere. Bei allen neunundneunzig Namen Gottes!
ja, ich bin ein großer Lump und will kein Hehl daraus machen. Sei
dreimal verflucht, du Weib, weil ich dir folge, keinen Anteil an dir
habe und doch nicht von dir loskomme. Wie willst du, daß ich dich liebe,
wie in einem Roman, wie in einer Novelle, wie in einer Zote?“

Armida drehte sich mit einem unwilligen Ruck jäh um. „Flegel!“

Jappes pflanzte sich breit vor sie hin: „Freundin,“ sagte er demütig,
„deine Nerven sind heute nicht für die Maximalbelastung berechnet. Wenn
ich ungenießbar bin, so will ich mich erziehen. Gewiß, um Schönheit zu
genießen, darf man mit keinem Mann vertraut werden. Ich bin noch nicht
klug, nur kühn bin ich, und das ist keine Tugend. Der Mann ist ein
gefährliches Prinzip. Ich bin durch eine Ironie der Natur geschaffen.
Die Taten sehe ich nicht, ich sehe nur Zwecke und die Beweggründe der
Menschen, und deshalb bin ich so geworden. Du wolltest mich für deine
Bedürfnisse ausschlachten, und deine Vorwürfe gegen mich sind nichts als
Erkenntnisse deines Irrtums. Wo ist deine große Toleranz, die manchmal
dein Wesen bestimmt, alle Menschen zu entschuldigen? Mein Herz kriegt
schier eine Gänsehaut, wenn ich die abgeschöpften Moralpauken aus deinem
Munde höre ...“

Armida ließ Jappes stehen und eilte durch den Park der Villa zu. Jappes
stand eine Weile still und paffte die blauen Kringel einer Zigarette in
den Abend. Dachte nach über den plötzlichen Umschwung bei Armida und
ging mit sich zu Gericht. Er richtete eine sich selbst verspöttelnde
Anklage gegen den Bummler Jappes: Weshalb soll ich mich mit der trüben
Neigung herumbalgen und zahm werden! Mensch, du bist ein lachender
Fetzen im Wirbel deiner Gewohnheiten. Weshalb soll ich mich in die allzu
engen Grenzen des Lebens zwängen? Ich tummle mich jenseits der Barriere,
mache Kapriolen wie ein tolles Zicklein und ergötze mich am
Feiglingsgewimmel, das nach Genüssen lechzt, sie aber nicht befriedigen
kann, weil es sich müde an seinen Prinzipien und Moralparagraphen
schleppt, unfähig, die huschenden Freuden zu haschen. ... Der Wert des
Lebens steckt im Sittlichen? dann hat mein Leben keinen Wert. Abseits
vom Leben geht ein dunkler Pfad, der Pfad der Isolierten, den soll ich
gehen und mich zur korrekten Sittlichkeit erniedrigen? Was ist
Sittlichkeit? Pilatusfrage! – Zum Schlagwort erniedrigte Lebensnorm,
Thema einer kapitelweisen Abhandlung eines Lehrbuches der Ethik,
Tummelplatz der Relativisten. Oh! die Sittlichkeit ist erhaben in den
Lehrbüchern, in den Erziehungsanstalten, auf den Kanzeln, in der
Gesellschaft. Sittlichkeit ist das Mutabor der Erziehungskalifen – sich
damit zur Welt des Scheins zurückzulügen. Was ist Sittlichkeit? frage
ich in den Zuchthäusern und Bordellen, was ist Sittlichkeit? frage ich
in den Klöstern, in den Tiergärten und was ist Sittlichkeit? frage ich
die kriechenden Legionen der Unterdrückten auf dem Wege nach Paria. Alle
antworten mir im Chor: Knute und Knebel und Maske! Wiederum frage ich:
Wer hat euch eure Sittlichkeit gelehrt? Im Chore fallen sie ein: –
Unsere Sittlichkeit ist die Lüge, die vom Willen, sich im Leben
behaupten zu müssen, vernichtet wurde. Unser ganzes Sein war Lüge, unser
Glaube, unsere Hoffnung und unsere Liebe war Lüge, die Lüge an uns! Der
Storch bringt die Kinder, der Weihnachtsmann die Geschenke, der Wauwau
ist das böse Prinzip. Die junge Seele wird reif für die Lüge gemacht.
Haben die materiellen Geister mit ihrer Freigebigkeit keine Zugkraft
mehr, dann kommen die geistigen Kobolde und Wichtelmännchen, Engel und
Teufel, Vergeltung und Sühne ... Der Löwe legt seine Pranken an das
Gitter des Zwingers, die sittliche Barriere, die Freude und Freiheit
umklammert, und brüllt in die Nacht U-u-u-a-h! ... Der tierische Schrei
nach Freiheit, nach sittlicher Gerechtigkeit, nach der bestmöglichen
erschaffenen der Welten. Der Appell des Instinktes an die Vernunft, die
im Zwang der Erniedrigung in wollüstiger Selbstanbetung ihre Macht
bewundert. Elend Gekreuch, den Ekel meiner Verworfenheit spucke ich dir
in die lachende Fresse!

                                   Eifersüchtige sind tragische
                                   Figuren, die eine komische Rolle
                                   spielen.

Der Abend schwieg im lauernden Dunkel und in Jappes kochte die Wut der
Empörung. Er stieß einen gellenden Pfiff in die Nacht, riß ein paar
Immortellen von einem Beete: „Narr sei klug!“ warf er hervor und lief
dem Lichte entgegen.

„Soll ich dich lieber mit meiner Abwesenheit beehren?“ fragte Jappes und
reichte Armida die Immortellen. „Die Unterwürfigkeit ist die legitime
Tochter der Erziehung, ich will die Tochter adoptieren und pflegen.“

„Bleib,“ sagte Armida, und dankend nahm sie die Blumen, „ich bedauere,
daß du so bist, und wünsche doch, daß du so bleibst. Unterhalte dich gut
und referiere mir über den Abend. Herr Calvandi kommt erst um elf Uhr
an. Am Potsdamer Bahnhof. Such mich morgen auf.“ Reichte Jappes eine
Karte, hielt ihm die Hand zum Kuß hin und verließ den Saal. Jappes
dachte an Pepy und die Sehnsucht krampfte sein Herz zusammen. Mit
verstörter Miene schritt er durch den Saal und trat an ein Tischchen, wo
Erfrischungen für die Gäste bereit standen. Begrüßte ein paar Bekannte,
wechselte gleichgültige Worte mit ihnen und suchte den Dämon zu töten,
der in seiner Seele wühlte, seit Armida den Namen Calvandi gesprochen.

Fräulein Flavia Winterstein konzentrierte ihre ganze Aufmerksamkeit auf
Jappes. Sie war ein wundervollbusiges Mädchen, entzückend und weich wie
die geträumte Begierde. Voll kecker Grazie und übersprudelnder Tollheit,
wie ein taumelnder Schmetterling, der auf die leuchtende Blüte flattert.
Sie liebte den bittersüßen Honig, den Jappes barg. Sie war geschaffen,
die verwirrten Sinne des Gastes zu ordnen. Er stand mit unheiliger Braue
wie ein grollender Gott: „Nanu,“ lächelte Flavia, „allein auf dem Ball?
Einen Tanz habe ich für Sie reserviert. Sind Sie schon für den ganzen
Abend vergeben?“

„Der Teufel tanzt heute mit mir den höllischen Reigen und die Geister
der trüben Gedanken spielen dazu. Verflucht und zugenäht! Ich bin in
einer verrückten Stimmung. Heute tanze ich nicht, kommen Sie später, wir
verplaudern die Pause bei einem Gläschen Chartreuse.“

„Ich werde kommen,“ sagte sie entschwebend, und im Gehen ließ sie ihr
schönes Lächeln zu ihm spielen: Cakewalk und Czardas, Pas-de-deux und
Walzer, Foxtrott und Steps wechselten in rhythmischer Folge. Française
artete aus in Cancan. Jappes entdeckte die lüsternen Blicke, verfolgte
die lohende Brunst, die nach einer Umarmung geilte, kippte Glas um Glas,
und die Sehnsucht folterte ihn. Er wünschte mit Pepy zu tanzen, wünschte
sich an ihrem lodernden Jubel zu berauschen, wenn sie mit fliegenden
Locken und erhitztem Fleisch dem Tanz ihre Hingebung weihte. Dachte an
Armida, und eine Blutwelle schoß ihm jäh in die Schläfe. Verließ den
Saal und trat in die Stille. Lehnte sich an einen Baum und lauschte dem
Huschen der Schatten, horchte dem Schritt der Einsamkeit, die lautlos
durch die Nacht ging und seine Seele mit weichen Händen berührte. Die
jagende Hast der vergangenen Tage flog vorüber, seine Zeit, seine
nutzlos verbrachte Zeit. Er hörte eine Stimme flüstern: Jappes, du bist
noch nicht weit, du hast erst das Bewußtsein zum Tier. Du kennst erst
den Schein und verfolgst das Trugbild, den Wahn. Kehre um, der Inhalt
des Lebens liegt hinter dir! – Seltsame Kämpfe, die dich zur Qual der
Erkenntnis führen! Du hast den Weg zum Leben verloren. Deine Träume sind
schleichende Einsamkeit und deine Freude ist Qual. Trug ist dein Wesen
und Sorge. Schleune den Schritt und lasse den Wahn des irrenden Dunkels.
Dein Weg geht nach rückwärts zur dämmernden Sphinx.

Jappes stand mit geschlossenen Augen: Irgendeine Landschaft sah er in
drehender Bewegung, die zum Wirbel wuchs, fühlte sich emporgehoben, von
der Erde gelöst, schwebend, drehend, machtlos. Fühlte, daß er einer
Ohnmacht nahe war, einem Wahnsinnsanfall, daß der Taumel ihn ergriff,
daß er ein Spielzeug war und die Macht über sich verlor ... Teilte die
Augenlider und tastete sich an den dunklen Umrissen der Gegenstände zur
Wirklichkeit zurück. Sagte die Namen des Geschauten ... ein Baum, der
Weg, ein Beet, orientierte sich in der Umgebung, hob die Blicke hinüber
zu den Walzertakten, die von der Villa kamen, sah die tanzenden Schatten
an den verhangenen Fenstern – gab sich einen Ruck mit der Schulter,
schritt über den knirschenden Rieselkies und dachte an das verwirrende
Spiel der Dämonen.

Die Pause war längst vorüber. Fräulein Winterstein hatte sich am
Serviertisch beim Diener nach Jappes erkundigt. Der Diener kniff ein
Auge zu und sagte mit vertraulicher Geste: „Der Herr hat eine Halbe
Kognak binnen,“ und er wies auf die Flasche, „er ist benebelt und paßt
in die Nacht.“

Doktor Seraph hatte sich entschuldigen lassen. Frau Kommerzienrat
brachte der Tochter die Nachricht: „Der Totenkopf kommt wieder nicht. Er
muß eine Leiche massieren.“




                      DREIUNDDREISSIGSTES KAPITEL


                                   Diskretes sucht man immer so
                                   schnell als möglich zu erleben ...
                                   Wozu wäre die Heuchelei da, wenn
                                   es nichts gäbe, was man nur durch
                                   sie erlangen kann.

Pepy machte Toilette mit der Umständlichkeit, wie sie jungen Damen eigen
ist, wenn sie einen Besuch machen, wo sie ihre Eigenliebe zur Schau
stellen wollen. Merkwürdig für das eigenliebige Geschlecht, daß es die
Umständlichkeit beim Toilettieren zur zweiten Natur gestempelt, wenn
nicht gar zur ersten erhoben hat. Damen fühlen den Kitzel wohliger
Wollust am stärksten in ihren Boudoirs, wenn sie mit dem Bewußtsein
ihrer Reize allein sind und an all die begierlichen Schmeicheleien und
lüsternen Lockungen der Männerlippen denken. Wir sündigen am stärksten
in den Begierden. Die Tat, der große erotische Akt ist für uns nur
bewußtloses Geschehen. Die Sünde ist der Schrei nach Dämpfung der
tätigen Empfindung. Die Erinnerung an die Freude bewegt die Seele nur
schwach, aber die Begierde danach wühlt sie auf zum chaotischen Wirbel.
Das Wesen des Glückes ist Begierde nach Freude.

Pepy packte eine Ordnungsmappe, gefüllt mit sauber geschnittenen und
sorgsam geklebten Scherenschnitten; gute Abdrücke von Holzschnitten,
Tapetenmuster, mit Tusche kolorierte Zeichnungen. Ihr Freund Günther
hatte sie mitsamt ihren Arbeiten zu sich geladen. Eine Auslese wollte er
treffen und ihr eine Empfehlung an einen Freund schreiben, welcher sich
um die Arbeiten Pepys bemühen sollte, um sie in den Ausstellungen
bekannt zu machen.

Pepys Traum war es, in die Oeffentlichkeit zu treten und aller Welt ihr
Talent vor Augen zu führen.

Professor Günther war selbst Amateurmaler und hatte eine
bürgerlich-mittelmäßige Pinselführung erarbeitet, kannte die alten und
neuen Meister, und war: bereit, selbst zu den Neuesten bejahend zu
nicken, sobald es ihm möglich war, die Farbentumulte im Ausdruck eines
Vorstellbaren zu deuten.

                                   Wir können nicht vermeiden, bei
                                   speziellen Anlässen über
                                   Allgemeines zu reden.

„Das Atelier habe ich beibehalten, als mein Sohn seine Praxis in
Baden-Baden übernahm,“ plauderte Professor Günther und öffnete die Tür
zum Atelier. „Er war ein gutes Talent,“ fuhr er fort, „ein paar Bilder
sind noch da, aber die letzte Hand hat er nicht drangelegt. Meist Kopien
mit kaum merklichen Variationen in den Tönungen. Teniers Alchimist mit
mittelalterlich-abenteuerlichem Gerät, die Madonna von Fra Filippo
Lippi, einige Landschaften, ein Stilleben, der einzige Entwurf von
Günther junior, der Kopf der Madonna Tempi von Raffael.“ Auf einer
Staffelei eine fertige Skizze, die Pepys Aufmerksamkeit aufsog, und ihr
Wesen mit dem Basiliskenblick der Bestürzung bannte:

„Eine seltsame Geschichte knüpft sich an das Bild, es ist von meinem
Jugendfreund,“ erzählte Professor Günther, „Meister Geraldo kennen Sie
wohl nicht? Er lebt in Antwerpen und studiert Rubens. Er verkehrte viel
bei uns und hat manchmal im Atelier gemalt. Bei seiner plötzlichen
Abreise blieb das Bild unvollendet stehen. Es ist eine persönliche
Variation des Pietà-Gedankens. Die Tragik des Bildes liegt in der
Geschichte seiner Entstehung. Der Weg zur künstlerischen Vollendung geht
über viele Opfer hinweg und Menschenmaterial wird dabei nicht geschont.
Die Geliebte Geraldos, im Bilde symbolisiert, war ein doppeltes Opfer.
Das Opfer Geraldos und ihr eigenes. Die Sehnsucht nach Liebe hat sie
getötet, nachdem sie Meister Geraldo ein überflüssiges Kind geboren
hatte ...“

Pepy hörte die Anklage und sie fühlte ihre Niedrigkeit, ihre
Ueberflüssigkeit. Der Gedanke an die Mutter riß die vernarbte Qual
wieder zum blutigen Leiden. Sie biß ihre Hand in duldender Ohnmacht und
vermochte die Tränen nicht zu hindern, die durch die gepreßte Wimper
drangen. „Ueberflüssig!“ Das Verdammungswort brannte in ihr mit ätzender
Qual. Sie trug die Hölle der „Verworfenheit“ mit sich, weil sie
außerhalb des Eheparagraphen geboren war. Ueberflüssig! Sie hörte das
Anathema der Gesellschaft, nur unter Gleichgeborenen konnte sie
anerkannt werden, aber die Unehelichen sind die verruchte Minderheit!

Weinend stand sie, die Pietà in Trauer um die verlorenen bürgerlichen
Ehren.

„Sie sind wehleidig,“ sagte Professor Günther, verwundert über die
Wirkung seiner Worte, „Sie müssen die Vergehen der anderen nicht zur
eigenen Qual machen.“ Er nahm Pepys Hand: „Seien wir Freunde,“ sagte er
listig, „und hüten wir uns, nicht selbst unter die Räder zu kommen.
Unser Geist ist schlau, unsere Witterung ist gut und wir haben Mut. Mein
Freund hat sich durchgekämpft und Frau Martha – ich glaube so hieß seine
Geliebte – hat das erhabenste Opfer gebracht und sich im Dienste der
Kunst erschöpft. Ich habe viel über mein letztes Gespräch mit Ihnen,
Fräulein Pepy, nachgedacht. Das Kind Marthas hat ein gutes Stück Weg
fürs Leben voraus. Mit einem gehäuften Kapital an Erfahrung und Leiden
trat sie ins Leben und ist der Sorge enthoben, in trauernder Liebe an
die Mutter zu denken. Sie hat ihre ganze Kraft, um gegen den Frevel zu
kämpfen, den sie ihm antat, weil sie es als Opfer ihrer ungezügelten
Lust in die Welt setzte ...“

Professor Günther fühlte, daß er gegen Tränen machtlos war.
Entschuldigte sich einen Augenblick und verließ das Atelier. Pepy blieb
allein mit ihrer zermürbenden Qual, und ihr Stolz verbot ihr, diesem
Manne zu gestehen, daß sie diese Ueberflüssige war. Der Psychologe eilte
in seine Bibliothek und las ein Kapitel über hysterische Anwandlungen.
In einer Marginale notierte er die Symptome und den Verlauf der
Anwandlung. In Klammern schrieb er: (Beobachtungen an einem jungen,
gesunden Mädchen!).

Pepy schämte sich ihres Benehmens, und als Professor Günther wieder
erschien, fand er sie mit einem verweinten Lächeln, das um
Entschuldigung bat: „Das kenne ich bei jungen Mädchen,“ sagte er
begütigend, „ein wenig Schwäche ziert die stärkste Frau.“ Das Mädchen
lachte ein fröhliches Lachen und war zufrieden, daß ihr neuer:
väterlicher Freund ihr die Tränen nicht übelnahm.

Beide wußten nichts um ihr gegenseitiges inneres Leben.

                                   Die Ehre ist Ichsucht, eine
                                   bürgerliche Tugend.

Professor Günther nahm Platz in einem Sessel neben Pepy. Sie reichte ihm
ihre Arbeiten, er musterte sie einzeln, sagte der Freundin ein paar
belobigende Worte über das gute Verhältnis zwischen Ausführung und
Motiv, wagte einen kleinen Tadel gegen die Linienführung, fand eine
gegenteilige Ansicht zu Pepys Auffassung in der Darstellung einer
Tänzerin. Pepy hatte eine Bacchantin dargestellt, eine weintaumelnde
Mänade mit fliegend-zerzaustem Haar, den Thyrsus schwingend in der
Rechten, in der Linken einen überfließenden Becher und lüsterne Blicke
nach den fallenden Tropfen. Die Linien waren schwebender Rhythmus und
hüpfendes Haschen.

Günther fand das Motiv überlastet, weil die Aufmerksamkeit auf zwei
Punkte zugleich zu lenken sei, auf Thyrsus und Becher. Der Rhythmus
ließe sich plastischer gestalten, wenn der Becher mit den fallenden
Tropfen Weins allein das Symbol ihres Rausches sei; die Tänzerin
verliere dadurch den Sinn eines Piedestals, sie werde leichter,
geschmeidiger, tanzender. Pepy versprach das Motiv in dem Sinne zu
variieren und Professor Günther riet ihr, die Meister nicht zu
verkennen. Klopfte Pepy auf die Schulter, mit väterlicher Hand: „Nur
Technik, Freundin, Technik, Technik, Technik. Im allgemeinen versprechen
Ihre Arbeiten Erfolg. Die Linienführung ist sicher, die
Flächenverteilung vortrefflich. Der Raum geschmackvoll ausgenützt, das
Kolorit schmeichelnd. Die Motive sind entzückend.“

Er reichte Pepy eine Empfehlung an seinen Freund:

Die Dame hat Stil, und ich gratuliere zu unserer Entdeckung. Sie wird
uns Ehre machen, sie wird mir Geraldo ersetzen.

                                                              Günther.

In Pepy wühlte die Unsicherheit der gequälten Natur. Ihr Leben schien
ihr eine fatale Groteske, wo alles in nebelhafter Ferne groß und drohend
erschien. Wo dunkle Mächte im Spiele waren, wo das Verhängnis lauerte,
wo die Entscheidung sich vorbereitete, die Antwort verzögernd, ob alles
sich zur Katastrophe oder zur Erlösung wenden würde. Sie war arglos und
ohne Falsch, sorglos wie selbstsichere Mädchen, die sich in sich selbst
genug sind. Sie empfand das Glück, ihre Arbeiten ausgestellt zu sehen,
wie junge Versifexe, wenn sie ihre Löwenklauen vor dem kritischen
Publikum in Sonderdruck erscheinen lassen. Junge ahnungslose Seele,
gequält von der geheimnisvollen Furcht, ein Spielball der fataltätigen
Gewalten werden zu müssen. Arme Mädchenseele! die das verhängnisvolle
Erbe ihrer Mutter mit sich trug.

                                   Die Tiefe eines Kunstwerkes liegt
                                   in der Tragweite seines Symbols.

Irgendein Anlaß brachte Günther und Pepy im Gespräche auf Ibsen. Der
Professor redete literar-philosophisch, und Pepy redete mit Ibsen.

„Die Bedeutung Ibsens kann man nicht leugnen,“ sagte er, „Ibsen ist der
größte Ethiker und auf die Spezialpsychologie in Eheangelegenheiten ist
er nicht ohne Einfluß. Er ist Universalmoralist und der geeignetste, ins
Esperanto übertragen zu werden. Die moderne Gesellschaft muß auf
Ibsenschem Boden stehen und aus dem verhängnisvoll-toleranten Nährboden
die Kraft schöpfen, um sich zum Uebermenschen emporzuranken.“

Pepy: „Das Gefährlichste und Wahrste sind die Gespenster von Ibsen. Die
Manen, die Geister der Toten, zitieren sich von selbst. Sie erscheinen,
uns vor dem Verhängnis zu warnen und versichern uns der Nutzlosigkeit,
ihm entrinnen zu wollen. Die Tochter des Malers Geraldo ist verdammt,
den Weg ihrer Mutter zu gehen. Von Schuld kann man nicht reden und Sühne
darf niemand verlangen. Das Rätsel der Vererbung der sittlichen Schuld.“

Professor Günther fürchtete einen neuen Weinanfall Pepys und Mitleid
glitt über seine mit theoretischem Moralwasser gewaschene Seele: „Wenn
das Kind Marthas Freunde findet, die ihr sittlichen Beistand leisten,
wird sie die Gespenster bannen. Nur sittliche Kräfte können der
sittlichen Schuld begegnen. Gespenster beißen nicht, man muß ihnen zu
begegnen wissen. Ibsen zum Trotz haben seine Gespenster die soziale
Stellung der Gespenster stark in Mitleidenschaft gezogen. Ibsen ist der
Dichter der gesunden Moral und des praktischen Ausgleichs. Die
theoretische Erörterung einer Frage ist der einzige Trost, wenn die
unsühnbare Schuld geschehen. Die sittlichste Rechtfertigung ist, die
Schuld durch Ueberredung des Geistes zu tilgen durch Abstraktion von der
Wirklichkeit, denn die Wirklichkeit ist das Vehikel, das uns zur
Erkenntnis führt. Die Befolgung des Guten oder des Bösen – was man
allgemein gut oder bös nennt – ist unterschiedlos entscheidend für
unseren Werdegang. Die Gesetze unserer Moral sind auf der Basis des
bösen Beispiels entstanden, und die Ethik wurzelt in der Unmoral. Unsere
sittliche Läuterung entspringt aus unseren schlechten Taten. Gut und Bös
sind zwei sittlich gleichlautende Termini. Mit Hilfe der Relativität
kann man das Böse zum Guten biegen, und ethische Werte sind an sich
schon dehnbare Begriffe.“

                                   Von den Jesuiten haben wir die
                                   Überrumpelungsmethode. Sie nannten
                                   sie Rhetorik.

Pepy nickte versunken vor sich hin. Jedes Wort war eine Prägung ihrer
Gedanken, eine feste Form, in welcher ihre Erfahrung lag. Die kluge
Selbstsicherheit, mit welcher Professor Günther über die Grundlagen der
sozialen Ethik sprach, imponierten der jungen Künstlerin:

„Die sozialen Reformen gehen aus den Mißständen hervor, die Hygiene aus
den großen Epidemien, die Schulen sind die Palästra, wo Weisheit gegen
das größte Uebel, die Dummheit kämpft, die Zuchthäuser werden gebaut, um
dem arbeitsscheuen Diebesgesindel – den mittellosen Marodeuren der
menschlichen Gesellschaft – und den geschlechtlich depravierten
Subjekten ein Asyl zur Besserung zu bieten. Eine schlau ausgeklügelte
Diät! Die geistige Nahrung ist völlig gestrichen. Die aussichtslose
Methode der körperlichen Einwirkung auf den Geist, durch harte Fron,
steht in voller Blüte. Was erreichen die elenden Paragraphendrechsler
von Legislatoren durch Formulierung der Gefängnisverordnungen?! Sie
lassen den Geist der Delinquenten hungern und zermürben den Körper.
Zappelige Theoretiker! Ihr seid die Depravierten, ihr seid die Mumien
und liegt starr, allem Leben fern, umwickelt vom ruchlosen Gewebe
juristisch-spröder Leitsätze. Feiglinge! Hört ihr den Schrei aus der
Gehenna! Hört ihr das Röcheln der Hinsterbenden in den Käfigen, euren
Moralanstalten! Sie schreien nach dem Tode, sie schreien nach Freiheit.
Zu feig seid ihr, sie durch den Tod zu erlösen; zu feig seid ihr, euch
gegen ihre Freiheit zu wehren. Euer lahmes Gewissen ist noch nicht reif
für den Mord. Allmählich schläfert ihr es ein in der Narkose sittlichen
Wahnes. Korrektion! Die Schere, mit welcher ihr das wuchernde Gestrüpp
eurer Unmoral zustutzen wollt. Achtung vor den Pulsöffnern und
Seidenschnürorden! Achtung vor Nero! Ehrfurcht vor den Inquisitoren!
Achtung vor allen Massenmördern aller Zeiten! Sie sind nicht
zurückgeschreckt vor dem Blute, aber ihr! Ihr heuchelnden Mörder habt
Angst vor dem fließenden Blut und doch füllt ihr die Totenlisten derer,
die in euren Besserungsanstalten verreckt sind.

Die Menschheit hat ihre Bastille noch zu stürmen, viele Burgen haben
noch zu fallen. Zum Aufruhr mit Feuer und Schwert gegen die
schleichenden Mörder der bürgerlichen Gerechtigkeit. Baut die
Arbeiterfürsorgegesetze aus, Unfall- und Invaliden-Rente, und die grauen
Bauten moralischen Siechtums stehen überflüssig und erlöst vom Fluch der
gärenden Revanche! Menschheit! du bist im Widerspruch geschaffen. Der
große Horus Ahura Mazda wurde von Ahriman, dem bösen Prinzip, besiegt.
Der Dämon Malignus ist der Herr unserer Weltordnung. Ihr blinden
Prinzipienreiter redet über gut und bös. Nehmt beides als gegeben hin
und ihr abstrahiert von der Frage: wie kam das Böse in die Welt? Wo
bleibt euer Gott, der alles erschaffen hat – auch das böse Prinzip! Ehe
Gott den Engeln die Wahl zwischen gut und bös freistellen konnte, mußte
er das böse Prinzip bereits erschaffen haben. Wo ist euer Gott? Wie kann
er Böses schaffen! Und wo ist der Zweite, der Schöpfer des bösen
Prinzips: Der sein Reich gegen das Reich Gottes setzen konnte?

Gehet hin zu den Bogumilen, sie lehren euch mit den Manichäern, daß
Satan und Christus gemeinsame Söhne Gottes sind. Erkennt nicht Christus
selbst den Herrscher der Welt bei Joh. 12, 31 an: ‚Jetzt ergeht das
Gericht und wird der Fürst dieser Welt hinausgestoßen.‘ Unsere
Gesellschaft hat das Faustrecht bekämpft und basiert ihre Macht
hinwiederum auf Gewalt. Gestehen wir vor aller Welt, im offenen Kampfe
würde Ahriman wieder siegen, denn unsere Kampfkraft stirbt am Bewußtsein
unserer heuchelnden Ohnmacht, an unserer ohnmächtigen Heuchelei.
Fürchtet die dunkle Rache der Bösen, die sich zum Kampfe sammeln und zu
eurem Röcheln lachen werden. Die Rache wird die Anführerin der
Unterdrückten sein und den schlauen Köpfen der Gesetzgebung die tönernen
Postamente rabulistischer Verkommenheit entzweischlagen. Bessert euch im
Gericht über euch selbst, dann könnt ihr den Samen der Reformen um euch
ausstreuen. Drachenzähne sät ihr aus, und die Bestürzung lähmt euch,
wenn die stählerne Wehr der daraus erstehenden Kämpfer euch
entgegenblitzt – –!!!“

                                   Der Wind ist ein falscher
                                   Bräutigam, er betrügt die
                                   Windblütler um ihre Unschuld.

Dieser Sturmbock revolutionärer Gedanken hatte Pepy begeistert. Sie
staunte über das jugendliche Draufgängertum dieses alten Professors,
dessen Leben ihr vorkam wie ein Konflikt zwischen Anarchie und
Gesellschaft. Sie reichte ihm ihre Hand zum Abschied:

„Sie weihen mich in die Abgründe des Lebens ein, ich danke Ihnen für die
Lichtblicke. Vieles ist wahr von dem, was Sie sagen.“

Er hielt ihre Hand lange brünstig umklammert. „Freundin Pepy, man findet
nicht die richtige Anerkennung bei einer dummen Frau, die Oede des
Familienlebens lauert in allen Winkeln, wenn der Mann den Geist zuviel
hat, welcher der Frau fehlt. Das Verhältnis zwischen mir und meiner Frau
ist zu ungleich, und das habe ich erst gemerkt, als die sinnlichen Reize
bei ihr zur Begierdelosigkeit abgestumpft waren. Das Schlimmste ist,
wenn der Mann jung bleibt und die Frau altert!“ ... Er geleitete Pepy
zur Tür und preßte einen sinneglühenden Kuß auf ihre warme Hand.

Der Abend lag friedlich über der Stadt! Im Unendlichen zitterten die
Sterne.

Pepy dachte an Günther mit mitleidvoller Begierde.




                      VIERUNDDREISSIGSTES KAPITEL


                                   Die Magie ist ein Kompendium
                                   tierisch-wertvoller Naturen.

Doktor Seraph war ein maskenhafter Mensch, wie eine verwischte Skizze
zum Leben. Seine Stirne, die blutleer schien, war mattgrau wie
plastischer Fensterkitt und von zwei Linien durchfurcht, die an den
beiden Enden zusammenliefen und ein Schifflein bildeten. Der Mund war
wie zugeklebt und ohne Lippen. Runzeln von den Augen fächerförmig über
die intelligent mageren Backen sich verlierend, bargen die Bitternis
einer hartverlebten Jugendzeit. Die schmalen gepreßten Schultern
verrieten die bückende Haltung bei grübelnder Beschäftigung. Die unruhig
flackernden Augen schienen beständig eine Gefahr erspähen zu wollen. Der
Prototyp jener telepathischen Vorführungskünstler, die in ihrer
zuckenden Ueberreiztheit ihre abgrundtiefen animalischen Kräfte
betätigen. Seit seiner Geburt hatte er nicht gelebt – und seltsam – er
war wie eine versteinerte Figur, mit den bedeutungstiefen Runen
diabolischer Rätsel. Mit ruhigen verglasten Augen stierte er mit
weitausholendem Blick in die Ferne, wie ein Somnambule, der plötzlich
durch eine unglaubliche Macht erschreckt, ins Endlose starrt. Etwas
schwebend Taumelndes in der Erstarrung.

Trug an dem mager-langen Ehefinger einen schwarzen Ring, der alles Licht
auftrank. Ein Pfand des Teufels, das sich in der Familie weitererbte.
Ein Stein, der den Schlaf raubte, und alle, die ihn trugen, in
Verbindung mit Toten brachte. Doktor Seraphs Ahnen waren Aerzte und
Totengräber. Ein Großonkel war katholischer Pfarrer gewesen, hatte sich
am Vorabend seiner Primiz verachtend von seinem Ring getrennt und ihn in
ein Kästchen eingeschlossen. Ein unruhiger Traum hatte ihn gequält.
Etwas Grausiges war geschehen und doch konnte er sich nicht entsinnen,
was es war. Er amtierte kein Jahr in seiner fetten Pfründe, da kam
Freund Hein, um ihm den Ring zu kündigen. In der ganzen Pfarrei hatte
niemand einen schöneren Herren gesehen und die Trauer war groß, als er
so plötzlich starb. Nach der Weissagung einer Wahrfrau sollte Doktor
Seraph der letzte Träger des Ringes sein und in seiner Hand war eine
übermäßig große Lebenslinie.

Am Zeigefinger der rechten Hand trug er den Pesach, einen Blutstein in
Platin gefaßt. Der Stein hatte die Kraft, den Blutfluß zu stillen. Wenn
eine Frau ihn bei der Entbindung in die Hand nahm, gebar sie ihr Kind
ohne Schmerzen. Die trübrote Farbe war wie ein Blutfleck auf dem Finger
des Doktors.

Er war erschrocken-naiv wie ein Medium im magnetischen Schlaf. Sein
lautloser Katzentritt und die vorgehaltene Rechte wie bei einem
Wünschelrutengänger ließen an das Wahngebilde eines Spukes denken.
Mitschüler erzählen, daß er vieles wußte, was er nie gelernt hatte, und
niemand erinnerte sich, den schwarzen Doktor je lachen gesehen zu haben.
Er hatte nie Freunde gehabt, und seine Wirtsfrau hatte ihn nie zu
Gesichte bekommen. Alle Aufträge schrieb er mit fadendünner englischer
Steilschrift auf ein Konzeptpapier, in höflich-geschraubter Form, als
richte er eine untertänige Bitte an die durchlauchtigst allmächtigste
Majestät.

Der schwarze Ring hatte eine merkwürdige Herkunft. Eine ganze
Legendenwelt war drum gedichtet worden. Alle dreihundert Jahre sollte
der Ring nach Californien zurückkehren, an den Ort seiner Herkunft. Der
Stammbaum der Seraphs trieb seine Aeste ein halbes Jahrtausend aufwärts,
und es schien wie ein sonderbarer Zufall, daß alle den schwarzen Stein
trugen, oder war es durch die Kraft des Steines, daß der Stammbaum bis
auf den ersten Inhaber zurückging? Ende des vorigen Jahrhunderts erhielt
Doktor Seraph plötzlich in Heidelberg, wo er studierte, ein Päckchen mit
dem seltsamen Ring aus Californien, wo ein entfernter Verwandter, der
Millionär Eduard Bain in Pasadova gestorben war. Bain war dreiviertel
Jahrhundert alt und die letzten sechzehn Jahre hatte er nicht
geschlafen. Man erzählte sich im geheimen, weil der Zufall den Stein von
dem Toten getrennt habe (denn Bain verkehrte nur mit lebenden Leichen,
für welche der Stein keine Affinität zeigte), habe der Tod auch den
Schlaf, seinen dunklen Bruder, von ihm gerissen ...

Der Millionär konnte nur in Theatern und geräuschvollen Lokalen
einnicken.

Doktor Seraph saß oft stundenlang in träumerischer Betäubung vor einem
Kästchen aus dreifachem Holz, Taxus, Kreuzdorn und Hollunder. Legte den
Blutstein hinein und geriet in eine schlaflose Erschöpfung. Sein
scheinbar erloschenes Leben flackerte mählich auf, steigerte die Kräfte
bis zum magneto-elektrischen Prozeß. Seine Gesichtszüge wurden von einer
unendlich verzückten Beseligung beschienen, seine mattgebeizte
Fleischfarbe nahm ein leichtes hauchiges Rot an und mit einer bis zum
Paroxysmus gesteigerten Aufmerksamkeit schien er berauschender Musik zu
lauschen, schien das Farbenspiel eines Festgepränges zu verfolgen,
schien von ambrosischen Düften umfächelt, geriet in Ekstase, bis zum
Wahnsinn gesteigerte Begeisterung, machte keine Bewegung, alles bildete
sich in seinen plastischen Wachszügen. Die Ermattung warf den
leuchtenden Ausdruck plötzlich aus seinem Gesicht und die Totenstarre
malte den gelben Ton über sein Fleisch. Er schien von einem unendlichen
Leiden gefoltert, von ungeheueren Krämpfen zerrissen, von stechender
Qual zermürbt.

Mechanisch griff er in das Kästchen. Steckte den Blutring an den Finger
und legte den Teufelstein lautlos hinein ... Sprach mit eintönig
hölzerner Stimme – die Worte wie Bewegungen eines Hypnotisierten, eckig
und zäh – sagte Sätze mit unheimlicher Bedeutung und mit schleichend
dürrem Tonfall: „Tödin-Tod ihr bejaht das Gegenteil! – Geist von
Mitternacht furchtbarer als das Leben! – Schauerjungfern fliegen aus und
säen Kindersamen auf die keuschen Mädchenäcker. Ungetauft sind sie im
Tod erlöst. Weilen ohne Gut und Bös am seltenen Ort, in Nobiskraten.
Legt eine offene Schere auf – die jungen Wiegen sind dann erlöst vom
Nachtgejaid. Wechselbälge – Haare – Beine. Schwefelhölzer – Spinnen –
Molche – Kröten – Echsen. Aeugig eins der Hase, Beine drei, ist Loki
nicht der Feind vom Morgen? Gehenkte klappern schon am Galgenholz. Im
Sturm nimmt Wodan die gehängten Seelen mit. Geborsten und verflucht –
naht der Gesell mit Dreispitz schon, mit Feuerstein und läßt die Funken
stieben.

   Zottig zottig Hühnerei
   Hahnenkamm im Wirbelwind
   Reicht ihm schnell den Hexenbrei
   Beule – Warze – Narbe – Grind
   Schafriri, friri, riri, zi – –“

Dann änderte sich seine Stimme plötzlich, wurde weich, schwebend,
melodisch; er griff in das Kästchen und tanzte mit den Ringen durchs
Zimmer, singend schien er einem Trugbild zu folgen.

   Tod mit Muck
   In jähem Lauf
   Leg Spuck auf Spuck
   Und spucke drauf.

                                   Wer Herr seines Schicksals ist,
                                   ist selbst das Opfer einer großen
                                   Kraft, die aus der Ferne wirkt.

So war sein Schlaf, seine Träume. Träume ohne Schlaf sind seltsame
schwebende Gebilde, und wer Bilsenkraut oder Nachtschatten in der
Walpurgisnacht durch einen hohlen Totenknochen schlürft, kann eine
schaurige Fahrt machen.

Armida wußte um das geheimnis- und verhängnisvolle Dasein des schwarzen
Doktors. Ihre Weiberlist, ihn des Ringes im Schlaf ledig zu machen, war
nicht anwendbar – er schlief nie. Seraph hatte ein höllisches Laster, er
trank den Totenhauch der Sterbenden ... Das stechende Feuer seines
düster-fahlen Blickes gab seinen Augen etwas Ausgehöhltes, etwas
Feucht-Kühles, Unterirdisch-Nächtliches. Doktor Seraph empfand sein
Leben nicht als Verhängnis. Es war für ihn eine Tatsache, ein
So-sein-müssen, Sich-nicht-denken-können wie anders sein. Er war schön
wie der Tod im Leichenhaus. Kein Mitarzt wußte um ihn, allen war er der
Totenkopf, der nur die Operationen vornahm, die vom Aerztekollegium als
unmöglich erklärt worden waren. Trotzdem waren nicht alle unter seinem
Messer geblieben, und das Staunen war groß im Operationssaal.

Armida kannte ihn aus seiner Studentenzeit von Heidelberg her. In der
Anatomie saß er neben ihr, schaute sie nie an und gab ihr jeden Tag
einen kleinen Würfel weißen Zuckers. Im dritten Semester hatten sie sich
plötzlich gegenseitig und zu gleicher Zeit angeredet: „„Weshalb reden
wir eigentlich nichts??““ Eine Woche waren sie nicht aus dem Lachen
gekommen, beim Anblick befiel beide ein hysterisches, konvulsivisches,
unstillbares Lachen. Das übertolle Lachen brachte das Semester dazu,
Armida „Gluckerchen“ zu nennen. In dieser Zeit des erotischen
Frühscheins wollte Seraph der Medizin entsagen. Er bereitete sich vor,
die leichttönende Leier seiner Muse in würdigen Empfang zu nehmen,
schrieb fleißig Rezensionen und Skizzen, schlief ganze Tage und die
Nächte dazu, ließ die medizinischen Vorlesungen im Stich, schwänzte die
Uebungen, schaffte sich alle möglichen und unmöglichen Romane an, besang
„seine befreite Armida“ und kündigte seinem Professor seine
Promotionszusage. Schrieb ihm einen Brief voll Hohn auf die
Quacksalberei: Plötzlich habe er sie satt bekommen, um sich auf das
Feuerroß der Begeisterung zu setzen, das mit der Phantasie, dem Hafer
der utopischen Begabung gefüttert, den Olymp des Ruhmes erstürmt. In
Knüttelversen hatte er seine Umsattlung angedeutet:

   Mein Doktor wartet unentwegt auf die Geburt,
   Doch fehlt die Amme, ihn zu säugen,
   Wenn so ein Knabe literarisch hurt,
   Kann er doch keinen Doktor zeugen ...

Er hatte seine medizinische Bibliothek an einen Trödler losgeschlagen
und mit Ekel an sein Leichenschinder-Leben zurückgedacht; voller Ekel
dreimal vor dem Namen Arzt ausgespuckt, wie schwäbische Bauern tun, wenn
sie einem Schwein begegnen, verlebte mit Gluckerchen sanfte Tage
gegenseitiger Ergüsse in lyrischer Umarmung, dachte an Familienleben,
geordnete Zukunft, eine gesicherte Tracht Ruhm, vor den Kritikern, den
Prügeljungen der Literatenkaste, noch rechtzeitig gerettet. Da kam
plötzlich der schwarze Ring und mit ihm der freudelose Pflichteifer an
seinem eklen Handwerk.




                      FÜNFUNDDREISSIGSTES KAPITEL


                                   Wer viel vom Leben spricht, nimmt
                                   es nie von der ernsten Seite. Wir
                                   nennen die Flöhe Ungeziefer, weil
                                   sie uns jucken, ein Flohologe hat
                                   allerdings zwei Namen dafür, den
                                   wissenschaftlichen und den
                                   vulgären.

Sie machten einen Ausflug mit der Wannseebahn, Jappes, Armida und Arco
Calvandi. Stiegen in Schlachtensee aus. Es war irgendeine Zeit.
Vielleicht warm, vielleicht kühl – ein angenehmes Halbdunkel in den
verschlungenen Pfaden, die sich durch den Wald am See entlang
schlängelten. Die spezifisch ewige Stimmung, wie sie einen befällt, wenn
man einen schattigen See entlang bummelt. Die breite, gleißend-ruhige
Fläche des Sees mit abwechselnd dunklen und weißen Einkerbungen am Ufer,
lag in dem schweren Holzrahmen der umragenden Wälder. Herr Arco
Calvandi, der bewußt-verrückte Franzose, der schäkernde Lebemann, mit
einem freien Knabengesicht. Ein leichtes, zugestutztes flaumiges
Bärtchen, wie hingeklebt in das milch-rosige, gutmütig-offene
Muttergesicht. Mit den Privilegien der Reichen hatte er von seinem Vater
jene Offenheit und Gutmütigkeit derer in den Zügen, die nie jemandem
Rechenschaft abzulegen haben und von frühester Jugend durch toleranteste
Erziehung daran gewöhnt sind, über die intimsten Angelegenheiten des
Lebens mit gentlemanreifer Bravour zu reden, ohne zu erröten. Ein
bezaubernder Mensch, der kein Hehl daraus machte, daß Menschen seiner
Ansicht nach zu gegenseitiger Lust geschaffen sind, und es so schnell
wie möglich einsehen sollen. Sein wiegend sicherer Gang und seine
Kleidung verrieten den Autofahrer, der daran gewöhnt war, sich bei den
schaukelnden Bewegungen sicher und ohne Anstrengung zu äquilibrieren.

Armida hatte eines ihrer ungezählten aber gutgezahlten
Cover-coat-Strapazierkleider an. Kragen und Schlips und Reitgerte. Eine
deplacierte englische Miß mit der ungeduldigen Spannung eines Walter
Scottschen Romanes auf das Abenteuerlichste gefaßt und, was für Armida
charakteristisch war, zu naivst-mädchenhaften Kapitulationen vor starken
Männern bereit. So war sie heute.

Jappes war die dritte Seite dieses ungleichseitigen Dreieckes. Er schien
überflüssig, wie für den Geometer die dritte Seite eines rechtwinkligen
Dreieckes, die man leicht mit der Hypotenuse Calvandi, der Grundlinie
Armida und aus dem Verhältniswinkel beider bestimmen konnte nach dem
Lehrsatz: sagt mir, wer ihr seid, und ich sage euch, mit wem ihr umgeht.

Von seiner sportlichen Praxis her war Calvandi gewöhnt, das Tempo
anzugeben. Das knabenhaft listige Feuer seiner lüsternen Augen wußte die
Ironie seiner Worte ohne das Mienenspiel zu markieren. Seine
unsicher-stockende Ausdrucksform gab seiner Sprache etwas Hastendes, als
habe er Eile, eine gedachte Pointe durch die Lebhaftigkeit der Rede über
die Lücken der fehlenden Wörter hinwegzuheben. Er faßte seinen Besuch
bei Armida sehr ernst und für sich ausschlaggebend auf. Calvandi und
Jappes musterten sich mit der ruhigen Unruhe zweier Menschen, die in
derselben fatalen Lage sind: Bei einer Frau und zwei Männern gibt es
immer eine doppelte Intrige, denn eine Frau hat immer einen Schimmer von
Aufmerksamkeit für einen dritten, der in ihr Leben hereinspielt, sei es
in der Hoffnung, einen Freund zu gewinnen durch die Maske ihres
Interesses, sei es, ihren Mann durch die Eifersucht fester an sich zu
schmieden. Eine doppelt umworbene Frau hat unfehlbar die stärksten
Trümpfe in der Hand und kann ruhig Jeu ansagen. Sie wird selten
verlieren.

„Wir nehmen die Direktion am See entlang,“ begann Calvandi zu Armida
gewandt, „wir werden einen charmanten Abend haben, ein reizendes
Hors-d’oeuvre für die pikante Nacht. Liebespärchen pflegen nicht zu
dritt zu gehen, wir werden also auffallen.“

„Wir sind nicht mehr im Alter, wo man verliebte Mondscheinbummel macht,“
lachte Jappes, „Verlobte pflegen sich nicht mehr öffentlich und vorlaut
in der Liebe zu betätigen. Ich hätte dem Sittenrichter einen Vorschlag
zu machen: Einen roten Crêpe am rechten Arm für Verlobte, damit man sie
erkennt wie die Trauernden am schwarzen Flor.“

„Eine Idee!“ baute Calvandi aus, „eine deliziöse Idee! Wenn die
Verlobten ihre Verliebtheit nicht mehr durch gegenseitige Anhuldigungen
nach außen betätigen, sollten sie den roten Crêpe tragen bis zur Ehe,
dem Gesetz der zwangsvoll-gegenseitigen Hingabe.“

Armida verzog die Lippen zu spöttisch-fragender Grimasse und bewegte die
Reitgerte mit gelenkigen Fingern. „Sonderbar, die Männer reden immer
über Frauen und denken dabei an Liebe, oder sie reden über Liebe und
denken dabei an Frauen, – ob ein Mann aufrichtig liebt, persönlich
lieben kann ...? na, ich wollte die Frage nicht entscheiden.“

„Verzeihen Sie, Madame; meine erste größte Dummheit wäre es gewesen,
wenn ich mich nicht sterblich in Sie verliebt hätte,“ sagte der
Blaubart, „für Sie allein habe ich mehr Dummheiten begangen, als für
meine übrigen Eintagsfrauen zusammen. Madame, mein Herz hat sich in
glühender Liebe für Sie verzehrt ...“

Armida wehrte: „Freund, keine Flausen, die uns kompromittieren könnten.
Mir scheint das größte Uebel für einen jungen Mann, wenn das Gerücht
über sein wildverbraustes Leben schlimmer ist als die Wirklichkeit.“

„Madame,“ fiel Arco hastig ein, „heute bedauere ich zum ersten Male in
meinem Leben, kein Tagebuch geführt zu haben, ein persönliches Bändchen
Casanova, ein paar schwüle Kapitel Paul de Kock. Meine Sprache stört Sie
wohl am meisten. Die Form ist ungelenk, meine Calembours kann ich nicht
richtig anbringen.“

Jappes machte eine Bewegung voll graziöser Koketterie: „Ich glaube, wir
langweilen uns so agréable als possible.“

                                   Die grössten Schweiger waren
                                   Philosophen und umgekehrt.

                                   Schade, dass sie geschrieben
                                   haben.

Mit nachlässig-nebensächlicher Gebärde bot Calvandi Zigaretten an und
hielt das Etui, aus getriebenem Silber mit massivem Wappen und
verschnörkelten Initialen, spielend in der Hand. Jappes dankte, sein
Geschmack gehe nach einer Zigarre. „Die Liebe ist die einzige Religion,
in welcher es keine Renegaten und keine Sektierer gibt,“ – Arco Calvandi
unterbrach – und reichte Armida Feuer. „Die Leidenschaften muß man bis
zur Gewohnheit abschwächen. Sehen Sie die Zigarette, ein einzelner
Massengenuß. Die einzelne Zigarette verraucht und Kenner halten sich
nicht an eine Marke. Die Namen vergißt man, vielleicht erinnert man
sich, daß man einmal ein wunderbares Kraut verdampft hat. Das Rauchen an
sich ist das große Beständige, das Bleibende, der Reiz am Rauchen. Eine
einzelne Zigarette macht das Rauchen nicht aus, wir brauchen mehr, viel,
nur keine Spezialitäten. Allmählich stellen wir den Geschmack auf ein
besonderes Aroma ein und bleiben dabei. Es genügt, daß wir rauchen. So
ist die Liebe, eine Gewöhnung an die Frau, bei einer Marke dauert es
zuweilen länger, – vielleicht ist die Marke eines Tages ausverkauft, wir
finden eine andere, nicht schlechter, nicht besser –, das Wesentliche
ist, daß die Leidenschaft unterhalten wird, dann erst werden die Gefühle
seßhaft und lernen an der alten Scholle kleben. Der Vergleich ist mir so
eingefallen in rauchender Damengesellschaft.“

„Möglich, daß der Vergleich stimmt,“ eiferte Armida, Calvandi zu
unterstützen. „Mancher verbrennt sich an der Zigarette, kriegt Kopfweh,
verpulvert sein Vermögen für Luxuszigaretten. Sie haben mich überzeugt,
Herr Arco, habe ich richtig verstanden, eine Frau ist Gift in brennender
Hülle?!“

„Darf ich noch einmal um Feuer bitten,“ bettelte Jappes, „die meine
scheint schief gewickelt – und ist doch keine Gewohnheitszigarre zum
Hausgebrauch für die besten Freunde. Die Gewohnheiten sind die
erloschenen Krater der Leidenschaft; die Leidenschaft ist ein Spiel, das
Spiel unserer Instinkte mit den Kräften. Wir werden gespielt, wie wir
gelebt werden – irgendein großer Lebenskünstler hat das Leben so
geprägt.“

Arco Calvandi dachte an die Tage von Monte Carlo, wo er sechs Millionen
im Roulett verjeut hatte, dachte an seine Auferstehung, die er durch
Armida erhoffte, dachte an die Wiedergeburt des Sünders aus dem Pfuhle
zügelloser Verschwendung, dachte, daß Berlin sein Damaskus werden
sollte. Er hatte Gründe genug, ein ernstes Wort zu reden, aber der
Zwittergeist von Witz und Ironie diktierte ihm:

„Manches Leben endigt in einem Spiel und manches Spiel in einem Leben.
In der Ehe hält die Frau die Grillen eines Mannes warm. Für einen Roman
ist sie die Hauptperson, weil sie für die Spannung sorgt. Die Frau ist
zäh und wird auf Seite 313 in Romanen erst getötet oder in der Ehe
unschädlich gemacht.“

„Schau ihn, den Weisheitsstengel,“ und Armida klopfte ihm mit der
Reitpeitsche auf die Finger, „er spricht wie ein ergrautes Ehesemester.
Dümmer als die Rede eines Weisen klingt es nicht. Die Frauen haben alle
eine Grille, nennt mir sie schnell – nanu, wie still! Wie heißt die
Grille, Freunde?“

„???“

„Ihr schweigt, wohlan, die Grille ist der Mann. Ein Mann ist eine kleine
Welt. Das Feuer einer Frau ist viel zu groß, um so ein Einzelgrillchen
alleine daran zu wärmen. Nicht nur Frauen heiraten in Romanen – Wie
könnten sie allein die Tragik schaffen! Romane, wo eine Frau und viele
Männer sind, kann man zum Ueberdruß noch lesen. Wo nur ein Mann und
viele Frauen vorkommen – bei Gott! – da hält der Mann den letzten Akt
nicht aus. Er zappelt hin und her und stirbt aus Ueberdruß. Ist er ein
Kavalier, schießt er sich eine Kugel vor. Ist er ein Lump, tut er
desgleichen. Und ist die Frau allein im Prunkgebäude des Romans, dann
wird gekämpft, bis nur der Stärkste übrigbleibt – und der gehört dann
noch der Frau.“

Arco Calvandi dankte für die Belehrung. „Mein Exempel hat diesmal nicht
recht gestimmt. Es ist nicht schwer daneben hauen, denn das Beispiel
trifft den Fall ganz einfach oder trifft ihn nicht.“

Jappes stellte sich beiden in den Weg, kreuzte die Arme über der Brust:
„Es wär vernünftiger, das Leben nach einem Roman zu leben, als einen
Roman nach dem Leben zu schreiben. Alle berechenbaren Zufälligkeiten
würde man miterleben, während das Pikante der Romane nur der
Treppengeist des Lebens ist. Im Leben fällt uns immer erst später ein,
was wir hätten tun sollen. Würde einer von Jugend auf nach einem
gegebenen Roman leben, dann käme wenigstens eine unglaubliche Spannung
hinein. Romane soll man für die Jugend schreiben, aber die Romane nicht
aus dem Hinterhalt aufs Leben loslassen, wie eine zahnlose Meute mit dem
Schaum der Moral in dem lüsternen Maul. Treppengeist! Die vernünftige
Jugend lacht die meisten Romanhelden aus, sie würde heute ganz anders
gehandelt haben: Keine langen Intrigen, um etwas zu erhaschen, was man
viel leichter im Laden nebenan haben kann. Alle Helden und alle
Heldinnen verschenken dasselbe. Die Romane müßte man von rückwärts
schreiben. Sie würden verblüffend kurz und auch ...“

„Wir sind vom Leben abgekommen,“ unterbrach Calvandi, „die Romane der
Armen werden viel zu oft gelebt, um geschrieben werden zu dürfen, und
die Romane der Reichen werden viel zu oft geschrieben, um gelesen werden
zu sollen. Die Ehe ist die schweinslederne Ausgabe unserer
sterilisierten Gefühle. Das Kind ist eine Dichtung zu zweien. Die
Dichtung ist das fidele Handwerk, das die Liebe mit der Welt versöhnt.
Setzt Frau statt Liebe, Mann statt Welt, und der Vergleich ist fertig,
wenn ihr Kind statt Dichtung setzt. Ihnen, gnädige Frau, will ich mein
Herz zu Füßen legen ...“

Jappes lachte laut auf: „Ihr Herz hat sich in glühender Liebe für sie
verzehrt – – oder wie sagten Sie erst kurz? – und jetzt wollen Sie es
ihr zu Füßen legen. Selbst Armida kann zurückdenken.“

Armida lachte Arco spöttisch an: „Rückfällige Kranke sind die
undankbarsten Patienten. Ich danke, Freund, für Ihre edle Herzenssache.
Ist die Glut zu groß in Ihrem Herzen, dort ist der See, die Glut zu
kühlen.“

Da fiel das Lachen auch Calvandi an: „Verliebte sind immer lächerlich,
Madame, Sie wägen die Worte auf der feinen Wage, weh! ich habe schon
verlernt, die Komplimente gut zu drechseln.“

Und Jappes: „Wir sind schon daran gewöhnt, die Menschen nicht mehr ernst
zu nehmen.“ Vor Wannsee ließ der Pfad den See und kroch zum Bahnhof. Vom
See sprang ein kühler Wind und rüttelte die Bäume aus dem Schlaf, weil
der Mond schon aufgegangen war und neidisch auf die elektrischen Lichter
hernieder sah.

„Kommt, Freunde,“ rief Armida, „ich sollt von mir auch etwas haben.“ Sie
riß beide an ihre Seite und hängte sich ein. Sie hüpfte zwischen den
beiden dunklen Gestalten und wunderte sich über die Männer im
allgemeinen und über die ihren im besonderen.




                      SECHSUNDDREISSIGSTES KAPITEL


                                   Niemand glaubt gern die
                                   Erlebnisse: der andern, und es
                                   gibt Erlebnisse, die man nicht für
                                   einen anderen erleben möchte.

„Jappes,“ sagte Armida, „ich brauche Calvandi allein. Tu mir den
Gefallen und fahre nach Saßnitz. Das Meer wird dich entschädigen und du
wirst deine Ueberflüssigkeit vergessen. Arco Calvandi reizt mich, und du
weißt, was das bedeutet.“

In Stralsund wartete das Schiff, das den D-Zug auf seinem starken Buckel
nach dem Eiland hinüberbrachte. Jappes saß in seinem Abteil mit der
Gleichgültigkeit eines Weggeschickten, der kein Ziel hat, auf alle Fälle
aber acht Tage auf irgendeine Weise totschlagen muß. Der scharfe Wind,
der von der See dem fahrenden Schiff entgegenblies, riß den
Zigarrenrauch jäh in den feuchten Morgen. Schwarze Fischerbarken mit
gelbgrauen Segeln trieben auf den schlecht gekämmten Wellen. Ein Eiland
reihte sich ans andere und alle grüßten mit ihren Laubwäldern herüber.

Auf dem Wasser gibt es keine Jahreszeit.

Kaputte Fische trieben mit der Strömung, die weiß-tote Bauchfläche nach
oben. Der Tod kehrt das Unterste nach oben, das ist das Wesen des Todes.
Jappes zielte mit einer halben Zigarre nach einem toten Hering, und die
beiden Leichen schwammen friedlich nebeneinander. Ein erloschener Hering
und eine tote Zigarre tun sich gegenseitig nichts. Er warf sich in die
Polster, brach Schokolade aus der Tasche in den Mund und rauchte eine
Zigarette dazu. Ihm gegenüber saß ein Reisender. Sonst war niemand im
Abteil. Eine graue Handtasche nickte vom Netz herunter: Merkwürdig, daß
Menschen graue Handtaschen haben, dachte Jappes, die Farbe der
Scheinlosigkeit, der Unauffälligkeit, die Farbe des Nichts, der
unausstehlichen Ueberflüssigkeit, des Elendes. Ich muß mir eine graue
Handtasche kaufen. Seine Züge sprangen vom Netz herunter und wühlten
sich in die Züge des Reisenden. Zuckerbäcker! schoß es Jappes durch den
Kopf. Schwammig-verwaschene Züge wie Zuckerbäcker, Zuckerbäcker sind nie
Charaktere.

War überhaupt ein Anhaltspunkt vorhanden vom Aeußeren auf das Innere
dieses Menschen zu schließen? Die Konturen des Kopfes waren nicht scharf
geprägt. Graumeliertes Haar oder blond? Man konnte nicht genau
unterscheiden. War der Mann unrasiert oder überpudert? Die Augen
verrieten nichts und sandten nur zufällige Blicke hinaus. Ein Mann, der
zu allem unendlich viel Zeit zu haben schien und dann noch warten
konnte, wenn diese schon abgelaufen war. Die staubigen Stiefel, der
verschlissene Mantel, die Hände ... sollte er ein Philosoph sein? Auf
keinen Fall paßt das zum Fahrpreis, fiel es Jappes ein. Uuiih ... da ist
etwas nicht in Ordnung! Gibt es nicht in uns allen jene odische Lohe,
mit deren Hilfe wir den sympathischen oder unsympathischen Nimbus
unseres Gegenüber durchforschen können? Gibt es nicht in uns allen jene
undefinierbare Kraft, die uns vor den Gedanken der Umgebung warnt, in
uns die widerstrebende Regung wachruft, nichts von uns preiszugeben, ja!
stehen wir nicht unverrückbar fest unter dem dunkel-machtvollen Gesetz
der Dämonologie! Liegen die Geister, welche von unserem Körper Besitz
ergriffen haben, nicht beständig auf der Lauer, sich gegen die
Einwirkung von außen zu schützen! Wir sterben nicht, die aktiven Geister
müssen den Totengeistern weichen, die ihren Raub in der Erde bergen, wo
er ihnen von den Lebensgeistern wieder langsam Stück für Stück entführt
wird, um irgendwo in der Ferne die neue Wohnung alter Geister zu sein.
Weshalb hätten wir sonst den Traum und die Sehnsucht nach der Ferne?

Der Fremde saß unbeweglich, in sich abgeschlossen. Kein Gedanke verriet
sich nach außen. Sein huschender Blick trug irgend etwas von Jappes in
die Denkmaschinerie, verarbeitete es zu einer Hypothese, ein Schluß
entstand und wieder eilte der Blick, eine neue Partikel zu holen. Die
Unbeweglichkeit des verschossen Gekleideten in der Ecke störte Jappes,
er fühlte, wie die Blicke ihn umklammerten, wie die Augen an ihm
leckten. Es widerte ihn an, mit diesem abgefeimten Wesen
zusammenzusitzen. Ueber Altefähr hinaus rasselte der Zug wieder auf den
Rädern, und Jappes fühlte sich unbehaglich in dieser zweideutigen
Gegenseitigkeit, in dieser rollenden Ruhe. Er fühlte, wie die Spannung
sich in ihm vorbereitete, wie das Mißtrauen wuchs, wie es sich innerlich
in ihm aufbäumte, sich diesem verrucht Ruhigen und gleichgültig
Beobachtenden zu entziehen.

War es Furcht? ... War es die Wehrlosigkeit gegen das Unbestimmte? ...
Da erwachte der Teufel in ihm: Der in der Ecke war ein Schurke! Huh! ...
seine bohrenden Blicke stachen in jede Pore ... berührten mit frecher
Gebärde sein Ich ... auflösend, zerstörend. Nichts war diesem Blicke
heilig ... er bohrte und berechnete ... Stellte das Verhältnis der
gegenseitigen Muskelkraft auf ... Maß die Schulterbreite ... studierte
die Bewegungen ... berechnete kühl, ob eine Ueberrumpelung die Kräfte
lähmen oder stärken würde ... hatte Zweifel, wie sie Mörder haben, ehe
sie fähig sind zum Mord.

Jappes erbebte, als ihm die Gewißheit wurde, was in dem Fremden vorging.
Die Erregung schüttelte ihn wie ein jäher Frost und mit der Rechten
griff er in die Tasche und umklammerte seine Pistole. Der Reisende sagte
mit ruhig-sicherer Stimme: „Sie frösteln, es ist etwas kühl, vielleicht
schließen wir das Fenster.“ Die Worte kamen wie ein Verhängnis durch die
schadhaften Zähne. Jappes hörte eine mahnende Stimme: Gib dir keine
Schwäche, befolge seinen Willen nicht. Laß ihn keine Kraft in dir
festsetzen. Er hörte die Stimme schwach, wußte nur, daß sie widerriet,
fühlte, daß es gut sein mußte, wie sie gebot.

„Danke, nein,“ gab er zurück, „es ist nicht kalt.“

Der Fremde ließ nicht mehr locker, und Jappes war es angenehm, durch die
Rede Gewißheit über seine Zweifel zu erhalten:

„Der Zug hat Anschluß an den Dampfer nach Trelleborg?“ fragte er Jappes.
„Wann kommen Sie in Trelleborg an?“ und sein Blick lauerte, die Wirkung
zu haschen.

„Ich fahre nicht nach Trelleborg,“ erwiderte Jappes, „ich steige in
Saßnitz Hauptbahnhof aus, der Zug fährt bis zum Hafen weiter.“

„Sie kennen Saßnitz wohl gut, vielleicht können Sie mir ein Hotel
empfehlen.“

„Ich war nie dort, deshalb kann ich Ihnen gut alle empfehlen, Hotels,
die man einmal besucht hat, pflegt man nicht gerne zu empfehlen.“

„Ach so, Sie kennen Rügen nicht.“

„Nein, nur einmal bin ich von Stralsund herübergekommen, um am Strand zu
bummeln.“

Jappes überdachte die Fragen, inquisitorisch waren sie nicht, nicht
einmal verfänglich, vielleicht nicht einmal neugierig, vielleicht nur
Gelegenheitsfragen? – Der Schaffner kontrollierte die Fahrscheine. „Ich
zahle einen Zuschlag zweiter ab Stralsund,“ erklärte der Fremde und
überreichte sein Billett.

„Der Fahrschein ist am Stettiner Bahnhof gelöst, Sie müssen die
Uebergangskarte von Berlin nach Saßnitz nachlösen.“

Der Fremde zog eine Karte aus der Westentasche: „Ich dachte anfangs nur
bis Stralsund zu fahren und habe den Zuschlag nur bis Stralsund bezahlt.
Heute habe ich mich entschlossen, weiterzufahren.“

Jappes horchte auf, klang das nicht verdächtig? Hatte er den Mann nicht
schon gesehen? Jappes war einen Tag in Stralsund geblieben. Sonderbar?
Der Kontrolleur überreichte die Scheine: „So sind wir schon in Ordnung.“

„Herr Schaffner,“ bat Jappes und bot ihm eine Zigarette an, „ist der
erste Tunnel vor Bergen oder nach Bergen?“

„Es gibt keinen Tunnel auf dieser Strecke,“ dankte der Schaffner für die
Zigarette. „Dann ist mein Reiseführer nicht genau,“ sagte Jappes.

Es war kein Zweifel, der Fremde war ein Verbrecher und es reizte Jappes,
mit ihm zu spielen. Er empfand die lebhaft brennende Gier, diesem
Fremden seine Ahnungslosigkeit zu zeigen, und er redete mit der
verschwenderischen Offenheit und mit der sprunghaften Erzählerlust, wie
sie Freunde befällt, die lange nicht mehr zusammen waren und ihr
Programm überhastend entwickeln, um Fragen auszulösen, und alles
möglichst schnell anzudeuten suchen, um die Reichhaltigkeit ihrer
Erlebniskarte darzulegen.

„Ich steige im Strandhotel ab,“ begann er, „es ist jedenfalls das
vornehmste in Saßnitz, vielleicht wohnen wir zusammen? Vielleicht haben
Sie auch keine Zeit, keine Lust, na, jedenfalls können wir zusammen
Mittagbrot essen und eine Flasche leeren. Ich werde baden und um zwei
Uhr können wir uns treffen. Ich hole noch ein paar postlagernde
Telegramme; ich erwarte auch einen Scheck von der Dresdener Bank.
Nachmittags können wir ja einen Spaziergang am Meere entlang machen,
vielleicht über den Hafen gegen Stubbenkammer, wo das Meer braust und
die Felsen öde sind. Ich habe mich sehr aufs Meer gefreut. Das Meer
lockt mich immer mit starker Kraft. Die letzten Tage haben mich
niedergedrückt ... doch das ist eine subtile Affäre, ich will Sie lieber
damit verschonen.“

Der Fremde fühlte eine große Sicherheit und seine Gedanken wimmelten um
sein neues Ziel: – gegen Stubbenkammer, wo das Meer braust und die
Felsen öde sind, wiederholte er für sich und laut: „Ja, gut, das können
wir tun, es wird mich freuen, den Spaziergang mit Ihnen zu machen. Bis
zwei Uhr habe ich noch geschäftlich zu tun. Ich glaube, ich traf Sie
einmal an der Dresdener Bank, als Sie einen Scheck abhoben. Ich glaube,
hunderttausend Mark?“

„Ich erinnere mich nicht,“ sagte Jappes, „ich habe ein schwaches
Personengedächtnis, aber hundert Mille habe ich einmal abgehoben.“

Der D-Zug hielt. Saßnitz Hauptbahnhof. Jappes stieg aus und der Fremde
fuhr bis zum Hafen. Vom Meer blies ein scharfer Wind: „Das gibt Sturm,“
sagten zwei Reisende und deuteten auf den westlichen Himmel.

                                   Christus und der jüdische
                                   Schächer: Als Tatsache unmöglich,
                                   als Symbol unglaublich, als
                                   Märchen wertvoll.

Jappes hatte sich unter dem Namen Dr. Golliwog ins Fremdenbuch
eingetragen. Er ließ sich und seinen grauen Gast in einem Separatzimmer
bedienen: „Wünscht Herr Doktor jetzt schon zu zahlen?“ dienerte der
Kellner, erstaunt, weil Jappes ihn um die Rechnung bat.

„Ja!“ scherzte Jappes, „ich liebe es nicht, mit einer Schuld ans Meer zu
gehen, man weiß nie, wo man bei einer Seefahrt landet. Das Essen und den
Wein zusammen, bitte.“ Der Fremde und der Kellner lachten zu dem Scherz.
Jappes zog eine schwergefüllte Banknotentasche hervor, blätterte durch
die braunen und blauen Scheine, warf die Tasche nachlässig zur Seite und
langte nach einem kleinen Maroquintäschchen, faltete ein großes
Trinkgeld für den Kellner zurecht, zahlte die Zeche, brannte eine
Zigarre an und ging mit dem eilfertigen Fremden zum Strand.

Wer ein Stück Wegs am Meer entlang auf Lohme zugeht, merkt bald, wie der
Weg zum Pfade wird und zwischen den massigen Kieselklötzen eingeengt
kaum Platz für einen Strandläufer bietet. In fremder Begleitung ist es
gefährlich im Gänsemarsch zu gehen, dachte Jappes und hüpfte nebenher
von Stein zu Stein wie die Springflut. „Oh, ich liebe es, über die
Steine zu springen,“ wehrte er der Einladung des Fremden, im Pfade zu
gehen, „das Meer, das Meer, es macht mich ganz trunken, ganz toll.
Drüben ist das Meer wilder, da lagern wir uns in der windgeschützten
Tannenpflanzung hart am Wasser.“

Der Fremde trug seine graue Handtasche und schritt vorsichtig an den
ragenden Kieseln vorbei: „Sie sind ein Schwärmer, mich hat das Meer auch
immer begeistert.“ Die ewigen Wellen schluckten über die Kiesel und die
Möwen zogen ihre schreienden Kreise tangierend an die wogende Fläche.
Vom Hertha-See herüber ragt eine weiße Kreidenase ins Meer. Spült eine
Welle heran, dann zerschellt sie an der kahlen Wand, sonst ist der Boden
sandig und ein eilender Fuß kann bis zur nächsten Welle jenseits des
eckigen Felsens sein.

„Sie warten die Welle ab und laufen hinüber,“ rief Jappes, „ich komme
noch rechtzeitig hin und ein kleines Fußbad schadet nicht viel.“

Der Fremde lief mit steifer Bewegung und kam trocken hinüber. Jappes
plätscherte durchs Wasser der antreibenden Welle und setzte sich auf
einen abgerundeten Felsblock, der auf dem Trockenen lag.

„So stelle ich mir die Predigt am See Genezareth vor, erhaben auf einem
Stein und mit dem Wellengang um die Wette brüllend. Setzen Sie sich
einen Augenblick, fremder Freund, die Sonne malt die Wasser gerade rot.
– Seltsam, heute früh haben wir nichts voneinander gewußt und schon
flanieren wir zusammen am Strand. Wenn das Meer so rieselnd blutig ist,
reizt es mich, peitscht mein Blut, mich ins Wasser zu stürzen, einen
Menschen umzubringen und dazu zu brüllen, damit ich sein heilig-letztes
Röcheln nicht vernehme. Die Wassergeister haben eine geheimnisvolle
Kraft, die Undinen, Elfen, Nixen – der Meermann, das ganze Heer der
Nebelmänner. Mich überläuft es kalt. Heiiih ... die ewig schwebenden
Wellen, der lockende Wassertanz, das Spiel der tanzenden Geister.“ Er
riß seine Pistole aus der Tasche und feuerte sie ins Meer. Der Fremde
fuhr zusammen und kauerte auf einem Stein. Jappes krallte seinen Blick
in die irrenden Augen des Gegners: „Meine Pistole trage ich immer bei
mir. Meine siebenmal treue Freundin – einmal in Westerland auf Sylt –
doch nein! weshalb die Stimmung verderben durch eine Raubmordgeschichte,
die ich dort mit einem Fremden ... Puh, heiih ... keine Grillen! unsere
Opfer sind uns alle sicher.“ Ein zweiter Schuß rollte übers Meer und
Jappes sprang vor den Fremden.

„Ich bin ein Mörder!“ brüllte er im Sprung und zielte mit der Pistole in
das aschfahle Gesicht. „Wie du, bin ich ein Mörder! Geh deinen Weg
zurück. An mir kannst du dein blutiges Handwerk nicht üben! Heb deine
Hände hoch, du verstehst die Parole ja: Hie Geld, hie Blut! Beim Mord
geht es von rot auf rot!“ – Zog dem Fremden einen kleinen vernickelten
Revolver aus der Westentasche, öffnete dessen graue Reisetasche: Ein
Rock, Charpie und Watte, eine Mütze, ein Dietrich, Seife, Taschentücher
und ein massives Brecheisen. Der Fremde starrte mit verlorenem Blick und
eine wutverhaßte Linie zog sich um seinen Mund. Jappes warf ein paar
Kiesel in die Tasche und schleuderte sie ins Meer. Machte dem Fremden
ein Zeichen, daß er vor ihm hergehe.

Sie warteten zwei Stunden am Bahnhof und der Fremde fuhr mit dem
Nachtschnellzug nach Berlin. Jappes löste ihm einen Fahrschein zweiter
Klasse und reichte ihm die Hand bei der Abfahrt: „Ich hoffe, Sie
brauchen keinen Zuschlag für die erste Klasse nachzulösen.“




                     SIEBENUNDDREISSIGSTES KAPITEL


                                   Die Sünde ist eine
                                   Erbschleicherin, die auf den Tod
                                   der Tugend lauert.

„Meine ganze Mappe wird im Glaspalast ausgestellt,“ rief Pepy
freudestrahlend und hob ihre Hand graziös an Professor Günthers Lippen.
„Ich bin sehr glücklich und ich danke Ihnen vielmals, mein Freund.“

„Schön, schön, für seine Freunde muß man immer etwas Angenehmes tun
können und es wird zur Pflicht, wenn man ein Talent fördern kann. Wir
gehen ins Atelier hinauf, da können wir ungestörter plaudern. Gestört
werden wir sowieso nicht, meine Frau ist mit einer Freundin ins
Residenztheater.“

Sie stiegen die Treppe hinauf und die Läufer dämpften ihre Schritte.
Professor Günther ging hinter diesem jugendbebenden Wesen. Sein Blick
umfaßte die vollen geschweiften Hüften des Mädchens, die prall-molligen
Waden, in gemusterten durchsichtigen Strümpfen gerundet. Er umfing ihre
Bewegung, trank den Rhythmus, der von ihr ausströmte, berauschte sich an
seinem glühenden Verlangen. Sein wild pulsierendes Blut trieb ihn,
dieses rothaarige Kind zu berühren, ihr in lodernder Brunst seine
Sehnsucht zu klagen, in ihrem weichen elastischen Busen zu wühlen, ihr
heißes Fleisch zu küssen, jede Fläche, einzeln, lange, lange ... Er
stolperte die Treppe hinauf, von der Begierde gepeitscht, von der
Unsicherheit gefesselt.

                   *       *       *       *       *

Wer könnte die geheimnisvolle Macht des Fleisches bezweifeln! Sind die
mystischen Verzückungen der Heiligen etwas anderes als erotischer
Taumel? Sind die devoten Verzückungen der Klosterfrauen etwas anderes
als saugende Erschöpfung im Andenken an das liebeglühende Herz des
Erlösers? Ewige Gesetze des Blutes, die uns die Sinne verwirren, die uns
im Rausch der kreisenden Säfte zum gesteigerten Leben führen. Göttlicher
Funke der Empfindung, der du das Leben zur Wonne machst! Oh! die Wollust
der schlingenden Arme. Oh! die Nähe der rieselumrauschten Umarmung. Oh!
der Zauber der müden Gestalten. Taumel, Wirbel, Glut und Beben und selig
still Versinken in sich selbst.

Günther und Pepy sahen keine Staffelei, keine Bilder. Ihre gegenseitigen
Gedanken waren Wirklichkeit. Sie gehörten sich, von Mund zu Mund, von
Fleisch zu Fleisch. Das Mädchen in erschrocken-erregter Erwartung
erzitterte, als Günther ihr das gekräuselte Gelock löste, ihr glühendes
Gesicht an seine pochende Schläfe drückte, ihr Stirn und Auge
streichelte und in langer Umarmung ihre Lippen preßte. Sie begehrte
diesen Mann, wie er sie begehrte. Ihre köstlich-reifen Brüste quollen
aus dem gelösten Mieder, und Wonne durchschauerte den willenlosen
Körper, als er seine Lippen zum Kuß hinunterneigte. Löste ihre
leuchtende Unterkleidung und ihr Fleisch quoll hervor, perlend, blendend
weich. Wundersam samtige Knie, die Fülle der flaumigen Beine, die
Wölbung des bebenden Leibes, der dunkle Schatten der männlichen
Sehnsucht. Günther hüllte sie ein mit den Blicken. Umschmeichelte
streichelnd die lockenden Reize und seine Sinne stöhnten von der Marter
des flutenden Blutes. Biß seine Zähne in das saftige Fleisch, das sich
wehrlos dem Drängen entgegenspreizte, zuckend in betäubender Lohe.

Worte sind schwache Trabanten, wissen nicht von den Lüsten der Menschen
zu sprechen. Und Taten sind stumm ...

Heilig ist die Lust, welche die Sinne berauscht, welche die
Begehrenssehnsucht nach dem Tempel der Freude weckt. Mensch! entsprossen
aus dem Mutterleib, ewig zieht es dich zum Mutterschoß zurück. Der Traum
vom Kind, der Traum vom Weib wird nie so schön geträumt als unbewußt. O
heilig-weicher Schoß! du birgst das Wunder einer Welt in Seligkeit aus
nichts erschaffen. Fluch dem Schöpfer, daß er die Begierde nackter
Zweisamkeit bei Tieren schuf! Ward der Mensch erniedrigt? Ward das Tier
erhoben? Das Leben ist aus Lust geworden nach einem heiligen Schmerz im
Mutterleib. Liebend hegt die Frau die Frucht, die ihr mit
schmerzlich-banger Qual die Mutterschaft zerriß. Geheimnisvoll Gefäß der
schmerzlich-süßen Lust! O Litanei der süßen Namen! Nicht Fleisch ist
Schöpfer – Heiliger Geist aus jenem Wunderland, das die Erlösung in die
Welt gesetzt. Marter ist dein Traum von Lust und alle träumen wir die
martervolle Freude. Kelch der Gnade, du Labung des begierdevollen
Opfertums. O Mater lacrimosa, hast du auf Golgatha das Wunder deiner
Ueberschattung nicht verzückt beweint, als mit dem Sohnesblut das
Mutterwort vom Kreuze tropfte? Weh deiner heiligen Ohnmacht, daß du den
Tabernakel glückverklärter Herrlichkeit nicht künftiger Erlösung weihen
durftest. Löwenmutter, die nur einen Sohn der Wüste schenkte, wende
deine Huld den Armen zu, die deine Leiden in der Mutterwürde büßen.

                                   Kunst und Leben: Traum und
                                   Wirklichkeit; Erwachen liegt
                                   dazwischen.

Pepy kannte kalte Marmormänner, die mit ihren toten Reizen keine Sinne
kitzeln. Gips und Stein! so war die Kunst, kalt und tot. In dieser Nacht
sprach der erste warme Mann zu ihr, den sie wie einen Traum erlebte.
Fleisch und Blut! so ist das Leben warm und schaffend.




                      ACHTUNDDREISSIGSTES KAPITEL


                                   Es gibt Menschen, bei denen der
                                   Fortpflanzungstrieb stärker ist,
                                   als der Selbsterhaltungstrieb.

„Es reizt mich, dich zu heiraten mit allem Formelkram und allem
Jirimiri. Dein angetrautes Weib! Ein Jahr vergeht im Flug, bis dahin bin
ich dieses Abenteuers überdrüssig. Die Welt dreht bunt zu unseren Füßen,
wir täten unrecht, uns nicht mitzudrehen. Wo ist der Weg, den diese Welt
durchmißt? Sie dreht und dreht um Sonne, Mond und Sterne, und übers Jahr
ist sie am selben Fleck. Vergiß nicht, daß die Drehung rasch ist und daß
der Taumel uns die Richtungswerte nimmt.“

So sprach Armida und Calvandi grinste:

„Es wird ein seltenes Paar, und Seltenheit ist selten auf dem
Torkelglobus. Ich werde dir am Tage treu und nachts dein Diener sein.
Die Familie beruht auf Beischlaf, und das Glück des Kindes hängt vom
Vatersegen ab. Mein Täubchen, komm, sei meine süße Maus. Die Ehehälften
müssen sich zu einem Ganzen schlagen. Wir gehen los: zum Schöps, zum
Paternoster, kehren heim in unsere trauten Brautgemächer. O holder Engel
du! In meinen Tränendrüsen herrscht die ewige Ebbe, heute wär ein Tag,
dem Glücke von der salzigen Flut zu spenden. Wie ist der Brauch allhier:
darf man die ungeweihte Braut mit einem Kuß versehen?“

„Tu wie du willst und laß den Brauch für die Gebräuche.“

„Du honigsüße Lorelei. Laß mich den Inhalt deiner Waben pressen und
meine Muskelkraft mit dir in der Umschlingung üben. Die Schnute fix! Wie
feierlich die Gegend schweigt – – – Deine Fresse ist recht appetitlich,
noch einen Kuß für deinen Lippenzwilling, bei Ehr, das ist der beste
Liebesschilling.“

„Laß mich schnaufen, Arco, du bist grob.“

„Ich bin nie grob, manchmal stürmisch galant. Die Last der Ehe wird die
Glut schon dämpfen. In Flittertagen darf man nicht empfindlich sein.
Bist du nicht Mutter übers Jahr, dann sterben meine Vaterträume, die in
der heißen Brust gehegten. Wie schön, von einer Frau geliebt zu sein!
Arme Freundin, das kannst du nie erleben und mußt mit eines Mannes Liebe
fürliebnehmen. Du hast mich doch lieb? Verzeih, wenn du dein Denken
durch die Ueberlegung schändest.“

„Ich glaube ja und du?“

„Ich habe mich nicht lieb.“

„Und mich?“

„So lieb, wie wir uns beide gegenseitig lieben. Ich habe Sehnsucht nach
den Hügeln meiner Träume, nach dem Tale meiner Sehnsucht. Treten wir ins
Eden, ins Dorado, dein Michael ist abgereist, der am Garten der Armida
Wache stand. Du bist die Schlange, ich der Apfel und der Teufel wird
beim Pflücken geigen.“

„Jappes ist am Meer mit seinem Flammenschwerte und das Dorado steht dir
offen. Vergiß nicht, daß der Teufel Kolophonium zum Fiedeln braucht. Die
Schlange häutet sich noch nicht. Jappes-Michael muß sein Nein zum Ja für
dich verwandeln. Das Jawort ist die Klausel der Geschlechter, und
Michael ist eine Großmacht, die mit zähem Wall mein Ich umschlossen
hat.“

„Weh mir der Qual, den Terminus noch abzuwarten!“

„Denk, daß du ein Mann und ein Franzose bist und einer Dame ritterlich
entgegenstehst. Der Rittersinn soll nicht allein im Rosse liegen. Ich
denke, deine Ahnen waren Ritter?“

                                   Perversität und Genie treiben zum
                                   selben Ziel: dem Wahnsinn.

„Von meinen Ahnen soll ich dir erzählen, dem Stammbaum meiner
Ritterschaft, mein Pedigree ... Vom: Hausgeist derer, die sich meine
Väter nannten, von der Kette meiner Uren, die sich zum Gedeih des
Stammes der Calvandi zeugten. Frankreich steht und fällt mit dem
Geschlechte der Calvandi! Unsere ersten Streitrosse standen unter Ludwig
dem Frommen, le Débonnaire. Nach dem Normannenzug ritten sie zum Grafen
Eudes, als bei Karl dem Kahlen keine Wolle mehr zu scheren war. Der
Stammbaum reitet durch die Wirren treu an königlicher Tafel seinem
Glanze nach. Meine Ahnen waren kühne Zeitgenossen aller großen Taten;
mit den Königen standen sie auf du und du, mit der Reihe derer, die man
Ludwig nennt, auf geldvertrautem Fuß. Meine Phantasie illuminiert mir
die Taten aller Louis, wenn ich an die Namen denke, die von ihrem Wesen
Kunde geben; Ludwig der Fromme, der Dicke, der Junge, der Löwe, der
Heilige, der Zänker, der Elfte, der Vater des Volkes, der
Unglücksziffrige, der Sonnenkönig, der Namenlose, mit Maria Leszczynska
ins Ehebett getraut, der Sechzehnte, den man vom Denken suspendierte.
Die Philipp, Karl und Heinrich, die in den Ludwigslücken glänzen, haben
meiner Ahnen Tätigkeit am eigenen Leib erfahren und sie für ihren Raub
geadelt.

Seit der große Korse die Ländertafel anders malte, leben meine Väter vom
Goldstaub der Jahrhunderte. Mein Vater war korrekt und zäh in der
Verfolgung eines Zieles. Es soll kein Tadel sein: Drei Jahre ritt er an
der Bahn entlang mit einem Terzerol, den Führer eines Zugs, der ihn zu
spät aus der Provinz zu einer Freundin in die Stadt gebracht, zur
Rechenschaft zu ziehen. Mit verhängtem Zügel hat er sein Roß am Zug
entlang gepeitscht ... Da dämmerte im dritten Jahr in seinem
geistverwirrten Sinn, daß er nicht wußte, wie der Führer war. Die
Jugendtage hat er in heilig-augustinischer Versunkenheit verliebt, die
Kirche wurde sein Refugium. Zur Vesperzeit sah man ihn mit einer Koppel
Hunde und mit seinem Jagdgewehr im kühlen Raum der Kirchenwölbung, mit
unverwandtem Blick die Frauen äugend ... Seltsam, keine lachte.“

„Die Ehrfurcht ist um die Ehre länger als die Furcht. Dein Vater war ein
Feuergeist. Sein Hitzkopf ist dein Erbe. Ich liebe Männer, die sich
Opfer bringen.“

„Ich nutze meine Zeit, eh auch der Wahnsinn mich befällt. Der Geist, der
die Calvandi lenkt, wird müde nach dem ersten Drittel ihres Lebens. Kein
Edelstein ist erblich in der Familie, der den dunklen Geist des Hauses
bannt und seine Kraft für den Ruin des Trägers ins Spiel der Zeiten
wirft. So sterben wir durchs Blut, das unserem Leben seinen Rhythmus
leiht. Der letzte unserer Art wird nie geboren werden. Der Wahnsinn ist
der starke Geist, das Absolutgesetz, das willenlos den freien Willen
zwingt. Die transzendente Kraft des Wahnsinns schafft den Uebergeist.
Und Priester dieses Geistes sind wir alle vom Geschlechte der Calvandi!“

Armida nahm seinen Arm und sie verließen Calvandis Zimmer.




                      NEUNUNDDREISSIGSTES KAPITEL


                                   Der Tod ist eine Allegorie, die
                                   aus einem praktischen Gebrauch
                                   entstanden ist: Dem Sterben.

Die Nacht ging Jappes am Hafen entlang. Aufgestapeltes Kistenzeug für
den Versand der Fische türmte sich ins Dunkel. Lastkrane griffen in die
Luft. Traniger Petroleumgeruch schwängerte um die Kohlenschiffe, die in
den Docks lagen, wie schwarze Seeungeheuer. Toter Fischgeruch kam mit
dem scharfen Seewind. Der Leuchtturm am Ende der ins Meer getriebenen
Mole zwinkerte sein abwechselnd erlöschendes und aufflackerndes Licht
herüber. Jappes wunderte sich, daß der Hafen so regungslos lag, wie
ausgestorben. Keine Hafenschenke mit wettergebräunten Gesichtern, keine
Schnapsräusche und Schlägereien. Und die Stille tat ihm weh im atmenden
Rhythmus des flüsternden Windes. Kam an den Eingang zur Mole; las eine
Warnungstafel: „Das Betreten des Molo bei Sturm oder Nebel ist
verboten!“ Das Wasser leckte an dem massiven Gemäuer. Er kletterte vom
Fahrdamm auf die breite Brüstung, die ihren blankgespülten Streifen zum
Leuchtturm zog. Ein Passagierdampfer mit schiefen Schornsteinen schlief
friedlich in der Brut der schwarzen Fischerbarken. Jappes sprang über
das spitzstäbige Geländer und stieg die Treppe hinauf, die zu den
Lichtschlitzen des Leuchtturmkopfes führte.

Sein Leben setzte sich neben ihn und blätterte mit ihm in der
Erinnerung. Seine Art Leben war erschöpfend, aber nicht befriedigend.
Vielleicht kannte er die Ansprüche nicht, die er an das Leben stellte,
er wandte nur Kräfte an, die dem Unterbewußtsein entsprangen, und sein
Ziel war der Zufall. Sein Ziel war allerorts. Weshalb war er so
geworden? Die Jahre reihten sich aneinander, immer kleiner, entfernter,
bis sie irgendwo um die Ecke bogen, wo Leben und Unleben sich scheiden.
Zeiten, deren Substrat sein Leben war. Kämpfe, Glauben, Schwankungen,
Zuversicht. Er trieb im Leben, getragen von der starr-unsichtbaren
Gesetz- und Zweckmäßigkeit des sittlichen Auftriebs. Er speicherte seine
Kräfte auf, immer bereit zur Entladung, zum Schlag, zum jähen
Panthersprung, federnd, instinktiv.

Im Strome, der ihn trug, trieben Episoden, zerstückeltes Leben,
verronnene Träume. Er überholte die irrenden Fetzen, und die Jahre woben
daraus sein gobelinhaft-allegorisierendes Reliefleben. Die Tage standen
da, starr wie Stangen; trugen Fahnen oder trugen keine, trugen bunte
wehende Wimpel oder graue hängende Tücher. Manche Tage hatten auf
Halbmast geflaggt, die toten Tage der Sehnsucht. Er sah eine ragende
Flaggenstadt. Die grellen Farben töteten das Grau und die Oriflammen, er
sah seine bewegte Welt der wogenden Fahnen. Wie oft war er die
verschlungensten und unsichersten Pfade gegangen, die Pfade, die jeden
Augenblick aufhören konnten, irgendwohin weiterzuführen. Aber ihn hatten
sie in die große Lichtung geführt, wo die Tatsachen des Lebens in ihrer
Nichtigkeit zerstoben.

Das Meer atmete seine stickigen Nebel in die Nacht und die Stille kroch
über das Wasser. Pepy trat in seine Erinnerung. Das rothaarige,
blutbebende Mädchen. War sie die Braut des Engländers ...? Hatte sie den
Weg der Lust schon beschritten ...? War ihr junger Leib in den Zuckungen
des Taumels erbebt ...? War sie noch Pepy oder hatte sie den Stempel der
gierigen Lust schon empfangen ...? Er litt seine Sehnsucht nach ihr, er
fühlte seine schmerzliche Liebe, litt in seiner Seele beim Gedanken an
das unberührte, hingebungsvolle Mädchen, das in den Jahren der
unbewachten Begierde ihr Leben entscheiden mußte. Er riß sich los von
den quälenden Gedanken und durch den Nebelflor klang sein Gebet in die
Nacht: Ruth, mein Rudibub!

Weshalb kam er nicht von Armida los, von diesen schwebenden Wesen ohne
Begierden und voller Lüste! War es der Reiz des Zwittergeistes, der in
ihr steckte? War es die lockende Kraft ihres ernst-tändelnden Daseins?
Weshalb lockte ihn das Meer? Die Fragen verwirrten ihn. Gab es überhaupt
eine Antwort darauf? Er folgte ihr, weil er wollte, weil er mußte. Er
folgte dem hüpfenden Irrwisch, dem tänzelnden Flämmchen. Er folgte! –
Calvandi erschien mit einem sarkastischen Grinsen, mit seiner ermüdeten
Geilheit in den Augen. Jappes krampfte die Finger zusammen. Er dachte an
die foltereinsame Nacht im Park der Winterstein. Weshalb ließ er sich
von Armida befehlen, weshalb war er vor Calvandi gewichen? Mit dem
Finger schrieb er die Antwort in die Nacht: Feigling! Dachte an seinen
Spaziergang mit dem Fremden am Strand und an die graue Sorgentasche, die
er ins Meer geschleudert hatte. Wo war der Fremde? In Berlin. Wo war
Calvandi? Bei Armida. Wo war Armida? Bei Calvandi. Eine heiße Blutwelle
schoß ihm in die Schläfe. Er war tolerant, duldete, daß seine
Freundinnen Freunde hatten, war liebenswürdig gleichgültig gegen sie.
Weshalb betrog er sich in seiner laxen Liebe! weshalb duldete er alles
mit erlebter Selbstverständlichkeit?! War er ans Meer gegangen, um
Armida einen Gefallen zu tun? ... Nein! er war Calvandi ausgewichen, und
das Bewußtsein der duckenden Feigheit folterte ihn.

Jappes opferte zu vielen Göttern.

                                   Der Mord geht durch die Nebel und
                                   küßt seine Opfer.

Feucht von dem haftenden Nebel trat er in eine Schenke. Dunkle
Teerjacken hockten an den schmierigen Tischen, stützten die Ellbogen auf
und stierten in die Fuselgläser. Schnapstrinker reden und lärmen wenig.
Sie rauchten aus braunen Erdkloben und hatten die Mützen im Nacken.
Ueber dem Schanktisch nickte die verhutzelte Wirtin. Sie schien ihre
beste Kundin zu sein. Dann und wann kam sie mit trunkensicheren
Schritten und schenkte die Gläser voll bis scharf an den Rand, ohne
einen Tropfen zu vergießen. Die Trinker stießen ihren Gruß vor sich hin,
ohne nach dem Eintretenden hinzublicken. Jappes setzte sich an ihren
Tisch und bestellte eine Runde, bestellte eine Flasche, eine zweite.
Bestellte Kautabak, schob einen Priem in die Backe, gab die Spirale
weiter. Die Fischer bissen hinein und das Feuer in ihren scharfen Augen
hinter den schweren Wimpern begann zu glimmen, wurde zur Lohe
gesteigert. Es waren nicht mehr die stummen Trinker, die in Gedanken um
ihr geplagtes Dasein den Schnaps hinuntergossen, als hätten sie
Bewußtsein vom Unrecht, das sie sich taten. Der Alkohol war ihr
Sorgenbrecher, der sie von der Erde loslöste, sie aus der Fron der
strengen Tage herausriß in höhere Gefilde, wo sie wieder zu ihrer Natur
kamen, sich stark fühlten und frei, den Augenblick der Beseligung
genossen und keinem armseligen Erwachen entgegendachten. Und sie
tranken, tranken, weil ein anderer zahlte und wurden froh dabei.

Da saßen die massiven Gestalten und brachten Gesundheiten aus, erzählten
Jappes irgendwelche Begebenheiten, die ihnen gerade einfielen; die
Wirtin war näher getreten, lehnte an der rauchbraunen Holzwand, horchte
auf die Erzählungen, mit denen sie seit Jahren vertraut war, aber
horchte, weil sie einem Fremden erzählt wurden. Jedes Wort kam stoßweise
wie eine Bö, wie ein Ruderschlag, und die Erzählung schwamm sicher
weiter.

Sie erzählten ihr Leben ohne Murren, ohne überhobene Freude; erzählten
von ihren Leistungen, jeder war ein Held, ein Sieger in den Gefahren.
Was hatten diese Männer erlebt neben ihrer Arbeit! Seenot, gekenterte
Boote, tote Kameraden, zerrissene Netze. Das Meer war ihnen Fluch und
Segen. Die Türe flog auf. Ein junger Fischer mit federnden Schritten
trat ein, er roch nach der frischen Nacht. Die Trinker blieben in
atemspannender Erwartung und sogen die Kühle, die von der Tür kam. „Ein
Glas!“ dröhnte der Fischer, riß ein Gewehr von der Schulter und stampfte
mit dem Kolben auf den Tisch. Das Hutzelweib brachte ein Weinglas
Schnaps. Die Gläser klangen zusammen, der Fischer musterte Jappes scharf
und stieß sein Glas an das seine: „Prost! Das fließt wie Oel und brennt
wie Feuer,“ rief er, und die Wirtin füllte sein Glas wieder voll.

„Heute können wir dir gleichtun,“ sagte ein Trinker mit schwerem Baß zum
jungen Fischer und, auf Jappes deutend: „Der Fremde zahlt eine freie
Nacht.“

„Ich zahle eine freie Kugel,“ gab der Junge zurück, „es geschieht ein
Unglück. Ihr wißt, daß gestern nacht ein Boot mit einer Leiche ans Ufer
getrieben wurde. Ich kam vom Hafen herauf. Da stand das Boot auf dem
Sand mit der angefaulten Leiche.“ – Dann schleuderte er sein gefülltes
Glas in die Ecke und ergriff sein Gewehr: „Jan Meeren fand ich bei
meinem Weib,“ brüllte er wutbebend, „hier ist sein Tod! Am Morgen bin
ich zu den Sakramenten gegangen und habe die Hostie aus dem Munde
genommen, ins Gewehr gesteckt und in die Sonne geschossen. – So bin ich
himmlischer Freischütz geworden ...“

Dann hatte er die Tür aufgerissen und war in die Nacht hinausgegangen.
Niemand wagte über den Teufelsschützen zu reden – sein Vorhaben war zu
ungeheuerlich, zu satanisch, zu gerecht. Ein alter Seebär saß in der
Ecke und weinte. Die Fischer sagten: er ist schwermütig, und wenn er
Schnaps trinkt, muß er immer weinen. Als er jung war, gab es keinen
fideleren Burschen auf der ganzen Insel, und keinen verwegeneren. Einer
flüsterte Jappes ins Ohr: „Vielleicht hat er einmal eine Hostie
gestohlen!“

Ein Holländer, der mit zwei Pinken im Hafen lag, sang mit breiter
wässeriger Stimme:

„Lust en rust mijn genoegen,“ kippte sein Glas leer, sabbelte sein
schnapsgeschwängertes „Aannemen“ hervor, warf einen „blanken gouden
Willem“ auf den Tisch: „Ik heb geen kleingeld bij mij. Kun je mij
wisselen?“ Die Wirtin hob den Willemsd’or auf, als wolle sie ihn auf
seine Echtheit prüfen: „Ich kann nicht wechseln,“ schnäpselte die Alte
und ließ das Stück auf den Tisch klinkern. „Ich zahle die ganze Zeche,“
rief Jappes der Wirtin zu, „lassen Sie dem Mann das Geld und bringen Sie
uns noch eine Flasche.“

„Ik dank U, mijn-heer,“ empfahl sich der Holländer, „hier verkoopt men
sterke dranken,“ und er beschrieb einen unsicheren Bogen nach der Tür.
Die Nacht ging zur Neige und die Schenke war voll Qualm und Fuselduft.
Die Trinker sägten im Schlaf, daß die Stube zitterte. Jappes zahlte die
freie Nacht und zahlte eine zweite. Draußen dachte er an den
Freischützen, der einen Gottesraub begangen hatte, um die Schmach zu
rächen, die ein anderer ihm angetan hatte durch Benutzung seines Weibes.

Der Morgenwind spielte im Sandrohr. War es nicht wie eine Toteninsel?
Was sollte die seltsame Leiche bedeuten? Ein Unglück? Eine Rache? Und er
dachte an den Freischütz, dachte an Arco Calvandi.

Auf der Post gab er ein Telegramm auf: Tante Ida empfangen Sie mich um
Schillers willen, Jappes.

Draußen brannte die Sonne in Gluten.




                          VIERZIGSTES KAPITEL


                                   Die Rezensenten sind Organe, und
                                   der gute Ton gebietet, daß man
                                   gewisse Organe nur mit dem
                                   Anfangsbuchstaben andeutet. Hier
                                   ist er zufällig A.

In Tempelhof war Abendunterhaltung. Bewegliche Damen in hauchiger
Toilette, Blumen, Gekicher, Sorbet, Wein, Liköre und Protz. Die Zimmer
reich ausgestattet, halb modern, halb orientalischer Stil. Teppiche,
Kissen und kostbares Pelzwerk. Ambraduft im molligen Retirado der Damen.
Auch die Galane hatten Zutritt, wenn sie nicht rauchten.

Am Abend wurde wenig geraucht.

Geladene Gäste und Freunde des Hauses. Der dicke Winterstein, die
Ursache des Reichtums, seine panachierte Gattin, Henny, die Tochter, die
knospende Fülle der bräutlichen Flavia. Jappes, der Bummler, der Musiker
Friedrich Wilhelm Berendtsen, Doktor Nepomuk Keupe, der Bräutigam der
holdumstrickten Flavia und andere verschwindend kleine Größen zweiter
und dritter Ordnung. Bediente hasteten wie Ordonanzen im Hauptquartier.

Doktor Nepomuk Keupe schrieb die Waschzettel bei Scherl für
Nikolausbücher. Er war durch Ullstein gegangen. Er hatte viel Gutes
getan und manch armes Geschreibsel mit den wärmenden Worten bezahlter
Anerkennung bekleidet. Aber in den Büchern war noch allzuviel armselige
Nacktheit unbekleidet geblieben. Er führte die Unterhaltung bei den
Damen, sprach ihnen über die polizeiliche Notwendigkeit der Kritik: „Die
Kritiker sind die Regulatoren der Moral, die Gegengifte der
Schamlosigkeit und der Frivolität. Gegen angemessene Bezahlung wissen
sie die Frivolität in Unflätigkeit umzumodeln, die Schamlosigkeit in
Würdelosigkeit. Die Kritiker sanieren die ethische Begriffsverwirrung
des Volkes, sie stellen die geistige Hausapotheke mit den genießbaren
Mixtürchen zusammen, versenden die anregenden Baldriantropfen gegen die
Ohnmacht lasziver Versumpfung, machen das Publikum gefeit gegen das
große Gift sittlicher Perversität, durch Verabreichung des schleichenden
Giftes in erprobter Dosis. Deshalb schufen die Verleger die
verantwortungsvollen Posten der Rezensenten, welche der Nacktheit
wenigstens eine Schwimmhose überziehen.

Der Kampf gegen die Unmoral ist auf der ganzen Linie entbrannt, wenn die
Kritiker auch das letzte Mittel noch nicht gefunden haben, die Nacktheit
wirksam zu bekämpfen. Der Kampf gegen die Bekämpfer der Konvention ist
eingeleitet. Die Kritik ist sich ihrer kulturellen Verpflichtung bewußt,
sie tritt ein für eine höhere Geistigkeit, auf ihrem Banner weht das
Motto des gesteigerten Ethos. Gebrandmarkt! die an der bestehenden
Ordnung rütteln, gebrandmarkt! welche die Anarchie der Empfindung
predigen, gebrandmarkt! die mit den heiligsten Gefühlen spielen, die mit
unersättlicher Ironie und gleißendem Witz das Intimste persifflieren,
die Heines der modernsten Salons, die ihre Federn an den obszönsten
Mätzchen wetzen. Dreimal Pfui! den schamlosen Vaterlandsverrätern,
welche, in fremdem Sold, das Teuerste ihres Volkes, wie eine Kurtisane
auf der Straße ihre Reize, feilbieten. Pfui und Elend dem eklen
Geschmeiß, das wie Heine die edelsten Triebe in der Pfütze der Zote
schleift. Pfui! Pfui! Pfui!“

Die Damen horchten der sittlichen Entrüstung, die sich wie ein
Donnerwetter aus der schwül-gespannten Atmosphäre des Doktors entlud.
Die Dramatik der polternden Verdammungsrede hatte die Damen
eingeschüchtert. Doktor Nepomuk Keupe stand wie der wetternde Moses, der
in seinem heiligen Zorn die Gesetzestafeln vor den umtanzten goldenen
Kalbsfüßen zerschellte. Jappes hörte mit lächelnder Aufmerksamkeit zu,
wie der zähe Jude Heine heruntergerissen wurde, wie der Doktor sich ins
weiche Pyjama moralisierender Stoffe drapierte, um seine abscheuliche
Nacktheit zu bedecken. Er trat näher zu dem witzigen Köter, der mit
sittlichem Gebelle in der Nacht seiner Verworrenheit den guten Mond
Heine ankläffte. Horchte den holprigen Dithyramben, die er auf das Lob
des Judenfressers und Ueberjuden Bartels sang, weil er Heinrich Heine
den letzten Tritt versetzt und ihn mit kluger Umständlichkeit hinter die
spanische Wand gebettet habe. Lauschte den literarischen Mätzchen des
kritischen Urteilsbeamten, der die Schablone zum Symbol erhob, der an
literarhistorischen Expektorationen litt, welcher zufälliges Genie vom
armseligen Postament bürgerlicher Unzulänglichkeit beurteilte.

Jappes trat zu der Gruppe: „Sie gestatten,“ er stellte sich vor: „Jappes
Paul.“

„Doktor Nepomuk Keupe.“

„Wenn Sie so viele Jahre Universität hinter sich hätten wie ich, wären
Sie nicht mehr so klug,“ wandte sich Jappes an Doktor Keupe. „Sie haben
das Lob der Kritik gesungen. Entschuldigen Sie, wenn ich mich eines
Lächelns nicht erwehren konnte. Das klang alles zu hanebüchen, zu
geschraubt. Ueberall gibt es Pharisäer und Schriftgelehrte, die den
Heiland der Wahrheit kreuzigen. Glauben Sie nicht, daß Heine nach dem
ewigen Gesetz der Kausalität geworden ist, nach dem unwandelbaren
Prinzip der Genialität? Sie sprechen ihm Würde ab. Konnte er als
Notleidender würdevoll sein? War es nicht sein gutes Recht, die
Talmiwerte der Kultur zu verstoßen? aber in den Goldkammern hat er nicht
geplündert, wie die zivile Clique der gedungenen Häscher der
Gesellschaft. Die stinkige Jauche, die aus den verschrobenen
Gehirnwindungen des Literarhistorikers Bartels floß, hat die Asche
Heines nicht besudelt. Er hat Heine den Eselstritt gegeben. Heine hat
den Tritt erhalten und uns Sterblichen blieb der Esel zurück.

Es gibt nur eines zu beweisen: Daß Heine Deutscher war. Hat jemand
Schöneres und Tieferes aus der sehnsuchtkranken tiefen deutschen Seele
geholt als der Dichter der trauerliebenden Lieder? Weshalb wollt ihr
kriechenden Verleumder beweisen, daß Heine schlecht war! Zweifelt ihr
nicht selbst an der Wahrhaftigkeit des Urteils? Wie könntet ihr sonst
beweisen wollen! Weshalb sucht ihr die Läuse des großen Meisters zu
fangen? Wahrlich, wahrlich, ich sage euch, eine solche Laus ist
erhabener als ihr, denn sie hat vom lebendigen Safte des Dichters
gesogen, derweil ihr euch am Aas genugtun müßt, Leichentöter,
Leichenschänder! Heine war sittlicher denn ihr. Seine Selbstanalyse,
seine Selbstironie war seine Beichte und seine Buße. Seinen Leichnam
habt ihr für Gold verkauft. Schacher habt _ihr_ getrieben mit den
Gefühlen eures Volkes.

Treitschke verurteilt Heine, weil dem Dichter der historische Sinn
abgeht. Sollen wir Treitschke verurteilen, weil ihm der lyrische Sinn
fehlt?

Heine war das unendlich gute Enfant terrible der Literatur, die
grollend-fluchende Güte. Es ist keine Vermessenheit, Heine mit dem
alttestamentlichen Gotte zu vergleichen, mit dem ewig fluchenden,
verwünschenden, zermalmenden Urwesen, das die Erde trotzdem nicht auf
die rotierenden Gestirne prallen läßt, selbst wenn die Zornesader auf
der göttlichen Stirne zum Platzen schwillt. Hättet ihr Heine verstanden,
ihr steifen Zwerchfellträger, wie unendlich feiner könntet ihr eure
Tartüfferie zum Dogma absoluter Glaubwürdigkeit ausgeben. Weshalb rührt
ihr beständig in der Odelgrube, wenn der Gestank euch so verhaßt ist?“

Jappes stieß einen Luchspelz mit dem Fuß: „Man sollte sich schämen, im
Kragen über solche Dinge zu reden. Die Sorte Leute kommt mir wunderlich
vor. Wie ein Mensch, der ein Schloß sieht und nur über dessen W.C.s
redet, die sicherlich sehr nützliche Institute sind und in besonderen
Nöten alle Achtung verdienen. Lesen Sie Heines Lieder und die Wunder
seiner Prosa und lesen Sie ein paar Seiten gehässiger Polemik im Stile
Bartels ... Na! dann haben Sie das Schloß und die W.C. Die Leute haben
recht, so zu urteilen, aber sie sollten ihren Unrat in aller Stille
umrühren, wenn der ahnungslose Bürger friedlich schlummert!“

Herr Doktor Nepomuk Keupe reichte Jappes die Hand: „Sie ereifern sich,
mein Herr, die Auffassung Barthels’ ist durchaus nicht meine Meinung.
Sie haben recht, die unsaubersten Handwerke verhelfen am schnellsten zur
Pinke. Das Pamphlet Bartels ist eine Verquickung von Augendienerei und
Patriotismus in verschrumpelter Form. Bartels beißt den Heinekenner
heraus, er ist nur eine notwendige Verwesungserscheinung des lyrischen
Leichnams.“

Die Damen atmeten auf, als das Gespräch die abschüssige Kurve
gefährlicher Reibereien passiert hatte und in der flachen Bahn des
gegenseitigen Ausgleichs weiterrollte. Jappes verglich die Kritiker mit
Spinnen, die ihre Netze ausspannen und auf ein neues Werk lauern, um es
auszusaugen, wenn es klein genug ist, um die Maschen nicht zu zerreißen.
Er bewunderte die Unermüdlichkeit der literarhistorischen Spinnen, die
mit seltsamer Ausdauer ihre Netze immer wieder neu weben, wenn ein zu
großes Tier achtlos durch ihre Netze jagte.

„Ihre Vergleiche sind entzückend,“ sagte die besorgte Flavia, „sie sind
von seltener Treffsicherheit. Sie können so weitermachen, Herr Jappes,“
fügte sie in freundschaftlichem Tone hinzu.

„Meine Gnädigste,“ wandte sich Jappes an Flavia, „die besten Vergleiche
sind die, welche man nicht macht. Würden die Dummköpfe das Gegenteil von
dem sagen, was sie denken, sie würden die Welt in Staunen setzen.“ Ein
Ventilator zischte am Fenster: „So wird man immer ausgepumpt von den
vielen unsichtbaren Ventilatoren der Umgebung,“ fuhr er fort, „puh, ich
hasse diese Saugmaschinen, solange sie kein absolutes Vakuum erzeugen.
Mich reizt es, eine Zigarette zu rauchen, wenn die Damen gestatten.“ Er
empfahl sich und ging ins Rauchzimmer. Doktor Nepomuk Keupe folgte in
kurzem Abstand und nahm in einem für die größten Dimensionen berechneten
Klubsessel Platz. Sie sprachen über Romane, über neue Schöpfungen, über
neue Richtungen. Kramten ihre Weisheit aus über Sturm und Drang, über
die ewigstarre Klassik, gedachten der Romantik im sehnsuchtkranken
Hölderlin, hechelten das junge Deutschland und die klassizistischen
Epigonen. Trafen auf den Naturalismus voll strotzender Berühmtheiten,
wagten sich an den Expressionismus mit seinem ewig-ineinanderfließenden
und ewig-voneinanderstrebenden Naturalismus und individuellen
Mystizismus: der Schleier der Maja, jeder sah die Welt, die er sich
brennend in der Seele schuf.

Was ist die Kunst anders als das Evangelium für die Evolution des
Geistes! Sollen wir die Prediger verdammen, welche die grellen
Widersprüche zwischen Lehrern und Schülern predigen, zwischen Vätern und
Söhnen, zwischen lebender Kultur und toter Tradition? Die Jugend hat
recht in ihrer Kraft, im Schatten des Alten darf sie nicht zum
Krüppelwesen werden. Weshalb will man den wenigen Olympiern das Monopol
des Geistes zuschreiben? Haben nicht auch die Kleinen das Unrecht ihrer
Umgebung gesehen, erlebt, erlitten? Es ist nicht genug, daß Christus mit
göttlichem Pathos die Bergpredigt in die Welt verkündet hat, seine
Diener wiederholen und variieren die Gedanken des göttlichen Redners,
werden nicht müde, sie dem Volke in allen Tonarten mundgerecht zu machen
mit der Kraft der wiederholten Behauptung. Ihr nüchternen Skribenten des
grünen Tisches! Ihr habt nicht das Recht, den Kleinen den Mund zu wehren
– denn ihr gehört selbst dazu. Die Kleinen, die Auflehnung predigen, die
Gleichheit fordern, die nach Freiheit lechzen, nach der Freiheit der
Entwickelung, die den Kampf des Ichs predigen, die Selbstbehauptung, die
Selbstwerdung. Nicht alle sind Künstler des Wortes, nicht alle geben
sich die Mühe, die Gedanken im Rhythmus der fließenden Sätze zu prägen.

Weshalb wollt ihr euch müde klauben, ihr Lohnarbeiter der gewerblichen
Feder, um herauszuschnüffeln, zu welcher Kategorie ein Schriftsteller
gehört. Alle passen in euer Prokrustesbett, denn die Gedanken sind
dehnbar und mit euren sophistischen Messern wißt ihr die gangbarsten
Ideen zu amputieren. Ihr findet leicht einen Leisten, die Haut, welche
der Schriftsteller zu Markte trägt, darüber zu schlagen. Ihr findet
expressionistische Bauern, klassische Säuglinge und dadaistische Esel.
Suchet und ihr werdet finden.

Die Damen fanden die beiden Herren in erregtem Gespräch, gestikulierend,
erhitzt, in gesteigerter Unterhaltung. Doktor Nepomuk Keupe hatte gerade
eine Parallele zwischen Mark Twain und Sophokles beendet. In beiden
liegt dasselbe, man muß ihre Worte nur umkehren, aber nicht zu gleicher
Zeit. Jappes verglich das Feuer d’Annunzios mit dem Feuer von Henri
Barbusse und punktierte die Pointe, die Damen zu schonen. Der wahre
Doktor Keupe und der falsche Doktor Jappes saßen auf den braunledernen
Klubsesseln wie auf Schlachtrossen und mit kritisch geschlossenem Visier
brachen sie die literarischen Lanzen. Die Achtung gegen die Damen
schrieb ihnen ein anderes Thema vor: Ueber religiöse Mystik und
mystische Religion. Was das wohl mit Weibern zu tun hat? Sie verglichen
Wassermanns Christian Wahnschaffe, den werdenden Franziskus mit
Dostojewskis Aljoscha, der mystischen Blüte des russischen Startzentums
im epileptisch-sittlichen Verbrecherreich der Karamasoff.

Den Damen wurde die Zeit zu lang (dem Leser wohl auch!) und ihre
Mündchen strafften sich faul zum Gähnen. Fräulein Flavia unterbrach die
gelehrte Oede:

„Redet mal etwas Vernünftiges, ihr Kampfhähne, ihr macht einen Sums, als
ob ihr euch gegenseitig verschlingen wolltet. Es kann euch ja gleich
sein, was Homer über Bismarck gedacht hätte. Redet meinetwegen über die
Unsterblichkeit der Maikäfer oder über die antediluvialen Memoiren eines
Mammuts an seine Geliebte.“

Jappes dachte an Ida Telluren.




                       EINUNDVIERZIGSTES KAPITEL


                                   Die Gesetze der fallenden Wasser
                                   schließen die Wirbel nicht aus.

Professor Günther erwartete Pepy mit unruhiger Begierde. Ging im Atelier
hin und wider, dachte an den weichen Fluß ihrer Glieder, an ihre
quellende Ueppigkeit, fühlte die wohlige Nähe ihrer sprießenden
Jugendlichkeit. Strich sich mit sieghafter Gebärde über die Glatze: Ja,
sie war sein geworden. Sie hatte ihn begehrt, ihn, den alten Knaben,
sie, die wogende Jugend. Sie würde noch oft kommen, immer, ihr blutiges
Erstlingsopfer unblutig erneuern. Er wühlte sich in die Vergangenheit.
Mit wollüstiger Inbrunst dachte er an die Freundin, die ihn in Jugend
hatte aufleben lassen.

Ein hastiger Klingelzug riß ihn aus seiner Träumerei. Pepy stand an der
Tür, reichte Professor Günther die Hand und trat zaghaft ein. Sie fühlte
sich unfrei in diesem Tempel ihrer Schuld. Was lockte sie in dieses
Haus, wo sie das Opfer ihrer Nacktheit gebracht hatte? Wie unruhig war
sie seit jenem ersten Abend gewesen. Wie konnte die Besorgnis sie
foltern, die Sorge um ein Kind? Hatte sie den Verführer nicht in der
leidenschaftlichen Hingabe begehrt! Hatte sie die Sünde nicht
aufgesucht! War sie nicht selbst verantwortlich für den Verlust ihrer
Unschuld! Wie ungeheuer erhob sich die Anklage: Dirne, in den Armen
eines verheirateten Mannes! Buhlerin um die eitle Gunst deines
geschmeichelten Ehrgeizes! Was für ein Opfer hast du gebracht, um vom
betäubenden Weihrauch des Ruhmes zu riechen! O Schmach deines Leibes! O
Fluch deinem Verhängnis. Umsonst die Tränen, welche die Gewalten des
Blutes bändigen sollten. Die erschlaffende Leere nach jener Nacht, die
verlorene Mädchenehre und als Entgelt die düstere Schmach der
verhängnisvollsten Verworfenheit. Nein! es konnte nicht sein, alles war
Einbildung. Ein Kind von Professor Günther, unmöglich! nie würde sie
wieder zu ihm gehen, nie, nie wieder. Pepy wagte nicht aufzuschauen.
„Gehen wir spazieren,“ bat sie, „den ganzen Tag habe ich gearbeitet und
möchte ein wenig ins Freie.“

Günther überlegte eine Weile: „Gut, gehen wir in den Englischen Garten,
hinaus nach der Isar.“

Am Brunnhaus saßen sie am künstlichen Wasserfall. Das Rauschen umspülte
die Ohren. Das seltsame Rauschen der fallenden Wasser. Weiden standen,
nickend übers Wasser gebeugt, und der Wind raunte in den schattigen
Bäumen. Günther nahm Pepys Hand. So saßen sie umkost von den rauschenden
Wassern.

„Wir taten unrecht,“ flüsterte sie. Er blieb stumm und drückte einen Kuß
auf ihre Hand. War das eine Antwort? eine Entschuldigung? eine Anklage?
oder war es ein Ausweichen? Das zischende Quirlen der schäumenden Wasser
riß die Antworten im Wirbel mit. Pepys Hand lag schlaff in der seinen,
so zag, so weich, so versonnen. Günther steckte diese Ermattung an. Er
kapitulierte vor der geschlechtlichen Geschlossenheit des Mädchens,
dessen Sinne sich gegen den Mann wandten, dessen Gefühl aber noch auf
seiner Seite war. Erhabenes Wunder der Mädchenliebe! Das Opfer der
Nacktheit bleibt immer rein vom Makel des Hasses. Die Liebe verklärt
jene erste Stunde zum Bild, zum gesteigerten Erlebnis. Geheimnisvolle
Macht der Hingebung, der ersten Offenbarung, der hoffenden Erfüllung!

Die Kontraste türmten sich in Pepy. Hier Liebe, dort Schmach. Hier
Leben, dort Schande!

Jeder würde um ihre Tat wissen, ihr Kind würde unehelich sein. Sie
dachte an Jappes: „Die in der Gemeinschaft der Begierde Gezeugten sind
nicht unehelich!“ Taten nicht tausend dasselbe in der Ehe im liziten
Verhältnis der gemeinsamen Zeugung! Die Gesellschaft würde sie
verurteilen, wie sie jede Ausnahme verurteilt, die kurzsichtige
Gesellschaft mit der Massenmoral, mit ihren Massenbegierden. Ihr Leben
flackerte auf in greller Einsamkeit – ihre Mutter! – Was war ihr jene
unglückselige Stunde gewesen, der sie mit verhaltener Empörung fluchte?
Ein schauervoller Schmerz, ein schmerzlicher Schauer. Das Warten auf die
Entscheidung würde nur graue neblige Qual sein, manchmal durchzuckt vom
grellen Schein der Lust, der ersten gesteigerten Lust. Und die Geburt
würde Qual sein, eine markzerreißende, erschütternde Qual. Drunten
quirlten die schäumenden Fluten und lockten, lockten ... lockten ein
Leben und zwei.

Günther hielt die tote Hand, verlor den Kontakt mit den Instinkten des
Mädchens, brütete starr vor sich hin, ohnmächtig im Kampf gegen die
Natur der Dinge. „Wir taten unrecht?“ ... dazu die grollenden Durakkorde
der fallenden Wasser. Die Oede berührte ihn mit den saugenden Händen der
Leere. Die Ueberlegung lähmte seine Empfindung. Fort von der narrenden
Fratze der Sorge! Er dachte an ein Gespräch mit Pepy: „Die Tochter des
Malers Geraldo ist verdammt, den Weg ihrer Mutter zu gehen. Von Schuld
kann man nicht reden und Sühne kann niemand verlangen. Das Rätsel der
Vererbung der sittlichen Schuld ...“ Wer war dieses Mädchen, das seine
Gier des Geschlechtes wieder aufgeweckt hatte? War sie vielleicht eine
Uneheliche wie Geraldos Tochter? War sie in ihm zum Verhängnis gereift?
Er durfte keine Schuld an Pepy haben, er, der starke Mann der
Seelenleben. Könnte er nicht eine Unschuld schaffen, wie er die Schuld
erschuf? Konnte er Pepy nicht verleugnen? Sie erneut in seinen Bann
zwingen? „Nur sittliche Kräfte können der sittlichen Schuld begegnen ...
Die sittlichste Rechtfertigung ist, die Schuld durch Ueberredung des
Geistes zu tilgen durch Abstraktion von der Wirklichkeit.“ Wie bequem,
von der Wirklichkeit zu abstrahieren. Ein leichtes, wenn Jappes nicht
wäre, der Hitzkopf, der brutale Draufgänger.

„Haben Sie Nachrichten von Ihrem Freunde Jappes?“ fragte er forschend.

Pepy erbebte. Großer Gott! Jappes? Sie dachte an Golliwog und die
glückdurchbebten Tage in seiner vulkanischen Nähe: „Er ist in Stuttgart.
Es geht ihm gut, ich habe viele Briefe erhalten aus Berlin, vom Meer.
Jappes ist der beste.“

„Wann fahren Sie in die Ferien zu Ihren Eltern?“

Ein jäher Aufschrei der marterdurchzuckten Seele, ein schriller Schrei
durch die Nacht: „Geraldo!“ Pepy lag erschlafft an Günthers Arm gelehnt,
kein Laut, kein Schluchzen, kein Atemzug. In Günther tanzten die
Gespenster den verwirrenden Reigen und drunten quirlten die schäumenden
Fluten und lockten, lockten ... lockten ein Leben und zwei – – – und
lockten ein drittes.




                       ZWEIUNDVIERZIGSTES KAPITEL


                                   Der Zufall ist eine männliche
                                   Dirne, man kann mit ihm machen,
                                   was man will, und er ist für
                                   jedermann da.

Tante Telluren holte Jappes am Bahnhof ab. Sie hatte aufregende
Nachrichten erhalten. Jappes’ unverhofftes Telegramm, eine
Verlobungsanzeige.

„Armida – Arco Calvandi grüßen als Verlobte.“

Wo blieb Jappes, ihr Traum, der Freund Armidas? Nun war er gekommen. Sie
stand vor ihm mit feuchter Wimper und wußte sein fröhliches Lachen nicht
zu deuten. Sie dachte, er würde ankommen, geknickt, voll Liebesharm,
bleich, unglücklich. Und nun sprang er lustig aus dem Wagen, warf ihr
einen Blumenstrauß in den Arm, küßte sie auf die weiche Tantenhand,
hastig, übermütig, sprudelnd, berauschte sich voller Entsetzen an seinen
Worten – ja! sagte er nicht: „Tantchen, ich bringe gute Nachricht, Ihre
ausgezeichnete Nichte ist verlobt, mit einem schönen, reichen, jungen
Mann, mit einem witzigen Kavalier, jeder Zoll ein Gentleman.“ Alles ging
so schnell. Er riß sein Portefeuille hervor und reichte ihr eine
Photographie: Arco Calvandi, sprühend-listige Augen, schlanker, voller
Wuchs, schmatzende Lippen, korrekte Gebärde und Drill in der Haltung.

Die Menschen wogten vorüber, pustend, keuchend mit schwerem Gepäck,
Tränen und Lachen. Ida Telluren stand wie ein Pfeiler in der brandenden
Flut des hastenden Gewoges: „Arco Calvandi!“ aber auch gar keine
Aehnlichkeit mit Friedrich Schiller, keine Locken, keine klassische
Nase, kein Typ, kein Charakter. Da brach Jappes das Schweigen, die
bohrende Ueberlegung.

„Wie freue ich mich, daß ich Sie sehe, Tante Telluren!“

„Und ich! ... und ich!“

Er nahm ihren Arm und erzählte ihr vieles, was er von Calvandi nicht
wußte, erzählte ihr die prickelnden Schauer der Saßnitzer Stunden.
Brachte Grüße von Freunden, von entfernten Verwandten, einen Gruß von
Armida und Arco Calvandi. Die Verlobten kämen in nächster Bälde nach
Stuttgart, die Tante zu sehen. Ida Telluren erbebte; aus Freude, aus
Sehnsucht, aus Vorwitz, wer weiß! Sie sprachen von den Plänen der Zeit,
die in die Zukunft ging, sprachen vom Wetter, von den tückischen Launen
der jagenden Winde, schwärmten von Helios, der drüben am westlichen
Himmel die Rosse ins Feuermeer lenkte, sprachen und schwärmten und
füllten die Pausen mit privaten Gedanken.

„Du mußt an dein Examen denken,“ begann Ida zu trösten, „dann wirst du
die trüben Gedanken verscheuchen, welche dich seit Armidas Verlust
umschwirren. Arbeit ist ...“

„Gut, wenn sie gemacht ist,“ fiel ihr Jappes ins Wort, „und ich habe
keine trüben Gedanken. Uebrigens, wenn das Herz der Sitz der Liebe ist,
müßtest du mir Ruhe verschreiben, weil Ruhe für kranke Herzen der
einzige Balsam ist. Aber wie soll ich Ruhe finden?! Doch nein, Tantchen,
behandeln wir mein Herz nicht, es ist noch nicht krank. Eine Freundin,
welche heiratet, ist kein Verlust. Ein bißchen Vakanz schadet dem
fleißigsten Herzen nicht. Die Leidenschaft hat ihre Gesetze und Rechte.
Ich habe Zeit und bringe den Bruch meines Lebens auf einen
Generalnenner: die Liebe, das Verhängnis, die Schuld, man kann das Leben
durch alle teilen. Ich habe einen Weg und kein Ziel und die Zukunft ist
eine weiße Steppe. Tante, in Saßnitz hat ein Fischer den Buhlen mit
einer Freikugel zu töten geschworen, hat ein heilig-hohes Verbrechen
begangen, die Hostie gestohlen in frommer Brunst und die Liebe in Rache
gewandelt. Die seltsame Kraft des heiligen Blutes im gläubigen Herzen!
Tut der Fischer unrecht im Herzen? Der Kirche hat er den Treueid
geleistet, als sie ihm die Frau antraute. Nun hält er den göttlichen Eid
mit einem teuflischen Schauer. Es ist kein Widerspruch in dem
widerspruchsvollen Geschehen. Er sühnt die Schuld und verpfändet die
Ehre auf Leben und Tod. Ich sah ihn vom heiligen Schauer getragen, als
er seine Ehre zu rächen gelobte. Es gibt Verbrechen, die erhabener sind
als die edelste Tugend.“

Sie traten in die Wohnung von Ida Telluren. Die Zofe brachte labende
Atzung und eine feurige Flasche Lacrimae Christi. In Idas Zügen
wechselten Lichter und Schatten in rascher Folge. Die Gestalten drängten
sich und die Fülle der schnellen Gedanken. Der Fischer ... Armida ...
Verbrechen ... Rache und Schwur ... Jappes ... Calvandi ... Sühne und
Schuld und die geschändete Ehre des Mannes ... Kein Bissen berührte ihre
Zunge. Tante Telluren dachte an den rächenden Fischer, dachte an die
Freikugel und ihre blutige Bestimmung. Weshalb hatte Jappes sein
Erlebnis erzählt? War sein Fall nicht ebenderselbe?

                                   Ein Träumer kann nichts
                                   Geistreiches über den Traum sagen.

Es traf sich, daß Jappes am Empfangstage der Tante nach Stuttgart kam.
Ida Telluren gab einen kurzen Tee und Jappes ging auf sein Zimmer, müde
von der Reise und müde, fremde Gesichter zu sehen. Er stöberte in seinen
Büchern und Zeitschriften, die Tante Telluren wie Kleinodien verwahrte.
Fand einen Artikel von Doktor Seraph, der in einer dunkel-gelehrten
Dissertation die Geburtenhinterziehung abhandelte.

Der Doktor verfocht die juristischen Thesen über das keimende Leben,
betonte das verbrecherische Vorgehen der Aerzte, die ihre operative
Praxis in den Dienst der Vernichtung der Leibesfrucht stellten.
Bekämpfte die Ansicht, man könne vor der Geburt kein Leben vernichten,
verwies auf die Mittel, die Empfängnis zu verhindern, warnte vor den
Gefahren, welche die Mütter bedrohten, redete in menschlich-klinischer
Sprache und abstrahierte von jeglicher moralischer Abschreckung. Vertrat
die Ansicht, selbst wenn ein Kind nur statistisches Material sei, dürfe
sein Leben nicht gefährdet werden, sei das Mädchen durch die uneheliche
Geburt der Schande preisgegeben, an sich aber ein wertvoller Mensch, so
müsse man im Prinzip die Hilfe verweigern, weil der Wert ein relativer
Begriff sei und den Prinzipien absolute Gültigkeit zugesprochen werden
müsse.

Er schloß seinen Artikel mit einem Aufruf an die Aerzte: Brüder in
Aeskulap! Seien wir unserer hohen Verantwortung eingedenk. Die geringe
Widerstandskraft des kranken menschlichen Körpers und die mißlungenen
Operationen haben eine große Bresche in das Vertrauen zu uns gelegt.
Verhindern wir, daß man uns wegen einer ehrlosen Praxis gegen das
keimende Leben den Vorwurf freiwilliger Tötung entgegenhalte. Statt
durch die Häufigkeit unserer Hilfe „in derartigen Fällen“ zahllose
Mitwisser unserer verbrecherischen Schuld zu schaffen, statt Hehler und
Mördernaturen zu fördern, treten wir geschlossen auf gegen das Vertrauen
der schöpferischen Lust, das man uns entgegenbringt ... und, fuhr er
fort, ist es nicht vernünftiger, dem Volk und der Gesellschaft die
Freiheit der Zeugung durch die gehäufte Zahl der unehelichen Geburten zu
predigen, als das ewig-verbrecherische Dunkel um das natürlichste
Geschehen zu weben! Weshalb hat die Kirche die Barriere des
Ehekontraktes zwischen Mann und Frau aufgestellt! Hat die dogmatische
Tugend die Triebe besiegt? Nein! Weshalb gibt sie der Natur die Freiheit
der Leiber nicht zurück? Weiß sie die Zwangslage der gegenseitigen
Hingabe nicht zu lösen, weshalb schafft sie die Gewissenskonflikte und
zwingt zu äußerer Ehrlichkeit auf dem Weg des Verbrechens. Was ist
unsere Moral anders als die Umgehung der Natur der Dinge, nur Schein und
Trug, ein Phosphoreszieren der faulenden Tugend!

Jappes las nicht zu Ende. Er hatte die Abhandlung gelesen, weil sie von
Doktor Seraph war. Ein Gedanke hatte sich nicht losgeschält aus dem
starren Satzgefüge. Er gab sich keine Mühe, über seine eigene
Stellungnahme zu Seraphs Problem nachzudenken. Er las nur zerrissene
Sätze, sah Stichwörter, verlor den Zusammenhang. Was sollte das
theoretisierende Geschreibsel bedeuten? Was sollte ein Artikel ändern
können?

Jappes war müde. Er setzte sich ins Sofa, blies Zigarette um Zigarette
in den Raum, und die Stille tat ihm wohl und die bläuliche Wolke, die im
Zimmer schwebte. Wie die Wolke wuchs, kamen seine Gedanken und
unterhielten sich mit ihm. Sollte er Ida Telluren nicht heiraten? Es
wäre ein lustiger Witz. Er würde die Tante glücklich machen und aus
ihrem Glücke Zufriedenheit schöpfen. Die Idee war so kühn, daß er nicht
lachte und noch eine Weile damit spielen wollte. Er würde sein Leben
ändern, ihm eine andere Plattform schaffen, von wo aus er es beobachten
könnte. Er würde nicht mehr der Insurgent Jappes sein, weit entfernt!
Ein neues Operationsfeld, ganz andere Kräfte würden sich in ihm
entwickeln. Er würde ein Mann, ein Gatte sein! ... Wer weiß, was noch!

Er trat ans Fenster, dann durchmaß er das Zimmer mit hastigen Schritten.
Bekannte Gestalten erschienen: Calvandi voran, Herr Arco Calvandi am Arm
einer Fischersfrau, die gleißenden Wogen, die brausenden Fluten, der
Fremde am Strand und die graue Tasche, ein trockener Knall, ein Fischer,
das Gewehr in der Faust, sprang in ein Boot und Armida rang die Hände am
Ufer. Pepy trat herzu, legte ihren Arm um die weinende Armida und küßte
ihr die Augen trocken, mit weichen glühenden Lippen. Wirbelnd kam der
Sturm über die grollenden Wasser getanzt ... dann war plötzlich alles
licht und heiter. Jappes griff sich an die Stirne: Leben, Leben,
blutigrotes, ich tanze mit den wirbelnden Fetzen!

Die Türe ging lautlos auf und Ida Telluren erschien, im Blick eine
hastige Frage: „Jappes, du darfst nicht allein bleiben. Gott! und der
Rauch, du rauchst ja wie ein Aragonier. Du bist so erregt, du darfst
dich nicht überreizen. Schone dich, Freund, die Nerven, die Nerven.“

Er drückte einen Kuß auf ihre Hand und in seiner Pupille stand ein
glühender Funken.




                       DREIUNDVIERZIGSTES KAPITEL


                                   Die Mystik ist eine
                                   geschlechtliche Depravation, man
                                   findet sie nur bei Enthaltsamen
                                   oder bei Ausschweifenden.

Jappes wohnte bei Ida Telluren. Sie waren sich gegenseitig ihr Fall. Er
brauchte Ruhe und sie brauchte Leben. Sie wandelten die Nacht in Tag.
Seine Worte flossen in Ida Telluren wie ein Bächlein in den Sand floß.
Sie absorbierte seine hastige Rede und die drängenden Ideen. Die Nacht
verging im Flug in der Glut der glühenden Lichter. Ida Telluren lauschte
dem gesteigerten Leben, lauschte den fließenden Worten des Freundes.
Hörte die seltsamen Kämpfe, die Folge der unglaublichen Widersprüche,
horchte, horchte und horchte – ihre Seele trank von dem eilenden
Rhythmus, trank sich trunken an der lohenden Eile, an der eilenden Hast.
Trank den Becher zur Neige, den die schäumende Gegenwart reichte. Wie
die Wolken des Alltags zerstoben! Wo blieben die lästigen Sorgen der
irdischen Zeiten. Alles war Leben und nichts war Leben. Gesteigerte
Kräfte, die sich zur Höhe türmten. Oh! Ihr Freund war groß. Sie sah sein
Leben im Flug entgleiten, wie ein Spiel sah sie sein Leben entschweben.
Sie dachte: Jappes ist groß und lauschte den Worten, die wie glühende
Tropfen durch die Stille der Nacht gingen:

Leben! du Traum der unerlaubten Begierde. Gnade der Zeit! Sehnsucht der
Nächte in Stille gehüllt. Lauernde Gluten zur Trauer geworden. Bewegung,
die sich lärmend am Gestade der Nacht gebrochen. Weltflüchtige Begierde
im Kreisel erschöpft. Leben in tanzenden Fetzen, Leben in wirbelnder
Glut! Leben zum Wahnsinn gepeitscht, Leben, Leben, Leben, dreimal
heilig-rotes Leben! Lüge der Zeiten, die Blößen zu hüllen. Schauer der
Nacktheit in der Kühle der wallenden Nebel ... Ein Leuchtturm am Strand,
umbraust von den wiegenden Fluten; ein Boot, von der Kraft der Ruder
getrieben, zum Ziel, zum Turm, zur ewigen Leuchte. Der Leuchtturm wich
in die Ferne, die Sehnen erschlafften, und ein Sturm trieb das schwanke
Fahrzeug über Wirbel und Schlünde, dem Hafen entgegen, wo die Winde
schliefen, dem Strande entgegen, wo die Wasser leckten, die Schiffe
zerschellten ... Welt der pochenden Aengste, ewigwiederkehrende Fluten
der Zeiten. Träume der dämmernden Nächte, Nichtigkeit der fiebernden
Stunden. Hysterisches Bewußtsein der Größe der Welt, Rätsel des Kosmos
durch ewige Bahnen gelenkt, rotierender Wahnsinn der schöpferischen
Allmacht, Genie, in welchem Gott und Welt zum ewigen Zwecke
verschmolzen, Geister erlöst von der Schwere des Leibes, Odem von Gott
in den Dreck geblasen, zum Menschen erniedrigter göttlicher Hauch, Liebe
des brünstigen Fleisches zur Hymne gewandelt, Halleluja der singenden
Engel im ewigen Taumel der heischenden Freude erbebend. Selige Schauer!
Gieren nach Lust der dienenden Triebe. Vorstellung und Welt, die eine
der Pol, die andere die unendlich ferne Polare.

Mit der Nacht wuchs die Ferne, die Stille, und der Ernst trug die
leichten Gedanken zu Grabe. Ida Telluren hörte das Geheimnis, das von
den Lippen des Freundes floß, als draußen die Sterne in Gluten erbebten.
Hörte, wie Jappes geworden im Spiel der Kräfte, im blinden Vertrauen der
kühnen Gewalten. Staunte, daß er die Tage in Keuschheit verlebte, daß
seltsam-tierische Kräfte die zwingenden Kreise um sein irrendes Leben
zogen. Hörte die strenge Askese, die er in schwüler Umgebung übte, wie
entsagende Abtötung ihm Spiel und ohne sittliche Größe ward, ein aktives
Leben im Banne zynischen Widerstrebens, ein rätseltrunkener Geist, der
dem Leben die Lösungen nahm und tändelnd die eilenden Tage verfolgte.
War sein Leben nicht fremd? nur das Erbe vergangener Geschlechter: Liebe
und Haß und Freude und Trauer, die ewig starren Attribute
jahrtausendalter Seelen, die irgendwo im Leben standen, liebten, haßten,
frohlockend, in Trauer sterbend, – das schwanke Erbe ausgelebter Tage.
Das Bewußtsein war sein eigen, das Wissen um das Sein der angeerbten
Dinge, das Bewußtsein, daß sein Ich der Träger altererbter Güter sei.

Jappes beichtete der Tante den Inhalt der entschwundenen Tage, alles war
Umriß und Skizze, ein Nippen von allem in zäher Begierde, ein
zerstörendes Genießen, ein Hungern der Seele in der genußvollen Fülle.
Ihm fehlte die Kraft zur Lust und der Wille zur Freude, er war ein
entsagender Dränger, ohne Hoffnung, im Leben etwas für sich zu gewinnen,
kein Christ, kein Held und kein Sektierer moralischer Dogmen, er war,
wie er war, bei allem dabei, wie ein starres Idol ohne fühlende Seele,
ein Lachen zur Trauer, zur Freude ein skeptisches Grinsen. Ihm war
nichts genug für seine weite Begierde. Weshalb ging er den Weg durchs
Leben? Weshalb trat er die Erde geformt aus der Asche der Ahnen? Weshalb
trank er den Hauch der atmenden Menschen? Weshalb bot die Erde dem einen
so viel und weshalb war sie ihm so verschlossen? Sein Leben war reich an
Erfahrung, an Befriedigung arm. Er war zu allen bereit, zäh auf der
Suche, die Werte der Jahre zu finden. Auf seinem Weg lag die
Zwittergestalt des Lebens, der Zwitter befriedigter Gier und
enttäuschter Wünsche.

Jappes war die Straße gegangen, ohne daß sich der Zwitter regte.
Ueberblickte er die wachsenden Jahre, so sah er die indifferenten Blüten
der Lebensflora am Wege stehen: befriedigte Enttäuschung und enttäuschte
Befriedigung, Blumen, die man nicht liebt und nicht bricht, Blumen, die
nicht stören und weiterblühen; man möchte sie eben so lassen, weil es
Blumen des Lebens sind.

Das Gleichgewicht ist die lähmende Kraft, die das aktive Leben zur Ruhe
dämpft, zur nagend-kriechenden Ruhe.

Ida Telluren verstand den ganzen Sinn seiner Worte nicht. Auch die Worte
waren nur Skizzen und drängende Hast. Jappes sprach, wie Menschen reden,
wenn sie von intim-inneren Sachen erzählen, ein karges Wort, ein
bedeutungsvolles Zeichen – – –

Sie fühlte sein Wesen in mimosenhaft-mütterlicher Ahnung. Was war ihr
der Mann, der sein Leben erzählte? War er ihr Freund und noch mehr? War
er ihr mehr als ihr Kind, das ein Objekt ihrer Träume geblieben? Seine
Seele war Sehnsucht, wie ihre Seele, ein Bächlein zur großen fließenden
Sehnsucht. Und Ida Telluren fand manchmal den Weg der träumenden
Stunden, die wie schwebende Lichter die Jugend erhellten. Das
schüchterne Sehnen des knospenden Mädchens, in Purpur erglüht, sich mit
dem Ewiggeliebten des Geschlechtes zu einen. Sie fühlte die Trauer vom
ewigen Scheiden der schwebenden Sehnsucht im Raume der Liebe. Sie
erbebte vor der fahlen Oede ihrer abgeschlossenen Tage, die sie seit
jener Zeit verlebt, als ihr Geliebter den schattigen Pfad der sterbenden
Seelen betrat. Wie unendlich reicher wäre ihr Leben gewesen – sie
fühlte, wie ihre Gedanken dem Abgrund nahten – die Frucht ihres Lebens
war in der Blüte geblieben, sie ahnte, wie unendlich arm ihre lebhafte
Seele dem Sturze entgegenging. Sie fühlte die schmerzliche Wonne
ersterbender Liebe, die noch einmal im Fieber verklärter Bewußtheit
erzittert. Wie kam ihr die Kraft, die schmerzliche Liebe zu tragen, die
ersehnte Verheißung zu missen, der Lust zu entsagen, die zuweilen die
Seele durchwühlte? Sie stand am Friedhof ihrer kalten Tage und ließ die
lebendige Seele vom Hauche der Sehnsucht umwehen. Oh! schauertiefes
Leiden der Frau. Oh! trauerlebendiges Herz. Du kannst den Schmerz nicht
fassen, der in ewig-wiederkehrendem Rhythmus dein Blut durchkreist.
Einsam stehst du in der Nacht der fernen Geräusche und harrst der
Stunde, wo dir Erlösung wird. Du zählst nicht die Zeit, hast kein Maß
für die einsam-tiefen Stunden, du harrst in der Nacht, bis die Sehnsucht
stirbt im sengenden Odem des Geistes, der von Mitternacht über die
Gräber weht. Frau! dein Kanon ist Liebe, dein Priester der Traum und du
bist das Opfer der ewig-blutigen Rätsel.

Die Stille lag zwischen Jappes und Ida Telluren, lähmte die Zunge der
keimenden Worte. Ihre Seelen lagen im Zwiegespräch und vermählten
einander die wachsenden Gefühle der Einsamkeit. Draußen streute die
Nacht die Ruhe und von ferne kam der junge Tag mit blutiger Lanze, die
Träume zu scheuchen. Ihre Seelen griffen ineinander und ließen die Liebe
werden, die Liebe der verbotenen Geschlechter. Tante Telluren erstickte
ihre Trauer in einem Kuß auf Jappes’ Stirn. Er erhob sich mit
elastischem Sprung und küßte der Tante die perlende Wimper.

„Tante, ich bin ein Flegel mit sanften Pfoten.“

Sprach’s und ging auf sein Zimmer.




                       VIERUNDVIERZIGSTES KAPITEL


                                   Die Tiefe einer Frauenseele liegt
                                   in ihrer leidenschaftlichen
                                   Aufopferung, die Zähigkeit liegt
                                   in der Verteidigung ihrer Ehre.

Pepy ging über die Straße, ging durch die Anlagen, unruhig, unsicher,
verwirrt. Die Ferne zog sie an mit unendlicher Sehnsucht. – Am Horizont
ihrer lichten Tage ballten sich die Rätsel der dunklen Gewalten, die
Macht über sie gewonnen hatten. Da standen die Bäume in strotzendem Laub
und träumten der Höhe entgegen, die Blüten, die unter den saugenden
Küssen der Bienen erstarben, da standen die Gräser im Spiele der Winde.
Was ist eine Blüte, ein Baum, ein Gras im spielenden Wind? Was ist die
Sonne im kreisenden All, die unendliche Glut der schöpfenden Zeiten? So
ging ihr Traum in die Ferne, die Antwort zu suchen, das Glück und die
Ruhe zu finden.

Welche Macht hat dem Menschen doppeltes Sehnen in die Brust gelegt: die
Sehnsucht nach der Lust und die Sehnsucht nach dem Paradies? Die beiden
Sehnsüchte töten den Menschen, weil sie Kräfte sind, die unabhängig
voneinander wirken und deren Kraftrichtungen in den Tod gehen. Der
jahrtausendalte Mythos von Kalvaria ist eine Wiederbelebung des Sehnens
nach dem verlorenen Paradies. Christus hat die Menschheit nicht am
Kreuze erlöst, er hat ihre Sehnsucht neu belebt, die Sehnsucht nach den
Bildern unserer erträumten Verheißung. Die blutige Theatralik auf
Golgatha! Gott als das absolut inaktive Wesen am Querholz haftend,
appelliert an sein höheres Ich, an seine potenzierte Väterlichkeit,
jammernd, klagend, verzweifelt: Eli, Eli, lama asabthani! Verzweiflung,
welche die Lust besiegte, dem Leib entsagte, durch den Tod die Freiheit
schuf, den Traum der Sehnsucht nach dem Paradies erfüllte. Ein Gott, der
durch Verzweiflung an sich selbst die Welt erlösen wollte?! ... ein
neuer Traum!

Am Himmel zogen die Vögel ihre Kreise, flogen nieder in langen,
gleitenden Spiralen. Die Stadt lag hinter Pepy, die Anlagen des
Englischen Gartens breiteten ihre Wiesenflächen aus, breiteten sie hin
ins fließend-goldige Sonnenlicht. Der Kleinhesseloher See mit seinen
schattigen Inseln lag in der Fläche wie ein dämmernder Traum. Am Ufer
spiegelten sich zitternde Türme und wehende Bäume. Ein Schwan trieb
durch den spiegelnden Abend. Eine geräuschvolle Reihe quakender Enten
schwamm aus dem Riedgras und ihre Bewegungen zeichneten große
Wasserkeile, in deren Spitzen je eine Ente schwamm. Pepy setzte sich auf
eine Bank, zitternd, zagend, erbebend. Weshalb war sie gerade nach dem
See gegangen? Es war nicht die lockende Kraft des Wassers, die sie
anzog. Irgendeine Sehnsucht trieb sie hinaus, irgendeine lauernde Unruhe
scheuchte ihr Wesen, gebot ihr, ins Freie zu gehen, ins Unbegrenzte,
gebot ihr, die Seele von der Lüge der Umgebung zu lösen. Das Mädchen
empfand die brutale Kraft, die sie jagte, als eine schmerzliche
Erniedrigung, sie fühlte, daß sie nichts gegen die Ohnmacht vermochte.
Sie fühlte, daß ihre Ohnmacht eine Kraft war, die sich in ihr nach innen
betätigte – die ermattende Kraft der überflüssigen Einsamkeit!

Pepy entfaltete einen Brief, den ihr Jappes von Stuttgart geschrieben.
Sie las die hastige Schrift und die Fülle der sanften Gedanken.

Rudibub, mein lieber!

In Stuttgart sitz ich am Nesenbach und wohne bei Ida Telluren. Du weißt,
sie ist von der Gattung der Tanten. Tanten sind von Gott geschaffene
Apparate, den Ruhm der Dichter zu fördern. Ich habe meinen Beruf doch
gänzlich verfehlt, sonst könnte ich unmöglich die Kollegien alle
schwänzen. Wäre meine Schrift besser, ich wollte Aktuarius werden und
die Wonnen des Alters erwarten: Pension und Rheuma. Oh! süßer Klang der
süßen Namen. Mein Fenster geht auf die Straße, ich höre, wie drunten
einer das Lob der Stockfische preist: Die beste Qualität zu den
niedrigsten Preisen. Für einen Stockfisch muß es doch ehrenvoll sein,
öffentlich angepriesen zu werden. Anzeige und Reklame sind die
unglücklichsten Sündenböcke und der literarische Geschäftsgenius der
Händler bürdet ihnen die gröbsten Schnitzer auf. Gestern – ach, es ist
schon so lange her – habe ich einen Ausflug mit der Tante gemacht, du
wirst leicht erraten, wohin. Wir sahen eine Anzeige in einem feinen
Lokal:

Landwein aus hiesiger Gegend, direkt vom Besitzer auf Flaschen gezogen!

Verzeih mir, Pepy, wenn es mich an die Urinflaschen meiner Patienten (!)
erinnert. Es ist jedenfalls ein seltenes Phänomen, ein Mann-faß zu
finden, aus welchem man Wein auf Flaschen ziehen kann. Aber der Wein war
sehr gut und hat mich zu einem großen Konsum veranlaßt. Die Tante hat
mein Wesen beruhigt. Als ich ankam, war ich in Aengsten und Sturm und
mein Geist war in steter Revolte. Ueberall, wo ich hinkomme, ist der
Reiz für das Leben verschwunden, der Schmelz ist verwischt und ich finde
immer die fertige Frucht, ohne den lockenden Hauch der Reife. Ich finde
Häuser und keine verschlossenen Türen, die Pforten sind klaffend, und
ich sehe die Wirklichkeit durch die Spalten grinsen. Ich habe zu viel
gesehen, um zufrieden zu sein. Vielleicht ist es die Frau, die uns jagt
und die wir jagen, und welche das weibliche Rätsel in tausend Formen
variiert, um sich und uns die Sinne im Banne zu halten. Mein Leben hat
keine Zukunft, weil ich keine Rätsel sehe. Hinter alle Türen habe ich
geschaut, hinter alle Kulissen und Fenster. Mein Blick ist von allem
leer geblieben. Darum weiß ich immer, was ist. Es gibt kein Rätsel außer
uns. Wir sind unser eigenes Verhängnis –

Mein Rudibub, ich freue mich, Dich wiederzusehen. Es wird eine Wendung
in meinem Leben werden. Ich lasse die grauen Reflexionen, um Deine
Stimmung nicht auch noch zu unterminieren.

Manchmal muß ich den Flegel wecken, damit er die bösen Geister
vertreibe. Er peitscht sie immer alle hinaus. Und das ist mein Trost,
denn Flegel sind stark und die seichten Geister der nagenden Qual sind
feige. Ja! feige Qual der schleichenden Sorgen – wo Kraft ist, ist
Glück! und Pepy, – wir wollen in Zukunft einander vertrauen. Wir wissen
um die Kniffe des Lebens, wir kennen die Zicken und Schrullen der Tage.
Mein Rudibub, Du siehst, ich schreibe mich immer ledig vom Krame der
Sorgen. Bald sehe ich am Leben die mürbende Qual, bald sehe ich die
lachende Fratze. Januskopf der bittersüßen Zwittergestalten, wo sind die
Pole des Leids und der Freude, die eure unendlich fernen Blicke
erwarten? Wir wandern die Bahnen, die zu den Polen führen und wir
bleiben alle am Wege liegen, die einen näher, die anderen ferner. Ich
halte Einkehr in mich und bin auf dem Weg, ein Franziskus zu werden. Die
Gloriole der Heiligen wird langsam gewoben. Wir sind allzumal Sünder,
doch ist die Gnade der Vergebung unendlich. Wem Gott die Gnade der Sünde
gab, dem wird er die Gabe der Tränen nicht wehren.

Pepy, wenn ich nach München fahre, müssen wir ernste Gedanken tauschen.
Du siehst, ich habe meine Seele ein bißchen abgestaubt. Ich bin dem
Einfluß Armidas entgangen, wenn ich mit mir auch noch nicht ganz im
reinen bin. Sie will eine Probeehe eingehen. Armida ist stärker als ich,
und es ist mein erstes ungelöstes Rätsel, weil ich nicht weiß, wie ich
zu diesem Weibe kam – und mein zweites: wie ich wieder von ihm kam.
Kurz, ich bin fort und erwarte den Tag, an welchem ich Dich wiedersehe.
Vielleicht hast Du auch ein Rätsel für mich, denn Du schreibst mir ja
von sonderbaren Dingen, die in Dir vorgehen.

Rudibub, es freut mich, Deine tüchtigen Arbeiten im Glaspalast zu sehen.
Du kannst Dir Glück wünschen, daß Du Professor Günther auf Deiner Seite
hast. Entschuldige, wenn mein Brief zu tantenhaft klingt, ich erzähle
Dir, in welcher Verfassung und in welcher Umgebung ich ihn geschrieben
habe.

Deinen Lippen sage ich meinen Gruß und denke Dein als

                                                             Golliwog.

                                   Schwester, mein Gebet sind Tränen,
                                   die ich in deinem Tempel weine,
                                   aber du hörst es nicht. Vor deinem
                                   Tempel steht ein Leierkastenmann,
                                   er singt dir, daß niemand außer
                                   ihm zu dir betet, und deshalb
                                   weine ich.

Pepy weinte, als sie den Brief gelesen hatte. Es war so viel Jappes drin
und sie wußte das am besten. Sie würde ihm ihr Geheimnis anvertrauen
müssen. Er würde es anhören und noch ein gutes Wort finden. Sie hatte
Professor Günther einen Besuch versprochen. Die Zeit war längst vorüber.
Aber sie mußte zu ihm, zu irgend jemand, reden, weinen. Sie ging den Weg
zurück, ging an Günthers Garten vorbei, ging um das ganze Viertel, stand
an seiner Türe still, sah die Klingel und ging wieder fort ... noch
einmal bis ans Ende der Gartenumzäunung, dann würde sie schellen. Sie
fand keinen Mut dazu ... bis zum nächsten Viertelglockenschlag. Auch der
verklang im fallenden Abend. Die Nacht kam mit den schleichenden Nebeln,
die sich um die Häuser legten und die fernen Geräusche dämpften. Pepy
wurde das Warten zur Qual und doch empfand sie eine Wollust, die Zeit
hinauszuschieben ... noch zehn Schritte, dann würde sie klingeln, bis
fünfzig zählen, warten, bis drüben das elektrische Licht erlosch, das
einen Hausgang eine Minute lang erhellte. Sie maß die zehn Schritte,
zählte bis fünfzig, das Licht erlosch und Pepy wagte nicht, an die
Klingel zu rühren. Sie lehnte an der Tür, und die Sehnsucht trug ihre
Aengste der Ferne entgegen.

Schritte kamen übers Pflaster, Schlüssel rasselten. Professor Günther
schrak an der Tür zusammen, dann raffte er sich auf zu einem flüchtigen
Wort: „Fräulein Pepy, Sie haben wohl lange gewartet? Ich bin kurz nach
unserer verabredeten Stunde gegangen.“

„Ich hatte mich verspätet und bin zufrieden, daß ich Sie treffe. Sie
müssen mir helfen, ich verlebe schreckliche Tage in Sorge und Bangnis.“

Günther zog Pepy fort von der Türe, übers Pflaster am Garten entlang und
sagte ihr leise forschende Worte: „Einbildung! Du quälst dich mit
unnützen Sorgen. Weshalb nimmst du das Schlimmste an, du weißt nichts
... Warte erst ab ... du kennst ja die Zeichen.“ Professor Günther sah
Pepys erschrocken-büßendes Gesicht, das zu ihm durch den Schleier
blickte und ihm mit starrer Pupille in die Seele drang. Er sah, wie ihre
Lippen die Worte brachten: Die Blutwoche ist zum zweiten Male
ausgeblieben!

Das war mehr als ein Urteil. Er war dem Verhängnis nicht gewachsen, für
Mitleid war er nicht geschaffen. Er wollte fort, allein sein, das
Kommende vorbereiten. Er ging neben Pepy, abgeschlossen, berechnend,
verachtend. Sie ging ihren leichten, wiegenden Gang und fand nicht die
Kraft, einen Gedanken zu denken. Und beide wurden durch seine Worte
erlöst: „Entschuldige mich, Pepy, ich werde zu Hause von einem Kollegen
erwartet, du kannst ja morgen am Vormittag bei mir vorbeikommen.“

Kein Gruß, kein gutes Wort. Eine „gute Nacht“ so kühl wie der Nebel, der
in den Straßen lag. Ein paar hastige Schritte, eine Türe, die ins Schloß
fiel, ein freudiges Bellen, das sympathische Quieksen der jungen
Boxerhunde. Dann wuchs die Stille wieder in die unendliche Weite.

Pepy las Jappes’ Brief wieder im fahlen Licht einer zwinkernden
Straßenlaterne.




                       FÜNFUNDVIERZIGSTES KAPITEL


                                   Wer es versteht, über Dummheiten
                                   nachzudenken, findet meist einen
                                   tiefen Sinn darin.

Armida und Arco Calvandi kehrten halbwegs Berlin-Stuttgart um. Sie hatte
ein selten schön geschliffenes Parfümfläschchen aus Onyx vergessen, in
welchem sie Fleur de Nice zu kolportieren pflegte. „Ich kann den Geruch
der Menschen unmöglich vertragen, diesen fürchterlichen Hauch der
atmenden Leiber. Ihren Blicken bin ich leichter gewachsen. Wie fallen
die Nasen der Menschen mich an, gerade, als ob sie die Duftwolke
durchbohren wollten. Ich hasse die schweißige Masse mit den
staubzerfressenen Fratzen ...“ Sie schüttelte sich vor Unbehagen.

Arco stand fröstelnd am Perron und starrte in das Räderwerk einer
Lokomotive. Das Warten machte ihn frösteln, obwohl die Sonne ihr Feuer
noch sandte. Er kehrte sich zu Armida, pflückte das Monokel aus dem Auge
und sagte mit runzeligem Blicke: „Die Masse hat dich nicht immer empört
und es ist noch nicht lange, seit sich Liebe in Haß gewandelt hat. Du
solltest die Masse nicht schimpfen, sie ist wie das Meer, welches das
Elend des Grundes bedeckt und uns nach einem alten Gesetze trägt. Mir
fällt nichts Geistreiches ein, darum mache ich Vergleiche: Das Meer und
die Masse des Volkes. Viel unnütz Getier, manchmal ein leckerer Bissen,
ein wertvolles Objekt für ozeanographische Museen. Obenauf schwimmen die
Klugen, die Schlauen, alle fischen in dem großen Bassin, der eine den
Hering, die Perlen der andere, Korallen der dritte, und so treiben die
Barken oben mit den hungrigen Netzen und fischen die Massensubjekte.
Zuweilen fordert die Masse ein Opfer, das Opfer sinkt nieder und die
Wasser breiten den Schleier darüber. Andere schwimmen mit Luxusbooten
und schauen die Ferne der schillernden Massen, träumen die Rätsel der
fließenden Weite; jagen der Masse die Schönheit ab, steigern den Rausch
zum Taumel, zum herrschenden Wahnsinn. Ihr Flaggenwort lautet: Wir sind
die Herren der Meere! Ruhm trägt schnell über glatte Meere, doch wehe
dem Boote, wenn es die Strömung trifft oder ein Spielzeug der wirbelnden
Charybde wird. Dann nimmt die Masse Revanche und zeigt, wieviel Platz
sie im Schoße für Größe birgt.“

Armida legte ihm die Hand auf den Mund: „Still, mein Freund, sonst
machst du mir noch ein politisches Glaubensbekenntnis. Du glaubst an die
bewußte Kraft der Masse, du schwörst auf den Terror, ich sage dir, Arco,
die Massen sind unbewußt wie die Wasser, sie gehorchen den siderischen
Gesetzen, nur Ebbe und Flut, Trägheit und Auftrieb! Die Segler sind die
Herren des Abgrundes. Der Abgrund ist die einzige Kraft des Wassers. Die
Stürme und Riffe sind Launen und Possen. Kluge Schiffer kennen die
Zeichen der lauernden Wasser. Mir ist das Meer verhaßt, weil es brüllt,
wenn es zerstören will. Wäre die Masse des Volkes lauernd, sie wäre die
Herrin der Welt, aber sie tost gegen sich selbst, brüllt im Rausche der
bluterstickten Emeuten und frißt an sich selber im schäumenden Gischt,
durchwühlt die Tiefen der tierischen Triebe und besudelt sich selbst mit
dem Schlamm der schlummernden Tiefe. Hast du das Meer schon bei Sturm
gesehen? Es ist ein Chaos von wirbelndem Schmutz!“

„Ich unterbreche dich, Freundin, ich habe dein Urteil gehört. Du siehst
zu genau, ich glaube, du bist zu nahe am Strand. Ich begrüße mit großer
Freude, daß wir Meinungsverschiedenheiten haben, das wird die ehelichen
Verhältnisse klären und die Fesseln stählen.“

„– oder zertrümmern.“

„Es gibt auch interessante Trümmer. Das Ganze ist nicht immer
harmonisch. Weshalb willst du eigentlich zu Ida Telluren? Täten wir
nicht besser, unser Glück ganz einsam zu hegen, statt die Neugier der
Tante zu füttern. Die Tante ist ein erloschener Krater und er kann nur
von fremdem Feuer rauchen.“

„Der Rauch ist nicht das Wesen des Feuers. Ich gehe zur Tante, damit sie
mir die Zukunft aus den Karten deute. Unsere Zukunft hängt von den
Weissagungen der Tante ab. Sie hat mir manches richtig vorhergesagt.“

„Und wenn die Tante eine schwarze Zukunft deutet?“

„Schwarz oder weiß! Die Karten entscheiden die Zukunft. Und Jappes ist
auch ein Magnet. Nicht schwächer denn du, wohl mein ich, ist er noch
stärker und schneller, nur überwacht er das Tempo, er hemmt seinen Lauf,
er bedient sich der Bremse, die Kurven nimmt er mit Vorsicht, er
überdenkt seinen Weg. Das ist es, was mir Sorge macht; er will die Eile,
ohne die Katastrophe zu wollen. Stets hält er die Hand am rettenden
Hebel. Die einen nennen es Klugheit. Ich sage, Jappes ist feig. Drum
ließ ich ihn gehen, daß er in der Einsamkeit den Schlüssel zur Lösung
finde. Er hat mir zehn Worte geschrieben: ‚Armida, ich bin einsam wie
der Wind in den Lüften!‘ Die Deutung der Worte ist einfach. Er wünscht
mit dem Strome zu schwimmen, ich soll ihm wieder die Planke zum Sprunge
sein. Ich begrüße die Worte, ich sehe, ich habe einem Mann zum Willen
verholfen. Hüte dich, Arco, jemals dein eigener Herr zu werden.“

„Ich bin ein Stück deiner eigenen Herrin,“ grinste Arco Calvandi, und
mit dem Stock schrieb er Armidas Namen in die ölige Schicht der
Kolbenstange der Lokomotive. – „Willst du, daß ich dir ein Opfer
bringe?“ Er klebte sein Monokel ins Oel der Stange, tippte Finger für
Finger seiner Hände, die mit weißen wildledernen Handschuhen bedeckt
waren, ins Oel, drückte die Innenfläche der Hände gegen die schmierige
Stange: „Du siehst, wie ich allem entsage,“ – und er zog die Handschuhe
von den Händen – „es ist ein Geschenk von dir, das du mir machtest, als
wir meinen unbestimmten Geburtstag begingen. Es ist für mich die größte
Qual, ohne Handschuhe zu sein, dir bringe ich das Opfer mit Freuden.“ Er
ließ die ölbeschmierten Handschuhe, den Stock entlang, vor die Räder der
Lokomotive auf die Schienen gleiten.

„Du hast einen sonderbaren Begriff von Opfer. Es ist einfach à la Arco
Calvandi. Wann wird der Tag kommen, an welchem du deine letzte Dummheit
begehst?“

„O sicher nicht an dem Tag, wenn ich dich verlassen werde. Du bist noch
nicht zur Dummheit geboren, denn dumm werden, heißt, zu sich selbst
kommen. Ich kann dir auch ein anderes Opfer bringen und mich selbst vor
die Räder werfen. Herrin, du darfst nur befehlen, das Opfer ist immer
bereit, dir den Tribut seiner Liebe zu zollen.“

„Ich glaube, du würdest es tun?“ sagte Armida und öffnete die Augen zur
Frage, „doch mein Spielzeug will ich noch nicht zerbrechen und ich will
nicht, daß dein Opfer so tragisch sei. Bleibe nur knetbar, dann bin ich
zufrieden. Ich spiele immer à la baisse mit den Menschen und hasse die
titres fixes. Ich glaube, du wirst stets eine Marionette mit freien
Bewegungen bleiben, solange ich die Drähte halte. Willst du mir immer
untertänig sein, Arco Calvandi?“

„Ich sage nicht nein.“

„Willst du mich nie verleugnen, Arco Calvandi?“

„Ich sage nicht doch!“

Armida überlegte eine Weile: „Und wenn ich Jappes an deine Stelle
setze?“

Arco Calvandi legte den Finger an die Stirn: „Da muß ich die Antwort
erst überlegen. Auf keinen Fall bin ich zu Kompromissen entschlossen und
du weißt, meine Freundin Armida, Verrücktheit ist ein Privilegium der
Reichen. Du bist meine letzte Leidenschaft und ich werde sie auch zu
nähren wissen ...“

Ein Zeitungsjunge lief am Zug entlang: Simpel, Jugend, Lustige Blätter,
Brummer, Raddatsch – eine Atempause – Zeitungen, Frankfurter, Berliner,
Kölnische, Münchener, Stuttgarter – Simpel, Jugend – Handkarren rollten
vorüber, Träger drängten sich, eilende Menschen, Rufen, Hasten,
Kohlendampf in stinkigen Schwaden; Dröhnen und Poltern und Stoßen und
Rollen. Ein D-Zug spie Massen aus, verschluckte andere, puffte Rauch in
wirbelnden Wolken gegen die Wölbung der Halle, die nächste in die freie
Luft und draußen entschwanden die Schlußsignale. Arco Calvandi warf
seine Stirne in Falten und deutete mit dem Zeigefinger auf Armida: „Du
sagst also, die Karten entscheiden, – es wäre möglich, daß die Karten
trügen.“

Dann summte er zu einer bekannten Melodie: „Les jours d’antan sont loin!
hélas!“




                      SECHSUNDVIERZIGSTES KAPITEL


                                   Es ist schade, wenn gute Worte,
                                   welche immer selten sind, ironisch
                                   klingen.

„Anna,“ sagte Professor Günther zu seiner Frau, „du sagst dem Mädchen,
es soll am Vormittag nicht im Atelier abstauben, ich habe zu tun.“ Frau
Professor machte einen Knicks: „Ich werde es ausrichten.“ Nach ein paar
Augenblicken unruhigen Wartens brachte sie die Frage hervor: „Gustav,
willst du die Hunde wirklich aus dem Hause tun?“ Sie trocknete die
feuchten Härchen ihrer Augenschlitze. Keine Antwort. Professor Günther
stand ans Fenster gelehnt. „Du sagst?“ fragte er in barschem Ton.

„Mein Gemahl,“ wiederholte Frau Anna, „Gustav, willst du die Hunde
wirklich aus dem Hause tun?“

„Ob ich will?“ fiel er die Frau mit scharfer Rede an. „Du kannst doch
nicht alle Hunde aufziehen. Doktor Gehren erhält einen, Doktor Brunner
einen und Doktor Heinzfeld den dritten.“

„Gib doch dem Buben einen oder zwei,“ bettelte sie, „ich werde sie
bringen, sie sollen in der Familie bleiben, sie sind treu, und Fräulein
Pepy hat sie aus der Taufe gehoben. Es ist eine liebe Erinnerung.“

Professor Günther überlief es kalt. Was hatte Pepy mit den Boxerhunden
gemein? Richtig, bei ihrem ersten Besuch waren die Hunde „flügge“
gewesen. „Meinetwegen,“ sagte er, „bring sie alle drei nach Baden-Baden,
wenn du denkst, daß Arnulf sich freut.“

„Gustav,“ rief Frau Günther erfreut, „du bist gut, mein Gemahl, ich
weiß, du würdest mir mehr Liebe erweisen, wäre deine Zeit nicht so
knapp. Ich werde Arnulf sagen, wie gut du bist. Mein süßer Mann,“ rief
sie jauchzend, und das schmuddelige Weibchen sprang dem Professor an die
Lippen. „Nun schnell,“ fügte sie glückstrahlend hinzu, „ich weiß, du
hast zu tun und du hast wieder schwere Gedanken zu denken. Das Mädchen
wird nicht abstauben, ich richte es sofort aus.“ Schnell einen Kuß auf
seine matte Hand, und Frau Anna verschwand mit dankendem Lächeln.

Professor Günther riegelte die Tür ab und der Sicherheit wegen versuchte
er an der Klinke, ob sie wirklich geschlossen sei. Stützte den Ellbogen
auf das Schloß, legte die Stirn in die flache Rechte und lehnte den Kopf
an die Füllung. Es war wie ein Spuk, wie ein narrender Traum. Und doch
waren die letzten Tage Wahrheit. In seinen Schläfen hämmerte der
Vorwurf. Er hatte ein Mädchen verführt! Die Wirklichkeit ließ sich nicht
leugnen – eine Stimme höhnte, „die lebendige Wirklichkeit deines
Kindes“! Ein schweres, verlegenes Atmen entrang sich seiner Brust. Kein
Gedanke wollte sich bilden, er kämpfte gegen die tötende Stille ... Dann
kam die Erinnerung und hielt ihm die Lüge vor: „Das Schlimmste ist, wenn
der Mann jung bleibt und die Frau altert“ ... Lüge! sah er mit
brennenden Lettern auf dunklem Grunde glühen. Lüge, Lüge war deine ekle
Begierde. Sein Blick glitt über die Bilder des Ateliers. Venus und
Cupido, die kranke Ziege, der grinsende Faun, die Meduse, der Untergang
Pharaos. Wie ganz anders war die Bedeutung der Bilder heute.

Er streifte die Skizze von Meister Geraldo. Er dachte an die Tränen des
Meisters, welcher aus seiner Liebe die Kraft zu seinen Bildern geschöpft
hatte. Niemand hatte etwas von Meister Geraldo zu fordern. Er war nicht
verheiratet und hatte sich ein freies Weib genommen, das entschlossen
war, Freude und Leiden mit ihm zu teilen. Geraldos Liebe war ehrlich
gewesen, die Liebe hatte ihn zum Leben erweckt, Geraldo war durch die
Liebe geworden. Günther dachte an des Malers Abschiedsworte: „Ich tat
unrecht, die Frau zu verlassen, aber sie wußte, daß eine Macht mich
hinaustrieb. Ich bin glücklich, daß die Frau mir nicht flucht, und so
kann ich in Liebe von ihr scheiden.“ Damals hatte er über die Frage der
Schuld gelächelt: eine einsame Frau empfindet mehr Glück an ihrem
unehelichen Kinde, als eine verheiratete ohne Kinder. So hatte seine
eigene Lehre damals geklungen. Heute konnte er sich mit keiner
Ueberlegung retten. Vor der Gesellschaft konnte er nicht bestehen. Er
und sein Schicksal! beide waren das Opfer seiner Begierde geworden. Die
Gesellschaft anerkennt die Begierden nicht! – wenigstens nicht
offiziell. Und er wollte nach den Dogmen der Gesellschaft leben – so war
er gezwungen zu handeln. Der Flug seiner Gedanken wurde mählich kühner
und kühner. Er suchte nach Mitteln, einen Wall zu seiner eigenen
Verteidigung aufzuwerfen. Er zählte die Wege auf, die zu seiner
Ehrenrettung freiblieben. Ehrenrettung!!!

Er könnte Pepy verleugnen – doch nein, die Empfehlung, die er ihr
geschrieben, ein Hindernis und Jappes ein zweites. Ein ergebener Arzt,
der sie behandelt? ...

Er durchlief die Liste seiner Freunde. Er wagte es nicht, von einem
Freunde soviel Vertrauen zu fordern. Sein Sohn? ... Sollte er ihn zum
Mörder machen? ... Wenn ein; beglaubigter Unfall vorläge? ... Sein Sohn
durfte nichts erfahren. So verwarf er die Gedanken und griff sie wieder
auf. Der Sohn müsse dem Vater manches verzeihen. Ein solches Geständnis!
Das hieße, sich als Vater vor seinem Sohne entblößen. Seine Gedanken
jagten sich, zerrissen und knapp, die Stichworte wirbelten in ihm, wie
Fetzen im Winde; bildeten zerstückelte Sätze, halbe Gedanken. Wenn seine
Frau stürbe ... oder er selbst ... oder Pepy ... oder eine heimliche
Geburt an diskretem Ort ... ein totgeborenes Kind ... oder wenn er für
Pepy einen Bräutigam fände ... Er würde selbst auf die Suche nach einer
Hebamme gehen ... eine Frühgeburt würde die Ehre retten ... Und wenn die
Sache mißlänge ... wenn Pepy ein Opfer würde ... der Fall wäre möglich,
eine Eiterung, eine starke Blutung, ein schwaches Herz, dann ... dann
... alles um ihn drehte sich wie in einer großen schwarzen Scheibe und
zwei Worte kreisten in der drehenden Fläche: Zuchthaus – Staatsanwalt –
Worte, die ihm den Ausblick auf den Weg zu seiner Rettung versperrten.

Günther ging wie ein Trunkener durchs Atelier. Mit halbsicheren,
behutsam tastenden Schritten. Sein Atmen war ein qualvolles Saugen der
Lungen. Er lehnte sich gegen die Staffelei, welche mit lautem Krach zu
Boden schlug und ihn aus seiner Verwirrung riß. Erschrocken sah er sich
um und mit dem Instinkte eines aus dem Schlaf Erwachenden bückte er sich
hastig nach dem Gerüste. Dann horchte er auf, ein leises, schüchternes
Klopfen, er reckte sich hoch, wirklich, es klopfte. „Pepy!?“ Mit festem
Schritt ging er zur Tür, er wollte seine Unruhe scheuchen. Seine Frau!
Sie entschuldigte sich wegen der Störung und reichte Pepys Karte: „Sage,
ich bin dringend beschäftigt,“ bat der Professor, „und könnte sie heute
leider nicht sprechen. Richte das aus, Mutter.“

In der Treppe wiederholte Frau Günther: „Richte das aus, Mutter.“ Sie
dankte ihrem Mann für dieses gute Wort „Mutter!“. Sie war glücklich,
weil unter der Asche der Arbeit ihres Mannes der Funke der Liebe so
leuchtend glomm. Bebend vor Glück küßte sie Pepy die Wange: „Der Herr
Professor ist in seltener Stimmung,“ rief sie halb außer Atem, „aber er
hat wieder schrecklich zu tun, und ich hoffe, Sie werden sich mit mir
nicht langweilen. Der Gute, er hat mich Mutter genannt, wie damals, als
Sie das erstemal hier waren, und er Tee eingoß.“ Sie erzählte Pepy, daß
er ihr erlaubt hatte, die Hunde nach Baden-Baden zu ihrem Sohne zu
bringen, statt sie an Fremde zu verschenken: „Mein Gemahl ist ein süßer
Mensch,“ fuhr sie gesprächig fort, „er hat immer eine kleine
Ueberraschung für seine Frau, er ist eigentlich am nettesten, wenn er
die meiste Arbeit hat. Als Frau habe ich die letzten Jahre zwar nicht
viel von meinem Manne gehabt, und ich wünsche Ihnen, Fräulein Pepy,
einen nicht gar so schnüffeligen Bücherwurm ... Sie verstehen schon.
Aber so ist er sehr lieb, und er hat mir heute viel Freude gemacht.“

Pepy dachte an ihre erste mitleidvolle Begierde und dachte an; Günthers
große geschlechtliche Lüge. Wieviel Menschen betrog dieser Kerl? Und ihr
Wesen bäumte sich auf gegen den Dieb ihrer Ehre. Sie wußte nun, daß
seine Liebe Lüge, daß sie selbst die betrogene Betrügerin war. Die Hunde
kamen mit lautem Gequieke, die Freundin des Hauses zu grüßen. Pepy
konnte den Tränen nicht wehren. Sie durchbrachen die Schleusen der
Wimpern. Frau Anna lag schluchzend an Pepys Hals, und die Hunde zerrten
ihnen die Röcke: „Wir dürfen nicht weinen, liebe Freundin, es wird sehr
schwer sein, aber die Hunde verlassen nicht alle das Haus.“

So weinten sie lange und schwiegen.




                      SIEBENUNDVIERZIGSTES KAPITEL


                                   Junge Krieger pflegen sogar
                                   geräumte Festungen zu stürmen.

Ein Wagen fuhr vor. Jappes wurde aus dem Schlaf gerissen. Das hastige
Rattern des Motors erstarb und er hörte Stimmen, laute, lachende,
rufende Stimmen. Die Autolaternen warfen eine starke Lichtflut ins
Zimmer. Jappes sprang aus dem Bett und ging zum Fenster: „Ach, ja!
Armida und Arco Calvandi,“ im Lichtkegel der Autolaternen stand Arco.
Jappes sah deutlich den breiten roten Streifen an seinem linken Arm.
„Verlobt wie die Narren, die ihre Freude mimen!“ Er spuckte gegen den
Schatten Calvandis, der an die Wand seines Zimmers projiziert wurde. Ida
Telluren war es willkommen, die Erregung ihrer Erwartung mit der
plötzlichen Erregung aus den aufgescheuchten Träumen zu decken. Armida
küßte sie mit bewußter Zartheit und Calvandi erwies ihr eine
umständliche Reverenz, weiche die Tante nicht unangenehm empfand.

„Gnädige Tante,“ sagte Calvandi, „wir hatten Eile, zu Ihnen zu kommen.
Armida hat mir erzählt, daß Sie die Magie beherrschen und den Menschen
die Zukunft entschleiern. Ich habe eine Hexe gekannt, die allen ihren
Bekannten die Vergangenheit aus dem Kaffeesatz ihrer Enkel zu deuten
wußte. Die Hexeriche waren ganz drollige Pausbäcke, die keine Väter
hatten und nur Igelspeichel trinken durften. Die Hexe sagte, es sind
Knaben, die ohne Vergangenheit leben müssen. Weil ich den Sinn ihrer
Worte nicht verstand, war es mir leicht, ihr Glauben zu schenken.“

Tante Telluren setzte eine ihrer Gattung würdige Miene auf, rückte vor
Verlegenheit eine Vase zurecht, zupfte die Tischdecke schief und wieder
gerade, nahm ein Notenheft vom Flügel und stellte ein anderes hin. Sie
tat alles so schnell, als sei sie in ihrem Boudoir überrascht worden,
als versuche sie ihre diskrete Unterwäsche vor den spähenden Augen eines
Eindringlings in Sicherheit zu raffen. Armida riß die Tante aus der
fiebernden Verlegenheit. „Komm, Tante, gehöre uns, nestle an uns herum,
wir werden uns freuen.“ Zu Calvandi: „Siehst du, Arco, wie Tantchen sich
freut, eine Braut im Hause zu haben. Du mußt Geduld haben, Schatz, das
Tantchen braucht lange, ehe es ausgeschwungen hat, wenn der Pendel der
Erregung einmal bei ihr angeschlagen ist. Du entschuldigst, ich gehe
hinauf zu Jappes. Tante Ida sagte mir, daß er schon aufgestanden sei.
So, nun mach dir’s bequem,“ und sie stieß ihn nach rückwärts in einen
Klubsessel.

Tante Telluren hatte sich die Schläfen in Eau de Cologne gebadet und
beruhigt trat sie ins Zimmer. Die Zofe stellte ein dampfendes
Kaffeetablett vor den bräutlichen Gast. „Sie lieben es, während der
Nacht zu reisen,“ hub Ida Telluren an, „ich sitze seit zwei Nächten im
Lehnstuhl und habe Sie erwartet. Jappes sagte, die kommen bestimmt zur
ungelegensten Stunde. Ach, Herr Calvandi, darf ich mich bemühen, Ihnen
eine Tasse Kaffee einzuschenken?“

Calvandi gähnte der Tante entgegen und sprach: „Bei guten Tanten trinkt
man den besten Kaffee und bei den besten Tanten trinkt man den guten.
Ich schmecke am Kaffee, daß Sie die beste Tante sind.“ – Gezwungene
Pause, welche Herr Arco angenehm mit Schlürfen von Kaffee ausfüllte.
Wischte sich den Mund und fuhr fort: „Ein Genuß in früher Morgenstund.
Wenn ich mir eine Zigarre erlauben darf, bin ich wirklich in der
angenehmsten Umgebung.“

Tante Telluren nickte bejahend und musterte Arco Calvandi. „Ich bringe
den Göttern ein Rauchopfer,“ paffte der Gast und schloß die Augen, „so
wohnlich hatte ich es mir bei Ihnen nicht vorgestellt. Sie wissen, wir
sind nicht gekommen, Ihre Einwilligung zu holen, wir wollten einen
Abschiedsbesuch von unserer jungfräulichen Jugendzeit machen und Sie,
gnädigste Tante, sind Armidas einzige und liebste Verwandte. Eine leise
Sehnsucht befällt einen doch, wenn man vom Schönsten des Lebens Abschied
nimmt, um in schönere Tage hineinzuheiraten. Die Menschen nutzen sich ab
auf die Dauer und müssen sich zusammentun, um weiterbestehen zu können.
Die Frau ist das regenerierende Prinzip und der Mann ist die dynamische
Kraftquelle. Ich glaube, die Türken betreiben die Vielweiberei, wie alle
polygamen Völker, weil sie so früh erschöpft sind. Es ist nicht das
Gesetz der Triebe, der sinnlichen Lust, es ist das Gesetz der
gesteigerten Selbsterhaltung, das die Türken zwingt, ihre morschen
Glieder an vielen Frauen zu stützen. Wehe dem Abendland, wenn die Masse
der Männer so erkaltet, daß nicht mehr genügend Frauen zum Ausgleich
vorhanden sind. Kurz völkersoziologisch gesprochen: Wenn Nachfrage und
Angebot zwischen Mann und Frau keinen harmonischen Ausgleich mehr
finden.“

„Ich stimme Ihren Ausführungen bei,“ sagte Ida Telluren, von gelehrtem
Interesse geschwellt, „sehen Sie das Mammut, das Verhältnis zwischen
männlich und weiblich ist nur eins zu drei. Daran mag das Mammut
zugrunde gegangen sein. Aber es ist doch ein Jammer der Natur, daß sie
nicht imstande war, die Tiere lebenskräftig zu erhalten. Gottlob! daß
die Gigantenfossilien uns noch erhalten sind!“

Arco Calvandi machte eine huldigende Verbeugung:

„Gnädige Tante, ich sehe, Sie sind ganz recht im Bilde und reden wie der
klügste Mammutologe. Die einzige Waffe, welche die Natur dem Menschen
gegeben, ist der Kampf. Und wer die Psyche der Türken kennt, versteht
auch, weshalb sie immer Krieg führen müssen. Sie kämpfen, um sich den
nötigen Ueberschuß an Frauen zu sichern. Weil sie dem Brudermord
abgeneigt sind, kämpfen sie gegen die umliegenden Völker. Es ist meine
individuelle Auffassung, und die Geschichtsforschung schweigt darüber
aus kirchlich-dogmatischen Gründen. Wie bei jedem Volk ist die Sitte der
Türken das höchste Gesetz der Notwendigkeit. Nicht alle Türken wohnen im
Reiche der alten Kalifen.“

Calvandi zog zwei Zigarettenetuis aus der Tasche und rauchte zwei
Zigaretten zu gleicher Zeit: „Es ist schwer, mit seiner Zeit
voranzugehen, weil wir so sehr in der Vergangenheit wurzeln,“ fuhr er
fort, „ich bin Anhänger der Sekte vom ‚gemischten Aroma‘, ein
Nichtraucher kann die Theorie nicht verstehen. Die reinen Genüsse sind
uns vielleicht zu stark, vielleicht auch nicht mehr raffiniert genug.
Ich bin es gewöhnt, eine Orientzigarette mit einer nikotinfreien
zusammenzurauchen, das schwächt die Wirkung des Nikotins nicht ab, es
verinnerlicht sie eher, und der größte Genuß ist das gedämpfte Aroma. Es
ist wie eine ferne Musik, der Rhythmus bleibt und die Tonintensität wird
nur gedämpft. Das Wesen der Musik ist der rhythmische Gleichklang mit
unserem Gefühl. Gefühl und Rhythmus gemischt sind Harmonie, der Rhythmus
gibt dem an sich neutralen Gefühl den Impuls, der sich in Reizempfindung
wandelt. In Zigaretten und Frauen habe ich eine gute Routine. Ich bin
fast so kühn zu behaupten, daß die männliche vitale Substanz fast
ausschließlich durch die doppelte Narkose des Rauchens und der Ehe
zerstört wird.“

Die Tante war Nichtraucherin und viel zu kurz verheiratet gewesen, um
über den Ruin der körperlichen Substanz des Mannes ein erschöpfendes
(erschöpfendes!) Urteil fällen zu können. Sie stand Arco Calvandi
hilflos gegenüber und lauerte auf eine Gelegenheit, wo sie ihre Mammuts
hätte anbringen können. Aber es bot sich keine. So ließ sie sich von der
seichten Rede ihres Gastes einwickeln, sog die Worte ein mit dem
Zigarettenrauch und verspürte ein leises prickelndes Gefühl im Kopf, als
Aroma und Gedanken ineinanderflossen. Ein karnevalbunt gesprenkelter
Gedanke flüsterte ihr zu: Tante, wenn du jung wärest, müßtest du das
Rauchen erlernen und von Männern die süße Narkose. Ida Telluren stürzte
aus dem Zimmer, und sie fühlte, daß etwas wie eine geschlechtliche
Gedankensünde ihr Gewissen durchwühlte: Ich habe nicht genügend gelebt!
Der beschämende Vorwurf des Alters.

Arco Calvandi trat ans Fenster und sah in die dämmernde Ferne. Ein Wind
tat sich auf und griff in die Bäume. Draußen lockte ein Uhu: „Huhu! mich
friert. Der Mond ist so kalt.“

Dann ging die Stille und spann die Nebelfäden.

                                   Träume verraten uns manchmal, was
                                   uns im geheimen beschäftigt.

„Jeder bricht an sich selbst,“ rief Jappes, als Armida die Tür öffnete.
„Ich freue mich, daß du gekommen bist, den Traum meiner Nacht zu hören.“

„Erzähle!“

Und er: „Höre:

Ich ritt über die Heide und war ein einsames Kind, und ich hatte ein
Mädchen lieb. Da weinte mein Herz und das Pferd ging fürbaß. Eine Hexe
sprang aus dem Gras mit Feuerrock und glühendem Haar. Sie scheuchte mein
Roß und den Traum an das Mädchen. Ich wurde irr wie das Pferd und jagte
über die Heide. Drüben winkte ein kühler Wald. Im Nacken spürte ich den
feurigen Atem der Hexe. Das Roß stand still, an einen Baum gelehnt und
war tot. Da mußte ich lachen, weil ich noch kein totes Pferd an einen
Baum gelehnt sah.

Aber der Baum war der Ahorn, wo die Hexe wohnte. Da lachte auch die Hexe
und sprach: ‚So hast du noch nicht Trauer genug, daß dich das Lachen
befällt, vor Sehnsucht und Tod.‘ Ein schwaches Rinnsal gluckerte am Fuß
des Ahorns und die Hexe fuhr mit glühendem Finger hinein, daß es
zischte, rührte im Wasser und kreischte gebrochen:

   ‚Es rieselet und regelet kalte
   In diesem grünen Walde.‘

Ein düster-fahler Blitz züngelte darauf und die Wolken rauschten und der
Regen rann. Pilze standen und glühten und hatten Köpfe wie Menschen, die
ich kannte. Auch ein Totenkopf war dabei mit offenem Hirn, das sich hob
und senkte wie ein feuchter Froschbauch. Und das Hirn leuchtete so
seltsam, wie phosphoreszierende Weiden um die Mitternacht. Eulen
dolchten aus dem Dunkel mit glühenden Augen und der Regen rann, rann
über das kalte Feuer der Augen und Pilze.

Mein Pferd kratzte mit dem Fuß und sprach: ‚Du hast mich zu Tode
geritten. Ich danke dir für den überflüssigen Hafer meiner verdaulichen
Tage. Nie wird ein Pferd einen besseren Herrn über die Heide reiten, das
schwöre ich bei meinem Pferdeschweif.‘ Das Roß wußte nicht, daß die Hexe
ihm den Schwanz ausgerissen hatte, um Wechselbälge daraus zu machen. Es
lehnte wieder am Baum und bleckte die Zunge herfür und ich mußte lachen,
weil es mir bei seinem fehlenden Schweif geschworen hatte.

Da trat die Hexe herzu und schlug ein Teufelskreuz: ‚In dreitausend
Teufelsnamen, komm in meine warme Stube. Der Kessel siedet und die
Kätzchen schnurren. Die Muhme zupft Werg und der Kater ist fort.‘ Da
lachte ich wieder und sagte: ‚Ich mag deine Sippe nicht leiden. Ich
liebe das Wetter, das durch die Wälder rast und meine Haut ist
wasserdicht. Selbst der Hexenregen geht nur bis auf die Haut.‘ Da keifte
die Hexe und zog den Pferdeschweif unter dem Rocke hervor, kehrte den
Boden damit blank, blank von den Pilzen und Morcheln und stieß an den
atmenden Totenschädel mit ihrem spitzigen Schuh, daß er wimmerte: ‚O
Gibil, Böse der Sieben, mein leuchtendes Hirn.‘ Die Hexe zog einen
Kreis, warf Kiesel gen Morgen und der Himmel ward trocken und still.

Ich lehnte mich ans tote Roß und sagte: ‚So, so!‘ Die Hexe lachte und
zog ein Hahnenei aus dem Busen: ‚Das Ei stammt aus Hokus und wurde mit
dem eigenen Pokus des großen Hahnes Krähokus gelegt.‘ Da sprang das Ei
mit einem donnernden Knall entzwei und ein seltsam putziges Wichtelchen
stand an Stelle der Hexe im Kreise. ‚Ich war ein Ei,‘ stellte es sich
vor und schlug die Hacken zusammen, daß die Eierschalenschuhe klirrten.
Das Wichtelchen zog ein Spinnweb aus der Tasche und wickelte es um
seinen Kopf wie einen Turban: ‚Der Mond sticht,‘ hüstelte es, mit
blecherner Stimme und zeigte nach oben und rückwärts. Und ich sah, daß
das Phosphorhirn des Totenkopfes aus dem Baume herniederstach. Ein
schwerer Traum flog am Totenmond vorbei und das Männchen sagte: ‚Die
Kühle ist gut für ein Hahnenei.‘

‚Weshalb bist du hier,‘ fragte ich forschend, ‚wenn du ein Ei bist?‘ Da
schüttelte es seinen Spinnenturban: ‚Ich weiß auch nicht, vielleicht,
weil ich gelegt worden bin.‘

Da fiel das tote Roß mit einem Plumpser zu Boden. ‚Steigen wir auf den
Berg,‘ rief das Männlein ganz fröhlich, ‚steigen wir auf den Totenberg,‘
und es schickte sich an, hinaufzuklettern. Es klammerte sich fest an den
Haaren wie an Sträuchern, und als es an die Stelle kam, wo der Schweif
fehlte, sagte es erschrocken stöhnend: ‚Der Berg ist hohl.‘

‚Das ist kein Berg,‘ gab ich zurück, ‚das ist mein totes schwanzloses
Pferd, das deine Mutter zu Tode gejagt hat.‘ Ich faßte das Knirpschen
mit zwei Fingern: ‚Jetzt bist du gleich oben.‘ Aber es hob sein
Fingerchen und sagte ganz listig: ‚Du Riese, ein bißchen vernünftig, ich
bin gar sehr zerbrechlich. Wir wollen eine Mücke braten und Abendmahl
feiern,‘ sagte das Wichtlein und setzte sich auf dem Pferdekadaver
zurecht. ‚Hol ein wenig Feuer vom Leuchtkäfer und melke ein wenig Fett
von der Raupe, dann wollen wir das Flieglein braten‘ – hier holte es
eine Fischschuppe hervor als Pfanne und zog eine Fliege aus einer
ausgehöhlten Knospe.

Da lachte ich zum drittenmal und rieb ein Schwedenholz an einer
Schachtel. Entsetzen packte das Männlein und es fiel seiner kurzen Länge
nach über seine verstorbene Sitzgelegenheit. Ich hörte ein leises
zischendes Weinen und ein Tränlein hing wie ein Tautröpfchen an einem
Pferdehaar. Zwischen zwei Seufzern krabbelte es sich wieder hoch und
nahm das linke Ohrläppchen zwischen Daumen und Zeigefinger: ‚Schade,
Riese, daß du alles so groß siehst.‘ Ich lachte nicht mehr und
überlegte, ob ich oder das Wichtlein an Begriffsverwirrung litt.

Das Männchen krabbelte an meiner Hose und sagte belehrend: ‚Wir dürfen
nur mit kaltem Feuer braten.‘ Ich spürte, daß seine Nägel wie
Katzenkrallen in mein Fleisch drangen. Als ich jäh zusammenzuckte, pfiff
sein trillerndes Stimmchen beglückt: ‚Fürchte dich nicht vor den kleinen
Schmerzen, Riese, du bist ja so groß. Wenn du stillschweigst, will ich
dir ein Märchen erzählen: Das Märchen vom. Leben. Ich habe es schon oft
erzählt und weiß es genau.‘ Ich rief hastig: ‚Laß los!‘ Und biß die
Zunge zwischen die Zähne vor Schmerz. ‚Ich lasse mein Märchen gleich
los,‘ sang das silberne Stimmchen.

Der Zwerg krallte sein spitziges Nagelwerk tiefer ins Fleisch und
erzählte: ‚Es war ein Zwerg und ein Riese. Der Zwerg war groß und der
Riese war klein. Der Zwerg nahm den Riesen in Dienst. Zähl mir die
Stunden, sagte der Zwerg und er gab dem Riesen eine Sonnen- und eine
Monduhr, und ein Stundenglas mit Sand gefüllt dazu. Dann legte der Zwerg
sich schlafen und schlief einen jahrhundertlangen Traum. Dann erwachte
er und fragte den Riesen: Wie lange habe ich geträumt? Hundert Stunden,
sagte der Riese und reichte dem Zwerg das Stundenglas. Gerade blieb der
Mond im letzten Viertel stille stehen. Oh! weh, rief der Zwerg, er hat
die kleine Zeit nicht gesehen, fuhr sich an den Bart und fühlte, daß er
hundert Jahre lang war. Ich will dich nicht mehr als Schatzmeister der
Zeit, denn ich habe meine Jugend verschlafen und du hast mich nicht
geweckt.

Der Riese brummte ärgerlich: Zwergstunden sehe ich nicht, und dein
Schnarchen habe ich nicht gehört. Auch wagte ich nicht, dich zu
berühren, weil ich fürchtete, dein Leben zu zerdrücken.

Der Zwerg reckte sich eine Spanne nach oben und rief: Du zertrittst das
kleine Leben und lebst doch selber keines. Geh in den Garten und säubere
die Beete vom Unkraut. Da ging der Riese und riß die Wälder aus den
Tälern und von den Hügeln, warf Felsen fort aus den Bergmassen und
machte ein Donnergepolter bei der Arbeit. Da brausten die Winde über die
ausgerodeten Wälder und heulten über die Heide, daß der Zwerg erwachte.

Der riß die Augen auf und sagte verwundert: Schlief ich nicht ein in
einem tiefen Wald? Ja, ich schlief ein in einem tiefen Wald. Ein
Windstoß fuhr gerade vorüber und der Zwerg gab ihm eine Bremse mit, den
Riesen zu rufen. Der Riese kam und hörte den fröstelnden Zwerg: Meinen
Garten solltest du pflegen, aber du hast meine Wälder zerstört. Ihr
Riesen seid zu gar nichts nutz, doch sollst du den Frevel sühnen.

Der Riese wurde erbost: Moosaffe, schrie er, und trat mit seinem derben
Schuh in die Richtung, wo das Stimmchen des Zwerges zirpte. Der Zwerg
aber huschte zwischen den klotzigen Nägeln des Riesenschuhzeugs hindurch
und lief zum Leben, ihm sein Leid zu klagen. Als der Riese das huschende
Männlein erblickte, flog ein Rabe aus seinem zottigen Haupthaar, das
Zwerglein zu schlingen. Der Zwergmann flitzte flugs in ein Mauseloch und
klagte dem Leben sein Leid: Der Riese hat meine Welt zerstört, er denkt
zu hoch über das Kleine, laß ihn einschrumpfen, daß er klein werde wie
wir.

Da sandte das Leben eine Schrumpfkrankheit und der Riese ward kleiner
und kleiner, klein wie ein Zwerg, aber er behielt seine großen Gedanken
zur Strafe.

So ist mein Leben nichts, sagte der kleine Riese, und ehe er sich an
einer Kürbisstaude am Narrenseil einer spinnenden Raupe erhängte, ging
er zum Oberriesen: Du siehst, wie ich klein geworden bin, erhöre mein
Gebet und laß wachsen den Zwerg, der mich verwünscht hat. Mache ihn so
groß wie ich war, und laß ihm nur seine winzige Kraft.

Der Oberriese weinte, weil sich ein Mitriese an einer Kürbisstaude
erhängen konnte, und er legte einen kleinen Riesenhefekuchen an die
Stelle, wo der Zwerg zu speisen pflegte. Der Kuchen war süß und weiß wie
Manna. Der genäschige Zwerg ließ seine Heuschreckenhaxe und aß vom
Kuchen. Da quoll er empor und die Winde bogen ihn wie eine Pappel, aber
er war zu schwach, um zu stöhnen, und der Wind blies ihm die Luft in die
Lungen, auf daß er nicht sterbe.‘

Da konnte ich den Schmerz nicht mehr ertragen und knipste das krallende
Männlein von meiner Hose fort. Ein Rabe, der gerade vorüberflog, biß es
in den Kopf, streifte ihm das Zwergjäckchen herunter und verschlang es
mit krächzendem Wohlbehagen.“

Jappes trat ans Fenster und hörte, wie Arco Calvandi den Uhu äffte.
Armida nahm seine Hand: „Jappes, hat dein Traum eine Bedeutung?“

Und Jappes: „Wenn ich ein Zwerg bin, vielleicht, wenn aber ein Riese,
sicher.“

                                   Die Ereignisse der Nacht treffen
                                   nicht zu, weil es Nacht ist. Wer
                                   die Magie aber mit der Nacht
                                   vergleicht, tut seiner Erfahrung
                                   unrecht.

Frau Ida Telluren und ihre drei Gäste saßen am Tisch, welcher mit einem
reich allegorisierenden Teppich überworfen war: Ein Papagei in Ketten,
eine Dame vor einem offenen Grabe, ein lauschender Polizeidiener, eine
Frau, welche einem Helden ein Schwert überreicht, welches in eine
Schürze gewickelt ist. Zwillinge, Fische, Eber und Kälber, ein Storch,
ein Kiebitz, ein Rabe. Und Blumen, seltene Blumen mit magischer
Bedeutung: Lolch und Fuchsia, Blasenstrauch und Rittersporn, verblühter
Safflor und Binsen, Jonquille, Ephemerum und Cobaea. Gänsefuß und
Hahnenfuß in stilisierter Bedeutung. Mohn und Judasbaum und zwischen
beiden ein lachender Engelsfuß. Der Untergrund des Teppichs war mit den
Sternbildern übersät und die leuchtenden Figuren der siderischen Zeichen
stachen gar seltsam zwischen den bunten und verschrobenen Arabesken und
Schnörkeln der Pflanzen und Tiere hervor. Planeten und wunderkräftige
Zahlen und Zeichen. Wassermann, Jungfrau und Krebs, Zwilling und Widder
und Schütze und ...

„Ich bitte euch sehr ernst zu sein und aufrichtig an euer Schicksal zu
denken, wenn auch nur an das vergangene,“ sagte Tante-Sibylle, „es wird
eine sakrosankte Handlung von zukunftsicherer Bedeutung sein.“ Sie hielt
die Karten fächerförmig vor sich hin und bat, mit weltferner Stimme,
jeden der Gäste, eine Karte herauszuziehen, welche sie dann feierlich
umwendete und mit entrückten Blicken über die antwortdurstigen
Schicksalskinder sah.

Jappes’ Karte: Eckstein-Zwei – feierliche Stille und gespannte
Erwartung. Ida Telluren breitete ihre seidenweiche Hand über die Karte
und sprach, während ihre Augen sich schlossen: „Zweideutiger
Lebenswandel, Knabe, du spielst mit einem Lamm. Ein Mädchen, das seiner
Mutter den Rücken kehrt, ein schwangeres Mädchen weint. Hahnenfuß,
gelbes Veilchen, Enzian. Du beweinst ein verschwundenes Glück und hoffst
umsonst auf bessere Tage. Getäuschte Liebe, Reue, Tränen. Dein Zeichen
ist der Fisch, das Meer, der Sturm. Dein Zeichen ist ein Wasserzeichen.“

Die Stube war still und der Kerzenschein legte sich wächsern auf die
übernächtigen Gesichter. Sibylle-Telluren deutete die Zeichen der
Karten. Sie wußte nichts von den Tagen, die um Jappes ihre zitternden
Kreise zogen. Armida fragte: „Du hast doch keine Freundin, welche mit
der Karte in Zusammenhang gebracht werden könnte?“ Sie stellte die Frage
ernst und vernünftig.

„Nein,“ sagte Jappes, „ich hätte ja auch eine andere Zufallskarte
treffen können.“ Aber er dachte trotzdem an Pepy und wurde still. Es
quälte die Tante, den Freund nachdenklich zu sehen, und besorgt: „Die
Karten muß man Verlobten schlagen, heben Sie ab, Herr Arco Calvandi.“

Und sie las ihm sein Schicksal aus den Karten:

„Pique-Neun zu Ihrer Linken bedeutet Untergang. Er wird von keinem guten
Stern gelöst. Ich sehe sieben Pfeile und ein Essigrohr, die Nebenkarten
trügen nicht. Ein Mene-Tekel-Upharsin. Ein Toter hängt an einem
Weidenast, derweil ein Affe lachend mit dem Weihrauchfasse um die Leiche
springt, um einem Krebse auszuweichen, der seine Scheren nach ihm
zwickt. Der Talisman des Jupiter hat dich verlassen und die Gichtrose
blüht auf deinem Haupt. Treff-Vier zur Linken deutet Ihnen, daß eine
Dame mit Gewalt und Laune Ihren Stern zu lenken sucht. Ein Taxusbaum,
ein Grab. Der Mond mit einer Ziffer Drei fällt jäh dem Horizonte zu, ich
sehe Binsen, Hasen, eine Klapperschlange, ein Rad mit einer weißen Nabe,
doch das ist alles so entfernt, drum öffne ich den Kreis und schließe
meinen Spruch.“

Armida seltsam frohlockend: „Gottlob, Arco, daß die Karten fast immer
das Gegenteil bedeuten von dem, was eintrifft; wir werden ja nach dieser
dunklen Vorhersage eine glänzende Zukunft haben.“ Der Bräutigam saß
still und ernst. Da legte die Tante seine gewählte Karte hin:
Pique-Fünf, ihr Hauptbild, ein sterbender, verwundeter Mann. Seine
Furcht wuchs zum Zynismus, und er wurde froh. „Komm, Armida, lassen wir
Pique-Fünf, denn du bist meine Karte, ich nenne dich Piksüß.“ Und er
warf Jappes einen Schimpf über den Tisch: „Uebers Jahr können wir unsere
Karten wechseln. Wegen Armida kann ich Eckstein-Zwei dann zum Teil
gebrauchen. Sie können meine Totenkarte haben.“

Da küßte Jappes der Tante ehrerbietig die Hand und verließ das Zimmer.

Arco Calvandi küßte Armida und blies die Kerzen aus. „Es sieht wirklich
aus, wie wenn ein Toter im Zimmer wäre.“ Dann riß er die Fenster auf,
und die Morgensonne beschien die weißen Fäden, welche sich von den
Kerzendochten hinaus in die Morgenkühle zogen.

Aber der Totenkammergeruch war im Zimmer.




                       ACHTUNDVIERZIGSTES KAPITEL


                                   Wer Worte bedarf, um den Zustand
                                   seines Freundes zu erraten, weiß
                                   wenig von dessen Seele.

Jappes schickte die Zofe mit einem Telegramm zur Post, verabschiedete
sich von Ida Telluren und fuhr mit dem Nachtschnellzug, Pepy zu
besuchen, nach München. Er sprang aus dem Wagen, noch ehe der Zug hielt,
und lief wie besessen über den Bahnsteig, wie wenn er einem lauernden
Verhängnis entronnen wäre, so raste er, als wolle er eine Gefahr
vergessen durch die Eile der Flucht. Pepy schrak zusammen, als sie ihn
im Sturmschritt daherkommen sah. Ihr Wesen duckte sich in Unfreiheit.
Ihre Erwartung, ihr tötendes Sehnen wurde durch die plötzliche
Erscheinung gelähmt. Sie hielt dem Freunde kaum die Hände entgegen,
blieb einen Augenblick regungslos stehen, als wolle sie erst den Namen,
der von Jappes’ Munde kam, in sich aufnehmen, ihn verarbeiten, ihn in
Zusammenhang bringen mit den Erinnerungen, die sich daran knüpften.

Rudibub! – Sie war es nicht mehr, und Jappes fühlte, daß seine Pulse
sich gegen das Mädchen bäumten, daß die keusche Jugendlichkeit ihrer
bebenden Anmut unter einem Wust von sündbarer Erregung begraben lag.

Pepy war erschrocken-freudig und durch ihre blonden Gesichtszüge jagte
ein dunkler Schatten wie ein fernes Zucken. Wie bei lächelnd schlafenden
Kindern, wenn die Heiterkeit ihrer Puttengesichter von einem düsteren
Traum durchhuscht wird, der am Horizont ihrer Kinderwahrnehmung drohend
steigt. Jappes fühlte, daß seine Blicke nicht mehr in die Seele des
Mädchens drangen, und fühlte, daß er an ihrem Wesen abprallte. Die Hydra
der Erregung reckte die züngelnden Köpfe, ein Gedanke in ihm warf sich
hoch, ein jäher, schriller Gedanke. – Jemand hat an ihr gefrevelt! Den
Schimpf Calvandis empfand er mit neuer bohrender Vernichtung:
Eckstein-Zwei kann ich übers Jahr zum Teile brauchen, seine schwangere
Karte! Pepy sah, wie er kämpfte und verwirrt war und sie hörte, wie ihre
Stimme lallte: „Jappes, ich bin nicht mehr froh!“

Er griff sie bei der Hand und wie Kinder gingen sie durch den Abend, wie
Kinder, die keine Eltern haben und in die Welt gehen. Sie gingen lange
und nährten die Spannung. Und die Spannung wuchs in die Nacht und griff
in die Sterne, so hoch, daß sie zum Taumel ward, zum Traum. Der Abend
lag lauernd mit den sprühenden Lichtern, betäubt von den roten
Geräuschen des Tages. Die Bäume standen wie Hymnen und flehend mit
erhoben-erhabenen Händen zum Himmel. Die Stille war wie ein leises
Gebet, das sich in den Schatten der Häuser hüllte. Die Menschen trugen
ihre Geheimnisse vorüber, führten ihre Sehnsucht zur Lust, ihr Leid in
den Reigen der taumelglühenden Farben. Die Straße lief zu den vielen
Häusern und legte sich müde vor die vielen Türen. Und die Menschen
gingen vorüber, sie dachten nicht an die Träume, welche die Nacht ihnen
streute.

Eine Menschensäule flutete aus einem gähnenden Tor. Zwei Mädchenstimmen
wurden laut: „Gelt, das ist aber doch keine richtige Verführung
gewesen?“ fragte die eine mit forschender Spannung. „Dummes Ding, eine
richtige Verführung kann man doch nicht filmen,“ belehrte die zweite,
und die erste mit milchigem Entzücken: „Aber so war’s ganz schön, gelt?“

Pepys Blicke hingen an dem riesengroßen Plakat: Die Verführte. Da stand
Jappes still und las den gelben Streifen:

   Die Verführte!

   Hochdramatische, spannenerregende und nervenkitzelnde Begebenheit.
   Die Geschichte eines Mädchenlebens, gleichsam aus dem lebendigsten
   Leben gegriffen. Zeigt in photobildlich-getreuester Form die
   progressive Versumpfung eines Mädchens, welches vor Gott und
   Menschen das Opfer ihres Geschlechtes wurde, durch die ruchlosen
   Manipulationen eines derb-moralischen Freundes, welcher sie mit der
   pervers-lasziven Attrappe moderner Eheemanzipation in seine Netze
   lockte ... nebst herrlichen dazupassenden Natur- und
   Landschaftsaufnahmen.

   Der zweite Teil des Films: Der Verführten Wieder-Geburt, bei
   Programmwechsel.

Der Druckfehlerteufel grinste Jappes aus dem gelben Plakatstreifen
entgegen:

Der Verführten Wieder-Geburt!?

Pepy faßte ihn am Arm und sah ihm in die Augen: „Jappes, ich bin auch
eine Verführte. Professor Günther ...“ Aber ihre Worte erstarben, als
Jappes die Freundin bei der Hand nahm und sie hinter sich herzog.

Am Wasserfall saßen sie beide im Englischen Garten und suchten nach
Worten, welche zu den gurgelnden Symphonien der rauschenden Wasser
passen sollten. Im fallenden Wasser sah Pepy ihr Leben fallen; der
Gischt, das quirlende Tosen, die nassen Schatten und Lichter, die
fallende Bewegung, welche in Staub zerstob, der drehende Wirbel der
verstäubten Atome, wie die Wasser sich den kreiselnden Kräften zum Trotz
sammelten, fremde Atome zu Tropfen und fremde Tropfen zur Masse der
fließenden Wasser wurden und – noch taumeltrunken vom Rauschen des
Falles, weiterflossen.

Jappes saß heute an Günthers Stelle und hielt ihre Hand wie jener, er
fühlte sich mitschuldig, weil er Mitwisser ihrer Schuld war. Er war
selbst ein Mann. Weshalb fand er keine Worte, die Brücke zwischen sich
und der Freundin zu schlagen. Sollte er sie einsam lassen mit der Frucht
ihrer Jugendkraft? Da fluchte er der Frage. „Rudibub,“ sagte er mit
unendlich weicher Stimme, daß das Mädchen weinte, legte seine Hand auf
ihre glühende Stirn, „Rudibub, ich werde dir helfen.“ Sie hörte das
prophetische Gnadenwort und ihre Antwort floß in Tränen.

                                   Frage kein Leben, wo es herkommt,
                                   du könntest es stören.

Jappes’ Träume zerschellten an der Wirklichkeit. Der Groll fraß sich in
sein fieberndes Leben, die Dämonen bauten ihr Narrenschloß und krönten
ihn mit der Dornenkrone höhnischen Ueberdrusses. Bekleideten ihn mit dem
Purpurmantel spöttischer Ueberhobenheit. Er fühlte, wie er über sich
wuchs, wie er über das Leben hinausragte, wie er seinem Wesen fremd
wurde. Seine Tage erhoben sich gegen ihn wie Schergen und schlugen seine
Seele blutig. Aber weshalb höhnten sie ihn? Ihn, den Narren! Er ließ die
anderen mit sich spielen und spielte selbst mit sich, lebte seine Tage
ohne Kontrolle im Ueberbewußtsein seiner suchenden Kräfte, die sein
Wesen zur Erlösung treiben sollten. Doch statt der Erfüllung ward ihm
Empörung und Kampf.

Seine Gedanken türmten sich um ihn und marschierten auf in geschlossenen
Kohorten. Das Leben bot seinen Heerbann auf und kam, dem Narren den
Tribut der Botmäßigkeit zu zollen. Die schwer-moralischen Hopliten
beugten sich waffenklirrend, die spitz-kasuistischen Lanzenträger
senkten ihre Lanzen vor dem roten König der Narren, die
locker-schwirrenden Schleuderer opferten ihm die Steine ihrer
verwirrenden Kunst. Sie verneigten sich alle vor dem Narren im
Purpurkleid und riefen: Heil sei dir Narr! Wir bekennen uns machtlos und
beugen uns vor der Tat! Die Liebe zog gefesselt vorüber und die weinende
Freude, in Blumen erstickt, beugte sich vor ihm und sprach:
Purpurpriester, die Liebe ist in Fesseln und ich muß weinen, weil es
keine Erlösung gibt. Der Schmerz trat herzu und lachte: So habe ich
wieder, einen Freund gewonnen, dessen Seele von meinen Liedern tönt. Die
Ideale schickten ihre Wortführer: Wir sind der Traum der Kinder und der
Geschlechtslosen. Wir wollen mit diesem Mädchen sein, weil der Traum
seiner Lust ein Kind ist.

Ich danke euch, erwiderte der König der Narren, ich danke euch und werde
dem Mädchen sagen, daß seine Lust ein Traum und daß sein Traum ein Kind
ist.

Pepy antwortete dem träumenden Narren: Meine Lust war eine traurige
Sünde und ein großer Schmerz.

Das Rauschen der Wasser wuchs in die Schatten der ragenden Bäume und ein
müder Wind tastete sich mit weichen Händen durch die sinnenden Dinge,
welche von Traum und Leben sangen.




                       NEUNUNDVIERZIGSTES KAPITEL


                                   Der Gerichtstag ist eine spezielle
                                   Form der Selbsterkenntnis.

Die Nacht schrieb Jappes einen Brief an Doktor Seraph:

Doktor, auch ich habe aus dem dunklen Brunnen der Unabänderlichkeiten
getrunken und ich weiss, dass der Trank das Lethe ist, welches das
Grübeln über die Zukunft nutzlos macht. Die metaphysische Frage über den
Apriorismus des Lebens ist ein Unsinn, deshalb kann man mit logischer
Konsequenz nicht de jure über das Leben entscheiden, wohl aber de facto.
Weil letztere Frage aktiv in meiner Lebenssphäre liegt und mein
„visueller Plan“ merklich dadurch verdunkelt wird, wünsche ich in
kurzmöglichster Frist mich mit Ihnen in einer sachlichen und
konsequenten Aussprache zur Klärung und Abhilfe zu treffen. Ueber die
Struktur der medialen Substanz ein weiteres in der Zwiesprache. Dies
unter Schlüssel wegen etwaiger notwendiger Deckung. Mit einem Appell an
Ihre vorläufige Verschwiegenheit grüßt mit dankender Hochverehrung

                                                               Jappes.

Morgens ging er in den Glaspalast, Pepys ausgestellte Arbeiten zu sehen.
Obwohl die Ausstellung erst eröffnet worden war, trugen schon mehrere
Zeichnungen und Holzschnitte ein kleines Schildchen: Verkauft. Zwei
Herren interessierten sich sehr für einige Studien über Tänze in Rötel.
Sie verglichen die Arbeiten Pepys mit denjenigen eines Künstlers,
welcher Jappes unbekannt war.

„Die Kritik spricht sich sehr belobigend aus,“ sagte einer der Herren,
„ja man vergleicht sie sogar mit dem Japaner Hokusai, wegen der
Verwendung der vollen schwarzen Farben, durch welche die Künstlerin mit
magistraler Gewalt das Problem der Verquickung des graphischen mit dem
ornamentalen Zweck gelöst hat. Der Kritiker bewundert ihr feines Gefühl
für Komposition und beglückwünscht sie zu ihrem glücklichen Griff in der
Wahl der dekorativen Motive.“

„Man wird sich um sie reißen,“ bemerkte der zweite, „zudem soll sie eine
Schülerin von Meister Geraldo sein, und böse Zungen bringen sie in
Zusammenhang mit dem Aestheten und Psychologen Günther und behaupten,
ihm müsse die geistige Vaterschaft ihrer Arbeiten zugesprochen werden.
Es ist selbstverständlich Klatsch giftiger Neider, welche die Dame zum
Werkzeug degradieren wollen. Kunst und Stänkerei sind viel zu eng
miteinander verwachsen. Nun, sie hat die Befriedigung, das Lob ihres
künstlerischen Schaffens zu hören.“

Jappes hörte das Urteil: sachlich, nüchtern, gerecht. Wie hätte er die
Freundin verurteilen können?

                                   Es gibt Seelen, die erschrecken,
                                   wenn sie beleuchtet werden.

Mit Günthers Selbstsicherheit war es vorbei seit jenem Morgen, als das
Telephon ihm die befehlende Nachricht brachte: Seien Sie auf alle Fälle
zwischen zwei und vier zu Hause. Ich habe unumgänglich mit Ihnen zu
reden und warne Sie dringend davor, Ihr Haus zu verlassen.
Unterwürfigkeit und Auflehnung lieferten sich einen wüst-wilden Kampf
... Wer sollte ihn, den Professor, zwingen, Wort und Rede zu stehen über
sein Tun! Wer wollte Rechenschaft von ihm fordern! Wer wollte sich
unterfangen, in seinem Privatleben zu schnüffeln? Wäre das kein Skandal!
Kein Hausfriedensbruch! War die Freiheit der Person nicht gesetzlich
gesichert! Und ein Schüler, ein grüner Junge, ein Kerl, dessen Vater er
hätte sein können, wagte es, ihm telephonisch zu sagen: Ich warne Sie
dringend davor, Ihr Haus zu verlassen. Das Telephon war eine öffentliche
Sprechstelle. War er nicht schon kompromittiert, wußte nicht jedes
Telephonfräulein, daß es bei Günthers einen Skandal gab! Eine Drohung
... ich warne Sie dringend! und das war die Parole der Unterwürfigkeit.
In den Worten lag ein Zwang, eine Erniedrigung. Jappes hatte keine
Ehrfurcht vor Gelehrsamkeit, er rechnete nur mit Menschen, hart auf
hart, und rot auf rot.

Sicher ließe sich mit Jappes unterhandeln! Wenn er ihm mit kasuistischer
Verschmitztheit von der Schwäche des menschlichen Fleisches reden würde,
wenn er Jappes hintergehen könnte ...? ihm eine Komödie vorspielen, sich
anklagen, seine Verwerflichkeit in zerknirschter Demut mimen, Jappes
verwirren, machtlos machen ... erkünstelt stöhnen, sich in der
Verzweiflung vor ihm hinwerfen, die Augen mit Speichel anfeuchten und
ihn dann unter Tränen um Verzeihung bitten ...

... – Jesus hat der Maria Magdalena ihre prostituierte Prostration
verziehen und Jappes würde seine vermeintlichen Tränen, seine
Zerknirschung als Sühne nehmen ... – Er könnte sich allmählich beruhigen
und mit Jappes über die Mittel und Wege beratschlagen, wie er sich und
Pepy den Frieden der Seele und des Leibes wiedergeben könnte ...

Er fand Ruhe in der Komödie, welche er sich spielte. Die dritte
Nachmittagsstunde war kaum verklungen, als die elektrische Klingel
schrill durchs Haus bohrte. Oh! der Glocke schrille Stimme, das lange,
doppelte, dreifache, das eindringliche Bohren. Jappes meldete sich an
durch die Art, wie er schellte. Kein kurzes fröhliches Schellen: Bin da!
nein, ein langes drohendes Schrillen: M–a–a–a–ch au–auf! daß die Vokale
vibrierten.

„Es freut mich, Sie heute wiederzusehen, Herr Professor Doktor Gustav
Günther, Sie werden sich Ihres Privatschülers wohl noch erinnern?“

„Pepys Freund,“ erwiderte Günther kühn.

„Pepys Freund!“ wiederholte Jappes und stieg hinter Günther die Treppe
hoch, welche zum Atelier führte.

„Nehmen Sie Platz, Herr Professor Doktor Gustav Günther,“ wies Jappes
auf die Ottomane. „Ich weiß, daß Sie mir nichts zu sagen haben, aber ich
habe Ihnen um so mehr mitzuteilen. Sie wissen, daß Sie ein Kind in der
Zukunft haben. Wissen Sie es?“

„Ja.“

„Sie wissen, daß Sie ein Betrüger sind, ein geschlechtlicher Lügner. Sie
wissen, daß Sie einmal sagten: Versuchskarnickel sind die Weiber,
glauben Sie meiner Erfahrung, mein Freund, Versuchskarnickel! Wissen Sie
es?“

„Ja ... aber ...“

„... Dann kennst du mein Urteil, Hund,“ und Jappes bäumte sich ihm
entgegen. „Schmutziger, ehrloser Hund, bist du so wenig Herr deiner
geilen Triebe gewesen, daß du ein ehrbares Mädchen schwängern mußtest?
Fluch deinem Geschlecht, du schmählicher Ekel, du liederlicher Auswuchs
verhurter Gedanken. Hattest du kein Weib, keine Frau, die nach dir
lechzte in geschlechtlicher Brunst. Warst du zu stolz, auf die Straße zu
gehen und deinen ranzigen Samen in das Fleisch einer Prostituierten zu
geilen. Du Schmach der Verworfenheit! Ein Mädchen hast du befleckt und
ihr den Schimpf angetan, die Frucht deiner Schlüpfrigkeit zu tragen. Das
ist eine Sünde wider den Willen, eine Sünde wider den Geist, eine Sünde
wider das Blut, eine Sünde wider das Leben. Und auf dieser Sünde steht
Tod! Weißt du, daß Tod auf dieser Sünde steht?!“

Günther war in sich zusammengefallen, saß irr wie ein Trunkener, warf
sich plötzlich seinem Richter entgegen, lallte eine Antwort, ohne Sinn.
Nur ein Wort stach grell und greisenhaft flehentlich aus seinem
Stimmengestammel: Nicht töten ... Jappes zwang ihn zurück mit eisernem
Griff, brach seinen Willen, lähmte sein Wesen: „Schwächling, Feigling,
so bist du im Sturm, du Kraft ohne Richtung, du Drang ohne Halt. Ich
habe geschworen, dir dein Handwerk zu legen, du bist unmöglich geworden,
und ich sorge dafür, daß du zur Einsicht deiner Ueberflüssigkeit kommst.
Zur – Einsicht – deiner – Ueberflüssigkeit – ...“ Da fiel sein Blick auf
Meister Geraldos Skizze. Den Rahmen schlug er am Boden entzwei, und trat
mit dem Fuß in die Leinwand, daß sie zerriß. Stieß einen Blick in die
Fetzen, spreizte die Hände darüber und spuckte mit Abscheu zum Gruß.

In der Treppe reichte ihm Frau Günther die Hand – die Mutter: „Sie gehen
schon wieder, Herr Jappes? Sie hätten zum Tee bleiben sollen. Grüßen Sie
Fräulein Pepy, ich fahre morgen mit den Hunden nach Baden-Baden.“

„Was ist mit den Hunden,“ fragte Jappes, mit übereilter Erregtheit.

„Ach, Sie wissen es noch nicht, alle unsere Hunde kommen nach
Baden-Baden, aber ich sehe, Sie haben Eile,“ und sie reichte Jappes die
Hand zum Abschied. Hastig drückte er ihr die Hand: „Ja, ich habe immer
Eile, immer.“




                          FÜNFZIGSTES KAPITEL


                                   Zwei Krieger aus feindlichem Lager
                                   können sich zusammen ans
                                   Biwakfeuer setzen, dürfen aber
                                   nicht dabei einschlafen.

„Sie kommen so selten, daß man Sie richtig anstaunen muß, wenn Sie mal
da sind,“ empfing Frau Winterstein den dunklen Doktor.

„Ist Jappes schon gekommen?“ fragte Molo Seraph und warf einen
forschend-flüchtigen Blick auf seinen schwarzen Ring. „Gnädige Frau, ich
bin nicht immer fähig, soviel Licht aufzunehmen. In Ihrem Salon ist es
zu hell und die Menschen sind zu fröhlich nach außen, deshalb möchte ich
euren Frieden nicht stören. Der Ring fordert immer ein Opfer, weil er im
Zusammenhang mit Toten stehen muß. Der Stammbaum des Steines ist ein
ausgedehnter Nekrolog. Er steht nicht nur in der natürlichen Art der
Kapitulation des Organismus mit dem Tod in Verbindung, sondern auch
durch die gewaltsame Art, durch den Mord. Darum hüte ich den Stein, und
für meine Umgebung ist es immer gefährlich, wenn ich ohne den
Gegenstein, den Pesach, der das Blut stillt, ausgehe. So muß ich
umkehren und auch den Blutstein anlegen, um die Wirkung des
Teufelsteines zu isolieren ...“

„Das ist selbstverständlich ein vorbereiteter Kniff von Ihnen, uns
auszukommen. Nun bleiben Sie schon ruhig hier, ich übernehme die
Verantwortung für den Abend und für den wunderlichen Stein. Gehen Sie zu
den Damen, dann hat er seine magische Gewalt schnell verloren.“

„Ach verzeihen Sie mir,“ bat Doktor Seraph, „ich vergaß, Sie zu grüßen,
als ich kam,“ und er führte die Hand der Dame an seine kalten Lippen.
Frau Winterstein dachte: Der Totenkopf hat aber wirklich einen Vogel und
lachte über ihre gut fundierte Selbstsicherheit, welche ihr das beste
Amulett gegen jeden Zauber schien. So empfand sie ihre Verantwortung für
den Zauberstein an dem Abend als eine süße Last.

Die Damen waren im Begriff, die ruhigen Bewegungen eines Rundtanzes zu
üben, als das Quittengesicht in die Türe trat. Mit erschrockener
Ueberraschung hielten sie in ihrem Reigen inne und wie aus einem Munde:
„Oh! Doktor Seraph!“ Armida trippelte auf ihn zu im zierlichsten
Menuettschritte, und Molo Seraph seinerseits war einen Augenblick
verwirrt, als die Dame in dem absonderlichen Aufputz vor ihn trat.
Armida mit angemalter Wetterbräune und keck-grünem Lodenhütl, reichte
dem perplexen Freunde die Hand: „Nanu Molo, was stierst du mich so an,
wie wenn ich ein Meerwunder und du ein Mondkalb wärest?“

„Ich habe oft Wahngebilde, so daß ich gar nicht mehr über die
Wirklichkeit zu urteilen wage,“ entgegnete der Doktor. „Tirol liegt
nicht außerhalb meines Visionsradius,“ und dabei musterte er Armidas
Tracht; der lebhaft bunte Ueberwurf, das Mieder, der weite Rock und die
Zwickelstrümpfe.

„Ach Doktorchen, du mußt mit uns üben, so, hier schau, den Tritt, im
Dreivierteltakt.“ Der Doktor aber machte einen Knicks und bat Armida um
einen Tanz. Tanzte mit ihr die Tirolienne und erregte respektvolle
Verwunderung bei den Gästen und Freunden.

„Das Bild könnte einen Maler inspirieren,“ wagte Fräulein Winterstein zu
bemerken, „sieht es nicht aus wie der tanzende Tod mit dem tanzenden
Leben?“

Arco Calvandi und Jappes trafen sich im Erfrischungsraum: „Wie fühlen
Sie sich als Bräutigam, mein Herr?“ „Oh, Dank der Nachfrage, ich bin zu
Tode glücklich verliebt. In Liebesangelegenheiten pflegte ich nie über
die Verhältnisse der anderen hinauszuleben. Das Geschlecht der Calvandi
wußte stets aus seiner Umgebung Nutzen zu ziehen. Für mein Herz beginnt
nun das goldene Zeitalter der Ruhe, und es ist keusch im Dauerofen der
ehelichen Liebe erglüht. Ich bin Ihnen darin verwandt, weil es eine Zeit
gab, wo auch Sie Geschmack an meiner Braut fanden. Und Sie sehen, ich
bin Ihr Freund, weil ich Ihnen die süßen Stunden, welche Sie mit Armida
verlebt, in die Erinnerung rufe. Ihnen vertraue ich das letzte Geheimnis
meines bewegten Junggesellentums an: Meine Frau wird nur eine angenehme
Episode in meinem Leben sein, und weil Sie Armida, kennen, verstehen Sie
auch den Sinn meiner Worte. Doch da kommt der Totenkopf, und weil ich
wußte, daß er heute bestimmt kommen würde, habe ich mich mit einer
krausen Chrysantheme bewaffnet, denn der herbe Atem der Blume paßt zu
der Friedhofsstimmung, die er um sich zu verbreiten pflegt.“

Jappes erhob ein leeres Glas und maß den „Freund“ mit einem leeren
Blick. „Ich weiß nicht, welche Flüssigkeit ich auf Ihre Gesundheit
trinken möchte,“ dann begrüßte er Doktor Seraph, welcher hinzugetreten
war. „Ich verspürte ein sinnfälliges Zucken des Ringes,“ betonte dieser
mit einem gesetzten Akzent in der Stimme, „aber ich sehe, die Herren
sind in bester Laune der Säfte. Vielleicht ist es Ihre Blume, die an den
Tod erinnert,“ wandte er sich an Arco Calvandi. „Sie belieben scheinbar
mit dem Tode zu spielen, im Uebermut der bräutlichen Tage. Sie sollten
nicht mit dem Tode spielen!“

„Wie sollte ich nicht! Ihre maskenhafte Erscheinung gemahnt eher an den
Tod als eine Totenblume. Wissen Sie nicht, daß die Gesellschaft es
liebt, mit den Toten in Verbindung zu stehen, daß sie Geister
materialisiert? Die Gesellschaft will Fleisch. – Sie lachen, Herr
Jappes. – Ja! die Gesellschaft will das Fleisch der verstorbenen
Geister, will eigentlich das verstorbene Fleisch der Geister, und Sie,
Herr Doktor, fühlen sich sicher im angenehmen Kitzel Ihrer magischen
Kraft. Frau Winterstein hat mir über die Befürchtungen, Ihren Ring
betreffend, gesprochen. Sie sind ein wunderlicher Kauz, Herr Doktor
Seraph, und unterhalten die Gesellschaft auf Ihre Art. Ich empfehle mich
und danke Ihnen, weil Sie durch Ihre Erscheinung das Gefühl des
spaßhaften Gruselns geweckt haben. Ich spiele nur auf meine Art mit dem
Tod. Herr Jappes kann Ihnen die Prognose von Ida Telluren erzählen.“ Er
zog die Schultern und ging zu den Damen, als der Doktor ihn warnte:

„Ihr Wesen ist Leben und mein Wesen ist Tod. Sie glauben nur zu spielen,
Herr Arco Calvandi. Sie sollten nicht mit dem Tode spielen – auch Sie,
Herr Jappes, scheinen zu spielen, aber Sie spielen mit dem Leben, mit
dem aktiven Leben, oder habe ich den Sinn Ihres Briefes nicht klar
gedeutet?“

                                   Du glaubst zu zwingen und wirst
                                   gezwungen.

Jappes zog Doktor Seraph in eine ruhige Nische, in welcher die gedämpfte
Brandung, des Abends spielte. Die Wellen der Musik fluteten in breiten,
geschwungenen Akkorden heran, fluteten zurück im Widerhall, lösten sich
auf, krochen an den Wänden hoch, als suchten sie einen Ausweg, diesem
qualmenden Getön zu entrinnen. Wogten um die gleißenden Lichter in
fieberndem Tanz und fanden den rhythmischen Tod im Verklingen der Töne.
Auch die Lichter erstarben in elektrischer Glut. Die Freude ward Chaos
und Wirbel ... So trank Doktor Seraph die sterbenden Lichter und Töne.
So genoß er den Abend mit bewußt-dämonischem Reize und trank aus den
sterbenden Dingen die Kraft für sein dunkles Wesen ...

Als Jappes zu sprechen begann, schloß der Doktor die Augen und lauschte:
„Herr Doktor, ich weiß nicht, ob es Ihren Prinzipien widerstrebt, ein
Leben zu vernichten, aber ich bitte Sie, mich anzuhören, denn es handelt
sich um ein Leben, um ein ungeborenes Leben. Mir fällt die Rolle eines
Advocatus diaboli zu. Ich soll etwas Böses um des Guten willen
verteidigen. Es ist eine sonderbare juristische Privatthese. Doch ich
will klarer reden.

Meine Freundin geht mit einem Kinde schwanger, das in geschlechtlicher
Ueberrumpelung gezeugt wurde. Sie hatte den Willen zur Begierde, aber
nicht den Willen zum Kinde. Nach dem Recht der Ungeborenen hat ihr Kind
ein Anrecht auf das Leben. Und doch bitte ich, dem Recht des Ungeborenen
zum Trotz, um Ihren klinischen Beistand zur Unterbrechung der
Schwangerschaft. Für die Antithese will ich die furchtbare Einseitigkeit
des gesetzgeberischen Moralempfindens nicht verwerten, will die Unmoral
der verdammungswütigen Gesellschaft nicht ins Feld führen, will die
Unzulänglichkeit allzu menschlicher und fehlbarer Juristerei nicht
etablieren. Tötet nicht der Krieg in Massenschlachtungen Tausende von
Menschen, zu Ehren des Staates, des Staates, welcher das Gesetz der
sozialen Fürsorge und mit ihm das Recht der Ungeborenen promulgiert hat.
Von all dem leeren Wortgeklingel will ich abstrahieren – das Mädchen ist
in seiner künstlerischen Entwicklung begriffen und darf durch die Geburt
und durch die Pflege ihres Kindes keine Hemmung ihres künstlerischen
Schaffens erfahren. Ich verbürge mich für sie, daß sie ein künstlerisch
wertvoller Mensch ist. Ich habe ihre ersten stilsicheren Arbeiten in
einer Ausstellung gesehen, und Sie müssen verhindern, daß das Talent von
der Gesellschaft in den Kot gezogen wird ...“

„Sind Sie der Vater dieses zukünftigen Kindes,“ fragte Doktor Seraph.

„Nein.“

„Dann ist Ihre Ausführung ein objektives Plädoyer zugunsten eines
Mädchens. Durch die Geburt des Kindes wird sie künstlerisch nicht
gehemmt. Ihre Kräfte werden eher gesteigert. – Und wenn sie Künstlerin
ist, wird sie nicht durch das Urteil der Umwelt leiden, wenn sie ein
Talent ist, wie Sie versichern, wird sie sich auch der Umgebung zum
Trotz durchsetzen. Meine Mithilfe muß ich Ihnen versagen, nicht weil ich
Kompromisse mit der Gesetzgebung zu schließen bereit bin, sondern weil
die Meinung der Gesellschaft kein Lebensopfer wert ist. Jüngst habe ich
in einer medizinischen Zeitschrift meine Stellungnahme zu dem Problem
klargelegt und den Standpunkt vertreten, daß es vernünftiger ist, dem
Volk und der Gesellschaft die Freiheit der Zeugung durch die gehäufte
Zahl der unehelichen Geburten zu predigen, als das ewig-verbrecherische
Dunkel um das natürlichste Geschehen zu weben.“

„Sie verweigern die Hilfe, weil der Wille zur Geburt Ihr Freiheitsdogma
ist,“ unterbrach Jappes. „Wollen denn Sie die dunklen Kräfte des Blutes
leugnen, die jahrhundertlang das Wesen der Individuen fortpflanzen,
Kräfte, die unabhängig vom Willen sind, ja, die selbst den Willen
zwingen oder isolieren. Kräfte, welche das Wesen verwirren, zur
Fortpflanzung drängen, im Unterbewußten das Erotische aktivieren, uns
mit elementarer Wucht befehlen, uns zu Werkzeugen der starren Gesetze
des Blutes stempeln. Das Mädchen ist die illegitime Tochter eines medial
veranlagten Künstlermodells. Nun ist ihr Leben dem Konflikt des Blutes
mit der Geschlechtsnorm erlegen. Diese Frucht ist eine Regelwidrigkeit
der geschlechtssoziologischen Ordnung. Der Fatalität der Vererbung der
sittlichen Schuld war das Mädchen nicht gewachsen, denn ihr Geschlecht
war zu schwach und die Begierde des Blutes zu groß. Darum bitte ich,
setzen Sie dem blutigen Fluch durch ihre Hilfe ein Ziel. Unterbinden Sie
die Wirkungsmöglichkeit der dämonischen Kräfte, Sie sind ja berufen, die
Geister zu bannen, deshalb schließen Sie diesen fatalen Ring,
unterbinden Sie die schaffende Wirkung der tätigen Geister.“

Ein flüchtiger Schein huschte über Doktor Seraphs Gesicht, wie ein
Wetterleuchten über eine matte Mondlandschaft.

„Sie muten mir Grausiges zu. Ich will das Kind nicht morden. Aber ich
will den Erbgeist des Blutes bannen, wenn Sie mir die Zukunft des
Mädchens freigeben. Dann kann ich die Geister bannen, indem ich ihr die
Mutterschaft nehme und sie fürs Leben unfruchtbar mache. Ist Ihnen der
Preis nicht zu hoch? Den Geistern muß man die Basis des Wirkens nehmen.
Ueberlegen Sie gut, das ist die Bedingung, und ich will gleich darüber
entschieden wissen. Ist das Verhängnis der würdige Gott, daß man ihm das
Opfer der Mutterschaft bringt ...?“

Jappes blieb im Banne der Frage. Pepy würde kein Opfer scheuen. Wie
hatte sie gesagt und mit verzweifelter Hand ins Wasser gedeutet? Sie
würde den Fluch ihrer Sünde nicht tragen wollen, und die Verantwortung
für die Kämpfe ihres Kindes würde sie nicht tragen können. Nicht-wollen,
Nicht-können. Das waren die Postulate, die ihren Selbstmord begründeten.
Und er hatte ihr zu helfen geschworen.

„Sei’s drum,“ sagte Jappes: „sie will kein Opfer scheuen, und das
Höchste ist auch eines.“

Da drehte der Doktor den Ring um den Finger:

„Schicken Sie das Mädchen und meiden Sie mich. Ich werde ihr Arzt sein
und ihr Geschlecht aus der Zukunft heben.“ Reichte Jappes die Hand und
lautlos verließ er den Saal.




                       EINUNDFÜNFZIGSTES KAPITEL


                                   Die Rätsel der Vernichtung sind so
                                   geheimnisvoll wie die Rätsel der
                                   Schöpfung. Beide münden ins Leben.

Der Ball war zu Ende. Jappes und Arco Calvandi begleiteten Armida nach
ihrer Wohnung, welche in Steglitz lag. „Dann treffen wir uns vorläufig
nicht mehr,“ verabschiedete sich Armida, „wir wollen unser Flitterjahr
verreisen. Dein heroischer Verzicht gefällt mir. Du warst immer ein
Meister der raschen Entschlüsse. Vielleicht treffen unsere Wege sich
später, vielleicht sind wir auf ewig geschieden.“

„Wir wollen es hoffen,“ und Jappes ging mit einem Lachen.

„Sie haben viel Aerger mit mir gehabt,“ sagte Arco Calvandi, „und
Armidas Abschied fällt Ihnen schwer, weil Sie so lachen. Ich kenne die
Seele der Menschen. Ich weiß, daß Sie lachen, um nicht traurig zu
scheinen.“

„Sie glauben, das Leben zu kennen, Sie kennen nur ein Leben; das
einzige, was Sie bestimmt wissen, ist, daß alles um Sie heuchelt, und
daß Sie mit allem heucheln. Arco Calvandi, Sie sind nicht der Mensch,
Sie sind nur ein Mensch, den das Leben mit Wahnsinn behaftet hat. Wie
unbeständig ist das Leben, wie kurz! Man kann das Leben hintergehen, und
den Tod kann man zwingen, sein Handwerk zu üben.“

„Ich fürchte keinen Tod, ich habe dem Leben zu oft in die Augen
geschaut. Aber ich empfinde Mitleid mit Ihnen, weil Sie so fröhlich
scheinen. Ich möchte Sie diese Nacht nicht verlassen, weil Sie manchmal
mein Weggefährte waren und ich an Ihrer Trauer den Wert Armidas
erkannte. Wollen Sie von meinem Wagen Gebrauch machen. Wir fahren aus
der Stadt. Die Menschen vergeuden so viele Geräusche.“

Jappes und Arco Calvandi stiegen in den Wagen und fuhren über den
Hindenburg-Damm zu den Anlagen am Teltow-Kanal. Was für ein Zwang hatte
sie diese Nacht zusammengeschmiedet? Waren es noch Menschen, die das
Spiel verhaßt-gegenseitiger Unausstehlichkeit spielten? Waren es
dämonische Kräfte, die sich gegenseitig maßen? Waren es Teufel, die in
der Verruchtheit ihrer Wesen gegenseitig Halt suchten? Führt der Zufall
nicht manchmal Menschen zusammen, um sie gegenseitig als Werkzeug ihres
Untergangs zu gebrauchen? Ist die scheinbare Gesetzlosigkeit nicht oft
der eherne Zwang, der gestaute Konflikte zur Entladung bringt? Ist nicht
oft die Wahrheit der Zünder, welcher katastrophale Explosionen
heraufbeschwört, wenn zwei Wesen aufeinanderprallen? Die zwei Menschen
gingen durch die Nacht, am Kanal entlang. Sie waren sich gegenseitig
Verbrecher und Richter. Ihre Anklage war Wahrheit, ihre Verteidigung war
Wahrheit und ihr Wesen war Spiel. Zwischen beiden ging die Strafe,
bereit, einem jeden ihr Bündnis anzutragen.

„Schade,“ sagte Arco Calvandi, „daß man einen treuen Gefährten wegen
einer Frau, die man nun einmal durch die Tücke des Blutes liebgewonnen
hat, im Stiche lassen muß. Ohne die Intrigen des Lebens wären wir
zweifellos die besten Freunde. Es gibt doch eine Zeit im Leben, wo man
die Liebe über die Freundschaft setzt.“

„Ich weiß nicht, ob die Freundschaft, von der Sie reden, wert ist, daß
man sie lobe, um die Liebe, die Sie meinen, damit zu vergleichen. Es
gibt eine Freundschaft des Blutes und eine Liebe der Gesinnung, welche
beide verschwistert sind und das Wesen eines platonischen Hausfreundes
ausmachen. Sie nennen mich Freund. Auch Judas hat Christus den
Freundeskuß gegeben.“

„Und der allwissende Christus ließ sich von Judas küssen. Doch hören
Sie, Freund, wir sollten uns vor der Trennung zu verständigen suchen.
Armida war unser beider Schicksal und einer muß dem Schicksal immer
weichen. Von zwei Thronprätendenten kann nur einer die Krone erhalten.
Ich sehe mich als den Würdigsten an, weil Armida die Wahl zu meinen
Gunsten entschieden hat. Die Ehe ist für fertige Männer und ich kann in
der Ehe ein zweites Leben gewinnen.“

„Ich bin noch kein fertiger Mensch und habe bereits ein Leben verloren.
Ein keimendes Leben habe ich der Gesellschaft geopfert. In einem
Augenblick habe ich über ein Leben entschieden. Ich staune selbst, wie
schnell ein Urteil sich zur Tat bildet. Ein Leben durchs Jawort des
Triebes entstanden. Ein Leben durchs Jawort des Willens vernichtet ...
Es ist wie die Synthese des Lebens.“

„Sie sind ein Mörder am frühen Geschlecht? Sind Sie der seltsamen Karte
verfallen?! Eckstein-Zwei – und die schwangere Deutung.“ Er lachte. „Sie
haben ein Leben vernichtet. Dann sind Sie ein Held. Nur Helden töten!
Wer lebendig macht, darf auch töten. Ein Schöpferwort! Ein
Vernichtungsurteil. Ich werde ein Apostel Ihrer neuen Moral. Ihre Thesen
sind heilig durch die fatalkräftige Prophetie von Tante Telluren. Mir
fällt ein, daß ich Lust empfand, die Tante zu einem Antiquar zu führen –
doch keinen banalen Spaß. Es gibt Gelegenheit genug, über Ernstes zu
lachen. Ihre überzukünftige Moral gefällt mir. Töten, wenn ich will; in
einem Augenblick entscheiden, das ist ein Mann! Auch meine Karte hat mir
Tod verkündet. Wie sprach die Tante ganz ulkig von meinem Tode: Ein
Toter hängt an einem Weidenast, derweil ein lachender Affe mit dem
Weihrauchfasse um die Leiche springt, um einem Krebse auszuweichen, der
seine Scheren nach ihm zwickt. Wenn Ihr Gewissen nicht hinter dem Lachen
verborgen läge, könnte ich es leicht mit dem zwickenden Krebse
vergleichen. Sie wären der hüpfend-lachende Affe, der mich mit Weihrauch
beräuchert. Die Totenopfer beräuchern, ist die höchste Tugend. Oh,
gewiß! ich werde ein Apostel Ihrer neuen Moral.“

„Sie könnten auch ein Märtyrer werden! Ich liebe den perversen Teufel,
der aus Ihnen spricht. Wir ergänzen uns würdig. Ich bin die
verbrecherische Tugend und Sie das tugendhafte Verbrechen. Wir sind nur
durch eine feine Nuance verschieden. Das Gewissen ziert keinen
Kulturmenschen mehr, Verbrechen und Tugend sind die Früchte derselben
Moral. Ich liebe Sie, Herr Arco Calvandi, weil Sie mein Wesen sind: nur
mit der Brutalität der Empfindung behaftet. Ich hasse Sie, Herr Arco
Calvandi, weil Sie mein Wesen sind: nur frei vom romantischen Hauche der
Sehnsucht.“

„Wir fließen ineinander über und können uns doch nicht in Armida einen.
Sie sind ein seichter, zielloser Strom und führen den Unrat des Lebens
mit. Eine Last schwimmt mit Ihnen, und Sie reißen das Schiff in den
Stromschnellen fort, aber das Schiff wurde leck, als es über die
Untiefen raste und es sank im ruhigen Flusse des Stromes. Sie konnten
das Sinken nicht hindern. Sie hatten die Schnelligkeit ohne die Tiefe.
So ist Ihr Wesen ein verlorenes Sein. Ihr Streben ein zielloses Irren.
Ihr Tun ein ruchloses Handeln – ich spreche von unserem gemeinsamen
Wesen. – Der Haß ist Ihre Liebe zu mir: Der liebende Haß, die neue
Moral. Sie stehen an meinem Wege und lachen ... Sie gehen mit meiner
Leiche und singen, Sie stehen an meinem Grabe und grinsen ... Sie
trinken auf mein Wohl und wünschen mir Gift in den Becher, aber ich weiß
alles zu deuten – ich spreche von unserem gemeinsamen Wesen. Bruder,
sage ich zu dir, wie Judas zu Christus, Bruder, ich liebe dich!“

„Ich bin Christus, der die Welt erlöst, um sterben zu können. Den Fluch,
den er Ahasver tat, hat er am Kreuze durch Tod gesühnt und sein
weltflüchtiges Wesen geopfert. – Ich entgegne deinen Bruderkuß und sage
dir, Bruder, ich liebe dich.“

                   *       *       *       *       *

Da griff eine Hand aus dem Dunkel nach Arco Calvandi. Ein scharrender
Fall, ein Keuchen wie fernes Saugen, dann lähmende Stille wie ein böser
Traum.

Am Morgen trug man eine Leiche ins Totenhaus.




                       ZWEIUNDFÜNFZIGSTES KAPITEL


                                   Verbrechen und Tugend sind die
                                   beiden Pole der gesellschaftlichen
                                   Moral. Die Sitten sind die
                                   Strömungen zwischen beiden.

Nachmittags, als Jappes in Saßnitz ankam, lag das Meer lauernd wie vor
einer großen Katastrophe. Der Wind, der gegen die Wellen blies, glättete
die Wogen und ein körniger Rieselschauer überlief von Zeit zu Zeit die
glatte Fläche. Er ging den Weg, den er einst mit dem Fremden gegangen –
gegen Stubbenkammer, wo das Meer braust und die Felsen öde sind. Er
konnte sein Lachen nicht deuten, als er an Calvandi dachte, der ihn zum
zweitenmal ans Meer getrieben. Heute war er nicht vor ihm geflohen,
keine Flucht vor einem Menschen, gegen welchen er nicht ankämpfen
wollte, wie damals, als Armida ihm den Laufpaß gab.

Heute fühlte er sich frei, er wußte, daß er nicht feige war, er war
friedlich von dem Toten gegangen, hatte ihm alles verziehen und das
Röcheln seines Opfers als Sühne genommen. Er hatte ihm den größten
Dienst getan und ihn aus Liebe getötet ...?! Er trank die frische
Meerluft mit gierigen Lungen. Der herb-tote Meergeruch stärkte ihn und
mit tiefen Zügen trank er den Atem des Meeres.

Bruder, ich liebe dich! er brüllte es laut, daß die Felsen erschauerten
und das Echo in seine Seele warfen. Als die Abendschatten sich unter die
schwindenden Lichter des Tages mischten, war das Meer eine unendliche
opalisierende Fläche und das Grau bewirkte das Empfinden der krankhaften
Ruhe des Wassers. Jappes ging den einsamen Pfad, zwischen den ragenden
Sandmauern und dem lauernden Wasser. Saß an der Stelle, wo er mit dem
Fremden gesessen, saß in Gedanken und starrte ins Meer. Da kam ein
leises klirrendes Geräusch, wie von rollenden Kieseln, und der Fremde
saß vor Jappes auf dem Stein. Er trug den grauen Mantel und die graue
Tasche und grüßte: „Bruder, ich liebe dich, ich erkenne dich an deinem
Blick, du hast aus Lust gemordet, wie ich aus Lust morden wollte. Du
warst glücklicher als ich. Dein Opfer hat sich nicht gesträubt. Ich habe
immer vom Glück der glücklichen Mörder geträumt. Doch mir will kein Mord
gelingen. Vielleicht verstehe ich nicht, die Schuld meiner Opfer zu
schaffen. Man erschafft die Schuld seiner Opfer, wenn man sich selbst
zum Richter über sie setzt. Ich bin gekommen, von dir zu lernen, mein
Bruder.“

Jappes wollte sich auf den Fremden stürzen, als er aber die Worte hörte,
die er sprach, fühlte er, wie die Lähmung durch seine Glieder floß:

„Ich habe nicht gemordet, grauer Fremdling, ich habe getötet, den
Widersacher meines Blutes habe ich getötet. Ich habe ihn aus Haß gegen
mich getötet, weil er mein ruchlos stärkeres Wesen war. Mein Recht dazu
kann ich in keine Form fassen, auf einmal war die Lust da und die Kraft
und der Wille ... aber kein Gedanke an die Schuld, der ich dadurch hätte
verfallen müssen. Sein Tod war Erlösung für mich und für viele, deren
Sünden er trug. Er war rein wie der Heiland, nur durch den Umgang mit
Menschen hatte er all ihre Sünden auf sich genommen. Ein Mensch begeht
keine eigenen Sünden, er trägt nur die Sünden der anderen und kann nur
durch andere Erlösung finden. Ein jeder ist Schächer, ein jeder Erlöser
...“

Da stockte Jappes und der Fremde gebot ihm: „Erzähle mir weiter von
Sühne und Schuld.“

„Bruder, grauer Bruder,“ fuhr Jappes fort. „Vielleicht bin ich nicht
ganz makellos, denn ich fühle, wie ich freier werde, wenn ich dir von
der Schuld erzähle. Ich habe nie eine Sünde begangen, aber ich trage
eine schwere Sünde. Die Sünde eines Mädchens, die Sünde einer Zukunft.
Durch die Berührung mit Menschen gehen deren Sünden auf uns über und wir
verfallen ihrer eigenen Schuld. Ich bin Christus und trage mein Kreuz
und mich begleitet viel Volk, mit mir ihre Sünden zu töten. Christus war
ein Mensch mit unendlichen Träumen, sonst hätte er die Menschheit nie
erlösen können, denn die Menschen sind Träumer, ihre Verbrechen sind
Träume und unbewußtes Geschehen. Vom Tode Calvandis bin ich frei, denn
ich habe durch ihn meine Schuld gesühnt: Wäre er nicht zwischen mich und
Armida getreten und hätte für mich sein Leben versündigt, wahrlich, ich
hätte ihn nicht töten dürfen, so aber war sein Leben meine übernommene
Schuld und sein Tod meine Sühne ...“

Der Fremde lachte mit unheimlich heiserer Stimme. „Du glaubst, daß die
Menschen ein Anrecht auf Schuld haben ... und keiner eigenen Sünde fähig
sind?“

„... Wir haben alle ein Anrecht auf Schuld, aber wir sind keiner Sünde
fähig. Kein Mensch will sein eigenes Ich beflecken und weil er nicht
will, kann er auch nicht. Christus hat keine Sünde begangen, konnte
nicht fehlen, weil er nach göttlichem Willen nicht wollte. Und doch hat
er seine Umwelt am Kreuze mit blutigem Opfer erlöst. Die Juden, die
Christus töteten, wurden die Träger der ungeheuren Schuld und müssen sie
durch die Jahrtausende schleppen. Eine Schuld ist erst gesühnt, wenn der
letzte Träger derselben vernichtet ist und ohne die Kreuzigung hätte
Christus die Welt erlösen können. So aber haftet der Fluch der Welt den
Juden an. Erst wenn der letzte Jude vernichtet ist, kann die Welt frei
von Schuld sein ...“

„Die Menschen sollten sich hüten, die Juden zu töten, weil sie sonst die
Schuld nur verschieben. Du meinst die Vererbung der sittlichen Schuld,
und du rechtfertigst dein Tun mit den Sünden der anderen! In was besteht
denn deine Schuld?“

„... Einerseits rechtfertige ich mein Handeln und andererseits verdamme
ich mein Tun durch ein und dasselbe. Meine Schuld ist zu groß, ich wage
sie nicht auf andere abzuwälzen“ – dann zog er ein Zeitungsblatt hervor
und las: „Baden-Baden. Ein Münchener Gelehrter, der seit zwei Tagen hier
zur Erholung weilte, hat aus Versehen bei seinem Sohn, der als Arzt
amtiert, eine giftige Alkohollösung in eine Tasse Kaffee gegossen. Da
die Wirkung des Giftes fast blitzartig eintrat, waren alle
Gegenmaßnahmen erfolglos. Die Tragik wollte es, daß der Sohn den
sterbenden Vater in seinen Armen verscheiden sah, ohne ihm Hilfe leisten
zu können. – Den trauernden Hinterbliebenen unser innigstes Beileid.“

Er faltete das Blatt sorgfältig zusammen und riß es in kleine flatternde
Fetzen:

„Das ist das Verhängnis meiner Schuld,“ sagte er zu dem Fremden. „Ich
kenne den Gelehrten, er hat ein Mädchen verführt und sich nun selbst als
Opfer seiner Schuld gebracht. Er wurde ein Opfer der Vererbung der
sittlichen Schuld. Das Mädchen war die Frucht einer Verführung und der
Gelehrte hat die Schuld der Vererbung durch eine neue Verführung
übernommen. Die Verführte büßt ihre Schuld und bringt dafür das Opfer
ihrer Mutterschaft. So ist sie entsühnt. Der Verführer trägt die
doppelte Schuld. Ich habe den Verführer vernichtet und er hat die
dreifache Schuld auf mich abgewälzt. Die ungeheure Lage der Schuld gibt
mir die Kraft, mit dir darüber zu reden. Du bist ein beruflicher Mörder.
Erlöse mich! ... Töte mich!“

Da floh der graue Fremdling mit lachendem Abscheu.

Jappes erwachte aus seiner Betäubung und dem Winde, der übers Meer
blies, streute er die Fetzen, die Fetzen.




                       DREIUNDFÜNFZIGSTES KAPITEL


                                   Die Polizei ist die Muse der
                                   Kriminalromanschreiberei.

Eines Morgens warf der Sturm und das kochende Meer eine Leiche ans Ufer.
Die Polizei fraß sich in das Totenmysterium hinein und schickte dem
Gericht das Ergebnis der polizeilichen Forschung:

Fischer fanden am Ufer die Leiche eines Unbekannten. Der Tod mußte schon
eingetreten sein, denn alle Wiederbelebungsversuche blieben erfolglos.
Die Autopsie der Leiche ergab, daß keinerlei Gewalt angewendet worden zu
sein scheint. Einzelne kleine Schrammen, welche als Kratzwunden gedeutet
wurden, sind nachträglich als Verwundungen erkannt worden, welche sich
die Leiche bei der Anschwemmung auf den Sand zugezogen haben dürfte. Ob
Unfall, Selbstmord oder Verbrechen vorliegt, muß die weitere
Untersuchung ergeben.

Fischer, welche allerdings als notorische Trinker verrufen sind, wollten
in dem Toten einen freigebigen Fremden erkannt haben, der vor kurzem
plötzlich während der Nacht in ihr Lokal gekommen sein soll, um sie zu
berauschen. Sie sagten ferner aus, daß er Unmassen von Schnaps vertilgt
haben soll, mithin allem Anscheine nach ein beruflicher Schnapstrinker
gewesen sein müßte. Alle Aussagen, welche zweifellos der durch den
Alkohol erhitzten Phantasie zuzuschreiben sind, wurden durch das
Gutachten der Aerzte Lügen gestraft, welche nach Auspumpen des Magens
des Angeschwemmten keinerlei Alkoholreste vorfanden. Ferner keine der
krankhaften Störungen, welche die unausbleibliche Folge übermäßigen
Alkoholgenusses sind, nachweisen konnten. Bei der Sektion der Leiche
wurden im ganzen Verdauungsapparat weder chronischer Katarrh des
Rachens, des Darms oder des Magens, noch Fettleber oder Cirrhose
nachgewiesen. Der Schädel wurde zur Untersuchung der Gehirnwindungen auf
Delirium tremens nach Berlin ins pathologische Institut übersandt. (Das
Gutachten über die Analyse der Hirnmasse wird in einem Ergänzungsbericht
nachgesandt.)

Der Spitzfindigkeit der Polizei ist es gelungen, mit Hilfe des
rotledernen Brieftascheninhaltes des Fremden einige Schlüsse auf die
Vergangenheit der Leiche zu ziehen. Der Inhalt, welcher der kühnsten
Phantasie reichlich Stoff zu intensivster Betätigung bietet, bestand aus
einer Summe von 2437 Mark. Lies: Zweitausendvierhundertdreißigundsieben
Mark, zwei Pfandscheinen, zwei Visitenkarten und einer
Empfangsbestätigung über 100000 Mark, welche scheinbar ein Duplikat ist,
ferner einer Photographie.

Die Pfandscheine, welche auf den Namen Doktor Jappes einerseits und Pepy
Pimpelmann andererseits lauten, sind an ein und demselben Tage in
München ausgestellt worden. Die Visitenkarten lauten auf den Namen Dr.
Jappes und Dr. Golliwog. Mit unfehlbarer Sicherheit wurde daraus der
Schluß gezogen, daß die Pepy Pimpelmann die Geliebte des Doktor Jappes
ist und beide ein Gelddarlehen von Doktor Golliwog empfangen haben
müssen und ihm ihre Pfandscheine dafür zur Kaution übergaben.

Daß Doktor Golliwog der tote Fremde ist, darf daraus mit Sicherheit
gefolgert werden.

Eine zweite Annahme lautet darauf, daß der Tote Doktor Jappes sei, weil
das Duplikat der Empfangsbestätigung über 100000 Mark auf der Dresdener
Bank von Doktor Jappes unterschrieben ist. Dies hat zur Annahme geführt,
daß Doktor Golliwog den Namen seines Freundes mißbraucht zu haben
scheint, um ein wertvolles Schachspiel auf dessen Namen zu versetzen.
Demnach müßte die P. P. die Geliebte des Doktor Golliwog sein, durch
welche der Pfandschein auf den Namen des Doktor Jappes wieder in die
Hände des wirklichen Doktor Jappes gekommen sein müßte.

Eine dritte Annahme geht darauf hinaus, zu behaupten, entweder Doktor
Jappes müsse ein Hochstapler oder ein Pfand- und Geldmakler sein.
Letztere Ansicht wurde wieder verworfen, weil, wie nachträglich
festgestellt wurde, die Pfandscheine bereits seit drei Jahren verfallen
sind, was bei Pfand- oder Geldmaklern nach der bisherigen polizeilichen
Erfahrung ausgeschlossen ist.

Daraus wurde der sachdienliche Schluß gezogen, daß der Tote Doktor
Jappes oder Doktor Golliwog sei, daß die obengenannte P. P. in
irgendeinem Verhältnis zu beiden gestanden haben muß, daß die
Geldverhältnisse eines der beiden Doktoren sehr schwankende gewesen sein
müssen, und daß einer derselben immer auf den anderen angewiesen gewesen
zu sein scheint. Letzteres läßt auf die Tatsache des Mordes schließen,
der jedenfalls auf geheimnisvolle Art verübt worden sein muß, weil sich
keinerlei Spuren von Kampf nachweisen ließen. Die Requisiten wurden der
Münchener Polizei zur genauen Nachforschung übersandt.

Beiliegende Photographie wurde als die des Toten bestätigt. Die Züge
sind, wie ersichtlich, durch das Wasser etwas verwaschen, Trotz
sorgfältigster Trocknung gelang es nicht, das Bild in einen besseren
Zustand zu versetzen. Außer der oben genannten Brieftasche fand man bei
dem Toten eine Pistole, einen Schlüsselbund, ein Zigarettenetui und ein
Taschentuch mit den Initialen P. J. G., welche zufälligerweise mit den
drei Namen zusammentreffen, als solche aber kaum zu deuten sind und
keine sachdienlichen Anhaltspunkte liefern können.

Durch Uebergeben der kriminalistischen Indizien zu Händen des
Gerichtshofes erklären wir die polizeilichen Nachforschungen als
beendet.

            Lichtbild mit Personalbeschreibung nebenseitig.


                            [Illustration]

          Die Leiche ist 1,81 lang.

          Nase: gewöhnlich.

          Kinn: rund und unrasiert.

          Gesichtsfarbe: grünlich-gedunsen.

          Augen: gebrochen-glotzend.

          Mund: klaffend.

          Haar: blond-zerzaust.

          Bart: stoppelig, scheint erst nach dem Tode
          gewachsen.

                         Besondere Kennzeichen:

          Kopf: fehlt.

          Nach den Weisheitszähnen zu urteilen, kann der Tote
          höchstens 26 Jahre alt sein.

          Wie aus Lichtbild ersichtlich, üppiger Haarwuchs,
          was auf erhöhte geistige Tätigkeit schliessen
          lässt. Am kleinen Finger der rechten Hand Goldring
          mit grünem Stein und eingraviertem Skarabäus.

          Scheint bei Aufnahme des Lichtbildes gegrinst zu
          haben.




                     Anmerkungen zur Transkription


Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert.





*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK FETZEN ***


    

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START: FULL LICENSE

THE FULL PROJECT GUTENBERG LICENSE

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Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg™

Project Gutenberg™ is synonymous with the free distribution of
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computers including obsolete, old, middle-aged and new computers. It
exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations
from people in all walks of life.

Volunteers and financial support to provide volunteers with the
assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg™’s
goals and ensuring that the Project Gutenberg™ collection will
remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
and permanent future for Project Gutenberg™ and future
generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see
Sections 3 and 4 and the Foundation information page at www.gutenberg.org.

Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non-profit
501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
Revenue Service. The Foundation’s EIN or federal tax identification
number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by
U.S. federal laws and your state’s laws.

The Foundation’s business office is located at 809 North 1500 West,
Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up
to date contact information can be found at the Foundation’s website
and official page at www.gutenberg.org/contact

Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

Project Gutenberg™ depends upon and cannot survive without widespread
public support and donations to carry out its mission of
increasing the number of public domain and licensed works that can be
freely distributed in machine-readable form accessible by the widest
array of equipment including outdated equipment. Many small donations
($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
status with the IRS.

The Foundation is committed to complying with the laws regulating
charities and charitable donations in all 50 states of the United
States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
with these requirements. We do not solicit donations in locations
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International donations are gratefully accepted, but we cannot make
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Professor Michael S. Hart was the originator of the Project
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