The Project Gutenberg EBook of Zaubermärchen, by Albert Ehrenstein This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at www.gutenberg.org Title: Zaubermärchen Author: Albert Ehrenstein Release Date: August 1, 2011 [EBook #36933] Language: German *** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK ZAUBERMÄRCHEN *** Produced by Jens Sadowski Albert Ehrenstein Zaubermärchen 1919 S. Fischer/Verlag/Berlin Nicht da nicht dort Zweite veränderte Auflage (Drittes bis viertes Tausend) Alle Rechte vorbehalten Inhalt Martyrium Homers Isfendiar Knecht seines Schicksals Traum des achthundertachtundachzigsten Nachtredakteurs Kimargouel Alte Geschichte Erziehungsroman Attentat Fluch Krasser Fall von Soldatenmißhandlung Ausflug Nitimur Martyrium Homers Ich protestiere feierlich gegen die unerhört kurzfristige Prophezeiung des genialen Dandy Ovid: »Vivet Maeonides, Tenedos dum stabit et Ida, dum rapidas Simois in mare volvet aquas.« Als ob Homer diese lausigen, durch das nächstfällige Erdbeben gehandikapten Örtlichkeiten nicht um Äonen überleben würde! Ich protestiere ferner gegen die tolle Verdrehung meines zynischen Freundes Lukian, Homer sei während des Trojanischen Krieges (1193-1184 v. Chr.) Dromedar in Baktrien gewesen. Wahr ist vielmehr das Trottelwort archaischer Pädagogen: »Sieben Städte stritten sich um die Ehre, Homer geboren zu haben: Smyrna, Rhodos, Kolophon, Salamis, Chios, Skyros, Athenai.« Warum sich aber die diversen Stadtväter so hartnäckig stritten, erfährt die leichtgläubig betrogene Nachwelt allerdings erst durch diesen Film. 1. Bild Homer dichtet die Ilias und die Odyssee; der alte Mann geht vor seinem Zelte skandierend und die Leier schlagend auf und nieder. 2. Bild Landgut des Odysseus: Homer trägt seinem König einiges vor. Odysseus läßt dem Sänger durch Sklaven einen Becher Wein reichen und ein Ehrengeschenk übergeben: eine milchstrotzende Kuh. Homer dankt freudig für die wandelnde Gabe, läßt sie durch einen Sklaven heimführen, trinkt und erklärt stolz, weinbesessen, kein Wesen hätte die Gabe mehr verdient als er. Und auf eine Statue des Phoibos Apollon deutend, versichert er, selbst dieser Gott hätte nicht besser, höchstens ebensogut dichten können wie er. Denn Apollon sei nur ein Stämmling des amusischen Zeus, er aber habe die Dichtkunst geerbt, ihn hätten Sänger, Phemios mit Demodokos, gezeugt. 3. Bild Auf dem Olymp, von ca. neun Musen umtanzt, hört Phoibos Apollon diese frevle Selbstanzeige des Dichters und stürmt durch den weißen Bergnebel nach Ithaka: über die Schultern den Bogen gelegt und den Köcher voll tosender Pfeile. 4. Bild Drohende Gebärden. Es kommt zum Wettkampf. Odysseus soll zwischen den Dichtern Apollon und Homer entscheiden. Apoll greift nach der Leier Homers. (Was der junge Gott singt, zeigt das) 5. Bild Achilleus lehnt seinen leuchtenden Schild gegen die Mauer und versucht, mit seinem ungeheuren Eschenspeer anrennend, die Tore Trojas zu durchbrechen. Der Speer zersplittert. Der rasende Achill will die Tore mit seinen Händen aus den Angeln heben. Vergebens warnt, von der Mauer her dräuend, Apollon; der Pelide läßt nicht ab, und wie er des alten Troja wanke Tore auf seine Simsonschultern lädt, benützt ein Pfeil des Gottes die Achillesferse. Griechen und Troer kämpfen in den bekannten malerischen Posen um den Leichnam Achills. Während der dicke Aias die kühnsten Troer tötet, trägt Odysseus, schwer bedrängt, den Leichnam hinab zu den Schiffen . . . Dankbar verleiht Achills Mutter Thetis dem Odysseus die Waffen des Achill. 6. Bild Odysseus vernimmt diesen bestechenden Lobgesang mit Rührung, doch Homer bleibt unbewegt, sein Lied 7. Bild schildert die Liebe Apolls zu Daphne. Wie der verliebte Gott die sich über einer Quelle kämmende Nymphe beschleicht, belauscht, waldein, waldaus verfolgt -- die fast Erhaschte im letzten Augenblick zu ihrer Mutter, der Erde, bittend die Hände erhebt und abwärts neigt und von ihr in dürren Strauch verwandelt wird. So daß der Gott statt des süßen Mädchens den bitteren Lorbeer (daphne laurus) umfängt. 8. Bild Als Homer geendet, wird in Apollon der Schmerz um die geliebte Daphne neu, er verhüllt sein Haupt, gleichgültig gibt der weinende Gott zu, daß ihn Odysseus für besiegt erklärt, drückt mitleidsvoll die Hand Homers, fährt ihm bedauernd über Augen, Wangen und Schultern und erklärt, da er besiegt sei, habe er nicht die Macht, von Homers Haupt das Schicksal eines Dichters abzuhalten. 9. Bild Odysseus, ein Ruder auf den Schultern, verabschiedet sich von Homer. Poseidon, dem er den Sohn Polyphemos geblendet hatte, zu versöhnen, muß Odysseus eine Wallfahrt unternehmen, die so lange dauern soll, bis er ein Binnenvolk erreicht, das sein Ruder für eine Schaufel hält. Odysseus empfiehlt den Dichter der Fürsorge Telemachs und Penelopeias. 10. Bild Aber Telemach ist immer auf der Wildziegenjagd. Und Penelope gibt dem Dichter, da er sich im Hauswesen nicht sehr nützlich macht (ihrer schwersten, blaumaschigen, zahmen Lieblingsstopfgans einen Fuß zertritt), stets kleinere Portionen, bis er endlich schweren Herzens, halb und halb verdrängt durch einen Konkurrenten, den Hausbettler Iros, den Entschluß faßt, den Palast zu verlassen. Penelope schmiert ihm zwei Käsestullen, und Homer geht auf die Wanderschaft. 11. Bild Da er in frühester Kindheit die Eltern verlor und seine Vaterstadt, die ihn im Greisenalter zu ernähren hätte, nicht kennt, begibt er sich zunächst nach Reich-Asien. Phöniker, denen er dafür die von Odysseus geschenkte Kuh gibt, nehmen ihn mit auf ihrem Schiff. Die acht Leidensstationen 12. Bild _1. Smyrna._ Bevor der von langer Seefahrt und Entbehrungen geschwächte Dichter die Stadt betritt, färbt er sein ergrautes Haupthaar und den Bart. Singt auf den Plätzen ums liebe Brot. Aber das Volk verlacht ihn -- die Haarfarbe war schlecht gewesen, hatte ihm grüne Haar- und Bartlocken geliefert. Erschöpft setzt sich der arme, von höhnenden Kindern verfolgte Bettelmusikant im Stadtpark von Smyrna auf eine Bank und schläft ein, an die niedrige Stadtmauer gelehnt. Nicht gerührt durch die Tafel »Diese Anlagen sind dem Schutze des Publikums empfohlen«, langt ein Kamel über die Mauer und frißt, durch die grüne Farbe verlockt, Homers Schädel rattenkahl. Seitdem trägt er eine Perücke. 13. Bild _2. Kolophon._ Infolge zu starken Kolophoniumgebrauchs und unausgesetzten Harfenschlagens beginnen Homers Finger zu eitern. Er fürchtet, die Hand werde ihm abfaulen, sehnt sich nach Ruhe, Pflege. Geht halb verzweifelt, halb sehnsüchtig einem schönen Weibe nach in den Tempel des Apollon Kourotrophos. Beugt sich und fleht den Gott an, das Weib möge wilde Liebesnächte und frische Jünglinge verschmähen und sich seiner erbarmen. Aber sie neigt sich einem Tempeldiener, und Homer bleibt nichts anderes übrig, als auch weiterhin die Ilias sowie die Odyssee zu verfassen. 14. Bild _3. Rhodos._ Enttäuscht verläßt Homer Asien. Auf Rhodos wird ihm anfangs guter Empfang bereitet. Aber dann wird er in die Königsburg geführt und, auf einen sanft verblödenden Greis deutend, versichert man ihm, dies sei der Heraklide Tlepolemos, den er in der Ilias von Sarpedons Hand habe fallen lassen. Hierauf erklärt ein Sohn des idiotischen Greises, ein Tlepolemiker, wütend, Homer habe einen Schlüsselroman geschrieben, und dem Dichter wird der fernerweitige Aufenthalt auf der Insel behördlich untersagt. 15. Bild _4. Chios._ Der gute Wein dieser Insel hebt wieder Homers Stimmung. Er singt seine Lieder vor sich hin. Da nähert sich dem Vertrauensseligen ein Jüngling phönikischen Aussehens: Phron. Bittet den Homer, ihm noch einiges vorzudeklamieren. Der Dichter tut es. Phron lobt ihn, bietet ihm an, selbst auch Homers Gesänge vorzutragen, und zwar allenthalben. Aber Homers Name sei noch jung und unbekannt, an Propaganda werde zwar alles Erdenkliche geschehen, doch dergleichen sei sehr kostspielig, kurz er nast ihm als »Entschädigung und Kostenbeitrag« den pramnischen Käse ab, den ein Bauer dem Dichter geschenkt, mäkelt dann noch an dem Käse und verschwindet auf Nimmerwiedersehen. Phron war -- der erste Verleger. 16. Bild _5. Skyros._ Die Skyrioten feiern die Hochzeit des Peliden Neoptolemos mit Helenas und Menelaus' Tochter Hermione. Der Sänger Achills wird vom nichtbesungenen trunkenen rauhen Pyrrhus mit Hunden fortgehetzt. 17. Bild _6. Salamis._ Homer kommt hier gerade zurecht, um einer zu Ehren des dicken Aias und des HEILIGEN Teukros abgehaltenen Prozession als Zuschauer beiwohnen zu können. Da der Kurzsichtige vor den Priestern die Perücke nicht abnimmt, wird er unter Pöbelgeheul von der Insel verjagt. 18. Bild _7. Athen._ Als Homer vom Prytaneion ausgespeist zu werden verlangt, beantragt Platon, der Sohn des Kassner, den Rhapsoden, da der in seinen übrigens hypermodernen Gesängen Athen zu wenig genannt und auch sonst zu sehr der Unzucht gefrönt, unsittliche Vereinigungen des Zeus mit der Hera, des Ares mit der Aphrodite geschildert habe, durch das Scherbengericht aus Athen zu verbannen. Geschieht. 19. Bild _8. Jos._ Halb erblindet und auf Vieren wankend, hier und da von mitleidigen Schiffern aufgenommen, irrt Homer von Stadt zu Stadt, von Insel zu Insel. Keine Bürgerschaft will ihn ernähren, er wird immer wieder als lästiger Ausländer abgeschoben, die Stadtväter jeglicher Gemeinde verwahren sich energisch dagegen, daß dieser schnorrende Krüppel ihrer Polis entsprossen sei. Am Strande von Jos ruht er endlich erschöpft aus. Fischerknaben, leere Netze auf den Schultern, steigen aus Booten und necken ihn. Geben ihm ein Rätsel auf: »Was wir gefangen haben, ließen wir zurück. Was wir nicht gefangen haben, tragen wir bei uns.« Homer sinnt verzweifelt, kann die Lösung nicht finden. Ein Phron ähnlicher Knabe: der Sohn des Phron, klärt ihn auf; da sie keine Fische zu fangen vermocht, hätten sie sich am Strande die Läuse gesucht, die gefangenen getötet, die nichtgefangenen unfreiwillig nach Hause mitgenommen . . . Die Lausbuben ziehen ab. Homer schüttelt klagend das Haupt; vor Gram, nun auch geistig gealtert über das einfache Rätsel der Jungen gestrauchelt zu sein, stürzt er sich von den Klippen ins Meer. 20. Bild Das arme Grab Homers auf Jos. Inschrift: »Hier deckt die Erde das heilige Haupt Homers, der in seinen Liedern die Helden sang.« 21. Bild Zeigt den Bauch des Regierungsrats Professor Methusalem Leichenstil, der, um schneller zu avancieren, sich allen bildlichen Schmuck des achilleischen Schilds auf den Bauch tätowieren ließ. 22. Bild Unterrichtsstunde bei Professor Leichenstil. Neben dem Katheder steht, Phron und dessen das Rätsel erklärendem Sohne sehr ähnlich sehend, der Primus Eugen Pelideles. Schnattert: Sieben Städte stritten um die Ehre, Homer geboren zu haben: »Smyrna, Rhodos, Kolophon, Salamis, Chios, Skyros, Athenai.« Meer wogt gegen das Kathederpodium, auf den Wellen daher treibt ein Leichnam: Homer. Wie der Tränen-Blick seiner toten Augen auf Pelideles fällt, beginnen seine Wunden zu bluten . . . und rauschend über alles und alle stürzt das Wasser der Zeit. Isfendiar Es wird berichtet, daß die Stimme sprach gegen Isfendiar Zualkarnain und ihm befahl, seine Lenden todwärts zu gürten. Und da er auf seinen Reisen alle Gegenden und Menschen genossen hatte, sagte er vor sich hin: »O blinder Sklave des Geschickes, wohlan, freue dich endlich, denn nun wirst du erfahren, was nach diesem kleinen Leben sein wird.« Also haderte er nicht mit jener Stimme letzten Befehls, sondern gebot Sklaven, ihm seine zwei Hörner wie für ein Fest zu putzen. Und nachdem er noch vorsichtshalber einen ganzen Wildesel verzehrt hatte, bestieg er ein Eilkamel, um nicht zu säumen und so zu beleidigen den Ruf des ehrwürdigen Todes. Aber seine Dichter, die Nachtigalleulen, begannen auf eine schöne Weise zu klagen und versuchten, sein gleichgültig schauendes Herz mit ihren gelinden Traurigkeiten zu erfüllen und den der neuen Sache Beflissenen wieder an die knappen Habseligkeiten des Lebens zu binden. Das Eilkamel jedoch in dreihöckeriger Weisheit erinnerte sich verzehrter Dattelkerne, und indem es den Dichtern warmen Mist des Lebens ließ für die rauhen Nächte der Zukunft, verschwand es mit dem König der Zeit im Walde. Er aber sprach zu seinem Bart: »Nicht begreife ich die sachte Trauer der Gefährten meines Atemholens. Wenn ich ihnen entgleite, so können sie mich doch zurückhalten in den Bogen und Windungen ihrer schlangengleichen Gedichte. Ich aber habe es schwerer als diese Gezähmten: ich muß etwas tun. Nun habe ich einen ganzen Wildesel gegessen, denn es ist nicht gut, dem Tod angstvoll und mit hungerndem Magen entgegenzutreten. Sollte er mir nicht gefallen, so kann ich, ein Herr, ihm wenigstens mancherlei ins Gesicht rülpsen, wie es sich gebührt. Doch noch sehe ich hier niemanden, der mich töten könnte.« Indem er also seinen Unwillen, auf den Tod warten zu müssen, ärgerlich kundgab, erschien auf dem Wege ein weiser Wildkater und klärte ihn auf: »Nicht dies ist der Weg zum Tode, o König Zweihorn; du könntest allerdings, wenn du schneller ans Ziel gelangen willst, gegen die Bäume reiten. Aber du reite lieber diese zwei Wälder hier seitwärts durch, und wenn du im Waldwinkel an der letzten Lichtung meine Frau siehst, so sag ihr, daß ich sie noch heute besuchen werde.« Da dankte der König dem liebenswürdigen Kater, und als er einen halben Kamelritt weiter wirklich die wildernde Katze erblickte, grüßte er sie höflich und richtete seine Botschaft aus. Dafür belehrte ihn die Wildkatze freundlich über die nahe Möglichkeit eines annehmbaren Todes -- nur eine Parasange weit! Und als er sich über diese Strecke hinweggesetzt hatte, traf er richtig dort einen Mann, an Stärke gleich einem ausgewachsenen Löwen. »Nächstens lasse mich nicht so lang warten,« brüllte der Mann. »Mein Name ist Rustan. Ich bin dein Vater. Und da ich dich ins Leben gesandt habe, schickt es sich auch, daß ich dich töte.« Begann auch sogleich dem unpünktlichen Sohn die Hörner aus dem Kopf zu drehen, und Isfendiar Zualkarnain ehrte den Vater, getreu dem Gesetz des Propheten. Er wagte es nicht, diesen Tod am Barte zu zupfen, noch auch ihm den vorbereiteten Esel ins Gesicht zu rülpsen. So benommen war er von den Schmerzen des Lebens. Knecht seines Schicksals Auch über Analama, der auf der Insel Quo-uk mit den Schwänen lebte, kam das mannbare Alter, er mußte den grauen Chroglu überschreiten und fiel in das verfluchte Königreich Uttarakuru. Wie das immer so ist, meldete sich die Königstochter unpäßlich, und ihm blieb nichts anderes übrig, als mit den Ungeheuern des Blutflusses Uhuru zu kämpfen. Sein Sinn aber stand nicht nach Streit, sondern nach den sanften Gelöstheiten des Daseins. Er sehnte sich nach intimen Wangen, Frauenhaar, Schenkeln von himmlischer Güte. Die Königstochter aber tat andauernd unpäßlich. Da blieb auch Analama der Ströme seines Blutes nicht länger Herr. Er fand, daß die Norne Langeweile die Zeit stickt, wollte die gefrorene Zeit töten -- und aß nur seine Uhr auf. Er wollte alle Weiber vernichten -- und riß nur etlichen Mädchen mit besonders aufreizenden Waden die Zöpfe aus. Die keusche Königstochter blieb andauernd unpäßlich. Analama drückte sich mit seinen eigenen Fingern famos die Augen aus, nichts mehr vom Sein zu sehen. Die Königstochter zertrat seine Augen und empfahl dies Püree ihren Katzen. Analama verließ sich. Die Königstochter brachte die gesetzlichen Thronerben: junge starke Hunde zur Welt. Traum des Achthundertachtundachtzigsten Nachtredakteurs Und Schahrazad bemerkte das Grauen des Tages und hielt inne in der verstatteten Rede. Doch als die achthundertundachtundachtzigste Nacht da war, fuhr sie also fort: »Ich vernahm, o glücklicher König, daß im Lande der besoffenen Ströme ausnahmsweise ein geiernasiger Jüngling lebte, der gern im Schlaf ertrank, und da er wenig arbeitete, Hunger trieb. Seine Sehnsucht und Begierde ging gleichwohl nach dem Faulen unerreichbarer Gewürze, und wegen dieser seiner dicken Gewohnheit nannten ihn die Ungläubigen Schinkenstern. Als er eines Tages seinen Magen nach den Marzipaninseln traumwandeln ließ, überfiel ihn ein Schnellzug und ließ nicht ab, ihn davonzutragen, bis alle Kohlen verdampft waren. »Dies ist nicht das Land des Safrans und der Wohlgerüche,« jammerte der Entführte, als er sich nach einem wahnwitzig schrillen Pfiff in einer robusten Halle ausgesetzt sah. Weil es notwendig war, brach er die Dämmerung seines Geistes ab und suchte nach einem Sofa, wo er sein Haupt niederlegen könne. Weiter strichen seine Pläne nicht, und indem er an einem Hotelportier vorbeiging, erreichte er es, mehrere Meldezettel ausfüllen zu dürfen. Nachdem er diese Dämonen besiegt hatte, warf er sich in den Schlaf, ob ihm vielleicht die Deutung der zu erwartenden Träume seine innersten Gedanken enthülle. Doch der Schlaf spie ihn rücksichtslos, traumlos wieder ins Leben aus, und als der Unglückliche zum abertausendsten Male kläglich im Raume erwachte, veranstaltete er einige Augenblicke der Besonnenheit. Aber ehe er etliche Vernünftigkeiten ausgeheckt hatte, verdrängte der Schrei nach einer Buttersemmel das Gekrächz seiner Seele. Als er dann, noch verdauungsmatt, seinen Kopf aufzusetzen versuchte, fand sich dieser nicht, und so beschloß er, seine Leiblichkeit vorläufig dem Hin und Her des Zufalls zu schenken. Keinesfalls war er jedoch geneigt, allzu hündische Arbeit zu tun, und wollte lieber den Verhandel mit der Erdenwelt abbrechen. Er begann also über die Oberfläche der fremden Straßen als ein gemäßigter und nicht ganz zielloser Spaziergänger hinzugleiten. Seine Augen grasten ruhig die Erscheinungen ab und fielen schließlich in die Blätter, aus denen zahlreiche Toren sich über den Gang der Gestirne zu unterrichten versuchten. Da schlug in ihn ein schnelles Erinnern, und seine futterwitternde Geiernase, die ihm aus einem Spiegel entgegengrinste, bestärkte ihn zu einer seellosen Zeit in gewissen Betrachtungen. Er besaß zwar keine Feder der Fülle, aber an Schalttagen drangen tollkluge Worte aus ihm. Wenn er auch bezweifelte, daß diese seltenen Schalttage je sein ganzes Jahr anstecken würden, war er sich doch einer bescheidenen Kenntnis einiger, aber bei weitem nicht aller Gesetze der Interpunktion bewußt, und verdammte sich kalten Herzens dazu, von seiner Durchschnittssprache zu leben. Dieszwecks legte er Zylinder an, und ehe er sich noch hatte warnen können, verscholl er in einem Verlagsgebäude. Er hätte besser getan, sich des Zephirs der Welt zu berauben. Denn als er vor den Journalisten der Zeit trat, zersetzte ihn der Druckgewaltige folgendermaßen: »Du gehörst zu den weltfremden Siriusochsen und bildest dir zwar nicht den Besitz des Stilmonopols ein, bist aber trotzdem stolz darauf, als erster den Ipunkt unter dem I befestigt zu haben. Ich kann jedoch nur eine rechtschreiberische Schreibmaschine brauchen.« Da ließ sich der Verräter Schinkenstern sterben, er antwortete: »O, König der Zeitung, ich höre und gehorche, Ich war ein Ifrit von den Marids der Dschann und bin bereit, den Eid auf das Zeilenhonorar abzulegen. Ich habe es eilig, ins Nichts zu hasten. Ich war mitunter die Zunge der Dinge. Werde ich es weniger sein, wenn ich mich zur Stimme des Rindviehs mache? Möge ich bald an einem Druckfehler sterben!« »Ich sehe, du gehörst zu den schwachen Zugtieren, die, statt ein Ende zu setzen, ihren unüberwindlichen Magen anklagen, o Halbdichter!« Es wird berichtet, daß der Geiernasige zunächst zum Besprechungsliteraten herabsank, einer jener vielen Kritikastraten und Verschnittenen wurde, die eifersüchtig den Harim des Ruhmes bewachen. Er ward eine kahle Negation, legte sein Gehirn bloß, exhibitionierte mit der raschwachsenden Glatze der Weisheit, aber seine Seele war im Übersatz. Er schrieb nur Kartoffeln, und die Worte der Dichter verdienten, mit Nadeln in die Spitzen seiner Augenwinkel geschrieben zu werden. Da bemerkte er endlich das Graue seines Tages und hielt inne in dem verstatteten Leben. Allah übersetze ihn nicht! Kimargouel Kimargouel, der berühmte, ja komponierte Verfasser des »Erysichthon« und der steilen »Agaoue«, war in seinen frühroten Tagen ein strebsamer Mensch. Autochthon, Ureinwohner, dem 23. Bezirke Wiens entsprungen, kaufte dieser Hellene als Obergymnasiast energisch ein Lotterielos. Während -- Ritualmord und Pogrom -- seine arisch-mosaischen Mitschüler erbarmungslos, reihenweise von Hannibal und dem schwitzenden Prosaiker Vergilius Tacitus hingeschlachtet wurden, bat er egoistisch, für einen Augenblick austreten zu dürfen, und begab sich auf die Weltreise. Mitnichten aus seiner nachmaligen, posthumen Produktion -- weder aus dem explosionistischen Gedichtband »Graue Spucke«, noch aus der apathischen Skizze »Vieldüstere Barke« -- ließe sich diese Tatsache entnehmen. Über die Pyramiden stolpernd oder hintanzend, des Aufenthalts im paßverpesteten Mangohain satt, kehrte er heim in eine jähweiße Villa am tollgrünen Meer »Breitensee«, das, den Herrn zu grüßen, schäumend über die Ufer trat. Einziges Denkmal seiner Fahrten und Fahrscheinhefte ist das einer bibliophilen Elite geweihte, bekanntlich in japanische Götterhaut gebundene »Tagebuch eines Faulenzers«. Wer je in diesen Annalen, in den schlohweißen, von solchem Unflat wie Druckerschwärze nirgends angekränkelten, leeren Großfolioseiten gelesen hat, weiß, daß dieser illuster schmale, ephebenschlanke Prachtband so was Profanes wie Aufzeichnungen selbstverständlich nicht enthält, da dergleichen, und ganz besonders ein Tagebuch, ja auch eines echten Faulenzers durchaus unwürdig wäre. Irgendwo in einer geheimnisschweren Ecke allerdings, sozusagen als Randleiste unter barocken Riesenlettern: den so wechselnden Titeln seiner Büchlein, ist in winzigen Buchstaben die schmerzsaure Weisheit dokumentarisch niedergelegt: »Meine Weltreise? Ich irrte im Irrfeld. Ich fiel von A nach B!« Aber das ist doch wohl mehr biographisches Kuriosum und keineswegs jene »-ische Reise«, die das deutsche Publikum seit Seume und Goethe mit Recht von seinen rüstigen Lebensverklärern fordern darf. Ich bitte Sie: ein Klassiker hat doch Verpflichtungen! Doktor Oranke natürlich, sein mitleiderregender Verleger, durch eine chimborassohohe Monatsrente an Kimargouels schriftstellerisches Schicksal befestigt, entatmend vor Schreck und Scheck über die sterile Produktivität, die von Kimargouel multimillionärisch-luxuriös projektierten Ipunktsammlungen dieses Liebling-Autors seiner früh verwitweten Freundin, verlor seine gütig philanthropische Gesinnung im Hasard an einen Restauflagenkäufer. Festgelegt nun durch den unseligen Alleinbesitz von Menschenhaßaktien, wollte Doktor Oranke der nebenbuhlerischen Liebhaber-Ausgabe, dem ansonst für letale Phthisis sich entscheidenden Kimargouel kein zweites Leben vorschießen. Kimargouel blieb nichts übrig, als sich in einem deutsch-österreichischen Prytaneum ausspeisen zu lassen und daran zu verhungern; er verhustete ratenweise, aber in sparsamen Dosen seine sanft eiternden Lungenflügel. Im Endtraum bat ihn keuchend ein herkulischer Dienstmann aus der Wurlitzergasse, der geile Riese Atlas, für einen Augenblick austreten zu dürfen und setzte ihm das Firmament ins Genick. Unter diesem massiven Zylinder währte die Todesangst und Agonie, das Aussterben Kimargouels vom 29. Februar bis zum 1. April -- wie jedermann aus dem ithyphallischen Wortnachlaß weiß, aus der soeben in mehreren Exemplaren erscheinenden Reim-echolalie »Rast unter der Himmelslast«. Den letztgenannten Tag verbrachte Kimargouel in hellsichtiger Anschauung seines Skeletts, die Knochen zählend. Sein Ultimo, sein sonderbarer Lebensabend, sein stilgemäßer Eingang ist wohl allen noch in schwermütiger Erinnerung. Wie der Gefeierte, plötzlich wie ein Expressionist, tatsächlich stockend, aber doch rhythmisch aus seiner trauerschwarzen Waldvilla kongenial hinanschritt und antikisierend, ovidische Metamorphose, sich scheinbar wandelnd überging und entschwand in eine von unbedruckt-schlohweißen Plakatüberklebseln bedeckte Litfaßsäule, die allsogleich ein mißfarbig schwarzer Aussatz umzog; enträtselt wurden nur Annoncen seiner Bücher und die in einer merkwürdigen Antiquafraktur abgesetzten mystischen Urworte »Enschedé en Zoonen«. Alte Geschichte Es war einmal ein junger Dichter namens Eduard, der lebte in einem Palast. Und in ihm war nichts als Sehnsucht. Seine Diener aber brachten ihm Schinkensemmeln mit Kaffee. Sehr traurig war der junge Dichter, und seine Sehnsucht ging von einem Zimmer in das andere. Herrliche Bilder konnte er sich vorgaukeln, und das junge Mädchen, das er liebte und haßte: Kunigunde! Doch wenn sein junger Leib, der sich sehnte, einen Schritt vorwärts tat, die geschaute Gestalt zu umarmen, schwand alles, und seine Lippen, die nach einem Kuß lechzten und glühten, sie sanken kümmerlich zusammen, und sein Kopf fiel schulterwärts . . . und er war wieder allein mit seinen Zimmern, Dienern und Schinkensemmeln. Da haderte der junge Dichter mit Gott und seinem Palast und weinte über sie die Tage und Nächte, daß sie ihm nicht geben wollten, wonach er flammte . . . und hätte am liebsten die Wände geküßt und die Bäume seines Gartens umarmt: so sehnte er sich. Und er vergoß sieben Tränenströme. Und wollte nichts essen und zerfleischte sich das Gesicht und die lieben Hände und raufte sein Haar und zerriß seine Gedichte und lag wie ein Toter da auf seinen Teppichen. Sandte der liebe Gott zu ihm in den Traum eine ausgezeichnete Fee, und die sprach: »Was gibst du deinem Körper Wunden und üble Farben? Sieh, sei wieder brav und gut -- Gott wird dein Haar streicheln, und dein Haupt soll liegen in dem Schoß deines jungen Mädchens.« Da sprach der junge Dichter: »Ich will ja gern wieder an den lieben Gott und meinen Palast glauben, aber warum ward ich so schwer geschlagen? Es ist ja wahr, ich habe vor sieben Jahren, zehn Monaten und drei Tagen beinahe eine Ameise zertreten!« Küßte die ausgezeichnete Fee dem jungen Dichter langen Schlaf an und tat von seinem Leib die Wunden und üblen Farben, nahm von seinen Händen die Betrübtheit . . . und als er erwachte, da taten sich alle seine Zimmer auf und strahlten, und sein Haupt lag gebettet in den Schoß des jungen Mädchens, und sie streichelte sein Haar und küßte ihn und klebte seine Gedichte wieder zusammen. Glaubt ihr das? Ich nämlich glaube es auch nicht! Sondern, als von dem jungen Dichter der Schlaf trat, da stand zu seinen Häupten ein Freund und wies ihm die Kritik, in der Eduard niederträchtiger Weise gelobt wurde, ein Briefträger feierte seinen Einzug mit einer Drucksorte, laut der sich Kunigunde mit Archangelus Lardschneider, jenem niederträchtigen Kritiker, verheiratet hatte, und eine jähe Drahtung zwang ihn, die Premiere seines letzten Stückes abzusitzen, des Schiffahrtsaktiendramas »Eduard und Kunigunde«, das ihm vom Lesen her übel bekannt war. Und zu Füßen seines Bettes stand ein Diener, in der Hand haltend eine Tasse Kaffee mit Senf. Erziehungsroman Ich bin einer Familie entsprossen. Meine Mutter war eine Geborene. Auch mein Vater war ein Mensch. Im übrigen habe ich diese Leute nie kennengelernt. Der liebe Gott hat es so gewollt. Den schäbig zurückhaltenden Seitenverwandten habe ich nichts zu verdanken gehabt. Sie wärmten sich reich am Ofen, ich stand draußen und erprobte die Wasserdichte meiner empfänglichen Waisenknabenstiefel. Ich zerstand vor den Auslagen und sehnte mich. Aber der Schaufensterdekorateur hatte die Dinge, seine göttliche Welt, nicht für mich arrangiert. Ich sehnte mich, auch einmal im Raseurladen auf einem schwarzen Lederpolster zu sitzen und eingeseift zu werden. Hierauf hätte ich gern den erträumten Zylinder ergriffen und mich elegant und Trinkgelder verspendend entfernt. Mir blühte eine andere Wirklichkeit: ich konnte nur Motschker rauchen, die Zigarrenstummel, denen die Bürger das Beste entsogen hatten. In den Volkskonditoreien saßen die Götter und aßen Buchteln, gefüllt mit Powidl, schwarzfunkelndem Powidl. Ambrosia nennen ihn die Alten. Nie befriedigt schlich ich um die glühen Blechofen der Maronibrater, aber Kastanien, Bratäpfel und die weiß klaffenden Kartoffeln galten nicht mir, ihr Erwerb war an den Besitz von Münzen geknüpft, mit denen der Waisenvater mich nie versah. Wenn eine Herde von uns, bleichbackig, uniform vom grau in grau des Nebels gekleidet, unmunter die Vorortsstraßen durchstrich, fühlbar rottete sich das Mitleid in vorübergehenden Eltern zusammen und ballte sich zu Prügeln an die eigenen Kinder: »Sei folgsam und brav, Werner, sonst stirbt auch dir dein Vatti beziehungsweise Mutti.« Ich mag mich an die kargen Tage der Kindheit und geschändeten Jugend nicht erinnern. Stadt und Staat hatten wenig für uns übrig. Die Fußbälle waren schlecht, die Wochenkleider verschlissen, die Feste verregnet, man durfte nicht einmal onanieren: »Hände auf die Decke!« Gott strafte die Sünden des Katecheten Masturbal an seinen Kindern. Nie durfte ich von den Bergen in den Himmel springen. Wir waren durch einer Anstalt Gitter getrennt von der wilden Welt. Alle grünen Ströme rannen uns gelb und schmutzig in ein trübes Meer. Wann tauchte das erste Segel auf, hoffnungsrot und tollkühn? Es war ein Papiersegel. Robinson wurde neugeboren in mir mit dem Entschluß, über den städtischen Fluß zu schwimmen. Und im Gewimmel der blauen Auen und Adern eine selige, selig lehrerlose Insel zu finden. Aber statt des Eilands ward mir nur Influenza, Strafe und die späte Erkenntnis, daß die Städte, in denen ich geboren zu werden pflege, von Kanälen triefen. Die stolzen Ströme weichen ihnen aus. Meine Finger mußten mein Abenteuer nachfühlen: vom Rohrstock brennende Finger. Nun wollte ich mich rächen und justament ein großer Mann werden. Obwohl das zeitraubend ist, es gewiß viel praktischer wäre, sich sofort in ein Monument zu verwandeln. Die Lehrer hemmen einen aber auch immer, wenn man gerade ein großer Mann werden will. Sofort wird man während einer Schularbeit beim Schwindeln entdeckt oder beim Karl-May-Lesen -- unter der Bank -- vom Indianergeheul des Professors überfallen. Dies verlorene Schuljahr und eine spröd-unglückliche Jugendliebe treibt fieberhaft in den Selbstmord. Aber wenn man sich dann endlich keusch und jäh umgebracht hat, scheint die Existenz viel heiterer und liebenswürdiger. Man liegt entleibt da in seiner oder des Staates grau in grauer Waisenknabenuniform, Opfer der Zeit, ein Kranz ziert den sorgenvollen Sarg und ein weinendes Schnupftuch zerknüllt sich der Wäscheleine entgegen. Der Totengräber spuckt siegreich in die Hände, wenn er nicht Fäustlinge trägt, und die Bahre läuft davon vor dem Erdgeruch. Der Selbstmörder hintersinnt sich nachdenklich: soll er nicht Universitätsjahre riskieren und Syphilisangst und noch einen Selbstmord? Attentat Ich schritt gegen das Parlament hin. Schon schrien Menschen, die überhaupt nichts sehen konnten, »Hoch Lueger!« oder »Hurrah!«. Die meisten brüllten mechanisch mit, nur ein ehemaliger Fußballspieler leistete sich die Nuance: »Hip-Hip-Hurra!« Der greise Monarch, rechts und links unaufhörlich grüßend, fuhr trotz der herrschenden kühlen Brise im offenen Wagen. Kodaks hielten den unvergeßlichen Anblick fest: das Gefährt, in dem der Kral von Danubien neben unserem glorreichen Verbündeten, dem Affenkönig Hanuman, saß. Die schwerbehaarte Rechte des Gastes, der keine Handschuhe nötig hatte, salutierend an den Tschako gelegt, ließ auf eine zottige Brust schließen, im Flug hatte er sich die Herzen der Wienerinnen erobert, im Flug mich davon überzeugt, daß mein alter Lieblingsausdruck für Husarenjacken und Offiziersblusen: »Affenjanker«, sehr prägnant, zutreffend, hier jedenfalls der einzig richtige war. Wieso ich den nächsten Augenblick überleben konnte, weiß ich nicht. Mein Herz zerklopfte mich. Als Hanuman das tief symbolisch und mit Recht vor dem Parlament verharrende Standbild der Hauseule und Landespatronin Oesterreichs: der Pallawatsch-Athene passierte, hob die Göttin zum Zeichen des Grußes ihre Lanze. Dem Affengott zu Ehren? Oder war dies eine vaterländische Verherrlichung des illustren Gastes? Undurchsichtige Machinationen! Ein Schrei! Auf, unter den Wagen der Majestäten stürzte sich eine Uniform, der Charge nach ein Feldmarschallwebel. Oder war es ein Generalunterst? Die roten Generalsstreifen der Exzellenz lagen blutbereit am Boden unter den im jähsten Augenblick noch zurückgerissenen Rossen. Der Wackere, Tapfere hatte sich unter die Hofequipage geworfen, auf daß Hanuman sähe, wie sehr sich auch in Europa Getreue zu opfern wissen. Ich dachte: Jaggernaut in Wien. Seltene Geste. Rührend. Während ein paar Germanoslowaken dem einem schweren Orden nicht entgehenden Veteranen emporhalfen, zerbrach sich schon das auf eine Extraausgabe gefaßte Publikum den Kopf mit Vermutungen, welcher der Paladine des Donaulandes so beherzt gewesen. G. d. J. Hawlatatsch von Hatschentreu? Strzoch von Aarenbrei? Baron Zsiga Márczibànyi? Elemer Saprdek von Eichenleu? Marschall Rückwärts? Man wußte es nicht. Als sich der Hofwagen mit den Fürstlichkeiten und deren auf eine so harte Probe gestellten Nerven wieder in Bewegung setzen wollte -- neuer Zwischenfall. Plötzlich sauste nihilistisch ein rundlicher, schwarzgrüner Gegenstand von der Größe eines Maschanzkerapfels in die Hofequipage, auf den Affenkönig zu. Der Kral von Danubien hatte nur eine kleine Handbewegung, nicht der Furcht, sondern der Entrüstung; aber der kleine Knabe mit der Glaskugel weit draußen in Lerchenfeld, im Verlieren begriffen die Regeln des Marmorkugerlspieles ändernd, er rief vernehmlich: »Gitsch bum gilt nicht!« Hanuman jedoch betrachtete lächelnd die ihm in den Schoß gefallene kandierte Walnuß -- denn so brav entpuppte sich der geschleuderte Gegenstand. Durch die Triumphpforte gings in die Hofburg. Ob hierauf Hanuman dort blieb und der danubische Kral nach Schönbrunn fuhr oder umgekehrt der Hanuman dem Affenhaus einen Besuch machte, frage man die Pallawatsch-Athene. Fluch In einer verlorenen Handschrift, an hundert Jahre vergilbter als die Stormschen, habe ich folgende wahre Geschichte gefunden, welche uneben und ruppig erzählt zu haben meine einzige Hoffnung ist, wenn nicht der Trost meines Greisenalters. Es war einmal eine Königstochter, Jezaide geheißen, aus dem uralten Geschlecht der Sirvermor. Über ihre Familie war, wie sonst nur in Märchen Brauch, ein enormer Fluch verhängt. O geiziger König Zizipê der Siebenundsiebenzigste, warum hast du, als einst zur Taufe deines Erstgeborenen dreizehn glückwünschende Zauberer erschienen waren und der Hofjuwelier, eingedenk trauriger Erfahrungen und Abzüge, erklärte, die goldenen Stiefelzieher nur mehr dutzendweise abgeben zu können, warum hast du damals die verhängnisvollen Worte gesprochen: »Ach was, der eine wird sich halt so gefretten!« Ja, er begnügte sich diesmal mit einem Silber-Stiefelknecht, der Groß-Magier Anateiresiotidas, ingrimmig zwar und so gewaltige Sprüche in seinen Bart brummend, daß der vor Schreck jeden Moment Farbe wechselte. Mit einem violetten Bart erschien er bei der königlichen Tarockpartie, zu der er geladen war, und alle anderen Zauberer wußten, wieviel es geschlagen hatte. Nur der König bemerkte die Anzeichen fürchterlich aufziehenden Gewitters nicht, derart war er mit der Mondjagd beschäftigt. Bot dem Magier in der Hitze des Gefechts weder die Teilnahme noch einen Stuhl an, vielleicht um sich durch solche Höflichkeit nicht noch einen Hexenmeister zum Feinde zu machen. Und so mußte Anateiresiotidas kiebitzen, stehend kiebitzen. Auch dies hätte der Zauberer vielleicht noch ruhig hingenommen, aber ihm offerierte Zigarren trugen zwar die Leibbinden importiertester Havanna, waren jedoch mörderische Schusterkuba. Diesmal hatte wiederum Hoftrafikant Motschker die Upman nicht in minimalen Quantitäten zum Engrospreis liefern wollen und der königliche Geizhals daraus alberne Konsequenzen gezogen. Nur daß ein anständiger Hexenmeister in punkto Zigarren keinen Spaß versteht. Mit einem Griff hatte der Beleidigte seine Sprechwerkzeuge auf den Tisch gelegt und sich entfernt. Kein besserer Zauberer hat so viel Zeit und Geduld, seine eigenen Reden anzuhören. Und jetzt kam der Fluch: »Von nun an werden alle Kinder aus dem Hause Sirvermor, je nach dem Geschlecht, mit dem Ding oder Wesen, das ihrem Vater oder ihrer Mutter am liebsten ist, zur Welt kommen. Bis einst ein Jurist erscheint, dessen Namen dieselben Buchstaben wie >Sirvermor< besitzt, und nicht genug daran: ohne das geringste Plagiat ein Buch über Rechtsphilosophie schreibt!« »Wer gibt?« fragte guter Laune der König, dessen geheimen Gram es längst gebildet hatte, daß justament auf seinem Stamm kein vornehmer Erbfluch lag. Und ehe noch die Sprechwerkzeuge des Anateiresiotidas aus dem Spielzimmer ihrem Inhaber nachgeflogen waren, gab es bereits einen Solovalatpagatultimo, wie er in solcher Schönheit ohnstreitig noch nie dagewesen. Das aber hatten die anderen Zauberer getan, um den König zu trösten. Denn eines Trostes bedurfte Haus Sirvermor. Da doch gemeinhin die Männer sich und die Frauen am liebsten haben und umgekehrt -- wenn wenigstens, jenem Fluche nach, Gebärmänner: Hermaphroditen zur Welt gekommen wären! Die Dynastie hätte zwar zum längsten bestanden, aber Skandal, durch Jahrhunderte fortgesetzter Skandal, wäre vermieden worden. Nein, deutlich getrennt von dem jeweiligen Kinde: für sich bestehend, stieg das dem Vater oder der Mutter geliebteste Ding oder Wesen ans Tageslicht. Wo soll ich anfangen, wo soll ich enden! Mit dir, Dolgoruki, dem sein Weib außer einem Nachfolger eine ewig volle Kognakflasche gebar? Solches wäre lustig anzuhören, aber wem geraten nicht unwillkürlich die Tränen in die Augen, wenn er von dir vernimmt, Seeheld Aquavit? Wohl wurde dir deinem Wunsch gemäß ein Überdreadnought geschenkt, aber starb nicht dein Weib daran, ohne daß ein anderes sich hätte finden lassen, todesverachtend genug, bald oder später ein ähnliches Ende nehmen zu wollen? Starbst nicht bald hernach du selbst räudig an den Leibschneiden und Weltschmerzen der Langenweile, bloß weil keiner deiner ungeschickten Ingenieure imstande war, Weibautomaten zu fabrizieren?! Allerdings gelang bald nachher deinem Leiberfinder Heureka die Herstellung jenes Instruments, dem wir alle unser Leben verdanken, die Herstellung des Fernzeugers. Doch waren damit die Leiden dieser Tantaliden abgeschlossen? Panjimama, unter dessen glorreicher Regierung Apabauru und Tenteriki an Sirvermor kamen, geriet eben wegen dieser für den Ackerbau seines Landes äußerst wichtigen Guanoplätze in Streit mit dem Oberkaiser Adikran von Alazir und den Zentralkönigen von Lygien. Als gar zu dieser an sich übermächtigen Liga Araumenes der Große von Paphlagonien seine sieggewohnten Truppen stoßen ließ und die Kunde schrecklicher Gefahren in Sirvermor sich wie Posaunenschall und Tubaklang ergoß, was konnte da der verzweifelte Landesvater anderes tun, als sein Weib eines mit den erforderlichen Kanonen und Vorräten ausgerüsteten Heeres von soviel Millionen Mann genesen zu lassen, daß sogar Rabelais darüber sein weises Haupt schüttelte und den heiratsfähigen Königstöchtern der Erde den Rat gab, bevor sie sich mit Prinzen von Sirvermor in Verbindungen einließen, den Herren einen Eid abzunehmen, laut dem diese in Zukunft von derart gattinnenmörderischen Liebhabereien abzusehen hätten. Und als einem Herrscher, der, wie es scheint, sich selbst am meisten liebte, die Gemahlin einen Doppelgänger getragen hatte, worauf bemeldeter Monarch elendiglich in Wahnsinn verfiel, unwissend, wen er am meisten liebe, und welcher der beiden eigentlich er sei, ein andermal ein in sich verzücktes Liebespaar ein Doppelgänger-Liebespaar hervorrief, was unendlichen Jammer und blutige Bürgerkriege erregte -- da, von Grauen überwältigt, bildeten die Fürstinnen den ihnen anempfohlenen Trust. Das wird ihnen niemand verargen! Man rufe sich's ins Gedächtnis zurück, daß neben dem jeweils Regierenden in Sirvermor noch eine Menge Prinzen existiert! Und wie rasch zarte Prinzessinnen müde werden, Ballettratten, Vollblutrennpferde, Küchenchefs, Äbtissinnen und Jagdhunde in die Welt zu setzen, das läßt sich denken. Waren nun zwar die Prinzessinnen vor einem durch die Neigungen ihrer Gesponsen bewirkten frühen Tode sicher, so hatten nach dem Vertrag ihre Gebieter den Leidenskelch bis zur Neige zu leeren. Wenn dies nicht früher der Fall gewesen war, lag das daran: die Gemahlinnen derer von Sirvermor blieben den Männern merkwürdigerweise immer genau eine Sothisperiode lang treu, dann waren sie wieder untreu. Und der gesetzmäßige Umschwung trat zufällig erst jetzt ein, womit das von einem hochweisen und vorsichtigen Rat erlassene Verbot, betreffend Ehen zwischen den Operntänzerinnen männlicherseits und etwa zu erwartenden Stierkämpfern weiblicherseits: dieses sogleich nach dem Fluch angeschlagene Verbot fand dergestalt niemals Gelegenheit, in Kraft und Wirkung zu treten. Vorerst machte sich keine Veränderung bemerkbar. Auf dem Throne saß gerade Frau Ordilschnut -- die Urgroßmutter Jezaidens und Schwester der berühmteren Ordilgund von Undulur -- ein Mägdlein annoch, so unschuldig, daß sie außer einem Töchterlein namens Bamalip nur einer Puppe das Leben schenkte, worüber sich der ganze Hof vor Lachen fast ausschütten wollte. Das zweitemal -- ich will nicht lügen -- kam sie mit einem Mops und Zwillingen nieder, die jenem Töchterchen Bamalip aus der Maßen ähnlich sahen. Man nannte sie daher Barbara und Fresapo, und alle drei spielten, wie man weiß, in der sirvermorschen Geschichte nachmalen eine außerordentliche Rolle. Ihr Gatte war ein in der Räucherkammer der Zeit früh grau und faltig gewordener Herr in den kalten Vierzigern, den sie nicht lieben konnte, und doch durchaus und eigensinnig noch selbst etwas für die Thronfolge tun wollte. Als er die junge Königin in Armen hielt, klammerte sich die Bedauernswerte, schaudernd wie vor dem Tod, in der Angst an das wenige Liebe, das sie besaß, an ihr Töchterchen Bamalip und etwa noch an einen kleinen Mops, der sie in ihrer Einsamkeit zerstreut hatte. Als Aspramont die Zeichen der Kälte seiner Lebensgefährtin sah, die Kinder, deren Mutter sozusagen auch Bamalip war, schlug er ob dieser Blutschande die Hände über dem Kopf zusammen, ja, er hätte Ordilschnut verstoßen, wenn nicht letzte Überlegung für sie gesprochen hätte, die doch noch ein Kind war. Und so zog er denn in den Krieg wider die Orilanen, Menschen, denen der Bart auf der Nase entkeimt, und die sehr sonderbare Speisegesetze haben -- gebratene Eidechsen essen sie unter keinen Umständen, Sauerkraut mit Leberwurst hingegen ist ihnen erwünscht. Nach der über diese Leute verhängten Züchtigung, auf dem Rückwege geriet Aspramont -- wenn die sirvermorschen Annalen nicht trügen -- mit den Sultanen von Marabu und Talili in einen Kampf um die Weltherrschaft, und die Heimkehr verzögerte sich dadurch. Inmitten des gewaltigen Schlachtenlärmes hatte man es wenig beachtet, daß die Königin glücklich von einem Eunuchen entbunden wurde. Dies hätte eine Warnung sein sollen, war es aber nicht. Ordilschnut ergab sich einem ungezügelten Lebenswandel: eine Liebelei mit dem Prinzen Karfiol von der Mondscheinküste blieb nicht die einzige, die Leute vom Hofstaat wagten keine Vorstellungen, die Königin als die Höherstehende betrachtend, weil nicht sie durch einen Eid zur Entsagung verurteilt war, sondern der Gatte. Die kurze Pause eines mittlerweile eingetretenen Waffenstillstandes benützend, um an das abermalige erfreuliche Wochenbett der geliebten Gemahlin zu eilen, welche Überraschungen wurden da dem guten, alten Aspramont zuteil! Reitknechte, Tenore, Schwergewichtsathleten, Chauffeure, französische Sprachlehrer! Und so oft der besorgte Gatte: »Halt ein« oder strenger: »Jetzt aber Schluß« rufen wollte, kam noch irgendein Kaminfeger, Leutnant, Fleischhacker oder Kammerdiener zum Vorschein, bis Aspramont die Hand, die schwertesschwere, wider die Pflichtvergessene erhob und zustieß. Fiel aber dann selbst im Duell mit dem Leutnant. Es wird niemanden wundernehmen, wenn, durch so entsetzliche Ereignisse im höchsten Grade beunruhigt, geradezu außer Atem infolge wiederholt eintretender ähnlicher Vorfälle, die nicht immer so drastisch waren, weil sie meist auf die Hervorbringung eines einzelnen Jünglings beschränkt blieben, doch keinerdings ohne einige Mitwirkung höchstgeborener Prinzessinnen vonstatten gingen, ich sage, es wird niemandem ein Wunder nehmen, wenn eine löbliche Priesterschaft von Sirvermor sich da ins Mittel zu legen beschloß. Waren doch an diesen Begebenheiten Weltgesetze zuschanden geworden, vor allem jenes eine, gefaßt in das weiseste Wahrwort, das je über die Lippen eines Lateiners kam: Pater semper incertus. Außerdem waren die Privilegien der Gottesdiener durch Attachés und Ausländer lädiert worden, deren, mangels Einheimischer, Ordilschnut sich zur Befriedigung ihrer Lüste bedient hatte. Sirvermor nämlich gehört zu den Ländern, wo, den Satzungen der Religion entsprechend -- Prinzen des Königs-Hauses ausgenommen -- die Epheben sich kastrieren und die Fortpflanzung auf eine wunderbare Weise durch die Priester der Göttin Kibla bewerkstelligt wird. Begünstigt ward das Vorhaben der Geschädigten, in ihren heiligsten Rechten Geschädigten, durch die übereinstimmenden Erklärungen der Mohnkipfelbeschwörer. Es nahe die Zeit, da das allerhöchste Herrscherhaus von dem Fluch befreit sein werde -- dies gaben sie vor, in den Sternen und Wurstabschnitzeln gelesen zu haben. Wie jedoch den Prinzessinnen kälteres Blut beibringen, ein Gefühlsniveau, das den ans beste Mannsfutter gewöhnten Damen sogar Juristen annehmbar erscheinen ließ? Auf die erste Nachricht von so entsetzlicher Zumutung ging wie ein verhaltener Wutschrei ein gewaltiges Rauschen des Zornes durch die Kleider der Betroffenen, ja, sie hätten mit einem Fächerschlag der Entrüstung ihre Zimmer verlassen, wenn nur jemand darinnen gewesen wäre. Ihnen Juristen antragen, Leute, deren kühn in die Brillen geschwungene Schnurrbärte keineswegs für ihre vernehmlichen Glatzen entschädigen konnten, helltönende Glatzen, die sich nicht einmal durch das berühmte Haarwuchsmittel »Kapitol« aufforsten ließen! Alles bäumte sich in ihnen. Juristen! Welcher feinere Prinz studiert Jus, und wenn, wo steht es geschrieben, daß so ein Ausnahmeprinz eines ohne Plagiat durchgeführten rechtsphilosophischen Aufsatzes fähig ist? Juristen heiraten! Menschen, die um der schnöden Leibesnotdurft willen äonenlang Schweißgeruch sammeln, denen man's ewig anriecht, daß sie einst oft ein Paar Frankfurter mit Krenn als ein opulentes Mittagmahl gelten ließen . . . Die Prinzessinnen fielen in Ohnmacht. Jede in ihrem Zimmer. Als sie wieder zu sich kamen, war ihr Wille gebrochen . . . Zehn Roßhähne wurden den Göttern der Unterwelt geopfert, dann faßte der Erz-Augur den Beschluß, die Liebesneigungen der weiblichen Angehörigen des Königshauses durch Hypnose abzutöten. Und so geschah es, nachdem erst das Zustimmungstelegramm vom Delphischen Orakel eingetroffen war. Wohl gab es noch geraume Zeit harmlose Rückfälle, den Schwimmhäuten mancher Menschen vergleichbare atavistische Hervorbringungen von unschuldigem Spielzeug verschollener Generationen, als: Tennisrackets, Diabolos, Trompeten, Automobilbrillen. Doch schwanden diese Rückbildungen mit den Jahren, und jeder Wackere hätte Gift darauf nehmen können, daß die Prinzessinnen dieser Familie ebensowenig Liebe oder tiefere Neigungen empfanden wie die irgendeines anderen Hauses. Alle Welt schickte nun die Kinder ins Gymnasium. Denn war früher eine Königstochter vom Drachen zu befreien, Tapferkeit und weitvorblickende Klugheit, ein andermal für derartige Erwerbung rätsellösend-einfältige Schlauheit vonnöten gewesen, dem an unsere Epoche heranreichenden aufgeklärten Zeitalter war es entschieden gemäßer, die Hand einer Fürstin an die durch den Besitz eines eigentümlichen Namens verschärfte Abfassung rechtsphilosophischen Essays zu knüpfen. Welch ein Wetteifer unter den Juristen sowohl des Königreiches Sirvermor als auch der anderen Länder! Sogar der arme Herrscher von Suminoye, dem sein Herzogtum abgebrannt war, ließ seine Söhne Jus studieren, bis sie schwarz wurden. Bald jedoch schwoll der Fleiß ab: die Ämter hatten alle Bittschriften um Namensänderung abschlägig beschieden und auch die mannigfaltigen Versuche, durch Beifügung des mütterlichen Namens oder durch Adoption zum Ziel zu gelangen, sie waren, nachdem eine Saison lang Leute namens Sir oder Sirver hoch im Preise gestanden, durch Edikte vereitelt worden, deren genauen Wortlaut jedermann kennenlernen kann, wofern er sich nur in einer Bibliothek die betreffenden Nummern des sirvermorizer Amtsblattes verschafft. Nicht ein Weichherziger wie ich, ein anderer möge den Jammer der enttäuschten Eltern beschreiben, die vergebens ihre Sprossen auf die Prinzessin hatten studieren lassen. Was mich anbelangt, so muß ich hier innehalten und einige ihrem gerechten Kummer geweihte Zähren weinen . . . Andererseits gingen entartete Untertanen in ihrem Groll zu weit, sie waren es, die zuerst Realschulen erfanden und gründeten, um möglichst viele Jünglinge der dynastie-erlösenden Beschäftigung mit den Rechtswissenschaften abspenstig zu machen. So groß ist die Schlechtigkeit der Menschen! Von da ab redete man nur wenig von unserer Angelegenheit; Artikel höchstens in den Familienblättern, königstreuer Mathematiker Berechnungen über die Wahrscheinlichkeit einer völligen Aufhebung des Fluches, erinnerten die Bürger ab und zu an jene unliebsamen Ereignisse. Und damit wären wir bis zu jener Zeit emporgeschritten, in der die eigentliche »Geschichte« sich abspielt. Erbprinzessin Jezaide Sirvermor lustwandelt im königlichen Garten. Ist doch der Frühling angekommen, auf seinen Schultern und Flügeln die Scharen der Singvögel tragend. Ja, sie singen im königlichen Garten, die gewaltigen Nachtigallen, das heißt: mit allerhöchster Erlaubnis und soweit sie keinen Schnupfen haben. Aber nicht der Nachtigallen Gesange oder Nichtgesange lauscht ihre königliche Hoheit, Falte auf Falte schneidet sich in ihre Alabasterstirn, siehe: wie im tiefen Sinnen hebt sie eine Hand empor, mit dem Rücken nach oben, und spricht zu ihrer Obersthofmeisterin: »Mir scheint, es will regnen.« Und in der Haltung wollen wir sie verlassen. Um diese Zeit lebte in der Stadt Vienna ein edler Jüngling namens Srimoverr, Baron Aeneas Srimoverr. Er brachte die üblichen Jahre in einem geistlichen Gymnasium zu und widmete sie, wie billig, einem zwiefachen Studium. Auf der Bank lagen, vor seiner Nase ausgebreitet, lateinische Klassiker, unter dem Pult aber entzückte seine Sinne die Lektüre klassischer Franzosen. Nachdem er seinen ebenso verschiedenartigen als eindringlichen Studien durch das protegierende Auftreten noch einiger Freiherren namens Srimoverr und eine sogenannte Schlußprüfung Grenzen gezogen hatte, beehrte er die juristische Fakultät mit seinem Besuch. Nicht so sehr, weil ihn die Süßigkeit der Wissenschaft anzog: nein, eine bildgeschmückte Heiratsannonce Jezaidens hatte ihn mit den Bedingungen vertraut gemacht, unter denen ein Königtum von den Dimensionen des Reiches Sirvermor zu erringen war. Und seine Liebe erlahmte nicht angesichts der Schrecklichkeit seiner Aufgabe. Zwar: es ist richtig, wenn der berühmte lygische Geschichtsschreiber Moses Maria Archivstaub behauptet, Aeneas habe sich selbst hinlänglich für seinen bewundernswürdigen Fleiß belohnt. Er benützte nämlich nicht nur die reichhaltige Bibliothek seines Oheims, des Privatdozenten für Rechtsphilosophie, Bartholomäus Srimoverr, sondern auch dessen Gemahlin teilte von jeher mit demselben Eifer das Lager des jugendlichen Neffen, wie jene Annehmlichkeiten, die Stellung und Güter des gelehrten Gatten mit sich brachten. Dieser Umstand aber sollte Aeneens Verhängnis werden. Der Tag, da er mit dem vollendeten Werke sich zu seiner Tante begab, Abschied von ihr zu nehmen, der Tag ward sein Todestag. Tief, tief waren die beiden versunken, er in das Vorlesen seiner Schrift, sie in ein enthusiastisches Lauschen, und die Doppelschritte des nahenden Gatten wurden erst gehört, als es zu spät war. Kein zweckdienlicher Kasten im Zimmer, und schon schwang sich Aeneas, das kostbare Pergament in der Hand haltend, statt den Ehemann so ins Jenseits zu stürzen, in unbegreiflicher Verwechslung selbst auf das Fensterbrett und sprang zum letztenmal hinab in den Teich, dessen Wellen auch vor ihm bereits manchen Überraschten geborgen haben mochten. Ach, diesmal dürften die Mühen der Lektüre zu gewaltig gewesen sein. Des kühnen Tauchers Herz brach. Wild aufrauschten die Wasser, und indem er den Zwicker aufsetzte, sprach der Privatdozent die geflügelten Worte: »Traun! ich habe doch diesem Fischhändler gesagt, ich will nur echt Ibsensche Karauschen. Und was hat der geschickt? Sind das Ibsensche Karauschen? Mutwillige Fische, die sich hoch über Wasser schnellen. Die müssen von ganz wem andern sein! Was meinst du dazu, Rosa? Diesen Fall muß ich untersuchen. Magst mich begleiten?« Sprach's und befestigte an der Angel eine künstliche Fliege. Ich würde gewiß nichts von dem Froschkönig erzählen, wenn es nicht für den Gang dieser Geschichte so unumgänglich nötig wäre. Er saß ganz harmlos im Teich unter seinem Sonnenschirm -- denn gerade, daß die Frösche keinen solchen brauchen, ist das Noble daran, und darum hatte der Froschkönig einen und memorierte unter ihm skandierend seine langweilige Thronrede: »Wir Quakorax, König der Frösche, Blattläuse, Malariamücken und so weiter, kraft uralt angestammtem Recht beriefen höchstwir alle Vasallen, die, sei es zu Lande, sei's zu Wasser, unser sind, auf diesen hohen Reichstag. Hört, hört! wir selbst und Ihre Majestät, die Königin Guaplasa, um sämtlichen Untertanen kund zu tun, wie sie zu Ehren wir gedenken, keinem unsrer Völker nah zu treten, keinem unsrer Achtung mehr noch minder zu erweisen als dem andern: ja! auf einem halbüberschwemmten Hügel, mit einem trocknen, einem nassen Fuße, staatsrechtlich, nicht bloß sozusagen! über dem Berg im übrigen auf astbefestigetem Schaukelthrone uns bewegend« -- hier blieb der arme Quakorax, vielleicht schon zum zehntenmal, über die jämmerlichen Versfüße stolpernd, stecken, diesmal, weil der Tote zu ihm glitt. Quakorax dankte den Göttern, daß sie ihm, falls als er bei der Thronrede wirklich ins Stottern geraten sollte, eine solche Entschuldigung vor Guaplasa darboten. Kein Zweifel: der junge Mann, gewiß ein Kollega, hatte den unerträglichen Leiden, die auch ihm Thronreden verursachten, durch Selbstmord ein Ende bereitet. Kaum daß Quakorax sich und den Ärmsten schicklich beweint hatte, machte er sich an den Genuß der vermeintlichen Thronrede, die dem Toten aus der klammen Hand zu winden, ihm vermittels eines Zaubers gelungen war, der so gewaltig ist, daß ich ihn hier nicht näher schildern kann. Durch seine Lektüre an den Rand der Verblödung gebracht, griff er, mit seinem Lose zufriedener, nach dem eigenen Manuskript. Da trieb vor seinen Augen eine verlockende Fliege auf und nieder. Nach hartem Kampf mit der Pflicht beschloß er in seinem Herzen, die Fliege nicht zu verschmähen, schon um nicht die Götter zu beleidigen, die ihm den leckeren Bissen wohl zur Belohnung seines ausdauernden Fleißes gesendet hatten. Es empfiehlt sich, den Geboten der Unsterblichen mit beschleunigter Geschwindigkeit zu gehorchen, und so schoß denn auch der gute, fromme Quakorax alsogleich, ohne etwas loszulassen, auf sein Opfer zu, verfing sich, ward ans Ufer geworfen und hauchte zappelnd seine Seele aus, welche geziemend zum Hades enteilte. »Froschschenkel sind auch gut,« meinte Bartholomäus, »die den Göttern gebührenden Eingeweide misse ich mit Vergnügen.« Dann bemerkte er, was er sonst erbeutet hatte, löste unverzüglich ein Billett nach Sirvermor und ein zweites, eine Umsteigkarte in die Zukunft. Denn in dieser geht der folgende Teil unserer Erzählung vor sich. Während der Fahrt, indem sowohl der Privatdozent in ihm eine Beschäftigung verlangte, als auch die Sorgen des seligen Quakorax merkwürdigerweise auf ihn übergingen, begann Bartholomäus, die Thronrede auswendig zu lernen, und selbst als er der hold errötenden Jezaide den -- wenn auch unzureichenden -- Sonnenschirm des Froschkönigs anbot, rezitierte der Zerstreute noch immer sein »Wir Quakorax, König der Frösche . . .« Diese Phrasen, für unverfälschte Wahrheit genommen, verfehlten nicht, einen guten Eindruck zu machen, zudem: daß Srimoverr die Erbin des Reiches so ziemlich vor den Unbilden der Witterung geschützt hatte, erschien den Priestern, die pflichtigst darüber die Lage der Sterne und Butterbrotpapiere beobachtet hatten, ein dem Lande heilweissagendes Omen und Symbol. Und dies ist in unserer Geschichte, glaube ich, das einzig Unglaubliche, das man nicht glauben kann: eine alsbald angestellte Prüfung des rechtsphilosophischen Schriftchens ergab untadelige Resultate, kein einziges Plagiat! Worauf ohne weiteres wider Bartholomäus die Vermählung eingeleitet wurde. Für den Verstand von Leuten, die in diesen anspruchslosen Zeilen eine tiefsinnige Allegorie erblicken wollen, etwa in Jezaide die Tochter eines Hofrates oder Sektionschefs zu sehen vermeinen, die einem simplen Dozenten zum Throne, id est: zu einer ordentlichen Professur verhalf -- auch die anderen, wahrlich nicht wenig verschlungenen Begebenheiten auf kraß realistische Weise ausdeuten möchten: für den Verstand dieser Sorte von Leuten übernimmt der Verfasser keine wie immer geartete Garantie, wenn sie nicht so ruinösen Versuchen entsagen. Genannten Individuen aber trotzdem gebührend entgegenzutreten, gesteht der Autor offen und ehrlich, daß der Zweck seiner scheinbar nichts weniger als tugendhaften Historie, soweit ein solcher überhaupt vorhanden, ein tiefmoralischer, hochnotpeinlicher ist, und hofft damit einer aufmerksamen Leserin nichts Neues zu sagen. Er hält dafür, nachträglich genug vor jenem verderblichen Geist gewarnt zu haben, der Zizipês sonst makellose Herrschergestalt verunzierte. Wolle doch ein jeglicher seinem guten Rat gehorsamen und zur Taufe erscheinenden dreizehnten Zauberern keine silbernen Stiefelknechte und beileibe keine schlechten Zigarren anbieten, noch auf künstliche Fliegen mit übereilt zuschnappendem Rachen antworten. Den Folgsamen steht nicht bloß eventuell das Himmelreich offen, sondern ihnen und nur ihnen wird mitgeteilt, wie sich das Schicksal derer von Sirvermor-Srimoverr des weiteren gestaltete. Es läßt sich nicht leugnen, der Prozentsatz an kleinen Mohren und Chinesen, den die Prinzessinnen dieses Hauses auch nach jener Sühnhochzeit herbeiführen halfen, er war und blieb ein größerer, als er in den übrigen Königsfamilien Usus ist. Doch wer wird der Bösewicht sein, zu fordern, eine künstliche zauberische Einrichtung, durch die Länge der Zeit beinahe zur natürlichen Anlage geworden, möge wie mit einem Glockenschlag zu bestehen aufhören? Was die speziellen Schicksale Jezaidens und ihres Gatten anlangt, so beteuern manche Skribenten, beklagte Mohren und Chinesen, in dem unzureichenden Sonnenschirm bereits zart angedeutet, seien durch die Unterschiebung der Preisschrift verschuldet, und dieser Frevel sei nur darum nicht postwendend ans Tageslicht gekommen, weil Jezaide keine Kinder hatte, was weniger der abgetöteten Liebe als dem gelehrten Charakter ihres Gatten zuzuschreiben sei. Sonstige Erlebnisse des Ehepaares? Zur Beruhigung: und wenn sie nicht geboren sind, so sind sie auch heute noch nicht gestorben! Krasser Fall von Soldatenmißhandlung In seinem Sputum hat man Kometen gefunden. Er starb an Lungensternen, jenen winzigen und scheinbar so harmlosen Mikroorganismen, die wir Planeten nennen. Was hatte diese gräßliche Erkrankung aufgerufen? Wahrhaftig, ich schäme mich, es auszusprechen: Rassenhaß! Draußen spazieren die zarten Frühlingsdamen, ich kann ihnen nicht nahen. Unablässig sehen meine Augen jenes tragische Ereignis vor sich. Reginald Mammuthbaum mußte endlich notgedrungen, unfreiwilligst Rücksichten dem Vaterland gegenüber platzgreifen lassen. Snob schon der Abstammung nach, wählte er das exklusivste Garderegiment. Früher war die Sache lebenslänglich und die Anführer dachten: »Was heute nicht geschieht, geschieht morgen.« Seitdem man aber diese gottverfluchte tausendjährige Dienstzeit eingeführt hat, eilt den Vorgesetzten die Ausbildung. Bitter weinen die Rekruten. Gar die Mammuthbaums haben nichts Gutes. Nun, vorerst wurde das Usuelle gegen den Eindringling angewendet. Jahrzehntelang Gelenksübungen im Chaos, Kanonenschultern, Kniebeugen, Bauchwellen, Eilmärsche, man stelle sich vor: mitten im bittersten Universum! Das Terrain ist koupiert, gibt man einen Moment nicht acht, zwischen ja und nein hat man sich ein paar giftige Sterne eingetreten und wird diese Riesenzecken nie wieder los. Ewiger Schmerz! Sterne . . . natürlich hatte vor denen Sidonie, Reginalds Mutter, tiefen Respekt. Sie sagte stets: »Kinder, wenn ihr die Welt aufeßt, immer hübsch die Sterne ausspucken!« Seiner Mama ängstlich-nasale Laute: »Reggie! Paß auf, daß du keine Planetoiden schluckst!« hielten denn auch den Feigling ab, sich eine gewisse Fertigkeit im Sternschlucken anzueignen. Wahrscheinlich glaubte die würdige Dame wie so manche Laien, diese Pfefferkugeln seien den Nieren unerwünscht. Vielleicht war auch in ihren famosen Speisegesetzen dieses Nahrungsmittel verboten und ein Rest von Widerwillen zurückgeblieben. Ich weiß es nicht. Des schlappen Kerls reglementwidrige Furcht vor den Himmelsinfusorien wurde irgendwie notorisch. Und die Offiziere wollten einen derartigen Temperenzler nicht im Korps dulden. Niemand wird ihnen das weiter verübeln. Nur die Art und Weise, wie sie ihn abreagierten, war schon mehr als unkollegial. Man machte Reginald trunken. Unter dem Beistand des logischerweise gesinnungsverwandten Koches, der das fatale Nahrungsmittel schlecht passierte, im Zeichen eines symbolischen Termins, wurde von den Aufrechten Mirabiliens die übelriechend-zertretene Minderheit und Varietät in Mammuthbaum vernichtet. Ein krasser Fall von Soldatenmißhandlung! In der Ehrenstunde unseres Repräsentanten, der 5% Jehovaleute und 95% Andersgeartete zu vertreten hat, dessen Selbsterhaltungstrieb also mit einiger Notwendigkeit für die verschwindende Minorität weniger übrig haben muß als für die dominierende Masse seiner Stammesgefährten: am Geburtstag des Kaisers machte man Reginald trunken. Im Urrausch fand er ein säuerliches Gelee, eine verhängnisvolle Sternsauce, sehr plausibel. Der Unglückliche litt an chronischem Rachenkatarrh. Die verschiedenen Sonnensysteme taten ihm nicht wohl und ein Satellit, ein verdammter kleiner Mond, blieb in der Kehle stecken. In dem törichten Bestreben, durch plötzlichen Schreck das Schlucken zu erleichtern, nannten die Offiziere den Namen der Speise. An wunden Stellen mochte es schon früher im Rachen nicht gefehlt haben, heftiges Würgen vergrößerte sie und ließ die seltenen Gäste in Blutbahnen eintreten, wo sie erfahrungsgemäß giftig wirken. Namentlich wenn Trunkenheit ihre Virulenz steigert. Zu spät holte man mich. Ich legte mein Ohr an Reginalds Thorax. Wenn Bazillen in unsereinen einmarschieren, singen sie zuerst ihre Volkshymne. Es ist ja ein Triumph für sie. Und auch diese hier produzierten sich im Mammuthbaum: bei ihren Atembewegungen und Umschwüngen summten die Sterne in ihm -- ihm und sich die Sterbegesänge. Die Krankheit dauerte relativ lang. Spät erst traten die Vorboten der Agonie auf: er erzählte Gleichnisse, einen Witz zwei- oder dreimal ein und demselben Zuhörer. In normalen Fällen pflegen wir ein Individuum, das so greis ist, totzulachen, da es um erinnerungslos-krauses Hirn nicht schad ist und die Gesunden unter zu oft wiederholten Leitmotiven leiden. Man muß es demnach als Zeichen von Schuldbewußtsein auffassen, daß man befahl, den armen Sternschlucker über diese Grenze hinaus zu erhalten. Und die nach seinem Tod erfolgte Verfügung, laut der Gestirne von nun ab nur gegen spezialärztliche Anweisung verkauft werden dürfen, läßt sich ebenfalls nicht anders deuten. Ich ahne ein Verbrechen, ich schreie: »Mordio!« Hier liegt ein Ritualmord vor! Ein krasser Fall von Soldatenmißhandlung. Ausflug Auf einem meiner Spaziergänge durch das Weltall stolperte ich über den Schicksalsbaum, der in solid-arischen Zeiten Weltesche Ygdrasil hieß, nun aber längst blattlos verschrumpft, zwerghaft verkommen ist und von den Rittern des Raumes »Baum im Elend« genannt wird. Klein erschien er meiner hungrigen Seele, und auch ein Webstuhl der Zeit, an dem Baum mechanisch befestigt, wollte auf mich keinen besonderen Eindruck machen. Zunächst darum, weil dieser Webstuhl der Zeit keinswegs sauste, sondern sich als versonnen einen Abgrund überhängendes Spinnennetz darstellte, in dem überwältigt, fliegengleich eingesponnen, linsengroß Ur-Sonnen hingen und auch, kaum erkennbar, wie verrückt sich abzappelnd, die Laus »Erde«. In der Mitte des Netzes ein Fettpatzen, schwarz wie die Notwendigkeit: die Riesenspinne »Zeit«. Ich wollte ihr eine Nadel in den Hinterleib stechen, aber das darf nur der Finger Gottes. Nitimur Nitimur, ein wohlriechender Künstler, Erbauer der sechs großen Stockwerke, sah eines Tages die wohlwandelnde Königstochter Inve, und nicht genug daran: er wagte es, seine Augen zu ihr zu heben, die auf dem hochgelegenen Steige der Königstöchter knabenleichten Schrittes zur Lust tief und tiefer unten Wandelnder und also auch wohl zur eigenen Lust einherschwebte. Ja, er gewann es über seine in welcher Niedrigkeit aufgeschossene Seele, daß er den dick anschwellenden Kotsee und den jäh darauffolgenden Eisberg der vermeintlichen Glückseligkeit durchschwamm und erstieg. Diese beiden Stoffe nämlich, Kot und Eis, ausgezeichnet sowohl durch die Menge, in der sie sich an den genannten Orten befinden, als auch durch andere Eigenschaften, sind dazu bestimmt und geschaffen, die Wege der wohlwandelnden Königstöchter und der wohlriechenden Künstler zu trennen. Wohl war, wie ihr alle recht gut wisset, in diesem unseren Königreich Titumsem die schreckliche Strafe der Spiegelentziehung auf das Erklimmen der Scheideflächen gesetzt. Nitimur aber mag vor, während und nach deren Durchquerung wenig an ein Selbstbespiegeln gedacht haben. Vielmehr: an dem Ort seines Strebens, in welchem Aufzuge, angelangt, warf er sich rücklings zu Boden, auf den heiligen Boden des Einherschwebens der Königstöchter, und schlug ihn dreimal mit dem Hinterhaupt. Dies ist die Art, mit der in diesem unseren Königreich Titumsem Hohlheit und Wohlriechenheit gewiesen wird. Inve konnte nicht anders, sie mußte eine Zeiteinheit lang ihr Einherschweben in ungleichförmig verzögerter Geschwindigkeit vor sich gehen lassen -- gewöhnlich bewegen sich nämlich die Königstöchter in diesem unseren Königreich Titumsem gleichförmig verzögert -- und eine weitere Zeiteinheit lang tat sie sich die Mühe, ihre konkaven Wangen in dem Blaurot des höchsten Unwillens erröten zu lassen. Nitimur nun -- war es Absicht oder Unfall? Meine der Verehrung wohlwandelnder Königstöchter sicherlich zuneigenden Zeitgenossen werden mir wohl recht geben, wenn ich steif und fest behaupte, daß es nicht seine Absicht war, und ebenso dürften meine dem Glauben an das Walten einer ursittlichen Welthausordnung herzhaft geneigten Zuhörer meiner wohlweisen Meinung sein, wenn ich statt Zufall Unfall sage. Nitimur nämlich, der wohlriechende Künstler, rutschte, von der Blauröte des höchsten Unwillens scheinbar gleichgültig durchstrahlt, mit gleichförmig beschleunigter Geschwindigkeit den Gletscher der anscheinenden Glückseligkeit hin und überschlug sich unter den spaßhaftesten Purzelbäumen und Kapriolen im darauffolgenden Kotsee. Wieder unten auf der Straße wohlriechender Künstler angelangt, begab er sich aber nicht in seine sechs großen Stockwerke, denn er wußte wohl, daß ihm sämtliche Spiegel mittlerweile entfremdet worden waren. Wer aber kann malen das Blaurot des noch sehr viel höheren Unwillens der wohlhabenden Königstochter Inve, als sie nächsten Tages an derselben Stelle Nitimurn gewahrte! Ihre Bewegung setzte sie da mit gleichförmig beschleunigter Geschwindigkeit fort, die sie nur um eine Zeiteinheit verzögerte, als sie in dem wohlriechenden Künstler das heiße Schweigen der Liebe, von dem die wohlseufzenden Königstöchter zu träumen pflegen, nicht kaltes Schweigen der Körperverehrung, das wohlriechende Künstler zu durchstrahlen pflegt, fühlte. Als sie sah, daß er mit weit weniger gleichgültig durchstrahlter Miene seinen schmachvollen Heimweg abkugelte. Da aber jeder Tag diesen Vorfall gebar, Perku, ihr wenig geschlechtlicher Erzieher, der zwar seine Zeit meist damit füllte, noch weniger geschlechtliche Erzieher zu zerspotten, dennoch beinahe bemerkt hätte, daß seine wohlwandelnde Königstochter die zur Absolvierung ihres Einherschwebens nötige und also vorgeschriebene Anzahl von Zeiteinheiten stets überschritt, schließlich Inve einsah, daß bald ihr ganzer Reichtum an Errötungsnuancen alle werden dürfte, tat sie es eines Tages, über den Wasserberg hinweg, der den Schwindelpfad der wohlschlafenden Könige von dem Steig der wohlwandelnden Königstöchter trennt, sie tat es, ihrem Vater Pimus zuzurufen, der wohlriechende Künstler Nitimur störe täglich die Regel- und Gesetzmäßigkeit ihres Einherschwebens. Der wohlschlafende König Pimus, dem es ein Neues war, und den es mit Verblüffung durchstrahlte, daß ein wohlriechender Künstler auch nach Entfremdung seiner Spiegel vor wohlwandelnden Königstöchtern zu liegen wage -- deren heiligen Boden mit dem Hinterhäuptchen schlagend, Hohlheit und Wohlriechenheit weisend -- er erschrak zuerst über das Omen dieser sehr kuriosen Zugetragenheit, das und die in keinem königlichen Orakel- und Traumbuch verzeichnet und vorgesehen waren. Also machte der wohlschlafende König Pimus seinem wohltanzenden Gott Kwene dreiundachtzig und eine halbe Verbeugung und sagte ein Achtel Betrolle her. Kwene nämlich, der wohltanzende Gott, dessen Seil von dem Schwindelpfad der Könige durch einen Sonnenberg geschieden ist, sah sehr gut, hörte aber schlecht: daher dreiundachtzig und eine halbe Verbeugung und bloß ein Achtel Betrolle. Denn ihr wisset sowieso, und ich sage es auch nur, um euch der Abwechslung halber mit eurem Wissen zu ärgern: Man hat seine Freude nur an dem, was man bis in seine süßesten Einzelheiten auszukosten vermag, nicht jedoch an Dingen, die, ach, in höchst summarischer Weise fühlbar werden. Kwene aber wußte sehr wohl, daß der Thron eine Stütze des Glaubens an ihn sei. Nur darum reichte er dem wohlschlafenden König trotz des Achtels Betrolle schnell seine Ohren, und außerdem drangen gerade in dieser Zeiteinheit labend an des schlachtmesserumgürteten, wohltanzenden Gottes nicht ganz schlecht hörende Ohren des eben von ihm eigenhändigst, nach allen Regeln der Kunst geschächteten Schlachtopfers höchst rituelle Laute des Sterbens und Verzuckens. Dennoch aber unterdrückte der wohltanzende Kwene den wohlweisen Rat: »Sende dem wohlriechenden Künstler einen zweiten Spiegel, auf daß er sich darin besehe!« Nein, er wollte wieder einmal ein Exempel seiner Allmacht, Gerechtigkeit und ursittlichen Welthausordnung statuieren und gab dem wohlschlafenden König Pimus den minder weisen Rat, die wohlwandelnde Inve hinabzusenden zu dem wohlriechenden Künstler Nitimur, dem Erbauer der sechs großen Stockwerke. »Denn die gebotene Möglichkeit der Befriedigung wird des wohlriechenden Künstlers Sehnsucht und Liebe stracks töten, da sie bloß jener selbsterzeugte Hunger in Gedanken ist, den armgelebte Künstler hie und da aufzuziehen pflegen, der aber immer unbefriedigt stirbt, den sie wohlahnend sich vergehen lassen, wenn der Erfüllung Schmerz ihnen verstattet wird.« Und geheime, frohe Gedanken der Rache an dem verbeugungsfeindlichen Künstler und dem gern betrollenden König durchstrahlten des Gottes und Tänzers Miene, kaum verborgen durch ein nervöses Zwirbeln des Schnurrbartes. Nicht vergaß da zum Dank der wohlschlafende König eine halbe und dreiundachtzig Verbeugungen dem seiltanzenden Gott Kwene zu machen, noch weniger vergaß er es, den Heimtückischen durch schnelles Ableiern von einem Achtel Betrolle zu ärgern. Schnell tat er es, über den Wasserberg hinweg seiner wohlwandelnden und gerade einherschwebenden Tochter eine Hymne auf seine Vatertugenden zu halten und ihr zu befehlen, allbereits hinabzuschweben zu dem wohlriechenden Künstler. Welche machte sich sofort auf mit ihren wohlschmeckenden Zofen, die ein wohlklingendes Geschnatter fortflattern ließen, als die Königstochter in einem Sprung hinabsprang zur Straße der wohlriechenden Künstler, die ihr scharenweise zur gefälligen Matratze dienen wollten. Als aber Nitimur, auf seinem wohlgeborstenen Steine vor den sechs großen Stockwerken sitzend, sie kommen sah, da wandte er sich zur Flucht und sprang lieber hinab über grasbewachsene Wiesen zu den bewußtlos lebenden Bürgern und tauchte lieber unter in ihrem Meer der Gewöhnlichkeit. Tiefbetrübt gebot da die wohlwandelnde Königstochter den wohlriechenden Künstlern, ihre Spiegel zu legen über den Kotsee, ließ sich nur unwillig ihre goldenen Schlittschuhe anschnallen. Denn abwärts zu kugeln über die Grashalden in der häringhaften Bürger Meer von Gewöhnlichkeit, dies war ihr wie jeder echten wohlwandelnden Königstochter unmöglich. In ungleichförmig beschleunigter Geschwindigkeit, ja in rasendem Sturmlauf blitzte sie den spiegelbedeckten Kotsee hinan, hinan den darauffolgenden Gletscher der anscheinenden Glückseligkeit. Wenig kümmerte sie es, daß ihre wohlschmeckenden Zofen, diese Keineswegs-Königstöchter, vor den gefälligen Matratzenkünstlern ihr wohlklingendes Geschnatter fortflattern ließen und sich mit ihnen um die einerseits kotbelegten, andererseits wohlgeborstenen Spiegel balgten, im Schlamme wälzten und schließlich dem Geheul und Geweltschmerz der nicht ganz ausgenützterweise sich um ihre Spiegel gebracht sehenden Wohlgeruchs-Künstler ein Ende taten, indem sie mit ihnen die Grashalde abkugelten in der kaninchengleichen Bürger Meer von Gewöhnlichkeit. Gar nicht kümmerte es die schnellhinwandelnde Königstochter Inve, daß sie, anfahrend ihren Steig, ihrem wenig geschlechtlichen Erzieher Perku und seiner aus noch weniger Geschlechtlichen gebildeten Gesellschaft die restlichen Geschlechtsteile abfuhr und alle tötete. Nicht mehr war sie bedacht darauf, in allen Zeiteinheiten gleichmäßig einherzuschweben; die wohlwandelnde Königstochter Inve, die früher und bis zu wohlriechenden Nitimurs Flucht zwar eingedrillterweise von Nuancen des Errötens, aber wenig von Liebe gewußt hatte, sie bewegte sich mit höchst ungleichförmiger Geschwindigkeit, und ihre Seele gab sich wild dem Weinen silberner Tränen. Pimus sogar, ihr wohlschlafender Vater, er hörte es, und ohne seinen ewigtanzenden Gott extra zu behelligen, griff er sofort zu dem in solchen Fällen höchst angezeigten und probaten Mittel: er zeigte seiner wohlwandelnden Tochter ihre Verlobung mit dem immer schlafenden Kaiser von Gata an. In ihrem tiefen Gram hört sie es nicht, wie es der wohlschlafende König schlau geträumt oder berechnet haben mochte. Inve, mit Unrecht wahrlich eine wohlwandelnde Königstochter genannt oder etikettiert, fuhr immerzu fort mit ihren unsteten, ungleichförmigen Bewegungen, ihrer Seele Weinen überzog ihre Wangen mit Silberamalgam, machte sie fast konvex, und schon glaubten alle Ärzte und Urinoskopen dieses unseres Königreiches Titumsem, die weiland wohlwandelnde Königstochter Inve würde, ach, für immer der Stetigkeit, Gesetzmäßigkeit ihrer Bewegungen beraubt sein. Eines gemeinen Tages aber, da der wohlriechende Künstler Nitimur auf der Grashalde lag und in Träumen noch sechs große fahrende Stockwerke für die ochsenartigen Bewohner des Meeres von Gewöhnlichkeit ersann, schreckte ein schreckliches Getöse und Geflimmer ihn aus seinen Fieberträumen. Die Bürgerlein hatten nämlich von dem frohen Fest im allerhöchsten Herrscherhause gehört und feierten es, jeder nach seiner Art, der eine mit verschiedenfarbigen Fetzen, Liedern von gefälligen Matratzenkünstlern, der andere mit Lichtgestank oder Böller- und Kartaunenblähungen. Jäh fuhr der wohlriechende Künstler Nitimur auf, als er den Grund der verschiedenfarbigen Fetzen, der Hurralieder, des Lichtgestankes und der bürgerhaften Schießerei erfuhr. Wo waren da die sechs großen fahrenden Stockwerke für die gleichförmigen Bewohner des Meeres solcher Gewöhnlichkeit?! Jetzt aber möchte ich meine dem Glauben an das Walten einer sittlichen Welthausordnung herzhaft zugeneigten Zuhörer ersucht haben, mir ihren Beifall fühlbar zu machen und sich zu entfernen. Denn mit einem Satz über die Grashalde hinaus und die Straße der wohlriechenden Künstler, hinaus über den Kotsee und den Gletscher der anscheinenden Glückseligkeit: Nitimur war oben beim Steig der nicht immer wohlwandelnden Königstochter. Und ehe noch der wohlschlafende König von Titumsem und der immerschlafende Kaiser von Gata Zeit errafft, erwachen zu wollen, hatten sich Nitimur und Inve gefunden, in hoher Eintracht gefunden. Jetzt aber möchte ich auch meine dem Glauben an das Walten einer urunsittlichen Welthausordnung herzhaft geneigten Zuhörer ersucht haben, mir ihren Beifall fühlbar zu machen und sich allbereits zu entfernen! Vielleicht, um nicht tiefe Lust zur Gewohnheitsqual zu verherben, zu verderben; Wer es fassen kann, der fasse es: mit einem Satz über den Wasserberg hinaus und den Schwindelpfad der wohlschlafenden Könige, hinaus über den Sonnenberg und das Seil des im Flug herabgestoßenen wohltanzenden Gottes Kwene, der noch im Falle tanzte und seinen Bart nervös zwirbelte -- waren, war Nitimur-Inve geflohen, geflohen in das Reich des ewig seienden, einzig seienden _Todes_. End of the Project Gutenberg EBook of Zaubermärchen, by Albert Ehrenstein *** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK ZAUBERMÄRCHEN *** ***** This file should be named 36933-8.txt or 36933-8.zip ***** This and all associated files of various formats will be found in: https://www.gutenberg.org/3/6/9/3/36933/ Produced by Jens Sadowski Updated editions will replace the previous one--the old editions will be renamed. Creating the works from public domain print editions means that no one owns a United States copyright in these works, so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United States without permission and without paying copyright royalties. Special rules, set forth in the General Terms of Use part of this license, apply to copying and distributing Project Gutenberg-tm electronic works to protect the PROJECT GUTENBERG-tm concept and trademark. 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