Goethes Lebenskunst

By Wilhelm Bode

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Title: Goethes Lebenskunst

Author: Wilhelm Bode

Release date: November 24, 2024 [eBook #74788]

Language: German

Original publication: Berlin: Ernst Siegfried Mittler und Sohn

Credits: The Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net


*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK GOETHES LEBENSKUNST ***


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                     Anmerkungen zur Transkription

  Der vorliegende Text wurde anhand der Buchausgabe von 1919 so weit
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        gesperrt:       +Pluszeichen+
        Antiquaschrift: ~Tilden~

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[Illustration: Goethe um 1789.

Bruchstück einer Büste von +Martin Klauer+.]




[Illustration: Goethe 1829.

Büste von +Pierre Jean David+.]




                             Wilhelm Bode

                          Goethes Lebenskunst

                            [Illustration]

                   Siebente, neu bearbeitete Auflage

                          21. bis 25. Tausend

                      Mit zahlreichen Abbildungen

             Verlegt bei Ernst Siegfried Mittler und Sohn
                              Berlin 1919




             Alle Rechte aus dem Gesetze vom 19. Juni 1901
             sowie das Übersetzungsrecht sind vorbehalten.

    Amerikanisches Copyright 1913 by E. S. Mittler & Sohn, Berlin.




Zur sechsten Auflage.


Vielleicht hätte ich ein Buch, das bereits in 14000 Abzügen verbreitet
und überall freundlich aufgenommen wurde, nicht so stark umgestalten
sollen, wie bei dieser neuen Ausgabe geschehen. Aber da ich mich
beständig mit Goethes Leben, Werken und Umwelt beschäftige, so kann es
nicht ausbleiben, daß meine Kenntnisse zunehmen, meine Auffassungen
sich ändern, manche neue Erklärungen sich ergeben und manche
Zusammenhänge deutlich werden, die ich früher nicht sah.

Als ich vor vierzehn und dreizehn Jahren dies Buch schrieb, hieß die
Aufgabe, die ich mir gewählt hatte: ‚+Goethe als Mensch+‘. Mit diesem
Titel sandte ich die Handschrift an „E. S. Mittler & Sohn“, d. h. an
~Dr.~ Theodor Toeche-Mittler, der jetzt nach einer sehr fruchtbaren
Tätigkeit dem im gleichen Sinne wirkenden Sohne zusieht. Dieser
ältere Freund nahm als ein aufrichtigster Verehrer unseres Dichters
an meinen ersten Arbeiten auf diesem Gebiete einen herzlichen Anteil
und fügte deshalb seinem bereits sehr ausgebreiteten Verlagshause
noch ein Angebäude für Goethe-Bücher hinzu. Das neue Buch, meinte
er damals, müsse in ‚+Goethes Lebenskunst+‘ umgetauft werden. Ich
fügte mich, und der Erfolg hat ihm recht gegeben, denn Niemand hat
den Titel beanstandet, und einige Beurteiler haben ihn ausdrücklich
als zutreffend gelobt. (Nur Signild Wejdling, die eine schwedische
Übersetzung herausgab, hat, ohne von mir zu wissen, die ursprüngliche
Überschrift vorgezogen: ‚~Goethe såsom Människa~‘.) So hat also der
Verfasser des Buches dem Namengeber zu danken; aber der Leser soll doch
wissen, wie die Aufgabe eigentlich gestellt war und daß nicht etwa die
Absicht einer Goethe-Verherrlichung zu Grunde lag oder liegt. Es soll
durchaus nicht Alles, was hier mitgeteilt wird, als klug und weise
gelten; sehr oft tritt eben nur „Goethe als Mensch“ vor uns.

„Wie lange wird es dauern“, sagte er 1809 zu Falk, „so werden sie auch
an mich glauben und mir Dies und Jenes nachsprechen. Ich wollte aber,
sie behaupteten ihr Recht und öffneten ihre Augen selbst.“

+Weimar+, Neujahr 1913.


Zur siebenten Auflage.

Ein Münchener Nervenarzt schrieb mir einmal, er verordne dies Buch
seinen Patienten. Ich weiß nicht, welche Erfolge er damit hat, und
wünsche mir mehr gesunde Leser als krankhaft erregte. Aber wahr ist es,
daß dies Buch ein ruhiges und beruhigendes ist. Das fällt mir selbst
auf, weil ich die neue Auflage in den unruhigsten Zeitläuften, die wir
je erlebt haben, abschließe.

+Weimar+, Neujahr 1919.

                                                   ~Dr.~ Wilhelm Bode.




Inhalt.


                                                           Seite

  I. Beruf und Erwerb                                          1

  II. Wohnung                                                 17

  III. Äußere Erscheinung                                     35

  IV. Verhalten gegen Fremde                                  44

  V. Fürsten und Vornehme                                     60

  VI. Untergebene                                             77

  VII. Geselligkeit                                           96

  VIII. Freundschaft                                         121

  IX. Feinde                                                 136

  X. Familienleben                                           155

  XI. Gesundheitspflege                                      173

  XII. Die Mahlzeiten und der Wein                           205

  XIII. Das Schaffen                                         221

  XIV. Das Lernen                                            247

  XV. Kampf und Glück                                        279




Abbildungen.


  Bildnisse Goethes:

  Um 1774 Von Heinrich Lips nach einem Schüler Nahls         176

  1774 Von Joh. Peter Melchior                            n. 176

  1779 Von Georg Oswald May                               n. 176

  1789 Büste von Martin Klauer                     vor dem Titel

  1791 Von Heinrich Lips                                   n. 37

  1818 Von Ferdinand Jagemann                              n. 70

  1828 Von Josef Stieler                                  n. 298

  1829 Büste von Pierre Jean David                 vor dem Titel

  1832 Von C. A. Schwerdgeburth                           n. 299

         *       *       *       *       *

  Goethe und Karl August. Von C. A. Schwerdgeburth         n. 71

         *       *       *       *       *

  Erhaltene Kleider                                        n. 36


  Wohnungen:

  +Gartenhaus+, Grundriß                                      18

        Blick auf Haus und Garten 1826. Von C. A.
        Schwerdgeburth                                        16

        Hausflur. Aufnahme von Otto Rasch                  n. 18

        Arbeitszimmer. Von Otto Rasch                      n. 19

  +Stadthaus+, Grundriß. Obergeschoß                          29

        Ansicht vom Frauenplan. Von H. Tessenow               23

        Ansicht vom Garten. Aufnahme von L. Held           n. 30

        Treppe. Aufgang zum Obergeschoß. Aufnahme
        von Otto Rasch                                     n. 26

        Empfangszimmer. Von H. Tessenow                       24

        Vorzimmer zum Arbeitszimmer. Von Otto Rasch        n. 27

        Arbeitszimmer. Von H. Tessenow                        30

        Schlafzimmer. Aufnahme von L. Held                 n. 31




[Illustration]




I.

Beruf und Erwerb.


Die ersten poetischen Werke, die Goethe in die Welt sandte, sein ‚Götz
von Berlichingen‘ und erst recht seine ‚Leiden des jungen Werthers‘,
erregten großes Aufsehen: sie ergriffen, packten, erschütterten viele
Tausende; der Name ihres Verfassers ward bei allen „schönen Geistern“
und „fühlbaren Herzen“ schnell berühmt: nun erwarteten sie neue große
Gaben von ihm.

Heute wird ein erfolgreicher junger Dichter, wenn ihm sein Brotberuf
so wenig zusagt wie dem Doktor Goethe die Advokatengeschäfte, kurzweg
Schriftsteller; er erhält dann vom Publikum durch die Verleger und
die Bühnenleiter das Nötige zum Leben, wenn er es sonst versteht,
die erlangte Gunst festzuhalten. Zu jener Zeit, um 1774, gab es
zwar auch schon einige Literaten, die durch Anfertigung der von den
Buchhändlern verlangten Bücher und namentlich durch Übersetzungen aus
dem Französischen und Englischen ein kärgliches Auskommen fanden; aber
ein Dichter, ein Originalschriftsteller, konnte die Honorare nur als
glückliche Nebengewinne betrachten: sie reichten für einige festliche
Tage, aber nicht für die bürgerliche Nahrung eines ganzen Jahres. Die
Zahl der deutschen Bühnen war noch gering; die paar seßhaften wie
die reisenden Theatergesellschaften kämpften immer um ihren eigenen
nötigsten Bedarf; die Buchverleger aber konnten selbst dann, wenn
ein Buch viel Beifall fand, keinen großen Gewinn mit dem Verfasser
teilen, weil sich gar rasch in irgend einem deutschen Nachbarstaate
ein Drucker fand, der dies Buch nachdruckte, und weil die Obrigkeiten
dann keineswegs bereit waren, solchen erwerbseifrigen Untertanen
um „ausländischer“ Verleger oder Verfasser willen dies Geschäft zu
untersagen. „Ich bedauere einen jeden Autor, der Nutzen von seinen
Werken ziehen will“ urteilte 1775 Friedrich Nicolai in Berlin, der
Schriftsteller und Buchhändler zugleich war, und ein andrer Berliner
Buchhändler, Mylius, beschwerte sich im selben Jahre, als Goethe für
seine ‚Stella‘ zwanzig Taler Honorar begehrte; er meinte, dann werde
er ja wohl für Goethes nächstes Stück 50 Taler und für seinen ‚Doktor
Faust‘ gar 100 Louisdor (1820 M.) zahlen sollen: „Das ist aber wider
die Natur der Sache und nicht auszuhalten.“ Es war wirklich wider
die Natur der Sache, und deshalb war das Dichten für Goethe zunächst
noch eine kostspielige Beschäftigung, zumal wenn er es nicht bloß als
Spiel der Phantasie in Mußestunden betrieb, sondern Leben und Dichten,
Erleben und Schaffen verflocht und verquickte. Noch 1789 fragte und
antwortete er mit Recht:

    Hat mich Europa gelobt, was hat mir Europa gegeben?
    Nichts! ich habe wie schwer! meine Gedichte bezahlt!

[Sidenote: Die Brotgeber des Künstlers]

Aber die Künste gediehen auch zu jener Zeit. In der Wirtschaftsordnung
des Feudalstaates gehörte es zu den Pflichten der Landesfürsten,
die Gelehrten, Dichter, Musiker, Maler, Bildhauer und Baumeister
zu ernähren und ihnen die Aufgaben zu stellen. Zur höfischen
Repräsentation, zur Entfaltung von Prunk und Pracht, um des Ansehens
und Ruhmes willen bedurfte man solcher Leute, die wegen ihrer
Geschicklichkeit in Wissenschaften und Künsten weithin bekannt waren;
viele Landesväter aber hatten auch ein eigenes herzliches Verhältnis zu
einigen oder vielen Künsten und Wissenschaften und ihren Angehörigen.
Im ‚Tasso‘ hat uns Goethe die zarte Fürsorge eines edlen Fürsten für
einen empfindlichen Poeten auf das schönste vor Augen gestellt; sein
lebendiges Vorbild für Tassos Gönner, den Herzog Alfons von Ferrara,
aber war der junge Herzog Karl August von Weimar, den er selber seit
1775 als seinen Ernährer und Freund rühmen mußte:

    Klein ist unter den Fürsten Germaniens freilich der meine;
    Kurz und schmal ist sein Land, mäßig nur, was er vermag.
    Aber so wende nach innen, so wende nach außen die Kräfte
    Jeder; da wär’s ein Fest, Deutscher mit Deutschen zu sein!

           *       *       *       *       *

    Denn mir hat er gegeben, was Große selten gewähren:
    Neigung, Muße, Vertrau’n, Felder und Garten und Haus.
    Niemand braucht’ ich zu danken als ihm, und Manches bedurft’ ich,
    Der ich mich auf den Erwerb schlecht, als ein Dichter, verstand.

Als Gast des achtzehnjährigen Herzogs kam Goethe 1775 nach Weimar; der
Gast wurde ein naher Freund, und der Freund mußte ein Arbeitsgenosse
des Fürsten werden, teils weil Dieser in der Verwaltung seines Landes
eines solchen Engverbündeten bedurfte, teils weil er nicht die Mittel
hatte, Künstlern oder Gelehrten zu einem bloßen freien Dichten, Malen
oder Forschen einen Ehrensold zu geben. Goethe war nun gleichzeitig
Dichter und Geschäftsmann, wie damals der Beamte genannt wurde; für
Beides empfing er seinen Unterhalt, denn beiderlei Tätigkeit begehrte
der Landesherr. Ob er die ‚Iphigenie‘ dichtete, oder junge Bursche
zum Militär aushob, oder im herzoglichen Liebhabertheater eine Rolle
einstudierte, oder eine Feuerlöschordnung ausarbeitete, oder an
benachbarten Höfen aufwartete, oder seinen Herzog zu Manöver, Krieg
und Belagerung begleitete: immer war es Fürstendienst; Karl August
besoldete und beschenkte ihn für das Eine wie das Andere. Alle die
sechs Schöpfer unserer neuen deutschen Sprache und Literatur: Klopstock
und Herder, Lessing und Wieland, Goethe und Schiller, betrachteten ihr
Dichten und Schreiben als Arbeit an der Erleuchtung und Erhöhung des
Menschengeschlechts in den deutschen Volksstämmen; edle Fürsten dienten
gleichen Aufgaben; deshalb entstanden damals so manche Verbindungen
zwischen Fürsten und Dichtern. Die schönste und mannigfaltigste
war die durch zweiundfünfzig Jahre dauernde Freundschaft und
Arbeitsgemeinschaft zwischen Goethe und Karl August.

[Sidenote: Dichter und „Geschäftsmann“]

Mit heutigen Amtsbezeichnungen läßt sich Goethes Tätigkeit in Weimar
nicht deutlich machen; er besorgte die verschiedenartigsten Aufgaben,
wenn unter den übrigen Beamten keiner war, der besser dazu taugte; fand
sich ein Brauchbarer, so zog er sich rasch zu seinen poetischen und
wissenschaftlichen Arbeiten zurück. Zumeist bezogen sich seine Aufträge
auf die Anstalten für Wissenschaft und Kunst: das Hoftheater leitete er
von 1791 bis 1817; außerdem hatte er viele Jahrzehnte die Oberaufsicht
über die Bibliotheken zu Weimar und Jena, über die wissenschaftlichen
Anstalten der Akademie zu Jena, über die Zeichenschulen zu Weimar und
Eisenach, über die Kunstsammlungen und Kunstausstellungen zu Weimar;
auch die Veranstaltung und poetische Ausschmückung von Hof- und
Volksfesten war lange Zeit hindurch eine häufig wiederkehrende Pflicht,
die bald als Lust, bald als Last empfunden wurde. In jüngeren Jahren,
als es seinem Fürsten an guten Dienern noch sehr fehlte, bekümmerte
sich Goethe aber auch um Landwirtschaft und Industrie, um den Ilmenauer
Bergbau, um Wege und Flußläufe, um Verbesserung des Kassenwesens und
Mehrung des Landesvermögens.

Diese Kraftzersplitterung wurde oft getadelt. Seine Amtskollegen
wünschten, daß er ihnen mehr Arbeit abnehme. Andere erklärten es
geradezu für eine Verschwendung, daß der Fürst eines so armen Landes
einen Geheimen Rat oder Minister hielt, der sich einen großen Teil des
Jahres den Staatsgeschäften entzog, um in Jena oder Karlsbad, einmal
sogar fast zwei Jahre in Italien, seiner eigenen Ausbildung oder seinen
Dichtungen und Forschungen zu leben. Auf der anderen Seite zürnten alte
Freunde Goethes, daß er sein Genie zu höfischen Unterhaltungen und
kleinlichen Verwaltungsgeschäften verbrauche, statt jährlich solche
Gaben wie ‚Götz‘ und ‚Werther‘ der deutschen Nation auf den Tisch zu
legen.

Goethe kannte solche Urteile und durfte sie nicht verachten. Der einen
Partei erwiderte er in seinem Innern, daß er nur dem Herzoge für den
Gebrauch seiner Zeit und Kraft verantwortlich sei. Dessen Sache war es,
ob er einen Beamten von Goethes Art ernähren konnte; wollte der Fürst
dies Opfer für die allgemeine Kultur des deutschen Volkes bringen, so
konnte Goethe nur herzlich-dankbar zustimmen. In die konstitutionelle
Zeit, die er im Alter auch noch erlebte, paßte solche Auffassung, paßte
Goethe als Beamter freilich nur schlecht hinein. Seinen alten Freunden
dagegen antwortete er, daß er lieber von seinem Herzoge als von der
stets unberechenbaren und oft sehr törichten Leserwelt abhängen wolle
und aus dem Dichten keinen Broterwerb machen könne. Sodann: daß ein
Dichter, der nur Dichter sei, sich bald ausschöpfen und seine Gedanken
und Empfindungen allzu oft wiederholen würde und daß ein fleißiger
Mensch auch in solchen Tagen und Stunden schaffen wolle, wenn die Musen
nicht geneigt sind, ihn zu umschweben. Erst durch Berufsgeschäfte,
durch Arbeiten, die uns schwer fallen und zu denen wir keine Neigung
haben, erwerben wir ein wertvolles Stück Bildung: und eigener reicher
Bildung bedarf doch der Schriftsteller zumeist, der auf seine
Volksgenossen Einfluß ausüben zu wollen die Kühnheit hat.

Und zuweilen dachte Goethe: es kommt nicht so sehr darauf an, was wir
machen, sondern darauf, daß wir unsere jeweilige Aufgabe so vorzüglich
lösen, wie irgend in unseren Kräften steht. Wer als Jurist und Sohn
eines Juristen Genauigkeit und Vorsicht im Denken gelernt hat, meinte
er einmal, könne davon auch bei der Farbenlehre Gebrauch machen.
„Freilich!“ gestand er ein andermal, als von der vielen Zeit die Rede
war, die er mit der Theaterleitung verloren hatte, „ich hätte indes
manches gute Stück schreiben können! Doch, wenn ich es recht bedenke,
gereut es mich nicht. Ich habe all mein Wirken und Leisten immer nur
symbolisch angesehen, und es ist mir im Grunde ziemlich gleichgültig
gewesen, ob ich Töpfe machte oder Schüsseln.“

[Sidenote: Gefahr der Zersplitterung]

Bleibt freilich die Frage, ob solche nach manchen Richtungen
verfließende Arbeit höchste Leistungen ergibt. Ein Mittel, die Gefahr
des Verrinnens und Versandens aufzuheben, hatte Goethe in seinem gern
gepriesenen Grundsatz der „Folge“, d. h. des Immer-wieder-Anknüpfens an
alte Fäden. Er schuf zwar immer nur Bruchstücke einer Faust-Dichtung
und ward dieser Arbeit immer wieder untreu, aber er kehrte auch
immer wieder zu ihr zurück, so daß am Ende seines Lebens das große
Werk doch vollendet ward. Wer sich beschränkt und zusammenfaßt,
leistet auf seinem engen Gebiete schneller und sicherer etwas von
Wert; dagegen gewinnt der Kenner vieler Gedanken, der Sammler vieler
Erfahrungen in jedem Gebiete, das er betritt, rasch neue Erkenntnisse,
die dem Kleinfachmann verborgen blieben. Bildung von allen Seiten
her, Entfaltung nach allen Seiten hin, Erlangung eines vollständigen
All-Menschentums ist schließlich doch eine höhere Aufgabe für unsere
Kräfte und in einigen Fällen das bessere Mittel, vom eigenen Erwerb
Anderen Wertvolles mitzuteilen.

       *       *       *       *       *

Die Fürsten zahlten zu Goethes Zeiten ihren Dienern -- so hießen auch
die höchsten Beamten -- nur niedrige Gehälter. Goethe bekam anfangs
1200 Taler, von 1781 an 1400, von 1785 an 1600, später 1800 Taler;
als 1815 Weimar zu einem Großherzogtum erhoben wurde, erhielt er als
ältester Staatsminister 3000 Taler. Aber zum Gehalte kamen manche
andere Lieferungen, Geschenke und Vorteile. Die Besoldungen waren
damals nicht so genau festgelegt wie heute; die Fürsten übernahmen
für ihre Beamten im Grunde die gesamte Fürsorge, auch für ihre Witwen
und für die Erziehung ihrer Kinder, die in der Regel recht jung in
fürstliche Brotstellen gelangten, so daß die Väter großer Familien mehr
empfingen als die kinderlosen und ledigen Männer. Auch Goethe erhielt
manche besonderen Zuwendungen: den schönen Garten an der Ilm, das
stattliche Haus am Frauenplan, Wagen und Pferde, frühzeitige Anstellung
seines einzigen Sohnes und manches Andere.

[Sidenote: Gehalt und Autorgewinn]

Ausreichend waren allerdings alle Gaben Karl Augusts nicht für „die
etwas breite Existenz“ Goethes. Er verbrauchte schon 1776 1411 Taler;
in den nächsten Jahren waren es rund 1600, 1780: 2249, 1782: 2605
Taler, also stets erheblich mehr, als sein Gehalt einbrachte. Das
konnte er zunächst als Sohn eines wohlhabenden Vaters so halten; aber
auch sein Wort, daß ihm Europa für seine Gedichte nur Lob und sonst
nichts gebe, blieb nicht zutreffend. Seine ersten Werke hatte er
vertändelt; zu der Zeit, wo alle Welt seinen ‚Götz‘ bewunderte, mußte
er sorgen, woher er das Geld nehme, um das Papier dafür zu bezahlen.
Aber bald lernte er recht gut, von den Verlegern die größten Honorare,
die sie wagen durften, zu erlangen. Für die erste Sammlung seiner
Werke, die 1786 begann, zahlte ihm Göschen 2000 Taler. Für die zweite
Sammlung, die bei Unger in Berlin erschien, bekam er 500 Taler den Band
und für die zwei Bände ‚Wilhelm Meisters Lehrjahre‘ 1500 Taler. Für
‚Hermann und Dorothea‘ forderte und erhielt er von Vieweg 1000 Taler
in Gold, eine Summe, die selbst die Freunde Schiller und Wilhelm v.
Humboldt „ungeheuer“ fanden, denn es machte zwölf Groschen für jeden
Vers. Als Cotta 1802 neue Werke von ihm wünschte, obwohl er an den
‚Propyläen‘ schon erheblich zugesetzt hatte, warnte Schiller seinen
Landsmann beinahe vor seinem Freunde:

  Es ist, um es gerade heraus zu sagen, kein guter Handel mit G. zu
  treffen, weil er seinen Wert ganz kennt und sich selbst hoch taxiert
  und auf das Glück des Buchhandels, davon er überhaupt nur eine vage
  Idee hat, keine Rücksicht nimmt. Es ist noch kein Buchhändler mit
  ihm in Verbindung geblieben; er war noch mit keinem zufrieden, und
  mancher mochte mit ihm nicht zufrieden sein. Liberalität gegen seine
  Verleger ist seine Sache nicht.

Cotta war und blieb dennoch Goethes Verleger; freilich bedurfte
es geschickter Vermittler, um sie zusammenzuhalten. Das Mißtrauen
der Verfasser gegen die Ehrlichkeit der Verleger war zu jener Zeit
ein allgemeines; Goethe aber ärgerte sich nicht selten über die
politischen und anderen Schriften, die Cotta gleichfalls verlegte.
Über seine Honorare durfte er sich jedoch nicht beklagen. Für die
‚Wahlverwandtschaften‘ bekam er 2500 Taler, für ‚Wahrheit und
Dichtung‘ 12000, für die erste zwölfbändige Cottasche Ausgabe der Werke
(1805-1808) volle 10000 Taler für das Verlagsrecht auf acht Jahre,
für die neue Ausgabe in zwanzig Bänden 1816 auf weitere acht Jahre
16000 Taler, 1824 gab August v. Goethe der Steuerschätzungs-Kommission
als das jährliche literarische Einkommen seines Vaters „~in maximo~
1400 Taler“ an. Das war Steuer-Pessimismus, obwohl das Einkommen im
letztvergangenen Jahre nur 500 betragen hatte; denn im Durchschnitt
der letzten zehn Jahre hätte man rund 3500 Taler errechnen können.
1826 forderte und erhielt Goethe von Cotta für eine neue, in 20000
Exemplaren zu druckende Ausgabe seiner Werke in vierzig Bänden sogar
60000 Taler. Im ganzen wurden in den Jahren 1795-1832 von Cotta an
Goethe 401090 Mark in heutigem Gelde gezahlt und von 1832-1865 an die
Erben noch 464474 Mark. Dagegen blieben die Einnahmen des Dichters von
den Bühnen gering; von der Berliner Hofbühne erhielt Goethe in zwanzig
Jahren nur 319 Taler, während Kotzebue es dort in der gleichen Zeit auf
4579 Taler brachte.

       *       *       *       *       *

[Sidenote: Honorare]

Goethe war nie ein Verschwender, aber ängstliche Sparsamkeit war auch
nicht seine Sache; wie er sein Leben lang in Lotterien spielte, so
wendete er manchmal sein Geld an Hoffnungen und Liebhabereien. Als
Privatmann hätte er sich in einfachsten Verhältnissen wohlgefühlt; als
erster weimarischer Beamter und als Repräsentant der deutschen Künste
und Wissenschaften zog er die „etwas breite Existenz“ vor. „Einen
Parvenü wie mich konnte nur die entschiedenste Uneigennützigkeit
aufrechterhalten“ sagte er im Alter zu Riemer und Friedrich v. Müller,
und zu Eckermann: „Eine halbe Million meines Privatvermögens ist durch
meine Hände gegangen, nicht allein das ganze Vermögen meines Vaters,
sondern auch mein Gehalt und mein bedeutendes literarisches Einkommen.“
Schon im kleinen Gartenhause an der Ilm hatte er verschiedene Diener:
Philipp Seidel, Christoph Sutor, Paul Götze, die Köchin Dorothee. Große
Opfer brachte er der Gastfreundlichkeit; große Summen kosteten auch
seine Sammlungen, deren Wert damals nur von Wenigen erkannt wurde.

In Geldknappheit befand sich Goethe auch nach den Jugendjahren. 1792
lieh er sich von dem Juristen Hufeland in Jena 1000 Taler, die er viele
Jahre verzinste. 1796 wollte er seinen Garten an der Ilm an den Herzog
verkaufen, weil er Geld brauchte; aber seine Christiane vermutete,
daß dies Geld doch nur wieder für Kunstgegenstände und Mineralien
daraufgehen werde, und verlangte einen Umtausch gegen Krautländereien
oder andere Grundstücke.

Während der napoleonischen Kriege mit ihren beständigen
Einquartierungen war Goethe erst recht oft in Geldnot. Als sein Sohn
in Heidelberg studierte und mit seinem Wechsel nicht ausgekommen war,
so daß er 50 Taler Schulden hatte, mußte Christiane den Jüngling und
seine Gläubiger hinhalten. „Wegen des Geldes können wir Dir aber
jetzt nicht gleich welches schicken“ schrieb sie im Januar 1809, „da
wir diese Weihnachten sehr viele Ausgaben gehabt und viel Abzug
wegen der Kontribution haben .... Die Ausgaben hier übersteigen meine
Einnahmen, so daß mir auch Alles ganz knapp zugeschnitten wird.“ Noch
viel übler sah es im Jahre 1812 aus. Nicht ohne Grund schrieb Goethe
damals, er müsse auf seinen Vorteil aus dem Buchhandel sehen, „wenn
ich nicht nach einem mühsamen und mäßigen Leben verschuldet von der
Bühne abtreten will.“ Im Jahre 1815 war man auch noch recht arm.
Damals mußte Christiane an die Weinhändler Gebrüder Ramann in Erfurt
schreiben: „Wegen der Zahlung tragen Sie keine Sorge, mein Mann ist
zwar angekommen, aber wegen Gelde, sagte er mir, müßten Sie noch etwas
in Geduld stehen.“

In den nachfolgenden Friedenszeiten verbesserte sich seine Lage
allmählich und erheblich. Es ging aber noch lange die Sage, daß
der alte Dichter zu viel arbeiten oder auch zu viel Unfertiges und
Minderwertiges in die Druckerei geben müsse, weil die Ausgaben des
Hauses rasche und große Einnahmen verlangten. Erst von seinem 76. Jahre
an konnte sich Goethe in gesicherten Verhältnissen als wohlhabender
Mann fühlen.

       *       *       *       *       *

[Sidenote: Vermögen, Ordnung, Bürgschaften]

Wie in allen andern Dingen war Goethe auch in Geldsachen für strenge
Ordnung. Er führte über seine Einnahmen und Ausgaben sorgfältig Buch;
wir können heute noch nachlesen, wieviel er als Junggeselle für
Göttinger Wurst ausgegeben hat und daß er z. B. 1778 34 Tischtücher,
267 Servietten, 108 Handtücher, 194 Hemden mit und 82 ohne Manschetten
besaß. Von seinem Besuche in Heidelberg im Jahre 1814 erzählt uns
Sulpiz Boisserée: Jeden Abend ließ Goethe seinen Bedienten zu sich auf
die Stube kommen, um Rechnung mit ihm abzuhalten über alle Ausgaben
des Tages, die größten wie die kleinsten, und für den folgenden Tag
den vorläufigen Etat im Ausgabebuch festzustellen. Als Boisserées
Freund Bertram über diese haushälterische, dem Materiellen zugewendete
Sorgfalt des Dichters seine Verwunderung äußerte, sagte Goethe: „Wenn
die Prosa abgetan ist, kann die Poesie um so lustiger gedeihen. Man muß
sich das Unangenehme vom Halse schaffen, um angenehm leben zu können,
und der Schlaf bekommt uns um so besser.“

Aus ähnlicher Gesinnung entsprang der nachfolgende ernste Brief, den
Goethe am 19. September 1816 an seinen Sohn August über Borgen und
Bürgen schrieb:

  Ohne in den besonderen Fall einer zu übernehmenden Bürgschaft,
  den Du mir, mein lieber Sohn, vorlegtest, einzugehen, muß ich Dir
  Nachstehendes zu Herzen geben.

  Als mich mein seliger Vater einigermaßen ausstattete, war unter
  andern guten Lehren, die er mir zugleich erteilte, eine, die einem
  Befehl glich, daß ich bei seinem Leben keine Bürgschaft eingehen und
  auch nach seinem Tode diese Warnung immer bedenken solle.

  Denn, sagte er, wenn du bares Geld hast, so magst du es einem Freunde
  auch ohne große Sicherheit leihen. Willst du es verschenken, so ist
  auch nichts dagegen zu sagen. Borgst du, so wirst du dich einrichten,
  Interessen zu bezahlen und das Kapital abzutragen. Verbürgst du dich
  aber, so versetzest du dich in einen unruhigen Zustand, der desto
  peinlicher ist, als du dich untätig, ja leidend verhalten mußt.
  Niemand verbürgt sich leicht, außer wenn er glaubt, er laufe keine
  Gefahr; ist aber die Verbürgung geschehen, so fühlt er sich gar bald,
  besonders in sorglichen Augenblicken, von einem in der Ferne sich
  zeigenden Übel bedroht, welches um so fürchterlicher erscheint, als
  er fühlt, daß er ihm nicht gewachsen sei, wenn es näher treten sollte.

  Das Leben für einen Freund zu wagen wie für dich selbst ist
  löblich, denn der Augenblick entscheidet; aber dir auf unbestimmte
  Zeit oder wohl gar auf’s ganze Leben Sorge zu bereiten und deinen
  sichern Besitz wenigstens in der Einbildungskraft zu untergraben,
  ist keineswegs rätlich: denn unsere körperlichen Zustände und der
  Lauf der Dinge bereiten uns manche hypochondrische Stunde, und die
  Sorge ruft alsdann alle Gespenster hervor, die ein heiterer Tag
  verscheucht. -- -- --

  So war die Gesinnung meines Vaters und so ist auch die meinige
  geblieben. Ich habe in meinem Leben viel, vielleicht mehr als billig,
  für Andere getan und mich und die Meinigen dabei vergessen. Dies kann
  ich Dir ohne Ruhmredigkeit sagen, da Du Manches weißt. Aber ich habe
  mich nie verbürgt,[1] und unter meinem Nachlaß findest Du keinen
  solchen Akt. Habe daher das alte Sprichwort vor Augen und gedenke
  mein!

       *       *       *       *       *

[Sidenote: Entgegengesetzte Eigenschaften]

Wir können nicht lange von Goethe reden, ohne ihm entgegengesetzte
Eigenschaften zuzuschreiben; hier müssen wir zusammenfassen: Goethe war
sparsam und verschwenderisch.

Sehr sparsam erscheint er z. B. im Gegensatz zu Herder während des
Aufenthaltes in Italien; Herder und Schiller lebten stets über ihre
Mittel hinaus, wurden die Schulden nicht los und brauchten für die
Erziehung ihrer Kinder fremde Hilfe. In Goethes Hause standen die
Ausgaben zu seinem Vermögen und seiner Einnahme doch im rechten
Verhältnis. In mancher Hinsicht war er recht sparsam. Wir lesen z. B.,
daß auch in seinen alten Tagen die Besuchsstuben ganze Wintermonate
hindurch nicht geheizt wurden, und noch in seinen letzten Jahren
wunderten sich Kinder, die seine Enkel besuchten, daß in einem so
vornehmen Hause gewöhnliche Talgkerzen gebrannt wurden. „Er hat den
Schlüssel des Holzstalles unter seinem Kopfkissen und läßt das Brot
abwiegen“ liest man in einem Briefe von 1831 über den Greis: da war er
arger Lotterei im Hause auf die Spur gekommen. Zu andern Zeiten war
er sehr freigebig und spielte mit dem Gelde. Einmal wagte er etwas
ganz Verwegenes: er kaufte für 14000 Taler ein Landgut, ohne es auch
nur anzusehen! Und zwar, obwohl er lange darum handelte und obwohl er
in zwei Stunden am Platze sein konnte! Im ganzen erscheint er als ein
+Herr+ des Geldes, es nie ängstlich festhaltend, es stets gern gegen
unmittelbare Güter eintauschend, auch wenn seine Nächsten den Wert
dieser Güter nicht erkennen konnten, wie Das bei seinen Sammlungen der
Fall war.

Bei seinem Tode hinterließ er 30000 Taler in bar, außer seinen beiden
Grundstücken, seinen Sammlungen und seinem literarischen Eigentum.
Geerbt hatte er beim Tode seiner Mutter 22252 Gulden.

[Illustration: Goethes Garten am Stern 1826.

  Von +E. A. Schwerdgeburth+.

]


  [1] Zwei kleine Bürgschaften Goethes sind uns jedoch bekannt.
      Zunächst für Philipp Seidel, als Dieser in den Staatsdienst
      und zwar in das Steuerfach eintrat. Sodann für seinen anderen
      ehemaligen Diener Sutor, der ein Kartenfabrikant wurde; hier
      handelte es sich um ein Darlehen von 300 Talern.




II.

Wohnung.


Wer nach Weimar kommt, sucht bald auch den Park auf, der die
liebliche Ilm umsäumt, und wenn er einige Minuten unter den Bäumen
dahingeschritten ist, denen Karl August, Goethe und Bertuch einst
ihre Stelle anwiesen, so sieht er hinter einer großen grünen Wiese
ein weißgetünchtes Häuschen mit hohem, grauem Dache in und vor einem
Garten, der sich den Hügel hinaufzieht. In diesem Garten und diesem
Hause hat Goethe viele glückliche und viele schmerzlich-erregte Stunden
verbracht. Hier überfiel ihn bald sein Herzog, um Staats- oder auch
Liebessachen mit ihm zu besprechen; dann kam wohl auch die „schöne
Krone“, die Sängerin Korona Schröter, und brachte ein Sträußchen
Waldblumen mit, oder es kam die teuerste von Allen, Frau v. Stein, und
ihr junger Verehrer schenkte ihr selber den Kaffee ein, über dessen
schädliche Wirkung er sonst mit Überzeugung zu schelten liebte. Hier
machte er an Sommerabenden zuweilen für die ganze Hofgesellschaft „den
Wirt der herzoglichen Promenade“ und suchte „bald durch Tee, bald durch
saure Milch die Gemüter der Frauen zu gewinnen,“ während die Männer am
Spieltische saßen oder in seiner Kegelbahn ihre Kunstfertigkeit maßen.

[Illustration: Die Räume des Gartenhauses.

Von +Hans Saal+.]

[Illustration: Hausflur im Gartenhause.

Aufnahme von +Otto Rasch+.]

[Illustration: Arbeitszimmer im Gartenhause.

Zeichnung von +Otto Rasch+.]

[Sidenote: Die Räume des Gartenhauses]

Wir sind nicht wenig erstaunt, wenn wir das Häuschen betreten, das
sieben Jahre hindurch dem Busenfreunde des Landesherrn, dem weithin
berühmten Dichter, dem Herrn Geheimden Rat als Wohnung diente. So
bescheiden hätten wir es uns doch nicht vorgestellt! Unten ist gar
kein bewohnbares Zimmer; höchstens kann man einen Raum, an dessen
Wänden Pläne von Rom hängen, im Sommer wegen seiner Kühle schätzen.
Oben sind drei Stuben und ein Kabinettchen, alle klein und niedrig,
mit bescheidenen Fensterchen und schlichten Möbeln; zuerst ein
Empfangszimmer mit harten, steifen Stühlen, dann das Arbeitszimmer mit
kleinem Schreibtisch, daranschließend ein Bücherzimmer, und zuletzt
das Schlafstübchen, in dem noch die Bettstelle aus Holz, Drell und
Bindfaden steht, die in drei Teile zusammengeklappt und so als --
Koffer auf die Reise mitgenommen werden konnte. Draußen im Garten kann
es uns viel besser gefallen als im engen Häuschen; da sieht man, wie in
den Rosen, die seine Fenster umranken, Hänflinge und Grasmücken nisten;
da blühen die Malven, Lilien und Kaiserkronen; hohe Bäume stehen in
flüsternden Gruppen zusammen, und in ihrem Schatten genießen wir den
Blick auf das anmutige Flußtal.

  Es ist eine herrliche Empfindung, da haußen im Feld allein zu sitzen.
  Morgens früh, wie schön! Alles ist so still. Ich höre nur meine Uhr
  tacken und den Wald und das Wehr von ferne.[2]

Das Schloß und die Stadt waren nahe, aber die Bäume des Parks
verdeckten sie. Es war, „als sei man in der Nähe eines Waldes, der
sich stundenweit ausdehnt. Man denkt, es müsse jeden Augenblick ein
Hirsch, ein Reh auf der Wiesenfläche hervorkommen. Man fühlt sich in
den Frieden tiefer Natureinsamkeit versetzt, denn die große Stille ist
oft durch nichts unterbrochen als durch die einsamen Töne der Amsel
oder durch den pausenweise abwechselnden Gesang einer Walddrossel.“[3]
Hier (auf dem Altan, der später abgerissen wurde) liebte der junge
Goethe, in seinen Mantel gehüllt, die Sommernacht zu verschlafen oder,
wenn der Schlaf ihn floh, zu den Sternen hinaufzuschauen:

    Euch bedaur’ ich, unglückselge Sterne,
    Die ihr schön seid und so herrlich scheinet.
    Denn ihr liebt nicht, kanntet nie die Liebe!

Oder er sprach zu den Zweigen, die ihm entgegenblühten, von seinem
Hoffen und Sehnen:

    Sag ich’s euch, geliebte Bäume,
    Die ich ahndevoll gepflanzt.
    Als die wunderbarsten Träume
    Morgenrötlich mich umtanzt?
    Ach, ihr wißt es, wie ich liebe,
    Die so schön mich wieder liebt -- --

[Sidenote: Im Gartenhause]

Und hier im Grünen vergaß er rasch allen Ärger, den ihm die
„Ekelverhältnisse“ mit seinen Neidern in der Stadt bereiteten; in der
stillen Natur erfrischte er seine Seele immer wieder, wie den Leib in
der Ilm oder im Floßgraben, der seinem Häuschen noch näher war:

    Ich gehe meinen alten Gang
    Meine liebe Wiese lang.
    Tauche mich in die Sonne früh,
    Bad’ ab im Monde des Tages Müh’.

„Jeden Morgen empfängt mich eine neue Blume und Knospe“ schreibt er
im Frühling 1781 an Lavater; „die stille, reine, immer wiederkehrende
Vegetation tröstet mich oft über der Menschen Not, ihre moralischen,
noch mehr physischen Übel.“

Hier im grünen Flußtale konnte der junge Mann seinen Naturkultus
nach Herzenslust betreiben. Als er zum ersten Male in seinem Garten
geschlafen, nannte er sich „Erdkulin“, Erdkühlein nach einem
Märchentier, das einsam im Walde haust. Er spricht von seinem
„Erdgeruch“ und „Erdgefühl“; ihm war wohl in Klüften, Höhlen und
Wäldern. Und seine ganze Umgebung steckte er an. „Sauge den Erdsaft,
saug’ Leben dir ein“ riet Karl August in einer poetischen Epistel
der Frau v. Stein, und er, der Landesfürst, hauste selber tage- und
wochenlang in einer Holzhütte des Parkes, dem Borkenhäuschen, das jetzt
nur noch zur Aufbewahrung von Geräten gut genug erscheint. Auch Wieland
kaufte einen großen Obstgarten und schrieb: „Mir ist nirgends so wohl,
bis ich meinen Stab in der Hand habe, um unter meinen Bäumen zu leben
und den unendlichen Erdgeist einzuziehen.“ „Der Statthalter von Erfurt
war einige Tage bei uns und ist auch nicht ohne Erdgeruch entlassen
worden“ meldet Goethe vergnüglich dem Freiherrn v. Fritsch. Herzogin
Amalie lebte wie eine Gutsbesitzerin im Dörfchen Tiefurt. Schiller,
der ein Stubenhocker war, sah auch an Knebel Goethes Wirkung: die
Verachtung der „Spekulation“ und „das bis zur Affektation getriebene
~Attachement~ an die Natur.“

Auch für Goethe kam die Zeit, wo ihm der Garten fremder wurde; er mußte
zugeben, daß er eines großen Stadthauses bedurfte. Zeitweilig überließ
er das Häuschen seinem Freunde Knebel; zwei Sommer vermietete er den
Garten an den Herzog, der ihn als Tummelplatz seiner Kinder brauchte;
auch Frau v. Heygendorff hatte ihn zwei Sommer. Aber einige Male wohnte
Goethe doch auch als alter Herr wieder auf Wochen draußen. Und zuweilen
hatte er Lust, im Gartenhäuschen, wo er „so tüchtige Jahre verlebt“
auch zu sterben.[4]

       *       *       *       *       *

[Illustration: Goethes Wohnhaus am Frauenplan.

Von +Heinrich Tessenow+.]

[Illustration: Empfangszimmer im Stadthause.

Von +Heinrich Tessenow+.]

[Sidenote: Das Stadthaus]

Einen ganz andern Eindruck gewannen die Gäste in Goethes Stadthause
am Frauenplan. Nachdem er früher schon zur Miete darin gewohnt hatte,
konnte er es sich in den Jahren 1792 und 1793 als eine Art Eigentum
einrichten. (Buchmäßig gehörte es zunächst dem Herzoge, der es ihm
aber als Geschenk zugedacht hatte.) Goethe suchte bei diesem Umbau
Manches, was ihm in Italien gefallen hatte, hier zu wiederholen;
es traf sich auch, daß ein Künstler, den er in Rom kennen gelernt
und der seinen Geschmack in Italien ausgebildet hatte, jetzt und
hier sein Hausgenosse war und sehr oft auch sein Stellvertreter, da
Goethe gerade während des Umbaues und der Einrichtung viel abwesend
sein mußte. Dieser Künstler, der Schweizer Heinrich Meyer, besaß sein
volles Vertrauen, und so ereignete es sich, was bisher noch in keinem
deutschen Bürgerhause der Fall gewesen, daß ein Maler den Umbau und die
ganze Ausstattung anordnete. So kam es denn auch, daß diese Wohnung des
Geheimen Rats Goethe einen ganz andern Eindruck machte, als man sonst
gewohnt war; besonders das sehr groß geratene Treppenhaus, die sanft
ansteigende breite Treppe und der antike Schmuck ringsum stimmte den
Eintretenden feierlich. Man ward dann noch durch ein Gemälde-Zimmer
geleitet, ehe sich die Tür öffnete zu dem Raum, in welchem der Fürst
des Hauses dem sich verneigenden Besucher entgegentrat. Wer Zeit hatte,
sich umzusehen, bemerkte noch ein Zweites, was ihn der gewöhnlichen
Welt entrückte: die Zimmer dienten zugleich als eine Galerie für
Kunstwerke, Altertümer und Naturschätze. Schon 1794 berichtet ein
junger Landsmann Heinrich Meyers, der dem Dichter seine Aufwartung
machen durfte, daß er nach der kurzen Audienz noch „sein fürstliches
Kabinett von Handzeichnungen berühmter Meister und sein mit dem
feinsten epikuräischen Geschmack eingerichtetes Haus“ besehen habe. Wer
bei Herder oder Wieland oder sonst einem Gelehrten der Stadt seinen
Besuch machte, hatte keine Ursache, über ihre Wohnungen zu reden; bei
Goethe aber war schon seine Umgebung ein unvergeßliches Erlebnis.

  Gleich beim Eintritt in das mäßig große, in einfach antikem Stil
  gebaute Haus deuteten die breiten, sehr allmählich sich hebenden
  Treppen sowie die Verzierung der Treppenruhe mit dem Hunde der Diana
  und dem jungen Faun von Belvedere die Neigungen des Besitzers an.
  Weiter oben fiel die Gruppe der Dioskuren angenehm in die Augen, und
  am Fußboden empfing den in den Vorsaal Eintretenden blau ausgelegt
  ein einladendes ~SALVE~. Der Vorsaal selbst war mit Büsten und
  Kupferstichen auf das reichste verziert und öffnete sich gegen die
  Rückseite des Hauses durch eine zweite Büstenhalle auf den lustig
  umrankten Altan und auf die zum Garten hinabführende Treppe. In ein
  anderes Zimmer geführt, sah der Gast sich auf’s neue von Kunstwerken
  und Altertümern umgeben: schön geschliffene Schalen von Chalcedon
  standen auf Marmortischen umher; über dem Sofa verdeckten halb und
  halb grüne Vorhänge eine große Nachbildung des unter dem Namen der
  Aldobrandinischen Hochzeit bekannten alten Wandgemäldes, und außerdem
  forderte die Wahl der unter Glas und Rahmen bewahrten Kunstwerke,
  meistens Gegenstände alter Geschichte nachbildend, zu aufmerksamer
  Betrachtung auf.

So schildert einer der vielen Gäste, der gelehrte Leibarzt des
sächsischen Königs, Gustav Carus, was er sah, ehe der Ersehnte und
zugleich Gefürchtete erschien.

[Illustration: Treppe im Stadthause.

Aufnahme von +Otto Rasch+.]

[Illustration: Vorzimmer zu Goethes Arbeitsstube.

Zeichnung von +Otto Rasch+.]

Das Museumsartige des Hauses nahm mit jedem Jahre zu. Dafür sorgte
Goethes Liebe zur Kunst und zur Natur, seine Lust am Sammeln, sein
Bedürfnis, das Schöne, Merkwürdige oder Lehrreiche zu besitzen und es
stets zur Hand und oft vor Augen zu haben. Die Altertümer, die Büsten,
Statuetten, Denkmünzen, Plaketten, Kameen, Majoliken, Ölgemälde,
Kupferstiche, Handzeichnungen, die Steine, Knochen usw. wuchsen
allmählich zu Hunderten und Tausenden an. In ihre Betrachtung
vertiefte er sich immer wieder, um feinsten Genuß und neue Belehrung
davonzutragen; in ihrer Mitte hielt er oft seine Gesellschaften ab,
schon dadurch jede Langeweile ausschließend. Hier erlebte mancher
Fachkenner, daß für sein Gebiet die gesamten Lehrmittel sofort
herbeigeholt werden konnten; hier waren denn auch die gelehrten Freunde
und Mitarbeiter aus der Stadt: Meyer, Riemer und Eckermann, oder die
noch gelehrteren Gäste von auswärts, Wilhelm und Alexander v. Humboldt,
Friedrich August Wolf und Sulpiz Boisserée, an ihrem Platze.

       *       *       *       *       *

Wenn wir aber in diesem Stadthause die Räume aufsuchen, die er am
meisten benutzte, so haben wir wieder den Eindruck des Gartenhauses.
Goethe wohnte gar nicht in seinem vornehmen Vorderhause am Frauenplan,
sondern in einem bescheidenen Hinterhause zwischen Hof und Garten.
Das Arbeitszimmer und das daneben liegende Schlafzimmer sind sehr
einfache, niedrige Räume. Nichts deutet auf einen vornehmen, reichen
Besitzer. Die Studierstube würde heute nur Wenigen genügen, die
sich zum Mittelstande rechnen; für „standesgemäß“ würde sie Niemand
halten. Alles darin ist zur Arbeit bestimmt, zum Lesen, Schreiben
oder Experimentieren: kein Sofa, kein bequemer Stuhl, keine Gardinen,
sondern nur Rollvorhänge aus dunklem Rasch. Ein Sofa war lange darin,
aber noch in hohem Alter ließ Goethe es hinaustragen, um Platz für
seine geliebten Sammlungen zu gewinnen. Auch an den Büchern ist keine
Pracht; seine gesammelten Werke sind auf das schlichteste eingebunden:
er nahm ja auch seine berühmtesten Dramen oder Gedichte jahrzehntelang
nicht wieder in die Hand. Nur ein Möbel hatte Goethe in dieser Stube,
das wir nicht kennen: ein kleines Korbgestell, das sein Taschentuch
aufnahm. Und auf dem Tische liegt ein Lederkissen, auf das er die Arme
legte, wenn er dem gegenüber sitzenden Schreiber diktierte.

Er war über achtzig Jahre alt, als er zum getreuen Eckermann sagen
konnte:

  Sie sehen in meinem Zimmer kein Sofa; ich sitze immer in meinem
  alten hölzernen Stuhl und habe erst seit einigen Wochen eine Art von
  Lehne für den Kopf anbringen lassen. Eine Umgebung von bequemen,
  geschmackvollen Möbeln hebt mein Denken auf und versetzt mich in
  einen passiven Zustand.

[Illustration: Grundriß des Obergeschosses in Goethes Stadthause.]

[Illustration: Goethes Arbeitszimmer.

Von +Heinrich Tessenow+.]

[Illustration: Gartenweg neben Goethes Arbeits- und Schlafstube.

Aufnahme von +L. Held+.]

[Illustration: Goethes Schlafzimmer.]

[Sidenote: Kein Luxus, aber mehrere Wohnungen]

Die einzige Schönheit dieser „Klosterzelle“, die der alte Herr oft
wochenlang nicht verließ, war, daß sie ebenso ruhig und friedlich
war, wie wenn sie wirklich zu einem Kloster gehöre; kein Lärm von
der Straße drang hierher, und die Fenster gingen in den schlafenden
„Klostergarten.“ Hier stand er an frühen Winterabenden und blickte
auf die Schneelast der Bäume, während sein geliebter großer Ofen die
Eisblumen vom Fenster abwehrte. Am Tage freute er sich dann, wie die im
Winter willkommene Mittagssonne sein ganzes Zimmer durchleuchtete. Wenn
nun die Tage länger wurden, erschienen „Schneeglöckchen, Krokus und
andere niedliche Frühblumen in Büschel und Reihen“ vor seinem Fenster,
und bald sah man ihn dann mit dem Gärtner die buchsbaumumsäumten
Gartenwege eifrig hin und wieder schreiten, das Säen und Pflanzen
anordnend, bei dem er früher so gern selber Hand angelegt.

Noch schlichter als die Studierstube ist sein Schlafzimmer. In dem
kleinen Gemache ist außer seinem Bette fast nichts vorhanden als der
Lehnstuhl, in dem er starb, und daneben ein kleines Tischchen, auf dem
noch heute die letzte Medizin steht. Eine Art Waschtisch sehen wir
noch, ein sehr kleines Ding mit einem sehr kleinen Waschbecken, wie wir
es jetzt kaum noch in Dorfwirtshäusern vorfinden.

       *       *       *       *       *

Eine Eigentümlichkeit Goethes war sein Bedürfnis, mehrere Wohnungen
gleichzeitig zu haben und mit ihnen zu wechseln. Diese „etwas breite
Existenz“, die er im eigentlichen, räumlichen Sinne führte, erklärt
sich nicht völlig aus den verschiedenen Darbietungen und Forderungen
der Jahreszeit oder aus seinen verschiedenen Beschäftigungen. Eine
Unrast, die ihn sein ganzes Leben zuweilen ergriff, und andere,
innerliche Gründe veranlaßten ihn oft, der gewöhnlichen Umgebung
zu entfliehen. Schon in seinen ersten weimarischen Jahren hatte er
zugleich Stadtwohnungen[5] und sein Häuschen an der Ilm, und dies
mehrfache Wohnen behielt er sein Leben lang bei. Im Januar 1794 plante
Goethe, obwohl er doch schon zwei Besitzungen hatte, den Ankauf
eines großen Landgutes, das 45000 Taler kosten sollte. Einige Jahre
(1798-1803) besaß er, wie schon erwähnt, das Freigut in Oberroßla;
1808 hatte er große Lust, sich in Frankfurt eine Wohnung zu längeren
Besuchen zu mieten.[6]

Vom Sommer 1794 an wohnte Goethe auf viele Jahre in zwei Städten
abwechselnd. Denn er hielt sich nun Monate lang auch in Jena auf, teils
aus eigenem Triebe, weil er dort ungestörter arbeiten konnte, teils
weil der Herzog und sein Ministerkollege Voigt seinen Einfluß auf die
Professoren für zuträglich hielten.

In der ersten Zeit hatte er sein dortiges Quartier im Schlosse. Es
scheint aber, daß er in diesem Schlosse nur ein einziges kleines
Zimmer zum Wohnen und Schlafen benutzte. Im Mai 1809 richtete er sich
im Botanischen Garten „eine Art zweiter Wohnung“ ein. Im Frühjahr und
Sommer 1818 schlief er bei Inspektor Bischoff, verbrachte die Tage
aber in einer Mansarde des Gasthofs zur Tanne in Kamsdorf, also an der
Brücke auf der andern Seite der Saale: es war ihm um den Blick auf
den Fluß und die weite Aussicht zu tun. Frau Frommann schilderte dies
Mansardenzimmer ihrem Sohne:

  In der Mitte ein großer Tisch mit Landkarten, auch solche vom Harz
  und Thüringer Waldgebirge, wo es unruhig wird und braut, denn er
  beobachtet mit Gläsern und bloßen Augen die Wolken, führt darüber
  ein Tagebuch. Auch Bücher liegen auf dem Tisch und eine Vase Blumen
  mit angesteckten Zetteln. Die ganzen Wände sind bedeckt mit guten
  Zeichnungen, Kupferstichen, zierlich in den Ecken angeheftet. An der
  einen Seite ein großes, wohl vier Ellen langes Panorama von Rom, an
  der entgegengesetzten eine etwas kleinere Ansicht von Dünkirchen
  -- die Peterskirche mit den spitzen Türmen -- den Einzug Ludwig
  XIV., Allongenperücken, mit Roß und Mann; gleich darüber eine gute
  Sepiazeichnung von einer Greueltat aus der biblischen Geschichte. Das
  Sofa voll Bücher, Hefte in Menge ... Vor dem Fenster liegt immer der
  artige schwarze Spiegel, um die schönsten Miniaturlandschäftchen zu
  geben. Die Brücke, das rauschende Strömen der Saale geben herrliche
  Unterhaltung ... Keine Bequemlichkeit im ganzen Raum als das Bett,
  worauf er sich abwechselnd legt.

Nicht viel anders sah es in seiner Wohnung im Botanischen Garten
aus, die er doch auch viele Jahre beibehielt. Er sprach selber im
Herbst 1821 von einer „unscheinbarsten Hütte“ oder der „morschen
Schindelhütte“, in der er dort lebe. Ein junger Balte, v. Weltzien,
fand diese Wohnung von außen „sehr schofelig“ und drinnen nicht viel
besser.

  Goethe hält sich gewöhnlich in einem Zimmer eine Treppe hoch auf,
  welches blau angestrichen und mit vielen Kupferstichen behängt ist.
  Im Zimmer selbst sieht es ziemlich liederlich aus; alle Tische
  und Fenster liegen voll Kalender, Bücher usw. Nebenan stößt eine
  Schlafkammer.

Man kann sich Goethe recht gut in den herrlichsten Räumen denken, und
er hat sich oft darin bewegt. Aber seine eigentliche Heimat hatte er
doch in bescheidensten Stübchen. So sprach sich der Achtzigjährige zu
Eckermann aus:

  Prächtige Gebäude und Zimmer sind für Fürsten und Reiche. Wenn man
  darin lebt, fühlt man sich beruhigt; man ist zufrieden und will
  nichts weiter. Meiner Natur ist es ganz zuwider. Ich bin in einer
  prächtigen Wohnung, wie ich sie in Karlsbad gehabt, sogleich faul und
  untätig. Geringe Wohnung dagegen, wie dieses schlechte Zimmer, worin
  wir sind, ein wenig unordentlich-ordentlich, ein wenig zigeunerhaft,
  ist für mich das Rechte; es läßt meiner Natur volle Freiheit, tätig
  zu sein und aus mir selber zu schaffen.


  [2] Goethes Tagebuch, 18. Mai 1776.

  [3] Eckermann unter dem 22. März 1824.

  [4] Außer diesem Garten besaß Goethe seit 1796 durch Christianes
      Betreiben ein Krautland hinter der Lotte (jetzt Lassenstraße 27);
      bei seinem Tode vermachte er es seinem letzten Diener Friedrich
      Krause.

  [5] Burgplatz 1, Fürstenhaus und Seifengasse 16.

  [6] Übrigens besaß Goethe 1818 am Alten Markte in Frankfurt ein
      kleines Haus, das er vielleicht nie betreten oder auch nur
      angesehen hat. Er hatte von der Mutter her einen Insatz darauf,
      den er ausklagen mußte, weil der Mieter die Zinsen nicht
      bezahlte; in der Versteigerung mußte er das Haus kaufen.




III.

Äußere Erscheinung.


Wir haben von Goethe viele Bilder: sehr verschieden wirken sie auf uns.
Und ebenso verschieden sind die Schilderungen Derer, die ihm in seinem
Stadthause aufwarteten. Die Einen fanden ihn sehr groß, die Andern
„keineswegs von hervorragender Größe.“ Die Einen erblickten ein Ideal
männlicher Schönheit, die Andern wissen nichts davon zu berichten.
Manche fanden ihn, wie sie ihn sich gedacht hatten; Andere sagten, er
sehe aus wie ein Forstmeister, ein Gutsbesitzer oder ein Großkaufmann.
Den Einen erschien er überaus sympathisch, mit einem einzigen Blicke
Liebe und Verehrung erweckend; Andern war er „ein langer, alter,
eiskalter Reichsstadtsyndikus,“ und sie atmeten auf, wenn sie seine
Eisluft hinter sich hatten.

So verschieden sehen die Menschen durch ihre Gefühle hindurch! Aber
Goethe war auch nicht immer der Gleiche. Groß erschien er, wenn er
sich recht steif und gerade hielt und würdig auftrat, und Das pflegte
er Fremden gegenüber zu tun; in Wirklichkeit war er nicht so groß,
wie wir ihn uns gern denken. Nach einer Marke im Gartenhause, die
für sein Maß gilt, würden wir ihm für seine jungen Jahre 1,77 ~m~
zuschreiben.[7] Und seine Schönheit hing sehr von den Stimmungen ab;
in erhöhten Stunden sahen seine Bewunderer in ihm einen Apollo oder
Jupiter; kritische Betrachter dagegen bemerkten einige Pockennarben im
Gesicht, sahen, daß sein linkes Auge größer war oder höher saß als das
rechte, daß die Nase schief gegen die Stirne stand, daß der zahnlose
Mund eingefallen und beim Reden unschön war, daß er gelbe Zähne hatte.
Sie fanden, daß seine Beine zu kurz seien; in seinen fünfziger Jahren
war er auch übermäßig dick. Sicherlich war der Jüngling und der Greis
erheblich schöner als der Mann im mittleren Alter.

Ein Bild des jungen Mannes entwarf ein langjähriger Diener: „Als ich
bei ihm kam, mochte er etwa siebenundzwanzig Jahre alt sein; er war
sehr mager, behende und zierlich, ich hätte ihn leicht tragen mögen.“
Gleim bemerkte um die gleiche Zeit „außer einem Paar schwarzglänzender
italienischer Augen, die er im Kopfe hatte,“ nichts Auffallendes.

[Illustration: Goethes erhaltene Kleider.]

[Illustration: Goethe 1791.

Von +Heinrich Lips+.]

[Sidenote: Urteile über das Äußere]

Oberthür aus Würzburg glaubte schon im 28jährigen Goethe „einen tief
denkenden, ernsthaften, kalten Engländer dem Kleide und der Miene nach“
zu sehen; den „lustigen, launigten, auch ein wenig mutwillig-lustigen
Gesellschafter,“ von den man redete, hätte er in diesem Manne nie
erraten. „Nach und nach merkte ich, daß der Dichter sich noch mehr
in sich selbst zurückzog, stille wurde, ernsthaft und kalt wie in
einem englischen Spleen dastunde.“ Immer wieder werden seine Augen
hervorgehoben. „Das weiß ich, daß in seinen großen, hellen Augen der
ganze Goethe strahlte“ schreibt die Tochter der Karschin, und der
junge Schauspieler Iffland: „Goethe hat einen Adlerblick, der nicht zu
ertragen ist.“

Schiller urteilte 1788:

  Er trägt sich steif, geht auch so, sein Gesicht ist verschlossen,
  aber sein Auge sehr ausdrucksvoll, und man hängt mit Vergnügen
  an seinem Blicke. Bei vielem Ernst hat seine Miene doch viel
  Wohlwollendes und Gutes. Er ist brünett und schien mir viel älter
  auszusehen, als er es sein kann. Seine Stimme ist überaus angenehm.

Die Dichterin Friederike Brun schilderte ihn, wie er 1795 in Karlsbad
zu ihr kam.

  Anspruchsloser, wie er es ist, in seinem Reden und Schweigen, in
  seinem Gehen und Stehen, ist es unmöglich zu sein. Sein Gesicht ist
  edel gebildet, ohne gleich einen inneren Adel entgegen zu strahlen;
  eine bittere Apathie ruht wie eine Wolke auf seiner Stirn. Bei einem
  schönen männlichen Wuchse fehlt es ihm an Eleganz, und seinem ganzen
  Wesen an Gewandtheit.

Sie versuchte, wie viele andere Frauen und auch wohl Männer, die
Gestalten seiner Dichtungen oder den Verfasser dieser Dichtungen in ihm
zu erkennen. Zunächst sah er nur wie der Urheber des ‚Wilhelm Meister‘
aus; bei weiterem Umgang sah sie aber auch den Faust, den Werther und
Egmont hervorleuchten; nur bis zu Tasso und Iphigenie stieg er nicht
empor. Einmal sah er leibhaftig aus wie Faust. „Bald glaubte ich ihn
auf dem Faß zu sehen, und dann glaubte ich wieder, der Gottseibeiuns
würde ihn auf der Stelle holen.“

Dies waren schon die Jahre, wo seine Dickigkeit das Bild verdarb und
auch häufige Kränklichkeit und viel Hypochondrie sich abzeichneten.
Später aber entstand eine neue Schönheit. Den älteren Mann scheint der
schon genannte Mediziner v. Weltzien 1820 sehr unparteiisch zu zeichnen:

  Sein Gesicht hat ungeachtet der tiefen Furchen und Runzeln,
  die zweiundsiebzig Lebensjahre hineingegraben haben, einen
  außerordentlichen Ausdruck, den ich aber ganz anders fand, als ich
  erwartete: nichts von Arroganz, nichts von Menschenverachtung,
  sondern etwas ganz Unnennbares, wie es Männern eigen zu sein pflegt,
  die durch vielfältige Erfahrungen und Schicksale und gleichsam
  im Kampf durch das Leben gegangen sind und nun im Gefühl ihrer
  wohlerhaltenen Integrität mit beneidenswerter Gemütsruhe der
  Zukunft entgegensehen. In diesem Ausdrucke mischt sich bei Goethe
  ein unverkennbarer Zug von Herzensgüte und zugleich ein andrer
  von besiegter ehemaliger Leidenschaftlichkeit, welche noch in dem
  unsteten Wesen seines Blicks sich offenbart. Diesem Ganzen verleiht
  das graue Haar einen noch größeren Zauber.

Ganz ähnlich scheint Goethe selber über sein Aussehen gedacht zu haben,
denn 1818 schreibt er in dem Aufsatze ‚Antik und modern‘:

  Ein geübter Diplomat, der meine Bekanntschaft wünschte, sagte,
  nachdem er mich bei dem ersten Zusammentreffen nur überhin angesehen
  und gesprochen, zu seinen Freunden: ~Voilà un homme qui a eu de
  grands chagrins!~ Diese Worte gaben mir zu denken. Der gewandte
  Gesichtsforscher hatte recht gesehen, aber das Phänomen bloß durch
  den Begriff von Duldung ausgedrückt, was er auch der Gegenwirkung
  hätte zuschreiben sollen. Ein aufmerksamer, guter Deutscher hätte
  vielleicht gesagt: Das ist auch Einer, der sich’s hat sauer werden
  lassen!

In den Tagebüchern des Grafen Platen finden wir eine Schilderung von
1821:

  Er ist sehr groß, von starkem, aber nicht in’s Plumpe fallendem
  Körperbau. Bei seiner Verbeugung konnte man ein leichtes Zittern
  bemerken. Auch auf seinem Angesichte sind die Spuren des Alters
  eingeprägt. Die Haare grau und dünn, die Stirn ganz außerordentlich
  hoch und schön, die Nase groß, die Formen des Gesichts länglich, die
  Augen schwarz, etwas nahe beisammen, und wenn er freundlich sein
  will, blitzend von Liebe und Gutmütigkeit. Güte ist überhaupt in
  seiner Physiognomie vorherrschend.

Platen fährt fort: „Bei der Feierlichkeit, die er verbreitet, konnte
das Gespräch nicht erheblich werden,“ und der Theologe Stickel
berichtet von seinem Besuche 1827: „Unwillkürlich verneigte ich mich so
tief wie sonst noch vor keinem Sterblichen; eine innere Gewalt beugte
mich nieder.“

       *       *       *       *       *

Ebenso wie in Haltung und Auftreten, so war Goethe auch in der Kleidung
das volle Gegenteil Friedrichs des Großen, von dessen verschabtem
blauen Rock und buckliger Gestalt er einmal spricht. Zwar in jungen
Jahren legte auch er wenig Wert auf seine Kleidung, und namentlich
fragte er nicht nach Mode oder Sitte und erregte dadurch in Frankfurt
oft Anstoß. Wo alle andern in feierlichen Kleidern erschienen, war er
nachlässig gekleidet; „er ist ganz sein, richtet sich nach keiner
Menschen Gebräuchen“ schreibt der Maler Kraus 1775 von ihm. Daß er im
Hause der vermeintlichen Schwiegermutter Schönemann elegant und modisch
auftreten sollte, um zu ihrem Vermögen, ihrer Geselligkeit und ihren
Möbeln zu passen, behagte ihm gar nicht; lieber ließ er sich von den
Freunden Bär oder Hurone oder Westindier schelten. Am liebsten ging er
in grauem Biberfrack mit lose geschlungenem braunseidenem Halstuch.

[Sidenote: Kleidung]

Als er dann im Frühjahr 1775 seiner Braut und ihrer Mutter mit
den Grafen Stolberg entfloh, trugen sie alle „Werther-Uniform“,
d. h. blauen Frack mit Messingknöpfen, gelbe Weste, Lederhose und
Stulpenstiefel; namentlich die Stiefel waren ganz gegen die damalige
Kleiderordnung, die in besserer Gesellschaft seidene Strümpfe und
Schuhe vorschrieb. Auch nach Weimar kam er in dieser Kleidung. Das
Naturburschentum war damals Mode, und Goethe war ein Führer dieser
Mode. Er entsetzte die Damen durch sein Fluchen bei Tische, brauchte
gern unanständige Ausdrücke und machte sich nichts daraus, wenn sein
Lieblingswort „Kerl“ Anderen nicht gefiel. Aber bald übernahm er
Ämter und Pflichten, und zu gleicher Zeit kam er in die Erziehung der
geliebten Charlotte v. Stein; er ward an sich haltender, auf seine
äußere Erscheinung bedachtsamer. Auf einem Schattenbilde von 1778
sehen wir ihn mit Haarbeutel, Spitzenkrause, eng anliegendem Rock, der
bis über die Knie reicht, seidenen Strümpfen und Schnallenschuhen.
Matthisson schildert ihn 1783 als „stattlichen Mann in goldverbrämtem
blauem Reitkleid.“ Johanna Schopenhauer verliebte sich ein wenig in
den berühmten Dichter, als er ihr im Herbst 1806 bei ihrem Eintritt
in Weimar die Ehre erwies, sie häufig zu besuchen. Trotzdem sind ihre
Schilderungen seiner Person zuverlässig genug.

  Er ist das vollkommenste Wesen, das ich kenne, auch im Äußeren. Eine
  hohe, schöne Gestalt, die sich sehr gerade hält, sehr sorgfältig
  gekleidet, immer schwarz oder ganz dunkelblau; die Haare recht
  geschmackvoll frisiert und gepudert, wie es seinem Alter ziemt, und
  ein gar prächtiges Gesicht mit zwei klaren braunen Augen, die mild
  und durchdringend zugleich sind. Wenn er spricht, verschönert er sich
  unglaublich.

  Ein ausdrucksvolleres, mobileres Gesicht habe ich nie gesehen. Wenn
  er erzählt, ist er immer die Person, von der er spricht. Der Ton
  seiner Stimme ist Musik. Jetzt ist er alt, aber er muß schön wie ein
  Apoll gewesen sein.

Goethe wechselte offenbar gern zwischen sehr schlichten und sehr
feinen Anzügen. Die Freunde sahen ihn im Alter öfters in Hemdsärmeln
sitzen, wenn der Tag heiß war, oder im Winter im dicken wollenen
Wams behaglich an seinem geliebten breiten Ofen stehen. Selbst am
Mittagstisch saß er im Sommer zuweilen in Hemdsärmeln. Er empfing
auch wohl Freunde im weißen flanellenen Schlafrock, und wenn ihn in
diesem Kostüm gerade ein Bruder Napoleons überraschte, brachte ihn Das
auch nicht in Verlegenheit. Aber wo er sich vorbereiten konnte, ließ
er sich doch standesgemäß ankleiden. Weltzien notiert 1820: „Ganz in
Gala, schwarzer, feiner Frack, worauf der große Stern des Falkenordens
prangte, schwarze Pantalons nebst Stiefeln, eine weiße Weste und sehr
feine Manschetten, so daß ich nicht begreifen konnte, wie ein Mann in
solchem Alter sich zu Hause solchen Zwang antut.“ Da hatte ihm Goethe
eben nicht gesagt, daß er den Großherzog erwarte. Gustav Carus erwähnt
1821: „blauen Zeugüberrock, kurzes, etwas gepudertes Haar.“ Der Pole
Odyniec sah 1829 „einen dunkelbraunen, von oben herab zugeknöpften
Überrock, auf dem Halse ein weißes Tuch, das durch eine goldene Nadel
kreuzweis zusammengehalten wurde, keinen Kragen.“ In zwei verschiedenen
Gestalten erschien er 1826 dem Dichter Grillparzer. Zuerst in einer
großen Gesellschaft: „schwarz gekleidet, den Ordensstern auf der Brust,
gerader, beinahe steifer Haltung trat er unter uns, wie ein Audienz
gebender Monarch.“ Ein paar Tage später gingen sie im Hausgarten auf
und ab, und Goethe war viel gemütlicher und herzlicher:

  Sein Anblick in dieser natürlichen Stellung, mit einem langen
  Hausrock bekleidet, ein kleines Schirmkäppchen auf den weißen Haaren,
  hatte etwas unendlich Rührendes. Er sah halb wie ein König aus und
  halb wie ein Vater.

       *       *       *       *       *

[Sidenote: Halb ein König, halb ein Vater]

„Und schreien kann er wie 10000 Streiter“ schreibt Felix Mendelssohn
in der Übertreibung, die die Jugend liebt; „einen ungeheuren Klang
der Stimme hat er.“ Schwerhörige dagegen klagten, daß Goethe zu
leise spräche und, wenn er ihnen zu liebe die Stimme erhöbe, sie
doch sogleich wieder sinken ließe. Alle Berichte sagen, daß Goethes
Stimme ein sehr wohlklingender Baß gewesen sei und daß er rezitierend
oder deklamierend großen Eindruck machte. Uns Heutige würde es
vielleicht stören, daß der berühmte Dichter, ebenso wie Schiller und
fast alle Zeitgenossen, seine heimatliche Mundart nie ganz aufgab.
Eine Schulsprache gab es damals noch nicht, und ebensowenig hatte
das Theater die Deutschen in dieser Hinsicht schon einiger machen
können. So sprach Goethe, wenn er sich gehen ließ, „frankfortsch“, und
dem Berliner, der sich über das Berlinische seiner Landsleute nicht
wunderte, fiel das natürlich auf. So dem ~Dr.~ Parthey, der am 28.
August 1827 mit August Goethe nahe der Tür eines Zimmers stand, in dem
der Dichter die Fürstlichkeiten, die ihm zum Geburtstag gratulierten,
empfing. Goethe trat plötzlich heraus und sagte eilig zu seinem Sohne
im echtesten Frankfurter Dialekte: „August, der König von Bayern will ä
Glas Wasser habbe!“ --

„Man soll sich sein Recht nicht nehmen lassen“ meinte Goethe zu Jakob
Grimm; „der Bär brummt nach der Höhle, in der er geboren ist“.


  [7] 1,74 ~m~ gibt Kuhn in seinem Buche ‚Aus dem alten Weimar‘
      (Wiesbaden, 1905) an; er stützt sich auf die Berechnungen eines
      Anatomen und eines Schneidermeisters aus Goethes erhaltenen
      Kleidern, gibt also die Zahlen für das Alter. Danach maß Goethe
      ferner von der Mitte bis zur Fußsohle 97 ~cm~; die vordere
      Armlänge war 57 ~cm~, der Brust- und Rückenumfang 113 ~cm~,
      der Umfang der Mitte 126 ~cm~, die Schulterbreite 12 ~cm~, der
      Kopfumfang 60 ~cm~.




IV.

Verhalten gegen Fremde.


Wir haben schon bemerkt, daß Goethe im Umgang mit den Menschen sehr
verschieden sein konnte; sein junger Freund Felix Mendelssohn war von
dieser wandelbaren und reichen Natur so betroffen, daß er meinte, man
werde in Zukunft gar nicht an +einen+ Goethe, sondern an eine Schar
Goethiden glauben. Über seine Verkehrsformen gingen schon bei seinen
Lebzeiten und selbst in Weimar die verschiedensten Gerüchte. Die Einen
erklärten ihn für stolz und patzig, steif und arrogant und warnten die
Neugierigen vor seinen „stummen Audienzen“ oder erzählten: „jedes Wort
sei Eis“; die Andern wußten seine Liebenswürdigkeit nicht genug zu
rühmen.

[Sidenote: Verschlossenheit]

Wir dürfen nicht erwarten, daß ein berühmter Mann, wenn wir ihn bei
einer geliebten Arbeit stören, und wenn uns vielleicht schon hundert
lästige Menschen als Räuber seiner Zeit zuvorgekommen sind, uns noch
mit natürlicher Herzensgüte empfängt und aufrichtige Freude über unsern
Besuch widerstrahlt. Goethe aber hat das nicht leichte Schicksal
gehabt, sechzig Jahre einer der berühmtesten Europäer zu sein, den
Viele sehen und sprechen wollten, den Tausende aus Neugier oder
Bewunderung oder zur späteren Prahlerei belästigten. Er mußte wohl
lernen, sich zu versteinern und einen Graben der Furcht um sich zu
ziehen.

Etwas Anderes kam hinzu. Die genialen Menschen sind nicht so
sehr Herren ihrer selbst als die talentvollen; sie sind nicht so
anpassungsfähig, so beständig sattelgerecht. Goethe fühlte sich in
Gesellschaft oft unfrei und unbeholfen. Und er wußte, daß sein Geist
in anderer Richtung sich bewegte als der Zeitgeist, daß er darum
auch eine besondere Sprache sprach und überall wenig Aussicht hatte,
recht verstanden zu werden. Gut beurteilt hat ihn der Oberbergrichter
(spätere Minister) v. Schuckmann, der 1790 in Breslau mit Goethe
freundschaftlich verkehrte:

  Daß es schwer ist, ihm näher zu kommen, liegt nicht in seinem Willen,
  sondern in seiner Eigentümlichkeit, in der Sprachschwierigkeit, seine
  Gefühle und Ideen so, wie sie in ihm liegen, auszudrücken ... +Bis er
  weiß+, daß man ihn errät, fühlt, ihm durch jede Öffnung, die er gibt,
  hineinsieht, kann er nicht reden.

Und in einem späteren Briefe:

  Was ich Dir über seine Schwierigkeit im Ausdruck schrieb, war ganz
  weg, sobald er herzlich ward und außer der Konvention mit mir lebte.
  Kalt kann er eigentlich nicht reden, und dazu will er sich mit
  Fremden zwingen, und Das wohl aus guten Gründen. Vertraut, folgt er
  seiner Natur und wirft aus dem reichen Schatze die Ideen in ganzen
  Massen hervor ... Freilich, alle übrigen Menschen hier, von Garve bis
  Seydlitz, finden, daß er sich sonderbar ausdrücke, daß er nicht zu
  verstehen sei und lästige Prätentionen mache. Und doch hat er sich
  von meiner guten Mutter recht vertraulich die Wundertaten des Enkels
  und ihre Wirtschaft erzählen lassen, die ihn auch recht lieb darum
  hat!

In Gesellschaften, wo Goethe nicht Jedermann für Gutfreund nehmen
konnte, hatte er ein besonderes Mittel, etwaige Auflauernde und
Zwischenträger lahm zu legen: er sagte nichts von Bedeutung. Schon der
Fünfundzwanzigjährige tat gegen seinen unvorsichtigen Freund Lavater
den Ausspruch: „Sobald man in Gesellschaft ist, nimmt man vom Herzen
den Schlüssel ab und steckt ihn in die Tasche; Die, welche ihn stecken
lassen, sind Dummköpfe.“ Aber auch vom Geiste nahm er den Schlüssel
ab. Karoline v. Dacheröden, später Wilhelm v. Humboldts Frau, war 1790
einen Abend mit ihm zusammen. „Er ging mir fast nicht von der Seite,
sprach offen, so geistvoll und herzlich; aber wenn ein Dritter dazu
kam, sprach er das fadeste Zeug, das man denken mag.“ Ebenso erzählt
ein Baron Merian aus Basel, der in Dresden 1810 in Goethes Gesellschaft
kam: „Er sprach von ganz gewöhnlichen Dingen auf eine ganz gewöhnliche
Weise: Das tut er mit Fleiß.“ Sehr groß war die Enttäuschung der Klara
Kestner aus Hannover, als sie ihre Mutter im September 1816 zu Goethe
geleiten durfte: diese Mutter war die berühmte Lotte Buff aus Wetzlar!
Goethe hatte sie vor Jahren fast allzu sehr geliebt und seitdem nicht
mehr gesehen; nur in der Weltliteratur lebten ihre Namen zusammen. War
nun ein zärtliches oder ein feierliches Wiedersehen zu erwarten? Ach,
Goethe empfing sie, wie wenn irgend eine Dame aus Weimar, die er erst
vorige Woche gesprochen, zu ihm komme. Und auch als sie bei Tische
saßen, gab es keine Blitze und Feuerfunken.

  Leider waren alle Gespräche, die er führte, so gewöhnlich, so
  oberflächlich, daß es eine Anmaßung für mich sein würde, zu sagen:
  ich hörte ihn sprechen oder ich sprach ihn. Denn aus seinem Innern
  oder auch nur aus seinem Geiste kam Nichts von Dem, was er sagte.
  Beständig höflich war sein Betragen gegen Mutter und gegen uns alle:
  wie Das eines Kammerherrn.

Die Berichterstatterin fügt hinzu, ihr Onkel Riedel, der in Weimar
lebte und mit in der Gesellschaft war, habe Goethes Betragen mit
seiner bekannten Steifigkeit, ja Blödigkeit entschuldigt; diesmal
kam aber auch der Vorsatz hinzu, sich nicht vor Zuschauern zu einem
Gefühls-Ausbruche zwingen zu lassen, dessen Schilderung dann in Briefen
oder gar Zeitungsartikeln die Neugierde der Leser befriedigte.

       *       *       *       *       *

[Sidenote: Im Volke verschwindend]

Gern entfloh Goethe seiner eigenen hochgebauten Festung und lebte in
den Tälern als Mensch unter Menschen. Als er zehn Jahre in Weimar
verbracht hatte, klagte er: „was wir in den kleinen souveränen Staaten
für elende einsame Menschen sein müssen, weil man, und besonders in
meiner Lage, fast mit Niemand reden darf, der nicht was wollte oder
möchte.“ Auch deshalb verbrachte er gern ganze Monate im nahen Jena,
wo er ungestört arbeiten konnte, oder in Bädern. Deshalb reiste er
auch gern unter fremdem Namen. Er hatte schon als Jüngling viel Lust
zu Mummereien und hat oft in Verkleidungen seinen Scherz getrieben;
später war die Verkleidung eine Notwehr gegen seinen berühmten Namen
und eine gelegentliche Absonderung von sich selbst, wie er sie in
seinem Streben nach Objektivität liebte. Am wohlsten fühlte er sich,
wenn er unerkannt reisen und behaglich unter dem Volke sich bewegen
konnte. Nach Italien fuhr er 1786 als der Kaufmann Philipp Möller aus
Leipzig; aus einem Dachsranzen und einem Köfferchen bestand sein ganzes
Gepäck, und schon aus Bayern schreibt er ganz vergnügt über seinen
neuen Zustand an Frau v. Stein: „Da ich ohne Diener bin, bin ich mit
der ganzen Welt Freund. Jeder Bettler weist mich zurechte, und ich
rede mit den Leuten, die mir begegnen, als wenn wir uns lange kennten.
Es ist mir eine rechte Lust.“ Dann machte es ihm Spaß, daß er einem
alten Weibe für einen Kreuzer Birnen abkaufen und sie ~publice~ „wie
ein anderer Schüler“ verzehren konnte. „Herder hat wohl recht, daß ich
ein großes Kind bin und bleibe, und jetzt ist mir so wohl, daß ich
ungestraft meinem kindischen Wesen folgen kann.“ In Italien hielt er es
ebenso. Er machte sich zum Italiener, trug die Kleidung der mittleren
Bürger, gewöhnte sich ihre Gebärden und Bewegungen an und lernte
ihre Sprache so gut, daß er auf Märkten und Gassen unauffällig sich
unter das Volk mischen, seine harmlose Fröhlichkeit, sein Leben und
Lebenlassen teilen konnte.

Oft hat er nachher diese zwei Jahre in Rom und Italien als die
glücklichste Zeit seines Lebens bezeichnet. Es mag ein stillvergnügtes
Treiben gewesen sein, als Filippo Miller, Georgio Zicci, Frederico Bir
und Tisben, d. h. Goethe, Schütz, Bury und Tischbein bei dem Kutscher
Collina und seiner Piera Giovanna wohnten, dem „redlichen alten Paar,
die Alles selbst machen und für uns wie die Kinder sorgen.“ Gleich
nach Goethes Rückkehr reiste Herder nach Italien: Goethe verwies ihn
an seine dortigen Freunde und gab ihm die besten Ratschläge. In Rom
wurde ihm sogleich Goethes vormalige Wohnung angeboten, aber sie war
dem anspruchsvollen Herder nicht vornehm genug; und er mietete sich
eine, die in unserem Gelde 53 Mark monatlich kostete. „Goethe hat
gut reden“ schrieb er seiner Gattin heim, „alle seine Ratschläge in
Ansehung Roms taugen nichts; er hat wie ein Künstlerbursche gelebt ...
Auch von Goethes Gesellen habe ich eigentlich wenig: es sind junge
Maler, mit denen am Ende doch nicht viel zu tun ist.“ Herder zog vor,
sich im fremden Lande als den höchsten Geistlichen des weimarischen
Staates kundzutun, und versäumte in Kleidung und Auftreten nichts, was
dem „Bischof von Thüringen“ zukam. Als seine Herzogin Amalie, die zu
gleicher Zeit in Rom war, nicht schnell genug daran dachte, ihn bei den
Kardinälen und Prinzen einzuführen, sagte er ihr geradezu, es schicke
sich nicht, daß sie ihn verleugne; nun tat sie ihm den Gefallen,
brachte ihn in die feinsten Gesellschaften, wo er sich und sein Amt
auch vortrefflich repräsentierte. Aber das Ergebnis war, daß Herder
immer unzufriedener wurde.

  Man kommt in Rom zu nichts, und man wird seiner Zeit nicht froh ...
  Man wird mit Zeremonien überladen, und die Besuche aus Höflichkeit
  werden unendlich, sobald man sich einläßt ... Die große Welt, die
  Kardinäle, Monsignori, Principi und Principesse fangen an mich zu
  ennuyieren. Ein Train von seelenloser Konversation und Observanzen,
  die zuviel Zeit und Geld kosten, als daß sie der Mühe wert wären.

Goethe hatte also doch recht gehabt!

Wenn es ging, mischte er sich auch in Deutschland unter die kleinen
Leute und lebte mit ihnen. Seine Winterreisen in den Harz waren auch
Entfernungen aus der vornehmen Welt; die Briefe, die er im Dezember
1777 aus Goslar an die geliebte Frau v. Stein schrieb, verraten seine
Liebe zum schlichten Menschentum und gemütlichen Verkehr:

  Mir ist’s eine sonderbare Empfindung, unbekannt in der Welt
  herumzuziehen; es ist mir, als wenn ich mein Verhältnis zu den
  Menschen und den Sachen weit wahrer fühlte. Ich heiße Weber, bin ein
  Maler, habe Jura studiert, oder ein Reisender überhaupt, betrage mich
  sehr höflich gegen Jedermann und bin überall wohl aufgenommen. Eine
  reine Ruh und Sicherheit umgibt mich. --

  Hier bin ich nun wieder in Mauern und Dächern des Altertums versenkt.
  Bei einem Wirte, der gar viel Väterliches hat. Es ist eine schöne
  Philisterei im Hause; es wird einem ganz wohl. -- --

  Wie sehr ich wieder auf diesem dunkeln Zug Liebe zu der Klasse von
  Menschen gekriegt habe, die man die niedere nennt, die aber gewiß vor
  Gott die höchste ist! ... Ich trockne nun jetzt an meinen Sachen! Sie
  hängen um den Ofen. Wie +wenig+ der Mensch bedarf und wie lieb es ihm
  wird, wenn er fühlt, wie +sehr er das Wenige+ bedarf!

       *       *       *       *       *

[Sidenote: Zweierlei Masken]

Diesen schlichten, gemütlichen Menschen, dem Frau v. Stein für die
Reise Zwieback in Papier wickelte, der sie um dicke, warme Strümpfe
bat, der in Italien oder im Harze mit armen Leuten fröhlich plauderte
und lachte, ihn bekamen freilich die Fremden in Weimar nicht zu
sehen. Für sie war er oft genug unzugänglich, selbst wenn sie die
erste Mauer durchdrungen hatten und mit ihm auf seinem Sofa saßen. Er
konnte ganz gründlich schweigsam sein und sich auf hm, hm, so! so! und
dergleichen Töne beschränken, die nicht gut als goldene Offenbarungen
des unvergleichlichen Genies weiterzuerzählen waren. Oder er wies die
Besucher einfach ab. „Man muß den Leuten abgewöhnen, einen unangemeldet
zu überfallen“ sagte er 1824 zum Kanzler v. Müller; „man bekommt doch
immer andre, fremde Gedanken durch solche Besuche, muß sich in ihre
Zustände hineindenken. Ich will keine fremden Gedanken, ich habe an
meinen eigenen genug, kann mit Diesen nicht fertig werden.“

Menschen von feinem Gefühl sagten sich Das selber, daß Goethe an
seiner eigenen geistigen Arbeit genug habe, und gerade durch ihre
Zurückhaltung fanden sie dann vielleicht Zugang. Im Herbst 1815 traf
Goethe in Heidelberg in der Bildersammlung des gemeinsamen Freundes
Boisserée zwei von den drei berühmten Brüdern Grimm: Wilhelm und
Ludwig. „Hat denn Goethe nicht von den ‚Märchen‘ gewußt?“ fragte nach
Wilhelms erstem Berichte Jakob, „hast Du ihm nicht den ‚Armen Heinrich‘
gegeben?“ Und Wilhelm erwiderte:

  Goethe habe ich weder den ‚Armen Heinrich‘ gegeben, noch von den
  ‚Märchen‘ etwas Näheres gesagt. Da er sich wohl bewußt sein mag,
  wie leicht er an Etwas teilnimmt, so hat er eine eigene wunderliche
  Scheu -- man kann sagen: Ängstlichkeit -- daß ihm ja Nichts zu nahe
  rückt, und er weicht gewiß aus und setzt sich eiskalt hin, wenn man
  von Etwas mit Lebhaftigkeit und Eifer spricht, das er noch nicht
  kennt ... Ich habe ihm daher kein Wort von der altdeutschen Poesie
  gesagt, bis er in Heidelberg von selbst zu mir kam und mich fragte,
  mit welcher literarischen Arbeit wir uns jetzt beschäftigen ..... Der
  Louis hat es aus natürlichem Gefühl ebenso gemacht, und zu Dem ist
  er auch gekommen, hat ihn über die Rheinreise gefragt u. dgl., recht
  liebreich.

[Sidenote: Plagegeister]

Auch noch in hohem Alter verriet Goethe die Verlegenheit und
Unbeholfenheit, wenn er mit Fremden -- ehrlichen Bewunderern,
Schmeichlern, Ausforschern oder was sie sonst sein mochten -- zu tun
hatte. Der junge Holtei, der als Rezitator herumreiste, sah es ihm
an, als der Greis zur erbetenen Audienz in das Zimmer trat. „Ja, bei
Gott, Goethe zeigte sich verlegen vor +mir+! War er’s doch vor jedem
Unbekannten, der sich ihm aufdrang! Hab’ ich’s doch später aus seinem
eigenen Munde vernommen, wie peinlich solche unvermeidliche, vom
Weltruhm unzertrennliche Scenen ihm gewesen sind!“

Bewundernswert ist aber doch, daß er so viele, so unbedeutende Menschen
annahm, und oft erscheint er uns merkwürdig gutmütig. Einmal auf der
Dornburg meldete ihm, dem Achtzigjährigen, der Gärtner: drei Studenten
seien draußen. Aber Goethe mochte nicht gestört sein: „Ich weiß nicht,
was die jungen Leute immer von mir wollen.“ Der Gärtner verriet durch
seine traurige Miene, daß er den Studenten Hoffnung auf gute Aufnahme
gemacht hatte. „Nun, wenn es +Ihnen+ lieb ist, lassen Sie sie immer
herein!“ Und er entzückte die Jünglinge so, daß sie nachher auf sein
Wohl einige Flaschen Wein begeistert leerten.

       *       *       *       *       *

[Sidenote: Bewundernde Frauen]

Gegen Plagegeister, die ihm seine Pläne durchkreuzten und die Zeit
verdarben, konnte er recht deutlich sein, selbst wenn es Damen waren.
Freilich wurde er gerade von weiblicher Bewunderungssucht arg belästigt.

Der Maler Wilhelm v. Kügelgen hat in seinen ‚Erinnerungen eines alten
Mannes‘ eine drollige Geschichte erzählt. Es war in Dresden am 24.
April 1813. Goethe trat bei seiner Mutter ein und bat sie, von ihrem
Fenster aus den Einzug des russischen Kaisers und des preußischen
Königs, ohne sie zu stören, ansehn zu dürfen. Frau v. Kügelgen
verstand, daß +er+ ungestört sein wolle, und so vermied sie es, ein
Gespräch mit ihm anzuknüpfen, während er mit Behagen am Fenster stand,
nach seiner Art die Hände auf dem Rücken. Sie wußte, wie sehr ihn
die schöngeistigen Damen sonst bedrängten, und schwieg deshalb. Da
fing Goethe mit ihr und ihrem kleinen Knaben von selber freundlich zu
plaudern an. Lassen wir diesen Knaben als alten Mann weitererzählen:

  Indem ward heftig an der Klingel gerissen. Ich sprang fort, um
  die Tür zu öffnen, und herein drang eine unbekannte Dame, groß
  und stattlich wie ein Kachelofen und nicht weniger erhitzt. Mit
  Hast rief sie mich an: „Ist Goethe hier?“ -- „Goethe!“ Das war
  kurz und gut! Die Fremde gab ihm gegen mich, den fremden Knaben,
  weiter kein Epitheton; und kaum hatte ich Zeit, mein einfaches
  Ja herauszubringen, als sie auch schon, mich fast übersegelnd,
  unangemeldet und ohne üblichen Salutschuß wie ein majestätischer
  Dreidecker in dem Zimmer meiner Mutter einlief. Mit offenen Armen auf
  ihren Götzen zuschreitend, rief sie: „Goethe! ach Goethe! wie habe
  ich Sie gesucht! Und war denn Das recht, mich so in Angst zu setzen!“
  Sie überschüttete ihn nun mit Freudenbezeugungen und Vorwürfen.

  Unterdessen hatte sich der Dichter langsam umgewendet. Alles
  Wohlwollen war aus seinem Gesichte verschwunden, und er sah düster
  und verstimmt aus wie eine Rolandssäule. Auf meine Mutter zeigend,
  sagte er in sehr prägnanter Weise: „Da ist auch Frau v. Kügelgen!“
  Die Dame machte eine leichte Verbeugung, wandte dann aber ihrem
  Freunde, dessen üble Laune sie nicht bemerkte, ihre Breitseiten
  wieder zu und gab ihm eine volle Ladung nach der andern von
  Freudenbezeugungen, daß sie ihn glücklich geentert, beteuernd, sie
  werde sich diesen Morgen nicht wieder von ihm lösen. Jener war in
  sichtliches Mißbehagen versetzt. -- -- Er knöpfte seinen Oberrock
  bis an’s Kinn zu, und da mein Vater eintrat und die Aufmerksamkeit
  der Dame, die ihn kannte, für einen Augenblick in Anspruch nahm, war
  Goethe fort.

Noch komischer ist, was die Frau Dutitre, eine Berliner Berühmtheit,
manches Mal mit Stolz erzählte.

  Ick hatte mir vorjenommen, den jroßen Joethe doch ooch mal zu
  besuchen, und wie ick mal durch Weimar fuhr, jing ick nach seinem
  Jarten und jab dem Järtner einen harten Taler, daß er mir in eine
  Laube verstechen und einen Wink geben sollte, wenn Joethe käme. Und
  wie er nun die Allee runter kam und der Järtner mir gewunken hatte,
  da trat ick raus und sagte: „Anjebeteter Mann!“

  Da stand er stille, legte die Hände auf den Rücken, sah mir jroß an
  und fragte: „Kennen Sie mir?“

  Ick sagte: „Jroßer Mann, wer sollte Ihnen nicht kennen!“ und fing an
  zu deklamieren:

    „Fest jemauert in der Erden
    Steht die Form, aus Lehm jebrannt.“

  Darauf machte er mir einen Bückling, drehte sich um und jing weiter.
  So hatte ick denn meinen Willen jehabt und den jroßen Joethe jesehn.

Kaum besser ward zu Heidelberg im Sommer 1814 der Geheime Kirchenrat
Schwarz bedient, der als Verfasser eines bekannten pädagogischen
Werkes, als Schwiegersohn Jung-Stillings und als Würdenträger sich
für berechtigt hielt, Goethes Gesetze zu durchbrechen. Goethe ging
morgens ganz früh auf privaten Wegen zur Schloßruine, um den schönen
Blick allein und ungestört zu genießen; als er eines Tages zu seinem
geliebten Platze kam, saß dort Schwarz, und Dieser redete ihn auch
sogleich an: er preise sich glücklich, ihn zu sehen und ihn fragen zu
können, was er denn eigentlich mit dem ‚Wilhelm Meister‘ beabsichtigt
habe; er habe ihn gewiß für ein Erziehungsinstitut geschrieben. Goethe
sah ihn mit seinen großen Augen an: „Ja, Das habe ich bisher selbst
nicht gewußt, doch nun leuchtet es mir vollkommen ein. Ja, ja, ich habe
den ‚Wilhelm Meister‘ für ein Erziehungsinstitut geschrieben und bitte
Sie, Dies ja überall in der Welt bekannt zu machen.“

Für Leute, die seine Unterhaltung suchten, um darüber in Zeitschriften
und Büchern berichten und ihre Glossen machen zu können, war er nicht
zu Hause. Ein politischer Abenteurer, Witt v. Döring, hielt sich 1828
in Weimar auf, ein Demagoge und Intrigant, der trotz seiner Jugend
schon viel erlebt und auch alle seine Erlebnisse bereits in Memoiren
bekanntgemacht hatte. Goethe nahm seinen Besuch an, um den Menschen
kennen zu lernen; als Witt aber beim Weggehen um die Erlaubnis bat,
wiederkommen zu dürfen, erwiderte ihm Goethe mit Nachdruck: „Nein,
mein Herr! Das ist das erste und letzte Mal! Sie sagen selber in Ihrem
Buche, daß Sie ein gefährlicher Mensch sind, und beweisen es durch Ihre
indiskreten Mitteilungen über die Personen, die Sie kennen gelernt
haben. Erlauben Sie mir, daß ich mich einer solchen Behandlung nicht
aussetze.“

Aufgeschwollene, affektierte, unwahre Menschen und solche, die nur
aus Eigennutz zu ihm kamen, behandelte Goethe kurz und grob; auf
gedrechselte Reden, Komplimente, nichtssagende Phrasen antwortete er
nicht. (Manche verstanden es freilich falsch, daß er die stärksten
Schmeichelreden schweigend entgegennahm; sie trugen dann vielleicht
noch dicker auf und hielten sich nachher darüber auf, daß Goethe so
gar viel Weihrauch verlange.) Sobald er aber etwas Echtes und Gutes in
seinem Gegenüber spürte, sobald er fühlte: der Mann möchte dir etwas
geben und hat etwas zu geben, zeigte er sogleich seine natürliche Güte.
Dann nahm sein Hm hm! nun nun! ja ja! einen eigentümlich gutmütigen
Klang an, dann wurde der Stumme zum lebhaften Redner, dann endete
er: „Pflege um Zwei zu essen, würde mich freuen, wenn Sie unser Gast
sein wollten.“ Holtei hat erzählt, wie er anfangs abblitzte: „Je
geistreicher ich zu sein mir Mühe gab, desto abgeschmackter mag ich
ihm wohl geschienen haben.“ Und nachher: „Je mehr ich mich gehen ließ,
meinem natürlichen Wesen getreu, ohne weitere Ansprüche auf zarten
Ausdruck, desto lebendiger wurde der alte Herr.“

       *       *       *       *       *

[Sidenote: Zweierlei Fremde]

Im allgemeinen teilte Goethe die Fremden in solche ein, die etwas von
ihm begehrten, und solche, die vielmehr ihm eine Freude machen wollten.
Das war teils Notwehr, teils der gesunde Ichsinn, den er auch lehrte.
Zum Kanzler v. Müller sprach er 1830 diese Maxime aus, als es sich um
das Beantworten von Briefen handelte: „Wenn ich sehe, daß die Leute
bloß ihretwegen an mich schreiben, etwas für ihr Individuum damit
bezwecken, so geht mich Das nicht an; schreiben sie aber meinetwegen,
senden sie etwas mich Förderndes, Angehendes, dann muß ich antworten
... Ihr jungen Leute wißt freilich nicht, wie kostbar die Zeit ist.“

Ehe man diesen Standpunkt allzu selbstsüchtig finde, bedenke man
die Frage, die der eben genannte Friedrich v. Müller in seiner
Gedächtnisrede 1832 aufwarf:

  Wie hätte er aber auch, ohne sich selbst zu vernichten, all den
  unsäglichen, oft unsinnigen Anforderungen und Zumutungen genügen
  können, die so oft gleich einem Wogenschwall auf ihn eindrangen?
  Daß fast jeder deutsche Jüngling, der einige glückliche Verse oder
  vollends ein Trauerspiel geschaffen zu haben vermeinte, Rat oder
  Urteil von ihm begehrte, möchte noch für ganz natürlich gelten; daß
  aber auch seinem geistigen Kontakt wildfremde Personen sich oft
  in den wunderlichsten Fällen, z. B. um eine Heirat, die Wahl eines
  Lebensberufs, eine Kollekte, einen Hausbau zustande zu bringen,
  zuversichtlich an ihn wendeten, könnte in der Tat höchst komisch
  erscheinen, wenn es nicht zugleich bewiese, wie unbeschränktes
  Vertrauen man weit umher ihm zollte, ja für einen Universalhelfer in
  geistigen und leiblichen Nöten ihn zu halten geneigt war.

[Sidenote: Bittsteller]

Besonders mußte sich Goethe gegen Bittsteller verhärten, die für sich
oder Andere etwas erbaten. Schon 1797 schrieb er an Kirms, der in der
Leitung des Theaters seine rechte Hand war:

  In meinem Leben habe ich so oft bemerkt, daß Menschen, die sonst
  zuverlässig sind, gegen Jemand, der eine Stelle zu vergeben hat, gar
  kein Gewissen haben. Man will die Leute anbringen, und wir mögen
  nachher sehn, wie wir sie los werden.

Und aus seinen letzten Lebensjahren erzählt sein Arzt Vogel:

  Die Schwäche, welche nichts abzuschlagen vermag, kannte er nicht.
  „Ich halte es doch länger aus,“ meinte er, „die Leute anzuhören, als
  sie, mich zu drängen, Merken sie nur erst, daß sie einem auf solche
  Weise etwas abzwingen können, so ist man ewig belagert.“

Wem aber Goethe trotz alledem zu hart und kalt erscheint, Der möge
lesen, was er 1809 zu Riemer äußerte: „Nur der am empfindlichsten
gewesen ist, kann der Kälteste und Härteste werden; denn er muß sich
mit einem harten Panzer umgeben, um sich vor den unsanften Berührungen
zu sichern. Und oft wird ihm selber dieser Panzer zur Last!“ Goethe
glich hierin seinem Vater, „der, weil er innerlich ein sehr zartes
Gemüt hegte, äußerlich mit unglaublicher Konsequenz eine eherne Strenge
vorbildete.“ Und der Sohn hätte wegen dieser Weichheit manchmal gern
dem Vater nachgeahmt, den er „nach so viel Studien, Bemühungen,
Reisen und mannigfaltiger Bildung endlich zwischen seinen Brandmauern
ein einsames Leben führen“ sah. Aber am Vater hatte er auch die
Unzuträglichkeit solcher Absonderung beobachtet, denn der Vater war ein
grämlicher, grilliger, geiziger alter Mann geworden, der sich selber,
seiner so gern fröhlichen Frau und allen Übrigen zur Last wurde. Der
Sohn entschloß sich besser zu einer weisen Abwechslung von Einsamkeit
und Geselligkeit. Ganz wolle er der fremden Welt nicht entraten,
schrieb er an Zelter, „denn wenn ich gleich meine Zugbrücken aufziehe
und meine Fortifikationen immer weiter hinausschiebe, so muß man doch
zuweilen auch wieder Kundschaft einziehen.“




V.

Fürsten und Vornehme.


[Sidenote: Verhältnisse zu Fürsten]

Die Tadler Goethes berichten, daß er gegen Fürstlichkeiten zu devot,
daß er ein Fürstenknecht gewesen sei. Es war Vielen nicht recht, daß
der Dichter des „revolutionären“ Götz über fünfzig Jahre einem Fürsten
diente und als Hofmann das höfische Zeremoniell getreulich mitmachte.
Als im Beginn der französischen Revolution auch in Deutschland Viele,
und nicht die Schlechtesten, eine gründliche Zerstörung des Alten und
einen herrlichen neuen Aufbau erhofften, da war es ihnen verdrießlich,
daß Goethe nicht mit ihnen ging daß er vielmehr seinen Herzog in den
Krieg gegen die Franzosen wie zu einem Vergnügen begleitete und auch
nachher die Freiheitsapostel verspottete. Und als nach der endlichen
Niederwerfung Napoleons die Frei- und Deutschgesinnten einen sehr
schwierigen und gefährlichen Kampf gegen die Zwingherren-Gelüste der
Fürsten und Minister führten, da schmerzte es dies jüngere Geschlecht,
daß der geistige König Deutschlands kühl abseits stand. Aber Goethe war
nun einmal nicht umstürzlerisch oder auch nur demokratisch gesinnt; er
glaubte nicht an Verfassungen, Preßfreiheit und Mehrheitsweisheit; er
war durchaus Aristokrat und Monarchist. Und was seine Ministertätigkeit
angeht, so konnte er mit Recht fragen: „Diene ich denn etwa einem
Tyrannen? einem Despoten? Diene ich etwa einem Solchen, der auf Kosten
des Volkes seinen eigenen Lüsten lebt? Solche Fürsten und solche Zeiten
liegen gottlob längst hinter uns!“

Ob der heutige Betrachter Goethes politische Ansichten teilt oder
nicht: Jeder muß anerkennen, daß er sich um die Gunst der Fürsten
nicht eben viel bemüht hat. Er wurde durch sein nahes Verhältnis zu
Karl August mit vielen fürstlichen Personen bekannt; er pflegte solche
Bekanntschaften aber sehr wenig und erwarb sich denn auch an den Höfen
nicht den zehnten Teil der Gunst, die etwa sein Gegner Kotzebue gewann.
Karl August war mit der königlichen Familie von Preußen und mit dem
Herzoge von Braunschweig nahe verwandt; auf Goethe senkte sich kein
Gnadenzeichen aus jenen Fürstenhäusern; man ließ ihn eher Abneigung
spüren. Mit einigen benachbarten Fürsten hatte er in jüngeren Jahren
eine gewisse Freundschaft; aber auch Das schlief ein. Seine politische
Gesinnung hatte er nicht den Mächtigen zu Gefallen. Mehreren Monarchen
war er zu aristokratisch, zu konservativ gesinnt, z. B. dem edlen
Herzog Ernst von Gotha-Altenburg und seinem Bruder August. Auch der
andere vortrefflichste Landesvater im damaligen Deutschland, Franz von
Dessau, erklärte, als man ihn fragte, warum er nicht öfter mit Goethe
verkehrt habe: Dieser sei ihm zu vornehm, zu höfisch gemessen gewesen,
manchmal unangenehm schweigsam. „Auch spürte ich im Allgemeinen etwas
von Inhumanität an ihm.“

Goethe hat den Kaiser Napoleon ehrlich bewundert; er hat die kranke
junge Kaiserin Maria Ludowika von Österreich wie ein zärtlicher Vater
geliebt; im Alter hat er dem kunstbegeisterten König Ludwig von Bayern
mit Freude und Hoffnung zugesehen; im übrigen spielten die Kaiser,
Könige, Herzöge und Fürsten in seinem Innern keine große Rolle -- immer
abgesehen von der weimarischen Fürstenfamilie, mit der sein Leben
verbunden war. Vielleicht hatte er im Alter eine Schwäche für Orden;
aber er war doch schon 59 Jahre alt und bereits seit 32 Jahren ein
hoher Staatsdiener, als er die erste Auszeichnung dieser Art bekam, und
Diese schätzte er zumeist deshalb, weil Napoleon ihn damit zu ehren
wünschte.

Im Jahre 1818 war die Witwe des russischen Kaisers Paul, die Mutter des
regierenden Kaisers Alexander und der weimarischen Erbgroßherzogin, in
Weimar. Ihr zu Ehren wurde bei Hofe ein Fest gegeben, zu dem Goethe
seinen letzten „Maskenzug“ dichtete. Zu dieser Arbeit hielt er sich
zumeist in Berka auf, so daß ihn die Kaiserin erst bei der Aufführung
zu sehen bekam. Am letzten Tage ihrer Anwesenheit ließ sich Goethe bei
ihr melden, um Abschied zu nehmen; er kam dann aber nicht, sondern
ließ sich entschuldigen. Als Dies der Kaiserin gemeldet wurde, wandte
sie sich zum Großherzog und sagte: „Nun, es freut mich doch, daß ich
Goethe wenigstens einmal gesprochen habe und daß er sich gegen mich so
freundlich und huldreich bezeigt hat.“ Karl August lächelte bei diesen
Worten; sie sah es und fuhr fort: „Ich sage Das nicht ohne Absicht,
denn gewiß muß Jeder es für eine Huld erkennen, wenn Goethe gegen ihn
freundlich ist.“

Als Eckermann im September 1827 seinen Meister auf die Höhe des
Ettersberges begleitet hatte, blickte Goethe nach Westen, wo man über
Erfurt hinaus das hochliegende Schloß Gotha entdecken konnte. „Ich bin
dort nicht zum besten angeschrieben“ meinte der alte Dichter. „Als
die Mutter des jetzt regierenden Herrn noch in hübscher Jugend war,
befand ich mich dort sehr oft. Ich saß eines Abends bei ihr allein am
Teetisch, als die beiden zehn- bis zwölfjährigen Prinzen, zwei hübsche
blondlockige Knaben, hereinsprangen und zu uns an den Tisch kamen.
Übermütig, wie ich sein konnte, fuhr ich den beiden Prinzen mit meinen
Händen in die Haare mit den Worten: „Nun, ihr Semmelköpfe, was macht
ihr?“ Die Buben sahen mich mit großen Augen an, im höchsten Erstaunen
über meine Kühnheit -- und haben mir es später nie vergessen.“

[Sidenote: Stolz und Untertänigkeit]

Und der Alte fuhr fort: „Ich hatte vor der bloßen Fürstlichkeit als
solcher, wenn nicht zugleich eine tüchtige Menschennatur dahinter
steckte, nie viel Respekt. Ja, es war mir so wohl in meiner Haut, und
ich fühlte mich selber so vornehm, daß, wenn man mich zum Fürsten
gemacht hätte, ich es nicht eben sonderlich merkwürdig gefunden haben
würde. Als man mir das Adelsdiplom gab, glaubten Viele, wie ich mich
dadurch möchte erhoben fühlen. Allein, unter uns, es war mir nichts,
gar nichts! Wir Frankfurter Patrizier hielten uns immer dem Adel
gleich!“

In diesem Bericht ist Einiges nicht glaubhaft. Daß Goethe nicht mehr
nach Gotha kam, erklärt sich aus seinem hohen Alter und daraus, daß
der dortige Herzog Friedrich ein schwerkranker Mann war; in gesunden
Tagen war er gut Freund mit Goethe gewesen. Auch seinem vor ihm
regierenden Bruder August, einem ebenso geistreichen wie wunderlichen
Herrn, ist kein Schmollen wegen der „Semmelköpfe“ zuzutrauen; er machte
vielmehr seine Witze auch über den „weimarischen Papst“, und so ging
ihm Goethe lieber aus dem Wege. Noch weniger aber kann sich Goethe
zu den Frankfurter Patriziern gerechnet haben, denn sein Großvater
väterlicherseits war ein zugewanderter Schneider, der später Gastwirt
wurde; die Vorfahren von der Mutter her waren Gelehrte und Beamte,
aber auch keine Patrizier. Das stolze Selbstbewußtsein, mit dem sich
Goethe nach Eckermanns Worten den Fürsten gleichsetzte, hatte er jedoch
nicht selten. Oft fiel freilich auch das Gegenteil auf. Karl August
soll den alten Freund wegen seiner untertänigen Förmlichkeit verspottet
haben. Richtig ist, daß Goethe sich durch die Vergünstigungen, die
ihm seine Freundschaft mit Karl August, sein weltberühmter Name, sein
allgemein bewundertes Genie boten, nicht dazu verführen ließ, sich über
die herkömmlichen Formen hinwegzusetzen, und daß er die untertänigen
Wendungen der Hofsprache gebrauchte, auch gegen Karl August. Goethe
hielt sich auch sonst streng an den Kurialstil. „Hochwürdige, Hoch-,
Hochwohl- und Wohlgeborene und Hochedle“ redete er im Juli 1800 die
Landschafts-Deputation des Fürstentums Weimar an, und er fährt fort:
„Höchst- und Hochzuverehrende, auch Hochgeehrteste Herren! Nachdem
ich, Endesunterzeichneter, das freie Lehngut zu Oberroßla, welches
durch Serenissimi besondere Gnade neuerlich in ein rechtes Erblehn
verwandelt worden, ~sub hasta~ erstanden und damit beliehen worden
...“ In solchen Dingen merkte man, daß Goethe eben noch vor der Mitte
des achtzehnten Jahrhunderts geboren war. Wer aber die devoten Formen
jener alten Zeit beurteilen will, bedenke, wie genau Rechte und
Pflichten zusammenhängen: der Eine hielt des Andern überlieferte Rechte
heilig, damit auch seine eigenen unverletzlich blieben. Und weiter:
Höflichkeit und Förmlichkeit sind Mauern, mit denen wir uns gegen
lästige Vertraulichkeit und unerwünschte Zumutungen schützen. Karl
August wußte „seine Leute zu plagen“: also war selbst gegen ihn einige
Umständlichkeit am Platze.

       *       *       *       *       *

[Sidenote: Der gebundene Leib]

Ernst Moritz Arndt wollte Goethes Verhalten gegen Vornehme aus einem
Körperfehler erklären.

  In der herrlichen Goetheschen Mannesgestalt war doch eine
  Unangemessenheit; seine Beine waren um 6 bis 7 Zoll zu kurz. Daher
  hatte er etwas von Dem, was Albrecht Dürer in seiner Beschreibung
  der vollkommenen Menschengestalt einen gebundenen Leib nennt; es
  fehlte ihm körperliche Gewandtheit und Leichtigkeit ... Diese seine
  Beinverkürzung gab ihm wirklich eine etwas unbewegliche Steifigkeit,
  welche ein Unkundiger und Unwissender leicht als absichtliche
  Förmlichkeit und angenommene Vornehmigkeit hat deuten können. Ich
  möchte ferner behaupten, daß Goethe ... dieses Naturmangels seiner
  Schenkel frühe inne geworden ist, daß daher auch Das entsprungen
  ist, was in seinen Schriften öfters nicht angenehm auffällt; daß er
  in der Leichtigkeit und Beweglichkeit der körperlichen Haltung,
  wie sie jeder Jagdjunker und Kammerjunker unter Lakaien, Rossen
  und Jägern von Jugend auf gewinnt, oft etwas zu Männliches und
  Idealisches gesehen und es als Solches dargestellt zu haben scheint.
  In dem wirklichen Leben unter gewandten Weltleuten (Offizieren,
  Hofleuten) stand der große Mann daher ohne jenen Stolz, der ihm da
  wohl doppelt erlaubt gewesen wäre, fast mehr einem Untergeordneten
  gleich. Ich habe ihn selbst mit Erstaunen vor jungen Leutnanten
  aus freiherrlichen und gräflichen Geschlechtern mit einer gewissen
  steifen Verlegenheit stehen gesehen. Er fühlte sich vor solcher
  Ungebundenheit und Leichtigkeit offenbar mit seinem Körper verlegen
  und gebunden.

Arndt überschätzte gewiß die Wirkung des Wuchsfehlers, der übrigens
auch bei Alexander dem Großen, Friedrich dem Großen, Napoleon, Mozart,
Beethoven, Napoleon dem Dritten, Richard Wagner und anderen berühmten
Leuten, den sog. Sitzriesen, festgestellt ist und den Homer auch seinem
Odysseus zuschreibt. Aber es ist in der Tat aus jedem Lebensalter
Goethes diese körperliche „Steifigkeit“ bezeugt; schon der kleine
Knabe hielt sich überaus gerade und schritt „gravitätisch“ einher,
und über den Sechsundzwanzigjährigen, in Weimar Eintretenden lesen
wir: „seine steife Haltung, die enge Bewegung seiner Arme und sein
Perpendikulargang fielen allgemein auf.“[8] Als Knabe und Jüngling
hörte Goethe manchen Spott darüber. Aber wichtiger für sein Verhalten
gegen Gewandtere ist doch der andere Umstand, daß er in Gesellschaft,
unter Fremden sich innerlich unbeholfen fühlte. Insofern war ihm fast
jeder Sprößling eines guten adligen Hauses im gesellschaftlichen Leben
überlegen; also mußte Goethe an vielen vornehmen Leuten, die vielleicht
wenig Gehalt hatten, eine höchst wünschenswerte Meisterschaft verehren.

       *       *       *       *       *

Hatte er „vor der bloßen Fürstlichkeit als solcher nie viel Respekt“,
so mochte er doch das Feine und Gute am aristokratischen Wesen gern
genießen. Noch in seinem Todesjahre sprach er zu Eckermann einmal
davon, wie sympathisch ihm ein echter Aristokrat sei, ein Mann wie
Karl v. Spiegel, von dem gerade die Rede war. „Seine Abkunft kann
er ebensowenig verleugnen als Jemand einen höheren Geist verleugnen
könnte. Denn Beides, Geburt und Geist, geben Dem, der sie einmal
besitzt, ein Gepräge, das sich durch kein Inkognito verbergen läßt. Es
sind Gewalten wie die Schönheit, denen man nicht nahe kommen kann, ohne
zu empfinden, daß sie höherer Art sind.“

       *       *       *       *       *

[Sidenote: Karl August]

Aus diesem Gepräge, das die Menschen durch ihre Abstammung haben, aus
dieser angeborenen Gewalt des Aristokraten, die durch die Erziehung und
den freien Weltüberblick des Wohlhabenden und Gesicherten noch gestärkt
wird, erklärt sich zum Teil auch, warum Goethe, nachdem ihm Karl
Augusts Fehler gar oft ärgerlich gewesen waren, sich und sein Schicksal
diesem selben Karl August schließlich doch völlig anvertraute. „Ich
leugne nicht: er hat mir anfänglich viel Not und Sorge gemacht“
erzählte er 1828. „Doch seine tüchtige Natur reinigte sich bald zum
besten, so daß es eine Freude wurde, mit ihm zu leben und zu wirken.“
Karl August erwies sich nach dem Ausgären eben gerade als geborener
Fürst.

  Er hatte die Gabe, Geister und Charaktere zu unterscheiden und Jeden
  an seinen Platz zu stellen .... Er war beseelt von dem edelsten
  Wohlwollen, von der reinsten Menschenliebe und wollte mit ganzer
  Seele nur das Beste. Er dachte immer zuerst an das Glück des Landes
  und ganz zuletzt erst ein wenig an sich selber. Edlen Menschen
  entgegenzukommen, gute Zwecke befördern zu helfen, war seine Hand
  immer bereit und offen. Es war in ihm viel Göttliches ... Und
  drittens: er war größer als seine Umgebung. Neben zehn Stimmen, die
  ihm über einen gewissen Fall zu Ohren kamen, vernahm er die elfte,
  bessere, in sich selber. Fremde Zuflüsterungen glitten an ihm ab ...
  Er sah überall selber, urteilte selber und hatte in allen Fällen in
  sich selber die sicherste Basis.[9]

Goethe fühlte, daß auch ihm, dem scheinbar so Selbständigen, die
Anlehnung an diesen echten Fürsten zum Segen gereichte. Nach langer
Besinnung über seine Vergangenheit und Zukunft und in großer
räumlicher Entfernung, in Neapel, schrieb er 1787 an den Herzog:

  Ich bin zu Allem und Jedem bereit, wo und wie Sie mich brauchen
  wollen ... Wie Sie mich bisher getragen haben, sorgen Sie ferner
  für mich! Und tun Sie mir mehr wohl, als ich selbst kann, als ich
  wünschen und verlangen darf! Geben Sie mich mir selbst, meinem
  Vaterlande, geben Sie mich sich selbst wieder, daß ich ein neues
  Leben und ein Leben mit Ihnen anfange. Ich lege mein ganzes Schicksal
  zutraulich in Ihre Hände!

Und zehn Monate später wiederholt er:

  Ich kann nur sagen: Herr, hie bin ich; mache aus deinem Knecht, was
  du willst. Jeder Platz, jedes Plätzchen, die Sie mir aufheben, sollen
  mir lieb sein. Ich will gerne gehen und kommen, niedersitzen und
  aufstehen.

Goethe erinnerte sich noch recht gut aller der Sprüchlein, die
seine Landsleute in der freien Stadt Frankfurt über die Übel des
Hoflebens und Fürstendienstes im Scherz und Ernst sagten, und er
hatte manche dieser Übel am eigenen Leibe erfahren: dennoch schloß er
diesen Bund auf Lebenszeit mit einem thüringischen Herzog. Und Beide
hatten großen Vorteil davon. Karl August, den seine Lust am Reisen
und am Soldatenleben viel außer Landes führte, wußte daheim stets
einen treuesten Freund, vor dem er kein Geheimnis hatte, auf dessen
Wahrhaftigkeit und guten Willen er stets rechnen konnte. Und Goethe
behielt durch diese Freundschaft den Anschluß an das wirkliche und
tätige Leben, bekam Einblick in vielfältige und große Verhältnisse,
während er, wenn er nur seiner eigenen Natur gefolgt wäre, sich an
ein abseitiges, abgesondertes Gelehrten-Dasein gewöhnt hätte, das
vielleicht dem Leben seines Vaters gar zu ähnlich geworden wäre. Und
Goethe freute sich geradezu, daß ihn der Herzog beeinflußte und lenkte.
Er lasse sich leicht bestimmen, gestand er 1815 dem Altersfreunde
Boisserée, und vom Herzog gern, denn Der bestimme ihn immer zu etwas
Gutem und Glücklichem. Demselben Freunde sagte er: was die Verhältnisse
mit Fürsten teuer und wert mache, sei das Beständige und Beharrliche
darin, wenn einmal ein Vertrauen entstanden.

[Illustration: Goethe 1818.

Von +Ferdinand Jagemann+.]

[Illustration: Karl August bei Goethe.

Von +C. A. Schwerdgeburth+.]

Ihre höchste Feier erlebte diese Freundschaft, als Herzog Karl August
fünfzig Jahre seiner Regierung und Goethe fünfzig Jahre seines
Aufenthaltes in Weimar beendete. Mit dankbarer Lust rühmten da Beide
einander. „Ich bin dem Großherzog seit einem halben Jahrhundert auf
das innigste verbunden“ sagte Goethe im Frühjahr 1825 zu Eckermann,
„und habe ein halbes Jahrhundert mit ihm gestrebt und gearbeitet;
aber lügen müßte ich, wenn ich sagen wollte, ich wüßte einen einzigen
Tag, wo der Großherzog nicht daran gedacht hätte, etwas zu tun und
auszuführen, das dem Lande zum Wohle gereichte und das geeignet wäre,
den Zustand des Einzelnen zu verbessern. Für sich persönlich: was hat
er denn von seinem Fürstenstande, als Last und Mühe! Ist seine Wohnung,
seine Kleidung und seine Tafel etwa besser gestellt als Die eines
wohlhabenden Privatmanns? ... Dieses sein Herrschen, was war es weiter
als ein beständiges Dienen?“

Als dann der 3. September 1825 anbrach, Karl Augusts Jubeltag, trat
ihm Goethe morgens um sechs Uhr vor dem ‚Römischen Hause‘ im Park
entgegen: ein Chor sang eine von Riemer gedichtete Kantate, Goethe
wollte dem Fürsten die auf den Tag geprägte Denkmünze überreichen, aber
die Rührung gestattete ihm keine Worte. Der Fürst ergriff des alten
Freundes Hände. „Bis zum letzten Hauch beisammen“ sagte er, und dann
sprach er von Jugendtagen, von Ilmenau und Tiefurt, und wiederholte das
Sprüchlein: „Nur Freundeslieb’ und Luft und Licht, Verzage nicht, wenn
Das nur blieb!“ Und Goethe antwortete: „Dies Dreifache gab mir, was ich
gegeben.“

Als dann am 7. November Goethes Ehrentag kam, schrieb Karl August einen
herzlichen fürstlichen Brief an Goethe, in dem er „die Treue, Neigung
und Beständigkeit“ des Jugendfreundes pries und deutlich bekannte:
„Seinem umsichtigen Rat, seiner lebendigen Teilnahme und stets
wohlgefälligen Dienstleistungen verdanke ich den glücklichen Erfolg der
wichtigsten Unternehmungen, und ihn für immer gewonnen zu haben, achte
ich als eine der höchsten Zierden meiner Regierung.“

Goethe sah, nachdem er den Brief empfangen, die Leute vor einer Mauer
stehen, wo öffentliche Bekanntmachungen angebracht wurden. Er schickte
seinen Großneffen Nicolovius hinunter, nachzusehen, was es sei. Als
Dieser wiederkam und meldete, der Dank des Großherzogs an Goethe sei
gedruckt und angeschlagen, rief der alte Dichter mit Freudentränen:
„Das ist Er!“

       *       *       *       *       *

[Sidenote: Ankämpfen gegen den Herzog]

Tüchtige Menschen behalten, auch wenn sie ihrem Fürsten von Herzen
ergeben sind, ihre eigene Ansicht der Dinge. Auch Goethe hat seinem
Fürsten und Freunde unter vier Augen und in vertraulichen Briefen sehr
oft deutlich widersprochen. „Mit dem Herzog gegessen“ heißt es am
19. Januar 1782 in seinem Tagebuche; „sehr ernstlich und stark über
Ökonomie geredet und wider eine Anzahl falscher Ideen, die ihm nicht
aus dem Kopfe wollen.“ Und ein andermal: „Conseil. Der Herzog zu viel
gesprochen. Mit dem Herzog gegessen. Nach Tische einige Erklärungen
über Zu-viel-reden fallen lassen, Sich-vergeben, Sachen in der Hitze
zur Sprache bringen, die nicht geredet werden sollten. Auch über die
militärischen Makkaronis [d. h. Liebe zu überflüssigem Militär].“
Oft kämpfte Goethe gegen des Herzogs Lust an Krieg und Soldaten, die
so sehr ein Hemmnis für die Besserung der Staatsfinanzen war und den
Fürsten seinem Lande zu entfremden drohte.

  Die Kriegslust, die wie eine Art Krätze unsern Prinzen unter der Haut
  sitzt, fatigiert mich wie ein böser Traum, in dem man fort will und
  soll und einem die Füße versagen. Sie kommen mir wie solche Träumende
  vor, und mir ist es, als wenn ich mit ihnen träumte. Ich habe auf
  dieses Kapitel weder Barmherzigkeit, Anteil, noch Hoffnung und
  Schonung mehr.[10]

Goethes Briefe sind oft Meisterstücke feinster Diplomatie; seine
Schreiben an Karl August zeigen, in welcher klugen Form er seinen
Fürsten warnte, tadelte, ermahnte. Im Dezember 1784 war Karl August
wieder einmal draußen im Reich; manche Leute daheim schalten laut über
diese Reiselust, Goethe aber schreibt ihm, von sich selber redend,
jedoch in Gedanken an des Fürsten Unruhe und Streben nach Neuem:

  Mich heißt das Herz das Ende des Jahres in Sammlung zubringen. Ich
  vollende mancherlei im Tun und Lernen und bereite mir die Folge
  einer stillen Tätigkeit auf’s nächste Jahr vor und fürchte mich vor
  neuen Ideen, die außer dem Kreise meiner Bestimmung liegen. Ich habe
  deren so genug und zu viel; der Haushalt ist eng, und die Seele ist
  unersättlich.

  Ich habe so oft bemerkt, daß, wenn man wieder nach Hause kommt, die
  Seele, statt sich nach dem Zustand, den man findet, einzuengen,
  lieber den Zustand zu der Weite, aus der man kömmt, ausdehnen möchte;
  und wenn Das nicht geht, so sucht man doch, soviel als möglich von
  neuen Ideen hereinzubringen und zu pfropfen, ohne gleich zu bemerken,
  ob sie auch hineingehen und passen oder nicht. Selbst in den letzten
  Zeiten, da ich doch jetzt selbst in der Fremde nur zu Hause bin,
  hab ich mich vor diesem Übel, oder wenn Sie wollen: vor dieser
  natürlichen Folge nicht ganz sichern können.

  Es kostet mich mehr, mich zusammenzuhalten, als es scheint, und nur
  die Überzeugung der Notwendigkeit und des unfehlbaren Nutzens hat
  mich zu der passiven Diät bringen können, an der ich jetzo so fest
  hange.

Und als die Empörung der Untertanen über die vom Herzog am Ettersberge
angesiedelten Wildschweine vorgetragen werden mußte, schrieb Goethe
scharf und mild zugleich:

  Auch die Jagdlust gönn’ ich Ihnen von Herzen und nähre die Hoffnung,
  daß Sie dagegen nach Ihrer Rückkunft die Ihrigen von der Sorge
  eines drohenden Übels befreien werden. Ich meine die wühlenden
  Bewohner des Ettersbergs. Ungern erwähn’ ich dieser Tiere, weil ich
  gleich anfangs gegen deren Einquartierung protestiert und es einer
  Rechthaberei ähnlich sehn könnte, daß ich nun wieder gegen sie zu
  Felde ziehe. Nur die allgemeine Aufforderung kann mich bewegen,
  ein fast gelobtes Stillschweigen zu brechen, und ich +schreibe+
  lieber, denn es wird eine der ersten Sachen sein, die Ihnen bei
  Ihrer Rückkunft vorgebracht werden. Von dem Schaden selbst und dem
  Verhältnis einer solchen Herde zu unsrer Gegend sag’ ich nichts; ich
  rede nur von dem Eindrucke, den es auf die Menschen macht. Noch habe
  ich nichts so allgemein mißbilligen sehn; es ist darüber nur +eine+
  Stimme. Gutsbesitzer, Pächter, Untertanen, Dienerschaft, die Jägerei
  selbst: Alles vereinigt sich in dem Wunsche, diese Gäste vertilgt zu
  sehn. Von der Regierung zu Erfurt ist ein Kommunikat deswegen an die
  unsrige ergangen.

  Was mir dabei aufgefallen ist und was ich Ihnen gern sage, sind die
  Gesinnungen der Menschen gegen Sie, die sich dabei offenbaren. Die
  Meisten sind nur wie erstaunt, als wenn die Tiere wie Hagel vom
  Himmel fielen; die Menge schreibt Ihnen nicht das Übel zu; Andre
  gleichsam nur ungern, und Alle vereinigen sich darinne, daß die
  Schuld an Denen liege, die, statt Vorstellungen dagegen zu machen,
  Sie durch gefälliges Vorspiegeln verhinderten, das Unheil, das
  dadurch angerichtet werde, einzusehn. Niemand kann sich denken, daß
  Sie durch eine Leidenschaft in einen solchen Irrtum geführt werden
  könnten, um etwas zu beschließen und vorzunehmen, was Ihrer übrigen
  Denkens- und Handelnsart, Ihren bekannten Absichten und Wünschen
  geradezu widerspricht.

  Der Landkommissär hat mir gerade in’s Gesicht gesagt, daß es
  unmöglich sei, und ich glaube, er hätte mir die Existenz dieser
  Kreaturen völlig geleugnet, wenn sie ihm nicht bei Lützendorf eine
  Reihe frisch gesetzter Bäume gleich die Nacht drauf zusamt den
  Pfählen ausgehoben und umgelegt hätten.

  Könnten meine Wünsche erfüllt werden, so würden diese Erbfeinde der
  Kultur ohne Jagdgeräusch, in der Stille, nach und nach der Tafel
  aufgeopfert, daß mit der zurückkehrenden Frühlingssonne die Umwohner
  des Ettersbergs wieder mit frohem Gemüt ihre Felder ansehen könnten.

  Man beschreibt den Zustand des Landmanns kläglich, und er ist’s
  gewiß: mit welchen Übeln hat er zu kämpfen! Ich mag nichts
  hinzusetzen, was Sie selbst wissen. Ich habe Sie so Manchem entsagen
  sehn und hoffe, Sie werden mit dieser Leidenschaft den Ihrigen ein
  Neujahrsgeschenk machen, und halte mir für die Beunruhigung des
  Gemüts, die mir die Kolonie seit ihrer Entstehung verursacht, nur den
  Schädel der gemeinsamen Mutter des verhaßten Geschlechtes aus, um ihn
  in meinem Kabinette mit doppelter Freude aufzustellen.

  Möge das Blatt, was ich eben endige, Ihnen zur guten Stunde in die
  Hand kommen![11]

       *       *       *       *       *

[Sidenote: Mahnungen an den Herzog]

In seinem Amtsbereiche war Goethe immer sehr unabhängig, ja zuweilen
selbstherrlich. Als er in Jena ein Stück der alten Stadtmauer
fortreißen ließ, um gegen die Feuchtigkeit der Bibliothek das Nötige
zu tun, schickte die Stadtverwaltung an den Herzog eine Deputation
mit der untertänigen Bitte, daß es doch Seiner Hoheit gefallen möge,
durch ein Machtwort diesem Beginnen ein Ende zu setzen. „Ich mische
mich nicht in Goethes Angelegenheiten“ erwiderte der Herzog. „Er weiß
schon, was er zu tun hat, und muß sehen, wie er zurechtkommt. -- Geht
doch hin und sagt es ihm selbst, wenn ihr Courage habt!“ Und wenn es
sich um Theatersachen handelte, ärgerte sich der Herzog selber oft
genug über seines Untergebenen „Tyrannei“ und „Herrschsucht“. In Weimar
war man der Ansicht, daß Goethes Wille von Niemand zu lenken sei; man
erzählte sich zum Beispiel von einem Gespräche über die Berufung eines
Professors nach Jena, wo der Fürst seine Wahl gegen Goethe verteidigte
oder durchzusetzen suchte. „Du bist ein närrischer Kerl“ rief Karl
August schließlich; „Du kannst keinen Widerspruch vertragen.“ -- „O
ja“, versetzte Goethe, „aber er muß verständig sein.“


  [8]  Karl v. Lyncker, Am weimarischen Hofe.

  [9]  Eckermann, der diese Worte berichtet, war auf die Gnade des
       weimarischen Hofes angewiesen; er übertrieb wohl zuweilen
       Goethes Lob der fürstlichen Familie. Man kann von Karl August
       sehr viel Rühmliches sagen, aber nicht wohl behaupten, daß er
       immer zuerst an das Glück des Landes und ganz zuletzt erst ein
       wenig an sich selber gedacht habe.

  [10] An Knebel, 2. April 1785.

  [11] 26. Dezember 1784.




VI.

Untergebene.


Goethe war sich stets bewußt, daß die Diener an ihrem Platze ebenso
vollkommen sein können, wie er an dem seinen. „So göttlich ist die
Welt eingerichtet, daß Jeder an seiner Stelle, an seinem Orte, zu
seiner Zeit alles Übrige gleichwägt.“ So sagte er 1810 zu Riemer, und
„wenn der Größte ins Wasser fällt und nicht schwimmen kann, zieht ihn
der ärmste Hallore heraus.“ Gern bedachte er auch die Gleichheit des
Menschenloses in den wichtigsten Erlebnissen: „Es ist ganz einerlei,
vornehm oder gering sein: das Menschliche muß man immer ausbaden.“

    Der Knecht sowie der Herr vom Haus
    Ziehen sich täglich an und aus.
    Sie mögen sich hoch oder niedrig messen,
    Müssen wachen, schlafen, trinken und essen.[12]

    Drum treibt’s ein Jeder, wie er’s kann:
    Ein kleiner Mann ist auch ein Mann!
    Der Hoh’ stolziert, der Kleine lacht,
    So hat’s ein Jeder wohl gemacht.[13]

Manchmal stellte er die „kleinen Leute“ geradezu über die Großen:
wenn er erwog, daß +sie+ die allgemeinen Ernährer sind, oder wenn er
ihre Hülfsbereitschaft sah. Als es im Juni 1774 in der Frankfurter
Judengasse brannte und auch Goethe „seinen Tropfen Wasser geschleppt“
hatte, bekannte er im nächsten Briefe an Schönborn: „Ich habe bei
dieser Gelegenheit das gemeine Volk wieder näher kennen gelernt und bin
aber- und abermal vergewissert worden, daß Das doch die besten Menschen
sind.“

Auch als Weisheitslehrer nahm er Leute „aus dem Volke“ oft an, und
dabei meinte er nicht nur den Spruchschatz, den sie von den Vätern her
in ihren Reden zum Vorschein bringen, sondern ihre eigenen, erworbenen
und bewußten Erfahrungen. 1785 schrieb er seiner Freundin Charlotte v.
Stein über einen Buchbinder, der ihm seine Handschrift von ‚Wilhelm
Meisters theatralischer Sendung‘ vor seinen Augen zusammenheften
mußte: „Unter der Arbeit erzählte er mir seine Geschichte und sprach
über sein Leben; jedes Wort, das er sagte, war so schwer wie Gold,
und ich verweise Dich auf ein Dutzend Lavaterischer Pleonasmen, um
Dir die Ehrfurcht auszudrücken, die ich für den Menschen empfand.“ In
späteren Jahren nannte er in einem Aufsatze neben dem hochberühmten
Geschichtsschreiber und Philosophen Plutarch den gothaischen
Schuhmacher Steube als einen Zeugen für die göttliche Leitung des
Menschenlebens. Und von drei andern Kleinen gab er die von ihnen
niedergeschriebenen Erinnerungen heraus und leitete sie mit eigenen
Betrachtungen ein: von dem Bibliotheksdiener Sachse, dem Gastwirt,
früheren Diener, Soldaten und Barbierlehrling Mämpel und einem
ungenannten Elsässer, der als Landmann zu Napoleons Truppen gepreßt
wurde und in Spanien Mämpels Kriegskamerad war.

Wegen seiner Sammlungen hatte Goethe oft mit schlichten Handwerkern
zu tun, die sich durch ihre Kenntnisse auszeichneten. Sehr auffällig
war sein Besuch bei Karl Huß in Eger und daß er sogar an dieses Mannes
Tische aß, denn Huß war von Beruf Scharfrichter und also nach der
Auffassung jener Zeit „unehrlich.“

       *       *       *       *       *

[Sidenote: Der Wert der Armen]

Den ihm unterstellten Beamten gönnte Goethe ziemlichen Ellbogenraum.
„Ich suche jeden Untergebenen frei im gemessenen Kreise sich bewegen
zu lassen, damit er auch fühle, daß er ein Mensch sei. Es kommt alles
auf den +Geist+ an, den man einem öffentlichen Wesen einhaucht.“ Er
wünschte, daß auch jeder Diener seine Besorgung für recht wichtig
ansehe. Und wie er selber Tagebuch führte, mußten auch die bei den
Bibliotheken in Weimar und Jena Angestellten sauber geschriebene
Tagebücher halten, worin Witterung, Besuche, Eingänge und Vorgänge
jeder Art sowie das an jedem Tage Geleistete aufgezeichnet wurden. „So
wird den Leuten erst lieb, was sie treiben, wenn sie es stets mit einer
gewissen Wichtigkeit anzusehen gewohnt werden, stets in gespannter
Aufmerksamkeit auch auf das Kleinste bleiben.“ Goethe ließ sich diese
Tagebücher aus Jena regelmäßig senden und freute sich herzlich, wenn
sie ihm die Überzeugung gaben, „daß die sämtlichen Verfasser bei
Fortsetzung derselben sich zu eigener Satisfaktion, zu pflichtmäßiger
Beruhigung und Legitimation arbeiten.“

„Das ist ein prächtiger Herr“ urteilte der jenaische Hofgärtner, als
man ihn im Frühjahr 1820 nach Goethe fragte. „Den schätz’ ich am
höchsten -- Das heißt, nächst dem lieben Gott -- und wer ihn kennt und
ihn nicht schätzt, Das ist kein christlicher Mensch, und Das will ich
Jedem in’s Gesicht sagen. Und sehen Sie, er ist so ein christlicher
Herr; er läßt mit sich reden, denn er denkt: leben und leben lassen!“

       *       *       *       *       *

[Sidenote: Die Schauspieler]

Zu den ihm Unterstellten gehörten auch die Schauspieler, und dieses
Völkchen war zu allen Zeiten schwer zu regieren. „Ich will mit dem
Schauspielervolk nichts mehr zu schaffen haben“ schrieb ihm Schiller
einmal, „denn durch Vernunft und Gefälligkeit ist nichts auszurichten;
es gibt nur ein einziges Verhältnis zu ihnen, den kurzen Imperativ, den
ich nicht auszuüben habe.“

Goethes Grundsatz im Theater war: stets die Paragraphen der Hausgesetze
entscheiden lassen. „Bei Schauspielern muß man in der Ordnung streng
am Buchstaben halten, sie sind Meister in Ausflüchten“ schrieb er 1798
an Kirms. Aber als Jemand einmal bemerkte, es möge wohl schwer sein,
ein Theater in gehöriger Ordnung zu halten, sprach er die Worte, die
sich jeder Regierende in’s Album schreiben sollte: „Sehr viel ist
zu erreichen durch Strenge, mehr durch Liebe, das meiste aber durch
Einsicht und eine unparteiische Gerechtigkeit, bei der kein Ansehn der
Person gilt.“

Die Liebe, die er zu seinem Schauspieler- und Theatergehülfen-Völkchen
hatte, sprach Goethe auch öffentlich mit herzlichen Worten aus. Jeder
aus dem noch so vielfach verachteten Stande der „vor Hunger kaum,
vor Schande nie bewahrten“ Komödianten mußte mit Lust die Gedichte
‚Auf Miedings Tod‘ und ‚Euphrosyne‘ lesen. Mieding war ein schlichter
Tischler, aber kunstfertig, eifrig, anspruchslos und für das fürstliche
Liebhabertheater ebenso unentbehrlich wie dessen beste Darstellerin
Korona Schröter. Beide verherrlichte Goethe öffentlich, als Mieding an
der Schwindsucht gestorben war; aus Koronas Händen läßt er den ehrenden
Kranz in Miedings Grab fallen.

    Sie tritt herbei. Seht sie gefällig stehn,
    Nur absichtslos, doch wie mit Absicht schön,
    Und hoch erstaunt seht Ihr in ihr vereint
    Ein Ideal, das Künstlern nur erscheint.
    Anständig führt die leis’ erhobne Hand
    Den schönsten Kranz, umknüpft von Trauerband.
    Der Rose frohes, volles Angesicht,
    Das treue Veilchen, der Narzisse Licht,
    Vielfält’ger Nelken, eitler Tulpen Pracht.
    Von Mädchenhand geschickt hervorgebracht,
    Durchschlungen von der Myrte sanfter Zier,
    Vereint die Kunst zum Trauerschmucke hier,
    Und durch den schwarzen, leichtgeknüpften Flor
    Sieht eine Lorbeerspitze still hervor.
    Es schweigt das Volk. Mit Augen voller Glanz
    Wirft sie in’s Grab den wohlverdienten Kranz.
    Sie öffnet ihren Mund, und lieblich fließt
    Der weiche Ton, der sich um’s Herz ergießt.
    Sie spricht: Den Dank für Das, was du getan,
    Geduldet, nimm, du Abgeschiedner an!
    Der Gute wie der Böse müht sich viel,
    Und Beide bleiben weit von ihrem Ziel.
    Dir gab ein Gott in holder steter Kraft
    Zu deiner Kunst die ew’ge Leidenschaft.
    Sie war’s, die dich zur bösen Zeit erhielt,
    Mit der du krank als wie ein Kind gespielt,
    Die auf den blassen Mund ein Lächeln rief,
    In deren Arm dein müdes Haupt entschlief!

Noch tiefer ergriffen war Goethe, als Christiane Neumann, die er selber
zur Schauspielerin herangebildet hatte, die er gern Euphrosyne, die
Frohsinnige, nannte -- sie führte diesen Namen in einer ihrer Rollen
--, als ganz junge Frau starb. In den schweizerischen Bergen erhielt
er die Nachricht; ihm war es, als ob die Seele der Gestorbenen ihm
nachgeeilt sei, um auch von ihm noch Abschied zu nehmen. Und er hörte
ihre Bitte:

    Laß nicht ungerühmt mich zu den Schatten hinabgehn!
    Nur die Muse gewährt einiges Leben dem Tod.
    Denn gestaltlos schweben umher in Persephoneias
    Reiche, massenweis’, Schatten vom Namen getrennt;
    Wen der Dichter aber gerühmt, Der wandelt, gestaltet,
    Einzeln, gesellet dem Chor aller Heroen sich zu.
    Freudig tret’ ich einher, von deinem Liede verkündet ...

[Sidenote: Günstlinge]

Solche Liebe zu den Untergebenen wächst, wenn es angenehme Menschen
sind, gar leicht in allzu große Gunst hinein, und nirgends ist die
Versuchung zur Günstlingswirtschaft größer als bei der Leitung eines
Theaters. Goethe aber wußte und lehrte: „Man muß stets die Gunst
+verteilen+, sonst windet man das Ruder sich selbst aus der Hand.“ Zu
Eckermann sagte er, als von den Schwierigkeiten der Theaterleitung die
Rede war:

  Ich hatte mich vor zwei Feinden zu hüten. Das Eine war meine
  leidenschaftliche Liebe des Talents, die leicht in den Fall kommen
  konnte, mich parteiisch zu machen. Das Andere will ich nicht
  aussprechen, aber Sie werden es erraten. Es fehlte bei unserm Theater
  nicht an Frauenzimmern, die schön und jung und dabei von großer
  Anmut der Seele waren. Ich fühlte mich zu Mancher leidenschaftlich
  hingezogen; auch fehlte es nicht, daß man mir auf halbem Wege
  entgegenkam. Allein ich faßte mich und sagte: +Nicht weiter!+ Ich
  kannte meine Stellung und wußte, was ich ihr schuldig war. Ich stand
  hier nicht als Privatmann, sondern als Chef einer Anstalt, deren
  Gedeihen mir mehr galt als mein augenblickliches Glück. Hätte ich
  mich in irgend einen Liebeshandel eingelassen, so würde ich geworden
  sein wie ein Kompaß, der unmöglich recht zeigen kann, wenn er einen
  einwirkenden Magnet an seiner Seite hat. Dadurch aber, daß ich mich
  durchaus rein erhielt und immer Herr meiner selbst blieb, blieb ich
  auch Herr des Theaters, und es fehlte mir nie die nötige Achtung,
  ohne welche jede Autorität bald dahin ist.

Gegen ältere Schauspieler gab Goethe seiner Unzufriedenheit nie strenge
Worte; sein Tadel war nie verletzend. Z. B.: „Nun, Das ist ja gar nicht
übel, obgleich ich mir den Moment so gedacht habe; überlegen wir uns
Das bis zur nächsten Probe, vielleicht stimmen dann unsere Ansichten
überein.“ Widerspruch nahm er auch hier gut auf, wo er berechtigt war.
Bei einer Theaterprobe las der sonst fleißige Schauspieler Unzelmann
seine Worte aus der Rolle ab. Sogleich ertönte Goethes mächtige
Baßstimme aus seiner Loge hinter dem Parterre: „Ich bin es nicht
gewohnt, daß man seine Aufgaben abliest.“ Unzelmann entschuldigte sich,
seine Frau liege seit mehreren Tagen krank darnieder, deshalb hätte er
nicht zum Lernen kommen können. „Ei was!“ rief Goethe, „der Tag hat
vierundzwanzig Stunden, die Nacht mit eingerechnet.“ Unzelmann trat
bis in’s Proszenium vor und sagte: „Euere Exzellenz haben vollkommen
recht, der Tag hat vierundzwanzig Stunden, die Nacht mit eingerechnet.
Aber ebensogut wie der Staatsmann und der Dichter der Nachtruhe
bedarf, ebensogut bedarf ihrer der arme Schauspieler, der öfter Possen
reißen muß, wenn ihm das Herz blutet. Euere Exzellenz wissen, daß ich
stets meiner Pflicht nachkomme, aber in solchem Falle bin ich wohl zu
entschuldigen.“

Diese kühne Rede erregte allgemeines Erstaunen, und Jeder stand
erwartungsvoll, was nun kommen würde. Nach einer Pause rief Goethe mit
kräftiger Stimme: „Die Antwort paßt! Weiter!“

Als der Kanzler v. Müller ein halbes Jahr nach Goethes Tod vor der
Erfurter Akademie gemeinnütziger Wissenschaften eine Vorlesung über
seinen großen Freund hielt, betonte er auch Goethes gutes Verhältnis zu
seinen Schauspielern:

  Nirgends vermochte Goethe den Zauber seiner imposanten Persönlichkeit
  freier zu üben und geltend zu machen als unter seinen dramatischen
  Jüngern. Streng und ernst in seinen Forderungen, unabwendlich in
  seinen Beschlüssen, rasch und freudig jedes Gelingen anerkennend,
  das Kleinste wie das Größte beachtend und eines Jeden verborgenste
  Kraft hervorrufend, wirkte er im gemessenen Kreise, ja, meist bei
  geringen Mitteln, oft das Unglaubliche. Schon sein ermunternder Blick
  war reiche Belohnung, sein wohlwollendes Wort unschätzbare Gabe.
  Jeder fühlte sich größer und kräftiger an der Stelle, wo +er+ ihn
  hingestellt, und der Stempel seines Beifalls schien dem ganzen Leben
  höhere Weihe zu gewähren. Man muß es selbst gesehen und gehört haben,
  wie die Veteranen aus jener Zeit des heitersten Zusammenwirkens von
  Goethe und Schiller noch jetzt mit heiliger Treue jede Erinnerung an
  diese ihre Heroen bewahren, mit Entzücken einzelne Züge ihres Waltens
  wiedergeben und schon bei Nennung ihrer Namen sich leuchtenden
  Blickes gleichsam verjüngen, wenn man ein vollständiges Bild der
  liebevollen Anhänglichkeit und des Enthusiasmus gewinnen will, die
  jene großartigen Naturen einzuflößen vermochten.

       *       *       *       *       *

[Sidenote: Schauspieler]

„Wenn +Sie+ es nicht machen wollen, so mache ich es selber“ war ein
Trumpf, den Goethe gegen Untergebene ausspielen konnte. „Und sie
wußten, daß ich verrückt genug war, mein Wort zu halten und das Tollste
zu tun“ fügte er hinzu, als er von dem Schauspieler Becker erzählte,
dem eine Rolle zu unbedeutend für seine hohe Persönlichkeit erschienen
war. Als sein Diener Stadelmann immer noch keine Wischtücher zum
Abstauben der Kunstmappen besorgt hatte, da schalt er: „Ich erinnere
dich heute zum letzten Male! Gehst du nicht noch heute, die oft
verlangten Tücher zu kaufen, so gehe ich morgen selbst, und du sollst
sehn, daß ich Wort halte.“ Auch aus solchem Schelten hörte man heraus,
daß Goethe es gut meinte. Er machte sich viele Gedanken um das gute
Fortkommen seiner Diener und Untergebenen. Für den Bibliotheksdiener
erbat er 1805 vom Herzog sogar die Erlaubnis, sich von den Personen,
die die Bibliothek benützten, ein Neujahrs-Trinkgeld erbitten zu
dürfen, denn „zur allgemeinen Bettelei dürfte wohl auch Diese billig
hinzukommen;“ die Finanzen des Ländchens mögen in jenen Kriegszeiten
ihre Verwalter nicht zu Stolz und Freigebigkeit gestimmt haben.
Bei seinen eigenen Dienern wünschte er, daß sie das Rasieren, die
Gartenarbeit oder dergleichen Leistungen lernten, die ihnen später von
Nutzen sein und sie jetzt schon vor Müßiggang bewahren konnten. Als
er nach Karl Augusts Tode auf der Dornburg an sein eigenes Ende viel
dachte, da fragte er sich auch, was aus seinen Bedienten dann werde,
und er sprach darüber mit dem Gärtner und dem Barbier, den er reichlich
belohnte.

Ebenda war es, daß sein Sekretär John und sein Diener Friedrich Krause
mit dem Gärtner Sckell sich einen fröhlichen Nachmittag machten, wobei
ihnen der Dornburger Wein so sehr zu Kopfe stieg, daß sie nach der
Heimkehr sogleich in schweren Schlummer sanken. Goethe rief vergebens
nach ihnen, als sie zu ihren gewohnten Diensten nicht kamen. Am
andern Morgen erschraken sie sehr, als sie ihre Pflichtvergessenheit
bemerkten. Ganz besonders war Friedrich erschrocken; er wollte sich gar
nicht beruhigen lassen. Als ihn bald darauf Goethe rief und den Kaffee
zu bringen befahl, wurde er totenbleich und wankte mit schlotternden
Gliedern die Treppe hinauf. „Neugierig, was Goethe wohl sagen werde,
schlich ich mich hinter dem Bedienten her“ -- so erzählt Sckell -- „und
blieb horchend an der Tür stehen. Als der Bediente eingetreten war,
sagte Goethe: „Na, na, Friedrich! du zitterst ja wie ein armer Sünder.
Setze nur das Kaffeebrett ab, sonst lässest du es noch fallen! Nicht
wahr, du glaubst, ich werde dich recht auszanken? Das tue ich nicht; du
hast ja deine Strafe wohl so schon bekommen? Wie sieht es denn heute
hier aus?“ fuhr er fort, sich mit dem Zeigefinger über die Stirn
streichend. „Setz nur ab und gehe! Es ist abgemacht!“ -- Hocherfreut,
mit diesem kleinen Verweise davongekommen zu sein, verließ der Bediente
das Zimmer.

[Sidenote: Diener und Köchinnen]

An Schärfe fehlte es Goethen gegen seine Diener freilich auch nicht,
wenn er mit der Geduld schließlich nicht zum Ziele kam. Und wenn er
Jemand entließ, so nahm er es ernst mit der Polizei-Verordnung, die es
den Herrschaften zur Pflicht macht, die Dienstboten „nicht bloß mit
allgemeinen und unbedeutenden Attesten zu entlassen, sondern darin
gewissenhaft ihr Gutes und ihre Mängel auseinanderzusetzen.“ Als er im
März 1811 eine Köchin wegschickte, die er als „eine der boshaftesten
und inkorrigibelsten Personen“ befunden hatte, schrieb er ihr folgendes
aufrichtiges Zeugnis:

  Charlotte Hoyer hat zwei Jahre in meinem Hause gedient. Für eine
  Köchin kann sie gelten, und ist zuzeiten folgsam, höflich, sogar
  einschmeichelnd. Allein durch die Ungleichheit ihres Betragens hat
  sie sich zuletzt ganz unerträglich gemacht. Gewöhnlich beliebt es
  ihr nur nach eigenem Willen zu handeln und zu kochen; sie zeigt sich
  widerspenstig, zudringlich, grob, und sucht Diejenigen, die ihr zu
  befehlen haben, auf alle Weise zu ermüden. Unruhig und tückisch,
  verhetzt sie ihre Mitdienenden und macht ihnen, wenn sie nicht mit
  ihr halten, das Leben sauer. Außer andern verwandten Untugenden hat
  sie noch Die, daß sie an den Türen horcht.

Charlotte Hoyer hatte keine Ahnung, welchen Preis ihr von Goethe
gezeichnetes Charakterbild bei Liebhabern später haben würde, und riß
es auf der Treppe in hundert Stücke. Goethe schickte die Beweise dieser
neuen Frechheit der Polizei zu, deren „einsichtsvollem Ermessen“ er
„die Ahndung einer solchen Verwegenheit“ anheimgab.

Aber auch von einer wackeren Köchin wissen wir, wie sie zu Goethe als
ihrem zeitweiligen Herrn stand. Henriette Hunger war seit 1817 bei dem
Verleger Frommann in Jena in Stellung; ihre Erinnerungen erzählt sie am
besten in eigener Sprech- und Schreibweise:

  Göhte war ein treuer Freund zu Frommanns. Alle Morgen 11 Uhr fuhr
  Göhte vor Und machten Seinen Morgenbesuch. Wobei ich auch das
  Unglück hatte, Göhte mit Eine Butte Wasser zu überschitten. Göhte
  wollte mich die Tür halten aus Bescheidenheit und ich ebenfalls,
  ich versah das Tembo und war in fallen und Göhte wollte mich halten
  und bekam die Wasserbutte auf den Halz, ich zum Tode Erschrocken.
  Madam und Fräulein Frommann Kamen mit Tüchern und beseitigten das
  nasse Element. Göhte fuhr nach Haus um sich umzukleiden. Deßhalb
  gab es keine Feindschaft. Den andern Morgen war Göhte wieder da und
  lachte. Göhte war nachdem in den botanischen Garten gezogen wolte
  aber nicht lange mehr in Jena bleiben, weil Ihn das Essen aus den
  Speisehäusern nicht Schmeckte. Frommanns wolten Göhte gerne für sich
  und Jena Erhalten, der Grund war das Essen wie anfangen, die Madam
  Fromman Eine sehr kluge Dame sann hin und hehr. Endlich kam sie auf
  Ihre Köchin, das war ich. Sie ließ mich in Ihr Zimmer kommen und
  sagte, ich habe ein großes anliegen an Dich was G. betrift und Du
  die Hauptperson bist (Du die Hauptperson? dachte ich) willst Du für
  G. Kochen den Mittagstisch übernehmen Meine Speisekammer Steht Dir
  Ofen, thue es, ich werde Dirs niemals vergessen, nach langes Zureden
  gab ich mein Wort. An Göhte geschriben das Ihre Köchin für Ihn den
  Mittags Tisch übernehmen wolte, mit Freuden Nehme ich dis An -- war
  die Rückantwort. So kochte ich ein halbes Jahr für den Großen Mann zu
  danke. Göhte nahm sich gegen mich nicht als wäre ich Köchin sondern
  als wäre ich mehr, wenn ich mit meinen Zettel kam, lag Schon was
  Schönes da, anzusehen für mich, Kurz ich kam mich vor als gehörte ich
  der gelehrten Welt mit an. -- --

Seine männlichen Diener gehörten erst recht „der gelehrten Welt mit an.“

[Sidenote: Philipp Seidel]

Als Goethe 1775 nach Weimar reiste, brachte er einen um sechs Jahre
jüngeren Landsmann aus der Kleinen Eschenheimergasse, Philipp Seidel,
als sein Faktotum nach Weimar mit. Philipp war auch Schreiber für
seinen Herrn und wurde, als die eigene Wirtschaft eingerichtet wurde,
eine Art Haushofmeister und Kassenverwalter. Christoph Sutor und die
Köchin Dorothee waren seine ersten Untergebenen; vorher hatte er
selber die Eierkuchen für seinen Herrn und sich gebacken. Wir wissen,
daß Goethe allein mit diesem Diener in seinem Gartenhause den Abend
verbrachte und mit ihm in der gleichen engen Kammer schlief. „Mit
meinem Philipp von seiner und meiner Welt geschwätzt“ heißt es in einem
Briefe Goethes; Philipp aber berichtete an einen Frankfurter Freund,
wie weit diese Gespräche gingen.

  Stell’ Dir die erschreckliche Wendung vor: von Liebesgeschichten auf
  die Insel Korsika, und auf Dieser blieben wir in dem größsten und
  hitzigsten Handgemenge bis morgens gegen Viere. Die Frage, über die
  mit so viel Heftigkeit als Gelehrsamkeit gestritten wurde, war Diese:
  ob ein Volk nicht glücklicher sei, wenn’s frei ist, als wenn’s unter
  dem Befehl eines souveränen Herrn steht. Denn ich sagte: die Korsen
  sind wirklich unglücklich. Er sagte: nein, es ist ein Glück für sie
  und ihre Nachkommen; sie werden nur verfeinert, entwildert, lernen
  Künste und Wissenschaften, statt sie zuvor roh und wild waren. Herr!
  -- sagte ich -- ich hätt’ den Teufel von seinen Verfeinerungen und
  Veredelungen auf Kosten meiner Freiheit, die eigentlich unser Glück
  macht.

Philipp war ein recht praktisch angelegter Mensch; schon mit
dreiundzwanzig Jahren begann er als Nebenverdienst eine Flachsspinnerei
und einen Strumpfverlag. Goethe benutzte ihn wegen dieser Talente
auch für seine gemeinnützigen Zwecke; als er den Vorsitz der
Kriegskommission übernahm und die Garnisonschule nach dem Muster
der Frankfurter Stadtschule verbesserte, da gründeten Herr und
Diener gemeinsam auch eine Strick-, Näh- und Spinnschule für die
Soldatenkinder, und sie verfaßten gemeinsam eine ‚Anweisung zum
Spinnen‘.

Am wertvollsten wurde der Diener seinem Herrn, als dieser nach Italien
ging und daheim eines sehr zuverlässigen Verwalters und Stellvertreters
bedurfte. Philipp besorgte nun alle Haus- und Kassengeschäfte,
berichtete die kleinen und großen weimarischen Ereignisse, überbrachte
Andern die Sendungen und Bestellungen seines Herrn; ja, er öffnete im
Anfang die an Diesen gelangenden Briefe und grüßte Hoch und Niedrig von
dem Abwesenden, je nachdem er, Philipp, es für angebracht hielt. Das
war dem Dichter recht. Aus Rom schreibt er:

  Du gehst zu den Herren Geheimräten und machst von hier aus meine
  besten Empfehlungen und empfiehlst mich ihrem Andenken. Ein Gleiches
  kannst Du bei Herrn und Frau v. Wedel und bei den Hofdamen tun.
  Fällt Dir sonst noch Jemand ein, so tue das Gleiche; ich gebe Dir
  Vollmacht; wo Du es schicklich und artig hältst, gebe ich Dir
  Vollmacht. Schreibe mir nur nachher, wen Du gegrüßt hast.

Aus Neapel heißt es dann:

  Bleibe ja dabei, und ich fordere Dich dazu auf, mir über Alles, was
  mich sonst angeht und was Du sonst gut finden magst, Deine Meinung
  unverhohlen, ja ohne Einleitung und Entschuldigung, zu sagen. Ich
  habe Dich immer als einen meiner Schutzgeister angesehen; werde nicht
  müde, dieses Ämtchen auch künftig beiher zu verwalten.

Und Philipp war aufrichtig. Er schrieb z. B., daß ihm die neue,
italienische Fassung der ‚Iphigenie‘ nicht so gut gefalle wie die
frühere in Prosa. Und Goethe antwortete:

  Was Du von meiner ‚Iphigenie‘ sagst, ist im gewissen Sinne
  leider wahr. Als ich mich um der Kunst und des Handwerkes willen
  entschließen mußte, das Stück umzuschreiben, sah ich voraus, daß die
  besten Stellen verlieren mußten, wenn die schlechten und mittlern
  gewannen. Du hast zwei Szenen genannt, die offenbar verloren haben.
  Aber wenn es gedruckt ist, dann lies es noch einmal ganz gelassen,
  und Du wirst fühlen, was es als Ganzes gewonnen hat.

Seidel blieb dabei, daß die alte, prosaische Form die bessere gewesen
sei, wie auch die ‚Claudine von Villabella‘ durch die Jamben nicht
gewonnen habe. Goethe antwortete wieder geduldig:

  Du sollst auch eine ‚Iphigenie‘ in Prosa haben, wenn sie Dir Freude
  macht. Der Künstler kann nur arbeiten. Beifall läßt sich, wie
  Gegenliebe, nur wünschen, nicht erzwingen.

Ebenso wie Philipp ihn, so beriet er seinen Diener bei Dessen
literarischen Arbeiten. Philipp dichtete, schrieb eine Abhandlung
über das Münzwesen (Goethe gab ihm Aufschluß über die Währung in
Neapel), schrieb eine Abhandlung über das weibliche Geschlecht,
Alles neben seinem Dienst, seinen eigenen Unternehmungen und seinen
naturwissenschaftlichen Studien; er war eben Goethes „vidimierte
Kopie“, wie man in Weimar sagte. Sein Herr urteilte immer wohlwollend.

  Was Deine kleine Schrift über das weibliche Geschlecht betrifft, so
  möchte ich Dir fast raten, sie geradezu drucken zu lassen, besonders
  wenn Du unbekannt bleiben könntest. Jene Ausarbeitung über’s Geld
  kann nicht reif genug werden; moralische Sachen aber lernt ein
  Unbefangener aus dem Effekt auf’s Publikum erst recht kennen.

Auch die Meinung seines Dieners über Staatsangelegenheiten war ihm
wichtig. So bat er im Sommer 1787:

  Mache Dir einmal wieder ein Geschäft, mir einen langen Brief zu
  schreiben und mir mit Deiner gewöhnlichen Freimütigkeit über die
  gegenwärtige Lage unseres kleinen Staats, insofern Du sie übersiehst,
  und was das Publikum denkt und sagt, über das neue Kammersystem usw.
  Deine Gedanken zu eröffnen.

Philipp wird nicht wenig kritisiert haben, und Goethe antwortete:
„Alle Briefe, die an mich kommen, sind voll Klagen und Trauer über die
Veränderungen, die sich bei uns zugetragen haben.“ Das heißt, in’s
Offene übersetzt: Es ist ein großer Jammer, daß unser guter Herzog sich
hat einfallen lassen, preußischer Soldat zu werden; er wird damit sich
selber und seinem Lande schaden.

Philipp war mit seinem Herrn Naturforscher geworden und setzte nun das
Mikroskopieren auf eigene Hand fort; er teilte seine Entdeckungen
freudig mit. Goethe antwortete:

  Du tust sehr wohl, mein Lieber, Dich mit Betrachtung der Natur zu
  beschäftigen. Wie der natürliche Genuß der beste ist, so ist auch
  die natürliche Betrachtung die beste. Deine Beobachtungen sind recht
  gut ... Schreibe mir Alles, was Du auf diesem Wege triffst. Mich
  interessiert’s sehr, und ich lerne immer.

Oft schreibt Goethe seinem Diener Lob und Zustimmung; muß er aber
einmal tadeln, so findet er die feinste Form:

  Noch ein Wort! Ich kann nicht billigen, daß Du der Frau v. Stein
  nicht nähere Auskunft wegen des Kastens gabst. Ich bin dadurch
  auf einige Zeit in Sorge geraten. Wo man aufklären, auch in
  Kleinigkeiten, kann, soll man es ja und bald tun. Ich gebe diese
  Lehre und Ermahnung Dir und mir, indem ich Dies schreibe.

Auch für das Fortkommen Philipps sorgt Goethe auf’s beste. Er ließ ihn
zuerst Kammerkalkulator, dann Rentkommissär werden; 1789 rückte Seidel
zum Rentamtmann auf, und Goethe stellte die dabei nötige Kaution von
1000 Talern. Seidel war bis zu seinem 1820 erfolgten Tode ein tüchtiger
Beamter. -- --

[Sidenote: Stadelmann]

Unter Philipps Nachfolger war Karl Stadelmann aus Jena einer der
wichtigsten; er trat am 1. Februar 1817 seine Stelle als Kammerdiener
an, und schon im April läßt er von Jena aus an den jüngeren Herrn v.
Goethe bestellen, daß er bei seinen mineralogischen Wanderungen in
der Gegend glücklich sei und auch schon den Befehl erhalten habe, den
Ettersberg auf seine Art zu untersuchen. Und schon vorher, am 30. März,
steht in Goethes Tagebuche: „Wunderbarer Fund von Versteinerungen
an der alten Löbstädter Straße durch Stadelmann und Barth“ -- Barth
war der Kutscher. Nicht lange danach berichtete Stadelmann an den
Bibliotheks-Sekretär Kräuter, daß er wegen all des gelehrten Betriebes
nicht zum Briefschreiben gekommen sei. „Sehen Sie, hier in Jena, da
laufen Unsereinem die Professoren immer vor den Füßen herum: da kommt
ein Bergrat, dort ein Chemiker, da wieder ein Künstler, ein Technolog
und weiß Gott was alles; ich muß mich den ganzen Tag mit den Leuten so
herumbalgen, und da hab’ ich denn Jedem so etwas abgemerkt.“

[Sidenote: Stadelmann und Krause]

Sieben Jahre bewährte sich Stadelmann als gelehrter Kammerdiener. Er
suchte in Thüringen und Böhmen die Berge ab nach seltenen Steinen für
die Sammlungen seines Herrn und eignete sich auch auf anderen Gebieten
viele Kenntnisse an. Soret erzählt, wie Karl einmal mit triumphierender
Miene das Gespräch unterbrochen und um die Erlaubnis gebeten habe,
Goethen eine neue Entdeckung vorzutragen. Es handelte sich um die
geliebte Farbenlehre.

„Ich habe ein Weinglas auf ein weißes Blatt Papier gestellt -- so
-- ferner eine Kerze“ begann Karl. „Man sieht, daß das durch die
Flüssigkeit dringende Licht auf dem Papier drei Sonnen mit einem
Regenbogen hervorbringt, wie wir ihn neulich am Himmel beobachteten.
Dreht man es +so+, so sieht man +eine+ Sonne; +so+ werden es +zwei+ und
+so drei+. Und hier ist der Regenbogen, hier der helle Kreis und hier
der dunkle Kreis.“

Goethe hörte andächtig zu, obwohl er sogleich sah, daß hier wieder
einmal der Laie aus richtiger Beobachtung voreilige Schlüsse zog.
Und Stadelmann war glücklich. „Jawohl!“ rief er aus, „es ist doch
sonderbar, es ist merkwürdig! Ich habe nur eine halbe Stunde zu diesem
Experimente gebraucht und würde wohl noch Anderes entdecken, wenn ich
nur Zeit hätte!“

Noch in der Nacht vor seinem eigenen Tode zeigte sich Goethes gutes
Herz gegen seine Diener. Er sah, daß Friedrich vom vielen Nachtwachen
der letzten Wochen sehr müde war; und er mußte ihn doch in seiner Nähe
haben. Da ließ er ihn auf seinem eigenen Bett schlafen, während er im
Lehnstuhl, wo er leichter Atem bekommen konnte, daneben saß; der Kopist
mußte in dieser letzten Nacht aufpassen, daß der Kranke nicht beim
Einschlafen vornüber fiel.


  [12] So heißt es in einer Variante zur dritten Bearbeitung des ‚Götz‘.

  [13] Prolog zum moral.-pol. Puppenspiel 1774.




VII.

Geselligkeit.


Auch wenn wir von Goethes Geselligkeit reden, müssen wir ihm
Eigenschaften zuschreiben, die einander widersprechen: er war gewandt
und steif, biegsam-schmiegsam und unbeholfen, Zauberer und Pedant,
hingebend und unfühlend.

Wir haben also sehr verschiedenartige Urteile über seinen Umgang mit
Menschen. Sobald er als Dichter aufgetreten war, bewunderten seine
neuen Bekannten auch den Menschen in ihm und rühmten seine Unterhaltung
in höchsten Tönen. Wirklich in höchsten, denn ein Schriftsteller und
Hofmeister Clemens Werthes verglich ihn geradezu mit Christus und
fragte: „Brannte nicht unser Herz in uns, da er mit uns redete?“ Er
war damals aber auch ein recht gutmütiger Gesellschafter, wenigstens
wenn er in neue Kreise trat, wie zum Beispiel als Begleiter Lavaters
im Sommer 1774. Dieser bezeugte denn auch: „Ich habe ihn neben Basedow
und Hasenkamp,[14] bei Herrnhutern und Mystikern, bei Weibchens und
Männinnen: allenthalben denselben edeln, Alles durchschauenden,
duldenden Mann gesehen.“

[Sidenote: Wielands Lobgesang]

Acht Wochen nach Goethes Erscheinen in Weimar dichtete Wieland die
Verse:

    Mit einem schwarzen Augenpaar,
    Zaubernden Auges voll Götterblicken,
    Gleich mächtig zu töten und zu entzücken,
    So trat er unter uns, herrlich und hehr,
    Ein echter Geisterkönig, daher! -- -- --
    So hat sich nie in Gottes Welt
    Ein Menschensohn uns dargestellt,
    Der alle Güte und alle Gewalt
    Der Menschheit so in sich vereinigt!
    So feines Gold, ganz innerer Gehalt,
    Von fremden Schlacken so ganz gereinigt! -- -- --
    Das laß mir einen Zauberer sein!
    Wie wurden mit ihm die Tage zu Stunden!
    Die Stunden wie augenblicks verschwunden!
    Und wieder Augenblicke so reich,
    An innerem Werte Tagen gleich!
    Was machte er nicht aus unsern Seelen?
    Wer schmelzt wie er die Lust in Schmerz?
    Wer kann so lieblich ängsten und quälen?
    In süßeren Träumen zerschmelzen das Herz?
    Wer aus der Seelen innersten Tiefen
    Mit solch’ entzückendem Ungestüm
    Gefühle erwecken, die ohne ihn
    Uns selbst verborgen im Dunkeln schliefen?

       *       *       *       *       *

    Und wenn wir dachten, wir hätten’s gefunden,
    Und was er sei, nun ganz empfunden,
    Wie wurd’ er so schnell uns wieder neu!
    Entschlüpfte plötzlich dem satten Blick
    Und kam in andrer Gestalt zurück.
    Ließ neue Reize sich uns entfalten,
    Und jede der tausendfachen Gestalten
    So ungezwungen, so völlig sein,
    Man mußte sie für die wahre halten!
    Nahm unsre Herzen in jeder ein,
    Schien immer nichts davon zu sehen,
    Und wenn er immer glänzend und groß
    Rings umher Wärme und Licht ergoß,
    Sich nur um seine Achse zu drehen.

Später hätte Wieland dies Gedicht als eine allzu enthusiastische
Übertreibung gern aus der Welt geschafft; 1797 meinte er einmal,
Goethes Kunst habe von jeher darin bestanden, die Konvenienz mit Füßen
zu treten und doch dabei immer klug um sich zu sehen, +wie weit+ er’s
gerade wagen durfte. Jenes Gedicht bezog sich auf einen Besuch Goethes
und Wielands bei der Familie v. Keller in Stetten; hier in Stetten,
erzählte nun Wieland, sei Goethe gegen die alte Dame weit respektvoller
gewesen als daheim in Weimar gegen die Herzogin-Mutter, in deren
Gegenwart er sich oft auf dem Boden im Zimmer herumgewälzt und durch
Verdrehung der Hände und Füße Lachen erregt habe.

[Sidenote: Der Hexenmeister]

In jener ersten weimarischen Zeit besuchte einmal der alte Gleim aus
Halberstadt seine Freunde Wieland und Bertuch, und ehe er Goethe
kannte, nahm er an einer höfischen Gesellschaft teil. Da erbot sich ein
feiner Jäger, ihn im Vorlesen aus dem neuesten Musenalmanach abzulösen,
und bald las dieser Jäger das tollste, geistvollste, witzigste Zeug,
das gar nicht auf den Blättern stand; sogar eine Fabel auf Gleim
improvisierte er in Knittelversen. „Das ist entweder Goethe oder der
Teufel!“ flüsterte der Halberstädter Gast Wieland zu. „Beides!“ gab
Jener zur Antwort.

Dieser Hexenmeister für fröhliche Gesellschaften, dieser
liebenswürdigste Kamerad blieb Goethe nicht lange, oder vielmehr: was
anfangs die Regel gewesen war, wurde bald zur seltenen Ausnahme. Es
erheben sich auch unter den weimarischen Freunden bald Klagen über sein
zugeknöpftes, allzu ernstes Wesen. Und als er von der italienischen
Reise wiederkam, erschien er vollends als ein Fremder.

  Es ist vielen der nähern Freunde und Lebensgenossen Goethes begegnet,
  daß er ihnen nach seiner italienischen Reise ganz umgewandelt vorkam,
  ja, daß sie fast irre an ihm wurden, wenn sie jenen freien harmlosen
  Lebenssinn, jene unbefangene, zutrauliche, hinreißende Lebhaftigkeit,
  mit der sie ihn früher die verschiedenen Gegenstände ergreifen zu
  sehen gewohnt waren, nicht mehr an ihm zu gewahren glaubten. So kam
  er dem Einen erkaltet, dem Andern verschlossen oder selbstsüchtig,
  rätselhaft den Meisten vor, und noch späterhin haben ähnliche Klagen
  nachgeklungen.[15]

Goethe versuchte zuweilen, die Tage unbefangener Jugendlust mit Gewalt
zurückzurufen; man sah z. B. bald nach seiner Heimkehr aus Italien,
wie er auf einem Hofballe nur mit solchen Mädchen und Frauen tanzte
und schwätzte, die außer der Jugend und einem hübschen Gesicht nichts
zu bieten hatten, während er die Älteren und Verständigeren mied; und
später umgab er sich gern mit jungem Schauspielervolk, das denn doch
besser zu seiner Christiane als zu ihm paßte. Im Herbst 1801 erschien
er plötzlich einmal in einer Damengesellschaft bei dem klugen alten
Hoffräulein v. Göchhausen und begann vor den überraschten Damen alsbald
eine Strafpredigt über die verderbte Geselligkeit, die jetzt herrsche.
Mit den grellsten Farben schilderte er die dermalige Geistesleere
und Gemütlosigkeit: wieviel gemütlicher sei es doch früher gewesen!
Seinen ganzen Zorn ergoß er über den Teufel der Hoffart, der die
Genügsamkeit und den Frohsinn aus der Welt verbannt, dagegen aber die
unerträglichste Langeweile eingeschmuggelt habe. Dann schlug er einen
Reformverein vor und zwar eine -- ~cour d’amour~. Sein Vorschlag wurde
angenommen; die phantastische Gesellschaft bildete sich aus sieben
Damen und sieben Herren. Man kam jeden Mittwoch Abend nach dem Theater
in Goethes Haus zusammen; die Damen sorgten für das Essen, die Herren
für den Wein. Aber der Liebeshof wurde nicht so unterhaltend, wie
man gehofft hatte, und man klagte über Goethes Steifheit, Pedanterie
und Tyrannei. Schon nach einem halben Jahre bewirkte die erste
Meinungsverschiedenheit, daß die Zusammenkünfte aufhörten.

       *       *       *       *       *

[Sidenote: Klagen Goethes und über ihn]

Auch Goethe selber hat uns bezeugt, daß er in der Geselligkeit bald
frei-spielend, bald unfrei und unbeholfen gewesen sei. „Doch ach!
ein Gott versagte mir die Kunst, Die arme Kunst, mich künstlich zu
betragen“ so klagt er schon 1783, und: „Mir ist’s nicht gegeben,
gegen die Menge und mit der Menge herzlich zu sein“ schreibt er 1785
an Knebel, als er gegen die berühmte Frau v. der Recke so stumm
und kalt geblieben war, daß ihre Begleiterin Sophie Becker von ihm
niederschrieb: „Er hat etwas entsetzlich Steifes in seinem Betragen und
spricht gar wenig; es war mir immer, als ob ihn seine Größe verlegen
mache.“ In den ‚Annalen‘ von 1804 fügt Goethe hinzu: auch wenn er sich
nicht verstelle, sondern sich gehen lasse, werde er doch immer von
den Leuten nicht recht gefaßt. Um so mehr mußte er mit Staunen später
bemerken, wie sehr der Stubengelehrte Schiller in jeder Gesellschaft
Herr seiner selbst war.

  Schiller war ein ganz anderer Geselle als ich und wußte in der
  Gesellschaft immer bedeutend und anziehend zu sprechen .... Er ist
  so groß am Teetisch, wie er es im Staatsrat gewesen sein würde.
  Nichts geniert ihn, Nichts engt ihn ein, Nichts zieht den Flug seiner
  Gedanken herab. Was in ihm von großen Ansichten lebt, geht immer frei
  heraus ohne Rücksicht und ohne Bedenken. Das war ein rechter Mensch,
  und so sollte man auch sein! Wir Andern dagegen fühlen uns immer
  bedingt; die Personen, die Gegenstände, die uns umgeben, haben auf
  uns ihren Einfluß .. wir sind die Sklaven der Gegenstände.

[Sidenote: In Düsseldorf und Münster]

Ganz anders klingt dann wieder, was Goethe in der ‚Kampagne in
Frankreich‘ über sich und seinen Aufenthalt in Düsseldorf und Münster
erzählt. Er beginnt auch hier damit, daß er in Jacobis Hause seine
optischen Entdeckungen nur „didaktisch und dogmatisch“ vortragen
konnte, denn, sagt er, „eine eigentlich dialektische und konversierende
Gabe war mir nicht verliehen.“ Dann aber spricht er von einer „bösen
Gewohnheit.“

  Da mir das Gespräch, wie es gewöhnlich geführt wird, höchst
  langweilig war, indem nichts als beschränkte Vorstellungsarten
  zur Sprache kamen, so pflegte ich den unter Menschen gewöhnlich
  entspringenden bornierten Streit durch gewaltsame Paradoxen
  aufzuregen und an’s Äußerste zu führen. Dadurch war die Gesellschaft
  meist verletzt und in mehr als +einem+ Sinne verdrießlich. Denn oft,
  um meinen Zweck zu erreichen, mußte ich das Böse Prinzip spielen, und
  da die Menschen gut sein und auch mich gut haben wollten, so ließen
  sie es nicht durchgehen. Als Ernst konnte man es nicht gelten lassen,
  weil es nicht gründlich, als Scherz nicht, weil es zu herb war;
  zuletzt nannten sie mich einen umgekehrten Heuchler und versöhnten
  sich bald wieder mit mir. Doch kann ich nicht leugnen, daß ich durch
  diese böse Manier mir manche Person entfremdet, Andere zu Feinden
  gemacht habe.

Er fährt fort:

  Wie mit dem Zauberstäbchen jedoch konnte ich sogleich alle bösen
  Geister vertreiben, wenn ich von Italien zu erzählen anfing ... Ich
  konnte beschreiben, als wenn ich’s vor mir sähe; von belebender
  Staffage wimmelte es durch und durch, und so war Jedermann von den
  lebhaft vorbeigeführten Bilderzügen zufrieden, manchmal entzückt.

„Er ist und bleibt der wahre Zauberer“ schrieb damals Helene Jacobi an
Gräfin Sophie Stolberg.

  Was die Leute Sonderbares von ihm schwatzen und reden, ist, weil sie
  immer nur die linke Seite sehen, und Dies ist auch das Verkehrteste
  an ihm, daß er so gern das Verkehrte aus sich herauswendet.

Wenige Tage danach war Goethe in Münster bei der Fürstin Gallitzin in
einem Kreise frommer katholischer Laien und Priester. Er fügte sich
vollkommen in diesen Kreis.

  Hier wählte ich unaufgefordert die römischen Kirchenfeste, Karwoche
  und Ostern, Fronleichnam und Peter Paul, sodann zur Erheiterung die
  Pferdeweihe, woran auch andere Haus- und Hoftiere teilnehmen. Diese
  Feste waren mir damals nach allen charakteristischen Einzelheiten
  vollkommen gegenwärtig, denn ich ging darauf aus, ein ‚Römisches
  Jahr‘ zu schreiben, den Verlauf geistlicher und weltlicher
  Öffentlichkeiten; daher ich denn auch meinen katholischen frommen
  Zirkel mit meinen vorgeführten Bildern ebenso zufrieden sah, als
  die Weltkinder mit dem Karneval. Ja, Einer von den Gegenwärtigen,
  mit den Gesamtverhältnissen nicht genau bekannt, hatte im stillen
  gefragt, ob ich denn wirklich katholisch sei. Als die Fürstin mir
  Dieses erzählte, eröffnete sie mir noch ein Anderes; man hatte ihr
  nämlich vor meiner Ankunft geschrieben, sie solle sich vor mir in
  acht nehmen; ich wisse mich so fromm zu stellen, daß man mich für
  religiös, ja für katholisch halten könne. -- „Geben Sie mir zu,
  verehrte Freundin“ rief ich aus, „ich stelle mich nicht fromm: ich
  +bin+ es am rechten Orte! Mir fällt nicht schwer, mit einem klaren,
  unschuldigen Blick alle Zustände zu beachten und sie wieder auch
  ebenso rein darzustellen. Jede Art fratzenhafter Verzerrung, wodurch
  sich dünkelhafte Menschen nach eigener Sinnesweise an dem Gegenstand
  versündigen, war mir von jeher zuwider. Was mir widersteht, davon
  wende ich den Blick weg; aber Manches, was ich nicht gerade billige,
  mag ich gern in seiner Eigentümlichkeit erkennen. Da zeigt sich dann
  meist, daß die Andern ebenso recht haben, nach ihrer eigentümlichen
  Art und Weise zu existieren, als ich nach der meinigen.“

Ein junger Schweizer, Horner aus Zürich, durfte im Oktober 1794 als
Begleiter seines Landsmanns Heinrich Meyer an einer Gesellschaft bei
Herder teilnehmen. Er wunderte sich, wie ungeniert die großen Geister
miteinander verkehrten. „Jeder sprach und stand oder setzte sich,
zu wem er wollte.“ Herder zeigte sich als der Unterhaltsamste und
Überlegenste; Goethe blieb stumm. Da brachte ein gewisser Professor
Meyer aus Berlin „auf eine infam-witzige Manier die Heirats- und
Sterbensgeschichte“ des armen Karl Philipp Moritz vor.

  Dies weckte Goethen so nach und nach aus seiner Kälte auf. Er saß
  neben mir, und wir schenkten uns wechselseitig um die Wette ein. Nun
  fing auch er an, von Moritz zu erzählen: was er in Rom für dumme
  Streiche gemacht hatte, und schlug mit seinem Witz, der viel feiner
  war, den Professor und bisweilen auch Herdern zu Boden.

[Sidenote: Bei Frau Schopenhauer]

Stephan Schütze, der ihn namentlich im geselligen Kreise der
Bankierswitwe Johanna Schopenhauer, der Mutter von Adele und Arthur
Schopenhauer, beobachtete, schildert ihn uns, wie er in den Notjahren
nach dem Oktober 1806 dort erschien.

  Das Merkwürdigste war, ihn fast jedesmal in einer anderen Stimmung
  zu sehen, so daß, wer ihn mit einem Male zu fassen glaubte,
  sich das nächste Mal gewiß gestehen mußte, daß er ihm wieder
  entschlüpft sei. Man hatte bald einen sanft-ruhigen, bald einen
  verdrießlich-abschreckenden -- auch Kummer drückte sich bei
  ihm gewöhnlich durch Verdrießlichkeit aus -- bald einen sich
  absondernden, schweigsamen, bald einen beredten, ja redseligen,
  bald einen episch-ruhigen, bald, wiewohl seltener, einen
  feurig-aufgeregten, begeisterten, bald einen ironisch-scherzenden,
  schalkhaft neckenden, bald einen zornig scheltenden, bald sogar einen
  übermütigen Goethe vor sich .... Goethe übte gewiß eine Herrschaft
  über sich, wie leicht Niemand; dennoch drang ein Nachhall der letzten
  Stunde oder die Laune des Augenblicks oftmals durch die feste Haltung
  hindurch, und als Gast ohne besondere Verpflichtung ließ er sich hier
  weit freier gehen als zu Hause, wenn er selbst Gäste empfing.

Schütze erzählt weiter:

  Gewöhnlicherweise warf er weder mit Witz noch mit Ideen um sich; ja,
  er vermied diese sogar, sondern er gefiel sich meist im Ton einer
  heitern Ironie, die etwas zu loben schien, dessen Unhaltbarkeit sich
  so von selbst ergeben mußte. ... Schnelle Kreuz- und Querzüge konnte
  er in der Unterhaltung nicht leiden ... Noch mehr liebte er, etwas
  ruhig durchzusprechen, wobei Andere oft nur beipflichtend und fragend
  beförderlich waren, während er eigentlich nur das Gespräch führte und
  fortsetzte.

  Höher noch stieg seine Liebenswürdigkeit, wenn er ganz und gar einer
  epischen Stimmung sich hingab, wenn er z. B. einen römischen Karneval
  beschrieb oder sonst etwas von Italien erzählte. Hier konnte man
  stundenlang ihm zuhören und die ganze übrige Gesellschaft darüber
  vergessen. Die Ruhe, die Klarheit, die Lebendigkeit, der an’s
  Komische hinstreifende, halb feierliche Ton, womit er schilderte
  und Alles deutlich vor Augen stellte, flößten mit dem Reize der
  Unterhaltung zugleich ein großes Behagen, ein großes Wohlgefallen am
  Leben ein.

  So angenehm fesselnd indes auch seine Schilderungen waren, die
  höchste Glorie umleuchtete ihn erst in Augenblicken der Begeisterung,
  wenn ein lebhaftes Rot die Wangen überflog, deutlicher der Gedanke
  auf der erhabenen Stirn hervortrat, himmlischer noch die Strahlen
  seines Auges glänzten, und sein ganzes Antlitz sich zum Ausdruck
  einer göttlichen Anschauung verklärte. Es war Dies namentlich der
  Fall, als er eines Abends [1807] Calderons ‚standhaften Prinzen‘
  vorlas. Bei der Szene, wo der Prinz als Geist mit der Fackel in
  der Nacht dem kommenden Heere voranleuchtet, wurde er so von der
  Schönheit der Dichtung hingerissen, daß er mit Heftigkeit das Buch
  auf den Tisch warf.

       *       *       *       *       *

Ein abwechselndes Vorlesen und ein Lesen mit verteilten Rollen ward
auch in Goethes Hause gepflegt, wenigstens eine Zeit lang. Der junge
Heinrich Voß, der Sohn des Homer-Übersetzers, erzählt davon im Januar
1801:

  Da sitzt die ganze Gesellschaft um einen langen Tisch, Goethe in der
  Mitte, und liest abwechselnd. Es traf sich, daß beidemal, als ich
  zugegen war, aus der ‚Luise‘ gelesen wurde. An Goethe kam die Stelle
  von der Trauung, die er mit dem tiefsten Gefühle las. Aber seine
  Stimme ward kleinlaut: er weinte und gab das Buch seinem Nachbar.
  „Eine heilige Stelle!“ rief er aus mit einer Innigkeit, die uns alle
  erschütterte.

  Nachher traf ihn die Stelle: „den Gesang, den unser Voß in Eutin uns
  dichtete.“ Aus dem Pathos, mit welchem er diese Worte vortrug, hätte
  ich schon seine Liebe zu meinem Vater abnehmen können.

Vier Jahre später schilderte Frau Schopenhauer ihrem Sohne einen Abend
bei Goethe, „wo es allerliebst war.“

  Er hatte einige junge Schauspieler, die er oft bei sich deklamieren
  läßt, um sie für ihre Kunst zu bilden, eingeladen und las mir mit
  ihnen einige seiner frühesten Arbeiten, ein Stück von Laune und
  Humor: ‚Die Mitschuldigen‘, vor. Er hatte selbst die Rolle eines
  alten Gastwirts darin übernommen ... Ich habe nie was Ähnliches
  gehört; er ist ganz Feuer und Leben, wenn er deklamiert; Keiner hat
  das Echtkomische mehr in seiner Gewalt als er.

  Zwischendurch meisterte er die jungen Leute. Ein paar waren ihm zu
  kalt. „Seid ihr denn gar nicht verliebt?“ rief er komisch erzürnt,
  und doch war es ihm halb ein Ernst. „Seid ihr denn gar nicht
  verliebt, verdammtes junges Volk! Ich bin sechzig Jahre alt und
  kann’s besser.“

  Wir blieben bis halb Zwölf zusammen, Ich saß bei ihm, und die Bardua
  auf der andern Seite.

       *       *       *       *       *

[Sidenote: Lesen und Singen]

„Wohl perlet im Glase der purpurne Wein“ beginnt Schiller ein Gedicht,
„Wohl glänzen die Augen der Gäste: Es zeigt sich der +Sänger+, er tritt
herein. Zu dem Guten bringt er das Beste.“ Und ebenso zeichnet uns
Goethe den singenden Dichter, den der König herbeirufen läßt, seine
Gäste zu erfreuen.

    Der Sänger drückt’ die Augen ein
    Und schlug in vollen Tönen;
    Die Ritter schauten mutig drein,
    Und in den Schoß die Schönen.

Diese Erfahrung, daß Dichtung und Musik zum Guten das Beste hinzufügen,
hatten beide Dichter oft mit erlebt: bei Hofe, in geselligen Vereinen
und im eigenen Hause. Als Fürst Radziwill einmal nach Weimar kam, sein
Cello mitbrachte und zum Cello sang, glaubte Goethe einen Troubadour
aus alten Zeiten zu sehen. In jüngeren Jahren war Korona Schröter so
eine Bringerin der schönsten Freude in Goethes Häuschen an der Ilm;
in späteren Zeiten kamen Liedermeister wie Reichardt, Zelter und
Methfessel zu ihm und sangen zur Gitarre, zum Klavier oder ohne jedes
Instrument. Oder es kamen Sänger und Sängerinnen vom Theater: Ehlers,
Strohmeier, Moltke, Ernestine Engels, Henriette Eberwein und von
auswärts Henriette Sontag, Wilhelmine Schröder-Devrient. Auch tüchtige
Klavierspieler und Geiger erfreuten ihn und seine Gäste nicht selten:
Hummel, Organist Schütz aus Berka, Karl Eberwein, Ferdinand Hiller,
Felix Mendelssohn, Maria Szymanowska, Klara Wieck, die nachmalige
Gattin von Robert Schumann, und Andere mehr.

[Sidenote: Hauskapelle und Zeichentisch]

Eine eigene Hauskapelle hatte er sich schon lange gewünscht; im Herbst
1807 glückte es ihm, sie einzurichten; ein paar Sänger und Sängerinnen
vom Theater übten sich bei ihm zweimal die Woche; der Geiger Karl
Eberwein warf sich zum Dirigenten auf; im Januar 1808 konnte Goethe
schon das erste Konzert seines eigenen Singechors vor geladenen Gästen
veranstalten. In den nächsten Wintern waren dann seine Hauskonzerte
seine liebste Geselligkeit. Sie fanden an den Sonntagmittagen statt;
alle Freunde waren geladen, und einige Male zählte man an die fünfzig
Zuhörer. Diese Tonfreuden begannen gewöhnlich mit Werken der ~musica
sacra~; dann folgten weltlich-ernste Stücke, und schließlich fehlte
auch das Lustige nicht.

Um 1812 und 1813 schlief diese kleine Anstalt ein, besonders infolge
von Mißhelligkeiten im Theater. Aber das Ehepaar Eberwein blieb dem
alten Dichter treu anhänglich, und wenn nun Goethe in seinem Saale ein
Konzert wünschte, so bedurfte es nur einer kurzen Mitteilung: Eberwein
brachte die Vortragenden rasch zusammen. Eckermann hat uns solche
Abende geschildert, wo Goethe sich mit den Seinen Händels ‚Messias‘
zurückrief oder sich an dem Vortrag seiner eigenen Lieder erfreute,
die Henriette Eberwein gar lebendig vortrug, und zwar in Melodien, die
teils ihr Mann, teils ihr Schwager, der Rudolstädter Eberwein, gesetzt
hatten.

       *       *       *       *       *

Auch das Zeichnen und Malen wurde im klassischen Weimar zuweilen zum
gesellschaftlichen Vergnügen. Wir besitzen ein Bild von Georg Melchior
Kraus, wo er im Kreise um die Herzogin Amalie neun Damen und Herren
an einem Zeichentische abgebildet hat: Goethe, Einsiedel, Herder
usw.; zwei der Damen sticken, Herder macht den Zuschauer, die Übrigen
haben alle den Stift oder den Pinsel zur Hand. Als im Oktober 1806
die Frau Schopenhauer trotz ihrer Neuheit in Weimar zweimal in der
Woche Tee-Abende geben und dazu namentlich den Geheimen Rat Goethe als
regelmäßigen Gast gewinnen wollte, gab ihr sein Freund Heinrich Meyer
einen guten Rat. „Goethe fühlt sich recht wohl bei mir“ konnte sie dann
sehr bald an ihren Arthur schreiben;

  ich habe einen eigenen Tisch mit Zeichenmaterialien für ihn in eine
  Ecke gestellt. Wenn er dann Lust hat, so setzt er sich hin und tuscht
  aus dem Kopfe kleine Landschaften: leicht hingeworfen, nur skizziert,
  aber lebend und wahr, wie er selbst und Alles, was er macht.

Einmal brachte er der Gastgeberin einen schön aus Papier
ausgeschnittenen Blumenstrauß von dem Hamburger Maler Philipp Otto
Runge mit; da zeigte ihm Frau Schopenhauer, daß sie diese Kunst auch
verstand, und legte ihm einen ebensolchen Kastanienzweig vor.

  Er freute sich darüber wie ein Kind zum Weihnachten ... Die Übrigen
  gingen an’s Klavier im Nebenzimmer; ich blieb allein bei Goethe an
  seinem Zeichentische ... Nun erzählte er mir von einem Ofenschirme,
  den ich so machen müßte, machte mir mit ein paar Strichen eine
  Zeichnung dazu und will mir auch beim Aufkleben helfen.

Beide gingen sogleich mit großem Eifer an diese Aufgabe. Die junge
Witwe schnitt ihre Blumen, und der berühmte Dichter war „gewaltig
beschäftigt“, sie zur Verzierung des Ofenschirmes zu ordnen. Ende
Januar 1807 berichtet Johanna wieder darüber.

  Es ist eine herrliche Sache um solche gemeinschaftliche Arbeiten, die
  man mit Lust und Liebe anfängt; es gibt kein schöneres, festeres
  Band für’s gesellige Leben. Ich habe immer mit meinen Freunden Etwas
  vor, und Das gibt ein Zusammenkommen, ein Beraten, ein Überlegen,
  als hinge das Wohl der Welt daran; am Ende wird es ein Ofenschirm
  ... Klugen, vernünftigen Leuten muß unser Beginnen fast töricht
  erscheinen. Wenn so ein Senator oder Bürgermeister sähe, wie ich mit
  Meyer Papierschnitzel zusammenleime, wie Goethe und die Andern dabei
  stehen und eifrig Rat geben, er würde ein recht christliches Mitleid
  mit uns armen kindischen Seelen haben ...

  Der Ofenschirm ist fertig und die Bewunderung aller Welt; er ist
  wirklich über Erwarten hübsch! Goethe hat letzt mit dem Lichte in der
  Hand wohl eine halbe Stunde davor gesessen und ihn besehen, und wer
  ihm näher kam, Der mußte mit bewundern und besehen.

       *       *       *       *       *

[Sidenote: Kartenspiel]

Zu den väterlichen Warnungen, die Goethe auf die Universität mitnahm,
gehörte diejenige vor allem Kartenspiel. In Leipzig aber überzeugte ihn
eine mütterliche Freundin, die Hofrätin Böhme, daß nur der Mißbrauch
gefährlich und schädlich sei, und sie unterwies ihn in Pikett, L’hombre
und anderen in Gesellschaft üblichen Spielen. Ein guter Kartenspieler
wurde ihr Zögling jedoch nicht. „Ich hatte wohl den Spielsinn, aber
nicht den Spielgeist“ so schilderte sich Goethe später:

  Ich lernte alle Spiele leicht und geschwind, aber niemals konnte ich
  die gehörige Aufmerksamkeit einen ganzen Abend zusammenhalten. Wenn
  ich also recht gut anfing, so verfehlte ich’s doch immer am Ende
  und machte mich und Andere verlieren, wodurch ich denn jederzeit
  verdrießlich entweder zur Abendtafel oder aus der Gesellschaft ging.
  Kaum war Madame Böhme verschieden, die mich ohnedem während ihrer
  langwierigen Krankheit nicht mehr zum Spiel angehalten hatte, so
  gewann die Lehre meines Vaters Kraft; ich entschuldigte mich erst von
  den Partien, und weil man nun nichts mehr mit mir anzufangen wußte,
  so ward ich mir noch mehr als Andern lästig, schlug die Einladungen
  aus, die denn sparsamer erfolgten und zuletzt ganz aufhörten.

Diese Erfahrung machte ihn in Straßburg willfährig, als dort ein
älterer Freund, Salzmann, die gleiche Forderung an ihn stellte wie
einst die Professorin Böhme. Goethe sah ein, daß man sich durch
diese kleine Aufopferung -- wenn sie ja als solche gelten dürfe --
manches Vergnügen und „sogar eine größere Freiheit in der Sozietät
verschaffen könne, als man sonst genießen würde“; handelte es sich
doch damals, wenn vom Kartenspiel die Rede war, in der Regel nicht um
einen Wirtshaus-Zeitvertreib unter Männern, sondern um eine häusliche
Unterhaltung zwischen Damen und Herren. Die Gefahr, daß Einzelne von
der Spielleidenschaft ergriffen wurden, blieb freilich; nicht Wenige
brachten sich bei Kunst- und Glückspielen um Wohlstand, Häuslichkeit
und Ehre. Aber Goethe fühlte nie eine übermäßige Anziehung vom
Spieltisch aus, und wenn er die Karten in der Hand hielt, blieb ihm das
Beisammensein mit den Menschen die Hauptsache.

  Das alte eingeschlafene Pikett wurde daher hervorgesucht; ich lernte
  Whist, richtete mir nach Anleitung meines Mentors einen Spielbeutel
  ein, welcher unter allen Umständen unantastbar sein sollte, und nun
  fand ich Gelegenheit, mit meinem Freunde die meisten Abende in den
  besten Zirkeln zuzubringen.

Er war selber noch ein junger Student, als ein noch jüngerer, Augustin
Trapp in Worms, ihn um einen Gewissensrat über das Kartenspielen
bat; Goethe neigte damals zur herrnhutischen Frömmigkeit und hatte
Verständnis für solche Nöte; seine Antwort war vermittelnd:

  Wenn Sie es für eine Sünde halten, so spielen Sie nicht! Warum
  wollen Sie törig sein und Ihr Gewissen, anderen Leuten zu gefallen,
  beschweren? Aber ich wünschte nicht, daß Sie eine +Religions+sache
  daraus machten und +sagten+: Ich tu es nicht, weil ich’s für Sünde
  halte.

  Und noch weniger wünschte ich, daß Sie Jemanden, der gerne spielt,
  abhalten und denen Leuten beweisen wollten, es sei Sünde. Wer spielen
  will, Den lassen Sie spielen! Aber Sie, lassen Sie’s sein! Wenn
  man Sie nötigt, so sagen Sie: „Ich spiele nicht.“ Wenn man fragt:
  „warum?“ so sagen Sie: „Weil ich keinen Gefallen dran habe.“ Sagen
  die Leute: „Das ist Grille,“ so antworten Sie mit einem großen
  Philosophen: „Gut, es sei Grille: habt Ihr etwan keine?“ Und wenn man
  Sie fragt: „Was halten Sie von dem Spiel?“, so können Sie sagen: „Ich
  spiele nicht; was ich davon halte, kann sehr einerlei sein; meine
  Meinung wird zur Entscheidung des Streits nichts beitragen.“

  Und so helfen Sie sich durch, wenn Sie können! Denn es ist aus
  tausend Ursachen gut, gewisse Kleinigkeiten nicht nach den
  Grundsätzen der Religion, besonders öffentlich, zu beurteilen. --

Als Goethe nach Weimar kam, fand er, daß an diesem Hofe, wie an allen
deutschen Höfen, das Kartenspiel die tägliche Unterhaltung war, ebenso
bei allen adligen und bürgerlichen Gesellschaften. Bei den Redouten
fehlte auch die Pharaobank nie. Wir wissen nur wenig von großen
Geldverlusten; der Zeitverlust aber war ein ungeheurer. Die Wenigen,
die sich ausschlossen oder gar gestanden, sie hätten die Spiele nicht
gelernt (L’hombre, Tarock, Whist usw.) wurden von den damaligen
Regelrechten wie Meerwunder angestaunt. Goethe und Frau v. Stein
gehörten zu diesen Ausnahmemenschen: schon diese Besonderheit führte
sie in Gesellschaft zueinander.

Goethe hat von diesem Zeitverderb sein ganzes Leben lang keine gute
Meinung gehabt, und in Bausch und Bogen könnte man sagen, er habe keine
Karten gespielt. Einige Ausnahmen finden sich jedoch; z. B. spielte er
in den Jahren 1811, 12 und 13 ziemlich oft nach Tische oder auch abends
mit Christiane, August und den Schauspielerinnen Engels und Lortzing
eine Partie Whist. Im Januar 1814 schildert er einem alten Freunde, wie
er jetzt den Frauen schön tue: „Mit den bejahrten spiele ich Karte und
die jüngeren lehre ich Irgendetwas.“

Danach oder mit Christianens Ausscheiden scheint das Kartenspielen für
ihn aufgehört zu haben. Aus seinen letzten Jahren bezeugt einer seiner
Freunde, Soret, daß Goethe diese Art, sich in größeren Gesellschaften
zu unterhalten, abscheulich fand; er spottete darüber, daß die Schönen
in all ihrer Huld und Frische mit jungen, fast unbärtigen Männern die
gelehrten Regeln des Whist und Boston ernsthaft besprachen. „Doch
laßt’s nur gut sein“ meinte er dann wohl, „in unserer Zeit, wo die
Throne gestürzt werden, zeigt man seine natürliche Liebe zur Ordnung
und Unterordnung wenigstens durch Anerkennung des Karo-Königs.“

       *       *       *       *       *

[Sidenote: Tanzen]

Das Tanzen war in Goethes Zeit und in den Kreisen, wo er sich bewegte,
ein sehr häufiges Vergnügen; die Tanzkunst war bei den Vornehmen
geradezu eins der ersten und wichtigsten Unterrichtsfächer; es ward
noch mehr Zeit darauf verwandt als auf den Katechismus. Unter Goethes
Freunden waren denn auch nicht wenige Künstler in diesem Fache; er
selber tanzte sehr gern und blieb zeitlebens ein Lobredner dieser
Unterhaltung. Auf die Ausschmückung der Redouten hat er sehr viel
Zeit verwandt. Zum letzten Male „tanzte“ er am Abend vor seinem 74.
Geburtstag; es war in Karlsbad bei einem Tanztee, den Graf Zenigeo
gab: „Zu der Schlußpolonaise forderte mich eine polnische Dame zum
Tanze auf, den ich mit ihr herumschlich und mir nach und nach beim
Damenwechsel die meisten hübschen Kinder in die Hand kamen.“

       *       *       *       *       *

Ebenso begünstigte er das gesellschaftliche Theaterspiel zeitlebens,
sowohl bei Erwachsenen wie bei Kindern. Als vierjähriger Knabe
erlebte Goethe die erste häusliche Schauspiel-Vorstellung durch ein
Puppentheater, das er zu Weihnachten bekam; das letzte Theaterstück sah
er als zweiundachtzigjähriger Greis, wiederum zu Hause; seine Enkel
und ihre jungen Freunde spielten ihm am 6. November 1831 seine eigene
‚Fischerin‘ vor.

       *       *       *       *       *

[Sidenote: Klatsch]

Die allergewöhnlichste Unterhaltung, der Klatsch, beschäftigte auch im
klassischen Weimar viele Zungen. Goethe stand von jeher abgesondert
und hatte den Kopf voll von höheren Dingen; er erfuhr nur selten,
was über ihn und die Seinen gesprochen wurde, und nahm auch an dem
allgemeinen Hin und Her der höfischen und städtischen Tagesgeschichte
nur selten teil. Zuweilen merkte er dann, daß seine „fortdauernde
reine Entfremdung von den Menschen“ für einen Staatsdiener doch nicht
ganz ratsam war. „Ich bin nicht zu dieser Welt gemacht“ schrieb er dann
in sein Tagebuch; „wie man aus seinem Haus tritt, geht man auf lauter
Kot, und weil ich mich nicht um Lumperei kümmere, nicht klatsche und
solche Rapporteurs nicht halte, handle ich oft dumm.“

Nun sind hübsche Geschichten nur um so anschaulicher, wenn sie in
unserer Nähe spielen und unsere Bekannten betreffen. Solche Geschichten
hat auch Goethe gern angehört und selber erzählt. In seinem Alter
ließ er sich von dem trocken-witzigen Heinrich Meyer gern Dergleichen
mitteilen; namentlich hörte er von seiner Schwiegertochter Ottilie und
ihrer Schwester Ulrike gern „neuerliche frauenzimmerliche Vorkommnisse“
oder Nachrichten von den fürstlichen Personen. „Ottilie, von Belvedere
kommend, den Hofzustand schildernd, mit Neigung, wie ich’s liebe“;
so lesen wir einmal im Tagebuch von 1831, und ein andermal: „Mittag
Ottilie, allen Stadtklatsch durchgearbeitet, wobei denn gar hübsche
novellenartige Verhältnisse zum Vorschein kamen.“

[Sidenote: Mißreden und Ausfragen]

Ganz anders aber stellte er sich, wenn die Erzähler nicht so gutartig
waren, wenn sie ihre Neigung zu Witz und Spott oder gar ihren Haß an
den gemeinsamen Bekannten ausließen. Als der Kanzler ihm einmal einen
bösen Witz Riemers erzählte, fuhr er auf: „Durch solche böswilligen und
indiskreten Dichteleien macht man sich nur Feinde und verbittert Laune
und Existenz sich selbst! Ich wollte mich doch lieber aufhängen, als
ewig negieren, ewig in der Opposition sein, ewig schußfertig auf die
Mängel und Gebrechen meiner Mitlebenden, Nächstlebenden lauern. Ihr
seid noch gewaltig jung und leichtsinnig, wenn Ihr so etwas billigen
könnt!“ Noch deutlicher wurde er einmal, als Jenny v. Pappenheim bei
ihm zu Tische war und eine Klatscherei zum Vorschein kam. „Euren
Schmutz kehrt bei Euch zusammen, aber bringt ihn nicht mir in’s Haus!“
rief er mit dröhnender Stimme. In größerer Gesellschaft sprach er
lieber über Menschen früherer Jahrhunderte und ferner Länder als über
die Nachbarn und Freunde.

Wir wissen schon, daß sich Goethe nicht ausforschen ließ. Der Alte
hat mit Eckermann absichtlich Ausfrage-Gespräche geführt, aber da war
er der Herr und Lenker, und der bescheidene Eckermann stellte nur
willkommene Fragen. Kam aber Jemand, der ihn überlisten wollte, so fand
er in Goethe seinen Meister. Heinrich Luden wollte, als der ‚Faust‘
erst halb fertig vorlag, über den Fortgang und die Grundgedanken des
Werkes gern Offenbarungen haben; Goethe sprach auch recht lange und
eingehend mit ihm; das Gespräch füllt vierunddreißig Druckseiten,
aber wohl offenbart Luden darin Alles, was er über den ‚Faust‘ weiß
und denkt, Goethe jedoch sagt so gut wie nichts. Jean Paul wollte
einmal hören, was Goethe über ihn selber denke, wie hoch er seine
humoristischen Werke bewerte. Er fragte nicht geradezu, sondern redete
über seine Berufsverwandten Sterne, Hippel usw., in der Hoffnung, daß
Goethe nun sagen sollte, er, Jean Paul, übertreffe sie doch alle. Aber
das Gespräch ward ein Schachspiel, in dem Goethe immer Züge tat, die
sein Gegner nicht erwartete, bis sich Jean Paul endlich schachmatt nach
Hause begeben mußte. „Einen durchtriebeneren Schalk gibt es auf Erden
nicht wie den Goethe“ schreibt Karoline Schlegel über dies Gespräch an
Wilhelm Schlegel.

Für ungut aber nahm es Goethe, wenn ihn Jemand durch das Gespräch in
eine gemütliche, offenherzige +Stimmung+ bringen wollte, wie Mancher
wohl fleißig Wein einschenkt, damit der Andere sein Herz offenbare.
„Todfeindschaft kann daraus entstehen“ sagte Goethe einmal bei Tische,
„wenn man es tut und sich gegen mich berühmt, daß man mich auf meine
Schnurre gebracht habe, sobald ich mit Gutmütigkeit mich geäußert und
gehen gelassen habe. Weil es eine falsche Superiorität des Andern und
eine Gemütlosigkeit verrät!“

       *       *       *       *       *

[Sidenote: Liebste Geselligkeit]

Auch insofern verkaufte sich Goethe nicht der Geselligkeit, als er sich
seine Arbeitszeit nicht verkürzen ließ. Wohl wissen wir von vergnügten
Abenden, die bis in die Nacht reichten; aber es sind für Goethes viele
Lebenstage doch nur wenige. Die Regel: „früh zu Bett und früh heraus“
hat er nur selten durchbrochen. Die ihm zusagende Geselligkeit war:
nach einem langen, arbeitsreichen Vormittage ein fröhliches Mittagessen
mit Gästen, danach Plauderstunden mit Solchen, die sein geistiges Leben
teilten oder bereicherten. Der jüngere Voß hat uns die lebendigsten
Schilderungen aus jener Zeit um die Jahrhundertwende gegeben, wo die
Schauspieler und Schauspielerinnen durch Christiane mehr in’s Haus
kamen als früher und später.

  Es wurde bei Tisch gescherzt, gelacht, am Ende sogar die bunte Reihe
  hindurch geküßt, und Goethe war am lustigsten. Ich bat gegen das Ende
  der Mahlzeit den Hofmeister von Goethes August, mir einen Schlag zu
  geben mit den Worten: „Schick’s weiter!“ Ich gab ihn meiner Nachbarin
  Silie, und Diese ihrem Nachbar, und so ging’s weiter bis zur Maaß,
  die neben Goethe saß. Die Maaß stutzte ein wenig, doch entschloß sie
  sich endlich, Goethe einen tüchtigen Klaps zu geben. Goethe drehte
  sich zu ihr und küßte sie und darauf seine andere Nachbarin mit den
  Worten: „schick’s weiter!“ Die will durchaus nicht, wahrscheinlich,
  weil ihr der Nachbar nicht anstand. „Nun,“ sagte Goethe, „wenn’s
  nicht so herum will, muß es retour gehen“, läßt sich wieder küssen,
  küßt wieder die Maaß und so geht’s fort bis auf die kleine Silie, die
  mir den letzten Kuß gab. Nun denk Dir den armen Riemer, der neben mir
  saß und leer ausgehen mußte, weil bei mir die bunte Reihe aufhörte.

Auch Goethes Abende zeichnet uns Heinrich Voß:

  Wenn es Sechs schlägt, so versammelt sich ein kleines Häufchen um
  ihn, außer mir noch Professor Meyer, Fernow und Riemer, und da
  bleiben wir dann bis Acht, Neun oder auch wohl bis Zehn ...

  Weil er nie ernstlich des Abends arbeitet und seine Augen das
  Lesen bei Licht nicht vertragen, so hat er gerne Jemand bei sich,
  mit dem er sprechen kann. Nie ist der Mann liebenswürdiger als in
  solchen Abendstunden. Dann sitzt er im tiefsten Negligee, in einem
  wollenen Jäckchen, ohne Halstuch, mit bloßer Brust, die Strümpfe
  über die Hosen gezogen, auf seinem Sofa und unterhält sich oder läßt
  sich vorlesen. Und diese Bequemlichkeit, die Abendstille und die
  Ruhe nach schwerem Tagesgeschäft machen ihn so überaus heiter und
  gesprächig ... Wenn er dann recht lebendig ist, so kann er auf dem
  Sofa nicht aushalten; dann springt er auf und geht hastig im Zimmer
  auf und nieder, und jede Gestikulation, ihm selbst unbewußt, wird
  zur lebendigsten Sprache. Ja, dieser Mann spricht nicht bloß mit
  dem Organ der Zunge, sondern zugleich mit hundert andern, die bei
  gewöhnlichen Menschen stumm sind; und aus seinen Augen strahlt das
  seelenvollste Feuer. Dann hat sein manchmal furchterregender Blick
  auch alles Schreckhafte verloren. Besonders gern erzählt er dann von
  seinem Leben, nie aber etwas Anderes als heitere Dinge. So hat er,
  obgleich ich ihn mehrmals darauf lenkte, nie umständlich von seiner
  Krankheit vor drei Jahren gesprochen, und was er davon erzählte,
  waren auch nur die heitern Zeiten der Krankheit.

Ähnlich erzählt die Malerin Luise Seidler von 1810, wo Frau Christiane
und ihre Gesellschafterin, Fräulein Ulrich, noch fröhlich das Leben
genossen.

  Beim Mittagsessen war Goethe mit Riemer, Meyer und anderen Gästen,
  deren Zahl jedoch niemals acht überstieg, sehr heiter. Man speiste
  in einem kleinen Zimmer, dessen Wände mit Handzeichnungen berühmter
  alter Meister geschmückt waren; das Mahl war stets von gediegener
  Einfachheit, das Getränk trefflicher Burgunder. Beim Dessert
  entfernten sich die Damen, „die lustigen Weiber von Weimar“, wie
  Goethe sie scherzend nannte, um spazieren zu fahren ... Die Herren --
  denn nur sehr selten wurden Damen zu Tisch geladen -- blieben sitzen;
  auch ich hatte ein für allemal die Erlaubnis zum Dableiben. Sobald
  wir allein waren, nahm Goethe jederzeit irgend einen bestimmten
  Gegenstand, an welchen er seine scharfsinnigen Bemerkungen reihte,
  z. B. einen bronzenen Moses von Michel Angelo ... Unter diesen
  interessanten Gesprächen kam unmerklich der Abend herbei, der
  neue Genüsse brachte, da man gewöhnlich in das Theater fuhr. Der
  Dichter hatte damals eine geschlossene Parterreloge unterhalb der
  herrschaftlichen. In den Zwischenakten wurde kalte Küche präsentiert;
  auch der Burgunder fehlte nicht.

Alle Besucher, die an Goethes Mahlzeiten teilnehmen durften, rühmten
noch lange über die guten Speisen die sehr angenehme Unterhaltung;
sie empfanden es als ehrende Liebenswürdigkeit, wie Goethe auch um
ihr geistiges Genießen bei der Tafel und nach der Tafel besorgt war.
„Die Unterhaltung war eine allgemeine, lebendige und nie stockende,
Goethe leitete sie meisterhaft“ ist das Zeugnis Zahns (1827), und
Ernst Förster berichtet von 1825: „Es schien bei ihm Bedürfnis, dem
Besuchenden entweder eine Freude zu machen, oder einen womöglich
sichtbaren Stoff der Unterhaltung zu bieten“; in seinem Falle hatte
Goethe eine Anzahl sehr kunstreicher Papier-Schattenbilder von der
Hand der Adele Schopenhauer bereit gelegt und ging sie einzeln unter
Beachtung jeder Kleinigkeit mit ihn durch.

Förster erwähnt auch eine anmutige Tafelsitte, die man an festlichen
Tagen der Mitwirkung Eberweins verdankte:

  Das Gespräch wurde auf eine überraschende Weise unterbrochen. An
  dem einen Ende der Tafel wurde es unruhig; man räusperte sich, gab
  ein leichtes Zeichen am Glas, und ein vierstimmiger Gesang wurde
  angestimmt. Es gehörte die schöne Sitte, das Mahl mit Gesängen
  zu würzen, zu Goethes besonderen Tafelfreuden bei festlichen
  Gelegenheiten, und so folgte auch heute nach jedem Gange ein Gesang
  ... Nach dem Dessert setzte sich Hummel an’s Instrument und gab
  dem kleinen Feste mit einer heitern und reichen Phantasie einen
  glänzenden Schluß.


  [14] Basedow war ein Aufklärer, Hasenkamp ein Pietist.

  [15] Fr. v. Müller in der Erfurter Gedächtnisrede 1832.




VIII.

Freundschaft.


Schon das Wohlgefallen an der äußeren Erscheinung eines neuen
Bekannten, an seiner Stimme und Sprache, seinen Gebärden, Bewegungen
und Sitten, erweckt in uns eine Zuneigung, die der Liebe zwischen
Mann und Weib verwandt ist. Solche Anziehung übten auf den jüngeren
Goethe z. B. Fritz Jacobi, Lavater und Herder aus, schöne Männer, die
höchst liebenswürdig sein konnten. Und in älteren Jahren wirkte mancher
Aristokrat ähnlich, mit dem ihn die Geselligkeit am weimarischen Hofe
oder in böhmischen Bädern zusammenführte.

Häufiger vermitteln gleiche Beschäftigung, Neigung zu den gleichen
Wissenschaften oder Künsten oder auch nur gleicher Zeitvertreib eine
Befreundung; da Goethe nicht wenige Steckenpferde hatte, so gewann er
gar viele Freunde und Halbfreunde dieser Art.

Ähnliche Gesinnung in den Hauptpunkten ist stets Voraussetzung
eines engeren Verhältnisses, namentlich wenn man am selben Orte
wohnt oder sonst häufig zusammenkommt. Ein solcher Hauptpunkt ist
immer die Religion; seit Beginn der französischen Umwälzung wurde
aber auch in Deutschland die politische Parteinahme eine Ursache
vieler Vereinigungen und Trennungen. Goethe zog sich damals von den
„Neufranken“ und für alle Zukunft von den Demokratisch-gesinnten
zurück oder hielt sie sich doch so fern wie möglich, nicht etwa
aus Rücksicht auf seine Stellung zum Hofe oder Staate, denn sein
Landesfürst verlangte dergleichen Vorsicht keineswegs und übte
sie selber nicht, sondern weil ihm selber die auf Umsturz und
Massenherrschaft gerichteten Bestrebungen peinlich waren, so daß er
nicht ohne Not daran erinnert werden mochte.

Leicht und gleichsam ohne Worte verstehen wir uns mit Denen, die
ungefähr denselben Lebensweg wie wir gemacht und daher ähnliche
Erfahrungen gesammelt haben. Also mit Landsleuten, Altersgenossen,
Berufsgenossen, namentlich aber mit Schicksalsgenossen. Goethe war von
seinem 26. Jahre an in den Kreisen, in denen er lebte, ein ~parvenu~
-- er nannte sich selber so -- und vielleicht finden wir deshalb
auch unter seinen Bekannten und Freunden recht viele Emporkömmlinge.
Freilich war ja auch bei ihnen das Aufsteigen ein Beweis ihrer Gaben
und Kräfte. Schiller, der Kanzler v. Müller und der französische
Diplomat v. Reinhardt waren, wie Goethe, auf Grund ihrer Tüchtigkeit
und vornehmen Haltung in den Adelsstand erhoben worden; der ehemalige
schwäbische Theologe Reinhardt ward später sogar Graf und Pair von
Frankreich. Andere, die nicht ganz so hoch stiegen, hatten ihre
Laufbahn auch noch tiefer begonnen. Oeser war der uneheliche Sohn
eines Handschuhmachers in Preßburg. Jung-Stilling war Schneider
gewesen, Moritz Hutmacherlehrling. Wilhelm Tischbein kam aus dem Hause
eines hessischen Dorfdrechslers. Fernow nannte einen uckermärkischen
Gutsknecht seinen Vater. Christoph Bode weidete als Sohn eines
braunschweigischen Ziegelarbeiters das Vieh für die Bauern, bis er
zu einem Stadtmusikus in die Lehre kam. Zelter mußte als Sohn eines
Berliner Maurermeisters das väterliche Handwerk erlernen und ausüben.
Und der Hausiererssohn Eckermann aus Winsen an der Luhe half wie andere
ärmste Landjungen am Erwerb des Nötigsten mit: durch Schilfschneiden,
Ährenlesen, Reisigsammeln und Hüten der Kühe für reichere Leute, denn
seine Eltern besaßen nur +eine+ Kuh. Diese Emporgestiegenen verrieten
zuweilen ihre gröbere Erziehung; z. B. Zelter war „ein Kerl, der in
die Stube spuckt“; Goethe sah darüber hinweg und freute sich der
Kernhaftigkeit solcher selbstgemachten Männer. Er bewunderte ja auch
Napoleon unter allen Herrschern am meisten und freute sich, daß gerade
Dieser ihn bemerkte und ehrte, als die Kaiser und Könige „von Gottes
Gnaden“ sein Dasein noch nicht beachtet hatten.

[Sidenote: Ursachen der Freundschaft]

Die eigentliche Grundlage aller dauerhaften Freundschaft ist aber nicht
das Gefallen, Anerkennen, Verstehen, sondern das gegenseitige Nützen
und Unterstützen. Der Freund muß uns irgendwie ergänzen und daher uns
durch seinen Anschluß bereichern; er muß für sein Geben aber auch von
uns empfangen können; das Bündnis muß Beiden förderlich sein. Bei
Goethes wichtigsten Freundschaften: mit Karl August, Knebel, Schiller,
Zelter und Heinrich Meyer, erkennen wir diesen gegenseitigen Nutzen.
Daraus folgt keineswegs, daß solche Bündnisse aus Eigennutz geschlossen
wurden; die Liebe Goethes zu Karl August war zuerst eine Fürsorge des
Älteren für den jüngeren Schutzbedürftigen; ebenso behielt Knebel durch
seine seelischen Nöte Macht über den Dichter von ‚Werthers Leiden‘;
ebenso Moritz in Rom und mancher Andere. Auch Schiller, Zelter,
Heinrich Meyer bedurften seiner Hilfe, als er sie kennen lernte.

       *       *       *       *       *

[Sidenote: Schiller]

Es ist nicht leicht, Goethes große Liebe für einige dieser Männer
zu verstehen;[16] am merkwürdigsten war jedoch sein Verhältnis mit
Schiller, ganz abgesehen davon, daß man Nebenbuhler-Gefühle vermuten
könnte zwischen zwei Dichtern, von denen bald der Eine, bald der Andere
erfolgreicher erschien. Als Schiller nach Weimar kam, hielt sich Goethe
noch in Italien auf, und als sich die beiden Männer endlich begegneten,
war Goethe zu einem näheren Verhältnis, wie es Schiller wünschte, nicht
bereit. Der Dichter des ‚Tasso‘ und der ‚Iphigenie‘ lebte innerlich zu
weit entfernt von dem neuen Stürmer und Dränger, der mit den ‚Räubern‘,
‚Fiesco‘ und der ‚Millerin‘ das Publikum erregt hatte. Sechs Jahre
wohnten sie nahe beieinander, hatten gemeinsame Freunde und blieben
gegeneinander kalt und fremd. Es trennte sie Vieles: Denkart, Dichtart,
Lebensweise. Jeder war für den Anderen ein wunderbares Phänomen, ja
fast eine Naturwidrigkeit. „Ein solches Wesen sollten die Menschen um
sich herum nicht aufkommen lassen“ schrieb Schiller sogar.

Allmählich näherten sie sich dann doch, zumeist durch eine Wandlung
oder ein Fortschreiten Schillers. Im August 1794 bat der Jüngere den
Älteren um Mitarbeit an einer neuen Zeitschrift und erwies in dem
Briefe, wie gut er Goethes Wesen verstand. Dieser erwiderte herzlich
vertrauend:

  Zu meinem Geburtstag hätte mir kein angenehmer Geschenk werden
  können als Ihr Brief, in welchem Sie mit freundschaftlicher Hand die
  Summe meiner Existenz ziehen und mich durch Ihre Teilnahme zu einem
  emsigern und lebhaftern Gebrauch meiner Kräfte aufmuntern.

Und weiter:

  Wie groß der Vorteil Ihrer Teilnehmung für mich sein wird, werden
  Sie bald selbst sehen, wenn Sie bei näherer Bekanntschaft eine Art
  Dunkelheit und Zaudern bei mir entdecken werden, über die ich nicht
  Herr werden kann, wenn ich mich ihrer gleich sehr deutlich bewußt bin.

Und gleichzeitig:

  Reiner Genuß und wahrer Nutzen kann nur wechselseitig sein,

und

  Alles, was an mir ist, werde ich mit Freuden mitteilen.

Dieser Freundschaftsbund, dem Beide, und mit ihnen ihr Volk, Großes
verdanken, wurde also wie eine Verstandesehe geschlossen; mit gutem
Grunde sprach Goethe später von dem „großen Kunststück“, „bei völlig
auseinanderstrebenden Richtungen“ mit Schiller „eine gemeinsame Bildung
fortzusetzen.“

Bei so geringer natürlicher Anziehung können nur zwei sehr kluge
Menschen Freundschaft miteinander halten; aber das Verhältnis zwischen
Schiller und Goethe wurde mit jedem Jahre herzlicher und brüderlicher:
weil gegenseitige Hilfe und Treue auch Liebe erweckt, bewähren sich
doch die Verstandesehen nicht schlechter als die Liebesheiraten! Der
Gedankenaustausch, die gegenseitige Prüfung und Steigerung durch
Briefe und Gespräche über die nächsten Arbeiten, die gemeinschaftliche
Einwirkung auf das Publikum durch Zeitschriften, die gemeinschaftliche
Verbesserung des weimarischen Theaters, die Abwehr der Gegner: Das
blieb die Hauptsache. Aber dabei wurde Schiller in Goethes und Goethe
in Schillers Hause heimisch, und die Freunde erlebten alle menschlichen
und häuslichen Freuden und Sorgen miteinander. Wie lieb Goethe den
spätgefundenen Freund schließlich hatte, lesen wir am schönsten aus den
Berichten des jungen Voß vom Mai 1805.

  In der letzten Krankheit Schillers war Goethe ungemein
  niedergeschlagen. Ich habe ihn einmal in seinem Garten weinend
  gefunden; aber es waren nur einzelne Tränen, die ihm in den Augen
  blinkten: sein Geist weinte, nicht seine Augen, und in seinen Blicken
  las ich, daß er etwas Großes, Überirdisches, Unendliches fühlte. Ich
  erzählte ihm Vieles von Schiller, das er mit unnennbarer Fassung
  anhörte. „Das Schicksal ist unerbittlich, und der Mensch wenig!“ Das
  war Alles, was er sagte, und wenige Augenblicke nachher sprach er von
  heiteren Dingen.

  Aber als Schiller gestorben war, war eine große Besorgnis, wie man
  es Goethen beibringen wollte. Niemand hatte den Mut, es ihm zu
  melden. Meyer war bei Goethen, als draußen die Nachricht eintraf,
  Schiller sei tot. Meyer wurde hinausgerufen, hatte nicht den Mut, zu
  Goethen zurückzukehren, sondern ging weg, ohne Abschied zu nehmen.
  Die Einsamkeit, in der sich Goethe befindet, die Verwirrung, die er
  überall wahrnimmt, das Bestreben, ihm auszuweichen, das ihm nicht
  entgehen kann -- alles Dieses läßt ihn wenig Tröstliches erwarten.
  Ich merke es, sagte er endlich, Schiller muß sehr krank sein, und ist
  die übrige Zeit des Abends in sich gekehrt. Er ahnte, was geschehen
  war; man hörte ihn in der Nacht weinen. Am Morgen sagte er zu
  einer Freundin: „Nicht wahr, Schiller war gestern sehr krank?“ Der
  Nachdruck, den er auf das +sehr+ legt, wirkt so heftig auf Jene, daß
  sie sich nicht länger halten kann. Statt ihm zu antworten, fängt sie
  laut an zu schluchzen.

  „Er ist tot?“ fragt Goethe mit Festigkeit. -- „Sie haben es selbst
  ausgesprochen,“ antwortete sie. „Er ist tot!“ wiederholte Goethe noch
  einmal und bedeckte sich die Augen mit den Händen. --

  Um 10 Uhr sehe ich Goethe im Park gehen; ich hatte aber nicht den
  Mut, ihm zu begegnen. Drei Tage lang bin ich ihm ausgewichen. -- -- --

  Jetzt spricht Goethe sehr selten von Schiller, und wenn er es tut, so
  sucht er die heiteren Seiten ihres schönen Zusammenlebens auf.

       *       *       *       *       *

[Sidenote: Bewahrung alter Freundschaften]

Goethe war sich bewußt, daß lang andauernde Freundschaften zeitweilig
ruhen müssen. Wir dürfen es nicht verübeln, sondern müssen geradezu
erwarten, daß der Andre sich zeitweilig von uns entfernt und neue
Menschen genießt. Wer eine beständig gleichmäßige Freundschaft fordert,
zerstört eben dadurch die Fortdauer des guten Verhältnisses. Wieland
und Goethe standen miteinander zeitlebens gut, seitdem sie sich von
Angesicht kannten, d. h. von 1775 bis 1813, aber der anfängliche
tägliche und brüderliche Verkehr ward bald viel seltener; Goethe mußte
sich gefallen lassen, daß sich Wieland mehr an Herder anschloß, und
ebenso Wieland, daß sich Goethe und Schiller beinahe gegen alle Welt
verbündeten. Dies Abnehmen und Zunehmen der Freundschaft soll man
erwarten. „Wer sich nähert, Den stoßt nicht zurück“ riet Goethe seiner
Frau und seinem Sohne, „und wer sich entfernt, Den haltet nicht auf,
und wer wiederkommt, Den nehmt auf, als wenn er nicht weg gewesen wäre.“

Auch als Goethe und Schiller Freunde waren, gab es Wochen, wo sie
einander mieden, weil sie sich nicht einig fühlten. Und ebenso gab es
Zeiten, wo Goethe und Karl August miteinander diplomatisch „wie zwei
Großmächte“ verkehrten. Sein gutes Verhältnis mit Fritz Jacobi, der
in der Weltanschauung zu ganz andern Sätzen kam, konnte Goethe bis zu
Jacobis Tode nur dadurch erhalten, daß sie jahrelang die Aussprache
unterließen und geduldig die Gelegenheiten abwarteten, wo sie einander
wieder Liebes erweisen konnten. Aus solchen Erfahrungen schrieb Goethe
1827 nach einer Meinungsverschiedenheit an seinen Verleger Cotta:

  Ich habe, wenn zwischen Freunden, notwendig Verwandten und
  Verbundenen sich einige Differenz hervortat, immer lieber geschwiegen
  als erwidert; denn in solchen Fällen bleibt ein Jeder doch
  einigermaßen auf seinem Sinn, und so entstehen aus gewechselten
  Äußerungen neue Differenzen, und die Mißverständnisse verwickeln
  sich, anstatt sich aufzuklären. Dagegen habe ich gefunden: die +Zeit+
  sei die eigentlichste Vermittlerin; in derselben entwickeln sich
  Handlungen, die einzige Sprache, die zwischen Freunden giltig ist, um
  das wahre Verhältnis auszudrücken.

Die frühen Jugendfreundschaften kann man wie eine erste Liebe in ihrer
Schönheit nur erhalten, wenn man sie gänzlich im Erinnerungsleben
beläßt. 1824 war von Goethes Landsmann Klinger die Rede, der in Rußland
zu hohem Ansehen gestiegen war; er hatte sich kürzlich als ein guter
Freund Goethes bewiesen; trotzdem sagte Dieser:

  Alte Freunde muß man nicht wiedersehen. Man versteht sich nicht
  mehr mit ihnen; Jeder hat eine andere Sprache bekommen. Wem es
  ernst um seine innere Kultur ist, hüte sich davor! Denn der alsdann
  hervortretende Mißklang kann nur störend auf uns einwirken, und man
  trübt sich das reine Bild des früheren Verhältnisses.

[Sidenote: Zerstörte Freundschaften]

Von drei Jugendfreunden, die er sehr geliebt hatte, wandte sich
Goethe mit stillem Kummer und Zorn allmählich ab: von Merck,
Lavater und Herder. Mit Lavater hatte er sich verbrüdert, als er
selber zum Pietismus neigte; was bei Goethe nur ein anfänglicher
Entwicklungszustand war, blieb Lavaters Natur bis ans Ende. Deswegen
hätten sie nun wohl Freunde bleiben können, zumal bei der großen
Entfernung zwischen Zürich und Weimar, vertrug und verstand sich doch
Goethe auch mit manchem gläubigen Katholiken! Aber Lavater, der sonst
von Herzen Gütige, verkündigte seinen Glauben mit solcher Inbrunst, daß
er gegen Andersdenkende ungerecht und beleidigend wurde; Goethe warnte
ihn schon 1779, als man eine Zusammenkunft plante, in seiner feinen
Weise vor dieser Untugend, indem er bat, „daß wir einander unsere
Partikular-Religionen ungehudelt lassen; Du bist gut darinne, aber
ich bin manchmal hart und unhold.“ Lavater hielt jedoch nicht Ruhe und
wurde überlästig wie jeder Freund, der einen allein-seligmachenden
Glauben zu haben meint und uns nun mit Gewalt in seinen Himmel führen
möchte. Schlimm war auch, daß Lavaters Glaubenslust an den Mysterien
des Neuen Testaments noch nicht satt wurde, sondern auch alle
Wundertaten Gaßners, Kaufmanns, Cagliostros und anderer Schwindler
oder Halbschwindler gläubig aufnahm und weiter verkündete. Dadurch
kam er schließlich in Verdacht, es selber mit der Wahrheit nicht
genau zu nehmen. Jedenfalls mochte Goethe, dem die Wahrhaftigkeit das
erste und vornehmste Gebot war, nicht mit Phantasten und Betrügern
freundschaftlich verbunden sein.

Merck war ein ganz anderer Geist; ihn betrog Niemand; er sah und
sagte die verdrießlichen Wahrheiten und öffnete seinem jungen Freunde
Goethe mehr als einmal die Augen. Da es ihm selber nicht gut ging,
tröstete und erfreute er sich an der Beobachtung der Schwächen
seiner Mitmenschen, am Aufdecken ihrer Blößen. Er ward mit der Zeit
ein halber Mephistopheles: Gemüt und Gewissen schrumpften ein, weil
Verstand, Witz, scharfer Blick, kluge Kenntnis der Welt die Übermacht
gewannen. So schrieb er nach Weimar an den Herzog und seine Mutter
sehr unterhaltende Briefe, in denen er über alles Närrische, Kranke,
Schlimme im Darmstädtischen und in der Nachbarschaft am Rhein und
Main berichtete und spottete; die Empfänger lasen Dergleichen mit
Vergnügen und sogar mit Belehrung, aber Goethe erinnerte sich, daß
der Briefschreiber im Dienst des Landgrafen von Darmstadt stand, daß
er also treulos und verräterisch gegen seine Ernährer und Ortsfreunde
handelte. Und Goethe war sich bewußt, daß alle menschliche Gesellschaft
und Behaglichkeit auf gegenseitiges Wohlwollen, Dulden und Tragen
angewiesen ist; der rücksichtslose Fehlerfinder ist ein Feind der
Gesellschaft: wer mag ihm nahe bleiben?

Seltsamer Weise trug auch der erste christliche Geistliche in Weimar,
Herder, neben dem faustischen einen Mephistopheles-Geist in sich. Er
war ein Unzufriedener wie Merck und ergrimmte oft über Diejenigen, die
ihm oder seinem Amte nicht so viel Gehör, Macht und Einfluß gewährten,
wie er fordern zu dürfen glaubte. Goethe war viele Jahre sein Freund
und Bewunderer, wie denn Herder immer Männer und Frauen um sich hatte,
die ihn verehrten; Goethe ertrug viele Jahre Herders Fehler und hätte
gern die alte Freundschaft dadurch aufrecht erhalten, daß er den
Verkehr und die Berührungspunkte verminderte. In diesem Sinne schrieb
er einmal an Herders ältesten Sohn, damit es die Eltern bedächten:

  Wenn wir immer vorsichtig genug wären und uns mit Freunden nur von
  +einer+ Seite verbänden, von der sie wirklich mit uns harmonieren,
  und ihr übriges Wesen weiter nicht in Anspruch nähmen, so würden die
  Freundschaften weit dauerhafter und ununterbrochener sein. Gewöhnlich
  aber ist es ein Jugendfehler, den wir selbst im Alter nicht ablegen,
  daß wir verlangen, der Freund solle gleichsam ein anderes Ich sein,
  solle mit uns nur ein Ganzes ausmachen, worüber wir uns dann eine
  Zeitlang täuschen, das aber nicht lange dauern kann.

Leider wurde oder blieb der „Töpferberg“, wo Herder hinter der
Stadtkirche seine Amtswohnung hatte, eine Stätte des Grolls, von
wo bald gegen Goethe und Schiller, bald gegen den Herzog und seine
Minister, bald gegen den ehemaligen Lehrer Immanuel Kant Blitze
geschleudert wurden, die nicht töteten, nicht lähmten, aber doch
ärgerten. Goethe und Herder begegneten sich selten; wenn es geschah,
fühlten sie sich zuweilen einig wie sonst, bis irgend eine Bemerkung
offenbarte, wie fern und feindlich sie jetzt standen. In seinen
‚Annalen‘ von 1803 zeigt Goethe das Gift, das diese Freundschaft mit
Herder zerstörte:

  Schon drei Jahre vor seinem Tode hatte ich mich von ihm
  zurückgezogen, denn mit seiner Krankheit vermehrte sich sein
  mißwollender Widerspruchsgeist und überdüsterte seine unschätzbare
  einzige Liebensfähigkeit und Liebenswürdigkeit. Man kam nicht zu ihm,
  ohne sich seiner Milde zu erfreuen; man ging nicht von ihm, ohne
  verletzt zu sein. Wie leicht ist es, Irgendjemand zu kränken oder
  zu betrüben, wenn man ihn in heitern, offenen Augenblicken an eigne
  Mängel, an die Mängel seiner Gattin, seiner Kinder, seiner Zustände,
  seiner Wohnung mit einem scharfen, treffenden, geistreichen Wort
  erinnert!

       *       *       *       *       *

[Sidenote: Ungleiche Meinung, gemeinsames Handeln]

Goethe war zart und behutsam gegen seine Freunde, schonte ihre
empfindlichen Stellen, wie er die seinen geschützt zu sehen wünschte,
behinderte ihre Freiheit nicht, weil er selber frei sein wollte. Und er
erwartete nicht zu viel von der Freundschaft: sie ist ein köstliches
Glas, das uns erhalten bleibt, wenn wir es schonen und behüten.
Goethes vorsichtiges Schonen der Freundschaft zeigt uns Riemers
Mitteilung, daß Goethe über die Personen, die er liebte, nicht urteilen
wollte. „+Ich denke nicht über sie+“ sagte er, wenn man ihm von ihren
Eigenheiten und Fehlern etwas vorreden wollte.

Namentlich aber wußte er, daß wir die Freundschaften erhalten können,
wenn wir, statt auf Gleichheit der +Meinungen+ zu drängen, uns
gegenseitig in der Arbeit und in der Ausbildung unseres Wesens nützen.

  Das sicherste Mittel, ein freundliches Verhältnis zu hegen und zu
  pflegen, finde ich darin, daß man sich wechselweise mitteile, was man
  tut; denn die Menschen treffen viel mehr zusammen in Dem, was sie
  tun, als in Dem, was sie denken.[17]

Daß sich Freunde zu ein und derselben Arbeit vereinigen können, ist
selten; wohl aber können sie einander bei ihren besonderen Arbeiten
anregen, anfeuern, belehren, aufklären, aushelfen. Goethe, der über
sein Genie wenig Herr war und die Poesie keineswegs „kommandieren“
konnte, bedurfte solcher Freundesdienste in hohem Maße und schätzte sie
darum auf das dankbarste. Erst die Freunde klärten ihn über sich selber
auf; er bekannte gern, daß er von Personen, denen es gefiel, freundlich
über ihn zu reflektieren, Manches gelernt und sie deshalb verehrt
habe.[18]

  Widersacher kommen nicht in Betracht, denn mein Dasein ist ihnen
  verhaßt; sie verwerfen die Zwecke, nach welchen mein Tun gerichtet
  ist, und die Mittel dazu achten sie für ebenso vieles falsches
  Bestreben. Ich weise sie daher ab und ignoriere sie, denn sie können
  mich nicht fördern, und Das ist’s, worauf im Leben Alles ankommt!
  Von Freunden aber laß’ ich mich ebenso gern bedingen als in’s
  Unendliche hinweisen; stets merke ich auf sie mit reinem Zutrauen zu
  wahrhaftiger Erbauung.

[Sidenote: Kleine Aufmerksamkeiten]

Goethe erwiderte seinen Freunden und Denen, die es gern sein
wollten, oft nicht nach Wunsch; sie bedachten nicht, wie viele
Menschen Großes und Kleines von ihm begehrten und daß er doch auch
für sich selbst, seine Ämter, seine Studien, seine Dichterarbeit
leben wollte. Er vermied die Gefühlsergüsse und versäumte die
herkömmlichen Freundschaftshandlungen fast regelmäßig, also namentlich
die schriftlichen oder mündlichen Teilnahme-Versicherungen bei
Familien-Ereignissen. Dagegen verstand er sich auf große und kleine
Liebesdienste außer der Regel. So ärgerte sich die alte Frau v.
Stein, daß der ehemalige Pflegevater sich zu den Schicksalen ihres
Lieblingssohnes Fritz kaum äußerte; aber wenn sie den Schmerz hatte,
daß ihr sehr geliebter Kanarienvogel umkam, so erwachte sie am andern
Morgen an dem Gesang eines neuen Hänschens, den ihr Goethe heimlich
hatte in das Bauer setzen lassen.

Solche kleinen, aber wirklich ihren Namen verdienenden Aufmerksamkeiten
nahm er, wenn sie ihm erwiesen wurden, recht dankbar auf. Eine Frau v.
Eybenberg, mit der er von den böhmischen Bädern her befreundet war,
rühmte er deswegen:

Sie haben unter so vielen liebenswürdigen Eigenschaften die besondere,
daß Sie die kleinen grillenhaften Wünsche Ihrer Freunde für Etwas
halten und, um sie zu befriedigen, sich eine gefällige Mühe geben
mögen. Sie wissen vielleicht selbst nicht, daß diese Eigenschaft
so selten ist. Man liebt seine Freunde, man schätzt sie, man mag
ihnen gern einmal einen derben Dienst, auch mit einiger Aufopferung,
erzeigen; aber einem flüchtigen Geschmacke, einem launigen Einfalle,
irgend einer Grille genugzutun, sind wir, ich weiß nicht: zu bequem,
zu nachlässig, zu trocken, zu falsch-vornehm, und bedenken nicht, daß
eben diese wunderlich scheinenden Gelüste, befriedigt, den angenehmsten
Genuß geben.


  [16] Diejenige mit Zelter glaube ich in meinem Werke ‚Die Tonkunst in
       Goethes Leben‘ hinreichend begründet zu haben.

  [17] 1798 an August Herder.

  [18] An Schubarth, 2. April 1818.




IX.

Feinde.


Einst trug der dänische und deutsche Dichter Öhlenschläger ein paar
scharfe Spottgedichte vor, die gegen bekannte Schriftsteller gerichtet
waren. „So etwas sollt Ihr nicht machen!“ rief ihm Goethe zu; „wer Wein
machen kann, soll keinen Essig machen!“ -- „Haben Sie denn keinen Essig
gemacht?“ fragte der kluge Däne, aber „Teufel noch einmal!“ erwiderte
Goethe: „Weil ich es gemacht habe, ist es darum recht?“

[Sidenote: Jugendlust am Kampfe]

Als Goethe in die deutsche Schriftstellerwelt eintrat, mit 22 bis 25
Jahren, zog er sich aus Mutwillen nicht wenige Feinde und Tadler zu.
Trotz aller angeborenen Ernsthaftigkeit und Gutmütigkeit liebte er das
Raufen: den kecken Angriff, das Necken und Daraufhauen, wohlverstanden:
nur mit der Feder, also das Pasquilieren, wie man damals sagte. Er
und seine Freunde hänselten sich gegenseitig; Das war nicht nur eine
lustige Unterhaltung, sondern es übte auch die Selbstbeherrschung und
Geistesgegenwart; man konnte es mit dem Degenfechten vergleichen oder
gar an jene Flibustier erinnern, „welche sich in jedem Augenblicke der
Ruhe zu verweichlichen fürchteten, weshalb der Anführer, wenn es keine
Feinde und nichts zu rauben gab, unter dem Gelagtisch eine Pistole
losschoß, damit es auch im Frieden nicht an Wunden und Schmerzen fehlen
möge.“ Aber Goethe richtete seine Waffen auch gegen Schriftsteller,
nach deren Bereitwilligkeit zu solchem Spiel er nicht vorher fragte.

Unangenehme Gegenwirkungen konnten nicht ausbleiben. Namentlich aber
erfuhr Goethe, daß einige der Verletzten recht vortreffliche Menschen
waren, die er achten und lieben mußte, sobald er sie in der Nähe sah.
Besonders beschämte ihn auch die vornehme und sehr kluge Art, mit der
Wieland seine Pfeile abschüttelte. „Ich bin eben prostituiert!“ rief
er aus, als er sah, daß Wieland keineswegs auf Rache sann, sondern
des jungen Angreifers Talent lobte und seine Fehler als Eigenschaften
brausender Jugend rechtfertigte. Bald danach lernte er weimarische
Freunde Wielands kennen, und namentlich mit Knebel sprach er sich
über seine Streitschriften aus. „Es ist ein Bedürfnis seines Geistes,
sich Feinde zu machen“ schrieb damals Knebel heim; „der Bube ist
kampflustig, er hat den Geist eines Athleten.“ Und weiter: „Wie er
der allereigenste Mensch ist, der vielleicht nur gewesen sein mag, so
fing er mir einmal abends in Mainz ganz traurig an: „Nun bin ich mit
all den Leuten wieder gut Freund, den Jacobis, Wieland ... Das ist
mir gar nicht recht! Es ist der Zustand meiner Seele, daß, sowie ich
Etwas haben muß, auf das ich eine Zeitlang das Ideal des Vortrefflichen
lege, so auch wieder Etwas für das Ideal meines Zorns. Ich weiß, Das
sind lauter vortreffliche Leute, aber just deshalb: was kann ich ihnen
schaden? Was nicht Stroh ist, bleibt doch!““

[Sidenote: Xenien und Versöhnung]

Auch in der ersten weimarischen Zeit juckte das unruhige Blut noch in
ihm, und der neue Freundeskreis betrieb das Pasquilieren so gern wie
die früheren „oberrheinischen Gesellen.“ Doch war Goethe jetzt schon
vorsichtiger, und als er dann in den Staatsdienst trat und die Arbeit
für das Gemeinwohl als Pflicht ergriff, da blieb in seiner Seele nur
wenig Raum für Negation und Opposition. Nur einmal noch fiel er in
den Jugendfehler zurück; 1796, als Schiller und er vom Gefühl ihrer
Doppelkraft berauscht waren, ließen sie sich hinreißen, gegen die
Zeitgenossen, die ihnen nicht anstanden, „Xenien“ zu schmieden und
sie im Druck auszusenden. Freude konnte Goethe an diesen Erzeugnissen
übermütiger Laune nicht erleben; Nutzen konnten sie nicht stiften.
Andere hatten Ärger und Kummer davon; er selber erfuhr nicht selten
Beschämung und Verlegenheiten daraus. Er mußte wohl erkennen, daß er
vielen ehrenwerten Menschen wehgetan hatte und daß er ihre Fehler durch
seine Spötterei nicht beseitigte: kein Herkules kann den Parnaß von den
Schwächlingen rein kehren, die immer wieder bergauf zu krabbeln suchen.

Gern ergriff darum Goethe die Gelegenheit, wenn er mit einem
literarischen Gegner sich wieder versöhnen konnte. So war er mit dem
Kapellmeister Reichardt befreundet gewesen, der manches seiner Lieder
in Musik gesetzt hatte; später hatte Reichardt, besonders auch als
Politiker, Goethes Zorn erregt, und da auch Schiller ihm nicht gewogen
war, wurde er in den ‚Xenien‘ hart mitgenommen. Reichardt blieb die
Antwort nicht schuldig. War er ein böses Insekt gescholten, so nannte
Reichardt Goethes und Schillers Stachelverse einen „Pasquillanten-Unfug
aus empörter Eitelkeit“, drückte seine „herzliche Verachtung“ aus
gegen Schillers „nichtswürdiges und niedriges Betragen“ und sprach
davon, daß Goethe sich durch Unsittlichkeit beflecke. Kurz: hier hatte
Goethe sich einen begabten Freund zum Feinde gemacht. Als aber Goethe
zu Beginn des Jahres 1801 so schwer erkrankte, daß allgemein sein
Ableben erwartet wurde, gedachte Reichardt der früheren Freundschaft
mehr als des späteren Zwistes und schrieb ihm freundlich, und der
Dichter antwortete nach der Genesung mit einem Gedanken, der echt
goethisch war:

  Freunde und Bekannte nicht allein, sondern auch Fremde und
  Entfremdete bezeigten mir ihr Wohlwollen, und, wie Kinder ohne Haß
  geboren werden, wie das Glück der ersten Jahre darin besteht, daß
  in ihnen mehr die Neigung als die Abneigung herrscht, so sollte ich
  auch bei meinem Wiedereintritt in’s Leben dieses Glücks teilhaft
  werden, mit aufgehobenem Widerwillen eine neue Bahn anzutreten ...
  Ein altes, gegründetes Verhältnis wie das unsrige konnte nur, wie
  Blutsfreundschaft, durch unnatürliche Ereignisse gestört werden.
  Um so erfreulicher ist es, wenn Natur und Überzeugung es wieder
  herstellt ... Senden Sie mir doch ja Ihre neuesten Kompositionen! Ich
  will mir und einigen Freunden damit einen Festabend machen ... Nehmen
  Sie wiederholten Dank für Ihre Annäherung in diesem Zeitpunkt!

Nach dem Xenien-Abenteuer hat Goethe niemals wieder die Verse
veröffentlicht, zu denen ihn seine Widersacher reizten. Wenn er sie
später benutzte, so löste er sie vom einzelnen Falle so sehr ab, „daß
es zwar dem Leser nicht an Beziehungen fehlen, aber Niemand wissen
wird, worauf es eigentlich +gemeint+ ist.“[19] Soret fragte ihn einst,
warum er gewisse Epigramme gegen Kotzebue nicht drucken ließe --
Kotzebue war damals schon längst tot -- und Goethe antwortete, er wolle
das Publikum mit seinen Privatstreitigkeiten nicht belästigen oder gar
Lebende damit quälen.

  Zu gelegener Zeit kann man, ohne unziemlich zu werden, von Dem, was
  in der Richtung gut ist, Gebrauch machen. Meinerseits habe ich darin
  immer nur ein Mittel gesehen, meinen Unmut an den Tag zu bringen,
  ohne andere Personen in’s Vertrauen zu ziehen, höchstens einmal eine
  mir ganz nahestehende.

Ebenso zeigte er ein Gedicht ‚Das Gastmahl der Weisen‘ von 1815
nur wenigen Freunden: „Wenn es bekannt würde, so müßte es gewisse
Individuen sehr tief verletzen, und die Welt ist denn doch nicht
wert, daß man sich, um ihr Spaß zu machen, mit der Welt überwerfe.“
Das Gedicht ist denn auch nur nach Wegnahme der Stacheln im Druck
erschienen; ‚Die Weisen und die Leute‘ heißt es in seiner neuen Gestalt.

Zeitlebens behielt er das Bedürfnis, auch auf seine Gegner und alles
ihm Verdrießliche Verse zu machen; er erwiderte jeden starken Eindruck
durch einen poetischen Ausdruck. Aber die Erfüllung dieses Bedürfnisses
war, wenn es sich um einen Feind handelte, weniger ein Akt der
Feindseligkeit als ein Friedensschluß, denn dadurch wurde der Dichter
die unfreundliche Stimmung vom Herzen los. Erst das +Veröffentlichen+
solcher Zornesergüsse oder witziger Angriffe kann Feindschaft erregen
oder verschlimmern.

       *       *       *       *       *

[Sidenote: Spätere Friedensliebe]

Der gereifte Goethe hütete sich, Feindschaft zu erregen oder die
vorhandene zu vergrößern, oder gar in der eigenen Brust der Feindschaft
Raum zu geben. Dem Gehaßten schadet die Feindschaft zuweilen, dem
Hassenden immer.

    Der Haß ist eine läst’ge Bürde,
    Er senkt das Herz tief in die Brust hinab
    Und legt sich wie ein Grabstein schwer auf alle Freuden.

Als Heinrich Voß mit einem andern jungen Gelehrten einen Streit bekam,
der sich an die Dramen von Sophokles anknüpfte, hinderte Goethe das
Anwachsen dieses Streites schon deshalb, weil seinem jungen Freunde
dadurch schließlich sogar der Sophokles verleidet werden könnte. Erst
recht war Goethe unglücklich, als er bemerkte, daß ein so hoch begabter
Dichter wie Graf Platen in der herrlichen Umgebung von Rom und Neapel
an seine deutschen literarischen Gegner dachte und seine Zeit und Kraft
der Polemik mit ihnen gönnte. „Solche Händel okkupieren das Gemüt!“
rief Goethe aus,

  Die Bilder unserer Feinde werden zu Gespenstern, die zwischen aller
  freien Produktion ihren Spuk treiben und in einer ohnehin zarten
  Natur große Unordnung anrichten! Lord Byron ist an seiner polemischen
  Richtung zugrunde gegangen, und Platen hat Ursache, zur Ehre der
  deutschen Literatur von einer so unerfreulichen Bahn für immer
  abzulenken!

In Jena lehrte seit 1810 ein Philosoph Bachmann, der sich besonders mit
den Ergebnissen der Naturwissenschaften beschäftigte; einst schickte
er an Goethe eine Abhandlung, in der ein Stück, ein Loblied nämlich
auf Newton und die Mathematiker, dem Verfasser der gegen Newton
ankämpfenden ‚Farbenlehre‘ peinlich sein mußte. Goethe las die Schrift
nur bis zu diesem Teil:

  Hier mach’ ich Halt nach längst geprüfter Lebensregel: was mit mir
  übereinstimmt, bringt eine heitere Stunde; Dem aber ein Ohr zu
  leihen, was mir widerstrebt, warte ich auf einen Augenblick, wo ich
  mir selbst gewissermaßen gleichgültig bin und auch wohl das Gegenteil
  meiner Überzeugungen geschichtlich anhören mag. Der Menschenkenner
  sollte sich überzeugen, daß Niemand durch seines Gegners Gründe
  überzeugt wird. Alle Argumente sind nur Variationen eines ersten
  festgefaßten Meinungs-Thema, deswegen unsere Vorfahren so weislich
  gesagt haben: mit Einem, der deine Prinzipien leugnet, streite nicht!

[Sidenote: Literarischer Streit]

So hütete er sich vor allem literarischen Streit. Als Wolfgang Menzel
an ihm zum Helden zu werden begehrte, las Goethe seine Angriffe gar
nicht, sondern meinte: „Ich habe Breite genug, mich in der Welt zu
bewegen, und es darf mich nicht kümmern, ob sich Irgendeiner da oder
dort in den Weg stellt, den ich einmal gegangen bin.“ Er gestand
den Andersgesinnten gern das Recht zu, sich ihren Widerspruch oder
ihren Ärger von der Brust wegzureden. „In der großen deutschen
Nationalversammlung tut man wohl, wenn man seine Meinung gesagt hat,
Andern auch den Ausdruck der ihrigen zu gönnen.“ So an Kosegarten
1822, und an Eichstädt, den ihm unterstellten Redakteur der Jenaischen
Literaturzeitung 1804: „Adelungen würde ~meo voto~ nicht geantwortet.
Wenn man Jemand so tüchtig durchdrischt, so ist es billig, daß man
ihn Gesichter schneiden lasse, soviel er will. Durch Dupliken wird
nichts ausgerichtet vor dem Publikum; es ist schon eine Art defensiver
Stellung, die niemals vorteilhaft ist.“

Man hat die Polemik zwischen Gelehrten, Schriftstellern und Rednern
wohl öfters mit den Turnieren des Mittelalters verglichen; Goethe aber
betonte, daß es diesen geistigen Kämpfen an ritterlichem Schrankenraum,
an Kreiswärteln und Kampfrichtern fehle, „und in jedem Schaukreise
wirft sich, wie vor alters im Zirkus, die ungestüme Menge parteiisch
auf die Seite der Grünen oder Blauen; die größte Masse beherrscht den
Augenblick.“

[Sidenote: Die Menge als Richter]

Ist es schon töricht, das Publikum in einem wissenschaftlichen Streite
zum Richter zu machen, so ist jeder öffentliche Hader in politischen
Dingen noch viel bedenklicher. Diejenigen, die zu gemeinsamer Arbeit
für das Wohl der Stadt oder des Landes berufen sind, können freilich
nicht immer einig bleiben, und zwischen heftigen Naturen wird heftiger
Streit entstehen. Aber kluge Freunde werden dann sorgen, daß dies Feuer
auf seinen Herd beschränkt werde, daß nicht die Funken und brennenden
Scheite nach allen Seiten fliegen. Ein junger Anverwandter Goethes, J.
F. H. Schlosser in Frankfurt, hatte 1816 einen Amtsgenossen öffentlich
angegriffen; Goethe schrieb ihm, er würde in solcher Lage verzweifeln.

  Beurteilen kann ich nicht, ob es unvermeidliche Notwendigkeit war,
  Herrn v. Guaita auf eine unwiderrufliche Weise anzugreifen. In
  ähnlichen Verhältnissen habe ich mich auch gewehrt, aber innerhalb
  der Verhältnisse selbst, und es wäre mir unmöglich gewesen, das
  Publikum, das nie rechten kann noch wird, dergestalt als Instanz
  zu ehren ... Wenn ich mir denke, daß Sie mit diesem angesehenen,
  bedeutenden Manne zeitlebens in +einer+ Stadt wohnen, öfters in
  +einem+ Kollegium, vielleicht gar als Ratsherr in +einer+ Reihe
  mit ihm sitzen sollen, nachdem Sie ihm seine Herkunft vorgeworfen,
  seine Tüchtigkeit zu einem Geschäfte, zu dem er sich erboten,
  öffentlich bezweifelt und nicht allein ihn, sondern auch seine
  Freunde, Verwandte, Verbündete sich zu Todfeinden gemacht haben, ohne
  vielleicht von dem gleichgültigen und schwankenden Publikum gebilligt
  zu werden, so stelle ich mir Ihre und Ihres würdigen Bruders Lage so
  schrecklich vor, daß ich mich darüber kaum beruhigen kann.

In solcher Gesinnung kam Goethe auch zu der weiteren Meinung, daß man
über Ortsgenossen sich überhaupt nie öffentlich äußern solle.

  Über den Ort, wo man gewöhnlich sich aufhält, wird Niemand wagen,
  etwas zu schreiben, es müßte denn von bloßer Aufzählung der
  vorhandenen Gegenstände die Rede sein. Ebenso geht es mit Allem, was
  uns noch einigermaßen nah ist. Man fühlt erst, daß es eine Impietät
  wäre, wenn man auch sein gerechtestes, mäßigstes Urteil über die
  Dinge öffentlich aussprechen wollte.

Es dachten freilich auch damals (1799) schon Viele anders! Die
Zeitungen fingen an, auch örtliche Nachrichten zu bringen und die
persönlichen Angelegenheiten zu berühren; nach der Schlacht bei Jena
erzählten sie z. B. auch, daß Goethe seine Haushälterin geheiratet habe
und wie es bei der Plünderung dem Romanfabrikanten Vulpius und seiner
Gattin gegangen sei. Aber solche schamlose Neuigkeitskrämerei, solches
öffentliche Zeigen von Abneigung und Haß empfand Goethe fast ebenso
schmerzlich wie die Gewalttaten der Franzosen. Denn dies war eine
Herabwürdigung, die von innen kam!

       *       *       *       *       *

Manche Feindschaft entsteht aus einer plumpen Auffassung der
Wahrhaftigkeit. Alle menschliche Gesellschaft ist aber auf Höflichkeit,
Gefälligkeit und Duldung angewiesen; wer dazwischen fährt und Anderen
„seine Meinung“ oder „die Wahrheit“ sagen will, stiftet Ärger und Haß.
Eines Abends 1819 erzählten bei Goethe die jungen Gräfinnen Egloffstein
von dem damaligen Posthalter zu Langensalza, der wegen seiner
lächerlichen Eitelkeit weithin bekannt war, und die Damen gestanden,
daß sie dem Manne noch gröblich geschmeichelt hätten, wobei sie ihm
sehr wohl getan und sich heimlich vergnügt hätten. Goethe erfreute sich
an dem Berichte und meinte: darin, im Eingehen auf die Schwäche eines
Andern, bestehe die eigentliche Lebensklugheit und er rate Jedermann
ein solches Benehmen an.

  Auf Juliens Frage, warum man nur gegen Karikaturen sich diese
  augenblickliche Verleugnung seiner Ansichten gestatte, erwiderte
  er mit sichtbarer Freude über die Bemerkung, daß diese Gattung
  von Menschen, indem sie aus ihrer Natur heraustrete, auch alle
  Verpflichtungen, so wir gegen uns und Andere üben, auflösten und man
  daher diese Personen als halb Wahnwitzige dulde und, statt sie zu
  widerlegen, in ihre Ideen eingehe.

  Julie zitierte eine Person aus ihrer Bekanntschaft, wo man täglich
  diese Regel übe. Jedes glaubte sie erraten zu haben, als der
  alte Herr mit Feinheit einfiel, daß man nur im Staatskalender
  suchen dürfe, um so einen Gegenstand zu finden. „Erhaltet eure
  Aufrichtigkeit und Wahrheitsliebe soviel wie möglich“ fuhr er fort,
  „aber verfallt nicht in den Fehler der jetzigen Zeit: nämlich durch
  allzu große Aufrichtigkeit grob zu werden!“

  Hierauf erzählte er uns eine niedliche Anekdote von einer alten
  würdigen Kastellanin zu Nürnberg, welche in einer Gesellschaft von
  jungen Leuten, die sich mit ungeziemender Heftigkeit und Unart
  über die Schmeichler und Heuchler äußerten, plötzlich hinter ihrem
  Kaffeetisch mit zusammengeschlagenen Händen in vollem Unmut ausrief:
  „Ach, wie lieb’ ich die Schmeichler und Heuchler!“

       *       *       *       *       *

[Sidenote: Die Gegner zu erwarten]

Je älter er wurde, um so tiefer ward seine Friedfertigkeit. Schon 1816
scherzte Goethe, er habe auf seinen letzten Reisen am Rhein und Main
das Evangelium Johannis gepredigt: „Kindlein, liebt euch, und wenn Das
nicht gehen will, laßt wenigstens einander gelten!“ Später drückte er
philosophisch-naturwissenschaftlich aus, daß wir dem Andersgesinnten,
Andersgearteten nie gram sein dürfen. So meinte er 1829 gegen seinen
jungen Anhänger Schubarth, er wolle zwar die Jugend nicht tadeln, wenn
sie sich in den Kampf stürze, müsse aber bekennen, daß bei ihm, dem
Alten, die polemischen Richtungen immer schwächer würden „und sich
nach der inneren Einheit zusammenziehen: denn die Gegenstellungen sind
überall dergestalt unvermeidlich, daß, wenn man den Menschen selbst
ganz genau in zwei Hälften spaltete, die rechte Seite sogleich mit der
linken in einen unversöhnlichen Streit geraten würde.“ Ähnlich sprach
er zu Eckermann:

  Man sagt von den Blättern eines Baumes, daß deren kaum zwei
  vollkommen gleich befunden werden: und so möchten sich auch unter
  tausend Menschen kaum zwei finden, die in ihrer Gesinnungs- und
  Denkungsweise vollkommen harmonieren. Setze ich Dieses voraus, so
  sollte ich mich billig weniger darüber wundern, daß die Zahl meiner
  Widersacher so groß ist, als vielmehr darüber, daß ich noch so viele
  Freunde und Anhänger habe. Meine ganze Zeit wich von mir ab, denn sie
  war ganz in subjektiver Richtung begriffen, während ich in meinem
  objektiven Bestreben im Nachteile und völlig allein stand.

Das bezieht sich auf die Gegner aus abweichender Denkungsweise. Aber er
hatte noch viele andere.

  Zuerst nenne ich meine Gegner aus Dummheit; es sind Solche, die mich
  nicht verstanden und die mich tadelten, ohne mich zu kennen. Diese
  ansehnliche Masse hat mir in meinem Leben viele Langeweile gemacht;
  doch es soll ihnen verziehen sein, denn sie wußten nicht, was sie
  taten.

  Eine zweite große Menge bilden sodann meine Neider. Diese Leute
  gönnen mir das Glück und die ehrenvolle Stellung nicht, die ich
  durch mein Talent mir erworben. Sie zerren an meinem Ruhm und hätten
  mich gern vernichtet. Wäre ich unglücklich und elend, so würden sie
  aufhören.

  Ferner kommt eine große Anzahl Derer, die aus Mangel an eigenem
  Sukzeß meine Gegner geworden. Es sind begabte Talente darunter,
  allein sie können mir nicht verzeihen, daß ich sie verdunkele.

  Viertens nenne ich meine Gegner aus Gründen. Denn da ich ein Mensch
  bin und als solcher menschliche Fehler und Schwächen habe, so können
  auch meine Schriften davon nicht frei sein. Da es mir aber mit meiner
  Bildung Ernst war und ich an meiner Veredelung unablässig arbeitete,
  so war ich im beständigen Fortstreben begriffen, und es ereignete
  sich oft, daß sie mich wegen eines Fehlers tadelten, den ich längst
  abgelegt hatte. Diese Guten haben mich am wenigsten verletzt; sie
  schossen nach mir, wenn ich schon meilenweit von ihnen entfernt war.

Übrigens muß schon ein denkender +Leser+ der Novellen, Romane und
Dramen zu solcher Duldung gelangen, also erst recht Derjenige, der
solche Werke schafft! Als geborener Dichter konnte sich Goethe in die
verschiedenartigsten Charaktere hineindenken und hineinfühlen; er wußte
also, daß sie in ihrer Art Recht hatten, daß ihr Wesen und Handeln
ausreichend begründet war. „So mußt du sein, dir kannst du nicht
entfliehen“: dies eingeborene Gesetz gilt für unsere Gegner so gut wie
für uns. Da Goethe nun sein Leben lang die Menschen auch noch fleißig
beobachtete und studierte, so wurde sein Verhältnis zu ihnen immer
sachlicher: der Gegner erschien ihm immer mehr das natürlichste Ding
von der Welt.

    Was klagst du über Feinde?
    Sollten Solche je werden Freunde,
    Denen ein Wesen, wie du bist,
    Im Stillen ein ewiger Vorwurf ist?

       *       *       *       *       *

[Sidenote: Die philosophische Betrachtung der Feinde]

Aber ist diese philosophische Betrachtung der Feinde durchzuführen? Die
Feinde schaden uns doch, wenn sie es irgend können, oder sie schaden
unsern Freunden und der guten Sache. Dürfen wir die Schlechten, die
Verblendeten, die Unwissenden ruhig gewähren oder gar herrschen lassen?

Goethes Antwort ist, daß die Feinde, solange wir selber richtig
handeln, uns nur selten schaden können und daß der Krieg nicht das
Mittel ist, ihnen Abbruch zu tun. Lassen wir uns auf den Ringkampf ein,
so verbrauchen wir unsere Zeit und Kraft dazu, ihre Stöße abzuwehren,
ihre Blöße zu erspähen, und wir ermüden sogar durch die Schläge, die
wir selber austeilen. Mit demselben Aufwand können wir ohne Kampf
unserer Sache erfolgreicher dienen. In einer der letzten hundert Nächte
seines Lebens lag Goethe lange schlaflos; er hatte Vorträge von Carus
in Dresden über Psychologie gelesen; sie reizten ihn zu Gegengedanken,
und er arbeitete im Kopfe aus, was er über den gleichen Gegenstand
sagen würde. Und diktierte am andern Morgen ins Tagebuch: „Streiten
soll man nicht, aber das Entgegengesetzte faßlich zu machen, ist
Schuldigkeit.“

Verwandte Maximen hatte er schon früher aufgeschrieben: „Der Irrtum
wiederholt sich immerfort in der Tat; deswegen muß man das Wahre
unermüdlich in Worten wiederholen.“ Oder:

    Es mag sich Feindliches eräugnen,
    Du bleibe ruhig, bleibe stumm!
    Und wenn sie dir die Bewegung läugnen,
    Geh’ ihnen vor der Nase herum!

Schon als Sechsundzwanzigjähriger, im ersten weimarischen Dienstjahre,
hielt Goethe es so und lebte, während er nach Wielands Ausdruck die
ganze Hennebergische Natur abzeichnete, in Ilmenau völlig unbekümmert,
„daß die Welt, die er vergessen hat, soviel von ihm und gegen ihn
spricht.“ Er sah damals wohl ein, daß er von den gegen ihn, den
Günstling eines unreifen Fürsten, erhobenen Anklagen sich rein waschen
müsse; aber nicht Reden waren die beste Verteidigung, sondern ein
andauerndes uneigennütziges Handeln. Als Schriftsteller hatte er
die gleiche Politik. „Lassen Sie uns nur unsern Gang unverrückt
fortgehen!“ schrieb er 1795 an Schiller; „ich kenne das Possenspiel
des deutschen Autorwesens schon zwanzig Jahre in- und auswendig. Es
muß nur +fortgespielt+ werden: weiter ist dabei nichts zu sagen.“ Und
das Gleiche lehrte er für häusliche und bürgerliche Dinge. Als seine
Christiane nach der kirchlichen Trauung mit ihm noch mehr als früher
angegriffen und verleumdet wurde, antwortete er ihr:

  Wenn Dir die Leute Deinen guten Zustand nicht gönnen und Dir ihn zu
  verkümmern suchen, so denke nur, daß Das die Art der Welt ist, der
  wir nicht entgehen. Bekümmere Dich nur nichts drum, so heißt’s auch
  nichts! Wie mancher Schuft macht sich jetzt ein Geschäft daraus,
  meine Werke zu verkleinern! Ich achte nicht darauf und arbeite fort.

Wo aber die Feindseligkeiten in der Tat nicht wirkungslos bleiben,
fragt es sich noch, ob sie schaden oder nützen. Gegen den französischen
Diplomaten Reinhardt meinte Goethe 1807:

  Der böse Wille, der den Ruf eines bedeutenden Mannes gern vernichten
  möchte, bringt sehr oft das Entgegengesetzte hervor: er macht die
  Welt aufmerksam auf eine Persönlichkeit, und da die Welt, wo nicht
  gerecht, doch gleichgültig ist, so läßt sie sich’s gefallen, nach
  und nach die guten Eigenschaften Desjenigen gewahr zu werden, den
  man ihr auf das schlimmste zu zeigen Lust hatte. Ja, es ist sogar im
  Publikum ein Geist des Widerspruchs, der sich dem Tadel wie dem Lobe
  entgegensetzt.

Und an Schiller schrieb Goethe sogar, die gegen sie beide gerichteten
Schmähschriften seien ganz nach seinem Wunsche, denn

  es ist eine nicht genug gekannte und geübte Politik, daß Jeder, der
  auf einigen Nachruhm Anspruch macht, seine Zeitgenossen zwingen soll,
  Alles, was sie gegen ihn in petto haben, von sich zu geben. Den
  Eindruck tilgt er durch Gegenwart, Leben und Wirken jederzeit wieder.
  Was half’s manchem bescheidenen, verdienstvollen und klugen Mann,
  daß er durch unglaubliche Nachgiebigkeit, Untätigkeit, Schmeichelei
  und Rücken und Zurechtlegen einen leidlichen Ruf zeitlebens
  erhielt? Gleich nach dem Tode sitzt der Advokat des Teufels neben
  dem Leichnam, und der Engel, der ihm Widerpart halten soll, macht
  gewöhnlich eine klägliche Gebärde.

       *       *       *       *       *

[Sidenote: Kluge Politik gegen Feinde]

Eine andere zwar nicht unbekannte, aber doch „nicht genug gekannte und
geübte Politik“, die Angreifer loszuwerden, üben wir, indem wir uns
unempfindlich stellen. Wehe dem Knaben, der andere Buben merken läßt,
daß er sehr kitzlich ist, und wehe dem im öffentlichen Leben stehenden
Manne, der dem Gegner verrät, daß seine Pfeile schmerzen! Wer die
Zähne zusammenbeißt und eine gute, oder doch gleichgültige Miene zum
bösen Spiel macht, setzt die Angreifer matt und stärkt sich nebenbei
im Stoizismus, der ihn den nächsten Angriff schon viel leichter
ertragen läßt. Goethe hat (Dichtung und Wahrheit I, 2) in seiner
Knabenzeit unter roheren Gespielen auch diese Schule durchgemacht und
im Unterdrücken des Schmerzes Tüchtiges geleistet. „Dadurch setzt man
sich in einen großen Vorteil, der uns von Andern so geschwind nicht
abgewonnen wird.“

       *       *       *       *       *

[Sidenote: Kotzebue]

Ein sehr derbes, aber auch sehr richtiges Bild hat Goethe einmal
vom Hassen gegeben: „Der Haß gleicht einer Krankheit, dem Miserere,
wo man vorn herausgibt, was eigentlich hinten weggehen sollte.“ Wie
Goethe seine Feinde verdaute und zur eigenen Ernährung ausnutzte, Das
sieht man am besten an seinem Verhalten zu Kotzebue. Dieser machte
es sich, als er aus Goethes Kreise zurückgewiesen war, zum Geschäft,
auf jede Art und Weise seinem Talent, seiner Tätigkeit, seinem Glück
entgegenzutreten.[20] Goethes Hausmittel dagegen war: „die Existenz
Desjenigen, der mit Abneigung und Haß verfolgt, als ein notwendiges,
und zwar günstiges Ingrediens zu der seinigen zu betrachten.“ So hielt
er es auch mit diesem Angreifer:

  Ich denke ihn mir gern als Weimaraner und freue mich, daß er der mir
  so werten Stadt das Verdienst nicht rauben kann, sein Geburtsort
  gewesen zu sein. Ich denke mir ihn gern als schönen, muntern Knaben,
  der in meinem Garten Sprengel stellte und mich durch seine freie
  Tätigkeit sehr oft ergötzte. Ich gedenke seiner gern als Bruder eines
  liebenswürdigen Frauenzimmers [Malchen K.], die sich als Gattin
  [des Dr. Gildemeister in Bremen] und Mutter immer verehrenswert
  gezeigt hat. Gehe ich nun seine schriftstellerischen Wirkungen
  durch, so vergegenwärtige ich mir mit Vergnügen heitere Eindrücke
  einzelner Stellen, obschon nicht leicht ein Ganzes, weder als Kunst-
  noch Gemütsprodukt, weder als Das, was es aussprach, noch was es
  andeutete, mich jemals anmuten und sich mit meiner Natur vereinbaren
  konnte. Sehr großen Vorteil dagegen hat mir seine literarische
  Laufbahn in Absicht auf Übung des Urteils gebracht, welches wir am
  eigentlichsten durch die Produktionen der Gegenwart zu schärfen
  vermögend sind. Er hat mir Gelegenheit gegeben, manche Andere, ja das
  ganze Publikum, kennen zu lernen. Ja, ich finde noch öfters Anlaß,
  seine Leistungen, denen man Verdienst und Talent nicht absprechen
  kann, gegen überhinfahrendes Tadeln und Verwerfen in Schutz zu
  nehmen. Betrachte ich mich nun gar als Vorsteher eines Theaters
  und bedenke, wie viele Mittel er uns in die Hand gegeben hat, die
  Zuschauer zu unterhalten und der Kasse zu nutzen, so wüßte ich nicht,
  wie ich es anfangen sollte, um den Einfluß, den er auf mein Wesen und
  Vornehmen ausgeübt, zu verachten, zu schelten oder gar zu leugnen;
  vielmehr glaube ich alle Ursache zu haben, mich seiner Wirkung zu
  freuen und zu wünschen, daß er sie noch lange fortsetzen möge.

Goethe ließ in der Tat von 1791-1817 nicht weniger als 84 Stücke seines
Feindes Kotzebue aufführen; weit über 600 Abende besetzte er damit;
weder Schiller, noch Goethe, noch sonst ein Dichter wurden auf der
weimarischen Bühne auch nur annähernd so viel gespielt. Einmal verschob
Goethe seine Badereise, um Kotzebues Posse ‚Der Rehbock‘ völlig
einzustudieren; ja, im Jahre 1817 wandte er vier Wochen fleißiger
Arbeit daran, um den ‚Schutzgeist‘ zu kürzen und umzuarbeiten, weil
sonst das Stück auf der Bühne nicht zu halten gewesen wäre. Und gleich
danach widmete er ebensoviel Sorgfalt dem Lustspiel ‚Die Bestohlenen‘.

Goethes Hausmittel gegen diesen Feind sieht beinahe christlich aus;
er will es aber weder als christlich noch als sonst hochmoralisch
empfehlen: es sei einfach einem verklärten Egoismus entsprungen
und bewähre sich als praktisch, um die unangenehmsten von allen
Empfindungen aus dem Gemüt zu verbannen: kraftloses Widerstreben
und ohnmächtigen Haß. In der Lehre, man solle seine Feinde lieben,
scheint ihm das Wort „lieben“ gemißbraucht oder doch in einem andern
Sinne gebraucht zu sein, als es sonst hat; er will deshalb lieber
jenen weisen Spruch mit Überzeugung wiederholen, daß man einen
guten Haushalter hauptsächlich dann erkenne, wenn er sich auch des
Widerwärtigen vorteilhaft zu bedienen wisse.

Goethe hatte auf Kotzebue das Verschen gemacht:

    Natur gab dir so schöne Gaben,
    Als tausend andre Menschen nicht haben;
    Sie versagte dir aber den schönen Gewinst:
    Zu schätzen mit Freude fremdes Verdienst.

Wollte er diesen Feind völlig überwinden und von ihm Gewinn statt
Schaden haben, so mußte er dessen Fehler mit der entgegengesetzten
Tugend vernichten:

    Nicht größeren Vorteil wüßt’ ich zu nennen,
    Als des Feindes +Verdienst+ erkennen.


  [19] Zu Eckermann 21. März 1830 über die ‚Piken‘ in der
       ‚Walpurgisnacht‘.

  [20] Biographische Einzelheiten. Kotzebue.




X.

Familienleben.


„Glückselig Der, dessen Welt innerhalb des Hauses ist!“ schrieb Goethe
an Kestner, der mit Lotte Buff aus Wetzlar sich einer aufblühenden
Familie erfreute. Und als er im Mai 1790 freie Ferientage in Venedig
verbrachte, dachte er sehnsüchtig an das eigene Heim im Jägerhause zu
Weimar, wo seine Christiane seiner harrte:

    Weit und schön ist die Welt, doch o, wie dank ich dem Himmel,
    Daß ein Gärtchen beschränkt zierlich mir eigen gehört!
    Bringet mich wieder nach Hause! Was hat ein Gärtner zu reisen?
    Ehre bringt’s ihm und Glück, wenn er sein Gärtchen besorgt!

Zeitlebens war Goethe sehr häuslich gesinnt, und wenn er auch
keineswegs zu den Damenfreunden gehörte, die die weibliche
Gesellschaft der männlichen vorziehen, und wenn er noch weniger zu
den Schmetterlingen und Don Juans gehörte, denen es um wechselreiches
Naschen zu tun ist, so fühlte er sich doch aus seiner Arbeit und aus
seinem männlichen Freundeskreise auch immer wieder zur weiblichen Natur
hingezogen und war glücklich im gegenseitigen Geben und Empfangen mit
geliebten Frauen.

Trotzdem gelangte er erst spät und dann auch nur halbwegs zur Ehe.

Es fiel ihm in allen Dingen sehr schwer, entscheidende Entschlüsse zu
fassen. „Eine Verlobung oder Heirat aus dem Stegreife war mir von jeher
ein wahrer Greuel“ sagte er 1825 zum Kanzler v. Müller.

  Eine Liebe wohl kann im Nu entstehen, und jede echte Neigung muß
  irgend einmal gleich dem Blitze plötzlich aufgeflammt sein, aber
  wer wird sich denn gleich heiraten, wenn man liebt? Liebe ist etwas
  Ideelles, Heiraten etwas Reelles, und nie verwechselt man ungestraft
  das Ideelle mit dem Reellen. Solch ein wichtiger Lebensschritt will
  allseitig überlegt sein und längere Zeit hindurch, ob auch alle
  individuellen Beziehungen, wenigstens die meisten, zusammenpassen.

So dachte er immer: „Lieben heißt leiden, man +muß+ es nur, man will
es nicht“, oder: „Als ob die Liebe etwas mit dem +Verstande+ zu tun
hätte!“ Die Ehe aber galt zu Goethes Zeit viel allgemeiner als heute
für eine Verstandessache; sie war also viel seltener eine Folge des
Verliebens, hatte auch die Liebe nicht zur Voraussetzung. Vielmehr
ward sie als eine praktische, gemeinnützige Einrichtung aufgefaßt,
die den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zustand beider Gatten
verbessern, ihr leibliches und seelisches Wohlbefinden erhöhen und
zum Aufziehen eines neuen Geschlechtes die geschützte Stätte liefern
sollte. Man nahm an, daß ein wünschenswertes Maß von Liebe sich in der
Ehe von selbst einstelle, da die Gatten manche Annehmlichkeiten von
einander haben und wirtschaftlich der Welt gegenüber verbündet sind.
Die Brautleute waren in der Regel noch jung genug, um sich einander
anzupassen; namentlich gab man die Mädchen fast noch im kindlichen
Alter, wo sie noch biegsam und bildsam sind, an ihre Eheherren. Goethe
hat einmal die Erfahrung ausgesprochen: die Liebe der Frauen sei
meistens eine pflichteifrige, die der Männer eine enthusiastische. Aus
dieser Erfahrung heraus sah man auch den verheirateten Männern neue
Verliebtheiten nach, erklärte jedoch die Liebe zu einer Pflicht der
Ehe, namentlich für die Ehefrauen. Und viele Frauen liebten in der Tat
deshalb ihre Männer, weil sie an diese Pflicht glaubten, und waren
ihnen treu und untertan, wie es der Pfarrer bei der Trauung als Gottes
Gebot gelehrt hatte.

       *       *       *       *       *

[Sidenote: Auffassung der Ehe]

Aber wenn Goethe in jungen Jahren um sich schaute, so sah er unter
den Ehen, in die er die besten Einblicke hatte, kaum eine, wie er
sie für sich wünschen konnte. Seine Mutter und seine Schwester waren
an brave Männer und dennoch übel verheiratet. Herzog Karl August und
Herzogin Luise waren vortreffliche junge Menschen, aber ihre Ehe war
Verdruß und Not. Seine beste Freundin, Charlotte v. Stein, hatte
einen achtungswerten Gatten, aber in ihrem inneren Leben ging er nur
so nebenher. Dazu kamen dann die Ehepaare, deren Zank und Streit
öffentlich bekannt war oder wo der Eine dem Andern davonlief. Es traten
nicht wenige Frauen auf, die zu pflichtmäßiger Liebe nicht mehr fähig
oder willig waren; es waren Frauen, die sich durch Stärke des Geistes
und Gefühls auszeichneten. Charlotte v. Kalb und Karoline v. Beulwitz
hatten gegen ihre Männer keine erheblichen Anklagen, aber sie drangen
auf Scheidung, weil sie ein hohes Ideal vom Manne in ihren Herzen
trugen; beide hängten eine Zeitlang ihre Herzen an Schiller. Eine noch
schlimmere Plage ihres rechtschaffenen Gatten war Emilie v. Berlepsch,
die den Jean Paul für sich verlangte und vorher sehr gern Frau v.
Goethe geworden wäre. Die hübsche Frau v. Werthern entlief ihrem
Gatten, weil sie in August v. Einsiedel einen romanhaft vollkommenen
Mann gefunden zu haben glaubte. Immer wieder ward Goethe daran
erinnert, daß die Ehe gerade für Menschen von verfeinerten Ansprüchen,
für Menschen, die von Höhe zu Höhe schreiten, leicht zur qualvollsten
Lebenslast wird.

[Sidenote: Die Ehen ringsum]

Zwei von seinen Freunden sah Goethe glücklich verheiratet. Herders
Gattin war hochgebildet und hochbegabt; sie liebte ihren Mann von
ganzem Herzen und lebte sein äußeres und inneres Leben vollkommen
mit, war auch die gleichwertige Freundin seiner Freunde. Aber gerade
diese innige Verbundenheit des Herderschen Paares erschien auch
als etwas Schädliches und Verderbliches; Herder wurde durch seine
Gattin in seinen Fehlern bestärkt; sein persönlicher Egoismus wurde
durch die Erweiterung zum Familienegoismus nicht angenehmer; Herders
machten ihr Pfarrhaus gar zu sehr zu einer eigenen Festung gegen
die Mitlebenden und wurden immer ungerechter und verbitterter gegen
die ehemaligen Freunde, die ihnen oder ihren Kindern nie genug tun
konnten. Viel anspruchsloser und glücklicher war Wieland in seinem
gleichfalls kinderreichen Heime. Er hatte in jungen Jahren die
geistreichsten Freundinnen gehabt; als er aber heiratete, tat er es
ganz nach der alten Sitte. Er wählte die Braut, ehe er sie gesehen
hatte; er heiratete sie nach einmaliger Zusammenkunft, obwohl er, der
vielbewunderte Autor, wußte, daß sie außer der Bibel und dem Kalender
nichts las. Auch durch Schönheit zeichnete sich Dorothea Hillenbrand
nicht aus; sie war nur ein gutes Kind und hatte soviel Vermögen, daß
sie im Witwenstande davon hätte leben können. Sie blieb auch als
Wielands Gattin in einem kindlichen Verhältnis zu ihm, wagte nie, ihn
mit „Du“ anzureden, ging nie mit ihm in Gesellschaften, und wenn Beide
spazieren gingen, vermieden sie die allgemeine Promenade. Dabei gab es
kein glücklicheres Paar und keine glücklichere Familie in Weimar!

Aber weder die wielandische noch die herdersche Ehe waren für Goethe
verführerisch.

Und namentlich: es trat ihm, seit er in Weimar Amt und Heimat hatte,
kein Mädchen entgegen, das ihn alle Bedenken vergessen ließ. Es konnte
ihn kein Mädchen berauschen, weil er in eine zärtliche Freundschaft
mit Charlotte v. Stein geraten war und dadurch einen „Maßstab für alle
Frauen“ hatte. Diese Freundschaft konnte ihn nicht völlig befriedigen,
aber sie verminderte Hunger und Durst nach der rechten Liebe. Und so
paßte lange Jahre auf ihn sein eigenes Wort:

    Wenn die Stunde nicht kommt, die rechte, wenn nicht das rechte
    Mädchen zur Stunde sich zeigt, so bleibt das Wählen im Weiten,
    Und es wirket die Furcht, die Falsche zu greifen, am meisten.

       *       *       *       *       *

[Sidenote: Christiane]

Als Goethe aus Italien heimkehrte, fühlte er sich in Weimar
einsamer als je vorher; und namentlich fand auch Charlotte v. Stein
ihn umgewandelt, ihr entfremdet. In dieser Lage lernte er die
vierundzwanzigjährige Christiane Vulpius kennen, eine Waise aus einer
verarmten Beamtenfamilie; eines Tages stand sie mit einer Bittschrift
ihres Bruders im Garten vor ihm als ein hübsches Kind „von naivem,
freundlichem Wesen, mit vollem, rundem Gesicht, langen Locken, kleinem
Näschen, schwellenden Lippen, zierlichem Körperbau und niedlichen,
tanzlustigen Füßchen.“ So war das Mädchen wie eine Blume unter den
anderen Blumen. Und der Dichter erzählt weiter:

    Ich wollt’ es brechen,
    Da sagt es fein:
    Soll ich zum Welken
    Gebrochen sein? -- --
    Ich grub’s mit allen
    Den Wurzeln aus,
    Zum Garten trug ich’s
    Am hübschen Haus.
    Und pflanzt es wieder
    Am stillen Ort,
    Nun zweigt es immer
    Und blüht so fort.

Er nahm Christiane mit ihrer Tante und Schwester in sein Haus und
behielt das Verhältnis Jahr für Jahr bei. Auf die Entrüstung alter
Freunde und Feinde antwortete er im stillen mit dem Tasso-Worte:
„Viel lieber, was ihr euch unsittlich nennt, als was ich mir unedel
nennen müßte!“ Schiller verstand ihn; „diese seine einzige Blöße,
die Niemand verletzt als ihn selbst, hängt mit einem sehr edeln Teil
seines Charakters zusammen“ schrieb er an die Gräfin Schimmelmann.
Goethe brachte für dies häusliche Verhältnis manches Opfer; er ward
oft in peinlicher Weise daran erinnert, daß seine Nächste, die Mutter
seiner Kinder, von seiner übrigen Gesellschaft nicht als Seines- und
Ihresgleichen angenommen werden konnte; trotzdem, meinte er, Christiane
passe besser als tausend vornehme, anspruchsvolle Damen zu ihm.

    Ich wünsche mir eine hübsche Frau,
    Die nicht Alles nähme gar zu genau,
    Doch aber zugleich am besten verstände,
    Wie ich mich selbst am besten befände.

Und Christiane dankte ihm alle seine Liebe. Sie war eine brave
Hausfrau, die außer ihrem „Geheimen Rat“ und dem einzigen Sohne, der
von fünf Kindern am Leben blieb, noch die vielen Gäste in sorgenden
Gedanken trug. Unter der schwersten eigenen Last zeigte sie Jedermann
ein munteres Wesen. Manchmal sprach sie ihre Not brieflich gegen einen
fernen Freund aus, den Arzt Nikolaus Meyer in Bremen, mit dem sie
fröhliche Stunden auf Bällen und Redouten vertanzt hatte. „Ich lebe
ganz still und sehe fast keinen Menschen“ schrieb sie im April 1803,
„das Theater nur ist meine Freude, denn wegen dem Geh. Rat lebe ich
sehr in Sorge; er ist manchmal ganz hypochonder, und ich stehe oft
viel aus; doch trage ich Alles gerne, da es ja nur krankhaft ist, habe
aber so gar Niemanden, dem ich mich vertrauen kann. Schreiben Sie mir
aber hierauf nichts, denn man muß ihm ja nicht sagen, daß er krank
ist; ich glaube aber, er wird wieder einmal recht krank.“ Goethe ahnte
nicht, welche Angst Christiane um ihn trug; er sah sie fast immer
mit fröhlichem Gesicht. „Eine stille, ernsthafte Frau ist übel daran
mit einem lustigen Manne, ein ernsthafter Mann nicht so mit einer
lustigen Frau“ meinte er später einmal zu Riemer, und Der dachte sich
dabei: „So dankt er Gott, daß er nicht nötig hat, lustig zu sein!“
Sie war namentlich eine treffliche Vermittlerin zu den Schauspielern
und eine erwünschte Berichterstatterin über die Aufführungen. Aber
auch sonst nahm sie an seinem geistigen Schaffen einen bescheidenen
Anteil. Er betrachtete sie als seine Gattin, obwohl kein Priester ihren
Bund gesegnet hatte. Und allmählich entstand in ihm der Entschluß,
zu ihrem und seines Sohnes Vorteil die Ehe auch gesetzlich gültig
zu machen. Dieser Entschluß verstärkte sich im Frühjahr 1806, weil
damals Christianes Tante und Schwester starben, so daß sie nun keinen
Frauen-Anhalt mehr im Hause hatte, gleichsam zu Niemand mehr gehörte.
Als dann nach der Schlacht bei Jena die als „Wirtschafterin“ behandelte
Person den französischen Soldaten, die auf Goethe sogar mit den Waffen
eindrangen, mutig entgegengetreten war, als sie ihm vielleicht das
Leben gerettet hatte, da war die rechte Stunde gekommen.

       *       *       *       *       *

Es war und blieb nur eine halbe Ehe, aber beide Teile verlangten
nichts Unmögliches voneinander und fühlten sich auch in der halben
Ehe ziemlich wohl. Christiane redete ihren Geheimrat nach wie vor
mit Sie an und lebte gewissermaßen ein Stockwerk tiefer als ihr
Gatte. Dem Fremden klang es wunderlich, wenn bei einem Mittagessen im
Goethe-Hause die Frau v. Goethe, die vielleicht eine Ausfahrt mit ihrer
Gesellschafterin vorhatte, ihren Gatten fragte: „Erlauben Sie, daß wir
uns zurückziehen?“ Wohl hatten sie einen gemeinsamen Freundeskreis,
aber Jeder hatte daneben seine besondere Welt von Bekanntschaften und
Neigungen. Goethes Genossin erfreute sich Dessen, daß er die Frauen gut
kannte und ihnen das Recht, ihrer Natur nachzuleben, willigst einräumte
und daß er die Eigenart jeder Persönlichkeit zu achten gewohnt war.
Die Freiheit, deren er selber bedurfte, gönnte er auch der Gattin. Er
konnte und wollte es sich nicht versagen, andere Mädchen und Frauen
schön und liebenswert zu finden und ihr freundliches Lächeln zu
genießen: so gestattete er auch Christianen das „Äugeln“ und scherzte
mit ihr darüber. Da sie überaus gern tanzte, ließ er sie allein auf
Bälle gehen, und die Leute mochten reden, was sie wollten. „Meine Frau
besucht in Lauchstädt Theater und Tanzsaal“ berichtet er an Bettina v.
Arnim, während er selber in Karlsbad an Silvie v. Ziegesar seine Freude
hat. Und dann heißt es an Christiane: „Fräulein Silvie ist gar lieb
und gut, wir haben viel zusammen spaziert; was sich in diesem Kapitel
bei Dir ereignen wird, erfahre ich doch wohl auch.“ Ein anderes Jahr
schreibt er wieder aus Karlsbad nach Lauchstädt: „Ich zweifle nicht,
daß alter und neuer Äugelchen vollauf sein wird; dazu wünsche auch
Glück; macht euch in jener Gegend so viel Freude wie möglich!“ Und
wie milde klingt auch seine Warnung aus etwas jüngeren Jahren: „Mit
den Äugelchen geht es, merke ich, ein wenig stark; nimm Dich nur in
acht, daß keine Augen daraus werden!“ Die große Wahrhaftigkeit zwischen
Beiden lesen wir auch aus einem Briefe heraus, in dem er erwähnt, daß
er bei Frommanns in Jena Minchen Herzlieb wiedergesehen habe. „Sie ist
nun eben ein paar Jahre älter“ schreibt er seiner Frau, „an Gestalt und
Betragen aber immer noch so hübsch und so artig, daß ich mir gar nicht
übelnehme, sie einmal mehr als billig geliebt zu haben.“ Aber wenn er
denkt, daß Christiane wohl auf seine feinen und gelehrten Freundinnen
eifersüchtig sein könnte, beeilt er sich stets, ihr zu sagen, wie
viel lieber sie ihm sei. Sie mag zuweilen nicht ohne Sorge an das
andere Ende der Ackerwand gedacht haben, wo Frau v. Stein wohnte, die
nach bitterem Gegensatz langsam wieder seine Freundin wurde; da weiß
er ihr gar zart zu sagen, daß er doch nur mit ihr ganz einig, ganz
heimisch sei. Als er mit einer andern hochgebildeten Dame, Marianne v.
Eybenberg, in Karlsbad in einem Hause wohnte, beruhigte er sie: „Mit
der lieben Hausfreundin bleibt’s, wie ich Dir schon gesagt habe; so
angenehm und liebreich sie ist, so gehn wir doch nicht auseinander, daß
sie nicht etwas gesagt hätte, was mich verdrießt. Es ist wie in der
Ackerwand.“

Und in jedem Briefe bemühte er sich, eine Freude für sie anzubringen,
ein neues Geschenk anzumelden. „Ich lege abermals ein Endchen Spitze
bei, daß ja keine Sendung ohne eine kleine Gabe komme. Lebe recht
wohl, liebe mich!“ -- „Auch bringe ich Dir eine silberne Tee- und
Milchkanne mit, zu der ich zufälligerweise ohne sonderliche Kosten
gekommen bin.“ -- „Ein recht zierliches Unterröckchen und einen großen
Shawl nach der neuesten Mode bring ich Dir mit. In Kassel kannst Du
Dir ein Hütchen kaufen und ein Kleid; sie haben die neuesten Waren so
gut als irgendwo.“ Immer wieder denkt er daran, sie zu schmücken, und
lebt ihre kleinen Freuden mit. „Schreibe mir ja, wie das schwarzseidene
Kleid geraten ist und wann Du es zum ersten Male angehabt hast“ bittet
er 1797 aus Frankfurt, und eine Woche später heißt es: „Ich bin recht
wohl zufrieden, daß Du Dir die goldenen Schnuren anschaffst und Dich
recht hübsch herausputzest.“

Und immer wieder versüßt er ihre Tage mit Liebesworten und spricht aus
der Ferne von seinem Verlangen nach ihr und ihrem Kinde. „Mit Freuden
werde ich Koppenfelsens Scheungiebel [seinem Hausgarten gegenüber]
wiedersehen und Dich wieder an mein Herz drücken und Dir sagen, daß
ich Dich immerfort und immer mehr liebe.“ „Lebe recht wohl und behalte
mich so von Grunde des Herzens lieb wie ich Dich“ ist ein Briefschluß
wie viele andere. Klagte sie ihm aber in ihrer ungelenken, naiven
Ausdrucksweise, in ihrer sehr volkstümlichen Wortschreibung, daß die
Leute wieder so schlecht über sie gesprochen hätten, daß etwa Frau v.
Staël boshaft über sie hergezogen sei, da tröstet er sie mit schönen
Worten und schließt: „Wir wollen in unserer Liebe verharren und uns
immer knapper und besser einrichten, damit wir nach unsrer Sinnesweise
leben können, ohne uns um Andere zu bekümmern.“

       *       *       *       *       *

[Sidenote: Die Kinder, „so, wie Gott sie uns gab“]

Am Sohne,[21] an der Schwiegertochter, an den drei Enkelkindern
bewährte Goethe dieselbe Duldsamkeit, dieselbe Anerkennung der
Persönlichkeit und ihres jeweiligen Zustandes, dieselbe immer neue Güte.

Gerade dem häuslichen Goethe war wenig häusliches Glück beschieden:
die Gattin blieb ihm eine Halbfremde, der Sohn wurde kein glücklicher
Mann, und die Schwiegertochter erfüllte seine Hoffnungen nur zum
kleinsten Teile. Es kamen Zeiten, wo der alte Dichter den Sohn oder
die Tochter wochenlang nicht sehen mochte und einem vertrautesten
Freunde gegenüber heftig auf sie schalt. Immer wieder entschloß er
sich jedoch zu freundlichster Duldsamkeit als zu dem einzigen Mittel,
solche unabänderlichen Übel zu mildern. Er lobte den Sohn und die
Schwiegertochter, soviel er nur konnte, stellte ihre Vorzüge in
das hellste Licht und bestärkte sich immer wieder in seiner alten
Gesinnung, daß man von Kindern und jüngeren Menschen nicht die
Eigenschaften verlangen darf, die wir als Tugenden der älteren Jahre
schätzen, und daß der Mann sich hüten muß, männliche Art von Frauen zu
erwarten.

    Denn wir können die Kinder nach unserm Sinne nicht formen,
    So wie Gott sie uns gab, so muß man sie haben und lieben,
    Sie erziehen auf’s beste und Jeglichen lassen gewähren.
    Denn das Eine hat die, die Anderen andere Gaben,
    Jedes braucht sie und Jedes ist doch nur auf eigene Weise
    Gut und glücklich.

Schon ehe er selber Kinder hatte, war er ein eifriger Beschützer der
Kinder gegen die Erwachsenen. „Ein Blatt, das groß werden soll, ist
voller Runzeln und Knittern, eh’ es sich entwickelt; wenn man nicht
genug Geduld hat und es gleich so glatt haben will wie ein Weidenblatt,
dann ist’s übel.“ So schrieb er an seinen Freund Jacobi in Düsseldorf,
dessen Sohn schwer zu erziehen war. Der Vater -- die treffliche
Mutter war schon tot -- hatte ihn zu Matthias Claudius nach Wandsbek
zur Erziehung geschickt, danach zu der edeln Fürstin Gallitzin nach
Münster; doch der Knabe tat nicht gut. Goethe redete immer zu Geduld:
„Ich mische mich nicht gern in dergleichen Sachen ... aber das Kind
dauert mich: es ist doch Dein und Bettys Kind und gewiß nicht zum
Bösewicht, zum Nichtswürdigen geboren.“ Der Knabe wurde in der Tat kein
Bösewicht, sondern ein preußischer Geheimer Regierungsrat.

Diese Duldsamkeit zeigte Goethe auch im eigenen Hause immer wieder.
Der Sohn ist schon in seiner Kindheit von Charlotte v. Stein richtig
gezeichnet: „Ich kann manchmal in ihm die vornehme Natur des Vaters
und die gemeinere der Mutter unterscheiden. Einmal gab ich ihm ein
neues Stück Geld; er drückte es an seinen Mund vor Freuden und küßte
es, welches ich sonst am Vater auch gesehen habe. Ich gab ihm noch
ein zweites dazu, und da ruft er aus: Alle Wetter!“ August v. Goethe
war ein schöner, stattlicher Mann, als Gehülfe seines Vaters und als
Beamter wohl brauchbar, schließlich aber aus dem Geleise geratend, dem
Weingeist verfallend, als untreuer Gatte einer untreuen Gattin zu Hause
nicht glücklich, als mittelmäßig Begabter von der Größe seines Vaters
bedrückt. Holtei schildert ihn, wie er ihn 1829 sah: „Seine Heiterkeit
war wild und erzwungen, sein Ernst düster und schwer, seine Wehmut
herzzerreißend; dabei suchte er aber immer eine gewisse Feierlichkeit
der Formen zu bewahren, die oft wie eine unbewußte Nachahmung des
Vaters erschien und sich deshalb im Gegensatz zum sonstigen Tun und
Treiben gespenstig ausnahm.“ Und August selber läßt uns in sein Unglück
hineinsehen durch Zeilen, die er Schillers Sohn Ernst in’s Stammbuch
schrieb, als Dieser nach einem Besuche Weimars wieder abreiste:

    Bin ich denn ganz allein?
    Ich habe Vater ja,
    Ich habe Frau,
    Ich habe Kinder auch,
    Doch keinen Freund!
    Er schied!

Auf einer Reise nach Italien sollte und wollte er sich von Übeln und
Fehlern befreien: in Rom erlöste der Tod den Vierzigjährigen von allen
Übeln und Fehlern. Der Vater verbarg auch jetzt seinen Kummer, so gut
es ging, und wenn er von dem Verstorbenen sprach, suchte er die lichten
Seiten auf. Aber als er mit Riemer einmal auf häusliche Dinge und
besonders auf elterliche Gefühle zu sprechen kam, traten ihm Tränen
in’s Auge, und er wiederholte das Wort eines Franzosen: das Zarteste,
was die Natur erschaffen habe, sei ein Vaterherz.

       *       *       *       *       *

[Sidenote: August und Ottilie]

„August kommt nicht wieder; desto fester müssen +wir+ zusammenhalten“
sagte er zur Schwiegertochter, als die böse Nachricht aus Rom
gekommen war. Diese Schwiegertochter, Ottilie v. Pogwisch, machte
ihm viel Kummer. Das Treiben Ottiliens sei hohl, leer, es sei weder
Leidenschaft, Neigung, noch wahres Interesse, es sei nur eine Wut,
aufgeregt zu sein, ein abenteuerliches Treiben: so sagte er zum Kanzler
einmal im Zorn über die beständigen Liebschaften Ottiliens mit den
Engländern, die in Weimar lebten. Aber in der Regel lobte er, was
gelobt werden konnte, und war gegen sie von größter Güte. Das Kränkende
ward entschuldigt und vergessen; Ottilie blieb sein Töchterchen bis zu
seiner letzten Stunde.

So sahen denn die Gäste trotz aller häuslichen Nöte im Goethehause
manches schöne Familienbild. Als der böhmische Freund Grüner 1825
kam, führte ihm Goethe seine Enkel Wolfgang und Walter zu. „Sehen Sie
meinem Wolf in die Augen“ sagte er; „es spricht so etwas heraus, daß
ich meinen sollte, er werde ein Dichter. Mein Sohn hat keine Anlage
dazu, wohl aber ist er auf seinem Platz als Kammerrat. Er versieht
auch meine ganze Wirtschaft, um die ich mich nicht zu kümmern brauche.
Meine Enkel machen mir viele Freude; sie werden gut erzogen. Meine
Schwiegertochter ist eine einsichtsvolle, in Sprachen geübte, im
Umgange in höhern Zirkeln gewandte, unterrichtete Hausfrau. Sie
dürften sich selbst bei der Soirée überzeugt haben, wie sie jeden Gast
empfangen und sich bemüht hat, Jeden nach Höflichkeit zu unterhalten.“
-- „Ich bewunderte“ antwortete Grüner „ihren edeln Anstand, ihr
einnehmendes Wesen und ihre Sprachkenntnisse.“ -- „Nun müssen Sie auch“
fuhr Goethe fort „die Sammlung meines Sohnes im Gartenhause ansehen,
welches er sich für seine Passion für Petrefakte ganz eingeräumt hat.“

Alle, die Goethe im Umgang mit Kindern sahen, rühmten sein großes
Geschick, mit ihnen umzugehen. Der Jüngling war in der Liebe zu den
kleinen Menschen seinem Werther gleich; noch der Großvater bewährte
diese Liebe am schönsten. „Er hat die Natursprache in seinem Besitz“
schreibt ein Freiherr v. Stackelberg über den Achtzigjährigen. „Es
war eine Lust, ihn mit Kindern, die immer ab und zu bei ihm vorkamen,
sprechen zu hören, denn er hat eine rührende Art, sich mit ihnen zu
unterhalten, spricht ganz in ihrem Sinne, darum sie auch an ihm hängen
und ganz mit ihm vertraut sind.“ Es ist nicht ganz Zufall, daß die
letzten Menschen, die sich rühmen konnten, Goethe noch gekannt zu
haben, nämlich drei sehr alt gewordene Damen: die Witwe des Staatsmanns
v. der Gabelentz, die Witwe des Bleistiftfabrikanten Hardtmuth und die
Witwe des Malers Karl Hummel, alle drei erzählen konnten, daß sie als
Kinder von Goethe auf den Schoß genommen und gehätschelt seien.

[Sidenote: Der Großvater]

Eine jüngere Schwester der Schwiegertochter, Ulrike v. Pogwisch, wuchs
mit im Hause auf. Sie erzählte später:

  Wir nannten ihn immer den ‚Vatter‘; Das mochte er gern. O, Das war
  eine Ehrfurcht, wenn der Vatter kam, und wenn er uns anredete, dann
  waren wir schon glücklich. Nun mochte er es gern, daß eine von uns
  jungen Mädchen in seinem Zimmer verweilte, wenn er arbeitete; doch
  durfte Diese keine Handarbeit vornehmen. Auch wurde nur selten
  gesprochen, er mochte uns nur gern um sich haben. Das war mir aber
  zu langweilig, und so nahm ich meine Handarbeit mit. Nun gab’s ein
  Gezwitscher: „Die Ulrike ist zum Vatter gegangen mit Handarbeit.“
  Ich kehrte mich nicht daran, und als es dem Vatter gesagt wurde, wie
  ungehorsam ich sei, lächelte er so ein ganz wenig -- er konnte oft so
  ein ganz wenig lächeln, und es war dann in seinem Gesicht wie heller,
  warmer Sonnenschein -- und sagte: „Beunruhigt nur die Kleine nicht,
  sie darf es.“

Ebenso durfte der Enkel Wolf im heiligsten Raume des Hauses, in des
Dichters Arbeitsstube, eine Schublade des großen Tisches mit seinen
Spielsachen vollpacken und sie täglich neu ordnen; Walter durfte mit
seinen Bilderbüchern kommen und Erläuterungen verlangen, und Alma, die
einzige Enkelin, trug ihre Puppen herbei. In dem Hausrock Goethes,
der uns erhalten ist, steckt noch jetzt ein Puppenkopf. Der Großvater
fütterte die Enkelkinder heimlich, wenn die Schwiegertochter sie nach
der neuesten Lehre der Ärzte karg hielt. Und wenn die in der Mansarde
wohnenden Kinder zu lärmend spielten, schickte er Frankfurter Gebäck
hinauf; sie sollten um die einzelnen Stücke Lotto spielen: dabei mußten
sie stillsitzen! Goethe war einundachtzig Jahre alt, als Eckermann und
Gräfin Karoline Egloffstein einmal zusahen, wie der kleine Wolf seinem
Großvater recht viel zu schaffen machte. Er kletterte auf ihm herum
und saß bald auf der einen Schulter und bald auf der andern. Goethe
erduldete Alles mit der größten Zärtlichkeit, so unbequem das Gewicht
des zehnjährigen Knaben seinem Alter auch sein mochte. „Aber, lieber
Wolf“, sagte die Gräfin, „plage doch deinen guten Großvater nicht so
entsetzlich! er muß ja von deiner Last ganz ermüdet werden.“ -- „Das
hat gar nichts zu sagen“ erwiderte Wolf; „wir gehen bald zu Bette,
und da wird der Großvater Zeit haben, sich von dieser Fatigue ganz
vollkommen wieder auszuruhen.“ -- „Sie sehen“, nahm Goethe das Wort,
„daß die Liebe immer ein wenig impertinenter Natur ist.“


  [21] Der Gegenstand der letzten Seiten ist gründlicher behandelt in
       meinem Buche ‚Weib und Sittlichkeit in Goethes Leben und
       Denken‘. Sein Verhältnis zum Sohne und zur Schwiegertochter in
       dem Buche ‚Goethes Sohn‘.




XI.

Gesundheitspflege.


[Sidenote: Die Hypochondrie]

Mehr als heute galten zu Goethes Zeit die Angehörigen der gelehrten
Stände für unfrohe, mißlaunige Menschen; man sprach gar viel von
Hypochondern und Hypochondrie und meinte damit ein körperliches und
geistiges Leiden, bald mehr körperlich, bald mehr geistig, das eben bei
Männern, die in Studierstuben arbeiteten, sehr häufig war, etwa so wie
die Hysterie beim andern Geschlechte. Die körperliche Krankheit hatte
ihre Stätte, wie der Name sagt, unter dem Brustknorpel, und wurde als
Milzsucht bezeichnet oder anderen Teilen des Unterleibs zugeschrieben;
der Hämorrhoidarier war mit dem Hypochonder oft +eine+ Person. Im
geistigen Leben war die Hypochondrie eine in’s Krankhafte gesteigerte
Empfindung der Übel und Nöte, entweder des allgemeinen Weltelends
(Wertherstimmung, Weltschmerz) oder der besondern Verdrießlichkeiten,
die Keinem erspart bleiben, oder der eigenen sittlichen Beschaffenheit
(moralische Selbstbeobachtung, Tagebuchführen, Selbstquälerei,
Gewissensbisse, Reue, Buße) oder der eigenen Gesundheitszustände, wobei
immer neue bedenkliche Zustände des Körpers entdeckt und immer neue
Kuren versucht werden.

Goethe sprach 1815 einmal von der „deutschen Hypochondrie.“ Die
Deutschen und alle nördlichen Völker neigten im Gegensatz zu den
fröhlichen Romanen besonders zur Milzsucht oder zum ~spleen~; in
Deutschland aber ward ihr nicht, wie in England, durch eine frische
und lockere Jugenderziehung und viel Bewegung im freien Felde entgegen
gearbeitet. „Der dritte Teil der an den Schreibtisch gefesselten
Gelehrten und Staatsdiener ist körperlich anbrüchig und dem Dämon der
Hypochondrie verfallen“ klagte Goethe 1828.

Er selber war nicht frei von diesem allgemeinen Leiden. „Ich habe viel
Humor, bin aber dabei immer Hypochonder“ schreibt er 1780 an Knebel.
„Wie stehen Sie mit Ihrem hypochondrischen Freunde?“ fragte er Frau v.
Stein im nächsten Jahre. 1792 versichert er seiner Christiane, es fehle
ihm nicht das mindeste „und an Hypochondrie ist garnicht zu denken.“
Aber 1803 klagt Christiane einem ärztlichen Freunde insgeheim:

  Ich lebe wegen des Geheimrats sehr in Sorge; er ist manchmal ganz
  Hypochonder, und ich stehe viel aus; weil es aber Krankheit, so tue
  ich Alles gern.

Knebel bezeugt 1807, daß Goethe seinen Zustand „eine halbe
Hypochondrie“ nannte, und im gleichen Jahre schreibt Frau Schopenhauer
ihrem Arthur:

  Goethe ist seit einiger Zeit nicht recht wohl; er ist nicht krank,
  aber er fürchtet, krank zu werden, und schont sich ängstlich ... Er
  kommt mir zuweilen etwas hypochondrisch vor, denn seine Krankheit
  verschwindet, wenn er nur ein wenig warm in Gesellschaft wird, und
  Das geschieht so leicht.

„Ich finde höchst nötig“ schreibt Goethe selber wieder 1810, „mich von
gewissen hypochondrischen Einflüssen zu befreien.“

Wir brauchen jedoch nur an seine Lebensarbeit zu denken, so wissen
wir, daß er durch solche vorübergehenden Anfälle zwar der allgemeinen
Gelehrten- und Zeitkrankheit seinen Tribut zahlte, daß er aber
seiner Grundgesinnung nach das Gegenteil vom grämlichen, grilligen,
selbstquälerischen Hypochondristen war. „Hypochondrisch sein heißt
nichts Andres als: in’s Subjekt versinken“ sagte er selber 1814 zu
Riemer; sein ganzes Streben aber ging auf Objektivität.

Er hatte so viel mit den Dingen außer sich zu tun, daß er wenig Zeit
fand, sich selber zu beobachten, und er wußte, was bei fleißiger
Selbstbeobachtung herauskommt: daß man sich nämlich krank und bedroht
findet. Man darf den Dichter mit keinem seiner dramatischen Helden ganz
gleich stellen, aber recht nahe kommen seiner Gesinnung Egmonts Worte,
„daß Der schon tot ist, der um seiner Sicherheit willen lebt“, und
ebenso Egmonts Fragen: „Leb ich nur, um auf’s Leben zu denken? soll ich
den gegenwärtigen Augenblick nicht genießen, damit ich des folgenden
gewiß sei? und Diesen wieder mit Sorgen und Grillen verzehren?“

       *       *       *       *       *

[Sidenote: Allerlei Krankheiten]

Nun glauben noch Viele, daß Goethe sehr gesund und kräftig gewesen sei
und schon darum sich um Gesundheit nicht viel zu kümmern brauchte. Aber
er war durchaus keine robuste, sondern eine weichliche Natur; Leib und
Geist waren für schädliche Einflüsse sehr empfindlich, und so ist er
denn auch oft krank und kränklich gewesen. Er hat auch im größten Teile
seines Lebens älter ausgesehen, als er war.

[Illustration: Goethe um 1774.

Stich von +Heinrich Lips+ nach einem Gipsmedaillon von einem Schüler
Nahls.]

[Illustration: Goethe 1774.

Von +Joh. Peter Melchior+.]

[Illustration: Goethe 1779.

Von +Georg Oswald May+.]

Als Kind hatte er nicht bloß die gewöhnlichen Kinderkrankheiten,
sondern auch die schwarzen Pocken, die Spuren hinterließen. Als
achtzehnjähriger Student bekam er im Herbst 1767 einen Blutsturz und
schwebte tagelang zwischen Leben und Tod. Als er sich dann ein wenig
erholt hatte und in die Heimat zurückgekehrt war, stand er vor seinem
Vater als ein Kränkling, der noch mehr an der Seele als am Körper zu
leiden schien. Bald erkrankte er wieder so schwer, daß man im Dezember
1768 zwei Tage lang für sein Leben fürchtete. Die Frankfurter Ärzte
meinten, seine Krankheit stecke nicht sowohl in der Lunge als in den
dazu führenden Teilen, und unser Neunzehnjähriger befand sich im
Elternhause nur so gut, „als ein Mensch, der im Zweifel steht, ob er
die Lungensucht hat oder nicht, sich befinden kann.“ Mehr als ein Jahr
verging, ehe er melden konnte: „Mein Körper ist wieder hergestellt“,
und da fügte er hinzu: „aber meine Seele ist noch nicht geheilt.“ Bei
der Heimkehr von Straßburg war er körperlich gesünder; „aber in seinem
ganzen Wesen zeigte sich doch etwas Überspanntes, welches nicht völlig
auf geistige Gesundheit deutete.“ Wenn wir seine Briefe aus jener
Zeit lesen, auch noch die 1775 und 1776 an Gräfin Auguste Stolberg
gerichteten, haben wir diesen Zustand schwarz auf weiß vor uns.

[Sidenote: Kränklichkeit]

Auch in Weimar war er oft krank; er wollte Das auf das „infame Klima“
Thüringens schieben, aber wir kennen dieses Klima als sehr gesund, wenn
es auch etwas rauh ist. „Es stickt etwas in mir“ hat er manchmal zu
Charlotte v. Stein geklagt. Kräftig erscheint er auch nicht, wenn er
1781 der besorgten Mutter schreibt: „Meine Gesundheit ist weit besser,
als ich sie in vorigen Zeiten vermuten und hoffen konnte, und da sie
hinreicht, um Dasjenige, was mir aufliegt, wenigstens großenteils zu
tun, so habe ich Ursache, damit zufrieden zu sein.“ Häufig waren jetzt
sowohl die Verdauungsstörungen wie die Erkältungen. Sein Häuschen an
der Ilm bot gar zu wenig Schutz gegen das Wetter; übrigens hatte er
sein ganzes Leben darunter zu leiden, daß die Wohnhäuser und Gasthäuser
und auch die Fürstenschlösser im Winter nicht durchweg warm gehalten
wurden, so daß man oft in überheizten, oft in sehr durchkälteten Räumen
sich aufzuhalten gezwungen war.

1785 sah er ganz faltig und abgearbeitet aus; Karl August verglich ihn
mit einem ausländischen Gewächs, das, in ein rauheres Klima verpflanzt,
unter jedem bösen Wetter leide und viel Zeit brauche, sich wieder
herzustellen. 1786 suchte er wegen seiner gichtischen Zustände, die ihm
große Schmerzen in den Beinen machten, zum ersten Male das Karlsbad
auf. Von da ging er heimlich nach Italien. „Die Hauptabsicht meiner
Reise war, mich von den physisch-moralischen Übeln zu heilen, die mich
in Deutschland quälten und mich zuletzt unbrauchbar machten.“ Auch nach
der Heimkehr besuchte er regelmäßig im Sommer Bäder zu seiner Erholung;
zwölfmal war er in Karlsbad, dreimal in Marienbad, und ebenso suchte er
in Teplitz, Eger, Wiesbaden, Pyrmont, Tennstädt, Lauchstädt und Berka
Besserung. Daheim trank er ziemlich regelmäßig die heilsamen Wasser,
die von diesen Quellen versandt wurden: Pyrmonter, Egerer, Kreuzbrunnen
usw. Die Ärzte waren oft mit ihm beschäftigt. Nur diesen Kuren, Reisen
und Badezeiten schrieb er es zu, daß er arbeitsfähig blieb.

Auch in älteren Tagen ist er noch einige Male so schwer krank gewesen,
daß man alle Hoffnung aufgab oder ihn bereits tot sagte, so im Januar
1801, im März und April 1805 und im Februar 1823. Er ist viele Wochen
nicht aus dem Zimmer gekommen. Selbst wenn er nicht darniederlag,
traute man ihm gewöhnlich keine lange Lebensdauer mehr zu. Die beste
Kennerin seiner Zustände, Christiane, dachte um 1800, man müsse ihn
seine letzten Jahre noch recht pflegen und schonen. „Goethe ist schon
wieder krank gewesen“ meldete im März 1806 ihr Bruder Vulpius einem
Hausfreunde; „monatlich kommt sein Übel zurück und macht ihn sehr
mürbe; es sind böse Hämorrhoidalzufälle.“ Und der mißgünstige Friedrich
Schlegel sagte 1803 „kalt-grinsend“ zu Öhlenschläger: „Der alte Kerl
hat faule Nieren und wird’s nicht lange mehr machen.“

[Sidenote: Empfindlichkeit]

Zu diesen Krankheiten kam bei ihm eine beständige geistige und
leibliche überfeine Empfindlichkeit. Das Wort „sinnlich“ hat er viel
gebraucht, weil er selber in der eigentlichen Bedeutung des Wortes
sehr sinnlich war; d. h. seine Sinne waren alle feinfühlend, kräftig
auf Reize wiederwirkend. Das ist ein physischer Grund seiner genialen
poetischen Leistungen; es war ihm aber im Leben oft recht unbequem.
Eckermann drückte am 20. Dezember 1829 seine Verwunderung aus, daß man
bei ausgezeichneten Talenten, besonders bei Poeten, so häufig eine
schwächliche Konstitution finde; Goethe erwiderte:

  Das Außerordentliche, was solche Menschen leisten, setzt eine sehr
  zarte Organisation voraus, damit sie seltener Empfindungen fähig
  sein und die Stimme der Himmlischen vernehmen mögen. Nun ist eine
  solche Organisation im Konflikt mit der Welt und den Elementen
  leicht gestört und verletzt, und wer nicht, wie Voltaire, mit großer
  Sensibilität eine außerordentliche Zähigkeit verbindet, ist leicht
  einer fortgesetzten Kränklichkeit unterworfen.

Vor allem brauchte er Licht und Wärme; den Winter haßte er.
Den Dezember und Januar nannte der junge Voß 1804 „Goethes
Faullenzermonate“: „Er kränkelt da fast jedes Jahr, ohne eben krank
zu sein.“ Und 1813, Ende Oktober, just nach der Schlacht bei Leipzig,
schrieb die Gräfin O’Donell aus Wien an ihren weimarischen Freund, er
solle nun schon anfangen, sich in Baumwolle einzuwickeln. Goethe selber
fand die stärksten Ausdrücke für seinen Abscheu gegen die kurzen,
dunkeln Tage, die niederhängenden Wolken und das Schlackerwetter.
Im Dezember 1803, nach Herders Tode, erklärte er, er begreife recht
gut, daß Heinrich III. von Frankreich den Herzog von Guise erschießen
ließ, bloß weil es fatales Wetter war, und er beneide Herdern, weil
er jetzt begraben werde. Der 21. Dezember war ihm ein Festtag, an dem
er ausrief: „Heute feiern wir die Wiedergeburt der Sonne!“ Italien
liebte er wegen seiner Fülle des Lichts und seiner warmen Luft; es war
ihm, als ob er hier geboren und aufgewachsen wäre „und nun von einer
Grönlandsfahrt, von einem Walfischfange zurückkäme.“ Nur mit Schaudern
dachte er an die norddeutsche Heimat mit ihren grauen, tiefen Wolken
und naßkalten Winden, die uns immer wieder in die Stube zwingen.

In seinen letzten Lebensjahren konnte er zwar recht lange in
geschlossener und überheizter Zimmerluft aushalten, aber sonst gehörte
+reine+ Luft zu den Bedingungen seines Wohlbefindens. Schiller mußte
faule Äpfel in der Schublade seines Arbeitstisches haben; Goethe bekam
sogleich eine Übelkeit, als er an diesem Tische saß, ohne dessen
eigentümlichen Inhalt zu ahnen. „Eine Luft, die Schillern wohltätig
war, wirkte auf mich wie Gift.“ Schiller, Karl August, Knebel und fast
alle andern Freunde rauchten; Goethe litt sogleich, wenn er in einem
Zimmer sein mußte, wo Tabak und Pfeifen dünsteten. Seine Christiane
stellte einmal als sparsame Hausmutter Schweine in einen Stall: sie
mußten abgeschafft werden, sobald Goethe den Geruch merkte. Sein
Geschmackssinn war ebenso fein, wie sein Geruch. Vom Tee sagte er,
daß er wie Gift auf ihn wirke, und ebenso nahm er sich vor dem Kaffee
in acht und warnte Andere davor. Knoblauch übte nach seinem eigenen
Ausdruck „selbst in der geringsten Dosis höchst gewaltsame Wirkungen“
auf ihn aus. Auch viele Sorten Wein konnte er nicht vertragen oder er
lehnte sie von vornherein als Gift ab. Ähnlich ging es ihm mit dem
Biere. ~Dr.~ Vogel, sein letzter Arzt, hat uns berichtet, daß er ebenso
gegen Medizin ungewöhnlich empfänglich und empfindlich war, so daß ihm
schwächere Dosen verschrieben werden mußten, als sonst üblich waren.

Namentlich aber richtete sich sein Befinden auch nach dem Barometer;
bei hohem Barometerstande fühlte er sich am wohlsten; stand es niedrig,
so war ihm sehr schwer, anders als mißmutig und untätig zu sein.
Körperliche Schmerzen griffen ihn sehr an; er fürchtete sie, während er
den Tod gar nicht fürchtete. Gar nicht leiden konnte er es, wenn die
Leute nach seinem Befinden fragten oder etwa sagten, er sähe wohler
aus als das letztemal; er mochte über seine Gesundheitszustände nicht
sprechen, außer zum Arzt.

       *       *       *       *       *

Trotz alledem waren sowohl die leiblichen wie die geistigen
+Leistungen+ Goethes bis in’s höchste Alter hinein bewunderungswürdige.
Seinen Schwächen müssen also größere Kräfte gegenübergestanden haben;
seine Lebensweise muß im Ganzen gut gewesen sein, zumal da er mit den
Jahren eher gesünder als kränklicher wurde.

Von Haus aus besaß er zwei große Hülfen zur Gesundheit und Arbeit:
einen vortrefflichen Appetit und einen guten Schlaf. Was den Schlaf
angeht, so machte es ihm nicht viel aus, ob er dabei lag oder saß,
angekleidet oder ausgezogen, im eigenen Bett oder anderwärts war.
Auch eine Fülle von Blutleben trug zu seiner Gesundheit viel bei;
noch im Alter schienen dem Arzte Aderlässe notwendig; Hufeland, der
zehn Jahre lang sein Arzt war, bezeichnete die Produktivität als den
Grundcharakter auch seines körperlichen Lebens.

       *       *       *       *       *

[Sidenote: Wertung der Gesundheit]

Aber auch seine gesundheitlichen Ansichten und Gewohnheiten waren
trotz aller Sorglosigkeit besser, als man für jene Zeit voraussetzen
darf. Zuerst +wertete+ er die Gesundheit und Strapazentüchtigkeit
höher als andere Geistesarbeiter um ihn herum. Schon als Student
wußte er, daß man den Körper um der Seele willen pflegen muß. Als ein
junger Freund ihm seine Not klagte und über Heiraten und andere Dinge
beraten sein wollte, antwortete Goethe mit der Frage: „Wie steht’s
mit Ihrer Gesundheit?“ und fuhr fort: „Ich bitte Sie: sorgen Sie doch
für diesen Leib mit anhaltender Treue! Die Seele muß nun einmal durch
diese Augen sehen, und wenn sie trüb sind, so ist’s in der ganzen Welt
Regenwetter.“ Der Einundzwanzigjährige sprach das schon aus eigener
Erfahrung: „Es war eine Zeit, da mir die Welt so voll Dornen schien,
als Ihnen jetzo. Der Himmelsarzt hat das Feuer des Lebens wieder in mir
gestärkt, und Mut und Freude sind wieder da.“[22] Wieland entschuldigte
seine dürren Beine mit dem Scherze, er sei noch aus der Zeit, wo die
Genies ihre Kraft im Kopfe hatten; Goethe verlangte auch von Gelehrten
und Beamten brauchbare Gliedmaßen und einen gesunden Körper. Daß
Schiller so oft aussah, als würde er keine vierzehn Tage mehr leben,
und daß er nicht das Rechte gegen seine Kränklichkeit tat, bedrückte
ihn oft. Da lobte er sich Napoleon, der „vom brennenden Sande der
syrischen Wüste bis zu den Schneefeldern von Moskau eine Unsumme von
Märschen, Schlachten und Biwaks ertrug, der bei wenig Schlaf und wenig
Nahrung sich der höchsten geistigen Tätigkeit hingab: wenn man bedenkt,
was +Der+ alles durchgemacht und ausgestanden!“ „Es gab zwar eine Zeit,
wo man in Deutschland sich ein Genie als klein, schwach, wohl gar
bucklig[23] dachte, allein ich lobe mir ein Genie, das den gehörigen
Körper hat.“

[Sidenote: Der Wille zur Gesundheit]

Goethe hatte namentlich einen kräftigen +Willen+ zur Gesundheit, und er
selber schrieb diesem Willen große Wirkungen zu. „Es ist unglaublich,“
sagte er einmal, „wieviel der Geist zur Erhaltung des Körpers vermag.“

  Ich leide oft an Beschwerden des Unterleibes, allein der geistige
  Wille und die Kräfte des oberen Teiles halten mich im Gange. Der
  Geist muß nur dem Körper nicht nachgeben! So arbeite ich bei hohem
  Barometerstande leichter als bei tiefem; da ich nun Dieses weiß,
  so suche ich bei tiefem Barometer durch größere Anstrengungen die
  nachteiligen Wirkungen aufzuheben, und es gelingt mir.

Ein andermal rühmte er an seinem Helden Napoleon, daß er die
Pestkranken besucht habe, um ein Beispiel zu geben, daß man die Pest
überwinden könne.

  Und er hat recht! Ich kann aus meinem eigenen Leben ein Faktum
  erzählen, wie ich bei einem Faulfieber der Ansteckung unvermeidlich
  ausgesetzt war und wo ich bloß durch einen entschiedenen Willen die
  Krankheit von mir abwehrte. Es ist unglaublich, was in solchen
  Fällen der moralische Wille vermag. Er durchdringt gleichsam den
  Körper und setzt ihn in einen aktiven Zustand, der alle schädlichen
  Einflüsse zurückschlägt. Die Furcht dagegen ist ein Zustand träger
  Schwäche und Empfänglichkeit, wo es jedem Feinde leicht wird, von uns
  Besitz zu nehmen.

Als Sachsen-Weimar zum Großherzogtum erhoben war und die Huldigung des
nunmehrigen Großherzogs bevorstand, war Goethe bettlägerig. Es schien
unmöglich, daß er an jenem Palmsonntag 1816 an seinem Platze sein
könne, aber Napoleons Ausspruch kam ihm in’s Gedächtnis: „~L’empereur
ne connaît autre maladie que la mort~“, und er ließ an Hof sagen, wenn
er nicht tot wäre, könne man auf ihn rechnen. Die Natur schien sich
diesen tyrannischen Spruch zu Gemüte zu ziehen: er stand zur rechten
Zeit an seinem Platze, rechts zunächst am Throne; er konnte auch noch
bei Tafel allen Schuldigkeiten genug tun; dann zog er sich zurück,
legte sich wieder in’s Bett und wartete auf einen neuen kategorischen
Imperativ, der krank zu sein nicht gestattete.

Ein andermal schrieb Goethe einem starken Geiste sogar die Kraft zu,
den Körper zu einer zweiten Jugend zu zwingen. Er sprach am 11. März
1828 mit Eckermann über einige bekannte alte Herren, denen im hohen
Alter die nötige Willenskraft und jugendliche Beweglichkeit im Betriebe
der bedeutendsten und mannigfaltigsten Geschäfte nicht zu fehlen
schienen.

  Solche Männer sind geniale Naturen, mit denen es eine eigene
  Bewandtnis hat; sie erleben eine +wiederholte Pubertät+, während
  andere Leute nur einmal jung sind. Jede Entelechie[24] nämlich ist
  ein Stück Ewigkeit, und die paar Jahre, die sie mit dem irdischen
  Körper verbunden ist, machen sie nicht alt. Ist diese Entelechie
  geringer Art, so wird sie während ihrer körperlichen Verdüsterung
  wenig Herrschaft ausüben; vielmehr wird der Körper vorherrschen, und
  wie er altert, wird sie ihn nicht halten und hindern. Ist aber die
  Entelechie mächtiger Art, wie es bei allen genialen Naturen der Fall
  ist, so wird sie bei ihrer belebenden Durchdringung des Körpers nicht
  allein auf dessen Organisation kräftigend und veredelnd einwirken,
  sondern sie wird auch bei ihrer geistigen Übermacht ihr Vorrecht
  einer ewigen Jugend fortwährend geltend zu machen suchen. Daher
  kommt es denn, daß wir bei vorzüglich begabten Menschen auch während
  ihres Alters immer noch frische Epochen besonderer Produktivität
  wahrnehmen; es scheint bei ihnen immer einmal wieder eine temporäre
  Verjüngung einzutreten.

Eine andere Art, wie der Geist auf den Körper einwirkt, berühren wir
mit den Worten Leidenschaft und Ruhe, Lebenslust und Verbitterung.
Goethe kannte Weltschmerz und Leidenschaftlichkeit an sich selber nur
zu gut, aber gegen beide kämpfte er beständig an. Als 1830 Karl Augusts
Witwe gestorben war, deren stets sich gleich bleibendes Wesen er oft
lobte, kam er gegen Eckermann und Soret auf die berühmte Ninon de
l’Enclos zu sprechen und pries ihren Gleichmut und ihre Lebenslust ohne
verzehrende Leidenschaftlichkeit; bekanntlich blieb jene Ninon bis in
ihr achtzigstes Jahr so jugendlich schön, daß sie Liebhaber anzog und
beglückte.

       *       *       *       *       *

[Sidenote: Verweichlichung im Elternhause]

Goethes Dienst an seiner Gesundheit ging also namentlich aus der von
ihm gewollten Herrschaft des Geistes über den Körper hervor; zu diesem
Dienst gehörten namentlich: Frühaufstehen, Bewegung und Abhärtung.

Im Hause des Kaiserlichen Rats Goethe wurden die Kinder verweichlicht;
ihr Vater dachte fast nur an die geistige und gelehrte Erziehung.
Kornelia Goethe verpimpelte, so daß sie als junge Frau vor jedem Winde
oder Regen sich ängstlich im Hause hielt und auch bei der Arbeit nie
kräftig zuzugreifen wagte. Auch ihr Bruder Wolfgang wurde vor dem
abhärtenden Leben der Knaben, das sich auf den Straßen abspielt,
behütet und war nie Das, was man unter einem richtigen Jungen versteht.
Er wandelte also mit sechzehn Jahren als ein zarter Gelehrter herum.
Dann als Student begann er mit der Abhärtung, und zwar unter dem
Einfluß Rousseaus und mit arger Übertreibung. Daher rührte zum Teil
seine Leipziger Krankheit; kalt Baden, hartes, schlecht bedecktes Lager
nennt er selber unter den unvernünftig angewendeten Mitteln, der Natur
nahe zu kommen.

In Straßburg fühlte er sich nach den langen Krankheitswochen, die
er im Vaterhause eben ertragen hatte, als ein Genesender; aber eine
zurückgebliebene übermäßige seelische Reizbarkeit brachte ihn oft aus
dem Gleichgewicht.

  Ein starker Schall war mir zuwider; krankhafte Gegenstände erregten
  mir Ekel und Abscheu; besonders aber ängstigte mich ein Schwindel,
  der mich jedesmal befiel, wenn ich von einer Höhe herunterblickte.
  Allen diesen Mängeln suchte ich abzuhelfen, und zwar, weil ich keine
  Zeit verlieren wollte, auf eine etwas heftige Weise. Abends beim
  Zapfenstreich ging ich neben der Menge Trommeln her, deren gewaltsame
  Wirbel und Schläge das Herz im Busen hätte zersprengen mögen. Ich
  erstieg ganz allein den höchsten Gipfel des Münsterturms und saß
  in dem sogenannten Hals, unter dem Knopf oder der Krone, wie man’s
  nennt, wohl eine Viertelstunde lang, bis ich es wagte, wieder heraus
  in die freie Luft zu treten, wo man auf einer Platte, die kaum eine
  Elle ins Gevierte haben wird, ohne sich sonderlich anhalten zu
  können, stehend das unendliche Land vor sich sieht, indessen die
  nächsten Umgebungen und Zieraten die Kirche und Alles, worauf und
  worüber man steht, verbergen. Es ist völlig, als wenn man sich auf
  einer Montgolfière in die Luft erhoben sähe. Dergleichen Angst und
  Qual wiederholte ich so oft, bis der Eindruck mir ganz gleichgültig
  ward, und ich habe nachher bei Bergreisen und geologischen Studien,
  bei großen Bauten, wo ich mit den Zimmerleuten um die Wette über die
  freiliegenden Balken und über die Gesimse des Gebäudes herlief, ja
  in Rom, wo man eben dergleichen Wagstücke ausüben muß, um bedeutende
  Kunstwerke näher zu sehen, von jenen Vorübungen großen Vorteil
  gezogen. Die Anatomie war mir auch deshalb doppelt wert, weil sie
  mich den widerwärtigsten Anblick ertragen lehrte, indem sie meine
  Wißbegierde befriedigte. Und so besuchte ich auch das Klinikum des
  ältern ~Dr.~ Ehrmann, sowie die Lektionen der Entbindungskunst seines
  Sohnes in der doppelten Absicht, alle Zustände kennen zu lernen und
  mich von aller Apprehension gegen widerwärtige Dinge zu befreien. Ich
  habe es auch wirklich darin so weit gebracht, daß Nichts dergleichen
  mich jemals aus der Fassung setzen konnte. Aber nicht allein gegen
  diese sinnlichen Eindrücke, sondern auch gegen die Anfechtungen
  der Einbildungskraft suchte ich mich zu stählen. Die ahnungs- und
  schauervollen Eindrücke der Finsternis, der Kirchhöfe, einsamer
  Örter, nächtlicher Kirchen und Kapellen, und was hiermit verwandt
  sein mag, wußte ich mir ebenfalls gleichgültig zu machen; und auch
  darin brachte ich es so weit, daß mir Tag und Nacht und jedes Lokal
  völlig gleich war.

[Sidenote: Schulung des Körpers]

In körperlichen Übungen war Goethe mit zwanzig Jahren noch sehr
zurückgeblieben, schon weil er das Landleben nicht kennen gelernt
hatte. Er konnte nicht schwimmen oder rudern oder ein Boot lenken,
auch nicht Schlittschuh laufen. Wir wissen von keiner erheblichen
Fußwanderung in seinen drei Leipziger Jahren und nur von einer
einzigen kleinen Reise. Ehe er zur Universität gesandt wurde, hat er
ein wenig Fechten und ein wenig Reiten gelernt. In Leipzig machte er
ein paar Male den Sonntagsreiter. In Straßburg dagegen fing er an,
größere Reisen zu Pferde zu machen. Und jetzt schaute er sich auch
wirklich in dem Lande um, wohin ihn das Schicksal gesetzt hatte. „Die
Straßburger sind leidenschaftliche Spaziergänger“ erzählt Goethe in
seinen Erinnerungen; jedenfalls betrieb er selber jetzt das Spazieren,
Herumstreifen und weite Wandern in viel höherem Maße als zuvor. Und
Das setzte er fort, als er nach Abschluß seiner Studien wieder in der
Vaterstadt lebte, jetzt als Rechtsanwalt und Dichter. Die Freunde in
Darmstadt und im Rheingau nannten ihn geradezu den Wanderer, weil er in
großen Fußmärschen die weitere Umgebung der Vaterstadt durchforschte
und seine Geistesverwandten aufsuchte. Nach dem Wetter fragte er
wenig; für den Straßenkot fand er die gelehrte Formel „Deukalions
Flutschlamm“, und noch freundlicher klingt die andre Umschreibung:

    Das ist Wasser, Das ist Erde
    Und der Sohn des Wassers und der Erde,
    Über den ich wandle
    Göttergleich!

Dies ganze Gedicht ‚Wanderers Sturmlied‘ ist ein Gesang der Abhärtung:

    Wen du nicht verlässest, Genius,
    Nicht der Regen, nicht der Sturm
    Haucht ihm Schauer über’s Herz.
    Wen du nicht verlässest, Genius,
    Wird dem Regengewölk,
    Wird dem Schlossensturm
    Entgegen singen,
    Wie die Lerche,
    Du da droben.

Jetzt lernte er auch, ein Schifflein auf dem Flusse zu lenken, und
namentlich wurde er ein sehr eifriger Schlittschuhläufer. Dabei spielte
Klopstocks Begeisterung für dies gesundeste Vergnügen mit. Dieser
angesehenste Dichter der damaligen Zeit ermahnte alle seine Freunde
unter den deutschen Gelehrten und Schriftstellern zu einem frischeren
Leben in freier Natur und pries ihnen unermüdlich das Baden und
Schwimmen, Reiten und Eislaufen an: Dinge, die damals eigentlich gegen
die Würde eines gelehrten Mannes gingen.

In Weimar traf Goethe auf einen achtzehnjährigen Fürsten, dessen
Leidenschaft das Leben im Freien, das Reisen, Jagen und Hetzen war, der
sich in weiten Bergwäldern hundertmal wohler fühlte als in prächtigen
Zimmern und der als ein von Geburt Schwächlicher und Kränklicher nur
durch Abhärtung und Wagemut ein +lebenswertes+ Leben gewinnen konnte.
Goethe war bereits ruhiger und reifer, aber die gleiche Gesinnung, das
gleiche Verlangen trug auch er in der Brust -- die Egmont-Gesinnung
-- und so stärkten sich der Fürst und sein neuer Freund aneinander.
Man kannte in Weimar das Schlittschuhlaufen noch nicht; Goethe und der
Husaren-Rittmeister Friedrich v. Lichtenberg führten es jetzt ein,
unterrichteten darin, und nun verbrachte Goethe viele Winterstunden
unter den Eisläufern und Schlittenfahrern. Viel wichtiger aber war, daß
ihn draußen im Ilmtal ein zum Verkauf ausgebotener Berggarten, in dem
auch ein altes Häuschen stand, anlockte; er kaufte dies verwahrloste
Besitztum, richtete es als seine Wohnung ein und hatte noch lange Zeit
daran zu verbessern; z. B. baute er an der Südseite einen Altan vor
seine Wohnzimmer. So ward er immer wieder veranlaßt, auch wenn ihn der
eigene Wunsch nicht antrieb, sich im Freien zu bewegen.

[Sidenote: Abhärtung]

Er vertraute sich aber auch sonst wie ein Sohn der Mutter Natur
an, lebte so viel, als irgend möglich, im Freien und betrieb so
viele körperliche Übungen, wie irgend die Zeit erlaubte. In seinem
achtundzwanzigsten Jahre erstieg er die Höhe seiner leiblichen Kraft
und Gewandtheit. Sein Körper war sehr mager und sehr sehnig; die
beständige Übung machte ihn immer geschmeidiger und ausdauernder. Am
23. April 1777 schrieb er als einzige Eintragung in sein Tagebuch:
„Körperliche Übungen allerlei Art“, aber das ganze Jahr betrieb er
solche körperlichen Übungen fleißig. Das Tanzen, Reiten, Wandern,
Fischen, Jagen, Scheibenschießen, Baden, Eislaufen, Schlittenfahren,
Fechten, Kegeln, sie wechselten nach der Jahreszeit miteinander ab.
Beim Kegeln ist an das Wurfspiel nach der ~Trou-Madame~ zu denken, die
im ‚Stern‘ stand. Das Wandern war zumeist ein vergnügtes Herumstreifen
mit Anderen, zuweilen ein einsames, scharfes Marschieren zu bestimmtem
Ziele; z. B. ging er an einem Juli-Abend von halb Sechs bis halb Zehn
nach Kochberg. Im Reiten brachte er es zu viel besseren Leistungen als
früher: von Leipzig bis Weimar ritt er von früh halb Sieben bis mittags
um Drei; von Eisenach bis Weimar von früh Fünf bis halb Zwölf, obwohl
er eine starke Stunde in Erfurt beim Statthalter saß; von Kochberg bis
Weimar in zwei Stunden fünf Minuten. Das machten ihm bei dem damaligen
Zustande der Straßen nicht Viele nach! Auch junge Pferde zuzureiten,
betrieb er als Vergnügen. Am 15. Mai begann er das Schwimmen zu
erlernen, zunächst mit einem Schwimmwams und nur im Floßgraben.

Im Winter war der Eislauf schon ein allgemeines Vergnügen der
Hofgesellschaft geworden. Auch die Herzogin zeigte sich als eine
geschickte Schlittschuhläuferin; sonst ließen sich die Damen meist
in Stuhlschlitten von den Kavalieren herumfahren. Der Herzog liebte
es, auf dem Eise mit einigen Freunden fröhliche Tafel zu halten, und
zuweilen wurde die Lust abends bei Fackeln, Laternen und Feuerwerk
fortgesetzt, und die Musikanten spielten auf zum Fackeltanz. Unfälle
erhöhten manchmal die Aufregung; Goethe selber brach am 17. Januar
ein, kümmerte sich aber nicht um Schreck und nasse Kleider, ging
abends auf die Redoute, am andern Morgen wieder auf’s Eis, aß dort
mit dem Hofe, tollte weiter herum, bis er abends an der Tafel der
Herzogin-Mutter plötzlich ohnmächtig hinsank. Die nächsten Tage aber
war er wieder auf dem Eise. Wieland, der an den schönsten Sommerabenden
den Mantel nicht zu Hause ließ, schalt auf solche gewaltsamen
Abhärtungsversuche:

  Goethe leidet zeither immer an Zahnschmerz comme un damné,

schrieb er im Oktober an Merck:

  aber er macht’s auch danach mordiable. „Man muß die bestialische
  Natur brutalisieren“ pflegte der alte Mordiable v. Bassenheim zu
  Mainz zu sagen; Goethe und der Herzog sind auch von diesem Glauben,
  aber sie befinden sich meist so übel dabei, daß ich keine Versuchung
  kriege, ihr Proselyt zu werden.

[Sidenote: Erstarkung]

Ein neues Mittel der Abhärtung und der gewollten Verbindung mit der
Natur war für Goethe der neue Altan: hier konnte er im Freien schlafen.
Am 2. Mai war abends ein herrliches Gewitter, das den ganzen südlichen
Himmel überleuchtete. Goethe sah vom Altan aus zu, obwohl die Frösche
von der Ilm aus gar schrill den kommenden Regen ihm in die Ohren
verkündeten. Schließlich wurde er müde, wickelte sich in seinen blauen
Mantel, suchte sich ein Fleckchen, das der Regen nicht erreichen
konnte, und schlummerte bei Blitz, Donner und Regen ein. Als er später
das noch nicht abgekühlte Schlafzimmer aufsuchte, war’s ihm fatal in
der Schwüle, und von nun an schlief er öfters entweder im Altanstübchen
bei geöffneter Türe oder auf dem Altan selbst; einen Strohsack hatte er
unter, seinen Mantel über sich. Und es war ihm die größte Augenlust,
wenn er in der Nacht aufwachte und ein neues Stück Sternhimmel über ihm
strahlte, oder wenn sich die erste Morgenhelle mit dem Mondschein zu
einem seltsamen fahlen Lichte vermischte.[25]

[Sidenote: Körperliche Tüchtigkeit]

Manche Bemerkungen in Goethes Tagebüchern und Briefen zeigen uns, wie
bewußt er solche körperlichen Übungen trieb. Kein Wunder also, daß er
im Marschieren und Reiten bald Erstaunliches leistete! Einmal ritt er
mit Karl August in acht Stunden von Leipzig nach Weimar, was bei dem
damaligen Zustande der Straßen eine große Leistung war. Als es am
3. Mai 1776 in Ilmenau brannte, ritt Goethe hinauf, und am nächsten
Tage schrieb er seinem Fürsten: „Ich bin keine sechs Stunden geritten,
also wie sich’s gehört. Des Husars Pferd wollte nicht mehr fort gegen
das Ende, und hinter Büchenloh auch meins nicht mehr.“ In der ersten
weimarischen Zeit wurden alle Reisen zu Pferde gemacht; zumeist
war der Herzog sein Gefährte, und Dieser liebte die allerschärfste
Gangart. Am deutlichsten bewies Goethe Abhärtung und Wagemut durch
seine Winterreisen in die Gebirge, die zu besuchen damals auch im
Sommer gar nicht üblich war. Ende November 1777 ritt er von Weimar
über den Ettersberg dem Harze zu, den er noch nicht kannte. Mitten
im Schloßenwetter überkommt ihn reine Ruhe der Seele. Kein Unwetter,
kein böser Weg, kein schlechtes Quartier schreckt ihn zurück. Am 10.
Dezember bestieg er den Brocken, damals ein Heldenstück, das Jedermann,
selbst der Förster im Torfhause, namentlich des dichten Nebels wegen,
für unmöglich erklärte. Noch mehr wagte er 1779 in der Schweiz, als er
im November mit Karl August in das Gebiet des Montblanc, der Furca und
des Gotthard eindrang. Die Genfer Sofamenschen waren arg entrüstet,
als sie von solchem Gott versuchenden Vorhaben hörten. Im Spätjahr
1792, bei der törichten Kampagne der deutschen Fürsten gegen die
französischen Revolutionäre, bewies Goethe seine Strapazentüchtigkeit
noch einmal mit bestem Humor. „Das Wetter war furchtbarer als je“
erzählt er selber,

  die Unbequemlichkeit, ja das Unheil stiegen auf’s höchste; die
  Zelte durchnäßt, sonst kein Schirm, kein Obdach ... Konnte man sich
  auch unter einem Zelte bergen, so war doch an keine Ruhestelle zu
  denken. Wie sehnte man sich nicht nach Stroh, ja nach irgend einem
  Brettstück, und zuletzt blieb doch nichts übrig, als sich auf den
  kalten, feuchten Boden niederzulegen! Nun hatte ich aber schon in
  vorigen gleichen Fällen mir ein praktisches Hülfsmittel ersonnen,
  wie solche Not zu überdauern sei: ich stand nämlich so lange auf
  den Füßen, bis die Knie zusammenbrachen; dann setzte ich mich auf
  einen Feldstuhl, wo ich hartnäckig verweilte, bis ich niederzusinken
  glaubte, da denn jede Stelle, wo man sich horizontal ausstrecken
  konnte, höchst willkommen war. Wie also Hunger das beste Gewürz
  bleibt, so wird Müdigkeit der herrlichste Schlaftrunk sein.

Wie die Herberge, so war damals auch die Nahrung oft die mangelhafteste.

  Mitten im Regen ermangelten wir sogar des Wassers, und einige Teiche
  waren schon durch eingesunkene Pferde verunreinigt ... Ich wußte
  nicht, was es heißen sollte, als ich meinen treuen Zögling, Diener
  und Gefährten von dem Leder des Reisewagens das zusammengeflossene
  Regenwasser sehr emsig schöpfen sah; er bekannte, daß es zur
  Schokolade bestimmt sei, davon er glücklicherweise einen Vorrat
  mitgebracht hatte. Ja, was mehr ist, ich habe aus den Fußtapfen der
  Pferde schöpfen sehen, um einen unerträglichen Durst zu stillen.

Als es noch schlimmer kam, als er nur auf einem Krankenwagen vorwärts
kommen konnte, half wieder die Macht des Gemütes.

  Zwischen ansteckende Kranke gepackt, wußte ich von keiner
  Apprehension. Der Mensch, wenn er sich getreu bleibt, findet zu jedem
  Zustande eine heilsame Maxime. Mir stellte sich, sobald die Gefahr
  groß ward, der blindeste Fatalismus zur Hand, und ich habe bemerkt,
  daß Menschen, die ein durchaus gefährliches Metier treiben, sich
  durch denselben Glauben gestählt und gestärkt fühlen.

[Sidenote: Strapazen]

Es kamen dann Jahre, wo er es sich bequemer machte; er brauchte dann
Anlässe und Verführungen, ehe er seine Zimmer verließ. So bewegte
er sich in alten Tagen wenig um der Bewegung willen, aber da das
Aufsuchen von seltenen Gesteinen, die Vermehrung seines geologischen
und mineralogischen Wissens ihm die größte Freude war, so kam er auch
als Greis noch oft zu Fußwanderungen, zum Bergsteigen, zum Klettern,
zum Beklopfen und Abschlagen der Steine in künstlichen Stellungen.
Was manchem Andern die Jagd ist, eine Gelegenheit zur Erheiterung,
Erfrischung, Anstrengung und Abhärtung, war ihm das Steinsuchen.

Bis in’s hohe Alter hinein zeigte er sich +gelegentlich+ wetterhart
und bewegungslustig. Noch mit vierundsechzig Jahren erwähnt er in
einem Briefe an Christiane, daß er am Tage vorher sechs Stunden
zu Pferde gewesen und daß es ihm gut bekommen sei. Noch als
Achtundsiebzigjähriger setzte er sich Ende September an der Straße
nach Berka zum Frühstück auf die Ecke eines Steinhaufens, der vom
Frühtau noch feucht war. Das mache ihm nichts, antwortete er ruhig
dem besorgten Eckermann. Und immer wieder nahm er sich auch in seinen
letzten Jahren vor, recht viel im Freien zu sein. Sie wollten jede
Woche einen Tag zu einem großen Ausfluge anwenden, meinte er zu dem
eben genannten Begleiter, und als er einige Tage später mit ihm an
der Hottelstedter Ecke des Ettersberges stand, die wegen ihrer weiten
Aussicht von Weimar und Erfurt aus gern aufgesucht wird, meinte er:

  Wir wollen künftig öfter hierher kommen. Man verschrumpft in dem
  engen Hauswesen. Hier fühlt man sich groß und frei wie die Natur, die
  man vor Augen hat, und wie man eigentlich immer sein sollte.

[Sidenote: In alten Tagen]

Im Greisenalter fuhr er gewöhnlich spazieren, aber so lange es ging,
schritt er weite Wege zu Fuß, immer ohne Stock. Beim Gehen durch die
Felder schlenderte er die beiden Hände fast überzwerch und berief sich
dafür auf die Tiere, die ja auch die Vorderfüße überzwerch setzten.

An seinem Geburtstage 1831, als er zweiundachtzig Jahre vollendete,
sehen wir ihn zum letzten Male als den „Wanderer.“ Es hatte ihn
noch einmal nach Ilmenau gezogen. Am frühen Morgen fuhr er mit dem
Berginspektor Mahr über Gabelbach auf den Gickelhahn. Auf dem
Rondell erquickte er sich an der weiten Aussicht und gedachte der
Gefährten, die einst mit ihm hier gestanden. „Dann“, so erzählte
nachher sein Begleiter, „schritt er rüstig durch die auf der Kuppe
des Berges ziemlich hochstehenden Heidelbeersträucher hindurch bis zu
dem wohlbekannten zweistöckigen Jagdhause, welches aus Zimmerholz und
Bretterbeschlag besteht. Eine steile Treppe führt in den oberen Teil;
ich erbot mich, ihn zu führen, er aber lehnte es mit jugendlicher
Munterkeit ab.“

Was er suchte, war das am 6. September 1780 von ihm auf die südliche
Innenwand des Jagdhäuschens geschriebene Gedicht: Über allen Wipfeln
ist Ruh. „Er überlas die wenigen Verse, und Tränen flossen über seine
Wangen. Ganz langsam zog er sein schneeweißes Taschentuch aus seinem
dunkelbraunen Tuchrock, trocknete sich die Tränen und sprach in
sanftem, wehmütigem Ton: »Ja, warte nur, balde ruhest du auch!«“

       *       *       *       *       *

Er war zeitlebens ein Freund des frühen Morgens, in großem Gegensatz
zu Schiller; bei der Lampe hat er selten gearbeitet; in der Regel ward
seine Arbeit an dem recht langen Vormittage getan. Mit gutem Grunde
lauten die ersten Verse in seinen gesammelten Gedichten:

    Der Morgen kam: es scheuchten seine Tritte
    Den leisen Schlaf, der mich gelind umfing,
    Daß ich, erwacht, aus meiner stillen Hütte
    Den Berg hinauf mit frischer Seele ging ...

Im Alter begann er den frühen Tag allerdings im Arbeitszimmer, aber in
jungen Jahren holte er sich manches Mal zuerst einen Trunk Morgenluft
aus der freien Natur:

    In der Dämmerung des Morgens den höchsten Gipfel erklimmen.
    Frühe den Boten des Tages grüßen, dich, freundlicher Stern,
    Ungeduldig die Blicke der Himmelsfürstin erwarten --
    Wonne des Jünglings, wie oft locktest du nachts mich heraus![26]

[Sidenote: Stehen und gehen]

Daß er sich sehr gerade hielt, ist schon gesagt; die Schultern zog er
straff zurück; oft empfahl er seine frühzeitig angenommene Gewohnheit,
die Hände hinter dem Rücken zu vereinigen. Riemer berichtet, August
Goethe habe nach Lehre und Vorbild des Vaters eine solche Haltung und
Ausbildung des Körpers und besonders eine solche Breite und Ausbildung
der Brust gewonnen, daß er den antiken Musterbildern eines Antonius
oder Meleager gleich erschien und daß seine sonore Stimme den größten
gefüllten Raum leicht durchdringen konnte.

Es hat kaum einen Geistesarbeiter gegeben, der so wenig +gesessen+ hat
wie Goethe. Selbst im Zimmer saß er sehr wenig. Auch wenn er Gäste
hatte, wußte er es einzurichten, daß sie bald in’s Stehen und Gehen
kamen; er ging mit ihnen im Garten auf und ab oder stand mit ihnen in
einer Fensternische oder im Zimmer vor seinen Kunstschätzen. Und ebenso
brachte er seine poetischen und wissenschaftlichen Arbeiten, seinen
Briefwechsel usw. im Stehen und Gehen fertig, da ihm das Diktieren so
sehr zur Natur geworden war wie uns Andern das Schreiben. Schon 1780
bemerkte er: „Was ich Guts finde an Überlegungen, Gedanken, ja sogar
Ausdruck, kommt mir meist im Gehn; sitzend bin ich zu nichts aufgelegt“
und beschloß, „darum das Diktieren weiter zu treiben.“ Auch die Hände
konnte er schwer ruhig halten, darin im Alter noch den Knaben gleich.
Er zog entweder das zusammengedrehte Taschentuch durch die Hand, oder
drehte ein Papierstreifchen, oder knüpfte an Bindfäden, oder hantierte
mit der Lichtputzschere. War er bei Frau Schopenhauer oder in Jena
bei Frommanns oder Knebels in Gesellschaft geladen, so stellte man
ihm einen Tisch mit Zeichengelegenheit hin, und oft begleitete er die
Erzählung oder Vorlesung eines Andern mit raschen zugehörigen Bildern.

       *       *       *       *       *

[Sidenote: Ärzte, Radfahrer, Turner]

Soviel Goethe auch den menschlichen Körper studierte, so hütete er sich
doch, in die Aufgaben des Arztes einzugreifen. Zwar schrieb er einmal
an Meyer: „Man ist übel daran, daß man den Ärzten nicht recht vertraut
und doch ohne sie sich gar nicht zu helfen weiß.“ Aber er lobte doch
seine Ärzte gern. Der Satz, daß die Ärzte unseres Lebens Dauer um
keinen Tag verlängern können, gehörte zu seinem religiösen Glauben;
„wir leben, so lange es Gott bestimmt hat, aber es ist ein großer
Unterschied, ob wir jämmerlich wie arme Hunde leben, oder wohl und
frisch, und darauf vermag ein kluger Arzt viel.“ So sprach er 1827, und
drei Jahre später, als er sich beständig wohl befand: „Daß ich mich
jetzt so gut halte, verdanke ich Vogel; Vogel ist zum Arzt wie geboren
und überhaupt einer der genialsten Menschen.“ ~Dr.~ Vogel aber erzählte
von ihm:

  Die echten Jünger der Heilkunst achtete Goethe ungemein hoch; er war
  ein dankbarer und folgsamer Kranker. Konsultationen mehrerer Ärzte
  betrachtete er mit Mißtrauen. Er sprach gern mit dem Arzt über die
  Krankheit und verstand sehr viel davon.

Ein wenig neigte er zu Dem, was wir jetzt als Naturheilmethode kennen;
in einem Briefe aus Lauchstädt (1805) rühmt er zuerst „das auf Starkens
Anraten“ gebrauchte „Tusch-Bad“ und das auf Reils Empfehlung genommene
Eger-Wasser. Er fährt dann fort:

  An Reil habe ich einen sehr bedeutenden Mann kennen lernen;
  er beobachtete meine Übel vierzehn Tage, ohne ein Rezept zu
  verschreiben, als etwa eins, das er selbst für palliativ erklärte.
  Tröstlich kann es für mich sein, daß er gar keine Achtung vor meinen
  Gebrechen haben will und versichert, Das werde sich alles ohne großen
  medizinischen Aufwand wiederherstellen.

Schon vorher war ihm als Hauptkur das Reiten empfohlen, und er hatte
selber bestätigt, daß es ihm gut gehe, solange er täglich reite. Ebenso
wußte Goethe, daß in den Bädern, die er regelmäßig im Sommer besuchte,
nicht nur von ihren Quellen heilende Kraft ausging, sondern mehr noch
von dem erfrischenden, geselligen Leben in der Natur, von der größeren
Vertraulichkeit und Unvorsichtigkeit im Umgange mit ihr. „Übrigens
mutet man sich hier viel mehr zu als zu Hause“ heißt es in einem
Karlsbader Briefe an Christiane.

  Man steht um fünf Uhr auf, geht bei jedem Wetter an den Brunnen,
  spaziert, steigt Berge, zieht sich an, macht Aufwartung, geht zu
  Gaste und sonst in Gesellschaft. Man hütet sich weder vor Nässe, noch
  Wind, noch Zug und befindet sich ganz wohl dabei.

Es ist kaum nötig zu sagen, daß er als alter Herr die jungen Leute zu
frischer Betätigung ermunterte und ihre neuen Übungen mit Vergnügen
sah. Der badische Forstmeister v. Drais erfand 1817 eine Laufmaschine,
die aus zwei hintereinander angebrachten Rädern und einem darüber
befestigten Sitzbalken bestand; man konnte darauf fahren, wenn man sie
durch Laufen in Bewegung gesetzt hatte oder wenn es bergab ging; Goethe
sah im Januar 1818 Jenaischen Studenten zu, die sich im „Paradiese“ an
der Saale auf solchen Laufrädern versuchten. Wichtiger war das Turnen,
das gleich nach den Befreiungskriegen aufkam. Goethe sprach 1817 einmal
den jungen Krummacher an, des Parabeldichters Sohn, als Dieser mit der
schwarz-rot-goldenen Mütze vom Turnplatze kam, und er sagte:

  Die Turnerei halte ich wert, denn sie stärkt und erfreut nicht nur
  den jugendlichen Körper, sondern ermutigt und kräftigt auch Seele und
  Geist gegen jede Verweichlichung.

Es war ihm dann sehr schmerzlich, daß Turnen und Politik miteinander
verquickt, daß deswegen die Turnanstalten von den Regierungen sehr
eingeschränkt oder verboten wurden.

  Ich hoffe, daß man die Turnanstalten wiederherstelle, denn unsere
  deutsche Jugend bedarf es, besonders die studierende, der bei dem
  vielen geistigen und gelehrten Treiben alles körperliche Gegengewicht
  fehlt und somit jede nötige Tatkraft.

Die gleiche Gesinnung hat Goethe in seinen alten Tagen oft
ausgesprochen. Er schalt auf die Engbrüstigen und die Brillenträger.
Die frischen jungen Engländer gefielen ihm viel besser als die jungen
Deutschen. Er billigte es keineswegs, daß von den künftigen Beamten so
viele theoretische Kenntnisse verlangt wurden, bei deren Aneignung die
jungen Leute vor der Zeit körperlich und geistig geschwächt wurden. „Es
fehlt ihnen die nötige geistige, wie körperliche Energie, die bei einem
tüchtigen Auftreten im praktischen Verkehr ganz unerläßlich ist.“

„Es geht uns alten Europäern übrigens mehr oder weniger allen herzlich
schlecht“ meinte er ein andermal, „unsere Zustände sind viel zu
künstlich und kompliziert ... Man sollte oft wünschen, auf einer der
Südsee-Inseln als sogenannter Wilder geboren zu sein, um nur einmal
das menschliche Dasein ohne falschen Beigeschmack durchaus rein zu
genießen.“


  [22] An Trapp, 28. Juli 1770.

  [23] Lichtenberg und Moses Mendelssohn waren bucklig, Schleiermacher
       leicht verwachsen.

  [24] Eine Entelechie, ein Am-Ziele-sein, ist nach Aristoteles die
       Seele als dasjenige Hinzutretende, wodurch der Körper, der an
       sich nur die +Fähigkeit+, zu leben und zu empfinden, besitzt,
       +wirklich+ lebt und empfindet, solange es mit ihm verbunden ist.
       Als Beispiel denke man sich eine Wasserleitung, die erst durch
       das hineinfließende Wasser Sinn und Vollständigkeit erlangt.

  [25] Ich habe die letzten Seiten aus einem besonderen Grunde
       meinem Buche ‚Goethes Leben im Garten am Stern‘ entnommen. Über
       Goethes Leipziger und Frankfurter Krankheit ist von Medizinern
       und Philologen Verschiedenes gemutmaßt, da die vorliegenden
       Mitteilungen nicht eben sicher auf ein bestimmtes Leiden
       schließen lassen. B. Fränkel in Berlin hat in der ‚Zeitschrift
       für Tuberkulose‘ (1910) als „des jungen Goethe schwere
       Krankheit“: „Tuberkulose, keine Syphilis“ aufgestellt. Um nun
       zu zeigen, wodurch Goethe sein schweres Lungenleiden überwunden
       habe, druckte Fränkel die eben mitgeteilten Seiten aus meinem
       Buche, die ich ohne jeden Gedanken an solche Krankheit und Kur
       geschrieben, wörtlich ab und fügte hinzu: „Der aufmerksame Leser
       wird nicht verkennen, daß in dieser Abhärtungsmethode Goethes
       Grundzüge der modernen Phtisiotherapie enthalten sind, z. B.
       das Wohnen im Gartenhaus, das Arbeiten und Schlafen im Freien
       usw. Vielleicht haben wir es ihnen zu verdanken, daß uns die
       Tuberkulose nicht, wie Dies von Schiller bekannt ist, auch
       das kostbare Leben Goethes verkürzte. Jedenfalls erkannte und
       betätigte das gleichzeitig beobachtende und intuitive Ingenium
       Goethes die Prinzipien, mit denen jetzt die Empirie der Ärzte
       die Tuberkulose zu heilen sucht.“ -- --

       Wir können diese Gesundung Goethes noch heute mit Augen sehen,
       wenn wir seine Bildnisse nacheinander betrachten. Ich meine
       diese Reihenfolge: Relief von Melchior 1774 -- Zeichnung von
       Lips nach dem verlorenen Relief eines Schülers von Nahl 1774 --
       Schattenrisse in Ayrers Sammlung -- Vorder- und Seitenansicht
       von May 1779 -- Juel 1779 -- Büsten von Klauer -- Angelika
       Kauffmann 1787/88 -- Lips 1791 -- Bury 1800 -- Jagemann 1817.
       Hier in diesem Buche kann ich nur einige davon zeigen.

  [26] Venetianische Epigramme 1799.




XII.

Die Mahlzeiten und der Wein.


Goethe wuchs in einer Stadt auf, wo ein reichliches Essen an der
Tagesordnung war: Frankfurt liegt in einem gesegneten Lande, und als
ein Handels-Mittelpunkt hatte es die Mittel, seine Bürger auch mit den
Erzeugnissen fremder Gegenden zu ernähren. Ob Wolfgang Goethe schon
in seinen jungen Jahren im Essen und Trinken ein rechter Frankfurter
war, wissen wir nicht. Als er im Sommer 1774 mit seinem Freunde
Lavater reiste, fragte Dieser in den Wirtshäusern, wo man hielt, nach
Himbeer-Essig, während Goethe überall sein Glas Wein trank, und als
sie eines Morgens um Sieben zwischen Neuwied und Andernach in einem
Kahne fuhren, vermerkte Lavater in seinem Tagebuche, Goethe verzehre
jetzt schon sein Butterbrot „wie ein Wolf“ und sehe sich nach dem
übrigen eingepackten Essen um. Im Übrigen ist uns ein starkes Essen
oder Trinken Goethes, ein Wertlegen auf die Mahlzeiten erst nach seiner
Heimkehr aus Italien, nach seiner Verbindung mit Christiane Vulpius
bezeugt.

[Sidenote: Die Tafel im Goethe-Hause]

Danach allerdings war es das allgemeine Zeugnis seiner Gäste, daß
er eine recht gute Tafel führe. Einige erzählen, daß sie bei ihm
neue Speisen vorgesetzt bekamen, mit denen sie noch nicht umzugehen
wußten, z. B. Kaviar oder Artischocken; Andere bewunderten seine
Geschicklichkeit im Zerlegen des Bratens oder Geflügels oder seine
allgemeine Kochverständigkeit oder seinen vortrefflichen Appetit.
„Auch frisset er entsetzlich“ schrieb der karikierende Jean Paul einem
Freunde. „Auf den Küchenzettel, den er gewöhnlich selbst angab, hatte
die Anwesenheit von Gästen besonderen Einfluß“ berichtet der Maler
Ernst Förster 1821.

  Es gab außer der Suppe gewöhnlich drei, höchstens vier Schüsseln:
  Fleisch mit Gemüse (er aß sehr gern ein nach italienischer Kochkunst
  bereitetes Stuffato), dann gab es Fisch (Forellen liebte er zumeist),
  Braten (zumeist Geflügel oder Wild) und, wie er erklärte: wegen der
  Damen, eine Mehlspeise (Karlsbader Strudl). Er selbst zog der süßen
  Speise ein Stück englischen oder Schweizer Käse vor.

„Es war ungemein splendid: Gänseleberpastete, Hasen und dergleichen
Gerichte“ bezeugt schon 1809 der Sprachforscher Wilhelm Grimm, und
ebenso wunderte sich 1828 dessen hessischer Landsmann, der Baumeister
Johann Heinrich Wolff, über die vielen guten Gerichte und über Goethes
Leistungsfähigkeit im Essen und Trinken. „Unter anderem verzehrte er
eine ungeheure Portion Gänsebraten und trank eine ganze Flasche Rotwein
dazu.“ Im selben Jahr imponierte er auf der Dornburg einigen Studenten,
als er ihnen den Salat eigenhändig zubereitete und dabei versicherte,
er habe selber einen neuen Salat aus eingemachten Gurken erfunden.

„Man aß nach damaliger Zeit gut, nach jetziger einfach“ erzählte Jenny
v. Gustedt 1885, als sie sich an die Mahlzeiten in Goethes Hause
erinnerte.

  Erst in den letzten Jahren hatte er einen Koch, vorher
  Haushälterinnen, mit denen er die Wirtschaft führte ohne Ottiliens
  [seiner Schwiegertochter] Hilfe. Er hatte kein Vertrauen in ihre
  wirtschaftlichen Talente und sagte wohl scherzend: Ich hatte mir so
  eine kochverständige Tochter gewünscht, und nun schickt mir der liebe
  Gott eine Thekla und Jungfrau von Orleans in’s Haus!

Dieser Übergang von einer untauglichen Köchin zu einem Koch, dem jungen
Straube, steht in Goethes Tagebuch unter dem 10. Februar 1831 mit einem
merkwürdigen Zusatze.

  Vulpius[27] entließ die Köchin mit billiger Entschädigung. Von dieser
  Last befreit, konnt’ ich an bedeutende Arbeiten gehen; ich kann
  hoffen, die Epoche werde fruchtbringend sein.

So stark drückte der Vollender des ‚Faust‘ es aus, daß seine Leistung
von einer guten Zubereitung der Speisen und von der hausväterlichen
Zufriedenheit mit der Bewirtung der Gäste und Hausgenossen abhänge.

Aber wir dürfen die Rolle der Tafelfreuden in Goethes Leben nicht
überschätzen: er entbehrte sie ebenso leicht, wie er sie gern genoß.
Zu Mittag aß er auch deshalb stark, weil es fast die letzte Mahlzeit
des langen Tages war. Denn Kaffee, auf den er von jungen Jahren an viel
gescholten, bot er wohl den Gästen an, trank ihn aber nicht mit. Nur
als Greis trank er frühmorgens Milchkaffee; in früheren Zeiten hatte
er Wassersuppe oder Schokolade vorgezogen. Abends hatte er eine dem
englischen Fünf-Uhr-Tee entsprechende leichte Mahlzeit; er nahm dann
Wein und ein Franzbrot zu sich. Da der Tee zu stark auf ihn wirkte,
trank er auch bei Schiller statt dessen Punsch, den er sich aus Arrak
und einer Zitrone selber bereitete. Das war sein Abschluß; in späterer
Stunde ließ er wohl für Riemer, Eckermann, oder wer sonst da war,
decken; „er saß dabei, schenkte ein, putzte die Lichter und plauderte,
rührte aber keinen Bissen an.“ Felix Mendelssohn hebt es 1821 als eine
Merkwürdigkeit hervor, daß Goethe mit ihm zu Abend aß. Selbst wenn er
eine Einladung für den Abend annahm, fügte er wohl hinzu: „Erlauben
Sie zugleich mit gastlicher Freimütigkeit zu eröffnen, daß ich niemals
gewohnt war, zur Nacht zu speisen.“ (So 1814 in Frankfurt an Simon
Moritz v. Bethmann.)

[Sidenote: Reichlich und ärmlich]

Wenn Goethe allein war, da war von vielen Gängen keine Rede. Im
Gartenhause aß er, was Frau v. Stein gerade geschickt hatte, oder ließ
sich von seinem Diener einen Eierkuchen backen; manchmal, wenn nichts
da war, ging er auch hungrig zu Bett. Später hat er namentlich in
seiner jenaischen Zuflucht erbärmliche Kost oft wochenlang ausgehalten.
„Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, daß ich vier, fünf Tage bloß von
Zervelatwurst und rotem Wein gelebt;“ solche Klagen bekam Christiane
von Jena aus oft zu hören.

  Ich bitte Dich also auf’s allerinständigste, mir mit jedem Botentage
  etwas gutes Gebratenes, einen Schöpsenbraten, Kapaun, ja einen
  Truthahn zu schicken, es mag kosten, was es wolle, damit wir nur zum
  Frühstück, zum Abendessen, und wenn es zu Mittag gar zu schlecht ist,
  irgend etwas haben, was sich nicht vom Schweine herschreibt.

Einmal schreibt er befriedigter:

  Die Götzen kocht nicht übel; nur, weil sie im Ofen kocht, sind die
  Sachen wohl einmal rauchrigt.

[Sidenote: Lieblingsspeisen]

Eine andere Aufwärterin, die Schloßkastellanin Trabitius, konnte wohl
einen Eierkuchen gut bereiten, aber bei dem Salat dazu fehlte schon
ein brauchbares Öl; Das war in ganz Jena nicht zu haben. Es mutet
uns seltsam an, wie knapp damals manche gute Speise war oder daß
kleine Geschenke an Fleisch, Fisch, Gemüse und Obst zwischen Jena und
Weimar, zwischen Goethes, Schillers, Knebels und Anderen ausgetauscht
wurden; daß sich in früherer Zeit Goethe und Charlotte v. Stein mit
Küchengütern beschenkten, daß Goethe sogar die Herzogin Luise aus
Italien mit Kaffeebohnen bedachte. Auch aus seinem eigenen Hause
in Weimar klagte Goethe 1794, dem Laster ~gulositas~ könne er sich
nicht ergeben, „indem wir uns höchstens an einem guten Schöpsenbraten
und einer leidlichen Knackwurst versündigen können“; er sei aber
unglaublich lüstern nach den Leckerbissen, die es in Hamburg gebe:
geräuchertes Rindfleisch, Rinds- und Schweinszungen, geräucherte
„Aele“ und andere wunderbare Fische, fremden Käse usw. Als nachher
die große Gastfreundschaft sich in Goethes Hause entfaltete, da mußte
mancher Brief nach Hamburg, Bremen und Frankfurt gesandt werden, damit
es an guten Gerichten nicht fehle. Von Bremen kam der französische,
spanische und portugiesische Wein und von Speisen: Heringe, Neunaugen,
Dorsche, Butter in halben Zentnern, während der Freund, der diese
Dinge besorgte, aus Thüringen nur Pflaumenmus, getrocknetes Obst und
Schwämme erhielt. Von Frankfurt wurde der deutsche Wein und feines
Gebäck bezogen, auch Weintrauben, Artischocken und dergl.; von Hamburg
Schinken und Fische, und Freund Zelter schickte jedes Jahr aus Berlin
Teltower Rübchen. Was Goethe am liebsten aß, ist zum Teil schon gesagt:
Wildpret, Geflügel, z. B. kaltes Rebhuhn zum Zehn-Uhr-Frühstück,
von Fischen die Ilmforelle, von Gemüsen Blumenkohl und Spargel. Wie
wir Anderen, behielt er manche Speisen der Kindheit in freundlichem
Gedächtnis. 1830 gab es bei ihm einmal Kohlsalat mit warmer Brühe. „Das
ist ein echt Frankfurter Essen“ sagte Goethe, „wie es meine Mutter mir
so häufig gemacht hat.“ In seinen Bittschreiben an Christiane verriet
er auch Appetit auf recht gute französische Bouillon, auf Kalbsfüße in
Gelee, die nicht gar zu sauer wäre, auf Froschkeulen, auf Schokolade,
bei der er aber zu andern Zeiten befürchtet, daß die Fabrikanten
allerlei Dunkles zusammenmischen. Aus Torten und süßem Gebäck machte er
sich nichts; dagegen war er ein großer Freund von Obst. Als sein August
1808 in Heidelberg studierte, beglückwünschte er ihn zu den Genüssen
der Obst- und Traubenhügel, und als er selber in Italien war, freute
er sich nicht wenig über das reichlichere Obst. „Mein eigentliches
Wohlleben ist in Früchten“ schreibt er aus Oberitalien an Charlotte
v. Stein, „Feigen esse ich den ganzen Tag; Du kannst denken, daß die
Birnen hier gut sein müssen, wo schon Zitronen wachsen.“ Und in Rom war
sein Abendbrot oft ein Pfund Trauben, das er auf der Straße aß.

       *       *       *       *       *

[Sidenote: Vorsicht gegen den Wein]

Als Goethe Student war, vertrödelte er manchen Tag mit Allotriis;
er trank auch täglich Bier oder Wein, aber wenn ihm in Leipzig ein
Merseburger Bier oder in Straßburg ein roter Wein schlecht bekam, so
bemerkte er es auch und gab sie auf, und niemals trieb er mit dem
Getränk und dem Zechen einen Kultus. Er gehörte keiner Gesellschaft an,
die ihn zum Wirtshaustreiben nötigte. In Leipzig und Straßburg, wo er
studierte, gab es kein Studentenleben. Ja, es ist uns aus seiner Jugend
überhaupt kein Fall bekannt, wo er an einem Kommers nach studentischer
Art teilgenommen hätte, und aus seinen späteren Jahren kennen wir einen
einzigen solchen Abend, 1780, unter den Theaterfreunden, die oben auf
Ettersburg spielten; der Präside war Franz v. Seckendorff.

Die Kneipszene im ‚Faust‘, die in der ersten Fassung noch derber
lautete, zeigt uns, wie er schon als junger Mann das Völkchen
beurteilte, von denen Mephisto sagt: „Merks! den Teufel vermuten die
Kerls nie, so nah er ihnen immer ist.“ „Du Mastschwein!“ läßt er Faust
zu Siebel in jener ersten Fassung sagen. Als Dreiundzwanziger wußte er
bereits, daß wir die reinste Heiterkeit nur genießen, wenn wir frei
vom Weine sind: „Die heiligen Götter gaben mir einen frohen Abend;
ich hatte keinen Wein getrunken, mein Auge war ganz unbefangen über
die Natur, ein schöner Abend!“ Als ihn in Frankfurt 1775 die jungen
Grafen Stolberg besuchten und bei Tische in den poetischen Tyrannenhaß
ausbrachen, in den sie mit ihren Freunden im Göttinger „Hain“ sich
hineingedacht hatten, holte ‚Frau Aja‘ ihre besten Weine aus dem
Keller: „Hier ist das wahre Tyrannenblut! Daran ergötzt euch, aber
alle Mordgedanken laßt mir aus dem Hause!“ Begeistert griff Goethe
das Wort seiner Mutter auf. „Jawohl, Tyrannenblut!“ rief er aus,
„keinen größeren Tyrannen gibt es als Den, dessen Herzblut man euch
vorsetzt. Labt euch daran, aber mäßig! Denn ihr müßt befürchten, daß er
euch durch Wohlgeschmack und Geist unterjoche. Der Weinstock ist der
Universaltyrann, der ausgerottet werden sollte; zum Patron sollten wir
deshalb den heiligen Lykurgus, den Thrakier, wählen und verehren ...
Dieser Weinstock ist der allerschlimmste Tyrann, zugleich Heuchler,
Schmeichler und Gewaltsamer. Die ersten Züge seines Blutes munden euch,
aber ein Tropfen lockt den andern unaufhaltsam nach.“

Als Goethe nach Weimar kam, sagten die Leute allerdings bald: der
Herzog werde sich totzechen, und sein Abgott, der junge Frankfurter
Doktor, habe ihn dann auf dem Gewissen. Auch vom achtundzwanzigjährigen
Goethe redete man in Berlin, von ihm sei nichts mehr zu erwarten, da er
in kurzer Zeit vom Branntwein ruiniert sein werde. Daß der Fürst wie
der Dichter mit höchsten Ehren ihr Fünfzigjahre-Jubiläum feiern würden,
ahnte auch der würdige Klopstock nicht, als er einen wohlgemeinten
Ermahnungsbrief an den Verführer Karl Augusts richtete. Auch Klopstock
warnte: „Der Herzog wird, wenn er sich ferner bis zum Krankwerden
betrinkt, anstatt, wie er sagt, seinen Körper dadurch zu stärken,
erliegen und nicht lange leben.“

Aber sehr bald nach dieser tollen Einleitung sehen wir, wie der junge
Goethe als fleißiger Staatsbeamter die verdrießlichsten Arbeiten
übernimmt, und abends schreibt er vielleicht in sein Tagebuch: „Daß ich
nur die Hälfte Wein trinke, ist mir sehr nützlich; seit ich den Kaffee
gelassen, die heilsamste Diät.“ So im Januar 1779; am 7. August klingt
es fast wie ein Gebet:

  Gott helfe weiter und gebe Lichter, daß wir uns nicht selbst viel im
  Wege stehn! Lasse uns von Morgen bis Abend das Gehörige tun und gebe
  uns klare Begriffe von den Folgen der Dinge! Daß man nicht sei wie
  Menschen, die den ganzen Tag über Kopfweh klagen und gegen Kopfweh
  brauchen und alle Abend zuviel Wein zu sich nehmen. Möge die Idee des
  Reinen, die sich bis auf den Bissen erstreckt, den ich in den Mund
  nehme, immer lichter in mir werden!

In dieser Vorsicht gegen den Wein verharrte er diese ganzen
arbeitsreichen Jahre. „Seit drei Tagen keinen Wein“ schreibt er am 1.
April 1780. „Sich nun vor dem englischen Bier in acht nehmen. Wenn
ich den Wein abschaffen könnte, wäre ich glücklich.“ Im gleichen
Monat schreibt er eines Abends sehr befriedigt: „War sehr ruhig und
bestimmt .... Ich trinke fast keinen Wein. Und gewinne täglich mehr
in Blick und Geschick zum tätigen Leben.“ Im Sommer 1780 kommt er im
Tagebuch nochmals auf den Wein zurück: „Man könnte noch mehr, ja das
Unglaubliche tun, wenn man mäßiger wäre;“ freilich kann hier auch
andere Mäßigkeit gemeint sein. Und ähnlich klingt es noch 1786 aus
Italien an die geliebte Freundin: „Ich lebe sehr mäßig; den roten Wein
der hiesigen Gegend [Vicenza], schon von Tirol her, kann ich nicht
vertragen; ich trinke ihn mit viel Wasser wie der heilige Ludwig.“ Das
Jahr vorher hatte er seinem Freunde Jacobi im Scherz vorgeschlagen, er
wolle ihm den Fritz v. Stein als Mann für sein Töchterchen erziehen:
„Aber gib ihr nicht Punsch zu trinken und das andere Quarks! Halte sie
unverdorben, wie ich den Buben, der an die reinste Diät gewöhnt ist.“

Da Goethes Dichten stets ein Widerschein seines Lebens war, so finden
wir in seinen Versen aus der ersten Hälfte seines Lebens kaum ein Lob
des Trinkens. Dagegen tadelt er durch Antonios Mund seinen Tasso, der
die erste Pflicht des Menschen, „Speis’ und Trank zu wählen“, töricht
erfüllt.

    Wann mischt er Wasser unter seinen Wein?
    Gewürze, süße Sachen, stark Getränke,
    Eins um das andere schlingt er hastig ein,
    Und dann beklagt er seinen trüben Sinn,
    Sein feurig Blut, sein allzu heftig Wesen
    Und schilt auf die Natur und das Geschick!

Natürlich kann dem Tasso kein Arzt helfen, so lange er bei dieser
schlechten Lebensweise bleibt. Schließlich rät der Arzt, was er gleich
hätte raten sollen:

    So trinkt denn Wasser! -- „Wasser? nimmermehr!
    Ich bin so wasserscheu als ein Gebißner.“ --
    So ist euch nicht zu helfen. -- „Und warum?“ --
    Das Übel wird sich stets mit Übeln häufen
    Und, wenn es euch nicht töten kann, nur mehr
    Und mehr mit jedem Tag euch quälen.

           *       *       *       *       *

    Es ist gewiß, ein ungemäßigt Leben,
    Wie es uns schwere, wilde Träume gibt,
    Macht uns zuletzt am hellen Tage träumen.

Das alles beweist einen tiefen Einblick des jungen Dichters in die
Wirksamkeit der Rauschgetränke.

       *       *       *       *       *

[Sidenote: Verschiedene Zeugnisse]

Aber als Goethe aus Italien wiederkehrte, beklagte Frau v. Stein,
daß er sinnlicher geworden sei, in heutiger Sprache: materieller.
Er gab sich den natürlichen Neigungen völliger hin, zügelte seinen
Ehrgeiz schärfer, stellte sich die Aufgaben kleiner, und wenn er auch
außerordentlich fleißig blieb, so hatte sein langer Tag doch auch
einige Stunden für die Tafelfreuden frei. Seine Hausgenossin Christiane
trank den Wein mit Lob und Lust; sie war darin seine Schülerin, aber
auch seine Antreiberin. „Den Doktor Stark bitte ich mir auch zum
Doktor aus“ schreibt sie im Herbst 1800; „Dem seiner Meinung bin ich
gewiß auch, daß Du nicht so wenig Wein trinken sollst und Champagner
besonders.“ Zwei Jahre darauf redet Goethe im selben Tone gegen
Schiller über den kränkelnden Freund Heinrich Meyer: „Hätte er sich,
statt Pyrmonter Wasser hier teuer in der Apotheke zu bezahlen, ein
Kistchen Portwein zur rechten Zeit von Bremen verschrieben, sollte
es wohl anders mit ihm aussehen.“ Und als dann im nächsten Jahre,
1803, Christiane einen Monat im Bade Lauchstädt verbrachte, sagte man
von ihr und zu ihr: sie mache wohl eine Weinkur. Etwa von 1802 an
dichtete Goethe auch einige Trinklieder, weil in befreundeten Kreisen
Begehr nach solchen Gesängen war. An diesen Trinkliedern ist jedoch
bemerkenswert, was +nicht+ darin steht. Er verherrlicht den Wein
nur als Sorgenbrecher und Stimmungsverbesserer, der uns zeitweilig
erheitert und verjüngt. Als er zu seinen geselligen Abenden das alte
Zecherlied: „~Mihi est propositum in taberna mori~“ bearbeitete, gab
er es nicht so echt wieder wie Bürger: „Ich will einst bei Ja und Nein
vor dem Zapfen sterben,“ sondern er mischte recht viel Wasser in den
alten Wein und schrieb: „Mich ergreift, ich weiß nicht wie, himmlisches
Behagen.“ Und man merkt öfter, wie ihm jeder Hang zur Unmäßigkeit auch
in diesen weinfreudigen Jahren schmerzlich ist. Er bemerkte ihn schon
bei seinem eigenen Sohne, dem Heidelberger Studenten, und deshalb
schrieb er die vorsichtig eingekleidete Warnung:

  Wir leben nach unsrer alten Weise still und fleißig besonders auch,
  was den Wein betrifft, wobei mir denn lieb ist, aus Deinem Briefe zu
  sehen, daß Du Dich auch vor diesem so sehr zur Gewohnheit gewordenen
  Getränk in acht nimmst, das mehr, als man glaubt, einem besonnenen,
  heiteren und tätigen Leben entgegenwirkt.

Im selben Jahre (1808) läßt er ein Lieblingskind seiner Muse, die
schöne Ottilie, in den ‚Wahlverwandtschaften‘ „über die Unmäßigkeit der
Männer, besonders was den Wein betrifft“ klagen:

  Wie oft hat es mich betrübt und geängstigt, wenn ich bemerken
  mußte, daß reiner Verstand, Klugheit, Schonung Anderer, Anmut und
  Liebenswürdigkeit selbst für mehrere Stunden verloren gingen, und oft
  statt alles Guten, was ein trefflicher Mann hervorzubringen und zu
  gewähren vermag, Unheil und Verwirrung hereinzubrechen drohte! Wie
  oft mögen dadurch gewaltsame Entschließungen veranlaßt werden!

Sie dachte bei diesen Zeilen an den heimlich geliebten Eduard,

  der zwar nicht gewöhnlich, aber doch öfter, als es wünschenswert war,
  sein Vergnügen, seine Gesprächigkeit, seine Tätigkeit durch einen
  gelegentlichen Weingenuß zu steigern pflegte.

Ganz ebenso hatte Goethe, der Enkel eines Gastwirts, schon in ‚Hermann
und Dorothea‘ das häufige leichte Räuschchen des Wirtes als Ursache von
häuslichen Störungen und Trübungen geschildert, und es ist bezeichnend,
daß der Held der Dichtung, Hermann, größere Liebe zum Ackerbau als zum
einträglichen Wirtsgewerbe zeigt.

Doch reden auch aus den Altersjahren manche Berichte von Goethes
Weinfreudigkeit. „Er trank fleißig, besser noch die Frau“ schreibt
Wilhelm Grimm 1809. „Der Alte sprach viel und trank nicht wenig“
bekundet Holtei 1827. „Goethe ist sehr munter“ erzählt Eckermann 1824
seiner Braut,

  Vorgestern Mittag bei Tisch aß er in Hemdsärmeln und war sehr
  jugendlich heiter. Bei Tische teilte er Manches mit mir und gibt
  mir von seinem Teller. Wenn ich abends komme, läßt er gleich eine
  Bouteille Wein bringen. Der alte Hofrat Meyer trinkt keinen, Kanzler
  v. Müller Zuckerwasser. Goethe und ich trinken dann allein.

Vom Pfingstnachmittag desselben Jahres berichtet auch der Kanzler v.
Müller solche Hemdärmelszene:

  Er aß im Hemdärmel und trank mit Riemer. Ersteres war Ursache, daß
  er Gräfin Line Egloffstein nicht annahm. Sie möge doch, sagte er zu
  Ottilien, des Abends zu mir kommen, nicht wenn Freunde da sind, mit
  denen ich tiefsinnig oder erhaben bin.

Auch Liköre waren im Keller des Goethe-Hauses. 1792 schickte Goethe
welchen aus dem eroberten Verdun. Später wird Rack oder Arrac öfters
erwähnt, der vielleicht nur zur Bereitung des Abend-Punsches diente.
Vom Persiko berichtet Heinrich Voß 1804; Das ist ein auf Pfirsich und
bittere Mandeln abgesetzter Branntwein.

  Gestern vor acht Tagen wurde er, Goethe, so gut aufgeräumt, daß er
  die Vulpius bat, die Persikoflasche zu holen. Bei dieser Gelegenheit
  fiel ihm eine Begebenheit ein, wo er vor zwanzig Jahren auch die
  Persikoflasche nicht geschont habe, und fing an zu erzählen, und
  währenddessen wurde das Gläschen oft gefüllt und ging die Runde. Die
  Vulpius leerte es dreimal und ward in den dritten Himmel gesetzt, und
  als Goethe einmal hinausging, strömte ihr Herz über zu des lieben
  Geheimrats Lobe.

Betrunken oder stark angeheitert hat jedoch „den lieben Geheimrat“
Niemand gesehen. Zwar als ihn sein Arzt am 27. August 1818 morgens
bei einer Flasche fand und ihm bemerkte, es sei ja erst morgen sein
Geburtstag, rief Goethe aus: „Da habe ich mich heute umsonst besoffen!“
aber Goethe liebte solche derben Worte. Ein leichtes Angeheitertsein
erwähnen ein paar unverdächtige Zeugen; z. B. trat er 1795 nach der
Hoftafel mit dem Ausdruck süßen Weines zu der Engländerin Emilie Gore
und redete sie zu ihrer größten Verwunderung an: „~ma chère, seule,
unique amie!~“ Einmal urteilt Goethe selber, daß er zuviel getrunken
habe. Es war in Tennstädt und in der Nacht vor seinem Geburtstage 1816.
Er saß mit Meyer und dem großen Philologen Wolf zusammen, und Wolf
ließ wieder seinen ungezügelten Widerspruchsgeist die tollsten Sprünge
machen. Da wurde Goethe „bestialisch.“

  Glücklicher- oder unglücklicherweise hatte ich so viele Gläser
  Burgunder mehr als billig getrunken und da hielt ich auch keine Maße.
  Meyer saß dabei, der immer gefaßt ist, und ihm war nicht wohl bei der
  Sache.

       *       *       *       *       *

In seinen allerletzten Lebensjahren wurde Goethe wieder viel
vorsichtiger gegen den Wein; „ja man könnte behaupten, zu furchtsam“
meinte sein Arzt. Zwar blieb er bei dem Glas Madeira zum Frühstück
und der Flasche leichtem Würzburger zu Mittag, nahm auch wohl zum
Nachtisch ein ganz kleines Gläschen ~Tinto di Rota~, aber wie sehr er
auch Verlangen trug nach dem Punsch, den er von früher her abends um
sechs Uhr gewöhnt war, oder gelegentlich nach Champagner, den er sehr
liebte, so siegte doch stets, selbst gegen die Meinung des Arztes,
seine Besorgnis, daß sie ihm schaden könnten.

Namentlich aber war Goethe sein ganzes Leben lang der Ansicht, daß uns
der Wein zum geistigen Schaffen nichts nütze. Wir kommen noch darauf
zurück. Und Das ist noch zu beachten, daß der Wein das einzige Gift und
Reizmittel war, das Goethe gebrauchte, und daß er daran schon in seiner
Jugend und von Vorfahren her gewöhnt war. An gebrannten Getränken und
an Bier, auf das er oft schalt, hat er in seinem langen Leben nur
ganz wenig zu sich genommen. Ebenso lehnte er Kaffee und Tee ab und
haßte den Tabak, während fast alle seine Freunde entweder rauchten
oder schnupften. Er roch nur an kölnischem Wasser, wenn er eine kleine
Anreizung begehrte.

Alles in allem: Goethe hat den Wein zur Steigerung des Lebensgenusses
und zur Würze der Mahlzeiten gebraucht, hat aber niemals seine
Freiheit an ihn verloren. Dagegen hat er die Gefahr verkannt, die
die Weingeistgetränke für seine Frau und namentlich für seinen
heranwachsenden Sohn in sich trugen. Diesen Leichtsinn oder Mangel an
Wissen und Vorsicht hat er schwer büßen müssen: Daran ist kein Zweifel
möglich, wenn er auch seinen Kummer über das schlimme Ende seiner
beiden Nächsten stillverschlossen im eigenen Innern verarbeitete.


  [27] Der Neffe Rinaldo, der nach Augusts Tode wegen Ottiliens
       Unbrauchbarkeit viel für die geordnete Fortführung des Haushalts
       tat.




XIII.

Das Schaffen.


Der Fleiß ist ein Bedürfnis und eine natürliche Tugend kräftiger
Persönlichkeiten: sie haben so viel zu erfassen, umzubilden,
auszudrücken, daß ihnen jede Stunde kostbar und das längste Leben
zu kurz erscheint. „~Ars longa, vita brevis~“ ist ihre Klage von
altersher. Wer seine Persönlichkeit schätzt, hält seine Zeit wert und
heilig.

Goethe war also zeitgeizig. Er verglich gern die Zeit mit Geld und Gut;
hinterließ ihm der irdische Vater 10000 Gulden, so gab ihm der Schöpfer
aller Dinge eine viel reichere Fülle von verwertbaren Lebensstunden:

    Mein Erbteil, wie herrlich, weit und breit!
    Die Zeit ist mein Besitz, mein Acker ist die Zeit.

„Er wußte sie wie Keiner zu nutzen, wahrhaft auszubeuten“ urteilte der
Kanzler v. Müller, der uns auch den kleinen Zug erzählt, daß Goethe
sich aus einem Gespräch mit dem König von Bayern einen Augenblick
fortstahl, weil ihm ein Gedanke für die Fortsetzung der Faustdichtung
gekommen war, der aufgeschrieben werden mußte. Tage völliger Muße
kannte Goethe nicht; Sonn- und Feiertage waren von Werktagen nur wenig
verschieden. Von seinem Neffen Rinaldo Vulpius, der ihm einen Brief von
Jena nach Weimar mitnahm, schreibt er im Mai 1818:

  Warum er schon wieder nach Weimar läuft, ist mir nicht deutlich. Wie
  die Menschen das Wort Feiertag hören, so sind sie alle verrückt, und
  Niemand denkt, daß er die größte Zeit seines Lebens müßig herumläuft
  oder gestreckt daliegt.

Selbst wenn er noch im Bette liegen wollte, begann er schon mit dem
geistigen Schaffen. Da es ihn schmerzte, daß Schiller durch eine
ungeschickte, ungesunde Lebensweise manche gute Stunde verlor, so gibt
er ihm im Dezember 1796 einen Wink:

  Ich muß Anstalt machen, meine Schlafstelle zu verändern, damit ich
  morgens vor Tage einige Stunden im Bett diktieren kann. Möchten Sie
  doch auch eine Art und Weise finden, die Zeit, die nur eigentlich
  höher organisierten Naturen kostbar ist, besser zu nutzen!

An denselben Freund schreibt er:

  Es würde nicht schwer werden, sich so einzurichten, daß man auf
  der +Reise+ selbst mit Sammlung und Zufriedenheit arbeiten könnte.
  Denn wenn sie zu gewissen Zeiten zerstreut, so führt sie uns zu
  andern desto schneller auf uns selbst zurück; der Mangel an äußern
  Verhältnissen, ja die Langeweile ist Demjenigen günstig, der Manches
  zu verarbeiten hat.

Goethe hat in der Tat recht viele Verse beim Halten der Postkutsche
oder des eigenen Reisewagens oder an Gasthoftischen niedergeschrieben.
Auch in Bade- und Kurorten verging kein Tag ohne Studium oder
Hervorbringung; in Wiesbaden arbeitete er im Juni 1815 sogar 16 bis 17
Stunden täglich an der ‚Italienischen Reise‘ und diktierte auch in der
Badewanne.

       *       *       *       *       *

[Sidenote: Ausbeuten der Zeit]

Wer seine Zeit schätzt und seine noch ungetane Arbeit bedenkt, hütet
sich vor aller Teilnahme an Bestrebungen und Arbeiten, auf deren
glückliches Gelingen er nur geringen oder gar keinen Einfluß hat. Schon
aus diesem Grunde war Goethe kein Politiker. Das kollegiale und erst
recht das parlamentarische Arbeiten für den Staat erkannte er als eine
ungeheuere Zeit- und Kraftvergeudung. Es werde immer das Minimum von
Effekt hervorgebracht, wenn man mit Andern und durch Andere zu wirken
hat, sagte er zu Riemer, und zum Kanzler: „Ich konnte nie zu Zwei etwas
leisten; Diktatur oder Konsulat mit geteilter Gewalt!“ Und schon 1797
schrieb er an Heinrich Meyer:

  In der Lage, in der ich mich befinde, habe ich mir zugeschworen, an
  Nichts recht teilzunehmen als an Dem, was ich so in meiner Gewalt
  habe wie ein Gedicht, wo man weiß, daß man zuletzt nur sich zu
  tadeln oder zu loben hat, an einem Werke, an dem man, wenn der Plan
  einmal gut ist, nicht das Schicksal des penelopeischen Schleiers
  erlebt. Denn leider in allen übrigen irdischen Dingen lösen einem die
  Menschen gewöhnlich wieder auf, was man mit großer Sorgfalt gewoben
  hat, und das Leben gleicht jener beschwerlichen Art zu wallfahrten,
  wo man drei Schritte vor und zwei zurück tun muß ... Zwar ist,
  ich gestehe es, ein solcher Entschluß sehr illiberal, und nur
  Verzweiflung kann einen dazu bringen; es ist aber doch besser, ein
  für allemal zu entsagen, als immer einmal über den andern Tag rasend
  zu werden.

[Sidenote: Zeitungen]

Goethe bekam zwar immer einige Zeitungen in’s Haus, aber oft las er sie
Monate hindurch nicht. Nicht selten war er in die politischen Vorgänge
durch seine Stellung oder seine Freunde besser eingeweiht als die
Berichterstatter dieser Blätter, und dann entrüstete er sich über ihr
leichtfertiges Umspringen mit der Wahrheit und mit den Gefühlen der an
die Öffentlichkeit gezerrten Personen. Immer aber fürchtete er Zeit-
und Stimmungsräuber in ihnen. An Zelter schreibt er einmal:

  Es fällt einem doch mitunter auf, daß man durch die Kenntnis Dessen,
  was der Tag bringt, nicht klüger und nicht besser wird. Dieses ist
  von größter Wichtigkeit. Denn genau besehen ist es von Privatleuten
  doch nur eine Philisterei, wenn wir Demjenigen zuviel Anteil
  schenken, worin wir nicht +wirken+ können ... Also wollen wir uns
  nicht mit Allotrien beschäftigen.

Im Jahre 1831 machte er sich den Spaß, eine Zeitung von 1826 gebunden
zu lesen. Bei solcher Wiederholung wird „für den Menschen, der sich
in den Kreis seiner Tätigkeit zurückzieht,“ erst recht klar, „daß man
durch diese Tagesblätter zum Narren gehalten wurde, und daß weder für
uns, noch für die Unsrigen, besonders im Sinn einer höheren Bildung,
daher auch nicht das Mindeste abzuleiten war.“

       *       *       *       *       *

[Sidenote: Geselligkeit]

Die ‚Gesellschaft‘ und die ‚Geselligkeit‘ sind zwei Namen für ärgste
Zeiträuber und Persönlichkeitsvernichter. Goethe wußte ihnen von Jugend
auf zu begegnen. Nahm er an einer Gesellschaft teil, so behauptete
er sich ihr gegenüber; er spielte nicht Karten und verwickelte sich
nicht in Klatsch, sondern setzte auch hier sein Studium fort und
befestigte sich lehrend im Gelernten. Zeichnen, Musikhören, Betrachten
von Mineralien oder Medaillen oder Kupferstichen, Vorlesen, Lesen mit
verteilten Rollen, Schilderungen von fremden Ländern: Das waren seine
Unterhaltungen in geselligen Stunden. Auch Lustigsein, Trinken, Tanzen
und allerlei Possenspiel ließ er als gute Zeitbenutzung gelten.

Aber er war für sich allein zu reich, um häufiger Gesellschaft zu
bedürfen oder sie ertragen zu können. „Die Menschen sind wie das Rote
Meer“ sagte er einmal, „der Stab hat sie kaum auseinander gehalten,
gleich hinterher fließen sie wieder zusammen.“ Zu +diesen+ Menschen
gehörte Goethe nicht. „Ich weiß wohl“ sagte er schon 1784, „daß man,
um die Dehors zu salvieren, das Dedans zugrunde richten soll; aber
ich kann mich denn doch nicht wohl dazu verstehen.“ Als er drei
Jahre später nach Rom kam, vermied er sorgfältig alle vornehmen
Bekanntschaften und hielt sich zu guten Kameraden, die ihn nicht mit
gesellschaftlichen Pflichten behängten. Als seine Anwesenheit dennoch
bekannt wurde und er Einladungen und Besuche bekam, hatte er sich schon
im Kreise der „Künstlerburschen“ befestigt. „Jedem war es nicht um mich
zu tun“ schreibt er über die vornehmen Einladenden an Herder, „sondern
nur: seine Partei zu verstärken. Als Instrument wollten sie mich
brauchen, und wenn ich hätte hervorgehn, mich deklarieren wollen, hätte
ich auch als Phantom eine Rolle gespielt. Nun, da sie sehen, daß nichts
mit mir anzufangen ist, lassen sie mich gehen, und ich mache meinen
sicheren Weg fort.“

So lernte er freilich die römischen Kardinäle und Prinzessinnen nicht
kennen, aber er hatte Zeit und Raum, die ‚Iphigenie‘ umzuschreiben,
den ‚Egmont‘ und ‚Tasso‘ zu fördern, in die Geheimnisse der bildenden
Kunst einzudringen und nebenbei mit fröhlichen Gesellen vergnügt zu
leben.

       *       *       *       *       *

[Sidenote: Frau von Staël]

Man kann sich keinen größeren Gegensatz denken als Goethe und die Frau
v. Staël, die doch auch Dichterin und Denkerin sein wollte. Ihr war nur
in Gesellschaft wohl; sie mußte stets der Mittelpunkt lauten Lebens
sein; ihr herrliches Landgut bei Genf empfand sie als einen düstern
Ort der Verbannung, weil Napoleon ihr den Aufenthalt in Paris verboten
hatte. Als sie 1804 nach Weimar kam, empfanden Goethe und Schiller ihre
gesellschaftlichen Ansprüche recht unbequem, obwohl die geistreiche
Französin auch sie nicht kalt ließ. Goethe erzählt in seinen Annalen,
wie ihre Salongeschäftigkeit mit dem ernsten Schaffen der deutschen
Dichter und Gelehrten im Gegensatz war.

  Sie wollte zu einer gewissen Tätigkeit aufregen, deren Mangel sie uns
  vorwarf. Da sie keinen Begriff hatte von Dem, was Pflicht heißt, und
  zu welcher stillen, gefaßten Lage sich Derjenige, der sie übernimmt,
  entschließen muß, so sollte immerfort eingegriffen, augenblicklich
  gewirkt sowie in der Gesellschaft gesprochen und verhandelt werden.

Auch zeigte gerade die Staël manche Oberflächlichkeit, wie sie die
Geselligkeit anerzieht. Goethe erzählt weiter:

  Frau v. Staël trat einen Abend vor der Hofzeit bei mir ein und
  sagte gleich zum Willkommen mit heftiger Lebhaftigkeit: „Ich habe
  Euch eine wichtige Nachricht anzukündigen! Moreau ist arretiert mit
  einigen Anderen und des Verrats gegen den Tyrannen angeklagt!“ Ich
  hatte seit langer Zeit, wie Jedermann, an der Persönlichkeit des
  Edeln teilgenommen und war seinem Tun und Handeln gefolgt; ich rief
  im stillen mir das Vergangene zurück, um nach meiner Art daran das
  Gegenwärtige zu prüfen und das Künftige daraus zu schließen oder doch
  wenigstens zu ahnen. Die Dame veränderte das Gespräch, dasselbe, wie
  gewöhnlich, auf mannigfache gleichgültige Dinge führend, und als
  ich, in meinem Grübeln verharrend, ihr nicht sogleich gesprächig zu
  erwidern wußte, erneuerte sie die schon oft vernommenen Vorwürfe:
  ich sei diesen Abend wieder einmal gewohnterweise maussade und keine
  heitere Unterhaltung bei mir zu finden. Ich ward wirklich im Ernst
  böse, versicherte, sie sei keines wahren Anteils fähig; sie falle
  mit der Tür in’s Haus, betäube mich mit derbem Schlag und verlange
  sodann, man solle alsobald sein Liedchen pfeifen und von einem
  Gegenstand zum andern hüpfen.

So hütete sich Goethe immer vor Angriffen auf sein Gemütsleben; zur
Unterhaltung bedurfte er der Erschütterungen nicht, und seiner Arbeit
waren sie schädlich. Da er nun einmal weich und empfindlich war, so
schonte er sich demgemäß. In Tollhäuser, die jammervollen Vorläufer
unserer heutigen Anstalten für Geisteskranke, konnte ihn auch sein
Herzog nicht einzutreten bewegen. Ebenso ging er den Leichen aus dem
Wege. „Warum“ sagte er bei Wielands Tode zu Falk, „warum soll ich mir
die lieblichen Eindrücke von den Gesichtszügen meiner Freunde und
Freundinnen durch die Entstellungen einer Maske zerstören lassen?
Es wird ja dadurch etwas Fremdartiges, ja völlig Unwahres meiner
Einbildungskraft aufgedrungen. Ich habe mich wohl in acht genommen,
weder Herder, Schiller, noch die verwitwete Frau Herzogin Amalia im
Sarge zu sehen. Der Tod ist ein sehr mittelmäßiger Porträtmaler. Ich
will ein seelenvolleres Bild als seine Masken von meinen Freunden
im Gedächtnis aufbewahren.“ Auch auf Bildern ließ er sich nichts
Widerliches bieten. Sie sollten ihm Angenehmes sagen und ihn nicht an
die Anatomie oder den Schindanger erinnern. Vor frommen Bildern hatte
er auch deshalb Scheu, weil sie so oft Menschenquälerei darstellen.
Ebenso schonte er seine Phantasie gegen die verwirrenden Eindrücke
der Karikaturen. So wollte er im Alter keine Spottbilder auf Napoleon
sehen. „Ich darf mir dergleichen widrige Eindrücke nicht erlauben,
denn in meinem Alter stellt sich das Gemüt, wenn es angegriffen
wird, nicht so schnell wieder her wie bei Euch Jüngeren.“ Als seine
Schwiegertochter bei einem Sturze sich das Gesicht zerschunden hatte,
sah er sie nicht, bis sie wiederhergestellt war.

Genau so wandte er die Augen ab von politischen Vorgängen, die ihn sehr
ergriffen und innerlich beschäftigt hätten, ohne daß er doch Etwas dazu
tun konnte, also besonders von Kriegsereignissen und Revolutionen.
Seine anscheinende Gleichgültigkeit erregte dann oft Erstaunen und
Mißfallen; aber er wußte, weshalb er so handelte. Gleich nach den
Befreiungskriegen entstanden in den meisten deutschen Ländern sehr
unerquickliche Zustände; zwischen den Volksgenossen zeigte sich ein
politischer Haß, der zu schlimmen Taten führte. „Ungerechtigkeit und
Unbilligkeit sind an der Tagesordnung“ schrieb Goethe damals (am 16.
Januar 1818 an Antonie Brentano) und fuhr fort:

  An +meiner+ Tagesordnung ist die Maxime: man muß sich selbst schonen,
  wo Nichts geschont wird, und wie Diogenes sein Faß in der allgemeinen
  Verzweiflung hin und her wälzen.

       *       *       *       *       *

[Sidenote: Man muß sich selbst schonen]

Oft mußte Goethe alle Gesellschaft meiden und sich selbst von Frau und
Kind abschließen, wenn er Etwas fertig bringen wollte.

  Dem Gegenstande, der ihn beschäftigte, gehörte er jedesmal ganz an,
  identifizierte sich mit ihm nach allen Seiten und wußte, während er
  irgend eine wichtige Aufgabe sich gesetzt, alles seinem Ideengang
  Fremdartige standhaft abzulehnen ... Nicht immer jedoch gelang
  ihm jene augenblickliche Konzentration, und seiner übermächtigen
  Empfänglichkeit und Reizbarkeit wohl bewußt, griff er dann oft zu den
  extremsten Mitteln und schnitt plötzlich, wie im Belagerungszustande,
  alle Kommunikation nach außen gewaltsam ab. Kaum aber hat die
  Einsamkeit ihn von der Fülle anströmender Ideen entbunden, so
  erklärt er sich wieder befreit, neuen Interessen zugänglich, knüpft
  die früheren Fäden sorgsam an, und schwimmt und badet in frischen
  Elementen weit ausgebreiteten Daseins und Wissens, bis eine neue
  unbezwingliche Metamorphose ihn abermals zum Einsiedler umschafft.[28]

Gewöhnlich entwich Goethe auf Wochen oder Monate nach dem damals noch
recht kleinen Jena; seltener zog er in’s Gartenhaus, wo ihn dann die
Seinigen nicht stören durften. „Denn dabei bleibt es nun einmal: daß
ich ohne absolute Einsamkeit nicht das Mindeste hervorbringen kann.
Die Stille des Gartens ist mir auch daher vorzüglich schätzbar.“ So
schreibt er im August 1799 an Schiller, und drei Tage später heißt es
schon wieder: „Denn in einer so absoluten Einsamkeit, wo man durch gar
nichts zerstreut und auf sich selbst gestellt ist, fühlt man erst recht
und lernt begreifen, wie lang ein Tag sei.“ Wohl hatte Christiane oft
große Sehnsucht nach ihm, und die kurzen Besuche, die ihr gestattet
waren, erschienen ihr als allzu seltene Festtage. Dann schrieb sie ihm
wohl:

  Es wird fieleicht mit den arbeyden Hier beser gehn als sond du kanns
  hier wie in Jena in bete dickdiren und ich will des Morchens nicht
  ehr zu dir komm biß du mich verlangst auch der Gustell soll Frühe
  nicht zu dir komm. Komm nur balt.

Aber sie fügte sich auch willig, wenn er in seiner freundlichen Weise
ihr meldete, daß die gesetzte Aufgabe noch nicht bewältigt sei, und
unverdrossen sorgte sie dann, was sie an guten Speisen und Getränken
für ihn den Botenweibern mitgeben könne.

       *       *       *       *       *

[Sidenote: Briefwechsel]

Die Geselligkeit der Entfernten ist der Briefwechsel. Auch die Antwort
fordernden Briefschreiber gehören zu den ärgsten Zeiträubern, und
wenn Goethe einmal sagt: „Wer für die Welt etwas tun will, muß sich
nicht mit ihr einlassen“, so dachte er dabei nicht zuletzt an die
Übel der schriftlichen Unterhaltung. „Mit Briefantworten muß man
~nolens volens~ Bankerott machen“ sagte er 1830 zum Kanzler und drei
Jahre früher zu Eckermann: „Sie sehen ja selbst, wie Das bei mir geht
und welche Zusendungen von allen Ecken und Enden täglich bei mir
einlaufen, und müssen gestehen, daß dazu mehr als +ein+ Menschenleben
gehören würde, wenn man Alles nur flüchtig erwidern wollte.“ Schon
in jungen Jahren kam er zu dem Vorsatz, eine große Zahl von Briefen
nicht zu beantworten. Der ihm befreundete Statthalter Karl v. Dalberg
in Erfurt, der nachmalige Großherzog von Frankfurt, bekam eine Unmenge
literarischer Zusendungen, weil er als ein sehr wohlwollender Liebhaber
vieler Wissenschaften und Künste bekannt war. In einem Briefe an Zelter
erzählt Goethe von diesem alten Freunde:

  Nun besaß er zwar ausgebreitete Kenntnisse, um solchen Fällen genug
  zu tun, aber wo hätte er Zeit und Besinnung hergenommen, um einem
  Jeden vollkommene Gerechtigkeit widerfahren zu lassen? Er hatte sich
  daher einen gewissen Stil angewöhnt, wodurch er die Leerheit seiner
  Antworten verschleierte und Jedem etwas Bedeutendes zu sagen schien,
  indem er etwas Freundliches sagte. Es müssen dergleichen Briefe
  noch zu Hunderten herumliegen. Ich war von solchen Erwiderungen
  öfters Zeuge; wir scherzten darüber, und da ich eine unbedingte
  Wahrheitsliebe gegen mich und Andere zu behaupten trachtete, so
  schwur ich mir hoch und teuer, in gleichem Falle, mit dem mich meine
  damalige Zelebrität schon bedrohte, mich niemals hinzugeben, indem
  sich dadurch denn doch zuletzt alles reine, wahrhafte Verhältnis zu
  den Mitlebenden auflösen und zerstieben muß. Daher folgt denn, daß
  ich von jeher seltener antwortete, und dabei bleibt’s denn auch jetzt
  in höheren Jahren, aus einer doppelten Ursache: keine leeren Briefe
  mag ich schreiben, und bedeutende führen mich ab von meinen nächsten
  Pflichten und nehmen mir zuviel Zeit weg.

       *       *       *       *       *

[Sidenote: Heimlichkeit]

Die Absonderung von den Menschen um des Werkes willen zeigte sich bei
Goethe auch oft als Verschwiegenheit und Heimlichtun. Der Kanzler
erzählt:

  Das Geheimnis hatte überhaupt stets für Goethe einen ganz besonderen
  Reiz, vorzüglich darum, weil es vor Entweihung würdiger Vorsätze und
  Bestrebungen sichert, ihr Gelingen erleichtert und die Willenskräfte
  der Verbündeten steigert. So hat er denn auch im Leben, ja, selbst
  in alltäglichen Vorkommnissen diese Liebe zum Geheimnis betätigt und
  nur selten und ungern über die nächsten Anordnungen und Beschlüsse
  sich im voraus mitgeteilt. Noch unangenehmer war es ihm, wenn man
  sein Vorhaben erriet oder Irgendetwas, was er erst später vorzeigen
  oder eröffnen wollte, vorzeitig entdeckte oder zur Sprache brachte.
  Seine Naturbetrachtungen hatten ihn gelehrt, wie alles Große und
  Bedeutende nur im stillen sich vorbereite, wachse und entwickle;
  seine Welterfahrung ihm bewiesen, daß die edelsten Unternehmungen,
  voreilig enthüllt, meist den feindseligsten Gegenwirkungen ausgesetzt
  sind.

Goethe spricht diese Sinnesart öfters in seinen Gedichten aus. Sein
Märchen vom getreuen Eckhart schließt: „Verplaudern ist schädlich,
verschweigen ist gut: +dann+ füllt sich das Bier in den Krügen.“ In den
‚Römischen Elegien‘ erhebt er die Verschwiegenheit gar in den Rang der
Götter:

    Zieret Stärke den Mann und freies mutiges Wesen,
    O so ziemet ihm fast tiefes Geheimnis noch mehr.
    Städtebezwingerin du, Verschwiegenheit! Fürstin der Völker!
    Teure Göttin, die mich sicher durch’s Leben geführt!

Und in der ‚Natürlichen Tochter‘ wiederholt er:

    Geheimnis nur verbürget unsre Taten;
    Ein Vorsatz, mitgeteilt, ist nicht mehr dein!
    Der Zufall spielt mit deinem Willen schon;
    Selbst wer gebieten kann, muß überraschen.

Gern erzählte Goethe, wie er in Jena die Universitätsbibliothek in
Ordnung gebracht habe.[29] Sie befand sich in einem entsetzlichen,
feuchten und beschränkten Raume. Goethe, mit Vollmacht von den
Erhalter-Fürsten ausgestattet, machte den Professoren den Vorschlag,
ihm den an die Bibliothek anstoßenden Konferenzsaal der medizinischen
Fakultät zu überlassen, damit er die bisherige Bibliothek besser
unterbringen und auch die vom Großherzog geschenkten 13000 Bände
hinzufügen könnte. Man lehnt ab, verlangt als Ersatz einen neuen
Saal, der zwar versprochen, aber nicht sofort erbaut werden kann. Das
bloße Versprechen will dem akademischen Kollegium nicht genügen; der
verlangte Saal wird verschlossen, und der Schlüssel „läßt sich nicht
finden.“ Nun läßt Goethe einen Maurer in die alte Bibliothek kommen
und sagt ihm: „Die Scheidemauer da muß stark sein, denn sie trennt
zwei Quartiere voneinander. Machen Sie sich einmal daran, mein Freund,
Dies zu untersuchen.“ Der Maurer legt Hand an; bald ist der Putz
weggestoßen; eine leichte Ziegelwand wird sichtbar. Dann entsteht ein
Loch, wodurch man die alten Gemälde des Konferenzsaales: Gelehrte in
großen Perücken, schon erblicken kann. „Nur weiter, mein Freund!“ sagt
Goethe, „ich sehe noch nicht deutlich genug.“ Das Loch wird größer.
„Immer noch ein wenig! Genieren Sie sich ja nicht! Tun Sie, als ob
Sie zu Hause wären.“ Der Maurer schlägt weiter ein, und bald ist die
Öffnung so, daß sie als Tür gelten kann. Nun dringen die Bibliothekare
hindurch und werfen Bücher auf den Fußboden des eroberten Saales,
als Zeichen der Besitzergreifung. Im Handumdrehen sind Bänke, Pulte,
Stühle, Gemälde weggeräumt; nach ein paar Tagen stehen ein paar tausend
Bücher in ihren Regalen. Ganz verblüfft erscheinen die Professoren
an der Tür des neuen Bibliotheksaales, als sie endlich erfahren, was
hier vorgegangen ist. Sie schelten und zürnen und -- fügen sich in’s
Geschehene.

Poetisches und wissenschaftliches Schaffen ist von solchem politischen
Handeln grundverschieden, aber auch als Dichter war Goethe für größte
Heimlichkeit. Er wunderte sich, daß Schiller seine entstehenden Werke
mit ihm so gern durchsprach, oft Szene für Szene eines Dramas. Solches
Offenbaren unfertiger Dichtung sei ganz gegen seine Natur gewesen,
sagte Goethe zu Eckermann: „Ich trug Alles still mit mir herum, und
Niemand erfuhr in der Regel Etwas, als bis es vollendet war.“ Aber
Goethe sagte doch auch über seine poetischen Werke: „Es ist nicht
gut, daß der Mensch allein sei, und besonders nicht, daß er allein
arbeite; vielmehr bedarf er der Teilnahme und Anregung, wenn Etwas
gelingen soll.“ Er bedurfte der Anregung von außen, um seine Träume
niederzuschreiben; er empfand es auch als große Förderung, wenn Kenner
wie Herder, Wieland und Schiller seine fertigen Werke durchgingen und
lobten und tadelten; aber im eigentlichen Dichten, im ersten Schaffen,
hätte der beste Helfer und Ratgeber ihn nur gestört und verwirrt.
Sein Schaffen war ein unbewußtes, nachtwandlerisches; er trug seine
Gestalten und Geschichten oft jahrelang im Geiste herum, „als anmutige
Bilder, als schöne Träume, die kamen und gingen, und womit die
Phantasie mich spielend beglückte.“ Wenn sie ganz durchlebt waren,
standen sie dann auch rasch auf dem Papiere. „Während wir Andern“,
schrieb Schiller an Heinrich Meyer, „mühselig sammeln und prüfen
müssen, um etwas Leidliches langsam hervorzubringen, darf er nur leis
an dem Baum schütteln, um sich die schönsten Früchte, reif und schwer,
zufallen zu lassen.“

[Sidenote: Arbeitsgemeinschaft]

Bei wissenschaftlichen Arbeiten ist dagegen viel mehr Geselligkeit
nötig und gegenseitige Unterstützung unentbehrlich, zumal wenn man,
wie der alte Goethe, große Stücke der Welt übersehen und recht viel
Wissensstoff verarbeiten möchte. Um der Wissenschaft willen trat er
mit vielen Menschen verschiedenster Berufsart und Landsmannschaft in
Verkehr.

  Sobald Menschen von scharfen, frischen Sinnen auf Gegenstände
  aufmerksam gemacht werden, findet man sie zu Beobachtungen so geneigt
  als geschickt. Ich habe Dieses oft bemerken können, seitdem ich die
  Lehre des Lichts und der Farben mit Eifer behandle und, wie es zu
  geschehen pflegt, mich auch mit Personen, denen solche Betrachtungen
  sonst fremd sind, von Dem, was mich soeben interessiert, unterhalte.
  Sobald ihre Aufmerksamkeit nur rege war, bemerkten sie Phänomene,
  die ich teils nicht gekannt, teils übersehen hatte, und berichtigten
  dadurch gar oft eine zu voreilig gefaßte Idee, ja gaben mir Anlaß,
  schnellere Schritte zu tun ... Es gilt also auch hier, was bei
  so vielen andern menschlichen Unternehmungen gilt, daß nur das
  Interesse Mehrerer, auf +einen+ Punkt gerichtet, etwas Vorzügliches
  hervorzubringen imstande sei. Hier wird es offenbar, daß der Neid,
  welcher Andere so gern von der Ehre einer Entdeckung ausschließen
  möchte, daß die unmäßige Begierde, etwas Entdecktes nur nach seiner
  Art zu behandeln und auszuarbeiten, dem Forschen selbst das größte
  Hindernis sei. Ich habe mich bisher bei der Methode, mit Mehreren
  zu arbeiten, zu wohl befunden, als daß ich nicht solche fortsetzen
  sollte.[30]

Goethes Briefwechsel im Alter ist denn auch vorwiegend ein
wissenschaftlicher, und seine Altersfreunde bildeten um ihn herum eine
Haus-Akademie der Wissenschaften.

       *       *       *       *       *

[Sidenote: Erzwungenes Hervorbringen]

Um noch einmal zur Poesie zurückzukehren, so war Goethe geradezu der
Meinung, daß Schiller sich durch seine Arbeitsart getötet habe. Zu
Conta sagte er 1820: „Ich behauptete immer, der Dichter dürfe nicht
eher an’s Werk gehen, als bis er einen unwiderstehlichen Drang zum
Dichten fühle ... Schiller dagegen wollte Das nicht gelten lassen. Er
behauptete, der Mensch müsse können, was er wolle, und nach dieser
Manier verfuhr er auch.“ Manchmal warnte Goethe in seiner vorsichtigen
Weise den Freund: „Ich fürchtete, die Musen niemals wiederzusehen“
schreibt er 1798 an Schiller, „wenn man nicht aus Erfahrung wüßte,
daß diese gutherzigen Mädchen selbst das Stündchen abpassen, um ihren
Freunden mit immer gleicher Liebe zu begegnen.“

Der Gedanke, daß man ohne Stimmung und Neigung nichts Tüchtiges
hervorbringen kann, läßt sich auch dahin erweitern, daß wir uns bemühen
sollen, die vorgesetzte Arbeit zu +lieben+; zuweilen kann man Das ja
erreichen. In einem Briefe an Zelter spricht Goethe von einer neuen
Bühnenbearbeitung des ‚Götz‘:

  Ich begriff nicht, warum ich seit einem Jahre in dieser Arbeit
  penelopeisch verfuhr, und, was ich gewoben hatte, immer wieder
  aufdröselte. Da las ich in Ihrem Aufsatz: +was man nicht liebt, kann
  man nicht machen+. Da ging mir ein Licht auf, und ich sah recht gut
  ein, daß ich die Arbeit bisher als ein Geschäft behandelt hatte, das
  eben auch so mit andern weggetan sein sollte, und deswegen war es
  auch geschehen, wie’s getan war, und hatte keine Dauer. Nun wendete
  ich mehr Aufmerksamkeit und Neigung mit mehr Sammlung auf diesen
  Gegenstand, und so wird das Werk, ich will nicht sagen gut, aber doch
  fertig.

       *       *       *       *       *

[Sidenote: Wein als Reizmittel]

Manche Dichter brauchen starken Kaffee oder Wein, um die Stimmung
zu erzwingen. Goethe spottete gegen Schiller über Jean Paul, der
nur Kaffee zu trinken brauche, „um so gerade von heiler Haut Sachen
zu schreiben, worüber die Christenheit sich entzückte.“ Und wenn er
um dieselbe Zeit von sich selber sagte, er könne sechs Monate seine
Arbeit voraussagen, weil er sich durch eine gescheidte leibliche
Diät vorbereite, so war Das kein Selbstlob, sondern eine verhüllte
Mahnung an den Zuhörer, nämlich eben an Jean Paul: er möge doch seine
Lebensweise im Essen und Trinken einer nötigen Prüfung unterziehen.

Ausführlich behandelte Goethe dieses wichtige Thema der Reizmittel
zu geistiger Arbeit im März 1828 in einem Gespräche mit Eckermann.
Dieser fragte: „Gibt es denn kein Mittel, um eine produktive Stimmung
hervorzubringen oder zu steigern?“ Und Goethe erwiderte:

  Jede Produktivität +höchster+ Art, jeder große Gedanke, der Früchte
  bringt und Folgen hat, steht in Niemandes Gewalt und ist über aller
  irdischen Macht erhaben. Dergleichen hat der Mensch als unverhoffte
  Geschenke von oben, als reine Kinder Gottes zu betrachten, die er
  mit freudigem Danke zu empfangen und zu verehren hat. Es ist dem
  Dämonischen verwandt, das übermächtig mit ihm tut, wie es beliebt,
  und dem er sich bewußtlos hingibt, während er glaubt, er handle aus
  eigenem Antriebe. In solchen Fällen ist der Mensch oftmals als ein
  Werkzeug einer höheren Weltregierung zu betrachten, als ein würdig
  befundenes Gefäß zur Aufnahme eines göttlichen Einflusses. -- --

  Sodann aber gibt es eine Produktivität anderer Art, die schon eher
  irdischen Einflüssen unterworfen ist und die der Mensch schon mehr
  in seiner Gewalt hat, obgleich er auch hier noch sich vor etwas
  Göttlichem zu beugen Ursache findet. In diese Region zähle ich
  alles zur Ausführung eines Plans Gehörige, alle Mittelglieder einer
  Gedankenkette, deren Endpunkte bereits leuchtend dastehen; ich zähle
  dahin alles Dasjenige, was den sichtbaren Leib und Körper eines
  Kunstwerks ausmacht.

Goethe zeigte nun diesen Unterschied der mehr göttlichen und der mehr
menschlichen Produktivität am ‚Hamlet‘; gerade dessen Dichter machte
ihm so recht den Eindruck eines gesunden, vollkräftigen Menschen, der
jederzeit eine frühere geniale Eingebung im einzelnen und kleinen
verwerten konnte. Dann schienen seine Gedanken von Shakespeare auf
Schiller überzufließen.

  Gesetzt aber, eines dramatischen Dichters körperliche Konstitution
  wäre nicht so fest und vortrefflich und er wäre vielmehr häufigen
  Kränklichkeiten und Schwächlichkeiten unterworfen, so würde die
  zur täglichen Ausführung seiner Szenen nötige Produktivität sicher
  sehr häufig stocken und oft wohl tagelang gänzlich mangeln. Wollte
  er nun etwa durch geistige Getränke die mangelnde Produktivität
  herbeinötigen und die unzulängliche dadurch steigern, so würde Das
  allenfalls auch wohl angehn, allein man würde es allen Szenen, die
  er auf solche Weise gewissermaßen +forciert+ hätte, zu ihrem großen
  Nachteil anmerken. Mein Rat ist daher, +nichts zu forcieren+ und
  alle unproduktiven Tage und Stunden lieber zu vertändeln und zu
  verschlafen, als in solchen Tagen Etwas machen zu wollen, woran man
  später keine Freude hat.

Eckermann warf ein, daß er vom Weine doch eine bessere Meinung habe;
mindestens führe sein Genuß zu Entschlüssen, und Das sei doch auch eine
Art Produktivität. Da mußte Goethe an seine Verse im ‚Divan‘ denken:
„Wenn man getrunken hat, weiß man das Rechte,“ aber sogleich kam er
doch auf die wahren, großen Ernährer des Geistes zu sprechen:

  Es liegen im Wein allerdings produktivmachende Kräfte sehr
  bedeutender Art; aber es kommt dabei Alles auf Zustände und Stunde
  an, und was dem Einen nützt, schadet dem Andern. Es liegen ferner
  produktivmachende Kräfte in der +Ruhe+ und im +Schlaf+; sie liegen
  aber auch in der +Bewegung+. Es liegen solche Kräfte im +Wasser+
  und ganz besonders in der +Atmosphäre+. +Die frische Luft des
  freien Feldes ist der eigentliche Ort, wo wir hingehören!+ Es ist,
  als ob der Geist Gottes dort den Menschen unmittelbar anwehte und
  eine göttliche Kraft ihren Einfluß ausübte. Lord Byron, der täglich
  mehrere Stunden im Freien lebte, bald zu Pferde am Strande des
  Meeres reitend, bald im Boote segelnd oder rudernd, dann sich im
  Meere badend und seine Körperkraft im Schwimmen übend, war einer der
  produktivsten Menschen, die je gelebt haben.

Ein andermal tadelte Goethe seines großen Freundes Arbeitsart noch
schärfer:

  Schiller hat nie viel getrunken, er war sehr mäßig; aber in solchen
  Augenblicken körperlicher Schwäche suchte er seine Kräfte durch etwas
  Likör oder ähnliches Spirituoses zu steigern. Dies aber zehrte an
  seiner Gesundheit und war auch den Produktionen selbst schädlich.
  Denn was gescheite Köpfe an seinen Sachen aussetzen, leite ich aus
  dieser Quelle her. Alle solche Stellen, von denen sie sagen, daß sie
  nicht just sind, möchte ich pathologische Stellen nennen, indem er
  sie nämlich an solchen Tagen geschrieben hat, wo es ihm an Kräften
  fehlte, um die rechten und wahren Motive zu finden.

       *       *       *       *       *

[Sidenote: Plan und Ordnung]

Als Dichter mußte Goethe oft untätig sein; er konnte und wollte nicht
der Aufforderung seines Theaterdirektors folgen: „Gebt ihr euch einmal
für Poeten, So +kommandiert+ die Poesie!“ Aber deshalb brauchte
er keine einzige Stunde zu verlieren: er war ja auch Gelehrter,
Verwaltungsmann und Freund seiner Freunde.

  Wechsel der Tätigkeit war ihm die einzige Erholung, und wenn man aus
  seinen Tagebüchern, die er regelmäßig in zweien Abschnitten des Tages
  diktierte, ersieht, wie noch im höchsten Lebensalter er von frühster
  Morgenstunde an in ruhig abgemessener Folge sich einer Unzahl von
  literarischen Arbeiten, brieflichen Mitteilungen, geschäftlichen
  Expeditionen, Prüfung und Beschauung von eingesendeten Produktionen
  und Kunstwerken, ernster und heiterer Lektüre der mannigfachsten Art
  gewidmet, so muß man es ihm hoch anrechnen, ja bewundern, daß er
  gleichwohl sich geneigt finden ließ, fast täglich einige Stunden
  besuchenden Fremden oder Einheimischen hinzugeben.[31]

Die große Ordnung, auf die er streng hielt, das Planvolle in seinen
Arbeiten war ein ferneres wichtiges Mittel, wodurch er sich vor
Zeitverlust schützte. Jahre oder Jahrzehnte hindurch sammelte er
Material für zukünftige Schriften. Als Knebel über Lukrez schrieb,
beklagte es Goethe, daß der alte Freund keine Kollektionen, keine Akten
darüber habe; darum sei es ihm schwer, produktiv und positiv zu sein.
„Da habe ich ganz anders gesammelt, Stöße von Exzerpten und Notizen
über jeden Lieblingsgegenstand!“

Für jede Arbeit entwarf er ferner eine sorgfältige Disposition,
überdachte die Hauptteile und Unterabteilungen, sammelte dann für die
einzelnen Kapitel Tatsachen und Gedanken; so konnte er bald an diesem,
bald an jenem Teile des Werkes schreiben, je nachdem er aufgelegt war,
und so kamen ihm seine Vorarbeiten oft nach Jahrzehnten noch zugute.

  Bei dem vielen Zeug, das ich vorhabe, würde ich verzweifeln, wenn
  nicht die große Ordnung, in der ich meine Papiere halte, mich in den
  Stand setzte, zu jeder Stunde überall einzugreifen, jede Stunde in
  ihrer Art zu nutzen und Eins nach dem Andern vorwärts zu schieben.

So schreibt er selber an Schiller im Mai 1798, und der Kanzler urteilte
nach seinem Tode, seine Ordnungsliebe sei fast bis in’s Unglaubliche
gegangen.

  Nicht nur, daß alle eingegangenen Briefe und ebenso die Konzepte oder
  Kopien aller abgesendeten monatlich in gesonderte Bände geheftet und
  über einzelne Unternehmungen, z. B. selbst über jeden Maskenzug, den
  er anordnete, wieder eigene Aktenstücke gebildet wurden -- er entwarf
  auch periodische Tabellen über die Ergebnisse seiner vielseitigen
  Tätigkeit, Studien und Fortschritte persönlicher oder innerer
  Verhältnisse, aus denen dann am Jahresschlusse wieder gedrängte
  Hauptübersichten zusammengestellt wurden.

Selbst die Zeitungen, die er las, wurden aktenmäßig geheftet.

Wichtiger als dieses Sammeln und Einordnen ist die Ordnung und
Beherrschung der Arbeitsstoffe durch fleißiges Bedenken. In Goethes
Tagebüchern lesen wir neben andern Tätigkeiten oft: „Das Vorliegende
durchdacht“ oder „das Jüngstvergangene überdacht“ oder „Überlegung des
Gegenwärtigen“ oder nach einem wichtigeren Ereignis; „Betrachtungen
darüber.“ So handelte er nach seiner Lebensregel: „Tun und Denken,
Denken und Tun“ und ging nicht unter in den Massen, die auf ihn
eindrangen.

       *       *       *       *       *

+Schnellen+ Erfolgen jagte Goethe nicht nach, auf Anerkennung konnte er
warten, und der Menge zu gefallen, war nie sein Bestreben. So hielt er
es z. B. bei den ihm unterstellten Sammlungen und Schulen in Weimar,
Jena und Eisenach.

  Es war keine geringe Aufgabe, mit den doch immerhin sehr beschränkten
  Mitteln den Anforderungen fortschreitender Ausbildung auch nur
  einigermaßen Genüge zu tun. Es galt ein sorgsames Abwägen des
  Notwendigen, wahrhaft Gedeihlichen, ein standhaftes Ablehnen des nur
  scheinbar Nützlichen, bloß der augenblicklichen Neigung Zusagenden.
  Goethe ging, wie bei seinen eigenen Kunstsammlungen, von der Maxime
  aus, lieber aus kleinen Anfängen jedes Institut sich folgerecht
  entwickeln, allmählich heranwachsen und ausbilden zu lassen, als mit
  unverhältnismäßiger Anstrengung von vornherein nach dem Imposanten
  streben, ein Ausgezeichnetes gleichsam improvisieren zu wollen. Nicht
  um den äußern Schein und Prunk, sondern darum war es ihm zu tun, daß
  es in jedem Fache nicht an Gelegenheit und zweckmäßiger Anleitung zu
  stufenweiser Fortbildung fehle, daß in jungen aufstrebenden Männern
  Sinn und Geschick erweckt und befestigt werde, auf individuell
  zusagender Bahn frisch und kräftig vorzuschreiten.[32]

[Sidenote: Folgerechtes Bemühen]

Oft hat er die ‚Folge‘, d. h. die Beständigkeit und Konsequenz im
Arbeiten, gerühmt: sie könne auch vom Kleinsten angewendet werden,
sie verfehle ihr Ziel selten, da ihre stille Macht im Laufe der Zeit
unaufhaltsam wachse; wo man nicht mit Folge wirken könne, sei es
geratener, gar nicht anzufangen. Er legte darum großen Wert darauf, daß
man ihn als treuen Arbeiter schätze und nicht etwa seiner Genialität
zuschreibe, was er durch Fleiß erworben. In seinen alten Tagen wurde er
gewahr, daß namentlich im Auslande die Ansicht verbreitet war: er, der
Poet, habe sich einen Augenblick von seinem Wege ab- und der Botanik
zugewendet und sogleich hochbedeutende Entdeckungen über die Gesetze
der Pflanzenbildung gemacht. Um dieser Meinung entgegenzutreten,
verfaßte er alsbald einen Aufsatz, in dem er ausführte, wie
viele Jahre er Botanik studiert habe, und er betonte, daß es dem
wissenschaftlichen Bestreben schädlich sei, wenn man einen falschen
Glauben an Geistesblitze von Dilettanten verbreite. „Nicht also durch
eine außerordentliche Gabe des Geistes, nicht durch eine momentane
Inspiration, noch unvermutet und auf einmal, sondern durch folgerechtes
Bemühen bin ich endlich zu einem so erfreulichen Resultate gelangt.“

       *       *       *       *       *

Auch in kleinen und äußerlichen Dingen zwang Goethe sich und Andere zum
langsamen, sorgfältigen Arbeiten.

  Jeder schriftliche Erlaß, das kleinste Einladungsbillett mußte auf
  das reinlichste und zierlichste geschrieben, gefaltet, besiegelt
  werden. Alles Unsymmetrische, der geringste Fleck oder falsche Strich
  war ihm unausstehlich.[33]

Damit die Korrekturen in seinen Manuskripten in der reinlichsten und
deutlichsten Weise geschehen konnten, hatte er einen Topf mit Kleister
und Pinsel in der Nähe, um an solchen Stellen, wo ihm der Ausdruck
nicht mehr gefiel, die Handschrift mit Stückchen neuen Papiers zu
überkleben. So berichtet Eckermann, und Carus in Dresden erzählt:

  Wirklich erinnere ich mich keiner Sendung von Goethe, so Bücher,
  kleiner Geldsendungen für Kupferstecher u. dgl., die nicht auf’s
  zierlichste verpackt gewesen wäre ... Nicht minder hatte ich ja
  gesehen, wie in seinen Zimmern und Portefeuillen eine strenge,
  musterhafte, an Pedanterie grenzende Ordnung und Reinlichkeit
  herrschend war, und fern von aller ostensibler liederlicher
  sogenannter Genialität, konnte die Ordnung und Zierlichkeit seiner
  äußern Umgebung ein wohltuendes symbolisches Bild geben von der
  feinen Ordnung und lichten Schönheit seines inneren geistigen
  Lebens.[34]

       *       *       *       *       *

[Sidenote: Beschränkung]

Die Solidität und Gewissenhaftigkeit, die wir an Goethes Arbeit immer
wieder wahrnehmen, bedeutet sehr oft auch Begrenzung der schönsten
Vorsätze, Verkleinerung der Ideale, Verzicht auf manchen genialen Traum.

    Vergebens werden ungebundene Geister
    Nach der Vollendung reiner Höhe streben.
    Wer Großes will, muß sich zusammenraffen;
    In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister,
    Und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben.

Wir staunen, wieviel Goethe als Dichter, Gelehrter, Staatsdiener
ausgeführt hat; aber es ließe sich leicht beweisen, daß er noch viel
mehr Pläne nur ausgedacht und begonnen hat, daß er viele seiner besten
Einfälle absterben ließ, um die übernommenen Pflichten getreulich
zu erfüllen. Als Dichter hat er uns von groß angelegten Werken mehr
Anfänge hinterlassen als fertige Stücke. Als Staatsmann dachte
auch er sich große soziale oder wirtschaftliche oder pädagogische
Verbesserungen aus; ~in praxi~ aber widmete er dann seine Stunden
einem Wegebau, einer Uferbefestigung, einer militärischen Aushebung,
einer Verbesserung der Universitätsbibliothek oder was sonst zunächst
getan werden mußte. So trug er die Last des Tages, statt den großen
Reformator zu spielen.

In der ‚Achillëis‘ und im ‚Faust‘ hat er uns gestanden, was ihm als
das lockendste oder befriedigendste Menschenwerk erschien: wie der
große Quäker William Penn als Kolonisator auf jungfräulichem Boden ein
neues Gemeinwesen schaffen, „auf freiem Grund mit freiem Volke stehn!“
Das ist herrlicher, als was der junge Held Achilles vollbrachte, der
hingerissen wurde, ehe er zum ruhigen, schaffenden Manne reifte. Denn:

  ... Ein fürstlicher +Mann+ ist so nötig auf Erden, Daß die jüngere
  Wut, des wilden Zerstörens Begierde Sich als mächtiger Sinn, als
  schaffender, endlich beweise, Der die Ordnung bestimmt, nach welcher
  sich Tausende richten. Nicht mehr gleicht der Vollendete dann dem
  stürmenden Ares, Dem die Schlacht nur genügt, die männertötende!
  Nein, er Gleicht dem Kroniden selbst, von dem ausgehet die Wohlfahrt.
  Städte zerstört er nicht mehr, er baut sie: fernem Gestade Führt er
  den Überfluß der Bürger zu; Küsten und Syrten Wimmeln von neuem Volk,
  des Raums und der Nahrung begierig.

„Wären wir zwanzig Jahre jünger!“ sprach Goethe wohl zu Meyer, wenn ihn
solche Tagesträume beschlichen, und wandte sich wieder der Arbeit zu,
die das größte Recht auf ihn hatte.


  [28] Kanzler F. v. Müller in der Erfurter Gedächtnisrede.

  [29] Das Folgende nach Sorets Bericht.

  [30] Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt 1793.

  [31] F. v. Müller in der Erfurter Rede.

  [32] F. v. Müller in der Erfurter Rede.

  [33] F. v. Müller in der Erfurter Rede.

  [34] Daß mit dieser weitgehenden Ordnung auch einige Unordnung
       verbunden war, ist schon S. 33 angedeutet. Gerade in der
       Studierstube, in der er zumeist lebte, findet man heute, wie bei
       seinem Scheiden, das Mannigfaltigste unter- und nebeneinander;
       die Bücher sind wie vom Zufall hier und dort aufgestellt und
       auch wie vom Zufall ausgesucht. W. v. Oettingen schildert es
       genauer; vgl. Stunden mit Goethe 8. S. 217.




XIV.

Das Lernen.


Als Goethe im Alter die Lebensgeschichte des englischen Dichters
Sterne las, fiel ihm darin der Ausdruck the ruling passion auf. Unter
unsern Trieben reißt +einer+ die Führung an sich und bestimmt dann vor
den andern unser Handeln und Erleben. Menschen, die eigentlich die
gleichen Anlagen haben, entwickeln sich sehr verschieden, je nach der
Eigenschaft, die zur Herrschaft gelangt: im Ersten waltet der Ehrgeiz
vor, im Zweiten die Vorsicht, im Dritten das Verlangen nach Genüssen,
im Vierten der Drang zur Tätigkeit usw. Wenn wir die Summe von
Goethes langem Leben ziehen, so müssen wir als sein größtes geistiges
Bedürfnis: das Lernen nennen.

Zuerst zeigte sich dieser Trieb, wie bei uns allen, als kindliche
Wißbegier und sehr bald auch als Stolz auf die zu Tage tretende große
Begabung und seine ungewöhnlichen Kenntnisse. Zeitweilig erscheint der
Jüngling als ein eingebildeter junger Gelehrter: man sieht ihn auf dem
Wege zum hochberühmten Professor. Aber das vom Vater ihm auferlegte
Fach sagte ihm wenig zu, und von sich aus erwählt er auch keine andere
Wissenschaft mit Entschiedenheit. Sein Wissen und Können ist ein
zerstreutes; er ist ein Liebhaber in allerlei Gebieten; den Doktorgrad,
genauer den Lizentiatengrad, erwirbt er nur auf die bequemste Weise
und ohne Ehre. Die gelehrten Pedanten haßt Jeder, der vor ihnen nicht
bestehen kann; aber freilich hatte Goethe ein angeborenes Recht, sich
für einen Besseren zu halten. Er ward sich des „Genies“ bewußt, eines
höheren, wo nicht göttlichen Geistes, der kürzere oder längere Zeit
bei oder in uns wohnt, uns ungewöhnliche, unbegreifliche Kräfte gibt
und uns höhere Erkenntnisse vermittelt. Dies Genie braucht der damit
Beglückte nur walten zu lassen; er braucht nur die Vorbedingungen zu
schaffen, daß dieser Anhauch Gottes ungestört, ungehemmt stattfinden
kann. Er wird also seine Kraft nicht verzehren, seinen Geist nicht
verdummen mit beständigem Lesen und Schreiben.

    Das Pergament, ist Das der heil’ge Bronnen,
    Woraus ein Trunk den Durst auf ewig stillt?
    Erquickung hast du nicht gewonnen,
    Wenn sie dir nicht aus eigner Seele quillt.

Es ist kein Zufall, daß gerade Goethe von allen Dichtern uns am
eindringlichsten den Drang nach Erkenntnis vor die Sinne und Seele
gebracht hat: Faust in den ersten Szenen des großen Dramas ist durch
ihn die persönliche Gestaltung des stärksten und höchsten Lernenwollens
geworden. Diesen faustischen Drang fühlte Goethe selber:

    Daß ich erkenne, was die Welt
    Im Innersten zusammenhält,
    Schau’ alle Wirkenskraft und Samen.

In seinen jüngeren Jahren nannten ihn die Leute oft ehrgeizig; aber
was sie für Ehrgeiz hielten, war sein Bedürfnis, ein großes Stück Welt
erkennend in sich aufzunehmen, es zu verarbeiten, es zu durchleuchten,
sich mit der Welt zu vereinigen.

Sein Leben wurde freilich durchaus kein faustisches.

„Ich bin nur durch die Welt gerannt“ sagt Faust, auf Jahrzehnte
zurückschauend;

    Ich habe nur begehrt und nur vollbracht
    Und abermals gewünscht und so mit Macht
    Mein Leben durchgestürmt: erst groß und mächtig,
    Nun aber geht es weise, geht bedächtig ...

[Sidenote: Genie und Fleiß]

Goethe resignierte schon in jungen Jahren. Er hatte zwar stets Ursache,
das Genie zu verehren und die goldnen Gaben dankbar hinzunehmen, die
den Sonntagskindern von oben zufallen; aber er ehrte auch den Fleiß und
sammelte die Groschen und Pfennige, die die Tagesarbeit uns einbringt.
Er hätte gern die höchsten Erkenntnisse vom Himmel heruntergeholt und
mit Gott selber über die Geheimnisse der Schöpfung geredet; aber er
begnügte sich und freute sich, wenn er die „Urphänomene“ fand, die
Haupt- und Grunderscheinungen in allem Weltgeschehen, das Letzte, was
vor Gott steht.

Durch sein ganzes Leben betrieb Goethe dies bewußte Lernen. „Die Sachen
anzusehen, so gut wir können“ riet er schon bei Vollendung seines
einundzwanzigsten Jahres einem noch jüngeren Bekannten, „sie in unser
Gedächtnis schreiben, aufmerksam zu sein und keinen Tag, ohne etwas zu
sammeln, vorbeigehen zu lassen. ... Dabei müssen wir nichts +sein+,
sondern alles +werden+ wollen.“

Und die gleiche Lernlust zeigt noch der Vierundsiebzigjährige, wenn
er dem jungen Bonner Mineralogen Nöggerath bestellen läßt: „Wie gern
durchzög’ ich die Eifel mit ihm zu klarem Schauen Dessen, was immer
noch als Problem vor mir steht! Warum bin ich nicht mehr so leicht auf
den Füßen als zur Zeit, wo ich die unnützen Reisen in die Schweiz tat,
da man glaubte, es sei was Großes getan, wenn man Berge erklettert und
angestaunt hätte!“

Goethe forschte und lernte bis zum letzten gesunden Tage; in seiner
Arbeitsstube zeigt man heute noch ein Häufchen Gartenerde, das der Alte
sich heraufholen ließ, um daran etwas Neues zu beobachten.

       *       *       *       *       *

[Sidenote: Beständige Lernlust]

Diese Lernlust zeigte sich namentlich als Aufmerksamkeit auf alles
Belehrende. Die Aufmerksamkeit nannte Goethe „das Höchste aller
Fertigkeiten und Tugenden“ und er meinte, Nichts sei so leicht zu
erreichen und so wohlfeil zu erhandeln als Kenntnis und Wissen: „Die
ganze Arbeit ist +ruhig sein+, und die Ausgabe +Zeit+, die wir nicht
retten, ohne sie auszugeben.“ Goethe ermahnte sich und Andere zwar
immer wieder, nur an Dem Interesse zu nehmen, worin man praktisch etwas
leisten könne, aber es lag doch in seiner innersten Natur, daß er an
unzähligen Dingen der Welt teilnahm.

Da Goethe sich den Besuch so vieler Menschen gefallen lassen mußte,
unter denen auch viele Unbeholfene waren, die von sich aus nichts
Anregendes vorbrachten, so machte er es sich selber zur Regel,
derartige Gäste als Lehrer oder Lehrmittel zu benutzen. Es kam etwa
ein bayrischer Verwaltungsbeamter, um ihn anzuglotzen und nachher seine
Bemerkungen über den berühmten Mann zu machen; Goethe zwang ihn, alle
Einzelheiten des Feuerlöschwesens in seiner Heimat vorzutragen. Ein
ander Mal erschien ein vornehmer Engländer, der früher Gouverneur von
Jamaika gewesen war, Sir Michael Clare. Am Abend stand dann in seinem
Tagebuche: „Sehr erfreut der Bekanntschaft mit Lord und Lady N. N.;
sie gab mir erwünschte Gelegenheit, meine Kenntnisse der Zustände von
Jamaika ziemlich vollständig zu rekapitulieren.“

Allerdings glückte dies Verfahren nicht immer. So wurde eines Tages
Goethe von seinem Sohne gebeten, einen Jenaer Studenten namens Rumpf,
den August vom Burgkeller her kannte, anzunehmen und auch zum Essen
dazubehalten. Der junge Mann wurde freundlich empfangen. Er möge weiter
erzählen:

  Bald saß ich ihm in seinem einfachen Studierstübchen gegenüber,
  während er beschäftigt war, still ein mäßiges Blatt Papier
  zurechtzuschneiden, und betrachtete voll Aufmerksamkeit ihn selber,
  sowie seine Umgebung, seine Bücher und umherliegende Steine. August
  hatte mich sogleich verlassen und war zu den Hausgenossen gegangen.

  So war ich mit Goethe ganz allein. Wie pries ich mich glücklich!
  Jetzt war er mit seinem Papierschneiden fertig und wandte sich zu
  mir: „Mein August schreibt mir, daß Sie ein Oldenburger wären?“

  „Ein Oldenburger, Exzellenz.“

  „Gut. Was brennen Sie da?“

  „Fast nur Torf.“

  „Wie in Ostfriesland, nicht wahr?“

  „Ich glaube, Exzellenz“ war meine Antwort.

  „Wie wird der Torf dort gewonnen?“

  „Er wird -- er wird aus der Erde gegraben.“

  „Das wußt’ ich schon, daß er nicht von den Bäumen gepflückt wird!
  Ich will zunächst genau wissen, mit welcher Art von Instrumenten er
  aus dem Boden gehoben wird? Wann gräbt man ihn? Wie lange läßt man
  ihn trocknen? Wie lange Zeit bedarf er dazu? Und wie ich schon eben
  sagte, wie ist solch ein Werkzeug gestaltet, womit man den Torf bei
  Ihnen gräbt? Nun sagen Sie mir und zeichnen Sie mir doch einmal die
  Form genau hier auf das Papier. Hier haben Sie einen Bleistift dazu.“

  „Nun, können Sie Das nicht zeichnen?“ fuhr er dann fort, da ich noch
  verblüfft schwieg. „So beschreiben Sie es mir wenigstens, Sie sehen
  ja, daß ich mich dafür interessiere.“

  Ich beharrte in festem Schweigen. So einen Torfsoden hatte ich zwar
  oft genug gesehen und sogar in der Hand gehabt, beim Ofenheizen. Aber
  da ich aus der reinen, echten Marsch stammte, so war mir doch die
  eigentliche Gewinnung des Torfes völlig fremd.

  „Sie brennen also den Torf täglich und wissen dennoch nichts davon,
  wie er gewonnen wird? Junger Mann, Das mögen Sie offen gestehen?“

  Mit durchdringendem Blicke sah Goethe mich an, und ich fühlte, wie
  mir das Blut zu Kopfe stieg. -- Ein eisiges Schweigen folgte! Mir
  ward es immer ungemütlicher. Goethe nahm ein Buch zur Hand und
  blätterte darin, bis der Diener kam und meldete, daß das Essen bereit
  sei. Bei Tische waren noch Frau Christiane v. Goethe und August
  zugegen. Den zog der Vater ins Gespräch und unterhielt sich sehr
  lebhaft mit ihm. Mich ignorierte er völlig.

Goethe hatte durch dieses Ausfragen viele Freuden; zum Beispiel machte
er auf solche bequeme Weise große Reisen. Als der Berliner Parthey
bei ihm zu Tische war und von seinem Aufenthalte im Morgenlande
sprach, da wollten die Andern nur hübsche Leckerbissen von ihm haben,
abenteuerliche und rührende Anekdoten hören; aber der alte Meister
wehrte sie ab, und Parthey mußte ihm drei Tage hindurch seine ganze
Reise Schritt für Schritt schildern.

[Sidenote: Belehrung durch die Gäste]

Der Architekt Wilhelm Zahn kam 1827 nach Weimar mit den
schreckhaftesten Vorstellungen über des Dichters Unzugänglichkeit;
trotzdem wagte er sich in das Haus.

  Auf dem Flure trat mir ein Diener entgegen, dem ich meinen Namen
  nannte: „Zahn, Maler und Architekt.“

  „Maler und Architekt!“ wiederholte mechanisch der Diener, indem er
  mich zweifelhaft musterte.

  „Sagen Sie Sr. Exzellenz: Aus Italien kommend.“

  „Aus Italien kommend“ wiederholte Jener und entfernte sich, worauf er
  alsbald zurückkehrte und mich bat, ihm zu folgen.

Bald saß Zahn dem Gefürchteten gegenüber.

  „Waren also in Italien?“

  „Drei Jahre, Exzellenz.“

  „Haben vielleicht auch die unterirdischen Stätten bei Neapel besucht?“

  „Das war der eigentliche Zweck meiner Reise. Ich hatte mich in einem
  antiken Hause zu Pompeji behaglich eingerichtet, und während zweier
  Sommer geschahen alle Ausgrabungen unter meinen Augen.“

  „Freut mich! Höre Das gern“ sagte Goethe, der eine gedrungene
  Redeweise liebte und gern die Pronomina wegließ. Er rückte mit seinem
  Stuhle mir näher und fuhr dann lebhaft fort: „Habe den Akademien zu
  Wien und Berlin mehrere Male geraten, junge Künstler zum Studium
  der antiken Malereien nach jenen unterirdischen Herrlichkeiten zu
  schicken; um so schöner, wenn Sie Das auf eigene Hand getan. Ja, ja!
  das Antike muß jedem Künstler das Vorbild bleiben. Doch vergessen wir
  das Beste nicht! Haben wohl einige Zeichnungen in Ihrem Reisekoffer?“

  „Ich habe die schönsten der antiken Wandgemälde meist gleich nach der
  Entdeckung durchgezeichnet und farbig nachzubilden gesucht. Wünschen
  Exzellenz vielleicht einige davon zu sehen?“

  „O gewiß, gewiß!“ fiel Goethe ein, „mit freudigem Danke. Kommen Sie
  nur zum Essen wieder. Speisen gegen zwei Uhr. Werden noch einige
  Kunstfreunde finden. Sehne mich ordentlich nach Ihren Bildern. Auf
  Wiedersehen, mein junger Freund!“ -- --

So ergriff er auch jede Gelegenheit, sich zum Erfassen der besten
Musik zu bilden. Er richtete sich während der napoleonischen Zeit
einen eigenen bescheidenen Singechor ein; von ihm hörte er mit seinen
Hausgenossen jeden Sonntagmorgen geistliche und weltliche Gesänge.
Als Goethe im Winter 1818 auf 19 drei Wochen in Berka zubrachte,
mußte ihm der Organist Schütz dort täglich drei bis vier Stunden
vorspielen, und zwar in historischer Reihenfolge Sebastian Bach bis
zu Beethoven durch Philipp Emanuel Bach, Händel, Haydn, Mozart, auch
Dussek und dergleichen mehr. Zugleich studierte er musiktheoretische
Schriften. Und noch, als den Achtzigjährigen das Spiel des jungen Felix
Mendelssohn entzückte, mußte ihm der Knabe die ganze Entwicklung der
Musik vordozieren und vorspielen.

  Und da sitzt er in einer dunkeln Ecke wie ein ~Jupiter tonans~
  und blitzt mit den alten Augen. -- --

[Sidenote: Umgehen mit klugen Leuten]

So hielt er es in Allem. Fuhr er mit Eckermann spazieren, so mußte
Dieser ihm lange Vorträge über die Lebensweise seiner geliebten Vögel
halten, und im Garten nahmen sie einmal die ganze Lehre vom Bogenbau
und Bogenschießen sehr gründlich durch, weil Das auch ein Steckenpferd
Eckermanns war. Und der Sechsundsiebzigjährige suchte auch dieser Übung
noch Herr zu werden:

  Goethe schob die Kerbe des Pfeils in die Senne, auch faßte er den
  Bogen richtig, doch dauerte es ein Weilchen, bis er damit zurecht
  kam. Nun zielte er nach oben und zog die Senne. Er stand da wie ein
  Apoll, mit unverwüstlicher innerer Jugend, doch alt an Körper.

[Sidenote: Stete Aufmerksamkeit]

Schon als Student schaute er auf seinen Wanderungen nicht bloß nach
schönen Mädchen und guten Weinen aus, sondern kümmerte sich recht
sorgsam z. B. um den Gewerbefleiß an der Saar oder die Altertümer
bei Niederbronn. Im Alter schreibt er einmal an seinen August, er
treibe in Böhmen seinen alten Spaß noch immer fort: in jeder Mühle
nachzufragen, wo sie ihre Mühlsteine hernehmen. In Wiesbaden richtete
er seine Spaziergänge gern zu Steinbrüchen und auf Bauplätze; so bekam
er nämlich eine schnellere Übersicht über den Grundbau der Gegend, als
der Laie vermutet. Und an jedem Orte fragte er nach kundigen Leuten,
die ihn belehren konnten. Jena liebte er auch darum, weil er dort so
viele kenntnisreiche Männer fand. An die dortigen Professoren dachte
er besonders, als er 1818 zum Kanzler v. Müller und zur Julie v.
Egloffstein sagte: „Seht, liebe Kinder, was wäre ich denn, wenn ich
nicht immer mit klugen Leuten umgegangen wäre und von ihnen gelernt
hätte? Nicht aus Büchern, sondern durch lebendigen Ideenaustausch,
durch heitere Geselligkeit müßt ihr lernen.“

Er selber lernte freilich auch aus Büchern und will hier im Ernste
nichts gegen Bücher sagen; nur zog er eigene Anschauung und mündliches
Ausfragen vor. Und da nahm er als Lehrer nicht nur Männer an wie die
Humboldts, Schiller, Friedrich August Wolf, Voß, Fichte, Schelling,
sondern der schlichteste Bergmann oder Seidenweber oder Hafenarbeiter
oder Gärtner war ihm ebenso recht. Und wenn so ein Mann aus dem Volke
bescheiden meinte, daß er mit seinen einfältigen Worten den berühmten
Herrn nicht aufhalten dürfe, antwortete er: „Erzählen Sie! es gibt
nichts Unbedeutendes in der Welt. Es kommt nur auf die Anschauungsweise
an.“

Einmal machte er ein halbes Kind zu seinem Lehrer. In Ziegenhain bei
Jena zeichnete sich nämlich eine Familie Dietrich durch botanische
Kenntnisse aus; sie sammelte Arzneikräuter und besorgte für die
botanischen Vorträge in Jena die nötigen Pflanzen. Den jüngsten dieser
bäurischen Fachgelehrten nahm Goethe 1785 nach Karlsbad mit; schon
unterwegs brachte der Jüngling mit eifrigem Spürsinn alles Blühende
zusammen und reichte es Goethen in den Wagen, „dabei nach Art eines
Herolds die Linnéischen Bezeichnungen, Geschlecht und Art, mit froher
Überzeugung, manchmal wohl mit falscher Betonung“ ausrufend. In
Karlsbad war der Knabe schon mit Sonnenaufgang im Gebirge und, ehe
Goethe noch seine Becherzahl geleert hatte, war er mit seinem Bündel am
Brunnen, und manche Kurgäste nahmen neben dem Dichter an dem seltsamen
Unterrichte teil. „Sie sahen ihre Kenntnisse auf das anmutigste
angeregt, wenn ein schmucker Landknabe im kurzen Westchen daherlief,
große Bündel von Kräutern und Blumen vorweisend, sie alle mit Namen,
griechischen, lateinischen, barbarischen Ursprungs, bezeichnend.“ Der
junge Mensch studierte später und stand in Goethes alten Tagen den
großherzoglichen Gärten in Eisenach mit Ehre vor.

So aufmerksam und lernbegierig war Goethe jeden Tag. Die Wolke am
Himmel, das Tier am Wege, die Form des Berges, der Lichtschein durch
ein Glas: nichts entging ihm. Er konnte mit einem Freunde über Land
fahren und plötzlich halten lassen. „Ei, wo kommst denn du hieher?“
redete er dann wohl einen Stein an, und der nächste Bauer mußte
ihm sagen, wo mehr solche Steine zu finden seien. Von einem seiner
Kutscher, Barth aus Troistedt, wird berichtet, daß er, angesteckt von
der Liebhaberei seines Herrn, von seinem hohen Sitze aus gleichfalls
scharf ausblickte und zuweilen, die Pferde anhaltend, in den Wagen
rief: „Herr Geheemrat, ich globe, da is was für uns!“

       *       *       *       *       *

Manchmal gab es wirklich hübsche Entdeckungen. Als Goethe 1785
nach Karlsbad fuhr, achtete er, wie eben erzählt ist, besonders
auf Pflanzen, und da entging ihm im Fichtelgebirge der Sonnentau
(~Drosera rotundifolia~) nicht, und er beobachtete, wie die Blätter
ihre Purpurhaare, wenn ein Insekt darauf kommt, zusammenlegen und das
Insekt töten. Diese Tatsache war damals zwar bereits beschrieben, 1779
durch ~Dr.~ Roth in Bremen, aber doch erst Wenigen bekannt. Erst Darwin
hat weitere Kreise darauf aufmerksam gemacht.

Als er 1790 auf den Dünen des Lido, welche die venetianischen Lagunen
vom Adriatischen Meere trennen, spazieren ging, hob sein Diener einen
geborstenen Schafschädel auf und scherzte, es sei ein Judenschädel,
denn an jener Stätte wurden früher die Juden beerdigt. Goethe aber sah
sofort etwas Neues, eine Förderung der Wissenschaft. Daß der Schädel
der Säugetiere aus Wirbelknochen früherer Tierstufen entstanden sei,
wußte er schon; hier an diesem zerschlagenen Schöpsenkopf gewahrte
er augenblicklich, daß die Gesichtsknochen gleichfalls aus Wirbeln
abzuleiten seien, indem er den Übergang vom ersten Flügelbeine zum
Siebbeine und den Muscheln ganz deutlich vor Augen hatte.[35]

Im Sommer 1802 fiel ihm auf, daß in jenem Jahre die Wolfsmilchraupe
besonders häufig und kräftig ausgebildet war, und sofort studierte er
an vielen Exemplaren ihr Wachstum sowie den Übergang zur Puppe. „Auch
hier ward ich mancher trivialen Vorstellungen und Begriffe los“ bemerkt
er in seinen Annalen.

Goethe selber hat uns anmutig erzählt, wie er zu seinen botanischen
Studien kam: mit Abendgesprächen nach den Jagden im Thüringer Walde
fing es an; der Verkehr mit dem weimarischen Apotheker ~Dr.~ Buchholz
und die Garten- und Parkanlagen des Herzogs reizten zur Fortsetzung;
das Lesen von Linnés und Rousseaus Schriften erregte Widerspruch
oder Zustimmung; und so ging es weiter, bis der Dichter eigene große
Wahrheiten den gelehrten Botanikern, die ihn mißtrauisch in ihr Fach
eindringen sahen, verkünden konnte, und bis keiner von ihnen an seiner
‚Metamorphose der Pflanzen‘ mehr vorübergehen durfte.

       *       *       *       *       *

[Sidenote: Das Reisen]

Er erwähnt in der Geschichte seines botanischen Studiums ein
vorzügliches Mittel, die uns so sehr belehrende Aufmerksamkeit zu
steigern: das Reisen. Unsere gewöhnliche Umgebung sehen wir fast gar
nicht mehr; sie reizt uns wenig zum Nachdenken; die wunderbarsten Dinge
erscheinen uns gemein und leer, wenn wir sie täglich haben:

  Dagegen finden wir, daß +neue+ Gegenstände in auffallender
  Mannigfaltigkeit, indem sie den Geist erregen, uns erfahren lassen,
  daß wir eines reinen Enthusiasmus fähig sind; sie deuten auf ein
  Höheres, welches zu erlangen uns wohl gegönnt sein dürfte. Dies ist
  der eigentliche Gewinn der Reisen, und Jeder hat nach seiner Art
  und Weise genugsamen Vorteil davon. Das Bekannte wird neu durch
  unerwartete Bezüge und erregt, mit neuen Gegenständen verknüpft,
  Aufmerksamkeit, Nachdenken und Urteil.

So erging es Goethen in Italien. Schon in den Alpen fiel ihm die
Pflanzenwelt mehr auf als daheim, und im botanischen Garten zu Padua
sprach eine Fächerpalme deutlicher zu ihm, als die heimische Birke
etwa vermocht hätte. Und nun ließ ihn im Süden die Pflanzenwelt nicht
wieder los, obwohl er doch nicht ihretwegen gekommen war.

Das Beobachten unterwegs hat Goethe zu einer wahren Kunst ausgebildet.
Er schalt wohl zuweilen auf das Reisen, weil es so sehr zerstreue und
verwirre, neue Bedürfnisse errege und andere Fragen beantworte, als man
stelle; aber er verstand es doch, vielerlei mit nach Haus zu bringen.
Er legte sich stets Aktenfaszikel an, in denen er außer seinen eigenen
Notizen Zeitungen, Theaterzettel, Preislisten der Märkte, Rechnungen
der Gasthöfe und dergleichen zusammentrug. Sein Auge war auf das Sehen
des Eigenartigen außerordentlich eingeübt, weil er sich sein ganzes
Leben des Zeichnens befleißigte. Er mochte sein Landschaften-Zeichnen,
da er es zu hohen Leistungen nicht brachte, wohl als einen bloßen
Zeitvertreib entschuldigen, das für ihn Dasselbe sei wie für Andere das
Tabakrauchen, aber zu anderen Zeiten rühmte er es als vortreffliches
Bildungsmittel. „Es entwickelt und nötigt zur Aufmerksamkeit“, und:
„Meine eigenen Versuche im Zeichnen haben mir doch den großen Vorteil
gebracht, die Naturgegenstände schärfer aufzufassen; ich kann mir ihre
verschiedensten Formen jeden Augenblick mit Bestimmtheit zurückrufen.“
Das half ihm dann auch wieder, die Malereien Anderer richtig zu werten.
Er sah es sofort, wenn ein Maler die Natur nicht kannte, wenn er z. B.
einen Baum in eine Umgebung brachte, die in der Wirklichkeit zu einem
Baume dieser Art und dieses Wachstums nicht vorkommt.

       *       *       *       *       *

[Sidenote: Reisebeschreiber]

Diese Sachlichkeit war Goethes beständiger Vorsatz, und seine Größe
als Mensch rührt namentlich von seinem täglichen Bestreben her: alle
Dinge und alle Personen ohne Leidenschaft und Vorurteil zu betrachten,
sich selbst zu vergessen, alles Neue ruhig auf sich einwirken zu
lassen. Das hielt er auch als Reisender so. Seit Sterne seine berühmte
‚Empfindsame Reise‘ herausgegeben hatte, waren alle Reisebeschreibungen
in der Hauptsache den Gefühlen, Ansichten und kleinen Erlebnissen der
Reisenden gewidmet. Zuweilen artete Das zu recht eitlem Prangen mit dem
lieben Ich aus, z. B. bei Kotzebue. Über dessen Berichte aus seinem
Leben spottete Goethe einmal scharf:

  Ich bin gewiß, wenn einer von uns im Frühling über die Wiesen
  von Oberweimar herauf nach Belvedere geht daß ihm tausendmal
  Merkwürdigeres in der Natur zum Wiedererzählen oder zum Aufzeichnen
  in sein Tagebuch begegnet, als dem Kotzebue auf seiner ganzen Reise
  bis an’s Ende der Welt zugestoßen ist. Kommt er wohin, so läßt ihn
  Himmel und Erde, Luft und Wasser, Tier- und Pflanzenreich völlig
  unbekümmert; überall findet er nur sich selbst, sein Wirken und sein
  Treiben wieder; und wenn er in Tobolsk wäre, so ist man gewiß damit
  beschäftigt, entweder seine Stücke zu übersetzen, einzustudieren, zu
  spielen.

Goethe dagegen hatte längst die Maxime ergriffen, sich bei Reisen und
ihren Beschreibungen „so viel als möglich zu verleugnen und das Objekt
so rein, als nur zu tun wäre, in sich aufzunehmen.“ Diesen Grundsatz
befolgte er z. B., als er dem römischen Karneval beiwohnte. Durch
die mündliche Schilderung dieses Karnevals und durch seine im Druck
erschienene Beschreibung hat er vielen Lesern und Zuhörern Freude
gemacht. Und dabei gestand er dem Engländer Robinson: „Nichts kann
langweiliger sein als dieser Karneval! Ich habe meine Beschreibung
wirklich nur gemacht, um davon loszukommen. Meine Wohnung lag am Korso;
ich stand auf dem Balkon und schrieb Alles auf, was ich sah. Nicht die
kleinste Kleinigkeit habe ich hinzugedichtet.“

Ein einfaches Mittel, aus den persönlichen Schranken zur Sachlichkeit
zu gelangen, ist: die Wahrnehmungen und Auffassungen Anderer zu
benutzen. Gern nahm Goethe auf einem Ausfluge einen Knaben mit, teils
um dessen Freude mitzugenießen, teils um die Dinge gewissermaßen von
zwei Seiten zugleich zu sehen. Als er 1796 eine neue Reise nach Italien
vorhatte, hätte er gern seinen früheren Zögling Fritz v. Stein zum
Begleiter gehabt; Dieser mußte jedoch seine Verhinderung anzeigen, und
nun erwiderte Goethe:

  Ich verliere dabei sehr viel, denn da ich schon in früherer Zeit
  so gern und mit so vielem Nutzen durch Dein Organ sah, so würde es
  mir jetzt auf alle Weise wünschenswert sein, da Du gebildet und
  in Vergleichung der Dinge durch viele Kenntnisse geübt bist, ich
  hingegen älter und einseitiger werde.

Einen jungen Musiker Christian Lobe, der von Weimar nach Berlin ging,
forderte er auf, ihm über das dortige Theater zu berichten, aber, damit
der Bericht sachlich werde, nach einem Schema: Stück -- Dichter --
Schauspieler -- Aufnahme im Publikum -- Wirkung auf mich -- Wirkung
auf die Nachbarn und Bekannten: A., B., C. usw.

Diese Sachlichkeit verlangte er immer. Sobald er merkte, daß Jemand ihn
beeinflussen, von vornherein die Dinge in der erwünschten Beleuchtung
erscheinen lassen wollte, konnte er ihn wohl andonnern: „Die Sache! die
Sache; wie ist Die?“ -- So wollte er es haben, wie Sulpiz Boisserée
es machte, als er den alten Meister wieder zur Gotik zurückbekehren
wollte: statt irgendwie dafür zu schwärmen oder nach Art eines Anwalts
Beweise beizubringen, legte Boisserée ruhig eine sprechende Zeichnung
nach der andern vor, bis sich Goethe gefangen erklärte.

       *       *       *       *       *

[Sidenote: Sachlichkeit]

Goethe war sich Dessen bewußt, wieviel er diesem fleißigen und
sachlichen Betrachten verdankte. Als er nach Italien reiste, schreibt
er an die Freundin Charlotte v. Stein:

  Wie glücklich mich meine Art, die Welt anzusehen, macht, ist
  unsäglich, und was ich täglich lerne! Und wie mir doch fast keine
  Existenz ein Rätsel ist! Es spricht eben Alles zu mir und zeigt sich
  mir an.

So aus Regensburg am 4. September 1786. Und einige Wochen danach
wiederholt er in Vicenza seine Freude, daß er falsche Ansprüche der
Reisenden überwunden habe.

  Jeder denkt doch eigentlich für sein Geld auf der Reise zu
  +genießen+. Er erwartet aber die Gegenstände, von denen er so Vieles
  hat reden hören, nicht zu finden, wie der Himmel und die Umstände
  wollen, sondern so rein, wie sie in seiner Imagination stehen: und
  fast Nichts findet er so, fast Nichts kann er so genießen! Hier ist
  was zerstört -- hier was angekleckt -- hier stinkt’s -- hier raucht’s
  -- hier ist Schmutz usw. So in den Wirtshäusern, mit den Menschen usw.

  Der Genuß auf einer Reise ist, wenn man ihn rein haben will, ein
  abstrakter Genuß. Ich muß die Unbequemlichkeiten, Widerwärtigkeiten,
  Das, was mit mir nicht stimmt, was ich nicht erwarte: Alles muß ich
  bei Seite bringen, in dem Kunstwerk nur den Gedanken des Künstlers,
  die erste Ausführung, das Leben der ersten Zeit, da das Werk
  entstand, heraussuchen und es wieder rein in meine Seele bringen,
  abgeschieden von Allem, was die Zeit, der Alles unterworfen ist,
  und der Wechsel der Dinge darauf gewirkt haben. Dann hab’ ich einen
  reinen, bleibenden Genuß, und um dessentwillen bin ich gereist,
  nicht um des augenblicklichen Wohlseins oder Spaßes willen. Mit der
  Betrachtung und dem Genuß der Natur ist’s eben Das. Trifft’s dann
  aber auch einmal zusammen, daß Alles paßt, dann ist’s ein großes
  Geschenk! Ich habe solche Augenblicke gehabt.

Wenn man in alten Tagen Goethes Genialität rühmte, führte er sie wohl
auf seine erworbene Sachlichkeit zurück:

  Ich lasse die Gegenstände ruhig auf mich einwirken, beobachte
  dann diese Wirkung und bemühe mich, sie treu und unverfälscht
  wiederzugeben. Dies ist das ganze Geheimnis was man Genialität zu
  nennen beliebt.

So sagte er zum Kanzler v. Müller, und ähnlich zum Prinzenerzieher
Soret:

  Ich verdanke meine Werke keineswegs meiner eigenen Weisheit allein,
  sondern Tausenden von Dingen und Personen außer mir, die mir dazu
  das Material boten. Es kamen Narren und Weise, helle Köpfe und
  bornierte, Kindheit und Jugend wie das reife Alter: alle sagten mir,
  wie es ihnen zu Sinne sei, wie sie lebten und wirkten und welche
  Erfahrungen sie sich gesammelt, und ich hatte weiter nichts zu tun
  als zuzugreifen und Das zu ernten, was Andere für mich gesäet hatten.

       *       *       *       *       *

[Sidenote: Das stärkste Bedürfnis]

Da wir in Goethe zuerst und vornehmlich den +Dichter+ sehen, so will es
uns schwer in den Sinn, daß das poetische Schaffen und alles Betätigen
überhaupt Goethes stärkster Trieb nicht war, daß seine „Werke“ mehr nur
als eine +Folge+ seiner eigentlichen Leidenschaft, des +eindringenden
Beschauens+, angesehen werden müssen. Er las einmal folgende Zeilen
über sich: „Zeigt nicht jedes Blatt, daß er ein weit höheres Bedürfnis
fühlt, in das innerste Wesen des Menschen und der Dinge einzudringen,
als seine Gedanken poetisch auszusprechen?“ Dies ungewöhnliche Urteil
setzte ihn in Verwunderung; es erschien ihm aber richtig, und er wollte
nur hinzugesetzt haben: „als sprechend, überliefernd, lehrend oder
handelnd sich zu äußern.“

Wenn der Ofen geheizt wird, erwärmt er das Zimmer; was der
Schriftsteller lernt, wird alsbald weitergegeben.

  Ich habe immer nur dahin getrachtet, mich selbst einsichtiger und
  besser zu machen, den Gehalt meiner eigenen Persönlichkeit zu
  steigern und dann immer nur auszusprechen, was ich als gut und wahr
  erkannt hatte.

So sprach er zu Eckermann, und er konnte hinzufügen:

  Dieses hat freilich, wie ich nicht leugnen will, in einem großen
  Kreise gewirkt und genützt; aber es war nicht Zweck, sondern ganz
  notwendige Folge.

       *       *       *       *       *

[Sidenote: Der Sammler]

Wie sehr Goethe durch bloßes Sehen und Hören, namentlich durch bloßes
Sehen, lernte, können wir Heutigen, die wir unser Wissen meist
vom Papier her erlangen oder vom Auswendiglernen für die Schule
zurückbehielten, uns nur schwer vorstellen. Eine Folge dieser Art des
Lernens ist die besondere goethische Sprache. „Ich habe die Gegenstände
ruhig auf mich einwirken lassen“ antwortete er selber, als man ihn nach
der Ursache seines schönen Stils fragte.

Um die ihn belehrenden Gegenstände nach Wunsch sehen zu können,
wurde er ein großer Sammler; von allen Reisen brachte er Schönes und
Merkwürdiges heim; mit andern Sammlern tauschte er Entbehrliches aus;
die Freunde regte er zur Beihilfe an, und auch Fremde wußten, daß ein
Geschenk dieser Art das sicherste Mittel war, ihm Freude zu bereiten
und ein freundliches Wort von ihm zu erhalten. Öffentliche Museen gab
es noch sehr wenige; es lag selbst dem Landmanne, der beim Pflügen
etwas Seltsames fand, der Gedanke nahe, es Goethen zu schicken. Der
Dichter selber aber fahndete beständig auf wertvolle Büsten, Gemmen,
Münzen, Medaillen, Kupferstiche u. dgl.

    So ward zum Pantheon dies enge Haus
    Und schmückte sich mit Götterbildern aus.
    Gemächer. Säle, Winkelchen und Gänge --
    Sie faßten kaum der Kostbarkeiten Menge.[36]

Allein seine Mineraliensammlung umfaßte mehr als 18000 Stücke!

Selbst die Staaten- und Fürstengeschichte sah er in seinen Stuben mit
Augen: wenn er nämlich seine Medaillen und Münzen nach Ländern und
Zeiten ordnete und betrachtete; z. B. konnte er jeden Papst seit dem
fünfzehnten Jahrhundert vorweisen und wußte unzählige Einzelheiten über
die Veranlassung der einzelnen Denkmünzen. Und oft konnten Kupferstiche
herbeigeholt werden, die noch genauer die Länder und Zeiten anschaulich
machten. Immer strebte Goethe zuerst nach dieser Erkenntnis durch die
Augen; nachher erst rief er das belehrende Buch zur Hülfe. So nahm er
einmal 1400 Schwefelpasten antiker Münzen vor. „Ich habe sie so lange
angesehen“ schrieb er an Wilhelm v. Humboldt, „und von allen Seiten
betrachtet, bis ich fremder Hülfe bedurfte: dann nahm ich Eckhels
fürtreffliches Werk vor.“

       *       *       *       *       *

[Sidenote: Der Leser]

Da der Tag „grenzenlos lang ist“, so fand Goethe aber auch unzählige
Stunden zum Lesen. Er hat einmal darüber gescherzt, wieviel Zeit und
Mühe ihm das Lesenlernen gekostet habe und daß er kaum mit achtzig
Jahren es richtig könne. Wir wissen, wie er im Februar 1828 die
Biographie Napoleons von Walter Scott durcharbeitete. Nach jedem
Kapitel fragte er sich, was er Neues empfangen, was ihm in die
Erinnerung zurückgerufen ward; dann fügte er Selbsterlebtes zu Walter
Scotts Berichten hinzu, so daß er bald selber nicht mehr wußte, was er
im Buche gefunden und was er hineingetragen habe.

  Genug, mir ist der lange, immer bedeutende und mitunter beschwerliche
  Zeitraum von 1789 an, wo nach meiner Rückkunft aus Italien der
  revolutionäre Alp mich zu drücken anfing, bis jetzt ganz klar,
  deutlich und zusammenhängend geworden; ich mag auch die Einzelheiten
  dieser Epoche jetzt wieder leiden, weil ich sie in einer gewissen
  Folge sehe. Hier hast Du also wieder ein Beispiel meiner egoistischen
  Leseweise; was ein Buch sei, bekümmert mich immer weniger; was es mir
  bringt, was es mir aufregt. Das ist die Hauptsache.

Das ist ganz im Einklang mit seiner Lehre: „Jedes gute Buch versteht
und genießt Niemand, als der +supplieren+ kann. Wer etwas weiß, findet
unendlich mehr, als der erst lernen will.“ Man muß freilich auch
supplieren und dem Verfasser gelehrter Werke ebenso wie dem Künstler
nachhelfen +wollen+! Goethes langjähriger Mitarbeiter Riemer urteilte
von seinem Meister, er sei einer von den gutwilligen Lesern gewesen,
die das Brot des Autors mit der Butter guten Willens überstreichen und
so die Lücken zukleben, wenn sie nicht gar zu groß sind; dagegen habe
Goethe von seinem Freunde Reinhard gesagt; „Der ißt das Brot trocken;
da kann er freilich sonderbare Dinge erzählen von Dem, wie es ihm
geschmeckt!“

[Sidenote: Das kluge Lesen]

Ein gewöhnlicher Fehler der Lesenden ist, daß sie bei Eintritt in ein
neues geistiges Gebiet in falschem Stolze die Schülerbücher meiden und
sogleich die höchsten Probleme erfassen möchten. „Ist Das nicht ein
starker Beweis von Unwissenheit?“ fragte Soret, und Goethe antwortete;
„Jawohl, mein Freund; ich bin auch der Ansicht; +daran+ erkennt man die
Esel. Das sind die Spitzen ihrer Ohren!“

Die üblichste Verirrung der Lesenden ist jedoch ihr Bestreben oder
Versuch, Alles zu lesen, was von altersher berühmt ist und wovon jetzt
gerade die Leute reden oder was der Zufall vor die Augen schiebt.

  Man bildet sich vergebens ein, daß man allen literarischen
  Erscheinungen face machen [ihnen gegenüber Stellung nehmen] könnte.
  Es geht einmal nicht; man tappt in allen Jahrhunderten, in allen
  Weltteilen herum und ist doch nicht überall zu Hause, stumpft sich
  Sinn und Urteil ab, verliert Zeit und Kraft. Man liest Folianten und
  Quartanten durch und wird um nichts klüger, als wenn man alle Tage in
  der Bibel läse ....

  Man liest viel zu viel geringe Sachen, womit man die Zeit verdirbt
  und wovon man weiter nichts hat. ...

  Seit ich keine Zeitungen mehr lese, bin ich ordentlich wohler und
  geistesfreier. Man kümmert sich doch nur um Das, was Andere tun und
  treiben, und versäumt, was einem zunächst obliegt.

Nicht das Neuigkeits-Verschlingen, sondern das fleißige, treuliche
Umgehen mit dem uns gemäßen Großen bildet uns in die Höhe. Wenn Goethe
die Kupfer nach den berühmtesten italienischen Malern betrachtete, so
bekannte sogar er:

  Wir kleinen Menschen sind nicht fähig, die Größe solcher Dinge in
  uns zu bewahren, und wir müssen daher von Zeit zu Zeit immer dahin
  zurückkehren, um solche Eindrücke in uns aufzufrischen.

Immer wieder Raffael zu betrachten, mahnte er auch Eckermann, damit er
im Verkehr mit dem Besten bleibe und sich immerfort übe, die Gedanken
eines hohen Menschen nachzudenken.

  Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am
  Allervorzüglichsten. Ich zeige Ihnen daher nur das Allerbeste, und
  wenn Sie sich darin befestigen, haben Sie einen Maßstab für das
  Übrige.

So hielt er es auch mit den Dichtern. Bei Homer und den griechischen
Dramatikern ging er immer wieder in die Schule; ja sogar von dem Romane
‚Daphnis und Chloe‘ des Longos urteilte er: „Man tut wohl, dies Gedicht
alle Jahre einmal zu lesen und immer wieder daran zu lernen und den
Eindruck seiner großen Schönheit auf’s neue zu empfinden.“ Ebenso
konnte er über Shakespeare oder Byron urteilen, und wenn man wegen des
Letzteren Einwendungen machte, so erwiderte er: „Alles Große bildet,
nicht etwa bloß das entschieden Reine und Sittliche; an Byron ist auch
seine Kühnheit, Keckheit, Grandiosität bildend.“ Von Molière bekannte
er 1827: „Ich kenne und liebe ihn seit meiner Jugend und habe während
meines ganzen Lebens von ihm gelernt. Ich unterlasse nicht, jährlich
von ihm einige Stücke zu lesen, um mich im Verkehr des Vortrefflichen
zu erhalten.“ Einmal meinte er: „Man sollte eigentlich immer nur Das
lesen, was man bewundert,“ und an einem andern Tage: „Es kommt immer
darauf an, daß Derjenige, von dem wir lernen wollen, unserer Natur
gemäß sei. -- -- Überall lernt man nur von Dem, den man liebt.“

Ein sehr wertvoller Rat Goethes war schließlich:

  Der Mensch mache sich nur irgend eine würdige Gewohnheit zu eigen, an
  der er sich die Lust in heiteren Tagen erhöhen und in trüben Tagen
  aufrichten kann. Er gewöhne sich z. B., täglich in der Bibel oder im
  Homer zu lesen oder Medaillen oder schöne Bilder zu schauen oder gute
  Musik zu hören. Aber es muß etwas Treffliches, Würdiges sein, woran
  er sich gewöhnt, damit ihm stets und in jeder Lage der Respekt dafür
  bleibe.

       *       *       *       *       *

[Sidenote: Der Lehrer]

Das Lernen und Unterrichten war zu Goethes Zeit viel freier,
freiwilliger und ungeregelter als heute; Goethe nutzte diese schöne
Freiheit auch dadurch aus, daß er zeitlebens ebenso Lehrer war wie
Schüler. Schon als Kind verriet er seine lehrhafte Natur: als ihm
1759 ein sechsjähriges Brüderchen starb und er darüber nicht weinte,
fragte ihn seine Mutter, ob er denn den kleinen Hermann Jakob nicht
lieb gehabt habe; da eilte Wolfgang in seine Kammer, zerrte unter dem
Bette eine Menge Papiere hervor, die er mit Lektionen und Geschichten
vollgeschrieben hatte. „Dies alles hab ich gemacht, um es den Bruder zu
lehren!“

Später belehrte er die Schwester und bald auch alle Freunde und
Freundinnen, die sich ihm lernlustig nahten. Zuweilen auch
Heranwachsende: die Schüler der Zeichenschule, seinen Pflegesohn
Fritz v. Stein, seinen Sohn August, jugendliche Schauspieler und
Schauspielerinnen, aus denen er eine Theaterschule bildete. Die
verschiedensten Fächer lehrte er: Zeichnen, Malen, Englisch, Botanik,
Farbenlehre, Anatomie, Deklamation, deutsche Literatur. Manches Jahr
waren den Winter über die weimarischen Fürstinnen, ihre Hofdamen und
nächsten Freundinnen, wie Charlotte v. Stein und Charlotte v. Schiller,
seine Schülerinnen; sie kamen einmal die Woche, z. B. im Winter 1805/06
Mittwochs vormittags von elf bis ein Uhr, und Goethe hatte dann immer
etwas für sie zum Vorzeigen zurechtgelegt und zum Vortragen überdacht.
Er sprach frei nach Stichworten, manchmal mit der Hand über die Stirn
fahrend, während er denkend redete. Fräulein v. Knebel berichtet
einmal an ihren Bruder: „Er sprach so reich, reif und mild, daß ich
wirklich noch nie so habe sprechen hören. Ich wünschte, er hätte die
Rede aufgeschrieben; mich dünkt, sie allein müßte ihm den Ruhm eines
seltenen Menschen machen.“ Mit gutem Grunde widmete Goethe seine
‚Farbenlehre‘ der Herzogin Luise und sein ‚Leben Hackerts‘ der Herzogin
Amalie. Zu seinen fürstlichen Schülerinnen gehörte auch die junge
kranke Kaiserin von Österreich, Maria Ludowika.

Goethe betont auch hier sein Streben nach eigenem Vorteil. „Ich hielt
niemals einen Vortrag, ohne daß ich dabei gewonnen hätte“ erzählte
er in der ‚Kampagne in Frankreich‘; „gewöhnlich gingen mir unter’m
Sprechen neue Lichter auf.“ Und an Zelter schrieb er 1805 über die
erwähnten Mittwochsvorträge: „Ich werde bei dieser Gelegenheit erst
gewahr, was ich besitze und nicht besitze.“ Als die ‚Farbenlehre‘ nicht
recht rücken wollte, meinte er zu Knebel: „Wenn ich genötigt wäre,
diese Lehre nur zwei halbe Jahre öffentlich zu lesen, so wäre Alles
getan. Aber die Gelehrsamkeit auf dem Papiere und zum Papiere hat gar
zu wenig Reiz für mich.“

       *       *       *       *       *

[Sidenote: Verirrungen des Forschers]

Das beständige Lernen führt Manchen, selbst wenn er durch das
Verwenden zum eigenen Vortrag Richtung behält, nur zur Vielwisserei,
zum Ansammeln von Einzelheiten und Kleinigkeiten. „Dann hat er die
Teile in seiner Hand, Fehlt leider! nur das geistige Band!“ Goethe war
zur Vielgelehrsamkeit nach Böttigers Art zu sehr Dichter, zu wenig
Kleinigkeitsphilister. Er suchte stets im Einzelnen das Allgemeine, in
der „zufälligen“ Erscheinung das Gesetz, im Wechselnden das Bleibende.
„Wir befinden uns in einem Chaos von Kenntnissen, und Keiner ordnet es;
die Masse liegt da, und man schüttet zu; aber ich möchte es machen, daß
man wie mit einem Griff hineingriffe und Alles klar würde.“ Die Natur
läßt sich zwar ihre letzten Geheimnisse nicht abzwingen, aber dann und
wann gelingt es uns, den Schöpfergedanken näher zu kommen. Und eben Das
war sein Streben bei aller gelehrten Arbeit.

[Sidenote: Philosophie]

Andere wieder verlieren sich, um zu +großen+ Wahrheiten zu gelangen,
in metaphysischen Phantasien, im Aufbauen philosophischer Systeme
oder in okkultistischen Träumereien. Dazu war Goethe wieder zu
sehr Naturforscher: Erfahrung, Beobachtung, Versuch sollten ihm zur
Erkenntnis verhelfen. Vor dem Okkultismus hütete er sich, obwohl er
manche seiner Lehren durchaus nicht leugnete.

  Wir wandeln alle in Geheimnissen. Wir sind von einer Atmosphäre
  umgeben, von der wir noch gar nicht wissen, was sich alles in ihr
  regt und wie es mit unserem Geiste in Verbindung steht. So viel ist
  wohl gewiß, daß in besonderen Zuständen die Fühlfäden unserer Seele
  über ihre körperlichen Grenzen hinausreichen können und ihr ein
  Vorgefühl, ja auch ein wirklicher Blick in die Zukunft gestattet ist.

Aber er mochte doch nie eine Somnambule sehen, auch dann nicht, als
der Ruhm der Seherin von Prevorst seine Umgebung sehr beschäftigte.
Er kannte die Gefahr solcher Studien. „Man wird selbst zum Traum, zur
Niete, wenn man sich mit diesen Phantomen beschäftigt“ schrieb er schon
1788 an Herder, der, wie seine Gattin, recht abergläubisch war. Und
1830 meinte er auch zum Kanzler:

  Ich habe mich immer von Jugend auf vor diesen Dingen gehütet, sie nur
  parallel an mir vorüberlaufen lassen. Zwar zweifle ich nicht, daß
  diese wundersamen Kräfte in der Natur des Menschen liegen; aber man
  ruft sie auf falsche, oft frevelhafte Weise hervor. Wo ich nicht klar
  sehen, nicht mit Bestimmtheit wirken kann, da ist ein Kreis, für den
  ich nicht berufen bin.

Gegen die Philosophen und ihre „Ideen“ war er gleichfalls sehr
mißtrauisch. Schiller hatte ihn zuerst durch sein wüstes Jugenddrama
abgestoßen; als dann der Dichter der ‚Räuber‘ auch noch Kantianer
wurde, empfand ihn Goethe erst recht als Geistes-Gegenfüßler, mit
dem ein Verkehr unmöglich sei. Aber ihr beiderseitiges Suchen nach
großen Anschauungen mußte sie dennoch zusammenführen. Sie hörten in
Jena einmal einen naturwissenschaftlichen Vortrag; beim Hinausgehen
kamen sie in ein Gespräch, wobei Schiller bemerkte, daß eine so
zerstückelte Art, die Natur zu behandeln, den +Laien+ nicht anmuten
könne. Goethe horchte auf. Auch dem +Eingeweihten+ bleibe diese
zerstückelte Art vielleicht unheimlich, war seine Antwort, und
vielleicht könne man es auch anders machen. Man brauche nicht die Natur
gesondert und vereinzelt vorzunehmen, sondern könne sie wirkend und
lebendig, aus dem Ganzen in die Teile strebend, darstellen. Schiller
sah ihn ungläubig an, denn Dergleichen glaubte er den Philosophen
vorbehalten, zu denen doch Goethe nicht gehören wollte. So schritten
sie weiter, bis an Schillers Haus, bis in sein Zimmer, und dort trug
dann Goethe die Metamorphose der Pflanzen lebhaft vor, indem er mit
manchen charakteristischen Federstrichen eine symbolische Pflanze vor
Schillers Augen entstehen ließ. Dieser hörte mit lebhafter Teilnahme
zu; aber als Goethe geendet, schüttelte er den Kopf und sagte: „Das ist
keine Erfahrung, Das ist eine Idee!“ Nun stutzte Goethe, einigermaßen
verdrießlich. Sein alter Groll gegen die Philosophierei wollte sich
wieder regen, aber er nahm sich zusammen und antwortete: „Das kann mir
sehr lieb sein, daß ich Ideen habe, ohne es zu wissen, und sie sogar
mit Augen sehe.“ Und die nächsten Tage trug er sich mit der Frage: Wenn
er Das für eine Idee hält, was ich als Erfahrung anspreche, so muß
doch zwischen beiden eine Vermittelung sein? --

So begann ein zehnjähriger Umgang: Beide waren Lehrer und Schüler;
Goethe entwickelte die philosophischen Anlagen, die seine Natur
enthielt, und eignete sich noch recht ansehnliche Kenntnisse auf diesem
Gebiete an.

Aber 1829 konnte er jedoch ohne viel Übertreibung zu Eckermann sagen:
„Von der Philosophie habe ich mich selbst immer frei gehalten; der
Standpunkt des gesunden Menschenverstandes war auch der meinige.“

       *       *       *       *       *

[Sidenote: Irrtum]

Das fruchtbarste Lernen ist die Überwindung des eigenen Irrtums. Wer
keinen Irrtum eingestehen will, kann ein großer Gelehrter sein, aber er
ist kein großer Lerner. Wer sich des Irrtums schämt, Der sträubt sich,
ihn zu erkennen und zuzugeben; d. h. er sträubt sich vor einem besten
innerlichen Gewinn. Da Jedermann irrt, da die Weisesten geirrt haben,
so haben wir keinen Grund, unsern Irrtum als etwas Schändliches zu
empfinden.

  Wenn wir Dasjenige aussprechen, was wir im Augenblick für wahr
  halten, so bezeichnen wir eine Stufe der allgemeinen Kultur und
  unserer besonderen. Ob ich mich selbst [berichtige] oder durch
  Andere zurechtweisen lasse, ist für die Sache selbst gleichviel; je
  geschwinder es geschieht, desto besser.

„Irrend lernt man!“ rief Goethe seinem Sohne August zu, als Dieser
Einkäufe bei Frankfurter Antiquaren machen sollte und sich vor dem
Betrogenwerden fürchtete. Und als Frau Grüner in Eger klagte, ihr Mann,
den Goethe mit mineralogischen Neigungen angesteckt hatte, bringe so
viele gemeine Steine mit nach Hause, neben den wenigen schönen, und
verkratze die Tischplatten damit, da erwiderte Goethe: „Machen Sie sich
nichts daraus! Ich habe auch manche Fuhre zur Verbesserung der Wege
wieder hinausgeschafft. Die Sache läutert sich und macht uns Vergnügen,
wenn wir eines Besseren belehrt werden.“

Schon 1804 sprach Goethe in einem Briefe an Eichstädt den kühnen
Gedanken aus, daß man sogar am offenbaren Irrtum Wohlgefallen haben
dürfe:

  Bei strenger Prüfung meines eigenen und fremden Ganges in Leben
  und Kunst fand ich oft, daß Das, was man mit Recht ein falsches
  Streben nennen kann, für das Individuum ein ganz unentbehrlicher
  Umweg zum Ziele sei. Jede Rückkehr vom Irrtum bildet mächtig den
  Menschen im Einzelnen und Ganzen aus, so daß man wohl begreifen kann,
  wie dem Herzensforscher ein reuiger Sünder lieber sein kann als
  neunundneunzig Gerechte. Ja, man strebt oft mit Bewußtsein zu einem
  scheinbar falschen Ziel, wie der Fährmann gegen den Fluß arbeitet, da
  ihm doch nur darum zu tun ist, gerade auf dem entgegengesetzten Ufer
  anzulanden.

Das Erkennen eines eigenen Irrtums oder einer eigenen Schwäche macht
uns namentlich auch duldsam und freundlich gegen andere Irrende.
„Eigener Fehler erhält Demut und billigen Sinn“ steht von Goethes Hand
im Stammbuche seines Schülers Fritz v. Stein.

Trotzdem gibt Goethe zu, daß es nicht so ganz leicht sei, sich von
einem Irrtum zu trennen; „Man zaudert und zweifelt und kann sich nicht
entschließen, so wie es schwer hält, sich von einem geliebten Mädchen
loszumachen, von deren Untreue man längst wiederholte Beweise hat.“

Aber es bleibt doch dabei: der Fehler nützt uns erst, wenn wir ihn
erkennen.


  [35] Bedeutende Fördernis d. e. g. W. 1823.

  [36] Paul Heyse. -- Mehrere Freunde klagten sogar, daß Goethe sich
       naturwissenschaftliche oder künstlerische Merkwürdigkeiten
       von ihnen angeeignet habe, die sie nicht als Geschenk gemeint
       hatten. Sich selbst bereichern wollte er nicht, denn der
       Geldwert seines Museums kam ihm selten in den Sinn: erst
       1831 dachte er einmal daran, es an die Großherzogin Marie zu
       verkaufen; vielmehr waren diese Sammlungen, die jedem Liebhaber
       zugänglich waren, ein Opfer von ihm für die Gemeinschaft. In
       seinem Testamente von 1831 erklärte er, daß er seit 60 Jahren
       wenigstens 100 Dukaten jährlich (960 M.) für den Ankauf von
       Kunstwerken und Seltenheiten verwandt habe.




XV.

Kampf und Glück


[Sidenote: Glücklich und unglücklich]

„Von mir sagen die Leute, der Fluch Kains läge auf mir,“ schreibt
der vierundzwanzigjährige Goethe an seinen Freund Kestner, und ein
andermal drückt er Dasselbe in althellenischem Bilde aus, indem er
sich zu des Tantalus Geschlecht rechnet. „Goethe ist nicht glücklich
und kann schwerlich glücklich werden“ schrieb 1779 seine Freundin
Johanna Fahlmer an Fritz Jacobi. „Er ist ein sehr unglücklicher
Mensch“ urteilte 1791 der deutsch-dänische Bischof Münter über den
zweiundvierzigjährigen Goethe, „muß beständig mit sich selbst in
Unfrieden leben.“

Später sagten scharfe Beobachter: Goethe sehe aus wie Einer, der großen
Kummer in sich verarbeitet habe. Aber allmählich entstand der Glaube,
daß Goethe ein Schoßkind des Glückes gewesen sei: ihm habe das Leben so
heiter gelacht wie nur irgend einem Sterblichen.

Den gewöhnlichen Kampf um’s Dasein, der die Meisten von uns zeitlebens
beschäftigt, hat Goethe allerdings nicht kämpfen müssen; ernste Sorgen
um Einkommen und Auskommen hat er sich nie zu machen brauchen; zu hohem
Ansehen und Rang kam er schon in recht jungen Jahren; Freunde und
Freundinnen erwarb sich der schöne und begabte Mann ohne viel Mühe.
Aber tausend Quellen von Leid und Not fließen auch noch auf solchen
Bevorzugten zu, und es muß ein tapferer Schwimmer sein, der ihre Fluten
teilen und das Ufer erreichen will, zu dem er strebt.

Auch Goethe hatte tausendfach zu ringen: um körperliche und geistige
Gesundheit, um häusliches Wohlbefinden, um ein gutes Verhältnis zu den
Menschen, die ihn nah und fern umgaben. Bei seiner großen Weichheit und
Empfindlichkeit trafen ihn die Krankheits- und Todesfälle und sonstige
Nöte in seiner Freundschaft außerordentlich schwer. Sein ehemaliger
Hausgenosse Heinrich Meyer wußte von den sehr starken Ausbrüchen des
Schmerzes zu erzählen, denen sich Goethe beim Tode seiner Kinder
hingab: daß er sich laut weinend auf der Erde gewälzt habe. Wir
wissen, daß Niemand wagte, ihm Schillers Tod zu sagen; ebenso war es,
als Ernestine Vulpius, eine Schwester seiner Frau, der Schwindsucht
erlegen war. Als ihm dann der einzige übrig gebliebene Sohn auch noch
in’s dunkle Land vorausging, seufzte der Greis: „Es scheint, als wenn
das Schicksal die Überzeugung habe, man sei nicht aus Nerven, Venen,
Arterien und anderen daher abgeleiteten Organen, sondern aus Draht
zusammengeflochten.“ So empfand er also das allgemeine menschliche
Schicksal tief. Welche besonderen Leiden aber der geniale, nach
höchsten Erkenntnissen strebende Forscher trägt, hat uns Goethe im
‚Faust‘ offenbart; an eben solche Leiden dachte der genannte Bischof
Münter, als er von Goethes Unglück sprach: „Alles arbeitet in seinem
Kopf und drängt ihn zur Tätigkeit, und doch will er sein Amt nicht
abwarten ... Hat Botanik, Anatomie, Kunst studiert, Alles wieder
liegen lassen und arbeitet nun über die Theorie der Farben.“ Und
Schopenhauer belehrt uns:

  Die bloßen +Talent+männer kommen stets zur rechten Zeit; denn, wie
  sie vom Geiste ihrer Zeit angeregt und von dem Bedürfnis derselben
  hervorgerufen werden, so sind sie auch gerade nur fähig, Diesem zu
  genügen. Sie greifen daher ein in den fortschreitenden Bildungsgang
  ihrer Zeitgenossen oder in die schrittweise Förderung einer
  speziellen Wissenschaft; dafür wird ihnen Lohn und Beifall.

  Das +Genie+ hingegen trifft in seine Zeit wie ein Komet in die
  Planetenbahnen, deren wohlgeregelter und übersehbarer Ordnung sein
  völlig exzentrischer Lauf fremd ist. Demnach kann es nicht eingreifen
  in den vorgefundenen regelmäßigen Bildungsgang der Zeit, sondern
  wirft seine Werke weit hinaus in die vorliegende Bahn, auf welcher
  die Zeit solche erst einzuholen hat. Daher steht das Genie in seinem
  Treiben und Leisten meistens mit seiner Zeit im Widerspruch und Kampf.

Aus innerster Seele hat Goethe diesen Kampf und diese Einsamkeit des
genialen oder auch nur des eigenartigen Menschen in seinen Dichtungen
manches Mal dargestellt. Was hat nicht Tasso zu tragen, weil sich
die Welt in ihm anders spiegelt als in regelrechten Hofleuten und
fürstlichen Personen! Die Kühnsten der goethischen Helden ballen in
ihrer Verzweiflung sogar gegen den Himmel die Faust. „Ich dich ehren?
Wofür? Hast du die Schmerzen gelindert je des Beladenen? Hast du die
Tränen gestillet je des Geängsteten?“ So ruft Prometheus, und nicht
weniger bitter ist das Mitleid, mit dem Mephistopheles die Jubelhymnen
der Erzengel in seiner Weise abschließt: „Von Stern und Welten weiß ich
nichts zu sagen; ich sehe nur, wie sich die Menschen plagen ... Die
Menschen dauern mich in ihren Jammertagen!“ Werther erschießt sich,
Faust führt die Giftschale an den Mund, und ihr Dichter bekennt:

  Daß die Symptome dieser wunderlichen, so natürlichen als
  unnatürlichen Krankheit [des Lebensekels] auch einmal mein Innerstes
  durchrast haben, daran läßt ‚Werther‘ wohl Niemand zweifeln. Ich weiß
  recht gut, was es mich für Entschlüsse und Anstrengungen kostete,
  damals den Wellen des Todes zu entkommen, sowie ich mich aus manchem
  spätern Schiffbruch auch mühsam rettete und mühselig erholte.

So schrieb er 1812, als sich Zelters Stiefsohn das Leben genommen
hatte, und vier Jahre später, als er den ‚Werther‘ selber wieder
gelesen:

  Da begreift man denn nun nicht, wie es ein Mensch noch vierzig Jahre
  in einer Welt hat aushalten können, die ihm in früher Jugend schon so
  absurd vorkam.

       *       *       *       *       *

[Sidenote: Schicksal des Eigenartigen]

So wenig wertvoll also erschien auch diesem Bevorzugten das Leben. Das
Verbleiben darin konnte er nur durch einen geheimnisvollen Lebensdrang
erklären, der unser Sonderwesen erst völlig ausgebildet und danach
völlig verbraucht sehen will, ehe er die Auflösung des Leibes, seines
Werkzeuges, zuläßt.

  Ein Teil des Rätsels löst sich dadurch, daß Jeder etwas Eigenes in
  sich hat, das er auszubilden gedenkt, indem er es immerfort wirken
  läßt. Dieses wunderliche Wesen hat uns nun tagtäglich zum besten,
  und so wird man alt, ohne daß man weiß: wie und warum. Beseh’ ich es
  recht genau, so ist es ganz allein das Talent, das in mir steckt, was
  mir durch alle die Zustände durchhilft, die mir nicht gemäß sind
  und in die ich mich durch falsche Richtung, Zufall und Verschränkung
  verwickelt sehe.

Daß Goethe stets bemüht war, sein Inneres vor fremden Anforderungen
nach Möglichkeit zu beschützen oder davon wieder freizumachen, und wie
ernst und treu er sich um die höchste Ausbildung seiner Persönlichkeit
bemühte, haben wir in manchen Einzelheiten gesehen; einen deutlichsten
Ausdruck fand dies Bestreben um die Mitte seines Lebens durch die
Flucht nach Italien. Alles Befreien unserer Persönlichkeit, alle
Entfaltung unserer besonderen Kräfte, alles Offenbaren unserer Begabung
durch Taten oder Werke, alles Herausstellen von Leistungen, die unser
Gepräge haben, stimmt uns nun aber glücklich.

    Volk und Knecht und Überwinder,
    Sie gestehen jederzeit:
    Höchstes Glück der Erdenkinder
    Sei nur die Persönlichkeit.

So hatte Goethe bei allen Leiden, die ihn als eine eigenartige und
zugleich sehr zarte Persönlichkeit trafen, in seiner ziemlich freien
Stellung und in der dadurch gegebenen Möglichkeit freier, persönlicher
Arbeit eine unversiegliche Quelle des Glücks. Besonders mußte ihn
auch sein beständiges Lernen erheitern, denn das Lernen ist, was im
Zeitalter der Zwangsschulen nicht Jedermann weiß, eine Ursache des
Wohlbefindens und muß es sein, da es eine Ausdehnung und Bereicherung
unserer Persönlichkeit, ein inneres Besitzergreifen der Welt bedeutet.
„Das einzige reine Glück“, lehrt Schopenhauer,

  welchem weder Leiden, noch Bedürfnis vorhergeht, noch auch Reue,
  Leiden, Leere, Überdruß notwendig folgt, ist das +reine willensfreie
  Erkennen+ (die ästhetische Kontemplation) ...

  [Sidenote: Quellen des Glücks]

  In der +Kindheit+ verhalten wir uns viel mehr +erkennend+ als
  wollend. Gerade hierauf beruht jene Glückseligkeit des ersten
  Viertels unseres Lebens, infolge welcher es nachher wie ein
  verlorenes Paradies hinter uns liegt. Wir haben in der Kindheit nur
  wenige Beziehungen und geringe Bedürfnisse, also wenig Anregung des
  Willens; der größere Teil unseres Wesens geht demnach im +Erkennen+
  auf, und zwar in dem Erkennen, das im stillen an den individuellen
  Dingen und Vorgängen die Grundtypen, die Ideen, das Wesen des Lebens
  selbst aufzufassen beschäftigt ist. Hieraus entspringt die Poesie und
  Seligkeit der Kinderjahre.

Der geniale Mensch ist dem Kinde verwandt -- Goethe ist bei Lebzeiten
oft ein großes Kind genannt worden -- und bedarf nicht erst der
Mahnung: „So ihr nicht werdet wie die Kinder ...“ „Der gewöhnliche
Mensch“ sagt wiederum Schopenhauer,

  diese Fabrikware der Natur ist einer völlig uninteressierten
  Betrachtung der Dinge, welches die eigentliche Beschaulichkeit ist,
  nicht -- wenigstens nicht anhaltend -- fähig. Er richtet seine
  Aufmerksamkeit auf die Dinge nur insofern, als sie irgend eine,
  wenn auch nur sehr mittelbare Beziehung auf seinen +Willen+ haben.
  Der Geniale dagegen verweilt bei der Betrachtung des Lebens selbst,
  strebt, die +Idee+ jedes Dinges zu erfassen, nicht dessen Relationen
  zu andern Dingen und zum Willen. Während dem gewöhnlichen Menschen
  sein Erkenntnisvermögen die Laterne ist, die seinen Weg beleuchtet,
  ist es dem Genialen die Sonne, welche die Welt offenbar macht ...

  Der Normalmensch ist gänzlich auf das +Sein+ verwiesen, das Genie
  hingegen lebt und webt im +Erkennen+. Daraus folgt, da alle Dinge
  herrlich zu +sehen+, aber schrecklich zu +sein+, daß auf dem Leben
  der gewöhnlichen Leute ein dumpfer, trüber, einförmiger +Ernst+
  liegt, während auf der Stirn des Genies eine Heiterkeit eigener Art
  glänzt.

Schopenhauer hatte bei diesen Ausführungen Goethe, den er persönlich
kannte, im Auge. Und der Kanzler v. Müller, der die Erlebnisse des
alten Goethe am nächsten sah, sagt geradezu, daß er jedes Unglück durch
das Erkennen zu überwinden trachtete.

  Denn ihm war es Bedürfnis, von jedem noch so heterogenen Zustande
  einen deutlichen Begriff zu gewinnen, und die unglaubliche
  Fertigkeit, mit der er jedes Ereignis, jeden persönlichen Zustand in
  einen +Begriff+ zu verwandeln wußte, ist wohl als das Hauptfundament
  seiner praktischen Lebensweisheit anzusehen, hat sicher am meisten
  beigetragen, ihn, den von Natur so Leidenschaftlichen, so leicht und
  tief Erregbaren, unter allen Katastrophen des Geschicks im ruhigen
  Gleichgewicht zu erhalten. Indem er stets das geschehene Einzelne
  sofort an einen höheren allgemeinen Gesichtspunkt knüpfte, in irgend
  eine erschöpfende Formel aufzulösen suchte, streifte er ihm das
  Befremdliche oder persönlich Verletzende ab und vermochte nun, es
  in der Form naturmäßiger Gesetzlichkeit ruhig zu betrachten, ja als
  ein Geschichtliches, gleichsam nur zur Erweiterung seiner Begriffe
  Erscheinendes, zu neutralisieren. Wie oft hörte ich ihn äußern: „Das
  mag nun werden, wie es will, den Begriff davon habe ich weg; es ist
  ein wunderlicher komplizierter Zustand, aber er ist mir doch völlig
  klar.“ So gewöhnte er sich denn immer mehr, Alles, was im nähern
  und weitern Kreise um ihn vorging, als Symbol, ja sich selbst nur
  als geschichtliche Person zu betrachten, ohne darum an liebevoll
  persönlicher Teilnahme für Freunde und Gleichgesinnte abzunehmen.

       *       *       *       *       *

[Sidenote: Erkennen und arbeiten]

Im Jahre 1817 rühmte Knebel seinen alten Freund gegen Frau v. Schiller
mit diesen Worten:

  Er hat sich ein Reich der Kenntnisse und Wissenschaften erschaffen,
  worin er sich immer zu beschäftigen weiß, und seine fast
  unerschöpfliche Produktivität sichert seinen Geist vor äußern
  Anfällen des Schicksals.

Damals war Goethe durch den Tod seiner Frau einsamer geworden und hatte
auch noch die etwas gewaltsame Trennung vom Theater zu verwinden.
Nach dem allerletzten Schlage, der ihn traf, nach Augusts Tode oder
Untergange, schrieb Goethe selber:

  In solchen Epochen fühl’ ich erst recht den Wert eines allgemeinen
  Wissens, verbunden mit einer besonderen Teilnahme an dem Guten
  und Schönen, das die unendlich mannigfaltige Welterscheinung uns
  darbietet.

Damit meinte er kein untätiges Betrachten. Vielmehr war angestrengtes
+Arbeiten+ ein Hausmittel Goethes, um über schmerzliche Erlebnisse
hinwegzukommen. Besonders nach dem Tode eines Nahestehenden fragte er,
„was uns zu erhalten und zu leisten übrig bleibt.“ „Das Außenbleiben
meines Sohnes“ schreibt er an Zelter, als August an der Pyramide des
Cestius begraben war,

  das Außenbleiben meines Sohnes drückte mich, auf mehr als eine
  Weise, sehr heftig und widerwärtig; ich griff daher zu einer Arbeit,
  die mich ganz absorbieren sollte. Der vierte Band meines ‚Lebens‘
  lag, über zehn Jahre, in Schematen und teilweiser Ausführung, ruhig
  aufbewahrt, ohne daß ich gewagt hätte, die Arbeit wieder vorzunehmen.
  Nun griff ich sie mit Gewalt an, und es gelang so weit, daß der Band
  gedruckt werden könnte ... Plötzlich riß ein Gefäß in der Lunge, und
  der Blutauswurf war so stark, daß, wäre nicht gleich und kunstgemäße
  Hilfe zu erhalten gewesen, hier wohl die ~ultima linea rerum~ sich
  würde hingezogen haben.

Aber auch in gewöhnlichen Zeiten nutzte Goethe das Arbeiten und Lernen
als Mittel zum Wohlbefinden aus. „Vielleicht waren die Marienbader
Zeiten [die Sommer 1820-22] die glücklichsten des goethischen Alters“
urteilt ein guter Kenner[37], und bezeichnend ist, daß dieser Kenner in
der begründenden Fortsetzung lauter Lerngelegenheiten aufführt.

  Auf der Hin- und Rückreise hielt er sich immer länger im alten
  historischen Eger auf. Auf seinen mineralogischen Fahrten durchquerte
  er neue Strecken des Landes. Einzelne Ausflüge führten u. a. nach
  Franzensbad, Liebenstein, Dölitz, Hartenberg, Falkenau, Seeberg,
  Schönberg, Waldsassen, Redwitz, Elbogen. Seine meteorologischen
  Studien fanden Förderung im Stifte Tepl. Alle sozialen und
  nationalökonomischen Einrichtungen studiert er; er läßt sich im
  Erzgebirge das neu eingeführte Spitzenklöppeln zeigen, beobachtet
  die Glasfabrikation, interessiert sich für Schleifsteine, für
  Maschinen zum Zügeln der Ochsen, für böhmische Pflüge; er wohnt dem
  Unterricht und der Prämienverteilung im Gymnasium zu Eger bei, sieht
  Schulbücher und Chrestomathien durch, läßt sich über den Geist wie
  über Einzelheiten der Verwaltung und Regierung aufklären; alles
  Altertümliche und Eigenständige fällt ihm auf, z. B. die Organisation
  der künischen Freibauern im Südwesten von Pilsen, die eine Art von
  Selbstregiment führen.

Man sieht Goethe in seinen Eigentümlichkeiten nie deutlicher, als wenn
man seinen Bericht über die Kampagne in Frankreich liest. Der König
von Preußen, der Herzog von Braunschweig, sein eigener Herzog, alle die
Offiziere und Soldaten um ihn herum kämpfen mit den Franzosen und mit
den noch gefährlicheren Unbilden eines unaufhörlichen Regenwetters.
Goethe befindet sich mitten in diesem Kampf und Erleiden, aber sein
Geist richtet sich auf naturwissenschaftliche Erkenntnis. Eine
weiße Topfscherbe, die in eine Quelle geworfen war und nun aus der
Tiefe herauf die schönsten Farben zeigt, beschäftigt ihn tagelang,
wochenlang. Als Verdun bombardiert wird, geht er abends mit einem
Fürsten von Reuß hinter den Weinbergsmauern, die sie vor den Kugeln
der Belagerten schützen, auf und ab; der Fürst fragt nach des Dichters
letzten Arbeiten, und Goethe spricht stundenlang von der weißen Scherbe
und von seinen sonstigen optischen Studien. Sie reden die Nacht
hindurch, denn der Fürst wird von Goethes Ausführungen ergriffen;
sie wärmen sich bei einbrechendem Morgen an einem Biwakfeuer der
Österreicher und reden weiter über die Wunder der Natur. Und als Goethe
vierzehn Tage später immer noch mit den Kriegsgenossen dem ärgsten
Regen und tausend Unbequemlichkeiten ausgesetzt war, dachte er auch
immer noch an seine Quelle und die Blau- und Violettfarben der Scherbe.

  Es regnete unaufhörlich, nicht ohne Windstoß; die Zeltdecke gewährte
  wenig Schutz. Glückselig aber Der, dem eine höhere Leidenschaft den
  Busen füllte! Die Farbenerscheinung der Quelle hatte mich diese Tage
  her nicht einen Augenblick verlassen; ich überdachte sie hin und
  wieder, um sie zu bequemen Versuchen zu erheben. Da diktierte ich an
  Vogel (des Herzogs Schreiber) in’s gebrochene Konzept und zeichnete
  nachher die Figuren daneben. Diese Papiere besitze ich noch mit allen
  Merkmalen des Regenwetters.

       *       *       *       *       *

[Sidenote: Die Scherbe im Wasser]

Alle Übel haben ein anderes Gesicht, je nachdem wir uns zu Zeit und
Ewigkeit, zu Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft verhalten. Goethe rät
uns Zweierlei, was sich nicht sogleich zusammenreimen will: Lebe im
Augenblick! Lebe in der Ewigkeit! Eine Brücke zwischen beiden Begriffen
schlägt er, wenn er Eckermann zuruft: „Halten Sie immer an der
Gegenwart fest! Jeder Zustand, ja jeder Augenblick ist von unendlichem
Wert, denn er ist der Repräsentant einer ganzen Ewigkeit.“ Räumlich
drückte er denselben Gedanken gern durch lateinische Sprichwörter aus:
„~Hic est aut nusquam quod quaerimus~“, „~Hic Rhodus, hic salta!~“
Verdeutscht und verzeitlicht im ‚Wilhelm Meister‘: „Hier oder nirgends
ist Amerika!“

Er warnt also vor jeder Beschädigung und Geringschätzung der Gegenwart
durch die Vergangenheit oder durch die Zukunft und will Ähnliches sagen
wie Christi Mahnungen: „Laßt die Toten ihre Toten begraben! Sorget
nicht für den anderen Morgen!“ Weil die Menschen die Gegenwart nicht zu
würdigen, zu beleben wüßten, schmachteten sie so nach einer besseren
Zukunft, kokettierten sie so mit der Vergangenheit, sagte er zum
Kanzler, als von romantischen und sentimentalen Gedichten, von Proben
der ihm verhaßten „Lazarettpoesie“ die Rede war. Demselben Freunde
riet er, sich nicht durch Reue und schmerzliche Rückblicke die Stunde
zu verderben:

  Keine Rekriminationen, keine Vorwürfe über Vergangenes, nun doch
  nicht zu Änderndes! Jeder Tag bestehe für sich! Wie kann man leben,
  wenn man nicht jeden Abend sich und Andern ein Absolutorium erteilt!

Ein Mann nach Goethes Sinn mußte nach jedem Unfall sofort wieder auf
den Beinen stehen. Karl August war nach seinem Sinn:

  Wenn Etwas mißlang, so war davon weiter nicht die Rede. Ich dachte
  oft, wie ich dies oder jenes Verfehlte bei ihm entschuldigen wollte,
  allein er ignorierte jedes Mißlingen auf die heiterste Weise und ging
  immer sogleich wieder auf etwas Neues los.

Mit Vergnügen erzählte er auch vom Salinendirektor Glenck in
Stotternheim, dem in seinem Schacht ein sehr kostspieliges Mißgeschick
passiert war, der jedoch in seinem Bericht keinen andern Gedanken
hinzufügte, als: „Ich habe eine Erfahrung gemacht, die mir nicht
verloren sein soll.“ „Das nenne ich doch noch einen Menschen, an dem
man Freude hat!“ rief Goethe aus.

[Sidenote: Gegenwartsmenschen]

Sich selber schildert Goethe als einen Gegenwartsmenschen etwas
anderer Art. Er mochte sich seine eigene Vergangenheit nicht wieder
lebendig machen (außer wo sie schon so weit von ihm entfernt lag, daß
er sie kühl-geschichtlich, als Etwas, was ihn wenig anging, betrachten
konnte). Er mochte seine Dichtungen nicht gern wieder lesen; selbst
seine ‚Iphigenie‘ von 1786 war ihm 1793 lästig, als die Freunde in
Düsseldorf sie hören wollten. Er wünschte nur Das vorzutragen, was
ihm jetzt gerade gemäß war: Naturwissenschaftliches am liebsten. Er
erzählt, daß er durch diese Eigenheit in Jacobis Hause, wo man in ihm
den +früheren+ Freund wieder genießen wollte, in ein Mißverhältnis kam;
denn er konnte und wollte nicht „ganz der Alte“ sein und machte sich um
seine günstige Erscheinung und Wirkung keine Gedanken.

  Wie ich überhaupt ziemlich unbewußt lebte und mich von Tag zum
  Tage führen ließ, wobei ich mich, besonders die letzten Jahre,
  nicht übel befand, so hatte ich die Eigenheit, niemals weder eine
  nächst zu erwartende Person, noch eine irgend zu betretende Stelle
  vorauszudenken, sondern diesen Zustand unvorbereitet auf mich
  einwirken zu lassen. Der Vorteil, der daraus entsteht, ist groß:
  man braucht von einer vorgefaßten Idee nicht wieder zurückzukommen,
  nicht ein selbstbeliebig gezeichnetes Bild wieder auszulöschen und
  mit Unbehagen die Wirklichkeit an dessen Stelle aufzunehmen. Der
  Nachteil mag dagegen wohl hervortreten, daß wir mit Unbewußtsein in
  wichtigen Augenblicken nur herumtasten und uns nicht gerade in jeden
  ganz unvorhergesehenen Zustand aus dem Stegreife zu finden wissen.
  In eben dem Sinne war ich auch nie aufmerksam, was meine persönliche
  Gegenwart und Geistesstimmung auf die Menschen wirke.

Hier erscheint uns sein Im-Augenblick-Leben als etwas Unfreiwilliges;
aber auch der Ausruf: „Ich +will nicht+ hoffen und fürchten wie ein
gemeiner Philister“ kennzeichnet ihn. In den schwersten Zeiten machte
er es sich zur Regel, nicht vor und zurück, sondern auf den Tag zu
schauen, nur dem gegenwärtigen Tage zu leben. Und auf die Frage: „Was
ist deine Pflicht?“ antwortet er: „Die Forderung des +Tages+.“

       *       *       *       *       *

[Sidenote: Leben in großen Zeiträumen]

Aber wir wissen schon, daß er nicht mit kleinen Tagesdingen den Tag
ausfüllte, nicht mit Tageblattlesen, mit Tagesklatsch-Anhören, mit
Teilnahme an politischem Tagesstreit. Als im Juli 1830 in Paris die
Revolution ausgebrochen war, sagte Goethe zu Soret: „Nun, was denken
Sie von dieser großen Geschichte? Alles steht in Brand! Es verläuft
nicht mehr bei geschlossenen Türen! Der Vulkan kommt zum Ausbruch!“
Soret stimmte ein: „Die Lage ist entsetzlich! Eine so erbärmliche
Familie, die sich auf ein ebenso erbärmliches Ministerium stützt,
gibt wenig Hoffnung. Man wird sie schließlich fortjagen.“ Da guckt
Goethe den Gast ganz verwundert an und ruft aus: „Aber ich rede ja
nicht von +dieser+ Gesellschaft! Was liegt mir denn daran! Es handelt
sich um den großen Streit zwischen Cuvier und Geoffroi.“ Darauf also
hatte Goethe während der Juli-Revolution geachtet, und er hatte recht:
denn in diesem Streit handelte es sich wirklich um etwas Großes: um
die Entwicklungslehre, und Das war Etwas, woran Goethe viele Jahre
mitgearbeitet hatte, was ihn wirklich mehr anging als das jeweilige
Bild auf dem politischen Theater der Pariser.

Wissenschaft und Kunst reichten ihm dauernde Güter; lesend und
beschauend konnte er sich mit den besten Vorfahren, schreibend mit den
besten Künftigen unterhalten.

  Wie es die Welt jetzt treibt, muß man sich immerfort sagen und
  wiederholen: daß es tüchtige Menschen gegeben hat und geben wird,
  und Solchen muß man ein schriftliches gutes Wort gönnen und auf dem
  Papier hinterlassen ...

  Ich möchte mich nur mit Dem beschäftigen, was bleibende Verhältnisse
  sind und so nach der Lehre des Spinoza meinem Geiste die Ewigkeit
  verschaffen.

So schrieb der Vierzigjährige, und dieser Wunsch lebte immer in ihm.
Es war nicht Absicht und ist doch kein Zufall, daß die Dichtung, die
ihn durch sein ganzes Leben hindurch beschäftigte, der ‚Faust‘, die
Geschichte von drei Jahrtausenden umfaßt: von der Eroberung Trojas bis
zu Byrons Teilnahme am Befreiungskriege der Neugriechen. Auch wenn
er sich, wie so oft und gern, in den Sammlungen seines Hausmuseums
bewegte, ließ er sich von ältesten und neuesten Zeiten erfreuen,
belehren, unterhalten. Wir wissen, wie viel Liebe er den Dichtern
der Vergangenheit: Molière, Shakespeare, Calderon und besonders den
Griechen zuwandte. Bald machte er sich im alten germanischen Norden
heimisch, bald in Arabien, dann unter Neugriechen oder Serben, dann
unter Chinesen. Wenn ihn vielleicht einer der Neuesten zu entthronen
meinte, achtete er gar nicht darauf und steckte vielleicht tief in
den persischen Dichtern. „Die Perser“, so sprach er dann zu einem
Hausfreunde, „hatten in fünf Jahrhunderten nur sieben Dichter, die sie
gelten ließen, und unter den verworfenen waren mehrere Kanaillen, die
besser als ich waren.“

Seinen geologischen Studien dankte er es, daß er noch mehr über die
Jahrtausende zu blicken sich gewöhnte. Es scheint, daß namentlich
auf Bergeshöhen auch sein geistiges Auge den weiten Ausschau liebte.
So stand er einmal mit Eckermann am Abhange des Ettersberges und
blickte auf die Siedelungen und Hügel in der Nähe und auf die blauen
Berge in der Ferne. Der Gefährte brachte ihm Muscheln und zerbrochene
Ammonshörner vom Straßenrande. „Immer die alte Geschichte!“ sagte
Goethe, „immer der alte Meeresboden! Wenn man von dieser Höhe auf
Weimar hinabblickt und auf die mancherlei Dörfer umher, so kommt es
einem vor wie ein Wunder, wenn man sich sagt, daß es eine Zeit gegeben,
wo in dem weiten Tale dort unten die Walfische ihr Spiel getrieben. Und
doch ist es so, wenigstens höchstwahrscheinlich. Die Möwe aber, die
damals über dem Meere flog, das diesen Berg bedeckte, hat sicher nicht
daran gedacht, daß wir beide heute hier fahren würden. Und wer weiß,
ob nach vielen Jahrtausenden die Möwe nicht abermals über diesen Berg
fliegt!“

Auch als er an seinem letzten Geburtstage auf dem Kickelhahn war,
glitten seine Gedanken von seiner Lebenszeit aus bald über zu den
großen Zeitspannen der Erdgeschichte. Zuerst dachte er an die in
jugendlichem Wagemut im nahen Ilmenau begonnenen Bergwerksbauten, die
später aufgegeben werden mußten.

  Nach so vielen Jahren war denn zu übersehen: das Dauernde, das
  Verschwundene. Das Gelungene trat vor und erheiterte, das Mißlungene
  war vergessen und verschmerzt. Die Menschen lebten alle nach wie vor,
  ihrer Art gemäß, vom Köhler bis zum Porzellanfabrikanten. Eisen ward
  geschmolzen, Braunstein aus den Klüften gefördert, wenn auch in dem
  Augenblick nicht so gesucht wie sonst. Pech ward gesotten, der Ruß
  aufgefangen, die Rußbüttchen künstlichst und kümmerlichst verfertigt,
  Steinkohlen mit unglaublicher Mühe zutage gebracht, kolossale
  Urstämme in der Grube unter dem Arbeiten entdeckt; und so ging’s denn
  weiter, vom alten Granit, durch die angrenzenden Epochen, wobei immer
  neue Probleme sich entwickeln.

       *       *       *       *       *

Wer so in größten Zeitverhältnissen lebt, gleicht dem sehr reichen
Manne, der noch nicht zu jammern braucht, wenn ihm ein Haus abbrennt
oder ein Schiff untergeht. Aber Goethe schalt überall auf das Jammern
und Klagen, weil es das Unglück verschlimmert. Jedes Übel ist größer
oder kleiner, je nachdem wir uns ihm zuwenden oder abwenden und von
unserm Innern aus Trübes oder Heiteres dazu tun. Goethe war für
Schweigen, so lange es irgend anging.

    Es ist ein eigner, grillenhafter Zug,
    Daß wir durch Schweigen das Geschehene
    Für uns und Andre zu vernichten glauben,

so spricht der Graf in der ‚Natürlichen Tochter‘, und der König
antwortet ihm:

    O laß den Menschen diesen edeln Stolz!
    Gar Vieles kann, gar Vieles muß geschehen,
    Was man mit Worten nicht bekennen darf.

Als nach der Schlacht bei Jena und der Plünderung von Weimar tausend
Leute auch ihm ihre persönlichen Nöte und Verluste gern in höchsten
Tönen schildern wollten, fanden sie bei Goethe nicht immer das
gewünschte Echo. „Daß jeder Narr jetzt seine eigene Geschichte hat, Das
eben ist keine der geringsten Plagen der jetzigen bösen Zeit.“ Aber
viel ärgerlicher war er, wenn Andere das wirkliche Übel noch durch
Hinzudichten eingebildeter Übel vermehrten und von einem Zusammenbruch
alter deutscher Herrlichkeit sprachen, die gar nicht vorhanden gewesen
war.

Goethes einsichtigste Freunde verstanden sein Schweigen nach großen
Verlusten, z. B. nach dem Tode Schillers. Der Dresdner Kunstkenner
Johann Gottlob v. Quandt, der das Unglück hatte, beide Beine zu
brechen, rühmt geradezu, daß Goethe in seinen Briefen an ihn in
„richtigem Takt“ dieses Unglücks nicht erwähnte:

  Ich litt an der unzweckmäßigen chirurgischen Behandlung drei Jahre
  unaussprechlich. Jedesmal hatte ich einen Kampf zu bestehen, wenn
  mich Jemand bedauerte, denn das vergebliche Mitleid weckt nur
  besiegte Schmerzen. Selbst das Mitleid, welches ein Freund fühlt,
  kann den Unglücklichen nicht freuen, denn es ist das Leiden des
  Andern, was uns doch kein Vergnügen machen kann. Das wußte Goethe
  sehr wohl. Einer Weimaranerin, die mich in Dresden besucht hatte
  und ihm meinen Zustand ausführlich beschreiben wollte, fiel er in’s
  Wort: „Verderben Sie meine Phantasie nicht! Quandt steht in seiner
  vollen Kraft und Tätigkeit vor mir.“ Unsere Freundin teilte mir
  diese Äußerung schriftlich mit, die mich erfreute, denn ich erkannte
  daraus, daß in Goethe ein Bild von mir stand, das ihm lieb war.

Wo des Unglücks oder des Verdrießlichen durchaus gedacht werden
mußte, suchte Goethe nach den mildesten Ausdrücken, dämpfte alles
Schmerzhafte, hob das Erfreuliche hervor. Wir haben allemal, wenn
wir von Not und Tod sprechen, einen großen Vorrat von Haupt- und
Eigenschaftswörtern zur Auswahl, und an denen, die wir wählen, zeigen
wir, wie es mit unserer Philosophie und unserem Herzen bestellt
ist. Goethe war fast ein Schönfärber, wenn er über vergangene,
unabänderliche Dinge berichten mußte[38]; Niemand sonst wird dem Herzog
Karl August die Zerstörungen in Weimar nach der Schlacht bei Jena so
gering dargestellt haben wie er; Niemand auch wird dem Fürsten den
Glauben, daß sich alles Beschädigte bald besser wiederherstellen lasse,
so sehr gestärkt haben. --

       *       *       *       *       *

[Sidenote: Kleinkriegen des Unglücks]

Dieses Streben, in großen Zeiträumen zu leben und gegenwärtiges oder
jüngstvergangenes Übel zu vergessen oder doch eher zu verkleinern als
zu vergrößern, hat eine gewisse Beharrlichkeit und Tapferkeit zur
Folge. Unruhig-ängstliche Zeiten können nur vergehen, wenn möglichst
viele Menschen ihre gewöhnlichen Geschäfte so besorgen, wie wenn nichts
passiert wäre,

    Denn der Mensch, der zur schwankenden Zeit auch schwankend gesinnt
      ist,
    Der vermehret das Übel und breitet es weiter und weiter,
    Aber wer fest auf dem Sinne beharrt, Der bildet die Welt sich.

„Ruhe und nachgiebige Beharrlichkeit“ pries Goethe seiner Gattin
als das Einzige an, was leidlich durch’s Leben helfe. Und seinem
unglücklichen Sohne schrieb der Achtzigjährige nach Italien: „Wer
sich in die Welt fügt, wird finden, daß sie sich gern in ihn finden
mag; wer Dieses nicht empfindet oder lernt, wird nie zu irgend einer
Zufriedenheit gelangen.“

Ausdauer an dem Orte, wo sie einmal seien, rät er auch den Freunden
an. „Ihr werdet vordringen durch’s Bleiben“ ruft er Kestnern zu.
„Wer seinen Zustand verändert, verliert immer die Reise- und
Einrichtekosten, moralisch und ökonomisch, und setzt sich zurück.“ Und
ebenso an Herder:

  Die zehn weimarischen Jahre sind Dir nicht verloren, wenn Du
  bleibst; wohl wenn Du änderst. Denn Du mußt am neuen Ort doch wieder
  von vorne anfangen und wieder wirken und leiden, bis Du Dir einen
  Wirkungskreis bildest. Ich weiß, daß bei uns Viel, wie überhaupt,
  auch Dir unangenehm ist; indessen hast Du doch einen gewissen Fuß-
  und Standort ... Es kommt doch am Ende darauf an, daß man aushält und
  die Andern überdauert.

       *       *       *       *       *

[Sidenote: Ruhe, Beharrlichkeit, Gottvertrauen]

Schließlich fand Goethe im Glauben eine starke Hülfe zum Leben, zum
Ertragen der tausendfältigen Not und Pein. Er war kein Rechtgläubiger
im Sinne der einen oder andern Kirche, aber er glaubte an die
Fortdauer der Persönlichkeiten nach der Auflösung ihrer irdischen
Leiber, besonders an ein weiteres Wachsen und Wirken der hier schon als
stark bewährten Geister, und er glaubte an Gott.

[Illustration: Goethe 1828.

Gemälde von +Josef Stieler+.]

[Illustration: Goethe 1832.

Von C. A. +Schwerdgeburth+.]

Gott glauben heißt, in’s Tätige übersetzt, sich in Gottes Willen
ergeben, das Weltregiment ihm anvertrauen, sich selber in seine Hände
legen. In jüngeren Jahren nannte Goethe die höchste Macht wohl auch
„Schicksal“ oder „Natur.“ „Du hast uns lieb“ redete er das Schicksal
an: „Du hast für uns das rechte Maß getroffen.“ So glaubt er mit
siebenundzwanzig Jahren, und mit dreiunddreißig rühmt er ebenso die
„Natur.“ „Wir sind von ihr umgeben und umschlungen, unvermögend, aus
ihr herauszutreten ... Sie hat mich hereingestellt, sie wird mich auch
herausführen. Ich vertraue mich ihr. Sie mag mit mir schalten. Sie wird
ihr Werk nicht hassen.“[39]

Und oft gesteht er später in Prosa und Versen das gleiche
Gottvertrauen. Sogar im fröhlichen Liede, das er in den Kriegsstürmen
von 1813 an einer Wirtstafel zu Oschatz niederschreibt:

    Ich habe geglaubet, nun glaub’ ich erst recht!
    Und geht es auch wunderlich, geht es auch schlecht,
    Ich bleibe beim gläubigen Orden:
    So düster es oft und so dunkel es war
    In drängenden Nöten, in naher Gefahr,
    Auf einmal ist’s lichter geworden!

Und lebt nicht dieser Glaube auch in seinen größten Werken, in der
‚Iphigenie‘, im ‚Wilhelm Meister‘, im ‚Faust‘?

    Jawohl! das ewig Wirkende bewegt,
    Uns unbegreiflich, Dieses oder Jenes
    Als wie von ohngefähr zu unserm Wohl,
    Zum Rate, zur Entscheidung, zum Vollbringen,
    Und wie getragen werden wir an’s Ziel.
    Dies zu empfinden, ist das höchste Glück,
    Es nicht zu fordern, ist bescheidne Pflicht,
    Es zu erwarten, schöner Trost im Leiden.

[Illustration]


Gedruckt bei E. S. Mittler & Sohn, Berlin SW68, Kochstraße 68-71.


  [37] August Sauer, Goethe und Österreich II.

  [38] Gestehen wir zu: er war es völlig. Man vergleiche zum Beispiel,
       wie er 1821 in den Annalen über 1811 den bösen Streit mit dem
       Ehepaar v. Arnim darstellt, die er doch im folgenden Jahre als
       „Tollhäusler“ bezeichnet hat, die er froh sei, losgeworden zu
       sein. Es lohnt sich auch, die ‚Kampagne in Frankreich‘ mit
       dem Bericht zu vergleichen, den der gemeine Soldat Laukhardt
       über dieselben Dinge gegeben hat (C. F. Laukhardts Leben und
       Schicksale, Dritter Teil, Leipzig 1796).

  [39] Das Fragment über die Natur, das in Goethes Werke immer
       wieder aufgenommen wird, ist nicht von Goethe, sondern von Georg
       Christoph Tobler aus Zürich verfaßt, der 1781 viel mit Goethe
       umging. Vielleicht hat Goethe ein wenig daran gearbeitet, ehe er
       es in’s ‚Tiefurter Journal‘ gab. Hier dürfen wir es als etwas
       Goethisches erwähnen, da es, wie er selber später bestätigte,
       seine damalige Denkart ausdrückt.




~Dr.~ Wilhelm Bodes Goethe-Bücher

Verlag von E. S. Mittler & Sohn, Berlin SW68


Goethe

in vertraulichen Briefen seiner Zeitgenossen

Auch eine Lebensgeschichte

  4. und 5. Tausend Umfang 836 Seiten Geheftet M 12,95,
  || in Pappband M 16,55, in Ganzleinenband M 18,--  ||

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  +interessante Schilderung+. Vor uns entrollt sich ein Gemälde jener
  Zeit, das nicht nur Einblicke in die besondere +Kulturlage jener
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  Goethe+ vorführt. Die +eifrige+, +sorgsame+ und +liebevolle+ Arbeit
  Bodes verdient +volle Anerkennung+. =Die Post.=


Goethes Leben

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  +feinsinnige+ und +liebenswürdige Erscheinung+, enthält +weit mehr+
  als sein Titel besagt, nämlich den +ganzen inneren Werdegang des
  Dichters+ und +des Menschen+ in der ersten +Weimarischen Zeit+,
  als der +Garten+ und sein +Haus+, heute darum mit Recht eines der
  +verehrtesten Heiligtümer+ und +Pilgerziele+ der thüringischen
  Hauptstadt, Goethes +täglicher dauernder Aufenthalt+ war, und in
  den letzten beiden Abschnitten +Ausblicke in Goethes Mannes- und
  Greisenalter+.

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Der weimarische

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487 +Seiten mit zahlreichen Abbildungen+

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  welche die Umwelt der Klassiker bildeten, erwachen in diesem Buche
  zu neuem Leben. Fesselnd schildert der bekannte Goetheforscher die
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  die künstlerischen Neigungen der früh verwitweten Fürstin. Aber auch
  die Dichter und Künstler selbst treten uns in greifbarer Gestalt und
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  Unterhaltung, sondern zugleich auch eindrucksvolle Belehrung. Diese
  Wirkung wird verstärkt durch einen +sehr reichen Bilderschmuck+.


Karl August von Weimar

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  382 Seiten mit
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  In +anschaulicher+ Darstellung und dabei streng sachlich schildert
  der Verfasser die Jugendentwicklung und Erziehung des fürstlichen
  Kindes, das +Heranreifen+ zum +Herrscher+, den Charakter des jungen
  Herzogs, der das kleine unwichtige Weimar zu einer +Pflegestätte
  geistigen Lebens+, zur Hauptstadt der deutschen Gelehrten und
  Künstler umwandelt. Unter der Charakteristik der Persönlichkeiten des
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  deren Tun und Treiben. Und zwar auf +vierzig Jahre+, denn August
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  Feierstunden sind es, die man dem feinsinnigen Verfasser des Buches
  verdankt, wenn man ihm folgt in den Duft und die Poesie Weimarer
  Zeiten. Wie Bode das Wesen der Frau von Stein und das Wesen ihrer
  Liebe schildert, das ist ein Genuß, den sich niemand von uns entgehen
  lassen sollte. +Durchflutet von Liebe+ zu dem behandelten Stoff,
  +geistreich und klar in Sprache+ und Form, kann das interessante
  und mit guten Illustrationen geschmückte Buch nicht genug empfohlen
  werden, auch als +Geschenkwerk+ für unsere heranwachsenden Töchter.

  =Die Deutsche Frau.=


+Goethes Liebesleben+

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  472 Seiten mit zahlreichen Bildertafeln
  ==  Kopfleisten und Textabbildungen  ==
  Geheftet                        M  8,--
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  in das +Licht der historischen Wahrheit+ rückt. Sie treten uns
  hier als +Menschen von Fleisch und Blut+ entgegen, und durch ihr
  Wirken und Handeln, ihr Lieben und Leiden wird uns wiederum auch
  Goethe +lebendiger, menschlich näher gerückt. Es ist ein wundervoll
  feinsinnig geschriebenes Buch+, voll blühender Darstellungskraft.

  =Schlesische Zeitung.=


Die Tonkunst in Goethes Leben

  ====  Zwei Bände / +Zweites bis viertes Tausend+  ====
  700 Seiten mit 24 Bildertafeln und zahlreichen Musikstücken
           M 11,50, in hübschen Pappbänden   M 12,95
           in stilvollen Halbpergamentbänden M 14,40

  Der Laie wie der +Musikfachmann+ wird die köstlichen Früchte
  aus dieser lebendig anschaulichen Darstellung ernten. Es ist
  bewundernswert, wie Bode bis ins kleinste +Goethes musikalischen
  Neigungen+ nachgegangen ist, dessen +Beziehungen zu den Komponisten+
  seiner Gedichte und zu andern zeitgenössischen +Meistern der
  Tonkunst+.

  =Neue Musik-Zeitung.=





*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK GOETHES LEBENSKUNST ***


    

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START: FULL LICENSE

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Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg™

Project Gutenberg™ is synonymous with the free distribution of
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from people in all walks of life.

Volunteers and financial support to provide volunteers with the
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Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see
Sections 3 and 4 and the Foundation information page at www.gutenberg.org.

Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non-profit
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state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
Revenue Service. The Foundation’s EIN or federal tax identification
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Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by
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The Foundation’s business office is located at 809 North 1500 West,
Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up
to date contact information can be found at the Foundation’s website
and official page at www.gutenberg.org/contact

Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

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array of equipment including outdated equipment. Many small donations
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