Keltische Knochen/Gedelöcke: Erzählungen

By Wilhelm Raabe

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Title: Keltische Knochen/Gedelöcke
       Erzählungen

Author: Wilhelm Raabe

Release Date: August 11, 2014 [EBook #46561]

Language: German


*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK KELTISCHE KNOCHEN/GEDELÖCKE ***




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                            Wilhelm Raabe
                               Bücherei
                             Erste Reihe
                                Band 9

                            Wilhelm Raabe
                               Bücherei

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                               Kleinere
                             Erzählungen

                             Neunter Band

                           Berlin-Grunewald
                  Verlagsanstalt für Litteratur und
                        Kunst / Hermann Klemm




                            Wilhelm Raabe
                              Keltische
                               Knochen
                                  ·
                              Gedelöcke


                             Erzählungen

                            Dritte Auflage
                           11.-16. Tausend

                           Berlin-Grunewald
                  Verlagsanstalt für Litteratur und
                        Kunst / Hermann Klemm

                 Gedruckt bei G. Kreysing in Leipzig
            Einbandzeichnung entworfen von Bernhard Lorenz
            Den Einband fertigte H. Fikentscher in Leipzig




Keltische Knochen


Festgeregnet!...... Wem steigt nicht bei diesem Worte eine gespenstische
Erinnerung in der Seele auf? eine Erinnerung an eine Stunde -- zwei
Stunden -- einen Tag -- zwei, drei, vier -- acht Tage, wo er oder sie
ebenfalls festgeregnet war -- festgeregnet an einer Straßenecke, unter
einem Torwege, bei einem Freunde oder einer Freundin, in einer
Dorfkneipe, auf dem Brocken, dem Inselsberge, dem Rigi oder dem
Schafberge?

Es ist eine leidige Vorstellung -- festgeregnet! Grau, greinend und
griesgrämlich kriecht sie heran, streckt hundert fröstelnd-kalte,
feuchte Fangarme nach dem warmen Herzen aus und ist so schwer los zu
werden, wie alles andere Unbehagliche, Unbequeme, Ungelegene in der
Welt.

In Ischl spazierten die schönen Damen auf der Esplanade im glänzendsten
Sonnenschein, als wir ausfuhren, und sämtliche arme Hämorrhoidarier,
Drüsen- und Skrofelkranke hatten ihren Jammer in die freie Luft
getragen: auch die königlich-kaiserliche Familie fuhr spazieren.

In der Nähe von Laufen, im heiligen Bezirk der schönen, holdseligsten
Maria im Schatten zog die allerschönste, aber auch allereigensinnigste
Dame Natur den Nebelschleier über das Gesicht, und als wir auf dem See
schifften, wurde dieser Schleier und unsere Hoffnung auf einen schönen
Tag vollständig zu Wasser. Es scheint eben in den angenehmsten Gegenden
am liebsten zu regnen; aber vielleicht war auch der fromme Dichter,
welchen wir mit uns führten und welcher jedenfalls unter dem Zeichen des
Wassermannes geboren war, schuld daran.

Wir waren unserer drei, und trotz allem war der Dichter der Edelste von
uns; er hieß leider Krautworst und war aus Hannover, sagte natürlich
beides nicht gern, sondern stellte sich meistens als den Verfasser der
Lebensblüten vor und dar; sonst nannte er sich auch wohl, glänzenden
aber ebenfalls von der Prosa ihres Namens oder Geburtsortes erdrückten
Beispielen folgend, Roderich von der Leine. Er hatte uns in Linz im
Erzherzog Karl aufgegabelt, hielt krampfhaft wenigstens an mir fest,
schwärmte für Linz und ließ nicht selten geheimnisvolle Andeutungen
fallen, daß er daselbst etwas erlebt habe. Seine öftere
Geistesabwesenheit und Zerstreutheit gab Anlaß zur Vermutung, daß er
dieses Erlebte poetisch zu verwerten im Begriff sei; seine lyrischen
Wehen hatten oft etwas Beängstigendes für mich; affizierten jedoch den
dritten in unserm Bunde weniger. Dieser dritte war, ohne sich dafür zu
geben, ein Geheimnis, und ebenso verschlossen, wie der Poet offenherzig
und mitteilungswütig war. In die Fremdenbücher zeichnete er sich kurz
als Zuckriegel; ich hegte aber einigen Zweifel, ob dies wirklich sein
Name sei; bis er in Wien in den drei Raben höchst unmotivierterweise in
einen Streit geriet, der ihn und mich vor die königlich-kaiserliche
Polizei führte und ihn zwang, mit seinem Paß herauszurücken. Er hieß in
der Tat Zuckriegel, ohne sich dessen zu schämen, und war Prosektor an
einer kleinen norddeutschen Universität, hatte jedoch in seinem Äußern
sowohl, als in seinem Innern sehr viel vom Scharfrichter. Nur ein
schlechter Charakter, gleich dem seinigen, konnte es über sich gewinnen,
einen so guten Menschen wie den Dichter durch ein ewig wiederholtes
Auftischen des gehaßten Familiennamens Krautworst an allen Nervenenden
zu zupfeln und zu kitzeln.

Zuckriegels Reisezweck war, die Knochen des unbekannten Volkes am
Rudolfsturm über Hallstadt zu besuchen und womöglich einen Schädel und
einige sonst überflüssige Gebeine für seine osteologische Sammlung zu
stehlen oder, wie er sich euphemistisch auszudrücken beliebte, an sich
zu nehmen.

Er liebte es, irgend etwas an sich zu nehmen, wie zum Beispiel den
besten Platz im Wagen, die besten Stücke an der Wirtstafel, sämtliche
Zeitungen nach Tisch, und so weiter. Auf der Fahrt über den Hallstädter
See hatte er im »Einbaum« die Bank dicht hinter dem breiten Rücken und
den Röcken des lieblichen Schiffermädchens eingenommen und saß sehr
geschützt gegen den Regen, welchen der Wind uns ins Gesicht trieb.

Unser Kleeblatt hatte in Ischl trotz dem prächtigen Sommerwetter arg
gelitten: der fromme Dichter an den reizenden Toiletten der Damen;
Zuckriegel an sich selber und an einem amerikanischen Reverend nebst
Familie, welche, nur durch eine dünne Wand von ihm getrennt, ihn durch
nächtliche unendliche Gebete und näselnden Lobgesang sehr erbost hatten;
ich hatte mich durch die Inschrift am Kurhause: ^In sale et in sole
omnia consistunt^ verleiten lassen, das entsetzliche salzige Gesöff und
seine Wirkung auf meine gottlob gute Konstitution zu versuchen, und
hatte mich nicht vergeblich in die Gefahr begeben.

Die Inschrift an der Hygiea:

   »Man nennt als größtes Glück auf Erden
   Gesund zu sein --
   Ich sage nein!
   Ein größres ist, gesund zu werden«

gab mir nur einen mittelmäßigen Trost; das »Gesundwerden« nach diesem
höllischen Schoppen war längst nicht so angenehm als der behagliche
Zustand vor meinem fürwitzigen Anlecken an den Becher der Hekate. Wir
mieteten den Einspänner, setzten Roderich von der Leine neben den
Kutscher auf den Bock, fuhren, wie gesagt, an der holdseligen Jungfrau
Maria im Schatten und -- Regen vorüber und durch Goisern und Sankt
Agatha zur Gosaumühle, wo wir feucht abstiegen, und wo Zuckriegel sich
in einen Wortwechsel mit dem Kutscher verwickelte, in welchen wir beiden
andern uns nicht einmischten, weil wir dem Rosselenker recht geben
mußten, und dieser sich selber zu helfen wußte.

Wir mieteten den Einbaum, das heißt einen Kahn mit einer dicken Jungfrau
und einem Jungen, und wurden von jener Schifferin, welche der Dichter
der Lebensblüten »sich poetischer gedacht« hatte, über den See gerudert,
und ich für mein armes Teil bedauerte in diesem Augenblick nicht mehr,
daß der Tag dunkel war, denn er paßte zu der Gegend. Wären meine beiden
Begleiter, der Junge und das Schiffermädchen, nicht gewesen, so würde
höchstwahrscheinlich der Schatten Virgils aus den schwarzen Wassern
emporgestiegen sein, um sich mir als Führer auf dem fernern Wege gegen
die gebräuchliche Taxe anzubieten.

Ja, das Wasser des Sees war schwarz; schwarz waren die steilrechten
Felsen, die sich im schwarzen Gewölk verloren; es konnte niemand von uns
drei Touristen wissen, ob nicht hinter dem düstern Nebelvorhang die
erweiterte Hölle mit _allen_ seit dem vierzehnten September
Dreizehnhunderteinundzwanzig hinzugekommenen großen und kleinen
Missetätern ihren Anfang nehme und in Roderich von der Leine ihren neuen
Schilderer erwarte. Der Name des Menschen, Krautworst, konnte dabei
nicht hinderlich sein; denn ^Dante^ bedeutet in deutscher Zunge auch
nichts weiter als »Hirschleder«; aber Krautworst selber war hinderlich,
denn die wunderlich ergreifende Szenerie machte nicht den geringsten
Eindruck auf ihn; ihn fror, er sprach vom Wechseln der Strümpfe, von
rheumatischem Zahnschmerz und jammerte nach einer Tasse Tee.

Zuckriegel war schon ein anderer Mann: die Nähe der keltischen oder
sonstigen Gebeine und der Sitz hinter dem walfischhaften Rücken unseres
weiblichen Charons stimmten ihn milde; er glich in diesem Augenblicke
weniger einem Scharfrichter als einem vazierenden Metzger; ob sein Sitz
ihn auch erotisch stimmte, kann ich nicht bestimmt behaupten,
stellenweise schien es so.

Nach einer Fahrt von zwei Stunden gewannen wir die Überzeugung, daß
hinter dem Nebel- und Regenvorhang nicht ^l'inferno^ seinen Anfang nehme
und seinen Eingang habe; sondern daß daselbst Hallstadt liege oder
vielmehr klebe, und daß die Taxe für die Fahrt nicht unbillig zu nennen
sei. Der Einbaum schoß beim Seeauer ans Land; und wie erotisch
Zuckriegel durch unsere solide Schifferin gestimmt sein mochte, er
fühlte sich keineswegs dadurch gehindert, beim Zahlen mit ihr in
Konflikt zu geraten.

Von einem weiblichen Kellner geleitet, stiefelten wir durch den
triefenden Garten selber triefend in das gastliche Haus, und Roderich
bestellte zähneklappernd eine Tasse heißester Kraftbrühe. Hinter ihm
rauschte der See, jedoch ohne ihn als Opfer haben zu wollen; im
Gegenteil schien er herzlich froh, ihn losgeworden zu sein. Ich trank
Kaffee, Zuckriegel aber entschloß sich zu einem starken Grog, dessen
Bereitung er dann in der Küche selbst überwachte, da er diesen
abgelegenen Erdenwinkel nicht mit Unrecht der richtigen Mischung dieses
angenehmen Getränkes nicht gewachsen glaubte. Seinen Anzug wechselte er
nicht; _er_ blieb, wie er war, und fing nur in der Atmosphäre der
geheizten Gaststube an, leise zu dampfen. Der Poet erschien nach einer
Pause, während welcher man ihn nicht vermißte, wie ausgewechselt. In
blendendem Weiß vom Kopf bis zu den Füßen war er von Ischl ausgefahren,
jetzt stellte er sich von den Füßen bis zum Kopfe karriert dar, und wenn
es seine Absicht war, in Hallstadt Aufsehen zu machen, so war dieses
Kostüm wahrlich geeignet, ihn seinen Zweck erreichen zu lassen; auf
einem nach der Kirchturmspitze ausgespannten Seile würde es das
Natürlichste von der Welt gewesen sein. Sämtliche in der Gaststube
anwesende Augen sprangen fast aus ihren Höhlungen, und die Kellnerin
sprang mit einem recht unzivilisierten Aufkreisch in die Küche, worauf
einen Moment später ein seltsames Gedränge von plattgedrückten Nasen an
den Scheiben des dunklen Schiebfensters neben dem Ofen zu sehen war. Der
Poet konnte mit dem Eindruck, welchen er hervorbrachte, zufrieden sein.
Er war es auch, und setzte die Gaststube zum zweiten Male dadurch in
Verwunderung, daß er seine Kraftbrühe wie jeder andere, gewöhnliche,
nicht karrierte Mensch trank; jedermann schien das Gegenteil erwartet zu
haben.

Der Himmel zeigte jetzt, daß er es gut mit uns gemeint habe; wenn er
während der Fahrt nur leise auf uns herabtröpfelte, so tat er jetzt, da
er uns unter Dach und Fach wußte, seinen Gefühlen keinen Zwang mehr an
und zog seine Reserveschleusen. Es war zwei Uhr, und es regnete
entsetzlich; der Wirt freute sich unseres Daseins in seinem
Etablissement, und ein Autochthone tröstete uns aus einem fernen Winkel,
daß wir nicht die ersten seien, die bei solchem Wetter in Hallstadt
anlangten, und daß wir wahrscheinlich auch nicht die letzten sein
würden, die bei ebensolchem Wetter es wieder verließen. Den Faust kannte
der Eingeborene nicht und verwunderte sich deshalb zum drittenmal über
den karrierten Dichter, welcher hohläugig und mit hohler Stimme
rezitierte:

»Jammer! Jammer! von keiner Menschenseele zu fassen, daß mehr als ein
Geschöpf in die Tiefe dieses Elends versank, daß nicht das erste genug
tat für die Schuld aller übrigen!«

Frech setzte der Prosektor das Geschäft fort und fragte mit den Worten
Mephistos:

»Warum machst du Gemeinschaft mit uns, wenn du sie nicht durchführen
kannst?... drangen wir uns dir auf oder du dich uns? Fahren Sie fort,
Herr Krautworst und sehen Sie nicht so mürrisch aus! ich habe Sie doch
nicht _kontrekarriert_?«

Herr Krautworst fuhr nicht fort, er ärgerte sich sehr über das Zitat
Zuckriegels, konnte jedoch nichts dagegen machen und besann sich erst
fünf Minuten später, als der Prosektor dem Wirt das Küchenbulletin
abverlangte, auf den empörten Ausdruck Fausts: »Fletsche deine
gefräßigen Zähne mir nicht so entgegen! mir ekelt's!«

Es war zu spät, auch dieses Zitat noch anzubringen; -- und wir speisten
zu Mittag und es gelang mir, einen mit Messer und Gabel bewaffneten
Frieden zwischen dem Manne der Wissenschaft und dem Manne der Poesie
herzustellen. Als aber nach Tisch der Prosektor bemerkte:

»Wahrhaftig, es regnet wahrhaft musenalmanachartig; das ist ein Wetter
für einen Dichter, Herr Krautworst! wenn es mir nur nicht meine Knochen
fortschwemmt!« da schob der Poet den Stuhl zurück, griff nach dem
Regenschirm, hing das Plaid über die Schultern und schritt mit einem
vernichtenden Blick auf den Spötter aus der Tür. Es war, als ob
Prometheus dem Geier mit titanenhafter Verachtung den Rücken zeige. »Um
Gottes willen, halten Sie ihn fest!« rief mir Zuckriegel zu. »Jetzt habe
ich ihn in die rechte Stimmung versetzt; in einer halben Stunde ist er
mit seinen gereimten Linzer Erlebnissen wieder da. Geben Sie Achtung, ob
er sich nicht rächt; halten Sie ihn, bringen Sie ihn zurück, ich will
Abbitte tun.«

»Sie lobe ich mir als Reisegefährten,« sprach ich und ging dem guten
Roderich nach. ^Solus cum solo^ war der Prosektor bei solchem Wetter
doch nicht zu ertragen, die Last war zu schwer für die Schultern eines
einzelnen Menschen. Von der Tür aus sah ich noch, wie er sich so
gleichmütig als lang auf drei Stühlen ausstreckte und seine
Reiselektüre, einen Band von Avé-Lallemants Geschichte des deutschen
Gaunertums, durch deren Studium er sich mit Eifer auf sein großes
Unternehmen vorbereitete, hervorzog; -- durch einen dunkeln niedern Gang
gelangte ich ins Freie, oder das, was man in Hallstadt das Freie nennen
kann, und traf am Ausgang auf den Hospes, den ich fragte, was man bei
solchem Regen »am Hallstädter See sehen« könne?

»Hallstadt!« sagte der Wirt, und er hatte recht, dreifach recht;
Hallstadt ist bei jedem Wetter eine Merkwürdigkeit. Nirgends in der Welt
vielleicht gibt es so viel Treppen auf so engem Raume als hier. Der
Flecken macht den Eindruck, als sei er von einer Riesenhand, tüchtig
durcheinander gerüttelt und geschüttelt, an den lotrecht aus dem
schwarzen See aufsteigenden Felsen geworfen und kleben geblieben. Zwei
Monate im Jahre soll ihn die Sonne nicht erreichen, und ich glaube es
gern. Wo die Dächer aufhören, fangen die Straßen an; in keiner Stadt der
Erde muß es so gefährlich sein, sich einen Rausch zu trinken, wie hier.
Man schwindelt, wenn man empor-, und man schwindelt, wenn man
hinuntergeht; -- man fühlt sich selbst ohne Rausch keineswegs sicher auf
seinen Füßen, und das Entzücken, mit welchem man zwischen zwei grauen
Hauswänden, oder durch sonst eine Lücke in dem Mauer- und Felsenwerk auf
den Spiegel des Sees und die Steierschen Alpen am jenseitigen Ufer
sieht, ist stets von einer gewissen Beklemmung, einer nahen Cousine des
Alpdrückens, begleitet. Die Häuser haben in Hallstadt das Recht,
betrunken zu sein; die Vorsehung wacht über sie und behütet sie an den
unmöglichsten Orten vor Schaden; wenn aber, was ebengenannte Vorsehung
jedenfalls verhüten wird, einmal eins von diesen Häusern einfallen
sollte, so wird es unzweifelhaft seine sämtlichen Genossen mit sich in
den Abgrund reißen, und das ganze Nest wird zusammenfallen wie ein
Kartenhaus, jedoch mit mehr Gepolter. Sehr richtig bemerkt Baedecker,
daß in Hallstadt weder Pferd noch Wagen zu finden ist, und es kann einen
nur wundern, daß der große Tourist hiesigen Orts danach gesucht hat. Ich
erblickte nicht einmal einen Esel; als ich aber, vom Hospes auf den
Mühlbach des Ortes aufmerksam gemacht, von zarter Hand zurechtgewiesen,
an das romantische Wasser gelangte, stand Roderich von der Leine mit der
Brieftasche in der Hand und dem Silberstift an den melodischen Lippen in
einem dunklen Torbogen neben dem Gesprüh und Geplätscher, umgeben von
einem achtungsvollen, aber erstaunten Kreis älterer und jüngerer
Hallstädter von beiden Geschlechtern. Da ich weder ihm noch mir die
Stimmung verderben wollte, so verschob ich die Besichtigung dieses
berühmten Mühlbaches auf eine andere Stunde und ließ den Dichter für
jetzt im unbestrittenen Besitz des Wasserlaufes; -- man soll weder Diana
noch den Poeten im Bade stören, so verlockend die Gelegenheit dazu sein
mag.

Scheu wich ich zurück und geriet auf Umwegen zu der neuerbauten Kirche
der Protestanten, die ihren Zweck erfüllte und deren Entstehung nach
langem Kampfe mich sehr befriedigen mußte, welche ich jedoch, da sie
verschlossen war, links liegen ließ, um mich zu der katholischen Kirche
zu wenden.

Die katholischen Kirchen sind immer geöffnet, und den Weg zu ihnen
findet man auch, wenn man ihn recht sucht, wozu Roderich von der Leine,
oder wie ich ihn hier nennen darf, Krautworst aus Hannover, merkwürdige
Belege aus seinem Erfahrungskreise liefern konnte.

Treppen, Treppen, Treppen! Hinauf, hinunter, hinauf! Feuchte, mit
üppigen, sehr gesunden Mauerpflanzen bedeckte Mauern, tröpfelndes
überhängendes Gebüsch aller Art -- ein Kirchhof mit prächtigem,
beperltem Grün, alten und neuen Denksteinen, Kreuzen, verregneten
natürlichen und künstlichen Blumen, Goldflittern und Bändern, ein
Kirchhof mit Aussicht über eine niedere Mauer, ein Kirchhof mit einer
Aussicht über den wunderbarsten See auf das »Tote Gebirge«! -- ich
freute mich, daß ich kein Gedicht zu machen brauchte und keinen Ruf
aufrecht zu erhalten hatte, wie der Verfasser der Lebensblüten; sondern
nach einem trunkenen Blick auf all die keusch vom Regen verschleierte
Schönheit ruhig meinen Regenschirm und meine ästhetischen Fühlhörner
einziehen konnte, um auch das Innere des trefflichen alten Kirchleins zu
besichtigen. In welchem Jahre und von welchem Künstler der Altarschrein
geschnitzt ist, weiß ich nicht, und es geht mich auch gar nichts an, und
das alte Weib, welches davor kniete, ging's ebenfalls nichts an. Ich
setzte mich in einen dämmerigen Kirchstuhl und hörte dem Murmeln der
Alten und dem Klingen der Tropfen draußen vor den Spitzbogenfenstern und
dem Rauschen des Regens in den Bäumen zu und duldete es ohne
Widerstreben, daß Zuckriegel und Krautworst in meiner Seele allmählich
immer mehr zu mythischen Personen wurden, und ich selber ein Ding ohne
Bedeutung für das reale Leben, die Geschäftswelt und die Schreibstube.
Ich entschwand mir selber in dieser märchenhaften Minute, verwahre mich
übrigens ernstlich gegen jeden Gedanken an Einschlafen; ganz genau und
ohne jedes schreckhafte Auffahren wußte ich, was es bedeuten sollte, als
die Alte nach beendigtem Gebet auf mich zu humpelte und mir die offene,
knöcherne Pfote unter die Nase hielt. Ich habe es nicht geträumt, daß
sie Dominika Schönrammer hieß und ihr Sohn Seppel Schönrammer, und daß
sie mir zur Begründung ihres Anspruchs an mein gutes Herz und meinen
Geldbeutel die ängstliche und tränenvolle Mitteilung machte, wie
genannter Seppel augenblicklich nicht daheim, sondern drüben -- hinter
den Bergen, -- drunten -- in Italien sei, um dem Kaiser das Land zu
verteidigen.

Nun wußte ich auf einmal wieder, daß wir Achtzehnhundertneunundfünfzig
schrieben, und daß ich nur deshalb Wien verlassen und mich in die Berge
geflüchtet hatte, um den Jammer wenigstens stundenlang von der Seele
loszuwerden. Dies liederliche Wien! bei allem Elend konnte es einem doch
noch Spaß machen durch die Art, wie es sich unter den sich häufenden
Kalamitäten zu trösten suchte. Während das junge kräftige Kind Italia
seine Windeln sprengte und der alten grämlichen Wartefrau Austria das
Saugfläschchen an die Nase warf, studierte Wien, bekanntlich nicht die
sittlichste Stadt der Welt, die statistisch-moralischen Tabellen
Frankreichs, zog Trost aus der Auflockerung aller sittlichen Bande in
der gallischen Nation, und erwartete sein Heil von der Abnahme der
Bevölkerung, welche unausbleiblich die Folge solcher greulichen
Verderbnis war. Was für einen Orden jener kluge Mann erhalten hat, der
zuerst dem denkenden Österreichertum dieses treffliche und einleuchtende
Theorem in die Hände gespielt hat, kann ich leider nicht sagen. Verdient
hat er einen.

Aber Seppel? Seppel Schönrammer?! Können wir uns diesen Joseph
Schönrammer entgehen lassen? Ein Kirchhof mit der Aussicht auf den
Hallstädter See, eine arme, alte Mutter unter dem weinenden Himmel --
eine bleiche, liebliche, ländliche Braut, welche die Stufen der Kirche
emporsteigt, um der Jungfrau Maria eine geweihte Kerze zu bringen und
der alten Mutter für das Leben des Sohnes bitten zu helfen, -- -- drei
Seiten Manuskript, welche, die pekuniären Vorteile ganz beiseite
gelassen, die Aktien unseres schriftstellerischen Verdienstes in jeder
milden Frauenbrust hochsteigen lassen würden, -- -- o Roderich von der
Leine, o Rodrigo, Rodrigo!

Es ist traurig, nicht nur für die Damen, sondern auch für mich: eine
novellistische Rührung kann an dieser Stelle nicht statuiert werden.
Seppel schien den schmelzenden Gefühlen der Liebe bis dato gänzlich
fremd geblieben zu sein; auf _diesem_ »unberührten Klavier« war der
»erste einweihende Silberton« noch nicht erklungen. Seppel Schönrammer
ließ keine in Angst und Schmerz vergehende Braut hinter sich zurück;
aber sakrisch geflucht hat er, als er mit Knappsack, Kuhfuß und
Feldkessel ausziehen mußte, um das zu schützen, was andere
zusammengeheiratet hatten. Böse Ahnungen in betreff des Feldkessels
bewegten seine sonst sehr ahnungslose Brust; ach, sie erfüllten sich,
der Blechtopf sollte leer bleiben wie Seppels Herz und Schädel und nur
durch hohles Geklapper auf dem Tornister seine Unentbehrlichkeit zur
Kriegsausrüstung des tapfren österreichischen ^miles impeditus^ auf dem
Marsche wie in der Feldschlacht dartun.

Wenn ich nun auch nicht hoffen darf, durch diese Episode meines
Hallstädter Aufenthalts meine Leser und Leserinnen zu rühren, so rührte
mich selber doch die Erzählung der Alten tief, und ich schenkte ihr
einen von jenen Guldenzetteln, welche die Regierung, wenn auch nicht
über den Bedarf, so doch über die Verabredung hatte drucken lassen.

Mit den besten Wünschen für einander und den Joseph in der Lombardei
nahmen wir Abschied; nach einem letzten Blick über die Mauer des
Kirchhofs verließ ich ihn und stieg wieder abwärts dem Seeauer zu,
getrieben von dem Bedürfnis, mich zu erkundigen, wie Zuckriegel während
meiner Abwesenheit seines Daseins Last ertragen habe. Es regnete
selbstverständlich ruhig weiter.

Mein trefflicher Ortssinn, der mir nirgend so sehr zu statten kam wie in
Hallstadt am Hallstädter See, führte mich ohne viele Umwege zum
Wirtshaus zurück, und durch die bereits erwähnte Hinterpforte und den
dunkeln Gang gelangte ich wohlbehalten zur Tür der Gaststube. Aber
lauschend stand ich still; -- Zuckriegel hatte drinnen die höchsten
Register seiner Stimme gezogen, und eine andere Stimme sang die
Antistrophe mit ihm zu gleicher Zeit, was von ausgezeichnet
unharmonischer Wirkung war. Das Küchenpersonal drängte sich
verschüchtert-exaltiert auf dem Gange; ich aber, der ich bereits wußte,
daß unser Reisegenosse sehr gern und sehr leicht in einen Wortwechsel
geriet, öffnete die Stubentür und trat ein. Starr, zweifelnd blieb ich
auf der Schwelle stehen und sperrte den Mund auf, ohne die Türe zu
schließen.

Ich habe im Wiener Prater einen Tausendkünstler gesehen, der ein
lebendiges Kaninchen an den Hinterbeinen packte, es in der Mitte
durchriß und dem erstaunten und begeisterten Publiko nunmehr in jeder
Hand ein lustig zappelndes Tierchen präsentierte. Ein ganz ähnliches
Experiment schien mit dem Prosektor Zuckriegel vorgenommen worden zu
sein; -- er war zum zweitenmal in der Gaststube beim Seeauer vorhanden
und -- zankte sich bereits aufs heftigste mit seinem Doppelgänger. Das
Buch vom deutschen Gaunertum war verächtlich zu Boden geworfen, ebenso
zwei von den Stühlen, auf welchen der nicht nur große, sondern auch
lange Mann seine Mittagsruhe gehalten hatte. Mit ihren Brieftafeln in
den Händen gestikulierten beide streitende, hagerne, lederfarbene, grau
in grau kolorierte Gesellen aufeinander ein und suchten sich gegenseitig
zu überschreien. Der Fremde dampfte, wie Zuckriegel gedampft hatte, --
ein Beweis, daß er vor noch nicht langer Zeit eingetroffen sein konnte.

»Um Gottes Willen, Herr Prosektor! meine Herren! meine Herren!« rief ich
beschwörend, zwischen die beiden erhitzten Kämpfer springend. »Mäßigen
Sie sich doch, Herr Zuckriegel! Was gibt es denn? was ist denn
vorgefallen?«

»Und ich sage Ihnen, Sie irren sich durchgängig!« schrie Zuckriegel.
»Ich widerlege Ihre Aufstellung Punkt für Punkt; -- -- wollen Sie mich
endlich ruhig anhören?«

»Nein!« krächzte sein ihm so ähnliches Gegenpart. »Weshalb sollte ich
Sie ruhig anhören, da Sie mich nicht aussprechen lassen wollen? Beharren
Sie nur auf Ihrer Meinung; -- -- ich werde gegen Sie schreiben; ich
werde der Welt Ihre Hypothesen vorlegen und in der rechten Beleuchtung
zeigen.«

Zuckriegel schoß auf und nieder, wie der Kerl mit dem langen Halse im
Puppenkasten. Sein Hals entwickelte eine grauenerregende Dehnbarkeit; er
mußte jedenfalls aus einem elastischeren Stoffe als Gummielastikum
bestehen. »Schreiben Sie, schmieren Sie! Ich werde Sie niederschreiben,
ich werde Sie platt schreiben wie eine Bettwanze. Ich werde Ihren
krassen Ignorantismus vor der Welt ausklopfen, daß die Motten
herausfliegen sollen; ich werde --«

Ich faßte den empörten Reisegenossen um den Hals und schob ihn zurück;
ich schob auch den nachrückenden grauen Fremdling zurück und hielt die
beiden Streithähne mit meinem triefenden Regenschirm auseinander.

»Herr Prosektor,« sagte ich, »ich bitte jetzt höflichst, mir diesen
Herrn vorzustellen -- Herr Prosektor, ich bitte Sie, sich zu beruhigen
-- mein Herr, lassen Sie mich den Neutralen spielen, lassen Sie mich den
Friedenskongreß eröffnen --«

»Ich bin Professor Steinbüchse aus Berlin,« sprach der Fremdling.
»Professor der Altertumskunde Steinbüchse, auf einer wissenschaftlichen
Reise zu den neuentdeckten Leichenfeldern am Hallstädter See im
Salzkammergut begriffen.«

»Ah!« sagte ich, aber Zuckriegel schrie:

»Er behauptet, es seien keltische Knochen; jedes Kind sieht --«

»Ein Kind sieht hier germanisches Gebein,« schrie Steinbüchse, »aber
jeder unver--«

»Halt, halt, halt, meine Herren!« schrie auch ich jetzt mit aller Kraft
meiner Lungen. »Keinen neuen Friedensbruch! keine unnötigen
Anzüglichkeiten! keine gelehrten Redeblumen! Bitte, Herr Professor,
kommen Sie soeben von diesen fraglichen Knochen zurück?«

»Ich bin auf der Reise dorthin begriffen.«

»Also haben Sie eben diese Knochen noch gar nicht gesehen?«

»Nur durch das Medium der öffentlichen Blätter.«

»Und Sie sind auch noch gar nicht oben am Rudolfsturm gewesen, Herr
Zuckriegel?«

»Bei diesem Wetter? Müßte doch ein Narr sein! Die Knochen schwimmen
nicht fort, und ich kann warten. Lag ruhig auf dem Rücken und las den
Avé-Lallemant, als ich überfallen wurde von diesem -- -- --«

Der Rest der Rede ging in einem undeutlichen Gemurmel verloren, ich
glaube etwas von »böotischem Hochstapler« vernommen zu haben; heiser wie
ein vermittelnder neutraler Gesandter auf einer Friedenskonferenz rief
ich:

»Reichen Sie sich die Hände, meine hochverehrten Herren. Ohne Umstände
-- seien Sie Brüder, wie Sie Kollegen sind. Die Wissenschaft schreitet
am besten durch das heitere Bündnis aller Kräfte fort. Lassen Sie uns
friedfertig zusammen zu Abend essen und morgen früh frisch, fromm, froh
emporsteigen zu diesen geheimnisvollen Gebeinen, und den Streit an Ort
und Stelle zum Austrag bringen.«

Durch mehrere verhängnisvolle Augenblicke sahen sich die beiden
Gelehrten grimmig an; dann aber zeigte Steinbüchse, daß er noch nicht
ganz dem Prosektor ähnlich sei; er erklärte sich bereit, Frieden und den
Mund zu halten bis morgen früh; setzte jedoch hinzu, daß er morgen früh
bei _jedem_ Wetter zum Rudolfsturm hinaufklettern werde.

Knurrend nahm Zuckriegel sein Gaunerbuch wieder vom Boden auf, zu einem
weitern Zugeständnis in bezug auf diese so mühsam errichtete ^treuga
Dei^ ließ er sich nicht herab. Daß der fromme Dichter in diesem
Augenblick ins Zimmer hüpfte, trug mehr als alles übrige dazu bei, die
Gemüter zur Ruhe zu bringen; der besänftigende Zauber der Poesie trat
einmal wieder so recht klar zutage.

Roderich von der Leine war sehr naß, so naß, daß er sich am besten
selbst auf die Leine zum Trocknen gehängt hätte. Aber er dachte nicht
daran. Seine Sehorgane rollten in dem bekannten schönen Wahnsinn; auch
er hielt seine Brieftasche in der Hand, und es tröpfelte aus ihr. Die
Geburt war vollendet, der Verfasser der Lebensblüten hatte seine Linzer
Erlebnisse unter dem Einfluß des erfrischenden Gestäubes des Hallstädter
Mühlbachs in Reime gebracht; Zuckriegel stöhnte schwer.

Ich stellte den Professor Steinbüchse und den Dichter einander vor, und
der Professor offenbarte eine neue Unähnlichkeit mit dem Prosektor; er
war höflich, er war duldsam, ja er war sogar zuvorkommend gegen den
Poeten und bat ihn herzlich, sich doch ja nicht durch seine Gegenwart
abhalten zu lassen, sein Gedicht vorzutragen. Vielleicht war und tat er
das alles nur, weil er die Grimassen, das Schnauben, Achselzucken, all
die kläglichen Windungen Zuckriegels bemerkte und deutete.

»Ja, lesen Sie, tragen Sie vor,« sagte ich, nicht ohne den Spuren des
Professors zu folgen.

»Würde es nicht besser sein, wenn Sie erst den Anzug wechselten?!«
seufzte Zuckriegel. »Sie können sich leicht sehr arg erkälten, Herr
Krautworst. Es wäre doch recht schade, wenn Sie durch jugendliche
Unbesonnenheit sich selbst um-, und die Nachwelt um Ihre noch
unerschaffenen unsterblichen Werke brächten.«

Da die weißen Gewänder noch immer naß in der Küche am Herde hingen, so
hätte Rodrigo sich nur in das Kostüm Adams werfen können, wenn er den
zärtlichen, besorglichen Ratschlägen Zuckriegels hätte Folge geben
wollen. Die innere Aufregung hob ihn übrigens über alle rheumatischen,
katarrhalischen Befürchtungen hinweg:

   Den hohen Göttern war er eigen,
   Ihm durft nichts Irdisches sich nahn.

»Wollen Sie nicht wenigstens andere Strümpfe anziehen? ich würde sehr
dazu raten. Junge Dichter sind so schon sehr zu Kongestionen nach dem
Cerebralsystem geneigt,« sagte Zuckriegel in wahren Flötentönen.

Der Dichter schüttelte nur zerstreut das Haupt; er blätterte heftig in
seinem Notizbuche.

»Nun denn, in drei Teufels Namen, so lassen Sie's laufen!« schnauzte
Zuckriegel, zum Äußersten und um seine Kosten in Hinsicht auf die vorige
Höflichkeit und Milde gebracht.

Roderich von der Leine wendete sich zu uns:

»Haben Sie bereits den Mühlbach gesehen, meine Herren?«

»Nein,« sagte ich, und auch Steinbüchse hatte noch nicht das Vergnügen
gehabt.

»Sie müssen ihn sehen!« rief emphatisch der Poet. »Originell, --
romantisch im höchsten Grade. Da ist ein alter dunkler Bogen mit einer
Nische und einem Bilde, einem Bilde des heiligen -- wenn ich nicht irre,
des heiligen Sebastian drin; ich habe über zwei Stunden dort gestanden.«

»Den Mühlbach sah ich nicht; Sie aber sah ich, liebster Freund, wollte
Sie jedoch nicht stören.«

Dankend neigte Roderich das Haupt gegen mich, dann aber fuhr er mit der
Brieftafel ruckartig gegen die Nase und begann, anfangs schüchtern, dann
aber immer mutiger, mit den bekannten Seitenblicken auf die
Zuhörerschaft:

   »Grau verschleiert schaun die Berge
   Auf die fremde Stadt herein,
   Unablässig rieselt's nieder,
   Und ich gähne kläglich drein.«

»Grade wie ich!« knurrte Zuckriegel, der die verdrießliche Nase wieder
in seinen Avé-Lallemant gesteckt hatte.

   »Gott, o Gott, ach woll es wenden,
   Gott, Erbarmen habe du!
   Sende mir in diesem Trübsal
   Einen deiner Engel zu!«

»Mir auch! ich bitte dringend!« seufzte Zuckriegel.

   »Goldgelockt, mit blauen Augen,
   Schlank und weiß von Angesicht
   Laß ihn sein, um mich zu trösten; --
   Flügel, -- Flügel braucht er nicht.«

»Ich aber könnte sie gebrauchen!« seufzte Zuckriegel.

   »Von dem Dome summt die Glocke,
   Und die frommen Christen schleichen
   Durch den Schmutz der Stadt zur Messe;
   Gott, o Gott, laß dich erweichen!«

»Was solch ein Mensch doch alles verlangt. Selber kennt er kein
Mitleid,« brummte Zuckriegel.

   »Einen Engel send hernieder
   Oder einen Sonnenstrahl,
   Lasse mich nicht untergehen
   Hier in dieser Jammerqual!«

»Auch mich nicht; ich flehe inständigst darum!« sagte Zuckriegel; der
Dichter aber machte uns darauf aufmerksam, daß sein Gedicht durch feine
Einschnitte gegliedert sei, daß nunmehr eine neue Bilderreihe anhebe. Er
fuhr fort:

   »Bläulich ringelnd, sanft verwehend
   Schwindet der Zigarre Duft;
   Unablässig rieselt's nieder,
   Und ich schnappe wild nach Luft.«

Zuckriegel ächzte: »Ich nicht weniger.«

   »Aus dem Fenster halben Leibes
   Häng' ich jetzt und hör' die Tropfen
   Drunten in der engen Gasse
   Auf die Regenschirme klopfen.«

Zuckriegel wußte ganz genau, auf was _er_ am liebsten klopfen würde.

   »Und das Auge schläfrig müde,
   An dem Hause gegenüber,
   Von dem Keller bis zum Dache,
   Kriecht's hinauf und senkt sich wieder.«

Zuckriegels Auge kroch auch unheilverkündend an dem Poeten in die Höhe
und senkte sich erst wieder, als jener weiter sprach:

   »An des Metzgers Tür dem Hammel,
   Ausgeweidet, halbzerfetzt,
   Ach, wie gleicht ihm schauderhaftig
   Meine arme Seele jetzt!«

Zuckriegel brummte: »Ein schauderhaftiger Vers, sonst aber der einzige,
der bis jetzt meine ganze Billigung hat.« Laut rief er: »Herr
Krautworst, ich mache Ihnen mein Kompliment über Ihre Kenntnis des
menschlichen Innern. Bitte, tragen Sie die letzten Reime noch einmal
vor; -- wem glich Ihre arme Seele in jenem denkwürdigen Moment und
Seelenzustande?«

»Abteilung drei!« sagte Roderich von der Leine, den Prosektor
verachtend.

   »Hinter hohen Spiegelscheiben
   In dem blanken Messingbauer
   Kreischt ein grüner Papageie
   Und erweckt mir neue Schauer.«

»Aber es scheint doch eine gute Schule gewesen zu sein!« akkompagnierte
Zuckriegel.

   »Eine Dam in rotem Sammet
   Füttert ihn mit Zuckerbrocken.
   ^Merci!^ kreischt er, klettert, flattert: --
   Alle meine Pulse stocken;

   Denn ein neues Bild ist er mir
   Aus dem wildbewegten Leben;
   Denn mit Flattern, Mercisagen
   Hab' auch ich mich abgegeben.«

Die Verachtung Zuckriegels stieg zu einem solchen Grade, daß er sie
während der folgenden Verse nur noch durch Gesten, die nahe an
Verrenkungen grenzten, auszudrücken vermochte.

   »Und 'ne Dam in rotem Sammet
   Reicht' auch mir einst Süßigkeiten;
   ^Merci! merci!^ rasend werd' ich,
   Denk' ich heute jener Zeiten.

   O du grüner Papagoye
   In dem blanken Silberringe,
   Häng dich auf an deiner Kette:
   Sauer werden süße Dinge.«

»Sehr!« seufzte Zuckriegel und fügte mit wahrhaft sezierenden Blicken
hinzu: »Ja, wenn er sich nur hängen wollte!«

»Vierte Abteilung!« sagte der Dichter.

   »Und von neuem schläfrig gähnend,
   Heb' ich jetzt die Augenlider;
   Hoch und höher schweift das Auge,
   Nah dem Dache haftet's wieder.

   Nah dem Dache -- Gott, was seh' ich?
   Gott, o Gott, kann's möglich sein?
   In des Regens trostlos Plätschern
   Schießt ein Sonnenstrahl herein!

   Nah dem Dach ein offen Fenster,
   Ganz von Bohnenblüt umwoben!
   Gott, o Gott, du hast gerettet!
   Dank dir, Dichtergott dort oben!«

»Meine Komplimente an ihn,« grunzte Zuckriegel, »aber er hätte etwas
Besseres tun können.«

   »Nah dem Dach ein offen Fenster,
   Und darin ein Engelsköpfchen,
   Blaue Augen, weiße Arme,
   Rosig Mündlein, goldne Zöpfchen!

   Nah dem Dach der ganze Himmel;
   O wie fern dem Erdenschmutz!
   Nah dem Dach die ewge Wonne!
   Schöne Heilge, deinen Schutz,

   Deinen süßen Schutz erfleh' ich, --
   Nicht mit Winken -- kaum mit Blicken;
   Schöne Heilge, schöne Selge,
   Willst du nicht hernieder nicken?«

»Sie wäre doch rein verrückt, wenn sie dem Narren den Gefallen täte!«
grunzte Zuckriegel, sich ganz in die Situation versetzend.

   »Ach, sie hebt sich von dem Sitze;
   Elfenhaft, im Blütenkranz,
   Um den Mund ein Engellächeln
   Steht sie hold im Sonnenglanz.

   Alle Teufel! Tod und Hölle!
   Gott, o Gott, was soll das wieder?
   Schönster Engel! Süße Heilige!
   Gott, sie läßt den Vorhang nieder.«

»Brava! Brava!« schrie Zuckriegel, grinsend in die Hände klatschend;
doch mit einem triumphierenden Blick auf ihn sprach Roderich von der
Leine:

»Abteilung fünf!« und der Prosektor versank wieder hinter dem deutschen
Gaunertum.

   »Unablässig rauscht's herunter,
   Und ich seufze klagend drein;
   Grau verschleiert sehn die Berge
   Auf die fremde Stadt herein.

   Und das rote Reisehandbuch
   Greif' ich auf und sink' zurück
   Schwer und mit gelösten Gliedern
   In den Sessel, und der Blick

   Sucht die Stelle, wo es lautet:
   >Linz ist eine schöne Stadt,
   Die schlecht Pflaster, einige Menschen
   Und auch ein Theater hat.<

   Linz, o Linz am Donaustrande,
   Ewig, Linz, gedenk' ich dein;
   Deinem Ruhme und Theater
   Will ich diese Verse weihn.

   Linz, o Linz am Donaustrande,
   Linz in Oberösterreich,
   Denk' ich deiner, wird das Auge
   Feucht, und wird das Herze weich.

   Jener weiße, kleine Vorhang
   Vor dem Fenster nah dem Dach, --
   Denk' ich sein, was wird da alles
   In dem dummen Herzen wach!

   Alle Götter und Göttinnen
   Sind dem Dichter stets zur Seit,
   Geben ihm durch Blut und Flammen,
   Durch den Regen das Geleit.

   Jenen weißen, kleinen Vorhang,
   Liebchen, Liebchen, laß ihn zu;
   In der holden Götterdämmrung,
   Liebchen, lieblicher bist du!«

Bedeutungsvoll klappte der Dichter seine feuchte Brieftasche zusammen,
und es begab sich etwas, das einem Wunder glich. Zuckriegel warf das
Buch vom deutschen Gaunertum zum zweitenmal auf den Boden, doch diesmal
nicht im Zorn. Er erhob sich, schritt auf den Poeten los, drückte ihm
mit verdächtiger Zärtlichkeit die Hand und sagte nun wiederum in seinem
Flötenton:

»Herr Krautworst, ist dieses Poem wirklich von Ihnen? Haben Sie wirklich
das selbst gemacht, Sie jugendlicher Heinrich Heine, oder wie der Mensch
heißt?! In der Tat, wenn Ihre bis jetzt mir leider gänzlich unbekannten
Kneipenblüt -- nein, Lebensblüten sämtlich aus ähnlichem Stoff
zugeschnitten und verarbeitet sind, so bitte ich Sie höflichst, mir ein
Freiexemplar derselben zu schicken. Hier ist meine genauere Adresse --
portofrei, wenn ich so frei sein darf, Sie darum zu ersuchen. Wenn
später einmal die Rückenmarksdarre --«

»Herr,« schrie Roderich jetzt außer sich vor Zorn, »Herr, ich bin so
frei, Sie zu ersuchen, mich ungeschoren zu lassen; Ihre Unverschämtheit
überschreitet allmählich alle Grenzen!«

»Ruhig, ruhig, mein junger Freund,« lächelte Zuckriegel, »Sie haben
freilich ein treffliches Gedicht hervorgebracht. Genial! Ein
funkensprühendes kleines Meisterwerk! Unser Lob muß Ihnen sehr
schmeichelhaft sein; aber ich bitte, sehen Sie nicht zu verachtend von
der Höhe, auf welche unsere Bewunderung Sie erhebt. Ich weiß, daß dem
^furor poeticus^ etwas zu gut zu halten ist; in unserer Abteilung für
Geistesabwesende hatten wir --«

Professor Steinbüchse und ich erkannten zu gleicher Zeit, daß es die
höchste Zeit sei, einzuschreiten. Wir überhäuften den Dichter mit
ernstgemeinten und eben so ernst ausgesprochenen Lobeserhebungen. Ich
machte ihn außerdem noch darauf aufmerksam, wie der Poet im schönen
kalten Egoismus die Menschen nur als einen Ton, der für ihn zum Kneten
und Formen geschaffen sei, ansehen müsse. Ich überzeugte ihn, daß der
Prosektor nur als »Stoff«, niemals als »beleidigen könnendes« Wesen für
ihn Bedeutung und Inhalt haben könne; -- Roderich von der Leine maß
seinen Wert an Zuckriegels Unwert, und in erträglicher Harmonie aßen wir
vier für einander geschaffene Charaktere zu Nacht. Aber nach Tisch erhob
sich eine ungeheuerliche Schwierigkeit.

Als wir uns nämlich nach unsern Schlafgemächern erkundigten, verkündigte
der Hospes, daß er uns nur zwei Kammern zur Verfügung stellen könne, und
daß die Herren sich drein finden müßten, zu zwei und zwei in einem
Zimmer zu schlafen; die Betten aber seien ausgezeichnet und ließen
nichts zu wünschen übrig; beide Kammern seien auch nur durch eine Wand
voneinander getrennt und hätten beide die Aussicht auf den See.

»Worauf ich huste!« sagte Zuckriegel. »Herr Krautworst, wir beide
schlafen zusammen, -- und am liebsten unter einer Decke. Wir haben uns
noch nicht völlig gegeneinander ausgesprochen und werden nunmehr die
angenehmste Gelegenheit dazu haben; ich pflege gewöhnlich erst gegen
Morgen einzuschlummern.«

Roderich sah auf den Prosektor wie die böse Stiefmutter auf das Faß voll
scharfer Nägel und Ottern, in welches sie gesteckt werden sollte.
Entsetzen, Abscheu, Ekel und Angst malten sich in seinen weichen Zügen.

»Wir übernachten natürlich zusammen,« flüsterte ich ihm zu. »Sie sollen
gerächt werden, wie Sie es nur wünschen können; Steinbüchse und
Zuckriegel werden zusammengepackt.«

Der Dichter drückte mir gerührt unter dem Tische die Hand und verließ
ihn -- nämlich den Tisch -- so eilig als möglich, um für mich und sich
unter dem Vorleuchten des Wirtes Besitz von dem einen Schlafgemach zu
ergreifen.

»Na, Professor, so müssen wir beide doch wohl zusammenkriechen, ich
rieche es,« sagte Zuckriegel, einen hohnlächelnden Blick auf mich
schießend. »Wir wollen aber die süßen Hoffnungen dieser beiden jungen
Männer zuschanden machen; wir wollen den abgeschlossenen
Waffenstillstand nicht brechen; schnarchen wollen wir.«

»Versteht sich,« sprach Steinbüchse, vollkommen von der Festigkeit
seines Willens und Charakters überzeugt. »Ich denke einen guten Schlaf
zu tun,« setzte er mit Wallensteinschem Glauben an die Sterne hinzu, und
ich gestehe, daß ich mit Bedauern anfing, an den Vorsatz der zwei
Gelehrten zu glauben.

Wir wünschten uns gegenseitig eine angenehme Nachtruhe, und als ich mein
Schlafgemach erreichte, fand ich den Verfasser der Lebensblüten bereits
behaglich in seinem Federbett eingekapselt. Nur sein mit einem roten
seidenen Tuch umwickeltes unsterbliches Haupt sah aus dem Kissen hervor.

»Was beginnen sie? Sind sie zu Bett?« fragte er.

»Jeder hat noch ein Glas Punsch bestellt. Ich fürchte, die Nacht wird
ruhiger vergehen, als wir hoffen.«

»Ich glaube an das Gegenteil; -- schlafen Sie wohl, liebster Freund; ich
will Sie wecken, wenn's Zeit ist.«

»Meinen besten Dank im voraus. Gute Nacht!«

Dumpf hörte ich noch im ersten Schlummer den Dichter zitieren:

   »^Quam iuvat immites ventos audire cubantem,^
   ^Et dominam tenero detinuisse sinu;^« --

aber ich ruhte, »vom Geplätscher in den Schlaf gerauscht«, zu sicher, um
die üppigen lateinischen Schulreminiszenzen Roderichs noch weiter zu
verfolgen; der See und der Regen übten denselben beruhigenden Einfluß
auf mich, wie der letztere einst auf den Elegiker Albius Tibullus.

Wie lange ich geschlafen hatte, weiß ich nicht; aber mir hatte schon
längere Zeit geträumt wie dem Ritter Don Quixote, daß ich mich im Lager
des Agramant befinde und gleich dem König Sobrino berufen sei, die
ausgebrochene Verwirrung zu lösen, als ich plötzlich durch das Geflüster
Roderichs von der Leine geweckt wurde:

»Liebster Freund! bester Freund! Sie haben sich! Sie liegen sich in den
Haaren! Horchen Sie! Hören Sie! ah!«

Eben noch hörte ich Messer Ludovico Ariosto beim Schreiben seines
rasenden Rolands lachen und sah ihn sich den dünnen Bart streichen; nun
lag ich wieder beim Seeauer am Hallstädter See im warmen Bett, eine
Stunde nach Mitternacht, hörte den Regen vor dem Fenster, sah beim
trüben Schimmer des Nachtlichts den hannoveranischen Dichter aufrecht
auf seinem Lager sitzen und vernahm hinter der dünnen Bretterwand der
Kammer ein Kampfgetöse, das nur von dem Aufeinanderfahren der Geister
Steinbüchses und Zuckriegels herrühren konnte.

Wie viele Gläser Punsch die beiden Trefflichen noch getrunken hatten,
mußte die Rechnung des folgenden Tages ausweisen; jedenfalls hatten sie
genug und warfen sich die Knochen der Kelten und Germanen in einer Weise
an die Köpfe, welche den unbefangenen Lauscher ergötzten, aber den
befangenen, wie Roderich von der Leine, aufs höchste entzücken mußte.

Ob die beiden Helden bereits im Zank die Kammer beschritten hatten, oder
ob der gelehrte Zwist sich erst von den Betten aus angesponnen hatte,
weiß ich nicht; Rodrigo behauptete das erstere; ich jedoch kann nicht
recht daran glauben; denn Zuckriegel war nicht der Mann, der sich ruhig
auf den Rücken legte, ehe er den Gegner darauf hingestreckt hatte, und
Steinbüchse, wenn auch in andern Dingen etwas weicher, milder,
menschlicher, gab dem anatomischen Vorschneider auf dem Felde der
Wissenschaft an hartnäckiger Behauptung seiner Meinungen wenig oder
nichts nach.

Jetzt fühlte ich mich nicht mehr berufen, als Vermittler einzuschreiten,
sondern vergnügte mich königlich, und das Gesicht des Verfassers der
Lebensblüten in der gedämpften Beleuchtung des Nachtlichtes war auch der
Betrachtung wert.

Diesmal vernahmen die Horcher hinter der Wand nicht ihre eigene Schande;
die beiden bepunschten Mitglieder der ^universitas litterarum^ sagten
sich die entsetzlichsten Grobheiten mit wahrhaft klassischer Naivität.
Je schwieriger es für sie wurde, sich gegenseitig zu überbieten, desto
genialer wurden ihre Eräußerungen, und kein Wort des einen war zu hoch,
daß nicht der andere ein noch höheres darauf setzte. Sie spuckten sich
moralisch ins Gesicht, und ich bin überzeugt, daß Zuckriegel mehrmals
nur um die Breite eines Haares von dem Schicksal, auf Jahrmärkten vor
einem moritätlichen Orgelbilde abgesungen zu werden, entfernt war.

»Jetzt beißt er in den Bettpfosten! So wahr ich lebe, bester Freund, er
beißt vor Wut in den Bettpfosten!« jauchzte der fromme Dichter in
verhaltener Lust.

»Und der andere hat sich die Decke in den Mund gestopft. Wahrhaftig,
lieber Freund, sie werden beide morgen am Gallenfieber krank liegen,
wenn wir nicht mit dem Stiefelknecht an die Wand klopfen.«

»Um alles in der Welt nicht!« bat der Poet. »Stören Sie ihre Kreise
nicht! Gallenfieber? Bah, sehen Sie nur in die Jahrbücher für
Philologie, in ihre medizinischen Zeitschriften. Sie können viel
vertragen, ohne Schaden an ihrer Gesundheit zu leiden. Hören Sie nur, da
geht der Berliner wieder ins Zeug. So ist's recht! Faß ihn, Professor --
drauf! drauf! Hurrah, der Hieb saß! Das nenne ich ausgeschmiert!«

Ein Gepolter hinter der Wand folgte auf und unterbrach den Jubel des
Dichters; auf das Gepolter erscholl ein dumpf dröhnender Fall, mit
beiden Füßen fuhren Roderich und ich diesseits aus unseren Betten; denn
nun schien es doch wieder Menschen- und Christenpflicht geworden zu
sein, das Blutvergießen zu verhindern. Aber eine höhere Macht war
bereits eingeschritten.

Wohl sang Professor Steinbüchse aus Berlin ^Io triumphe^; doch Prosektor
Zuckriegel faßte ihn nicht mit seinem guten Gebiß an der Kehle. Wohl war
Prosektor Zuckriegel vom Lager aufgesprungen, um den Gegner zu packen;
doch der Geist besiegte den Geist, der wackere Anatom hatte viel zu viel
Punsch getrunken; er maß den Boden seiner ganzen Länge nach und
schnarchte wie ein Kind an der Brust seiner Mutter, nur etwas lauter.

Noch fünf Minuten gluckste der Professor triumphierend, dann
entschlummerte auch er, alle Register seines Nasen-, Kehlkopf- und
Gaumen-Systems ziehend. Nun hielten die beiden Würdigen doch das sich
selber und mir gegebene Versprechen; sie schnarchten, allein erst nach
dem Kampfe.

Diesseits der Wand horchten wir noch eine Weile, aber da das Sägen,
Blasen und Raspeln immer regelmäßiger, wenn auch nicht melodischer
wurde, so überließen auch wir uns dem balsamischen Schlaf. Roderich
entschlief mit einem Ach der unsäglichsten Befriedigung. So war Zeus'
Wille für heute vollendet; wie sich aber die Dinge am nächsten
Morgen gestalten sollten, das lag ebenfalls auf dem Schoß des
Wolkenversammlers. -- Warum regnete er uns fest am Hallstädter See? --

Ich hatte mir vorgenommen, früh wieder aufzuwachen, um beim ersten
Erscheinen Zuckriegels und Steinbüchses zugegen zu sein und pflichtmäßig
als höflicher und auch jüngerer Mann mich nach der Nachtruhe der beiden
Herren zu erkundigen. Als ich aber die Augen aufschlug, merkte ich, daß
auch ich meine moralischen Kräfte gleich den beiden Gelehrten ein wenig
überschätzt hatte, und als ich halbbekleidet zum Fenster eilte, um mich
auch durch den Augenschein zu überzeugen, daß der Regen noch nicht zu
Ende sei, erblickte ich zu meinem höchsten Erstaunen unter zwei
Regenschirmen vier graue Beine, welche einander entgegen vor dem
Gartenpavillon auf- und abliefen. Und als der Wind zu gleicher Zeit aus
den Regenschirmen zwei Tulpen bildete, da sah ich mit zweifelnder
Verwunderung, daß sie es waren -- sie -- Zuckriegel und Professor
Steinbüchse.

Der Dichter suchte höchstwahrscheinlich in seinem tiefen Morgenschlummer
einen Reim auf Mensch; denn er stöhnte fürchterlich und griff ängstlich
mit krampfhaftem Zucken der Hände auf der Bettdecke umher. Ich fühlte
mich nicht berufen, ihm aus dem Dilemma zu helfen; in beflügelter Eile
machte ich Toilette, um mich den beiden grauen Lustwandlern im Garten
anzuschließen und zu erkunden, welch ein Geist diese Peripatetiker nach
solcher stürmischen Nacht in solcher Weise neben- und gegeneinander am
nebelverhangenen Ufer des Hallstädter Sees auf- und abführte.

Ich eilte die Treppe hinab, rief nach dem morgendlichen Kaffee, trat
dann, ebenfalls unter aufgespanntem Regenschirm, in den Garten und
schloß mich mit unbefangenster Miene den zwei Weltweisen an, um ihnen
das, was ich ihnen freilich nicht geben konnte, zu bieten, nämlich einen
guten Morgen.

Sie sahen verstört, übernächtig und verdrießlich genug aus: aber
bewundern mußte sie jeder denkende Mensch; und ich, der ich für jedes
geniale Sichfinden in die Stunde und ihre Verhältnisse einen feinen und
freien Blick habe, ich fühlte plötzlich eine Achtung für sie, von
welcher ich bis dahin keinen Begriff gehabt hatte.

Wie sank Roderichs von der Leine kleinliche, aber unversöhnliche
Gereiztheit vor der wahrhaft großartigen Charakterentfaltung dieser
beiden Männer der Wissenschaft auf ihr rechtes Maß herab! Zuckriegel und
Steinbüchse hatten sich auch gegenseitig gereizt, hatten sich schöne
Dinge gesagt; aber was war ihre Persönlichkeit gegenüber den hohen
Zwecken ihres Daseins am Hallstädter See? Die gelehrten Leidenschaften,
welche nächtlicherweise die Seelen der zwei streitbaren Helden so
furchtbar gegeneinander empört hatten, lagen geduckt, so weit es möglich
war, am Boden. Die spirituosen Wolken, welche das Gehirn der Kämpfer
füllten, hatten sich bis auf einen leichten, schleierartigen Dunst
verzogen; Zuckriegel war zu groß, die Brausche seiner Stirn an dem
Professor zu rächen, und Steinbüchse aus Berlin war zu geistig-klar, um
sich zu erinnern, daß er um Mitternacht ein »blödsinniger Esel« genannt
worden sei. Von den Erinnerungen des letzten Tages und der vergangenen
Nacht waren nur die vertraulichen Mitteilungen der behaglichen
Abendstunden, als der Punsch noch nicht gewirkt hatte, übrig geblieben:
Steinbüchse hatte Zuckriegel ins Ohr geflüstert, daß auch er gekommen
sei, um auf dem Leichenacker des unbekannten Volkes am Rudolfsturm sich
nach »etwas Brauchbarem umzusehen«, und im Fall man es nicht willig,
billig oder gegen gute Worte ablassen werde, sich »seines gelehrten
Rechtes« zu bedienen. Da nun des Professors Blick mehr auf bronzene
Fibulae, Nadeln, Schwertgriffe und Pfeilspitzen gerichtet war, der
Prosektor aber nur Knochen, Knochen, Knochen für seine Sammlung
gebrauchen konnte, so kamen die beiden lüsternen Gemüter einander hier
in keiner Weise ins Gehege. Sie hatten sich also über ihren dampfenden
Gläsern innigst die Hände geschüttelt, und um einander die Jagd nicht zu
verderben, gegenseitig geschworen, nur in Gemeinschaft darauf ausgehen
zu wollen, und sich in allen Fährlichkeiten des Unternehmens mit
Beredsamkeit, List, ja mit Gewalt gegenseitig beizustehen. Die Vorgänge
der Nacht konnten an diesem Feldzugsplane nichts ändern, und so liefen
die gelehrten Verschwörer nach eingenommenem Kaffee im Garten am See auf
und ab, und sahen sich bei jedem neuen Vorüberstreifen mit finstern
Blicken und Widerwillen, aber doch ohne Mordlust an.

Um neun Uhr wollte man aufbrechen zu diesem neuen Argonautenzug, Raub
der Helena oder Raubzug ohne Umschweife. Es schlug eben acht, ich hatte
also vollkommen Zeit, in Behaglichkeit ebenfalls Kaffee zu trinken und
das Erwachen des Poeten zu erwarten.

Gegen halb neun Uhr erschien Roderich von der Leine, dieses Mal wieder
in seinem weißen Kostüm. Jetzt hing der karrierte Anzug auf der Leine am
Küchenherde, und wurde von vielen Gebirgsbewohnern, die in ebengenannter
Küche sonst nichts zu suchen hatten, angestarrt, betastet und grinsend
bewundert.

Die Begrüßung zwischen dem Dichter und den beiden andern Herren hatte
ihre Reize für den aufmerksamen Beobachter; aber Zuckriegel hatte seine
Galle und Bosheit in der Nacht so reichlich ausgeströmt, daß er am
frühen Morgen verhältnismäßig matt war; seine Stimmung war ungefähr die
einer Brillenschlange, welcher der fromme, aber schlaue Hindu einen
Flanellappen vor die Zähne geworfen hat, und welche ihr Gift daran
losgeworden ist. Als ich jedoch dem trefflichen Jüngling Hannovers meine
Absicht, die beiden Gelehrten auf ihrem gefahrvollen, aber ruhmreichen
Wege zu begleiten, mitteilte, da fuhr er, ohne der Zuckriegelschen
Mildigkeit zu trauen, erschreckt vom Stuhle auf, warf ihn und den
Milchtopf um, zog mich in einen Winkel und flüsterte:

»Ich bitte, ich beschwöre Sie! Was wollen Sie tun? Bleiben Sie bei mir,
gehen Sie nicht mit diesen zwei seelenlosen Ungeheuern. Ich habe es mir
überlegt, man kann Hallstadt nicht verlassen, ohne den Schleierfall, den
Sprattenfall, den Waldbachstrub gesehen und einen entzückten Blick auf
den Dachstein und das Karlseisfeld geworfen zu haben. Man würde uns
auslachen, wenn wir ohne diese Erinnerung heimkehrten; -- ich flehe Sie
an, rennen Sie nicht in Ihr Verderben, gehen Sie mit mir; ich habe Ihnen
noch so vieles zu sagen, wir sympathisieren so vortrefflich miteinander.
Auf dem Wege nach dem Rudolfsturm regnet es ebenso sehr wie im
Echerntal, o kommen Sie mit mir!«

Wenn mich etwas dazu hätte bringen können, den glänzenden Fußstapfen des
göttlichen Sängers zu folgen, so wäre es die letzte so unbeschreiblich
wahre Bemerkung gewesen. Aber mein Entschluß stand fest; ich wollte mich
lieber auf dem Wege nach den unbekannten Knochen als nach dem
Waldbachstrub auswaschen lassen. Ich ziehe überhaupt der schönen Natur
eine schöne Menschenseele weit vor, und um Zuckriegels und Steinbüchses
Gesellschaft an diesem Morgen hätte ich alle landschaftlichen
Herrlichkeiten des Salzkammergutes samt dem himmlichsten Sonnenscheine
mit tausend Freuden fahren lassen, und alle Singvögel und frommen Tiere
des Waldes gratis zugegeben.

Ich entzog mich also mit bedächtigem Hauptschütteln den umschlingenden
Armen des Verfassers der Lebensblüten und sagte:

»Teuerster Freund, ich kann Sie nicht zwingen, uns zu folgen, aber ich
wollte, ich könnte es. Wann wird Ihnen ein besserer Stoff zu einem
Lustspiel wieder vor die Füße laufen?«

Roderich von der Leine stutzte, sah auf, sah auf mich, sah auf die
beiden Gelehrten, welche eben in grimmiger Entschlossenheit ihre
Reisetaschen packten und Platz für ihre Beute darin ließen; -- einen
Augenblick glaubte ich, sein Schicksal an das unsrige gebunden zu haben;
aber im nächsten Moment sank er wieder in sich zusammen und seufzte:

»Ich kann es nicht! Ich vermag es nicht! Ich kann _diesen_ Menschen
nicht länger ertragen. Heute beim Erwachen nach dem Triumph der Nacht
glaubte ich fest, daß es mir möglich sein würde; aber ich habe mich
getäuscht; ich bin der Vogel, und er ist die Schlange, welche mich mit
ihren giftigen Blicken verzaubert. Ich kann den Kerl nicht einmal mehr
von hinten ansehen.«

Da ich sah, daß alle weitern Überredungsversuche vergeblich sein würden,
überließ ich den nervenschwachen Dichter seinen einsamen Wegen und
wandte mich zu den beiden wissenschaftlichen Abenteurern; ihre wahrhaft
antike Ruhe erfüllte mich mit neuer Bewunderung.

Niemals hatten zwei determiniertere Strauchdiebe sich die Korbflaschen
vom Hospes mit Rum füllen lassen, als diese beiden akademischen
Raubgenossen. Leonidas in den Thermopylen, Curtius, als er in den
Schlund sah, ehe er hinabsprang, und aus neuerer Zeit Blücher, als er
auf dem Wege von Ligny nach Waterloo sagte: »Es ginge eigentlich nicht,
aber es muß gehen!« mochten ähnlich geblickt haben wie Zuckriegel und
Steinbüchse in diesem feierlichen Moment. Auch ich reichte meine
Reiseflasche dem Wirte, und dann -- dann brachen wir im ahnungsgrauen
Morgennebel und hartnäckigsten Platzregen todesmutig auf, und Roderich
von der Leine sah uns fröstelnd in unwillkürlicher widerwilliger
Bewunderung nach. Vielleicht war er in seiner Hinfälligkeit einen
Augenblick lang sogar neidisch auf den gehaßten, aber stahlherzigen
anatomischen Reisegegner.

Da Zuckriegel und Steinbüchse jetzt die ersten Schritte in die
wunderlichen Gassen Hallstadts taten (sie hatten es bis jetzt nicht der
Mühe wert gehalten, die Nase aus dem Gasthaus herauszustecken), so
äußerten sie ebenfalls einiges Erstaunen über die Treppen, und
Steinbüchse versicherte, so etwas kenne man gottlob in Berlin nicht. Im
steilen Zickzack lief aber die Treppe von den letzten Häusern aus weiter
den Berg hinan, bis sie nach einer Viertelstunde in einen ebenfalls im
Zickzack laufenden dichtbeschatteten Fußweg überging. Der Pfad nach dem
Rudolfsturm ist schwer zu verfehlen, selbst für zwei Gelehrte, deren
Gedanken außerhalb ihres Pfades laufen.

Munter, aber stumm stampften Steinbüchse und Zuckriegel zu; unterhaltend
war ihre Gesellschaft bis jetzt noch nicht. Beide hatten die Hüte so
tief als möglich auf die Nasen herabgezogen, beide hatten die
Regenschirme so dicht als möglich auf die Filzdeckel herabgezogen, beide
taten nicht einen einzigen Fehltritt, obgleich der Weg sehr aufgeweicht
und schlüpfrig vom Regen war. -- Beide sahen aber auch nichts von dem,
was man durch die Lücken und Einschnitte in der triefenden Waldung
erblicken konnte, nämlich den großartigsten Teil des Seekessels mit
allen kochenden, wallenden Nebeln und Dünsten. Ihre Gedanken waren bei
den Knochen und jeder überdachte bei sich die verschiedenen Strategeme
großer Feldherren, die auch ausgezogen, um etwas »an sich zu nehmen«
oder sich »ihres Rechtes zu bedienen«.

So eilte ich denn den beiden wundervollen Burschen von Zeit zu Zeit ein
wenig voraus, um dann das Recht zu haben, an der passenden Stelle stehen
zu bleiben und die sich immer mehr erweiternde Aussicht zu genießen.
Wenn die beiden Regenschirme dann allmählich sich zu mir
emporarbeiteten, stieg auch ich weiter. Plötzlich fiel auf halbem Weg,
nicht des Menschenlebens, sondern des Saumpfades, mein Blick auf eine
sehr nasse Bank, über welche eine, wie es schien, nicht neue Inschrift
zum Lesen und Nachdenken aufforderte; -- die beiden Regenschirme waren
wieder ganz in meiner Nähe, und ich stand und las:

»Hier hat gerast der hochlöbliche römische König Maximilian, als er
gangen ist, die Salzperg zu besehen, den fünften Tag Januarii Anno
Fünfzehnhundertundvier.«

»Wer hat hier gesessen? Wo hat wer gesessen? Wann hat wer hier
gesessen?« schrie in demselben Augenblicke Professor Steinbüchse aus
Berlin, tigerhaft heranspringend und mich ohne weitere Umstände beiseite
schleudernd, ehe ich antworten konnte:

»Kaiser Maximilian der Erste, sonst auch der letzte Ritter von
Anastasius Grün in Wien.«

Professor Steinbüchse überzeugte sich von der Wirklichkeit des Faktums,
notierte die Inschrift in seinem Taschenbuch und setzte sich auf die
nasse Bank, um auch diesen Eindruck an und in sich aufzunehmen.
Zuckriegel aber schritt verachtungsvoll vorüber, ohne einen Blick auf
die ewig denkwürdige historische Stelle zu werfen.

»Mir ganz einerlei, wer da gesessen hat, ob Sie, Kollege, oder der König
Maximilianus; wenn ich nur meinen Schädel bekomme,« sagte er.

Diese Bemerkung trieb auch den Professor frisch wieder vorwärts, und
nach einer halben Stunde weitern Kletterns erreichten wir den
Rudolfsturm und damit den Schauplatz der größten Abenteuer.

An die Rippen pochte das Männerherz, als wir vor dem vom Kaiser Albrecht
errichteten Gemäuer standen und die Glocke des jetzt darin hausenden
königlich-kaiserlichen Salzinspektors zogen, um zuerst in das in dem
Turm angelegte kleine Museum von aufgefundenen Altertümern, Ammoniten
und sonstigen Merkwürdigkeiten eingelassen zu werden. Eine Maid
beaufsichtigte uns dabei, und es interessierten mich vorzüglich in
dieser Sammlung die keltischen oder urgermanischen Punschbowlen, welche
mit vielem Geschick und Geschmack gearbeitet, aber leider sehr verrostet
waren. Hier versuchten wir noch nicht zu stehlen, denn es wäre doch zu
gewagt gewesen; aber Zuckriegel benutzte den Moment, in welchem die
Aufmerksamkeit der Gebirgsmaid ganz von dem Vergnügen an dem über ein
grün angelaufenes priapisches Scheusal in Entzücken geratenen
Steinbüchse in Anspruch genommen war, um mich am Knopf zu fassen und mir
zuzuzischeln:

»Mein Bester, von Ihnen allein hängt's jetzt ab, ob ich den Zweck meiner
Reise erreichen soll. Jedenfalls wird uns dieses Frauenzimmer zu der
Gräberstätte führen; -- Sie sind ein hübscher, gewandter Mensch --
merken Sie auf -- Sie sind mein Freund, Sie sind -- die Person guckt
her! -- kurz, führen Sie sie ab -- halten Sie ihre Aufmerksamkeit nur
einen kurzen Augenblick fest -- ich werde Ihnen ewig dankbar sein; --
das Mädchen ist gar nicht übel; lassen Sie sich einen Kuß, nur einen
einzigen Kuß geben, wenn wir an den Knochen der Vorwelt stehen. Auf
einen Kuß kann es Ihnen doch nicht ankommen, wenn es einen so erhabenen
Zweck wie die Osteologie gilt.«

»Man sieht doch, daß Sie aus Ihrer Reiselektüre etwas gelernt haben;
aber wollen Sie mich denn ohne alle Gewissensbisse Ihrem
wissenschaftlichen Drange, Ihren wüsten Begierden opfern?« fragte ich
vorwurfsvoll.

»Keineswegs, Verehrtester! Was riskieren Sie? Ich reiße mit meinem
Schädel aus; Steinbüchse mag für sich selber sorgen, und es würde weder
Sie noch mich kränken, wenn man ihn am Kragen nähme. Sie selber, Bester,
kommen als unbeteiligter, harmloser Tourist unschuldig, kühl und langsam
nach. Am Seeufer, beim Seeauer treffen wir wieder zusammen und feiern
den Sieg, und zu allem übrigen schicke ich Ihnen auch gleich nach meiner
Heimkehr meine Abhandlung über die Schädelbildung der ältesten, alten,
neuen und neuesten Völkerstämme. Was sagen Sie _dazu_? Können Sie noch
widerstehen?«

»Nein!« sagte ich. »Hier haben Sie meine Hand darauf; an mir soll's
nicht liegen, wenn Sie Ihres Herzens Wunsch nicht durchsetzen. Lassen
Sie uns denn gehen.«

»Nun, mein reizendes Kind,« sagte Zuckriegel kosend, indem er leise wie
eine Blindschleiche zu der bergbewohnenden Schönen schlüpfte, »nun, mein
Engel, diese angenehmen Kleinigkeiten haben wir jetzt zur Genüge
betrachtet; wie wär's denn nunmehr mit den Gräbern, meine Rose an den
Gräbern?«

Er wollte, um sich mehr einzuschmeicheln, der Holden die Wangen
streicheln, doch sie wich böse vor seiner Prosektorhand zurück und
suchte aus ihrer unter der Schürze hängenden Ledertasche einen
verrosteten Schlüssel hervor, indem sie mit einem Trinkgelderblick uns
aufforderte, ihr zu folgen.

»Eine wirklich allerliebste Türhüterin an der Pforte der Unterwelt, Herr
Kollege!« sagte Zuckriegel sehr laut zu dem Gelehrten aus Berlin; aber
Steinbüchse flüsterte nur:

»Jetzt gilt es! Versäumen Sie ja den günstigen Augenblick nicht. Können
Sie laufen?«

»Mit meinem Schädel wie eine telegraphische Depesche.«

»Ich auch! Das übrige liegt in der Hand der Götter,« sagte Steinbüchse
selbstbewußt, und durch Sumpf und Moos, tropfende Brombeerstauden und
sonstige Hindernisse wanden wir uns dem Leichenacker zu.

Man hat eine eigentümliche Vorrichtung getroffen, um die aufgedeckten
Gräber mit ihren Gerippen zu konservieren und sie dem neu- oder
wißbegierigen Publikum gegen eine Gratifikation vorweisen zu können.
Über das vorsichtig aufgegrabene und in seiner Lage unverrückt erhaltene
Skelett ist ein hölzerner Kasten in die Erde gesenkt, ein sargähnlicher
Kasten mit einer Klappe und einem großen Vorlegeschloß. Publikus
versammelt sich um diesen Kasten, die Gebirgsmaid versucht längere Zeit
vergeblich, den rostigen Schlüssel in das Schloß zu zwingen; endlich
springt der Deckel auf, Publikus reckt den Hals, stellt sich auf die
Zehen und gibt seine Befriedigung, sein Interesse, seinen Abscheu und
selten sein Mitleid in Worten und Gesten kund. Publika kreischt
natürlich auf, weil sie keine Gerippe sehen kann.

Diese armen toten Krieger, Weiber, Jünglinge und Jungfrauen! Es ist
nicht angenehm, sich nach so vielen Jahrhunderten ruhigen, ungestörten
Schlafes von einem so verzerrten, verkümmerten, närrischen Geschlecht
wecken und angaffen lassen zu müssen. Wie wäre es, wenn plötzlich solch
ein tausendjähriges zerfallendes Gebein sich rasselnd zusammenraffte,
aufrichtete, den Schlaf aus den hohlen Augenhöhlen riebe und ärgerlich
nach dem Bronzeschwert griffe, um unter die Hämorrhoidarier, die
Krinolinen, Professoren und gähnenden Reisebummler zu fahren?

Das würde ein lustiges Laufen und Springen bergab werden; was würde das
neunzehnte Jahrhundert alles verlieren auf dem Schlangenwege nach
Hallstadt hinunter! Was würde der alte Kelte oder Germane alles
aufraffen können an Brillen, falschen Locken, Schnupftabaksdosen,
Sonnen- und Regenschirmen, Gummischuhen, Plaids, Lorgnetten! Hussah, was
für eine Reiseerinnerung würde das sein, meine Herren und Damen, wenn
man wieder sicher auf der Eisenbahn oder zu Hause säße und des
vorweltlichen Spukes gedächte!

Aber ich schweife ab; ich habe ja auch noch von einem Bergunterlaufen
und Springen zu erzählen, bei welchem ebenfalls mancherlei auf dem Wege
verloren wurde, was der verfolgende Rächer der Toten von Rechts wegen
für gute Beute erklärte. --

Das Mädchen vom Rudolfsturm kniete neben ihrem Kasten und mühte sich mit
steigendem Verdruß an dem widerspenstigen Schloß.

Zuckriegel griff nach der Hand Steinbüchses, drückte sie bedeutsam und
ermutigend, ließ sie fahren und flüsterte:

»Bruder! Kollege! Jetzt gilt's! Mut, Mut! Jeder greift nach dem, was er
packen kann -- ohne Unterschied der Wissenschaft! Bruder, unten am Berg
sortieren und teilen wir brüderlich!«

Mir rief er laut zu:

»^Memento! cedo tibi puellam!^« zu deutsch: »Achtung, mein Bester!
führen Sie die Jungfrau abseits!« --

Mit einem Krach öffnete sich jetzt das Schloß; die Maid schlug den
Deckel des Kastens zurück, mit gierig funkelnden Blicken schossen die
zwei Gelehrten vor, -- da lag der Kelte oder Urgermane wohlerhalten,
ruhig und behaglich auf der linken Seite, das Schwert zur Seite, auf der
Brust eine grüne Spange, die einer plattgesessenen Sofasprungfeder
ungeheuer ähnlich sah. Es war, als spiele ein schlaues Lächeln um das
entblößte Gebiß des Skeletts, ein Ausdruck, wie: Komm und küß mich! und
Zuckriegel hätte letzteres mit Wonne getan.

Nun aber geschah es wieder einmal, daß ein wohlerdachter, fein zurecht
gelegter Angriffsplan von der Hast und Gewalt des Augenblicks über den
Haufen geworfen wurde. Die Gier der beiden wissenschaftlichen
Leichenräuber litt es nicht, daß ich meinem Versprechen, die
Aufmerksamkeit der Jungfrau durch Liebenswürdigkeit zu fesseln,
nachkommen konnte.

Mit einem Schrei, der aus dem Tierreich zu stammen schien, stürzten sich
Zuckriegel und Steinbüchse auf den Kelten und griffen zu. Einen Schrei
stieß aber auch das Mädchen vom Rudolfsturm aus:

»Hilfe! Räuber! Diebe! Heilige Jungfrau! Maria und Joseph! Maxerl! Herr
Inspektor! Franzel! Hilfe um Gott und Jesu, s' gehet mit's G'ripp
durch!«

Und aus dem Loche sprangen Steinbüchse und Zuckriegel, der erste nach
des Geschickes Willen mit dem Schädel des Kelten in der einen Hand und
mit zwei riesigen Armknochen und einem Rippenstück im andern Arm! der
zweite hatte das Bronzeschwert, die Brustspange und verschiedene
sonstige antiquarische Kleinigkeiten gegriffen. Über Moos, Gestein und
Gestrüpp flogen sie, die Regenschirme zurücklassend und die Hüte
verlierend. Ich sank, halb ohnmächtig vor Entzücken, auf den nächsten
Baumstumpf.

Aber ringsumher regte es sich. Von allen Seiten strömten auf den
Hilferuf der Jungfrau rüstige Nachkommen des fraglichen Kelten oder
Germanen herzu, einige mit Äxten, andere mit mächtigen Knüppeln. Einige
atemlose Worte der Maid genügten, um sie den Spuren der Räuber, deren
flatternde Rockschöße eben in der Tiefe des Waldes verschwanden,
nachzusenden. Fern verhallte der Lärm der Flucht und Verfolgung, und ich
ließ mich, ohne Widerstand zu leisten, als verdächtigen Spießgesellen
der Knochendiebe durch den Regen vor den erstaunten Salzinspektor
führen.

Nicht leicht wurde es mir, meine Unschuld an dem unglaublichen Vorfall
zu beweisen. Man sprach davon, mich in Eisen nach Salzburg
transportieren lassen zu wollen; man sprach in immer höherem und
schärferem Ton, doch ich hielt gut, blieb kühl und gelassen und verwies
auf meine Papiere, welche mich als einen anständigen Menschen und
harmlosen Touristen und keineswegs als einen Gelehrten oder
Leichenräuber darstellten. Es wäre auch sehr merkwürdig gewesen, wenn
sich vor der hohen sittlichen Entrüstung, die auch ich über den
schändlichen Vorgang an den Tag legte, die Zorneswogen des verständigen
Mannes und Beamten, der mich verhörte, nicht gesänftigt hätten. Auch die
zurückgelassenen Regenschirme und Hüte, sowie das seidene Taschentuch
Steinbüchses, welches von einem loyal gesinnten Dornstrauch festgehalten
war, trösteten. »Verehrter Herr,« sagte ich, »Ihr antediluvianischer
Leichenacker scheint sehr ausgedehnt zu sein; lassen Sie einen andern
Urgermanen bloßlegen und Ihren Kasten mit Klappe, Schloß und Riegel
darauf setzen. Was liegt Ihnen an dem _einen_ Kelten? Daß Sie durch
ruhiges Nachsehen der Wissenschaft, der Osteologie und Altertumskunde
vielleicht einen unendlichen Dienst leisten, muß Sie außerdem warm
anmuten.«

»Wir wollen sehen, was die Leute zurückbringen,« sprach der Beamte.
»Eher lasse ich Sie nicht los, Herr ...«

Ein rauhes Siegesgeschrei vor der Pforte des Rudolfsturmes unterbrach
ihn; -- die Verfolger brachten _alles_ zurück, Schädel und Armknochen,
Rippen, Schwert und Spangen, und außerdem die Perücke Zuckriegels und
die Brille Steinbüchses. Steinbüchse und Zuckriegel selbst hatten sie
laufen lassen.

»S' habet alles hinter sich g'worfen, und d' Atzel und d' Brill habet s'
verloren!« jubelten die Unholde.

»So,« sprach der fröhlich lächelnde, sehr befriedigte Beamte, »jetzt
wollen wir dem Abgeschiedenen das Seinige zurückerstatten, und dann,
mein lieber Herr, bitte ich, meine gehorsamsten Empfehlungen an Ihre
gelehrten Freunde zu bestellen. Die zurückgelassenen Gegenstände
verbleiben natürlich den Leuten für ihre gehabte Mühe. Küß' die Hand und
bitt' mir auf ein andermal die Ehr aus.«

Damit empfahl sich der Inspektor und ging, seinen Kelten wieder
zusammenzuflicken. Ich ging auch und stieg langsam nach Hallstadt
hinunter, mußte aber alle fünf Minuten stehen bleiben, um meiner inneren
Heiterkeit Luft zu machen, und der Phantasie Freiheit zu lassen, sich
das demnächstige Wiederfinden beim Seeauer auszumalen. --

Unter der Hinterpforte des Gasthauses stand Roderich von der Leine und
sah, wie es schien, sehr aufgeregt in den Regen hinaus. Er hatte sich
nach seinem Ausflug zum Waldbachstrub wieder ins karrierte Kostüm werfen
müssen und erwartete mich mit prickelnder Ungeduld. Als er meiner
ansichtig wurde, begann er, mit erhobenen Händen winkend, einen Tanz des
Entzückens.

»Da sind Sie! da sind Sie endlich! O Freund, was für eine Geschichte!
Herrlich! prachtvoll, o ich kann nicht mehr!« schrie er mir entgegen.

»Wo sind die beiden andern Herren?« fragte ich mit möglichster
Gefaßtheit, doch der Dichter war zu aufgeregt, um einen klaren Bericht
erstatten zu können; nur das verstand ich zu meinem Leidwesen, daß der
Professor Steinbüchse aus Berlin bereits, »naß wie ein Kater und in
einer alten Mütze des Wirts«, einen Einspänner gemietet habe und außer
sich vor Wut nach der Gosaumühle abgefahren sei.

»O, wie haben sie sich noch gefaßt! O, was haben sie noch einander
gesagt! O, wie sahen sie aus!« schrie Roderich, und ich schritt, von ihm
gefolgt, in die Gaststube.

Da saß Zuckriegel! Ein Bild äußerster, menschlicher Wut und
ohnmächtigster Empörung. Er hatte seinen Anzug nicht gewechselt, und nur
um den kahlen Kopf einige bunte Taschentücher gewickelt. Als er mich
erblickte, stieß er ein zischendes Geheul aus und umfaßte besagten Kopf
mit beiden Händen; zähneknirschend, wutwimmernd spie er mir, sozusagen,
die Fragen entgegen:

»Wissen Sie's? Haben Sie's gehört? Wissen Sie, wie's abgelaufen ist?«

»Nur im Umriß, Herr Prosektor.«

»O der Halunke, der Halunke, der niederträchtige Berliner Halunke! Ich
sage Ihnen, wir wären durchgekommen; ich sage Ihnen, wir hätten das
Unsrige davongetragen, ohne den Jammermann! Was tut er in seiner
erbärmlichen Angst, als uns das nachsetzende ^pecus^ an einer Stelle
etwas näher rückt? Meinen Schädel wirft er den Verfolgern vor,
höchstwahrscheinlich, um sie aufzuhalten, und damit ich mich mit seinem
rostigen Blechwerk desto sicherer rette. Wütend werfe ich natürlich auch
das alberne Käsemesser mit demselben Recht zum Henker und heiße ihn im
Rennen und in meiner Verzweiflung und Raserei einen Hornochsen oder
dergleichen. Da schleudert die Bestie auch meine Armknochen und Rippen
von sich und schreit: Hornochse? da! da! so mag denn alles zum Teufel
gehen! Ich werfe ihm natürlich das andere alte Eisen an den Kopf, und
hinter uns brüllen die Lümmel wie der Satan; denn sie scheinen zu
wissen, daß sie nun alles wiederhaben, was wir mit so vieler Mühe aus
ihrer verdammten Wildnis ihnen abgeholt hatten. Sie ließen uns laufen,
und -- hier -- hier sitze ich, und meine Atzel ist auch zum Teufel.
Herrgott, Herrgott, wenn es doch eine ewige Gerechtigkeit gäbe! ^Oleum
et operam perdidi^, das Öl auf dem verruchten Wege nach dem Rudolfsturm
und die Gelegenheit, den Berliner Ignoranten und Hasenfuß
durchzuprügeln, eben jetzt. Den Tag vergesse ich nicht, und wenn ich
tausend Jahre alt würde; -- wenn ein Objekt, auf das ich von Rechts
wegen als tot Ansprüche hätte, mir unter dem Seziermesser, vor dem
ersten Schnitt wieder aufleben würde, könnte ich keine blutigeren Tränen
weinen. Ach, es gibt keine Gerechtigkeit -- keine Gerechtigkeit in der
Welt!«

Der Prosektor Zuckriegel legte den Kopf auf das Buch vom Gaunertum,
welches er bei seinem Ausmarsch zu den keltischen Grabstätten auf dem
Tische hatte liegen lassen, und war von jetzt an für uns tot. Wir nahmen
ihn wie ein Paket wieder mit nach Ischl, wo wir im schönsten
Sonnenschein anlangten. Roderich von der Leine verfiel hier natürlich
wieder dem schönen Geschlecht, und ich setzte die Fahrt nach Salzburg
allein fort.

Auch Salzburg lag im schönsten Sonnenschein in seinem Kessel und
brätelte; aber man hing soeben die Verlustlisten der ersten
italienischen Gefechte an die Straßenecken, und das warf einen bösen
Schatten über die reizende Stadt.

Ich hatte freilich keinen Verwandten oder Bekannten, für welchen ich zu
sorgen brauchte, in der österreichischen Armee, aber es fiel mir auf die
Seele, als ich die unheilvollen Reihen der Toten und Verwundeten
überblickte, daß ich füglich ein Interesse an dem tapfern Jüngling aus
Hallstadt, Seppel Schönrammer, nehmen könne. Es würde mir sehr leid
getan haben, wenn ihn der Tod in der Blüte seiner Jahre dahingerafft
hätte; glücklicherweise stand sein Name jedoch nur unter den
Leichtverwundeten. Der junge Held hatte nur eine unbedeutende Kontusion
von einem Schuß durch den Feldkessel in den Tornister bekommen. Er mußte
sich also beim Eintritt dieses nicht allzu bedeutenden Unglücks bereits
auf dem Rückzuge befunden haben.




Gedelöcke


I. Von der Stadt Kopenhagen und dem Kurator Herrn Jens Pedersen
Gedelöcke.

Teilweise auf der Insel Seeland und teilweise auf der Insel Amager
liegt, wie mancher Schuljunge, aber nicht jeder Gelehrte weiß, die Stadt
Kopenhagen, die Hauptstadt des Königreichs Dänemark, wohl versehen mit
Fortifikationes sowohl auf der Land- wie auf der Seeseite, eine feine
und schöne Residenz, und seit uralten Zeiten durch mannigfache Handels-
und sonstige Interessen mit Deutschland im, wenn auch nicht zärtlichen,
so doch recht angenehmen und freundnachbarschaftlichen Verhältnis. In
dieser Stadt lebte zu Ende des siebenzehnten und zu Anfang des
achtzehnten Säkulums christlicher Zeitrechnung ein Mann des Namens Jens
Pedersen Gedelöcke, und daß er ebendaselbst starb, ist uns insofern
erfreulich, als uns das Faktum den Hauptstoff zu gegenwärtiger in
Wahrheit ungeschminkter, unverbrämter, unbefranzter, kurz ungelogener
Relation geliefert hat. Denn wäre er nicht gestorben, so hätte man ihn
auch nicht begraben können, und wäre er nicht begraben worden, und zwar
mehr als einmal, so wäre auch nicht Anno 1731 zu Cölln an der Spree die
Historia von seinem »sonderbaren Glauben, Leben, erstaunenden Tode und
merkwürdigen Begräbnis« zum erstenmal in Druck ausgegangen, und wir
hätten dieselbe nicht im Jahre 1865 zu Stuttgart auf dem Trödelmarkt um
neun Kreuzer »Furchtlos und trew« erstehen und zu eifrigem nächtlichen
Studium nach Hause tragen können. Da wäre es uns denn auch ganz gewiß
nicht beigefallen, anderer Skribenten Zeugnis und Meinung über den
kuriosen Kasum einzuholen, um der Sache auf den Grund zu gehen,
sintemalen es einen solchen Kasum gar nicht gegeben hätte. Und wenn uns
somit viele und arge Mühe erspart worden wäre, so würde das liebe
deutsche Publikum im ganzen und großen doch den meisten Schaden
davongetragen haben, denn wahrlich kein Autor hätte ihm diesen Gedelöcke
erfunden; der heutige lichte Tag, so über alle Maßen duldsam und ohne
Vorurteile, würde es nicht gelitten haben.

Doch was stehen wir an der Tür? Jens Pedersen Gedelöcke führte während
seines Lebens den Titel eines Kurators und wird also wohl auch einer
gewesen sein, und daß er über andere Sorgen die für seinen Leib nicht
außer acht ließ, ist über allen Zweifel erhaben, und wurde, solange er
sich des Daseins erfreute, durch seine wohltuende Erscheinung verbürgt.
Denn wenn er von Statur mehr klein als groß war, so schob er doch ein
ungemein behaglich Bäuchlein vor sich her; und daß er nicht durch das
Leben hastig und atemlos lief, oder mit Würdigkeit und Bedachtsamkeit
langsam schritt, sondern es zierlich, ja gewissermaßen tänzelnd
durchtrippelte, mußte ebenfalls für ein nicht zu verachtendes Zeichen
innerlichster Satisfaktion genommen werden. Er trug, wie es sich für ihn
ziemte, ein wohlanständiges, halbgelehrtes schwarzes Habit, eine
wohlfrisierte, tadellose Perücke und den Hut unter dem Arm. Er legte
sowohl im Gehen wie in der Konversation das rundliche Haupt ein wenig
auf die rechte Schulter, und ein gewisses Blinzeln der kleinen, doch
sehr hellen Augen ließ vermuten, daß er ^a priori^ wie ^a posteriori^
den Kreis seiner Erfahrungen wohl zu erweitern wisse, und das Fältchen
in den Mundwinkeln deutete darauf hin, daß er seinen lieben Nachbarn,
Freunden und Verwandten nicht alles kommuniziere, was er im Geiste
bewege. Man wußte in der Stadt Kopenhagen, daß er mit dem königlichen
Professor der Geschichte, Herrn Ludwig Holberg, in einem sehr lebhaften
Verkehr stehe, und was dieses zu bedeuten hatte, das konnte jedermann
sagen, der sich an dem großen Gelehrten und kurieusen Humoristen
ergötzte oder ärgerte; denn des Mannes Neigung und Freundschaft waren
nicht so leicht zu gewinnen, und es erhielten sie nur diejenigen, welche
auch wieder etwas dagegen zu bieten hatten. Wenn aber sehr große Leute
auf den Kreuzwegen wie Wegweiser stehen, damit alles vorüberwandelnde
Hornvieh sich bequem und ohngehindert daran reiben könne, so gehörte
Gedelöcke nicht zu den sehr großen Leuten, denn an ihm rieb sich niemand
ungestraft, weder im Hause noch in der Gasse, und in der Kneipe gar
nicht. Er hatte ein feines Erbteil Mutterwitz mit auf den Lebensweg
bekommen und zahlte gern und mit großer Freigebigkeit einem jeglichen,
der dessen zu begehren schien, davon aus, -- einerlei ob ein mehr oder
weniger selbstbewußter Schädel aus dem Wehr-, Lehr- oder Nährstande in
der gegnerischen Perücke steckte. Am liebsten hatte er's, wenn er einem
Mitgliede der höhern oder auch niedern Geistlichkeit in solcher Art
einen kleinen Überschuß über das antagonistische Guthaben auf den Tisch
zählen konnte, und die Konsequenzen davon hatte er ebenfalls zu tragen.

Es verdichtete sich allmählich der Nebel um den Leuchter und das Licht
seiner Existenz, und wenn die hüpfende Flamme dadurch vergrößert wurde,
so erschien sie doch auch ungewisser, undeutlicher. Was anfangs nur die
nächste Nachbarschaft sich kaum ins Ohr zu flüstern wagt, das schreien
plötzlich die Ziegel von den Dächern, und der, welchem der Verdruß auf
den Kopf fällt, wundert sich wohl gar noch darob. Die Gerüchte aber, so
anfingen, über den Kurator in Umlauf zu geraten, waren im Anfange, ehe
sie sich zu der letzten, bestimmten Berüchtigung zusammengezogen hatten,
sehr verschieden und wechselnd in den Mäulern der Leute, je nach der
Persönlichkeit, welche sich mit Herrn Jens Pedersen Gedelöcke im
Widerspruch fand.

Die, welche sich sehr weise dünkten, sprachen von alchymistischen
Narreteien, von den blanken Reichstalern, die auf der Suche nach dem
Philosophenstein und ^Menstruum universale^ sich im Rauchfange des
Kurators verflüchtigten, und zitierten mit bedächtlichem Kopfschütteln:

   »O schädlich ^Acidum^, das Seelen ^corrodiret^!
   ^Sal sulphur^ und ^Mercur^ zur Höll' ^praecipitiret^!
   Er suchet ^Sol^ im Koth und ^Lunam^ in der Erden;
   Wie kann das ewig Licht ihm dort zu Theile werden?«

Die Giftigeren wollten wissen, er schlage seine Frau, Mette, geborene
Niels, sei ein stinkender Geizteufel, welcher um desto ärger daheim die
Zähne fletsche, je manierlicher und kompläsanter er in den Gassen
einhertrete. Die Giftigsten aber hielten einander an den Rockknöpfen
fest oder steckten über dem Kaffeetisch die Dormeusen zusammen und
zischelten einander zu: Der Kurator Jens Pedersen Gedelöcke sei auch ein
Zeichen, daß nicht nur dem dänischen Zion, sondern dem ganzen Universo
die letzte und höchste Stunde nahe, ein Zeichen, wie die soeben von den
Astronomis entdeckten Flecken am Sonnenball, so nach der Opinion aller
frommen und nachdenklichen Leute ^ad prognostica propinqua^ des jüngsten
Tages gehörten. Diese guten Nachbarn und lieben Freunde wußten ganz
genau und erfuhren immer besser: der Kurator streife allgemach sein
Christentum ab, wie die Schlange ihre Haut; er gehe zu seinem größten
Seelenschaden nur noch mit den verstockten Juden, ihren Lehrern,
Rabbinern und Büchern um, zum Tische des Herrn sei er schon seit Jahren
nicht mehr gegangen, den Sonntag halte er nicht mehr heilig, wohl aber
der Juden Sabbat, und vor dem Fleisch der Schweine habe er einen
unchristlichen Ekel. Es waren bald nur wenige Leute in der guten Stadt
Kopenhagen, welche nicht an sich oder andere die Frage stellten, ob
dieses nicht unerhört sei, und ob nicht zum allgemeinen Salut und zur
Abwendung von Gottes Zorn das hochlöbliche Polizeigericht sich der Sache
anzunehmen habe?

Daß dieses dritte Gerücht den meisten Anklang und Widerhall in der Stadt
fand, war nicht zu verwundern; die besten Freunde hielten dagegen nicht
stand, und wäre auch wohl schon früher von oben her ein Einsehen getan,
wenn solches bei Lebzeiten seiner königlichen Majestät Herrn Friedrichs
des Vierten tunlich gewesen wäre. Dieser Monarch aber war zur Betrübnis
aller gottseligen Leute nicht so leicht dazu zu bringen, in solchem
Falle einen Spezialbefehl ergehen zu lassen; er war ein feiner, lustiger
und polierter Herr, welcher seine Freude am Leben hatte, und jeglichen
Untertan für das Heil seiner Seele selber sorgen ließ. Wie konnte er,
der sogar das Privilegium für das erste dänische Nationaltheater gab und
den »politischen Kannegießer« selbst darin belachte, welcher von seinen
französischen Komödianten mit sehr merkwürdigem Gusto den Tartüffe des
Monsieur Molière agieren ließ, -- dazu gebracht werden, einem Untertan
ins Haus zu rücken, weil die Nachbarschaft behauptete: der Mann
verrichte seine Andacht mit Gebärden, Neigungen des Hauptes und in einem
leinenen Kragen, welche dem lutherischen christlichen Ritus und
Zeremonial ein Greuel seien? Er tat's nicht, und der Kurator blieb in
dem, was er tat, und dem, was er unterließ, insoweit unangefochten; aber
es war ein Glück für ihn -- Herrn Jens Pedersen Gedelöcke, -- daß er, --
als königliche Majestät in dem Jahre 1730 das Zeitliche segnete, über
jegliche Anfechtung sich ebenfalls schleunigst erhob. Herr Christianus
des Namens der Sechste stieg auf den dänischen Thron, der »dänischen
Komödie Leichenbegängnis« wurde aufgeführt; die dänische Welt veränderte
in jeder Weise ihr Gesicht; doch das ist unsere Geschichte.


II. Von den Herren Doktores Primus ^et^ Sekundus, imgleichen der Frau
Mette Gedelöcke und dem ehrwürdigen Herrn Hieronymus Moekel von der
Trinitatiskirche.

Es war an einem Nachmittag im unfreundlichen Monat Februar des Jahres
1731, als zwei Ärzte, zu gleicher Zeit eilends herbeibeschieden, vor der
Tür des Kurators anlangten und beim gegenseitigen Anblick die
perückenbedeckten Häupter erhoben und jenes Lächeln erzwangen, welches
so viel schwerer zu prästieren ist, als ein Fußtritt oder ein
Faustschlag. Die Namen der beiden Herren sind unsern genauesten
Nachforschungen entgangen; so wollen wir denn jenen, der in einer Sänfte
durch die strömenden Regenfluten heranschwankte, den Doktor Primus, und
jenen, welcher in seiner stattlichen Karosse eine halbe Minute später
anlangte, den Doktor Sekundus nennen. Sie waren beide glänzende Lichter
in ihrer Kunst und Wissenschaft, und es war eine Freude, ihren gelahrten
Diskussionen zuzuhören, vorausgesetzt, daß der Hörer ihnen nicht selber
die Zunge zu zeigen hatte. Wenn Herr Jens Pedersen Gedelöcke sie beide
zu sich gebeten hatte, so konnte dies für ein Zeichen genommen werden,
daß es freilich zum Schlimmsten und Letzten gekommen sei, denn er wußte
sonst ziemlich genau, was er tat; es fand sich aber, daß sie nicht auf
seine eigene Einladung kamen.

Die beiden gelehrten Herren begrüßten einander auf dem Hausflur des
Kurators, wie es sich schickte, mit einem ^bonus dies, Collega!^ einem
^Serviteur!^ und ^quid agis?^ --, neigeten längere Zeit an der untersten
Stufe der Treppe um den Vortritt die Häupter gegeneinander, hoben und
senkten deprezierend die Achseln und schritten sodann in gleicher Linie
nebeneinander aufwärts zum Zimmer des Patienten, vor dessen Türe sie
Madame mit betrübtem Kompliment in Empfang nahm, und zwar mit dem Finger
auf dem Munde, zum Zeichen, daß Fürsicht und Stillschweigen das erste
sei, was sie von den Herren erbitte. Aus dem Krankenzimmer vernahm man
einen merkwürdigen Gesang, und auf den Zehen schreitend führte die Frau
Mette Gedelöcke die beiden Doktoren in ein Nebengemach, allwo sie zu
ihrer nicht geringen Verwunderung den Pfarrherrn der Trinitatiskirche,
Herrn Hieronymus Moekel, in tiefes kummervolles Nachsinnen und in einen
sehr großen Armstuhl versunken, bereits vorfanden. Da geschah wiederum
jenes würdige und zierliche Begrüßen, welches von dem achtzehnten
Jahrhundert zu solcher Blüte und Vollkommenheit gebracht worden ist,
dessen Wissenschaft und Ausübung aber im neunzehnten Säkulum leider
verloren ging und im zwanzigsten vielleicht wiedergefunden wird. Die
beiden hochpreislichen Fakultäten taten einander alle gebührenden Ehren
an, während die hochbetrübte Hausfrau mit dem Nastuch vor den Augen dazu
knixte und sich mit Wimmern und Geschluchz um die große Ehre und
Hilfsbereitschaft, so ihr und ihrem Hause von den Herren erwiesen
wurden, einmal über das andere bedankte. Erst als der Sitte und dem
^decoro^ in jeder Weise genug getan war, konnte, unter fortwährendem
Horchen auf den fremdartigen Gesang hinter der Wand, die Konversation
auf das Wichtigere geleitet werden, und der Doktor Primus tat dieses,
indem er bemerkte:

»Brauche ich Madame leider kaum zu befragen, wie es dem Herrn
Eheliebsten am heutigen Tage ergehe. Solches ist das rechte Wetter, die
^salia^ zu koagulieren, solches ist die Witterung derer Podagristen;
aber der Herr Kollega werden mir beifallen, wenn ich Madame die
Versicherung gebe, daß der Patienten Ungebärdigkeit nicht das Schlimmste
ist, was der Medikus auf seinem Wege zu sehen und hören wünschet. Und
Madame darf sich keine unnötigen Sorgen machen, des Herrn Kollegen
Sekundi ^Tinctura solis^ wird auch heut schon das Acidum obtundieren;
der Herr Ehegemahl befindet sich in guter Hand.«

»Die da sündigen, werden dem Arzt in die Hände fallen,« sprach der Herr
Hieronymus, das Haupt mit drohender Betrübnis senkend, während die
Doktoren schnell die Köpfe in die Höhe warfen, und der gelahrte Herr
Sekundus die Gelegenheit nahm, mit einer neuen tiefen Reverenz sich bei
Seiner Ehrwürden nach dem Verlauf des jüngsten Konsistorialessens und
der darauf erfolgten Indigestion zu erkundigen, worauf Herr Hieronymus
das Gespräch abermals näher zum Zweck führte:

»Messieurs belieben doch Platz zu behalten. Madame hat uns zu einer
wichtigen Konsultation zusammenberufen in dieses Haus, allwo leider der
Arzt des Leibes und der Arzt der unsterblichen Seele zu gleicher Zeit zu
tun haben. Wahrlich, Madame hat als ein fromm christlich Eheweib
gehandelt und ihre Bürde mit Tränen auf sich genommen. Dieses ist ein
Haus worden, dessen Lieblichkeit zu übelm Geruch sich wandelte, ein
Haus, dessen Tür belagert ist von unheiligen Geistern, so mit
Zähnefletschen, Schweifringeln und Schlagen, mit verhaltenem Gebell und
Geheul bei Tag und Nacht Einlaß begehren, löblicher Stadt und allem
christlich lutherischen Volk zum Skandalum, zum allerschrecklichsten
Ärgernis. Ja, die Herren wissen bereits, daß der böse Feind allbereits
eingedrungen ist und neben dem Lager des Hausherrn sitzet und sich über
ihn beuget und die Zähne mit Triumph blecket. Es klinget ein
absonderlicher Sang in unser Ohr; aber Madame möge reden, und Messieurs
mögen hören und uns sodann ihre treffliche Opinion mitteilen.«

»Ich bitte!« fiel der Doktor Primus vorerst dazwischen. »Es ist vor
allem weitern die Frage zu stellen, ob wir hieher berufen seien als
Medici oder als Theologi? Was saget der Herr Kollega?«

»Ich stimme dem Herrn Kollega bei und stelle mit ihm dieselbe Frage.«

»Messieurs,« rief der Pfarrherr mit großem Ernst, »wir sind hier in der
dänischen Stadt Kopenhagen, allwo kein Inquisitionsgericht Sitzung hält
über die Meinungen, doch weiß hochehrwürdiges königliches Konsistorium
sich auch verpflichtet vor Gott und Seiner Majestät, unserm königlichen
Herrn Christian dem Sechsten. Man spreche, wie man zu sprechen weiß; es
wird an andern liegen, die Conclusiones zu ziehen.«

»Ihr Herren, ihr liebe Herren,« jammerte die Frau Mette, »in ganz
Kopenhagen, auf ganz Seeland gibt's keine unglücklichere, geschlagenere
Seele, denn meine. Sie weisen in der Kirche und in den Gassen mit den
Fingern auf mich: >Sehet, da gehet das Weib des christlichen Juden!< --
ich weiß mir am Ende nicht mehr zu helfen, und kann's nur ertragen, weil
mich der Herr Jesus Christus darzu erschaffen hat. Ich bin von
lutherischen frommen Eltern allhier geboren, und mein Mann ist aus
Helsingör und auch von christlichen Eltern geboren, solches ist ja von
der Kanzel abgelesen bei unserer Trauung. Ich will auch in meinem
lutherischen Glauben sterben; aber die Zungen der Leute bringen mich vor
der Zeit um, und -- drinnen liegt er, und der Juden Vorsänger, Meister
Henrich Israel, sitzet neben seinem Bett und muß ihm psalmodieren, und
es wird von Tage zu Tage schlimmer, wie er mit seiner ewigen Seligkeit
umgehet, und kein christlich Wort mehr annehmen will, und mit den
Rabbinern und jüdischen Schriftgelehrten mehr Gemeinschaft pflegt als
mit seinem ehrlichen Eheweibe, so ihm doch bei Tag und Nacht den Fuß in
Wolle schlagen und des Herrn Doktors Sekundi preiswürdige Medikamente
eingeben muß. Ich habe es getragen, getragen, getragen; aber es hat
alles sein Ende, und so habe ich es zuletzt zum Herrn Hieronymus Moekel
von Trinitatis getragen, und vor seiner Weisheit, Tugend und
Gottesfürchtigkeit meine Last abgeleget --«

»Und Madame hat gar wohl daran getan,« fiel der Pfarrherr wieder ein;
»und die Herren belieben wohl Achtung zu geben und auf jenen Gesang
hinter der Wand mit Bedacht zu horchen. Wahrlich, es handelt sich hier
darum, christliche Gemeinschaft der Heiligen und ein reines Evangelium
vor einem großen und unersetzlichen Schaden und einem stinkenden
Ärgernis zu bewahren. Messieurs haben den Herrn Kuratorem dem Leibe nach
in allen frühern ^Morbis^ und Hinfälligkeiten behandelt; nunmehro aber
handelt es sich um eines angesehenen und wohlbekannten Mannes besseres
Teil, und die Herren mögen wohl in Obacht nehmen, daß ihr Wort gewogen
wird vor einem hochwürdigen Konsistorio, vor königlicher Majestät
erhabenem Thron und zuletzt droben mit der allerletzten Wagschale. So
sprechen denn die Herren und sagen, ob der Kurator Herr Jens Pedersen
Gedelöcke ^mentis compos^, bei gesunden Sinnen sei und ein verlorener,
verruchter Sünder, einer so die Schafe lässet und sich zu den Böcken
gesellet; -- oder ob ihn des Herrn Hand mit Wahnsinn geschlagen und nur
das Irrenhaus mit einem Hirntollen abzurechnen habe?!«

»Herr Hieronymus und liebwerte Madame,« sprachen beide Doktoren mit
bedächtigem Kopfneigen; »es ist unsere feste Überzeugung und Meinung,
daß der Herr Jens Pedersen Gedelöcke nur am Podagra laborieret, und daß,
wenn es, was der Himmel verhüten möge, zum Schlimmsten gehen sollte,
viel mehr Expektanz vorhanden ist, die Krankheit steige ihm in den
Magen, denn in den Kopf; als welchen letzteren es nach unserer
Bekanntschaft in dieser erleuchteten Stadt Kopenhagen kaum einen zweiten
gleich hellen gibt.«

»So ist dieses Haus auserlesen, für alle Zeiten im feurigen Lichte des
Verderbens zu scheinen!« rief der geistliche Herr mit erhobenen Händen;
»und von dem Manne hinter der Wand wird's heißen:

   Die, so den großen Gott und seiner Botschaft spotten,
   Verschlingt der Schwefelpfuhl wie Kor- und Satans Rotten!

Es ist der Juden Vorsinger, Henrich Israel, so ihm jetzo seine
Leibstücklein vorpfeifet, -- wahrlich ein Psalm für einen, so in der
reinen Lehre geboren, erzogen und aufgewachsen ist. Wehe, wer wird ihm
singen, wenn die Seele den körperlichen Leib verlassen hat? O Frau,
Fraue, wahrlich ist Ihr ein schwer Schicksal auferlegt worden!«

Der ehrwürdige Herr redete sich in immer größere Emotion, die Frau Mette
rang mit Wimmern und Winseln die Hände, und beide Doktoren hatten das
Kinn auf den Stockknopf gestützt und starrten ins Graue. Da schwieg die
Stimme Judäas, und still ward's auch im betrübten Konklave, als ein
hager und gelb Gesicht sich in die leise geöffnete Tür schob und ein
breiter Mund sich vernehmen ließ:

»Madame, der Herr Kurator wünscht die pläsierliche Kompanie, so allhier
bei Ihr versammelt ist, auch bei sich zu bekomplimentieren!«

Sotane Visage eignete Herrn David Bleichfeld, dem Famulo des Herrn
Pedersen Gedelöcke, und zog sich ebenso schnell zurück, als sie sich
langsam vorgeschoben hatte.


III. Von dem Famulo Herrn David Bleichfeld.

In einem ziemlich großen, dunkelgrün ausgeschlagenen Gemach stand das
Bett des Kurators, zu Häupten vor allem bösen Zugwind durch eine
spanische Wand geschirmet, auf welcher allerlei chinesisches Volk Tee
trank, auch in Gartenhäusern sich erlustierte oder mit großen
Sonnenschirmen spazieren ging. Von dem Kurator selber erblickte man
wenig mehr, als die mächtige Zipfelmütze, das rote, indische Tuch, mit
welchem die Stirn umwunden war, und die blaue Nase, welche eine nicht
geringe Ähnlichkeit mit der einer dänischen Bulldogge hatte, deren
Konterfei dem Bett gegenüber an der Wand zu sehen war. Beim Eintritt der
Gattin, des geistlichen Herrn und der beiden Ärzte erhob sich die Nase
um ein weniges; der Famulus schob dem Kranken noch ein Kissen unter den
Kopf, worauf die hohe Nachtmütze mit recht freundlichem Nicken den
Besuch begrüßte, und der Kurator sprach:

»Ei guten Tag Messieurs; ich gratuliere mir zu dieser schönen
Gesellschaft. Davide, setze Er Stühle; ^mon coeur^, frage, womit wir
aufwarten können; ein Gläschen spanischen Weines wird eine
Annehmlichkeit um diese Zeit des Tages sein, wie ich selber eine häufige
Erfahrung davon habe.«

Der Doktor Primus räusperte sich mit einem würdigen Lächeln, und der
Doktor Sekundus klärte seine Kehle auf dieselbe Weise, allein Herr
Hieronymus sprach mit abwehrender Handbewegung:

»Wir danken dem Herrn Kuratori, doch gelüstet unserer Zunge nicht nach
irdischem Wohlschmack. Diese zwo Herren führt ihr leiblicher und mich
mein geistlicher Beruf hieher.«

»Ei, ei,« sagte Jens Pedersen Gedelöcke. »Ehrwürden verpflichtet mich
immer mehr; doch -- was saget ^mon coeur^, meine Eheliebste? Welch einen
Beruf wendet sie für?«

»O Jens!« rief die Frau Mette, »du weißt, daß es immerdar nur meine
Liebe und meine Sorge für dein irdisch und ewig Heil ist, welche mich
bei dir festhält!«

»Ei, ei, ei!« wiederholte der Kurator und setzte hinzu: »Davide, was
stehet Er und gaffet! Sein Gesicht wird dummer von Tag zu Tage; -- lasse
er den Hispanischen bringen, die Herren Doktores werden mir nicht den
Trost in meinem Jammer versagen.«

»Man muß denen Patienten ihren Willen lassen, Herr Hieronymus,« sprach
der Doktor Sekundus mit einem freundlichen Lächeln zum Pastor der
Trinitatiskirche, und der Doktor Primus sah dem Famulo mit einem
beifälligen Kopfneigen bis zur Türe nach. Dann, als der Wein gekommen
war, ein jeglicher, -- selbst der Pfarrherr -- sein Spitzglas auf dem
Knie hielt, und David Bleichfeld wiederum das Zimmer verlassen hatte,
erhob sich der Kurator Gedelöcke auf den linken Ellenbogen, blickte im
Kreise umher und verglich im Innersten die drei schwarzen Herren und die
in ein trübes Grau gekleidete Gattin mit drei Raben und einer ältlichen
Mantelkrähe, und sich selber in seinem Leiden mit einem podagristischen
Mops, welcher sich bewußt war, was er im Leben genoß, und deshalb die
Kondolenzvisite mit Geduld und Humor annehmen konnte. Mit großer Gewalt,
Beredsamkeit und Salbung rückte Ehrn Hieronymus Moekel von der
Trinitatiskirche dem wunderlichen Heiligen auf den Leib, und die Frau
Mette begleitete jeglichen Angriff mit leisem Gewimmer und lautem
Beifall; die beiden Ärzte aber hielten sich mehr passiv und an den
Spanischen, bis sich der Kampf auf ein Terrain wälzte, das weniger
Gelegenheit gab, sich zu kompromittieren. Was den Famulus David
Bleichfeld anbetraf, so stund derselbe draußen vor der Türe, hatte seine
lange dürre Gestalt rechtwinklig eingeklappt und wechselte mit dem Auge
und dem Ohr vor dem Schlüsselloch und begleitete das Spiel im Innern des
Gemaches außerhalb desselben mit den verwunderlichsten Grimassen, Gesten
und den allerkuriosesten Paraphrasen, Noten und Zitaten. Da er ein recht
gelehrter Mensch war und seinen Herrn liebte, so wollen wir uns mit dem
begnügen, was er aus der Unterhaltung der andern abzog; sintemalen es
auch wohl nicht lohnen würde, ein jedes Wort der Konversation dem
eiligen, atemlosen Publiko von neuem vor die Nase zu rücken.

»Philister über dir, Simson!« murmelte der Horcher an der Wand. »Heißa,
jetzt haben sie ihn zwischen den Kneifzangen, wie den Stürzebecher auf
dem Markt zu Hamburg. Horch, da ist der Pfarrherr schon auf dem Wege gen
Damaskon, und das Gleichnis vom schnaubenden Saulo passet wie die Faust
aufs Auge. Drauf, ^pro libertate christiana^, gebt es ihm, Herr
Kuratore. Ha, ha, an den Tod gläubet Ihr, sintemalen er alle Eure
Vorfahren verschlucket hat? Ein hohes Konsistorium hätte es Euch nicht
zugetraut, aber ein alter Heide und Ägyptier bleibt Ihr doch und nehmet
Eure Gerippe auf Eure Gastmähler nur deshalb mit, um bei ihrem Anblick
desto vergnügter das Leben zu genießen! Noch ein Gläschen Alikante, Herr
Doktor Primus? Ist es keine ^ratio theologica^, daß man die, so in der
christlichen Kirche christlich gelebet, auch in der Versammlung der
Kirchen, welche der Tempel ist, ehrlich begrabe? O Gedelöcke, Gedelöcke,
du willst nicht durch die Gewölbe und Steinplatten verdampfen und
jeglicher frommen Nase zum Ärgernis und Leibesschaden werden?! O
Gedelöcke, welch ein heidnischer Jud bist du, da es dir einerlei ist, ob
die Auferweckung der Auferstehung vorgehe: ist es dir nicht bekannt, daß
geschrieben stehet: ^resuscitatio est causa resurrectionis?^ -- Also um
9976 Meilen ist das Firmament jüngsthin eingesunken, Herr Doktor
Sekundus? -- Das ist freilich ein erfreulich Zeichen des kommenden
Jüngsten Gerichtes; aber Er ist doch ein heimlicher Jude, Herr Jens
Pedersen Gedelöcke, und wird dahin fahren, wohin Ihn der Herr Hieronymus
von der Dreifaltigkeit dirigieret. O, ruchlose Seele, ist die Hölle
nicht so heiß, wie man sie machet? Gedelöcke, Gedelöcke, wie hast du den
rechten Weg verfehlet mit deinem metaphorischen Feuer; -- wo Rauch ist,
Apokalypse, vierzehntes Kapitel am zehnten und elften Vers -- da ist
auch Flamme -- Lukas im sechzehnten Stück, Vers vierundzwanzig! Was
soll's nunmehro mit unserm Meister Henrich Israel? O ha, anjetzo fangen
wir an und ziehen erst die rechten Register. O Gedelöcke, o Herr
Kuratore, jetzt geht's mit Ihme um die Ecke und kopfüber in den Pfuhl
der Verdammnis; einen guten Stilum magst du schreiben, mit dem Mund
magst du spitz und scharf auf den rechten Fleck zufahren; aber besser
wär's dir doch gewesen, so du nicht der Gelehrten, Weltweisen und
verführerischen Rabbinen Schriften studieret hättest, sondern bei der
lautern Milch des Evangelii geblieben wärest! Das ist keine Sache für
einen gläubigen Christen, daß er seinen Braten immerdar beim jüdischen
Schlachter einkaufe; wer aber das Schwein und alles, was von ihm kommet,
verachtet, der mag sich wahren, daß er nicht selber --«

Der Famulus schnellte im jachen Schreck zurück und in die Höhe; im
Gemache seines Herrn hatte sich urplötzlich ein gewaltiger Tumult
erhoben. Stühle wurden mit Gepolter zurückgeschoben; die Glocke des
Kurators läutete gellend Sturm; die Stimme der Madame mischte sich
schneidend in das dumpfe Gebrumm der Mediziner und den rollenden
geistlichen Donner: Gedelöckes Stimme aber klang klar gleich einem
Trompetenstoß durch die Schlacht:

»Davide! Davide! wo steckt Er? Davide, eile Er herbei; komme Er seinem
geschlagenen Herrn zu Hilfe, Davide, Davide!«

Mit einem Sprunge stand der Gerufene im Krankenzimmer.

»Drauf, Davide,« schrie der Kurator. »Führe Er die Herren die Treppe
hinunter, und sorge Er, daß niemand Schaden leide. Da -- da, bei Moses
und allen großen und kleinen Propheten, bei der schönen Judith und dem
grausamen Feldhauptmann Holofernes, beim Bel zu Babel, beim Drachen zu
Babel, bei der keuschen Susanne im Bade, die Herren werden's verzeihen,
daß ich ihnen nur meine Nachtmütze auf den Weg mitgebe.«

Herr Jens Pedersen Gedelöcke saß hochrot und tiefblau vor Ärger und
Aufregung im Bett und ließ seinem Worte die Tat im nämlichen Moment
folgen. In bedrohlichster Nähe flog die Zipfelmütze des Kranken an der
Nase des Pastors vorüber, und Herr Hieronymus Moekel erhob die Hände, um
den Himmel zum Zeugen dieser Verruchtheit aufzurufen, schüttelte den
Staub von den Füßen und verließ das Haus des Kurators mit dem festen
Entschluß, draußen noch einige Worte in dieser Angelegenheit zu reden.
Die beiden Ärzte folgten dem Beispiele des geistlichen Herrn, nachdem
noch der Doktor Sekundus in seiner Eigenschaft als Haus- und Leibarzt
des Kurators versucht hatte, eine versöhnlichere Stellung ihm gegenüber
einzunehmen. Die Frau Mette verschloß sich mit ihren Krämpfen und
Konvulsionen in ihr Kämmerlein, und der heillose Sünder und Verächter
jedes menschlichen und göttlichen Rechtes, Jens Pedersen Gedelöcke, ließ
sich von seinem Famulus die Kissen zurechtschieben und sprach
tiefaufatmend:

»Schenke Er Ihm auch ein Glas Spanischen ein, Davide, daß ich doch Einen
anständlichen Menschen derer Gottesgabe genießen sehe. Tausend
lappländische Donnerwetter!«

»Ihr zeitliches und ewigliches Heil und Wohlsein, Herr Kurator!« sprach
der Famulus, mit tonloser Gravität das gefüllte Glas an die Lippen
führend.

»Ich danke Ihm, Monsieur Bleichfeld,« sagte Gedelöcke. »Hoffentlich hat
Er nach Seiner Gewohnheit an der Tür das Notwendige erhorchet; -- Herr
Ludovikus hat keine bessere Komödie aufführen lassen, und Er hat's
gratis gehabt, Davide. Ei, ei -- riechet Er noch den Schwefel? -- hat
der Pfaff mir eingeheizt, wie der König Nebukadnezar den drei Männern im
feurigen Ofen! Jetzt sage Er mir selber, Davide, bin ich ein Jud oder
keiner? Ich will Ihm alles glauben.«

»Ich halte Ihn so wenig für einen Juden, Monsieur, als für den
Verfertiger der Berleburger Bibel oder sonst einen Chiliasten!« sprach
der Famulus mit Überzeugung. -- --

Der Regen fuhr in immer heftigeren Strömen hernieder; im Innern des
Hauses des Kurators Gedelöcke vernahm man keinen Laut. Die Mägde und der
Knecht kauerten verschüchtert um den Küchenherd, und Madame mit ihrem
Töchterlein rührte sich nicht; -- auf den großen Sturm war das tiefste
Schweigen gefolgt. Ein schwarzer Kater stieg wie der Geist des Hauses
langsam vom Bodenraum herab, schritt über den Gang und kratzte oder
klopfte vielmehr an der Türe des Kurators.

»Öffne Er dem Mutz, Davide,« sagte Herr Jens; »das Vieh wird auch
kommen, um wegen der Emotion und des Tumultes zu kondolieren. Hierher,
mein Kater, mein guter Kerl, ja, ja, es ist eine tugendsame und fromme
Welt. Ja, ja, mein armer Mutz, die Totenkäuze waren da, und es stehet
dahin, wie lange Er mir noch den Magen wird wärmen dürfen.«

Mit Geschnurr sprang der Schwarze auf das Bett seines Herrn, der ihm
ganz zärtlich den Pelz streichelte, und als das Tier sich zum
behaglichen Schlummer zusammengerollt hatte, plötzlich recht ernsthaft
gegen seinen Famulus begann:

»Davide, es ist eine alte Geschichte und nicht viel Besonderes daran;
aber Er weiß, was ich an Ihm getan habe; wie ich Ihn von der Gasse in
mein Haus nahm, Ihn wärmte, kleidete und fütterte und Ihm seine Kollegia
umsonsten verschaffte. Ich weiß auch, daß Er mir zugetan ist von ganzem
Herzen, und Ihm ist's nicht unbekannt, welch ein Trost mir Seine
längliche Figur und hohe Sapienz zu jeder Zeit gewesen ist. Zur
Lustigkeit ist Er nie geneiget gewesen; also wird Er auch anjetzt wohl
ein bedächtiges Wort mit Ihme reden lassen. Famule, es ist aus und zu
Ende mit dem königlich dänischen Untertan Jens Pedersen Gedelöcke, und
der Kurator überläßt der Welt Cura und Gaudium denen, so nach ihm
kommen. Ihm, Davide, habe ich meine Bibliotheka und zweitausend
Reichstaler vermacht. Madame und das Kind werden das Ihrige erhalten --
lasse Er das Heulen, Davide! der Meister Henrich Israel ist ja gar
nichts gegen Ihn! -- meine Seele gebe ich dem, welcher sie dem Erdenkloß
einblus; was den Erdenkloß selber aber anbetreffen mag, das ist in
diesem mit meinem Handsiegel pitschierten Skriptum enthalten, und lege
ich solches mit Vertrauen in Seine Hände, auf daß Er es, sobald der
Kurator Gedelöcke, Sein alter Patron, abgelaufen ist, und Zeiger und
Pendulum still stehen, an die richtige Adresse abliefert. Was darauf zu
tun ist, das wird sich finden, und mag auch Er, Davide, Seine Stimme ^in
consilio^ haben als ein treuer Diener und ein prudenter Kopf. Den Mutz
vermache ich Ihm auch und weiß, daß Er fein lieblich mit ihm umgehen und
sich keine Winterkappe aus seinem Pelz machen lassen wird. Nun gebe Er
mir auch ein Glas Spanischen, einem jeglichem, so etwas dagegen zu sagen
weiß, zum Trotz; -- ^pereat materia peccans cum titulo pleno!^ Lege Er
mir die Kissen zurecht, und lasse Er mich ein Stündlein allein; wenn der
Mensch es also kühl gegen den Magen heraufsteigen spüret, so hat er so
mancherlei zu bedenken, daß ihm seine allerbesten Freunde zum Überfluß
werden mögen.«

»Herr Kuratore,« sprach der Famulus; »ich liebe Ihn von ganzem Herzen
und von ganzer Seele; Er ist mir mehr als ein Vater gewesen, und sein
Vermächtnis rühret mich mehr als zu sagen ist. Ich verhoffe, daß ich Ihm
noch lange Jahre mit Kopf und Hand und Herzen, mit der Feder und mit dem
Maule zu Diensten sein darf; diesen Brief aber werde ich zur richtigen
Stunde, wenn es nicht anders sein kann, an den Herrn Obristen von Knorpp
abgeben, verlasse Er sich drauf.«

»^Optime!^« sprach Gedelöcke, das Gesicht der Wand zukehrend. »Es ist
eine kuriose Welt; bestelle Er mein Kompliment an den Benediktus,
Davide; das Regiment ist auf dem Marsch von Altona her.«


IV. Von dem Herrn Obristen Benediktus von Knorpp.

Von den soeben beschriebenen Stunden an flossen natürlich nunmehr alle
die verschiedenen bedenklichen Gerüchte über den Kurator in der einen
entsetzlichen Gewißheit von der grausamen, abscheulichen und verruchten
Apostasie des Mannes zusammen, und mit schauderndem Wohlbehagen sah ihm
die Stadt Kopenhagen in die Fenster. Nun kamen die absonderlichsten
Histörchen zu Haufen hervor wie die Regenwürmer beim Laternenschein, und
hundert Leute, welche den Kurator in ihrem Leben nicht gesehen hatten,
erinnerten sich an Dinge und Worte aus jeder Epoche seines Daseins, die
wohl geeignet waren, die allgemeine christliche Betrübnis zu begründen
und zu steigern. Die Herren Doktores segneten ihren abtrünnigen
Patienten nach jeglicher Krankenvisite; denn wenn auch ihre Kunst sie
dann und wann im Stiche lassen mochte, Jens Pedersen Gedelöcke ging
ihnen nimmer aus, und wie nützlich und annehmlich ein solcher stets
frischer Gesprächsstoff sein mag, das weiß der wohl, so selber eines
solchen in seinem Beruf bedürftig ist. Auch der ehrwürdige Hieronymus
zog nach bestem Vermögen seinen Vorteil aus dem halsstarrigen
rationalistischen Sünder und wußte ihn an jedem Sonntag in seiner
Trinitatiskirche in einer andern und stets feurigeren Beleuchtung als
abschreckend Exempel auf die Kanzel zu bringen, und fand nur einen Dorn
an der Rose, nämlich den frommen Eifer der Kollegen, so den Kuratorem zu
eigenem Gebrauch entlehnten, ohne das ^ius primae possessionis^ im
geringsten zu achten. Was den Famulus David Bleichfeld anbetraf, so
konnte derselbe nicht mehr über die Gasse gehen, ohne daß sich Mann und
Weib an seinen Mantel oder Rockschoß hingen, um ihn mit Fragen,
Kopfschütteln und guten Ratschlägen bis aufs äußerste zu torquieren.

Im Hause selber hockte Frau Mette im Sack und in der Aschen, hielt ihr
Töchterlein zwischen den Knien, genoß wie die Stadt Kopenhagen den
kitzelnden Schauder des unerhörten Zustandes und nahm dazwischen in
zerknirschter Gehobenheit die wunderlichsten Kondolenzbesuche an. Es
kamen Leute aus den höchsten wie aus den niedrigsten Ständen zu ihr:
gottesfürchtige Kammerherrn und Hofdamen vom erleuchteten Hofstaat
Seiner Majestät des Königs Christians des Sechsten; theologisierende
Geheimeräte, mystische Schuster, wohlmeinende Bürgerfrauen, besonders
aber viele Pastorenwitwen mit den gedruckten oder ungedruckten Predigten
ihrer Seligen, also mehr als ein inspiriertes Waschweib. Die hohe und
niedere Geistlichkeit hielt das Haus blockiert, wie der Türk den Russen
Anno Eilf am Pruth; im Schoß der Universität summte und brummte es wie
in einem Bienenkorb, der sich zum Ausschwärmen rüstet, und es war kein
Teetopf, kein Bierkrug und keine Bettgardine, hinter welchen nicht das
^Pro^ und ^Contra^ in Sachen Gedelöcke mit Eifer abgewogen wurde.

Gedelöcke selber verbiß seine leiblichen Schmerzen hinter verriegelter
Tür, ließ sich von seinem getreuen Famulo das Buch Koheleth, welches wir
den »Prediger« Salomonis nennen, vorlesen, schlug noch einen Hauptsturm
der Kopenhagener Prediger ab und machte am ersten Ostertage des durch
ihn so denkwürdigen Jahres 1731 sein Wort wahr, und ging mit dem Gefühl,
als ob ihm ein eiskalter Teller auf den Magen gedrücket werde, hinüber
in eine bessere Welt, um vor einer andern Stelle als dem dänischen
Oberkonsistorio und dem Kopenhagener Polizeimeister und obern und untern
Publiko von seinem Leben, Taten und Meinungen Rechenschaft zu geben. Er
ersoff, verstockt wie Pharao, elendig im Roten Meere seiner Sünden, wie
der Pastor Hieronymus Moekel sagte. Er zeigte, daß er zur richtigen Zeit
seinen Abtritt zu nehmen wußte, wie der Professor Ludwig Holberg mit
einem noch vieles andere sagenden Achselzucken bemerkte. Er schlug sich
dreimal an die Brust und rief: »Ich weiß, daß ein allmächtiger Gott
ist!« und verschied -- wie Monsieur David Bleichfeld später auf dem
Polizeiamt berichtete.

Nun weiß man aus der Geschichte, daß um die Stunde, da der großmächtige,
grausame Tyrann und verruchte Königsmörder Olivier Cromwellius, so sich
auch den Protektor von England heißen ließ, den Atem verhauchte, ein
erschrecklich Unwetter sich erhob, welches viele Fensterscheiben und
Schornsteine zerschlug, auch manchen Baum umwarf und sonst vielerlei
betrübtes Unheil anrichtete: um die neunte Abendstunde des ersten
Ostertages 1731, als der Kurator Gedelöcke seine Rechnung abschloß,
entstand nur ein trockenes Wehen, das kaum den Staub und die Abfälle in
den Gassen von Kopenhagen umherwirbelte, aber späterhin so gut wie das
engelländische Sturmwetter zu den »Zeichen« gerechnet wurde. Es rasselte
der Wind ein wenig an dem Fenster, als klopfe eine Hand an die Scheiben.
»So lasse ich dich dem, welchem du angehören willst, Jens Pedersen
Gedelöcke!« rief der Prediger von der Dreifaltigkeitskirche und
entfernte sich mit seinem Küster Jesse Brägge; das Gesinde stürzte fort,
die Frau verbarg sich mit dem Töchterlein in ihrem Gemache. Niemand
harrte bei dem toten Manne aus, als sein Famulus und sein Kater, welcher
letztere später natürlich ebenfalls zu den »Zeichen« gezählt wurde. Und
als David Bleichfeld eine halbe Stunde nach dem Tode des Patrons in sein
Kämmerlein hinaufstieg, um aus dem verborgensten Schubfach seines
Schreibpultes das an den Herrn Obristen von Knorpp gerichtete Schreiben
des Kurators hervorzunehmen, hielt der Kater die Leichenwache fürs erste
ganz allein.

Mehr instinktartig und mechanisch, als in klarer Überlegung dessen, was
geschehen müßte, richtete der Famulus den letzten Auftrag seines Herrn
aus; aber selbst die Gewißheit, nur der letzten Grille des Verstorbenen
Vorschub zu leisten, würde ihn auf seinem Wege nicht aufgehalten haben.

Er verließ das Haus und trug das versiegelte Papier in beiden Händen vor
sich her durch die finstern Gassen. An einer Ecke traf er auf die
ehrwürdigen Herren von der Trinitatis- und der Frauenkirche, welchen ein
Diener mit der Laterne vorleuchtete. Sie hielten den Verstörten an und
sprachen, indem sie eine längere Zeit hindurch an seiner Seite
schritten, heftig und hitzig auf ihn ein, ohne daß er sie anfangs
verstand. Als er aber allmählich ihre Meinung und die Wege, welche sie
gingen, begriff, da schob er das Schreiben Gedelöckes hastig in die
Brusttasche und knöpfte mit zitternden Fingern jeden Knopf darüber zu;
noch hastiger nahm er sodann seinen Abschied von den zwei Pastören und
beschleunigte seine Schritte dergestalt, daß er fast gänzlich außer Atem
vor der Wohnung des Obristen Benediktus von Knorpp anlangte und vor
übermächtiger Aufregung und Mangel an Luft kaum imstande war, daselbst
Einlaß zu begehren und seinen Namen zu nennen.

Da stand er denn auf dem Hausflur und murmelte: »Ah, so ist es gemeint!
so ist es -- o, ich konnte es mir denken! o, Jens Pedersen Gedelöcke! o,
Herr Kurator! o, mein guter, guter Herr und Patron!« und aus dem obern
Gestock des Hauses drang ein rauher kriegerischer Gesang herab, welcher
sein erschüttert Gemüte auch wenig kräftigte und festigte. Nun führte
ihn eine uralte, hexenartige Dienstmagd die Treppe hinauf; nun trat er
aus der Kühle in die Hitze, nun stand er zwischen gepackten
Soldatenkoffern in einem dichten Nebel von Tabaksqualm, und das Lied von
der Schlacht bei Kiöge paßte fürtrefflich zu dem Manne, so in hohen
schwedischen Stiefeln, mit der Tonpfeife im Munde zwischen dem Fenster
und dem hohen Steinkrug auf dem Tische hin- und herschritt und jedesmal,
wann er die Nase und den Schnauzbart in dem Kruge versenkte, wußte, was
er tat.

»Der Herr Obrister sind heute mittag von Altona angelanget und gehen
übermorgen mit dem Regiment nach Frederikshall,« hatte die
Wirtschafterin auf der Treppe dem Famulo mitgeteilt, und der Herr
Obrister kommandierten sich selber »Halt!« und »Front«, standen
stocksteif vor dem Boten des Kurators Jens Pedersen Gedelöcke und
schnarrten:

»^Bonsoir^, Monsieur Bleichfeld; ist Er's denn, oder ist Er's nicht? Bei
allem, was lebet, wie siehet Er aus, Herr Studio! Ist Ihm der General
Stenbock, der König Karl oder der Teufel selbst begegnet? Was bringet Er
mir von Sich oder Seinem Herrn?«

»Der Herr Kurator lassen sich dem Herrn Obristen allergehorsamst
rekommandieren; -- vor einer Stunde sind Sie sanft entschlafen.«

»Halt!« schrie der Kriegsmann, beide Hände wie Klauen dem
zusammenknickenden Famulus auf die Schulter schlagend, und ihm die
scharfe dünne Habichtnase so nahe als möglich unter die Augen rückend:
»Ruhe im Glied! Was hat Er gesaget, Monsieur?«

Der Famulus wiederholte stotternd seine Nachricht, die hellen Tränen
liefen ihm dabei jetzo über die hagern Backen, und der Kriegsmann ließ
seine Schulterblätter frei, leerte im jähen Schrecken und Schmerz seinen
Krug bis zum Grunde, setzte sich auf den nächsten Holzschemel und
seufzte in tiefster Zerknirschung:

»O David Bleichfeld, das verdirbt mir mehr als diesen Abend! O
Bleichfelde, mit diesem Wort hat Er mir mehr in der Hand zerbrochen, als
diese tönerne Pfeife, und Famule -- holla -- ich kenne den Jens Pedersen
-- und ich glaube Ihm noch nicht, Monsieur David! Er ist geschickt
worden, mich anzulügen zum Willkommen, Kamerade -- sehe Er mir noch mal
in die Augen.«

Noch einmal packte der Kriegsmann den Unglücksboten und sah ihm in das
klägliche Gesicht. Als er ihn aber zum zweiten Male frei ließ, zweifelte
er nicht länger, sondern seufzte:

»O Jens, Jens, du halsstarriger, widerborstiger, närrischer Bursch, so
hast du mir denn den letzten Schabernack gespielt und bist vom Posten
abgezogen, ohne Losung und Rapport zu hinterlassen. O du
fahnenflüchtiger Bösewicht, die Hand hättest du wenigstens mir noch
einmal drücken sollen! Monsieur Bleichfeld, ich sage Ihm, das hat mir
nicht geschwanet, daß ich zu einem solchen Feste aus Holstein einrücken
solle. O Jens, eine solche Freundschaft wie die unsrige ist nie erhöret
worden, und nimmer haben zwo menschliche Kreaturen in solchem Hader,
Ekel und Widerwillen miteinander gelebet, denn wir zwei beide! Monsieur
Bleichfeld, seit wir uns vor unserer Väter Türen zu Helsingör um Ball
und Kreisel die Köpfe blutig schlugen, seit wir in Rosenborg-Have Anno
1695 um die Mamsell Spegelmann einander in die Haare gerieten, sind wir
wie zwo Zwillingsbrüder gewesen und haben kein Jahr verstreichen lassen,
ohne uns gegenseitig aufs Eis zu führen, und nun ist er fortgegangen,
Meister Bleichfeld, und hat seinen alten Kumpan allein im dänischen
Dreck gelassen! Ich habe schon längst in Altona auf seine diesjährige
Schnurre gewartet; aber solches geht doch über allen Spaß, -- ohne ein
Aviso, -- ohne ein Wort zum Abschied --«

»Nicht ohne ein Wort zum Abschied, Herr Obrister!« rief der Famulus, das
Schreiben seines Patrons hervorziehend. »Dieses ist für Euch, Herr von
Knorpp, und mir auf die Seele gebunden. Leset und lasset mich Eurer
Opinion, Eures Rates und Trostes genießen; es ist seine letzte Meinung
also gewesen.«

Mit eilfertiger, ein wenig zitternder Hand hatte der Oberst nach dem
wohlversiegelten Brief gegriffen, ihn mehrfach von jeder Seite beaugt
und endlich erbrochen.

Da saß er am Tisch, die Skriptur auf Armeslänge von sich abhaltend, und
das wechselnde Spiel der Muskeln auf seinem runzligen, zähen,
verwetterten Ledergesicht war wohl eines feinen und gewandten
holländischen Pinsels würdig. Betrübnis, Erstaunen, Zornigkeit und helle
Wut zerrten in solcher blitzesschnellen Folge Stirn und Nase,
Schnauzbart, Kinn, Backen und Mundwinkel durcheinander, daß der
kummerbelastete Famulus ob des mirakulosen Anblicks betroffen Schritt
für Schritt zurücktrat, und zuletzt, als der Kriegsmann mit einem wilden
Fluch und einem donnernden Faustschlag auf den Tisch verkündete, daß
dieses das Tollste und Heilloseste sei, was ihm seit dem Travendahler
Frieden vorgekommen, -- wie von dem Faustschlag selber getroffen
zusammenfuhr und schier in sich selber verschwand.

»Weiß Er, David Bleichfeld, was er mir hier schreibt?« schrie der Obrist
und brüllte, als der Famulus den Kopf schüttelte: »Er wendet sich an
mich und an Ihn, Davide, um sechs ungehobelte Bretter und ein stilles
Loch in der Erde! Er weiß, was für schwarzes Gevögel ihm über dem Kopfe
fliegt und herabstoßen will! Wir beide sollen ihn begraben, Monsieur,
bei Nacht und Nebel, still und fein säuberlich, Monsieur. Er hat uns
seinen armen stinkenden Leichnam vermacht, Meister David Bleichfeld.
Seinem Hausdrachen trauet er nicht über die Gasse und noch viel weniger
bis auf den Kirchhof, und was den ehrwürdigen Herrn Hieronymus Moekel
anbetrifft, so -- -- Himmel und Hölle, bei allen Gruben, an denen ich je
auf einem dänischen ^champ de bataille^ gestanden habe, Jens Pedersen
Gedelöcke, es soll geschehen, wie du es wünschest, und sollte ich das
Haus mit meinen Füsilieren im Sturm nehmen müssen!«

Auch der Famulus las nunmehro das Schreiben des Kurators und rief
sodann: »O Herr Obrister, er hat recht, und Eile tut wahrlich not! Der
Herr Oberprediger von Trinitatis ist freilich schon auf dem Wege, ein
hochehrwürdiges Konsistorium ist bereits zusammenberufen, und was die
Dunkelheit dieser Nacht gebiert, das wird am Morgen gar schön und propre
daliegen --«

»Und übermorgen segeln wir auf alt Norge!« rief der Kriegsmann, den
Dreimaster auf die Perücke stülpend; »Gewehr über! Marsch auf der ganzen
Linie! O Jens, Jens, wie magst du von deiner Wolke herablachen, denn
also hast du mich in deinem ganzen Leben noch nicht zum Narren gehalten;
aber wer zuletzt lacht, -- ach Gott, es ist eine elende, nichtsnutzige
Welt, marsch, Meister David, lasse Er die schwarzen Vögel nur zu Haufen
fliegen; wir holen meinen Regimentsfeldscher Herrn Snorro Skalholt aus
seinem Garnisonsspital; dann können wir ihnen die Volte zu drei
schlagen, und, Monsieur David Bleichfeld, wann Er übermorgen mit mir und
meinem Regiment an Bord des Själland gehen will, so soll Er mir
hochwillkommen sein, und zu überlegen wär's!«

»Jawohl, zu überlegen wär's!« seufzte der Famulus; aber der Gedanke an
das Testament des Kurators Gedelöcke, an die herrliche Bibliothek und
die zweitausend dänischen Reichstaler legte sich ihm wie ein spanischer
Reiter in den Weg; mit einem Ruck der Verzweiflung zog er den Hut in die
Stirn, folgte unsicheren Schrittes dem Kriegsmann, welcher bereits die
Treppe hinunterstapfte, und fand sich zwanzig Minuten später vor dem
Spital der Kopenhagener Garnison unter dem Fenster des isländischen
Doktors, welches der lange Oberst, auf den Zehen stehend mit dem
Stockknopf grad erreichte.

»Wach ist er; aber Danziger Goldwasser ist auch ein liebliches
Getränke,« sprach der Herr von Knorpp. »Da werden wir ihm doch wohl die
Scheibe einschlagen müssen. Hallo, holla, da ist er!«

Auf das wiederholte Gepoch wurde mit einem grimmigen Getöse das Fenster
in der Höhe aufgerissen, und, beleuchtet von einer flackernden Kerze,
schob sich der dickste Kopf der dänischen Monarchie in die Nacht vor.

»Ist das nicht wie ein Nordlicht?« fragte der Oberst, seinen Ellenbogen
dem Begleiter in die Seite stoßend. »Gut Freund, Meister Snorro
Skalholt! Steige Er hernieder, Kamarado, man hat eine Arbeit für Ihn!«

»^Eheu, dux legionarius!^« schnarrte die Erscheinung im Fenster, das
zerwühlte, flachsartige Haar zurechtschüttelnd. »Seid Ihr es, Herr von
Knorpp? Was habet Ihr für Euern Gehorsamsten? Mit oder ohne Messer,
Obrister?«

»Herunter mit dir, Island!« schrie der Kriegsmann. »Das weitere wird man
dir schon auf dem Wege sagen!« Das Fenster schloß sich; der Doktor
Snorro Skalholt trat in die Gasse und erfuhr, um was es sich handle.
Fürderhin lachte er nur von Zeit zu Zeit grimmig in den Bart und rieb
sich die Hände unter dem Mantel. Bereit, auch das Äußerste für ihre
Pflicht zu nehmen, erreichten die drei Verbündeten das Haus des Kurators
Jens Pedersen Gedelöcke.


V. Von dem isländischen Regimentsfeldscherer Herrn Snorro Skalholt und
von Mynheer van der Tromp, weiland zu Leyden.

»Halt!« kommandierte wiederum der Obrist. »In keinem Scharmützel, in
keinem Treffen bin ich mit einem solchen Gefühl im Magen in die
Schlachtlinie gerückt, und Er, Skalholt, lasse Er das abscheuliche
Gegrunz und Gelach; hätt' Er den Gedelöcke gekannt, wie wir, es würde
Ihme auch schwüler ums Herz sein.«

»He, he, he, ich lache nicht über den Herrn Kurator, ^monsieur le
colonel^; mich lächert Mynheer van der Tromp, den wir zu Leyden stahlen
zur Ehre der Wissenschaft. Lasset mich sehen, -- Lemort, Hotton,
Boerhave und ich teilten uns in ihn; -- ja, ja, die drei andern sind als
große ^lumina^, als weltberühmte Lichter ausgegangen, und ich bin ein
armer Feldscher worden; aber was hat der Mensch von aller Gloria, wann
er tot ist? ^Barbati praecedant^, marschiere Er voran, Herr von Knorpp,
doch trete Er leise auf: Mevrouw van der Tromp bot fünfhundert
holländische Dukaten dem, so ihr ihres Eheliebsten Leib retourniere, und
wir loffen schier an der Wand hinauf vor Ärger; denn wir hatten ihn
allbereits verwürfelt und ausgeteilet, jeglichem nach seiner Fortun.«

»Das ist ja eine recht jokose Historia, Meister Snorro,« sprach der
Oberst Benediktus. »Courage, Monsieur Bleichfeld!«

»Eine recht jokose Historia!« murmelte der Famulus und schoß in die
halbgeöffnete Haustür, in welcher niemand ihm und seinen Begleitern
entgegentrat.

»Niemand zu sehen und zu hören?« sagte der Obrister. »Wahrlich, das
siehet öde und kalt aus. O Jens, Jens, du hast uns sonsten hier in
anderer Weise salutieret! Haben sie denn alle Reißaus genommen? Brr, im
Schwedenlager vor Frederikshall, Anno Achtzehn konnt's nicht kühler
sein; -- o Gedelöcke, Gedelöcke, was ist aus deinem lustigen Quartier
geworden!«

Nichts regte sich in dem großen weitläuftigen Hause. Auf einer
Treppenstufe stand eine schwelende Küchenlampe, und dem Famulo schlugen
die Knie aneinander vor innerlichem Frost, als er die Hand nach dieser
Lampe ausstreckte, um den beiden Herren den Weg zu zeigen. Auch in dem
obern Gestock rührte und regte sich nichts, außer den Mäusen hinter dem
Wandgetäfel; die Tür des Sterbezimmers stand gleich der Haustür ein
wenig geöffnet, doch brannte kein Licht in dem Gemache, und die kleine
qualmende Flamme, welche David Bleichfeld auf Armeslänge zitternd
vortrug, schien die Finsternis nur dichter und undurchdringlicher zu
machen.

»Nun, Mann, da wir soweit sind, so rücket weiter,« sagte der Oberst,
doch nicht mit der gewohnten rauhen Kommandostimme. »Die Toten beißen
nicht, und den Lebendigen kann man die Zähne weisen; -- da!«

Der isländische Regimentsdoktor hatte den zaudernden Famulus durch einen
jähen Stoß in das Gemach gedrängt; der Schein der Lampe fiel über das
Bett des Kurators, und aus dem Lehnstuhl neben dem Bette erhob sich
fauchend der Kater Mutz und sah mit grünleuchtenden, wilden Augen auf
die Eintretenden. Unter dem weißen Laken, so man über den Leichnam
geworfen hatte, guckte nur der rote Zipfel der Nachtmütze Gedelöckes
hervor; der Lichtschein tanzte über dem Tische mit den Arzneigläsern,
Schalen und Bechern; auf der spanischen Wand grinsten die bunten
Chinesen wie phantastische Kobolde, und in dem kuriosen Gezweig schienen
die kuriosen Vögel in dämonischer Lustigkeit mit den Flügeln zu
schlagen. Schon aber hatte Herr Snorro Skalholt die Leinwand von dem
Gesicht des Toten gezogen, und während die beiden andern noch in
Betrübnis und Grauen bewegungslos standen, betastete er mit
gierig-kundiger Hand den Leichnam, wandte sich um und sprach:

»Herr Obrister von Knorpp, der Mann spielt Euch sicher keinen Possen
mehr.«

»Ich wüßte nichts, so mir schwerer einginge!« seufzte der Oberst. »O
Jens, Jens, das gehet noch über die Mamsell Spegelmann im Garten zu
Rosenborg, -- ah, bah, hab' ich damals meinen Willen gehabt, so sollst
du jetzo den deinigen haben, Jens Pedersen Gedelöcke! Vorwärts im
Schritt; -- gebet Euer Wort dazu, Ihr Herren!«

»Messieurs sind also fest entschlossen, mit hier vorliegendem Korpus
^per fas et nefas^ denen, so ein mehreres Recht daran haben möchten, die
^elatio^, will sagen, die Leichaustragung vor der Nase hinweg
vorzunehmen?« fragte der Doktor Snorro, sich von der Inspektion des
Leichnams aufrichtend.

»^Per fas et nefas^, es war seine Meinung, und es soll so geschehen!«
rief schluchzend der Famulus, und der Oberst von Knorpp streifte stumm,
mit grimmigem Ernst, die weiten Ärmelaufschläge zurück, zu jedem
Anpacken mit Fäusten und Zähnen bereit.

»So ist mein Avis,« sagte der Regimentsfeldscher, »die Herren halten
allhier gute Wacht mit Ober- und Untergewehr; ich aber bringe vom Spital
die Vespillones, will sagen, meine Bahrträger. Da gehen wir dann mit dem
Herrn Kurator fein still und sittsam die Treppe hinunter, machen an der
Tür dem Haus unser Kompliment, und hab' ich ihn, will sagen, den Herrn
Kuratorem, im Spital, so --«

Der Doktor brach ab und zeigte nur sein Gebiß; der Herr von Knorpp und
Herr David Bleichfeld gaben nickend ihre Beistimmung kund, jedoch mit
der geheimen Reservation einer kleinen Unterschiedlichkeit zwischen den
allerletzten Schicksalen Mynheers van der Tromp und des Kurators Jens
Pedersen Gedelöcke. Auf den Zehen schlich der Isländer aus dem Zimmer;
der Obrister setzte sich zu Häupten des Lagers nieder, und der Famulus
hielt Wacht an der Tür, nachdem er vorher noch eine Wachskerze, die er
auf einem Nebentische fand, angezündet hatte. Schnurrend aber ging der
Kater jetzo, nachdem er sich überzeugt hatte, daß Freunde seines toten
Herren gekommen waren, von einem der beiden Männer zu dem andern und
rieb knisternd sein Fell an ihren Schienbeinen und Waden, bis er
plötzlich ganz ^improviso^ mit einem Satz dem Obristen auf das Knie
sprang und gravitätisch daselbst seinen Posten behauptete. Hätte der
Kurator sich aufrichten und einen Blick in das weite, dunkle Gemach, auf
den rotröckigen Herrn Benedikt von Knorpp, den schwarzen,
bleichgesichtigen, zähneklappernden David Bleichfeld und den Mutz werfen
können, er würde dessen gewiß merkwürdiglich froh geworden sein.

Von Zeit zu Zeit unterbrach ein langes Geseufz, ein dumpferes Knurren
und Brummen des Kriegsmannes die Stille der Nacht. Der Wind zischte vor
den Fenstern, es rieselte der Ruß im Schornstein hernieder, einmal wurde
draußen auf dem Gange eine Tür schnell geöffnet und noch schneller
wieder zugeschlagen.

»Da lob' ich mir jeglichen Posten über jeder Flattermine,« murmelte der
Obrister, und der Famulus lobte noch manche andere Dinge und Zustände,
welche behaglicher waren, als dieses mitternächtliche Harren auf den
isländischen Doktor Snorro Skalholt und seine Bahrträger. Endlich um
zwölf Uhr weniger zehn Minuten legte der Herr von Knorpp die Hand ans
Ohr, und David schlich zum Fenster und flüsterte:

»Da sind sie! der Himmel sei gepriesen!«

»Amen!« sprach der Obrist. Taktmäßige Schritte mehrerer Männer ertönten
in der stillen Gasse und hielten vor dem Hause des weiland Kurators
Gedelöcke an.

»Courage, Famulissime!« flüsterte der Herr von Knorpp. »Jetzo fasset
einmal all Euern dänischen Heldenmut zusammen; denket an den ehrwürdigen
Herrn Hieronymus Moekel und das hochehrwürdige königliche Konsistorium;
nehmt das Licht und haltet es hoch, ich nehme den Kurator! Courage, Jens
Pe -- wollte ich sagen David Bleichfeld! O Jens, Jens Pedersen
Gedelöcke, ich hab' schon manch einen also aufgegriffen vom Feld, aber
keinen mit mehr Ärgernis und Jammer als dich! Komm, Alter, es war doch
ein ander Ding, als wir in Rosenborg-Have uns im Sonnenschein unsere
Meinung und die Mamsell Spegelmann um die Köpfe schlugen!«

Er hatte während dieser Stoßseufzer das Leinentuch fest um den Leichnam
geschlagen und erhob denselben nun mit einem wilden Ruck von dem Pfühle.
Im höchsten Schrecken fuhr David Bleichfeld gegen die Wand, und
zischend, mit emporgesträubtem Pelz, schoß der Kater auf und sah mit
allen Zeichen des Entsetzens von einem hohen Eckschrank seinem toten
Herrn nach.

»Horch, Island auf der Treppen! Hinaus, Monsieur, in des Satans Namen!
-- Leuchtet vor, -- Courage!« rief der Obrist, keuchend unter seiner
absonderlichen Last; der Famulus riß die Tür auf, und der Herr von
Knorpp sprang mit dem Leichnam auf den Korridor hinaus. In demselben
Momento aber wurde auch die Tür der Frau Mette am Ende des Ganges
geöffnet, und eine Magd, ein Teebrett mit Tassen und Töpfen in den
Händen tragend, trat herfür, um einen Augenblick versteinert die
verwunderliche Gruppe anzustarren und mit dem nicht ungerechtfertigten
gellenden Gekreisch: »Er holt ihn! er holt ihn! er hat ihn! Der Teufel!
der böse Feind! der Teufel holt den Herrn! der Teufel holt den Herrn
Kurator!« zu Boden zu stürzen. Auf sie und die Trümmer ihres Porzellans
sank mit eben solchem Geschrei die herzugeeilte trauernde Wittib.

»Da haben wir's, Jens Gedelöcke, da hast du's! drin sind wir! Vorwärts,
Monsieur Bleichfeld. Zehntausend finnische Nordlichter, wird das morgen
einen Lärm geben in der Stadt Kopenhagen! Greift zu, Herr Snorro, und
vorwärts im Galopp!«

»Ja, vorwärts im Galopp, das sagte Hermann Boerhave auch, als wir
Mynheer van der Tromp durch die Hoftür zwängten,« murmelte der Isländer.
»^De drommel^, das war im Jahr Neunundachtzig, Obrister!«

Der Famulus sagte nichts; denn zuletzt trug er doch am schwersten an dem
Gewicht seines guten toten Patrons. Wie Frau und Magd im obern Stockwerk
des Hauses, so schrien nun Knecht und Köchin im Erdgeschoß auf und
stürzten im fernsten Winkel übereinander; aber vor der Tür warteten ein
Gefreiter und vier Füsiliere mit der Spitalbahre: »Viktoria, heran ihr
Leute!« rief der isländische Feldscher. »Packt auf und sehet euch nicht
um; greift aus, Herr von Knorpp, greift aus, Monsieur Bleichfeld, in
meinem Quartier mögen wir das weitere besprechen.«

Schnell nahmen die Träger die Bahre auf, und im eilenden Laufe wurde der
Leib des Kurators Jens Pedersen Gedelöcke durch die Gassen geführet.
Weit ausschreitend, eröffnete der Obriste Herr Benediktus von Knorpp den
Zug, und der Famulus mit dem Isländer beschlossen ihn. Scheu wich zur
Seite, wer dem gespenstischen Wesen begegnete, und mehr als ein guter
Kopenhagener Bürger, an welchem das »Ding« vorübergefahren war, sprach
nachhero mit absonderlicher Inbrunst sein Vaterunser und zog die
Bettdecke hoch über die Nase hinauf. Am andern Morgen in der grauesten
Frühe, vor Eröffnung der Festungstore, rasselte ein Fuhrmannswagen gegen
das Ostertor heran, und ein tief in seinen Mantel gehüllter Mann wies
dem wachthabenden Korporal den Passierzettel vor, worauf die Gitter ohne
Anstand geöffnet wurden, und das Fuhrwerk ohngehindert seinen Weg durch
die Osterbrogade fortsetzen durfte. Am Garnisonskirchhof hielt der Wagen
abermals, drei Männer stiegen herab und trugen mit Hilfe des Fuhrknechts
einen schlecht gezimmerten königlich dänischen Soldatensarg im tiefsten
Schweigen durch den dichten Nebel über den Gottesacker zu einer Grube,
an deren Rand der Totengräber mit seinem Gehilfen bereits wartete.

Im tiefsten Schweigen wurde der Sarg in die Erde hinabgesenkt; wie die
drei Männer mit die Stricke gehalten hatten, so griffen sie auch mit zu
den Schaufeln, und in kürzester Frist war die traurige Arbeit vollendet.
Nachdem sich die Totengräber entfernt hatten, blieben die drei
Leidträger allein an dem neuen Grabe; der Famulus des Herrn Kurators
Jens Pedersen Gedelöcke, David Bleichfeld, schluchzte laut hinter dem
vorgehaltenen Hute; der isländische Doktor Snorro Skalholt murmelte
etwas von Mynheer van der Tromp, und der Obriste Herr Benediktus von
Knorpp drückte mit einem Faustschlag den befiederten Dreimaster tief in
die Stirn und sprach:

»So hast du denn wenigstens ein ehrlich Soldatengrab gekriegt, Jens, und
Gott schenke dir und uns allen eine fröhliche Urständ! Wir haben unser
Bestes getan, Messieurs, und für jetzt das Beste gewonnen; aber --
Bleichfelde, nehme Er Vernunft an; gehe Er morgen mit mir und meinen
Füsilieren nach Norwegen. Bringe Er Seinen eigenen Leichnam in
Sicherheit, Famule; gehe Er mit uns nach Friedrichshall; die Kommodité
soll seit der schwedischen Berennung Anno Achtzehn mächtig zugenommen
haben; ich geb' Ihm meine Parol, auf Fort Güldenlöwe soll Er sitzen wie
in Abrahams Schoß, und wir wollen lachen über das Krächzen und
Flügelschlagen jenseits des Wassers.«

»Seine, meine Bibliotheka!« seufzte der Famulus. »Die zwotausend
Reichstaler lass' ich hinter mir wie einen Sack Nüsse; aber hat er Raum
an Bord für ^Opera omnia^ Lutheri, Melanchthonis, Brentii, Walleri,
Erasmi, Clerici, Calvini, Cocceii, Launoii ...«

»Hör Er auf, hör Er auf!« schrie der Obrist.

»Hat er Platz für des Cornelii a Lapide Bibelkommentare, sechszehn
Folianten? Hat Er --«

Herr Benediktus von Knorpp hielt sich beide Ohren zu, und stiefelte
eilig über die Gräber der Kirchhofspforte zu, und verdrießlich folgte
ihm der isländische Doktor. Der arme Famulus stand allein an dem
traurigen Grabe des Kurators Jens Pedersen Gedelöcke, schlug die Hände
zusammen und rief:

»O mein guter Patron, mein Freund, mein Vater, was werden sie aus mir
machen? Was soll ich ohne Ihn anfangen in dieser ärgerlichen giftigen
Welt? O Herr Kurator, Herr Kurator!« Auf den Zaun des Garnisonfriedhofes
aber legten sich zwei hagere, haarige, knochige Fäuste, eine lange,
schwarze Gestalt hob sich auf den Zehen, und eine spitzige, gerötete
Nase roch in den Nebel hinein.

»Ei, ei! so, so, Monsieur Bleichfeld,« sprach Meister Jesse Brägge, der
Küster der Trinitatiskirche. »Solches wird man freilich ein Begräbnis
Jojakims nennen! ^o profanatio^, was werden wir dazu sagen im
hochwürdigsten Konsistorio! Hat man Ihn, Monsieur? Ei, ei, ei, das war
freilich ein lieblich Werk und wird einen guten Geruch geben.«


VI. Von der Stadt Friedrichshall, der Feste Friedrichstein und dem
dänischen Postschiff.

Im Norwegenschen Amt Smaalehnen, Stift Christiania, an der Mündung des
Tistedal-Elfs in den Idefjord, Swinesund, liegt die Stadt Friedrichshall
und daneben auf einem dreihundertundfünfzig Fuß hohen Felsen die in alle
Zeiten berühmte und berüchtigte Feste Friedrichsstein mit ihren beiden
Forts Oberberg und Güldenlöwe, vor welchem letztern, wie jedermann weiß,
in der Nacht vom elften auf den zwölften Dezember 1718 der tapfere König
Karolus, des Namens der Zwölfte, von einer Falkonetkugel durch den Kopf
getroffen, das Leben ließ, und Schwedens Macht und Herrlichkeit ein jäh
und schrecklich Ende nahm. Wir setzen den Fuß auf diesen hochtragischen
Boden im Herbste des Jahres 1731, als Herr Benediktus von Knorpp
Kommandante auf Friedrichsstein war, und noch sind nicht alle Spuren der
schwedischen Belagerung in der öden, felsigen Umgebung verwischt. In
diesen wenig bevölkerten, rauhen Gegenden hielt es schwer, selbst nur
das Notwendigste wieder aufzurichten, und überall zeigten noch die
Rudera verbrannter oder zerschossener Gehöfte, die zu Laufgräben und
Schanzen aufgewühlte Erde, wie Bellona hier Hof gehalten hatte. Wie
Trauerflor überzog das dunkle Gewölk den Himmel, mit klagendem Getön
fuhr der Wind über Land und Sund: immer noch schwebte über den
schwarzgrünen spiegelnden Wellen, dem düstern regungslosen Felsen und
den Ruinen das Gespenst des gloriosen, wilden, nutzlosen Daseins, das
hier in dieser Einöde, nach so gewaltigem Lärm und Leuchten in der Welt,
in nichts versank; -- noch immer schien die königliche Leiche mit der
blutigen Stirn unter den Mauern von Güldenlöwe zu liegen, und die
frostige, graue Landschaft nur die Trauerdekoration des schwedischen
Niederfalls zu sein.

Auf einer Bastion der Festung, von welcher aus man eine weite Aussicht
über den Swinesund, die Stadt und die Berge hatte, stand an ein
Wallgeschütz gelehnt der Kommandant, und neben ihm sein Regimentsdoktor
Herr Snorro Skalholt der Isländer; während eine Schildwacht, ohngefähr
zwanzig Schritte ab, mit geschulterter Muskete auf und nieder ging.
Beide, der Gouverneur wie der Feldscherer, gähnten sehr, und dann sprach
der Herr von Knorpp:

»Daß man am Abend, wann man die Nachtmütze über die Ohren ziehet, seine
Kinnladen noch beieinander findet, ist doch ein Mirakul, Meister Snorro;
und wann man hier vom Parapet herunterguckt, pfui Teufel, man möchte der
ganzen zahmen, lumpigen, lausigen Welt auf den Kopf speien. Aus Wams und
Hosen möchte man fahren vor Ungeduld! 's war doch eine andere Zeit, als
vor dreizehn Jahren der tolle Karl sein Hauptquartier da drüben zu
Tistedalen hatte.«

»Gebe Er Frieden, Kommandante; was hilft Ihm der Skandal und Lärmen? Die
Jahre ziehen einem jeden zu seiner Zeit die Stiefeln aus,« sagte der
Isländer. »Sollte doch vermeinen, Er hab' der wilden Wirtschaft genug
gehabt in den dreißig Jahren, welche hindurch Er mich hinter sich
fortschleppt! Man wird eben alt und kahl und -- ^plus le singe s'élève,
plus il découvre^ -- Ihr wisset wohl, was. ^Sat, satis!^ was fehlet dem
bescheidenen, friedlichen Sinn und Gemüt allhier auf dieser hochgelobten
königlichen dänischen jungfräulichen Feste Friedrichsstein? Lasse Er mir
und lasse Er ihm selber Ruhe, das Postschiff kommt heut auch von
Christiania, und ich für mein Teil verlange nicht mehr von dem ^theatro
mundi^ zu erfahren, als was es uns in seinem Neuigkeitensacke
mitbringt.«

»Jawohl, das Postschiff, das ist auch solch ein leidig Labsal,« brummte
der Oberst. »Was spinnen und haspeln sie anders, als ihre elende
pragmatische Sanktion! Wann der richtige Tanz darob beginnt, Meister
Snorro, werden wir zwei beide wohl still genug liegen. Na, wie ist's mit
dem Schiffe, Mann?«

Diese letzte Frage galt der Schildwacht, welche salutierend den Kolben
der Muskete auf den Boden stieß und prompt rapportierte:

»Lief vor einer Viertelstunde allbereits in den Fjord!«

»^Bon^,« sagte der Kommandant, »steiget hernieder, Doktor, ich glaub',
wir haben für diesmal genug von diesem angenehmlichen ^point de vue^;
man kennt die Kuriosität zur Genüge. Was gibt es, Korporal?«

Der aus dem Innern der Festung emporsteigende Unteroffizier richtete
sich ordonnanzmäßig und griff an den Hut:

»Hab' dem Herrn Gouverneur zu vermelden, daß von der Stadt ein Subjektum
sich heraufgeschleppt hat, so mit dem Boot von Christiania angelangt
sein will, und am Tor in Ohnmächtigkeit verfallen ist. Sitzet miserabel
jetzt in der Kommandantur, winselt nach dem Herrn Gouverneur, -- halten
zu Gnaden, ein erbarmungswürdig Stück Menschheit, -- nennet sich
Monsieur David Bleichfeld, und --«

Mit offenem Munde blickte der Korporal Peter Pomperson seinem
Vorgesetzten und dem Doktor Skalholt nach.

»Bleichfeld?! Gedelöcke?!« hatte der Oberst geschrien, und schon hallten
seine Schritte in dem nächsten bedeckten Wege, und der Isländer folgte
ihm im Trabe auf den Fersen.

Gegen alle soldatische Würde langten in hastiger Atemlosigkeit die
beiden Herren in der Behausung des Gouverneurs an, und David Bleichfeld,
der Famulus des weiland Kurators Jens Pedersen Gedelöcke, wankte ihnen
entgegen, wahrlich ein Bildnis des Jammers und aller Perdition des
Leibes und der Seele!

In Lappen und Fetzen hing dem Armen sein schwarz Schulmeisterhabit um
die Knochen, im Frost schlugen die Knie aneinander, der bitterste Mangel
starrte aus den geröteten, tief eingesunkenen Augen, und zu einem
grimmen Hohn ward der Versuch der ausgemergelten Kreatur, dem Obristen
und dem Doktor Skalholt entgegenzulächeln. Abermals sank der Exfamulus
David Bleichfeld in Schwachheit zusammen.

»Packt ihn!« rief der Isländer. »Greifet dem Jammer sanfte unter die
Arme, Herr von Knorpp! Ins Bett mit ihm! Den Grütztopf ans Herdfeuer,
^agite, agite^! Das nennet man ^in extremis^ sein! He, he, he, Meister
Bleichfelde, haben sie Euch das Fell über die Ohren gezogen? Habt Ihr
Haare gelassen? Greifet zu, Herr Kommandante, habet Ihr Euch nicht
gleich vorgestellet, daß es also kommen werde? Es ist ein bös Ding, in
der Wespen Nest zu greifen, und es ist doch ein gut Ding um diese
sichere und edle Feste Friedrichsstein. Bringet den Narren zu Bett, Herr
Obrister von Knorpp!«


VII. Von dem Teufel, dem Herrn Polizeimeister und Seiner glorwürdigen
königlichen Majestät, Christiano dem Sechsten.

Erst am folgenden Tage hatte sich der Famulus insoweit erholet, daß er,
durch Kissen unterstützet, aufrecht im Bett sitzen und seine kläglichen
Erlebnisse seit dem zweiten Ostertage dem Gouverneur von Friedrichshall
und dem trefflichen Doktor Snorro Skalholt kommunizieren konnte.

»O meine lieben Herren,« seufzte er, »wie sind die Wasser über meinem
Haupte zusammengegangen, wie haben sie mich geducket in die Tiefe!«

»Und die allmächtige Bibliotheka?« fragte der Kommandant.

»Ist versunken mit allem, was an Fleisch und Philosophie, Mut und
Lebendigkeit an mir war, und ist nichts übrig geblieben, als was
Messieurs vor Ihnen sehen; -- horch, was war das?«

»Der Wind im Schornstein und des Kapitäns Storlands zahmer Bär. Fürchtet
Euch nicht vor Gespenstern; man fordert denenselben schon am Tor die
Parol ab. Referier Er weiter, Famulissime; nehme Er sich aber fortan
Seinen eigenen Weg und Seine Zeit --«

»Und nehme Er noch einen Schluck Schiedam,« fügte der Doktor bei; und
David Bleichfeld ließ das Gesicht in die Hände sinken; befolgte dann
auch des Herrn Skalholt räsonnabeln Rat und erzählte weiter; hatte aber
seinen eigenen Weg doch nicht ganz für sich allein: wie es denn auch von
dem Obristen Benediktus von Knorpp nicht zu verlangen war, daß er
während der lamentabeln Historia stillsitze und sich mit Wort und
Gebärde nicht rege.

»Herr Gouverneur und Herr Doktor,« sprach der Famulus, »es ist wohl das
beste, daß ich dem Faden nach erzähle; mein Gedächtnis ist gar schwach
geworden durch die übermenschliche Trübsal und große Verfolgung; aber so
wird sich wohl eins aus dem andern geben: wo lieget der Kurator Herr
Jens Pedersen Gedelöcke begraben, Herr Obrister?«

»Auf dem Garnisonskirchhof vor dem Ostertor,« antwortete der Gefragte;
aber der Famulus schüttelte sich fast den Kopf ab; der Kommandant fuhr
mit einem sehr bedenklichen Fluch in die Höhe, und der Feldscher rückte
mit Gekrach seinen Stuhl näher an das Bett und horchte mit weit
vorgestrecktem Halse.

»Jawohl auf dem Garnisonskirchhof!« winselte der Famulus. »Ein jeglich
alt Weib hatte den Teufel, so den Herrn Kuratorem fortgeführet, rumoren
hören in der Nacht; ein schweflicht Leuchten war über die Stadt
hingezogen, und das Gewässer im Kallebrostrand wie im Sund hat gesiedet
und gebrodelt wie die Suppe im Hafen. Vom Drei-Kronen-Fort aus hatte man
den Bösen auf einem schwarzen Gaul hoch in der Luft gesehen, und den
Herrn Kuratorem hatte er wie einen Sack vor sich über den Sattelknopf
geworfen, und bis nach Schoonen hinüber konnte man den feurigen
Hufschlag in den Wolken verfolgen. Das war gut, und wenig war dagegen zu
sagen, und ich lag im Fieber in meinem Kämmerlein, und die Wittib mit
dem Kind und alles Gesinde war vom Hause geflohen, ich hatt' es allein
mit dem Mutz, des seligen Herrn Kater. Und das Fieber hatte mich, und
war ich wie der Vogel Strauß, so den Kopf in den Sand stecket, und hatte
eine große Furcht. Das Volk in der Gasse stund zu Haufen, steckte die
Köpfe zusammen, flüsterte und deutete mit den Fingern, und als ihr
Herren vielleicht mit Skagen in Sicht segeltet, da klopften der
geistliche und weltliche Arm ^a tempo^ an meine verriegelte Tür, und der
Herr Polizeimeister kam in Persona, begleitet von Herrn Hieronymus
Moekel und dem Küster Jesse Brägge; da war ich wie der Maulwurf auf dem
Spaten! Sie drangen herein im Namen königlicher Majestät und riefen Wehe
über mich im Namen ^summi episcopi^ und in ihrem eigenen Namen, und Ihn,
Herr Obrister von Knorpp, und Ihn, Herr Snorro, hätten sie gar zu gerne
zurückgehabt; aber ich hab' den Kelch allein saufen müssen bis zur
Hefen. Die halbe Stadt Kopenhagen ist vors Verhör gezogen, und die
geistlichen Herren haben natürlich das letzte und das höchste Wort
gehabt und klar dargetan, daß Jens Pedersen Gedelöcke nicht als ein
gläubiger Christ, sondern als ein ungläubiger Jud gestorben sei, daß ihm
nicht gebühre ein christlich Begräbnis, und also ist das Zeugenverhör
und Gutachten vom hochlöblichen Polizeigericht Königlicher Majestät
untertänigst unterbreitet, und am Dreiundzwanzigsten Maji ist
Königlicher Majestät allergnädigste Resolution dem Herrn Polizeimeister
zugestellet worden.«

»Da haben wir's! Himmel und Hölle, jetzt sehe ich es kommen! O
Gedelöcke, Gedelöcke!« schrie der Obrist.

»O Mynheer van der Tromp, welch ein gutes Los ist Euch zuteil worden!«
sprach grinsend der isländische Doktor. »Weiter, weiter, Monsieur
Bleichfelde, auch ich sehe es kommen, und es brauet dick in der Höhe.
Wäre dem Herrn Ludovico Holbergio nicht der Fuchsschwanz hintenan
gebunden, er könnte ein fein Stücklein darüber in Reime bringen.«

»Und am fünfundzwanzigsten Maji,« fuhr der Famulus fort, »bei
Sonnenaufgang holten sie mich herfür aus dem Loch und stießen mich mit
den Kolben durch die Gassen, und ganz Kopenhagen schwarmete vor, zur
Seiten und hinterher, schrie Zeter und warf nach mir mit Kot und
Steinen. Da hatten nach allergnädigstem hohen königlichen Befehl der
Herr Polizeimeister die Ältesten der jüdischen Nation zu ihme
beschieden, und wurde ihres Volkes eine Menge von denen Polizeibedienten
und Stadtwächtern zusammengeholet aus ihren Häusern, Schulen und
Synagogen, und mußten sie auch die Trauerkutschen zahlen. Deren hielten
eine Menge vor dem Polizeihaus, und als nun das neue Leichgeleit
beieinander war, da zogen sie mich in die erste Kutsch als fürnehmsten
Pullatum oder Leidträger, und der Juden Älteste setzeten sie zu zwei
oder drei in die nachfolgenden Wagen mit Polizeibedienten zur Wacht
untermenget. Dann führete die Miliz mit Ober- und Untergewehr die junge
Judenschaft nach, und mit einer besonderen Wacht kam der Fuhrmann, so
mit uns den Herrn Kuratorem zum Garnisonskirchhof fuhr; der
Scharfrichter zu Pferde und seine Knechte mit dem Schinderkarren
beschlossen den Zug. So zogen wir wieder zum Ostertor hinaus, und als
wir auf dem Kirchhof ankamen, da war der Herr Polizeimeister schon
angelanget, und es marschierte ein Kommando Grenadiers unter einem
Oberoffizier heran. Da wurden drei Kreise um das Grab geschlossen, so
wir unserm Freund und Patron dem Kurator Jens Pedersen Gedelöcke gemacht
hatten; der erste von den Grenadiers, der zweite von den Wächtern mit
ihren Morgensternen, der dritte und Hauptkreis von denen Beamten und
Offizieren. Und wie alles in der Ordnung war, da wurde unter
Trommelschlag das Gewehr präsentiert und vom Polizeimeister
allergnädigste hohe königliche Resolution verlesen, wie daß Jens
Pedersen Gedelöcke, der, obwohl vorhero ein Christ, als ein Jude starb,
nicht würdig und wert sei, auf christlichem Gottesacker zu ruhen unter
denen christlichen Kriegesleuten, und daß er, Jens Pedersen Gedelöcke,
derowegen von den Ältesten der jüdischen Nation sollte wiederum
aufgegraben, nach ihrem eigenen Kirchhof transportieret und daselbsten
von neuem beigesetzt werden; -- mit Hilfe des Scharfrichters und seiner
Knechte, wann sie -- die Juden -- es nicht alleine verrichten könnten
und wollten. Da wurden die Schaufeln dem Rabbiner vor die Füße auf das
Grab geworfen, und wie es geschrieben stand, ist es geschehen, der Sarg
ist aufgewühlet und mit Hammer und Zange eröffnet, und sie haben mich
herzugerissen, den Leichnam zu erkennen, und unter Hohn und Spott,
Lachen und Geschrei, ist der Kurator fortgetragen bis zu dem jüdischen
Leichenwagen, so auf vieles Flehen und Bitten anstatt des
Schinderkarrens zugestanden war. Nun mußte der Rabbi als fürnehmster
Sorgmann hinter dem Wagen gehen, dann trieben sie paarweise das andere
verspottete Volk nach dem Alter, und die Miliz und die Polizeibeamten
schritten zur Seiten, auf daß keiner ausweiche, und die Wächter mit den
Morgensternen beschlossen den Kondukt. So ist mein teurer Herr zum
zweiten Male beigesetzet worden auf dem Judenkirchhof und sein Testament
kassieret. In böser Krankheit hab' ich im Spital gelegen, und als ich
des Bewußtseins wieder mächtig war, haben sie mich mit Schande aus der
Stadt gejaget, und in Christiania hab' ich wieder krank gelegen, und nun
bin ich hier --«

»Heule Er nicht, Bleichfelde,« sprach der Obriste Benediktus von Knorpp,
welchem die Pfeife längst ausgegangen war. »Wir wollen Ihn schon wieder
auf die Beine bringen; was aberst den Jens Pedersen betrifft, so möcht'
ich selbsten grad heraus heulen; denn niemalen sind vier so anständige
und wackere Gesellen, wie er und ich, und Er, Meister David, und Er,
Doktor Snorro, so heillos und miserabel abgetrumpfet und mit der Nasen
in den Sumpf gestoßen worden! O Gedelöcke, Gedelöcke; -- was saget Er,
Snorro?«

Ehe der isländische Doktor seine Opinion kundmachen konnte, wurde die
Tür aufgerissen, und wieder stand der Korporal Peter Pomperson da, griff
an den Hut und rapportierte --


VIII. Zum Beschluß:

»Vermelde dem Herrn Gouverneur zu Gnaden, daß wiederum ein Subjektum von
der Stadt heraufgestiegen ist. Kam mit dem Schoner Margareth von
Göthaborg, sitzet mit seinem Sack und mit Zähneklappen auf der Trepp und
nennet sich mit seinen Namen Henrich Israel, weiland der Juden Vorsinger
zu Kopenhagen.«

Dieses Mal tat der Doktor Snorro einen langen Pfiff; der Famulus David
Bleichfeld schnellte gleich einem Lachs aus seinen Kissen auf, und der
Obrist von Knorpp ächzte:

»Herein, herein, ich lasse alles über mich ergehen, und wo man mich in
meinen Sünden vergraben wird, ist mir auch einerlei: Marsch, Korporal,
bringe Er den Juden.«

Der Korporal trat ab, und nach einer Minute vernahm man draußen ein
Zerren und Schlurfen und eine weinerliche Stimme, so sich höchlichst
entschuldigte der großen Störung und Molesten halber; dann wurde die
Türe zum zweiten Male geöffnet, und von der kräftigen Faust Peter
Pompersons vorgestoßen, flog der Meister Henrich Israel in das Gemach:

»Gott Abrahams und Jakobs, welch ein Schicksal!«

Es vermag aber keine Feder das gegenseitige Anstarren zu schildern.

»Seid Ihr es? Seid Ihr's im Fleisch und Gebein, Meister Israel?« rief
der Exfamulus. »Wie sehet Ihr aus? Wer hat denn Euch also mitspielen
können? ^Eheu, eheu^, welch ein Schauspiel, welch eine Wehmut!«

»Meine eigene Mutter möcht' mich wohl nicht wiedererkennen; -- was haben
die Herren nötig, -- feine Seif', Haarband, den Zopf zu wickeln? Tausend
Lieblichkeiten; -- soll ich aufmachen den Kasten? soll ich aufbinden den
Sack?«

»Wer schicket Ihn dergestalt durch das Land?« fragte der Doktor
Skalholt. »Was ist aus seinem Vorsingertum worden? wer hat Ihn also in
den Klauen gehabt?«

Des armen Teufels Standhaftigkeit hielt nicht länger; in lautes Weinen
brach der wandernde Krämer Henrich Israel aus, und mit Händeringen rief
er:

»Bin ich noch länger Vorsinger an der Synagog' zu Kopenhagen, wie ich es
bin gewesen an die zwanzig Jahr? Nein, ich bin es nicht. Der arme Jüd
hungert und friert auf der Landstraß'; sie haben ihn ausgestoßen um den
Kurator Jens Pedersen Gedelöcke; sie haben ihm den Ehrenrock ausgezogen
und ihm den Bettelsack angehängt. Gott meiner Väter, weil er ein
Gelehrter im Tempel war und Bescheid wußt' im Gesetz und reden konnt'
darüber, haben sie ihn gestoßen vom Stuhl und seinem Gesang ein Ende
gemachet --«

»Hoho, ich riech's, ich riech's,« rief der Kommandant, »da haben wir das
Schwanzende! Auf Ihn, Henrich Israel, ist's zu allerletzten ausgegangen,
und weilen er mit dem Kurator den Mosen und die Propheten traktieret und
ihm vorgesungen hat, hat seine Nation Ihm den Greuel in den Schuh
geschoben, und ist über Ihn hergefallen mit den Fingernägeln! Denn
sintemalen nun der Jens begraben lieget auf der Jüden Kirchhof --«

»Lieget er begraben auf der Jüden Kirchhof?« schrie der Meister Israel
im höchsten und kläglichsten Diskant. »Mit nichten lieget er auf der
Jüden Kirchhof! Auf dem freien Felde liegt er, und das Vieh weidet über
seinem Grabe.«

Der Exfamulus hatte seine Bettdecke von sich geschleudert und stand mit
den nackten Füßen auf dem Boden; der Obriste Benediktus von Knorpp hatte
seine tönerne Pfeife an die Wand geworfen und hielt den Exvorsinger an
der Gurgel; der isländische Doktor Snorro Skalholt aber -- griff ruhig
nach dem Krug Schiedammer und sprach mit Gelassenheit:

»^Simplex sigillum veri^, sagte mein Freund, Herr Hermann Boerhavius zu
Leyden; verzähle Er weiter, Monsieur Israel.«

Mit einem tiefen Seufzer hatte der Obrist die Kehle des unglücklichen
Hebräers losgelassen und war kraftlos auf den nächsten Stuhl gefallen;
der Famulus des weiland Kurators Jens Pedersen Gedelöcke hatte die Füße
von den kalten Platten wieder in die Höhe und die Decke über sich
gezogen; der Exvorsinger von Kopenhagen sprach mit Zittern weiter:

»Bin ich nicht gekommen deshalb über Fels und Wasser, durch die Wüste
und den Wald, zu sagen, wie es ausgegangen ist mit dem Herrn Kuratore?
Mein, wie konnten sie ihn lassen liegen unter ihren Vätern, da er doch
nicht ein Jüd war, sondern ein christlicher Mann, wie es keinen bessern
gab im Königreich Dänemark und Norwegen?! Wohl haben sie mich
aufgegriffen, um daß ich den Spott über sie gebracht hätt', und sind
über mir zu Gericht gesessen, weilen mich der Verstorbene für seinen
Freund hielt und mit mir das Gesetz und die Zeremonien beredete. Es war
ein groß Wehklagen und Wimmern in unserm Volk ob der Unreinigkeit, so
auf es geleget war; und alt und jung hat im Sack und in der Asche
gesessen bei Tag und Nacht und zum Herrn geflehet, wie die Väter vordem
fleheten gegen den Antiochus, gegen Assyria und Babylon, gegen den König
aus dem Land Chitim und die Stadt Rom. Und der Gott Abrahams hat den
Jammer angesehen und sein Volk erlöset aus der Schmach um hundert
Dukaten, die hat man erleget an den Konvent, so auch das Seidenhaus
genennet ist. Ist um solche hundert Dukaten eine neue Resolution
ergangen, des Sinnes, daß, weilen auch die Jüden des weiland Kuratoris
Jens Pedersen Gedelöcken Leichnam nicht wollten, sie ihn zum zweiten Mal
wieder aufgraben dörften und zum dritten Mal ihn beisetzen zweihundert
Schritte von ihrem Totenacker auf dem allgemeinen Feld. Haben die
Rabbiner und Ältesten mich herfürgezogen aus dem Winkel und mir die
Schaufeln auf die Schulter geleget und mich hingeführet zu dem Ort der
Unreinigkeit; da hab' ich mit Tränen die steinichte Erd aufgegraben, und
mit Stricken ist der vermoderte Sarg aufgezogen und dann zum dritten Mal
verscharret. Da hat die Stadt wiederum ihr Gaudium gehabt; ich aber bin
mit Tränen hinausgegangen aus der Gemeinde, und sie haben mir
nachgespieen in das Elend. Ich bin ausgestoßen worden aus der
Gemeinschaft meines Volkes; wenn ich läge, wo der Herr Kurator lieget,
so würde es besser um mich bestellet sein.«

»Hat einer hierzu noch irgend etwas zu sagen?« rief der Doktor Snorro
Skalholt, und als niemand den Mund auftat, sprach er selber:

»Wenn ich in Bedacht nehme, wie alt der Mensch werden kann, ohne
aufzuhören, ein Esel zu sein, so möchte ich mir selber zu einem Greuel
werden. Da bin ich jung geworden zu Reikiawik im alten, klugen Island,
und war auch meine Frau Mutter eine merkwürdig gescheite Frau. Da hab'
ich studieret mit dem weltberühmten Boerhavius zu Leyden auf der
glorreichsten Universität, und sie haben mir ins Testimonium
geschrieben, daß es nichts Geringes sei um mein Ingenium, hab' mir auch
sonsten zu Paris, Bologna und in Teutschland mit Finessen, Schlauheit
und guter Kapazität fortgeholfen; bin mit offenem Aug' an die dreißig
Jahr hinter diesem hier gegenwärtigen Herrn Benediktus von Knorpp, ^pro
tempore^ Gouverneur von Friedrichshall, hergezogen, einerlei ob zur
Viktoria oder Retirade. Hab' mir fortgeholfen bis zu dem heutigen Tage,
sintemalen ich mich immer ans Messer gehalten hab' und niemalen an die
Fiduz auf die Menschheit. O Jens Pedersen Gedelöcke, wie hat die
Narrheit dem Snorro Skalholt das Bein gestellet! Pardauz, da stolpert
der Tropf über deinen Leichnam und schlägt hin auf die kluge Nase, daß
es krachet. Ja, der kluge, kluge Snorro Skalholt, dem Mynheer van der
Tromp und ganz Holland nicht zu viel waren, wie hat er sich durch Ihn
und für Ihn übertölpeln lassen, Herr Gedelöcke! O Kommandante, wie sind
sie über uns gekommen, Christen und Juden, der Herr Hieronymus Moekel
wie Meister Jakob Jakobson, der Oberrabbiner! Pfui, Pfui, das ist noch
siebenmal schlimmer denn die Bataille bei Helsingborg, wo wir so wacker
vor dem Stenbock liefen; -- was saget Er jetzo zu diesem stillen Winkel
hinter den Leuten, Obrister von Knorpp? Hat Er Lust, seine fürwitzige
Nase noch einmal hinauszuschieben in die Welt nach solcher Blamage?«

»Tornea und Wardoehuus wären mir lieber!« stöhnte der Gouverneur von
Friedrichshall. »O Jens, Jens, o Jens Pedersen Gedelöcke, du magst wohl
lachen da drüben; aber unsereinem wird's doch schwarz vor den Augen, und
wer nicht rabiat wird, wie der alte Benedikt Knorpp, der setzet sich in
die Jammerecke wie dort der David, oder ziehet mit Winseln durch das
Land, wie der dort mit dem Bettelsack. Holla, an die Gewehre; auf Schloß
Friedrichsstein bin ich Gouverneur, und wer sich hinter mich stellet,
der soll fürs erste fein sicher stehen. O Gedelöcke, Gedelöcke, es war
doch ein lustiger Sommertag in Rosenborg-Have; -- rücke Er an den Tisch,
Monsieur Henrich Israel, stelle Er den Stock hinter den Ofen; -- o Jens
Pedersen Gedelöcke, wer lange lebt, kann vieles erleben; schiebe Er den
Krug herzu, Meister Snorro, die Welt will einmal Fangball spielen, und
wir können's nicht hindern; morgen geb' ich's ihm ^manu propria^
schriftlich, daß er mit meinem abgelegten Pelz nach Seiner Kunst und
Begierde anfangen mag, was Ihm beliebet!«

Hierauf sah der isländische Feldscherer Snorro Skalholt zum ersten Mal
in dieser Historie aus wie ein Mensch; und mit sonderbarer
Vergnüglichkeit schmunzelnd sprach er:

»Kommandante, da hat er doch endlich einmal einen verständigen Einfall!
Hätt's Ihme fast nicht mehr zugetrauet.«




Anmerkungen zur Transkription


Der Originaltext ist in Fraktur gesetzt. Hervorhebungen, die im
Original g e s p e r r t sind, wurden mit Unterstrichen wie _hier_
gekennzeichnet. Fremdsprachige Textstellen, die im Original in Antiqua
gesetzt sind, wurden ^so^ markiert.

Einfache Anführungszeichen wurden durch ">" und "<" ersetzt.

Offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert wie hier aufgeführt
(vorher/nachher):

   [S. 15]:
   ... Baedecker, daß in Hallstadt weder Pferd noch- ...
   ... Baedecker, daß in Hallstadt weder Pferd noch ...

   [S. 18]:
   ... und tränenvolle Mittelung machte, wie genannter ...
   ... und tränenvolle Mitteilung machte, wie genannter ...

   [S. 25]:
   ... Die Kochen schwimmen nicht fort, und ich kann warten. ...
   ... Die Knochen schwimmen nicht fort, und ich kann warten. ...

   [S. 27]:
   ... einander vor, und der Profsseor offenbarte eine neue ...
   ... einander vor, und der Professor offenbarte eine neue ...

   [S. 28]:
   ... wechselten?! seufzte Zuckriegel. »Sie können sich ...
   ... wechselten?!« seufzte Zuckriegel. »Sie können sich ...

   [S. 31]:
   ... Auch mich nicht; ich flehe inständigst darum!« sagte ...
   ... »Auch mich nicht; ich flehe inständigst darum!« sagte ...

   [S. 42]:
   ... Don Quixote, , daß ich mich im Lager des Agramant ...
   ... Don Quixote, daß ich mich im Lager des Agramant ...

   [S. 50]:
   ... Um neun Uhr wolllte man aufbrechen zu diesem ...
   ... Um neun Uhr wollte man aufbrechen zu diesem ...

   [S. 58]:
   ... ab -- halten Sie ihre Aufmerksakeit nur einen kurzen ...
   ... ab -- halten Sie ihre Aufmerksamkeit nur einen kurzen ...

   [S. 63]:
   ... Maid schug den Deckel des Kastens zurück, mit ...
   ... Maid schlug den Deckel des Kastens zurück, mit ...

   [S. 87]:
   ... uns sodann ihre treffliche Opinion mitteilen. ...
   ... uns sodann ihre treffliche Opinion mitteilen.« ...

   [S. 96]:
   ... Paraphrasen, Noten und Zitaten. Da er ein recht gegelehrter ...
   ... Paraphrasen, Noten und Zitaten. Da er ein recht gelehrter ...

   [S. 101]:
   ... kauerten verschüchtert um den Küchenherd, und Madam ...
   ... kauerten verschüchtert um den Küchenherd, und Madame ...

   [S. 104]:
   ... »Herr Kuratore,« sprach der Famulus; ich liebe ...
   ... »Herr Kuratore,« sprach der Famulus; »ich liebe ...

   [S. 107]:
   ... 1731 sein Wort war, und ging mit dem Gefühl, als ...
   ... 1731 sein Wort wahr, und ging mit dem Gefühl, als ...

   [S. 115]:
   ... »Weiß Er, David Bleichfeld, was er mir hier schreibt? ...
   ... »Weiß Er, David Bleichfeld, was er mir hier schreibt?« ...

   [S. 118]:
   ... »Gut Freund, Meister Snorro Skaholt! Steige Er ...
   ... »Gut Freund, Meister Snorro Skalholt! Steige Er ...

   [S. 118]:
   ... »Herunter mir dir, Island!« schrie der Kriegsmann. ...
   ... »Herunter mit dir, Island!« schrie der Kriegsmann. ...

   [S. 119]:
   ... in die Schlachtlinie gerückt, und Er, Skaholt, lasse Er ...
   ... in die Schlachtlinie gerückt, und Er, Skalholt, lasse Er ...






End of Project Gutenberg's Keltische Knochen/Gedelöcke, by Wilhelm Raabe

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- You provide, in accordance with paragraph 1.F.3, a full refund of any
     money paid for a work or a replacement copy, if a defect in the
     electronic work is discovered and reported to you within 90 days
     of receipt of the work.

- You comply with all other terms of this agreement for free
     distribution of Project Gutenberg-tm works.

1.E.9.  If you wish to charge a fee or distribute a Project Gutenberg-tm
electronic work or group of works on different terms than are set
forth in this agreement, you must obtain permission in writing from
both the Project Gutenberg Literary Archive Foundation and Michael
Hart, the owner of the Project Gutenberg-tm trademark.  Contact the
Foundation as set forth in Section 3 below.

1.F.

1.F.1.  Project Gutenberg volunteers and employees expend considerable
effort to identify, do copyright research on, transcribe and proofread
public domain works in creating the Project Gutenberg-tm
collection.  Despite these efforts, Project Gutenberg-tm electronic
works, and the medium on which they may be stored, may contain
"Defects," such as, but not limited to, incomplete, inaccurate or
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property infringement, a defective or damaged disk or other medium, a
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1.F.2.  LIMITED WARRANTY, DISCLAIMER OF DAMAGES - Except for the "Right
of Replacement or Refund" described in paragraph 1.F.3, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation, the owner of the Project
Gutenberg-tm trademark, and any other party distributing a Project
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LIABLE TO YOU FOR ACTUAL, DIRECT, INDIRECT, CONSEQUENTIAL, PUNITIVE OR
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1.F.4.  Except for the limited right of replacement or refund set forth
in paragraph 1.F.3, this work is provided to you 'AS-IS' WITH NO OTHER
WARRANTIES OF ANY KIND, EXPRESS OR IMPLIED, INCLUDING BUT NOT LIMITED TO
WARRANTIES OF MERCHANTABILITY OR FITNESS FOR ANY PURPOSE.

1.F.5.  Some states do not allow disclaimers of certain implied
warranties or the exclusion or limitation of certain types of damages.
If any disclaimer or limitation set forth in this agreement violates the
law of the state applicable to this agreement, the agreement shall be
interpreted to make the maximum disclaimer or limitation permitted by
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provision of this agreement shall not void the remaining provisions.

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or cause to occur: (a) distribution of this or any Project Gutenberg-tm
work, (b) alteration, modification, or additions or deletions to any
Project Gutenberg-tm work, and (c) any Defect you cause.


Section  2.  Information about the Mission of Project Gutenberg-tm

Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
electronic works in formats readable by the widest variety of computers
including obsolete, old, middle-aged and new computers.  It exists
because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from
people in all walks of life.

Volunteers and financial support to provide volunteers with the
assistance they need, are critical to reaching Project Gutenberg-tm's
goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
remain freely available for generations to come.  In 2001, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations.
To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4
and the Foundation web page at http://www.pglaf.org.


Section 3.  Information about the Project Gutenberg Literary Archive
Foundation

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
Revenue Service.  The Foundation's EIN or federal tax identification
number is 64-6221541.  Its 501(c)(3) letter is posted at
http://pglaf.org/fundraising.  Contributions to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent
permitted by U.S. federal laws and your state's laws.

The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S.
Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered
throughout numerous locations.  Its business office is located at
809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887, email
[email protected].  Email contact links and up to date contact
information can be found at the Foundation's web site and official
page at http://pglaf.org

For additional contact information:
     Dr. Gregory B. Newby
     Chief Executive and Director
     [email protected]


Section 4.  Information about Donations to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
spread public support and donations to carry out its mission of
increasing the number of public domain and licensed works that can be
freely distributed in machine readable form accessible by the widest
array of equipment including outdated equipment.  Many small donations
($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
status with the IRS.

The Foundation is committed to complying with the laws regulating
charities and charitable donations in all 50 states of the United
States.  Compliance requirements are not uniform and it takes a
considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
with these requirements.  We do not solicit donations in locations
where we have not received written confirmation of compliance.  To
SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any
particular state visit http://pglaf.org

While we cannot and do not solicit contributions from states where we
have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
against accepting unsolicited donations from donors in such states who
approach us with offers to donate.

International donations are gratefully accepted, but we cannot make
any statements concerning tax treatment of donations received from
outside the United States.  U.S. laws alone swamp our small staff.

Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
methods and addresses.  Donations are accepted in a number of other
ways including checks, online payments and credit card donations.
To donate, please visit: http://pglaf.org/donate


Section 5.  General Information About Project Gutenberg-tm electronic
works.

Professor Michael S. Hart is the originator of the Project Gutenberg-tm
concept of a library of electronic works that could be freely shared
with anyone.  For thirty years, he produced and distributed Project
Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support.


Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S.
unless a copyright notice is included.  Thus, we do not necessarily
keep eBooks in compliance with any particular paper edition.


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