Das Gefängnis zum Preußischen Adler : Eine selbsterlebte Schildbürgerei

By Wille

The Project Gutenberg eBook of Das Gefängnis zum Preußischen Adler,
by Bruno Wille

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Title: Das Gefängnis zum Preußischen Adler
       Eine selbsterlebte Schildbürgerei

Author: Bruno Wille

Release Date: June 22, 2023 [eBook #71017]

Language: German

Credits: The Online Distributed Proofreading Team at
         https://www.pgdp.net

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DAS GEFÄNGNIS ZUM
PREUSSISCHEN ADLER ***


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                     Anmerkungen zur Transkription

  Der vorliegende Text wurde anhand der Buchausgabe von 1914 so weit
  wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Typographische Fehler
  wurden stillschweigend korrigiert. Ungewöhnliche und heute nicht mehr
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  fremdsprachliche Ausdrücke und Passagen in Dialekt wurden nicht
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  Umlaute in Großbuchstaben (Ä, Ö, Ü) wurden nur teilweise als deren
  Umschreibungen (Ae, Oe, Ue) dargestellt. Zur Vereinheitlichung wurden
  letztere in der vorliegenden Bearbeitung in die ansonten überwiegend
  verwendeten Umlaute umgewandelt.

  Der Übersichtlichkeit halber wurde das Inhaltsverzeichnis vom
  Bearbeiter an den Anfang des Texts verschoben.

  Das Original wurde in Frakturschrift gesetzt; besondere
  Schriftschnitte werden im vorliegenden Text mit Hilfe der folgenden
  Sonderzeichen gekennzeichnet:

        gesperrt: +Pluszeichen+
        Antiqua:  ~Tilden~

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[Illustration:

  Bartels      W. Bölsche      Julius Hart      Zwei Pennbrüder

Bruno Wille im Gefängnis]




                              Bruno Wille

                           Das Gefängnis zum
                           Preußischen Adler

                   Eine selbsterlebte Schildbürgerei

                    Mit einem Bild des Gefängnisses


                            [Illustration]

                      Erstes bis fünftes Tausend

               Verlegt bei Eugen Diederichs in Jena 1914




Kapitelverzeichnis


                                                       Seite

  Blüh auf, gefrorner Christ                               1

  Vom Löweneckerchen                                       5

  Anno dunnemals                                          14

  Der Igel                                                22

  Die Vernehmung                                          31

  Der innere Feind                                        43

  Brotkorb und Maulkorb                                   50

  Milderung des Sittenklimas                              55

  Die olle Konservenkiste                                 59

  Pfändung der Habe                                       70

  Der Tierkreis                                           77

  Verhaftet                                               82

  Robinson richtet sich häuslich ein                      90

  Der Kreispfiffikus                                      98

  Doktor fürs Vieh                                       106

  Das Flugblatt                                          109

  Die Grille im Käfig                                    116

  Die Pennbrüder                                         121

  Der Gefangene wildert Grünlinge                        124

  Das Preußenherz                                        135

  Der Biedermaxe                                         141

  Einsamkeit                                             151

  Italienische Nacht                                     163

  Herbstnachtigall                                       172

  Von Badewannen und Müggelpiraten                       177

  Schwedische Schüssel mit Konfusionen                   184

  Goldmacherei und Strindbergs Koffer                    191

  Mein durchgebrannter Kerkerschlüssel                   193

  Gardinenpredigt und Lösung des Piratenrätsels          197

  Aschenputtel und der Lizentiat                         203

  Der Fürst dieser Welt und die Schildbürger             211

  Dreck--Speck--Zweck überhaupt                          219

  Was der Teelöffel anstiftete                           224

  So leb denn wohl                                       230

  Kartoffelkomödie                                       233


Gedruckt in der Frommannschen Buchdruckerei in Jena




Blüh auf gefrorner Christ


Ostersonne, welch sanftes Feuer in deinem Kusse! Strahlenselig
blinkerst du im feinen Wellenspiel hier vorn beim gelben Ufersande.
Weiterhin glatt die mächtige Wasserfläche, blau spiegelt sich darin
die Himmelswölbung. Wie blitzende Schneeflocken schweben ein paar
Federwölkchen. Am jenseitigen Ufer hingedehnt eine Hügelkette mit
Kiefernwald. Veilchenfarbene Schleier sind diese Massen, zart wie
Duft ... O Zaubermacht der Ferne, wie weißt du zu verklären! Harte,
schwere Körper lösest du auf in stoffloses Leuchten. Und Erlebnisse,
die einst peinlich berührten wie kreischendes Geräusch, läutern sich
zu friedlich heitrer Stimmung. Osterfeier der Seele -- am Grabe, wo
ein hingemarterter Erdensohn in Todesbanden gelegen, lächelt der
weißgekleidete Himmelsbote: „Er hat sein Gefängnis verlassen!“

„Blüh auf, gefrorner Christ!“ So klingt es in mir, ein verschollenes
Gedicht -- und immer muß ich hinlauschen. Weiß nicht, wie es weiter
geht; etwas zärtlich Schönes muß es wohl sein -- etwas wie dies laue
Sonnenküssen und dies lichtgrüne Gras, bei dem ich im Ufersande lagre.
Durch die blaue Luft flattern Träume von blühendem Schlehdorn, von
goldigen Himmelschlüsselchen ... Und wieder jubelt es in mir: „Blüh
auf, gefrorner Christ!“

Wer ist es doch, der diese Weise sang? Sie mahnt an alte Frömmigkeit,
an einen Heiland, der innen aufersteht. Und deutlicher wird sie mir:
ein Auftakt ist sie vom „Cherubinischen Wandersmann“. Schon ein viertel
Jahrtausend, seit diesem Poeten seine frommen Sprüche aufgingen. Doch
jung bleibt solche Gottseligkeit, jung wie Sonne und Erde, die mir
immer wie große Kinder vorkommen. „Blüh auf, gefrorner Christ ...“ Und
weiter? Ich weiß nur, daß es in den Versen wie Lerchenlaut zwitschert
-- und eben fällt mir noch ein, daß der Frühling den gefrornen Christen
ermahnt, die winterliche Erstarrung aufzugeben.

Ja, so hat es hier der weitgedehnte See gemacht, an dessen Ufer ich in
molliger Aprilsonne schauend schwelge. Vom Tauwind ward seine Eisdecke
zermürbt, zerschmolzen, und nun „blüht“ der See. Heiter leuchten die
sanften Farben seines Spiegels. Dort in der schilfigen Bucht wimmelt
es von verliebtem Wassergeflügel. In das Schnarren der Teichhühner,
Haubentaucher und Gänseseeger mischt sich schüchternes Koaksen von
Fröschen, glockenhaftes Unken von Kröten.

Auch in mir blüht etwas auf, wie ich mich so dem Frühling hingebe. Ein
erster gelber Falter taumelt dahin, trunken von Sonne und lauer Luft.
Gänseblümchen lächelt ihm zu -- wie ein Bauernkind ist es in seiner
gesunden Frische und einfältigen Lieblichkeit. Neben ihm Jungvolk
von Grashalmen -- ich lehne meine Wange ans zarte Grün. Da sind auch
Huflattichs gelbe Sterne und die Milchtropfen des Hungerblümchens.
Das Erlengezweig am sumpfigen Ufer ganz lila -- das machen die
Blütenkätzchen, rötlichen Raupen ähnlich. Von den walzenförmigen Blüten
der Haselnußstaude stäubt gelber Puder.

Und sieh doch, am Saume des Kiefernwaldes bei den Baumwurzeln
glimmert’s wie blankes Kupfer: blühendes Moos! Das ernste Dunkelgrün
der Moospolster hat einen zarten Flaum zur Sonne emporgetrieben, lauter
goldbraune Fäserchen. Und jedes Fäserchen eine Blüte, selig, voller
Leben und Zukunft -- jedes Blütenfäserchen ein schimmerndes Kunstwerk.

Und der Ufersand, sieh, welch Glitzern und Flirren! Jedes Körnchen
ein blitzendes Edelgestein -- Goldpunkte ohne Zahl -- Lichtstaub der
Milchstraße -- Wunder wie Sand am Meer! „Klein das Große -- groß das
Kleine.“ Wie das Hehrste, das wir uns vorstellen können, klein ist vor
der Unendlichkeit, so bedeutet andrerseits jede Winzigkeit eine ganze
Welt -- und die Holdseligkeit dieses Frühlingsbildes ist gar nicht
auszuschöpfen, sofern du den Sinn öffnest für die Fülle der Schöpfung
... „Blüh auf, gefrorner Christ!“ Der goldige Baldur ist da, ist neu
erstanden aus Finsternis und Eis. Baldur ist nicht bloß der Lenz, die
Jahreszeit; ich meine zugleich jene erweckende Macht, die aus trübem
Geschick dem Herzen, das vom Frost auftaut, Auferstehung bereitet und
Himmelfahrt. Und nun erinnere ich mich, wie der Vers weiter geht: „Blüh
auf, gefrorner Christ -- der Mai ist vor der Tür!“

Sieh doch, ein Silberfunke sprüht vom Seespiegel ins blaue Luftreich!
Hüpft die leuchtende Schönheit des Wassers in lenzlichem Übermut? --
Nur ein Hecht war’s -- der Hungrige hat sein Opfer verschlungen.

Und eine Möve kommt geschwebt. Zierlich wiegt sie sich, wie Schnee
blitzt die Schwinge über der stahlblauen Flut. Mit sachtem Flattern
sinkt sie auf den Wasserspiegel und tunkt den Schnabel hinein, leicht
und zierlich. So umgaukelt ein Schmetterling zum Kusse seine blaue
Blume ... Nicht doch! Die sanfte Bewegung des weißen Gefieders, dies
scheinbare Kosen der Flut ist tatsächlich ein mörderischer Überfall;
den zappelnden Fisch im Schnabel strebt schwerfälligen Flügelschlags
der Raubvogel zum schlammigen Strande, die Beute zu verzehren.

Sirene Natur! Raubtier in lockender Schönheit! Doch ich klage nicht an
-- bin selber ja Natur. Ich lächle -- und mag Wehmut im meinem Lächeln
sein, so doch kein Weh. Seelenruhe hält mich umfangen, keine Wolke soll
Trübung bringen. Mag lieber das graue Gewölk sich verklären zu goldenem
Dufte!

Sonne, leuchtende Sonne, du freilich tust not zum Verklären. In den
trüben Dunst der Gewöhnlichkeit muß etwas rinnen aus jenem Born, dem
das ewige Licht entquillt. So erfüllt sich die Verheißung: „Wisset
ihr nicht, daß ihr Götter seid.“ -- Ach, wie oft wissen wir’s nicht!
Und das sind die Winterzeiten der Seele -- da wähnen wir uns nichts
Besseres als trüben Erdenkloß, chaotisch zusammengeklumpt für ein
Weilchen -- darauf angewiesen, mit Angst und Gier dies knappe Dasein
zu behaupten ... „Der Mai ist vor der Tür!“ O Frühling, der du alles
verklärst, wecke mir stets aufs neue zur Heiterkeit den Sinn, daß er
aus den Gefängnissen aller Art Ausblicke finde zur Fülle des Lebens. Wo
man sonst, weil Staub das Auge trübt, nur garstiges Chaos sieht, nur
Zufall und blind tappendes Geschick, wo man sich aufregt über „Glück“
und „Unglück“, wo man grollt und verdammt, von schmeichelnder Hoffnung
umgaukelt oder verstört von Sorge, -- da sieht der Erweckte in allem,
was die Zeiten bringen, den Bezug zum Unendlichen. Und über sein Gemüt
kommt eine Stille, daß er sein Schicksal heiter beschaut, wie dieser
See Ufer und Himmel spiegelt.

Das ist die „geistige Gottesliebe“, wie Spinoza sagt, ist die „Schau
der Ewigkeit“. Tief klingt es und schwer -- und ist doch etwas
Schwebendes, Hohes, ist ein seliger Überblick, wie er sogar dem Vöglein
ein wenig gelingen mag -- der Lerche, die dort von der Ackerscholle des
Forsthauses jubilierend emporsteigt.

O lausche doch!

Ein schmiegt sich die süße Melodie in die Symphonie des All-Lebens!
Schwinge dich auf! Sammle die Kraft zum Emporstieg -- aus deinem
Innern schöpfe sie! Forme zur Macht, was dich niederdrücken will! Sein
geheimer Beruf ist, deinen Widerstand zu wecken. Des Winters Mission
und der tiefe Sinn aller Trübsal heißt Baldur. Sei du ein Auftauen der
Eisscholle! Sei du einer, der aus dem Gefängnis ins Freie geht. Sei du
Knospe, die aus enger Hülle ihr Sonnenkindlein entwickelt, mündend in
unermeßliche Nachkommenschaften. Sei du Frühlingslerche, von Andacht
emporgetragen über die dunkle Ackerfurche, hingegeben dem Lichte, dem
Klange!

Mag doch eine Strecke deines Lebens finster und öde aussehn -- es
kommt ein Lenzen, da glimmert es dir auf wie blühendes Moos, da bricht
der Lerchentriller hervor, und der bisher verborgene Zusammenhang der
Dinge erschließt sich. Mit staunender Andacht erschaust du: ein elendes
Stück Dasein, roh und ungefüge, Staub und Schlamm, ordnet sich ins
unendliche Leben, wie Dissonanzen in die Symphonie, und hat auf einmal
Sinn, Stimmung, Schönheit, gütige Heiterkeit und Weisheit.

Und nun fällt mir ein, wie der ganze Frühlingsspruch lautet:

    „Blüh auf, gefrorner Christ!
    Der Mai ist vor der Tür;
    Und ewig bleibst du tot,
    Blühst du nicht jetzt und hier!“




Vom Löweneckerchen


Mit Entzücken lauschte ich -- zurückgelehnt in den molligen Ufersand,
so daß mir Halme die Schläfen umschmeichelten. Ich lausche der Lerche,
die bei ihrem Taumeln durch den Äther vom Ostwind herübergetrieben
wurde. Nicht mehr über dem Forsthaus-Acker stand sie, sondern senkrecht
über mir. Deutlich sah ich ihre Flügelchen den Takt wirbeln zum
Trillern der kleinen Kehle; die sprudelte wie ein singender Quell.

Einen schönen Namen, Lerche, haben dir die Lateiner gegeben:
~Alauda~ -- das heißt: „Lobe aufwärts!“ Dieselbe Bedeutung hat
wohl auch dein deutscher Name. Meine niedersächsischen Landsleute
nennen dich Lewerken, Löwarke oder Lauberchen, und ich denke, das soll
heißen: „Loberchen“. In Hessen sagt man „Löweneckerchen“.

Dies Wort hat nichts zu tun mit dem König der Wüste. Allerdings erzählt
das hessische Märchen von einem Löweneckerchen, das, auf der Spitze
eines Baumes trillernd, von einem Löwen bewacht wird; indessen ist hier
der Löwe kein Raubtier, sondern ein verzauberter Königssohn ...

Doch zunächst wäre ja wohl der Anfang der Geschichte zu berichten.
Also: es war einmal ein Mann, der hatte eine große Reise vor, und beim
Abschied fragte er seine drei Töchter, was er ihnen mitbringen solle.
Da begehrte die Älteste Perlen, die Zweite Diamanten, die Jüngste aber
sprach: „Ach lieber Vater, ich wünsche mir ein singendes, springendes
Löweneckerchen!“

Mit dieser Tochter nun bin ich, der Chronist, von Herzen einverstanden,
wie ich es überhaupt in den Märchen alleweil mit der dritten Tochter
halte, ebenso mit dem jüngsten Königssohne -- die Jüngsten sind des
Märchens Lieblinge (wohl weil sie noch ihre Kindlichkeit haben). Auch
ich bin von Kindesbeinen an dem singenden, springenden Löweneckerchen
überaus hold gewesen.

Vom Löwen, wenn es nicht gerade ein verwunschener Königssohn ist,
halt’ ich nicht viel und gebe mich lieber der Vermutung hin: das
Löweneckerchen hat seinen Namen von: Loben Äckerchen -- weil es lobt
sein Äckerchen. Das Äckerchen, dem solch trillerndes Loben behagt,
läßt dafür seine Pflanzenkinder hübsch gedeihen: Zum Mittsommerfeste
wimmeln die blonden Ähren im Reigen, und Junker Mohn im roten
Staatsrock führt zum Tanze Jungfer Kornblum mit dem Krinolinenkleid
aus blauer Seide. Während dann Löweneckerchen droben trillert, lauscht
von der Ackerscholle sein Weibchen empor. Im Halmenneste brütet es; da
platzen die graugesprenkelten Hüllen, und aus jeder schlüpft ein neues
Löweneckerchen -- wenn es auch nicht gleich so singen und springen kann
wie Väterchen in blauer Himmelsaue.

Nun soll ich wohl noch mehr verraten vom Märchen, das so spannend
anhebt? Aber haltet euch lieber an die Brüder Grimm, die so manche
schöne Heimlichkeit dem Volksmunde abgelauscht haben; dort kann man die
Geschichte lesen.

Meinerseits habe ich vom Löweneckerchen nur aus dem Grunde angefangen,
weil es sozusagen in meinem Herzen ein Nest hat, also zu den
Wunderlichkeiten des Mannes gehört, der dies Gedenkbuch schreibt und
dabei von seinem Vogel ähnlich beeinflußt wird, wie der Acker vom
Lerchenliede.

Nach allem, was ich berichtet habe, wird es nicht wunder nehmen, daß
der fliegende Sänger, der am Seegestade über mir trillerte, allmählich
niedersank, bis er kurz über meinem Kopfe verstummte und sich fallen
ließ. Gerade in meinen offenen Mund hinein. Das war ja nun keine Taube,
wie sie den Bewohnern des Schlaraffenlandes gebraten ins Maul fliegt,
kam mir aber nicht minder alltäglich und selbstverständlich vor. In
mich hinein gehörte ja mein Vogel. Ich fühlte denn auch, daß er sofort
in mein Herz geschlüpft war und nun ruhig brütend da saß ...

Doch ich wittere, daß meine Leser unruhig geworden. Auf natürliche
Weise geht es nach ihrer Ansicht nicht zu, daß in einem Menschenherzen
ein Vogel nistet. Drum muß ich wohl noch etliche Züge verraten aus der
Naturgeschichte meines singenden, springenden Löweneckerchens.

Daß ich solch ein Ding beherberge, stellte sich zum ersten Male heraus,
als ich noch ein ganz kleiner Junge war. Ich fand es noch nicht
unter meiner Würde, auf einem hochbeinigen Stühlchen zu thronen, --
vorn hatte es eine Schranke, um Kindchen vor dem Hinuntergleiten zu
bewahren und zugleich als eine Art Tisch zu dienen für Spielzeug oder
Blechbecherlein.

In diesem Käfigstühlchen also saß ich am Familientisch bei Vater,
Mutter, Bruder. Neben der Kaffeekanne, über die eine gemütliche
Wollmütze zum Warmhalten gestülpt war, lagen im Gebäckkorbe
Martinihörnchen. So nannten wir Magdeburger ein Gebäck in Form eines
Hornes oder richtiger Hufeisens, von alters her am Tage Martini
gebacken, zu Ehren eines Heiligen, der -- wie ich später erfuhr --
nichts Geringeres ist als der höchste Gott der alten Deutschen; wegen
seines martialischen Berufes ist er dann von den christlichen Priestern
zum heiligen Martin umgedeutet worden, der ein Reitersmann gewesen wie
Wotan und bis in unsre Zeit in Gestalt jener Martinihörnchen einen
Bezug auf das Hufeisen des Wotanrosses bewahrt hat.

Während mir mein Martinihörnchen mundete, blickte mein Vater
träumerisch durchs Fenster und sagte auf einmal lebhaft: „Da kommt
Sankt Martin auf dem Schimmel geritten!“ Diese Redensart wandte
der Volksmund an, wenn am Martinstage, der in den November fällt,
Schneeflocken stöbern.

Hier regte sich auf einmal mein singendes, springendes Löweneckerchen:
Ich sah nicht bloß die Flocken, die draußen vom grauen Himmel in
den engen Hof des städtischen Mietshauses wirbelten, sondern sah in
leibhaftiger Wahrheit ein weißes Roß und den rotbärtigen Reiter mit
Schlapphut und Mantel, schwertumgürtet -- so wie ich Sankt Martin aus
einem Bilderbuche kannte. Gleich darauf war er vorübergesprengt, und
nun war alles wieder wie sonst: eine bekalkte Wand, ein Ziegeldach,
eine blecherne Dachrinne. „Hast du gesehen?“ fragte mein Vater
geheimnisvoll, ich nickte sprachlos.

Noch ganz erfüllt von dem Abenteuer, tat ich in der Küche unserm
Dienstmädchen Bericht. Ungläubig schüttelte sie den Kopf, und wie ich
nunmehr behauptete, ganz deutlich hätte sich der Schimmel vor der
Dachrinne gebäumt und hui, einen gewaltigen Satz übers Dach gemacht, da
lachte mir Marie ins Gesicht und tippte mit dem Finger auf ihre Stirn:
„Junge, du hast’n Vogel!“

Damals merkte ich, daß es eine Mißachtung sein soll, wenn gewöhnliche
Leute so was von jemand sagen. Als ich in die Schule ging, wendeten
meine Mitschüler des öfteren diese Unhöflichkeit an, und ich sprach
sie gelegentlich wohl nach, obwohl mir die Ahnung schon dämmerte, daß
solch ein Vogel manchmal eine Gottesgabe ist, die einer, so sich drauf
versteht, lieber mag als Perlen und Diamanten.

Unser Hauswirt, der einen Ladenhandel mit Kolonialwaren hatte,
vergnügte sich an einer Landwirtschaft im kleinen; auf seinem Hofe gab
es Tauben, Hühner, sogar einen Ziegenstall, und die Ziege war meine
Freundin. Einst las ich ihr aus meinem Märchenbuche vom Wolf und den
sieben jungen Geißlein vor, während sie gemütlich aus ihrer Raufe
knupperte -- es war ihr Leckerbissen, grüne Erbsenstauden, daran hingen
sogar noch etliche Schoten. Auf einmal hinter mir höhnisches Lachen,
und August, der Sohn des Hauswirtes, machte die bekannte Gebärde: „Du
hast’n Vogel!“ Damals war ich dumm genug, mich darob zu schämen. Es
dauerte aber nicht lange, so ging mir ein Licht auf.

August, dem ich mein Märchenbuch anpries, wurde neugierig, und ich lieh
es ihm. Als ich etwas später fragte, wie ihm das Buch gefalle, meinte
er gleichgültig, er habe bloß darin geblättert. Bald darauf brachte er
mir das Buch zurück und sah mich mit einem Blicke an, kalt wie eine
Hundeschnauze: „Is ja allens jelogen!“

Gelogen? Verdutzt war ich, ganz bestürzt. Meine lieben Märchen und
gelogen? Lügen ist doch was Häßliches, Niedriges; meine Märchen
aber sind schöne, edle Prinzessinnen! Ich fühlte, wie ich bei ihnen
ordentlich was Besseres wurde. Nun aber August! Spürte er denn gar
nichts von all der Herrlichkeit? Nein, wie dumm!

Aha! jetzt wußte ich auf einmal, was mir im Herzen nistete; und ich
sprach zu August: „Du sagst immer, ich habe ’nen Vogel. Hab’ ich auch!
Aber weißt du, was für einer das ist? Ein singendes, springendes
Löweneckerchen! Dein Vogel -- na ja, der muß wohl ganz was andres
sein!“ -- „Meiner?“ entgegnete August dummstolz -- „ick habe keenen
Vogel!“ -- „Es hat jeder seinen!“ gab ich zurück.

Und an dieser Überzeugung hab’ ich festgehalten. Ich behaupte auch
jetzt noch: jeder hat seinen! Nur freilich merkt es nicht jeder -- oder
ist nicht ehrlich genug, es einzugestehen. Schämt sich seines Vogels --
und mag in diesem Gefühl nicht immer ganz unrecht haben.

„Aber was soll der Vogel?“ fragt ungeduldig, wenn nicht gar pikiert
mancher Leser. „Was hat der Vogel mit der Chronik zu tun, um die es
sich hier handelt? Von der seltsamen Gefangenschaft will ich hören!“
-- Gemach! Eins nach dem andern! Ein gewissenhafter Chronist greift
an die Wurzeln der Dinge und entwickelt daraus die ganze Geschichte.
Um es rund herauszusagen: Der Vogel war’s, der mich in mein Gefängnis
zum Preußischen Adler brachte; mit seinen Launen hat er alles
heraufbeschworen. Ich meine freilich nicht bloß +meinen+ Vogel,
sondern zugleich den Vogel andrer Leute. Ich meine die Vogelhaftigkeit
unsres guten Vaterlandes Schilda, -- und ich meine letzten Endes die
Vogelhaftigkeit des Weltalls. Weil also die Naturgeschichte des Vogels
durchaus zur Sache gehört, so darf ich wohl noch ein bißchen davon
plaudern. Aus dem Kapitel meiner Kindheit, das nun einmal aufgeblättert
ist, teile ich zwei weitere Erlebnisse mit. Sie sollen dartun, was für
ein launischer Kauz der Vogel des Verfassers ist. Man muß beizeiten
wissen, was man von ihm zu erwarten hat.

Wenn ich an Sommersonntagen mit meinen Eltern nach dem Dörfchen Krakau
spaziert war, wo man in einem Garten an der Elbe Kaffee trank, wenn
wir dann bei Sonnenuntergang nach der Stadt heimkehrten, kamen wir
vor Eintritt in den Festungsgürtel an einem Häuschen vorbei, das von
der Landstraße zurückgezogen in einem Obst- und Blumengarten lag. An
seiner Mauer blühten Rosen und Malven, zum traulichen Giebelfenster
hinan rankte Wein mit richtigen Trauben. Was mich am allermeisten
entzückte, war das rote Gleißen der Fensterscheiben. „Mit diesem Haus
muß es eine abenteuerliche Bewandtnis haben, weil doch Gold und Purpur
aus seinem Innern strahlt, und weil mir dann immer ein süßes Klingen im
Herzen anhebt. Da muß eine Fee hausen!“ Diese Vermutung hatte ich dem
August nicht verhohlen. Er trat an einem Ferientage zu mir: „Kommste
mit? Vater hat jeschäftlich zu duhn -- un weißte wo? Da, wo deine Fee
haust!“ Natürlich war ich bereit und war höchst gespannt.

Diesmal aber machte das rätselhafte Haus einen völlig andern Eindruck
-- schon deshalb, weil wir keine Abendsonne, sondern nebeliges
Herbstwetter hatten. Blätterlos hing das Gerank am Giebel, hinter
trüben Fenstern lauerte es unheimlich. Der Besitzer des Hauses kam uns
entgegen, ein hagerer, ältlicher Mann in Schlafrock und Wollmütze.
Er hatte stechend schwarze Augen und einen pfeifenden Atem. Augusts
Vater zog tief seinen Hut, und auch August benahm sich unterwürfig
vor dem Mann. Es hieß, wir dürften uns im Garten umsehn, und Augusts
Vater ging mit dem Manne ins Haus. Im Garten war ja nun diesmal nichts
Hübsches -- die Obstbäume standen kahl, welk lag unten das Laub, die
Himbeersträucher häkelten mit ihren Dornen, auf den Beeten moderten die
Strunke abgeschnittener Kohlhäupter. Ich fühlte mich erleichtert, als
Augusts Vater wiederkam. Und dann gingen wir.

„Was ist das für einer?“ fragte ich scheu. Verächtlich lautete die
Antwort: „Der Olle? Ein Halsabschneider!“ Es überlief mich kalt,
und ich dachte zuerst an einen Menschenfresser, wie sie im Märchen
vorkommen. Dann zog ich in Erwägung, daß August, der später die
Handlung seines Vaters übernehmen wollte, den Ausdruck wohl im
kaufmännischen Sinne meinte, und so viel wußte ich ja bereits, daß ein
Halsabschneider ein böser Mensch war. „Aber warum habt ihr dann solche
Bücklinge vor ihm gemacht?“ -- August zuckte die Achsel: „Jeschäft is
Jeschäft!“

Bedrückt schwieg ich, und damals in meiner ärgerlichen Enttäuschung war
ich schlecht auf meinen Vogel zu sprechen, der mir vorgefaselt hatte,
das Haus sei ein Feenschloß. Doch der Vogel verteidigte sich: „Kann
etwa das Haus dafür, daß einer drin wohnt, dem sie Garstiges nachsagen?
Jedenfalls sind die Blumen und Weinranken im Sommer wundervoll, und der
Goldglanz, der zuweilen aus der Giebelstube strahlt, er ist und bleibt
feenhaft, mögen auch die Leute sagen, es sei ja bloß die Abendsonne.“
Und wieder zufrieden war ich: „Schon recht, mein singendes, springendes
Löweneckerchen!“

Voll ernster Bedenken schüttelte mancher den Kopf, als Löweneckerchen
folgendes anstiftete: Unser Dienstmädchen hatte von meiner Mutter
Urlaub bekommen, um ihrem bäuerlichen Vater bei der Getreideernte
zu helfen, und da meine Sommerferien waren, durfte ich mit in das
Ackerbürgerstädtchen. Bald war ich mit den Bauerjungen bekannt genug,
um sie aufs Feld zu begleiten oder abends zur Pferdeschwemme. Einmal
umschwärmten sie einen betrunkenen Mann und johlten:

    „Allzuviel is unjesund,
    Jakade is ’n Schweinehund!“

Etliche Tage später ging das Gerücht, Jakade, in ewigem Hader mit
seiner Frau, habe sich aufgehängt -- wo, wisse man freilich nicht. Mit
einem Trupp Jungen kehrte ich von einem Nachbardorfe zurück, und da wir
an einem Kiefernwäldchen vorbeikamen, das sie den Hankebusch nannten,
streiften wir hinein, nach Pfefferlingen zu suchen. Es dämmerte schon
und war lauschig still. Meine Aufmerksamkeit wurde durch eine dunkle
Masse im Wipfel einer Kiefer gefesselt, und obwohl das nichts anderes
war als ein sogenannter Hexenbesen, täuschte mich die Ähnlichkeit
mit einer menschlichen Gestalt, und ich platzte heraus: „Da hängt
Jakade!“ Wie eine scheue Schafherde rannten auf einmal die Jungen aus
dem unheimlichen Hankebusch, ich ihnen nach. Auf der Landstraße wollte
jeder den Jakade deutlich erkannt haben, es hieß sogar, sein Gesicht
sei ganz blau und gelb gewesen.

Kaum waren wir im Ackerstädtchen angelangt, so flog auch unsere
Botschaft hindurch: „Jakade hängt im Hankebusch!“ Als wir zu Mariens
Vater kamen, der vorm Häuschen auf der Bank sein Pfeifchen schmauchte,
hatte er schon gehört und fragte die Jungen, die bei mir waren: „Wer
hät denn nu Jakaden jesiehn?“ -- „Der da!“ antworteten sie und zeigten
auf mich. -- „Is dat woahr?“ fragte der Landmann, und sein blaues Auge
spähte so durchdringend, daß ich meinte, er müsse in meinem Innern
den Vogel entdecken, an dem ich litt. „Oder is et jelogen?“ fuhr er
streng fort. Und nun fiel mir diese scharfe Unterscheidung aufs Herz:
Wahr oder gelogen! -- Ja, gab es denn nicht wenigstens ein Drittes? --
Kleinlaut klang meine Antwort: „Ich weiß nicht! Ich dachte: da hängt
einer! Und die andern haben ihn doch auch gesehen; sie sagten, er wäre
ganz blau und gelb im Gesicht.“ -- „War’s denn nu wirklich Jakade?“
Verlegen sah ich mich um und schwieg. Der Landmann sagte weiter nichts
als „hm“ -- und paffte seine Pfeife.

Als ich andern Tags durch das Städtchen ging, zeigte man auf mich,
und ich hörte sagen: „Dä is dat -- mit Jakaden!“ Und auf einmal kam
der totgesagte Jakade, wieder angesäuselt, aus einem Hause auf mich
losgetorkelt. Er drohte mit einem Stock: „Vafluchtijer Bengel, wat
häst du jesacht?“ -- Es traf sich gut, daß meine Ferien zu Ende waren,
sonst hätte dieser Jakade mich noch erwischt und am Verleumder ein
Strafgericht vollzogen. Da hatte ich nun den greifbaren Beweis, wie
wenig Verlaß auf meinen Vogel war.

Merkwürdig freilich, daß ein Jahr darauf Marie aus einem Briefe vorlas:
„Nu haben se den Jakade wirklich mit eenen Strick um den Hals dot
jefunden.“ -- „Na ja!“ wird der kritische Leser sagen, „Zufall, weiter
nichts! Jedenfalls läßt sich nicht abstreiten, daß dieser Vogel, wenn
er solche Geschichten macht, ein zweideutiges Viech ist.“

Zweideutig? Der Vogel hat allerdings manchmal seine Mucken. Ich glaube
bemerkt zu haben, daß es nicht gleichgültig ist, an welcher Stelle
meines Innern er sitzt.

Manchmal sitzt er mir auf den Lippen und schnarrt wie ein Starmatz --
das kribbelt dann so, man muß lachen, muß rasch die Lippen bewegen, --
und so gibt es zuweilen ein Geschwätz, aus dem man hinterher selber
nicht mehr klug wird. Auf den Lippen saß er mir gewiß damals, als ich
den Jakade hängen sah.

Des weiteren kann er auch im Kopfe sitzen, dann pfeift er hell und
scharf wie ein geschulter Dompfaff. Dabei ist einem zumute, als hätte
man eine Prise genommen und sich den Verstand so recht klar geniest.

Drittens nistet er, wie schon gesagt, im Herzen. Dann ist es voller
Sonne, die ganze Welt möchte man lieb haben -- wie damals, als ich der
Ziege vorlas und das goldige Feenschloß erschaute.

So recht frei aber fühle ich mich, wenn mein Löweneckerchen das
Allerschönste tut, wozu es der Himmel berufen: wenn es den blauen
Äther durchdringt und durchklingt. Ganz hingegeben sind mir dann
Ohr und Auge, Haupt und Herz; und was Menschenlippen nie singen und
sagen, hier tönts wie fühlende Flöten und Geigen -- als habe sich
Korn und Blumenwiese, Wipfelwogen und Wellenspiel, als habe sich die
ganze Sommerwelt mit all ihrer Sonnenliebe und Lebenstrunkenheit
zusammengefunden in dem einen jauchzenden Seelchen, dem flatternden
Punkte droben.




Anno dunnemals


Wo bin ich?

Ich packe meine Nase und rüttle mit forschem Rucke den Verstandskasten
zurecht. Nun finde ich mich wieder in die wirkliche Welt.

Ja, ja, ja! Die weite Fläche da vor mir ist der Müggelsee, vom Märker
„die Müggel“ genannt. Hat eine Tiefe bis zu acht Metern. Jenseits
blauen die waldigen Müggelberge, ganze fünfundneunzig Meter hoch,
wie ich aus dem „Touristenführer durch das Oberspreegebiet“ behalten
habe. Derselbe Gewährsmann nennt die Müggel den „Bodensee der Mark“.
Vielleicht wegen jener südlichen Hügel, die der Niederdeutsche
natürlich „Berge“ nennt, die er hier wohl gar mit dem Alpenwall am
Bodensee vergleicht. Oder vielleicht, weil die Spree, das Beispiel
des Rheins beherzigend, durch einen See fließt. Links, im Osten, wo
hinter der Rohrwildnis das alte Kirchlein von Rahnsdorf hervorlugt,
tritt die Spree in die Müggel ein. Rechts, weit hinter den roten
Ziegelmauern und Schlöten der Wasserwerke, bei der Friedrichshagener
Brauerei, fließt sie hinaus. In dieser Länge mißt die Wasserfläche fünf
Kilometer, während ihre Breite vom Nordufer, wo ich beobachte, nach den
Müggelbergen hinüber halb so groß ist. Zuweilen kann der See offenes
Meer vortäuschen; bei dunstigem Wetter verschwindet das jenseitige
Ufer, und wenn unter einer Brise Wellen über den Sandstrand spülen, ist
der Anblick ähnlich, wie von einer waldigen Ostseedüne.

Heute bleibt die Müggel auffallend einsam, -- ein Dampfer schleppt
ein paar Zillen, rechts blinkt ein kleines Segel. Noch zu früh ist
die Jahreszeit für Ausflügler. In den Sommerferien geht es hier hoch
her. Nach Zehntausenden zählen dann die Berliner; durch die Waldung
spazieren sie, erquicken sich am Sonnabend und am Freibad Müggelsee
oder belagern als Zuschauer in buntem Gewimmel die Sanddüne. Andere
machen in gemieteten Booten Ruderversuche, elegisch singend: „Still
ruht der See.“ Weht ein guter Wind, so sind die Jachten zur Stelle,
mit ihren ausgebreiteten Segeln gleich Schwänen, dabei wie Schwalben
hurtig. Dorfgänsen ähneln die langen Lastzillen, die trotz geblähten
Segels nicht eben flott vorwärtskommen, so daß der Schiffer mit der
Stoßstange nachhilft. Nun von Rahnsdorf her Vergnügungsdampfer mit
Musik. Kopf an Kopf wimmeln darauf die Ausflügler aus Berlin. Vorbei
geht es an den hübschen Villen, den baumreichen Seegrundstücken von
Friedrichshagen, vorbei an der waldigen Landzunge, wo das Wirtshaus
Müggelschlößchen zur Beschaulichkeit unter säuselnden Birken ladet.
Hier verläßt die Spree den Müggelsee. Dann kommen die Gartenhäuser
von Hirschgarten, der Dampfer gleitet unter einer Brücke hindurch
zur alten Stadt Cöpenick. Vorbei an ihrem Schloß und dem verwilderten
Park, durch die Wuhlhaide zum großen Volkshain von Treptow. Vorbei an
Lagerplätzen und Schuppen, in die Riesenstadt hinein ...

Doch lieber nicht gedacht an den brodelnden Hexenkessel Berlin. Im
Naturfrieden an der Müggel weilt es sich köstlicher -- zumal heute die
Störer fehlen und, wofern ich nicht nach den Wasserwerken blicke, mein
singendes, springendes Löweneckerchen mir den Traum heraufzaubert, die
Weltgeschichte sei noch um ein Vierteljahrhundert zurück.

„Anno dunnemals“, wie der olle krumme Kuschel, der Gemeinde-Kuhhirt, zu
sagen pflegte -- war Friedrichshagen noch einfältig hübsch. Seitdem hat
sich die Jungfer vom Lande städtisch zurechtgemacht -- wetteifert fast
mit Rixdorf. Ja ich vermute, wäre Friedrichshagen nicht nach seinem
Gründer, dem großen Friedrich, genannt, sondern mit einem ländlich
klingenden Namen, es wäre auch wohl der Versuchung erlegen, sich
umzutaufen, wie’s Emporkömmlinge zuweilen tun. Hat sich nicht Rixdorf
umgetauft in Neukölln? Und Kiekemal in Königstal?

Jedenfalls war das alte Friedrichshagen oder -- wie die Eingeweihten es
im Gegensatz zu heute nennen -- „Fritzenwalde“ noch ein richtiges Dorf.
Die Friedrichstraße, vom Bahnhof zur Brauerei erstreckt, eine breite,
sandige Dorfstraße. Ihre alten Maulbeerbäume, in vier Reihen gepflanzt,
legten Zeugnis ab von der Seidenzucht, die auf Befehl des alten Fritz
von den Kolonisten neben ihrer kleinen Landwirtschaft und Handwerkerei
betrieben wurde. Die Zucht der Seidenraupe ließ sich allerdings nicht
lohnend gestalten. Aber die Maulbeere wurde vorteilhaft nach Berlin
verkauft. Desgleichen die Sauerkirsche, in den sonnigen Hintergärten
herangereift und am Hügel der holländischen Windmühle, von wo man im
April einen Blick auf all die Blüten hatte. Obwohl zu meiner Zeit
die Maulbeerbäume nur noch streckenweise standen, bildeten sie
ein ehrwürdiges Wahrzeichen des Ortes, und es gab ein malerisches
Idyll, wenn gegen ihre knorrigen Stämme und dunkelgrünen Laubmassen
rotgolden die Abendsonne schien. Zwischen den gebuchteten Blättern
wie gelbe Perlen die Maulbeeren. Mit Steinen und Knütteln sucht sie
ein Kinderschwarm herabzuholen. Auch schwarze Beeren gibt’s; sind sie
gefallen und versehentlich zertreten, so sehen sie auf dem Kiesboden
wie Tintenkleckse aus; das Gesicht der schleckenden Kinder ist davon
fleckig.

Der urwüchsige Sandboden von Wagen gefurcht, an feuchten Stellen
mit Gras bewachsen. Die Kühe, die soeben mit dem Gemeindehirten
von der Waldwiese heimkehren, rupfen sich vor dem Stall noch einen
grünen Happen. Den Hintergrund des Gemäldes bilden die einstöckigen
Landhäuschen. Auf ihren Rohrdächern Moos. Vor den niedrigen Fenstern
Georginen und Sonnenblumen. Buchsbaum umrahmt die Beete, in der Mitte
ragt ein Wacholderbusch. Dazu gehören noch watschelnde Gänse, trinkend
aus der Pfütze vom nächtlichen Platzregen. An der Gartenpforte seines
Häuschens steht ein weißbärtiger Handwerker in brauner Wolljacke,
pfeifeschmauchend genießt er den Feierabend.

Das schlichte, weißgetünchte Kirchlein mit dem kurzen, breiten Turm
wurde unter Friedrich Wilhelm dem Dritten aus den kargen Überschüssen
der Spinnerei erbaut. Der Turm sieht den Kindern zu, die um das
Kriegerdenkmal spielen. Und zweimal in der Woche schaut er auf ein
kleines, nettes Markttreiben, auf Salat, Spinat und Eier in Körben, auf
Kartoffeln und was sonst die derben Landweiber mit den sonnverbrannten
Gesichtern feilbieten, während die Madamkens die Reihen durchmustern.
Sonst sorgt für den Bedarf der Hausfrau ein Gemüsewagen, dessen Inhaber
mit gröhlender Marktschreierstimme seine Ware preist: „Äppeläppeläppel!
Jurken, Jurken! Pflaumen wie de Puteneier! Jrienä jrienä Heringä!
Flundern, Flundern, Flundern -- wer kooft, der wird sich wundern!“ Eine
andre Gestalt der sandigen Straße ist der lahme Lumpensammler, der
seinen magern Karrengaul immer eine kurze Strecke ziehen läßt, um dann
zu halten, ob ihm nicht alte Kleider und Stiefel, Papier, Lumpen und
Knochen angeboten werden. Um seine Kunden anzulocken, trillert er auf
einer Blechflöte; dann ruft ihm wohl ein Spötter „Rejenwurm“ zu, und
Rejenwurm ist so dumm, sich jedesmal zu entrüsten über den Spitznamen,
der auf sein im Staube wühlendes Gewerbe anspielt.

Neben Hahnenkraht und Huhngegackel waren solche Laute ziemlich der
einzige Lärm, der im alten Friedrichshagen erscholl, -- es sei
denn, daß dumpfe Tuterohre, blökende „Feuerkälber“, wie sie genannt
wurden, die Freiwillige Feuerwehr zu einem Brande herbeiriefen, öfter
natürlich bloß zur harmlosen Übung mit nachfolgendem Biertrunke. Nur
Sonntagabends ging es etwas lebhaft zu, auf der Friedrichstraße, wenn
die Berliner truppweise von einer Landpartie heimkehrten -- zuweilen
in bekränzten „Kremsern“, wie ein mit Dach versehenes Fuhrwerk hieß,
wo elf bis siebzehn Menschen, dicke und dünne, männliche, weibliche
und sächliche, quietschvergnügt (oder richtiger: quetschvergnügt)
stundenlang ihre diversen Gebeine durcheinander rütteln und
vom Chausseestaub bepudern ließen. Den Sommertag hatten sie im
Müggelschlößchen verbracht oder in einem andern Gartenlokal, zu dem die
beliebte Aufschrift lockte:

    „Der alte Brauch wird nicht gebrochen:
    Hier können Familien Kaffee kochen.“

Abends verzehrten die Familien ihre mitgebrachten Stullen zur „Großen
Weißen“, die kommunistisch aus ungeheurem Glasnapf getrunken wurde,
unter Beigabe einer „Strippe“: eines Glases Kümmel oder Korn.

Wenn nun diese Kleinbürger und Arbeiter mit Kind und Kegel bis in die
Nacht auf die Eisenbahnzüge warteten und im Kupee wie Tonnenheringe
sich drängelten, so läßt sich ermessen, wieviel das Friedrichshagener
Idyll den Berliner Ausflüglern wert sein mußte, da es durch solche
Beschwerden erkauft wurde. Und es war ja auch wundervoll, was das
Müggelgebiet an Naturreizen bot. Träumen durfte man damals noch -- etwa
am Seeranft, auf dem Rasenteppich hinter dem Müggelschlößchen, den
Kiefern und Birken zu Füßen -- oder weiter hinten an der Schilfbucht
unter dem Haargezweige eines Weidenbaumes. Dotterblumen säumen das
Ufer, Binsen und flüsterndes Rohr. Über Stangen gebreitet die Netze
der Fischerinnung. Von der Düne schaut man weit auf einen blauen
Spiegel oder auf schäumendes Gewoge. Rechts die Kiefernhügel mit dem
Aussichtsturm sind die Müggelberge. Drüben das Rahnsdorfer Kirchlein,
ganz hinten die Kranichberge. Vorn im Schutze des Schilfwalls sammeln
sich zur Paarungszeit Schwärme von Teichhühnchen und Haubentauchern,
Enten und Gänseseegern, und ihr verliebtes „Krick“ und „Gork“ mischt
sich ins behagliche Orgeln der Frösche.

Nördlich von diesem Revier, genauer gesagt: vom Lehnschulzengut „Alte
Ziegelscheune“, hatten sich die Kolonisten aus Böhmen und der Pfalz
angesiedelt, denen der Alte Fritz eine halbe Quadratmeile Ödland
abgetreten hatte. Da sie von der Spinnerei allein nicht leben konnten,
rodeten sie Wald aus und beackerten den Boden. Mager gediehen die
Ähren, desto besser die Kartoffeln. Durch die sandigen Ackerstücke zog
sich ein Feldweg, mit Schlehdornbüschen, Akazien, Birken. Da lagen
etliche Granitblöcke, Findlinge aus der Eiszeit. Lieblich prangten die
Feldblumen, besonders auf den Ackerrainen. Allenthalben hingesprüht
flammender Mohn und Kornblumen. Nach Honig duftete das goldig lodernde
Labkraut, und am stillen Sommerabend mischte sich in den harzigen
Kiefernhauch vom nahen Forste der scharfe Ruch gelber Strohblumen. Was
an diesem märkischen Idyll entzückte, war neben dem bunten Unkraut das
Konzert der Lerchen, von denen zur Frühlingszeit immer ein paar im
Äther trillerten ...

    „Wunderseliger Mann, welcher der Stadt entfloh!“

Das war mein Gefühl von Kindheit an. Kein Wunder, daß ich als Berliner
Literatur-Novize in den Frieden der märkischen Landschaft flüchtete,
unmittelbar nach meiner Hochzeit mit der Gefährtin, die nächstens mit
mir die Silberhochzeit feiert. Auch Freund Wilhelm Bölsche, mit dem
ich zuvor eine Berliner Wohnung geteilt hatte, siedelte damals nach
Friedrichshagen über. Es schlossen sich noch andere Musenverehrer an,
die entweder von ihrer Feder lebten, oder vom väterlichen Vermögen,
oder endlich von der frischen Luft. Neben seinen Urbewohnern hatte
das alte Friedrichshagen noch ein Paar Fabrikanten, Ärzte, Beamte,
einige hundert Arbeiter, in einer großen Bildgießerei beschäftigt.
Auch manchen Freund des Wassersports, pensionierte Beamte und
Sechsdreierrentiers.

Zu den Straßen, wo die Naturschwärmer wohnten, gehörte die
Kastanienallee mit meiner Mietswohnung. Mir gegenüber ein verwilderter
Laubpark, wo im April die Amsel pfiff, im Fliederbusch Nachtigallen
schlugen. Waren die Bäume entlaubt, so sah man vom Balkon durch das
Gezweige den Bahndamm und die blauschwarze Wand des Forstes. Das
Hinterhaus zeigte Beete mit Blumen und Beeren, Spargel- und Obstgärten.
Aus entfernten Birkengruppen lugten die schlichten Villen der noch
ungepflasterten Nachbarstraße, die den rätselhaft stolzen Namen
„Breestpromenade“ führt. Bis gestern blieb auch die Kastanienallee
ungepflastert. Das ist ja nicht immer angenehm -- wenn zum Beispiel
im Winter auf hartgefrorenem Boden der nasse Schneebrei nicht weichen
will. Doch weil sich Fuhrwerke selten in den Sand meiner Kastanienallee
wagten, hat es ein Sinnierer, mit der Feder arbeitend, hier ein viertel
Jahrhundert ausgehalten ...

Sonst hat sich Friedrichshagen seit Anno dunnemals arg verändert. Am
See, wo Kiefernheide war, ragen die Schlöte und roten Ziegelwände
der Berliner Wasserwerke. An Stelle der dummen Ackerstreifen mit
ihren unrentablen Ähren und nichtsnutzigen Blumen lauter gerade
geschnittene Baustellen, von Stacheldrähten umhegt. Straßendämme, aus
deren Sande schon die Kopfstücke der unterirdischen Kanalisation ragen.
„Aufschwung!“ höre ich ein paar Herren aus Berlin sagen, die sich
offenbar auf Bauspekulation verstehen, und mit Ehrfurcht konstatieren,
was aus der Feldlandschaft geworden. Überall buddelt man den Naturboden
um: jene künstlichen Eingeweide müssen angelegt werden -- abziehen
soll durch sie der viele Unrat, den die funktionierende Kultur mit
sich bringt. Überall bekommt Mutter Erde einen Panzer vor den Busen.
Nicht mehr nach Kuhstall duftet es, sondern nach Benzin; hupende
Autos sausen die Friedrichstraße entlang, und die hat nichts mehr von
der alten Dorfstraße. Der grasige Sandweg verschwunden; gediegenes
Pflaster, Straßenbahnschienen. Keine Vorgärtchen mehr, dafür breite
Bürgersteige. Die ländlichen Häuschen abgelöst durch hohe Mietshäuser
mit Schaufenstern. Die knorrigen Maulbeerbäume verschwunden, ersetzt
durch Bäume von vorschriftsmäßigem Wuchs. Ach, und die holländische
Windmühle hinter Conrads Tanzsaal verschwunden. Gänzlich weggeräumt vom
märkischen Sande, der früher unverwüstlich konservativ erschien. Und
dieser Sand selbst -- wo ist er jetzt? Die Mühle stand doch auf einem
Hügel! Wo blieb der Hügel? Mit Kalk vermischt, ward er in all die rings
emporgewachsenen Mauermeisterstücke vermauert.

Horch, was für ein weltstädtisches Tosen auf der Friedrichshagener
Friedrichstraße? Aus dem Berliner Zuge hat sich ein stampfender,
schwatzender Menschenstrom ergossen. Diese hastenden Arbeiter,
abgespannten Verkäuferinnen und Bürobeamten bringen die dumpfige
Luft ihrer Arbeitskasernen mit und all die andern Segnungen des
Maschinenzeitalters. Elektrische Flammen bestrahlen ein grellbuntes
Plakat. Unter dem Titel eines Theaters hat sich ein Kientopp etabliert,
von Stiergefecht und Detektivromantik flimmern seine Filme. Uff, und
Grammophone lassen ihre Walzen wetteifern! Bei mildem Wetter sind ihre
Besitzer so uneigennützig, die Fenster zu öffnen, damit nur ja die
weite Nachbarschaft lauschen kann dem schelmisch quäkenden Damencouplet
und der Arie eines Baßbuffo, der Stockschnupfen hat oder sich beim
Singen die Nase zuhält. Und wenn auch noch das oberste Luftreich
von der neuen Ära bebt! Wenn vom nahen Flugplatze Johannisthal eine
Rumplertaube in brummenden Kreisen naht oder ein Parseval wie ein
Fabeldrache angeschnoben kommt ... O Himmel, was für einen Aufschwung
hast du über das gute Fritzenwalde verhängt!

Einen andern Aufschwung meinte ich, als die Osterlerche über dem
Forsthaus jubilierte. Doch den will man noch nicht gelten lassen in
Preußisch-Schilda. Nach Gesinnung und Verfassung ist lieb Vaterland so
geblieben wie Anno dunnemals, als es den Chronisten hinter Schloß und
Riegel steckte. -- Ob’s endlich mal anders wird? Ob es Schildbürgern
gelingen wird, die Seelen so fliegen zu lassen wie ihre Maschinen? Ein
Trost, daß es noch singende, springende Löweneckerchen gibt.




Der Igel


Den Igel von der Buxtehuder Heide haben wir als Kinder bejubelt -- wie
er mit dem langbeinigen Junker Hasen um die Wette lief: seine Frau
hatte er am Ziel versteckt, so daß der Hase, als ihm Fru Swinegelin
zurief: „Ick bün all hier!“, meinte, nun sei ihm der krüppelbeinige
Konkurrent doch zuvorgekommen. Im wiederholten Wettlauf ging dem Hasen
die Puste aus, tot streckte er seine Stelzen.

Guter Meister Igel, was bist du trotz deiner Stacheln für ein herziger
Bursche! Nicht nur der Heidebauer jubelt dir zu, weil du verschmitzter
Kerl dir zu helfen gewußt mit deiner wackern Ehehälfte und weil du’s
dem Junker Hochmut gründlich eingetränkt hast, daß er zu spotten
gewagt über den geringen Mann. Glaube nun beileibe nicht, daß ich dich
herabsetzen will, wenn ich deinen Namen einer zweibeinigen Kreatur
gebe, die ihn nicht ganz verdient; denn der menschliche Igel, auf
den ich zu sprechen komme, besaß deinen charaktervollen Schlaukopf
bloß in seiner Einbildung, und seine Ähnlichkeit mit dir erstreckt
sich fast nur auf das duckmäuserische Exterieur. Auch stand ihm keine
Swinegelin zur Seite, sintemalen er bis in sein sechstes Jahrzehnt
den Junggesellenstand beibehalten. Friedrichshagen, wo dieser Igel
hauste und waltete, war damals noch dörflich, hatte an ländlichen
Häuschen mit Rohrdach und Fliedergärtchen nicht Mangel, besaß noch
keine Pflasterung, keine Kanalisation, keinen Kientopp und keinen
Bürgermeister.

    „Es ist schon lange her --
    Das freut mich um so mehr“ --

-- und zwar besonders aus dem Grunde, weil man nach so viel Zeit eine
Lippe riskieren und ohne Gefahr einer Majestätsbeleidigung verraten
darf, besagter Igel von dunnemals sei eine Respektsperson gewesen,
gewissermaßen der Statthalter des Königs von Preußen am Müggelsee,
nämlich etliche Monde lang stellvertretender Amtsvorsteher von
Friedrichshagen. Sein bürgerlicher Name war Friedrich Hegel, und es
ist nicht ausgeschlossen, daß er irgendwie verwandt war mit jenem
Philosophen, den eines Schwabendichters Loblied wetteifern läßt mit den
Guanovögeln:

    „Trotz meinem Landsmann, dem Hegel,
    Schafft ihr den vortrefflichsten Mist.“

Um die Kassenführung eines ostelbischen Städtchens war unser Fritz
Hegel so verdient, daß ihn die allgerechte Obrigkeit mit dem
Kronenorden vierter Güte und dem Titulo Rechnungsrat dekoriert hatte.
Anfangs nannten ihn die Fritzenwalder Herr Rechnungsrat. An sein
früheres Rechnen schien er freilich nicht sonderlich gern zu denken; er
hatte auf diese Anrede zunächst einen stechenden Blick, dann näselte
er mit einem Lächeln gemachter Leutseligkeit: „Bitte nennen Se mich
einfach Rat.“ O freilich, Rat Hegel, das klingt vornehm; was ist
dagegen Amtsvorsteher! Vorstehen kann schließlich jeder Bäckermeister.
Aber Rat -- das läßt auf Geist und Bildung schließen; Ratgeber hat
man „oben“ nötig. Der Herr Landrat des Kreises Niederbarnim ist auch
einfach Rat!

Der „Alte Fritz“, Gründer von Friedrichshagen, war Hegels besondere
Schwärmerei und ja auch Friedrich getauft; deshalb nannte den Rat sein
Stammtisch im „Waldhaus“ gern den „Jungen Fritz“. Allerdings war unser
Igel durchaus kein Jüngling mehr; immerhin wäre ja der Große Friedrich,
wenn er jetzt noch lebte, jetzt viel älter als der Amtsvorsteher
Hegel. Übrigens wollte man ein unterscheidendes Merkmal gegenüber
dem Alten Fritz geltend machen. Und schließlich gehörte es zu den
Eigentümlichkeiten des Jungen Fritz, immer noch jugendlich aufzutreten,
zumal der Damenwelt gegenüber, für die er eine nie versiegende
Verehrung empfand.

Auch wie er zu dem Spitznamen Igel kam, will ich nicht verschweigen.
Schon der Name Hegel hat die Anlage, in Egel, Igel umgewandelt zu
werden. Und als ich zum erstenmal mit dem Rate zu tun hatte, ging es
mir durch den Sinn: den mußt du schon mal gesehn haben! Wo denn aber?
Da ward mir auf einmal klar, daß dieser Würdenträger Ähnlichkeit mit
dem wettlaufenden Swinegel hat, wie ihn Ludwig Richter gezeichnet. Hier
war ja dieselbe kurze Gestalt, derselbe kleine Duckmäuserkopf mit den
listigen Schweinsäugelchen, dieselbe rattenhafte Spitzmäuligkeit --
seine schmalen, rasierten Lippen wurden durch ein paar Nagezähne schräg
nach vorn geschoben -- hier war auch der huschende Leisegang des Igels.

Was die Pedale des Herrn Rat betrifft, so will ich beileibe nicht
andeuten, daß sie krumm waren, wie die Schleichkrüppelchen des
Buxtehuder Swinegels. Kurz und zierlich, ja das waren sie, deshalb
würdigte sie der selbstbewußte Eigentümer auch einer besonderen
Sorgfalt. Auf den Tanzkränzchen der Bürgerressource staunte man nicht
bloß über die Elastizität der Hegelschen Hüpforgane, sondern auch über
ihre patente Bekleidung. Beim Contretanz, den er mit den nasalen Lauten
eines französischen Mäters zu kommandieren pflegte, kokettierte er in
Lackstiefeletten, während er sonst gelbe Promenadenschuhe trug, die
Beinkleider stutzerhaft aufgeschlagen. Sein Ideal war eine Mischung von
Landrat und Friseur, emeritiertem Hauptmann und Tanzmeister.

Sein rastloser Ehrgeiz hatte ihn ins Fritzenwalder Amt befördert.
Anfangs hatte er nur als Pensionär am Müggelsee leben wollen, als
passionierter Angler, Tänzer und sonstiger Lebenskünstler. Dann in den
Gemeinderat gewählt, fühlte er immer bestimmter, sein Genie sei noch
lange nicht welk, vielmehr zu erneuter Karriere berufen. Damals fügte
es sich, daß ein Friedrichshagener Amtsvorsteher, der sonst so tüchtige
Herr Drachholz, wegen seines plötzlich gesteigerten Asthmaleidens auf
Urlaub nach Ägypten gehn mußte, und nun war ein stellvertretender
Amtsvorsteher nötig. Durch geschicktes Aufgebot all seiner Gönnerinnen
gelang es dem Jungen Fritz, seinem gefährlichen Mitbewerber, dem
reichen Klempnermeister Kuhlicke, viele Stimmen abspenstig zu machen.
Nunmehr provisorischer Regent der „Kolonie“, hoffte er, dem Herrn
Landrat und „den Herren da oben“ ebenso wie den Spießern bald zeigen zu
können, daß Rat Hegel ein ganzer Kerl und Preuße sei, zum definitiven
Amtsvorsteher fraglos vorherbestimmt.

Wenn der kleine Gernegroß den eleganten und gebildeten Weltmann
herauszubeißen suchte, so kamen auch Entgleisungen vor, die dem
Bierbankgelächter willkommene Nahrung boten. Als Beispiel mag eine
Begebenheit dienen, die nach Errichtung einer biologischen Station für
Binnenfischerei am Gestade des Müggelsees vorfiel. Ein fremdländisch
aussehender Herr war von Berlin auf dem Bahnhof Friedrichshagen
angelangt, als er in sichtlicher Ratlosigkeit, an einen Bahnbeamten
gewandt, in gebrochenem Deutsch stammelte: „Wo ist biologische
Station?“ -- „Hier ist Station Friedrichshagen“, lautete die Antwort.
Der Ausländer blieb bei seiner Formel: „Ich will zu biologische
Station.“ -- „Ach, Sie meinen wohl Station Zoologischer Garten?“
Der Ausländer protestierte: „Nicht zo -- sondern bi, bi!“ Dies
Zwiegespräch hatte Rat Hegel mit angehört, und um seine weltmännische
Gewandtheit darzutun, schüttelte er vornehm mitleidig das Haupt über
des Bahnschaffners unbeholfene Art: „Aber Mann! Erraten Sie denn gar
nicht, was dieser Pariser will, hä?“ Und er blinzelte den Fremdling
an: „Oui oui, monsieur, je comprends! Kommen Sie!“ Vertraulich seinen
Arm ergreifend, führte er ihn nach jenem Bretterhäuschen, das von den
Reisenden der wenig komfortablen Vorortzüge oft mit sehnsüchtiger Hast
erstrebt wird. „Ici bibi! Ici biologische Station!“ Mit einem Blick der
Entrüstung wandte sich der Fremdling ab; Rat Hegel, über solche Wirkung
seines Ratschlags verdutzt, ratschlagte hin und her, ob er es an Takt
habe fehlen lassen, oder ob dieser Pariser doch etwas anderes gemeint
habe.

Als er sein Abenteuer im „Waldhaus“ erzählte, platzte der dicke Wirt
heraus: „Warum haben Se’n denn nich zu +mir+ geschickt, Herr Rat?
Er meinte doch offenbar die +Bier+ologische Station!“ Zufällig
saß auch der Leiter der biologischen Station am Stammtisch, der schlug
die Hände zusammen: „Also Sie, Herr Rat, sind das gewesen? Wissen Sie
denn nicht, was für einen Beruf und Posten ich hier in Friedrichshagen
habe!“ -- „Sie -- hä? Natürlich weiß ich das! Herr Professor sind
Leiter des Instituts für Binnenfischerei am Müggelsee.“ -- „Na das
ist doch die biologische Station!“ War das ein Reinfall für unsern
Igel! War das ein gefundenes Fressen für die auf Ulk erpichten Bürger
des Kreises Niederbarnim! Zu seiner Entschuldigung machte er mit
wehmütigem Lächeln geltend: „Wenn ich bei der Frage des Ausländers
nicht sofort erraten habe, daß Biologie Binnenfischerei bedeutet, so
ist das verzeihlich bei einem Manne, der auf seiner Realschule zwar
ein leidlicher Franzose gewesen, aber natürlich kein Lateiner. Auch
bin ich eben ein schlicht konservativer Patriot, und in meiner bald
vierzigjährigen Amtstätigkeit sind mir immer nur +Preußische+
Formen und Aufgaben vorgekommen, keine kosmopolitischen Probleme.
Übrigens weiß man oben schon, was man an Rat Hegel hat, dem die Kolonie
des Großen Friedrich anvertraut worden -- oder etwa nicht, hä?“

Ein Patriot -- nun ja, das war Rat Hegel -- was mancher Beamte, um
die Gunst seiner Vorgesetzten beflissen, so unter einem Patrioten
versteht. Die politische Gesinnung gehört dabei zum Dienst, wie der
Soldat vorgeschriebene Uniform zu tragen hat und stramm seinen Griff
macht, wenn das Kommando erfolgt „Helm ab zum Gebet!“ Obwohl der Junge
Fritz gelegentlich mit Fridericianischer Aufgeklärtheit kokettierte,
so war er doch auch von jenem Geist erfüllt, der einem Polizeimenschen
zu Anfang der neunziger Jahre, wenigstens einem Preußischen, eigen
war, nachdem man durch das Ausnahmegesetz gegen die gemeingefährlichen
Bestrebungen lange genug zum Unratschnüffeln abgerichtet war. So nahe
beim blutroten Hexenkessel Berlin hatte Rat Hegel ein klein wenig
von dem Grundsatz, den sein Kollege in Erkner, „Wehrhahn“ in Gerhart
Hauptmanns „Biberpelz“, mit den schneidigen Worten verkündet: „Meine
Aufgabe hier ist mustern und säubern. Was hat sich nicht alles für
Kehricht am Orte angesammelt! Dunkle Existenzen, politisch verfehmte,
reichs- und königsfeindliche Elemente. Die Leute sollen zu stöhnen
bekommen.“

So schlimm wie dieser Bramarbas hatte es Rat Hegel nun freilich nicht
vor, dazu liebte er zu sehr seine Ruhe. Ein paarmal raffte er sich
indessen zur hurrapatriotischen Attacke auf gegen die erwähnten dunklen
Existenzen. Nicht geheuer schien ihm jene Gruppe von Schriftstellern,
die in einigen Literaturgeschichten „die Friedrichshagener“ heißen.
Als Menschen, die sich im Punkte der Überzeugung keinerlei Vorschriften
machen ließen, um vielmehr von ihren Ideen oder mindestens ihrer
gutgemeinten Schwärmerei geleitet zu werden, betrachteten sie
Ungebundenheit als ihr Lebenselement und waren in Wort und Werk
verblüffend unpreußisch.

Das Generalquartier der Friedrichshagener, mit denen es auch allerlei
Berliner Genies hielten, war jahrelang das Haus der Brüder Streitmüller
in der Ahornallee. Zweier Soziologen, die, begeistert von Güte für die
Massen armer Volksgenossen, einem Sozialismus huldigten, der selbst
den Sozialdemokraten zu frei war, daher „Anarchismus“ genannt wurde.
Benno Streitmüller, der jüngere Bruder, verkehrte überdies in Paris und
London mit Leuten wie Réclus und Fürst Krapotkin. Persönlichkeiten, die
man später, als ihre geistige Bedeutung nicht mehr abzuleugnen war, mit
dem entschuldigenden Etikett „Edelanarchisten“ bezeichnet hat, die aber
in den achtziger und neunziger Jahren für den normalen Polizeiverstand
Hochverräter und Bombenwerfer waren. Kein Wunder, daß der Preußische
Statthalter von Friedrichshagen, den auch noch die Berliner Polizei
scharf gemacht hatte, ein Auge auf seine Literatenkolonie hatte.

In diese amtliche Stimmung platzte eines schönen Tages eine Bombe
hinein. Wenigstens ähnlich einer Bombe wirkte eine Postkarte, die
aus London anlangte, adressiert an Herrn Benno Streitmüller in
Friedrichshagen. Auf einem obskuren, doch wohl einfachen Wege war ihr
Inhalt zur Kenntnis des Amtsvorstehers gelangt. Der ging hoch wie
ein gärender Vulkan, als er die Worte las: „Produkt wohlgeraten. Zur
größern Sicherheit läßt Freund die Kiste lieber von Hamburg abgehen;
damit unterwegs nichts passiert, ist Inhalt als leicht zerbrechlich
bezeichnet. Wohl bekomm’s! Dein Krapotkin!“ -- Oh! Da war ja nun die
Bescherung, die längst von dieser Tintenkulibande zu erwarten war. In
der Kiste mußte Dynamit oder so was sein, darauf ließen die Worte wie
die Personen schließen. Vollends verdächtig war folgende Nachschrift
der Postkarte: „Deinen Gruß an Fifi kann ich nicht bestellen. Denke
dir, er hat sich fortgemacht -- vor fünf Tagen fand man seinen Käfig
leer.“ Also ein Verbrecher war ausgebrochen; kein Zweifel, dies
rebellische Gesindel hatte gefährliche Anschläge. Gott sei Dank war
ja nun Rat Hegel rechtzeitig dahinter gekommen, der Himmel hatte ihn
zum Retter auserkoren. Ja, ja! Wer hat jetzt noch die Stirn, den
Amtsvorsteher eines märkischen Dorfes gering zu schätzen? Der Mann
kann ja für den Staat Friedrichs des Großen ähnlich wichtig sein, wie
für das römische Kapitol die Gänse waren, die durch ihr Schnattern
vereitelten, daß es der Feind bei Nacht überrumpelte.

Natürlich überbrachte Rat Hegel seine Entdeckung brühwarm dem Berliner
Polizeipräsidium. Mit dem Erfolge, daß ein Dutzend handfeste Detektivs
in aller Herrgottsfrühe die Friedrichshagener Anarchistenspelunke
umzingelten, und daß der Igel, flankiert von zwei Revolverfritzen, in
das Verbrecherhaus eindrang, sobald die erste Post mit der avisierten
Dynamitkiste zu erwarten war. Streitmüllers Haushälterin wollte eben
mit dem Marktkorb einholen gehn, als ihr der Amtsvorsteher eröffnete,
daß Haussuchung stattfinde. Zuerst wurde der Korb der verblüfften Madam
visitiert, dann hieß es: „Führen Sie uns zu Herrn Benno Streitmüller,
wir wissen, daß er hier ist.“ -- „Ach, der ist ja in Paris!“ --
„Leugnen ist überflüssig -- wenn Sie ihn verborgen halten, werden Sie
ernste Unannehmlichkeiten haben.“ So ging die Untersuchung nach allen
Regeln der Polizeikunst los. Doch kein Benno Streitmüller, nicht einmal
sein Bruder Paul wurde aufgestöbert. Wie dann die Postkiste angelangt
war, fanden sich darin Blechdosen. Das war ja nun bedenklich. Darin
mochten die Dynamitbomben verwahrt sein. Mit größter Behutsamkeit ging
man vor -- konnte doch so’n Dings einem vor der Nase explodieren --
und das Gesicht konfiszieren ... „In Wasser legen!“ krähte Rat Hegel
und retirierte, als ein waghalsiger Polizeier eine der Höllenmaschinen
öffnete ... Huhu brrr! Es waren rätselhafte Kugeln darin, faustgroß und
dunkelrot. Jetzt hatte der heldenhafte Detektiv sein Käsemesser gezogen
und wagte in solch eine Kugel -- höchst schauderbar -- hineinzupieken.
„Det sieht ja aus wie Paradiesäppel!“ meinte er schnüffelnd -- „Jotte
doch, richtije Paradiesäppel, wo neierdings Tomaten heeßen. Wat
will die Bande mit Obst?“ Nun bestätigte die Haushälterin, in den
Blechdosen seien eingemachte Tomaten, und als man ihr den Inhalt der
Postkarte mitteilte, gab sie unter Gelächter die Aufklärung: Fürst
Krapotkin, ein passionierter Tomatenzüchter, habe Benno Streitmüller
für seine Züchtungsmethode interessieren wollen. Und Fifi, der aus dem
Käfig Ausgebrochene, war ein Kanarienvogel Krapotkins -- in seiner
Unerfahrenheit hatte das Tierchen sein Freiheitsideal außerhalb des
Vogelbauers, im wüsten London gesucht.

Nicht ganz so harmlos wie die geschilderte Begebenheit, doch ebenso
charakteristisch, verlief jene andere, die mich persönlich mit dem
Igel aneinander brachte. Es mochte ihm bekannt sein, wer seinen
zoologischen Spitznamen geprägt hatte, der ihn ebenso wurmte, wie der
„Junge Fritz“ eine Schmeichelei bedeutete. Vollends gehörte ich zu
der Literatursippe und war einer der Schlimmsten. Genug, ich witterte
längst, daß er mir nicht grün; ja von Anfang an hatte mich der lauernde
Zug in den Schweinsäugelchen ahnen lassen, dieser Igel werde mal einen
listigen Gang mit mir tun und trage sich mit dem Vorsatz: „Warte nur,
frecher Langbein, ich werde dich noch zur Strecke bringen, wie mein
Namensvetter von Buxtehude!“

Na ja, an Diensteifer ließ er ’s nicht fehlen, als die Reiberei
losging. Die Einleitung war ein Schriftstück, das vom Amtsdiener Bolle
in meine Wohnung gebracht, mich „zur Vernehmung“ aufs Amt lud. Mein
erster Gedanke war: Du hast wohl was Impertinentes in einer Rede gesagt
oder durch Druck veröffentlicht? und nun will dir der Staatsanwalt zu
Leibe? Aber nein doch! Wohl nur als Zeuge sollst du vernommen werden;
vielleicht auch wollen diese Büropedanten einfach das Personalregister
berichtigen. Sei’s, wie es sei -- wir werden ja sehen!




Die Vernehmung


Das Fritzenwalder „Amt“ war einstalliert in einem gemieteten
Landhäuschen, das nur ein Erdgeschoß mit einem großen Zimmer und ein
paar kleinen hatte. Längs der Wände lagen die Akten aufgestapelt,
in den Fächern hölzerner Gestelle ohne Verschluß, dem Staube,
der Vergilbung, den Motten preisgegeben. All diesen Akten hing
gewissermaßen die Zunge zum Halse heraus, und diese Aktenzunge war
gelb, grün, blau, rot, ein Kennzettel, um Rede zu stehen über den
Inhalt des Schriftstückes. Ein paar Schreiberseelen hockten an Pulten,
und wenn sie nicht frühstückten, rauchten oder plauderten, hörte man
ihre Federn kritzeln, dazu im Sommer den ländlichen Fliegenschwarm
summen und beim Nachbar die Hühner gackeln.

Rat Hegel saß dann -- vorausgesetzt, daß er nicht am Gestade der Müggel
die Angelrute schwang -- in einer Art Boudoir, das mit Schreibtisch und
Lutherstuhl ausgestattet war, auch mit Teppich, Liegesofa und etlichen
Bildern. Hier pflegte der Igel Amtspflichten zu erfüllen, die er nicht
der Kritik und Indiskretion aussetzen mochte. Wenn zum Beispiel eine
junge Witwe gegen ihre Steuereinschätzung reklamierte, oder wenn die
stattliche Frau Mauermeisterin in einer Bauangelegenheit den Vorteil
ihres Gatten wahrzunehmen suchte, oder wenn ein hübsches Dienstmädchen
... das heißt, ob das Mädchen hübsch, die Meisterin stattlich, die
Witwe jung war, tut eigentlich nichts zur Sache -- lassen wir’s!

Genug, in besagtes Geheimkabinett wurde ich von einem Beamten des
Vorderbureaus, dem ich meine Vorladung gezeigt, nach zeremonieller
Anmeldung geleitet. Der Igel erhob sich von seinem Sessel am
Schreibtisch, zog unter Augenzwinkern den Kopf zwischen die Schultern
-- was eine gemessene Verbeugung sein sollte -- lud mich durch
Handbewegung auf das Sofa und nahm die hochwichtige Schreibarbeit
wieder auf, die mein Eintreten unterbrochen hatte. Als mir sein
Kritzeln zu langweilig wurde, stand ich auf, die Bilder zu betrachten,
mit denen das Boudoir geschmückt war. Das Portrait des greisen Kaisers
in Öldruck war mir nicht ganz neu; wohl aber ein großes Gruppenbild,
das den Amtsvorsteher darstellte, inmitten des Gemeinderats und der
Freiwilligen Feuerwehr.

„Hä?“ grunzte der Igel in etwas mißbilligendem Tone, befremdet
durch meinen Mangel an Befangenheit. „Sie kommen gleich dran. Die
Zeit soll Ihnen nicht lang werden.“ -- „Bitte!“ gab ich im Tone der
Wurstigkeit zurück und vertiefte mich nunmehr in die Photographie des
Landrats. Doch schon hatte er die Feder hingeworfen und ein Aktenstück
aufgeschlagen. Mit nachlässigem Genuschel las er: „Zu vernehmen der
Schriftsteller Dr. Bruno Wille zu Friedrichshagen, Kastanienallee
neun.“ Stechend blinzelten seine Schweinsritzen zu mir herüber: „Das
sind +Sie+ -- hä? Wollen Sie gefälligst wieder Platz nehmen!“
Ich setzte mich, und nachdem er abermals eine spannende Pause gemacht
hatte, indem er die Akten durchblättert, fuhr er fort: „Da ist ’ne --
Sache vom -- Königlichen -- Provinzial -- Schulkollegium -- hä?“ Und
grausam listig fixierten die Äugelchen ihr Opfer.

Ich war nichts weniger als bestürzt. Eine Schulsache? Ich fühlte
mich erleichtert, fast übermütig. War ich doch die beklemmende
Aussicht los, daß mich der Staatsanwalt wegen einer freimütigen
Äußerung belangen wolle. Schule! Kollegium! Na ja, es wird sich um
gestundete Kollegienhonorare handeln -- schon recht! Diese alten
Studentenschulden müssen abgezahlt werden -- und nun will man mich
dringend mahnen. Was könnte ich sonst mit der Schulbehörde zu tun
haben? -- Wie? Oder sollte diese Geschichte den Jugendunterricht
angehen, den ich in der freireligiösen Gemeinde erteile? -- Meine
dämmernde Ahnung wurde rasch zur Wahrscheinlichkeit, getroffen vom
nüchternen Lichte historischer Realität. Gehört doch Friedrichshagen
zu Preußen, und hier, wo der Gesetzentwurf des Ministers von
Zedlitz-Trützschler, eine Verfrommungsattacke auf die Volksschule,
soeben von der öffentlichen Meinung abgewiesen war, schlich nun das
Dunkelmännertum auf Hintertreppen, um durch administrative Verfügungen
Vorteile zu gewinnen.

„Ja und --? Was will denn das Provinzial-Schulkollegium?“ erlaubte ich
mir, mißtrauisch und etwas ungeduldig zu fragen. Wieder in das Dokument
vertieft, wiegte der Rat den Kopf, als wisse er nicht, wie er die
Sache anfassen solle. Da er gemerkt hatte, daß sein Amtsgesicht nicht
imponiere, suchte er mir auf andre Art beizukommen. Schüttelte also
das mit fuchsiger Perücke gezierte Denkerhaupt, als befremde ihn der
Inhalt des Schriftstückes. Aufatmend in den Lutherstuhl zurückgelehnt,
klatschte er die flache Hand auf das Papier: „P! Was soll unsereins
nicht alles! So ’nem Amtsvorsteher werden die schwierigsten Sachen
zugemutet. Gewisse hochgestellte Herren scheinen zu denken, man is so’n
richtiger Packesel -- für ihre diplomatischen Missionen -- hä?“ -- Mein
Lächeln für Beifall nehmend, suchte er diese Stimmung zu begünstigen
und fuhr im Tone einer behaglichen Beschaulichkeit fort: „Unser Großer
Friedrich hat gesagt: In meinem Staate kann jeder nach seiner Fasson
selig werden. Das ist auch mein Grundsatz -- naturgemäß.“ Zustimmend
neigte ich ein wenig den Oberkörper, und es fuhr der Igel fort: „Na
ja! Darin sind wir einig! Nun aber das da! P!“ Und wieder klatschte er
nichtachtend auf das Dokument -- „was soll man +dazu+ sagen, hä?“

„Aber Herr Rat, ich weiß ja noch gar nicht --?“ Beschwichtigend hob
er die Hand: „Lassen Sie mich zuvor bemerken, daß +mich+ hier
keinerlei Schuld trifft -- nicht die mindeste Verantwortung, als Mensch
sozusagen. Auch für mich gilt das Wort jenes englischen Prinzen: Ich
diene!“ -- „Ich zweifle nicht, Herr Rat.“ -- „Ja, nicht wahr? Und
Sie können sich denken, Herr Doktor -- wenn die Herren oben -- Sie
verstehen, wen ich meine! wenn sie vorher bei +mir+ angefragt
hätten, ob die Sache opportun sei ...“ -- „Sie meinen die Sache da vom
Provinzial-Schulkollegium?“ -- „+Ich+ hätte gesagt: +Nicht+
opportun!“ -- „Aber hat sie denn was zu tun mit dem Grundsatz, daß
jeder nach seiner Fasson? Wie? Mit Religion? Ach so, es handelt sich
wohl um die Freireligiöse Gemeinde?“ -- „Naturgemäß! Ja und nun sagen
Sie mal, Herr Doktor, was +wollen+ denn diese Freireligiösen,
hä? Sie möchten wohl ganz ohne Glauben sein? ohne Pastor und ohne
Kirche, hä? Na ja, wissen Sie, so’n +bißchen+ freireligiös -- und
wenn ich auch ein konservativer Mann bin -- im Grunde unseres Herzens
haben wir alle heutzutage so’n Stück Freigeist. Ich selber habe mal im
Gemeinderate -- als es sich um die Waldparzelle für die Wasserwerke
handelte, -- da habe ich unverfroren gesagt: +Meine+ Kirche --
wissen Sie, meine Herren, was +meine+ Kirche ist? Der Wald! --
Ja wohl, Herr Doktor, das hab ich rund heraus gesagt. Sehn Sie, darin
bin ich +auch+ freireligiös ... Wer hat dich, du schöner Wald,
aufgebaut so hoch da droben?“

Es fiel mir nicht leicht, den Schein der Ernsthaftigkeit zu wahren.
Seine Erwähnung des Waldes brachte mir eine hölzerne Warnungstafel
in Erinnerung, die damals am Eingang zum Forst angeschlagen war,
unterzeichnet „Amt Friedrichshagen. gez. Hegel.“ Sie enthielt
die monumentalen Worte: „Das Betreten dieses Waldes ist nur mit
geschlossener Pfeife gestattet.“ -- „Sehr verdienstvoll, Herr Rat,“
-- lächelte ich -- „daß Sie in unserm Friedrichshagen etwas von
der friderizianischen Tradition lebendig halten.“ Wie wenn einem
Berliner Weißbierphilister die Kohlensäure prickelnd in die Nase
steigt, so wurden des Igels Nüstern angenehm geschwellt, und vor
Genugtuung funkelten seine Äugelchen. „Aber“ -- so fuhr ich fort --
„darf ich mir die Frage erlauben, inwiefern unser Religionsgespräch,
das mir ja an und für sich interessant ist -- ich meine, inwiefern
es zur Sache gehört -- zu meiner Vernehmung in Angelegenheiten des
Provinzial-Schulkollegiums?“ Er nickte, und mich streifte ein echter
Igelblick -- in dem sich Pfiffigkeit und Mißtrauen mischten. „Zur
Sache gehört das alles -- ganz naturgemäß. Was nun Ihre Anspielung
auf den friderizianischen Geist betrifft, so ehrt sie mich. Indessen
muß ich eine Einschränkung geltend machen. Es hat nämlich der geniale
Friedrich -- bei aller Freigeisterei -- an gewissen Ideen der Religion
festgehalten. Vor allem an der Idee des höchsten Wesens, wissen Sie,
hä?“

„Des höchsten Wesens? Hum! Ja, aber es kommt bloß darauf an, was
man darunter versteht!“ -- „Ja, verstehen denn die Freireligiösen
+überhaupt+ etwas darunter?“ Jetzt begegnete ich dem lauernden
Blick des Anglers, wenn er dem anschwimmenden Fischlein den Köder
hinwirft, mit dem es den Haken verschlucken soll. Da ich schwieg, so
lockte er weiter: „Allerdings, wer unter dem höchsten Wesen einen
weißbärtigen Herrn versteht“ ... Unsicher geworden, verstummte er, ich
aber nahm seinen Gedanken auf: „An den weißbärtigen Herrn glauben Sie
also wohl selber nicht, Herr Rat, wie?“ -- „Immerhin an einen Gott!“
eiferte er mit Salbung -- „an ein höchstes Wesen, das über der Natur
waltet -- als Regent, als Persönlichkeit -- darauf kommt es an -- hä?“

„Ja so! Persönlichkeit! Aber müßte ein höchstes Wesen denn nicht
+erhaben+ sein über jegliche Beschränkung? Persönlichkeit
+ist+ doch Beschränkung!“ Sein Gesicht wurde eisig und simpel,
und er murrte: „Beschränkung? hä? Na, das ist denn doch stark! Da muß
ich doch bitten ... Mögen +gewisse+ Persönlichkeiten -- mögen sie
beschränkt sein -- so gibt es doch andere -- die alles eher, nur nicht
beschränkt sind -- sollte ich meinen -- hä?“ Und seine Äugelchen suchte
er aufzureißen zur gebieterischen Hoheit seines genialen Vorbildes. --
„Aber nein doch!“ beschwichtigte ich -- „eine bestimmte Persönlichkeit
zu verkleinern liegt mir fern -- und Goethe hat ja auch mit Recht
gesagt: Höchstes Glück der Erdenkinder ist doch die Persönlichkeit!“ --
Er wurde wieder friedlich: „Wollt’ ich mir auch ausgebeten haben.“ Dann
schien er über das Rätsel der göttlichen Persönlichkeit zu grübeln --
bis er auf einmal erleuchtet deklamierte: „Gott ist -- ein Geist!“ --
„Und die ihn anbeten,“ zitierte ich weiter, „sollen ihn im Geist und
in der Wahrheit anbeten. Schon recht! Doch weshalb müssen dann unsere
Schulkinder im wörtlichen Sinne glauben, daß Gott den Menschen nach
seinem Ebenbilde geformt, also ebenfalls einen Körper habe? Und daß
er im Garten Eden in der Abendkühle lustwandelte? Und dem Abraham als
dreifältiger Mann erschien? Und mit Mose auf dem Sinai redete? Und bei
Jesu Taufe vom Himmel rief: Dies ist mein lieber Sohn?“

Wiederholt nickte der Igel, als wollt’ er sagen: „Du bist im rechten
Fahrwasser!“ Und als ich schwieg, suchte er zu ermuntern: „Na ja, mit
dem dreieinigen Gott -- das ist naturgemäß so ’ne Sache. Katechismus
war nie meine Stärke, und auch ich bin Freigeist genug, um zum Beispiel
... Wie soll ich sagen, hä?“ -- Ich half ihm: „Nun, im Katechismus
heißt es zum Beispiel: Auferstehung des Fleisches. Die Ebenbilder
Gottes, im Grabe endlich zu Staub geworden, kristallisieren sich beim
Schall der Posaune wieder zum alten Adam, aus den Grüften schlüpft
Fleisch und Bein ... Nun denken Sie mal, Herr Rat, Ihr Liebling, der
Philosoph auf dem Preußenthron -- Taufe und Katechismus mußte er schon
über sich ergehen lassen -- aber geglaubt hat er so was doch nicht! Sie
kennen die Geschichte vom Küster, der abgesetzt werden sollte, weil er
nicht an die Auferstehung des Fleisches glaubte? Der alte Fritz versah
das Aktenstück mit der Randbemerkung: Der Küster +bleibt+, und
wenn er nicht an Auferstehung des Fleisches glauben will, kann er ja
liegen bleiben am jüngsten Tage.“ Beifällig schmunzelte Hegel, und ich
fuhr fort: „Na also, Herr Rat! Aber wo ist heute der friderizianische
Geist? In der Kirche sicher nicht! Sie wissen doch, da bekennt
jeden Sonntag der Pastor im Namen der Gemeinde: Ich glaube an die
Auferstehung des Fleisches und ein ewiges Leben, Amen!“

„Das sind Ammenmärchen!“ platzte mein Gegenüber hochtrabend heraus
-- die Rolle des Freigeistes hatte ihn hingerissen, daß er den
Amtsvorsteher vergaß. Er merkte zwar an meinem spöttischen Gesicht,
daß er zu weit gegangen, und suchte einzuschränken: „Das heißt
naturgemäß -- mißverstehen Sie mich nicht ...“ -- „Aber nein! Sie haben
ganz deutlich gesprochen. Und warum sollten Sie Ihr Bekenntnis auch
verhehlen? Selbst im heutigen Preußen darf man schließlich nach seiner
Fasson selig werden, -- wofern man seine Freigeisterei für sich im
Geheimkabinett behält.“

Wenn in der Nähe eines ländlichen Gehöftes ein Swinegel vom Kater
überrascht wird, rollt er sich zur Kugel zusammen -- krallt nun der
Kater nach der Kugel, so piken ihn die Swinegelstacheln in die Pfote.
Auch der Amts-Igel zog sich auf seine borstige Schutzstellung zurück.
Nach mißtrauischem Lauern bemerkte er gereizt: „Aber erlauben Sie
mal, Herr Doktor! +Mein+ Glaube kommt hier ganz und gar nicht im
Betracht! Was ich in meinem Boudoir denke -- Gedanken sind naturgemäß
zollfrei! Vorausgesetzt -- und darauf kommt’s an --, daß man sie nicht
ins Volk trägt! Davor muß man sich hüten! Sie protestieren? Sehen
Sie -- das ist eben unsere Meinungsverschiedenheit. Sie haben Ihre
Freigeisterei ins Volk getragen -- tun es grundsätzlich -- na also!
Und eben diesen Mißgriff verübelt man Ihnen oben. Die Regierung steht
naturgemäß auf dem Standpunkte, daß die unteren Schichten des Volkes
nicht reif sind für Freigeisterei. Was versteht auch der Proletarier
von Kaviar, hä? Dies Bedenken hat schon der große König gehegt -- und
dem möchte ich mich auch in dieser Hinsicht anschließen!“

Ich nickte lächelnd. In der Tat, es war, wie ich vermutet hatte: Auch
das Betreten seiner Waldkirche gestattet dieser aufgeklärte Despot
von Fritzenwalde nur mit geschlossener Tabakspfeife. Ja, ja! So sind
die Philister-Freigeister! Für sich nehmen sie die Zollfreiheit der
Gedanken in Anspruch -- sie gereicht ihrer religiösen Gleichgültigkeit
zum Lotterbett. Aber die Freigeisterei soll beileibe nicht ins Volk
getragen werden!

„Na also! Und nun wollen wir darüber unser Protokollchen aufnehmen, hä?
Sie machen keinen Hehl daraus, daß Sie Atheist sind -- mündlich haben
Sie das ja auch schon zugegeben, hä?“ -- Nun wurde mir die Geschichte
doch zu bunt, und ich trumpfte auf: „Na hören Sie mal! Zugegeben? +Wer+
hat hier was zugegeben? +Sie+, Herr Rat, haben zugegeben!“ Er starrte
mich betroffen an: „Na, da hört doch alles auf! Ich soll Sie hier
vernehmen als Ihr amtlich Vorgesetzter, -- und Sie versuchen, den Spieß
umzukehren? Bin +ich+ etwa hier der Atheist, oder sind +Sie+ es, hä?“

„Atheist? Ah, ich verstehe! +Das+ ist des Pudels Kern! Um
+dies+ Thema also dreht sich die Vernehmung!“ Er wehrte ab und
suchte mildere Saiten anzuschlagen: „Aber verehrter Herr Doktor!
Veruneinigen wir uns doch nicht! Wie können Sie denn sagen, ich hätte
hier was zugegeben. Auf +meinen+ Standpunkt kommt es doch gar
nicht an.“

„Sie selber haben ihn geltend gemacht.“

„Na ja doch!“ begütigte er. „Aber das war unter +uns+ gesagt --
rein menschlich! Lassen wir das doch beiseite! Amtlich bin ich hier nur
der Vernehmende. Und zu meiner Amtspflicht gehört das Protokoll -- ich
will nur objektiv protokollieren ...“ -- „Nette Objektivität!“ -- „Ich
kenne Sie nicht wieder, Herr Doktor! Sie sind sonst ein freimütiger
Bekenner! Daß Sie Atheist sind, na das ist doch einfach notorisch!“

„Wenn’s notorisch ist, was soll dann noch Vernehmung und Protokoll?“
-- „Über die Vernehmung habe ich dem Provinzial-Schulkollegium zu
berichten!“ -- „Berichten Sie immerzu! Aber wenn Sie protokollieren
wollen, hier sei irgend etwas eingestanden worden, wie Sie sich
ausdrücken -- als wären Sie hier Untersuchungsrichter -- und ich
Angeklagter -- so vergessen Sie wenigstens nicht, +wer+ hier
eingestanden hat!“

„Eingestanden?“ Hegel wurde blaß. „Ich doch etwa nicht?“ -- „Wer
denn sonst? Haben Sie nicht gesagt, auch Sie seien im Grunde Ihres
Herzens Freigeist? Ihre Kirche sei der Wald? Und schließlich noch,
Auferstehung des Fleisches und so weiter seien Ammenmärchen? Wissen
Sie, wenn +ich+ hier so etwas gesagt hätte, +mir+ wäre man
mit Paragraph 166 gekommen!“ Das war kein Igel mehr, das war eine sich
bäumende, zischelnde Viper. Er war aufgesprungen und machte heftige
Armbewegungen. Es war die Wut der Angst. Doch er kämpfte sie nieder,
ließ sich geknickt in seinen Sessel fallen und raunte heiser: „Sie
werden mich doch nicht denunzieren wollen?“ -- „Denunzieren? Dummes
Zeug! Ich denunziere nicht! Aber Sie, Sie möchten den Herren da oben
helfen, mich zu verketzern.“

Ächzend wiegte der Swinegel seine Perücke hin und her: „Mein Gott ja!
Das ist nun so ein stellvertretender Amtsvorsteher! Da bilden sich
die mißgünstigen Herren vom Gemeinderat ein, ich lebe hier wie der
große Friedrich in Sanssouci, mein Amt sei eine Sinecure. Hat sich
was mit Sinecure! Die Verhältnisse hier werden immer komplizierter!
Wenn ich aber eines Tages die Karre hinschmeiße -- naturgemäß, wofern
das so weiter geht -- so werden die Herren vom Gemeinderat noch
einsehen, +wen+ sie verloren haben. Von denen ist keiner den
hiesigen Anforderungen gewachsen! Ein gewisser Herr Blechschmidt,
vulgo Klempnermeister, erst gar nicht! Mein Nachfolger müßte schon
ein studierter Jurist sein. Ob sie den aber kriegen? Allenfalls einen
durchgefallenen Referendar! Aber der schon wird andere Ansprüche machen
als ich! Und das werdet Ihr Steuerzahler merken, naturgemäß -- na
wartet man!“

„Nun muß ich aber ernstlich ersuchen: zur Sache, Herr Amtsvorsteher!
Was hat denn mein Fall mit Ihrer Abdankung zu tun? Wenn Ihnen das Amt
verleidet ist, so legen Sie’s doch einfach nieder!“ -- „Ach, ich denke
ja gar nicht daran, niederzulegen, freiwillig nicht! Aber gewisse Leute
lauern drauf, daß ich mir einen Schwupper zuschulden kommen lasse.“ --
„Na, ich gehöre nicht zu denen -- von mir aus bleiben Sie ungeschoren
-- keine Sorge, kein Lamento! Zur Sache endlich! Bitte, teilen Sie
mir ohne Umschweife mit, worüber Sie mich vernehmen sollen! Will das
Provinzial-Schulkollegium in der Tat wissen, ob ich Atheist bin? Kaum
glaublich!“

„Ja -- in der Tat!“ sagte der Igel erleichtert. „Darauf kommt es an.
Und nun bitte, äußern Sie sich!“ -- „So mag die Behörde doch einfach
meine Schriften lesen -- oder zu mir in meine Vorträge kommen! Und
wenn Sie mich schon für einen notorischen Atheisten hält, na gut --
wozu dann noch die Umstände? Atheist! Solch ein Schlagwort paßt mir
überhaupt nicht, ist ja rein negativ und inhaltlos!“ Kleinlaut bemerkte
mein Gegenüber: „Ich werde also schreiben, daß Sie zur Kennzeichnung
Ihres Standpunktes auf Ihre Schriften verweisen, hä?“

Ich murrte weiter: „Amt Friedrichshagen ist doch kein Inquisitionsamt!
Und was versteht ein Amtsvorsteher überhaupt von Theologie? Ebensowenig
wie von Biologie!“ Der Igel keuchte, als ob ihn ein Schlaganfall
bedrohe, und brauchte eine Weile, um sich halbwegs zu fassen. Dann
ergriff er mit zittriger Hand die Feder und kritzelte die Worte, die er
mir vorlas: „Der Vorgeladene verweigert die Aussage.“ -- „Na wissen
Sie,“ erwiderte ich, „+dies+ Ergebnis hätten Sie rascher erzielen
können -- und gemütlicher!“

Er sah mir tückisch ins Gesicht, reichte mir die eingetunkte Feder
und wies die Stelle, wo ich unterschreiben sollte. Ich lehnte ab:
„Bilden Sie sich etwa ein, daß ich etwas Unrichtiges unterschreiben
soll?“ -- „Aber Sie verweigern doch die Aussage!“ -- „Umgekehrt, Herr
Rat! +Sie+ verweigern die Aussage! Ich frage ja in +einem+
fort: Was +will+ eigentlich das Provinzial-Schulkollegium?
Sie aber weichen einer deutlichen Antwort aus. Ich kann doch nicht
glauben, daß diese Behörde Ihrer Mitwirkung bedarf, um meinen Atheismus
festzustellen! Die Sache hängt offenbar anders zusammen. Das Schreiben
des Provinzial-Schulkollegiums wird ja meine religiösen Meinungen
berühren -- ich glaubs schon. Es kann aber unmöglich anordnen,
daß Sie mich darüber vernehmen sollen. Machen wir die Probe, Herr
Amtsvorsteher! Lassen Sie mich das Schreiben einfach lesen! Sie wollen
nicht? Das ist bezeichnend, da haben wir’s! Die Untersuchung über
meinen Atheismus -- das ist eine Aufgabe, die Sie +selber+ sich
gestellt haben. Aus Anlaß einer Anfrage des Provinzial-Schulkollegiums.
Sie möchten sich hervortun, möchten bald definitiv Amtsvorsteher sein
... Albernes Zeug! Ich gebe mich nicht her für solche Manöver!“

Da ich mich erhob, um zu gehen, klappte Hegel die Akten zusammen
und schmiß sie wütend hin. In Kassandras hohlem Tone sprach er,
warnend die Hand erhoben: „Passen Sie auf, Herr Doktor! Das
Provinzial-Schulkollegium ist Ihre vorgesetzte Behörde -- die wird
Ihnen den +Brotkorb+ höher hängen!“ --

Als ich das amtliche Haus verlassen hatte und das Vorgärtchen
durchschritt, wurde mein Auge gefesselt durch die „zur Zier“ zwischen
Rosen aufgestellte Spiegelkugel. Betroffen sah ich hier mein
Spiegelbild ins Groteske verzerrt -- ich war kurz und breit, die Backen
waren wie Buttertonnen, ich sah wie ein Nilpferd aus. Hm! Auf die Art
des Sehens kommt alles an, und die ist oft putzig verschieden. Was ist
Schein, was ist Sein? -- Spöttisch klang es mir in den Ohren: „Und es
schuf Gott den Menschen nach seinem Ebenbilde, zum Bilde Gottes schuf
er ihn.“ Ei ja, Ihr Persönlichkeits-Karikaturen! Es paßt Euch in den
Kram, die eigene Kläglichkeit zu beschönigen durch den Hinweis auf das
schöpferische Urbild.

Dann fiel mir das Goethewort ein:

    „Wie einer ist, so ist sein Gott.
    Darum ward Gott so oft zum Spott.“

Ich dachte auch an die Geschichte vom Swinegel un sine Fru, die am
andern Ende der Ackerfurche duckmäuserisch saß, ihm zum Verwechseln
ähnlich. Ei natürlich! Ist der Mensch ein Swinegel, so hockt drüben im
Jenseits sein Konterfei und echot herüber: „Ick bün all hier!“

In solcher Zwickmühle könnte fürwahr dem stolzen Fortschrittshasen die
Puste ausgehn. Es ist nur gut, daß er vom Buxtehuder Hasen lediglich
die flotten Beine hat, nicht den Dummkopf. Na und so geht’s halt doch
vorwärts, oft freilich auf Hasenfüßen. Schließlich haben die Swinegel
jeglicher Sorte nur noch die eine Bedeutung, daß man über sie lacht --
und das ist der Humor davon.

Damit dieser Humor nicht zu bitter werde, führt der Chronist aus
seinem Tagebuch von damals folgende Notiz an: Mein Spiegelbild in der
Glaskugel hat mich milde gestimmt, fast demütig ... Sind wir Menschlein
nicht alle Zerrbilder? Mit irdischen Augen gesehn, kommen wir einander
recht zoologisch vor. Ich bin für das Provinzial-Schulkollegium ein
gefährlicher Wauwau. Und der Amtsvorsteher deucht mir ein Igel. -- Mag
er doch! Mag der Duckmäuser schleichen! Es ist seine Natur!

Übrigens leitet ihn jener Diensteifer, der im Staatsleben, zumal in
Preußen, grassiert: Es gibt Beamtenseelen, zur Unterordnung unter
Vorgesetzte in einer Weise hergerichtet, daß sie die Vorschrift von
oben schlechthin für höchste Pflicht halten und daneben kein eigenes
Gewissen spüren. Man soll sie nicht gleich verdammen, weil ihnen
Überzeugung und freie Selbstbestimmung verdächtig fremd vorkommen.
Die Schnecke kann nicht dafür, daß ihr auf dem Rücken ein Gehäuse
festgewachsen ist. Sie kann sich nicht vorstellen, wie man ohne solchen
Käfig lebt. Putziger Igel! Erhaben dünkst du dich über die Sünder wider
den heiligen Amtsgeist -- brächtest sie gern hinter Schloß und Riegel.
Und ahnst nicht, daß du selber in einem Gefängnis steckst: in der Enge
deines Banausentums.




Der innere Feind


Seltsames Summen, melodisch: eine Glocke. Hallt sie aus der
Wassertiefe? Liegt im See ein Kloster versunken? Von Rahnsdorf her
kommt das Geläute, sanft gleitend über den Wasserspiegel. Vielleicht
tragen sie drüben einen Toten zu Grabe -- oder sie hochzeiten ...

Rahnsdorf, trautes Wassernest! Im Geiste seh ich deine niedrigen
Häuschen ums alte Kirchlein. Buchsbaumgärtchen mit Wacholder und
Flieder, an den Fenstern der Wohnstübchen rote Geranienblüten.
Rohrgedeckte Ställe und Gerümpel. Ziegen auf einem Rasenfleck.
Misthaufen mit scharrenden Hühnern. Bunte Enten auf der strömenden
Spree. Die alte Kneipe am Wasser, wo gern die Ruderer einkehren. Tische
mit Weißbiernäpfen. Dorfjungen angeln bei bunt bemalten Kähnen. Über
Stangen sind Fischernetze gebreitet. Eine Zille streift vorüber, schön
wölbt sich das Segel, die Schiffersfrau steuert, neben sich einen
kläffenden Spitz. Über die Sumpfwiesen, die weithin das Dorf umlagern,
weben sich Dünste. Wie Hexen kauern knorrige, struppige Weiden. In den
Schilfwildnissen unermüdlich schwatzende Rohrsperlinge. Aus dunklen
Binsen gleitet ein weißer Schwan.

So ungefähr hatte ich einem Gaste, der mit mir spazieren ging,
Rahnsdorf geschildert, es aus der Ferne betrachtend, vom Forsthaus
Müggelsee. Hier bietet sich ein besonders hübscher Blick auf das
Dörfchen. Man sieht allerdings kaum mehr als den Kirchturm hinter
dem Röhrichtgürtel des Seeufers hervorlugen. Doch gerade dies Ferne,
Verhüllte hat einen eigenen Reiz: Rührend unschuldig sieht das Dorf
aus, -- und ich fühlte es meinem Gaste nach, wie er, ein passionierter
Schwärmer und Seelsorger, ehemals Pfarrer in der Schweiz, die Arme
breitete und trunkenen Blickes meinte: „Da möcht ich Pfarrer sein!“
Mit seinem Pathos sprachs der Hüne, andächtig den Kalabreser vom
Lockenhaupt gezogen. Bühnenhaft klängen seine Worte, wären sie nicht
aus einer echten Schwyzerkehle gekommen.

„Kein übler Wunsch,“ gab ich zur Antwort, „und doch muß ich lächeln.
Sie Sohn der himmelstürmenden Alpen möchten hier Pfarrer sein? In der
norddeutschen Ebene, in einem Sumpfneste der Mark? Die Rahnsdorfer
Mücken haben Sie noch nicht genossen -- und das saure Weißbier -- und
die rasseechten Söhne der alten wendischen Wasserräuber.“ -- „Halloh!
Was haben Ihnen die urwüchsigen Rahnsdorfer getan?“

„Mir nicht das mindeste. Ich lache über die Geschichte. Aber mein
Freund Bartels hat nicht gelacht, als sie ihm passiert ist.“ --
„Erzählen Sie!“

„Bartels, ein passionierter Ruderer, schlägt auf der stürmischen
Müggel um, nicht weit von Rahnsdorf. Da er sich bei dem Wellengange in
Kleidern nicht auf Schwimmen verlassen mag, kriecht er auf das kieloben
treibende Boot -- da sitzt er rittlings, pudelnaß im Novemberwetter,
bebbert und ruft um Hilfe. Am Ufer stehn Rahnsdorfer -- haben Kähne --
doch die Hände in den Hosentaschen, sehen sie der Not meines Freundes
zu.“ -- „Wie? Ohne zu helfen? Ihr Freund wurde doch gerettet?“

„Von einem Dampfer -- nicht von Ihren urwüchsigen Naturkindern.“ --
„Schwefelbande!“

„So sagten auch die Leute, denen mein Freund die Geschichte erzählte.
Ein paar Tage später war’s, auf der Eisenbahn -- und eben hatten sich
die Zuhörer entrüstet, als aus der benachbarten Wagenabteilung ein
Bursche erschien, dunkelrot vor Zorn: „Sie wollen uns Rahnsdorfer
schlecht machen? Na warten Se, Männeken! Ihnen werden wir det besorjen!
Ick war dabei, wie Sie um Hilfe brillten. Ja woll, Herrschaften! Un
wenn Se ooch schimpfen -- wat wissen denn Sie! Und wir Rahnsdorfer duhn
+doch+, wat ma wollen. Die Baliner valangen, det wir ihnen retten
sollen, wenn se uff unsre Müjjel rumjondeln -- un nischt von’t Jondeln
vastehn! Zus Retten is unsereens jut jenuch! Un wahaftijen Jott,
manche Jroßschnouze hatte schon feste Wasser jeschluckt, da hammer ihr
rausjeholt! Aber nu frag ick: Wat hammer ’n davon jehatt? Nich eenen
Dahler! Sehn Se, Herrschaften, so sinn die duslijen Wasserfexe aus
Balin -- ihre olle Jondel schmeißen se um, un wir sollen nu Retter sind
-- un unsre Sonntagsbuxen naß machen! Aber Drinkjeld? nich in de Hand!“
-- „Gemütsmenschen!“ lachte der Altpfarrer, mit dem Finger drohend:
„Jetzt erst recht: Da möcht ich Pfarrer sein!“

Und ich mit einem respektvollen Blick auf seine bärenhafte Tatze:
„Den Rahnsdorfern wäre solch ein Seelsorger ja zu gönnen -- aber
deshalb brauchen Sie nicht gerade in jenes Rohrnest zu kriechen.
Die Rahnsdorfer sind ja kein außergewöhnliches Völkchen -- mit
Rahnsdorfern, wie jener Bursch einer war, ist das Erdenrund bevölkert
-- und im deutschem Vaterlande haben wir deren sattsam: Das Drinkjeld
regiert unsere frumbe Christenheit. Kein Wunder. Wird sie doch
dressiert von Kindesbeinen an, einen Platz zu ergattern an der
himmlischen Freudentafel.“ -- Mit einem ernsten Blicke nickte der
Altpfarrer: „Sonder Zwyfel! Und als junger Theolog hab ich selber
dieser Lohnsucht Vorschub geleistet -- meine Konfirmanden haben an den
himmlischen Papa geglaubt, der in einer Hand die Zuckerdüte, in der
andern die höllische Rute hält. Wenn ich persönlich auch anders dachte,
so war ich doch befangen vom Geschwätz der Amtsbrüder. Die Religion
Goethes, hieß es, sei bloß für die Gebildeten, das gemeine Volk
bedürfe eines gröberen Glaubens, um in Zucht zu bleiben. Was diesen
Christen fehlt, ist der Glaube an den Menschensohn, will sagen an die
Menschenwürde. Man glaubt, nur +einen+ göttlichen Menschen habe es
gegeben, damit basta! Drum betrachtet die herrische Richtung -- in der
Religion wie in der Politik -- das Volk als armselige Proles. Das Volk
wiederum glaubt +auch+ zu wenig an Menschenwürde. Ließe sich sonst
nicht so viel gefallen. Jetzt wieder die Zustände in eurem Preußen!
Dies Ministerium mit seinem Volksschulgesetzentwurf! Den Pfaffen möcht
es die Jugend, unsere Zukunft, ausliefern. Sie wissen doch, Kollege
Wille, daß dies politische Ereignis mich nach Berlin gezogen und mit
Ihnen bekannt gemacht hat? Ich will die Bewegung studieren, durch
die sich das preußische Volk gegen die einbrechende Reaktion wehrt.
Nächsten Mittwoch besuch ich Ihren freireligiösen Jugendunterricht in
der Rosenthalerstraße, gelt?“

„Die Kinder sind bereits gespannt auf Sie. Um so mehr, als uns vor drei
Wochen eine wunderliche Geschichte passiert ist. Sie kennzeichnet die
preußischen Zustände -- geht übrigens auch Sie persönlich an. Sie haben
nämlich einen Doppelgänger in Berlin. Er war neulich im freireligiösen
Unterricht und ist für Sie gehalten worden. Vor drei Wochen bereits
hatten Sie sich brieflich bei mir angemeldet -- Sie erinnern sich
...“ -- „Ja, mir kam damals was dazwischen, meine Fahrt nach Berlin
verzögerte sich.“ -- „Jedenfalls erwartete ich Sie schon damals und
hatte meinen freireligiösen Zöglingen bei Beginn des Unterrichts
gesagt: Heute kriegen wir Besuch, Herr Pfarrer Konrad kommt aus der
Schweiz, um zu hören, was Ihr gelernt habt. Nun macht der Gemeinde
Ehre! Antwortet besonnen, wenn Ihr gefragt werdet. Sobald der Besucher
eintritt, erhebt sich die ganze Klasse artig von den Plätzen. Ebenso,
wenn er geht. Verstanden, Kinder? Ein kleines Mädchen lächelte und
scheint eine Frage auf dem Herzen zu haben. Na, Emma? Da meinte sie:
Wie sieht denn der Herr aus? Ich antwortete: Gesehen habe ich ihn
selber noch nicht -- bloß aus Briefen kennen wir uns. Aber er soll
ein guter Mann sein, und das ist die Hauptsache. -- Die Kinder waren
natürlich sehr gespannt, ich merkte das an der Unachtsamkeit und dem
ewigen Getuschel. Auf einmal horch, sie stutzen, draußen nähern sich
Schritte der Tür, sie geht auf -- und prompt erhebt sich die Klasse.
Herein tritt ein großer, starker Herr, und ich denke natürlich, Sie
sind das. Überdies glaubte ich bei der Begrüßung deutlich zu hören:
Mein Name ist Konrad! -- Die Kinder erwarten Sie schon -- sage ich --
und wir alle freuen uns, daß Sie gekommen sind, nicht wahr, Kinder?
Einstimmiges Ja! -- Ihr Doppelgänger wird verlegen. Ich biete ihm einen
Stuhl -- er lehnt ab. Etwas schüchtern scheint dieser Konrad zu sein!
Und sieht doch so militärisch aus! -- Wissen Sie, fahre ich fort,
eigentlich sieht man Ihnen gar nicht den Schweizer an! -- Der Mann
stammelt: Woher wissen Sie, daß ich Schweizer war? -- Sie +waren+
es? Haben Sie sich naturalisieren lassen? -- Immer verwirrter wird der
Mann: Ich bin allerdings mal Schweizer gewesen! Haben wir uns damals
vielleicht gesehen? In Pommern, auf dem Rittergute Altfinow -- aber
das war schon vor meiner Militärzeit. -- Ei, was ist das? Schweizer
auf einem pommerschen Rittergut? Das wäre ja ein Kuh-Schweizer! Birgt
dieser Konrad hinter seinem hölzernen Wesen Eulenspiegelei? Oder liegt
hier eine Personen-Verwechselung vor? Von vornherein kam es mir nicht
recht geheuer vor, daß der Altpfarrer aus der Schweiz nach preußischem
Unteroffizier aussah. Nun fällt mir noch auf, daß er Kommißstiefel
trägt; an ihnen konnte man damals den Polizeispitzel erkennen.
-- Wie? bemerke ich argwöhnisch, sagten Sie nicht, Ihr Name wäre
Konrad? -- Da antwortet der Mann: Nein, Grunert! -- Ah Grunert! (in
der freireligiösen Gemeinde gab es ein Mitglied dieses Namens). Ach,
Sie sind Herr Grunert! Und wollen wohl Ihr Kind zum Jugendunterricht
anmelden? -- Nun, aber raten Sie, Kollege, was der Kerl entgegnet:
Ich komme vom Königlichen Polizeipräsidium! Ich soll anfragen, ob
Sie einen Unterrichts-Erlaubnis-Schein haben -- dann möchten Sie den
auf Zimmer sechsensiebzig bringen! -- Stellen Sie sich mein Staunen
vor, Kollege! Ich hatte geglaubt, +Sie+ seien es, und nun auf
einmal ist es ein +Polizeimensch+! Und verlangt von mir einen
Unterrichts-Erlaubnis-Schein! Ich wußte nicht mal, was das für’n Dings
ist. Dachte zunächst an ein Universitätsdiplom und entgegnete: Wenn ich
nicht die Befugnis hätte, hier zu unterrichten, würde ich es nicht tun!
Sagen Sie das Ihrem Vorgesetzten! Der Polizei irgendwelche Nachweise
darüber beizubringen, bin ich nicht verpflichtet. -- Der Mann zuckt die
Achseln, steht ein Weilchen unschlüssig -- und verabschiedet sich mit
den Worten: Also nich wahr, Ihren Erlaubnisschein! Präsidium Zimmer
sechsensiebzig! -- Die Verlegenheit des Mannes trat besonders hervor,
als bei seinem Hinausgehen die Kinder sich abermals von den Plätzen
erhoben.“

„Haha! Dieser Doppelgänger ist nicht schmeichelhaft für mich; doch
besteht seine ganze Ähnlichkeit mit mir darin, daß er dort erschien,
wo ich erwartet wurde. Schweizer -- nun ja, das war er auch; aber
Schweizer von der Art dieses abgehalfterten Kuhschweizers, der nun
auf den Pfaden der Reaktion den inneren Feind beschleicht, spielen in
meinem Vaterlande keine Rolle. Bei euch, ihr Preußen mit eurer stolzen
Schneidigkeit, mengt sich die Polizei in alles -- der Kasernengeist
dringt in die Religion.“ -- „Widersprechen kann ich leider kaum; doch,
mein biederer Eidgenosse, Kantönlifreiheit ist +auch+ nicht das
Höchste.“

Lächelnd setzte der Altpfarrer seinen antipreußischen Gedankengang
fort: „Wissen Sie, wer der innere Feind ist? Ein Berliner Leutnant
hat in der Instruktionsstunde seine Rekruten pflichtschuldigst vor
dem inneren Feind gewarnt. Die ausgebildeten Soldaten sollen dem
Regimentskommandeur vorgestellt werden, und der Leutnant will ein
Paradestückli vorbringen. Wie teilt man den Feind ein? fragt er, und
die Antwort erfolgt prompt: In den äußeren Feind und den inneren
Feind! -- Schön! sagt der Oberst. Aber Kinder, wißt ihr denn auch, wer
das ist, der äußere Feind? -- Das ist der Russ’! -- Na meinetwegen,
sagt der Oberst, der könnt’ es ja mal sein! Aber nun die Hauptsache:
Wer ist der innere Feind? Das wißt ihr nicht? Na, ich werde euch
darauf bringen: Der innere Feind muß einer sein, der in Deutschland
wohnt. -- Eisiges Schweigen, alle Lippen wie verrammelt. Ein Kerl
schaut unternehmend drein, ein Pfälzer oder Wackes oder so einer aus
der Gegend da. Nun, mein Sohn? -- Der politische Rekrut antwortet
zuversichtlich: Der innere Feind, das ist der Preuß!“

„In gewissem Sinne stimmt das, Kollege Konrad! Nur steckt diese
Art Preußentum auch in anderen Ländern. Jeder Mensch hat was davon
in sich; es ist der Kasernengeist, die Sucht, zu kommandieren, zu
reglementieren. Besonders heillos ist der innere Feind auf religiösem
Gebiete, wo doch alles auf Freiwilligkeit ankommt, auf Entfaltung
der Menschlichkeit. Der wahre Kulturkampf muß im Innern ausgefochten
werden. Da, Kultursoldat, ist dein Posten, da exerziere und ringe, da
sei dein Siegesfeld! Siegen wirst du nur, wenn du glaubst an den freien
Menschensohn in dir, wenn du aufhörst kleinmütig zu sein; sonst geht
aller Fortschritt den duckmäuserischen Schneckengang. Sehen wir doch
die Militärsoldaten an, die auf den Feind dressiert sind. Im Kriege
mordet das einander, ohne daß einer dem andern vorher was getan hat.
Dabei gibt alle Welt zu, friedliche Verständigung wäre wahre Kultur.
Nun also, warum +erfolgt+ denn keine Verständigung? Weil man sich
nicht +getraut+, dem bessern Selbst zu folgen. Ich +muß+
schießen, denkt der Soldat -- sonst +werde ich+ totgeschossen. Ja,
wenn die +anderen+ zur Besinnung kämen, wenn sie, mir voran, zur
Friedfertigkeit übergingen! Aber man kann sich nicht auf die anderen
verlassen. -- Glaub’s schon! Doch +warum+ kann man das nicht? Weil
man sie hinter demselben Strauche sucht, wo man selber gesessen. An
+ihre+ Kraft zum bessern Selbst glaubt man einfach deshalb nicht,
weil man nicht an die +eigne+ glaubt. Wer sich +selber+ nicht
ernst nimmt, wie kann der +andere+ ernst nehmen! Der kleinmütige
Philister hört auf die Stimme der Wahrheit nicht anders, als ob da ein
Pastor schöne +Redensarten+ drechsele. Die Gemeinde findet die
Predigt wieder mal sehr schön -- man ist aber schließlich froh, wenn
man die Erbauung wie den Sonntagsrock ausziehen kann, um dann gemütlich
in Hemdsärmeln zu sitzen. Und also, lieber Kollege von der freien
Andacht, worauf es ankommt: man muß den Philister abstreifen, diesen
Angstmeier und Krämer, diesen ungläubigen Thomas, der nicht vertraut
seinem Heiland Menschenwürde!“




Brotkorb und Maulkorb


„Den Brotkorb höher hängen!“ Niederträchtig echote durch meinen Sinn
dies Swinegelwort. Aus der Angabe, ich sei Sprecher der Freireligiösen
Gemeinde, mochte er sich die Vorstellung gebildet haben, ich sei so was
wie ein geistlicher Hirt mit einer Pfründe -- oder wie ein Prolet des
Lehramts -- werde also hündisch den Maulkorb hinnehmen, sobald eine
strenge Behörde den Brotkorb zu entfernen drohe.

Brotkorb! Das Gehältchen, das die Freireligiöse Gemeinde aus den
Beiträgen ihrer Anhänger zusammenbrachte, sorgte in der Tat für meinen
Brotkorb -- und zwar so reichlich, daß die ganze Familie, selbst
unter dem Beistande aller Freunde und Gäste, nicht imstande gewesen
wäre, all das freireligiöse Brot zu vertilgen. Aber der Mensch lebt
nicht von Brot allein, sondern hat gern noch etwas Butter dazu,
Fleisch, Gemüse, Obst. Übrigens muß er Miete bezahlen, Schneider- und
Schuster-Rechnungen. Genug, eine Schmälerung des Einkommens hätte
mir das Gesicht allerdings etwas ins Säuerliche verzogen, das ist
menschlich. Damals, als neugebackener Ehemann, hatte ich noch keine
Rücklage zusammengehamstert und glaubte mich abgefunden zu haben mit
der humorigen Lebensweisheit:

    Wer nix erheirat’ und nix ererbt,
    Der bleibt ’n arm’s Luder, bis er sterbt.

Immerhin muß ich als gewissenhafter Chronist bekennen, daß der
freireligiöse Sprecher außer seinem Sprechorgan noch Feder und Tinte
besaß, und daß dies Handwerkszeug allenfalls langte für Butter und
Braten, sogar für eine Flasche Wein zu festlicher Gelegenheit.

Bekennen muß ich ferner, daß die Andeutung, ich hätte „nix erheirat’“
einer bedeutungsvollen Einschränkung bedarf. Ich mache sie ausdrücklich
geltend -- nicht etwa bloß um die Gefühle meiner Frau zu schonen,
die mir wiederholt unter die Nase rieb: „Die Frau Deines Freundes
Bartels hat bei ihrer Hochzeit nichts gehabt als ein Kopfkissen und
ein Sektglas -- wenn man das altväterliche Spitzglas, das überdies
einen Sprung hatte, überhaupt so bezeichnen will -- Deine Frau aber hat
außer prächtigen Betten und Tafelgeschirren allen möglichen Hausrat
in die Ehe gebracht, so daß wir bei der Wohnungseinrichtung fast gar
keine Kosten hatten.“ -- Das stimmt! und ist eine Sache von solcher
Wichtigkeit, daß sie diese Chronik erst möglich gemacht hat. Wäre
unser damaliger Hausrat +nicht+ in die Ehe gebracht worden von
meiner -- auch in dieser Hinsicht -- besseren Hälfte, so wäre mein
kurios lehrreiches Gefängnis zum Preußischen Adler gar nicht zustande
gekommen. Wieso? Das wird sich bald deutlich enthüllen.

Der Brotkorb ist insofern ein Ausgangspunkt der Geschichte, als ich
längere Zeit nach meiner Vernehmung durch den Amtsvorsteher -- im
traurigen Monat November war’s -- ein Schreiben bekam, das schon
äußerlich anzeigte, nun erfülle sich des Igels Kassandrawort. Auf
dem blauen Papiersiegel sah man den stolzen Adler Preußens nebst
der Umschrift: Königliches Provinzial-Schulkollegium Berlin. Der
Amtsbrief, bis auf den wirr gekritzelten Namenszug des Dezernenten
von musterhafter Handschrift und echtem Lumpenpapier, verfügte klipp
und klar, es sei mir hinfüro verboten, die freireligiösen Kinder
zu unterrichten. Ein konzessionspflichtiger Unterricht sei meine
freireligiöse Jugendunterweisung. Um etwaigen Flausen meinerseits
zuvor zu kommen, wurde mir schlechtweg „jede derartige Tätigkeit“ bei
Strafe verboten und „für jeden Übertretungsfall eine Exekutivstrafe
von hundert Mark, im Unvermögensfalle zehn Tagen Haft“ angedroht.
Ich fragte natürlich: Oho, wieso? mit welchem Recht? -- Es fehlte in
der Verfügung ein Hinweis auf Gesetzesparagraphen, es war einfach
geltend gemacht, ich habe nicht „die erforderliche Konzession zu
unterrichtlicher Tätigkeit“. -- Konzession? Bei Hinstarren auf dies
Wort machte ich, nach Aussage meiner Frau, jedesmal ein ratlos
steinernes Gesicht. Was für eine Konzession vermißte man an mir? Ich
hatte wohl von einer Schankkonzession gehört. Doch was ging die mich
an! Ich war ja kein Budiker! Oder hielt man die freireligiösen Ideen
für Destillenschnäpse?

Was tun? Natürlich mußte ich mich mit meinen Gesinnungsfreunden
beraten. Schickte also die Verfügung an den Vorsitzenden der
Freireligiösen Gemeinde zu Berlin und wurde sofort zu einer
Vorstands-Sitzung geladen. Diese fand in einem Nebenraume
unseres Versammlungssaals statt, den wir von einem Gastwirt der
Rosenthalerstraße gemietet hatten. Da sah ich unsere erwählten Führer
um den Wirtshaustisch sitzen und noch ein paar Rechtsanwälte, die
man bei der Wichtigkeit des Falles hinzugezogen hatte. Der ehemalige
Apotheker Friederici -- ein Mann von seltener Hingabe und Pflichttreue,
der bis zu seinem Tode, drei Jahrzehnte hindurch, die Gemeinde geführt
hat -- leitete die Beratung, und was er vorbrachte, fand Beifall bei
den grauköpfigen wie bei den heißspornigen Matadoren.

Als unser Bollwerk betrachteten wir das allgemeine Gesetz und Recht.
Natürlich versagte das vielgepriesene Deutsche Reich, wie so oft,
auch hier gegenüber dem Sonderwillen Preußens. Doch selbst in diesem
klassischen Lande der Bürokratie hatte die Verfassung nicht umhin
gekonnt, in ihrem Artikel zwölf die Freiheit der Religionsübung
zu gewährleisten, und schon das Allgemeine Landrecht hatte als
Befugnis der geduldeten Religionsgesellschaften „die Ausübung der
ihren Religionsgrundsätzen gemäßen Gebräuche“ bezeichnet. Zu den
geduldeten Religionsgesellschaften aber gehörte die Freireligiöse
Gemeinde -- zu deren Gebräuchen die freireligiöse „Jugendfeier“ oder
Konfirmation, sowie die unentbehrliche Vorbereitung darauf in Form
eines Konfirmandenunterrichts. Diese freireligiöse Tätigkeit war seit
dem Bestehen der Gemeinde unbeanstandet von ihren Sprechern ausgeübt
worden, unter den Augen der Regierung, die doch stets mißgünstig
blickten -- ohne daß man in dem Zeitraum von einem halben Jahrhundert
eine besondere Konzession von den freireligiösen Sprechern gefordert
hatte. Und nun auf einmal -- --!

„Was heißt denn Unterrichts-Konzession?“ brauste ich auf. „Genügt
nicht meine Universitätsbildung? mein Studium der Theologie
und der Philosophie? Genügt nicht mein Doktordiplom, um zu
beglaubigen, daß ich fähig bin, die Jugend einzuführen in den
Anschauungskreis der Freireligiösen Gemeinde? Und wenn ich der
Aufforderung jenes Polizeibeamten, den ich für den Schwyzer Pfarrer
Konrad gehalten, entsprechen und auf dem Polizeipräsidium einen
Unterrichts-Erlaubnisschein nachsuchen würde, was wäre die Folge?
Spöttisch würde man mir eröffnen, daß ich keinen Erlaubnis-Schein
kriege -- und würde dann auch noch geltend machen: Durch Ihr Gesuch
haben Sie selber zugegeben, daß Sie einer besonderen Erlaubnis
bedürfen! -- Was tun? Eine Konzession nachsuchen? Lieber nicht! --
Nachgeben? Auf keinen Fall! Mit unsrer Jugendunterweisung würde man
dem freireligiösen Baume die Wurzelfäden nehmen, er müßte verdorren!“
-- Düster nickten alle Führerköpfe, dann schlug auf den Beratungstisch
eine geballte Faust: „Trotzen! Weiter unterrichten! Es bis zum
Äußersten kommen lassen! Zum Schutze aber das Gericht anrufen!“ -- „O
freilich!“ rief ich entschlossen -- „an mir soll’s nicht fehlen! Ich
unterrichte ruhig weiter! Bleibt dem Provinzial-Schulkollegium nichts
übrig, als mich einsperren zu lassen.“

„Von wem denn aber? möcht ich wissen,“ eiferte Friederici -- „kein
Gericht nimmt Sie in Haft, wenn Sie nicht richterlich dazu verurteilt
sind.“ -- „Um so besser! So mag die Schulbehörde nach Belieben drohen
-- und mag Strafen verhängen, so viel sie Lust hat -- was tut’s, wenn
sich kein Vollstrecker findet, kein Gerichtsvollzieher ... Übrigens,
der soll nur kommen! Mit leeren Händen muß er wieder abziehn!“ --
„Wieso das?“ -- „Weil er nichts finden wird, was mein ist! Das Mobiliar
ist von meiner Frau in die Ehe gebracht, und da wir nach märkischem
Rechte geheiratet haben, besteht keine Gütergemeinschaft.“

Während die anderen pfiffig Beifall lächelten, meinte Friederici in
seiner polternden Weise: „Ach was, Gerichtsvollzieher! Unsinn! Der hat
in Ihrem Falle gar nichts zu schaffen -- es liegt ja kein Richterspruch
gegen Sie vor!“ -- „Gut also! Es wird weiter unterrichtet! Festhalten!
Immer fest!“ Aufgeregt erhob man sich von den Plätzen, in ein freies
Durcheinander war die Beratung aufgelöst.

Und dann saß ich in der polternden Eisenbahn. Draußen auf der Wuhlheide
lag dunstig die Novembernacht. Im Finstern lauerte und tappte etwas
Unheimliches: Eine Tatze, die mir mit einem Maulkorbe zum Munde
fahren wollte. Aber warte nur, täppisches Ungeheuer, -- ob dir nicht
Löweneckerchen entwischt und spöttisch eins pfeift!

    Steht Wahrheit bei
    Und rühmt sie frei,
    Laßt euch das Maul nicht binden!
    Es hang ihr an
    Jedweder Mann,
    Und keiner bleib dahinten!

Daß diese Trutzweise in der rohen Zeit des dreißigjährigen Krieges
erschallen konnte, verdient allen Respekt. Im neunzehnten Jahrhundert
kam eine andere Losung auf -- in der Residenz Preußens sang man:

    Wer die Wahrheit kennet und saget sie frei,
    Der kommt zu Berlin in die Hausvogtei!




Milderung des Sittenklimas


Als jemand den wohltätigen Einfluß der christlichen Mission auf die
Wilden pries, wandte ein Zweifler ein: „Fressen sie denn keine Menschen
mehr?“ -- „Das freilich noch immer, aber schon mit Messer und Gabel.“

In der Tat, mit der Zivilisation ist es vorwärts gegangen -- nur darf
man fragen: in welcher Hinsicht vorwärts? Nach der Meinung eines
Geschichtsphilosophen beschränken sich die Fortschritte auf das
intellektuelle Gebiet, während die Sittlichkeit seit Jahrhunderten kaum
besser geworden sei. Was mich betrifft, so bin ich versucht, die These
umzukehren und -- wenigstens als Chronist gut preußischer Verhältnisse
-- zu bezeugen, daß in unserm braven Staate die Sitten angenehmer
geworden sind, während die Geistreichigkeit noch viel zu wünschen übrig
läßt.

Was ich meine, zeigt das Beispiel der Ketzergerichte -- wenn wir die
einstigen vergleichen mit denen von jetzt. Anno eintausendsechshundert
wurde auf dem Blumenmarkte zu Rom der freie Denker Giordano Bruno
bei lebendigem Leibe geröstet. Der versammelten Christenheit sollte
erbaulich zu Gemüte geführt werden, wie es schon auf Erden und vollends
im Jenseits einem Ungläubigen ergehe. Die Ketzergerichte von heute
zeigen einen entschiedenen Fortschritt -- das moderne Sittenklima ist
nicht mehr so hitzig wie zur Zeit der Scheiterhaufen. Wenigstens muß
ich dem Strafgericht, das ich in Friedrichshagen erlebte, geradezu
liebenswürdige Formen nachrühmen.

Nicht brachen in der Kastanienallee nachts gewappnete Schergen ein,
mich jäh in Ketten zu werfen, wie weiland den Giordano Bruno --
sondern es klingelte bescheiden, dann erschien grüßend ein wehrloser
Uniformbeamter, dem eine Brieftasche umgeschnallt war. Er zückte kein
Schwert, bloß ein unschuldiges Papier, und höflich bat er mich, durch
einen Zug seines Tintenstiftes den Empfang zu bescheinigen.

Nachdem ich den harmlosen Wunsch erfüllt, besah ich mir das Schreiben.
Wie ein blaues Auge blickte das bekannte Siegel: der Adler mit der
Umschrift „Königliches Provinzial-Schulkollegium“. Ein sanfter Vorwurf
sprach daraus, und schon schlug mir das Gewissen. Oh freilich, ich
hatte die Schulbehörde, hatte den hohen Minister der Unterrichts-,
geistlichen und Medizinal-Angelegenheiten durch bockenden Ungehorsam
gekränkt. Freireligiösen Unterricht hatte ich erteilt, wohl mindestens
ein dutzendmal. Kein Wunder, daß nun die Vergeltung anhub. In der Tat,
da stand es schwarz auf weiß, in preußischer Kanzleischrift: „Nach
Auskunft des Königlichen Polizeipräsidiums haben Sie in einer Reihe von
Fällen Unterricht an Kinder von Mitgliedern der hiesigen Freireligiösen
Gemeinde erteilt ...“ Die Einzelheiten der Verfügung sind nicht weiter
bemerkenswert -- bis auf die Kostenrechnung: Achtmal freireligiösen
Unterricht -- mehr war einstweilen nicht angekreidet -- und jeder
einzelne Fall kostete einhundert Mark. Summa: achthundert Mark.

Hm ja! War das nun eigentlich teuer? oder war’s billig? Da ich genau
dreihundertvierunddreißig freireligiöse Zöglinge hatte, so war
die Unterrichtsstunde für das einzelne Kind mit dreißig Pfennigen
berechnet. Man könnte diese Einschätzung einigermaßen hoch finden
und darüber erstaunt sein, daß für die preußische Obrigkeit die
freireligiöse Lehre derart in die Wagschale fiel. Bedenkt man aber, daß
die Unterrichtsstunde sechzig Minuten hat, und daß ich allenfalls die
Fixigkeit besaß, den Kindern mindestens +eine+ freie Idee in der
Minute zu versetzen, so stellte sich nach Adam Riese der Preis für eine
Idee genau auf einen halben Pfennig pro Kopf. Das war denn eine Idee
allenfalls schon wert ... Beiläufig: das Volk der Dichter und Denker
scheint, trotz seiner Festredner auf Kant, Schiller und Goethe, die
Idee für ein unsolides Spinnefädchen oder Sonnenstäubchen zu halten.
Etwas Winziges, z. B. ein paar Körnlein Zucker oder Salz, nennt man in
Preußisch-Schilda eine „Idee“.

Ich überlegte, wie sich die dreißig Pfennig pro sechzig Ideen in der
angenehmsten Form zusammenbringen ließen. Zum Beispiel so: Jedes Kind
erhält, wenn es zur freireligiösen Stunde kommen will, von der Mutter
einen Groschen in Papier eingewickelt. Der zweite Groschen wird den
Zinsen des freireligiösen Gemeindevermögens entnommen, so daß hieraus
jährlich eintausendfünfhundert Mark aufzubringen wären. Den dritten
Groschen zahl ich selber; meine Feder wird schon so ergiebig sein, daß
ich mir den Luxus gestatten kann, freireligiösen Unterricht zu erteilen.

Aber wo bin ich Träumer? Habe ich das Geld etwa schon in der Tasche?
Achthundert Mark verlangt die Behörde, und eine kurze Frist ist mir
gestellt. Hm ja! Doch was geht mich überhaupt die Frist an! Und wozu
die Träumerei vom Zahlungsmodus! Bin ich denn nicht entschlossen,
unter +keinen+ Umständen zu berappen? Na also! Und was dann? Ein
Blick ins Schreiben der Behörde bestätigte, was dann zu gewärtigen:
„Im Unvermögensfalle“, wenn also das Geld von mir nicht einzutreiben
ist, soll für je hundert Mark eine Haftstrafe von zehn Tagen eintreten.
Das wären achtzig Tage hinter Schloß und Riegel -- zunächst mal! Und
wenn ich fortfahre, zu sündigen, brumme ich mir mit jedem Einzelfalle
weitere zehn Tage auf. Das gemahnt nun wirklich ein wenig an den alten
Inquisitionskerker.

Aber nicht doch! Der Fortschritt in den Sitten ist unverkennbar:
Wie human gestaltet sich die Haft eines modernen Ketzers! Was mich
betrifft, so muß mir erstens Selbstbeschäftigung vergönnt sein,
zweitens ein gewisses Maß von Spazierengehen, drittens Besuchempfangen
-- und so weiter. Kurz, ich werde ein beneidenswert geregeltes Leben
führen, kann ohne Störung nach Herzenslust sinnieren, lesen und
schreiben -- und das alles auf Staatskosten! Muß man mir doch freie
Station und Kost gewähren, Heizung, Bedienung, unter Umständen sogar
ärztliche Behandlung.

Als Sokrates angeklagt war, die Jugend zum Unglauben verführt zu haben,
meinte er in seiner Verteidigungsrede naiv, eigentlich verdiene er,
öffentlich im Rathause gespeist zu werden. Sollte der stolze Traum
dieses Ketzers von Athen nunmehr zu Fritzenwalde in Erfüllung gehn?
Ei ja! Und da zweifelt jemand am Fortschritt der Sitten? Solch eine
Haftstrafe bedeutet geradezu eine Sinekure, ähnlich dem behaglichen
Dasein in einem wohltätigen Altersheim. Wunderschön wird in der stillen
Zelle meine Schriftstellerei vonstatten gehn.

Was den freireligiösen Unterricht betrifft, so kann ich ihn ja während
der +Pausen+ meiner Haft erteilen -- und dabei mein Leben in
beneidenswert idealer Weise gestalten. Etwa folgendermaßen: zunächst
zehn Tage Haft, besser gesagt: Stiftler-Dasein. Dann geht’s auf vier
Tage in die Welt -- den ersten widme ich dem freireligiösen Unterricht;
ferner habe ich drei Tage Ferien, kann mich meiner Frau widmen, kann
die holden Einsamkeiten der Mark belauschen oder den Rucksack mal über
den Kamm des Riesengebirgs schleppen. Durch den neuerteilten Unterricht
habe ich für zehn +weitere+ Tage Haft gesorgt und trete diese
gern an. Nach ihrer „Verbüßung“, oder richtiger: nach ihrem Genuß,
kehre ich abermals in die Welt zurück und -- befolge dasselbe weise
Programm. So fließen meine Tage dahin, in einem Turnus von vierzehn
Tagen -- ebenmäßig wie der wechselnde Mond, wie Ebbe und Flut, wie die
Lebensmusik der Pythagoräer.




Die olle Konservenkiste


Ein Luftschloß vom idealen Sträflingsleben zerflatterte, als die
Wirklichkeit rauh dazwischenfuhr. Wirbel entstehen, wo Bewegungen
widereinander prallen. Es gibt Windhosen, Wasser- und Staubhosen. Man
könnte sogar von „Ideenhosen“ sprechen, wo nämlich entgegengesetzte
Ideen im Ringkampfe herumwirbeln. Auf der Bühne meines Innenlebens
spielte sich ein Drama ab, das meine Ideenwelt heftig mit den
obrigkeitlichen Verfügungen aneinander brachte: eine Ideenhose.

Träume sind nicht immer bloß Schäume. Ein Freund von mir hat mal
gesagt, das verständige Denken gehöre zur Oberfläche des Menschen, der
wertvolle Kern sei „der Weise im Innern“. Heimliche Weisheit waltet
manchmal in Träumen, die der Verstand für albern hält. Hier solch ein
Traum.

Doch ich muß zuerst berichten, unter welchen Umständen der Traum
zustande kam. Nach dem Verbot meines freireligiösen Unterrichts
wollte ich herausbringen, ob man gegen mich bloß deshalb
vorgegangen war, weil ich eine vorgeschriebene Form nicht erfüllt,
nämlich keine Unterrichtskonzession eingeholt hatte, oder ob das
Kultusministerium diesen Umstand lediglich zum Vorwand nehme,
um die freireligiöse Jugendunterweisung lahm zu legen. Zur Probe
sollte meine nun regelrechte Bewerbung um einen Erlaubnisschein
für philosophischen Vorbereitungsunterricht dienen. Ich wollte
versuchen, ob ich freireligiöse Zöglinge in die Grundbegriffe
einer Welt- und Lebensanschauung einführen dürfe. Da verweigerte
mir das Provinzial-Schulkollegium die Erlaubnis zum Unterricht an
jugendliche Personen +überhaupt+. Es heißt in dem neuen Ukas:
„Nach der Staatsministerial-Instruktion vom 1. Dezember 1839 genügt
die wissenschaftliche Befähigung allein nicht, um die Erlaubnis zur
Erteilung von Privatunterricht zu erlangen. Vielmehr sollen Personen,
bei denen in religiöser oder politischer Beziehung Bedenken vorliegen,
vom Lehrstande ferngehalten werden. Da Sie, wie die bisher gepflogenen
Verhandlungen und der von Ihnen in der Freireligiösen Gemeinde
gehaltene, später im Druck erschienene Vortrag ‚Das Leben ohne Gott‘
ergeben, das Dasein Gottes leugnen, auch in politischer Beziehung sich
zu derjenigen Partei halten, welche den Umsturz alles Bestehenden
anstrebt, so können Sie als eine zum Unterricht jugendlicher Personen
qualifizierte Persönlichkeit nicht angesehen werden.“

„Ne dolle Kiste!“ hatte bei unserer Beratung ein Freireligiöser gesagt,
derselbe, den man wegen eines Vortrages von beißendem Witz den „Zehn
Gebote-Hoffmann“ nennt. „So ’ne richtije olle Konservenkiste! Na
jewiß doch! Ich meine so ’ne Kiste, wo die Herren von’ jrünen Tisch
ihren Aktenplunder konservieren, damit er späteren Jeschlechtern die
Lungen verstaubt.“ Nun hatte unser Rechtsanwalt das Wort ergriffen:
„Was hilft all diese Rebellion des Herzens, wo es doch schließlich
auf juristische Begriffe ankommt -- vor allem auf den Standpunkt
des Verwaltungsrichters! Na, und der ist kaum zweifelhaft -- in der
Zeit, wo nach dem Fall des Sozialistengesetzes die Stockkonservativen
krampfhafte Versuche machen, den sogenannten Umsturz auf andere Weise
niederzuringen, nämlich auf administrativem Wege, der ja in Preußen
gangbar ist. Die öffentliche Entrüstung fürchtet man durchaus nicht --
im Gegenteil, es gibt Leute, die möchten eine Revolte herausfordern und
den Säbel mal tüchtig hauen lassen.“ -- „Wenn sich der hauende Säbel
bloß nicht +ver+haut!“ hatte Hoffmann bemerkt.

Und Friederici: „Na und? Wie wird nach Ihrer Meinung der
Verwaltungsrichter entscheiden?“ -- „Wird sich diplomatisch aus der
Klemme winden. Wird sagen, er sei hier überhaupt nicht zuständig.“ --
„Aber zum Kuckuck!“ polterte Friederici -- „leben wir denn in Rußland,
wo sich die Regierung herausnehmen darf, mißliebige Untertanen auf
administrativem Wege zu bestrafen? Ohne daß der Richter angerufen
werden kann, wie? Wir haben doch eine Verfassung!“ -- „Das schon,“
erwiderte der Rechtsanwalt, „aber wir haben manche +Lücke+ in
der Verfassung. Weil noch kein eigentliches Schulgesetz vorhanden,
sieht der Verwaltungsrichter für seine Entscheidung keine andere
Rechtsgrundlage, als eine Reihe von uralten Kabinettsordern und
Verfügungen preußischer Kultusminister. Das ist eben die Lücke ...“

„Ach so!“ meinte Adolf Hoffmann, „und für diese Lücke soll nu Wille
büßen! Echt preußische Auslegung des Wortes Lückenbüßer!“ --

Als ich, von der freireligiösen Sitzung heimgekehrt, im Bette lag,
gingen mir diese Gespräche durch den Kopf -- wie im Wirbelwind Staub
und Papierfetzen herumtanzen. Ich quälte mich mit Schlaflosigkeit --
gesteigert wurde meine Unruhe noch durch die Aussicht, am nächsten
Vormittage einer Theaterprobe beiwohnen zu sollen. Hierzu hatte ich
eigentlich keine Zeit, jedenfalls keine Sammlung. Es handelte sich
um ein Stück, das in der Volksbühne, die ich gegründet hatte und als
Vorsitzender leitete, zur Aufführung gelangen sollte. Lag die Regie
auch in den fähigen Händen Emil Lessings, so hatten es widrige Umstände
gefügt, daß ich der Generalprobe mit Bedenken entgegensah. So hatten
sich auch noch Theaterwirren in die Ideenhose gemischt. Ich schloß
die Augen, um den Schlaf herbeizuzwingen, hörte aber die greisenhafte
Stimme eines Papageis, der dummes Zeug schwatzte. Dann sagte meine
Frau: „Der dumme Vogel will durchaus mit ins Theater. Nimm ihn in
deiner Hutschachtel mit!“ -- „Nicht in die Hutschachtel,“ protestierte
der Vogel, „in den Souffleurkasten will Papchen.“ Die Worte genügten,
um auf einmal die Szene zu verwandeln.

Ich saß im Souffleurkasten des Theaters, Papchen neben mir auf der
Hutschachtel. Über die Bühne polterten Kulissenschieber, und da gingen
Schauspieler in Unterhosen, vom Garderobenmeister hatten sie eben
ihr Kostüm erhalten. „Wo ist denn bloß das Regiebuch?“ fragte ich
beunruhigt. „Ich suche immerfort -- weiß nicht mal, was für’n Stück
gespielt wird.“ -- „Die olle Konservenkiste wird gespielt,“ erwiderte
Papchen. -- „Da brauchen wir eine Kiste! Inspizient Lehmann! Die Kiste
haben Sie bereit? Nun rasch eine Tafel zusammengebaut, grünes Tuch
drüber! Der Kultusminister wird gleich erscheinen, hat mit seinen Räten
eine Sitzung am grünen Tisch.“ Stutzig erwiderte der Inspizient: „Der
Kultusminister? Er hat ja telephonisch abgesagt!“ -- „Ei verflucht!“
plapperte Papchen. Unwirsch ich: „Ach was telephonisch! Hat er ein
Zeugnis vom Theaterarzt? Keine Drückebergerei!“ -- „Theaterarzt?“ Und
der Inspizient schüttelte den Kopf: „Wissen Sie nicht aus der Zeitung,
daß der Kultusminister den Kaiser nach Posen begleitet hat?“ -- „Ganz
egal!“ schnauzte ich. „Ich habe meine Zeit +auch+ nicht gestohlen.
Müßte eigentlich schlafen; -- aber ich bin doch zur Stelle. Sagen Sie
dem Kultusminister, es gibt Abzüge von seiner Gage. Ja, aber was fangen
wir nun an? Wer soll die Sitzung am grünen Tisch leiten?“ Papchen wußte
Rat: „Der Ministerialdirektor muß ihn vertreten.“ Blödsinn! Doch es
schrillte die Glocke, das Spiel begann.

Um den grünen Tisch standen würdige Herren in etwas abgeschabten
schwarzen Röcken. Sie hatten Glatzen oder graue Haare, vornehm
rasierte Gesichter oder hochgesträubte Schnurrbärte, manche auch weiße
Vollbärte. Die Gestalten waren teils behäbig, teils vertrocknet, teils
lang, teils kurz und dick. Aus den zwanglosen Gruppen kam brockenweise
ihr Geplauder. „Sein Burgunder delikat!“ -- „Zum nächsten Kegelabend
pünktlicher!“ Plötzlich rief einer: „Der Olle kommt!“ Und wie
Schuljungen hasteten sie auf ihre Plätze. Frei blieben zwei Armsessel
an den Kopfenden der Tafel. Durch die von Lakaien aufgerissene Tür
traten zwei Herren. Eine spindeldürre Gardefigur in schwarzem Gehrock,
Monokel ins knochige Gesicht geklemmt, Orden im Knopfloch. Mit
gezierter Höflichkeit führte er seinen Begleiter zu einem der Armsessel
und stellte ihn den Beamten vor, die sich ehrerbietig verneigten. „Der
Herr Hofprediger gibt uns die Ehre, unserer Sitzung beizuwohnen. Seien
Sie uns willkommen, Hochwürdigster, und geruhen Sie, Platz zu nehmen.“
Über des Hofpredigers Gesicht, das bis auf zwei Reste von Backenbart
rasiert war, glitt ein stolzes Lächeln ...

Hier hielt ich es für angemessen, das Spiel zu unterbrechen: „Halt!
Ihre Maske, Hofprediger, könnte feiner sein. Den Jesuitismus sollten
Sie ein wenig mildern, dafür muß die Lutherpose deutlicher heraus.
Bedenken Sie, daß Sie nicht bloß Hofprediger sind, sondern dabei
auch Volksmann. Das Lächeln mehr gewinnend! Gut so! Weiter!“ -- Wie
nun die Beamtenschaft am grünen Tische die Ohren spitzte, sprach der
Hofprediger, die Hände gefaltet: „Geliebte in Christoph Columbus!
Stützen von Thron und Altar! Die alte Schlange, die schon im Paradies
die Menschen verführte -- sie erhebt wieder mal ihr Haupt, zischelt
und speit Gift. Die Masse des Volkes soll unserer evangelischen
Landeskirche abspenstig gemacht werden. Die roten Demagogen brauchen
den Unglauben, um den Umsturz alles Bestehenden vorzubereiten. Unsern
deutschen Michel, sonst ein leidlich folgsames Tier, reizen sie mit
ihrem roten Lappen, daß er die Hörner senkt gegen die göttliche
Weltordnung. Auf deren Trümmern möchten die Dämonen der Finsternis
triumphieren. Das sind natürlich ...“ -- „Vor allem die Juden,“
plapperte Papchen, und gereizt griff der Hofprediger das Wort auf:
„Ja wohl, +die+ stecken hinter jeder Rebellion! Auch hinter
dem Getriebe, über das ich ein ernstes Wort mit Ihnen reden will --
ich meine die Freireligiöse Gemeinde! Und das sage ich Ihnen, meine
Herren, wenn Sie nicht energisch aufräumen mit diesem glaubenslosen
Gesindel, dann sollen Sie mal sehen ...“ Ein Schlag mit der flachen
Hand knallte auf den grünen Tisch, so daß der Ministerialdirektor
drüben zusammenfuhr und seine Beamten in sich zusammenkrochen, wie wenn
eine Schnecke einen Nasenstüber bekommt und die Fühlhörner einzieht.
Grimmig nickend musterte der Hofprediger die Versammlung: „Sie
schweigen? Antworten Sie klipp und klar: Warum geht der ketzerische
Jugendunterricht ganz gemütlich weiter? Warum lassen Sie diesen
frechen Bruno Wille nicht einfach durch den Schutzmann abführen,
he? Polizei ist doch zum Zugreifen da! Der Minister soll einfach
verfügen! Ihre Kanzlei muß doch eine Fundgrube sein für Verordnungen,
die sich zu unsern Gunsten ausnutzen lassen! Ausgraben, ausgraben!
Kabinettsbefehle, Ministerialerlasse, Instruktionen von Anno Toback. Wo
haben Sie denn Ihre Kiste? Warum steht die fromme Kiste nicht auf dem
Tisch, he?“

Auf ein Zeichen des bestürzten Ministerialdirektors hastet der Geheime
expedierende Sekretär hinaus. Bittend lächelt der Ministerialdirektor:
„Die Kiste war beim Faßbinder, ein paar eiserne Reifen mußten drum!
Übrigens horch, man bringt sie schon! Platz in der Mitte, Platz für
unsere altpreußische Regierungskiste!“ Und mit Gepolter geht die Tür
auf -- vier Leichendiener, umflorte Zylinder auf, schleppen auf einer
Bahre die Kiste herbei. Wie sie auf dem grünen Tische steht, gleich
einer Bundeslade, nähert sich mit der Ehrfurcht eines Altardieners
der Geheime expedierende Sekretär, nimmt den Deckel behutsam ab und
reicht ihn den Leichendienern. Nachdem er seinen Rock ausgezogen,
krempelt er die Hemdsärmel auf und reckt hagere Arme wie eine Spinne.
Die krallenartigen Finger sind mit Tinte befleckt. Eifrig greift er
in die Kiste, daß Staub aufwirbelt. Schmunzelndes Nicken im Kreise
der Bürokraten: „Alte feine Jahrgänge! Wie duften diese Weinchen! Je
staubiger, desto adliger!“ Triumphierend hebt der Geheime expedierende
Sekretär eine Urkunde heraus: „Allerhöchste Kabinettsordre vom 1.
Dezember 1825!“ Alles blickt ehrerbietig. Der Ministerialdirektor:
„Oha, wir haben noch ältere!“ Und der Sekretär setzt seine Wühlarbeit
fort. Ein neues Dokument hält er: „Dienstinstruktion für die
Provinzial-Schulkollegien vom 23. Oktober 1813 -- und hier vom gleichen
Tage die Geschäftsinstruktion für die Königlichen Regierungen. Noch
weiter haben wir da eine gute alte Kabinettsordre vom Jahre 1808.“

„Gleich nach der Schlacht bei Jena war das also -- wo Preußen seine
Kloppe bekam, weil es aus der ollen Konservenkiste rejiert wurde.“ Ich
kannte diese Stimme und war ebenso verblüfft wie die Beamtenschaft, als
hinter den Leichendienern, die an der Türe harrten, in einer Gruppe von
eingedrungenem Volk, Männern im Arbeitskittel, ärmlichen Frauen und
Kindern, mein freireligiöser Gesinnungsgenosse Adolf Hoffmann stand. Er
war’s, der die Worte gesprochen. Wie Stahl blitzten seine Blicke durch
den Kneifer, die leicht ergrauende Mähne erinnerte an einen grimmen
Löwen. „Zur Jeschäftsordnung!“ fährt er fort. „Hat denn nich der olle
Fritze auch so’n biedern Erlaß herausjebracht? Ich meine, darin heißt
es, jeder könne nach seiner Fasson selig werden. Aber den Herren vom
jrünen Tisch paßt die Zeit um Jena rum besser. Daß unsere Obrigkeit
auf Jahrgänge zurückjreift, die nich jrade jut beleumundet sind, ist
ein Zeichen der Zeit.“ Empört eifert der lungenkräftige Hofprediger:
„Was redet er von Zeichen der Zeit? Diese böse und verkehrte Art suchet
ein Zeichen und soll ihr kein Zeichen gegeben werden, denn das Zeichen
des Propheten Jona.“ Hohles Gelächter bei der Volksmenge, die sich
durch Nachdrängende vergrößert. Und Hoffmann: „Er redet vom Propheten
Jonas. Von dem berichtet die göttliche Offenbarung, er sei vom Walfisch
verschlungen und nach drei Tagen lebendig ausgespien. Proste Mahlzeit!
Da möcht ich mir mal die Frage erlauben, wie der Jonas denn eijentlich
in den Bauch dieses Viechs jelangen konnte -- da doch der Walfisch, wie
jedes Kind in der Naturkunde lernt, eine auffallend enge Speiseröhre
hat.“

Der Hofprediger, nicht ohne Verwirrung: „Bei Gott ist kein Ding
unmöglich. Übrigens gibt’s einen Fisch, dessen Schlund weit genug
ist, einen Menschen hinunterzuschlucken. Der Fisch, der den Jonas
verschlang, war ein Haifisch!“ -- „Hoho!“ johlt die Menge, und Hoffmann
triumphiert: „Haifisch! Na ich danke! Der Schlund des Haifisches
is ja jespickt mit dolchscharfen Zähnen. Ehe da der arme Prophet
hinunterrutschen konnte in den Haifischbauch, war er sicherlich
Hackebraten!“ Hatten die Räte bisher wie versteinert gesessen, so
sprangen sie jetzt auf, und aus ihrer brausenden Bewegung, die der
Hofprediger mit fuchtelnden Armen noch wilder machte, kamen Rufe:
„Staatsanwalt!“ -- „Des bin ich Zeuge!“ rief der Hofprediger. „Dieser
Aufwiegler hat Gott gelästert! Ich nehm’s auf meinen Diensteid!“ --
„Diensteid?“ höhnte Hoffmann. „Hoho! Ich habe auch einen Diensteid
geschworen. Der gilt dem Volke! So steht denn Eid gegen Eid. Mag nun
der Herr Hofprediger geltend machen, +sein+ Eid sei so gut wie
+mein+ Eid ...“ Wutschnaubend unterbrach ihn der andere: „Er hat
gesagt +Meineid+!“ -- „Ich sage sojar +Jemeinheit+!“ ruft
Hoffmann unter lustigem Beifall. „Und wenn Sie jlauben, Sie werden im
Zeichen der ollen Konservenkiste siegen, denn passen Se mal auf, wie
wir Ihren verschluckten Propheten herausholen aus dem Walfischbauch!“
Und seinen Künstlerkopf mit dem grauen Henriquatre keck erhoben, die
Rechte drohend geballt, stampft er und singt die Wallfahrerweise:

    „O du pfi--pfi--pfi ...
    O du pfiffiger Pfaff!
    Deinen sau--sau--sau ...
    Deinen sauberen Plan
    Holt der hei--hei--hei ...
    Holt der heilige Hai ...“

Im Takte trampelt dazu die Menge. Nun tritt Hoffmann, während die
Beamten scheu zurückweichen, an ihre Bundeslade und hebt wie ein
Beschwörer die Hände:

    „Der Herr der Ratten und der Mäuse,
    Der Fliegen, Frösche, Wanzen, Läuse,
    Befiehlt dir, dich hervorzuwagen --
    Incubus, Incubus!
    Sanktus Bürokratius!“

Und donnernd trifft sein Fußtritt die Konservenkiste. Da fährt eine
Staubwolke heraus und formt sich zu einem Gespenst, ähnlich einem
schlotternden Aktuarius, grauen hohlwangigen Gesichts, ein Aktenbündel
unter dem Arm. Entsetzt ringt Bürokratius die Hände und flüchtet -- als
aus der Volksmenge ein Haifisch hervorschießt und mit seinem roten,
weißgezahnten Rachen nach dem Aktengespenst schnappt. Dieses wirbelt
auf der Bühne herum, vom gierigen Hai verfolgt. Und grausam höhnisch
hetzt ihn die Menge zum Schnappen:

    „Hackepacke hackepacke!
    Hacke hacke, hackepacke!“

Im Getümmel und Wirbel, zu dem die Volksmenge samt den Beamten
zusammenwogt, fällt die Kiste mit den Akten um, auch der grüne Tisch.
Schließlich poltern die Kulissen zusammen -- und alles ist eine einzige
aufstöhnende, heulende Staub- und Ideenhose: „Huh--uiii!“

Entsetzen durchschlottert mich, Angstschweiß rinnt mir über die
Stirn, ich stöhne, als drücke mich der Alb. Aber da kommt durch das
schnarrende Geräusch der wirbelnden Ideenhose, wie aus der Ferne, eine
beruhigende Stimme: „Bruno! Mann! träumst du? Das macht wieder mal
dein spätes Nachhausekommen.“ -- „Pa--Pa--Papchen!“ bringe ich mühsam
heraus -- und spüre, wie mein Vogel, der beim Tumult zu mir in den
Souffleurkasten geflattert ist, mausartig in meinen aufgesperrten Mund
schlüpft.

„Du hast furchtbar geschnarcht! Ihr schwatzt so lange in euren
Sitzungen -- dann stöhnst du nachts und träumst!“ sagt meine Frau,
während ich mich auf die andere Seite lege und beruhigt seufze: „Ach ja
-- geträumt!“

Draußen schüchternes Lerchenzwitschern ... --

Daß jene Kabinettsbefehle und Ministerialerlasse, die der Geheime
expedierende Sekretär aus der Konservenkiste hervorgeholt, genau
die Daten trugen, die ich angegeben, vermag der Chronist nicht
zu behaupten. Genug, es ist urkundliche Tatsache, daß meine
Gefangenschaft aus der Konservenkiste kam und auf Kabinettsbefehle und
Ministerialerlasse aus den Jahren 1839, 1813 und 1808 gegründet war.

Obwohl meine verbotene Jugendunterweisung mir keineswegs als
konzessionspflichtiger Unterricht erschien, stellte ich sie doch
in ihrer bisherigen Form ein und begnügte mich, die freireligiösen
Anschauungen durch Erbauungsvorträge zu verbreiten. Da kam eine neue
Verfügung vom Provinzial-Schulkollegium: „Nach Auskunft des Kgl.
Polizei-Präsidiums sammeln Sie allsonntäglich vormittags die Kinder
von Mitgliedern der hiesigen freireligiösen Gemeinde, halten denselben
Vorträge über die Grundsätze der letzteren, lesen aus dem Lehrbuche
für den Jugendunterricht freireligiöser Gemeinden einzelne Sprüche
und Fabeln vor, erläutern dieselben und fordern die Kinder auf, die
besprochenen Stellen zu Hause nachzulesen. Wir machen Ihnen hiermit
bemerklich, daß diese Kinderversammlungen nicht etwa deswegen, weil
sie Sonntags abgehalten werden, als gottesdienstliche Versammlungen
angesehen werden können, da die hiesige freireligiöse Gemeinde, deren
Grundsätze den Kindern gelehrt werden, infolge ihrer Gottesleugnung
eine Religion nicht hat und somit Anhänger dieser Grundsätze
Gottesdienst gar nicht halten können. Ihre obenbeschriebene Tätigkeit
fällt daher lediglich unter den Begriff der Unterrichtserteilung, die
Ihnen durch unsere Verfügung unter Strafandrohung verboten worden
ist. Jede weitere Zuwiderhandlung gegen dies Verbot wird nach Maßgabe
unserer Verfügung geahndet werden.“

Den Widerstand gegen solche behördliche Unterdrückungstaktik
fortzusetzen, war für die freireligiöse Bewegung ein Gebot der
Selbsterhaltung. Auch im Interesse des Volkes überhaupt, dessen Rechts-
und Freiheitssinn bei allen Gelegenheiten belebt werden muß, schien es
mir erforderlich, nicht widerstandslos die Waffen zu strecken. Deswegen
hielt ich im Einverständnis mit meiner Gemeinde die Vorträge weiter.
Die Folgen blieben nicht aus. Das Provinzial-Schulkollegium diktierte
mir eine Strafe nach der anderen zu, und schon kam eine Summe von
zweitausendvierhundert Mark oder zweihundertvierzig Tagen heraus --
abgesehen von den Strafen, die ich durch meine frühere Tätigkeit nach
Art des Konfirmandenunterrichts verwirkt hatte. --

Als nach meinem Traum die Morgensonne zum offenen Kammerfenster
hereinflutete und das Pfeifen der Stare, des Hühnervolkes Gackern,
das Summen geschäftiger Insekten, der Säuselwind in den Apfelbäumen
zu einem einzigen Jubel verschmolz -- da ließ sich „der Weise im
Innern“ über meinen Traum von der ollen Konservenkiste aus: „Wehe euch
Schriftgelehrten und Pharisäern! Ihr Heuchler, die ihr gleich seid wie
die übertünchten Gräber, die auswendig hübsch scheinen; aber inwendig
sind sie voller Totenbein und Unflat. Den Heiland hat man in eine
Konservenkiste gelegt, hat einen Stein davorgewälzt -- und da modert
der Lebendige für jene, so das Engelwort nicht begreifen: Was sucht ihr
den Lebendigen bei den Toten?“




Pfändung der Habe


Tolstoi hat bemerkt, ein Mensch, der Verse macht, komme ihm vor wie ein
Bauer, der mit Tanzschritten hinter seinem Pfluge hergeht. Aber es gibt
nun mal solche versfüßelnden Käuze, auch ich gehöre dazu. Besonders
in jungen Jahren hielt ich was vom Versemachen -- kam mir vor wie ein
Fischer, der aus vorbeirauschender Strömung Perlen fischen möchte. Bunt
schillert’s in der Flut, eine Perle scheint dem Poeten manches, dem
sein Kinderauge Verklärung leiht. „Sollen all diese Schätze verloren
gehn?“ denkt er mit Wehmut. „Nein! du mußt sie festhalten -- in eine
künstlerische Fassung bringen -- deinen Mitmenschen zur Erquickung
darbieten!“ Mit anderen Worten: der junge Dichter hält es für heiligen
Beruf, seine Verse der Unsterblichkeit zu vermachen. Sein Gedichtbuch
soll eine neue Epoche der Literatur einleiten.

Doch ich will mich nicht einfältiger hinstellen, als ich vor einem
Vierteljahrhundert war. Immerhin hegte ich den heißen Wunsch, mich
als Lyriker gedruckt zu sehen. Da ein paar Verlagsbuchhändler, mit
denen ich verhandelte, nichts als kühle Bedenken vorbrachten und
dann sogar das Ansinnen stellten, ich solle die Druckkosten zahlen,
so wandte ich mich grollend von der ganzen Verlegersippe ab. Eine
Unterhaltung hierüber hatte ich in einem Nachtcafé mit Richard Dehmel,
der damals noch zu den Ungedruckten gehörte. Düster hörte er mir zu.
Struppig war ihm Vollbart und Haarschopf, zergrübelt die Stirn mit
der Studentenschmarre, durch den Kneifer loderte das wilde Auge:
„Zum Kuckuck! Wenn man schon die Druckkosten selber tragen soll, so
möchte man wenigstens dafür den Reinertrag ungeschmälert ernten.
Selbstverlag ist immer noch das beste. Wenn nur die Kritiker nicht
gleich mißtrauisch würden! Lesen sie auf dem Titel: Im Selbstverlage
des Verfassers, Kommissionsbuchhandlung Leipzig, so denken sie: Aha!
wieder so ein grüner Dilettant, der sich seine Eitelkeit etwas kosten
läßt.“ Ich brütete mürrisch -- da kam mir ein Aufleuchten: „Heureka!
Gründen wir einen genossenschaftlichen Selbstverlag; er soll Freie
Verlagsanstalt heißen. Zur Genossenschaft werden Verfasser zugelassen,
die ihre Druckkosten zahlen und natürlich einen literarischen Wert
haben.“

Die Freie Verlagsanstalt wäre nicht zustande gekommen, hätte ich nicht
einen Buchdrucker gekannt, der ebenso gutmütig wie rund und massiv
war. Wegen seiner Statur nannten wir ihn den Elephantenwillem, wobei
wir aber auch an den treuen Eifer und die Intelligenz des Elefanten
dachten. Seine schwere Hand hatte der Elefantenwillem auf meine
Schulter gelegt und mit einem freimütigen Blick seiner blauen Augen das
Geständnis getan: „Ick schätze Ihnen, Wille -- Sie sind ’n Aas uf de
Jeije -- un ick stunde Sie de Druckkosten.“ So wurde es möglich, daß
ich wenige Wochen später das berauschende Erlebnis durchkostete, meine
Verse für den Druck herzurichten. Eines schönen Tages kam das Paket
Bücher -- da lag das Werk wie ein neugebackener Kuchen: „Einsiedler und
Genosse ... Freie Verlagsanstalt, Berlin.“

Für meine Chronik kommt der vorliegende Fall insofern in Betracht,
als er bei der Pfändung meines Mobiliars mitspielte. Nachdem mir die
Geldstrafe seit geraumer Zeit aufgebrummt war, ohne daß ich Zahlung
leistete, konnte jeden Tag das Zwangsverfahren eintreten, und ich hatte
mit meiner Frau bereits überlegt, wie wir uns verhalten wollten.

Es klingelte, und gleich dachten wir: „Der Exekutor!“ Es war aber mein
Freund Benno Streitmüller. Sein gutmütiges Lächeln war nicht ohne
Schelmerei, als er seinem Portefeuille ein Schriftstück entnahm und
auf den Frühstückstisch breitete. Da las ich, daß der Elephantenwillem
den Rest seiner Forderung für Druck meines Gedichtbuches an Benno
abgetreten hatte. „Sieh mich an!“ sprach Benno, „ich bin jetzt dein
Gläubiger -- Junge, Junge! Zahl mal sofort vierhundertachtzig Mark.
Ich schicke dir sonst den Gerichtsvollzieher. Mensch, ich presse dich
aus wie eine Zitrone.“ Dabei faßte er mich bei den Schultern. Meine
Frau starrte ihn an, den Mund geöffnet. „Keine Witze!“ stammelte ich.
Benno lächelte grausam: „Witze? Das Fell zieh ich dir über die Ohren.“
-- „Du weißt doch, daß die Wohnungseinrichtung meiner Frau gehört.“
-- „Nicht gänzlich! Zum Beispiel das Gemälde über deinem Schreibtisch
ist +dein+ Eigentum. Diese köstliche Kopie des Abendmahls von
Leonardo hat dir der Maler geschenkt, wie du mir mal erzählt hast.
Auf dies Stück hab ich’s besonders abgesehen. Das lasse ich durch
den Gerichtsvollzieher versiegeln und dazu noch die goldene Uhr, die
du in Bukarest zum Andenken bekommen hast. Das Gemälde ist gut und
gern zweihundert Mark wert, die Uhr ebensoviel. Den Hauptteil meiner
Forderung hab ich dann sicher; sonst kommt mir das Amt Friedrichshagen
zuvor und pfändet Bild und Uhr -- was du leichtsinniger Mensch wohl
nicht bedacht hast -- ja ha ha!“ -- „Ich verstehe dich, Freundchen.“
Lächelnd schüttelten wir einander die Hände, und meine Frau, die jetzt
begriff, meinte kopfschüttelnd: „Hätte ich je gedacht, daß Benno so
grausam pfiffig ist?“

Bald nach diesem Gespräch erhielt ich richtig vom Amtsgericht Cöpenick
den Befehl, vierhundertachtzig Mark an Benno Streitmüller zu zahlen.
Da ich +nicht+ zahlte, kam etliche Tage später der Cöpenicker
Gerichtsvollzieher zu mir, ein freundlicher alter Herr, die Amtsmütze
auf dem Kopfe. Mit bedauerndem Achselzucken kündigte er an, daß er mich
pfänden müsse: „Ich bitte um Ihr Portemonnaie -- und die Uhr da!“ Was
er im Portemonnaie fand, war nicht der Rede wert; die Pariser Ankeruhr
aber besah er mit Hochachtung. Unter den geöffneten Golddeckel klebte
er ein rundes Papiersiegel und reichte mir die zugeklappte Uhr zurück.
„Na, und? was kann man sonst noch kriegen? Alles nette und leidlich
wertvolle Sachen! Ich darf wohl mal durch die Wohnung gehn?“ -- „Das
können Sie sich sparen,“ versetzte meine Frau, „nahezu alles gehört
mir -- ich hab’s mit in die Ehe gebracht, Gütergemeinschaft ist bei
uns ausgeschlossen. Bloß die Uhr gehört meinem Mann -- und das Gemälde
-- natürlich auch die Bibliothek -- aber die braucht er ja zu seinem
Beruf.“ Der erfahrene Gerichtsvollzieher legte die Hand ans Kinn:
„Glaub’s schon! Aber versiegeln muß ich doch. Es steht Ihnen frei,
zu intervenieren, indem Sie den Nachweis bringen, daß die Sachen Ihr
Eigentum sind.“ Er ging in den sogenannten Salon und klebte mit raschem
Kunstgriff unter die Möbel und Teppiche seine blauen Papiersiegel.
Schließlich nahm er ein Protokoll auf und verabschiedete sich.

Bald kündigte die Flurklingel neuen Besuch an. Benno Streitmüller
war’s; schalkhaft strahlten die blauen Augen des edlen Jünglings. „Eben
bin ich ihm begegnet. Nun wäre ja wohl alles in Ordnung, und du bist
deine letzte Habe los, Jungeken!“ -- „Blutsauger!“ deklamierte ich hohl.

Er amüsierte sich über die angeklebten Papierdinger, da er sowas noch
nie gesehen. „Und nun, Frau Lieschen, lassen Sie ruhig den anderen
Exekutor kommen! Er findet alles bereits versiegelt. Wenn er gleichwohl
glaubt, pfänden zu dürfen, so mag er sich an +Ihre+ Sachen halten.
Dann los mit Ihrer Interventionsklage gegen das Amt Friedrichshagen!
Das kann ja die Kosten tragen.“ Und er kicherte. -- „Aber die Sachen
+sind+ doch schon alle versiegelt,“ wandte ich ein. -- „Macht
nichts,“ versetzte Benno, „ich gebe sie frei, großmütig, wie ich nu
mal bin. Bloß die Uhr und das Gemälde behalte ich, lasse dir aber den
Gebrauch dieser beiden Stücke -- zunächst bis Ende dieses Jahres. Hier
hab ich schon den Leihkontrakt. Kannst gleich unterschreiben. Wenn
dann morgen jemand vom Amte pfänden will, zeig ihm den Kontrakt.“ --
„Morgen schon?“ fragte meine Frau, und Benno erwiderte: „Ich habe
vor zehn Minuten den jüngsten Leutnant getroffen, gleich hinter dem
Gerichtsvollzieher kam er. Na, jüngster Leutnant? hab ich gesagt,
geben Sie man Herrn Rat Hegel einen Wink! sonst kommt ihm der
Cöpenicker Onkel da bei Doktor Wille zuvor. Sie wissen doch? Andere
Leute könnten +früher+ aufstehen als das Amt -- verstehen Sie? So
sagte ich, und nun paßt mal auf, Kinder, der jüngste Leutnant erzählt
die Geschichte brühwarm dem Igel, dann schickt dieser schleunigst
+seinen+ Exekutor.“ Notabene: der jüngste Leutnant war ein
Amtsdiener, der vor wenigen Monaten frisch vom Militär gekommen war und
sich in seiner nagelneuen Uniform benahm wie ein Äh-bäh-Stutzer.

Andern Tages erschien in der Tat in meiner Wohnung ein Amtsdiener, es
war der olle Schäffer, der mit seinem Biedergesicht, seiner Brille und
dem grauen Vollbart an meinen alten Oberlehrer erinnerte. Auch Schäffer
begann seine strenge Rolle durchaus human. Er redete gut zu, ich solle
auf die geforderten Strafgelder doch wenigstens eine Anzahlung machen:
„Denn sehen Se, sonst muß ick Sie Ihre Möbel nehmen.“ -- „Die sind
aber +mein+ Eigentum,“ entgegnete meine Frau. -- „Wenn Sie det
jerichtlich nachweisen können, jut! Aber vorleifich muß ick vasiejeln.“

„Die Sachen +sind+ ja schon versiegelt,“ wandte ich ein und
kehrte einen der Stühle um, so daß man das untergeklebte Siegel sah.
Schäffer wurde schweigsam und schien die Schlacht bereits aufzugeben.
Da entstand durch mein Verhalten eine Verwicklung. „Ich muß Ihnen
allerdings gestehen, daß Herr Streitmüller, der die Sachen gestern
versiegeln ließ, schon alles wieder freigegeben hat. Bloß diese
Uhr und ein Gemälde hat er behalten, und darüber haben wir einen
Leihkontrakt; hier ist er.“ -- „So?“ meinte Schäffer gedehnt und las
das Schriftstück. „Darf ick mal de Uhr sehn?“ Ich zeigte das Siegel
im Innern. „Nu bitte det Jemälde!“ Als ich vor meinem Schreibtisch
auf das „Abendmahl“ wies, nicht ohne Befriedigung über die treffliche
Wiedergabe des Meisterwerkes, zeigte er gar kein Interesse für die
Kunst, nahm das Bild von der Wand und suchte nach dem Siegel. Doch
sieh, ein Siegel war hier gar nicht vorhanden -- der Gerichtsvollzieher
hatte es vergessen oder das Bild allzu gering geschätzt.

Schäffer blickte spitz: „Denn muß ick det Bild +fänden+, un nu
wollen wir ooch mal die übrijen Sachen untasuchen.“ Er lehnte das Bild
an die Wand, und los ging ein Durchschnüffeln der ganzen Wohnung. Unter
die Tische kroch er, um die Siegel zu finden. Sofa und Diwan mußte er
hochkippen, weil sein Vorgänger aus Cöpenick in zarter Rücksicht seine
Zettelchen +versteckt+ angebracht hatte. Ob der ungewohnten Arbeit
schnaufte der ältliche Amtsdiener. Als meine Frau ihr Lachen nicht
verhalten konnte, gab er weitere Bemühungen auf und begnügte sich, von
den reichlich mitgebrachten Siegeln des Amtes Friedrichshagen eins
hinten auf das Bild zu kleben. Nachdem er sein Protokoll aufgenommen,
verabschiedete er sich kühl und ergriff das Bild. Ich protestierte:
„Sie haben kein Recht, zu nehmen, was nicht mir gehört, sondern Herrn
Streitmüller.“ Und Schäffer: „Wenn Herr Streitmüller anfechten will, so
ist det eene Jerichtssache zwischen ihn un det Amt Friedrichshagen.“
Resolut setzte er die Amtsmütze auf und zog mit dem Bilde ab.

Ich hatte Mühe, unsern Terrier Schuftel, der ein Vorurteil gegen
Uniform-Menschen hatte, von Angriffen auf die Staatsgewalt
zurückzuhalten. Als ich den Köter eingesperrt hatte, vernahm ich einen
Wortwechsel auf dem Hofe: unsere treue Schaffnerin Frau Pape redete auf
den Amtsdiener ein. Aus dem Fenster beobachtete ich, wie sie ihm ein
Paar olle Stiebel hinhielt und spöttisch antrug, auch die mitzunehmen.

Keine halbe Stunde nach diesem Auftritt, und Schuftel, den ich wieder
freigelassen, verriet durch Straßengekläff, daß er abermals Händel
habe. Die scheltende Menschenstimme gehörte dem Amtsdiener Schäffer.
Mit raschem Griff hatte ich den Teppichklopfer, der mir gerade in die
Quere kam, und eilte die Treppe hinab. Fürchterlich anzusehen, wie
der Amtsdiener sich des Hundes erwehrte. Mit seinen glotzenden Augen
und dem weißgezahnten Rachen gemahnte das Vieh an den Haifisch meines
Traumes, wie er nach dem retirierenden Aktengespenst schnappte: „Hacke
hacke!“ Der olle Schäffer, die Augen starr auf den Feind, nahm sich
zusammen, um keinen Biß abzukriegen, und teilte fortwährend Fußtritte
in der Richtung des Schnappenden aus. Ich staunte über die Gelenkigkeit
der ältlichen Oberlehrerbeine. Da, mit einem Schwupp, hatte sich der
Köter am Absatz des Amtsdieners festgebissen, daß dieser nicht loskam
und auf einem Beine hüpfte, wobei er jämmerlich schrie. Sofort traf
mein Teppichklopfer die Bestie, daß sie losließ und sich fletschend
trollte. An den Gartenzaun gelehnt, hielt der Amtsdiener sein Bein
hoch und betrachtete den Stiefel. „Hat er durchgebissen?“ fragte ich
bestürzt. „Det nich, aber der Stiebel is kaputt.“ -- „Bedaure sehr,
Herr Schäffer, doch Hauptsache, daß Sie keine blutige Wunde haben.
Den Stiefelschaden ersetze ich. Na, und was führt Sie denn nochmals
zu mir?“ -- „Ick habe mir eenen Schwupper zu schulden kommen lassen.“
-- „So? Na denn kommen Se man wieder rauf!“ Oben spendierte ich dem
Polizeimann einen herzstärkenden Trank, und nun gab er folgende
Erklärung: „Ick habe also den Herrn Rat allens berichtet. Da wird
e’ janz wild: Aber Schäffer, Mensch! Sie bringen so’n wertlosen
Trödelkram? Wat soll ick mit det +Bild+? Man schleunigst retur,
un bessere Stücke versiejelt. Ja, sehen Se, Herr Dokter, so leid et
mich duht, den Schwupper muß ick nu wieder jut machen.“ Und nochmals
durchmusterte er die Wohnung, nochmals mußte er Sofa und Diwan
hochkippen und unter die Tische kriechen, seine Zettelchen anzubringen.

Zu solchen Scherereien gesellten sich andere, die schon verdrießlicher
waren. Hin und wieder sah ich meiner Frau an, daß sie sich mit Sorgen
trug, und auf mein Zureden gab sie den Bescheid: „Sowas ist doch keine
Kleinigkeit! Wir haben noch nie mit Polizei und gar Gerichtsvollzieher
zu tun gehabt -- da kommen nu Männer mit Amtsmütze un blamieren einen
im ganzen Ort. Die Nachbarn schwatzen, warum hier wohl versiegelt wäre,
un nächstens soll ich in Cöpenick schwören -- und weiß gar nicht, wie
man das macht.“




Der Tierkreis


In diesen Tagen des ersten Frühlings wurde unsere Unruhe durch
Stimmungen geheilt, wie sie der Natur eines märkischen Dörfchens eigen
sind. Über den Kiefernforst kam lauer Brausewind geflogen, und die
Sonne schien auf die sprießende Wintersaat der schmalen Feldstücke,
auf die Obst- und Blumengärtchen, wo an molliger Stelle Veilchen
blühten. Drüben im verwilderten Laubpark schlüpfte die schwarze Amsel
am Erdboden hin, Nahrung mit dem gelben Schnabel pickend. Zufrieden saß
sie abends auf der Spitze einer Pappel, von wo sie das Frühlingsreich
überschaute, ihre Pfiffe in den gelben Himmel jauchzend. Wenn wir
über die Feldlandschaft spazierten, so sahen wir hin und wieder einen
Kleinbürger, der nach getaner Berufsarbeit seinen Kartoffelacker umgrub.

Bei dieser Tätigkeit fanden wir am ersten April nach Feierabend unsern
Hauswirt Krause. In dem Häuschen, wo er wohnte (die zwei anderen
Häuser, die er besaß, dienten ihm lediglich zum Vermieten), hatte ich
ihn nicht angetroffen, als ich die Miete zahlen wollte. „N’Abend, Herr
Krause! Ich möchte bei Ihnen mein Geld los werden.“ Mit latschigen
Schritten kam Krause heran und reichte mir schweigend die Arbeitshand.
Ohne den kalten Zigarrenstummel von den Lippen zu tun, nuschelte er:
„Jeben Sie det Jeld man meine +Frau+!“ -- „Die ist nicht zu
Hause. Und was man +doch+ zahlen muß, wird man gern +rasch+
los; sonst kommt wohl gar über Nacht ein Spitzbube.“ -- „Zu Sie
kommt keener,“ lächelte Krause. -- „Aber vielleicht wieder mal der
Amtsdiener!“ -- „Ach so! +Denn+ man +her+ mit den Draht!“

Ich zählte das Geld auf das Quittungsbuch, er sackte ein, ich reichte
ihm den Tintenstift zum Unterschreiben. Er machte drei seltsam
gekritzelte Kreuze. „Soll das Krause heißen?“ -- „Anders ha’k nich
jelernt; aber die Kreize haben et +in+ sich. Ibrijens brauchen
ma nischt Schriftlichet! Wat +wir+ zwee beede sinn, da heest et
eenfach: Topp!“

Daß Mangel an Schulbildung das Heil der Seele nicht immer
beeinträchtigt, dafür bildet mein Hauswirt ein leuchtendes Beispiel.
Sein bienenhafter Fleiß, seine Rechtschaffenheit und Friedfertigkeit
waren jedem Kenner wert. Obwohl sein Vermögen mit sechs Ziffern
geschrieben wurde, war seine Lebenshaltung die eines Tagelöhners.
Beifall verdient sein Verhalten in meiner Pfändungsangelegenheit.

Wie prophezeit war, erschien am zweiten April vormittags bei mir ein
Amtsdiener -- diesmal war es der Jüngste Leutnant. Nicht exekutieren
wollte er -- brachte bloß eine Vorladung aufs Amt, wo ich vernommen
werden sollte. Als ich hinging und an Krauses Häuschen vorüberkam,
trat dieser heraus. Sonst wie der ärmlichste Landarbeiter gekleidet,
trug er diesmal seinen schwarzen Sonntagsanzug und einen altmodischen
Zylinder. Den lüftete er in seiner gemessenen Art: „Moo--arn!“ -- „Na,
Herr Krause?“ fragte ich munter, „wo soll es denn hingehn?“ -- „Nach
de Breestpromenade,“ antwortete er kurz. „Doch nicht etwa aufs Amt?“
Schweigend nickte er. Mir schwante, er werde in meiner Angelegenheit
vorgeladen sein. Und richtig! Als mich nach dem üblichen Warten im
Vorderbüro der Schreiber ins Budoar des Herrn Rat lud, fügte er hinzu:
„Un Sie, Herr Krause, jehn Se man jleich mit!“

Rat Hegel empfing uns mit kühlem Kopfnicken, ohne sich vom Sessel
zu erheben. Dann zwinkerte er mit den Igelaugen: „Zu diesem Verhör,
Herr Dokter, habe ich Ihren Hauswirt geladen, um Sie beide zu
konfrontieren.“ -- „Nanu?“ gab ich zurück. -- „Und jetzt, Herr Krause
(dabei blickte er gebieterisch), sagen Sie frei heraus: Gehört das
Mobiliar in der Wohnung des Herrn Dokter +ihm+ -- oder seiner
+Frau+?“ Krause hielt den Amtsblick aus und zuckte die Achsel:
„Weeß ’k nich!“

Um Igels schmale Lippen huschte spöttische Pfiffigkeit: „Das wissen
Sie nicht? P! Denn geben Sie mal den Mietskontrakt her! Sie haben ihn
doch mitgebracht, hä?“ Krause schüttelte den Kopf. „+Nicht+ mit?
P! Das ist stark! Ich habe Ihnen doch sagen lassen, Sie sollen ihn
vorlegen. Was steht denn drin? Sie haben doch wohl das Formular des
Hausbesitzervereins? Darin heißt es: Mieter versichert, daß die von ihm
eingebrachten Möbel sein ausschließliches Eigentum sind. Wer hat denn
nu Ihren Mietsvertrag unter+zeichnet+ hä? Etwa die +Frau+
Doktor Wille? +Er+ doch natürlich! hä? Raus mit der Sprache!“

Krause blickte mit unerschütterlicher Gelassenheit. Als er schweigend
den Kopf schüttelte, krähte Rat Hegel voreilig: „Aha! Also +nicht+ Ihre
+Frau+, Herr Doktor! +Sie+ haben unterschrieben! Haben sich also als
Eigentümer des Mobiliars bekannt. Ihre Frau kann gegen die Exekution
nichts machen, basta! Oder wollen Sie etwa +leugnen+, daß Sie den
Kontrakt unterschrieben haben? Ich könnte ja sofort eine Haussuchung
anordnen, damit der Kontrakt beschafft wird. Also +nu+, was sagen Sie
+nu+, hä?“

Ich war etwas verwirrt, wußte nicht, was im Mietskontrakt stand.
„Kontrakt hebben ma ieberhaupt keenen!“ wandte Krause mit Seelenruhe
ein. Der Igel stutzte und knurrte mißtrauisch: „Überhaupt keinen? Na,
das wäre eine dolle Wirtschaft! Sie, Eigentümer zweier Mietshäuser,
wollen mir einreden, daß Ihr Mieter nichts Schriftliches mit Ihnen
ausgemacht hat, hä?“ -- „Det is so!“ nickte Krause. Jetzt wurde der
Igel wild und fuchtelte mit den Armen: „Aber Mann! was machen Sie
für Streiche! Sie vermieten an den Herrn da -- und haben nichts
Schriftliches von ihm, hä? wissen nicht mal, ob die Möbel ihm gehören
oder wem sonst, hä? Das ist ein Unrecht! ein Unrecht gegen Ihr Kapital
-- gegen die guten Sitten!“ Mein Hauswirt, bockig geworden, trumpfte
auf: „Det jeht Ihnen +jar+ nischt an! Se wollen mich woll’n
+Loch+ in’n Kopp reden?“ -- „Das heißt,“ gab der Igel streng
zurück, „Sie dürfen nicht vergessen, daß ich Sie amtlich vernehme. Also
geht mich die Sache +wohl+ an! Hier liegt bei Ihnen ein gewisser
Leichtsinn vor. Wenn Ihnen nun dieser Mieter keine Miete zahlt? Sein
Mobiliar liegt bereits unter Siegel. Da ist er Ihnen ja nicht mehr
sicher!“ -- „+Der is+ mich sicher! Bei +uns+ zwee beede heeßt
et: Topp, een Mann, een Wort! Un nu will ’ck man +jehn+! Ick habe
keine +Zeit+ for hier mit Sie zu brabbeln!“ Und er stand auf, nahm
den Zigarrenstummel und nickte seinen Gruß. „Halt!“ rief der Igel, in
seiner höhnischen Kälte an den Landvogt Geßler gemahnend, „erst müssen
Sie Protokollchen unterschreiben, hä?“ -- „Nischt unterschreib’ ick --
hechstens mach ’ck drei +Kreize+!“ -- „Ah so!“ staunte Rat Hegel
und lächelte hochmütig. „+Sie+ also sind der letzte Analphabet
in der Kolonie des großen Friedrich? Na, denn +gehn+ Se man! Wir
kommen zurecht auch +ohne+ Kreuzelschreiber.“ So rief er ihm nach
und bemerkte unter spöttischem Zwinkern seiner Schweineritzen: „Wer
ohne Kopf geboren is, bleibt zeitlebens ein Krüppel -- hä?“

Das Protokoll, das der Igel nun aufsetzte, ging einfach dahin,
daß ein schriftlicher Mietsvertrag nicht vorhanden und keinerlei
Erklärung darüber erfolgt sei, +wem+ das Mobiliar gehöre. Als ich
unterschrieben hatte, bemerkte ich mein Bild, das an der Wand lehnte
und sein Siegel zeigte. „Bei dieser Gelegenheit,“ sagte ich, „möchte
ich Sie ersuchen, Herr Rat, daß mir das Bild da zurückgegeben wird. Das
Amt hat kein Recht darauf; es ist Eigentum des Herrn Streitmüller, und
ich habe es zur Verwahrung erhalten. Ich wünsche, daß das Bild baldigst
wieder an die alte Stelle kommt -- über meinen Schreibtisch; sonst
komme ich nicht in Stimmung und bin bei der Arbeit gestört.“

Neugierig erhob sich der Igel: „Was Sie sagen! Lassen Se das Dings
mal besehn!“ und lehnte das Bild an einen Stuhl, so daß es vom Fenster
beleuchtet war. Beim Betrachten feixte er spöttisch: „P! Ein Atheist,
un so’n Kirchenbild! Sie wollen mir einreden, daß Sie diese Schilderung
des Abendmahls zu Ihrer Erbauung benötigen? Glauben Sie denn überhaupt
an Christus, hä?“ -- „Wenn Sie wieder ein Religionsgespräch belieben,
so will ich Ihnen verraten: Wer den Christusgeist +betätigt+, der
allein glaubt an ihn! Ob Christus der geschichtlichen Wirklichkeit
angehört, kommt dabei nicht in Betracht ...“

Der Swinegel unterbrach mich mit staunender Heiterkeit: „Also Sie
halten es für möglich, daß Christus gar nicht mal gelebt hat, hä?“ --
„Für mich +lebt+ er -- ist das bessere Selbst, das Licht der Welt,
die geistige Sonne in der Menschheit wie im All. Im Bilde der Sonne
hat man ihn schon damals verehrt als die Mythe von den zwölf Jüngern
entstand. Die Zwölf bedeuten die Himmelszonen, die der Sonnenlauf in
den einzelnen Monaten berührt -- die zwölf Tierzeichen des Kalenders.“
Hier lachte der Igel krähend: „Tierzeichen ist gut! Ein Tier also ist
Sankt Peter, hä? ein Tier Sankt Johannes und so weiter! Ein Tier,
wie’s im Kalender steht: Widder, Stier, Krebs, Skorpion ... hehehe!
Diese Viecher empfehle ich ganz besonders Ihrer atheistischen Andacht.
Und Sie können an Ihrem Schreibtisch nicht produzieren, nicht wahr,
wenn Sie nicht Ihren Tierkreis betrachten, hihihi! Na ich fühle ein
menschliches Rühren, Sie sollen Ihren Willen haben. Das Bild hat ja
auch keinen Wert. Ich habe meinem Amtsdiener gleich gesagt: Da haben
Se sich schön anschmieren lassen! Kommt der Mann angepustet mit
einem Bild, das auf der Auktion nicht einen Taler bringt. Wer kauft
denn bei uns Heiligenbilder un so ’n frommen Kram, hä? Also Ihren
Tierkreis lasse ich Ihnen noch heute bringen! P! Zum Dank könnten Sie
mir verraten, welche Tiere mit den einzelnen Jüngern Christi gemeint
sind. Wer ist denn hier der Widder, hä? Wer ist der Stier? hihihi!“ Er
glaubte mich vernichtet zu haben und lachte mir schadenfroh ins Gesicht.

„Wer mit den Tieren gemeint ist, müssen Sie sich schon selber
herausdividieren, Herr Rechnungsrat -- machen Sie sich nach Belieben
Ihre Gedanken über den Widder und den Stier. Das sind übrigens
respektable Wesen -- wir haben Grund, bescheiden zu sein den Tieren
gegenüber, die uns oft beschämen durch ihre Unschuld, Gutmütigkeit und
Treue. Wissen Sie, was Schopenhauer zu seinem Pudel sagte, wenn er
ihn schelten wollte? Nicht etwa: du Vieh! Sondern mit durchbohrender
Überzeugung: Du Mensch! Dann kniff der Pudel den Schwanz ein und
versteckte sich.“ -- „Ach so! P!“ höhnte der Igel bösartig, „und
unsereins hat sich eigentlich zu verstecken vor Ihrem verhimmelten
Viehzeug, hä? Naturgemäß! Der Mensch stammt ja vom Affen ab -- lehrt
Ihr atheistischer Affenprofessor! P! Is vielleicht auch der Affe in
Ihrem Tierkreis? hihihi!“ -- „Der Affe? nein! Auch der Igel nicht!
Dieser Duckmäuser paßt nicht in den Sonnenkreis.“ Wütend schlug der
Igel auf den Tisch und keifte: „Beamtenbeleidigung!“

Ich ging. -- Ein Stündchen später brachte mir der jüngste Leutnant
das Bild zurück -- da hing es wieder über meinem Schreibtisch. In dem
Kreuzzug, den die preußische Behörde gegen einen Ketzer unternommen
hatte, war die erste Heldentat die Pfändung eines Christusbildes.




Verhaftet


Dies neue Religionsgespräch war eine der letzten Amtshandlungen
des Rates Hegel. Mochte er nun dem Aufschwunge des Ortes und den
immer verwickelteren Geschäften nicht gewachsen sein, oder mochten
die Fritzenwalder die Wichtigtuerei dieses jungen Fritzen peinlich
empfinden -- genug, am ersten Juli trat er als durchgefallener Kandidat
schmollend wieder in den Stand der Ruhe. In seinem Boote saß er nun
mit der Angelrute, abends in einem Tanzlokal, wo er seinen Lieblingen
zulächelte, gelegentlich sogar das berühmte Tanzbein schwang.

Im Amte war an seine Stelle nicht etwa der Klempnermeister Kuhlicke
getreten, sondern Herr Kloß, dessen ganze Art durchaus anders war,
als die des Vorgängers. Suchte dieser seinem großen Friedrich
gleichzukommen, so schwärmte Kloß für Bismarck -- und an Gestalt war er
ihm nicht unähnlich. Eins freilich hatte Kloß an Bismarck auszusetzen
-- zu barsch sei er immer aufgetreten, während der Diplomat schmiegsam
sein müsse, um sich keine Feinde zu machen.

Mich hat der Amtsvorsteher Kloß stets nach diesem Grundsatze behandelt.
Es fiel ihm nicht ein, mir mit Scherereien zu kommen, und so ließ
er der Interventionsklage meiner Frau ihren glatten Verlauf, ohne
irgendwelche Einrede zu tun. Nicht einmal, daß meine Frau nach Cöpenick
zitiert wurde -- den Schwur besorgte Freund Bartels; er konnte
bestätigen, sie habe das Mobiliar in die Ehe eingebracht. So mußten die
Siegel des Amtes Friedrichshagen wieder abgenommen werden. Begegnete
ich nun auf der Straße Herrn Amtsvorsteher Kloß, so zog er tief den Hut
und blinzelte augurenhaft mit dem grauen Auge, als wolle er anerkennend
sagen: „Bist ein Filou!“

Nun war’s wieder mal Herbst, und es zogen die Wildgänse. Vor
einbrechender Dunkelheit kamen sie in keilförmigen Geschwadern über
den weiten Kiefernforst. Auf den mit Wintersaat bestellten Äckern
nördlich der Wuhlheide hatten sie tagsüber gegrast und kehrten abends
zum Müggelsee zurück, um darauf zu übernachten. Da sie zu Hunderten
dort schwammen und nicht viel Schlaf bedurften, so war in stillen
Nächten ihr Geschnatter weithin vernehmbar. Im Morgengrauen ging es
mit Geschrei wieder fliegend zur Weide. Beim Kommen und Gehen der
Wandervögel hörte man das Gewehr des Försters knallen.

„Heute früh haben sie wieder arg auf Wildgänse gefeuert,“ sagte ich
zu meiner Frau, als sie den Morgentee einschenkte. „Ja, nicht wahr?“
antwortete sie -- „bei jedem Schuß gibt es mir einen Stich, und am
liebsten möchte ich den Gänsen zurufen: Fliegt doch höher -- daß euch
die Schrotkörner nicht erreichen!“ -- „So ist das Leben! Einer gönnts
dem andern nicht. Haustier muß man sein, um geduldet zu werden. Eine
zahme, dumme Watschelgans, die dem Herrn des Hofes ihre Federn ins
Bett legt -- ihre Jungen in die Bratpfanne. So was nennt sich Kultur!
Regt sich aber irgendwo eine freie Schwinge, gleich geht’s piff paff.“
-- „Ach, laß doch!“ wiederholte meine Frau -- „der Morgen ist so
unschuldig!“

„Das ist er eben +nicht+!“ entgegnete ich -- und in diesem Moment,
gleichsam wie gerufen, kam das Unheil -- schrill ging die Flurklingel,
und Schuftel, unser Terrier, der in der Küche war, begann ein grimmes
Gekläff. „Der Briefträger!“ sagte meine Frau; Schuftel konnte ja keinen
Uniform-Menschen leiden -- eine Ausnahme machte nur der Geldbriefträger
-- und da behaupte einer, Tiere hätten keinen Verstand!

Gleich darauf trat Frau Pape zu uns ein, die haushälterische Stütze
meiner Frau -- sie meldete, der Amtsdiener Bolle wünsche mich zu
sprechen. „Halten Sie den Hund in der Küche, machen Sie ihm zur
Sicherheit den Maulkorb an -- Herrn Bolle lassen Sie eintreten.“

Seinen Namen führte Bolle insofern mit Recht, als seine Statur,
übrigens auch seine Nase, in die Breite geschwollen war wie jenes
Knollengewächs. Gutmütig hätte man sein rundes Gesicht nennen können,
wenn nicht das Mißtrauen des Philisters darin gezwinkert hätte. Als
der Amtsdiener mit seiner schwarzen Aktenmappe eintrat, ließ seine
verdrossene Miene erraten, daß er etwas Peinliches bringe. „Herr
Dokta un Frau Doktan, nu is die Sache doch mies -- Se wissen ja,
von wejen den freireljeesen Unterricht -- wo man die ville Strafe
von Sie verlangt. Dadermit wird’s nu Ernst -- un nu schickt mir der
Herr Amtsvorsteha -- un Se mechten so jut sind -- un wenichstens mal
+wat+ zahlen. Ick soll zweedausend Märker infordern -- wie det
hier anjeordnet is. Aber der Herr Amtsvorsteher saacht: wenn’s ooch
bloß hundert Märker wären, un Se zahlten +die+ wenigstens -- denn
wäre doch der jute Wille erwiesen, un det jenüjte. Denn wissen Se,
die Herren wollen bloß ihren Kopp durchsetzen -- bloß ihren Kopp!“ --
„Glaub’s schon,“ gab ich zur Antwort. „Ich habe aber +auch+ einen
Kopp -- und Geld gibt’s keins -- das habe ich doch schon längst mit
aller Deutlichkeit erklärt.“

„Ja aber um Jottes Willen -- denn soll ’ck Ihnen ja verhaften -- saacht
der Herr Amtsvorsteha -- Jeld soll ’ck bringen oder Ihnen persönlich --
saacht der Herr Amtsvorsteha.“ -- „Ach so! Die Börse oder das Leben!
Na also die Börse kriegen Se nich!“ -- „Aber Herr Dokta, nee, nee!
Kränken Se mir doch nich mit Ihre Ausdrucksweise. Ick bin doch keen
Schinderhannes!“ -- „Sie persönlich meine ich nicht, Herr Bolle, und
natürlich auch nicht den Amtsvorsteher und die Herren Geheimräte vom
Provinzial-Schulkollegium; das ganze System meine ich. Na, machen Se
keine Leichenbittermiene, Bolle! Es handelt sich um keinen Beinbruch.
Wenn Sie mich verhaften sollen, ich stehe zu Diensten. Aber erst lassen
Sie mich in Ruhe meinen Tee trinken. Sie nehmen schon so lange Platz --
wie? und frühstücken ein bißchen mit, Herr Bolle!“

Sein Gesicht wurde sonnig, da die Sache eine so gemütliche Wendung
nahm. Meine Frau, die anfangs verdutzt dagestanden, zeigte Fassung. Und
wie nun Frau Pape das Gedeck für den Amtsdiener aufgetragen hatte und
jeder sich Tee mit Buttersemmel munden ließ, hatte die Szene bei aller
Seltsamkeit etwas Anmutendes -- zumal jetzt draußen das Kastanienlaub
in der Morgensonne herbstgolden leuchtete. Zum Abschied küßte ich meine
Frau und meinte zuversichtlich: „Ich werde mal mit dem Amtsvorsteher
sprechen -- vielleicht bin ich schon in einer Stunde wieder zurück.“

Tat also meinen Mantel um und ging mit Bolle aufs Amt. Der kluge
Amtsvorsteher Kloß begrüßte mich mit seiner gewinnenden Höflichkeit.
„Und nicht wahr, verehrter Herr Doktor? Sie schaffen den peinlichen
Fall aus der Welt -- und beweisen Ihren guten Willen .... Sollte Ihnen
aber für heute oder morgen die Zahlung nicht passen -- na gut, das
macht nichts -- ich berichte einfach an die Behörde, daß Sie willig
sind -- und wer weiß, ob sich damit nicht die ganze Geschichte in
Wohlgefallen auflöst.“ Und die väterliche Güte, die aus dem Antlitz
dieses Amtsvorstehers strahlte, war so verführerisch, daß ich an die
Fabel vom Wanderer dachte, der sich seinen Mantel nicht vom Sturmwind
abtrotzen, aber von der warmen Sonne abschmeicheln ließ.

Indessen bedeutete ich Herrn Kloß: „Sie meinen’s ja freundlich. Aber
Sie könnten sich eigentlich selbst sagen, daß ich die Geschichte nicht
angefangen habe, um bei der Entscheidung umzukippen. I bewahre! hier
ist keine Spur von freiwilliger Unterwerfung. Nichts zahle ich, bin
ganz und gar nicht willig.“ Mit einem Ausdruck von Fassungslosigkeit
starrte er mich an, als zweifle er sacht an meinem Verstande. Nach
einem Seufzer lächelte er süß, legte die Hand auf’s Herz und verbeugte
sich: „Aber mein Verehrtester! Sie bringen mich in die peinlichste
Verlegenheit -- ich müßte Sie ja -- bedenken Sie doch -- verhaften
müßte ich Sie! Tun Sie mir so was nicht an! Bedenken Sie auch, was Sie
Ihrem Stande schuldig sind! Es geht doch nicht, daß Sie ins Gefängnis
spazieren! So was macht man doch mit Geld ab! Und Sie haben ja nicht
mal Kosten davon -- die freireligiöse Gemeinde wird Sie schadlos
halten, selbstverständlich! Also nicht wahr? machen wir’s so! Sie
wollen nicht? wie? ab-so-lut -- nicht? Ja, +dann+ kann ich nicht
helfen! nicht helfen!“ Und aufseufzend berührte er den Knopf der
elektrischen Klingel.

Der Amtsdiener trat in strammer Haltung ein: „Bolle, der Herr ist Ihr
Arrestant!“ Noch einen wehleidigen Blick gab mir der Amtsvorsteher
mit auf den Weg und wimmerte: „Daß +mir+ so was passieren muß
-- ausgerechnet +mir+!“ Ich konnte mich eines Lächelns nicht
erwehren: „Sie tun ja, als wären +Sie+ der Arrestant!“ -- „Oh!
Lachen Sie nicht! oh!“ stöhnte der Amtsvorsteher. „+Kennen+ Sie
unser Gefängnis? Zu meinem Leidwesen sei’s gestanden, das ist verflucht
unbequem!“

Ich wehrte mit der Hand ab: „Als ich Militärsoldat war, hab ich auf
der Wachtstube eine harte Holzpritsche zum Schlummern gehabt -- hab
auf Manöver in Scheunen und Ställen gepennt -- und beim nächtlichen
Biwakieren war’s kalt und naß, war +auch+ verflucht unangenehm.
Und doch hab ich’s mit guter Laune hingenommen. Jetzt bin ich abermals
Soldat und auf dem Manöver -- es handelt sich gar um einen Dienst, den
ich mir selbst, meinem Gewissen leiste -- also los, Herr Bolle!“

„Noch eins, Herr Doktor! Sie können jederzeit wieder raus -- sobald Sie
mir erklären, daß Sie Zahlung leisten ... Nicht wahr, Sie kommen recht
bald!“ Mich verbeugend, begegnete ich noch einmal seinem flehenden
Blick; dann sagte er achselzuckend, verdrossen kalt: „Also, Bolle! Der
Herr Doktor ist Ihr Arrestant -- führen Sie ihn ab!“

Als ich mit dem Amtsdiener an der Kirche vorbeiging -- damals war sie
noch das altmodische Dorfkirchlein -- und als wir in die Müggelstraße
einbogen, war mir leicht zu Sinn. Die Sache war ja nun endlich
entschieden und im reinen. Ich empfand etwas von der Neugierde eines
Kindes, das vor dem Theatervorhang sitzt und sich ausmalt, was jetzt
für seltsame Bilder und Geschicke kommen sollen. Als ich halblaut vor
mich hinlachte, warf mir Bolle von der Seite einen verdutzten Blick zu.
„Nu sagen Se bloß, Herr Dokta, wat soll +nu+ werden! Ick muß Ihnen
int Hotel inhaftieren. Wenn’t wenijstens int Vordahaus jinge, bei Onkel
Pofken -- aber nee, daderzu will der Herr Amtsvorsteha keene Erlaubnis
nich erteilen -- det kennte man ihn iebel nehmen.“ -- „Was für ein
Hotel und Vorderhaus meinen Sie denn?“ -- „Na aber! Sie haben Ihnen
noch nicht mal informiert über det Lokal, wo wir Ihnen unterbringen
duhn? Nee so wat!“ -- „Keine Ahnung!“ -- „Und kennen woll noch nich
mal den Preißischen Adler? Ach du meine Jiete! Det is doch der Jasthof
von Onkel Pofken. Int Vordahaus is de Kneipe un der Jasthof jarnie --
wenn mal Loschierjäste kommen. Ick un Onkel, wir wohnen selbstmurmelnd
ooch int Vordahaus. Wat nu aber der Hof is, da ha’ mer so’n kleenen
Bau -- erst war et Waschkiche un Heiboden -- aus die Waschkiche hat
man die drei Arrestzellen jemacht -- un det nennen se nu spaßhaft det
Hotel. Oben uf’n Heiboden is de Herberje -- wissen Se, fier reisende
Sonnenbrieder un wat sonst keene bessere Penne berappen kann.“

„Ich komme also in eine der Arrestzellen? Und wer haust in den andern?“
-- „Momentan keene Katze! Iberhaupt ha’ mer selten Arrestanten -- meist
bloß so’n Fechtbruda oder ne Tippelschickse, wo sich von den Schandarm
hat fischen lassen.“ -- „So! hm! Aber ich -- Sie wissen doch, daß ich
Anspruch auf Selbstbeköstigung habe?“ -- „Aber feste! Mein Onkel,
der Hoteljeh, liefert Sie, wat Küche un Keller halten.“ -- „~À la
bonheur!~ Das Essen wird mir natürlich von meiner Frau geliefert --
die gewohnte Hausmannskost, wissen Sie, ist immer das Bekömmlichste.
Tee und Kaffee bereite ich mir auf dem Spirituskocher -- na, und wenn
ich dann erst gemütlich bei meinen Büchern sitze ...“ -- „Sie wollen
sich also richtig heislich inrichten?“ Und er schüttelte sorgenvoll
sein Haupt mit der Amtsdienermütze.

„Gasthof zum Preußischen Adler“ stand an einem Häuschen, das im
Erdgeschoß Kneipe war und darüber noch ein Stockwerk hatte. Vorn hinein
gingen wir nicht, sondern durch die Tür eines Bretterzauns unmittelbar
in den Hof. Zur Linken befand sich eine Kegelbahn, das Hinterhaus war
offenbar besagtes „Hotel“, denn die drei Fenster des Erdgeschosses
hatten Kerkersprossen. Davor lag ein ländlicher Düngerhaufen in einer
Senkgrube, wo Hühner scharrten.

Bolle rasselte mit Schlüsseln, die er aus seiner Uniform geholt hatte,
und öffnete die Gefängnistür. Wir traten in den schmalen Flur; rechter
Hand lagen die drei Zellen, die mittelste schloß Bolle auf. Da war
nun mein Heim: Ein weißgetünchter Raum, sehr unfreundlich, dumpfig
und dunkel, dazu von ungewöhnlicher Enge -- neben dem Backsteinofen
hatte eine Pritsche nebst einem Stuhle noch eben Platz. Bolle sah die
Unzufriedenheit in meiner Miene. „Ha’ck Ihnen nich jesaacht? Wat dise
drei Zellen sin, uf +die+ war +nich+ det Bibelwort jeminzt:
Hier is jut sind, hier laßt uns Hütten baun. Un ick bleibe dabei,
Herr Dokta -- +duhn+ Se, wat der Herr Amtsvorsteha Sie jeraten
hat -- +zahlen+ Se den Schwindel, +fort+ mit Schaden! un
wir sin die faule Jeschichte +los+. Sonst nimmt die keen jutet
Ende nich.“ -- „Wieso?“ fragte ich verdutzt. -- „Aber, Herr Dokter,
selbstmurmelnd! +Die+ Politik liecht doch nah -- uf +so+ ne
Sache sin +mir+ doch nich injericht -- dafier is doch unser Hotel
nich komfortabel! Det liecht ebens dadran, det wir hier ne andre Art
von Vapackung haben!“ -- „Das sehe ich,“ bemerkte ich unwirsch -- „aber
diese Verpackung lasse ich mir nicht zumuten!“

Nun sah Bolle vollends ratlos aus: „Na da ha’ mer ja de Bescherung! Nu
wird’s Tach in de Bodenluke! Aber, Herr Dokta, duhn Se mich bloß den
eenzichsten Jefallen un -- un -- schlagen Se keenen Lärm nich von wejen
de Lokalletät! Schließlich kommt et noch dahin, det unser Jemeindeamt
een neiet Jefängnis bauen muß.“ -- „+Muß+ es auch!“ trotzte ich
-- „hier fehlt ja jede sanitäre Fürsorge!“ -- Bolle’s Mienenspiel
drückte hilflosen Mißmut aus: „Ja +Sie+, det sagen +Sie+!
Aber ick jebe Sie den juten Rat: wenn Se sich hier durchaus heislich
niederlassen wollen, jut! Wir werden Sie die Haft so behaachlich wie
meechlich machen. Aber man +bloß+ keenen effentlichen Lärm nich
schlagen -- bloß nischt in de Presse bringen! saacht der Amtsvorsteha!
-- Ick muß Ihnen jetzt einsam lassen, Herr Dokta! Aber nu vasprechen Se
mich det -- nehmen Se Rücksicht, un so weiter!“

Seine Eröffnungen kamen mir gelegen, diese Verhältnisse ließen sich
dazu benutzen, meine Haft zu erleichtern. „Will mir’s überlegen,“
antwortete ich. -- „Ja, duhn Se det! ick vertraue uf Ihre Bildung! Na,
un wenn Se wat winschen -- oder wenn Se in Freiheit jelangen mechten
-- denn rufen Se man aus et Fenster -- int Vordahaus is immer wer,
wo Ihnen heert.“ -- „Gibt es hier keine Klingel?“ Er lächelte über
meine Naivetät. -- „Aber wenn nu bei Nacht ... wenn zum Beispiel Feuer
ausbricht ...“ -- „Hier +bricht+ keen Feia aus! Zu Ihre Sicherheit
aber bleibt Ihre Türe nach’n Korridor uff -- un draußen steht ’n Emmer
-- un fier det Feia ’n jroßer Kruch mit Wassa ... Haben Se man keene
Bange! Ma sin’ ja nich in Rußland! Aber nu muß ’ck fiers erste jehn --
adchee also, Herr Dokta, adchee!“

Er ging, klappte die Tür zum Korridor zu -- dann hörte ich, wie die
rasselnden Schlüssel die Haupttür verschlossen. Ich war allein --
nachdenklich saß ich auf meiner Pritsche.




Robinson richtet sich häuslich ein


In diesem Loche Monate zuzubringen, war eine grämliche Aussicht. Keine
vier Schritte konnte ich tun, und an Luft mangelte es. Das Fenster
reichte mir von der Brust bis zum Scheitel und war draußen mit vier
Eisensprossen versichert. Der Scheibenrahmen hatte nur eine Klappe zum
Lüften.

Vor dem Fenster eine Müllgrube, wo Hühner scharrten. Damit nicht jemand
nachts hineintappte, war um diesen landwirtschaftlichen Bezirk ein
Lattengehege. Daneben die Wasserpumpe, ein Kübel für Hühnerfutter,
ein Hackeklotz mit Stubben, die zerkleinert werden sollten. Die
Hinterfront des Gasthofs hatte zwei Türen mit ein paar Seitenfenstern,
darüber eine Fensterreihe. Da war auch eine Glocke -- sie erinnerte
an die Hofglocke meiner Klippschule; auf dem Blechschild stand „zum
Amtsdiener“. Nebenher führte die Dachrinne ins Regenfaß. Die Straße war
abgesperrt durch eine hohe Bretterplanke mit eingefügter Tür. Etwas
angenehmer blickte man nach rechts: längs der Hofmauer eine Kegelbahn,
der Stand für die Kegel war beim Eingang zu meinem Gefängnis. An
den Borden der Kegelbahn sproß Rasen; wilder Wein umrankte die
Laube, von wo geschoben wurde. Über die Mauer lugte der Giebel des
Nachbarhäuschens und ein Akazienbaum -- aus seinem noch dunkelgrünen
Wipfel zitterte das späte Zirpen einer Heuschrecke.

Abermals musterte ich meine Klause -- aber da gab es nichts als
Pritsche, Ofen, vier kahle, weißgetünchte Wände. Darauf Inschriften und
Zeichnungen, mit Bleistift gekritzelt. Meine Vorgänger hatten sich mit
Namen verewigt, auch durch Darstellungen, wie sie ein roher Geschmack
auf Wänden anbringt. Da war eine Prügelei; ein Gendarm mit Helm und
Säbel wurde verhauen von einem Kerl mit ungeheurer Faust; darunter die
Verse:

    ihr kricht mir doch nich unter
    vafluchtichte Blechkopp-Limmel,
    ick halte mir mit Fechten munter
    un drinke Rum mit Kimmel.

Neben solcher heroischen Kunst gab es auch komische. Wiederholt kam ein
Mann mit Amtsmütze, verschmitzten Äugelchen und einer Kartoffelnase
vor. Viel von dem Gekritzel behandelte Gefühle der Minne. Eine
Tippelschickse hatte das sentimentale Bekenntnis abgelegt:

    In Hamburg, da bin ich gewesen
    In Sammet und Seide gehüllt -- --
    Meinen Namen, den darf ich nicht nennen,
    Denn ich bin nur ein Mädchen für Geld.

Die übrigen Kritzeleien waren garstig, für die Dauer unerträglich;
schon die Kalkflächen hatten etwas Quälendes. An diesem ersten
Gefängnistage habe ich empfunden, was es heißt, in öden vier Wänden zu
hausen -- ohne Bild, ohne Farbigkeit.

So darf das hier nicht bleiben! Ein Häftling hat doch gewisse Rechte
-- die lasse ich mir nicht schmälern! Mein Entschluß stand fest, ich
überlegte, wie sich am zweckmäßigsten vorgehen ließe. Ich wollte nicht
bloß mein eigenes Bett und Selbstbeköstigung fordern, sondern auch
tägliche Spaziergänge und die Erlaubnis, beliebig Besuch zu empfangen.
Und wie Robinson, auf die wilde Insel verschlagen, seine Höhle traulich
ausstattete, indem er vom Wrack des gescheiterten Schiffes allerlei
Kulturdinge einheimste, so wollte ich dies Gefängnis zur fidelen Klause
gestalten. Aus meiner Häuslichkeit sollte meine Frau ...

Ach ja, meine Frau! Aber die wußte ja nicht mal, was aus mir geworden!
Ich mußte sie benachrichtigen. Sah nach der Uhr ... Himmel, waren
die Stunden verflogen! Ich spürte Hunger und Durst. Ob ich mir vom
Gasthause was bringen ließe? Es kam mir wie eine Demütigung vor,
was auszubitten. Zudem hegte ich den Verdacht, Bolle halte sich
geflissentlich fern und werde, im Einverständnis mit dem Amtsvorsteher,
alles aufbieten, mich am ersten Tage mürbe zu machen, damit ich in
+Geld+ die Strafe entrichte. Na wartet, ihr Schlauberger! Ihr
verrechnet euch in mir!

Wieder auf der Pritsche, nahm ich mein Notizbuch und schrieb an meine
Frau: „Nun doch in Haft! Im Hinterhaus des Gasthofs zum Preußischen
Adler, Müggelstraße. Bitte laß auf einem Handwagen folgende Sachen
herschaffen: Mein Bett nebst Matratze. Schreibzeug und Papier.
Goethes Gedichte. Das allgemeine Landrecht, links im Oberfache des
Bücherschranks. Böcklins Bild: Der Einsiedler. Das Ziegenfell aus
meinem Schreibzimmer. Die rote Plüschdecke. Chamissos Gedichte.
Den Wandteppich, mit dem wir mal die Flurtür verkleidet hatten.
Nagelkasten, kleine Eisenringe für den Wandteppich. Bindfaden, Nadel
und Zwirn. Ein Quadratmeter Stoff zu einem Fenstervorhang, recht bunt.
Ein Beefsteak mit Bratkartoffeln und Gemüse. Eine Flasche Weißbier.
Das Tischchen aus Bambusrohr. Meine Zither nebst Noten. Blumentopf vom
Gärtner. Papierampel aus Japan. Eine Flasche Wermut di Torino! Nun
sieh, daß ich bald was zu essen kriege!! Übrigens geht es mir gut.“

Die Blätter, auf die ich den Brief geschrieben, riß ich aus dem
Notizbuch und hüllte sie in ein Zeitungsblatt. Gelegen kam soeben von
der Straße ein Knabe mit einem Schulranzen. Durch die Fensterklappe
rief ich ihn her: „Heda, Junge! Wie heißt du?“ -- „Anton Bolle.“
-- „Ich gebe dir zwei Groschen, wenn du einen Brief zu meiner Frau
bringst.“ -- „Erst muß ’ck zu Mittach essen!“ -- Und Anton verschwand
im Vorderhause. Mit noch kauenden Backen kehrte er zurück und erhielt
den Brief. Kaum war er weg, so fielen mir weitere Wünsche ein, und
ich notierte: „Dringlicher Nachtrag: Meine grüne Studierlampe!!!
Tee nebst Spirituskocher!! Teller, Tassen, Gläser! Grimms Kinder-
und Hausmärchen. Hausschuh und Hausanzug. Handkoffer mit Wäsche.
Reisetoilette, Seife ...“ Ach, was hat der Kulturmensch doch alles
nötig!

Nicht lange und Anton Bolle war zurück. „Na, was sagte meine Frau?“ --
„Et wäre jut!“ Ich gab ihm seine Groschen. „Du kriegst aber noch zwei,
wenn du nochmals zur Kastanienallee läufst; willst du?“ -- Anton nickte
und bekam den zweiten Brief. Die Stunde, die ich zu warten hatte, bis
meine Frau erschien, dehnte sich, mein Magen auch. Wer hat nicht schon
eine Hyäne bedauert, wenn sie die paar Schritte trottet, die der knappe
Käfig zuläßt, sich dreht, zurücktrottet -- und so fortfährt, ruhelos.
Ähnlich suchte ich meine Ungeduld auszutoben. Schließlich hatte ich
eine Vorstellung von jener Drehwurmkrankheit, die Schafen so scheußlich
wird; schwitzend saß ich auf meiner Pritsche.

Die Hoftür ließ sich vernehmen -- endlich! Meine Frau, einen Korb am
Arm. An der Bretterplanke tat Frau Pape einen Riegel weg, es öffnete
sich eine breite Pforte nach der Straße. Da stand der Handwagen mit
den begehrten Sachen. Durch die Fensterklappe rief ich meiner Frau
einen Gruß zu -- sie erwiderte wehmütig, versunken in den Anblick
meines Gefängnisses. „Drüben klingeln!“ rief ich. Frau Pape zog die
Glocke. Als Bolle den bepackten Wagen sah, war er stutzig. Dann kam er,
das Gefängnis aufzuschließen. Er sah mich groß an. „Ick denke schon,
det wir Ihnen +entlassen+ kennen -- un +Sie+ ... ja wat
wird denn +nu+?“ -- „Entlassen?“ -- „Na Se werden doch endlich
+zahlen+! Oder nee? Himmelkaldaunen! Se wollen Ihnen heislich
inrichten?“

Ich sah ihn fest an: „Was ich Ihnen jetzt sage, Herr Bolle, gilt
dem Amtsvorsteher. Wenn Sie sich einbilden, ich werde mir dies Loch
gefallen lassen, das weder auf Gesundheit noch auf Anstand Rücksicht
nimmt ... Hier fehlt der vorschriftsmäßige Luftgehalt -- fehlt rechte
Ventilation -- fehlt ein anständiger Hof zum Spazierengehen. Dann
diese Senkgrube unmittelbar vor meinem Fenster -- diese Zeichnungen
und Inschriften, -- +der+ Toback ist mir denn doch zu ruppig! Und
wenn nicht umgehend für Anständigkeit meines Gefängnisses gesorgt wird,
richte ich ein Flugblatt an die Öffentlichkeit.“

Und Bolle kleinlaut: „En feinet Jefängnis is et ja +nich+ -- aber
nu sagen Se selbst, wat soll denn hier jescheh’n?“ -- „Das hätten Sie
sich früher überlegen sollen. Warum hat mich das Amt in Haft genommen,
wenn es keine Vorsorge getroffen hat, und dies Lokal in einem so
saumäßigen ...“ -- „Ach nee, Herr Dokta! Keene Amtsbeleidejung!“ --
„Beleidigend sind Ihre Zumutungen.“ -- „Det is ja zum Piepen! Sollen
wir etwa frisch kalken lassen? Un wat fangen ma derweile mit +Sie+
an? Nebenan die beeden Zellen sinn +ooch+ keene Sakristei nich --
un haben nicht mal Heizung. Also wat --?“

„Will ich Ihnen sagen. Auf dem Wagen draußen sind Teppiche, Decken
-- damit werden die Wände bekleidet.“ Bolle machte ein bedenkliches
Gesicht. „Ferner verlange ich Bewegung in freier Luft, täglich zwei
Stunden.“ -- „Hier uff disen Hof? Wat mechten Se denn da anstellen?“
-- „Na zum Beispiel Kegelschieben!“ Schweigend kratzte sich Bolle am
Kinn. „Dann verlange ich, daß Besucher jederzeit eingelassen werden.“
-- „Na ja, scheeneken! Machen Se man een Jesuch an Ihre jemietlichen
Provinzial-Schulkollejen von wejen de Kegelbahne un de Teppiche ...“ --
„Gesuch? Es geht +ohne+ Gesuch, und zwar sofort!“ Und ich ging an
ihm vorbei auf den Hof -- begrüßte meine Frau und sagte zu Frau Pape:
„Danke schön! Nun wollen wir mal gleich die Teppiche anmachen.“ -- „Die
Ringe zum Anhängen haben wir schon angenäht,“ sagte meine Frau. Wir
trugen Teppiche und Decken ins Gefängnis, und los ging das Hantieren.
Bolle schlich hinweg wie ein begossener Pudel.

„Aber Mann!“ wandte meine Frau vorwurfsvoll ein. „Nicht so hastig! Das
Essen wird ja kalt!“ Und wie sie aus dem Korbe auspackte, stieg mir der
Duft von Gebratenem in die Nase.

Nach dem Essen fand ich Anlaß, in einen Winkel des Menschenherzens
hineinzuleuchten: Wir geraten in Verlegenheit, wo wir glauben, die
Achtung der Leute vor uns könne sich verringern, wenn wir uns nicht
nach ihnen richten. Ungezählte Keime tüchtigen Lebens, Wahrheiten und
Reformen, werden erdrosselt durch die Formel: So was sagt man nicht!
so was schickt sich nicht! Und mancher Geist, der sonst selbständig,
gebildet, ja erleuchtet ist, weiß sich nicht freizuhalten von der
Autorität des Üblichen. Besuch’ doch mal eine Abendgesellschaft, wo
alle Herren Frack tragen, während du Gehrock anhast. Oder du willst ein
Kaffeehaus betreten -- und da bemerkst du, daß du den Schlips vergessen
hast -- und kehrst um, wagst nicht einzutreten. Es gibt Träume, die es
darauf abgesehen haben, uns in Verlegenheit zu bringen; hemdärmelig
treten wir zur Prüfung vor das Professorenkollegium; in Unterhosen
müssen wir über die Straße. Wie sich die Leute genieren, wo sie sich
in ihrem Ansehen gefährdet fühlen, kannst du experimentell feststellen:
Hast du in einer Kleinstadt jemand besucht und willst abreisen, und
die Familie oder der Freund hat dich auf den Bahnsteig begleitet,
so steige doch mal, Spaßes halber, in die +vierte+ Klasse ein!
Während deine Begleiter bis zur Abfahrt auf dem Bahnsteig harren, mußt
du vergnügt und recht auffällig zum Fenster raussehen und ein Gespräch
durchhalten. Da kannst du was beobachten! Schamrot wie am Pranger
steht man -- oder man drückt sich schleunigst. Mit einem Menschen, der
vierter Klasse fährt, zu verkehren, ist blamabel! Niedlich ist auch die
Wirkung, wenn du in „guter“ Gesellschaft zu erzählen anhebst: „Es war
im Jahre -- na, ich kam gerade aus dem Gefängnis ...“ Bei diesem Wort,
ich wette, geht ein Engel durchs Zimmer, man räuspert sich und lenkt
rasch von dem heiklen Thema ab -- hem, hem! Frau Pape gehörte nicht
Kreisen an, wo der Reserveoffizier den Ton angibt, ihr Vater war ein
biederer Handwerker. Und doch, im Benehmen dieser Witwe zeigte sich
jene Verlegenheit, deren Art ich geschildert habe. Beim Einrichten
meines neuen Heims vermied diese treue Schafferin, mir gerade ins
Gesicht zu seh’n. Sie schämte sich! Daß ein Mann, in dessen Haushalt
sie Stütze war, im Gefängnis saß, war ein fataler Schein. Was ein
anständiger Mensch sein will, darf sich eben nie so benehmen, daß die
Frau Postsekretär sagen kann: aber so was! Beileibe nicht darf man
irgendwelche Schererei mit der Polizei kriegen! Und wenn einem die
Leute erst nachsagen können, man habe „gesessen“, so gehört man fast
schon zum Abschaum der Gesellschaft.

Während mir das Essen mundete, stand Frau Pape nachdenklich vor einem
Bilde, das ich herbestellt hatte; es war Böcklins Einsiedler, der
nachts in seiner Klause geigt, von Engelchen belauscht. In meinem
Haushalte hatte die gute Frau sich kaum abgegeben mit Nachdenken über
ein Bild. Nun war, durch meine Verhaftung, ihre Ideenwelt aufgerüttelt.
„Na Frau Pape? Was interessiert Sie denn an dem Einsiedler?“ -- „Ach
’n Einsiedler is det?“ -- „Was dachten +Sie+ denn?“ -- „Na, ick
dachte Sankt Peter.“ -- „Wieso?“ -- „Ick habe in de Schule jelernt,
den Sankt Peter hätten se int Jefängnis injestochen.“ -- „Ach so! Die
Eremitenklause haben Sie für ein Gefängnis angesehen?“ -- „Na ja, eng
jenuch is se schon, un drin is ooch nischt.“ -- „So wie hier!“ -- Frau
Pape nickte bedeutsam: „Un da ha’k mich jesaacht: Wenn se jar den
heiligen Sankt Peter injespunnt haben, ... aber nu +is+ et jar
keen Sankt Peter!“ -- „Ich verstehe, Frau Pape! Wie Sie das Wägelchen
mit meinen Sachen herbrachten, haben die Nachbarinnen getuschelt: ‚De
Papen is bei Dokter Willes, wo se doch den Mann injespunnt haben -- un
kiek mal, jetzt holen se die Betten int Jefängnis!‘ War’s nich so, Frau
Pape? Sie werden ja rot wie’n junges Mädchen. Sie haben sich geniert!
Aber das Geschwätz soll Ihnen nicht nahe gehn. Die Leute halten sich
ans Äußerliche -- denken nicht darüber nach, daß man auch wegen einer
gerechten Sache ins Gefängnis kommen kann.“ Frau Pape nickte bewegt:
„Det ha’ck de Kunzen ooch jesaacht!“ -- „Ach so, die Kunzen war’s; die
Betschwester?“ -- „Ja woll, eene olle Betschwester is se! Die wohnt an
’n Katholschen Bahnhoff jleich links -- un wenn Ochsigkeit weh dähte,
+ihr+ hörte man brillen bis Potsdam!“ -- „Der erzählen Se man vom
Gefängnis Sankt Peters -- Sie können auch daran erinnern, daß Christus
einer war, den sie ins Gefängnis steckten.“ -- „Hurrejott, det is ooch
wahr! Sojar +der+ hat jesessen!“ -- „Weil er nicht glaubte, was
die Pfaffen sagten, und weil er nicht mundtot leben wollte! Hätte die
Kunzen im alten Zion gelebt, die wäre unter der verblendeten Rotte
gewesen, die einen Gerechten anspie. Ach ja, Frau Pape! Die Erde zwar
dreht sich vorwärts. Nur mit dem Fortschritt der Erdenkinder hapert’s
-- sie +trauen+ sich nicht recht vorwärts, wo sie mal aus dem
Herkommen raus sollen. Es gibt zu viel fromme Verlegenheit in der Welt!
Gefängnis von Schilda, dein Bolle heißt Angstmeier!“




Der Kreispfiffikus


Drüben am Vorderhause gellte die Glocke. Wie ich trotz der
einbrechenden Dämmerung erkannte, stand da eine mir willkommene
Persönlichkeit: der Arzt des Ortes. In Friedrichshagen, wo jetzt
mindestens ein halbes Dutzend Jünger Äskulaps wetteifern, praktizierten
damals zwei Ärzte, einer immer besser als der andere. Doch eben aus
diesem Grunde gab es für meinen Freundeskreis nur diesen einen;
sintemalen wir keinen Geschmack fanden an Apothekerei, desto mehr aber
an den Geistes- und Herzensvorzügen des Herrn Doktor Jacoby.

Gern hatten wir seine Freimütigkeit, die er unter Spießern mit Derbheit
und Spott behauptete. Auch schätzten wir seine stete Bereitschaft, in
seine harte, oft grämliche Berufsarbeit ein Viertelstündchen Scherz
einzuschalten. Wenn er Patientenbesuche machte und sein Wagen im
Sande der Dorfstraße einem von uns begegnete, schwenkte er grüßend
seinen Schlapphut und ließ anhalten, um dem willigen Opfer einen
Kalauer zu versetzen. „Hurra, da kommt der Kurierzug!“ sagte mal ein
Freund, als der Doktorwagen nahte. In anderer Weise uns zu kurieren,
war kaum Gelegenheit -- die literarische Kolonie bestand damals aus
lauter blühenden Männern und Frauen, und wohl nur, wo Elternfreuden
in Aussicht standen oder das bereits vorhandene Kleine Leibschmerzen
hatte, wurde Jacoby zitiert. Nicht als ärztliche Autorität trat er dann
auf, sondern als ein Naturdeuter und freundschaftlicher Seelsorger.
Eine Beruhigung, die schon etwas Heilendes hatte, ging von ihm aus,
wenn er beim Fühlen des Pulses gemütlich vor sich hinlächelte, so daß
man erraten konnte: Jetzt wird er kein Gift, sondern einen Trunk aus
dem Humorquell reichen, der schon zu Zeiten des lachenden Demokrit
als ein ebenso wirksames wie angenehmes Mittel galt, üble Dämonen aus
Leib und Seele zu scheuchen. In allerlei Verhältnisse hatte dieser
Physikus des Kreises Niederbarnim hineingeleuchtet -- weswegen wir
ihn den Kreispfiffikus nannten -- und mephistophelisch dürfte man
seine Kenntnis der Männlein und Weiblein nennen, wäre nicht Güte dabei
gewesen! Er belachte menschliche Schwächen, weil er sie verstand; wo
aber Entschuldigung nicht am Platze schien, hielt er sein Strafgericht
bloß als Spötter, nie als Eiferer: „Menschen, Menschen sein mir alle“
-- dies geflügelte Karnevalswort trällerte er gern, wenn er mit
schalkhaftem Blinzeln und diskreter Dämpfung der Stimme ein Stückchen
aus dem Schatze seiner Lebenskunde zum besten gegeben. Was unsere
literarische Kolonie mit ihrem sozialen Sinn an Jacoby besonders
verehrte, war eben die gütige Menschlichkeit. Aus dem Herzen kam ihm
sein Beruf, und so widmete er ihn weniger den zahlungsfähigen Kreisen
der Bürgerressource, als denen, die für Arzt und Apotheker nichts
andres haben als ihre Bedürftigkeit. Nicht bloß, daß er unbemittelte
Patienten unentgeltlich behandelte, er schenkte ihnen auch noch Binden
und Pflaster und stärkenden Rotwein. Seine Gutmütigkeit suchte er in
verschämter Weise zu rechtfertigen, indem er auf die Apothekerpreise
schimpfte. „So ’ne Pulle, für die man zwei Mark zahlen soll, is keene
drei Sechser wert. Un diese Jiftmischer sollen wir noch reicher machen?“

Daß mir besagter Menschenfreund höchst gelegen kam, als er die Glocke
beim Amtsdiener zog, hatte noch einen besondern Grund, und auch für
den paßte das Wort: „Menschen, Menschen sein mir alle.“ In plötzlicher
Erleuchtung nämlich sah ich, wie dieser Arzt eine Rolle zu meinem
Gunsten spielen könne. Als der Amtsdiener zum Fenster heraus fragte,
wer da sei, antwortete Jacobys joviale Stimme: „Kommen Se man, Bolle
-- und bringen Se jleich den Schlüssel mit! Den Schlüssel zu Ihrem
Inferno, zu Ihrer Besserungsanstalt. Möchte mal inspizieren.“ Unten
erschien der Amtsdiener mit Laterne und rasselndem Schlüsselbund. Das
Kerkerschloß ächzte, und nun reichte mir der wackere Doktor die Hand
-- -- ein Fünfziger, noch stramm, doch zu behaglicher Fülle geneigt;
den alten Korpsstudenten sah man ihm an. Mit seinem langen, ergrauenden
Bart und üppigem Haupthaar, den markigen Zügen, der kräftigen Nase
und den klugen, gütigen Augen unter kühn geschwungenen, buschigen
Braunen hatte er etwas von einem Patriarchen, besonders wenn er das
melancholische Gesicht aufsetzte. Das behauptete sich freilich selten
und wurde auch diesmal bald aufgehellt.

Meine Hand haltend, blickte der Kreispfiffikus zunächst kondolierend
wie ein Leichenbitter: „Nicht bloß als Freund bin ich hier, sondern
zugleich in meiner Eigenschaft als Amtsarzt. In dies Gefängnis sind
Sie eingeliefert -- ob mit Recht oder Unrecht, habe ich nicht zu
verantworten, mein Gewissen bezieht sich lediglich auf die sanitäre
Seite der Angelegenheit. Also, womit kann ich Ihnen dienen? Haben Sie
irgendwelche Wünsche, die zu erfüllen in meiner Macht steht? Wie ist
das Befinden?“ Gewohnheitsmäßig fühlte er mir den Puls, ließ sich sogar
die Zunge zeigen. „Appetit?“ -- „Bedeutend!“ antwortete ich. „Geradezu
krankhafte Gelüste spüre ich nach Kempinskis Speisekarte. Aber die
Gattin, die teure, die bald kommen wird, beschert mir vielleicht zur
Feier des Tages einen Knalleffekt ihrer Kochkunst.“ -- „Potztausend!
Was denn zum Beispiel?“ fragte er mit ungeheuchelter Teilnahme, setzte
aber gleich wieder die Amtsmiene auf: „Das heißt, Freundchen, Sie
dürfen sich hier nicht auf eine Mastkur verlegen! Bei Ihrer Anlage zur
Korpulenz, in dieser scheußlich engen Zelle ...“ Bedenklich musterte
er die vier Wände und schüttelte den Kopf. Dann lachte er schalkhaft
und wandte sich an den Amtsdiener, der bei der offenen Zellentür im
schmalen Flur stand: „Na, wissen Se, Bolle -- Ihr Jefängniswesen
scheint mir nich jrade den Bedürfnissen der Neuzeit zu entsprechen --
das können Sie dem Amtsvorsteher dreist wiedersagen.“ -- Der Amtsdiener
zuckte die Achseln: „Uff bessere Herrschaften is unser Hotel nich
injericht.“

„Wenn das Hotel nicht drauf eingerichtet ist“ -- nahm ich pikiert
das Wort -- „so soll es sich so ’ne Sache lieber nicht zutrauen --
oder aber es muß die Konsequenzen tragen.“ Der Kreispfiffikus prüfte
meine Miene, ob sich darin nicht Spaßmacherei verrate. Ernsthaft fuhr
ich fort: „Glauben Sie etwa, ich soll mir gefallen lassen, daß ich
in so eine Kiste gesperrt werde? Da is ja kaum ein Luftloch -- nur
eine bibelgroße Klappe ...“ -- „Bibelgroß is gut!“ schmunzelte der
Kreispfiffikus, „auf diese Weise wird dem Ketzer das Buch der Bücher
mahnend vor die gottlose Seele gehalten. Doch Scherz bei Seite,
was soll nach Ihrer Ansicht hier geschehen? Möchten Sie vielleicht
lieber nach Cöpenick ins Amtsgericht? Ich warne Sie -- man spricht
von Insekten ...“ „Die Keepenicker nehmen den Herrn Dokter nich“ --
erlaubte sich der Amtsdiener zu bemerken -- „det jinge nicht, saacht
der Herr Amtsvorsteher, weil doch eben keen Jerichtsurteil vorliecht.“
-- „Bleibt nichts übrig, als daß man in Friedrichshagen eigens für Sie
ein Lokal baut“ -- und des Arztes Bäuchlein wackelte -- „oder daß Sie
hier vorlieb nehmen.“

„Wenn’s nicht ein Drittes gäbe!“ wandte ich ein. „Und das wäre?“
-- „Ha, wenn dies Lokal nicht meiner Lebensweise angepaßt ist, so
muß meine Lebensweise den Rahmen solch scheußlicher Verhältnisse
sprengen. Die frische Luft und die Bewegung, die in dieser drangvoll
fürchterlichen Enge fehlen, will ich mir draußen verschaffen. Eine
gewisse sanitäre Fürsorge gehört selbst für den Gefangenen zu den
Menschenrechten.

Jedes preußische Gefängnis muß doch einen anständigen Hof haben, wo der
Gefangene spazieren gehen kann. Sie erwähnen meine Anlage zur Korpulenz
-- also muß ich Bewegung haben, viel Bewegung -- ein paar Stunden
täglich laufen -- im Walde ’rum -- oder rudern -- auf dem See ’rum
...“ Mit großen Augen sah mich der Kreispfiffikus an und echote: „Auf
dem See ’rum? Sie sind wohl ein Anhänger der neuen Serum-Therapie?“
Mein Gesicht verzerrte sich bei diesem Kalauer; er aber fuhr fort: „Nu
verstehe ich die Konsequenzen, von denen Sie sprechen. Na ja, Bewegung
müssen Sie haben -- keine Behörde darf Ihnen zumuten, daß Sie sich hier
ein Fettherz anhocken ... Der Sache wollen wir mal gleich auf den Grund
spüren. Bitte, machen Se mal Ihre Weste auf.“ Und der eifrige Arzt zog
sein Stethoskop hervor.

„Vata“ -- es war der Knabe des Amtsdieners -- „Mutta saacht, de
Bratkartoffeln werden kalt.“ -- „Quatsch keen Kaleika!“ antwortete
Bolle -- „saach Muttern, ick komme jleich!“ Mit Interesse hatte
sich der Kreispfiffikus dieser Szene zugewandt, nun betrachtete er
den Amtsdiener von oben bis unten: „Wieso jleich? Was berechtigt
Sie zu der Annahme, daß Sie jleich abkommen?“ Der Amtsdiener geriet
in Verlegenheit: „Ick dachte man bloß, Herr Dokta!“ -- „So so! Sie
dachten! Dieser ungewöhnliche Fall legt mir die Frage nahe: +was+
dachten Sie denn? Dachten Sie vielleicht, ich solle meine Inspektion
übers Knie brechen? bloß damit Ihnen Ihre Bratkartoffeln nicht
erkalten? Menschlich zwar entbehrt Ihr Wunsch nicht einer gewissen
Berechtigung. Menschen, Menschen sein mir alle! Unser verehrter Herr
Arrestant gebrauchte den Ausdruck: Menschenrechte. Ob nun freilich
das warme Abendessen gerade zu den Menschenrechten gehört, bleibe
dahingestellt. Jedenfalls bin ich kein Unmensch, drum entscheid’
ich: Begeben Sie sich in den Kreis Ihrer Lieben, zur warmen Atzung!
Wir legen auf Ihre Anwesenheit nicht den mindesten Wert.“ -- Der
Amtsdiener stutzte: „Aber ick muß doch zuschließen! Darf man denn eenen
Inhaftierten bei offene Türe lassen?“ -- „Man darf es!“ erwiderte
der Kreispfiffikus gewichtig. „Oder bilden Sie sich etwa ein, dieser
Häftling wird Ihnen ausreißen? Der +wollte+ ja hier hinein! Ist
geflissentlich hierher gekommen und hat dafür seine respektablen
Gründe. Ihm könnten Sie dauernd seinen Kerkerschlüssel anvertrauen, er
wird kein Ausreißer. Übrigens übernehme ich, eine Amtsperson, für ihn
die Bürgschaft. Wissen Sie, wie es in Schillers Bürgschaft heißt? So
laß mich -- als Freund -- für ihn bürgen! Mich magst du -- entrinnt er
-- erwürgen ...“

In diesem Moment erschien Frau Bolle mit einem Dorfjungen, der die
Backe verbunden hatte. „Himmel!“ klagte der Arzt, „hat man nich mal in
dieser Klause Ruhe vor Patienten? Frau Bolle, das war nich woljetan,
mir noch mehr leidende Menschheit aufzuhalsen.“ -- „Ick kann nischt
dafier! Eben is der Junge jekommen -- hat stundenlang int Sprechzimmer
bei Sie jewartet, un jetzt hält er’t vor Zahnschmerz nich mehr aus.
Ei sprich doch selber, Bengel!“ Die Augen des Jungen füllten sich
mit Tränen, er hielt die Hände an die Backe gepreßt. „Na, zeich mal,
Jungeken,“ meinte der Kreispfiffikus gutmütig und suchte die Hände
von der Backe wegzuziehen. „Dummer Lümmel, halt still! Sonst laß ick
dir von de Pollezei festhalten. Dir wer’k uff’n Zopp spucken!“ Der
Junge wußte nicht, soll er retirieren oder bleiben. Nun griff der
Kreispfiffikus in seine Tasche. „Na, komm her! Zeichste’n Zahn, so
kriste’n Jroschen.“ Der Junge hielt eine Seite seines Gesichtes hin.
„Still gehalten, törichter Affe! Mund auf! Ich tue dir nischt -- bin
doch kein Dentist -- oder hälst du mich für einen Dentisten, he? Der
Schafskopp weiß nich mal, was das ist, ein Dentist. Auf Dentist reimt
sich Hinterlist. Det is einer, wo schon de Zange heimlich in der Hand
hält! Junge, zeich die Wange! Hab man keene Bange -- ick habe keene
Zange! Laute +adlige+ Reime! sind nämlich +von+ Jacoby ...“

„Au!“ schrie der Junge und spie Blut, während der Kreispfiffikus
triumphierend ein weißes Zähnchen zwischen den Fingern hielt. „Na,
siehste, Jungeken, da is er schon! Und nu bin ick wohl +doch’n+
Dentist -- wie? Der Bengel is janz wild!“ Allerdings lohte der
Junge vor Empörung: „Jemeinheit“, brüllte er, „Ihnen kennen ma!“
Der Kreispfiffikus lachte und zog sein Portemonnaie: „Verjiß deinen
Jroschen nich! Der is für de Kur -- und hier is noch’n zweeter Jroschen
-- für’t Schimpfen! Nu kannste nach Kempinski’n jehn! Aber keen
Zuckerwerk koofen! Sonst wird auch die andere Backe dick -- un denn
komm mir ja nich wieder!“ -- Der Junge hielt seine Beute in die Hand
geklammert und wischte mit der anderen die Tränen: „Danke ooch scheen!“

Während er forteilte, wandte sich der Kreispfiffikus an mich und
schlenkerte seine Hand in der Luft, die Melodie vom guten Kameraden
trällernd: „Kann dir die Hand nicht geben -- der Bengel hat sie im Maul
gehabt. Amtsdiener kommen Sie mal zur Pumpe, ich will mir die Hände in
Unschuld waschen ... Und was tun denn Sie noch hier, Frau Bolle? Na
ja, die Weiblichkeit sieht jern zu bei Jrausamkeiten!“ Und er ging mit
dem Amtsdiener zur Pumpe, als sei diese Form der Reinigung ganz in der
Ordnung. Die Frau Amtsdiener eilte nach einem Handtuch. Wie sich der
Kreispfiffikus abgetrocknet hatte, schob er den Amtsdiener und seine
Frau ab; mich wies er mit scherzender Drohung in meinen Kerker, wie man
ein Huhn in den Stall scheucht.

Meine Einladung, auf dem Stuhle Platz zu nehmen, lehnte er ab und holte
sein Stethoskop heraus. -- „Sie wollen mich wirklich untersuchen?“ --
„Selbstverständlich!“ Und er behorchte, beklopfte meinen Brustkasten:
„Eine Lunge wie eine Kirchenorgel. Dieser Vergleich berührt Sie
hoffentlich nicht peinlich, was? Auch das Herz ist gesund -- obwohl
ihm tüchtige Bewegung, womöglich schwere Körperarbeit, not täte.
Zum Beispiel Holzsägen, Stubbenzerkleinern ...“ -- „Ach, gehn Sie
nur! Auf diesem ländlichen Hofe Stubben klein machen -- wo Hühner im
Miste scharren und Eier legen und sonst noch was -- da wäre der Sport
denn doch etwas ...“ -- „Etwas zu mystisch, meinen Sie, göttlicher
Atheist!“ -- Ich fuhr fort: „Aber die Kegelbahn haben Sie wohl bemerkt
-- der Gastwirt ließe schon mit sich reden -- -- ich würde gern drauf
abonnieren, -- der Junge des Amtsdieners könnte ja den Kegeljungen
machen.“ Mit zärtlichem Lächeln sah mir der Doktor ins Gesicht: „Dann
schieben wir hier eine Gans aus -- und laden den Amtsvorsteher dazu ein
und Ihr Provinzial-Schulkollegium, wa? Nein, Schäker, die Kegelbahn ist
ebenfalls mystisch, auch darauf klettern die Hühner rum. Aber freilich,
Bewegung müssen Se haben. Täglich zwei Stunden spazieren! Ich spreche
morgen mit dem Amtsvorsteher. Spazierengehen können Se verlangen -- und
natürlich geht das nicht auf diesem Hühnerhof.“

Gerührt schüttelte ich dem Kreispfiffikus die Hand. Mein stiller Plan
war so gut wie gelungen, da dieser Gönner die Rolle, die ich ihm
zugedacht, mit dem Instinkt seiner Menschenfreundlichkeit übernommen
hatte. „Menschen, Menschen sein mir alle!“ -- -- --

Viele Jahre sind seit dieser Szene verflossen, und Jacoby, oder, wie
er in seinen letzten Lebensjahren hieß, der Sanitätsrat, hat noch
manche brave Tat verrichtet, bevor er zum Orkus fuhr. Wenn der Stil des
Chronisten, sonst nicht elegisch, nun etwas Nekrologstimmung annimmt,
so bringt das die Verehrung für diesen Mann mit sich, der wie ein
gutes Pferd in den Sielen starb. Ein hoher Sechziger war er bereits,
als er noch mit eigensinniger Treue seinen Beruf ausübte. Es galt,
die Todesart einer Selbstmörderin festzustellen. Ermüdet und durch
den traurigen Schicksalsfall erschüttert, legte sich Jacoby, um nicht
wieder aufzustehen. Nur aufge+richtet+ hat er sich noch einmal,
als er spürte, daß es zu Ende gehe. „Halte dir feste, Herr Jacoby!“
scherzte er -- und röchelnd sank er zurück.

Bevor er seine letzte Reise antrat, um durch die Flamme bestattet zu
werden, hallte an seiner Bahre glockentief der Akkord dieses tüchtigen
Lebens. Eine Begebenheit, die ihn kennzeichnet, wurde erzählt. Der
schon bejahrte Jacoby wurde in einer Winternacht herausgeklingelt. Ein
Mann aus Rahnsdorf war zu Schlitten über den gefrorenen Müggelsee
gekommen; seine Frau drohte im Wochenbett zu verbluten. Ohne Zögern
machte sich der Arzt fertig, bestieg den Schlitten und wagte die Fahrt
übers Eis. Die Pferde gerieten auf eine Fläche so spiegelblank, daß
die Hufeisen fortwährend ausglitten. Ein Verzug von Minuten konnte der
Wöchnerin den Tod bringen! Doch der treue Arzt ließ sich Schlittschuhe,
die er vorsorglich mitgenommen, an seine Füße schnallen, die doch nicht
mehr die Elastizität der Jugend hatten. Und wagte den einsamen Lauf
durch Nacht und schneidenden Ost. Über glattes Eis, das sich noch weit
erstreckte -- und in der Rahnsdorfer Gegend hatte es, wie gewöhnlich,
offene Stellen. Der Menschenfreund kam knapp zurecht, um die Gattin und
Mutter zu retten.

Diese Tat funkelt als ein Stern in einem ganzen Gewimmel. Wenn es
nachtet, erglimmen die Sterne: So sieht man die Tugenden eines Menschen
in voller Pracht, wenn er gestorben -- am Himmel seiner Verewigung.
-- Im Kurpark zu Friedrichshagen hat Jacoby ein Denkmal -- das erzene
Antlitz verschmilzt die humorvolle Schelmerei Eulenspiegels mit der
Güte und Seelenruhe jenes weisen Nathan, der von den drei Ringen
erzählt.




Doktor fürs Vieh


Im Traum war ich Robinson -- aus dem Versteck belauschte ich die
Mahlzeit der Kannibalen -- dicht bei mir briet ein Wilder etwas über
prasselndem Feuer. Ich blinzelte -- und sah nun, daß jemand vor dem
Ofen kniete. Es war die Frau Amtsdienerin, und das Ofenfeuer strahlte
über die Diele meines Gefängnisses. Daß Frau Bolle -- ein gemütlich
rundes, munteres Weibchen -- beflissen war, leise zu hantieren,
berührte mich angenehm; ich fühlte mich wie in meiner Knabenzeit, wenn
in winterlicher Frühe unser Dienstmädchen Feuer machte, während ich
mich in den Kissen noch mal zurechtlegte, weil Ferien waren. Ferien!

Ein Weilchen gab ich mich der Stimmung hin, dann begann ich: „Guten
Morgen, Frau Bolle!“ -- „Scheen juten Morjen, Herr Dokta! Nu ha’k
Ihnen doch woll jesteert? Un ha’m Se denn ooch jut jeschlafen de
erste Nacht?“ -- „Wie’n Stück Holz.“ -- „Det is man scheene!“ Die
Amtsdienerin erhob sich. -- „Ist es denn überhaupt nötig, daß heute
geheizt wird, Frau Bolle? Bei dem milden Wetter, das wir all diese
Tage haben? Ist der Himmel wieder so klar?“ -- „Der Morjenstern hät
scheen jeleicht’, un jetzt is wieder so’n richtijer Olleweibersommer.“
-- „Frau Bolle, heute geht’s aber spazieren! Sagen Sie doch Ihrem
Mann, ich lasse den Amtsvorsteher dringend ersuchen!“ -- „Hm!“
meinte Frau Bolle -- „un wo soll’t denn hinjehn?“ -- „In den Wald
natürlich! Ich werde Grünlinge suchen und Ziegenlippen.“ -- „Wa?
Ziejenlippen, wat is’n det?“ -- „Gelbgraue Pilze, wirklich zart wie
Ziegenlippen. Haben Sie Pilze gern?“ -- „Bloß Feffalinge. Aber ooch
mang de Feffalinge jibt et falsche, wo jiftig sinn. Unsereens kann
se nich sicher unterscheiden. Aber Sie haben woll druf studiert? Und
kennen alle det Jiftzeich? Da machen Se woll Medezin draus?“ -- „Wieso
Medizin? Davon verstehe ich nichts!“ -- „Na, aber Se sind doch’n
Dokta!“ -- „Kein Doktor der Medizin!“ -- „Ach so, drum ebens! Denn
jibt et woll +so’ne+ Doktas und +solche+ Doktas? Ick wundere
mer jestern, wie der Dokta Jacoby Ihnen untersuchen kommt, wo Se
doch +selber’n+ Dokta sind. Denn sind Se also ’ne +andere+
Sorte Dokta? +Wat+ denn fier eener?“ -- „Ich bin Doktor der
Philosophie!“ -- „Ach so, Dokta fiers Vieh! Det ist ooch’n janz jutet
Doktajeschäft!“ -- „Hü-ihi-hih!“

Frau Bolle war gegangen, und ich wollte mich erheben, als sich
draußen die Stimme meiner Frau vernehmen ließ, und dann sagte Frau
Bolle: „Wie niedlich! So’n kleenet Viehzeich!“ Was für Viehzeug sie
meinte, verriet ein helles Stimmchen. Mein Kätzchen mußte das sein!
Richtig, meine Frau trat ein, begleitet von der Mutterkatze Henneken,
die erhobenen Schweifes an ihr empormauzte -- das Katzenkind, unser
Füchschen, hatte meine Frau im Korbe. Sie setzte es mir auf die
Bettdecke, Henneken sprang herzu, und schnurrend vor Behagen räkelten
sich Mutter und Kind auf dem Pfühl. Das Kleine begann zu saugen,
die beiden Frauen sahen zärtlich zu. Bei dieser Szene kam sich der
Gefangene vor, als sei er nicht in Eisen gelegt, sondern in Watte.

Frau Bolle schwankte, ob sie das Gefängnis auflassen dürfe, und meine
Frau erwiderte naiv: „Die Katze läuft nicht weg!“ -- „Ick frage bloß
von wejen den Herrn Dokta, weil doch der innjespunnt is!“ -- „Läuft
auch nicht weg!“ versicherte ich und meine Frau: „Is ja nich mal
angezogen!“

Die Amtsdienerin ging also, ohne zuzuschließen. „Nu kannst du auch
noch ’n Weilchen liegen bleiben, sonst störst du die Katzen. Ich mache
Tee und leiste dir ein Viertelstündchen Gesellschaft. Dann muß ich
die Katzen wieder nach Hause bringen. Ich habe unterwegs mit ihnen
meine liebe Not gehabt. Füchschen war ja artig im Korbe, aber Henneken
etwas schwierig -- nicht auf meinem Arm zu halten. Da hab ich sie frei
laufen lassen -- ich dachte: wenn sie schon ihrem Frauchen auf der
Straße nachläuft, so tut sie das erst recht, wo ihr Kleines getragen
wird. Und richtig, sie trottet mit. An der Ecke der Müggelstraße aber
spielen Jungens -- die sehen kaum die Katze, so kommt einer gelaufen
-- -- du weißt ja wie solche Bengels sind. Und Henneken geht an mir
hoch wie an einem Baumstamm -- hier am Arm hat sie durchgekrallt. Und
wie sie auf meiner Schulter sitzt, faucht sie den Bengel an. Ich denke:
zanken macht die Sache bloß schlimmer. Da hab ich freundlich gesagt:
Kinderchen, die Katze hat ein Kleines, seht mal hier im Korb! Und habe
Füchschen gezeigt. Da sind die Kinder ganz kirre geworden -- bei denen
hab ich nu gewonnenes Spiel. Wären bloß die Hunde nich!“ -- „Das ist
ja ein ganzer Roman. Auf all den Schrecken mußt du dem guten Hennecken
Milch geben. Weißt du übrigens wie ich mir mit dem anhänglichen
Viehzeug vorkomme. Wie’n Doktor fürs Vieh.“ Und ich erzählte meiner
Frau von der Meinung der Amtsdienerin. -- „Hü-ihi!“

Dann nahmen die gestreichelten Katzen dankbar schnurrend Abschied,
Füchschen kam wieder in den Korb, und meine Frau zog los. Die
Mutterkatze zögerte ein Weilchen und spähte geduckt umher; dann trollte
sie meiner Frau mauzend nach, zur geöffneten Hoftür hinaus.




Das Flugblatt


Nun aber aus den Federn! Es war an der Zeit, was Ernstes zu tun! Mein
Gefängnis ließ sich ja ziemlich fidel an, doch blieb es immer ein
Gefängnis, und ich saß ohne Richterspruch! Dagegen galt es aufzutreten!

Als ich Toilette gemacht, kam die Amtsdienerin mit der vom Briefträger
gebrachten Post. Übrigens wollte Frau Bolle mein Gefängnis in Ordnung
bringen. Während sie säuberte und frische Luft durch Zelle und Flur
ziehen ließ, ging ich im Hof umher und besah die Post -- es waren
Zeitungen, auffallend viel Karten und Briefe. Auch eine Broschüre
war dabei: Fichtes Appellation an das Publikum gegen die Anklage des
Atheismus.

Auf der Kegelbahn spazierend, vertiefte ich mich in die Schrift,
die vom Herausgeber mit interessanten Anmerkungen über den
Gottglauben versehen war. Fichte, eine tief religiöse Natur,
versteht unter der Gottheit kein persönliches Wesen, hält den
Glauben an seine Persönlichkeit vielmehr für eine Verengung Gottes.
Gott ist die sittliche Weltordnung. Fichte wurde deshalb von einer
rückschrittlichen Regierungspartei des Atheismus beschuldigt. In
seiner Verteidigungsschrift führt er aus: In seiner unmittelbaren
Beziehung auf die Welt des Guten hat der Mensch Gott; wozu soll er ein
Sein Gottes noch außer dieser Beziehung annehmen? Von seinen Anklägern,
die sich Gott als den Geber alles Genusses und Verhänger des Unglückes,
als Belohner und Bestrafer denken, sagt er: „Wer Genuß will, ist ein
fleischlicher Mensch, der keine Religion hat, ja keiner Religion
fähig ist. Die erste wahrhaft religiöse Empfindung tötet in uns die
egoistische Begierde. Ein Gott, der dem Egoismus dienen soll, ist ein
verächtliches Wesen; denn er unterstützt, er verewigt das menschliche
Verderben und die Herabwürdigung der Vernunft. Ein solcher Gott ist
ganz eigentlich der Fürst dieser Welt, der schon längst durch den Mund
der Wahrheit gerichtet ist. Was sie Gott nennen, ist mir ein Götze; sie
sind die wahren Atheisten ... Mein Atheismus besteht lediglich darin,
daß ich meinen Verstand behalten will.“

Während ich philosophierte, von Hühnern umgackert, fühlte ich den
Drang, die Arme zu regen, die Fäuste. Dazu war ja nun die Kegelbahn
gut. Ich stellte die Kegel auf und packte eine Kugel. Zuerst schob ich
einen Versager, dann forsch alle Neune. Als ich abermals aufstellte,
kam Frau Bolle: das Gefängnis wäre fertig. „Un Sie +beklagen+
Ihnen noch ieber disen Hof? Aber +lassen+ Se man lieber det
Kejeln! Von wejen de Nachbarsleite! Die klatschen un kujenieren zu
ville -- und wat so’n Amtsdiena is, uff den hacken se alle los.“ Ich
sah mir die Nachbarschaft an. „Wer wohnt denn drüben in der kleinen
Giebelstube?“ -- „Ach, der tut nischt! Det is der olle Kuschel, wo
morjens immer de Kiehe zusammentuten tut.“ -- „Von Ansehen kenne
ich ihn, natürlich auch von seiner Tuterei. Wie ich noch neu in
Friedrichshagen war, dachte ich, Soldaten wären hier einquartiert.“
-- „Der Kuschel war bei’s Milletär Hornist, ebens dadrum tut er immer
det Signal tuten: Habt ihr denn noch nich jenuch jeschlaa--feen! Un
denn kommen de Kiehe heidi von selber aus’n Stall; un abends trotten
se wieda rinn ... Aber nu, Herr Dokta, nu hat et jeschnappt, und Sie
missen +ooch+ wieder rinn!“

Im Gefängnis nahm ich meine Post vor. Eine Reihe von Freunden und
Gesinnungsgenossen drückte Teilnahme aus, sowie Empörung über
das Vorgehen der Behörde. Ich beschloß, aus meinem Gefängnis die
öffentliche Meinung anzurufen -- ein Flugblatt wollte ich loslassen.
Und schrieb folgende Notizen in mein Tagebuch:

„Das Rechtsgefühl unseres Volkes verlangt, daß jede vom Staate
verhängte Strafe einen Richterspruch zur Grundlage hat. Wo man sich
herausnimmt, zu bestrafen, ohne dem Angeklagten ein über den Parteien
stehendes Gericht einzuräumen, da liegt für unser Fühlen und Denken
eine Ungeheuerlichkeit vor. Mit Entrüstung lesen wir von jener
unumschränkten Fürstenherrschaft, die einen Schubart, einen Trenck und
andere im Kerker verschwinden ließ, ohne daß ein Gericht entschieden
hatte. Und der Inbegriff des Knutenregiments liegt in der Formel: Auf
administrativem Weg nach Sibirien verschickt.

So was kommt bei uns nicht vor! denkt der preußische Staatsbürger. Aber
ich bin im Gefängnis infolge einer administrativen Verfügung, ohne
richterliche Entscheidung.

Und was habe ich verbrochen? Ich habe in sonntäglichen, polizeilich
gestatteten Versammlungen, die jedermann zugänglich waren und auch
von Minderjährigen auf Wunsch ihrer Eltern besucht wurden, über die
freireligiösen Grundsätze Vortrag gehalten. Nicht wird mir zur Last
gelegt, etwas Ungesetzliches gesagt zu haben. Doch es behauptet die
Behörde, die Anwesenheit minderjähriger Personen verwandle meine
Vorträge in Jugendunterricht. Einen solchen zu erteilen, verbietet mir
das Provinzial-Schulkollegium, weil ich ‚das Dasein Gottes leugne‘ und
daher nach Ansicht der Behörde überhaupt keine Religion habe.

Wie darf diese Behörde behaupten, zur Religion gehöre der Glaube
an einen Gott, an einen persönlichen und außerweltlichen? Der
Buddhismus, der dem Christentum an Zahl überlegen ist und -- wie selbst
Kirchenchristen zugeben -- an sittlichem Werte schwerlich nachsteht,
läßt keinen Gott gelten. Unter den ernsten Religionsforschern rechnet
kein einziger den Gottglauben zum Wesen der Religion.

Und an +welchen+ Gott müßte man glauben, um Religion zu haben? Ist
nicht das Wort Gott unendlich vieldeutig? Welches ist der +rechte+
Gott?

Als man den Philosophen Fichte wegen seines Atheismus maßregelte, sagte
der Theologe Schleiermacher, es drohe gefährlich zu werden, über die
Gottheit zu reden, bevor eine Begriffs-Bestimmung von Gott ans Licht
gebracht und im Staate sanktioniert sei. Man solle doch vom Kurfürsten
von Sachsen eine zu Recht bestehende Definition von Gott und dessen
Dasein verlangen. Die amtliche Formel, die Schleiermacher spöttisch
vermißte, ist immer noch nicht erfolgt, auch nicht in Preußen, dem
Musterstaate des Verordnungswesens. Wie kann also der brave Untertan
wissen, an +welchen+ Gott er glauben soll?

Schleiermacher war kein sogenannter Atheist wie Fichte, war ein heller
Stern der Landeskirche, auf den sie stolz sein kann. Die Gläubigen
aller Bekenntnisse mahnt Schleiermacher daran, das ganze Gebiet der
Religion sei ein unendliches und könne die verschiedensten Gestalten
annehmen. Wahre Religiosität sei nicht unduldsam. Nur die Anhänger
des toten Buchstabens haben die Welt mit dem Geschrei und Getümmel
der Religionsstreitigkeiten erfüllt; die wahren Beschauer des Ewigen
waren immer ruhige Seelen, allein mit sich und dem Unendlichen, und
wenn sie sich umsahen, jedem seine eigene Art gerne gönnend. Religion
haben, heißt das Universum anschauen. Die Religion ist keine bestimmte
Lehre, also nicht etwa der Glaube an einen persönlichen Gott oder an
Unsterblichkeit, an Wunder und Offenbarungen. Sie dreht sich nicht um
Begriffe, sondern ist eine Gemütsrichtung. Schleiermacher gesteht
geradezu, eine Religion +ohne+ Gott könne +besser+ sein
als eine andere +mit+ Gott, und erteilt den Gott-Fanatikern
den Denkzettel: ‚Auch gab es unter wahrhaft religiösen Menschen nie
Eiferer, Enthusiasten oder Schwärmer für das Dasein Gottes; denn Gott
ist nicht alles in der Religion -- und das Universum ist mehr.‘

Trotz alledem erklärt mich die preußische Regierung für religionslos
und setzt mich ins Gefängnis, der ich im Bewußtsein verfassungsmäßigen
Rechts, in Ausübung der verbürgten Religions- und Gewissensfreiheit,
meine Überzeugung meinen freireligiösen Konfirmanden vermittelt habe.
Das Provinzial-Schulkollegium -- so schrieb mir der Kultusminister
Bosse -- sei befugt, die Aufsicht über das gesamte Schulwesen in Berlin
zu führen und nach § 11 der Regierungs-Instruktion vom 23. Oktober 1817
‚instruktionsmäßig berechtigt, seinen Verfügungen durch Zwangsmaßregeln
Nachdruck zu verleihen.‘ Die ministerielle Auffassung wäre kaum der
Rede wert, träte sie nicht mit dem Anspruch auf, einer Entscheidung der
Streitfrage durch ein Gericht nicht zu bedürfen. Den obrigkeitlichen
Verfügungen alter, beim Volke nicht gut beleumdeter Zeiten, nämlich
der Jahre 1808 und 1817, entnimmt die Unterrichtsbehörde die Befugnis,
nicht nur Klägerin, sondern gleichzeitig Richterin und Rächerin zu
sein. Da sie das darf, ohne daß Gericht und Volksvertretung Einspruch
erheben, so haben wir im ‚Rechtsstaat‘ Preußen Zustände, die gewissen
russischen ähneln und die knappe Bezeichnung rechtfertigen: +Sibirien
in Preußen+.

Ein Versuch, meine Angelegenheit beim Oberverwaltungsgerichte anhängig
zu machen, wurde abgewiesen mit der Begründung: ‚Verfügungen, wie
die den Gegenstand des Klageangriffs bildende, unterliegen nicht
der Anfechtung mit den (im Gesetz über die Landesverwaltung vom
30. Juli 1883) vorgesehenen Rechtsbehelfen und sind auch nirgendwo
sonst der Kontrolle des Verwaltungsgerichts unterstellt. Das
Verwaltungsstreitverfahren findet lediglich statt, soweit es durch
besondere gesetzliche Bestimmungen zugelassen ist.‘ Also das Gericht
erklärt, in meinem Falle sei es +nicht zuständig+!

Ich habe mich der Haft unterzogen, um in eindrucksvoller Weise
zu zeigen, was für Zustände wir haben. Wenn die Herren oben sich
herbeilassen sollen, Wünsche des Volkes zu erfüllen, so muß dieses eine
laute Sprache reden, muß seinen Willen in einem Sturme öffentlicher
Meinung kundgeben ...“

Nun warf ich die Feder hin und sprang auf. Umherlaufen wollt’ ich,
hätte mich gern ein wenig ausgetobt. Doch mein Fuß stieß an -- seit ich
die Zelle mit dem Tischchen und Stuhl teilte, konnte ich nicht mal die
drei Schritte tun, die mir gestern den Spaziertrab eines Käfigtiers
vergönnt hatten. Stutzig über die eingekeilte Enge, ergab ich mich ins
Unvermeidliche und nahm seufzend wieder Platz.

Verrückte Welt! Warum sitze ich hier im Käfig, eingesperrt wie ein
wildes Tier? Als ob nicht auch mein Atheismus lediglich darin bestände,
daß ich meinen Verstand behalten will! Das ist doch so natürlich, so
gesund, wie das Saugen der jungen Katze an der Mutterbrust. Und daß ich
meine Überzeugung nicht aufgebe, darf nicht strafbar sein, ist vielmehr
so rechtschaffen, wie die Anhänglichkeit der Mutterkatze an ihr Junges.
Aber freilich, kaum werden die Bengels der Katzen ansichtig, so geht’s
hinter ihr drein: „Hetz, hetz!“ Ihr blöden Tapse! Höret auf, einen
heiligen Trieb zu stören!

Angenommen, meine Überzeugung wäre ein Irrtum. Dann bin ich immerhin
ein Sucher der Wahrheit. Ist es recht, mich dafür zu bestrafen? Was
soll dieser Appell an meine Scheu vor Unbequemlichkeit, an meinen
Egoismus? Gesetzt, er habe den Erfolg, daß der Ketzer zu Kreuze
kriecht, o pfui! dann erstickt man in ihm die Religion; die ist ja
nichts anderes als Ehrfurcht vor der Überzeugung, vor dem nach Wahrheit
strebenden Selbst! Ist aber solches Ersticken seiner Wahrhaftigkeit
euer „Sieg“, ihr Perücken von Schilda, so habt ihr in der Person des
Ketzers, der ja vom innern „Gott“ zu seiner Überzeugung bevollmächtigt
wurde, Gott selber bestraft!

Lagen diese Zusammenhänge auch klar wie der sonnige Tag vor meinen
Augen, so war doch zweifelhaft, ob die Volksgenossen denken würden wie
ich. Die Regierung dachte +nicht+ wie ich. Es fehlte am richtigen
Unterscheidungsvermögen.

Doch halt! wie stand es mit +meinem+ Unterscheidungsvermögen?
Wenn ich nun hier Ideal mit Wirklichkeit verwechselte? Wenn ich Perlen
vor die Säue würfe? Und mit Weltanschauung von Fichte, Schleiermacher,
mit all der hohen Philosophie schließlich doch nur so etwas wäre wie
ein Doktor fürs Vieh? O Kerker der Selbsttäuschung! Bin ich von dir
umgittert? Ist mein Heiligstes Illusion? Das wäre die furchtbarste
Gefangenschaft!

Ich, dem der Katechismusgott zur Fabel geworden, glaubte an die
unmittelbare Macht des Rechts. Vertraute dem Feldgeschrei, von dem sich
Leutehaufen hinreißen lassen -- vertraute auch etwas dem Schlagwort,
mit dem das seelische Beharrungsvermögen überwunden werden sollte.
Beharrungsvermögen oder, wie es der Mechaniker ebenfalls nennt,
Trägheitsmoment! Ein Menschenkenner hat das Wort geprägt: „Öffentliche
Meinungen -- private Faulheiten.“ Und ich -- rief die öffentliche
Meinung an!

Aufs Papier hatte ich noch das Schlagwort geworfen: Sibirien in
Preußen. Nun ja, es stimmte. Wehmütig bekennt freilich der Chronist
neuerdings: Das Feuer der Märzrevolution, das damals in mir aufloderte,
hat außen nur die Friedrichshagener Handlaterne zu entzünden vermocht,
mit der ein Menschensucher, für manchen komisch wie Diogenes, in
allerlei staubigen Kram hineinleuchtete.

Hier hätte auch das Schlagwort gepaßt: Preußen in Schilda. Und es paßt
noch immer; heute noch ist in Preußen möglich, was damals geschah!




Die Grille im Käfig


Eine noch unverblichene Laubkrone hob der Akazienbaum des Nachbarhofes
in den Sonnenschein. Reglos träumten die Zweige in der stillen Luft,
und wenn am Nachmittag die Sonne rötlich schimmerte, hoben sich vom
Dunkelgrün der schattigen Massen die verklärten Blättergruppen ab,
deren gefiederte Laubform hervortrat. Auf dem Baume zirpte noch immer
die Grille. In ihre wunschlose Beschaulichkeit zu versinken, war mir
wehmütiges Glück.

Die Besucherglocke läutete, und da stand mein Freund Eckehart, der
schlanke Germane mit dem Christusbarte. Er winkte mir freundlich zu.
Frau Bolle brachte den Schlüssel, und auf ihre Frage, wie lange der
Herr bleiben wolle, gab er den Bescheid: „Muß gleich wieder fort.
Nach Berlin auf die Bibliothek. Wollte Ihnen bloß was bringen.“ Und
einen Gegenstand, in Papier eingeschlagen, enthüllte er vorsichtig.
Eine Pappschachtel von der Größe eines Vogelbauers. Die eine Wand
herausgeschnitten und durch Netzgewebe ersetzt. Oben ein Türchen zum
Aufklappen. In diesem Käfig hockte bei Blättern von Runkelrübe eine
Grille.

„Uh!“ meinte Frau Bolle in einer Mischung von Bewunderung und Abscheu
-- „nu kiek doch eener, so’n Biest.“ Ein stattliches Exemplar, fast
daumengroß, bräunlich grün. Beine und Silberflügel unverletzt. „Uh!
Wie e’ jlotzt mit sein Ferdekopp!“ Altklug sah mich die Grille an, mit
ihren niedlichen Augenperlen. Sie tat mir leid, fragend blickte ich auf
Eckehart. „Damit Sie doch lebendige Gesellschaft in Ihrem Gefängnis
haben, und weil Sie ein besonderer Freund der Heuschrecke sind.“

Also gut! die Grille ward aufgenommen. Den Faden der Schachtel
befestigte ich am Wandteppich, nahe dem Fenster. „Freitag“ nannte
Robinson seinen freitags gefundenen Gesellschafter. Heute war erst
Donnerstag; aber auch dieser Tag paßte zur Benamsung des grünen
Insekts. Ich brachte mein Gesicht an das Gittergewebe und schäkerte:
„Wo ist denn mein Grüner Donnerstag?“ Mit Glotzen antwortete er -- das
war ja seine Natur. Da er mit Futter versehen war, blieb mir nichts
übrig, als ihm Ruhe zu gönnen. Zunächst war der Grüne Donnerstag
mäuschenstill -- er schien sich zu orientieren im neuen Heim. --

Indessen dachte ich zurück an zauberische Septembertage, die ich
jüngst genossen. Dachte an die edle Grillenjägerei mit Eckehart auf
seinem „Rittergute“. Nicht als ob Eckehart Rittergutsbesitzer gewesen.
Privatgelehrter war er, ein faustischer Sinnierer. Als Naturschwärmer
hatte er sich im verwilderten Laubpark des Gutes Rahnsdorf, hinter dem
Dorfe, ein Plätzchen für den Sommer gemietet und zu einer Laubenwohnung
hergerichtet. Köstlich abgeschieden liegt das Gut, versteckt zwischen
Kiefern und Akazien. Im Westen und Osten unpassierbare Sumpfwiesen mit
wallendem Rohr; auf der Nordseite des Laubparks fließt die Spree. Im
Wirtschaftsgebäude, das schon verfallen, haust eine friedliche alte
Frau, von ihren Bekannten Großmutter genannt. Sie hat eine Enkelin,
ein auffallend schönes Mädchen. Eckehart nennt sie „Diotima“ und
schwärmt für sie, wie Hölderlein für seine schöne Helena und Madonna.
An Sommerabenden hört der Wandrer aus dem verwilderten Park den
Zaubergesang einer weiblichen Stimme mit Flötenbegleitung.

Die Bewirtschaftung des Gutes beschränkt sich auf Gemüsebau, Heuernte
und eine kleine Molkerei, -- zehn, zwölf Kühe, ein paar Ziegen.
Ungestörtes Behagen ist der Herde beschieden, die auf der fetten
Moorwiese grast und wiederkäuend unter Erlen lagert.

Eckeharts Tuskulum liegt auf einer Erhebung des Ufers unter einer
mächtigen Eiche. Aus Balken und Brettern ist es zimmert, grün
gestrichen, von wildem Wein umwoben. Durch Tür und Fensterlein sieht
man ein Gärtchen, Unkraut, bunte Blumen, dann die Spree, Schilf, blaue
Waldhügel.

Als ich diese Gemütlichkeit bewunderte, sagte Eckehart: „Auch auf
Daches Zinnen kann ich steigen wie weiland der glückstrunkene
Inselkönig. Mittels dieser Leiter erklimmt der Fürst bei gutem Wetter
das pappene Dach, sein Reich zu überschauen. In der Hängematte am
wagerecht übergereckten Eichenast lauscht er der Windharmonika, die in
der Eichenkrone summt. Ach, und jetzt im Herbst die Heuschrecken!“ --
„Sie sind ein Lebenskünstler, Eckehart,“ hatte ich geantwortet. „Aber
tun Sie mir den einzigen Gefallen und sagen Sie nicht Heuschrecke.
Ich finde den Namen gräßlich! Er stammt gewiß von einer zimperlichen
Stadtmamsell, die in idyllischer Anwandlung einen Heuhaufen zum
Sessel erkor, um kreischend emporzufahren, die Augen starr gerichtet
auf unsern unschuldigen Insektendäumling im grünen Frack. Als wäre
er ein Ungetüm! Dummes Zeug! Ein liebes Tierchen! Ich nenne es nicht
Heuschrecke, sondern Grille. Eine Art Zirpen klingt in diesem Namen.“

„Kommen Sie!“ sagte Eckehart. „Ich will Sie in meinen herbstlichen
Jagdsport einführen. Kennen Sie die Tierschutz-Flinte? Ein
Tierschutz-Verein hat sie erfunden. Man zielt damit auf das Tier,
das man beschleicht, und drückt los. Die Flinte knipst bloß -- im
Kolben sitzt eine photographische Platte, und als Beute hat man das
Momentbild.“ -- „Und Sie haben so’n Dings?“ -- „Nein, ich ziele nicht
mit dem Auge, sondern mit dem Ohr. Es ist gar nicht so einfach, die
Stelle zu treffen, wo eine Grille geigt. Kommen Sie -- wir wollen
mal Grillen beschleichen.“ Eckehart wies mit der Hand auf eine
Kartoffelstaude. „Scharf mit dem Ohre aufpassen!“ Ich drauf los. Aber
nun verstummt das Tierchen, mäuschenstill bleibt es minutenlang. Wieder
beruhigt durch mein Stillstehen, zirpt es von neuem. Ich horche und
spähe hin. Da zittert was Grünes, nun kann ich drauf losgehen; und
jetzt fortzufliegen, ist nicht Grillenart.

Das war die Grillenjägerei, die wir vor vierzehn Tage betrieben
hatten. Ich durchlebte sie noch einmal in der Erinnerung. Dachte auch
an Diotimas Stimme, als sie auf meinen Wunsch Beethovens „Adelaide“
gesungen, begleitet von Eckeharts Flöten und dem Grillengezirp.
Als das Mondlicht niederfloß, hatte Eckehart seine Diotima in
die Arme geschlossen -- verstohlen, nur von mir bemerkt ... O du
Grillenfänger! --

    „Selig bist du, liebe Kleine,
    Die du auf der Bäume Zweigen
    Von geringem Trank begeistert,
    Singend wie ein König lebst ...“

So hat Goethe das Grillenlied Anakreons verdeutscht. Umsonst wartete
ich auf das königliche Singen -- mein Grüner Donnerstag blieb stumm.
Ach ja, Gefangenschaft ist ein bös Ding! Ich ging mit dem Plane um,
meine Grille zu der andern bringen zu lassen, die in der Akazie zirpte.
Da ich aber beobachtete, wie sich der Häftling die geschabte Mohrrübe
munden ließ, dachte ich: „Schmeckt das Essen, wird das Herzchen nicht
gleich vor Trauer brechen.“ Ich zündete den Spiritus meiner Teemaschine
an -- das Wasser summte. Dieser elfenhafte Singsang hat etwas vom
Zirpen der Grille. Meinen Zellengenossen begeisterte er, daß er die
Gefangenschaft vergaß -- und horch, leise begann er zu geigen -- es
klang, als ob ein Flageolett-Ton auf der ~E~-Saite zittere, oder
als ob gläserne Zwergpantöffelchen den Walzer schleifen im Saale von
Kristall.

Bald war der Grasmusikant so zahm, daß er sich beim Fiedeln beobachten
ließ. Die Silberflügel reibt er, sie zittern wie gestrichene Saiten.
Sonst ist das Tierchen schwerfällig. Zwischen Fressen und Singen teilt
es sein Dasein.

Daß es noch ein Drittes gäbe, wurde ich abends gewahr. Die Grille auf
dem Akazienbaum hatte wohl erlauscht, daß eine andere in der Nähe
hause. Als dem warmen Herbsttage eine schier sommerliche Nacht folgte,
ward ihr Lied ein herausforderndes Schmettern. Ich saß bei der Lampe,
über Schreibpapier gebeugt. Notierte Anakreons Lied auf die Grille,
den griechischen Text, den ich mal auswendig gelernt hatte. Und dann
versuchte ich eine Nachdichtung. Durchs offene Gefängnisfensterchen
strömte lau der Nachtodem. Plötzlich tippt was an die Scheibe wie ein
Nachtschmetterling. Dann schwirrt eine Grille herein -- mir gerade aufs
Papier. Die Diotima vom Akazienbaum! Angelockt vom Grünen Donnerstag,
hat sie den Spruch beherzigt: Es ist nicht gut, daß ein Geschöpf
allein sei. Um den angebändelten Roman nach dem beliebten Schema „sie
kriegen sich“ zu enden, packe ich den hergeschwirrten Amor bei seinen
Flügelchen und tue ihn in den Schachtelkäfig. Die beiden Grillen sind
nun stumm. Vor neugieriger Betrachtung kommen sie nicht zum Singen.

Die Grillenpoesie hat mich begeistert, und ich bringe eine
Verdeutschung des anakreontischen Liedes zustande:

    Grillchen hoch im Baumgezweige,
    Ei du quietschvergnügte Geige!
    Diedel diedel zirpt die Fiedel --
    König Lustig liebt sein Liedel;
    Ist begeistert wie von Sekte,
    Weil er Taugeträufel schleckte.
    Und nun schau, Herr König, schaue
    Stolz vom Laubthron deine Gaue!
    Dein ist all die grüne Runde,
    Dein ist jede Sommerstunde!
    Dir, mein Grillchen, bleibt gewogen,
    Wer durchs Feld den Pflug gezogen.
    Heilig bist du allen Leuten,
    Die sich je der Sonne freuten.
    Darum weihten dir den Busen
    Gott Apoll und seine Musen;
    Und so hast du für das Schöne
    Deine süßen Silbertöne.
    Niemals rostig, niemals greise,
    Ewig jung ertönt die Weise.
    Erdenkind! Nein, Mittelwesen,
    Halb der Geisterwelt erlesen --
    Erdenlust im Dichterherzen,
    Aber frei von Erdenschmerzen!
    Ohne Fleisch und Blut geboren,
    Seelchen, zum Olymp erkoren,
    Unschuldsvoll und wonnereich,
    Bist du bald den Göttern gleich.




Die Pennbrüder


Es dunkelte, die Gaststube drüben war erleuchtet, und es lärmten die
zum Bier erschienenen Gäste. Was in ihren Taschen klimperte, mußte ja
wohl vertan werden. Jetzt trat aus dem Hause, eine brennende Laterne in
der Hand, Onkel Pofke -- so nannte man den Gastwirt, dem der Preußische
Adler gehörte nebst dem als Gefängnis an das Amt vermieteten Bau. Der
niedrige Dachraum über den drei Zellen war von Onkel Pofke zu einer
Herberge für Reisende hergerichtet -- zwei Groschen die Schlafstelle.
Hatten die Pennbrüder bei Tage ihren Draht zusammengeholt, so ließen
sie abends was draufgehn.

Besagter Onkel also kam drüben aus dem Gasthause mit brennender
Laterne und ging zur Kegelbahn, die neben meinem Gefängnisse war. Da
sein Gesicht beleuchtet war, konnte ich ihn beobachten. Der Graukopf
mochte ein Sechziger sein, war aber noch kräftig und behende. Sein
glattrasiertes, faltiges Gesicht hatte einen biedern und gemütlichen
Ausdruck, seine Nase war rot, eine sogenannte Tulpe, listig waren die
Schweinsäugelchen. Die Laterne an einen Haken der Kegellaube gehängt,
betrachtete er einen Gegenstand, den er zwischen den Fingern hielt. Als
ein Gast aus der Kneipe zu ihm trat und vertraulich raunte, antwortete
der Onkel abweisend: „Wenn ick doch sage, der Stein is unecht! Det
bisken Jold lohnt nich. Eene Mark achtzig will ’ck uff deine Zeche
anrechnen.“ -- „Wat?“ entgegnete der Pennbruder patzig. „Eens achtzig
for so’n teiret Andenken? -- an meine verflossene Braut? Nich in de
Hand!“

Jetzt kamen johlend drei andere Gäste nebst dem ältesten Jungen des
Amtsdieners: „Also los, der Ring wird ausjeschoben! Flott, Bengel!
Kejel uff! Un hinten de Laterne anjestochen!“ Wie nun die Kegelbahn
hell genug war und Onkel Pofke mehrere Glasnäpfe mit Weißbier
hergeschafft hatte, trat der erste Kegler vor, ein Bursche mit einer
hohen, etwas glucksenden Stimme. Die Kegelkugel in der Hand wiegend,
streckte er das linke Bein vor, knickte mit dem rechten ein und holte
zum Wurf aus. Forsch rollte die Kugel, die Kegel prasselten, der Junge
rief: „Achte +um+!“ Der König war allein stehn geblieben, das war
ein guter Wurf. „Hurra!“ johlten die Kegelbrüder, und der Erfolgreiche
trällerte im Fisteltenor:

    „Det Fechten is ’ne edle Sa--ache;
    Luft is fier alle Menscher frei.“

Dann stärkte er sich aus dem kommunistischen Weißbiernapfe so tief, daß
man rief: „Verheirate dir man nich drin!“ Nun donnerte Wurf um Wurf,
und immer lauter wurde die Gesellschaft. „Das wird ja nett!“ seufzte
ich, „die Kerle kriegen fertig, bis Mitternacht zu skandalieren. Aber
es muß doch auch hier sowas wie Polizeistunde geben. Sonst, bei Gott,
wende ich mich an den Amtsvorsteher, zum Donnerwetter!“ Indessen
blieb das Donnerwetter auf der andern Seite, bei diesen hahnebüchenen
Sprößlingen des deutschen Michel, der wohl schon zu Zeiten des alten
Donnergottes gekegelt haben mag und im Grollen des Wolkenwetters das
Kegelschieben Donars belauschte. Jedesmal, wenn einer alle Neune
geworfen hatte, wurde von den Pennbrüdern im Chor ein „Versch“ gesungen:

    „Ick walze meinen Schlendrian
    Und drinke meinen Korn,
    Und wat ick nicht berappen kann,
    Det hat der Wirt verlor’n.
    Un hau ick hier det Jlas
    In hundertdausend Trimmern,
    So hat sich doch keen Mensch,
    Keen Mensch dadrum zu kimmern.“

Das Gespräch der Pennbrüder kam wiederholt auf den Ring, und man war
über den Stein geteilter Meinung. Dabei wurden Vorkommnisse erwähnt,
die mir nicht ganz koscher vorkamen, obwohl ich sie fast gar nicht
verstand, weil sie im Rotwelsch der Walz- und Fechtbrüder verhandelt
wurden. Da hörte ich Ausdrücke wie „Schucker“, „dufte Winde“,
„Penneboos“ und „Pickus“. Bei einem Wortwechsel meinte einer patzig:
„Oller Hammelkopp! Wat is zu machen, wenn du keene Flebbe hast! Un
ieberall lauert und luchst de Polente!“ Ein Anderer bemerkte: „Hättest
du bloß nich immer Schandarmen, un een bisken Kurage! Du bist ’n Kerl
wie’n Stücke Wurscht!“ Ein guter Kegelwurf schnitt den Disput ab, und
weiter sang man:

    „Ick walze meinen Schlendrian,
    Zieh an, wat mich jefällt;
    Un wat ick nich mehr dragen kann,
    Bei’n Juden kriech ick Jeld!
    Und sollte ooch mein Hemd
    In dausend Löcher schimmern,
    So hat sich doch keen Mensch,
    Keen Mensch dadrum zu kimmern.“

Mich um die zerlumpten Hemden dieser Bummler zu kümmern, lag mir fern.
Bloß ihr Radau kümmerte mich, und ich gelobte mir schon, mit der
Beschwerde bis zum Kultusminister zu gehn. Weil aber auch hier der
Himmel hoch und der Zar weit, blieb mir nichts übrig, als zu lachen und
mich in meine Klappe zu verfügen. Gern hätte ich mein Fensterventil
geschlossen, um den Lärm ein wenig zu dämpfen; aber dann hätte ich zu
spüren bekommen, daß unser Kulturstaat hier nicht mal dem bescheidenen
Glaubenssatz des Walzbruders Rechnung trug: „Luft is fier alle Menscher
frei!“ So ließ ich die Ventilklappe auf. Wie ich im Bette lag und
noch ein wenig las, mußte meine Lampe einen von der Kegelbruderschaft
hergelockt haben. Behutsame Schritte vor dem Fenster, und durch die
bibelgroße Klappe nahe bei meinem Kopfe kam, mich zu erschrecken, der
jähe Ausruf: „Puh!“ Ich antwortete nicht -- um die Kerle nicht noch zu
ermuntern -- und auflachend ging der Witzbold wieder zum Kegeln.

Mein Gefängnis, das war begreiflich, mußte den Leuten wunderlich
vorkommen. Hinter den schwarzen Kerkersprossen tat der blutrote
Vorhang, bei Lampe noch greller, nach außen eine abenteuerliche
Wirkung. Dazu kam das Gerede über den sonderbaren Heiligen, der an
keinen Gott glaubte, gewiß auch an keine Hölle. Mit der Hölle schienen
es übrigens selbst die Pennbrüder nicht sonderlich ernst zu nehmen;
denn vor dem Einschlafen hörte ich ihren letzten „Versch“:

    „Ick walze meinen Schlendrian,
    Bis an mein kühlet Jrab,
    Un schlächt mich ooch der Sensenmann
    Den Sterbesejen ab,
    Ja, sollt ick ooch dereinst
    Noch in die Hölle wimmern,
    So hat sich doch keen Mensch,
    Keen Mensch dadrum zu kimmern.“

Im Halbschlummer kam es mir vor, als wäre unter den Männerstimmen
noch eine weibliche, und dann rief man: „Schmalzjuste!“ Wie ich
später erfuhr, war das eine junge Tippelschickse, die wegen Bettelei
aufgegriffen und fürder dem Onkel in der Gastwirtschaft behilflich war.
Schließlich hörte ich die Pennbrüder über mir im Dachraum trampeln,
zur Ruhe begaben sie sich. Und dann krähten die Hähne. Traulich war
mir der Gedanke, es seien dies dieselben Hähne, die ich daheim in der
Kastanienallee nachts belauschte.




Der Gefangene wildert Grünlinge


„Unerhörte Bummelei! Jetzt aber mucke ich auf! Da hockt man nun
in dieser Enge schon den vierten Tag! Und immerfort das goldigste
Herbstwetter draußen! Ich sehne mich ins Freie -- aber mein Antrag,
Spaziergänge machen zu dürfen, ist immer noch unerledigt. Bitte,
geh’ doch mal zum Kreispfiffikus und melde, daß ich schon anfange,
dahinzusiechen.“ In dieser klagenden Weise hatte ich soeben mein Herz
ausgeschüttet, als meine Frau sagte: „Da kommt ja Bolle -- stell ihn
doch zur Rede.“

Man sah dem Amtsdiener an, daß er etwas Angenehmes bringe. „Mahlzeit,
Herr Dokta un Frau Doktan! Na scheeneken! det jeht hier allens wie
jeschmiert. Ihr Jesuch, Herr Dokta, is nu ooch jenehmigt!“ -- „Ich kann
also spazieren gehn?“ -- „Der Herr Amtsvorsteha is keen Spielverderber
nich. Ick muß natierlich dabei sind.“ -- „Wieviel Stunden?“ -- „Na,
sagen wir mal een bis zwee Stunden!“ -- „Zwei bis drei Stunden
mindestens muß man bei sitzender Lebensweise laufen, um nicht krank zu
werden. Schon den vierten Tag bin ich ohne Bewegung. Warum hat man mich
so lange warten lassen?“ -- „Aber Herr Dokta! Der Herr Amtsvorsteher
mußte doch erst an Herrn Landrat berichten -- und der bei die
Provinzial-Schulkollejen anfragen -- un die wieder kriejen Bescheid von
den jeistlichen un Medezin-Minister. Hinter den Rücken des Staates kann
det Amt Friedrichshagen doch nich erlauben, det Sie als Staatsjefangena
hier in de Müjjelhaide den Freischitz spielen -- durch die Wälder,
durch die Auen .... Allens mit Takt!“ -- „Wieso mit Takt?“ -- „Sie
sollen mit Takt spazieren gehen -- un ooch Besuche sollen Se immer mit
Takt empfangen. Dadruf ha’k zu halten!“ -- „Sie sollen auf Takt halten?
Sind Sie Musikus gewesen beim Militär, Tambourmajor oder so was?“ --
Pikiert gab Bolle zurück: „Se brauchen mir nich zu vakohlen. Der Herr
Amtsvorsteha saacht: Machen ma den Dokta seine Haft leicht -- seien ma
menschlich. Bolle, saacht e’, jenehmigen Se nach Menschenmeechlichkeit
jede Vajinstijung -- aber bloß det wir keene Nackenschläge nich
riskieren. Ma wer’n beobachtet, Herr Dokta! Janz Balin hält de Oogen uf
Friedrichshagen jeheftet. Ick sage Sie, den janzen Tach bimmelt unser
Tellefong uffs Amt. Bald frächt ne Zeitung, bald ’n Reporta, bald ’n
Neijierijer: Wie jeht’s Ihren Jefangenen? Stimmt et, Herr Amtsvorsteha,
det er in een Hotel unterjebracht is? Weil ma nu so umlauat sinn,
heeßt et hier: Takt halten! Tu du mich nischt, ick tue dich ooch
nischt! Aber haust du meinem Juden, denn hau ick deinem erst recht!
Solange wie Se keenen Radau in de Presse schlagen, Herr Dokta, über
det hiesige Jefängniswesen, drücken ma jern een Ooge zu.“ -- „Habe ich
keinen Anlaß, so brauche ich meine Zuflucht nicht zur Presse nehmen.
Bloß ein Flugblatt gegen die Verfügungen des Kultusministers lasse ich
los -- hab’s eben fertig geschrieben, da liegt es!“ Mit einem scheuen
Seitenblick auf das Manuskript schrak Bolle zusammen: „Haste Töne? Det
is jejen meinem Takt! Ick habe nischt jeheert -- ick weeß von nischt!“

„Also gut, Sie wissen von nichts, Ihr Name is Hase! Übrigens geht Sie
gar nichts an, was ich hier schreibe! Sie sind ein Philister, Bolle!
Aber das geht wieder mich nichts an. Nur +ein+ Punkt interessiert
mich noch, den Sie erwähnt haben: Ich soll mit Takt Besuche empfangen?
Wie ist das gemeint? Wenn Besucher kommen -- oft in wichtiger
Angelegenheit -- na, so müssen Sie doch zu mir +herein+!“ --
„Selbstmurmelnd! Nu aber versetzen Se Ihnen mal in mein Amt! Ick muß
Ihnen doch inschließen! Na also! Nu aber, wie soll ’ck det mit Ihre
Besuchers halten? Soll ’ck etwa jedesmal warten, bis die fertig sinn
mit ihr Anliejen? Meine Zeit ha’k +ooch+ nich jestohlen! Oder
soll ’ck det Jefängnis ufflassen? ohne jede Uffsicht? Oder aber soll
ick Ihre Besuchers mit Sie inschließen? Un denn denungziert mir een
Besucher von wejen Freiheitsberaubijung! Na ick danke! Wat sagen Se
+nu+? Wat is hier Takt?“ -- „Wenn Sie mir nicht trauen, können
Sie meine Besucher ruhig +mit+ mir einschließen. Keiner wird
was dagegen einwenden. Und das sollen Sie sogar schriftlich haben.
Ich verfasse eine Urkunde: Die gehorsamst Unterzeichneten erklären
hiermit, daß sie auf ihr ausdrückliches Verlangen in das Amtsgefängnis
zu Friedrichshagen eingeschlossen sind, daß also in bezug auf ihre
Person keine Freiheitsberaubung vorliegt. Das muß jeder Besucher
unterschreiben. Das sichert Sie, Bolle! Seh’n Sie, das nenne ich
Takt!“ -- Der Amtsdiener war es zufrieden. -- „Abgemacht, Bolle! Wir
werden uns schon vertragen. Und nicht wahr, heute Nachmittag ziehn wir
mitsammen in den Wald!“ -- „Heite schon? Heite kann ick bei’n besten
Willen nich -- Amtsjeschäfte!“ -- „Ich +muß+ spazieren!“ -- Nun
eiferte auch meine Frau: „Ja wahrhaftig, Herr Bolle! Er kränkelt schon!
Ich laufe sofort zu Doktor Jacoby -- der wird auftrumpfen.“ -- „Und
ich schlage Radau in der Presse!“ drohte ich, -- „morgen früh steht’s
im Tageblatt und gar im Vorwärts.“ Bolle schlug die Hände zusammen:
„Heeren Se uff! Die Sache is erledigt: Wenn +ick+ heite nich mit
Sie jehe, denn muß mir Onkel Pofke vatreten. +Der+ kann mit Sie
in de Heide.“ -- „Sie meinen den Gastwirt drüben?“ -- „Jewiß doch!
Frieher is er +ooch+ Amtsdiener gewesen -- un seine Dienstmitze
hat er noch, die kann er uffsetzen, denn sieht die Kiste doch amtlich
aus. Iebrigens duhn Se jut, einsame Waldweje zu jehn ...“ -- „Das eben
will ich ja! Ich möchte mit meiner Frau Pilze suchen ...“ Meine Frau
unterbrach mich: „Heute? Ich habe ja die Schneiderin!“ -- „Nu fang du
auch noch an!“ gab ich vorwurfsvoll zurück. „Aber natürlich, wenn’s
nicht anders ist. Herr Pofke soll mir recht sein. Hauptsache, daß ich
in den Wald komme. Pilze will ich suchen, Grünlinge, Kremplinge.“ --
„Abends brate ich sie dir!“ begütigte meine Frau.

Mögen Schützen und Angler ihre Weidmannslust preisen, die einzige
Jagd, für die +mein+ Herz schlägt, ist die Pilzjagd. Gemeinsam
mit aller Jägerei hat sie die versunkene Hingabe an das heimliche
Weben im Freien, die Reize des Umherstreifens, Suchens, Erbeutens.
Dabei ist meine Jagd unschuldig -- weh tut sie den Pilzen schwerlich
-- die bluten nicht, mit Ausnahme des Blutreizkers -- schreien oder
zucken tun sie erst gar nicht. Das Unrecht, das der Pilzjäger begeht,
beschränkt sich höchstens darauf, daß er unterlassen hat, einen
Sammelschein zu lösen -- oder daß er durch eine Schonung streift -- wo
es ~notabene~ die allerbesten Pilze gibt!

Aus der Müggelstraße unbeobachtet in den Wald gelangt, ging ich mit
Onkel Pofke über Moos und Adlerfarn. Er hatte richtig seine alte
Dienstmütze auf und sah komisch aus. Auf meine Frage, ob er Bolles
richtiger Onkel sei, gab er den Bescheid: „Von die +Frau+ bin’k
der Onkel -- ha! det Bolle ihr jenommen, war for ihm een feinet
Jeschäft: weil se eene Waise war, hat er seine Schwiejereltern
+kalt+ jenossen. Onkel Pofke aber is keen Unmensch -- det werden
ooch Sie schonstens wittern, wah’ Herr Dokta?“

In einer Lichtung des Forstes liegt die Försterei Krummendamm, eine
Wagenspur leitet durch feuchtes Wiesenland. An schwarzen Wasseradern
kauern Weiden, Haselbüsche; vergilbte Blätter rieseln nieder, während
an hohen Erlen das Laub noch dunkelgrün hängt. Vereinzelte Kiefern
auf Wiesenhügeln. Ausladend das Astwerk, buschig die Nadelwipfel. Mit
ihrem Goldschimmer leiht ihnen die Nachmittags-Sonne ein braunes Grün,
indessen Borke und Zweige erglühen. Wolkenlos darüber der mattblaue
Himmel. Einförmig zirpen letzte Grillen. Wie Träumen alles, die Zeit
steht still.

Nun kommt das Wehr, von dem das Fließ zu einem Mühlteich gestaut wird.
Mit leisem Rauschen schießt das überlaufende Wasser ins untere Bett.
Der Teich, auf dem die breiten Blätter der Seerose schwimmen, ist von
dunklen Binsen und verblichenem Rohr umkränzt. Es schläft die alte
Wassermühle. Dahinter andere Wirtschaftsgebäude, zum Rittergut des
Herrn von Beeskow gehörig. Um bäuerische Häuschen trippeln Hühner und
Enten, aus Stallungen muhen Kühe. Ein Storchnest krönt das Strohdach
der großen Scheune. Vor dem Verwalterhaus, das an einer Uhr zu erkennen
ist, prangt die Goldgrube aller Landwirtschaft, der Misthaufen.

Als wir beim Backofen waren, trat der Förster von Krummendamm hinter
Akazienbüschen vor. Nicht weidmännisch gerüstet, sondern eine
Wagenpeitsche in der Hand. Sein schwitzendes Gesicht hatte etwas
Unsicheres. Pustend stand er vor uns, fuhr mit dem roten Taschentuch
über seine Stirn und meinte kleinlaut: „Haben Se meinen Jänter nich
jesehn?“ Fragend blickte ich auf den Onkel: „Jänter? Was ist das?“ Der
erfahrene Onkel versetzte: „Seinen Jänserich meint er! Wat +is+
denn mit Ihren Jänter, Forstmeester?“ -- „Wechjelaufen is das Biest!
Das is so seine Manier -- allemal entwischt er über de Moorwiese rüber
und pussiert mit de Heidemühlschen Jänse. Nu such ich schon eine
jeschlagene Stunde, aber nischt zu finden. Keene Katze hat’n jesehn.
Bei Heidemühle sind bloß’n paar Kinder un olle Weibsleite -- da weiß
keener wat von mein’ Jänter. Haben +Sie+ denn nischt jesehn?“ --
„Keen Watschelbeen!“ erwiderte der Onkel, und ich fügte hinzu: „Bloß
Enten!“ -- „Na, entschullijen die Herren!“ Und weiter suchte der
sorgenvolle Grünrock nach seinem Federvieh.

Wir überquerten einen brachen Sandacker, wo Unkraut stand, struppige
Königskerzen mit Samenkolben, betraten dann den moosbedeckten
Waldboden. Kiefern von Mittelwuchs, streckenweise niedrige Schonungen.
Das Netz, das ich zum Einsammeln der Pilze mitgenommen, befestigte ich
am Rockknopf, mein Taschenmesser klappte ich auf. Schon sah ich die
erste Beute -- bückte mich und stach einen speckigen Grünling los. Von
der graugrünen Kappe hob sich grell das Grüngelb der Fächer ab. Dem
Onkel zeigte ich das schöne Exemplar, ihn zum Mitsuchen zu reizen.

„Fier unsereens paßt besser ’ne +Zieh+jarre!“ -- „Ich will Ihnen
eine geben. Verboten ist das Rauchen hier allerdings. Sogar das
Betreten dieses Forstes. Doch bewährt ist die Losung: Tun darf man’s
-- darf sich bloß nicht erwischen lassen!“ Mit Seelenruhe steckte
sich der Onkel den Glimmstengel ins Gesicht und qualmte: „Heite
bin ick uff Landpartie -- un der Beeskowsche Forstmeester, wenn
er nu wirklich käme, der sieht nischt -- ick bin doch schließlich
+ooch+ ’n Uniformkolleje.“ -- „Sie meinen, eine Krähe hackt der
andern die Augen nicht aus? Aber wenn nu Herr von Beeskow in eigener
Person käme? Er reitet hier öfter.“ -- „Ick bin heite amtlich --
bejleite eenen Staatsjefangenen.“ -- „Bei Herrn von Beeskow kommen Sie
damit nicht durch, der ist schneidig. Wissen Sie, wie er gegen die
Weibsleute verfährt, die sein Förster beim Holzsammeln abfaßt? Die
müssen die Strafe abarbeiten. Nu denken Sie mal, wenn er uns fischte,
und wir müßten dann Forstarbeit tun.“ -- „Ick bin schon zu steif
fier Forstarbeet!“ meinte der Onkel mit Seelenruhe; „un ieberhaupt,
Herr Dokta, ick habe det Marschieren nu dicke! Ick strecke mer hier
zu Mutter Jrien -- un passe Achtung, det keen Beeskow kommt. Un Sie
stechen derweile Ihre Jrienlinge ab.“ Und der Leichtsinn warf seine
Amtsmütze hin und saß im Moose, den Rücken an eine Kiefer gelehnt.
Behaglich qualmte er.

Eine Schonung von doppelter Manneshöhe. „Da ist gute Jagd, und da bin
ich auch verborgen.“ Und ich schlüpfte hinein. Die armdicken Kiefern
standen so gedrängt, daß ich mühsam zwischendurch konnte. Weiterhin
wurde das Dickicht gangbar, obwohl ich nur geduckt vorwärts kam.
Spinnefäden umwoben mich, eine Kreuzspinne kroch über mein Gesicht. Es
knackten dürre Äste, die ich von den Bäumen streifte. Fernes Schnarren
ziehender Wildgänse. Eine Gruppe von Grünlingen! Ich kauerte nieder und
sammelte ein. Dann fand ich Kremplinge -- mit ihrer schmutzig braunen
Hutkrempe sehen sie reizlos aus, machen auch die Finger braun, als
hätte man Nüsse ausgepahlt -- aber würzig sind sie. Rehpilze waren auch
da, oben borkig, unten wie Rehfell.

Schwer bereits von Beute war mein Netz, doch mit immer neuem Eifer
strichen die Blicke durch die schmalen Gassen zwischen den braunen
Stämmen. Der ganze Mensch war verloren in den Reiz des Suchens. Da
mahnte Onkel Pofkes Stimme: „Herr -- Dok -- ta? Et is Zeit!“ -- Noch
dies eine Grünlingsvolk wollte ich einheimsen und kauerte nieder. „Herr
-- Dok -- ta?“ Ich schwieg und lächelte vor mich hin, aus Jägerglück.
Wie ein Wilderer kam ich mir vor, einer von jenen Söhnen der Einöde,
die nicht dulden, daß sich zwischen sie und ihren geliebten Wald
eine Papierverordnung schiebe. Hier kauerte ich, umwoben von Bäumen,
unter leuchtendem Äther, ein Freibeuter, ein gottverlassener Ketzer,
verdonnert vom Minister. Und er nebst seinen Geheimräten glaubte mich
hinter Schloß und Riegel. Auf meine Hand blickte ich, die das Messer
hielt -- ihre fünf Finger waren fünf Sünden. Erstens sammelte ich
Pilze, ohne durch Sammelschein berechtigt zu sein. Zweitens war ich
in verbotener Schonung. Drittens war ich Staatsgefangener und sollte
eigentlich hinter Schloß und Riegel hocken. Viertens hatte ich meinen
Aufseher zur Mitschuld verleitet. Fünftens ihn mit der gefährlichen
Zigarre traktiert. Die hergezählten Sünden kostete ich, als wären es
lachende Äpfel vom verbotenen Baum. Endlich steckte ich mein Messer
ein, zog das Netz zu -- es war prall und schwer, und nahm die Richtung
zum Onkel, von dem ich nichts weiter vernommen hatte. Eben wollte ich
aus der Schonung schlüpfen, als ich sah, wie hinter Onkel Pofke, der
noch immer qualmend im Moose saß, ein Mann in Jägertracht geschlichen
kam. Kuckuck, war das nicht Herr von Beeskow? Wenn man vom Teufel
spricht, dann kommt er!

Jetzt hatte auch Onkel Pofke was gemerkt und sprang auf. Die
Erinnerung an seine Soldatenzeit beherrschte ihn automatisch, daß er
seine Amtsmütze aufstülpte und stramm stand vor Herrn von Beeskow,
der eine Jagdflinte hielt, während sein Hund den Onkel verächtlich
beschnupperte. „Wer sind Sie?“ fragte streng der Herr des Waldes.
„Ick heiße Pofke, Jastwirt zur Preißischen Krone -- un heite vatret
ick den Amtsdiena Bolle von’t Amt Friedrichshagen.“ -- „Und was
machen Sie in meinem Forst?“ fuhr scharf der Herr fort -- „was? Sie
qualmen gar? Das kann ja Waldbrand stiften!“ -- „Enschullejen Herr
Baron! Aus Jesundheitsricksichten -- ick neije zu Fieba, wenn mir die
Micken stechen!“ -- „Dummes Zeug! Wie kommen Sie mir vor? Was führt
Sie hierher?“ -- „Ick habe eenen Staatsjefangenen!“ -- „Wo denn?“ --
Verlegen sah sich der Onkel um, und wie ihn der Grundherr anfuhr:
„Keine Flausen!“, rief er kläglich zur Schonung herüber: „Herr -- Dok
-- ta?“

Zwischen Farnen und Kuscheln hielt ich mich gut versteckt. „Wo haben
Sie Ihren Staatsgefangenen?“ -- „Ach, der sucht sich bloß een Jericht
Jrienlinge -- die eßt er so jerne.“ -- „Mensch, Sie sind wohl nicht
ganz richtig, wie?“ -- Und von neuem rief der Onkel: „Herr -- Dok --
ta? Ein Herr -- fracht -- nach Sie!“ -- „Warum rufen Sie immer nach dem
Doktor?“ meinte Herr von Beeskow; und etwas milder: „Fühlen Sie sich
krank?“ -- „Det is keen Dokta fier Krankheiten,“ belehrte der Onkel
-- „det is ’n Villesoff!“ -- „+Sie+ scheinen mir ein Villesoff
zu sein!“ -- „Nee doch, Herr Baron! Et hat allens seine Richtigkeet
-- wat meine Dochta is, die meent freilich, et wäre een Dokta fier’s
Vieh -- aber det stimmt nich -- er is ’n Doktavillesoff von die
freie Jemeinde -- det sollen allens Rote sind.“ -- „Na und weshalb
ist er Staatsgefangener?“ -- „Uff Befehl des Herrn Kultesministas
fier Medizinanjelejenheeten.“ -- „Ach, quatschen Se nich!“ -- „Jewiß
doch, Herr Baron! Der Doktavillesoff jloobt an keen’ dreieinichten
Jott nich!“ -- Herr von Beeskow war fassungslos: „Ja was bedeutet das
alles? Treiben sich hier in meinem Wald entsprungene Narrenhäusler rum,
was? Holen Sie mal Ihren Doktorphilosophen! Ist hier wirklich jemand
versteckt? Doch nicht in der Schonung? Na das fehlte noch!“

Jetzt durfte ich nicht mehr in der Nähe bleiben -- der Hund hätte mich
ausgespürt. Ich tat einige Schritte rückwärts, ging dann geschwinder,
das Knacken von Ästen vermeidend. Als ich die Schonung durchquert
hatte, wandte ich mich nach Heidemühle und war, den Kiefernforst
verlassend, wieder auf dem brachen Acker mit den Königskerzen.

Da auf einmal Peitschenknall und Gänseschrei. Ich dachte gleich:
der Förster hat seinen Jänter! Und richtig! Bei Gänsen, die unter
Flügelschlagen enteilten, balgte sich der Förster mit dem Gänserich.
Die Linke hielt einen Jänterflügel an den äußersten Federn, die Rechte
schwang die Peitsche. Der starke Jänter schlug kreischend mit dem
andern Flügel, und die Aufgeregten drehten sich umeinander wie ein
tanzendes Paar. „Helfen Sie!“ schrie der Förster, als ich herzulief.
„Den andern Flügel packen!“ Ich bekam einen Hieb ans Bein, packte aber
zu und hielt nun den andern Flügel. Der Förster schimpfte: „Kreatur!
Karnalje! Komm du bloß nach Haus! Halten Se feste, Herr!“ Der Jänter
rannte und suchte uns die Fittiche zu entreißen. Wir aber hielten
fest, als ob wir einen störrischen Gassenjungen, der ausgerissen,
heim zu transportieren hätten. Mit empörtem Gickgack schwebte der
Widerspenstige zwischen uns beiden, die wir seine ausgebreiteten
Fittiche straff zogen. So schleiften wir den Verhafteten im Eilschritt
nach Heidemühle.

Ein wunderliches Bild. Und das zog nun auf einmal vor Herrn von Beeskow
vorüber und vor dem Onkel. Am Waldessaum standen sie, Pofke riß Mund
und Augen auf, Herr von Beeskow krümmte sich vor Lachen. Unbeirrt
deichselten wir das Federvieh an der Mühle und am Wehr vorbei. Wie wir
auf der Moorwiese waren, sagte der Förster: „Nu lassen Se man los,
Herr! Nu kann er nich mehr entwischen, un mürbe is er ooch!“ Ja, mürbe
waren wir alle drei; schnaufend blieben wir Männer stehen und wischten
den Schweiß. Der losgelassene Jänter torkelte verwirrt. „Nu haben wir
jewonnen -- nu folcht er schon de Peitsche! Un nu kommen Se man mit int
Forsthaus, Herr! Trinken wir ne Weiße auf die dolle Jachd.“ Den nunmehr
kirren Gänserich trieb er vor sich her -- ich ging mit.

Eine Strecke hinter mir kam Onkel Pofke -- Herr von Beeskow war
zurückgeblieben. „Herr Dok -- -- ta!“ Ich erwartete ihn. Mit dem
Ausdruck der Bestürzung sah er mich an: „Wat nu?“ -- „Wieso denn? Das
ist doch kein Beinbruch, und schön war’s über alle Maßen -- sehn Sie
mal meine Grünlinge!“ -- „Teier sinn die erkooft!“ seufzte der Onkel
-- „meine Schank-Konzession steht uffs Spiel!“ -- „Ach was! Wegen der
Zigarre stellt dieser konservative Mann keinen Träger einer Amtsmütze
bloß.

Sie haben hoffentlich nicht eingestanden, daß ich in der Schonung
war?“ -- „Ick habe bloß jesacht, det Se so’ne Art Naturdokta sinn uff
Jrienlinge. Nu meente er, Se seien woll nich janz richtich in’n Kopp.“
-- „Recht liebenswürdig! Ihnen hat er übrigens dasselbe zugetraut --
ich habe alles gehört, kauerte ja dicht bei Ihnen, bis er die Schonung
ins Auge faßte. Da freilich dachte ich: jetzt marsch marsch! er hetzt
den Hund!“ -- „Wollt’ er ooch! Un ick hatte bandijen Bammel, wie der
Baron saachte: Wenn Se den Mann in meine Schonung gelassen haben,
denn zeige ick Ihnen an, denn hat’t geschnappt!“ -- „Es hat aber
+nicht+ geschnappt. Die Jäntergeschichte hat ihm doch mein Alibi
nachgewiesen.“ -- „Na ja, det stimmt! Un da war er ja ooch versehnt. Un
wissen Se, weshalb? Weil er vor Lachen bald de Platze jekricht hat --
wie Sie mit den Jänter anjesaust kamen. Ick rufe: det is e’ -- det is
mein Dokta-Villosoff! Der Baron zeicht bloß mit den Finger uff Ihnen
-- wie Se den Jänter so bei’s Schlafittchen halten, un det Vieh hippt
so zappelig zwischen Sie Beede, un trötet so albern durch seine lange
Jurgel, un der Ferster knallt mit de olle Peitsche, un det Netz mit de
Jrienlinge bammelt vor Ihre Beene. Un der Baron wiehert: Dokta fier’s
Vieh! Doktavillesoff ... Et war aber ooch zum Piepen!“

„Na also!“ sagte ich, „da muß der Baron eigentlich noch was ausgeben
für den Spaß. Jedenfalls ist die Geschichte allerseits befriedigend
abgelaufen. Ich habe die prächtige Wilderei -- sehn Sie mal die schwere
Masse! Der Förster hat seinen Jänter! Der Baron den unbezahlbaren Spaß
...“ -- „Un ick?“ meinte Onkel Pofke mit wehmütigem Vorwurf. -- „Sie
haben das schöne Bewußtsein, einem Gefangenen ein paar glückliche
Stunden verschafft zu haben. Das dankt er Ihnen -- und sorgt schon
dafür, daß kein peinliches Nachspiel kommt. Das Nachspiel wird nichts
andres sein, als ein köstlich duftendes Abendessen. Zunächst aber
ein guter Trunk beim Krummendammer Förster. Der hat auf all den
komischen Schrecken zu Weißbier eingeladen -- ich lechze schon nach
diesem märkischen Sekt -- und nun heißt es nicht: Sibirien in Preußen,
sondern: Champagne in der Mark.“




Das Preußenherz


Der anbrechende Sonntag versprach wieder Sonnenwetter, und ich nahm mir
vor, heute in Begleitung meiner Frau und womöglich eines Freundes zu
spazieren.

Aus dem Gasthof kam Onkel Pofke und trug einen Stuhl. Neben die Pumpe
setzte er ihn, nahm Platz und knüpfte ein Tischtuch vor seinen Hals.
„Pechhengst!“ rief er zur Penne herauf. Der Bursche mit der hohen
Stimme, den ich gestern auf der Kegelbahn beobachtet, kam herunter und
machte vor Onkeln einen scherzhaften Bückling. Dann seifte er ihm das
untere Gesicht ein, schwang wie ein Bartkünstler das Rasiermesser,
hielt mit der Linken leicht die Nase des Onkels und schabte Oberlippe
und Wangen. Schließlich wurde Wasser in eine Schüssel gepumpt und der
Rasierte abgewaschen.

Bald nach diesem Genrebilde sah ich Pofken im Sonntagsstaat und
überlegte, aus welchem Anlaß er zum schwarzen Bratenrock noch die weiße
Binde angetan habe und gar seinen Zylinder glätte. Auch der Amtsdiener
erschien im vollen Wichs. Mit dem burgunderroten Kragen, den funkelnden
Knöpfen und dem lackierten Extrahelm sah er wie ein Hauptmann außer
Dienst aus, der zu Kaisers Geburtstag den bunten Rock hervorgeholt hat.

„Na, Herr Hauptmann von Bolle?“ sagte ich, wie er schneidig in meine
Zelle trat, „Sie wollen wohl in die Kirche?“ -- „I wo! Nach Balin! Un
ick wollte Ihnen bloß fragen, wann heite Ihr Besuch kommt. Die Sache
is nämlich die: ma missen zu meine Baliner Tante, Jeburtstach hat se
-- un denn will se immer de janze Familie um sich haben, die jute
Seele. Meine Frau muß ooch mit -- un die Kindabagage. Sojar wat der
Eenjährich-Freiwillije is.“ -- So nannte Bolle den „kleenen Matz“, weil
er ein Jahr zählte und -- nach des Vaters mysteriöser Behauptung --
freiwillig gekommen war.

„Na und? Sie lassen Ihren Gefangenen doch nicht hilflos allein? Ihr
Onkel scheint ja auch Ausgehtag zu haben.“ Der Amtsdiener nickte:
„Onkel kommt mit! Um Uhre zehne ziehn ma los. Onkel will in Balin wat
koofen, da muß ick bei sind ...“ -- „Kaufen?“ fragte ich nicht ohne
Neugier. -- „Na ja! Et is nämlich ein Jeldschrank ..“ „Unsinn! Was
braucht ein kleiner Gastwirt einen Geldschrank?“ -- „Onkel is nich
bloß Jastwirt, ooch Pfandleiha un Althändla. Un det Jeschäft floriert
so sachteken. Wat aber Wertsachen sinn, die missen feiasicha vawahrt
werden. Ibrigens is der Jeldschrank een Jelegenheitskoof. Wat der
kost’, kricht Onkel alle Dage mit Kußhand retur.“

„Na, das wären ja Ihre eigenen Angelegenheiten. Mich interessiert bloß,
wer Sie hier vertreten soll. Meine Frau muß doch eingelassen werden,
und Gäste kommen sicher schon vormittags.“ Bolle nickte: „Dadrum ebens
will ick mit Sie reden. Rund heraus, ick weeß keenen, den ick die
Jefängnisschlissel anvertrauen mechte. Denn wat die Schmalzjuste is,
die hat in de Wirtschaft zu duhn, schickt sich woll ooch nich recht
fier den Jefängnisdienst. Wissen denn nu Herr Dokta keenen Auswech
nich?“

Belustigt wies ich nach der offenen Tür: „+Das+ da ist der Ausweg!
Geben Sie doch einfach +mir+ die Gefängnisschlüssel! Mißbrauch
treib ich nicht. Bloß daß ich meine Gäste einlassen kann!“ Prüfend sah
mir Bolle in die Augen; er schwankte zwischen Mißtrauen und Zuversicht:
„Hm! ick ha’ schon selba dran jedacht -- und hab ooch Vertrauen zu Sie.
Denn wenn Se ausreißen +wollten+ ...“ -- „Ausreißen? Wozu denn?
Freiwillig bin ich hergekommen, und es geht mir ja auch leidlich gut
hier.“ Befriedigt nickte Bolle: „Sollt ick ooch meenen! Na abjemacht
und Streisand druf! Die Schlissel bleiben also in Ihren Jewahrsam -- un
nu kann ’k mir woll empfehlen ...“

„Erst möchte ich wissen, wer heute Nachmittag mit mir spazieren
geht. Mein Ausgehrecht lass’ ich mir nicht verkümmern. Bei diesem
herrlichen Wetter schon gar nicht.“ Der Amtsdiener, etwas verlegen,
meinte nach etlichem Besinnen: „Bei die Tante sind ma bloß zum Diner
-- wissen Se, in de Brauerei Feffaberch, Uhre zwelfe. Un so kennen ma
um drei retur sind. Aber offen jestanden, will’k nachmittachs selber
eenen Spazierjang machen, mit meine Familie. Ick dachte so nach de
Rawensteina Miehle. Da jiebt et Kaffeeklatsch mit frische Fannkuchen.“
Dies Vergnügen, auf das sie sich schon gespitzt hatten, mochte ich
Bolles natürlich nicht nehmen. Doch ich wußte Rat: „Vorschlag zur Güte!
Sie nehmen mich einfach +mit+ nach Rawenstein!“ Bolle blickte
unschlüssig, meinte aber schließlich: „Scheeneken, scheeneken!“ Dann
führte er mich zur Kerkertür und steckte den Schlüssel nach innen:
„Riejeln Se eenfach zu! Un wenn Besuch kommt, heern Se ja de Klingel.“
Ich wünschte viel Vergnügen und sah Bolle bald losziehn, nebst seiner
geputzten Frau, die den weißgekleideten Einjährig-Freiwilligen trug.
Dem Knaben Anton folgte Onkel Pofke mit seinem hohen Zylinder.

Keine halbe Stunde nach Abzug der Familie, und es ging die Glocke.
Durchs Fenster sah ich den Vorsitzenden der freireligiösen Gemeinde.
Sein Gesicht, gewöhnlich von unerschütterlichem Ernste, hatte einen
besonders düstern Ausdruck. Wie er so wartend zu Boden starrte, das
Kinn mit dem ergrauenden Knebelbart auf die Brust gesenkt, sah er aus
wie jemand, der am offenen Grabe eine Rede halten soll. Ordentlich leid
tat er mir, ermunternd rief ich: „Heda Friederici!“

Er fuhr zusammen und blickte sich nach der Stimme um. Wie er mich
hinter meinem Fensterlein erkannte, errötete er. „Friederici! Hier
bin ich! Kommen Sie doch!“ Er tat einen scheuen Wink, als wolle er
andeuten: Auf Unterredungen in so formloser Weise darf man sich nicht
einlassen! Und zog wieder die Glocke. „Der Amtsdiener is ja nicht zu
Hause!“ rief ich, -- „is ausgegangen, mit der ganzen Familie! Keiner
sonst is da, als höchstens die Schmalzjuste. Aber die hat in der Kneipe
zu tun. Ich bin heute Herr im Hause. Kommen Se man zu mir ’rein!“

Unsicher hatte er sich mir zugewandt. Ich ging in den Gefängnisflur,
schob den Eisenriegel von der Tür und trat munter auf den Hof, dem
Besucher die Hand entgegengestreckt. Außer Fassung hielt er starr die
Arme vor, wie zur Abwehr: „Aber wa? was is denn +das+?“ Lachend
ergriff ich seinen Arm und zog ihn in meine Zelle.

Als narre ihn ein Traum, sah er sich um und schüttelte empört den
Kopf: „Wa--was sind denn das für +Zustände+!“ -- „Was haben Sie,
Friederici? Dieser grollende Blick? Zunächst nehmen Se mal Platz -- un
schönguten Morgen!“ Zerstreut erwiderte er den Gruß, setzte sich aber
nicht und fuhr fort zu eifern: „Sie wundern sich noch? Na ich danke!
Sie werden doch zugeben, sowas sind keine geordneten Verhältnisse!“

„Ah so! In den Höfen der Gefängnisanstalt Moabit habe ich Posten
gestanden als Einjähriger. Man muß scharf aufpassen, sogar auf
Schießen gefaßt sein. Unerlaubtes Geplauder streng verboten. Daran
dachten Sie wohl, Friederici? Na, leugnen Sie nicht! Als Sie mir
abwinkten, besorgten Sie, von einem Posten eine blaue Bohne in den Leib
zu kriegen. Keine Bange! Wir sind hier nicht in Moabit, mein verwöhnter
Berliner! Hier sind Sie auf dem Dorfe!“ -- „Aber doch in Preußen!“
trumpfte er auf. -- „O natürlich! Unter den Fittichen des Preußischen
Adlers. Aber was wollen Sie? Die Verhältnisse hier sind simpel. Hier
gibts keine Ablösung für den Gefängniswärter. Das ist ein einziger
Amtsdiener, und der hat noch sonst eine Menge Geschäfte. Und ist doch
schließlich +auch+ ’n Mensch, der mal seinen Sonntag haben will ...“

„Er darf aber seinen Gefangenen nicht allein lassen“ -- bullerte
Friederici -- „bei offener Tür! Da hört doch die Weltjeschichte auf!“
-- „Sagen wir lieber: die Preußengeschichte! Seien Sie friedlich!
Der Amtsdiener ist mit Frau und Kindern nach Berlin -- seine Tante
hat Geburtstag, die ganze Familie ist zu Mittag eingeladen. Rührt
Sie das nicht? Sie sind doch +auch+ verheirateter Mann mit Frau
und Kindern. Na, und nun lächeln Se mal, Sie strenger Cato! Sie
Preußenherz!“ -- „Ach was, Preußenherz! Auf das Preußentum poche
ich bloß insofern, als es auf straffe Ordnung hält.“ -- „O Sanktus
Bürokratius!“ entgegnete ich mit Augenaufschlag, „nun geht dein
Gespenst gar bei den Freireligiösen um!“ Friederici verwahrte sich:
„Die Freireligiösen lassen Sie lieber aus dem Spiel! Die sollten hier
mal Zeuge sein! Gestern Abend hatten wir Sitzung. Ein Andrang, sage ich
Ihnen -- und alles in wilder Bewegung. Über den Kultusminister ging es
her, daß ich schon dachte: jetzt bauen sie in der Rosenthalerstraße
eine Barrikade! Oh da hätten Sie hören sollen, wie alles Sie bedauerte!
Wie man die trostlose Lage des Gefangenen ausmalte! Im düstern,
feuchten Kerker sitzt er, hinter Eisensprossen, dicken Riegeln ...“
-- Ich unterbrach ihn: „Wollen Sie sich gefälligst überzeugen? hier
sind in der Tat Eisensprossen -- und den dicken Riegel haben Sie
bemerken können, als ich aufriegelte ...“ -- „Ja aufriegelte!“ spottete
Friederici -- „wenn +das+ unsere Freireligiösen wüßten! Die
haben mir noch auf die Seele gebunden, daß ich vor keinem Hindernis
zurückschrecken soll, um nur ja Zutritt zum armen Gefangenen zu finden.
Man bildet sich ein, Sie schmachten in grausamer Verlassenheit. Der
gefühlvolle Papa Falk hat sogar das Lied angestimmt: Zu Mantua in
Banden ...“ Scherzhaft zog ich das Taschentuch: „Ach Jotte doch!
Ich bin aufrichtig -- muß bloß lächeln, weil hier wieder mal die
Wirklichkeit abweicht von der Phantasieschablone. Aber nun trösten
Sie die mitleidigen Seelen! Erzählen Sie, wie Sie mich gefunden haben
...“ -- „Niemals!“ protestierte Friederici, „wenn ich ihnen +das+
erzähle, gibt es einen kalten Wasserstrahl auf die Begeisterung. Man
steinigt mich -- Ihrer kann man ja nicht habhaft werden.“ -- „Aber was
hat man denn gegen mich?“ -- „Na, ich danke, einen Märtyrer stellt
man sich doch anders vor!“ -- „Ach so! Sie möchten einen Märtyrer
haben? Im Sinne der düsteren Kulissenromantik! Und nun enttäusche
ich Sie. Bin eben kein blutender Glaubensheld, kein Giordano Bruno!
Aber +freuen+ wir uns doch, daß unser Sittenklima milder ist als
dazumal! Ein Mensch fühlt das hier, ein lebendiger! Und lächelt über
das Ansinnen, daß er sich foltern lassen soll, damit seine Partei einen
Märtyrer hat ...“

„So ist es nicht gemeint!“ versetzte Friederici versöhnlich. „Ich
wollte bloß sagen: unsere Gemeinde war gestern noch stolz auf Ihr
Martyrium -- und nun soll sie morgen lange Gesichter machen? Darin
liegt doch was Fatales!“ -- „Fatal für solche, die nicht Humor genug
haben -- und die nicht in erster Linie das Leben gelten lassen,
sondern ihre Schablone vom Leben. Die Schablone ist ein Gefängnis, das
sich die Menschen selber zurecht machen. Schon des Kindes Innenleben
wächst in lauter Käfige ein. Kein Wunder, wenn später alles Denken,
Fühlen, Handeln Schablone bleibt. +Ich+ habe wenigstens den
+Schlüssel+ zu meinem Gefängnis und spaziere gemütlich hinaus.
Aber der Gefängnisphilister wird +verwirrt+, wenn er ausschlüpfen
darf -- wie ein Kanarienvogel, der immer nur im Käfig steckte und sich
eingewöhnt hat.“ -- „Überheben Sie sich nicht!“ meinte verdrossen mein
Besucher. -- „Fällt mir nicht ein!“ gab ich zurück. „Auch ich gehöre
ja der großen Zivilisationsfabrik an. Meine ganze Überhebung besteht
darin, daß ich gewisse Dinge überschaue. Und nun schauen auch Sie,
guter Freund! Schauen Sie hier das Leben! Es ist +immer+ anders
als unsere Schablone -- ist immer einzig. Es spottet jeden Käfigs.
Der Zivilisationsphilister glaubt nicht an das Leben, er glaubt an
sein Reglement. Hier könnten die Vertreter des Reglements was lernen!
Der Kultusminister und seine Räte. Und auch Sie, braves Preußenherz.
Kränken Sie sich nicht, weil ich Sie so nenne! Ich weiß, wie
pflichttreu Sie sind! Aber nun lassen Sie’s gut sein! Mäßigen Sie mal
Ihren Korrektheitseifer! Schon schlüpft ein schüchternes Lächeln durch
die Eisensprossen Ihres Ernstes. Jetzt gefallen Sie mir. Und jetzt
lassen Sie uns fidel sein im fidelen Gefängnis! Tun Sie mir mit einem
Gläschen Bescheid! Mein Amtsdiener delektiert sich an Pfefferberger
Bier. Halten wir uns an diese Pulle Wermut! Bittersüß ist der Trank --
wie mein Gefängnis! Bittersüß, wie der Humor -- und wie eigentlich das
ganze Leben.“




Der Biedermaxe


Der freireligiöse Führer hatte sich verabschiedet. Auf dem Hofe
erschien meine Frau nebst Frau Pape, die den Korb mit meinem
Mittagessen trug. Lachend wurde ich begrüßt, wie ich so ganz ohne
Aufseher auf den Hof trat. Die Seltsamkeit meines Gefängnisses wurde
schon wie eine Selbstverständlichkeit hingenommen. Beim Verzehren des
Sonntagsbratens kündete ich an, wir würden heute einen Waldspaziergang
machen.

„Da ist wer! Vielleicht Besuch für dich!“ Durchs Fenster sah ich einen
kurzen Mann; nach der Kleidung hätte man ihn für einen Liebhaber des
Segelsports halten können; doch das fahle Gesicht, die schwammige
Gestalt verriet den Stuben- und Wirtshaushocker. Sein marineblauer
Anzug und die Seemannsmütze waren wohl Renommisterei. In die Brust
geworfen, den Kopf hoch, die Augen rollend, den dicken Schnurrbart
forsch gesträubt, suchte er sich das Ansehen eines Kapitäns oder
ehemaligen Militärs zu geben. Etwas lächerlich Widerwärtiges war an
ihm, als wäre er die Karikatur eines Feldwebels, der Kasernenstuben
inspiziert und seine Augen wie ein Luchs umhergehen läßt,
Unregelmäßigkeiten zu entdecken. Der Mann mit der Kapitänsmütze wandte
sich bald hier-, bald dorthin, drehte den Kopf zur Amtsdienerglocke,
zur Regentonne, ging hastigen Schrittes zur Kegelbahn, wieder zur
Pumpe. Alles geschah mit ruckartigen Bewegungen und einer hochmütig
strengen Miene. Sein Aufmerken war nun mißtrauisch auf den Gefängnisbau
gerichtet. Hinter den Eisensprossen mußte er zwei Gesichter bemerkt
haben; denn plötzlich starrte er durchbohrenden Auges und tat ein paar
stramme Schritte nach meinem Fenster. Wie er die Glotzaugen aufriß, um
seinem Gesicht einen majestätischen Ausdruck zu geben, erinnerte er an
den Frosch der Fabel, der sich aufblies, bis er platzte.

Der Mann mit der Kapitänsmütze platzte nun freilich nicht, doch
explodierte seine Geschwollenheit in einem Hohngelächter: „Hohoho!“
Und wie man jemand verächtlich von Kopf bis zu den Füßen mißt, wandte
er das Gesicht schadenfroh vom Kerkerfenster niederwärts zur Müllgrube
und spie herausfordernd aus: „Pfui Deibel!“ Auf dem Absatz umgewendet,
stolzierte er, wie nach einer Heldentat, zur Straßenpforte. Ehe er sie
hinter sich zumachte, wiederholte er sein hohles Gelächter.

Was war das? Mit dieser stummen Frage blickte ich meine Frau an, sie
mich. „Das muß ja ein niederträchtiger Kerl sein,“ sagte sie, „er
wollte dich verhöhnen.“ Ich wiegte langsam den Kopf: „Was es doch für
Menschen gibt! Das heißt, Menschen sollte man sie gar nicht nennen,
sondern Leute.“ -- „Kennst du ihn?“ forschte meine Frau, „hast du ihm
was getan?“ -- „Nicht daß ich wüßte! Keine Ahnung, wer er ist! Wohl ein
Spießer, der im Käseblättchen gelesen hat, daß ich hier Gefangener bin.
Aus Neugier schnüffelt er nun hier herum -- oder will sich dicke tun
-- weil er nicht ist, wie so ein Lump hinter Schloß und Riegel. Aber
lassen wir den aufgeblasenen Frosch! Wir wollen lieber den wundervollen
Herbsttag genießen. Ich strecke mich noch ein Stündchen hin und lese im
Chamisso. Du könntest derweilen zu Spornreutters gehn und sie einladen,
den Spaziergang mitzumachen. Aber pünktlich drei Uhr hier sein!“

Meine Frau ging -- ich versank in Nachdenken über die menschliche
Natur. O Mensch, du kleiner Gernegroß! Wie komisch, wenn du neben
deinesgleichen das Figürchen um Strohhalms Breite höher recken
möchtest! Und wie häßlich, wenn du den andern duckst, bloß damit du
dir groß vorkommen kannst, und wenn du ihn unter deine Füße zwingen
möchtest. Schadenfreude ist des Menschen schlimmste Blamage.

Sieh da, die Familie Bolle war zurück! Ich verließ mein Gefängnis
und wiederholte dem Amtsdiener, daß ich nun den Spaziergang machen
möchte. Er murrte, er sei müde vom Geburtstag, müsse mindestens eine
Stunde schlafen. „Aber Mann!“ wandte Frau Bolle ein, „denn is ja die
scheene Sonne wech!“ Borstig erwiderte er: „Komm du mich nich mang die
Amtsjeschäfte! Ick nehme eich ieberhaupt nich mit.“ -- „Friedlich, Herr
Bolle! Ich mache Ihnen das Zugeständnis, Sie legen sich jetzt aufs Ohr,
aber nur eine halbe Stunde! Schlummern Se mal etwas rascher als sonst,
hernach sind Sie besser ausgeruht, als nach langem Schnarchen. Bedenken
Sie: Frische Pfannkuchen zum Kaffee!“ Es blieb ihm nichts übrig, als
sich zu fügen, zumal seine Frau energisch geltend machte, bei dem
milden Wetter müsse sie mit den Kindern ins Freie.

Bald kam meine Frau mit dem jungen Ehepaar Spornreutter, das in
Friedrichshagen wohnte. Spornreutter, Herausgeber einer Zeitschrift,
hatte viel Sinn für Landschaft, für Kunst und künstlerische
Volksbildung, wie er denn in der Volksbühne mein wackerer Helfer
war. Seine Frau, stillvergnügt, eine zierliche Blondine von der
Waterkant. Im Hofe richtete Frau Bolle nebst dem Knaben Anton den
Kinderwagen für den Einjährig-Freiwilligen her. Als der Amtsdiener
seine Verschlafenheit überwunden hatte, zog unsere Karawane los. Ich
mit Spornreutter voran, dann unsere Frauen, drittens Anton, der den
Kinderwagen schob, zuletzt das Ehepaar Bolle.

Der Herbstnachmittag war goldig und süß wie ein vollkommener Apfel.
Nach Westen gesunken, hauchte die Sonne noch warm über Stoppelfeld
und vergilbtes Kartoffelkraut. Ein Herbstfaden schwamm wie blitzendes
Silber in der stillen Luft. Nun tauchten wir in den Kiefernforst,
der sich meilenweit erstreckt. Auf verschwiegenen Gestellwegen ging
es gemächlich, zuweilen pfadlos über Moospolster. Weite Strecken
waren von Adlerfarn bedeckt, die gefiederten Blattwedel vergilbt.
Teppiche von Preißelbeerkraut, wildverrankte Brombeerhecken. Hin und
wieder leuchtete aus dem Moose ein roter Fliegenpilz. „Au kuck mal,
Rehe!“ rief Anton. Die geschmeidigen Tiere hüpften mit langen Sätzen
über die Farne, zwischen den Stämmen blinkte der weiße Fleck am
hellbraunen Hinterteil, dann waren sie entschwunden. Nun raschelt’s
an einer Kiefer: Eichhörnchen rennt fauchend die Baumborke hinan,
hüpft von Wipfel zu Wipfel. Der Wald lichtet sich -- eine Schonung.
Über die niedrigen Nadelbüsche ragen vereinzelte Riesen, knorrig, die
Wipfel gebreitet. Schon verklärt sich der Himmel, und rötlichgolden
fließt der Sonnenduft schräg über den Forst. Kiefernäste erglühen.
Hoch im Äther zieht drohende Kreise der Habicht -- in der Schonung
hat er eine Kaninchensippe erspäht. Auf das Kreischen des Räubers
antwortet zankend der Häher. Dann trommelt ein Specht mit dem Schnabel
seinen Borkenwirbel. Sonstige Vogelstimmen sind selten, nur daß
schleppenden Flugs eine Krähe krächzt oder winzige Meisen, um die roten
Beerendolden der Eberesche schlüpfend, wie Mäuschen piepen. Entferntem
Meeresrauschen ähnlich, wogt ein Seufzen durch die Nadelwipfel,
die sich kaum regen. So recht für Träumer ist dieser märkische
Kiefernforst. In Grübelei versinkt der Wanderer, seine ernste Stimmung
wird durch die einförmige Öde zusammengehalten.

Erst als wir auf dem üblichen Wege nach Rawenstein waren, wo noch
andere Leute spazierten, kamen wir ins Geplauder. Ich erzählte von dem
sonderbaren Gast, der heute den Gefängnishof besucht hatte, und dann
blieben wir stehn, um Bolle darüber zu befragen. Gar nicht erbaut von
meinem Bericht, wiegte er den Kopf: „Au Backe, det war der Biedamaxe!“
Wir lachten über den Namen. „Erzählen Se, Bolle, was für einer das
ist!“ -- „Kommissionär schimpft e’ sich, un eene Baustelle hat er am
See, wo die Holzbaracke steht. Dadrinne lauert e’ uff Kooflustije, wo
e’ rinlejen kann. Leben dut e’ von’t Jeldjeschäft. Wissen Se, meine
Herren, wenn ick heite, un hätte +Kapetal+, ick machte +ooch+
Jeldjeschäfte. Det Jeldjeschäft ...“ -- „Schon gut! Aber weshalb nennen
Sie Ihren Kommissionär Biedermaxe?“ -- „Den Namen hat e’, weil er immer
den Biedermann rausbeißen dut. Wie se mal Kaisers Jeburtstach in de
Brauerei jefeiert haben, erhebt sich unsa Maxe un redet uff de deitsche
Treie, un zum Schluß hebt e’ drei Finger der rechten Hand zum Schwur,
rollte seine Jlotzoogen un jröblt:

    „Der Schwur erschallt, de Woge rinnt,
    De Fahnens flattahn hoch im Wind,
    Der Deitsche, bieda, fromm un stark,
    Beschirmt de heilje Landesmark.“

Wir lachten: „Aha, seitdem nennen Sie ihn Biedermaxe.“ -- „Ja, un wer
ihm kennt, hat nich jern wat zu dun mit ihn. Wenn er heite unsan Hof
inspiziert hat, is det bloß, weil e’ wat ausschniffeln will, um Ihnen
zu denungzian oder mir. Im Denungzian is der Biedamaxe stark. Den
Briefdräjer hat er denungziat, weil der den Briefkasten mal etwas zu
frieh abjeholen hat; un eenen Bahnschaffner, weil der vajessen hatte,
ihn det Billet abzunehmen. Dabei jeheert sich doch Nachsicht fier
Beamte, wo ohnehin ihr Dienst schwer jenuch is. Un wissen Se, wat der
Biedamaxe saacht, wenn man ihm zur Rede stellt? Denn wirft e’ sich in
de Brust un schnauzt: Jeder deitsche Mann von Bildung hat darieber
zu wachen, det die unterjeordneten Orjane in jebührende Ordnung
funksjenian.“ -- „Und ist das aufrichtig gemeint?“ -- Bolle antwortete:
„Bei seine Jeldgeschäfte sind die jebührende Ordnung zwanzig Prozent.
Selbstmurmelnd!“

Eine Moorwiese durchquerte den Kiefernforst. Einst mußte hier ein See
gewesen sein, der Wasserrest schlich als Fließ durch ein schwarzes
Bett. Zum Teiche gestaut, hatte das Wasser die Rawensteiner Mühle
getrieben; seit aber das Mühlrad nichts mehr einbrachte, hatte sich der
Pächter auf die Gastwirtschaft verlegt. Ein Garten mit alten Erlen,
Kuhställe, eine Scheune mit Storchnest, Taubenhaus und gurrende Tauben,
Hühner und Enten, schilfumkränzt der Mühlteich, ein Ausblick auf
Moorwiesen und Kiefern.

Da es bei dem aufsteigenden Abenddunst nicht ratsam schien, im
Freien zu sitzen, begaben wir uns in die große Gaststube. Nur noch
ein Mitteltisch war frei, und hier nahmen wir Platz, obwohl es nicht
angenehm war, so auf dem Präsentierteller zu sitzen. Bald stand vor uns
eine gewaltige Kaffeekanne und eine Schüssel mit Pfannkuchen. Meine
Frau füllte die Tassen und lud ein, zuzugreifen. War nun das nicht
ein gemütliches Bild? Der Gefangene mit seinem Kerkermeister Kaffee
schlürfend im ländlichen Wirtshause? Die Frauen schmausen Kuchen,
der Polizeisprößling im Kinderwagen saugt an seiner Milchflasche. Wir
plaudern harmlos, als ob es in der Welt nichts Schlimmes gäbe, nichts
Verbotenes und keine Strafen! Als wäre das Friedensreich gekommen, wo
neben dem Löwen das Lamm ruht.

Je argloser wir uns gaben, desto mehr wurden die Blicke der übrigen
Gäste kalt und finster. Die Frau eines Drogenhändlers, nebst Töchtern
und Schwiegersöhnen wie eine Gluckhenne, musterte entrüstet unsern
Tisch und war im Einvernehmen mit einem Sattlermeister, der den Kopf
schüttelte, als wolle er mit Hebbels Meister Anton sagen: „Ich verstehe
die Welt nicht mehr!“ Wäre die spiritistische Lehre, daß konzentrierte
Seelenkräfte auch im Schweigen die Menschen bestimmen und sogar Tische
rücken können, zutreffend gewesen, das einmütige Aufbegehren der
Spießergesellschaft hätte den frechen Gefangenen und seinen frivolen
Kerkermeister nebst dem ganzen Mitteltische jählings hinausbefördert.
So aber blieben wir mit der Seßhaftigkeit materieller Wesen, bis
all das Unsere verzehrt war. Als dann Frau Bolle den Kinderwagen
hinausschob und ihr Mann, die Hand an den blanken Helm gelegt, seinen
Schutzbefohlenen den Vortritt ließ, brach die verhaltene Empörung
hinter uns los: „Nee, so wat! Haste Worte?“ -- „Haben Sie gehört?“
meinte Spornreutter, und ich entgegnete: „Der Biedermaxe geht um!“

Draußen war es dunkel und die Gegend des Moors derart nebelig, daß kaum
noch Dämmerlicht vom Himmel kam. Der Knabe Anton hatte die Führung,
hinter ihm schob der Amtsdiener den Kinderwagen. Ich verbiß mich
mit Spornreutter in ein grimmes Gespräch: „Haben diese Bürgersleute
denn nicht die mindeste Solidarität mit mir? Ich bin doch nicht
gefangen, weil ich ihr Eigentum oder sonst ihre Lebensinteressen
geschädigt habe.“ Spornreutter unterbrach: „Erstens haben Sie das
doch! Ungläubigkeit ärgert die Leute. Zweitens ist es ihnen schnuppe,
aus welchem Grunde Sie dem Gefängnis verfallen sind. Sie sind
jedenfalls ein polizeiwidriges Subjekt, Sie müssen sitzen -- das
genügt! Da Sie also hinter Schloß und Riegel gehören, so geraten
diese Spießer aus dem Häuschen über das Schauspiel, das sich eben
unter ihren Augen abgespielt hat. Statt im Kerker zu büßen, macht der
Gefangene gemütliche Waldspaziergänge nach einem öffentlichen Lokal,
und die Polizei geht mit als Vergnügungsmeister und Lakai. Bezahlt man
+dafür+ seine Steuern, he?“ -- „Aber haben diese Leute denn gar
keinen Sinn für die +lustige+ Seite meines Gefängnisses? Warum hat
kein einziger +geschmunzelt+? Was hat ihre Herzen der Mitfreude so
+verschlossen+?“ -- „Unschuldswurm!“ meinte Spornreutter, „trauen
Sie diesen Leuten solche +Mit+freude zu? +Schaden+freude ist
ihnen eigen! Das haben Sie am Biedermaxe erlebt, der höhnisch über Sie
lachte.“

„Hier ist es ja stockfinster,“ meinte Spornreutter, „passen Sie auf,
wir sind vom Wege ab, hier sind gar Dornen.“ Gleich darauf rief
Anton: „Aua! Et piekt mir!“ Und der Amtsdiener: „Au Backe! Ick habe
mir verheddert -- der Kinderwagen sitzt feste, mang de Brombeean!
Streichhelza hea!“ -- „Ich habe keine!“ versetzte Spornreutter, „nu
sitze ich selber fest. Wille, wo sind Sie?“ Ich war einige Schritte
weiter gegangen und blieb stehen, da auch ich Dornranken spürte. Frau
Spornreutter rief: „Wat is ’n los, Mann?“ -- „Ick wollte, ick wäre
los!“ -- Der Einjährig-Freiwillige brüllte. Ich kicherte. Nun wurde
Bolles Stimme mißtrauisch: „Herr Dokta? Sind Se auch noch +da+?“
Offenbar war er bange, ich könne mich fortgemacht haben. Der Zeitpunkt
wäre ja famos gewählt gewesen. Rings finsterer Wald und hilflos
verheddert die Polizei. Jetzt gerade schwieg ich; auch ich wollte
mal schadenfroh sein. Harmlos freilich war die Rache, die ich an der
Menschennatur nahm. Nur Bolle war das Opfer, seine Stimme drückte Angst
aus: „Herr Dokta? mein Jott, wo +sin+ Se denn? Antworten Se doch!
Herr Spornreutta, wo is mein Arrestant? Is +det+ der Lohn fier
meine Jutmietigkeet? Frau! det is een Unjlicksdag, un du bis schuld!
Du hast zujeredt zu diese Landpartie. Mich schwante schon so wat. Nu
is mein Arrestant futsch, un ick lieje in’ Wurschtkessel!“ -- „Ach
Unsinn!“ antwortete Spornreutter, dann rief er in den Wald: „Wille!
wo stecken Sie denn?“ Auch meine Frau beteiligte sich an dem Rufen:
„Bruno! mach keine Witze!“

Damit nun des grausamen Spiels genug sei, antwortete ich barsch: „Wozu
das Geschrei? Ich bin doch hier, -- habe selber mit den verflixten
Dornen zu tun. Zurück, Herr Bolle, in der Richtung, woher Sie gekommen
sind, Sie verheddern sich sonst noch mehr.“ -- „Ick bin schon wieda
los,“ antwortete er; „aber mein Jott, wie ick mir verschrocken habe!
In sone Finsternis kricht selbst ein Polizeimann grauliche Jedanken.“
Als wir den Weg wiedergefunden hatten, ging es vorsichtig durch die
Dunkelheit. Auf einmal wich der Nebel, auf der Moorwiese lag er nur.

Spornreutter kam auf eine Gefängnisstrafe zu sprechen, die er
selber durchgemacht hatte. Am Himmelfahrtstage war in einer
Arbeiterversammlung ein Geistlicher erschienen und hatte in der
Diskussion auf die Frage, wie Christi Himmelfahrt zu verstehen sei, die
Antwort erteilt: „Wörtlich, wie die Bibel es beschreibt -- leibhaftig
ist unser Heiland aufgefahren, sitzet zur Rechten Gottes.“ Durch solche
Glaubensstarrheit gereizt, hatte Spornreutter erwidert: Der Sternenraum
ist so unermeßlich, daß vom Nebelfleck der Andromeda das Licht eine
Million Jahre braucht, um zur Erde zu gelangen. Wenn also die Fahrt
gen Himmel mit der größten uns bekannten Schnelligkeit, mit der des
Lichts, stattgefunden hat, so ist sie zurzeit noch lange nicht über den
Sternenraum hinaus; erst in neunhundertachtundneunzig Jahrtausenden,
von heute an, wird der Himmelsfahrer beim Nebelfleck der Andromeda
angelangt sein -- und wer weiß, wie lange er dann noch zu fliegen hat,
bis die Welt mit Brettern vernagelt ist und das übernatürliche Reich
anfängt! Der Gendarm, der die Versammlung überwachte, mißdeutete die
Heiterkeit, die auf diese Ausführung laut wurde, und die Folge war
Spornreutters Verurteilung zu acht Wochen Gefängnis wegen sogenannter
Gotteslästerung.

„+Mein+ Gefängnis war +nicht+ so fidel, wie das Ihre,“
erzählte er, „dennoch möchte ich es nicht +missen+ in meiner
Lebensgeschichte, schon deshalb nicht, weil ich so schöne Ruhe zum
Lesen und Schreiben hatte. Ich habe im Gefängnis neugriechisch gelernt
und Werke des Dichterphilosophen Polytropos übersetzt. Wissen Sie,
was der zum Beispiel sagt? Ein Gott, der sich schämen muß über den
Zustand seiner Anbeter, +ist+ kein Gott! Der Gott eines Volkes
in +Lumpen ist+ kein Gott!“ -- „Und erst recht nicht, wenn’s ein
Volk +von+ Lumpen ist,“ fügte ich hinzu; „doch lassen wir die
Bosheiten! Erzählen Sie von Ihrem Gefängnis! Besuch war Ihnen wohl
selten gestattet?“ Spornreutter erwiderte: „Ich fühlte mich nicht
einsam -- habe soviel mit Gefangenen geplaudert, daß es mir oft zuviel
wurde. Kennen Sie die Klopfsprache? Mit ihr verständigt man sich durch
die Kerkerwände. Besonders eignen sich hierzu die Heizungsröhren. Wenn
unten, oben oder nebenan ein Gefangener daran klopft, so hört man’s in
den Nachbarzellen. Das Abc wird so abgeklopft, daß Worte rauskommen.
Das ist zwar etwas umständlich, aber bald geht die Unterhaltung
ziemlich flott, zumal angefangene Sätze oft erraten werden. Was haben
wir uns nicht alles auf diese Weise erzählt!“

Schweigend schritten wir den Waldpfad dahin. Sterne leuchteten.
Ein Käuzchen schrie. Dann kam wieder das aufstöhnende Sausen der
Kiefern. „Wissen Sie, woran mich Ihre Geschichte in Verbindung mit
dem Biedermaxentum gemahnt?“ fragte ich. „Der Mensch ist in die
+Ichform+ eingesperrt wie in ein Gefängnis. Wohl ihm, wenn er
wenigstens Klopflaute findet zur Verständigung mit seinesgleichen. Aber
es gibt auch Isolierzellen -- gibt isolierte Ichlinge, die gar nicht
aus ihrem dicken Fell herauswollen. Am besten hat es ein Gefangener,
der über den Kerkerschlüssel verfügt, beliebig aufschließen, sogar
Sparziergänge ins Freie machen kann. Reizt euch das nicht, ihr
Gefängnishocker? Wann werdet Ihr Lust zur Freiheit kriegen? Sehn Sie
mal, Spornreutter, da oben ist Ihr Sternenbild Andromeda -- mit dem
Nebelfleck, dessen ketzerische Betrachtung Sie ins Gefängnis brachte.
Wissen Sie, was Sie den Leuten über die Himmelfahrt +auch+ hätten
sagen können? Jeder Mensch steckt in einer Höhle, soll aber gen Himmel
fahren. Wie man das +macht+? Dazu braucht man nicht den Flug
des +äußern+ Lichts, sondern den Gedanken, der die Trennungen
überwindet. Heute im Walde sind wir aus uns herausgegangen. War’s
nicht köstlich, wie wir uns in die Landschaft vertieften? So soll man
sich in die Mitmenschen einfühlen, soll kein Gemütskrüppel sein wie
der Biedermaxe. Wie aus seiner Puppenhülse der Schmetterling, soll aus
dem Ichgefängnis ein besserer Mensch hervorgehen. Wenn wir einander
+verstehen+, +dann+ ist das Friedensreich da, wo das Lamm
neben dem Löwen schlummert.“ -- „Aber nun der Biedermaxe! Sollen wir
auch +ihn+ duldsam verstehen? Und nicht lieber zum Kuckuck jagen?“
-- „Tun Sie +Beides+! Schwingen Sie die Geißel wie Christus, als
er das Gesindel aus dem Tempel trieb. Tun Sie’s aber ohne Haß -- tun
Sie’s lachend! Mit Humor!“




Einsamkeit


Auf sein Bett gestreckt, fühlte sich der Gefangene vereinsamt, der
graue November weinte ihm etwas vor. Kalter Wind schnob -- der Regen
rann, mit Schnee und Schloßen untermischt. Die Blechrinne schluchzte,
in die untergestellte Tonne plätscherte das Naß. Um noch verlorener zu
erscheinen, war dieser Tag ein Sonntag. Alle Welt sucht sich feiertags
eine besondere Freude, mit der Geselligkeit wird dann geradezu ein
Kultus getrieben. Der Gefangene blieb heute ganz allein. Seine Frau
war erkältet und hütete das Zimmer; kein Freund ließ sich sehen, kein
Hund, keine Katz. Na ja, verständlich war’s; bei dem unwirtlichen
Wetter hockte jeder gern zwischen seinen gemütlichen Pfählen, Kaffee
schlürfend bei der Hausfrau oder bei seiner Freundschaft. Die Gefährten
der literarischen Kolonie schwatzten gewiß, wie gewöhnlich, bei
Streitmüllers, und ihnen ging der Humor nicht aus. Vielleicht hatte
einer den Vorschlag geäußert: „Besuchen wir Bruno!“ Aber dann war
eingewendet: „Ach wir sitzen so gemütlich beisammen -- und bei Bruno
war ich erst vor einer Woche. Dem wird’s ja auch nicht fehlen an Besuch
-- heut’ am Sonntag ist seine Zelle selbstverständlich voll wie eine
Heringstonne! Bleiben wir also hier -- Prosit!“

Ich hörte mich seufzen -- immerfort wimmerte draußen die Rinne, der
Abend dämmerte schon, und ich blieb allein.

Es kam mir in den Sinn, daß der gutmütige Eckehart zu Beginn meiner
Gefangenschaft angedeutet hatte, mit Diotima wolle er mir ein Ständchen
bringen. Der wimmernde Wind war nun mein Ständchen.

Weil aber Schwermut bitter, Bitterkeit mißtrauisch macht, so kamen
mir argwöhnische Gedanken. Im Geiste sah ich den Freundeskreis, hörte
einen Witz über mich, der mir boshaft vorkam -- und alles lachte. Wer
den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen. Und die Krähen
hacken drauf los, wo eine anders aussieht als die andern. Manchem ist
es nicht völlig ernst, wenn er mir die Hand drückt: „Wacker!“ Sitzt er
dann mit andern zusammen, so kommt der Herdensinn heraus, und nun heißt
es von oben herab: „Kurios, was Wille da auf sich nimmt! Mein Geschmack
wär’s nicht, den Märtyrer zu spielen.“ Ein anderer meint superklug:
„Ein Märtyrer für seine Überzeugung -- wie Sokrates, der den Giftbecher
trank -- ~à la bonheur~! Das war ein Kerl! Aber Fritzenwalde ist
kein Athen -- nicht mal ein Abdera -- und Bruno Wille kein Sokrates.“
-- „Nicht Schierling trinkt er, sondern Grog!“ rief jemand -- alles
lachte, und dann hieß es: „Ein fideles Gefängnis! Solch ein Martyrium
ist ja ein wahres Vergnügen, ein Studentenulk!“ Zwar machte ich mir
selber dies Gerede vor, doch ich glaubte daran. Ich tat, was man vom
Hasen sagt, ich schlief mit offenen Augen, und meine innerlichen
Gesichte hatten eigenes Leben ...

Im Lehnstuhl thronend, genehmigt Otto Erich Hartleben einen Schluck und
meint blasiert: „Ich wußte mir von je bessere Studentenulke. Daß Wille
ins Gefängnis ging, finde ich einfach geschmacklos.“ Gereizt entgegnet
Paul Streitmüller, der ältere der Brüder: „So’n einseitiger Ästhet wie
du will natürlich immer genießen; aber sind wir denn dem tätigen Leben
nicht +auch+ was schuldig?“ -- Hochtrabend Hartleben: „Meinen
Gläubigern bin ich was schuldig, das muß ich schon anerkennen, sie
schicken mir ja den Gerichtsvollzieher. Aber das Leben soll mir nicht
kommen mit idealen Forderungen! Um die bessere Zukunft zu düngen, euren
sozialen Staat, dazu bin ich mir denn doch zu gut!“

„Prosit“ stimmt ein anderer Gast bei, ein Nietzscheaner und
Individualist -- „mögen sich die Sozialisten oder Christen -- das ist
ja im Grunde ein und dasselbe -- verbrauchen lassen von ihren Genossen
oder Nächsten, -- ich lasse mich nicht vom Leben verbrauchen, sondern
ich verbrauche das Leben -- wie es mir beliebt!“ -- „Weißt du, guter
Streitmüller, was mein Ästhetentum bedeutet?“ fuhr Hartleben fort --
„ein ganzer Künstler will ich sein!“ -- „In Schönheit sterben!“ ulkt
Streitmüller -- „und Cerevisia von Pilsen heißt Otto Erichs vornehme
Schönheit, Prost Kinder!“

Hartleben läßt sich nicht aus seiner Sicherheit bringen und blickt
herausfordernd im Kreise umher: „Cerevisia von Pilsen, so heißt
allerdings meine Dame -- daß Otto Erich ihr Ritter ist, weiß also
selbst der Adel von Berlin-Ost und die Fritzenwalder Ritterschaft vom
Geiste. Aber noch nicht scheint sie zu wissen, daß ich diese Dame nur
aus dem Grunde liebe, weil sie meiner Königin aufwartet. Die Königin
heißt Träumerei. Cerevisia, der goldige Stoff aus Pilsen, dient meiner
Träumerei. Nach meinem Geschmack träumen will ich, das ist mein wahres
Leben. Ihr Banausen begreift nicht, warum ich saufe. Die Wirklichkeit
ist mir zu pöbelhaft -- das ist mein tiefer Grund! Heil!“ -- „Heil!“
echoen die Spezialjünger und schlucken eifrig. Einer intoniert:

    „Meine Mus’ ist gegangen
    In des Schänken sein Haus ...“

„Haltet die Mäuler, Füchse!“ ruft Paul Streitmüller -- „die Diskussion
ist noch nicht zu Ende. Was Otto Erich Träumerei nennt, ist eigentlich
Schlemmerei. Ich gönne euch allen ja etwas davon und ihm noch seinen
Extrakübel mit dem prickelnden Labequell von Pilsen. Wenn aber der
flotte Jenenser Bursch zum Riechfläschchen greift und sich in den
Artistendusel der Nurkünstler hineinschwindelt -- dann freilich wird
Goethe zum Bierjungen -- und Stephan George zum Schönheitspapst! Ein
ganzer Kerl soll im Dichter stecken, einer der Menschentum offenbart,
höheres ...“ -- „Mein lieber Genosse!“ entgegnet Hartleben von oben
herab -- „schreibe du über die Gewerkschaft der Steinträger und andere
Sozifragen -- auch über Ethik und so was Höheres -- davon verstehst du
was. Von klingender Traumkunst aber ...“ -- „Versteh ich allerdings
nicht die Bohne!“ pariert Streitmüller. Hartleben setzt nun erst recht
die Meistermiene auf -- herausfordernd blickt er im Kreise umher:
„Sind hier etwa noch +mehr+ solcher Barbaren, die ein lyrisches
Gedicht +verstehen+ wollen?“ -- Streitmüller läßt sich nicht
verblüffen: „Kokettiere nicht! Wer ein Drama in philistros geschrieben,
braucht sich nicht darüber aufzuhalten, daß Wille die Philister auf
+seine+ Art bekämpft -- indem er unter den gegebenen Verhältnissen
ein Karzer auf sich nimmt, das allerdings kein Tempel der Schönheit
ist. Aber das war euer Jenenser Karzer auch nicht! Und dahin ließet ihr
euch sperren wegen einer besoffenen Lappalie. Wille hingegen ...“ --
„Ist Giordano Bruno redivivus -- foltern läßt er sich -- bei lebendigem
Leibe verbrennen“ -- spottet Hartleben, dem es willkommen sein mag,
einen Blitzableiter gegen Streitmüllers Donnerwetter zu haben. --
„Na gut! Aber wenn unser Bruno sich mit Bravour hineingestürzt hat,
so kann ich nur sagen: Er kommt mir ein wenig wie Fritzchen vor,
als der sich bei Hundekälte die Pfoten erfrieren ließ, um anklagend
zu heulen: Geschieht meiner Mutter ganz recht! Warum läßt sie ihren
Jungen ohne Handschuh! Wille hat sein Ideal, na ja! Idealismus heißt
das wunderlichste Menschengefängnis -- freiwillig begibt sich der gute
Schwärmer hinein -- und mag gar nicht mehr ’raus, vor lauter Verachtung
für das Gesindel, das sich draußen wohl sein läßt ...“ -- „Spuk und
Sparren!“ ruft ein Jünger Stirners und ein Ibsenide: „Lebenslüge!“ --
Aber Paul Streitmüller: „Mancher scheint +die+ Lebenslüge nötig
zu haben, +sein+ Ich sei etwas einzig Kostbares, erhaben über die
dämlichen Sozialpflichten. +Sein+ Gefängnis ist wie eine Schachtel
voll Watte, drauf er als Perle ruht -- ist faule Gewohnheit!“ -- Otto
Erich tut, als habe er nichts gehört, und spottet weiter: „Heine
erzählt von einem wunderlichen Matrosen, der plötzlich vom Gipfel des
Mastes schrie: Ich sterbe für den General Jackson! drauf kopfüber aufs
Deck sprang und -- prompt das Genick brach. Wie dem General mit solchem
Sterben gedient sei, hat niemand begriffen, man wußte nicht mal, wer
der General Jackson war.“ -- Allgemeines Gelächter, in das auch meine
Freunde einstimmen.

So ging das Spiel meiner Phantasie, und alles war, als ob es sich
wirklich so zutrüge. Beim Spott der Gefährten blutete mir das Herz. Und
was das Peinlichste war, meinen eigenen Zweifel liehen sie Worte -- ich
stöhnte. Und in einem fort das Regenplätschern draußen -- und niemand
kam, mich zu trösten -- ich blieb mutterseelenallein.

Nicht weil ich im Gefängnis war, fühlte ich Vereinsamung, sondern weil
jedes Ichwesen eigentlich in Einzelhaft gebannt ist, mag es sich auch
darüber hinwegtäuschen durch Geselligkeit. Was innerlich im Einzelnen
vorgeht -- sein Fühlen und Begehren, sein Träumen und Sinnen -- erlebt
in unmittelbarer Weise nur er selbst, der Vereinzelte! Oft ist er
sogar sich selbst ein Rätsel. Um wieviel mehr den anderen, die ihn
doch nur äußerlich beobachten! Seine Mienen und Geberden sehen sie,
seine Stimme hören sie -- und das heißt: rein äußerliche Wirkungen
empfangen sie von ihm, nichts unmittelbar Geistiges! Nur Wellenzüge des
Äthers und der Luft! Zugegeben natürlich, daß ich die Mienen meines
Mitmenschen seelisch deute. Doch schließlich nur aus meinem eigenen
Ich schöpfe ich diesen Sinn, lege mir das Benehmen des Mitmenschen
nach meinem Muster zurecht, finde immer nur mich selbst im Mitmenschen
wieder; nichts anderes weiß ich von seinem Innern, als was ich von mir
selbst hineinspiegele. Niemals kann ich der Schlange gleichen, die
sich häutet. Kann nie aus der Haut meiner Subjektivität schlüpfen. Mit
mir allein bin ich immerdar -- und eben darin besteht meine tiefste
Vereinsamung. Als der Weltgeist die Kreatur aus dem Garten Eden trieb,
da hat er sie verbannt in die Einzelzelle „Ich“. Nun seufzen wir und
sehnen uns zurück nach der verlorenen All-Gemeinschaft. Und schmachten
nach fremden Seelen, -- bleiben aber im Grunde isoliert.

Es war längst Nacht -- doch ich mochte die Lampe nicht anzünden --
lieber im Dunkeln weiter träumen. Auskosten bis auf den Grund den Kelch
der Vereinsamung -- um dann einmal ganz fertig zu sein mit dieser
Bitternis. Ich ahnte, daß in allem Leid ein Durchbruch gelingen müsse
zu Schatzkammern der Seele. Meine heiße Schläfe lehnte ich an die
Gefängniswand, der Novemberwind schnob lauter, immer noch wimmerte
die Regentraufe ... Und horch, auf einmal kam ein Laut aus einer
geheimnisvollen Welt -- ein Gruß vom ersehnten Reiche freier Geister:
Dumpfer Hufschlag -- das war er ja wieder, der rätselhafte Reiter, den
ich manche Nacht belauscht. Und er galoppierte dunkle Wege dahin --
stürmte in die Weite -- während ich im Gefängnis einsam seufzte.

    Nachtodem braust mit Regen und Schloßen
    Und haucht herein durch die Kerkersprossen.

    Drin lehnt ein heißes Haupt an der Mauer,
    Das kostet die Kühle mit süßem Schauer.

    Es lauscht dem wilden Rütteln und Dröhnen
    Des Sturmes, dem langgezogenen Stöhnen.

    Es lauscht, wie der Regen von Dache rinnselt,
    Wie die Traufe im Hofe schluchzt und winselt.

    Es lauscht, wie ferne die Föhren sausen
    Und am Seegestade die Wellen erbrausen.

    Nun horch, da nahen hurtige Schläge
    Von Rossehufen auf nächtigem Wege.

    Vorüber stürmt galoppendes Reiten
    Hinaus in geheimnishüllende Weiten ...

    So lauscht ein heißes Haupt an der Mauer
    Und kostet die Kühle mit süßem Schauer.

    Nachtodem braust mit Regen und Schloßen
    Und haucht herein durch die Kerkersprossen.

Ach, wer so fliegen könnte ins Schrankenlose -- wie dieser Reiter!
Und wie der wilde Novemberwind! Einmal war’s, da durft ich so ins
Freie galoppieren: Um die Mitte meiner zwanziger Jahre begleitete ich
den Geographen Kiepert auf einer Expedition durch Anatolien, und zu
Pferde ging es Tag für Tag. Da gab es keinen Gram -- jeder Laune meines
Zügels, dem herrischen Druck meiner Schenkel gehorchte das zottige
Pferdchen -- und ich schaute in heiliger Heiterkeit; wie dem Auge des
Äthers lag mir frei und offen das Wunderland Homers. Über Ilion reisten
wir nach Pergamon. Als ich vom hochgelegenen Amphitheater eine Aussicht
schaute, deren einfach große Formen die Inschrift bezeichnete: „Im
Angesicht des Landes und des Meeres“, -- empfand ich die selige Ruhe
eines kraftvoll harmonischen Menschentums. Und fühlte innig, weshalb
Faust, mittelalterlicher Enge und Dumpfheit entwachsen, sich nach
Helenas Heimat sehnt und den Rücken jenes centaurischen Pferdemenschen
Chiron besteigt, der einst sie trug und der mit seinem Saitenspiel
Heroen erzog ...

Während ich so in meinem Gefängnis sann, hielt ich es für angebracht,
das Gedicht vom freien Reiter aufzuschreiben, damit es nicht dem
Gedächtnis entfalle. Ich wollte Licht machen; doch etwas lähmend
Berauschendes hatten die Erinnerungen an Pergamon -- noch ein Weilchen
gab ich mich ihnen hin ... Da war mir, als rege sich jemand draußen am
vergitterten Fenster, und es kam mir der Gedanke: Jetzt haben sich die
Freunde besonnen und wollen dir wohl gar eine Serenade bringen! O diese
Witzbolde! Aus trostloser Vereinsamung möchten sie den Gefangenen in
ein Elysium von Wohllaut, von liebreicher Geselligkeit versetzen. Da
lauern sie nun und kichern in Verstecken über meine Verblüffung. Gute
Schelme! Also losgeschossen! Artig will ich auf euer Programm eingehen.
-- Ich lausche -- nur den Wind höre ich und das Regenrieseln --
irgendwo klappert ein offenes Fenster. Habe mich also wohl getäuscht!
Wer wird denn auch solch eine Regennacht zum Ständchen aussuchen!

Doch horch, ist das nicht Flötenmusik? Und sieh, da glüht es rot!
Wahrhaftig, nun kommen sie! Gar mit einem Fackelzug! Ein Mummenschanz,
eine dramatische Szene. Lauter Griechenvolk -- famose Gestalten. Im
Halbkreis gruppiert um mein Gitterfenster. Ich erkenne sie alle --
Willi Bölsche, am Arme hängt ihm eine Mänade, Julius Hart mit einer
flotten Schauspielerin vom Residenztheater -- Heinrich Hart, die
Eulenspiegelkappe über den Kopf gezogen. In der Mitte der taumelnde
Hartleben als Gott Dionys, mit Epheu umkränzt, einen Pokal in der Hand,
sucht er Halt an einem Greis -- das ist Sokrates. Und es winkt der
olympische Schlemmer mit dem Thyrsosstab, alles lauscht: „Pfahlbürger!
Zu Ehren unseres Bruno Wille, den wir wegen seines freiwilligen
Kerkers hier zum Ehrenpfahlbürger ernennen, lasset die Serenade höhern
Stumpfsinns erschallen, den mit Recht so beliebten Pfahlbürger-Reigen!“
Sich in den Hüften wiegend, hebt nun Hartleben Thyrsosstab und Pokal
und beginnt im Baß:

    „Ra--ria--rulla! Ra--ria--rulla!
    Dreck--Speck--Zweck überhaupt!
    Reia, reia, reia, humpa, humpa ...“

Dröhnend schwillt der Gesang, unter Lachen und Stampfen ordnet man
sich zur Fackelpolonäse. „Nicht zu laut, Kinder!“ rufe ich -- „sonst
blasen die Feuerkälber, und die Fritzenwalder Feuerwehr kommt uns mit
kalten Wasserstrahlen über den Brausekopf. Ihr dürft nicht vergessen,
daß hier ein Gefängnis ist!“ -- „Dummes Zeug!“ schilt der dionysische
Hartleben. „Ich schwinge hier das Skeptron der Freude und Freiheit. Du
bist zur Stunde frei und kommst mit! Vernimm, erhabener Volkserzieher,
Gründer der freien Volksbühne, wir überstrahlen dein Verdienst. Haben
etwas gegründet, das all der Muffigkeit heutzutage ein Ventilator ist:
die freie +Luft+bühne! Wir führen dich hin, wohlan!“ -- „Aber
ich bin ja eingesperrt.“ -- „Dieser Weise wird deine Kerkertür sofort
entriegeln“, entgegnet Hartleben würdevoll. Auf seinen Wink tritt
Sokrates vor; wie der ein wohlbekanntes Schlüsselbund emporhält, geht
mir ein Licht auf: „Der Tausend! Das ist ja unser Jacoby!“ Schlagfertig
kalauert er:

    „Ich Greis
    Und Metaphysikus,
    Bin hier vom Kreis
    Der Pfiffikus.“

Beifallsgelächter. Nun rasselt er mit den Schlüsseln und kommt mir
aufzutun. Wie ich eben das Gefängnis verlassen will, rufen die
Versammelten: „Platz da! Der freie Reiter kommt!“ Indem sie eine Gasse
öffnen, vernehme ich den geheimnisvollen Hufschlag. Näher stampft es,
und auf einmal galoppiert ein Centaur in den Hof, bäumt sich und steht
nun schnaubend. „Chiron!“ ruft man, und Hartleben-Dionys: „Bravstes
Vieh der klassischen Walburgisnacht! Nimm diesen Fritzenwalder Faust
auf deinen Rücken, dann fort mit ihm zum alten Griechenland, wo du
mit deiner Musik-Magisterei Helden und Halbgötter erzogen hast.“ Von
etlichen Händen gepackt, sitze ich auf dem Rücken des Pferdemannes,
halte mich an seiner Mähne fest, und los geht die wilde Jagd ...

Dann ist die Szene verwandelt: Vom blauen Himmel flutet goldner Äther
auf ein Amphitheater. Wie Blumen in endlosem Kranzgewebe schimmern auf
den Rängen die bunten Gewänder des schautrunkenen Griechenvolks. Unter
Tubaschmettern tritt eben ein Grieche auf, schön wie Apoll, blondlockig
-- und ein Flüstern geht durch die Versammlung: „Hölderlin, er ist’s!
Er wird Flöte spielen -- Diotima trägt dazu eine seiner gotterfüllten
Oden vor.“

In der Tat hebt Hölderlin, der niemand anders ist als mein Freund
Eckehart, die Flöte an die Lippe, und ein Präludium stimmt zu süßer
Wehmut. Während dieses Vorspiels ist Diotima aufgetreten -- alles
versinkt in ihren Anblick. Der Sixtinischen Madonna ähnlich, überschaut
sie, an den Altar gelehnt, das versammelte Volk. Träumende Sehnsucht im
dunkeln Auge. Und zu den Flötenklängen spricht ihre Altstimme:

    „Rosen kränzen den Berg, heiliges Frührot lacht.
    Auf, gefangener Mann! Suche, was adlig macht!
        Brich die Kette! Laß schnarchen
        Gassenbürger in Winkelnacht!

    Dir zu Füßen die Welt, klimme den Fels empor
    Zu Heroen! Erweckt werden dir Aug und Ohr!
        Tief das murrende Chaos
        Droben tönt es wie Sternenchor.“

Diotimas Augen sind geweitet, aus ihrer Rätseltiefe leuchtet die
Vision der Seherin. Tausend Blicke bohren sich glühend hinein -- und
wie fragend sind der Versammelten Lippen halb geöffnet, schmachtend
nach dem Wasser des Lebens. Und sieh, während Hölderlins Flötenhauche
zitternd ersterben als verglimme Abendgold, hebt Diotima ihr Antlitz
und breitet seufzend die Arme empor ...

Da hat ein Zauber alles verwandelt. Nur noch eine Ruine das
Amphitheater. Öde, von allem Leben verlassen. Und Finsternis hält alles
umfangen, mit riesigen Fledermausflügeln. Ein Glied der dumpfigen Erde
haben die schwarzen Trümmer etwas von einer Höhle, von einer Gruft,
einem Kerker. Und auf einmal kommt es mir vor, dies sei mein Gefängnis.
Durch die Eisensprossen des Fensters erkenne ich den Gefängnishof
mit der Pfütze -- vom Regenguß ist sie vergrößert, Sterne spiegeln
sich darin. Klar ist nun der Himmel. Über dem Dache des Vorderhauses
leuchtet das Sternbild Orion -- wie ein Krondiadem. Oder wie
Tauperlen, sie flimmern gelb und blau, grün und rot. Die Sternstrahlen
sind haarfeine Saiten einer Harfe. Sie summen, es klingt wie eine
Mondscheinlerche. Von meiner Lippe beben rhythmische Hauche und formen
sich zum Gedicht:

    Es wühlt und tappt in dumpfiger Höhle blind
    Der Maulwurf; ihn verschüchtert die Oberwelt.
    Mir gab ein Gott dies Auge: aufblühn
    Soll es, versippt mit den Sternen droben.

    Dein Funkenzauber, hoher Orion, sprengt
    Den Kerker mir. O selig, wer dorthin schwebt,
    Wo Träume, hier noch Spott der Leute,
    Könige sind und das Reich vollenden!

Wer in dieser rauhen Novembernacht das Gesicht des schlafenden
Einsamen beobachtet hätte, wäre inne geworden, wie nicht bloß über
dem Nachtgewölk, sondern auch hinter Gefängnisgittern Sterne blühn,
sehnsüchtige Träume, die das Reich vollenden ...

Als mich andern Tages Bölsche besuchte, erzählte ich meinen Traum.
„Die Verse, die ich im Traum gedichtet, vom Olymp und vom Maulwurf,
habe ich gleich nach meinem Erwachen zu Papier gebracht. In voller
Genauigkeit ließen sie sich nicht erfassen und verkümmerten bei der
Niederschrift -- unsere Vernünftigkeit scheint unzulänglich, wo das
Wundersamste aus unserer Tiefe hervor soll.“ -- „So bleibt alles
Schöne schließlich Mystik“, antwortete Bölsche. Dann zergliederte er
meinen Traum: „Mit Hölderlins Liebe zum Griechentum fühlt sich dein
Humanismus verwandt. Auch du sehnst dich nach Menschen, die in Freiheit
schön und stark sind.“ -- „Aber nicht bloß sehnen soll man sich, auch
handeln, praktisch arbeiten!“ -- „Schon recht!“ lächelte Bölsche --
„na, du +hast+ ja auch praktisch gearbeitet an der Volkserziehung,
+so+ praktisch, daß du ins Gefängnis gekommen bist! In einsamer
Zelle spinnst du nun wehmütige Vergleiche zwischen preußischen Barbaren
und den alten Griechen. Übrigens ist deine klassische Walpurgisnacht
ein Gegenstück zu jenem andern Traum, den du mir neulich erzählt
hast -- ich meine den Traum von der ollen Konservenkiste. Während
dieser das Gespenst der Vergangenheit zeigt, wie es unheimlich in der
modernen Zeit herumspukt, hat dich jetzt jene +Sehnsucht+ nach
der Vergangenheit gepackt, der süße Traum von entschwundener Jugend,
von Helden lobebären, vom goldenen Zeitalter. Aber hast du nicht aus
Goethes Faust gelernt, daß die schöne Helena ein Gespenst bleibt, das
kein Totenbeschwörer zu leibhaftiger Gegenwart zwingen kann? Du hast
des öftern reflektiert über mancherlei Gefängnisse, in die man sich
eingesperrt fühlt. Zähle dazu auch das Gefängnis Zeitlichkeit! Klüfte
im Raum lassen sich überbrücken -- unüberwindlich bleiben Schranken,
mit denen das Jetzt uns vom Ehedem absperrt.“

„Schon recht! Aber kennst du das Bild von Schwind: der Traum des
Gefangenen? Im Kerker liegt ein bärtige Mann. Sehnsüchtig verfolgt
sein Auge, wie ein Zwergenkönig von seinen Heinzelmännchen das
Fenstergitter durchfeilen läßt. Dieser Zwergenkönig existiert --
erlösen kann er aus dem Kerker Gegenwart, eine Brücke schlagen über
Klüfte der Zeitlichkeit. Die Vergangenheit ist eben doch nicht
eigentlich tot.“ -- „Tot -- und auch wieder lebendig! Ich habe mal die
Vermutung ausgesprochen: Was wir Erinnerung nennen, ist ein Sinn neben
den fünf Sinnen, eine Art Schauen: es dringt in eine heimliche Welt,
entdeckt aufs neue eine Existenz, die wir entschwunden nennen -- alles
Vergangene existiert noch irgendwo.“ -- „Und darum ist das Erlösende,
was uns aus diesem Kerker der Zeitlichkeit erlöst, die Ewigkeit“,
folgerte ich mit Bestimmtheit.

„Wann denn aber? Muß man erst zum Nirwana eingegangen sein?“ -- „Das
wäre radikale Erlösung. Sokrates, der den Giftbecher trinkt, freut
sich auf die Gespräche, die er mit den Weisen der Vorzeit führen wird.
Weil aber die Heinzelmännchen die Sprossen unseres Kerkers noch nicht
zerbrochen haben, nehmen wir vorlieb mit einem Durchblick durch unsere
Kerkersprossen. Idealismus heißt der Durchblick.

    O selig, wer dorthin schwebt,
    Wo Träume, hier noch Spott der Leute,
    Könige sind und das Reich vollenden!“




Italienische Nacht


„Die Ausgabe meines Flugblattes soll im Rahmen eines Festes erfolgen.
Auch muß meine Bude eingeweiht werden. Übermorgen abend acht Uhr! Aber
schleppt nicht zu viel Leute her, sonst gibt’s Krach mit dem Hotelier.“

Andern Tages brachte der Briefträger nebst der Flugblattkorrektur
ein Schreiben, das meine Freunde als Einladung an die Gäste
versandt hatten. Ein Fries von Karikaturen, ein echter Bölsche,
deutete vielversprechend an, wie die „Italienische Nacht im Kerker
der Inquisition“ verlaufen sollte: Ich sitze lächelnd auf einem
Scheiterhaufen, in der Linken eine Wurst, den schäumenden Krug zur
Ministerloge erhoben, wo besternte Würdenträger durch Monokel und
Opernglas die Szene bestaunen. Mitglieder meines Freundeskreises tanzen
um den Scheiterhaufen, den Hartleben aus einer Flasche Aquavit tränkt.
Ein Kerl in Ballonmütze verteilt das „Flugblatt an die Menschheit“, ein
Kater kaut an einem Hering. „Illumination des Kerkers und Pickenick,
unter Verwendung mitgebrachter Liebesgaben. Ausgabe des Flugblatts,
Anzünden der Volksbegeisterung.“

Die unheimliche Großartigkeit dieses Festplans ließ mein Herz höher
schlagen -- nur daß mich eine Gänsehaut überlief, wenn ich die
Platzfrage erwog. „Frau Bolle, seien Sie ein rettender Engel!“ -- „Wat
is’n los?“ -- „Ich habe heute Geburtstag!“ -- „Na also! Warum machen Se
denn da so’n schiefet Jesichte?“ -- „Ach Frau Bolle! Ich möchte doch
gern ein bißchen feiern, und nun wollen so’n Stücker zehn oder zwanzig
Freunde auf den Abend kommen -- wo soll ich die alle unterbringen?“ --
Die Amtsdienerin prüfte den Raum: „Drei uff’s Bett -- zwee bis drei uff
Stiehle -- also sechse zur Not lassen sich rin quetschen. Die andern
missen schon in den Flur bleiben -- det heeßt, mehr wie sechse finden
da ooch nich Platz.“ -- „O jehmineh, Flur! Der ist gar zu öde! Und da
wollte ich das Bierfaß auflegen!“ Nun kam der Amtsdienerin der Einfall:
„Die Zellen hier neben sinn ja frei -- da kennte man eene uffmachen.“
-- „Beide!“ sagte ich entzückt -- „gute Frau Bolle, ach schließen Sie
doch mal auf!“ Der Raum dieser Zellen übertraf meine Erwartung, da sie
keinen Ofen hatten. „Nun aber, Frau Bolle, sorgen Sie dafür, daß unser
Amtsdiener kein Störenfried ist.“ -- „Der weeß von nischt! Ik wer’
schon machen -- der verduftet heite Abend.“

Es würde zu weit führen, wollte ich schildern, was alle zu besorgen war
und mit welcher Hingabe meine Frau, Frau Pape, selbst Frau Bolle sich
den Vorbereitungen des Festes widmeten. Genug, um acht Uhr abends sah
das Gefängnis aus, als wäre ein verwunschenes Schloß entzaubert. In
allen Winkeln hatte es geknackt; lockender Flitter verhüllte die graue
Öde.

Wacholderbüsche flankierten den Gefängniseingang wie Ehrenposten. Oben
hing umkränzt das Transparent:

    „Willkommen, Kerkergäste,
    Zum flammenden Freiheitsfeste!“

Den Flur, wo neben Blumenschmuck ein schwungvoller Karton von Fidus
angebracht war, durchsprühte rotes Licht von einer Papierlaterne.
Hinten das bekränzte Bierfaß in Eis gebettet, Gläser in Reih und Glied
auf weißgedecktem Wandbrett. Da gab es Schüsseln und Teller, Messer und
Gabeln. Die Nebenzellen mit Ampeln, Girlanden und Bildern geschmückt,
die Pritschen von Plüschdecken verhüllt.

Der Eingang meiner Mittelzelle drapiert mit rotem Fahnenstoff,
gegenüber der Fenstervorhang von gleichem Knallrot. Nach außen mußten
die Eisenstäbe auf dem flammenden Grund wirken, als sei hier eine
Abteilung der Hölle. Doch war innen alles gemütlich und nett. Mein
Bett durch die übergebreitete Plüschdecke und etliche Sofakissen zum
Pfühle hergerichtet. Von oben strahlte eine bunte Japanlaterne. An
der Wand ein Tierfell und Böcklins Einsiedler, daneben ein Wandbrett
mit Büchern. Die gegenüberliegende Wand hüllte ein Perserteppich. Der
Leuchter mit den drei Kerzen neben der Tür hatte etwas Feierliches. Die
Zither auf dem Tischchen beim Fenster schien zu sagen: „Mein Stimmchen
ist dünn, doch fröhlich wird es mit Fröhlichen singen.“

Ich weiß nicht, ob ich von meiner Hantierung heiß geworden oder
ob der Ofen es zu gut meinte -- genug, ich suchte durch Aufhalten
der Gefängnistüren etlichen Durchzug herzustellen. Jetzt erschien
meine Frau nebst Frau Pape. Aus Körben holten sie einen Napf
Heringsalat, Platten mit belegten Brötchen, auch Pfannkuchen und eine
Kaffeemaschine. Als meine Frau ihr Festgewand enthüllte, war kein
Platz zum Ablegen der Garderobe. Wohin nun mit den Wintermänteln und
Hüten all der Gäste? „Uff de Kejelbahne! Aus det Restaurang hol’n ma
een’ Jarderobenstända un Stiehle in de Kejellaube.“ Und die treuen
Helferinnen gingen ans Werk; in ihren weißen Schürzen machten sie sich
blitzsauber.

Kaum war die Garderobe hergerichtet, so erschienen Gäste. Julius Hart
mit seiner Gattin und seinem Bruder Heinrich. Mit ihrem stillen Lächeln
händigte mir die zartschöne Frau Martha eine Chrysanthemumstaude mit
weißlodernden Blüten ein, Julius unter Bücklingen eine Papierdüte
mit Zigarren. Heinrich hielt es für angebracht, den vereinsamten
Katzenfreund durch eine Porzellankatze zu trösten. Willi Bölsche hielt
mir eine Flasche Burgunder vor die Nase und las lächelnd das Etikett:

    „Sei klug und neige die Nase
    Nicht nieder zum Erdenkot!
    O färb’ im duftigen Glase
    Sie lieber burgunderrot!“

Benno Streitmüller, als Biedermeier gekleidet, widmete mir eine alte
Ausgabe von Kants Schrift „Religion in den Grenzen bloßer Vernunft“.
Aufsehen erregte seine Versicherung, eine beigeklebte Haarlocke sei
auf dem Haupte jenes preußischen Ministers Wöllner gewachsen, der dem
Königsberger Philosophen verbot, die Schrift drucken zu lassen, weil
sie gewisse Grundlehren der Bibel und des Christentums herabwürdige.
„Sei dir die Locke Amulett! Wenn in der Homöopathie ein brauchbarer
Kern steckt, so mag das eine Ministerübel das andere verscheuchen!“

Unter Halloh langte ein Haufen Gäste an -- es waren die Berliner, von
meinem Friedrichshagener Freund Bartels hergeleitet. Außer dessen Frau
waren da noch ein paar Damen, besondere Verehrerinnen des Dichters
Marcus Fischlen, mit dem sie gekommen. Otto Erich Hartleben fehlte
nicht -- sein Nerogesicht mit dem Doppelkinn fahl, durch das dunkle
Glas des Schildpattkneifers lugte mürrische Schwermut, wie Beileid
machte sich sein Händedruck. „Nanu?“ fragte ich, „du wärst der erste,
der mein Gefängnis tragisch nimmt.“ -- „Wieso?“ meinte er finster. „Na,
du siehst so elegisch aus.“ -- „Doch nicht deinethalben!“ gab er patzig
zurück -- „ich bin immer elegisch, solange ich noch nüchtern bin.“
-- „Dies aufrichtige Wort sei uns Signal, mit schäumendem Trunk die
Festlichkeit zu beginnen!“ Meine Klause musternd, trat die Gesellschaft
ein und staunte belustigt: „Ah!“ Als geschickter Regisseur zapfte
Bartels die Gläser voll, mit guten Wünschen trank man die Blume und
verteilte sich unter Geschwätz. Kichernd kam Frau Martha zur meinigen:
„Denke dir, Paulchen Scharbock hält das für eure +richtige+
Wohnung.“

Wir drängten uns in Scharbocks Nähe. Diesen Dichter habe ich noch nicht
beschrieben. Einer aus Keenichsbarch, der mit seinem phantastischen und
schwelgerischen Polackentum die tiefsinnige Schwärmerei des Deutschen
verband, eine gewisse Mystik -- die sich humoristisch gab, weil die
ganze Art den spielerischen Launen eines gutmütigen Kindskopfes
gehorchte. Dabei sah er wunderlich ernsthaft aus: Unter der breiten
Grüblerstirn loderten hinter dem Kneifer blaue Augen, schmachtend
groß, und der blonde Vollbart, niederwallend und zugespitzt,
vervollständigte den Eindruck eines Zauberers. Scharbock wäre dem
Wüstenprediger Johannes ähnlich, hätte dieser nicht mit Wasser getauft,
sondern eine stärkere, mehr innerlich wirkende Flüssigkeit beliebt.
Dieser Dichterprophet wandte sich mit Begeisterung mir zu: „Häil,
mäin Liebä! Du housest janz idyllisch, Mansch! Aber Frou Leeschen!
Wo is dann die Küche, wo so köstlich für uns sorcht? Un noch äins
-- antschuldigt! Wo habt Ihr öier Schlafjemach? Ach woll oben! Ich
sah droußen so was wie’ne Trappe. Da jeht es also, met Erloubnes zu
sagen, zu öiren Batten?“ Kopfschüttelnd starrte alles den Poeten
an. „Aber Scharbockchen!“ gab ich zur Antwort, „das ist doch mein
Gefängnis!“ Das Auge aufgerissen, spähte er stutzig im Kreise umher:
„Was bedöitet das?“ Staunend entgegnete Marcus Fischlen: „Aber Mensch!
Woischt denn Du wirkli net? Unterwegs han i dir doch gsagt, was los
isch. Den Bruno Wille hät der Minischter ei’glocht! Dees da isch sei
Gfängnis! Scharböckle! bisch goischtesabwesend?“ In der Tat blickte
Scharbock fast einfältig: „Ich höre da ümmä was von Jefängnis -- aber
wir sind doch nech in Moabit!“ -- „Dee’scht ja grahdezu badologisch!“
-- „Ech tröüme doch nech!“ trumpfte Scharbock auf -- „wir sind doch zur
italienischen Nacht jeladen -- und das sind Lampions -- das is doch
rechtijes Bier -- un wir knäipen in Willes Jartenhous -- wir sind fräie
Manschen!“

Brüllendes Gelächter -- und der weltfremde Träumer, der nicht mal
Zeitungen las, wurde zum Fasse geführt. Nun boten die Damen Imbiß
an. Von Hartleben war eine gewaltige Blechdose mit Hummermajonnaise
gestiftet. Dazu wurde Chartreuse gereicht, man schlürfte auch Bölsches
alten Burgunder.

Erneuter Tumult. Der Setzerlehrling brachte die Flugblätter. Man
riß sich drum. Bei der Flurampel las Bartels vor. Er kam freilich
nicht weit -- Zwischenrufe platzten los, aufgeregt debattierte alles
durcheinander. „Ein Pantheist oder Atheist darf in Preußen keinen
Jugendunterricht erteilen!“ „Darauf läuft die Maßregelung hinaus.“
„Pantheist is antschieden jedä Poet! Saacht nicht Schiller: Jott un
Natur send äins? Un Joethe ...“

„Chaja natürlich Choethe und so weiter!“ sprühte Julius, der
Westfale. „Stellen wir uns vor, Choethe möchte seinen Knaben in seine
Weltanschauung und so weiter einführen. Und Choethe hätte das Pech,
preußischer Untertan zu sein. Dann müßte der Kultusminister Bosse
einwenden: Bei aller Verehrung für Ihre Dichtung, Herr Choethe,
verbiete ich Ihren Chuchendunterricht. Sie haben dazu nicht die
erforderliche Sittlichkeit und Korrektheit der Chesinnung -- denn
Sie sind Pantheist -- chaja natürlich Choethe!“ -- Hohl deklamierte
Scharbock: „Wer darf ihn nannen -- und wer bekannen: Ich jloub ihn?“
-- Doch Hartleben machte Gretchens Einrede geltend: „Wenn man’s so
hört, möcht’s leidlich scheinen -- steht aber doch schief darum --
denn du hast kein Christentum.“ -- „Ja zum Teufel, welcher Gott gilt
denn in Preußen? Muß man, um Kinder unterrichten zu dürfen, an den
Greis mit dem langen Bart glauben? Oder ...“ -- „Hier kommt er ja mit
seinem langen Bart!“ rief Hartleben -- „Jehovah, wie er im Garten Eden
wandelte, in der Kutte aus Kamelshaar ... Doch nein, unser Peter sieht
eher dem Wotan ähnlich, zumal wenn er seinen Schlapphut aufhat.“ --

Der Ankömmling war der Dichter Peter Hille. Weltfremd stand er vor dem
Eingang meiner Zelle, eine hagere Gestalt in braunem Havelock. Unter
dem breiten Hut wallten braune Locken, und vom wachsbleichen Gesicht,
in dem nur das Auge Leben hatte, floß der weiche Bart nieder. Verlegen
nahm Peter den Hut ab und bot den Gruß, mit dem er sich gern an sein
Vagabundieren in Italien erinnerte: „Bona sera!“ Bartels nahm ihn
sofort zum Büffet; Speis und Trank waren immer angebracht bei diesem
Literaturzigeuner, der von den Gaben seiner Verehrer lebte.

Auf einmal im Hof ein Zischen und Knattern -- Funken sprühn.
Wir stürmen auf den Hof -- da wirbelt vor meinem Fenster eine
Funkenspirale, ein sogenanntes Feuerrad, befestigt an der Holzschranke,
die den Müllhaufen umhegt. Und es hüpfen knatternde Frösche. „Bist
du toll?“ fahre ich Bartels an, der um die Feuerwerkskörper bemüht
ist -- er antwortet trocken: „Im Programm heißt es doch: Anzünden der
Volksbegeisterung!“ -- „Den Unwillen des Amtes wirst du mir anzünden!
Du alarmierst die Leute!“

Und in der Tat! Nicht bloß, daß Frau Bolle und Onkel Pofke zeterten,
auch ein ältlicher Mann war auf dem Hof erschienen, er trug ein
dütenförmiges Rohr aus Leder. Als stiller Beobachter lungerte er
herum. Der Kuhhirt Kuschel war’s, der den Giebel des Nachbarhauses
bewohnte. Er hatte die Funken gesehn und war sofort mit seinem
„Feuerkalb“ gekommen, wie man das Tuterohr zum Alarmieren nannte.
Ich trat ihm entgegen: „Nicht blasen! ja nicht!“ Begütigend winkte
Kuschel: „Ick wollte man bloß sehn, ob hier nich ’ne Mark locka is
-- wer fix tuten tut, kricht bei uns Feiertutas ’ne Extrawurscht!“
-- „Hier is Ihre Extrawurscht!“ Und Bartels drückte ihm Geld in die
Hand. „Was ist dann das für äin Dings?“ fragte Paulchen Scharbock
und nahm dem Alten das Tuterohr ab. „Det is ’n Feierkalb!“ -- „Was
für’n Kalb? Wird das Kalb jeschlachtet? Dazu schäint es mir etwas zu
zäh! Ach so, +Fäiä+kalb sagen Sie! Se mäinen, es paßt zu unsrer
Fäiä? Es wird woll hinäinjetutet? Hier oben bäi dä Schnouze?“ Und
ehe man ihn hindern konnte, hatte der Unselige aus voller Lunge ins
Tuterohr gestoßen: „Puh!“ Mich verblüffte nicht bloß dieser schnöde
Mißbrauch des Fritzenwalder Feuerkalbs, sondern noch mehr die Kraft der
Scharbockschen Lunge; dann aber die verheerende Wirkung, die von ihr
ausging. Kaum eine halbe Minute später antwortete es von einer nahen
Straße: „Puh!“ -- dann mehr entfernt: „Puh!“ Schließlich scholl es nah
und fern: „Puh!“ -- „Puh!“ -- „Puh!“ Das Feuerkalb war dem Attentäter
entrissen; mit kindischem Lachen hob er die Hand und deklamierte:
„Unhäil! du bist em Zuge! nemm walchen Louf du wellst!“

„Meinen Sie mich?“ sagte der Kreispfiffikus, der plötzlich in unsrer
Mitte stand. „Man nennt mich Heilkünstler, doch bin ich ehrlich genug,
mich getroffen zu fühlen, wenn es hier heißt: +Un+heil, du bist
im Zuge. Gegen Zugluft bin ich allerdings kaum empfindlich.“ -- „Um
Jotteswillen, Herr Dokta!“ kam Frau Bolle händeringend -- „helfen
Se! Mit’s Feierkalb hat eena jetutet, aus Jebamut, eena von die
Jäste!“ -- „Aus Übermut?“ versetzte Doktor Jacoby und schnüffelte:
„Aber hier riecht es doch nach Rauch. Ich spiele nicht auf die
anwesenden Herren Raucher an, sondern meine etwas minder Edles. Es
riecht nach angebrannter Müllgrube. Ich ahne, da hat jemand einen
Zigarrenstummel reingeworfen. Was starren Se mich an, Herrschaften?
Bin ich’s etwa gewesen? Dann entschuldigen Se!“ Und der Kreispfiffikus
lief zur Hoftür, die eben aufgerissen wurde. „Wech da!“ herrschte er
die Eindringenden an. „Blinder Lärm! Hier hat keener wat zu suchen,
Bengels! Ihr sollt euch lieber nützlich machen! Lauft mal jleich de
Feuerwehr entjejen. Schönen Jruß von mir, un es wäre blinder Lärm --
sie sollen sich den Weg sparen -- das Tuten muß aufhören, schleunigst
aufhören!“ -- Die eifrige Dorfjugend verfuhr nach der Weisung des
beliebten Mannes, und nicht lange, so kam ein Junge gehastet, um stolz
zu melden, er habe die Feuerwehr zurückgeschickt. Dann verstummte das
Tuten.

Doch nun kam eine neue Verwickelung: Der Biedermaxe stand plötzlich
unter uns und schnüffelte mit Polizeiblicken herum: „Was geht
hier vor?“ -- „Was wollen +Sie+ denn hier?“ wandte sich der
Kreispfiffikus an ihn -- „gehen Sie lieber nach Haus -- ich habe jemand
für Ihr Grundstück interessiert. Der wird gleich kommen. Oder war er
etwa schon da?“ -- Der Biedermaxe stutzte: „Wegen meines Grundstücks?“
-- „Na ja doch -- und ich vermittle den Kauf. Ich erwähne das, um mir
die Provision zu sichern. Ich nehme doch an, -- wie?“ -- „Aber mit
Kußhand!“ erwiderte der Biedermaxe wie umgewandelt. -- „Na denn jehn
Se man fix! Sonst verpassen Se den Koof! Hier is ja doch nischt weiter
los, als daß ick ne Ziehjarre in de Mülljrube jeworfen habe.“ Und der
Kreispfiffikus schob den Biedermaxe ab. Als ihm das gelungen war,
wandte er sich zu uns: „Nun aber, meine Herren, muß einer die Rolle des
Kauflustigen übernehmen und zu dem Biedermaxe hin. Das ist sonst ein
gefährlicher Kunde -- der zeigt an, was hier für ne Bescherung war. Den
müssen wir engagieren.“ -- „Paulchen!“ sagte Hartleben zu Scharbock,
„geh du mit Petern hin! Peter Hille soll den Kauflustigen mimen -- muß
sich das Grundstück dieses Biedermaxen besehn.“ -- „Also los, Kinder!“
sagte Bartels -- „ich bringe euch hin und instruiere euch des Näheren.
Übrigens, Onkel Pofke, legen Sie doch ein Achtel Freibier auf, für die
Feuerwehr.“

Mit schelmischer Liebenswürdigkeit reichte der Kreispfiffikus zwei
Damen den Arm: „Aber Herrschaften, hier verkühlt man sich. Rinn ins
Verjnüjen!“ Und lachend kehrten wir ins Gefängnis zurück. Einen
hübschen Einfall hatte Frau Martha: wir machten uns Kränze aus dem
geröteten Laube des Wilden Weins und aus Epheu, der bei der Kegellaube
rankte. Bald saß alles bekränzt, wie Griechen beim Symposion, lauter
frohe Gesichter, es duftete aus den Pokalen. Passend zur italienischen
Nacht klimperte meine Zither die Sicilianerweise Santa Lucia, und wir
sangen Fischlens Lied:

    „Sind es nicht Toren,
    Die da stets zittern
    Und sich das fröhliche
    Leben verbittern?
    Wein-, lieb- und liederfroh
    Horas non numero
    Nisi serenas!“




Herbstnachtigall


Die Farbe rosa kennzeichnet eine Gemeinde von Gläubigen: Mädchen
gehören ihr an, die gern eine seidene Schleife im Haar tragen;
Jünglinge, die beim Buchbinder unter Erröten zartbuntes Briefpapier
kaufen; Matronen, die bei einer Trauung an der Kirchenpforte harren, um
die Braut im Schleier zu sehen. Diese Rosagläubigen möchten natürlich
vernehmen, was des weiteren aus dem Grillenroman geworden. Zwar sind
sie davon überzeugt, daß die Hauptfrage zweier Herzen bereits gelöst
ist, sobald sie einander kriegen. Indessen hat man es gern, wenn der
Roman auch noch einen Ausblick eröffnet auf das Familienglück, das
selbstverständlich nun anhebt. Auch meinerseits ein wenig befangen von
solcher „Selbstverständlichkeit“, hatte ich meinen Grillen die Namen
gegeben „Philemon und Baucis“. Wie dies weltberühmte Paar in seiner
Hütte, sollten meine Grillen in glücklicher Gemeinschaft zirpen bis ins
äußerste Alter.

Auf das Rosapapier dieser Erwartung fiel freilich am Tage nach der
Grillentrauung ein dicker, schwarzer Klecks. Ich sah, wie Baucis
stumpfsinnig am Gittergewebe saß, während Philemon zum Fressen
aufgelegt schien. Schließlich hatte Philemon der geschabten Mohrrübe in
einer Weise zugesprochen, daß sie ihm nicht bloß Embonpoint verlieh,
sondern auch noch durch sein Eingeweide hindurchschimmerte. Wo war nun
der Grüne Donnerstag geblieben? Ziegelrot sah er aus. Baucis wie eine
vertrocknete Jungfrau, dabei so mürrisch und geistlos, daß ich den
Futterexzeß ihres Verlobten verständlich fand. Der Exzeß sollte ihn
dafür entschädigen, daß er mit der Braut reingefallen. Was aber das
Elendeste an diesem Conjugium war: das Singen hatte aufgehört; weder
Philemon noch Baucis brachte auch nur ein einziges „Zirp“ heraus. „Das
geht zu weit! Zur Lästerung wider Apoll und seine Musen darf eure Ehe
nicht ausarten. Laßt euch scheiden!“ Und ich machte kurzen Prozeß:
Durch Anton Bolle ließ ich die vertrocknete Jungfer Baucis zurück auf
den Akazienbaum bringen. Meinen entarteten Donnerstag sollte eine
Fastenkur wieder schlank, grün und poetisch machen. Und sieh, das half!
Nicht bloß, daß er am nächsten Tage schon etwas vergeistigt aussah, er
kroch auch lebhaft umher und hüpfte ein paar Mal. Und wie mittags die
Sonne durch den Herbstnebel drang, legte er mit seiner silberhellen
Geige wieder los. Da horch, vom Akazienbaum antwortete Baucis. Bravo!
Unermüdlich schmetterte das Duett. Ich sah nun ein, daß die Grillen
nicht mit Philemon und Baucis zu vergleichen seien, sondern mit
Pyramus und Thisbe, rührenden Vertretern einer „Distanceliebe“, wie
Bölsche so was nennt: ohne einen Kuß oder auch nur einen Händedruck
liebt man einander und wispert zärtlich durch den Spalt der trennenden
Wand. Sankt Plato, wie fein hast du das Wesen der Liebe gedeutet!
Vom göttlichen Eros lässest du deine Diotima sagen, er sei der Sohn
des Reichtums und der Armut, schwärme daher immer für etwas, das ihm
fehlt. Nicht, wo man hat und satt ist, nein, wo man darbt, sich nach
Entferntem sehnt, nur da zittert das Beten der Liebe zur Ätherwelt
empor. Es ist üblich, für den Mai zu schwärmen, und ich will blühende
Syringen, Nachtigallenflöten und verzückte Pärchen im Mondschein nicht
verachten. Doch der erfahrene Feinschmecker des Lebens schwelgt in den
letzten Sommertagen, im Vergilben und Erröten des Laubes.

Noch immer Sonnengold und Milde haben diese Novembertage. Der wilde
Wein über der Kegelbahn hat blutrote Blätter. Von den schneeweißen
Seidengespinsten schwebt noch eins durch die stille Luft zur
vergilbenden Akazie. In deren Krone sitzen zu Dutzenden die Stare,
versammelt zur Wanderschaft südwärts. Sie schwatzten, daß es wie Blech
rasselt. In hoher Luft aber raunt es, schnarrt und krächzt; keilförmige
Geschwader, Schulter hinter Schulter, rudern Wildgänse mit surrenden
Fittichen durch mattblauen Äther.

Horch, nur noch wie ein Säuseln singt meine Herbstnachtigall. War ihre
Weise ehedem dionysischer Taumel, jetzt ist sie seraphisches Schweben.
Und überhaupt eine andere ist sie geworden. Keine Nahrung nimmt sie
mehr, ihr Körper ist verschrumpft und verfällt vor Altersschwäche;
ein Bein ging bereits verloren und ein halbes Fühlhorn. In der
Ekstase fühlt sie sich erhaben über Körpergebreste. Die Außenwelt
ist ihr versunken, ihr Zirpen ist alles -- sie geigt pianissimo, mit
abgewetzten Flügeln. Als summe eine Greisin mit heiserer Stimme. Auch
an jenen Derwisch muß ich denken, dem ich in Kleinasien begegnete -- in
mystischer Hingabe neigte sich der Alte unaufhörlich wie ein wankender
Halm und lallte immerfort: „Allah! Allah!“ -- Verglommen das Abendrot,
kühl bricht die Nacht herein. In den Gefängnishof lugen erglimmende
Sterne. Verstummt ist die gute Grille Baucis; wer weiß, ob sie nicht
morgen erfroren unter der Akazie liegt, während Rauhreif an den
Blättern hängt.

Aus meinem Sinnen weckte mich die Besucherglocke. Freund Eckehart
war’s. In seinem bretternen Tuskulum war’s ihm zu kalt geworden,
und so hatte er sich in Friedrichshagen ein Stübchen gemietet. Ich
erriet, was ihm der Abschied vom Gute Rahnsdorf bedeute: Seine Diotima
war ihm ferner gerückt. Ich erzählte ihm von Pyramus und Thisbe und
der Distanceliebe. Er lächelte, als fühle er sein süßes Geheimnis
durchschaut. Da ich ihm somit näher gekommen war, schien er mich
belohnen zu wollen: „Ich wüßte eine Ablösung für Ihre beiden Grillen,
die verstummt sind. Was meinen Sie, wenn nächstens ein paar andere
Zirper dem Gefangenen eine Serenade brächten? Das heißt: der eine
Musikant ist ein Flötist, der andere ...“ Da er verstummte, ergänzte
ich: „Diotima?“ Seine Antwort war freudiges Erröten: „Ich sprach schon
mal davon.“

Ich wollte danken und Näheres vereinbaren -- indessen hatte es
das geheimnisvolle Walten, in dem wir leben, weben und sind, ganz
anders gefügt. Onkel Pofke war eingetreten, er sah verstört aus und
stammelte: „Hier is -- ob hier Herr Eckehart --? ’ne Dame fraacht
nach Sie -- hier is se.“ Indem er sich zurückzog, trat eine weibliche
Gestalt ein, schlank, in Wintermantel und Pelzbarett. Es war Diotima
-- aufschluchzend warf sie sich an Eckeharts Brust. Er hielt sie
umschlungen und blickte angstvoll. Das Taschentuch vor die Augen
gepreßt, wimmerte sie: „Großmutter!“ -- „Was ist mit Großmutter?“ Da
kam ihr Aufschrei: „Tot!“

Krank war die gute Alte nicht gewesen -- nur daß heute ihre Mattigkeit
und Wortkargheit aufgefallen war. Als gegen Abend die Wildgänse
geflogen kamen, hatte sie gewünscht, vors Haus geführt zu werden.
Am Arm der Enkelin hatte sie emporgelauscht, wie das Keilgeschwader
schattenhaft am Himmel dahinzog, Rufe der Sehnsucht raunte und
schwirrend mit den Fittichen ruderte. Zufrieden war sie dann ins
Stübchen zurückgekehrt und auf dem Lehnstuhl eingenickt. Als der
lautlos starre Schlaf das Mädchen befremdete, war die Greisin ohne Atem
und kalt. In ihrem ratlosen Weh war Diotima sofort nach Friedrichshagen
geeilt und hatte in Eckeharts eben gemieteter Wohnung vernommen, er sei
bei mir.

Jetzt drückte mir Eckehart schweigend die Hand zum Abschied -- weinend
hing ihm Diotima am Arm ...

Am dritten Tage ging ich zu Großmutters Begräbnis, begleitet von Onkel
Pofke, der die Amtsmütze trug. Hinter der Rahnsdorfer Mühle brachen
wir abgeblühtes Heidekraut und einen stattlichen Wacholderzweig. Als
Leidtragende waren fast alle Bewohner des Dörfchens und der Rahnsdorfer
Mühle erschienen. Die Männer trugen den Sarg über den Wiesenweg nach
dem wacholderumhegten Friedhof. Diotima weinte an Eckeharts Arm. Der
Prediger sprach von den Ähren, deren Bestimmung es sei, unter der
Sichel zu fallen. Mag das zeitliche Gewand vergehen, die Ernte kommt,
wohin sie gehört: zur Scheuer der Ewigkeit, zu den Schätzen, die nimmer
schwinden. So zu herbsten, ist alles Lebendige berufen. Drum rette dich
aus dem Taumeln des Novemberlaubes, fühle dich heim zum Frieden! --
Als Abschiedsgruß warfen wir Heidekraut und Wacholder ins Grab. Eine
Kindergruppe sang: „Es ist bestimmt in Gottes Rat ...“

Als ich mit Onkel Pofke heimging längs des Müggelsees, erblühten am
klaren Himmel die Sterne. Onkel Pofke meinte weich: „Da liecht se nu in
ihren helzernen Schlafrock -- un det is unsre nobelste Uneform ...“

Die Herbstnachtigall schwieg ... Schlafe! Bist jetzt abgelöst von einer
Genossin -- einer himmlischen. Die singt wie Orgelsummen; droben aus
dem Reigen der Funken singt sie -- und ladet meine Seele zum Flug ins
Grenzenlose. Und wie vor Wochen zu meiner Grille eine angelockte sich
gesellte, so antwortet jener Friedensstimme, die vom Sternenhimmel
flötet, als Echo noch eine andere. Hienieden in meinem Gemüte hat sie
sich niedergelassen -- gehört aber beiden Welten an, der Erde und dem
Himmel. Eine Prophetin ist sie höchsten Menschentums; sie wohnte einst
in einem schönen, beschaulichen Greise, der es verstand, aus seinen
Lebenstagen Musik zu machen; und das feierliche Finale ist sein hohes
Lied von der Lebensreife: „Was fruchtbar ist, allein ist wahr.“ Ja
Fruchtbarkeit -- der Baum, der aus vergilbten Wipfeln köstliche Keime
in den Schoß der treuen Erde wirft -- das ist die Wahrheit im Wahn
des Lebens, ist aller Wesen und aller Welten ewiger Sinn. Drum jubelt
sieghaft die weise Herbstnachtigall:

    „Dann ist Vergangenheit beständig,
    Das Künftige voraus lebendig --
    Der Augenblick ist Ewigkeit!“




Von Badewannen und Müggelpiraten


In meiner Kindheit ging das geflügelte Wort, ein Gradmesser der Kultur
sei der Verbrauch von Seife. Der deutsche Michel war stolz, daß auf
Geheiß seiner Hausfrau jeden Samstag nicht bloß Ausklopfen der Teppiche
und Scheuern der Dielen stattfand, sondern auch große Reinigung der
ganzen Familie. Wenn dabei die Seife üppig schäumte, hatten die Kleinen
viel Spaß. Damals reichte die Wasserleitung -- in den Städten, die
sich dazu aufgeschwungen hatten -- nur bis zum Straßenbrunnen, der
sogenannten „Kunst“. Hatten dort die Mägde das Wasser in ihre Eimer
gelassen, so plantschten sie ein Drittel wieder heraus, während sie es
die Treppen heraufschleppten. Man kann ermessen, wie umständlich es
damals war, die Badewanne zu füllen.

Doch was sage ich? Eine Wanne war ja schon Luxus. Die meisten Familien
benutzten zum Baden den großen Wäschezuber aus Holz, eimerweise mit
dem dampfenden Naß versehen. Der alte Kaiser Wilhelm hatte -- wie aus
seinen Haushaltungsbüchern hervorgeht -- keine eigene Wanne, sondern
ließ Sonnabends vom benachbarten Hotel de Rome eine holen, und dafür
wurde Leihgebühr entrichtet. In den Gemächern, die Friedrich der Große
in Sanssouci bewohnte, sieht sich der Besucher vergebens nach einer
Badegelegenheit um, und so sparsam wandte man damals das Wasser an, daß
die Waschschüssel in der Schlafkammer nicht viel größer war als ein
Vogelnapf. Hinein war ja auch nur ein Schwämmchen zu tauchen, um Augen
und Nase zu netzen -- mehr Waschung hatte ein waschechter Aristokrat
damals nicht nötig, zumal Puder und Schminke die Creme seiner Toilette
ausmachten.

    „Eins zwei drei, im Sauseschritt
    Läuft die Zeit -- wir laufen mit.“

Bei solchem Fortschrittstempo nimmt es nicht Wunder, daß ein
Jahrhundert nach dem Tode des Alten Fritz in seiner Kolonie am
Müggelsee der obrigkeitliche Sinn für Waschen und Baden schon annähernd
so entwickelt war wie am Hofe des alten Kaisers Wilhelm. Will sagen,
daß das Amt Friedrichshagen wenigstens grundsätzlich zugestand, ein
Sonnabendbad gehöre zu jenen Menschenrechten, auf die selbst ein
armer Gefangener Anspruch hat. Für ihn geliehen wurde allerdings
keine Badewanne. Zuerst war das Amt Friedrichshagen überhaupt etwas
schwerhörig ~in puncto~ „Baden“. Doch auch in dieser Hinsicht
„Umstürzler“, räumte ich auf mit der „verdammten Bedürfnislosigkeit“.
Bereits in den ersten Tagen meiner Gefangenschaft hatte ich dem
Amtsdiener eröffnet: „Hören Sie mal, bester Bolle -- wie steht’s in
Ihrem Hotel mit der Badegelegenheit?“ Er lächelte, als wolle ich
scherzen. Als er merkte, daß sich ernstlich eine Kulturforderung
geltend mache, brachte er eine Kanne warmes Wasser. „Sehr angenehm,
Bolle, -- aber hoffentlich mutet das Amt einem Manne von meiner Länge
und Breite nicht zu, in dieser Waschschüssel zu baden.“ -- „Ja, aber
nee, Herr Dokta! Se wollen doch nich wirklich ne Badewanne? Die ham’ ma
selbst in det Hotel nich -- un hier hinten is ja kaum Platz fier Bett
un Ofen un Emmer. Wat muten Se uns zu?“ -- „Was muten Sie +mir+
zu, Bolle? Melden Sie gefälligst dem Herrn Amtsvorsteher, daß ich
auf Sauberkeit halte und hier nicht verkommen will -- widrigenfalls
ich die Flucht in die Öffentlichkeit nehme.“ -- Sein Amtsgesicht war
plötzlich versteinert: „An Flucht denken Se, an Flucht? Un bloß von
wejen de Badewanne?“ -- „Ich denke daran, daß meine Freunde von der
Presse demnächst öffentlich beleuchten werden, was für Zustände hier
herrschen.“ -- „Himmelkaldaunen, man bloß nich! Un mit det Baden wer’
ma schon Rat schaffen. Vielleicht jenehmijen se bei Dokta Jacobyn een
Zellenbad -- wenn Se fufzig Fennije rieskian wollen.“ -- „Riskier’
ich gern! Ist aber nicht nötig. Ich habe ja in meiner Wohnung eine
Badestube.“ -- „Na ja doch! Sehen Se! Bade zu Hause! Koche mit Jas!
Drinke Lippentriller! Warum ha’m Se det nich +jleich+ jesaacht?
So wird et jehn! Jedenfalls sprech ick noch heite mit’n Herrn
Amtsvorsteha.“

Und richtig, bald darauf meldete mir Bolle, ich könne jeden Sonnabend
in meiner Häuslichkeit baden, er müsse mich allerdings hinbegleiten.
„Schön! Sagen Sie dem Herrn Amtsvorsteher meinen Dank. Ha, wie sehn’
ich mich danach, den Kerkerstaub von mir abzubrausen! Und darauf, Herr
Bolle, tun Sie mir Bescheid! Nehmen Se man ein Gläschen auf Ihren
Diensteid!“ Solche bescheidenen Genüsse sollten für ihn die Korinthen
im nüchternen Teige der Amtlichkeit sein. Doch dieser altpreußische
Spartaner entgegnete: „Bloß keene Beamtenbestechung!“ Übrigens verdient
er auch nicht den Verdacht materialistischer Genußsucht; denn die
Wonnen des Geistes fanden in ihm einen dankbaren Verehrer -- wie er
beispielsweise in meinem Schreibzimmer, während ich badete, alte
Jahrgänge der „Fliegenden Blätter“ mit Hingabe studierte und hinterher
rühmte: „Et war zum Piepen!“

In solcher Gemütlichkeit hatte sich das Baden etlichemal abgespielt,
als an einem Dezembersonnabend ein Abenteuer geschah. Kaum war ich in
die laue Flut getaucht, als an der Flurklingel gerissen wurde. Ich
hörte, wie Frau Pape die Flurtür öffnete und wie weibliche Stimmen
aufgeregt verhandelten. Dann der Amtsdiener: „Wat is denn los?“
-- „Du mußt jleich nach’n Kurpark!“ Das war Frau Bolles Stimme --
„aber flott -- da treten alle Amtsdieners an, ooch die Schandarme --
Klempnermeester Kuhlicke veranstaltet eene Razzia uff de Müjjelpiraten
-- die ha’m wieda wat ausjefressen -- bei Rahnsdorf eenen Renntieh
ausjeplindat -- un treiben sich nu bei Scheeneiche rum -- von da is
tellefonniert -- un nu soll de Heide abjesucht werden -- du mußt
fix nach’n Kurpark, von da jeht de Razzia los.“ In die örtlichen
Verhältnisse eingeweiht, begriff ich die Bedeutung dieser Worte.
Kuhlicke war Stellvertreter des zur Zeit beurlaubten Amtsvorstehers
Kloß. Als Vorsitzender des Kriegervereins fühlte er den Beruf, mit
soldatischer Schneidigkeit einen Schrecken der Umgegend hinwegzufegen:
jene Bande halbwüchsiger Burschen, die im Gebiet der Oberspree unter
dem Namen „Müggelpiraten“ Einbrüche und Räubereien verübte.

Dem Amtsdiener kam der Befehl seines Vorgesetzten recht ungelegen; da
sollte er nun sein behagliches Lesestündchen vertauschen mit einem
Streifzug durch winterlichen, finstern Wald. Ich hörte sein nörgelndes
Brummen, er habe doch einen Arrestanten zu versehen. Frau Bolle
entgegnete: „Ach, det macht nischt! Der Herr Dokta kann +alleene+
in seinen Arrest jehn.“ Aber nun hatte Bolle ein ernstes Bedenken:
„Hurre Jott! Ick habe nich mal meine Pistole! Nee, so wat, Karline!
Warum haste mich meine Pistole vajessen! Ick muß mir doch vateidijen
jejen de Piraten. +Die+ Brieder fackeln nich, die schießen
unsaeenen paff ieban Haufen.“ Ich hörte, wie Frau Bolle die Hände
zusammenschlug und weghastete: „Ick +hole+ die Pistole, ick bringe
se +eejal+ nach’n Kurpark.“ -- Bolle rief ihr nach: „Un nich
de Patronen vajessen! Ick trolle mir so sachteken nach’n Kurpark --
Ordnung rejiert de Welt, un der Knüppel de Leite.“

Nun hörte ich meine Frau mit Frau Pape aufgeregt über die Piraten
verhandeln. Dann klopfte es an die Tür des Badezimmers. „Se haben woll
jeheert, Herr Dokta,“ sagte Bolle, „ick muß Ihnen leider im Stich
lassen, von wejen det vadammtichte Piratenjesindel.“ -- „Habe alles
gehört, Bolle! Meinetwegen können Sie getrost auf Ihre Räuberjagd gehn
-- ich finde mich allein ins Hotel zurück.“ -- „Na ja doch, +sind+
Se so jut! Un wat de Arrestschlüssel sinn, die leje ick hier vor Ihre
Badestube -- uf de Schwelle in de Ecke.“ Und ich hörte die Schlüssel
klappern. „Schon gut, Bolle! Übereilen Sie sich nicht! Meine Frau soll
Ihnen eine Herzstärkung mitgeben -- ein paar Stullen und einen guten
Tropfen -- das ist Seelenpatrone -- die Seele muß mit Feuer geladen
werden.“ -- „Nehm ick ausnahmsweise an, als patriotische Liebesjabe.
Man kann ja nich wissen ...“ Bald stapfte Bolle die Treppe hinunter,
während ihm Frau Pape nachrief: „Kommen Se man heil retur!“ --

„Du hast es doch nicht eilig,“ meinte meine Frau, als ich nach dem
Bade meine Absicht äußerte, bald ins Gefängnis zurückzukehren. Ich
gab die brave Antwort: „Möchte mir nicht nachsagen lassen, ich hätte
die Situation ausgenutzt. Und du bist ja heute Abend bei Norskeborgs
eingeladen.“ -- „Damit hat es noch gute Weile -- ich habe gesagt, daß
ich erst nach dem Abendessen komme, auf ein Stündchen. Übrigens passe
ich nicht zu diesen ausländischen Literaten. Norskeborgs haben als
Logiergast einen Schweden -- er wird dir wohl dieser Tage einen Besuch
im Gefängnis machen.“ -- „Wie heißt er denn?“ -- „Na, so’n verkannter
Dichter soll er sein -- Stinte, glaub’ ich, heißt er.“ -- „Du meinst
doch nicht etwa Strindberg?“ -- „Ganz recht! so war der Name! Und denke
dir, einen höchst wertvollen Koffer hat man ihm auf einem Berliner
Bahnhof gestohlen -- und er soll ohnehin schon ein armer Teufel sein.“
-- „Na, dann wird der Koffer nicht gar so wertvoll gewesen sein.“ --
„Der Koffer enthielt ein Manuskript, sonst nichts.“ -- „Ha ja, dann
natürlich --“ „Und Frau Norskeborg sagt, das Manuskript handelt von der
Kunst, Gold zu machen.“ -- „Es scheint ihm aber noch nicht gelungen zu
sein, Gold zu machen.“ -- „Etwas seltsam ist er, sagt Frau Norskeborg
-- aber der bedeutendste Dichter Schwedens.“ -- „Wenn ihr Mann so
urteilt -- er versteht natürlich was davon.“ -- „Norskeborgs sind doch
selber Schweden, wie?“ -- „Er ist Schwede -- sie Deutsch-Russin. Olaf
Norskeborg hat als Kritiker wie als Dichter etwas los. Frau Norskeborg
ist zwar eine geistreiche Frau, versteht aber nicht alles, wovon
sie schwätzt. Von Strindberg kenne ich eine hübsche Schilderung der
Insellandschaft bei Stockholm -- außerdem Dramen, die das weibliche
Geschlecht grimmig beurteilen.“ -- „Stimmt! Frau Norskeborg nannte ihn
einen Weiberfeind -- sie hat ihre liebe Not mit seinem Mißtrauen.“ --
„Um so mehr ist es anzuerkennen, daß Norskeborgs ihm Gastfreundschaft
gewähren. Es ist auch nett von ihnen, daß sie mich dabei haben möchten,
und es tut mir recht leid -- ich verpasse da was. Bedanke Dich bestens
für mich und grüße allerseits! Und wenn Norskeborgs mir ihren Gast
in mein Gefängnis bringen, möchten sie sich doch vorher anmelden.
Schwedens größtem Dichter müssen wir einen gebührenden Empfang
bereiten, mindestens mit schwedischem Punsch. Na also -- viel Vergnügen
und gute Nacht!“

Wie gewöhnlich ging ich, um nicht aufzufallen, einsame Wege. Als ich
in die Müggelstraße bog, stutzte ich: Die Gefängnisschlüssel! Die
habe ich ja vergessen! Vor der Badestube sind sie liegen geblieben!
Nun muß ich wohl wieder umkehren? Zum Kuckuck nein! Vielleicht ist in
Bolles Wohnung ein zweites Paar Schlüssel. Sonst mag jemand für mich
zurücklaufen!

Ein zweites Paar Schlüssel hatte Frau Bolle nicht -- aber sie
sagte zu ihrem Anton: „Hopp nach de Kastanien-Allee und von Frau
Doktan de Schlissel jeholt!“ Für den Fall, daß meine Frau schon
weggegangen wäre, gab ich dem Jungen die Adresse Norskeborgs an. Meine
Wartezeit bei Frau Bolle wurde natürlich durch ein Gespräch über die
Müggelpiraten ausgefüllt. Grauliche Einzelheiten berichtete sie über
die Ausplünderung des Rentiers -- einen Knebel im Mund sei er im Forst
bei Schöneiche an einen Baum gebunden und fast erstickt gewesen. Aber
der Klempnermeister Kuhlicke werde die Müggelpiraten schon fassen --
er habe auch Freiwillige aufgeboten, vom Kriegerverein und von der
Feuerwehr.

Der Knabe kehrte zurück -- aber die Schlüssel hatte er nicht. Weder in
meiner Wohnung noch bei Norskeborgs habe er meine Frau angetroffen,
bei mir sei überhaupt keiner zu Hause. -- „Meine Frau wird gegangen
sein, um noch irgend was zu besorgen. Dumme Geschichte! Was ist da
zu machen, Frau Bolle? Ich kann Sie doch hier nicht länger stören.
Obdachlos will ich aber auch nicht sein.“ -- „Aber wat kann denn ick
dafier, Herr Dokta, det Se den Schlissel ...“ -- „Soll ich meines
Kerkerschlüssels Hüter sein? Das geht zu weit! Und nun beachten Sie,
Frau Bolle: Sie sind in meinen Augen jetzt die Polizei. Wohlan, hier
stelle ich mich pflichtschuldigst meiner Polizei. Nimmt sie mich an?
Oder weist sie mich ab? Tut sie das letztere, so ist sie für die Folgen
verantwortlich. Mir soll man keinen Vorwurf machen.“ -- „Ach, vakohlen
Se mir nich! Wat soll denn weiter sinn? Se brauchen bloß Ihre Frau zu
suchen, un wenn Se den Schlissel haben, denn kommen Se rasch, wohin Se
jeheeren. Mit Ihre Obdachlosigkeit is det nich weiter schlimm. Mein
Mann, +det+ is der Bedauernswerte. Da muß er nu nach Piraten
schnüffeln -- in de finstre Haide -- un die Brieder kriejen fertig,
ihm anzuschießen ... Mein Jott, wenn ick mich det so vorstelle ...“ --
„Mag er selber doch schießen! Seine Patronen hat er ja! Na also! Legen
Sie sich getrost schlafen!“ -- „Schlafen? Keen Auge kann ick zuduhn,
solange mein Mann nich heil zurick is. Ohne Mann is de Frau wie’n Hund
ohne Schwanz!“

Stillvergnügt warf ich die Tür, die vom Hofe zur Straße führte, in
ihr wackeliges Brettergestell. Auf, zu Olaf Norskeborg und Schwedens
größtem Dichter! Wie einem Studenten, der bummeln geht, hüpfte mir das
Herz bei der Aussicht auf die gemütliche Gasterei. Ich war skrupellos;
ohne mein Zutun fügte sich alles, als habe sich Fortuna kapriziert,
mir diesen Urlaub aufzudrängen. Fortünchen, du Schelm, was führst du
im Schilde? -- Um nicht erkannt zu werden, zog der Durchgänger den
Schlapphut in die Augen und vermummte sich in den Mantelkragen, was
auch sonst angebracht war, da die Nacht frostig schnob.




Schwedische Schüssel mit Konfusionen


Strindberg -- so ging es mir durch den Sinn -- kann hoffentlich
deutsch. Diese Skandinavier sind zurzeit Mode. Ob sie wirklich so viel
Talent haben? Bei den Tannen und Birken der Mitternachtssonne gedeiht
künstlerische Urwüchsigkeit allerdings besser als im Nachtcafé von
Berlin-W. Auch ist der nordische Naturalismus insofern gangbar, als der
deutsche Verleger ihm nur geringe Honorare zahlt -- oh, ein wichtiger
Punkt! Denn hat ein Journal einen Roman von Bjarne Knudsen für ganze
dreihundert Mark erworben, so erfordert es natürlich des Verlegers
Geschäftsinteresse, daß besagter Bjarne Knudsen der gläubigen Lesewelt
als neuster Stern der Weltliteratur angepriesen wird. Übrigens liebt
unser Michel grundsätzlich das Ausländische -- und heißt einer Runeholm
oder Sigurdson, so stellt sich das deutsche Publikum darunter gleich
einen ollen Skalden vor.

Unter solchem Sinnieren war ich zu dem Häuschen gelangt, das Olaf
Norskeborg gemietet hatte. Da er sich in Schweden nicht hinreichend
anerkannt fühlte, so hatte ihn seine lebenskluge Frau nach Berlin
gebracht, wo das Skandinavische gerade Trumpf war. Durch Bölsche,
der die Zeitschrift „Freie Bühne“ herausgab, war Norskeborg für
Friedrichshagen interessiert und Mitglied der „Kolonie“ geworden, um
sich, was ihm keiner übel nimmt, in Deutschland entdecken zu lassen, wo
schon mancher Prophet, der bei den eigenen Landsleuten wenig galt, den
Grundstein zu seinem Ruhmesmonument gefunden hat. War nun Strindberg
in solcher Absicht gekommen? Nicht doch! Das wäre zu klein gedacht von
diesem Wickinger, den man naiv, nicht raffiniert nennen mag. Übrigens
war er nur vorübergehend hier, wie meine Frau sagte -- sonst in Paris
ansässig.

Als ich bei Norskeborg die Türklingel gezogen, öffnete mir die
Haushälterin Fröken Ingrid, eine stattliche Bauerntochter aus Schonen.
Von dort stammte auch Olaf Norskeborg, der Sprosse eines alten
Bauerngeschlechts. Eben trat er zu mir auf den Flur, wo ich den Mantel
ablegte. Ein schlanker Dreißiger, blauäugig, mit blondem Schnurrbart,
etwas nervös. Die Röte seiner durchsichtigen Wangen ließ merken, daß
er animiert war -- sonst bewahrt das Angesicht dieser Skandinavier
frostige Unbeweglichkeit. Seine Augen drückten Staunen aus: „Ssie
ßind nicht im Gefängnis? Ihre Frau ßagte doch, wie?“ -- „Ich gehöre
allerdings hinein -- doch es behielt mich nicht -- hat mich ausgespieen
wie der Walfisch den Propheten Jonas -- und, was komisch ist,
momentan kann ich nicht zurück -- der Kerkerschlüssel ist verlegt.“ --
„Ssonderbare Ssasche,“ lächelte Norskeborg -- „aber famos! Kommen Sie!
Strindberg ist da -- auch Przscki -- Sie kennen doch den Polen?“ --
„Aus der Freien Bühne, ja! Und wie steht es mit meiner Frau? Ist sie
da?“ -- „Noch nicht -- hat aber zugeßagt.“ -- „Immer noch nicht? Welche
Verwicklung! Doch spaßhaft, sich treiben zu lassen von diesem krausen
Wellenspiel!“

Norskeborg führte mich ins Speisezimmer, es war eng, wie das ganze
Häuschen. Mit lärmender Heiterkeit empfing mich Frau Lina Norskeborg.
An dem Ehepaar war ersichtlich, wie sich die Extreme anziehen und
verbinden. Jedenfalls ergänzte sie seine Mädchenhaftigkeit durch
männliche Massivität, seine sanfte Stimme und Wortkargheit durch eine
derbe Beredsamkeit.

August Strindberg, dem ich nun vorgestellt wurde, war mittelgroß und
kräftig, schlank und elastisch, obwohl er hoch in den Vierzigern war.
Hinter seiner felsenhaften Stirn lauerte finstres Grübeln. Die Locken
verrieten rebellische Wühlerei. Das graublaue Auge schien nicht nach
außen gerichtet, sondern mit verstecktem Innenleben beschäftigt; wenn
es aber die Außenwelt fixierte, fehlte selten ein Zug des Mißtrauens.
Die kartoffelförmige, oben etwas platt gedrückte Nase ließ auf
lappländisches Blut schließen. Eine Mischung von Trotz und Geziertheit
sprach aus dem kleinen, dicklippigem Munde. Nach oben spreizte sich ein
kurzes Schwedenbärtchen, eins aus dem Dreißigjährigen Kriege, während
über dem zurückliegenden Kinn, das winzig wie ein Knopf war, eine
sogenannte Fliege saß.

Darf man Persönlichkeiten mit Getränken vergleichen -- und in mancher
Gesellschaft liegt dieser Vergleich gewiß nicht fern -- so hätte für
Strindberg das schwere und zähe, dunkle, bittere Porterbier gepaßt.
Was ferner den Polen Przscki betrifft, so würde ihm moussierender
Schnaps entsprechen, wenn es welchen gäbe. Ich meine etwas brennend
Prickelndes und Aufrüttelndes. Wenn er zu mir sprach, kitzelte es
in meiner Nase wie Kohlensäure oder Schnupftabak. Schon sein Name
wirkte so -- sieben zischende Konsonanten mit dem Fistelgezwitscher
des einen Vokals -- in echter Aussprache klang es fast wie „pschih!“
Als ich ihm zum erstenmal begegnet war und er sich mir vorstellte,
meinte ich, dieser Herr, der sich vor mir verneigte und dabei „pschih“
sagte, wäre von einem +Nies+-Kobold überfallen, und so hatte ich
mit lächelnder Höflichkeit erwidert: „Pröstchen!“ Übrigens tränten
die mattblassen Augen des Polen, als habe er Schnupfen. Paßte das
Schlagwort Decadence nicht im mindesten auf Strindberg, so desto besser
auf Przscki. Seine schmächtige Gestalt hatte etwas Zusammengesunkenes.
In den bleichen Zügen des schmalen Blondkopfes verschmolzen slawische
Sinnlichkeit und romantische Träumerei mit dem ironischen Aufbegehren
eines geknechteten Edelvolkes, und es war, als müsse dieser polackische
Byron seine schwermütige Schlaffheit immer von neuem aufpeitschen
durch einen Ruck seines Motors -- will sagen durch einen Schluck aus
dem Weinglas, das er hin und wieder mit Kognak füllte. Überhaupt hatte
an Norskeborgs Tafel die Abstinenz nichts zu schaffen, zumal sie auch
sonst in jener guten alten Zeit fast bedeutungslos war.

Da ich die Tafel erwähnt habe, so interessiert es vielleicht, daß
sie schwedisch hergerichtet war -- als Buffet, wo bei einem Rondell
von Tellern, einem Wall von Messern und Gabeln pikante Konserven und
allerlei kalte Schüsseln den Appetit herausforderten. Der Fisch spielte
die Hauptrolle; es gab Ölsardinen, Sylt und Geleefisch, geräucherten
Lachs und sogar ein Kleckschen Kaviar, dann natürlich Hering, viel
Hering -- Hering in verschiedener Bereitung: salzig, sauer, geräuchert,
gebraten, auch als Salat. Neben all diesem zarten Fleisch der See war
auch solches von Land- und Lufttieren vertreten: Bratenreste, Schinken,
kaltes Huhn ... Obwohl es Winter war, hatte Frau Flora eine Deputation
gesandt: Sellerie als Salat, rote Rüben, Salzgurken, sogar etliche
Scheibchen Gurkensalat, dazu Petersilie als garnierende Augenweide.
Den Haupteffekt dieser Schlemmertafel bildete ein warmer Gang, den
plötzlich die Walküre Ingrid auftrug; ihre Wangen glühten vor Stolz
über ihre Leistung. Für Gulasch hielt ich dies geschmorte Fleisch, doch
sonderbar, nicht pfeffrig war’s, sondern süß -- und Strindberg liebte
es +noch+ süßer, er tat aus einer Streubüchse Zucker darüber.
Vollends wie in Schweden fühlte er sich, als Ingrid gezuckerten
Käse und selbstgebackenes Anisroggenbrot anbot. Fleißig ging die
Aquavitflasche herum; für den massiveren Durst sorgte eine Bierbatterie.

Während dieser Schlemmerei blieb die Unterhaltung einsilbig auf
Seiten der Herren, die sich ans Materielle hielten. Unermüdlich
haspelte Frau Lina allerhand Geistreichigkeit herunter. Von nordischen
Literaturgrößen plauderte sie. Vom apothekerhaften Analytiker
Ibsen mit der beobachtend scharfen Brille und den verkniffenen
Satirikerlippen. Vom deklamierenden Freiheitsprotzen Björnson. Vom
dänischen Literaturdiktator Brandes und seinem Lieblings-Café in
Kopenhagen. Nun sprang Frau Lina auf die Geschichte der deutschen
Dichtung über. Ich hatte den Hainbund erwähnt, da orakelte sie von der
„Pariser Matratzengruft“, wo es nicht so viel Rückenmark gebe, wie in
den „Barden-Konventikeln von Göttingen“. Als ich um Deutung dieses
Tiefsinns bat, stellte sich heraus, daß sie Heine für den Gründer
des Hainbundes hielt. In seiner Pariser Matratzengruft habe er immer
noch Esprit genug besessen, um dem Barden Klopstock, der sich von
abgefallenen Eicheln deutscher Urwälder gemästet habe, endlich den
verdienten Genickfang zu versetzen. Przscki, der genug von deutscher
Literatur verstand, prustete in diesem Momente, daß wir glaubten,
Aquavit sei ihm in die unrechte Kehle gekommen. Dann faßte sich der
edle Pole aus der Polackei und wollte der Dame des Hauses seine
jubelnde Huldigung zu Füßen legen. Olaf Norskeborg, wie ein junges
Mädchen errötet, berichtigte die phantasievolle Gattin dahin, daß der
Hainbund ja bereits dreißig Jahre vor Heines Geburt, in einem Haine bei
Göttingen, gegründet worden -- und so weiter. Frau Lina machte große
Augen und meinte in ihrer ostsee-russischen Mundart: „Näin, werklich?
Ech dachte ümmä, der Häinbund wäre von Häine jejründet ... Abä Olaf,
was starrst de mech an wie Jrillparzers Ahnfrou? Schräib lieber äin
Feuilleton über däine phänomenalen Kanntnisse!“ Verlegen zuckte Olafs
Schnurrbart über der schmollenden Oberlippe.

Das Peinliche der Situation suchte ich wegzuscherzen: „Solche
kleinen Verwechslungen sind oft lustig. Sie beruhen auf einer
Ideen-Assoziation, die an Stelle einer Vorstellung eine ähnliche
schiebt -- was bei geistreichen Leuten vorkommt. Die Geschichte vom
Oranienburger Bürgermeister gehört hierher -- kennen Sie die?“ --
„Ach bette, Dokterchen, scheeßen Se los!“ -- „Na also! Es war zu den
Zeiten, als Amadeus Hoffmann mit seinem Freunde Devrient nach dem
Theater in der Weinstube von Luther und Wegener kneipte. Hier fanden
sich allerlei Musenjünger zusammen, es kamen auch Neugierige aus der
Provinz. In einer süffigen Sommernacht, als die Wellen der Unterhaltung
gemütlich plätscherten, wandte sich ein Fremdling, ein Aktuarius, an
seinen Nachbar: ‚Hären Se, mei Kudester! Wer is Sie tenn eechentlich
der keistreiche Herr triebn, der son Kopp hat wie Alegsander von
Humpoldt?‘ -- ‚Ah, Sie meinen den Tieck!‘ -- ‚+Was+ saachen Se?
Ter Dieck is tas? Ter beriehmde Ginstler? Ei Herrjemersch! Un ta pleibt
alles meisjenstill? Keener, der sich uffschwingen duht zu eenem gleenen
Doaste uff Diecken un die scheenen Ginste? Mer wärn uns toch nich
lumben lassen!‘ Und entschlossen klingte er an sein Glas, erhob sich
und sprach mit verzücktem Lächeln: ‚Wenn geener nich ne Lippe riehren
duht, nähmen Se mersch nich iepel, ich pin so frei -- un tie Kefiehle,
die uns pei tiesem eenzichen Rendezvous erläsener Scheenkeister
besälichen duhn, lassen Se mich tiese Kefiehle zusammenfassen in tas
wunterscheene Schillerwort: Seid umschlungen Millichonen! Stoßen Se
alle prieterlich an -- un verstehn Se meine zarde Anspielung, wenn
ich nu eenfach rufe: Fifat Oranichenburch!‘ Willig erhob sich alles
-- obwohl man nur stutzig in das rätselhafte Vivat einstimmte. Mit
stolzer Begeisterung aber sprang unverzüglich ein dickes Männchen auf,
das wie ein wohlhabender Ackerbürger aussah: ‚Meine Herren! Ihr Vivat
ehrt un rührt mir. Ja doch, ick bin der Bürjermeester von Oranienburch,
wo heite Jeburtstag feiert, un bin aus mein obskuret Städtken nach
Berlin jereist -- un wollte mal diesen illustren Kreis von Schenies
sehn. Meine Herren, ermessen Se meine Freide, wie mir nu so unerwartet
diese Ovation widerfährt! Meine Herren, ick lade Ihnen alle zu eene
Punschbowle in, von die wir uns schließlich abkühlen wollen mit een
Jläsken Schlampagnerwein.‘ Allerseits frohe Bewegung. Um den Aktuar,
der mit seinem Toaste diesen Erfolg zustande gebracht, bildete sich
eine raunende, staunende Gruppe, doch man hörte ihn protestieren: ‚Ich
+genne+ geenen Berchermeester von Oranichenpurch! Wie soll ich’n
taderzu gommen, eene so elentichliche Gleenstadt läpen zu lassen?
Ich meene toch nadierlich tas +perihmde+ Oranichenburch!‘ Was
er mit dem ‚berühmten‘ Oranienburg meinte, kam erst heraus, als sich
bei dampfender Bowle der zierliche Kammergerichtsrat Hoffmann erhob,
während seine Kateraugen funkelten und über sein nervöses Gesicht
ein Wetterleuchter guter Laune zuckte: ‚Meine Herren! Wir kommen zu
dieser Bowle wie die Magd zum Kinde. Doch weil sie nun einmal ihr
lockendes Arom in unsre Nüstern haucht, wollen wir dankbar trinken
auf das Wohl des Geburtstagskindes und seiner ehrenfesten Stadt. Aber
das Vivat Oranienburg, das vorhin der Herr Aktuarius ausgebracht
hat, beruht auf einer Kette von Verwechslungen. Anlaß dazu gab der
an unserer Tafel sitzende +Bildhauer+ Tieck. Als der Herr aus
Leipzig diesen zwiefach berühmten Namen hörte, verwechselte er ihn
mit dem +Dichter+ Tieck, verwechselte diesen auch noch mit dem
Dichter +Tiedge+, verwechselte Tiedges Dichtung ‚+Urania+‘,
die heutzutage in aller Munde ist, mit +Oranien+ -- verwechselte
dieses endlich mit dem reizenden Städtchen +Oranienburg+ --
dessen Bürgermeister zufällig -- doch nein: der nach dem feinsinnigen
Ratschluß der olympischen Tafelrunde heute seinen Geburtstag feiert,
ausgesucht an dieser Stätte, und ...‘“

Hier unterbrach mich Frau Linas robustes Gelächter.




Goldmacherei und Strindbergs Koffer


Da Przscki aufsprang und mir einen schelmischen Wink gab, folgte ich
ihm ins Nebenzimmer: „Hörren Sie!“ sagte er lebhaft, „ich habbe serr
einen gutten Witz -- Sie müssen dichten parr Verse auf Strindberg
... Sie habben doch gehörrt von sein Koffer -- den man soll habben
gestollen --? Abber is nich warr -- is sich geblibben stehn auf Bannhof
Friedrichstraß -- und hirr is er nun! Jetz abber der Strindberg! Das
alles er weiß nicht! Soll sein Überraschung. Wirr machen dramattische
Szenne.“

Vergnügt ging ich auf den Plan ein, während Fröken Ingrid die Tür nach
dem Speisezimmer abschloß und mit dem Polen das festliche Arrangement
des Koffers vornahm. Außer den gewünschten Versen verfaßte ich noch
einen Brief, mit dem der Dieb die Rücksendung des „wertlosen“ Koffers
begleitete. Przscki schmunzelte: „Serr gutt“, und nach Verabredung der
Rollen kehrten wir ins Speisezimmer zurück.

Hier fand ich nun endlich meine Frau. Bei einem Abendbesuche, den
sie Streitmüllers Tante gemacht hatte, war sie etwas lange verweilt.
Daß sie mich hier antraf, stimmte sie zu lebhafter Lustigkeit, und
selbst die trockenen Schweden waren davon angesteckt, nachdem sie die
Einzelheiten des Schlüsselabenteuers vernommen. „Der Karkerschlüssel
liecht also noch ümmä vor Ihrer Badestube?“ fragte Frau Lina. „Ja
doch“, versetzte ich, -- „und so konnte ich nicht in mein Gefängnis
zurück -- man hätte den Schlosser holen müssen -- aber das hätte
Aufsehen gemacht.“ Przscki erhob eins der dampfenden Toddygläser,
die Ingrid jetzt auf einem Präsentierteller nebst Zucker und
Zitronenscheiben anbot: „Feiern wirr also Heimkerr von verlorrene Sohn
-- verlorrene Kerkerschlüssel -- und, hoffen wirr, auch von verlorrene
Koffer.“ Aus seiner siegesgewissen Miene entnahmen Norskeborgs, die
ja in unsern Plan eingeweiht waren, daß die Vorstellung beginne, und
Frau Lina meinte mit gespielter Wehleidigkeit: „Ja dänken Se sich,
Dokterchen, Strindbarjen säin Koffer is ouf em Bahnhof Freedrichstraße
jestohlen.“ -- „Wirklich gestohlen?“ antwortete ich zweifelnd --
„haben Sie denn schon auf dem Fundbüro angefragt?“ -- Düster winkte
Strindberg ab, als sei die letzte Hoffnung entschwunden. -- „Werr kann
wissen!“ Und der Pole stimmte eine Gitarre. „Ach ja! Speelen Se!“
animierte Frau Lina, und Przscki deutete auf mich: „Hirr derr freie
Voggel, aus Käfig ausgeschlüpft, muß singen -- ich begleite -- singen
wirr Volkslid schweddisches mit Text deitsches -- frisch verfaßt von
deitsche Lirriker.“ Und sein Präludium leitete die schwedische Weise
ein: „Mägdelein hielt Tag und Nacht -- traurig an dem Spinnrad Wacht
...“ An des Polen Seite sang ich die improvisierten Verse: „Strindberg
hielt Tag und Nacht -- grübelnd an dem Schreibtisch Wacht ...“ Ich
schilderte seine Sehnsucht nach dem Liebchen Gold, wie er in Paris
das alchymistische Rezept zu Papier gebracht habe und siegesgewiß
gen Osten gereist sei, um mit seinem Freunde Olaf im verschwiegenen
Fritzenwalde ganze Klumpen Goldes zu bereiten. Tremolierend besang
ich, wie ihm dicht vor dem Ziel ein Berliner Spitzbube den Koffer samt
dem Goldrezepte gestohlen habe, und wie er diese Untat wohl noch
übertrumpfe, indem er die Manuskriptblätter als Fidibus für seine
Tabakspfeife verwende ... In tiefer Schwermut schloß das Lied unter
harfender Begleitung: „Hoffe, Alchymiste mein! Morgen kommt der Koffer
dein! -- Strindberg sann, die Zähre rann -- nie doch kam der Koffer
an!“ Da saß nun der Goldmacher am Grabe seiner Hoffnung und zerwühlte
die Lockenmähne. War bei den ersten Strophen ein gequältes Lächeln über
sein Gesicht geschlichen, so rann jetzt eine wahrhaftige Zähre herab.

Da war es an der Zeit, das grausame Spiel in Wohlgefallen aufzulösen.
Auf einen Wink des Polen öffnete Fröken Ingrid die Tür -- und sieh, auf
einem Schemel stand der betrauerte Koffer, mit Tannenreis umkränzt,
mit brennenden Lichtlein besteckt, daß man meinen konnte, es sei hier
Weihnachtsbescherung. Ungläubig staunend starrte Strindberg auf den
Koffer und auf das beiliegende Manuskript, streifte die Anwesenden
mit einem durchbohrenden Blick und schlich mißtrauisch zum Koffer.
Aufleuchtenden Auges ergriff er das Manuskript, blätterte hastig darin,
drückte es an sein Herz und begann einen stampfenden Tanz, den sein
Landsmann Olaf sofort verständnisvoll begleitete.




Mein durchgebrannter Kerkerschlüssel


Von Stund an war Strindberg verwandelt. Seine Augen lächelten
kindlich, heimische Weisen trällerte er vor sich hin, seine mürrische
Schweigsamkeit war einer verbindlichen Plauderei gewichen. Nun ließ
er auch in sein Ideenreich blicken. Zur Begründung seiner Lehre von
der Goldbereitung führte er an, Gold sei kein Element, es gebe im
Naturreiche kein starres Gefängnis, alles entwickele sich, lasse sich
umwandeln. Silber in Gold.

Auf Norskeborgs Zureden holte Strindberg, der sich Veranlagung zur
Malerei zutraute, ein Ölgemälde, mit dem er der unverstandenen
Genialität der Stoffe seine Huldigung darbringen wollte. Eine
Stranddistel wuchs auf bleicher Düne. Silbergrün glomm sie durch die
Nacht, als lodere hier ein mystisches Sehnen des geringen Sandes,
zum milden Silber des Mondes umgewandelt zu werden. Strindberg war
befriedigt, als ich den Cherubinischen Wandersmann zitierte:

    „Mensch, was du liebst, in das
    Wirst du verwandelt werden:
    Gott wirst du, liebst du Gott,
    Und Erde, liebst du Erden ...“

„Oh jö-hö, gewiß“, versicherte Strindberg, „wenn der Mensch sich
transmutiert zu Gott, das ist oberste Alchymie.“ Mir war noch ein
ähnlicher Spruch desselben Mystikers eingefallen:

    „Die Goldheit machet Gold,
    Die Gottheit machet Gott --
    Wirst du nicht eins mit ihr,
    So bleibst du Blei und Kot!“ --

Strindberg wurde wieder tiefsinnig und meinte fast düster: „Blei und
Kot! Jö, das sind wir -- wollen aber nicht bleiben so! Und die einsame
Silberdistel -- wissen Sie, was die ist? Unsere Sehnsucht.“ Seufzend
fügte er hinzu: „Und ist meine Dornenkrone -- jö-hö!“

Was nun den Polen betrifft, so schien er die Transmutation seines
Wesens mehr auf flüssigem Wege erreichen zu wollen, und Olaf vertraute
mir die Hypothese an, nach dem Rezepte des Cherubinischen Wandersmanns
werde dieser Kognakfreund im Himmelreiche ein Destillierkolben sein.
Indessen bewährte sich rührend der musische Adel, der die Söhne Apolls
-- und Przscki gehörte ja zu ihnen -- auch in ihrer Bezechtheit
irgendwie an das Schöne gefesselt hält. Przscki behauptete, er müsse
jetzt unbedingt ein Klavier haben, um die mystische Stranddistel in
Tönen zu feiern. Übrigens sei es an der Zeit, daß man sich in Pilsener
abkühle, und ich solle die Gesellschaft in eine Kneipe führen.

Da selbst die Dame des Hauses geneigt war mitzutun, so zogen wir
allesamt ins Waldhaus, wo unter der hingebenden Obhut des dicken Wirtes
ein tadelloser Urquell verzapft wurde und selbst zu vorgerückter
Stunde ein fideler Kreis willkommen war. Diese Nachsitzung erquickte
auch insofern, als der musikalische Pole dem Klavier seltsame Welten
wühlender Töne entlockte, Schöpfungen Chopins. Von der dionysischen
Nachtfeier erwähne ich nur noch, daß Strindberg mit Przscki Schmollis
trank, weil beide den Russen haßten, der die Finnen wie die Polen
tyrannisiert. Nun sollte Strindberg ein deutsches Lied nach der Melodie
des Chopinschen Trauermarsches verfassen. Nachdem er seine Notizen
gemacht, sang er zu den schleppenden Akkorden mit dem Ausdruck heißer
Empörung -- die Scheltworte wurden durch Stampfen hervorgehoben --:

    „Jetzt woll’n wir legen einen Schuft zu seinem Grab --
    Speit ihm eure Flüche in den Höllenschlund hinab!
    Der Tyrann ist mausetot
    Und zu Ende unsre Not.
    Jö, begießen wir die Freiheit bis ins Morgen-Morgenrot!“

Wär’s Sommerzeit gewesen, so hätte in der Tat das Morgenrot zu unsrer
Freiheit geleuchtet; doch mit ihrer langen Finsternis hielt die
Winternacht unsre Schwärmerei nachsichtig verhüllt.

Es war mir nun doch lästig, ins Gefängnis zurück zu sollen, und
ich entwickelte meiner Frau rebellische Ideen. Sie aber wies auf
Gesetzlichkeit und Ordnung hin. Bei der Ankunft vor unsrer Wohnung
wollte ich mir das Treppensteigen ersparen, meine Frau sollte den
Kerkerschlüssel auf die Straße werfen. Harrend blickte ich zum Balkon
-- die kahlen Äste der Kastanienallee zeichneten sich vom Wolkenflor
ab, den matt der Mond durchleuchtete. Nun ging die Balkontür, meine
Frau sagte: „Hier ist der Schlüssel! In ein Taschentuch gewickelt!
Achtung!“ Und fliegen sah ich das schimmernde Tuch. Verdächtig war
es, daß es flatternd niederschwebte, ohne daß etwas Schweres gefallen
war. „Da ist nur das Taschentuch! Wo bleibt der Schlüssel?“ „Ich habe
ihn doch eingewickelt!“ -- „Dann ist er unterwegs rausgefallen.“ --
„Na, das fehlte noch! Warte, ich komme mit der Lampe!“ Sie tat es;
aber die Lampe wurde vom Wind verlöscht -- und wie wir auch suchten,
kein Schlüssel zu finden! Als habe er beim Fluge durch die Luft einem
Freiheitsgelüst nachgegeben und sich wie ein Vogel davongemacht.
Vergnügt brummte ich: „Auch das eine Transmutation! Jö, begießen
wir die Freiheit bis ins Morgen-Morgenrot!“ -- „Es klingt doch kaum
glaublich, daß der Schlüssel abhanden gekommen ist; für eine faule
Ausrede wird man das halten. Hilft nichts, Bruno -- du mußt zurück --
mußt Bolle rausklingeln. Wenn er’s erlaubt, kannst du ja zurückkommen
und hier schlafen.“

Mir blieb nichts andres übrig, und ich trollte mich. Traulich,
begehrenswert kam mir jetzt mein Gefängnis vor, wie es mondbedämmert
mich grüßte mit seinen Gitterfenstern, und wie ich mir die mollige
Robinsonklause ausmalte. Und jetzt sollte ich nicht hinein können?
Sollte frieren wie ein Obdachloser? Ich zog die Glocke, gleich darauf
wurde es hell bei Bolles, und aus dem geöffneten Fenster fragte
der Amtsdiener scharf: „Sinn +Sie+ det? Na, endlich!“ Als ich
mein Mißgeschick gebeichtet hatte, meinte er: „Det fehlte noch! Die
Schlissel fort! Is +det+ ne Zucht!“ Dann klappte er das Fenster
zu, redete unwirsch mit seiner Frau und kam mit einer Laterne herunter:
„Bleibt nischt iebrig, Herr Dokta, Se missen int Vorderhaus kampia’n un
det Hotel jarnie bei Onkeln berappen. Verrickt und drei macht neune!“

Er führte mich eine Treppe hoch, öffnete ein Zimmerchen und zündete
die Kerze an. Vergebens suchte ich ein Gespräch über die Müggelpiraten
in Gang zu bringen, er blieb einsilbig und verließ mich murrend. Na
ja, du geplagter Ordnungshüter, die Böcke deiner Herde haben dir heute
arg zu schaffen gemacht. Bis in die späteste Nacht haben sie dich
herumgehetzt, all diese frechen Rebellen, jö-hö ... Wir begießen unsre
Freiheit bis ins Morgen-Morgenrot!

Aber nun ist ja alles ziemlich wieder in der Reihe. Strindbergs
Koffer mit dem Goldrezept, das uns vielleicht das Goldene Zeitalter
zurückzaubert, hat sich eingefunden; gerührt durch dies Tugendmuster
bin ich zu meinem Kerkermeister heimgekehrt; dieser endlich, den
Gefahren des dustern Räuberwaldes entronnen, ruht bei der getrösteten
Ehehälfte ... Bloß der Kerkerschlüssel, der verflixte! Böse Beispiele
verderben gute Sitten. Ich habe den Schlüssel zur Durchbrennerei
verleitet! Und jetzt kichere ich noch über meine Schandtat?

Ich pustete das Licht aus und bettete mich in die Federn: „Jetzt woll’n
wir legen einen Schuft zu seinem Grab! speit ihm eure Flüche in den
Höllenschlund hinab.“ -- „Jö-hö!“ krähten die Hähne -- „jöhöhö höhö!“




Gardinenpredigt und Lösung des Piratenrätsels


Im Traum hatte ich mit den Müggelpiraten zu tun. Strindbergs Koffer
nebst dem Goldrezept war in ihren Händen -- ich war als Parlamentär der
schwedischen Regierung zu ihnen gegangen. Während wir verhandelten,
hörte ich meine Frau lachen ...

Ich erwachte; verdutzt betrachtete ich die mir fremde Tapete und
die Waschschüssel in dem Gußeisengestell. Wo bin ich? Einen Moment
glaubte ich, in der Krone zu Alt-Strelitz zu logieren, aus Anlaß
eines Vortrages, den ich dort im Technikerverein gehalten. Doch ich
orientierte mich, als ich draußen Frau Bolles Stimme vernahm. Sie
sprach mit meiner Frau -- gleich darauf klopfte es an der Tür, und
richtig, da stand meine Frau. In Hut und Mantel. Sie lachte mich
an -- und hinter ihr erschien Frau Bolle, eine Kaffeekanne auf dem
Präsentierteller. „Na aber!“ drohte meine Frau mit dem Finger. „Das
müßte dein Kultusminister wissen!“ Dann nahm sie Frau Bolle den
Präsentierteller ab und stellte ihn auf das Nachttischchen. „Nicht
wahr, Frau Bolle? wenn’s drüben warm is, geht mein Mann rüber.“ Ich
richtete mich auf und sah meine Frau erwartungsvoll an: „Na und?“ --
„Was für’n Und meinst du? Die Piraten oder den Schlüssel?“ -- „Zunächst
den Schlüssel! Du hast ihn also? Wo war er denn?“ -- „Wie heute
früh Frau Pape kommt, schicke ich sie gleich auf die Straße, um den
Schlüssel zu holen. Die Straße sucht sie ab und den Vorgarten, Schritt
für Schritt. Kein Schlüssel ist da, und sie meint, der Bäckerjunge wird
ihn aufgegriffen haben. Ich ziehe mich an und gehe auf den Balkon.
Da sehe ich den Schlüssel -- nein, zwei Schlüssel, große, dicke,
richtige Gefängnisschlüssel -- und der Ring, der sie zusammenhält,
ist über einen Zacken des Kastanienbaumes geglitten -- da hängen nun
die Schlüssel wie an einem Nagel. Dann ist Frau Pape mit dem Besen
hingegangen und hat die Schlüssel runtergeholt. Und ich sagte: nun muß
ich rasch hin -- damit er endlich wieder in sein Gefängnis kommt. Aber
nun hast du ja hier ein passables Logis gehabt. Laß den Kaffee nicht
kalt werden -- wie schmeckt er denn? Zichorienbrühe? Brauchst ihn nicht
zu trinken. Mach dich lieber fertig. Inzwischen gehe ich auf den Markt.
Wenn ich eingekauft habe, komme ich wieder, und wir trinken unsern Tee
in deiner Robinsonklause.“ Ich war’s zufrieden, sie ging.

Als ich angekleidet war, fand ich auf dem Hof den Wirt zum Preußischen
Adler. Auf dem Hackeklotz zerkleinerte er einen Stubben. Ich benutzte
die Gelegenheit, mein Logis zu zahlen, und ging vergnügt in meine
mollige Klause. Auf dem Arbeitstischchen lagen die eingelaufenen
Postsachen, ich vertiefte mich hinein.

Eine Zeitungsnotiz über den neusten Raubanfall erinnerte an die
Müggelpiraten. „Na Frau Bolle? wie ist denn die Razzia abgelaufen?“
Sie erhob sich von ihrer Ofenhantierung. „Weeß ’k denn? Et muß woll
Essig jewesen sind -- sonst, wenn se wen hätten erwischt, denn wäre
mein Mann schon janz jewiß jesprächig. Nich een Sterbenswort war aus
ihn rauszuquetschen, immer bloß jebrummt hat e -- un wie e nu heerte,
det +Sie+ noch nich zu Hause wären, da war e nu erscht recht
finsta. Jradezu unheimlich war e -- un wie e in de Fedan laach, hat
e sich immer so jewälzt und jeröchelt, als ob ihm son Pirat an de
Jurjel hätte. Det is ooch keene Kleenigkeit -- so ’ne Treibjagd uf
Piraten durch den dustan Wald. Ach richtig, det muß ick noch varaten
-- jeschossen hat e mit seine Pistole -- janz schwarz is se von
Pulverschleim, un ick soll ihr nu putzen. Scharf muß det zujejangen
sind. Hauptsache, det e heil zurick is! Aber da kommt e ja!“ Und Frau
Bolle hastete weg.

Bald darauf trat der Amtsdiener zu mir ein. Sonst sagte er immer
„Scheenen juten Morjen, Herr Dokta“ -- diesmal nur kalt: „Morjen!“
-- „Schönen guten Morgen, Herr Amtsdiener Bolle!“ Er stutzte --
schon milder kam es heraus: „Det Ibelnehmen jeheert doch woll uf
+meine+ Seite.“ -- „Wieso denn? Ich kann doch nichts dafür,
wenn die Müggelpiraten ... Oder wollen Sie mich dafür verantwortlich
machen, daß der Herr Amtsvorsteher Sie beordert hat, Ihren Häftling
sich selbst zu überlassen?“ -- Bolle geriet in die Wolle: „Nu aber brat
mich eena’n Storch! Sich selbst? So war et nich jemeent! Sie sollten
doch jleich in Ihre +Zelle+ zurick, scheen +ordentlich+, wie
sich det +jeheert+. Aber wat jeschieht? Um Uhre zwee klingeln
Se mir aus Morpheus Arme -- un denn haben Se ooch noch det amtliche
Schlisselbund valoan! un ick, ick ... Denken Se mal an, wenn ma nu
so’n Piraten erwischt hätten, un hätten ihm inhafti’an sollen -- un
ick hätte hier wie’n oller Dussel jestanden -- un keen Schlissel
da --? Un ick hätte sagen missen, det ick +Sie+ den Schlissel
iebajeben hätte, Sie aber wären denn +ooch+ noch futsch jewesen!
Denken Se bloß det Theata! Un da soll man zu +schweijen+? Un keene
Jardinenpredigt halten?“ -- „Bedenken Sie, ich habe eine +rote+
Gardine -- bin ein Ketzer! +Mein+ Gewissen kriegen Sie so leicht
nicht unter. Was ich wollte, war ja ganz brav -- daß die Geschichte
anders ablief, war ~Force majeur~! Haben Sie nicht vernommen, wo
der Kerkerschlüssel war? Im Kastanienbaum hängen geblieben! Ist das
nicht höhere Gewalt? Sie wissen doch aus der Bibel, daß kein Sperling
vom Dache, kein Haar von unserm Haupte fällt ... Sehn Sie, Bolle, nu
bin +ich+ der Fromme!“ -- „Keene Zicken, Herr Dokta! Der Fall is
ernst! Ick will zujeben, mit die Schlissel, det mag Forsse jewesen
sind ... Aber wat jing denn vorhea? +Jekneipt+ haben Se -- int
Waldhaus haben Se +Pilsena+ jekneipt -- un +jesungen+ haben
Se un +jestampft+. War det +ooch+ Forsse? +Leichtsinnig+
war det! Denn nu hören Se mal, wat jeschehn is! Uff die Stunde, wo
Sie kommerßi’an wie’n Studente, kommen wir Beamtens von unsere Razzia
zurick -- und wie ma nu in’t Restorang det Singen un Klawezimbeln
heeren, da kricht unser stellvatretender Amtsvorsteha nich iebel Lust,
+ooch+ een Pils zu jenehmigen. Mein juta Jeist raunt mich zu, det
ick abraten soll. Erlauben Se, Herr Amtsvorsteha: de Polizeistunde
is längst vorbei, un wenn Sie inkehren täten, könnten unsre
Friedrichshäjer skandali’an von wejen det beese Beispiel ... Ja sehn
Se, Herr Dokta, det hat jeholfen -- Kuhlicke stand von sein Vorhaben ab
-- un ick war jerettet. Aber um +een+ Haar ... Ja ja, Herr Dokta,
stellen Se sich vor, unsa Staatsjefangena, wo den doch janz Balin un
de deitsche Presse ins Ooge behält, der wäre, statt hinta Schloß un
Riejel zu brummen, von den Amtsvorstand nachts quietschverjnügt in de
Kneipe anjetroffen! Haste Töne? Hurrejott, eenen Weltskandal hätte
det jejeben! Un Ihnen? ja wat meenen Se woll, wohin man +Ihnen+
jestochen hätte?“ -- „Ergreift ihn, Knechte, bindet ihn!“ deklamierte
ich -- „bringt ihn zu Schiff nach Küßnacht -- wo weder Mond noch Sonne
ihn bescheint!“ -- „Spotten Se man noch! Wenn ick nu die janze Zicke
zur Meldung brächte, wat? Un wenn der Amtsvorsteha nu selbstmurmelnd
saachte: jetzt hat et jeschnappt mit de Vajinstejungen? Wat meenten
Sie denn +da+derzu, Herr Dokta, wat?“ -- „Ich würde protestieren
-- würde laut erklären: das ist ungerechtfertigt! Daß ich mich nicht
absichtlich von meiner Haft gedrückt habe, liegt auf der Hand. Bedenken
Sie doch, Bolle, wie brav ich mich gehalten habe, als Sie mir damals,
ganz aus freien Stücken, den Kerkerschlüssel eingehändigt hatten --
wenn ich das nun geltend machte?“ Ängstlich starrte mich Bolle an und
meinte bitter: „Kiekste aus +die+ Luke? Ha’k Ihnen nich jebeten,
halten Sie det jeheim?“ -- „Will ich ja auch, Bolle! Aber Sie selber
rollen diese Akten auf.“ -- „Ach, ick rolle nich!“

In diesem Augenblick erscholl es vom Gefängnisflur wie Echo, in
männlichem Baß nach bekannter Opernmelodie: „Ich ’rolle nich! Dreimal
verlornes Lieb, ich grolle nicht!“ Der Kreispfiffikus natürlich.
„Was is denn los bei Ihnen? Ich traue meinen Ohren nicht, wie ich
dieser Klause nahe. Ein Lyriker freilich haust darin -- aber daß er
nun auch noch unsern Bolle angesteckt hat, und daß der Reime macht
wie Rolle auf Bolle ... Was gibt es denn hier zu rollen? Diese Zelle
war allerdings früher eine Waschküche -- wollen Sie auch noch eine
Rollkammer draus machen, wie?“ Bolle belächelte die Kalauer des Arztes
und sah ihn forschend an -- ob er auch nicht zuviel gehört hätte. „Ja
gucken Se man, Bolle! Sie haben allen Grund, mißtrauisch zu spähen, ob
man’s Ihnen gegenüber nicht despektierlich meint. Ach Himmel, erbarm
dich! Sind +Sie+ ein forscher Polizeier! Und überhaupt Ihr von
der Greifgarde! Nein, diese nächtliche Treibjagd auf Müggelpiraten!
Unser Häftling ist natürlich Unschuldswurm -- in die Klausur seiner
Eremitage dringt nicht das Lärmen der wüsten Welt -- wo man nachts
in den märkischen Wäldern mit Pistolen Löcher in die Natur schießt
... Also vernehmen Sie, stiller Klausner, was für Romane unsre sonst
unromantischen Landsleute von Abdera anrichten! Klingelt da gestern
Abend im hiesigen Amtsbüro wie besessen das Telephon. Klempnermeister
Kuhlicke, von diesem Lärm gleich aufgeregt, fragt: was is denn los?
Da meldet jemand, bei Rahnsdorf hätten die berüchtigten Müggelpiraten
einen Rentner ausgeplündert, und es wäre nötig, eine Razzia auf sie zu
veranstalten -- von Osten her würden Freiwillige aus Schöneiche den
Wald absuchen, von Westen her sollten die Friedrichshäger kommen. Also
gut! Von heiligem Eifer besessen, sammeln sich Gendarme, Amtsdiener,
Feuerwehrleute unter der Führung unseres schneidigen Kuhlicke. Scharf
geladene Pistolen sind dabei -- und man zieht los -- mit zwanzig
Schritt Abstand -- wie eine Treibjagd. Rehe und Karnickel haben sie
aufgescheucht, von Piraten keine Spur. Wie schließlich unser tapferer
Bolle seine Pistole losgebrannt hatte, gab die Obrigkeit die letzte
Hoffnung auf, eines Piraten habhaft zu werden.“ -- „Ei, Herr Bolle?“
fragte ich, „auf wen haben Sie denn geschossen?“ Zögernd kam die
Antwort: „Na, wenn man so im Dustern nach Raibers sucht un pletzlich
wat kauern sieht, da soll man nich jraulich werden? Ick also rufe an
-- un damit der Pirat mich nich zuvorkommt, brenne ick los. Nu kommen
meine Kameraden jerennt: Wo denn? Die Jestalt kauat noch immer un
riehrt sich nich.“ -- „Na und? Haben Sie ein Tier totgeschossen?“ Und
Bolle mit wehmütigem Lächeln: „Een’ Wacholdabusch! In die Finsternis
sieht so’n Aas wie’n Indevidejum aus.“

Das Lachen des Kreispfiffikus klang hinterhaltig. Dann stand er
breitspurig vor Bolle: „Ist das alles? Offenbar haben Sie noch keine
Ahnung von dem, was jetzt als Gerücht wie ein Steppenfeuer durch
Fritzenwalde eilt und bereits von den Setzern des Lokalanzeigers
schnellfingerig verarbeitet wird. Eben, wie mein Wagen durch die
Wilhelmstraße fährt, ist neben dem Hause des Klempnermeisters Kuhlicke
ein Auflauf. Da ist doch die Villa der emeritierten Sängerin, die bloß
im Sommer hier wohnt. Und ich höre von den Leuten: Erbrochen ist die
Villa -- gründlich ausgeplündert -- und alles ist sich darüber einig,
kein anderer war das als die Müggelpiraten. Um euch Ordnungshüter
abzulenken, haben sie selber ans Amt telephoniert -- und während
ihr Greifpolypen auf Wacholderbüsche knalltet, haben sie in aller
Gemütlichkeit ihr Handwerk ausgeübt.“ -- An den Kopf griff sich Bolle:
„Au Backe!“ und stürmte fort. Nicht einmal, daß er die Frage erledigte,
wer denn mein Gefängnis abschließen solle.




Aschenputtel und der Lizentiat


Als Aschenputtel nach seinem Tanz mit dem Königssohn das Ballkleid
zum Grabe seiner Mutter zurückgebracht hatte, saß es wieder in seinem
grauen Kittelchen am Küchenherde, wo es in der Asche schlafen mußte,
und klaubte beim trüben Öllämpchen die verschütteten Linsen aus der
Asche. -- Dies Märchen handelt von der ganzen Welt. Träumen wir nicht
von einem Reiche Gottes, wo alles, was Menschenantlitz trägt, von
Verachtung erlöst, mit Hoheit bekleidet wird? Der Mensch unserer
Wirklichkeit aber, wofern er nicht wie Aschenputtels Stiefschwestern
Gold und Diamanten hat, darbt in Schmach, und da mag er selber sehen,
wie er sich aufrafft.

Anlaß zu solchen Betrachtungen bietet nicht bloß ein großes Gefängnis,
wo massenhaft Krüppel unserer Gesellschaft hausen, sondern selbst ein
dörfliches Arrestlokal, wie ich eins bewohnte. Während des milden
Spätherbstes war ich der einzige Insasse. Als ich meine Verwunderung
darüber äußerte, meinte Bolle: „Warten Se man! De Kundschaft wird
schonstens kommen. Wo jetzt noch so’n richtija Olleweibasomma is, da
sinn de Walzbrieda noch bei Mutta Jrien oder uff’n Heiboden. Spaß macht
det Fechten bloß in de +milde+ Jahreszeit. Wenn se aber Schnee
riechen, denn beißen se in den sau’an Appel un kriechen zu uns -- wie
Kieken bei ihre Klucke untakrauchen. Also uffjepaßt, Herr Dokta, wenn’t
kalt is, denn blüht hier det Jeschäft.“

Ich glaubte bereits, das Geschäft beginne zu blühen, als ich durch
Getümmel aus dem besten Schlafe gescheucht wurde. Und doch war
noch laues Wetter, nicht einmal Regen -- der Mond beleuchtete den
Gefängnishof. Am lärmenden Wortwechsel, der hier stattfand, merkte
ich, daß ein Widerspenstiger in Haft kommen sollte. Zwei Nachtwächter
hielten ihn gepackt, mit Fußtritten wehrte er sich, die Hände waren
ihm auf dem Rücken gefesselt. Ein fortwährendes Stoßen, Balgen und
Schimpfen. „Ihr Hunde, ick habe mit eich noch nich de Schweine jehüt’t.
Bin een +ordentlicha+ Kerl! Wat duht ihr eich dicke mit eire
Uneform? Der eene Nachtrat is in Balin Kanalrutscha jewesen -- un
der andere ...“ -- Diesen Zornerguß unterbrachen ein paar schallende
Hiebe; der Verhaftete hatte sie weg. Nun war Bolle mit der Laterne da,
dann rasselte das Gefängnisschloß. Von den Nachtwächtern gestoßen,
flog der Verhaftete brüllend vor Wut in die Nebenzelle -- auf die
Pritsche krachte er hin, als prassele ein gefällter Baum. Die Beamten
hatten sich nicht aufgeregt, raunend entfernten sie sich, Bolle schloß
zu, der Laternenschimmer, durch einen Spalt des Fenstervorhangs
sichtbar, erlosch. Der Kerl nebenan tobte noch immer, schimpfte in
Kraftausdrücken und heulte vor ohnmächtiger Wut. Allmählich wurden
seine hervorgestoßenen Worte undeutlich, dann hörte ich ein Geräusch,
als ob er an seiner Tür herumsäge. Er schnarchte -- der Schlummergott
hatte seinen Mantel über ihn gebreitet.

Als morgens Bolle aufschloß, war der Häftling kirre. Bolle, der ihm
Mehlsuppe brachte, redete ihm gütlich zu, und der Häftling bat um
seine Freilassung. „Blechen Se man -- denn is allens jut! Sonst missen
Se weitabrummen.“ -- „Drei Mark is zu ville, +eene+ will ick
zahlen.“ -- „Se sinn woll überkandidelt?“ Nachdem der Disput noch eine
Weile fortgegangen, klimperte das Strafgeld, und der Bestrafte trollte
in seine Freiheit zurück. Bolle kam zu mir herein: „Wat +hat+
nu so’n Schafskopp dadervon?“ -- „Was hat er denn angestellt?“ --
„Ruhesteerenden Lärm! In seine Besoffenheit macht det Luda allemal
Krach. Un denn will e’ nich blechen. Nu is e’ seinen Dahler los --
aber freilich bloß seine Familie hat den Schaden. De Frau schuftet,
un de Kinder ham keen Schmalz uff de Stulle.“ -- „Der Nutzen Ihrer
Strafanstalt kommt mir ziemlich fragwürdig vor.“ Der Amtsdiener zuckte
die Achseln. --

Der Winter war hereingebrochen. Verschneit lag der Hof, im pfeifenden
Winde stöberten Flocken aus finsterem Gewölk. „Son richtijet Wetter for
arme Leite! Nu jeht det Arrestjeschäft los.“ Und Bolle brachte einen
Landstreicher. Als ich das Gesicht zu sehen bekam, war ich erstaunt.
Dieser Greis hatte etwas Ehrwürdiges -- mit dem langen, weißen Bart sah
er wie Lear aus, der irre König bei Regen und Wind. In die Zelle seines
Vorgängers eingeliefert, benahm er sich still.

Bolle kam zu mir herein. Auf meine Frage nach dem Ankömmling gab er
den Bescheid: „Wat soll so’n oller Mensch anders machen als betteln,
wo ihn +doch+ keener zum Arbeeten annimmt.“ -- „Warum bleibt er
nicht am Orte, wo er Heimatsberechtigung hat?“ wandte ich ein. Der
Amtsdiener schüttelte den Kopf: „Seine Verwandten sinn doht -- un eene
Flebbe hat e nich -- will sagen, keenen Ausweis ieba seine Personalien.
In ein Dorf bei Kistrin will e geboren sind, aber da antworten se:
det kann +jeda+ sagen! ma wissen von nischt!“ -- „Er hätte doch
eine +neue+ Heimatsberechtigung erwerben können.“ -- „Ja, wenn
e’ zwee Jahre an eenen Ort jearbeet hätte -- aba so lange hat e keen
Sitzefleisch nich gehatt -- oda man hat ihm nich behalten -- un nu
heeßt et: een jewohnheitsmäßija Landstreicha -- un alt un jrau is e
dabei jeworden -- un bleibt ihn nischt iebrig als zu fechten. Wenn e
denn nu jefischt wird, denn wird e injespunnt un wird zu Arbeetshaus
vaknackt. Kaum is e’ wieda frei, denn jeht det Jeschäft uffs Neie
los -- imma so im Kreise rum, wie son olla Jaul, wo den Jeepel von
die Dreschmaschine dreht.“ -- Düster fügte ich hinzu: „Mit dem
Unterschied, daß im vorliegenden Falle der Göpel leeres Stroh drischt.
Bei dieser Art, das Volk zu bessern, kommt nichts heraus als Unsinn,
gesteigertes Elend, völlige Zerrüttung der Sitten.“ Bolle mochte nicht
widersprechen, ich fuhr fort: „Sind in Ihrer Praxis mehrere solcher
Fälle vorgekommen? so verzwickter, verzweifelter Art?“ -- „Dausende un
aber Dausende von sonne arme Leite walzen durch de Welt, un wenn all
ihre vajossenen Tränen zusammenkämen, eenen +See+ jäbe det wie
unsre Müjjel. Wenn +mich+ so wat passierte wie den ollen Mann, ick
wüßte bloß +eenen+ Ausweg: +Strick+ um ’n Hals!“

Das Schicksal, das auf meinem Zellennachbar lag, erstreckte seinen
Druck gewissermaßen auf mich. Ich war den Rest des Tages trübsinnig,
bis mich schließlich Goethe tröstete, das Lesen in seinem Faust: „Solch
ein Gewimmel möcht’ ich seh’n -- auf freiem Grund mit freiem Volke
stehn!“ Aus dem Schlafe weckte mich lautes Jammern einer männlichen
Stimme. Über Faust eingeschlummert, mußte ich an den Türmer denken,
wie er, zum Schauen bestellt, von seiner Warte soeben gejubelt hat:
„Es sei, wie es wolle, es war doch so schön“ -- und wie er dann auf
einmal wehklagen muß, weil dem alten Ehepaar freventlich die Hütte
eingeäschert ward.

Jetzt wurde mir bewußt, die Wehklage komme von dem Greise nebenan. Der
Morgen dämmerte. Das Schluchzen war herzzerreißend -- zwischendurch
erfolgten grollende Flüche. O welch ein Morgengebet! Ich konnte das
nicht untätig anhören und fuhr in die Kleider. Da meine Tür nicht
verschlossen war, ging ich auf den Gefängnisflur und klopfte an die
Nebenzelle. Das Weinen verstummte, und ich fragte: „Kann ich etwas für
Sie tun?“ Kleinlaut kam die Antwort: „Wer sind Se denn?“ -- „Ich bin
der Arrestant nebenan!“ -- „Ach so! Da ha’k Ihnen woll +jesteert+
mit mein ollet Jeflenne?“ -- „Ich meine bloß, ob man Ihnen irgendwie
helfen kann? Mit etwas Geld?“ Hohl wie aus einer Höhle scholl es
zurück: „Mich kann keener helfen! Int Arbeetshaus schon wieder! Un
+immer+ wieder! Un ick bin schon so’n +oller+ Mensch --
helfen kann mich bloß der +Dod+.“ Er schluchzte auf und weinte vor
sich hin. Erschüttert schwieg ich. Dann meinte er etwas ermutigt: „Von
Jeld sprachen Se? Aber wat ha’k jetzt dadervon! Meine Barschaft muß ick
doch +abliefan+. Wenn wenigstens noch wat in meine +Pulle+
wäre! Haben Sie denn keenen Droppen?“ -- „Den sollen Sie haben, sobald
der Amtsdiener kommt -- das heißt, wenn er’s erlaubt. Aber halt! Hat
Ihr Fenster eine Klappe? Dann greifen Se mal raus, nach unten! Ich
werde die Flasche an einen Faden binden und aus dem Fenster raus zu
Ihnen rüber schwenken.“ -- „Duhn Se det, juter Herr!“

Wieder in meiner Zelle, nahm ich eine Flasche Turiner Wermut, die ich
gerade vorrätig hatte, wickelte sie in Packpapier und schlang einen
Strick herum, mit dem ein Paket verschnürt gewesen. Dann ließ ich die
Flasche aus meinem Fenster hängen und schwang sie pendelartig. „Höher!“
rief mein Nachbar -- nun wurde der Strick mir aus der Hand gezogen, die
Flasche war angelangt. Ich ging abermals auf den Flur und hörte den
Alten lachen: „Jesehn hat keena wat -- so’n Rotkragen is +doch+ ’n
dummet Luda! Ha, is +det+ n’ Droppen! Der wärmt! ’n Jlühstrumpf
is jut for Eisbeene!“ So war der Sorgenbrecher nebenan eingekehrt --
vielleicht der einzige, den es im vorliegenden Falle gab. Doch nein --
es sollte noch ein anderer kommen.

Als mein Nachbar lange Zeit still geblieben war, kam mir der Verdacht,
er könne sich ein +Leid+ angetan haben. O weh, ich hatte ihm mit
der Flasche einen +Strick+ beigebracht! Ich mußte Gewißheit haben
-- und für den Fall, daß noch nichts Schlimmes geschehen, wollte ich
mir den Strick zurückgeben lassen. Nicht doch, das hätte den Mann
stutzig machen und erst recht auf Selbstmord-Gedanken bringen können!
Ich horchte -- da hörte ich ihn schnarchen -- tief atmete ich auf.

Gleich darauf kam Bolle und ließ zu mir einen Herrn eintreten. Es
mochte ein Dreißiger sein, er war lang und hager, trug einen nagelneuen
Überzieher und, bei dem Schneegestöber etwas befremdend, Zylinderhut
und Glaceehandschuhe. „Szteinßpängler ist mein Name!“ sagte er mit
einer Verbeugung. Ein freundliches Gesicht. Bis auf den blonden
Backenbart rasiert. An einen Lakai zu den Zeiten des alten Wilhelm
hätte er gemahnt, wäre nicht ein kindlicher Zug gewesen und das
Kennzeichen des Gelehrten, die Brille. „Lizentiat Szteinßpängler!“
fügte der Besucher hinzu.

Ein Theologe? Was wollte der von mir? War auch er der Kirche abtrünnig?
Oder wollte er mich zurückbekehren? -- „Legen Sie gefälligst ab, Herr
Lizentiat!“ sagte ich, und Bolle fügte gönnerhaft hinzu: „Ja woll, hier
is injekachelt, da kann man sich de Lamängs anwärmen. Aber draußen,
hu hu, da jibt et Eisbeene jratis!“ Steinspängler ließ sich seine
Garderobe abnehmen, Bolle hing sie auf den Flur und verließ uns. „Womit
kann ich dienen?“ fragte ich, als der Gast auf dem Stuhl Platz genommen
hatte, während ich auf meinem Bette saß.

Verwundert glitten seine Blicke über die Ausstattung meines
Gefängnisses. „Ihren Konflikt mit dem Kultusministerium habe ich
verfolgt. Wir bedauern lebhaft -- das heißt, wenn ich sage: +wir+,
so meine ich die Familie, wo ich als Hauslehrer angeßtellt bin -- ein
Sztaatsbeamter in hoher Sztellung! Ungewöhnlich liebe Menschen! Die
Mutter meiner Zöglinge, eine gemütvolle Dame, interessiert sich sogar
für Ihre soziale Lyrik. Der Hausherr, mein väterlicher Freund, hat
alle Achtung für Ihr Verhalten ... Näheres möchte ich nicht verraten
-- seine Sztellung ist der Kritik ausgesetzt, er kann nicht immer, wie
er möchte, muß gewisse Rücksichten nehmen -- ist aber ein wahrhaft
christlicher Mann -- zuweilen kommt es mir vor, er hat den inneren
Christus ... Sie ßtutzen?“ -- Befremdet mochte ich nicht zurückhalten
mit der etwas unhöflichen Einrede: „Den inneren Christus? Glauben
Sie, daß Christus gewisse Rücksichten genommen hat? Hat nicht der
Bergprediger gesagt, man solle sein Licht, also die innere Überzeugung,
nicht unter den Scheffel stellen?“ -- Nach etlichem Schweigen versetzte
Steinspängler mit leiser Stimme: „Aber Christus hat auch gesagt:
Richtet nicht und verdammet nicht! +Sie+ haben gut reden, Sie
sind ein +freier+ Mann.“ -- Ich mußte lächeln: „Ein freier Mann
-- im Gefängnis? Nun ja, dahin gehören heutzutage -- so scheint’s --
die freien Männer. Wissen Sie, was der Amerikaner Thoreau sagte, als
er wegen Steuerverweigerung im Gefängnis saß und sein Freund Emerson
ihn besuchte?“ Da der Lizentiat aufhorchte, fuhr ich fort: „Emerson
meinte: Es tut mir leid, daß du im Gefängnis bist! Thoreau erwiderte:
Und +mir+ tut es leid, daß du +nicht+ im Gefängnis bist. Als
anständiger Kerl gehörst du heutzutage ins Gefängnis, wie auch ich
hingehöre.“ -- Der Lizentiat machte ein verdutztes Gesicht -- lächelte
dann schalkhaft: „Na! Wissen Sie, Ihr Gefängnis ist nicht grade das
schlimmste -- lernen Sie mal andere Gefängnisse kennen!“ -- „Ich weiß,“
gab ich zurück, „hier nebenan wartet ein Stiefkind unserer Gesellschaft
darauf, wieder mal ins Arbeitshaus abgeführt zu werden -- es ist ein
hilfloser Greis!“ Mit echter Teilnahme entgegnete der Lizentiat:
„Ein Greis? traurig! Ich will mich erkundigen, vielleicht kann ich
helfen. Ach ja, Arbeitshaus ist hart. Doch als ich von Gefängnissen
ßprach, dachte ich an etwas anderes. An die Zellen, von denen Menschen
eingeengt sind, die jene gewissen Rücksichten nehmen sollen. Der Vater
meiner Zöglinge ist in solch einer. Wollte er sich ganz frei äußern, er
würde oben anßtoßen, würde unten anßtoßen, nach allen Seiten anßtoßen.
Da muß er sich mit einem anderen Wort unseres Heilandes trösten: Seid
klug wie die Schlangen! Im vertrauten Kreise ist er offen wie ein Kind,
sonst freilich Diplomat. Zu Ihnen komme ich mit seiner Billigung, und
ich darf Ihnen mitteilen, daß er unter Ihrem Fall geradezu gelitten
hat. Sein Gewissen ... Man muß eben seine Sztellung bedenken -- er ist
ein hoher Sztaatsbeamter ...“

Da wurde die Nebenzelle aufgeschlossen, und Bolle sagte: „Nu machen Se
sich man fertich so sachteken.“ -- „Kommen Sie, Herr Lizentiat!“ meinte
ich aufstehend, „Sie sind geneigt, etwas für den Mann zu tun. Ich höre
da eben, daß er gleich abgeführt wird.“ Willig sprang Steinspängler
auf und folgte mir auf den Flur. Da sah er nun den weißbärtigen Alten
und fragte freundlich: „Na Großvater? zur Arbeit langen wohl die
Kräfte nicht mehr?“ Der Alte begann zu schluchzen: „Zu +leichte+
Arbeet +doch+ woll noch! Aber +mir nimmt keener+!“ -- „Soll
ich Ihnen Arbeit +verschaffen+?“ fragte der Lizentiat, „Sie
hätten es ganz erträglich. Haben Sie mal von Bielefeld gehört? von
Pastor Bodelschwingh? Sie machen ein langes Gesicht. Sie denken wohl,
da sollen Sie ein Duckmäuser werden und immerfort frömmeln? Weit
gefehlt!“ Etwas mißtrauisch blickte der Alte und zuckte die Achseln:
„Wie soll ’k denn nach Bielefeld kommen? Det is doch hinter Hannover?
Un det Fahrjeld?“ -- „Kriegen Sie von +mir+. Aber Sie müssen
auch wirklich hinfahren! Aufgenommen werden Sie, auch wenn ich Ihnen
+keine+ Empfehlung mitgebe. Doch das soll +auch+ geschehen.
Also +wollen+ Sie? Sie werden ein neuer Mensch, auf Ihre alten
Tage.“ Nun mischte sich Bolle eifrig ein: „Jreifen Se zu, Jroßvata!
Weisen Se de Rettahand nich zurick!“ Und zum Lizentiaten gewandt:
„Fier den Momang allerdings muß die Sache den Amtswäch loofen, un
ick bringe den Ollen nach Ceepenick. Wenn Se mich aber Ihre Adresse
jeben, will ick Meldung duhn, det Se den Mann nach Bielefeld schaffen
mechten.“ -- „Einverstanden!“ sagte der Lizentiat und gab seine
Visitenkarte. Nachdem er nochmals dem Greis zugeredet, wurde dieser
abgeführt, und wir andern zwei kehrten in meine Zelle zurück.




Der Fürst dieser Welt und die Schildbürger


Der Lizentiat hatte Platz genommen und hielt sein Gesicht in den
Händen. Das Erlebnis hatte ihn bewegt, er schien sich zu sammeln.
Ich sah durch’s Fenster, wie der Schnee immer dichter stöberte --
Regentonne, Hackeklotz, Kegellaube, alles hatte weiße Kapuzen auf.

„Da stapft nun der alte Mann mit der Polizei nach dem
Gerichtsgefängnis! Stapft durch dicken Schnee, der den lebendigen
Busen der Erde verschüttet. Auch das Herz der Menschheit liegt unter
einer frostigen Hülle -- sie heißt Egoismus, Genußsucht, Habgier ...
Und das schon halb erstarrte Herz bildet sich noch was darauf ein,
daß es kühl und hart ist.“ Wie zu mir selber hatte ich so gesprochen.
Das Schweigen des Lizentiaten nahm ich für Zustimmung und fuhr fort:
„Die Ordner unserer Gesellschaft sind in der Schätzung des Egoismus
so weit, daß sie ihn ziemlich als einzige Triebkraft ansehen und ihre
große Maschinerie immer mehr nach dem vermeintlich klugen Prinzip
organisieren. Das nennen sie Zivilisation. Der gläubigen Menge reden
sie vor, ihre Art Politik verbessere unsere Glückseligkeit. Doch ich
kann mir nicht helfen, unsere Zivilisation hat etwas schaurig Ödes,
erbarmungslos Gewalttätiges, unnatürlich Enges, geradezu Gemeines.
Unsere Zivilisation ist eine Zuchthauszelle, und sie bleibt es, wenn
sie auch den Bedürfnissen der Neuzeit entspricht, wie die Hotelbesitzer
von ihren ‚erstrangigen‘ Häusern zu sagen pflegen. Heutzutage wird
die Persönlichkeit immer mehr ausgeschaltet. Es gibt keine Wirte,
sondern Hotelbesitzer.“ -- Jetzt nickte der Lizentiat und fügte
hinzu: „Schließlich wird es nur noch Hotel-+Aktionäre+ geben! Das
Geld verdrängt die Persönlichkeit.“ -- „Ich rede aber nicht bloß vom
Hotelwesen,“ fuhr ich fort -- „das ist nur ein Symptom. Ich meine Staat
und Gesellschaft. Sie, Herr Lizentiat, sagten von dem Herrn, bei dem
Sie Hauslehrer sind, er sei Diplomat. Da wird er also nach den Gesetzen
regieren, wohl gar selber Gesetze machen. Alle Gesetze aber wenden
sich an die Ichsucht und sind von der Ichsucht diktiert. Egoismus
heißt der Fürst dieser Welt, seine Herrscherfaust hält alles Leben
unterjocht. Es liegt mir natürlich fern, Ihrem väterlichen Freunde
einen persönlichen Vorwurf zu machen -- auch die Schuld wird heutzutage
immer unpersönlicher, wir stecken eben alle in dem furchtbaren Getriebe
... Aber der innere Christus ...“

Wie mahnend hob der Lizentiat die Hand und sah mich traurig an: „Als
ich sagte, er habe den inneren Christus, wollte ich nicht verhimmeln --
ich dachte eher an die Dornenkrone ... Der Vater meiner Zöglinge hat
mich in sein Herz blicken lassen, und ich muß sagen, er leidet bitter
unter dem Widerßpruch zwischen Ideal und Wirklichkeit. Aber hat denn er
allein Grund zu leiden? Sie machen geltend, er diene dem Fürsten dieser
Welt. Aber dem müssen wir ja alle Tribut zollen. Wozu einander Vorwürfe
machen! Seien wir lieber positiv! Hauptsache, daß man sich sehnt, ein
Arbeiter für das Reich Gottes zu sein.“ -- Er sah mich schüchtern an;
gerührt legte ich ihm die Hand auf die Schulter: „Sie sind solch ein
Arbeiter. Das zeigt Ihre Fürsorge für unser Aschenputtel ... Das Reich
Gottes, wo das mißhandelte Menschenkind zur Geltung kommt und sein
Kittelchen vertauscht mit einem Strahlenkleide, dies Ideal bedeutet
uns kein Beschwichtigungsmittel für das darbende Volk -- nicht wahr,
Herr Lizentiat? -- bedeutet uns ein Leben in unserer +Brust+, das
wir entwickeln sollen, damit es aus uns heraus schöpferisch wirke und
das ganze Dasein neu gestalte. Die Schöpfung ist ja noch lange nicht
perfekt. Es werde Licht!“

Kindlich lächelnd machte der Lizentiat eine Gebärde, als ob er
eine pfiffige Antwort vorbereite: „Der Fürst dieser Welt, wie Sie
sagen, ist nicht immer tragisch zu nehmen, auch komisch kann sein
Geschäftsbetrieb anmuten. Die Eitelkeit ist eine seiner Triebkräfte.
Bodelschwingh führte mal einen beßternten Minister durch die Anstalt.
Als ein zerlumpter Landßtreicher dem hohen Herrn etwas nahe kam, trat
dieser scheu zurück. Bodelschwingh aber meinte mit seinem gutmütigen
Lächeln, indem er den Minister beim Knopfloch faßte: Würden Euer
Exzellenz im Samariterdienste eine Laus auflesen, die wäre im Reiche
Gottes eine höhere Dekoration als Ihr Schwarzer Adlerorden.“ Ich
lachte: „Das Gesicht des Ministers hätte ich sehen mögen! Faßlicher
wäre ihm die Geschichte von jener +königlichen+ Laus: Am Messer,
mit dem sie zerteilt war, leckte der Küchenjunge und ward davon ein
Adliger einfachen Grades. Bielefelder Tierchen haben ja nicht so hohe
Kraft. Doch vielleicht hat der Minister Belehrung profitiert von
Bodelschwingh? Ich bin nicht genau unterrichtet über die Bielefelder
Methode. Nach dem, was ich gehört habe, ist sie ein Fortschritt
über die Schildbürger-Methode hinaus ...“ Der Lizentiat stutzte:
„Schildbürger? Sie brauchen da ein harmloses Bild für eine unheimliche
Sache. Arbeitshaus, Zuchthaus -- das ist keine Schildbürgerei. Vorhin
sagten Sie: Fürst dieser Welt. Das paßt eher.“ -- „Fürst dieser Welt
ist tragisch gesagt,“ entgegnete ich, „doch, wie Sie selber bemerkten,
ist an ihm auch was Komisches. Die Medaille hat +zwei+ Seiten --
auf der einen ist der Fürst dieser Welt, auf der anderen das Wappen von
Schilda. Sie wissen doch aus den Märchen Ihrer Kindheit? Im Königreich
Utopien, hinter Kalkutta, gab es ein Städtchen, dessen Bürger ihre
Narrheit in ein System brachten. Beim Bau des Rathauses hatten sie
vergessen, Fenster anzubringen. Weil es nun innen finster war, während
draußen der Tag flutete, kamen die Schildbürger auf die listige Idee,
das Tageslicht in Säcke zu füllen und im Beratungssaal auszuschütten.
Eifrig suchte ein jeder den Tag zu erfassen, mit Säcken und Kesseln,
Schaufeln und Mistwagen. Ein Schlaukopf fing Sonnenstrahlen in
einer Mausefalle. Es wurde nun zwar nicht hell im Rathaus; aber
die Schildbürger meinten: Fahren wir nur so fort! Wir tun alles
Menschenmögliche -- und +wenn’s+ geriete, wär’s eine feine Kunst!
Nun, Hand aufs Herz, Herr Lizentiat, etwas von diesem Schilda-System
lebt in unserer Zivilisation. Erst verfinstert man den Menschen, dann
will man Licht hineinschaffen mit Säcken und Mausefallen. Denken Sie
an den Greis, der jetzt nach Cöpenick eingeliefert wird. Die hohen
Herren schelten ihn arbeitsscheu, verkommen. In gesunden Verhältnissen
gibt es keine solche Verkommenheit, keine Arbeitsscheu. Da würde
jedes Kind beherzigen, daß man arbeiten muß, um essen zu können.
Schon aus dem natürlichen Beschäftigungstrieb würde man arbeiten.
Aber was ist in unserer Zivilisation aus dem Beschäftigungstrieb,
aus der gesunden Natur geworden? Ins vermauerte Rathaus kann der
Tag nicht eindringen! Die Menschen werden insofern verfinstert, als
Vernunft, Natur, gesunde Sitte in ihnen erstickt. Die Lenker unserer
Staaten, die mit Vorliebe Millionäre züchten, ziehen in diesen eine
gewisse Scheu vor fruchtbringender Arbeit groß und belohnen sie
mit Würden und Orden. Andererseits wird die Masse des Volkes von
Arbeitsgelegenheit ausgesperrt, indem Gesetz und Gefängnis, Beamte
und Soldaten dafür sorgen, daß der Grund und Boden, den man doch
zur Arbeit nicht entbehren kann, nur wenigen gehört, so daß jene
Vielzuvielen, die in der Wahl ihrer Eltern nicht vorsichtig waren,
keine andere Lebensmöglichkeit sehen, als sich entweder abzurackern --
oder Landstreicher zu werden. Hinweg! heißt es dann -- hinweg mit den
Arbeitsscheuen ins Arbeitshaus! Da soll ihnen gewaltsam Arbeitslust
beigebracht werden. So fängt man mit der Mausefalle den Tag und schafft
ihn ins finstere Rathaus.“

Der Lizentiat hatte geduldig und ernsthaft zugehört. Jetzt stand
er unternehmend auf: „Glauben Sie nicht, daß ich diesem Kapitel
ein Ende mache, weil mir Ihre Satire unpassend vorkäme. Gewiß, die
Schildbürger sind nicht ausgestorben, und sitzen bei uns auf den Höhen
der Gesellschaft wie in den Tiefen. Aber diese närrische Welt ist nun
mal darauf eingerichtet, daß Weise und Toren, Gerechte und Ungerechte
+zusammen+ leben. Weil man sich nicht radikal loslösen kann von
den gewöhnlichen Gemeinschaften und Einrichtungen, so bleibt bis zum
jüngsten Tage auch den Besten nichts übrig, als mit den Wölfen zu
heulen, mit den Schafen zu blöken ... Doch lassen wir dies Kapitel und
reden wir von der Sache, die mich zu Ihnen führt. Ich habe sozusagen
eine Mission. Nicht amtlich, nicht halbamtlich, sondern persönlich
und rein menschlich. Es bekümmert den Vater meiner Zöglinge, daß Sie
hier sitzen. Wir möchten, rundheraus gesagt, daß Sie möglichst rasch
wieder in Freiheit gelangen. Und nun sagen Sie mal, Herr Doktor, liegt
Ihnen etwas daran, hier noch +länger+ zu hausen? Ich meine, weil
Sie doch Thoreaus Wort angeführt haben -- als ob das Gefängnis Ihr
würdigster Aufenthaltsort wäre.“

Ich konnte meine Heiterkeit nicht verbergen: „Aber natürlich spaziere
ich mit Vergnügen in die Freiheit. Weiß bloß nicht, wie ich es
anstellen soll, ohne meinem Vorsatz untreu zu werden, die Strafe nicht
mit Geld abzumachen. Die Regierung, die an mir ein Ketzergericht
verübt, soll’s dabei nicht gar zu bequem haben. Hand aufs Herz,
Herr Lizentiat, würde Ihr väterlicher Freund sich auch dann um mich
bekümmern, wenn ich die Strafe in Geld gebüßt, oder wenn gar meine
Gemeinde für mich gezahlt hätte? Das hätte ihm kein graues Haar
gemacht. Sie sehen, wie der Zeitgeist auch in dieser Hinsicht die
Persönlichkeit auszuschalten sucht. Ich rebelliere! Bin ein lebendiger
Mensch -- und an Lebendige wende ich mich. Ich mache die Sache
+nicht+ mit Geld ab.“

Der Lizentiat versuchte, in der Enge umherzulaufen. Nachdenklich griff
er an seine Stirn und blieb vor mir stehen: „Was werden Sie tun, wenn
Sie wieder draußen sind? Werden Sie aufs neue freireligiösen Unterricht
erteilen? Um dann abermals für jede Sztunde zehn Tage Haftßtrafe
zu kriegen?“ -- „Nicht doch! Man soll kein Prinzip zu Tode hetzen,
sonst wird man komisch. Wille ist ein Don Quijote! würde die Welt
sagen; dann nicht mit Unrecht.“ -- „Aber was wird hinfort aus Ihren
Konfirmanden? Erhalten sie +gar+ keinen Unterricht mehr?“ --
„Doch! In einer anderen Form! Der Inhalt bleibt natürlich derselbe.
Erzählen Sie dem Vater Ihrer Zöglinge, falls er, als hoher Beamter,
nicht schon genau darüber unterrichtet ist, daß ich im Gefängnis eine
Reihe von Vorträgen für die Jugend schriftlich verfaßt habe, und daß
diese Vorträge von Mitgliedern der Gemeinde den versammelten Kindern
vorgelesen werden. Natürlich möchte der Kultusminister auch diese
Form der Ideenverbreitung womöglich vereiteln. Wenige Tage, nachdem
der erste Jugendunterricht auf die neue Art erfolgt war, wurde dem
Vorleser behördlich solche Tätigkeit bei Strafe verboten. Doch wir
wußten uns auch jetzt zu helfen: nicht er hielt am nächsten Sonntag
die Vorlesung, sondern ein anderer Gesinnungsfreund. Als auch diesem
die Sache verboten war, sprang ein Dritter in die Bresche, und so
fort. Da wir mindestens fünftausend Vorleser haben, könnten wir diese
sonntägliche Jugendunterweisung hundert Jahre durchhalten. Wenn ich
also nun raus bin aus dem Gefängnisse, geht’s mit dem Unterricht weiter
in der +neuen+ Form, in der unpersönlichen ... Sehen Sie, Herr
Lizentiat, das System unpersönlichen Lebens zerrüttet sich selbst.
Sie lachen? Aber neben der lächerlichen Seite hat die Geschichte auch
eine ernste, und die verschweigen Sie +nicht+ dem Vater Ihrer
Zöglinge, der doch Verständnis für Pädagogik hat. Weit entfernt, das
Interesse an den freireligiösen Vorträgen gelähmt zu haben, hat die
Verfügung des Ministers vielmehr hingebende Begeisterung ausgelöst
und nur in +einem+ Punkte uns Freireligiösen geschadet: die
Pädagogik hat gelitten. Sie werden zugeben, daß der Unterricht von
einer innerlich berufenen Persönlichkeit erteilt werden muß, und zwar
in sokratischer Art: auf lebendige Darlegung und Fragen des Lehrers
sollen die Antworten der Zöglinge erfolgen. Bei der neuen Form geht das
nun leider nicht. Also gegen den guten Geist des Unterrichts hat sich
das Unterrichtsministerium vergangen -- nichts andres hat es erreicht.
Übrigens wäre noch zu erwähnen, daß bei den Kindern und in weiten
Kreisen der Bevölkerung der gegen mich geführte Schlag das Ansehen der
Regierung und der Kirche nicht gefördert hat. Man muß bloß mal mit
einiger Unbefangenheit bedenken, was es heißt, einem sonst berufenen
Manne zu verbieten, seine Konfirmanden in seine freireligiösen
Anschauungen einzuführen -- ihm aus kirchenpolitischen Gründen die
sittliche Qualifikation zum Unterrichten überhaupt abzusprechen --
weil er seine Überzeugung bekennt, indem er nicht an den deistischen
Kirchengott glaubt.“

„Mag sein!“ meinte der Lizentiat kleinlaut, „der Mißgriff ist nun mal
geschehn. Genug! Sie erklären also, daß Sie den früheren Unterricht
+nicht+ fortsetzen werden? +Dann+ wird Ihr Gesuch um Niederschlagung
Ihrer Strafe +bewilligt+.“ -- „Und Sie meinen, ich werde mich zu
solch einem Gesuch +verstehen+? Habe ich +so+ lange hier gesessen,
kommt es mir auf ein paar Monate mehr nicht an.“ -- Der Lizentiat
war verdrossen: „Solch ein Gesuch paßt Ihnen nicht?“ -- „Ich will
keine Gnade!“ -- „Aber Sie haben doch um gewisse Vergünstigungen
nachgesucht, beißpielsweise, daß Sie Besuche empfangen dürfen?“ --
„Das sind +Rechte+ des Häftlings. Wenn ich aber um Niederschlagung
der Strafe bäte, würde ich anerkennen, daß sie +begründet+ ist, und
begäbe mich vom Standpunkte dessen, der sein Recht begehrt, auf den
Weg des +Bittstellers+.“ -- „Würden Sie denn nicht einmal um +Urlaub+
nachsuchen?“ -- „Urlaub? Warum nicht? Unter gewissen Umständen darf der
Häftling beurlaubt werden, das ist sein Recht.“ -- „Na also!“ meinte
der Lizentiat, und seine Zufriedenheit hatte etwas Listiges -- „dann
kommen Sie wenigstens um Urlaub ein!“ -- Ich stutzte: „Warum das? Ich
habe keine Neigung, die Erledigung meiner Strafe durch eine +Pause+ zu
unterbrechen. Sehn Sie mal, wie nett das hier eingerichtet ist! Und nun
sollen die Wandteppiche und fidelen Schnurrpfeifereien +heraus+kommen?
Nach vier oder sechs Wochen aber, wenn ich, nach Ablauf meines Urlaubs,
wieder ins Gefängnis +zurück+ muß, hat meine Frau aufs +neue+ die
Schererei des Einrichtens? Nicht doch! Lieber den Kelch in +einem+ Zuge
geleert!“

Mit einer gutmütigen Hinterhaltigkeit fixierte mich der Lizentiat:
„Nach vier oder sechs Wochen ins Gefängnis zurück? So meine ich es
nicht! Der Urlaub könnte ja +länger+ dauern! Hum! Verstehn Sie
mich denn nicht? Ich meine +sehr+ lange! hum hum!“ -- Ich sah ihn
groß an -- ein Licht wollte mir aufgehn. „Der Herr, in dessen Hause Sie
sind, ist doch nicht etwa gar --?“ Der Lizentiat legte den Finger auf
seine Lippen.

Dann holte er seinen Mantel, ich half ihm hinein. Die Handschuhe
anlegend, meinte er treuherzig: „Also nicht wahr, Sie kommen um Urlaub
ein? Sie verßprechen es mir!“ Herzlich drückte ich die dargereichte
Hand: „Sie sind ein guter Mensch! Ich werde mir’s überlegen.“ --

Als der Lizentiat fort war, dachte ich über das Rätsel nach, das
hinter seinem eigentümlichen Rat steckte. Hatte er wirklich so etwas
wie eine Mission? Der Vater seiner Zöglinge war Diplomat, ein hoher
Beamter -- war’s vielleicht gar der Kultusminister? Oder ein Dezernent
im Ministerium? Warum nicht? Es war auch schon möglich, daß der hohe
Beamte aus rein menschlichem Wohlwollen mich in Freiheit bringen
wollte. Wozu dann aber bloßen Urlaub geben? Oder halt! War der Urlaub
vielleicht ein +Vorwand+? Steckte dahinter die +endgültige+
Befreiung? +Darum+ wohl hatte der Lizentiat bedeutsam gehustet!
+Sehr+ lange, hatte er gesagt, könne der Urlaub dauern. Aha!
Die Herren möchten mich mit Anstand los werden, mein Fall ist ihnen
unbequem!

Ich lächelte -- mußte wieder an Schilda denken. Einmal fand ein
Schildbürger einen Krebs, und weil ihrer noch niemand solch ein
Ungetüm gesehen hatte, das um so unheimlicher war, als es rückwärts
kroch, so verhaftete man den Krebs, sperrte ihn in eine Schachtel und
machte ihm den Prozeß. Da nun das gereizte Vieh mit seiner Schere
einen Schildbürger kniff, bekam man Angst und wollte das Ungeheuer
auf irgendeine Weise los werden -- immerhin in aller Form Rechtens.
Schließlich entschied man, der Krebs müsse ins Wasser, um elendiglich
zu versaufen, und warf ihn in sein Element. Der Krebs bin ich. Der
weise Rat von Schilda hat mich erst eingespunnen -- nun wäre er
zufrieden, das lästige Ungeheuer los zu werden, ohne sich was zu
vergeben. Heureka! Man setze den Gefangenen einfach dahin, wohin er
gehört: an die frische Luft.




Dreck--Speck--Zweck überhaupt


Als ich erwachte, heulte Tauwind und plätscherte es vom Dach. Mit
Schaufel und Besen suchte Onkel Pofke auf dem Hof einen Pfad durch
den Schnee zu bahnen. Die Geräusche kamen mir garstig vor, ich legte
mich auf die andere Seite, obwohl es bereits Tag war und in meinem
Ofen frische Heizung bullerte. -- Wozu denn auch aufstehn? Draußen
herrschte Matsch und Dreck, hier die Gefangenschaft war trotz meines
Galgenhumors im Grunde doch auch etwas Ödes, und nicht bloß das Dasein
des alten Landstreichers, sondern das menschliche Leben überhaupt hatte
was von jenem Göpel, den Bolle gestern erwähnte: Die hagre Mähre geht
immerfort im Kreise herum, gedroschen wird viel leeres Stroh.

Und um solch ein Leben sollte ich mich ernsthaft bemühen? Ich sollte
das Urlaubsgesuch machen, von dem der Lizentiat meine Enthaftung
erwartete? Enthaftung! Als ob nicht all unser Dasein eine triste
Gefangenschaft wäre! Nein, da will ich lieber in diesem ehrlich
verdienten Loche bleiben, um verächtlich weiterlachen zu können über
Schilda und seine Putzigkeit. Meine Robinsonklause ... Ach nein
doch, Robinson hatte es besser -- dem ganzen Zivilisationsschwindel
entronnen, durfte er sich ein eigen Leben erschaffen in seiner
Einsiedelei, und die Menschenfresser, die ihn mal beunruhigten, waren
nicht so lästig, wie Europas Gesittungsphilister -- uff!

Um meiner Verdrossenheit Luft zu machen, kam mir der Pfahlbürgerreigen
auf die Lippen: „Dreck, Speck, Zweck überhaupt! Reia, reia ...“, und
dann murmelte ich etwas vom „Deibel“. Plötzlich mußte ich auflachen
-- ein Geschichtchen fiel mir ein, das Onkel Pofke neulich berichtet
hatte. Durch das Flugblatt war sein Mikrokosmos in Aufruhr geraten, und
er liebäugelte geradezu mit meinen Ketzereien. Mit Genugtuung hatte er
vernommen, daß Hunderte von Zustimmungsschreiben aus allerlei Schichten
der Bevölkerung bei mir eingelaufen waren und ein paar Dutzend
Versammlungen gegen das Vorgehen des Kultusministers protestiert hatten.

Vorgestern hatte Onkel Pofke solch eine Versammlung sogar besucht. Er
war ganz begeistert davon, und ein komisches Vorkommnis erzählte er
mit immer neuer Heiterkeit: Ein Redner bekannte sich zum Atheismus,
gebrauchte aber am Schluß seiner Ausführungen die Worte: „Muß der
Glaubenstrott denn immer so weitergehen? Gott Lob, nein!“ Hier war
der Zwischenruf erfolgt: „Wieso Jott Lob? Sie jlooben doch an keenen
Jott!“ Begütigend lächelte der Redner: „Ach meine Herren! das ist eine
gedankenlose Redensart -- als Kind hat man sie aufgeschnappt, weiß
Gott ...“ Lachend echote die Versammlung: „+Wieso+ weiß Jott? Ach
Jotteken!“ Achselzuckend suchte sich der Verspottete zu entschuldigen:
„Auch ich habe leider Gottes ...“ -- „Hoho! schon wieder hat er’s mit
Jott!“ Jetzt riß ihm die Geduld, und er stampfte mit dem Fuße: „Aber
erlauben Sie mal! Ich +meine+ es doch, Gott sei Dank, nicht so!“
In dem Gebrüll, das losplatzte, war vom Protestieren des Redners nichts
zu verstehn; er mußte abtreten. Adolf Hoffmann, der die Versammlung
leitete, goß unter Läuten seiner Glocke glättendes Öl auf die Wogen
und nahm selber das Wort: „Der Fall zeigt wieder mal, mit dem Mundwerk
muß sich der Mensch höllisch vorsehn ...“ Hier wurde auch er durch
Gelächter unterbrochen, und man rief: „Höllisch? Wieso? Adolf jloobt
doch an keene Hölle!“ -- Mit seiner schlagfertigen Kaltblütigkeit
entgegnete Hoffmann: „Aber natürlich -- an eine +Hölle+ glaub’
ich! Einen lieben Gott allerdings jibt es nich -- der soll sich erst
entwickeln! Aber eine Hölle jibt es -- die Menschen nämlich machen sich
das Dasein zur Hölle. Wenn man so sieht, wie sich das jejenseitich
beschummelt, bemopst und verknutet, patriotisch niederkartäscht
und mit Jott verketzert -- gestehn Se, Herrschaften, da findet der
menschenfreundliche Atheist manchmal keinen ehrlicheren Ausdruck für
seinen heiligsten Jlauben, als so’n recht herzliches: Pfui Deibel!“
-- Das war für Onkel Pofke ein Lichtblitz gewesen, er rühmte Adolf
Hoffmanns „Sprechanismus“ und tippte sich mit dem Finger auf die Stirn:
„Nanu wird’s Tach unter de Nachtmitze!“ -- „Aber Pofke!“ hatte ich
erwidert -- „wie können Sie so über Ihre Amtsmütze sprechen? Sie Sozi,
pietätloser!“

Übrigens hatte Onkel Pofkes Amtsmütze einen besonderen Anteil an
meiner schlechten Stimmung wie an seiner Rebellion. Und das war so
gekommen: Unter dem Vorwande, Reißen in der Schulter zu haben, wogegen
nur kräftige Bewegung der Arme helfe, hatte ich Pofke verleitet, mit
mir auf dem See herumzurudern, und da er sich diesem Sport mit wilder
Begeisterung hingegeben, war seine Amtsmütze ins Wasser gefallen und
auf den Grund gesunken. Weil nun die schmähliche Nacktheit seines
edelsten Organs auf der Straße, als er mich zum Gefängnis heimbrachte,
Aufsehen erregt hatte, war der Unratschnüffler Biedermaxe aufmerksam
und, nach Feststellung des Tatbestandes, beim Landrat vorstellig
geworden. Ein Staatsgefangener, der auf dem See herumgondle, noch
dazu ohne gehörige Aufsicht, ja unter Herabwürdigung eines amtlichen
Uniformstückes, sei eine Verhöhnung der öffentlichen Ordnung und der
altpreußischen Beamtenehre.

War nun der Landrat auch geneigt, wegen dieser Denunziation kein
Aufhebens zu machen, so verlangte ein anderer und entschieden ärgerer
Fall, daß er doch einschreite. Eines Nachmittags nämlich, als Bolle
arglos schlief, hatten meine Freunde einen Photographen gebracht, um
ein Bildnis meines Hotels aufzunehmen. Während ich mit meiner Frau
durchs Kerkerfenster lugte, standen Wilhelm Bölsche und Julius Hart
davor, auch Frau Hart und Frau Bartels, die kleine Freia auf dem Arm.
Bartels war im Begriff, aus einer umstürzlerischen Zeitung vorzulesen,
und zwei Pennbrüder hatten die Gelegenheit, sich gratis verewigen
zu lassen, mit lachender Keckheit wahrgenommen. Der Photograph
hatte geknipst und hatte dann die ebenso kompromittierende wie
realistische Schilderung eines Staatsgefängnisses von Schilda in seinem
Berliner Schaukasten ausgestellt, noch dazu mit der Unterschrift:
„Gewissensfreiheit in Preußen“. Nachdem das Bild einen reißenden
Absatz gefunden, besonders an Volksschullehrer und Studenten, hatte
die Polizei darüber dem Kultusminister Meldung gemacht und dieser
beim Amtsvorsteher angefragt. Gestern hatte das Unwetter getobt,
Bolle war außer sich gewesen. Von Disziplinar-Untersuchung, ja von
Entlassung hatte er gejammert und dem Onkel, den er zum Sündenbock
machte, Entziehung der Gasthaus-Konzession in Aussicht gestellt. Mich
hatte er geärgert durch die Drohung, Spaziergänge in der früheren Art
könnten nicht mehr gestattet werden; hingegen stehe es mir, wenn ich
Bewegung haben wolle, frei, ihn auf seinen dienstlichen Gängen durch
Friedrichshagen zu begleiten. Gegen diese Zumutung hatte ich mich grimm
empört, und so war zwischen uns ein richtiger Krach erfolgt ... Daß
ich beim Überdenken dieser Dinge den Deibel zitierte und die Hymne
des höheren Stumpfsinns „Dreck, Speck, Zweck überhaupt!“, ist um so
begreiflicher, als die Freiheitswelt da draußen sich tatsächlich in
Dreck und Speck auflöste.

Nachmittags wurde es besser, ein eisiger Nord blies, und taumelnde
Flocken legten sanft die Farbe der Unschuld über den erstarrten
Schmutz. Als ich meiner Frau eröffnete, ich sei nunmehr gar nicht
geneigt, um Urlaub nachzusuchen, redete sie mir gut zu: „Ach was! Mach
doch kein Gesicht, als wären dir alle Felle weggeschwommen! Flott raus
zum Spaziergang!“ -- „Bolle weigert sich, mitzugehn!“ -- „Unsinn! Ich
werde mit ihm sprechen. Wo ist denn diesmal deine Adventsstimmung?
Sonst bist du doch immer vor Weihnachten so erwartungsfroh! Gleich
gehn wir über den Weihnachtsmarkt -- die grünen Tannenbäumchen sollen
dich begeistern -- und wenn du hernach deinen Tee trinkst, mag dir der
Teelöffel, den ich dir hier nebst dem gewünschten Teeglas mitgebracht
habe, eine Adventsgeschichte erzählen. Achte auf ihn, er ist mein
Bundesgenosse!“




Was der Teelöffel anstiftete


„Meine enge Klause kann doch nicht zur Aufbewahrung von Tassen,
Tellern, Löffeln dienen.“ Das war die Ansicht meiner Frau, und deshalb
hatte sie, was ich an Tischgerät brauchte, für jeden Einzelfall aus
ihrer Wirtschaft besorgt. Morgens brachte Frau Bolle ein Kännchen und
eine Tasse -- hinein tat ich meinen Tee, den ich selbst bereitete.
Das dicke Wirtshausporzellan war allerdings barbarisch für den
duftenden Nektar des sinnigen Ostens. Wenn man nicht gerade ein
Porzellan-Schälchen aus China hat, zart wie ein Blumenkelch, paßt für
Tee nur Glas, dünnes Glas. Damit aber beim Eingießen des heißen Trankes
das Glas nicht springe, leitet man etwas von der plötzlichen Erhitzung
auf Metall über, und diesem Zweck soll der Teelöffel dienen, der also
beim Einschenken im Glase sein muß. Es dürfte somit verständlich sein,
daß ich meine Frau gebeten hatte: „Bring’ mir doch ein Teeglas nebst
Löffelchen mit.“ Diesen Wunsch hatte sie ja nun erfüllt.

Als wir unseren Spaziergang über den bescheidenen Weihnachtsmarkt
von Fritzenwalde beendet hatten, lud ich meine Frau ein, an meinem
Tee teilzunehmen. Sie lehnte diesmal ab, empfahl mir aber, auf den
Teelöffel zu achten. Nicht ohne Neugier sah ich mir das Ding an, auf
das meine Frau so große Stücke hielt. Sonderbar! Zu dem hübschen,
geschliffenen Teeglas paßte er ganz und gar nicht -- er war nicht von
Silber. „Du denkst wohl: wo Gefangene hausen, sind silberne Löffel
nicht sicher -- wie? Und deshalb bringst Du mir so’n ordinäres Dings!“
-- „Ordinär?“ Meine Frau hatte gelächelt, als ob sie ein Rätsel
aufgeben wolle: „Wirst schon sehen, was das für ein Dings ist. Besinne
Dich!“

Dies Gespräch ging mir durch den Sinn, als ich einsam in meiner Klause
den Tee bereitete. Kopfschüttelnd nahm ich den Teelöffel. Das war ja
nicht mal Zinn, sondern Blei -- schwärzlich grau wie eine Gewehrkugel,
ohne Glanz, ohne Klang, überdies verbogen. Und das sollte nichts
Ordinäres sein? „Besinne Dich!“ Na ja -- etwas Gemütliches, etwas
Anheimelndes war daran. Aber ich begriff es nicht ...

Schneeflocken wie Daunen taumelten vor den Kerkersprossen. In der
Dunkelheit züngelte mein Spiritusflämmchen geisterhaft um den Kocher.
Durch den Spalt der Ofentür äugelte die Kohlenglut und malte einen
Purpurstreifen auf den Fußboden. Und zu summen begann das Wasser.
Meine Herbstnachtigall hätte jetzt zirpend eingestimmt, doch unter der
Schneedecke schlummerte sie. Dafür zirpten nun haarfeine Saiten, ein
weißes Kinderhändchen schlug die Traumharfe. In melodische Schwingungen
geriet meine Klause, die Schnörkel des Wandteppichs schlangen sich
durcheinander wie tanzende Elfen, die buntgeblümte Papierlaterne
mahnte an den träumerischen Osten, wo Tempel aus Porzellan leuchten,
von gläsernen Glöckchen umwispert, und wo die Teestaude grünt. Und
der Teelöffel -- ja was war mit dem? Die blaue Flamme hatte ein
geheimnisvolles Glanzlicht drauf gesetzt: „Besinne dich!“ -- Bilder
aus meiner Kindheit gaukelten schmeichelnd. Ich saß in der Klippschule
und malte Buchstaben, während der Lehrer für seine Kleinen Äpfel auf
der Ofenplatte briet. Beim Braten zischelten und pafften sie. Wenn
einer gar geworden, bescherte ihn der gute Lehrer, zerteilte ihn mit
dem Messer, und wir schmausten. Auf dem Klassenschrank harrte um diese
Adventszeit ein Nadelbäumchen, und bei jedem Schulschluß sang die
Klasse „Ihr Kinderlein, kommet!“

Am Nachmittag vor der Weihnachtsbescherung war’s. Zwischen den hohen
Häusern der Straße lag schon Dämmerung, und der Laternenmann ging
mit seiner Lunte herum. Von Schnee begann das Pflaster zu schimmern,
daunenartig fielen die Flocken -- just wie heute. Ein neunjähriger
Knabe war ich. Ungeduldig den Weihnachtsabend erwartend, vertrieb ich
mir vor der Haustür die Zeit, indem ich eine Schlitterbahn glättete. Ob
der Wunsch, den ich Großmutter anvertraut, wohl erfüllt werden, ob das
Kasperletheater auf dem Weihnachtstische liegen würde?

Auch das Straßentreiben zog mich an. Da ging ein Herr, vermummt in
dicken Pelz, bepackt mit Schachteln und Düten. Eine Frau in ärmlichem
Umschlagetuch trug ihr schmächtiges Fichtenbäumchen. Ein Händler
mit einem Handwagen voller Äpfel und Nüsse. Ein kleines Mädchen bot
Hampelmänner an, das Stück einen Sechser, während ihr Bruder mit
Waldteufeln und Knarren lustigen Lärm verübte. Es war zu merken, daß in
der Nähe, beim Rathaus, großer Weihnachtsmarkt. Ich hatte Lust, einen
Abstecher hin zu machen, als sich eine Hand auf meine Schulter legte:
„Höre mal, Junge, hast du Zeit? kannst du mir den Koffer da zum Bahnhof
bringen?“ So fragte ein ältliches Männchen in abgeschabtem Überzieher,
eine sonderbare Wollmütze auf dem Kopfe. „Du bist ja groß genug!“
Obwohl diese Bemerkung etwas spitzig herauskam, berührte sie das
Knabengemüt fast schmeichelhaft. Wie ein gewiegter Gepäckträger ergriff
ich den Koffer. Schwer war er, doch ich ließ nichts merken und hastete
neben dem Männchen her. War der rechte Arm müde, so trug ich den Koffer
auf der andern Seite. Das Männchen mit der Wollmütze beobachtete mich
zuweilen von der Seite und kicherte. „Hast es wohl schwer, Söhnchen?
Schadet nichts! Vom Tragen wird man stark.“ Ich nickte, an Eifer fehlte
es mir nicht. Aber der Koffer wurde immer schwerer, manchmal mußte
ich mit beiden Händen gleichzeitig schleppen. „Mach’s doch wie ein
richtiger Gepäckträger!“ mahnte das Männchen, und mit seiner Hilfe
brachte ich den Koffer auf meine Schulter. „Später wird man dir noch
ganz anders aufpacken. Immer fest und getrost!“ Und wie des Männchens
Fausthandschuh meine Backe gütig berührte, wurde mir leicht. Da sah ich
auch schon die erleuchtete Bahnhofsuhr.

Als ich im Wartesaal den Koffer niedersetzte und ein wenig Zittern in
den Gliedern spürte, blinzelte das Männchen schelmisch, suchte in einer
schäbigen Börse und drückte mir ein Geldstück in die Hand. Verdutzt
sah ich hin; es waren Zwei gute Groschen, wie man damals sagte. Und
das sollte mir gehören? „Warum nicht?“ meinte das Männchen -- „hast es
ja verdient! Oder weißt du nicht, was verdienen heißt? Bist mir wohl
so einer, der sich noch von Vatern ernähren läßt? Na, wirst schon noch
dahinter kommen: Verdienen schmeckt erst sauer, dann süß!“

Verdient! Zum erstenmal in der Tat hatte ich etwas verdient -- wie
Vater das Brot für uns verdiente. Ich war ein richtiger Gepäckträger --
und da hatte ich nun meinen Lohn! Ein Hochgefühl hob meine Brust. Fest
in die Hand das Geld gepreßt, eilte ich heim. Über den Weihnachtsmarkt.
O wie berauschte das Ausrufen der Verkäufer, der Lärm von
Kinderharmonikas, der Schmalz- und Honigkuchenduft, die bunte Fülle der
Spiel- und Flittersachen! Und dazu meine Groschen, die mir so wertvoll
vorkamen, daß ich schier meinte, den ganzen Jahrmarkt kaufen zu können.
Ja, kaufen! Aber was? Die Wahl fiel schwer, zumal mir klar wurde, daß
man mit Zwei guten Groschen keine Sprünge machen kann. Sollte ich einen
Zauberapparat kaufen? Oder einfach Schmalzkuchen? Türkischen Honig oder
einen Pflaumenmann? Mein erster Verdienst war wohl zu schade, um so
vertan zu werden.

„Vier Silber’roschen! Jreifen Se zu! So wat kommt nich wieder vor!
Raus mit die Jroschens! Herrschaften haben doch Jeld wie Hei!“ Das
war „der billige Mann.“ Ein Menschenknäuel -- Leute vom Lande --
drängte sich um den Verkaufstisch und staunte ebenso über des Mannes
Zungenfertigkeit wie über die fabelhafte Billigkeit der Waren. Er
versteigerte sie gewissermaßen abwärts, indem er vom Preise Groschen
und Sechser abließ, bis sich ein Käufer meldete. Jetzt hielt er
ein halbes Dutzend Teelöffel empor. Sie blitzten verlockend, rosa
Seidenpapier umhüllte ihre Stiele, es waren „feinste silberne
Teelöffels“. Der billige Mann schwenkte sie, schlug mit der einen Hand
schallend in die andere und brüllte: „Also nur vier Silber’roschen det
janze halbe Dutzend! Det ist wat for die Aussteier! ... Wat Freilein?
Se wollen Ihr Jlick vascherzen? Nur vier Silber’roschen! Mich kosten
sie det Doppelte, so wahr ick Jakob heeße. Aber -- Leite -- ick jebe
se for -- na, meinetwejen for +drei+ Silber’roschen -- bloß
weil heite Weihnachten is. Det is ja ausverschämt billich, det is ja
rein vaschenkt! Wer se nu nich will, der läßt et bleiben! Na also,
Herrschaften! Wer nimmt se for -- drei Silber’roschen zum Zweiten --
un -- zum ...“ Mir pochte das Herz in fieberhafter Spannung. Oh, wenn
er doch nur auf Zwei gute Groschen runterginge! Ich nähme sie gleich!
Das wäre ein passendes Geschenk für Mutter und Großmutter! Oh würde
doch der billige Mann +noch+ billiger! -- Aber dazu schien er
keine Lust zu haben. „Drei Silber’roschen -- das allerletzte Wort --
zum Dritten!“ brüllte er mit heiserer Stimme und legte die Löffel mit
ärgerlicher Bewegung auf den Warentisch. Er schien es aufzugeben,
seine Perlen vor die Säue zu werfen. Aber noch einmal raffte er sich
auf. „Leite, Leite, Leite! kooft mich ab, sonst wer’ ick pleite! Na
also, damit ihr seht, det ick der billije Jakob bin, jebe ick zum
aller-allerletzten det janze halbe Dutzend silberne Teelöffels for
-- Zwei jute Jroschen!“ -- „Hier!“ Triumphierend hob ich die Hand
mit meinem Gelde. Der billige Mann zog ein schiefes Gesicht und
schnauzte scherzhaft: „Junge, warum haste dir nicht eh’r jemeldt?“ Die
umstehenden Bauern lachten listig, als hätte ich einen dummen Teufel
geprellt. „Düt is’n Bengel!“ Innerlich jauchzend, als hätte ich das
große Los, packte ich meine silbernen Teelöffel, und spornstreichs nach
Hause.

Als ich ankam, war es zur Bescherung höchste Zeit. Mit einem
vorwurfsvollen „na endlich!“ wurde ich empfangen. Doch in der
allgemeinen Feststimmung kam Verdruß nicht auf. Und bald erscholl ein
liebliches Glöckchen -- in Lichterfülle, Flitterglanz strahlte der
Weihnachtsbaum. Beklommen von froher Erwartung näherte ich mich dem
Gabentische. Richtig, da lag, was ich ersehnt: das Puppentheater,
Kasperle mit seiner Grete, Tod und Teufel, selbst der Schutzmann
fehlte nicht, der Kasperle zu verhaften hat. Zum Überfluß fand ich
ein kostbares Märchenbuch und die „Robinsonaden“, ganz abgesehen von
den Nützlichkeiten, mit denen Mutter für meine Bekleidung sorgte. So
lebhaft meine Freude über diese Gaben war, den Gipfel des Hochgefühls
bildete die Überreichung meiner Gegengabe. „Hier schenke ich
+euch+ was,“ stammelte ich und händigte meiner Mutter wie meiner
Großmutter je drei Teelöffel ein. „Aber seht doch! Junge! Wie kommst du
daran?“ -- „Die hab ich vom billigen Mann.“ -- „Was kosten se denn?“
-- „Zwei gute Groschen das ganze halbe Dutzend -- feinstes Silber!“
-- „Wirklich? Und woher haste denn das Geld?“ -- Und ich mit stolzer
Freude: „Hab ich mir verdient!“ Verblüffte Gesichter. Ich erzählte mein
Abenteuer, alles staunte und lachte, ich war der Held des Tages. --

Von damals die Weihnachtslichter sind längst niedergebrannt. Doch nicht
ganz verwehte ihr Duft. Heute nach Jahrzehnten berührt er mich mit
einem süßen Hauche, und im träumerischen Dämmerstübchen verwandle ich
mich in den Knaben, der den Koffer trug und die Teelöffel schenkte und
dabei so glücklich war.

Noch in einem andern Herzen blieb etwas zurück vom Weihnachtsdufte.
Das spürte ich, als ich nach langer Trennung, ein Erwachsener, wieder
einmal meine Vaterstadt und Großmutter besuchte. Während wir beim Tee
plauderten, ergriff ich in Gedanken den Teelöffel, und Großmutter sagte
mit sinnendem Lächeln: „Kennst du den noch?“ Ich sah genauer hin.
Wunderliches Ding! Blei und Zinn, verbogen und ohne Glanz. „Als du ein
Knabe warst, hast du ihn mir zu Weihnachten geschenkt. Die andern
beiden sind nicht mehr; einer ging verloren, der andere zerbrach.
Diesen will ich verwahren. Wer weiß, wann du ihn wieder mal zu sehen
kriegst.“ -- „Ach ja, ich entsinne mich! Damals war ich neun Jahre alt.
Und damals hattest du noch blondes Haar, Großmama!“ antwortete ich, den
Löffel wehmütig betrachtend, „damals hatte der Löffel noch Glanz!“ --
„Für mich glänzt er immer,“ hatte Großmutter erwidert.

Und das hier war nun derselbe Teelöffel. Aus Großmutters Nachlaß an
mich gekommen, war er von meiner Frau in mein Gefängnis gebracht.
Seltsame Weberin, die wir Schicksal nennen! Ein vergessenes buntes
Fädchen wirkst du ins Gewebe ein, daß es eine artige Linie bildet und
fürs Ganze wohl gar bedeutsam wird.

Advents-Stimmung, ja nun hatte sie mich bezaubert. Weihnachten lockte
mich heim in die Häuslichkeit, mein Gefängnis erschien mir öde -- und
so entschloß ich mich zu dem Versuche, meine Freiheit zu erlangen. Am
gleichen Abend ging mein Gesuch um Urlaub ab -- als Grund gab ich an,
ich möchte das Weihnachtsfest nicht im Gefängnis verleben.




So leb denn wohl


Der Sonntag vor Weihnachten, der sogenannte „goldene“ war da, und Anton
Bolle hatte soeben meine Post gebracht, als mir darunter ein Schreiben
mit dem Amtssiegel des Provinzial-Schulkollegiums auffiel. „Anton,
warte einen Augenblick!“ Ich öffnete das Schreiben und las die Worte:
„Ihrem Antrag vom zwölften Dezember entsprechend, beurlauben wir Sie
hiermit aus der Haft auf unbestimmte Zeit.“

Schrumm, da +war+ die Bescherung! Der Lizentiat, dieser Pfiffikus,
hatte also +doch+ recht! Und der Teelöffel, der meinen Mißmut
geheilt, hatte dazu beigetragen, daß ich mich zum Urlaubsgesuch
entschloß.

„Anton, bring’ doch wieder mal ein Briefchen nach der Kastanienallee!
Hast du Zeit? -- Schön, Junge -- und diesmal bekommst du Zwei gute ...
will sagen: eine ganze Mark; gib sie dem Weihnachtsmann als Trinkgeld,
wenn er dir nächstens was beschert.“ -- Lebhaft ging Anton hierauf ein,
und während er sich des Näheren über seine Wünsche ausließ, schrieb ich
an meine Frau: „Komm sofort mit Frau Pape! Und sie soll den Handwagen
mitbringen. Hammer und Zange nicht vergessen. Habe Urlaub, ziehe sofort
aus.“

Als Anton weg war und ich vom neuen Standpunkt meines Schicksals das
alte Gefängnis betrachtete, wurde ich wieder an Robinson erinnert.
Jetzt an den Robinson, der seine wilde Insel verlassen und zurückkehren
soll in die zivilisierte Welt. Wehmütig musterte ich meine Klause.
Nicht wenig Glück hatte ich hier verlebt, stilles Einsiedlerglück,
gelegentlich auch Freude der Geselligkeit. Würde ich mich jemals wieder
so geborgen fühlen wie in dieser Zigarrenkiste? Gelindes Zagen wandelte
mich an, ein Zagen vor der Weite und Freiheit, in die ich hinaus
sollte. Und ich begriff, daß entlaufene Mönche Heimweh nach dem Kloster
kriegen.

Ich erwachte aus meiner Träumerei, als Bolle zu mir eintrat -- er war
in Helm und vollem Sonntagswichs. „Een prachtvollet Wintawetta, Herr
Dokta, klare Kälte -- un der See is schon feste zu -- heite könnten ma
mit Sejelschlitten bis Rahnsdorf fahren -- vorausgesetzt, det Se mir
zur Ibawachung ieberhaupt noch beneetigjen -- denn, Herr Dokta, ick
soll Sie amtlich ereffnen: wenn Se artig sinn, denn kennen Se heite
entlassen wer’n aus Ihr Jefängnis.“ -- „Wenn ich artig bin? wieso?“
-- „Ick meene, wenn Se nischt in de Presse bringen ieba det hiesige
Jefängniswesen.“ -- „Und mit welchem Recht stellen Sie diese Bedingung?
Haben Sie Auftrag dazu vom Amtsvorsteher?“ -- Ausweichend kam die
Antwort: „Uff Ihre Dankbarkeit ham wir doch so’n bisken Anspruch,
un Se werden Bollen doch nich +schlecht+ machen?“ -- „Schlecht
machen? Wie sollte ich dazu kommen? Und wenn ich mal ein Buch über
mein Gefängnis schreibe ...“ -- „Au Backe! Möchten Se Bolles ehrlichen
Namen in Deitschland +berichticht+ machen?“ -- „+Funkeln+
soll er als einer der blanksten Knöpfe an der Uniformschaft unseres
Musterstaates. Wenn Sie aber so bescheiden sind, daß ihr Name
verschwiegen bleiben soll, -- na, das Papier ist ja geduldig, ich
könnte Ihnen allenfalls eine Flebbe andichten, daß Sie kein Mensch
erkennt. Vielleicht mache ich aus dem wohlbeleibten, von Gesundheit
strahlenden Manne, der Sie sind, einen graubärtigen Veteranen und nenne
ihn Proppen -- oder wie wollen Sie heißen?“ -- Bolle blickte schief:
„Haste Worte?“ -- „Na sehn Sie! das würde Ihnen nicht passen! Kein
Mensch möchte anders sein, als er ist; im stillen ist jeder in seine
Haut, seine Ichzelle, verliebt. Nichts für ungut, Bolle! Sei’n Se kein
Philister, haben Se’n bischen Humor!“

In seiner Sonntagsuniform mit dem blanken Helm reckte sich Bolle
und suchte zu lächeln: „Ick sammle feirije Kohlen uff det Haupt des
preißischen Beamtenspöttas. Denn kurz heraus jesaacht, ick entlasse
Ihnen hiermit aus Ihre Haft, Se sind frei! in diesen Momang!“ Er
schien auf freudige Bestürzung gerechnet zu haben, doch ich erwiderte
mit kühlem Lächeln: „Weiß schon! Vor einer halben Stunde erhielt ich
diesen Brief des Provinzial-Schulkollegiums. Drin steht nun freilich
nichts von jener Bedingung, an die Sie meine Enthaftung knüpfen möchten
-- sondern rundweg habe ich Urlaub, und zwar auf unbestimmte Zeit!“
Bolle horchte auf und sah mich warnend an: „Da haben Se’t ja! Uff
unbestimmte Zeit! Det heeßt mit andre Worte: Wenn Se sich beikommen
lassen, Amtspersonen un det hiesige Jefängniswesen schlecht zu machen,
so sagen Ihre provinzialen Kollejen eenfach: nu hat et jeschnappt, aus
is der Urlaub, un nu, Doktachen, spazieren Se man wieda zu Bollen!“ --
„Hm, meinen Sie wirklich? Na, wissen Sie, dann kehre ich fidel zu Ihnen
zurück. Ein Feigenblatt soll ich mir vor den Mund kleben? Lieber bleibe
ich gleich hier. Was meinen Sie? Soll ich Frau Papen, die mit ihrem
Wagen meine Einrichtung holt -- da ist sie schon -- unverrichteter
Sache wieder zurückschicken?“ -- „Au Backe! Lieber nich!“

Durchs Gitterfenster beobachteten wir Frau Pape. Wie am Tage meiner
Inhaftierung tat sie an der Bretterplanke, die den Gefängnishof nach
der Straße absperrte, den inneren Riegel weg und öffnete die breite
Pforte -- genau wie vor Wochen -- nur daß sie diesmal mit +leerem+
Wagen kam und die damaligen Verrichtungen gewissenmaßen umgekehrt zu
erfüllen hatte. So war’s denn auch zu erklären, daß ihr gedrücktes
Wesen von damals in Munterkeit verwandelt war, und daß meine Frau, die
jetzt ebenfalls den Hof betrat, mit stürmischer Freude mir zuwinkte.
„Sehen Sie, Bolle, es geht alles vorüber -- und nun, Herr Schwarzseher,
mischen Sie keine Unkenrufe in diesen Jubel! Meine provinzialen
Kollegen -- wie Sie se nennen -- sind ja froh, daß se mich los werden.
Und Sie, Bolle, sind es auch.“

Nicht ohne Rührung schüttelte mir Bolle die Hand: „Nu jehn Se man! Mit
Jott! Un den Umzuch will ick alleene besorjen. Mit Jott!“ Mir blieb
nichts übrig, als Herrn Bolle und seiner Familie, sowie dem Onkel,
herzlich zu danken.

    „So leb denn wohl, du stilles Haus!
    Wir zieh’n betrübt von dir hinaus ...“




Kartoffelkomödie


Als einfältige Unterhaltung für kleine und große Kinder geplant,
wurde dies Kartoffeltheater, weil es zufällig am Tage meiner
Enthaftung stattfand, eine Art Festvorstellung und Epilog zu meiner
Gefangenschaft.

Frisch vom Preußischen Adler war ich mit meiner Frau zu Streitmüllers
gegangen, um mich im erneuten Stande der Freiheit dem Freundeskreise
zu präsentieren, der hier seinen geselligen Mittelpunkt hatte. Im
gemütlichen Wohnzimmer fand ich bei Benno und seinem Bruder Paul
noch das Brüderpaar Hart und Frau Bartels. Diese saß nähend in einem
Wust bunter Lappen und Flitter, während die Männer Bier tranken und
Zigarren qualmten. Neben den Gläsern und Aschenbechern gab es auf dem
Familientisch die Überreste eines zerrütteten Puppentheaters, einen
Leimtopf, etliche Kastanien und einen Werkzeugkasten. Offenbar sollten
die Puppen repariert werden; praktisch beflissen war freilich nur Benno
-- die anderen Männer debattierten über Zeitfragen. Mit solcher Hitze,
daß die Post von meiner Freilassung von den Kampfhähnen überhört wurde.

„Hier hilf mal, Bruno!“ meinte Benno; „Freia Bartels gibt
Kinderkränzchen, und wir sollen Puppentheater spielen. Alles ist kaput,
und bis Nachmittag muß die Flickarbeit fertig sein. Harts, diese
sorglosen Zigeuner, sollen das Puppenspiel dichten und haben noch keine
Ahnung. Anstatt sich zur Arbeit zu halten, schwatzen sie Feuilletons
über die Wiedergeburt des deutschen Puppentheaters. Haben sich sogar in
die Uferlosigkeit der sozialen Frage verloren. Laß dich nicht mit den
Schwärmern ein, setz dich her zu mir, und deine Frau kann ja mit Anna
Theatergarderobe nähen. Das Fatale an unsern Puppen sind die Köpfe --
sie sind lädiert oder fehlen gänzlich. Bist du Bildhauer genug, um aus
den Kastanien hier etliche Köpfe zu schnitzen? Ich habe mich schon in
die Pote geschnitten!“ -- „Ach was Kastanien!“ meinte ich wegwerfend
und nahm auf dem Sofa Platz. „Kastanien sind zu fipsig, haben auch
keine Visage. Machen wir lieber Kartoffelkomödie! Eine Kartoffel wird
ausgehöhlt, daß man sie auf den Zeigefinger stecken kann -- da haben
wir nun einen Kopf auf einem beweglichen Hals. Daumen und Mittelfinger
sind die Arme, das übrige wird einfach mit Stoff umwickelt, mit einer
Sicherheitsnadel steckt man die Drapierung fest.“ -- Benno erkannte die
Brauchbarkeit meiner Idee, Frau Bartels holte Kartoffeln, und wie wir
die Knollenfratzen betrachteten, um ihnen bestimmte Rollen zuzuweisen,
mußten wir die Frage aufwerfen: „Ja aber nun das Stück? Was wird
denn gespielt? Heda, Poeten!“ -- Die Disputare wurden aufmerksam und
starrten auf den Tisch.

Nun erschien auch Bartels. Als ich seine Frage, wie es komme, daß ich
hier sei, beantworten wollte, unterbrach mich Heinrich Hart, der vom
Wortgefecht noch etwas benommen war. Zerstreut streckte er mir die
Hand entgegen: „Chott o Chott, Mensch! Wie kommst du hierher? Ich
denke, du bist im Chefängnis? Wo ist denn dein Bärenführer?“ -- Wie
ich jetzt näheren Bericht erstattete, brach allgemeine Lustigkeit los,
und Heinrich wetteiferte mit Julius in der Versicherung, hier sei ja
nun auf einmal der prächtigste Stoff für das Theaterstück. Abseits
verhandelten die poetischen Brüder; jedem schwebten dramatische Szenen
vor, unter Geschrei dichteten sie aufeinander los, fuchtelten mit den
Armen und spendeten sich gegenseitig Beifall! „Also, wir sind schon
fertig!“ Julius machte eine zappelige Verbeugung, wie ein Herold hob er
die Hand: „Hohe Herrschaften -- zur Aufführung chelangt: Der Verbrecher
oder der Staat in Verlechenheit -- eine Kartoffelkomödie nach einer
wahren Bechebenheit. Und hiermit bechinnt die Renaissance unseres alten
deutschen Puppenspiels und so weiter. Schon die Kartoffel natürlich ist
ein Zeichen für den vaterländischen Cheist, wir Preußen und so weiter
... Doch ich soll die Rollen bestimmen. Also Personen zum Beispiel:
Chlodwig der Dreiundvierzigste, Fürst zu Leuchtenfels-Bücklingsburg
ältere Linie. Sein Hofprediger, Cheneral, der Cherichtspräsident
-- endlich die Hauptperson Kasper, das ist der Verbrecher, zuvor
ehrsamer Schuster und so weiter im Residenzstädtchen. Um das weibliche
Element nicht chänzlich zu vernachlässigen, wollen wir seine Frau
Rike anbringen und ihre Nebenbuhlerin, die fürstliche Köchin. Neben
dem Büttel dürfen Tod und Teufel nicht fehlen und so weiter -- das
heißt natürlich der Liebe Chott ... Den Lieben Chott bringt schon
Choete auf die Bühne, unsre Polizei freilich erlaubt es immer noch
nicht, und so weiter.“ -- „Bravo, bravo!“ klatschte Bartels, und Benno
lächelte anerkennend: „Sache! Da haben wir endlich was Präzises! Na
und jetzt wollen wir die Masken aussuchen. Die dickste Kartoffel hier
mit den listig verkniffenen Äugelchen ist Kasper -- seht mal den
herauswachsenden Keim, das gibt die Nase.“ -- „Und hier“ -- ich zeigte
eine verschrumpfte Kartoffel -- „haben wir den Hofprediger, er bekommt
einen schwarzen Talar mit Bäffchen aus Papier.“ Einem Schafsgesicht gab
Heinrich Hart die Serenissimus-Rolle; das Fürstenkostüm sollte blaue
Seide sein, mit einem Cotillon-Stern. Aus rotem Tuch der Teufelsmantel,
aus Linnen die Kutte für den Tod. Als glotzende, weißfunkelnde Augen
waren Perlen und Knöpfchen in die Kartoffeln eingedrückt. Für Bärte und
Haare gab’s Watte und Werg.

Minder nett als diese Vorbereitung war die Aufführung am Nachmittag.
Die Wohnstube überfüllt, das Nebenzimmer von den Puppenspielern
besetzt. Als die Kinder wispernd durch den Türspalt lugten, wurde
streng abgeschlossen, und die Neugier stieg zum Siedegrade. Wie ein
Puck fuhr die kleine Freia herum, und Fritzchen Gröbers, dessen blaue
Augen unter den langen Wimpern sonst träumerisch blickten, wurde auf
einmal borstig vor Ungeduld, so daß seine Mutter Mühe hatte, ihn zu
beschwichtigen.

Nun klapperten Tassen, Frau Bartels spendete Kaffee aus riesiger
Familienkanne, und die blumenhafte Frau Martha knixte mit einer
Schüssel Streuselkuchen. Schwatzend und lachend standen wir Männer
beisammen, und als die Korona durch den Kreispfiffikus vervollständigt
wurde, grüßte ihn Bölsche, zugleich auf mich, den Freigelassenen,
deutend: „Da wäre nun der alte Kreis wieder mal voll.“ Prompt erfolgte
der Kalauer: „Ein alter Greis, nun ja, das bin ich -- aber schon
wieder mal voll? Wovon? möcht ich wissen! Allenfalls würde das Wort
auf mich passen: wessen das Herz voll ... Jedenfalls ist mein Herz
voll Freude über die Enthaftung unseres liebwerten Verbrechers. Habe
schon gehört, wie die Haupt- und Staatsaktion verlaufen ist -- das is
nu +wirklich+ ne Kartoffelkommödie! Urlaub auf unbestimmte Zeit!
Famos jesagt! Diese unbestimmte Zeit, das is die Zeit ohne Grenzen.
Ein Philosoph nennt sie die +falsche+ Unendlichkeit. Aber die
Unendlichkeit dieses Urlaubs, +die+ is +echt+! Und wenn ich
längst Asche geworden, unser Häftling hat +immer+ noch Urlaub.
Wetten daß?“

Die Tür wurde aufgerissen, und Julius Hart lud marktschreierisch zum
Theater ein. Lärmend hasteten die Kinder nach den vordersten Stühlen.
Die Puppenbühne war simpel: eine Schranke, mit einem Teppich überdeckt,
kulissenartig hängende Gardinen. Von einer Radlerlaterne grell
beleuchtet, schmauste der Hofprediger eine Gans und sang:

    „O Chott! wie ist die Welt so schön,
    Wenn man chesunde Chlieder hat!“

Auf einmal kommt Serenissimus, um sich zu erkundigen, ob es wahr
sei, daß die Zahl seiner Untertanen über Nacht von 319 auf 321
emporgeschnellt sei, daß nämlich Kasper, der Schuster drüben, zur Taufe
Zwillinge angemeldet habe. „Zur Taufe?“ entgegnet der Hofprediger --
„der Kasper läßt seine Kinder nicht taufen -- der chlaubt an keinen
Chott und keinen Teufel.“ -- „Ich bin sehr unchnädig!“ schnauzt
Serenissimus, -- „der Hofprediger hat dem Volke die Relichon zu
erhalten, dafür wird er bezahlt. Bring er dem Kasper allen nötigen
Chlauben bei! Sochleich! In meiner Chechenwart!“ Kasper wird zitiert,
während Serenissimus im Versteck lauscht. Der Hofprediger will den
Lieben Gott leibhaftig zeigen und kommt vermummt, mit weißem Bart, im
himmelblauen Talar. Da Kasper nicht glauben will, daß der Liebe Gott
eine Visage wie der Hofprediger habe, droht dieser, er werde jetzt den
Teufel holen. Wie der Rotmantel mit den Glotzaugen, der blutigen Zunge
und den Hörnern erscheint, haut ihn Kasper mit seiner Pritsche tot. Als
Mörder des Hofpredigers, der ja in der Verkleidung steckte, wird er nun
zum Tode durch das Beil verurteilt.

Im folgenden Akt stellt sich heraus, daß die Regierung eine Sache
übernommen hat, der sie nicht gewachsen ist. Man hat keinen
Scharfrichter, der ist zu kostspielig. Ein Fallbeil aber auch nicht
billig. Von den 25 Soldaten, die dem Landesherrn dienen, will keiner
den Scharfrichter machen -- Menschen zu morden, sei nur dann ehrenhaft,
wenn es massenhaft und gegenseitig geschehe. Da der Verbrecher also
nicht hingerichtet werden kann, so muß man ihn gefangen halten. Aber
Wärter und Verpflegung wollen bezahlt sein. Der Rat des pfiffigen
Ministers, den Wärter abzuschaffen und das Gefängnis offen zu lassen,
damit der Verbrecher Gelegenheit zur Flucht habe, bewährt sich nicht;
der Verbrecher spaziert zwar vergnügt herum, kehrt aber abends in seine
Zelle heim und verlangt die ihm zukommende Verpflegung. Um wenigstens
eine besondere Gefängnisküche zu sparen, stellt man dem Verbrecher
anheim, sich seine Kost aus der Schloßküche zu holen. Da er jetzt
auch noch mit der fürstlichen Köchin anbändelt, muß man endlich ein
Mittel finden, ihn los zu werden. Umsonst reizt ihn Serenissimus zur
Auswanderung nach dem freien Amerika -- das fidele Gefängnis paßt ihm
besser. Schließlich einigt man sich dahin, Kaspar solle Urlaub auf
unbestimmte Zeit kriegen und ein Jahresgehalt. Ein Stündchen vor der
Residenz, verlebt er den glücklichen Rest seiner Tage als pensionierter
Verbrecher.

Vom Kunstgenuß mußten sich die Männer beim Glase Bier erholen.
Alles prostete mir zu, und Bölsche knüpfte an das Lied an, mit dem
die Komödie geschlossen hatte: „Kann’s was Schönres geben, als
Gefängnisleben?“ Stimmt schon! Auch an Bruno erfüllt sich dies Wort.
Denn schlich ein Besucher scheu um das Verließ zum Preußischen Adler,
um Kunde zu erhaschen vom armen Dulder, so kam Frau Bolle in weißer
Schürze und meinte schnippisch: „Der Herr Gefangene ist nicht zu
sprechen -- er sucht im Walde Pilze -- der Herr Gefangene geruht mit
Onkel Pofke auf dem See zu gondeln -- mit berühmten Ausländern kneipt
er im Waldhaus -- wird von seiner Frau gebadet -- Gefängnisschlüssel
ist verlegt. Das war +auch+ ne Kartoffelkomödie!“ -- „Ach ja!“
seufzte ich -- „wir necken -- und es stimmt ja auch, was +mich+
betrifft. Aber die +wirklich+ armen Gefangenen! Vielleicht,
daß König Lear glücklich nach Bielefeld gelangt ist. Aber die
+anderen+, die Tausende und Abertausende hinter Schloß und
Riegel, mag man sie arbeitsscheu nennen oder Verbrecher. Verbrecher?
ja was heißt denn das? was ist denn das für’n Tier? Ein Verbrecher
ist entweder wie wir alle, bloß daß er Pech hat -- oder er ist ein
Abenteurer: für das Außergewöhnliche veranlagt -- oder endlich er
gehört zu den Verkümmerten. Was diese betrifft, so ist es unsinnig,
sie im Gefängnis vollends verkümmern und versauern zu lassen. Wird
etwa ein Gewächs, das auf schattigem, magerem Boden dahinsiecht,
im finstern Keller was Besseres? Doch freilich, wer die Sünde für
Teufelsbrut hält --! Sie ist eine irre Kraft und kann, richtig gelenkt,
Tüchtiges schaffen. Immer aus dem Lebendigen heraus soll man den
Menschen bilden, Gefühle nicht unterdrücken, sondern erlösen, alle
Kräfte zur Fruchtbarkeit lenken, nicht ängstlich hemmen -- gestaute
Fluten brechen den Damm. Wann endlich wird die Menschheit einen
Aberglauben verabschieden, der ein Seitenstück ist zum Glauben an Sankt
Satans Bratspieß? Ich meine den Glauben ans Gefängnis!“ -- „Kurz, der
pensionierte Verbrecher ist nicht bloß lustig, sondern auch lehrreich“,
scherzte der Kreispfiffikus; „liquidieren Se man, nach Kaspers Muster,
Verpflegungskosten für die Zeit Ihres Urlaubs!“

Die Kinder mußten jetzt nach Haus. Frau Gröbers, deren Mann verreist
war, meinte, sie finde sich mit ihrem Fritzchen allein nach Haus, nahm
aber meine Begleitung an. Bölsche, der frische Luft schnappen wollte,
ging auch mit. Den Knaben, dessen Flachshaar unter der Pelzkappe
hervorwallte, hielt ich an seinem kleinen Fausthandschuh; so gingen
wir durch die Winternacht und plauderten über die Kartoffelkomödie.
„Nächstens zeig ich dir, wie man Kartoffeltheater macht!“ -- „Au
ja! Mutti hat viele Tartoffeln.“ -- „Glaubs schon! Aber nu sieh
mal, Fritzchen, oben die Sterne!“ Einen versonnenen Blick warf er
nach oben: „Die Sterne sind wie Tartoffeln -- machen sie denn auch
Tartoffeltheater? Was spielen sie denn?“ -- „Schwer zu sagen -- da
kann man nur raten!“ -- „Rate doch mal, Ontel!“ Hier ließ das Kind
merken, daß es von seinem philosophischen Vater was wegbekommen hatte.
Das Geplauder war zu Ende, da wir in der Seestraße Halt machten. „Nun
bedanke Dich bei den Onkels!“ sagte Fritzchens Mutter.

Als wir uns verabschiedet hatten, schlug ich Bölsche vor, noch die
paar Schritte bis zum waldigen Müggelufer zu tun; dann standen wir
auf abfallender Sanddüne am zugefrorenen See. Da lag der märkische
Nöck in der Haft des Eises. Im blanken Kristall spiegelten sich die
wimmelnden Sterne. Hin und wieder ging ein Stöhnen ruckartig über die
weite Fläche, ähnlich dem dumpfen Brüllen eines Stiers -- es wallte die
gebändigte Flut, die Kruste bog sich und brach in langen Rissen.

Wir schwiegen, erschauernd vor dem geheimnisvollen Leben im Busen
der Erde und droben im Sternenmeer. Und ich raunte: „Was die Sterne
spielen, wollte Fritzchen wissen -- ob sie ein Kartoffeltheater sind.“
-- „Kindermund, Kindermund!“ scherzte Bölsche -- „mit den Sternen
spielt der Liebe Gott Kartoffeltheater -- dann wirft er sie in die
Rumpelkiste, und die Komödie ist ex!“ -- Mir ging das Herz auf: „Wir
sprachen neulich vom Traum des Gefangenen. Sich ins Geheimnis zu
betten, ihm zu trauen, das ist sein heiligster Traum. Und dessen
großartigstes Bild der Sternenhimmel. Manchmal durchschauert mich
die Bedeutung der Sterne -- ich fühle mich versinken in seligen Tod,
abgestorben aller Enge, aller Unrast, geborgen im Schoße des Friedens.
Die Sterne sind ein wundervolles Orgelspiel. Keine Kartoffelkomödie.
Sie sind Zeugen einer unbegrenzten Möglichkeit. Wie Kolumbus möcht
ich fahren zur Neuen Welt. Die alte paßt mir nicht mehr recht.
Ist mir zu eng, ein richtiges Gefängnis -- eine Schildbürgerei
und Kartoffelkomödie, aus der ich mal beurlaubt werden möchte --
auf unbegrenzte Zeit.“ -- „Ach ja!“ seufzte Bölsche -- „wer in
unserer Lebensenge nicht verkommen ist, spürt dies Heimweh nach dem
Sternenfrieden. Doch spürt man auch immer wieder, daß man ein Kind
der Erde bleibt, gefesselt mit Ketten -- oder mit Rosenketten. Wir
Schwärmer alle sind Häftlinge auf Urlaub, sind wie der Kartoffelkasper
pensionierte Verbrecher. Auf denn, mit guter Laune! Kann’s was Schönres
geben als Gefängnisleben? Wenigstens Schilda hat seine fidelen
Molligkeiten ... Hier draußen im Weltall wird’s unwirtlich. Unsere
Kerkergenossen haben was von Glühwein gemunkelt -- dicht gedränget Mann
und Weib, wärmen sie mit Punsch den Leib.“ -- „Ach ja!“ seufzte ich --
„der Frost beginnt mir die Ohren wegzuschneiden.“ -- „Ha, mit einmal
sehnst du dich nach deiner warmen Kerkerklause ... O Fauste, wo blieb
deine Sternenmystik? Kehre zurück zu Bollen, es ist alles vergeben! Die
Wunden der Knechtschaft schmerzen nicht wie diese Hundekälte. Waren
nur leichte Dornenrisse -- von den Rosenketten des Preußischen Adlers.
Schon vernarben sie -- schon liegen die paar Gefängnismonde verklärt
in deiner Seele ... Es schwellen die Herzen, es blinket der Stern --
gehabte Schmerzen, die hat man gern.“




Eugen Diederichs Verlag in Jena


Bruno Wille, Die Abendburg/Chronika eines Goldsuchers. 17. Taus. br. M
5.--, in Leinwand geb. M 6.50

  Dies Werk krönten die Preisrichter (Paul Heyse, Rud. v.
  Gottschall, Gust. Falke, Rud. Greinz, Hans Land) mit dem
  Dreißigtausend-Mark-Preis, den Phil. Reclams Verlag für den besten
  deutschen Roman ausgeschrieben hatte.

+Wilhelm Bölsche+: Wer mit einem Herzen voll Sehnsucht, Liebe
und Müdigkeit aus den Sturm der Welt in der Ebene unten heraufkommt
auf die Vorhöhe des Riesengebirges und nun Tag um Tag diese ruhende
Weite mit ihren unnahbaren Rauchsäulen erlebt, den muß dieser Anblick
zuletzt mit einer schmerzlichen Süßigkeit erfüllen wie ein Symbol
der ewigen Ferne selbst, des lieblich Unerreichten, von dem uns ewig
tiefe, dunkle, wasserdurchrauschte Klüfte trennen in dieser Welt der
Resignationen -- und von dem doch ein milder Frieden uns anweht -- der
Frieden des Nichtbesitzes, aber der reinen, beseligenden, wunschlosen
Schau. Diese +Stimmung der läuternden Ferne+ ist es, mit der
die Dichtung von der Abendburg ausklingt. Um ihre Wirkung, auf der
zuletzt die höchste dichterische Bedeutung des Werkes beruht, in ganzer
Kraft herauszubringen, bedurfte sie eines dunkelsten Kontrastes. Eine
Nacht mit roten Flammen mußte da unten durch den Talgrund geschritten
sein, um verständlich zu machen, daß zwei leidenschaftlich brennende
Seelen zuletzt nichts mehr suchten als den Frieden solcher im Duft
vergehenden Sonnenferne. Vor des Dichters Auge zogen die Motive des
Dreißigjährigen Krieges vorüber. Jagd nach vergänglichem Glück, nach
Gold, verirrter Glaube, der im vermeintlichen Kampf um das Höchste
unschuldige Menschen unter dem Zusammenbruch brennender Kirchen begrub.
Oben in den Einsamkeiten des Riesengebirges war aber ein uraltes
Goldland so gut wie ein Zauber- und Geheimglaubensland. Hier fanden
sich noch die rätselhaften Walenzeichen, auf Geheimsprachen fremder,
italienischer Goldsucher gedeutet. Eine Felsengruppe bezeichnet der
Volksmund als die „Abendburg“. Natürlich ist sie ihm ein verzaubertes
Schloß. Unermeßliche Schätze eines Sagenkönigs ruhen in ihrem Grunde.
Ein Schatz, in die Hand eines Goldsuchers gegeben, eine Trutzburg,
aufgebaut hier oben im freien Gebirge, -- das waren Motive, die dem
Dichter aufsteigen mußten, wenn er einsam im hohen Heidelbeerkraut
unter diesen Zyklopenmauern saß. Das Gold war es nicht, was erlöste,
auch wenn es wie ein Wunder aus der Erde quoll. Der Glaube war
es nicht, einerlei ob Kirchenglaube oder uralter, neu erweckter
Naturglaube, wenn er zu Fanatismus wurde und die Liebe immer wieder
kreuzigte. Und dann der höchste Einschlag: wie zwei Menschenseelen,
die sich aus all diesen Grauen und Enttäuschungen endlich, endlich
herausgerungen, sich selber befreit haben von allem Rauch und aller
verheerenden Glut des finsteren Tales -- wie diese Menschen doch die
Schuld der Welt selber noch darin ganz zuletzt wie eine Erbsünde
abbüßen müssen, daß auch ihnen beiden nicht das Glück wenigstens der
letzten irdischen Vereinigung nach unendlicher Pilgerfahrt wird.




Eugen Diederichs Verlag in Jena


Bruno Wille, Offenbarungen des Wacholderbaums

Roman eines Allsehers. Fünftes Tausend. Zwei Bände. br. M 8.--, geb. M
10.--.

  Kunst, Philosophie, Naturwissenschaft und Religion schließt dies Buch
  zu einer harmonischen Weltanschauung in Romanform zusammen.

+Friedrich Paulsen+: Es ist ein eigenartiges, man wird sagen
dürfen einzigartiges Buch, Roman, Lebenserinnerungen, philosophische
Dialoge, spekulative Reflexionen, Traumbilder, endlich Gedichte,
Gedichte von wunderbarer Stimmungskraft und Gewalt der Sprache,
alles dies ist hier zu einem erstaunlichen Ganzen verwoben. Th.
+Storm+ hat nicht mit größerer Sicherheit und Kraft den Leser die
Enthüllung eines furchtbaren Geheimnisses vom ersten Aufdämmern bis zur
vollendeten Gewißheit miterleben lassen, als es hier geschieht. Und
ein anderes erinnert mich an den Dichter meiner Heimat: die vollendete
Meisterschaft, womit Natur, Boden und Menschenschicksal zur Einheit
verflochten sind. Der Boden, auf dem diese Geschichte spielt, ist die
Mark; die schwermütige Seele der märkischen Landschaft, die Einsamkeit
und Stille von See und Wald, von Heide und Moor, von Sumpf und Fließ,
sie ist nie so rein in poetisch-musikalische Stimmung umgesetzt als in
diesen Schilderungen und Gedichten.


Bruno Wille, Der heilige Hain. Gedichte br. M 3.--, geb. M 4.50

+Julius Hart+: „Der heilige Hain“ heißt der Band der Gedichte, in
dem Bruno Wille die ganze Ernte seines lyrischen Schaffens darbietet.
In voller herbstlicher Reife, mit Früchten behangen, steht der Baum
einer Dichtung vor uns. Alles, was der Künstler und Mensch besitzt
und uns geben kann, gibt er uns auch in diesem Buche: die Quintessenz
seiner Persönlichkeit, seinen Lebensgrund und sein Lebensgrundwerk. Und
mit höchstem Rechte redet er vom heiligen Hain. Kein anderes Titelwort
gebührt dem Buche so sehr wie dieses. Die Willesche Dichtung, ein
Hirten- und ein Schalmeiengesang, eine aus dem tiefsten Naturgefühl und
Naturbewußtsein hervorgeholte echt-arkadische Weise, schwärmerischer
und naiv-sentimentaler Ausdruck des polytheistischen Pantheismus,
der den Anfang und den Urgrund aller unserer Religionen ist, mit dem
der Mensch religionschöpfend auftrat -- diese Willesche Kunst ist
ein einziges großes Gedicht auf jene älteste Welt, in der alle Dinge
beseelt sind. Sie ist durch und durch Naturmythik, der mythologische
Ausdruck, wie er eine Rigveda-, eine skaldische Poesie beherrscht.

*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DAS GEFÄNGNIS ZUM PREUSSISCHEN
ADLER ***

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