Lebenstag eines Menschenfreundes : Roman

By Wilhelm Schäfer

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Title: Lebenstag eines Menschenfreundes

Author: Wilhelm Schäfer

Release date: January 21, 2025 [eBook #75169]

Language: German

Original publication: München: Georg Müller Verlag, 1920

Credits: Hans Theyer and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net


*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK LEBENSTAG EINES MENSCHENFREUNDES ***



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               Schäfer, Lebenstag eines Menschenfreundes




                            Wilhelm Schäfer

                            Lebenstag eines
                           Menschenfreundes

                                 Roman


                   Georg Müller Verlag München 1920




                              12. Tausend

          Copyright 1920 by Georg Müller Verlag A.-G. München




                               Inhalt


                   Morgen                       3
                   Mittag                     113
                   Abend                      239
                   Nacht                      397
                   Berichtigung               407




                                Morgen


                                  1.

Als die Menschenseele in Heinrich Pestalozzi erwacht, liegt sie in
einer Stube am Hirschengraben, wo sich jenseits der alten Stadtmauer
bis zu den neuen Bastionen am Zürichberg hinauf die Landhäuser der
Reichen sonnen. Sie selber spürt nicht viel von dieser Sonne, sie
haust mit Kleinbürgersleuten im Gedränge hoher Steingebäude, die nur
finstere Gäßchen zwischen sich lassen und mit dunklen Treppen in
beengte Wohnungen führen. Außer der Mutter und einer Magd, die Babeli
gerufen wird, sind noch drei Geschwister in der Stube, ein Knabe
Johann Baptista und zwei Mädchen, von denen das kleinste in der Wiege
liegt. Das wird eines Tages von schwarzen Männern fort getragen, über
die dunkle Treppe hinunter in die Stadt, die draußen mit beschneiten
Dächern wartet. Im Sommer aber ist es wieder da, schläft in der Wiege
und heißt Bärbel, wie es vorher auch geheißen hat. Doch weint die
Mutter immer noch, und der Vater, der sonst mit großen Schritten durch
die Stube gegangen ist, liegt in der Kammer nebenan, nicht anders als
das Bärbel in der Wiege; seine haarigen Hände ruhen auf dem Leintuch,
und die Augen forschen an der Zimmerdecke.

Eines Tages muß das Babeli hinein zu ihm -- allein und lange, während
die Dachtraufe vor dem Fenster einen langen Strahl zerstäuben läßt;
als es wieder herauskommt, fällt es der Mutter um den Hals und weint.
Die hat, das Bärbel säugend, auf der Ofenbank gesessen; nun tut sie
das Kind schnell von der Brust und läuft in die Kammer. Nachher muß
Heinrich Pestalozzi mit den Geschwistern auch hinein; der Vater bemerkt
sie schon nicht mehr, seine Augen aber forschen noch immer an der
Zimmerdecke, nur die eine Hand ist von der Bettdecke abgerutscht, und
die Mutter hängt daran, als ob sie ihn festhalten wolle.

Am andern Tag ist er in einen Sarg getan, die Hände sind auf der Brust
gefaltet, und die Lider haben wie zwei Deckel aus Wachs die forschenden
Augen zugemacht. Heinrich Pestalozzi und sein Bruder bekommen die
Sonntagskleider an und müssen -- als fremde Männer in schwarzen Röcken
und Hüten kommen, den Vater zu holen -- mit hinunter über die dunkle
Treppe und hinter ihnen her durch die Gassen nach dem Großmünster
gehen, wo gesungen und gebetet wird, bevor sie den Sarg auf den
Kirchhof bringen und bei Wind und Regen in ein frisch gegrabenes Loch
versenken. Seitdem Heinrich Pestalozzi die hohen Münsterhallen mit dem
Donnerschall der Orgel gesehen hat, weiß er, wo die Schwester Bärbel so
lange gewesen ist; der Vater aber kommt nicht wieder, bis er ihn fast
vergißt und nur noch manchmal gleich ihm mit langen Schritten die Stube
messen will.

Als wieder Winter wird, nimmt ihn das Babeli eines Abends schnell
bei der Hand, einen Arzt zu suchen; sie finden den ersten nicht und
müssen den zweiten erst aus einem Wirtshaus holen, wo viele Männer
bei der Lampe in einer qualmigen Stube sitzen. Der läuft gleich
mit, doch geht er bald wieder kopfschüttelnd fort von dem Bettchen
der Schwester Dorothea, und andern Morgens sagt die Mutter, es sei
gestorben an der Bräune. Die schwarzen Männer kommen zum drittenmal,
aber diesmal tragen sie das Dorli fort, mit dem er jeden Tag gespielt
hat. Seitdem ist ihm das Großmünster ein furchtbares Geheimnis, und
so oft er die Glocken läuten hört, läuft er zur Stubentür, den Riegel
vorzuschieben. Manchmal aber kommen doch Menschen über die Treppe
herein, die mit der weinenden Mutter sprechen und denen er die Hand
geben muß; er tut es gehorsam, doch immer in der Furcht, daß sie ihn
mitnehmen könnten in das Großmünster. Auch wenn die Mutter oder das
Babeli ihn selber an der Hand hinunter führen, ist er nicht froh,
bis er endlich durch die Haustür hinein schlüpfen kann und oben die
Heimeligkeit der Stube wiederfindet. Und nur dadurch, daß seine
seltenen Ausgänge meist den gleichen Verlauf nehmen, durch die steilen
Gassen und über Treppen zum Markt hinunter, wo die Limmat unter den
Holzbrücken hindurch ihr reißendes Wasser drängt, oder Sonntags bis an
den gleißenden See hinaus, wo die Schiffe und Schwäne schwimmen und die
Wolken auf den fernen Bergen Rast machen, die den blauen Himmel mit
ihrem weißen Zackenrand begrenzen: bahnt sich seine furchtsame Seele
allmählich Straßen in die fremde Unermeßlichkeit, darin die Türme des
Großmünsters drohend stehen. Sonst aber bleibt die Stube die einzige
Sicherheit seiner Welt.


                                  2.

Einmal macht Heinrich Pestalozzi auch eine Reise an den See mit
seiner Mutter; mittags nach dem Markt fahren sie hinaus, unaufhörlich
am Seeufer hin durch Dörfer mit weißen Kirchen, durch Weinberge und
Matten, wo die Bauern lustige Haufen Heu zusammen bringen, bis nach
Richterswil, wo der Onkel Johannes wohnt. Es ist dort ein großes Haus
mit einem prächtigen Garten und vielen fremden Menschen, die seiner
schwarzen Mutter um den Hals fallen und denen er die Hand geben muß.
Auch einen Knaben gibt es, älter als er und wie ein Soldat mit einem
stolzen Federbusch gekleidet; der führt ihn auf den großen Speicher,
wo Korn in Haufen liegt, durch die Ställe mit unheimlich behörnten
Kühen und stampfenden Pferden in die Weinberge hinauf zu einer Bank,
die unter einer Linde einen Ausblick auf den See gibt bis tief in die
blauen Bergschlüfte hinein, und danach an das weiche Ufer hinunter, wo
das Ried mit hohen Halmen aus dem Wasser wächst und seine Büschel im
Wind verneigt. Da haben Jünglinge gerade ein Schiff los gemacht, und
weil der eine ein Bruder des Knaben mit dem Federhut ist, sollen sie
mit einsteigen. Die Mutter aber kommt gelaufen, todblaß, und trägt ihn
auf den Armen, obwohl er sich dessen schämt und schreiend wehrt, durch
den Garten zurück ins Haus.

Sie bleiben zwei Tage dort, bis sie am dritten Morgen noch in der
Dunkelheit abfahren auf dem selben Bauernwagen und in der Morgenfrühe
zurück kommen in die Stadt und in die Stube, wo der dicke Kachelofen
mit der kühlen Steinbank auf sie wartet und das Babeli mit den
Geschwistern ist. Er denkt später nicht gern an diese Reise; es ist ihm
alles fremd geblieben, als ob er nur geträumt hätte.


                                  3.

Lieber hat Heinrich Pestalozzi die Ausflüge nach Höngg, wo der
Großvater als Pfarrer amtet. Sie brauchen keinen Bauernwagen dahinaus,
sie gehen durch die Niederdorfporte auf die Schaffhauser Straße und
dann am Käferberg sacht hinauf durch Weinberge bis an den Hügelrand,
wo nach einer Stunde das Dörfchen mit der sauberen Kirche und dem
Pfarrhaus erscheint. Unten zieht die Limmat ihren Silberstreifen
durch das breite Tal, und hinten zeigt der Albisrücken die steile
Schmalseite; wo seine Kante gegen den See verläuft, steht vor der
Heiligkeit der Berge und gegen das blanke Wasser die Stadt Zürich mit
ihren Mauern und Türmen dunkel wie ein Haufe reisigen Kriegsvolks da.

Jedesmal, wenn er mit seinem Bruder Johann Baptista angekommen ist und
sie sich in dem unteren mit spitzen Feldsteinen gepflasterten Flur von
dem Staub des Marsches gereinigt haben, dürfen sie zu dem alten Herrn
in die Studierstube hinauf. Sie liegt ganz oben und ist in der Ecke
des Pfarrhauses so eingebaut, daß durch die breiten Fenster von Süden
und Osten die Helligkeit der weiten Landschaft hinein sieht und den
würdigen Greis mit Heiterkeit umspielt. Er steht nicht auf, wenn die
Buben zu ihm herein kommen, auch dürfen sie nicht anders als einzeln
gerufen zu ihm an den Tisch treten. Jedes muß sein Sprüchlein sagen,
wie sie die Mutter verlassen haben und wie lange sie unterwegs gewesen
sind; und niemals fällt es ihnen bei, hier oben die Ehrwürdigkeit
durch eine Zärtlichkeit zu verletzen. Erst unten, wenn er mit am Tisch
sitzt, wo die Großmutter mit den gütigen Zwickelfalten ihres alten
Gesichtes das Gespräch führt, wird er der Großvater, der sie aus den
Schoß nimmt und Scherze mit ihnen treibt. Aber wenn sich allmählich aus
dem Donnergott des Großmünsters das Bild Gottes als eines himmlischen
Vaters in Heinrich Pestalozzi umbildet, sind es die Züge des Großvaters
in der Studierstube, die dem Bild ihr Wesen geben.

Stärker wird dieser Eindruck, als er am Gottesdienst teilnehmen darf.
Das Pfarrhaus ist an die Kirche so angebaut, daß es mit dem Totenacker
seitlich vom Dorf und am äußersten Rand des Hügels eine Art Gutshof
vorstellt, der wie ein solcher auch durch einen Torweg zugänglich ist.
Durch den sieht Heinrich Pestalozzi Sonntags die Kirchgänger kommen,
sauber gekleidet in ihrer bäuerlichen Tracht. Die Glocken klingen
heller, und auch die Orgel hat nicht den brausenden Schall wie im
Großmünster. Wenn sie anfängt zu spielen, ist es nicht anders, als ob
sich die dunkleren Stimmen der Männer mit denen der stauen und Kinder
mischten, und wenn das Lied dann wirklich einsetzt, wird alles zum
Gesang der Gemeinde.

Weil er die Stimme und das Wesen des Großvaters kennt, bleiben ihm auch
die Worte seiner Predigt nicht gar so fremd, so wenig er im einzelnen
davon versteht. Es ist fast der himmlische Vater selber, der zu seinen
Kindern in dem feierlichen Ton der Studierstube spricht, aber der
gütige Klang in seiner Stimme bleibt; und weil er niemals poltert,
niemals aus den Rand der Kanzel schlägt wie die Prediger in der Stadt,
bekommt die Predigt nichts von ihrem gottfremden Haß. So trägt Heinrich
Pestalozzi jedesmal einen warmen Glanz von der Empore mit hinunter;
und weil er die Kirchgänger nachher nicht gleich den Zürchern in die
dunklen Schlüfte der Gassen verschwinden sondern langsamen Schrittes
sich rund herum in die Gehöfte zerstreuen sieht, zweifelt er nicht
daran, daß sie überall etwas von dem Glanz hinbringen. Um so stolzer
ist ihm zumut, daß er selber danach im Pfarrhaus bleiben und mit dem
Träger dieser feierlichen Macht zu Tisch sitzen darf -- wo der Pfarrer
freilich am Sonntag außer dem Gebet niemals ein Wort spricht, wie er
auch an diesem Vormittag das Frühbrot in seiner Studierstube nimmt
und sich vor dem Gottesdienst niemandem zeigt. Erst wenn er seine
Mittagsruhe gehalten hat, sehen ihn seine Enkel als Großvater wieder,
der gern fröhlich ist und sie manchmal noch bis vor das Tor der Stadt
zurück begleitet; hinein geht er seit dem Tode seines einzigen Sohnes
nicht mehr gern.

So bewirkt der Großvater in Höngg durch die weise Trennung amtlicher
Würde von seiner gütigen Menschlichkeit, daß sich für die Kindheit
Heinrich Pestalozzis das Grauen von den kirchlichen Dingen hebt.


                                  4.

Auch außerhalb des Pfarrhauses findet Heinrich Pestalozzi im ländlichen
Leben zu Höngg vertrautere Wege aus der engen Stube als in der
finsteren Stadt. Wo jeder den andern kennt und die Großmutter wohl
weiß, mit welchen Kindern sie den Enkel spielen läßt, ergibt sich
leichter ein Kamerad. Der angenehmste heißt Ernst Luginbühl und wird
ihm bald ein sehnsüchtig erwarteter Führer in die hügeligen Gebiete
bis an den Wald am Käferberg hinauf oder gar in die steinichten
Limmatwiesen hinunter, wo Samstags die Schiffe der geputzten Zürcher
eilfertig mit der Strömung nach Baden treiben und Sonntags von dem
Landvolk an Stricken mühsam stromauf gezogen werden. Er trägt keinen
stolzen Federhut wie der Vetter in Richterswil, er läuft barhaupt und
barfuß wie die andern Landbuben auch und hat prallrote Backen mit
wasserhellen Augen; aber er weiß, wo man am sichersten einen Specht bei
seiner Klopfarbeit belauscht oder wo ein Ameisenberg ist. Sein Vater
arbeitet als Baumwollenweber, der erste und einzige in Höngg; einmal
geht Heinrich Pestalozzi mit hinein und sieht den bärtigen Mann gebückt
in dem Gestänge sitzen. Er hat nichts Ähnliches von menschlicher Arbeit
gesehen; Küfer, Schmiede, Bäcker und Schreiner und erst recht die
Bauern: alle schaffen mit den Händen und bleiben für sich selber frei;
dieser Weber aber sitzt im Gestänge seiner Arbeit als ein Teil von
ihr, wie die Spinne ans Netz gebunden. Er bleibt eine Stunde lang mit
den Knaben dasitzen und hört dem unablässigen Geklapper zu, das aus
dünnen Fäden Stoff macht. Als er nachher beim Abendessen ausgefragt
wird, wo er gewesen ist, und anfängt, von dem Baumwollenweber zu
erzählen, will der Großvater stirnrunzelnd nichts mehr hören von dem
Unglück dieser städtischen Neuerung -- es ist das einzige, was Heinrich
Pestalozzi von seinem Unwillen versteht.

Einmal ist er eine ganze Woche lang in Höngg geblieben und kommt
sich selber schon wie ein Landkind vor, als ihn die Mutter wieder
holt. Auch diesmal geht der Großvater mit, aber nur bis Wipkingen,
von wo er sich geärgert gegen den Berg zurückwendet. Er ist böse
auf das geputzte Stadtvolk in den Schiffen, das sich am Sonntag von
den Dorfleuten heimziehen läßt, ihre schwere Arbeit mit übermütigem
Geschrei begleitend, und Heinrich Pestalozzi hört wieder, wie er von
dem städtischen Unglück zu der Mutter spricht. Es geht schon gegen die
Dämmerung, und so wendet sich der alte Mann von ihnen fort in einen
dunkelroten Abendhimmel hinein, der den Häusern glühende Augen macht.
Heinrich Pestalozzi weiß nicht warum, aber die Traurigkeit überkommt
ihn so, daß er herzbrechend hinter dem Großvater her weint; es dauert
lange, bis die erschrockene Mutter heraus bekommt, daß es die dunkle
Stadt ist, vor der er sich fürchtet, und daß er alle Tage mit ihr
und den Geschwistern und dem Babeli auf dem Land wohnen möchte. Da
gesteht sie ihm, daß die Verwandten in Richterswil ihr das schon
damals bei dem Besuch vorgeschlagen hätten, daß sie es aber nicht
möchte der Stadtschulen wegen. In Richterswil möchte ich auch nicht,
sagt er fast trotzig, lieber in Höngg! und weiß nicht, warum nun seine
Mutter herzbrechender weint als er vorher; sodaß sie beide mit einer
verlorenen Traurigkeit durch die Niederdorfporte in Zürich eingehen.


                                  5.

Nach diesem Abend verlangt Heinrich Pestalozzi sehnsüchtig in die
Schule. Seitdem die Schwester Dorothea gestorben ist und der Johann
Baptista, um ein Jahr älter als er, täglich sechs Stunden zu den
Schulmeistern am Neumarkt geht und nachher bei den Schularbeiten sitzt,
ist er tagsüber allein mit dem Bärbel, das immer noch in der Wiege
liegt und ihm kein Gespiele sein kann. Für die deutsche Schule scheint
es der Mutter noch zu früh, so bringt ihn das Babeli eines Morgens in
die Hausschule.

Es wird aber kein schönes Erlebnis für ihn: als sie in den schmalen
Raum eintreten, der eigentlich nur einen breiteren Gang vorstellt, ist
der alte Lehrer gerade dabei, einen Buben zu walken; es sieht aus, als
ob er ihm die Haare in Büscheln ausreißen wolle; zugleich vollführen
die beiden ein weinerliches Geschrei, über das die andern Kinder, Buben
und Mädchen durcheinander, schadenfroh lachen. Erst als das Babeli den
Zornigen anruft, hört er auf. Hinten ist noch eine Bank frei, dahinein
wird Heinrich Pestalozzi mit seinen Sachen gesetzt; das Babeli droht
ihm noch einmal mit dem Finger und überläßt ihn den Kindern, von denen
er nicht eines kennt, und dem weißköpfigen Schulmeister, der -- als er
den Namenszettel gelesen hat -- die Magd für die Frau Pestalozzi selber
hält und ihr mit vielen Komplimenten an die Tür nachläuft. Der Lärm,
der durch die Neugier gestockt hat, hebt wieder an: die Kinder haben
neben den Büchern ihre Eßwaren, und was sie sonst mit sich führen,
auf den Pulten ausgebreitet; ein jedes liest laut oder schreibt für
sich wie zuhause: der Lehrer ist nur eine Art Unhold, der eines nach
dem andern vornimmt und die andern schwatzen und balgen läßt. So hört
das Geklatsch seiner Prügel und sein Geschrei ebensowenig auf wie der
Lärm der Kinder, die meist garnicht hinsehen, wenn sich sein Zorn
beim nächsten Opfer neu entzündet. Auch Heinrich Pestalozzi kommt
endlich an die Reihe, als er eine Stunde lang verängstigt dagesessen
hat; er wundert sich fast, als es diesmal ohne Prügel abgeht, malt
danach Buchstaben, wie er es von seinem Bruder gelernt hat, und ist
noch fleißig dabei, als die andern mit eiligem Geklapper ihre Sachen
zusammen raffen.

Auf der Gasse wartet das Babeli; und wenn ihm das schon diesmal Spott
einträgt, so wird ein paar Tage später ein wahres Schicksal daraus: es
macht sich gerade so, daß ein Platzregen losgeht, das handfeste Babeli
will ihn unter die Schürze nehmen; und rafft ihn kurzerhand -- da er
sich vor den andern schämt -- als Bündel unter den Arm, um mit ihm heim
zu rennen, so sehr er schreit und strampelt; sogleich verfolgt von
einem Rudel der Kinder, die sich nun alle aus dem Regen nichts mehr
machen und die Tropfen in ihre Gesichter klatschen lassen.

Seitdem haben sie ihren Schabernack mit ihm, wo sie nur können. Seine
Vorfahren vom Vater her sind Italiener gewesen, davon hat er die
schwarzen Haare und die dunklen Augen behalten, und von den Blattern
ein Gesicht voll Narben: so sieht er eher einem Savoyardenknaben
ähnlich als einem Stadtzürcher und ist für sie ein fremder Vogel.
Obwohl er nichts lieber gemocht hätte als mit ihnen spielen, macht ihn
die Erfahrung scheu, sodaß er nun erst recht ein einsames Stubenkind
wird.


                                  6.

Später in der deutschen Schule tritt Heinrich Pestalozzi statt mit
dem Babeli mit seinem Bruder Johann Baptista auf; der ist beweglicher
als er und hat auch schon Bekanntschaften; dadurch kommt er mit den
Knaben anfangs besser zurecht, um so leidvoller wird die Schule
selber für ihn. Obwohl die Lehrer nicht solche Zornickel sind wie
in der Hausschule, bleibt auch ihr Unterricht eine fortgesetzte
Streitigkeit mit dem einzelnen Schüler, wobei sie die Schwächen eines
jeden mit geübter Schulmeistergrausamkeit zu finden wissen. Heinrich
Pestalozzi, dem es niemals völlig gerät, sich selber und seine Bücher
in Ordnung zu halten, der bald ungekämmt in die Schule kommt, bald
seine Schreibsachen oder Hefte vergessen hat, der aus den Spaziergängen
seiner Gedanken aufgeschreckt die törichtsten Dinge zu sagen vermag und
dem die richtigen Antworten meist erst auf dem Nachhauseweg einfallen,
ist ihnen bald nur eine Gelegenheit, die herkömmlichen Schulwitze
anzubringen. Daß er im ganzen eifriger als die meisten ist und sich
leicht geschickter anstellt als es zu ihren Späßen paßt, stört sie
nicht in ihren Hänseleien.

Und weil die Lehrer es so halten, widerstehen auch die Mitschüler der
Verlockung nicht, ihren Witz an diesem Neuling zu üben, der nichts von
ihren Spielen kennt und sich gutgläubig zum Narren halten läßt. Ihm
steht diese Gutgläubigkeit gleichsam schon im Gesicht geschrieben,
und seine linkischen Hände scheinen nur geschaffen, für ihr Gelächter
fehl zu greifen. So weiß ihn eines Tages einer mit Äpfeln begehrlich
zu machen, die er im Sack hat: er würde ihm den schönsten schenken,
wenn er ihm damit auf sechs Schritte in den Rücken werfen dürfe. Mehr
um der Tapferkeit als um des Apfels willen geht Heinrich Pestalozzi
auf den Handel ein; der Knabe aber trifft ihn so hart zwischen den
Schultern, daß er wie von einem Büchsenschuß hingestreckt wird, und --
als er sich mit einer Übelkeit kämpfend an dem nassen Steintrog unter
dem steinernen Brunnenmann aufrichtet -- nur noch sehen kann, wie ein
Flinker unter dem Hallo der andern den Apfel aufhebt und davon rennt.

Heinrich Pestalozzi fühlt damals schon, daß es die Absperrung seiner
häuslichen Erziehung ist, die ihn so fremd und linkisch unter den
andern Knaben macht; er ginge trotz solcher Späße gern nach der Schule
zu ihren Spielen auf die Gasse, aber das Babeli, das immer mehr wie ein
handfester Weibel die Stubenwelt der Witwe Pestalozzi regiert, duldet
dergleichen schon aus Sparsamkeit nicht: Warum wollt ihr unnützerweise
Kleider und Schuhe verderben? Seht eure Mutter, wie sie wochen- und
monatelang an keinen Ort hingeht und jeden Kreuzer spart, euch zu
erziehen! Und um dem Grund praktische Kraft zu geben, nimmt sie den
Buben nach der Schule sogleich die Schuhe weg.

Heinrich Pestalozzi vermag nicht wie sein Bruder Johann Baptista den
gutgemeinten Zwang mit allerlei Listen zu umgehen; er hat unterdessen
durch die Mutter erfahren, was damals am Sterbebett des Vaters
geschehen ist: da hat die Magd dem todkranken Wundarzt um ihrer
Christenheit willen versprochen, die Frau nicht zu verlassen, weil
seine Kinder sonst womöglich in fremde und harte Hände kämen! Das
Babeli in seiner Einfalt, damals dreißigjährig, hat es dem Sterbenden
in die Hand gesagt, an ihrem Platz zu bleiben, bis sie stürbe; auch
hat sie tapfer Wort gehalten, als sie den Antrag eines ehrlichen
Stadtbürgers ausschlagen mußte, und ist dem bedrängten Haushalt ohne
Lohn durch alle Schwierigkeiten treu geblieben. Seitdem Heinrich
Pestalozzi das weiß, kann er das faltige Sorgengesicht der guten
Magd nicht anders als ehrfürchtig ansehen; und wenn der Großvater in
Höngg dem Bild des himmlischen Vaters für seine Vorstellung die Züge
herleiten muß, so vermag er die biblische Erzählung von Christus und
den Schwestern in Bethanien nicht zu hören, ohne daß ihm seine Mutter
zur still vertrauenden Maria und das Babeli zur schaffenden Martha
wird. Soviel innige Gläubigkeit er aber damit auf die zarte Gestalt
der Mutter legt, die -- als Susanna Hotze in Richterswil bei den
wohlhabenden Brüdern aufgewachsen -- ihre bescheidene Lage niemals als
Armut fühlt und auch den Kindern das Gefühl ihres guten Standes erhält;
so wenig vermag er aus dem Evangelium eine Verachtung für die treue
Magd zu ziehen, deren Stunden nichts als schaffende Sorgen kennen; ja,
so oft er die abweisenden Worte Jesu liest, drängt ihn sein Gefühl, für
die schaffende Martha aufzustehen.


                                  7.

Heinrich Pestalozzi ist acht Jahre alt, als ihm eine Veränderung der
äußeren Lebensumstände die Gedanken der Armut dennoch aufdrängen
will. Seine Mutter, die immer noch die alte Wohnung gehalten hat,
sieht sich genötigt durch die wachsenden Ausgaben für die Kinder,
den Haushalt in der kleinen Stadt jenseits der Limmat bescheidener
einzumieten. So lustig die Knaben mit dem Bärbel, das nun schon aus
der Kammer in die Stube laufen kann, den äußeren Aufwand des Umzugs
finden: so schmerzlich ist der Augenblick, als sie hinter dem Wagen mit
ihrem Hausrat her -- das Babeli trägt die Schwester auf dem Rücken,
und die Mutter führt die Brüder an der Hand -- am steinernen Rathaus
hinübergehen auf die breite Bretterbrücke und in die kleine Stadt.
Die ist freilich um den hohen Lindenhof herum gebaut, von dem die
Schriften sagen, daß er schon in römischen Zeiten befestigt und der
eigentliche Ursprung der Stadt gewesen wäre; aber darum lassen sie
doch das Großmünster mit dem Haus Zwinglis drüben, von wo der Zürcher
Glaubensheld für seinen Gott in den Krieg und Tod gezogen ist. Überdies
will ein Mißgeschick, daß am Hotel zum Schwert gerade ein fremder Herr
mit drei Rossen vorfahren will und bei der Wendung in die Deichsel
ihres Gefährtes gerät. Der Ruck ist heftig und bricht dem Tisch, der
hinten mit abgesperrten Beinen aufgebunden ist, eins davon ab, das
schief herunterhängt. Gleich gibt es zwischen den Fuhrleuten ein
Geschimpfe, und weil der ihrige zu Fuß geht, der andere aber in einer
stolzen Uniform auf dem Bock sitzt, auch der Wirt zum Schwert gleich
seinem vornehmen Gast zu Hilfe kommt, bleibt der mit den drei Rossen
Sieger, indessen sie mit ihrer Habe, verbellt von Hunden, demütig um
die Ecke ziehen.

Es ist kein großer Schaden; sie müssen den Tisch nachher in eine
Wandecke stellen, damit er ihnen beim Abendbrot nicht umfällt; doch
liegt die Stimmung des verschimpften Auszuges aus der großen Stadt so
jämmerlich auf ihnen, daß sie miteinander in eine Heulerei geraten. Die
neue Wohnung ist sichtlich beengter als die alte; außer der Küche mit
einem Alkoven für das Babeli und der gemeinsamen Kammer für die andern
hat sie nur einen Raum, der fortab Besuch- und Wohnstube in einem sein
muß: es ist die Lebensluft verschämter Armut, in die sie nun eingezogen
sind. Mehr als die Mutter hat das praktische Babeli auf den Umzug
gedrängt.

Die Mutter will auch da noch die geborene Hotzin bleiben; und wenn in
der Folge eine Bekanntschaft aus den besseren Zeiten, da der Wundarzt
Pestalozzi noch auf die Jagd oder fischen ging, oder gar einer aus
der vornehmen Verwandtschaft vom See den Weg in die kleine Stadt
findet, wird die Stube jedesmal mit allem Staat aufgemacht, den sie
aus ihrer Mitgift gerettet hat. Auch hält die einsam verhärmte Frau
ängstlich darauf, was sie als Stadtbürgerin an Ehrengaben zu leisten
ihrem Stande schuldig ist; und ob sie manchmal dem letzten Gulden mit
Ehrenfestigkeit zu Leibe geht, und ob das Babeli danach die Kreuzer
zusammenkratzen und auf dem Markt das Billigste erfeilschen muß: nach
außen soll alles den Anschein eines unabhängigen Bürgerhaushalts
behaupten.


                                  8.

Für Heinrich Pestalozzi wird der Abstieg in die Armut dadurch
gemildert, daß er gleich am andern Tag nach Höngg hinauskommt. Er ist
mit der deutschen Schule zu Ende, und bevor er in die Lateinschule
am Fraumünster eintritt, will der Großvater seinen Kenntnissen noch
etwas nachhelfen. Er holt ihn diesmal selber ab; die Übersiedelung hat
ihn besorgt gemacht, doch findet er alles recht und gegen Abend ist
eine Kalesche da, sie miteinander hinauszufahren. Vor der Stadt darf
Heinrich Pestalozzi auch einmal kutschieren; er zupft aber unablässig
an den Zügeln, als ob es an ihm läge, daß die vier Beine sich bewegten,
sodaß der Gaul am Ende wild wird und sie in einem unfreiwilligen Galopp
nach Wipkingen bringt. Der Großvater liebt solche Vorfälle nicht; als
er ihm kurzerhand die Zügel abgenommen und das Pferd zur Ruhe gebracht
hat, sagt er strafend, das würde einem Knaben vom Land nicht begegnen;
es wäre ein rechtes Stadtbubenstück. Er bleibt aber nicht unfreund mit
ihm, und als er vor der Wegsteile gegen Höngg aussteigt und das Pferd
am Zügel führt, nimmt er ihn gütig an der Hand, als ob trotzdem noch
etwas Rechtes aus ihm werden könne.

Der Großvater hat den armen Kindern der Gemeinde erlaubt, hinter der
Kirche zu spielen, wo neben dem Kirchhof ein sonniger Rasenplatz auf
neue Gräber wartet. Obwohl manche von den Kindern nur mit Hudeln
bekleidet sind, tadelt er es nicht, wenn seine Enkel an ihren Spielen
teilnehmen. So ist Heinrich Pestalozzi eines Tages mit ihnen dabei,
das Wasser aus einer Pfütze neben der Kirche in einer Rinne bergab zu
leiten, wo es gerade den schönsten Wasserfall macht, als auf einmal
einige der Kinder, dann alle auseinander laufen und sich unter der
alten Steinbank, hinter Gräbern oder wo sie sonst einen Schlupfwinkel
finden, verstecken: ohne ihr sonstiges Geschrei und sichtbar in Angst,
nicht anders, als ob Hühner einen Habicht in der Luft gespürt hätten.
Er hält alles zunächst für eins von ihren Spielen, aber so still es aus
dem Kirchhof ist, so laut wird es auf der Landstraße: die Gestrengen
Herren in Zürich haben allmonatlich eine Betteljagd verordnet, und
nun kommen die Landreiter von ihrer Pirsch mit einer verlumpten
Schar, Alten und Kindern, in einem langen Strick wie eine Schafherde
eingehürdet.

Heinrich Pestalozzi besinnt sich nicht, er läuft nach vorn um die
Kirche an den Torweg, und obwohl die Holzflügel schwer mit Eisen
beschlagen sind, bringt er sie mit allen Kräften doch in die Riegel.
Die Landreiter sind unterdessen schon durch das Dorf geritten, sie
hätten sich auch schwerlich durch das Tor abhalten lassen; doch als
er eben dabei ist, den Verschüchterten anzusagen, das Tor wäre zu und
kein Landreiter könne herein, kommt der Großvater um die Kirche herum
neugierig nach. Er hat das eilige Geschäft seines Enkels bemerkt, tut
aber nicht weiter dergleichen, nur wie er ihn nachher an der Hand mit
ins Pfarrhaus genommen hat und der Knabe in dem dämmrigen Hausflur
schon denkt, er werde ihn strafen: hebt er ihn auf den Arm, als ob er
ihm sagen wolle, bist ein tapferer Bub! Und als sie miteinander oben
in dem Studierzimmer sind, wo er nun lernen soll, wendet er sich zu
ihm hin, wie wenn er ein Großer wäre: Ich wüßte den Herren in Zürich
andere Mittel als Landreiter und Betteljagden, der Armut auf dem Lande
abzuhelfen!


                                  9.

Als Heinrich Pestalozzi diesmal von Höngg zurück kommt, trägt er einen
Schatz bei sich, mit dem er sich stolz und vieler Dinge mächtig fühlt.
Um ihm den ungewissen Weg in die lateinische Wissenschaft vertrauter zu
machen, hat ihn der Großvater das Vaterunser lateinisch gelehrt. Auf
dem ganzen Weg nach Zürich hinunter, den er diesmal tapfer allein geht,
sagt er die fremden Worte vor sich hin, ängstlich, daß ihm eins davon
entfallen könnte. Es ist aber nicht die Schule, der zuliebe er sorgsam
mit ihnen ist; dahinter steht das Bild des Großvaters als Lebensziel
auf: auch einmal so in einem Dorf Seelsorger zu werden -- womöglich in
Höngg selber -- den Armenkindern ein väterlicher Freund; das scheint
ihm alle kommenden Mühsale der Schule wert zu sein.

Er wird auch im Fraumünster kein Schüler, wie ihn die Schulmeister
brauchen können. Zu sehr gewöhnt in seiner behüteten Stubenwelt, die
Dinge von sich aus zu erleben und eigene Wege in das Geheimnis der
Augenwelt zu suchen, sieht er sich bei ihnen vor ein unaufhörliches
Vielerlei von leeren Worten gestellt. Bloß auswendig Gelerntes
herzuplappern, wie es die meisten tun, vermag er nicht; und selbst,
wenn er etwas verstanden hat, wird es ihm schwer, Worte daraus zu
machen, weil er sich damit leicht wie ein Komödiant vorkommt. Damit er
etwas sagen kann, darf es nicht schon ausgedacht sein, es muß ihm aus
den Gedanken selber, nicht aus dem Gedächtnis kommen: weil aber die
Fragen der Lehrer selten in seine Gedanken treffen, findet er trotz
bestem Willen und innerer Lebendigkeit wenig Gelegenheit, sich als
guten Schüler zu zeigen; ja, weil er gerade dann, wenn ihn eine Sache
des Unterrichts wirklich beschäftigt, leicht für Minuten und länger
von dem unwiderstehlichen Fluß seiner Gedanken fortgetragen werden
kann, stellt er nur selten den gelehrigen Schüler dar -- der er doch
ist --, sondern er wird gerade dann gescholten, wenn er vielleicht
mehr als ein anderer bei der Sache ist. Am selben Tag kann er in einem
Fach der beste und gleich darauf doch wieder der schlechteste sein;
so kommt er bei allem Eifer auch in der Lateinschule bald wieder in
ein feindseliges Verhältnis zu den Lehrern, das mit zornigen Strafen
über seine Zerstreutheit anfängt und mit der Verspottung seiner
absonderlichen Art ausgeht, ihn nach wie vor dem Gelächter der Klasse
bloßstellend.

Obwohl das Babeli ihn stets ordentlich herausputzt, steht er doch in
der Kleidung gegen die gepflegten Herrenbuben zurück, und was er von
der mühsamen Ordnung heimbringt, ist manchmal übel genug. Auch hält
das Babeli immer noch strenge Hauszucht, sodaß er auch jetzt nicht zu
den Spielen der andern auf die Gasse darf und für die lateinischen
Mitschüler der gleiche fremde Vogel bleibt, der er auf der deutschen
Schule war. Als der erste Sommer zu Ende geht, hat er bei ihnen schon
den Spottnamen, der ihm von da ab durch die ganze Schule bleibt: Heiri
Wunderli von Torliken.


                                  10.

Trotzdem hört Heinrich Pestalozzi allmählich auf, der unfreiwillige
Spaßvogel seiner Mitschüler zu sein; er lernt sich zu wehren, und kommt
durch einen Vorfall sogar in den Ruf einer besonderen Tollkühnheit:

Er ist ein Jahr lang Lateinschüler gewesen, als sein zeitweiliger
Spielfreund Ernst Luginbühl aus Höngg in die untere Klasse eintritt.
Dessen Vater ist herkömmlich ein verarmter Stadtbürger, der sich in
sein dörfliches Anwesen hinein geheiratet hat, aber bis in seine
Baumwollenweberei ein unruhiger Kopf bleibt, weshalb ihn auch der
Großvater nicht gern in seiner Dorfgemeinde sieht. Ihm selber ist es
mit allen möglichen Anschlägen fehl gegangen, darum will er seinem
Buben eine bessere Bildung mitgeben und bringt ihn -- der einen klaren
Kopf hat und gern lernt -- in die Lateinschule, wo er, älter als die
andern, in die untere Klasse aufgenommen wird. Er hat noch immer
seine roten Backen und die wasserhellen Augen, aber er trägt Schuhe
an den Füßen und ist auch sonst für die städtische Schule zurecht
gemacht, in einer ländlichen Art, die den Stadtkindern von selber zum
Gespött wird. Heinrich Pestalozzi weiß längst, wie die Bürgersöhne
den Knaben vom Land die Schule verleiden, als ob sie Eindringlinge in
ihre Vorrechte wären; ihn selber lassen sie deutlich genug merken,
daß seine Mutter nur eine Landbürgerin ist; nun aber trifft es seinen
Freund, der in dieser fremden, feindseligen Welt mit den Bauernaugen
um Mitleid zu flehen scheint. Jeden Morgen kommt er den mühsamen Weg
von Höngg herunter, manchmal, wenn es geregnet hat, naß bis auf die
Haut; und mittags, wenn die andern heimgehen, fertigt er seinen Hunger
im Klassenraum mit einem Stück Brot ab. Er gerät in ein hartes und
verstocktes Dasein, und wenn ihn Heinrich Pestalozzi anspricht, ist
es fast, als ob er etwas von seinem Haß gegen die hochmütigen und
grausamen Bürgersöhne auf ihn übertrüge, sodaß es hier in der Stadt
keine rechte Fortsetzung der ländlichen Freundschaft geben will.

Eines Mittags kommt Heinrich Pestalozzi zufällig als der Letzte aus der
Klasse und hört unter dem Gang im Hof ein Hetzgeschrei. Einige größere
Knaben haben den mißliebigen Weberssohn in eine Ecke gedrängt und hauen
auf ihm, der sich kratzend und beißend wehrt, mit Linealen herum;
einer muß ihn am Kopf getroffen haben, denn aus dem weißblonden Haar
laufen ein paar Zickzacklinien von Blut herunter. Heinrich Pestalozzi
weiß nichts von dem Anlaß des Streites, er sieht nur das Blut, und
wie sie ihren Übermut und Hohn an dem Knaben auslassen; darüber faßt
ihn augenblicklich der zornige Eifer so, daß er blindlings aus der
offenen Halle über die Steinbrüstung hinunter klettert. Es ist eine
kleine Stockwerkshöhe, und er könnte sich leicht zu Tode stürzen, als
er für einen Augenblick selber erschrocken an der Steinbrüstung hängt.
Er purzelt aber einem, der sich gerade bückt, auf die Schultern, daß
der bäuchlings hinfällt und ihn wie einen Igel abkugeln läßt, ist
gleich von Zorn besessen wieder auf und springt auf die andern ein,
die im ersten Schrecken auseinander rennen. Auch der von seinem Sprung
Betroffene will fort, kann aber nicht auf und kriecht auf Händen und
Füßen eilig davon. Darüber erheben die andern, die schadenfroh der
Prügelei zugesehen haben, ein solches Hohngeschrei, daß ein Lehrer
dazukommt, ehe die Überfallenen ihrem kuriosen Angreifer heimzahlen
können. Es gibt nun zwar ein strenges Verhör, bei dem Heinrich
Pestalozzi, weil er trotzig schweigt, als der allein Schuldige
übrigbleibt und auch in Strafe genommen wird: aber mit seinem
tollkühnen Sprung ist er doch Sieger geblieben, und die Schande einer
feigen Flucht vor dem schmächtigen Heiri Wunderli von Torliken bleibt
auf den andern sitzen. Das Babeli, als es durch den Johann Baptista
davon hört, will ihn strafen, weil die Hosen zerrissen sind; aber die
Mutter wehrt ihr und streichelt ihn.


                                  11.

Im Dezember des gleichen Jahres sind die Schüler in der Klasse von
Heinrich Pestalozzi gerade aufgestanden, ein Weihnachtslied zu üben,
als es einen Erdstoß gibt, wie wenn Pferde einen Wagen anzögen, auf dem
sie ständen. Sie hören in derselben Sekunde auf zu singen und halten
sich an den Bänken fest; dann ist der Lehrer der erste, bei dem sich
die Erstarrung auf die Gefahr besinnt. Mit langen Beinen springt er
zur Tür, die Geige und den Bogen noch in den Händen; aber ehe er dort
ist, drängen sich ihm schon die nächsten Knaben vor. Draußen quillt
die Schreckensflucht aus den andern Räumen ebenso zur Treppe; und ist
es zuerst totenstill gewesen, so erhebt sich nun das Geschrei; erst
derer, die hinfallen und getreten werden, dann der andern, die davon
angesteckt die letzte Besinnung verlieren. Es gibt keinen Einzelnen
mehr, nur noch eine Herde, dahinein die Todesfurcht gefahren ist; und
die am ehesten Kaltblütigkeit bewahren sollten, die schulmeisterlichen
Hirten gehen mit langen Beinen über die Köpfe und abwehrenden Hände der
Knaben hinweg.

Auch Heinrich Pestalozzi ist wie die andern von der Besessenheit
gepackt worden und hat Arme und Beine gebraucht, sich in dem Strudel
oben zu halten; aber darum haben seine Augen doch das unwürdige
Beispiel der Lehrer aufgefaßt; und als er unten auf dem Hofe steht,
wo rundherum die Stücke von Dachziegeln in dem schwärzlichen Schnee
liegen und die Nachzügler kommen, die von den andern überrannt wurden
und teilweise bluten -- einer liegt leichenblaß seitwärts allein,
weil er aus dem Fenster gesprungen ist und den Fuß gebrochen hat --
muß er weinen vor Zorn. Die meisten drängen auf die Gasse hinaus,
wo die Bürger unterdessen aus den Werkstätten gelaufen sind und in
den Himmel starren, der unbewegt über dem Erdbeben steht. Die zurück
bleiben, möchten zum Teil gern ihre Bücher und Hüte herunterholen,
aber keiner wagt sich hinein; obwohl nach der ersten Erschütterung,
die gleich einem langen Gerolle von unterirdischen Wagen gewesen ist,
nichts mehr geschieht und die leeren Gebäude gleichsam verwundert auf
die ängstliche Menschheit herunter sehen. Der Widerspruch zwischen
dieser lächerlichen Flucht und dem alten Heldentum, davon sie täglich
durch die selben Lehrer hörten, macht, daß ihm sein Knabenherz trotzig
aufspringt, sich selber und den andern ein Beispiel von Tapferkeit zu
geben. Während einige Bürger in den Schulhof gekommen sind und den
Jungen mit dem zerbrochenen Fuß aufheben, geht er in das verlassene
Schulhaus zurück: obwohl es unheimlich ist auf der leeren Treppe und
oben im Gang, wo alle Türen offen stehen, kommt er bis an die Klasse
und holt seine Sachen heraus; auch einigen andern bringt er mit, was
er rasch greifen kann; und nachher zwingt er seine Furcht, daß er die
Treppe nicht hinunter springt, Schritt für Schritt die Stufen nimmt und
triumphierend zu den Wenigen hinaus tritt, die da noch warten.

Als er danach heim kommt in die Stube, ist der Johann Baptista schon
längst dabei, dem Bärbel das Abenteuer zu erzählen, indessen das Babeli
verzweifelt durchs Fenster sieht und ihn scheltend empfängt, daß er
so spät käme; nun wäre die Mutter aus Angst um ihn schon auf die
Gasse gelaufen! Er könnte ihr anders antworten; doch wirft er nur die
Sachen verächtlich auf einen Stuhl und springt hinunter, den Schrecken
der Mutter abzukürzen. Er findet sie auch gleich, wie sie mit blassem
Gesicht zurück kommt und ihn erblickend nichts anderes vermag, als ihn
hastig am Arm zu nehmen, wie wenn sie ihn jetzt noch retten müßte.

Bei den Genossen aber gilt der Heiri Wunderli seit diesem Erdbebentag
als einer, der sich aus Großmannssucht für etwas Besseres hält, und
ihrem Spott ist fortab deutlich der Haß beigemischt, der für das
Ungewöhnliche das sicherste Erbteil unter den Menschen ist.


                                  12.

Mit zwölf Jahren kommt Heinrich Pestalozzi wieder hinüber in die große
Stadt, wo seine Mutter im Haus zum Roten Gatter an der Münstergasse
eine billige Wohnung gefunden hat. Er tritt nun in die Lateinschule
am Großmünster über und verliert dadurch seinen ländlichen Freund
aus Höngg ganz aus den Augen. Um so betroffener wird er, als er beim
Großvater in die Ferien einrückt und dort erfährt, dem Baumwollenweber
sei es zu teuer geworden mit der Schule, auch habe der Ernst Luginbühl
selber die Plage mit den Stadtsöhnen nicht mehr gemocht. Er benutzt
den ersten Ausgang, ihn zu besuchen; schon draußen vor dem kleinen,
windschiefen Haus hört er den Webstuhl klappern, aber als er zögernd
hinein kommt, sitzt statt des bärtigen Baumwollenwebers der Sohn im
Gestänge. Es ist so laut in der Stube, daß der ihn nicht gleich
bemerkt; als er sich nachher umsieht, dauert der Streifblick nicht
länger als eine Sekunde, dann starrt er wieder in seinen Webstuhl.

Heinrich Pestalozzi denkt, daß es die Arbeit so erfordere, und wartet
geduldig eine Pause ab; als sich nach einer Viertelstunde immer noch
nichts ändert an dem gleichförmigen Takt, ruft er ihn an, erst leise,
dann mehrmals lauter: der andere aber zieht nur trotzig die Schultern
ein. Da merkt er, daß ihn der Ernst Luginbühl nicht mehr ansehen
will, und in einer tief rinnenden Traurigkeit verläßt er die Stube.
Draußen sieht er gerade noch, wie die mattrote Sonnenscheibe in dem
Wolkengerinnsel am Horizont versinkt; was ein warmer Glanz mit lustig
langen Schatten war, als er herauf kam, ist nun eine rote Glut, die
sich brandig in den Himmel einfrißt. Nur am Ütliberg läuft noch eine
feurige Kante hinauf, und unten starrt das Kriegslager von Zürich vor
dem See, als ob es dunkel auf eine bläßliche Glasscheibe gemalt wäre.
Er fühlt mit seinen zwölf Jahren, daß alles, was bisher in seinem
Herzen gewesen ist, Zorn und Empörung, Mitleid und Freude: mit den
Stunden kam und verrann, wie dort das Sonnenlicht verrinnt und morgen
wiederkommt; aber, was da am Webstuhl angeschlossen ist, kam nicht mehr
los aus seiner Unabwendbarkeit.

Heinrich Pestalozzi vermag nicht ins Pfarrhaus zurückzugehen; bis
zur Dunkelheit sitzt er am Rain und versucht, aus dem Knäuel dieser
Gedanken heraus zu kommen. Das einzige, was er gewinnt, ist ein
Gefühl, dass bis zur Stunde alles eitel und selbstsüchtig in ihm war:
nur, weil er die reichen Verwandten am See und hier den Großvater im
wohlbestallten Pfarrhaus hat, durch kein anderes Vorrecht, ist er vor
dem gleichen Schicksal behütet. Je tiefer er sich da hinein denkt,
um so mehr schämt er sich vor dem Knaben und um so glühender wird
sein Wunsch, ihm wenigstens ein Pfand der Liebe aus seinem Herzen
hinzulegen, da er ihm sonst nicht helfen kann. Und als er das Pfand
gefunden hat -- es darf nur das Liebste sein, was er besitzt -- hindert
Heinrich Pestalozzi nichts mehr, sein Herz zu erfüllen:

Vor der Tür des Pfarrhauses, aus dem ein Licht der Wohlhabenheit in den
Abend leuchtet, zieht er die Schuhe aus und schleicht auf Strümpfen
in die Kammer. Der Ranzen ist noch nicht ausgepackt, und seine Hände
wühlen im Dunkeln nach dem silberbeschlagenen Testament, das seine
Mutter von ihrem Vater zur Konfirmation erhalten und ihm kürzlich am
Grab des eigenen Vaters in die Hand gegeben hat. Er fühlt das Unrecht,
das er damit tut: es gehört ihm selber garnicht, es ist ein Vorrecht
vor den Geschwistern, es zu haben. Aber gerade das bestimmt ihn, es
herzugeben; denn nur darum ist er wie alle übermütigen Stadtbürgersöhne
in Zürich gegen den Weberknaben im Vorteil, weil sie in den Reichtum
solcher Familienstücke hineingewachsen sind! Und daß es ein Liebespfand
von seiner Mutter ist, darauf hat Christus selber zu Maria gesagt:
Weib, was habe ich mit dir zu schaffen?

Als er zitternd und mit einem schmerzenden Knie, weil er im Eifer
gefallen ist -- auch die Schuhe wieder anzuziehen, hat er vergessen --
zu dem Knaben in die Stube kommt, ist von dem Lichtspan an der Wand
ein trübes Licht darin, das die Schatten des Webstuhls wie Ratten in
dem halbhellen Raum hin und her laufen läßt. Diesmal hört der Ernst
Luginbühl gleich auf zu weben, so sehr scheint er erschrocken, wie
einer aus der Dunkelheit mit bittend hingestreckten Armen in sein
Licht kommt. Vor den heißen Augen weiß Heinrich Pestalozzi keins von
den Worten zu sagen, mit denen er her gelaufen ist; weil die Hände
des Knaben am Webstuhl hängen bleiben, legt er ihm das Testament mit
dem blinkenden Silber darauf. Wohl eine Minute lang ist es still
um die Atemzüge der beiden Knaben, wie wenn dieses Liebespfand sie
wirklich vereinen könnte; dann reißt der Webersohn die Hände fort, als
ob ihn mit dem kalten Metall des Buches ein widerliches Tier berührt
hätte. Klappernd fliegt es gegen das Holz und fällt seitwärts auf den
Lehmboden; doch darf es auch da nicht liegen, der Dämon in dem Knaben
fährt auf und spuckt danach; und als Heinrich Pestalozzi schützend
seine Hände über sein Heiligtum breiten will, tritt er mit beiden
Füßen darauf, bis es in den Lehm eingestampft ist. Erst dann bricht er
schluchzend aus und läuft durch die offene Tür in die Nacht.

Heinrich Pestalozzi meint, die Mutter laut mit sich weinen zu hören,
als seine zitternden Finger das Buch aus dem Boden graben; mit einem
Grauen, darin das Großmünster aus seiner ersten Jugend über ihm
einstürzt, geht er aus der Stube. Am Zürichberg wird unheimlich das
Signal der Mondscheibe aufgezogen; so rot ist sie, als hätte sie dem
Abendrot das Blut ausgetrunken. Und wenn Heinrich Pestalozzi auch erst
nach Jahren die Verzweiflung verstehen soll, die ihm sein Liebespfand
bespien und zertreten hat, eine Ahnung trägt er schon an diesem
Abend ins Pfarrhaus hinunter: alles andere, nur nicht das gedruckte
Evangelium hätte er dem Knaben auf die Hände legen dürfen, der sich von
einer auf dieses Evangelium gegründeten Welteinrichtung verraten fühlt.


                                  13.

Seitdem geschieht es Heinrich Pestalozzi häufig, daß er unversehens
an den Webstuhl in Höngg denken muß; er meint dann, das unaufhörliche
Geklapper zu hören, und kann, wenn er sich auf die Schulgegenwart
besinnt, staunend in eine neue Anschauung der Wirklichkeit versinken:
die sonst nur als der Kreis seiner Sinne um ihn gewesen ist oder in
seiner Erinnerung ein Bilderbuchdasein geführt hat, je nachdem er
zufällig an etwas dachte, wächst sich zur Weite ihrer unabhängigen
und ungeheuren Existenz aus. Es wird ein leidenschaftliches Spiel
seiner Einbildung, sich vorzustellen, was alles in der gleichen Stunde
geschieht, da er mit seinen Büchern dasitzt: wie der Großvater in Höngg
den Pfarrhut in seiner Studierstube aufsetzt und hüstelnd -- er geht
nun schon an die siebzig -- die Treppe hinuntersteigt, die Kranken
der Gemeinde zu besuchen; wie die Großmutter unterdessen mit ihren
runzeligen Händen im Garten schafft, manchmal ein Viertelstündchen
mit einer Nachbarin plaudernd; wie rund herum in den Weinbergen
und Feldern die Bauern sich nach ihrer Arbeit bücken; wie auf der
Straße die Kaufmannswagen, mit runden Tüchern überspannt, ihren Trott
dahingehen, oft überholt von den Staubwolken eiliger Reisenden; wie
bald ein Sonnenstrahl, bald ein Wolkenschatten hinläuft über das breite
Limmattal, über die reisige Stadt Zürich und die Großmünstertürme --
daneben er selber im Schulhaus sitzt und dies alles denkt -- über den
langen See hin bis Richterswil und weiter hinauf gegen den blaudunklen
Wall der Berge, die sich nicht so leicht überrennen lassen, über
ungezählte fleißige Menschen hin, welche, die fröhlich singen, und
andere, die um einer Not willen verzweifelt sind. In der Weite und
unausdenkbaren Vielgestaltigkeit dieses Lebens fühlt er sich und seine
Pfarrpläne kaum anders als den Vetter am See, der mit seinem Federhut
den Soldaten spielt. Die Welt ist nicht mehr so, daß einer mit seiner
Knabeneinfalt hineingehen und ihre Dinge umgestalten kann, die Dinge
selber sind es, die mit ihrem unübersehbaren Zustand den Einzelnen
festhalten und nötigen. Wie die Unheimlichkeit des Großmünsters
drohend gegen die Stubenwelt seiner frühen Knabenjahre aufgestanden
ist, so kommt jetzt der Lebenskreis der Dinge; nur, daß er diesmal
die wirklichen Zusammenhänge fühlt und demütig die Überhebung seiner
Knabenpläne einsieht.

Dazu kommt etwas Zufälliges, das freilich mit dieser Art, die Dinge
zu empfinden, zusammenhängt, ihn völlig verzagt zu machen: Weil er im
Examen der Erste gewesen ist, trifft es ihn, daß er das Gebet vor der
Klasse sprechen muß. So feierlich für ihn die Worte des Vaterunsers
sind, da er sie selber zum erstenmal öffentlich sagen soll, überfällt
der komische Zwiespalt zwischen seiner in tausend Täglichkeiten
verbrauchten Knabenstimme und dem feierlichen Aufwand, den er damit
treiben soll, sein verscheuchtes Selbstgefühl derartig, daß er einem
unwillkürlichen Zwang zu lachen nicht widerstehen kann und dadurch zu
einer ernstlichen Vermahnung kommt. Auch in der Folge verliert sich
dieses Hindernis nicht; so oft er in der Schule oder gar in der Kirche
etwas öffentlich aufzusagen hat, ist das stete Gefühl dabei, vor den
anderen Knaben lächerlich dazustehen, und er braucht dann nur seinen
Blick mit einem andern zu kreuzen, um auch schon auszuplatzen. Es ist
ihm sicher, daß er niemals als Pfarrer seine Stimme in der Kirche wird
erheben können, ohne diesen Zwang zum Lachen. Die erste Erkenntnis der
Weltzusammenhänge hat ihm die Unschuld seines Knabendaseins unsicher
gemacht, und ängstlich fragt er, ob sie ihm jemals wiederkommt?


                                  14.

Als Heinrich Pestalozzi mit dem fünfzehnten Jahr aus der Lateinschule
übertritt in das sogenannte Collegium Humanitatis, das auch beim
Chorherrngebäude des Großmünsters liegt, ist von seinen Knabenplänen
nichts geblieben als die Verzagtheit, überhaupt einen Platz mit seinem
Dasein in der Wirklichkeit zu finden. Da hilft ihm zum erstenmal
seine Vaterstadt; indem er anfängt, die Dinge zu beobachten, wie sie
außer dem Kreis seiner Sinne ihre eigenen wechselvollen Zustände
haben, sieht er sich unerwartet vor ihre Vergangenheit gestellt. Diese
Bastionen und Stadttürme, Kirchen und Brücken: das alles ist nicht
immer so gewesen, wie es nun für seine Augen dasteht. Es ist die
Erbschaft der Jahrhunderte -- wie die öffentlichen Einrichtungen der
Zünfte, der Lehrschulen und Gottesdienste auch -- von Menschenhänden
in den ewigen Kreislauf der Natur gestellt und von Menschen in der
unaufhörlich ablaufenden Frist ihrer irdischen Gegenwart verändert.
Noch bevor er Schüler vom alten Bodmer wird, der seit Jahrzehnten in
Zürich helvetische Geschichte lehrt, verfällt er mit Eifer auf die
Geschichte der stolzen Heimatstadt. Gerade weil sie ihm mit ihren
finsteren Gassen nie so heimelig geworden ist wie das Land, und weil
sein Gefühl sich so schwer zurechtfindet mit den Einrichtungen, die
überall Ehrfurcht fordern und ihn bedrücken: sucht er hitzig nach der
Herkunft aller dieser Dinge und Sitten, als ob es ihm so gelingen
müßte, sein eigenes Gefühl aus der drohenden Ungewißheit in eine
sichere Übereinstimmung mit der Heimat zu bringen.

So liest Heinrich Pestalozzi, der zwischen den Bürgersöhnen immer noch
ein schmächtiges Gewächs und der Heiri Wunderli von Torliken ist,
die mehr als tausendjährige Geschichte seiner Stadt: wie schon zu
römischen Zeiten der Lindenhof ein befestigtes Kastell war und in den
Märtyrern der thebäischen Legion, Felix und Regula, seine christlichen
Schutzheiligen gewann; wie Karl der Große ihm seine geistlichen
Stifte, das Großmünster und das Fraumünster, gab und eine Reichsvogtei
das römische Kastell auf dem Lindenhof ablöste; wie es lange vor
dem Eintritt in die Eidgenossenschaft reichsfrei und ein mächtiges
Stadtwesen war, bis es durch Zwingli der Vorort der reformierten
Christenheit wurde. Er liest von den berühmten Bürgermeistern der
Stadt: von Bruns, dem ränkevollen Aufrührer der Innungen, der die
Regierungen der Zünfte gegen die Geschlechter begründete und in der
Züricher Mordnacht die von Rapperswil eingebrochenen Adeligen grausam
unterwarf; von dem riesenhaften Stüssi, der um das Toggenburger Erbe
den Krieg mit den Eidgenossen aufnahm und vor dem Stadttor an der
Sihlbrücke fiel; von Hans Waldmann, dem Helden zu Murten, unter dessen
Hand Zürich zum Vorort der ganzen Eidgenossenschaft wurde, bis er,
von seinem eigenen Glanz verblendet, seinen Gegner, den Volkshelden
Frischhans Theiling, hinrichten ließ und bei der Empörung der Seebauern
selber den stolzen Hals aufs Schafott legen mußte. Er liest, wie sich
die Bürgermeister um Geld an mächtige Fürsten verkauften, wie Zürich um
seines Vorteiles willen mehrmals die Eidgenossen an die Österreicher
verriet, und wie durch den Bundesvertrag mit Frankreich das Reislaufen
der Eidgenossen ein bezahltes Handwerk wurde. Aber dann kommt
Zwingli, der gegen diese wie andere Unsitten in Zürich ein Regiment
schweizerischer Mannhaftigkeit aufrichtet und, obwohl er selber bei
Kappel kläglich umkommt, Zürich zur evangelischen Glaubensburg macht.
Aus dem ränkevollen Spiel der Jahrhunderte wächst ihm die Gestalt
dieses Glaubenshelden zu einer Größe heraus, daneben die Figuren der
Bürgermeister in den schwankenden Schatten böser Leidenschaften
versinken.

Alle diese Dinge liest Heinrich Pestalozzi, wie ein anderer Zürcher
Knabe die Geschichte seiner Vaterstadt auch gelesen hätte; aber
unvermutet kommt eine Begebenheit, die seine eigene Herkunft angeht und
danach lange den heimlichen Schlüssel seiner vaterländischen Gefühle
abgibt: Zwingli ist seit vierundzwanzig Jahren tot, und überall haben
die Evangelischen mit der katholischen Gegenreformation zu kämpfen; da
ziehen an einem Mittag des Jahres 1555 einhundertsiebzehn Flüchtlinge
in Zürich ein, ziemlich die ganze reformierte Gemeinde aus Locarno,
die mit ihrem Pfarrer Beccaria über den schneebedeckten Bernardino und
den Splügen, durch Lawinengefahr und die Frühjahrsschrecknisse der Via
mala gewandert ist und in dem Nachfolger Zwinglis, dem Münsterpfarrer
und eigentlichen Regenten von Zürich, Heinrich Bullinger, einen
mannhaften Beschützer findet. Heinrich Pestalozzi weiß vom Großvater,
daß seine Familie ursprünglich italienisch und um des Glaubens willen
eingewandert ist: nun erkennt er die Umstände und wie tief er --
mütterlicherseits sogar ein direkter Abkömmling jener Flüchtlinge --
der Stadt Zürich verpflichtet ist. Zum andernmal wächst das Großmünster
mächtig auf vor einem Gefühl, aber es ist kein Grauen mehr; er sieht
die beiden Türme als reisige Wächter seines Glaubens die Stadt behüten,
und wenn nun Sonntags die mächtigen Glocken darin läuten, ist es der
Schlachtgesang Zwinglis und seiner Getreuen, die für das Evangelium
hinaus reiten in den Tod.


                                  15.

Seitdem sich Heinrich Pestalozzi selber als einen Schützling dieser
mächtigen Stadt erkannte, mag er einsam durch ihre Straßen gehen
und sich allein von solchem Gang beglückt fühlen: Es braucht nur
ein Hufschmied zu hämmern, und schon hört er Schwertschlag auf
stählerne Panzer, und wenn er Sonntags mit der Gemeinde in den hohen
Münsterhallen singt, beim Donnerschall der Orgel, wenn er den Prediger
das Buch vom Altar nehmen sieht, wie es Zwingli an derselben Stelle
genommen hat, mischt sich mit dem ehrfürchtigen Grauen der Stolz und
Dank seiner von unbändigen Erinnerungen erfüllten Seele. Er weiß nun,
was es bedeutet, daß der steinerne Karl außen hoch am Münsterturm das
Schwert flach auf den Knien hält und warum auf den Brunnen die reisigen
Männer stehen. Als er einmal mit in die Zwölfbotenkapelle unter dem
Großmünster hinunter darf, läuft er nachher wohl eine Stunde lang
weinend vor Glück an der Limmat hin.

Es ist, als ob er nun die Stadt erst sehe, in der er aufgewachsen
ist; und wenn er durch eine der alten Porten hinaus geht, die noch
immer wehrhaft dastehen, obwohl draußen die wohlgerüsteten neuen
Bastionen sind, kann es ihm ängstlich werden, die schützende Grenze zu
überschreiten. Der schwarze Pfahlwall im See am Grendel, der mit der
Dunkelheit die Schifffahrt absperrt, der Wellenbergturm mitten in der
Strömung, das mit mächtigen Quadern ins Wasser vorgebaute Rathaus, die
stattlichen Zunfthäuser und der breitbedachte Rüden am Stücklimärt,
wo immer noch die Constafel, die Geschlechter, tagen, das Haus zum
Königstuhl mit seinem derb vorgebauten Erker, darin der Bürgermeister
Stüssi gewohnt hat, oder das Haus zum Loch, mit seltsamen Sagen dem
großen Kaiser Karl verknüpft: jeder Stein der Stadt wird mit dem
Bewußtsein der Geschichte lebendig, die daran gebaut hat.

Auch empfindet er nun, daß es etwas anderes ist, ob der Antistes
von Zürich durch die Straßen geht, oder ob sein Großvater von Höngg
zu einer Besorgung herein kommt; und als er erst einmal in der
Wasserkirche gewesen ist, wo die alte Bibliothek der Stadt in zwei
Galerien eingebaut steht und mit den alten Ölbildern an den Wänden
gleichsam das Uhrwerk ihrer geistigen Geschichte darstellt, wird der
stille Saal für ihn ein Raum mancher heimlichen Feier. Von hier aus
beginnt er mit Stolz nach den Männern zu sehen, die zum Ruhm und
Vorbild der Bürgerschaft leben, und wenn er nun den greisen Bodmer
daherkommen sieht, fühlt er: es ist mehr als ein Professor der
helvetischen Geschichte, es ist der Geist dieser tapferen Geschichte
selber, der unter seinen buschigen Augenbrauen in die Gegenwart blitzt.


                                  16.

In dieser Zeit fängt Heinrich Pestalozzi auch an, Kameraden zu
bekommen; er ist den Wunderlichkeiten des alten Babeli entwachsen,
und so sehr die Gute schilt, wenn seine Kleider bei einer unnützen
Kletterei an der Stadtmauer oder sonst Schaden genommen haben: er ist
zu lange in ihrer Stubenhaft gewesen, um nicht mit Ausgelassenheit
die Freiheit solcher Streifereien zu genießen. Sogar reiten lernt er,
als wieder einmal der Vetter Weber aus Leipzig für einige Zeit in
Zürich auf Geschäften ist und ihm eins von seinen Rossen leiht. Es
geht ihm immer noch wie damals bei dem Großvater in der Kalesche, er
kann nicht mit dem Gaul übereinkommen, hält sich an den Zügeln fest,
als ob es Rettungsseile wären, und macht das arme Tier einmal am
Hottinger Pörtchen so wild, daß es auf der Holzbrücke anfängt, Männchen
zu machen, und ihn beinahe über das Geländer in den Stadtgraben
hinunter wirft. Schon läuft der Torwächter erschrocken hinzu, und die
Spaziergänger flüchten sich; irgendwie aber bleibt er doch noch im
Sattel hängen, das Pferd zieht es vor, den Stall zu suchen, und er
widerstrebt ihm nicht, obwohl er dabei seine Mütze verliert und nicht
gerade eine Reiterfigur macht.

Schlimmer geht es ihm jenes Mal, als er an einem Sonntagnachmittag mit
einigen Kameraden in einem Weidling nach Wollishofen hinausgerudert
ist und nachher wieder heim will. Sie sind nach Knabenart laut
gewesen, haben Schweizerlieder gesungen und in dem schwanken Schiff
ihre Katzbalgereien gehabt, als ob ihnen garnichts Schlimmes begegnen
könnte. Beim Einsteigen aber, als sie noch mitten im Gelächter sind,
kommt er mit dem einen Fuß nicht vom Landungssteg los, während er den
anderen schon auf den Rand gesetzt hat. Durch den Ruck weicht das
Schiff unter ihm fort, bis seine Beine zu kurz für die Spannung sind
und er kopfüber in den See kippt. Er kann nicht schwimmen; das Wasser
ist ihm immer unvertraut gewesen, und nur dadurch, daß die andern ihm
schnell das Ruder hinhalten, als er mit zappelnden Armen hoch kommt,
ertrinkt er nicht. Sie schleppen ihn daran wie einen gefangenen Fisch
gegen das Ufer zurück, wo sie ihn diesmal mit größerer Vorsicht ins
Boot holen wollen. Er mag aber nicht mehr, verschlägt sich unter
den Scherzen der andern seitwärts an eine durch Büsche geschützte
Uferstelle und trocknet da seine Kleider in der Sonne. Das dauert
einige Stunden, während die andern wieder ihre Tollheiten in dem
Kahn machen und ihn schließlich, seine Feigheit verhöhnend, im Stich
lassen. Daß seine Kleider naß geworden sind, macht ihm nichts aus bei
der Sonne; auch ist er so rasch wieder oben gewesen, daß er gleich mit
den andern dazu gelacht hat: nun er aber allein so am Wasser sitzt,
das auf eine gierige Art ans Ufer schwappt, fängt das Erlebnis an, ihn
schwermütig zu machen. Er hat, als er untersank, für einen Augenblick
die Augen der Mutter dicht vor den seinen gesehen, und den Großvater
dahinter, wie er ihm die Hand auf die Schultern legte: nun hört er das
übermütige Geschrei der Knaben vom See und kann nicht begreifen, daß
er selber dabei war. Es wäre nichts als ein unnützer Knabe gewesen,
den das Wasser an ihm verschluckt hätte; weil aber nichts so heftig in
seiner Seele aufbegehrt als der Ehrgeiz, sich selber wert zu halten
und es den großen Männern seiner Stadt einmal gleich zu tun, werden
für Heinrich Pestalozzi die beiden Nachmittagsstunden, während er am
See bei Wollishofen in der Sonne sitzt, zu einem Selbstgericht, wo ein
beschämter Jüngling die Kleider halbtrocken wieder anzieht, die sich
der Knabe naß vom Leib gerissen hat.

Stärker als damals in Höngg vor der Tür des Ernst Luginbühl ist das
Gefühl eines eitlen und selbstgefälligen Daseins in ihm. Mit all seinem
Selbstbewußtsein, mit seinen Vergangenheitsträumen und spintisierten
Taten ist er doch nur ein Schüler, nach dem niemand fragt, als die,
denen er mit seinen Großsprechereien zuleide ist. Seine Auflehnung
gegen die Ungerechtigkeit der Lehrer, wenn der Kantor betrunken in
die Singstunde kommt oder der Provisor Weber -- der selbe, der sich
einmal eine Laus vom Kopfe nahm und ihm auf dem Papier zerknickte
-- dem Ludwig Hirzel vom Schneeberg ein paar Fehler übersieht, weil
dessen Eltern ihm eine Metzgeten ins Haus geschickt haben; sein ganzes
Weltverbesserertum setzt er nun gegen die Unfähigkeit, mit sechzehn
Jahren sich selber und seine Kleider in Ordnung zu halten oder einen
Heller zu haben, den er seiner Mutter nicht abgebettelt hat, als ob die
ganze Schöpfung nur da wäre, einem Schulknaben nach seinen Einfällen
und Sinnen gefällig zu sein.

Freilich, als er dann sucht, wie er seine unnützen Beine unter
dem Tisch der Mutter fortbringen könne, findet er nichts als die
Kaufmannschaft, dahinein sie schon im Frühjahr nicht ohne Tränen den
Johann Baptista getan hat. Ihr zuliebe muß er die Schule durchhalten;
so ist es unvermutet doch wieder der Zirkel solcher unnützen
Schülerschaft, darin er seine Jugend gebunden sieht. Trotzdem, als er
im späten Nachmittag allein gegen Zürich geht, fröstelnd von den nicht
völlig trockenen Kleidern, ist es ihm, als ginge er nun wirklich in den
großen Schritten des Vaters, die er als kleiner Knabe so gern versucht
hat. Er mochte sich kein Gelöbnis geben, und auch diesmal sind die
Kreise seiner Gedanken gleich dem Ringelspiel um die Steine verlaufen,
die er draußen in den See warf: doch geht eine Sicherheit mit ihm, als
läge sein unnützes Knabentum noch mit den Kleidern auf einem Häufchen
im warmen Uferschilf. Weil aber doch für einen Augenblick der Tod an
seine Natur gerührt hat, ist die heimliche Lust des Lebens in ihm, die
-- wie er danach noch tiefer erfahren soll -- durch nichts so sehr als
durch das Grauen des Todes angeregt wird.


                                  17.

Heinrich Pestalozzi ist im Januar siebzehnjährig geworden, als er zum
Frühjahr ins Collegium Carolinum eintritt. Er weiß, daß er für keinen
schlechten Kopf gilt, wenngleich er bis zuletzt als ein unordentlicher
und zerstreuter Schüler gescholten worden ist: nun liegt die Zeit der
Abrichtung hinter ihm, und er steht als Student zu Hause wie vor den
Mitbürgern mit dem Stolz da, endlich auf die Wissenschaften selber zu
zielen. Wo Bodmer helvetische Geschichte lehrt und Breitinger außer den
alten Sprachen Philosophie, da hat die Schulmeisterei ihr Ende; das
sind Männer, um die er Zürich von halb Europa beneidet weiß, und zu
denen weither die Berühmtheiten angereist kommen. Namentlich Bodmer
mit seiner vaterländischen Begeisterung, der auch als Mitglied des
großen Rates in Zürich selber in die Regierung eingreift, ist das Ziel
seiner Verehrung. Der ist damals noch nicht der schrullenhafte Greis,
trotz seiner fünfundsechzig Jahre behend und rasch mit der trefflichen
Rede. Unter seinen Zuhörern zu sitzen, bedeutet für Heinrich
Pestalozzi, in die geistige Gemeinschaft seiner Stadt eingetreten zu
sein; und als es ihm zum erstenmal gelingt, einige Worte mit ihm zu
sprechen, erzählt er nachher der Mutter und dem Bärbel glückselig von
der Begegnung. Die Mutter, wie immer, hört mit leiser Trauer zu; das
Bärbel aber, das nun schon vierzehnjährig mit seinen Italieneraugen ein
zärtliches Kind vorstellt, ist stolz auf den großen Bruder.

Heinrich Pestalozzi spürt seit dem ersten Tage, daß ihm die
Zeitumstände einen günstigen Wind in sein Studium bringen; tagtäglich
kann er neue Segel aufziehen, und wenn er sein Lebensschiff in dieser
ersten Studentenzeit aufmalen könnte, wäre es von der Mastspitze bis
zum Steuer bewimpelt.

Aus Frankreich ist die Nachricht von einem Buch gekommen, das einen
Schweizer, den Genfer Uhrmacherssohn Jean Jacques Rousseau, zum
Verfasser hat und im Auftrag des Parlaments in Paris vom Henker
zerrissen und verbrannt worden ist; auch der Magistrat in Genf hat
das Buch verdammt, und so gibt es wenige, die seinen Inhalt wirklich
kennen. Aber als ob aus den Flammen des Henkers Funken fortgeweht
wären, nistet sich der Brand allerorten ein, sodaß die Wirkung des
»Emil« -- wie das Buch heißt -- ihm in hitzigen Gesprächen vorausläuft,
besonders da, wo die übrigen Schriften des welschen Schweizers seine
Naturreligion schon verbreitet haben. Heinrich Pestalozzi kann nicht
daran denken, so bald ein Exemplar dieses Buches zu erhalten, wohl aber
bekommt er seine Wirkung zu spüren. Er war eben aus der Lateinschule
gekommen, da haben die neun Schweizer, durch Iselin in Basel gerufen,
ihre Freundschaftsfahrt nach Schinznach gemacht, die helvetische
Gesellschaft zu gründen. Auch ein Zürcher, Hans Kaspar Hirzel, ist
dabei gewesen, und obwohl die Gestrengen Herren im nächsten Jahr die
Teilnahme an den Verhandlungen in Schinznach als staatsgefährlich
verboten haben, weiß er wohl, daß ihrer sieben heimlich dort gewesen
sind; und er entsinnt sich noch, mit welchen Augen selbst die Knaben in
der Schule davon sprachen, als ob Schinznach ein neues Rütli für die
Eidgenossenschaft wäre gegen den gewalttätigen Herrschaftsgeist der
einzelnen Kantone. Und nun kommt der Tag, wo der alte Bodmer das Licht
öffentlich aufsteckt, das bis dahin nur mit Tüchern verhüllt heimlich
von Haus zu Haus getragen worden ist; wo er als der einzige in Zürich,
der die Geltung und den Freimut zugleich besitzt, dergleichen zu wagen,
die helvetische Gesellschaft zur Gerwe einrichtet.

Als Heinrich Pestalozzi sich mit andern Studenten vor den Anschlag
drängt, der den Arbeitsplan der Gesellschaft kundgibt, kommt zufällig
Bodmer mit zwei jungen Männern daher, die schon die Kleidung
der zukünftigen Geistlichkeit tragen und aus Respekt vor dem
Professor, obwohl er freundschaftlich mit ihnen spricht, die Hüte
in der Hand halten. Die beiden sind ziemlich allen bekannt als die
Predigtamtskandidaten Bluntschli und Lavater, die dem alten Herrn
eifrig zu Diensten und auch bei der Gründung der neuen Gesellschaft
seine Handlanger sind. Sie verziehen keine Miene ihrer feierlichen
Gesichter, als sie vorübergehen; Bodmer aber bleibt seiner scherzhaften
Laune folgend stehen, und weil er zufällig an Heinrich Pestalozzi
gerät, tippt er ihm mit dem Zeigefinger leicht auf die Brust: ob er
Lust zur Mitarbeit habe? Die Frage scheint nicht weiter gemeint, der
alte Herr wartet auch gar keine Antwort ab und geht mit den schwarzen
Pagen zur Münstertreppe hinunter: aber darum hat er ihm doch mit dem
Finger ans Herz gerührt. Er wäre auch sonst glücklich gewesen, mit
bei dieser Sache zu sein, die aus seinen glühenden Wünschen gemacht
scheint; nun aber sind seinem Ehrgeiz Hoffnungen geweckt, die er sich
selber wie eine Fahne aufrollt.

Der schwarze Pestaluz wird Tambour! höhnt ein Bürgersohn, den die
Bevorzugung ärgert, und die andern lachen dazu, als ob sie ihn schon
trommeln hören; er aber ist viel zu erregt, darauf zu achten, und noch
als er zu Hause die Treppe hinaufgeht, spürt er die Stelle, wo ihm der
Bodmer genau auf das Herz getippt hat.


                                  18.

Die Gesellschaft heißt zur Gerwe, weil ihre Versammlungen im Zunfthaus
der Gerber abgehalten werden, das unterhalb des Rathauses über die
Limmat hinaus gebaut ist. Als Heinrich Pestalozzi zum erstenmal
hinkommt, ist noch niemand da, weil seine Ungeduld sich verfrüht
hat; so wird er von einigen Männern, die nach ihm eintreten, um eine
Auskunft angesprochen und gerät dadurch gleich anfangs in die Stellung
eines Vertrauten, der mehr von dieser Sache weiß, um so mehr als Bodmer
nachher der Versammlung scherzhaft ankündigt, daß sie es einmal mit
der umgedrehten Welt versuchen und der Jugend das Wort lassen wollten,
indessen sie, die Alten, diesmal nur das Parterre im Theater wären.
Es mögen an die hundert Personen in dem getäfelten Saal sein, wie
Heinrich Pestalozzi an der Begrüßung merkt, zumeist Schüler Bodmers,
der seit vierzig Jahren vaterländische Geschichte in Zürich liest und
schon der Lehrer einiger Graubärte gewesen ist, die nun als begeisterte
Eidgenossen in seine Studiengesellschaft eintreten. Den ersten Vortrag
hält der Kandidat Bluntschli; er liest ihn mit einer Stimme, die
beinern vor Erregung ist, und das Papier zittert ihm so in den Händen,
daß ein Blatt mitten durch reißt. Auch seine Worte sind so, sie handeln
von den Grundsätzen der politischen Glückseligkeit, und wie Heinrich
Pestalozzi den blassen, schon durch die Schwindsucht gezeichneten
Menschen von den politischen Einrichtungen Zwinglis sprechen hört,
glaubt er den Reformator fast selber zu sehen, so erfüllt ist dieser
Kandidat von der unbeugsamen Sittlichkeit seiner Gedanken.

Nachher gibt es eine Aussprache, und nun spürt Heinrich Pestalozzi,
daß dies mehr sein soll und ist, als eine Studiengesellschaft der
vaterländischen Geschichte. Einer der Männer, die ihn zu Anfang
angesprochen haben, nimmt auch das Wort, und es ist schon ein Zeichen
selbständiger Gesinnung, wie er mit seinem braunen Vollbart gegen die
rasierten Gesichter der modischen Herren steht. Er bringt die Rede auf
den Landvogt Grebel in Grüningen, der in seiner sechsjährigen Amtszeit
mehr ein Räuber als eine Obrigkeit im Sinne Zwinglis gewesen sei und
nur deshalb seinen Raub trotz aller Klagen des Landvolks behalten
könne, weil er der Eidam des Bürgermeisters wäre. Obwohl der alte
Bodmer sichtlich erschrocken die harten Worte mit erhobenen Händen
abwehrt, muß er sie wieder sinken lassen; denn aus der Versammlung
bricht die Empörung über die allbekannten Greuel des leichtfertigen und
bösen Mannes in solchen Zurufen aus, als ob sie sich alle nur deshalb
in der Gerwe vereinigt hätten. Bodmer weiß zwar die Erregung mit klugem
Bedacht wieder auf eine Aussprache zurückzulenken, aber die Worte, die
nun kommen, sind anders, als die vorher waren: als ob sie auf einem
Wasser hingerissen würden, so vergeht der einzelne Schall, aber die
stark strömende Flut der Erregung bleibt.

Heinrich Pestalozzi fühlt sich aus seinem jünglinghaften Träumerdasein
mitten ins Leben versetzt; er könnte die Worte des bärtigen Mannes aus
dem Gedächtnis sagen, so sind es Hammerschläge auf sein Herz gewesen,
und als es zum Schluß noch ein erregtes Zwiegespräch mit dem Bluntschli
gibt, steht er im Rausch dabei: Der Kandidat ist mit der Anwendung
seiner Grundsätze nicht einverstanden; weil er aber nur abzulesen,
nicht frei zu sprechen vermag, hat er dem braunen Mann vor der
Versammlung nicht entgegnen können; nun, wo die meisten, auch Bodmer,
schon gegangen sind, gerät sein zu lange verhaltener Widerspruch in
Zorn, sodaß es fast einen Streit gibt. Der andere aber, der vorher so
scharf gewesen ist, weiß nun den Humor des Älteren herauszukehren,
sodaß sie zuletzt noch friedlich mit einander auf die Gasse kommen.
Heinrich Pestalozzi hätte längst heim gemußt, er kann sich aber nicht
von den andern lösen, solange derartige Dinge in den Worten sind; so
geht er treulich noch am nächtlichen Limmatufer mit den andern hinauf
und befindet sich, als es unvermutet eine Abschiedsecke gibt, zu seiner
eigenen Verwunderung mit dem Kandidaten allein.

Der in seiner gereizten Stimmung ist augenscheinlich froh, noch einen
Zuhörer für seine zornigen Gedanken zu haben. Vielemal läuft er mit ihm
disputierend am Wasser auf und ab, auf dem der Mond sein Silberlicht in
einen ruhelosen Abgrund schüttet: Er habe die Grundlage der sittlichen
Bürgerordnung, nicht den Aufruhr stipulieren wollen, sagt der Kandidat,
und obwohl Heinrich Pestalozzi seine Freude an dem braunbärtigen Manne
gehabt hat, folgt er dem Aufgeregten in seine Welt. Es tut ihm wohl,
von dem Älteren so gewürdigt zu werden, und als er endlich allein --
vom Nachtwächter verscheucht -- zum Roten Gatter hinaufgeht, geben
die einstürmenden Erinnerungen aus der Stadtgeschichte nur noch die
Begleitung zu seiner fast trunkenen Melodie, daß er nun mit beiden
Füßen in das Gemeinleben der Stadt eingetreten sei und daß er an dem
Kandidaten einen Bekannten gewonnen habe, von dessen entschiedenen
Meinungen er sich manches für seine eigene Zukunft erhoffen dürfe.


                                  19.

In der Folge sorgt Heinrich Pestalozzi, daß ihn der Bluntschli nicht
wieder aus den Augen verliert. Er weiß, wie der unbemittelte Sohn
eines Steinmetzen es gleich ihm nicht leicht hat zwischen den reichen
Bürgersöhnen, aber um seines Fleißes und der jungmännlichen Strenge
willen mit besonderen Hoffnungen betrachtet wird. Wen der Bluntschli
von den Studenten seines Umgangs würdigt, der ist damit schon etwas
Besonderes; obwohl er den unfröhlichen Menschen bisher nicht günstig
angesehen hat, überläßt sich Heinrich Pestalozzi nun willig seiner
Führung, weil sein Ehrgeiz in dieser Gefolgschaft schneller einen Weg
in die Lebensdinge zu finden hofft, als auf dem Umweg der Schule.

Es dauert auch nicht lange, so darf er ihn besuchen im Zunfthaus zu
den Zimmerleuten, wo sein Vater Stubenverwalter ist. Er spürt wohl,
daß der Bluntschli einen herrschsüchtigen Hang hat und seinen Freunden
strengere Pflichten auferlegt, als es einem Lehrer gestattet würde;
aber weil er selber in einen fanatischen Lerneifer geraten ist, sodaß
er nicht essen kann, ohne daß noch ein Buch neben dem Teller liegt, ist
ihm die Strenge recht.

Eines Tages kommt es zu einem Spaziergang, durch Sihlport hinaus
gegen den Uto. Er muß sich einen Tadel gefallen lassen, weil er dem
Bluntschli zu hastig mit den Armen schlenkernd dahinläuft; als sie
dann gegen den Waldrand hinauf wollen, merkt er freilich, daß es
nicht nur die Sorge um seine Würde ist, die den andern so gemessen
schreiten läßt: der Atem wird ihm bald zu kurz, sodaß sie den steilen
Weg verlassen und einem Pfad links unter der Manegg her folgen. Wo
die Büsche den Blick frei lassen, geht er über die schattige Rinne
des Sihltals und den dunklen Waldrücken bei Wollishofen in das
blaue Himmelsbecken des Zürichsees, darin Wolken und Bergfernen ihr
schimmerndes Licht mischen: so erstaunt Heinrich Pestalozzi nicht,
als sie in einer grünen Wiesenbucht einen Maler emsig dabei finden,
die Linien und Farben dieser Ansicht auf ein Papier zu bringen. Ein
Genosse von ihm hat sich augenscheinlich als Staffage auf eine Kuppe
davor gesetzt, und ein weißer Hund liegt artig ihm zu Füßen, als ob er
seine Wichtigkeit im Bild fühle. So emsig der eine mit den Wasserfarben
hantiert, so eifrig liest der andere in einem Buch; und erst als der
Hund sich erhebt, die beiden Ankömmlinge knurrend zu stellen, schauen
beide auf, erst der Maler, und als der gleich einen Juchzer ausstößt,
auch der Leser.

Der mit dem Buch ist Lavater, und Heinrich Pestalozzi begreift nicht,
daß er ihn nicht beim ersten Blick erkannt hat; von dem andern weiß
er, daß er ein Sohn des Malers Füeßli ist, gleichfalls Theologie
studierend, aber gern mit dem Handwerkszeug seines Vaters über Land,
und den Lehrern mit seiner freimütigen Art vielmals ein Ärgernis. Er
hat wie meist sein Waldhorn mit, und ehe sie noch ihren Gruß sagen
können, bläst er ihnen schon einen ländlichen Hopser ins Gesicht.
Dem Bluntschli scheint die Begrüßung zu mißfallen; er geht an dem
übermütigen Bläser vorbei gleich auf Lavater zu, und es sieht aus, als
ob er ihn zur Rede stelle. Dabei hat er den Hund des Malers nicht mit
berechnet; denn als er mit einer beschwörenden Gebärde auf den Freund
losgeht, stellt das große Tier seinen Mann und legt ihm die Pfoten auf
die Schultern, sodaß er statt dem Gesicht des Ungetreuen das bleckende
Maul vor sich hat. Der Füeßli kann vor Gelächter nicht mehr blasen; er
ruft den Hund erst zurück, als er sieht, daß der Bluntschli sich mit
seinem blassen Zorn in Gefahr bringt.

Heinrich Pestalozzi hat den Auftritt, weil der Füeßli nicht zu seiner
Bekanntschaft gehört, wie ein überflüssiger Zuschauer erlebt; sein
Pflichtgefühl ist bereit, sich zu dem Zornigen zu schlagen; als aber
der Maler ihm lachend die Hand hinhält, vermag er den lustigen Augen
nicht standzuhalten. Die andern scheinen sich unterdessen auch geeinigt
zu haben; obwohl verstimmt, kommen sie hinzu, setzen sich auch zögernd,
wie der mit dem Waldhorn vorschlägt, miteinander auf den trockenen
Grasboden und betrachten sein Bild. Es zeigt erst die porzellanene
Bergferne und vorn das waldige Sihltal wie eine dicke grüne Raupe, aber
es ist sauber gemalt, und Heinrich Pestalozzi muß den leichtherzigen
Menschen bewundern, der gleichwohl solches vermag. Dem Bluntschli
scheint das Bild keiner Beachtung wert; er will wissen, was für ein
Buch Lavater gelesen hat, und als der ihm den Titel zeigt, weist er
es kopfschüttelnd zurück. Als ob er sich vor Pestalozzi rechtfertigen
müsse, gibt Lavater ihm das Buch in die Hand: es ist eine Schrift von
Winckelmann über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei
und Bildhauerkunst. Er weiß nicht weshalb, aber er hat im Augenblick,
da er es nahm, gehofft, es möchte der Emil von Rousseau sein; so gibt
er das Buch enttäuscht aus der Hand.

Der Maler will die Stimmung retten und schlägt vor, daß sie zusammen
durch das Sihltal hinüber nach Wollishofen wandern und von da am Abend
in einem Schiff zurückfahren sollten. Heinrich Pestalozzi würde das
trotz seinem Erlebnis an dem Weidling mitgemacht haben; aber Bluntschli
steht geärgert auf und geht ohne Gruß den gleichen Pfad zurück, es ihm
überlassend, ob er folgen oder sich den andern anschließen will. Er
wäre auch bei besserer Stimmung eines solchen Verrats nicht fähig, gibt
also beiden mit einem flehenden Blick für seinen zornigen Genossen die
Hand und springt ihm nach.

Bis zur Sihlbrücke kommen sie schweigend, Bluntschli immer vorauf und
er wie sein Pudel hinterher; dann scheint das rauschende Wildwasser
den Groll zu lösen, und obwohl Heinrich Pestalozzi deutlich fühlt, daß
nur die Eifersucht um Lavater den Verärgerten so sprechen läßt, horcht
er doch seinen Worten. Die ersten hört er kaum im Lärm der Sihl, erst
nachher versteht er, daß der Bluntschli streng und erbittert von dem
Geist der Aufklärung spricht, von dem Heidentum, das mit der gerühmten
modernen Bildung in die Stadt Zwinglis gekommen sei und sich da mit
dem Tand seidener Kleider, mit komischen Erzählungen lüsterner Art,
mit radierten Idyllen und dem armseligen Götterwerk der heidnischen
Welt breitmache. Solange man seine Urteilskraft an wahrhaft nützlichen
Gegenständen üben könne, sei es ein Abfall, dürre und unfruchtbare zu
wählen: Die nötigen Kenntnisse sind allen Menschen gemein, die nicht
allgemeinen sind unnötig!

Es ist zuviel von seiner eigenen Gesinnung darin, als daß Heinrich
Pestalozzi ihm nicht zustimmen sollte, und für eine Weile stehen die
beiden da oben im Wald vor ihnen wie rechte Taugenichtse da; aber als
sie von der Meisezunft her gegen die Wasserkirche über die Brücke
gehen, lehnt bei dem Mühlrad ihr Lehrer, der weise Bodmer, und sieht in
das glatt strömende Wasser, als ob er etwas in seinem Grund suche. Sie
wollen ehrfürchtig grüßend an ihm vorbei; er erkennt sie aber und hält
sie an: ob sie schon wüßten? Als sie beide den Kopf schütteln, nimmt er
sie mit hinunter in die Gerwe und zeigt ihnen da eine Anklageschrift
gegen den Landvogt Grebel, die in der ganzen Stadt verbreitet wäre und,
wie er bestimmt vermute, Lavater und Füeßli zu Verfassern hätte: Wenn
sie sich dazu bekennen müssen, sagt er und faltet das Papier wieder in
seine Brusttasche, ist den beiden der Wellenberg sicher!


                                  20.

Einige Tage später muß Heinrich Pestalozzi hinauf nach Höngg, wo seine
Mutter mit dem Bärbel die kränkelnde Großmutter pflegt. Sie ist nun
einundsiebzig und längst zu schwach für ihren Garten, doch hat sie
es gern, wenn sie bei gutem Wetter hinuntergelassen und auf Stühlen
zwischen den Beeten gebettet wird. Da liegt sie auch diesmal, als er
um einer Laune willen unten an der Limmat hin und dann den steilen Pfad
heraufgekommen ist. Es macht die alte Frau besorgt, daß er von dem
raschen Anstieg seine brandigen Hitzflecken im Gesicht hat, und sie
ruht nicht, bis er sich mit ihrer Schürze den Schweiß abtrocknen läßt.
Nachher muß er sich auf die Steinbank setzen und ihr erzählen; da ihn
die Vorfälle um den Vogt Grebel, die geheimnisvolle Anklageschrift und
die zornigen Untersuchungen der Gestrengen Herren bis in den heißen
Kopf erfüllen, spricht er ihr davon. Dann scheint es ihm freilich,
als ob ihr einfältiger Sinn den Dingen nicht zu folgen vermöchte; sie
streichelt nur immer eine Lilie, die sich in der linden Luft zu ihr
neigt, und lächelt auf eine kindliche Art dazu. Als er aufsteht, die
andern aufzusuchen, hält sie ihn fest mit ihrer welken Hand, und für
einen Augenblick scheint ihr Greisensinn völlig verwirrt. Du mußt im
Traum sein, Heiri, den Landvogt hat der Tell geschossen!

Er findet die Mutter und das Bärbel, die er abholen soll, schon
reisefertig im Flur. Seitdem der Tochtermann des Pfarrers, der Vikar
Wolf, gestorben ist, führt ihm die Witwe den Haushalt; das Tantli,
wie sie bei ihnen heißt, ist noch eine junge Person und kann es trotz
ihrer beiden Kinder wieder allein machen, seitdem es mit der Großmutter
bessert. Er mag aber nicht sobald wieder fort; es drängt ihn, auch
mit dem Großvater zu sprechen; so läßt er die beiden allein gehen und
bleibt zur Nacht. Der Großvater hat mit der zunehmenden Gebrechlichkeit
des Alters eine Vorliebe für gelehrte Studien gefaßt und sitzt über
seinem Liebling, dem Kirchenvater Lactantius, den er den christlichen
Cicero nennt; er läßt sich aber diesmal gleich stören: Es geht mir
bald wie mit meinem Schwiegervater selig, dem Chorherrn Ott und seinem
Flavius Josephus, sagt er wehmütig lächelnd, indem er die alten Bände
zur Seite legt. Heinrich Pestalozzi weiß, wie merkwürdig die Weisheit
dieses Juden aus der Zeit Christi an dem Zürcher Baum der Erkenntnis
seines Urgroßvaters gehangen hat, und wie der alte Chorherr daran zum
Narren geworden ist; aber angefüllt von den Dingen der Gegenwart vermag
er nicht mit dem Großvater zu lächeln und sagt ihm das seltsame Wort
aus dem Garten, das einen Dammbruch in seine Gefühle gerissen hat. Der
alte Herr wird im Augenblick ernst und nimmt ihn hastig an der Schulter
hinaus, als ob dergleichen in seiner Amtsstube nicht gesprochen werden
dürfe.

Sie machen danach miteinander einen Gang ins Dorf, wo der Pfarrer dem
Schulmeister eine Weisung zu geben hat. Heinrich Pestalozzi sieht von
weitem das Haus, darin er den Ernst Luginbühl an den Webstuhl genötigt
weiß, und das schmerzhafte Erlebnis mit dem Testament der Mutter, das
er seitdem tiefunterst im Schrank verwahrt, gibt seinen strömenden
Worten einen bitteren Beiklang. Der Großvater läßt ihn schweigend sein
übervolles Herz ausschütten und tadelt ihn nur, als er sich allzu
heftig zum Richter aufwirft. In seiner Kammer aber findet er an diesem
Abend -- vom Großvater heimlich hingelegt -- die Verordnungen für das
gemeine Landvolk, die den Pfarrern von den Gestrengen Herren übergeben
sind. Er liest darin, bis sein Kerzenlicht zu Ende ist; nachher vermag
er nicht zu schlafen, sitzt in den Kleidern am offenen Fenster bis
in den Morgen und sieht in die unruhige Mondnacht hinaus, darin die
jagenden Wolken ihre schwarzen Schatten vor die silberne Scheibe
drängen; so oft sie auch siegend daraus hervorkommt, unaufhörlich
steigen die schwarzen Sturmvögel vom Zürichberg herauf, ihr Licht zu
decken; nicht anders, als die Verordnungen der Züricher Stadtherren
über den mühsamen Lebensstand des gemeinen Landvolkes kommen:

Alle Ämter in Staat und Kirche, alle ehrsamen Handwerke sind dem
Landvolk verschlossen, das mit Zehnten und Grundzinsen, mit dem Erb-
und Leibfall, der dem Landvogt bei jedem Todesfall das beste Stück der
Hinterlassenschaft sichert, mit Fronden und Kleidervorschriften, mit
Handelsverboten und strengen Strafen für jedes Gelüst der Freizügigkeit
von den Stadtbürgern wie leibeigen gehalten wird. Heinrich Pestalozzi
hat all diese Dinge einzeln auch schon vorher gewußt, wie der Bauer
nichts auf dem Dorf verkaufen, sondern alles auf den Zürcher Markt
bringen muß, wo die Bürger für jede Ware den Preis festsetzen, wie
ihm verboten ist, Geld auszuleihen, damit die Stadtherren den hohen
Zins behalten, wie er nicht einmal sein selbstgesponnenes Tuch und
Leinen selber färben darf: aber daß diese grausame Willkür mit allen
Folgen des Elends ein Verrat an den alten Sagen und Briefen der
Eidgenossenschaft ist, das hat er nicht durchgefühlt bis zu dieser
Nacht, wo ihn das einfältige Wort der Großmutter vom Landvogt und dem
Tell in einen Aufruhr aller Gedanken gebracht hat.


                                  21.

Heinrich Pestalozzi kommt am nächsten Morgen aus Höngg zurück, als ob
der Geist Tells in der Stadt Zürich auf ihn warte. Er findet den Kram
der Straßen in der gleichmütigsten Geschäftigkeit, und nur am Rathaus
drängen sich die Leute vor einem Anschlag der Gestrengen Herren: Man
habe mißfällig vernommen, daß gewisse für die Ordnung des Staates
zwar wichtige Nachrichten auf eine illegale Weise angezeigt worden
wären, und wolle hiermit jedermann erinnert haben zu berichten, was
er von der Sache wisse! Der Vorwitz der Stunde treibt ihn, sich eines
Wortes von Bodmer zu erinnern, daß es der Charakter der Regierungen
sei, sich selber allen Patriotismus zuzuschreiben und bei andern
Leuten nichts als Unverstand, unreine Absichten, Wildheit und Aufruhr
zu bemerken. Aber einige grämliche Handwerker, die dabei stehen,
nehmen ihm den jugendlichen Vorwitz übel und hätten ihm die vorlauten
Worte mit Schlägen heimgezahlt, wenn er nicht eilig in die Marktgasse
hinauf entwichen wäre. Als er sich da nach den schimpfenden Verfolgern
umsieht, aber hastig weiterläuft, hat er das Unglück, in eine offene
Kellertreppe hinein zu fallen, wodurch er zwar ihrem Zorn entgeht, sich
aber schmerzhaft den Knöchel vertritt. Er ist noch nicht aufgestanden,
als schon mit einem Licht aus der Tiefe des Kellers ein Mann im
Lederschurz herzuläuft, den er gleich als den braunbärtigen Ankläger
aus der Gerwe erkennt. Der hilft ihm mit lustigem Spott auf, leuchtet
ihn ab und bringt einen Napf mit Wasser, die Schramme an, der Stirn
zu waschen, aus der ihm Blut in die Augen läuft. Es scheint nichts
Schlimmes damit, und da er bei seiner hastigen Art Beulen und Schrammen
gewöhnt ist, hält ihn das Gespräch mit dem handfesten Mann länger auf
als seine Wunde. Er erfährt, daß sich Lavater und Füeßli gleich tapfer
zu der Schrift bekannt haben und sofort ins schärfste Verhör genommen
sind: weil sie geblasen hätten, was sie nicht brannte.

Um seine Mutter nicht unnötig zu erschrecken, humpelt er zunächst
ins Carolinum, wo ihm die allgemeine Aufregung die Mitteilung des
Mannes bestätigt. Er kommt in der kampflustigsten Stimmung, aber
mit schmerzendem Fuß zu Hause an, und über Nacht schwillt dieser so
auf, daß der Doktor kommen muß. Es ist nur eine Zerrung der Sehnen,
aber der Fuß wird eingepackt, und er liegt nun als das erste Opfer
der Begebenheit zu Hause. Das Babeli läßt ihn ihren Grimm über den
unnützen Fall spüren, und wenn ihm das Bärbel nicht mit schwesterlichem
Eifer zu Diensten wäre, hätte er es hart. Sie bringt ihm ans Lager,
was er braucht, und holt Erkundigungen über den Stand der Dinge ein:
Es gibt zwar eine zornige Partei, die den beiden Angebern nach altem
Brauch kurzerhand den Wellenberg verordnen möchte, aber der Kreis
der Patrioten aus der Gerwe sammelt Unterschriften aus der ganzen
Stadt, daß die beiden nur nach ihrem Bürgereid gehandelt hätten.
Da der Bürgermeister Leu sich in der Sache neutral verhält, obwohl
der beschuldigte Landvogt Grebel sein Eidam ist, auch Lavater wie
Füeßli aus angesehener Familie sind, gelingt es Bodmer, sie vorläufig
freizuhalten, indessen die Untersuchung nach anderen Aufrührern ihre
verbissenen Gänge weiter wühlt.

Heinrich Pestalozzi kann schon wieder vom Fenster an die Ofenbank
humpeln, als es eines Abends gegen die Dämmerung zaghaft an die
Stubentür klopft. Das Babeli hebt noch schnell ein Stuhlkissen auf,
das er dem Bärbel im Scherz nachgeworfen hat, bevor es den Riegel
aufklinkt. Herein kommt aber nur die unsichere Gestalt Lavaters, der
den Hut schon draußen abgenommen hat und damit ein Päckchen in seiner
Hand bedeckt. Heinrich Pestalozzi kennt ihn bisher eigentlich nur aus
der Gerwe, wo er freilich einmal lange mit ihm gesprochen hat, und ist
ebenso überrascht von dem Besuch, wie der andere verlegen scheint. Er
habe erst jetzt von seinem Mißgeschick gehört, sagt er schließlich,
als ihm Hut und Päckchen abgenötigt sind, und fängt an, vor Heinrich
Pestalozzi auf und ab zu schreiten: seine eigene Sache stände nicht
günstig, er wolle zwar nicht vorher fliehen, aber nach dem Urteil außer
Landes gehen; zu Hause und vor der übrigen Verwandtschaft als einer
dazustehen, der aus Leichtsinn seine Zukunft verspielt habe -- hier
läuft das Babeli weinend aus der Stube -- wäre ihm unerträglich; er
wolle sehen, ob die Welt keinen andern Platz für ihn habe! Er spricht
noch manches, bis es völlig dunkel wird, und verhehlt auch nicht, daß
Füeßli der treibende Wille und er nur die Feder dieser Anklageschrift
gewesen sei, die ihn nun selber zum Angeklagten gemacht habe. Als
das Bärbel ein Licht bringt, nimmt er seinen Hut, bevor Heinrich
Pestalozzi weiß, was er eigentlich gewollt bat, das Päckchen läßt er
liegen; die Schwester will es ihm nachbringen, aber er wehrt mit einer
komischen Verdrießlichkeit ab und geht auf seine lautlose Art rasch die
Treppe hinunter, von dem Bärbel beleuchtet.

Als sie wieder zurückkommt mit dem Licht und Heinrich Pestalozzi das
sauber verschnürte Päckchen ansieht, trägt es seinen Namen. Ungeduldig,
nun endlich zu wissen, was der seltsame Besuch des Kandidaten für ihn
bedeutet, reißt er den Umschlag ab, und dann steht für einen Augenblick
sein Leben still wie eine Kerzenflamme: was er in den Händen halt, ist
Rousseaus »Emil«.

Was hast du? fragt die Schwester, als sie ihn mit dem Buch in den
Händen so dasitzen sieht; er hält ihr den Titel hin und weiß kaum
selber, was sein Mund spricht: Ich habe den Propheten!


                                  22.

Heinrich Pestalozzi vermag nicht so fließend französisch zu lesen,
daß er das Buch verschlingen könnte; er muß es wie einen alten
Schriftsteller studieren, und oft genug stockt er bei einem Wort,
dessen Sinn ihm vieldeutig oder unklar ist. Aber darum ist es doch für
ihn, als ob er eine Feuersbrunst erlebte, wie erst nur die Flämmchen
nach dem First hinlaufen, auf einmal Pfannen niederprasseln und endlich
das feurige Gerippe brennender Balken in der Lohe steht, wo vorher ein
Dach jahrhundertelang die Menschlichkeit vor den Elementen beschützt
hat. Zeit und Raum verliert er vor dem Buch; und wenn er aus den
Seiten aufblickt in die Stube, kann er staunend seine Mutter oder das
Bärbel dasitzen sehen, als ob sie im Augenblick aus himmlischen Weiten
hergeweht wären. Vieles kennt er schon, aber gerade darum ist es ihm,
als ob in den Gesprächen Bluntschlis, in den Reden Bodmers und allen
Verhandlungen der Gerwe nur Irrlichter gewesen wären von dem Feuer, das
hier durch Tag und Nacht seinen Brand brennt. Mehr als dies alles aber
ist die heimlich wachsende Erstaunung, daß die Seele seiner Jugend in
dem Buch ihre Heimat findet; immer bis zu diesem Tag ist es gewesen,
daß es von ihr zur Welt keinen Zugang gab: So irrend er gesucht hat,
so lieb ihm die Mutter und das Bärbel, das Babeli und der Baptist, die
Großeltern in Höngg und das heimelige Pfarrhaus gewesen sind, er ist
doch in der Einsamkeit geblieben, als ob nicht schon seine Ahne vor
mehr als zweihundert Jahren, sondern er selber erst fremd über die
Alpen nach Zürich gekommen wäre. Auch alle Schriften, die er bis dahin
gelesen hat, sind für ihn von dieser fremden Welt gewesen; nun aber ist
es, als ob in diesem Buch seine Seele selber aufgebrochen wäre, sodaß
es in der Welt ringsum nichts mehr gäbe als sie. Alles bis zu diesen
Tagen, was er gefühlt, gewollt und getan hat, ist mit dem schmerzlichen
Gefühl des Unrechts geschehen; zum erstenmal steht seine Natur auf und
sieht, daß sie recht hat.

Die Tage füllen sich zu Wochen, und die Wochen laufen schon in den
zweiten Monat, daß Heinrich Pestalozzi noch immer mit dem Buch dasitzt
und sich mit achtzehn Jahren erst eigentlich zur Welt bringen läßt.
Unterdessen läuft draußen alles seinen Gang ab: der Landvogt Grebel
wird schuldig gesprochen, aber Lavater und Füeßli müssen öffentlich
Abbitte tun; sie verlassen bald miteinander Zürich, wo die Patrioten
in der Gerwe vom Argwohn und Haß der Gestrengen Herren beaufsichtigt
bleiben und von den Kanzeln gegen den aufrührerischen Geist der Jugend
gepredigt wird. Im Carolinum werden die alten Schriften und die
Kirchenväter gelesen, und in den Zünften wird mißtrauisch über die
städtischen Rechte der Gewerke Buch geführt, das Bauernvolk bringt
zu Wagen und zu Schiff die Erträgnisse seiner Arbeit auf den Zürcher
Markt, und Sonntags strömen die geputzten Bürgersöhne und Mamsells
hinaus in seine ländliche Welt, in den Gasthöfen steigen Kaufleute
und empfindsame Reisende aus allen Ländern Europas ab, und die
Baumwollenweberei stellt zum Nutzen Zürcher Fabrikherren einen Stuhl
nach dem andern in den Dörfern auf, angeblichen Wohlstand verbreitend,
die Landreiter gehen auf die Betteljagd, und an zierlichen Tischen
werden die Idyllen Geßners gelesen: alles um ihn läuft seinen Gang
wie zuvor, nur steht das sehnsüchtige Gefühl seiner Jugend nicht mehr
als ein unbrauchbarer Fremdling darin. Es hat die Natur als Boden der
Menschlichkeit gefunden, wo alles Verirrung und Falschheit ist, was dem
inneren Gefühl um äußerlicher Vorteile willen widerstrebt, und er ist
sicher: dies ist der einzige Schlüssel für den Menschen in die Welt.


                                  23.

Heinrich Pestalozzi hat den Emil zum drittenmal gelesen und ist noch
immer im Traum dieser Dinge, als Ende November in Höngg die Großmutter
sanft hinwegstirbt. Sie haben sie am Mittag bei milder Sonne noch
einmal in den Garten hinuntertragen müssen; da sind ihr mit den letzten
verirrten Blüten die Augen zugefallen, als ob sie schliefe. Er muß
mit dem Bärbel allein zum Begräbnis gehen, weil die Mutter selber zu
Bett liegt. Der matte Glast der Novembersonne steht in der unbewegten
Luft, als sie den Sarg um die Kirche auf den Acker tragen, wo die alten
Holzkreuze auf ein neues zu warten scheinen. Das ganze Dorf ist da,
auch die, denen es zu keinem sonntäglichen Kleid mehr reicht in ihrer
Armut; bis an die untere Mauer stehen sie als der letzte Kriegshaufe
lebendiger Liebe gegen den Tod. Bevor sie ihm seine Beute in das enge
Erdloch hinunterlassen, tritt der Schulmeister vor, mit den Kindern das
Abschiedslied ihres Lebens zu singen: Heinrich Pestalozzi ist oft mit
dem Großvater in der Dorfschule gewesen und hat ihnen zugehört, nun
will ihm der Gesang der Mädchen- und Knabenstimmen einstimmig vereint
herrlicher klingen, als er jemals Menschen singen gehört hat, und die
Erschütterung davon ist tiefer als die Trauer.

Weinend kommt er in die Kirche; da vermag die kleine Halle nicht alle
zu fassen, daß ihrer viele noch draußen horchen, wie der alte Pfarrer
und Dekan seiner eigenen Frau die Leichenrede hält. Auch er ist welk,
und der Kopf kämpft mit dem gebeugten Nacken, das Angesicht von der
Erde zu heben, aber die Stimme trägt noch klar durch den Raum, als
er der Gemeinde den Lebenslauf der Dorothea Ott vorträgt, die seit
achtundvierzig Jahren seine Frau und seit sechsunddreißig Jahren ihre
Pfarrerin gewesen ist. Heinrich Pestalozzi weiß nun, es ist nicht
der liebe Gott seiner Knabenjahre, der da spricht, es ist ein Greis,
den sie selber bald um die Kirchecke tragen; umsomehr fühlt er, wie
ergreifend dies ist, daß ein Mensch mit seinem Leid dasteht und aus
der Ewigkeit den Lebenslauf seiner Gefährtin ablöst, deren irdisches
Dasein vor dem seinen vollendet ist. Aber was ihn tief erschüttert, ist
die Erfahrung, wie alles, was er hier sieht und hört, nur ein Stück
aus dem Buch des Genfers scheint. Wenn er von hier aus an die Stadt
denkt, an ihre Gassen, ihren Aufwand, ihr Gezänk: glaubt er niemals
wieder hineingehen zu können. Auf dem Dorf allein ist das menschliche
Wesen noch auf die Einfalt der Natur gestellt; von hier aus allein kann
deshalb der Geist natürlicher Sittlichkeit wieder gesellschaftliche
Rechte in der Menschheit erhalten. Es ist ihm nicht anders, als ob sie
drei: die ländliche Gemeinschaft, seine Seele und der Traum des Buches
in dieser Stunde einen Bund schlössen gegen den verkünstelten Aufwand
der städtischen Welt.


                                  24.

Seitdem denkt Heinrich Pestalozzi wieder ernstlich daran, Pfarrer
zu werden; das Bild des Großvaters ist von neuem sein Lebensziel
geworden, aber nicht um den Armen ein väterlicher Freund, sondern
dem menschlichen Wesen ein Fürsprech und Märtyrer gegen Unnatur
und elende Versunkenheit zu sein. Er tritt mit seinen Studien, die
ihn immer leidenschaftlicher abgesondert haben, bis das Erlebnis
Rousseaus ihm alles andere überflüssig machte, wieder in den Kreis des
vorgeschriebenen Unterrichts ein. Selbst das Patriotentum in der Gerwe
scheint ihm für eine Zeit nicht mehr so wichtig, und als es im Januar
wieder zu einer Anklage diesmal gegen den Zunftmeister Brunner kommt,
der sich schwerer Veruntreuungen schuldig gemacht hat, bleibt er der
Sache fremd.

Er geht schon in sein neunzehntes Jahr und sieht wohl die Sorge, mit
der die Mutter seine Unstetigkeit aufnimmt. Er wollte ihr auch den Emil
zu lesen geben, aber sie ist nur traurig dabei geworden und hat ihm das
Buch ungelesen wieder hingelegt. Seitdem er mehr von seinem Vater weiß,
wie der zwar ein geschickter Wundarzt, aber ein sorgloser Haushalter
gewesen ist, spürt er leicht eine Besorgnis in ihren stillen Augen, daß
er von seiner Art zuviel geerbt haben möchte -- zumal von seinem Bruder
Johann Baptista bedenkliche Nachrichten kommen -- und immer tapferer
wird sein Entschluß, auch ihr zuliebe etwas Tüchtiges zu werden. Er
weiß, wie schwer ihm alles in den Kopf geht, was nicht irgendwie
sein Gefühl ergreift; doch weil er gerade das, was eine kaltblütige
Beobachtung erfordert, als das Wichtigere geschätzt sieht, übt er sich
täglich im Zwang zur Aufmerksamkeit. Unvermutet aber wird er durch
einen Lehrer wieder aus der Zucht seiner strengen Entschlüsse geworfen:

Im selben Frühjahr ist ein Schüler Breitingers mit Namen Steinbrüchel
als Lehrer der Eloquenz ins Collegium gekommen, ein noch jugendlicher
Mann, der die größte Belesenheit mit einem glänzenden Vortrag verbindet
und bald zum Abgott der Studenten wird, dabei von schneidender
Schärfe, wo er unklaren oder halben Dingen zu Leibe geht. Auch
Heinrich Pestalozzi tritt bei ihm ein, und er erwartet sich für seine
gegenwärtigen Absichten eine heilsame Kur davon. Es geht auch anfangs
vortrefflich, solange er nichts als seinen Schüler vorstellt; aber als
nach einem Vierteljahr die erste Bekanntschaft gesichert ist, sodaß
auch in diesem Verhältnis das Menschliche zum Vorschein kommen kann,
sieht er als Grundlage aller glänzenden Fähigkeiten dieses Mannes den
Geist der Aufklärung, den er immer gehaßt hat und der ihm seit dem
Emil als die Quelle aller Unnatur verächtlich wurde. Es ist eine Art,
die Welt in das Einmaleins der Vernunft aufzulösen, die seiner Natur
unmöglich ist und ihm als Vorbereitung für das Pfarramt verbrecherisch
scheint. Das Bild eines Seelsorgers, wie es ihm vorschwebt, ist der
Diener eines gütigen und demütigen Menschentums; dies aber dünkt ihm
eine Sklavenherrschaft der Bildung zu sein, die auch die jungen Pfarrer
noch von dem Volk absondert zu dem geistigen Hochmut, in dem er alles
städtische Wesen eingezirkelt sieht: In dem Zwiespalt dieser geistigen
Dressur zu seinem Lebensgrund zerreißen sich die tapferen Absichten
der Selbstzucht; denn gerade die freimütige Art des Professors, seine
Schüler zur tätigen Mitarbeit herauszufordern, bringt seine Natur
zu Äußerungen des Widerspruchs, die dem selbstsicheren und auch
selbstgefälligen Mann als mädchenhaft verächtlich sein müssen.

So kommt es eines Tages, als Steinbrüchel über das vernünftige Denken
in der Religion mit allem Aufwand seiner gewetzten Vernunft und
seines spöttischen Witzes gesprochen hat und gerade dabei ist, seinen
Triumph aus den Äußerungen der Schüler zu ernten, zu einem Frage-
und Antwortspiel, darin der Streit von Anschauungen zu persönlicher
Feindschaft ausartet. Heinrich Pestalozzi, der das Rüstzeug Rousseaus
gegen Voltairesche Dialektik in Händen hat und an seine sterbende
Großmutter denkt, wie sie die Lilie im Garten streichelt, vergißt die
Eitelkeit des berühmten Lehrers und sagt: Wie alles Wahrnehmbare könne
auch die Religion Gegenstand der vernünftigen Denkarbeit sein, nur
dürfe man nie den Unterschied vergessen, der zwischen ihr selber und
den Gedanken über sie bestände, und um Gottes willen diese Gedanken
nicht schon für Religion halten; wie in allen Arten der Liebe, in der
Treue, im Haß und in der Trauer habe man in ihr eine direkte Äußerung
des Lebens -- und zwar die tiefste, da sie auf den Zusammenhang mit dem
Geheimnis der Welt ginge -- während alles Denken nur indirekt, eine
Hilfe des Lebens, aber nicht wie jene Dinge, das Leben selber sei!

Er bringt das nicht so rasch heraus, verhaspelt sich vielmals und
sucht mit den Armen nach dem fehlenden Wort, sodaß die andern schon
zum Spott gestimmt sind, bevor der Professor ihn mit dem scharfen Witz
abfertigt, daß sie ja auch hier zum Denken und nicht zum Leben seien,
auch wenn ihm das eine schwerer zu fallen scheint als das andere! Mit
solcher Waffe hat er es natürlich leicht, die Spottlust der Klasse über
seinen ungeschickten Gegner herauszufordern, sodaß die Antwort Heinrich
Pestalozzis vom Gelächter verschüttet wird. Seit diesem Tag behandelt
Steinbrüchel ihn mit einer spöttischen Nachsicht, als ob er einen
komischen Störenfried in seiner Klasse hätte; und da der Geist der
Aufklärung, aus dem er sich mit den meisten seiner Schüler verständigt,
der Stolz von Zürich ist, kommt Heinrich Pestalozzi unvermutet wieder
in die Rolle des Heiri Wunderli von Torliken, und gerade die Klasse,
in die er mit so tapferem Willen eingetreten ist, wird ihm zu einem
Martyrium, darin er nun die Freude am Collegium überhaupt verliert.


                                  25.

Mitten in den Entmutigungen dieser Zeit trifft Heinrich Pestalozzi ein
merkwürdiges Ereignis: Lavater ist nach fast einjähriger Abwesenheit
in der Stille zurückgekehrt, hat sich auch den Freunden einige Wochen
lang nicht gezeigt und überrascht sie eines Tages mit einem Bändchen
Schweizerlieder. Der nach seiner demütigen Abbitte aus der Vaterstadt
entwichene Kandidat kehrt damit als ein Dichter in die Heimat zurück,
den nun auch die Mißgünstigen nicht mehr wie einen jugendlichen
Störenfried abtun können. Als er danach zum erstenmal wieder in die
Gerwe kommt, von Bodmer an der Hand geführt, wird der Tag von den
Patrioten wie ein Sieg der vaterländischen Sache gefeiert. Auch
Heinrich Pestalozzi schüttelt dem Glücklichen die Hand, geht aber
bald wehmütig fort; nicht, daß er dem Lavater den Triumph weniger als
ein anderer gönnte, aber es wird ihm mitten im Kreis der Freunde, die
sich um ihn drängen, deutlich, daß er nicht zu ihnen gehört, daß er
nur einen jüngeren Nachzügler ihrer Generation vorstellt. Fast alle
sind älter als er und haben ihr Studium schon beendigt, während er sich
selber immer mehr als ein Gescheiterter vorkommt. Darin hilft ihm auch
sein Rousseau nur zu einem trotzigen Selbstbewußtsein, das letzten
Grundes seine Unfähigkeit zu einer bei jenen geachteten Existenz
bestätigt.

In dieser Laune begegnet er Bluntschli, der unterdessen Hauslehrer
in Zürich geworden ist und, durch seine Verpflichtungen verspätet,
noch zur Gerwe will. Um mit seinem frühen Weggang nicht sonderbar
zu erscheinen, geht er einige Straßen mit ihm zurück und klagt ihm
offenherzig seine Not. Der hört ihn schweigend an, aber als sie vor der
Gerwe stehen, kehrt er kurzerhand um: Wenn es ihm recht wäre, könnten
sie miteinander noch auf den Lindenhof gehen!

Es ist eine unermeßliche Sternennacht da oben; obwohl der Mond noch
nicht aufgegangen ist, scheinen die Dächer der Stadt vom Licht
begossen, und der See leuchtet den Himmel in einer zarten Verklärung
wider. Sie schweigen lange, bis Bluntschli spricht: Du hast mir von
einem Menschen gesagt, der sein Leben nicht wie einen sauberen Parkweg
vor sich sieht und darum verzweifelt ist; ich könnte dir von einem
andern erzählen, der seine Stunden sorgfältig vorbereitet hat, nur daß
er sie selber nicht mehr wird schlagen hören, weil ihm das Uhrwerk vom
Rost zerfressen ist! Er hat die Hand auf seine vom Anstieg angestrengte
Brust gelegt, als er das sagt, und danach schweigt er, sodaß Heinrich
Pestalozzi -- der kein Wort findet, das ehrlich und zart zugleich ist,
um eine Antwort auf dieses Bekenntnis eines Todgeweihten zu sein -- in
einer Spannung dasteht, als müsse ihm der Kopf zerspringen. Auch der
andere kommt nicht mehr zurecht, bis sie schweigend aus dem Schauer
dieser Sternennacht hinunter gehen, in die dunklen Gassen und auf der
Brücke mit dem Mühlrad nach der großen Stadt hinüber. Erst auf der
Münsterterrasse, wo die beiden Türme sich riesenhaft in die Sterne
einzubauen scheinen, findet die Erregung noch einmal ein Wort: Wozu
meinst du, sagt der Bluntschli und zeigt an den Steinmauern hinauf,
wozu meinst du, daß die dastehen? Für dich nicht und für mich nicht,
für jeden einzelnen wären sie zu groß, und für alle sind sie auch nicht
da; denn ich weiß hundert, denen sie gleichgültig bleiben! Aber daß
die Menschlichkeit im Namen des Höchsten, das wir kennen, täglich in
die Geschäfte und die Arbeit eingeläutet wird, dafür sind sie so dick
und dauerhaft gebaut. Und daß sie uns sagen: was einer für sich selber
Irdisches zuwege bringt, das hört mit seinem Leben auf; aber was er an
der Menschlichkeit tut, das ist unsterblich. Du sorgst, was aus dir
werden soll, und mir ist die Sorge bald abgenommen -- am Ende aber ist
es wichtiger, was wir gewesen sind!

Er läßt ihn danach stehen, gibt ihm nicht einmal die Hand und geht auf
seine vorgebeugte Art davon. Heinrich Pestalozzi kommt nach Haus, als
ob er aus dem Jenseits wiederkehre.


                                  26.

Seit diesem Frühwinterabend verliert Heinrich Pestalozzi die enge
Fühlung mit den Freunden in der Gerwe nicht mehr; es ist, als habe er
eine Verkündigung erlebt, was zwischen ihnen Gemeinsames sei. Als sie
zum Januar ein Wochenblatt gründen, das der Erinnerer heißt und von
der klugen Hand Lavaters in Gemeinschaft mit Heinrich Füeßli -- einem
Vetter des Malers, der unterdessen in London seine Künstlerlaufbahn
begonnen hat -- geleitet wird, ist er eifrig dabei. Sie haben nun alle
Rousseau gelesen; und wenn Bodmer sie von Anfang an lehrte, daß der
sicherste Weg zur persönlichen Freiheit der sei, sich aller unnötigen
Bedürfnisse zu entwöhnen, da man nur durch diese den Machthabern
ausgeliefert, ohne Bedürfnisse aber frei wäre: so wird nun ein
asketischer Wetteifer daraus, der über die persönliche Unabhängigkeit
hinaus eine spartanische Vereinfachung der Sitten erzwingen will.
Mit jugendlicher Behendigkeit wird dadurch das Ideal des sittlichen
Lebens aus der Zeit Zwinglis und der Eidgenossen in das Kriegslager
der Spartaner zurückverlegt; und auch Heinrich Pestalozzi überrascht
das Babeli damit, daß er sich auf den Stubenboden bettet, nur mit
einem Rock zugedeckt, und dies auch monatelang zu ihrer Verzweiflung
durchhält.

Unvermutet gibt die Züricher Regierung den patriotischen Jünglingen
Gelegenheit, die spartanische Tugend zu erproben: Schon in der
deutschen Schule ist in der Klasse von Heinrich Pestalozzi ein Sohn
des Amtmanns Schinz zu Embrach gewesen, der -- ein Jahr älter als er
-- jetzt mit ihm Theologie studiert und auch einer aus der Gerwe ist.
Dessen Eltern besitzen einen Pachthof in Dättlikon, wo der Pfarrer
Hottinger von seiner Gemeinde eher für einen Wolf im Schafspelz als
für einen guten Hirten gehalten wird. Da ihn die Züricher Regierung
trotz der bösesten Gerüchte weiter amtieren läßt, weil er anscheinend
beim Antistes einen verläßlichen Fürsprecher hat, setzt der Student
Rudolf Schinz eine Anklageschrift auf, die von dem Gerichtsvogt und dem
Schulmeister in Dättlikon, den Gebrüdern Ernst, unterschrieben und mit
sorgfältiger Beachtung aller Vorschriften in Zürich eingereicht wird.
Als darauf zwei Monate lang nichts geschieht, als ob die Gestrengen
Herren auch diese Anklage noch verschweigen wollten, findet der
Antistes Heß an einem Maitag in seinem Kirchenstuhl einen mit Bleistift
geschriebenen Zettel, auf dem der Oberpfarrer an seine Pflicht erinnert
wird: Weil sonst die Steine anfangen möchten zu schreien!

Dieser Lästerbrief, wie er danach in den Akten heißt, bringt die
Gestrengen Herren mehr in Zorn als alle Amtsvergessenheit eines
lasterhaften Pfarrers. Wer von den Patrioten fähig scheint, ihn verfaßt
zu haben, wird peinlich ins Verhör genommen; auch Heinrich Pestalozzi
trifft es diesmal. Seine Mutter verschließt sich traurig in die Kammer,
als er den Weg aufs Rathaus antreten muß, und das Babeli putzt ihn
grimmig zurecht, daß er zum wenigsten noch in der Kleidung als ein
ordentlicher Mensch vor die Herren käme; er selber ist voll überlegener
Verachtung. In einem öffentlichen Anschlag des Kleinen Rates sind
dem, der den Briefschreiber verriete, zweihundert Dukaten versprochen
worden unter Verschweigung seines Namens: Daß eine Regierung, die in
ihren Schulen die Tugenden der Römer und Spartaner lehren läßt, sich
so weit vergißt, hat -- wie der Bluntschli sagt -- aus dem Schwert der
Gerechtigkeit ein Dolchmesser gemacht. So hört Heinrich Pestalozzi die
umständlichen Vermahnungen der Herren mit verächtlichem Trotz an und
verweigert wie die andern den verlangten Eid -- nichts von der Sache zu
wissen -- mit der vereinbarten Begründung, daß er bereit sei, einen Eid
für alles zu schwören, was er nach seinem Bürgergewissen zu sagen sich
für verpflichtet halte.

Gegen so viel Festigkeit der Jünglinge, die sich in die Hand gelobt
haben, ein Beispiel spartanischer Tugend zu geben, wagen die Gestrengen
Herren diesmal noch nicht vorzugehen: der Pfarrer Hottinger wird seines
Amtes enthoben, die Brüder Ernst in Dättlikon als Landbürger müssen
»übertriebener Anklägten« halber zweimal vierundzwanzig Stunden aufs
Rathaus in Arrest, Rudolf Schinz kommt als Stadtzürcher mit einer
Verwarnung davon.

In Heinrich Pestalozzi löst das Ergebnis einen Plan aus, den er
schon lange mit sich herumgetragen hat: Seitdem Klopstock und andere
deutsche Dichter Zürich hoch gerühmt haben, ist es eine beliebte
Äußerung des Heimatstolzes geworden, die Stadt an der Limmat mit Athen
zu vergleichen. Ihm scheint der Vergleich in dem besonderen Sinn
zu passen, daß athenischer Luxus und athenische Verweichlichung in
der Stadt Zwinglis überhand genommen haben, und daß es not täte, sie
auf das Beispiel Spartas zurückzuführen. Nun hat Heinrich Pestalozzi
in der ganzen Geschichte des lakonischen Staates nichts so gerührt
wie das Schicksal des jungen Königs Agis, der die von athenischen
Sitten angesteckte Stadt wieder zu den Gesetzen des großen Lykurgus
zurückführen wollte und darüber von seinen eigenen Landsleuten
hingerichtet wurde. Lykurgus und Zwingli sind für sein Gefühl eins;
weil aus dem spartanischen Zürich der Reformationszeit das Limmatathen
des Dättlikoner Handels geworden ist, liegt es für ihn nahe, auch
für Zürich einen Agis zu erwarten, und tatsächlich vermag er nicht
an seinen Freund Bluntschli zu denken, ohne daß dieser ihm das Bild
jenes edlen und unglücklichen Agis vorstellt. Nun sie in dem Handel
Sieger geblieben sind, gewinnt er Mut zur Beschwörung des alten
Heldenjünglings; aber seine Darstellung soll so deutlich auf Zürcher
Verhältnisse zielen, als ob der spartanische Reformator noch einmal in
die Welt gekommen wäre.

So schreibt Heinrich Pestalozzi, der sein zwanzigstes Lebensjahr
noch nicht vollendet hat und unter den Patrioten immer noch das
Nesthäkchen ist, als Antwort auf den Dättlikonhandel seinen »Agis«
nieder, den er dem greisen Bodmer in Handschrift überreicht, und
den er nachher auch in der Gerwe vorlesen darf. Endlich kommt sein
Ehrentag, und er hätte am liebsten seine Mutter, das Bärbel und das
Babeli dabei -- den Großvater hat er gefragt, aber der hat sich
nicht entschließen können mit seinen dreiundsiebzig Jahren -- wie
er den jungen und alten Patrioten seiner Heimatstadt ein Bild ihrer
schlimmen Zustände im Spiegel Spartas zeigen darf. Nicht allen sind
seine starken Ausdrücke recht, wie er das Reislaufen für fremdes Gold,
die Raubsucht der Reichen, die aufgeblasene Weisheit, das kriechende
Wesen der Untertänigen und den Redner, der um Beifall spricht, mit
dem Zeigefinger aus dem Bild herausholt; als er die Verleumdung gegen
Agis auch die Sprache der Niedrigkeit unserer Tage nennt, stürmen die
Jünglinge so laut mit ihrem Beifall, daß einige Ältere aufstehen und
sich entfernen; und als er den Agis sagen läßt: Ich rede die vergessene
Sprache der Freiheit in ein Jahrhundert hinein, das gewohnt ist, die
ewigen Gesetze der Freiheit verletzen, Mitbürger in Sklaverei stürzen
und das Heil des Staates vertilgen zu sehen! sind auch manche von
den Jüngeren erschrocken, und viele Augen richten sich fragend auf
den sonst so klugen Bodmer. Der aber, der den Schluß kennt, sieht
unbewegt und fast spöttisch unter seinen weißen Augenbüscheln gegen das
vertäfelte Gebälk der alten Zunftdecke. Als sich dann das Schicksal
des spartanischen Jünglings unter hohen Worten erfüllt, kommt alles
so, wie es der alte Herr vorausgesehen hat: mit ihrer Rührung um den
Helden gehen sie doch wieder in das griechische Altertum ein; soweit
sie ängstlich gewesen sind, sichtlich froh, alle harten und bösen Worte
mit dahinein packen zu können.

Aber in den Erinnerer wagt Lavater die Arbeit doch nicht zu nehmen,
und selbst Bluntschli, der sich die Handschrift noch an dem Abend
mitnimmt, bringt sie nach einigen Tagen, manchen Ausfall tadelnd,
zurück. Bei den Jungen und Stürmischen aber trägt ihm die Vorlesung
ein, daß sie seitdem auf ihn als einen Führer sehen, wie er selber beim
Eintritt ins Collegium auf Lavater und Bluntschli gesehen hat.


                                  27.

Der Beifall, den Heinrich Pestalozzi an seinem Abend in der Gerwe
genossen hat, die Achtung selbst von denen, die bis dahin bereit
gewesen sind, ihn um seiner Wunderlichkeit willen zu verspotten,
die bedenklichen Gesichter der Abwägenden und das Gemunkel um seine
rebellischen Ausfälle: bringen für ein paar Wochen einen Überschwall in
ihm zustande, als ob er selber seiner Stadt ein Agis werden könne. In
dieser Stimmung findet er eines Mittags, aus dem Collegium heimkehrend,
ein Billett, das ihm jemand unbemerkt zwischen seine Bücher und Hefte
gesteckt hat: Einer, der von seinem Vortrag gehört habe, bäte ihn
aus einer verzweifelten Notwendigkeit um ein geheimes Gespräch; er
möge nachmittags um fünf Uhr unauffällig durch die Stadelhofporte
hinausgehen bis ans Zürichhorn, wo ihn dort oder schon unterwegs jemand
ansprechen würde.

Das Wetter ist dem sonderbaren Ausflug nicht günstig; schwarze
Wolkenballen drohen ein Gewitter, und gerade, als er zur Porte hinaus
will, prasselt ein Platzregen los mit Hagelkörnern und Donnerschlägen.
Er wartet mit drei modischen Mamsells, die sich nicht rechtzeitig
haben retten können und nun verdrießlich die Federn hängen lassen,
den schlimmsten Aufruhr ab und geht dann tapfer den Wiesenpfad am
See entlang. Unterwegs kommt die Sonne in die Nässe, und über den
Weinbergen versucht sich ein Regenbogen. Am Zürichhorn ist niemand;
aber als er sich schon für gefoppt hält, legt ein Weidling an, darin
jemand mit einer Angel gesessen hat. Es ist ein Student aus dem
Alumnat, den er von Ansehen, nicht mit Namen kennt, ein ungewöhnlich
langer und blasser Jüngling, dem die Hosen an den Beinen kleben von
dem Regen. Der fragt ihn nach einer scheuen Begrüßung, ob er ein
Stück mitfahren wolle auf die Seehöhe hinaus; und erst, als sie so
weit auf der gleißenden Wasserfläche sind, daß sie vom Ufer aus nicht
mehr erkannt werden können, fängt er an zu sprechen: nicht scheu und
stockend, wie Heinrich Pestalozzi erwartet, sondern rasch und fest wie
einer, der sich die Worte vielmals überlegt hat und seiner Scheu damit
Gewalt antut.

Was er mitteilt, ist Heinrich Pestalozzi nicht unbekannt; es betrifft
die geheimen Dinge im Alumnat, von denen im Carolinum längst
die schändlichsten Gerüchte gehen. Aber was ihm bisher nur ein
verächtliches Laster gewesen ist, bekommt in den Worten des Jünglings
eine Gefährlichkeit, daran er nicht gedacht hat: auch die noch
unbefleckt einträten, würden Opfer der allgemeinen Verführung, sodaß
die gesundesten Landsöhne schon ein halbes Jahr nach ihrem Eintritt
wie junge Birken wären, denen im Frühjahr der Saft abgezapft wurde. Er
selber sei einer von denen, die sich anfangs gewehrt hätten: aber weil
das Laster nicht mehr heimlich, sondern die allgemeine Gewohnheit im
Alumnat sei, würde die Tapferkeit nur verhöhnt als ländliche Dummheit,
auch vermöge sie schließlich der Lüsternheit, die doch nun einmal in
jeder menschlichen Natur läge -- hier fühlt Heinrich Pestalozzi in der
Erinnerung an seinen Rousseau einen feinen Stich im Herzen -- nicht
standzuhalten: Was er von ihm verlange, sei nichts als ein Antrag auf
Untersuchung, auch was die nächtlichen Zusammenkünfte auf dem hinteren
Speicher beträfe, der dafür seit Jahren eingerichtet sei. Aber ihn als
Angeber verraten dürfe er nicht, was auch käme, und er müsse ihm das
schon in die Hand versprechen, wenn ihm eine Hand wie die seine dazu
noch recht sei!

Heinrich Pestalozzi verspricht es ihm in die Hand und läßt sich ans
Ufer fahren, wo die Sonne aus der Regenfeuchtigkeit einen heißen Dunst
macht. Er geht durch Binsen und Gebüsch der reisigen Stadt Zürich zu
wie ein Bote, dem die Feinde eine eiserne Halskrause umgeschmiedet
haben. Als er sich vor der Stadelhofporte zurückwendet, erkennt er
den Weidling noch, wie er mit beigelegten Rudern auf dem schimmernden
Wasserberg steht; es ist ihm nun fast sicher, daß er das häßliche
Geheimnis bewahren muß. Aber noch am selben Abend schreibt er tapfer
die Anzeige und gibt sie so ohne Vorsicht an der Tür des Antistes ab,
daß er schon am andern Mittag ins Verhör genommen wird. Er steht noch
immer in Verdacht, den Lästerbrief geschrieben zu haben, auch hat sein
spartanisches Sittenbild die Stimmung der Chorherren gegen ihn nicht
gebessert: so setzen sie ihm scharf zu.

Es ist eine andere Luft als in der Gerwe zwischen den hitzigen Herren,
von denen ihm jeder einzelne seine bürgerliche Zukunft mit einem
Tintenstrich durchstreichen kann; er hält aber ihre Kreuzfragen aus und
verweigert standhaft, einen Gewährsmann zu nennen: er habe ihm seine
Hand darauf geben müssen, und niemand in der Welt dürfe ihn zwingen,
wortbrüchig zu werden. Er hätte seine Hand dem sagenhaften Römer gleich
ins Feuer stecken können, so überzeugt ist seine Gebärde, aber den
Herren scheint der Fall zu heikel für solche Gewalt. Sie ziehen sich
mit ihrer Unschlüssigkeit in das geheime Gemach zurück und lassen ihn
allein zwischen den Stühlen und Schränken. Doch steht ein Fenster
auf, und er kann hinunter sehen auf den Münsterplatz, wo gerade der
Bluntschli mit seinen vier Zöglingen daher kommt. Um eines Übermuts
willen laufen sie ihm fort, und der Kandidat vermag ihnen nicht zu
folgen gegen den steilen Berg. Heinrich Pestalozzi hört ihn husten und
sieht auch, wie ihn der Anfall würgt; er möchte ihm beispringen, aber
während er noch den unnützen Gedanken erwägt, machen die Kinder in
einem neuen Übermut kehrt und laufen an ihm vorbei gegen das Haus zum
Loch hinunter. Indem Bluntschli ihnen dahin folgt, sieht er ihn mit
seiner weltmännischen Höflichkeit eine Jungfer grüßen, die freundlich
nickend an ihm vorübergeht. Es ist Anna Schultheß, die schöne Schwester
ihres gemeinsamen Freundes, des Theologiestudenten, und wie er seitdem
erfahren hat, die Tochter des braunbärtigen Mannes aus der Gerwe. Er
weiß, daß die beiden miteinander im Gerede sind, und es macht ihn
wehmütig, sie so lebendig gegen den Berg schreiten zu sehen, der seiner
kranken Brust zu steil gewesen ist.

Nach ihr kommen noch viele Menschen über den Platz, fremde und solche,
die er kennt; er hat Zeit, ihnen nachzudenken, denn dreimal schlägt die
volle Stunde am Münsterturm, bis seine Richter wiederkommen, verärgert
und erhitzt. Sie schicken ihn nach Haus, wo er sich unter Androhung
schwerer Strafen verhalten soll, bis sie ihn wieder rufen ließen. An
dem Abend hört er nichts mehr von ihnen; nur seine Mutter scheint
unterdessen eine Nachricht zu haben: sie hält sich in der Kammer
eingeschlossen, und er weiß, daß dies ein Zeichen schwerer Kränkung
ist. Andern Mittags wird sie statt seiner vor die Herren gerufen; sie
bringt ihm, blaß wie der Tod, die Weisung mit, daß er sich noch am
selben Tag zu seinem Großvater, dem Dekan in Höngg, verfügen müsse,
dem er vorläufig für vier Wochen zur Ahndung seiner vorlauten Anzeige
überantwortet sei. Diese Weisung steht in der Schrift, die sie ihm
überbringt; sie selber sagt kein Wort, nimmt auch das Bärbel mit in die
Kammer, sodaß er ohne Abschied, nur vom bitterbösen Babeli vor die Tür
getan, den Weg antreten muß, den er nun doch in Trotz und Bitterkeit
geht.


                                  28.

Heinrich Pestalozzi findet den Großvater auch diesmal in seiner
Studierstube; seit dem Tod der Pfarrerin ist er im Regiment des Tantli
und sitzt fast den ganzen Tag bei seinen Kirchenvätern. Er liest die
Weisung mehrmals durch und legt sie mit einem Lächeln beiseite, das
Heinrich Pestalozzi an die Großmutter erinnert, nur ist es spöttischer.
Nachher werden sie von der Magd zum Vesperbrot gerufen und müssen mit
dem Tantli von andern Dingen sprechen. Der Großvater sagt ihr, daß
der Neffe diesmal vier Wochen bleibe, und scheint schon nicht mehr zu
wissen, warum; es drängt ihn augenscheinlich, wieder allein zu sein,
und Heinrich Pestalozzi sieht ihn an dem Tag nicht mehr. Doch wie er
am Abend frühzeitig in seine Kammer kommt, hat er ihm nach seiner
Gewohnheit etwas auf den Tisch gelegt.

Es ist auch ein Schriftstück des Antistes, aber nicht seinetwegen an
den Dekan in Höngg gerichtet; als Heinrich Pestalozzi es gelesen hat,
legt er seine Verweisung mitten darauf, denn auch das andere ist ein
Stück Papier behördlicher Ungnade! In dem selben Dorf Buchs, woher
das Babeli ist, hat der Dorfpfarrer einigen Kindern die Konfirmation
verweigert, angeblich wegen ungenügender Kenntnisse, anscheinend aber,
weil er mit den Eltern Streitigkeiten hatte. Darauf hat der Dekan in
Höngg die Zurückgewiesenen ohne Umstände selber konfirmiert, und das
Schriftstück da ist der sanfte Tadel für seine Eigenmächtigkeit. Wie
Heinrich Pestalozzi nun an das spöttische Lächeln des Großvaters denkt,
muß er laut lachen, sodaß er aus diesem verdrießlichen Tag doch noch
mit Lustigkeit ins Bett kommt.

Als er in der Frühe erwacht, hört er eine Sense dengeln; er besinnt
sich gleich, daß die Kornernte angefangen hatte, als er heraufkam, und
mit einem fröhlichen Einfall springt er aus dem Bett. Unten ist noch
die Dumpfheit der überstandenen Nacht im Haus, aber als er den Riegel
öffnet, strömt ihn die Morgenluft an wie ein Bad; überall krähen die
Hähne, und aus einigen Schornsteinen drehen sich schon die blauen
Rauchsäulen in den Himmel, der noch ohne Sonne ist, aber Hahnenruf und
Rauch als Frühopfer der Erde in seine reine Stille verschwinden läßt.

Dem ersten Bauer, dem er begegnet, heftet er sich an; es ist ein zäher
Greis, der seine Enkelin an der Hand führt und den fröhlichen Gruß
mit der abwartenden Miene erwidert, darin der Bauer die städtische
Zutraulichkeit abweist. Er merkt es nicht, nimmt das Kind, das seine
sieben Jahre zählen mag, kurzweg bei der andern Hand, und so gehen
sie zu dritt die Straße hinunter, bis der Bauer vom Weg abklettert,
die gedengelte Schneide mit den Fingern prüft und seinen harten
Sensenschlag in die gelben Halme beginnt, die einen Sprung zur Flucht
zu machen scheinen, bevor sie ihren stolzen Wuchs für immer neigen.
Heinrich Pestalozzi steht am Grabenrand und denkt, daß sie mit dem
Sommerwind ihr geschmeidiges Fangspiel gemacht und im Gewitter sich
ängstlich geduckt haben, daß sie den dünnen Regen und das dicke goldige
Sonnenlicht tranken und nun über den süßen abgeschnitten werden, immer
ein Bündel zugleich, wie sie auch nur miteinander ihr schwankes Leben
aufrecht halten konnten. Doch ist er nicht da für solche Gedanken, und
er wartet auch nur ab, was das Mädchen beginnen wird, das vorläufig am
Rain einer Sternblume die weißen Blättchen auszupft und dazu einen
Zählreim sagt. Als er beobachtet hat, wie sie danach aus Halmen dünne
Seile dreht und damit die einzelnen Bündel zu Garben bindet, gibt er
sich mit daran und bleibt auch hartnäckig dabei, als der Bauer den
Wetzstein holt und sein Tun mißtrauisch besieht. Auf die Dauer einigen
sie sich doch, und wie gegen sieben Uhr der schmale Ackerstreifen
niedergelegt ist und nur noch ein letztes Büschel steht, läßt ihm der
Alte sogar die Sense, das abzuschlagen; er fährt freilich fast mit
der scharfen Sense gegen sein Bein, aber gerade das macht den andern
gesprächig, sodaß sie mit der warmen Morgensonne anders zurückkommen,
als sie in der kühlen Frühe auszogen.

Das Frühmahl schmeckt ihm danach besser als sonst, und er sitzt schon
wieder in der Ungeduld dabei, was ihm der Tag nach diesem Anfang sonst
bringen könnte. Um noch beim Melken dabei zu sein, ist es zu spät;
doch tut er gleichwohl einen Sprung in den nächsten Stall. Da ist die
Frau gerade dabei, die seimige Milch durch das Haarsieb zu gießen; sie
braucht keine Hilfe, aber die hölzernen Eimer unter dem Brunnen sauber
zu waschen, versucht er doch, bis sie über seine Narrheit lacht und ihn
anders belehrt. Aus dem Stall geht es in die Matte, wo ein Bub noch
saftiges Futter vor der steigenden Sonne zu bergen hat, und so fort
durch das halbe Dorf, wo sich jeder über den närrischen Pfarrstudenten
wundert. Als er zum Mittagessen kommt, ist er brandig rot, und am Abend
muß ihm das Tantli einen Finger verbinden, der ihm irgendwo in ein
Schnitzmesser geraten ist.

Mit dem Großvater spricht er an diesem Tag nur ein paar Worte, da
der in einer Dekanpflicht über Land gefahren ist; aber auch in den
nächsten Tagen hält ihn seine ländliche Tätigkeit so weit ab von den
Kirchenvätern des alten Herrn, daß sie sich nur beim Essen treffen; es
scheint ihm, als ob der lächelnde Mund immer sarkastischer würde; als
er es aber eine ganze Woche lang so fort getrieben hat und nun schon
fast wie ein Bauernknecht aussieht -- nur daß er jetzt schon drei
Finger verwickelt hat -- findet er abends ein Buch in seiner Kammer,
das er längst kennt, aber bisher kaum beachtet hat: »Die Wirtschaft
des philosophischen Bauers« oder, wie es kurzweg heißt, Der Kleinjogg.
Es ist von dem Doktor Hirzel in Zürich geschrieben, der zu den neun
Argonauten in Schinznach gehört und manchmal auch in die Gerwe kam.
Tags hat er immer noch keine Zeit, aber nachts liest er es bei der
Kerze, und bald schwört er darauf, daß es für einen echten Jünger
Rousseaus keinen andern Beruf geben könne, als Landmann zu werden. Wenn
er mitten aus seiner Feldarbeit heraus nach Zürich hinunter sieht und
an den Grund denkt, der ihn hergebracht hat, an die greulichen Dinge
im Alumnat, an die Schule und die Stadt mit dem Gezänk der Zünfte, dem
Gewerk der dunklen Kellerlöcher und dem Geschwätz der guten Stuben:
dann kann er mitten in seiner Freude traurig werden wie ein Narr, weil
ihn der Gedanke an die Rückkehr schreckt.

Eines Tages schreibt er wirklich dem Bluntschli einen Brief, daß er
sein Studium aufgeben möchte, weil er doch nicht zum Pfarrer tauge und
es auch sonst in der städtischen Unnatur nicht mehr aushalten könne,
nachdem er einmal das wirkliche Leben eines Landmannes geschmeckt
habe. Alles andere wäre nur ein Maulwurfsdasein, zum wenigsten könne
er von seinem Berg die hochmütige Stadt Zürich nur ansehen wie einen
Maulwurfshügel. Wolken und Sonne und Schnee: für den Städter wären sie
nichts als veränderte Gelegenheiten zu gutem und schlechtem Wetter --
und seinen Erdboden habe er gar mit Fundamenten und Straßen völlig
getötet -- für den Landmann aber bedeuteten sie die Elemente seines
natürlichen Daseins, sie brächten seiner Saat Regen und machten das
Korn reif; der Wechsel der Jahreszeiten, ja der ganze Kalender wäre für
ihn der Kreislauf eines in der Natur gegründeten Lebens. Wenn es ihm
nicht zuwider sei, möge er schon seiner Mutter bei Gelegenheit ein Wort
der Vorbereitung sagen, daß sie durch seinen Entschluß nicht auch ihren
zweiten Sohn verlöre, sondern ihn erst recht gewönne.

Er hat den Brief schreiben müssen, um endlich einem Menschen etwas
von der Befriedigung seines ländlichen Daseins sagen zu können; der
Großvater weicht allen Gesprächen darüber aus, und das Tantli, das
aus einer ländlichen Pfarrerstochter eine Vikarsfrau geworden war und
nun wieder einem Landpfarrer den Haushalt führt, vermag nur hellauf
zu lachen, wenn er mit seiner Schwärmerei anfängt; aber als er am
dritten Tag danach gerade auf einem Wagen voll Korn glücklich obenauf
sitzt und ins Dorf gefahren kommt, steht vor dem Pfarrtor ein Wagen,
und Bluntschli sieht kopfschüttelnd seine Einfuhr an. Nachdem er dem
Dekan seine Aufwartung gemacht hat, die nur kurz ausfällt, gehen sie
miteinander durch seinen ländlichen Bereich, bis Bluntschli müde wird
und sich an einen Rain hinsetzen muß. Der hat den begeisterten Freund
bisher reden lassen; nun weist er auf seine Hände, an denen fast alle
Finger angeschnitten oder verwickelt sind: ob das seine besondere
Begabung für die ländliche Arbeit sei? Und ob er nicht wisse, daß zum
Bauerntum zuvörderst ein richtiger Bauernsitz gehöre? Wenn der Junker
Meis im Winkel aus der gleichen Begeisterung Bauer würde, wisse er,
wovon! Aber das alles seien Fragen, die ihn als seinen Freund nichts
angingen; denn Freundschaft hieße nicht, daß einer dem andern praktisch
beistände, Freundschaft sei eine Sache der Seele: Dies aber drehe sich
alles doch nur darum, daß er ein Dasein haben möchte, wie es für seine
Art möglichst bequem und vergnüglich wäre. Was er zu seinem Agis sagen
würde, wenn der die Not Spartas verließe, um sich einen Meierhof zu
suchen? Er möge doch nicht vor seinen eigenen Ideen verächtlich werden,
was sicherlich der eigentliche Verrat der Freundschaft sei!

Heinrich Pestalozzi wird ihm auf keine dieser Fragen eine Antwort
schuldig, aber als der Freund, der es eilig hat, wieder abfährt, bleibt
er mit einem zerbrochenen Mühlrad zurück; obwohl er noch trotzig darein
blickt, merkt er gleich, er bringt es nicht mehr zum klappern. Und
als ihm nach drei Tagen der Großvater einen Brief der Mutter in die
Kammer legt, den sie an ihren Schwiegervater geschrieben hat: was es
für Torheiten habe mit ihrem Sohn? er möge ihm die Flausen aus seinem
Wirrkopf blasen! da fällt auch der Trotz rasch ineinander.

Nachdem seine vier Wochen herum sind, läßt er sich vom Großvater die
Weisung des Antistes als erfüllt bescheinigen und marschiert nach der
Stadt zurück, die mit ihren Türmen und Dächern gleichmütig am See
geblieben ist und seine Schritte wie sonst in der Niederdorfporte
hallen läßt. Gerade, als er hindurchgeht, kommt ihm die Anna Schultheß
entgegen, die er als Freundin seines Freundes verehrungsvoll grüßt. Daß
sie das erste ist, was ihm in Zürich begegnet, gibt der Gedrücktheit
seiner Gedanken einen ziemlichen Stoß, sodaß er heller bei den Seinen
im Roten Gatter eintrifft, als er in Höngg fortgegangen ist; wobei
freilich die Liebe seiner Mutter auch das ihre tut, als sie ihn
herzlich weinend umfängt.


                                  29.

So muß Heinrich Pestalozzi doch noch einmal ins Collegium, und es ist
nicht leichter für ihn geworden in dieser Zwischenzeit: im Alumnat hat
es eine böse Reinigung gegeben, und die davon betroffen sind, stehen
nun in tückischer Feindschaft gegen ihn; auch die Lehrer übertragen
zum Teil die Stimmung der peinlichen Enthüllung gegen ihn, und da
seine Erscheinung durch die ländlichen Sommerwochen nicht gewonnen
hat, finden sich Anlässe genug ihn zu verhöhnen. Das Schlimmste
bleibt trotzdem, daß er sich in den witzigen, aufklärerischen Geist
der Theologenschule nun gar nicht mehr zu finden weiß. Er kann es
nicht begreifen, daß sich im Zeitalter Rousseaus der humanistische
Bildungsdünkel noch so breitmachen kann wie in diesem Unterricht.
Selbst die alten Schriftsteller scheinen ihm aufs gröblichste
mißverstanden, indem das Leben aus ihren Schriften weggelassen und nur
das Wort gelehrt und gedreht wird. Als Steinbrüchel, der schon mit
Übersetzungen der griechischen Tragiker aufgetreten ist, im Lindauer
Journal die erste olynthische Rede des Demosthenes abdrucken läßt als
Stichprobe seiner Übersetzung der sämtlichen Werke des athenischen
Redners, kann Heinrich Pestalozzi der Lust nicht widerstehen, dem
hochmütigen Mann an einem Gegenbeispiel zu zeigen, was in diesen Reden
mehr als humanistisch sei. Obwohl er im Griechischen ein mangelhafter
Schüler ist, legt er im Examen ein Bruchstück der dritten olynthischen
Rede vor, das er danach auch, gleichsam als Vorrede zu seinem Agis,
mit diesem im Lindauer Journal abdrucken läßt. Der Beifall, den seine
Übersetzung durch das Feuer und rednerische Talent der Sprache findet,
ist so allgemein, daß der gelehrte Professor Steinbrüchel seine
geplante Demosthenes-Ausgabe im Pult behält und als Übersetzer von nun
ab peinliche Enthaltung übt.

Damit ist das Studentenschicksal Heinrich Pestalozzis entschieden; aber
ihm hat die Übersetzung unvermutet ein Tor aufgemacht, durch das er
doch noch mitten ins Leben zu kommen hofft: Landwirt kann und Pfarrer
mag er nicht mehr werden; aber gleich dem Demosthenes ein Fürsprech
der Bedrängten und Volksredner der öffentlichen Dinge zu sein, das
scheint ihm ein Beruf, den er nun sich und andern mit glühender Liebe
ausmalt. Alles, was er von dem Leben des großen Griechen liest, wie der
gleich ihm den Vater früh verliert und erst durch mühevolle Gewöhnung
seine körperlichen Mängel überwindet, wie er die großen Dinge seines
Volkes in seine Reden einbegreift und aus einem Rechtsanwalt das
Sprachrohr der vaterländischen Gesinnung in Athen wird: in allem findet
er Hinweise für seine durch die Ähnlichkeit des Temperaments und der
Zeitumstände vorbestimmte Laufbahn. Auch Bluntschli billigt sie, und
die Mutter willigt schweigend ein. Da es im Collegium Carolinum keine
Klasse für die Rechtswissenschaft gibt, geht er nun endgültig von der
Anstalt ab, die ihm verhaßt geworden ist. Wie er zum letztenmal die
Steintreppe hinuntersteigt, drängt sich ein Trupp seiner Mitschüler
hinter ihm her, ihm einen höhnischen Abschiedsgruß zu pfeifen. Er
weiß, daß einige Lehrer gern mit dabei wären; obwohl noch nicht
zwanzigjährig, hat er nun schon erfahren, daß diese Erlebnisse zu
einem tätigen und ehrlichen Leben gehören; er schwenkt seinen Hut zu
den hochmütigen Zürchersöhnen zurück, als ob sie ihm den Wert und die
Rechtlichkeit seiner Entschließungen bestätigt hätten.

Nach Hause geht er aber nicht, sondern er läuft, wie er da ist, nach
Höngg hinauf. Bei dem Spott der Jünglinge ist ihm der Ernst Luginbühl
eingefallen, und wie es die selben sind, die dem Weberknaben die Schule
verleidet haben. Sogleich hat ihn aber auch die Scham gepackt, daß er
sich selber nicht mehr um ihn kümmerte. Wohl hat er sich oft nach ihm
erkundigt, aber zu ihm gegangen ist er nicht mehr, und nur einigemal
Sonntags hat er ihn gesehen, wenn er, langaufgeschossen und längst mit
blassen statt roten Backen von seiner Stubenarbeit, in die Kirche kam.
Er kann nicht anders, er muß es gleich gut machen; aber wie er nach
Höngg hinaufkommt, läuft er dem Großvater in den Weg, der sich noch
etwas in der Herbstsonne ergehen will. Von dem erfährt er, daß der
Ernst Luginbühl vor einigen Wochen nachts seinem Vater davongegangen
sei, niemand wisse wohin: aber er würde schon überall in der Welt einen
besseren Platz finden als an seinem Webstuhl! Glaubst du das wirklich?
sagt Heinrich Pestalozzi und sieht mit einem seltsamen Blick in die
wellige Hügelferne, als ob er zum erstenmal fühle, daß hinter diesen
Bergen auch noch eine Welt ist.


                                  30.

Die Nachricht von der Flucht Ernst Luginbühls hat Heinrich Pestalozzi
auf den Gedanken einer heimlichen Pilgerfahrt gebracht: Er weiß, daß
Rousseau seit dem Frühjahr auf der Petersinsel im Bielersee wohnt, und
er malt sich das Abenteuer aus, dort einmal mit dem großen Mann zu
sprechen; wenn er bis Baden eine Schiffgelegenheit nimmt, kann er den
Weg in zwei Tagen hinter sich bringen. Die Mutter wehrt mit der Hand
seine Worte ab, und er sieht, daß sie bis ins Herz erschrocken ist, als
er nur im Scherz davon spricht; den Bluntschli aber fragt er einmal in
der Gerwe auf den Kopf, was er davon hielte?

Da müßtest du weit reisen, sagt der; denn Rousseau ist auf der Flucht
nach England! Und so erfährt Heinrich Pestalozzi, was der andere
freilich auch erst seit zwei Tagen weiß, daß die bernische Regierung
dem Flüchtling sein Asyl auf der Petersinsel gekündigt habe. Warum ist
er nicht nach Zürich gekommen? fragt er in der ersten Enttäuschung;
aber nun wird Bluntschli, der eben noch gescherzt hat, bitter: Weil
die Zeiten Zwinglis vorüber sind und wir keinen Ulrich von Hutten
mehr brauchen können; besonders, wenn es nur ein Genfer Uhrmachersohn
ist! Wollte der große Voltaire kommen, sie möchten den Regenten der
Aufklärung mit vierundzwanzig Pferden einholen und er könnte bei dem
Antistes wohnen, aber den Rousseau mit seinen Menschenrechten würden
die Gestrengen Herren in den Wellenberg stecken!

Sie haben im Eifer nicht gemerkt, daß unterdessen der mit dem braunen
Bart -- wie Heinrich Pestalozzi nun längst weiß, der Pfleger Schultheß
zum Pflug, der Vater Annas und ihres gemeinsamen Freundes Kaspar --
hinter sie getreten ist: Der Wellenberg wäre das Mindeste für einen
Mann, sagt er ernst, der seine Kinder ins Findelhaus schickt und
ungetraut mit einem Weibsbild lebt!

Der Bluntschli steht artig auf, und Heinrich Pestalozzi sieht, wie er
todblaß geworden ist; auch ihn selber hat es ins Herz getroffen, das
Vorbild so von ihrer strengen Tugend entblößt zu sehen. Darüber treten
andere hinzu, die auch schon die Nachricht von Bern haben, und weil
durch ein Mißgeschick der angesagte Vortrag ausfällt, wird Rousseau das
erregte Abendgespräch an allen Plätzen.

Heinrich Pestalozzi hat über den Sommer zuviel in den Wolken gesegelt;
nun merkt er erstaunt, wie sehr das sogenannte Genfer Geschäft auch
schon die Züricher erhitzt. Es heißt, daß der Rat von Genf gegen seine
eigene Bürgerschaft -- die das Verdammungsurteil über Rousseau und
seine Schriften nicht anerkennt und darum schon im vierten Jahr mit ihm
streitet -- die Gesandtschaften von Zürich, Bern und Frankreich als
Friedensrichter in dieser Sache anrufen wolle. Damit würde, wie Bodmer
freimütig über die Tische weg sagt, sich auch Zürich zu entscheiden
haben, wieviel Macht der Wahrheit noch über Interesse, Herrschaft und
falsche Politik geblieben sei! Heinrich Pestalozzi vermag aber nicht,
diese Gespräche noch weiter anzuhören; das Wort des Pflegers Schultheß
hat ihn zu sehr getroffen. Als er den Bluntschli bald aufstehen sieht,
folgt er ihm rasch, um mit ihm in den gleichen Gedanken eingespannt
früher als sonst heimzugehen: Auch der Hutten soll an einer häßlichen
Krankheit gelitten haben, sagt der andere mit leiser Stimme, als sie
oben auf der Niederdorfgasse sind; dann sprechen sie nichts mehr, bis
sie sich ohne Gruß und Handdruck trennen.


                                  31.

Im Frühjahr sieht Heinrich Pestalozzi die Züricher Gesandtschaft
mit ihren kostbaren Staatsperücken in einem großen Aufwand von
Reisewagen die Fahrt nach Genf antreten: es ist gekommen, wie an
dem Abend gesprochen wurde, die Mächte sind angerufen, den Handel
um Rousseau zu schlichten. Er ist immer noch nicht im reinen, wie
einer sittenlos leben und Tugend lehren könne, und dieser Zwiespalt
verbittert ihm die Politik. Unterdessen sind nach dem Agis im Lindauer
Journal auch im Erinnerer eine Reihe von Wünschen gedruckt, die er
im vergangenen Jahr geschrieben hat, aber selbst seine eigene Feder
ist ihm verdächtig geworden. Als Bluntschli seine Hauslehrerschaft
aufgibt und nach Hütten reist, um da eine Kur gegen seine kranke Brust
zu machen, bleibt er vereinsamt in Zürich zurück. Einmal begegnet er
dem Alumnaten, zu dem er damals am Zürichhorn ins Schiff gestiegen
ist; er will ihn ansprechen, aber der weicht ihm scheu aus, als ob
er eine Schuld von ihm einzufordern hätte. Wenn Heinrich Pestalozzi
nun an seine Anzeige denkt, fällt eine brennende Unruhe über ihn; es
ist das einundzwanzigste Jahr seines Lebens, als er gewahr wird, daß
in der menschlichen Natur schlimmere Feinde der guten Sitten und der
einfältigen Menschlichkeit liegen als in allen Gewalthabern.

Die Berichte der Gesandtschaft laufen ein, und jeder macht einen
Sturm im Großen Rat, wo Bodmer unerschrocken gegen die Mehrheit der
Gestrengen Herren auftritt. Es kommt, wie er prophezeit hat: die
Entscheidung der Genfer zwischen Wahrheit und Interessen wird auch den
Zürichern auferlegt; aber immer deutlicher sieht Heinrich Pestalozzi,
daß die Bürgerschaft durchaus nicht so auf der Seite der Patrioten
steht, wie seine spartanische Begeisterung gedacht hat. Wo ihrer
einige zu vorwitzig auf der Gasse sind, kann es ihnen geschehen wie
ihm damals, als er in den Keller fiel. Er ist verzagt genug, seinen
Traum nun selber zu belächeln, diese Bürger als ein neuer Demosthenes
zu reinen und hohen Dingen anzufeuern; es steht nicht einmal so, daß
er wie sein Agis das Leben wagen könnte, die Zünftler würden sich mit
einer Tracht Prügel genug tun.

Unerquicklich geht ihm der Sommer und der Herbst hin, indessen er
noch immer hartnäckig an seiner Rechtswissenschaft mit dem Studium
alter und neuer Gesetzschriften festhält. Er sieht den Bluntschli
aus seiner Kur in Hütten mit einer Schwärmerei für die Schönheit der
Natur und die Einfalt des ländlichen Lebens heimgekehrt, die er nun
wehmütig belächeln muß. An seiner Gesundheit hat der Freund nichts
mehr zu klagen, und wenn Heinrich Pestalozzi nicht durch die Mienen
und Gespräche besorgt gemacht würde, er könnte glauben, daß ihm die
Kur völlige Heilung gebracht hätte, so heiter sieht er ihn. Als er
noch einmal über Rousseau mit ihm sprechen will, schüttelt Bluntschli
den Kopf; auch sonst scheint er den Eifer eines Patrioten verloren
zu haben, wo sich die andern erhitzen, lächelt er, und als aus Genf
die Nachricht kommt, daß die mit dem Rat vereinigten Gesandten den
Bürgern eine neue Verfassung auferlegt hätten, sagt er: da könnte das
Sechseläuten angehen! Auch in seinen Büchern liest er nicht mehr, das
Wissenswerte stände nicht darin, pflegt er zu scherzen; obwohl Heinrich
Pestalozzi die Unheimlichkeit hinter dem veränderten Wesen fühlt,
vermag er sich der Heiterkeit nicht zu entziehen, darin der Freund
Jüngling und Greis in einem geworden scheint, und so erlebt er den
Zürcher Ausklang des Genfer Geschäftes viel weniger aufgeregt, als es
sonst gewesen wäre.

Mitte Dezember kommt die Nachricht aus Genf, daß die Bürgerschaft
mit großer Mehrheit das Machwerk der Gesandten verworfen habe;
gleichzeitig geht das Gerücht, nun würden Frankreich, Zürich und Bern
Gewalt anwenden und die aufsässige Bürgerschaft mit Krieg überziehen:
Alles um eines gedruckten Buches willen, scherzt Bluntschli, als ob
es keine vernünftigen Anlässe mehr gäbe in der politischen Welt! Aber
die andern Patrioten sind eifriger, und der Privatlehrer Müller, des
Stadttrompeters Sohn, schreibt das angebliche Gespräch eines Bauern
mit einem Stadtherrn und einem Untervogt über den Genfer Handel,
liest es auf seiner Stube auch einigen Freunden vor und verschließt
es dann in sein Pult. Es ist mehr witzig als aufrührerisch, und
Heinrich Pestalozzi, der es mit angehört hat, hätte nie gedacht,
daß sich der Zorn der Obrigkeit daran entzünden könnte. Der Müller
aber ist unvorsichtig genug, einem seiner Schüler die Handschrift
zu überlassen. Der macht eine Abschrift davon und gibt sie weiter,
immer mehr Abschriften werden gemacht, und Mitte Januar flattert das
Bauerngespräch, wie man es heißt, heimlich durch die ganze Stadt,
überall die Erregung des Genfer Geschäfts in lustigen Spott über die
Perücken auslösend, bis eine Abschrift den Gestrengen Herren selber vor
Augen kommt, die sofort mit heftigen Verhören den unbekannten Verfasser
suchen.

Heinrich Pestalozzi, der sich mit Lavater besprochen hat, sucht noch
spät abends den Müller auf, und rät ihm, sich selber zu dem Scherz
zu bekennen, womit der Sache die Spitze abgebrochen sei; aber als er
am nächsten Morgen nachfragt, hat der Sohn des Stadttrompeters eine
richtigere Einsicht in seine Lage gehabt und ist über Nacht geflohen.
Aus seinem Scherzgespräch ist eine Schandschrift und aus der Lustigkeit
darüber ein Aufruhr geworden; ehe Heinrich Pestalozzi sich irgend einer
Gefahr versieht, sitzt er selber auf dem Rathaus in Arrest, weil er
dem Aufwiegler zur Flucht verholfen habe. Er wird auch drei Tage lang
wie ein Verschwörer in strenger Haft gehalten, bis von dem Flüchtigen
ein Brief eingelaufen ist, daß er das Bauerngespräch ohne böse Absicht
geschrieben hätte und an der Verbreitung unschuldig wäre. Darauf
lassen sie ihn zwar frei, aber die Untersuchung gegen den Aufruhr
verliert nicht an Hitzigkeit: in ganzen Kompanien ziehen die getreuen
Untertanen auf den Stadtplätzen auf, und bald wird von den Kanzeln des
Kantons ein Urteil verlesen: daß der Verfasser der aufwieglerischen
und höchst schandbaren Schrift aus dem geistlichen Stand removiert,
aus der gesamten Eidgenossenschaft verbannt sei und in den Wellenberg
geworfen werden solle, falls er betroffen würde. Die Schandschrift
solle zugleich mit dem Lästerbrief aus dem Hottinger Handel durch den
Henker öffentlich verbrannt werden, die Kosten für die drei Klafter
Brennholz seien durch die Patrioten zu bezahlen, ihre Wochenschrift
»Der Erinnerer« dürfe nicht mehr unter die Presse kommen, und sofern
die gefährliche Gesellschaft noch etwas gegen die Obrigkeit unternähme,
würden die schärfsten Strafen angewandt.

Bluntschli hat recht gehabt: das Sechseläuten fängt an; und ob es
Heinrich Pestalozzi selber angeht, soviel obrigkeitliche Torheit vermag
auch er nicht mehr ernst zu nehmen; als die Schandschriften durch den
Henker verbrannt werden, spaziert er mit einem Freund auf dem Balkon
der Meise und macht auf einer Pfeife die Musik dazu.


                                  32.

Heinrich Pestalozzi hat es gleich gefühlt, daß sein Gespött auch die
eigenen Träume trifft. Wie in der Heiterkeit des Bluntschli, den er
nun auch gleich den andern Freunden Menalk nennt, der bittere Ernst
immer deutlicher wird, so ist es auch mit ihm: er trägt im Übermut
dieser Tage das Gefühl unabweisbarer Entscheidungen in sich, die
mit all diesen flatternden Sehnsuchten und Lebensspielereien seiner
verzettelten Jugend aufräumen werden; daß der Demosthenes dabei sein
wird, ist ihm sicher.

Das Frühjahr will diesmal nicht kommen; immer wieder schütten die
Wolken Schneeflocken in den Regen, und wo sich ein blaues Stück Himmel
zeigt, blasen die kalten Winde es wieder zu. Heinrich Pestalozzi geht
nun fast täglich nach der Zimmerleutenzunft hinunter, wo der Menalk
meist am Fenster sitzt und in die Limmat sieht. Er ist hager geworden,
mit tiefen, forschenden Augen und einer merkwürdigen Art, seine
Knochenhand auf die Dinge zu legen, die er braucht. Seine Heiterkeit
aber ist geblieben, und er spricht gern, als ob er jetzt erst den
richtigen Abstand von seiner Mitwelt habe, die ihm sonst zu nahe und
daher bedrückend gewesen sei.

Wenn Heinrich Pestalozzi nachmittags gegen die Dämmerung kommt, trifft
er leicht mit der Anna Schultheß zusammen, die für eine Stunde bei dem
Freund ist. Menalk hat es nicht gern, wenn er dann stört, und so meidet
er die Stunde. Um so lieber spricht der Kranke, der immer deutlicher
ein Sterbender wird, von ihr, die -- um fünf Jahre älter als er --
doch wie eine jüngere Schwester zu ihm steht. Sie hat als Mädchen noch
die merkwürdige Zeit erlebt, wo der Dichter Klopstock ein halbes Jahr
lang in Zürich lebte, und entsinnt sich seiner wohl, wie er auch in
ihrem Elternhaus zum Pflug war. Da sie wohlhabend und vielgereist ist,
dabei schön von Gesicht und Gestalt, gilt sie den jüngeren Freunden
ihres Bruders Kaspar als eine Art Muse, und es war immer eine besondere
Feier, wenn sie an einer ihrer Veranstaltungen teilnahm. Dabei ist
sie seit langem Bluntschli so offensichtlich zugetan, daß sich kein
anderer um sie zu bemühen wagt; und seitdem sie mehrmals Bewerbungen
abwies, was bei ihrem Alter auffällig war, gilt es für ausgemacht, daß
sie einmal Menalks Frau würde, obwohl die Eingeweihten wissen, daß ihr
Verhältnis zu dem Kandidaten viel mehr geschwisterlich ist.

Je sichtlicher die kranke Brust Menalks den letzten Kampf mit dem
unheimlichen Feind aufnimmt, um so mehr spricht er von der Freundin;
einmal so schwärmerisch, daß Heinrich Pestalozzi ihn erstaunt ansieht.
Er bricht dann mitten in der Schilderung ab und sieht lange vor
sich hin, bevor er die Augen zu ihm hebt: Wir haben zu viel Eifer in
unsern Sitten gehabt und zu wenig Liebe! Und als ob auch das noch
nicht richtig sei, nach einer Weile: Ich habe nun so viele Tage vor
Gott gesessen; am Ende weiß er doch besser als wir, was vonnöten ist.
Es ist da eine leere Stelle in mir geblieben, aber ich kann sie nicht
mehr füllen! Er hat seine große Hand über das Herz gebreitet und
nimmt sie auch nicht mehr fort. Als Heinrich Pestalozzi aus seiner
Erschrockenheit aufblickt, sieht er die Spur einer Träne, die ihm über
die hageren Backenknochen in den Mundwinkel geronnen ist.

An einem Abend im Mai wird er zu ihm gerufen. Der alte Steinmetz --
Menalk ist der zweitjüngste von neun Kindern, und die Mutter liegt seit
drei Jahren auf dem Kirchhof -- hat ihn noch einmal aus dem Bett ans
Fenster tragen müssen, wo er im Kissen sitzt. Als ob er die Rechnung
mit der Bitterkeit seines frühen Todes nun fertig gemacht habe, sieht
er ihm befreit und heiter entgegen; spricht dann lange nichts, und
als Heinrich Pestalozzi zögernd fragt, wie er sich befinde, hört er
nicht darauf. Endlich scheint er die vorgefaßten Worte zu finden: Ich
gehe sterben, sagt er und sieht auf seine Hände, die nebeneinander vor
ihm liegen: du baust zuviel Pläne; die Menschen sind nicht so, wie du
sie glaubst. Bescheide dich in einer stillen Laufbahn, und laß dich
auf keine weitgehenden Unternehmungen ein ohne einen Ratgeber, der
die Menschen und die Sachen kaltblütiger nimmt als du. -- Es ist mein
Testament, setzt er nach einigen Atemzügen hinzu, und der Schatten
von einem wehmütigen Lächeln hängt an den Lippen, als ob er sich
entschuldigte, daß es nur Worte wären. Als Heinrich Pestalozzi nach
einer erschütternden Stille sprechen will, wehrt er ab: Geh jetzt, wir
sehen uns noch!

Am andern Mittag will er nach ihm sehen, da kommt ihm aus der Tür
Anna Schultheß entgegen. Wie gehts? fragt er beklommen, weil sie die
Tränen achtlos rinnen läßt. Sie vermag nichts zu antworten, hebt nur
die Hände, als ob die allein noch sprechen könnten, und für einen
Augenblick scheint es, wie wenn sie in einer Ohnmacht hinsinkend sich
an ihm halten wolle; dann eilt sie fort. Ihre Augen, die vom Schrecken
übergroß geweitet und glanzlos vom Weinen sind, verlassen ihn nicht,
bis er in die Stube tritt. Da steht Lavater mit einigen Freunden; sie
sehen schweigend auf den Sterbenden, der nicht mehr spricht, nur hastig
atmet wie einer, der zu rasch gelaufen ist. Einmal macht er die Augen
groß auf, doch sieht er keinen mehr in der Stube; nach langem tut er
ein paar tiefe Atemzüge, als ob er endlich Luft genug in seine Lungen
bekäme, dann scheint er sich erlöst zum Schlaf hinzulegen; aber es ist
der Tod gewesen, und Lavater, der es am ersten sieht, drückt ihm mit
behutsamen Händen die Augenlider zu.

Die andern gehen danach fort; Heinrich Pestalozzi vermag es nicht, er
fühlt, daß ihm mehr als ihnen gestorben ist. Aber als er stundenlang
vor der Unbegreiflichkeit gesessen hat und, einer Regung folgend, dem
Freund noch einmal die Hand geben will, ist sie schon kalt und nicht
mehr menschlich; da fühlt er mit Grauen, daß etwas Fremdes an seiner
Stelle liegt. Darüber kommt Lavater, dessen Umsicht dem alten Vater die
nötigen Besorgungen abnimmt, mit zwei Frauen wieder, die den Leichnam
waschen und für den Sarg herrichten wollen; der führt ihn hinunter und
geht, ohne ein Wort zu sagen, mit ihm vielmals am Wasser hin und her,
wo die Maisonne ihre Wärme in das Wasser schüttet und die Schwäne den
Blust ihrer Federn spreizen. Als sie sich trennen, verspricht er ihm
eine Zeichnung von dem toten Freund.

Ich habe so viele Tage vor Gott gesessen! Das Wort Menalks ist in ihm
wie ein Stein geblieben, der immer tiefer sinkt; und je mehr er den
Freund im Unbegreiflichen fühlt, weit fort von dem Leichnam, den fremde
Frauen wuschen, um so inniger bildet er an seiner Gestalt, wie er da
tagelang vor der letzten Entscheidung gesessen hat. Am andern Morgen
bringt ihm Lavater die Zeichnung; er legt sie erschrocken fort, daß ihm
das Bildnis des Toten die Erinnerung an den Lebendigen nicht störe, und
während das Blatt unter seinen Blättern versteckt liegt, fangen seine
Gedanken ein Denkmal an, das mehr als diese Zeichnung sein möchte.

Er soll Träger sein, aber als die Glocken zum Begräbnis läuten, steht
er noch immer mit dem Babeli im Eifer über seiner Kleidung. Bis er
hinunter kommt, tragen sie den Sarg schon ohne ihn die Gasse hinauf. Er
will sich verzweifelt durchdrängen, aber die Jünglinge und Männer, die
da mit ernsten Gesichtern in der vorgeschriebenen Ordnung schreiten,
lassen ihn nicht hinein. Unfähig, sich den letzten anzuschließen, irrt
er fort -- ein Überflüssiger auch hier -- und findet sich aus seiner
Beschämung erst am Kirchhof wieder, als die ersten schon heimkehren.
Hinter Büschen versteckt, wartet er die letzten ab und sieht den
Totengräber beschäftigt, dem Hügel mit der Schaufel die vorgeschriebene
Form zu geben. Er wagt nicht eher, an das Grab zu gehen, bis auch der
Mann fort ist. Was er dann vor sich hat, ist nichts als ein Stück
Frühlingserde, vom Gärtner frisch zubereitet, das er bald wieder
verläßt.

Obwohl er den Totengräber beobachtet hat, wie der das Tor hinter sich
zumachte, bedenkt er nicht, daß es geschlossen sein könnte; erst
als er hinaus will, sieht er sich gefangen. Es ist kein zu großer
Schrecken für ihn, und er hätte schon einen Schlupf gefunden; aber
als seine Hände noch in der ersten Überraschung die Torstäbe halten,
sieht er den Totengräber mit einer schwarzen Jungfrau zurückkommen,
die einen Strauß Frühlingsblumen trägt. Er weiß auf den ersten Blick,
daß es Anna Schultheß ist, die dem Grab des Freundes zunächst einen
Gruß bringen will. Gern möchte er sich noch verstecken, aber die
beiden haben ihn schon gesehen; so wartet er steif an dem Tor, bis
es geöffnet wird. Der Mann ist mißtrauisch und augenscheinlich nicht
gewillt, ihn durchzulassen, wenn er nicht vor seiner Begleiterin in der
lächerlichsten Verwirrung den Hut gezogen hätte; so läßt er ihn laufen,
der aus seiner Scham weder ein Wort noch eine Miene der Erklärung
findet und fassungslos nach der Stadt hinunterstürmt.

Er fühlt die Zweideutigkeit seiner Lage sofort: die Freundin kann
nicht anders glauben, als daß ihn der besondere Schmerz um den Menalk
zurückgehalten habe; und soviel er in seiner Bestürzung von ihrem
Gesicht wahrnahm, ist der Dank ihrer guten Meinung schon darin gewesen.
Indem er fortrennt, statt ihr gleich tapfer die Umstände zu gestehen,
hat er die Zweideutigkeit noch vermehrt; denn sie muß sich auch das
noch auf einen Schmerz deuten, was nichts als die erbärmlichste
Feigheit ist. So steht er am Grab des gemeinsamen Freundes in einer
Schauspielerei vor ihr, die unaufgeklärt eine böse Lüge und aufgeklärt
eine unerträgliche Beschämung bedeutet. Trotzdem er sich sogleich
tapfer für die Beschämung entscheidet, liegt bis dahin die Lüge auf
ihm; und das Gefühl davon saugt alles auf, was an selbstklägerischen
Gedanken seiner wirren und fahrlässigen Jugend schon vorher in ihm
gewesen ist, sodaß er an der alten Stadtmauer hin und gegen die
Bollwerke rennt, als ob ihn diese Flucht vor sich selber retten könne.
Als er sich ganz in das Mauerwerk verlaufen hat, wirft er sich hin, und
niemals hat er so die Erschütterung zu weinen gespürt wie unter der
blaßblauen Himmelsglocke dieses Frühlingstages.


                                  33.

Heinrich Pestalozzi ist einundzwanzigjährig, als der Tod des
gemeinsamen Freundes ihn der Anna Schultheß nähert und dem
sehnsüchtigen Schwall seiner Jugend einen frühzeitigen Durchbruch
ins Leben bringt. Seit der Begegnung an der Kirchhofstür geht sie
schwarz gekleidet mit Frühlingsblumen durch seine Träume, und wo seine
wachen Gedanken den Gestorbenen wehmütig bekränzen. Er hat ihr eine
offene Darstellung seiner Irrgänge am Begräbnistag gesandt und den
flackernden Leichtsinn seiner Jugend nicht geschont, um das Gegenbild
des toten Freundes hell vor die Dunkelheit zu stellen, wie der sein
Jünglingsleben streng vollendete und von der Selbstüberwindung mit
Heiterkeit gesegnet in den Tod einging.

Die Kaufmannstochter im Pflug dankte ihm kühler, als er erwartete; er
spürt aus ihren Schriftzügen und Sätzen, um wieviel gehaltener sie
mit ihren neunundzwanzig Jahren zum Leben steht als er mit seinen
einundzwanzig: aber weil ihn die heftigen Winde seiner Meinungen den
Altersgenossen voraus in die Schwierigkeiten einer eigenen Berufswahl
getrieben haben, indessen sie noch den behüteten Gang ihrer Studien
gehen, lockt ihn das Ältliche an ihr erst recht. Er weiß es abzupassen,
daß er sie bald danach auf einem Spaziergang trifft, und ruht nicht,
als sie zu Besorgungen fort muß, bis sie ihm noch eine Stunde am selben
Abend verspricht.

Noch liegt für ihn selber das Eingeständnis einer andern als
freundschaftlichen Neigung nicht zutage; obwohl lebhaft von den
wechselnden Begebenheiten der Vaterstadt hingenommen und in hundert
Anlässen geschäftig, die ihn eher vorlaut erscheinen lassen, ist er
schüchtern, und er hätte aus sich selber kaum die Entschlossenheit, sie
in der Dämmerung auf dem Lindenhof abzuwarten, wenn er nicht durch die
schmerzliche Gemeinschaft um den toten Freund in eine so seltsame Nähe
zu ihr gekommen wäre. Sie wiederum mag durch Menalk viel Rühmliches
von ihm gehört haben, auch ist sie durch ihre Brüder an Kameradschaften
gewöhnt: aber als sie dann unter den Bäumen des Lindenhofs beieinander
stehen -- es ist diesmal noch zu hell, als daß die Sterne schon funkeln
könnten -- sind sie doch nur ein Menschenpaar, das, ungleich im Alter,
den Zwang der Natur zu fühlen bekommt. Heinrich Pestalozzi spricht
unablässig, von der Winternacht, wo er mit Bluntschli hier gestanden
hat, von dessen bitteren Worten und ihrer gemeinsamen Beklommenheit
nachher, auch von dem Vermächtnis des sterbenden Freundes am vorletzten
Abend, nicht anders, als ob erst jetzt das gedämmte Gefühl einen
Abfluß fände: aber er fühlt wohlig die innige Verbindung mit seiner
schweigsamen Hörerin, und wieviel er dabei von sich selber in ihre
Seele sprechen kann.

Als sie sich trennen, erst leise dann dringend von ihr gemahnt, und sie
ihm die Hand gibt, eine weitere heimliche Zusammenkunft nicht unbewegt,
aber bestimmt ablehnend, vergißt er sich zu Tränen, sie darum zu
bitten, und läßt in seiner Inbrunst ihre Hand nicht wieder los, bis sie
sich selber freimacht und flüchtend von ihm fort eilt.

Heinrich Pestalozzi beherrscht sich mühsam, ihr nicht zu folgen, aber
er fühlt jeden Schritt ihrer Entfernung wie einen körperlichen Schmerz,
und in der Frühe findet er sich, mit einem Seufzer aus sehnsüchtigen
Morgenträumen aufgewacht, aufrecht im Bett sitzen. So sehr er sich
selber zur Rede stellt und sich des schwärzesten Verrats an Menalk
beschuldigt, daß er das Gedächtnis an ihn für seine eigenen Gelüste
mißbrauche: der Drang, sie zu sehen, ist so unbezwingbar, daß er
unablässig Möglichkeiten aussinnt. Als es ihm am ersten Tag mißlingt,
am zweiten und dritten auch, weil sie sich offenbar der gewohnten
Gänge enthält, vermag er es am vierten nicht mehr und geht ihr mit
einem Vorwand ins Haus. Er weiß, daß sie in der Handlung des Vaters an
der Ladentheke bedient, und tritt um die stille Zeit nach Mittag ein.
Von der Ladenschelle gerufen, findet sie ihn als Kundschaft, die sie
bedienen muß; bis sie den zornig und fast mit Tränen verlangten Zucker
für die Haushaltung der Mutter abgewogen und ihm hingelegt hat, ist sie
gesammelt genug, ihn ernst zu bitten, das nicht mehr zu tun!

Er kann kein anderes Wort vorbringen; doch hat er sie nun
wiedergesehen, und als er dem Babeli den heimlich erworbenen
Zuckervorrat in die Küche geschmuggelt hat, verhehlt er sich nichts
mehr von seiner Leidenschaft und beginnt, seine Aussichten zu prüfen:
Sie ist wohlhabend, und er ist arm; sie trägt ihr schönes Antlitz auf
einer wohlgebildeten Gestalt, während er als der schwarze Pestaluz um
seiner pockennarbigen und unordentlichen Erscheinung willen in den
Gassen verhöhnt wird; sie ist auf zahlreichen Reisen in den Formen
des Welttons gebildet und mit Geschmack sorgfältig gekleidet, also
auch darin sein Gegenbild: aber sie steht auch mehr als jedes andere
Mädchen, das er kennt, mit herzlicher und kluger Kenntnis in der Welt
seiner Jugendideale und ist durch die gemeinsame Freundschaft mit
Menalk seinem Herzen so nah wie sonst kein Menschenkind in Zürich.
Wenn -- wie es heißt -- Lebensgefährten einander ergänzen sollen,
vermag er sich nichts Vollkommeneres zu denken als sie; und auch er
hofft ihr -- so sehr er in der Gegenwart seine Mängel fühlt -- aus
seinen Zukunftsplänen einige haltbare Wechsel bieten zu können. Ihr
steht es frei, ihm nein zu sagen, nicht aber ihm, sie zu fragen.

Um sich zu prüfen, schließt er sich vor der Schwester ein -- die Mutter
ist in Höngg, den kranken Großvater zu pflegen -- und sagt dem Babeli,
daß er krank wäre. Er wird auch wirklich krank in der Unruhe und Marter
seiner Sehnsüchte und Hoffnungslosigkeiten, bis er nach hitzigen
Fiebertagen einen Brief schreibt. Er sitzt den ganzen Tag daran, und es
wird mehr eine Abrechnung mit sich selber, darin er auf der einen Seite
die eigenen Mängel zu Bergen auftürmt, um auf der andern seine Neigung
und seine Vorsätze dagegen zu stellen. Aber als er nach einer dadurch
beruhigten Nacht den Brief noch einmal durchliest, erschrickt er selber
über seine Maßlosigkeit und zerreißt ihn. Er beginnt dann von neuem,
noch zweimal an dem Tag, auch diese Briefe wieder zerreißend; bis er,
aufs tiefste entmutigt über sein Mißgeschick, den ersten Brief noch
einmal in besonnener Form wiederholt und, um ein klares Ja oder Nein
bittend, ihn auch endlich absendet.

Sie läßt ihn zwei lange Tage und längere Nächte auf Antwort warten;
und was sie ihm dann schreibt, ist nur eine Aufzählung der Gründe, die
gegen ein innigeres Verhältnis sprechen, und der unverhohlene Wunsch,
mit einem abgewiesenen Liebhaber nicht den Freund zu verlieren. Aber
Heinrich Pestalozzi ist nun ein abgeschossener Pfeil, der sein Ziel
treffen oder verfehlen, nicht mehr zurück kann. Er schreibt ihr wieder,
alle Gründe, namentlich den ihres verschiedenen Alters, mit einem
Feuerwerk edler Worte widerlegend, und bittet sie aufs neue um eine
Unterredung -- die sie ihm zögernd gewährt. Diesmal treffen sie sich
frühmorgens auf der Straße nach Höngg, wo die Morgenfrische ihr gegen
seine brandige Leidenschaft hilft; doch muß sie ihm zugestehen, daß er
ihr schreiben und sie manchmal auch sehen dürfe. Sie hält danach noch
wochenlang an ihrer Bedingung fest, daß alles zwischen ihnen im Rahmen
der Kameradschaft bleiben solle. Aber mit abendlichen Stelldicheins und
morgendlichen Spaziergängen, mit langen Briefen und innigen Gesprächen
nistet sich auch bei ihr die Liebe ein, und als der Sommer auf seiner
Höhe ist, vermag Anna Schultheß dem Ansturm seiner Gefühle nicht
mehr zu widerstehen. Es schreckt sie nicht mehr, daß ihre Mutter den
schwarzen Pestaluz als einen unnützen und prahlerischen Schwarmgeist
verabscheut und selbst ihr Bruder Kaspar ihn einen Knaben nennt,
während der Zunftpfleger ihr zuliebe mit seinen sichtbaren Bedenken
humoristisch zurückhält, es schreckt sie nicht einmal, daß sie selber
an seinen Äußerlichkeiten Anstoß nimmt: sie hat in dem Schwarmgeist die
Tiefe der Gesinnung und in dem Knaben die Weite der Seele gespürt, die
sich freilich an allzu vielen Projekten begeistert, deren grenzenlose
Kühnheit sie aber mit Stolz empfindet. Auch die rastlose Werbung tut
das ihre, sie von der Unbeirrbarkeit seines Willens zu überzeugen:
als er wieder einmal vor ihr steht mit den dunklen Augen, aus denen
seine Seele in wahren Strahlenkränzen zu leuchten scheint, beugt sie
ihren Stolz der Kaufmannstochter, ihre weltklugen Erwägungen und die
Einsicht der älteren Jahre vor dem Ungestüm seiner Jugend und legt sich
-- auf die mancher wohlhabende Geschäftsfreund ihres Vaters im stillen
noch hofft -- mit dem Gelöbnis unverbrüchlicher Treue in die Arme des
einundzwanzigjährigen Jünglings Heinrich Pestalozzi.




                                Mittag


                                  34.

Der Drang seines frühreifen Schicksals will, daß Heinrich Pestalozzi
das Glück heimlicher Liebesstunden nur kosten, nicht genießen darf.
Um die Kaufmannstochter aus dem Pflug heim zu führen, kann er keinen
Beruf gebrauchen, der ihn mit unbestimmten Hoffnungen hinhält; und
mit den Entwürfen seiner Volksreden verbrennt er die hochmütigen
Advokatenpläne. Irgendwo die Handgriffe der Landwirtschaft zu lernen
und dann auf einem Gut zu üben, scheint ihm von allen Möglichkeiten die
rascheste; nun, wo er mit der Braut auch den Berater gefunden hat, der
durch Sachen- und Menschenkenntnis -- wie Bluntschli sagte -- seinen
Traumsinn ergänzt, glaubt er den Schritt aus der Schulweisheit in
das Bauerndasein wohl tun zu können, zumal Anna Schultheß ihn tapfer
billigt. Daß es zunächst ein Bruch mit den Beglückungsplänen seiner
Jugend ist, übersieht er nicht; aber auch hier beruhigt ihn ein Wort
des Freundes, daß man von den schwachen und niederen Stauden keine
Körbe voll Früchte ernten könne, der Baum müsse stark und groß sein, um
Früchte zu tragen! Wenn er erst einmal frei und wohlhabend auf eigenem
Boden sitzt, will er die vaterländischen Dinge schon nicht vergessen
haben!

Unterdessen ist seine Mutter noch immer bei dem kranken Großvater in
Höngg gewesen, während er mit der Schwester und dem alt gewordenen
Babeli gewirtschaftet hat; nun kommt sie zurück, und er holt sie eines
Nachmittags ab, freudig, ihr sein Glück mitzuteilen. Der Dekan geht
kaum noch aus seiner Studierstube heraus; er hat Sterbegedanken und
ist verdrießlich, daß ihm der Antistes noch einen Vikar aufdrängen
will, statt seinen natürlichen Abgang abzuwarten. So kann Heinrich
Pestalozzi ihm nichts sagen, und auch bei der Mutter kommt er erst auf
dem Rückweg dazu, als hinter Wipkingen die Buben vom Tantli zurück
gesprungen sind. Sie gehen an der selben Stelle, wo sie mit dem Knaben
so bitterlich geweint hat, als er endlich Stimmung und Worte für seine
Freudenbotschaft findet. Zunächst ist sie erschrocken, daß er zu
den andern Torheiten seiner Jugend auch noch die einer überstürzten
Heirat über sie bringen will; wie sie den Namen Anna Schultheß hört,
steigt das Wetterglas auf schön, da sie die Vorzüge der Person und der
äußerlichen Vorteile in eins übersieht. Eine Schar Tauben flattert
aus dem Feld, und ihre Sorgen fliegen mit; es fehlt nicht viel, so
wanderten sie auch diesmal Hand in Hand zur Niederdorfporte hinein.

Am nächsten Sonntag steht Heinrich Pestalozzi am Fenster und sieht
die Mutter aus der Predigt kommen, zögernden Schrittes, weil nicht
allzuweit hinter ihr auch die Anna Schultheß ihr Gesangbuch heimträgt;
er hätte der Mutter nicht soviel List zugetraut, wie sie dicht unter
seinem Fenster eine Nachbarin anspricht -- was sie sonst niemals tut
-- nur damit die Jungfrau an ihr vorbei muß. Sie grüßen sich still
nickend, aber er von seiner Warte nimmt den Blick, mit dem sich die
beiden Frauen umfassen, wie einen priesterlichen Segen wahr.

Weiter als bis zu solchen Blicken freilich kommt es zunächst nicht, da
die Mutter Annas sich hartnäckig der Verbindung mit dem unansehnlichen
und -- wie sie sagt -- kindsköpfigen Wundarztsohn widersetzt; bevor
Heinrich Pestalozzi nicht vor der Welt etwas anderes vorstellt, kann er
nicht auf ein öffentliches Verlöbnis hoffen. Er offenbart sich Lavater,
weil der den Berner Chorschreiber Tschiffeli kennt, der mit seiner
Musterwirtschaft in Kirchberg als der beste Landwirt der Schweiz gilt
und namentlich die Zucht der Krappwurzel für die Rotfärberei als ein
neues und einträgliches Bauerngewerbe treibt. Lavater schreibt um eine
Lehrstelle, und rascher, als Heinrich Pestalozzi es gedacht hat, tut
sich für ihn eine Schlupftür ins praktische Leben auf. So schmerzlich
ihm die Trennung von Anna ist, der Drang, aus der Ungewißheit seiner
gescheiterten Studien in eine rechtschaffene Stellung vor der Welt zu
kommen, läßt ihn keinen Tag zögern.

Den letzten Abend ist er bei ihr draußen in Wollishofen, wo ihre Eltern
ein Gütchen besitzen; sie haben sich schon mehrmals da getroffen, aber
nun drängt die Wehmut des Abschieds zum Genuß der Stunde. Heinrich
Pestalozzi fühlt, daß er wie ein Baum im Frühling ist; obwohl sie beide
das Heiligtum ihrer Liebe zu hüten wissen, verblaßt die Nacht schon in
den frühen Tag, als er aus Tränen und ewigen Gelöbnissen losgerissen
am See vorbei nach Zürich zurückwandert. Es sind noch die selben Wege,
es ist die Stadt mit dem Getürm ihrer Tore und Kirchen, und überall in
den verschlafenen Häusern erwacht die tägliche Arbeit; nur er selber
irrt nicht mehr mit ziellosen Sehnsüchten darin umher: Liebe und Beruf
führen ihn aus ihrem Wirrwarr in die Einfältigkeit eines natürlichen
Daseins hinaus, darin sein ländliches Besitztum, von der Anna
Schultheß als Stauffacherin verwaltet, durch Wohlstand und Wohltun den
Mittelpunkt einer Bauernschaft abgeben soll. Um in seinem Glück nichts
von den Vorsätzen seiner Jugend zu verlieren, sucht er noch einmal sein
Leben danach ab, sich feierlich für jeden einzelnen verbürgend, sodaß
er aus dieser in Liebe durchwachten Nacht mit Gelöbnissen beladen im
Roten Gatter ankommt.

Da fängt der Abschied noch einmal an, und es gilt mehr als eine
Trennung auf Wiedersehen: hier packt er für immer ein. Trotzdem geht
alles viel leichter als in Wollishofen, und er schämt sich fast, mit
welchen Scherzen er das Nest seiner Jugend verläßt. Der Himmel seiner
Zukunft ist blausonnig wie der Septembermorgen, der seine Federwölkchen
nur zum Spiel aufsteigen läßt; und als er im Postwagen gegen Baden
und Aarau fährt, geht nicht ein trüber Gedanke mit. Lavater hat ihm
das Bild seiner Anna auf ein Papier gemalt, das hält er in Händen und
merkt nicht, wie die Mitreisenden sich über ihn lustig machen: sie ist
die Sonne, aus der alles Licht aufgeht, so sehr, daß ihm die Bäume
und Wiesen draußen in Schatten zu fallen scheinen, wenn er das Blatt
umdreht.


                                  35.

Die Fahrt nach Kirchberg dauert zwei Tage; es ist die erste wirkliche
Reise, die Heinrich Pestalozzi macht. Sie geht das Limmattal hinunter
über Baden nach Brugg und dann im breiten Aaretal hinauf über Aarau
ins Berner Vorland hinein; die Landschaft wechselt aus der waldigen
Enge seiner Zürcher Heimat in die breite bernische Behaglichkeit, und
auch die Sprache macht diesen Wechsel mit: er nimmt davon so wenig
wahr wie von den Mitreisenden. Wenn ihn etwas so bewegt, wie jetzt
der Abschied und die kreisenden Gedanken um das Ziel, verlieren seine
Sinne den Zugang zum Bewußtsein; er kann stundenlang sitzen und ihren
Wahrnehmungen keine Aufmerksamkeit schenken, sodaß sie gleichsam an den
Zäunen Wächterdienste tun, indessen seine Seele im Garten ihrer selber
spazieren geht.

Erst als sie am zweiten Nachmittag ins weite Emmental hinein fahren
und einer beim Anblick der ersten Krappfelder den Namen Tschiffeli
ausspricht, wacht er auf und möchte am liebsten gleich aus dem Wagen
springen, die berühmte Kultur der Färberröte zu sehen. Er weiß, daß es
nur die Wurzeln sind, die den Farbstoff enthalten, an mannshohe Stauden
mit stachligen Blättern und Blüten hat er nicht gedacht; als nun ein
leiser Wind hindurch rieselt, erschließt sich ihm die beglückende
Aussicht, daß dieser Anbau die Schönheit ländlicher Arbeit nicht
vermissen lasse: wie beim Korn, beim Flachs und in den Wiesen gibt sich
auch hier das Wachstum der Natur als ein Segen, der dem Menschen mit
allen Wundern der Blüte und der schwellenden Frucht in die Hände wächst.

Er findet Tschiffeli als einen gebräunten Mann anfangs der Fünfziger,
der diesen Überschwall wogender Felder aus einer verwahrlosten Öde
geschaffen hat und wie ihr leibhaftiger Gottvater darin umher geht.
Als blutarmer Leute Kind verdankt er alles der eigenen Kraft, die
seine neumodischen Einfälle gegen die guten Meinungen und Ratschläge
der Gewohnheit durchgesetzt hat, bis er als erfolgreicher Mann vor
seinem Vaterland dasteht. Das gibt seinem mannhaften Wesen eine
andere Geltung, als die Zürcher Herren sie aus ihrer Herkunft oder
Gelehrsamkeit besitzen; Heinrich Pestalozzi fühlt hier einen Teil von
sich selber zur Vollendung gekommen, und wenn er ihn Vater nennt,
wie es auf dem Gut Sitte ist, liegt für ihn ein besonderer Sinn
darin. Tschiffeli wiederum freut sich dieses Zöglings, der garnicht
das Stadtsöhnchen spielt, den ganzen Tag in Hemdärmeln arbeitet und
abends noch lustig ist zu Tabellen und Berechnungen. Wenn seine
Ungeschicklichkeit auch viel mit zerschnittenen Fingern und Beulen zu
tun hat, so ist doch noch niemand da gewesen, der seinen Spekulationen
so begeistert und mit Verständnis anhängt.

Es wird ein reicher Herbst und Winter für Heinrich Pestalozzi, der mit
seinen eigenen Plänen hier nicht verlacht wird, wie bei den Freunden
in Zürich, sondern einen bereitwilligen Berater findet. Wenn er sieht,
wie Tschiffeli für die fünf Gemeinden seiner Güter ein Wohltäter
geworden ist, indem durch ihn Ordnung und Verdienst dahin kam, wo
vorher Unordentlichkeit und Armut waren, erkennt er freilich auch,
daß es wirksamere Mittel zur Übung der Volkswohlfahrt gibt als die
öffentliche Anklägerei der jugendlichen Patrioten: das Beispiel und
der Antrieb zur Selbsthilfe. So wie Tschiffeli im bernischen Land will
er einmal im Zürcher Gebiet dastehen als der Mittelpunkt einer in
planvoller Gemeinsamkeit fröhlich schaffender Bauernsame. Er kann einen
wahren Spott mit sich selber treiben, wenn er an Winterabenden bei
den Berechnungen hilft -- wieviel Jucharten für diese und jene Kultur
einzurichten wären, um mit der mutmaßlichen Ernte den Abschlüssen
gerecht zu werden -- und dann an seine Jugendläuferei in Zürich denkt,
an den Schwall seiner Freunde, Pläne und Sehnsüchte, und wie hier
alles sich selber zufrieden macht; die Zürcher Stadtbürger haben den
schwarzen Pestaluz sicher kaum kritischer betrachtet, als er es nun
selber tut.

Aber feierlich wie das große Himmelslicht jeden Morgen hinter den
Emmentaler Bergen wärmend und segnend über der Arbeit Tschiffelis
aufsteigt, so steht die Liebe über seinem Tageslauf: sie weckt ihn in
der Frühe und sie bläst ihm abends die Kerze aus, nichts gerät ihm,
ohne daß er die Stimme Annas zu hören glaubt, und nichts mißrät, ohne
daß er ihre Augen mit dem scherzhaften Tadel darin fühlt. Er hat sich
eine feste Ordnung gemacht, ihr seine Erlebnisse und Erfahrungen zu
schreiben, und da sie ebenso pünktlich antwortet, flechten die hin und
her reisenden Briefe aus ihren getrennten Lebensläufen einen Zopf,
darin die Hoffnung mit lustigen Schleifen eingebunden ist.


                                  36.

Es sind fast neun Monate, die Heinrich Pestalozzi als Lehrling der
Landwirtschaft zubringt; aus dem Zürcher Theologiestudenten wird ein
bernischer Bauernknecht, der stolz auf seine vernarbten Hände ist und
Sonntags in Hemdärmeln zur Kirche geht. So findet ihn seine Braut, als
sie ein freundliches Geschick zu einem Besuch in Kirchberg ausnützen
kann. Ihr Bruder Kaspar hat eine Pfarrstelle im Württembergischen
bekommen, die nach alten Herkünften den Zürcher Herren untersteht; er
führt nun befriedigt seine Susanna Judith Motta aus dem Traverser Tal
heim, eine Herzensfreundin der Schwester und auch Heinrich Pestalozzi
aus ihrem Zürcher Aufenthalt wohlbekannt. Anna holt ihn zur Hochzeit
ab, da es über Kirchberg kein zu großer Umweg ist, und sieht mit
eigenen Augen das gelobte Land ihres Freundes.

Es wird ein Jubeltag für Heinrich Pestalozzi, wie er noch keinen
erlebte, als er seinem Meister Tschiffeli und allen Leuten auf dem Gut
ein so stattliches und feines Frauenzimmer als seine Braut vorweisen
kann. Sie hingegen ist sichtlich bestürzt über die Verwahrlosung seiner
Hände und Kleider, doch findet sie sich rasch und folgt ihm in die
Gärten und Felder, die Schauplätze seiner Wochenberichte nun selber
zu sehen. Am Abend hat Tschiffeli dem Gast zu Ehren Wein und Blumen
auf den Tisch gestellt, und da er in ihrer Gegenwart den Eifer und das
Geschick seines Lehrlings mit anerkennenden Worten belegt, kommt der
Besuch zu einem fröhlichen Abschluß, sodaß Heinrich Pestalozzi der Tag
nicht mehr fern scheint, wo er selber mit ihr als solch ein Gutsherr
dasitzen wird.

Als sie andern Morgens miteinander in den Wagen steigen, gegen
Burgdorf und Aarberg aus dem ländlichen Bereich seiner Bekanntschaft
hinauszufahren, sitzen ein paar Stutzer aus Neuenburg darin, die ihn
belächeln. Heinrich Pestalozzi im Eifer, ihr noch im Abfahren jeden Weg
und Hügel seiner Welt zu zeigen, merkt nichts davon; sie aber zupft ihm
seine Kleidung zurecht und wird schweigsamer, je weiter sie ins welsche
Land hineinfahren. Zum ersten Male erlebt er, wie ihn mit der Sprache
auch die Heimat verläßt; je näher sie an den waldigen Jura heranfahren,
je seltener trifft ein deutsches Wort sein Ohr. Das letzte ist der
Abschiedsgruß einer alten Bäuerin aus Erlach, die von Aarberg bis Ins
mitreist; dann fährt er mit Anna allein in die welsche Welt, und obwohl
er im Schutzgebiet der Eidgenossenschaft bleibt und obwohl die Sprache
Rousseaus seiner Seele mit mancher Wendung vertraut ist: der fremde
Klang schlägt an seine Ohren, als ob er ins Wasser geworfen wäre.

Das wird im Val Travers nicht besser, wo sie spät abends von ihrem
Bruder Kaspar und seiner Braut abgeholt werden; in Zürich hat die
Judith Motta nicht anders als deutsch gesprochen, hier in ihrer Heimat
ist sie welsch, und Heinrich Pestalozzi erleidet ein Gefühl, als ob ihm
Anna von einer Strömung fortgerissen würde, wie sie nun selber in der
fremden Flut untergeht. Als sie sich im Eifer vergißt und ihn selber
in den welschen Lauten etwas fragt, vermag er ihr nicht zu antworten,
so schnürt ihm der Schrecken die Kehle zu. Er muß sich zwar am selben
Abend doch dazu bequemen, weil die Verwandten -- die im übrigen
freundliche Leute sind -- nur französisch sprechen; es macht ihm aber
Mühe, dem ungewohnten Schwall zu folgen, und er spürt grimmig, wie
seine Zunge über die fremden Silben stolpert.

Er übersteht die Hochzeit indessen tapfer, und weil er neben einer
ältlichen Tante aus Môtier sitzt, die für Rousseau schwärmt und ihn
vielmals gesehen hat, als er noch selber mit seiner Therese da wohnte,
vermag er sogar seine Scheu vor den welschen Worten zu überwinden.
Sie bleiben aber ungeschickt auf seiner Zunge und geben Anlaß zu
manchem Gelächter; namentlich die beiden Stutzer aus Neuenburg, die
unvermutet auch Hochzeitsgäste sind und an seiner Kleidung wie an
seinem bäuerlichen Wesen Anstoß nehmen, fangen an, ihren Spott mit ihm
zu treiben, gegen den er sich um so weniger wehren kann, als er die
Andeutungen in der fremden Sprache meist garnicht versteht. Da überdies
die Verwandten der Anna ihr Mitleid nicht verhehlen, als ältliche
Jungfer noch an einen solchen Tölpel geraten zu sein, und da die
Geltung in der Welt des guten Tons ihre Empfindlichkeit ist, sieht er
sie danach mehrmals weinen und hitzig an ihm werden, bis ein Vorfall am
dritten Hochzeitstag seiner gequälten Stimmung Luft macht.

Er hat das Haus sehen wollen, wo Rousseau wohnte; die Tante lud ihn
und die andern ein, und so schwärmt am Nachmittag die geputzte Schar
nach Môtier hinunter. Anna hat Freundinnen gefunden und plätschert in
der welschen Lustigkeit, als ob es ihr angeborenes Element wäre; der
eine Neuenburger hat sich als ihr Galan an sie gehängt, während der
andere angeblich als krank zurückgeblieben ist. Wie sie dann gegen das
Haus kommen, das ihm die andern in aufdringlicher Freundschaft schon
von weitem zeigen, geht die Tür auf, und augenscheinlich nach einem
Kupferstich des berühmten Mannes zurechtgemacht, tritt eine Gestalt im
Kaftan mit ausgebreiteten Armen heraus: Ob sie ihm sein Früchtchen,
den Emil, wieder mitgebracht hätten? Bevor Heinrich Pestalozzi die
Hänselei begreift, hat die Gestalt ihn gerührt ans Herz gezogen und ihm
von hinten her eine Zipfelkappe aufgestülpt, worüber sich dann alle
totlachen wollen. Er hört ihr Gelächter, als ob rundum Hunde bellten
-- auch Anna, so meint er, ist darunter -- aber ehe sich der Komödiant
dessen versieht, hat er ihn an der Gurgel, und als er unter dem Turban
das fade Gesicht des andern Neuenburgers erkennt, schlägt er zu, daß
dem die blutende Nase den Kaftan bemalt. Die andern springen abwehrend
herzu, und der hämische Scherz ginge mit einer bösen Prügelei aus,
wenn nicht Anna ihrem Freund die Hand von der Gurgel löste und ihn aus
dem Rudel zöge. Vor ihrer Bestimmtheit weichen die andern zurück; ohne
ihrer weiter zu achten, führt sie ihn ins Haus der Tante, deren Tür sie
hinter sich verschließt.

Das gute Wesen hat einen festlichen Kaffeetisch gedeckt und erlebt
nun erschrocken, wie sich die andern drohend auf der Straße sammeln
und mit Fäusten gegen die Tür trommeln. Als ein Stein durchs Fenster
herein fliegt, nimmt Anna ihren Verlobten wieder bei der Hand, führt
ihn rasch durch den Garten gegen den Wald hinauf und auf einsamen Wegen
zu den Verwandten zurück. Heinrich Pestalozzi ist noch lange erregt und
will ihr nicht folgen auf dieser Flucht; aber mehr noch als der Zwang
der festen Hand hält ihn der Klang ihrer Stimme. Sie spricht wieder
die vertraute Sprache, und nach dem welschen Geschrei ist es ihm, wie
wenn die Heimat selber in ihren Worten mit ihm spräche. Es war nur ein
Scherz von ihnen, und ich hätte nicht aufbegehren sollen! sagt Heinrich
Pestalozzi zuletzt und bleibt vor ihr stehen, als ob er sie beruhigen
müsse; sie aber schüttelt den Kopf und wendet sich bittend von ihm
ab: Daß du aufbegehrtest, war recht und ich hab dich lieb darum; aber
wir hätten nicht herkommen sollen! Und dann nach einer Pause wieder
gewaltsam lächelnd in ihrer schelmischen Art: Du mußt denken, daß die
Traverser dem Rousseau auch die Fenster eingeworfen haben, bevor er auf
die Flucht ging nach der Petersinsel.


                                  37.

Heinrich Pestalozzi hat auch die Frühjahrsbehandlung der Krappkultur
erlebt, und seine Lehrzeit geht zu Ende; aber noch immer fehlt ihm
das Jawort aus dem Pflug, sodaß er von dem zukünftigen Gut nicht mehr
als den Hausschlüssel der Liebe in den Händen hält. Um ihren Eltern
einen andern Begriff von dem schwarzen Pestaluz zu geben, schreibt
er der Anna eine für fremde Augen geeignete Darlegung seiner Pläne
mit scharfsinnigen Berechnungen der Rentabilität, wie er gleich
seinem Lehrer Tschiffeli Ödland ankaufen und zur Krappkultur instand
setzen wolle; nur zwanzig Jucharte, davon fünfzehn dem Krapp und fünf
der Gärtnerei dienten. Artischoken, Spargel, Cardiviol und anderes
Feingemüse im großen zu gewinnen und teilweise erst im Frühjahr -- nach
einer neuen Art der Überwinterung -- mit doppeltem Abtrag zu verkaufen,
dagegen keine Wiese, keine Äcker, keine Reben und wenig Vieh zu haben:
das solle die nährende Grundlage seiner Landwirtschaft sein, daraus er
genügenden Unterhalt zu finden glaube!

Es ist alles wie für eine Doktorarbeit durchgedacht; aber die
praktischen Eltern im Pflug sehen den Scharfsinn auf die Mitgift ihrer
Tochter gegründet und sind weniger als je geneigt, damit in ungewisse
Projekte einzutreten; sie halten in den Dingen des Erwerbs praktische
Hände für wichtiger als Ideen und finden in solchen Projekten nur
den Bessermacher aus dem Roten Gatter, dem sie die Mitgift mit einem
glatten Nein zudecken, in der Hoffnung, daß ihnen dann auch die Tochter
bliebe.

So kommt Heinrich Pestalozzi im Frühsommer als ein von Sonne und Regen
gebräunter Landwirt ohne Land nach Zürich zurück; auch seine Hoffnungen
auf die wohlhabende Tante Weber in Leipzig erfüllen sich nicht; der
Doktor Hirzel verschafft ihm zwar die Aussicht, das Pachtgut der
Johanniter in Bubikon zu übernehmen, doch geht ein so weitschichtiger
Betrieb über seine Kräfte. Verdrießlich an dieser Ungewißheit und weil
es regnet, steht er eines Tages unter den Lauben, als ihm jemand die
Hand auflegt; wie er umsieht, ist es der Pfarrer Rengger aus Gebistorf
bei Brugg, den er aus seiner Kollegienzeit kennt. Der fragt ihn aus
nach seiner Lehrzeit bei Tschiffeli, und als dabei der Grund seiner
Verdrießlichkeit zutage kommt, spricht er scherzend von dem Birrfeld
bei Brugg; dort habe man vor kurzem noch steinichte Äcker umsonst
ausgeboten: wenn er etwa bei dem Hexenmeister in Kirchberg die Kunst
gelernt habe, aus Steinen Brot zu machen, fände er dort Feld genug.

Er hat nur einen spöttischen Scherz machen wollen; aber Heinrich
Pestalozzi nimmt den Vorschlag ernst und ist gleich eifrig dabei,
Näheres zu wissen. Da dem andern nicht mehr als der allgemeine
Verruf des Birrfeldes bekannt ist, führt er ihn von der Gasse weg
ins Weiße Rößli am See, wo er sich -- um einer geistlichen Tagung
willen in Zürich anwesend -- mit dem Pfarrer Fröhlich aus Birr und
andern Kollegen abgesprochen habe. Der weiß genauer zu berichten:
daß im ganzen fünf Gemeinden an dem Birrfeld teil hätten, daß es
vielleicht mehr als andere Gegenden an der Mißwirtschaft des Weidganges
leide, aber durchaus nicht nur ein wüstes Heideland sei, wie es
verschrien wäre. Er rät Heinrich Pestalozzi, als er seine Absichten
hört, ernsthaft zu einer Besichtigung, und da ihn nun auch Rengger
freundschaftlich einlädt, springt er mit beiden Füßen in den Plan ein;
um so mehr, als der Pfarrer Fröhlich von einem burgähnlichen Gebäude
in Müligen an der Reuß spricht, seit altersher der Turm genannt, das
mit Scheune, Stall und Garten zu mieten wäre.

Noch in derselben Woche ist er nach Gebistorf unterwegs; er findet das
Birrfeld als eine stundenweite Hochfläche, die zur Reuß mit steilen
Waldhängen abfällt und sich in steinichten Halden gegen das Kalkgebirge
des Kestenbergs hebt, auf dem das alte Schloß Brunegg steht. Von einem
mit Kiesgeröll gemischten Moder bedeckt und an vielen Stellen sumpfig
wie ein altes Seebecken, ist sie mit Wacholder und kleinen Tännchen
bestanden und bietet den Anblick einer Heide, obwohl sie da, wo sie
wirklich bebaut ist, garnicht so üble Felder zeigt. Namentlich aber
gefällt ihm die Wohnung in Müligen; mit Efeu dicht berankt und unter
Bäumen am Hügelabhang sonnig gelegen, scheint sie ihm wohl geeignet als
Nest für sein kommendes Glück. Sie gehört einer begüterten Familie in
Brugg, und er beeilt sich, sie für vierzig Gulden jährlich zu mieten.
Der heimlichen Liebsten kann er nur in Briefen blühende Schilderungen
davon machen; aber seine Mutter kommt bald auf einem Wagen, das Nest
mit einem Bett und dem nötigsten Hausrat einzurichten. Es wird anders
mit ihren Söhnen, als sie gehofft hat: der eine tut als Kaufmann nicht
gut, und der andere hat mehr als ein Dutzend Jahre die Schulbänke
gedrückt, um die Weltverlassenheit dieser Bauernschaft als sein Glück
zu preisen. Sie vermag bei seinen Freudensprüngen nicht mehr zu lächeln
und sieht über die Stundenweite des Birrfeldes mit einer trostlosen
Wehmut hin. Dies wird einmal ein einziges Gartenfeld sein! sagt
Heinrich Pestalozzi und begreift die ärmlichen Dörfer des Landes in
einer großmächtigen Armbewegung. Sie zieht das schwarze Witwentuch um
ihre schmächtige Gestalt, als ob sie fröre; doch als er sie dann fast
knabentrotzig fragt, ob sie es nicht glaube? weht ihr ein Lächeln alles
Trübe fort aus dem blassen Gesicht: Wie soll eine Mutter anders als
gläubig zu ihren Kindern sein!


                                  38.

Jeden Morgen steigt Heinrich Pestalozzi den steinichten Hügelweg
hinauf, das Birrfeld wie ein Eroberer zu durchqueren; die Mutter hat
ihm einen Rest des väterlichen Vermögens mitgebracht, den sie zur Not
entbehren kann, und so kann er auf eigenen Landerwerb ausgehen. Er
findet die besten Plätze bald in den Hummeläckern, die ziemlich mitten
im Birrfeld liegen und zu der Gemeinde Lupfig gehören. Die Üppigkeit
einiger Kirschbäume gibt ihm Gewißheit, daß der verwahrloste Boden mit
guter Düngung bald ertragreich zu machen wäre, und rasch entschlossen
wendet er siebenundfünfzig Gulden an, sich vier bis fünf Jucharte davon
zu kaufen, die er mit allem Eifer seiner gelernten Künste aus einem
Mergellager am Kestenberg aufbessern will. Darüber aber kommt er bei
den Leuten der Gemeinde auch schon ins Gespräch als Herrenbauer, und
mehr als einer hört die ungewohnte Geldquelle gegen seine Äcker rinnen.
Als er darauf mit weiteren Ankäufen zögert, fangen die bäuerlichen
Listen an, sich mit Wegerechten, Weidgang und andern Vorwänden drückend
zu machen, sodaß er wohl oder übel zu höheren Preisen kaufen muß.

In diesen Schwierigkeiten, die ihn allein befallen, weil seine Mutter
wieder nach Höngg zum kranken Großvater gerufen ist, geht er eines
Nachmittags verdrießlich nach seinem Turm zurück, als ihn ein Mann
mit seinen Wägelchen einholt und aufsteigen heißt, da er gleichfalls
nach Müligen führe. Er hat den Mann auf seinen Gängen schon mehrmals
angetroffen, und weil ihn die Mißlichkeiten müde und unlustig zum Gehen
gemacht haben, nimmt er das Angebot gern an. Unterwegs holt ihn der
andere beiläufig aus, ob er auf seinem Hummelacker zu bauen gedächte,
und als er das bejaht: ob er denn Wasser habe? Warum er nicht weiter
aus dem Birrfeld hinaus, etwa da oben in den Letten baue? Da habe er
Quellen genug, brauche sich mit keinem Anlieger herumzuschlagen und sei
Herr auf seinem Boden. Billiger als da unten sei das Land sicher, wo
auch sonst die Lupfiger keine günstige Nachbarschaft wären.

Heinrich Pestalozzi weiß, daß der Mann, den er von seinen Gängen her
als einen Metzger und Wirt aus Birr mit Namen Märki kennt, wohlhabend
und durch seine Geschäfte bewandert in allen Verhältnissen der Gegend
ist. Irgendwie fällt ihm das Wort Bluntschlis von dem Ratgeber ein, und
da ihn der Mann im Sprechen auffällig an seinen Lehrmeister Tschiffeli
erinnert, nur daß er genau so drastisch in seinen Ausdrücken wie
jener vorsichtig ist, sieht er ihn prüfend von der Seite an und nicht
unlustig, seine Dinge mit ihm zu besprechen. Der aber scheint von dem
Gespräch genug zu haben, kutschiert gleichmütig darauf los, bald hier
bald dort mit dem Peitschenstiel auf eine Merkwürdigkeit deutend, sodaß
Heinrich Pestalozzi fast bedauert, als sie hart bremsend den letzten
gewundenen Abstieg nach Müligen hinunter fahren. Eine Einladung, bei
ihm für einen Augenblick abzusteigen, nimmt der Mann nicht an, da er es
wegen der Dunkelheit eilig habe. Bald sieht er ihn denn auch wieder den
Weg hinauf kutschieren, rüstig zu Fuß, das Pferd am Zügel führend.

Schon am andern Tag macht er einen Weg in die Letten hinauf; er findet
den Boden mit vermodertem Kalkgestein durchsetzt, das vielfach auch
mit einem beinernen Glanz zutage liegt: Hier ist wirklich Ödland, aber
wo der Hang ins ebene Feld ausläuft, doch wieder guter Boden, vor
allem aber ist reichlich Wasser da, und die abseitige Lage lockt ihn
besonders. Als er bis an den Waldrand hinaufgegangen ist und von da
unter einem Nußbaum über das stundenweite Birrfeld hinsieht -- stärker
als je in dem Traum, es von hier aus stückweise zu erobern und ein
Gartenmeer daraus zu machen, das Wohlstand in all die ärmlichen Dörfer
rundum verbreiten soll -- hört er hinter sich seinen Namen rufen, und
als er umsieht, steht der Märki dort und winkt ihm. Augenscheinlich
will er nicht gesehen werden, und so steigt Heinrich Pestalozzi zu
ihm hinauf in den Wald. Der selbe Mann, der gestern gleichmütig war,
scheint heute wütend: falls er etwa die Absicht habe, hier zu kaufen,
so möge er sich selber das Geschäft nicht verderben, indem er hellen
Tags hier herumlaufe! Bauern seien Bauern: wenn er, der Märki, etwa
hinginge und ihnen bares Geld für einen Acker brächte, wären sie
noch so froh; so aber der Herrenbauer käme, glaube jeder gleich das
große Los zu spielen. Er wolle sich mit diesem Beispiel nicht etwa
aufdrängen, er habe hier nur zufällig einer Klafter Kleinholz nachgehen
wollen, die überm Winter vergessen worden sei. Da er ihm aber nun
einmal den Rat gegeben habe, möge er natürlich nicht, daß er dabei zu
Schaden käme und ihm schließlich noch Vorwürfe mache!

Nichts für ungut, sagt er dann wieder höflich, als er das alles mit
rotem Kopf mehr geschimpft als gesprochen hat, lüpft an seiner Kappe
und geht davon, gefolgt von einem Metzgerhund, der sich faul aus der
Sonne aufhebt. Heinrich Pestalozzi bleibt wie ein gescholtener Schüler
zurück, doch ist er dem Mann dankbar; wenn er an die Tagelöhner in
Lupfig denkt, daß nie einer ein richtiges Wort aus den Zähnen läßt und
jeder an seinem Mißtrauen würgt, irgend einen Vorteil zu verlieren, so
ist dies doch von der Leber gesprochen. Er folgt seiner Weisung, geht
nicht über Birr, sondern im Bogen durch den Wald gegen die Hummeläcker,
wo ihm nun nichts mehr gefällt, sodaß er seine Pläne umdenkend nach
Müligen heimkehrt. Noch am selben Abend schickt er dem Märki eine
Botschaft nach Birr hinauf, und nun wird es rasch ein anderes Geschäft
für ihn: in knapp acht Tagen hat er durch den gewandten Unterhändler
zehn weitere Jucharte dazu gekauft, nicht übles Land, noch in der
Ebene gegen den Letten gelegen, sodaß er einen guten Platz für sein
Haus, einen Brunnen dazu und Land genug besitzt, um seine Plantage
zu beginnen. Daß die nun in zwei Stücken auseinander liegt, die
Hummeläcker mitten im Birrfeld und das andere eine gute halbe Stunde
weiter hinauf am Letten, beunruhigt ihn ebensowenig wie der doppelte
Preis: auch Tschiffeli hat so zerstreut Boden fassen müssen, und
schließlich ist doch alles ein großer Besitz geworden. Seitdem er den
Metzger Märki als Ratgeber hat, fehlt es ihm nicht mehr an Zutrauen,
daß auch sein Traum gelingt. Denn daß er selber in die Hände eines
Mannes geraten ist, der vieles zu sich heranbiegt, um daraus nichts als
seinen Nutzen zu haben -- was unter Kaufleuten die einzige Moral ist --
während er sich selber einen Nutzen immer nur erträumt, um eine Quelle
des Wohlstandes für die andern zu sein: das soll er noch erst erfahren.


                                  39.

Über dem ist der Herbst gekommen und weht Heinrich Pestalozzi die
dürren Blätter vor die Haustür; die Singvögel ziehen der scheidenden
Sonne nach, und abends steigen die Nebel kalt aus der Waldschlucht,
darin die Reuß ihr spärlich gewordenes Wasser der Aare zuführt: nach
dem Sommer mit der sonnigen Fülle seiner langen Tage kommt der Winter,
der die Menschen in den Kreis der Lampe drängt. An der seinen war das
Messing blank, als Anna sie schenkte: aber ihre Hände sind nicht da,
es zu putzen. Nicht einmal ein Stück Vieh steht im Stall, und Heinrich
Pestalozzi, der doch ein Stadtkind und gewohnt ist, über seine Dinge zu
sprechen, sitzt Abend für Abend allein in seinem Turm. Die Mutter kann
nicht mehr kommen, weil der Großvater sie wieder nach Höngg gefordert
hat; und dem Bärbel war es bald zu grauslich zwischen Wald und Wasser.
Seit seinem heimlichen Verlöbnis ist mehr als ein Jahr verstrichen,
Anna hat im Sommer schon ihren dreißigsten Geburtstag erlebt, und immer
noch steht die Weigerung der Eltern vor der gemeinsamen Zukunft. Die
Melancholie der Einsamkeit läßt ihren bitteren Saft in seine Stunden
fließen, und andere Briefe flattern nach Zürich, als sie aus Kirchberg
gingen. Einigemal reist er selber hin, auch nach Brugg kommt er
Samstags, die Schaffhäuser Zeitung zu lesen: aber es ist eine tote Zeit
für Heinrich Pestalozzi, da er zum erstenmal den einsamen Winter des
Landmanns wirklich zu spüren bekommt.

Noch im Spätherbst haben auf einer Spazierreise zu Pferd einige Freunde
aus Zürich bei ihm angeklopft, um sich den Scherz eines Besuchs bei
dem Einsiedler von Müligen zu machen; sie waren überrascht, alles
so heimelig bei ihm zu finden -- das Bärbel war gerade da -- und
namentlich der Johannes Schultheß aus dem Gewundenen Schwert, dessen
Vater Bankgeschäfte macht, zeigte für seinen Plan viel Aufmerksamkeit.
Er hat ihm unterdessen mehrmals geschrieben und ist tatsächlich auch
bei seinem Vater nicht untätig geblieben; als endlich das letzte
Schneewasser mit hundert Bächen die Reuß braun färbt und die ersten
vorwitzigen Singvögel den Sonnenschein prüfen, geht Heinrich Pestalozzi
in der Entschlossenheit eines Verschwörers nach Zürich, mit dem
Bankherrn in eine Geschäftsverbindung zu kommen. Es dauert zwar noch
ziemlich eine Woche, und er muß sich manche Laune des aufbrausenden
alten Herrn gefallen lassen; aber der Sohn läßt nicht locker, und
schließlich kommt eine Abmachung zustande, daß der Bankiers mit einem
Einsatz von fünfzehntausend Gulden allmählich in seine Pflanzung
eintreten will und ihm gleich ein Drittel dieser Summe als Kredit
eröffnet.

Damit steht Heinrich Pestalozzi vor den Kaufmannsleuten im Pflug als
einer ihresgleichen da, und als er aus dem Gewundenen Schwert an die
Limmat hinaustritt, seinen Kreditbrief in der Hand, wagt er damit
auch den zweiten Gang. Er findet aber niemand zu Haus als den Bruder
Salomon, da die Eltern mit Anna nach Wollishofen hinaus gegangen
sind; das ist ein bequemer und weichlicher Mensch, der mit seinem
Doktorstudium nicht fertig wird und den Schwarmgeist aus dem Roten
Gatter wie eine Brummfliege haßt: er steht nicht einmal auf von der
Polsterbank, und als ihm Heinrich Pestalozzi seinen Kreditbrief zeigt,
spöttelt er, die Schwester sei ihnen kostbarer als solch ein Stück
Papier. Auch Anna, die er am Abend für eine Stunde sieht, vermag ihm
keine bessere Hoffnung zu geben, da die Mutter unversöhnlich sei und
der Vater nichts gegen sie vermöchte. So muß er andern Nachmittags doch
wieder ohne Braut in das Limmatschiff steigen.

Vorher ist er noch einmal nach Höngg hinaufgegangen, wo sein Freund
Wüst als Vikar das Pfarramt versieht, dessen Würden der Großvater
nur noch in seiner Studierstube zu tragen vermag. Er ist mit seinen
sechsundsiebzig Jahren ganz wunderlich geworden, schüttelt zu allem,
was er ihm sagt, nur den leeren Kopf, als ob er genug von den Dingen
der Erde gehört habe. Erst wie er Abschied nehmen will und die zittrige
Geisterhand in die seine nimmt, hebt er den anderen Zeigefinger, ihn zu
vermahnen, läßt aber gleich wieder ab und schüttelt von neuem den Kopf,
sodaß Heinrich Pestalozzi nichts vermag, als weinend seinen Mund auf
die kraftlosen Hände zu legen.

Im Juli danach ist er tot; Heinrich Pestalozzi erhält die Nachricht
so spät, daß er das Leichenbegängnis nicht mehr erreicht; wie er
nach der langen Postfahrt den Berg hinauf hastet, kommt ihm auf der
Straße still weinend Anna Schultheß entgegen, die außer dem Willen
ihrer Eltern mit auf den Kirchhof gegangen ist und nun nach Hause
will. Ihr so unvermutet auf dem Berg seiner Jugend zu begegnen, das
reißt ihn hin; und auch sie ist durch das Ereignis so bewegt, daß die
beiden sich aller Augen zum Trotz weinend in die Arme fliegen. Nachher
gehen sie Hand in Hand nach Höngg zurück, wo unter den leidtragenden
Amtsgenossen des verstorbenen Dekans noch die Mutter mit dem Bärbel
ist. Heinrich Pestalozzi läßt auch da die Hand der Geliebten nicht
los, und sie sträubt sich nicht, sodaß sie wie zwei Kinder an den
frischen Grabhügel kommen. Beide entsinnen sich da des Grabes, das
ihre Freundschaft zusammen führte; aber während er sie nun losläßt und
weinend niederkniet, bleibt sie aufrecht und verharrend bei ihm stehen,
bis sein Blick sie wiederfindet. Dann gibt sie ihm die Hand zurück,
und weil er seiner Füße nicht geachtet hat, kommt es so, daß sie zu
beiden Seiten des Grabes stehen, über dem ihre Hände sich für immer
geschlossen halten.


                                  40.

Seit dieser Begegnung in Höngg müssen die Kaufmannsleute im Pflug
einsehen, daß nichts mehr ihre Tochter vor dem schwarzen Pestaluz
bewahren kann. Als nacheinander seine Freunde Füeßli und Lavater --
der nun schon Diakonus ist -- sich um die Liebenden bemühen, als der
wohlhabende und angesehene Doktor Hotz von Richterswil als Freiwerber
für seinen Neffen erscheint und mit dem Antistes Wirz selbst der
Bürgermeister Heidegger ein Wort für die Heirat findet, schickt sich
die Mutter grollend in die Gewalt und gibt die Tochter frei; jedoch nur
sie selber, ohne Aussteuer, allein die Kleider, ihren Sparhafen und
das Klavier darf sie mitnehmen. Heinrich Pestalozzi kommt mit einem
Wagen von Brugg, sie abzuholen; er hat sich den Tag anders gedacht, als
daß er sie gleich einer Verstoßenen wegführen müsse. Der Zunftpfleger
ist aus dem Hause gegangen, den Auftritt nicht zu erleben; die Mutter
empfängt ihn ohne Gruß wie einen Landfahrenden und gibt der Tochter den
zornigen Spruch mit, daß sie bei ihm noch einmal mit Brot und Wasser
zufrieden sein müsse! Aber Anna verhält sich tapfer und schön; sie
fühlt nun andere Mächte über sich als die elterliche Gewalt, und obwohl
sie ihr Gesicht blaß geweint hat, steht keine andere Sorge darin, als
der Mutter nicht hart zu begegnen.

Es fällt ein leichter Frühregen, wie sie durch die Sihlporte hinaus
auf der Straße nach Alstetten ihren Auszug beginnen; Heinrich
Pestalozzi hat die Geliebte eben noch in der Wohlhabenheit ihres
Hauses gesehen, die nun fröstelnd in der kühlen Nässe neben ihm auf
dem ärmlichen Fuhrwerk sitzt: so überkommt ihn die Wehmut, wie traurig
es für sie sein müsse, die Heimat so zu verlassen und mit ihm ins
Ungewisse zu fahren. Sie aber, die alles schon durchlebt hat, was
bitter daran ist, sieht nicht ein einziges Mal zurück; sie nimmt nur,
als sie seine Gedanken fühlt, mit einem tapferen Lächeln seine Hand
-- die nun ihre Heimat sei -- und in ihren Augen, die nicht dunkel
und voll Unruhe wie die seinen, sondern hell und ruhig sind, steht
der geklärte Entschluß aus harten Monaten, treu zu beharren bei ihrem
Herzen und dem Schicksal alles zu bezahlen, was es für die späte Liebe
fordert. So Hand in Hand beieinander auf ihren Siebensachen sitzend,
fahren sie durch den Herbsttag hin, der schon bei Alstetten zwischen
aufgeregtem Gewölk ein blaues Auge zeigt und gegen Baden die Sonne
zärtlich scheinen läßt.

Bis zur Hochzeit bleibt Anna Schultheß bei dem Pfarrer Rengger in
Gebistorf, der auch der Freund ihres Bruders ist; dort in der alten
Dorfkirche werden sie am letzten September getraut. Nachher gehen
sie miteinander nach Müligen, wo ihnen das Babeli ein einfaches Mahl
bereitet hat und mit einem bäuerlichen Spruch für die junge Frau unter
der bekränzten Haustür wartet. Anna dankt dem treuen alten Wesen mit
einem Kuß auf die runzelige Stirn und heißt es mit in ihrer Reihe
sitzen, wie sie Heinrich Pestalozzi leise sagt, als Ehrengast. Der
sieht die Braut allein von ihrer Sippe in der Mitte der Seinigen, als
wäre er noch immer zu Haus; aber es sind andere Räume, und unmerklich
ist in seinem Leben die Anna Schultheß an die Stelle der Mutter
gerückt. Sie sitzen nebeneinander, die ihn geboren hat und die ihm
Kinder bringen soll; es scheint ihm, als wären sie Schwestern, so
ähnlich sind sie. Das ist so stark, daß ihm die beiden auf einmal
entfremdet scheinen, weil er die eine nur als Mutter gekannt hat
und staunend fühlt, wie unbekannt ihm ihre Frauenwelt war; in diese
Frauenwelt aber ist die andere nun durch ihn eingefordert worden.
Da fühlt er tief, daß menschliches Glück nicht in der Erfüllung der
eigenen Wünsche bestehen könne, weil ein Mensch mit seinen Wünschen im
Gefängnis einsamer Dinge bliebe. Nur, wessen Seele in andere Seelen
einginge, könne aus der Enge seines zufälligen Daseins ins Leben kommen!


                                  41.

Als Heinrich Pestalozzi Anna Schultheß aus ihrem wohlhabenden
Stadtbürgertum in seine bäuerliche Einsamkeit holt, ist sein Besitz auf
neununddreißig Jucharte angewachsen, die meist im steinichten Letten
am Fuß und Abgang des Kestenbergs liegen. An die geplante Gärtnerei
kann er nicht denken, solange er selber noch so weit entfernt von
seinen zerstreuten Ländereien in Müligen wohnt; so beginnt er auf dem
Hummelacker wie auf den unteren Feldern im Letten seine Krappkultur und
sät die minderen Flächen vorerst mit Esparsette an, weil er weiß, daß
dieser Futterklee auch auf steinichtem Boden gerät und das Land für
anderen Anbau fruchtbar macht: das eifrigste seiner Geschäfte aber ist
der Plan eines eigenen Wohnhauses, das den zerstreuten Besitz erst zu
einem Gut machen muß, und mancher glückliche Herbstgang mit der tapfer
erkämpften Lebensgefährtin gilt der Bestimmung des Platzes, wo sie als
Hausfrau seiner Besitzung walten soll.

Auch was hierbei wehmütig ihre Schritte begleitet, daß ihr das eigene
Elternhaus feindlich versperrt sei, erfährt bald eine unvermutete
Wendung: ihrem Vater, dem Zunftpfleger zur Saffran, ist augenscheinlich
die Trennung von seiner einzigen Tochter das eigentliche Ärgernis an
ihren Heiratsplänen gewesen -- um so mehr, als er mit den Söhnen nicht
aufs beste steht und oft Verdruß mit ihnen hat -- und auch die Mutter
sieht nach der Trennung ein, daß es besser sei, eine Frau Pestalozzi
als gar keine Tochter mehr zu haben. Nicht länger als zwei Monate hält
ihr gekränkter Bürgerstolz der Sehnsucht stand, dann kommen Briefe nach
Müligen, die deutlich nach einer Aussöhnung verlangen; und eben will
der Winter das einsame Paar einschneien, als eine Einladung erscheint,
den vorenthaltenen elterlichen Segen zu holen, damit Weihnachten keinen
Unfrieden mehr in der Familie fände. Mitte Dezember schließen sie
frühmorgens in dunkler Kälte die Haustür in Müligen ab und sind abends
miteinander im Pflug, wo die Rührung des Wiedersehens die verlegene
Erinnerung an die lange Zwietracht im ersten Augenblick zudeckt und
danach rasch ein so erträgliches Verhältnis entsteht, daß sie statt
der gewollten drei Tage bis über Weihnachten bleiben. Es kommt nun
doch noch zu den verwandtschaftlichen Besuchen; die Mutter Pestalozzi
erscheint im Pflug, und die Zunftpflegersleute bemühen sich zum Essen
ins Rote Gatter, wo die geborene Hotzin sie mit den Formen ihrer
Jugend empfängt. Auch sonst gehen die jungen Leute den Fäden ihrer
Freundschaften nach, und der heilige Abend kommt als der Schlußpunkt
fröhlicher Festwochen. Um den Übermut zu vollenden, erscheint der Oheim
Hotz von Richterswil mit aller Behaglichkeit seines Alters und nimmt
sie mit auf eine Schlittenfahrt nach Hegi und Winterthur. Als sie
endlich, diesmal im Schiff, aus dem winterlichen Zürich heimfahren,
sind sie beschüttet von Segenswünschen und Versicherungen herzlicher
Freundschaft; denn der Heinrich Pestalozzi, im Pflug als Tochtermann
angenommen, steht anders vor der Welt da als der Wundarztsohn, der mit
der Tochter im Unfrieden auf einem Bauernfuhrwerk davongefahren ist.

So hätten sie Anlaß, fröhlich auf dem Wasser zu sein, das von der
winterlichen Mittagssonne dampft, und Anna sagt es auch, noch von dem
Übermut des Abschieds voll: daß dies erst ihre rechte Hochzeitsfahrt
sei. Aber ihre Fröhlichkeit schwimmt nur noch wie das Schiff auf dem
dunklen Wasser; und als ihr Heinrich Pestalozzi ins Auge sieht, traurig
fragend mit diesem Blick, wie sie das meine, kommt sie unvermutet ein
tiefes Weinen an, das er viel eher als den Übermut versteht. Ihm ist
aus dem Lärm dieses Mittags schon vorher die Wehmut aufgestiegen,
daß sie auf ihrem Wagen damals, den er selber durch den regnerischen
Herbsttag lenkte, einander näher gewesen seien, und mehr als dies,
daß sie näher am Herzen Gottes gehangen hätten als jetzt auf dieser
schaukelnden Schiffahrt, wo sich ihre Hände aus der Zerstreuung so
vieler Tage nicht zu finden vermögen.

Erst als sie von Turgi noch unter der mondhellen Sternennacht den
langen Weg nach Müligen wandern und kein Wort sprechen, verliert sich
Klang und Schaum der überfüllten Tage bis auf den letzten erdigen Rest,
der ihnen bitter schmeckt -- bis sich noch vor der Haustür Hand und
Mund zum innigen Gelöbnis finden.


                                  42.

Andern Morgens im Frühdunkel verläßt Heinrich Pestalozzi das Haus, um
noch einmal nach den Feldern zu sehen, darüber er am selben Vormittag
in Königsfelden vor dem Landvogt den Kaufvertrag machen will. Auf dem
einen steht der breite Nußbaum, unter dem er oft mit seiner jungen
Frau gestanden und das zukünftige Besitztum überblickt hat; da soll
dann ein schattiger Sitzplatz sein. Es ist kaum hell, als er hinkommt;
um so mehr erstaunt er, als Anschläge klingen und gleich darauf ein
schwerer Baum krachend niederstürzt; wie er Böses ahnend zuläuft,
liegt der Nußbaum auf der Erde, und der ihn gefällt hat, ist der Mann,
von dem er den steinichten Acker um dieses Nußbaums willen nicht eben
billig kaufen will. Es ist, wie er weiß, ein Tanner -- so nennen sie
die Tagelöhner im Birrfeld -- dem es mit sieben Kindern übel geht und
dem er deshalb auf Zureden Märkis auch den geforderten Kaufpreis ohne
Abrede zugestanden hat. Da er nur zufällig noch auf den Acker gekommen
ist und ihn andernfalls gekauft und bezahlt hätte, macht ihn die
Niedertracht des Mannes wütend, sodaß er schimpfend gegen ihn anläuft.
Der aber ist selber so im Zorn, daß er die Axt gegen ihn hebt; und
als er seinem Frevel dann mit Worten beikommen will -- nun kaufe er
den Acker überhaupt nicht oder nur um die Hälfte des Kaufpreises --
schlägt der Mann die Axt in den Stamm, daß es zischt: das sei ihm beim
Leibhaftigen gleich, und nur der Märki habe den Schaden davon! Seine
Wirtsschulden würden ihm doch falsch angekreidet, und er bekäme keinen
Kreuzer von dem Kaufgeld. Den Baum habe er als Knabe selber gepflanzt
und er solle auch keinem andern gehören!

Heinrich Pestalozzi hat schon mehrmals solche Dinge von dem Märki
vernommen, und von dem Pfarrer weiß er, daß die Leute um seiner
Verbindung mit dem Metzger willen gehässig gegen ihn sind; aber daß der
ihn betrügt wie hier, wo er sich den höheren Kaufpreis in seine eigene
Tasche gehandelt hat, das ist ihm eine bittere Erfahrung. Er geht
traurig von dem Platz fort und läßt dem Märki durch einen Boten sagen:
er könne nicht mit ihm fahren, würde aber pünktlich in Königsfelden
sein. Als er dann nach einer verstimmten und nicht gradlinigen
Wanderung den großspurigen Mann sieht, der auch unter Menschen immer
dasteht, wie wenn er gleich zu metzgen anfangen möchte, hat er nicht
den Mut, ihm den Handel auf den Kopf zuzusagen, unterschreibt auch
den Kaufvertrag trotz dem gefällten Nußbaum -- da der Märki die
Vollmacht des Tanners vorweist -- und ist erschrocken über soviel
Verschlagenheit. Nur auf seinen Wagen steigt er auch diesmal nicht,
und erst, als der andere ihn augenscheinlich um seiner Verstimmung
willen in allerlei Gesprächen aufhält, sagt er ihm sein Erlebnis aus
der Morgenfrühe ins Gesicht und läßt ihn stehen. Er hört ihn noch über
das Tannerpack schimpfen, als er mit langen Beinen aus seinem Bereich
eilt; und kaum ist er eine Viertelstunde unterwegs, da rollt der Wagen
schon hinter ihm her. Er denkt nicht anders, als daß der Metzger sein
Pferd zornig an ihm vorbeipeitschen würde; aber der läßt es in Schritt
fallen, immer neben ihm heran. Ob der Herr Pestalozzi dem versoffenen
Lumpenkerl vielleicht auch noch glaube? Dann möge er sich jemand anders
für seine Geschäfte suchen: er habe sich weder aufgedrängt noch sei er
versessen darauf, für ihn mit aller Welt in Händel zu geraten!

Heinrich Pestalozzi kann nicht antworten, so widerlich ist ihm nun Art
und Stimme des Mannes. Er tritt in den Graben und will ihn vorfahren
lassen; der Märki aber hält sein Pferd an, wie wenn er ihn anders
verstanden habe: er wolle also doch noch aufsteigen? Da merkt er, daß
ihn der Metzger nicht loslassen will, und läuft querfeld über den
gefrorenen Acker davon, wo ihm das Fuhrwerk nicht folgen kann. Noch von
weitem hört er das höhnische Gelächter, und es hallt ihm noch in den
Ohren, als er verbittert über sich und seine Händel zum Mittag durch
die Haustür in Müligen eingeht. Da will es sein Unglück, daß auch Anna
Ärger mit ihrer aufsässigen Magd gehabt hat, sodaß sie beide gereizt
am Tisch sitzen. Er will ihr nichts sagen, aber sie fragt, bis seine
kargen Antworten ihr doch den Handel verraten. Da legt sie freilich den
Löffel hin: ob er den Kauf wirklich gemacht habe? Und als er, nun schon
trotzig, ja sagt, entfährt ihr ein hartes Wort. Sofort flammt auch sein
Jähzorn auf, und obwohl er innerlich verzweifelt vor ihr kniet, daß
sie ihm die Sätze nicht nachtragen möge, bleibt sein hitziges Blut im
bösen Streit mit ihr, bis er vom Tisch aufspringt und gegen die Reuß
hinunterläuft.

Vor dem emsigen Zorn der Wellen findet er sich wieder, und schon zur
Vesper sind sie nach bitteren Tränen der Reue wieder ausgesöhnt: doch
bleibt das Weh seiner Scham, daß er sterben möchte und sich danach
auch wirklich bis zur Krankheit in die Selbstanklagen vergrübelt.
Sylvester feiern sie noch miteinander auf die vorbedachte Art, indem
sie an die Armen von Müligen einen Korb Brot verteilen -- was als ein
Anfang seiner Wohltätigkeit gedacht war, scheint ihm nun ein kläglicher
Rest seiner Beglückungspläne -- dann legt er sich hin und bleibt fast
eine Woche lang im Bett, unfähig vor Fieber und Mutlosigkeit. Es ist
längst nicht mehr der böse Tag allein, was ihn quält; es ist die erste
Abrechnung mit seinen Plänen und mit sich selber, dem hochmütigen
Plänemacher. Die Sehnsucht seiner Jugend hebt sich auf und steht ratlos
vor dem Schwall seiner Handlungen in diesem letzten Jahr. Er weiß
nicht, wo seine Füße anders hätten gehen sollen; nur daß sie falsch
gehen, das fühlt er genau. Gleich Trompeten schreit eine Stimme in
ihm, daß er die Forderungen seiner Natur betäubt habe: Was bin ich,
und was wird aus mir werden? schreibt er ins Tagebuch seiner Frau, das
immer offen vor dem Bett liegt, obwohl sie sich selber darin nicht
schont. Und alles, was er als Antwort findet, ist die Verzweiflung, in
Irrtum und Unrecht unwichtiger und falscher Dinge verstrickt zu sein;
nicht anders, als ob er selber mit der Peitsche im Metzgerwagen des
Märki säße und seine Seele über die hartgefrorenen Felder angstvoll
davonliefe.


                                  43.

Als Heinrich Pestalozzi wieder aufsteht von seiner Krankheit, ist kein
Entschluß aus seinen bitteren Gedanken gekommen; sie sind vergangen,
wie nach Unwetter tagelang die Wolken auf den Bergen lasten, als ob sie
sich nie wieder heben wollten, und eines Morgens scheint doch die Sonne
in eine blanke Welt. Er kann wieder mit Freude an seine Unternehmungen
denken, und alle verzweifelten Gedanken daran kommen ihm als bequeme
Mutlosigkeiten und als Rückfälle in die unstete Natur seiner
Knabenjahre vor; er weiß, daß er in diesem Jahr Vater werden soll, und
schämt sich der Unmännlichkeit, die nicht für das Kind und seine Mutter
die selbstgewählte Pflicht erfüllt.

Der erste, an dem er sich erprobt, ist Märki; der kommt, das vorgelegte
Kaufgeld einzufordern, und ist wieder der schlau beherrschte Mann, der
Nachsicht mit den Launen seines Schützlings hat und ihn, wo er sich
auflehnen will, die Überlegenheit an Alter und Erfahrung fühlen läßt.
Heinrich Pestalozzi begreift sich selber nicht mehr, wie er ihm damals
ausweichen konnte: er sagt ihm unverhohlen und ohne Zorn, daß er das
andere anweisen, jedoch die Kaufsumme für den Acker um den geschlagenen
Nußbaum kürzen müsse, da er ihn hierbei in einer Täuschung gehalten
habe. Der Märki will aufbrausen, aber er verweist ihm das gleich
so bestimmt, daß der den andern Wind merkt und sich nach mehreren
Seitensprüngen um der Freundschaft willen, wie er sagt, zu der Sache
bequemt.

Nach einigen Tagen bringt der Baumeister den Plan des Wohnhauses,
wie es nach seinen eigenen Angaben sein soll: etwa dreißig Schritt
im Geviert mit einem Zeltdach und ganz aus Steinen gebaut; es soll
unten am Letten stehen, wo der angeschwemmte Boden als Gartenland
geeignet ist, und Neuhof heißen. Der Baumeister hat neben den Aufrissen
auch eine Ansicht des Hauses in Farben gemacht; es sieht mehr einer
italienischen Villa gleich als einem schweizerischen Bauernhaus,
aber gerade das gefällt ihm. Er scherzt, daß er selber ein Italiener
wäre, und so oft er das hübsche Bild ansieht, wird der Traum seiner
landwirtschaftlichen Existenz daran lebendig: wie er mit seiner
Stauffacherin da aus und ein gehen wird, wie unter den Bäumen -- die
bis jetzt nur auf dem Papier grün sind -- Kinder spielen und auf den
Feldern rundum fleißige Tanner lohnende Arbeit finden, wie die breit
gewölbten Keller sich mit Feldfrüchten füllen, und wie er als ein
neuer Tschiffeli der Mißwirtschaft des Birrfeldes aufhielt durch sein
Beispiel planvoller Arbeit!

Auch der Baumeister Daniel Vogel, den er sich als fachmännischen
Berater aus Zürich holt, billigt den Plan; der setzt im
freundschaftlichen Vertrauen die Berechnungen fest und macht die
Akkorde mit den Handwerkern unter genauen Abmachungen über das Material
und die Ausführung. Es ist ein sicherer Gang der Ordnung, wie ihn
Heinrich Pestalozzi bisher noch nicht in seinen Dingen gespürt hat;
als ob ihm neue Hände gewachsen wären, seitdem in den abwartenden
Verdruß des Winters ein wirkliches Geschäft gekommen ist, so gibt sich
eins ins andere und bringt die Fröhlichkeit zweckbewußter Arbeit mit.
Als erst der Boden ausgehoben, Steine gebrochen und die Fundamente
gelegt werden, ist er von früh bis spät dabei und scheut das nasse
Schneewasser nicht, selber jede Art von Arbeit mitzutun. Daß morgens
die Leute kommen, Tag für Tag, zum Teil stundenweit und sichtlich froh,
gute Beschäftigung zu haben, gibt ihm ein Vorbild, wie es einmal auf
Neuhof sein soll; und wenn er sie Sonntags entlöhnt, ist sein Traum
schon Wirklichkeit: daß er als der Mittelpunkt einer Unternehmung
dasteht, daraus die ersten Quellen aller Wohlhabenheit, der sichere
Verdienst einer regelmäßigen Arbeit, ins magere Birrfeld fließen.

Nachdem Ende Januar unerwartet ein Wechsel aus dem Pflug nach Müligen
geflattert ist für das Laufende, kommen nacheinander die Brüder,
am längsten der Doktor Salomon, der die warmen Frühlingstage schon
zum Angeln -- seiner Lieblingsbeschäftigung -- geeignet glaubt. Sie
mögen Bericht nach Zürich gegeben haben; denn an dem Mittag, da sie
abreisen wollen, steht unvermutet die alte Schultheßin mit dem jüngsten
Bruder gerade vor der Haustür, als sie hinaustreten. Nun bleiben
alle bis zum andern Tag, und weil die Aprilsonne scheint, wird noch
am Nachmittag ein fröhlicher Spaziergang durch die Felder und auf
den Bauplatz gemacht, wo die Fundamente schon kniehoch aus der Erde
sind und eingewölbt werden sollen. Auch auf den Hang kommen sie, wo
der Nußbaum niedergebrochen ist; sein Stamm reicht allen zum Sitz,
sodaß einer den Scherz macht, sie weiheten die Bank ein, bevor das
Holz dazu geschnitten wäre. Von unten klappert das Gewerk der Maurer,
und einer, der den Mörtel in der großen Pfanne rührt, singt das alte
Grenchenlied mit dem spöttischen Hohoho als Schlußreim, in den die
andern einfallen. Auch die Schultheßin, die mit unverhohlenem Mißtrauen
den ausgespreiteten Mergel auf den Kleefeldern für weißen Schutt
gehalten hat, vermag die fröhliche Luft nicht einzuatmen, ohne daß auch
ihr etwas davon ins gallige Blut geht. Die Scherze der Brüder sorgen
dafür, daß die Ausgelassenheit auch den Rückweg im sinkenden Nachmittag
besteht, durch den sie, nun selber das Grenchenlied singend, über die
Kante des Birrfeldes nach Müligen hinunter kommen.

Andern Morgens nehmen sie Anna für ein paar Tage mit nach Zürich, wo
sie das Rote Gatter ebenso überraschen will, wie sie selber überrascht
worden sei. Heinrich Pestalozzi gibt ihnen das Geleit bis Baden; der
laute Abschied erinnert ihn an die wehmütige Winterschiffahrt, und daß
ihm die Brüder mit ihrer Ausgelassenheit die Geliebte für ein paar
Tage entführen, ist ihm auch nicht recht; doch läßt sie ihm ein inniges
Wort zurück, das er feierlich durch den Morgen nach Hause trägt: Ich
will deiner Mutter meine Hoffnung sagen!

Er ist noch keine Viertelstunde unterwegs, als er den übrigen Schwall
schon vergessen hat und nur noch an das Glück denkt, das sie bei der
Mutter mit ihrem Geständnis einbringen wird. Dabei lallt er die sieben
Worte immerzu; sie bilden eine Perlschnur, an der die beiden Frauen
als die letzten angereiht sind -- bald werden sie eins weiter gerückt
und in die Kette eingereiht sein -- ihm aber ist sie mit der Sorge in
die Hand gelegt, daß die Perlen bei dem Wechsel der Vergangenheit in
die Zukunft keinen Schaden nähmen. Was bin ich, und was wird aus mir
werden? hat er ins Tagebuch seiner Frau eingeschrieben; aber auf die
Anklage seines Leichtsinns hat das Gefühl der Vorsehung einen Segen
gelegt, den er glücklich in den Lerchenmorgen hinein trägt: Was er ist,
darauf haben die beiden Frauen in unübersehbaren Stunden Schätze der
Liebe gehäuft. Und wenn er ein sinnloser Verschwender damit würde, es
kann ihm nicht gelingen bis in den Tod, sie auszugeben! Als ihn kurz
vor Brugg ein Bettler um Geld anspricht, bietet er ihm alles, was er in
seiner Tasche findet, und geht glücklich weiter, ihm für eine Stunde um
keinen Kreuzer voraus zu sein.


                                  44.

Es ist auf lange Zeit der letzte reine Morgen für Heinrich Pestalozzi;
denn noch am Nachmittag erfährt er, daß über seine Unternehmung die
absprechendsten Gerüchte in Umlauf sind, sodaß der unvermutete Besuch
der Schwiegermutter nachträglich eine unfreundliche Bedeutung erhält.
Nicht lange danach, daß Anna wieder von Zürich zurück ist, erscheint
auch der Bankier Schultheß im eigenen Reisewagen mit zwei Söhnen und
einem Bedienten, die Grundlage seines Darlehens zu prüfen. Er will
jedes Feld und die Art der Besserung sehen, das Haus mißt er selber mit
dem Maßstab in den Fundamenten aus: er hat dabei eine Art, zornig den
Kopf zu schütteln, aber das ist nur eine Angewohnheit des alten Herrn,
und am Ende geht es wie mit der Schultheßin: die Stimmung bessert sich,
und wie damals Anna fährt nun Heinrich Pestalozzi mit dem Besuch nach
Zürich zurück.

Sie sind kaum fort, als Anna hört, daß der Bediente unterdessen seine
eigenen Wege im Birrfeld gegangen ist, überall die Meinung aushorchend;
auch bei dem Märki ist er gewesen: nach seinen boshaften Bemerkungen
mit dem kläglichsten Ergebnis. Sie nimmt sich vor, es zu verschweigen,
aber als Heinrich Pestalozzi nach einigen Tagen von Zürich zurückkommt,
weiß er schon alles und wie das Urteil dieses Bedienten die Stimmung im
Gewundenen Schwert macht. Noch am gleichen Tage gehen sie miteinander
in den Letten hinauf, sich selber zu vergewissern, ob der tüchtige
Stand der Felder doch nur eine Selbsttäuschung wäre. Sie finden die
Esparsette auf den steinichten Ackern gut angesetzt, und auch die
Krappflanzen lassen sich nicht übel an; aber die boshaften Worte
des Bedienten werden damit nicht ausgewischt, und als Heinrich
Pestalozzi gegen die Baustelle seines stolzen Hauses kommt, faßt ihn
der Unwille so, daß er sich abwendet; gerade das ist von dem Bankherrn
zu kostspielig gefunden worden. Schlimmer aber als alles ist ihm das
Unkraut der Feindschaft, das der Bediente aus den Dörfern ans Licht
getragen hat. Er schreibt zwar noch eine lange Darlegung an den
Geldgeber, aber als Antwort kommt nach drei Tagen die unumwundene
Mitteilung, daß er die Unternehmung als ruiniert ansehe.

Es ist Anfang Mai, als das geschieht, und für den Sommer trägt Anna
ein Kind unter dem Herzen; die frohe Hoffnung seiner Geburt vermehrt
nun die Sorgen dieser Tage. Es kommen zwar noch der Junker Meis und
der Pfarrer Schinz als Sachverständige zur Prüfung; sie finden, daß
mehr als eigentliches Mißgeschick die allgemeine Unkenntnis der bei
Tschiffeli erlernten Neuerungen den vorwitzigen Herrenbauer bei den
Leuten ins Gespött gebracht hat, und daß der Haß sich eher gegen s
einen Ratgeber Märki als ihn selber richtet. Auch treten sie ihm mit
Wärme bei in ihrem Gutachten; aber der Bankherr will wie alle Geldgeber
das Gold wachsen sehen, Mitte Mai kündigt er die Gemeinschaft, und
bevor Heinrich Pestalozzi seine Dinge ins Gehen bringen kann, sind
ihnen die Beine schon abgeschnitten.


                                  45.

Das Kind wird im August geboren; es ist ein Knabe, den sie Hans
Jakob nennen. Obwohl der Bankherr noch einmal begütigt worden ist,
weiß Heinrich Pestalozzi, daß sein Mißtrauen nur auf den günstigen
Augenblick wartet, sich ganz zurückzuziehen. Die Sorgen und Kämpfe
um die Rettung seiner Existenz haben ihn so täglich beansprucht,
daß er mit Scham und Schrecken vor den Richterstuhl des Ereignisses
kommt. Seine Mutter ist zur Pflege da; sie legt ihm das kleine Wesen,
das aus dem Schoß der Geliebten ans Licht gebracht worden ist und
erschrocken von dieser Reise mit seinem dünnen Stimmchen schreit, mit
einem wissenden Lächeln in die Hände. Er vermag der Erschütterung
nicht standzuhalten, gibt ihr in einer abergläubischen Furcht das
Kissenbündel zurück und läuft in den sinkenden Sommertag hinaus. Seit
seinem Unglück mit dem Bankherrn ist ihm zumute, als ob alles mißraten
müsse, was seine Hände anfassen, und dies ist eine lebendige Seele.

Doch irrt er noch im Schatten seiner Bäume, als ihm eine Stimme aus dem
Ungewissen Halt ruft: Ob er das Kind in seine Hände nimmt oder nicht,
es bleibt sein Sohn, mit dem er gegen Gott und die Welt in eine neue
Verantwortung getreten ist. Da gilt es andere Eigenschaften, als in
feigem Aberglauben davon zu laufen. Indem er sich beschämt nach dem
Haus zurück wendet, darin er sein Kind, seine Frau und seine Mutter
in der Heiligkeit einer Menschengeburt verlassen hat, und in einem
einzigen Aufblick die ewige Verantwortung seiner Vaterschaft fühlt,
erkennt er auch, wie kläglich seine Sorgen und Kämpfe in den Monaten
zuvor am Vergänglichen gehangen haben: Ein stolz gebautes Wohnhaus und
blühende Kleefelder, Darlehen und Kaufbriefe sind keine Dinge, die vor
Gott wichtig stehen; er ist ein Narr der Täglichkeiten geworden wie
tausend andere und hat keine Zeit mehr für seine Seele gehabt, die sich
darum furchtsam verkriechen wollte, wo etwas anderes als Geschäfte an
sie kam.

Die Frauen fürchten sich fast, als er wieder zu ihnen in die Kammer
tritt, so sehr ist sein Gesicht von Tränen überströmt; auch verstehen
sie seine Gebärde nicht, wie er das Kind aus der Wiege nimmt. Er macht
es nicht recht, und seine Mutter springt ihm bei, daß er kein Unheil
anrichte mit den kleinen Gliedern; dann aber muß sie lächeln, wie er
in seiner Ungeschicklichkeit dasteht, die beiden Arme vorgestreckt,
das Kissen zu halten, darauf das Neugeborene mit seinem struppigen
Kopf liegt. Er läßt sich ehrfürchtig nieder mit einem Knie, wie wenn
er es darbringen wollte, steht auch nicht auf, als ihm die Mutter das
Bündel vorsichtig wieder abnimmt und in die Wiege legt. Darin hast du
auch gelegen, sagt sie scherzend, um ihn nicht zu erzürnen, und bringt
die Wiege leise tuschelnd in Gang, weil das Knäbchen schon wieder
weinen will. Heinrich Pestalozzi, den die Scham fast tötet, als Kind,
Mann und Vater im Geheimnis der Zeugung entblößt zwischen den Frauen
dazustehen, hört es nicht; erst als Anna ihn ängstlich bei Namen ruft,
hebt er die Augen wieder in die Welt und sinkt weinend zu ihr hin, wie
wenn er ihr ein Unrecht angetan hätte, daß er sie aus ihrer einsamen
Jungfrauenschaft zu einer Mannesfrau und Mutter machte. Sie aber, die
nur das Glück der Erlösung darin empfindet, streichelt ihm vielmals
die schwarzen Haare, als ob er ihr Neugeborener wäre: Heiri, sagt sie,
und ihre Stimme geht auf dem süßesten Grat der Liebe, nun muß unser
Haus bald fertig sein!


                                  46.

Die Größe und Kostspieligkeit des Wohnhauses ist von den Ratgebern
des Bankherrn am meisten getadelt worden; aber Heinrich Pestalozzi
hat nicht an ein notdürftiges Dasein gedacht, als er mit seinen
landwirtschaftlichen Zukunftsplänen aufs Birrfeld kam. Nun er auf
weitere Gelder nicht mehr rechnen kann, nimmt er dem Haus das obere
Stockwerk fort und läßt das flache Zeltdach gleich auf die Steinmauern
des Erdgeschosses stellen; es wird zwar etwas anderes als eine
italienische Villa daraus, aber es kann noch vor dem Winter gedeckt Und
zum Frühjahr eingerichtet werden.

Das unsichere Verhältnis mit dem Gewundenen Schwert schleppt sich
indessen unter Mißtrauen und Vertröstungen über den Herbst hin, bis
seine Freunde in Zürich ein Abkommen zustande bringen, wobei der
Bankherr ein Ende mit Verlust dem Verlust ohne Ende vorzieht und
angesichts der Schädigung, die sein Teilhaber durch diesen Rücktritt
erleidet, unter Zurücklassung von fünftausend Gulden auf das Geschäft
verzichtet. Das ist für Heinrich Pestalozzi, der seinen Dingen noch
immer ihren Wert beimißt, zunächst kein übler Schluß der mißlichen
Angelegenheit; aber aus den berittenen Plänen seiner Musterwirtschaft
werden simple Fußgänger, er kann nicht mehr über Jahre zielen und muß
aus der Hand in den Mund leben wie die andern auch. Für die Krappzucht
hat sich der Boden als zu rauh gezeigt, dagegen steht die Esparsette
ausnehmend gut und könnte Futter für manches Stück Vieh liefern; seine
Freunde raten zur Sennerei, und er müßte weniger Federkraft haben, um
nicht gleich mit beiden Füßen in das neue Arbeitsfeld hineinzuspringen.
Noch über den Winter werden neben der Scheune die Stallungen angebaut,
und als er zum Frühjahr auf Neuhof einzieht, brüllen schon die ersten
Kühe darin.

Es ist ein verdrießliches Regenwetter, als sie den Umzug machen,
und einmal bleibt der Wagen mit dem Hausrat so in dem aufgeweichten
Landwege stecken, daß sie ihn mitten im Birrfeld bei schneeigem
Schlagregen abladen müssen, wobei ein jedes Stück seine Himmelswäsche
mitbekommt. Dafür ist es auch zum letztenmal, daß wir umziehen, sagt
er zu Anna, die unterdessen mit dem Kind im Pfarrhaus Obdach gehabt
hat, als er sie nachher abholt und ihr das Mißgeschick schildert. Sie
lächelt wehmütig dazu, als ob sie dieser Sicherheit nicht traue. Doch
geht sie tapfer mit, das Kind in Tüchern eingewickelt auf dem Arm,
den Einzug auf Neuhof zu halten. Er schreitet sorglich nebenher und
hält ihren Regenschirm, den sie in den Mädchentagen von einer Reise
mitgebracht hat, über sie und das Kind. Er ist für die Bauern in Birr,
die nur ihre Regentücher kennen, ein so absonderliches Gerät wie die
ganze Landwirtschaft dieses Züricher Stadtherrn: so stehen sie in den
Türen, wie die drei daherkommen; einige Buben laufen ihnen durch die
Nässe nach, und weil ein Witzbold unter den Alten das Wort aufgebracht
haben mag, rufen sie es zum Schimpf hinter ihm her. Heinrich Pestalozzi
hört nicht darauf, weil ihn der Gang sehr bewegt; doch als sie schon
das Dach vom Neuhof im Regen glänzen sehen, hält ihn Anna am Arm zurück
und hat ein seliges Lächeln in den Augen: Achtest du denn gar nicht,
was sie sagen? Sie rufen: die heilige Familie mit dem Regenschirm!

Er versteht ihre lächelnden Augen lange nicht und erschrickt, als
er den Sinn erkennt, wie über eine Lästerung, sodaß auch ihr das
Lächeln in den Augen untersinkt. Als sie das letzte Stück dann
schweigend gegangen sind und vor das Haus treten, das er für sie und
sich, auch für den Knaben auf ihrem Arm aus kühnen Hoffnungen in
Sorgen hineingebaut hat, vermag sie nicht freudig über die Schwelle
hineinzugehen und beugt sich mit dem Kind weinend an seine Brust, als
ob dort eine bessere Heimat sei als in der Ungewißheit dieser Steine.
Nun aber hat sich ihr Lächeln in ihm zur Glut entzündet; gleich einem
Wanderstab hält er den zusammengeklappten Regenschirm in der Hand und
ist noch einmal Jüngling seiner rauschhaften Stunden: Die Knaben haben
recht; es mag wohl sein, daß wir dies bald verlassen müssen wie Joseph
und Maria auf der Flucht. Drum laß uns, Liebe, nur zur Rast eintreten,
weil es doch regnet. Vielleicht, daß morgen schon wieder die Sonne auf
unsere Wanderung scheint!


                                  47.

Heinrich Pestalozzi beginnt seine eigene Wirtschaft auf dem Neuhof
mit ungefähr hundert Jucharten; doch liegen die einzeln gekauften
Acker nicht beieinander; er muß vielfach über fremde Felder fahren,
wenn er zu den eigenen will, und wiederum andere Bauern fahren ihm
über die seinen. Das macht Verdrießlichkeiten, weil er sich nicht an
ihre Dreifelderwirtschaft binden und die vorgeschriebenen Zeiten der
Zelgenwege einhalten kann. So muß er darauf sehen, sein zerstreutes
Gut durch Tausch und Kauf einheitlich abzurunden, Und ist bald in
hundert Händeln. Der Metzger Märki spielt darin immer noch die
Hauptfigur, er hat die nötigsten Stücke an sich gebracht, wie er sagt,
um der Preistreiberei der Bauern zuvorzukommen; aber darum sind seine
Forderungen nicht weniger gesalzen, und als es ihm gelingt, das gute
Land in den Hummeläckern gegen ein steinichtes Feld in den Letten zu
tauschen, das Heinrich Pestalozzi für sein Wegrecht nötig braucht, ohne
Nachzahlung, obwohl es nur halb so groß ist: wird dieser Handel zum
Wirtshausgespött im ganzen Birrfeld, um so mehr, als der Märki selber
mit dem Gelächter hausieren geht.

Nachher wird dem schlauen Händler freilich die Haustür im Neuhof
zugemacht; aber weil er wirtet und das halbe Dorf in der Fron hält mit
Trinkschulden -- wie den Tanner, der den Nußbaum fällte -- hat Heinrich
Pestalozzi einen gefährlichen Feind an ihm. Gleich nach seinem Einzug
auf Neuhof ist er schon mit der Dorfgemeinde Birr in Streit gekommen um
einen Pfad nach Brunegg, den sie ihm mitten über seine Äcker laufen. Es
führt zwar auch ein Fahrweg gegen den Wald hinauf, aber in den Zeiten,
da die Felder meist unbebaut gelegen haben, ist der schnurgerade
Pfad eine Gewohnheit geworden, deren Beseitigung sie dem Herrenbauer
verübeln. Er versucht es mit Dornruten und Verhauen: aber was für
Hindernisse er auch am Tag baut, in dunkler Nacht werden sie hartnäckig
wieder zerstört, bis er den Weg durch den Pfarrer ins Verbot legen
läßt. Damit bringt er endlich sein Recht zur Geltung, aber die Gemeinde
ist ihm seitdem übel gesinnt, und als er auch den Weidegang auf seinen
Feldern öffentlich und rechtlich untersagen läßt, beruft sich die
Bauernsame von Birr auf ihr besonderes Weidrecht und fordert auch die
von Lupfig auf, dem neumodischen Herrenbauer auf Neuhof den Prozeß
anzusagen. Obwohl die Lupfiger sich dessen weigern, gibt es einen
langen Rechtshandel, der ihn die bäuerliche Verbissenheit in täglichen
Molesten spüren läßt.

Endlich wird zwar durch obrigkeitliche Entscheidung das Weidgangsrecht
auf seinen Feldern gegen einen jährlichen Bodenzins von einem Neutaler
aufgehoben: aber gerade das setzt in den Köpfen der armen Tanner,
die keine eigenen Matten haben und auf den Weidgang angewiesen sind,
das Gefühl eines Unrechts fest, das ihnen von dem neuerungssüchtigen
Herrenbauer angetan wird. Was durch seine anfängliche
Handelsgemeinschaft mit dem Märki begonnen wurde, das wird nun durch
dessen hinterhältige Feindschaft vollendet: die Armen, denen zu helfen
die heimliche Hoffnung seiner Bauernschaft gewesen ist, hassen ihn
als einen neuen Ausbeuter ihrer Not. Und da der Neuhof kein einsames
Bauernhaus ist, sondern oft städtischen Besuch erhält, da namentlich
Anna einen freundschaftlichen Verkehr mit den Frauen der umwohnenden
Herrenleute unterhält, ist Heinrich Pestalozzi selber in die Rolle
eines der Stadtherren gekommen, wie er sie in seiner hitzigen Jugend
zu Höngg verabscheute; denn was für Sorgen und Nöte er unterdessen mit
seiner Besitzung hat, das sehen die Armen bei ihm so wenig, wie er es
damals sah.

Eines Nachmittags muß er eine Bekannte seiner Frau zum Pfarrer nach
Birr zurück begleiten, wo sie auf Besuch ist. Sie kommt aus Zürich
und ist mit dem Aufwand der städtischen Mode derart geputzt, daß die
Kinder aus den Häusern kommen und einige ihr nachlaufen. Gleich hat sie
einige Batzen zur Hand, die sie zum Spaß hinwirft: nicht anders, als
ob Hühner nach hingestreutem Futter sprängen, sind sie augenblicklich
in einer Balgerei, die gleich einem Ball von Staub und Geschrei über
den Weg rollt. Andere laufen neugierig herzu, und da die Zürcherin
sich den Spaß noch ein paar Batzen kosten läßt, vergrößert sich der
balgende Knäuel, indessen die herzlose Person vor Lachen wie toll
auf ihren zierlichen Stiefelchen herum springt. Bisher hat Heinrich
Pestalozzi alles für unbedachten Übermut gehalten, aber als sie ihm
mit schadenfrohen Augen entgegen tritt -- da haben Sie Ihr Volk, Herr
Pestalozzi -- und lachend gegen das Pfarrhaus davonläuft, erkennt
er, daß der unwürdige Auftritt sein Gespräch mit ihr beantworten und
verhöhnen soll.

Der Zorn über ihre Herzlosigkeit macht ihn wild: Dann gehöre ich
auch dazu! schreit er ihr nach und fährt mitten in die Balgerei. Das
erste, was er ergreift, ist der Schopf eines stakigen Mädchens, das
gerade über einen Vierjährigen herfällt, ihm seinen Batzen aus der Hand
zu reißen. Ehe er noch selber weiß warum, hat er sie und ein halbes
Dutzend der andren verwalkt und ihnen, soviel sie kratzen und beißen,
die Batzen abgenommen. Einigen gelingt es, mit ihrer Beute davon zu
laufen; die nichts haben, bleiben stehen, und als er das eroberte
Geld überzählt, braucht er nur drei Batzen aus seiner Tasche hinzu zu
legen und er hat für jeden einen: Hier ging Gewalt vor Recht, sagte
er, nun aber steht Recht vor Gewalt! zählt jedem seinen Batzen aus,
vom Kleinsten angefangen, und heißt sie heimlaufen. Die nichts gerafft
hatten, denen ist es recht, die andern aber -- die ihr erobertes
Eigentum aus seinen Händen verteilt sehen -- rufen mit mörderlichem
Geschrei die Ihrigen zur Hilfe, sodaß Heinrich Pestalozzi froh ist,
als er den letzten Batzen verteilt hat und sich heim wenden kann.
Doch hängt sich das schreiende Gefolge an ihn, und einige Mütter,
von ihren Kindern aufgeklärt, fordern drohend den Raub zurück. Unter
Schimpfreden und Steinwürfen kommt er gegen den Neuhof, wo ihn Anna mit
dem Knaben an der Hand erschrocken empfängt; denn nun erst nimmt er
wahr, daß er im Gesicht und an den Händen von Kratzwunden blutet und
mit seinen Kleidern durch den Staub gewälzt ist. In der folgenden Nacht
geschieht es zum ersten Mal, daß ihm einige von seinen blitzblanken
Fensterscheiben eingeworfen werden.


                                  48.

Das Ergebnis dieser mißglückten Ausgleichung erschüttert Heinrich
Pestalozzi ebenso tief wie der höhnische Anlaß, und tagelang vermag
er nicht mehr an seine Dinge zu gehen, so mutlos wird er. Es ist nun
schon das sechste Jahr, daß er sich müht mit der Landwirtschaft, und es
ist nichts dabei heraus gekommen, als daß er sich und andere in Sorgen
und Verluste gebracht hat; er sieht kein Ende, danach es anders werden
könnte. Indessen gibt es solche Stadtfräuleins und solche Bettelbuben,
als ob sie in der Welt sein müßten wie alles Gute auch, und aus allen
seinen Plänen geschieht nichts, was etwas daran ändern könnte; denn
selbst, wenn er zum Wohlstand seiner Träume käme: die Unfeinheit
der einen und die häßliche Habgier der andern wäre damit doch nicht
geändert. Wieder einmal erkennt er die Quellen allen Übels in der
Natur des Einzelnen; und furchtsam sieht er auf seinen Knaben, der nun
ins vierte Jahr geht und die ersten Anzeichen seiner Persönlichkeit
nicht mehr verbirgt. Es ist sein Sohn, und schon meint er die eigenen
Fehler an ihm zu sehen, seine Zerstreutheit, Unordnung und den unsteten
Eigensinn. Namentlich die listigen Versuche des kindlichen Eigensinns
besorgen ihn; es ist nicht anders, als ob der kleine Geist unausgesetzt
eine Machtprobe gegen die Erwachsenen mache.

Unvermutet kommt Heinrich Pestalozzi in Eifer, an seinem Jaköbli
den Schlichen und Trotzproben dieser kindlichen Willenskraft mit
Experimenten nachzugehen, immer bemüht, die störenden Blätter beiseite
zu biegen, damit der Kern aus sich selber wachsen könne. Er sieht
erstaunt und betroffen zugleich, wieviel Schleichwege der kindliche
Geist schon kennt, der Erziehung auszuweichen, und wievieler Strenge
es bedarf, ihn dieser Schleichwege zu entwöhnen. Die Erinnerung an
die eigene Jugendzeit macht seine Besorgnisse nicht geringer; denn
nun meint er zu sehen, warum er selber solch ein im Wind der Gefühle
schwankendes und von dem Rankenwerk wirrer Einfälle behangenes
Gewächs geworden ist. Anna versucht ihm zu wehren, wo er dem Kleinen
zu arg zusetzt; aber als der Winter gekommen ist, scheint es seinem
entzündeten Eifer schon, als gäbe es nichts Dringlicheres für ihn und
andere in der Welt, als diese Dinge in unausgesetzten Versuchen klar zu
stellen; denn alles, was mit einem Menschen später auch geschähe: seine
Kindheit bliebe die Wurzel seines Schicksals; wie die ins Erdreich
finde, so wüchse es.

Als das Schwierigste erkennt er bald, die Wartung der kleinen Seele
so zu halten, daß sie den Mut und die Freude nicht verliert; und es
ist sein Knecht, der ihn auf diese Weisheit bringt. Denn als der das
Jaköbli einmal in seiner Gegenwart einige Weisheiten sagen läßt, die
er draußen am Bach mit ihm gelernt hat, und mit Vaterstolz fragt: ob
der Knabe nicht ein gutes Gedächtnis habe? schüttelt der Knecht, der
mit der kindlichen Munterkeit auf einem andern Fuß steht, traurig
den Kopf: Das wohl, jedoch Ihr übertreibt es mit ihm! Und als er ihm
betroffen sagt, das könne nicht wohl sein, weil das Jaköbli sonst
sicher die Freude verlöre und furchtsam würde; dann hieße es natürlich,
vorsichtig seinem Geist nachzugehen -- da richtet sich der Klaus von
seinem Holzscheit auf, daraus er einen Schwengel schnitzen will, und
die Freude steigt ihm ins ehrliche Gesicht: Ihr achtet also des Mutes
und der Freude! Eben das hatte ich gefürchtet, daß Ihrs vergessen
würdet!

O, Klaus, sagt Heinrich Pestalozzi da zu seinem Knecht, und der
Schrecken mischt sich mit dem Glück über das Wort: alles Lernen wäre
nicht einen Heller wert, wenn Mut und Freude dabei verloren gingen!


                                  49.

Es ist zum erstenmal, daß Heinrich Pestalozzi sich selber als
Entdecker fühlt; was er bis dahin auch getrieben hat, von seiner
Jünglingsschriftstellerei bis zur Landwirtschaft, immer hat ein anderer
das Tor aufgeschlossen: hier aber hält er den Schlüssel selbst in der
Hand, und so scheint ihm auch die nebensächlichste Erfahrung seiner
Erziehungsversuche wichtig genug, sie in einem besonderen Tagebuch
wortwörtlich aufzuzeichnen.

Mit diesen Aufzeichnungen tritt er aber auch den Gedanken seiner
Jugend wieder näher, und als im Frühjahr die Helvetische Gesellschaft
ihre vierzehnte Tagung in Schinznach abhält, pilgert er hinüber, zum
erstenmal im Kreis dieser Männer zu sein, die aus dem herrschsüchtigen
Kantonsgeist wieder einer Eidgenossenschaft im Sinn der Väter
zustreben. Da sieht er den greisen Ratschreiber Iselin aus Basel,
dessen Gestalt als ein neuer Stauffacher in der jungen Schweiz ein
sagenhaftes Vorbild ist, und all die andern Träger würdiger Namen.
Er meint fast, noch einmal in der Gerwe zu sein, so werden die
spartanischen Vorbilder seiner Jünglingszeit in einem Vortrag wach, den
der Landvogt Tscharner von Wildenstein hält; aber während der Mann die
Abhärtung des Körpers und der Seele als Losung gegen den weichlichen
Luxus der Zeit ausgibt, fängt es in ihm selber anders an zu brennen: er
denkt an die Scharen der Bettelkinder, und daß keinem Tanner auf dem
Birrfeld mit einer solchen Losung gedient sei, die für die Herrenkinder
und Stadtbürgersöhne allein gedacht ist. Er sieht die gepflegten
Gesichter der Zuhörer, die aus der Sicherheit ihres Standes tapfer und
begeistert sind, gegen den Luxus zu kämpfen, und kommt sich plötzlich
als ein Fremdling der Armut unter ihnen vor: Es ist eine ältere
Generation! will er sich trösten; aber als er am andern Nachmittag
allein auf der Höhe bei Brunegg steht, wo der Blick zurück auf das
saubere Bad Schinznach trifft, aber vor ihm in die armselige Breite
des Birrfeldes geht, fühlt er die Scheidung der Menschlichkeit in arm
und reich wie zwei feindliche Heerlager, dazwischen er selber als
heimatloser Überläufer im Zwiespalt geblieben ist. Sein Jaköbli bekommt
zwar danach manches von den spartanischen Vorschlägen des Landvogts zu
spüren, aber ihn selber treibt sein Gefühl in andere Notwendigkeiten.

Unterdessen machen ein böses Frühjahr und ein trockener Sommer auch
die Hoffnungen seiner Sennerei zunichte. Die ersten Viehkäufe hat ihm
der Märki noch besorgt, und es sind nicht einmal die schlechtesten
gewesen; als er sich selber in die Untiefen der Märkte wagt, stellt
er oft genug den Dummen dar, den die Händler suchen. Auch hat die
kostspielige Einrichtung Schulden auf ihn gelegt, deren Zins ihn schon
in guten Zeiten drückte; nun selbst die Bauern mit fetteren Ländereien
in Futternot geraten, sitzt er auf seinem steinichten Neuhof bald in
der Dürre da. Ein Stück Vieh nach dem andern geht ihm fort, bis der
Rest den Aufwand seiner Sennerei nicht mehr ertragen kann. Da er mit
den Zinsen in Rückstand bleibt, werden die Gläubiger besorgt; als erst
einer sein Kapital gekündigt hat, folgen die andern dem Beispiel, und
so steht eines Tages Heinrich Pestalozzi zum zweitenmal vor der Not,
daß ihm seine Besitzung versteigert wird.

Es liegen fünfzehntausend Gulden Schulden darauf, und diesmal ist kein
Bankherr als Teilhaber da, der sich mit einem Verlust herauszieht. So
bitter und demütigend es für Heinrich Pestalozzi ist, nun können nur
noch die Erbhoffnungen seiner Frau den Neuhof retten. Sie einigt sich
mit ihren Brüdern -- und hat nicht einmal Tränen gegen ihren Spott --
daß sie die dringendsten Schulden für einen entsprechenden Verzicht
auf ihre Erbschaft übernehmen. Nur glauben die nicht mehr an seine
Landwirtschaft und richten ihm einen Baumwollenhandel ein, wo sie nach
Zürcher Art den Rohstoff liefern, den er im Birrfeld zum Spinnen und
Weben in die Häuser geben muß, sodaß er nichts als den karg bezahlten
Aufseher ihrer Geschäfte vorstellt. Als endlich stürzende Herbstfluten
den dürren Sommer auslöschen, ist von dem Traum seines Lebenskreises,
der Wohlstand und Segen in der ärmlichen Landschaft verbreiten soll,
nichts geblieben, als daß er im Dienst städtischer Fabrikherren
die Not des Bauernvolks ausnützen hilft; und es bedürfte nicht der
Erinnerung an den Ernst Luginbühl im Webstuhl und an den Großvater mit
seiner Verachtung dieser ins bäuerliche Leben einfressenden Industrie,
um ihm sein zertretenes Dasein zur Qual zu machen.


                                  50.

Es sind nicht immer die eigenen Kinder der Bauern und Tanner,
die Heinrich Pestalozzi in den Baumwollstühlen das Elend ihrer
verwahrlosten Jugend weben sieht, sehr häufig sind es Waisen, von der
Gemeinde ausgedungen, die ihren Pflegern das harte Brot verdienen
müssen. So schneidend traurig es für ihn ist, daß er Anna und ihren
Knaben mit in den Zusammenbruch seiner Traumgebäude gerissen hat,
schlimmer greift es ihn an, Helfershelfer dieser Ausnützung zu sein.
Sein Herz zittert, wenn er in die Häuser muß, und das früh verblaßte
Gesicht Ernst Luginbühls kommt wieder in seine Träume. Immer deutlicher
fühlt er die Hand des Schicksals, die ihm alles zerbricht, was er
selbstgefällig in seine Hand nimmt; und tagelang kann er verscheucht
im Neuhof sitzen, über seine Schuld an diesem Schicksal zu grübeln.
Zuletzt empfindet es sein verscheuchter Geist fast als Milderung, daß
die Teuerung ihm noch schlimmeres Elend vor den Neuhof treibt.

Denn die an den Webstühlen sitzen, haben immer noch Bett und
Brot, während ihrer viele von der Hungersnot in den Straßenbettel
getrieben werden, daß sie wie herrenlose Hunde die Häuser der Reichen
umlagern und auf den Abfall der Haushaltung warten. Auch vor den
Neuhof kommen sie scharenweis, und Heinrich Pestalozzi, der ihre Hudeln
und die von der Krätze entstellten Hände, ihre Frechheit und die
Verkommenheit der jungen Gesichter sieht, kann Tränen der Bitterkeit
weinen, wenn er bei diesem Anblick an den Vortrag des Landvogts
Scharner denkt; solange es Luxus und dieses grausame Elend gleichzeitig
gibt, sind alle patriotischen Träume leichtsinnige Spielereien. Es
treibt ihn, sich ganz zu den Enterbten zu schlagen, und oftmals nimmt
er ihrer einige ins Haus, mehr als das Brot mit ihnen zu teilen; er
sieht, wie unmenschlich sie schon geworden sind, gierig und in aller
Heimtücke der Verstellung geschickt: aber er wendet unermüdlich die
Erzieherklugheiten an, die er an seinem Jaköbli erfahren und geübt
hat und immer sicherer wird es ihm, daß er damit an ein Zaubermittel
rührt, ihrer Verkommenheit statt von außen von innen zu begegnen.
Was sonst in Stadt und Land sich als Wohltätigkeit breitmacht, setzt
eine Weltordnung voraus, dazu die hilflose Verkommenheit der Armut
so unabänderlich gehört wie der Überfluß des Reichtums, während --
das wird ihm sicherer mit jedem Tag -- in jedem dieser Bettelkinder
der natürliche Keim zu einem rechtschaffenen Menschen steckt, nur
daß keiner daran denkt, den zu bilden und also der Armut von innen
beizukommen.

Was in andern Zeiten für Heinrich Pestalozzi nur eine hitzige Erfahrung
gewesen wäre, das ergreift seine gedemütigte Natur nun zur Rettung, und
eines Tages löst die Verzweiflung dieser Zeit die tiefe Erkenntnis
seines Schicksals aus: Ich mußte arm werden aus meinem Hochmut der
Wohlhabenheit; denn wie soll einer dem Armen helfen können, der mit
den Sorgen seines Besitztums belastet ist? Wohlstand und Reichtum
sind Zwangsherren; was für Umstände und Vorsichten braucht es, sie zu
erhalten? Der Reiche kann nicht der Bruder des Armen sein; denn Geben
und Nehmen scheidet ihre Seelen. Darum steht im Evangelium geschrieben:
verkaufe, was du hast, und gibs den Armen!

Seine Frau erschrickt, wie sie die Botschaft hört; sie fühlt sofort,
daß dies eine neue Prüfung wird; doch kennt sie ihre Sendung, das
Senkblei seiner Stürme zu sein, und obwohl sie um ihren Knaben zittert
-- der durch all die neuen Worte des Vaters nicht gestört worden
ist, aus seinen Brettchen ein Haus zu bauen, und der sie ungestüm an
der Hand herbei holt -- nickt sie dem Mann erst zu, bevor sie das
Wunderwerk des Knaben bestaunt. Es ist einer wie der andere, denkt sie
und sieht die Spalten zwischen den Brettern, die trotzdem ein Dach
bedeuten sollen: aber es sind Männer und sie wollen bauen, während wir
Frauen wohnen möchten.

Heinrich Pestalozzi hat nichts von ihrer Bewegung gemerkt, er ist
hinausgegangen in den Abend, wo der verspätete Herbstregen schon wieder
in Strömen fließt, und läuft dem Sturz seiner Gedanken nach bis in die
Dunkelheit. Und während die Täglichkeit danach auf dem Birrfeld ihre
Herbstarbeiten macht und mancher Blick mit Mitleid das niedrige Dach
des Neuhofs streift, wo die Sorgen -- wie jeder weiß -- dem vorwitzigen
Herrenbauer aus Zürich ans Fundament seines Daseins gegangen sind,
sitzt Heinrich Pestalozzi glücklich bei seinem Knaben und baut Häuser,
Brettchen auf Brettchen, ob sie zusammenstürzen, unermüdlich aufs
Neue, bis der Plan seiner Armenkinderanstalt fertig ist: Ich habe ein
zu großes Haus, sie haben keins; mir fehlen die Hände, die Felder zu
bestellen, und ihnen mangelt die Arbeit! Was gilts, wenn wir Armen
uns zusammentun, sind wir reich! Sie sollen mir spinnen für ihren
Unterhalt, und ich will sie lehren. Ich will sie säubern von ihrem
Schmutz und will selber rein werden von den Geschäften, für die ich
nicht geschaffen bin. Ich habe mein Haus Neuhof genannt, als ob es eine
Neuigkeit wäre, noch ein Haus wie tausend andere dahin zu stellen; nun
aber soll es ein Neuhof sein, wie keiner vordem war: ein Neuhof, wo die
Armut sich selber durch Arbeit und Lehre zur Menschlichkeit verhilft,
die sonst in Faulheit und Laster betteln geht. Jetzt weiß ich, warum
ich auf dieses steinichte Birrfeld mußte; und wenn weiter Sorgen und
Not kommen, will ich sie gern tragen, weil es die Sorgennot der armen
Menschheit, nicht mehr die meine ist!


                                  51.

Das Jahr ist noch nicht zu Ende, als Heinrich Pestalozzi schon die
ersten Bettelkinder im Hause hat. Er kalkuliert, daß der Abtrag ihrer
Arbeit die Kosten einer einfachen Erziehung bestreiten müsse, und gibt
sich zuversichtlich daran, die Sennerei in einen Raum zum Spinnen
umzuwandeln, den er seine Fabrik nennt. Die Schwäger in Zürich, die mit
seinen Baumwollgeschäften schon unzufrieden waren, lamentieren über
den neuen Plan und beschwören Anna, daß sie ihn davon abhalten möge.
Ihnen, die seine Lage kennen, darf er sein Herz nicht öffnen, er muß
ihnen vorrechnen, daß es für ihn selber eine Rettung aus seinen Nöten
sei; es fällt ihrer Geschäftsgewandtheit nicht schwer, ihm die Irrtümer
seiner Kalkulation mit spöttischen Fragezeichen anzumalen; aber weil
Anna mit Standhaftigkeit die Mutterschaft seines Armenkinderhauses
antritt, schlägt er den Widerstand nicht an.

Für Anna ist es ein Opfer, sie fängt schon an zu kränkeln, auch
stehen ihr als Stadtherrnkind die Hände nicht danach, verwahrlosten
Bettelkindern die Läuse abzulesen. So schlimm es ihr erging in den
Kämpfen dieser Jahre, in den Stuben ist die Ordnung und Reinlichkeit
ihrer Gewohnheit geblieben, Freunde sind auf Besuch gekommen, und
wenn Abends die Messinglampe brannte, senkte sich doch ein Stück
Gottesfrieden in ihren warmen Schein: nun geht das alles hin wie
ein schöner Traum; als ob sie selber mit ihrem Knaben ins Armenhaus
gekommen wäre, dringt der Geruch der Hudeln und das Geschrei der
Verwahrlosung durch ihre behüteten Räume. Aus sich selber hätte sie
dergleichen niemals vermocht, obwohl es ihrem Herzen nicht an Edelmut
fehlt; der gierigen Tatensucht ihres Gatten vermag sie um so weniger zu
widerstreben, als sie das Glück sieht, das nach der mutlosen Dumpfheit
so vieler Jahre über ihn gekommen ist. Sie hat ihn nun wieder, wie er
als Jüngling werbend vor ihr gestanden hat, trotzig bereit, sich die
Adern aufzuschneiden, wenn sein Blut für etwas Edles fließen müßte;
und da es dieser rauschhafte Edelmut ist, um dessentwillen sie ihn
andern Männern von soliderer Daseinsfestigkeit vorgezogen hat, nimmt
sie -- zum wenigsten im Anfang -- auch dieses Los gern auf sich, das
ums Vielfache schwerer als das ihres Mannes ist: weil ihr Teil allein
die Aufopferung ist, wo er den Genuß seiner Idee und die Befriedigung
seiner Natur hat.

Heinrich Pestalozzi weiß von Anfang an, daß es mehr gilt als seine
eigene Anstalt, und daß er wohl die Menschenfreunde des Landes anrufen
darf, ihm beizustehen; wenn erst sein Versuch gerät, ist allerorten
ein Beispiel gegeben, auf menschlichere und gründlichere Art mit der
Bettlerplage aufzuräumen als durch Landreiter: das Wort des Großvaters
in Höngg, daß er andere Mittel wüßte als die monatliche Betteljagd der
gestrengen Herren, liegt ihm dabei wie ein Vermächtnis im Sinn. So
scheut er sich nicht, selber die Betteltrommel für sein Werk zu rühren
und mit einem Flugblatt an den Türen der reichen Häuser in Basel, Bern
und Zürich anzuklopfen. Es ist zum erstenmal seit jener jugendlichen
Mitarbeit am Erinnerer, daß er die Feder in die Hand nimmt; er ist
unterdessen ein Jahrzehnt älter geworden und steht mitten in den Nöten
des Lebens, dem sein Jünglingseifer mit römischen und griechischen
Schulideen zu Leibe wollte. So wird es eine andere Rede, als er sie
damals aus Demosthenes übersetzte, ein Quell wirklicher Nothilfe fließt
darin und rührt an die Herzen, daß vielerorten Gutwillige, von der
Neuheit des Planes wie von seiner hinreißenden Darstellung gewonnen,
dem Urheber auch das Vertrauen schenken, ihn auszuführen. Was er sich
in seiner Lernzeit als Lebensberuf gedacht hat, ein Fürsprech des
niederen Volks zu sein, das ist er damit unvermutet doch noch geworden,
und die Besten im Lande lohnen ihm seine erste Rede mit freudigem Opfer.

Geschwellt von diesem Beifall wächst sich der Plan bald aus. Anna
Pestalozzi mit zwei Mägden leitet die Mädchen in allen Arbeiten der
Küche und des Haushalts an, sie lernen waschen, nähen, flicken, auch
die einfache Gartenarbeit, während die Knaben mit den Knechten auf die
Felder, in die Ställe und in die Scheune gehen: sie sollen für kein
anderes Leben aufgezogen werden als das der ländlichen Arbeit, wie
es ihrer wartet, und bei allem zugreifen lernen, was die gemeinsame
Haushaltung ihnen unter die Hände bringt. Daneben müssen sie spinnen
und weben, und hierfür hat Heinrich Pestalozzi das Glück, in der
Jungfer Madlon Spindler aus Straßburg eine vortreffliche Lehrmeisterin
zu finden, die bald als das Spinner-Anneli im ganzen Birrfeld bekannt
ist. Er selber gibt den Kindern Unterricht; denn wenn sie auch zu
keinem andern Leben als dem der Armut abgerichtet werden sollen, die
Wurzel seines Planes bleibt doch, Menschen aus ihnen zu machen, die
das Bewußtsein ihrer menschlichen Würde nicht mehr verlören und auch
dem schlimmsten Los die Unverlierbarkeit ihrer Seele entgegenzustellen
vermöchten. So lehrt er sie nicht nur das Abc, sondern versucht in
die zufälligen Wahrnehmungen ihrer Sinne die Ordnung einer bewußten
Anschauung zu bringen, indem er sie anleitet, über das Gefühl des
Augenblicks das Urteil ihrer eigenen Erfahrung Meister werden zu
lassen. Was er selber in den Gesprächen mit dem Jaköbli erfahren hat,
wendet er nun an, und ob er oft einsehen muß, daß ihm viel zu einem
Schulmeister fehlt, weil er zu hitzig und zu blind in seinem eigenen
Eifer wird, sodaß er leicht mit einem Gedanken schon ans Ende gelaufen
ist, während sie noch begossen vom Schwall seiner Worte den Anfang
garnicht gefunden haben: so verliert er doch hierin den Mut nicht,
schließlich die rechten Kunstmittel zu finden, um auch im Blödesten
noch den Keim zu wecken.

Über allem aber steht wie eine himmelhohe Rauchsäule das Glück, als
Dreißigjähriger endlich dem Leben zu dienen, statt sich im Erwerb der
Lebensmittel aufzureiben. Als der Ratsschreiber Iselin eine Zeitschrift
nur für die Fragen der Volkswohlfahrt gründet, die er die Ephemeriden
nennt, glaubt Heinrich Pestalozzi wirklich wieder in den Zeiten der
Gerwe zu leben; nur, was damals Überschwall jugendlicher Ideen gewesen
ist, das lebt nun als Tat und Wirklichkeit, und er steht mitten drin.
Kein Geringerer als der Landvogt Tscharner auf Wildenstein tut ihm die
Ehre an, in siebzehn Briefen über Armenanstalten auf dem Lande seine
Pläne zu erörtern; und wie er ihm darauf mit eigenen Briefen in den
Ephemeriden antworten, seine Ansichten und Bedenken, seine Hoffnungen,
Erfolge und Enttäuschungen vor den Gebildeten seines Landes darlegen
darf, in der Gewißheit, man achtet seiner und horcht auf ihn: da steht
Heinrich Pestalozzi endlich da, wohin sein Traum in zwei Jahrzehnten
gegangen ist. Nicht zu genießen, sondern zu wirken ist der Trieb
seines Lebens; als er mit der Landwirtschaft sein Dasein auf die
eigene Wohlfahrt gründen wollte, hatte ihn das Schicksal gedemütigt,
bis er die Hand darin erkannte; nun liegt die Landwirtschaft und die
Collegienzeit hinter ihm als bittere Lebensschule, die Sehnsucht seiner
Jugend ist keine Täuschung gewesen, der Traum wurde doch Wahrheit; und
so mühsam, so aufreibend in hundert Hindernissen sein Dasein geworden
ist, ein gepeitschtes Wasser, darauf der Kahn seiner Häuslichkeit ohne
Segel und Ruder verlassen schwimmt: die Tage seines Glücks sind da,
weil nichts mehr zwischen seinem Gewissen und seinen Geschäften steht.


                                  52.

Heinrich Pestalozzi merkt lange den Zwiespalt nicht, an dem sein Glück
scheitern muß. So überzeugend seine Zahlen auf dem Papier stehen, daß
die Anstalt sich aus sich selber zu halten vermöge: als die Armenkinder
wirklich da sind, kommt es zwingender als früher darauf an, die
vergrößerte Haushaltung wirtschaftlich zu halten; denn die Zuschüsse
der Menschenfreunde, so tapfer sie auf seine Bitte eingehen, decken
nicht einmal die erste Einrichtung. Um das Exempel aus dem Papier in
die Praxis zu bringen, bedarf es anderer Finanzkünste, als sie Heinrich
Pestalozzi geläufig sind; seine Geschäftsführung kommt schließlich
doch wieder auf die alte Torheit hinaus, die kleinen Löcher aus einem
großen Loch zu flicken, und wenn das zu bedenklich wird, mit einem
phantastischen Lappen die Blöße zu decken. An Einfällen hierzu fehlt es
ihm nicht; nach Jahresfrist ist aus seiner Anstalt schon eine wirkliche
Fabrik geworden, indem er die Baumwolle nicht nur spinnen und weben,
sondern die gewebten Stoffe auch färben und bedrucken läßt, und eines
Tages erleben die Zurzacher den Spaß, daß der Armennarr vom Neuhof --
wie er nun schon im ganzen Aargau heißt -- selber seinen Stand auf
ihrer Messe aufgeschlagen hat, gefärbte und bedruckte Baumwollentücher
zu verkaufen.

Irgend ein Spaßvogel bringt die Absprache auf, daß er sich eine
reichliche Bestellung abmessen läßt; wie aber Heinrich Pestalozzi
glücklich seine Elle geschwungen hat und schwitzend hinter dem Berg
seiner entrollten Ware steht, entdeckt der angebliche Käufer soviel
Fehler, daß er ihm scheltend alles hinwirft und unter dem Gelächter der
andern verschwindet. Erst als ihm das zum drittenmal begegnet, merkt
seine Harmlosigkeit, daß es die Rache der Händler für die unerbetene
Konkurrenz ist. Er läßt sich von seinem Zorn hinreißen, mit seiner Elle
dem Mann nachzuspringen, weil aber der halbe Markt mit Hetzgeschrei
hinter ihm herläuft, bleibt er doch der Gefoppte. Als er am dritten Tag
entmutigt abführt, hängt hinten an seinem Wagen -- ohne daß er es merkt
-- ein freches Schild: Hier wird um Gotteswillen schlechte Ware für
gute verkauft!

Der Spott trifft ihn tief, weil seine Ware wirklich nicht gut ist
und es auch gar nicht sein kann. Die Kinder, zum Teil mit Zwang in
seine Arbeit gebracht, sind viel zu sehr ans Bettelgeläuf gewöhnt,
um die strenge Arbeitszucht zu ertragen; wenn sie den ersten Hunger
gesättigt haben und in sauberen Kleidern stecken, jammern sie nach
ihrem ungebundenen Elend. Immer wieder geht eins in der Sonntagnacht
mit den guten Kleidern davon, und es wiederzuholen ist schwierig,
weil die Bauern -- denen er die billigen Arbeitskräfte der Kinder
fortgenommen hat -- ihm feindlicher sind als je und auch die Behörden
der neumodischen Gesinnung im Neuhof argwöhnisch mißtrauen. Selbst die
Gutwilligen bleiben selten länger, als ihre Zwangszeit ist, und darum
hat sein klug ausgerechneter Plan, mit dem Verdienst der Zöglinge die
Anstalt zu erhalten, das böse Loch, daß er nur die fehlerhafte Ware von
Anfängern liefern kann.

Zu alledem muß Heinrich Pestalozzi immer bitterer bemerken, daß
er selbst für die Schulmeisterei weder geeignet noch geübt ist;
unausgesetzt beschäftigt, die richtige Lehrart zu finden -- sodaß
eigentlich nur er allein bei seinem Unterricht etwas lernt -- ist er
ganz unfähig, drei Dutzend solcher Kinder in Disziplin zu halten. Im
Augenblick überfließende Liebe und im nächsten maßloser Zorn, steht er
machtlos inmitten ihrer Tücke, die sich vor seinen Schlägen fürchtet
und bei seiner Liebe heuchelt; um beides zu verhöhnen, wenn er den
Rücken gewandt hat.

Niemand fühlt diese Mängel tiefer als seine Frau, die nun den Schmerz
erlebt, den Geliebten auch in den Dingen seiner Neigung unfähig wie
im praktischen Erwerb zu sehen; bald hat sie statt seiner die Leitung
der Anstalt in der Hand, während er unruhig von einem zum andern
läuft, mehr verwirrend als fördernd. Durch einige Jahre erhält sie
mit unmenschlichem Kampf den äußeren Bestand der Dinge, dann wird
sie krank, und kaum hat sie einige Wochen gelegen, als auch schon
die Unbotmäßigkeit zur Überschwemmung anschwillt, darauf Heinrich
Pestalozzi mit seinem unsteten Willen wie ein Kork schwimmt. Ein
paarmal rafft sich die Tapfere noch auf, die Sache zu retten; aber mit
ihren vierzig Jahren ist sie für die stündlichen Aufregungen nicht mehr
stark genug. Auf einem verzweifelten Besuch bei ihrer Freundin, der
Frau von Hallwyl, kommt sie ernsthaft zu liegen und kehrt nicht mehr
auf ihren Posten zurück.

Die Anstalt ist unterdessen mit den Bedienten auf fünfzig Mäuler
angewachsen, deren Ernährer Heinrich Pestalozzi sein soll, schon drohen
die Gläubiger mit der Vergantung, während er immer nach neuen Plänen
rudert, die alten zu retten: Seit zwei Jahren ist das Bärbel mit dem
Kaufmann Groß in Leipzig verheiratet, wo sie schon an Kindesstelle
bei der verwitweten Tante Weber gewohnt hat. Ihr Mann führt die
Geschäfte des Hauses Weber, sodaß die Schwester als die eigentliche
Erbin im Wohlstand lebt; Heinrich Pestalozzi hat sich in seiner Not
an sie um ein Darlehen gewandt, und wirklich erscheint eines Tages
im November sein Bruder Johann Baptista, der nach wechselnden Jahren
einer verunglückten Kaufmannschaft wieder in Zürich lebt, als ihr
Mittelsmann, den letzten Versuch einer Rettung zu machen. Es kommt ein
Vertrag zustande, worin die Scheune mit zwanzig Jucharten um den Preis
von fünftausend und etlichen Gulden verkauft wird, um damit Deckung
für die dringendsten Schulden zu gewinnen.

Eifrig wandert Heinrich Pestalozzi eines Morgens nach Hallwyl hinaus,
seiner kranken Frau die glückliche Wendung anzusagen, und schon malt
er sich den Traum einer Kolonie aus, wo Anna mit dem Knaben wieder auf
dem Neuhof ihr ruhiges Heim haben soll, während die Zöglinge rundum
mit einzelnen Hausvätern in besonderen Gebäuden wohnen; aber als er
heimkommt, ist Johann Baptista mit dem Geld unterwegs, sich in Amerika
eine Farm zu kaufen, wie er ihm in einem Abschiedsbrief hinterläßt.
So steht er mitten in seinem Unglück auch noch vor dem Zwang, für die
Mutter und vor der Welt seinen ehrlichen Namen zu retten. Er muß zum
andernmal nach Hallwyl, und nun wächst kein Traum einer Gartenkolonie
mehr in seiner verdüsterten Seele; er geht noch am selben Tag, und
weil es Abend geworden ist, den größten Teil des langen Weges in der
Dunkelheit. Hinter Lenzburg verirrt er sich und findet die Brücke nicht
über die Aa, bis er durch das kalte Wasser hindurch watet. Ein paarmal
ist der Gedanke in ihm, daß die Verirrung dauernd werden möchte, dann
hilft ihm der aufgehende Mond mit seinem ungewissen Licht auf die
Straße zurück, die ihn mit eisnassen Strümpfen nach Schloß Hallwyl
bringt. Da wartet er in der Dunkelheit des Morgens wie ein Bettler am
Tor, bevor er einen Knecht herausgeklopft hat.

Nun muß Anna Schultheß noch einmal die Taschen ihrer wohlhabenden
Herkunft absuchen; ihr Vater, auch Freunde helfen schließlich, den
Schlund notdürftig zuzustopfen -- wie sie den Neuhof nennen --
nur wird ihm unbarmherzig die Bedingung auferlegt, die Anstalt zu
schließen. Und damit es keinen Ausweg gibt, wird ein neuer Verkauf
gemacht, worin Johann Heinrich Schultheß die Fabrik und den größten
Teil des Landes übernimmt, um einen Pächter einzusetzen.

So kommt nach fünf Jahren der Tag, da Heinrich Pestalozzi seine
Dienstleute entlassen und die Kinder wieder in die Bettelarmut
zurückgeben muß, daraus er sie in seinen Neuhof geholt hat. Er findet
noch die Tapferkeit, ihnen allen mit einer Abschiedsansprache ans
Herz zu gehen, und es sind nun doch viele Hände, die sich nach ihrem
Vater strecken. Dann aber, als auch dieser Vorfrühlingstag im ewigen
Kreislauf der Gezeiten dunkel wird, bleibt er allein in den verlassenen
Stuben zurück. Die Messinglampe ist noch da, die ihm so manchen Abend
seiner einsamen Jungmannszeit in Müligen erleuchtet hat; er steckt
sie nicht an, obwohl unter dem bedeckten Himmel kein Stern aufkommen
will; es tut ihm wohl, daß seine Augen nichts mehr von allem zu sehen
brauchen, das nun sinnlos geworden ist. Die ganze Nacht hindurch sitzt
er wach in seinem Stuhl; erst als der Morgen kommen will, legt ihm der
Schlaf seine Hand auf die Augen, daß er das Gespenst des leeren Hauses
nicht in der Todestraurigkeit der ersten Morgenfrühe sähe.


                                  53.

Am Nachmittag des andern Tages schließt Heinrich Pestalozzi die Tür
am Neuhof zu, die dritte einsame Wanderung dieser Tage anzutreten.
Bis Brugg weiß er noch nicht, wohin sie führen soll, dann ist es der
Ratsschreiber Iselin in Basel, an den sein inneres Gefühl sich wendet;
er sieht die klargütigen Augen des Mannes und hört seine Stimme, als
ob er schon vor ihm stände: von allen Freunden seiner Jugendheimat
weiß er keinen seiner Not so nah wie diesen ihm wesensfremden Basler,
zu dem er nun über den Jura wandert. Er kommt an dem Tag nur noch bis
Frick und als er da eine Herberge suchen will, merkt er, daß er ohne
Geld wegging. Es scheint ihm fast recht, denn mehr als ein Bettler
kommt er sich kaum vor; müde sitzt er am Wegrain und denkt schon,
sich um Gotteswillen ein Obdach zu erbitten, da treibt ein Ziegenhirt
seine Herde an ihm vorbei, lustig auf einer Holzpfeife blasend, die
er aus jungem Saftholz geschnitten hat. Er selber hätte ihn garnicht
erkannt, aber der Bursche hält gleich mit dem Stecken sein meckerndes
Volk zurück und ruft ihn an, höflich den alten Hut lüftend. Es ist ein
Zögling, der vor einigen Jahren als Waisenkind kurz bei ihm war und nun
in Frick die Ziegen hütet. Treuherzig von ihm eingeladen, geht Heinrich
Pestalozzi mit auf den Hof, wo er bei einem rechtschaffenen Bauer
-- der durch den Burschen Gutes von ihm weiß -- ein sauberes Lager
angeboten erhält, bevor er darum zu bitten braucht.

Der freundliche Zufall gibt ihm eine bessere Stimmung in den andern
Morgen, da er nach dankbarem Abschied seine Wanderung fortsetzt; und
eben läuten die Basler Glocken den Mittag ein, als er gegen Sankt
Albanstor kommt. Da hat sich ein Blinder an den Weg gesetzt, seinen
Hut vorzustrecken, so oft er Schritte hört. Heinrich Pestalozzi vermag
nicht, an ihm vorbeizugehen, und weil er nichts anderes schenken kann,
löst er die silbernen Schnallen von seinen Schuhen und wirft sie in
den Hut. Er fühlt, daß es unnütz ist, aber in seinem Zustand tut es
ihm zornig wohl, das Letzte freiwillig hinzuschenken, wo ihm soviel
gewaltsam genommen ist. Doch vermag er ohne die Schnallen nicht zu
gehen, und so flicht er aus Binsengras ein paar dünne Riemchen, mit
denen er die Schuhe zur Not bindet.

Mehr als einer in den geläufigen Gassen sieht verwundert nach seinen
Füßen, und auch der Ratsschreiber, als er den unvermuteten Gast selber
an der Tür abnimmt, vermag seine Blicke nicht zu behüten. Da Heinrich
Pestalozzi nicht mit der Unwahrheit vor ihm stehen will, als fehle es
ihm schon derart am nötigsten, erzählt er ihm den Vorfall, worauf ihn
Iselin, der im Alter sein Vater sein könnte, kopfschüttelnd und nassen
Auges über soviel Einfalt in die Arme schließt. Nach diesem Empfang
ist es ihm nicht mehr schwer, die letzten Stationen des Leidensweges
seinem Patron bekannt zu geben, der sich mehr als ein andrer in den
Ephemeriden und sonst für ihn eingesetzt hat. Er ist bis ins einzelne
vorbereitet und hat auch schon eine Antwort zurecht, die mehr als ein
leerer Trost ist: die Anstalt sei ein Experiment gewesen, und wer in
der Wissenschaft gearbeitet habe, wisse wohl, daß es auf die Resultate
ankomme. Freilich bliebe es für ihn ein Schicksalsschlag, daß er das
Vermögen seiner Frau dabei verloren habe; aber er sei jung und besäße
in seinem Neuhof immer noch ein gutes Dach über dem Kopf. Am Ende
wäre alles für ihn nur die Grundlage einer anregenden und fruchtbaren
Schriftstellerei gewesen. Ob an dem Emil etwas schlechter würde, wenn
Rousseau selber etwa mit einem solchen Erziehungsversuch gescheitert
wäre? Man könne freilich mit derartigen Dingen keine goldenen Berge
erwerben, aber eine bescheidene Ernährung solle sich eine so starke
Feder wie die seine schon erzwingen können. Da wäre zum Beispiel das
Preisausschreiben der Basler Aufmunterungsgesellschaft: Wieweit es
schicklich sei, dem Aufwand der Bürger Schranken zu setzen? Ob er es
nicht einmal um die zwanzig Dukaten versuchen wolle?

Iselin spricht das alles noch vor seinem Stuhl stehend, und reicht
ihm die Nummer der Ephemeriden hin, als ob es nur noch an ihm läge,
die zwanzig Dukaten einzuheimsen; dann geht er hinaus, den Gast zum
Essen einzumelden. Der sitzt mit dem Blatt in den Händen und vermag
keinen Buchstaben zu lesen; die Stimme des Ratsschreibers ist wie ein
Frühlingsregen auf seine verstaubte Stimmung gerieselt; auch hat er
die Worte nicht alle verstanden, nur wohlig den herrlichen Ton der
Gesinnung und den unbeugsamen Willen gespürt. Warum bin ich nicht mit
meinem Werk in der Nähe dieses Mannes gewesen statt in der Daseinsluft
des Metzgers Märki? denkt er immerfort, und die Tränen rinnen ihm auf
den Rock. Er ißt mit ihm, und als der Ratsschreiber -- der gerade
Strohwitwer ist -- mit einem Scherz das Glas gegen das seine hebt,
vermag er schon wehmütig wieder zu lächeln. Er läßt sich danach drei
Tage lang von ihm betreuen, auch seine Schnallen bekommt er wieder,
weil der Ratsschreiber sie heimlich bei dem blinden Stammgast vor St.
Alban eingelöst hat, und als er in der vierten Frühe die Rückwanderung
antreten will, hat ihm der väterliche Iselin einen Platz bei der Post
bezahlt. So kann er dem Ziegenhirt hinter Frick nur von fern zuwinken,
nicht einmal sicher, ob der auf ihn rät. Ihm ist er auf dieser traurig
begonnenen Wanderfahrt fast so wert gewesen wie der Ratsschreiber, und
noch während die Post in den breiten Talkessel von Brugg einrollt,
denkt er, daß sein Traum einer menschlichen Gemeinschaft trotz aller
Verschiedenheit der Stände, geeinigt durch ein sittliches Bewußtsein,
doch nicht von den Sternen wäre.

Trotzdem wird es ihm schwer, von Brugg aus den Weg in das Trümmerfeld
seiner Wirksamkeit zu gehen, wo viele ihm ohne Gruß begegnen und einige
Buben ihm höhnisch nachrufen. Aber als er gegen den Neuhof kommt, sieht
er einen Knaben emsig am Brunnen spielen, der, als er ihn erkennt,
jubelnd in seine Arme läuft. Es ist das Jaköbli, und die Mutter -- der
er Nachricht von Basel gegeben hat -- ist auch da; sie sitzt, noch
schwach von ihrer Krankheit, auf einem Baumstamm in der Sonne und hält
tapfer lächelnd den Regenschirm in der Hand: Wir dachten, es möchte
regnen; aber, Lieber, die Sonne scheint! Und erst als sie beide, den
Kleinen an den Händen zwischen sich, hinein gegangen sind und die
verlassene Stube mit ihrer Gemeinschaft füllen, daß die Leere durchs
Fenster entweicht, tritt auch die Frau von Hallwyl zu ihnen, die
unterdessen beiseit gegangen war.


                                  54.

So unsicher die Aussicht auf die zwanzig Dukaten der
Aufmunterungsgesellschaft und die anderen Schriftstellereinnahmen für
Heinrich Pestalozzi vorläufig ist, so bestimmt stehen die Schildwachen
der Bedrängnis rund um den Neuhof. Es fehlt am Nötigsten, und für
Anna ist die Zeit gekommen, die ihre Mutter prophezeite, ja selbst
das Brot ist nicht immer da. So sieht sich Heinrich Pestalozzi als
Schriftsteller in der lächerlichen Bedrängnis, nicht einmal das
notwendige Papier zu haben. In dieser Not fällt ihm ein alter Erbkoffer
ein, der mit anderem Haushalt von der Mutter bei der Einrichtung in
Müligen herübergekommen ist und seit Jahren vergessen auf dem Speicher
steht. Irgendein Vorfahr hat sein Leben lang in der Lotterie gespielt,
und zwar in der Meinung, daß sich das Glück in Tabellen nachrechnen und
erlisten ließe. Für diese Tabellen hat er sich dann Bogen mit roten
Linien herstellen lassen, die Berechnungszahlen einzutragen. Damit ist
der ganze eisenschwere Koffer gefüllt, durch den nun der gewinnsüchtige
Vorfahr seinem Erben einen späten Liebesdienst leistet; denn selbst
da, wo schon Zahlen eingeschrieben sind, lassen sich die Bogen noch
benutzen, und Hunderte sind ganz frei.

In diese rote Linienwelt schreibt Heinrich Pestalozzi das erste
Resultat seiner Erfahrungen nieder, und es scheint fast, als ob die
Tabellenfächer die äußere Form bestimmten: es werden lauter einzelne
Sprüche daraus, deren Weisheit in den roten Linien wie der Honig
in Bienenzellen voneinander abgetrennt ist; aber ihr Geschmack ist
bitterer Wermut. Er nennt sein Schriftstück die »Abendstunde eines
Einsiedlers« und schickt es Iselin nach Basel, der es auch sogleich in
die Ephemeriden gibt. Dadurch ermutigt, macht Heinrich Pestalozzi sich
auch an die Preisaufgabe der Aufmunterungsgesellschaft.

Es liegt nicht an der roten Liniatur, daß sein Eifer bei der zweiten
Schrift erlahmt; so reich die Gedanken drängen, so schwer fließen ihm
die Sätze dazu, auch mit den Forderungen der Schriftsprache kommt er
nur seufzend zurecht. Er muß Bogen vollschreiben, um einige brauchbare
Zeilen zu gewinnen, und die scheinen ihm wie gepreßte Pflanzen. Sich
und die Seinigen zu ernähren -- das sieht er bald -- ist es kein
Geschäft. Um andere Wege zu versuchen, nimmt er zum zweitenmal den
Stecken, diesmal nach Zürich, wo die meisten seiner Freunde wohnen.
Wieder geht er zu Fuß; es ist nur ein kleiner Tagesmarsch, und schon am
Nachmittag kommt er zur Sihlporte herein. Eben will er über den Rennweg
gegen das Fraumünster hin, als ihm einer der Schulgenossen begegnet,
mit denen er damals nach Wollishofen hinaus gerudert ist, er hat ihn
seither oft gesehen, zuletzt bei der lustigen Gesellschaft, die ihn
nach seinem ersten Weihnachtsbesuch im Pflug ans Schiff brachte. Er
freut sich, gleich einem Bekannten zu begegnen, aber ehe er noch bei
ihm ist, entweicht der andre in eine Nebengasse.

Als er nachher das Erlebnis dem Buchhändler Füeßli erzählt, der
von allen Zürchern am treuesten zu ihm steht, obwohl er nicht zart
mit Worten ist, läuft der nach seiner Gewohnheit einigemal in der
Schreibstube hin und her, wirft zornig ein Bündel Papier aufs andre,
bis die Schriften in einem rechten Durcheinander sein müssen, und
sagt ihm dann mitten ins flehende Gesicht: soviel sollte er doch die
Zürcher kennen, daß sie ihn nur noch fürs Armenhaus oder das Spital
kalkulierten; in einem Jahrdutzend eine vermögende Frau arm zu machen
und wer weiß wen geschäftlich zu schädigen, das ginge ihnen über das
bürgerliche Maß. Wenn er ehrlich sein wolle, müsse er ihm schon sagen,
daß ihn seine Mitbürger für einen bösartigen Narren hielten! Dabei
wirft er sein Kontobuch, das er gerade ergriffen hat, mit einem solchen
Zorn in die Papiere, daß sein Tintenfaß erschrocken aufspringt und die
Umgebung mit mehreren Klexen bespritzt. Er schüttelt ihm dann zwar
freundlich die Hand, aber immer noch hat sein Zorn einen Hinterhalt:
Was er denn meine, daß ihm Lavater gesagt habe? Er solle ihm einen
einzigen Satz von Heinrich Pestalozzi beibringen, der sauber und ohne
Fehler geschrieben wäre, dann wolle er ihn auch sonst noch für eine
Sache im Leben brauchbar halten! Aber das unterschreibe er, der Hans
Heinrich Füeßli, nicht; wenn er nur erst von seiner Narrheit abkäme,
andern helfen zu wollen, bevor er sich selber geholfen habe, so würde
sich schon etwas für ihn finden!

Das hat der Gekreuzigte auch hören müssen, sagt Heinrich Pestalozzi,
den der Zorn des andern angesteckt hat, und fegt nun auch hin und her,
sodaß es für einen Dritten, der in die Stube gekommen wäre, ausgesehen
hätte, als machten die beiden ihre schlimmsten Händel aus. Dann
überkommt ihn die Verzweiflung: Und wenn ich Perücken strählen müßte,
ich würde es um der Meinigen willen tun! sagt er schmerzlich und läuft
aus der Stube, weil ihm die Tränen fließen.

Im Roten Gatter findet er auch keinen Trost; die Mutter, nun schon
sechzigjährig, sieht ihn augenscheinlich in den Fußspuren seines
Bruders, und das Babeli, eisgrau und wunderlich geworden in der
Einsamkeit mit der verhärmten Frau, redet mit ihm, als ob sie ihn am
liebsten noch einmal verwalke. Er muß von seinen Dingen günstiger
sprechen, als sie sind, und vermag nicht über Nacht zu bleiben. Noch
vor dem Abend geht er unter dem Vorwand dringender Geschäfte fort und
auf Umwegen aus der Stadt; er ist in den letzten Monaten in eine wahre
Gier gekommen, nachts zu wandern. An der Sihlporte fallen ihn die
Wächter mit scharfen Fragen an; wo ehemals ausgediente Stadtknechte ihr
Altersbrot hatten, stehen jetzt in aufgeputzten Uniformen stattliche
Burschen, als ob sie für die Fremden zur Zier dahingestellt wären.
In seiner Stimmung ärgert ihn die Neuerung, und während er in die
sinkende Dunkelheit hinein läuft, verbeißt er sich in einen Zorn,
daß solcherweise die Fortschritte wären, für die das Geld blindlings
geopfert würde. Er fühlt wohl, daß der Anlaß seinem Zorn nicht
entspricht, und um sich selber zu begegnen, übertreibt er den Vorfall,
bis eine Schnurre daraus geworden ist, über die er selber mitten in die
Nacht hinein lachen muß.

Er kommt damit bis Baden; und wenn ihn dann seine Müdigkeit und die
Nähe des Neuhofs wieder in seine Melancholie bringen, sodaß er sich die
letzten Stunden nur noch in einer tonlosen Traurigkeit hinschleppt:
am andern Morgen ist doch noch so viel von der höhnischen Lustigkeit
dieser Nacht in seinem Bett, daß er bis in den Mittag darin liegen
bleibt und von neuem an der Schnurre formt. Nachher nimmt er sich
einige von den stockfleckigen Lotteriebogen vor und hängt seine
Einfälle in die roten Linien hinein; ohne Sorgen, wie die Sätze werden,
nur daß er seinen Zorn noch einmal so närrisch losbekäme. Um dem treuen
Füeßli den Beweis seiner vollkommenen Narretei zu geben, wie er in
einem Begleitbrief schreibt, schickt er ihm die Bogen zu; dann begibt
er sich ingrimmig wieder an seine Preisaufgabe.

Er ist noch dabei, aus dem Wust mit Ändern und Streichen die endgültige
Fassung zu gewinnen, als er eines Nachmittags eine saubere Weibsperson
mit einem Bündel kommen sieht, die bestimmten Schrittes auf den
Neuhof zugeht und die er danach im Hausflur mit seiner Frau sprechen
hört. Es scheint ihm, daß er sie kennt, und als er, von dem Jaköbli
gerufen, hinzukommt, ist es die Lisabeth Näf aus Kappel, die vordem bei
seinem verstorbenen Onkel, dem Doktor Hotze, als Dienstmagd gewesen
und, soviel er weiß, von dessen Sohn -- seinem Vetter -- übernommen
worden ist. Sie wolle bei ihnen in Dienst treten, erklärt ihm Anna,
die augenscheinlich mit der resoluten Jungfer nicht fertig wird. Das
würde schwer gehen, sagt er, sie seien arm und könnten keine Dienste
bezahlen! -- Eben deshalb käme sie; sie wolle keinen Lohn; solange
Frau Pestalozzi noch nicht gesund sei, müsse ihr jemand an die Hand
gehen. Auch habe sie von dem Undank seiner Zöglinge gehört, daß sie
ihm alle davon gelaufen wären, und da sie sich in Richterswyl nach dem
Tod des alten Herrn entbehrlich oder gar überflüssig fühle, wolle sie
versuchen, ihre Nahrung, mehr nicht, bei ihnen zu verdienen.

Während Heinrich Pestalozzi noch zweifelnd erst seine Frau, dann
wieder das Wunder ansieht, das aufrecht gewachsen und geraden Blickes
da vor ihm steht, bittet sie schon wieder die Hausfrau, ihr ein Lager
zu weisen, da sie heute jedenfalls nicht mehr zurück könne. In kaum
einer Viertelstunde ist sie schon emsig im Hause, und andern Morgens
denkt keiner daran, sie wieder fortzuschicken; nach einer Woche ist
es so, als ob sie immer dagewesen wäre, so unbemerkt weiß sie sich in
den gedrückten Haushalt zu schicken. Es sei fast zu spät, den Garten
zu bestellen, sagte sie, ist aber schon dabei, ihn umzugraben; und
bald merkt Heinrich Pestalozzi, daß in seinem verworrenen Hauswesen
wieder der sichere Tageslauf der Sonne ist: Schritt für Schritt wird
die Unordnung des Untergangs beseitigt und aus dem weiten Bereich des
verwüsteten Gutes der saubere Umkreis des Hauses abgetrennt. Und als
ob die eine tätige Hand ihren Takt auch in die andern brächte, fängt
das gestörte Uhrwerk des Hauslebens wieder an, zu gehen. Selbst bis in
seine roten Tabellen dringt ihre Sicherheit, sodaß er seine Preisarbeit
bald zu Ende bringen und die Reinschrift der Aufmunterungsgesellschaft
in Basel nicht ohne Vertrauen auf ihren Wert zusenden kann. Daß man
dem Aufwand der Bürger äußere Schranken setzen müsse, ist freilich
nicht seine Meinung: Hier wie überall käme es nicht auf die Landreiter,
sondern auf die Menschenbildung an.


                                  55.

Unterdessen hat seine Schnurre über die Umwandlung der ungekämmten und
krummen Stadtwächter in gerade und gekämmte in Zürich eine Art Glück
gemacht. Auf der Durchreise von Italien nach London ist der ehemalige
Freund Lavaters, der Maler Füeßli einen Tag lang bei seinem Vetter
gewesen; er hat die Schnurre zufällig gelesen, und zwar mit so viel
Spaß, daß er nicht begreifen will, wie es einem Mann mit einer solchen
Begabung schlecht gehen könne: sein Talent als Schriftsteller sei
derart, daß ihm der Erfolg nachlaufen müsse!

So kann ich meine Perücke wieder mitnehmen, scherzt Füeßli, als sie
in Baden eine rasche Zusammenkunft haben, das Ereignis zu besprechen:
ich hatte sie schon zum Strählen mitgebracht! Aber Heinrich Pestalozzi
ist es nicht zum Lachen, umsoweniger, als der andre augenscheinlich
kaum etwas andres als einen Sack voll solcher Schnurren im Sinn hat.
Er dämpft die Begeisterung des Buchhändlers sauersüß, ist noch ein
paar Stunden gern in der Luft einer Freundschaft, denkt aber nicht
daran, ihm zu folgen; bis er heimkommt und die moralischen Erzählungen
des Franzosen Marmontel noch aufgeschlagen auf dem Tisch seiner
Frau findet. Er liest darin, und unversehens überlegt er doch schon,
dergleichen besser zu machen; um statt weichlicher Rührung gute
Gedanken ins Volk zu bringen.

Gleich andern Tags versucht er nun das Dichterhandwerk, angebliche
Menschen als Gestalten seiner Absichten in eine Handlung zu stellen.
Es gelingt ihm leichter, als er erwartete, und am Abend ist das
erste Ding schon rund gebracht; aber als er es dann überliest und
mit dem Vorbild vergleicht, findet er wohl, daß seine Gestalten sich
ernsthafter unterhalten als bei Marmontel, doch ist die Unterhaltung
so sehr die Hauptsache, daß es wenig Zweck hat, sie mit den Armen und
Beinen der Personen zu umgeben; auch haben sie für gemeine Bürgersleute
eine Art zu predigen, die ihnen nicht ansteht. Aber nun ist einmal
sein Eifer geweckt, und schon am nächsten Tage läßt er ein neues Paar
anmarschieren. Diesmal sind es zwei Bauern, ein alter und ein junger,
die sich über die neumodische Landwirtschaft erhitzen; haben die Bürger
gepredigt, so verkniffeln sich die Bauern wie zwei Advokaten, und da
auch hier wieder die Reden des Verfassers die Hauptsache sind, hätten
die Personen ebensowohl daheim bleiben können. Noch drei- oder viermal
versucht er es, um immer bedenklicher einzusehen, daß er kein richtiges
Bauernmundwerk aufs Papier bringt. Soviel er auch an den Tannern im
Birrfeld erlebt hat, nun merkt er, daß er sie garnicht kennt; und wie
er das Abc erst an seinem Knaben studiert hat, beginnt er nun, mit
ihnen seine heimlichen Experimente anzustellen.

Die Leute von Lupfig und Birr machen sich verdächtige Zeichen, als der
Herrenbauer vom Neuhof anfängt, in ihren Wirtschaften herumzusitzen;
sie wissen aus Erfahrung, wie dies das Ende solcher Existenzen ist,
und weil er kaum etwas trinkt, deuten sie hämisch auf seine leere
Tasche. Er dagegen merkt bald, daß sie mit ihm anders als unter sich
sprechen, so hält er sich abseits, in einem Wettergespräch oder sonst
mit dem Wirt, während sie bei ihren Karten oder um irgend einen Handel
untereinander sind. Wenn ihm dabei eins seiner eigenen Bauerngespräche
beifällt, kommt ihm alles darin so papieren vor, daß er manchmal im
Eifer mitanfängt zu fuchteln, als ob er damit die richtigen Worte
festhalten könnte.

Darüber fangen sie an, ihn vollends für übergeschnappt zu halten, und
legen sich aufs Hänseln; aber nun reitet ihn schon der Teufel seiner
Leidenschaft, auch um andrer Dinge als seiner Schriftstellerei willen
tiefer in ihre Wirtshauswelt hinein zu kommen. Er sieht, wieviele
Dinge hier ihren Anlaß und ihre Stärkung haben, wieviel aus der Bahn
geworfene Existenzen am Wirtshaustisch ihr Schicksal absitzen, und
wie nicht der Schnaps und der Wein allein sie dahin ziehen, sondern
der Trieb unnützer Buben, mit Hänseleien und großmäuligen Prahlereien
beieinander zu hocken. Hier müßte zu Hause sein, sagt er sich oft,
wer eine Armenanstalt aufmachen will; hier ist der Lebensboden aller
Laster, die in einem Menschen allein garnicht wachsen können, weil
immer nur mehrere zusammen das Ungetüm ausmachen, das den einzelnen
mit Haut und Haaren frißt; was nachher dann aus dem Wirtshaus nach
Hause geht, ist nur noch ein Stück von diesem Ungetüm, dem es natürlich
nirgend mehr wohl sein kann als bei sich zu Hause, nämlich auf der
Wirtshausbank, wo es zu fressen und zu saufen bekommt.

Heinrich Pestalozzi hat schließlich ein System von Listen, das Ungetüm
lebendig zu sehen, indem er sich selber anscheinend mit auffressen
läßt oder unter einem Vorwand nebenan in der Küche lauscht. Als er
eines Nachmittags in Mellingen eintritt, weil er schätzt, daß ihrer da
mehrere vom Viehmarkt sitzen würden, findet er das Zimmer noch leer,
und da der Wirt augenscheinlich auch noch unterwegs ist, juckt ihn
der Vorwitz so, daß er in eine große Futterkiste klettert, die in der
dunklen Ecke neben dem Ofen als Truhe dient und deren offener Deckel
ihn wie eine Wand verbirgt. Er hört auch bald ihrer zwei hereinkommen
und über den Metzger Märki in Birr schimpfen, der ihnen beim Handel
die Flöhe abgesucht hat, wie sie sagen. Weil das Gespräch einmal den
Lauf genommen hat, bleibt es auch dabei, als andere eintreten, und
so bekommt Heinrich Pestalozzi unvermutet eine Predigt über seinen
ehemaligen Ratgeber zu hören, wie sie nicht in seine Tabellen gegangen
wäre. Aber als sich das Ungetüm so recht wieder aneinander gewachsen
hat und groß tut mit Fäusten und Flüchen, wird es still von einem
Schritt, der durch die Tür hereinkommt und nach einem brummigen Gruß
mitten im Zimmer stehen bleibt. Heinrich Pestalozzi hinter seiner
Wand hört das Ungetüm schnaufen, bis einer den Märki -- denn niemand
anders ist es -- nach den Hummeläckern fragt und gleich das Gelächter
über die Anspielung losbrüllt. Aber so ist der Metzger nicht, daß
er sich abtrumpfen läßt: im Nu ist er mit ihnen aneinander in einem
Maulgefecht; und wollten sie ihn um den ausgezogenen Herrenbauer im
Neuhof hänseln, so gibt er ihnen sein Kunststück mit frecher Prahlerei
preis: warum sie es nicht selber gemacht hätten, wenn es so leicht
gewesen wäre? Jedenfalls habe er das Kalb abgestochen; sie könntens ja
mit ihm auch einmal versuchen: er würde ihnen schon dartun, wer der
Meister wäre, wie er es diesem Herrn Pestalozzi auch dargetan habe!

Die Abfertigung scheint dem Ungetüm plausibel, denn es schweigt; aber
als der Märki sich abseits von ihnen auf seinen Trumpf setzen will,
findet er keinen besseren Platz als die Futterkiste; er klappt den
Deckel zu, merkt garnicht, daß ein Widerstand da ist, und will sich
gerade noch einmal auslachen, als es unter ihm mit Faustschlägen
rumort. Wenn der Teufel selber aus dem Kasten gestiegen wäre, hätte
die Wirkung nicht anders sein können als nun, da das abgestochene Kalb
seiner Prahlerei heraus springt. Auch das verdutzte Ungetüm muß sich
einen Augenblick am Wirtstisch festhalten, und es ist noch nicht zu
sich gekommen, als Heinrich Pestalozzi durch die Tür dem gemeinsamen
Gelächter entgeht.


                                  56.

Die Bauern auf dem Birrfeld sagen, daß dem Märki die schwarze Pestilenz
als Teufel aus der Futterkiste erschienen wäre; aber so sehr sie dem
Metzger den Schrecken gönnen, die Narrheit bleibt doch an Heinrich
Pestalozzi hängen; und wie sie ihn danach bei Sonnenschein und Regen
draußen herumlaufen sehen, bestätigt ihnen nur, daß ihm sein Unglück
mit dem Neuhof und der Armenanstalt auf den Verstand geschlagen sei.

Er ist aber nur in eine Auseinandersetzung mit dem Ungetüm geraten, das
nicht -- wie es scheint -- vom Überfluß, sondern von Mühsal und Armut
lebt; denn die ihm zu fressen geben, sind die Schwachen, Leichtfertigen
und Verzweifelten, die, irgendwie von der Bank unverdrossener Arbeit
abgerutscht, ihr Letztes in Trunk und Geschwätz vertun, während der
Wirt die ärmlichen Groschen einsammelt und also von dem Ungetüm lebt
wie ein Savoyardenknabe von seinem Murmeltier. Er will es zum Helden
einer Geschichte machen; und ob er somit den Kampf mit dem Ungetüm
nur auf dem Tabellenpapier seines Erbahnen aufnehmen kann: mit einer
Handlung, einfach und drastisch genug in alle Köpfe einzugehen, wird
seine Feder, so hofft er, ihm doch eine gefährliche Waffe werden.

Diese Handlung aber vermag er lange nicht zu finden, weil er immer noch
nicht von sich selber loskommt und sich stets wieder als vorwitziger
Advokat allein auf der Bühne redend findet. Da hilft ihm unvermutet
die tapfere Lisabeth aus der Not; als er sie eines Tages wieder bei
ihrer Unverdrossenheit beobachtet hat, wie sie den Kreis der Ordnung
Tag für Tag um ihren Mittelpunkt vergrößert, als er sich ausmalt, wie
sie einem Mann anders als die meisten Bauernweiber an die Hand zu
gehen vermöchte, von dem Ungetüm los zu kommen: da hat er endlich
den Gegenspieler seiner Handlung gefunden, um dem hundertköpfigen
Tier nicht mit den Mitteln fremder Hilfe, sondern mit den Waffen der
Armut selber beizukommen. Er braucht der tapferen Person nur einen
leichtfertigen Mann und Kinder anzudichten, wofür sie kämpft, und
schon ist der Aufbau einer Handlung gegeben, die sich anders als die
moralischen Erzählungen Marmontels in die Wirklichkeit einstellen soll.

Als ihm dann noch der Märki als Vogt und Wirt in seine Handlung kommt
und er ihm um der Hummeläcker willen den Namen Hummel gibt, macht er
eine Gertrud aus ihr, die als die Frau eines Maurers namens Lienhard
den Kampf mit dem Vogt beginnt und schließlich das ganze Dorf von ihm
und dem Ungetüm befreit. Er hat sich dessen nie für fähig gehalten:
wie die Gestalten seiner Handlung von allen Seiten zulaufen, wie sich
Gespräch und Tat verflechten, und wie aus der geplanten Belehrung
eine Darstellung des Schicksals wird, die ihn selber oft genug zum
Weinen erschüttert. In wenigen Wochen stehen die hundert Kapitel
seines Buches da, als wären sie nicht erfunden, sondern ein Bericht
aus dem Leben, wie es sich wirklich abgespielt hätte. Da weiß er, daß
die Schriftstellerei mehr vermöge, als müßigen Leuten die Langeweile
zu vertreiben, daß sie eine geheimnisvolle Gabe sein könne, die
Erfahrungen des Lebens zu verdichten und Hunderten von Lesern die Wege
des Schicksals aufzuzeigen, wo sie selber nur heitere oder traurige
Vorfälle sehen.

Ehe er es gedacht hat, ist er nach Zürich unterwegs mit seinem Schatz,
der diesmal ein handgreifliches Päckchen statt einem geträumten
Luftschloß ist, obwohl Anna, an den Zusammenbruch so mancher mit
Worten aufgebauten Hoffnung bitter gewöhnt, nur wehmütig über seine
Begeisterung gelächelt hat. Füeßli ist nicht der Mann dazu, in Rauch
und Feuer aufzugehen, auch sieht dies anders aus als die Schnurre
von den ungekämmten Nachtwächtern; er weist ihn an den gemeinsamen
Freund Pfenniger, der in den Dingen des literarischen Geschmacks
sachverständig wäre. An die Literatur hat Heinrich Pestalozzi freilich
nicht gedacht, als er schrieb, und erst garnicht an den gebildeten
Geschmack, der, statt den geistigen Dingen zu dienen, mit anmaßenden
Forderungen vor ihnen steht. Pfenniger findet die drei oder vier ersten
Bogen, die er ihm vorliest, nicht übel, aber so voll unerträglicher
Verstöße gegen den literarischen Geschmack, daß er ihm dringend die
Umarbeitung des Buches durch einen Menschen von schriftstellerischer
Übung empfiehlt und auch gleich einen theologischen Studenten nennt,
der das literarische Handwerk ebenso beherrsche, wie es ihm fehle. Das
Wort Lavaters von seiner Unfähigkeit, einen einzigen Satz richtig zu
schreiben, hat er noch nicht vergessen, und kleinlaut überläßt er sein
Buch den Ordentlichen, daß sie es für ihren Gebrauch zurecht machen:
Ich will nur abwarten, sagt er bitter, ob es mir Unordentlichem einmal
gelingt, ohne Euch richtig zu sterben!

Doch vermag er nicht, sich ganz von seinem Buch zu trennen; er
läßt ihnen nur die ersten drei Bogen, damit er die Bearbeitung
erst sähe, und geht für ein paar Tage nach Richterswyl hinaus, wo
sein Vetter, der Doktor Johannes Hotze, die Praxis des Vaters mit
Klugheit verwaltet, während der jüngere Bruder mit dem Federhut
richtig unter die Soldaten gegangen und bei den Österreichern schon
General geworden ist. Er weilt gern dort, weil der Doktor Hotze ein
Philanthrop von Einsicht und Willenskraft ist; aber als er ihm mit
Andeutungen seines Buches begegnet, hält der es anscheinend für einen
neuen Seitensprung und wehrt warnend ab. So kommt er demütig zu
Pfenniger, seine Handschrift wie einen vom Lehrer verbesserten Aufsatz
zurück zu erhalten; aber als er sein Naturgemälde des bäuerlichen
Schicksals unter dem frömmelnden Firnis dieses Theologen wiedersieht
und angesichts der steifen Schulmeistersprache, die seine Bauern darin
reden, an seine Entdeckungsfahrten denkt, fällt die Demut erschrocken
ab: Dann wolle er doch lieber mit Beulen und steifen Gelenken ein
ungekämmter Stadtwächter sein, als ein derart gekämmter, sagt er zu
Füeßli, der zugegen ist, läßt dem Pfenniger die gesäuberte Umarbeitung
und macht sich auf den Heimweg mit seiner ungesäuberten Handschrift,
die anscheinend ebensowenig in die ordentliche Welt paßt wie er selber!

Er ist schon in Baden, als er es nicht vermag, mit diesem Ergebnis
heimzukehren, und entschlossen seine Reise nach Basel fortsetzt, um
auch bei Iselin sein Glück zu versuchen, bevor er selber an seinem
Buch zweifelt. Er darf ihm und seiner Gattin noch am Abend seiner
Ankunft einige Kapitel daraus vorlesen; so inbrünstig seine Hoffnung
insgeheim um ein günstiges Urteil gefleht hat, auf einen solchen
Erfolg rechnete sie nicht. Die Frau Ratsschreiber weint vor Rührung,
und der Ratsschreiber selber geht mit erregten Schritten im Zimmer auf
und ab, bis er ihm die Handschrift aus den Händen nimmt, als ob er sich
vergewissern müßte, daß dies alles auch wirklich dastände. Er lachte
herzhaft auf, als er die Schrift in den roten Tabellen hängen sieht;
und auch als er dann liest, schüttelt er immer wieder den Kopf: es sei
nicht zu glauben, wie einer so etwas Herrliches ausdenken und zugleich
solche Sprach- und Schreibfehler machen könne! So wie es dastände,
wäre es allerdings ein ungekämmter Stadtwächter, aber den zu strählen,
brauche es keinen Theologen, sondern einen Setzer, der deutsch könne.
Er müsse freilich das Buch erst ganz lesen, aber nach dem, was er bis
jetzt gehört habe, wüßte er nicht seinesgleichen.

Heinrich Pestalozzi bleibt drei Tage lang in Basel, und es ist eine
Zeit für ihn, als ob Schlaf und Wachen ein einziger Traum geworden
wären; so erlöst ihn der Beifall dieser klugen und herzlichen Menschen
aus dem Gefühl seiner Unbrauchbarkeit. Die Schreibfehler in der
Handschrift verspricht Iselin selber zu beseitigen; auch schickt er
gleich einen Brief an den Verleger Decker in Berlin, ob er das Buch
herausbringen wolle? Um ihm aber zu den vielen Tauben auf dem Dache
doch einen Spatz in die Hand zu geben, offenbart er ihm zum Abschied,
als er bis Liestal mit ihm gegangen ist und da auf die Post wartend im
Ochsen noch ein Glas Wein trinkt, daß die Aufmunterungsgesellschaft
zwar nicht ihm allein, aber doch ihm zu gleichen Teilen mit dem
Professor Meister in Zürich den Preis von zwanzig Dukaten zuerkannt
habe.

Es geht mir wie dem Mann, sagt Heinrich Pestalozzi, der am Sonntag zehn
Louisdor verloren hatte und sich am Montag freute, weil er drei Kreuzer
fand.


                                  57.

Schon Anfang September erhält Heinrich Pestalozzi Nachricht, daß der
Verleger Decker aus Berlin in Basel gewesen sei und ihm für jeden
Druckbogen einen Louisdor als Honorar bewilligt habe. Das wäre vormals
nicht viel gewesen, jetzt aber bedeutet es für den ausgeplünderten
Neuhof eine Quelle, die bei sparsamer Verwendung seine Insassen auf
eine gute Zeit vor Nahrungssorgen schützt und Heinrich Pestalozzi mutig
macht, auch noch den Rest seines Tabellenpapiers vollzuschreiben. An
eine neue Erzählung vermag er nicht zu denken, so voll sind ihm noch
Kopf und Herz von dieser. So beginnt er noch im Herbst, bevor das Buch
gedruckt ist, eine Erläuterung dazu zu schreiben, die er »Christoph
und Else« nennt! In einer angeblichen Bauernhaushaltung läßt er abends
seine Geschichte von Lienhard und Gertrud lesen und besprechen, wobei
er dann wieder selber auf der Bühne erscheinen und den Vorgängen der
Handlung seine Nutzanwendung mitgeben kann: So sind die Leiden und
Schäden des Landvolks, so sind die Wurzeln seiner Kraft und Urkraft,
und so kann der Verwilderung geholfen werden! Aus der Abendstunde eines
Einsiedlers werden Abendstunden einer gutwilligen Gemeinschaft.

Er ist noch mitten in dieser Arbeit, als der Tod in der Familie seiner
Frau vorspricht und sich die kränkelnde Mutter, gebotene Holzlaub,
heimholt. Dem alten Zunftpfleger, dem der braune Bart längst weiß
geworden ist, wird es danach unheimlich im Pflug, wo seine Söhne
eigenwillig schalten; er zieht der einzigen Tochter nach, an der immer
sein Herz gehangen hat. So wird der Haushalt um einen Greis vermehrt,
dem das Leben die Augen zur Freundlichkeit und Milde geöffnet hat,
obwohl er von Haus aus zornig war. Von seinem Vermögen ist nur noch ein
bescheidener Altersteil in seinen Händen; aber auch damit bringt er
eine Sicherung in den Neuhof, die wohlig empfunden wird und das Gefühl
einer vorsichtigen Wiederherstellung verstärkt. Als dann zur Ostermesse
endlich »Lienhard und Gertrud« erscheint und seine Wirkung macht,
sodaß vieler Augen sich auf den Neuhof richten, finden sie nicht mehr
die Trümmerstätte selbstverschuldeter Armut, als die er den Bauern im
Birrfeld und dem selbstgerechten Bürgersinn der Zürcher gegolten hat.

Der erste, der ihm Gutes berichtet, ist Iselin, der zwar bescheiden die
dankbare Widmung aus dem Buch beseitigt hat, aber stolz und beglückt
durch den Erfolg zu seinem Schützling steht. Er gibt Nachricht von
dem Beifall der Zeitungen in Deutschland und wie man dort nach dem
ungenannten Verfasser des Dorfromans riete; auch sammelt er, was
Rühmens in den Schweizerblättern steht, und hat einen fröhlichen Eifer
damit, ihm nach den ersten spärlichen Posten ganze Stöße von gedruckter
Anerkennung in den Neuhof zu schicken.

Heinrich Pestalozzi, dem die Mißachtung einen bösen Bannkreis um seine
Einsamkeit gezogen hatte, sieht sich in die Beleuchtung eines rasch
wachsenden Ruhmes gestellt, in den nun mancher wieder hineinlärmt,
der sich vorher still beiseite getan hat; denn ob sein Name nicht auf
dem Deckel des Buches steht, dafür sorgen die fleißigen Gerüchte, daß
überall, wo die Gestalten von Lienhard und Gertrud in ein Schweizerhaus
eintreten, auch der Armennarr von Neuhof als ihr Pate gilt. So ist es
kaum noch nötig, daß Iselin den Namen des Verfassers in den Ephemeriden
bekannt gibt; wohl aber scheint es ein Signal zu sein für die Kutscher
und Postillone, die nun fast täglich Besucher nach dem Neuhof bringen.
Sie finden da einen freundlichen Greis, der sich über den Ruhm seines
Schwiegersohnes um seiner verhärmten Tochter willen freut und gern
ein Wort spricht; einen elfjährigen Knaben, der als das Jaköbli mit
den Bauern auf einem vertraulichen Spielfuß steht und augenscheinlich
beliebter bei ihnen ist als sein Vater; eine Frau von dreiundvierzig
Jahren, die sich dem Schwall nach Möglichkeit entzieht; endlich ihn
selber, dem das braune Gesicht mit Rünzelchen verkritzelt ist, als
ob er sechzig statt erst fünfunddreißig wäre, der aber alle fröhlich
willkommen heißt, nicht eitel, doch sichtbar glücklich, daß er nun
endlich Macht über die Menschen gewonnen hat, wie er sie für seine
Dinge jahrelang vergeblich erflehte. Als eines Morgens der Wagen des
Herrn von Effinger mit zwei galonierten Dienern vor dem Neuhof hält,
ihn nach Schloß Wildegg als Ehrengast zum Essen abzuholen, und als
noch am selben Tag von der Ökonomischen Gesellschaft in Bern fünfzig
Dukaten mit einer goldenen Denkmünze ankommen, da scheint es zu Ende
mit seiner angeblichen Unbrauchbarkeit, da ist Heinrich Pestalozzi, der
gescheiterte Landwirt und Armennarr auf Neuhof, ein Schweizerbürger
geworden, auf den die Augen seines Volks mit Stolz sehen. Und nun
endlich kann auch die Stunde nicht mehr fern sein, wo aus Reichen
und Armen, Klugen und Törichten, Herrschaften und Beherrschten die
Volksgemeinschaft wird, darin die Menschenbruderschaft des Evangeliums
aus der Sonntagspredigt in die wirklichen Wohnungen und Geschäfte
der Menschen kommt. Er ist auf der Höhe seines Lebens, als er diesen
Glückstraum erlebt; die Gier und Sehnsucht seiner Jugend, die Radbrüche
seiner ersten Fahrten und der grausame Unfall gelten ihm nun nichts
mehr, da er sich durch die Hand des Schicksals, die er in einem
tieferen Sinn als die Sonntagsgläubigen und Kirchenbeter Gott nennt, in
Schuld und Sorgen zu solcher Erfüllung geführt sieht.


                                  58.

Könnte Heinrich Pestalozzi die siebzehn einsamen Wartejahre danach
voraussehen, darin er die Kräfte seiner Mannesjahre aufreiben soll,
bis ihn das Schicksal an die Dinge selber statt an die Worte läßt, so
würden ihm die Knospen kaum so schwellen, wie nun, wo er im Rausch des
Erfolges noch einmal die stürmischen Säfte seiner Jugend fühlt. Er
hat im Vorwort seines Buches angekündigt, daß die Erzählung aus dem
angeblichen Dorf Bonnal nur die Grundlage eines Versuchs wäre, dem
Volk mit einigen Wahrheiten in den Kopf und ans Herz zu gehen. Auf
alles, was als Tugend oder Laster an seinen Gestalten sichtbar wird,
Heuchelei und Tapferkeit, Hoffart und Sparsamkeit, Freiheitsliebe
und Tyrannei, auf alles läßt er nun Christoph und Else in ihren
Abendstunden mit dem Zeigestock hinweisen, und er selber gibt die
feurige Lehre seiner in tausend Nöten durchglühten Erfahrung dazu, um
die Quellen der Bosheit und des Elends in den Zuständen und in der
Gesetzgebung Europas darzustellen.

Ein Drittel seines Buches hat er so erklärt, als ihn der Eifer drängt,
näher mit dem Volk zu sprechen; Iselin redet ihm zu, und so gründet er
sich selber eine Wochenschrift, die er »Ein Schweizerblatt« nennt. So
hitzig ist er in seinem Eifer, daß er fast alles selber darin schreibt;
er wird wieder der Marktschreier der Zurzacher Messe, aber diesmal sind
es nicht Baumwollentücher, sondern Einsichten und Weisheiten, die er
unablässig, mit Witz und hinreißender Gläubigkeit gemischt, anpreist:
»Himmel und Erde sind schön, aber die Menschenseele, die sich über den
Staub erhebt, ist schöner als Himmel und Erde!«

Mitten in seinem Glück hört er schon wieder den Tod an die Tür klopfen,
und an einem Julitag fährt er im Innersten bewegt nach Basel, Iselin,
der ihm fast ein Vater war, zu begraben. Durch ein Gewitter erreicht
er die Post nicht mehr, und er ist gerade dabei, sich in Brugg auf
eigene Hand einen Wagen zu heuern, als Füeßli mit dem Doktor Hirzel
durchfährt. Die nehmen ihn mit, und so wird es eine Freundesfahrt der
Lebendigen zu dem Toten; denn auch die andern haben Iselin geliebt,
wenn sie auch nicht soviel Freundschaft von ihm erfahren konnten wie
er. Während sie so durch die grünen Täler hinfahren, manchmal im
Schritt, weil es scharf bergan geht, dann wieder trabend, will Füeßli
wissen, was er jetzt schreibe. Und weil Heinrich Pestalozzi durch den
Tod Iselins erst recht in seinem Eifer entzündet ist, jeder Stunde zu
achten, damit von seinem Leben ein Nutzen für das arme Volk bleibe,
spricht er von seinen Abendstunden und merkt lange nicht, daß die
beiden schweigen und ihn fast traurig ansehen.

Ich dachte, sagte Füeßli endlich und kollert vor Zorn, daß du jetzt
dein Metier gefunden habest und wenigstens im Schwabenalter vernünftig
würdest, aber dich reitet die Bessermacherei, bis sie dich ganz vom
Neuhof ins Spital verschupfen! Über die bösen Worte ist Heinrich
Pestalozzi so erschrocken, daß er ihn fragt, wie er das meine. Er sehe
doch, wie die Menschen durch sein Buch gerührt würden, warum er die
dargebrachte Rührung nicht für die Menschlichkeit ausnützen solle! --
Als ob die Leser dem Verfasser jemals ihre Rührung gäben, antwortet
Füeßli und ist nun selber bitter geworden. Sie erwarten und nehmen sie
als Genuß von ihm für ihr ausgelegtes Geld, gleich einem Kirschwasser
oder einem Schweinebraten auch!

Sie begraben danach den Ratsschreiber in Basel; es ist ein Sarg, wie
Füeßli grausam vor Trauer sagt, darin der Hummelvogt den selben Platz
gehabt hätte. Für Heinrich Pestalozzi wird alles zum Verhängnis seit
dem bösen Wort im Wagen. Er hat es längst gespürt, daß er mit seinem
Buch nichts als ein Menschenmaler geworden ist, von dem man nun weitere
Bilder verlangt. Wenn die Bauern im Birrfeld sich hämisch freuen,
daß er es seinem Widersacher Märki gut gegeben habe, oder wenn die
literarischen Blätter die Vortrefflichkeit seiner Charakterschilderung
rühmen: es ist das Gleiche, daß sie ihn als ihren Spaß- oder Rührmacher
halten, nicht aber ihm redlich ins Menschliche folgen wollen. Er
vermag nicht, mit den beiden wieder heimzufahren, tut sich vor der
zudringlichen Begrüßung des berühmten Verfassers scheu zur Seite und
wandert frühmorgens heimlich aus Basel fort. Unterwegs gelüstet es ihn,
das bäuerliche Paar in Frick aufzusuchen, das ihn damals so freundlich
genächtigt hat, in der Sehnsucht, von ihm andere Botschaft des Volkes
zu hören als von den Gebildeten.

Er trifft sie auch und bleibt zum zweitenmal bei ihnen zur Nacht, nicht
anders aufgenommen als beim erstenmal, obwohl der Ziegenhirt nicht mehr
da ist. Aber als er enttäuscht, daß sie nicht selber davon sprechen,
zuletzt nach ihrer Meinung über sein Buch fragt, haben beide zwar
einiges davon gehört, jedoch nichts daraus gelesen. Wir sind Bauern,
Herr Pestalozzi, sagt der Mann treuherzig, und seine Frau nickt ihm
zu: wir haben unser Tagwerk; was soll in einem Buch von unserm eigenen
Leben stehen, daß wir nicht selber wüßten? Und unsere Nachbarn? Wir
reden selber nicht schlecht von ihnen, warum sollen wir lesen, wie das
ein anderer tut!

Es sind zwei Grabschriften, die Heinrich Pestalozzi von dem Begräbnis
seines väterlichen Freundes mitbringt und die nun in den Gärten
seiner Hoffnungen stehen. Er schreibt zwar danach noch tapfer sein
Schweizerblatt, Woche für Woche; aber daß es eigentlich keine Leser
hat, das nimmt er nun erst wahr. Als die ersten dreißig Abendstunden
von Christoph und Else erscheinen, die wie ein Katechismus des
bäuerlichen Lebens in alle Strohhütten gehen sollen, ist die Wirkung
so schwach, daß der Verleger das Buch nicht weiter drucken will.
Unterdessen singen die Blätter das Lob von Lienhard und Gertrud
unablässig weiter, bis der kleinste Kalender davon voll ist. Ich habe
das Pferd vorn und hinten eingespannt, denkt Heinrich Pestalozzi; und
da auch der Verleger um eine Fortsetzung seines Romans drängt, gibt er
sich tapfer daran, seine Pläne an dem Dorf Bonnal seiner Dichtung zu
versuchen und statt Ermahnungen und Vorschlägen die Darstellung einer
angeblichen Besserung zu geben. Ehe er es hofft, ist ein zweiter Band
von Lienhard und Gertrud fertig, aus dem nun der Ratsschreiber Iselin
die dankbare Widmung an seinen Schatten nicht mehr ausstreichen kann.
Die Neugier hilft, daß er diesmal noch gelesen wird; aber die den
ersten Band gepriesen haben, sind an dem zweiten enttäuscht und finden,
daß der Verfasser sich wiederhole und in der langen Jugendgeschichte
des Hummelvogtes nur eine überflüssige Nachrede brächte. Es ist mit
dem Ruhm und der Wirkung seiner Schriftstellerei wie mit einem der
Bäche im Kalkgebirge, die irgendwo stark aus dem Boden brechen, eine
Zeitlang trügerisch in der Sonne fließen und dann wieder im Gestein
verschwinden.


                                  59.

Daß Heinrich Pestalozzi durch den Pfarrer seines Buches die
Jugendgeschichte des Hummelvogtes so ausführlich erzählen läßt, kommt
nicht von ungefähr. Das Jaköbli ist nicht nach seinen Hoffnungen
geraten; in den sechs Jahren der Armenanstalt ist es als Sohn der
Hausmutter vor dem Gesinde und den Zöglingen von selber der Prinz
geworden, an dem die einzelnen sich ein Wohlwollen verdienen wollen;
im wechselnden Drang der häuslichen Umstände danach zwischen die
überlieferten Erziehungsansichten der Mutter und die neumodischen
Absichten seines Vaters gestellt, hat seine Natur nicht die Ruhe an
den Wurzeln gehabt, die Kindern das Nötigste von aller Wartung ist.
So ist er mit zwölf Jahren wohl ein großer Knabe geworden, aber ohne
Festigkeit und geplagt von dem Eigensinn seiner reizbaren Art, die
zwischen der Heftigkeit des Vaters und der zärtlichen Liebe der Mutter
ihre Hinterhalte hat.

Was an Abhärtung getan werden konnte, um der Weichlichkeit seiner Natur
zu begegnen, das hat Heinrich Pestalozzi spartanisch an ihm geübt, auch
ist er mit List und Stärke dabei gewesen, seinen kindlichen Eigensinn
zu brechen -- bis der gefährliche Untergrund dieser Eigenschaften
im Ausbruch seiner Krankheit herzschneidend zutage kommt. Es ist in
der Zeit, da die Stimme anfängt zu wechseln; er hat einen Korb mit
Pflanzkartoffeln aus dem Keller holen sollen und kommt nicht wieder.
Als Heinrich Pestalozzi heftig hinunterläuft, sitzt er verträumt vor
einem Spinnennetz; die Überraschung mag zu jäh gekommen sein: ehe
Heinrich Pestalozzi bei ihm ist, tut der Knabe einen Schrei und fällt
hin wie ein Toter. Doch hat er ihn kaum an der Schulter gefaßt, als
das Leben mit unheimlichen Zuckungen wieder anfängt. Das fallende Weh
rast in ihm und Heinrich Pestalozzi, der als eifernder Vater zu hadern
gekommen ist, sieht sein armes Kind in dem fahlen Kellerlicht Mächten
überliefert, die seiner Strenge wie seiner Liebe spotten. Erst als
alles vorüber ist und der Knabe aus tiefer Bewußtlosigkeit erwacht,
wagt er die Lisabeth zu rufen.

Seine Hoffnung, daß es ein einzelner Anfall gewesen sein möge, wird
nicht erfüllt; die Krankheit kommt zurück und steht seitdem warnend
hinter jedem ärgerlichen Wort, das er dem Knaben sagen will. Das Grauen
nimmt ihm für lange den Mut; denn deutlicher als jemals sieht er, wie
das Schicksal des Menschen als einer Kreatur nicht an eigene oder
fremde Verschuldung allein gebunden ist, wie Glück und Unglück aus den
Naturgründen des Lebens kommen und alle sittliche Sorgfalt zu verhöhnen
scheinen. Lange versucht er, das Unheil Anna zu verheimlichen, die
bei dem ersten Anfall in Hallwyl war; als sie es eines Tages doch
erlebt -- sie sind in den Letten hinaus spaziert und müssen ihn da in
den rotblühenden Klee legen -- meint er in dem entsetzten Blick der
Mutter einen Vorwurf zu spüren, der ihm lange nachgeht und bald darauf
eine peinliche Ergänzung findet. Er hört, daß die Leute in Birr der
unvernünftigen Abhärtung -- den Knaben von kleinauf, auch im Winter,
im eiskalten Brunnenwasser zu waschen -- die Erkrankung zuschreiben.
Die Gewohnheit behält immer recht! sagt er bitter, aber ein grausamer
Rest ihrer Schadenfreude bleibt zurück und quält ihn mit Zweifeln, ob
er dem Knaben ein rechter Vater gewesen sei. Er sieht nun erst, daß der
Jakob kaum lesen und schreiben kann und auch sonst gegen die Kinder
seines Alters zurück ist. Am Ende kommt er mit Anna überein, ihn für
ein Jahr oder zwei nach Mülhausen in eine Erziehungsanstalt zu geben,
die ihm durch seinen Vetter, den Doktor Hotze in Richterswyl, empfohlen
ist; die zage Hoffnung auf seine Heilung muß ihnen über den schweren
Abschied forthelfen.

Auf der Rückreise sucht er einen Herrn Battier in Basel auf, der
ihm noch durch Iselin bekannt geworden ist; ein Kaufmann, der
fest im Sattel seiner zahlreichen Geschäfte sitzt, aber allen
menschenfreundlichen Dingen mit der Kraft seiner unabhängigen und
kühnen Natur zugewandt blieb; der will den Jakob nachher in die Lehre
nehmen. Vorläufig aber hat er von all den kläglichen Nöten gehört,
in denen der berühmte Verfasser von Lienhard und Gertrud immer noch
lebt, und setzt ihm hartnäckig zu, eine Liste seiner Schulden und
Verpflichtungen aufzustellen. Es wird eine quälende Stunde für Heinrich
Pestalozzi, in dem blitzsauberen Kontor und vor dem schneeweißen
Halstuch dieses Kaufmanns seine verzwickte Lage zu offenbaren; auch
vermag er aus der Erinnerung unmöglich durch den Urwald seiner
Bedrängnisse hindurch zu kommen. Er weicht ihm schließlich aus mit dem
Verspruch, ein genaues Verzeichnis seiner Güter und ihrer Belastung
aufzuschreiben; aber der Kaufmann ist nicht für Ausflüchte: dann wolle
er sich, wenn es ihm recht sei, den Neuhof einmal selber ansehen, und
zwar gleich andern Tags, da er doch in Geschäften nach Zürich müsse!

So kommt Heinrich Pestalozzi am nächsten Morgen nicht bescheiden
mit der Post aus Basel fort, wie er gedacht hat, sondern in dem
blitzblanken Reisewagen des Kaufmanns Battier mit zwei Apfelschimmeln,
die den Postwagen schellenklingelnd überholen und auch weiterhin nicht
wie die Postgäule bei jeder Steigung aus dem Trab fallen. Mein Leben
hat zwei Straßen, sagt er seinem unternehmenden Begleiter, als er
Stück für Stück der wohlbekannten Landschaft flinker als sonst nahen
sieht: auf einer bin ich von Zürich gekommen und die andre bringt
mich zeitweils nach Basel; es will mir scheinen, daß die Basler mir
allmählich geläufiger wird! Das ließe sich ändern, sagt Battier und
legt ihm von hinten -- als ob er ihn umarmen wolle -- die Hand auf die
Schulter: Wenn Sie selber nach Basel zögen, wäre es wieder nur die eine
Straße, auf der Sie gekommen sind, und zu Ihrem Sohn hätten Sie es
näher!

Es zeigt sich bald, daß dies nicht nur eine Augenblicksrede war; denn
als der Kaufherr noch am selben Nachmittag stundenlang unermüdlich
gewesen ist, jeden Acker in Augenschein zu nehmen, mit vielen Scherzen,
als ob das alles nur ein Spaß dem schönen Wetter zuliebe wäre, und
als sie danach bei einem Glas Landwein in der Stube sitzen, holt er
aus seiner Tasche ein Bündel Papiere heraus, die längst schon in
der saubersten Ordnung enthalten, was er soeben gesehen hat: jeden
Acker nach seinem Tageswert abgeschätzt, und daneben das Verzeichnis
aller noch ungelöschten Schulden und Verbindlichkeiten in einer
Vollständigkeit, daß Heinrich Pestalozzi erstaunt und erschrocken
zugleich ist; denn wenn es vor den Augen eines nicht einmal übel
gesinnten Geschäftsmannes so mit ihm steht, brauchte nur das Soll mit
dem Haben vertauscht zu werden und die Rechnung ginge so auf, daß
er in der Mitte mit nichts übrig bliebe. Er muß an den Bankier aus
dem Geschwundenen Schwert in Zürich denken, der damals auch so im
Handumdrehen seinen Besitz beaugenscheinigte; nur daß der Basler sich
den Bericht des Bedienten anscheinend schon vorher verschafft hat. Aber
dann kommt statt der Enttäuschung von damals die Überraschung: das sei
der Vermögensstand von heute; aber wie die Felder ständen und wie sie
durch resolute Behandlung werden könnten, in dieser Differenz läge ein
möglicher Zukunftsgewinn für einen praktischen Mann, der den Neuhof
heute zu dem gültigen Satz übernähme. Dieser Käufer wolle er selber
sein und ihm also schon jetzt die Zinsen des zukünftigen Wertes als
eine Rente zahlen, die ihn und die Seinen mit einem Schlag sorgenlos
mache und ihm erlaube, ungehindert seiner Schriftstellerei zu leben!

Heinrich Pestalozzi spürt die herzliche Absicht in dem Vorschlag; er
sieht, wie der Mann glüht, ihm wohlzutun: aber er ist den schmerzlichen
Blick noch nicht los, mit dem er seinen Knaben in der Franzosenstadt
im Elsaß gelassen hat. Es ist ein blauer Himmel, der sich da nach
Gewitter und Nebelschwaden auftut; nur würde er seinem Sohn das
Erbe ableben, wenn er den Vorschlag annähme! Auch wäre es für ihn
selber ein Verrat an seinen Plänen, die er heimlich viel ernsthafter
trägt, als der Basler ahnen kann, der schließlich wie die andern auch
nur den Schriftsteller in ihm sieht. Er nimmt die angebotene Frist
bis zur Rückkehr aus Zürich an, lässt den Kaufmann mit fröhlichem
Peitschenknall gegen Abend nach Baden fahren und steht winkend an der
Straße. Aber als Battier nach drei Tagen wiederkommt, ist er mit Anna
tapfer entschlossen, nicht die verlockende Fahnenflucht zu machen,
sondern nach soviel überstandenen Bedrängnissen auszuharren und, sei es
selbst durch bittere Nöte, dem Sohn das Hoferbe zu erhalten.

Battier nimmt die Absage seines edel gesinnten Vorschlags zunächst als
Eigensinn, und er sagt das auch in der ersten Verstimmung, sodaß es
diesmal einen unbewinkten Abschied gibt. Aber schon nach drei Tagen ist
ein fröhlicher Brief von ihm da, als ob nichts anderes im Vorschlag
gewesen wäre: er wolle die drängenden Schulden auf sich nehmen ohne
Kauf und Verzinsung, nur gegen eine bestimmte Anerkennungsgebühr. Jetzt
braucht es also nur, sagt die Lisabeth, der er den Brief zeigt, daß ich
fleißig bin und daß der Herr Pestalozzi nicht über jeden Bettler mit
einem Gulden herfällt!


                                  60.

Unterdessen geht Heinrich Pestalozzi schon gegen die Vierzig; es
kann ihm geschehen, daß er wie ein uralter Rabe dasitzt und über die
Trümmerfelder seiner Mannesjahre wehmütig in die ferne Jugend denkt.
Die erste Neugier um den Einsiedler auf Neuhof hat sich längst gelegt,
und es ist selten, daß ein Wanderer oder gar ein Wagen den Weg zu ihm
aufs Birrfeld findet. Solange der Knabe noch dagewesen ist mit seinen
Spielen und Gesprächen, hat die Einsamkeit nur zum Besuch kommen
dürfen; nun wohnt sie in seiner verlassenen Kammer und macht sich
täglich breiter im Haus. Die einzige Verbindung mit den Vorfällen der
Welt besorgt die Schaffhauser Zeitung, die Heinrich Pestalozzi Samstags
im Gasthof zum Sternen in Brugg liest. Da ihm der Weg dahin allmählich
zu mühsam wird, namentlich bei schlechtem Wetter, hat er sich angewöhnt
zu reiten. Sein struppiges Pferdchen ist, wie die Bauern sagen, genau
solch eine Vogelscheuche wie die Pestilenz selber, und da er immer
noch die Gewohnheit seiner Jugend hat, das Tier mit dem Zügel im Trab
zu halten, gibt er einen merkwürdigen Reiter ab, dem die vornehmen
Kurgäste aus Baden oder Schinznach mit spöttischem Vergnügen begegnen.

Als er so eines Samstags sein Pferd am Sternen angebunden hat und
drinnen bei einem Kirschwasser die Schaffhauser Zeitung liest, ist ein
Fremder da, der ihn ungeduldig abwartet, ihn dann aber klug in ein
Gespräch verwickelt, daß Heinrich Pestalozzi bald merkt, einen Mann
von Kenntnissen vor sich zu haben, der auch seine Schriften und Taten
genau kennt, obwohl er sonst wie ein Handelsmann aussieht. Ehe er noch
eine Absicht des Mannes merkt, hat der ihm beigebracht, daß seine wie
alle ähnlichen Mißerfolge nur von der Vereinsamung der einzelnen
Menschenfreunde kämen, die wie die Prediger in der Wüste lebten und auf
die zufälligen Bekanntschaften angewiesen wären. Wenn die sich etwa an
den Jesuiten ein Beispiel nehmen und sich zu einer Gemeinschaft der
Heiligen zusammen tun wollten, würde der Einzelne mit einem Schlag eine
Macht bedeuten. Nur dürfe es keine öffentliche Gesellschaft mit dem
Ehrgeiz der Führer und der Scheu der einzelnen Mitglieder sein: Wie
zum Beispiel der Geheimorden der Illuminaten Hunderte von Mitgliedern
hätte, deren keins das andere persönlich kenne, weil jedes nur mit
einem selbstgewählten Namen geführt würde, aber unter diesem Decknamen
mit jedem einzelnen korrespondieren könne, und zwar mit vermögenden und
hochstehenden Persönlichkeiten.

Das Gespräch dauert bis in die Dunkelheit, und Heinrich Pestalozzi
hätte es gern noch fortgesetzt, so beglückt ihn diese geheimnisvolle
Möglichkeit, seine Ideen bei Ministern und Fürsten anbringen zu können.
Aber der Fremde, der seinen Stand und Namen nicht einmal andeutet, muß
mit der Post nach Baden zurück, von wo er gekommen ist. Er sagt ihm
noch, daß eine Nachricht von Augsburg kommen würde, die er an die selbe
Stelle beantworten möge, und läßt ihn in einem Schwall von Hoffnungen
zurück, mit denen er nachher in einem gespenstischen Galopp durchs
nächtliche Birrfeld reitet.

Durch diese Begegnung ist der Docht seiner Pläne wieder ins Glimmen
gebracht; tiefer als jeder andere glaubt er die Not des Volkes zu
kennen; während die Wohltätigkeit vergeblich an den bösesten Löchern
flickt und, wie er sagt, die Gerechtigkeit in der Mistgrube der Gnade
verscharrt, hält er die Menschenbildung als Heilmittel in der Hand.
Er hat von dem Herzog von Württemberg gehört, der mit den Seinen als
einfacher Landmann lebt; nun spürte er in der Rede des seltsamen
Fremden einen Hauch dieses Geistes aus Deutschland herüber wehen,
und als die angekündigte Schrift aus Augsburg kommt, tritt er mit
weitgreifenden Hoffnungen in den Bund der Illuminaten ein, obwohl ihm
die Geheimniskrämerei daran von Anfang an mißbehagt.

Er legt sich nach dem sagenhaften König der Angelsachsen den Namen
Alfred zu und ist mit fiebrigem Eifer dabei, ein Memorial nach dem
andern in den namenlosen Bereich des Ordens hineinzusenden, wie ein
geschäftiger Apotheker sein Heilmittel anpreisend. Es gelingt ihm auch
bald, über seine Vorschläge zur Menschenbildung mit einflußreichen
Persönlichkeiten in einen direkten Briefwechsel zu kommen, unter denen
der Herzog von Toskana und Graf Zinzendorf, der Minister Josefs II. in
Wien, die wichtigsten sind. Von allen Zeiten seines Lebens ist diese
nun die seltsamste, wo er sich in der bäuerlichen Verborgenheit des
Neuhofs allmählich seinen Landsleuten aus dem Augenkreis verschwinden
und den Ruhm seiner Schriftstellerei nach jedem neuen Buch mehr
versiegen sieht, während er mit Ungestüm an das Gewissen von Ministern
und Fürsten klopft. Den ersten Teil von Lienhard und Gertrud hat er
noch im Angesicht des Birrfeldes geschrieben, und die Abendstunden
von Christoph und Else haben als Katechismus in die Strohhütten
gesollt: nun wachsen sich die beiden letzten Bände von Lienhard und
Gertrud immer mehr in Gesetzesvorschläge hinein; aus dem Ungetüm der
Wirtshäuser wird das Ungetüm der Verwahrlosung überhaupt, und an die
Regierenden in Europa geht sein Aufruf, es mit dem Heilmittel der
allgemeinen Menschenbildung zu bekämpfen.

Er ist acht Jahre älter geworden seit dem ersten Band, als er den
vierten hinaussendet, und er stapft schon mit einem Fuß auf die
Fünfziger zu; die Straßen nach Basel und Zürich geht er nun gleich
wenig, wohl aber studiert er auf der Karte die Reise nach Wien, wo
Zinzendorf sich immer mehr für seine Dinge erwärmt und wo der Glanz
des Kaisers seine Hoffnungen anlockt. Für die Bauern im Birrfeld
bleibt er die Pestilenz, die sie nun schon wie etwas Zugehöriges über
die Straßen reiten oder Sonntags in der Kirche nach seiner Gewohnheit
am Halstuchzipfel lutschen sehen; für die weitere Heimat ist er die
Vogelscheuche seines Ruhms geworden, die immer noch den unnützen
Phantastereien seiner Jugend nachhängt und sich den letzten Ausweg zum
Wohlstand als Schriftsteller mit dem angeborenen Ungeschick verbastelt
hat.


                                  61.

Lisabeth, die Magd, ist in den Jahren fleißig und sparsam gewesen, wie
sie Heinrich Pestalozzi versprochen hat; sie hält die verkleinerte
Wirtschaft über Wasser, bis der Jakob sie übernehmen kann. Der ist
aus Mülhausen durch den tapfer sorgenden Battier in seine Handlung
in Basel übernommen worden, um einmal besser als sein Vater für die
geschäftliche Führung gerüstet zu sein. Doch läßt ihn seine Krankheit
nicht mehr los; als er wieder auf den Neuhof kommt, ist es auf den
ersten Blick ein großer und starker Jüngling, aber für Heinrich
Pestalozzi stehen ihm die Spuren seines Zustandes zu grausam im
Gesicht, als daß er seiner froh werden könnte.

Er ist ein Vierteljahr da, als der Vater Annas in seinem fröhlichen
Greisentum kränkelt; der Tod nimmt ihn weg, bevor ein längeres Siechtum
ihn mißmutig machen könnte. Sie begraben ihn an einem harten Wintertag
hinter dem kleinen Schulhaus in Birr; auch die Brüder Annas sind da,
und einer entäußert sich des gemeinsamen Verdrusses, daß sie nun ihren
Vater, der doch ein Zürcher Bürger und Zunftpfleger gewesen sei, auf
dem bäuerlichen Kirchhof im fremden Aargau begraben müßten, alles
um der Projekte seines Schwiegersohnes willen! Heinrich Pestalozzi
weiß, daß ihn viel mehr die Unstimmigkeiten mit den Söhnen auf den
landfremden Altenteil getrieben haben -- wodurch ihm die eigene Mutter
scheu in der Einsamkeit des Roten Gatters geblieben ist -- er hört aus
den Worten des Schwagers schon die Entscheidungen heraus, die nachher
kommen sollen, als es gilt, den Rest der Erbschaft aus dem Pflug zu
teilen; denn so fern die Geschwister Schultheß allem stehen, was nach
einem Erbstreit aussehen könnte, so wenig verhehlen sie ihre Besorgnis,
daß auch der letzte Teil Annas in neuen Plänen verschwinden möge. Es
findet sich auch eine Klausel im Testament, und ehe sich Heinrich
Pestalozzi dessen versieht, ist er in endlose und manchmal hitzige
Verhandlungen verwickelt, in denen sein eigener Sohn den Prozeßgegner
vorstellt. Es wird schließlich ein Pakt gemacht, laut welchem er seinem
minderjährigen Sohn Jakob den Neuhof für sechszehntausend Bernergulden
verkauft; doch erhält er dieses Geld nicht, sondern es werden damit die
Brüder Annas und andere Gläubiger abgelöst.

Es ist eine klare Regelung, und Heinrich Pestalozzi kann mit dem
Ergebnis zufrieden sein, da es den Neuhof für seinen Sohn sichert, wie
er es selber gewollt hat; auch werden die Beratungen mit dem Respekt
geführt, den man dem berühmten Verfasser von Lienhard und Gertrud
schuldig zu sein glaubt: aber das mildert nur wenig an der Grausamkeit,
mit fünfundvierzig Jahren schon ausgezogen und auf die freiwillige
Unterhaltung durch seinen Sohn gesetzt zu sein! Und bitterer noch
als dieses Ergebnis sind die Bedenken, die dahin führten und die ihn
-- so sehr es auch verklausuliert wird -- gleich einem Verschwender
entmündigten.

So bin ich denn lebendig begraben! spottet Heinrich Pestalozzi grausam,
als er seinen Namen unter den Vertrag gesetzt hat und unter dem
Vorwand, in Bern mit dem Herrn von Fellenberg unterhandeln zu müssen,
nicht mit Anna auf den Neuhof zurückgeht. Er kommt an dem Tag nur bis
Kirchberg; denn als er da gegen Abend mit der Post durchfahren will,
erschüttert ihn der Anblick der bekannten Fluren so, daß er aussteigt
und sich in wehmütige Erinnerungen verliert. Es sind mehr als zwei
Jahrzehnte vergangen, seitdem er hier gelernt hat, und da der Vater
Tschiffeli seit zehn Jahren in der Erde liegt, stehen die Felder längst
nicht mehr von ihm bereitet da. Die Krappkultur ist auch hier bis auf
spärliche Reste eingegangen, und wo damals junge Alleen führten, hängen
jetzt vereinzelte Bäume verwildert im roten Laub: Ich bin Landwirt
geworden, sagte er, wie ein Brot in den Backofen sollte; da haben sie
mich vergessen, und ich bin in den Krusten vertrocknet!

Es fällt ihm ein, wie er hier mit Anna umher gegangen ist, mehr sie den
Leuten, als ihr die Dinge zeigend; und weil sie damals einen Ausflug
nach Burgdorf und seinem ragenden Schloß gemacht haben, läuft er noch
am selben Abend durch den Mondschein dahin. Er kommt erst in der Nacht
an und sieht nur noch im Unterdorf Licht in einer kleinen Wirtschaft,
weil eine Kuh kalbt. Da findet er zwar ein Lager, aber er schläft
nicht bis in die Frühe, und als dann endlich die bleierne Ermüdung auf
seine rastlosen Gedanken gefallen ist, wird er bald wieder aus dem
Morgenschlaf geweckt. Er träumt, daß er noch eine Armenanstalt habe
und sich eifrig mit den Kindern plage; aber wie er wach wird, ist es
die Hintersassenschule nebenan mit ihrem Lärm. Es lockt ihn nachher,
als er mit der Morgensuppe fortgeht, die Schultür zu öffnen und in
den Raum hinein zu sehen, wo immer noch wie damals in der Hausschule
zu Zürich der Lehrer mit einem Stock schreiend in der Klasse herum
wandert. Der Mann bemerkt ihn gleich und läuft unwirsch auf ihn zu: was
er wünsche? Heinrich Pestalozzi sieht an seiner Schürze, daß es ein
Schuhmacher ist, und die Bitterkeit schießt ihm auf, daß in der Schule
das gleiche Elend geblieben ist durch vier Jahrzehnte: Ich wünsche, daß
dies anders werden möchte! sagt er und geht fort, während der verdutzte
Schulmeister in der Tür steht und dem Landstreicher nachsieht.

Von Burgdorf nach Bern sind es fünf Stunden; er braucht den ganzen Tag
dazu. Ich komme doch überall Zu früh, sagt er doppelsinnig zu sich
selber, indem er bald hier, bald dort seinen Einfällen nachgeht und
so schließlich erst gegen Abend vor dem Stadttor steht, bestaubt von
der Straße und auch sonst unansehnlich genug. Zufällig sieht ihn da
der Offizier der Wache, dem er verdächtig scheint; er fragt ihn nach
seinem Namen, den er nicht weiter kennt, und da der Wanderer an seinem
Halstuch lutschend ihm blöd vorkommt, läßt er ihn ohne weiteres als
einen Landstreicher abführen. So kommt Heinrich Pestalozzi statt zu dem
Ratsherrn von Fellenberg ins Fremdenarmenhaus, und seine Stimmung ist
so, daß er sich nicht einmal ungern dahin abführen läßt; es ist ihm
oft genug von den Züricher Freunden als sein sicheres Ziel prophezeit
worden. Meines Besitzes ledig, ohne Amt oder Beruf, auf nichts als auf
die Einfälle meiner Feder gestellt und auch damit längst nicht mehr
willkommen: was bin ich vor ihrer bürgerlichen Ordnung anders als ein
Bettler!

Als er seine Suppe und nachher ein Bett erhält, die eine wohlschmeckend
und das andere sauber, vergeht sogar seine düstere Stimmung: er findet
sich besser aufgehoben als zur vergangenen Nacht in Burgdorf, und
die Freude, daß für die anwandernden Armen in Bern so gut gesorgt
ist, macht ihn fast fröhlich. Er schläft gut, ißt andern Morgens
in der Frühe wieder seine Suppe und macht sich Freund mit seinen
Leidensgenossen. Ich habe eine Frau, ein Gut und einen Sohn gehabt, es
ist ein Strudel von Sorgen und Aufregungen um mich gewesen, ich bin
berühmt geworden mit einem Buch und wieder vergessen mit einem andern:
aber alles das war mein Leben nicht! Ich hätte arm sein und bleiben
sollen wie einer von diesen; das andere hat mich vom Notwendigen
abgebracht und in tausend Alltäglichkeiten verstrickt, die nicht die
Atemzüge wert waren, die ich dran wandte!

Er bleibt noch bis gegen Mittag da; erst, als er nachher eine Weile
spazieren will, merkt er, daß sie ihn gefangen halten, und schickt dem
Herrn von Fellenberg einen Zettel. Es dauert nicht eine halbe Stunde,
so kommt der Ratsherr selber angeritten, und der Aufseher kann sich
nicht genug verwundern, wie er vom Pferd springt und dem angeblichen
Landstreicher um den Hals fällt. Hernach scheint er gereizt genug,
sie alle um das Versehen anzufahren; aber Heinrich Pestalozzi legt
ihm sogleich die Hand auf den Arm und lächelt ihn listig an mit allen
Runzeln seines Gesichtes: Ich wollte doch nur sehen, wie ihr mit Betten
und Suppen für die Landarmen sorgt!


                                  62.

Erst als er mit dem Ratsherrn, der sein Pferd am Zügel führt, durch
die Straßen von Bern geht, gesteht sich Heinrich Pestalozzi den Zweck
seiner Reise ein: Fellenberg hat ihn dem Grafen Zinzendorf empfohlen;
nun will er seinen Rat und andere Weisungen für Wien holen, denn
nichts anderes als eine Wanderung dahin hat er im Sinn. In den Neuhof
zurückzukehren, scheint seinem Trotz unmöglich, und sonst gibt es in
der Schweiz nichts mehr für ihn zu tun; in Zürich, Basel und Bern,
überall ist er der lästige Projektemacher. Zinzendorf war ziemlich
der einzige, der ihm über den vierten Teil von Lienhard und Gertrud
begeistert geschrieben hat; wenn er ihm unter die Augen träte -- er
hat sich den Augenblick hundertmal ausgemalt -- könnte es garnicht
fehlen, daß der Minister auch eine Stelle fände, sein Heilmittel der
allgemeinen Menschenbildung zu versuchen!

Fellenberg scheint diesen Reiseeinfall zunächst für einen Witz zu
halten; er fitzt ein paarmal mit der Reitgerte durch die Luft und lacht
dazu, als sie nachher miteinander auf einer Fensterbank sitzen: Das
wäre allerdings keine üble Szene, wenn er in Wien als Wunderdoktor
aufträte! Aber als Heinrich Pestalozzi mit einem Freudenruf aufspringt
und redend ins Zimmer läuft, wie wenn er schon vor dem Grafen stände,
wobei er sich freilich in einen Teppich verfängt und stolpert, fällt
der Ratsherr ihm in den Arm, setzt sich aber gleich hin, ingrimmig
lachend und den Kopf abermals schüttelnd wie einer, der mit seinem
Verstande zu Ende ist. Je mehr sich Heinrich Pestalozzi in die
Einzelheiten seines phantastischen Plans hinein redet -- wie er als
dramatischer Dichter versuchen will, dem ganzen Hof ins Gewissen zu
reden -- je schweigsamer wird der andere; bis beide schweigen und
Fellenberg sich mit aller Gewandtheit seiner Diplomatie daran gibt,
das Schaukelbrett wegzuziehen, darauf die Pläne seines Gastes gebaut
sind: Der Wiener Hof und der Graf Zinzendorf hätten zur Zeit andere
Dinge zu bedenken; der Kaiser Josef, durch dessen Eifer alle Mühlen
in Österreich so eifrig am Mahlen gewesen wären, läge sterbenskrank
darnieder, verbittert am Widerstand seiner Zeit. Er würde ihn wohl kaum
noch lebend finden, wenn er in Wien ankäme; und so große Hoffnungen
auch auf seinen Bruder Leopold, den Herzog von Toskana, als seinen
Nachfolger zu setzen wären -- Heinrich Pestalozzi habe ihm ja immediat
schreiben dürfen und besitze sicher einen Gönner in ihm -- er würde den
Staat in einer Verfassung finden, die fürs erste auf andere Dinge als
noch mehr Reformen ginge! Und was er sich sonst unter Wien und seinem
Hof vorstelle? Es könne ihm passieren, daß er, einmal versehentlich
ins Armenhaus gebracht, nicht so leicht wieder herauskäme wie hier.
Jedenfalls würde ihn der Graf Zinzendorf kaum selber herausholen!

Es hilft nichts, daß Heinrich Pestalozzi seine Gegengründe mit den
Armen heran bringt, diese Dinge kennt der Ratsherr besser als er; und
da der ihm weder in Bern noch sonst in der Schweiz einen Platz für
seine Experimente weiß, tritt er nach drei Tagen, gedemütigter als
er gekommen ist -- trotz aller ehrenden Sorge des Ratsherrn -- seine
Rückreise nach dem Neuhof an. Da es sein muß, vermag er den Weg nicht
durch eine neuerliche Wanderung in die Länge zu ziehen; er fährt mit
der Post und langt nach einer durchrumpelten Tagesfahrt nachmittags in
Lenzburg an, von da über den Berg zu laufen. Er will sich im »Löwen«
noch stärken für den Marsch, als ihm sein Sohn aus der Tür mit einem
Mädchen entgegentritt, das er nach der ersten Überraschung als eine
Brugger Tochter namens Fröhlich erkennt, die auch schon einigemal
im Neuhof gewesen ist. Die beiden haben sich, wie sie abwechselnd
errötend sagen, zufällig hier in Lenzburg auf dem Markt getroffen und
wollen mit ihren Eltern im Wagen nach Brugg heimkehren. Da er ablehnt,
mitzufahren, und der Wagen schon wartet, treten sie garnicht mehr mit
ihm ein; so kommt er trotz der Begegnung allein mit dem Abend ins
Birrfeld hinunter, nun völlig sicher, daß kein Platz mehr für ihn und
seine Pläne auf dem Neuhof ist.


                                  63.

Es geschieht so, wie Fellenberg prophezeit hat; nach einigen Monaten
liest Heinrich Pestalozzi in der Schaffhauser Zeitung, daß der
edle Kaiser Josef im neunundfünfzigsten Jahr seines Lebens und im
fünfundzwanzigsten Jahr seiner Regierung gebrochenen Herzens gestorben
sei. Damit ist der Rest seiner heimlichen Hoffnungen allein auf seinen
Nachfolger Leopold gestellt, und im Herbst wagt er es, ihm mit einer
Schrift durch den Grafen Zinzendorf seine Dienste anzubieten. Aber
auch damit hat Fellenberg recht gehabt, der Brief bringt ihm nie eine
Antwort ein, und während er nach Trostgründen sucht, stirbt der neue
Kaiser seinem Bruder rasch hinterher.

Unterdessen ihm die Weltgeschichte diese Striche durch seine
phantastische Rechnung macht, beeilt sich sein Sohn Jakob mit der
Anna Magdalena Fröhlich von Brugg; im einundzwanzigsten Jahr macht
er Hochzeit, und seitdem sitzt Heinrich Pestalozzi wirklich auf dem
Altenteil im Neuhof. Seine Frau ist nun fast immer bei ihrer Freundin
auf Schloß Hallwyl, und ihn treibt seine einsame Ruhelosigkeit nach
Zürich, wo er den Rest seiner Freunde gelegentlich um neue vermehrt.
Noch immer ist es die gelobte Stadt schwärmerischer Jünglinge,
denen die Lage am See, der Ausblick ins Gebirge, dazu die gastliche
Geselligkeit ihrer reichgewordenen Bürger und nicht zuletzt das durch
Bodmer -- den auch nun längst gestorbenen -- begründete literarische
Leben einen Zauber von freier Schönheit vortäuschen. Obwohl seine
Schriften weder im Einklang mit dem Wesen der Stadt noch mit ihrem Ruf
stehen, ist der Verfasser von Lienhard und Gertrud doch für manchen der
fremden Jünglinge eine Bekanntschaft, die ihnen zugehörig scheint; und
das Angenehmste, was Heinrich Pestalozzi von seinem Ruhm erlebt, wird
ihm von ihnen gelegentlich in Zürich zuteil.

So trifft er einmal einen jungen Holsteiner namens Nicolovius, der
mit dem Grafen Stolberg nach Zürich gekommen ist und sich -- wie er
Heinrich Pestalozzi sagt -- seit Beginn der Reise darauf gefreut hat,
ihn zu sehen. Die norddeutsche Kühle des jungen Mannes entspricht
wenig dieser warmen Versicherung, und er erwartet eigentlich nicht
viel, als er ihn einlädt, ihn einmal auf dem Neuhof zu besuchen. Wie
er dann aber kommt, ist er ohne seinen Grafen viel weniger steif, und
als sie erst einen Spaziergang miteinander machen übers Birrfeld und
Müligen nach der Reuß hinunter, erschließt er ihm bald sein Herz. Der
Jüngling hat all seine Schriften mit glühendem Eifer gelesen und den
Plan seines eigenen Lebens darauf gebaut. So erlebt Heinrich Pestalozzi
ganz unvermutet an ihm das Glück einer wirklichen Jüngerschaft; in der
Gedrücktheit seiner Lage wird das ein berauschendes Erlebnis für ihn,
und wie er trotz Iselin und Battier niemals zu einem der Schweizer
Freunde hat sprechen dürfen, so öffnet er diesem Jüngling sein Herz.
Er kommt fröhlicher als seit langem heim, und darum fällt ihm die
Traurigkeit so schneidend ins Herz, als um einer Besorgung willen sein
Sohn ins Zimmer tritt und die beiden nebeneinander stehen, ziemlich
gleich groß im Bau, aber der eine stumpf und von der Verbitterung
seiner Krankheit mißmutig, trotzdem er das fröhlichste Frauenzimmer
der Welt sein eigen nennt, der andere hell, klug und voll Schwung,
ein junger Bach, in den er alle Trübheit seines Alters gießen könnte,
ohne die gläserne Helligkeit zu trüben. Ach wäre es mein Sohn! schreit
eine Stimme in ihm auf, wieviel leichter stände ich in der Welt, einen
solchen Erben meiner Wünsche für die Menschheit zu haben! Und um nicht
weinend über diesen Zwiespalt dazustehen, läuft er hinaus gegen den
Wald, mit stürzenden Tränen wie in seiner Jugend.


                                  64.

Nicht lange danach macht Heinrich Pestalozzi die erste größere Reise
seines Lebens; die Tante Weber in Leipzig ist gestorben, und weil er
am ehesten abkömmlich ist -- wie ihm der Vetter Hotze in Richterswyl
nicht ohne Spott beibringt -- reist er als Erbbevollmächtigter seiner
mütterlichen Familie hin. Er reist gern, weil er sich freut, das Bärbel
wiederzusehen, das ihm in den fünfzehn Jahren als Frau Groß nicht
untreu geworden ist und aus seinen Briefen von allem Schicksal weiß.
Dahinter aber lockt die Hoffnung, daß er nun selber in dieses große
Deutschland fährt, aus dem ihm immer noch das stärkste Echo gekommen
ist. Vielleicht, daß er doch einen Reichsfürsten für seine Pläne findet!

Die Fahrt geht noch im nassen März über Schaffhausen, Ulm, Nürnberg,
Bamberg; aber diese Städte sind nur die größeren Nachtpausen in der
endlosen Fahrt, die durch ein Gewirr von waldigen Hügeln, Wiesentälern
und Ackerfeldern unaufhörlich über neue Grenzen in immer fremdere
Gebiete führt. Wie es heißt, sind deutsche Heere nach Frankreich
gezogen, den gefangenen König zu befreien, und überall begegnet
er den Spuren dieses Feldzugs, sodaß er froh ist, nach einer fast
vierzehntägigen Reise endlich in Leipzig zu sein. Er findet seine
Schwester, die als Mädchen fortging, als eine stattliche Matrone
wieder an der Seite eines Mannes, der vom ersten bis zum letzten
Augenblick des Tages keinen andern Gedanken hat als sein Geschäft. Die
Förmlichkeiten der Erbschaft denkt er bald zu erledigen und danach
den eigenen Sachen nachzugehen; aber eine Eingabe zieht die andere
nach sich und ein Anwalt den andern; schon nach acht Tagen sitzt er
vor einem Berg von Akten, und jedes Papier hat die Sache schwieriger
gemacht. Dabei ist er ein Schweizer unter lauter Sachsen, und so
komisch er ihre Sprache findet, sie können das Lachen nicht verhalten
vor der seinen. Selbst wenn er jemand für seine Sache eifrig gemacht
hat, zerstört ein Gespräch mehr, als drei Briefe Nutzen brachten. Ist
er in der Schweiz mit seinen Taten der Narr der Leute gewesen, so wird
er es hier mit seiner Erscheinung; er vermag schließlich nur noch
ängstlich über die Straßen zu gehen, weil immer wieder die Buben mit
Gelächter hinter ihm drein laufen.

Sein geheimer Plan, nach Weimar oder sonst an einen Fürstenhof zu
fahren, verdrückt sich dadurch; verschüchtert und ingrimmig über die
langwierigen Termine und die Ergebnislosigkeit seiner Reise fängt
er bald an, Heimweh nach seiner Schweiz zu kriegen, und eher, als
er gedacht hat, ist er auf der Rückfahrt. Nicht einem Menschen hat
er ernstlich von seinen Dingen sprechen können, aber mit seinen
Luftschlössern im Ausland ist er trotzdem fertig. Er hat gesehen,
daß Zürich und Leipzig für ihn dasselbe ist; hier wie dort gibt es
Stadtbürger, deren Namen einem gefüllten Geldsack den Klang verdankt;
hier wie dort sind diejenigen weiße Raben, die mehr als ihren Vorteil
wollen, nur daß er die weißen Raben daheim allmählich kennt und zu
beurteilen weiß, während er dort nicht einmal zu einer oberflächlichen
Kenntnis kommt! Auch auf der Heimreise sieht er nichts von den Ländern,
durch die sein Postwagen fährt. Überall Postmeister, Stadtsoldaten
und Zöllner, Schlagbäume und mürrisch geöffnete Stadttore. Ohne ein
eigentliches Erlebnis kommt er gedemütigt wieder an und nicht geneigt,
mehr als seinen geschäftlichen Bericht von der Reise zu geben. Daß er
zweimal dicht am Rheinfall vorüber gefahren ist, erfährt er erst, als
man ihn danach fragt.

Das einzige, was er mitbringt, sind die ungeheuren Vorgänge in Paris,
von denen täglich neue Blutberichte nach Leipzig kamen. Noch lebt der
König, aber schon weiß man, daß er kaum mehr als ein Gefangener der
Empörer ist. Auch sonst scheint die Weltordnung einzustürzen; das Elend
und die Verzweiflung der Armut stehen auf, wie Heinrich Pestalozzi
es längst befürchtete, und da er das Heilmittel angepriesen hat, die
Regierungen mit ihren Völkern übereins zu bringen, kommt er sich wie
ein Prophet vor, auf den niemand hören wollte. Aber als bis in den
Hochsommer hinein sich die Schreckensnachrichten häufen, sodaß es
scheint, als ob Paris den Untergang Jerusalems noch einmal erleben
solle, bekommt er die Nachricht, daß ihm die Nationalversammlung
der Empörer in Paris das Ehrenbürgerrecht des französischen Volkes
verliehen habe. Achtzehn Ausländern ist es zugesprochen worden, und
neben den weltberühmten Namen Washington, Klopstock und Schiller sieht
er den seinigen geehrt, wie er es niemals geträumt hätte.

Er ist wieder einmal mit Hans Heinrich Füeßli zusammen -- den sie
unterdessen in Zürich auf den Lehrstuhl für vaterländische Geschichte
am Collegium Carolinum berufen haben -- als die Nachricht eintrifft:
Das ist was Rechtes, spottet der, um seine Freude zu verbergen,
Ehrenbürger einer Räuber- und Mörderbande zu sein! Aber in seinem
Kopf haben alle Gedanken schon eine neue Windrichtung angenommen:
Wo Heinrich Pestalozzi Ehrenbürger wird, sagt er fest, und bleibt in
seiner Gläubigkeit allem Hochmut fern, ist etwas Gutes im Wege! Für
eine Räuberbande könnten sie landauf, landab schon andere Leute finden,
auch in Zürich.

Trotzdem, ein Ehrenbürger des Aufruhrs bleibst du, sagt Füeßli nun
gleichfalls ernst und setzt seinen Hut auf, weil er doch gehen will!
Da gibt ihm Heinrich Pestalozzi die Hand, und jedes Rünzelchen seines
braunen Gesichts scheint einzeln zu lächeln: Du meinst, weil ich selber
ein Aufrührer sei? Ich hätte freilich gern euren Brei gerührt, er war
zu zäh für meine Holzlöffel, die mir nacheinander zerbrochen sind. Was
gilts, die haben eiserne Löffel, und ihr werdet daraus essen müssen!


                                  65.

Seit diesem Tag ist ein Schein in der Welt, der Heinrich Pestalozzi
das Blut unruhig macht; er fühlt, daß es die Sache der Menschheit
ist, die in Paris verhandelt wird, und soviel Greuel da mit Greueln
totgeschlagen werden: er wartet aus der wilden Mordnacht getrost auf
ein Morgenlicht, das auch seinen Dingen scheinen soll. Für ihn bedeutet
die Verkündigung der Menschenrechte auch die der Menschenpflichten;
während die Franzosen ihrem König den Kopf abschlagen, schreibt er in
einer glühenden Schrift sein klares »Ja oder Nein« zu dem Aufruhr der
verwahrlosten Menschennatur; und weil er sieht, wie nun das Christentum
von denen zur Hilfe gerufen wird, die es bisher nicht brauchten,
scheut er sich nicht, die Übereinstimmung der christlichen Lehre mit
den sozialen Forderungen der Revolution in einer zweiten Flugschrift
darzulegen. Aber er findet keinen Drucker in der Schweiz für diese
Kühnheiten, und seine Freunde sind erlöst, daß er sie ins Schubfach
legt.

Indessen Heinrich Pestalozzi so die flackernden Brände der
Zeitgeschichte in den Spiegel seiner Ideen nimmt, sitzt er selber noch
überflüssig auf dem Neuhof im Altenteil; so kommt ihm eine Anfrage
seines Vetters, des Doktors Hotze, recht: Der will eine längere Reise
nach Deutschland machen, wo seine Tochter einen Herrn von Neufville
in Frankfurt heiratet, und er soll ihm über den Winter das Haus in
Richterswyl hüten. Er sieht sich als stellvertretender Hausherr in die
Sorglosigkeit eines wohlhabenden Hauses am See verpflanzt, den Freunden
in Zürich mit einer nicht zu umständlichen Schiffahrt erreichbar und
mitten in einer Landschaft, die ihn mit den letzten Gesängen der
Weinernte umfängt und gegen das rauhe Birrfeld ein einziger Garten ist.
Zum erstenmal in seinem unrastigen Mannesleben weicht die Täglichkeit
der Sorgen von ihm zurück, und während er in den ersten Tagen sein
zeitweises Besitztum abschreitet, gegen den See hinunter und bis an den
Wald hinauf, kommt es ihm vor, als habe er in seinem Leben noch keinen
Spaziergang gemacht.

Wie er nun eines Tages unten am See sitzt und sich von der letzten
Wärme der Herbstsonne durchschauern läßt -- es ist dieselbe Stelle, wo
ihn die Mutter damals auf den Armen ins Haus holte -- muß er an den
Knaben im Federhut denken, der es unterdessen bei den Kaiserlichen
zum General gebracht hat. Wo sind meine Taten? fragt er da in die
blausonnige Seewelt hinaus, und alles, was er an großen Dingen
versuchte, erst mit seinen mißlungenen Gründungen, danach mit seiner
Feder, scheint ihm ärmlich und zerstreut. Wohl hat er mit Lienhard
und Gertrud einen Plan aufgebaut, wie der verwahrlosten Menschheit
zu helfen wäre, aber der Plan ist auf das Herrenrecht gegründet
gewesen, das er nun überall wanken sieht. Er ist nicht auf den Grund
der Menschennatur gegangen, er hat seine Vorschläge an Verhältnisse
geklebt, die sich vor der großen Abrechnung, die nun kommt, nicht
halten können, und so bröckeln sie mit ihnen hin. Nichts scheint ihm
fest in dieser Zeit, als der Gedanke der menschlichen Verpflichtung,
der sich im Schicksal der Tage aufringt und aus dem allein die Ordnung
der Zukunft kommen kann.

Er sitzt noch mitten in dieser Rechnung, als er drei Männer vom Haus
herunter an den See kommen sieht, von einer Magd zu ihm gewiesen:
Landfremde, die er aus Zürich kennt, zwei Deutsche und der dänische
Dichter Baggesen; der eine Deutsche aber, namens Fichte, hat die
Tochter einer Freundin in Zürich geheiratet und ist ihm dadurch wie
durch den Steilflug seiner Gedanken vertrauter geworden. Wie die
drei gerade in dieser Stunde daher kommen, wird ihm alttestamentlich
zumut, so wohl tut ihm ihre Gegenwart. Noch sind sie keine Stunde
da, als er schon tief im Gespräch ist, wie nichts nötiger sei als
eine Nachforschung über den Gang der Natur in der Entwicklung des
Menschengeschlechts. Die Abrechnung mit der alten Zeit ist da, und
allein aus der Natur kann die Formel für die neue gefunden werden. Er
hat ein Gefühl, als ob ihm in der Tiefe ein Strom aufgebrochen wäre,
daraus seine Rede zur Sprache des Lebens selber würde. Und da es Männer
sind, die wie er diese Zeit im Innersten erleben, die nicht wie die
Regierenden und Besitzenden händeringend um die bedrohte Macht und
ihren Reichtum dastehen, sondern in sich die Seele und das Schicksal
ihres Volkes und der Menschheit fühlen, spricht er nicht rauben Ohren.
Der Tag geht hin und die halbe Nacht; und obwohl sie kaum Wein dazu
trinken, ist ein Rausch in ihnen, daß sie sich aller Dinge kraft ihres
Geistes mächtig fühlen.

Als gegen Mitternacht der Mond aufgeht, treten sie noch einmal hinaus,
wo eine alte Linde ihre Äste über den Hof senkt. Das ist unser
Freiheitsbaum, sagt Heinrich Pestalozzi und faßt die Hände seiner
Nachbarn: seine Wurzeln im Saft der Erde halten die Krone im Wind;
kein dürrer Steckling, sondern eine gewachsene Kreatur! Ehe sie es
selber merken, hat sich auch Fichte als der vierte eingefaßt, sodaß
sie in einem Ring um den Lindenbaum dastehen. Aber der Stamm ist so
dick in den Wurzeln, daß sie sich alle vier ihm dicht zuneigen müssen
und mehr in einer Umarmung als zum Reigen dastehen: Es ist nichts
mit dem Tanzen, sagt Heinrich Pestalozzi, jetzt weiß ich, warum die
Freiheitsbäume der Franzosen so dünn sind!


                                  66.

Danach fühlt Heinrich Pestalozzi, wie alles in seinem Leben der
Auflösung entgegengeht. Nach dem Winter in Richterswyl findet er
sich nicht mehr in den Neuhof zurück; wohl hält er sich auch danach
noch wochenlang dort auf, aber seitdem seinem Sohn eine Tochter
Marianne geboren ist, die ihn zum Großvater macht, sitzt et nur noch
wie ein Zuschauer dabei, wenn sie sich abends im Lichtkreis um den
Tisch sammeln -- es ist immer noch die Messinglampe, die ihm schon in
Müligen geleuchtet hat und bis auf den Tag das Staatsstück des Hauses
vorstellt. Er ist nun wieder viel und gern bei seiner Mutter, die noch
einmal nach der kleinen Stadt hinübergezogen ist, wo sie mit einer
Aufwärterin in zwei Stuben ihr einsames Wesen hat; denn auch das Babeli
liegt bei St. Leonhard begraben nach seinem tapferen Leben. Sie ist
nun in der Mitte der Siebziger, schlohweiß und eingeschrumpft; doch
weiß sie noch immer, daß sie eine geborene Hotzin ist, und Heinrich
Pestalozzi erfährt manchen Tadel, weil er nicht acht gibt auf ihre
Ordnung und Reputation. Am liebsten hat sie, wenn er vom Bärbel und
seinem Besuch in Leipzig erzählt und wie da alles in den Glanz des
bürgerlichen Lebens gekommen ist, den sie entbehren mußte; es gibt
Fragen, die sie schon hundertmal gestellt hat und deren Antwort sie
doch immer mit der gleichen glücklichen Neugier abwartet. Auch ein paar
dunkle Stellen sind da um den andern Sohn, wo sie den Kopf schüttelt
und am Boden wie auf einer Landkarte den Verschollenen sucht; doch
kennt Heinrich Pestalozzi die Brücken, um sie rasch hinüberzubringen in
die sicheren Umstände ihrer Täglichkeit.

Eines Tages im März wacht sie nicht mehr auf aus ihrem
Mittagsschläfchen; aber als er sie findet, liegt abgegriffen und
weich, kaum noch wie ein Papier, der letzte Brief ihres Johann Baptista
unter der Schürze, als ob sie ihn auch noch vor dem Tod ängstlich
verstecken wolle.

Nun stehen wir vorn, sagt Heinrich Pestalozzi zu seiner Frau, als
sie von dem Kirchhof bei St. Anna zurückkommen und abgesondert von
den Leidtragenden in die leere Wohnung der Mutter gehen: wir beide
sollten nun hier wohnen und auf den Herold mit der Sense warten! Aber
Anna Schultheß, die auch schon achtundfünfzigjährig und eine rechte
Großmutter ist, hat in den dreißig Jahren gelernt, daß nichts weniger
als abwarten seine Sache ist: Wer weiß, sagt sie und lächelt ihn mit
der Güte an, die über alles Schicksal ihr edles Teil für ihn geblieben
ist: wer weiß, auf welchen Wegen wir noch gehen und den Herold abholen
müssen!




                                 Abend


                                  67.

Als Heinrich Pestalozzi und seine Frau Anna ein paar Stunden lang still
miteinander in den Stuben geblieben sind, daraus sie morgens seine
Mutter als die letzte von den vier Eltern ihrer Ehe auf den Kirchhof
getragen haben, trennen sich ihre Wege für lange Zeit. Nicht, daß sie
unfriedlich auseinander gingen; ihre Seelen sind selten so im Rätsel
der Vertrautheit gewesen wie an diesem Nachmittag, wo sie im Vorhof
des Todes und also im Allerheiligsten des Lebens ihre Hände und Augen
ineinander legen und das Naheste ihres Lebenskreises, ihr Fleisch
und Blut im Neuhof und dahinter die Herzensfreunde nur noch wie eine
fremde Ferne fühlen. Aber Abmachungen vom Morgen rufen Anna zu ihren
Brüdern im Pflug, wo noch am Abend ein Wagen sie zu einer Freundschaft
abholen soll. Er mag weder zum einen noch zum andern: Es sind deine
Sachen, sagt er, wie meine Mutter allein die meine ist; ich will noch
ein paar Tage ihr Sohn gewesen sein, weil nun der Faden meiner Kindheit
abgeschnitten wurde.

Es schlägt fünf Uhr, und der Märztag geht rötlich dem Ende zu, als er
sie auf die Straße bringt. Wir sind im Nachmittag, sagt er, und weil
am Morgen und Mittag alles kam, wie es geschehen mußte, wird auch der
Abend unseres Lebenstages nicht anders sein! Danach geht er hinauf und
sitzt zum Abend schon tief in den Gedanken, die seit Wochen und Monaten
das Selbstgericht seines Daseins sind: »Ich will wissen, was der Gang
meines Lebens, wie es war, aus mir gemacht hat; ich will wissen, was
der Gang des Lebens, wie es ist, aus dem Menschengeschlecht macht!« Das
sind seine Nachforschungen aus Richterswyl, und er verläßt die Stuben
seiner Mutter nicht eher, als bis er die Schrift vollendet hat, an der
er nun schon im dritten Jahr seine Denkkraft versucht. Er schreibt
sie nicht für sich und nicht um seinetwillen, er sieht sich in der
Menschheit und die Menschheit in sich, er will der wirren Zeit einen
sicheren Maßstab und Weiser ihrer Taten geben. Dies aber ist ihm im
Einzelnen wie in Allen der gleiche Gang der Natur: aus dem tierischen
Paradies der Jugend in die gesellschaftliche Verpflichtung als Bürger,
als Teil der Familie, der Gemeinde, des Staates, als Erfüller eines
Berufes; doch kann für ihn dieses Dasein des brauchbaren Bürgers nicht
Sinn und Ziel des Lebens sein: das Ziel ist allein der Mensch als
sittlicher Zustand, der sich jenseits von allem bürgerlichen Zweck in
das Weltwesen einordnet, wie es der Weisheit des Alters vorbehalten
scheint. Die selige Unschuld der Jugend kann er mit dem Bewußtsein
des Alters nicht wieder erreichen, aber doch die Unfreiheit des
gesellschaftlichen Menschen überwinden und als letzte Einsicht die
Einheit der Kreatur mit dem Schöpfer wieder gewinnen, die das Tier in
seiner paradiesischen Unschuld nicht verliert.

Es ist der Abschied von seinen Mannesjahren, den Heinrich Pestalozzi
einsam feiert, als er über dieser Schrift wochenlang mit dem hitzigen
Eifer seiner Jünglingsjahre sitzt. Daß er sie in der Stube seiner
Mutter niederschreibt, bringt ihm auch sonst die Stimmung der Zeiten
zurück, da er den spartanischen König Agis in die Zürcher Verhältnisse
beschwor. Wie damals hätte er gern einen Kreis Gleichgesinnter gehabt,
ihnen die gelungensten Stücke aus seiner Schrift vorzulesen; aber es
gibt keine Gerwe mehr, Bodmer liegt seit dreizehn Jahren in der Erde,
und statt seiner heiteren Menschlichkeit herrschen die Humanisten über
die Zürcher Jugend. Gleichwohl, als er zu Ende ist mit seiner Schrift
und im Gefühl tiefer Dankbarkeit aufatmet nach der fiebrigen Anspannung
dieser Wochen, treibt es ihn, einen Kreis alter Freunde zu suchen,
denen er die Hauptstücke seiner Nachforschungen vorlesen darf. Die
meisten sind unterdessen Großvater geworden gleich ihm, und der Beruf
hat nicht allen Zeit gelassen, den Lebensfragen so nahe zu bleiben wie
er; aber die Feuersbrunst von Westen hat so viele Brandflocken in die
Schweiz herüber geworfen, daß auch die Zurückhaltenden die Unruhe der
Zeit fühlen; und schließlich ist Heinrich Pestalozzi nicht mehr allein
der Armennarr von Neuhof, sondern auch der berühmte Verfasser von
Lienhard und Gertrud und schweizerischer Ehrenbürger der französischen
Republik.

So kommt es zu einem Frühsommerabend, wo er wieder wie als Jüngling mit
dem Agis nun mit seinen Nachforschungen über den Gang der Natur dasitzt
und seine zitternde Stimme Wege in ihre Herzen suchen läßt. Er weiß,
dies ist für ihn mehr als eine Schrift, es ist die Grundlage alles
dessen, was er in Taten und Worten versucht hat, die Rechtfertigung
seines im bürgerlichen Sinn gescheiterten Daseins und zugleich ein
Religionsbuch der Zeit, wie er keines kennt. Aber die Freunde haben
etwas anderes von dem Ehrenbürger der Franzosen erwartet, etwas, darin
der Brand der Zeit ist; sie sehen sich wieder einmal enttäuscht durch
ihn, und obwohl sie betreten schweigen und vor seinen zitternden Worten
stumm bleiben, mag in allen das gleiche Gefühl sein: daß in diesem
Menschen eine krankhafte Sprunghaftigkeit sei; nun er als Figur für die
Öffentlichkeit feststeht und sein Weg durch die Erfolge vorgezeichnet
ist, verfällt er auf philosophische Spekulationen, zu denen es ihm --
so scheint es ihnen -- durchaus an der Bildung fehlt. Der Abend geht
peinlich in eine betretene Stimmung aus; nur ein alter Landpfarrer
vom See, der ihn schon mehrmals im Neuhof besucht hat, ein ehrlich
gesinnter Menschenfreund, ist erregt von dem Abend. Er begleitet ihn
nach der kleinen Stadt hinüber, und Heinrich Pestalozzi scheint es, als
ob er auf der mondlichten Brücke und nachher in dem Schattengewinkel
der Gassen ein paarmal tief vom Herzen seufze. Erst vor seiner Tür
findet der Mann die Worte zu seiner Bewegung, indem er die Kappe
abnimmt und ein paarmal über sein weißes Haar streicht: er müsse
Abschied von ihm nehmen; er könne sich nun einmal sein Christentum
nicht als einen Kirschbaum denken, den sich die Menschen selber in
ihren Garten gepflanzt hätten!

In seine Milde ist ihm unvermutet der pfarrerliche Zorn gefahren; ehe
Heinrich Pestalozzi -- der mehr den Zorn als die Worte versteht --
aus seiner Bestürzung antworten könnte, ist der alte Mann schon im
Schlagschatten der nächsten Quergasse verschwunden. Sie wollen alle
das Beste, sagt er bitter, als er im Dunkeln die enge Stiege allein
hinauf tappt, aber sie fürchten das Gute. Noch in derselben Nacht aber
schreibt er sich selber eine bittere Grabrede als Nachwort zu seiner
Schrift: »Und die Welt zerschlug ihn mit ihrem eisernen Hammer, wie
die Maurer einen unbrauchbaren Stein zum Lückenfüller zwischen den
schlechtesten Brocken!«


                                  68.

Es geht Heinrich Pestalozzi mit seinen Nachforschungen in der großen
Welt nicht anders als in der Enge seiner Zürcher Freunde; trotz seinem
flehentlichen Schlußwort kommt kein Echo, und wenn alles ein blasser
Unsinn gewesen wäre, könnte die Stille nicht peinlicher sein. Aber
nun ist es zu Ende mit der Einsiedlerschaft und der Wartezeit seiner
einsamen Mannesjahre: die Stube der Mutter hat ihn wieder in seine
Vaterstadt gebracht, und von den Signalen seiner Jünglingszeit erfüllt,
nimmt er teil an dem Handel mit dem aufrührerischen Stäfa, der auch den
Gestrengen Herren in Zürich die Schicksalsstunde läutet.

Er hat den Anfang schon in dem Winter erlebt, als er seinem Vetter
Hotze das Haus in Richterswyl hütete. Auch durch die Dörfer am See ist
der Sturmwind der Menschenrechte geweht und hat in dem unterdrückten
Landvolk die Erinnerung an alte Gerechtigkeiten geweckt, an den
Kappeler Brief und den Waldmannischen Spruch. Als die Urkunden sich in
der Gemeindelade zu Küsnacht wirklich fanden, haben die Seebauern zu
Küsnacht, Horgen und Stäfa, ein Memorial an die Gestrengen Herren in
Zürich gesandt, ob diese Briefe noch zu Recht beständen? Das allein
aber hat den Rädelsführern schon den Kopf kosten sollen, und nur der
hinreißenden Beredtsamkeit Lavaters ist es gelungen, Bluturteile zu
verhindern. Seitdem sitzen ihrer zwei aus den drei Orten gefangen im
Wellenberg, und über dem Haupt des Ältesten, eines siebzigjährigen
Greises aus Stäfa, namens Bodmer, ist auf offenem Markt das Schwert des
Henkers geschwungen worden, zum Zeichen, daß sein Leben den Zürcher
Herren verfallen sei.

Heinrich Pestalozzi hat damals selber im Verdacht gestanden, das
Memorial verfaßt zu haben; als nun der Handel in einen Bürgerkrieg
auszugehen scheint, indem das erbitterte Landvolk -- von den
Sturmnachrichten aus Frankreich mutig gemacht -- die Aufhebung des
ungerechten Urteils und die Freigabe der Eingekerkerten unter Androhung
offener Gewalt verlangt, sodaß die Revolution in der Schweiz hier
ihren Ausgang nehmen will: ist er der einzige Zürcher, der es wagen
darf, in das empörte Stäfa zu gehen, um mit der Geltung seines Namens
den blutigen Ereignissen entgegenzuarbeiten. Er hat es unterdessen
auf sonderbare Weise noch einmal zum Fabrikanten gebracht: eine
Seidenfirma Notz richtet auf der Platte in Zürich eine Fabrik ein
und braucht einen Zürcher Bürger als Inhaber, um die Erlaubnis der
Niederlassung zu erhalten; weil, wie er selber spottet, sein Name in
den zweiundfünfzig Jahren das einzig Brauchbare an ihm geblieben ist,
läßt Heinrich Pestalozzi sich den abkaufen. So führt er bürgerlich
nur noch ein Schattendasein; aber mit Sendschriften und Flugblättern
flackert sein landfahrender Menschengeist durch den wilden Handel. Zum
erstenmal seit seiner Jünglingszeit kommt er dabei wieder mit Lavater
überein, der -- wie er in den Seegemeinden -- in Zürich die Regierung
von gewaltsamen Schritten abhält. Überall liegen die Waffen zur offenen
Empörung bereit, Blut soll die verweigerte Gerechtigkeit auslösen, und
die Verhandlungen zwischen den feindlichen Mächten sind abgebrochen:
da überbringt Heinrich Pestalozzi einen offenen Brief Lavaters an
den redlichsten Mann in Stäfa, in dem eine friedliche Freilassung
der Verurteilten aufs bestimmteste in Aussicht gestellt wird. Und so
ehrlich ist das Vertrauen der Landbürger auf die beiden Männer, daß die
Waffen noch einmal ruhen.

Umso aufrührerischer aber tut das zugelaufene Volk, das sich eine
Gelegenheit entschwinden sieht. Seitdem es sich herumgesprochen hat,
daß in Stäfa der Handel des unterdrückten Landvolks mit den hochmütigen
Stadtherren zum Austrag kommen soll, ist dort alles zusammengeströmt,
was in der Zürcher Herrschaft und in den Kantonen rundum auf den Tag
der Abrechnung wartet, sodaß die Wirtschaften und Scheunen in Stäfa
voll sind von einer braunen wilden Menge: ehrlich Verbitterte, die
auf Vergeltung lauern, und gewalttätiges Bettelvolk, das schon von
einer Plünderung der reichen Zürichstadt träumt, alte Kriegläufer,
die in der neuen Ordnung keinen Platz mehr gefunden haben. Sie haben
ihr Hauptlager in einer leeren Scheune, wo sie die Zürcher Herren mit
wilden Flüchen nach dem Pariser Vorbild an die Laternen hängen, obwohl
sie vorläufig weder Laternen noch Zürcher dahaben. Im Vertrauen auf
seine Geltung wagt sich Heinrich Pestalozzi mit dem Brief Lavaters
auch dahinein; aber da wissen sie nichts von Lienhard und Gertrud und
seinem Ehrenbürgertum, ihnen ist er nichts als ein Zürcher Spion, und
so empfängt ihn in der halbhellen Scheune eine Schweigsamkeit, die nur
höhnisch lachen, nicht mehr sprechen kann. Zu arglos in seinem Eifer
fängt er an, gutmütig scheltend auf sie einzureden; aber als er schon
denkt, sie zu rühren -- so still ist es um ihn -- tut einer einen Ruf,
und gleich ist es, als ob sich rundum ihre Hörner senkten. Er hat noch
ein Stück seiner Rede im Mund, da heben sie ihn wie eine Strohpuppe an
den Beinen hoch und tragen ihn, die Marseillaise heulend, durch den
Raum. Noch immer täuscht sich Heinrich Pestalozzi über die Gefahr und
versucht, auf sie einzureden; aber je mehr er dabei in ihren Fäusten
zappelt, umso höhnischer wird das Hetzgeschrei -- bis ein Schuß fällt.
Einer hat den Zürcher abschießen wollen wie einen Schützenvogel, aber
gefehlt, und die Kugel zischt ins Gebälk. In der Verwirrung kommt er
wieder auf den Boden; aber es wäre keine Rettung für ihn gewesen, wenn
sich nicht ein stakiger Kerl mit einem alten Soldatenhut vorgedrängt
hätte, der ihm gleich beim Eintritt durch das von feurigen Narben
entstellte Gesicht und um einer Ähnlichkeit willen aufgefallen wäre:
Heißt der Mann nicht Pestalozzi? Und als einige verblüffte die barsche
Frage bejahen: Dann Brand und Pest, wer ihn anrührt! Er gehört mir, wir
haben noch etwas miteinander auszumachen! Dabei hat er schon seinen
alten Reitersäbel blank, und Heinrich Pestalozzi meint, sein Arm müsse
unter dem Griff zerbrechen, wie er ihn durch das Gedränge schiebt und
mit dem Fuß das klappernde Tor aufstößt: So, Heiri, sagt er, als er ihn
draußen hat -- und Heinrich Pestalozzi aus dem verwüsteten Gesicht den
Ernst Luginbühl erkennt -- jetzt schau, daß du weiterkommst!


                                  69.

Mit diesem Vorspiel in der Scheune ist das Kriegstheater in Stäfa schon
wieder aus; bereits am dritten Tag danach kommt der Bürgermeister
Wyß, durch einen dringenden Brief Lavaters aus der Tagsatzung in
Aarau gerufen, zu einer Sitzung der Rate und Bürger, die den Wünschen
des Landvolks nachgibt. Heinrich Pestalozzi ist dabei, wie sie unter
Glockengeläut und Freudenschüssen die Befreiten in geschmückten Wagen
heimholen, und an der Grenze von Zollikon spricht er dem ehrwürdigen
Bodmer einen Zuruf, dem diesmal die Freude lauter nachschreit, als die
Wut in der Scheune. Den Luginbühl findet er nicht mehr, der gehört zu
denen, die sich der neuen Lage mißtrauend davon gemacht haben, an einem
andern Ort die Abrechnung zu erwarten; denn daß die alte Zeit stürmisch
zu Ende geht, fühlt jeder in der Schweiz, seitdem der General Bonaparte
von seinem siegreichen Feldzug in Italien nach Rastatt selbstherrlich
durchs Land gereist ist, Gunst und Ungunst wie ein Herrscher verteilend.

Heinrich Pestalozzi vermag die Stunde nun doch nicht in Zürich zu
erwarten; in der Seidenfabrik auf der Platte ist nur sein Name nötig,
er selber geht noch einmal auf das Birrfeld zurück. Vorher läßt er die
Stuben seiner Mutter ausräumen und fährt so nach dreißig Jahren zum
andernmal auf einem Wagen mit Hausrat aus der Sihlporte hinaus. Es ist
ein graulicher Wintertag, und er kommt im Dunkeln auf dem Neuhof an, wo
ihm seine Schwiegertochter unterdessen ein zweites Enkelkind geboren
hat, sein Sohn Jakob aber schon viele Monate gelähmt daliegt. Es war
noch zu früh, sagte er der Lisabeth, die noch im Mondlicht mit einem
schweren Korb aus der Scheune kommt und ihn vor Erstaunen hinsetzt: ich
muß ein kleines warten, bis sie mich brauchen; meinen Namen hab ich
dahinten gelassen; er ist in Zürich Fabrikant!

Es ist wirklich nur noch ein kleines; fünfmal kommt er noch
Sonntags auf seinem Pferdchen nach Brugg, im Gasthof zum Sternen
die Schaffhauser Zeitung zu lesen, und jedesmal sind es der
Sturmnachrichten mehr: Im Waadtland fängt es an mit der lemanischen
Republik; wohl rufen die Berner den Landsturm auf gegen die
eindringenden Franzosen, und Tausende folgen den Sturmglocken, aber
die Kräfte sind verzettelt; als es dem tapferen Oberst von Grafenried
gelingt, die Welschen im Sensetal blutig zu schlagen, ist der Sieg
umsonst, weil unterdessen der General Schauenburg nach dem Gefecht
bei Fraubrunnen an einem Märzmittag in Bern eingezogen ist und der
unbesiegten Stadtherrlichkeit eines Jahrtausends ein unrühmliches Ende
gemacht bat.

Wie Heinrich Pestalozzi zum sechstenmal geritten kommt, steht
von eilfertigen Patrioten aufgerichtet auch schon in Brugg der
Freiheitsbaum: es ist vorüber mit der alten Eidgenossenschaft der
Landstände; die Tagsatzung in Aarau muß im Zwang der französischen
Waffen die Helvetische Republik proklamieren. Obwohl der Baum ihm immer
noch zu dünn und ohne Wurzeln ist, steigt er ab von seinem Tier und
tauscht den Bruderkuß. Im Sternen will man ihn deshalb hänseln, er aber
fährt sie zornig an: Die alte Welt konnte von Heinrich Pestalozzi nur
noch den Namen gebrauchen, vielleicht, ihr Herren, daß in der neuen
Platz für mich selber ist!


                                  70.

Heinrich Pestalozzi weiß wie wenige im Land, daß die Freiheit eines
Volkes andere Dinge verlangt, als daß ihm die Ketten einer ungerechten
Verfassung abgenommen werden: der Baum, den sie im Wald abschneiden und
ohne Wurzeln in die Straße pflanzen, scheint ihm ein passendes Sinnbild
solcher Freiheit. Er aber ist auf seinem Neuhof der Armennarr geworden,
weil er einen Freiheitsbaum mit Wurzeln wollte: Ein Volk, das sind
tausend und viele tausend Einzelne; jeder Einzelne aber bringt eine
lebendige Menschenseele mit auf die Erde, und wer diesen Seelen ein
Gärtner ist, daß sie in der Jugend Wurzeln schlagen können zu einer
wirklichen Anschauung der Weltzusammenhänge, tut mehr für die Freiheit,
als wer einen neuen Zaun mit prahlenden Fähnchen an den Toren um den
Garten zieht. Von allen Figuren um Lienhard und Gertrud steht ihm der
Leutnant Glüphi am nächsten, der sich kein besseres Los auf der Welt
findet, als den Dorfkindern in Bonnal ein Schulmeister zu sein; und
seit dem Tag, da die Helvetische Republik Raum für solche Dinge gibt,
brennt Heinrich Pestalozzi vor Begierde, es seinem Leutnant gleich zu
tun.

Gleich in den Frühlingstagen der jungen Republik geht er hinüber nach
Aarau, sich dem Vaterland anzubieten. Er findet es ungünstig, indem der
zuständige Minister, an den er durch Lavater dringend empfohlen ist,
noch in Paris weilt. Trotzdem spürt er gleich, daß die Lebensluft der
neuen Verhältnisse ihm günstiger weht; sein Name schließt Türen auf, an
die er bisher vergeblich klopfte, und als er einen Brief hinterläßt,
weiß er sicher, daß in den Aktenfächern kein Stockfisch daraus wird.

Der neugebackene Minister der Künste und Wissenschaften Albert Stapfer
ist vordem Professor der Philosophie in Bern gewesen; er kann Heinrich
Pestalozzi nicht freundlicher gesinnt sein, als es Iselin und Battier
vor ihm gewesen sind, aber seine Ministerhände greifen breiter als die
ihrigen; auch kehrt die neue Regierung noch scharf als neuer Besen, und
unter den Männern in der Schweiz ist keiner, der aufrichtiger dabei
helfen will, als der Einsiedler und Armennarr vom Neuhof. Stapfer
ist kaum aus Paris zurück, als ihn die Bürger von Aarau schon fast
täglich mit Heinrich Pestalozzi unterwegs sehen. Er lutscht noch immer
an seinem Halstuchzipfel und stellt auch sonst neben dem feinen und
gewandten Stapfer einen altmodischen Großvater vom Land vor; aber
hier kennen und ehren ihn viele, die ihm nun die lange Schicksalszeit
auf Neuhof als ein Martyrium der neuen Herrlichkeit anrechnen; denn
in Aarau als Vorort ist man mit der Helvetischen Republik nicht übel
zufrieden.

Stapfer, der voll eigener Ideen ist, will zuerst der allgemeinen
Schulnot des Landes durch ein Lehrerseminar abhelfen, durch das
endlich andere Männer als Schneider und Schuster in die Dorfschulen
kämen; er tritt eines Tages auf der Straße mit dem Einfall auf ihn
zu, daß er die Leitung übernehme. Aber Heinrich Pestalozzi hat gerade
Kindern zugehört, die in einem schattigen Winkel Schule spielen und
sich mit dem Prügelstock und Geschrei den Katechismus abhören; die
ganze Sinnlosigkeit dieses Betriebes ist ihm aufgegangen als ein
Handwerk, das weder Werkzeug noch Fertigkeiten hat, und wehmütig
lächelnd entgegnet er dem Minister: Wie soll man etwas lehren können,
was noch keiner kann? Es hilft nichts, Bürger Minister, ich muß erst
Schulmeister werden!


                                  71.

Heinrich Pestalozzi hat dem Minister den Plan einer Armenschule
eingereicht; der ist genehmigt worden, und er wartet auf die Anweisung,
wo er beginnen könne, als der neue Besen der Regierung schon im
Stiel zu wackeln beginnt. Im Juni soll der Helvetischen Republik
der Huldigungseid geleistet werden; aber die Urkantone, die unter
dem tapferen Reding den unerbetenen Geburtshelfern aus Frankreich
bis zuletzt blutigen Widerstand geleistet und bei Morgarten dem
Schlachtenruhm der Väter ein neues Blatt beigefügt haben, bleiben
halsstarrig. Sie werden von den französischen Heerhaufen überwältigt,
aber sie geben ihr Herz nicht aus der Hand. Ehe Heinrich Pestalozzi
es merkt, sieht er sich dem Uhrwerk in Aarau eingefügt, das solchem
Widerstand zum Trotz die neue Schweizerzeit einlaufen soll: es gilt,
Aufrufe zu schreiben, redlich und einleuchtend genug, zum wenigsten
die Gutwilligen für die neue Ordnung zu gewinnen. Es sind keine
Nachforschungen mehr, was er schreibt, es sind die quellenden Worte
eines Fürsprech, der das Schicksal des Angeklagten in die Macht seiner
Rede gelegt sieht. Für ihn ist die Sache Frankreichs die Entscheidung
der Menschheit; wenn sich die Schweiz ihr abwendet, ist sie für lange
verloren: »Ihr tretet jetzt hin, die Sache der Telle und Winkelriede
gegen alle Geßler, die Sache der Völker gegen alle Unterdrücker -- die
Sache der Kirchen und Schulen, der Vernunft und des Fleißes gegen die
Barbarei Dummheit, Bettelei und das Elend zu verteidigen!« Wieder wie
in Stäfa steht er mit der Macht seiner Rede im Kampf, aber diesmal geht
sie ans ganze Schweizervolk; ihm zuliebe hat er Fürsprech werden wollen
aus den Griechenträumen seiner Jünglingszeit, nun ist es zum zweitenmal
Wahrheit geworden.

Als auch die Gewalt zu Aarau es mit einem Regierungsblatt versucht,
den guten Willen und die Einsicht ihrer Machthaber in alle Köpfe zu
predigen, ist Heinrich Pestalozzi der Mann des Schicksals, es zu
leiten: statt in eine Armenschule sieht er sich in die Redaktion des
Helvetischen Volksblattes gesetzt, das vom Herbst ab wöchentlich
erscheinen soll. Es wiederholt sich alles, denkt er, der es vordem mit
seinem Schweizerblatt schon auf eigene Hand versucht hat. Aber die
eigene Hand ist besser daran gewesen, sie hat schreiben können, was sie
wollte; hier kommen andere mit ihren Schriftstücken: er ist schließlich
nichts als ein Sekretär, der sich mit dem guten Willen und der Torheit
seiner Vorgesetzten herumschlägt. Auch was er selber schreibt, wird ihm
diktiert, und da er nichts ohne sein Herz vermag, steigert er sich in
einen blinden Glauben hinein, aus dem er redet und schreibt, als ob das
alles sein Herzblut wäre.

Am 8. September endlich erscheint die erste Nummer, tags darauf aber
tut das Schicksal einen Schlag auf seinen Redaktionstisch, daß ihm die
Spreu seiner politischen Leitartikel für immer durcheinanderfliegt.
Er ist unterdessen mit der Regierung als ihr unlösbares Anhängsel
nach Luzern gezogen, der neuen Hauptstadt der Helvetischen Republik,
wo ihm die Berge der Telle und Winkelriede, von denen er geschrieben
hat, täglich vor Augen stehen. Auch fährt er eines Tages mit Legrand
von Basel und anderen Räten aus dem Direktorium über den grünblauen
See in die enge Bucht von Stansstad, wo sie unter freiem Himmel eine
Besprechung mit den aufständischen Nidwaldern haben, die der Republik
den verlangten Eid verweigern. Er ist den Bollwerken der heimatlichen
Unabhängigkeit noch nicht so nahe gewesen, und als er aus dem Kahn ans
Ufer tritt, möchte er sich vor Ehrfurcht hinwerfen, den heiligen Boden
zu küssen. Er sieht aber auch den Husarenkapuziner, wie sie ihn nennen,
den Pater Paul Styger, den roten Zünder der fanatischen Volksbewegung;
in Todesfeindschaft stehen sie auf dem geheiligten Boden gegeneinander,
die in beiden Lagern doch Schweizer und um der selben Heimat willen
voller Feindschaft sind. Wie leicht ist der Haß der Menschen aufzurufen
und wie schwer die Güte! denkt er und fühlt mit einem schaudernden
Blick in sein Leben, daß er nun selber Partei ist: mit anderen, aber
nicht besseren Gründen als diese Männer aus Nidwalden auch, die alle
ihre Hände wie zum Schwur übereinandergelegt halten und gleich den
Stieren ihres Landes dastehen, die vermeintliche Freiheit der Väter zu
verteidigen.

Da die Nidwaldener es nicht bei ihrer Weigerung belassen, sondern
sich zu zweitausend waffenfähigen Männern um den Husarenkapuziner
scharen, die von Uri und Schwyz Zuzug erhalten und so dicht vor
den Toren der Hauptstadt Luzern eine böse Gefahr für die junge
Republik bedeuten, zumal die katholischen Luzerner selbst mehr zu den
Nidwaldenern als zu der ketzerischen Regierung halten: ruft die den
General Schauenburg zu Hilfe. Der rückt mit sechzehntausend Franzosen
an, das Ländchen zum Gehorsam zu zwingen; drei Tage brauchen sie nach
den ersten Schüssen, bis sie vor Stans aneinander kommen, aber dann
ist es kein Soldatenkrieg mehr: Frauen und Kinder, alles, was einen
alten Morgenstern, ein Beil oder eine Sense tragen kann, ist dabei,
und als die Franzosen am Sonntag mittag mit dem Glockenschlag zwölf
in Stans einrücken, gilt es nicht den Sieg, sondern den Anfang einer
grausamen Metzelei. Es ist den Nidwaldern eingeredet worden, daß
es um den Glauben gehe, drum wollen sie lieber sterben, als in die
Hände der Ketzer fallen. Jedes Haus wird eine Opferstätte verrückter
Menschlichkeit, tief in die Nacht geht der wahnsinnige Kampf, und am
Morgen ist das blühende Stans ein rauchendes Ruinenfeld, darin die
Leichen wie geerntete Feldfrüchte liegen. Nur der Husarenkapuziner, der
ihnen unverwundbare Leiber und Engelscharen versprochen hat, ist über
die Berge davon.

Hunderte von Luzernern sind -- weil es Sonntag ist -- auf die
unteren Abhänge des Pilatus und auf den Bürgenstock gestiegen, um
dem schrecklichen Schauspiel wie einem Manöver zuzusehen. Heinrich
Pestalozzi war nicht unter ihnen, aber er hat in Luzern die fernen
Kanonenschläge gehört und noch in der Nacht Nachricht von dem Greuel
des Tages erhalten. Drei Tage später fährt er hinüber und sieht den
rauchenden Kirchhof, wo die Luft nach den verbrannten Leichen riecht
und die schwälenden Rauchsäulen der erstickten Brände den Gefallenen
die Totenwacht halten. Lebendiges scheint außer den französischen
Soldaten, die mit verbitterten Gesichtern noch immer Totengräberarbeit
tun, niemand mehr in Stans zu sein; was die Franzosen nicht
niedergemacht haben, ist in die Berge geflohen; nur ein Trüppchen
Kinder sieht er, das sich in seiner Verzweiflung unter der Kirchmauer
geschart hat und, von einigen Soldaten bewacht, kaum anders aussieht
als ein Haufe jungen Schlachtviehs. Er hat im Ranzen Nahrung für sich
selber mitgebracht, die teilt er ihnen aus, und was er an Geld bei sich
hat, gibt er eilig den Soldaten, daß sie ihm Brot holen unten am See,
wo schon Kähne mit Nahrungsmitteln angekommen sind. Auch spricht er mit
den Kindern und läßt sichs nicht angehen, daß kaum eines eine Antwort
gibt; er vergißt Zeit und Ort um ihrer Not willen und ruht nicht, bis
er sie alle in der Klosterscheune gebettet hat, weil im Kloster selber
die verwundeten Soldaten bis in den Gängen liegen; erst, als er sie
endlich schlafend weiß, sucht er sich selber ein Lager.

So bleibt er drei Tage lang mit ihnen und ist glücklich bewegt, als
sich das Trüppchen mehrt; am vierten Mittag findet ihn ein dringender
Bote aus Luzern um der fälligen Nummer des Helvetischen Volksblattes
willen. Er braucht lange, bis er sich in die Papierwelt seines letzten
Daseins zurückbesonnen hat; er schüttelt den Mann, der ihm folgt,
jähzornig ab und wäre so ein Armer unter den Ärmsten geblieben, wenn er
nicht dem Minister Rengger in die Arme gelaufen wäre, der auch diese
Ernte der neuen Regierung besichtigen und einen Bericht machen will:
Sollen wir nicht ein paar Tausend Volksblätter kommen lassen, sagt er
ingrimmig zu ihm, und die Tränen quellen ihm aus allen Rinnen seines
Gesichtes, das Elend einzuwickeln?

Ein Waisenhaus wäre nötiger, sagt Rengger und stellt sich hart wider
ihn. Da ist Heinrich Pestalozzi schon am Nachmittag wieder in Luzern,
um keine Stunde zu versäumen, das zu erreichen.


                                  72.

Es dauert drei lange Monate, bis die Regierungsherren in Luzern sich
einigen, Heinrich Pestalozzi nach Stans zu lassen. Es ist die letzte
Wartezeit, doch wird das Vierteljahr ihm länger als Jahre vorher, so
drängt die Ungeduld, endlich aus dem Stauwasser seiner Schriften in
Fluß zu kommen. Er würde in den höchsten Alpen, ohne Feuer und Wasser,
anfangen, wenn man ihn nur einmal anfangen ließe.

Endlich im Dezember beschließt das Direktorium der Helvetischen
Republik, dem Bürger Pestalozzi die Einrichtung und Leitung eines
Waisenhauses in Stans zu übertragen; er wartet die Ausfertigung nicht
ab und fährt schon am zweiten Tag danach über den nebeligen See, um
bei der Baueinrichtung dabei zu sein. Die Anstalt soll in einem Flügel
des Frauenklosters eingerichtet werden, und der Baumeister Schmidt
aus Luzern geht mit hinüber, die notwendigen Veränderungen zu machen.
Da schon im Herbst eine scharfe Kälte eingefallen ist, sodaß den
Bauern die Erdäpfel in den Feldern erfroren sind, hat der Hunger die
Bettelwaisen aus ihren Schlupflöchern in die Häuser gejagt, wo ohnehin
schon zuviel hungrige Mäuler warten. Längst schon, bevor er Betten
und die sonstige Einrichtung hat, fängt Heinrich Pestalozzi an, Brot
zu verteilen und dabei seine Zöglinge zu suchen; als er Mitte Januar
die ersten Waisen bei sich hat, kann er zunächst an keinen Unterricht
denken, so verelendet sind sie.

Es ist nur eine Stube fertig, sie aufzunehmen, und überall in
den Gängen werkeln die Bauleute noch mit Staub und Lärm. Tiere
könnten nicht so verwahrlost sein wie diese Menschenkinder, die mit
eingewurzelter Krätze und aufgebrochenen Köpfen, viele wie ausgezehrte
Gerippe, gelb, grinsend, mit Augen voll Angst und Mißtrauen von den
Verwandten oder auch vom Landjäger in den Kreis seiner Liebe gebracht
werden. Es ist anfangs kein Platz da, außer einer Haushälterin in der
Küche irgendwen zur Hilfe unterzubringen; auch wenn es ginge, Heinrich
Pestalozzi möchte es nicht. Damals in den rauchenden Trümmern hat das
Mitleid sein Herz hineingerissen; jetzt aber gilt es das Experiment
seiner Lehre: daß auch in dem niedrigsten Opfer der menschlichen
Verwahrlosung noch ein Keim läge, der zum Dasein einer sittlichen und
freien Menschlichkeit gepflegt werden könne. Er weiß, daß der Zwang
einer äußeren Ordnung, Ermahnungen oder gar Strafen die Herzen nur
verhärten würden, aus denen er dem Keim die erste Nahrung geben will;
nur die Liebe vermag ihn zu wecken, und was diese Liebe von ihm zu tun
verlangt, das vermöchte ihm kein anderer: er schält sie selber aus
ihren Lumpen heraus, er wäscht ihnen die Geschwüre und die Krusten der
Verwahrlosung ab, als ob er eine Tiermutter wäre in dem Winterlager,
wohin sie die Not und Kälte aus der verschneiten Bergwelt getrieben
hätten. Er ißt und schläft mit ihnen, er weint mit ihren Leiden und
lächelt zu ihren kleinen Freuden, sie sind außer der Welt und außer
Stans, sie sind bei ihm, als ob sie wieder in den Ausgang ihres
Lebens zurückgekehrt wären, um hier den Mut zu finden, nach so vieler
Bitterkeit das Dasein noch einmal zu versuchen.

In kaum einem Monat sind es siebzig Waisen, und obwohl allmählich mehr
Stuben fertig werden und auch schon fünfzig Betten dastehen, sodaß
er ihrer nur zwanzig am Abend heimschicken muß, die tagsüber kommen,
ist er immer noch allein unter ihnen. Der Pfarrer Businger, den die
Regierung an Stelle des entwichenen nach Stans gesandt hat, und der
Bezirksvorsteher Truttmann -- beides wohlgesinnte Männer, die tapfer zu
ihm stehen -- drängen darauf, daß er sich Hilfe nähme. Er fände keinen,
der ohne Schaden zwischen ihn und die verscheuchten Seelen seiner
Zöglinge treten könnte.

Als die Frühlingssonne den Schnee wegschmilzt, daß sich die grünen
Matten immer höher hinauf in die weißen Berge heben, ist in der
verwahrlosten Schar die Menschlichkeit schon äußerlich zu Hause; die
älteren Kinder helfen ihm, daß sich die kleineren sauber halten, die
ordentliche Nahrung hat vielen die Backen gerötet, und nun wartet er,
daß die Frühlingssonne sie bräune. Einige lockt ihr Straßenblut, und
manchmal geschieht es, daß eins in der Dämmerung entwischt, andere
kommen dafür wieder: es ist ein wenig wie ein Bienenstock, wenn die
Wärme drängt. Er läßt es sich nicht verdrießen, so sehr ihn der Undank
und die Untreue schmerzen; denn nun ist er längst in den Dingen mit
ihnen, die ihm mehr gelten als ordentliches Essen und saubere Kleidung.
Der Seelenfänger hat ihnen die Schlingen gelegt, und ob ihn das
Mitgefühl hinreißt, wo ein Schmerz oder eine Freude an sie kommt, ob
er mit seinen Großvaterbeinen treppauf und -ab rennen muß und zwanzig
Hände zu wenig wären, alles das zu tun, was auf ihn wartet: es sind nur
die Spinnfäden seiner Absicht, die er unermüdlich um ihre Seelen legt;
er selber sitzt still mitten im Nest und wartet auf die Stunden, wo er
seine Lehre an ihnen versuchen darf.


                                  73.

Längst hat Heinrich Pestalozzi angefangen zu unterrichten; anfangs ist
er sich vorgekommen wie der alte Lehrer, zu dem ihn das Babeli brachte;
auch so mit der Ungeduld seines Alters im Gedränge ihrer Wünsche
und Fragen: wo es schwer wäre, mit einem Frager fertig zu werden,
sind es Dutzende, und dabei sitzen die Trägen noch immer abseits in
ihrer Untätigkeit. Doch merken sie bald, wenn er sich laut sprechend
hinstellt, daß sie alle nur sein einziger Zuhörer sind. Er lehrt sie,
seine Sätze im Chor zu wiederholen, und lockt Antworten heraus, die sie
gemeinsam sagen können; täglich gewitzter in dieser Kunst, die auch die
Unaufmerksamen in seinen Sprachkreis zieht, entdeckt er das Geheimnis
der Klasse, die aus dem Vielerlei von Schülern ein Wesen macht, sodaß
es gleich ist, ob ihrer drei oder dreißig dasitzen. Dabei nimmt er sich
ängstlich in acht, etwas Fremdes in sie hineinzusprechen; immer lauert
er, wo ihre Sinne und Gedanken sind, um sie für sich einzufangen.
Irgendwo ist ein Riß in der Wand, der wie ein seltsames Tier aussieht,
einen langen Schnabel wie eine Ente, aber Füße wie ein Maikäfer hat; ob
sie wollen oder nicht, wenn ihre Blicke durch den Raum gehen, hängen
sie daran fest: er fängt ihnen das Ungeheuer ein in Sätze, die sie
willig nachsprechen, weil sie von ihnen selber gefunden sind.

Einige haben Bücher, und ein paar können sogar ein weniges lesen; er
zeigt den andern, wo diese Hexenmeisterkunst ihre Herkunft hat. Er
läßt sie in den Worten die tönenden und zischenden Laute finden und
macht ein lustiges Spiel daraus, ihrer zwei miteinander zu verbinden,
jeden einzelnen durchs Abc hindurch; dabei schont er sich nicht,
unermüdlich das ba, be, bi, bo mitzusprechen, bis ihm die Stimme in
der Brust schartig wird; manchmal kommt er sich vor wie ein Hahn, wenn
er schwitzend dasteht und mit ihnen kräht. Bis eine Stunde mit Minuten
und ein Tag mit Stunden abgelaufen ist, läßt sich viel hineinfüllen,
und Tag für Tag geht es verzwickter zu, vom bal, bel, bil, bol, bul zum
balk, belk, bilk: immer anders marschieren die Soldaten aus ihrem Mund
auf, bis ihnen alle Übungen, rechts- und linksum, kehrt und vorwärts
marsch gleich geläufig sind. Und eines Tages läßt er für die Augen
sichtbar werden, was solange nur durch Mund und Ohren ging.

Er hat ihnen keine Fibeln mitgebracht, nur einen Korb mit Täfelchen,
darauf die Buchstaben einzeln mit ihren Häkchen und Schnörkeln wie
Vögel mit ihren Schwanzfedern prahlen, und rastet nicht, bis jeder
seinen Laut als Namen hat, sodaß er ihn nur zu zeigen braucht, und
schon gibt ihm die ganze Klasse Antwort. Sie wissen nun längst,
daß keiner die siebzig Einzelnen verstehen kann, wenn jeder nach
seinem Einfall losschreit, und warten das Zeichen ab, das ihnen sein
Finger gibt. Sie sind dann wirklich eine Klasse, ein Wesen, das
hundertvierzig Ohren und Augen, aber nur einen Takt und darum nur
einen Mund hat. Und manche Nacht, während sie schlafen und er allein
in der Schlaflosigkeit des Alters wach unter ihnen liegt, bildet
sich traumdünn die Ahnung einer Lehrmethode: daß es wie mit den
Buchstaben mit allen andern Kenntnissen des Menschen sei, daß sie sich
bauen ließen, Steinchen um Steinchen, bis eine Wand, ein Zimmer und
schließlich das Haus einer Wissenschaft dastände.

Kühner aber, als jemals sein Kopf ein Gespinst machte, scheint ihm
dies: daß auch alles andere, was einen Menschengeist mitsamt der
Seele ausmache, seine Denkkraft, seine Fertigkeiten, sein Wille,
seine Wünsche, seine Absichten, sein Glauben wie seine Taten, in
einem solchen Takt einzufangen sei, und daß, wenn einer erst den
Taktstock dazu finde, ihn hundert andere gebrauchen könnten, um
überall die wildaufwachsenden Menschenseelen in den Wohlklang der
Ordnung einzuführen. Er kann sich dann ein Zukunftsbild austräumen,
daß es zwar reich und arm, jedoch nicht mehr die häßliche Anwendung
davon gäbe, wo die Habsucht und Willkür des Reichen den Armen
unterdrücke und ausnütze; denn das einzige Mittel dieser Geldherrschaft
sei die Unwissenheit des Armen: erst einmal im Besitz seiner
entwickelten Seelen- und Geisteskräfte, könne er nicht mehr das Opfer
herrschsüchtiger Ausbeutung sein! Was jetzt allerorten geschähe, daß
Reiche den Armen helfen wollten durch Wohltätigkeit, sei Täuschung
und Selbstbetrug: der Reiche könne dem Armen garnicht helfen, er habe
nichts als sein Geld, das auch im Wohltun das Zwangmittel ungerechter
Herrschaft bliebe; erst wo Gerechtigkeit regiere, könne eine
brüderliche Hilfe von Herzen wohltätig sein!


                                  74.

Während Heinrich Pestalozzi so mit seinen Waisen auf der Wanderung
nach einer neuen Menschlichkeit ist, wächst das Dickicht der alten ihm
rundum die Wege mit Unkraut und Brennesseln zu. Noch immer zieht der
Haß seine Schwaden durch die Täler des Nidwaldener Landes; der Aufruhr
wurde in Blut und Brand erstickt, aber was ihn heraustrieb, blieb mit
tausend Wurzeln lebendig. Für die Stanser ist Heinrich Pestalozzi
ein Ketzer, von der Revolutionsregierung gesandt, ihre Waisen und
Armenkinder im Unglauben der neuen Zeit abzurichten, sie den Sitten
der Väter und dem Glauben der Heimat mit Teufelslisten zu entfremden.
Sie sehen seine verwahrloste Kleidung und achten ihn für einen
Landstreicher, der bei der neuen Herrschaft der Lumpen und Schelme
untergeschlupft ist.

Aber auch die Freunde fangen an zu zweifeln; sie verstehen nicht,
warum er sich allein mit siebzig Kindern abplagt, eigensinnig ihr
Lehrmeister, Aufseher, Hausknecht und Dienstmagd in einem und dabei
selber zum Erbarmen verwahrlost ist. Sie raten und drängen, doch
Gehilfen zu nehmen, damit er endlich aus seiner Anstalt ein richtiges
Waisenhaus mache, und sind verstimmt, weil er sich unter Ausflüchten
weigert. Er scheint ihnen vom Eigensinn des Alters wie von einem
Fieber befallen, und vertrauliche Briefe gehen an die Minister, daß
man dem alten Mann mit Gewalt aus diesem Zustand helfen möge. Stapfer
aber hält treu und weitsichtig zu ihm, weil er das Experiment fühlt
und daß Heinrich Pestalozzi erst zu Resultaten gekommen sein muß,
bevor er Hilfe brauchen kann. Er ermuntert ihn auch im Mai, als warme
Sonnenbläue die Täler füllt und der See rund an den Ufern in einem
Blust von Blumen zu schäumen scheint, mit seinen Zöglingen einen
Ausflug nach Luzern zu machen.

Es ist Sonntag, und sie gehen die drei Stunden zu Fuß, bei Stansstad in
Kähnen hinüber nach Hergiswyl und dann zwischen Pilatus und dem See bis
Horw, wo sie den weiten Talboden der Allmend von Luzern erreichen. In
Horw rasten sie, und da sie früh aufbrachen, sehen sie da erst, wie die
Sonne überm Rigi hochschießt; ein jedes hat Brot im Sack, und Wasser
fließt überall aus den Brunnenrohren. Die älteren haben gesorgt, daß
sie alle sauber sind; nur auf ihren Schuhen liegt der Staub wie Mehl,
als sie singend über die alte Kapellbrücke in Luzern gehen und die
vielgetürmte trutzige Stadt bestaunen. Es ist Sonntag, und viele Leute
spazieren auf den Straßen, die den seltsamen Zug und den seltsameren
Mann davor belächeln. Einige kennen ihn von seinem Luzerner Aufenthalt
und lüpfen den Hut, um ihm kopfschüttelnd nachzusehen. Aber Stapfer,
der Minister, hat gesorgt, daß die Stanser Waisen nicht unbegrüßt in
der Landeshauptstadt sind: auf dem alten Kornmarkt vor dem Rathaus
steht einer in blanker Uniform mit einem Leinenbeutel, darin rasseln
lauter nagelneue Zehnbatzenstücke der Helvetischen Republik, und
jedes Kind bekommt eins zum Andenken in seinen Sack. Sie singen ein
Schweizerlied zum Dank, und Heinrich Pestalozzi, dem nichts so fern
liegt wie Musik, kräht mit vor Rührung; garnicht merkend, wie falsch er
die Töne nimmt, bis alles hinter ihm lacht.

Auch sonst geschieht den Kindern der Nidwaldener Gutes in dem
katholischen Luzern, und wie ein siegreicher Heerhaufe ziehen sie
am Nachmittag wieder hinaus. Aber nun hat die Sonne ihre strahlende
Bahn durch den Himmel gezogen und aus dem Weltall Glut auf die Erde
geschüttet. Die Kinder werden müde, und er muß nun hinter ihnen gehen,
die letzten anzutreiben. Dabei ist ihm selber schwül und nicht froh
zumut; er hat in Luzern von dem Lauf der Dinge gehört, die für Monate
außer ihm gewesen sind: der Krieg ist wieder im Land, überall bläst
der Wind hitziger Zeitläufte den Zunder an, und es gilt schon als
ausgemacht, daß die Regierung der Helvetischen Republik nach Bern
übersiedeln wird, wo ihr der Boden sicherer scheint als hier in der
Aufsässigkeit der Urkantone. Am Gotthard schlagen sich die Franzosen
mit den Österreichern herum, und viel wird gesprochen von den Taten
seines Vetters Hotze, der als kaiserlicher General über den Bodensee
bis Zürich ins Land gedrungen ist; es kann in einigen Wochen wieder aus
sein mit der republikanischen Herrlichkeit. Zu diesen Sorgen tut ihm
die Brust weh, und er merkt, wie ihm die Monate zugesetzt haben. Der
Pilatus zieht verdächtige Wolken an, und als ob über eine ferne Brücke
Lastwagen rollten, grollt ein Gewitter in der Luft: er kann sonst über
Ahnungen lachen, aber nun ist ein Gefühl da, daß es ihn treffen wird.
Gerade gehen sie von Steinrüti gegen Hergiswyl am See hin, der dick und
still daliegt, da wird ihm süßlich im Mund, und das Licht tanzt ihm wie
Mücken vor den Augen; er will einem Buben, der vor Müdigkeit weint, die
Hand geben, da fühlt er sich tiefer zu ihm hinsinken, als es nötig ist,
und sieht noch für einen Augenblick die erschrockenen Augen über sich.

Heinrich Pestalozzi meint, er sei gleich wieder aufgewacht, aber es
muß wohl länger gewesen sein; nebenan steht ein Wagen, der vorher
nicht da war, und im Kreis der Kinder bemühen sich Leute in Hemdärmeln
um ihn. Tiefer als im Schlaf war er aus allem fort, nun er die Augen
aufschlägt, nimmt sein Bewußtsein mit einem Blick den Kreis seines
Daseins auf, darin er Kind, Mann und Greis zugleich ist. Rund um
diesen Kreis sieht er die Berge spukhaft in den gewitterlichen Dunst
des Himmels ragen und fühlt, daß so die Schwierigkeiten um ihn stehen,
denen er nichts als die Willenskraft seiner zu Boden geworfenen Natur
entgegenstellen kann. Im gleichen Augenblick setzt er sich auf, von dem
ungebeugten Willen kommandiert; da merkt er, daß Blut in seinem Mund
ist.

Darüber erschrickt er tief und läßt sich nun willig in den Wagen heben.
Die von den Kleinen am müdesten sind, müssen zu ihm, und so im Schritt
vor seiner Schar her geht es heim. Einer hat sich neben den Knecht
gesetzt, und der läßt ihm die Zügel, weil er den Gaul kennt. Heinrich
Pestalozzi muß wehmütig an den Tag denken, wo er mit dem Großvater
nach Höngg fuhr und auch so unablässig an den Zügeln rupfte, wie nun
der Knabe vor ihm: Ich habe mirs nicht abgewöhnt bis heute, lächelt
er bitter, wo ich selber ein Großvater bin, und alles, was ich in die
Hand nehme, ist so geblieben! Wenn mir jedes so in Ordnung ginge, wie
hier dem Gaul und dem Knecht, ich würde auch die Zügel gleichmütig
hängen lassen; aber nun bin ich dreiundfünfzig und über meine Jahre
gealtert, gar noch krank, und habe erst den Anfang vom Weg gefunden.
Ich müßte wohl den Gaul für ein paar Wochen in den Stall tun; doch ist
er unabkömmlich, weil ich noch weit mit dem Abend muß!


                                  75.

Die zweite Woche seit seiner Wallfahrt nach Luzern ist noch nicht
ins Land gegangen, als Heinrich Pestalozzi eines Mittags durch
Trommelwirbel aufgeschreckt wird. Wie er ans Fenster läuft, rücken die
schweizerischen Soldaten, die gegen Engelberg und Seelisberg hinauf als
Rückendeckung der Franzosen ausgestellt sind, eilig in Stans ein: die
Österreicher kommen, heißt es und die im Uri geschlagenen Franzosen
seien über den See zurück. Die Panik des Krieges ist wieder in Stans,
bevor ein Schuß in den Nidwaldener Bergen fiel; wer noch bewegliche
Habe hat, flüchtet sie in die Sennhütten hinauf, händeringende
Weiber und trotzige Männer kommen, ihre Kinder zu fordern, und
Heinrich Pestalozzi vermag nicht, sie zu halten. Als ob eine Mure
vom Stanserhorn niederginge, läßt er die andern ihre Bündel raffen,
zur Flucht bereit zu sein. Gerade hat er sie um sich versammelt im
Arbeitssaal, da fällt ein Schuß; die Kinder schreien, einige laufen ihm
zu, viele aber auch hinaus auf die Gasse, sich noch in die Berge zu
retten.

Als danach alles still bleibt -- die Alarmnachrichten waren falsch,
und auch der Schuß ist nur einem hitzigen Sennbuben losgegangen --
sitzt kaum noch die Hälfte seiner Kinder da. Zwar kommen im Nachmittag
noch einige wieder, auch finden sie andere weinend irren, als sie
gegen Abend den Ort absuchen: aber die Besorgnis bleibt über ihnen
wie die schwarze Wolkendecke, die sich mit dem Abend vom Entlebuch
herüberdrängt. Die Kinder schlafen sich schließlich in angstvolle
Träume ein; Heinrich Pestalozzi bleibt wach: seit seiner Ohnmacht
fühlt er, daß es in Stans zu Ende geht. Mit einer Kerze in der Hand
wandert er um Mitternacht von Bett zu Bett; einigen, die sich stöhnend
wälzen, legt er seine Hand auf die Stirn, daß sie, erwachend, ins Licht
blinzeln und vor seinem Gesicht mit einem erlösten Lächeln um die
Lippen einschlafen. Nachher sitzt er noch, bis das Licht niedergebrannt
ist, streicht in seiner Liste die Schäflein an, die ihm fehlen, und
denkt den einzelnen nach, wo sie wohl seien. Bald aber wandern die
bekümmerten Gedanken auf einsamen Höhen, wo er mit seinem Werk allein
ist. Was auch mit den Kindern geschieht, für keins -- das fühlt er
sicher -- ist die Zeit vergebens gewesen: aber sein Werk, wenn er
es jetzt abbrechen muß, ist verloren. Es ist ihm zumut wie einem
Kundschafter im weglosen Dickicht; er hat sich durchgearbeitet, bis er
eine getretene Fußspur fand, die ihn zum Weg führen muß: da reißt ein
Bergbach die Schlucht vor ihm auf, und ob er drüben die Spur deutlich
weiter gehen sieht, er kann nicht hinüber.

Andern Tags ist alles vorbei, als ob es nur böse Träume gewesen wären;
die Bauern sind wieder bei ihrer Arbeit, und die Soldaten in den
Quartieren singen Schweizerlieder. Die Sonne geht ihren strahlenden
Lauf, als wolle sie es diesmal zwingen, über die Ermattung des Mittags
fort in den unendlichen Himmel hinein zu steigen. Noch ein paar Kinder
wagen sich unsicher wieder herzu, und als nach diesem Tag noch ein
zweiter und dritter die weißen Sommervögel durch sein dickes Blau
schwimmen läßt, fängt auch Heinrich Pestalozzi an, den Nacken zu heben.
Am dritten Abend sitzt er scherzend und fragend mit ihnen bei der
Hafersuppe, da ruft ihn ein Bote eilig zu dem Regierungsstatthalter
Zschocke.

Der empfängt ihn mit einem Blatt in der Hand. Er habe Stafette
bekommen, daß am frühen Morgen der General Lecourbe einrücken würde;
er müsse Platz besorgen für einige tausend Mann und ein Hospital für
die Verwundeten und Kranken herrichten, dazu habe er keinen andern
Platz als das Waisenhaus. Obwohl Heinrich Pestalozzi beim ersten
Wort weiß, daß ihm nun das Brett unter den Füßen fortgezogen wird,
damit er noch über den Bergbach zu kommen hoffte, kämpft er wie ein
aufgescheuchtes Tier für sein Nest und seine Brut. Aber nun ist er mit
allem Ruhm seiner Bücher und mit der ewigen Absicht seines Werkes nur
der Bürger Pestalozzi, der andere aber steht als Regierungsgewalt da
und löst das Waisenhaus auf. Weil er nicht wie die Nidwaldener kämpfen
und sterben kann, sondern dem Federstrich gehorchen muß, erfüllt er
bitteren Herzens den Rest seiner Pflicht. Er teilt jedem Kind doppelte
Kleidung, Wäsche und einiges Geld aus für das Notwendigste, rechnet mit
dem Statthalter ab und übergibt ihm von den sechstausend Franken, die
ihm das Direktorium bewilligt hat, den Rest mit dreitausend Franken --
mehr hat er nicht gebraucht in den fünf Monaten mit all den Kindern.
Noch eine Nacht geht er in seiner schlafenden Herde ruhelos umher,
nimmt in der Frühe weinenden Abschied von ihnen allen, deren Vater
er durch seine Liebesgewalt geworden ist, und am Nachmittag, als die
ersten Franzosen einrücken, fährt er nach Stansstad hinunter mit dem,
was er für bessere Zeiten retten will. Wieder einmal sitzt er auf
einem bepackten Wagen, diesmal auf Säcken neben einem Knecht, der ihn
gleichmütig in sein ungewisses Schicksal hinaus kutschiert; es ist ein
Appenzeller, der den Pferden mit der Peitsche die Fliegen vertreibt und
dazu mit halber Kehle seine heimatlichen Jodler singt, als ob es eine
Lustfahrt wäre. Er fühlt die Schmerzen in seiner Brust heftiger und die
brennende Angst fährt mit ihm, daß er nun sterben muß: dann ist alles
umsonst gewesen, was er Unmenschliches in diesen Monaten ertrug; denn
er allein weiß, daß er in Stans den Weg zur Befreiung der Menschheit
entdeckt hat, kein anderer kann fortsetzen, was für ihn selber ein
tastend beschrittener Anfang, aber darum doch das Ergebnis vieler
Tausend fiebernd benützter Stunden ist.

Immer noch läuft eine letzte Hoffnung hinter dem Wagen her, daß die
Luzerner Freunde mächtiger sein könnten als der Regierungsstatthalter;
als er ankommt in der vieltürmigen Stadt, muß er erfahren, daß die
Regierung der in tausend Nöten gefährdeten Helvetischen Regierung nach
Bern ausgeflogen ist.


                                  76.

Es ist ein heißer Julitag, als Heinrich Pestalozzi durch das breite
Entlebuch ins waldige Emmental hinüber und durch seine reichen Dörfer
nach Bern hinunter fährt. Die Fahrt über die holprigen Bergstraßen
bekommt ihm schlecht, und als er spät abends anlangt, fühlt er sich
sterbenselend. Bis zum Schluß sind immer noch die Bauleute im Kloster
zu Stans gewesen, und wenn er hustet, meint er noch den scharfen
Kalkstaub in der Lunge zu spüren. Trotzdem ist er am andern Morgen
schon früh bei dem Minister Stapfer. Der erschrickt, wie er ihn sieht,
und rät ihm, den ungewollten Urlaub vor allem zu einer Kur zu benutzen,
damit er wieder zur Arbeit fähig sei, wenn nach dem Krieg die Anstalt
neu eingerichtet würde. Da er selber zu einer Sitzung muß, übergibt er
ihn seinem Kanzleivorsteher Fischer, einem ehemaligen Theologen, der
auch schon in Stans war.

Der bietet ihm willfährig seine Begleitung an, wohin er auch wolle,
und ehe Heinrich Pestalozzi sich beiseite tun kann, hat er ihn auch
schon eingefangen mit klugen und ehrlichen Fragen. Es findet sich, daß
sie Leidensgenossen sind, indem auch er den Traum seines Lebens an die
Schule gehängt hat. Er ist Schüler bei dem Philanthropen Salzmann in
Schnepfental gewesen und will nun in Burgdorf eine Musterschule, wenn
es erreichbar ist, ein Lehrerseminar einrichten. Es ist immer noch
das Lehrerseminar, das Stapfer ihm selber in Aarau angeboten hat, und
obwohl sich Heinrich Pestalozzi im stillen wundert, wie unbekümmert
sein Nachfolger die Schwierigkeiten übersieht, die ihm fast das Leben
kosten, ist er ihm doch dankbar, weil er die Lauterkeit in seinem
Wesen spürt. Er bleibt ziemlich den ganzen Tag mit ihm zusammen und
erwirbt durch ihn eine Bekanntschaft, die in seine gehetzten Tage eine
breite Pause bringt: Noch am selben Abend sitzen sie zu einem Mann
aus Bad Gurnigel, namens Zehender, der seine Schriften liebt und sein
Märtyrertum in Stans glühend bewundert; der lädt ihn ein, einige Wochen
bei ihm da oben in der reinen Gebirgsluft zu wohnen und von der Quelle
zu trinken. Stapfer und Fischer reden ihm dringend zu, und da der Mann
mit seinem Wagen andern Tags zurück muß, kommt Heinrich Pestalozzi
schon am Abend mit ihm auf dem Gurnigelberg an.

Ein verrauschtes Gewitter hat ihnen einen Regen nachgeschickt, der die
Talweite unter ihnen mit Nebelschwaden bedeckt; auch wirft ihn sein
Elend nun ganz hin, sodaß sie ihn fast aus dem Wagen ins Haus tragen
müssen. Den andern Tag läßt ihn sein Gastfreund nicht aus dem Bett,
auch den zweiten nicht: da es draußen doch noch regne! Am dritten
Morgen liegt er schon lange wach und wartet mit Sehnsucht auf den Tag;
als die Fensterscheiben in der Morgenröte warm werden, springt er mit
beiden Füßen aus dem Bett und reißt ein Fenster auf, seine Faulheit
zu lüften. Er tritt erschrocken zurück vor der unendlichen Weite; in
einer überirdischen Bläue sieht er das Tal zu seinen Füßen liegen,
unermeßlich und schön; er hat noch nie eine so weite Aussicht gesehen,
und das Glück davon überwältigt ihn so, daß er die Hände wie ein Kind
danach ausbreitet. Fast ängstigt ihn die Höhe, aber als er nach rechts
und links äugt, sieht er die hohen Baumgruppen; er fühlt den Wald und
den Berg hinter sich als sicheres Ufer, von dem aus er über das Meer
der morgendlichen Erde tief unter sich hinschaut. Und ehe sich noch
die Worte dazu bilden, ist ein Gefühl in ihm, wie wenn da unten sein
eigenes Leben läge: aus den blauen Seeweiten der Kindheit durch die
ruhelose Brandung seiner Mannesjahre bis auf die Bergkanzel dieser
Stunde hinauf.

Aber wie er sich umwendet, ist sein niedriges Menschenzimmer wie ein
Kästchen ganz getäfelt und auf dem runden Birnenholztisch liegt ein
Buch, das ihm bekannt scheint: »Nachforschungen über den Gang der Natur
in der Entwicklung des Menschengeschlechts« steht auf dem Titel. Er
weiß nicht, warum ihn die Erschütterung hindert, es in die Hand zu
nehmen; er sieht sich wieder in dem Sterbezimmer seiner Mutter daran
schreiben -- als ob es gestern oder vor hundert Jahren gewesen wäre, so
nah und so fern -- fast meint er, es wäre dasselbe Zimmer, aber seine
Augen suchen vergebens in den fremden Sachen. Er ist wieder mitten
drin im hochmütigen Elend jener Tage; die Brandung spritzt, und er
fühlt sich versinken in die Tatenlosigkeit der endlosen Mannesjahre: da
weiß er, es ist kein Ufer, an dem er gesichert steht, es ist nur eine
Insel, ein Stein im Meer, darauf ihn die Brandung geworfen hat.


                                  77.

Sechs Wochen lang ist Heinrich Pestalozzi auf dem Gurnigel, von lieben
Menschen treu gepflegt. Die reine Höhenluft heilt in seiner Lunge aus,
was Kalkstaub und Abc-Geschrei darin verwüstet haben. Es sind noch
andere Kranke oben, auch Gesunde, die vor der herrlichen Natur in
Schwärmerei vergehen. Seit seinem ersten Morgen vermag er nicht mehr in
die blaue Talweite hinunter zu blicken, ohne an sein verlassenes Werk
zu denken. Er sieht unter allen Dächern die Wohnungen der Menschen und
weiß, von wieviel Verwahrlosung jede Wohlhabenheit da unten umgeben
ist. »Meine Natur ist der Mensch,« sagt er den Schwärmern, und eines
Morgens ist er mit seinem Stock und Ranzen nach Bern unterwegs. Er hat
keinen Wagen gewollt; es tut ihm wohl, so bergab schreitend den Takt
seines fröhlichen Marsches zu fühlen: alle lebendigen Dinge gehen im
Zweischritt, hat er dem besorgten Zehender zum Abschied gesagt, nur das
Leblose und Kranke rollt auf Rädern.

Zum Mittag hat er die sechs Stunden bis Bern hinter sich, und als
Rengger und Stapfer, die beiden Minister, aus einer gemeinsamen Sitzung
noch etwas zu besprechen haben, das sich auf dem Heimweg besser als
im Betrieb der kommenden und gehenden Posten erledigen läßt, läuft er
ihnen buchstäblich in die Arme und lacht mit seinem Runzelgesicht wie
ein Knabe, der aus den Ferien wiederkommt. Er will Kinder haben, es
ist ihm gleich wo, an denen er seine Versuche fortsetzen kann, bis
sein Waisenhaus in Stans wieder kriegsfrei ist; und noch in derselben
Viertelstunde schlägt ihm Stapfer vor, nach Burgdorf zu gehen, wo auch
Fischer seit einem Monat sei und an dem Statthalter Schnell wie an
dem Doktor Grimm einsichtige Helfer habe. Als Heinrich Pestalozzi das
Wort hört, fährt ihm eine halbvergessene Erinnerung auf, wie ihn der
Vorwitz eines Morgens dort in die Hintersassenschule brachte; er nimmt
es als eine Fügung, auch scheint es ihm eine Erleichterung, in Burgdorf
nicht wieder einsam zu sein. In seiner Fröhlichkeit sagt er gleich zu,
so kann Stapfer die Eingabe ans Direktorium vorbereiten, er selber
macht sich am andern Morgen gleich unterwegs, sein neues Arbeitsfeld
abzuschreiten.

Über Nacht gibt es Regen, und er muß die Post nehmen; ein guter Zufall
setzt ihm den Statthalter Schnell aus Burgdorf in denselben Wagen. Der
kennt ihn, hat am Abend vorher schon durch Stapfer von seinen Absichten
gehört und ist begeistert, dem berühmten Verfasser von Lienhard und
Gertrud gefällig sein zu können. Die Fahrt wird in Gesprächen kurz, und
in Burgdorf muß Heinrich Pestalozzi sein Gast sein; auch der Doktor
Grimm wird Hals über Kopf zu Tisch geladen, und es ist eine wahre
Verschwörung, wie sie ihm alles einrichten wollen. Sie wundern sich,
daß er gerade an der Hintersassenschule lehren will, und wollen ihm
das ärmliche Lokal erst zeigen. Er erzählt ihnen von dem Morgen, wo er
vorwitzig hinein sah, und ist fast ausgelassen vor Erwartung. Gegen
den Abend, als der Regen endlich nachläßt, macht er noch einen Gang zum
Schloß hinauf, das eine kleine Festung vorstellt, aber augenscheinlich
seit langem verwahrlost ist. Das äußere Tor hängt offen in den Angeln,
und an dem innern läutet er so lange vergebens, bis er merkt, daß
die Schlupftür geöffnet ist. Die Kiesel im Schloßhof sind vom Gras
überwachsen, hinten steht eine Linde, und als er bis an die Mauer geht,
fällt der Berg da fast senkrecht in die schäumende Emme, die ihn im
Bogen umfließt. Es nisselt immer noch, und sein Rock ist längst feucht;
er merkt es nicht, er hat zuviel gesprochen bei den Männern da unten,
und nun sind die Gedanken wie eine Krähenschar, die nicht zur Ruhe
kommt:

Er hat es Mord genannt, wie die Kinder bis ins fünfte Jahr im
sinnlichen Genuß der Natur bleiben, wie sie sehen, sprechen und ihre
andern Sinne gebrauchen lernen, und sich von selber eine natürliche
Anschauung der Welt in ihrer Seele aufbauen: wie sie dann aber gleich
Schafen zusammengedrängt in eine stinkende Stube geworfen würden, um
der fremden, sinnlosen Buchstabenwelt ausgeliefert zu sein! Nun denkt
er, wie auch die Moral und das Gesetz, selbst die Religion und ihre
Tugenden von hier aus der jungen Menschenseele aufgenötigt würden
und dadurch leicht das bittere Beigefühl lebensfeindlicher Mächte
behielten; sodaß, was dem Leben des Menschen einen höheren Sinn geben
solle, im Gefühl der Armen als Mittel der Unterdrückung bliebe. Seine
Gedanken können es noch nicht greifen, aber er fühlt sie dicht daran:
daß er alles, was nur aus dem Buchstaben gelernt würde, als fremd und
gleichgültig in seinem Unterricht ausscheiden, daß er den Naturgang
der ersten fünf Lebensjahre weiterführen möchte; nicht, um es den
Kindern bequemer zu machen, sondern um die Unnatur aus dem Wachstum des
Menschen zu nehmen.

Er ist so versessen in diese Gedanken, daß er garnicht hört, wie jemand
von hinten zu ihm kommt und die Hand auf die Schulter legt. Als er sich
umkehrt, ist es Fischer, der ihn zufällig aus seinem Fenster gesehen
hat: Wir sind die einzigen Menschenseelen in dem ganzen Gebäude, sagt
er erklärend zu ihm; aber Heinrich Pestalozzi ist noch viel zu sehr
bei den Reitversuchen seiner stolzen Gedanken, um ihn wörtlich zu
verstehen: Dann müssen wir jeden Tag den Berg hinunter traben, sagt
er und muß hellauf wie ein Knabe lachen, so rasch springt ihm aus
der abendlichen Grübelei ein Scherz auf: Zwei Narren in einem leeren
Schloß mit einem Steckenpferd, das wird ein schönes Rittertum, wenn wir
ausreiten.


                                  78.

Nach acht Tagen kommt Heinrich zum zweitenmal aus Bern; diesmal in
einem heiteren Wolkenwetter zu Fuß; die Verwaltungskammer hat ihm im
Schloß ein Zimmer als Wohnung eingeräumt und für die Hintersassenschule
die Lehrerlaubnis erteilt. Der Schulmeister Samuel Dysli muß ihm
einen Teil von seinen dreiundsiebzig Schülern überlassen; weil aber
nur eine Stube da ist, vereinbaren sie einen Strich, der die Klassen
trennt: auf der einen Seite stellt sich Heinrich Pestalozzi auf und
fängt wieder tapfer an, aus der Sprache die Buchstabenlaute abzulösen;
auf der andern wandert der Schuhmacher von Bank zu Bank und behört
den Heidelberger Katechismus. Er kann es nicht verwinden, daß man
ihm den alten Landstreicher in die Schulstube schickt, die doch mit
dem Haus sein angeerbtes Eigentum ist, und wenn er in der Folge das
unaufhörliche Geschrei hört, wie der andere die Kinder abrichtet, im
Chor zu sprechen, wobei er selber mitkräht, wenn er sieht, wie sie
keine Bücher und Schreibhefte, nur eine Schiefertafel haben -- nie hat
er solch ein Schreibzeug gekannt -- darauf sie mit dem Griffel allerlei
Winkel und Figuren kritzeln: glaubt er einem Tollhäusler zuzusehen.
Er versucht, ihm zur Beschämung, mit seiner Schar die gewohnten Dinge
zu treiben, aber auch die ist von dem seltsamen Wesen angesteckt, hat
Augen und Ohren auf der andern Seite; und weil er sich scheut, vor den
Augen dieses Narren wie sonst mit dem Stock drein zu fahren, frißt ihm
der Ingrimm über die Vergewaltigung Stunden und Tage auf. Er sieht
bald, daß einer von ihnen beiden hier unmöglich wird, und da es seine
eigene Werkstatt ist, aus der er sich hinterlistig verdrängt sieht,
richtet er sich auf den Krieg ein.

Wenn Heinrich Pestalozzi, der ihn im Eifer meist ganz vergißt, ihn
kollegialisch ansprechen will, stellt er den gekränkten Stolz seiner
Bildung zwischen sich und ihn; denn er hat bald gemerkt, daß der
andere den Firlefanz nur treibt, weil er weder den Katechismus noch
sonst etwas nach der Vorschrift kann. Der Wurm der Kränkung will ihm
unterdessen das Herz abfressen, und schließlich geht er zum Pfarrer.
Dem ist es verdächtig, sich in diesen Handel zu mischen, weil er die
Hintermänner kennt; doch gibt er ihm Lienhard und Gertrud mit, damit
er sehe, was für ein Wundertier dieser Mann vorstelle. Samuel Dysli
hat schon gehört, daß es ein Romanschreiber sei, doch macht es ihm zu
viel Mühe, so dicke Bücher zu lesen; er blättert nur höhnisch darin
herum, und so findet er die Stelle, wie es dem alten Schulmeister in
Bonnal übel geht und wie sich der stelzbeinige Leutnant mit allerlei
Schleicherkünsten an seiner Stelle einnistet. Nun weiß er Bescheid,
und während Heinrich Pestalozzi schon wieder besessen von seiner
Absicht ist und gleich einem Specht an der Anschauungskraft der Kinder
herumklopft, bearbeitet Samuel Dysli die Väter, und eines Sonntags
halten die Burgdorfer Hintersassen eine Art Landesgemeinde in seiner
Werkstube ab: Wenn die Bürger und Herren schon ihre Narrheit mit der
neumodischen Lehrart hätten, möchten sie die Probe auch an den eigenen
Kindern machen!

So aufgereizt sind sie, daß sie es nicht bei dem Beschluß belassen; als
Heinrich Pestalozzi am Montag danach um sieben Uhr in die Schulstube
kommt, sitzen auf seiner Hälfte nur noch drei Kinder und heulen. In
der ersten Bestürzung ist er töricht genug, den Dysli zu fragen; der
läßt den Katechismus herunter schnurren, als ob er ihn extra für ihn
aufgezogen hätte. Da merkt er, daß ihm einer das Uhrwerk abgestellt
hat; doch kann er seinen Jähzorn noch meistern und geht hinaus. Und
nun meint er, daß der Schulmeister ihn wiederkennen müsse; denn wie
damals an dem Morgen kommt er ihm nach bis in die offene Tür. Auch
sonst stehen die Leute an den Fenstern und auf der Gasse; er sieht im
Vorbeigehen, daß sie die Kinder hinter sich halten, als ob sie ihre
Brut vor dem Wolf schützen müßten. Einige vermögen ihre Schadenfreude
nicht zu meistern und rufen ihm nach; ein Flickschneider, der ein
Schwager des Dysli ist, verfällt auf die Rache, laut zu buchstabieren:
b u bu, b e be, b a ba! Die ganze Gasse ist begeistert davon, und so
muß Heinrich Pestalozzi Spießruten laufen durch sein höhnisches Echo,
das ihm noch nachkräht, als er schon im Oberdorf ist.

Er will zu seinen Freunden, aber weder den Statthalter Schnell noch
den Doktor Grimm trifft er zu Hause, und Fischer ist für ein paar
Tage nach Bern gereist. So geht er kopfschüttelnd und trotz seiner
Großvaterschaft dem Weinen nahe wie ein Knabe den steilen Schloßweg
hinauf. Der Hof ist leer wie immer, und die Sonne malt die verzogenen
Schatten der Dächer hinein, als ob auch die ihm Fratzen schneiden
wollten. Es ist ihm für den Augenblick gleichgültig, wohin er geht,
weil jeder Schritt zwecklos ist; so tritt er unter die Linde und starrt
über die Mauer in die glitzernde Emme hinunter. Auch da unten sind noch
Hütten der Hintersassen, denen er aus der hilflosen Armut helfen will,
aber die bellen ihn an wie Hunde. Der Abend fällt ihm ein, wo er zum
erstenmal hier stand und das von dem Steckenpferd sagte. Nun haben sie
mir auch das fortgenommen, denkt er, und jetzt laufen ihm richtig die
trotzigen Tränen übers Gesicht, daß er ihre Schärfe in den Mundwinkeln
schmeckt.


                                  79.

Das Erlebnis geht Heinrich Pestalozzi so nah ans Herz, daß er an diesem
und auch am folgenden Tag das Schloß nicht verläßt, obwohl er Hunger
leidet. Dann kommt Fischer aus Bern zurück, hört schon im Stadthaus,
wo er aus der Post steigt, von dem Aufruhr der Hintersassen, und
nun erlebt der Geschlagene, was treue Freundschaft für ihn vermag:
Grimm und Schnell helfen, und noch in derselben Woche steht Heinrich
Pestalozzi in der Buchstabier- und Leseschule der Margarete Stähli, wo
er seine Versuche ohne Widerstände fortsetzen kann. Da sind nur zwei
Dutzend Kinder in einer hellen Stube, und die Jungfrau bescheidet sich,
ihm eine Gehilfin zu sein. Er ist zwar im Anfang noch verscheucht, man
möchte ihn noch einmal aus der Schulstube fortschicken, und hält sich
ängstlich an die äußeren Vorschriften -- täglich von acht bis sieben
Uhr, die Mittagspause abgerechnet, steht er in seiner Klasse -- aber
indem er nun nicht mehr wie in Stans durch die wirtschaftlichen Sorgen
als Hausvater belästigt und bedrückt wird, auch keine verwahrlosten
Bettelkinder, sondern gepflegte Bürgertöchter vor sich hat, kann
er sich ungehindert dem Abc der Anschauung widmen, das ihm als die
Grundlage aller Kenntnisse und Fertigkeiten täglich geläufiger wird.
Noch immer geht er von keinem vorgefaßten System aus; er verläßt sich
auf seinen Instinkt, daß er für jeden Unterricht den natürlichen
Anfang finden wird. Namentlich im Rechnen versucht er nun, von den
kindlichen Zählspielen ausgehend, zu den Schwierigkeiten der vier
Spezies zu gelangen. Er ist wie ein Chemiker im Laboratorium, immer
neue Mischungen versuchend, bis er die rechte Verbindung gefunden hat;
und die Jungfrau Stähli geht ihm mit gemischter Verwunderung zur Hand.

Unterdessen spielt das Kriegstheater auf Schweizerboden seine
europäischen Stücke, und es sieht nicht aus, als ob er sobald wieder
nach Stans käme: über den Gotthard drängen die Russen unter Suworow,
und über Zürich ins Glarner- und Einsiedlerland die Österreicher
unter seinem Vetter Hotze, der ein berühmter Kriegsheld geworden
ist. Aber Hotze fällt bei Schänis, Masséna nimmt Zürich ein -- wobei
Lavater durch einen betrunkenen Grenadier schwer verwundet wird --
und als Suworow die Franzosen nach dem mörderlichen Kampf um die
Teufelsbrücke zurückgedrängt hat bis Flüelen, sind die Kaiserlichen
überall geschlagen, und er muß sich seitwärts in böser Jahreszeit über
den Kinzig-, den Pragel- und den wüsten Panixerpaß ins Vorderrheintal
retten, wo er ohne Pferde und Geschütze ankommt und mit dem Rest
seiner Scharen die Schweiz bald verläßt. Als Bonaparte, aus Ägypten
heimkehrend, sich zum ersten Konsul der Franzosen macht, hat er die
Eidgenossenschaft ganz in der Hand, und den Urkantonen vergeht die
Hoffnung, daß ihnen fremde Hilfe aus der Helvetischen Republik in die
alte Kantonsherrlichkeit zurück helfen könnte.

Im Bernischen sind die Kriegsschläge nur von fern hörbar gewesen, aber
viele Heerhaufen rückten durch, und jeden Abend sank die Sonne in eine
Nacht voll ungewisser Furcht. Heinrich Pestalozzi hat in Stans erlebt,
was die ruhmvollen Taten der Kriegshelden in der Nähe bedeuten, wie
aus einer blühenden Landschaft ein Schlachtfeld wird, darin die Dörfer
brennen und die Verwundeten mit ihren Blutlachen zwischen Leichen auf
den Straßen und in den Feldern liegen, während in den Bergställen und
in Felsschlüften Frauen und Kinder schreckensbleich die Schießerei
abwarten, bis der Hunger sie doch in das Unheil hineintreibt. Er kann
nur auf den Tag warten, an dem dieser Kriegsbrand endlich gelöscht sein
wird; es wird auch für ihn der Tag sein, wo er für sein Werk gerüstet
dastehen muß.

Darüber fallen auch die Blätter dieses Jahres und eines Tages im
November, als der Regen schon eiselt, erfährt er, daß die Regierung ihn
nicht nach Stans zurücklassen will. Er hat gewußt, daß sich Stapfer
seit dem September vergebens darum bemühte, und ist gefaßt, daß ihm
die Tür nicht wieder geöffnet werde, die der Krieg zuschlug; aber die
Hoffnung hat doch jeden Abend auf seinem Bettrand gesessen, wenn er mit
den Kleidern auch die Mühsale des Tages auf den Stuhl legte. Im äußeren
Schloßhof steht noch ein Tretrad über dem tiefen Brunnen, der bis in
den Talgrund reicht; er ist einmal vorwitzig hineingestiegen, das
sonderbare Hand- und Beinwerk probieren; nun träumt er in der Nacht,
der Strick mit dem Eimer sei abgerissen, während er in den Sprossen
stände, sodaß er die Radtrommel, des Gegengewichtes beraubt, nur immer
um sich selber drehen müsse. Er tröstet sich zwar in der Folge, daß
er für seine Versuche in der hellen Stube der Jungfrau Stähli besser
aufgehoben sei als in dem Kalkstaub des Stanser Waisenhauses, aber der
Lebensstrang seiner Arbeit ist ihm doch schmerzlich abgerissen, und
unruhig fängt er an zu suchen, wo er ihn nach dieser Probierzeit wieder
einhaken könne. So kommt es, daß er mit dem Ende des Jahres von neuem
an seinen Neuhof denkt.

Dieses Ende marschiert mit den Schritten der allgemeinen Not, wie
keines vorher, als ob es die Leidensreste des vergehenden Jahrhunderts
noch über der Schweiz ausgösse, die durch die Kriegszüge verwüstet und
von den Franzosen mit Millionen von Kriegskosten ausgesogen ist. Als
er für die Weihnachtstage nach dem Neuhof fährt, wandern Scharen von
Bettlern über die winterlichen Straßen, sodaß er wehmütig an seine
Flugblätter und das Helvetische Volksblatt denkt, darin er sich und
dem Schweizervolk so herrlich viel von der neuen Ordnung der Dinge
versprach.

Er findet Anna, die er in Hallwyl abholt, mit eisengrauem Haar; sie hat
die Sechzig hinter sich, und sie sind nun die Großvatersleute, die zum
Besuch aufs Birrfeld kommen. Da schaltet die gebotene Fröhlich, und
Lisabeth hilft ihr, auch die schlimmen Dinge tapfer zu überstehen; sie
müssen den Hof allein halten; denn Jakob ist trotz seiner dreißig Jahre
ein übellauniges Gebreste. Es wird trotzdem ein inniges Weihnachtsfest,
die Großmutter hat aus Hallwyl den Enkelkindern viel Liebes
mitgebracht, und die fünfjährige Marianne vermag schon Christlieder
zu singen, in die der dreijährige Gottlieb selbstbewußt einstimmt. Als
danach die heiligen Tage zwischen Weihnachten und Neujahr mit Rauhreif
kommen, der in der Sonne mit Millionen Kristallen funkelt, ist es
für Heinrich Pestalozzi mehr als die Insel auf dem Gurnigel, es ist
die Küste, von der er ausfuhr, und fast scheint es ihm, dies sei die
Heimkehr.

Silvester, als sich die Kälte in einen näßlichen Nebel gewandelt
hat, wandert er zufällig durch das Gehölz bis nach Brunegg auf den
Waldkamm hinauf. Er weiß, das kleine Schloß steht seit der neuen
Ordnung mit leeren Fenstern da, aber wie er hinzukommt, ist an der
verschlossenen Tür ein vergilbter Zettel angeheftet, daß die Regierung
den verlassenen Besitz mit sechzig Jucharten Wald und Weide zum Verkauf
ausbietet. Er braucht garnicht zu überlegen, der Plan steht gleich wie
eine Eingebung da: Schloß Brunegg zu erwerben und mit dem Neuhof zu
vereinigen in einem Besitztum, auf dem sich ein helvetisches Waisenhaus
wohl einrichten und halten ließe. Die Seinigen wissen nicht, warum er
allein an dem Abend fröhlich ist, während ihre Wehmut dem scheidenden
Jahrhundert die Totenwacht hält; nur Anna, die das Wetterglas seiner
Stimmungen besser kennt als sie, merkt bald, daß er irgend etwas im
Schilde führt. Wie dann die Standuhr auf dem Gang ihre zwölf Schläge
mit dem gleichen schnarrenden Klang wie sonst getan hat, und sie alle,
die im Schein der Lampe darauf warteten, sich den Menschenkuß geben,
nimmt er sie wie in den jungen Zeiten bei der Hand und führt sie aus
dem Kreis der andern hinaus in die Nacht, die durch die Erschütterung
der Glocken aus ihrer Stille aufgeschreckt und von Menschenlichtern
nah und fern durchleuchtet mit ihren Geheimnissen in die Wälder
zu flüchten scheint: So war die Nacht, wo ich mit Menalk auf dem
Lindenhof stand, sagt er draußen zu ihr, als sie unsicher schreitend
den Landweg nach Brunegg gehen: nur daß wir damals die Glocken in uns
selber hatten, und draußen war es still. Das ist das Schicksal dieser
Zeit gewesen, daß jeder in seinem Gehäuse saß; das einzige, was die
Menschen miteinander verband, hießen sie ihre Bildung: ich heiße es
ihre Ungläubigkeit. Das neunzehnte Jahrhundert der Christenheit wird
wieder einen Glauben wie zu Zwinglis Zeiten haben, aber es wird das
Jahrhundert der Menschlichkeit sein, wo die guten Werke nicht mehr für
einen guten Platz im Himmel getan werden. Wer die ewige Seligkeit erst
im Himmel anfangen will, hat sie schon versäumt. In Indien, heißt es,
werden die Heiligen ihrer auf Erden teilhaftig, indem sie ihre Wünsche
und Begierden Gott zum Opfer darbringen. Das heißen sie Nirwana oder in
Gott ruhen; aber Gott hat auch unsere Wünsche und Begierden gemacht,
nicht daß wir sie töten, sondern seinen Willen damit erfüllen. Wenn wir
Gott selber in unsern Wünschen und Begierden haben, können sie kein
Hindernis mehr sein. Ihre Seligkeit heißt, in Gott zu ruhen; unsere
wird sein, Gott zu tun.

Sie sind unter Brunegg stehen geblieben, weil es ihn angestrengt hat,
im Steigen soviel zu sprechen; nun sagt er ihr seinen Plan eines neuen
Waisenhauses. So bist du der Alte geblieben? fragt sie, und er sieht in
der ungewissen Helligkeit der Winternacht, wie sie selber die Antwort
dazu lächelt. Ihm aber ist es auf einmal zumut, als ob er wieder in
der Schule das Vaterunser sprechen müsse; er kann die Worte fast nicht
herausbringen, so unbändig kichert seine Fröhlichkeit: Ja, Liebe, und
darum wollte ich dich fragen, ob wir nicht Schloß Brunegg kaufen sollen!


                                  80.

Seit dieser Nacht fühlt Heinrich Pestalozzi einen fremden Flügelschlag
über seinen Dingen, sodaß er sich eilen muß, den Ereignissen zu folgen,
statt sie mühsam anzuzetteln. Er macht zwar noch das Höchstgebot auf
Brunegg und findet bei der aargauischen Regierung eine unerwartete
Willfährigkeit, ihm bei der Einrichtung eines helvetischen Waisenhauses
behilflich zu sein; aber das Schicksal verlegt ihm mit gütigen
Wendungen den Rückweg aufs Birrfeld: Schon im November hat der Doktor
Grimm sich erboten, einige Waisen aus dem Kriegsgebiet in sein Haus
zu nehmen, andre Bürger sind ihm willig gefolgt, und da Fischer den
Plan mit Feuer betreibt, kommen Ende Januar sechsundzwanzig Kinder in
Burgdorf an, die der Pfarrer Steinmüller zu Gais im Appenzeller Land
gesammelt hat. Heinrich Pestalozzi will gerade zum Schloß hinauf, als
die Bürger ihnen entgegenleuchten; überall sind Betten und warme Suppen
für die Zitternden bereit, es könnten ihrer hundert sein, soviel Hände
strecken sich hilfreich aus. Auch sein Herz wallt ihnen entgegen,
und gleich ist er mitten in der Schar, mit scherzenden Fragen seinen
Willkomm zu sagen; aber eins nach dem andern wird ihm eingefordert, und
ehe er sichs versieht, steht er allein auf der Straße da. Meine Zeit
ist noch nicht gekommen, sagt er kopfschüttelnd vor sich hin, als er in
einer bestürzten Wehmut durch die Dunkelheit zum Schloß hinaufgeht.

Aber unversehens fällt das, was andre begonnen haben, ihm in den Schoß,
der die Seele solcher Taten ist: die Kinder sind durch einen jungen
Dorfschulmeister namens Hermann Krüsi aus Gais gebracht worden, der
als dritter ein Zimmer im Schloß erhält. Er ist ein lernbegieriger
Mensch von vierundzwanzig Jahren, dem die Nähe des berühmten Verfassers
von Lienhard und Gertrud eine Erhöhung seines Lebens bedeutet;
für seine Appenzeller Kinder wird ihm eine besondere Schule im
Ort eingerichtet, sodaß sie morgens miteinander in den Burgdorfer
Schuldienst hinuntergehen. Obwohl Heinrich Pestalozzi sich mit seinen
Menschheitsplänen in der Buchstabierschule der Jungfrau Stähli -- wie
er dem Krüsi sagt -- allmählich gleich einem Seefahrer vorkommt, der
seine Harpune verloren hat und mit der Angel probiert, Walfische zu
fangen, bleibt er unverdrossen dabei, bis er im Frühjahr die Burgdorfer
zu einer öffentlichen Prüfung einladen kann. Schon die Neugierde, in
die seltsamen Karten des wunderlichen Fremdlings zu blicken, treibt sie
zahlreich herzu; aber nun steht nicht mehr das Mitleid kopfschüttelnd
da wie in Stans, es gibt eine wahre Verblüffung über die Fertigkeiten
so junger Schüler, und die Schulkommission stellt ihm ein öffentliches
Zeugnis aus, dankbar, daß er gerade Burgdorf für seine Lehrversuche
gewählt habe. Diese Anerkennung macht ihn zittrig vor Freude, weil
er nun endlich die Weite für seine Dinge geöffnet sieht, sodaß er
in seinem fünfundfünfzigsten Jahr trotz dem Ehrenbürgertum der
französischen Republik wie ein belobter Schüler in die Ferien kommt und
seiner Frau Anna das Zeugnis in den Schoß legt. Eigentlich bist du zu
alt dazu, lächelt sie wehmütig mit dem Papier in der Hand: oder sollte
die Zeit gekommen sein, wo die Großväter wieder zur Schule gehen? Aber
er läßt sich sein Glück nicht erschüttern: »Man hat mir schon in meinen
Knabenschuhen gepredigt, es sei eine heilige Sache um das von unten
auf Dienen; ich achte es für die Krone meines Lebens, daß man mich mit
grauen Haaren in der Schule von unten anfangen läßt!«

Er hätte nötig, daß diese Ostertage Ferien für ihn würden, aber sein
Sohn Jakob will sterben, und während draußen der Frühling schäumt,
zerreißen die Schmerzen den hilflosen Mann, dem er den Neuhof als
Erbschaft mühsam aufgespart hat. Zerstört von Nachtwachen kommt er
wieder in Burgdorf an, wo Krüsi allein auf ihn wartet, weil Fischer
enttäuscht und todkrank nach Bern zurückgegangen ist. Als Heinrich
Pestalozzi spät abends den Steilweg aus dem Ort hinauf tastet, findet
er den Appenzeller, der seitdem einsam und landfremd in den leeren
Gebäuden haust, sehnsüchtig harrend am Tor. Mein Sohn stirbt, sagt er,
als sich der Jüngling ihm weinend in die Arme wirft: kommst du mir an
Sohnes Statt?

Danach gibt es einen Erntesommer für ihn, wie er noch keinen erlebte:
die Bürger haben ihn dankbar zum Lehrer an der zweiten Knabenschule
gemacht, darin er an die sechzig Knaben und Mädchen zu lehren hat;
und kaum, daß er mit Krüsi überlegt, wie ihre Schulen sich vereinigen
und, in Klassen eingeteilt, besser im Lehrplan einrichten ließen --
nur an Raum fehlt es im Schulhaus, während im Schloß die schönsten
Räumlichkeiten leer stehen -- sind die Herren in Burgdorf und Bern
gleich so diensteifrig, daß die Kinder schon zum Sommer auf dem Berg
einrücken können. Als der Schloßhof von dem emsigen Gewirr ihrer
Stimmen widerhallt, müssen die Knaben und Mädchen von der Linde ein
Schweizerlied ins waldige Emmental hinunter singen, und diesmal stehen
keine Luzerner da zum Lachen, weil er selber mit seiner alten Stimme
fröhlich den Takt hineinkräht: Nun ist es kein leeres Schloß mehr,
denkt er, und ich brauche morgens nicht auf einem Steckenpferd den
Berg hinab zu reiten! Wie ein Feldherr einen Engpaß bezwungen hat,
das bedrängte Land von den Feinden zu räumen, fühlt er sich längst
über die ersten Buchstabier- und Rechenkünste hinaus und mächtig, in
die entlegenen Gebiete der herkömmlichen Schulmeisterei den Gang der
Natur zu tragen. Er hat zum Wort und zu der Zahl die Form der Dinge als
drittes Element für seinen Unterricht gefunden und hält nun endlich
das Geheimnis in der Hand: das Abc der Anschauung, daraus sich alle
Fertigkeiten und Kenntnisse gewinnen lassen.

Mit dem Sommer fängt die Nachricht von der Wunderschule im Schloß
zu Burgdorf an durchs Land zu gehen, und wie ehemals auf dem
Neuhof, kommen Gläubige und Zweifelnde an, sich mit eigenen Augen
zu überzeugen, was Wahres an dieser neuen Zeitung sei. Sie finden
keinen Einsiedler mehr: Krüsi hat aus Basel seinen Freund Tobler
geholt, der dort als Theologiestudent den Hauslehrer spielte; der
wiederum bringt einen jungen Buchbinder namens Buß aus Tübingen mit,
weil er sich trefflich aufs Zeichnen und die Musik versteht, welche
Künste Heinrich Pestalozzi auch in den Anfängen versagt sind. Sie
hausen zu vieren in dem Schloß und müssen manchmal selber lachen,
was für einen seltsamen Verein sie bilden: ein Romanschreiber, ein
Theologiestudent, ein Buchbinder und ein Dorfschulmeister. Ich bin
nun wirklich ein Wundertier, scherzt Heinrich Pestalozzi oft, ich
habe vier Köpfe und acht Hände. Er wird auch nicht müde, die Fremden
durch die Klassen zu führen, wo im ersten Stock die Körbe mit den
Buchstabentäfelchen stehen, daraus sich vor den Augen der Kinder die
Silben und Wörter auswachsen; in der zweiten fangen die Schreibkünste
auf den Schiefertafeln an -- die meist als die größte Neuheit bestaunt
und befühlt werden -- und durchsichtige Hornblättchen mit eingeritzten
Buchstaben sind die stummen Schulmeister in den Händen der Kinder,
ihre Schriftzüge zu kontrollieren; der dritte Raum ist groß genug zu
Marschübungen, und wenn den Besuchern schon aus den andern Stuben
der Takt im Chorsprechen als das Erstaunlichste im Ohr geblieben
ist, weil er die Vielheit der Schüler mit einem Mund sprechen läßt,
so sehen sie nun den selben Takt als Erscheinung lebendig werden,
wenn die Kinder fröhlich singend oder deklamierend gleichen Schritt
halten. Heinrich Pestalozzi weiß wohl, daß dies alles nur die
Augenfälligkeiten seiner Lehrübungen sind, und es ficht ihn nicht an,
wenn ein gelehrter Herr kopfschüttelnd über die Einfalt solcher Methode
den Berg hinuntergeht. Sie suchen den Stein der Weisen, spöttelt er,
aber es darf kein Stein sein, weil sie sonst nur an den Bach zu gehen
brauchten! Auch meinen sie, ich plagte mich in meinen Großvaterjahren
um neue Schulmeisterkünste, wo ich doch nur der Armut eine Treppe bauen
will. Und als der sinnende Tübinger, dem es am schwersten fällt, sich
einzuleben, ihn einmal am Abend fragt, wie er das meine? sagt er sein
Beispiel von dem Haus des Unrechts.

Sie sitzen auf der Mauer unterm Lindenbaum und sehen, wie die
Sonnenröte die Alpen herrlich überschüttet, und auch die beiden anderen
kommen horchend herzu, als er beginnt: Was meint ihr, daß einer im
Keller unseres Schlosses von diesem Abend sähe! Die Luken im Gewölbe,
zu hoch für die Augen, werden ihm nur einen bläßlichen Schein der Röte
geben! Besser wird es in den Stuben des unteren Stockwerks sein; obwohl
es nach außen kein Fenster hat, sieht man den Widerschein im Hof und
ahnt die Herrlichkeit! Nur oben, wo die Fenster aus den Sälen nach
allen Seiten den freien Ausblick gestatten, kann der Bewohner sich
gemächlich in eine Nische setzen, den Anblick zu genießen! Nun denkt
euch, Freunde, es gäbe keine Treppe in diesem Haus, sodaß die Herren
in den Sälen die einzigen Genießer wären, die Bürger in den Stuben
darunter könnten nicht hinauf, obwohl ihnen der Widerschein im Hof das
Blut unruhig machte; das arme Volk aber in den Gewölben säße gefangen
im fensterlosen Dunkel und hätte von Gottes Sonne nur die trübe Röte an
der Luke!

So, Freunde, ist das Haus des Unrechts um die Klassen der Gesellschaft
gebaut. Drum hab ich mich gemüht mein Leben lang und bin ein Narr
geworden vor ihren Augen, daß ich in dieses Haus des Unrechts die
Treppe der Menschenbildung baute.


                                  81.

Wenn die Morgenstunden seiner Schule zu Ende sind, geht Heinrich
Pestalozzi bei gutem Wetter an die Emme hinunter, Steine zu suchen. Er
kennt nur wenige Arten und wählt sie mehr wie ein Kind nach der schönen
Farbe aus, doch schleppt er gern ein Taschentuch voll davon, wenn
er zum Stadthauswirt Schläfli an den Mittagstisch kommt. Meist geht
auch eins oder das andere der Appenzeller Kinder mit, und namentlich
ein Knabe namens Ramsauer begleitet ihn gern. Wie er eines Tages mit
dem im sonnigen Gestein sitzt -- trotzdem ihm die Gehilfen tapfer
beistehen, schmerzt ihn die Brust vom Sprechen -- denkt er mit einer so
traurigen Sehnsucht an sein verlassenes Waisenhaus in Stans, daß ihm
die Tränen rinnen. Er weiß schon lange, daß ihn die Regierung nicht
dahin zurücklassen will, aber er hat es nicht angeschlagen um seiner
neuen Arbeit willen; nun läuft ihm die Bitterkeit der unbefriedigten
Gedanken von allen Seiten zu. Es gerät ihm wie niemals vorher mit
seiner Treppe der Menschenbildung, er hat den Schlüssel, alle
Stockwerke zu öffnen, aber es sind doch nur die Bürgerkinder dieser
wohlhabenden Kleinstadt, die davon Nutzen haben: Schlimmer als jemals
ist die Not im Land, und ich habe in eitler Selbstgefälligkeit die
Fremden durch meine Methode spazieren geführt. Als sie mich für einen
Narren hielten, schrieb ich meine Schriften; jetzt, wo mir die Bürger
gute Zeugnisse geben und ein Gehalt zahlen, bin ich Großvater wirklich
ihr Narr geworden!

Als er bedrückt von solchen Gedanken, diesmal ohne Steine im Sacktuch,
in die Stadthauswirtschaft kommt, sieht er Tobler schon wieder mit zwei
Fremden dasitzen, einem rotköpfigen Pfarrer und einem Tirolerknaben,
die erfreut aufstehen, ihn zu begrüßen. Er kann seinen Groll zu
keinem freundlichen Wort zwingen, macht augenblicklich kehrt und
läßt sein Mittagsmahl im Stich, obwohl Tobler gleich hinter ihm her
ruft. Unterwegs tut ihm die Torheit leid, aber wie er dann an seinem
Sorgenplatz unter der Linde steht, kommen ihm die drei hartnäckig
in den Schloßhof nach, und nun muß er selber lachen, weil der junge
Pfarrer niemand anders als der Freund Toblers, Johannes Niederer aus
Sennwald ist, mit dem er seit Monaten im herzlichsten Briefwechsel
steht. Den Tirolerknaben, der auf eigene Faust sein Schüler werden
will, hat er zufällig unterwegs getroffen. So geht mirs, klagt er und
schließt sie beide in die Arme: vor Gleichgültigen mache ich meine
Kapriolen, und wenn Freunde kommen, rennt der Hase fort!

Er kehrt danach mit ihnen in das Stadtwirtshaus zurück, und es wird
ein fröhlicheres Mittagsmahl, als er es seit Wochen hatte; denn seit
dem Holsteiner Nicolovius ist ihm nicht mehr solche Liebe widerfahren,
wie in den Feuerbriefen dieses kaum zwanzigjährigen Pfarrers aus
Sennwald, der nun wie der Husarenkapuziner aus Stans neben ihm sitzt,
so rotköpfig und so verbissen in seine Gedanken. Er ist zwar vorläufig
nur zum Besuch gekommen, aber Heinrich Pestalozzi reißt wieder einmal
gierig die Zukunft aus der Gegenwart los: Ihr seid die Jugend, die zu
mir aufsteht, sagt er und halt ihnen sein Glas hin, als ob er alle Tage
so schöppelte; nun will ich den Fischzug meines Lebens machen! Und weiß
auf einmal garnicht, warum er sich bis zu diesem Tag geweigert hat,
die Erbschaft Fischers ganz anzutreten: ein Schullehrerseminar, eine
Musterschule und eine Pensionsanstalt hat der in Burgdorf gewollt, den
nun in Bern der Rasen deckt, indessen er noch immer eigensinnig auf
sein Waisenhaus in Stans wartet, als ob es diese oder jene Waisen und
nicht die Treppe seiner Lehre gelte.

Noch in den Tagen, da Niederer wie ein Spürhund durch die Klassen geht
und jeden Fund verbellt, verhandelt er mit der Regierung in Bern. Er
fühlt, daß sich die Summe seines Lebens einsetzen will: was er als
Landwirt, Armennarr und Schriftsteller auf dem Neuhof, als Waisenvater
in Stans und als Winkelschulmeister in Burgdorf an Erfahrungen
einbrachte, soll nun Erscheinung werden. Zwar haben die politischen
Hagelwetter seinen Freund Stapfer als Minister verdrängt, aber
noch in den letzten Wochen hat er ihm eine helvetische Gesellschaft
von Freunden des Erziehungswesens gegründet, die ihm nun mit einem
Aufruf an die Bürger aller Kantone beisteht. Zum andernmal nach einem
Vierteljahrhundert rasselt seine Werbetrommel durch das Land, aber nun
treten ihrer viele zu dem Bürger, dessen Ruhm im Ausland geklungen
hat. Schon im November sind an die fünfzig Zöglinge im Schloß, nicht
Bettelkinder wie im Neuhof, die ihren Unterhalt durch eigene Arbeit
verdienen sollen, sondern Bürgersöhne und Töchter, deren Eltern den
Aufenthalt mit gutem Geld bezahlen. Er löst die Burgdorfer Schule ab,
und nur die von den Appenzeller Kindern bei ihm bleiben wollen, behält
er um Gotteswillen; der Tiroler Schmidt ist auch darunter.

Heinrich Pestalozzi staunt, wie rasch ihm dies alles ins Kraut
geschossen ist, aber der Erfolg macht ihn fröhlich, sodaß er dem Herbst
und Frühwinter die Tage wie die Blätter eines Märchenbuches abliest.
Darüber kommt Weihnachten, und er kann diesmal nicht in Neuhof sein,
weil einige Kinder mit den Gehilfen bleiben, denen er als Vater das
Fest bereiten muß. Zum Neujahr deckt ein dicker Schnee alles mit runden
Kappen zu, und der Weg vom Schloß hinunter bis in die Häuser ist
eine steile Schlittenbahn. Selbst seine Burgdorfer Freunde schütteln
mißbilligend den Kopf, als sie ihn da mit den Kindern schlitteln
sehen, und der Doktor Grimm sagt ihm, daß dies kein Geschäft für einen
Großvater sei; er aber, der nichts Schöneres auf der Welt kennt, als
wenn verschüchterten Kindern die Augen fröhlich aufgehen, nimmt
einen Schneeball und wirft ihn, sodaß es -- als die Knaben seinem
Beispiel folgen -- ein lustiges Gefecht um die Fröhlichkeit gibt, bei
dem der Griesgram in die Flucht geschlagen wird: Das ist keine so
einträgliche Schlacht für euch Doktoren, als wenn mit Bleikugeln auf
Menschen geschossen wird, sagt er ihm einige Tage später, als er ihn
bei Tauwetter wiedertrifft, aber sie macht rote Backen! Der Doktor
schüttelt unwillig den Kopf: er habe ihm nur die Post mitgebracht, weil
er doch zu dem Knaben müsse, der sich bei dem Spaß bös erkältet habe.

Es ist nur ein zierlicher Brief, von Frauenhand mit dünnen Buchstaben
adressiert; er öffnet ihn gleich und liest, daß ihm die Tochter
Lavaters den Tod ihres Vaters meldet, der am zweiten Januar seiner
Verwundung nach langem Siechtum erlegen sei. Von ihm selber aber liegt
ein Zettel dabei, den er als Abschiedsgruß noch auf dem Sterbebett an
ihn geschrieben hat:

  »Einziger, oft Mißkannter, doch hochbewundert von vielen,
  Schneller Versucher des, was vor dir niemand versuchte,
  Schenke Gelingen dir Gott! und kröne dein Alter mit Ruhe!«

Heinrich Pestalozzi ist so erschüttert, daß er den erstaunten Doktor
ohne Wort auf der Straße stehen läßt und quer über die nassen
Schneefelder zur schwarzen Rinne der Emme hinunterläuft. Dies ist genau
so unvermutet wie in den Jünglingstagen, als Lavater ihm den »Emil« ins
Rote Gatter brachte: Er war nicht mein Freund, überschlägt sein Gefühl,
er hat mich nie recht gemocht, und nur ein paarmal hat uns das Leben
nebeneinandergestellt; nun hat er wie Bluntschli vor Gott gesessen
mehr als ein Jahr, kaum, daß ich einmal an ihn dachte im Strudel meiner
Dinge, und er schickt mir dieses Wort!

Nur die treue Erinnerung hat er aus dem Zettel gelesen, kaum die
Sätze; doch wagt er nicht, ihn noch einmal vor die Augen zu bringen,
so ehrfürchtig ist ihm zumute, weil er von einem Toten kommt: Wie
dieser Bach im Schnee übereilen wir unsern Weg, sagt er und läßt seine
Augen mit den Glattwellen laufen, bis sie hinter den schwarzen Büschen
verschwinden. Nur an unsern Ufern sehen wir die Dinge, alles nur einmal
im Gedränge, und kein Augenblick kann gegen den Wellenschlag zurück.
Wenn wir unten sind, ist dies unser Leben gewesen; aber unser Wasser
war es nicht. Das Wasser gehört der Welt, der kein Tropfen an irgend
wen verloren geht; unser Teil ist, daß wir fließen. Durch ein paar
Mühlräder können wir laufen unterwegs, aber nicht mehr sehen, wieviel
von Gottes Korn damit gemahlen wird.


                                  82.

Heinrich Pestalozzi hat sich in dem nassen Schnee eine Erkältung
geholt, die über Nacht fiebrig wird, sodaß ihn der Doktor Grimm für
ein paar Tage zur Vergeltung ins Zimmer sperrt. Kröne dein Alter mit
Ruhe! steht auf dem Zettel Lavaters, den er nun auswendig weiß; aber
selten hat ihm ein Wort so viel Unruhe bereitet. Er weiß, wie dünn ihm
die Kräfte geworden sind und daß ihn täglich die Gefährlichkeit seiner
Jahre ankommen kann; aber keine drohende Krankheit vermöchte ihn so zu
schrecken wie die Sorge, lässig zu werden: Die Ruhe des Alters kommt
denen zu Recht, die Glück mit ihrem Leben hatten; ich aber, dem alles
unter den Händen zerbrach und der ich noch als Großvater in die Schule
mußte, ich wäre damit einem Bauer gleich, der seine Felder und Gärten
in Dürre und Kriegsnot bestellt hat und danach die Ernte versäumte.

Diese Ernte aber wächst weder in Burgdorf noch in einer andern
Anstalt allein, sie ist ihm auf den unübersehbaren Feldern seines
Lebens gereift, und nur, wenn er eine alles umgreifende Darstellung
seiner Lehre der Menschenbildung hinterläßt, hat er nicht umsonst
gelebt. Unter den Gehilfen, die er nun wieder mit den Zöglingen
Schneeballen werfen sieht -- weil der Winter neuen Schnee auf den
glatt gefrorenen Guß des Tauwetters gelegt hat -- ist keiner, der
von der Last seiner Erfahrungen und dem Gang der Methode mehr als
die Anfänge wüßte; und was sie davon ausbrächten, wenn er stürbe,
wäre nichts als eine notdürftig gebesserte Schulmeisterei. Schneller
Versucher des, was vor dir niemand versuchte, schreibt er mit den
Worten Lavaters auf das oberste der Blätter, die er gleich am ersten
Tag seiner Stubenhaft herauskramt, um sein Lehrbuch der Menschenbildung
zu beginnen. In seinen Nachforschungen über den Gang der Natur in
der Entwicklung des Menschengeschlechts hat er versucht, seine Sache
auf eine Weltanschauung zu gründen; nun will er den gleichen Gang
der Natur in der Erziehung aufweisen. Aber als er gleich in diesen
Januartagen anfängt zu schreiben, wird es zugleich ein Bekenntnisbuch
seines fünfundfünfzigjährigen Lebens: alle Einsichten, die er sich
in mühseligen und schmerzenden Erfahrungen für die Volksbildung
erkämpft hat, fließen ihm hin in zwölf angeblichen Briefen, von denen
jeder eine Schrift für sich sein könnte. Es ist nun wirklich, als ob
er die Früchte abnähme vom Baum seines Lebens, obwohl draußen erst
das Frühjahr den Winter ablöst und sich von einem Strauch zum andern
durchblüht in den grünen Sommer. Immer wieder füllen die Zöglinge den
Hof mit ihrem fröhlichen Lärm, von den Gehilfen zum Spiel geführt, Tag
für Tag steht er selber unter ihnen mit Zuspruch und Lehre, Eltern
kommen, ihre Kinder zu bringen, und Freunde weither in Reisewagen,
seine Schule zu sehen: was sonst der Sinn seines Tages war, ist nun
eine bunte Füllung geworden, und erst abends, wenn Heinrich Pestalozzi
wieder an seinen Blättern sitzt, blüht ihm die Seele im eigenen
Herzschlag auf. Wer ganz bei sich ist, ist bei den andern! schreibt er
einmal auf einen Zettel, als er sich selber zu eigensüchtig vorkommt
inmitten der durch ihn bewegten Dinge.

Das zwölfte Stück ist fertig, als ein Brief vom Neuhof anlangt, daß
sein Sohn Jakob im einunddreißigsten Jahr seines schmerzvollen Lebens
gestorben ist; seine Frau schreibt ihm die Nachricht und daß sie ihr
Kind selber, von Zürich hingerufen, nur noch auf dem Totenbett gefunden
habe. Es tut ihm einen Stich ins Herz, aber er vermag die Feder nicht
hinzulegen, so sehr scheint ihm die Nachricht aus der Verwirrung seiner
Gedanken aufzuquellen. Er ist mit seiner Arbeit in eine böse Stockung
geraten: wie er die Uhrfeder der Sittlichkeit in seine Methode
einsetzen will, erkennt er, daß die sinnliche Befriedigung bei jedem
Kind auf den Genuß geht und dem sittlichen Zwang feind ist. Soviel
er denkt und deutelt, er vermag die Sittlichkeit auf kein Bedürfnis
der Kindnatur zu gründen, und so muß er seiner Lehre selber die
Natürlichkeit fortnehmen, als er sie damit krönen will: »Es ist hier,
wo du das erste Mal der Natur nicht vertrauen, sondern alles tun mußt,
die Leitung ihrer Blindheit aus der Hand zu reißen und in die Hand von
Maßregeln und Kräften zu legen, die die Erfahrung von Jahrtausenden
angegeben hat.« In diese Verwirrung fällt die Todesnachricht, die
dadurch nicht gemildert wird, daß er sie für den Sohn als eine Erlösung
empfindet. Er hat den Blick Annas nicht vergessen, als sie ihn damals
ins Kleefeld legen mußten; irgendwie stürzt ihm das Gebäude seiner
Lehre ein und er hört die Säulen krachend zerbrechen: Wenn jetzt seine
Gläubigkeit nachläßt, wird ihm alles da entwertet, wo er es geheiligt
sehen wollte.

Die Schriftzüge seiner Frau retten ihn; er weiß, ihr ist es als Mutter
schwerer geworden, die Nachricht mit einer Feder zu schreiben, als ihm,
sie zu lesen; aber kein Wort steht anders als in der Ergebung da, die
ihr heiliges Erbteil ist. So beugt er sich aus seinen Wirrsalen über
das tiefe Geheimnis der Mutter, darin die sinnliche Befriedigung alles
Daseins im Anfang beschlossen ist. Die Sitte der Appenzeller Frauen
fällt ihm ein, dem Neugeborenen einen papierenen Vogel über die Wiege
zu hängen, bunt bemalt, um so die ersten Sinneseindrücke des Säuglings
in den menschlichen Bannkreis zu zwingen. Die Mutter ist der Brunnen,
darin Gott und Natur noch eins sind, aus ihr wächst die erste Nahrung
des Kindes, wie es selber gewachsen ist, und alles, was sie ihm danach
gibt, wird natürlich durch ihre Gabe, sie kann aus Gott das Brot des
Lebens machen. Nachdem rastet Heinrich Pestalozzi nicht mehr, schreibt
durch diese Nacht und noch tief in den Morgen, bis er die letzten
Briefe seines Buches fertig hat, die nun ein Lobgesang auf die Mutter
werden und auch den Titel des Buches bestimmen: »Wie Gertrud ihre
Kinder lehrt«. Eine gehetzte Angst hat seinen Überschwall getragen, bis
er am andern Mittag vor den Blättern -- leergeflossen an ihrem Inhalt
-- auf dem Stuhl in einen bleiernen Schlaf sinkt.

Am andern Morgen in der Frühe holt er den Stecken und den Ranzen vor,
noch einmal aufs Birrfeld zu wandern, wo seine Frau das frische Grab
des Sohnes hütet. Es wird ihm leichter zu gehen, als er gedacht hat;
und als er schon tief im Aargau drin zwei Kinder bei einer Scheune
trifft, die eine Leiter quer über einen Brunnentrog zu einer Schaukel
gelegt haben, auf der sie abwechselnd mit glücklichen Augen in den
Himmel fahren, ruht er sich rätselvoll bewegt bei ihnen aus. Gleich
wird die Magd mit dem Eimer kommen, Wasser zu schöpfen, und der
Knecht wird die Leiter brauchen; das Glück ihres Spiels bleibt ihnen
trotzdem unangetastet: eine paar Steine auf dem Feld, eine Kuhherde
auf der Weide werden ihnen vielleicht in einer Stunde noch höhere Lust
bereiten, weil die nicht aus den Dingen -- und also aus den Sinnen --
sondern aus ihren Seelen kommt. Es gibt keine bösen Lockungen der
Sinne zum Genuß, es gibt nur eine Lust der Seele, die sich in ihrem
Körper fühlt; sie ist das Leben selber und kann kein Hindernis der
Bildung sein: gerade sie muß der Mutter das Leitseil werden, ihr Kind
ins Gute zu führen. Die Hölle und das Paradies liegen gleichviel darin,
oder fast nicht, weil Lust und Pein Feuer und Wasser sind, während jede
Lust in ewige Seligkeit ausfließen will!

Er trifft Anna, wie sie mit Gottlieb, dem Enkel, am Brunnen steht, als
ob es noch ihr Knabe wäre. Die Rührung überströmt ihn, sodaß er ihr
ins Ungewisse hinein die Hand hin hält, so hindern die Tränen ihn,
ihr Gesicht zu sehen: Nun ist das Band fort, das von meinem zu deinem
Leben ging! Aber als ob ein Schwamm ihm dreißig Jahre von seinem Leben
auslöschte, wird er vom Klang ihrer Stimme berührt: Nein, Pestalozzi,
es ist nur in die Ewigkeit gelegt!


                                  83.

Im Oktober läßt Heinrich Pestalozzi das Buch erscheinen, und noch vor
Weihnachten sieht er die Saat seiner Worte in den deutschen Blättern
aufgehen; es können zunächst freilich auch nur Worte sein, aber die
Namen der Schreiber sagen der aufhorchenden Schweiz, daß aus dem
Armennarr im Neuhof eine geistige Macht geworden ist. Auch könnte
ihm Füeßli nicht noch einmal mit seiner Rede von der Rührung und dem
Kirschwasser kommen; denn alles an dem Buch ist Rede und Überredung,
und jeder Beifall bedeutet eine Entscheidung für ihn, die irgendwie
in Taten endigen muß. Indem sich danach die Zöglinge für seine Anstalt
reichlicher melden, hilft das Buch auch seiner äußeren Lage, sodaß er
diesmal zuversichtlicher als sonst das Frühjahr abwartet.

Die geborene Fröhlich ist zu ihm gezogen mit der kleinen Marianne,
die ein überzartes Kind von sechs Jahren ist und schon am Unterricht
teilnehmen kann. Zum Fest kommt auch die Großmutter mit dem Gottlieb,
sodaß sie bis auf Lisabeth, die den Neuhof hüten muß, in Burgdorf
beisammen sind. Es befriedigt ihn, endlich einmal Anna seine Dinge
in der neuen Gestalt zeigen zu können, wo er nicht selber mehr der
Lehrling, sondern der Meister ist; und selbst damals, wo er sie auf dem
Gut Tschiffelis umher führte, ist er nicht stolzer auf sie gewesen als
nun, wo sie lächelnd über seinen Eifer mit ihm durch die Schulstuben
und Schlafsäle der Anstalt geht. Die zweiunddreißig Jahre der Ehe
haben ihm nichts von ihrer Schönheit ausgelöscht, und während sie den
Gehilfen eine ehrfürchtig begrüßte Matrone vorstellt, ist ihm bräutlich
zumut. Der Tod ihres einzigen Kindes geht noch mit ihr, und obwohl sie
willig zu seinen Erklärungen nickt, bleibt der Schmerz in ihren Augen
wie Glas, darin sich die Eindrücke dieser Dinge mit der Spiegelung
schmerzhafter Erinnerungen mischen. Es wird ein stilles Fest, aber
heilig für ihn; und als sich gleich nach Neujahr Tobler im Schloß
trauen läßt, und Niederer zum zweitenmal nach Burgdorf kommt, seinem
Freund die Traurede zu halten, sitzt er wirklich -- wie Niederer sagt
-- als Erzvater dabei.

Aber die Zeiten sind nicht testamentarisch; unversehens zieht noch
einmal ein Kriegsjahr seine Unruhen und Bedrängnisse um die Anstalt.
Schon im vergangenen Oktober haben die Föderalisten, wie sich die
Anhänger der alten Kantonswirtschaft nennen, die helvetische Regierung
in Bern gestürzt und eine andere gewählt, die dem Schwyzer Aloys
Reding als Landammann untersteht. Da es der neuen Herrschaft aber wie
der alten an Geld fehlt, um aus der Schuldenwirtschaft zu kommen,
steigen im Frühjahr schon wieder die sogenannten Unitarier auf der
Schaukel hoch. Dagegen erheben sich die Urkantone, die auch sonst
überall die Mißvergnügten an der neumodischen Franzosenwirtschaft
finden, und während für Europa endlich ein Friedensjahr gekommen
ist, fangen die Schweizer unter sich Kriegshändel an. Obwohl sie es
selber um der altmodischen Bewaffnung willen den Stecklikrieg nennen,
muß die helvetische Regierung vor den Aufständischen aus Bern nach
Lausanne flüchten, und gerade soll der Tanz im Waadtland losgehen,
als zwischen den feindlichen Scharen der General Rapp sechsspännig
vorfährt, den Einspruch Bonapartes zu bringen, dem ein nachrückendes
Heer von vierzigtausend Franzosen ein unwiderstehliches Gewicht gibt:
die einzelnen Kantone sollen ihm, statt diesen Bruderkrieg zu führen,
Abgeordnete nach Paris schicken, um dort unter seiner Aufsicht eine
neue Verfassung zu beraten. Es bleibt den hitzigen Schweizern nichts
übrig, als ihr Waffenzeug heimzutragen und die Tagsatzung statt in
Schwyz in Paris vorzubereiten, weil sie -- wie ein Witzbold sagt
-- ihrem vielbeschäftigten Ehrenpräsidenten Bonaparte jetzt keine
Schweizerreise zumuten dürften!

Heinrich Pestalozzi hat diese Händel als einen Streit von Bauleuten
angesehen, die sich über den Plan ihres neuen Hauses nicht einigen
können und dem alten nachjammern, obwohl sie es selber eingerissen
haben; er ist zu der bitteren Einsicht gekommen, daß es bei solchen
Parteikämpfen mehr um die Macht, zu regieren, als um das Volkswohl
geht. Bevor noch das sechsspännige Fuhrwerk des Generals Rapp in
die Schweiz eingefahren ist, hat er in einer Flugschrift die vier
Eckpfeiler aufgestellt, mit denen das Haus einer helvetischen
Verfassung besser als mit Flinten und Kanonen unter Dach zu bringen
wäre: wirkliche Volksbildung, unbestechliches Gericht, allgemeine
Militärpflicht und gerechte Finanzen. Der Grundstein aber müsse unter
dem Pfeiler der Volksbildung eingesetzt werden; weil an die anderen
Pfeiler ohne diesen ersten nicht zu denken wäre, sei er dem heutigen
Geschlecht das einzig Erreichbare. Er hat die Schrift in wenigen Tagen
hingeschrieben; sie stellt ihn auf den schmalen Grat, wo der Haß von
beiden Seiten aufbrandet, aber als die Wahlen für die Tagung in Paris
vorüber sind, ergibt sich, daß er an zwei Stellen, von den Bauern des
Emmentals wie von dem Landvolk in Zürich, als Abgeordneter gewählt ist.

Ich werde nicht sechsspännig fahren, scherzt er, mein Wagen geht auf
zwei Beinen! Obwohl er dann um der unruhigen Zeiten und der Mühsale
willen -- auch geht es in den Winter -- die Reise doch im Wagen machen
muß, fährt er fröhlich und mit besonderen Hoffnungen für seine Sache
ab. Seitdem er seine Anstalt in Burgdorf hält, haben drei französische
Gesandte in Bern gewechselt, doch jedem sind seine Dinge mehr als
einen flüchtigen Besuch wert gewesen; auch weilt Stapfer in Paris,
der ihm die rechten Türklopfer in der Stadt zeigen kann, darin die
Zukunft Europas zurechtgehämmert wird. Und seine Anstalt läßt er gut
besorgt zurück, weil Anna sich tapfer entschließt, während seiner
Abwesenheit das Hausregiment zu führen. Es ist seine zweite Reise und
in der Strecke fast der Fahrt nach Leipzig gleich, die er vor zehn
Jahren machte; auch werden die Tage wieder in die selbe Kette von
Zollhäusern, Posthaltereien und Gasthöfen eingespannt, nur daß die
Uniformen französisch sind. Doch als er am zwölften Nachmittag die
Unermeßlichkeit der Stadt um den blinkenden Lauf der Seine daliegen
sieht, ist es ein anderes Wesen als das Landstädtchen an der Elster. So
hat sich auch sonst alles um mich geweitet, denkt er: damals kam ich um
eine Familienerbschaft, heute schickt mich mein Volk für seine Zukunft;
in Leipzig lief ich als Unbekannter die Türen kleinstädtischer Behörden
ab, hier werde ich als Ehrenbürger der Franzosen vor ihren Konsul
treten!

Aber er bekommt den Machthaber nur einmal zu sehen, als Bonaparte
unvermutet in ihren Saal tritt, anscheinend zufällig, als ob er nur
den Durchgang benützte, aber eindrucksvoll mit seinem goldflirrenden
Gefolge. Das letzte Wort der unterbrochenen Rede findet noch Zeit,
in das Stuckwerk der Decke zu flattern, dann ist die starre Ruhe
der Augen da, die alle auf den kleinen Mann blicken, der, im Alter
der jüngste unter ihnen, Europa mit dem Ruhm seines Namens erfüllt
hat. Er läßt sich kurz rapportieren, wobei er mehr durch die Augen
als die Ohren zu hören scheint, schneidet mit der Handbewegung eines
ungeduldigen Knaben die Rede ab und wendet sich mitten durch die
Reihen, sie gleichsam überrumpelnd, einigen Köpfen zu, die ihm ins
Auge fallen. Auch Heinrich Pestalozzi fährt unvermutet eine Frage ins
Gesicht; er ist geistesgegenwärtig genug, eine Antwort zu finden, die
den Machthaber festhält, sodaß der sich schon halb im Weitergehen noch
einmal zu ihm wendet. Heinrich Pestalozzi merkt sofort, daß er mehr als
ein Name für ihn ist, er umklammert ihn gleichsam mit Worten und sieht
mit einer glücklichen Hoffnung, daß in dem kalt forschenden Blick etwas
von ihm selber zu leben beginnt. Kein Zweifel, daß er den Konsul der
Franzosen mehr als einer der Männer vor ihm interessiert; während die
andern im Kreis zurückgetreten sind, weiß er auf die Zwischenfragen
des blassen und verarbeiteten Gesichtes ebenso rasch zu antworten:
Jetzt oder nie, denkt er, ist meine Stunde da! Auch noch, wie er in
hastig abgerissenen Sätzen von der Volksbildung spricht -- daß sie das
Fundament jeder wirklichen Verfassung und ohne sie alles nur der Schein
einer Gesetzgebung sei -- hört der Konsul noch sichtbar nachdenklich
zu, als ob er versuche, den Gedanken bei sich einzustellen. Irgendwie
scheint ihm das nicht zu geraten; er klopft ein paarmal unwillig mit
der Fußspitze, und während Heinrich Pestalozzi noch von Worten der
Zukunft überströmt, ist er für den Mann der Gegenwart nur noch ein
unangenehmer Greis, der ihm mit seinen haspelnden Armen an die Brust
will: Ich kann mich nicht in euer Abc mischen, sagt er spöttisch und
verläßt unverzüglich den Saal, als ob er versehentlich in eine Schule
geraten wäre.

Heinrich Pestalozzi bleibt in dem Kreis der schadenfrohen und
bestürzten Gesichter, die wieder an ihre Plätze gerufen werden, und
braucht lange, bis er seinen Stuhl findet; aber während die Verhandlung
weiterstolpern will, kommt ihm alles wie eine leer laufende Mühle vor.
Noch immer ist er mit dem blassen Mann allein in dem Saal: Wir beiden,
denkt er -- und tritt über Scham wie Hochmut hinweg in den Bereich des
Menschengeistes, wo die Persönlichkeit aufgibt, sich selber zu gehören
-- wir beiden sind verschieden an dem Gefährt der Menschheit beteiligt:
er will sein Lenker sein, und ich möchte haltbare Räder machen; er aber
kanns nicht abwarten, weil er nur seine Stunde hat, drum knallt mir
seine Peitsche um die Ohren.

Herab mit dem Schild, wenn die Sache weg muß! sagt er zu seiner
eigenen Erstaunung laut in die Verhandlung hinein und geht durch die
Hinterpforte hinaus, wie der andere durch die Flügeltüren gegangen ist.


                                  84.

Heinrich Pestalozzi merkt bald, daß der Pariser Wind der helvetischen
Republik ungünstig weht. Die Franzosen haben genug Menschenrechte
proklamiert, und Bonaparte hält wieder Hof in den Tuilerien; er
braucht Glanz und Aufwand um sich, und die Aristokraten von Bern
passen besser in seine Pläne als die hartnäckigen Unitarier. Bevor
die Verhandlungen beginnen, ist die Schweiz durch sein Dekret schon
wieder in neunzehn Kantone eingeteilt; was den Abgeordneten noch zu tun
bleibt, sind nur die einzelnen Kantone, und es ist vorgesorgt, daß die
Herren von Herkunft und Vermögen darin das Heft in Händen behalten.
Heinrich Pestalozzi versucht es noch einmal mit einer schriftlichen
Darlegung seiner Ansichten, aber er weiß nun schon, daß er Wasser in
den Bach trägt. Selbst sein Ehrenbürgertum scheint bei den Franzosen
des Konsulats schäbig geworden zu sein; er braucht nur zu sehen, wie
die geputzten Herren und Damen seine Erscheinung belächeln, um sich
aller Illusionen zu schämen: Sie müssen mich für ein großes Wundertier
gehalten haben, wie ihren Cagliostro, spottet sein Grimm, nun bin
ich bloß ein Mensch! Und wie es ihm mit seiner Kleidung und der Art,
ihre Sprache zu sprechen, geht, so bleibt auch seine Methode mit all
dem Umstand ihrer tiefen Begründung den Parisern eine belächelte
Geheimniskrämerei; es brauchte nicht das unaufhörliche Geknatter ihrer
Sprache in seinen Ohren zu sein, und die Nötigung, seine Herzensdinge
dahinein zu sperren, um ihm seine Wesensfremdheit unter den Welschen
bald unerträglich zu machen.

So hält er es für zwecklos, das Ende der Händel abzuwarten; als Ende
Januar die Hauptverhandlung ist, fährt er durch ein mildes Frostwetter,
das die Wege trocken gemacht hat, im Sundgau schon auf Basel zu, und
fünf Tage später holt ihn Anna am Stadthaus in Burgdorf aus der
Post. Da hast du deinen Odysseus wieder! versucht er zu scherzen, um
seiner Tränen Herr zu werden. Sie schafft ihm seinen Ranzen nach,
den er vor Rührung vergessen hätte, und er meint das Lächeln um ihre
schmerzensreichen Lippen zu sehen, als er ihre Stimme auf seinen Scherz
eingehen hört: So bin ich mit fünfundsechzig Jahren gar deine Penelope?
In Wahrheit, Pestalozzi, es war mir schwer, die Freier zu füttern; nun
magst du wieder deinen Bogen spannen!

Er findet aber alles aufs beste besorgt, und daß sie als Hausmutter in
der Anstalt waltete, hat einen Segen hinein gegeben, der bisher fehlte;
von den Kindern wie von den Gehilfen ehrfürchtig begrüßt, bringt sie
eine ruhige Gangart in das Tagwerk. Der Bienenschwarm hat seine Königin
erhalten! sagt Krüsi in seiner biederen Art, als Heinrich Pestalozzi
sich verwundert, um wie weniger lärmend es bei den Mahlzeiten zugeht,
nur weil sie still an ihrem Platz sitzt. Auch sonst hat sie der Anstalt
wohlgetan: Briefe und Bücher sind in eine schöne Ordnung gebracht, und
wenn er nun aus dem Trubel in seine Stube tritt, wohnt die Häuslichkeit
darin. Daß es so bleiben könnte, denkt er jeden Tag; denn seitdem sie
damals aus Hallwyl nicht wiederkam, ist seine Seite leer geblieben;
und ob es bitter oder fröhlich mit seinen Plänen ging, daß ihre
Abwesenheit ihm alles entkrönte, war immer die leise Trauer darin.
Auch diesmal ist sie nur gekommen, an seiner Stelle das Hauswesen zu
leiten, und mit heimlicher Sorge wacht er über ihre Schritte, ob sie
nicht wieder zur Abreise rüsten werde. Doch läßt sie Wochen gleichmütig
verstreichen, und er hofft schon, daß sie dauernd bliebe, als ihr mit
den ersten Frühlingsblumen das Heimweh in die Säfte steigt. Sie ist
im Winter schwer krank gewesen, nun kommt die Schwäche wieder über
sie mit Todesahnungen: Ich möchte unsern See noch einmal sehen, klagt
sie; aber als sie dann endlich nach Zürich zu ihren Brüdern reisen
will, hat sie wohl seine erschrockenen Augen gesehen; denn andern Tags
möchte sie wieder bleiben. Doch sieht er, daß die Unruhe in ihr nicht
mehr rastet; ihr Ehrenplatz im Saal bleibt immer häufiger leer, da sie
die Mahlzeiten allein nimmt: der Taubenschlag ist ihr zu laut, aber in
ihrer Stube plagt sie die Einsamkeit.

So steht sein Barometer mit ihr schon wieder auf veränderlich, als
eines Tages ein Jüngling das Quecksilber rasch auf schön Wetter steigen
läßt. Heinrich Pestalozzi bringt ihn aus Bern mit, aber er hat ihn
nicht dort erst gefunden: Ich mußte nach Paris reisen, um meinen Jünger
Johannes zu finden, scherzt er oft, so froh ist er selber, daß ihm
der Thurgauer von Muralt dort in die Hände kam. Es fehlt ihm nicht
mehr an Gehilfen, seitdem die dänische Regierung zwei junge Lehrer aus
Kopenhagen sandte und die gebildete Welt Deutschlands von Burgdorf
als einem Wallfahrtsort der Erziehung spricht; auch sind junge Leute
von Geist darunter, aber alles Schwarmseelen und wie ihr Meister
mehr auf stürmische Absichten als auf Sorgfalt gestellt, allmählich
Burgdorf mit ihrer buntgewürfelten Absonderlichkeit erfüllend. Johannes
von Muralt bringt nicht nur den Klang eines in der ganzen Schweiz
bekannten Namens, sondern auch die Vorzüge einer guten Erziehung und
gründlichen Bildung mit; als er zum erstenmal mit zu Tisch sitzt,
sorgfältig gekleidet und frei von der hastigen Schüchternheit, die
mit Empfindlichkeit gepaart das Erbteil einer durchgekämpften Jugend
ist, schweigt Heinrich Pestalozzi und Anna spricht. Es sind freilich
diesmal nicht die gewohnten Schuldinge; Johannes von Muralt ist durch
drei Semester in Halle der Lieblingsschüler des Philosophen Friedrich
August Wolf gewesen und hat in Paris mit dem Dichter Schlegel und
seiner Gattin Dorothea freundschaftlich verkehrt: der Geist schöner
Bildung lebt in seinen Gesprächen auf, der für Anna Schultheß seit der
Erscheinung Klopstocks in ihrer Jugend die heimliche Liebe geblieben
ist.

So schließt sie den Jüngling mit einem Eifer ins Herz, der Heinrich
Pestalozzi fast eifersüchtig macht, bis der Schalk in ihm den Vorteil
erkennt. So schmerzlich er den Zwiespalt zum Vorschein kommen sieht,
der seit Anfang zwischen seinen Absichten und ihren Neigungen bestand
und schließlich zur Trennung ihrer äußeren Lebenswege führte -- obwohl
sie durch alle Schicksalsschläge treu zu ihm stand -- das Leben hat ihn
nicht so verwöhnt, daß er sich die Äpfel wie andere frank und frei von
den Bäumen pflücken kann. Fast listig läßt er sie gewähren, da sie nun
den See und ihre Abreise zu vergessen scheint: Wir Alten wollen die
Kinder unseres Geistes haben, überlegt er, und da es uns beiden mit
einem Sohn mißraten mußte, weil die Natur aus diesem Zwiespalt nichts
machen konnte, müssen wir Ersatz für unsere ungesättigte Elternschaft
suchen. Ich will ihr gern diesen Sohn gönnen, wenn sie mir damit die
Mutter meines Hauses bleibt!


                                  85.

Heinrich Pestalozzi lächelt fast hinterhaltig, als er Anna nicht
lange danach den Johannes Niederer anbringt, der sein Pfarramt in
Sennwald aufgegeben hat, um -- wie er sagt -- mit bei der Wiege der
Menschenbildung zu sein: Nun habe auch ich wieder einen Sohn, und es
ist seltsam, daß sie beide Johannes heißen, denkt er, als er neben
dem schwarzen Muralt den roten Schopf Niederers sieht. Der hat auf
seinem Dorf keine Zeit gehabt, sich an der Welt zu schleifen: mit
neunzehn Jahren voreilig in den Pfarrdienst gekommen, hat er seit fünf
Jahren in der Feldschlacht menschenfreundlicher Bemühungen gestanden
und um Gottes willen seine wohlhabende Gemeinde im Appenzell mit dem
armseligen Rheindorf Sennwald vertauscht; da haben andere Dinge als
Bildungsformen gegolten, so sitzt er wie ein Glaubensstreiter aus
dem Heerhaufen Zwinglis da. Heinrich Pestalozzi sieht, wie Anna fast
erschrickt vor ihm, der mit seinen vierundzwanzig Jahren noch ein
Jüngling wie Muralt, aber in Mannesgeschäften kantig geworden ist;
Jakob und Esau, vergleicht er, in diesem fließt das stillere Blut von
Anna, aber in jenem arbeitet mein Ungestüm!

Als im selben Juli auch noch Tobler -- mit einer eigenen
Erziehungsanstalt am hochmütigen Widerstand der Basler gescheitert --
zu ihm zurückkommt, ist Heinrich Pestalozzi mit diesen dreien, mit
Krüsi, Buß und dem Zustrom von Gehilfen aus aller Welt, die nur kurz
bei ihm lernen wollen, auch für die Burgdorfer kein Steckenpferdritter
mehr, der morgens aus dem Schloß zu ihnen herunter reitet: Der Weg geht
zu steil, sonst würde es von Wagen nicht leer werden im Schloßhof, die
täglich neue Fremde nach Burgdorf bringen, das aus einem bäuerlichen
Städtchen durch ihn ein Hauptort der Schweiz geworden scheint. Schon
was die Zöglinge -- längst über hundert -- an Besuch von Eltern und
Verwandten nachziehen, würde für die Gasthäuser und Fuhrleute etwas
bedeuten, dazu die Pädagogen und Pfarrer aus aller Welt: das Schloß
ist wirklich ein Taubenschlag geworden, und die Bürger bestaunen die
fremden Vögel, die seiner Berühmtheit zufliegen.

Längst schon denkt Anna nicht mehr daran, daß sie nur für die Zeit
seiner Pariser Reise nach Burgdorf gekommen ist; sie sieht endlich die
Erntewagen in die Scheune fahren, die weder seine Landwirtschaft noch
alle Bemühung seines hingehetzten Lebens jemals zu ernten vermochte.
Daß kein Gold daraus in seine Taschen fließt, weiß sie wohl; trotzdem
die meisten Zöglinge zahlen -- wenn auch nicht alle den vollen Preis
-- sind es doch viele Mäuler, die täglich auf Nahrung warten, und wenn
die Haushaltungskünste der geborenen Fröhlich, ihrer schaffnerischen
Schwiegertochter, nicht wären, würden die Sorgen sich manchmal dichter
auf ihrem Schreibtisch sammeln; aber daß der angeblich unbrauchbare und
vor der Zeit entmündigte Mann nun vor sich selber und vor dem Spott der
Tüchtigen im Glanz eines Ruhmes dasteht, der alles für sie Erreichbare
in den Schatten enger Bürgerlichkeit stellt: das ist für sie wie eine
Abendsonne, die in der letzten Stunde doch noch über einen trübseligen
Regentag gesiegt hat.

So wird es ein bewegter Geburtstag für sie, als ihr die fünfundsechzig
Jahre vollgezählt werden, und es ist unwirklich schön, daß er auf
einen Sonntag fällt. Muralt und Niederer haben ihn als ein Sommerfest
vorbereitet, das bei kühlsonnigem Augustwetter im Schloßhof gefeiert
wird. Da sind Bänke und Tische aufgestellt, auch ist ein Boden
aufgeschlagen, einen Tanz oder ein Spiel zu machen, und solange die
Sonne in den Hof geschienen hat, mag sie nicht ein so buntes Getümmel
darin gesehen haben wie an diesem Tag. Das Gemäuer rundum ist mit
Laubgewinden und Schweizerfahnen aller Kantone geschmückt, und eine
Musikkapelle -- von den Zöglingen unter Bußens Leitung gestellt --
sorgt, daß die Schweizerlieder auch Begleitung haben.

Als dann die Röte sich aus dem Licht der Sonne ablöst und umso wärmer
zu leuchten scheint, jemehr die Wärme versiegt, treten ihrer viele an
die Mauer, nach den Bergen zu schauen, die langsam von der Glut voll zu
laufen scheinen. Auch Heinrich Pestalozzi ist mit Muralt vorgegangen,
und Mutter Pestalozzi, wie sie an diesem Tag mehr als hundertmal
begrüßt worden ist, wird von Niederer in einem galanten Anfall am Arm
herzu geleitet. Wie sie dastehen, mag über Tobler, der seit seinem
Mißerfolg in Basel leicht wehmütig wird, der Schatten einer Eifersucht
fallen, daß er nun sichtlich an die dritte Stelle geraten ist; als
ob er den Meister in die gemeinsame Frühzeit zurück führen müsse,
erinnert er ihn an den Abend, wo sie zu vieren hier standen und er
sein Beispiel vom Haus des Unrechts sagte. Daß die andern davon nichts
wissen, tut ihm sichtlich wohl, und als sie darum drängen, versucht
er es mit eigenen Worten zu sagen, wie der Anteil an den Lebensgütern
in drei Stockwerke geteilt wäre, darin die Wenigen, wenn sie wollten,
Gottes Herrlichkeit aus allen Fenstern sähen, die Mehreren nur den
Glanz an den Hofwänden, während die Vielen im Keller nicht einmal den
trüben Schein in ihren Löchern zu deuten vermöchten.

Heinrich Pestalozzi, der die Schwermut im Grund seiner Heiterkeit schon
den ganzen Tag gefühlt hat, spürt den Schrecken bei der ersten Frage
ans Herz klopfen; während der ahnungslose Erzähler vor den andern seine
Erinnerung ausbreitet, quillt das schwarze Wasser der Trübnis in ihm
auf, so überkommt ihn der Zwiespalt zwischen dem lauten Freudentag und
der verschütteten Heimlichkeit seiner Absichten. Er wagt nicht, Annas
Blick zu suchen, so wehmenschlich ist ihm zumut, legt Muralts Hand
von seinem Arm weg auf den Mauerrand, und ehe die andern wissen, was
ihn ankommt, läuft er durch ihre Reihen hinaus und über den unteren
Hof vors Tor. Da breitet sich die abendliche Landschaft in ihrer
Sommerfülle aus, und die Dächer der Bürgerhäuser stehen behäbig darin,
sodaß ihm der Schritt auch hier gehemmt wird: Warum hab ich es nicht
im Birrfeld vermocht? Ein Armenkinderhaus habe ich gewollt und die
Pensionsanstalt sollte mir nur die Mittel dazu geben: nun sind die
Mittel längst selber Zweck. Ich sitze als Glücksvogel hier auf dem
Schloß und spreize das Rad meiner Federn; im Birrfeld, oder wo sonst
die Not der Zeit ist, geht alles wie vor dreißig Jahren, nur diesem
Bürgerort hab ich neues Fett gemästet!

Er weiß nicht, daß er weint, aber als sich das Gesicht Annas zu ihm
beugt, die ihm allein nachgegangen ist, vermag er ihre Augen vor Tränen
nicht zu erkennen; auch quillt der Zorn noch so in ihm, daß er fast
nach ihr schlägt. Du hast gesiegt! schreit er und schlägt den Kopf in
beide Fäuste: der Armennarr ist tot! Ich hab verloren. Sie streichelt
und tröstet ihn nicht, wie er fürchtet, sie setzt sich still gegenüber,
wo ihr der andere Torstein einen Platz anbietet, und wartet ab, bis aus
der Mure seiner Verzweiflung die gröbsten Blöcke ins Tal gefahren sind
und endlich der zähe Schlamm seiner Verbitterung zum Stehen kommt. Sie
hat ihn klug verstanden, daß es zwei Welten wären: ihre Stille, den
Wohlstand herzugeben, und seine Unrast, ihn zu vertun; auch hat sie das
böse Wort nicht überhört, warum Kampf sein müsse zwischen ihm und ihr,
zwischen Mann und Frau durchs Leben? Aber als es dann still wird, weil
nichts mehr fließt, und nur ein Wind vom Tal sie beide mild bestreicht,
die in der sinkenden Dunkelheit am Tor dasitzen, als ob sie all das
junge Leben dahinter bewachen müßten gegen die unheimlichen Gestalten
der Nacht, fängt ihre Stimme an zu sprechen, daß nach dem Getöse seines
Bergsturzes nun wieder ein Bach hörbar wird: Pestalozzi, sagt sie und
wägt die Worte: ich dachte, daß wir vor Gott gleich wären, arm und
reich! Warum willst du das Unrecht nach unten in der Menschenordnung
mit Unrecht nach oben vergelten? Oder sollten Kinderseelen schon darum
unwert sein, weil die Eltern Geld im Beutel haben? Was nötig ist, sind
nicht die Waisenhäuser im Birrfeld oder hier, sondern daß du dein
Vorbild und deine Lehre hinterläßt. Am Ende kommt es darauf an, was
wir gewesen sind, hat dir der Menalk gesagt, als wir jung waren und
er schon sterben mußte. Nun, wo wir vierzig Jahre älter geworden sind
und alt an dem Tor dasitzen, will ich das Wort noch einmal sagen; doch
hat es sich verändert: Am Ende, Pestalozzi, fragt Gott nicht, was wir
gewesen sind, er rechnet, was aus uns werden möchte!


                                  86.

Heinrich Pestalozzi hat seine Unternehmung im Namen der helvetischen
Republik begonnen; seit der Tagsatzung in Paris gibt es aber nur
noch einen Schweizer Bund mit neunzehn selbstherrlichen Kantonen:
sein Landesherr ist nun die bernische Regierung, ihr gehört das
Schloß Burgdorf, und er muß zuwarten, ob sie ihn darin wohnen läßt.
Im vierspännigen Wagen, wie ein Landesfürst, kommt eines Tages der
Regierungspräsident von Wattenwyl an, seine Anstalt zu besichtigen;
obwohl es schwierig und steil geht, muß ihn der Kutscher bis in den
Schloßhof fahren, und als ihn Heinrich Pestalozzi dann begrüßen
darf, ist es kaum anders, als wenn ein Schloßherr sich von seinem
Kastellan Aufwartung machen läßt. Er schnurrt durch alles hindurch
mit einem deutlichen Mißbehagen an dem landfremden Zürcher, der sich
hier eingenistet hat und der Regierung mit seiner Berühmtheit und
dem intoleranten Heer der deutschen Geister lästig wird, dem sogar
französische Gelehrte, Generale und Minister beistehen, sodaß selbst
eine allmächtige Kantonsgewalt zuwarten muß. In einigen Stunden hat
er nach der Art solcher Regierungsherren das Ergebnis einer Arbeit
besichtigt, die Heinrich Pestalozzi ein Lebensalter mühsamer Kämpfe
gekostet hat, und ist im Dampf seiner eigenen Bedeutung wieder
abgefahren.

Seine Haltung in den Verfassungshändeln hat ihn den Aristokraten, die
nun wieder auf ihren alten Plätzen sitzen, mißliebig gemacht, und den
Kirchlichen ist er immer mit seiner Religion ein Aufwiegler geblieben:
nun, wo er sichtbar zu Paris in Ungnade und nicht mehr durch ein
helvetisches Direktorium geschützt ist, fängt die Hetze an, und noch
in dem Sommer muß sich Heinrich Pestalozzi durch eine Eingabe an den
Kirchenrat wehren, als fehle es in seiner Anstalt -- wie die Anklage
lautet -- an einem richtigen Religionsunterricht. Er überläßt die
Verteidigung Niederer, dem Religionslehrer und ehemaligen Pfarrer,
und zum erstenmal erhebt dieser Herold seine dröhnende Stimme für den
Meister.

Unterdessen ist aus dem Lehrerseminar wie aus der Waisenanstalt nichts
geworden, und die Zuwendungen der Regierung sind ihm gestrichen; das
einzige, was er von ihr noch hat, ist das Gebäude, und auch darin wird
es unsicher: Mit der neuen Ordnung ist ein Oberamtmann nach Burgdorf
gekommen, der zu seinem Ärger in einem Privathaus wohnen muß, während
oben im Schloß sich das fahrende Volk der Abc-Schützen breit macht. Er
fängt an, bei der Regierung in Bern um eine Änderung dieses krankenden
Zustandes zu mahnen, und weist alle anderen Vorschläge als unpassend
zurück; als es gegen Weihnachten geht, kann Heinrich Pestalozzi nicht
mehr zweifeln, daß ihm zum Frühjahr die Räumlichkeiten gekündigt
werden: »Es war das Haus der Herren und soll wieder das Haus der Herren
werden,« schreibt er an einen Freund, »ich hoffe, mein Ei sei bald
ausgebrütet, und dann achtet es auch der schlechteste Vogel nicht mehr,
wenn ihm die Buben sein Nest vom Baum herabwerfen.«

Doch kann die bernische Regierung angesichts der Schwärmerei, mit
welcher die gelehrte Armee Deutschlands die Vorteile dieser Anstalt
ausposaunt -- wie der Herr von Wattenwyl in einem Gutachten schreibt --
die Gefahr nicht herausfordern, mit diesem intoleranten Heer öffentlich
in eine Fehde zu geraten: so bietet man ihm das leere Kloster
Münchenbuchsee an, und im Januar fährt Heinrich Pestalozzi mit einer
Abordnung hin, es zu besichtigen. Er findet ein niedriges Gebäude,
das eine Zeitlang als Spital krätzischer und venerischer Soldaten
gedient hat, seitdem verwahrlost in einer melancholischen Ebene dasteht
und weder die grünen Hügel Burgdorfs noch sonst etwas von seinem
malerischen Reichtum um sich sieht. Am liebsten möchte er, all dieser
Dinge müde, seinen Stecken nehmen und in den Aargau zurückwandern;
aber es ist unmöglich, jetzt aus dem Kreis der Zöglinge und Gehilfen
fortzugehen; in den Möbeln, Betten und Lehrgegenständen stecken ihm
schon wieder zwanzigtausend Schweizerfranken, die er nicht lassen
kann, auch brennt der Abend an dem Tor immer noch in seiner Seele.
Um Anna zu halten, nimmt er das Obdach an, das ihm schäbiger Weise
zunächst bloß für ein Jahr instandgesetzt werden soll. Nur nicht wieder
als ein Unbrauchbarer vor ihr dastehen, denkt er, als er die vorläufige
Abmachung unterzeichnet, und ahnt nicht, daß diese Kränkung schon auf
ihn wartet.

So zieht dieses Frühjahr hin -- es ist das fünfte seiner Burgdorfer
Zeit -- wie wenn das Jahr mit ihm erschrocken seinen Lauf einstellen
wolle; denn ob das Emmental den Blumenteppich seiner Wiesengründe
ausbreitet, und ob die Wälder täglich grüner werden: im Schloß fängt
heimlich das Aufräumen an, die Möbel warten, daß sie von kräftigen
Händen hinausgetragen werden -- sie sind sich selber ihre Särge, sagt
Heinrich Pestalozzi -- und wie auch ein Änderungsgedanke auftaucht,
gleich tritt ihm das Bedenken in den Weg, daß mit den Ferien der Auszug
beginnen soll. Als der Tag da ist, werden die meisten Zöglinge in
Trupps mit je einem Lehrer auf die Reise geschickt, meist ins sonnige
Waadtland hinüber, und nur Freiwillige bleiben, den Umzug mitzumachen.
Auch Anna geht nun auf ihre Reise an den Zürcher See: Ich bin das
erste Möbel, das ihr fortschafft, scherzt sie, als er mit ihr in der
Morgenfrühe zur Post hinuntergeht; denn sie selber hat tapfer dableiben
und helfen wollen. Er hört ihre Worte garnicht, weil seine Gedanken in
Sorgen sind, daß sie nicht wiederkommen möchte: Ich war ein halbes Jahr
lang im Traum, sagt er, und stellt ihre Reisetasche hin, dem Gottlieb
einen Klatschmohn abzunehmen, den der für die Großmutter anbringt:
Jetzt habt ihr mich wach gemacht, und du gehst fort! Er will ihr die
Blume geben, aber der fallen die roten Blätter ab, daß nur die grüne
Fruchtkapsel mit dem Deckel bleibt. Das kann die Großmutter nicht mehr
brauchen! klagt er zu dem Kleinen und will das Ding wegwerfen; sie aber
nimmt ihm die Kapsel rasch aus der Hand und lächelt ihn fast listig an
mit einem Schulmädchengesicht: Bis ich nach Münchenbuchsee komme, ist
der Same reif, dann streuen der Gottlieb und ich ihn aus, damit wir
doch ein Andenken vom Schloßberg haben!


                                  87.

Am selben Tag, da Heinrich Pestalozzi von diesem Abschied fröhlich
wird und den ernsthaften Niederer durch die Mitteilung in Verwirrung
bringt, daß er in Münchenbuchsee wieder Landwirtschaft treiben und
lauter Felder mit Klatschmohn anbauen wolle, erscheinen mittags zwei
ländliche Männer im Schloß, die garnicht aussehen, wie die sonstigen
Wallfahrer. Sie kommen aus Peterlingen im Waadtland und bringen einen
Antrag der Stadt, mit seiner Anstalt dorthin zu kommen; sie wollen
ihm ihr Schloß mit allen Gärten lebenslänglich zur Verfügung halten,
ihm das Ehrenbürgerrecht mit einer Pension geben und jährlich ein
bestimmtes Maß von Korn, Weizen, Wein und Holz. So bin ich immer noch
im Traum, sagt er, und reicht den Männern gern die Hand; auch müssen
sie zum Mittag bleiben, und es wird fast ein Fest, das er mit Niederer
und Krüsi -- den einzigen Gehilfen, die noch bei ihm sind, weil der
Auszug schon begonnen hat -- und den Bürgern von Peterlingen feiert.
Wir werden einen Orden der neuen Menschlichkeit gründen und all die
verlassenen Schlösser der Gewaltherren in der Schweiz mit neuem Leben
bevölkern, schwärmt Niederer, der gern bei einem Glas ins Weite
schweift. Aber Heinrich Pestalozzi, der die enttäuschten Gesichter
der Männer sieht, lenkt schalkhaft ein: Zuerst müssen wir einmal nach
Münchenbuchsee auswandern und sehen, ob es von da einen Fahrweg für
unsere Möbelwagen nach Peterlingen gibt!

Der Abschied hat danach seinen Stachel verloren; als andern Tages noch
ein Herr von Türck aus Mecklenburg anreist, ein Päckchen neuer Liebe zu
bringen, machen sie mit dem und den Burgdorfer Freunden, die wehmütig
dabei sind, einen schwärmerischen Gang nach Kirchberg hinüber, bevor
sie die letzte Nacht in Burgdorf schlafen -- nun schon nicht mehr im
leergeräumten Schloß, sondern beim Stadthauswirt -- und andern Morgens
mit der ersten Sonne nach Münchenbuchsee wandern, wo die Zöglinge mit
Tobler sehnsüchtig ihren Vater erwarten.

Es sind drei Stunden Wegs, und sie müssen an Hofwyl vorbei,
wo Fellenberg, der Sohn des Ratsherrn, seit fünf Jahren eine
landwirtschaftliche Musterwirtschaft als Grundlage seiner
Erziehungsanstalt für alle Stände eingerichtet hat. Wir suchen die
Goldkörner der Methode im Land, und er prägt die Goldstücke daraus,
sagt Niederer sarkastisch, als sie in einiger Entfernung an der
sauberen Erscheinung seiner Gebäude vorüberwandern und überall in
den Feldern und Gärten die Zeichen der wohlhabenden Ordnung sehen.
Aber Heinrich Pestalozzi verweist ihm den Spott; er weiß zwar, daß
Fellenberg gleich mit einer Viertelmillion Franken das Gelände ankaufen
und aus dem Vollen wirtschaften konnte -- wo er sich notdürftig
durchhalf und gerade noch in diesem Augenblick erstaunt ist, daß er
mit Ehren aus den Burgdorfer Schulden kam -- aber er weiß auch, daß
der Sohn seines alten Freundes, des Ratsherrn in Verehrung zu ihm groß
geworden ist, und daß diese Anstalten nur eine Frucht aus Lienhard und
Gertrud sind: »Er deckt wenigstens das Elend nicht mit dem Mist der
Gnade zu, wie es die andern machen!«

Als sie dann aber gegen Münchenbuchsee kommen und die wenigen Zöglinge,
die nicht in Ferien sind, unter Toblers Leitung mit einem Schweizerlied
anmarschieren, hält seitwärts ein Reiter, als ob die kleine Truppe
ein Vorposten seines Regiments wäre; es ist Fellenberg, der nach
der jubelnden Begrüßung respektvoll herzu reitet: auch er habe den
Nachbarn nicht unbegrüßt einziehen lassen wollen! Er bleibt nicht auf
seinem stolzen Gaul sitzen, als er das sagt; aber gerade, wie er vom
Pferd springt und seine hohe Gestalt beugt, ihn zu umarmen, wird der
Unterschied zwischen dem gepflegten Aristokraten und dem ärmlichen
Greis so deutlich, daß Niederer für seinen Meister gekränkt beiseite
geht. Auch Heinrich Pestalozzi ist durch die Umstände dieser Begrüßung
verstimmt: Wir sind zu nahe an den Schloßherrn von Hofwyl geraten,
sagt er nachher zu Tobler, nun reitet er schon auf seinem Vorwerk herum!

Er bemerkt nicht, daß Tobler betreten schweigt, so sehr bewegt ihn
die Sorgfalt, mit der die geborene Fröhlich schon Ordnung in die
neue Wirtschaft gebracht hat: Du bist die Schwalbenmutter, scherzt
er zu ihr, wir sperren die hungrigen Schnäbel auf, und du hast immer
etwas hineinzutun. Tobler schweigt zum zweitenmal; er weiß, daß ihre
Haushaltungskünste allein es nicht vermocht hätten, der Anstalt einen
so guten Abgang aus Burgdorf zu sichern, und daß die Sorge vor den
Gläubigern manche Woche auf Pestalozzi gelegen hat, bevor sich alles
unerwartet löste; er weiß auch, wie diese Lösung zustande kam, und er
ist mit Muralt, seinem Mitverschworenen, fest entschlossen, den Meister
endlich aus allen wirtschaftlichen Sorgen zu befreien. Noch muß er die
Rückkehr des andern abwarten, aber als die kurzen Ferien vorüber sind
und von allen Seiten die Vögel wieder zufliegen, der melancholischen
Gegend zum Trotz in Münchenbuchsee ihr Geschwärm wieder zu beginnen,
gehen die beiden entschlossen ans Werk: Wenn die Anstalt in Burgdorf
zuletzt nur noch mit Mühe zu halten war, steht sie hier, wo sie sich
ohne Zuschüsse der Regierung ganz aus sich selber erhalten muß, nur an
der Schwelle neuer Schwierigkeiten. Sie haben die Ordnung in Hofwyl
gesehen, und da sie die Verehrung Fellenbergs für den Verfasser von
Lienhard und Gertrud kennen, ist es ihr Plan, die wirtschaftliche
Leitung der Anstalt in die festen Hände dieses Mannes zu legen, um
Heinrich Pestalozzi für seine wertvolleren Dinge unabhängig zu machen.
Nichts als treue Liebe führt sie auf diesen Weg, an dem die Sorge, ihn
nicht zu verletzen, die Meilensteine setzt.

Mit vorsichtigen Andeutungen und Besuchen in Hofwyl, mit Besorgnissen
über die ungewisse Zukunft, mit Mahnungen an sein Alter und was er
der Methode noch schuldig sei, bringen sie ihn endlich zu einer
Zusammenkunft mit Fellenberg. Sie findet, damit der Boden neutral sei,
unter einer Linde statt, die ziemlich in der Mitte zwischen Hofwyl
und Buchsee mit einer alten Steinbank steht. Fellenberg kommt diesmal
nicht geritten, doch trägt er die Reitgerte in der Hand, und zwei Hunde
kläffen ihm vorauf. Heinrich Pestalozzi hat um so weniger eigensinnig
scheinen wollen, als Muralt und Tobler die Vertrauten Annas unter den
Gehilfen sind; er sieht dem Mann mit der Reitgerte und den Hunden nicht
einmal mißmutig entgegen, da er sich seiner Sache sicherer fühlt,
als seine Harmlosigkeit merken läßt. Aber wie sie dann anfangen zu
sprechen, sind es drei gegen ihn, und jedes Wort wird so sorgsam auf
die Goldwage seiner Empfindlichkeit gelegt, daß er unmöglich hart und
abweisend gegen soviel treue Vorsorglichkeit werden kann: Es ist ein
Dachsfang, wo ich alter Kerl in die Sonne gelockt werden soll, denkt
er und läßt sie sprechen, bis dem blassen Tobler die Schweißperlen
auf der Stirn stehen und Muralt verzweifelt die Hände reibt. Nur der
selbstsichere Fellenberg verliert die Zuversicht nicht und entfaltet
ein Papier aus der Brusttasche: ob er ihm einmal den Entwurf einer
Übereinkunft vorlesen dürfe? Heinrich Pestalozzi hat nie recht zuhören
können, wenn einer etwas aus einer Schrift vorlas; er läßt die Worte
fließen und fühlt fast, wie sie an seinem Rock heruntertropfen. Zum
Schluß nimmt er die Handschrift, in keiner andern Absicht, als den
dreien die Enttäuschung nicht zu fühlbar zu machen. Wie dann aber seine
Augen, fast so taub wie vorher seine Ohren, über die Buchstaben laufen,
tut es ihm unvermutet einen Stich zwischen die Rippen: Haben wir nicht
heute den fünfzehnten Juli? fragt er und bringt den Zeigefinger nicht
von dem Datum fort, das am Schluß steht. Beschlossen auf den ersten
Juli 1804. Sie wollen ihm erklären, daß dies nur um des Semesters
willen so zurückgeschrieben sei; aber seine Gedanken sind schon Milch
auf dem Feuer: er reißt den Schriftsatz in zwei Fahnen und wirft sie
den Hunden hin, die ihn sofort anbellen und ihm, als er die bestürzten
Mienen und beruhigenden Worte abwehrend davon läuft, in die Hacken
fahren, sodaß ihr Herr sie mit der Pfeife zurückholen muß.

Sie haben mich verhandelt wie eine Kuh! schreit ihm sein Grimm in
die Ohren, während er seitwärts in das Wäldchen läuft, sich da einen
Schlupfwinkel zu suchen; aber erst, als er sich gegen das Gewässer
verlaufen hat, das seine Binsenfelder vor ihm auftut und -- wo seine
Fläche durchblinkt -- den langen Tierrücken des Jura spiegelt, merkt
er, daß ihm der Stich ein Gift beibrachte: warum Muralt und Tobler
und nicht die andern? Weil Anna dahinter steht? Er sieht sie wieder
abfahren mit der Mohnkapsel, davon ihm die roten Blätter abgefallen
sind, er hört ihr Wort und sieht ihr Lächeln: Ich dachte, klagt er
laut in den Sommertag, ich wäre endlich etwas vor ihr gewesen! Nun war
ich doch im Traum und bin erwacht in meine Unbrauchbarkeit!

Weit in der Ferne tut es einen Schuß von einem verlorenen Donnerschlag,
und über den Jura bläht sich ein Wölkchen grellweiß in den blauen
Himmel. Daß es ein Gewitter würde und mich kalt machte, damit es
endlich einmal ein Ende hätte mit diesem Strom von Irrtum und Unrecht,
darin mein Leben geflossen ist! Es bleibt aber schön, und er geht
stundenlang auf dem weichen Moosboden hin, bis die Frösche aus dem
Röhricht quaken. Sie werdens auch schon wissen! zürnt er noch einmal,
dann überläßt er sich willig der dämmrigen Traurigkeit, bis die leise
Nacht kommt und ihn doch noch den Heimweg finden läßt: Bist du es, will
er flüstern, als ihm ihre Gestalt zur Seite schreitet; sie nickt nur
und sieht ihn kaum an; da merkt er, daß es die Jungfrau Anna Schultheß
ist, die mit einem Strauß Frühlingsblumen an das Grab Menalks will.
Sie haben mir das Tor zugemacht, weil ich zu spät gekommen bin! klagt
er und staunt, wie weit sich der Weg über den Kirchhof zieht. Auch
weiß er nicht, warum ein Licht auf dem Grab brennt. Bis Niederer ihm
aus dem Schein entgegentritt und der Spuk verschwindet, weil er den
Klostergiebel in Münchenbuchsee erkennt.


                                  88.

Nach diesem Abend fühlt Heinrich Pestalozzi sein Dasein in
Münchenbuchsee nur noch wie einen Krug, der an einem Sprung leer
läuft; er widerstrebt den Freunden nicht mehr und unterzeichnet den
Dienstvertrag, wie Niederer das Schriftstück nennt. Wenn Fellenberg
angeritten kommt und mit Sporen durch den Hof klirrt, schließt er
sich in sein Zimmer ein, das er auch sonst wenig verläßt. Er hat
Wandergedanken, aber er findet kein Ziel, bis eine Mahnung aus Ifferten
kommt. Dort hat ihm der Stadtrat schon vor den Männern von Peterlingen
das Schloß des Herzogs von Zähringen angeboten; er ist auch einmal im
Frühjahr dort gewesen und hat das viertürmige Gebäude angesehen, aber
er fürchtet sich vor dem welschen Land. Nun, wo die Stadt ihm schreibt,
daß sie das Schloß von der Regierung angekauft habe und seine Wünsche
vernehmen möchte, wie es einzurichten sei, kommt die Aufforderung
seiner Sehnsucht recht, ganz aus dem Bereich seiner Enttäuschung
fortzugehen. Abschied vermag er keinen zu nehmen; die Seinen denken,
es gelte nur eine Fahrt, als sein Wagen in der Frühe gegen Aarberg
davonrollt. Er wäre lieber gewandert, aber die Kräfte haben ihn
verlassen, als ob nun das Alter mit einem Male käme.

Die Stadtherren in dem verschlafenen Ifferten haben schon vernommen,
daß der berühmte Volksfreund nur ein unscheinbarer Greis ist; sie
finden seine Wünsche bescheiden und laden ihn zu einem Mahl ein, die
Bekanntschaft festlich zu besiegeln. So kommt Heinrich Pestalozzi am
dritten Abend, den er aus Münchenbuchsee fort ist, an eine Tafel mit
ehrenfesten Bürgern, die beglückt sind, einen solchen Fang zu tun. Der
schöne Wein mundet ihm, der sonst nur selten mehr als ein Kirschwasser
nimmt, und die lebhaften Gespräche dieser weinfröhlichen Waadtländer
helfen, ihm die Zunge zu lösen; gerade, daß sie französisch sprechen,
läßt ihn auf ihre Worte hören, und daß er selber welschen muß, macht
ihn unversehens lustig, sodaß die Stadthäupter zu ihrem Erstaunen den
Greis mit dem Sorgengesicht lebhaften Geistes und schlagfertig finden.
Ihn selber freilich stimmt der Abend, als er andern Tages erwacht,
noch trauriger als zuvor; seit ihm die Verwirrung seiner Sinne an dem
abendlichen Gewässer die Erscheinung Annas vorgetäuscht hat, fürchtet
er, kindisch zu werden, und so nimmt er auch seine Fröhlichkeit
nachträglich als einen Beweis dafür. Er bleibt aber fürs erste in
Ifferten, weil ihm die Landschaft um das kleine Städtchen gefällt;
namentlich in die Wiesen gegen den See geht er gern, wo in den hohen
Bäumen auch bei der Hitze noch der Jurawind rieselt: Sie stehen wie
müßige Greise da, und ich bin der müßigste unter ihnen!

Unterdessen erreichen ihn Briefe Niederers, der als ein angeschossener
Wolf in Münchenbuchsee geblieben ist; sie schildern ihm den Zustand der
Anstalt nach seinem Weggang so wenig günstig, daß er in einigen Wochen
noch einmal zurückgeht, seinen Abschied nachzuholen. Er bringt keine
Ermutigung daraus mit; Fellenberg ist gereizt, daß er sich beiseite tun
will, und droht, von der Übereinkunft zurückzutreten; als sie sich noch
einmal an dem Wäldchen treffen -- diesmal ist Niederer dabei -- sieht
sich Heinrich Pestalozzi von einer Flut böser Vorwürfe überschüttet,
die er nur mit großen Augen anhören kann. Es kommt danach zwar noch
eine Versöhnung zustande, die ihn seiner persönlichen Verpflichtungen
entläßt, aber die Trennung ist nun sicher. Mit Buß und Krüsi und
mit neun Zöglingen geht er zum andernmal nach Ifferten; er selber
aber vermag es nun auch dort nicht mehr auszuhalten. Auf einer Fahrt
nach Lausanne, um bei der waadtländischen Regierung den Gesetzen der
Niederlassung zu genügen, verläßt ihn in Cossonay der Mut zur Rückkehr.
Er hat dort nur übernachten wollen, aber am andern Morgen läßt er die
Post fahren und bleibt in dem kleinen Ort, der zwischen Weinbergen
auf einem Hügel liegt und ihn mit seinem Ausblick über die Talweite
wehmütig an seinen verlorenen Schloßberg in Burgdorf erinnert. Da hockt
er einsam und in den Gedanken seiner Schwermut verhangen, bis der
biedere Krüsi ihn findet und wie ein Sohn um ihn sorgt. Nach Ifferten
aber, wo Buß unterdessen die neue Anstalt einrichtet, folgt er ihm
vorläufig nicht.

Das Weinland der Waadt, in dem er lebt, ist die Heimat von Laharpe,
dem ehemaligen Direktor der helvetischen Republik, der seiner Sache
mit hoher Achtung zugetan ist. Als Erzieher des Kaisers Alexander
von Rußland vermag er noch viel in Petersburg, und so kommt eines
Tages in das kleine Cossonay eine kaiserlich russische Berufung an
Heinrich Pestalozzi, das livländische Schulwesen von Dorpat aus nach
seinen Vorschlägen einzurichten. So verdonnert ihn Krüsi ansieht,
und so abenteuerlich der Plan ist, in seinem Alter noch nach Rußland
auszuwandern, seine Stimmung hängt sich mit Leidenschaft daran. Er
hat schon seine Bedingungen mitgeteilt und macht allen Abratungen zum
Trotz Vorbereitungen für die Auswanderung, von der er nicht mehr zurück
zu kommen hofft, als ihm ein zufälliges Erlebnis ein Loch in seine
Schwermut reißt:

Als er eines Tages nach Ifferten gefahren ist und am Abend mit Krüsi
neben dem Wagen her gegen Cossonay hinauf geht, begegnen ihnen in
der frühwinterlichen Dunkelheit einige leere Weinfuhren, die sie im
Geräusch des eigenen Wagens nicht hören, bis Heinrich Pestalozzi dicht
vor sich zwei Pferde spürt. Er glaubt, es seien Tiere von der Weide,
und will zwischen ihnen durch; da wird er von der Deichsel getroffen,
die ihn unter die Hufe der Pferde wirft: So jäh es ihn gefaßt hat,
so schnell arbeitet sein Instinkt, daß er noch vor den Rädern gleich
einer Katze unter den Pferden her auf allen Vieren seitwärts in den
Graben springt und die beiden Wagen an sich vorüber rasseln läßt. Als
Krüsi ihn findet, der seitlich gegangen war, ist er schon dabei, sich
aufzurichten; die Kleider sind ihm bis auf den bloßen Leib zerrissen,
aber ihm selber ist nichts geschehen, sodaß er -- durch Gefahr und
Rettung in einem Augenblick des Wunders hindurch gegangen -- gegen den
Berg schreitend wie vorher das Gasthaus erreichen kann.

Er hat in diesem Herbst, wo er sich kindisch glaubte, oftmals zu
sterben gewünscht, bevor er ganz dem Siechtum des Alters verfiele;
nun ist er durch den Tod in einer Jünglingskraft hindurch gesprungen,
die er sich längst verloren glaubte. Was er schon als Knabe erfuhr,
als er bei Wollishofen aus dem Weidling in den See fiel, daß die
heimliche Lust des Lebens durch nichts so sehr als durch das Grauen
des Todes angeregt würde, das bewirkt nun eine Wiedergeburt in ihm,
die ihn fast übermütig macht: Er glaubte schon sterben zu müssen wie
Moses, ehe er einen Fußbreit von seinem Kanaan sah; nun fühlt er sich
im ungeminderten Besitz von Kräften, die alle Nervenschwäche und die
Müdigkeit seines vermeintlichen Siechtums als trübe Einbildungen von
sich abfallen lassen. Die Kränkung durch Muralt und Tobler, der Streit
mit Fellenberg und die Böswilligkeit der bernischen Regierung, die --
wie er längst weiß -- seine Anstalt in Münchenbuchsee als eine staats-
und kirchengefährliche Unternehmung überwachen läßt: alles, was ihm den
ängstlichen Geist in diesen Monaten ans Kreuz geschlagen hat, scheint
ihm vor dem Gefühl, zu leben und seiner Kräfte noch mächtig zu sein, so
nebensächlich, daß er seine Schwermut wie eine Torheit belächelt: Wo
ich Kränkungen ohne Maßen sah, sehe ich nun die treue Liebe, sagt er
glücklich, und niemals ist ihm das Bild seiner Lebensgefährtin klarer
dagestanden als in diesen Tagen.

Als bald danach der König von Dänemark ihm hundert Louisdor übersenden
läßt als Anerkennung für die gastliche Aufnahme der dänischen Lehrer,
ist er übermütig vor Glück: Schau, zweitausend Schweizerfranken, sagt
er zu Krüsi, mit nichts als einer Idee und etwas Güte verdient! So
bleibt es Monate lang, während er noch einmal an die Lehrbücher seiner
Methode geht; und so voll fühlt er den Segen strömen, daß ihm das
Wort Lavaters nun sein liebster Spruch wird: Ich war mürrisch, als
ich die Ruhe des Alters für Müdigkeit hielt; sie ist die Sammlung auf
der Lebensstraße, wo das Glück auf der Straße lag, indessen ich den
Seifenblasen meiner Wünsche nachlief. Nun der Höchste mir mein Alter
mit Ruhe gekrönt hat, sehe ich, daß es der Jungbrunnen ist, von dem die
Väter sagten.


                                  89.

Indessen Heinrich Pestalozzi sich so die Trennung zum Besten dienen
läßt, sind die Nachrichten aus Münchenbuchsee immer mehr mit
Enttäuschung beschwert. Muralt und Tobler haben nicht bedacht, daß
sich Fellenberg mehr als Pädagoge denn als Landwirt fühlt und als
solcher -- wie Niederer sagt -- die Drei- und Vierfelderwirtschaft auch
auf die Zöglinge anwenden will; die Buchführung ist besser geworden,
und die Ordnung wird streng gewahrt, aber die Luft steht stiller und
kälter in den Räumen, die sonst auch an Nebeltagen immer noch von
einem Sonnenstrahl väterlicher Liebe und menschlicher Laune belebt
und erwärmt war. Daraus wächst Mißmut und -- weil es Fellenberg auch
nicht leicht hat mit Zöglingen und Gehilfen, die einen andern Meister
schwärmerisch verehren -- endlich der böse Streit.

Niederer ist der erste, den es nach Ifferten zieht; er hat im Herbst
ein schweres Nervenfieber durchgemacht und ist noch hohlwangig davon.
Seit dem Sommer hat er gemeinsam mit Fellenberg und den andern
Lehrern über dem Wortlaut einer Einladung an die Eltern Europas
gesessen, ihre Kinder als Zöglinge nach Münchenbuchsee zu geben; Satz
für Satz ist darin durchberaten worden, auch Heinrich Pestalozzi hat
mitgeholfen, bis eine umfängliche Flugschrift seiner Methode fertig
war. Als aber der Druck Weihnachten ankommt, hat Fellenberg ihn
nachträglich mit eigenen Ankündigungen zum Teil großsprecherischer
Art für seine besonderen Zwecke zurecht gemacht, was nun auch Muralt
und Tobler gegen den eigenmächtigen Mann aufreizt. Das Frühjahr geht
in einem unaufhörlichen Wechsel von Streit und Versöhnung hin, der
seine Wellenschläge nach Ifferten hinüber tut. Heinrich Pestalozzi
sucht aus dem Knäuel der Verstimmungen die Fäden der Liebe und der
gemeinsamen Ideale herauszuziehen; am liebsten aber möchte er den
Knäuel in den Bach werfen: er läßt sich nun nicht mehr beirren, daß die
Anstalt im Umkreis seiner Absichten nur einen Versuch bedeutet, und
ist weder für Münchenbuchsee noch für Ifferten aus dem Dachsbau seiner
Schriftstellerarbeit herauszubringen, die der Welt andere Resultate als
die zufälligen einer solchen Anstalt sichern soll.

Doch wird er hier wie dort die Geister, die er rief, nicht los: er hat
das Klostergebäude in Münchenbuchsee von der bernischen Regierung nur
für ein Jahr erhalten und müßte zum Juli einen neuen Antrag um gnädige
Überlassung für ein weiteres Jahr stellen; weil aber Fellenberg in
einer Zuschrift an die Regierung die Leitung niedergelegt hat, sind
die Hunde der Verdächtigung auf seine Sache losgelassen. Um nicht
abzuwarten, daß er böswillig ausgeräumt wird, reicht er selber die
Kündigung ein. Damit hat er nach einem halben Jahr der Trennung alles
wieder, was ihm nun nicht mehr wie beim Abschied Glück und Unglück
seines Lebens bedeutet; aber daß die Herde ihm sehnsüchtig nachfolgt
und ihn durch diese Nachfolge anerkennt, tut ihm doch wohl, und um
dieses Wohlgefühls willen tritt er tätiger in die Leitung ein, als er
es nach seiner Rettung bei Cossonay für möglich gehalten hätte; auch
reißen ihn die glücklich veränderten Umstände hin, und eine heimliche
Hoffnung überredet den Widerstand:

In Ifferten ist er nicht mehr wie in Burgdorf der zugewanderte Greis,
der froh sein muß, eine Schulstube für seine Versuche zu finden; der
Ruhm seiner Sache ist europäisch geworden und die Bürgerschaft setzt
viel daran, davon zu profitieren. Sie hat ihm -- um die Lockung nach
Peterlingen zu schlagen -- die weiten Räume des Zähringer Schlosses
und die Gärten dazu unkündbar überlassen und richtet alles nach seinen
Wünschen ein. Auch steht die Regierung im Kanton Waadt, aus dem
dreihundertjährigen Zwang der bernischen Landvögte befreit, anders zu
ihm, als die Aristokratenherrschaft in Bern; ihr ist er keiner staats-
und kirchenfeindlichen Gesinnung verdächtig. Die Zöglinge, die von
Anfang aus dem liberalen Waadtland am reichlichsten kamen, mehren
sich rasch; als auch die geborene Fröhlich -- die aus Münchenbuchsee
bald fortgegangen war, einen wohlbegüterten Landwirt namens Kuster
zu heiraten -- den Haushalt von neuem in ihre unverdrossenen Hände
nimmt, ist unvermutet der ganze Bienenstaat wieder um ihn versammelt,
eifriger als je, den Honig einer neuen Menschenbildung einzutragen;
nur noch die verscheuchte Königin fehlt, weil Heinrich Pestalozzi noch
immer eine abergläubische Furcht hat, sie schon zu rufen.

Als aber der Winter den Reichtum nicht vermindert und das Frühjahr
den Ruhm der Anstalt in einen Erntesommer trägt, der ihm -- wie er
einem Freund bestürzt durch diese Wendung schreibt -- das Geld zum
Dach hinein regnet, bittet er sie frohen Mutes, wieder wie in Burgdorf
seine Hausmutter zu sein! Sie kommt ihm mit einem Schiff über den See
gefahren, und er wartet manche Stunde unruhig unter den alten Bäumen,
die immer noch den Jurawind durch ihre Blätter rieseln lassen, bis
gegen Abend das Boot anschwimmt.

Schon von weitem sieht er ihre Gestalt still darin sitzen und meint
fast, ihre Augen auf sich zu spüren, wie er unruhig am Ufer hin und
her läuft. Sie ist alt geworden, und ihr kranker Fuß, an dem sie
lange in Zürich gelegen hat, hindert sie noch immer beim Gehen, sodaß
der Schiffsmann ihr über den Steg ans Land helfen muß: Das sind
meine vier dicken Türme, sagt er mit glücklichen Augen und zeigt
auf das Schloß, das zwischen dem Grün weißlich durchschimmert. Sie
gibt keine Antwort und ist auch schweigsam, während sie das kurze
Stück über die weichen Wiesen gehen, nur bringt sie die Lippen
nicht so fest wie sonst aufeinander, weil die strengen Falten einem
hinterhaltigen Lächeln nicht Meister werden. Erst als sie sich durch
die stürmische und ehrfürchtige Begrüßung der Zöglinge und Lehrer
-- die haben sich im bekränzten Schloßhof aufgestellt und singen ihr
ein Lied -- hindurchgelächelt hat und endlich in ihrer Turmstube im
Lehnstuhl sitzt, fragt sie: Hast du auch einen Garten? Er hört die
Frage garnicht, weil er nun erst mit seinem vergessenen Blumenstrauß
ankommt, den er ihr ans Ufer bringen wollte; sie aber fängt in ihrer
perlenbestickten Reisetasche an zu kramen und holt ein Schächtelchen
heraus, darin die Mohnkapsel winzig zusammengeschrumpft zwischen den
schwarzen Samenkügelchen liegt. Das legt sie ihm behutsam mitten auf
seine Blumen und lächelt sich die Tränen der Rührung fort: Wenn die
Samen nur nicht überjährig geworden sind!


                                  90.

Heinrich Pestalozzi ist über sechzig und Anna Schultheß fast siebzig
Jahre alt, als sie ihr gemeinsames Leben im Zähringer Schloß zu
Ifferten beginnen; in Burgdorf war der Unterschied ihrer Jahre
ausgelöscht, nun aber fängt sie an, ihr Leben abzurüsten, während er
noch neue Segel einsetzt. Wenn sie miteinander in dem weitläufigen
Gebäude, im Garten oder weiter hinaus gegen Clindy gehen, ist er im
Eifer, ihr alles günstig zu zeigen, immer voraus, während sie oft
still steht und am Stock nachkommend mehr ihm zuliebe als für sich
ihre Augen auf seine Dinge richtet. Habe ich dirs nicht gleich gesagt,
Pestalozzi, ich sei zu alt für dich! scherzt sie einmal, als er wie
ein ungeduldiger Knabe am Bach nach ihr ruft, weil eine Ringelnatter
fortschwimmt, bevor sie zur Stelle ist. Aber es gefällt ihr alles
sichtbar wohl, und wenn sie mit ihrem Enkel Gottlieb durch die Straßen
der ländlichen Kleinstadt geht, gern gegrüßt von den Leuten, sehen
sie eine wirkliche Schloßherrin. Sie hat noch einmal geerbt von ihrem
Bruder Jakob in Zürich und braucht in ihrer bescheidenen Wohlhabenheit
nicht gleich zu sorgen, wenn es irgendwo eine Spalte in dem großen
Hauswesen gibt.

So treibt das unruhige Wasser seines Lebens mit dem letzten Stauwehr
doch noch eine reiche Mühle, und er ist sicher, daß im Land kein
besseres Korn gemahlen wird. Aber er denkt noch immer nicht daran,
hier für lange den Müller zu spielen; sein Brot soll für die Armen
gebacken werden. Nun es ihm mit dem andern herrlich geraten ist, nun
er die Methode eines auf die Natur des Kindes gegründeten Unterrichts
in Händen hat, nun ihm Hilfskräfte jeder Art verfügbar sind und er
des Beistandes vieler für eine solche Unternehmung sicher sein kann:
fängt die Armenkinderanstalt wieder an, das Ziel zu werden, mit dem er
sein Leben krönen will. Der Schauplatz seiner letzten Tat aber soll
nicht das welsche Waadtland, sondern der Kanton Aargau sein: wo er
den Kampf um die allgemeine Menschenbildung begonnen hat, will er ihn
auch enden. Das Schloß Brunegg hat unterdessen einen andern Besitzer
gefunden, aber Wildenstein bei Schinznach steht noch leer, und mitten
aus dem fröhlichen Gesumm seines wohlbestellten Hauses reicht er den
Antrag um den Wildenstein bei der Regierung in Aarau ein. Die kommt
ihm willig entgegen, und so steht er vor dem geöffneten Tor seiner
letzten Ausfahrt, als die Zustände in Ifferten ihn nötigen, den Wagen
vorläufig wieder abzuspannen.

Als ob sie die Ansteckung aus Münchenbuchsee mitgebracht hätten, ist
der Lehrerstreit da und reißt ihm einen Spalt mitten durch die Anstalt,
den weder Anna mit ihrer Erbschaft noch er aus dem Faß seiner Liebe
verstopfen kann. Den ersten Riß bringt eine Erholungsreise Niederers
mit, die ihn nach einem Rückfall seines Nervenfiebers fast zwei
Monate lang von Ifferten fernhält und gleichzeitig eine Studienreise
sein soll für die Lebensgeschichte des Meisters, die er schreiben
will. Von Anfang an hat er sich als Herold der Methode gefühlt, und
Heinrich Pestalozzi, der wohl weiß, wie eigenwillig ihm selber in der
Rede und Schreibe die Gedanken zulaufen, kann erstaunt zuhören, um
wieviel gelehrter und selbstbewußter sie in dem Mund Niederers klingen.
Selbst, wo ihm Zweifel überkommen, ob nicht im Strom dieser Worte
fremdes mitfließt, steht er willig dafür ein, weil er der Einsicht und
selbstlosen Begeisterung des Eiferers sicher ist. Er hat ihn immer als
seine rechte Hand gehalten und ihm die Führung in Ifferten zugedacht,
wenn er selber als Armenhausvater fortgehen wird: nun aber sieht er
während seiner Abwesenheit gründlicher in die Mädchenanstalt hinein,
die unter Niederers Leitung in einem besonderen Gebäude neben dem
Schloß eingemietet ist, und nimmt eine Lässigkeit wahr, die sich mit
keiner Liebe mehr zudecken läßt.

Als Niederer danach heimkommt, geladen mit Eindrücken und
schwärmerisch beglückt über sein gesammeltes Material zu der geplanten
Lebensgeschichte, vermag Heinrich Pestalozzi keine Freude mehr an
diesen Dingen zu gewinnen. Ihm ist in der Abwesenheit der rechten
Hand die linke wichtiger geworden, und mit Eifersucht sieht der
Ideenmensch Niederer an der andern Seite des Meisters den Realmenschen
Schmid stehen, der in allem seinen Gegenspieler vorstellt. Es ist der
Tirolerknabe, mit dem er damals nach Burgdorf kam, und der sich im Lauf
der wenigen Jahre aus einem unwissenden, aber begabten Schüler zum
glänzenden Lehrer der Anstalt durchgearbeitet hat: Wie er in seinem
Fach der Zahl- und Raumlehre die Methode als Schulmeisterkunst ausübt,
das wird von den andern Gehilfen immer williger anerkannt und von
den Besuchern bestaunt; vor den glänzenden Leistungen seiner Klasse
vollzieht sich meist die Bekehrung der Ungläubigen. Er ist zu einseitig
gebildet, um die Niedererschen Gedankenflüge mitzumachen, auch liegt
die Schwärmerei seiner Natur nicht: sonnengebräunt und fest wie das
Gesicht ist sein Wesen und in Tüchtigkeit verbissen, die auf alle
Unordnung und Faulheit in der Anstalt wie ein Raubvogel Jagd macht; für
das geplante Armenkinderhaus ist er begeistert, er mag die wohlhabenden
Zöglinge nicht und verachtet die Eltern, die ihre Kinder -- wie er sagt
-- nur aus Bequemlichkeit in Erziehungsanstalten schicken.

Ehe Heinrich Pestalozzi Augen für ihre Eifersucht hat, ist sie schon
zur Feindschaft geschwollen, und er steht mitten darin: Ich bin wie
eine Jungfer zwischen zwei Liebhabern, scherzt er zu Krüsi und glaubt
noch lange, er könne den bösen Zustand mit launigen Zurechtweisungen
lösen; aber weil beide ihren besonderen Anhang haben, sieht er zu
seinem Schrecken die Anstalt in zwei feindliche Lager geteilt und wird
mit seiner hülflos suchenden Liebe ein Fangball, den sie einander
zuwerfen: der alte Vorwurf seiner Unbrauchbarkeit ist über Nacht aus
dem Boden gewachsen, grausamer als sonst, weil er ihn diesmal aus allen
Himmeln reißt. Um kein Trümmerfeld in Ifferten zu hinterlassen und Anna
für immer zu verscheuchen, die sich jetzt schon verstimmt durch die
Händel in ihrem Zimmer hält, muß er den Plan der Armenkinderanstalt in
Wildenstein vertagen. So gießt ihm der Herbst des mit Siegesgedanken
begonnenen Jahres Galle in seinen Jungbrunnen, und obwohl schließlich
durch den vermittelnden Muralt eine Aussöhnung zustande kommt, sodaß
sie Weihnachten in Frieden feiern, bleibt eine bittere Stimmung in ihm,
die seiner gewohnten Neujahrsrede nicht günstig ist.

Am letzten Nachmittag des Jahres kommt er zufällig mit einer Besorgung
in die Werkstatt des Schreiners, der seit der Einrichtung die Arbeiten
im Schloß hat. Sie nennen ihn in Ifferten den Heiden, und Heinrich
Pestalozzi kennt unter andern Seltsamkeiten des alten Sonderlings
auch diese, daß er sich für jedes Neujahr einen Sarg herrichtet, die
erste Nacht des Jahres darin zu schlafen. Wie er nun bei ihm eintritt,
stehen die fünf Bretter schon fertig genagelt da, und er ist gerade
dabei, dem Deckel eine Hohlkante anzuhobeln. Den brauch ich vorläufig
nicht, spöttelt er und bietet ihm eine Prise an, es ist nur wegen der
Vollständigkeit! Und als Heinrich Pestalozzi, den der selbstgefällig
lächelnde Greis neben dem Sarg verwirrt, ihn fragt, warum er sich
jedes Jahr solch ein neues Bett mache, streicht der mit der Hand die
Hobelkante ab und paßt den Deckel ein, wie einer, der das Schicksal
pfiffig überlistet: Weil es mir noch keinmal geraten ist, ihn zu
verwahren; schon im Frühjahr ist meist ein anderer Liebhaber da!

Heinrich Pestalozzi vermag keinen Geschmack an dieser
Lebensversicherung zu finden, aber der gehobelte Sarg hat ihm das
Herz bewegt, und als er draußen den Schmid trifft, wie er mit einigen
Zöglingen einen Handwagen voll Tannenreisig aus dem Wald anbringt, die
Schloßkapelle zu schmücken, übermannt es ihn so, daß er ihn gerührt
in die Arme schließt. Ein hämischer Zufall will, daß Niederer seither
dazu kommt, todblaß, weil er die Herzlichkeit gesehen hat. Sie gehen
zu dreien miteinander vor dem Handwagen der Zöglinge her in einem
verlegenen Gespräch, und Heinrich Pestalozzi in der Mitte will sich
schon der Begegnung freuen, als die Worte zerbrechen und die Scherben
im Streit umher fliegen. Er rafft die Zöglinge an den Händen fort, daß
sie nicht Zeugen der Häßlichkeit würden; aber noch, als er drinnen auf
dem oberen Treppenumgang steht, hört er die bellenden Stimmen durch die
Mauern dringen.

Er sieht an dem Abend niemand mehr und erlebt die Mitternacht allein
und verdüstert in seiner Kammer: Ich Narr der Eitelkeit, jammert er,
was soll die Welt mit meiner Lebensgeschichte, die ein Buch voller
Grabreden ist! Als er in den Kleidern auf dem Bett liegend endlich
einschläft, bleibt seine letzte Empfindung die mutlose Müdigkeit, daß
es der Sarg des Schreiners sein möchte! Und noch, als die ersten
Glocken den Morgen ansagen, quält er sich im Halbschlummer mit den
engen Brettern. So trifft Heinrich Pestalozzi die Stunde, wo er als
Hausvater vor den Seinen mit dem Bekenntnis des alten und dem Gelöbnis
des neuen Jahres stehen soll.

Er läßt durch zwei Zöglinge den Sarg des Schreiners holen und vor den
Altar stellen; und ob er Anna bei dem Anblick die Kapelle verlassen
sieht und aus all den fragenden Augen der andern das Entsetzen vor
seinem Frevel spürt: nichts vermag ihn aus der Nötigung zu reißen, den
Sarg als den seinen zu betrachten und statt einer Neujahrsansprache
sich selber eine Grabrede zu halten. Niemand vermöchte seine
Unbrauchbarkeit grausamer anzuschlagen, als er es nun selber tut, und
fast ist es mit Gott gehadert, wie er ihm die Unfähigkeit seiner Natur
vorhält und alle Schuld an dem Zerwürfnis auf sich selber legt. Aber so
erschütternd seine Klagen durch die Kapelle irren und in manchem Herzen
den Schrecken um seinen Verstand aufjagen: ihm selber ist es, als ob
sein Körper damit ausfließe wie ein verunreinigtes Gefäß; bis er, von
aller Verbitterung leer, die Brunnen der Demut in sich aufquellen
fühlt. Da weiß er, daß seine Anklagen nur die Torheit eines Kindes
sind, das sich durchtrotzen möchte und hundert Wohltaten vergißt, weil
ihm eine verwehrt wird: Wie undankbar und eigensinnig ist es, gegen
mein Schicksal zu hadern, das mich vor allen Menschen mit meinem Werk
gesegnet hat! Sodaß Heinrich Pestalozzi die Kapelle in einem Gefühl der
Begnadung verläßt, darin selbst die Beschämung über sein zorniges Tun
ins Ferne verfliegt.


                                  91.

Nach dem Gewitter dieser Neujahrsrede fängt die Sonne wieder an zu
scheinen, und Heinrich Pestalozzi, der die schlimmen Dinge leichter
als die guten vergißt, fühlt ihre Wärme über Ifferten, als ob erst
Mittag wäre. Auch Anna, die lange gekränkelt hat, lebt wieder auf und
braucht nicht mehr am Stock zu gehen: Ich mußte die alternde Frau in
mir los werden, sagt sie einmal zu ihm, als sie dem bunten Getriebe der
Zöglinge auf der Eisbahn zusehen: jetzt sind die Reste fort, und ich
bin ganz eine Greisin; ich konnte nicht alt werden, nun ich es bin, ist
alles wieder frei; ich möchte fast ein paar Eisschuhe antun, so leicht
ist mir!

So bin ich doch der Ältere von uns beiden, antwortet er und nimmt
zärtlich ihre Hand; denn auch das habe ich dir vorgelebt: Nur das
Gesicht und die Hände waren jung und werden alt, die Seele lebt als
eine schwingende Schnur, die in der Mitte heftig schwirrt und am Ende
-- wie am Anfang -- nur noch zittert, bis der andere Knoten kommt, wo
sie an den Bogen ihres Erdendaseins gespannt ist!

Er spricht auch sonst wieder viel mit ihr, fast wie damals auf ihren
ersten Spaziergängen, und lächelt hinterhaltig, wenn er sich bei den
Listen seiner Liebe ertappt. Als ob er noch einmal seine Mutter hätte,
geht er behutsam mit ihren Wünschen um und verschweigt ihr die Unrast
um sein Werk, die noch immer weit vom Knoten schwingt: Es ist nur mein
Sterbeteil, denkt er oft, der bei ihr die heimlichen Schlupfwinkel
seines Lebens hat; der Menschengeist in mir, dem die schwingende Seele
die zitternde Spindel war, ist nicht an ihre Schnur gebunden; der
trägt den Takt ihrer Bewegung fort ins Breite, wenn die Schnur längst
still steht! Und deutlich fühlt Heinrich Pestalozzi die Unheimlichkeit
dieser Trennung, wie die Seele sich zur Ruhe rüstet, indessen sein
Menschengeist immer ferner auf Abenteuer reitet.

Das Wort verläßt ihn nicht; der Zwiespalt seines Lebens wird
ihm sinnbildlich darin, daß seine Seele für die Abenteuer des
Menschengeistes einstehen mußte, der nicht den Seinigen, sondern dem
Volk gehörte und von dem Gewissen der Menschheit in Pflicht genommen
war. So hat die Seele daheim im Streit gelegen bis auf diese Stunden,
wo er zurseite Annas gemächlich am See spaziert -- unter den überhohen
Bäumen, die ihre Blätter nur deshalb im Jurawind rieseln lassen können,
weil ihre Wurzeln ihnen unablässig den Saft aus dem schwarzen Grund
zubringen -- indessen sein unruhiger Geist mehr als je in das Abenteuer
der Menschenbildung verwickelt ist: nur daß er, anstatt auf eigene
Faust zu kämpfen, längst ein Häuptling wurde mit einem Kriegslager,
dahinein von fernher die Krieger reiten, sich Weisung zu holen.

Denn Heinrich Pestalozzi -- der Greis, wie ihn die Burgdorfer schon
nannten -- ist unversehens in Europa eine Macht geworden; nicht,
weil er überall in den Regierungen Anhänger hat, die ihm Lehrlinge
der Methode nach Ifferten schicken, das dadurch eine Hochschule
der Erziehung wird, sondern weil nun die Weltgeschichte auch sonst
seinen mißachteten Ideen nachkommt: Seitdem ihm der Konsul Bonaparte
spöttisch den Rücken zukehrte, sodaß er mit dem verschmähten Sauerteig
der allgemeinen Volksbildung von Paris heimkehren mußte, hat sich
der korsische Advokatensohn zum Gewalthaber Europas gemacht, der
Fürstentitel und Königskronen wie Kinderspielzeug verschenkt, den
Papst nach Paris kommen läßt, ihn als Kaiser zu krönen, und der sich
die habsburgische Kaisertochter als seine Frau einfordert. Nichts in
der Welt scheint seiner Selbstherrlichkeit zu widerstehen; so ist
ihm auch der Preußenstaat des großen Friedrich nur ein Hindernis auf
seiner neuen Landkarte, das er mit einer kriegerischen Handbewegung bei
Jena beseitigt, wobei er noch Zeit findet, dem Dichter der Deutschen
das Kreuz der Ehrenlegion an die Weltbürgerbrust zu heften. Aber
diese Handbewegung macht dem Totengräber seiner Schwertmacht, dem
Menschengeist in Preußen, die Hände frei.

Wie immer kehrt auch hier der eiserne Besen der Not die unfähigen
Gewalthaber auf den Mist, und Männer treten in ihre Stellen ein,
nach den Menschenrechten die Menschenpflichten zu proklamieren,
in denen allein die Blutsaat der Revolution zu einer Volks- und
Menschengemeinschaft aufgehen kann. Einer der ersten ist sein Freund
aus den Tagen in Richterswyl Johann Gottlieb Sichte, der Schwiegersohn
des Wagenmeisters Kahn in Zürich; in seinen Reden an die deutsche
Nation, in denen er die sittlichen Mächte im deutschen Geist aufruft,
setzt er Heinrich Pestalozzi und seine Idee der Menschenbildung in eine
Beleuchtung, die keine Gegnerschaft mehr auslöschen kann. Als auch
der Holsteiner Nicolovius in die Leitung des preußischen Schulwesens
berufen wird, will der Traum in einem Land Europas Wirklichkeit werden;
die besten Geister haben die Regierung des preußischen Staates in
der Hand, und ihr Ziel ist das seine: Befreiung und Erneuerung des
Volkes als einer sittlichen Gemeinschaft, und als Grundlage dieser
Gemeinschaft die Erziehung aller mit den Mitteln, wie er sie in dem
Naturgang seiner Methode gefunden hat. So ist Heinrich Pestalozzi
aus einem einsamen Abenteurer des Menschengeistes doch ein anderer
Heerführer geworden als sein Vetter Hotze mit dem Soldatenhut, von dem
nur noch der verblaßte Ruhm übrig geblieben ist.

So gut geht alles, daß auch die feindlichen Lager in Ifferten
Gottesfrieden halten. Muralt hat vermocht, daß eine genaue Teilung
der Pflichten Niederer und Schmid auseinander hält, und namentlich,
seitdem Rosette Kasthofer aus Grandson das Töchterhaus in ihren
jüngferlich festen Händen hält, während Niederer -- der auch nicht
mehr im Schloß wohnt -- nur noch seine Pflichtstunden gibt und die
schriftstellerischen Tagesbedürfnisse der Anstalt besorgt, ist die
tägliche Verärgerung beseitigt. So kommt der letzte September des
Jahres 1809, an dem es vierzig Jahre her ist, daß Heinrich Pestalozzi
sich mit Anna Schultheß aus dem Pflug in der Dorfkirche zu Gebistorf
trauen ließ, recht in die Zeit für ein Freudenfest: Nun haben wir es
doch einmal beide nach unserem Herzen, sagt er neckend zu ihr, die
fast bräutlich geschmückt im Lehnstuhl auf ihn wartet, wird aber gleich
wieder ernst vor ihrem würdigen Gesicht: Unser Haus ist wohlbestellt
unter einem großen Dach, wie ich dir den Neuhof bauen wollte, und mir
ist sein Glanz keine Unruhe mehr, weil ich der Lebensströme sicher bin,
die daraus fließen!

Als sie dann miteinander in den geschmückten Saal treten und in das
fröhliche Bienengesumm die Stille ihrer Gegenwart bringen, als Niederer
seine Festrede aus der Brunnentiefe seiner gewaltigen Begeisterung
holt und ihnen Kränze von innigen Worten auf die weißen Häupter legt,
indessen sie Hand in Hand wie zwei Kinder im Augenblick hundertfacher
Liebe dasitzen: sind alle Wechsel, die der Lehrling Tschiffelis an
die Kaufmannstochter im Pflug sandte, so über alle damalige Geltung
eingelöst wie im Märchen, wo auch die gehäuften Nöte auf einmal von dem
vorbestimmten Glück abfallen. Nur ganz den feierlichen Ernst der Stunde
zu ertragen vermag Heinrich Pestalozzi noch immer nicht; es ist auch
hier ein wenig bei den hohen Worten, als ob er wieder nach dem Examen
vor den andern Schülern das Vaterunser sprechen solle: so lächert es
ihn durch seine Glückstränen. Kaum sind die Ströme der Feier über
ihn hingeflossen, und die Frühlingsblumen dieser Herbstfröhlichkeit
wollen in einem Tanz der Kinder aufblühen, da muß er ihnen zeigen,
wie es damals zuging, als er noch der schwarze Pestaluz aus dem Roten
Gatter und Anna Schultheß die scheu verehrte Muse der jungen Patrioten
aus der Gerwe war: und übermütig, wie er es damals nicht vermocht
hätte, schreitet Heinrich Pestalozzi, der Armennarr auf Neuhof, die
Pestilenz des Birrfeldes, der Waisenvater in Stans und der Prophet
der Menschenbildung in Burgdorf und Ifferten, mit seiner schlohweißen
Gattin zu einer alten Weise den ersten Tanz.


                                  92.

Wenn die Deutschen nach Ifferten kommen, meist über Basel und Bern
oder auch über Zürich, geschieht es ihnen leicht, daß sie mit ihrer
Begeisterung für Heinrich Pestalozzi an diesen Orten als närrische
Wallfahrer aufgenommen werden, weil man da eine andere Ansicht
von dem unruhigen Projektenmacher hat, sodaß sie kleinlauter in
das viertürmige Schloß eintreten und dann nicht selten durch die
unordentliche Erscheinung ihres Propheten abgeschreckt werden, als ob
die achselzuckende Mißachtung des Mannes in seiner Heimat am Ende doch
das Klügere sei. Sie haben erwartet -- weil sie als Deutsche blindlings
ans Gute glauben -- daß sein Vaterland wie eine stolze Familie zu ihm
stände, und finden ihn eher als verlorenen Sohn darin, zu dem sich
nur die Tapferen ohne Vorbehalt bekennen. Je höher der Lichtschein
seines Ruhmes draußen steigt, umso ängstlicher wird die Vorsicht,
als Schweizer für seinesgleichen gehalten zu werden, als ob etwa die
gesicherte Kultur Helvetiens noch seiner seltsamen Bildungsversuche
bedürfe.

In Basel und Zürich sind es die Humanisten, die seine Abc-Künste
bespötteln, und in Bern die Aristokraten, die seine Anstalt als staats-
und kirchengefährlich hassen, besonders seitdem er in dem abtrünnigen
Waadtland haust. Und gerade während der Zeit, da in Preußen Humboldt,
Stein und Fichte seine Grundmittel der Menschenbildung mit heiliger
Überzeugung ergreifen, muß Heinrich Pestalozzi sich in der Heimat gegen
böswillige Angriffe wehren. Um ihrer mit einem Mal Herr zu werden,
stellt er der schweizerischen Tagsatzung in Freiburg das Ansinnen,
seine Anstalt von Landeswegen zu prüfen, ob die Methode nicht auch
in der Schweiz, wie in Preußen zum Vorteil des Vaterlandes allgemein
eingeführt werden könne! Auch hat der Eifer Niederers vermocht, daß
eine schweizerische Gesellschaft der Erziehung gegründet wird, die
wie vormals die helvetische Gesellschaft in Schinznach so jährlich
zum Sommer in Lenzburg tagen soll, und bevor noch die Dreimänner der
Tagsatzung zur Prüfung der Methode nach Ifferten kommen, hält Heinrich
Pestalozzi als Präsident der Gesellschaft eine Rede über seine Idee
der Menschenbildung, mit der er noch einmal als ein Demosthenes
seines Landes auf den Markt tritt: aber die ihn anhören, sind einige
vierzig für seine Sache schon vorher bemühte Leute, nicht die neunzehn
Kantonsregierungen des Schweizervolks, das in seinen Blättern manchen
Spott lesen kann, ob eine solche Sache wohl berechtigt sei, ernsthafte
und gelehrte Leute zu bemühen? Und als die nächste Tagsatzung den
Bericht der Dreimänner bekannt gibt, ist es eine hämische Aufzeichnung
der Mängel, die sie in der Anstalt gefunden haben, sodaß nun Niederer
wieder mit einer Flugschrift auf dem Wall erscheint und den Gegnern der
Anstalt mit Heroldsworten den Fehdehandschuh hinwirft.

Bevor darauf die Angreifer aus allen Kantonen mit den entrollten
Bannern der überkommenen Weltordnung anrücken, das Nest des Aufruhrs
in Ifferten auszuheben, bricht es innen auseinander. Einem Dämon
der Zwietracht gelingt es, die verhaltene Feindschaft Schmids und
Niederers in das innerste Glas ihrer Männlichkeit zu gießen, wo sie
zischend auseinander fahren muß. Seit einiger Zeit ist eine Lehrerin,
namens Luise Segesser, in der Anstalt, ein schönes und herzlich
verankertes Mädchen aus Luzern, um das sich beide mit der Leidenschaft
ihrer fanatischen Seelen bemühen. Schmid, der gegen den rotköpfigen
und schwächlichen Niederer ein starkes Mannsbild von unverkennbarem
Tirolertum ist, glaubt sich schon als Katholik im Vorteil gegen
den pfarrerlichen Protestanten, da die Segesser selber aus einem
katholischen Hause kommt. Sie würde es bei ihrer Familie mit ihm ebenso
leicht haben wie mit Niederer schwer, aber nach dem Instinkt solcher
Frauen wählt sie das Schwere. Schmid ist immer noch erst ein Jüngling
von dreiundzwanzig Jahren, ihm werden durch ihre Wahl stolze Bäume
aus der Wurzel gerissen; er war bis auf diese Zeit der Liebling des
Meisters und die sichtbare Stütze der Anstalt, selbst der hämische
Bericht der Dreimänner hat seine Leistungen ausnehmen müssen: jetzt ist
ihm alles unwert, weil ein Mädchen sich gegen ihn entschieden hat. Es
fängt an, in seiner Galle zu wühlen, und nun ist es nicht mehr seine
Feindschaft mit Niederer allein, nun hat ihn der Geist der Anstalt
verraten, wo jeder -- so scheint es ihm -- vom kleinsten Zögling bis
zum ältesten Lehrer das tut, was seiner Neigung bequem ist, und wo
Heinrich Pestalozzi nur als Strohpuppe gehalten wird, mit der sie
abwechselnd ihr Ränkespiel treiben: Er vermag nicht mehr, in der
Gemeinschaft zu bleiben, deren fester Stundenschlag er mehr als jeder
andere gewesen ist; eines Tages steht er tief vergrollt vor dem Meister
und sagt ihm, daß er für immer fortgehen müsse!

Es ist ein Frühlingsabend, und Heinrich Pestalozzi, dem das Alter
den Rücken müde gemacht hat, liegt nach seiner Gewohnheit in den
Kleidern auf dem Bett und diktiert, als er zu ihm tritt. Er kennt den
Herzenslauf des Jünglings seit langem, und die Schadenfreude hat ihm
zugetragen, an welches Ende es nun damit gekommen ist: Du nimmst meinem
Dach den Firstbalken weg, sagt er zu ihm, als sie allein sind: und es
ist kein anderer da, der ihn mir wieder aufrichtet; aber wenn dir alles
im Blut verleidet ist, will ich dich nicht mit dem Wasser meiner Worte
halten! Er greift ihm nach den Händen, und einen Augenblick ist es,
als ob der andere ihm seinen Kopf an die Brust werfen und in Tränen
aufgehen möchte; aber der Trotz hält ihn erschlossen gegen solche
Weichheit, daß er die Hände zurücknimmt und bald mit hohen Schultern
das Gemach verläßt.

Der Wind hat die Tür hinter ihm wieder aufgedrückt, daß sie leidmütig
in den Angeln knarrt. Heinrich Pestalozzi ruft nach Anna; sie scheint
nach ihrer Gewohnheit hinuntergegangen zu sein in den Garten, wo die
Vögel das junge Laub anschreien, daß ihm ein einziges Geschrill
davon durchs offene Fenster kommt. Um nicht allein zu sein mit der
Entscheidung, die unsichtbar in der Kammer auf ihn wartet, tappt er
hinunter, sie zu suchen. Es ist die Stunde, da die Knaben unten am See
unter den Bäumen spielen, und darum eine Stille auf den Gängen und
Treppen, die ihn fast ängstlich macht. Bin ich auf einmal allein in der
Welt, denkt er; als er aufatmend unten Schritte hört und, rasch über
die Galerie gebeugt, Muralt mit einem Brief in der Hand quer durch den
Hof zur Treppe gehen sieht. Den schickt mir der Himmel, hofft er und
wartet still, während der andere auf seine schlanke Art heraufkommt;
aber als er ihm seine Sache klagen und ihm sagen will, daß er der
einzige sei, Schmid umzustimmen, wehrt Muralt gleich schmerzlich ab
und reicht ihm seinen Brief. Es ist seine Berufung nach Petersburg,
die schon seit Monaten schwebt: So wollt ihr mich alle verlassen, wie
die Ratten das sinkende Schiff, schreit er im Zorn und will ihm das
Papier an die Brust werfen. Aber es fliegt übers Geländer und tanzt im
Zickzack in den Hof nieder, wo es wie eine Anklage seiner Heftigkeit
liegen bleibt, bis Muralt nach einer Pause hinuntergeht und es aufhebt.
Er kommt nicht zurück, schreitet mit gesenktem Gesicht aus dem Hof
hinaus, sodaß Heinrich Pestalozzi wieder allein in dem leeren Gemäuer
bleibt: ein Bettler im eigenen Haus, wie er bitter vor sich hindenkt,
bevor er zurück in seine Kammer geht, wo die Vögel noch immer das junge
Laub anschreien. Aber die Sonne ist fort, und aus den Ecken wachsen die
grauen Gespinste, den letzten Tag zu verzehren.


                                  93.

Meine Anstalt ist ein Uhrwerk, klagt Heinrich Pestalozzi, als Schmid
und Muralt nicht mehr in Ifferten sind, davon mir irgendwer den
Stundenzeiger und das Schlagwerk fortgenommen hat: nun schnurren die
Räder weiter, und der Minutenzeiger läuft unaufhörlich im Kreis herum,
aber niemand weiß die Stunde! Umso eifriger ist Niederer; er hat nun
endlich freie Hand, die Gewichte nach seiner Neigung aufzuziehen, und
macht aus der Stunde siebzig Minuten, die Anstalt und die Methode vor
den Angreifern zu retten.

Bisher haben die Gegner ihren Zorn nur in den Kantonsblättern auslassen
können; der Aristokratenprofessor von Haller in Bern macht ihnen
endlich im Ausland auf eine Weise Luft, die auch die Anspruchsvolleren
befriedigt. Unter dem schützenden Mantel der Gelehrsamkeit -- darin
seit je die Bosheit ihren geliebten Schlupf hat -- tritt er in den
Göttinger Gelehrten Anzeigen auf, um dem harmlosen Deutschland die
Augen über die gefährliche Revolutionsschule in Ifferten zu öffnen.
Da kann der Haß gegen den Unruhestifter einmal dick ausfließen, und
fleißige Schaufelräder bemühen sich allerorten, ihn ins Land zu
leiten. Niederer, für den nun endlich die Methode aus dem Staub der
Schulklassen in das Feuer der geistigen Prüfung kommt, schlägt mit dem
Schwert seines Eifergeistes in den Brei, bis er selber in einem Berg
von Schaum dasteht. Aber schon meldet sich von Zürich der Humanismus,
der seit Agis Zeiten noch eine Abrechnung mit dem vorlauten Patrioten
aus der Gerwe hat: in der viel gelesenen Zürcher Freitagszeitung
stellt der Chorherr Bremi drei Dutzend Zeitungsfragen, die sich mit
gewandter Bosheit gegen den rasselnden Niederer richten, aber Heinrich
Pestalozzi dem gebildeten Geschmack preisgeben. Er will nun selber
antworten, aber weder die Zeitung in Zürich noch die in Bern nimmt
seine Einsendungen auf, sodaß doch wieder Niederer das Wort nimmt,
diesmal in einem zweibändigen Werk, das den Streit in den Untiefen der
Dialektik entscheidet.

Die Aufregungen dieser papierenen Kämpfe machen aus dem Zähringer
Schloß in Ifferten mehr eine belagerte Festung als eine Schule.
Manchmal genug muß Heinrich Pestalozzi an seine Kattunfabrik und
die Zurzacher Messe denken, wenn er zusieht, wie sich bei Niederer
die Pläne jagen, wie im Handumdrehen ein Verlagsgeschäft, eine
Buchdruckerei und eine Buchhandlung im Schloß eingerichtet werden, um
besser für diese Händel gerüstet zu sein; doch liegt er nun fast immer
an seinem Rückgrat in Schmerzen auf dem Bett und läßt es geschehen, daß
ihm der Zielpunkt seines Lebens täglich mehr auf die Seite geschoben
wird, als ob er um solcher Klopffechterkünste willen gelebt hätte.

Darüber kommt er durch einen törichten Unfall auch noch fast ans
Sterben: als er eines Tages mit einer Stricknadel im Ohr bohrt,
aber nicht recht aus dem Gehänge seiner Gedanken aufwacht, läuft er
unversehens damit gegen den Kachelofen, so unglücklich, daß ihm die
Nadel durch das innere Ohr in den Kopf hinein sticht. Trotzdem es ihm
wehtut, scherzt er selber noch über sein täppisches Ungeschick, bis
die Schmerzen nach einigen Tagen heftiger werden, Fieber dazu kommt
und ihm wie den andern die Gefährlichkeit ankündigt. Krüsi begleitet
ihn nach Lausanne, aber da lassen ihn die Ärzte nicht mehr fort, weil
nun schon das Fieber mit den Schmerzen um sein Bewußtsein kämpft und
der Tod an seine Bettstelle treten will. Vier Monate seines Lebens
kostet ihn die falsche Anwendung dieser Stricknadel, und manche Woche
irrt sein Geist in Delirien hin, darin die Kämpfe der letzten Zeit in
den Spuk früher Kinderträume tauchen, wo die Feinde mit greulichen
Gesichtern und langen Messern heran schleichen. Namentlich ein plumpes
Tier peinigt ihn lange, das dicht über seinen Augen schwebt und ihn
erdrücken wird, wenn es sich niederläßt. Als seine Sinne heller werden,
weil die Sonne durchs Fenster scheint und mütterliche Hände um seine
Wiege sind, ist es der bunte Papiervogel, von dem er geschrieben hat,
daß ihn die Appenzeller Mütter ihren Kindern übers Bett hängten,
damit der suchende Blick daran den ersten Anhalt aus dem Unbewußten
in die Menschenwelt fände. Endlich an einem Nachmittag erwacht er
wieder in seine Greisenwelt, Anna Schultheß lächelt ihn an mit ihrem
Faltengesicht, und der Vogel ist fort: aber die Erinnerung an seine
Farben bleibt in ihm, wie wenn er aus dem Paradies gewesen wäre. Und
noch einmal wird Heinrich Pestalozzi überwältigt von dem tiefen Sinn
dieses Volksgebrauches: Mir löscht das Bewußtsein meiner alten Tage den
Traum bald wieder aus, denkt er und liegt noch immer wie ein Kind in
der Wiege lächelnd mit gefalteten Händen da; aber das Kind, das sich
die Welt mit seinen Sinnen erst aufbauen soll, sieht am Eingang den
paradiesischen Vogel, und es wird immer diesen Kern von Wohllaut in dem
Weltgebäude seiner Anschauung fühlen.

Mitten in diese Gedanken hinein muß er so herzhaft lachen, daß
sich Anna erschrocken -- das Fieber möchte wiederkommen -- zu ihm
hinunterbeugt. Es dauert lange, bis er mit den schwerfälligen Worten
dem blitzschnellen Lauf seiner Gedanken nachkommen kann: Er hat von dem
Papiervogel aus an das Bergwerk gedacht, darin die Seele im Verlauf
einer Jugend von den Erfahrungen der Sinne begraben wird, und an die
unendliche Geduld seiner Methode, sie mit der Ordnung einer wirklichen
Weltanschauung wieder ans Licht zu bringen, auf einmal ist aber noch
Niederer dagewesen mit dem Papierberg seiner Wissenschaft: Weißt du
noch, kichert er und malt ihr mit dem Finger einen Vogel auf die Hand,
wie mich der Henning aus Preußen neulich nach der Stelle in meiner
Lenzburger Rede fragte, aus der Niederer ein gedrucktes Buch gemacht
hat? Es wäre mir auch zu tiefsinnig, was ich da gedacht hätte, sagte
ich: er müsse Niederer fragen!

Als aber Anna schon wieder in Ifferten ist und er noch immer geschwächt
von seiner Krankheit daliegt, bleibt der mühsame Weg von dem
Appenzeller Vogel bis zur Wortposaune der Lenzburger Rede der Strich,
an dem er den Gang seiner Absichten auf der Bettdecke abtasten kann:
Es geht schon arg über den Rand damit, sagt er kopfschüttelnd, und
macht sich fast ein Spiel daraus, wie alles andre danach, der Professor
Haller in den Gelehrten Anzeigen und der Chorherr Bremi mit den drei
Dutzend Zeitungsfragen samt den Niedererschen Antwortschriften auf den
Boden purzelt, wo sie das Turnier in ihrer eigenen Welt, nicht in der
seinen abmachen.

Endlich nach fast vier Monaten kann ihn Anna im Wagen wieder holen; er
möchte -- wie er wehmütig scherzt -- den Umweg über Ifferten garnicht
mehr machen, da es über Burgdorf näher nach dem Birrfeld wäre. Und bei
Cossonay muß ihn der Kutscher ein Stück gegen den Berg hinauf fahren,
damit er ihr die Stelle seiner Rettung unter den Pferden zeigen kann.
Es ist seit Januar Anfang Mai geworden, und die sonnige Luft hat ihn
heiter gemacht; aber wie sie nachher durch das Sumpftal der Orbe
hinunter fahren, fängt er bitterlich an zu weinen. Er hat an das Glück
der Ruhe damals gedacht, und wie anders dies jetzt ist, in das er
hinein fährt: Wo ist mein Jungbrunnen geblieben? klagt er unaufhörlich,
sodaß Anna, die nicht an den Boden seiner Trauer gelangen kann, schon
bitter zweifelt, ob die Nadel seinem Kopf nicht doch geschadet habe.


                                  94.

In den selben Maitagen, da Heinrich Pestalozzi so weichen Herzens
von der überstandenen Krankheit nach Ifferten zurück fährt, reist
Bonaparte seinem Heer nach, den Feldzug gegen Rußland zu wagen. Noch
einmal versammelt er in Dresden die deutschen Könige und Fürsten als
seine Vasallen um sich, bevor er dem Winter in den russischen Steppen
entgegen zieht. Das Gepränge seines Ausmarsches, den auch Tausende
von Schweizersöhnen mitmarschieren, ist kaum in die Einöde verklungen,
und eben legt der erste Winterschnee dem Jurarücken seine Schutzdecke
auf, als der Brand von Moskau sein blutiges Nordlicht leuchten läßt.
Noch sind es Wenige, die den Schein zu deuten wagen; aber bald fliegen
die Gerüchte an den Landstraßen hin, daß der Weltherrscher in einem
Schlitten allein durch Deutschland zurück geflohen sei, indessen die
Leichensaat der großen Armee in Rußland geblieben wäre. Während sich
eine dumpfe Erwartung über die Menschen legt, fängt bei den preußischen
Lehrern, die noch in Ifferten sind, die Unruhe an zu brennen;
kaum fallen die ersten Eiszapfen von den Dachrändern, als sie dem
Befreiungskrieg ihres Vaterlands zufliegen.

Wenn der Krieg auch fürs erste der Schweiz fern bleibt, bekommt ihn die
Anstalt doch zu spüren; schon mit den preußischen Lehrern sind Zöglinge
heimgereist, und auch sonst holen besorgte Eltern ihre Kinder. Mit dem
Frühjahr schmelzen die Einnahmen bedenklich hin, während die Ausgaben,
von den Niedererschen Ideen gedüngt, üppig ins Kraut schießen. Es geht
schon wieder wie mit der Fabrik im Neuhof, Heinrich Pestalozzi in
seiner Bedrängnis stopft die kleinen Löcher aus einem großen Loch, und
noch einmal muß Anna Schultheß aus ihrem Ererbten sechstausend Franken
hergeben, den Bankrott abzuwehren. Sie ist fünfundsiebzigjährig, als
sie den Pakt unterzeichnet, und ihr Enkel steht schon als Jüngling
dabei; ihm den Rest des Vermögens zu sichern, wird ein Vertrag gemacht,
der sie nun selber auch auf den Altenteil setzt, sodaß sie beide
nichts mehr besitzen, als daß sie -- wie die Lehrer auch -- ihre
Unterkunft in der Anstalt haben: Jetzt kann ich nicht mehr das Senkblei
deiner Stürme sein, sagt sie zu ihm, jetzt bin ich leicht wie du!

Während er so das Schneckenhaus seiner Gründung mühsam weiterschleppt,
ist die Völkerschlacht bei Leipzig geschlagen, und wie Bonaparte
früher die Völkerscharen Europas gegen seine Feinde geführt hat, so
drängen sie nun gegen ihn. Ehe die Schweiz sich dessen versieht, steht
die Hauptarmee der Verbündeten in Basel, bereit, nach Frankreich
einzudringen; die Tagsatzung beschließt eine vorsichtige Neutralität,
aber nun gibt es zwischen Für und Wider keine Möglichkeit mehr, und
hundertdreißigtausend Österreicher rücken ungefragt ins Schweizerland,
den Heerweg zwischen Jura und den Alpen nach Genf zu nehmen. Ifferten
liegt mitten in der Bahn, und als schon Tausende durchgerückt sind,
reitet eines Tages ein Offizier mit dem Befehl in die Stadt, das Schloß
für ein Lazarett zu räumen! Kommt mir alles wieder? denkt Heinrich
Pestalozzi; aber nun ist er nicht mehr der hilflose Waisenvater in
Stans, und als die Stadt zwei Abgeordnete nach Basel ins Hauptquartier
schickt, das Übel noch abzuwenden, schließt er sich trotz seiner
neunundsechzig Jahre den beiden an.

Die modischen Stadtherren sind nicht erfreut, als ihnen der ungekämmte
Sonderling auch noch in den Wagen gepackt wird, und wo sie Rast machen
unterwegs, verleugnen sie ihn vorsichtig, um nicht für seinesgleichen
zu gelten. Aber als sie nach Basel kommen, wo es von Federbüschen
und goldbestickten Uniformen wimmelt und auf den Straßen die Karossen
der Fürstlichkeiten drängen, sind die Türen der Heeresämter nicht
so offen wie unterwegs die Gasthöfe; der Weltkrieg hat keine Zeit
für die Wünsche kleiner Landstädte, und selbst die Abgeordneten der
Tagsatzung zucken mit den Achseln; die Stadtherren von Ifferten müßten
ungehört abfahren, wenn ihnen nicht der mißachtete Greis die Türen und
Ohren aufmachte. Wie sie sich wieder nach ihm umsehen, ist er eine
vielbegehrte Berühmtheit, und schon am dritten Tag dürfen sie ihm zur
Audienz beim russischen Kaiser folgen.

Der empfängt den runzeligen Alten inmitten seiner Würdenträger wie
einen Zauberer, und schon sein erstes Wort entledigt die Stadtherren
von Ifferten aller Sorgen. Nur wurmt es sie, daß Heinrich Pestalozzi
sich nicht sogleich -- wie es schicklich wäre -- mit ehrfürchtigem
Dank zurückzieht, sondern den Herrscher aller Russen wie ihresgleichen
ins Gespräch nimmt; obwohl sie nicht hören, was er ihm alles sagt,
weil der Kaiser schrittweise vor seiner Lebhaftigkeit zurückweicht,
zittern sie um seiner Zudringlichkeit willen, und als er ihn nach
einer Viertelstunde bis an die gegenseitige Tür gedrängt hat und
immer noch nicht nachgibt, sogar die Hand hebt, um den Kaiser nach
seiner Gewohnheit am Knopf zu fassen, möchten sie ihn an den Beinen
hinausziehen. Doch scheint der Kaiser anderer Ansicht zu sein; sie
wollen es nicht glauben, aber sie sehen es mit ihren Augen, wie er den
alten Mann, dem im Eifer sein Strumpf gerutscht ist, gerührt in die
Arme schließt, bevor er sich wieder zu den Staatsgeschäften seines
Gefolges wendet.

Bei der Rückfahrt möchten die beiden seinem Alter diensteifrig zu Hilfe
sein; aber nun scheint dem Greis die letzte Vernunft zu entfahren: er
fragt sie selber aus seinem Traum, ob alles in Ordnung sei? Heinrich
Pestalozzi sind in diesen Basler Tagen andere Dinge wichtig geworden
als Ifferten und seine Anstalt. Wohl hat er dem Kaiser der Russen
vieles gesagt, wie der Mensch durch einen naturgemäßen Bildungsgang
in die Menschheit eingeführt werden müsse; aber er fühlt, es müßten
Monate, nicht Stunden der Predigt sein, um seiner Botschaft wirklich
solch ein Herz zu wecken: Es sind nicht die Menschendinge, die den
Mächtigen ans Herz gehen, sagt er zu den Stadtherren, die garnicht
merken, daß er mit sich selber spricht, es gilt nicht die Menschheit
und nicht einmal ihr Volk, es ist nur ihre Macht. Aber diese Macht
allein kann nichts als Heere unterhalten und Länder mit Krieg
überziehen; wenn danach der Friede kommt, ist sie wie eine Schelle
ohne Klöppel. Ich wüßte Einem, der mir folgte, eine Macht in Europa zu
gründen, die mächtiger als Bonaparte wäre; und ich sage euch, wer es am
ersten mit mir hält, dem wird die Herrschaft in Europa zufallen!

Er hat die beiden Stadtherren aus Ifferten nun wirklich an den
Rockknöpfen gepackt, und obwohl sein Menschengeist kühner als jemals
auf Abenteuer in die Zukunft reitet, murmelt er nur Worte, die sie
nicht verstehen. Darum sind sie froh, als er endlich schweigt und sie
losläßt; denn ob sie noch immer über die Geltung dieses unscheinbaren
Greises betroffen sind, ihn in die Arme zu schließen vermöchten sie
nicht, trotzdem es ihnen ein Kaiser vormachte.


                                  95.

So zufällig der Anlaß dieser Reise nach Basel für Heinrich Pestalozzi
gewesen ist, so bedeutend wird ihre Folge. Er fährt den Stadtherren
zuliebe über Bern zurück, wo sie einen Tag lang bleiben wollen, noch
ohne Ahnung, daß dies gefährlich sein könnte. Schon zwei Tage vor
Weihnachten haben die Berner die napoleonische Verfassung abgeschafft
und sich wieder nach der ehrwürdigen Ordnung der Väter eingerichtet,
die ihnen von neuem die Zwingherrschaft über den Aargau und das
Waadtland geben soll. Sie wissen, daß sie beim Fürsten Metternich für
solche Gelüste Rückhalt finden und haben schon den österreichischen
Oberst Bubna beauftragt, im Durchrücken die verhaßte liberale Regierung
in Lausanne einzustecken. So ist jeder Waadtländer in Bern wieder ein
Empörer wie zu Davels Zeiten, und als Heinrich Pestalozzi sich in der
Frühe nach seinen Ratsherren umsieht, sind sie noch am Abend eilig
wieder abgefahren.

Es wird zwar noch nicht mit Musketen geschossen, und er kommt
ungefährdet aus den finsteren Trutzgassen der alten Bärenstadt wieder
hinaus; aber seine Schweizer Gedanken haben eine böse Erschütterung
erfahren. Nun erst sieht er, was dieser Siegesmarsch der Verbündeten
bedeutet: er soll der europäischen Welt die letzten zwanzig Jahre wie
ein Geschwür ausschneiden, und dies begreift er sofort, daß seine
Menschenbildung mit zu dem Geschwür gehört. Zwar wird er auf den Schutz
des russischen Kaisers und der preußischen Regierung rechnen können,
aber sein Werk wird in einer so kurierten Welt keine Lebensluft mehr
haben. Er ist nun selber die Schelle ohne Klöppel, und so lustig er
über die vorsichtigen Ratsherren gespottet hat: nun kommt er wie sie
mit einem Gefühl der Gefahr in Ifferten an. Die ersten Zöglinge, denen
er vor dem Ort begegnet -- es sind die goldäugigen Zwillinge eines
Pfarrers aus dem Traverser Tal -- holt er zu sich in den Wagen und hält
sie fest, als ob schon die Landreiter kämen.

Er findet Anna und die geborene Fröhlich in einer Aufregung, die der
seinen gewachsen ist: Niederer, den jedermann noch im Verhältnis
mit der Segesser glaubte, hat sich mit Rosette Kasthofer verlobt,
der Heinrich Pestalozzi im vergangenen November das Töchterhaus als
Eigentum abgetreten hat, was den Frauen schon damals nicht recht
gewesen ist. Auch ihm kommt die Nachricht unerwartet, aber länger als
eine Minute vermag er nichts Ärgerliches daran zu finden: Wir müssen
nun alle zusammen halten, sagt er aus seiner andern Welt, und erst als
Anna, die schon Wunderdinge aus Basel gehört hat, ihn verdutzt fragt,
ob es vielleicht doch anders gewesen sei, als das Freudengespräch durch
Ifferten gehe: berichtet er von seiner Audienz, darüber sie für diesen
Abend doch noch fröhlich miteinander sind.

Am andern Morgen aber ist der Spuk wieder da und böser, als er ihn von
Bern mitbrachte. So muß Noah zumute gewesen sein, denkt er, als er die
Arche baute: und meine vier dicken Türme können nicht schwimmen, auch
ist es gar die Zwingburg des Zähringers selber, darin ich sitze! Ich
muß mein Testament schreiben, sagt er zu Anna, aber sie merkt bald,
daß es nicht ihrem Enkel Gottlieb gilt: »An die Unschuld, den Ernst
und den Edelmut meines Zeitalters und meines Vaterlandes« steht oben
darüber, und wenn er jemals Worte für seine innere Beredtsamkeit fand,
so gelingt es ihm diesmal. Er hat in Bern und schon in Basel sagen
hören, daß es die alte Kultur herzustellen gelte: aber nun leuchtet
er die gerühmte Zeit der Väter mit dem Lichtschein der Menschlichkeit
ab und zeigt, daß ihre hitzigen Preiser nur den äußeren Glanz des
gesellschaftlichen Lebens meinen. Kultur aber ist nur da -- dies
setzt er scharf ins Licht -- wo das Gewissen des einzelnen sich zur
sittlichen Persönlichkeit durchfindet und wo die Gesellschaft zur
Gemeinschaft solcher Persönlichkeiten wird. Darum kann Kultur nicht
durch eine Veränderung der äußeren Zustände herbeigeführt werden,
ihr Boden ist allein der Mensch: Laßt uns Menschen werden, damit wir
Bürger, damit wir Staaten werden können!

Es schwinden ihm Wochen und Monate über dieser Schrift, und die
Täglichkeit, so peinlich und verworren sie ihn bedrängt, wird eine
ferne Unwirklichkeit. Mancherlei Freunde wollen der bankrotten Anstalt
mit Neuerungen in der Verwaltung aufhelfen, und Anna kommt von einer
Reise nach Zürich nicht zurück, weil sie der Besserung nicht im Wege
stehen will; Niederer heiratet die Kasthofer und geht für Monate
mit ihr auf die Hochzeitsreise: es wird abgerüstet, das ist das
einzige, was er davon wahrnimmt, und das treibt ihn wieder in die
Gedanken seiner Schrift zurück. Es geht an den Grund seiner ganzen
Lebensarbeit, es geht an die Wurzeln der europäischen Menschheit,
da ist das zufällige Schicksal seiner Anstalt nichts mehr als die
verspritzte Welle eines rauschenden Stromes. Als die siegreichen
Mächte auf dem Wiener Kongreß das Schicksal Europas bestimmen wollen,
ist der Freiherr von Stein der erste, dem er die Schrift übersendet;
ganz ahnungslos, daß der als Triebfeder der deutschen Befreiung schon
wieder ausgeschaltet ist, weil es nur noch die gierige Verteilung der
Länderbeute gilt.

Es ist zum letzten Mal, daß der Menschengeist in Heinrich Pestalozzi
auf ein europäisches Abenteuer reitet; seine Seele sitzt unterdessen
in den Nöten seiner Anstalt zu Ifferten und wartet, wer ihr daraus zum
Frieden helfe. Die Reise nach Basel hat nicht das benachbarte Grandson
von den Lazaretten freihalten können; von dort aus verbreitet sich das
Nervenfieber der österreichischen Soldaten doch nach Ifferten, und
als der Herbstwind die gelben Blätter auf den Weg zu treiben beginnt,
trifft es die geborene Fröhlich. Im siebenundvierzigsten Jahr ihres
schaffnerischen Lebens legt ihr der Tod die Hände ineinander, die seit
dreizehn Jahren das Hauswesen der Anstalt gehalten haben. Als sie den
Sarg hinaus bringen, trägt Heinrich Pestalozzi keine Hoffnung mehr
hinterher: Anna ist von Zürich auf den Neuhof gegangen; er möchte vom
Kirchhof zu ihr laufen, statt in das verwahrloste Schloß zurück zu
gehen, wo fremde Hände sein Geld und seine Worte ausgeben.

In dieser Zeit nimmt Niederer sein Herz in die Hand; er hat schon
auf der Hochzeitsreise seinen Gegner Schmid in Bregenz besucht,
den alten Groll auszulöschen; nun setzt er viele Briefe daran, dem
Trotzigen die Rückkehr abzubitten, weil er allein mit dem Ruf seiner
Lehr- und Regierfähigkeit die Anstalt retten könne. Und während
die eifersüchtig streitenden Mächte auf dem Wiener Kongreß wie
eine gestörte Spatzenschar auffliegen, weil Bonaparte noch einmal
das Glück der Weltgeschichte versucht, kommen kurz nacheinander
zwei Wagen nach Ifferten gefahren, die Heinrich Pestalozzi seine
siebenundsiebzigjährige Frau Anna mit der hart und grau gewordenen
Lisabeth und den Tiroler Schmid wiederbringen. Beide werden auch von
den andern jubelnd begrüßt, und Pfingsten ist noch nicht im Land, da
zeigen Stundenzeiger und Uhrwerk wieder den festen Gang des Uhrwerks
an. Das Geld regnet nicht noch einmal zum Dach herein, aber es fliegt
auch nicht mehr hinaus, weil eiserne Sorgfalt es behütet.

Heinrich Pestalozzi hat schon nicht mehr gedacht, noch einmal sorgenlos
unter den hoben Seebäumen spazieren zu können; aber so sehr er die
Erlösung aus den täglichen Nöten fühlt, die Landschaft ist taub für
ihn geworden, und es kann ihm begegnen, wenn er Anna zuliebe vor dem
Gelärm der Zöglinge beiseite geht, daß er sich selber erleichtert
fühlt, das Gewühl ihrer Stimmen nicht mehr zu hören: er hat Sehnsucht
nach der harten Stille des Birrfeldes, die Anstalt ist ihm verleidet,
und er möchte sein Waisenhaus haben. Mit all seinem Ruhm -- sogar den
Wladimirorden hat ihm der russische Kaiser gesandt -- mit dem fremden
Zulauf in seine Anstalt kommt er sich vor wie ein Wagen, der mit den
Achsen nach oben auf der Wiese steht und seine schnurrenden Räder
nur noch als Spielzeug der Kinder hat: Solange ich nicht mit einem
Armenkinderhaus gezeigt habe, wie der Armut aus sich selber geholfen
werden kann, hat die Methode nur der Schule, nicht dem Leben gedient,
und mein Werk ist nur halb getan! sagt er zu Schmid. Aber der schüttelt
eisern den Kopf: Ehe er nicht ohne Verschuldung auf den Neuhof zurück
könne, ließe er ihn nicht fort! Er brauche vielleicht nicht länger als
ein Jahr, aber das müsse er aushalten!

Wenn Heinrich Pestalozzi über solche Worte bei Anna klagt, obwohl
er sich der Liebe darin freut, legt sie wohl seufzend ihr Buch aus
der Hand und sieht ihn über die Brille wie ein Meerwunder an, daß er
noch mit grauen Haaren solch ein Kind seiner Unrast sei. Sie liest
nun ziemlich den ganzen Tag und spricht von den Dingen und Gestalten
ihrer Bücher, als ob sie die Wirklichkeit wären. Von ihrer letzten
Anwesenheit im Neuhof hat sie das Nibelungenlied mitgebracht, wie es
der Stadttrompeterssohn und Patriot Müller aus der Gerwe zum ersten Mal
in Druck gab; daraus ist es gekommen, daß sie Schmid den ingrimmigen
aber treuen Hagen von Tronje nennt.

Er mag das grausam heidnische Buch nicht, wie er es nennt, und
er schmollt oft in einen Greisenzank, wenn sie schon wieder über
Kriemhildens Klage weint; aber es tut ihm wohl wie alter Wein, daß sie
so geruhsam am Fenster sitzt und zum wenigsten sein Werk in Ifferten
nun als gesichert ansieht. Wenn ihn selber die Unruhe quält, schlüpft
er gern für einige Minuten in das Behagen ihres beruhigten Alters ein;
er weiß, daß sie einen gepreßten Klatschmohn im Buch liegen hat, den
sie im Sommer aus dem Schloßgarten anbrachte, und das verblaßte Rot
davon braucht nur aus den Blättern zu leuchten, so möchte er schnurren
wie ein Kater in der Ofenwärme.

So glüht ihnen das Jahr still zu Ende, das unerwartet das letzte ihres
Lebens ist. Anfangs Dezember wird sie von heftigen Brustschmerzen
überfallen, die sich nach einer fiebrigen Nacht in Schlafsucht lösen.
Am dritten Nachmittag wacht sie auf und streicht ihr dünnes Haar
zurecht wie ein Mädchen, das sich verschlafen hat: Siegfried hat
wie Christus keinen Sohn gehabt, sagt sie aus ihrem Traum und muß
noch lächelnd weinen, weil sie an ihren Jakob denkt. Als sie dann
kopfschüttelnd über ihre Verwirrung aufgestanden ist und auf dem Sofa
sitzt, hebt sie die beiden Hände vor die Brust und sieht ihn aus einer
tiefen Verwunderung an: Wie seltsam ist dies, Pestalozzi, in Schlaf
zu fallen und wieder zu erwachen! Er hört nicht recht darauf, weil er
ihr die Schuhe holen will; auch fällt ihm ein, daß nun bald wieder
Weihnachten und Neujahr ist, wo er in der Kapelle sein Haus ansprechen
muß, und wie er diesmal eher ein Brot, aus Gottes Korn gebacken,
mitbringen könne als einen Sarg! Weil solche Einfälle in ihm ihr
eigenwilliges Leben haben, ist er gleich eifrig dabei, Gedanken daran
zu schnüren, indessen sie -- nicht anders glaubt er -- die Hände sinken
läßt, noch einmal in ihren Schlaf zu fallen. Aber wie es darüber
dunkel in der Stube wird und er die Messinglampe holt, die auch den Weg
vom Neuhof hierher gefunden hat, sieht er, daß sie zu dreien im Zimmer
gewesen sind, von denen zwei ihm unbemerkt weggingen.


                                  96.

Als Anna Schultheß begraben wird, die für Heinrich Pestalozzi durch
achtundvierzig Jahre das Senkblei seiner Stürme gewesen ist, gibt
es eine Trauerfeier für Ifferten, als ob wirklich die Schloßherrin
gestorben wäre. Eilfertige Liebe hat bei der Regierung in Lausanne
bewirkt, daß ihr Sarg im Schloßgarten beigesetzt werden darf, unter
zwei alten Nußbäumen, die sie gern hatte; und für Heinrich Pestalozzi
ist schon der Platz daneben bereit. Irgendwer heftet ihm den
Wladimirorden an den Rock, und auch sonst ist soviel Sorgfalt um die
feierliche Stimmung des Tages bemüht, daß er sich als die willenlose
Hauptfigur dieser Handlung umher geschoben fühlt und erlöst ist,
endlich aus dem Schwall von Glockengeläut und feierlichen Mienen in
seine Stube zu können. Er hat noch immer für das Frühjahr heimliche
Pläne mit dem Neuhof gehabt, und es sollte eine gemeinsame Heimkehr
aus der welschen Fremde sein. Nun hat er keine Heimat mehr; denn Anna
liegt hier in der fremden Erde und wartet auf ihn. Ob seine ruhelosen
Gedanken auf den Wegen der Vergangenheit mit Vorwürfen und Klagen
seiner Unbeständigkeit nach ihr suchen, diese Qual steht unbeweglich in
ihm: Nun bin ich schiffbrüchig, klagt er, und niemand kann mir wieder
ans Land zurück helfen!

So erlebt er seinen siebzigsten Geburtstag einsam und düster, und auch
die Zustände in der Anstalt sind nicht mehr so, daß sie ihn aufheitern
könnten. Als ob er nur den Tod der Hausmutter abgewartet hätte, ist
der Lehrerstreit heftiger als je ausgebrochen; die Kränze liegen noch
auf ihrem Grabhügel, da sind die Hände, die sie banden, schon wieder
in Feindschaft geballt. Sie haben den Tiroler gerufen, daß er Ordnung
in die Verwahrlosung brächte, nun er Unmenschliches leistet, die
Anstalt zu retten, nehmen sie Anstoß an seinen Mitteln: Obwohl nur noch
achtundsiebzig Zöglinge da waren, als er kam, lebten zweiundzwanzig
Lehrer von den Einnahmen; er kündigte den Entbehrlichen und kürzte das
Gehalt der andern, er sorgte für einen Stundenplan, der die Lehrkräfte
ausnützte, und sah unbeugsam darauf, daß er eingehalten wurde; er
richtete eine Buchführung ein, darin kein Rappen seitwärts ging, und
räumte mit den Niedererschen Verlagsgeschäften, der Buchhandlung und
Druckerei auf. Auch kann ihm niemand nachsagen, daß er den eigenen
Vorteil suche, weil er am ersten Tag seine mühsamen Ersparnisse ohne
Schein und Zins in das Loch der Verschuldung hineingeworfen hat. So ist
er in Wahrheit der unabänderliche Stundenschlag, der alles bedrängt,
was faul und sorglos ist.

Der, den es am ärgsten trifft, ist Niederer; er war die rechte Hand
und soll nun gehorchen, wo die linke kommandiert. Mehr als je hält
er sich für den Herold der Methode und verachtet den unwissenden
Rechenmeister: so wird er die Brandstelle für die Verstimmung der
andern. Verbittert durch den Undank, und daß sie ihm mit ihrem Streit
diese Zeit entweihen, stellt sich Heinrich Pestalozzi selber vor ihren
Groll, Schmid zu schützen; um zu erfahren, daß sich seit den Tagen
Steinbrüchels nichts für ihn geändert hat: kein Lehrer damals hat ihm
seine Mängel grausamer vorgehalten, als es nun die eigenen Gehilfen
tun, und namentlich Niederer führt eine Sprache, als ob er nur das
verunreinigte Gefäß von Ideen wäre, die in seinem Feuer viel reiner und
mächtiger brennten. Ach, daß ich einmal gerade und einfach meine Straße
gehen könnte, klagt Heinrich Pestalozzi, statt immer auf die Folter
meiner Unfähigkeit gespannt zu sein!

Darüber wird es Pfingsten, und die Konfirmanden der Anstalt sollen
durch Niederer in die Christengemeinschaft aufgenommen werden; um
der besonderen Feierlichkeit willen sind auch viele Einwohner in der
Schloßkapelle, als er die Kanzel besteigt. Vorher haben die Zöglinge
eine Kantate aufgeführt, und wie draußen im jungen Grün ist in den
Herzen drinnen die Stimmung des Festes, das so seltsam dem Geist in der
Menschheit gewidmet ist, dem Heiligen Geist, der nach dem apostolischen
Glaubensbekenntnis sogar gleich dem Vater und Sohn als göttlich verehrt
wird. Das merkwürdige Mädchenwort seiner sterbenden Frau von Siegfried
und Christus ist Heinrich Pestalozzi noch nicht so aufgeblüht wie an
diesem Pfingstmorgen, wo es ihm wunderlich an die Schläfen klopft,
um wieviel heller und siegfriedhafter die Gestalt Christi in dieser
Erscheinung geworden ist als in seinem ganzen Leben von Bethlehem
bis Golgatha. Der Geist macht lebendig, sagt er glückselig vor sich
hin, indessen der Brustton Niederers mit wahren Wortschauern über
die Versammlung regnet. Und merkt erst, daß etwas geschieht, als die
Worte, die eben noch so rauschend flossen, gehackt und heiser in die
Stille fallen, die sich ihnen erschrocken entgegenstellt. Und auch
dann muß er seine verstörte Seele lange an der Schulter rütteln, daß
es Wirklichkeit sei, wie Niederer sich auf der Kanzel mit hadernden
Worten von ihm lossagt und ihm am Pfingstfest vor der Gemeinde sein Amt
hinwirft.

Der Zorn faßt ihn augenblicklich, und er hört seine Löwenstimme
durch den Raum schallen, ihm den Frevel zu verweisen, bevor er die
Worte bedenken kann. Der rote Niederer bringt danach seine Rede
zu Ende und spricht auch das Gebet zum Schluß wie sonst; es ist
Heinrich Pestalozzi, als müsse ein Wasser einbrechen und sie alle
hinausschwemmen, die statt einer Pfingsterbauung nur die Häßlichkeit
dieser Zänkerei in der Seele haben. Er spricht mit keinem, als sie
hinausgehen, senkt seine Augen vor den Zöglingen und flüchtet in sein
Zimmer wie ein Gerichteter: Es ist mein Haus, in dem das geschah, und
es ist mein Werk, das zu diesem Ende zielte!

Andern Tags erhält er von Niederer einen Brief; er zittert, daß eine
Abbitte des Frevels darin sein möchte; als er ihn öffnet, ist es eine
Aufrechnung seines Stundengeldes. Unter allen Mißlichkeiten seiner
Lebenserfahrung ist ihm keine so verhaßt wie die, immer wieder an
den Punkt zu kommen, wo die menschlichen Verhältnisse mit Franken
und Rappen bezahlt werden. Er fürchtet, daß der Streit hierin noch
häßlicher auslaufen möchte, schickt ihm am selben Tag das Geld und
zugleich für die geborene Kasthofer eine Generalquittung, daß er auf
alle Ansprüche aus dem Mädchenheim verzichte, sich aber bereit erkläre,
was sie noch etwa zu fordern habe, als gültig anzunehmen und zu
bezahlen. Nur endlich fort in eine reinliche Welt, fleht er, als er die
Quittung fortschickt; und die Gewißheit, zum wenigsten in Geldsachen
durch das Ordnungswerk Schmids nicht mehr unfähig zu sein, gibt dem
Abschied eine grimmige Tröstung bei.

Unterdessen hat der Austritt Niederers dessen Freundschaft mitgerissen;
in den nächsten Tagen kündigen ihm andere Lehrer den Dienst, sodaß er
zum guten Teil mit Schmid allein in der Anstalt bleibt, die dadurch in
der Wurzel angeschnitten wird. Und als er sich durch diese Kündigung
doch wieder in das Elend des Streites zurückgeworfen sieht, den er mit
der Quittung aus dem Haus senden wollte; kommt ihm das Papier selber
höhnisch zurück. Niederer und seine Gattin erkennen die Quittung nicht
an; sie glauben, selber viel höhere Forderungen an ihn zu haben, deren
er sich dadurch mit einer böswilligen Unterstellung entledigen wolle,
und melden den Streit beim Friedensrichter an.

Es ist schon dämmerig, als er diese Nachricht erhält in Worten,
die ihn als einen Satan von Bosheit und hinterlistiger Berechnung
hinstellen. Und nun erst erlebt er, wie die äußere Ruhe dieser Tage
eine Selbsttäuschung gewesen ist, wie das Erlebnis in der Kirche noch
garnicht auf den Grund seiner Seele gekommen war: jetzt schlägt es den
Bodensatz seiner Verbitterung auf; daß er meint, in Verzweiflung und
Galle ausfließen zu müssen. Warum lebe ich noch! jammert er und irrt
hinaus in den Abend, um aus der Welt seiner Unfähigkeit fort zu laufen.
Die Sonne des Frühsommertages hat nicht alle Helligkeit mitnehmen
können hinter die Juraberge; nur unter den hohen Bäumen hat der Abend
seine Schatten eingesetzt, über dem See und auf den Wiesen an seinem
Ufer liegt das vergessene Licht bis hinauf in den unwirklich hellen
Himmel: Es ist der Dämmerungsspuk meines übriggebliebenen Daseins,
fühlt er, indem er schwer gegen das aufrauschende Wasser vor seinen
Füßen angeht, es will nicht Nacht werden und ist doch kein Tag mehr!

Als es Mitternacht schlägt, findet er sich in nassen Kleidern unter den
Nußbäumen im Schloßgarten wieder. Sie haben ihr einen gemeißelten Stein
aufs Grab gesetzt und auch da schon Raum gelassen für seinen Namen.
Ach, daß ich darunter läge, weint seine verzweifelte Seele; gleich
aber jagt sein Zorn auf, daß es der Boden seiner Feinde sei, darin er
liegen soll. Sie haben mir schon lebendig den Grabstein aufgesetzt,
schreit etwas in ihm, und als ob alle Feindschaft dieser Tage gegen
ihn stände in diesem Stein, springt er ihn an und rüttelt an seiner
Unbeweglichkeit und rast mit Wahnsinnskräften, bis er ihn wanken fühlt.
Und obgleich Orgelstimmen in ihm aufquellen, ihn zu warnen: er vermag
die Raserei nicht aus den Händen zu bringen, bis der Steinklotz sich
hintenüberneigt und dumpf ins Erdreich schlägt. Da erst sieht er, daß
seine Füße auf dem Grab und den zerstampften Blumen stehen; der Bann
weicht von ihm, und mit einem wehen Aufschrei wirft er sich hin.


                                  97.

Noch lange danach, wenn Heinrich Pestalozzi an diese Nacht denkt,
fürchtet er, den Verstand von neuem zu verlieren, so fürchterlich
ist seiner Seele der Einbruch sinnloser Wut noch in der Erinnerung.
Schmid hat ihn andern Tages nach Bulet auf den Jura gebracht, wo ihn
der Bergwind und die Stille in eine starke Kur nehmen. Soviel er kann,
kommt Schmid abends die drei Wegstunden noch zu ihm herauf; aber er mag
nichts mehr von Ifferten hören, fast abergläubisch ist seine Furcht,
noch einmal in die Hölle der Feindschaft hinunter zu müssen. Ich bin
wieder auf dem Gurnigelstein, sagt er bitter, diesmal endgültig, weil
mich die Welt nicht brauchen kann!

Aber Schmid hat ein Heilmittel bereit, das ihn aus der Wüste wieder zu
den fließenden Brunnen seines Lebens bringt. Schon vor dem schlimmen
Pfingstfest ist er nach Stuttgart zu dem Verleger Cotta gefahren, um
einer Gesamtausgabe der Schriften willen; er hat auch einen Vertrag
zustande gebracht, aber wie günstig dessen Bedingungen sind, zeigt sich
nun erst, als die Vorausbestellungen anfangen, einzulaufen. Der Kaiser
von Rußland steht mit fünftausend Rubel an der Spitze, und gegen den
Herbst kann Heinrich Pestalozzi aus seinem Anteil mit einer Einnahme
von fünfzigtausend Franken rechnen. Das ist ein Erfolg, den er auch
in hoffnungsvollen Stunden nicht erträumte; nun kommt der Segen in
die Entmutigung. Also bin ich den Leuten doch nur ein Buchschreiber
geblieben, sagt er zuerst noch grollend und will auch nichts mehr von
seinen Schriften wissen. Als er sie endlich zur Hand nimmt, in seiner
Bergstille zu prüfen, was die bittere Erfahrung dieser Jahre daran
geändert habe, packt ihn allmählich doch der Eifer, das Veraltete darin
neu zu sagen. Damit wird er, sich selber unbemerkt, auf die Heerstraße
seines Lebens zurück geführt; er sieht wieder, in wieviel Abenteuer
er für die Befreiung der Menschheit gezogen ist, und wird Blatt für
Blatt aufs neue begeistert für den Sinn seiner Sendung: die Treppe der
Bildung in das Haus des Unrechts zu bauen.

Selbst, was die Geißel seines Lebens gewesen ist, die eigene
Unbrauchbarkeit, die er -- in seiner Krankheit nichtswürdig vollendet
-- aus dem Seeboden herauf brachte in die Juraluft, hört auf, ihn zu
lähmen: Ich sollte nicht anders sein, als ich da bin; Gott hat meine
Seele gemacht, nicht ich; er wird wissen, warum sie solch ein unreines,
undichtes und verbeultes Gefäß sein mußte! Vielleicht, oder gewiß, daß
ich anders dem Menschengeist untauglich gewesen wäre, weil es doch
soviel saubere und glatte Kannen gibt, darin nur Selbstgefälligkeit
ist. Und darf ich wohl klagen, daß es mir übel ging, wo es meine
Begnadung war, um der Menschheit willen aus Schuld Und Irrtum zu lernen?

Wenn er in solchen Gedanken von der sonnigen Bergweide hinunter
sieht über den See, der von hier oben betrachtet mit seinem Becken
tief in die Berge gezwängt ist wie das Tal unterm Gurnigel, kann es
ihm geschehen, daß ihn schon wieder ein Lächeln anfliegt, weil er das
großmächtige Dach des Zähringer Schlosses klein wie ein Spielzeug
sieht: Es waren nicht seine vier dicken Türme, die mich ängstigten --
sie sind garnicht dick, ein Finger vor meinen Augen hält sie alle vier
zu -- es war der babylonische Turm meiner Erziehungsanstalten. Was
mir nur ein Mittel sein sollte, meine Methode klar zu machen und mir
das Geld für mein Armenkinderhaus zu bringen, das ist mir in Wahrheit
über den Kopf gewachsen, so hoch, daß ich vom Himmel nur noch das
Viereck über meinem Gemäuer sah. Hätte ich Waisenvater in Stans bleiben
können, wäre meine Welt klar und einfach und übersichtlich für meinen
Verstand geblieben. Ich hätte es schwerer gehabt, gleichviel, ich wäre
glücklicher gewesen! Und Heinrich Pestalozzi freut sich wie ein Knabe,
als er auf der Kuhweide in Bulet ein Wort findet, das ihm alle Qual der
letzten Monate in einen bittersüßen Scherz umkehrt: Weil ich es leicht
hatte, weil ich es mir zu leicht machte, nur darum bin ich unglücklich
geworden! Und jedesmal -- wie ein Sennbub wettend die Hand hinhält --
steht hinter dem Wort und dem Gedanken sein Mut schon wieder auf beiden
Beinen da: Topp, was gilts? Mein Leben hat noch Raum, glücklich zu
werden!

Als er im Herbst von seinem Berg herunter kommt, nußbraun von der
Sonne, daß seine Augen wie zwei Porzellanschilder darin stehen -- hat
ihm Schmid in die Hand versprochen, daß er den Traum seiner Seele,
sein Armenkinderhaus, sogleich versuchen darf.

Er findet ein Gebäude dafür in dem benachbarten Clindy; denn nun hat er
keine Fluchtgedanken mehr: meine Welt ist überall! sagt er, der sich
mit den Einnahmen aus seinen Schriften fürstlich genug vorkommt, die
Heimat des Werkes selbst zu wählen. Auch Gottlieb, der Enkel, der von
den Frauen einem Gerber in die Lehre gegeben war -- damit er einmal
fester als sein Großvater im Leben stände -- und der ihm zu Neujahr
fröhlich wiederkommt, will gern hier bleiben, wo seine Mutter und die
Großmutter begraben liegen. Ich habe meinen Jungbrunnen wieder! sagt
Heinrich Pestalozzi, und als er in sein dreiundsiebzigstes Jahr tritt,
liest er den Seinen zum Geburtstag eine Rede vor, die ihnen und der
Welt ein Testament seiner befreiten Stimmung sein soll; sie schreitet
Schritt für Schritt noch einmal die Absichten seines Lebens ab, um mit
dem letzten in Clindy am Ziel zu sein. Gleich für den Neuhof hat er die
Betteltrommel rühren müssen, und bis ins Alter sind ihm die Geldsorgen
auf den Fersen geblieben: jetzt endlich einmal steht er selber als
Stifter da, und keine Stunde in seinem Dasein ist er so stolz im Glück
gewesen wie nun, da er die fünfzigtausend Franken als ewiges Kapital
für seine Anstalt in Clindy stiftet.

Es ist die Höhe seines Lebens, die er nun in der dünnen Luft seines
Alters doch noch erreicht. Als ich auszog, war ich Einer; jetzt sind
es Tausende in der Welt, die meinem Gedanken diese Hülfe bringen! Aus
dem Einsiedler im Neuhof ist eine Gemeinde in Europa geworden; mein
letztes Werk in Clindy soll dem Menschengeist in Europa eine andere
Stunde der Befreiung einläuten als das Jakobinertum der Revolution!
In Stans, wo ich meine Schulmeisterschaft begann, ist auch die Heimat
von Winkelried, der in der Schlacht bei Sempach dem Vaterland mit
seiner Brust eine Gasse durch die Lanzen machte: mir hat es die Brust
zerstochen gleich ihm, aber nun ich sterben gehe, schallt Sieg um mich,
weil ich die Gasse der Menschenbildung gebrochen habe!


                                  98.

Es sind die Sturmtage mit jagenden Regen- und Hagelschauern, die
das schönste Abendrot auftun und die Berge mit den Wolken in eine
Herrlichkeit verklären. Aber leicht ist dann noch hinter den Bergen
ein Hinterhalt der kalten Winde, die den Nachthimmel doch wieder mit
schwarzem Sturmgewölk bedecken, als ob der Aufruhr nun in die hohen
Lüfte gekommen wäre, indessen die Nacht sich ruhig in die Täler der
Erde legt. So brennt die Abendröte Heinrich Pestalozzis in die letzte
Täuschung hinein: er hat die fünfzigtausend Franken aus den Händen
gegeben, ehe sie darin waren; erst nach drei Jahren kommt eine Rate
von zehntausend Franken an; so kann er die Anstalt auftun, aber nicht
halten. Niederer hat den Streit um Mein und Dein zu einem Prozeß
gemacht. Demütigung und Trotz, Zorn und Verzweiflung, Liebe und Verrat:
alles jagen die kalten Winde aus dem Hinterhalt der Berge in den
Sturmhimmel der sinkenden Nacht.

Noch sechs lange Jahre bleibt Heinrich Pestalozzi in Ifferten, und
immer mehr entsinken die Zügel seiner zitternden Hand; wohl hält
Schmid die Peitsche, die Pferde doch noch in den Stall zu bringen,
aber längst schon ist es kein fröhlicher Trab mehr, den sie laufen;
sie sind vom Weg gekommen, und ihre Beine stapfen im Moor, das die
Räder versinken läßt, bis keine Hoffnung bleibt, den Wagen zu retten:
sie müssen abspannen vor der Nacht und mit den Pferden den Heimweg
nach dem einsamen Licht suchen, das aus der Ferne leuchtet. Es kommt
vom Birrfeld, wohin sein Enkel Gottlieb mit der Schwester Schmids, als
seiner jungen Frau, ihnen voraus gegangen ist, den dritten Hausstand im
Neuhof zu versuchen. Am letzten Februar seines achtzigsten Jahres nimmt
Heinrich Pestalozzi Abschied von dem Grabstein unter den Nußbäumen;
seine Hände sind nicht mehr stark genug, daran zu rütteln, und in
seiner Seele rast kein Zorn mehr: Ich muß heim, Anna, klagt er, du
bleibst unter deinem gemeißelten Stein; ich armer Müdling gehe bei den
Enkelkindern im Birrfeld eine Zuflucht suchen. Aus Reichtum und Armut
kamen unsere Wege zusammen, nun scheidet sich der meine in die Armut
zurück; dich lasse ich im Schloß, als dessen Herrin sie dich begruben!


                                  99.

Der Schnee vergeht im Tauwind, und die Wasserrinnen ziehen schwarze
Striche hindurch, als Heinrich Pestalozzi nach siebenundfünfzig Jahren
zum zweitenmal auf das Birrfeld kommt: Es gibt keinen Punkt auf
diesem meilengroßen Kirchhof, sagt er zu Schmid, darauf ich nicht eine
Erinnerung als Grabstein stellen könnte! Aber wie sie gegen den Neuhof
fahren, steht Lisabeth da, die fast ein halbes Jahrhundert lang seine
Schaffnerin gewesen ist, und hängt Kinderwäsche in den Wind. So bin ich
auch noch Urgroßvater geworden! will er sagen, aber der Boden seines
Lebens bricht durch, daß Anna und Jakob, sein Enkel Gottlieb mit seiner
Frau nichts mehr als die Erinnerung eines fremden Romans in seiner
Seele sind. Ich habe mich verspätet, Babeli, ruft er und will aus dem
Wagen zu ihr hinspringen; doch sind ihm die Beine steif von der langen
Fahrt, und ehe er an die Gartentür kommt, steht Lisabeth statt ihrer
vor ihm und nimmt ihn an der Hand: Wir haben erst für morgen auf Euch
gerechnet, Herr Pestalozzi, aber die Suppe wird bald gerichtet sein! Er
sieht ihr hartes, treues Gesicht und findet das Babeli nicht; als ob er
sich verirrt hätte, tritt er in das Haus. Auch als sie ihm den Urenkel
darbringen, betrachtet er das eigene Geschlecht kopfschüttelnd wie
ein fremdes und beugt sein braunes Runzelgesicht über das Kissen, als
ob er sich vor ihm entschuldigen müsse: Ich will hier nur den andern
Wagen abwarten, sagt er und merkt nicht, daß seine Tränen dem Säugling
ins Gesicht tropfen, bis der ein Geschrei anhebt und in die Kammer
zurückgebracht wird.

Als danach die letzten Leintücher des Winters aus dem Birrfeld
verschwinden und die Quellen wieder klar fließen, geht er viel um den
Neuhof herum, die Obstbäume zu suchen, die noch aus seiner Zeit stehen
geblieben sind -- es ist mancher ein Krüppel geworden, den er noch als
schwankes Stämmchen kannte -- da drängen sich die Grabsteine seiner
Erinnerung am dichtesten, und je nachdem sie lustig oder ärgerlich
sind, kann er zornig brummen oder lachen. Wenn ihn die Birrer so sehen,
wie er mit dem Halstuchzipfel im Mund seine ewige Unterhaltung hat,
sagen sie, er sei kindisch geworden; aber die Alten, die ihn noch
kennen, wehren ab: so sei er immer gewesen, im Streit mit den eigenen
Gedanken. Daß sie ihn die schwarze Pestilenz nannten, will keiner so
recht mehr wissen; alle aber wundern sich, wie er mit seinen achtzig
Jahren noch rüstig zu Fuß ist und weder einen Gang nach Brugg oder
hinauf nach Brunegg anschlägt, wo die Frau Hünerwadl -- ehemals seine
Schülerin zu Ifferten -- ihm noch immer wie eine Tochter anhängt.
Wenn ihm der Berg zuviel geworden ist in der Maisonne, fordert er
sich von ihr ein Ruhebett, ein Stündchen friedlich zu schlafen. So
lebt er den ersten Frühling, als ob er nur auf den Tod warte und von
der Rastlosigkeit seines langen Lebens allein noch seine schrulligen
Gewohnheiten hätte.

Wie dann aber die Maienblust auch im Birrfeld ihre weißen Fahnen weht
mit Wolken und Blühebäumen und in Schinznach wieder die Helvetische
Gesellschaft tagt, in der er vor einundfünfzig Jahren den Vortrag des
Landvogts Tscharrner hörte, läßt er sich hinüber fahren und erscheint
unter den Jungleuten, die da im Geist ihrer Väter und Großväter raten.
Es lebt keiner mehr aus jenen Tagen, und so steht er erschüttert am
selben Ort und in der selben Stube unter den fremden Gesichtern einer
neuen Zeit; aber es sind wenige da, die ihn nicht kennen, und auch
diese Wenigen schätzen es als ein Glück, den Greis zu sehen, der wie
eine ehrwürdige Gestalt der Vorzeit in ihre Gegenwart eintritt. Und
so erlebt Heinrich Pestalozzi noch einmal, daß es außer den Zürcher
Humanisten und den Berner Aristokraten doch andere Schweizer gibt,
die ihm innig anhängen; und daß es die besten seines Volkes sind, die
sich hier treffen, weiß er aus seinen Tagen. Es wird ein Jubel ohne
gleichen, als sie ihn zu ihrem Präsidenten wählen; und wenn er sich wie
ein dürres Eichblatt vorkam, als er eintrat, vom Wind in ihr junges
Grün geweht: so geht er andern Tags fort in dem Gewühl eines Baumes,
der seine Blätter rauschen hört.

Seit diesem Maitag drängen die Säfte noch einmal hoch, die ihm selber
in der Vereinsamung und Enttäuschung der letzten Jahre eingetrocknet
schienen. Seine Wurzeln haben die Heimat wiedergefunden; aber es ist
nicht das Birrfeld, es ist das ganze Schweizerland, darin er sich
gewachsen fühlt, indessen zu Ifferten nur das Gezänk von Lehrern und
Zöglingen war. Nun braucht ihn niemand mehr an die noch ausstehenden
Bände seiner Gesammelten Werke zu mahnen; eher müssen die Seinen
aufpassen, daß er sich nicht zuviel zumute. Sie haben ihm einen
Mann gefunden, der sein Diener und Schreiber in einem ist, einen
ordentlichen Glarner, namens Steinmann; der hat nun manchmal bis
tief in die Nacht zu schreiben, während Heinrich Pestalozzi nach
der Gewohnheit seines müden Rückens in den Kleidern auf dem Bett
liegt und unermüdlich das Band seiner Gedanken abwickelt. Ehe er es
selber gedacht hat, ist er mitten darin, noch einmal die Lehre seiner
Menschenbildung darzustellen. Er nennt es seinen Schwanengesang,
und der treue Steinmann muß oft genug anhören, wieviel Wehmut und
Schelmerei sich in dem Titel mischen; denn als er noch einmal mit dem
Eifer seines Alters das Ziel und die Mittel seiner Lehre durchgegangen
ist, als ob er behend eine Leiter hinauf liefe, die er sich Sprosse
für Sprosse selber mit dem Schnitzmesser machen mußte: kommt er wieder
an das Fragezeichen, das ihm seine Lebenserfahrung als Fähnchen oben
hingesteckt hat: Warum, wenn dies alles so klar und notwendig ist,
warum bin ich selber mit meinen Versuchen immer wieder gescheitert und
als ein Unbrauchbarer auf den Neuhof zurückgekehrt?

Noch einmal zieht er die Lehre aus seinem Leben, die ihm die harte
Juraluft in Bulet gab, daß er ein unreines und verbeultes Gefäß für
seine Lehre gewesen sei; und der selbe Bekennerdrang, der ihm den
Sarg in die Kapelle stellte, läßt ihn nun nach den Mängeln seiner
Natur und ihrer Erziehung suchen. Sich selber unerwartet schreibt
er mit achtzig Jahren seine Lebensgeschichte; aber es ist weder
Altersgeschwätzigkeit noch Eitelkeit oder Jugendwehmut darin, es wird
die Schicksalsgeschichte seiner Fehler und Schwächen. Und er ist tapfer
genug, vor Ifferten nicht Halt zu machen; obwohl ihm doch wieder
Bitterkeit und Zorn einfließen, daß er oft genug an den Bodensatz
seiner Verzweiflung kommt, läßt er nicht nach, bis er auch da seine
Lehre und ihre Gültigkeit von seiner eigenen Unbrauchbarkeit gereinigt
hat.

Der Sommer weht ihm darüber hin wie kaum einer in seinem Leben; es wird
Herbst und Winter, ehe er es weiß, und erst, als wieder Frühjahr um
ihn ist -- es sind nur einundachtzig Lenze, denkt er, man könnte sie
in einer Minute zählen, wenn sie neben- statt hintereinander ständen;
und nur, weil man immer eins durchs andere sieht, scheint es wie eine
Unendlichkeit -- kann er die Druckbogen absenden. Es ist unterdessen
noch einmal bunt um ihn geworden; seitdem er sich so unvermutet in
Schinznach zeigte, wissen viele, daß er wieder im Land ist; und mancher
erinnert sich seiner als eines Ideals der eigenen Jugend, das er über
den toten Jahren zu Ifferten fast vergessen hat, als ob Heinrich
Pestalozzi längst gestorben wäre: nun ist er für den Aargau von den
Toten auferstanden, und es vergeht selten ein Tag, der ihm nicht einen
Dank zubrächte, ein Stück seines Menschengeistes, das irgendwo zum
eigenen Leben kam und sich seines Schöpfers erinnert. Er hat sich noch
einmal durch den Groll schreiben müssen: es waren die Reste des alten
Mannes in mir, denkt er nun oft mit den Worten Annas; seitdem ich den
los bin, ist mir frei und leicht.

So geht er zum andernmal in die Helvetische Gesellschaft, diesmal
nach Langental als ihr Präsident; und was im vergangenen Jahr eine
Überraschung gewesen ist, fällt nun als Springbrunnen des Segens auf
ihn zurück. Er fühlt es und sagt es auch: dies ist der Dank meines
Landes! und alle bitteren Jahrzehnte wiegen nun die eine Stunde
nicht auf, da er sich im Kreis dieser Männer und Jungmänner als eine
Lebensquelle fühlt, die immer noch über den Rand zu fließen vermag. Er
kommt beschüttet vom Glück und mit der seligen Wehmut heim, daß es sein
letzter Tag in ihrem Kreis gewesen sei, weil er ein Nocheinmal nicht
ertrüge.

Im Spätsommer ist er immer noch rüstig genug, mit Schmid -- der seit
Ifferten ein Unsteter geworden ist und nun nach Paris will, um dort
eine französische Ausgabe der gesammelten Werke einzurichten -- bis
Basel zu reisen; in die Stadt, die ihn, das weiß er, bis auf den Tag
verachtet in dem Hochmut ihrer gesicherten Kultur, und die ihm doch
zweimal durch einen ihrer Bürger zur Rettung geworden ist. Ich hätte
nicht her kommen sollen, klagt er; es stimmt ihn wehmütig, die Gassen
und Häuser wieder zu sehen, die einmal lebendig um sein Leben standen
und jetzt für ihn gestorben sind. Doch läßt er sich durch Schmid
verleiten, im Wagen nach Beuggen hinaus zu fahren, wo Zeller ein
Waisenhaus in seinem Sinn führt. Da hat sich die Anstalt seit Tagen
gerüstet, den Vater der Waisen zu empfangen, und die Kinder treten ihm
mit Gesang entgegen. Er weiß beim ersten Ton: das hätte ich mir nicht
antun dürfen, meinem versagten Herzenswunsch das Bild eines fremden
Gelingens zu zeigen. Sie wollen ihm einen Kranz überreichen, aber er
wehrt ihn ab und wankt vor ihnen in den Saal, wo ein Ehrenpult steht,
daß er zu den Kindern spräche. Vorher singen sie noch einmal:

  »Der du von dem Himmel bist,
  alles Leid und Schmerzen stillest,
  den der doppelt elend ist,
  doppelt mit Erquickung füllest,
  ach! ich bin des Treibens müde!
  Was soll all der Schmerz und Lust!
  Süßer Friede,
  komm, ach komm in meine Brust!«

Hat ihm schon draußen der Gesang an sein tiefstes Leid gerührt,
so reißt er ihn nun zu Tränen hin, daß er meint zu ersticken. Die
Goetheschen Verse, die ihm schon in Lienhard und Gertrud klangen, wie
wenn irgendwo in der Welt eine Quelle der Liebe unerschöpflich quölle,
ergreifen ihn nun in ihrer überirdischen Schönheit; er vermag vor den
Augen dieser Waisen, die alle mit fragender Neugier an seinem Schmerz
hängen, nichts als aus der Tiefe seines Herzens zu schluchzen, wie
vielleicht in seiner ersten Jugend, aber nie mehr in seinem bitter
gesegneten Leben.

Der Tag hat ihm in seine Heiterkeit einen Schnitt gemacht, der nicht
wieder heilt. Obwohl sein Verstand kopfschüttelnd dabei steht, er
vermag seiner Seele nicht Halt zu gebieten, die nun ihre Sehnsucht
immer nach der gleichen Seite fließen läßt, bis sein Enkel Gottlieb ihm
nachgiebt und neben dem Neuhof noch den Bau eines Armenkinderhauses
beginnt. Er weiß es genau und sagt es sich immer wieder, daß er nicht
mehr hineinkommt, daß es aus seinem Leben in die Nachwelt gebaut wird;
aber er kann seine Hände nicht davon lassen, und wieder wie damals am
Neuhof steht er unter den Bauleuten, ihnen übereifrig Handreichung zu
tun, obwohl es nasser Schnee ist, darin seine Füße kalt werden.

Unterdessen ist sein Schwanengesang erschienen; aus seiner
Lebensgeschichte hat ihm der Verleger die Jahre in Ifferten
herausgenommen, er hat sich aber nicht abhalten lassen, daraus eine
besondere Schrift zu machen, die er »Meine Lebensschicksale« nannte.
Lobendes und Tadelndes kommt ihm darüber zu, es ist ihm nicht mehr
wichtig, seitdem er in Beuggen war: Ich bin auf dem Altenteil der
Seele, sagt er dem Steinmann, der Menschengeist muß sehen, wie er
allein in der Welt zurecht kommt! Aber im Spätwinter fällt ihm die
Antwort aus Ifferten wie ein Stein auf den Tisch; Niederer hat ihn
geworfen, jedoch nicht die Tapferkeit gehabt, dafür einzustehen, sodaß
nun ein junger Lehrer an der Mädchenschule mit dem Namen Biber die
Schrift decken muß. Als Heinrich Pestalozzi die Anklage liest, die ein
ziemliches Buch ist, hat er ein Gefühl, als ob er noch immer lebe, aber
die Welt um ihn hätte ihren Lauf eingestellt. Vor einem halben Jahr
würde er es verwunden haben, sich aus dem eigenen Haus als Lügenvater
und als Wahnsinniger beschimpft zu sehen; jetzt nach dem Tag in Beuggen
trifft ihn der Dolchstich, daß er hinstürzt.

Mitten aus seiner hartnäckigen Gesundheit haben sie nun im Neuhof einen
Kranken zu pflegen, dem das Fieber aus der Seele in den Körper zu
rasen scheint. Schon liegt er von Schmerzen zerrissen auf dem Bett, da
will er noch die Antwort schreiben, und er fleht den Arzt an, ihm ein
paar ärmliche Wochen zu schenken, da er vorher doch so sinnlos lange
gelebt habe! Nicht mehr wie sonst vermag er zu diktieren, er muß die
Feder selber führen, und es ist grausig für den getreuen Steinmann, daß
er ihn vielmals ohne Tinte schreiben sieht: Tupfen, Herr Pestalozzi,
tupfen! sagt er ihm immer wieder; aber die gequälte Seele sieht nicht
mehr, was sie tut.

Die Schmerzen werden bald so stark -- es sind Harnbeschwerden -- daß
der Arzt ihn nach Brugg haben möchte, um besser nach ihm zu sehen.
Noch liegt dicker Schnee, als sie ihn mit Kissen und Decken in einen
Schlitten packen. Das ist mein Wagen, diesmal der letzte, sagt er zu
seinem Urenkel, den sie ihm aus der Wiege anbringen müssen, daß er den
fiebrigen Kopf über ihn neige; auch den andern gibt er mit tapferen
Worten die Hand, nur als sie an den halbfertigen Mauern des Armenhauses
vorbeifahren, hält er sich die weinenden Augen zu.

Im Gasthaus zum Roten Haus in Brugg wartet die Sorgfalt auf ihn und
Steinmann ist da, ihn zu pflegen. Noch eine Woche lang strömt ihm
die besorgte Liebe seiner Freunde aus dem Aargau zu, und er ist wach
genug, sie zu empfinden; nur der Glarner, der ihn nun besser kennt
als irgend einer, sieht durch Tränen, wie er die Hände nicht mehr zu
halten vermag, die Hände und die Lippen, als ob er unablässig aus einem
niederstürzenden Schutt die Worte ausscharren müsse.

Als es stiller damit wird, weiß der treue Diener zuerst, wer die Ruhe
bringt; und während die andern an seiner Heiterkeit wieder auf Genesung
zu hoffen wagen und mit ihm sprechen, als ob dies nur ein unpäßlicher
Aufenthalt auf einer Poststation sei, geht Steinmann in blinder Trauer
um seinen erwürgten Herrn beiseite. Bis mit dem Abend die Heiterkeit
aus den Augen Heinrich Pestalozzis auch in die Sprache kommt, daß
sie hell und frei wird wie bei einem Knaben, und endlich sich ein
überirdisches Lächeln um die Greisenlippen legt, dem nur die Augen
nicht standhalten, weil sie im Anblick der jenseitigen Welt erstarren
und für diese leblos aufgerissen sind: da schließt seine Dienerhand die
beiden Fensterläden, die zwischen dieses und jenes Leben von Anbeginn
der Menschheit gelegt sind.




                                 Nacht


                                 100.

Selten sind über das Birrfeld solche Schneemassen niedergegangen wie
in der Februarnacht, da der Glarner im Roten Haus zu Brugg Heinrich
Pestalozzi die erste Totenwacht hält; und erst am andern Nachmittag
ist soviel Bahn gemacht, daß sie ihn mühselig genug im Schlitten nach
dem Neuhof holen können. Da wird er bei Kerzenlicht in der Kammer
aufgebahrt, wo die stummen Dinge seiner Gewohnheit eine Woche lang
auf ihn gewartet haben; als ob er aus tiefem Schlaf erwachen wolle,
liegt er im Sarg, und das Lächeln glücklicher Träume scheint sich in
den Runzelfalten seines verwelkten Gesichtes zu verstecken. So ist er
über Nacht geworden, erklärt Steinmann dem Pfarrer und gibt auch seine
Dienerweisheit dazu: Der Körper freut sich, endlich die unruhige Seele
los zu sein!

Am andern Vormittag begraben sie ihn auf dem verschneiten Dorfkirchhof;
der Wind fegt eisig über das Birrfeld, und die Wege zwischen den
Dörfern sind wie Maulwurfsgänge durch den meterhohen Schnee gegraben:
aber die Schulkinder aus der ganzen Kirchgemeinde kommen, ihm ein Lied
ins Grab zu singen, und die Schulmeister tragen den Sarg. Damit sie auf
dem Kirchhof stehen können, haben die Bauern dem Küster helfen müssen,
einen Hof aus dem Schnee zu schaufeln, und die gefrorenen Erdschollen
poltern gleich Steinen auf die Bretter: es ist ein anderes Begräbnis
als vor elf Jahren, da sie Anna Schultheß im Schloßgarten zu Ifferten
begraben. Das bäuerliche Dasein, aus dem er mit seiner Bitte an
Menschenfreunde hervortrat, hat seinen Leib zurück gefordert, und bevor
die Freunde im Land Und draußen seinen Tod erfahren, verweht der eisige
Wind den einsamen Grabhügel schon mit neuem Schnee. Als ihrer dann
einige mit dem Frühjahr kommen, staunen sie, wie das Mißgeschick ihm
bis auf den Kirchhof folgte: er ist mit seinem Sarg unter die Traufe
des Schulhauses geraten; der Regen, den das Dach von den Dorfkindern
abhält, gießt auf seinen Hügel. Statt des Rosenstockes, der darauf
steht, möchten sie ihm einen Stein setzen; aber der Enkel im Neuhof
zeigt ihnen ein vergilbtes Blatt, darauf er sich selber den Grabschmuck
wünschte.

Der Stock trägt weiße Rosen und wird mit den Jahren ein Busch, der
im Frühsommer als ein schäumender Ball vor dem kleinen Schulhaus
steht. Selten kommt dann ein Fremder, der sich nicht eine Blüte davon
mitnähme; und an diesen Wallfahrten zu seinem Rosenstock merken die
Birrfelder, daß etwas von Heinrich Pestalozzi lebendig geblieben sein
muß.

                   *       *       *       *       *

Sein Sterbeteil ist längst vermodert, und die Seele Heinrich
Pestalozzis ruht im Zeughaus des Lebens aus von der Ruhelosigkeit
ihrer Tage; nur der Menschengeist, dem sie die schwingende Unruhe
war, reitet sein Abenteuer in die Unsterblichkeit. Die Zeiten sind
nicht danach, seinen Wahlspruch, Freiheit durch Bildung, beliebt
zu machen, und das prophezeite Jahrhundert der Menschlichkeit will
nicht anbrechen. Nach dem Traum der Befreiungskriege ist Europa
wieder eingeschlafen, und die deutsche Jugend der schwarzrotgoldenen
Burschenschaften wird hinter Gitterstäben von dem Traum kuriert.
Überall hat sich der Geist der Väter auf die vergoldeten Stühle der
alten Herrlichkeit gesetzt, und die Landreiter spähen, daß seine Hüte
an den Stangen in der schuldigen Ehrfurcht gegrüßt werden. Darüber
flackern die Menschenrechte, denen zuliebe soviel Köpfe abgeschlagen
wurden, zum andernmal auf in einer Revolution, aber diesmal schlägt ein
nasser Sack die Strohfeuer aus: Das Reich fällt noch einmal in einen
bleiernen Morgenschlaf, und über den Ozean her leuchtet ein Morgenrot,
dem die halbwachen Schläfer in Millionen zutaumeln.

Indessen so von den Luftschlössern der Freiheit nichts übrig bleibt
als die Schwärmerei für Ruinen -- selbst der neue Napoleon begnügt
sich, von Gottes Gnaden auf dem angestammten Kaiserthron zu sitzen --
ist aus den Zeiten Steins in Preußen der Eckpfeiler der Volksschule
durch alle Schwierigkeiten pietistischer Bedrängung stehen geblieben,
und im preußischen Lehrerstand reitet der Menschengeist von Heinrich
Pestalozzi sein Abenteuer in die kleinsten Dörfer. Längst ist die
deutsche Frage ein Rattenkönig geworden, da tut es bei Königgrätz einen
scharfen Schlag, der die Schwänze blutig auseinander reißt: Preußen
marschiert und ein geflügeltes Wort kommt auf, daß der preußische
Schulmeister die Schlacht an der Bistritz gewonnen habe. Dann
schmiedet Bismarck das neue Reich aus Blut und Eisen, wie es in den
Ruhmesblättern heißt; aber er selber schreibt aus Versailles an seine
Frau, daß Deutschland dem gemeinen Soldaten mehr als den Generälen den
Erfolg in Frankreich verdanke.

Ich wüßte Einem, der mir folgte, eine Macht in Europa zu gründen, die
mächtiger als Bonaparte wäre; und ich sage euch, wer es am ersten mit
mir hält, dem wird die Herrschaft in Europa zufallen! hat Heinrich
Pestalozzi zu den Stadtherren von Ifferten gesagt, als sie von der
Audienz in Basel zurück fuhren: nun steht das Deutsche Reich mächtig in
Europa da aus seiner Lehre.

Aber wenn der Armennarr vom Neuhof, der den Rockknopf des russischen
Kaisers nicht zu fassen kriegte, danach seine dritte Reise machte,
diesmal fröhlicher nach Berlin als damals nach Paris: er würde das
goldblinkende Dach des Reichstags staunend von außen betrachten und
in die zweite Volksschule nur aus dem Zweifel gehen, ob die erste mit
ihren sauberen Klassen und dem peinlich umzirkelten Lehrplan nicht ein
Blendwerk der Schulbehörde gewesen sei; er würde nach den Wohnungen der
Armen fragen und aus dem Prunk der Linden hinaus wandern in die trüben
Straßen, wo die Kinder in engen Höfen spielen; und unverdrossen mit den
ärmsten bis in die letzte Dachwohnung steigen: Ich will sehen, was die
Treppe der Menschenbildung aus dem Haus des Unrechts gemacht hat!

Wohl würde er schaudern vor dem Haß des Klassenkampfes, aber er würde
sich tapfer zu seinem Anteil bekennen: daß der Arbeiterstand die
Gerechtigkeit nicht im Mist der Gnade verscharrt haben wolle, sondern
-- durch Bildung frei gemacht -- Macht gegen Macht einsetze, sie zu
ertrotzen. Er würde vor den Gewerkschaftshäusern und Konsumanstalten
beklommen vor Glück dastehen, daß aus der Masse von einzelnen Schwachen
soviel Stärke im Ganzen möglich wäre, und er ließe sich nicht mit
der Verdächtigung schrecken, daß da die vaterlandslosen Gesellen
ihre Kriegslager des Umsturzes hätten: Er hat es zu sehr am eigenen
Leib gespürt, wie rasch die herrschenden Mächte mit der bedrohten
Moral bei der Hand sind, wenn ihnen einer um der Gerechtigkeit willen
widerstrebt! Wie er dem Pfarrer Lavater einmal schrieb, daß er leicht
nach oben milder und nach unten strenger sei, als es sein Herr Jesus
Christus gehalten habe!

Freilich, wenn Heinrich Pestalozzi, der es im Leben zu keinem Wohlstand
brachte, der in schlechten Kleidern ging und auch so aß und wohnte, von
seinen einsamen Gängen wieder in die Hauptstraßen zurück käme und den
Aufwand der Schaufenster, die geputzten Menschen und die Marmorsäle
sähe, die jeden Mittag und Abend gefüllt sind, als ob es ewig Feste
zu feiern gäbe: er würde in einem tiefen Schrecken von neuem seitab
irren in die dunkleren Straßen der unermeßlichen Steinwüste und den
Plakaten folgend in eine der Versammlungen geraten, wo die Männer der
Lohnarbeit einem jüdischen Redner zuhörten, der die Schlupfwinkel
einer wirtschaftlichen Frage mit juristischer Dialektik ableuchtete.
Sie würden erstaunt sein, wenn sich nachher der Greis mit dem
blatternarbigen Runzelgesicht zum Wort meldete, und mißtrauisch seine
seltsame Erscheinung betrachten, ob er ihnen nicht mit lächerlichen
Einfällen Unfrieden stiften wolle? Auch bliebe Heinrich Pestalozzi
selber im Anfang noch verschüchtert, wie wenn ihn der Schulmeister
Dysli mit seinem Anhang unter den Hintersassen noch einmal aus der
Stube schicken könnte; bald aber fände er in den feindlich abwartenden
Augen eine Menschenseele, zu der er also spräche:

Lieber Bruder und Genosse -- wie ihr euch nennt -- meiner Seele ist es
gegangen wie deiner, sie fand sich in eine Ordnung gestellt, die aus
dem Unrecht der Gesellschaft gewachsen war, und seit den Jünglingstagen
wallte mein Herz wie ein Strom, die Quellen des Elends zu verstopfen,
darin ich das niedere Volk um mich versunken sah: aber wie mir die
Methode nur das Mittel und nicht das Ziel war, so auch die äußere
Wohlfahrt. Darum habe ich zwei Dinge nicht gekannt, die mir in diesen
Tagen mehr, als es gut ist, begegneten: den Neid und den Haß. Warum,
Bruder und Genosse, willst du den Reichen hassen, und um was willst du
ihn beneiden? Er hat ja selber nichts als sein Geld und was er sich für
sein Geld kaufen kann? Ist es aber dies, warum wir zwischen Geburt und
Tod unser rasches Leben haben, und kann es unser Glück sein, daß unsere
Frauen sich putzen können mit kostbaren Kleidern, und daß wir die edlen
Weine trinken und Kapaune essen?

Ich weiß wohl und habe es bitter gefühlt wie du, daß ein Mindestes
für jeden Menschen nötig ist: daß er im Winter nicht friere und im
Sommer nicht hungrig sei, daß er Stunden haben möchte, wo er aus der
harten Arbeit zu sich selber käme, und daß er um seines Lohnes willen
niemandes Knecht zu sein braucht! Auch weiß ich wie du, daß dies
abscheulich an unserer gesellschaftlichen Ordnung ist, wie sie am
Geldsack hängt: aber geht nicht vieles, wie ihr es ändern wollt, geht
es nicht auch nur im Gelüst auf jene Genüsse, die aus dem Geldsack
kommen? Ist nicht in eurem Haß auf die besitzenden Klassen auch der
Neid? Der Neid auf Güter, deren Genuß euch nicht weniger als der Mangel
im Elend eines nichtigen Lebens ließe!

Eine gute Verfassung ist zwar von einer schlechten wie ein guter Acker
von einem schlechten verschieden; aber du weißt, es wächst dir weder
auf dem guten noch auf dem schlechten Acker etwas aus dem Acker allein,
sondern aus der Arbeit und dem Samen, die du darauf verwendest! Wie
aber kann deine Arbeit wertvoll für dich und die andern sein, wenn du
doch wieder das alte Unkraut säst? Wie anders haben wir es damals von
den Welschen gelernt: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit! nur laß es
mich verdeutschen:

Es gibt vielerlei ~Freiheit~ auf der Welt: aber die Freiheit der
Sau im Wald, die ihren Suhl hat, und die Freiheit des Reichen, der
sich mit seinem Gold das Tischlein-deck-dich herzaubern kann, ist
Knechtschaft der Begierden. Frei sein heißt nicht, tun dürfen, was du
möchtest, sondern tun wollen, was du mußt; darum achte, daß du draußen
wie drinnen keinen Herrn über dein Gewissen habest! Jesus Christus,
der sich für die Mühseligen und Beladenen ans Kreuz schlagen ließ, war
freier als Pontius Pilatus, der den Befehl dazu gab.

Es gibt vielerlei ~Gleichheit~, aber willst du dem Schlechten
und Geringen gleich sein oder dem Besten? Soviel dir einer voraus
hat in Gütern, Wissen und Fertigkeiten, im Selbstgefühl kannst du
dem Reichsten und Klügsten gewachsen sein trotz all seinem Geld,
seinen Künsten und seiner Wissenschaft. Vor Gott gleich sein, wie die
Frommen wissen, heißt etwas anderes, als nichts vor seiner Allmacht zu
bedeuten; denn frage deine Seele, ob du dich als Sandkorn von Meer und
Wind verweht fühlen oder selber Meer und Wind sein willst? Vor Gott
gleich sein, heißt aus dem Ungewissen ins Gewissen der Welt, heißt in
die Allmacht berufen sein.

Es gibt vielerlei ~Brüderlichkeit~; aber daß der Reiche im Wagen
dich mitnimmt hinter seine Pferde, in sein Haus und an seinen Tisch:
dadurch wirst du nicht sein Bruder, sondern sein Knecht, der Wohltaten
empfängt. Und wenn er all das Seine mit dir teilte, gutwillig und
gerecht: er würde vielleicht dein Bruder sein, du aber nicht der seine;
denn Brüderlichkeit ist ein Geschenk, das nur gegeben, nicht empfangen
werden kann; du aber willst empfangen! Es gibt nur eine Brüderlichkeit,
die ist vor Gott -- und ich meine nicht die Stündlisbruderschaft -- ihr
sind die Güter der Erde wenig vor dem Gefühl der Seele, aus dem Rätsel
in das Menschenschicksal geboren zu sein und wieder in das Rätsel
der Welt hinein sterben zu müssen. Allein vermöchten wir das Grauen,
aus dem ewigen Weltall durch unser menschliches Bewußtsein für eine
flackernde Sekunde abgesondert zu sein, nicht auszuhalten, wir würden
vor Schreck daran verdorren: nur weil wir gleich den Halmen im Feld
dastehen, können wir miteinander auf den Schnitter warten und uns doch
wiegen im Wind und wärmen in der Sonne und den Saft der Erde trinken
für unsere Frucht!

Wenn Heinrich Pestalozzi das gesagt hätte, würde er noch einmal in
dem Saal dastehen, als ob er nach bestandenem Examen vor den andern
Schülern das Vaterunser sprechen müsse, so zum Lachen würde ihn schon
wieder eine Einsicht und ein Irrtum überraschen; und wie immer ginge
auch diesmal seine Rede in einem Selbstgespräch zu Ende, das keiner
der Männer in dem bleichen Gaslicht dieses Saales verstehen würde:
Ich dachte, es wäre der Menschengeist von mir, der immer noch auf
Abenteuer reitet, indessen sie meinen Körper unter die Dachtraufe und
den Rosenstock legten! Nun muß ich sehen, daß er nur der Diener unserer
Menschenbruderschaft und nicht das Leben selber ist, daß er die Worte
setzt, damit eine Botschaft von meiner Seele in deine, Bruder und
Genosse, käme; da beide sonst einsam im gemeinsamen Schicksal bleiben.
Denn allein die Seelenkraft ist das Leben, darin wir alle eins und von
Gott und also unverletzlich sind. Botschaft der Weltseele in unser
irdisches Dasein zu bringen, ist das Abenteuer des Menschengeistes,
dessen Tapferkeit sonst nur Ehrgeiz und Rauflust und vor der Ewigkeit
ein windiger Spaß wäre, ein grausames Puppenspiel der Menschen für ihre
Götter, wie es die Hoffnungslosigkeit der Alten dachte.




                             Berichtigung.


Der letzte Band meiner Erzählenden Schriften mußte durch widrige
Umstände ohne Korrektur gedruckt werden. Dadurch sind Druckfehler
stehen geblieben, die nach meinem Willen schon in früheren Ausgaben
beseitigt wären. Hierzu gehört auch, daß statt Tauner (Tagelöhner)
durchgehend Tanner gedruckt wurde, was natürlich falsch ist.

                                                                     S.




             Die Erzählenden Schriften von Wilhelm Schäfer


 ~Mannsleut~, Westerwälder Bauerngeschichten. Verlag Samuel Lukas,
 Elberfeld 1894 (vergriffen).

 ~Die Zehn Gebote~, Erzählungen des Kanzelfriedrich. Verlag
 Schuster & Loeffler, Berlin 1897.

 ~Gottlieb Mangold~, Der Mann in der Käseglocke. Verlag Schuster &
 Loeffler, Berlin 1900.

 ~Die Béarnaise~, eine Anekdote. Sonderdruck der Rheinlande
 Düsseldorf, 1901 (vergriffen).

 ~Rheinsagen~, mit Zeichnungen von Bernhard Wenig. Verlag Fischer
 & Franke, Düsseldorf 1908 (vergriffen).

 -- Neue Ausgabe für die Mitglieder des »Frauenbundes zur Ehrung
 rheinländischer Dichter«, umgearbeitet und ergänzt. 1913.

 -- Dieselbe Ausgabe zweite Auflage, Verlag Georg Müller, München 1913.

 ~Anekdoten~ (erste bis dritte Auflage), Verlag der Rheinlande,
 Düsseldorf 1908.

 -- seit der vierten Auflage Verlag Georg Müller, München 1911. Fünfte
 Auflage 1913.

 ~Der verlorene Sarg~ und andere Anekdoten, Verlag Georg Müller,
 München 1911.

 ~Dreiunddreißig Anekdoten.~ Verlag Georg Müller, München 1914.
 Vierte Auflage.

 ~Die Mißgeschickten.~ (Zuerst in der »Neuen Rundschau«, Januar
 1909.) Verlag Georg Müller, München 1909.

 ~Die Halsbandgeschichte.~ Verlag Georg Müller, München 1909,
 Zweite Auflage. (Zuerst in den »Rheinlanden« 1908.)

 ~Karl Stauffers Lebensgang~, eine Chronik der Leidenschaft.
 Verlag Georg Müller, München 1911. Sechste Auflage.

 ~Die unterbrochene Rheinfahrt.~ Verlag Georg Müller, München
 1912. (Zuerst in der Frankfurter Zeitung.)

 ~Lebenstag eines Menschenfreundes.~ Verlag Georg Müller, München
 1915. Zehnte Auflage. (Zuerst in der »Deutschen Rundschau«. Okt. 1914
 bis April 1915.)

 ~Die begrabene Hand~, Sonderausgabe der neuen Anekdoten und
 Novellen, Verlag Georg Müller, München 1918.

 ~Die Erzählenden Schriften.~ Gesamtausgabe in vier Bänden. Verlag
 Georg Müller, München 1918.

 ~Lebensabriß.~ Verlag Georg Müller, München 1918.


               Druck von Mänicke und Jahn in Rudolstadt





*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK LEBENSTAG EINES MENSCHENFREUNDES ***


    

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To protect the Project Gutenberg™ mission of promoting the free
distribution of electronic works, by using or distributing this work
(or any other work associated in any way with the phrase “Project
Gutenberg”), you agree to comply with all the terms of the Full
Project Gutenberg™ License available with this file or online at
www.gutenberg.org/license.

Section 1. General Terms of Use and Redistributing Project Gutenberg™
electronic works

1.A. By reading or using any part of this Project Gutenberg™
electronic work, you indicate that you have read, understand, agree to
and accept all the terms of this license and intellectual property
(trademark/copyright) agreement. If you do not agree to abide by all
the terms of this agreement, you must cease using and return or
destroy all copies of Project Gutenberg™ electronic works in your
possession. If you paid a fee for obtaining a copy of or access to a
Project Gutenberg™ electronic work and you do not agree to be bound
by the terms of this agreement, you may obtain a refund from the person
or entity to whom you paid the fee as set forth in paragraph 1.E.8.

1.B. “Project Gutenberg” is a registered trademark. It may only be
used on or associated in any way with an electronic work by people who
agree to be bound by the terms of this agreement. There are a few
things that you can do with most Project Gutenberg™ electronic works
even without complying with the full terms of this agreement. See
paragraph 1.C below. There are a lot of things you can do with Project
Gutenberg™ electronic works if you follow the terms of this
agreement and help preserve free future access to Project Gutenberg™
electronic works. See paragraph 1.E below.

1.C. The Project Gutenberg Literary Archive Foundation (“the
Foundation” or PGLAF), owns a compilation copyright in the collection
of Project Gutenberg™ electronic works. Nearly all the individual
works in the collection are in the public domain in the United
States. If an individual work is unprotected by copyright law in the
United States and you are located in the United States, we do not
claim a right to prevent you from copying, distributing, performing,
displaying or creating derivative works based on the work as long as
all references to Project Gutenberg are removed. Of course, we hope
that you will support the Project Gutenberg™ mission of promoting
free access to electronic works by freely sharing Project Gutenberg™
works in compliance with the terms of this agreement for keeping the
Project Gutenberg™ name associated with the work. You can easily
comply with the terms of this agreement by keeping this work in the
same format with its attached full Project Gutenberg™ License when
you share it without charge with others.

1.D. The copyright laws of the place where you are located also govern
what you can do with this work. Copyright laws in most countries are
in a constant state of change. If you are outside the United States,
check the laws of your country in addition to the terms of this
agreement before downloading, copying, displaying, performing,
distributing or creating derivative works based on this work or any
other Project Gutenberg™ work. The Foundation makes no
representations concerning the copyright status of any work in any
country other than the United States.

1.E. Unless you have removed all references to Project Gutenberg:

1.E.1. The following sentence, with active links to, or other
immediate access to, the full Project Gutenberg™ License must appear
prominently whenever any copy of a Project Gutenberg™ work (any work
on which the phrase “Project Gutenberg” appears, or with which the
phrase “Project Gutenberg” is associated) is accessed, displayed,
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    This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and most
    other parts of the world at no cost and with almost no restrictions
    whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms
    of the Project Gutenberg License included with this eBook or online
    at www.gutenberg.org. If you
    are not located in the United States, you will have to check the laws
    of the country where you are located before using this eBook.
  
1.E.2. If an individual Project Gutenberg™ electronic work is
derived from texts not protected by U.S. copyright law (does not
contain a notice indicating that it is posted with permission of the
copyright holder), the work can be copied and distributed to anyone in
the United States without paying any fees or charges. If you are
redistributing or providing access to a work with the phrase “Project
Gutenberg” associated with or appearing on the work, you must comply
either with the requirements of paragraphs 1.E.1 through 1.E.7 or
obtain permission for the use of the work and the Project Gutenberg™
trademark as set forth in paragraphs 1.E.8 or 1.E.9.

1.E.3. If an individual Project Gutenberg™ electronic work is posted
with the permission of the copyright holder, your use and distribution
must comply with both paragraphs 1.E.1 through 1.E.7 and any
additional terms imposed by the copyright holder. Additional terms
will be linked to the Project Gutenberg™ License for all works
posted with the permission of the copyright holder found at the
beginning of this work.

1.E.4. Do not unlink or detach or remove the full Project Gutenberg™
License terms from this work, or any files containing a part of this
work or any other work associated with Project Gutenberg™.

1.E.5. Do not copy, display, perform, distribute or redistribute this
electronic work, or any part of this electronic work, without
prominently displaying the sentence set forth in paragraph 1.E.1 with
active links or immediate access to the full terms of the Project
Gutenberg™ License.

1.E.6. You may convert to and distribute this work in any binary,
compressed, marked up, nonproprietary or proprietary form, including
any word processing or hypertext form. However, if you provide access
to or distribute copies of a Project Gutenberg™ work in a format
other than “Plain Vanilla ASCII” or other format used in the official
version posted on the official Project Gutenberg™ website
(www.gutenberg.org), you must, at no additional cost, fee or expense
to the user, provide a copy, a means of exporting a copy, or a means
of obtaining a copy upon request, of the work in its original “Plain
Vanilla ASCII” or other form. Any alternate format must include the
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1.E.7. Do not charge a fee for access to, viewing, displaying,
performing, copying or distributing any Project Gutenberg™ works
unless you comply with paragraph 1.E.8 or 1.E.9.

1.E.8. You may charge a reasonable fee for copies of or providing
access to or distributing Project Gutenberg™ electronic works
provided that:

    • You pay a royalty fee of 20% of the gross profits you derive from
        the use of Project Gutenberg™ works calculated using the method
        you already use to calculate your applicable taxes. The fee is owed
        to the owner of the Project Gutenberg™ trademark, but he has
        agreed to donate royalties under this paragraph to the Project
        Gutenberg Literary Archive Foundation. Royalty payments must be paid
        within 60 days following each date on which you prepare (or are
        legally required to prepare) your periodic tax returns. Royalty
        payments should be clearly marked as such and sent to the Project
        Gutenberg Literary Archive Foundation at the address specified in
        Section 4, “Information about donations to the Project Gutenberg
        Literary Archive Foundation.”
    
    • You provide a full refund of any money paid by a user who notifies
        you in writing (or by e-mail) within 30 days of receipt that s/he
        does not agree to the terms of the full Project Gutenberg™
        License. You must require such a user to return or destroy all
        copies of the works possessed in a physical medium and discontinue
        all use of and all access to other copies of Project Gutenberg™
        works.
    
    • You provide, in accordance with paragraph 1.F.3, a full refund of
        any money paid for a work or a replacement copy, if a defect in the
        electronic work is discovered and reported to you within 90 days of
        receipt of the work.
    
    • You comply with all other terms of this agreement for free
        distribution of Project Gutenberg™ works.
    

1.E.9. If you wish to charge a fee or distribute a Project
Gutenberg™ electronic work or group of works on different terms than
are set forth in this agreement, you must obtain permission in writing
from the Project Gutenberg Literary Archive Foundation, the manager of
the Project Gutenberg™ trademark. Contact the Foundation as set
forth in Section 3 below.

1.F.

1.F.1. Project Gutenberg volunteers and employees expend considerable
effort to identify, do copyright research on, transcribe and proofread
works not protected by U.S. copyright law in creating the Project
Gutenberg™ collection. Despite these efforts, Project Gutenberg™
electronic works, and the medium on which they may be stored, may
contain “Defects,” such as, but not limited to, incomplete, inaccurate
or corrupt data, transcription errors, a copyright or other
intellectual property infringement, a defective or damaged disk or
other medium, a computer virus, or computer codes that damage or
cannot be read by your equipment.

1.F.2. LIMITED WARRANTY, DISCLAIMER OF DAMAGES - Except for the “Right
of Replacement or Refund” described in paragraph 1.F.3, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation, the owner of the Project
Gutenberg™ trademark, and any other party distributing a Project
Gutenberg™ electronic work under this agreement, disclaim all
liability to you for damages, costs and expenses, including legal
fees. YOU AGREE THAT YOU HAVE NO REMEDIES FOR NEGLIGENCE, STRICT
LIABILITY, BREACH OF WARRANTY OR BREACH OF CONTRACT EXCEPT THOSE
PROVIDED IN PARAGRAPH 1.F.3. YOU AGREE THAT THE FOUNDATION, THE
TRADEMARK OWNER, AND ANY DISTRIBUTOR UNDER THIS AGREEMENT WILL NOT BE
LIABLE TO YOU FOR ACTUAL, DIRECT, INDIRECT, CONSEQUENTIAL, PUNITIVE OR
INCIDENTAL DAMAGES EVEN IF YOU GIVE NOTICE OF THE POSSIBILITY OF SUCH
DAMAGE.

1.F.3. LIMITED RIGHT OF REPLACEMENT OR REFUND - If you discover a
defect in this electronic work within 90 days of receiving it, you can
receive a refund of the money (if any) you paid for it by sending a
written explanation to the person you received the work from. If you
received the work on a physical medium, you must return the medium
with your written explanation. The person or entity that provided you
with the defective work may elect to provide a replacement copy in
lieu of a refund. If you received the work electronically, the person
or entity providing it to you may choose to give you a second
opportunity to receive the work electronically in lieu of a refund. If
the second copy is also defective, you may demand a refund in writing
without further opportunities to fix the problem.

1.F.4. Except for the limited right of replacement or refund set forth
in paragraph 1.F.3, this work is provided to you ‘AS-IS’, WITH NO
OTHER WARRANTIES OF ANY KIND, EXPRESS OR IMPLIED, INCLUDING BUT NOT
LIMITED TO WARRANTIES OF MERCHANTABILITY OR FITNESS FOR ANY PURPOSE.

1.F.5. Some states do not allow disclaimers of certain implied
warranties or the exclusion or limitation of certain types of
damages. If any disclaimer or limitation set forth in this agreement
violates the law of the state applicable to this agreement, the
agreement shall be interpreted to make the maximum disclaimer or
limitation permitted by the applicable state law. The invalidity or
unenforceability of any provision of this agreement shall not void the
remaining provisions.

1.F.6. INDEMNITY - You agree to indemnify and hold the Foundation, the
trademark owner, any agent or employee of the Foundation, anyone
providing copies of Project Gutenberg™ electronic works in
accordance with this agreement, and any volunteers associated with the
production, promotion and distribution of Project Gutenberg™
electronic works, harmless from all liability, costs and expenses,
including legal fees, that arise directly or indirectly from any of
the following which you do or cause to occur: (a) distribution of this
or any Project Gutenberg™ work, (b) alteration, modification, or
additions or deletions to any Project Gutenberg™ work, and (c) any
Defect you cause.

Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg™

Project Gutenberg™ is synonymous with the free distribution of
electronic works in formats readable by the widest variety of
computers including obsolete, old, middle-aged and new computers. It
exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations
from people in all walks of life.

Volunteers and financial support to provide volunteers with the
assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg™’s
goals and ensuring that the Project Gutenberg™ collection will
remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
and permanent future for Project Gutenberg™ and future
generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see
Sections 3 and 4 and the Foundation information page at www.gutenberg.org.

Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non-profit
501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
Revenue Service. The Foundation’s EIN or federal tax identification
number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by
U.S. federal laws and your state’s laws.

The Foundation’s business office is located at 809 North 1500 West,
Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up
to date contact information can be found at the Foundation’s website
and official page at www.gutenberg.org/contact

Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

Project Gutenberg™ depends upon and cannot survive without widespread
public support and donations to carry out its mission of
increasing the number of public domain and licensed works that can be
freely distributed in machine-readable form accessible by the widest
array of equipment including outdated equipment. Many small donations
($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
status with the IRS.

The Foundation is committed to complying with the laws regulating
charities and charitable donations in all 50 states of the United
States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
with these requirements. We do not solicit donations in locations
where we have not received written confirmation of compliance. To SEND
DONATIONS or determine the status of compliance for any particular state
visit www.gutenberg.org/donate.

While we cannot and do not solicit contributions from states where we
have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
against accepting unsolicited donations from donors in such states who
approach us with offers to donate.

International donations are gratefully accepted, but we cannot make
any statements concerning tax treatment of donations received from
outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.

Please check the Project Gutenberg web pages for current donation
methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
ways including checks, online payments and credit card donations. To
donate, please visit: www.gutenberg.org/donate.

Section 5. General Information About Project Gutenberg™ electronic works

Professor Michael S. Hart was the originator of the Project
Gutenberg™ concept of a library of electronic works that could be
freely shared with anyone. For forty years, he produced and
distributed Project Gutenberg™ eBooks with only a loose network of
volunteer support.

Project Gutenberg™ eBooks are often created from several printed
editions, all of which are confirmed as not protected by copyright in
the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not
necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper
edition.

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facility: www.gutenberg.org.

This website includes information about Project Gutenberg™,
including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
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