Die Chronik der Sperlingsgasse

By Wilhelm Raabe

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Title: Die Chronik der Sperlingsgasse

Author: Wilhelm Raabe

Illustrator: Ernst Bosch

Release Date: July 25, 2014 [EBook #46411]

Language: German


*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE CHRONIK DER SPERLINGSGASSE ***




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                         Grote'sche Sammlung
                                 von
                Werken zeitgenössischer Schriftsteller
                             Neunter Band
            Wilhelm Raabe, Die Chronik der Sperlingsgasse




                           Die Chronik der
                            Sperlingsgasse
                                 von
                            Wilhelm Raabe


                             Neue Ausgabe

        Mit Illustrationen von _Ernst Bosch_ und einem Bildnis
                  des Dichters von _Hanns Fechner_.

                             155. Auflage

                  G. Grote'sche Verlagsbuchhandlung
                             Berlin 1922

                      Alle Rechte, besonders das
                      der Übersetzung in fremde
                        Sprachen, vorbehalten.
                      Druck von Fischer & Wittig
                             in Leipzig.

                                 Die
                      Chronik der Sperlingsgasse




                              ^Pro domo^
                     Vorrede zur dritten Auflage


Wenn es gewittert, verkriechen sich die Vögel unter dem Busch. Das wäre
fast als ein gutes und warnendes Beispiel auch für dieses kleine Buch zu
nehmen; es will sich aber nicht warnen lassen, und vielleicht darf es
auch nicht.

Als vor zehn Jahren hinten in der Türkei die Völker aufeinanderschlugen,
da regte es zum ersten Male seine Flügel und flatterte unbesorgt aus,
wie finster auch der Himmel sein mochte. Mancherlei Wechsel der Zeit
erfuhr es, und es wäre kein Wunder, wenn so viele fallende Trümmer es
längst mit tausend Genossen unter berghohem Schutt begraben hätten; aber
es fand seinen Weg, kam zu vielen Leuten, und sie nahmen es gut auf mit
allen seinen Fehlern und Wunderlichkeiten.

Wenn es aber auch nur unter _einem_ Dach eine trübe Stunde verscheucht,
eine schwere Stunde sanfter gemacht hätte, wie Herr Hartmann von der Aue
sagt; wenn es nur ein Lächeln, nur eine Träne hervorgerufen hätte, so
wäre sein Wirken und Sein nicht vergeblich gewesen.

Nun hängen wieder die Wolken drohend herab; der Krieg schlägt mit
gewappneter Faust dröhnend an die Pforten unseres eigenen Volkes, und es
ist niemand, so hoch oder niedrig ihn das Leben gestellt habe, der sagen
kann, welch ein Schicksal ihm die nächste Stunde bringen werde. Es steht
zu keiner Zeit ein Glück so fest, daß es nicht von einem Windhauch oder
dem Hauch eines Kindes umgestürzt werden könnte; wieviel weniger jetzt!
In solcher Zeit ständen die Menschen am liebsten mit leeren, müßigen
Händen, horchend und wartend; aber das ist nicht das Rechte. Es soll
niemand sein Handwerksgerät, die Waffen, mit welchen er das Leben
bezwingt, in dumpfer Betäubung fallen lassen. Ein Geschlecht gebe seine
Arbeit an das folgende ab, und, gottlob, jener Epochen, in welchen die
Menschheit ihre Mühen ganz von neuem aufnehmen mußte, weil die Sturmflut
alles vorige fortgespült hatte, sind wenige.

Auch in diesem Sinne ist nichts zu hoch und nichts zu gering, und in
diesem Sinne finden auch diese Blätter die Berechtigung, ihren Flug
durch die stürmische Welt abermals vertrauensvoll zu beginnen. Mögen sie
neue Freunde zu den alten gewonnen haben, wenn wieder zehn Jahre ihres
flüchtigen Daseins dahingegangen sind!

                                         _Stuttgart_, im Februar 1864.

                                                      #Der Verfasser.#




                                                      Am 15. November.


Es ist eigentlich eine böse Zeit! Das Lachen ist teuer geworden in der
Welt, Stirnrunzeln und Seufzen gar wohlfeil. Auf der Ferne liegen blutig
dunkel die Donnerwolken des Krieges, und über die Nähe haben Krankheit,
Hunger und Not ihren unheimlichen Schleier gelegt; -- es ist eine böse
Zeit! Dazu ist's Herbst, trauriger, melancholischer Herbst, und ein
feiner kalter Vorwinterregen rieselt schon wochenlang herab auf die
große Stadt; es ist eine böse Zeit! Die Menschen haben lange Gesichter
und schwere Herzen, und wenn sich zwei Bekannte begegnen, zucken sie die
Achsel und eilen fast ohne Gruß aneinander vorüber; -- es ist eine böse
Zeit! -- Mißmutig hatte ich die Zeitung weggeworfen, eine frische Pfeife
gestopft und ein Buch herabgenommen und aufgeschlagen. Es war ein
einfaches altes Buch, in welches Meister Daniel Chodowiecki gar hübsche
Bilder gezeichnet hatte: ^Asmus omnia sua secum portans^, der prächtige
Wandsbecker Bote des alten Matthias Claudius, weiland ^Homme de lettres^
zu Wandsbeck, und recht ein Tag war's, darin zu blättern. Der Regen, das
Brummen und Poltern des Feuers im Ofen, der Widerschein desselben auf
dem Boden und an den Wänden, -- alles trug dazu bei, mich die Welt da
draußen ganz vergessen zu machen und mich ganz in die Welt von Herz und
Gemüt auf den Blättern vor mir zu versenken.

Aufs Geratewohl schlug ich eine Seite auf: Sieh! -- da ist der
herbstliche Garten zu Wandsbeck. Es ist ebenso nebelig und trübe wie
heute; leise sinken die gelben Blätter zur Erde, als bräche eine
unsichtbare Hand sie ab, eins nach dem andern. Wer kommt da den Gang
herauf im geblümten bunten Schlafrock, die weiße Zipfelmütze über dem
Ohr? -- Er ist's -- Matthias Claudius, der wackere Asmus selbst! --
Bedächtiglich schreitet er einher, von Zeit zu Zeit stehenbleibend;
jetzt ein welkes Blatt aufnehmend und das zierliche Geäder desselben
betrachtend; jetzt in die nebelige Luft hinaufschauend. Er scheint in
Gedanken versunken zu sein. Denkt er vielleicht an den Vetter oder den
Freund Hain, an den Invaliden Görgel mit der Pudelmütze und dem neuen
Stelzbein; denkt er an die neue Kanone oder an das Ohr des schuftigen
Hofmarschalls Albiboghoi? Wer weiß! -- Sieh! wieder bleibt er stehen.
Was fällt ihm ein?! Lustig wirft er die weiße Zipfelmütze in die Luft
und tut einen kleinen Sprung: ein großer Gedanke ist ihm »aufs Herz
geschossen« -- das große neue Fest _der Herbstling_ ist erfunden -- der
Herbstling, so anmutig zu feiern, wenn der _erste Schnee fällt_, mit
Kinderjubel und Bratäpfeln und Lächeln auf den Gesichtern von jung und
alt! --

Wenn der erste Schnee fällt -- -- -- wie ich in diesem Augenblick wieder
einmal einen Blick zur grauen Himmelsdecke hinaufwerfe, da -- kommt er
herunter -- wirklich herunter, _der erste Schnee_!

Schnee! Schnee! der erste Schnee! --

In großen wäßrigen Flocken, dem Regen untermischt, schlägt er an die
Scheiben, grüßend wie ein alter Bekannter, der aus weiter Ferne nach
langer Abwesenheit zurückkommt. Schnell springe ich auf und ans Fenster.
Welche Veränderung da draußen! Die Leute, die eben noch mürrisch und
unzufrieden mit sich und der Welt umherschlichen, sehen jetzt ganz
anders aus. Gegen den Regen suchte jeder sich durch Mäntel und Schirme
auf alle Weise zu schützen, dem Schnee aber kehrt man lustig und
verwegen das Gesicht zu.

Der erste Schnee! der erste Schnee!

An den Fenstern erscheinen lachende Kindergesichter, kleine Händchen
klatschen fröhlich zusammen: welche Gedanken an weiße Dächer und grüne
funkelnde Tannenbäume! Wie phantastisch die Sperlingsgasse in dem
wirbelnden weißen Gestöber aussieht! Wie die wasserholenden
Dienstmädchen am Brunnen kichern! Der fatale Wind! --

»Gehorsamster Diener, Herr Professor Niepeguk! Auch im ersten Schnee?«

»Ärztliche Verordnung!« brummt der Weise und lächelt herauf zu mir, so
gut es Würde und Hypochondrie erlauben.

Auf der Sophienkirche schlägt's jetzt! -- Erst vier? und schon fast
Nacht! -- »Vier!« wiederholen die Glocken dumpf über die ganze Stadt.
Jetzt sind die Schulen zu Ende! Hurra -- hinaus in den beginnenden
Winter: die Buben wild und unbändig, die Mädchen ängstlich und
trippelnd, dicht sich an den Häuserwänden hinwindend.

Hier und dort blitzt nun schon in einem dunkeln Laden ein Licht auf,
immer geisterhafter wird das Aussehen der Sperlingsgasse.

Da kommt der Lehrer selbst, seine Bücher unter dem Arm; aufmerksam
betrachtet er das Zerschmelzen einer Flocke auf seinem fadenscheinigen
schwarzen Rockärmel. Jetzt ist die Zeit für einen Märchenerzähler, für
einen Dichter. -- Ganz aufgeregt schritt ich hin und her; vergessen war
die böse Zeit; auch mir war, wie weiland dem ehrlichen Matthias, ein
großer Gedanke »aufs Herz geschossen«. »Ich führe ihn aus, ich führe ihn
aus!« brummte ich vor mich hin, während ich auf und ab lief; wie
verwundert mich auch alle meine Quartanten und Folianten
von den Büchergestellen anglotzten, wie spöttisch auch das
Allongeperückengesicht auf dem Titelblatt der dort aufgeschlagenen
Schwarte hergrinzte!

»Ein Bilderbuch der Sperlingsgasse!«

»Eine _Chronik der Sperlingsgasse_!«

Ein Kinderkopf drückt sich drüben im Hause gegen die Scheibe, und der
Lampenschein dahinter wirft den runden Schatten über die Gasse in mein
dunkles Fenster und über die Büchergestelle an der entgegengesetzten
Wand. Ein gutes, ein glückliches Omen! Grinzt nur, ihr Meister in Folio
und Quarto, ihr Aldinen und Elzeviere! Ein Bilderbuch der
Sperlingsgasse; eine Chronik der Sperlingsgasse! Ich mußte mich wirklich
setzen, so arg war mir die Aufregung in die alten Beine gefahren, und
benutzte das gleich, um ein Buch Papier zu falzen für meinen großen
Gedanken und einen letzten Blick hinauszuwerfen in den ersten Schnee.
Bah! -- Wo war er geblieben? Wie ein guter Diener war er, nachdem er die
Ankunft seines Meisters, des gestrengen Herrn Winters verkündet hatte,
zurückgekehrt, ohne eine Spur zu hinterlassen.

Ich bin ein einsamer alter Mann geworden! Die bunten, ewig wechselnden,
ewig neuen Bilder dieses großen Bilderbuches, _Welt_ genannt, werden
meinen alten Augen dunkler und dunkler; mehr und mehr verschwimmen sie,
mehr und mehr fließen sie ineinander. Ich bin mit meinem Leben da
angelangt, wo, wie in jenem Übergang vom Wachen zum Schlaf, die
Erlebnisse des Tages sich noch dumpf im Gehirn des Müden kreuzen, wo
aber bereits die dunkle, traum- und geistervolle Nacht über alles, Gutes
und Böses, ihren Schleier breitet. Ich bin alt und müde; es ist die
Zeit, wo die Erinnerung an die Stelle der Hoffnung tritt.

Schaue ich auf aus meinen Träumen, so sehe ich zwar dasselbe Lächeln,
dasselbe Schmerzenszucken auf den Menschengesichtern um mich her, wie
vor langen blühenderen Jahren, aber wenn auch Freude und Leid dieselben
geblieben sind auf der alten Mutter Erde: die Gesichter selbst sind mir
fremd -- ich bin allein! -- Allein -- und doch nicht allein. Aus der
dämmerigen Nacht des Vergessens taucht es auf und klingt es; Gestalten,
Töne, Stimmen, die ich kannte, die ich vernahm, die ich einst gern sah
und hörte in vergangenen bösen und guten Tagen, werden wieder wach und
lebendig; tote, begrabene Frühlinge fangen wieder an zu grünen und zu
blühen; vergessener Kindermärchen entsinne ich mich; ich werde jung und
-- fahre auf und -- erwache!

Versunken ist dann die Welt der Erinnerung, mich fröstelt in der kalten
traurigen Gegenwart, drückender fühle ich meine Einsamkeit, und weder
meine Folianten, noch meine andern mühsam aufgestapelten gelehrten
Schätze vermögen es, die aufsteigenden Kobolde und Quälgeister des
Greisenalters zu verscheuchen. Sie zu bannen schreibe ich die folgenden
Blätter, und ich schreibe, wie das Alter schwatzt. Für einen Freund will
ich diese Bogen ansehen, für einen Freund, mit dem ich plaudere, der
Geduld mit mir hat und nicht spöttelt über Wiederholungen -- ach, das
Alter wiederholt ja so gern -- der nicht zum Aufbruch treibt, wo die
vertrocknete Blume irgend einer süßen Erinnerung mich fesselt, der nicht
zum Bleiben nötigt, wo ein trübes Angedenken unter der Asche der
Vergessenheit noch leise fortglimmt. Eine _Chronik_ aber nenne ich diese
Bogen, weil ihr Inhalt, was den Zusammenhang betrifft, gar sehr jenen
alten naiven Aufzeichnungen gleichen wird, welche in bunter Folge die
Begebenheiten aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erzählen; die
jetzt eine Schlacht mitliefern, jetzt das Erscheinen eines wundersamen
Himmelszeichens beobachten, die bald über den nahen Weltuntergang
predigen, bald wieder sich über ein Stachelschwein, welches die deutsche
Kaiserin im Klostergarten vorführen läßt, wundern und freuen. Und wie
die alten Mönche hier und da zwischen die Pergamentblätter ihrer
Historien und Meßbücher hübsche, farbige, zierlich ausgeschnittene
Heiligenbilder legten, so will auch ich ähnliche Blätter einflechten und
durch die eintönigen farblosen Aufzeichnungen meiner alten Tage
frischere blütenvollere Ranken schlingen.

Ich, der Greis -- der zweiten Kindheit nahe, will von einem Kinde
erzählen, dessen Leben durch das meinige ging wie ein Sonnenstrahl, den
an einem Regentage Wind und Wolken über die Fluren jagen; der im
Vorbeigleiten Blumen und Steine küßt, und in derselben Minute das
glückliche Gesicht der Mutter über der Wiege, die heiße Stirn des
Denkers über seinem Buche und die bleichen Züge des Sterbenden streifen
kann. Ich schreibe keinen Roman und kann mich wenig um den
schriftstellerischen Kontrapunkt bekümmern; was mir die Vergangenheit
gebracht hat, was mir die Gegenwart gibt, will ich hier, in hübsche
Rahmen gefaßt, zusammenheften, und bin ich müde -- nun so schlage ich
dieses Heft zu, wühle weiter in meiner schweinsledernen Gelehrsamkeit
und kompiliere lustig fort an meinem wichtigen Werke ^De vanitate
hominum^, einem ausnehmend -- dicken Gegenstande.




                                                      Am 20. November.


Ich liebe in großen Städten diese ältern Stadtteile mit ihren engen,
krummen, dunkeln Gassen, in welche der Sonnenschein nur verstohlen
hineinzublicken wagt; ich liebe sie mit ihren Giebelhäusern und
wundersamen Dachtraufen, mit ihren alten Kartaunen und Feldschlangen,
welche man als Prellsteine an die Ecken gesetzt hat. Ich liebe diesen
Mittelpunkt einer vergangenen Zeit, um welchen sich ein neues Leben in
liniengraden, parademäßig aufmarschierten Straßen und Plätzen angesetzt
hat, und nie kann ich um die Ecke meiner Sperlingsgasse biegen, ohne den
alten Geschützlauf mit der Jahreszahl 1589, der dort lehnt, liebkosend
mit der Hand zu berühren. Selbst die Bewohner des ältern Stadtteils
scheinen noch ein originelleres, sonderbareres Völkchen zu sein, als die
Leute der modernen Viertel. Hier in diesen winkligen Gassen wohnt das
Volk des Leichtsinns dicht neben dem der Arbeit und des Ernstes, und der
zusammengedrängtere Verkehr reibt die Menschen in tolleren,
ergötzlicheren Szenen aneinander, als in den vornehmeren, aber auch
öderen Straßen. Hier gibt es noch die alten Patrizierhäuser, -- die
Geschlechter selbst sind freilich meistens lange dahin -- welche nach
einer Eigentümlichkeit ihrer Bauart, oder sonst einem Wahrzeichen unter
irgend einer naiven merkwürdigen Benennung im Munde des Volkes
fortleben. Hier sind die dunkeln, verrauchten Kontore der alten
gewichtigen Handelsfirmen, hier ist das wahre Reich der Keller- und
Dachwohnungen. Die Dämmerung, die Nacht produzieren hier wundersamere
Beleuchtungen durch Lampenlicht und Mondschein, seltsamere Töne als
anderswo. Das Klirren und Ächzen der verrosteten Wetterfahnen, das
Klappern des Windes mit den Dachziegeln, das Weinen der Kinder, das
Miauen der Katzen, das Gekeif der Weiber, wo klingt es passender -- man
möchte sagen dem Ort angemessener, als hier in diesen engen Gassen,
zwischen diesen hohen Häusern, wo jeder Winkel, jede Ecke, jeder
Vorsprung den Ton auffängt, bricht und verändert zurückwirft! --

Horch, wie in dem Augenblick, wo ich dieses niederschreibe, drunten in
jenem gewölbten Torwege die Drehorgel beginnt; wie sie ihre klagenden,
an diesem Ort wahrhaftig melodischen Tonwogen über das dumpfe Murren und
Rollen der Arbeit hinwälzt! -- Die Stimme Gottes spricht zwar
vernehmlich genug im Rauschen des Windes, im Brausen der Wellen und im
Donner; aber nicht vernehmlicher als in diesen unbestimmten Tönen,
welche das Getriebe der Menschenwelt hervorbringt. Ich behaupte, ein
angehender Dichter oder Maler -- ein Musiker, das ist freilich eine
andre Sache -- dürfe nirgends anders wohnen als hier! Und fragst du
auch, wo die frischesten, originellsten Schöpfungen in allen Künsten
entstanden sind, so wird meistens die Antwort sein: in einer
_Dachstube_! -- In einer Dachstube im Wine-office Court war es, wo
Oliver Goldsmith, von seiner Wirtin wegen der rückständigen Miete
eingesperrt, dem Dr. Johnson unter alten Papieren, abgetragenen Röcken,
geleerten Madeiraflaschen und Plunder aller Art ein besudeltes
Manuskript hervorsuchte mit der Überschrift: Der Landprediger von
Wakefield.

In einer Dachstube schrieb Jean Jacques Rousseau seine glühendsten,
erschütterndsten Bücher. In einer Dachstube lernte Jean Paul den
Armenadvokat Siebenkäs zeichnen und das Schulmeisterlein Wuz und das
Leben Fibels!

                   *       *       *       *       *

Die Sperlingsgasse ist ein kurzer enger Durchgang, welcher die
Kronenstraße mit einem Ufer des Flusses verknüpft, der in vielen Armen
und Kanälen die große Stadt durchwindet. Sie ist bevölkert und lebendig
genug, einen mit nervösem Kopfweh Behafteten wahnsinnig zu machen und
ihn im Irrenhause enden zu lassen; mir aber ist sie seit vielen Jahren
eine unschätzbare Bühne des Weltlebens, wo Krieg und Friede, Elend und
Glück, Hunger und Überfluß, alle Antinomien des Daseins sich
widerspiegeln.

In der Natur liegt alles ins Unendliche auseinander, im Geist
konzentriert sich das Universum in einem Punkt, dozierte einst mein
alter Professor der Logik. Ich schrieb das damals zwar gewissenhaft nach
in meinem Heft, bekümmerte mich aber nicht viel um die Wahrheit dieses
Satzes. Damals war ich jung, und Marie, die niedliche kleine
Putzmacherin, wohnte mir gegenüber und nähte gewöhnlich am Fenster,
während ich, Kants Kritik der reinen Vernunft vor der Nase, die Augen --
nur bei ihr hatte. Sehr kurzsichtig und zu arm, mir für diese
Fensterstudien eine Brille, ein Fernglas oder einen Operngucker
zuzulegen, war ich in Verzweiflung. Ich begriff, was es heißt: Alles
liegt ins Unendliche auseinander.

Da stand ich eines schönen Nachmittags wie gewöhnlich am Fenster, die
Nase gegen die Scheibe drückend, und drüben unter Blumen, in einem
lustigen, hellen Sonnenstrahl, saß meine, in Wahrheit ^ombra adorata^.
Was hätte ich darum gegeben, zu wissen, ob sie herüberlächele!

Auf einmal fiel mein Blick auf eines jener kleinen Bläschen, die sich
oft in den Glasscheiben finden. Zufällig schaute ich hindurch, nach
meiner kleinen Putzmacherin, und -- ich begriff, daß das Universum sich
in einem Punkt konzentrieren könne.

So ist es auch mit diesem Traum- und Bilderbuch der Sperlingsgasse. Die
Bühne ist klein, der darauf Erscheinenden sind wenig, und doch können
sie eine Welt von Interesse in sich begreifen für den Schreiber, und
eine Welt von Langeweile für den Fremden, den Unberufenen, welchem
einmal diese Blätter in die Hände fallen sollten.




                                                      Am 30. November.


Der Regen schlägt leise an meine Scheiben. Was und wer der sonderbare
lange Gesell ist, der vorgestern da drüben in Nr. Elf eingezogen ist, in
jene Wohnung, wo auch ich einmal hauste, wo einst auch der Doktor Wimmer
sein Wesen trieb, hab ich noch nicht herausgebracht. -- Es ist recht
eine Zeit, zu träumen. Ich sitze, den Kopf auf die Hand gestützt, am
Fenster und lasse mich allmählich immer mehr einlullen von der monotonen
Musik des Regens da draußen, bis ich endlich der Gegenwart vollständig
entrückt bin. Ein Bild nach dem andern zieht wie in einer Laterna magica
an mir vorbei, verschwindend, wenn ich mich bestrebe, es festzuhalten.
O, es ist wahrlich nicht das, was mich am meisten fesselt und hinreißt,
was ich auf das Papier festbannen kann; ein ganz anderer Maler müßte ich
sein, um das zu vermögen.

Das verschlingt sich, um sich zu lösen; das verdichtet sich, um zu
verwehen; das leuchtet auf, um zu verfliegen, und jeder nächste
Augenblick bringt etwas Anderes. Oft ertappe ich mich auf Gedanken,
welche aufgeschrieben, kindisch, albern, trivial erscheinen würden, die
aber mir, dem alten Mann, in ihrem flüchtigen Vorübergehen so süß, so
heimlich, so beseligend sind, daß ich um keinen Preis mich ihnen
entreißen könnte.

Nur das Konkreteste vermag ich dann und wann festzuhalten, und diesmal
sind es Bilder aus meinem eigenen Leben, welche ich hier dem Papier
anvertraue.

                   *       *       *       *       *

Was ist das für eine kleine Stadt zwischen den grünen buchenbewachsenen
Bergen? Die roten Dächer schimmern in der Abendsonne; da und dort laufen
die Kornfelder an den Berghalden hinauf; aus einem Tal kommt rauschend
und plätschernd ein klarer Bach, der mitten durch die Stadt hüpft, einen
kleinen Teich bildet, bedeckt am Rande mit Binsen und gelben
Wasserlilien, und in einem andern Tal verschwindet. Ich kenne das alles;
ich kann die Bewohner der meisten Häuser mit Namen nennen; ich weiß, wie
es klingen wird, wenn man in dem spitzen schiefergedeckten Turm jener
hübschen alten Kirche anfangen wird zu läuten. Habe ich nicht oft genug
mich von den Glockenseilen hin und her schwingen lassen?

Das ist Ulfelden, die Stadt meiner Kindheit -- das ist meine Vaterstadt!

Und schau, dort oben in dem Garten, der sich von jenem zerbröckelnden,
noch stehenden Teil der Stadtmauer aus den Berg hinanzieht, gelagert,
unter einem blühenden Holunderstrauch, die drei Kinder. Da sitzt ein
kleines Mädchen mit großen glänzenden Augen, dem wilden Franz aus dem
Walde zuhörend. Franz Ralff, aufgewachsen im Wald und jetzt in der Zucht
bei dem Vater der kleinen Marie, dem strengen lateinischen Stadtrektor
Volkmann, erzählt, ein gewaltiges angebissenes Butterbrot in der Hand,
kauend und zugleich durch seinen eigenen Vortrag gerührt, eine seiner
wunderbaren Geschichten, die er aus der Waldeinsamkeit mitgebracht hat,
und mit denen er uns kleines Volk stets zum »Gruseln« brachte oder zu
bringen versuchte.

Und nun sieh da, im Grase ausgestreckt, da bin auch ich, der kleine Hans
Wachholder, der Sohn aus dem Pfarrhause; blinzelnd zu dem blauen Himmel
hinaufschauend und den kleinen weißen »Schäfchen« in der reinen Luft
nachträumend.

Die Glocken der heimkehrenden Herden erklingen zwischen den Bergen,
ringsumher summt und tönt unendliches Leben, im Gras, in den Bäumen, in
der Luft; und das Kinderherz versteht alles, es ist ja noch eins mit der
Natur, eins mit -- Gott!

Aber warum öffnet sich nicht dort unten die braune Tür, die aus dem
hübschen, vom Weinstock übersponnenen Hause mit den hellglänzenden
Fenstern in den Garten führt?

Wo ist der alte Mann mit den ehrwürdigen grauen Haaren, welcher da
allabendlich seine Blumen zu begießen pflegt?

Wo ist -- wo ist meine Mutter? Meine Mutter!

Keine freundliche Stimme antwortet! Ich selbst habe ja graue Haare.
Vater und Mutter schlummern lange in ihren vergessenen, eingesunkenen
Gräbern auf dem kleinen Stadtkirchhof zu Ulfelden. Jüngere Geschlechter
sind seitdem hinabgegangen.

Plötzlich verändert sich das sonnige, sommerliche Bild.

Da ist schon die große Stadt! Diesmal ist es nicht Frühling, nicht
blühender Sommer, sondern eine stürmische, dunkle Herbstnacht --
vielleicht wird eine ähnliche auf den heutigen Tag folgen. -- In dieser
Nacht sitzt hoch oben in einem kleinen, mehr drei- als viereckigen
Dachstübchen ein Student vor einem gewaltigen schweinsledernen
Folianten, über welchen er hinwegstarrt. Wo wandern seine Gedanken?
Draußen jagt der Wind die Wolken vor dem Monde her, rüttelt an den
Dachziegeln, schüttelt den zerlumpten Schlafrock, welchen der
erfinderische Musensohn, um sich und seine Studien ganz von der
Außenwelt abzusperren, vor dem Fensterkreuz festgenagelt hat -- kurz,
gebärdet sich so unbändig, wie nur ein Wind, der den Auftrag hat, das
letzte Laub von den Bäumen in Gärten und Wäldern zu reißen, sich
gebärden kann. Lange hat der Musensohn in tiefe Gedanken versunken
dagesessen; jetzt springt er plötzlich auf und dreht mir das Gesicht zu
-- -- -- das bin ich wieder: Johannes Wachholder, ein Student der
Philosophie in der großen Haupt- und Universitätsstadt. Sehr aufgeregt
scheint der Doppelgänger meiner Jugend zu sein; mit so gewaltigen
Schritten, als das enge, wunderlich ausstaffierte Gemach nur erlaubt,
rennt er auf und ab.

Plötzlich springt er auf das Fenster zu, reißt den improvisierten
Vorhang herunter und läßt einen prächtigen Mondstrahl, welcher in diesem
Augenblick durch die zerrissenen Wolken fällt, herein.

»Marie! Marie!« flüstert mein Schattenbild leise, die Arme gegen ein
schwach erleuchtetes Fenster drüben ausstreckend, gegen dessen
herabgelassene Gardine der kaum bemerkbare Schatten einer menschlichen
Gestalt fällt, und --

Es ist eine gefährliche Sache, in den Momenten ungewöhnlicher Aufregung
-- sei es Freude oder Schmerz, Haß oder Liebe -- sich dem klaren, weißen
Licht des Mondes auszusetzen. Das Volk sagt: Man wird dumm davon.
Wirklich, wunderliche Gedanken bringt dieser reine Schein mit sich;
allerlei tolles Zeug gewinnt Macht, sich des Geistes zu bemächtigen und
ihn unfähig zu machen, fürderhin gemütlich auf der ausgetretenen Straße
des Alltagslebens weiterzutraben. »Man wird dumm davon!« -- Zauberhafte
Aussichten in phantastische, nebelhafte Gründe öffnen sich zu beiden
Seiten; nie gehörte Stimmen werden wach, locken mit Sirenensang,
flüstern unwiderstehlich, winken dem Wanderer ab vom sicheren Wege, und
bald irrt der Bezauberte in den unentrinnbaren Armidengärten der Fee
Phantasie.

»Ich liebe Dich,« flüstert mein Schattenbild, »ich will Dich reich, ich
will Dich glücklich, ich will Dich berühmt machen, ich will« -- der
schreibende Greis kann jetzt nur lächeln -- »die Welt für Dich gewinnen,
Marie!«

Mehr noch flüstert mein Doppelgänger, die Stirn an die Scheiben
drückend, hinüber nach dem kleinen Stübchen, wo die Jugendgespielin,
fortgerissen von dem kalten Arm des Lebens aus der waldumgebenen
friedlichen Heimat, einsam in der dunkeln, stürmischen Nacht arbeitet,
als ein anderer Schatten seine Träume von Glück und Ruhm durchkreuzt.

Da ist eine andere Gestalt; schwarze, dichte Locken umgeben ein
sonnverbranntes Gesicht, die Augen blitzen von Lebenslust und
Lebenskraft, es ist der Maler Franz Ralff, der aus Italien
zurückkehrend, voll der göttlichen Welt des Altertums und voll der
großen Gedanken einer ebenso göttlichen jüngern Zeit, den Freund umarmt.

Und weiter schweift mein Geist. -- Ich sehe noch immer die junge Waise
in ihrem kleinen Stübchen unter Blumen arbeitend. Ich sehe zwei Männer
im Strom des Lebens kämpfen, ein Lächeln von ihr zu gewinnen; und ich
sehe endlich den einen mit keuchender Brust sich ans Ufer ringen und den
schönen Preis erfassen, während der andere weiter getrieben, willenlos
und wissenlos auf einer kahlen, skeptischen Sandbank sich wiederfindet.
-- Ich sehe _mich_, einen blöden Grübler, der sich nur durch erborgte
und erheuchelte Stacheln zu schützen weiß, bis er endlich, nach langem
Umherschweifen in der Welt, hervorgeht aus dem Kampf, ein ernster
sehender Mann, der Freund seines Freundes und dessen jungen Weibes.

Ich lebe durch kurze Jahre von schmerzlich süßem Glück; ich sehe während
dieser Jahre eine feine, blondlockige Gestalt lächelnd, wie unser guter
Genius, Franz und mich umschweben und ihre schützende Hand ausstrecken
über seine leicht auflodernde Wildheit und meine hinbrütende Traurigkeit
-- ich sehe bald ein kleines Kind -- Elise genannt in den Blättern
dieser Chronik -- des Abends aus den Armen der Mutter in die des Vaters
und aus den Armen des Vaters in die des Freundes übergehen, mit großen,
verwunderten Augen zu uns aufschauend -- -- -- --

Plötzlich hört der Regen auf, an die Fenster zu schlagen; ich schrecke
empor -- es ist späte Nacht. Einen letzten Blick werfe ich noch in die
Gasse hinunter. Sie ist dunkel und öde; der unzureichende Schein der
einen Gaslaterne spiegelt sich in den Sümpfen des Pflasters, in den
Rinnsteinen wider. Eine verhüllte Gestalt schleicht langsam und
vorsichtig dicht an den Häusern hin. Von Zeit zu Zeit blickt sie sich
um. Geht sie zu einem Verbrechen, oder geht sie ein gutes Werk zu tun?
Eine andre Gestalt kommt um die Ecke -- ein leiser Pfiff --

»Du hast mich lange warten lassen, Riekchen!«

»Ich konnte nicht eher, die Mutter ist erst eben eingeschlafen« ...

Ein in der Ferne rollender Wagen macht das Übrige unhörbar. Die Figuren
treten aus dem Schatten; ich sehe Ballputz unter den dunkeln Mänteln.

Sie verschwinden um die Ecke, und ich schließe das Fenster.

So endet das erste Blatt der Chronik, die wie die Geschichte der
Menschheit, wie die Geschichte des einzelnen beginnt mit -- einem
_Traume_.




                                                       Am 2. Dezember.


Es ist heute für mich der Jahrestag eines großen Schmerzes, und doch
trat heute Morgen der Humor auf meine Schwelle, schüttelte seine
Schellen, schwang seine Pritsche und sagte:

»Lache, lache, Johannes, Du bist alt und hast keine Zeit mehr zu
verlieren.«

Jener sonderbare lange Mensch von drüben, im abgetragenen grauen
Flausrock, einen ziemlich rot und schäbig blickenden Hut unter dem Arme,
klopfte an meine Tür, kündigte sich als der Karikaturenzeichner Ulrich
Strobel an, breitete eine Menge der tollsten Blätter auf dem Tische vor
mir aus und verlangte: ich solle ihm für den Winter -- den Sommer über
bummele er draußen herum -- eine Stelle als Zeichner bei einem der
hiesigen illustrierten Blätter verschaffen. Er behauptete, meinen dicken
Freund, den Doktor Wimmer in München, sehr gut zu kennen, und malte
wirklich als Wahrzeichen das heitere Gesicht des vortrefflichen
Schriftstellers sogleich auf die innere Seite des Deckels eines
daliegenden Buches. Ich versprach dem wunderlichen Burschen, dessen
Federzeichnungen wirklich ganz prächtig waren, von meinem geringen
Ansehen in der Literatur hiesiger Stadt für ihn den möglichst besten
Gebrauch zu machen, und er schied, indem er in der Tür mir die Hand
drückte, mich süß-säuerlich anlächelte und sagte:

»Sie tun sehr wohl, mich so zu verbinden, verehrtester Herr, denn als
braver Nachbar würde ich doch manche angenehme Seite an Ihnen entdecken,
die, zu Papier gebracht, sich sehr gut ausnehmen könnte. Gute Nachbarn
werden wir übrigens diesen Winter hindurch wohl sein, teuerster Herr
Wachholder! denn -- Sie sehen gern aus dem Fenster, eine
Eigentümlichkeit aller der Leute, mit welchen sich auf die eine oder die
andere Weise leicht leben läßt. Guten Morgen!«

Um eine originelle Bekanntschaft reicher, kehrte ich zu meiner Chronik
zurück, mit der Gewißheit, dem Meister Strobel von Zeit zu Zeit darin
wieder zu begegnen.




                                                        Am Nachmittag.


Es ist heute Jahrestag. Ich werde die Erinnerung nicht los; sie verfolgt
mich, wo ich gehe und stehe.

Es war ein eben so trüber, regenfarbiger Winternachmittag wie jetzt, als
ich traurig dort drüben in jenem Fenster saß -- vor langen Jahren --
dort drüben in jenem Fenster, von welchem aus mir eben der Zeichner
Strobel zunickt, und traurig hinaufblickte zu der grauen eintönigen
Himmelsdecke. Die Gasse sah damals wohl nicht viel anders aus als heute;
doch sind viele Gesichter, deren ich mich noch gar gut erinnere,
verschwunden und haben andern Platz gemacht, und nur einzelne, wie zum
Beispiel der alte Kesselschmied Marquart im Keller drunten, der heute
wie vor so vielen Jahren lustig sein Eisen hämmert, haben sich erhalten
in diesem ununterbrochenen Strome des Gehens und Kommens. Diese sind
denn auch mit die Anhaltepunkte, an welche ich bei meinem Rückgedenken
den stellenweis unterbrochenen Faden meiner Chronik wieder anknüpfe.

Einem Wässerchen will ich diese Chronik vergleichen, einem Wässerchen,
welches sich aus dem Schoß der Erde mühevoll losringt und, anfangs
_trübe_, noch die Spuren seiner dunklen, schmerzvollen Geburtsstätte an
sich trägt. Bald aber wird es in das helle Sonnenlicht sprudeln, Blumen
werden sich in ihm spiegeln, Vögelchen werden ihre Schnäbel in ihm
netzen. An dieser Stelle werdet ihr es fast zu verlieren glauben, an
jener wird es fröhlich wieder hervorhüpfen. Es wird seine eigene Sprache
reden in wagehalsigen Sprüngen über Felsen, im listigen Suchen und
Finden der Auswege, -- Gott bewahre es nur vor dem Verlaufen im Sande!

So fahre ich fort:

Es war, wie gesagt, ein trauriger unheimlicher Tag, aber nicht er war
es, welcher damals so schwer auf meine Seele drückte. An jenem Tage sah
ich von dem Fenster dort drüben die Fenster der Kammer meiner jetzigen
Wohnung weit geöffnet trotz der Kälte, trotz dem Regen. Die weißen
Vorhänge waren herabgelassen und an den Seiten befestigt, damit der
Wind, welcher sie heftig hin und her bewegte, sie nicht abreiße.

Der Tod hatte seine finstere kalte Hand trennend auf ein glückliches
Zusammenleben gelegt; der kleine Stuhl dort unter dem Efeugitter auf dem
Fenstertritt vor dem Nähtischchen war leer geworden.

Marie Ralff war tot! -- --

Ich sah von meinem Fenster aus hier eine Gestalt im Zimmer auf und ab
gehen. Armer Franz! Armes kleines Kind! Armer -- Johannes! -- Sie war so
lieblich, so jungfräulich-frauenhaft mit ihrem Kindchen im Arm!

Da hängt im Museum der Stadt ein kleines Madonnenbild, wo die
»Unberührbare« den auf ihrem Schoß stehenden kleinen Jesus gar
liebend-verwundert und mütterlich-stolz betrachtet. Dem Bilde glich
_sie_, die eben so blondlockig, eben so heilig, eben so schön war, und
oft genug bleibe ich vor diesem Bilde, einem Werk des spanischen
Meisters Morales, den seine Zeitgenossen ^el divino^ nannten, stehen,
alter vergangener schöner Zeiten gedenkend.

O, ich liebte sie so, ich hatte so gelitten, als sie mich nur »Freund«
und ihn, meinen Freund Franz Ralff »Geliebter« nannte. Und jetzt war sie
tot; einsam hatte sie uns zurückgelassen! Der Abend sank tiefer herab,
und die Dämmerung legte sich zwischen mich und das Drüben. Ich hielt es
nicht mehr aus, ich mußte hinüber! Als ich eintrat, schritt Franz immer
noch auf und ab; er schien mich nicht zu bemerken, und still setzte ich
mich in den Winkel neben die Wiege, wo Martha die Wärterin über dem
Kinde wachte, welches ruhig schlief und die kleinen Hände zum Mündchen
hinauf gezogen hatte.

Ich weiß nicht, wie lange ich da gesessen habe, ich weiß von keinem
meiner Gedanken in jener Nacht Rechenschaft zu geben. Die tiefe Stille,
die auf der großen Stadt lag, ließ nur das Gefühl mich überkommen, als
ob das Leben auch dieses zuckende, bewegte Herz eines ganzen großen
Landes verlassen habe, als ob das leise Picken der Wanduhr das letzte
verklingende Getön des Weltrades sei, und die ewige Stille nun binnen
kurzem alles Leben zurückgeschlürft haben würde.

Das leise Weinen des Kindes neben mir erweckte mich endlich; Franz legte
mir die Hand auf die Schulter und fiel dann plötzlich erschöpft auf
einen Stuhl neben mir.

»Gute Nacht, Johannes,« sagte er, den Kopf an meine Brust legend,
»morgen wollen wir sie begraben!« --

Es waren die ersten Worte, die er an dem Tage sprach.




                                                       Am 3. Dezember.


                                             ^O cara, cara Maria vale!
                                                      Vale cara Maria!
                                               Cara, cara Maria vale!^

Es war ein berühmter Dichter, welcher dies auf den Grabstein einer
geliebten Abgeschiedenen setzte, er hatte treffliche, herzerschütternde
Gesänge gesungen; _hier_ wußte er nichts weiter als diese drei Worte,
herzzerreißend wiederkehrend. Und jenes: Morgen! dämmerte. Das Leben der
großen Stadt begann wieder seinen gewöhnlichen Gang; der Reichtum gähnte
auf seinen Kissen, oder hatte auch wohl das Herz ebenso schwer als die
Armut, die jetzt aus ihrem dunkeln Winkel huschte, um einen neuen Ring
der Kette ihres Leidens, einen neuen Tag ihrem Dasein anzuschmieden. Die
Gewerbe faßten ihr Handwerkszeug; die großen Maschinen begannen wieder
zu hämmern und zu rauschen; die Wagen rollten in den Straßen, und der
Taufzug begegnete dem Totenwagen; denn es war nicht die einzige Leiche
drüben in der kleinen Kammer, welche in der menschenvollen Stadt im
letzten Schlaf ausgestreckt lag.

Ich ging hinüber. Der Kesselschmied Marquart -- er war damals noch
jünger und kräftiger als heute -- hatte sein Hämmern eingestellt und
lehnte traurig in der niedrigen Tür, die in seine unterirdische
Werkstatt hinabführt; er liebte die tote Marie so gut wie alle, die mit
ihr je in Berührung gekommen waren. Hatte sie nicht für jeden fremden
Schmerz eine Träne, für jede fremde Freude ein teilnehmendes Lächeln?
War sie nicht in der dunkeln Sperlingsgasse wie jene sonnige, gute,
kleine Fee, die überall wo sie hintrat, eine Blume aus dem Boden
hervorrief?

Auf dem Hausflur standen flüsternde Frauen, die mir traurig, als ich
vorüberging, zunickten, und auf einer Treppenstufe saß ein kleines
schluchzendes Mädchen, eine zerbrochene Puppe im Schoß. O, ich weiß das
alles noch! Und jetzt trat ich ein --

Da lag sie in ihrem weißen mit roten Schleifen besetzten Kleide, eine
aufgeblühte Rose auf der Brust, in ihrem schwarzen Sarge; die einst so
klaren und innigen Augen geschlossen, die ewige ernste Ruhe des Todes
auf der Stirn! Franz fiel mir weinend um den Hals; junge Nachbarinnen in
weißen Sonntagskleidern befestigten Guirlanden von Tannenzweigen und
Immergrün, aus denen hier und da eine einsame Blume hervorschaute, um
den schwarzen Schrein.

Ach, die Armut und der Winter erlaubten nicht, allzuviel:

                          »Süßes der Süßen«

zu streuen!

Der junge Tischler Rudolf unten aus dem Hause stand die Augen mit der
Linken bedeckend, Hammer und Nägel in der Rechten zur Seite; seine junge
Braut lehnte schluchzend das Haupt auf seine Schulter. O, ich weiß das
alles, alles noch! -- Einen letzten, langen langen Blick warf ich auf
die schöne, bleiche, stille Gespielin meiner Kindheit, die Heilige
meiner Jünglingsjahre, die Trösterin meines Mannesalters, dann hob ich
leise Franz von ihrer Brust, über die er hingesunken war, auf, und
führte ihn an die Wiege seines Kindes. -- Rudolf der Tischler begann
sein trauriges Werk. Unter dumpfen Hammerschlägen legte sich der Deckel
über dies Reliquarium eines Menschenlebens. Ein kalter Schauer überlief
mich! ^Vale, vale cara Maria!^

Die Träger kamen, hoben die leichte Last auf die Schultern und trugen
sie die schmale enge Treppe hinab; die Frauen schluchzten, Kinderköpfe
lugten verwundert ernst durch die Haustür und wichen scheu zur Seite,
als der traurige Zug hinaustrat auf die Straße. Freunde und Bekannte
hatten sich eingefunden, das Weib des Malers auf dem letzten Wege zu
begleiten; der Kesselschmied zog das Mützchen ab und strich mit seiner
schwarzen schwieligen Hand über die Augen. Den wie in einem bösen Traum
gehenden Franz führend, schritt ich dem Bretterhäuschen nach, welches
unser Liebstes barg. O, ich weiß das alles noch ganz genau. So ist das
Menschenherz! Viele Jahre sind vorübergegangen seit jenem traurigen
Tage, und heute noch erinnere ich mich an alle die finstern Gedanken,
die damals durch meine Brust zogen, während ich so manche jüngere Freude
vergessen habe!

Es lernt und sieht sich manches auf einem solchen Gange, für den,
welcher es versteht, auf den Gesichtern der Begegnenden und
Nachschauenden zu lesen.

Sieh dort an der Ecke die arme mit Lumpen bekleidete Frau aus dem Volk,
wie sie ihr Kind fester an sich drückt und flüstert: »Was sollte aus Dir
werden, mein kleines Herz, wenn ich heute so still läge wie die, welche
man da fortträgt.«

Dort kommt eine elegante Equipage, Kutscher und Bediente in prächtiger
Livree, mit Blumensträußen im Knopfloch. Bunte Hochzeitsbänder flattern
an den Kopfgeschirren der Pferde; der junge vornehme Mann führt seine
schöne Braut zur Trauung; ihr Auge trifft den Sarg, welcher langsam auf
den Schultern der Träger daher schwankt, und die junge Verlobte birgt
zitternd ihr juwelenblitzendes Haupt an der Brust neben ihr.

Sieh den Arbeiter, welcher dort das Beil sinken läßt und stier dem Zuge
des Todes nachsieht. Schaffe weiter, Proletarier, auch dein Weib liegt
zu Hause sterbend; schaffe weiter, du hast keine Zeit zu verlieren; der
Tod ist schnell; aber du mußt schneller sein, Mann der Arbeit, wenn du
sie in ihren letzten Stunden vor dem Hunger schützen willst.

Beugt das Haupt und tretet zur Seite, ihr kettenklirrenden Verbrecher!
Der Tod zieht vorüber! Er wird auch euch einst von euren Ketten
befreien!

Beugt das Haupt, ihr armen Geschöpfe der Nacht, der Tod zieht vorüber,
und auch euch hebt er einst, den erborgten Flitterputz, den armen
beschmutzten Körper, die Sünde der Gesellschaft euch abstreifend, rein
und heilig empor aus der Dunkelheit, dem Schmutz und dem Elend.

Von dir, du Spötter mit dem faden Lächeln auf den Lippen, fordere ich
nicht, daß du zur Seite tretest! Der Zug des Todes mag _dir_ ausweichen
-- du bist würdig, dein Leben doppelt und dreifach zu leben!

Es ist ein langer Weg aus der Mitte der großen Stadt bis zu dem
Johanniskirchhofe draußen, und nie ist mir ein Weg so lang und doch
zugleich so kurz vorgekommen. Ich dachte an den Verurteilten, welcher
dem Richtplatz näher und näher kommt, welchem jede Minute eine Ewigkeit
und der stundenlange Weg ein Augenblick ist. Ach wir armen Menschen, ist
nicht das ganze Leben ein solcher Gang zum Richtplatz? Und doch freuen
wir uns und jubeln über die Blumen am Wege und sehen in jedem
Tautropfen, der in ihnen hängt, Himmel und Erde! Armes glückliches
Menschenherz!

Die schweren, massigen Regenwolken wälzten sich dicht über der Erde weg,
als wir aus dem Tor traten. Grau in grau Himmel und Erde! Grau in grau
Herz und Welt!

Die Bäume streckten ihre leeren Äste wehmütig empor, eine Meise flog von
Ast zu Ast vor dem Zuge her.

Und jetzt waren wir angelangt vor der Pforte des Friedhofes. Langsam
wand der Zug sich den Weg entlang, an frischen und eingesunkenen Hügeln,
stolzen Monumenten und dürftig naivem Putz vorüber, der Stelle zu, wo
die Hülle der toten Marie ruhen sollte. Im folgenden Frühling machten
wir einen hübschen lieblichen Ort daraus, wo die Goldregenbüsche ihre
duftenden Trauben herabhängen ließen, und die Vögel in den
Rosensträuchern zwitscherten, heute jedoch war's ringsumher gar traurig
und unheimlich. Auf dem Grund der Grube, die unser Liebstes aufnehmen
sollte, stand ein kleiner Sumpf Regenwasser, in welchem sich aber
plötzlich eine lichte blaue Stelle, die oben am Himmel zwischen den
ziehenden Wolken durchlugte, widerspiegelte. -- -- Ich habe nichts,
nichts vergessen!

Und nun, ihr Männer, laßt den Sarg hinabgleiten; gebt der alten
schaffenden Mutter Erde ihr schönes Kind zurück! Und nun, Franz, wirf
drei Hände voll Erde auf die versinkende Welt deiner Freude! -- Ergreift
die Schaufeln, ihr Clowns, und vollendet euer Geschäft! Du alter
rotnäsiger Bursch, bemühe dich nicht, ein wehmütiges Gesicht zu ziehen,
winke nur deinem Gefährten, daß er die Flasche bei Yaughan füllen lasse,
und brumme dein altes Totengräberlied in den Bart!

Wie die Schollen dumpfer und dumpfer auf den Sarg poltern, und wie jeder
Ton das arme Herz erzittern läßt in seinen tiefsten Tiefen! Wie das Auge
sich anklammert an den letzten Schein des schwarzen Holzes, welcher
durch die bedeckende Erde schimmert, bis endlich jede Spur verschwindet,
die hinabgeworfene Erde nur noch Erde trifft, die Höhle sich allmählich
füllt, und endlich der Hügel sich erhebt, der von nun an mit dem
geliebten begrabenen Wesen in unsern Gedanken identisch ist!

Wunderliches Menschenvolk, so groß und so klein in demselben Augenblick!
Welch eine Tragödie, welch ein Kampf, welch ein -- Puppenspiel jedes
Leben; von dem des Kindes, welches vergeblich nach der glänzenden
Mondscheibe verlangt und verwelkt, ehe es das Wort »ich« aussprechen
kann, bis zu dem des grübelnden Philosophen, welcher in dasselbe
Wörtchen »ich« das Universum legt und zusammenbricht, ein körper- und
geistesschwacher Greis, der kaum noch das Gefühl für Wärme und Kälte
behalten hat.

Sieh um dich, Johannes: Verkehrt auf dem grauen Esel »Zeit« sitzend,
reitet die Menschheit ihrem Ziele zu. Horch, wie lustig die Schellen und
Glöckchen am Sattelschmuck klingen, den Kronen, Tiaren, phrygische
Mützen -- Männer- und Weiberkappen bilden. Welchem Ziel schleicht das
graue Tier entgegen? Ist's das wiedergewonnene Paradies; ist's das
Schafott? Die Reiterin kennt es nicht; sie will es nicht kennen! Das
Gesicht dem zurückgelegten Wege, der dunkeln Vergangenheit zugewandt,
lauscht sie den Glöckchen, mag das Tier über blumige Friedensauen traben
oder durch das Blut der Schlachtfelder waten -- sie lauscht und träumt!
Ja sie träumt. Ein Traum ist das Leben der Menschheit, ein Traum ist das
Leben des Individuums. Wie und wo wird das Erwachen sein?

Auf einem Berliner Friedhofe liegt über der Asche eines volkstümlichen
Tonkünstlers, der auch viel erdulden mußte in seinem Leben, ein Stein,
auf welchen eine Freundeshand geschrieben hat:

   »Sein Lied war deutsch und deutsch sein Leid,
   Sein Leben Kampf mit Not und Neid,
   Das Leid flieht diesen Friedensort,
   Der Kampf ist aus -- das Lied tönt fort! --«

Ich lege die Feder nieder und wiederhole leise diese Zeilen. Ich kann
heute nicht weiter schreiben.




                                                       Am 5. Dezember.


Meinem Versprechen gemäß hatte ich der Redaktion der _Welken Blätter_ --
Wimmerianischen Angedenkens -- einige der Federzeichnungen meines
Nachbars Strobel vorgeführt und konnte heute schon ihm seine Aufnahme
unter die Zeichner jenes witzigen Journals ankündigen. Da ich seine Nase
hinter den Scheiben seiner Fenster einigemal hatte hervorlugen sehen, so
machte ich mich auf den Weg hinüber zu meiner alten Wohnung, in der ich,
seit ich sie verlassen, so viele ein- und ausziehen gesehen habe.

Die dicke Madame Pimpernell hat es aufgegeben, in eigener, gewichtiger
Person über den Vorräten des Viktualienladens zu thronen, sie hat sich
in einen gewaltigen, ausgepolsterten Lehnstuhl hinter dem Ofen
zurückgezogen, von wo aus sie oft genug Dorette -- auch Rettchen genannt
-- ihre hagere Tochter und Nachfolgerin im Reich der Käse, der Butter
und der Milch zur Verzweiflung zu bringen vermag.

Das mittlere Stockwerk des Hauses Nr. Elf steht augenblicklich leer,
indem nach heftigen Kämpfen mit dem Parterre, treppauf und ab, die
letzten Einwohnerinnen: die verwitwete Geheime Oberfinanzsekretärin
Trampel und ihre zwei sehr ältlichen und sehr ansäuerlichen Töchter
Heloise und Klara -- Öllise und Knarre von der Madame Pimpernell genannt
-- abgezogen sind. Klavier, Harfe und Guitarre, die drei
Marterinstrumente der Sperlingsgasse, nahmen sie glücklicherweise mit,
sowie auch den edlen Kater Eros und den ebenso edlen, schiefbeinigen
Teckelhund Anteros -- Geschenke eines neuen und doch schon
antediluvianischen Abälards und Egmonts.

Wie oft bin ich einst diese steilen, engen Treppen hinauf- und
hinabgeklettert; jetzt einen Haufen Bücher unter dem Arm, jetzt einen,
wie ich glaubte, Furore machensollenden Leitartikel in der Rocktasche.
Wie oft haben Mariens kleine Füße diese schmutzigen Stufen betreten,
wenn sie mit Franz zu einem prächtigen Teeabend kam, dem ich immer mit
so untadelhafter, hausväterlicher Würde vorzustehen wußte! Wie ich dann
ihr helles Lachen, welches die feuchten, schwarzen Wände so fröhlich
wiedergaben, erwartete; wie sie so reizend über meine verwilderte Stube
spötteln konnte, und dann trotz aller meiner vorherigen stundenlangen
Bemühungen erst durch fünf Minuten _ihrer_ Anwesenheit einen
menschlichen Aufenthaltsort daraus machte! Wie ich dann später von der
kleinen Quälerin gezwungen wurde, eine unglückliche Flöte hervorzuholen
und steinerweichend eine klägliche Nachahmung von: »Guter Mond, du gehst
so stille« hervorzujammern, bis Franz Einspruch tat, oder mir der Atem
ausging, oder der kleinen Tyrannin die Kraft zu lachen! Es waren selige
Abende, und ich nahm das Andenken daran mit hinauf bis zur Tür des
Zeichners. Auf mein Anklopfen erschallte drinnen ein unverständliches
Gebrumme; ich trat ein.

Manche Junggesellenwirtschaft habe ich kennen gelernt und kann viel
vertragen in dieser Hinsicht. Den Doktor Wimmer, den Schauspieler
Müller, den Musiker Schmidt, den Kandidaten der Theologie Schulze habe
ich in ihrer Häuslichkeit gesehen, von meiner eigenen Unordnung nicht zu
sprechen, aber eine solche malerische Liederlichkeit war mir doch noch
nicht vorgekommen. Eine Phantasie, durch Justinus Kerners
kakodämonischen Magnetismus in Verwirrung geraten, könnte, gefroren,
versteinert, verkörpert in einem anatomischen Museum ausgestellt, keinen
tolleren Anblick gewähren! Auf einem unaussprechlich lächerlichen Sofa,
viel zu kurz für ihn, lag, den Kopf gegen die Tür, die Beine über die
Lehne weg gestreckt, und die Füße gegen die Fensterwand gestemmt, der
lange Zeichner, die Zigarre, die große Trostspenderin des neunzehnten
Jahrhunderts, im Munde, ein Zeichenbrett auf den Knieen und den Stift in
der Hand. Ein dreibeiniger Tisch, der ohne Zweifel einst unter die
Quadrupeden gehört hatte, war an diese Lagerstatt gezogen; ein leerer
Bierkrug, eine halbgeleerte Zigarrenkiste, Tuschnäpfchen, bekritzelte
Papiere und andre heterogene Gegenstände bedeckten ihn im reizendsten
Mischmasch. Drei verschiedengestaltete Stühle hatte die »Bude«
aufzuweisen; der eine aus der Rokokozeit diente als Bibliothek, der
andre, ein grünangestrichener Gartenstuhl, verrichtete die Dienste eines
Kleiderschranks, und der dritte, von dessen früherem Polster nur noch
der zerfetzte Überzug herabhing, war ^o horror!^ -- zur -- Toilette
entwürdigt, und ein Waschnapf, Seife, Kämme und Zahnbürsten machten sich
viel breiter auf ihm als irgend nötig war. In einer Ecke des Zimmers
lehnte der Ziegenhainer des wanderlustigen Karikaturenzeichners, und auf
ihm hing sein breitrandiger Filz. In einem andern Winkel hing eine
umfangreiche Reisetasche, und die Wände entlang war mit Stecknadeln eine
tolle Zeichnung neben der andern festgenagelt. Das Ganze ein wahres
Pandämonium von Humor und skurrilem Unsinn.

»Ah, mein Nachbar!« rief Meister Strobel, bei meinem Eintritt von seinem
Sofa aufspringend, mit der einen Hand das Zeichenbrett fortlehnend, mit
der andern den wackelnden Tisch am Fallen hindernd. »Das ist sehr edel
von Ihnen, daß Sie meinen Besuch so bald erwidern; seien Sie herzlich
gegrüßt und nehmen Sie Platz!« Mit diesen Worten ließ er die Last des
Bibliothekstuhls zur Erde gleiten und zog ihn an den Tisch, von dem er
ebenfalls die meisten Gegenstände an beliebige Plätze schleuderte.

»Ich bin gekommen, Ihnen mitzuteilen, Herr Strobel, daß Ihre Blätter
großen Anklang bei der Redaktion der >Welken Blätter< gefunden haben,
und daß dieselbe stolz sein wird, Sie unter ihre Mitarbeiter zu zählen.«

»Sehr verbunden,« sagte der Zeichner, der sich auf mysteriöse Weise eben
am Ofen beschäftigte, »bitte, nehmen Sie eine Zigarre und erlauben Sie
mir, Ihnen eine Tasse Kaffee anzubieten.«

Er sah und roch in einen sehr verdächtig aussehenden Topf, den er aus
der Ofenröhre nahm. »O weh,« rief er, während ich alle Heiligen des
Kalenders anrief, »die Quelle ist versiecht!«

»Bitte, machen Sie keine Umstände, Ihre Zigarren sind ausgezeichnet!«

»Ja,« sagte Strobel, sich nun wieder auf sein Sofa setzend, »das ist der
einzige Luxus, den ich nicht entbehren könnte, und ich preise meinen
Stern, der mich in einer Zeit geboren werden ließ, wo man die Redensart:
Kein Vergnügen ohne die Damen --, in die jedenfalls passendere: Kein
Vergnügen ohne eine Zigarre, umgeändert hat.«

»Sind Sie ein solcher Weiberfeind?«

»Keineswegs; im Gegenteil, ich beuge mich ganz und gar dem französischen
Wort: ^Ce que femme veut, Dieu le veut^ und ziehe -- deshalb gerade, die
nicht so anspruchsvolle Zigarre vor, die für uns glüht, ohne das Gleiche
zu verlangen, die interessant ist, ohne interessiert sein zu wollen, und
so weiter, und so weiter!«

»Sie sind wirklich ein echtes Kind unserer Zeit, die durch zu viele und
zu verschiedenartige Anspannungen im ganzen bei dem einzelnen das
Gehenlassen, die Athaumasie, die Apathie zur Gottheit gemacht hat.«

»Puh,« sagte der Zeichner, eine gewaltige Dampfwolke fortblasend, »ich
konnt's mir denken, da sind wir schon in einem solchen Gespräche, wie
sie alles Zusammenleben jetzt verbittern: übrigens ist unsere Zeit
durchaus nicht apathisch, aber der einzelne fängt an, das wahre Prinzip
herauszufinden, daß nämlich die Sache durch die Sache gehen muß. --
Nicht jeder erste und ^taliter qualiter^ beste soll sich fähig glauben,
den Wegweiser spielen zu können, den Arm ausstrecken und schreien:
Holla, da lauft, dort geht der rechte Weg, dorthin liegt das Ziel!«

»Und die seitwärts abführenden Holzwege?...«

»Laufen alle der großen Straße wieder zu, nachdem sie an irgend einer
schönen, merkwürdigen, lehrreichen Stelle vorübergeführt haben. Ich, der
Fußwanderer, habe nie so viel Erfahrungen für den Geist, so viel Skizzen
für meine Mappe heimgebracht, als wenn ich mich verirrt hatte.«

»Sie müssen ein eigentümliches Leben geführt haben und führen!« sagte
ich, den sonderbaren Menschen vor mir ansehend. Er strich mit der Hand
über das sonnverbrannte, verschrumpfte Gesicht und lächelte.

»Ein Leben, das gern auf Irrwegen geht, ist stets eigentümlich!« sagte
er. »Übrigens wird jeder Mensch mit irgend einer Eigentümlichkeit
geboren, die, wenn man sie gewähren läßt -- was gewöhnlich nicht
geschieht -- sich durch das ganze Leben zu ranken vermag, hier Blüten
treibend, dort Stacheln ansetzend, dort -- von außen gestochen --
Galläpfel. Was mich betrifft, so bin ich von frühester Jugend auf mit
der unwiderstehlichsten Neigung behaftet gewesen, mein Leben auf dem
Rücken liegend hinzubringen und im Stehen und Gehen die Hände in die
Hosentaschen zu stecken. Sie lächeln -- aber was ich bin, bin ich
dadurch geworden.«

»Ich lächelte nur über die Richtigkeit Ihrer Bemerkung. Wir alle sind
Sonntagskinder, in jedem liegt ein Keim der Fähigkeit, das Geistervolk
zu belauschen, aber es ist freilich ein zarter Keim, und das Pflänzchen
kommt nicht gut fort unter dem Staub der Heerstraße und dem Lärm des
Marktes.«

»Holla,« rief der Zeichner, plötzlich aufspringend und nach dem Fenster
eilend, »sehen Sie, welch ein Bild!«

In der Dachwohnung über der meinigen drüben hatte sich ein Fenster
geöffnet. Die kleine Ballettänzerin, welche dort wohnt, ließ ihr
hübsches Kindchen nach den leise herabsinkenden Schneeflocken greifen.
Das Kind streckte die Ärmchen aus und jubelte, wenn sich einer der
großen weißen Sterne auf seine Händchen legte oder auf sein Näschen. Die
arme, ohne die Schminke der Bühne so bleiche Mutter sah so glücklich
aus, daß niemand in diesem Augenblick die traurige Geschichte des jungen
Weibes geahnt hätte.

»Ich habe auf Ihrem Schreibtische Blätter gesehen mit der Überschrift:
_Chronik der Sperlingsgasse_,« sagte Strobel, »das Bild da drüben gehört
hinein, wie es in meine Skizzenmappe gehört.«

»In meinen Blättern würde es eine dunkle Seite bilden,« antwortete ich,
»und die Chronik hat deren genug. Wie wär's aber, wenn Sie Mitarbeiter
dieser Chronik der Sperlingsgasse würden; Sie haben ein gar glückliches
Auge!«

»Glauben Sie?« fragte der Karikaturenzeichner, welcher den
Kleiderschrankstuhl an das Fenster gezogen hatte und emsig auf einem
Papier kritzelte. »Sie wollen keine dunkeln Blätter; kennen Sie
vielleicht die Geschichte jenes englischen Zerrbildzeichners, der vor
dem Spiegel an seinem eigenen Gesichte die Fratzen der menschlichen
Leidenschaften studierte?«

»Nein, ich kenne die Geschichte nicht, was ward mit ihm?«

»Er -- schnitt sich den Hals ab,« sagte der Zeichner dumpf, seine
vollendete Skizze fortlegend.

Verwundert schaute ich auf. Das Gesicht Strobels hatte einen Ausdruck
von Trübsinn angenommen, der mich fast erschreckte. Er sprach nicht
weiter, und es trat eine Pause ein, während welcher drüben das Kind
lachte und jubelte, und die Tänzerin den Spatzen, die sich zwitschernd
auf die Dachrinne setzten, Brotkrumen streute. Ich sah, daß der Zeichner
allein sein wollte und ging; der sonderbare Mensch begleitete mich bis
zur Treppe. Dort sagte er, mir die Hand drückend und lächelnd:

»Ich will aber doch Mitarbeiter Ihrer Chronik werden, Signor!«

So endete mein erster Besuch bei dem Karikaturenzeichner Ulrich Strobel.




                                                      Am 10. Dezember.


Es ist jetzt vollständig Winter geworden; der Schnee liegt zu hoch in
den Straßen, als daß man den Schritt der verspäteten Fußgänger, das
Rollen der Wagen hören könnte. Es ist tiefe Nacht.

Was ist das für ein bleiches, verfallenes Gesicht, welches da vor mir
auftaucht? Ist das Franz -- der lebensmutige, lebensglühende Franz
Ralff, den ich einst kannte?

Drei Monate waren hingegangen, seit man die tote Marie zu ihrer stillen
Ruhestätte hinausgetragen hatte. Ich saß neben meinem Freunde, der, auf
die graugrundierte Leinwand vor ihm starrend, plötzlich begann:

»Höre, Johannes, ich muß Dir eine Geschichte erzählen. Es wird gut sein,
daß Du sie kennst; auch könnte wohl der Fall eintreten, daß mein Kind
sie erfahren müßte. Letzteres will ich dann Dir überlassen, Johannes.

Ich muß weit dazu ausholen, ich muß in unsere früheste Jugendzeit
zurückgehen, wo wir glückliche, ahnungslose Kinder waren. O Johannes,
laß mich sie zurückrufen, diese seligen Tage! Klingt es Dir nicht auch
bei jeder Erinnerung daran, wie das Läuten jener im Wald verlorenen
Kirche? O, mein Jugend-Waldleben! -- Wie ich es jetzt vor mir sehe,
dieses alte, braune, verfallende Jägerhaus, mitten in der grünen,
duftenden Einsamkeit! Vorbei plätschernd der klare Bach, der dann tiefer
im Walde den stillen Teich bildet, welchen die Sage so wundersam
umschlungen hat! Wie oft bin ich, das Kinderherz voll geheimnisvollen
Bebens, an funkelnden Mondscheinabenden, wenn die Bewohner des
Jägerhauses vor der Tür saßen und der alte Burchhard das Waldhorn -- Du
weißt wie schön -- blies, dem durch das Dunkel glitzernden Bach
nachgeschlichen, dem stillen Wasser zu, das Treiben der Nixen und Elfen
zu belauschen. Wie fuhr ich zusammen, wenn eine Eidechse im Grase
raschelte, oder ein Nachtvogel schwerfälligen Flugs über den glänzenden
Spiegel des Teichs hinflatterte, indem ich dachte, jetzt müsse das
wundersame Geheimnis ans Licht treten und sein Wesen und Weben beginnen
um die volle Scheibe des Mondes, die in der klaren, stillen Flut
widergespiegelt lag. Erst später erfuhr ich, woher der tiefe, geheime
Zug in mir nach diesem Waldwasser stamme.

Wie oft bin ich, wenn der Sturm in den Bäumen rauschte, hinaufgestiegen
in eine hohe Tanne, um mich, die Arme fest um den rauhen, harzigen Stamm
geschlungen, das Herz gepreßt von Angst und unsäglicher Seligkeit -- hin
und her schleudern zu lassen vom Winde.

Und dann, wenn draußen die heiße Julisonne, die in diese Waldnacht nur
vorsichtig neugierig hinein zu lugen wagte, auf der Welt lag: welch ein
Träumen war das! Welch eine Wonne war's, im Grase zu liegen, während der
Rauhbach an meiner Seite rauschte und murmelte und seine Kiesel langsam
weiterschob, während die Sonnenlichter an den schlanken Buchenstämmen
oder über den Wellchen des Baches spielten und zitterten; die
Wasserjungfer über mich hinschoß; ringsumher die Glockenblumen ihre
blauen Kelche der Erde zuneigten, und der stolze Fingerhut sich trotzend
in seiner Pracht erhob, als spreche er jeden verirrten Strahl der Sonne
für sein Eigentum an.

Welche Winterabende waren das, wenn ich dem alten weißbärtigen Mann, den
ich Oheim nannte, auf dem Knie saß, mit den Quasten seiner kurzen
Jägerpfeife spielte und seinen Geschichten und Sagen lauschte, während
die Hunde zu unsern Füßen schliefen und träumten und nur von Zeit zu
Zeit aufhorchten, wenn der alte Karo draußen anschlug.

Es war ein glückliches Leben, dieses Leben im Walde, und es ist von
großem Einfluß auf meine spätere, künstlerische Entwickelung gewesen.
Noch gar gut erinnere ich mich des Tages, an welchem ich mein erstes
Kunstwerk an der Stalltür zustande brachte. Es war ein Porträt unseres
alten Burchhards und seines treuen Begleiters, des kleinen Dachshundes,
der die Eigentümlichkeit hatte, gar keinen Namen zu besitzen, sondern
nur auf einen besonderen Pfiff seines Herrn hörte.

Der folgende Zeitraum meiner Geschichte, Johannes, ist Dir fast so gut
als mir bekannt, und ich könnte schneller darüber weggehen, wenn es mich
nicht überall, wo _ihr_ Bild auftaucht, so gewaltig festhielte.

Wie viele heimliche Tränen -- der Oheim liebte das Weinen nicht --
wischte ich mir aus den Augen, als der Tag kam, an welchem ich meiner
grünen Waldesnacht Ade sagen mußte. Gern hätte ich mich an jeden Baum,
an jeden Strauch, an welchem der Weg aus dem Walde heraus vorbeiführte,
festgeklammert. Wie unermeßlich weit und groß kam mir die Welt vor. Wie
eine Eule, die man aus ihrer dunkeln Höhle in den Sonnenschein gezerrt
hat, schien ich mir anfangs in Ulfelden. Ich war unglücklich, wie ein
Kind von zwölf Jahren es nur sein kann, ehe ich mich in das ungewohnte
Leben hineinfand.

Wie deutlich steht mir der erste Abend in unserer Kindheitsstadt noch
vor dem Gedächtnis! Der Oheim war zurückgekehrt in sein einsames
Waldhaus, die Frau Rektorin wirtschaftete in der Küche, der alte Rektor
saß oben in seinem kleinen Studierstübchen über dem Tacitus, seinem
Lieblingsschriftsteller, wie ich später erfuhr, und -- ich kauerte
einsam mit verquollenen tränenden Augen auf der grünen Bank vor dem
Hause und blickte in dumpfem Hinbrüten den vorbeischießenden Schwalben
nach: als auf einmal ein kleines, etwas schmutziges Händchen mir einen
angebissenen rotbäckigen Apfel hinhielt, ein Lockenköpfchen sich unter
meine Nase drängte und ein feines Stimmchen sagte:

»Nicht weinen ... Junge ... Mama auch Eierkuchen backen.«

Ich hatte damals große Lust, die kleine Trösterin zurückzustoßen, sie
ließ sich aber nicht abweisen, und als ich über ihr Mitgefühl stärker zu
schluchzen anfing, fing auch sie an zu weinen. Unter diesem Tränenstrom
wurden wir von dem alten Rektor überrascht, welcher plötzlich in seinem
rotgeblümten Schlafrock -- ein Porträt von ihm gibt es dort unter meinen
Skizzen -- und mit der langen Pfeife im Munde hinter uns stand.

»Nun, kleines Volk,« sagte er lächelnd, »das ist ja eine prächtige
Freundschaft zwischen Euch, die so mit Heulen anfängt! Wer hat denn dem
andern etwas zuleide getan?«

Diese diplomatische Wendung der Sache brachte auf einmal meinen
Tränenstrom zum Stehen, und auch die kleine Marie lächelte sogleich
wieder durch die hellen Tropfen, die ihr über beide Backen rollten.

»Wird schon gehen, wird schon gehen!« brummte der alte Scholarch, fuhr
mit der Hand über meine Haare und ging dann zurück ins Haus, um seiner
Frau beim Eierkuchenbacken zuzusehen.

Die kleine Marie aber führte mich zu ihrem Garten im Winkel, grub eine
keimende Bohne hervor, zeigte sie mir jubelnd und versprach mir ein
ähnliches Feld für meine Tätigkeit. Dann zogen wir uns in die
Geisblattlaube zurück, wo der Tisch gedeckt war. Da fand ich neben dem
Nähzeuge der Frau Rektorin ein Buch auf der Bank -- ein Bilderbuch,
welches mich den Wald, das Jägerhaus, den Ohm, den alten Burchhard, mein
ganzes Heimweh zuerst vergessen ließ. Es war ein zerlesener und
zerblätterter Band des welt- und kinderbekannten Bertuchschen Werks!
Welch eine neue Welt ging mir da auf! -- Und die kleine Marie lehnte
neben mir; lachte, erklärte und kitzelte mich mit Strohhalmen; dann kam
die Frau Rektorin mit dem Eierkuchen, und der Rektor verließ seinen
Tacitus; die Glocken der alten Stadtkirche läuteten den morgenden
Sonntag ein; -- ich hatte mich gefunden! -- Erinnerst Du Dich wohl noch,
Hans, dieses Sonntagmorgens, der auf meinen ersten Tag in Ulfelden
folgte? Weißt Du wohl noch, wie Du mir in der Kirche zunicktest, und
beim Nachhausegehen unsere Freundschaft ihren Anfang nahm durch eine
Handvoll Kletten, welche Du mir in die Haare warfest? Weißt Du wohl,
Johannes, wie ich aus dem blöden Waldjungen zu dem tollsten,
verwegensten Schlingel der ganzen Gegend heranwuchs und nur duckte, wenn
mich die kleine Marie aus ihren großen Augen so traurig ansah? Es war
eine prächtige Zeit, -- und das Latein war durchaus keine so böse
Krankheit wie das Scharlachfriesel; -- ich hatte diese Vorstellung aus
dem Walde mitgebracht -- sondern höchstens ein leichter Schnupfen, der
bald wieder auszuschwitzen war.

Dann kamen die Zeichenstunden bei dem alten Maler Gruner, der mir zuerst
die Welt des Schönen deutlicher vor die Augen legte, der in seiner
trockenen kaustischen Weise das Leben, welches er sehr wohl kannte, an
mir vorübergleiten ließ, daß ich verlangte und mich hinaussehnte in
diese so schön blühende Welt, wo man nur die Hand auszustrecken
brauchte, um Glück, Ruhm und Reichtum zu erfassen.

Den Wald hatte ich fast ganz vergessen; ich sehnte mich gar nicht
zurück; hinaus wollte ich in die Welt, Maler werden, tausend Träume
hatte ich, und in allen schwebte Mariens holdes Bild!

Da wurde ich eines Tags zurückgerufen in das einsame Jägerhaus und fand
meinen alten Oheim auf dem Sterbebette. Eine Erkältung, die er sich
zugezogen und nicht beachtete, hatte bei seinem vorgerückten Alter eine
tödliche Wendung genommen. Alle ärztliche und geistliche Hilfe
verschmähend, hatte er nur nach mir verlangt. Eine schreckliche
Enthüllung erwartete mich am Bette des Mannes, an dessen Seite ich nur
den alten Burchhard traf, während die Waldgrete, die bejahrte Magd des
Försterhauses, ab- und zuging.

Als ich -- jetzt ein neunzehnjähriger Jüngling -- an das Lager meines
Ohms trat, sah mich dieser, eben aus einem kurzen unruhigen Schlummer
erwachend, starr an.

»Er gleicht ihm immer mehr,« murmelte er. Als ich mich über ihn beugte,
küßte mich der alte strenge Mann und sagte mit erloschener Stimme:

»Franz, -- Du siehst, es ist vorbei mit mir: ich brauche den Jagdranzen
nicht zu füllen und nicht für Schießzeug zu sorgen für den Gang, den ich
jetzt gehen muß. Heule nicht, Junge; weißt, ich hab's nie leiden können.
Ist Weibermode! Ich möchte Dir aber noch etwas sagen, eh ich
abmarschiere vom Anstand; kannst dann daraus machen, was Du willst.
Setze Dich und höre zu! Schau, da hinten,« -- der Alte zeigte durch das
offene Fenster, in welches grüne Zweige schlugen, und die Abendsonne
zitterte, während ein Buchfink davor sang; -- »da hinten hinter dem
Walde kommst Du in die große Ebene, wo Du tagelang gehen kannst, ohne
einen Berg zu sehen. Die Leute nennen's ein schönes Land; -- mag sein,
hab's aber nie leiden können, und mag den Wald lieber. Einen Hügel
gibt's aber doch da, mitten in dem flachen Lande und den Kornfeldern,
mit einem Schloß, Seeburg geheißen, und am Fuße des Hügels ein Dorf
desselbigen Namens. Daher stammt unsere Familie, da bin ich geboren, da
ist auch Burchhard her.«

Der Letzterwähnte nickte hier mit dem Kopfe und brummte vor sich hin:
»Beides ne gute Art, die Ralffs und Burchhards!«

»Hast recht, Alter,« fuhr mein Oheim fort, »hoffe auch, der da (er wies
auf mich) soll nicht aus der Art schlagen, wenn er gleich unrecht Blut
in den Adern hat. Höre weiter, Junge: War ein stolz Volk, die Grafen
Seeburg, die da seit alter Zeit auf dem Neste saßen. Hab's gelesen in
alten Chroniken, wie sie die Leute plagten und die Kaufleute fingen.
Trieb's auch die neue Art, die damals in seidenen Strümpfen und Schuhen
ging, nicht viel besser, wenn auch anders. Halt's Maul, Burchhard, weiß,
was Du sagen willst. -- Ich war damals ein schmucker Bursch, wußte
trefflich mit der Büchse umzugehen, und war Andreas Ralff bekannt als
Meisterschütze auf Kirchweihen und Vogelschießen weit und breit, wie
Deine Mutter, Franz, meine Schwester, als das schönste Mädchen im Lande.
Sagte mir damals der junge Graf, der eben von Reisen zurückkam: >Hör',
Andreas, tritt in meinen Dienst, will Dich gut halten, und soll es Dein
Schaden nicht sein.< Da faßte mich der Satan, daß ich's für mein Glück
hielt und einschlug.«

Der Alte stöhnte hier laut auf und barg den Kopf in den Kissen, während
Burchhard aufstand und leise eine Jägerweise aus dem Fenster pfiff. Ich
beschwor den Ohm, seine Erzählung abzubrechen und zu verschieben.

»Hab das nie getan,« sagte der alte eiserne Mann, »ist nicht rechte
Jägermanier, eine Kreatur angeschossen umherlaufen zu lassen. Reine
Büchse, reiner Schuß. Schuf's der böse Feind, daß der Graf die Luise zu
sehen kriegte, und -- Burchhard, erzähl's dem Jungen weiter ...«

Dieser, der wieder neben dem Bette seines alten Freundes saß, nickte
finster und fuhr fort in der unterbrochenen Erzählung, den Blick auf den
Boden geheftet.

»Waren wir zusammen aufgewachsen, und hatte ich sie gar lieb die Luise
mit ihren schwarzen Haaren und schwarzen Augen. Hatte aber nicht den
Mut, ihr zu sagen: Herzlieb, wolltest Du mich nicht zum Manne nehmen?
Wollte Dich auch auf'n Händen tragen! Stand ich also immer und guckte
ihr nach auf den Kirchwegen und allenthalben, wenn sie durch das Dorf
hüpfte, lachend und schäkernd, flink wie ein Reh, lustig wie eine Amsel!
...«

Der Kranke seufzte tief auf, Burchhard legte ihm das Kopfkissen zurecht
und schwieg dann, von seiner Erinnerung überwältigt, einige Minuten;
während draußen die Vögel gar lustig zwitscherten, und die Sonne immer
glühender dem Untergange zusank.

Plötzlich fuhr der Erzähler fast barsch auf:

»Was ist da weiter zu berichten! War sie ein jung Blut, und hatte ihr
der Pastor mehr Gutes als Böses von den Menschen erzählt ... Wurde
Andreas in den Wald geschickt auf Antrieb des Grafen; jubelte er
mächtig, denn von je war's sein Wunsch gewesen, ein Jägersmann zu sein,
und zog er sogleich fort von Seeburg, das alte verfallene Haus, so man
ihm gab, instand zu setzen, daß die Luise nachfolgen könne. War ich
damals nicht daheim, sondern im fremden Franzosenland, wo das Volk der
Plackerei und Adelswirtschaft müde geworden war und reinen Tisch
machte; schlug ich mich herum in der Champagne in dem Regiment
Weimar-Kürassiere, bis der Herzog von Braunschweig und die Preußen und
alle retirieren mußten durch Dreck und Regen. Kam ich zurück auf Urlaub,
putzte den Staub von den hohen Stiefeln, rieb den Harnisch so blank als
möglich, setzte den Dreimaster verwegen aufs Ohr und faßte mir ein Herz
-- war ich nicht Wachtmeister in der sechsten Schwadron? -- meinen
heimlichen Schatz zu bitten um seine hübsche weiße Hand. Sahen mich die
Leute so sonderbar an, als ich durch das Dorf schritt dem kleinen Häusel
zu, wo mein Schatz wohnte, und begegnete mir auch der Kastellan vom
Schloß, der mich nicht leiden konnte, und grinzte er mich so höhnisch
an, daß ich den Pallasch fester faßte und einen welschen Fluch brummte.
Ahnte ich aber nichts und schob alles auf die Verwunderung über mein
martialisch Ansehen und schritt mit einem Herzen, das halb freudig, halb
furchtsam klopfte, der kleinen Türe in dem Zaune zu, der das Ralffsche
Haus umgab. Hörte ich aus dem kleinen Stübchen eine Stimme singen, die
mir gar fremd und doch gar bekannt vorkam. Sang die Stimme immer nur den
Anfang eines alten Liedes:

   >Es trägt mein Lieb ein schwarzes Kleid,
   Darunter trägt sie groß Herzeleid
   In ihren jungen Tagen ...<

Nahm ich den Hut ab und trat in die Hausflur: Grüß Gott, Jungfer
Lieschen, bin zurück aus Franzosenland, -- wollte ich sagen, sprach aber
kein Wort, sondern fiel mir der Hut zur Erde, und mußte ich mich am
Pfosten halten, um nicht selbst zu fallen. Da saß ein bleiches Wesen mit
eingefallenen Wangen im Winkel, hatte die Hände im Schoß gefaltet und
zitterte, als ob ein heftiger Frost es schüttle.

>Luise, Luise!< schrie ich auf, in die Knie vor ihr stürzend, in
unmenschlicher Angst.

Die Gestalt erhob sich, kam schwankend auf mich zu und sagte, indem sie
mit eiskalter Hand mir über die Stirne strich:

>Ei, mein schön's Lieb, bist zurück aus fremdem Land? Hab lange auf dich
gewartet, mein blankes Herz!<

Schlug mir das Herz, daß mir der Harnisch zu springen drohte, den
betastete sie, und über dessen Glanz schien sie sich zu freuen.

Was weiter vorging, weiß ich nicht; noch eine Zeitlang hörte ich den
Gesang wie aus weiter Ferne:

   >Es trägt mein Lieb ein schwarzes Kleid,
   Darunter trägt sie groß Herzeleid<

-- dann vergingen mir die Sinne, -- das war meine Heimkehr aus dem
Franzosenkrieg. Ich erwachte am Abend in meinem eigenen Häuschen, das
ich vermietet hatte, und die alte Frau, die damals drinnen wohnte, saß
neben mir. Glaubte ich geträumt zu haben, -- einen bösen, bösen Traum;
besann mich erst allmählich wieder, und fügte es Gott, daß ich weinen
konnte. Erzählte mir die gute Frau den Eingang und Ausgang des Leidens,
und schaute ich nach meinen Pistolen, den bübischen Grafen hinzuschicken
vor Gottes Richterstuhl; erfuhr aber, daß er auf und davon sei in ferne
Länder; habe es ihn nicht mehr rasten und ruhen lassen, und sei er auf
einmal spurlos verschwunden gewesen, ohne über sein Verbleiben etwas zu
hinterlassen ...«

»Und hat ihn Gott davor behütet, uns vor die Augen zu kommen,« fiel mein
Oheim mit abgewandtem Gesicht ein.

»Schrieb ich dem Andreas am andern Morgen das Geschehene, denn er wußte
noch nichts davon; es war ein feiges Volk, so ihm auf vier Meilen Weges
nichts vermeldet hatte.«

Der Kranke im Bett stöhnte, als ob ihm das Herz zerbreche, während ich
schwindelnd und wortlos dasaß ...

»Verkauften wir unsere Liegenschaften und brachten wir die Luise und
Dich, Franz, ihr kleines Kind, hierher in den grünen Wald, allwo uns des
Fürsten Durchlaucht einen Unterschlupf gab. Die Luise war immer still
vor sich hin und ward immer stiller; sie sang nicht mehr ihre alten
Liederverse und saß am liebsten in der Sonne und hielt ihre armen
mageren Finger gegen das Sonnenlicht. Dann lachte sie wohl und sagte:

>Noch immer, -- noch immer, -- wie es rinnt, rinnt!<

Und eines Morgens -- -- -- Ja, wie war's denn, was ich einmal im
Franzosenland von einem den Offizieren vorlesen hörte, als ich Wache vor
dem Zelt stand. Ich glaube, Herr Goethe oder so nannten sie ihn, der es
las (er zog mit des Herzogs Durchlaucht) und es handelte von einer
dänischen Prinzessin, die wahnsinnig wurde, weil ihr Liebster sich
wahnsinnig gestellt hatte ...«

»Bleib bei der Stange, Burchhard,« rief mein Oheim plötzlich, sich
aufrichtend, -- »eines Morgens lag sie am Rande des Hungerteiches
ertrunken im Wasser!«

Laut aufschreiend stürzte ich auf die Knie und verbarg den Kopf in dem
Kissen des alten sterbenden Mannes. Dieser saß jetzt auf den Ellenbogen
gelehnt aufrecht, unterstützt von der weinenden Waldgrete, seine Augen
funkelten; er legte mir die Hand auf den Kopf und sagte leise:

»Er war jünger als Burchhard und ich; er wird leben; -- -- -- such ihn!«

Damit sank er erschöpft zurück, während ich betäubt liegen blieb.

Endlich legte mir der alte Burchhard die Hand auf die Schulter und
führte mich hinaus.

»Ich will Dir ein Wahrzeichen geben,« sagte er, als wir unter den grünen
Bäumen waren, die auf jene Tragödie ebenso grün und lustig herabgesehen
hatten. Wieder einmal folgte ich dem Laufe des Baches durch die freudige
Wildnis. Mit welchen Gefühlen?! -- Jetzt wußte ich, woher der tiefinnere
Zug nach dem stillen Waldteiche in mir kam! Da lag die klare Fläche in
der Abendglut vor uns, der leise Wind flüsterte in den Binsen, schlug
die gelben Irisglocken aneinander und schaukelte die auf ihren breiten
saftigen Blättern schwimmenden Wasserrosen; das war alles so friedlich,
so heimlich, so schön, und doch -- welch unnennbares Grauen gewährte mir
der Anblick!

»Als ich sie da fand,« sagte Burchhard, »hielt sie die eine Hand fest
zu, und das Gold eines Ringes schimmerte durch die starren Finger. Komm
mit!«

Der Alte führte mich seitab in den Wald, wo ein Stein mit einem Kreuz
bezeichnet im Moose lag. Er kniete nieder, hob ihn weg und wühlte eine
Zeitlang in der Erde.

»Da!« rief er plötzlich und schleuderte den kleinen goldenen Reif, als
habe er eine Schlange berührt, ins Gras. Es war auch eine Schlange, die
einen wappengeschmückten Rubin mit Kopf und Schweifende umschlang. Du
wirst ihn in diesem Kästchen finden, Johannes!

An jenem Abend noch starb mein Oheim, und ich führte seine Leiche, wie
Du weißt, Johannes, nach Ulfelden. Ich weiß nicht, der Tod des alten
Mannes erschien mir als gleichgültig im Vergleich mit dem Schrecklichen,
welches mir enthüllt war. -- Es war übrigens ein seltsamer Zug; wir
hatten den schwarzen Sarg auf einen niedern Wagen, mit Zweigen und
Waldblumen geschmückt, gestellt; die Holzhauer mit ihren Äxten, die
umwohnenden Köhler mit ihren Schürstangen gaben ihm das Geleit. Dicht
hinter dem Sarge schritt der alte Burchhard, die Büchse und das Waldhorn
über der Schulter, die Hunde um ihn her. Von Zeit zu Zeit blies er eine
lustige schmetternde Jägerweise, welche er dann ergreifend und seltsam
in einen Choral übergehen ließ. Unter den letzten Bäumen hielt er an,
die Holzhauer und Köhler um ihn her; noch einmal blies er einen
fröhlichen Jagdgruß, dann drückte er mir schweigend die Hand und sagte
dumpf: Lebe wohl, Franz Ralff! und schritt langsam in den Wald zurück,
und immer ferner hörte ich die Töne seines Hornes verklingen. Der Ohm
wurde auf dem Ulfeldener Kirchhof, dicht neben seiner Schwester, meiner
Mutter, begraben. Den alten Burchhard habe ich nicht wieder gesehen; ich
hielt's nun gar nicht mehr aus in der engen Welt um mich her, ich ging
nach Italien. Burchhard aber zog nach dem Harz, wo Verwandte von ihm
lebten, und wo er auch bald gestorben ist.

Das, Johannes, ist _der_ Teil meiner Geschichte, welchen selbst Du, mein
_Freund_, nicht kanntest. Ich überlasse Dir nun, welche Anwendung Du
davon einst für mein Kind wirst machen können; von _jenem_ Mann habe ich
nie eine Spur entdecken können. Versunken und vergessen! Das Schloß
Seeburg ist jetzt eine Fabrik!«

Da liegt das alte vergilbte Heft vor mir, aus welchem ich diese Bogen
der Chronik der Sperlingsgasse abgeschrieben habe. Lange saß ich noch an
jenem Tage neben meinem Freunde; er sprach viel von seinem Tode und
lächelte oft trübe vor sich hin. Während seiner Erzählung hatte er mit
der Reißkohle die Umrisse eines Kopfes auf der Leinwand vor ihm gezogen.
»_Das_ Bild male ich Dir erst noch, Johannes,« sagte er. Ich kannte die
milden Züge zu wohl, um sie nicht selbst in diesen leichten Linien zu
erkennen.

Und so geschah es! Je heller und sonniger die Farben auf der Leinwand
aufblühten, je lieblicher der Lockenkopf Mariens aus dem Grau
auftauchte, desto bleicher wurden die Wangen meines Freundes, und eines
Morgens -- war er ihr hinabgefolgt und hatte sein kleines Kind und
seinen Freund allein zurückgelassen.

                          ^Have, pia anima!^




                                                      Am 24. Dezember.


Weihnachten! -- Welch ein prächtiges Wort! -- Immer höher türmt sich der
Schnee in den Straßen; immer länger werden die Eiszapfen an den
Dachtraufen; immer schwerer tauen am Morgen die gefrorenen
Fensterscheiben auf! Ach in vielen armen Wohnungen tun sie es gar nicht
mehr. -- Hinter den meisten Fenstern lugen erwartungsvolle
Kindergesichter hervor; da und dort liegt auf der weißen Decke des
Pflasters ein verlorner Tannenzweig. Es wird viel Goldschaum verkauft,
und bedeckte Platten von Eisenblech, die vorbeigetragen werden,
verbreiten einen wundervollen Duft.

»Was ist ein echter Hamburger Seelöwe?« fragte Strobel, der bei mir
eintrat und beim Abnehmen des Hutes ein Miniaturschneegestöber
hervorbrachte.

»Ein Hamburger Seelöwe?« fragte ich verwundert. »Doch nicht etwa ein
Mitglied des Rats der Oberalten?«

»Beinahe!« lachte der Zeichner. »Ein Hamburger Seelöwe ist eine
Hasenpfote, auf welche oben ein menschenähnliches Gesicht geleimt ist.
Ein solches Individuum versteht an einem Tischrande gar anmutige
Bewegungen zu machen. Sehen Sie hier!«

Dabei zog er den Gegenstand unseres Gesprächs hervor, hing ihn an meinen
Schreibtisch und brachte ihn durch eine Art Pendel in Bewegung.

»Ist das nicht eine wundervolle Erfindung?«

»Prächtig,« sagte ich, »in meiner Jugend brachte man aber denselben
Effekt durch den abgenagten Brustknochen eines Gänsebratens, in welchen
man eine Gabel steckte, hervor; aber die Kultur muß ja fortschreiten.«

»Ja, die Kultur schreitet fort!« seufzte der Zeichner. »Sogar die
einfachen Tannen machen allmählich diesen Pyramiden von bunten
Papierschnitzeln Platz. Papier, Papier überall! Aber was ich sagen
wollte: wäre es nicht eigentlich die Pflicht zweier Mitarbeiter der
>Welken Blätter<, jetzt auf die Weihnachtswanderung zu gehen?«

»Auch ich wollte Sie eben dazu auffordern,« sagte ich.

»Vorwärts!« rief Strobel und stülpte seinen Filz wieder auf, während ich
meinen Mantel und roten baumwollenen Regenschirm hervorsuchte.

Wir gingen. Den Hamburger Seelöwen ließen wir ruhig am Tische
fortbaumeln, nachdem ihm Strobel noch einen letzten Stoß gegeben hatte.
Zur Weihnachtszeit habe ich gern ein solches Spielzeug in der Nähe;
erfreute sich doch auch der alt und grau gewordene Jean Paul zu solcher
Zeit gern an dem Farbenduft einer hölzernen Kindertrompete.

Welch ein Gang war das, den ich mit dem tollen Karikaturenzeichner in
der Dämmerung des Abends machte! In wie viel Keller- und andere Fenster
mußte der Mensch gucken; in wie viel kleine frostgerötete Hände, die
sich an den Ecken und aus den Torwegen uns entgegenstreckten, ließ er
seine Viergroschenstücke gleiten! Welch ein Gang war das! Die Geister,
die den alten Scrooge des Meisters Boz über die Weihnachtswelt führten,
hätten mich nicht besser leiten können, als Herr Ulrich Strobel. Jetzt
betrachteten wir die phantastische Ausstellung eines Ladens, jetzt die
staunenden, verlangenden Gesichter davor; jetzt entdeckte Strobel eine
neue Idee in der Anfertigung eines Spielzeugs, jetzt ich; es war
wundervoll!

An der Ecke des Weihnachtsmarktes blieben wir stehen, in das fröhliche
Getümmel, welches sich dort umhertrieb, hineinblickend. Im
ununterbrochenen Zuge strömte das Volk an uns vorbei: Väter, auf jedem
Arme und an jedem Rockschoß ein Kind; Handwerksgesellen mit dem Schatz,
den sie aus der Küche der »Gnädigen« weggestohlen hatten; ehrliche,
unbeschreiblich gutmütig und dumm lächelnde Infanteristen, feine,
schmucke Garde-Schützen, schwere Dragoner und »klobige« Artillerie. --
Hier und da wanden sich junge Mädchen zierlich durch das Getümmel; jedes
Alter, jeder Stand war vertreten, ja sogar die vornehmste Welt
überschritt einmal ihre närrischen Grenzen und zeigte ihren Kindern die
-- Freude des Volks.

Der Zeichner war auf einmal sehr ernst geworden. »Sehen Sie,« sagte er,
»da strömt die Quelle, aus welcher die Kinderwelt ihr erstes Christentum
schöpft. Nicht dadurch, daß man ihnen von Gott und so weiter
Unverständliches vorräsoniert, sie Bibel- oder Gesangbuchverse auswendig
lernen läßt; nicht dadurch, daß man sie -- wo möglich in den Windeln --
in die Kirche schleppt, legt man den Keim der wunderbaren Religion in
ihre Herzen. An das Gewühl vor den Buden, an den grünen funkelnden
Tannenbaum knüpft das junge Gemüt seine ersten, wahren -- und was mehr
sagen will, wahrhaft kindlichen Begriffe davon!«

Ich wollte eben darauf etwas erwidern, als plötzlich eine Gestalt in
einen dunkeln Mantel gehüllt, ein Kind auf dem Arme tragend, an uns
vorbeischlüpfen wollte. Ein Strahl der nächsten Gaslaterne fiel auf ihr
Gesicht, es war die kleine Tänzerin aus der Sperlingsgasse. Ich freute
mich über die Begegnung und rief sie an:

»Das ist prächtig, Fräulein Rosalie, daß wir Sie treffen. Vielleicht
werden Sie uns erlauben, daß wir Sie begleiten; denn um die Mysterien
eines Weihnachtsmarktes zu durchdringen, ist es jedenfalls nötig, ein
Kind bei sich zu haben.«

Die Tänzerin knixte und sagte: »O, Sie sind zu gütig, meine Herren;
Alfred hat mir den ganzen Tag keine Ruhe gelassen, und da kein Theater
ist, so mußte ich ihm doch die Herrlichkeit zeigen.«

»Ja Mann,« -- sagte Alfred unter einer dicken Pudelmütze gar verwegen
hervorschauend -- »mitgehen!«

Ich stellte der Tänzerin den Nachbar Zeichner vor, und das vierblättrige
Kleeblatt war bald in der Stimmung, die ein Weihnachtsmarkt erfordert.
Was für ein Talent, Kinder vor Entzücken außer sich zu bringen,
entwickelte jetzt der Karikaturenzeichner. Er hatte der Mutter den
dicken Bengel sogleich abgenommen, ließ ihn nun gar nicht aus dem
Aufkreischen herauskommen und schleppte ihn hoch auf der Schulter durch
das Gewühl voran. »O ich bin Ihnen so dankbar, so dankbar, Herr
Wachholder,« flüsterte die kleine Tänzerin, zu deren Beschützer ich mich
sehr gravitätisch aufwarf.

»Liebes Kind,« sagte ich, »ein paar solcher Junggesellen wie ich und
mein Freund würden solche Abende wie dieser sehr übel zubringen, wenn
nicht dann ausdrücklich eine Vorsehung über sie wachte. Sie sollen
einmal sehen, wie prächtig wir heute Abend noch Weihnachten feiern
werden; -- hören Sie nur, wie Alfred jubelt; sehen Sie, wie stolz und
glücklich er unter der Pickelhaube vorguckt, die ihm eben der Herr
Strobel übergestülpt hat!«

Der Karikaturenzeichner hätte sich in diesem Augenblick sehr gut selbst
abkonterfeien können -- er tat es auch, aber später. Wundervoll sah er
aus. Im Knopfloche baumelte ein gewaltiger Hampelmann, in der rechten
Hand hatte er eine große Knarre, die er energisch schwenkte; während auf
seinem linken Arm Alfred mit aller Macht auf eine Trommel paukte.

»Kleine Dame,« sagte der Zeichner jetzt zu unserer Begleiterin, »stecken
Sie mir doch einmal jene Tüte in die Rocktasche, ich komme nicht dazu!
Heda, alter Wachholder,« schrie er dann mich an, »gleiche ich nicht aufs
Haar einer Kammerverhandlung? Rechts Geknarre, links Getrommel, und für
das Fassen und Einsacken der begehrten Süßigkeiten weder Kraft noch
Platz!«

»Mama, _der_ Onkel aber mal rechter Onkel!« rief der Kleine entzückt von
seiner Höhe herab, als Rosalie der Anforderung Strobels nachkam, und ich
ebenfalls die Tasche mit allerlei füllte.

So ging es weiter, bis uns endlich die Kälte zu heftig wurde. Der
Zeichner löste sich auf -- wie er's nannte -- und überlieferte mir die
spielzeugbehangene Linke, behielt jedoch die Knarre in der Rechten, und
nun ging's durch die menschen- und lichterfüllten Straßen nach Hause.
Wie glänzte heute abend die alte dunkle Sperlingsgasse! Von den Kellern
bis zum sechsten Stock, bis in die kleinste Dachstube war die
Weihnachtszeit eingekehrt; freilich nicht allenthalben auf gleich
»fröhliche, selige, gnadenbringende« Weise. Welch einen Abend feierten
wir nun! Wir ließen unsere kleine Begleiterin natürlich nicht zu ihrem
kaltgewordenen Stübchen hinaufsteigen. War ich nicht schon auf der
Universität meines famosen Punschmachens wegen berühmt gewesen? (eine
Kunst, die mir mein Vater mit auf den Lebensweg gegeben hatte). Der
Karikaturenzeichner holte einen Tannenzweig, den er auf der Straße
gefunden hatte, hervor und hielt ihn ins Licht.

»Das ist der wahre Weihnachtsduft,« sagte er, »und in Ermangelung eines
Bessern muß man sich zu helfen wissen.«

Horch! was trappelt da draußen auf einmal auf der Treppe? Ein leises
Kichern erschallt auf dem Vorsaal und scheint noch eine Treppe höher
steigen zu wollen. »Zu mir?« sagt Rosalie und springt verwundert nach
der Tür.

»Ach, da ist sie?!« schallt es draußen, und auch ich stecke meinen Kopf
heraus.

»Guten Abend, alter Herr! Guten Abend, Rosalie! Guten Abend, Röschen!«
erschallt ein Chor heller lustiger Stimmen.

»Wo ist Alfred, wir bringen ihm einen Weihnachtsbaum!«

»Hurra, das ist's, was wir eben brauchen!« schreit der Zeichner, seine
Knarre schwingend. »Schönen guten Abend, meine Damen, und fröhliche
Weihnachten!«

Aus dunkeln Mänteln und Schals und Pelzkragen entwickelt sich jetzt ein
halbes Dutzend kleiner Theaterfeen, die alle jubelnd und lachend meine
Stube füllen, und -- auf einmal alle ein verschiedenes Musikinstrument
hervorholen, welches sie auf dem Weihnachtsmarkt erstanden haben. Ein
Heidenlärm bricht los; das knarrt und quiekt und plärrt und klappert,
daß die Wände widerhallen, und Rosalie, welche beschwörend von einer der
kleinen Ratten zur andern läuft, zuletzt die Ohren zuhaltend in dem
fernsten Winkel sich verkriecht.

Endlich legt sich der Skandal mit dem ausgehenden Atem und der
ausgehenden Kraft des Karikaturenzeichners, der vor Wonne über das
Pandämonium kaum noch seine Knarre schwingen kann.

Welch ein Punsch war das! welche Gesundheiten wurden ausgebracht! welche
Geschichten wurden erzählt! Vom Souffleur Flüstervogel bis zum
Ballettmeister Spolpato, ja bis zu Seiner Exzellenz dem Herrn
Intendanten hinauf.

Heute abend malte Strobel keine Karikaturen, aber _sich_ selbst machte
er oft genug zu einer. Beim Versuch, sich auf einer mit dem Halse auf
der Erde stehenden Flasche sitzend zu drehen, beim Zuckerreiben, beim
Versuch, den glimmenden Docht eines ausgeputzten Wachslichts wieder
anzublasen und bei andern Kunststücken.

Alfred, der durch Unterlegung von Pfuffendorfs und Bayles
schweinslederner Gelehrsamkeit und durch Auftürmung verschiedener
dickbändiger Erziehungstheorien dazu gebracht war, neben seiner kleinen
Mutter sitzend, über den Tisch blicken zu können, jubelte mit, bis ihm
die Augen zufielen, und er auf meinem Sofa ein- und weiterschlief bis
elf Uhr, wo das Fest endete, die kleinen Gäste wieder in ihre Mäntel
krochen, mich für einen »gottvollen alten Herrn« erklärten, Röschen
küßten und nach einem vielstimmigen »gute Nacht« die Treppe
hinabtrippelten. Darauf trug Strobel den schlafenden Alfred eine Treppe
höher (wozu ich leuchtete) und -- auch dieser Weihnachtsabend der
Sperlingsgasse war vorbei.




                                                         Am 1. Januar.


Neujahrstag! -- Ich habe einen Brief bekommen aus dem fernen Italien;
ein köstliches Neujahrsgeschenk. Er spricht von der alten dunkeln
Sperlingsgasse und Glück und Wiedersehen, und eine Frauenhand hat diese
feinen, zierlichen Buchstaben gekritzelt. Den Namen der Schreiberin
nenne ich aber noch nicht, sondern fahre in meinem Gedenkbuch fort, wozu
ich diesmal eine neue Mappe hervorsuchen muß.

So war ich denn allein mit der kleinen Elise, die unbewußt ihres
Waisentums und des unbehülflichen Pflegevaters, auf Marthas Schoß
tanzte, als ich auch von _dem_ Begräbnisse zurückkehrte in diese vor
kurzem noch so fröhliche, jetzt so öde Wohnung in Nr. Sieben der
Sperlingsgasse. Da stand -- es steht noch da -- auf dem Fenstertritt
Mariens kleines Nähtischchen mit unvollendeten Arbeiten, Zwirnknäulchen,
Nadeln und Bändern, wie sie es an _jenem_ Abend, über Kopfweh klagend,
verlassen hatte, um nicht wieder davor zu sitzen, nicht wieder durch die
Rosen- und Resedastöcke und das Efeugitter in die dunkle Gasse hinaus zu
sehen. Da waren noch allenthalben die Spuren ihrer zierlichen
Geschäftigkeit. Franz hatte die letzten drei Monate wie ein Argus über
ihre Erhaltung gewacht. -- Dort auf jenem Stuhl hing noch ihr Hütchen,
dort das Handkörbchen, welches sie bei ihren Einkäufen mit sich führte.

Im zweiten Fenster stand Franzens Staffelei; das vollendete Bild
Mariens, lächelnd, wie sie nur lächeln konnte, -- darauf lehnend. Seine
farbenbedeckte Palette hing daneben, seine Skizzenmappen und Rollen
lehnten und lagen allenthalben. Hinter der Tür hing sein zerdrückter
Biber, den wir so oft auf unsern Spaziergängen mit Blumen und
Laubgewinden umkränzten, und der Marien, seines jämmerlichen, manchen
sturmdurchlebten Aussehens wegen, ein solcher Dorn im Auge war.

Kein Fleckchen, kein Gerät ohne seine traurig süße Erinnerung.
Zerbrochenes Kinderspielzeug auf dem Boden ...... und ich allein mit dem
Kinde in dieser kleinen Welt eines verlornen Glücks, -- Erbe von so viel
Schmerz und Tränen und Verlassenheit!

Aber jetzt galt es zu handeln, nicht zu träumen. Ich mußte mich
aufraffen. Ich nahm der Wärterin das kleine Lischen aus den Armen, küßte
es und versprach mir leise dabei, dem Kinde meiner Freunde ein treuer
Helfer zu sein im Glück und Unglück, bei Nacht und bei Tage, und ich
glaube den Schwur gehalten zu haben. Das Kind sah mich mit seinen großen
blauen -- denen der Mutter so ähnlichen -- Augen lächelnd an, griff mit
beiden Händen mir in die Haare und begann lustig zu zausen, wobei die
alte Martha mit gefalteten Händen zusah. Martha war schon Mariens
Wärterin im Rektorhause zu Ulfelden gewesen, war mit ihr zur Stadt
gekommen und hatte sie nicht verlassen bis an ihren Tod.

Da meine Wohnung drüben in Nr. Elf zu beschränkt war, um die ganze
kleine Welt dahin überzusiedeln, so hielt ich zuerst mit Martha einen
Rat, dessen Resultat war, daß ich meine Bücher, Herbarien, Pfeifen und
unleserlichen Manuskripte nach Nr. Sieben herüber holte, worauf Martha
alles aufs beste einrichtete. Indem ich alle Liebe für die Eltern nun in
dem Kinde konzentrierte, hoffte ich, auf den Trümmern des
zusammengestürzten Glücks ein neues hervorblühen sehen zu können. Drüben
blieb die Wohnung nicht lange leer; mein dicker Freund, der Doktor
Wimmer, zog ein und spielte eine geraume Zeit den Haupthelden und
Faxenmacher der Sperlingsgasse.




                                                         Am 5. Januar.


Elise! -- So oft ich diesen Namen niederschreibe, klingt es wider in der
immer dunkler herabsinkenden Nacht meines Alters wie ein Kindermärchen,
wie Lerchenjubel und Nachtigallenklage, umgaukelt es mich so duftig, so
leicht, so elfenhaft ...... Elise, Elise, komm zurück! Sieh, ich bin alt
und einsam! Weißt du nicht, daß ich dich auf den Armen schaukelte, daß
ich über dir wachte in langen Nächten, wie nur eine Mutter über ihrem
Kinde wachen kann? -- Und aus weiter Ferne glaube ich oft eine zärtliche
wie Musik tönende Stimme zu vernehmen: Ich komme! ich komme! Geduld, nur
noch eine kurze Zeit!

Und ich warte und hoffe und fülle diese Blätter mit dem Namen meines
Kindes Elise.

So tauche denn auf aus dem Dunkel, du Idyll, bringe mit dir deine
Märchenwelt, dein Lächeln durch Tränen! Komm, mein kleines Herz; -- aus
den schweinsledernen Folianten lassen sich so hübsche Puppenstuben
bauen; schau einmal her, was für ein prächtiges Bett gibt mein
Papierkorb ab für die Jungfern Anna, Laura, Josephine und wie die
kleiegefüllten Donnen sonst heißen! Einen niedlichen goldgelben
Kanarienvogel schenke ich dir, wenn du nicht weinen willst und hübsch
herzhaft den Löffel voll brauner Medizin herunterschluckst! -- Weine
nicht, Liebchen, sieh wie der Efeu aus deiner Mutter Heimatswalde
Blättchen an Blättchen ansetzt und immer höher an der Fensterwand sich
emporrankt. Schau, wie der Sonnenschein hindurchzittert und auf dem
Fußboden tanzt und flimmert; es ist wie im grünen Wald -- Sonnenschein
und blauer Himmel! Du mußt aber auch lächeln!

Und wie der Efeu höher und höher emporsteigt, so wächst auch du, mein
kleines Lieb; schon umgeben ebenso feine lichtbraune Locken, wie die auf
jenem Bilde, dein Köpfchen. Wer hat dich gelehrt, dieses Köpfchen so
hinüber hängen zu lassen nach der linken Seite, wie _sie_ es tat?

Schüttle die Locken nicht so und gucke mich nicht so schelmisch an aus
deinen großen glänzenden Augen! Soll das ein R sein, dieses Ungetüm? O,
welch ein Klecks, Schriftstellerin! Welche Tintenverschwendung von den
Händen bis auf die Nasenspitze! Wie wird die alte Martha waschen müssen!
Du sagst: du habest nun genug Buchstaben gemalt, du müssest jetzt
hinunter in die Gasse; du meinst: sogar die Fliegen hielten es nicht
mehr aus in der Stube, du sähest wohl, wie sie mit den Köpfen gegen die
Scheiben stießen?!

Nun so lauf und fall nicht, Wildfang; ich sehe ein, wir müssen dich doch
wohl zu dem Herrn Roder in die Schule schicken, damit du das Stillsitzen
lernst.

Was ist das auf einmal für ein helles Stimmchen, welches drüben aus dem
Fenster meiner alten Wohnung in Nr. Elf ruft:

»Onkel Wachholder, Onkel Wachholder! Ausgehen, ausgehen!«

Quält die kleine Hexe nicht schon wieder den Doktor der Philosophie
Heinrich Wimmer, der da drüben seine guten Leitartikel und schlechten
Romane schreibt? Wirklich, es ist so. Eine Baßstimme brummt herüber:

»Wachholder, 's ist ne absolute Unmöglichkeit, bei dem Heidenlärm, den
Euer Mädchen hier mit dem Buchdruckerjungen und dem Rezensenten --
(Rezensent heißt der Hund des Doktors, ein ehrbarer, schwarzer Pudel)
treibt, weiter zu schreiben. Ich bin mitten in einer der sentimentalsten
Phrasen abgeschnappt, -- die kleine Range ist aus Rand und Band, und
dabei grinst der Lümmel Fritze im Winkel und will Manuskript für die
morgende Nummer.«

»Schicken Sie doch das Mädchen fort, Doktor, und riegeln Sie Ihren
Musentempel hinter ihr zu!« lache ich hinüber.

»Dummes Zeug,« brummt der Doktor, der eine echte zeitungsschreibende
Bummelnatur ist, und dem die Störung durchaus nicht mißfällt. »Dummes
Zeug; ich schreibe >Fortsetzung folgt<, und wir führen die Dirne in
Schreiers Hunde- und Affenkomödie; der Rezensent hat's auch nötig, daß
seine ästhetische Bildung aufgefrischt werde, wie ein Pack verflucht
sonderbar riechender Zeitungsnummern in der Ecke zur Genüge beweist.
Machen Sie sich fertig, Verehrtester!«

Damit verschwindet der Doktor vom Fenster; ich höre drüben auf der
Treppe ein Getrappel kleiner Füßchen, und Lise erscheint, begleitet vom
Rezensenten, in der Haustür. Mit einem Satz ist sie über die Gasse,
ebenso schnell bei mir und im Handumdrehen fertig, wenn's sein müßte,
eine Reise um die Welt anzutreten.

Einige Minuten später stürzt Fritze, der Druckerjunge, aus der Tür von
Nummer Elf mit einem Blatt Papier, welches noch sehr naß zu sein
scheint, denn er trägt es gar vorsichtig und hält es mit beiden Händen
weit von sich ab. Jetzt erscheint der Doktor ebenfalls in der Gasse, den
österreichischen Landsturm pfeifend, die Zigarre im Munde und mit dem
Hakenstock sehr burschikose Fechterübungen gegen einen eingebildeten
Gegner machend. Er brüllt herauf:

»Wetter, edler Philosoph, lassen Sie die deutsche Presse nicht zu
unvernünftig lange warten.«

Halb gezogen von Lischen, halb umgeworfen vom Rezensenten, der wie es
scheint, seiner höheren Bildungsschule sehr ungeduldig entgegengeht,
stolpere ich die Treppe hinunter, über Eimer und Besen, über Kinder und
Körbe. Aus allen Türen blicken alte und junge, männliche und weibliche
Köpfe, die alle der kleinen Lise Ralff freundlich zunicken. Und
wirklich, sie ist auch -- wie einst ihre Mutter, nur jetzt noch auf
andre Weise -- das bewegende Prinzip der ganzen Hausgenossenschaft. Auf
der Gasse taucht der Klempner Marquart aus seiner Höhle auf und erhält
von der Lise Gruß und Handschlag, nicht aber vom Rezensenten, der den
Feuerarbeiter haßt, und, wie es so oft in der Welt geschieht, das
Werkzeug für die Ursache nimmt. Hat nicht Marquart auf hohe polizeiliche
Anordnung ihm, dem ehrbaren, soliden Rezensenten, dem Muster aller
Pudel, den Maulkorb mit der Steuermarke um die beschnurrbartete Schnauze
geschlossen? Wer verdenkt es dem braven Köter, wenn er wehmütigwütig vor
dem Keller den husarenfederbuschartig zugeschnittenen Schwanz zwischen
die Beine zieht und seitwärts schielend vorbeischleicht, »sich in die
Büsche schlägt« wie Seume und mein Freund Wimmer sagen? Und nun durch
die Gassen! Himmel, was sollen wir der Kleinen nicht alles versprochen
haben! Da eine »reizende« Gliederpuppe mit Wachsgesicht, an jenem Laden
wieder ein »wonniges« kleines Puppenservice von gemaltem Porzellan und
so fort, daß der Doktor ganz wehmütig den Hut auf die Seite schiebt und
sich hinter dem Ohr kratzt.

»Ja, gucke nur, Onkel Wimmer, hast Du nicht gesagt, Du wolltest mir
solch ein hübsches Kaffeegeschirr kaufen, wenn ich nicht wieder aus
Deinen alten, schmutzigen Schreibbüchern dem Rezensenten einen Federhut
machen wolle?«

»Denken Sie, Wachholder« -- sagt der Doktor zu mir -- »da hatte die
Herostratin vorgestern einen ganzen Bogen Manuskript, das ganze
zwanzigste Kapitel der Flodoardine zu dem eben von ihr erwähnten Zwecke
vermißbraucht! Denken Sie sich meine Verblüfftheit, als der Köter so
geschmückt aus seinem Winkel mir entgegenstolziert, auf den Stuhl mir
gegenüber springt und einen verachtenden Blick über den Schreibtisch und
die noch übrigen Bogen wirft, als wolle er sagen: Pah, aus dem andern
Schund machen wir eine ganz famose Jacke!«

»Kriege ich mein Geschirr?« ruft der kleine Verzug zwischen uns
ungeduldig.

»Ja,« sagte der Doktor gravitätisch; »mit der zweiten Auflage der
Flodoardine!«

»Ach,« mault die Kleine, wehmütig über diese dunkle, ihr unverständliche
Vertröstung, »ich sehe schon, Du hast wieder mal kein Geld!«

Lachend marschierte ich weiter, während der Doktor ebenfalls etwas
Unverständliches in den Bart brummte.

Und jetzt sind wir am Eingange der buntgeschmückten Bude angekommen und
einen Augenblick darauf auch drinnen. Affen und Äffinnen, Hunde und
Hündinnen machten ihre Kunststücke, und die Bretter bedeuteten auch hier
eine Welt, und Affe und Äffin, Hund und Hündin betrugen sich wie
Menschen. Die kleine Elise jauchzte, und Rezensent starrte verwundert
seinen Stammesgenossen auf der Bühne zu. Er schien ganz perplex, und von
Zeit zu Zeit stieß er einen heulenden Laut aus, den der Doktor
verdolmetschte:

   »Berichterstatter war außer sich vor Entzücken.«

Bellte der gelehrte Pudel kurz und schroff, so meinte der Doktor, das
bedeute:

   »Berichterstatter war außer sich über die Insolenz eines so
   unreifen Künstlers, vor einem so kritisch gebildeten Publikum,
   wie das unserer Residenz, zu erscheinen.«

Wedelte das rezensierende Vieh mit seinem Husarenbusch, so hieß das:

   »Diese junge Künstlerin verdient alle Ermunterung. Bei
   fortgesetztem, fleißigem Studium verspricht sie etwas Großes zu
   leisten.«

Gähnte der Köter, so sagte der Doktor:

   »Berichterstatter rät dem Verfasser dieses geistvollen Stücks,
   sein elendes Machwerk nicht für dramatische Poesie auszugeben.
   Mit einer Tragödie hat es nichts gemein als fünf Akte!«

Als am Schluß der Vorstellung das große und kleine Publikum sich erhob
und Beifall klatschte, der Pudel aber, wie von einer großen
Verpflichtung befreit, unter die Bank sprang, erklärte der Doktor, das
bedeute:

   »Gottlob, daß die Geschichte vorbei ist. Jetzt kann man sich doch
   mit Gemütsruhe eine Zigarre anzünden und zu Butter und Wagener am
   Gänsemarkt gehen.«

Und das tat der Doktor auch. Vorher aber hob er die kleine Elise noch zu
sich empor und gab ihr -- wie sehr sie sich auch sträubte -- einen
tüchtigen Schmatz.

»Also bei der zweiten Auflage der Flodoardine schaffen wir uns ein neues
Teeservice an,« sagte er lachend.

Rezensent schien erst im Zweifel mit sich zu sein, welcher von beiden
Parteien er folgen solle. Zuletzt gewann aber der Gedanke an
Wurstschelle und so weiter die Oberhand. Er trabte dem Doktor nach.

Wir aber gehen nicht zu Butter und Wagener am Gänsemarkt. Wir kaufen
noch Obst von der alten Hökerfrau an der Ecke, und kehren glücklich --
das kleine Herz voll vom Affen Kätz mit der Laterne und dem Spitz
Hudiwudri, der lustigen Madame Pompadour und all den andern Wundern,
zurück in unsere Sperlingsgasse und schlafen, müde vom Gehen, Lachen und
Jubeln, schon beim Auskleiden ein.

Dann steigt der volle reine Mond über den Dächern auf. Der Abendwind
weht frischere Lüfte über die große Stadt. Der Lärm des Tages ist
vorbei; manche bedrückte Brust atmet leichter in der dämmerigen Kühle.
Mancher sehnige Mannesarm, welcher den Tag über den Hammer, das Beil,
die Feile regierte, legt sich sanft um ein befreundetes Wesen, das ihm
neuen Mut im harten Kampf gegen die Materie gibt; manche harte Hände
heben kleine, schlaftrunkene Kindchen aus den ärmlichen Bettchen, um an
den kleinen Lippen Hoffnung und Mut zum neuen Schaffen zu saugen! Und
auch ich beuge mich dann über meine schlafende Pflegetochter, den
leisen, ruhigen Atemzügen der kleinen Brust lauschend, während die alte
Martha am Fußende des Bettes strickt.

Das Lockenköpfchen des Kindes liegt auf dem rechten Ärmchen, das
Gesichtchen ist in dem Kopfkissen vergraben; ich kann die lieblichen,
reinen Züge nicht sehen.

                   *       *       *       *       *

Da sieh! Plötzlich wendet sich das Kind um und dreht mir voll das
Gesicht zu -- es murmelt etwas. »Mama!« flüstert es leise, und ein
heiliges, glückseliges Lächeln gleitet über das Gesichtchen.

Wer raunt der Waise das süße Wort zu? -- Die alte Martha hat die Hände
gefaltet und betet leise. -- »Mama, liebe, liebe Mama!« flüstert das
Kind wieder, das Ärmchen ausstreckend.

Ist es ein Traum, oder kommt die erdentote Mutter zurück, über ihrem
Kinde zu schweben?

Dann fällt wohl ein Mondstrahl glänzend durch das Efeugitter auf das
Bild Mariens, der Kanarienvogel zwitschert auch wie im Traume auf, eine
Wolke legt sich vor den Mond, der Strahl verschwindet, -- das Kind
versenkt, sich umdrehend, das Köpfchen wieder in die Kissen.

»Gute Nacht, Elise! ^Felicissima notte^, sagen sie in dem schönen
Italien, wo Du heute weilst, eine glückliche, liebende Frau:
^Felicissima notte^, Elise!«




                                                        Am 10. Januar.


Seit ich jene Mappe, überschrieben: Ein Kinderleben, -- hervorgenommen
habe, ist in meinem bisherigen Fenster- und Gassenstudium eine Pause
eingetreten. Es soll draußen sehr kalter Winter sein; Strobel behauptet
es, auch Rosalie ist nicht dagegen. Ich kann nicht sagen, daß ich viel
davon wüßte. In diesen vergilbten Blättern hier vor mir ist es sonniger
Frühling und blühender Sommer. Es macht mir Freude, mich darin zu
verlieren, und ich erzähle deshalb weiter.

Da ist so ein altes Blatt:

Wir sind sehr ungnädig. Ein alter, dicker, lächelnder Herr ist
dagewesen, hat uns den Puls gefühlt, noch mehr gelächelt, einigemal mit
seinem spiegelblanken Stockknopf seine Nasenspitze berührt, hat Tinte
und Papier gefordert und kurze Zeit auf einem länglichen
Papierstreifchen gekritzelt. Martha hat diesen Zettel darauf
fortgetragen, der Alte hat uns auf das Köpfchen geklopft und gesagt:
»Schwitzen, schwitzen!«

»Brr!« -- --

Mühe genug hat's dem Onkel Wachholder gekostet, einen solchen kleinen
strampelnden Wildfang zur Räson und ins Bett zu bringen. 'S ist auch
zuviel verlangt, die Arme so ruhig unter die Decken zu halten und nur
den Kopf frei zu haben. -- Himmel, was bringt Martha da für einen
kleinen braunen Kerl an! Er gleicht fast: dem Sem, dem Ham oder dem
Japhet aus dem Noahkasten, trägt ein rotes Mützchen über das Gesicht
gezogen und mit einem Faden umbunden, und schleppt hinter sich her einen
langen papiernen Zopf. Was ist's für ein Glück, daß wir noch nicht
imstande sind, die Inschrift darauf zu lesen:

                        Fräulein Elise Ralff.
                   Alle 2 St. einen Eßlöffel voll.

Wir sehen den Burschen aber doch mißtrauisch genug aus unserm Bettchen
an, und der Doktor Wimmer, der zur Hilfe herübergekommen ist (natürlich
begleitet vom Rezensenten), meint gegen mich gewandt:

»Geben Sie acht, Wachholder, ohne Spektakel wird's nicht abgehen. Das
Volk hat sich erkältet oder erhitzt; einerlei! Schwitzen, schwitzen!
Schweiß und Blut! ^Probatum est.^«

Martha kommt nun mit einem Löffel, einem Glas Wasser und einem Stück
Zucker, während die Kleine in ihrem Bette immer unruhiger wird, und
Rezensent immer gespannter auf die Entwicklung der Dinge zu warten
scheint.

»Ich mag nicht einnehmen!« wehklagt jetzt Lise, als ich dem Meister Sem
die rote Mütze abziehe -- »es schmeckt so scheußlich!«

»Aha,« lacht der Doktor Wimmer -- »die oktroyierte Verfassung!«

Während ich mich mit dem Löffel voll Medizin der Kleinen, die sich immer
weiter zurückzieht, nähere, suche ich vergeblich alle möglichen Gründe
für das schnelle Herunterschlucken hervor.

»Gib's dem Rezensenten, er war auch gestern mit im Regen!« ruft Lischen
endlich weinerlich.

»Ja, das ist auch wahr; kommen Sie, Onkel Wachholder! Der
Redaktionspudel soll's wenigstens kosten, damit die Lise sieht, daß es
den Hals nicht gilt.«

Und der Doktor nimmt, den Rücken der Kleinen zukehrend, den Köter
zwischen die Kniee, tut als ob er ihm einen Löffel voll Mixtur eingösse
und liebkost den Pudel dabei, daß dieser freudig aufspringt und lustig
bellt.

»Siehst Du, Jungfer, wie prächtig es ihm geschmeckt hat! Allons, kleine
Donna! Frisch herunter! -- -- -- Eins! zwei! drei! und« ...

Herunter war's. Schnell das Glas Wasser und das Stück Zucker
dahinterher!

»Du häßlicher Hund!« sagt die Kleine ärgerlich, den Mund in dem Deckbett
abwischend, während die alte Martha sie fester wieder zudeckt.

Der Doktor geht nun zurück zu seinen Korrekturbogen, aber der Hund
begleitet ihn diesesmal nicht, sondern springt auf den Stuhl neben dem
Bettchen seiner grollenden Gespielin und schaut gar ehrbar auf sie
herab.

»Ja, gucke mich nur so an und lecke Deinen Schnurrbart,« sagt Lischen.
»Es schmeckte ja doch bitter?! Warte nur, wenn ich erst wieder aus dem
Bette darf.«

Da Rezensent nicht antwortet, so nehme ich für ihn das Wort:

»Vielleicht freute sich das arme Tier nur, daß es nun auch bald wieder
gesund werden könne, es war doch ebenso naß geworden wie Du und hat
gewiß auch die ganze Nacht hindurch gehustet.«

»Nein,« sagte die Kleine, »er tat's nur, weil ich ihm meine Schürze über
den Kopf gebunden hatte. Sieh nur, wie er sich freut, wie er seinen
Schnurrbart leckt!«

Dagegen läßt sich nichts einwenden, das Redaktionsvieh leckt wirklich
mit ungeheuerm Behagen die Schnauze, und ich ziehe es vor, die
moralische Seite herauszukehren.

»Das war aber auch sehr unrecht von Dir, Elise! Was hatte Dir denn das
arme Tier getan? Eigentlich dürfte ich Dir nun die schöne Geschichte,
die ich weiß, gar nicht erzählen.«

»Wir wollen uns wieder vertragen,« sagt Elise wehmütig und nickt dem
Pudel zu. »Nicht wahr, Du?«

Glücklicherweise legt Rezensent gravitätisch seine schwarze Pfote auf
die Bettdecke, und so nehme ich den Frieden für geschlossen an.

»Gut denn, wenn Du hübsch artig und still liegen bleiben und weder
Händchen noch Füßchen hervorstrecken willst, so werde ich Dir eine
wunderbare Geschichte erzählen, die noch dazu ganz und gar wahr ist.

Höre:

Es war einmal ein -- Küchenschrank: ein sehr vortrefflicher, alter,
ehrenfester Küchenschrank, und er stand und steht -- draußen in unserer
Küche, wo wir ihn uns morgen ansehen wollen! -- Er war fest
verschlossen, welches von zwei sehr wichtigen und angesehenen Personen,
die davor standen, für das einzige Übel an ihm erklärt wurde. Martha
hatte aber die Schlüssel in ihrer Tasche, und beide Personen, die ich
Dir sogleich näher beschreiben will, erklärten das einstimmig -- sie
waren sonst selten _einer_ Meinung -- für sehr unangenehm, sehr unrecht
und sehr Mißtrauen und Verachtung erregend.

Ich habe schon gesagt, daß beide davor sitzende Personen von großem
Ansehen und Gewicht waren, sowohl in der Küche wie auf dem Hofe und dem
Boden. Beide machten sich oft nützlich, oft aber auch sehr unnütz. Jede
hatte ein Amt zu verwalten und verwaltete es auch -- das war ihre
Pflicht; jede mischte sich aber auch nur zu gern in Dinge, die sie
durchaus nichts angingen, und das -- war sehr unartig. Vor dem
Küchenschrank zum Beispiel hatten sie in diesem Augenblick durchaus
nichts zu tun, und doch waren sie da, guckten ihn an, guckten darunter,
guckten an ihm herauf. Es roch aber auch gar zu lieblich daraus hervor!

Die eine dieser Personen war mit einem schönen weißen Pelz bekleidet,
einen kleinen Schnurrbart trug sie um das Stumpfnäschen und schritt ganz
leise, leise auf vier Pfoten mit scharfen Krallen einher. Einen schönen,
langen, spitzen Schwanz hatte sie auch, und sie schwang ihn in diesem
Augenblick heftig hin und her, denn sie ärgerte sich eben sehr und zwar
über drei Dinge:

   erstens: über den verschlossenen Schrank,
   zweitens: über die andre Person,
   drittens: über sich selbst.

Es war, es war ... nun, Lischen, wer war es?«

»Die Katze, die Katze!«

»Richtig, die Katze, Miez, der Madame Pimpernell Katze. (Holla,
Rezensent! Du brauchst nicht aufzustehen!) Die andre Person war etwas
größer als Miez, hatte einen braunen Pelz an, marschierte auch auf vier
Beinen einher, wie Miez, aber lange nicht so leise, und sie ärgerte sich
auch über drei Dinge: das Schloß am Schranke, die Katze und sich selbst.
Ihren Schwanz hätte sie ebenfalls gern hin und her geschleudert, aber
sie konnte es leider nicht, denn sie besaß nur einen ganz kleinen
Stummel, nicht der Rede wert. Das machte sie fast noch ergrimmter als
Miez, denn die konnte doch wenigstens ihrem Zorn Luft machen.

Nun, wer mochte diese zweite Person wohl sein Lise?«

»Der Hund, Marquarts Bello!« schrie Elise ganz entzückt.

»Geraten, es war Bello, der Edle; ein weitläufiger Verwandter vom
Rezensenten und sonst auch ein ganz netter Kerl, aber -- wie gesagt --
vor dem Schrank hatte er nichts zu suchen!

>Nun?< sagte Miez, den Bello anguckend.

>Nun?< sagte Bello, die Miez anguckend.

>Miau!< klagte Miez, den Schrank anguckend.

>Wau!< heulte Bello, den Schrank anguckend.

So weit waren sie; sie wollten aber dabei nicht bleiben.

>Packen Sie sich auf den Hof,< sagte die Katze, >was haben Sie hier zu
gaffen?<

>_Sie_ hätte ich Lust zu packen,< schrie der Hund, >scheren Sie sich
gefälligst auf Ihren Boden und fangen Sie Mäuse. Aufkriegen _Sie_ ihn
doch nicht!<

>Pah!< sagte die Katze und schleuderte ihren schönen Schweif dem Hunde
zu, welches so viel heißen sollte, als: >Armer Kurzstummel, wenn ich nur
wollte!< Das war aber dem armen Bello zu viel, denn jede Anspielung auf
seinen Stummel machte ihn wütend, wie auch der Swinegel, der, wie Du
weißt, mit dem Hasen auf der Buxtehuder Heide um die Wette lief, nichts
auf seine krummen Beine kommen ließ.

Auf sprang also Bello, heulte furchtbar und wollte eben der Miez an ihr
schönes glattes Fell, als auf einmal ...

Piep, Piep, Piep! es im Schranke ertönte.

>Mause, Mi--ause, Mi--ause am Braten drinnen -- und ich dri--außen,
dri--außen, dri--i--i--außen!< jammerte die Katze.

>Wau, wau; das kommt von Ihrem albernen Betragen und Ihrer
Nachlässigkeit!< heulte der Hund, und dann -- kam Martha vom Markte
zurück, und Hund und Katze gingen hin, wo sie her gekommen waren.

Jetzt aber, mein Kind, schlaf ein und schwitze recht tüchtig, damit wir
morgen die Stelle besehen können, wo diese merkwürdige Geschichte
vorgefallen ist.« Und so geschah's; Lischen schlief ein, ich aber freute
mich, wieder einmal ein Märchen beendet zu haben, wie ein wahres Märchen
enden muß; nämlich ohne allzu klugen Schluß und Moral. Daß der Doktor
nicht bei meiner Erzählung zugegen war, konnte mir ebenfalls nur lieb
sein. Jedenfalls hätte er wieder schnöde politische Vergleiche und
Anspielungen losgelassen, was mir sehr unangenehm gewesen wäre.

»Herr Wachholder,« sagte Martha auf einmal ganz treuherzig -- »das Loch
im Schranke hat der Tischler Rudolf schon wieder zugemacht. Die Mäuse
können nun nicht mehr hinein.«

»Bis sie sich wieder durchgefressen haben, Martha!« Ich dachte an den
Doktor und seine Anspielungen.




                                                        Am 11. Januar.


Wie der Efeu aus dem Ulfeldener Walde höher und höher hinaufsteigt an
der Wand des Fensters, geküßt von der warmen Sonne, getränkt von kleinen
sorgenden Händen, welche alle verwelkten gelben Blätter abpflückten, daß
die Pflanze immer frisch und jung dastehe!

Aus Tagen werden Wochen, aus Wochen Monate, aus Monaten Jahre, und das
junge Menschenkind wächst und entfaltet sich schöner und blühender als
die köstlichste, wundersamste Pflanze. Die alte Martha wird immer älter
und gebückter, und graues Haar mischt sich mehr und mehr unter mein
braunes. Zum erstenmal ist der Tod an mein Kind herangetreten. Es hat
über der ersten Leiche geweint. Der hübsche goldgelbe Kanarienvogel, der
so zahm und lieb war, lag eines Morgens kalt und erstarrt auf dem Boden
seines kleinen Hauses.

So fand ihn Elise und schrie auf, nahm ihn in ihre Hände, hauchte ihn an
und suchte ihn zu erwärmen, -- ach, armes Kind: die Toten kommen nicht
wieder!

Leg ihn nieder, deinen kleinen Freund; auch dir jungem Wesen ist es
jetzt schon nicht mehr vergönnt, zu klagen und zu trauern, wie du wohl
möchtest; auch dich hat das Leben jetzt schon erfaßt und in seine Wirbel
gezogen; -- gehe hin mit deinem gedrückten kleinen Herzen, daß du die
Schule nicht versäumst! -- Elf Jahre alt ist mein Kind jetzt in den
Blättern der Chronik. Das runde Gesichtchen zieht sich schon mehr und
mehr zu jenem Oval, welches das Bild dort an der Wand so lieblich macht;
aus Lischens Kinderstimme klingt mir nun oftmals -- wenn sie sich
wundert, sich freut oder klagt -- ein Ton entgegen, der mich fast
erschreckt auffahren läßt. Es ist derselbe Ausruf, den _sie_ an sich
hatte! Wer hat ihn dich gelehrt, kleines Herz? Diesen Ton, den ich für
ewig verklungen hielt, und welcher jetzt nach so langen Jahren wieder
frisch und lebendig wird?

Weine nicht mehr, Lischen, sieh, ich will dich an ernstere Gräber
führen, draußen vor der Stadt. Da wollen wir uns hinsetzen unter die
blühenden Rosenbüsche und denken, daß die Welt so groß, so unendlich
groß sei, und doch nichts darin verloren gehe! Da wollen wir auch dem
toten Vogel sein kleines Grab graben und uns vorstellen, daß im nächsten
Frühlinge aus seinem Leibe eine hübsche goldgelbe Blume aufsprießen
werde: zur Freude des bunten winzigen Schmetterlings und des großen,
ewigen Gottes.

Stecke dein Butterbrot in deine Korbtasche, Lischen (wenn du es heute
vielleicht auch verschenken wirst) -- gib mir einen Kuß und grüße den
Herrn Lehrer Roder. Du kannst ihn auch fragen, ob er nicht morgen am
Sonntag mit uns hinausgehen wolle in den Wald und vielleicht noch
weiter.

Lischen nickte und ging -- noch immer schluchzend; ich aber machte mich
auf den Weg zur Expedition der >Welken Blätter<, ohne eine Ahnung von
dem neuen tragischen Ereignis, welches den Tag noch wichtig machen
sollte.

Mohrenstraße Nr. 66 war damals schon und ist auch heut noch das Bureau
dieses bekannten Blattes. Ich hatte bald meine Geschäfte abgemacht mit
dem Hauptredakteur, dem Doktor Brummer, einem kleinen, quecksilbrigen
Individuum mit goldener Brille und roter Perücke -- jetzt lange tot --
und schwatzte noch mit den anwesenden Journalisten und den Künstlern
beiderlei Geschlechts, die gelobt sein wollten, als plötzlich die Türe
aufgerissen wurde, und der Doktor Wimmer erschien, begleitet von dem uns
nur zu wohl bekannten dicken, hochrotgesichtigen Polizeikommissar
Stulpnase. Da sie miteinander eintraten, war es nicht ausgemacht, wer
von beiden den andern eigentlich mitschleppe.

»Meine Herren,« schrie einen gestempelten Bogen schwingend der Doktor,
»ausgewiesen!«

»Ausgewiesen!?« ertönte es im Chor verwundert und fragend.

»Auskewiesen? Was das sein, Signore dottore?« fragte Signora Lucia
Pollastra, die jüngst angekommene Baßsängerin.

»Ausgewiesen -- ausgewiesen -- das heißt -- ^cela veut dire^: --
^eliminito^!« sagte der Hauptredakteur, der alle Sprachen zu kennen
glaubte.

»^Dio mio^!« rief die Sängerin, die so klug als zuvor war.

»Sehen Sie, Wimmer, ich hab's mir gleich gedacht!« schrie eine feine
sächsische Stimme, die dem zweiten Redakteur Flußmann aus »Dresen«
zugehörte -- »wie konnten Sie aber auch _das_ schreiben?«

Der Journalist nahm die letzte Nummer der >Welken Blätter< und las:

... Und wenn alle Esel dieser Maßregel Beifall brüllen sollten: ich kann
sie nur »_bewimmern_!«

-- »Und er hatte seinen Lohn dahin und wurde selbst gemaßregelt!« sagte
der Doktor, welcher sehr gemütlich, den Hut auf einem Ohr, die Zigarre
im Munde, auf einem hohen Dreibein saß.

»Ich hätte das Deinetwegen schon nicht aufnehmen sollen, Wimmer!« sagte
Brummer.

»Dann hättest Du ja selbst unter die Beifallsbrüller gehört, Alter!«

Jetzt mischte sich aber die hohe Polizei ein, welche bis dahin
stillgeschwiegen und nur mit Würde geschnauft hatte.

»Also in vierundzwanzig Stunden, Herr Doktor« ...

»Habe ich das Nest hinter mir, Edelster! Seien Sie unbesorgt!« lachte
der Doktor. »Aber halt, Verehrtester, würden Sie mir vielleicht wohl
erlauben, Ihnen jetzt noch eine kleine Rede zu halten? -- Fritze,
Lümmel! Gib dem Herrn Kommissar einen Stuhl!«

Fritze, der unendlich selig grinste, kam dem Gebote nach; die Polizei
ließ sich schnaufend nieder, und ihr Opfer -- begann:

»Ich habe in Jena studiert, Herr Polizeikommissarius. Das ist eine
allgemein historische Tatsache, aber es knüpft sich Bemerkenswertes
daran. Damals gab es dort einen raffiniert groben Philister, Deppe
genannt, der alle Augenblicke eine sehr drastische Redensart
herausdonnerte, übrigens aber der Gott aller der wilden Völkerschaften:
Vandalen, Hunnen, Alanen, Viso-, Möso- und Ostrogoten u. s. w. u. s. w.
war. Verehrtester Herr Kommissarius, der deutsche Student, viel zu
zartfühlend, viel zu sehr von Albertis Komplimentierbuch angekränkelt,
konnte unmöglich _diese_ Redensart adoptieren. Ebensowenig aber konnte
er auch den Effekt derselben auf Pedelle, Manichäer und dergleichen
Gesindel entbehren. Was tat er? -- Er deckte Rosen auf den Molch und
sagte: Deppe! -- Deppe überall! Deppe konnte jeder Rektor magnificus,
Deppe jeder Professor, Deppe jede Professorentochter sagen. Also, Herr
Polizeikommissarius: _Deppe!_ -- 'n Morgen, meine Herren, Addio, Signora
Pollastra, brüllen auch Sie wohl! Ich muß packen!«

Damit schob sich der Doktor der Philosophie Heinrich Wimmer und verließ
das Expeditionszimmer der >Welken Blätter<, um es nie wieder zu
betreten.

Nie aber habe ich ein solches Gesicht wiedergesehen, als das des edlen
Stulpnase. Sprachlos saß er da; auf einmal aber sprang er auf, stülpte
den Dreimaster über und schrie:

»Man soll ja nicht denken, seinen Spaß mit einer hohen Behörde treiben
zu können!« Damit stürzte auch er fort.

»Wenn er nur nicht herausbringt, was Deppe heißt!« sagte der
Hauptredakteur unter dem unendlichen Gelächter der Redaktion und der
Anwesenden, und die Versammlung löste sich auf.

Nach Hause zurückgekehrt, traf ich die kleine Lise, die bereits aus
ihrer Schule heimgekommen war, über einer bunten Pappschachtel an, in
welche Martha den Vogel gelegt hatte. Den Doktor hörte ich drüben
gewaltig rumoren, und von Zeit zu Zeit erschien er am Fenster, blies
eine Rauchwolke zum blauen Sommerhimmel hinauf oder pfiff eine Passage
aus dem österreichischen Landsturm, seinem Lieblingsstück. Der kleinen
Lise sagte ich von dem Schicksal ihres dicken Freundes noch nichts; ich
wollte ihr das Herz nicht noch schwerer machen. Mittags konnte sie schon
so vor Betrübnis nichts essen, obgleich sie ihr Butterbrot richtig
weggeschenkt hatte. Alle Augenblicke richteten sich ihre Augen auf die
bunte Schachtel, worin das tote Tier lag.

Am Abend begruben wir es unter dem blühenden Rosenstrauch zu den Füßen
der Gräber von Franz und Marie. Die roten Abendwolken segelten über uns
weg, die Rosen dufteten so herrlich; überall Licht und Blumen. Ich saß
auf dem Bänkchen neben den Gräbern; Elise hatte ihr Köpfchen an meine
Brust gelegt, sie hatte sich so müde getrauert, daß sie -- o glückliche
Kindheit! -- die Augen schloß und einschlummerte.

Eine schöne, ältere, bleiche, schwarzgekleidete Dame kam und kniete an
einem einfachen Denkmale nieder; arme Kinder legten weiter weg an der
Kirchhofsmauer Waldblumenkränze auf das Grab des toten Vaters; ein Greis
schritt gebückt unter den Steinen und Kreuzen umher, die Aufschriften
lesend.

In der Stadt verkündeten alle Glocken den morgenden Sonntag; voll und
rein wogten die feierlichen Klänge, die in den Straßen im Rollen und
Rauschen der Arbeit ersticken, über diese stille Welt hinweg. Immer
goldner glänzte der Himmel im Westen, immer tiefer sank die Sonne dem
Horizont zu. Nacht ward's auf der einen Hälfte dieses drehenden Balles,
während auf dem großen atlantischen Ozean vielleicht eben ein Schiff dem
jungen Amerika entgegensegelnd, die Sonne aufsteigend begrüßte.
Vielleicht ist es nur _ein_ Schiff, das jetzt im jungen Tage segelt,
während hier die Nacht sich über so viele Millionen legt. Dort steht der
Führer auf dem Verdeck, das Fernrohr in der Hand; im Mastkorb schaut ein
freudiges Auge nach dem ersehnten Lande aus, überall Leben und Bewegung.
-- Hier zündet der einsame Denker seine Lampe an und schlägt die Bücher
der Vergangenheit auf, die Zukunft daraus zu enträtseln, und findet
vielleicht, daß die Nacht, die auf den Völkern liegt, ewig dauern wird,
in demselben Augenblick, wo auf jenem einsamen Schiff der
Willkommensschuß donnert: »Amerika!« die zu dem Schiffsrand stürzende
Auswandererschar ruft, und eine Mutter ihr kleines lächelndes Kind in
die Morgensonne und dem neuen Vaterland entgegenhält!

Das Gras fängt an feucht zu werden, ich muß meine kleine Schläferin
aufwecken. Die bleiche Frau erhebt sich ebenfalls; sie kommt auf uns zu.
Wir kennen uns nicht; aber hier auf dem Kirchhof scheut sie sich nicht,
sich über mich und das schlummernde Kind zu beugen.

»Lassen Sie mich die Kleine küssen!« sagt sie.

Ich sehe sie unter den Bäumen verschwinden, ein Tuch vor den Augen.

Elise erwacht: »O wie schön!« ruft sie, in die Glut des Abends schauend.

»Gute Nacht, Franz! Gute Nacht, Maria!«

                   *       *       *       *       *

Holla! Was ist in der Sperlingsgasse los? Als wir nach Haus kommen,
herrscht ein Tumult darin, wie ich ihn noch nie darin erlebt habe. In
allen Haustüren schwatzende Gruppen, jede Arbeit eingestellt:
Salatwaschen, Schuhflicken, Strümpfestopfen, Hämmern, Sägen,
Federkritzeln, alles ins Stocken geraten, nur nicht -- die Zungen!

»O je, o je, Herr Wachholder, sehen Sie mal da oben!« schreit Martha,
die auf der Treppe unserer Haustür, umgeben von einem Kreis
Nachbarinnen, Posto gefaßt hat, mir schon von weitem zu.

»Was gibt's denn, Martha? Was ist los?« rufe ich ihr entgegen.

»Der Herr Doktor Wimmer ist los!« jubeln zwanzig Stimmen um mich her,
und zwanzig Finger zeigen nach dem Fenster des vortrefflichen Burschen,
welcher bis jetzt der »bunte Hund« der ganzen Gasse war.

Ein großer Bogen Papier flattert dort oben, und darauf steht mit
gewaltigen Buchstaben:

                             ^Dr. WIMMER^
                              ^P. P. C.^

Aus dem offenen Fenster aber beugt sich -- Herrn Polizeikommissarius
Stulpnases ehrwürdiges Vollmondgesicht, und seine weißbehandschuhten
Hände sind bemüht, den Zettel abzunehmen.

Ich überliefere schnell die verwunderte Lise der alten Martha und steige
die Treppen zu der Wohnung des Doktors hinauf, welches sehr langsam
geht, denn vor mir her schiebt sich eine unbeschreibliche, wunderbare
Masse von Kleidungsstücken ächzend und stöhnend den engen Weg langsam,
langsam hinauf.

Das war die dicke Madame Pimpernell, welche das Ereignis seit langen
Jahren zum erstenmal wieder in die obern Räume ihres Hauses trieb.

Das Zimmer beschrieb ich neulich bei meinem Besuch des Zeichners Strobel
und brauchte daher jetzt nur zu sagen, daß der Nachlaß des Doktors in
einem zerspaltenen Stiefelknecht, einer leeren Zigarrenkiste ^Fumadores
regalia^, und -- einem Exemplar der Flodoardine bestand.

Stulpnase saß da auf einem Stuhl, schaute das leere Nest
wehmütig-grimmig an und ächzte:

»Ausgewiesen! Nun gar ausgekniffen! Donnerwetter -- ohne erst für seinen
>Deppe< gesessen zu haben.«

»Jotte, einer armen Witfrau ihren besten Mieter abzutreiben, is das in
der Ordnung, Herr Kumzarius? Habe ich darum Ihrer Frau die Butter immer
um nen Dreier billiger gelassen?« greint die dicke Madame Pimpernell,
die ebenfalls dem Beamten gegenüber auf einen Stuhl gesunken ist.

»Halte Sie das Maul, Frau!« schnauzt Stulpnase, worauf die Dicke ein
Gesicht macht, wie es einst jenes brave korinthische Weib geschnitten
haben muß, als es das Wort des Apostel Paulus hörte: ^Mulier taceat in
ecclesia^.

Nach einer feierlichen Stille von einigen Minuten stößt Stulpnase ein
dumpfes Geheul aus und seufzt in sich: »Deppe.« Plötzlich aber, mit Wut
auf seine Brusttasche schlagend, schreit er: »Und hier hab' ich den
Verhaftsbefehl: Beleidigung eines Beamten im Dienst, und --
ausgekniffen!«

Ich wage es nicht, den aufgebrachten Leuen durch Lachen noch mehr zu
reizen, verschwinde und platze erst auf der Treppe los, die beiden
Würdigen einander gegenüber sitzen lassend.

In der Gasse steckt mir Marquart ein Billet zu und flüstert
geheimnisvoll, nach dem Fenster des Doktors deutend:

»Das hat _er_ zurückgelassen für Sie, Herr Wachholder!«

Der Zettel lautet:

   »_Liebster Freund_!

   Eine hohe Polizei weiß, was >Deppe< heißt, obgleich es nicht im
   Konversationslexikon steht. Ein Freund hat mich gewarnt; -- ich
   verschwinde! -- In den böhmischen Wäldern sehen wir uns wieder!

                                                         Dr. _Wimmer_.

   ^P. S.^ Der Redaktionspudel begleitet mich!«

»Onkel, was soll denn das alles bedeuten, wo ist denn der Onkel Doktor?«
fragt die kleine Lise, welche, obgleich schon im Nachtzeug, nicht vom
Fenster weggekommen ist.

Ich schreibe: ^pour prendre congé^ auf einen Zettel, und Lischen, die
jetzt schon eine kleine Gelehrte ist, hat mit Hilfe eines Diktionärs
noch vor dem Schlafengehen heraus:

                     »Um -- nehmen -- Abschied.«

»Der Onkel Wimmer muß eine kleine Reise machen, Schatz!«

Damit geht Elise getröstet zu Bette und verschläft und verträumt sanft
ihren ersten Schmerz. In diesem Alter genügt noch _eine Nacht_, ihn zu
begraben.




                                                        Am 12. Januar.


Ich hab's mir wohl gedacht, als ich diese Bogen falzte, und ich hab's
auch wohl mit aufgeschrieben, daß ihr Inhalt nicht viel Zusammenhang
haben würde. Ich weile in der Minute und springe über Jahre fort; ich
male Bilder und bringe keine Handlung; ich breche ab, ohne den alten Ton
ausklingen zu lassen: ich will nicht lehren, sondern ich will vergessen,
ich -- schreibe keinen Roman!

Heute werfe ich zum erstenmal einen prüfenden Blick zurück und muß
selber lächeln. Alter Kopf, was machst du? Was werden die vernünftigen
Leute sagen, wenn diese Blätter einmal das Unglück haben sollten,
hinauszugeraten unter sie?

Doch -- einerlei! Laß sie sprechen, was sie wollen: ich segne doch die
Stunde, wo ich den Entschluß faßte, diese Blätter zu bekritzeln, mit
einem Fuß in der Gegenwart und Wirklichkeit, mit dem andern im Traum und
in der Vergangenheit! -- Wie viel trübe, einsame Stunden sind mir
dadurch nicht vorüber geschlüpft sonnig und hell, ein Bild das andere
nachziehend, dieses festgehalten, jenes entgleitend: ein buntes
freundliches Wechselspiel! So schreibe ich weiter.

Manche alte verstaubte Mappe mit Büchern, Heften, Zeichnungen,
vertrockneten Blumen und Bändern liegt da; ich brauche nur
hineinzugreifen, um eine süße oder traurige Erinnerung aufsteigen zu
lassen, keine aber so duftig, so waldfrisch, als die folgende, welche
ich überschreibe:

                         _Ein Tag im Walde._

»Fahren wir, oder gehen wir?« hatte Lischen am Abend jenes auf den
vorigen Seiten beschriebenen so ereignisvollen Tages noch gefragt.

»Wir fahren!« war die Antwort gewesen, und glücklich darüber hatte das
Kind das Näschen nach der Wand gekehrt und war eingeschlafen.

Mit dem Wagen erschien am andern Morgen auch Roder, der Lehrer Elisens,
den leichten Strohhut auf dem Kopf, die grüne Botanisierbüchse auf dem
Rücken, schon an der Ecke lustig nach dem Fenster hinaufwinkend.

Die alte Martha hatte den Kaffee fertig, und Lischen, die bei ihrem
Eifer, ebenfalls fertig zu sein, diesmal mehr Hilfe als gewöhnlich nötig
gehabt hatte, sprang die Treppe hinunter und erschien nun, den Lehrer
hinter sich herziehend.

Roder ist einer jener Volkslehrer, wie sie nur Deutschland hervorbringt.
Er ist, wie es sich fast von selbst versteht, der Sohn eines
Schulmeisters, der wiederum der Sohn eines Schulmeisters war; denn wenn
es einen Stand gibt, welcher sich durch Generationen fortpflanzt, so ist
es das deutsche Volkslehrertum. Da bringt der Vater vom Lande einen
seiner gewöhnlich sehr zahlreichen Söhne in die Stadt; mit einer Bibel,
einem Gesangbuch und vor allem einem Choralbuch als Bibliothek. Der
Junge ist der Stolz seines Vaters. Wer hat ein größeres Talent, die
Orgel zu spielen? Wer hat eine bessere Stimme -- wenn sie auch gerade
sich setzt? So ausgerüstet betritt der junge Gelehrte den Schauplatz
seiner weitern Ausbildung; gewaltig packt ihn anfangs das Heimweh unter
der wilden Bande seiner Mitschüler, die ihn hänseln und zum besten haben
in seiner Gutmütigkeit und Unerfahrenheit. Das Leben ist ihm anfangs nur
ein erster April, wo man die Narren »umherschickt -- in den April«.
Selbst der Zuwachs seiner Bibliothek, bestehend aus den Schulbüchern
seiner Klasse und Funkes Naturgeschichte, vermag ihn nur mittelmäßig zu
trösten; ein größerer Freund ist ihm in dieser Epoche seines Daseins das
alte wacklige Klavier, welches ihm der Vater für ein billiges gemietet
und in sein Dachstübchen gestellt hat. Davor sitzt der Arme und spielt
seine Choräle und Volksweisen -- letztere nach dem Gehör, und denkt
zurück an sein Dorf, an seine Eltern und Geschwister, und vor allem an
die Schule, in welcher er der erste war -- ja sogar in der Ernte den
Vater zuweilen vertreten durfte; während er hier -- er der große Bengel!
-- ganz unten seinen Platz unter den Kleinsten, Dümmsten und Faulsten
bekommen hat!

Warte nur, armer Kerl -- sieh, da bricht schon der erste freudige Strahl
in dein dunkles Sein. Gewöhnlich gibt es auf jeder Schule einen Lehrer,
der ein Original, ein Sammler, vielleicht ein leidenschaftlicher
Naturfreund ist, womit meistens die Gabe der Mitteilung sich verbindet,
dem begegne, du armes einsames Gemüt, und du wirst einen Freund gefunden
haben. Jetzt verändert sich alles!

Welch ein Schweifen nun über Berg und Tal; welch ein Versenken in all
die kleinen und kleinsten gewaltigen Wunder in der Luft, im Wasser, auf
und unter der Erde! Wie sich das Dachstübchen füllt mit Käfern,
Schmetterlingen, Herbarien u. s. w. Welch eine selige Ermüdung an jedem
Abend, welch ein Träumen in der Nacht, welch ein Erwachen am Morgen!

Nun zieht eine Wissenschaft alle andern nach sich; die Klassen werden
durchflogen -- den Schiller lernen wir auswendig, und die Welt dehnt
sich immer schöner und weiter vor uns aus. -- Ach ein Faust zu sein, ist
es nicht nötig alles studiert zu _haben_: das _Wollen_ allein genügt,
den Mephistopheles aus dem Nebel hervortreten zu lassen!

Stütze nur die heiße Stirn auf die Hand, du Sohn Deutschlands, in langen
durchwachten Nächten, beschwöre nur die Geister alter und neuer Zeit
herauf, sie sind doch stets um dich, die Gespenster: Lebensnot und
Zweifel und vergebliches Streben!

Der Arm der Notwendigkeit faßt dich und schleudert dich mit deinem
Wissensdrang in ein abgelegenes Walddorf oder an die Armenschule einer
großen Stadt; da begrab dein volles Herz und suche -- zu vergessen!

Glücklich, wenn du's kannst; glücklicher aber vielleicht doch, wenn es
dir gegeben ist, auch hier weiter zu suchen. Der Pulsschlag des
Weltgeistes pocht ja überall: »Suchet, so werdet ihr ihn finden!« sagt
das schönste der Bücher, das so leicht zu verstehen ist und so schwer
verstanden wird.

Ungeduldig klatscht der Kutscher unten vor der Tür, ungeduldig treibt
Elise; während Martha noch immer Zurüstungen macht wie zu einer Reise
nach dem Nordpol. Endlich aber steigen wir in den Wagen.

Unsere Sonntagsodyssee beginnt.

»Hätte der Onkel Doktor nicht morgen abreisen können?« fragt noch
Lischen nach dem Zettel droben schauend, auf welchem die Madame
Pimpernell ankündigt:

»Hier ist eine Stube mit Kabinett zu vermieten.«

Roder lächelt, scheint etwas auf dem Herzen zu haben, aber sich
gegenwärtig auf weiteres nicht einlassen zu wollen, und so rollen wir
durch die noch stillen Straßen dem Tore zu. An den Wochentagen ist's um
diese Zeit schon lebendig genug, heute aber schläft das Volk der Arbeit
in den Morgen und den Sonntag hinein; es hat das Recht dazu nach sechs
Schöpfungstagen.

Jetzt sind wir in den grünen Anlagen, die sich rings um die Stadt
ziehen. Landhäuser und Gärten fassen auf beiden Seiten die Straße ein.
Eine Eisenbahnlinie geht mitten über den Weg, und wir müssen anhalten,
denn ein Zug fliegt eben brausend und schnaubend dem Bahnhofe zu. Der
Sonntag, welcher den Städter hinausführt, bringt den Landmann hinein in
die Stadt, und alle die Tausende, die heute ein- und ausfliegen werden,
suchen alle ein andres Ziel des Genusses; jeder die Freude auf eine
andre Weise.

Schon haben wir die letzten Gärten hinter uns und fahren nun langsam die
Pappelallee hinauf den Höhen zu, welche im weiten Umkreis die große
Ebene und die große Stadt umgrenzen. Die Sonne steigt empor über dem
Walde; die Knospen, die Blätter, die Blumen tragen alle einen
Tautropfen, das Geschenk der Nacht; die Lerche erhebt sich jubelnd in
die blaue, frische Luft, und auch sie schüttelt Tau von den Flügeln.
Wenn wir zurückblicken, liegt die große Stadt noch verhüllt in dem
silbergrauen Duftschleier, den sie selbst sich webt, und den sie, wie
Penelope den ihrigen, nur zertrennt, um ihn von neuem zu knüpfen. Wie
eingewebte Goldsterne blitzen die Kreuze der Türme -- die Zeichen des
Leids -- darauf. -- Wir aber fahren schon im vollen Sonnenschein, und
jetzt sind wir am Rande des Waldes angekommen; nun brauchen wir den
Wagen nicht mehr, und schnell rollt er die Höhen wieder hinab, der Stadt
zu.

Was trappelt auf einmal vor uns und raschelt durch das welke Laub des
vorigen Jahres, das den Boden bedeckt? Was bricht da durchs Gebüsch, die
Ohren und den schwarzen Pelz naß vom Morgentau, lustig jetzt um uns her
bellend und springend und die hellen blitzenden Tropfen abschüttelnd?

»Hurra! Willkommen im Walde!« ruft eine wohlbekannte Baßstimme.

Wer trabt da lachend her -- hinter einer kleinen Rauchwolke, eine hohe
schwankende Königskerze auf dem Hut, -- auf dem Fußpfade, der seitab
tiefer ins Holz führt?

»Willkommen, fahrender Recke!« ruft Roder, den Hut schwingend.

»Allerseits schönsten guten Morgen!« grüßt der ausgewiesene Doktor, den
abgenommenen Maulkorb des Pudels in die Höhe schleudernd und
wiederfangend.

»Hast Du mit Rezensent im Walde geschlafen?« fragt die kleine Lise.

»Der Herr Polizeikommissarius läßt Sie grüßen, Wimmer!« lache ich.

Jeder hat zu gleicher Zeit zu fragen und zu antworten, und jeder tut es
auch, während Rezensent sich immer dicht an Elise hält, von Zeit zu Zeit
ein kurzes fideles Gebell ausstößt und fest unsern Proviantkorb im Auge
behält.

Mit pathetischer Gebärde tritt jetzt der Doktor an den Rand der Höhe,
streckt den Arm gegen die Stadt aus und deklamiert: »Ha, da liegt sie --
die Undankbare, sie, in welcher ich meine Nächte durchwachte und meine
Tage verschlief -- Sänger und Sängerinnen, Schauspieler und
Schauspielerinnen, Ballettänzer und Ballettänzerinnen lobte oder
herunterriß -- in welcher ich so manchen Leitartikel schrieb -- in
welcher ich so manche Pfeife rauchte! Da liegt sie wollüstig träumend im
Morgenschlummer, während ich umherirre, verbannt, vertrieben, an die
Luft gesetzt, ^eliminito^, wie der Doktor Brummer sagte; gejagt,
gemaßregelt -- ein Lamm im scharfen Nordwind. Nest! -- Brüste Dich mit
Deinen Gardeleutnants, Deiner famosen Musenbude, die ich dort über die
Dächer zwischen dem Pfeffer- und Salzfasse ragen sehe; ich verachte
Dich, ein deutscher Zeitungsschreiber! Mache in der Liste Deiner unter
polizeilicher Aufsicht Stehenden ein dickes Kreuz hinter dem Namen:
Heinrich Theobald Wimmer ^Dr. phil.^, setze ein dreimal unterstrichenes
>_Ausgewiesen_< dahinter; ich schüttle Deinen Staub von meinen Füßen,
ich verachte Dich! -- Bin ich nicht heimatsberechtigt in
München an der Isar, stehen nicht viele Löcher offen im edlen
Was-ist-des-Deutschen-Vaterland? Zeugt nicht dieser solide Bauch (hier
schlug sich der Doktor auf den erwähnten Körperteil) von Bayern? Es lebe
München! -- Ha, prophetisch verkünde ich Dir, ausweisender Pascha von
soundsoviel Roßschweifen: ein Schmächtigerer aber Giftigerer wird meine
Stelle einnehmen. Erfahren sollst Du zeitungenüberwachende Behörde, daß
das, was Ihr Unkraut nennt, wenigstens auch die Tugend desselben hat:
nämlich nicht zu verderben und auszugehen! Fort in die Bresche, mein
unbekannter Mitkämpfer! Mein Segen begleitet Dich! ^Dixi^, ich habe
gesprochen! -- Komm, Lischen!«

Damit warf der Doktor den Maulkorb den Berg hinunter der Stadt zu, hob
die Kleine empor, setzte sie mit ihrer Tasche und den ersten während
seiner Rede von ihr gepflückten Blumen auf seine Schulter und schrie:
»Allons, meine Herren; hinein in den Wald! Kehren wir dem Nest den
Rücken zu!«

Mit diesen Worten trabte der tolle Geselle auf dem Fußpfad, auf dem er
gekommen war, zurück ins Holz; Roder und ich folgten lachend. Der
Exredaktionspudel sprang auch wie toll hinter uns her; ^gaudeamus
igitur^ tönte des Doktors Baß in das beginnende Konzert der Vögel, unser
Sommersonntag im Walde hatte begonnen.

Welch ein Tag war das!

Dieses erste Eintreten in die grüne Blätterwelt -- dieses Aufatmen aus
voller Brust! Der Doktor hatte mit der sich gewaltig sträubenden Lise
einen ordentlichen Galopp angeschlagen und war unsern Augen
entschwunden, unsern Ohren aber nicht. Die Kleine lachte -- wurde
ärgerlich -- bat; der Pudel bellte aus Leibeskräften, und der Doktor
fiel aus einem seiner Studentenlieder ins andre.

Mit seiner Ausweisung schien der alte Jenenser Bursch alle
gesellschaftlichen Bande für aufgelöst zu halten.

»Das ist ein sonderbarer Menschentypus,« sagte Roder lächelnd, als wir
langsamer hinterhergingen; »die personifizierte Gutmütigkeit unter
dieser tollen, barocken Maske. Wir sind Jugendfreunde, welches sonderbar
scheinen kann, da er in Lumpenhausen das Gymnasium besuchte, während ich
auf dem Seminar mich zum Schulmeisterlein einpuppte. Ebensogut hätte ein
Guelfe mit einem Ghibellinen Arm in Arm auf der ^via dei malcontenti^ in
Florenz spazieren gehen können. -- Aber es war so, er lehrte mich
Zigarren drehen, ich dagegen brachte ihm bei: sich auf dem Klavier mit
einem Finger zu dem famosen Liede zu begleiten:

   ^Mihi est propositum^
   ^In taberna mori ...^

Später verlor ich ihn aus den Augen; ich wurde Hilfslehrer in Lammsdorf,
er ging auf die Universität. Da saß ich eines Abends und untersuchte
Moose durch die Lupe, als mich plötzlich jemand auf die Schulter
klopfte, und eine Bierbaßstimme -- wie weiland Leibgeber zum
Armenadvokat Siebenkäs -- >'n Morgen, Roder,< hinter mir sagte. Es war
Wimmer, der wegen Übertretung der Duellgesetze relegiert, >die große
Tour machte,< wie er sagte. Geld besaß er schon damals nicht, aber viel
Humor und guten Mut, und so hat das Schicksal uns öfters wieder einander
in den Weg geführt, und immer war der Doktor Wimmer -- derselbe ...«

»Und aussterben wird diese Art nicht in Deutschland, so lange man noch
die Namen: Bier, Romantik und Politik nennen hört,« sagte ich.

»Halt,« rief der Lehrer, »welch ein prächtiges ^Aconitum^, entschuldigen
Sie!« Damit sprang er ins Gebüsch, die Pflanze auszugraben, während ich
in den Bart murmelte:

Und auch deine Art, deutsche Seele, wird nicht ausgehen, so lange noch
in _eine_ Blüte das deutsche Gemüt sich versenken kann zwischen Weichsel
und Rhein.

»Onkel Wachholder, Onkel Wachholder; kommt alle schnell, schnell einmal
her!« rief jetzt Lischen in der Ferne.

»Was gibt's denn Lise?« ruft Roder, seine Blume in die Botanisierbüchse
legend.

»Ein wunder-wunderhübsches Vogelnest hat der Onkel Doktor gefunden!«
schallte es wieder, und wir setzten uns in Trab.

Auf einem kleinen sonnigen Platz seitab vom Wege stand der Doktor,
hochrot vom Singen und Rennen und ließ die Kleine in einen Fliederbusch
schauen. Lise, den Atem anhaltend, um die kleine piepende Welt nicht zu
stören, guckte selig durch die Zweige; während der Rezensent das Wunder
weiter unten suchte und, den Kopf und Leib im Laubwerk verborgen, nur
die Hinterbeine und den wedelnden Husarenbusch zeigte.

»Nicht wahr, Lise, das mußte ich Dir doch zeigen? 's ist doch prächtig,
wenn einen die Polizei so früh hinausjagt in den Wald!«

Ein Buch guckte dem Doktor hinten aus der Rocktasche, und der Lehrer
zog's ihm heraus. Es war Reineke de Voß, des Doktors ewiger Begleiter
auf allen seinen Fahrten, den er fast auswendig wußte. Bei der Berührung
des Lehrers sah er sich auch sogleich um und begann:

   ^»De quad deyt, de schuwet gern dat licht:^
   ^Also dede ok Reinke de bösewicht.^
   ^He hadde in de stad so vele missdan,^
   ^Dat he dar nicht dorfte kamen noch gan.^
   ^He schuwede seer des Konniges hoff^
   ^Darin he hadde seer kranken loff!« --^

»Aber hier, Lise, ist's was andres; wenn wir hier ein Vogelnest finden,
so dürfen wir auch hineingucken und unsere Meinung darüber sagen.«

»O das ist wunder-wunderhübsch,« ruft die Kleine, welche gar nicht hört,
was der Doktor sagt. »Sieh, der alte Vogel fürchtet sich gar nicht -- o,
welche große Schnäbel -- er sitzt ganz still zwischen seinen Jungen und
sieht nur nach dem Rezensenten hinunter! -- Er tut Dir nichts, kleiner
Vogel, bleib ruhig sitzen!« --

Jetzt ließ der Doktor das Kind auf den Boden gleiten: »Nun lauf zu Fuß,«
sagte er, »das Gras ist trocken.«

Welch ein Tag! Noch zogen weiße Wölkchen über die Baumwelt weg, bald
aber hatte die Sonne sie verzehrt, und das ewige Blau lächelte rein und
klar auf uns herab. Immer tiefer versenkten wir uns in die duftende
Wildnis: »Wo lassen wir alle die Blumen, die wir pflücken, Lischen?« --
Die Händchen sind schon so voll, daß wir bei jedem Schritt eine
verlieren, und daß der Doktor sagen muß:

»Ist's nicht wie im Märchen, wo der Vater die verlorenen Kinder durch
hingestreute Steinchen wiederfindet? Ein verfolgter Zeitungsschreiber --
schrecklich -- die Häscher sind ihm auf den Fersen -- wo hat er sich
hingewendet? -- >Ha,< sagte der erfahrenste der Spürer, ein wahrer
Pfadfinder auf der Vagabondenjagd -- >seht die Blumen -- untermischt mit
Zigarrenenden! Laßt uns dieser Spur folgen, Brüder! -- Ha, seht hier im
weichen Boden die Hundetapfen? -- Er ist's, er ist's -- Fort, ihm nach!<
-- Schrecklich!«

»Bravo, Wimmer!« lachte der Lehrer, der wieder eine Pflanze im Gehen
zerlegte. »Welcher Stoff für Dein nächstes Werk; wo Du es auch schreiben
magst, ich hoffe auf ein Exemplar.«

»In München werde ich es schreiben, Verehrtester! Habe ich nicht einen
Kontrakt mit dem Buchhändler und Eigentümer der >Knospen< -- Gabriel
Pümpel, in der Tasche? Ist nicht Gabriel Pümpel mein Onkel? Ist nicht
Nanette Pümpel meine Cousine? Wetter, ich sehne mich ordentlich nach dem
Nannerl!«

»Doktor! Doktor!« rufe ich lächelnd.

»Wahrhaftig,« seufzt der eliminierte Schriftsteller, »ich habe heute
ordentlich Lust solid zu werden.«

Ehrlicher alter Bursch!

»Also _das_ waren Deine Gedanken,« sagte der Lehrer lächelnd und
gerührt, »als Du gestern den ganzen Nachmittag auf meinem Sofa lagst?
Ich konnte Dich vor Tabaksqualm nicht recht sehen, aber Du schienst mir
außergewöhnlich nachdenklich und träumerisch. Gottlob, wenn diese
Exilierung so ausschlüge.«

»Hurra,« schreit der Doktor, den Hut in die Luft werfend: »Es leben die
Knospen! Es lebe das Bockbier! Es lebe das Haus Pümpel und Kompanie!«

Der Exredaktionspudel ist außer sich; jetzt hat er die größte Lust,
Elise vor Wonne über den Haufen zu werfen, jetzt springt er an seinem
Herrn in die Höhe, jetzt ist er im Gebüsch verschwunden, jetzt kommt er
auf der andern Seite wieder zum Vorschein! Bumms -- da liegt er im
Grase, wälzt sich, daß man nicht weiß, was oben oder unten, Beine oder
Rücken, Kopf oder Schwanz ist!

»Wer hat eine Uhr? Niemand? Desto besser, der Magen ist unsere Uhr. Hier
unter dieser prächtigen Buche wollen wir uns lagern. Wie das Moos so
weich ist! Ausgepackt die Taschen, den Korb, die Botanisierbüchse! Eine
Flasche Wein erscheint. Wer hat einen Korkzieher? Niemand? Desto besser,
wir schlagen ihr den Hals ab; ein niedliches Glas hat Elise
mitgebracht.«

»Holla, Roder, aufgepaßt! Rezensent hat den Kopf in Ihrer Rocktasche!«

»Welch Behagen, sich so im weichen Grase auszustrecken! Wie das schmeckt
im grünen Walde; -- die alte Martha soll leben, sie hat prächtig
gesorgt!«

»Komm, Kind, unsere kleinen Beine sind doch wohl müde! Was bedeuten
diese Faden? Aha, jetzt werden wir Kränze winden. Welche prächtigen
wilden Rosen!«

»Sieh, da kriecht ein Marienkäfer auf Deinem Arm, Lischen; -- er
entfaltet die Flügel -- prr, dahin geht er, ein kleines rotes Pünktchen
im Sonnenstrahl.«

Elise schaut ihm nach und fängt an zu singen:

   Marienvogel kleine,
   Rühre deine Beine,
   Kriech an meinem Finger nauf,
   Setz dich als das Knöpflein drauf!
   Ist er nicht ein hoher Turm
   Für so kleinen roten Wurm?

Und dann mit ganz feiner Stimme:

   Roten Purpur trag' ich,
   Flüglein viere schlag' ich!
   Gar kein Flüglein regst du,
   Nur zwei Bein' bewegst du --
   Sechs Beine rühr' ich,
   Sieben Punkte führ' ich,
   Fliege höher als der Turm!
   Wer ist nun der kleine Wurm? -- Etsch!

Die Sonne muß draußen gar heiß und drückend sein, sie steht hoch im
Mittag. Hier aber hat sie die Herrschaft mit dem Schatten zu teilen und
zwar so, daß man gar nicht mehr weiß, wo Dunkel, wo Licht ist, so
flimmert und zuckt beides durcheinander.

»Wirst Du müde, Lischen? Berauscht Dich der Waldduft, kleines Herz?
Komm, lege Dein Köpfchen hierher; keine Mücke, keine Fliege, und wenn
sie noch so golden wäre, soll Dich im Schlummer stören. Schließe dreist
die Augen und träume einen hübschen Elfentraum von Schmetterlingen und
Blumen und kleinen Vögeln.«

Wie behaglich der Pudel gähnt und, den Kopf auf die Vorderpfoten gelegt,
mit den Augen blinzelt.

»'s ist doch ein ganz ander Ding ohne Maulkorb, nicht wahr Rezensent?«

Wie der Doktor so nachdenklich die blauen Zigarrenwölkchen von sich
bläst! Denkt er an seinen ersten Aufsatz in den >Knospen<, denkt er an
die Münchener Cousine?

Wie sich der Lehrer mit leuchtenden Augen in die Pflanzenschätze seiner
Botanisierbüchse vertieft!

»Heda, Roder, was für ein Heft schaut da zwischen den Blättern und
Wurzelwerk hervor?«

»Her damit!«

Der Lehrer errötet und reicht lächelnd das Heft herüber.

»Was sehe ich! Vermag der Schulstaub solche Blüten zu treiben?!«

Grinsend streckte der Doktor Wimmer den Kopf über meine Schulter und
machte nach einigen Blicken auf das Manuskript sogleich Anstalt, es für
die >Knospen< mit Beschlag zu belegen, aber der Lehrer tat gewaltig
Einsprache dagegen. Später schenkte er es mir. Soll ich ein Blatt daraus
der Chronik einschieben?

Es sei! Da ist eins.

                   *       *       *       *       *

Ich lag am Rande des Baches und sann nach über die Geschicke der Völker
und Könige und über -- meine Liebe. Hinten in der Türkei lagen jene
einander in den Haaren, und drüben in der kleinen Gartenlaube saß mein
Schatz und schmollte. Ah!

Lippe-Detmold ist mein Vaterland, -- was geht mich die orientalische
Frage an und der General Sabalkanskoi und die Schlacht bei Navarino?!

Aber das Frauenzimmer dort?

Beim großen Pan, _damit_ muß es anders werden!

Rot wie die Liebe ist der Abendhimmel; goldne Wölkchen, weiße Tauben
schweben darin hin und wider wie Liebesgedanken ... Wo sind meine
Diplomaten, wo meine Kabinettskuriere?

Es schwanken die Gräser -- es regt sich -- es läuft, es kriecht, es
klettert, es hüpft, es flattert und fliegt -- tausendbeinig,
tausendflügelig! Es zwitschert und summt -- tausendtönig!

Dichterminister, Frühlingsräte, Liebesgesandte versammeln sich um mich
zu Rat und Tat.

Wohlan -- die Konferenzen sind eröffnet! Allen Gegenwärtigen und
Zukünftigen Gruß! Wen send' ich zuerst an jene dort, hinter den
Hollunderblüten?

Ach! Du da -- fort mit dir zu ihr hin -- du mein leichtgeflügelter,
magenloser Herold, du, den sie den »roten Augenspiegel« nennen, zeig ihr
auf deinen weißen Schwingen die beiden Purpurtropfen, sag ihr, es sei
Herzblut -- _mein_ Herzblut aus dem wilden Kampf um die Liebe, die rote
Liebe! ... Da flattert der Bote der Laube zu; es zittert mein Herz, mein
banges Herz. -- (_Sie -- niest!!!_) O Dank, Dank ihr ewigen guten
Götter, Dank für das Omen! (Erkälte dich nicht, Luise, nimm ein Tuch um,
hörst du?)

Wer ist der zweite meiner Boten? Schnell, schnell, meine kleine emsige
Biene; -- hin zu ihr -- summe ihr ins Ohr, Honiggedanken, Hausgedanken,
Leinen- und Drellgedanken!

(Was hat das Frauenzimmer zu lachen über ihrem Nähzeuge, in der kleinen
Laube?)

Und nun mein letzter Bote, mein schwarzer Trauermantel, flattere hin zu
ihr! Hör', was du ihr sagen sollst. Sag ihr: Luise, Luise, der Tag ist
zu Ende -- die Eintagsfliegen wurden müde, todmüde -- der Bach schaukelt
ihre armen kleinen Leiber fort, vorüber an den Blumen, an denen sie noch
vor einer Stunde tanzten und spielten. Luise, Luise, das Leben ist kurz;
Luise, die Nacht bricht herein; sieh den rotfinstern Streifen im Westen,
sieh, wie es im Osten unheimlich zuckt und leuchtet -- horch, wie es
grollt!

(Es regt sich in der kleinen Laube! Sie seufzt!) Luise, Luise!

(Sie tritt heraus!)

Luise, Luise!

Die Bäume schütteln ihre Blüten herab auf sie: ^Ave Louisa!^ Der
Abendwind flüstert ihr zu: ^Ave Louisa!^ Die Blumen des Tages neigen
sich ihr: ^Ave Louisa!^ Die Blumen der Nacht öffnen ihre Weihrauchkelche
ihr -- ^Ave Louisa! Ave Louisa!^ (Sie winkt ... sie lächelt ...)

Friede?

Friede!

Friede! Läutet die Glocken im Reich! Erleuchtet die großen Städte, die
Dörfer; erleuchtet jedes einsame Haus, Orgelklang in allen Domen,
Kirchen und Kapellen! Auf die Knie, auf die Knie alles Volk! Männer,
Weiber, Greise, Kinder, Jünglinge und Jungfrauen:

   Herr Gott! Dich loben wir!
   Herr Gott! Wir danken dir!

Friede! Friede im Himmel und auf Erden und den Menschen ein
Wohlgefallen!

                   *       *       *       *       *

Ich kannte diese »Luise« des Lehrers gar gut. War sie nicht Gouvernante
bei den Kindern des Baron Silberheim? Hat sie nicht später den Lehrer
Roder geheiratet? Hat sie nicht Glück und Kummer und Verbannung mit ihm
geteilt?

Seid gegrüßt, Otto und Luise Roder, wo ihr auch weilen mögt!

»Ei, das war schön!« sagte Lischen erwachend und das Köpfchen
aufrichtend. Sie dachte an ihren Traum im Grünen, nicht an des Lehrers
Phantasien -- die hatte sie richtig verschlafen.

»Was hat Dir denn geträumt, Lischen?« fragte der Doktor, und das Kind
blickte ihn verwundert an.

»Hab ich denn geschlafen?« fragte sie.

»Das kann man bei solchem kleinen Mädchen wie Du bist, Lise, niemals
recht wissen. Was hast Du denn gesehen und gehört? Erzähle mal!« sagte
ich.

»O es war wunderschön, was ich gesehen habe! Ich konnte gar nicht über
das Gras weggucken; es war wie ein kleiner Wald, und welch eine Menge
kleiner Tiere lief darin herum! Und wenn ich die Augen zumachte, wurde
alles so rot, als brennte der ganze Himmel, daß ich sie schnell wieder
aufmachen mußte. Ich dachte, ich wäre ganz allein, da kam auf einmal ein
wunderschöner gelber Schmetterling mit zwei großen Augen in den Flügeln,
die unten ganz spitz zuliefen, der setzte sich dicht vor meinem Gesicht
auf einen Halm und sagte mit ganz feiner, feiner Stimme:

>Ein schönes Kompliment, kleines Fräulein, und ob Sie nicht zum Tee
kommen wollten, zur Waldrosenkönigin?<

Der Herr Lehrer las in diesem Augenblick was vor, ich hätte gern weiter
zugehört und sagte es dem Schmetterling auch. Der aber sagte: bei der
Königin säße ein gelehrter Herr, namens Brennessel, der hielte gar
nichts von der Geschichte, ich soll daher nur dreist mitkommen. Ich
fragte den Schmetterling, ob's sehr weit wäre; er meinte: weit wär's
nicht, aber wir müßten einen Umweg machen, da läge ein groß schwarz Tier
im Grase, das habe greulich nach ihm geschnappt, als er vorübergeflogen
sei. Das war der arme Rezensent! Dann sagte der Schmetterling: er müsse
auch den giftigen Wolken ausweichen, die da herumzögen und ihm seine
hübschen Flügel ganz schwarz machten. Das war des Onkel Wimmers
Zigarrendampf! -- Ich war auf einmal so klein geworden, daß mich der
schöne gelbe Schmetterling ganz leicht auf seinen Rücken nehmen und
forttragen konnte zu _dem_ Rosenbusch dort bei _der_ Buche. Da war eine
gar niedliche vornehme Gesellschaft bei der Königin. Da war der
brummige, böse, alte Herr Brennessel, dem jeder gern auswich; da war die
dicke Madame Klatschrose, welche dicht hinter der hübschen Königin
stand. >Fräulein Elise,< sagte die Königin, >ich freue mich sehr, Ihre
Bekanntschaft zu machen. Ist das Ihr Onkel dort unten, welcher den
häßlichen Dampf ausbläst?< >Nein,< sagte ich, >das ist der Onkel Doktor,
den sie weggejagt haben aus der Stadt; er schreibt Bücher und ist
unartig gewesen und hat zuviel Kleckse und Schreibfehler gemacht!< >So,
er schreibt Bücher? Dann will ich ihn mal besuchen!< sagte der kluge
Herr Brennessel böse ...«

»Alle Wetter,« lachte der Doktor hier, halb ärgerlich über Lisens Traum,
und griff mit der Hand hinter sich, um sich aufzurichten. »Au, Teufel!«
schrie er plötzlich. Er hatte wirklich mit der Hand in einen
Brennesselbusch gefaßt!

Wir lachten herzlich, und nur Lischen sagte ganz ernst: »Siehst Du,
Onkel Wimmer, _das_ war er!« Dann fuhr sie fort:

»Wir tranken nun Tee aus wunderniedlichem Geschirr (Onkel Wachholder
gibt mir noch ein Butterbrot!) und jeder erzählte eine hübsche
Geschichte vom Frühling, Sommer oder Herbst; vom Winter aber wußten sie
nichts -- da schlafen sie. Dabei hörte ich aber immer den Herrn Lehrer
lesen, und Herr Brennessel brummte dann dazwischen. Der war auch der
einzige, welcher vom Winter erzählen wollte, es ward aber nicht
gelitten. -- Auf einmal hörte Herr Roder auf zu lesen, und ich lag
wieder bei Dir, Onkel Wachholder, im Grase, und Rezensent steckte dicht
vor meinem Gesicht seine schwarze Nase zwischen den Halmen durch und
guckte mich groß an. Das habe ich gesehen! -- War das nicht hübsch? Und
nun, Herr Roder -- lesen Sie Ihre Geschichten noch einmal -- bitte,
bitte!«

»Danke schön,« sagte lachend der Lehrer. »Der kluge Herr Brennessel
hatte ganz recht, und _jetzt_ sehe ich auch ein; _meine_ Geschichten
sind gar nicht hübsch.«

Wie lange haben wir so geträumt, und erzählt, und im grünen Gras und
weichen Moos gelegen? -- Schon steigt die Sonne wieder abwärts am blauen
Himmel! Muß nicht der Doktor heute noch durch den Wald nach der nächsten
Eisenbahnstation? -- Auf, Lise, winde dem Rezensenten den letzten Kranz
um den schwarzen Pelz! Laßt nichts zurück von euern Sachen! Vorwärts! --
Auf engen schattigen Waldpfaden geht's nun quer durch das Holz, bis wir
endlich das Rollen der Wagen auf der großen Landstraße hören und zuletzt
den weißen Streif durch die Stämme schimmern sehen. Horch, Geigen- und
Hornmusik! Im Weißen Roß mitten im Wald an der Chaussee ist Tanz. Die
Haustür ist mit Laubgewinden geschmückt; Stadtvolk und Landvolk drängt
sich allenthalben davor und dadrinnen, im Haus und im Garten. Wir
erobern noch eine schattige Laube, und der Doktor gerät in sein Element.
Jetzt ist er oben im Saal, schwenkt sich lustig herum mit einer frischen
Landdirne oder einer kleinen bleichen Näherin aus der Stadt; jetzt
erregt er unter den Kegelnden ein schallendes Gelächter durch einen
wohlangebrachten Witz. Jetzt sitzt er wieder bei uns, den Rock
ausgezogen, glühend, pustend, fächelnd. Und überall, wo der Doktor ist,
ist auch der Pudel. Jetzt oben im Saal wie toll zwischen die Tanzenden
fahrend; jetzt, ausgewiesen, wie sein Herr aus der Stadt, steckt er
seine feuchte Schnauze unter unserm Tische hervor.

Immer tiefer sinkt die Sonne herab. Doktor, Doktor, wir müssen scheiden!

Und der Doktor zieht den Rock wieder an und hängt die Reisetasche um.
Wir alle stehen auf.

»Also mußt Du wirklich fort, Onkel Wimmer?« fragt Elise weinerlich.

»Ja ja, liebes Kind!« sagt der wunderliche Mensch plötzlich ernst. Er
hebt die Kleine empor, die sich diesmal nicht sträubt, sondern selbst
ihm einen herzhaften Kuß gibt.

»Wirst Du auch wohl zuweilen an den Pudel und mich denken, Lischen?«

»Ganz gewiß,« schluchzt Lischen, »und ich will schreiben, und der Pudel
-- nein, Du mußt's auch tun!« Der Doktor setzt die Kleine vorsichtig
wieder auf ihren Stuhl: »Lebt wohl, Wachholder,« sagt er, »leb' wohl,
Roder, alter Freund!«

Der Pudel blickt ganz verblüfft von seinem ernsten Herrn auf uns und
wieder zurück: es muß etwas nicht ganz in der Ordnung sein.

»Lebt alle wohl! Ein fröhliches Wiedersehn! Alle! ^En avant^,
Rezensent!« schreit der Doktor, über die Gartenhecke und den
Chausseegraben springend, und rennt, ohne sich umzusehen, dem Walde zu.
Am Rande bleibt er noch einmal stehen und schwenkt den Hut.

»^Smollis!^« ruft der Lehrer, ihm mit einem Glase zuwinkend. »Grüß die
Münchener Cousine, die hübsche Nannerl!«

»^Fiducit!^ Soll geschehen!« ruft der Doktor zurück und verschwindet
hinter den Büschen. Rezensent steht noch am Rande, blickt nach uns
herüber und stößt ein kurzes Gebell aus.

Jetzt ist auch er verschwunden.

Wir sitzen noch eine Weile still allein.

»Gott gebe dem ehrlichen alten Gesellen Glück!« sagt der Lehrer vor sich
hin. Ein Omnibus will eben nach der Stadt abfahren. Was sollen wir noch
hier? Wir nehmen Plätze und steigen ein.

Zurück geht's nun nach der großen Stadt, die staubige Landstraße
hinunter. Fröhliche Gesichter jedes Alters und Geschlechts um uns her im
dichtbepackten Wagen! Wie die Sonne so prächtig untergeht! Ade, du
schöner Wald! Ade, du alter Freund Wimmer! --

Da sind wir schon in den Anlagen. Welche sonntäglich geputzte Menge noch
ein- und ausströmt! Wir steigen aus auf dem freien Platz vor dem Tor;
den Weg durch die Stadt bis in unsere Sperlingsgasse können wir wohl
noch zu Fuße machen.

Da sind wir, als es eben dämmerig wird. Sieh, dort steht die alte Martha
strickend vor der Tür; sie erblickt uns und ruft:

»Guten Abend, guten Abend!«

»Ach, Martha, das war schön -- und -- der Onkel Doktor ist fort!« sagt
die kleine müde Elise. Auch der Lehrer sagt jetzt gute Nacht und kehrt
zurück in sein einsames Stübchen, eine lange Woche mühsamer Arbeit vor
sich.

Das war ein Sommertag im Walde, den ich hier aufzeichne in einer öden,
kalten Winternacht.




                                                        Am 25. Januar.


Die Kälte ist aufs höchste gestiegen. Wenige Nasen werden in der
Sperlingsgasse herausgestreckt, und die es werden, laufen rot und blau
an. Welch Künstler der Winter ist; die Spatzen färbt er gelb, und den
freien Deutschen macht er ausrufen: mein Haus ist meine Burg!

Was kann ein Chronikenschreiber bei so bewandten Umständen besseres tun,
als sein Haus einzig und allein zum Gegenstand seiner Aufzeichnungen zu
machen und die große Welt draußen, die allgemeine Gassengeschichte,
gehen zu lassen wie sie will?

Im Jahre der Gnade 1619 verbrannten sie zu Rom einen Gottesleugner,
genannt Julius Cäsar Vanini, der hob, auf seinem Scheiterhaufen stehend,
einen Strohhalm zwischen den Holzklötzen auf und sagte lächelnd: »Wenn
_ich_ auch das Dasein Gottes leugnen würde, dieser Halm würde es
beweisen!« -- Die Geschichte eines Hauses ist die Geschichte seiner
Bewohner, die Geschichte seiner Bewohner ist die Geschichte der Zeit, in
welcher sie lebten und leben, die Geschichte der Zeiten ist die
Geschichte der Menschheit, und die Geschichte der Menschheit ist die
Geschichte -- Gottes! Wohin führt uns das? Kehren wir schnell um, und
steigen wir die Treppen hinunter in das unterste Stockwerk.

Da sitzt in dem vorderen Zimmer des Hauswirts und Tischlermeisters
Werner eine weißhaarige gebückte Frau in ihrem Lehnstuhl hinter dem
Ofen, spinnend vom Morgen bis zum Abend. Das ist die alte Mutter der
Hausfrau, die Tochter des Erbauers des Hauses, welche den Grundstein
legen und den Knopf auf die Giebelspitze setzen sah und mit dem Hause
und seiner Geschichte verwachsen ist durch und durch.

Manche Leiche hat sie in den langen Jahren ihres Lebens hinaustragen
sehen: ihre Eltern und alle ihre Geschwister, ihren Mann und alle ihre
Kinder bis auf eins, die Anna, die Frau des jetzigen Besitzers. Sie hat
den Sarg Mariens mit schmücken helfen und den Sarg Franzens; sie hat
ihre Freundin, meine alte Martha, mit hinausbegleitet zum
Johanniskirchhof, wo dieselbe begraben ward an der Seite ihrer Herrin,
und manchen andern vom Dachstübchen bis zur Kellerwohnung.

Einst war sie das schönste Mädchen der Gasse -- wie sie jetzt noch die
schönste alte Frau ist -- und als der Hausknopf geschlossen werden
sollte, und jedes Glied der damals zahlreichen Familie ein Gedenkzeichen
hineintat, legte sie errötend und unbemerkt ein kleines Blättchen hinzu,
welches aus fernem Land gekommen war, und die Überschrift trug:

                »Dieses kleine Briefelein kommt an die
                 Herzallerliebste in Herz und Liebe.«

und schloß:

   »... meiner Liebsten noch einen Gruß und Kuß und hoff ich zu
   kommen im Frühling mit den Schwalben und Hochzeit zu feiern
   freudiglich mit meinem Schatz, den grüßt und küßt in Gedankensinn
   sein herzlieber

                                                  _Gottfried Karsten_,
                                                     Tischlergeselle.«

Oft, wenn der Wind die alte Wetterfahne knirschen und kreischen läßt,
mag sie wohl an das Blättchen im Knopf darunter denken und an den, der's
schrieb, und der nun auch schon so lange tot und begraben ist.

An wie manches Kindbett im Hause aber auch ist die alte Margarete
Karsten gerufen, und wie manches junge Leben hat sie aufblühen sehen im
Hause Nr. Sieben in der Sperlingsgasse.

Wer weiß so viele Wiegenlieder wie sie; wer weiß so viele Märchen, die
alle anfangen: »Es war einmal« und damit enden, daß jemand in ein Faß
mit Nägeln und Ottern gesteckt und den Berg hinabgerollt wird? Wer im
Hause hat zu allen Tageszeiten so viele Kinder um sich, die den
Geschichten lauschen, dem schnurrenden Rade zusehen und abends mit der
zunehmenden Dämmerung immer dichter an den großen Lehnstuhl sich
drängen? Wie oft habe ich einst da die kleine Elise mit Rezensent an
ihrer Seite gefunden, andächtig lauschend, und wie oft, wenn ich mit der
besten Absicht kam, sie heraufzuholen zu Bett, bin ich selbst sitzen
geblieben, den Schluß einer Historie abwartend, bis endlich auch noch
Martha herabkam, und es uns fast ging wie dem Herrn, welcher den Jochen
ausschickte, den Pudel zu holen.

Heute freilich treffe ich die kleine Lise nicht auf der Fußbank am
Lehnstuhl sitzend, auch die alte Martha kommt nicht mehr herunter, uns
beide abzuholen; aber einen andern treffe ich häufig genug seit Mitte
des vorigen Herbstes, und dieser andre ist kein geringerer als unser
Freund und Nachbar, der Karikaturenzeichner Strobel. In der Werkstatt
bei Meister und Gesellen, in der Küche bei der Hausmutter, überall ist
der Zeichner ein willkommener Gast. Die Gesellen porträtiert er für ihre
respektiven Schätze, mit dem Meister politisiert er, die Meisterin lehrt
er neue Gerichte fabrizieren -- er hat unter seiner Bibliothek ein
dickes Kochbuch -- und der Großmutter -- hört er zu.

So traf ich ihn heute abend, als ich herunterkam, einen geborgten
Leimtopf wieder abzuliefern. Da es Feierabend war, so war die ganze
Familie in der Stube versammelt, der Zeichner hatte alle seine
Gesprächselemente bei einander und plätscherte mit Wonne darin herum.

»... Also Meister,« sagte er, als er eintrat, »_wer_, meinen Sie, kriegt
dabei die Prügel?«

»Der Russe nicht!« antwortet nach einer kleinen Pause bedächtig der
Meister, der mit der Brille auf der Nase die Zeitung hinter das Licht
hielt, um besser zu sehen.

»Also die Alliierten?«

Der Meister nimmt eine Prise, und da seine Erinnerungen nur bis zu den
Befreiungskriegen gehen, sieht er verwundert auf, es scheint ihm auch
das unwahrscheinlich. Plötzlich aber besinnt er sich:

»Donnerwetter, dabei sind ja jetzt auch die Franzosen!« ruft er.
»Himmel! das hat sich ja auf einmal ganz umgedreht!«

»Richtig, Meister,« sagt der Zeichner, den Tischlermeister auf die
Schulter klopfend. »Richtig! Alles in der Welt dreht sich von Zeit zu
Zeit um.«

»Meisterin, die Kartoffeln brennen an!« unterbricht Anton, der
Lehrjunge, die Politik.

»Wir kommen gleich!« ruft Strobel lachend. -- »Ich gehe auch mit,
Meisterin, und die Kinder auch! Vorwärts! ^En avant! On with you, boys!^
Hinaus in -- die Küche!«

So werden die Kartoffeln gerettet, der Meister studiert seine Zeitung
weiter, und das Spinnrad summt und schnurrt im Winkel wie immer. Endlich
kommen Strobel, die Frau Anna und die Kinder zurück, und die Alte fragt:

»Also der Franzos ist auch wieder dabei? Ist das derselbe, der Anno
Sechs hier war?«

»Nein,« sagt Strobel, »jetzt trägt er rote Hosen.«

»Und der Napoleon -- ich meine, der ist lange tot?«

»Ja, Mutter,« sagt der Meister von seiner Zeitung aufsehend, »das ist
auch ein andrer.«

»Gott,« sagt die Großmutter, »wenn ich noch daran denke, wie das kleine,
gelbe, schwarze Volk hier war und in den Straßen kauderwelschte, und
eine Sorte hatte in ihren Hüten große Kochlöffel stecken, und acht
hatten wir hier im Haus.«

Strobel, der jetzt die Alte da hat, wo sie ihm interessant wird, rückt
einen Schemel an ihren Lehnstuhl und sagt: »Großmutter, es ist noch
früh, erzählen Sie uns noch etwas von den achten; wenn der Meister seine
Zeitung liest, ist gar kein Auskommen mit ihm. Kommen Sie, Wachholder,
rücken Sie her. Burschen, seht, wo ihr Plätze findet und haltet das
Maul, die Großmutter will von den acht Franzosen in Nummero Sieben
erzählen!«

Die Alte lächelt und bringt ihr Rad wieder in Gang: »Solchen gelehrten
Herren soll ich erzählen? Die haben ja alles viel besser in Büchern
gelesen; von allen achten weiß ich auch nichts.«

»Großmutter, was ich in Büchern gelesen, habe ich Gottlob nun bald
wieder vergessen,« sagt der Zeichner, »und wenn Sie auch von allen
achten nichts wissen, so sind wir auch mit vier zufrieden, oder mit
soviel, als Sie wollen; erzählen Sie nur.«

»Nun, wenn Sie's denn wollen, so muß ich mich mal besinnen. -- Gut!

Also es war Anno Sechs, als der Franzos im Lande rumorte und drunten
schrecklich hausen sollte, denn er hatte einen großen Sieg erfochten und
glaubte das Recht dazu zu haben. Die Leute fürchteten sich alle sehr,
gruben ihre Löffel weg und näheten ihren Kindern jedem ein Goldstück in
den Rocksaum, auf den Fall, daß sie abhanden kämen oder mitgenommen
würden. Aber mein Seliger tat gar nicht, als ob _ihn_ das was anginge.
-- Wenn sie kommen, sind sie da -- sagte er, und dabei blieb er, und
wenn die Nachbarn kamen und klagten und jammerten, sagte er nur: Einmal
wir, einmal sie! Und wenn sie ihm die Ohren zu voll schrieen, zog er
eine weiße Zipfelmütze, die er zu meiner Verwunderung seit kurzer Zeit
immer in der Tasche führte -- darüber und tat, als ob er einschliefe. Es
war immer ein sonderlicher Mann, Annchen, Dein Vater.

Gut. Eines Morgens erhub sich ein Lärm: Sie sind da! Heiliger Gott, mir
fuhr's ordentlich in die Knie; meine Jungen (Gott hab' sie selig) in
allen Gassen, Gott weiß wo, und nur mein Annchen hatt' ich in der Wiege;
mein Alter hatte mal wieder die Zipfelmütze hervorgekriegt und
übergezogen und sägete im Hofe.

>Gottfried, Gottfried!< schreie ich, >sie sind da! sie sind da!< Er tat,
als ob er's nicht hörte, obgleich ich dichte bei ihm stand. In meiner
Angst und auch vor Ärger riß ich ihm die dumme Mütze ab, warf sie auf
die Erde und schrie wieder: >Und die Jungen sind auf der Straße --
heiliger Vater! -- und unsere Löffel -- Mann -- Mann!<

Er hob ganz ruhig seine Mütze auf, klopfte die Sägespäne an mir ab,
setzte sie ruhig wieder auf und sagte: >Ja, -- wenn's so ist, so werden
sie wohl durchs Wassertor kommen, daher geht der Weg von Jena.< Ich
glaube so hieß es. Dann sägt' er weiter.

Richtig, da trommelte es schon die lange Straße vom Wassertor her,
herunter -- mir zitterte das Herz immer mehr! --

>Meister Karsten! Meister Karsten! Schnell, schnell!< schrieen plötzlich
mehrere Nachbarn, die in den Hof stürzten im besten Sonntagsstaat. >Ihr
sollt kommen, Ihr sollt mit zur Depentatschon an den französischen
General.<

>So?!< sagt mein Gottfried, stellte seine Säge hin und ging langsam in
das Haus, gefolgt von den Nachbarn, dem Herrn Sekretär Schreiber, dem
Herrn Rat Pusteback, dem Schornsteinfeger Blachdorf und dem Schmied
Pruster und andern. Alle zogen mit meinem Alten in die Stuben, weil sie
dachten, er würde nun gleich in den Bratenrock fahren und mitrennen.
Aber proste Mahlzeit! -- An den Tabakskasten ging mein Alter, stopfte
sich eine Pfeife, schlug langsam Feuer und sagte:

>Nun, so kommt, meine Herren!<

Die standen alle mit offenen Mäulern da, aber mein Gottfried ließ sich
nicht irre machen. In Schlafrock und Pantoffeln marschierte er ruhig --
ich sehe ihn wie heute -- voran bis an die nächste Straßenecke. Da blieb
er stehen und die Nachbarn um ihn herum; zeigte mit der Pfeifenspitze
auf einen Zettel, der da klebte und auf welchem stand:

                 >Ruhe ist die erste Bürgerpflicht!<

oder so was, -- ich hab's vergessen -- klappte seinen Pfeifendeckel zu,
drehte sich langsam um und ging ins Haus zurück. Meine beiden Jungen
brachte er mit, worüber ich seelenfroh war. >Da, Mutter,< sagte er, als
er sie in die Türe schob. >Heb sie mir auf,< sagte er, >wir brauchen sie
einstmal.<

Ich wußte damals nicht, was das heißen sollte; später erfuhr ich's!«

Hier traten der alten Frau die Tränen in die Augen, und ihr Spinnrad
hörte auf zu schnurren. Es herrschte eine tiefe Stille im Zimmer.

»Gut. Von nun ab bekümmerte sich mein alter Seliger um nichts mehr
draußen, sondern ging wieder zu seinem Sägebock und sägte weiter, bis
die Einquartierung kam. Herr meines Lebens, da hättet ihr den Mann sehen
sollen! Das ganze Haus kam in Aufruhr; das beste, was Küch' und Keller
hielt, ward aufgetischt, und je mehr die kleinen gelben Kerle
schwadronierten und sakramentierten, desto fröhlicher wurde mein Alter.

>Das ist die rechte Sorte!< rief er immer, sich die Hände reibend.
>Solche mußten's sein! Wenn nur genug von ihnen da sind!<

Französisch hatt' er etwas von der Wanderschaft mitgebracht, und so
waren sie bald die besten Freunde miteinander und auf du und du, daß die
Nachbarn ordentlich die Nasen rümpften. Die aber gingen zu allen
Depentatschonen und illuminierten und bekränzten ihre Häuser und so --
das tat aber mein Gottfried nicht, und wenn er einen vom Rat der Stadt
sah, zog er jedesmal richtig die Zipfelmütze herunter über die Ohren.
Gut, da war ein Franzos zwischen den andern, der war von daher, wo sie
halb deutsch, halb französisch sprechen, den konnt' ich auch verstehen,
und es war so gut, als wenn ich französch' gekonnt hätte. Was geschieht?
Eines Abends sitzen sie alle zusammen, und mein Alter mitten drinnen,
und kauderwelschten, daß einem Hören und Sehen verging, und saß ich im
Winkel und strickte, und die Jungen spielten im Winkel. Spricht mein
Alter auf einmal zu dem Deutschfranzos: >Nun sagt mal, Kamerad, wie
lange denkt ihr denn eigentlich noch in Deutschland zu bleiben?<

Der Deutschfranzos stieß mit den andern den Kopf zusammen, und sie
schnatterten was in ihrer Sprache. Dann lachten sie aus vollem Halse.

>Immer bleiben wir da!< sagt der Deutschfranzos. >Wir sein einmal da;
wir gehen nit raus wieder!<

>Woui!< schrieen die andern und hielten sich die Bäuche. >Nit raus! nit
raus!<

>Ne,< sagt mein Alter, >immer nicht. Ihr seid zwar da, und unsereins
kann unserm Herrgott nur dankbar sein, daß er euch geschickt hat, aber
immer --<

>Nit raus! nit raus!< schrieen die Franzosen.

>Lasset euch handeln!< sagt mein Alter, >ich biete zwölf Jahr --
höchstens!<

>Nit raus! nit raus!< kauderwelschten die wieder.

>Wilhelm! Ludwig! kommt mal her!< rief mein Alter jetzt die Jungen, die
sogleich angesprungen kamen und sich an seine Knie stellten.

>Richt' euch!< rief mein Alter. >Augen rechts! Seht mal, Jungens, die da
-- das sind Franzosen, die eigentlich hier nicht in unsere Stube
gehören. Das kleine Annchen kann gar nicht schlafen vor ihrem Spektakel
-- und doch haben sie Lust, immer dazubleiben. Was meint ihr, Jungens --
wenn ihr stark genug wäret?<

Guckten meine Jungen gewaltig wunderbar aus den Augen und die
Franzmänner an, und dann sich und dann meinen Alten!

>Das sich finden -- ich groß werden -- ich schon Pustebacks Theodor
zwinge,< sagte Wilhelm, mein Kleinster. Ludwig, mein Ältester, sagte gar
nichts, aber auf einmal rann ihm eine dicke Träne über die Backe, und
sein Vater klopfte ihn auf die Schulter und sagte:

>Warte nur, mein Junge, Du kommst zuerst.<

Die Franzosen hatten ihren Heidenjubel; und besonders einer -- sie
nannten ihn Piär oder so -- wußte sich gar nicht zu helfen vor Lachen.
Mein Alter aber war sehr ernst geworden und sprach den ganzen Abend kein
Wort mehr. Die andre Woche zogen die Franzmänner ab und lachten noch
beim Abschied, als sie uns allen die Hand drückten und ordentlich sich
bedankten für gute Bewirtung:

>Nit raus! Nit raus!<

>Wird sich finden,< sagte mein Alter. >Wird sich finden!< schrieen meine
beiden Jungen.

Gut, nun kamen lange Jahre und immer andre Franzosen.

>Bald ist's genug,< brummte mein Gottfried. Und einmal zogen sie alle
hinauf nach Norden, aber zurück kam keiner. Und dann fing's auf einmal
an zu rumoren im Lande, und an den Ecken klebten ganz andre Zettel, die
mein Alter immer las und wobei er mit dem Kopf nickte. Er war die Zeit
nicht viel zu Haus.

Da kam er eines Tages zurück und rief den Ludwig aus der Werkstatt, und
sie kamen beide in die Küche zu mir.

>Sieh, Mutter< sagte mein Gottfried, >'s ist gut, daß Dein Feuer brennt!
Paß auf, Ludchen!< Damit zog mein Alter seine Zipfelmütze aus der Tasche
und warf sie unter meinen Topf, daß sie verschwielte und das ganze Haus
voll Qualm ward; dann ging er mit meinem Ludwig fort und kam allein und
ganz still wieder.

Am andern Morgen zog ein Trupp schwarzer Reiter in die Stadt -- auch
durch das Wassertor. Einer kam zu Pferd hier in die Sperlingsgasse vor
unser Haus und stieg ab -- mir sank das Herz in die Knie -- es war mein
Ludwig! --

>Adjes, Mutter! Adjes, Vater!< rief er -- >behüt Euch Gott, 's wird sich
schon machen!< -- und dann ritt er fort, den andern nach, die schon
durch das Grüne Tor zogen.

>Da geht's nach Frankreich, Alte!< rief mein Mann, während ich heulte
und jammerte. Aber es war noch so weit nicht.

Wir hörten lange Zeit nichts, bis eines Tages alle Glocken in der Stadt
läuteten, und auch im ganzen Land, wie sie sagten. Es war eine große
Schlacht gewesen, und unsere hatten gewonnen, und mein Ludwig war --
tot!

>Der Erste,< sagte mein Alter.

Wieder ging ein Jahr hin, und einmal kam das Kanonenschießen so nahe,
daß die Leute vor das Tor liefen, es zu hören; natürlich liefen mein
Gottfried und ich mit. Da kamen bald aus der Gegend her, wo es so rollte
und donnerte, Wagen mit Verwundeten, Freund und Feind durcheinander, und
immer mehr und mehr. Die wurden alle in die Stadt gebracht.

>Herr, mein Heiland!< muß ich auf einmal ausrufen, >ist das nicht der
Piär von damals, von Anno Sechs?<

Richtig, er war's. Mit abgeschossenem Bein lag er auf dem Stroh und
wimmerte ganz jämmerlich. >Den nehm' ich mit,< sagte mein Alter und bat
ihn sich aus, und wir brachten ihn hier ins Haus -- in Ihre Stube, Herr
Wachholder. Da kurierten wir ihn. Als er besser wurde, hatte mein Mann
oft seine Reden mit ihm. Einmal war der Franzos oben auf, einmal mein
Alter. Da hieß es plötzlich, die Deutschen seien wieder geschlagen und
der Napoleon abermals Obermeister. Mein Alter sah den Wilhelm bedenklich
an, als ginge er mit sich zu Rat; als aber in der Nacht die Sturmglocken
auf allen Dörfern läuteten, wußte ich, was geschehen würde, und weinte
die ganze Nacht, und am Morgen zog auch mein Wilhelm fort mit den grünen
Jägern zu Fuß, und Minchen Schmidt, die mit ihrer alten Mutter in Ihrer
Stube drüben wohnte, Herr Strobel, weinte auch und winkte mit dem
Taschentuch. Vorher aber führte ihn mein Alter noch an das Bett des
Franzosen und sagte: >Das ist der Zweite!< -- Der Franzos schaute ganz
kurios und bewildert drein und sagte gar nichts, sondern drehte sich
nach der Wand.

Das Kanonenschießen kam nun nicht wieder so nah, und der Wilhelm schrieb
von großen Schlachten, wo viele tausend Menschen zu Tod kamen, aber er
nicht, und die Briefe kamen immer ferner her, und auf einmal standen gar
welsche Namen darauf. Die brachte mein Alter dem Franzos herauf, der nun
schon ganz gut Deutsch konnte, und sagte lachend zu ihm: >Nun, Gevatter!
Nit raus? Nit raus?< Und der Franzos machte ein gar erbärmlich Gesicht
und sagte, den Brief in der Hand: >Das sein mein 'Eimatsort, da wohnen
mein Vatter und mein Mutter.< Mein Alter aber saß am Bett und rechnete
an den Fingern: >Eins, zwei, vier -- acht. Acht Jahr, Gevatter Franzos!
Warum habt Ihr dunnemalen meine Zwölf nicht genommen?<

Die Briefe von unserm Wilhelm kamen nun immer seltener, und auf einmal
blieben sie ganz aus, und eines Tages -- kommt mein Alter nach Haus,
setzet sich an den Tisch, legt den Kopf auf beide Arme und -- weint. Ich
dachte der Himmel fiele über mich -- -- -- -- _der_ und Weinen!

>Der andre!< stöhnte mein Alter in sich hinein, und ich fiel in Ohnmacht
zu Boden.

Da vor der großen Franzosenstadt Paris muß ein Berg sein -- ich kann den
Namen nicht ordentlich aussprechen -- von wo man die Stadt ganz
übersehen kann. Da schossen sie zum letztenmal aufeinander, und da ist
auch dem Wilhelm eine Kugel mitten durch die Brust gegangen, wie der
Kamerad schrieb, und ist er da begraben mit vielen, vielen andern aus
Deutschland. -- Das ist meine Geschichte! Den Franzosen aber kurierten
wir aus, und mein Alter gab ihm einen Zehrpfennig und brachte ihn an das
Tor, wo der Weg nach Frankreich geht, den auch meine Jungen gezogen
waren, sah ihn da abhumpeln und kam wieder nach Haus, murmelnd: >Nit
raus, nit raus!< -- Gott hab ihn selig, den Mann, es war ein
wunderlicher, Dein Vater, Annchen.«

So erzählte die alte Margarete Karsten, und wir alle saßen um sie herum,
als sie geendet hatte, jeder seinen eigenen Gedanken nachhängend. Der
Meister hatte längst seine Zeitung weggelegt, und auch die Gesellen, die
nach und nach eingetreten und gewöhnlich ziemlich fröhlich und laut
waren, standen und saßen diesmal ganz still umher.

»Nun will ich noch was erzählen!« rief plötzlich die Alte, deren Augen
durch die wachgewordenen Erinnerungen in einem seltsamen Glanz
leuchteten. »Ich will was erzählen, was lange nachher geschah und doch
mit dazu gehört! -- Wenn die Fensterscheiben nicht so gefroren wären,
könntet ihr den Turm der neuen Sophienkirche sehen, die gebaut wurde,
nachdem die alte abgebrannt ist. In der alten war's, wo eine Tafel an
der Wand hing, wo die Namen aller der drauf standen, welche in dem
Franzosenkriege aus unserem Viertel gefallen waren, und worunter auch
meine Jungen waren: Ludwig Friedrich Karl Karsten und Wilhelm Johannes
Albert Karsten. Die Tafel hatten wir unserm Kirchenstuhl gerade
gegenüber, und des Sonntags schauten wir immer darauf und dachten an
unsre braven Jungen, und mein Alter war stolz auf die Tafel und ich
auch, wenn ich auch genug darüber geweint habe und noch weinte. Aber es
blieb nicht so bei meinem Gottfried. Es kam eine Zeit, da schlich er an
der Tafel vorbei, ohne aufzugucken, und wenn wir an unserm Platze saßen
und sein Blick fiel mal drauf hin, sah er schnell weg, oder auf den
Boden, oder murmelte etwas, was ich nicht verstand.

Gut, eines Tages gegen Abend stand ein schreckbares Gewitter über der
Stadt; es donnerte und blitzte unbändig, und auf einmal hieß es: in der
Sophienkirche hat's eingeschlagen! -- Richtig -- da brannte sie
lichterloh. Mein Alter, der sonst bei so was immer vorn dran war, rührte
diesmal nicht Hand nicht Fuß, und es hätte auch nichts geholfen. Er
hatte mich unterm Arm, und wir standen in der Menschenmenge und sahen
zu. Auf einmal schwankt der Turm, der wie eine Fackel war, hin und her
und stürzt dann herunter auf das Kirchendach mit einem Krach, daß
Menschen und Pferde in die Knie schossen und ich mit. Mein Alter aber
blieb aufrecht stehen und kehrte sich um und brachte mich nach Hause.
Als wir in unserer Stube waren, ging er den ganzen Abend auf und ab, bis
er plötzlich vor mir stehen blieb und sagte:

>Mutter, Gottlob, die Tafel ist verbrannt! Mutter, ich konnt' sie nicht
mehr ansehen! -- Gute Nacht, Mutter!< -- Ich verstand ihn gar nicht und
fragte, was das bedeuten solle, aber er schüttelte nur mit dem Kopf und
ging zu Bett. Und das will ich auch tun, mein Flachs ist zu Ende! Gute
Nacht, ihr Herrn, gute Nacht, Kinder! -- Komm, Annechen!« -- Damit erhob
sich die alte Frau, und ging, auf ihren Stock und den Arm ihrer Tochter
gestützt, hinaus, ihrer kleinen Kammer zu, um von ihrem alten Gottfried
mit dem eisernen Herzen, um von den beiden erschossenen
Freiheitskämpfern weiter zu träumen. Der Karikaturenzeichner machte
heute Abend keinen Witz mehr, der Meister sog an der erloschenen Pfeife.
Es war, als wage keiner sich von seinem Platz zu rühren; es war, als
müsse nun gleich die Tür sich öffnen, und der alte, gewaltige Mann
hereintreten mit dem schwarzen Reiter und dem grünen Jäger an seiner
Seite, von denen der eine an der Oder und der andre dicht vor Paris
begraben liegt auf dem Montmartre.

»Ich weiß, warum der Meister Karsten die Tafel nicht mehr ansehen
konnte!« rief plötzlich eine klangvolle Mannesstimme, daß alle fast
erschrocken aufsahen. Es war Rudolf, der Altgeselle, der sich in seinem
Winkel hoch aufgerichtet hatte.

»Ich auch!« rief Bernhard, der zweite Gesell, seinem Gefährten die Hand
auf die Schulter legend.

»Ich auch!« rief Strobel aufspringend. »Wie viel Wissende noch?«

»Ich auch!« rief der Meister. »Ich auch!« sagte ich. »In _dem_ Wissen
liegt die Zukunft -- Gott segne das Vaterland!« Und dann -- -- kam die
Meisterin mit den Kartoffeln.




                                                       Am 10. Februar.


Und wieder überschreibe ich ein Blatt der Chronik:

                                Elise.

Wir haben gejubelt und gelacht; auch wohl geweint über kleine Schmerzen
und verunglückte Freuden! -- Wie die Jahre kommen und gehen!

Der Efeu hat nun eine ordentliche, schattige, grüne Laube gebildet; rote
und blaue Wachsbilder hat eine kleine schmückende Hand zwischen das
Blätterwerk gehängt; wieder flattert ein zahmer Kanarienvogel in der
Stube hin und her, von meinen Büchern und Schreibereien auf eine hübsche
runde Schulter im Fenster, oder auf einen niedlichen Finger, der ihm
winkend hingehalten wird. -- Elise ist nun dreizehn Jahre alt auf den
Blättern dieser Chronik. Oft wenn ein lustiger Sonnenstrahl über das
Blätterwerk schießt, zwitschert wohl Flämmchen -- so heißt der neue
kleine Freund -- fröhlich auf, hüpft aus seinem Bauer, dreht das
Köpfchen mit den funkelnden kohlschwarzen Äuglein einigemal hin und her
und flattert dann zum offenen Fenster hinaus. Einen Augenblick glänzt
es, hin und her schießend, wie ein Goldpünktchen im Sonnenschein, dann
flattert es nach der jenseitigen Häuserreihe und verschwindet in einem
Fenster des mittleren Stockwerkes in Nr. Zwölf. Von dort ward es
herübergebracht, auch dort hat es ein kleines Messingbauer.

Neue Gesichter sind aufgetaucht, neue Fäden schlingen sich wundersam in
unser Leben und damit heute an diesem regnichten, windigen Februartage
auch in diese Blätter.

Was tot war, wird lebendig; was Fluch war, wird Segen; die Sünde der
Väter wird nicht heimgesucht an den Kindern bis ins dritte und vierte
Glied!

Eine helle frische Stimme erschallt unten im Hause; ein leichter Schritt
kommt die Treppe herauf -- Elise horcht. Nach einigen Minuten erschallt
plötzlich draußen ein Gepolter, Marthas Stimme läßt sich hören, klagend
und ärgerlich. Da ist er -- der Taugenichts der Gasse!

Die Tür wird halb aufgerissen, und herein schaut ein lachendes,
kerngesundes, mit unzähligen Sommerflecken bedecktes Knabengesicht.

»Nun, Gustav, was gibt's wieder?«

»O gar nichts!« sagt das ^mauvais sujet^, den Mund von einem Ohr bis zum
andern ziehend, während Martha jetzt kläglich draußen nach Elisen ruft.
»Was mag er nur angefangen haben?« sagt diese aufspringend und
hinausgehend. Ein helles herzliches Gelächter, in welches ich sie
draußen ausbrechen höre, zwingt auch mich, von meinen Büchern
aufzustehen, während Gustav sich ganz ehrbar in einen Band von Beckers
Weltgeschichte vertieft zu haben scheint. Ich nehme die möglich
ernsteste Miene an und schreite hinaus. Welch ein Anblick erwartet mich!

Die gute Alte hat höchst wahrscheinlich ihre Mittagsruhe gehalten und
ist, das Strickzeug im Schoß, eingeschlafen. Diesen günstigen Augenblick
zu benutzen, hat der Taugenichts, der vielleicht mit sehr guten
Vorsätzen die Treppe heraufkam, doch nicht unterlassen können.

Festgebunden sitzt die Unglückliche in ihrem Stuhle; Handtücher,
Bindfaden, das Garn ihres Strickzeuges, kurz alles nur mögliche
Bindematerial ist benutzt, sie unvermögend zu machen, sich zu rühren.
Vor ihr auf einem, noch dazu sehr zierlich gedeckten Tischchen, steht
ein großer Napf Milch, der höchst wahrscheinlich zu den wichtigsten
kulinarischen Zwecken bestimmt war, und um ihn im Kreis sitzt schlürfend
und schmatzend -- die ganze Katzenwelt des Hauses, von Zeit zu Zeit
einen höhnenden Blick nach dem Lehnstuhl werfend, von welchem aus die
gefesselte Küchentyrannin strampelt und droht, in wahrhaft tantalischen
Qualen.

»Lischen -- so jag sie doch weg -- (Elise hat vor Lachen die Kraft gar
nicht dazu und sitzt atemlos auf einem Schemel) -- o der Schlingel --
aber, Herr Wachholder, jagen _Sie_ sie doch weg -- es bleibt ja nichts
übrig -- o meine schöne Milch -- der Bösewicht!« Ja der Bösewicht -- wo
war er, als diese Tragikomödie zu Ende gekommen war, und man sich nach
dem Urheber umsah? Der Band von Beckers Weltgeschichte lag freilich noch
aufgeschlagen da, aber von Gustav -- nirgends eine Spur!

                   *       *       *       *       *

Wer ist dieser Gustav?

Der Enkel eines Mannes, dessen Name schon einmal gar unheimlich in diese
Blätter hineingeklungen ist, der Enkel des Grafen Friedrich Seeburg.

Es war im Jahr 1842, als in die Wohnung drüben in Nr. Zwölf, in deren
Fenster später der Kanarienvogel so oft hinüberflatterte, eine schöne,
schwarz gekleidete, bleiche Frau zog, welche sich Helene Berg nannte,
die Witwe eines vor kurzem verstorbenen Mediziners. Sie war es, die
schon einmal durch unser Leben und durch die Blätter dieser Chronik
geglitten ist, mit jenem Sonnabend im Sommer 1841, an welchem wir den
toten kleinen Vogel auf dem Johanniskirchhof begruben zu den Füßen der
Gräber von Franz und Marie. Sie küßte damals die kleine Elise, aber wir
kannten einander nicht. -- »Georg Berg« stand auf dem Grabstein, an
welchem sie gekniet und geweint hatte, und in der ärmlichen Wohnung
drüben in Nr. Zwölf, in der engen, dunkeln Sperlingsgasse verklingt die
letzte Saite der unheilvollen wilden Geschichte, die einst der sterbende
Jäger dem Maler Franz Ralff erzählte. -- Ist das Lied vorbei? Eine junge
fröhlichere Weise nahm den letzten Ton auf, und »Gustav und Elise Berg«
wird die neue Melodie lauten!

Wie die Letzte aus dem stolzen Hause der Grafen Seeburg das
Zusammenhängen ihres Schicksals mit dem kleinen Mädchen an meiner Seite
erfuhr? -- Ihre Geschichte?

Ich fürchte mich fast, die Decke, die über so viel kaum vergessenem und
begrabenem Unheil liegt, wieder aufzuritzen.

»Sieh, welch ein schöner Ring!« sagte einmal Elise, der Frau Helene, die
bei uns saß, jenen Reif zeigend, welchen vor langen langen Jahren der
alte Burchhard am Hungerteiche im Ulfeldener Walde der toten Luise aus
der erstarrten Hand gezogen hatte, welcher so lange Jahre unter jenem
bekreuzten Stein gelegen hatte, und der das Wappen des Grafen von
Seeburg trug! -- Ich habe nicht nötig aufzuschreiben, was folgte! -- --
-- Wir trennten uns damals so bald nicht. Den ganzen Abend ließ die
weinende Helene die kleine Elise nicht aus den Armen, und Gustav, --
Gustav, der Taugenichts der Gasse, begrüßte jubelnd seine Cousine auf
seine Weise.

Nachdem er lange unstät sich umhergetrieben hatte, heiratete in Italien
der Graf Friedrich Seeburg eine schöne, vornehme, aber arme Italienerin;
sie ward die Mutter Helenens und starb sie gebärend im zweiten Jahr
ihrer Ehe. Die Griechen dachten sich die Kluft zwischen Gott und dem
Menschtum ausgefüllt durch ein Vermittelndes, das Dämonische: da
schwebten, »damit das Ganze in sich selbst verbunden sei,« Geister »viel
und vielerlei« auf und nieder; strafende und lohnende Boten der
Gottheit, und niemand entging seinen Taten. Diese Geister verfolgten
auch den Grafen: Reue, Ruhelosigkeit, Lebensüberdruß hießen sie, und auf
jede Lebensfreude legten sie ihre ertötende Hand. Wieder zog der Graf
über die Alpen nach Deutschland. Das Schloß Seeburg war verkauft, -- er
kam nach Wien, wo er menschenscheu und finster in einem einsamen,
kleinen Hause wohnte. Oft hörte ihn seine Tochter auf- und abgehen in
der Nacht; sie hatte keine Bekanntinnen, keine Freundin; eine alte
Dienerin ihrer Mutter war ihr ganzer Umgang. So verlebte sie ihre ersten
Jugendjahre fast ganz sich selbst überlassen; während ihr Vater immer
finsterer und finsterer ward. Er verbot ihr zu singen, zu spielen; sie
seufzte und fügte sich. Da wurde eines Morgens der alte Graf Seeburg tot
im Bett gefunden; kein Mensch war bei seinen letzten Augenblicken
zugegen gewesen, er war gestorben wie ihn Helene nur gekannt hatte --
einsam und allein. Einsam und verlassen war aber auch sie jetzt, ein
junges Mädchen in einer großen, fremden Stadt, die sie nicht kannte, wo
niemand sie kannte. Es fand sich, daß die Hinterlassenschaft ihres
Vaters kaum hinreichte, die während seines Aufenthalts in Wien gemachten
Schulden zu bezahlen.

Unter den wenigen, die von Zeit zu Zeit das Haus ihres Vaters betreten
hatten, war ein Doktor Berg, ein nicht mehr ganz junger Mann, und dieser
war der einzige, welcher, an das Totenbett des alten Grafen gerufen,
nachdem er ihm die Augen zugedrückt hatte, sich der jungen Waise annahm.
Er brachte ihre Vermögensverhältnisse in Ordnung; er führte sie, die
ebenfalls fast menschenscheu Gewordene, zu guten Menschen, zu seiner
alten, freundlichen Mutter. Er schien alles, was er tat, nur als seine
Pflicht anzusehen, und er, der ihr anfangs gleichgültig war, gewann ihre
Zuneigung mehr und mehr. Da bot er ihr seine Hand, und die Gräfin Helene
Seeburg ward seine zufriedene, glückliche Gattin, bald noch glücklicher
durch die Geburt eines Sohnes, der Gustav genannt wurde. Da zwangen
Verhältnisse -- auch seine Mutter war gestorben -- den Doktor Berg, Wien
zu verlassen; er zog hieher und bemühte sich, eine Praxis zu gewinnen.
Eben schien es ihm zu gelingen, als eine heftige Seuche, die verheerend
von Osten kam und über das ganze Land todbringend zog, auch ihn
wegraffte; er ließ seine Frau und seinen Sohn fast unbemittelt zurück.
Auf dem Johanniskirchhof, zwanzig Schritte von Franz und Marie Ralff,
ward er begraben.

Das war es, was die Frau Helene Berg erzählte, während der Ring mit dem
Wappen der Grafen Seeburg, die Schlange, welche den Rubin umwand, vor
ihr auf dem Tische funkelte. Noch an demselben Abend trug ich ihn auf
die Königsbrücke und warf ihn weithin in den Strom, nachdem ich ihn in
zwei Stücke zerbrochen hatte. Helene lehnte neben mir am Geländer, und
schweigend gingen wir zurück in die Sperlingsgasse zu unsern Kindern.

                   *       *       *       *       *

War's nicht ein hübsches, ein glückliches Vorzeichen, dieser kleine
goldgelbe Vogel, der zwischen den beiden Wohnungen hin und her
flatterte, der seine Wohnung dort und hier hatte, oft ein kleiner treuer
Bote war, und an seinem beweglichen Hälschen gar wichtige Nachrichten,
Fragen oder Antworten hinüber- und herübertrug?

»Schau mal nach, Lise, das Flämmchen trägt wieder einen Zettel am Halse.
Jetzt werden wir wohl erfahren, wo der Bösewicht, über den ich die alte
Martha draußen noch brummen höre, steckt.«

Zwitschernd hüpft Flämmchen auf Elisens Hand. Sie nimmt ihm den Zettel
ab, und in einer weitbeinigen Knabenhandschrift lautet die Botschaft:

   »Lise!

   Da ich mich vor morgen bei Euch nicht zu zeigen wage und noch
   dazu leider gezwungen bin (scheußlich!) 3 Seiten, schreibe drei
   Seiten, voll lateinischen Unsinns zu übersetzen (ich möchte nur
   wissen, wozu ein Maler, und ich _will_ einer werden, Latein
   braucht?????) so bitte ich Dich, den Onkel (_Du brauchst ihm
   diesen Brief nicht zu zeigen_) ebenso auf seinem Lehnstuhl
   festzubinden, wie ich die alte Martha festgebunden habe und
   #sobald als möglich# vor die Tür zu kommen. -- Ich will Dir mal
   was Wichtiges sagen.

                                                               Gustav.

   ^P. Scr.^ Ich passe auf, und wenn ich Deine Nasenspitze sehe,
   schleiche ich an den Häusern hin zu Euerer Tür! Komme bald!!

   ^P. Scr.^ Bring Deine Korbtasche mit!«

»Was mag er nur wollen?« fragt Lischen, die schon nach dem Nagel guckt,
an welchem ihre Tasche hängt, während ich trotz des warnenden Passus den
Brief des Übeltäters und seine echte Tertianerlogik studiere. Es ist
prächtig: _weil_ ich ein Exerzitium von bedenklichster Länge machen muß
-- _so komme sobald als möglich!_ Und dann die kleine Heuchlerin, die
recht gut weiß, was der Faulpelz will!

»Was für einen Tag haben wir heute, Lischen?«

»Ah -- Sonnabend!« ruft Elise. »Jetzt weiß ich's! Er hat sein
Taschengeld gekriegt.«

»Welches eigentlich die alte Martha konfiszieren müßte. Höre, Lischen;
schreib ihm als Bedingung Deines Kommens vor, daß die >scheußliche<
Arbeit fertig sein müsse.«

»Wie lange dauert das wohl, Onkel?« fragte die Lise ganz bedenklich; sie
zöge das »Sobald als möglich« unbedingt vor.

»Nun -- zwei Stunden, mindestens.«

»Oh, oh zwei Stunden?!«

»Ja, und dann wimmelt sie doch noch von Fehlern, einer immer schlimmer
als der andre.«

»Onkel, Gustav sagt aber: je länger er an einer Arbeit säße, desto mehr
Böcke mache er.«

»Nun denn, wenn er das sagt, so soll er sie fürs erste nur fertig machen
und mit herüberbringen. Schreib ihm das.«

Elise stellt jetzt eine große Auswahl unter meinen Federn an und beklagt
sich sehr über »unsere« schlechte Tinte; während Flämmchen, auf einer
Stuhllehne sitzend, anfangs geduldig wartet, dann aber, als ihm die
Sache zu lange dauert, sich bemüht, über dem Tisch flatternd, ebenfalls
in das Tintenfaß zu schauen, um den Grund der Zögerung zu erfahren.
Endlich jedoch ist Elise mit ihren Vorbereitungen fertig und schreibt:

   »Lieber Gustav!

   Dein Brief ist glücklich angekommen. Flämmchen hat ihn gebracht.
   Die alte Martha hat einen nassen Waschlappen im Fenster liegen;
   sie will Dich tüchtig waschen, wenn Du kommst. Den Onkel kann
   ich nicht festbinden, er rennt heute immer in der Stube auf und
   ab und sitzt keinen Augenblick still. Du sollst erst Dein
   Exerzitium fertig machen und es mitbringen, eher soll ich nicht
   kommen! Mach schnell!!! Meine Tasche bringe ich mit!

                                                               Elise.«

Auch diese Botschaft wird dem Flämmchen umgehängt; die Praxis hat es
gelehrig gemacht; zwitschernd schüttelt es das Köpfchen, als wolle es
sagen, nun ist's aber genug, jetzt komme ich nicht wieder, und --
verschwunden ist's. Elise sitzt wartend vor ihrem Nähtischchen unter der
Efeulaube, ich vertiefe mich wieder in meine Bücher, aber keine halbe
Stunde vergeht, da ertönt unterm Fenster ein heller Pfiff, und Elise
springt auf und schaut hinaus.

»Da ist er schon!« ruft sie halb zurück mir zu.

»Komm herauf, Gustav!« ruft sie hinunter.

»Dieses weniger!« erschallt unten die Schülerredensart, und mich wundert
wirklich, daß der Bengel diesmal nicht die noch dazu gehörende weise
Benachrichtigung damit verbindet: Aber mein Bruder bläst die Flöte.

»Hast Du Dein Exer?« (^scilicet citium^) ruft Elise.

»Versteht sich; fix und fertig, komm herunter, Du kannst es _ihm_
hinaufbringen.«

Elise sieht mich fragend an, und ich nicke. Herunter ist sie wie der
Blitz, und ich gehe ans offene Fenster, hüte mich aber wohl, etwas von
meiner werten Persönlichkeit sehen zu lassen.

»Du bist aber schnell damit fertig geworden, Gustav!« sagt Elise, und
ich stelle mir eben lebhaft vor, wie der Schlingel grinst, als er ihr
sein Machwerk einhändigt.

   »Mit Geduld und Spucke
   Fängt man jede Mucke!«

lautet die Antwort: »Hier, nimm Dich in acht, es ist noch naß; und höre,
Lischen -- komm schnell wieder herunter, eh er hineingeguckt hat; er
könnte mich noch zurückrufen!«

»Taugenichts! das mag was schönes sein!« moralisiert Elise, die ich nun
die Treppe heraufkommen höre.

»Da ist's, Onkel!« ruft sie in die kaum handbreit geöffnete Tür, wirft
das edle Manuskript auf den nächsten Stuhl, schlägt die Tür zu, und --
in drei Sätzen ist sie die Treppe hinunter.

»Lise, Lischen, Elise!« rufe ich, aber wer nicht hört, ist Fräulein
Elise Johanne Ralff.

»Komm schnell, er ruft schon!« sagt unten der Schlingel, sie am Arm
fassend, und fort sind sie um die Ecke!

Da liegt nun das blaue Heft, auf dem Umschlag: »Gustav Berg« und drunter
die geniale Übersetzung ^Gustavus Mons^ mit Angabe von Wohnort, Datum
und Jahreszahl. Ich schlage es auf, und es ist in der Tat zweifelhaft,
ob der Kollaborator Besenmeier es mit roter Tinte, oder ob es Meister
^Gustavus Mons^ mit schwarzer geschrieben hat. -- Hier sind die neuesten
Seiten. Reizend! ^Ita uno tempore quatuor locibus^ (Schlingel!)
^pugnabatur etc. etc.^ Als Schulmeister müßte ich ausrufen: »Was _soll_
aus dem Jungen werden?« Als Nichtschulmeister aber halte ich mich an das
-- Löschblatt und rufe aus: »Was _kann_ aus dem Jungen werden!« -- Hier
»an vier Orten« schlagen sie ebenfalls Römer, Karthager, Mazedonier,
Sarden, und zwar besser als im Latein: Pferde, Menschen, ^Hannibal ante
portas^, Triarier, Veliten, Prinzipes! Ausgezeichnet! Ich werde dem
Schlingel eine tüchtige Rede halten sowohl über seine »^locibus^« als
auch über die Unverschämtheit, ein Heft mit solch beschmiertem
Löschblatt drin »abliefern« zu wollen. Das letztere aber werde ich
konfiszieren, und Zeichenstunde soll der Junge auch haben; dieser
Signifer hat doch etwas zu lange Arme.

Eine halbe Stunde sitze ich nun noch arbeitend, dann schlägt es auf der
Sophienkirche Sechs. Ich weiß nicht, ist es das schlechte Beispiel,
welches mir da eben gegeben wurde, oder der blaue Sommerhimmel und die
Sonne draußen; auf meinem Papier rücke ich nicht weiter, wohl aber
unruhig auf dem Stuhle hin und her. Elise hat übrigens auch recht:
»unsere« Tinte ist wirklich abscheulich. Ich schlage meine Bücher zu,
ziehe den Rock an und gehe den Tönen eines Fortepianos nach, welche von
drüben herüberklingen. Wenn ich in Nr. Zwölf die Treppe hinaufgestiegen
bin, so finde ich dort in dem einfach aber hübsch ausgestatteten Zimmer
des ersten Stockes eine Dame vor dem Klavier sitzen, die mir freundlich
zunickt, ohne sich in ihren Phantasien stören zu lassen. Ich setze mich
neben die Rosen- und Resedatöpfe im Fenster, der Musik lauschend, und
kann dabei zugleich einen musternden Blick über das Zimmer gleiten
lassen. Hier gleich neben mir unter den Blumen steht Flämmchens
Messingbauer, in welchem der kleine Vogel bereits auf der Stange sitzt,
und das Köpfchen unter den Flügel gezogen hat. Müde von den
Anstrengungen des Tages, ist er früh zu Bett gegangen. Im zweiten
Fenster, mir gegenüber, steht ein ähnliches Nähtischchen wie das, vor
welchem ich sitze; ein Stickrahmen mit angefangener Arbeit liegt darauf.
Das ist Elisens Platz; auch sie hat wie Flämmchen hier eine zweite
Behausung. Zwischen beiden Fenstern, gegen das Licht gezogen, macht sich
ein einst rot bemalt gewesener Tisch breit; bedeckt mit Büchern,
Schreibzeug, Heften, Federmessern usw. usw.; bekritzelt, zerschnitten,
zerhackt, ist er der Schauplatz von Gustavs »stillen Freuden«.

Hier brütet das Genie über seinen »^locibus^«, den Kopf auf beide Fäuste
gestützt und in den Haaren wühlend; hier füllen sich die Blätter mit
Fratzen aller Art, statt mit lateinischen Phrasen; hier werden alle die
Dummheiten ausgebrütet, welche die Gasse in Verwunderung und Verwirrung
setzen sollen; hier werden mit dem demütigsten Gesicht, der reuevollsten
Miene, die Ermahnungen und Vorwürfe, welche die Mutter von ihrem Thron
herab auf das Haupt des Taugenichts der Sperlingsgasse schüttet, in
Empfang genommen und richtig quittiert durch -- einen tollen Streich,
eine Viertelstunde nachher; hier, kurz hier -- ist Gustav Bergs
Schreibtisch!

Als die Tante Helene ihr Spiel beendet hat, erzähle ich ihr die
Geschichte des Katzendiners, von dem sie natürlich noch nicht das
mindeste weiß.

»Ich kann ihn nicht bändigen!« ruft sie halb lachend, halb in
Verzweiflung aus. »Und die Elise verdirbt er mir auch ganz! Statt zu
sticken und Vokabeln aufzuschlagen, schießen sie sich mit Papierkugeln;
wenn er ihr einen Käfer in den Nacken gleiten läßt, bin ich sicher, daß
sie ihm einen Zopf ansteckt oder einen Eselskopf auf den Rücken malt.
Ich spreche und schelte mich heiser und müde, aber es hilft nichts!
>Tante, er hat angefangen, ich saß ganz ruhig!< >Mutter, 's ist nicht
wahr, sie hat zuerst geschossen!< So geht das den ganzen lieben Tag! Wo
mögen sie nur jetzt wieder stecken?«

»Wenn man den Wolf an die Wand malt, so kommt er um die Ecke!« sagt das
Sprichwort, und unsere Altvordern wußten, was sie taten, als sie es
aufbrachten. Mit Helenens Frage öffnet sich die Tür, oder vielmehr, sie
wird aufgerissen, und herein, hochrot, stürzen -- Windbeutel und
Wildfang! Kaum erblickt mich aber Freund Gustav, so macht er Kehrt und
sucht schleunigst die Tür wiederzugewinnen, glücklicherweise aber bin
ich diesmal schneller.

»Halt, Meister! hiergeblieben!«

»Ja, hiergeblieben, Gustav!« ruft die Mutter.

Ich beginne nun das Verhör.

»Wie alt bist Du jetzt, Gustav? Antwort!«

»Vierzehn und ein halb!«

»Welchen Platz in der Klasse hast Du jetzt?«

»Ich bin der Vierundzwanzigste von oben!«

»Und von unten?«

»Der -- der -- der Fünfte!« -- (Pause.)

Ich lege nun ein Gesicht an wie Zeus Kronion, wenn's lange heiß gewesen
ist, und er donnern will, und beginne eine Rede, die anfängt: Als ich in
Deinem Alter war (wie ^Nota bene^ alle Väter und Erzieher beginnen, seit
Adam seinen Erstgeborenen »rüffelte«); ich flechte die Milchgeschichte
ein, gehe dann zu den »^locibus^« in der letzten Arbeit über, bringe
einen kleinen Seitenhieb auf Elise an und ende, indem ich die
rührend-pathetische Seite -- den Kummer der Mutter -- herauskehre.

Während der ganzen Dauer dieser »Pauke« hat mein Missetäter, bald
auf dem einen, bald auf dem andern Fuß stehend, mit einem
dummpfiffigreuigwehmütigen Gesicht angestrengt einen Punkt oben an der
Decke, der ihm sehr merkwürdig erscheinen muß, ins Auge gefaßt. Kaum
aber habe ich geendet, so verliert auch besagter Punkt alles Interesse
für den Schlingel, »die Erde hat ihn wieder«, er schiebt sich hinter
Elise, die fortwährend mit ihrer Schürze zu tun gehabt hat, und dann zu
seiner Mutter, die ihm bemerkt:

»Siehst Du; ich hab's Dir oft gesagt, aber auf _mich_ hörst Du nicht.
Wie heiß Ihr seid! Geh' aus dem Zugwind, Elise, Kind, Du erkältest Dich!
Wo habt Ihr eigentlich gesteckt?«

»Wir sind nur auf dem Fontänenplatz gewesen!« sagt Elise, mit dem Rücken
der Hand über den Mund fahrend.

»So! -- Und was habt Ihr da gemacht?«

»Wir haben die Goldfische gefüttert!«

»Die Goldfische?! -- Gustav, wieviel von Deinem Taschengeld hast Du
noch?«

Bei dieser Wendung des Gesprächs steht Gustav auf einmal wieder auf
einem Bein und scheint sehr zu bedauern, daß er sich nicht wie die Gänse
mit dem andern hinterm Ohr kratzen kann. Langsam fährt er mit der Hand
in die Tasche, besinnt sich aber und zieht sie schnell zurück.

»Nun?!«

»Hast Du's mir zum Ausgeben gegeben, Mama?« fragt der Schlingel, den
seine Erziehung Weiberlogik kennen gelehrt hat.

»Freilich -- aber -- aber« -- -- --

»Nun, ausgegeben hab' ich's! Lise kann es bezeugen!«

»Ja, das _kann ich_!« ruft Lischen ganz eifrig. »Darüber braucht Ihr ihn
nicht auszuschelten!«

Ich komme jetzt der bedrängten Tante zu Hilfe.

»Ausgeben kann er's freilich, aber das >Wie< ist jetzt die Frage. Was
habt Ihr mit dem Gelde angefangen?«

Das Paar sieht sich stumm an. Plötzlich greift Lise in die Tasche, zieht
einen Kirschkern hervor und schnellt ihn Gustav an die Nase. Die Frage
ist gelöst.

»Ach so!« ruft die Tante Berg. »Nun, es ist gut, daß es fort ist, so
kann er wenigstens nicht wieder Zigarren dafür kaufen, wie in der
vorigen Woche.«

Auch ich bin ganz damit einverstanden, während Elise den Vetter mit dem
Ellenbogen in die Seite stößt und ihm zuflüstert: »Warte nur, morgen
kriege ich meins!«

                   *       *       *       *       *

Glückliche Kindheit! Alle späteren Lebensalter, die eine einsame Minute
fröhlich verträumen wollen, lassen dich vor sich aufsteigen, und ich --
der alternde Greis fülle diese Bogen mit längst vergangenen, längst
vergessenen Kindergedanken und Kindersorgen! Träumt nicht sogar die
Menschheit von einem »goldenen Zeitalter«, einer längst untergegangenen
glücklichen Kinder-Welt?




                                                       Am 28. Februar.


Es ist gar kein übler Monat dieser Februar, man muß ihn nur zu nehmen
wissen! -- Da ist erstlich die ungeheuere Merkwürdigkeit der fehlenden
Tage. Wie habe ich mir einst, vor langen Jahren, den Kopf über ihr
Verbleiben zerbrochen. Jeder andere Monat paßte aufs Haar mit
Einunddreißig auf den Knöchel der Hand, mit Dreißig in das Grübchen, und
nur dieser eine Februar -- 's war zu merkwürdig! -- Das ist ein Stück
aus der formellen Seite der Vorzüge dieses Monats, jetzt wollen wir aber
auch die inhaltvolle in Betrachtung ziehen. Was ist an diesem Regen
auszusetzen? Tut er nicht sein möglichstes, die Pflicht eines braven
Regens zu erfüllen? Macht er nicht naß, was das Zeug halten will und
mehr? Der alte Marquart in seinem Keller ist freilich übel daran, seine
Barrikaden und Dämme, die er brummend errichtet, werden weggeschwemmt,
seine Treppe verwandelt sich in einen Niagarafall. Alles, was Loch
heißt, nimmt der Regen von Gottes Gnaden in Besitz. Immer ist er da;
seine Ausdauer grenzt fast an Hartnäckigkeit! Man sollte meinen, nachts
würde er sich doch wohl etwas Ruhe gönnen. Bewahre! Da pladdert und
plätschert er erst recht. Da wäscht er Nachtschwärmer von außen, nachdem
sie sich von innen gewaschen haben; da wäscht er Doktoren und Hebammen
auf ihren Berufswegen; da wäscht er Kutscher und Pferde, Herren und
Damen -- maskiert und unmaskiert, da wäscht er Katzen auf den Dächern
und Ratten in den Rinnsteinen; da wäscht er Nachtwächter und
Schildwachen selbst in ihrem Schilderhaus. Alles was er erreichen kann,
wäscht er! Kurz: »Bei Tag und Nacht allgemeiner Scheuertag, und
Hausmütterchen Natur so unliebenswürdig, wie nur eine Hausfrau um drei
Uhr nachmittags an einem Sonnabend sein kann.« Das ist das Bulletin des
Februars, den man einst ^mensis purgatorius^ nannte. -- Jetzt finde ich
auch einen Vergleich für das Aussehen der großen Stadt. Lange genug hab'
ich mich besonnen, keiner schien passend. Nun aber hab' ich's! Aufs Haar
gleicht sie einem unglücklichen Hausvater, welchen die Fluten des
sonnabendlichen Scheuerns auf einen Stuhl am kalten Ofen geschwemmt
haben, wo er sitzt -- ein neuer Robinson Crusoe -- mit Kind, Hund, Katze
und Dompfaffenbauer, die Beine auf einen hohen Schemel stehend und die
Schlafrockenden herabhängend in die Wogen.

Brr! -- Das ist mal wieder ein Wetter, um in alten Mappen zu wühlen, und
ich wühle auch darin schon seit geraumer Zeit! Da muß ein Brief sein,
den ich trotz aller Mühe nicht finden kann, und der doch eigentlich
schon früher der Chronik hätte eingelegt werden sollen. Briefe mit
späterem Datum von derselben Hand finde ich genug; sie berichten von
Kindtaufen, und einer auch von dem Hinscheiden eines ehrwürdigen Pudels,
»Rezensent« genannt. Ich möchte aber gern ein älteres Schreiben haben,
welches noch nicht von Kindtaufen erzählt! Gottlob, hier ist's! Die
Chronik hätte es, wie gesagt, viel früher aufnehmen müssen, aber was
tut's. Je älter _solche_ Briefe werden, je älter ihr Schreiber selbst
geworden ist, desto frischer klingen sie!

Hier ist das Skriptum:

              »Unter Verantwortlichkeit der Redaktion.«

                         _Liebe und Getreue!_

Eben hatte ich diesen Anfang >Liebe und Getreue< gemacht, als sich auf
einmal ein kleines Patschhändchen auf meine Schulter legte, ein brauner
Lockenkopf sich vorbeugte, und ein Stimmchen ganz fein sagte:

>Erlaube, liebes Kind (>liebes Kind,< das bin ich, der Dr. Wimmer) --
erlaube, liebes Kind, an was für ein Frauenzimmer willst Du da
schreiben?< Ich sah verwundert auf und erblickte -- eine kleine runde
Dame (sie sitzt neben mir und zieht mich für das >rund< tüchtig am Ohr),
die ein allerliebstes Mäulchen machte:

>Liebes Kind ich möcht's halt gern wissen!<

>Sollst Du auch, Schatz,< sagte ich lachend. Gib acht, es ist eine
seltsame Geschichte! -- Es war einmal ein Mann, der lief in der Welt
herum, und die Leute nannten ihn Dr. Heinrich Wimmer; einige freilich
titulierten ihn auch >Esel< oder so. Das waren aber nur die, welchen er
dasselbe Epitheton gegeben hatte -- was er oft sogar schriftlich,
Schwarz auf Weiß, tat. Gut, dieser Mensch hatte eigentlich nur wenig
wahre Freunde (Bekannte genug), denn er war so eine Art von Vagabond,
wenn auch nicht in der schlimmsten Bedeutung des Worts. Er war ein
Literat. Zu den Freunden, die ihn ertrugen und nicht >Esel< nannten,
gehörte erstens ein Schulmeister Namens Roder, zweitens ein ältlicher
Herr, Wachholder genannt, und drittens -- ein junges Mädchen (beruhige
Dich, Nannette, sie war höchstens elf Jahre alt, als wir schieden),
Namens Elise Ralff. Wir wohnten in einer großen Stadt, wo es viel Staub
gibt, und aus der sie mich, höchst wahrscheinlich aus Sorge um meine
Gesundheit, wegjagten, weil jener Staub mich stets zum Husten brachte,
ziemlich dicht zusammen, und betrugen uns gegeneinander, wie gute
Freunde sich betragen müssen. Sogar der Pudel Rezensent, mein vierter
Freund, fühlte oft eine menschliche Rührung darüber; wie es in der Tat
ein vortreffliches Vieh ist, was Du auch dagegen sagen magst, Nannerl!

Und nun höre -- grimme Othelloin, das »Liebe und Getreue« gilt den
_drei_ Freunden und >halt< nicht einem Frauenzimmer, Du Eifersucht!

Da wir nun aber einmal dabei sind, so laß Dir auch weiter erzählen,
liebe Nannette. Mit diesen Freunden lag ich an dem Tage, an welchem ich
den letzten Staub von den Füßen über jene Sand-Stadt schüttelte, in
einem Holze, wo wir den ganzen Tag über Vogelnester gesucht, Blumen
gepflückt und Märchen erzählt hatten, als auf einmal ein Gefühl
bodenloser Einsamkeit und moralischen Katzenjammers u. s. w. u. s. w.
über mich kam. Da stieg plötzlich, mitten im grünen Walde, wo die Vögel
so lustig sangen, und die Sonne so hell und fröhlich durch die Zweige
schien, ein Gedanke in mir auf, ein Gedanke an ein kleines hübsches
Mädchen, mit welchem ich einst zusammen gespielt, und an das ich oft,
oft gedacht hatte in späteren Jahren. -- Daran aber dacht' ich in dem
Augenblick nicht, daß zwischen dem Kinderspiel und dem Waldtage so lange
Zeit lag; -- ich dachte -- ich dachte: Heinrich warum gehst du nicht
nach München, wo du geboren bist, wo dein Onkel Pümpel, wo dein --
kleines liebes Mühmchen Nannette wohnt?

Wie ein Lichtstrahl, viel heller und fröhlicher als die Sonne --
durchzuckte mich das, ich sprang auf, warf den Hut in die Luft und
schrie: >Hurra, ich gehe nach München zu meinem Onkel Pümpel, zu meiner
Cousine Nannerl!< -- Die Freunde sahen mich verwundert und lächelnd an,
und der Lehrer Roder sagte: >Junge, das wäre prächtig, wenn Du -- solide
würdest!<

(Gib mir einen Kuß, Schatz, und ich erzähle weiter.)

Sieh', da wand die kleine Lise Ralff dem Pudel einen hübschen
Waldblumenkranz um den Pelz, sie drückten mir alle die Hand -- das
kleine Mädchen weinte sogar -- und -- -- -- ich ging nach München.

Lange Jahre waren hingegangen, seit ich meine Vaterstadt nicht gesehen
hatte, und ganz wehmütig gestimmt, schritt ich in der Abenddämmerung
durch die alten bekannten Gassen der Altstadt. Da lag das Haus meiner
Eltern; -- Fremde wohnten darin. Ich lugte durch die Ritze eines
Fensterladens und sah zwei Kinder, die allein am Tische bei der Lampe
saßen; sie waren sehr eifrig in ein Gänsespiel vertieft, und ich dachte
an unsere Jugend, Nannerl, und das Herz ward mir immer schwerer, --
Seidelgasse Nr. 20, da stand ich nun vor einem andern Haus. Dort hing
ein altes wohlbekanntes Schild: >^Pümpel's Buchhandlung^< darauf gemalt.
Der Laden war bereits geschlossen, der Onkel jedenfalls schon im
Hofbräuhaus; ein Lichtschein erhellte noch die Fenster des obern
Stockwerks.

Ich wagte kaum die Klingel zu ziehen. Endlich tat ich's aber doch. Mein
Gott, ebenso jämmerlich klang die Glocke schon vor zehn Jahren.
Schlürfende Schritte näherten sich -- die Tür ging auf; wahrhaftig da
war sie noch, die dicke Waberl, eher jünger als älter! Der Pudel und ich
hätten sie beinahe über den Haufen geworfen; sie kannte mich nicht und
stand starr vor Schrecken und Verwunderung, als ich mit meinem
vierbeinigen Begleiter in zwei Sätzen die Treppe hinauf war.

Eine kleine runde ... (Au, mein Ohr! Hör' einmal, Nannette, das ist das
Ohr, in welches es bei mir >hineingeht<, was wird das für eine Ehe
abgeben, wenn Du mir das abkneifst. Nannette, ich würde in Deiner Stelle
mal das andere, zu welchem es >herausgeht<, nehmen!) Dame trat mir
entgegen:

>Der Vater ist nicht zu Haus, mein Herr!< -- -- -- Ich antwortete nicht,
sondern nahm ihr das Licht aus der Hand, -- die kleine runde Dame
erschrak ebenfalls gar sehr, -- und hielt es so, daß mir der Schein voll
ins Gesicht fiel.

>Herr Gott, der Vetter Heinrich!< rief die kleine rrr Dame (Nannette,
sag' mal, ich glaube, ich habe Dir in dem Augenblick einen Kuß gegeben?)

>O welch' abscheulicher Bart -- -- und eine Brille trägt er auch!
Waberl, Waberl, schnell nach dem Bräuhaus: der Vetter Wimmer sei da!<

Ja, er war da, der Vetter Heinrich Wimmer, und der alte Onkel kam auch;
er umarmte den Landläufer und steckte ihn in seinen Sonntagsschlafrock;
er wollte -- -- ja, was wollte er nicht alles! Der Pudel sprang wie toll
und machte sogleich, als ein vernünftiger Köter, Freundschaft mit dem
dicken Pümpelschen Kater Hinz.

Und dann -- dann ward ich Redakteur der >Knospen<, unter der Bedingung,
den fatalen politischen Husten vorher erst auszuschwitzen; dann ward ich
von Deinem Papa, meinem guten, dicken, vortrefflichen Onkel in den
deutschen Buchhandel >eingeschossen<, und dann -- -- -- Nun, Nannette,
und dann? -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- _Meine
Herren und Freunde, was hab' ich Ihnen da geschrieben!_ -- So geht's,
wenn man verlobt ist und neben seiner Braut einen Brief schreiben will!
Die reine Unmöglichkeit! Statt eines soliden, nach allen Regeln der
Logik und Briefschreibekunst abgefaßten Berichts, schmiere ich Ihnen
meine Unterhaltung mit dem Frauenzimmer. 's ist göttlich!

Nun -- was tut's? Die Hauptmomente meiner Geschichte habt Ihr doch bei
der Gelegenheit erfahren. Ich habe eine neue Seite meines Lebens
aufgeschlagen; und wer hat diese ^vita nuova^ bewirkt? Der edle
Polizeikommissar Stulpnase nebst seinen Myrmidonen und -- meine kleine
Beatrice, genannt Nannette Pümpel! Gesegnet sei das Haus ^Pümpel et
Comp.^ bis ins tausendste Glied!! --

Ich schließe. Meine ^gentilissima^ verlangt ebenfalls Platz auf diesem
Bogen. Mich soll's wundern, was sie schreiben wird, ihre Augen leuchten
gar arglistig.

                                                           Dr. Wimmer.

                        _Liebe, kleine Elise!_

Obgleich wir uns noch nicht mit Augen gesehen haben, so kann ich doch
halt nicht unterlassen, Dir, Herz, diesen ganz kleinen Brief zu
schreiben, der böse Mensch hat nicht viel Raum übergelassen. So ganz
böse freilich ist er doch nicht, denn er hat mir viel Gutes und Schönes
von Dir erzählt, aber sage doch den beiden Herren, die ich auch nicht
kenne, daß sie das törichte Zeug, was er alles geschrieben hat, halt
nicht alles glauben. Ich hab' ihn durchaus nicht so viel ins Ohr
gekneift, als er sagt. -- Liebes Kind, Ihr müßt uns einmal alle
besuchen. Ich habe zwei Kanarienvögel und einen Stieglitz, der sich sein
Futter selbst herauf zieht. Ich hätte Dir gern eins von den Vögelchen
geschickt, aber der Onkel Doktor meint, sie könnten das Fahren nicht
vertragen, das könnte selbst sein häßlicher Puhdel nicht. Es ist nur
gut, daß das schwarze Tier sich so vor meinem schönen bunten Hinz
fürchtet; sie beißen sich zwar halt nicht, aber sie sehen sich oft
schief an von der Seite. Liebes Kind, besuche uns einmal und grüße den
Herrn Onkel Wachholder und den Herrn Lehrer recht schön;

                                             Deine unbekannte Freundin
                                                         _Nannette P._

^P. Scr.^ Verehrtester, überreichen Sie doch meiner dicken Freundin, der
Madam Pimpernell, beifolgende drei Fünftalerscheine; da wird ein noch zu
tilgender Schuldenrest sein.

                                                                Dr. W.

^P. Scr.^ Ich muß in die Küche, sonst hätte ich mich eben noch recht
über den Doktor zu beklagen. Er ist recht böse. Gestern hat er sein
Tintenfaß über meine beste Tischdecke gegossen. Das geht mein Lebtag
nicht wieder heraus! -- Aber das ist das wenigste. -- 's ist nur gut,
daß ich den Tabaksdampf gewohnt bin, auch mein Papa macht furchtbare
Wolken, und die Gardinen müssen nun noch einmal so bald gewaschen
werden. Adieu!

                                                           _Nannette._

^P. Scr.^ Der Onkel Pümpel hat sich's in den Kopf gesetzt, dem armen
>Puhdel<, wie Nann'l schreibt -- auf seine alten Tag' noch das
»Todstellen« beizubringen.

                                                                Dr. W.

^P. Scr.^ Bier mag er schon! (Ich meine halt den Pudehl -- so wird's
wohl recht geschrieben sein) Gott, ich muß wirklich in die Küchen!

                                                                    N.

^P. Scr.^ Nannette ist fort! Meine lieben Freunde, ich bin sehr
glücklich und fidel! Ich hoffe auf baldige Nachrichten von Euch allen.
Gruß und Brüderschaft!

                                                                  Euer
                                                         _H. Wimmer._«

Welchen Jubel hatte einst dieser Doppelbrief mit seinen Postskripten in
der Sperlingsgasse erregt! Wie tanzte an jenem Augustnachmittag im Jahre
1841, als er ankam, der Lehrer Roder mit der kleinen Elise im Zimmer
herum! Heute, wo ich ihn wieder hervorsuchte, ist weder Roder bei mir,
-- sie haben ihn im Jahr Achtzehnhundertundneunundvierzig nach Amerika
gejagt, _sie fürchteten_ sich gewaltig vor ihm -- noch guckt das kleine
Lischen, auf einem Stuhl stehend, mir über die Schulter. Aber allein bin
ich doch nicht beim Wiederlesen; trotz dem Regen hat sich der Zeichner
Strobel herausgewagt und ist, da das Glück dem Kühnen lächelt,
wohlbehalten, wenn auch etwas durchnäßt, bei mir angekommen.

»Es ist ein prächtiges Ehepaar geworden,« sagte er lächelnd, indem er
mir die Nadel einfädelte, mit welcher ich das Dokument der Chronik
anheften wollte. »Seit der Doktor den bösen politischen Husten, der ihn
sonst plagte, losgeworden ist, hat er einen Umfang gewonnen, dem nur das
Embonpoint der kleinen fidelen Frau Doktorin Nannerl nahe kommt. Und
diese kleinen fetten Wimmerleins: Hansl, Fritzl und Eliserl, »das
jüngste Wurm«, wie der Doktor sagt! -- Und diese Nachkommenschaft des
edeln Rezensent! -- Für jedes Wimmerlein ein Pudel, einer immer
schwärzer und schnurrbärtiger als der andere. Wie heißen sie doch?
Richtig: Stulpnas (gewöhnlich Stulp abgekürzt), Tinte und Quirl. Es ist
ein Schauspiel für Götter, die Familie spazieren gehen zu sehen. Voran
schreitet der Doktor mit dem alten Großvater Pümpel, dann folgen Tinte
und Quirl, die den Korbwagen ziehen, in welchem das »Kroop« Elise liegt.
Neben ihnen trabt Stulp mit des Doktors Hut und Stock, und zuletzt kommt
die Nannerl, an der Rechten den Hans, an der Linken den Fritz. Von Zeit
zu Zeit treibt sie mit dem Sonnenschirm das Paar der Zugtiere an oder
ruft dem Doktor zu:

»Wimmer, Du wirst gleich Dein Taschentuch verlieren!«

oder:

»Wimmer, renne nicht so mit dem Vater. Wir kommen halt nicht mit!«

oder:

»Wimmer, Stulp hat nur noch Deinen Stock!«

Dann dreht sich der Doktor gravitätisch um, wirft einen Feldherrnblick
über den langsam daher ziehenden Heereszug, pustet und fächelt, knöpft
die Weste auf, bindet das Halstuch ab, oder zieht wohl gar den Rock aus
und sagt:

»Schatz, das Spazierengehen müssen wir aufstecken. Beim Zeus! es wird zu
angreifend für unsereinen! -- Stulp, Schlingel, hol' meinen Hut -- dort
^allons^!«

Während nun der Zug so lange hält, bis Stulp mit dem Verlorenen
zurückkommt, sagt der Alte wohl:

»Heinerich, paß auf, das neue Komplimentierbuch geht nicht!«

»Weshalb nicht, Papa?«

»Wir sind hier zu Lande nicht recht daran gewöhnt!« lautete die Antwort.

»Das weiß ich schon aus den Nibelungen und dem Parcival,« sagt der
Doktor, eine gewaltige Rauchwolke auspuffend. »Es soll aber schon
>gehen<, Onkel und Schwiegerpapa Pümpel! Das Ungewohnte und
Ungewöhnliche macht am meisten Glück. Fritzl, laß den Frosch in Ruhe,
setz' ihn wieder ins Gras, sonst kriegst Du ihn gebraten zum Abendessen,
was keinem jungen Bayern angenehm sein kann! -- Vorwärts! ^Yankee doodle
doodle dandy^!« Damit setzt sich das Haus Pümpel & Komp. wieder in
Marsch.

Ich lachte herzlich über diese Schilderung. »Es wachse, blühe und grüne
das Haus Pümpel & Kompagnie wie -- wie -- --«

»Hopfen! -- Vivat hoch!« schrie der Zeichner, nahm den Hut und trabte
wieder davon. Wo er gesessen hatte, stand ein kleiner Sumpf Regenwasser:
einen Schirm brauchte ich ihm also nicht anzubieten.




                                                        Abends 11 Uhr.


Wie traurig hat dieser Tag geendet! Ich wollte die Geschichte der armen
Tänzerin über mir, die wir einst auf den Weihnachtsmarkt begleiteten,
nicht erzählen aus Furcht, diesem Bilderbuch eine dunkle Seite mehr zu
schaffen, aber die unsichtbare Hand, welche die gewaltigen Blätter des
Buches _Welt und Leben_, eins nach dem andern umwendet, mit ihren
zertretenen Generationen, gemordeten Völkern und gestorbenen Individuen,
will es anders, als der kleine nachzeichnende Mensch. Dunkel wird doch
dieses Blatt, dunkel -- wie der Tod!

»Herr Wachholder,« sagte die Frau Anna Werner, die um neun Uhr abends an
meine Tür klopfte. »Herr Wachholder, das Kind der Tänzerin stirbt in
dieser Nacht! Der Doktor Ehrhard, der eben oben ist, hat's gesagt. Ist's
nicht schrecklich, daß die Mutter in diesem Augenblicke tanzen muß? Sie
haben ihr nicht erlauben wollen, die schlechten Menschen, wegzubleiben
diesen Abend: es wäre heute der Geburtstag der Königin, sie _müsse_
tanzen!«

Arme, arme Mutter! Ein hübscher, leichtsinniger Schmetterling,
gaukeltest du, bis die Verführung kam und siegte. Verlassen, verspottet,
suchtest du dein Glück nur in den Augen, in dem Lächeln deines Kindes
und jetzt nimmt dir der Tod auch das!

Arme, arme Mutter! Mit geschminkten Wangen und dem Tod im Herzen zu
tanzen! Du hörst nicht die tausend jubelnden Stimmen der Menge, du hörst
nicht die rauschende Musik: das Ächzen des winzigen sterbenden Wesens in
der fernen Dachstube übertönt alles. -- Ich steige die enge, dunkle
Treppe hinauf, die zu der Wohnung der Tänzerin führt. Frau Anna und der
gute, alte Doktor Ehrhard sitzen an dem Bettchen des kranken Kindes.
Eine verdeckte Lampe wirft ein trübes Licht über das kleine Zimmerchen!
hier und da liegt auf den Stühlen phantastischer Putz; eine schwarze
Halbmaske unter den Arzneigläsern auf dem Tische. Der Doktor legt das
Ohr dem Knaben auf die Brust und lauscht den schweren, ängstlichen
Atemzügen; ich stehe am Fenster und horche in die Nacht hinaus. Der
Regen schlägt noch immer gegen die Scheiben; aus einem Tanzlokal der
niedrigsten Volksklasse dringen die schrillen, schneidenden Töne einer
Geige bis hier herauf. -- Jetzt zieht der Doktor die Uhr hervor und sagt
leise und ernst:

»Sie muß sich beeilen!«

Das Kind stöhnt in seinem unruhigen Schlaf; die Hand des Todes drückt
schwer und schwerer auf das kleine, unwissende Herz, dem sich gleich ein
Geheimnis enthüllen wird, vor welchem alle Weisheit der Erde ratlos
steht.

Auf der Sophienkirche schlägt es dumpf Zehn. Der Wind macht sich
plötzlich auf und rüttelt an den schlechtverwahrten Fenstern. Die
Februarnacht wird immer unheimlicher und düsterer.

Unter Blumenkränzen sich verneigend, steht jetzt im Theater die große,
berühmte Künstlerin, die Menge jubelt und klatscht Beifall; der König,
die Königin, das Publikum haben sich erhoben; -- der schwere,
goldbesternte Vorhang rollt langsam nieder. Die bleiche Königin ist müde
in ihren Wagen gestiegen; die große Künstlerin nimmt die Glückwünsche
und Schmeicheleien der sie Umgebenden in Empfang; leer wird das eben
noch so menschengefüllte Opernhaus und -- die arme Choristin ist halb
bewußtlos an einer Kulisse zu Boden gesunken, um, wie aus wildem Traume
zu noch wilderer Wirklichkeit erwachend, mit dem herzzerreißenden
Schrei: »mein Kind! mein Kind!« fortzustürzen. -- Wir in dem kleinen
Dachstübchen haben das nicht gesehen, nicht gehört, aber jeder kürzer
werdende Atemzug des sterbenden Kindes sagte uns, was dort in dem
lichterglänzenden, musikerfüllten Gebäude am anderen Ende der großen
Stadt geschehe.

Horch! Ein Wagen rasselt heran; er hält drunten.

»Die Mutter,« sagt der Doktor aufstehend. »Es war Zeit!«

Ein eiliger Schritt kommt die Treppe herauf; eine Frau, in einen dunkeln
Mantel gehüllt, erscheint todbleich und atemlos in der Tür. Sie läßt den
regenfeuchten Mantel fallen, und im phantastischen Kostüm der
Teufelinnen, wie wir es in Satanella sahen, stürzt sie auf das Bettchen
zu.

»Mein Kind! Mein Kind!« flüstert sie, in gräßlicher Angst den Doktor
ansehend. Sie beugt sich, sie hört den leisen Atem des Kindes: Es lebt
noch! -- Das schwarze Lockenhaupt mit dem Flitterputz von Glasdiamanten
und feuerroten Bändern sinkt auf das ärmliche Kissen.

»Mama! liebe Mama!« stöhnt das sterbende Kind, mit dem kleinen
fieberheißen Händchen durch die schwarzen Haare der Mutter greifend, daß
die Steine darin blitzen und funkeln. -- -- Jetzt läuft ein Schauer über
den kleinen Körper -- -- --

»Vorüber!« -- sagt der alte Doktor dumpf, mir die Hand drückend.

Frau Anna und eine Nachbarin blieben die Nacht bei der armen bewußtlosen
Mutter.




                                                           Am 7. März.


Gestern Nachmittag begannen die schweren Regenwolken, die wochenlang
über der großen Stadt gehangen hatten, sich zu heben. Sie zerrissen im
Norden wie ein Vorhang und wälzten sich langsam und schwerfällig dem
Süden zu. Ein Sonnenstrahl glitt pfeilschnell über die Fenster und Wände
mir gegenüber, um ebenso schnell zu schwinden; ein anderer von etwas
längerer Dauer folgte ihm, und jetzt liegt der prächtigste
Frühlingssonnenschein auf den Dächern und in den Straßen der Stadt.
Wahrlich, jetzt gleicht die Stadt nicht mehr einem scheuergeplagten
Ehemann; sie gleicht vielmehr seiner besseren Hälfte, die nun ihre
Pflicht getan zu haben meint, erschöpft auf einen Stuhl zum
Kaffeetrinken niedersinkt und lispelt: »Puh! hab' ich mich abgequält,
aber Gottlob, nun ist's auch mal wieder rein!«

Ja, rein ist's! Verschwunden ist der Schnee, der zuletzt doch gar zu
grau und unansehnlich geworden war; viel mißmutige, verdrossene
Gesichter haben sich aufgehellt, und -- die kleine Leiche von oben ist
fort. Die alte Großmutter Karsten hat auch ihr nachgeblickt; sie hat die
arme Mutter auf die Stirn geküßt, als man den Sarg hinabtrug, und hat,
gleichsam als wundere sie sich über etwas, lange das Haupt geschüttelt.
Wer weiß, wie viele jüngere Leben sie noch dahin schwinden sieht.

Ich habe diese Blätter, glaub' ich, einmal ein Traumbuch genannt; --
wahrlich, sie sind es auch.

Wie Schatten ziehen die Bilder bald hell und sonnig, bald finster und
traurig vorüber. Jetzt ist der dunkle Grund, aus dem sie sich ablösen,
ganz bedeckt von Leben und Jubel; jetzt taucht wieder die unheimliche
finstere Folie auf. Die Freude verstummt, der Jubel verhallt, es ist
tote Nacht allenthalben, die nur dann und wann ein Klagelaut
unterbricht. Sei die Nacht aber auch noch so dunkel, ein Stern funkelt
stets hinein: Elise! -- Ich brauche nur in meine alten Mappen und
Erinnerungsbücher mich zu versenken, und die Gespenster entfliehen, die
Nebel sinken, und es wird wieder fröhlicher Tag in mir.

                               _Elise!_

Die Knospe, die hundert duftige Blumenblätter in ihrer grünen Hülle
einschloß, entfaltet sich wie ein süßes, liebliches Geheimnis. Noch ein
warmer Kuß der Sonne, und die Centifolie, den reinen Tautropfen der
Jugend und der Unschuld im Busen, ist die schönste der Erdenblüten.

Ich glaube an keine Offenbarung, als an die, welche wir im Auge des
geliebten Wesens lesen; sie allein ist wahr, sie allein ist untrüglich;
in dem Auge der Liebe allein schauen wir Gott »von Angesicht zu
Angesicht«. Die Zunge ist schwach, und des Menschen Sprache
unvollkommen; die Schrift ist noch schwächer und unvollkommener, und ein
Blatt Papier zum Urquell der Erkenntnis des ewigen Geistes machen zu
wollen, ist ein arm töricht Beginnen. Ich drücke die Augen zu, und --
_sie_ ist vor mir mit ihrem süßen Lächeln, _sie_ schlägt sie auf, diese
großen, blauen Augen, in denen ich Trost suche und finde. Elise, Elise,
nun bist du ein großes, schönes Mädchen geworden, und das Bild dort,
welches dein toter Vater von deiner toten Mutter malte, gleicht einem
Spiegel, wenn du so sinnend davor stehst und so süßtraurig lächelnd zu
ihm emporblickst. Die wilden Spiele, die tollen Streiche in dem Hause
und auf der Gasse sind vorüber (wenn auch noch nicht ganz, Schelm); wo
du sonst lachtest, Elise, lächelst du jetzt, wo du sonst weintest und
klagtest, senkst du jetzt die Augen und träumst: wo du sonst den
Schürzenzipfel in den Mund stecktest oder die Ärmchen auf dem Rücken
ineinander wandest, fliegt jetzt ein hohes Rot über deine Wangen, -- du
bist eine Jungfrau geworden in den Blättern der Chronik, Elise!

                   *       *       *       *       *

Oftmals lässest du, vor dem Nähtischchen deiner Mutter unter der
Efeulaube sitzend, die Arbeit lauschend in den Schoß sinken, das
Köpfchen in das dichteste Blätterwerk verbergend. Eine helle, frische
Stimme klingt dann von drüben herüber, ein Studentenlied anstimmend. Wo
will Flämmchen hin, Elise? -- Einen Augenblick sitzt es auf ihrer
Schulter, ihr ins Ohr zwitschernd, als habe es ihr ein wichtiges, ein
gar wichtiges Geheimnis mitzuteilen, dann verschwindet es aus dem
Fenster. Wo ist es geblieben?

Die Stimme drüben, die plötzlich mitten in ihrem Gesang abbricht, gibt
Antwort darauf. Ein wohlbekanntes, wenig verändertes, braunes Gesicht,
von dunkeln Locken umwallt, erscheint in Nr. Zwölf am Fenster; es ist
der junge Maler Gustav Berg, der Vetter Gustav, der einstige Taugenichts
der Gasse, jetzt ein »denkender« Künstler und, wie man munkelt, oft
genug der »Taugenichts des Ateliers« beim Meister Frey in der
Rosenstraße.

»Cousine, Cousine Elise! Onkel Wachholder!« ruft er. »Die Mama ist außer
sich! Flämmchen hat ein Leinölglas umgestoßen, und -- Unordnung über
Unordnung -- nicht nur eine sehr angenehme Verschönerung auf dem
Fußboden, sondern auch eine sehr unangenehme Verbesserung auf meiner
Zeichnung angebracht. Es ist keine Möglichkeit, weiter zu arbeiten! Wie
wär's mit einem Spaziergang?«

Ich denke lächelnd an den Doktor Wimmer, der auch einst oft genug
ähnliches von drüben herüber rief; die Chronik der Sperlingsgasse hat
ihre Wiederholungen, wie alles in der Welt. -- Elise setzt ihren
Strohhut auf, und wir gehen hinüber. Auf der Treppe schon empfängt uns
Gustav, noch im leichten farbebeschmutzten Malrock, den Kanarienvogel
auf dem Finger.

»Da ist der Verbrecher,« lacht er. »Sieh, Lischen, wie unschuldig er
aussieht, gerade wie Du, die doch auch um kein Haar breit besser ist als
er.«

»Was? -- Was hab' ich denn verbrochen?« fragt Elise.

»Höre nicht auf den bösen Menschen,« sagt die Tante Helene, die jetzt in
der Tür erscheint.

»So; -- das ist ja prächtig, Mama! höre nicht auf den bösen Menschen!
Das ist himmlisch! Onkel Wachholder, das Frauenzimmervolk hängt wie Pech
zusammen; ich rufe Sie zum Richter auf. Aber kommen Sie herein, die
Sache ist zu wichtig, als daß man sie auf der Treppe abmachen könnte.«

Wir treten ein, jeder sucht sich einen Platz und Gustav beginnt:

»Hören Sie zu, Onkel! Heute morgen gehe ich, mit meiner Zeichenmappe
unter dem Arm, ganz solide von hier weg. Die besten Vorsätze und
Gesinnungen bewegten meinen Busen, und ich rechnete mir innerlich für
den immensen Fleiß, den ich heute beweisen wollte, verschiedene
Bummeleien zugute. Ich wollte, ich hätte das Selbstgespräch, welches ich
hielt, stenographieren können, es würde mir jetzt von großem Nutzen
sein. An mancher Scylla und Charybdis, wo meine guten Vorsätze sonst
dann und wann gescheitert waren, war ich diesmal glücklich vorbei
gesegelt. Als mich Thomas Helldorf aus seinem Fenster anbrüllte, hatte
ich mich taub gestellt, als aus Schnollys Konditorei Leopold Dunkel mir
zuwinkte, hatte ich mich blind gestellt; gefühllos zu sein, hatte ich
geheuchelt, als Richard Breimüller mich in die Seite stieß und mir den
Arm fast ausrenkte, um mich mit zu einem großartigen Frühstück zu
ziehen, welches die unmoralischen Menschen, die Freiwilligen von den
Zweiunddreißigern, gaben. Ich entwickelte eine riesige Moral! Da biege
ich im vollen Gefühl meiner Sittlichkeit um die Ecke, die auf den
Gemüsemarkt führt und -- renne gegen einen Korb oder vielmehr eine
Korbträgerin, welche mir entgegen kommt und mir ohne weiteres mit ihrem
Sonnenschirm den Weg versperrt ...«

»Oh, dieser Lügner!« fällt hier Elise ein. »Wer hat Dir den Weg
versperrt? Hast Du mich nicht angehalten? Hast Du mir nicht einen Korb
weggenommen! Du ...«

... »Die mir also den Weg versperrt und ...«

»Verleumder! -- Hast Du mir nicht meinen ganzen Korb umgekramt und die
größte Mohrrübe hervorgezogen, um sie auf der Stelle mit dem Messer ...«

... »Die mir, wie gesagt, den Weg versperrt und sagt: Sieh, das ist
prächtig, Gustav; jetzt sollst Du wider Deinen Willen einmal zu etwas
nützlich sein; hier, nimm meinen Korb! -- Kannst Du das leugnen, Lise?«

»Onkel, er lügt entsetzlich,« sagt Elise, »er verdreht die ganze
Geschichte. Ich hätte _ihn_ doch nicht den Korb tragen lassen?! Er war
es, der ihn nicht wieder herausgab, und da er noch dazu zwischen jedem
Biß, den er an seine Mohrrübe tat, an einem Rosenstrauß roch, welchen er
ebenfalls herausgewühlt hatte, so sagte ich: Ich habe keine Zeit mehr
und ...«

»Onkel Wachholder,« unterbricht jetzt Gustav, »ich verband das Schöne
mit dem Nützlichen! Mama, sind rohe Mohrrüben nicht etwa gut gegen --
gegen alles Mögliche?«

... »Ich habe keine Zeit mehr, und wenn Du den Korb einmal nicht wieder
herausgeben willst, so behalte ihn und schleppe ihn, meinetwegen!«

»Siehst Du! Seht Ihr! Da gesteht sie ihre Schlechtigkeit selbst ein.
Denken Sie, Onkel Wachholder, auf einmal dreht sie sich um, rennt davon
wie eine Gazelle und läßt mich an der Ecke stehen wie ein Kamel, beladen
mit Rosen von Schiras und Gemüse aus dem Tal von Schâm. Elise, Lischen,
Cousine Ralff! rufe ich aus vollem Halse; Lise, mit dem Korb kann ich
doch nicht ins Atelier gehen! Himmlische Cousine Lischen, befreie mich
von diesem Stilleben! -- Wer aber nicht hört, ist Elise. Was war zu tun?
Ich setze mich in Trab; mit Korb und Mappe, mit Rüben und Rosen hinter
ihr her. Solch eine Jagd! -- Von Zeit zu Zeit sehe ich ihren Strohhut
oder ihr blaues Kleid zwischen dem Schwefelholz-, Herings-, Butter- und
Käsehandel -- ich glaube sie zu haben, -- Täuschung, da ist sie wieder
hinter einer Bude verschwunden! Ich fange an, dem kaufenden und
verkaufenden Publikum sehr lächerlich zu werden mit meiner Mohrrübe, die
ich noch immer krampfhaft in der Hand halte. Ich trete in einen
Eierkorb! Riesiger Skandal! -- Die Polizei erscheint! >Verkoofen Se Ihr
Grünkraut sachte,< sagt grinsend Polizeimann Nr. 69, >immer langtemang!<
-- Ich bezahle für den Eierkorb mit blutendem Herzen und gelben
Stiefeln; von Elise keine Spur! -- Neue Jagd, -- ich glitsche über einen
Kohlstrunk aus, -- baff, da liege ich mit Korb und Mappe; Kohlrüben,
Rosen, Zwiebeln, meine Zeichnungen und Elisens Marktrechnungen im
malerischen Durcheinander um mich her. >O Jotte, det arme Kind,< sagt
eine dicke Gemüsefrau, >ebent in die Eier und nu in den D...! Soll ich
Se ufhelfen, Männeken?< -- >Immer langtemang,< grinst wieder Polizeimann
Nr. 69, der mir wie mein böses Prinzip gefolgt ist. -- Ich suche meine
Schätze, die ich zu allen Teufeln wünsche, gleich im Liegen auf und
erhebe mich dann in einer wirklich anmutigen Verfassung. Außer Atem und
hinkend schlage ich mich durch die Menge und sinke auf den Eckstein an
derselben Ecke, wo mein Leiden begonnen hatte. Ich stelle den Korb
zwischen die Beine und starre mit äußerst bitterem Gefühl hinein. Soll
ich das Ungetüm wirklich hinschleppen nach der Sperlingsgasse? Vorüber
an der Kaserne der Zweiunddreißiger und an Schnollys Konditorei? --
Einen Spitznamen hätte ich und meine ganze Nachkommenschaft weg -- drei
Ellen lang! Mein innerster Mensch sträubt sich zu mächtig dagegen. Eine
Droschke konnte ich nicht nehmen, denn meinen Geldvorrat hatte das
Eierunglück aufgefressen, es blieb mir nichts anderes übrig, als eine
neue Mohrrübe abzukratzen, meine Verzweiflung an ihr zu verbeißen. Das
kommt davon, wenn man mit soliden Vorsätzen von Hause weggeht! Wie
gemütlich hätte ich in dem Augenblick, statt auf diesem fatalen
Eckstein, bei dem Frühstück der Freiwilligen sitzen können! Ich weiß
nicht, wie lange ich so brütend dagekauert habe, als ich plötzlich, um
zum Himmel zu schauen, meinen Blick aufschlage, aber ihn halbwegs
erstarrt ruhen lasse! -- -- _Da saß sie_! -- Kichernd lehnt sie an dem
Eckstein der anderen Straßenecke, mir gegenüber, eine große, grüne,
angebissene Birne in der Hand! >Guten Morgen, Vetter!< lacht sie, ohne
sich vom Fleck zu rühren. >Könntest Du mir jetzt vielleicht meinen Korb
geben? Ich muß wirklich nach Haus; der Onkel kriegt sonst nichts zu
essen!< -- Ich fahre mit der Hand über die Stirn, ich muß wirklich erst
meine Sinne zusammensuchen: ich stoße einen tiefen Seufzer aus, -- da
erhebt sie sich, als schicke sie sich an, wieder fortzurennen. In
Todesangst springe ich auf, bin mit einem Satz mit dem verdammten Korb
an ihrer Seite, hänge ihn ihr an den Arm und sinke nun auf den Eckstein
neben ihr, um auch ihn als Sitzmittel zu probieren. -- >Hab' ich Dich
aber gesucht, Gustav!< hohnlächelt die Boshafte. >Gott, wie siehst Du
aus? Wo hast Du denn gesteckt?< -- >[Griechisch: Daimoniê]!< murmele ich
dumpf, während es noch dumpfer auf der unierten Kirche Elf schlägt, und
die Atelierszeit ihrem Ende naht; und so ziehen wir nach Haus, Elise
immer kichernd voran, ich hinkend hinter ihr her, meine Rockschöße
vorsichtig zusammenhaltend. Eine derangierte Toilette, ein leerer
Geldbeutel, müde Beine, ein gräßlicher Nachgeschmack von den fatalen
Mohrrüben, und das bodenlose Gefühl, mich unendlich lächerlich gemacht
zu haben, das waren die Ergebnisse dieses Morgens! Und nun richten Sie,
Onkel Johannes!«

»Onkel, laß das Richten nur sein,« sagt Elise. »Er hat sich schon selbst
gerichtet. Hat er nicht?«

»Ich glaube auch,« sagt die Tante Berg.

»Ich desgleichen,« gebe ich mein Verdikt ab.

»Das dachte ich wohl,« brummt der denkende Künstler. »Wann hätte je die
Unschuld gesiegt?! Abgemacht. Wie wird's nun mit unserem Spaziergang?«

»Ja, wo wollen wir hin?« ruft Elise, und Gustav meint:

»Ein Vorschlag zur Güte: wir gehen nach dem Wasserhof; da ist ^bal
champêtre^! Was meinst Du, Lischen?«

»_Kann_ man da hingehen?« fragt die Tante Berg bedenklich.

»Warum nicht? Sind _wir_ doch dabei!« sagt der denkende Künstler,
gravitätisch den Halskragen in die Höhe zupfend »Übrigens ist heute auch
das Atelier mit seinen Schwestern da; ebenso der Professor Frey mit
seinen sechs Nichten, und ...«

»Nach dem Wasserhof!« rufe ich elektrisiert. »Tante Berg, man _kann_
dahin gehen!«

Und wir gehen hin. --

Wer kennt nicht den Wasserhof? Hat ihn nicht Goethe im >Faust<
unsterblich gemacht? »Der Weg dahin ist gar nicht schön.« Welcher Weg um
diese Stadt ist schön? Es lebe der Wasserhof! Da gibt es Schatten und
kühle Lauben am Tage; Musik, bunte Lampen und fliegende Johanniswürmer
am Abend; da gibt es Kellner mit einst weißen Servietten, die in der
rechten Hosentasche stecken; da gibt es vor allem einen -- prächtigen
Tanzplatz im Grünen!

»Lischen, heute Morgen hast Du mir einen Korb gegeben; ich will Dir das
verzeihen, wenn Du mir jetzt keinen anhängen willst: Mein Fräulein, darf
ich um den ersten Walzer bitten?«

»Laß uns erst ankommen, Vetter!« sagt Lischen, die auf dem ganzen Wege
stets die Vorderste wäre, wenn nicht Gustav gleichen Schritt mit ihr
hielte. -- --

Da sind wir! Heda, da sitzt schon der alte Meister Frey mit der langen
Pfeife hinter einer Flasche Wein, behaglich dem lustigen Treiben
zuschauend, und lächelnd das schwarze Käppchen auf den langen, weißen
Haaren hin und her schiebend. Schon aus der Ferne winkt er uns, als wir
uns durch die Menge drängen, und ruft uns sein »Willkommen« entgegen.
Hurra, da ist das »Atelier mit seinen Schwestern«, wie Gustav sagt, und
die sechs Nichten des Professors. Eine lustige Gruppe: lange Haare,
schwarze Sammetröcke, Kalabreser mit gewaltigen Troddeln; dann wieder
weiße Kleider, bunte Bänder, Strohhüte; und Gustav und Elise natürlich
sogleich mitten dazwischen. Beim heiligen Vocabulus, ist das nicht der
lange Oberlehrer Besenmeier, der da, ^aptus adliciendis feminarum
animis^, der dicken Frau Rektorin Dippelmann einen Stuhl erobert?
Wahrlich, er ist's, und da ist der Rektor selbst, der Ruten und Beile so
vollständig abgelegt hat, daß ihn in diesem Augenblick jeder Sekundaner,
ohne böse Folgen, um -- Feuer für seine Zigarre bitten könnte. Wen haben
wir hier? Darf ich meinen Augen trauen! der königliche Professor der
Gottesgelahrtheit, Hof- und Domprediger Dr. Niepeguck!? -- Wirklich, er
ist's; mit Frau und Kindern steuert er durch die Menge. »Weg die
Dogmatik!« lautet das Studentenlied: warum sollte der alte Hallenser das
an einem solchen prächtigen Abend nicht auch noch einmal in -- das
Doppelkinn summen dürfen? Wie die Universität vertreten ist!
Professoren! Privatdozenten und Studenten von allen Fakultäten und
Verbindungen! Dacht' ich mir's doch, da sind die »unmoralischen
Menschen«, die Freiwilligen! Natürlich durften sie nicht fehlen! --

»Guten Abend, Cäcilie, Anna! Guten Abend, Elise, Johanne, Klärchen,
Josephine! Das ist ja prächtig, daß Ihr auch da seid!« schwirrt und
summt das durcheinander!

»Gott, wo bleibt mein Tänzer! der abscheuliche Mensch wird mich doch
nicht >_sitzen_< lassen?!«

»Auf keinen Fall, mein Fräulein!« sagt der Auskultator Krippenstapel,
sein ambrosisches Haupt über die Schulter der erschrockenen Sprecherin
streckend und etwas von »nur Personalarrest« murmelnd.

»Lischen, keinen Korb -- bitte!« ruft Gustav, ein Paar wundersame
Handschuhe anziehend und eine Rosenknospe ins Knopfloch steckend.

»Nun, Vetter, -- wenn's denn nicht anders sein kann -- so komm' schnell,
die Musik fängt schon an.«

»Höre, Peter van Laar,« sagte Gustav, schon im Rennen, zu einem
wohlbeleibten Kunstjünger, »wenn Du mich wieder auf den Fuß trittst, wie
neulich, stecke ich Dich morgen mit der Nase in Dein Terpentinfaß! Komm,
Lischen!« --

Prr -- davon sind sie: »Mutwill'ge Sommervögel.«

Ich habe unterdessen mit der Tante Helene Platz am Tisch des Meister
Frey genommen, der eben unter schallendem Gelächter eine Schnurre aus
seinem italischen Wanderleben beendet. Der Domprediger redet über die
Wirkungen des Weißbieres auf seine Konstitution, während Petrus und
Paulus, seine Sprößlinge, sich unter dem Tisch wälzen und balgen und die
Frau Domprediger sich darüber aufhält, daß die Kellner sich mit der Hand
schneuzen.

»Es ist immer noch besser als in die Serviette!« sagt der Rektor
Dippelmann, eine Prise nehmend und in der Zerstreuung die Dose der Tante
Helene anbietend. An ein und demselben Punkte werden nun zwei Gespräche
angeknüpft: die Weiber plumpsen in die große Wäsche, und der Domprediger
mit dem Rektor Dippelmann in die -- Theologie.

»Kommen Sie, Wachholder,« sagt der Professor Frey, »wir wollen lieber
den Kindern beim Tanzen zusehen! Mir wird wässerig und schwül zugleich.«

Da ich wirklich etwas Ähnliches in mir spüre, nehme ich den Vorschlag
mit Freuden an, und wir wandeln durch die Gänge mit den bunten Lampen
und Laubgewinden dem Tanzplatz zu. Da ist ein lustiges Treiben.

»Welche prächtigen Reflexe!« ruft der alte Maler ganz enthusiasmiert.
»Sehen Sie, Wachholder, da kommt der Berg, aus dem ich Ihnen trotz
seiner sporadischen Bummelei und Liederlichkeit doch noch einen _echten_
Künstler mache. Nun ^fanello^,« wendet er sich an den Herbeieilenden,
»ich hoffe, Ihr werdet meine Mädchen nicht >dörren< lassen -- wie sie
sagen!«

Der denkende Künstler grinst auf eine unbeschreibliche Weise:

»Wir tun unser möglichstes, Herr Professor. Sehen Sie nur den Peter
Laar! Segelt er nicht wie ein wahrer Fapresto mit Fräulein Julie dahin?
Hier können Sie sich doch wahrlich nicht beklagen, daß er keine
Fortschritte mache. Sehen Sie nur, wie er weiter kommt. Sehen Sie, wie
-- buff! Dacht' ich's doch! Da bohrt er den Auskultator Krippenstapel
mit seiner Donna zu Grund! Alle Wetter! das gibt Skandal! Da muß ich
retten!«

»Herr!« schreit der königliche Auskultator wütend aufspringend und seine
Tänzerin trostlos-lächerlich auf ihrem »^séant^« sitzen lassend. »Herr,
können Sie nicht sehen, haben Sie keine Augen im Kopfe, Sie ...«

»Halt, Krippenstapel!« fällt hier Gustav ein, den gefallenen Engel des
Juristen aufhebend. »Sie sollen fürchterlich gerächt werden, ich gebe
Ihnen mein Ehrenwort! Peter Holzmann, Bamboccio, Ungetüm! ein
schreckliches Los harrt morgen Deiner! -- Mein Fräulein, Sie haben sich
doch nicht weh getan? Wollen Sie eine kalte Messerklinge auflegen, das
soll gut sein gegen Beulen? -- Fräulein Julie, geben Sie doch gefälligst
dem dicken Ungeheuer an Ihrer Seite einen tüchtigen Nasenstüber als
Vorgeschmack! -- Krippenstapel, sei'n Sie ein guter Kerl und fangen Sie
keinen Lärm an; kommen Sie, lassen Sie sich von Ihrer Dame eine
Stecknadel geben, ehe Sie weiter schweben. Vergessen Sie's nicht, es ist
wichtig; ich als Ästhetiker muß das wissen!«

Ein allgemeines Gelächter löst die Sache in Wohlgefallen auf.
Krippenstapel schleicht mit seiner Stecknadel ingrimmig ins Gebüsch;
seine Dame verkündet hinter ihrem Taschentuch, keine kalte Messerklinge
anwenden zu wollen; Peter Holzmann stolpert mit Fräulein Julie zu einem
Sitz, und alle übrigen Paare ordnen sich zu einem neuen Tanz.

Schon während des Verlaufs dieser Szene habe ich mich gewundert,
nirgends Elisens Lockenkopf hervorlugen zu sehen, nirgends ihr helles
Lachen zu hören; als nun ein neuer Tanz beginnt, und sie auch jetzt
nicht erscheint, wird mir die Sache bedenklich.

»Gustav, heda hier! Wo hast Du denn meine Lise gelassen?«

»Ich? -- Onkel, fragen Sie lieber: wo hat Dich die Lise gelassen. Sie
behauptet böse zu sein und ist mit Fräulein Henriette Frey weggelaufen,
nachdem sie mich einen -- einen -- >Teekessel< genannt hat.«

»So? -- was habt Ihr denn wieder vorgehabt?«

»Ich kann mich auf weiteres nicht einlassen!« sagt der »denkende
Künstler«, zieht ein wehmütig-seinsollendes Gesicht und verschwindet
unter der Menge.

»Wenn die Sachen so stehen,« lacht der alte Frey, »so werden die Mädchen
jetzt wohl bei der Wäsche und Theologie sitzen. Kommen Sie, wir müssen
uns doch erkundigen, was der Friedensstifter (machte er seine Sache
nicht prächtig?) da für Unheil und Unfrieden angestiftet hat?«

»Ich kann's mir schon vorstellen,« brumme ich in den Bart, und so
schlagen wir uns seitwärts ins Gebüsch und gelangen zu unserm Tisch
zurück.

»Richtig, da sitzen die Turteltäubchen!« ruft der Professor. »Wie
andächtig sie dem Oberlehrer Besenmeier zuzuhören scheinen und doch ganz
wo anders sind! Kurre, kurre, kurre, Fräulein Elise, mein Täubchen, was
hat Ihnen denn ein gewisser -- hm -- gewisser >Teekessel< getan?«

»Wer?« fragt Lischen, die sich dicht an die Tante gedrängt hat und von
ihr mit einem gewaltigen Tuche umwickelt ist, während Henriette an ihrer
andern Seite emsig sich mit ihrer Teetasse beschäftigt.

»Wer? fragst Du!« nehme ich das Wort. »Nun wir begegneten eben jemand,
der ziemlich nahe am -- >Überkochen< war.«

»Ach, Du meinst den Vetter! -- Pah -- _Der_!«

»Nun, was hat's gegeben? Tante Helene, hat sie Ihnen vielleicht schon
ihr Herz ausgeschüttet?«

»Nein!« sagt die Tante. »Haben sie sich wieder gezankt?«

»Es scheint so! Fräulein Henriette, Sie wissen gewiß etwas Näheres
davon?«

»Soll ich's sagen, Lischen?« fragt kichernd Henriette, ihre Freundin am
Ohr zupfend.

»Meinetwegen!« sagt Elise, mit einem Gesicht wie Menschenhaß und Reue
einen Nachtschmetterling verscheuchend, der ihr um den Kopf flattert und
mit aller Gewalt sich in ihren Locken fangen will.

»Er hat -- Herr Gustav hat gesagt: -- wenn er ihr nicht die Tänzer
schicke und Propaganda (ich glaube so heißt's) für sie mache, so würde
sie -- ihr Lebtag außer ihm keinen kriegen. Sie müsse daher hübsch
dankbar und zuvorkommend gegen ihn sein und« -- --

Ein Ausruf des Entsetzens entringt sich allen.

»Abscheulich!« ruft die Tante Berg. »^Finis mundi!^« lacht der Rektor
Dippelmann. »Schändlich!« ächzt die Frau Rektorin; »Gräßlich!« die Frau
Dompredigerin. »Beim Himmel, das ist stark!« meint ihr Gemahl. »Das
hätte ich nicht gedacht!« brumm' ich. »_Das_ soll er büßen,« ruft der
Professor Frey, »und« ...

»Er büßt es schon!« sagt eine Stimme, und der Übeltäter guckt durch das
Gebüsch hinter Elisens Platze. »Teilweise hat er es sogar schon gebüßt!«

Mit diesen Worten windet sich der Blasphemist vollends hervor, schiebt
sich ganz sachte zwischen seine Mutter und Elise, die schnell nach der
andern Seite rückt, wohin er ihr ebenso schnell folgt. Seinen Arm um sie
legend, hält er folgende Rede: »Lischen, englische Cousine Ralff, ich
beschwöre Dich, höre mich! -- Glaubst Du etwa, ich habe, nachdem Du
jenem Schauplatz eitler Freuden den Rücken gewandt, weiter gewalzt? Du
irrst! Du irrst! Gute Werke habe ich getan, meine Schuld zu sühnen: den
edlen Holzmann, -- Holzmann, komm mal her und gib mir die Schachtel mit
den feurigen Tränen! -- den edlen Holzmann habe ich aus den Klauen des
racheschnaubenden Krippenstapels gerettet; Fräulein Thekla Stichel habe
ich aus der amüsantesten aller Lagen, oder vielmehr Sitzungen,
emporgezogen; als mitten im Kontertanz dem Freiwilligen Breimüller der
Steg riß und ihm die Unnennbare bis zum Knie hinaufschnurrte, habe ich
ihm eine Droschke herbeigepfiffen; kurz überall, wo Tränen zu trocknen
waren, war auch ich -- wie gesagt, nur um meine Schuld zu büßen. Und
hier, Lischen (Holzmann, gib mir die Schachtel), nicht allein getrocknet
habe ich Tränen, auch gesammelt habe ich welche! -- Sieh, Lischen!«

Einen Ausruf der Verwunderung und Freude stößt Elise trotz ihrem Groll
aus, als ihr der Bösewicht den Inhalt seiner Schachtel in den Schoß
schüttet, und unzählige, funkelnde, leuchtende Johanniswürmer um sie
herum kriechen und schwirren.

Die Lampen sind weit genug entfernt, daß die Tierchen in ihrem ganzen
Glanz erscheinen können, und es ist wirklich ein hübscher Anblick --
diese besternte Elise!

»Das sind meine Reuetränen, und Du -- kriegst Tänzer leider zu viel --
ohne mich! -- und ich _bin_ ein Teekessel und ^et cetera^ -- Lischen?!
-- Lischen, gucke _mich_ mal an!«

»Taugenichts!« sagt Elise, dem Sünder in die Haare greifend, und -- der
Friede ist geschlossen! --

War denn der alte Meister Frey an diesem Abend ganz aus Rand und Band?
Auf einmal verkündete er, daß er seinen morgenden 69sten Geburtstag (es
war der letzte seines Lebens) jetzt feiern wolle, da bei solchen
Gelegenheiten das Improvisieren den wahren Genuß und Jubel hervorbringe.
Das halbe Atelier machte er halb betrunken, die ganze weibliche Welt
ganz angeheitert. Ein Kranz wurde ihm aufgesetzt trotz allem Sträuben,
-- ein Kranz, der nur so sein mußte. Der Domprediger hielt eine Rede,
die »verehrter Greis« anfing und ähnlich endete, und Reden wurden
losgelassen und Toaste ausgebracht bis zwölf Uhr. Dann erhob sich das
alte bekränzte Geburtstagskind, beklagte sich über Nachtkühle und
Nachtfeuchte, und -- das Fest war vorbei.

                   *       *       *       *       *

Vorbei! Wo sind heute alle die, welche es feierten?

Tot ist der alte Meister Frey, zerstreut in alle Welt sind seine
Schüler. Peter Holzmann, genannt Peter van Laar, oder auch Bamboccio,
ist 1849 in einer römischen Villa von französischen Plünderern
erstochen, als er eine Raphaelsche Madonna vor ihrer Zerstörungswut
schützen wollte. Der Domprediger ist noch immer nicht zum Mormonentum
übergetreten, und der Oberlehrer Besenmeier hat Fräulein Julie Frey
geheiratet und steht, -- »mit dem Gürtel, mit dem Schleier reißt der
schöne Wahn entzwei,« -- fürchterlich unter dem Pantoffel. Die Frau
Rektor Dippelmann knüpft noch wie immer alle Morgen ihrem Gemahl die
Halsbinde um, steckt ihm das Butterbrot, in die gestrige Zeitung
gewickelt, in die Rocktasche und sieht ihm stolz nach aus dem Fenster,
wie er über die Friedensbrücke nach dem Schimmelstädtischen Gymnasium
wandelt.

Und _Gustav_ und _Elise_? -- -- -- Ich werde nachher dieses Blatt der
Chronik hinübertragen zu jener schönen ältlichen Frau in Nr. Zwölf der
Sperlingsgasse, deren Fortepianoklänge sich schon den ganzen Nachmittag
über in meine Gedanken verwoben haben. Dann werden wir von _Gustav_ und
_Elise_ sprechen!




                                                          Am 14. März.


»Hören Sie, Wachholder,« sagte heute Strobel, mit den zusammengehefteten
Bogen der Chronik aufs Knie schlagend, »wenn Ihnen einmal Freund Hein
das Lebenslicht ausgeblasen hat; irgend jemand unter Ihrem Nachlaß diese
Blätter aufwühlt, und er sich die Mühe gibt, hineinzugucken, ehe er sie
zu gemeinnützigen Zwecken verwendet, so wird er in demselben Fall sein,
wie der alte Albrecht Dürer, der ein Jagdbild lobte, aber sich zugleich
beklagte: er könne nicht recht unterscheiden, was eigentlich die Hunde,
und was die Hasen sein sollten. Sie würfeln wirklich Traum und Historie,
Vergangenheit und Gegenwart zu toll durcheinander. Teuerster, wer
darüber nicht konfus wird, der ist es schon! Und wenn Sie noch Ihre
Bilder einfach hinstellten, wie ein alter, vernünftiger, gelangweilter
Herr und Memoirenschreiber! Aber nein, da rennt Ihnen Ihr Mitarbeitertum
der >Welken Blätter< zwischen die Beine, da putzen sie Ihre Erinnerungen
auf mit dem, was Ihnen der Augenblick eingibt; hängen hier ein Glöckchen
an und da eins, und ehe man's sich versieht, haben Sie ein Ding
hingestellt wie -- wie ein Gebäude aus den bunten Steinen eines
Kinderbaukastens. Das ist hübsch und bunt, aber -- es paßt nichts recht
zusammen, und wenn man es genau besieht -- puh! -- Nehmen Sie's nicht
übel; aber manchmal gleicht Ihre Chronik doch dem Machwerk eines
angehenden literarischen Lichts, das sich mit Rousseau getröstet hat:
^Avec quelque talent qu'on puisse être né, l'art d'écrire ne s'apprend
pas tout d'un coup.^«

Ich hatte dieser langen Rede des Karikaturenzeichners geduldig zugehört,
jetzt sagte ich, während ich erbost meine Pfeife ausklopfte: »Sie haben
vor einiger Zeit versprochen, ein Mitarbeiter meiner Chronik werden zu
wollen, ich nehme Sie jetzt nach Ihrer so tief eingehenden Kritik
sogleich beim Wort und -- lasse Sie mit Tinte, Feder und Papier allein,
daß Sie ihren Beitrag derselben auf der Stelle anhängen. Der einst
Konfuswerdende mag auch von Ihnen etwas mit aufwühlen. Guten Abend!«

Der Karikaturenmaler lachte, sagte »^fiat^« und begann eine Feder zu
schneiden, während ich Hut und Stock nahm und abzog mit dem Gefühl eines
Menschen, der eine belebte Straße hinabzieht unter der festen
Überzeugung, daß ihm hinten ein ungreifbares ellenlanges Band vom
Vorhemd über den Rockkragen baumelt. »Und recht hat er doch!« brummte
ich, indem ich die Treppe hinabstieg. »Wenn nur die Lise erst wieder da
wäre! Komm zurück, Schlingel von Gustav, und bringe sie mit, daß Euer
alter Onkel ruhig wieder an seinem Werke ^de vanitate^ weiter schreiben
kann!«

Damit trat ich aus dem Hause und zog eben die Handschuhe an, als sich
oben mein Fenster öffnete, der Karikaturenzeichner den Kopf
heraussteckte und herunterrief:

»Hören Sie, alter Herr, ich kann Sie so nicht weggehen lassen -- ich
habe Gewissensbisse und muß erst Öl in Ihre Wunden gießen! Hören Sie,
meine Tante teilt die Bücher in zwei Arten: gute, über welche sie nach
Tisch einschlafen kann, und schlechte, bei denen das nicht geht. Ihre
Chronik würde sie unter die ersteren rechnen, wenn sie, aufgewühlt, ihr
in die Hände fallen sollte. Adieu!«

Ich wandte dem unverschämten Gesellen lachend den Rücken und marschierte
ab.




                                                             Am Abend.


Ich bin zurückgekommen von meinem Spaziergang und sitze wieder allein
und einsam vor den zerstreuten Bogen meiner Chronik. Der
Karikaturenzeichner hat wirklich ein Blatt vollgekritzelt, alle meine
Federn verdorben, einen Tintenklex auf dem Fußboden gemacht, meinen
Siegellackvorrat zerbissen, zerdreht und zerbrochen und -- eine Ecke von
meinem Schreibtisch abgeschnitzelt. -- Er hat mir fast die Fortsetzung
der Aufzeichnung meiner Phantasien verleidet, und es war doch so süß,
wenn der Blick an irgend einen Gegenstand meines Zimmers, dort an jenes
kleine leere Messingbauer, an jenen Sessel vor dem Nähtischchen, an ein
altes Blatt, eine vertrocknete Blume, eine bunte Zeichnung in meiner
Mappe sich fest hing, und allmählich eine Erinnerung nach der andern
aufstieg und sich blühend und grünend darumschlang. Wir sind doch
törichte Menschen! Wie oft durchkreuzt die Furcht vor dem
Lächerlichwerden unsere innigsten, zartesten Gefühle! Man schämt sich
der Träne und -- spottet; man schämt sich des fröhlichen Lachens und --
schneidet ein langweiliges Gesicht; die Tragödien des Lebens sucht man
hinter der komischen Maske zu spielen, die Komödien hinter der
tragischen; man ist ein Betrüger und Selbstquäler zugleich! -- Mit einem
Kinderbaukasten verglich Strobel diese bunten Blätter ohne Zusammenhang?
Gut, gut, -- mag es sein, -- ich werde weiter damit spielen, weiter
lustige, tolle Gebäude damit bauen, da _die_ fern sind, welche mir die
farbigsten Steine dazu lieferten? Ich werde von der Vergangenheit im
Präsens und von der Gegenwart im Imperfektum sprechen, ich werde Märchen
erzählen und daran glauben, Wahres zu einem Märchen machen, und zuerst
die bekritzelten Blätter des Meisters Strobel der Chronik anheften! Hier
sind sie:

                            #Strobeliana#

3 Uhr. Ich habe mir eine Zigarre angezündet, den Bogen neben mich ins
Fenster gelegt und beginne meine Beobachtungen. Zuerst bringe ich zu
Papier natürlich das Wetter: das holdseligste Himmelblau, den
prächtigsten Sonnenschein. Hätte ich nur einen Funken poetischen Feuers
in mir, so würde ich mir beide durch ein junges, schönes Paar
personifizieren, welches da hoch oben im Himmelszelt auf seinem weißen,
weichen Wolkendivan tändelt und kost und total vergessen hat, daß noch
so viel hunderttausend deutsche Hausfrauen auf -- Märzschnee warten zum
Seifekochen! Wahrhaftig, da ist ja eine Fliege! Welch ein Fund für einen
Chronikschreiber! Summend stößt sie gegen die sonnenbeschienenen
Scheiben, die wir schnell schließen wollen, um das arme Tierchen zu
seinem Besten vor dem heuchlerischen Frühling da draußen zu bewahren.
Sie scheint auch jetzt ihre Torheit einzusehen, sie läßt ab und umfliegt
mich. Halt, jetzt setzt sie sich auf meine Knie, nach mehreren
vergeblichen Angriffen auf meine Nasenspitze; sie nimmt den Kopf
zwischen beide Vorderbeine, kratzt sich hinter den Ohren und -- -- --
kleiner ...! -- Dahin geht sie, eine Spur hinterlassend auf meinem Knie
und -- in der Chronik der Sperlingsgasse. Ich wollte, es gäbe ein
Sprichwort: »Schämt Euch vor den Fliegen an der Wand.« Um wie viel
menschliche Tollheiten und Torheiten schnurren diese winzigen
Flügelwesen. Wer weiß, was der Punkt, den der kleine Tourist da eben
niedergelegt hat, eigentlich bedeutet? Wer weiß, ob es nicht ein
deponiertes Tagebuch ist, voll der geistreichsten Bemerkungen; ein
Tagebuch, das man nur aufzurollen und zu entziffern brauchte, wie einen
ägyptischen Papyrus um wunderbare, unerhörte Dinge zu erfahren. Welch
eine Revolution würde es hervorbringen, wenn dem so wäre; wenn man sich
vor den Fliegen an der Wand schämen müßte! Wie würden die
Fliegenklatschen in Gang kommen. Arme Fliegen! Kein »redlicher Greis in
gestreifter kalmankener Jacke« würde euch mehr verschonen »zur
Wintergesellschaft«. Wie den Vogel Dudu würde man euch ausrotten, und
höchstens -- einige in Uniform gesteckt, mit einer Kokarde auf jedem
Flügel, als Regierungsbeamte besolden. Es wäre schrecklich, und ich
breche ab. --

3¼ Uhr. -- Welche Reisegedanken dieser blaue Himmel schon wieder in mir
erweckt! An solchen Vorfrühlingstagen, wo der Geist die Last des Winters
noch nicht ganz abgeschüttelt hat, ist's, wo die Sehnsucht nach der
Ferne uns am mächtigsten ergreift. Es ist ein sonderbares Ding um diese
Sehnsucht, die wir nie verlieren, so alt wir sein mögen. Da zupft etwas
an unserem tiefsten Innern: Komm heraus, komm heraus, was sitzest du so
still, du Tor, und hältst Maulaffen feil? Hier findest du nicht, worüber
du grübelst, wonach du dich sehnst, ohne es zu kennen. Sieh, wie blau,
wie duftig die Ferne! Viel, viel weiter liegt's! Komm heraus, heraus!

Bah, diese blaue, duftige Ferne; wie oft hab' ich mich von ihr verlocken
lassen. Die Erde läßt uns ja nicht los; wir sind ihre Kinder, und sie
ist nichts ohne uns, wir nichts ohne sie. -- Folge jetzt der lockenden
Stimme, deine Füße werden schon in dem weichen Boden versinken;
närrische Sprünge wirst du mit den Erdklößen an den Stiefeln machen!
Fühle, daß zur Zeit, wo die Sehnsucht am stärksten ist, auch die Fesseln
am stärksten sind; kehre um, ziehe Pantoffeln an und nimm die gestrige
Zeitung vor die Nase: das Glück liegt nicht in der Ferne, nicht über dem
wechselnden Mond! --

3½ Uhr. -- Da höre ich eben unten in der Gasse eine merkwürdige
Redensart aus dem Munde eines Tagelöhners, der einen andern, sehr
übelgelaunt Aussehenden, mit den Worten auf die Schulter klopft: »Man
muß nie verzweifeln; kommt's nicht gut, _so kommt's doch schlecht
heraus_!« In demselben Augenblick öffnet sich nebenan ein Fenster. Eine
beschmierte rote Sammetmütze auf einem Wald schwarzer Haare beugt sich
hervor; es ist mein würdiger Freund ^Monsieur Anastase Tourbillon^,
seines Zeichens ein französischer Sprachlehrer. Er scheint die Redensart
drunten auch gehört und -- verstanden zu haben und gähnt: »^Ah, ouf,
quelle bête allemande! Eh vogue la galère, jusqu'à la mort tout est
vie!^«

Da habt ihr die beiden Nationen und ...... Wetter! -- da gebe ich nicht
acht und -- meine Fliege von vorhin entschlüpft summend aus dem
wiedergeöffneten Fenster! Nie mehr wird sie wieder meinen Freund
Wachholder umschwirren, nie mehr auf dem Rande der Zuckerdose
umherspazieren oder gegen die Scheiben stoßen! Sie hat, was sie wollte
-- unbegrenzte Freiheit, aber ach -- heute Abend -- keinen warmen Ofen
mehr, sich daran zu wärmen; in den Rinnsteinen der Sperlingsgasse fließt
weder Milch noch Honig! -- Verflucht sei die Freiheit! Amen! --

3¾ Uhr. Die meisten Dichterwerke der neuesten Zeit gleichen dem Bild
jenes italischen Meisters, der seine Geliebte malte als Herodias, und
sich in dem Kopfe des Täufers auf der Schüssel porträtierte. Da pinseln
uns die Herren ein Weibsbild, Tendenz genannt, hin, welches anzubeten
sie heucheln, und welches auf dem Präsentierteller, hochachtungsvoll und
ergebenst, uns das verzerrte Haupt des werten Schriftstellers selbst
überreicht. Die Nützlichkeit solchen Treibens läßt sich nicht
abstreiten, also -- nur immer zu! -- Wie komm' ich _darauf_. --

4 Uhr. -- Es ist merkwürdig; seit ich dieses Blatt bemale, ist dieselbe
Traumseligkeit über mich gekommen, welche dieser Chronik ein so
zerfetztes, zerlumptes Ansehen gegeben hat. Wachholder hat recht, es ist
ein eigentümlich behagliches Gefühl, seinen Gedankenspielen sich so ganz
und gar hinzugeben, ohne sich Geist-herausquälend im Kreise zu drehen,
wie ein hartleibiger Pudel.

Wo war ich eben, als das Kindergeschrei drunten auf der Straße mich
aufweckte? Ich will es versuchen, es der Chronik einzuverleiben, worin
zugleich für meinen ehrenwerten Freund Wachholder die größte Genugtuung
für meine vorigen Reden liegen wird.

Es war an einem Sonntagmorgen im Juli, als ich auf braunschweigschem
Grund und Boden am Uferrand der Weser lag und hinüberblickte nach dem
jenseitigen Westfalen. Früh vor Sonnenaufgang war ich, über Berg und Tal
streifend, mit dem ersten Strahl im Osten, in ein gleichgültiges Dorf
hinabgestiegen. Ich hatte Kaffee getrunken unter der Linde vor dem
Dorfkrug, hatte behaglich das Treiben des Sonntagsmorgens im Dorf
belauscht und andächtig der kleinen Glocke zugehört, die in dem spitzen,
schiefergedeckten Kirchturm läutete. Manchem hübschen, drallen,
niedersächsischen Mädchen, das sich über den sonderbaren, plötzlich ins
Dorf geschneiten Fremdling wunderte, hatte ich lächelnd zugenickt; ich
hatte Bekanntschaft mit der gesamten Kinder-, Hühner-, Gänse- und
Entenwelt des »Krugs« gemacht, dem weißen Spitz den Pelz gestreichelt
und manche Frage über »Woher und Wohin« beantwortet. Mit meinem Wirt
(der zugleich Ortsvorsteher war) hatte ich das Bienenhaus besucht;
darauf die Gemeinde, den Kantor und Pastor in die Kirche gehen sehen,
und hatte mich zuletzt allein im Hofe unter der Linde gefunden, nur
umgeben von der quakenden, piepsenden, geflügelten Schar des Federviehs.
Aus diesem ^dolce far niente^ hatte mich plötzlich das Schreien eines
Kindes aufgeschreckt. Es drang aus dem Haus hinter mir und bewog mich,
aufzustehen und in das niedere, vom Weinstock umsponnene Fenster zu
sehen. Eine alte Frau war eben beschäftigt, einen widerspenstigen,
heulenden, strampelnden Bengel von vier Jahren mit Wasser, Seife und
einem wollenen Lappen tüchtig zu waschen, welcher Prozedur drei bis vier
andere kleine »Blaen« angstvoll zusahen, wartend, bis die Reihe an sie
kommen würde.

»Nun, Mutter,« sagte ich, mich auf die Fensterbank lehnend; »und Ihr
seid nicht in der Kirche?«

Die Alte sah auf und sagte lachend: »Et geit nich immer; ek mott düsse
lüttgen Panzen waschen und antrecken -- Herre -- Kinderschrieen is ok
een Gesangbauksversch!«

Ich nahm den Hut ab und trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Welch
eine wunderbar schöne Predigt lag in den fünf Worten des alten Weibes!
Eine Schwalbe beschrieb eben ihren Bogen um mich, ihrem Neste unter dem
niedrigen Dachrande zu, und klammerte sich, ihre Beute im Schnabel, an
die Tür ihrer kleinen Wohnung, begrüßt von dem jubelnden Gezwitscher der
federlosen Brut. Ich konnte der alten Frau kein Wort mehr sagen.

»Kinderschrieen is ok een Gesangbauksversch!« murmelte ich leise, zu
meinem Tisch unter der Linde zurückgehend. Ich riß ein Blatt aus meiner
Brieftasche, schrieb darauf: Kinderschrieen is ok een Gesangbauksversch,
und zog es mit einem Strauß Waldblumen unter das Hutband.

Träumend schritt ich dann durch die Tür des Dorfkirchhofs, vorüber an
den bunten, geputzten Gräbern, zu dem offenen Kirchtor (auf dem Lande
braucht der Protestantismus seine Kirchen während des Gottesdienstes
noch nicht zu schließen) und lehnte andächtig an der Esche davor. Mit
großer Freude hörte ich, wie der junge Pastor eine Gellertsche Fabel in
das Gleichnis aus dem fernen Orient schlang; während die Schwalben in
dem heiligen Gebäude hin und her schossen, und ein verirrter
Schmetterling seinen Weg durch die geöffnete Kirchtür eben wieder
zurückfand.

»Kinderschrieen is ok een Gesangbauksversch!« rief ich, über die niedere
Mauer in das freie Feld springend, und durch die gelben Kornwogen mit
ihrem Kranz von Flatterrosen am Rande, der Weser zuwandernd. Da hatte
ich mich ins Gras unter einen Weidenbusch geworfen und träumte in das
Murren des alten Stromes neben mir hinein; während drüben im
katholischen Lande eine Prozession singend den Kapellenberg zu dem
Marienbild hinaufzog, und hinter mir die protestantischen Orgeltöne
leise verklangen. Welch ein wundervoller, blauer, lächelnder Himmel über
beiden Ufern, über beiden Religionen, welch eine wogende Gefühlswelt im
Busen, anknüpfend an die fünf Worte der alten Bäuerin! Ich war damals
jünger als jetzt und legte das Gesicht in die Hände:

   »Nenn's Glück! Herz! Liebe! Gott!
   Ich habe keinen Namen
   Dafür! Gefühl ist alles« -- -- -- --

Ein näher kommender Gesang weckte mich plötzlich; ich blickte auf.
Brausend und schnaufend, die gelben Fluten gewaltig peitschend, kam der
»Hermann« die Weser herunter. Der Kapitän stand auf dem Räderkasten und
griff grüßend an den Hut, als das Schiff vorbeischoß. Hunderte von
Auswanderern trug der Dampfer an mir vorüber, hinunter den Strom, der
einst so viele Römerleichen der Nordsee zugewälzt hatte. Ein Männerchor
sang: »Was ist des Deutschen Vaterland,« und die alten Eichen schienen
traurig die Wipfel zu schütteln; sie wußten keine Antwort darauf zu
geben, und das Schiff flog weiter. Die Weser trägt keine fremden Leichen
mehr zur Nordsee hinab; wohl aber murrend und grollend ihre eigenen
unglücklichen Söhne und Töchter! -- Ich verließ meinen Ruheplatz und
ging durch den Buchenwald den nächsten Berg hinauf bis zu einer freien
Stelle, von wo aus der Blick weit hinausschweifen konnte ins schöne Land
des Sachsengaus. Welch eine Scholle deutscher Erde! Dort jene blauen
Höhenzüge -- der Teutoburger Wald! Dort jene schlanken Türme -- die
große germanische Kulturstätte, das Kloster Corvey! Dort jene Berggruppe
-- der Idth! ^cui Idistaviso nomen^ sagt Tacitus. Ich bevölkerte die
Gegend mit den Gestalten der Vorzeit. Ich sah die achtzehnte, neunzehnte
und zwanzigste Legion unter dem Prokonsul Varus gegen die Weser ziehen
und lauschte ihrem fern verhallenden Todesschrei. Ich sah den Germanicus
denselben Weg kommen und lauschte dem Schlachtlärm am Idistavisus; bis
der große Arminius, der »^turbator Germaniae^« durch die Legionen und
den Urwald sein weißes Roß spornte, das Gesicht unkenntlich durch das
eigene herabrieselnde Blut, geschlagen, todmüde. Ich sah, wie er die
Cheruska von neuem aufrief zum neuen Kampf gegen die »^urbs^«; wie das
Volk zu den Waffen griff: ^pugnam volunt, arma rapiunt; plebes,
primores, juventus, senes^!

Aber wo ist denn die Puppe? kam mir damit plötzlich in den Sinn. Ich
schleuderte den Tacitus ins Gras, stellte mich auf die Zehen, reckte den
Hals aus, so lang als möglich, und schaute hinüber nach dem Teutoburger
Walde. Da eine vorliegende »Bergdruffel« (wie Joach. Heinr. Kampe sagt)
mir einen Teil der fernen blauen Höhen verbarg, gab ich mir sogar die
Mühe, in eine hohe Buche hinaufzusteigen, wo ich auch das Fernglas zu
Hilfe nahm. Vergeblich; -- nirgends eine Spur vom Hermannsbild! Alles,
was ich zu sehen bekam, war der große Christoffel bei Kassel, und mit
einem leisen Fluch kletterte ich wieder herunter von meinem luftigen
Auslug. Hatte ich aber eben einen leisen Segenswunsch von mir gegeben,
so ließ ich jetzt einen um so lauteren los. Ich sah schön aus! »Das hat
man davon,« brummte ich, während ich mir das Blut aus dem aufgeritzten
Daumen sog, »das hat man davon, wenn man sich nach deutscher Größe
umguckt: einen Dorn stößt man sich in den Finger, die Hosen zerreißt
man, und zu sehen kriegt man nichts als -- den großen Christoffel.«
Ärgerlich schob ich mein Fernglas zusammen, steckte den Tacitus zurück
in die Tasche und ging hinkend den Berg hinunter, wieder der Weser zu.
Ärgerlich warf ich mich, am Rande des Flusses angekommen, abermals ins
Gras. Was hatte sich alles zwischen die gefühlsselige Stimmung von
vorhin und den jetzigen Augenblick gedrängt! Der Himmel war noch ebenso
blau, die Berge noch ebenso grün, der Papierstreifen von vorhin steckte
noch neben den Waldblumen an meinem Hute, und doch -- wie verändert
blickte mich das alles an! Hätte das Dampfschiff mit seinen Auswanderern
nicht später kommen können, da es doch sonst immer lange genug auf sich
warten läßt! Hätte ich Narr nicht unterlassen können, nach dem
Hermannsbild auszuschauen? Wie ruhig könnte ich dann jetzt im Grase
meinen Mittagsschlaf halten, ohne mich über den großen Christoffel, den
so viele brave Katten mit ihrem Blute bezahlt haben, zu ärgern! -- Ich
versuchte mancherlei, um meinen Gleichmut wieder zu gewinnen; ich
kitzelte mich mit einem Grashalm am Nasenwinkel, ich porträtierte einen
dicken, gemütlichen Frosch, der sich unter einem Klettenbusch sonnte, --
es half alles nichts! -- Der Dämon Mißmut ließ mich nicht los, wütend
sprang ich auf, schrie: Hole der Henker die Wirtschaft! und marschierte
brummend auf Rühle zu -- -- -- -- -- -- Wetter, was ist das für ein Lärm
in der Sperlingsgasse?! Heda, -- da ist ein Hundefuhrwerk in einen
Viktualienkeller hinabgepoltert, und ich -- ich, der Karikaturenzeichner
Ulrich Strobel, sitze hier und schmiere Unsinn zusammen! Hol' der Henker
auch die Chronik der Sperlingsgasse! -- Adieu, Wachholder!




                                                   Am 21. März. Abend.


Es gibt ein Märchen -- ich weiß nicht, wer es erzählt hat -- von einem,
der nach großem Unglück sich wünschte, die Erinnerung zu verlieren, und
dem in einer dunkeln Nacht sein Wunsch gewährt ward. Er empfand von da
an keinen Schmerz, keine Freude mehr; er verlernte zu weinen und zu
lachen; es ward ihm einerlei, ob er Blumenknospen oder Menschenherzen
zertrat: alles das hübsche Spielzeug, welches das Leben seinen Kindern
mitgibt auf ihrem Wege von der Wiege bis zum Grabe, zerbrach ihm in den
Händen mit der Erinnerung. Das ist eine schreckliche Vorstellung! Ihr
Weisen und Prediger der Völker, nicht der Gedanke an Glück oder Unheil
in der Zukunft ist's, der liebevoll, rein, heilig macht; nie ist dieser
Gedanke rein von Egoismus, und über jede Blüte, die das Menschenherz
treiben soll, legt er den Mehltau der Selbstsucht: die wahre, lautere
Quelle jeder Tugend, jeder wahren Aufopferung, ist die traurig süße
Vergangenheit mit ihren erloschenen Bildern, mit ihren ganz oder halb
verklungenen Taten und Träumen. Wer könnte ein Kind beleidigen, der
daran denkt, daß er einst selbst sich an die Mutterbrust geschmiegt, daß
ein Mutterauge auf ihn herabgelächelt hat? Die Erinnerung ist das
Gewinde, welches die Wiege mit dem Grabe verknüpft, und mag das dunkle
stachlichte Grün des Leidens, des Irrtums, noch so vorwaltend sein;
niemals wird's hier und da an einer hervorleuchtenden Blume fehlen, bei
welcher wir verweilen und flüstern können: »Wie lieblich und heilig ist
diese Stätte!«

Ich habe meine kleine Lampe angezündet und träume wieder über den
Blättern meiner Chronik. Das, was die ältliche, freundlich-schöne Frau,
die mir heute den Strauß junger Veilchenknospen herüberbrachte, auf den
Wogen ihrer Melodien sich schaukeln läßt, kann ich ja nur auf diese
Weise festhalten. -- Ich habe bis jetzt Bilder gezeichnet aus unserer
Kinder Kinderleben, heute will ich ein andres farbiges Blatt malen, wie
ein Zauberspiegel voll blühenden Lebens, voll süßen Flüsterns, voll
träumenden Sehnens und lächelnden Träumens, -- ein einziges Blatt aus
der vollen Pracht des Herzensfrühlings, ein einziges Blatt aus der Zeit
der jungen Liebe!

   »O, daß sie ewig grünen bliebe,
   Die schöne Zeit der jungen Liebe!«

sang der Dichter, und überall treffen wir den Spruch an auf
Kaffeetassen, in Stammbüchern und auf Pfeifenköpfen. Das soll kein Spott
sein! Was das Volk erfaßt hat, will es auch vor sich sehen, es spielt
mit ihm, es spricht den gereimten Gedanken, den es zu seinem Eigentum
gemacht hat, oft zwar mit einem Lächeln auf den Lippen aus, aber es
trägt ihn darum doch tief im Herzen. Das Volk steigt nicht zu dem Wahren
und Schönen hinauf, sondern zieht es zu sich herab; aber nicht, um es
unter die Füße zu treten, sondern um es zu herzen, zu liebkosen, um es
im ewig wechselnden Spiel zu drehen und sich über seinen Glanz zu
wundern und zu freuen. Über der Wiege des ewigen Kindes »Menschheit«
schweben die guten Genien, die großen Weltdichter, schütten aus ihren
Füllhörnern die goldenen Weihnachtsfrüchte herab und sind mit ihren
Wiegenliedern stets da, wenn häßliche, schwarze Kobolde erschreckend
dazwischen gelugt haben.

Schön ist die Zeit der jungen Liebe! Sie ist gleich der Morgendämmerung,
wo der Himmel im Osten leise sich rötet, wo Knospen, Blumen und alles
Leben dem kommenden Tage in die Arme schlummern, und nur hin und wieder
eine Lerche, den Tau von den Flügeln schüttelnd, jubelnd,
glückverkündend emporsteigt. Noch bedeckt der Nebelduft zauberhaft,
geheimnisvoll alle Abgründe und öden Stellen des Lebens; die jungen
Herzen glauben nur Blumen und flatternde Schmetterlinge und bunte
nesterbauende Vöglein unter dem Schleier der Zukunft verborgen.

»Süßes Geliebtsein, süßeres Leben!« hat ein anderer Dichter einmal
ausgerufen, und ich, ein alter, einsamer Mann, bedecke die Augen mit der
Hand, denke an die Gräber auf dem Johanniskirchhof, denke an den Stern
meiner Jugend: »Maria!« -- -- -- -- -- -- -- -- Würde ich diese
Erinnerung mit all ihrem Schmerz für der ganzen Welt Macht, Reichtum,
Weisheit lassen? -- -- -- -- Ich glaube nicht. --

Der Mond kommt wieder hervor über die Dächer und vermischt sein weißes
Licht mit dem kleinen Schein meiner Lampe; über und durch den alten
immergrünen Efeu aus dem Ulfeldener Walde schießt er seine blanken
Strahlen, seltsame Schatten auf den Fußboden und an die Wände werfend.
Mit sich bringt er das heutige Blatt der Chronik der Sperlingsgasse.

                   *       *       *       *       *

Dort auf dem Stühlchen im Fenster zeichnet sich die feine, liebliche
Gestalt Elisens dunkel in der Monddämmerung eines lange vergangenen
Abends ab; während auf einem anderen Stuhl niedriger neben ihr eine
andere Gestalt sitzt. Was haben die beiden so heimlich, so leise sich
zuzuraunen, was haben sie zu kichern? Ein Garnknäuel, der von Lischens
Nähtisch fällt und, über den Boden rollend, um Stuhl- und andere Beine
sich schlingt, ein verirrter Nachtschmetterling, eine vorbeischießende
Fledermaus, ein Ball, welcher von der Straße ins Zimmer fliegt und über
dessen Herausgabe Gustav mit dem unvorsichtigen Besitzer kapituliert,
alles, alles wird in dieser Mondscheindämmerung zu einem Märchen, zu
einem Traum. Ist nicht die Dämmerung die Zeit der Märchen; ist nicht die
Zeit der jungen Liebe die Zeit des Traums? --

»Liebe kleine Elise!« flüstert Gustav, in das mondbeglänzte zu ihm sich
herabbeugende Gesicht schauend.

»Lieber großer Junge!« lächelt Elise, indem sie dem vormaligen
Taugenichts der Gasse die Locken aus der Stirn streicht. Sie sagen
einander weiter nichts, aber diese abgebrochenen Worte enthalten alles,
was das Menschenherz in seinen heiligsten Augenblicken bewegt.

»Ich liebe Dich so!« flüstert Gustav wieder, worauf Elise nichts
erwidert, sondern den Kopf in die Blätter ihres Efeus verbirgt. Der Mond
kann sich in diesem Augenblick wahrscheinlich in einem flimmernden
Perlentröpfchen, das in einem blauen Auge hängt, spiegeln, und als das
Köpfchen sich wieder erhebt aus dem grünen Blätterwerk, ist an Gustav
die Reihe, Elise die Locken aus der Stirn zu streichen.

»Sieh, wie der Mond da oben schwimmt,« sagt Elise. »Warum macht er uns
oft so tiefes Heimweh, als ob wir hier auf der Erde gar nicht recht zu
Hause wären, Gustav? Sieh, da ist nur noch ein einziger kleiner Stern,
mutterseelenallein, wie ein goldener Funken. Sieh, -- rechts vom Monde!«

»Ich sehe noch zwei!« sagt Gustav. »Ganz nah', und habe darum auch gar
kein Heimweh und -- willst Du wohl wieder die Augen aufmachen,
Blondkopf! -- Sieh, das hast Du davon; was ich noch Weises sagen wollte,
hab' ich nun rein vergessen!«

»Dann war's gewiß eine Lüge, Braunkopf!« meint Elise lachend. »Und nun
steh' auf, der Onkel und die Tante sitzen da den ganzen Abend im
Dunkeln; -- es ist sehr unrecht, daß wir uns gar nicht um sie bekümmern.
Komm, wir müssen wirklich zusehen, ob sie nicht eingeschlafen sind.«

Gewiß waren sie nicht eingeschlafen. Nur das Spinnrad der alten Martha
hatte aufgehört zu schnurren, und schlummernd saß sie in ihrem Winkel.

»Soll ich Euch Licht anzünden, oder -- sollen wir wieder einmal einen
Mondscheingang machen?« fragt Elise, mir den Arm um die Schulter legend.

»_Euch_?« fragt die Tante Helene. »Warum denn nur >_Euch_< Licht
anzünden?«

»Das will ich Dir sagen, Mama,« mischt sich Gustav ein. »Du kannst
bekanntlich keine Mäuse _sehen_, und da es seit einiger Zeit hier beim
Onkel Wachholder ordentlich von ihnen wimmelt, so sind wir Deinetwegen
so aufopfernd, im Dunkeln zu sitzen.«

»Waren das etwa Mäuse, was wir da am Fenster knuspern und pispern
hörten?« frage ich.

»Ich habe nichts gehört!« sagt Lischen treuherzig, während Gustav:
»Versteht sich!« ruft und den Inhalt eines Obstkörbchens in seine Tasche
ausleert.

»Was machst Du da, Mäusekönig?« fragt seine Mutter.

»Ich verproviantiere mich zu unserer Mondscheinfahrt, Mama; Lischens
Frage war natürlich höchst überflüssig. Da, Lise, nimm den Rest -- ich
kann nicht mehr lassen.«

Elise läßt sich das nicht zweimal sagen und scheint in der Tat ihre
Frage für unnötig zu halten. Nach einigen Einwendungen der Tante wegen
kalter Abendluft usw. machen wir uns auf, hinaus in die
Sommermondscheinnacht!

Die scharfen Schatten auf dem Pflaster und an den Häuserwänden, das
Glitzern der Fensterscheiben, die ziehenden, beleuchteten Wolken am
dunkeln Nachthimmel, die flüsternden Gruppen in den Haustüren und an den
Straßenecken, alles wird nun zu einem Bild für Gustav, zu einem Märchen
für Elise. Da beleben sich die Straßen, Gassen und Plätze mit den
wundersamsten Gestalten; auf den Ecksteinen lauern, zusammengekauert,
grimmbärtige Kobolde; aus den dunkeln Torwegen der alten Patrizierhäuser
treten seltsame Gesellen mit nickenden Federn und weiten Mänteln, und
schöne Damen besteigen weiße Zelter, in die Nacht davonreitend; Söldner
im Harnisch, die Partisanen auf den Schultern, ziehen über den Markt;
Prozessionen vermummter Mönche winden sich langsam aus dem Domportal,
und alles liegt morgen, in den hübschesten Skizzen festgebannt, auf
Elisens Nähtischchen oder treibt sich auf dem Fußboden umher.

Natürlich sind Gustav und Elise uns immer einige Schritte voraus, und
nur von Zeit zu Zeit kann ich abgerissene Sätze ihrer Unterhaltung
erfassen. Ich denke an Paul und Virginie unter den Palmbäumen von ^Isle
de France^; ich denke an die beiden süßeren Gestalten des deutschen
Märchens, an Jorinde und Joringel, von denen es heißt: »Sie waren in den
Brauttagen, und sie hatten ihr größtes Vergnügen eins am andern.« --
Nachdem wir manche Straße durchstreift und vor dem erleuchteten
Opernhause die ein- und ausströmende Menge, die harrenden Equipagen, die
Blumen und Zuckerwerk verkaufenden Kinder betrachtet haben, finden wir
uns zuletzt auf dem Schloßplatz, an dem Becken des lustig im Mondschein
sprudelnden Springbrunnens zusammen. Von den Rasenplätzen bringt ein
warmer Luftzug den Duft der Nachtviolen, der Hollunder- und
Goldregenbüsche zu uns herüber; am südlichen Himmel wetterleuchtet eine
dunkle Wolke prächtig in die Mondnacht hinein, und neben uns plätschert
und murmelt -- als wolle er sich selbst in den Schlaf sprechen -- der
Springbrunnen. Es ist eine herrliche Sommernacht!

Woran denkt Elise? Wie nachdenklich sie, das Kinn in die Hand gelegt,
dem schwatzenden Wasserspiel zuschaut!

»Lischen, woran denkst Du?« fragt die Tante Helene.

»Ihr würdet lachen,« antwortet Elise. »Es ist ein Traum und ein
Märchen.«

»Erzählen! erzählen!« ruft Gustav, den Arm ihr um die Hüfte legend.

                   *       *       *       *       *

Was soll ich anfangen heute an diesem einsamen Abend? ich ergreife ein
Heftchen von blaßrotem Papier, bedeckt mit mädchenhaft zierlichen
Schriftzügen, durchwoben mit hübschen feinen Federzeichnungen. Da ist's!
So erzählte Elise an jenem fernen Abend, als der Brunnen neben uns
plätscherte:

»Ich saß neulich des Abends ganz allein. Du warst ausgegangen, Onkel;
Gustav war am Morgen schon mit seiner großen Mappe abgezogen, um Bäume
und Bauernhäuser zu zeichnen; wo die Tante war, weiß ich nicht; kurz,
ich war mutterseelenallein, und nur mein guter, dicker Kater schnurrte
auf der Fußbank neben mir und putzte sich den Schnauzbart. Ich hatte
eine Menge Augen an meinem Strickzeug fallen lassen und durchaus keine
Lust, sie wieder aufzunehmen. So schrob ich denn die Lampe tief herunter
und blickte aus dem Fenster in den Mond, der nicht ganz so voll wie
heute über die Dächer und Schornsteine heraufkam. Es war ganz dämmerig
in der Stube, und nur zuweilen tanzte ein Lichtschein aus den Fenstern
drüben über die Wände. Da plötzlich war der Mond hoch genug gestiegen,
ein glänzender lustiger Strahl schoß wie ein weißer Blitz über meinen
Topf mit Nachtviolen und ein Glas mit Waldblumen, welches neben mir
stand und -- mit ihm kam mein Märchen oder mein Traum. Es war zu hübsch!
-- Zuerst guckte ich eine ganze Weile in die glänzende Straße auf dem
Boden, die immer weiter rückte, als -- auf einmal -- Ihr glaubt's gewiß
nicht, -- der ganze Strahl von unzähligen, kleinen, zierlichen,
durchsichtigen Flügelgestalten lebte, die darin auf- und abschwebten und
durch ihren Glanz selbst die Bahn bildeten. Halb erschrocken und halb
erfreut, sah ich diesem wundersamen Weben zu, als plötzlich das
Blumenglas im Fenster einen schrillen, langanhaltenden Ton, wie er
entsteht, wenn man mit dem Finger um den Rand eines Glases streicht, von
sich gab. Das Wasser darin hob und senkte sich, blitzte, funkelte und
bewegte die Waldrosen hin und her; die Blüten der Nachtviolen öffneten
sich, und aus jeder schwebte ebenfalls ein zierlich geflügeltes Wesen,
fast noch feiner als die Lichtgeisterchen. Nach allen Seiten flatterten
sie, den köstlichsten Duft verbreitend. Währenddessen tönte der schrille
Ton des Glases fort, bis er mit einem Male aufhörte, gleich einem Faden
durchschnitten, worauf eine tiefe Stille eintrat. -- Jetzt hatte der
Mondstrahl Deinen Schreibtisch erreicht, Onkelchen; das kleine
Geistervolk tanzte lustig über Deinen Büchern und Papieren, und soweit
hatte ich mich schon von meiner Verwunderung erholt, daß ich herzlich
über die sonderbaren Kapriolen einiger der winzigen Dingerchen lachen
konnte, die auf alle Weise sich bemühten, in unser großes Tintenfaß zu
gucken, ohne den Mut zu haben, sich in die Nähe zu wagen. Andere wieder
schwebten über den Federn, und noch andere machten sich um einen recht
dicken, abscheulichen Tintenklecks zu schaffen, welcher nicht trocknen
wollte; sie schienen ihm das Lebenslicht mit aller Macht ausblasen zu
wollen. Ich weiß nicht, wie lange ich diesen zauberischen Wesen
zugesehen hatte, als eine Menge feiner Stimmchen: Folge! folge! rief,
und ich, immer kleiner werdend, endlich selbst als ein solches
geflügeltes Figürchen in den Tanz gezogen wurde und mit den Geistern des
Mondlichts und den Duftgeistern der Waldblumen und der Nachtviolen
langsam dem Fenster zuschwebte. Denn wie der Mond noch höher stieg, zog
sich auch der Strahl mit seinen glänzenden Bewohnern wieder zurück und
lief hinab an der Hauswand, um in die Gasse hinunter zu steigen. -- Ich
hatte durchaus keine Furcht, trotzdem daß es da draußen wie eine
verzauberte Welt war. -- Die ganze Gasse war ein Gewirr von Tönen und
Licht, und nichts von dem Leben und Weben des Geistervolks war mir mehr
verborgen, und von Geistervolk lebte und webte alles! Dabei hatte ich
auch nicht die Fähigkeit verloren, die gröbere, gewöhnliche Welt zu
schauen und zu vernehmen; ich kannte und belauschte die Leute in den
Haustüren, die Kinderköpfe in den Fenstern, die schlafenden Sperlinge
und Schwalben in ihren Nestern; es war wunderhübsch! -- Jetzt zog der
Strahl mit seinen Bewohnern schräg über unsere Wand fort und glitt auf
die Fenster unserer Nachbarn zu. Halb zehn Uhr hörte ich's schlagen, als
der Reigen vor dem Fenster der armen Frau Nudhart, die mit ihrem kranken
Kind da wohnt, ankam, und zitternd über einen knospenden Rosenbusch in
das kleine Zimmer glitt. Leise singend schwebten die Geisterchen des
Lichts, und ich mit ihnen, über den Fußboden hin, jagten sich um den
Schatten des Rosenbusches auf dem Boden, küßten das bleiche
Kindergesicht auf dem Bettchen und die ebenso bleichen Züge der darüber
hingebeugten, armen, sorgenvollen Mutter. Wir bringen Hoffnung, wir
bringen Genesung, wir bringen Leben! flüsterten die Geister. Das kranke
Kind legte seine mageren Händchen lächelnd in den zitternden Strahl auf
seinem Kissen. Wir bringen Hoffnung Genesung, wir bringen Leben, sang
ich mit im Chor, und fast widerstrebend folgte ich dem zurückweichenden
Strahl. Noch einen letzten Blick konnte ich zurück ins Zimmer werfen,
und im nächsten Augenblick schwebte ich schon wieder in der Gasse. Die
Tante aber mußte jetzt wohl nach Haus gekommen sein, denn plötzlich
mischten sich die Töne ihres Flügels in den Reigen; ich hörte, wie der
alte Marquart drunten vor seinem Keller die Jungen zur Ruhe ermahnte.
Aber mein Abenteuer war noch nicht zu Ende. Wir waren jetzt vor dem
Fenster des ersten Stockes unseres Nachbarhauses; ein heller
Lampenschein drang aus dem Zimmer hervor, und über ein Glas mit
Goldfischen und das Strickzeug in den Händen der Frau Hofrätin Zehrbein
schwebten wir hinein, lustig und glänzend, ohne eine Ahnung des
Schrecklichen, welches uns bevorstand. Mein Fräulein, lispelte eine
Stimme, in deren Inhaber ich den Assessor Kluckhuhn erkannte. Mein
Fräulein, inkommodiert Sie diese abominable schwüle Luft nicht zu sehr,
bitte, so lassen Sie uns noch einmal jene köstliche Barcarole aus Haydée
hören. -- Um Gottes willen! dachte ich, aber schon war's zu spät, meinen
winzigen Begleitern das Drohende mitzuteilen und zu schneller Flucht zu
raten; schon hatte Eulalia begonnen:

   Das Lido-Fest ist heute
   Lust und Vergnügen ringsum lächelt ...

Entsetzen faßte die Geisterschar; ihre schillernden, glänzenden Farben
verblichen; von dem Resonanzboden des ächzenden Musikkastens (wie Gustav
sagt), und zwischen den Lippen der Sängerin entwickelte sich eine
mißgestaltete Gnomenschar, die, gespenstisch kreischend und jammernd,
sich in der Luft überstürzte und überschlug und grimmig über die Geister
des Lichts herfiel. Es war schrecklich! Schon fühlte ich mich von einem
koboldartigen ^C^, welches mich an dem Halse gepackt hielt, halb
erdrosselt, und zappelte wie eine unglückliche Mücke in den Krallen der
Spinne; da -- erhob sich die Frau Hofrätin; die weiße Gardine sank
herab: wie ein elektrischer Schlag durchzuckte es mich und das ganze
Heer des Lichts! Gerettet! -- An der Außenseite des Tuchs hing der
Strahl mit seinen Kindern, bleich und angegriffen; drinnen aber tönte es
fort:

   Ein schöner Herr, ein holder Jüngling,
   Mit mildem, liebendem Aug',
   Umflattert mich, mit schmeichelnder Zunge! ...

Schnell und schneller sank jetzt der Strahl herab, und eben berührte er
die Erde, da -- erwachte ich, und Gustav, dicht vor mir, den Kopf auf
beide Fäuste gestützt, grinste mich an. -- (Au! nein, Du hast mich nicht
angegrinst?) Eine dicke schwarze Wolke stand vor dem Mond, und mein
Traum war zu Ende, mein Märchen ist zu Ende!«

                   *       *       *       *       *

Das Märchen war zu Ende, aber noch nicht unser Mondscheinabend damals.

»Und nun, Gustav, Quälgeist ... hier ... da« ...

Mit diesen Worten greift Elise in das Wasserbecken neben ihr und
schleudert eine Hand voll blitzender Tropfen ihrem nichts ahnenden
Gefährten ins Gesicht. Erschrocken und pustend springt dieser zur Seite,
worauf die Übeltäterin, böse Folgen ahnend, sogleich, um das Becken
herum, die Flucht ergreift.

»Ihr seid Zeugen, daß _Sie_ angefangen hat!« ruft Gustav, ebenfalls die
Hand ins Wasser tauchend und Elisen nacheilend.

»Tante! Tante! -- Onkel, Hilfe!« schreit diese, mit der abgebundenen
Schürze den Verfolger im Rennen abwehrend und ihn mit der anderen freien
Hand unaufhörlich bespritzend.

»Warte, Wasserjungfer!« ruft Gustav und bemächtigt sich der Schürze.
»Das sollst Du büßen, Verräterin!«

Mit einem Schrei läßt Elise ihre Ägide fahren, und -- wie ein Reh ist
sie seitwärts im Gebüsch hinter den Hollundersträuchen verschwunden,
doch nicht, ohne ihren durchnäßten Verfolger auf den Fersen zu haben.

»Diese Wildfänge!« seufzt die Tante Helene, auf eine Bank sinkend;
während ich Taschentuch, Arbeitskörbchen und umherrollende Äpfel,
welches alles das Frauenzimmer, den Ausgang ihres Attentats
vorhersehend, sogleich zu Boden geworfen hat, aufsuche, wie es einem
guten Onkel und Vormund geziemt. »Hören Sie nur, wie das Mädchen
kreischt!«

Indem wir noch der wilden Jagd zwischen den Büschen lauschen, belebt
sich plötzlich die Szene, und andere Figuren kommen durch die
Monddämmerung. Mädchen- und Männerstimmen, kichernd und summend und
Opernmelodien pfeifend! Jetzt treten die Kommenden aus dem Schatten in
den helleren Lichtkreis um das Fontainenbecken: »Der Onkel Wachholder!«
rufen verwundert mehrere Stimmen, und im nächsten Augenblick sind wir
von den Nachtschwärmern und Abendfaltern umgeben und erkennen in ihnen
wohlbekannte Freunde und Freundinnen von Gustav und Elise. Ein Gewirr
von Begrüßungen und Fragen erhebt sich nun. Wo ist Fräulein Ralff, wo
ist Lischen, wo ist die Lise, wo ist Herr Gustav, wo steckt der Mensch?
schwirrt das durcheinander und wird beantwortet; bis endlich Gustav und
Elise zurückkommen von ihrer wilden Jagd, keuchend und rot, die Haare in
Unordnung, Elise mit einem großen Riß im Kleide, aber beide Arm in Arm,
wie artige, verträgliche Kinder. -- Jetzt geht der Jubel erst recht an!
Das ist schön, das ist prächtig, das ist ausgezeichnet; guten Abend,
Natalie; guten Abend, Ida; ich grüße Sie, mein Fräulein; wo kommt ihr
her, ihr Herumtreiber usw. usw.

Wie ist doch die Jugend so schön; wie wenig bedarf sie, um glücklich zu
sein! Ein bißchen Mondschein, ein paar klingende Wassertropfen, die
Strophe eines Liedes, und die jungen Herzen fühlen Gedichte, wie sie
noch nie dem Papier anvertraut werden konnten. Ich, der alte Mann, welch
ein Dichter, welch ein Maler müßte ich sein, wenn ich alle diese
frischen, blühenden Gestalten, die da heute an diesem einsamen Abend
wieder um mich her auftauchen, mit ihrem fröhlichen Lachen, ihren
kleinen Sorgen und Freuden, ihren kleinen Sünden und Tugenden, mit ihren
verstohlenen Seufzern, noch verstohleneren Zärtlichkeiten und ihren
lauten Neckereien auf die Blätter dieser Chronik festbannen wollte. Wie
abgeblaßt und schal sieht alles aus, was ich bis jetzt zusammengetragen
und niedergeschrieben habe; wie farbenbunt und frisch erlebte es sich!

Aber wo war auf einmal der Mond geblieben? Die dunkeln Wolkenmassen, die
im Süden lange genug gedroht hatten, hatten sich unbemerkt herangewälzt;
es grollte und murrte in der Ferne, und schwere, warme Regentropfen
schlugen vereinzelt in die ^lenes susurros sub noctem^, in das leise
Geflüster im Schatten der Nacht.

Kennt ihr das »Rette sich wer kann!« bei einem plötzlich
hereinbrechenden Gewitter in einer großen Stadt? Alle Gruppen lösen
sich; -- Schürzen werden über den Kopf, Taschentücher über die Hüte
gebunden; hier flüchtet ein Pärchen unter eine laubige Akazie, dort ein
dicker alter Herr unter den Vorsprung eines Hauses; hier schlüpft
leichtfüßig ein junges Mädchen dicht an den Häuserwänden hin, dort
wandelt langsam und gleichmütig ein Naturmensch daher, nichts vor dem
Regen schützend als seine glühende Zigarre.

Die Droschken scheinen sich zu vervielfältigen, und -- »süß ist's, vom
sichern Hafen Schiffbrüchige zu sehen«, an allen Fenstern erscheinen
lachende Gesichter. Studenten, Referendare, junge Theologen usw. wischen
ihre Brillen ab; Maler verlassen ihre Paletten und Staffeleien und
machen Studien nach dem Leben; Tanten und Mütter schelten über Indezenz.
-- Platsch! platsch! alle Dachrinnen senden, wie hämische Ungeheuer,
ihre Wassergüsse der dahertrabenden Menschheit in den Nacken. Es ist
lächerlich-schrecklich bei Tage, schrecklich bei Nacht!

»Siehst Du, Lischen, das hast Du erst gewollt, -- so lange hast Du mit
dem Wasser gespielt! Das kommt davon!« ruft ärgerlich die Tante Helene.
Gustavs Jubel erreicht den höchsten Grad, und lachend schleppt er seine
Mutter nach, während diesmal ich mit Lisen vorauslaufe. Nach allen
Seiten haben sich unsere Freunde und Freundinnen von vorhin zerstreut.
Das Gewitter kommt immer näher, der Donner brummt ganz artig, und die
Blitze sind gar nicht übel. Selbst Gustav meint: »Gottlob, da ist die
Sperlingsgasse!« Welche Überschwemmung! -- Gute Nacht und keine langen
Worte! -- Gustav verschwindet mit seiner Mutter hinter ihrer Haustür,
und auch wir erreichen glücklich die unsrige.

»Gott, Herr Wachholder, was habe ich für 'ne Angst gehabt!« ruft die
alte Martha uns von der Treppe entgegen.

Lischen pustet und ächzt und lacht, hält Arme und Hände weit ab vom
Leibe und wird so schnell als möglich ins Bett geschickt. Gustav ruft
natürlich von drüben noch einige Fragen herüber, auf welche wir aber
nicht antworten, und der Mondschein-Spaziergang ist zu Ende.




                                                         Am 15. April.


Der April, der einst ^mensis novarum^ hieß, ist der wahre Monat des
Humors. Regen und Sonnenschein, Lachen und Weinen trägt er in _einem_
Sack; und Regenschauer und Sonnenblicke, Gelächter und Tränen brachte er
auch diesmal mit, und manch einer bekam sein Teil. Ich liebe diesen
janusköpfigen Monat, welcher mit dem einen Gesichte grau und mürrisch in
den endenden Winter zurückschaut, mit dem anderen jugendlich fröhlich
dem nahen Frühling entgegenlächelt. Wie ein Gedicht Jean Pauls greift er
hinein in seine Schätze und schlingt ineinander Reif und keimendes Grün,
verirrte Schneeflocken und kleine Marienblümchen, Regentropfen und
Veilchenknospen, flackerndes Ofenfeuer und Schneeglöckchen,
Aschermittwochsklagen und Auferstehungsglocken. Ich liebe den April,
welchen sie den Veränderlichen, den Unbeständigen nennen, und den sie
mit »Herrengunst und Frauenlieb« in einen so böswilligen Reim gebracht
haben. --

Ich wurde diesen Morgen schon ziemlich früh durch das Geräusch des
Regens, der an meine Fenster schlug, erweckt, blieb aber noch eine
geraume Zeit liegen und träumte zwischen Schlaf und Wachen in diese
monotone Musik hinein. Das benutzte ein schadenfroher Dämon des
Trübsinns und des Ärgernisses, um mich in ein Netz trauriger,
regenfarbiger Gedanken einzuspinnen, welches mir Welt und Leben in einem
so jämmerlichen Lichte vorspiegelte und so drückend wurde, daß ich mich
zuletzt nur durch einen herzhaften Sprung aus dem Bette daraus erretten
konnte. -- Aprilwetter! Die Hosen zog ich -- wie weiland Freund Yorick
-- bereits wieder als ein Philosoph an, und der erste Sonnenblick, der
pfeilschnell über die Fenster der gegenüberliegenden Häuser und die Nase
des mir zuwinkenden Strobels glitt, vertrieb alle die Nebel, welche auf
meiner Seele gelastet hatten. Frischen Mutes konnte ich mich wieder an
meine ^Vanitas^ setzen, und als ich gar in einem der schweinsledernen,
verstaubten Tröster, die ich gestern von der königlichen Bibliothek
mitgebracht hatte, eine alte vertrocknete Blume aus einem vergangenen
Frühling fand, konnte ich schon wieder die seltsamsten Mutmaßungen über
die Art und Weise, wie das tote Frühlingskind zwischen diese Blätter
kam, anstellen. Hatte sie vielleicht an einem lang vergangenen Feiertage
ein uralter, längst vermoderter Kollege mitgebracht von einem lustigen
Feldwege, oder hatte sie vielleicht eins seiner Kinder spielend in dem
Folianten des gelehrten Vaters gepreßt? Hatte sie etwa ein Student von
der Geliebten erhalten und hier aufbewahrt und vergessen? Welche
Vermutungen! hübsch und anmutig, und um so hübscher und anmutiger, als
sie nicht unwahrscheinlich sind.

O, versteht es nur, Blumen zwischen die öden Blätter des Lebens zu
legen; fürchtet euch nicht, kindisch zu heißen bei zu klugen Köpfen; ihr
werdet keine Reue empfinden, wenn ihr zurückblättert und auf die
vergilbten Angedenken trefft!

Sei mir gegrüßt, wechselnder April, du verzogenes Kind der alten Mutter
Zeit und -- --

»Beschütze Deinen Sohn Ulrich Georg Strobel! -- Guten Morgen, Meister
Wachholder!« sagte eine Stimme hinter mir.

Es war der Karikaturenzeichner, welcher, den grauen Filz auf dem Kopf,
die Reisetasche über der Schulter, den Eichenstock in der Hand, hinter
mir stand.

»Ach Gott, nun ist mein' Zeit vorbei!« fuhr er lachend fort. »Ich komme,
Ihnen Lebewohl zu sagen, alter Herr.«

»Was, Sie wollen fort? Was fällt Ihnen ein?«

   »Kann Deutschland nit finden
   Rutsch allweil drauf 'rum!«

sang der Zeichner und zeigte auf eine lustige blaue Stelle zwischen den
ziehenden Wolken. »Es ist nicht anders; haben Sie einen Gruß an die
freie, weite Welt zu bestellen, heraus damit! Oder noch besser; kommen
Sie -- dort steht Ihr Regenschirm -- begleiten Sie mich. Hören Sie, wie
lustig der Spatz da ins Fenster pfeift!«

Was sollte ich machen; ich schlug meinen Folianten zu, der tolle
Vagabonde bot mir seinen Arm, und wir traten hinaus in die Gasse.

»Leben Sie wohl, Mama; viel Glück, mein Fräulein!« rief der Zeichner
seiner Hausgenossenschaft zu, die ganz aufgeregt in der Tür stand. »Gott
grüß' Euch, Freund Marquart; lebt wohl, Mutter Karsten; lebt wohl,
Meister und Meisterin; lebt wohl, lebt wohl!« rief er nach rechts und
links hinüber. An der Ecke warf er noch einen letzten Blick hinauf nach
seiner verlassenen Wohnung, wo die Fenster offen standen und eine
zerrissene Gardine lustig im Frühlingswinde flatterte, und brummte: »Zum
Teufel, Du Nest!«

»Und wo wollen Sie nun hin?« fragte ich meinen wunderlichen Begleiter.

Der Zeichner lachte. »Was meinen Sie,« sagte er, »wenn ich mir das
Völkergewühl im Orient ein wenig ansähe, Kostüme zeichnete und über das
Bemühen lachte: einen neu eintretenden Faktor der Menschheitsentwicklung
durch Lancasterkanonen und Kriegsschiffe aufhalten zu wollen?«

»Was?!« rief ich mit offenem Munde.

»Wem gilt das >Was?<« lachte Strobel. »Meinem Vorhaben oder meiner
Meinung?«

»Sie glauben« ...

»Ich glaube, daß die Erde jung ist, alter Freund! Wir brauchen frisches
Blut und wollen nicht meinen, daß, weil man uns nur Geschichte der
Vergangenheit lehrt, es keine der Zukunft geben werde. Wir leben uns gar
zu gern in alles ein: in unseren Rock, in unseren Körper, in unsere
Familie, in unser Volk; wir freuen uns, wenn ein kleiner verwandter
Mitbürger das Licht der Welt erblickt; wir ärgern uns, wenn wir den Rock
zerreißen oder ein Krähenauge bekommen; wir betrüben uns, wenn unser
Vater, unsere Mutter stirbt; aber wir halten das alles für natürlich, --
bloß weil wir es leichter übersehen können. Soll nun auf einmal in dem
Krähenaugenkriegen, Geborenwerden und Sterben der großen Völkerfamilie
der Erde ein Stillstand eintreten; ein ^deus ex machina^ mit Manschetten
in das ewige Werden fahren und sagen: ^Stop!^ halt da; entwickelt euch
in euch selbst und -- entschlaft an Euthanasie? Bah!«

Der Redner blies eine gewaltige Rauchwolke aus seiner Zigarre und fuhr
fort, während ich den Kopf bedachtsam schüttelte:

»Es hat den Griechen nichts geholfen, die besten Dichter, Bildhauer und
Maler zu sein, die geistreichsten philosophischen Systeme aufstellen zu
können: die eisernen Männer Roms klopften an, stellten die griechische
Bildung ^sub hasta^, spielten Würfel auf den Gemälden, fabrizierten
korinthisches Erz aus den Metall-Statuen, und -- die Weltgeschichte ging
einen Schritt vorwärts. Es hat den Römern nichts geholfen, die größten
Kriegs- und Verwaltungskünstler zu sein, -- Zündnadelgewehre und
Lancasterkanonen sind Spielzeug im Kampf gegen die _eine_ Macht im
Weltall, welche die Gestirne treibt und die Wandervögel, und welche die
Völker bewegt zur rechten Zeit. Die Barbaren kümmerten sich nicht um
Kommandowörter; sie stürmten die Tore Roms und -- die Weltgeschichte
ging einen Schritt weiter!«

Ich schüttelte wieder das Haupt und brummte: »Immer zertrümmern,
zertrümmern!«

»Meine Mutter starb, indem sie mich gebar!« sagte der Zeichner grimmig
und stand still. Wir hatten den Ausgang der Sperlingsgasse erreicht; ein
kleiner Handwagen, mit Kisten und Kasten beladen, versperrte uns den
Weg. »Jetzt will ich Ihnen auch sagen, wo ich _in der Tat_ hin will;
nicht wohin ich gehen _könnte_,« sagte Strobel. »Kommen Sie!«

Verwundert folgte ich dem in eine dunkle Kellerwohnung Hinabsteigenden.

So ist das menschliche Leben. Lange, lange Jahre hatte ich in dieser
Gasse gewohnt, täglich fast war ich vor diesem Hause, vor diesen trüben
Fenstern vorbeigegangen, und heute, am letzten Tage, den die arme hier
wohnende Familie dahinter zubringt, steige ich zum ersten Male die
feuchten Stufen hinab zu ihr. Der Zeichner stellte mich dem Hausherrn
vor, dem Schuhmacher Burger, einem Manne, welchem eine ganze
Passionsgeschichte vom Gesichte abzulesen war. Heute Abend führt ihn und
die Seinigen die Eisenbahn der Seestadt zu, von wo sie ein Schiff nach
einer neuen Heimat, nach dem jungen Amerika bringen soll; und der
Zeichner -- will die Familie begleiten nach Hamburg.

Die wenigen des Mitnehmens werten Habseligkeiten der ärmlichen Wohnung
waren schon zusammengepackt; die bleichen, traurigen Gesichter der
Eltern, das teilnahmlose der alten Großmutter, die auch heute noch am
gewohnten Platz hinter dem Ofen spann, die Kinder, welche verwundert in
den Winkeln kauerten, alles machte einen tiefen, wehmütigen Eindruck auf
mich.

Es ist nicht mehr die alte germanische Wander- und Abenteuerlust, welche
das Volk forttreibt von Haus und Hof, aus den Städten und vom Lande;
welche den Köhler aus seinem Walde, den Bergmann aus seinem dunkeln
Schacht reißt, welche den Hirten herabzieht von seinen Alpenweiden, und
sie alle fortwirbelt, dem fernen Westen zu: Not, Elend und Druck sind's,
welche jetzt das Volk geißeln, daß es mit blutendem Herzen die Heimat
verläßt. Mit blutendem Herzen; denn trotz der Stammzerrissenheit, trotz
aller Biegsamkeit des Nationalcharakters, der so leicht sich fremden
Eigentümlichkeiten anschmiegt und unterwirft, -- worin übrigens in
diesem Augenblick vielleicht allein die welthistorische Bedeutung
Deutschlands liegt -- trotz alledem hängt kein Volk so an seinem
Vaterland als das deutsche.

In englischen Schriften läuft Deutschland öfters als »^the fatherland^«
[Griechisch: kat' exochên]. Das wird zwar mit einem gewissen »^sneer^«
gesagt, aber es ist eine Ehre für unsere Nation, und wir können stolz
darauf sein.

O, ihr Dichter und Schriftsteller Deutschlands, sagt und schreibt
nichts, euer Volk zu entmutigen, wie es leider von euch, die ihr die
stolzesten Namen in Poesie und Wissenschaften führt, so oft geschieht!
Scheltet, spottet, geißelt, aber hütet euch, jene schwächliche
Resignation, von welcher der nächste Schritt zur Gleichgültigkeit führt,
zu befördern oder gar sie hervorrufen zu wollen.

Als die Juden an den Wassern zu Babel saßen und ihre Harfen an den
Weiden hingen, weinten sie, aber sie riefen:

»Vergesse ich Dein, Jerusalem, so werde meiner Rechten vergessen!«

_Die_ Worte waren kräftig genug, selbst die zuckenden Glieder eines
Volkes durch die Jahrtausende zu erhalten.

Ihr habt die Gewohnheit, ihr Prediger und Vormünder des Volkes, den
Wegziehenden einen Bibelvers in das Gesangbuch des Heimatsdorfes zu
schreiben; schreibt:

»Vergesse ich Dein, Deutschland großes Vaterland: so werde meiner
Rechten vergessen!«

Der Spruch in aller Herzen, und -- das Vaterland ist ewig!

Das letzte Hausgerät war zusammengebunden und auf den kleinen Wagen in
der Gasse gelegt. Traurig schauten sich die armen Leute in ihrer
verödeten Wohnung, die alle Leiden und Freuden der Familie gesehen
hatte, um.

»'s ist 'n hart Ding, 's ist 'n hart Ding!« sagte seufzend der Meister,
und Strobel klopfte ihn leise auf die Schulter.

»Es ist Zeit, Mann! Faßt Euch ein Herz, geht Eurer Frau mit einem guten
Beispiel voran.«

»Der Totengräber hat versprochen, er will unseres Fritzen Hügel draußen
nicht verrotten lassen!« schluchzte die Frau.

Burger wischte sich mit dem Ärmel über die Augen, erhob sich aus seinem
Hinbrüten und ging, seine alte Mutter hinaufzuführen auf die Gasse;
seine Frau weinte laut, brach einen Zweig von der verkümmerten Myrte im
Fenster, legte ihn in ihr Gebetbuch und nahm ihr jüngstes Kind auf den
Arm, während sich die anderen an ihre Schürze und ihren Rock hingen. Die
Familie stieg die enge schwarze Treppe, welche auf die Straße führt,
hinauf, -- sie hatte ihren langen Weg begonnen!

Draußen wechselte Regen mit Sonnenschein, wie der April es mit sich
brachte. Der Meister zog seinen Wagen voraus, wir anderen folgten. Einen
letzten Blick werft zurück in die enge, dunkle, arme Sperlingsgasse --
ihr werdet wohl oft genug an sie denken -- und dann hinaus in die weite
Welt, ihr Wanderer!

Bis an das Tor brachte ich den Zeichner und seine Schützlinge. Ein
letzter Händedruck, ein letzter Gruß! Wer weiß, ob wir nicht noch einmal
uns wieder sehen, Strobel! Lebt wohl! lebt wohl! -- Und wieder einmal
konnte ich einsam und allein zurückkehren, einsam und allein dies Blatt
der Chronik der Sperlingsgasse aufzuzeichnen.




                                                     Am 1. Mai. Abend.


Ich saß heute Nachmittag draußen im Park in den warmen Sonnenstrahlen,
die hell und lustig durch die noch kahlen Zweige der höheren Bäume und
durch das mit zartem, frischem Grün bedeckte niedere Gesträuch fielen.
Kinder mit Sträußen von Frühlingsblumen zogen an mir vorüber; ein
Maikäfer, mit einem Zwirnfaden am Bein, hing schlaftrunken an einem
Zweige mir zur Seite, und ein stubengesichtiger junger Mann, dem ein
Buch hinten aus der Rocktasche guckte, grub sorgsam eine Pflanze aus. Es
war ein prächtiger Frühlingsnachmittag. Da begannen auf einmal in der
Stadt die Glocken zu läuten, den morgenden Sonntag zu verkünden, und
wieder schwebte, von den »Himmelstönen« getragen, eine süße Erinnerung
heran.

Es war auch ein erster Mai. Da war der Frühling gekommen mit jungem
Grün, bauenden Schwalben und einem -- Hochzeitstage in der alten,
dunklen Sperlingsgasse. Sie hatten Blumen gestreut, und mit Blumen und
Laubkränzen die Pfosten umwunden; sie hatten Sonntagskleider angezogen
in der Sperlingsgasse, und alle hatten fröhliche, fröhliche Gesichter.
Und der Himmel war blau, und die Sonne schien strahlend durch den Efeu,
welchen vor so langen Jahren Marie Ralff im Ulfeldener Walde ausgegraben
hatte; aber weder Himmelsblau noch Sonnenschein kamen an heiliger
Reinheit dem Gesichtchen gleich, das sich an jenem ersten Mai an meine
Schulter schmiegte und durch Tränen lächelnd zu mir aufschaute. Das Bild
der Mutter sah aus seinem Rahmen und den Kränzen, die es heute umwanden,
ebenfalls lächelnd auf uns herab. Lächeln, Lächeln überall! Und als das
junge Herzchen an meiner Brust pochte, auf der anderen Seite Gustav mir
den Arm um die Schulter legte; als Helene weinend der jungen Braut den
Kranz in die Locken drückte, da war es mir, als sei nun ein lange
dunkles Rätsel gelöst, und ich senkte das Haupt vor der geheimnisvollen
Macht, welche die Geschicke lenkt und ein Auge hat für das Kind in der
Wiege und die Nation im Todeskampf. Wie die Fäden laufen mußten, um hier
in der armen Gasse sich zusammen zu schürzen zu einem neuen Bunde! Wie
so viele Herzen fast brechen wollten, um ein neues Glück aufsprießen zu
lassen! Das ist die große, ewige Melodie, welche der Weltgeist greift
auf der Harfe des Lebens, und welche die Mutter im Lächeln ihres Kindes,
der Denker in den Blättern der Natur und Geschichte wahrnimmt. --

Wir sprachen an jenem Tage nicht viel! Das Glück ist stumm, und was die
Liebe -- die wahre Offenbarung Gottes -- sich zuflüstert, hat noch kein
Dichter auf Papyrus, Pergament oder Papier festgehalten. Die kleine
Kirche war gar feierlich heilig, als der junge Maler -- er dachte in dem
Augenblick gewiß nicht an sein gefeiertes Bild, Milton, den Galilei im
Gefängnis zu Rom besuchend -- als der junge Maler seine schöne Braut
hineinführte an den geschmückten, lichterglänzenden Altar. Und niemand
fehlte in dem Kreise teilnehmender Gesichter umher! Da war das Atelier,
da waren Elisens Freundinnen, da war vor allem die alte Martha und die
Hausgenossenschaft und Nachbarschaft der Sperlingsgasse. Die Orgel
begann den Choral -- und die Jungfrau Elise Johanna Ralff und Herr
Gustav Theodor Maximilian Berg wurden durch ein ganz leises, leises Ja
und ein anderes viel lauteres, auf eine gar verfängliche Frage, Mann und
Frau! --

                   *       *       *       *       *

Die Chronik der Gasse nähert sich ihrem Ende. Was sollte ich auch noch
vieles erzählen? Unsere Kinder sind glücklich in dem schönen Italien;
die alte Martha schläft nicht weit von Mariens Grabe auf dem
Johanniskirchhofe; ich bin alt und grau. Wenn ein Paket von Rom gekommen
ist, so gehe ich hinüber zu der freundlichen, schönen, weißhaarigen
Frau, die da drüben in Nr. Zwölf gewöhnlich strickend am Fenster sitzt,
und unsere alten Herzen schlagen höher bei dem frischen Lebensglück,
welches uns aus den engbeschriebenen Bogen entgegenleuchtet. Wir folgen
den Kindern durch alle die alten und neuen Herrlichkeiten, wir stehen
mit ihnen vor dem Laokoon, wir steigen mit ihnen zum Kapitol hinauf,
unsere Schritte hallen an ihrer Seite in den Sälen des Vatikans, in den
Loggien Raffaels wider. Wie eine reizende Märchenarabeske ist jeder
Brief: blauer Himmel und Sonne und ein fröhliches Lachen auf jeder
Seite!

Es ist spät in der Nacht, als ich dieses schreibe; tiefe Dunkelheit
herrscht in der Gasse; kein einziges erhelltes Fenster ist zu erblicken.
Der einzige Laut, den ich vernehme, ist das Schlagen der Turmuhren oder
der Pfiff des Nachtwächters. Da liegen alle die bekritzelten Bogen vor
mir! bunt genug sehen sie aus! --

Was sollte ich noch viel hinzufügen? Wenn die alten Chronikenschreiber
ihre Aufzeichnungen bis zu ihren Tagen fortgeführt und ihr Werk beendet
hatten, hefteten sie noch einige weiße Bogen hinten an, damit der
künftige Besitzer die »wenigen« Ereignisse, welche vor dem Untergang der
Welt noch geschehen würden, darauf nachtragen könne. Das nachzuahmen
habe ich nicht im Sinn. Diese Erde wird sich noch lange drehen, in
dieser engen Gasse wird noch manches Kind geboren werden, manche Leiche
wird man hinaustragen, und unter den letzteren vielleicht in nicht
langer Zeit auch den, welchen sie Johannes Wachholder nannten. -- Was
die paar Tage, die mir noch übrig sind, bringen werden, will ich in Ruhe
erwarten; viel Neues können sie mir nicht zeigen. --

Ich öffne das Fenster und blicke in die dunkle, stille, warme Nacht
hinaus. Hier und da flimmert ein einsamer Stern an der schwarzen
Himmelsdecke. Wie feierlich der Glockenton in der Nacht klingt! Zwölf
Uhr. In wie viele Träume mag sich dieser Schall verschlingen? Der
grübelnde Gelehrte wird von seinem Buche verwirrt aufsehen, das junge
Mädchen wird von Tanz- und Ballmusik träumen, der arme Kranke wird von
dem kommenden Tage Genesung erflehen, die Mutter wird im Schlaf ihr
kleines Kind fester an sich drücken, und der Herrscher, die Stirn wund
vom Druck einer Krone des Zeitalters der Revolution, wird das Haupt in
die Kissen senken und seufzen: Ein neuer Tag! --

Meine Lampe flackert und ist dem Erlöschen nahe. Mit müder Hand schließe
ich das Fenster und schreibe diese letzten Zeilen nieder:

Seid gegrüßt, alle ihr Herzen bei Tag und bei Nacht; sei gegrüßt, du
großes, träumendes Vaterland; sei gegrüßt, du kleine, enge, dunkle
Gasse; sei gegrüßt, du große, schaffende Gewalt, welche du die ewige
_Liebe_ bist! -- Amen! Das sei das Ende der Chronik der Sperlingsgasse!




Anmerkungen zur Transkription


Der Originaltext ist in Fraktur gesetzt. Hervorhebungen, die im
Original g e s p e r r t sind, wurden mit Unterstrichen wie _hier_
gekennzeichnet. Fremdsprachige Textstellen, die im Original in Antiqua
gesetzt sind, wurden ^so^ markiert. Fetter Schriftstil wurde #so#
markiert.

Einfache Anführungszeichen wurden durch ">" und "<" ersetzt.

Die variierende Schreibweise des Originales wurde weitgehend
beibehalten. Nur offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert wie hier
aufgeführt (vorher/nachher):

   [S. 17]:
   ... machen, ich will -- der schreibende Greis kann jetzt nur ...
   ... machen, ich will« -- der schreibende Greis kann jetzt nur ...

   [S. 17]:
   ... lächeln -- die Welt für Dich gewinnen, Marie!« ...
   ... lächeln -- »die Welt für Dich gewinnen, Marie!« ...

   [S. 25]:
   ... der Stirn! Franz fiel mir weinend um den Hals; junge, ...
   ... der Stirn! Franz fiel mir weinend um den Hals; junge ...

   [S. 58]:
   ... und »klobige« Artillerie. -- Hier und da wandten sich ...
   ... und »klobige« Artillerie. -- Hier und da wanden sich ...

   [S. 96]:
   ... welchen die Madame Pimpernell ankündigt: ...
   ... welchem die Madame Pimpernell ankündigt: ...

   [S. 103]:
   ... »Wo lassen wir alle die Blumen, die wir pflücken, Lischen? ...
   ... »Wo lassen wir alle die Blumen, die wir pflücken, Lischen?« ...

   [S. 103]:
   ... Ist's nicht wie im Märchen, wo der Vater die verlorenen ...
   ... »Ist's nicht wie im Märchen, wo der Vater die verlorenen ...

   [S. 104]:
   ... »Wahrhaftig,« seufzt der eliminierte Schriftsteller »ich ...
   ... »Wahrhaftig,« seufzt der eliminierte Schriftsteller, »ich ...

   [S. 110]:
   ... Menschen ein Wohlgefallen!« ...
   ... Menschen ein Wohlgefallen! ...

   [S. 144]:
   ... »Gustav Berg« und drunter die geniale Übersetzung Gustavus. ...
   ... »Gustav Berg« und drunter die geniale Übersetzung Gustavus ...

   [S. 144]:
   ... Mons mit Angabe von Wohnort, Datum und Jahreszahl ...
   ... Mons mit Angabe von Wohnort, Datum und Jahreszahl. ...

   [S. 192]:
   ... dieser Chronk ein so zerfetztes, zerlumptes Ansehen gegeben ...
   ... dieser Chronik ein so zerfetztes, zerlumptes Ansehen gegeben ...

   [S. 216]:
   ... Die Hosen zog ich -- wie weiland Freund Yorik ...
   ... Die Hosen zog ich -- wie weiland Freund Yorick ...






End of Project Gutenberg's Die Chronik der Sperlingsgasse, by Wilhelm Raabe

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