Komödiantinnen: Roman

By Walter Bloem

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Title: Komödiantinnen

Author: Walter Bloem

Release Date: January 12, 2014 [EBook #44647]

Language: German


*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK KOMÖDIANTINNEN ***




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                            Komödiantinnen




                            Ullstein-Bücher

                             Eine Sammlung
                        zeitgenössischer Romane

                       [Illustration Verlagslogo]




                    Ullstein & Co / Berlin und Wien




                            Komödiantinnen

                              Roman von
                             Walter Bloem

                       [Illustration Verlagslogo]




                    Ullstein & Co / Berlin und Wien




            Alle Rechte, insbesondere das der Uebersetzung
            vorbehalten. -- Copyright 1914 by Ullstein & Co




                                   1.


Aus tiefdunklem Jugendschlummer fuhr Hans Thumser mit einem Ruck in die
Höhe. Teufel auch! das nenn' ich dachsen! Und diese Pestbeule von einem
Korpsdiener hatte mich doch wecken wollen? Wieviel mag's denn sein? Uhr
steht natürlich -- Skandal! schon wieder mal das Aufziehen verbummelt!
Und schon ganz hell! Jeden Augenblick muß der Wagen kommen mit Pilgram,
dem gestrengen Senior, der so verdammt ungemütlich werden kann ... und
mit Durchlaucht, dem fürstlichen Konkneipanten eines wohllöblichen
C. C. der Franconia ... und dann warten lassen?! Herrgottsakra -- rin'
in die Buchsen --!

Durchs offene Fenster schwamm herbstlicher Frühnebel in das schummrige
Studentenbudchen. Matt flimmerten an den Wänden die dreifarbenen
Wappenschilde, die gekreuzten Schläger, die langsam einstaubenden Mützen
und Bänder -- weit matter noch vom Schreibtisch her die Goldtitel des
_corpus iuris_, der spärlichen Lehrbücher der Rechtswissenschaft ...
Und weiß blinkte nun der gertengeschmeidige Körper des jungen Studenten:
Hals und Nacken wurden mit raschen, scharfen Güssen erfrischt, und dann
wusch der Jüngling sorgsam das dichte braune Haar mit schäumendem
Bay-Rum durch, um alle septischen Stoffe zu entfernen und der
Säuberungsarbeit des Paukarztes vorzuarbeiten ... Denn heute bekam Hans
Thumser Prügel, das stand in den Sternen geschrieben. Herr Borgmann,
Neo-Borussiae gewesener Zweiter, Erster _ad interim_ war der S. C.
Fechter ... gegen den konnte der schlanke Fuchsmajor der Franken nicht
an. Da galt es nur, sich gegen die unvermeidliche Abfuhr zu wehren,
solange Faust und Klinge hielten ... Schade, daß es gerade der Borgmann
sein mußte, der einen unterkriegte -- dieser üble Geselle, den man nicht
riechen konnte, mit seinem suffisanten Gesicht, seinem fatzkigen
Lächeln, den frostigen Froschaugen -- dem mal einen Streicher über die
Ohrfeigenvisage ziehen, von der Temporalis bis ins Kinn -- aber nee,
nich dran zu denken, er konnte zu viel, der Affe, der miserablichte!

So -- die Toilette wäre beendigt! Noch einen Blick in den Spiegel --
ade, du große schmale Nase, vielleicht auf Nimmerwiedersehen -- na, und
auf Stirn und Wange ist ja auch noch eine ganze Menge Platz, zwischen
den alten Abfuhren aus Heidelberg und denen vom Sommer, und nun statt
der grünen Mütze für heute den weichen Knockabout auf die Stirn gestülpt
-- denn in jener Stadt, in der das Reichsgericht saß, die erleuchtete
Körperschaft, welche die Schlägermensur für einen Zweikampf mit
tödlichen Waffen im Sinne des Strafgesetzbuches erklärt hatte -- im
guten biedern Leipzig waren Staatsanwaltschaft und Polizei nach der
Mahnung jenes schönen Würzburger Studentenverses tätig:

    »Darum auf, ihr Wächter des Gesetzes,
    Hüter des Studentenpaukgehetzes --
    Lauscht überall
    Auf Waffenschall
    Und seid stets der Mensur
    Auf der Spur!«

Auch das dreifarbene Band wanderte zusammengerollt in die Tasche -- erst
draußen im braunen Herbstwalde bei Knauthain würde es sich um die junge
Brust schlingen dürfen ... und nun hinaus ... das Frühstück mußte man
sich für heut verkneifen, denn Frau Marie Wehe, genannt Mutter Ach,
stand um fünf Uhr noch nicht auf aus ihrem keuschen Witwenbette ...

Als Hans Thumser im dunklen Korridor an der Tür zu der Nachbarbude
vorüberschritt -- der Nachbarbude, die dies Semester zu Mutter Achs
bittrem Schmerz unvermietet geblieben war -- da stolperte er plötzlich
über etwas Zierliches, Weiches ... was Teufel -- also doch noch
Nachbarschaft gekommen --?!

Hans Thumser bückte sich und hob ein Etwas auf, das nur ... ein
Lackschuh sein konnte ... und zwar ein winziger ... mit knisternder
Seidenschleife besetzter ... ein feiner, geheimnisvoll irritierender
Duft entstieg ihm ... Hans Thumser trat mit seinem seltsamen Fund an
die Mattscheibe der Korridortür, die ein falbes Licht einfallen ließ,
und betrachtete mit der naiven Andacht seiner unverwöhnten zwanzig Jahre
das zierliche Wunder. Gott, welch eine Wirrnis von Träumen stieg empor
aus diesem schmalen Kahn der Sehnsucht ... Mit einem tiefen Seufzer,
von fröstelnden Schauern überrieselt setzte der Jüngling seine Beute
sacht und herzklopfend wieder vor die Tür, die nun auf einmal ein Eden
barg. Ein weißes Viereck schimmerte matt vor dem des Dämmers nun
gewöhnten Blick, als der Student sich wieder zu seiner ganzen Länge
aufgerichtet ... in unzähmbarer Neugierde tastete er nach seiner
Zündholzschachtel und las im zuckenden Flackerlichte die
lithographischen Schriftzüge:

                               Asta Thöny
               Herzoglich Meiningische Hofschauspielerin

Was ... war das?!

Hans Thumser hatte auf eines jener Dämchen geraten, die sich wohl
bisweilen im _Quartier latin_ einnisteten, um Jugendglut und
Monatswechsel der akademischen Bürger zu brandschatzen ... und nun --?!

Eine Künstlerin ... ein Mitglied jener erlauchten Komödiantengilde,
deren Siegeszug dem staunenden Deutschland, nein der Kulturwelt erst
erschlossen die ganze Herrlichkeit des klassischen deutschen, des
klassischen germanischen Dramas --?!

Hans Thumser sah sich in der Heimatstadt, auf einem Platze des zweiten
Ranges, den er vom Taschengeld abgeknausert, abgebettelt dem gütigen
Vater, der so schlecht nein sagen konnte -- sah sich sitzen als
ahnungsvollen Primaner und lauschen -- lauschen in Verzückung und
Tränen ... schauen voll seliger Gier und ungläubig-gläubigen
Ueberschwangs in eine Wunderwelt hinein, da alle seine Träume die
Erfüllung fanden ... und sah sich am andern Tage auf der Schulbank,
stumm und stumpf bei jeder Frage der Lehrer, gleichgültig gegen ihren
Zorn und den Spott der Mitschüler, die nicht ahnen konnten, was mit dem
Primus vorgegangen ... was ihm die flinke Zunge, das unfehlbare
Gedächtnis lähmte ...

Und nun --?! Eine Meiningerin -- und seine Zimmernachbarin?

Was konnte das bedeuten --?

Etwa dies: daß die Meininger in Leipzig wären -- gastierten drüben im
Carolatheater --?

Und davon -- davon hatte man nichts erfahren?

Freilich -- unmöglich wär's nicht -- wie man so dahinlebte, das
Gladiatorendasein des aktiven Korpsstudenten ...

Asta Thöny? Nein -- den Namen Asta Thöny verzeichnete seine Erinnerung
nicht -- das mußte wohl ein neues Mitglied sein, schlank und ... duftig
wie die Schuhchen, von denen nun, im wachsenden Tageslicht, ein paar
Lichtpünktchen aufgleißten aus dem Dämmer des Korridors ...

Aber ein anderer Name stieg nun auf, ein weißleuchtendes Mädchenbild
tauchte glorienumstrahlt aus der Tiefe seiner Visionen: Jucunda Buchner,
die kaum Sechzehnjährige, die Thekla der Meininger ...

Sie sah er, im dritten Akt der »Piccolomini«, einsam im finstern
Schloßgemach, mit der Laute hineingeschmiegt in einen faltenstarren
rotsamtenen Vorhang, scharf abgehoben die weiße Gestalt vom riesigen
Fenster, durch dessen hundert kreisrunde Scheiben die sternlose Nacht
hineinglotzte ... und wie ein Kind im Finstern singt, die
Herzensbangigkeit zu betäuben, so verloren, so verlassen, so
angstumschauert hatte das junge Weib seine schmachtende Weise vor sich
hingelallt:

    Der Eichwald brauset, die Wolken ziehn --
    Das Mägdlein wandelt an Ufers Grün --
    Das Auge von Weinen getrübet ...

    Du Heilige, rufe Dein Kind zurück --
    Ich habe genossen das irdische Glück --
    Ich habe gelebt und geliebet ...

O Erinnerung ... o Ahnung ... o Kunst, du mächtige Weckerin, Vorschule
des Lebens, Tummelplatz der werdenden, in Werdeschauern erzitternden
Seele --!

Gelebt und geliebet ... und du, junges Studentlein im finstern Korridor
-- aus dessen Dunkel die weißen Lichtpünktchen glitzern von Asta Thönys
Lackschuhchen -- --?!

Hans Thumser schrak zusammen. Ihm war's, als hätte er aus weiter Ferne,
ungeduldig, seinen Namen rufen gehört ...

Und richtig:

»Thumser! Thumser! Zum Donnerwetter, wenn Du jetzt nicht kommst, fahren
wir ohne Dich!«

Ach so ... ach ja ... die Stunde, die heischende ... die Stunde des
Burschenkampfes ...

Hans Thumser fuhr auf, reckte sich -- kein Abschiedsblick mehr zurück zu
den Lichtpünktchen drunten, dem weißen Kärtchen an der Pforte des
Geheimnisses -- fort -- hinaus --!

Er flog die krachenden Stiegen hinunter, der mächtige Haustürschlüssel
knarrte im Schloß -- und draußen auf der morgenstillen, morgenleeren
Sophienstraße empfing ihn ein Durcheinander von Begrüßung und Vorwurf --

»Na, Du Schlafratze -- endlich ausgepennt?« zürnte der Senior vom
Rücksitz aus. Und:

»Hatten schon alle Hoffnung aufgegeben, Sie noch unter den Lebenden
begrüßen zu dürfen!« schnarrte der Major von Gorczynski, dessen kantige
Reiterfigur sich noch immer nicht in das elegante Zivil des
Prinzenbegleiters eingewöhnen mochte.

Erbprinz Heribert aber, der durchlauchtigste Konkneipant der Franken,
zog nur stumm und mit indignierter Miene den steifen grauen Filzhut.
Also man ließ warten! na ja, an einer deutschen Hochschule funktioniert
der Betrieb nun einmal nicht wie am herzoglichen Hofe zu
Nassau-Dillingen ... man mußte Nachsicht üben ...

Mit einem Ruck saß Hans Thumser neben seinem Korpsbruder auf dem
Rücksitz, dem Prinzen gegenüber, der ihn durch sein Monokel mit
kühl-durchdringendem Blick niederzuschmettern suchte, was ihm freilich
nicht gelang.

»Also wenn Durchlaucht gestatten, fahren wir ab!« sagte Valentin Pilgram
mit korrektem Gesicht. Er war auch nicht sehr erbaut von der Ehre, einen
prinzlichen Mitkneipanten im Korps durch das Semester schleppen zu
müssen, zumal einen solchen faden Burschen, der nicht warm wurde unter
den Kommilitonen, deren Mütze er wie zum Maskenscherz die wenigen Male
aufsetzte, wenn er gelangweilt und verständnislos an den offiziellen
Veranstaltungen des Korps teilnahm ... indessen das gehörte nun einmal
dazu ...

»Also los, Kutscher und lassen Sie gefälligst die Gäule loofen, sonst
fällt der erschte Hieb, ehe wir draußen sind!«

»I herrjemerschnee, Herr Pilgram, das kann Sie ja gar nich passier'n --
de Allererschten wär'n mer sein am Platze, da genn' Se sich drauf
verlass'n!« ...

Als der Wagen anzog, fiel der Blick der Abfahrenden auf eine lange
Kolonne riesiger Möbeltransportwagen -- drüben waren sie aufgefahren vor
der nüchternen Häuserfront, deren Erdgeschoß die Einfahrt zum
Carolatheater durchstieß. Das Theater selber lag verborgen und
schmucklos dahinter im Hofe. Um die Wagen aber sammelte sich eine Rotte
herkulischer Blusenmänner und begann sie zu entladen. Was kam da alles
zum Vorschein!

Das erste, was das Auge der Wageninsassen entdeckte, war der riesige
Körper eines schwarzen Pferdes, in liegender Stellung, in der Stellung
des Todes ausgestopft ... Unter derben Späßen hoben die untersetzten
Arbeiter die Bestie aus dem Finstern des Wagens und trugen sie in die
Dämmerung des Flurs. Und im schnellen Davonfliegen des Wagens erfaßte
der Blick der Enteilenden noch ein Chaos von Gegenständen, die bereits
ausgepackt an den Hauswänden lehnten: ein ganzes Arsenal eiserner
Rüstungen, Schwerter, Hellebarden, Federhelme ... und noch allerhand
Dinge, seltsam durch ihre Lage und Zusammenstellung: einen prunkvollen
gotischen Altar, einen mächtigen Eichbaumstumpf, dessen papierene
Blätter im Herbstmorgenhauche gespenstisch raschelten -- und endlich ein
kolossales Renaissance-Büfett, das Hans Thumser auf den ersten Blick
wiedererkannte: es hatte im Bankettsaal des Grafen Terzky gestanden, der
Zecherrausch der Friedländischen Generale hatte es umbrandet -- damals,
im Barmer Stadttheater, als Hans Thumser in Fieberschauern den
»Wallenstein« erlebte ...

»Die reine Trödelbude --« sagte Valentin Pilgram, der Senior, und zog
die Winkel des schmalen Mundes verächtlich herab. »Ooch 'n Geschäft,
sich Abend für Abend die Visage zu beschmieren, sich vor so'ne Lappen
hinzustellen und mit Armen und Beinen zu fuchteln ...«

Die blassen, matten Züge des Erbprinzen hatten sich plötzlich belebt.
»Sie vergessen, lieber Pilgram, daß diese Fuchtelei mit Armen und Beinen
doch manchmal ganz niedlich anzusehen ist ... namentlich wenn diese Arme
und Beine -- halten Sie sich mal die Ohren zu, Herr Major! -- na also,
wenn sie schlank, jung und ... _feminini generi_ sind ...«

»-- _gener=is=_, Durchlaucht!« erlaubte sich der Erzieher zu bemerken.

»Echauffieren Sie sich nicht, lieber Major -- als Sprachlehrer sind Sie
nicht engagiert -- Sie haben nur für meine Moral zu sorgen -- wenn's
auch schwer fällt ... aber nun sagen Sie mal, Sie Alleswisser -- was
bedeutet denn dieser Apparat da vor dem ollen muffigen Carolatheater?«

»Die Meininger, Durchlaucht, beginnen in fünf Tagen ein vierwöchiges
Gastspiel in Leipzig,« sagte der Major.

»Und das haben Sie mir bis jetzt unterschlagen, Sie Cerberus?«

»Ich habe nicht gewußt, daß Durchlaucht sich auch für =ernste= Kunst
interessieren ...«

»Ah bah -- Theater ist Theater ... und wo kann der Thronfolger eines --
na sagen wir mal eines Staates von mäßigem Umfang -- wo kann ich mich
besser auf meinen künftigen Beruf vorbereiten als im Theater? Mein
Hoftheater, das ist doch der einzige Platz, wo ich später ...
gewissermaßen ... wirklich mal was zu sagen haben werde ...«

»Durchlaucht ... ich darf wohl bitten ...« warf der Major ein.

»Na, jedenfalls ist das meine Auffassung!« lachte der Erbprinz, »--
können Sie meinetwillen nach Dillingen berichten! Und das bitte ich mir
aus, Herr Major: bei den Meiningern belegen Sie heut abend sofort die
vorderste Proszeniumloge! Ich sehe mir die ... Kunst ... gern aus der
nächsten Nähe an! Lieber Pilgram -- zur Eröffnungsvorstellung sind Sie
mein Gast, nicht wahr?«

»Sehr gütig, Durchlaucht ...« sagte Valentin Pilgram und sann nach.
»Das wäre, soviel ich weiß, am nächsten Mittwoch ... da haben wir
allerdings offizielle Kneipe, und ich als Erster Chargierter dürfte
eigentlich nicht ... und dann ... habe ich auch nicht allzuviel fürs
Theater übrig ...«

»Philister Sie! Na und Sie, Herr Thumser -- wie wär's mit Ihnen?«

Hans Thumser wurde glühendrot ... halb in Glück, halb in Befangenheit
... er hatte sich bereits schmerzlich bewegt ausgerechnet, daß es gegen
Ende des Monats gehe, und sein Wechsel ihm einen Besuch der Meininger
wohl schwerlich vor dem ersten November gestatten würde ... also das
fiel ja geradezu vom Himmel ... andererseits ... mit diesem blasierten,
schwunglosen Menschen zusammen -- wie würde er's ertragen, in seine
Andacht hinein solche Reden vernehmen, gar ihnen ehrerbietig lauschen zu
müssen?

Dennoch ... besser als gar nichts ...

»Ich nehme mit Freuden an, Durchlaucht ...«

»Also abgemacht! Was gibt's denn, Herr Major?«

»Jungfrau von Orleans ...«

»Ausgerechnet --!« schnarrte der Prinz -- »Schiller --! Gymnasium in
Wiesbaden -- verfluchten Angedenkens! Schiller! Was ist Schiller? Eine
Serie von Aufsatzthemen --!!«

»Stimmt!« rief Pilgram. »Keine zehn Pferde ziehen mich ins Theater, wenn
Schiller gespielt wird! 'Die tragische Schuld der Maria Stuart' --
'Wallenstein, ein tragischer Charakter' -- 'Die poetische Gerechtigkeit
in der Braut von Messina' -- pfui Deuwel! um junge Hunde zu kriegen --!«

Wie bin ich unter diese Menschen geraten? dachte Hans Thumser. Warum
trage ich die gleiche Mütze und die gleichen Farben wie sie? Kein Takt
des Herzschlags, kein Gefühl, kein Wort ist mir mit ihnen gemeinsam ...

Und derweil rollte der Wagen seitwärts durch die nüchternen,
morgenleeren, hallenden Straßen der Südstadt, dem fernen Kampfplatz
entgegen, wo Hans wieder einmal seine Zusammengehörigkeit mit seinen
Korpsbrüdern, seine Zugehörigkeit zum Frankenbunde mit seinem Herzblut
besiegeln sollte ...

»Vergessen Sie nicht, Durchlaucht, daß Jucunda Buchner die Jungfrau
spielt ...«

»Jucunda Buchner? Ist -- wer?«

»Nun, der jugendliche Stern der Meininger -- einfach Sehenswürdigkeit --
gewissermaßen das deutsche Mädchen in Reinkultur --«

»Schön -- also abgemacht!« sagte der Erbprinz. »Aber halten Sie mich
fest, lieber Major, sonst mach' ich Dummheiten...«

»Buchner?« sagte der Senior, »hm -- da fällt mir was ein. Mein Hauswirt,
der Kanzleirat Buchner, der hat ja, soviel ich weiß, irgendwo 'ne
Tochter beim Theater ... das wäre doch ulkig ... soviel ich weiß, wurde
ihre Ankunft erwartet ... und ich mein' auch, daß sie in Leipzig spielen
sollte, hätte die Alte erzählt -- ich hab' aber nicht recht hingehört --
was geht mich das Theater an ...«

»Herrgott, Mensch -- das Theater!« platzte Thumser heraus. -- »Hier
handelt sich's doch um die Meininger! Hast Du davon überhaupt eine
Ahnung, was dieses -- dieses Theater bedeutet? Die Entdeckung der
Klassiker, ihre Eroberung für die Bühne unserer Zeit, die Entbindung all
der tausend köstlichen Sinnlichkeiten, die im Drama unserer Großen
schlummern -- bist Du denn solch ein Barbar, solch ein Banause, daß Du
von all dem nichts weißt -- daß all das für Dich nicht existiert?«

»Na, entschuldige schon, daß ich existiere!« schnarrte der Erste. »Ne
wirklich, teures Thumserherz, das alles ist mir schnuppe, schnupper, am
schnuppesten! Ich halt's mit meinem Vater, der nie in seinem Leben ins
Theater gegangen ist und doch Senatspräsident am Oberlandesgericht in
Dresden geworden ist, und jedenfalls noch ein Endchen weiter kommen wird
im Leben, eh er Schluß macht! Kunst ist Spielzeug für charakterlose
Müßiggänger -- unsere Zeit aber braucht Arbeiter, Charaktere -- Männer,
verstehste?!«

»Bumm, bumm, bumm! Tusch!« sagte der Prinz. »Sie sind zum
Landtagsabgeordneten qualifiziert, lieber Pilgram ...«

»Verzeihung, Durchlaucht, es muß auch -- Landtagsabgeordnete geben! Ne,
lieber Thumser, lauf Du nur immer ins Theater und laß Dir -- wie hast Du
so schön gesagt? -- laß Dir Deine tausend köstlichen Sinnlichkeiten
entbinden -- mein Bedarf ist mit Fechtboden, Kneipe und Windscheids
Drogenweltkolleg vollkommen gedeckt!«

»Und so was hat nun das Glück, mit Jucunda Buchner unter einem Dache zu
wohnen ...« seufzte Erbprinz Heribert.

»Das weiß ich noch nicht, das ist nur eine Vermutung von mir,
Durchlaucht ... Uebrigens ist die Sache wirklich ohne Interesse für
mich. Mit einer Komödiantin möcht' ich noch nicht mal eine Poussage
haben ... man kann ja doch nie wissen, ob sie einem nicht was vormimt
und einen innerlich auslacht ...«

»Na, teurer Pilgram, nu sei'n Se aber friedlich!« schmunzelte der
Erbprinz. »Davon versteh'n Sie nu wirklich nischt -- det haben Sie noch
nich gehabt!«

»Sie doch auch nicht, wie ich hoffe, Durchlaucht!« sagte der Major
und blinzelte seinem jungen Herrn unter grimmig zusammengezogenen
Brauen verschmitzt zu. Und Erzieher und Zögling wechselten ein
Augurnlächeln ...

Der Wagen rollte. Niederer wurden die Häuser, die beiderseits die
Connewitzer Landstraße umsäumten. Und bald wurde die Bebauung offener,
ländlicher. Dann bog die Fahrt nach rechts, und in die braunen
Schattenhaine des Streitholzes ging's hinein, die Pleiße wurde
überschritten auf knarrender Holzbrücke, unter der sich die gelben
Fluten träge hinwälzten, noch angeschwollen von den ersten Herbstregen,
welche die vergangene Woche gebracht. Aber heut rang sich aus
Nebelbrodem die verschlafene Morgensonne mühsam durch, umgoldete das
rötliche Buchenlaub zu Häupten der Dahinrollenden, verhieß einen lustig
blanken Fechtertag, den letzten unter freiem Himmel für dies Jahr: der
nächste würde schon im benachbarten Halle, richtiger im Vorort
Cröllwitz, steigen müssen, an der murmelnden Saale, gegenüber den
reckenhaften Trümmern des Giebichenstein.

Allmählich wandte sich das Gespräch von dem strittigen Thema des
Theaters zum minder kontroversenreichen des nahen Bestimmtages hinüber.
Daß der Fuchsmajor der Franken heute seine todsichern Senge bekommen
würde, galt als ausgemachte Sache, über die niemand Worte zu verlieren
brauchte. Es fragte sich bloß, ob Hans Thumser auf seine notorische
vielgeprüfte Quartblöße oder auf Borgmanns allgefürchteten Durchzieher
abgestochen werden würde -- von dem Valentin Pilgrim, der Senior, im
Gesicht bereits ein stattliches Exemplar trug, welches Ohrläppchen und
Mundwinkel mit einem linealgraden breiten Strich verband ...

Aber während man also über Hans Thumsers nächste Zukunft verhandelte,
das Schicksal seiner linken Gesichtshälfte sachverständig abtaxierte
-- -- war Hans Thumsers Inneres auf geheimnisvolle Weise in
Gleichgültigkeit und Fernsein untergetaucht.

Jungfrau von Orleans ... sang es in seinem Herzen ... Jucunda Buchner
... das war wie eine leuchtende, gnadenvolle Nähe, wie ein offener
Himmel, aus dem eine lichte Madonna sich neigt, gegenwärtig und doch
unnahbar, bekannt und doch undurchdringlich ...

Und zwischen die Choralmelodien, die Harfenarpeggien, welche das
Heiligenbild umschauerten, kicherte und schwirrte es hinein wie
Flötentriller, wie kecke Geigenpizzicati:

Asta Thöny ... Asta Thöny ...

Und ein paar neckische, blinkende Lackschuhchen tanzten auf und nieder,
aus denen zwei schlanke, seidenbestrumpfte Knöchel guckten -- was
darüber war, verschwand in rosigen Schleiern, aus denen es lachte und
girrte wie Taubengurren:

Asta Thöny ... Asta Thöny ...

Ernsthaft und aufrecht saß Valentin Pilgram, der gestrenge Senior des
Korps Franconia. Als läge die Regierungslast eines Millionenstaates auf
seinen Schultern, so pflichtdurchdrungen, so würdeumbauscht saß er und
übersann das Programm des Tages ... Ob Heinz Hartwig, das muntre,
taprige, ewig korkende Füchslein, wohl heute endlich eine einwandfreie
Mensur liefern würde und daraufhin ins engere Korps rezipiert werden
könnte? Und Ivo Volkner, der leichtblütige Rheinländer aus Düsseldorf,
dessen letzte Mensur auch keineswegs tadelsfrei gewesen war -- ob er
wohl sein unstätes Musikantentemperament heute so weit im Zaume halten
würde, um sich herausreißen zu können?

Und was sollte der C. C. auf den merkwürdig schnoddrigen Brief unseres
lieben Kartellkorps Pomerania zu Göttingen antworten? Ob es nicht doch
besser war, das alte Kartellverhältnis zu lösen und ein
frisch-fröhliches P. P. zu fechten?! Aber was würden die gemeinsamen
Alten Herren sagen?

Und ob man den Rektor zur C. C.-Antrittskneipe einladen mußte --
anläßlich der hohen Ehre, daß ein richtiggehender Prinz und Thronfolger
zu den Konkneipanten des Korps zählte?

Ja, man hatte schon seine Sorgen ... Der Reichskanzler war am Ende auch
nicht viel schlimmer dran als der Erste Franconiae-Leipzig ...

Der Erbprinz aber träumte von einer fernen Zukunft ... noch war der alte
Herr ja ... hm, hm! -- erheblich rüstig ... und seine Altersgenossen,
die Leutnants des Sophien-Regiments, hatten ihm gelegentlich in später
Stunde, wenn der Sekt die Zungen gelöst, das Gefühl der Distanz ein
wenig gemildert hatte -- na ja, dann hatten sie ihm gelegentlich etwas
gesteckt von all dem Gemunkel, das in der Residenzstadt umlief über die
zarten Beziehungen des hohen Herrn zu der weiblichen Elite des
Hoftheaters ...

Er, Heribert Hans Herwig, würde sich das erlauchte Vorbild seines
gnädigsten Vaters zum Muster nehmen, wenn er einmal als Heribert XIV.
das Thrönchen seiner Väter bestiegen haben würde.

Inzwischen hielt man sich studienhalber in Leipzig auf und würde auch da
auf seine Rechnung zu kommen wissen ...

Jucunda Buchner ... das klang recht verheißungsvoll ... und Jungfrau von
Orleans ... Himmel, es gibt allerhand Arten von Jungfrauen ...

Nun war man »draußen«. Mitten im tiefschattigen Buchenwald ein
wuchtender Eichbaum, sonst von tiefem Dämmerfrieden umwirkt, heut
umbraust von einem bunten, farbentollen Leben. Die wilden
Völkerschaften, die inmitten moderner Gesittung ein mittelalterliches
Reckendasein führten bei Waffenklirren, rauhem Sang und schäumenden
Kannen, die Franken und die Neo-Borussen, die Westfalen und Meißner und
Thüringer, hier hatten sie sich Stelldichein gegeben zur
allwöchentlichen feierlichen Rauferei. Und diesmal, als am ersten
Bestimmtage des Semesters, war alles in besonders gehobener Stimmung.
Die alten Bekannten in den verschiedenen Korps begrüßten sich hinüber
und herüber, mit besonderer Herzlichkeit jene, die bereits einmal oder
gar mehrmals die Klinge gekreuzt hatten -- wesentlich zeremonieller
schon jene, denen heute der blutige Gang bevorstand. Alles war in Wagen
gekommen, die nun als langer Park auf der Chaussee aufgefahren waren,
stets bereit, mit den Paukanten in Windesschnelle davonzusausen, wenn
die weithin aufgestellten Schnarrposten die Annäherung von Pickelhauben
und grünen Waffenröcken melden sollten. Alles war im »Bummel« gekommen,
das heißt im Hut, die Couleur in der Tasche; nun wurden schleunigst
Mützen und Bänder angelegt: gar lustig flimmerten auf dem bunten Tuch,
der dreifarben-gestreiften Seide, die Sonnentupfen, die durchs braune
Laubdach sich niederringelten. Und bald stand das erste Paar bereit:
Pilgram, Franconiae Erster, gegen den stämmigen Zweitchargierten der
Meißner.

Und nun -- heiho! Gellende Kommandorufe hinein in die lauschende Stille,
widerhallend an den schlanken, weißleuchtenden Buchenstämmen ... und
nun: klirr, klirr der helle Klang, wenn Eisen scharf auf Eisen traf, im
Wechsel mit dem dumpfen Knall der flachen Hiebe, die über Stulp und
Schädel krachten -- heiho! uralte Reckenlust am tollen Raufen, am harten
Widereinander der jugendlichen Kräfte ...

Jähes Halt der Sekundanten, Pause, Blut rinnend hüben über die schmalen,
herrischen Züge des Frankenseniors, drüben über die feisten Speckbacken
des Fechtchargierten der Meißner ... und wiederum Kommandos, hageldichte
Hiebe, Stahl auf Stahl ...

Und dann war's plötzlich aus: der Meißner hatte seine Abfuhr weg, eine
lange Quart, fast unpariert, überm linken Ohr. Und in die
blutbeschmierte Bandage mußte nun Hans Thumser hinein.

Schon stand er dem verhaßten Borgmann gegenüber, schon faßten die Gegner
einander fest ins Auge, schon flogen die Klingen in die Auslage,
kauerten die Sekundanten wie sprungbereite Katzen zu ihrer Kämpfer
Seiten -- da entstand eine Bewegung unter der lauschenden Korona. Auf
dem weichen Waldboden scholl ein dumpfes Klackern wie von Huftritten,
und auf dem schmalen Pfade, der am Wiesensaum entlang sich zog, flitzten
zwei Reiter heran -- aber nicht die Grünröcke der Gendarmen --
Zivilisten waren's, ein Herr und eine Dame. Hans Thumser sah, wie alle
Köpfe sich wandten -- doch ihm blieb nicht Zeit -- nur einen grauen
Schleier sah er wehen von einem hohen, schwarzglänzenden Seidenhut; sah
etwas Lichtes, Klares darunter, hell abgehoben vom dämmernden Waldgrund
-- und dann --

»Auf die Mensur -- bindet die Klingen!«

»Gebunden sind --!«

»Los!«

Und nun alles Leben in Aug und Handgelenk hinein sich krampfend -- und
ein Wille nur -- sich wehren -- und treffen! treffen --!!

»Halt!«

»Halt --!!«

Und auch hier schon nach dem ersten Gange helle rote Bäche rinnend über
weiße Stirnen, zernarbte Wangen ...

Und während der Paukarzt mit dem Wattebausch in Hansens klaffende
Stirnwunde tupft, vernimmt des Fechters Ohr ganz deutlich aus der Mitte
der Umstehenden die Worte:

»Das ist die Buchner!«

Und eine andere Stimme fragt:

»Und der Herr -- wer ist das?«

»Das ist Franz Burg -- der Heldenspieler ...«

Inzwischen hat der Paukarzt seine Untersuchung beendigt; er lächelt:

»Weiter!«

»Herr Unparteiischer -- von unserer Seite kann's weitergehen ...«

Aber drüben bei den Neo-Borussen scheint man noch nicht so recht im
Klaren ... na, wenn Hans Thumser auch schließlich wird dran glauben
müssen: auch Herr Borgmann hat sein Teil bekommen, scheint's!

Er lugt umher: dort halten sie, die Reiter, unterm Eichbaum und spähen
neugierig hinüber ... Ja, das glaub' ich, ihr Komödianten -- so etwas
bekommt ihr nicht alle Tage zu sehen -- hier schwingt man die Waffe
nicht nur zum Spiel -- und was hier Stirn und Wange färbt, ist
wirkliches Blut, nicht Schminke ...

Und dies schmale, feine junge Gesichtchen -- das ist ... Thekla -- das
ist Johanna von Arc?!

Nun werden auch die Neo-Borussen wieder munter:

»Herr Unparteiischer, von unserer Seite kann's weitergehen!«

»_Silentium_ -- Pause _ex_!«

»Auf die Mensur -- bindet die Klingen!«

Jucunda! betet irgend etwas in Hans Thumsers Seele. Er fühlt, wie alle
Sehnen sich straffen.

»Gebunden sind!«

»Los!«

Und zweimal, dreimal schmettert Hieb auf Hieb -- und:

»Halt!«

»Halt!«

»Herr Unparteiischer, bitte drüben nachzusehen und einen Blutigen zu
konstatieren!« ruft Valentin Pilgram, Hansens Sekundant, wilden Triumph
in der Stimme -- sich aufrichtend, zischt er seinem Paukanten ins Ohr:

»Du -- das ist Rest!!«

»Rest? Bei wem? Bei mir?« fragt Hans Thumser ganz verdutzt.

»Ne -- da drüben -- bei Borgmann! Teufel auch, Thumser -- der
Durchzieher -- so was darfste öfters schlagen!«

Was? Er -- Hans Thumser -- er hätte den S. C. Fechter -- --?
Donnerwetter!

An des Gegners Stirn klaffte ein breiter roter Spalt, aus dem zwei feine
warme Strahlen spritzten --

»'raus!« sagt drüben der Paukarzt.

»Herr Unparteiischer, wir erklären die Abfuhr!«

Borgmann stampfte vor Wut mit dem Fuß, als der Paukarzt von hinten mit
kräftigem Griff seine Stirn zusammenpreßte und ihn herumdrehte. Was
half's?

»_Silentium_ -- Neo-Borussia erklärt Abfuhr nach anderthalb Minuten!«

Als Hans Thumser sich aus dem Schwall der Glückwünsche seiner
Korpsbrüder losmachte und Ausschau hielt -- war das Reiterpaar
verschwunden.

»Gratuliere!« sagte Erbprinz Heribert. »Fabelhaft, lieber Thumser, meine
vollste Bewunderung! Haben Sie übrigens die Buchner gesehen?! Vollkommen
tadelloses Mädchen ...«




                                   2.


Wenn Hans Thumser auf ein Glück wartete, so machte die Ungeduld ihn
krank, verdarb ihm jede Minute mit zehrender Sehnsucht. So war es schon
immer gewesen, solange er sich seiner erinnern konnte. Die letzten
Wochen vor dem Weihnachtsfest, vor dem Beginn der Sommerfrische waren
ihm stets eine endlose Tortur gewesen ... Und als er später begonnen
hatte zu empfinden, daß nur die Stunden wahrhaft lebenswert seien, in
denen er mit einem gewissen braunbezopften Menschenkind unter einem
Dache weilen durfte ... da war alles, was zwischen diesen Stunden lag,
nur wie ein unermeßlich langer, böser, dumpfer Traum und Alpdruck
gewesen ...

Und so bedrückend, so angstumschnürt wälzten sich auch die Tage dahin,
die Hansens Mensurtriumph noch von der Eröffnungsvorstellung des
Meininger Gastspiels schieden. Er saß inmitten seiner Korpsbrüder,
schwatzte und trank mit ihnen wie immer, ließ ihre Lobesbezeigungen mit
der gleichen Gelassenheit über sich ergehen wie den boshaften Spott der
Neider, es sei nur ein »Schweinedusel« gewesen, daß er den S. C.
Fechter hinabgetan habe ... Er ließ auf offizieller Kneipe seine Füchse
in die Kanne steigen, daß sie quietschten, und schrieb morgens bei
Windscheid und Binding im Kolleg mit einem ganz ungewohnten,
krampfhaften Eifer nach, als steure er auf ein Prädikatexamen los -- --
und all dies Tun blieb seiner Seele so fern, so fern ...

Manchmal fragte er sich, ob er wohl bei ganz gesundem Verstande sei --
ob es nicht eine fixe Idee, ein krampfhaftes Wahngebilde sei, das ihn so
grenzenlos hungern ließ nach -- nach einem Nichts, einem Spiel, dem
flüchtigen Schattenbilde eines Dichtertraums ... Und dann wieder genoß
er mit einer phantastischen Seligkeit sein Wesen, das ihn vom wachen
Leben hinweg so unwiderstehlich in luftige Spukwelten drängte ...

Nur die Stunden zählten wenigstens halb, die er am Fenster seiner Bude
verbrachte, hinüberstarrend zur nüchternen Front jener Gebäude an der
langweiligen Sophienstraße, hinter denen der kahle Bau des
Carolatheaters sich barg. Dort war um die Vormittagsstunden ein
lebhaftes Kommen und Gehen. Früh um neun begannen die Proben, natürlich
nur für die neuangeworbene Statisterie, denn für die Solo-Rollen
»standen« selbstverständlich alle Stücke des Repertoires. Aber die
stattliche Schar des »Volkes«, die in jeder Stadt aufs neue
zusammengebracht und gedrillt werden mußte, die wimmelte heran, füllte
die sonst stille Straße mit Lachen und Geschwätz ... braunäugige Töchter
kleiner Bürgersleute, stellungslose Ladenfräulein und Kommis,
Stadtreisende und Konservatoristen -- vor allem aber Studenten,
Studenten von jener Sorte, die der Waffenstudent eigentlich nicht
mitrechnete, und die trotzdem die weitaus überwiegende Mehrzahl der
akademischen Bürgerschaft bildete: die »Finken«, auch »Bummler« genannt,
obwohl sie natürlich weit weniger bummelten als die jungen Herren in
Mützen und Bändern ... gar zu gerne hätte Hans Thumser sich mit ins
Gewühl der Statisten gemengt, um als »Volk« oder »Friedländischer
Soldat« oder als römischer Quirite sich an den großen, festlichen
Unternehmungen zu beteiligen, die da drüben vorbereitet wurden ... Und
eines Tages hatte er sich's getraut, vor den Ersten hinzutreten mit der
Bitte:

»Sag' mal, Pilgram, wie ich höre, wirken eine ganze Menge Studenten in
den Vorstellungen der Meininger als Statisten mit -- hättest Du was
dagegen, wenn ich da ebenfalls mittäte?«

Der Erste sah den Fuchsmajor mit einem Blick an, als bäte dieser um
Erlaubnis, silberne Löffel zu stehlen.

»Hör mal, Du, Dein Kopfschmiß von Sonnabend eitert wohl nach innen,
he?!«

Also damit war es nichts ... und so mußte man sich denn begnügen, von
weitem zuzuschauen, wie die glücklicheren Kommilitonen, frei des
korpsstudentischen Zwanges, nach Schluß der Probe froh erregt, mit
glühenden Köpfen, lebhaft diskutierend dem Eingangstor des Theaters
entströmten, um die namenlosen Kneipen aufzusuchen, in denen sie nach
eigener Wahl und entsprechend der Rücksicht auf die Dimensionen ihres
Monatswechsels verkehrten. Und inmitten dieser Beneidenswerten kamen
auch die Helden und Heldinnen aus der Probe -- natürlich mußten ja auch
sie wenigstens die Massenszenen immer wieder aufs neue mit probieren ...

Und noch ein andres heimliches Fest blühte für Hans Thumser innerhalb
seiner bescheidenen vier Wände, die glücklicherweise so dünn waren, daß
sie manch ein Geräusch durchließen von jener geheimnisvoll lockenden
Welt, die hinter ihnen sich barg: das Klappern zierlicher Pantöffelchen,
das Rascheln seidener Röcke, keckes Mädchenlachen und halblautes
Geschwätz, wenn Kolleginnen drüben zum Besuch kamen ... Aber noch immer
war's ihm nicht geglückt, seine Nachbarin von Angesicht zu Angesicht zu
sehen.

Inzwischen baute Hans in seinem Herzen ein seltsam Kirchlein auf: droben
war ein feierliches gotisches Heiligtum, in dem Jucunda Buchners weiße
Gestalt auf ernstem Altare stand, von Weihrauch und Kerzengeflacker
umspielt ... darunter aber, tief unter der Erde, barg sich eine dämmrige
romanische Krypta, in der tolle Orgien verbotener, heidnischer Kulte
nächtens gefeiert wurden vor einem üppig lächelnden Götzenbild -- seine
Züge waren nicht genau erkennbar -- verschwammen im hüpfenden
Fackellicht, das durch den Raum dunstete ...

Aber Hänschen Thumser war nicht der Mann des tatenlosen Zuwartens. Es
mußte etwas geschehen, die dumpfe Qual dieser sehnsüchtigen Tage zu
verkürzen. Aber was? Immer wieder mündeten seine Pläne in die
Erkenntnis, daß man einem jungen verwöhnten Mädchen -- und eine
Schauspielerin konnte man sich ja doch nicht anders vorstellen als jung
und verwöhnt, nicht wahr? -- daß man solch einem Liebling der Götter und
Menschen nur nahen könne mit gebenden Händen ... und seine Hände waren
leer ... der Monatswechsel heidt -- knapp noch das Nötigste für die
letzten Tage vorhanden ...

Auf einmal -- welch glorreicher Gedanke! Hänschen Thumser konnte ja
etwas, das am Ende doch nur die wenigsten unter Asta Thönys Verehrern --
gewiß hatte sie unzählige -- reiche Bankiersöhne und Gardeleutnants und
-- na und solche Leute mit unerschöpflichen Portemonnaies -- aber gewiß
konnten solche Leute meistens eines nicht, oder wenigstens nicht so gut
wie Hänschen Thumser -- nämlich =dichten=!

Juchhe! Hänschen hat kein Geld, um kunstvolle Blumenarrangements zu
kaufen -- aber wunderschöne Verse kann er machen! -- Also los! ein Blatt
aus dem Kollegheft gerissen und gereimt auf Deuwel komm heraus!

    »Ich bin ein junger Korpsstudent,
    Die Schuhe Lack, der Rock patent --
    Korrekt und schick an mir ist alles --«

lauter unbestreitbare Wahrheiten! aber nun kommt der Haken.

    »-- im Portemonnaie nur haust der Dalles --«

So -- immer frisch heraus mit dem sauren Bekenntnis, dann weiß Asta auch
gleich, wie sie mit mir dran ist -- was sie von mir zu erwarten hat --
und was nicht ...

    »Doch da das Schicksal über Nacht
    Zu Budennachbarn uns gemacht --«

(Ach du liebes, gnädiges Schicksal du!)

    »-- müßt' ich Dich eigentlich begrüßen,
    Und Rosen legen Dir zu Füßen --
    Wie gerne würd' ich mich erdreisten --
    Doch leider --«

Alle Wetter: das wird ja ein prachtvoller Reim:

                »-- kann ich mir's nicht leisten ...«

Nun ein zweites offenes Bekenntnis:

    »Noch kenn' ich Dich, Du Schelmin, nicht,
    Sah nicht einmal Dein Angesicht --
    Nur --«

Gott, bleiben wir doch schon bei der Wahrheit:

          »-- hab' ich morgens früh gesehn
    Vor Deiner Tür zwei Schuhchen stehn --
    So winzig, duftig, elegant --«

Hans! du imponierst mir! So viel edle Dreistigkeit hätt' ich dir gar
nicht zugetraut -- aber freilich: auf dem Papier, und mit einer
schützenden Scheidewand dazwischen -- -- Aug' in Auge würde das Debüt
wohl etwas kümmerlicher ausfallen, wie? -- Aber weiter, weiter -- einen
Reim auf »elegant« -- pah, Spielerei!

    »-- daß gleich mein Herz in Flammen stand --«

-- nein, das ist doch zu billig, zu abgeschabt:

    »Da gab es Funken -- Flammen -- Brand!«

Ja, es ist eine alte Sache: Verse werden immer am besten, wenn man ganz
geradezu ausspricht, was wirklich passiert ist:

    »Und seitdem träum' ich wahnbetört,
    Von dem, was da hineingehört --«

Ist das nicht ... doch ... gar zu unverschämt?! Ach was, mehr wie hauen
kann sie schließlich nicht!

    »Willst Du mir's auf den Nacken setzen,
    Mir wär's ein sklavisches Ergetzen --«

-- ne, das ist ein falscher Ton -- von der Sorte sind wir doch nicht! --

    »Ach, dürft' ich's einmal -- einmal küssen --
    Wirst mir's schon noch -- erlauben müssen --
    O welche süße Phantasie --
    Und ach -- probiert hab ich's noch nie -- --«

Hans überlas das Geschriebene. Himmel, ist das schnurrig, wenn's auf
einmal so in einem zu dichten anfängt! Ein ganz andrer Mensch kommt da
plötzlich zum Vorschein als der, den man so im Leben darstellt ...

Hatte er das wirklich geschrieben, er, der wohlerzogene Beamtensohn, der
geschniegelte, korrekte Korpsstudent, der künftige Richter des Volkes?!

Ach, und es gefiel ihm so gut -- daß er's ganz hastig und mit fliegenden
Fingern ins Reine schrieb und kuvertierte ... dann stülpte er die grüne
Mütze auf, lauschte, ob seine Nachbarin daheim sei ... und da er
keinerlei Geräusch hörte, klinkte er im Vorbeigehen sachte die Tür zum
Nebenstübchen auf und sah --

Sah durch den Spalt eine zierliche Mädchengestalt in weißem Unterrock
und weißem Frisiermantel schlafend aufs Sofa hingestreckt ... ein
schwarzes Wuschelköpfchen ... und über den Rand des Sofas guckten ein
paar schwarzbestrumpfte Füße, an denen zierliche rote Halbpantöffelchen
baumelten ...

Und schon hatte er mit einem Ruck den Briefumschlag mit seinen
unverschämten Versen mitten in die Stube geschleudert, die Tür mit
hartem Knall zugeklinkt -- und flog nun die Stufen hinunter -- die grüne
Mütze war ihm in den Nacken gerutscht, seine Wangen brannten, und
draußen zog er mit seinem spanischen Rohr einen Durchzieher durch die
Luft, daß es nur so pfiff.


Wie in Hans Thumsers unoffiziellem Herzen, so war auch in Valentin
Pilgrams korrekter Chargiertenseele Revolution ausgebrochen, und auch
die um einer Zimmernachbarschaft willen. Aber diese Revolution war doch
von einer ganz anderen Sorte und gipfelte in der Erklärung, die der
Senior in energischem Tone an die Frau Kanzleirat Buchner abgab: er
kündige hiermit seine Bude und werde sofort ein andres Quartier suchen,
wenn man den ruhestörenden Lärm und groben Unfug da nebenan nicht
abzustellen die Mittel finden würde ...

Und das war so gekommen:

Valentin Pilgram stand im sechsten Semester. Er war bereits zwei
Semester in Berlin inaktiv gewesen und nur nach Leipzig zurückgekehrt,
weil er als Königlich sächsischer Untertan sein Referendarexamen in
Sachsen ablegen mußte. Er war auf dringendes Bitten des C. C. zu Anfang
des Semesters noch einmal wieder aktiv geworden und hatte die erste
Charge interimistisch übernommen, weil kein anderer geeigneter
Korpsbursch für diesen Posten da war, und der Vertreter des Marburger
Kartellkorps, der die erste Charge später definitiv bekommen sollte,
doch erst einmal in Leipzig und im Korps warm werden mußte.
Interimistisch bekleidete dieser junge Herr die zweite Charge. Und so
teilte Pilgram mit seiner ganzen feierlichen Gewissenhaftigkeit seine
Zeit zwischen dem Korps und der Vorbereitung fürs Examen. Und in der
letzteren war er nun plötzlich und gründlich unterbrochen worden durch
ein grollendes Getöse, das aus der Nachbarkammer in seinen
Studienfrieden hinüberklang, aus der Nachbarkammer, in der, wie er
gelegentlich mit halbem Ohr vernommen hatte, die Tochter seiner
Hauswirte, die herzoglich meiningische Hofschauspielerin Jucunda
Buchner, für die Dauer des Gastspiels ihres Ensemble einquartiert
worden war. Mitten in die Lektüre der Windscheidschen Drogenweltweisheit
war da plötzlich eine sonore Altstimme hineingeklungen, zunächst in
sachtem, murmelndem Repetieren, dann aber in selbstvergessen wildem
Ausbruch:

    »Und =einer= Freude Hochgefühl entbrennet,
    Und =ein= Gedanke schlägt in jeder Brust --«

Da war der reckenhafte _candidatus iuris_ mit einem Wutknurren
aufgefahren ... aber umsonst: die sonore Stimme drinnen grollte weiter
-- sänftigte sich nun zu herzbeklommener Klage:

    »Doch mich, die all dies Herrliche vollendet,
    Mich rührt es nicht, das allgemeine Glück,
    Mir ist das Herz verwandelt und gewendet,
    Es flieht von dieser Festlichkeit zurück ...«

Aber bald schrillte sie wieder auf mit jähem Wehlaut, daß sich vor Wut
und Entsetzen dem Rechtskandidaten die Gedärme umkehrten.

    »Sollt' ich ihn tö--öten? Konnt' ich's, da ich ihm
    Ins Auge sah? I--h--n tö--ö--öten? Eher hätt' ich
    Den Mordstahl auf die eig'ne Brust gezückt!«

Das war zuviel! Der Student riß einen seiner Lederpantoffeln von den
Füßen und pfefferte ihn krachend gegen die Nachbartür.

Einen Augenblick verblüffte Stille -- doch o weh -- sein Warnsignal war
offenbar nicht verstanden worden -- schon nach wenigen Sekunden setzte
das Gegroll und Gewimmer drüben wieder ein:

    »Und bin ich strafbar, weil ich menschlich war?
    Ist Mitleid Sünde?«

»Nee!« brüllte Valentin Pilgram. »Mitleid is keene Sinde nich! Haben Sie
ruhig Mitleid mit mir und halten Sie den Mund -- ich muß lernen!!«

Einen Augenblick war drüben alles stumm -- todesstarres Schweigen. Und
plötzlich fauchte ... ja fauchte, anders war's nicht zu nennen -- keifte
-- ja man muß schon sagen, keifte die sonore Stimme von nebenan:

»So? Lernen müssen Sie? Na -- ich auch ... stopfen Sie sich Watte in die
Ohren!« Und noch dreimal mächtiger und markerschütternder grollte nun
der majestätische Alt:

    »Ist Mitleid Sünde? Mitleid! Hörtest Du
    Des Mitleids Stimme und der Menschlichkeit
    Auch bei den andern, die Dein Schwert geopfert?!«

Da sprang Valentin Pilgram wütend auf, riß den Klingelzug, daß es
schrill durch den Flur gellte, und als die stattliche runde Frau
Kanzleirätin ganz entsetzt ins Zimmer schoß, schnauzte er sie an:

»Was ist das für ein gottverfluchter Spektakel daneben? Wenn das nicht
in fünf Sekunden aufhört, zieh' ich!«

»Erlooben Se mal, mei gutester Herr Pilgram!« entrüstete sich die
behäbige Dame im geblümten Morgenrock sehr energisch. »Se wissen,
scheint's, nich so recht, mit wäm Se's zu tun ha'm! Das is Se nämlich
meine Tochter, die große Jucunda Buchner von die Meininger -- die
Jungfrau von Orleans!«

»Und wenn je die Jungfrau Maria selber wär' -- hier verlang' ich meine
Ruhe, versteh'n Se mich, Frau Kanzleirat?! Ich hab' diese Bude
gefälligst zum Studieren gemietet -- versteh'n Se? Wir sind Se hier nich
im Theater!!«

»Se sollten Ihn' was schämen, Herr Pilgram, daß Se nich mal kenn'n
bißchen Ricksicht nähm' auf Studium von eener gottbegnadeten Ginstlerin,
wo ganz Leipz'g stolz drauf is!«

»Wenn eener ä Vierteljahr vor'm Examen steht, dann hört die
Rücksichtnahme ergebenst auf!« brüllte Pilgram. »Ich muß ooch studieren,
aber mei Studium is wenigstens geräuschlos! Wenn Se e gottbegnadetes
Mädchen zur Tochter haben, die beim Studieren einen Schkandal macht, wo
die Mauern von Jericho von könnten einstürzen, dann vermieten Se
gefälligst keene Buden an Studenten nich!«

»Herr Pilgram -- wenn ich gewußt hätte, was für e ungeschliffener Mensch
Sie sein kenn' -- nie wär'n Se mir ieber de Schwell gekomm', weeß
Knebbchen!«

»Mamaa!« tönte da plötzlich der sonore Alt aus dem Nebenzimmer, »rege
Dich doch bitte ja nicht auf, Mamaaa! Der Herr mag ruhig ziehen -- ich
komme Deiner Haushaltungskasse für den Schaden auf!«

Frau Kanzleirat musterte den Studenten von oben bis unten mit einem
Blick tiefster Verachtung. »Da heer'n Se's, Herr Pilgram! So benimmt
sich e wahrhaft vornähmer Mensch! -- Also wenn Se zieh'n woll'n, ich hab
Sie nich das mindeste dagegen -- lieber heut als morgen! Adieu, Herr
Pilgram -- ziehen Se glicklich!«

Und die stattliche Dame rauschte hinaus mit der Würde einer Königin. Die
Schleppe des geblümten, nicht mehr ganz saubern Morgenrockes waberte
hinter ihr drein.

Valentin Pilgram aber blieb etwas benommen an seinem einsamen
Studiertisch. Es war doch höchst fatal, nun so mitten in den
Examensvorbereitungen das lieb gewordene Quartier gegen ein noch
unbekanntes eintauschen zu müssen ... am Ende hätte er auch ein bißchen
weniger hitzig sein können ... vielleicht mit einem guten Wort hätte
sich die Sache viel besser einrenken lassen ... Aber das machte diese
verfluchte Kandidatenstimmung, das Bangen vor diesem fahlen Gespenst,
das am Ende der Studentenzeit hockte mit stieren Augen und sich ganz,
ganz unmerklich immer näher heranschob ... da sollte der Teufel nicht
nervös werden ... Was keine sausende Säbelklinge fertiggebracht hatte:
das Schreckbild der drei Männer hinterm grünen Tisch hatte es erreicht:
Valentin Pilgram hatte Angst ... und dieser Zustand, so ungewohnt, so
unmöglich, der hatte ihn toll gemacht ... Eigentlich hatte er sich ja
doch wirklich unqualifizierbar benommen ... es waren doch weibliche
Wesen, beinahe Damen, mit denen er so gröblich umgesprungen ... zwar ein
Kanzleirat war ein Subalternbeamter, und seine Frau gehörte nicht zur
Gesellschaft ... und vollends eine Komödiantin ... aber wenn auch ...
wenn auch ... Valentin Pilgram, ich glaube, dein Benehmen war durchaus
nicht auf der Höhe der berühmten korpsstudentischen Direktion ... deren
eifriger Hüter du selber so lange im C. C. gewesen ...

Valentin wartete mit Spannung, ob nicht alsbald da drinnen wieder der
dunkeltönige Alt mit dröhnendem Jambenschwall einsetzen würde ... er
wartete mit Spannung und Verlangen ... das Fortdauern der Störung wäre
wie eine nachträgliche halbe Entschuldigung seiner Hitze gewesen ...
aber er wartete umsonst. Alles blieb still darinnen. Er hätt' also
triumphieren, den ertrotzten Arbeitsfrieden eifrig büffelnd genießen
können ... aber seltsam ... die richtige Streberstimmung wollte nicht
wiederkommen ...

Teufel auch, Valentin Pilgram, du hast doch nicht etwa einen
»Moralischen«?

Franconias Senior stand langsam auf und räumte Drogenweltlehrbuch und
Repetitorien zusammen. Er stülpte die grüne Mütze auf den strohblonden
Schädel und stieg sinnend die altehrwürdigen Holzstiegen hinab auf die
»Kleine Fleischergaß«. Drüben im ersten Stockwerk des »Cafébaums« winkte
über dem in Sandstein gemeißelten Amor, der schon seit Jahrhunderten
einem gleichfalls sandsteinernen Türken »e Schälchen Heeßen« kredenzte,
winkte Franconias Wappenschild, lockte, unter den morgendlich geöffneten
Fenstern des Kneipzimmers, im Morgengolde sich bauschend, das
grün-gold-rote Banner ... aber der Erste stieg nicht hinauf. Er ging
auch nicht auf Wohnungsuche: er tat etwas, was er im Leben noch nicht
getan hatte: er ging zur Universität und kämpfte inmitten eines
Massenandranges von Kommilitonen, ganz gewöhnlichen Nichtinkorporierten,
um ein Studentenbillett zur morgigen Eröffnungsvorstellung der Meininger
-- zur »Jungfrau von Orleans« ...


Ecke Roßplatz, und Roßstraße, vor dem Hotel Hauffe, in dessen erstem
Stockwerk der _studiosus iuris et cameralium_ Heribert Hans Herwig
Erbprinz von Nassau-Dillingen mit seinem militärischen Begleiter und
seiner Dienerschaft die ganze Zimmerflucht an der Straßenfront inne
hatte, harrten frühmorgens um sechse zwei Reitknechte in Livree mit drei
prächtigen Gäulen. Sie plauderten mit dem galonierten Portier.

»Nanu?« meinte der Hotelgestrenge, »schon wieder? Ihr seid ja
Frühuffsteher geworden uff eemal?«

»Was will mer mache?« meinte der ältere der herzoglich nassauischen
Pferdepfleger. »Unser junger Herr hat widder mal e funkelnagelneies
Veegelche g'fange ...«

»Ei herrjemerschnee!« machte der Portier. »Was das nur zu bedeiten hat?
Das is doch ganz unnatierlich fier so 'n jungen Herrn -- Morgen fier
Morgen drei Stunden durch den Wald zu flitzen un sich den Schlaf um die
Ohr'n zu schlagen ...«

»Ich glaub, ich weeß, was da derhinner steckt!« meinte der jüngere
Bursche. »Ich hab' neilich so ebb's uffg'schnappt, wie se beim Reite
g'sproche habe. Er und der Major!«

»Da wär' ich Ihn' aber doch wahrhaft'g neigierig!« kicherte der Portier
und schob sich von seiner Treppe hinunter auf den Bürgersteig.

»Nu -- e Weibsbild steckt da derhinner!« triumphierte der Reitknecht.
»Ich hann's neilich ganz g'nau geheert: Lasse mer heemreite, hat der
Major g'sagt -- heit morge finne mer se doch nit -- hat er g'sagt!«

»I nee so was!« staunte der Portier. »Un dann sind se wärklich alle zwee
heemgeritten?«

»Ja -- ganz wahrhaftig sinn se heemg'ridde!«

»Wer das bloß sinn mag?« meinte der Portier. »Gewiß ganz was Vornähmes
-- sonst tät der gnädige Herr doch gewiß nich so viel Umstände dann
machen um so e Weibsbild!«

»Pscht -- die Herre komme!«

Der Erbprinz federte mit dem natürlichen Schwung seiner einundzwanzig
Jahre in den Sattel -- der Major mit der wohlkonservierten, doch
immerhin etwas gewollteren Elastizität seiner zweiundvierzig. Und im
Schritt ging's die gutgepflasterten Straßen der erwachenden Großstadt
hinab, am massiven Bau und klobigen Rundturm der Pleißenburg vorüber bis
zu den Anlagen jenseits des Flüßchens, wo man antraben konnte.

»Wenn Sie ahnten, Durchlaucht, wie komisch Ihnen die Maske eines
schmachtenden Toggenburg steht -- Sie würden sich selber erheblich
auslachen!« meinte Herr von Gorczynski.

»Gott, wenn mir's doch Vergnügen macht, lieber Major -- lassen Sie mir
schon den kindlichen Spaß!«

»Ich versteh' Sie nicht, Durchlaucht -- Sie benehmen sich wie ein
Sekundaner von einem Kleinstadtpennal und nicht wie ein Fürst ... So'n
Theatermädel ... der schickt man doch einfach ein Rosenarrangement und
seine Visitenkarte -- und das Weitere findet sich!«

Ueber das blasierte Knabenantlitz des Erbprinzen flog ein flüchtiges
Rot. »Wenn ich glaubte, bei der Buchner ginge das auch so, dann pfiff'
ich auf das ganze Abenteuer. Die Nummer kenn' ich nun allmählich! Die
Weiber, die sich kommandieren lassen, die hab' ich satt! Ich möchte
einmal ein Erlebnis haben -- ein richtiggehendes Erlebnis!«

»Na, auf Ihre Manier werden Sie's höchstens bis zu einem richtiggehenden
Korbe bringen!« meinte der Major. »Ein Mann, der schmachtet, hat von
vornherein alle Chancen verloren! Selbst wenn er der Erbprinz von
Nassau-Dillingen wäre!«

»Ich will aber diesmal überhaupt nicht der Erbprinz von Nassau-Dillingen
sein! Versteh'n Sie mich, Herr Major?! Es paßt mir nicht, immer nur auf
das Prinzenkonto geliebt zu werden! Schließlich bin ich doch ganz
simplement als junger Mann nicht zu verachten, wie? Sehen Sie -- und das
möcht' ich mal ausprobieren! Ich hab' mir's nun mal in den Kopf gesetzt!
Und gestern hab' ich der Buchner ein Rosenarrangement geschickt mit
einem Kärtchen, auf das ich nichts weiter geschrieben habe als: Herbert
von Dillingen, _studiosus iuris et cameralium_!«

»Na, ich sag's ja, Durchlaucht! Sie sind auf dem besten Wege, einen
hahnebüchenen Unsinn aufzustecken! Aber was ich Ihnen sage: Ich habe
Ihnen viel durch die Finger gesehen -- aus unerschütterlicher Liebe zu
Ihnen --«

»Na ja, aus unerschütterlicher Liebe zu mir. Und weil Ihnen Ihr gesunder
Menschenverstand sagt, daß Sie aller Voraussicht nach unter Bernhard dem
Sechzehnten noch zehn Jahre, unter Heribert dem Vierzehnten aber, will's
Gott, den ganzen Rest Ihrer Erdenlaufbahn abzuleisten haben werden!«

»Oh -- aber Durchlaucht!« sagte der Major und legte mit pathetischer
Bewegung seine Hand auf jene Stelle seines Busens, unter der man den
Sitz seiner unerschütterlichen Liebe zu seinem jungen Herrn und Zögling
annehmen mußte.

»Bitte, lieber Gorczynski -- stürzen Sie sich nicht in Unkosten -- ich
denke, wir beide kennen uns!« lachte Erbprinz Heribert.

»Ernsthaft gesprochen, Durchlaucht!« sagte der Major etwas verärgert,
indem er seinen Gaul in Schritt fallen ließ, »ich lasse Ihnen jede
harmlose Affäre durchgehen -- wenn sich aber etwas Ernsthaftes anspinnt,
berichte ich _a tempo_ nach Dillingen! Ihr erlauchter Herr Vater hat
mich kategorisch dahin instruiert: keine Weibergeschichten! Und ich
glaube diese Instruktion ganz im Sinne meines gnädigen Herrn
aufzufassen, wenn ich --«

»Wie kann man sich nur so sinnlos aufregen, mein Teuerster! Also weil es
mir Vergnügen macht, mal ein paar Vormittage im Leipziger Ratsholz
spazieren zu reiten, und weil ich dabei gelegentlich die Hoffnung
ausgesprochen habe, einen gewissen grauen Schleier noch einmal wehen zu
sehen, wittern Sie bereits allerlei Tragödien!«

»Ich gestatte mir, Durchlaucht, mich auf meine Menschenkenntnis zu
berufen. Es ist wider die Natur, wenn ein von seinem gnädigen Herrn
Vater mit überaus auskömmlicher Apanage ausgestatteter und dank meiner
überaus riskierten Nachsicht bereits einigermaßen erfahrener junger
Prinz einer Theatermamsell wegen, die er ein einziges Mal von weitem
gesehen hat, an drei nacheinanderfolgenden Tagen um fünf statt um neun
Uhr aufsteht. Wenn ich das nach Dillingen berichte, gibt's eine
Katastrophe! Hab' ich nicht recht?«

»Von weitem gesehen?« schmunzelte der Prinz. »Ich habe mir bereits
eingehenderes Material verschafft!« Und er holte einen großen Umschlag
aus seiner Rocktasche, reichte ihn von Schimmel zu Rappen zum Major
hinüber. Dem fielen beim Oeffnen drei Bilder in die Hand: es waren
Darstellungen eines jungen Mädchens; zunächst im Straßenkleide --
Pelzjäckchen, Barett, Muff -- und dann im Eisenharnisch mit bloßem
Haupt, aufgelösten Haaren, ein Schwert und eine Fahne in Händen --
und endlich im Samt, mit riesigen Puffenärmeln, das Gesicht von
langen Ringellocken umwallt und von einem starren weißen Rundkragen
eingesäumt ...

»Kreuzmillionen --!« entfuhr es dem Major. »Das ist --?!«

»Das ist -- =sie=,« sagte der Erbprinz, und über seinem fahlen
Lebemannsangesicht lag eine Sekundanerröte, die dem Major völlig fremd
war an seinem Zögling. Er starrte den jungen Mann an, als sehe er ihn
zum erstenmal.

Verdammt -- also so stand die Sache?! Nun hieß es aber wahrhaftig
aufpassen ...

Der Major reichte die Bilder zurück. »Na ja,« sagte er im Tone völliger
Wurstigkeit, »die Buchner ... Gott, warum nicht? Wenn Sie sich auf die
nun mal kaprizieren, Durchlaucht -- von meiner Seite aus steht nichts im
Wege! Nur fangen Sie's vernünftig an und halten Sie sich nicht zu lange
bei der Vorrede auf! Also wir werden sie auf -- na sagen wir auf morgen
abend, heut nach der Premiere wird sie schwerlich abkömmlich sein -- wir
werden sie auf morgen abend zum Souper einladen -- sie mag noch eine
Kollegin mitbringen -- und dann entwickelt sich alles weitere glatt und
prompt historisch!«

Der Erbprinz antwortete nicht. Er gab dem Gaul die Schenkel, und zwar so
heftig, daß das rassige Tier ganz erschrocken zusammenfuhr und dann in
tollen Sätzen von dannen raste. Der Major flitzte hinterdrein und
überlegte im Hinsausen, ob er das als eine Zustimmung zu seinem
Vorschlage aufzufassen habe.

Auf jeden Fall -- geschehen mußte es. Und wenn sein Schützling, ein
wenig verspätet allerdings -- na, wie nannte man das noch -- hm, hm!
sein -- sagen wir also: Herz entdeckt hätte -- dann möglichst schnell
diese kleine Entgleisung auf den Normalweg zu dem üblichen, gefahr- und
schmerzlosen Ausgang leiten ... So befahl es Pflicht und Instruktion ...

Und in Gedanken redigierte er folgendes Billett, das er heut abend bei
der Premiere mit einer aufmunternd luxuriösen Blumenspende auf die Bühne
lancieren wollte -- heut abend? Nein -- da würde die Aktion vermutlich
ihren Effekt verfehlen -- würde untergehen in einem Wust und
Ueberschwall ... nein, morgen früh zum Frühstück -- das wird das
richtige sein! Also ungefähr folgendermaßen würde er schreiben:


  »Mein sehr verehrtes _etcaetera_! Zwei aufrichtige und hingerissene
  (gerissen ist sehr gut!) Verehrer Ihrer Kunst würden es sich zur
  höchsten Ehre und Freude rechnen, Ihre nähere Bekanntschaft _etcaetera
  etcaetera_. Wir wagen deshalb die dreiste Bitte, daß es Ihnen,
  Verehrungswürdige, gefallen möge, morgen, Donnerstag abend, nach der
  ersten Wiederholung der »Jungfrau« mit uns im Hotel Hauffe zwanglos zu
  soupieren ... Sollten Sie unter Ihren liebenswürdigen Kolleginnen eine
  nähere Freundin haben, die es nicht verschmähen würde, eine Stunde in
  harmlos vergnügter Gesellschaft _etcaetera_, so würde uns das eine
  ganz besondere _etcaetera_ ... In Voraussetzung Ihrer Zustimmung
  werden wir uns erlauben, nach Schluß der Vorstellung ein Coupé zur
  Verfügung der Damen am Bühneneingange _etcaetera_. Mit der
  Versicherung unserer vollkommensten Bewunderung Ihre aufrichtigen
  Verehrer

                                      v. Dillingen.   v. Gorczynski.«

Na ja -- das übliche Schema -- das nie versagende ... pöh ... eine
Komödiantin ... wenn's weiter nichts ist ...

Und schließlich die Hauptsache: zwei blaue Lappen hinein -- für jede
einen -- damit die guten Kinder auch gleich merken, daß man ernsthafte
Absichten hat -- nicht wahr?




                                   3.


Am Mittwoch nachmittag um fünf war der allwöchentliche Seniorenkonvent:
die Zusammenkunft der Korpsburschen sämtlicher Leipziger Korps. Sie fand
auf der Kneipe des präsidierenden Korps statt: zurzeit war's
Neo-Borussia, die ihr Heim in nächster Nähe der Franken aufgeschlagen
hatte, im ersten Stock eines gleich uralten, verräucherten,
verwahrlosten Kneiphauses, wie der altberühmte Cafébaum eins war, in dem
Franconia residierte. Es stand irgendeine der welterschütternden Fragen
auf der Tagesordnung, um welche sich ein hoher S. C. an jedem Mittwoch
Nachmittag die Köpfe zu zerbrechen pflegte. Diesmal lag vor -- na was
noch? -- lag vor ein Antrag von Misnia und Thuringia, ein wohllöblicher
S. C. wolle beschließen, daß die Klingen der Mensurspeere an der Spitze
in Zukunft nicht mehr rechtwinklig und scharfkantig abgeschliffen
würden, wie es bisher üblich war, sondern abgerundet ... Infolge des
eckigen Schliffs waren nämlich an den letzten Bestimmtagen ein paar so
hahnebüchene Knochensplitter herausgekommen, daß die Paukärzte
kategorisch Wandel verlangten: die Klingen sollten in Zukunft an der
Spitze halbkreisförmig geschliffen werden ... Das war natürlich ein
Problem von fundamentaler Bedeutung, und so erhitzten sich die Gemüter
immer mehr und mehr, immer stärker wurde der Bierkonsum, immer massiver
der Zigarren- und Zigarettenqualm ... und immer hastiger rückte der
Zeiger jener Stunde zu, da im Carolatheater das Gastspiel der Meininger
beginnen sollte ... Theater -- pah! Wer hat Zeit, ans Theater zu denken,
wenn der bittre Ernst des Lebens einen im Bann hält?

Einer hatte Zeit: der schlanke Fuchsmajor der Franken natürlich -- er
saß auf Kohlen und hätte sich mit Vergnügen bereit erklärt, sich am
Sonnabend auf Mensur mit einem kantig geschliffenen Speer ein halbes
Dutzend Knochensplitter aus dem Schädel hauen zu lassen, wenn er dadurch
diese entsetzliche Debatte hätte abkürzen und den Anschluß an den Beginn
der Vorstellung hätte erreichen können ...

Endlich wagte er ein Aeußerstes. Er ging leise zum Ersten hinüber,
neigte sich und flüsterte ihm -- der mit aller Nervenanspannung der
hitzigen Rede seines Gegenpaukanten vom vergangenen Sonnabend, des
Meißner Zweiten, folgte -- flüsterte ihm ins Ohr:

»Pilgram, ich darf Dich vielleicht daran erinnern, daß Durchlaucht mich
auf heut abend in seine Loge eingeladen hat -- da darf ich doch
keinesfalls zu spät kommen ... würdest Du wohl gestatten, daß ich den
S. C. verlasse?«

»Du bist verrückt!« knurrte Pilgram halblaut. »S. C. geht doch vor allem
andern vor! Du siehst, ich muß ja auch aushalten!«

»Du --?! Ja, wie soll ich das verstehen, Pilgram? Gehst Du ... denn auch
... ins ...«

Der Erste errötete tief. Es war ihm herausgefahren, das Geheimnis,
dessen er sich vor allen Korpsbrüdern schämte: daß der traditionelle
Feind aller neun Musen sich ein Theaterbillett erstanden hatte -- und
noch dazu eine Studentenkarte zu einer Mark und zwanzig Pfennigen, um
gänzlich unstandesgemäß -- selbstverständlich im Bummel, also im
tiefsten Inkognito -- zwischen allerhand proletigen Kommilitonen, das
Parterre, ganz hinten, zu bevölkern -- sintemalen und alldieweilen es
auch bei ihm am Monatsschluß nicht mehr zu dem für das Korps
vorgeschriebenen Platz im ersten Rang hatte reichen wollen ...

»Allerdings -- ich geh' auch!« zischte Pilgram. »Wir gehen nachher
zusammen -- aber im S. C. wird ausgehalten, und wenn uns die ganze
Affenkomödie durch die Lappen gehen sollte!«

Vor solchem Pflichteifer verstummte Hans Thumser -- völlig erschüttert
... Freilich, was galt diesem Banausen die Versäumnis eines, zweier,
dreier Akte Schiller! Wie mochte der bloß auf die Idee gekommen sein,
ins ... Hallo -- sollte da am Ende ein ... trotz allem ... erwachtes
Interesse für seine berühmte _filia hospitalis_?! Alle Wetter -- das war
am Ende doch wohl die einzige Erklärung!

Und während ein wohllöblicher S. C. sich weiterhin über krummen oder
geraden Schliff der Klingenspitzen aufregte, griff Hans Thumser alle
fünf Minuten heimlich nach seiner Taschenuhr ... halb sieben -- --
sieben Uhr jetzt -- verflucht! War denn diese verdammte Zwiebel rasend
geworden? Und nun -- nun war es auf einmal halb acht -- in diesem
Augenblick hob sich da unten fern in der Südstadt, in der Sophienstraße,
der Vorhang zum Prolog, und der biedere Thibaut d'Arc verlobte seine
zwei ältesten Töchter ... Nun stand sie auf der Bühne -- sie, die
Madonna aus der oberen Kirche seines Herzens ... noch im schlichten
Kleide der Bäuerin, doch schon überlagert vom tragischen Schatten ihrer
göttlichen Sendung ...

»Meine Herren,« sagte der Vorsitzende, Herr Borgmann, Neo-Borussiae, die
linke Stirnseite noch immer von mächtigem Wattebausch unter schwarzer
Kompresse bedeckt, da, wo Hans Thumsers kecker Durchzieher ihm wider
alle Vorsicht Schwarte, Knochenhaut und alle Aeste der Temporalis
durchgesäbelt -- »meine Herren, meiner Ueberzeugung nach würden wir uns
vor sämtlichen Glocke schlagenden S. C. eines hohen Kösener unsterblich
blamieren, wenn wir als einziger S. C. den allgemein üblichen
scharfkantigen Schliff abschaffen wollten -- und zwar aus einer
Anwandlung von Humanitätsdusel heraus, der für mein Empfinden einen
bedenklichen Beigeschmack von Kneiferei hat --«

»Ich bitt' ums Wort!«

»Ich auch! Ich auch!« so scholl's heftig aus der Korona.

»Silentium für Herrn von Schubart, Misniae!« sagte Borgmann gelassen.

»Ich muß mir aufs entschiedenste verbitten,« schrie Herr von Schubart,
der Zweite der Meißner, in den Zigarrenbrodem hinein, »daß der Herr
Erste Chargierte des präsidierenden Korps von einer Maßregel, die mein
C. C. befürwortet, erklärt, sie habe einen Beigeschmack von Kneiferei!
Ich verlange, daß der Herr Vorsitzende diese Aeußerung mit dem Ausdruck
des Bedauerns zurücknimmt -- andernfalls behält sich mein C. C. weitere
Schritte vor, sowohl gegen einen wohllöblichen C. C. des präsidierenden
Korps als auch gegen Herrn Borgmann persönlich!«

Dreiviertel acht --! wimmerte Hans Thumsers sehnsüchtige Seele -- und in
seinem Herzen klang's:

    »Nichts von Verträgen! nichts von Uebergabe!
    Der Retter naht, es rüstet sich zum Kampf --
    Vor Orleans soll das Glück des Feindes scheitern,
    Sein Maß ist voll, er ist zur Ernte reif!«

Thuringia schloß sich den Erklärungen Misnias an; Guestphalia schwankte,
während Franconia und Neo-Borussia gemeinschaftlich gegen den Antrag auf
Abänderung des Klingenschliffs auftraten. Unter allgemeiner Erregung
schritt der Vorsitzende endlich um zehn Minuten vor acht zur Abstimmung,
und nun fiel Guestphalia definitiv zur Partei des runden Schliffs.
Franconia und Neo-Borussia waren überstimmt: die holde Menschlichkeit
oder, wie Herr Borgmann Neo-Borussiae es nannte, der Geist der Kneiferei
hatte gesiegt ... Und mit dem Zigarrenrauch hingen unzählige P. P.
Suiten und Säbelforderungen in der Luft ... Morgen früh zum Frühschoppen
würden sie explodieren ...

»Nu aber raus!« zischte Pilgram seinem Korpsbruder zu. »Weh Dir, wenn Du
den andern was davon sagst, daß ich ins Theater geh -- offiziell büffle
ich heut abend!«

Drunten wartete des Ersten Chargierten der Korpsdiener mit Hut und
Regenschirm. Pilgram riß ihm beides aus der Hand, zog Mütze und Band ab
und übergab sie dem Getreuen. Thumser, der vornehm in der
Proszeniumsloge sitzen würde mit dem Erbprinzen, blieb natürlich in
Couleur. Und in rasendem Tempo hasteten nun die beiden Studenten die
kleine Fischergasse hinab.

Auf dem Alten Markt standen Droschken aufgefahren. Die Wanderer warfen
einen wehmütigen Blick hinüber:

»Wenn's doch schon der Erste wäre!« knirschte Hans Thumser.

»Beine in die Hand!« knurrte Pilgram.


Als Hans Thumser sich auf Zehenspitzen in die Proszeniumsloge schob,
hatte der erste Akt bereits begonnen. Der Erbprinz und der Major wandten
kaum zu flüchtiger Begrüßung die Köpfe -- schon waren sie im Bann. Und
hinter den schwarzen Silhouetten der Vordermänner sah Hans nur mit einem
flüchtigen Blick die von der Bühne her matt erleuchteten vordersten
Reihen des Publikums im Parkett -- lauter Gesichter, im Lauschen und
Schauen erstarrt. Und schon schlugen auch über ihm die Wogen zusammen.

Ein hoher gotischer Saal am Hoflager König Karls von Frankreich. Düstere
pfeilergetragene Holzdecke, die Wände eichengetäfelt, darüber Gobelins
mit steifen Reihen buntgewandeter Ritter und Edeldamen. Und ganz
tief hinten ein buntes Fenster, durch das sich ein paar verirrte
Sonnenstrahlen stehlen. Und mit zweien Getreuen der unglückliche
weichherzige König, dessen Knabenhand wohl seine Agnes Sorel zu kosen
vermag, nicht aber die Zeit, die aus den Fugen gegangen, wieder
einzurenken ... drei Ratsherren knien vor ihm, seine vielgetreuen Bürger
von Orleans, und flehen um Hilfe, um Entsatz ihrer hartbedrängten Stadt
... Verzweiflungsvoll ringt der König die kraftlosen Arme:

    »Kann ich Armeen aus der Erde stampfen?
    Wächst mir ein Kornfeld in der flachen Hand?«

Doch sieh: ein Lichtstrahl zittert in das Dunkel der Szene: Die Geliebte
kommt: Sie bringt opfermutig all den blinkenden kostbaren Tand, den ihr
König in süßen Stunden ihr um den Nacken gewunden ... Ein
schwarzlockiges, schmiegsames, kätzchenweiches Geschöpfchen ... Ihre
Augen schimmern in koketten Tränen, ihre Hände, weich und rosig wie
Frühlingswolken, umschmeicheln den Freund, noch in der Angst der
Verzweiflung liebeheischend, sehnsuchtsweckend ...

                      »Agnes Sorel ... Asta Thöny«

sagt der Theaterzettel. Herrgott ... das ist sie ...

Und einen Moment ist Hans Thumser wieder Hans Thumser ... Er tastet nach
seiner Brusttasche, wo ein etwas zu stark parfümiertes rosa Billetchen
steckt: Die Worte, die es enthält, ach, die kann er auswendig, im
Träumen, von vorn und von hinten:

    »Nach zierlichen Schuhchen und dem, was drin steckt,
    Liegt mancher Fuchs auf der Lauer --
    Eintritt verboten! Hier wird nicht geschleckt!
    Füchschen, die Trauben sind sauer!«

Also -- das ist sie ... das ... Füßchen werden nicht vorgezeigt, nur
zwei zierliche Goldspitzen lugen im Schreiten ab und an für einen
winzigen Moment unterm schweren Brokat des gotisch starren Gewandes
vor ... dafür aber läßt dies neidische Gewand einen Hals frei ... einen
Hals ... o Gott, o Gott ...

Einen Augenblick ist Hans Thumser Hans Thumser -- der sehnsüchtige Knabe
an der Schwelle des Lebens ... nur einen Augenblick ... und schon wieder
ist er ... niemand und alles ... nur Auge, nur weitgeöffnet schauendes
Gottesauge -- nur Seele, alliebende, alldurchdringende Weltseele ...

Höher schwillt die Flut des Entsetzens um den verlorenen Königsknaben
und sein zitterndes Lieb ... Eine Hiobspost jagt die andere, das Maß des
Ertragens ist voll, sein Land und seine Ehre gibt der Schwache preis,
und empört fallen die letzten seiner Getreuen von ihm ab ... Verlassen
steh'n die beiden Kinder ...

Da auf einmal ... kommt einer der Entwichenen zurück ... auf seinem
zuckenden Gesicht, seinen stammelnden Lippen glüht ein Wort ... ein
Wort, das längst ins Fabelland entschwunden schien ... das Wort:
=Sieg= ...

Und sieh -- da führen die edlen Herren aus des Königs Gefolge einen
riesigen Krieger heran: einen Ritter im zerhauenen, blutbekrusteten
Harnisch: ein blutiger Fetzen windet sich um seine kampfglühende Stirn,
aus seinem blutunterlaufenen Auge lodert das gleiche Zauberwort: das
unfaßbare: Sieg ... Sieg ...

Und atemlos, stockend oft und nun in wahnwitzigen Jubel ausbrechend,
kündet er die phantastische Mär:

Das Wunder ist herabgestiegen vom Himmel ... Ein weißes Mädchen ist in
die Mitte der umzingelten Franzosen getreten -- hat dem Fahnenträger das
Banner entrissen und an der Reisigen Spitze sich in den Feind gestürzt!

    »Ein Schlachten war's, nicht eine Schlacht zu nennen!«

Und daß fassungsloser Unglaube kniebeugender Glaube werde -- -- wird sie
selber kommen! wird kommen -- hierher, an diese Stelle, auf der wir
stehen, harrend, bis ins Mark erschüttert und dennoch zweifelnd ...

Und horch! Schon kündet sich's an: Da draußen, in den fernen Gassen der
Stadt, hören wir den Lärm eines jäh triumphierenden Empfangs ... Näher
und näher kommt das festliche Getös ...

Und da -- da fangen ja die Glocken von allen Türmen plötzlich an zu
schwingen ... und heller tönt draußen das tolle Jauchzen der
Begeisterung ... und nun stürzen sie alle, die in der dumpfen, ragenden
Kammer weilen, in kindischer Hast ans Fenster da hinten und beugen sich
hinaus, und sieh, sie sehen's schon, das Wunder, das Unmögliche -- sie
schreien und winken und schreien --

Und horch, nun stürmt's da draußen die Stufen hinauf, nun stürzt, nun
strömt es herein. Ratsherren und Rittersleute und Bürger und Weiber und
Soldknappen und Kindervolk und ... eben Menschen, schreiende, tobende,
vor Erlösungstaumel sinnlose Menschen ... Vor dem König, der mit der
Geliebten, zitternd, schwindelnd, da vorn geblieben, werfen sie sich auf
die Knie, in den Staub, heulen und jauchzen: Sieg! Sieg! Sieg!

Und nun -- nun öffnet sich auf einmal, wie die Flut des Roten Meeres vor
dem Durchzug der Kinder Israel, so klaffend öffnet sich durch die
Menschenflut eine Gasse ... und durch die Gasse ... schwebenden
Schrittes ... kommt ... sie ...

Kommt ein weißes Mädchen, nein, kein Mädchen, kein Mensch ... ein
Gedanke, ein Gottgedanke, der Gedanke der Erlösung, der Gerechtigkeit,
der Freiheit, des Vaterlandes ...

Und steht so vor dem König ... das Ewige, das Heilige, das Unendliche
selbst ...

Und doch ... nur ein Mädchen ... ein junges, weißes Weib ...


In der winzigen Garderobe, rechts vom Schauspieler, auf der Frauenseite,
wartete Mutter Buchner ihrer berühmten Tochter. Sie hatte es sich zwar
nicht versagen können, sich von einem Eckplatz des Parketts aus an
Jucundas Spiel, den neidisch-ehrfurchtsvollen Blicken der Bekannten, dem
Jubelsturm des Publikums zu weiden; aber am Anfang des zweiten Aktes,
das wußte sie, trat Jucunda nicht auf, und da drängte es sie in die
Garderobe ihres Kindes, um ihr Zofendienste zu leisten. Ach, am liebsten
wäre sie ja von Ort zu Ort mitgereist ... Wenn ein Mädchen so ungeheuer
viel Talent hatte ... und so gut gewachsen war -- na, man wußte ja, von
wem sie das hatte! -- und so heißblütig -- ach Himmel, man war ja selber
auch mal jung gewesen! -- Das war ja ganz selbstverständlich, daß die
Mannsbilder hinter so einer her waren wie verrückt -- da hätte man ja
doch als Mutter eigentlich auf Schritt und Tritt aufpassen müssen ...
Aber da war ihr Alter, der Herr Rat ... der konnte ja nicht leben ohne
seine Doris ... Na, solange das Kind in Leipzig war, sollte es
wenigstens fühlen, was man an einer Mutter hat ... Und kaum war der
Vorhang nach dem ersten Akt gefallen, da flog -- während das Publikum
noch immer tobte, die Gardine auf und nieder tanzte, die Darsteller sich
immer und immer wieder süß lächelnd verneigten -- flog Mutter Doris aus
dem Zuschauerraum zu dem bekannten Pförtchen, das nur denen vom Bau sich
öffnet, hastete die steinerne Treppe hinauf in das winzige, von
Schminke, Puder und Menschendunst geschwängerte Kämmerchen und wendete
das gewärmte Hemd, das auf der Heizung bereit hing ... Denn wie ihre
Jucunda schwitzte bei so'ner großen Szene, das war schon nicht mehr
schön ... Von Kopf bis zu Füßen mußte sie die Unterwäsche wechseln
jedesmal, wenn irgend Zeit blieb ... Freilich, wie das Mädchen sich auch
ins Zeug legte ...

Und nun kam sie -- kochend, dampfend, wie aus dem Backofen ... fiel in
den Frisierstuhl und streckte alle Viere von sich ... Frau Doris umarmte
sie zärtlich und drückte ihr einen begeisterten Mutterkuß auf die
triefende Stirn ...

»Schinderei, verfluchte!« pustete Jucunda. »Wie aus dem Wasser gezogen
ist man -- und das schon nach dem ersten Akt! Schnell, Muttel, die
Lappen runter und frische Wäsche! Ich komm' ja um!«

In der Tür der Garderobe drängten ein paar Kollegen nach, der Heldin des
Abends die Hand zu drücken. Alle mochten sie das stramme junge Ding
leiden, das mit seinen achtzehn Jahren so resolut durch diese
schminkestarrende Welt stapfte, als sei sie darinnen geboren und nicht
in einem engbrüstigen Leipziger Spießermilieu ...

»'raus!« befahl Mutter Doris. »Alles 'raus! Meine Tochter wünscht
alleene zu sein!«

Und rasch vollzog sich die Verwandlung. In kräftiger Frische,
schweißgebadet, stieg der derbe Mädchenleib aus den klatschnaß
zusammensinkenden Hüllen, wurde von sorglicher Mutterhand mit lauen
Güssen überspült und in die frischen gewärmten Unterkleider gesteckt.
Die Garderobiere, ein verknittertes, verhutzeltes Weiblein, stand müßig
daneben und träumte von der goldenen Zeit, als auch sie einmal am
Stadttheater zu Stallupönen erste Naive gewesen und von den Leutnants
der Garnison mit billigen Buketts und falschen Schmucksachen
überschüttet worden war ... Dann aber mußte sie eingreifen, denn über
das weiße Gewand des Bauernmädchens wurde nun die wuchtige Rüstung
geschnallt und mit einem Dutzend Riemen und Oesen befestigt -- darauf
verstand Mutter Doris sich denn doch nicht. Inzwischen aber schwatzten
die Frauen ohn' Unterlaß:

»Gott, war das ein Spektakel zum Aktschluß! Namentlich da hinten im
Parterre!« sagte Jucunda und warf das langflutende braune Gelock über
die Rüstung zurück.

»Natierlich -- das gloob' ich ooch!« erwiderte die Mutter und strich mit
glättendem Kamme bedächtig durch die krause Mähne der Tochter. »Da
sitzen doch die Herren Studenten! Was die trampeln kenn'! Gott soll mich
bewahren! 's ganze Parkett war Dir doch eene Staubwolke! Und =unserer=
is ooch dabei -- wirscht mer's glauben?«

»Wer? Der unverschämte Mensch aus dem Eckzimmer?«

»Freilich, der! Un gezogen is er noch lange nich!«

»I nee so was!« lachte Jucunda.

»Eegentlich is mer'sch ganz lieb, daß er noch nich weg is,« sagte Mutter
Doris. »Immerhin er is der Erste Scharschierte vons älteste und
angesehenste Korps in Leipz'g ... Un so lang als ich denken kann, hab'
ich immer Korpsstudenten bei mir wohnen gehabt -- 's wär doch sehr
unangenehm für mich gewäsen, wenn er wär' mit'n großen Krach von mir
fortgegangen -- leicht hätt's kenn' passieren, daß die ganzen Korps mich
hätt'n in'n Verruf getan -- damit sin se immer sehr fix bei der Hand,
wenn ma een' von ihn' mal schief angekuckt hat ... Unser Nachbar
Wunderlich, der Mützenmacher, der kann e Wertchen davon erzählen ... Der
hat mal een' von die Korpsstudenten, der absolut nich wollt' zahl'n, nu,
dem hat er en groben Brief geschrieben -- und iebermorgen war er schon
im S. C. Verruf -- das kost'n an sechshundert Mark jährlich!«

»I herrjemerschnee!« lachte Jucunda, »das hätt' ich wissen sollen, daß
unser Student so ein großes Tier ist! Da hätt' ich durch meine Grobheit
ja beinahe Deinen Geschäftsbetrieb ganz bösartig geschädigt! Na,
hoffentlich kommst Du noch mal mit 'nem blauen Auge davon! Uebrigens,
Muttel, wenn ich mich recht erinnere, so hast Du den einflußreichen
Jüngling auch nicht gerade mit Glacéhandschuhen angefaßt ...«

»Nu, ich hab' mich eben lassen hinreißen,« sagte Frau Doris. »Weeßte,
wenn eener mir mit mein' Goldkinde tut anbinden -- hernach weeß'ch mich
nich zu beherrschen -- reinweg wie ene Furie werd' ich Dir dann!«

»Muttel!« sagte Jucunda zärtlich und legte einen Augenblick lang das
lockenumflutete Haupt an den mächtig wallenden Mutterbusen.

In diesem Augenblick trat Franz Burg herein, der Oberregisseur, in der
klirrenden Rüstung des englischen Oberfeldherrn, in einer Maske so voll
schrecklichen Ingrimms, daß Jucunda hell auflachte:

»Donnerwetter, lieber Freund -- mit Ihrem Konterfei kann man ja die
Pferde scheu machen!«

»Himmel -- für die guten Leipziger muß man eben ein bißchen dick
auftragen ...«

»Schön,« sagte Jucunda, »werd' ich mir merken. Passen Sie mal auf,
Meister, wie ich jetzt loslegen werde!«

»Aber gefälligst mit einem vernünftigen Stimmansatz, und nicht wieder so
aufs Organ loswüsten wie im ersten Akt! Ihnen geht's zu gut, Kindchen,
Sie werden mir zu üppig ... In einem Alter, wo andre Kolleginnen froh
sind, wenn sie einmal ein Servierbrett mit Kaffeegeschirr hereinbringen
dürfen, toben Sie schon abendfüllend durch ganz Deutschland -- da muß ja
so ein achtzehnjähriger Verstand aus dem Leim gehen ...«

»Ach, lassen Sie mich doch ...« Jucunda reckte den herrlichen Körper,
daß alle Niete und Scharniere der Rüstung knackten ... »Lassen Sie mich
doch, lieber Freund ... Es ist ja so schön ...«

Franz Burgs Augen schimmerten hinter den grimmigen, rotgrauen Brauen in
einem ganz seltsam weichen Licht ... Sie glitten über die schlanke,
waffenblanke Gestalt, wie ein Streicheln.

»Schön ist's, das glaube ich -- Sie sind eben ein Sonnenkind,
Langbeinchen!« So nannte er sie noch immer, aus jener Zeit, wo sie als
blutige Novize wegen ihres knabenhaften Wuchses immer die Pagen hatte
spielen müssen ... Jetzt freilich wäre das nicht mehr zu machen gewesen
-- sie war ein Weib geworden ...

»Na also -- Sie sind fertig ... Nun halten Sie aber Ruhe, bis Sie geholt
werden ... Und nicht zu toll mit dem Organ aasen, verstanden? Adieu,
Langbeinchen!«

»Adieu, Sie Bester!«

Ein Blick so voll dankbarer Zärtlichkeit, daß der grimme Talbot rasch
das Visier herunterklappte ... Und durch die Augenlöcher klang sein
Knurren:

»Also fang'n mer an!«

Er rasselte von dannen. Jucunda warf ihm ein halbes Dutzend Kußhände
nach.

»Aber Jucunda!« rief die Mutter ganz entsetzt.

»Ach laß doch, Muttel! Einmal ein Mensch beim Theater, ein einziger,
der selbstlos gütig ist -- einen lehrt, einem vorwärts hilft, ohne
gleich -- --«


Der zweite, der dritte Akt waren vorübergebraust, mit Schlachtgetöse und
Siegesjubel und Sterbegrauen ... und hatten geendet mit der
naiv-gewaltigen Szene, in der Johannas tragisches Geschick sich wendet:
der Fluch ihrer übernatürlichen Sendung sich wider sie kehrt. Das Herz
der Jungfrau hat mit Entsetzen sein Mädchentum empfunden ...

Große Pause nun -- alles strömte hinaus in die schmalen,
schlechtbeleuchteten Gänge, das dürftige Foyer des dumpfen winkligen
Hauses ...

Und da oben fanden sich die beiden Franken, ihr fürstlicher Konkneipant
und sein Erzieher. Die Herren begrüßten einander mit dem gewohnten starr
offiziellen Gesicht, dem korrekten Händeschütteln der hoch gewinkelten
Arme ... Keiner mochte verraten, wie sehr er gepackt war.

»Ganz nett -- wie?« näselte der Erbprinz.

»Na ja ... Aber immer dies ewige eintönige Pathos, das hält kein Pferd
auf die Dauer aus!« schnarrte Pilgram.

»Wie fanden Sie die Buchner?« fragte nachlässigen Tones der Prinz.

»Na -- mein Himmel -- spielt eben Schiller!« erwiderte der
Rechtskandidat.

Hans Thumser blieb stumm. Ihm standen Erregung und Entzücken bis an den
Hals -- die Tränen, die er mühsam hatte unterdrücken müssen, preßten ihm
die glühenden Augen. O Gott -- so Erhabenes, so Ungeheures erlebt zu
haben ... Und dann den gelassenen Weltmann mimen zu müssen mit zwanzig
Jahren ... Was war das für eine Jugend? Sie schämte sich aller
jugendlichen Empfindungen ... der Begeisterung, des Glaubens an das
Große, das Weltbezwingende ...


Und schnell vollendete sich's nun. Wie ward es Valentin Pilgram zumut,
als er nun im festlich geputzten Saale zu Reims die Verse erklingen
hörte, die er neulich so schmählich unterbrochen?

    »Sollt' ich ihn töten? Konnt' ich's, da ich ihm
    Ins Auge sah? Ist Mitleid Sünde?!«

Was war denn das, was so heiß und fremd unter der linken Westentasche
zuckte und hüpfte? Was war dieser geheimnisvolle Schmerz, dieser
brennende, der durch Hirn und Glieder rumorte, wenn dieses Mädchen
seine stählernen blauen Augen verloren in den dunklen Raum
hinausschweifen ließ, in dem er saß, inmitten der proletigen Finken
ringsum, die er verachtete, wie er alles verachtete, was nicht zu den
Angehörigen eines hohen Kösener S. C. Verbandes zählte?! War es die
Scham, daß er dies Mädchen, diese weiße, stolze Weibesgestalt da hinten,
gekränkt, gestört in ihrem Studium -- sich benommen gegen sie wie ein
Rauhbein, ein Knote ohne Kinderstube und Direktion!

Ja, das mußte es sein, das und nichts andres ... Er wird morgen früh
seinen Bratenrock anziehen und seine beste Mütze aufsetzen -- wird sich
feierlich durch die Frau Kanzleirätin anmelden lassen und förmlich und
devotest um Verzeihung bitten ... Es ist männlich, begangenes Unrecht
einzusehen und zu sühnen, und durch Revokation und Deprekation einer
Dame gegenüber vergibt auch Franconiae gewesener Erster, Erster, Erster
_ad interim_ sich nichts -- nein, ganz gewiß nicht!

Also das mach' ich! Gesegnet meine wüste Laune, gesegnet meine
Examensnervosität ... So hab' ich doch wenigstens einen anständigen
Grund, mich ihr vorzustellen, sie zu sehen, mit ihr zu sprechen ... Und
ich werde mich dermaßen kavaliermäßig benehmen ... Ich werde ...
Ueberhaupt ... Ich werde -- hol' mich der Teufel -- Eindruck werd' ich
machen, so wahr ich Valentin Pilgram bin, Franconiae gewesener Erster,
Erster, Erster _ad interim_!


Hans Thumsers Seele war aber zwiegeteilt, wie fast immer -- fast immer
... Noch einmal, in der zweiten Szene des vierten Aktes, kam die andere
-- nach der er ein geheimes, lästerliches und süßes Schmachten verspürt
hatte, nun sie so lange verschwunden war ... kam Agnes Sorel, stand
neben der herrischen Gestalt Jucundas in ihrer kätzchenhaften
Holdseligkeit ... schmiegte an Jucundas gepanzerten Busen die
unverhüllte, die rosige lockende Brust ... O Hans Thumser, und denken zu
müssen, daß diese Himmelswonne Nacht für Nacht neben deinem
Knabenstübchen schläft, nur durch eine dünne Ziegelmauer von dir
getrennt, in der es gar noch eine Tür gibt, die freilich verschlossen
ist und mit einem Kleiderschrank verstellt ... O Hans Thumser, wie wirst
du dies Bewußtsein ertragen, nun du sie kennst, sie gesehen hast mit
deinen scheuen, brennenden Augen, ihr Bild hineingesogen in deine
lechzende, lebenshungrige Seele ... Wie wirst du's ertragen?

Füchschen, die Trauben sind sauer ... So hat sie geschrieben. Ach, du
Schelm, du böser, neckender Traumspuk du -- du warmes, weiches, nahes,
fernes, weltenfernes Menschenkind -- --!

Still -- es erfüllt sich Johannas Geschick ... Vor dem Bannspruch des
Vaters, der sie höllischer Blendekünste zeiht, verstummt sie ...
verstummt vor dem Donner des Himmels ... flieht in Einsamkeit und
Verzweiflung -- fällt stumm und wehrlos in die Hand der Feinde ...

Doch dann, in letzter, höchster Not, kommt noch einmal über sie die
alte, magische Kraft: Sie zerreißt ihre Ketten, entrafft sich den
entsetzten Feinden, trägt noch einmal das Banner der Jungfrau zum
Kampf ... und dann, die Todeswunde in der Brust, von Siegesbannern
überbauscht, läßt sie ihre reine Seele ins All hinüberströmen ...

O Dichter! Dichter! betet Hans Thumser -- großer, herrlicher mit Deiner
wunderbaren Cherubseele -- einen Tropfen von Deinem Geist in mein
junges Herz -- einen Flammenfunken von Deinem Himmelsfeuer!

    »Wie wird mir? -- leichte Wolken heben mich --
    Der schwere Panzer wird zum Flügelkleide --
    Hinauf -- hinauf -- die Erde flieht zurück --
    Kurz ist der Schmerz, und ewig ist die Freude!«


Ein heftig gestammelter Dank an den Prinzen, ein feierliches Schütteln
der korrekt eingewinkelten Hände mit ihm und dem Major, und dann hinaus
-- hinaus in die herbstliche Abendluft ... O glühende Stirn, o glühendes
Herz ...

Und nun -- warten -- sie noch einmal sehen, sie, »die alles Herrliche
vollendet« ... nicht jene andre, das Kätzchen, den Spukgeist ... Nein,
die eine, die weiße, die königliche ...

Warten auf sie -- sie warten ja alle ... Eine dichtgedrängte Schar,
lauter blutjunges Volk. Konservatoristinnen und Ladenmamsellchen
untermischt mit Primanern und Studenten ... Sie warten vor dem Portal,
vor dem ein einziger Wagen noch hält, ein einziger, während all die
andern mit ihrer Fracht schleierumhangener, kapuzenverhüllter
Weiblichkeit von dannen donnern -- ein einziger Wagen, in dem, hüstelnd
und frierend, ein bebrilltes Männlein hockt mit grauem Kragenbart: der
Kanzleirat Buchner ...

Es dauert lange, dies Warten ... Aber Hans Thumser wartet nicht allein:
An seiner Seite, geduldig fröstelnd, harrt der gestrenge Senior, ganz
gegen jede Wahrscheinlichkeit und Psychologie ...

»Ne, Pilgram, wie =Du= mir heute vorkommst!«

»Na, was denn? Wieso denn?« knurrt der Erste. »Denkste vielleicht, Du
hast die Kunstbegeisterung alleene gepachtet?!«

Und endlich -- endlich -- -- am Bühneneingang fliegen die Hüte, die
Mützen von den Köpfen --

»Jucunda Buchner -- hoch! hoch!«

Voran schiebt sich eine derbe Matrone in uraltmodischer
schleifenbesetzter Kapuze -- und dann kommt -- sie -- so mädchenhaft auf
einmal, so spießbürgerlich schlicht ... Wie ein Backfisch schaut sie
aus, so menschlich, so nahe ...

»Hoch! hoch!« brüllen die Studenten, juchzen die Mädels -- sie huscht
vorüber, kopfnickend, so lieb, so einfach, so -- so fabelhaft nett --
sie schlüpft in die Wagentür, nickt noch einmal vom Fensterrand -- neuer
Jubel --

Ach was -- längst nicht genug!

Eine neue, eine würdige Huldigung dem wundervollen Menschenkind!

»Kommilitonen!« ruft Hans Thumser und schwenkt die grüne Mütze,
»Kommilitonen! Wir spannen ihr die Pferde aus, wir fahren sie im Triumph
nach Hause!«

Ein Beifallsgeheul ist die Antwort. Und auf die Gäule stürzt sich
der Schwall -- im Nu sind die Scheuenden, Schäumenden abgesträngt,
der fluchende, peitschenschwingende Kutscher entwaffnet und vom Bock
gezerrt ...

»Verrickt seid 'r! Alle mitenander seid 'r übergeschnappt! Der Deifel
soll Euch hol'n!«

Und hundert Hände packen zu, langen nach der Deichsel, den Zugscheiten,
den Strängen -- hundert Hände greifen in die Speichen -- hurra! Der
Wagen rollt, rollt mit seiner vielgeliebten Fracht ... Und allen voran
als Führer, den Hut auf dem Stock balancierend, den Stock im Takt
schwingend wie ein Tambourmajor schreitet einer, der den Weg kennen
muß: Franconiae gewesener Erster, Erster, Erster _ad interim_!

Und der Wagen rollt die Sophienstraße entlang, umdröhnt vom Jauchzen
schönheitstrunkener, größeberauschter Jugend ... Rollt die Zeitzer
Straße, den Peterssteinweg hinab, der Altstadt zu ... Und immer
zahlreicher wird das Huldigungsgefolge hinter dem Triumphzug, den Jugend
der Jugend, der Schönheit, der Kunst bereitet, immer betäubender
schwillt der allgemeine Jubel:

»Jucunda Buchner -- hoch -- hoch Jucunda -- unsre Jucunda!«




                                   4.


Als der Triumphwagen endlich in der Katharinenstraße hielt, zog der alte
Buchner den riesigen Hausschlüssel aus der Tasche und stieg als erster
aus. Ein hundertstimmiger Jubel empfing ihn ...

»Das ist der Vater -- Jucundas Alter ist das -- Papa Buchner hoch!
hoch!«

Ein Dutzend Hände waren ihm behilflich, hoben ihn über die Bordschwelle,
ganz betäubt humpelte er durch die Gasse, die sich vor seinen Schritten
öffnete, fand die Tür seines Hauses zu seiner Verwunderung bereits
geöffnet und schlüpfte hinein, wie erlöst, daß er dem Getös entronnen
...

Und nun schob sich Mama Buchners massives Gestell aus der Droschke.

»Achtung, jetzt kommt Mamachen!« schrien kecke Stimmen. »Platz für
Mamachen!« Geblendet vom grellen Licht der Gaslaterne, dicht neben dem
finstern Hauseingang, verwirrt vom Stimmengewirr, dem Glanz blitzender
Augen, dem Durcheinander winkender Hände, flatternder Tücher verfehlte
Mutter Doris mit unbehilflich suchendem Fuß den Wagentritt und wäre
gestürzt, hätte nicht ein sehniger Arm sie gefaßt und ihre schwerfällige
Gestalt mit sicherem Griff aufs Trottoir, auf die Beine gestellt. Und
gleich darauf fühlte sie ihre Hand in diesen sehnigen Arm hineingezogen,
fühlte sich sicher und ritterlich der Haustür zugeführt -- sah dankbar
zu ihrem Beschützer empor und -- sah in das verlegenheitglühende Gesicht
ihres Mieters ...

»Gnädige Frau --« stammelte Pilgram.

Gnädige Frau --?! Es war das erstemal, daß ihr Student diese Anrede für
die Frau Kanzleirätin fand ... sie war direkt erschüttert ...

»Herr Pilgram -- nee heer'n Se, das is aber hibsch von Ihn' ...«

»Darf ich Ihnen meinen aufrichtigen Glückwunsch zu dem Riesenerfolge
Ihres Fräulein Tochter -- gnädige Frau? und zugleich auch meine Bitte um
Entschuldigung wegen meines unqualifizierbaren Benehmens von vorgestern
morgen --«

»Ach sei'n Se still, Herr Pilgram -- scheen war's ja grade nich ... Aber
Sie haben's ja gut gemacht ... Also woll'n mer uns wieder vertragen!
Aber wo bleibt denn 's Kind?«

's Kind war noch nicht abkömmlich. Sie mußte draußen die Dutzende von
Händen schütteln, die sich ihr entgegenstreckten ... Und dabei liefen
ihr die hellen Tränen nervöser Seligkeit über die Backen ...

»Dank ... tausend, tausend Dank!« Das war das einzige, was sie nur immer
wieder stammeln konnte ...

Und endlich fiel die Pforte denn doch ins Schloß, während die
begeisterte Jugend draußen weiter jubelte und tobte. Kanzleirat Buchner
wollte abschließen, aber Valentin Pilgram kam ihm zuvor. Und dann
entzündete er ein Wachsstreichholz und geleitete Mama Doris mit der
Galanterie eines Oberhofmarschalls die knackenden Treppen des
altehrwürdigen Baues hinan, der einstmals ein feierlich elegantes
Patrizierhaus gewesen war ... Der Kanzleirat und die Heldin des Abends
folgten.

Oben wollte sich Valentin verabschieden, um in seinem Zimmer zu
verschwinden, aber Jucunda rief:

»Was? Sie wollen schon schlafen? Nee, gibt's nich! Muttel, mach' Licht
in der guten Stube! Wir schwatzen noch eins! Und Du, Alter, rück' mal
ein paar Pullen Gose heraus! Ich hab' einen Pferd'sdurst!«

Und sieh -- nach wenigen Minuten war's hell und mollig in der
behaglichen Wohnstube, und während Mutter Buchner drinnen Bemmchen
schmierte und Papa Kanzleirat Zigarren und Aschenbecher bereit stellte,
sorglich aus den dickbauchigen Goseflaschen das bernsteingelbe
bitterliche Naß in die hohen Stangengläser plätschern ließ, stand
Valentin Pilgram voll nie gefühlter Empfindungen am Fenster, hinter
Jucundas hoher Gestalt, die noch immer hinaus auf die Straße winkte und
Kußhände warf, während von drunten, vom Straßendamm empor ohn' Ermatten
das Begeisterungsgebrüll der Burschen tönte, die Taschentücher der
Mädels flatterten ...

»So, Kind,« sagte Mutter Doris endlich, »nu mache schon Schluß, daß Du
was zu essen und zu trinken kriegst ... Bitte, Herr Pilgram, nehmen Sie
Platz!«

Valentin und Jucunda traten vom Fenster zurück. Jetzt erst fand das
Mädchen Zeit, den jungen Gesellen zu mustern.

»Sie sind wohl einen halben Kopf größer als ich,« sagte sie anerkennend.

»Aber Sie -- Sie sind ... etwas ganz Besonderes ... eine ganz andre
Sorte von Mensch als ... nu als wir gewöhnlichen Leute, wir simplen
Rechtskandidaten ... und so was.«

»Erlauben Sie mal -- Sie sind doch auch was Besonderes ... Erster
Chargierter des ältesten und angesehensten Korps in Leipzig ...« Sie
wies auf einen Stuhl.

»Gott -- gnädiges Fräulein ... Wie können Sie so was überhaupt ... das
sind doch Kindereien, wenn man's mit ... mit Ihrer Kunst vergleicht ...«

O Valentin Pilgram -- wer dir das gestern prophezeit hätte ... daß du so
zu einer Komödiantin sprechen würdest ... daß die Heiligtümer deiner
Seele so schnell verbleichen würden ...

»Na, nu nähmt mal gefälligst ä bißchen Platz, Kinder!« rief der
Kanzleirat ...

Kinder --?! Es durchfuhr die beiden jungen Menschen ... ein seltsames,
ahnungsvolles Gefühl ... Mit einem Male war Jucunda Buchner nicht die
glückverwöhnte, reichbegnadete Künstlerin, sondern ein Backfisch von
achtzehn Jahren ... und Valentin Pilgram nicht der Sohn des
Senatspräsidenten am Dresdener Oberlandesgericht, nicht der Erste
Chargierte eines wohllöblichen C. C. der Franconia, sondern ein Knabe
von vierundzwanzig, in all seiner senioralen Würde doch noch immer ein
junger, lebensunkundiger Novize des Daseins ...

Zwei blutjunge Menschen ... zwei Kinder ... beide gewachsen wie ein paar
Tannen, beide jung, stark und heiß ...

»Kinder!« hatte der alte Mann gesagt ... Wie seltsam das die Seele traf
...

Beider Augen waren gesenkt, beider Stirnen glühten, als sie sich setzten
...

Man stieß mit den langschäftigen Gosengläsern an, Jucunda tat einen
tiefen, herzhaften Schluck und biß dann nicht minder herzhaft in ihre
Butterbemme.

»Donnerkiel!« sagte sie, »das tut aasig gut ...«

»Nu sagen Se, Herr Pilgram, wie sind Sie denn bloß in's Theater
gekommen? Ich hab' gedacht, Sie haben gar nischt iebrig für die Kunst?«
erkundigte sich Mama Buchner.

»Ja ... Frau Rätin,« sagte Valentin, »wie soll ich Ihnen das erklären?
Sie haben nämlich recht ... Ich hab' wirklich nicht viel Sinn für die
Kunst ... Ich -- nu ich war eben ... neugierig war ich -- auf meine
Budennachbarin ...«

»Sehr schmeichelhaft!« lachte Jucunda und zündete sich eine Zigarette
an. »Na und -- und was sagen Sie nu?«

»Gar nischt sag' ich --« bekannte der Student. »Wissen Sie ... zum
Komplimente machen ... bin ich nicht maulgewandt genug ... ich kann nur
sagen: dies war der schönste Tag meines Lebens.«

»Hehe -- da siehst es, Jucunda, was fier ä Kerle Du bist!« schmunzelte
der Kanzleirat.

»Ach -- das geht doch nicht auf mich!« wehrte Jucunda ab. »Herr Pilgram
ist eben von Schillers großer Dichtung so ergriffen gewesen ...«

»Ne, gnädiges Fräulein, das könnt' ich nu gerade nich sagen,« erklärte
Valentin. »Ich bin eben doch, wie mein Korpsbruder Thumser sagt, ich bin
doch ein Banause. Schiller? Ich weeß nich ... es ist mir doch zu viel
Schmalz an der Brühe ... Wenn Sie nicht gewesen wären, gnädiges
Fräulein, ich glaube nicht, daß ich wäre bis zum Ende dageblieben ...«

»Schämen Sie sich!« zürnte das Mädchen.

»Ja -- 's tut mir selber leid, daß ich so wenig Verständnis habe für die
sogenannte Kunst ... Sehen Sie ... ich stamme aus einer alten Juristen-
und Beamtenfamilie ... bei uns zu Hause ist nie von was anderm die Rede
gewesen wie von Dienst und Vorgesetzten und Karriere machen und Orden
kriegen und Gesetzesnovellen ... und das Theaterspielen und Musikemachen
und Bilderklexen und Verseschmieren -- nee, davon hat man bei uns nie
was wissen wollen. Aber was Arbeit und Pflicht und Gehorsam ist und
Gewissenhaftigkeit und Treue ... das ist mir eingepaukt worden von
Kindesbeinen an ... und nicht nur mit der Moralpredigt, sondern mit dem
guten Beispiel, dem nachahmungswürdigen Vorbild ...«

»Das is sähr scheen, wenn man das von sein' Elternhause kann sagen --«
meinte der Kanzleirat. »Prost, Herr Pilgram -- Ihre Herren Eltern sollen
leben.«

Andächtig tat Pilgram Bescheid. Aber Jucunda war des trockenen Tones
satt:

»Erzählen Sie mir lieber von heut abend -- erzählen Sie mir, wie ich
Ihnen gefallen habe! Sie können's ruhig ein bißchen dicke machen ... Sie
haben ja gar keine Ahnung, wieviel Honig und Weihrauch unsereins
vertragen kann nach so einer gewonnenen Schlacht ...«

»Aber Jucunda -- so schäme Dich doch! Was soll denn Herr Pilgram von Dir
denken?«

»Na -- nichts als was wahr ist! Daß ich eine ganz eitle, verwöhnte
Komödiantin bin! Nicht wahr, Herr Pilgram, so denken Sie doch! Nur
heraus damit ...«

»Gnädiges Fräulein, ich denke an nichts andres als an den Augenblick, wo
Sie zuerst herauskamen ... Wir waren zu spät gekommen, aus dem S. C.,
wissen Sie? da muß man aushalten -- und als wir kamen, hatte der erste
Akt schon angefangen ... und ich langweilte mich und dachte: na ja,
Schiller ... und überlegte, was für ein Aufsatzthema mein alter
vermickerter Professor auf Prima in Dresden wohl aus diesem ersten Akt
herausgeschlagen hätte: Würde Johanna d'Arc ihr Vaterland auch errettet
haben, wenn Karl der Siebente anstatt mit den Engländern mit den
Deutschen Krieg geführt hätte? oder so ähnlich ... Und da -- da kamen
Sie -- und auf einmal wurde alles wahr und richtig und interessant und
... na ja eben schön ... mit einem Wort ...«

»Ich seh's kommen, daß se Dich noch ganz närr'sch werden machen, Jucunda
--« kicherte der Kanzleirat.

»Ach ja ... macht mich nur ruhig närrisch, Kinder -- es ist ja so schön,
gefeiert zu werden ... und begraben zu werden unter Lorbeer und Rosen --
und die Pferde ausgespannt zu kriegen ... hören Sie, Herr Pilgram -- die
Idee, die war wohl von Ihnen?«

»Ehrlich gestanden, nein -- so leid mir's tut -- aber den glorreichen
Einfall, den hat mein Korpsbruder Thumser gehabt ...«

»Schade -- sonst hätten Sie wahrhaft'gen Gott 'nen Kuß gekriegt dafür
--«

Der Kanzleirat drohte der Tochter lächelnd mit dem Finger.

»Säh'n Se, Herr Pilgram, wie se Ihn' schon überschnappt?«

Und er ließ frische Gosefluten in die Gläser kluckern.

Aber allmählich fielen dem alten, hageren Männchen, das sein ganzes
Leben in der muffigen, überhitzten Luft der Königlichen Justizbureaus
zugebracht hatte, die geröteten Aeugelchen zu. Er verabschiedete sich
und humpelte ins Schlafzimmer.

Auch Mutter Doris fiel allmählich ab.

»Nu, Herr Pilgram, wie denken Sie über's Schlafengehen?«

»Gibt's nich!« erklärte Jucunda. »Wenn Du müde bist, Mamachen, kriech in
Gottes Namen in die Posen ... Ich bin noch nicht fällig, und Herr
Pilgram wird mir Gesellschaft leisten, bis meine Nerven ausgezappelt
haben ...«

Und die jungen Menschen waren allein. Es wurde still, ganz still
ringsum. Von der Katharinenstraße klang ab und an noch das schläfrige
Geklapper eines heimwärts trottenden Droschkengauls ... Vom nahen
Rathausturme meldeten die Glocken mit hallenden Schlägen Viertelstunde
um Viertelstunde ... sonst nichts mehr. Leipzig schlief.

»Erzählen Sie mir mehr von sich!« sagte Jucunda und legte sich mit
behaglichem Gähnen in die gestickten Schoner des grünen Plüschsofas
zurück. »Aber nicht so was Langweiliges vom Korps und von Ihren
Fechtereien und vom Examen und so! Was Schönes ... was Interessantes!«

»Ach, gnädiges Fräulein -- ich bin ein schrecklich uninteressanter
Mensch ... ich schäme mich ordentlich, ich werde ganz klein, wenn ich
mein Leben mit Ihrem vergleiche.«

»Na, aber Sie müssen doch irgend was Besonderes erlebt haben ... Waren
Sie denn nie verliebt? Haben Sie nie ein Mädchen geküßt?« Sie zündete an
dem Rest ihrer Zigarette eine frische an, pustete eine dicke Rauchwolke
zu Valentin hinüber und schielte durch den Qualm hindurch neckisch
blinzelnd zu ihm hin.

Valentin Pilgram wurde verlegen. »Hm ... ich weiß nicht recht, was ich
da antworten soll ... als Künstlerin wissen Sie doch jedenfalls schon
manches vom Leben ... und wissen, was wir jungen Männer, Studenten und
so -- wie soll ich mich nur ausdrücken?«

»Na, daß Ihr gerade keine Tugendspiegel seid ... Euch mit Kellnerinnen
und ... so 'ner Sorte von Weibsbildern herumtreibt ... Herr Pilgram, ich
bin ein Leipziger Kind, das alles ist mir nichts Neues. Aber -- sowas
zählt doch hoffentlich nicht?«

»Nein -- Sie haben ganz recht ... es zählt nicht ... Sehen Sie, man
betrinkt sich ja auch zuweilen mal ganz stumpfsinnig ... so ähnlich ist
das ...«

»Und -- sonst? Sonst haben Sie noch gar nichts ... erlebt? Niemals eine
richtige ... eine Leidenschaft ... ein Gefühl, daß Sie so richtig die
Zügel aus der Hand verloren haben? Daß es mit Ihnen durchgegangen ist
wie ein wildes Pferd, so zuck, zuck, hoppla, hopp, über Stock und Stein,
nur vorwärts, ins Weglose, ins Nichts -- nur vorwärts ... komme was
wolle?!«

Hingerissen hing Valentins Blick an den flackernden Augen, dem zuckenden
Munde des Mädchens. »Ach nein ... gnädiges Fräulein ... so was hab' ich
nie erlebt ... ich glaube auch, so was kann mir nie passieren ... dazu
sind wir Pilgrams viel zu korrekt ... viel zu gewissenhaft ...«

»Schade --« sagte Jucunda. »Ich denke mir, das müßte schön sein ...«

»Das ... glaube ich auch ...« sagte Valentin langsam. »Schön ... und
schrecklich ...«

»Wie wär's, wenn wir nun schlafen gingen? Ich fange doch allmählich an,
abzufallen ...«

»Schade!« sagte nun der Student. Seine Augen überflogen noch einmal die
weiße Gestalt, die sich in so fester, straffer Leiblichkeit abhob von
dem verschlissenen Samt, auf dem sie ruhte, beide Ellbogen nach vorn
emporgewinkelt, die Hände nach rücklings um die Lehne des Sofas
geklammert.

»Gott, war das ein Tag!« sagte das Mädchen. »Ein Schlachten war's, nicht
eine Schlacht zu nennen! Aber das Hübscheste daran war doch, daß ich Sie
nun kenne, Nachbar ... daß ich Sie Grobian doch ein bißchen gebändigt
habe ... nicht wahr? Und daß wir zwei nun allein noch übrig sind von all
dem Trubel und Trara ... was? Ist das nicht nett? Aber Sie sagen ja gar
nichts?«

»Was ... soll ich sagen?« stotterte der Student. »Ich ... sehe Sie
an ... und denke, daß morgen ... morgen das alles vorbei ist ... daß Sie
morgen wieder die allgefeierte Jucunda Buchner sind ... und ich ...
irgendein simpler, gleichgültiger Rechtskandidat ... der Ihnen nichts
sein kann ... nichts für Sie tun ... Ihnen nichts bedeutet als eben ein
Stück Publikum ... einer von den Tausenden, die Ihnen allabendlich
zujubeln, ohne daß Sie sie kennen, mehr für sie übrig haben als ein
geschäftsmäßiges Lächeln, wenn der Vorhang sich noch einmal hebt ...«

»Wer weiß!« sagte Jucunda mit einem gnädigen Blick. »Vielleicht, daß ich
doch einmal einen ... einen Ritter brauchen kann ... dann will ich mich
an diese Stunde erinnern ... und Sie rufen ... Soll ich?«

»Gnädiges Fräulein ...« sprach Valentin Pilgram heiser ... »Das wäre
mehr Gunst vom Schicksal, als ich Mut habe zu hoffen ...«

Sie reichte ihm die feste, warme Hand. Er küßte sie ... ehrfurchtsvoll,
als sei es einer Fürstin Hand ... und ging.

Als er die Tür zu seinem Kämmerchen hinter sich geschlossen, stand er
einen Augenblick im tiefen Dunkel, regungslos. Ihm war's, als drehe sich
alles um ihn im Wirbel. Und der reckenhafte Gesell, der
zweiundzwanzigmal dem Schläger und fünfmal dem Säbel Stirn und Brust
geboten, fühlte ein rätselhaftes Grauen vor etwas Kommendem, dem er
keine Deutung wußte ... das im Dunkel hockte und ihn ansah mit den
blauen, hellen, befehlenden Augen, von denen er fühlte, daß er ihnen
gehorsam sein müßte, was immer sie ihm gebieten würden.




                                   5.


Die zwölf halben Liter Tucher, die Hans Thumser nach dem Jucunda-Rummel
auf der Kneipe noch in seine ausgepichte Fuchsmajorskehle gepumpt,
hatten die Erregung der zappelnden Nerven untergekriegt und für die
nötige Bettschwere gesorgt -- zum Anfang wenigstens. Aber dennoch -- als
der Student plötzlich aus dumpfen, wirbelnden Träumen in die Höhe fuhr,
so daß der kaum verheilte Schädel krachend gegen die Rückwand seines
Bettes bumste -- da war es noch stockfinster, und wie er ein Streichholz
entzündete, wies die Uhr halb vier ...

Und wieder Dunkelheit und Schweigen, und im Herzen schwirrend und
rumorend viel hundert Bilder, viel tausend Farben und Klänge ...

Wo soll es hin, das alles?! Was will's von dir, dies tolle, glühende
Leben?!

Da horch ... ein seltsamer Laut ... ein zager, verzitternder ... von
irgendwoher aus dem Dunkel ... und wieder ... und wieder ... derselbe
bang verschwebende Klageton ...

Weinen ... Weinen einer Frauenstimme -- ganz leise, mühsam unterdrückt
... von Tränen umschleiert ... erschütternd ...

Nun scheint's zu verstummen ... horch -- kein Laut mehr ... doch nein --
nur heftiger jetzt die wimmernde Klage ...

Um Gott -- das ist -- da nebenan -- das ist ... Asta Thöny ...

Tränen ... Tränen in Frauenaugen -- entsetzlicher Gedanke für einen
Jüngling, einen tatensehnsüchtigen, weltgläubigen -- wer konnte
glücklich sein, ach nur ruhig sein, nur schlafen -- wenn ein Mensch, ein
Mädchen weinen mußte?!

Himmel -- vielleicht ist sie krank geworden -- Agnes Sorel, die
kätzchenweiche, mit dem süßen, rosigen Hals, den dunklen, flirrenden
Augensternen ... windet sich in Schmerzen ... und niemand hört sie,
niemand steht ihr bei, denn sie ist nicht ein gehegtes, umsorgtes
Haustöchterlein wie Hansens Schwestern daheim -- sie ist ganz allein auf
der Welt -- einsam, schutzlos, hilflos ...

Gott, wenn das doch enden wollte! Das ist ja nicht zu ertragen, diese
hilflose Klage ... Aber was kann man tun?

Sich melden -- seinen Beistand anbieten ...

Aber -- könnte das nicht -- mißverstanden werden? Nachdem er nun einmal
die dummen, zudringlichen Verse hinübergeschickt? Und einen so
wohlverdienten, ach, eigentlich noch viel zu schmuck bebänderten Korb
gekriegt?

Aber -- wenn sie nun wirklich leidend wäre -- Hilfe brauchte -- gewiß,
sie würde nicht böse werden ...

Oder -- wenn man Mutter Ach weckte -- und ihr mitteilte, das Fräulein
scheine nicht wohl zu sein?

Aber -- wenn's nun gar nichts Ernstes wäre -- vielleicht nur eine Laune,
eine kindische Gereiztheit -- was weiß ich -- dann hätte man um nichts
und wieder nichts den schnarchenden Schlummer der ehrsamen Wittib
gestört ... und es gäbe gar noch eine Szene, nachts um halb vier ...

_Enfin_ -- was geht's mich an? Decke über die Ohren und weiter dachsen!

Ja, wenn das so ginge! Die Phantasie hebt an zu spielen -- dringt durch
die Finsternis, die Tapetenwand und malt in rosigen Farben das Bild des
einsam weinenden Kindes da drinnen ... und ach, das bange Schluchzen
dringt auch zum verbarrikadierten Ohr ...

Mut! Es muß!

»Gnädiges Fräulein --?« ganz leise, kaum geflüstert ...

Das Weinen geht weiter, still und bitter ...

»Gnädiges Fräulein --?«

Auf einmal ist's still da drüben -- Finsternis und lastende Stille
ringsum ...

»Verzeihen Sie, mein gnädiges ... Fräulein ... ich ... hörte ... ich
ängstige mich ... Sie möchten nicht wohl sein ... Hilfe brauchen ...
darum hab' ich mir die Freiheit genommen ...«

Noch immer alles still ... offenbar ist man böse ...

»Gnädiges Fräulein ... ich ... ich will nicht weiter beschwerlich fallen
... Sie wissen nun, daß jemand zur Hand ist, wenn's not sein sollte ...
Wenn Sie also nichts weiter von sich hören lassen -- dann -- na dann
darf ich ja wohl annehmen, daß ... daß alles in Ordnung ist ... und dann
werd' ich also in Gottes Namen weiterschlafen!«

Auf einmal ein Laut ... kein Weinen ... auch kein Wort ... etwas
andres ... etwas Silbern-Zwitscherndes -- ein ganz feines, ersticktes
Kichern ...

»Ach so --!« sagte der Student völlig beruhigt. »Na, denn gut' Nacht,
mein gnädiges Fräulein, und sei'n Sie nicht böse!«

Und krachend warf er sich auf die rechte Seite, fest entschlossen, nun
aber auch _a tempo_ --

Da horch! Noch einmal ein Lachen, nun aber hell, übermütig -- und dann
die Stimme, die girrende, die streichelnde der Agnes Sorel:

»Aber bitte ... ich muß ja doch danken für die gute Meinung! Aber sei'n
Sie ganz ruhig -- mir fehlt wirklich nix -- ich hab' nur so ein bissel
für mich geweint -- das kann doch vorkommen -- gelt?«

»Na -- wenn's weiter nichts ist ... ich hab' ja solch einen Schrecken
bekommen ...«

»O -- das tut mir leid -- ich hab' Sie so friedlich -- na ja, so
friedlich schnarchen gehört -- da hab' ich gedacht: den störst du
nicht ... und da hab' ich halt ein bissel geweint ... Nehmen Sie's nicht
übel, es soll nicht wieder passieren ...«

»Aber bitte -- von meinetwegen -- ich weiß ja jetzt, daß es nichts
weiter zu bedeuten hat, wenn Sie einmal nachts weinen -- da werd' ich
mich also künftig auch nicht mehr drum aufregen ...«

»Ach du lieber Gott -- zu bedeuten hat's schon was ...«

»Hm ... also doch?! -- -- Können Sie mir's nicht sagen?«

»Ach ... so durch die Tür hindurch ...«

Jetzt fingen Hans Thumsers Hände denn doch ein bißchen an zu zittern. Er
suchte nach einer Antwort ... fand keine ... Himmel! Meine unsterbliche
Seele für einen Einfall ...

»Ja ... so durch die Tür ... das geht natürlich nicht recht ...«

Endlich ... das erlösende Wort: da ist's:

»Aber ... wenn ich Ihnen ... morgen früh ... einmal ... meine
nachbarliche ... Aufwartung machen dürfte ...«

»Hm ... morgen früh?!« Es klang so gedehnt ... so ... nach einem leisen
Bedauern ... ach nein ... das war ja doch ... da mußte Hans Thumser sich
doch wohl ... verhört haben ...

»Morgen früh? Da hab ich ja Probe von zehn bis zwei ... Da müssen Sie
schon morgen nachmittag kommen ... zum Tee um fünf, wenn Sie mögen --
gelt?«

O Gott ... solch eine Einladung ... zum erstenmal in diesem jungen Leben
einem so schönen ... so ... verlockenden ... Mädchen gegenüber ... mit
ihr allein ... Gibt's denn so etwas?! Ist das denn möglich?!

»Nu -- Sie antworten ja gar nicht?« klang's ganz leise. »Sind Sie am
Ende gar -- schon wieder eingeschlafen?«

»Aber mein gnädiges Fräulein -- wie können Sie nur denken ...«

»Also Sie kommen? Das ist schön. -- Na, nu wollen wir aber auch ... gut
Nacht, Sie -- Sie Füchschen Sie!«

»Bitte -- Fuchsmajor!« rief Hans Thumser fast laut vor Selbstbewußtsein.
»Also ... wenn's denn sein muß -- gut Nacht, Agnes Sorel!

    Auch jenseits der Loire liegt noch ein Frankreich,
    Wir gehen in ein glücklicheres Land,
    Da lacht ein milder, nie bewölkter Himmel,
    Und schöner blüht das Leben und die Liebe!«

Ja! Wenn man so ein phänomenales Versgedächtnis hat! Und seinen Schiller
_intus_!

»Donnerwetter -- allerhand Achtung!« kicherte es von drinnen. »Da möchte
man ja wahrhaftig -- aber nein -- jetzt wird geschlafen -- gut Nacht,
Herr Fuchs=major=!«

Tiefe Stille ... Dunkelheit ... und zitternde Sehnsucht ... zitternde
Hoffnung ...

Hans Thumser fand keinen Schlaf. Zu toll rumorte die Jugendbangigkeit in
seinen Gliedern ...

Er lauschte, ob er wohl noch einen Laut vernähme von da drüben ... aus
der Märchenwelt der Träume ... aber alles blieb stumm ... und endlich
vernahm er durch den lastenden Frieden der Nacht geruhig schwellende,
leise Atemzüge ...

Sie schlief ...

Da streckte sich auch Hans Thumser mit einem langen Seufzer ... und
versank.




                                   6.


Valentin Pilgram war erst spät aufgestanden. In wüstem Halbschlaf, von
tollen Träumen gequält, hatte er die Nacht verbracht. Nun saß er über
seinem Drogenwelt-Geruch und knuffte die vier Klassen der
Gradualerbfolge der Novelle 118 in den schmerzenden Schädel hinein.

Da klopfte es heftig an die Tür seiner Bude, und im selben Augenblick,
noch eh er: herein! hatte rufen können, schoß auch schon die Frau
Kanzleirätin herein, im geblümten Morgenrock, dessen Schleppe hinter ihr
drein waberte, in schleifenbesetztem Häubchen, unter dem die grauen
Strähnen des ungeordneten Haares hervorlugten:

»Ach herrjeses, Herr Pilgram, Herr Pilgram, kommen Se doch nur mal
schnell -- 's Kind hat ja en Weinkrampf -- ach es is gräßlich! Kennten
Se nich gehn und en Doktor holen? Ich hab ja keen' Menschen nich im
Hause ...«

Valentin schoß in die Höhe. »Einen Weinkrampf? Um Gottes willen, was ist
denn passiert?«

»Ä Rosenbukett is gekommen, groß wie ä Turm ... un dabei ä Brief, ne, so
was von einer Unverschämtheit is überhaupt noch gar nich dagewäsen ...«

»Ist sie denn ohnmächtig? Kann ich vielleicht helfen? Darf ich zu ihr
hinein?«

»I du mein Himmel, Herr Pilgram, se is noch im Neglischee ... na aber, ä
Kinstlerin -- ä Kinstlerin sieht ja schließlich ooch im Neglischee ganz
anständ'g aus ... kommen Se nur, Herr Pilgram, helfen Se!«

Aus der geöffneten Tür kam ein warmer Strom von Rosenduft ... und Rosen
überall, ein Rosenschwall, ein Rosenwald ... betäubend duftende, schon
leise welkende Rosen ... dazwischen die eigentlichen Blumen der Saison:
Dahlien, Astern, Erika ... und inmitten, auf eine Chaiselongue
hingeworfen, in leidenschaftlichem Schluchzen -- sie ...

Ein riesiges Arrangement von Rosen und Chrysanthemen, in Manneshöhe,
lag umgestürzt auf dem Boden -- daneben ein aufgerissenes Kuvert
mit aufgeprägtem Wappen, ein zerknitterter Bogen schweren
Elfenbeinbriefpapieres, und -- -- zwei Hundertmarkscheine ...

Auf dem Tisch aufgereiht die Karten der Spender der übrigen
Blumenherrlichkeiten -- Jucunda war offenbar eben beschäftigt gewesen,
den Gebern zu danken, prompt und akkurat, wie es zu den geschäftlichen
Pflichten einer vielgefeierten Künstlerin gehört ... da war =das da=
gekommen ...

Frau Buchner hob das Briefchen auf, glättete es und hielt es Pilgram
hin. »Da läsen Se's -- und sagen Se, ob so was meeglich is -- so eene
Gemeinheit --!«

Jucunda hatte sich beim Klang der Stimme ihrer Mutter aufgerichtet ...
nun tupfte sie rasch mit dem nassen Tüchlein die Tränen von den
glühenden Augen, ordnete das wirre Haar und verfolgte mit gierigen
Blicken Valentins Gesichtsausdruck, während er das Briefchen durchflog
...

Valentin Pilgram las ... und eine dunkle Zornesflamme schlug über sein
feierliches Gesicht.

»Halunken!« knurrte er.

Er las weiter -- nun wendete er das Blatt und sah nach der Unterschrift
... und plötzlich wurden seine Züge ganz starr, und seine Hände ballten
sich zur Faust. Dann las er zu Ende ... ließ das Blatt sinken und
starrte die Schauspielerin an mit Augen, in denen Schreck, fassungs- und
ratlose Bestürzung stand.

»Sie ... kennen, scheint's, die Herren --?« fragte die Kanzleirätin.

»Es scheint, fast -- ja ... entsetzlich fatal ...«

»Am Ende gar -- Korpsbrüder von Ihnen --?«

»Hm -- wenn's richtige Korpsbrüder von mir wären -- denen wollt ich die
Flötentöne schon beibringen!! -- aber so ...«

»Aber -- Sie kennen die Absender?«

»Ich ... fürchte ... ich kenn' sie ... von Dillingen ... von Gorczynski
...« Und mit heftig stammelnden Worten erklärte er den Damen, wer es
sei, den er hinter diesen Namen vermuten müsse ... und in wie naher
Beziehung diese Herren zu seinem Korps, zu ihm selbst standen ...

»Da sehen Sie's!« sagte Jucunda. »Ein Erbprinz! Ein Fürst! das muß man
eben einstecken ... nicht mal verklagen kann man so 'n großes Tier --
sonst engagiert einen kein Hoftheater mehr ... ganz wehrlos und
schutzlos ist man ...«

Und wiederum flossen die Tränen über das weiße, herrische Gesicht ...
und auch die Mutter, vom herzbrechenden Weinen der Tochter angesteckt,
schluchzte nun los. Um die Wette weinten die Frauen.

Es arbeitete heftig in Valentin Pilgrams festem, offenem Gesicht.

»Nein,« sagte er plötzlich hart und stand mit einem Ruck auf.
»Schutzlos? Das sind Sie nicht. Guten Morgen, meine Damen.«

»Wohin, Herr Pilgram? Was haben Sie denn? Was ist Ihnen?« rief Jucunda
und hielt den Studenten am Aermel seines Bratenrockes fest.

»Ich werde Ihnen Genugtuung verschaffen!«

»Sie -- mir? Nein, Herr Pilgram, das ... das geht nicht ... Sie werden
ja die entsetzlichsten Unannehmlichkeiten haben ... werden sich
womöglich gar um meinetwillen -- nein, das will ich nicht -- das sollen
Sie nicht, Herr Pilgram!«

»Nee, nee, Herr Pilgram!« sprudelte auch die Frau Kanzleirätin, »das
dürfen Se nich machen! Das kenn' wir ja gar nich von Ihn' verlangen! Das
dürfen wir ja gar nich von Ihn' annähm'!«

»Seien Sie ohne Sorge meinetwegen!« sagte Valentin und reckte sich zu
seiner ganzen Länge. »Ich bin Manns genug, so eine Affäre standesgemäß
zu erledigen.«

»Nein, Herr Pilgram, das dulde ich unter keinen Umständen! Wie kämen Sie
denn dazu, sich für mich ... ich bitte Sie, was gehe ich Sie denn
überhaupt an?«

Da sah der Student das schöne Mädchen mit einem Blick an, vor dem sie
die Augen niederschlagen mußte in Schreck und stolzem Machtgefühl
zugleich. Gott, war das entsetzlich ... war das berauschend schön ...
was sie da so jäh, so unerwartet erlebte ...

»Erinnern sie sich noch an ... gestern abend?« sagte der Jüngling. »Was
Sie mir da versprochen haben?«

»Ach ... das war so leichtsinnig daher geredet ...«

»Von =mir= nicht!«

Ach ... wie süß das war ... dies Bewußtsein, daß ein Starker, ein Kühner
sich einsetzt für dich ...

Aber nein ... das durfte nicht sein ... mit Blitzesschnelle flogen die
Bilder von hundert schrecklichen Möglichkeiten an ihrem Geiste vorbei.
Er war doch wohl Jurist -- seine Karriere würde er sich ruinieren --
sein Examen zunächst ... und wer weiß -- zwar Prinzen -- die schlugen
sich ja wohl nicht -- aber der Major ... ein Offizier ... ein Duell ...
Himmel, und der junge Mensch hatte ja doch Eltern daheim ... und
schließlich -- auch sie selber konnte eigentlich keinen Skandal
gebrauchen ... was wohl Franz Burg dazu sagen würde ... und ihr
gnädiger, gütiger Herr daheim in Meiningen ...

»Herr Pilgram -- das darf nicht sein! Ich bitte Sie, wenn Sie wüßten,
wie oft unsereine so etwas erleben muß -- wenn man da jedesmal Krach
machen wollte! Die Herren haben's ja wahrscheinlich gar nicht so schlimm
gemeint -- haben sich wohl gar nichts dabei gedacht --«

»Sie haben ... weinen müssen ...« sagte Valentin Pilgram durch die Zähne
... »das sollen sie mir bezahlen ... die zwei.«

Und mit sanftem Druck machte er die große, schlanke Hand los, die seinen
Rockärmel noch immer gefaßt hielt, küßte sie ehrerbietig und ging zur
Tür.

»Ach -- die dummen Tränen --« rief Jucunda -- »das macht nichts, die
sitzen einem Mädchen ja so lose ... sehen Sie, ich lache ja schon wieder
... ich lache ja doch --«

Und sieh: da liefen ihr wirklich aufs neue die heißen, hellen Tropfen
über die glühenden Backen ... sie schluchzte wie ein Kind:

»Ich will aber doch nicht -- Sie sollen nicht, Herr Pilgram --!«

Der war schon aus der Tür, schritt in seine Bude hinüber, riß die neuste
grüne Mütze vom Nagel und stülpte sie auf den Schädel. Nahm sein
silberbeschlagenes spanisches Rohr und ging zum Flur ... klinkte mit
hartem Ruck die Pforte auf und stieg mit hallenden Tritten die Treppen
hinab. Aus der steinumschnörkelten Pforte des altersgeschwärzten
Barockhauses trat er auf die belebte Katharinenstraße, ging den Markt
hinunter am Ladengewimmel des Rathausparterres vorbei und stolzierte
grimmigen Schrittes die Grimm'sche hinab.

Und dabei sann er, was zu tun. Also jetzt werde ich die beiden Burschen
ankontrahieren müssen -- nicht auf Pistolen, bah! Vor die Klinge sollen
sie mir, vor die krumme! Freilich, der Prinz wird sich wohl hinter seine
Hausgesetze verkriechen und mir einen Ersatzmann präsentieren ... aber
der Major, dieser aalglatte Streber -- der muß 'ran! Hat ja auch wohl
jedenfalls den saubern Wisch verfaßt -- denn des Prinzen kindliche Pfote
war das nicht, die kenn' ich doch! Na, und dann wollen wir dem mal
zeigen, was 'ne Prim ist!

Hm ... aber ... wie stellt sich das Korps dazu? Der Prinz ist
Konkneipant unseres Bundes, trägt offiziell seine Farben ... also ...
ich werde austreten müssen ... und nicht nur _pro forma_, denn sie
können mir ... nach dem Skandal können sie mir niemals das Band
zurückgeben ...

Teufel auch, da hab' ich mir ja eine schöne Suppe eingerührt ...

Aber was kann das helfen ... Ritterpflicht ist Ritterpflicht ... kein
Mädchen, und wär's zehnmal eine Komödiantin -- keine soll klagen, daß
ihre Ehre schutzlos sei, solange Valentin Pilgram noch eine Klinge
führen kann ... Hatte er sich nicht ihrem Dienste gelobt -- gestern
abend? Und wie rasch war das nun gekommen, daß dies Gelöbnis ihn zu
Taten rief!

Geld hatte man ihr zu bieten gewagt ... ihr, die ganz Deutschland
vergötterte ... ihr, die vor seinen Augen dastand in so stolzer
Reinheit, wie eine Heilige ... die hatte man kaufen wollen wie eine ...
wie eine aus den dunklen Gäßchen der Stadt, durch die am hellsten Tage
niemand gehen mochte --?! Das forderte Blut -- nur mit Blut war das zu
sühnen --!

Aber ... du selber, Valentin Pilgram --?

Hm ... ist das nun nicht eigentlich doch ein Narrenstreich? Hat sie
nicht doch recht gehabt, als sie sagte: was geh' ich Sie an --?!

O Valentin Pilgram, Rechtskandidat im achten Semester -- greif' in deine
Brust und frage dich: geht sie dich an -- diese -- diese da?!

Ja -- wenn eine in der Welt, dann geht diese da dich an ... denn,
Valentin Pilgram, so närrisch das auch klingen mag ... Du bist ...
diesem Mädchen bist du verfallen seit dem Augenblick, als sie durch die
Gasse des jauchzenden Volkes vor Karl den Siebenten trat ... und
zugleich in dein Leben, Valentin Pilgram, schicksalsgewaltig ... für
immer -- für alle deine Tage --!

Nun lag vor dem Schreitenden, herbstsonnenübergoldet, der Augustusplatz:
zur Rechten flimmerten die Wasser des Mendebrunnens, reckte sich die
finsterblinkende Front des Museums; zur Linken stieg in heiterer Anmut
der köstliche Bau des Neuen Theaters ins duftige Blau. Dorthin strebte
Franconias Senior, denn er wußte zu dieser Stunde das Korps im
Restaurant auf der Theaterterrasse zum Frühschoppen versammelt. Vor ihm
wanderte noch eine andere grüne Mütze: Pilgram ließ den Frankenpfiff
schallen: da fuhr der Kopf unter der grünen Fuchsmütze herum:

»Ah ... Pilgram --«

Ehrerbietig zog das blonde Füchschen vor dem gestrengen Ersten den
Deckel und sprang heran.

»Also, Hartwig, geh' zum Frühschoppen und sage dem Fuchsmajor, er möge
sofort die Korpsburschen zum außerordentlichen Korpskonvent
zusammenbitten! Ich erwarte die Herren im Flügelzimmer des Restaurants
-- verstanden?«

»Gewiß, gewiß, Pilgram -- ich laufe ...«

Und vom muntern Frühtrunk weg, von der sonnüberglühten Terrasse, wo bei
rauschender Musik die Korps ihren offiziellen Frühschoppen hielten
inmitten neugierig beobachtender Fremden, verschwand ein wohllöblicher
C. C. der Franconia unter dem Rundbogen, der zum inneren Lokal führte,
und versammelte sich in einem kühlen, abseitigen Gastzimmer zum Konvent
-- gespannt, was diese unerwartete Ladung zu bedeuten haben möge.

Die Franken waren's gewohnt, daß ein Ausdruck beklemmender Feierlichkeit
sich über das hagere Gesicht ihres Ersten legte, wenn er den
Korpskonvent eröffnete: aber so ... so unheimlich offiziell hatten sie
ihn doch noch niemals gesehen.

»Ich habe dem C. C. von einer persönlichen Angelegenheit Mitteilung zu
machen, die -- zu meinem größten Bedauern -- mich in einen Widerspruch
mit den Interessen des Korps bringt. Unser Konkneipant, Seine
Durchlaucht der Erbprinz, und dessen Begleiter Major v. Gorczynski haben
sich einer schweren Beleidigung gegen eine Dame schuldig gemacht. Diese
Dame ... diese Dame steht unter meinem Schutze ... und deshalb sehe ich
mich genötigt, diesen Herren eine schwere Forderung zu übersenden. Ich
kann natürlich nicht erwarten, daß das Korps den Erbprinzen zur
Verantwortung zieht ... und deshalb bleibt mir nichts übrig, als den
C. C. zu bitten, mir die Entlassung ohne Farben zu gewähren, damit ich
den Ehrenhandel mit einem Herrn, der offiziell zu den Angehörigen des
Korps zählt, zum Austrag bringen kann. Wünscht jemand zu meinem Antrage
das Wort?«

In stummer Verblüffung hatten die jungen Herren den Vortrag ihres
Häuptlings angehört -- angesteckt von seiner Erregung, seinem fiebernden
Ernst. Nun baten fast sämtliche Korpsburschen ums Wort und verlangten
nähere Erklärungen. Man fragte, wie es möglich sein könne, daß der junge
Prinz mit einer Dame, welche der nächsten Verwandtschaft ihres
Korpsbruders angehörte -- denn nur um eine solche Dame konnte es sich
doch handeln -- überhaupt in Berührung gekommen sein könne?

»Die Dame, für die ich einzutreten habe, ist keine Verwandte von mir ...
es handelt sich um ein junges Mädchen, das außer seinem Vater, einem
älteren, gebrechlichen Herrn, keinen männlichen Schutz zur Seite hat --
und für das einzutreten mir deshalb als die Pflicht eines Ehrenmannes
erscheint, zumal diese junge Dame zugleich eine berühmte und gefeierte
Künstlerin ist ... es handelt sich um die herzoglich meiningische
Hofschauspielerin Jucunda Buchner.«

Ein unwillkürlicher Laut des Staunens, der tiefsten Ueberraschung
entfuhr jedem der jungen Herren. Keiner konnte sich den Zusammenhang
erklären ... wußte doch außer Hans Thumser noch nicht ein einziger von
ihnen, daß ihr Erster, der notorische Verächter alles dessen, was Kunst
und Künstler hieß, überhaupt gestern abend bei den »Meiningern« gewesen
war ...

»Ich bitt' ums Wort!« rief Ivo Volkner, der temperamentvolle
Rheinländer, und als der Erste dem Konvent Silentium für Volkner
anbefohlen: »Ja, lieber Pilgram -- ohne uns in Deine persönlichen
Angelegenheiten hineinmischen zu wollen -- aber Deine Erklärungen sind
doch für uns alle dermaßen -- überraschend, daß wir doch wohl um etwas
genauere Auskunft bitten müssen ... was ist der ... jungen Dame ... denn
eigentlich passiert ... und wie kommst Du -- gerade Du dazu, Dich zu
ihrem Ritter aufzuwerfen?«

»Ich will ... zuerst diese letzte Frage beantworten. Oder vielmehr nicht
beantworten. Liebe Korpsbrüder, Ihr kennt mich und wißt: ich weiß im
allgemeinen, was ich tue ... Und wenn ich Euch sage, das, was ich zu tun
vorhabe, das muß sein -- na, dann darf ich vielleicht von Euch erwarten,
daß Ihr mir das glaubt. Hab' ich recht?«

Allgemeines Gemurmel der Zustimmung.

»Also noch einmal: ich halte mich für verpflichtet, für die Dame
einzutreten ... und bitte den C. C. ... von einer näheren Darlegung
meiner Motive ... Abstand zu nehmen.«

Volkner bat ums Wort und fragte:

»Ohne weiter in Dich dringen zu wollen, Pilgram: wir hören doch alle in
diesem Augenblick zum ersten Male, daß Du die Dame überhaupt kennst.
Sollten wir dann nicht wenigstens erfahren, wann und ... unter welchen
Umständen Du ... ihr denn eigentlich dermaßen nähergetreten bist, daß Du
-- hm! daß Du nun dermaßen für sie in die Verlängerung springen willst?«

»Das kann ich Euch mitteilen ... aber zur Erklärung meiner ... meines
Entschlusses wird's Euch wenig nützen ... ich muß da schon an ... an
Euer korpsbrüderliches Vertrauen appellieren ... ich kenne Fräulein
Buchner erst seit gestern abend ... sie ist die einzige Tochter des
Kanzleirats Buchner ... bei dem ich zur Miete wohne.«

»Also sozusagen -- _filia hospitalis_!« sagte Volkner, und ein kurzes,
verständnisvolles Schmunzeln ging über die erregten Gesichter der
Korpsbrüder.

»Nun, ich denke, ich habe Euch zu diesem Punkte mitgeteilt, was ... was
sich irgend mitteilen läßt. Und zweitens -- was wolltest Du ferner noch
wissen, Volkner?«

»Ja -- was denn der Erbprinz eigentlich gemacht hat ...«

»Er hat sie durch seinen Begleiter zum Souper einladen lassen -- na, das
möchte ja allenfalls gehen ... aber er hat dieser Einladung dadurch
einen nicht mißzuverstehenden Charakter gegeben -- daß er ... daß er
zwei Hundertmarkscheine beigefügt hat ...«

Das Lächeln, das bei Erwähnung der Soupereinladung um die Lippen der
jungen Herren aufgezuckt hatte, erlosch ... Rufe wurden laut:

»Geschmacklosigkeit!«

»Donnerwetter, der geht aber aufs Ganze!«

»Na ja -- ein Förscht -- der denkt eben, er braucht bloß auf'n Knopp zu
drücken ...«

»Ich denke, liebe Korpsbrüder, Ihr seht ein, daß eine solche infame
Beleidigung -- einem anständigen Mädchen gegenüber -- Fräulein Buchner
=ist= ein anständiges Mädchen, und wenn sie zehnmal eine Komödiantin ist
-- was sagst Du, Thumser? Du kennst sie ja auch?«

Hans Thumser hatte mit einem wahren Toben der Gefühle die Verhandlung
verfolgt, ohne selbst das Wort zu nehmen. Mein Gott, wie war aus dem
strahlenden Spiel von gestern so rasch ein grotesker, tragikomisch
grinsender Ernst geworden! Und was war doch dieser offizielle,
banausische Pilgram für ein Prachtkerl, daß er sich für ein jählings
erwachtes Gefühl gleich so ganz und rückhaltlos in die Schanze warf!

Ach, und du, Hans Thumser? was soll denn heut nachmittag werden? Mit was
für Träumen, was für Begehrnissen, Hans Thumser, trägst du dich?!

»Ein anständiges Mädchen?« rief er zur Antwort auf die Frage des Ersten.
»Eine Königin ist sie ... eine Göttin ... Pilgram, ich beneide Dich um
das Glück, für sie vom Leder ziehen zu dürfen!«

»So überschwenglich brauchen wir das gar nicht mal auszudrücken,« sagte
der Erste. »Aber ein anständiges Mädchen ist sie ... und da ich nun mal
zufällig das Pech oder ... das Glück habe, mit ihr unter einem Dache zu
wohnen ... und der erste honorige Mensch zu sein, dem sie sich
anvertraut hat ... so bleibt ja wohl nichts andres übrig, als die
Konsequenzen zu ziehen ...«

Bei diesen so nüchtern klingenden Worten schwoll's in all den jungen
Burschenherzen. Es war der romantische Glanz, der diese Tat ihres
Korpsbruders, ihres Führers, umwob, der ihnen allen Sinne und Urteil
blendete. Wenn auch der Idealismus, den das Gymnasium in ihnen erzogen,
durch die Formen blasierten, kaltschnäuzigen Lebemannstums verdeckt, ja
stellenweise überwuchert sein mochte -- noch lebte in ihnen allen etwas
von dem Adelsgeiste, unter dessen Herrschaft ihre ganze Jugend, die
Formung ihrer Seelen gestanden ... Wohl stieg in manchem von ihnen das
Gefühl auf, als hätte sich doch am Ende ein Kompromiß finden lassen ...
noch bedächtigere Seelen bedachten gar insgeheim, daß eine solche
Katastrophe, auch wenn Pilgram vorher offiziell aus dem Korps
ausschiede, doch nicht ohne Folgen für die Beziehungen des Korps zu dem
Erbprinzen und damit vielleicht überhaupt zu den deutschen Fürstensöhnen
bleiben könne ... In weiter Ferne dämmerte gar hie und da etwas wie der
Gedanke an verpfuschte Karriere, verspielte Zukunftsaussichten ... aber:

    »Wer die Folgen ängstlich zuvor erwägt,
    Der beugt sich, wo man die Tiefquart schlägt --
    Frei ist der Bursch!«

-- das galt auch heute noch, das galt, das sang man nicht nur, so
handelte man auch -- hol's der Teufel!

Einstimmig ging Pilgrams Antrag durch, ihm die ehrenvolle Entlassung
ohne Band zu erteilen ... Aber durch jedes Herz ging's wie ein schriller
Riß, als nun Valentin Pilgram stumm das grün-gold-rote Band von der
Brust zog, es stumm auf die Mütze legte, die auf dem Tische lag, sich
mit schweigendem Händedruck von den ... ehemaligen Korpsbrüdern
verabschiedete ... und, mit einem Handwink im Kreise, an ihnen
vorüberschritt ...

Er ging durch den Schenkraum des Theaterrestaurants, schritt barhaupt
quer über den Augustusplatz, kaufte sich in der Passage für seinen
letzten Taler (Gott sei Dank, morgen ist der Erste!) einen einigermaßen
schäbigen Filzhut und kehrte dann zur Theaterterrasse zurück. Grüßend
schritt er am Frankentisch vorbei, wo die harrenden Füchse in stummer
Verwunderung ihre Mützen zogen, lüftete flüchtig den Hut zu den Tischen
der übrigen Korps und trat auf den Neo-Borussentisch zu, an dessen
Spitze der Erste, Herr Borgmann, mit dem gewohnten süffisanten Lächeln
präsidierte.

»Herr Borgmann -- kann ich Sie einen Moment sprechen?«

»Mit dem größten Vergnügen, Herr Pilgram ...«

Die beiden jungen Herren traten abseits an den Rand der Terrasse, von
der der Blick hinschweifte zum zitternden Spiegel des Schwanenteiches,
auf das braune, rieselnde Laub der Anlagen auf dem alten
Umwallungsgebiet.

»Zunächst gestatte ich mir, Ihnen anzuzeigen, daß ich aus dem Korps
Franconia ausgeschieden bin ...«

»Herr Pilgram --!«

»Sie werden den Grund sogleich erraten: Ich bitte einen wohllöblichen
C. C. der Neo-Borussia um Waffenschutz und zugleich Sie persönlich um
die große Liebenswürdigkeit, Seiner Durchlaucht dem Erbprinzen von
Nassau-Dillingen und Herrn Major von Gorczynski je eine Forderung auf
schwere Säbel ohne Binden und Bandagen auf fünfundzwanzig Minuten bis
zur Abfuhr zu überbringen.«


In ratloser Verblüffung waren Mutter und Tochter zurückgeblieben, als
ihr Student sich so unerwartet und kategorisch zu Jucundas Ritter
aufgeworfen. Nun sie allein waren, wich die erste Rührung und
Ergriffenheit bald einem kaltblütigen Erwägen.

»Das gibt weeß Knebbchen än richt'gen Schkandal!« platzte Mutter Doris
heraus. »Gucke, das hast Du nu davon, daß Du Dich so hast vergessen
kenn'! Schließlich -- so gefährlich war doch am Ende die ganze
Geschichte nu nich! Man hätte den Herrn ihr Geld einfach sollen
wiederschicken -- mit Abzug von's Porto nadierlich -- un den Korb zum
Gärtner zurück, un all's war in Ordnung! Statt dem wird der nun hingehn
und wird'n fordern, den Erbprinz, un der Krach is fertig! Un
schließlich, was wer'n die Leite sagen? Die Buchner hat's mit ä
Studenten, wer'n se sagen!«

Eine Flut von wirren Gedanken wirbelte durch Jucundas Hirn. Da
war so unendlich Vieles, was beglückte, erregte, schmeichelte,
stachelte, berauschte! Welch eine Macht ging von ihr aus -- trieb den
langen Jungen, einen Sohn aus gutem Hause, den Ersten Chargierten
des ältesten und angesehensten Korps in Leipzig -- sie war ihren
Kindheitserinnerungen noch nahe genug, fühlte sich noch immer als
Tochter eines Hauses, das jahraus, jahrein nur Korpsstudenten
beherbergte -- wußte das als eine Ehre zu schätzen ... ihn trieb sie in
tolle, aberwitzige Abenteuer, diese unheimliche Macht, die von ihr
ausging ... Achtzehn Jahre, und schon der Mittelpunkt von Tragödien und
Katastrophen ...

Aber da war noch eine andere Stimme: die Stimme der kalt rechnenden
Vernunft, die Stimme der kleinbürgerlichen Gerissenheit, die das früh
gewitzigte Töchterchen einer engbegrenzten Spießerwelt auf ihrem Anstieg
in lichte Höhen des Daseins bisher so sicher geleitet hatte: die warnte
vor dem Skandal ... mahnte zur Ruhe, zur Vorsicht ...

»Wenn ich nur wüßte, was Hoheit in Meiningen zu so einer Geschichte
sagen würde ...«

»Nu, ich glaub' nich, daß der gnädigste Herr sähre entzickt mechte sinn,
wenn's Geschichten gibt wegen en Prinzen aus fürstlichem Hause ...«
meinte die Mutter.

Jucunda sann, an wen sie sich wohl um Rat wenden könnte. Franz Burg!
schoß es ihr durch den Sinn. Der wackere, selbstlose Freund und Förderer
hätte es wohl verdient, daß sie sich überhaupt zuerst an ihn gewandt
hätte ... Und das hätte sie ja auch sicherlich getan, wenn nicht ihre
Nerven, noch nachzitternd von den gestrigen Fiebern, ihr den Streich mit
dem Weinkrampf gespielt hätten ... ja, und da war's eben alles so von
selbst gekommen, das Andre, das Unwahrscheinliche, das süß Berauschende
und Erschreckende ...

Mutter Doris war natürlich sehr einverstanden ... Und alsbald war
Jucunda auf dem Wege zu Franz Burg ... wie sie immer zu Franz Burg
gegangen war, wenn sie nicht mehr aus noch ein wußte ... es gingen
sehr viele Menschen zu Franz Burg, wenn sie nicht mehr aus noch ein
wußten ...

Ach, wie ging sie gern zu Franz Burg! Erstens war es ein behagliches
Bewußtsein, daß er verheiratet war -- sehr glücklich verheiratet.
Zweitens war's ein sehr behagliches Bewußtsein, daß -- nun daß er
trotzdem heftig für sie schwärmte -- so was merkt man doch, nicht wahr?
-- daß sich hinter seiner trockenen, reservierten Freundschaft eine
Empfindung versteckte, die gewaltsam gebändigt werden mußte ...

Gott, ist das entzückend, so zu fühlen, zu wissen, daß man wie eine
allvergötterte Königin durchs Leben schreitet ... Ihr fiel ein, daß sie
einmal von den Indianern gelesen hatte, sie sammelten die Skalpe ihrer
erlegten Feinde ... O Jucunda -- wenn du die Skalpe deiner zur Strecke
gebrachten Verehrer sammeln würdest ... was für ein Museum käme da
zusammen!

So sann Jucunda, während sie hastig die Petersstraße hinabschritt, den
Weg, den man sie gestern im Triumphzug heimwärtsgeführt ... Unter dem
Torweg kaufte sie sich die Morgenzeitungen, außer dem Tageblatt, das
sie daheim zum Frühstück schon verschlungen, und las die Kritiken ...
eitel Hosianna über den ganzen Abend, und sie natürlich der Mittelpunkt
... und hier ein Bericht über ihre Heimkehr, feuilletonistisch
zurechtgestutzt -- brav so, brav, na ja, so was macht eine bildschöne
Reklame, das darf öfter passieren!

Erst während sie die Anlagen am Roßplatz kreuzte, den Königsplatz
überschritt, kam ihr wieder in den Sinn, weshalb sie sich eigentlich
heut morgen zum Theater aufgemacht hatte, wo sie doch auf Rechnung
der gestrigen Strapaze von der Probe dispensiert war. Nein, dieser
gute Pilgram -- so ein Starrschädel! Eigentlich rührend ... und doch
ein bißchen zum Lachen, daß er sich ihretwegen ... des lumpigen Billetts
wegen, das doch wahrhaftig nicht das erste gewesen war und auch nicht
das letzte sein würde ... daß er sich deswegen mit Tod und Teufel
schlagen wollte -- sich sein Leben verpfuschen reineweg! Also solche
Männer gab es doch auch ... eigentlich eine Wohltat, wenn man so
inmitten dieses marklosen, irrlichtelierenden, an großen Worten sich
betrinkenden und vor jeder Tat mit eingekniffenem Schwanz abseits
schleichenden Künstlervolks lebte ... Franz Burg war ja eine Ausnahme
... aber ob er sich ihretwegen auch nur einem Schnupfen ausgesetzt
hätte statt einer Degenklinge -- das bezweifelte Jucunda denn doch
eigentlich ...

Da war das Carolatheater ... Jucunda schritt durch den Eingang,
überquerte das schmale Höfchen, den Kassenflur, in dem sich bereits
wieder das Publikum um die Abendplätze prügelte -- Gott, wie wird Hoheit
sich über die Kassenrapporte freuen! -- schlüpfte durch die knarrende
Eisentür in den Bühnenumgang und horchte am Pförtchen, das zur Bühne
führte. Burg arrangierte eben das »Lager« ...

»Kinder,« hörte sie seine Stimme, »faßt Eure Kriegsknechte man recht
feste um 'n Hals -- Ihr seid jetzt keine höheren Töchter mehr, Ihr seid
Lagerdirnen des Friedländers, die hatten etwas weniger etepetetige
Umgangsformen als die Leipzigerinnen von 1888! Und wenn's aus Versehen
mal 'nen handfesten Kuß absetzt -- na, für die Kunst muß man eben Opfer
bringen können!«

Ja -- das konnte natürlich bis zur Erschlaffung so weitergehen ... und
dabei war doch Eile not ... Es half nichts, sie mußte unterbrechen ...
obschon sie wußte, daß er das auf den Tod nicht leiden konnte ... Sie
trat in den halbdunklen Bühnenraum, den nur die offenen Gasflammen der
Proberampe matt erhellten. Da stand Franz Burg neben dem Regietisch,
umringt von der andächtig lauschenden Schar des »Volkes«.

»Suchen Sie mich, Buchner?«

»Wenn Sie einen Moment Zeit für mich hätten, Meister ... es ist dringend
...«

Jucunda störte nicht ohne Grund -- dafür kannte er sie. Aber allzu
gnädig klang es nicht, wie er drinnen im Konversationszimmer ein kurzes
»Also los!« hervorstieß.

Und Jucunda berichtete. Ausführlich entschuldigte sie sich, daß sie sich
nicht zuerst an ihn gewandt ... ließ deutlich durchblicken, daß ihr die
ganze Geschichte nur so über den Kopf gekommen ...

Ein sardonisches Schmunzeln zog über's ausgearbeitete Gesicht des
Oberregisseurs, in seinen dunklen, tiefliegenden Augen tanzten tausend
Teufelchen.

»Un wat sall ick dorbi dauhn?«

»Helfen sollen Sie, lieber Freund! Das darf doch nicht geschehen!«

»Ganz im Gegenteil, Kindchen -- einer von den dreien muß auf der Strecke
bleiben -- noch besser alle! Die Schädel sollen sie sich spalten --
einander auffressen wie die beiden Löwen in dem berühmten Liede:

    Zwei Löwen gingen einst selband
    In einem Wald spazoren,
    Und haben da, von Wut entbrannt,
    Einander aufgezohren!«

»Das -- kann Ihr Ernst nicht sein!«

»Aber blutiger! Was liegt an einem Rechtskandidaten, einem Erbprinzen,
einem Stabsoffizier! Hin müssen sie allesamt werden, damit Jucunda
Buchner im Triumph über ihren Leichnamen zum Tempel des Ruhms
emporwandelt!«

»Ach -- mir ist wirklich nicht nach Späßen zumut!«

»Denken Sie, mir?! Merken Sie nicht, Kindchen: alles, was nicht zum Bau
gehört, ist Publikum, das heißt, einzig und allein dazu da, uns zu
bewundern, zu feiern, zu erhöhen ... Gestern abend haben sie Ihnen die
Pferde ausgespannt und Sie im Wagen nach Hause gezogen: geben Sie mal
acht, wenn Ihr Student und Ihr Erbprinz sich Ihretwegen gegenseitig
aufgespießt haben -- was die Leute dann erst mit Ihnen aufstecken! Auf
Händen werden Sie dann nach Hause getragen!«

»Und ... was wird Hoheit zu der Geschichte sagen?«

»Hm ... Hoheit ...« Burg sann einen Augenblick nach. Allerdings, das war
zu erwägen ... An Hoheit durfte so eine kindische Affäre natürlich nicht
herankommen ...

Aber ... würde es denn überhaupt eine Affäre werden? Franz Burg kannte
die Welt und wußte, daß in ihr nichts so heiß gegessen wird, wie
jugendlicher Ueberschwang es kochen möchte ...

»Na ... so weit sind wir ja noch lange nicht!« lachte er. »Vorläufig
wollen wir mal ruhig zusehen, wie das Rummelchen sich historisch
entwickelt ... Is ja ganz nett, auch mal Zuschauer spielen zu dürfen!
So, und nun muß ich wieder Affen dressieren -- komm her, Langbeinchen,
gib mir 'n Kuß!«


Als Jucunda auf der Straße stand, sah sie ihre Kollegin Thöny drüben in
einem Fenster des ersten Stockes liegen. Sie winkte ihr zu.

»Was haben Sie denn da drinnen gemacht, Buchner? Kommen Sie 'nauf, wir
schwatzen ein bissel!«

Die beiden Rivalinnen kamen rasch ins Gespräch. Plötzlich fiel's Jucunda
ein, daß ihre Mutter daheim mit dem Mittagessen wartete: Na, dem ließ
sich abhelfen -- es war nicht alle Tage so nett -- nicht alle Tage
vertrug man sich so gut mit seinen Kolleginnen -- das mußte man
auskosten. Sie pfiff sich einen barfüßigen Jungen von der Straße herauf
und schickte ihn mit einem Markstück und einem Stadttelegramm zum
nächsten Postamt.

  »Muß probieren, nicht zum Essen erwarten. Jucunda.«

Die Mädchen teilten das frugale Mittagsmahl, das Mutter Ach ihrer
Pensionärin gekocht hatte, und schwatzten, küßten sich, schworen sich
ewige Freundschaft ... und Asta Thöny hatte ganz vergessen, daß sie noch
heut nacht so heiß geweint hatte, weil man Jucunda Buchner die Pferde
ausgespannt hatte und ihr nicht ...

Und Jucunda Buchner dachte nicht mit einem Sterbensgedanken mehr daran,
daß um ihretwillen ein junger, wackerer Gesell im Begriff war, seine
Zukunft und sein Leben auf ein tolles Spiel zu setzen ...


Erbprinz Heribert und sein Mentor waren beim Dessert ... Zwei junge
Leutnants vom hundertsiebenten Regiment, Söhne verarmter
Nassau-Dillingenscher Adelsfamilien, deren alte Herren nur
Infanteriezulage erschwingen konnten, waren zu Tische geladen. Man trank
Pommery und beklatschte Hofskandäler der benachbarten Fürstenhöfe -- da
wurde in dringlicher, persönlicher Angelegenheit Herr Studiosus Borgmann
Neo-Borussiae gemeldet.

»Hm ... dringliche, persönliche Angelegenheit? Also bitte ins
Empfangszimmer ... Entschuldigen Sie mich einen Augenblick, meine
Herren ...«

Sporenklirrend ging der Prinz -- den militärischen Gästen zu Ehren war
er heut in der Uniform seiner Sophiendragoner -- in den Salon hinüber,
dessen konventionelle Hoteleleganz durch ein paar erlesene Stücke aus
dem erbprinzlichen Schloß Beauregard eine Art persönliche Note empfangen
hatte.

Herr Borgmann verneigte sich tief. Unter seiner schwarzen Kompresse
waren Stirn und Nase erblaßt vor feierlicher Erregung.

»Durchlaucht ... ich bedaure unendlich ... furchtbar peinliche Mission
...«

»Darf ich bitten, Platz zu nehmen?«

Stotternd entledigte sich Herr Borgmann seines Auftrages.

»Hören Sie mal, mein Verehrtester -- das ist ein Witz ... aber ein
fader!« sagte der Erbprinz. »Einen Augenblick ... ich werde Herrn von
Gorczynski rufen lassen, der ist ebenfalls beteiligt ...«

Er klingelte und befahl, den Major zu bitten.

»Nehmen Sie mir die Frage nicht übel, Herr Borgmann -- ist bei Ihrem
Herrn Auftraggeber vielleicht eine Schraube los?«

»Ich bedaure, als Kartellträger eine Kritik an dem Inhalt meines
Auftrages ... weder selbst ausüben noch ... entgegennehmen zu dürfen
...«

»Sehr korrekt!« lobte der Erbprinz. »Sie haben ganz recht -- verzeihen
Sie. Aber ich bin einstweilen dermaßen baff ... So was hab' ich denn
doch nicht für möglich gehalten.«

Und zu dem eintretenden Major mit einem boshaften Schmunzeln:

»Nun sagen Sie mal, mein Verehrtester -- was haben Sie uns da denn
eigentlich eingebrockt? Wir werden gefordert! Wir sollen uns prügeln --
weil wir den perversen Wunsch geäußert haben, mit der Jungfrau von
Orleans zu soupieren!«

Der Major begriff nicht -- mußte erst völlig aufgeklärt werden -- und
dann platzte er hell heraus ... Der Prinz stimmte ein, auch Borgmann
glaubte aus schuldiger Höflichkeit mitlachen zu müssen ...

»In der Tat, die Sache ist zum Wälzen,« sagte der Prinz -- »aber Teufel
auch, wie bringen wir diesen rabiaten Burschen, den guten Pilgram, zur
Ruhe? Wie die ganze verfahrene Karre wieder ins Gleis? Ich danke für
einen Skandal ... die Sache muß unbedingt in aller Stille arrangiert
werden.«

»Durchlaucht,« sagte der Major, »ich bin natürlich schuld. Ich habe
unsre ... hm, hm ... unsre vollkommen harmlose Soupereinladung scheinbar
doch ein bißchen zu herausfordernd stilisiert ... ich übernehme
selbstverständlich jede Verantwortung. Zunächst werde ich zu Fräulein
Buchner hinfahren, mich als den Schreiber des ... verhängnisvollen
Zettels bekennen ... und für mich, als den allein schuldigen Teil -- die
Verzeihung dieser ... nun der jungen Dame erbitten. Damit dürfte dann
wohl die Angelegenheit vollkommen erledigt sein -- nicht wahr, Herr
Borgmann?«

»Hm ... ich will's hoffen,« meinte Herr Borgmann etwas kleinlaut. »Wenn
ich den Fall richtig taxiere, ist mein Herr Auftraggeber in ... na, in
gewissen ... heiligen ... Gefühlen gekränkt ... die bei etwas
temperamentvollen jungen Leuten leicht eine ... etwas explosive Form
annehmen ...«

»Ach so -- Koller nennt man das ja wohl,« näselte der Erbprinz. »Ja ...
aber wenn ein solcher -- hm ... pathologischer Zustand gemeingefährlich
wird, dann muß eben eine Radikalkur versucht werden. Aeh -- die Sache
ödet mich ... Ich wünsche, lieber Herr von Gorczynski, daß Sie die
Angelegenheit völlig ins Reine bringen, verstehen Sie mich?«

»Gewiß, gewiß, Durchlaucht, ich werde es an nichts fehlen lassen ...«
hastete der Major beflissen.

»Und Sie, Herr Borgmann? Ich rechne auf Ihre Mitwirkung zu einer absolut
geräuschlosen Beilegung!«

»Durchlaucht wollen versichert sein, daß ich mein möglichstes tun
werde!«

Mit kurzer Verneigung schritt der Prinz an den beiden Herren vorüber und
überließ sie ihrer Ratlosigkeit. Auf dem Wege zum Speisesalon brach er
in ein schallendes Gelächter aus.

So eine gerissene Katze -- bringt's fertig, einen Prinzen, einen
Prinzenbegleiter und einen langen Laban von Schlagetot vor ihren
Reklamewagen zu spannen ... und sowas ist achtzehn Jahre alt und spielt
weißgewaschene Tugendengel dermaßen überzeugend, daß einem ganz
kniefällig dabei zumute wird ... Na, warte Du, Dich zähm' ich mir noch
mal, Du süße, weiße Bestie Du -- das lohnt doch noch der Mühe!

»Sie, lieber Aldringen, geben Sie mal 'n Glas Pommery -- aber etwas
lebhaft, bitte!«




                                   7.


Major von Gorczynski hatte beschlossen, den Stier bei den Hörnern zu
packen. So etwas Blödsinniges war ihm in seinem ganzen Leben noch nicht
passiert! Eine Soupereinladung an eine Bühnenprinzessin, die mit einer
Säbelforderung seitens eines Korpsstudenten beantwortet wird! Und noch
dazu eines Korpsstudenten, von dem man mit positiver Bestimmtheit weiß,
daß er allem, was Theater und Theaterweiber heißt, weltenfern steht! Das
war zu abgeschmackt ... Was konnte nur vorgegangen sein, das diese
ausgefallene Konstellation ermöglicht hatte! Das mußte man
herausbekommen ... Und das Einfachste war, man ging gleich vor die
rechte Schmiede ... Mit dem Mädel war jedenfalls noch am ehesten fertig
zu werden ... Absolut geräuschlose Erledigung hatten Durchlaucht
verlangt? Herr von Gorczynski kannte sich jedenfalls mit Mädeln noch
besser aus als mit dieser rauf- und trinkfesten Männerjugend in Band und
Mütze, deren Begriffe und Sitten so was mittelalterlich
Unkontrollierbares an sich hatten ... Also auf zu Jucunda!

Frau Kanzleirätin Buchner öffnete selbst die Tür und war nicht wenig
entsetzt, als ein nicht mehr ganz junger, höchst eleganter und --
hm! -- pikfein parfümierter Herr in Gehrock, Zylinder, hechtgrauen
Glacés an der Entreetür stand und Fräulein Jucunda Buchner zu sprechen
wünschte ...

»Fräul'n Buchner is aus -- tut m'r unendl'ch leid ... Aber wenn ich was
kennte bestell'n -- ich bin die Mutter.«

Herr von Gorczynski musterte die stattliche, rundliche Frau mit
Kennerblick. Es war nachmittags um vier, aber die ... Dame war noch
immer in Morgentoilette ... geblümter Schlafrock und Schleifenhäubchen
... Also aus so einem ... Milieu entstammte das Dämchen, für das der
Sohn eines hohen sächsischen Justizbeamten Korpsband und Karriere in den
Wind schlug ... Hm ... Das vereinfachte die Situation allerdings
außerordentlich. Herr von Gorczynski war auf eine feingebildete Familie
gefaßt gewesen ... Vielleicht Justiz, Universität, ein Predigerhaus ...
Und nun ... Na, wenn man mit so etwas nicht geräuschlos fertig werden
sollte ...

»So ... Sie sind die Mutter ... Na da ist es vielleicht am besten, ich
unterhalte mich erst mal ein wenig mit Ihnen ... Major von Gorczynski
ist mein Name.«

Frau Doris fühlte, wie ihr das Herz in die flanellenen Unterhosen
rutschte. »Ja, aber ... Sie sehen, Herr Major ... Ich bin Sie ja doch
gar nich angezogen ...«

»Bitte, das macht nichts ... Was ich Ihnen zu eröffnen habe, das können
Sie auch unangezogen hören. Also wenn ich bitten darf -- oder wünschen
Sie meine Erklärungen auf dem Hausflur entgegenzunehmen?«

»Ach nee ... Aber gewiß nicht, Herr Major ... Bitte treten Sie ein ...
in die gute Stube ...«

Herr von Gorczynski überflog mit demonstrativer Geringschätzung die
verschlissene Herrlichkeit des Buchnerschen Salons. Dann setzte er sich
mit einer gewissen Vorsicht, als fürchte er, der Samtfauteuil könne
unter ihm zusammenbrechen, in den grünen Plüsch und sah die vor Erregung
fiebernde Frau mit durchdringendem Blick an.

»Sie werden sich wohl ungefähr vorstellen können, weswegen ich komme,
Frau -- Buchner!« begann er scharf. »Nicht wahr?«

Frau Doris' Kinnbacken schlotterten. Da hatte man die Bescherung!
Und ihr Rat war fern ... Und das Kind ... Und sie mußte den ersten
Ansturm des Schicksals ganz allein aushalten, von Gott und aller Welt
verlassen ...

»Nu ja, nu nee ... denken ... kann ich mersch am Ende ...«

»Na also: Um's kurz zu machen: Ihr Fräulein Tochter hat eine Einladung,
wie sie in der ganzen Welt Abend für Abend an tausend und abertausend
Kolleginnen Ihrer Tochter ergeht -- die hat sie damit beantwortet, daß
sie mir und ... meinem jungen Freunde, in dessen Namen ich mit
unterzeichnet hatte, eine Forderung auf schwere Waffen hat überbringen
lassen. Darf ich mich zunächst erkundigen, in welchen Beziehungen der
... junge Herr, der sich zum Beschützer Ihrer Familienehre aufgeworfen
hat, zu Ihrer Tochter steht?«

»Aber ich bitt' Ihn', Herr Major -- in gar keener Beziehung. Er wohnt
hier im Haus ... zur Miete ... un da is er ... ganz zufäll'g is er dazu
gekommen, wie meine Tochter een Weinkrampf hat gekriegt, als das Bukett
ist angekommen ... un der Brief ... un ... un das Geld ...«

Hm ... das Geld ... und ... ein Weinkrampf ... verdammt peinliche
Vorstellung ... aber was war zu machen ... man mußte oben bleiben.

»So ... also in gar keinen Beziehungen ... verehrteste Dame, Sie haben
keinen dummen Jungen vor sich, dem Sie Lederstrumpfgeschichten
aufbinden können. Ich will also mal annehmen, der junge Herr ist der ...
Bräutigam Ihrer Tochter ...«

»Ne, ne, wahrhaft'gen Gott nich -- aber gar keene Ahnung ... e junger
Student, ne, ne, wie kenn' Se nur so was denken ... So was hat meine
Jucunda wahrhaft'gen Gott nich neetig!«

»Hm ... also nicht ... Na dann wollen wir's dahingestellt sein lassen,
welcher Art das ... Verhältnis zwischen den beiden jungen Leuten ist
...«

Jetzt hatte Frau Doris sich denn doch gefunden. Die Ehre ihres Hauses,
ihres Mädchens --? Ne, ne, damit durfte man denn doch nicht spaßen ...

»Heer'n Se, Herr Major,« rief sie zitternd, doch mit Entschiedenheit,
»das muß ich mir denn doch ganz ergäbenst verbitt'n! Meine Tochter hat
kein ... kein Verhältnis nich!«

»In dem Sinne, in dem Sie das Wort verstanden zu haben scheinen, habe
ich es durchaus nicht gebraucht ... und verbitte mir meinerseits eine
derartige Auslegung meiner Worte! Nun aber zu Ihrem Fräulein Tochter!
Hat sie -- und haben Sie als Mutter -- oder wenn Ihr Mann noch unter den
Lebenden ist --«

»Allerdings -- mein Mann ist der Kanzleirat Buchner -- ein königlicher
Beamter ...« warf Frau Doris ein, »Ritter des Albrechtkreuzes zweiter
Klasse ...« Sie richtete sich ordentlich auf an all diesen ehrenvollen
Tatsachen.

»Na also! Haben Sie alle zusammen sich denn eigentlich nicht klar
gemacht, was ein so ... rabiates Vorgehen denn eigentlich für Ihre
Tochter ... vielleicht auch für Ihren Mann ... bedeutet? Ich nehme an,
daß Sie bereits in Erfahrung gebracht haben, wer wir eigentlich sind --
wer sich hinter dem Namen von Dillingen versteckt -- hä? Wissen Sie das,
Frau Kanzleirat Buchner?«

»Ja, ja, ich weeß -- ich weeß,« stammelte die geängstigte Frau und fuhr
mit dem Rücken der fleischigen Hand über die feucht gewordene Stirn.

»Na also! Bilden Sie sich denn im Ernste ein, ein solcher Herr werde
sich wegen ... wegen einer Lappalie von einem x-beliebigen jungen
Menschen zur Rechenschaft ziehen lassen? Nee, verehrte Dame, die Sache
kommt anders: Es möchte Ihrer Tochter vielleicht doch peinlich sein,
wenn an ... eine gewisse Stelle ein Bericht über das ... eigentümliche
Interesse erginge, dessen Ihre Tochter sich in -- hm! Studentenkreisen
erfreut! Und wenn Ihre Tochter sich überlegt, daß ihr Kontrakt doch
am Ende noch nicht lebenslänglich und unkündbar ist, und daß es sich
wenig empfiehlt, sich die Gunst eines jungen Fürsten zu verscherzen,
der einmal der Brotherr eines der größeren deutschen Hoftheater sein
wird ... dann wird ihr am Ende klar werden, daß es ein bißchen übereilt
von ihr war, eine kleine Unbedachtsamkeit -- ich gebe ja zu, daß es
eine Unbedachtsamkeit war, Ihre Tochter ohne weiteres in eine Linie mit
der Mehrzahl ihrer Kolleginnen zu setzen ... Aber deshalb gleich nach
Blut -- nach Fürstenblut zu lechzen -- das scheint mir doch einigermaßen
kindisch!«

Völlig zerschmettert hatte Frau Buchner die Suada ihres vornehmen
Besuchers über sich ergehen lassen. Vor ihrem Auge tanzten hundert
gräßliche Bilder ... Der gnädigste Herr in Meiningen hatte Jucunda seine
Gunst entzogen -- ihr Vertrag war gekündigt ... Vergebens klopfte sie an
die Pforten aller deutschen Bühnen ... Als »schwieriges Mitglied« wurde
sie überall abgelehnt ... Das Elend lauerte, der Hunger ...

»Ne ... ne ... das is ja äne schreckliche Geschichte ...« stammelte sie.

»Nun, Sie scheinen ja Vernunft annehmen zu wollen. Ich empfehle Ihnen
also, unverzüglich mit Ihrer Tochter Rücksprache zu nehmen: Sie soll
ihren ... ihren jugendlichen Beschützer veranlassen, seine höchst
törichte und kindische Herausforderung zurückzuziehen ... Damit dürfte
die Angelegenheit eine für alle Beteiligten befriedigende Erledigung
finden. Sind Sie dazu bereit?«

»Aber mit dem greeßten Vergniegen -- 's wird sich doch am Ende noch
alles lassen ins reine bringen!« ächzte aufatmend die geängstigte Frau.

»Na also --« der Major erhob sich -- »ich rechne darauf, daß Sie Ihren
mütterlichen Einfluß in diesem Sinne geltend machen. Meine Empfehlung
an Ihr Fräulein Tochter ... und ... böse ... braucht sie uns nicht zu
sein ... Die ganze Sache war vollkommen harmlos gemeint ... also ...
adieu, Frau Kanzleirätin!«

Frau Buchner knixte ein übers andre Mal, während sie den Gast zur
Entreetür geleitete.

Auf der Schwelle wandte der Major sich noch einmal um.

»Apropos -- soweit ich unterrichtet bin, hat man bei Ihnen besonders
daran Anstoß genommen, daß meinem Briefchen ein ... ein kleines Geschenk
... in barem Gelde ... beigelegt war. Vermutlich haben Sie diese ...
diese kleine Aufmerksamkeit ... in Verwahrung genommen?«

»Allerdings ... das hab' ich ... in meine Wirtschaftskasse hab' ich die
Scheine eingeschlossen ... Jucunda wollte sie zur Post bringen, aber ...
sie wollte sich erscht noch nach Ihrer ... genaueren ... Adresse
erkundigen ... Na un von dem Wege, da is se noch nich zurück ...«

»Na, dann kann ich ihr ja den Gang ersparen ... Wenn Sie's mir gleich
aushändigen wollten ... und vielleicht --« ganz harmlos, nachlässig
wurde das hingelegt -- »vielleicht händigen Sie mir auch gleich das
Briefchen mit aus, das die Gemüter so sehr erregt hat -- und damit wäre
ja dann alles in schönster Ordnung ...«

»Gewiß, gewiß, Herr Major -- das hab' ich ooch ... alles kenn' Se
kriegen -- ich bin ja froh, wenn ich's aus 'm Hause hab ...«


Teufel auch ... das war mehr, als ich gehofft habe! schmunzelte der
Major, als er mit seinem Raube die halbdunkle Stiege hinunterknarrte.

Unten im Hausflur zog er den Brief hervor, entzündete ein Streichholz
und ließ das _corpus delicti_ in Flammen auflodern. Die beiden Scheine
aber, die er beim Empfang nur nachlässig in die Westentasche geschoben,
barg er nun sorgfältig in seinem Portefeuille. Es waren immerhin
zweihundert bare Mark ...

Und dann ging er zu Aeckerlein hinüber und bestellte eine Flasche
Heidsieck.




                                   8.


Als Hans Thumser inmitten seiner Korpsbrüder das Theaterrestaurant
verließ und über den sonnenflimmernden Augustusplatz, die mittäglich
durchhastete Grimmaische Straße nach dem Baarmannschen Lokal am Markt
hinüberspazierte, wo das Korps speiste -- da wirbelte ihm der Kopf
dermaßen vom Fieber des Erlebens, daß die erregten Gespräche der Freunde
nur wie aus weiter Ferne zu ihm herüberklangen. Und doch disputierte er
selber eifrigst mit ... Es war ja kein Ende zu finden des Ueberlegens
und Projektierens -- wie alles kommen würde -- ob man sich nicht
übereilt, ob Pilgram, ob das Korps richtig gehandelt, ob sich nicht eine
minder schroffe Lösung des Konflikts hätte finden lassen ... Wie der
Erbprinz sich stellen würde ... und schließlich doch auch der Hof in
Nassau-Dillingen ... was der für Weisungen erteilen würde ... und was
all der welterschütternden Schicksalsfragen mehr noch waren.

Und dabei immer der heimlich bohrende, süß erregende, wonnesam
beklemmende Hintergedanke an ... heut nachmittag ...

Und so in Wirrnis und Ahnung verrannen die Stunden ... Jetzt ward alles
andre verdrängt durch das Mitgefühl mit Valentin Pilgrams Schicksal, des
Korpsbruders, der so ganz anders geartet war, mit dessen Wesen das
eigene niemals harmonisch hatte zusammenklingen wollen ... und dessen
starkgemute Jungmännlichkeit dennoch die lebenshungrige Seele fest in
ihren Bann geschlagen hatte -- längst eh dies opferstolze Einsetzen
seines ganzen Daseins für ein fremdes Mädchen, das Kind einer andern
Welt ... eh' diese Tat sein Bild in eine fast heroische Sphäre
emporgehoben ...

Und dann wieder schwirrten mit scheuem Flügelschlage die Gedanken um das
eigene Hoffen und Bangen ...

Und seltsam: Astas und Jucundas Bilder, sie rannen zusammen in der Seele
... Wer war's eigentlich, der ihn erwartete heut um fünf? War's nicht
jener Dämon, der in seines Korpsbruders Leben so verhängnismächtig
hineingegriffen? Jucunda! Jucunda! Der Name klang aus allen Gesprächen,
die in der Runde hin und wider flogen ... Daß es überhaupt eine Asta
Thöny gab, das wußte ja nur einer von seinen Freunden, und dieser eine
-- der war fern ... war ausgeschieden aus dem Bunde, dem sein ganzes
Herz gehörte, für dessen Farben er in siebenundzwanzig Waffengängen sein
junges Herzblut vergossen ... ausgeschieden um jener andern willen ...
und selbst dieser eine hatte sie doch nur auf der Bühne gesehen -- ahnte
nicht, daß sie mit Hans Thumser unter einem Dache wohnte ... konnte
nicht ahnen, daß sie heimlich nächtens in ihre Kissen weinen und dann
plötzlich lachen konnte, so girrend, so atemversetzend.

Nach dem Mittagessen blieb das Korps beim Kaffee noch lange zusammen.
Die Füchse wurden fortgeschickt, und immer und immer wieder in heftigen
Disputen drehten und wendeten die Korpsburschen das Ereignis des Tages.
Hans aber zog von Zeit zu Zeit heimlich die Uhr und zählte, wie eine
Viertelstunde um die andere verrann von jenen, die ihn noch von dem
größten Erlebnis seines jungen Daseins trennten ... Und einmal zog er
heimlich auch sein Portemonnaie und stellte fest, daß er heute, am
einunddreißigsten Oktober, noch fünfundachtzig Pfennige sein eigen
nannte ...

Teufel auch! Wenn man die Farben eines Korps trägt, kann man unmöglich
ohne ein bescheidenes Blümchen in der Hand bei einer Dame zum Tee
antreten ... Und Hans Thumser pumpte sich von Volkner, der immer Geld
hatte, eine Mark ...

Und endlich war's dreiviertel fünf ... Und wie ein Träumender strich
Hans Thumser die Petersstraße hinunter, einen Busch rosa Dahlien, in
Seidenpapier gewickelt, in der Hand ... Zu wem ging's? Zu Asta? Zu
Jucunda? Er wußte es nicht ... es ging ... zu =ihr= ...

Und so war's fast eine Selbstverständlichkeit, daß er sie nun =beide=
fand ...

Die Stube schwamm von Zigarettenrauch ... Und auf dem Sofa, eng
aneinandergelehnt, zwei Mädchen ... die, die er zu suchen kam -- und die
andere ...

»Ach Gott ...« lachte Asta in komischem Entsetzen auf, »Herr ... na wie
heißen Sie noch? Herr ...«

»Thumser,« stotterte Hans und blieb ganz verdonnert an der Tür stehen.

»Richtig, Herr Thumser -- mein Zimmernachbar -- nicht wahr, Sie sind's
doch? Mein Gott, Sie hatt' ich wahrhaftig total vergessen --«

»O bitte, dann will ich nicht stören,« sagte Hans und griff zur Tür.

Ein Kübel Eiswasser, einem glutgedörrten Saharawanderer jählings über
den Nacken gegossen ...

»Aber nein! Stören! Weglaufen! Gibt's nicht!« Und das weiche Figürchen
in der nicht ganz tadellos frischen Batist-Matinee sprang auf, stand vor
dem schlanken Studenten, eine Hand, zart und warm wie ein
sonnendurchglühtes Rosenblatt, legte sich auf die seine und zog ihn ins
Zimmer.

»Nicht böse sein! Meine Kollegin ist mich besuchen gekommen, und da
haben wir uns verschwatzt ... Ist's denn schon fünf Uhr? Himmel -- und
wie's hier ausschaut! Frau Wehe! Frau Wehe! Schnell kommen Sie mal her
und räumen S' ab! Gestattest Du, Jucunda? Mein Zimmernachbar, Herr
Studiosus Dummler --«

»Thumser,« verbesserte Hans etwas pikiert.

»Pardon -- Thumser -- meine Kollegin Buchner -- die große Buchner,
wissen S'!«

Jucunda grüßte stumm und königlich. Sie hatte die grüne Mütze, die drei
Farben um die Brust des jungen Mannes wiedererkannt ...

»Ich weiß ...« sagte Hans. »Ich war gestern abend in der 'Jungfrau' ...
und ich bin auch unter denen gewesen, die --«

»-- ihr die Pferde ausgespannt haben -- natürlich! Das nächste Mal, Sie
Schlingel, spannen Sie mir die Pferde aus -- verstanden? Sonst ist's aus
mit der guten Nachbarschaft!«

»Wird gemacht!« sagte Hans, der sich wiederfand. »Inzwischen darf ich
wohl als bescheidene Entschädigung diese Blümchen ...«

»Ach -- das ist famos! Sehen Sie, Jucunderl, es wachsen heuer doch nicht
alle Blumen bloß für Dich ...« Und sie drückte den Studenten in einen
der verschlissenen, fettigen Damastfauteuils, welche Mutter Achs beste
Bude verherrlichten.

Einen raschen Blick warf Hans Thumser in der Bude umher. Wild sah's
aus ... auf dem Tisch noch die Reste des bescheidenen Mittagsmahls,
Aepfelschalen und die zerknautschten Mundstücke abgerauchter Zigaretten
trieben sich auf dem fleckigen Tischtuch herum ... und drüben auf dem
Bette aufgestapelte Mullröcke und Spitzenhöschen, auf dem Schreibtisch
ein zusammengerolltes Korsett, dazwischen unsaubere Hefte mit
ausgeschriebenen Rollen und zerflederte Reclambändchen ...

Asta war diesem Blick gefolgt und sah den Ausdruck von Mißbehagen, der
ununterdrückbar das schmissebedeckte tadellos rasierte Gesicht des
korrekten und gepflegten Jünglings überzog.

»Bös schaut's aus da drin, gelt? Aber warten S' nur, ich schaff' schon
eine Ordnung! Faß an, Jucunderl, Du bist ja schuld, daß ich so einen
feschen, jungen Herrn in so einer Schlamperei muß empfangen! Und Sie,
Frau Wehe« -- die noch immer hübsche, kugelrunde Wittib stand mit
nachmittagschlafgeröteten Augen in der Tür -- »hinaus mit dem Abfall da!
Und ein' Tee kochen S' uns, und Kuchen will ich seh'n und Schlagsahn'
und was sich sonst gehört! Da haben S' ein Geld!« Und wie ein Irrlicht
fegte das dunkellockige Mädchen in der Stube umher, hob den Bettbezug
aus gewebter, leidlich defekter Spitze, das Ueberbett in die Höhe,
stopfte die herumliegenden intimen Kleidungsstücke drunter und deckte
mit einem Spitzbubenlächeln wieder zu, griff in die Nachttischschublade
und warf ein paar Markstücke auf den Tisch, daß zwei, drei in die Stube
kollerten und Hans Thumser sich bücken mußte, um sie wieder aufzulesen;
griff dazwischen in die Zigarettenschachtel, schob ihren beiden
Besuchern, sich selbst und schließlich auch der verlegen grinsenden
Wittib eine Zigarette zwischen die Lippen:

»Da, Herr Dummser -- haben S' Feuer?«

Und da flimmerten auch die feuchten Lippen, die dunklen, flackernden
Augen dicht vor Hansens Gesicht, loderten ihn an, während sie mit ihm
zugleich am nämlichen Zündholz ihre Zigarette anbrannte ...

Inzwischen saß Jucunda stumm und königlich auf dem Sofa, ohne eine Hand
zu rühren, und ließ ihre runden blauen Augen von einem zum andern
leuchten. Und auch Hans Thumsers Blicke gingen hin und her, von dem
Schalk zu der jungen Königin, von der jungen Königin zu dem rastlosen
Schelm ...

Und endlich gab's Ruhe und so etwas wie Ordnung, und mit einem tiefen
Aufseufzen warf Asta Thöny sich in das Sofa, kuschelte sich an Jucundas
kräftige Schulter ... und nun sahen zwei Augenpaare, das blaue, das
schwarze, den braunäugigen Studenten an ...

»So, Herr Dummser, nu erzählen S' uns was!«

Hans Thumser war des Umgangs mit weiblichen Wesen wenig gewohnt. Seine
Schwestern waren um vier und fünf Jahre jünger als er, die zählten, samt
ihrer Freundinnenschar, noch nicht mit, waren Gören, oder wie man daheim
sagte, Blagen ... unfähig, die erhabene Größe eines Studenten, eines
Korpsstudenten, eines Fuchsmajors richtig einzuschätzen. Und das Korps?
Es lebte außerhalb der Leipziger Gesellschaft, war völlig durch Mensur
und Kneipe absorbiert und kam höchstens auf dunklen und verschwiegenen
Pfaden einmal mit verachteten Parias der Weiblichkeit in Berührung ...

Aber ... er war ein werdender Poet ... und der Zauber der Situation
löste ihm die Zunge, gab ihm Worte, wie sie gesellschaftliche Routine
nicht kennt ...

»Erzählen soll ich Ihnen ... meine Damen? Ach ... ich hab' nichts
erlebt, was des Erzählens wert wär' in solch einem Augenblick ...
aber ... das darf ich ja wohl sagen, nicht wahr? daß ich sehr glücklich
bin ... Ich denke an gestern abend ... ich habe Sie beide gesehen und
bewundert und beneidet um das Glück Ihres Berufs ... den Menschen das
Schöne zu offenbaren ... und nun sitz' ich hier ... Ihnen gegenüber ...
seien Sie mir nicht böse, wenn das mir zu Kopf steigt und ... mich dumm
und stumm macht ... Sie nennen mich noch immer Dummser, gnädiges
Fräulein ... und das stimmt, ich bin auch ein dummer Bub, das fühl' ich,
jetzt, wo ich mit Ihnen zusammensitzen darf ... Nein, ich kann Ihnen
nichts erzählen ... ersparen Sie es mir, mich mit Konversationmachen
abzuquälen ... erlauben Sie mir nur ... da zu sein ... und Sie
anzuschauen ... und zu fühlen, ja bis ins Tiefste zu fühlen, wie schön
das ist ... was für ein Glück das ist!«

»Aber warum machen Sie sich selber so schlecht?« sagte Jucunda und sah
ihn groß an -- »Sie sprechen gar nicht übel ... im Gegenteil -- ich
meine, ich hätte noch niemals einen Menschen so sprechen gehört ...«

»Du --?« sagte Asta, »daß Du mir dem Jungen nicht zuviel Komplimente
machst! Das ist =meiner=, verstehst Du mich? Aber Du mußt immer alles
für Dich haben ... die Blumen -- die Kränze -- die ausgespannten Pferde
-- die Verehrer, alles muß sie allein haben! Und so was redet von
Freundschaft und Kollegialität! Schämen sollten S' Ihnen, mein
Fräulein!«

Hans wurde glühendrot. »Ach, meine Damen, machen Sie sich nur immer über
mich lustig ... ich weiß ganz genau, wie wenig ich Ihnen sein kann. Nur
das eine muß ich Ihnen sagen: Sie ahnen gar nicht, was dieser Tag für
mich bedeutet ... Sie können sich wohl nicht vorstellen, wie barbarisch
und rauh dies Leben ist, das wir jungen Dächse so führen auf deutschen
Hochschulen ... Und seit gestern ist's auf einmal bunt und licht und ...
groß und ... schön um mich her ... seit ich Sie beide kenne ...«

»Gott, wie süß er ist -- gelt, Jucunda?« sagte Asta und streichelte dem
Studenten mit einer raschen, zärtlichen Bewegung ganz leise und flüchtig
die glühende, narbenzerrissene Wange. »Nur mehr so Schönes, nur mehr! So
was kann man gar nicht genug hören!«

»Ach -- Sie scherzen wieder, Gnädigste --« sagte Hans. »Sie sind weit
schönere Worte gewohnt ... Sie verkehren am Hof -- inmitten von Geist
und Grazie ... die Dichter, deren Werke Sie verkörpern, huldigen Ihnen
...«

»Der hat Ahnung, gelt?« lachte Asta halb verschmitzt halb schmerzlich zu
ihrer Kollegin hinauf, in deren Arm sie sich drückte.

»Nein, Herr Thumser,« sprach Jucunda langsam, »Sie haben doch wohl eine
etwas -- na sagen wir mal zu ideale Vorstellung von unserm Leben ...
Glauben Sie mir nur, es gibt nicht viel Männer, die so zu reden wissen,
daß es einem wohltut ...«

»Gewiß, ich glaub's -- so verwöhnt, so anspruchsvoll wie Sie sein müssen
... denn so jung wie Sie sind, Sie sind berühmt, alles liegt Ihnen zu
Füßen, Sie kommen wie das Schicksal ... wehe dem, der Ihnen verfällt
...«

Ein Schatten war bei diesen Worten über die enthusiastischen Züge
geflogen, die flammenden Augen hatten sich verdunkelt.

Jucundas Stirn hatte sich langsam zusammengezogen.

»Wie das Schicksal?« fragte sie, »wie meinen Sie das?«

»O ... ich dachte an ... eine gewisse Geschichte ... eine sonderbare,
aufregende Geschichte ... von der Sie doch wohl auch wissen müssen ...«

»Sie ... meinen ... die Sache ... mit Herrn Pilgram? Von der wissen Sie
also auch schon?«

»Ich weiß ... selbstverständlich weiß ich ... wir sind ja doch
Korpsbrüder ...«

»Eine ... Sache?« fragte Asta ganz erstaunt. »Was hat's gegeben? Hast
mir ja doch gar nichts davon erzählt, daß es was gegeben hat? Heraus mit
der Geschichte!«

»Ich möchte ... eigentlich überhaupt nicht davon sprechen ...« meinte
Jucunda.

»Und ich ... ich halte mich ebenfalls nicht für berechtigt ...« setzte
Hans befangen hinzu.

»Schöne Sachen sind mir das!« zürnte Asta. »Ich bring' Euch zwei
zusammen, und schon habt Ihr Geheimnisse miteinander, und ich werd'
ausgesperrt und hab 's Zuschau'n! Na wartet -- jetzt kommt der Tee mit
dem Kuchen, hernach setz' ich Euch vor die Tür und ess' alles alleinig!«

Jucunda hatte einen Moment sinnend den Rauchwölkchen ihrer Zigarette
nachgestarrt. Es war dämmrig im Zimmer geworden. Frau Wehe kam mit dem
Tee, dem Gebäck, zündete die Petroleum-Hängelampe über dem Tische an,
und hell gleißten nun die drei jungen Gesichter auf dem Hintergrunde der
abgenutzten Stube, die rasch in völliges Dunkel versank.

Als die Wirtin gegangen, sagte Jucunda langsam: »Ich verstehe, daß Sie
sich über die ... Angelegenheit ... die bewußte ... nicht gern
aussprechen. Aber Sie werden begreifen: ich bin ziemlich gespannt. Sie
wissen schon drum ... also die Sache kommt doch, scheint's, wirklich an
die große Glocke. Ich bin ja schließlich doch ein bißchen beteiligt ...
Wollen Sie mir nicht sagen, was inzwischen eigentlich passiert ist?«

»Hm ... wenn unsre ... gütige Gastgeberin gestattet, daß wir uns in
ihrer Gegenwart über ... eine Sache unterhalten, die sie nicht ... in
die wir sie nicht einweihen dürfen?« »Na macht schon, macht schon ...«
maulte Asta, »Ihr brennt ja darauf, Eure Geheimnisse auszutauschen ...
ich ess' Kuchen.« Und wütend bissen ihre blinkenden Zähne in einen
braunlächelnden Mohrenkopf.

»Also kurz ... Er ... ist aus dem Korps ausgetreten ... und hat die ...
die bewußten beiden Herren auf Säbel ohne ohne gefordert ... Genügt
Ihnen diese Andeutung?« fragte Hans.

»Hm ... und mehr ... wissen Sie also noch nicht?«

»Noch nicht.«

»Immerhin ... also der Skandal ist fertig. Schöne Bescherung ...«

»Hol Euch der Satan, Kinder, Ihr macht eins aber wirklich neugierig wie
eine Ziege!« sagte Asta und ließ die kuchenstopfenden Finger sinken.
»Säbelforderung -- Skandal ... und dabei habt Ihr Euch vor einer halben
Stunde erst kennen gelernt vor meinen sehenden Augen ...«

»Gott, warum soll man's ihr schließlich nicht erzählen?« meinte Jucunda.
»Morgen weiß es ganz Leipzig ...«

»Hast einmal wieder was, womit Du Dich kannst int'ressant machen,
Jucunderl? Gott, das Mädel hat einen Dusel! Daß es um Dich geht, soviel
hab' ich schon heraus ... Also es werden zwei sich die Köpf'
entzweischlagen Deinetwegen ... hernach schauen die Leut' unsereins
überhaupt nicht mehr an ... und so ist's in allem! Schon wie's heißt --
Jucunda! Wie kommt bloß ein Vater auf die Idee, so ein Wurm 'Jucunda' zu
taufen? Als ob er damals schon geahnt hätt', daß das Kind einmal wird
unters Theater gehen! Sag' doch, Mädel -- wo kommst an so einen Namen,
so ein' ausgefall'nen?«

»Ach -- das ist einfach genug ... da war eine alte Tante, die eine
Beamtenpension zu verzehren hatte und so schöne uralte Möbel und Bilder
gehabt hat aus der Goethezeit ... um die sind alle Verwandte herum
gewesen erbschleichen ... aber meine Eltern haben den Vogel abgeschossen
und mich nach ihr getauft ... das hat sie so erschüttert, daß sie mir
den ganzen Krempel vermacht hat ...«

»Ach -- und nun hast Du das ganze schöne Zeugs?«

»I Gott bewahre -- verkauft hat's mein Vater und für mich in einem
Sparkassenbuch angelegt ... und davon sind mein Studium und meine
modernen Kostüme bezahlt worden -- paar Groschen werden wohl auch noch
da sein, denk' ich ...«

»Ja schaust, was Du für ein Glückskind gewesen bist ...« Astas Augen
irrten in die Ferne, ein ganz fremder Ausdruck von Bitterkeit und Ekel
umschattete das pfirsichweiche Oval. -- »So eine Tante wenn ich gehabt
hätt', meinetwegen hätten s' mich Eulalia mögen taufen! Ich hab' das
alles allein müssen schaffen, so gut oder -- so hundsfött'sch wie's hat
gehen mögen ... Dabei wird man ein armes, gerissenes, mit allen Hunden
gehetztes Wildkatzerl allenfalls ... und wenn man ein bisserl Talent
hat, hernach wurschtelt sich eins am End' auch noch rechtzeitig in die
Höh' ... aber eine Priesterin, vor der die Menschen sich platt auf den
Bauch schmeißen, eine Jungfrau von Orleans wird man nicht auf die Art!«

Mit herablassender Zärtlichkeit streichelte Jucunda die zierliche
Kollegin. »Ich sollte meinen, Asta, Du könntest noch ganz zufrieden sein
mit Dir -- nicht wahr, Herr ... Gott, dieser lächerliche Name -- schon
wieder hab' ich ihn verschwitzt --«

»Herr Dummerle!« half Asta ein, und um die schmerzlich verzogenen Lippen
huschte schon wieder der Schalk.

Hans Thumsers Blicke wanderten rastlos von einer zur andern. Welches
Glück, daß er den goldenen Apfel des Paris nicht zu vergeben hatte!

Und Valentin Pilgram? Und die Affäre? Schon längst wieder versunken ...
kaum die Oberfläche des Gesprächs hatte sie gekräuselt, die Geschichte
von dem wackren Gesellen, der um dieses achtzehnjährigen Weibes willen
sein Blut, sein Schicksal aufs Spiel gesetzt hatte -- als Dank für ein
paar freundliche Worte, die sie ihm geschenkt ...

Dieser Gedanke tauchte dann und wann flüchtig auf in Hans Thumsers
Denken -- aber die Gegenwart, die nie erlebte, der beiden jungen,
blutjungen und doch schon aller Machtmittel ihres Geschlechtes kundigen
Geschöpfe verdrängte das Bild des Korpsbruders, das heut morgen in so
lichtem Heroenglanze gestrahlt hatte.

»Sagen Sie, Herr Thumser, was studieren Sie eigentlich?« fragte Jucunda.

»Gott, was studier' ich? Die Geheimnisse des S. C. Paukkomments -- die
Kunst, eine Tiefquart unter der steilsten Auslage hindurch in die
Nasenspitze des Gegners zu dirigieren ...«

»Das glaub' ich nicht ... so sehen Sie nicht aus, als ob das alles wäre,
was Sie treiben ...«

»Na ... meine kümmerlichen Versuche, mich mit der Juristerei
anzufreunden, werden Sie mir doch wohl kaum am Gesicht ansehen können?«

»Das nun schon gar nicht! Nein, es steckt noch etwas andres hinter Ihnen
--«

»Soll ich's verraten?« fiel Asta ein -- »ich weiß es nämlich ...«

Und mit ihrem Spitzbubenlächeln, das Köpfchen tief auf die weiche
Schulterlinie geneigt, fing sie an zu rezitieren:

    »Ich bin ein junger Korpsstudent,
    Die Schuhe Lack, der Rock patent,
    Korrekt und schick an mir ist alles --
    Im Portemonnaie nur --«

»Halt! Gnade!« rief Hans und legte seine Hand beschwörend auf Astas
runden Unterarm -- von dessen Wärme süße Schauer in seine Fingerspitzen,
seine Arme, sein Blut hinüberströmten.

»Ach -- sieh da -- Verse -- und von Ihnen?« fragte Jucunda. »Also ein
junger Schiller -- oder Goethe? Sieh da!«

»Ach Gott -- diese elenden Knittelreime -- wenn man nichts Besseres
könnte ...«

»Oh -- das ist aber nicht hübsch von Ihnen, daß Sie sich meinetwegen so
wenig angestrengt haben --« sagte Asta. »Na, was können Sie denn
Besseres? Heraus damit!«

»Jawohl, Herr Poet, eine Probe Ihrer Kunst!«

Hans Thumser ließ sich nicht lange bitten. Er sann einen Augenblick
nach. Dann richtete er sich unwillkürlich etwas auf, ein feierlicher,
strahlender Ausdruck kam in seine Züge; und in tiefinnerer Bewegung
sprach er:

    »Abgründe klaffen rechts und links
    Von meinem schwindelschmalen Pfade,
    Und hinter mir schleicht stumm die Sphinx --
    Doch über mir geigt Engelsgnade.
    Ich aber will nachtwandlerkühn
    Den Gratgang bis ans Ende wagen,
    Und hell durchsonnt von Morgenglühn
    Der Harfe gold'ne Saiten schlagen!«

»Ah ... bravo ... das ist wirklich ein Gedicht ...« sagte Jucunda. »Sieh
da -- wer hätte das hinter diesem wandelnden Modejournal gesucht ...«

»Oh ... seh' ich aus wie ein wandelndes Modejournal?«

»Na, so seht Ihr Korpsstudenten doch alle aus ...«

»Gott ja -- es braucht ja nicht jeder Poet auszusehen wie die Jünglinge
aus dem Café Größenwahn -- von denen mir ein Berliner Korpsbruder
neulich erzählt hat.«

»Nein, da haben Sie recht,« sagte Jucunda. »Die Sorte kenn' ich auch --
aus der Zeit unseres Gastspiels am Viktoriatheater ... ich denke mir,
der junge Goethe ist hier in Leipzig auch so etwa wie ein wandelndes
Modejournal herumgelaufen, während seine Kollegen lange fettige Haare
und schmutzige Hemdkragen trugen ... Sieh da -- also so schaut ein
junger Dichter aus ... alte kenn' ich ja schon diesen oder jenen, aber
das waren alles sehr verschlissene, sehr diplomatische, sehr nüchterne
und ... ernüchternde Herren ... Sie sind nicht nüchtern, Herr Thumser,
Sie laufen wie in einem ewigen Rausch herum -- wenn Sie auch noch so
schneiderelegant aufgemacht sind ...«

»Ja, das ist wahr!« sagte Hans lebhaft. »Ewiger Rausch! Sie haben recht!
Ich bin immer wie betrunken von ... von all dem Herrlichen um mich her
-- von all dem Neuen und Gewaltigen, das jede Stunde bringt! Ist nicht
die Welt ein einziges, ungeheures Wunder? Und so ein armes Menschenherz
viel zu klein und eng, um das alles zu fassen? Und wenn man's nun so
erleben darf, die Schönheit, die Kunst, die Poesie leibhaftig vor sich
zu sehen ... wie in Ihnen, Jucunda Buchner ...«

Die braunen Augen hingen an den blauen, die blauen an den braunen -- mit
hochaufgerichteten Leibern saßen die jungen Menschen einander gegenüber,
und Ströme des Lebens rauschten von einem zum andern.

Jucunda fühlte sich wachsen in dieser naiven Bewunderung eines Menschen,
in dem ihr weiblicher Instinkt die gärenden, schäumenden Kräfte witterte
... und Hans Thumsers gläubiges Märchenherz erblickte in dem weißen, vom
Schöpfer in einer Künstlerlaune so edel ausgeformten Gesicht die
fleischgewordene Schönheit, herabgestiegen vom Himmel, um ihm, dem
Werdenden, die Fülle zu offenbaren ...

Auf einmal fuhren beide herum: ein Ton, ein erstickter, war in ihre
Versunkenheit gedrungen -- ein Ton, den Hans schon einmal vernommen zu
haben meinte: der Ton eines bittren, unbezwinglichen Weinens ...

Asta Thöny hatte den Kopf in die Finger gedrückt, die Hände auf die Knie
gepreßt ... ganz in sich zusammengekauert saß sie da, die zierlichen
Schultern zuckten, aus dem Nest der schwarzen Flechten hatten sich ein
paar glänzende Locken gelöst und rollten über den weißen Nacken ...

»Aber Kind -- was ist Dir nur?« fragte Jucunda und legte den Arm um die
Hüften der Kollegin.

Aber die schüttelte die Umschlingung ab, sprang auf, eilte zum Fenster
hinüber und lehnte den hochgehobenen Arm, die tiefgesenkte Stirn an die
Scheiben ...

»Aber ... was ist Ihnen denn nur, gnädiges Fräulein?« stammelte Hans
Thumser.

»Ach, geht mir doch -- laßt mich doch in Ruh, Ihr zwei! Poussiert doch
miteinander, so viel Ihr Lust habt -- aber nicht in meiner Gegenwart!«

»Aber Kind!« sagte Jucunda, stand auf, sah Hans an mit einem Blick, der
für die Kollegin um wohlwollende Nachsicht zu bitten schien, wie für ein
törichtes, verzogenes Kind, und trat zu ihr ans Fenster.

»Ach, gehen Sie doch, Buchner -- lassen Sie mich! Es ist ja immer
dieselbe Geschichte! Alles müssen Sie für sich haben, alles belegen Sie
mit Beschlag -- alles muß zu Ihren Füßen liegen, keiner andern gönnen
Sie was! Den Jungen da, den hab' ich nun entdeckt -- und kaum hab' ich
ihn eingeladen, schon sind Sie da, als wenn Sie's gewittert hätten --
und gleich geht's los, das alte Spiel -- nur Jucunda Buchner redet, man
sieht nur sie, man hört nur sie, man vergafft sich nur in sie, nichts
existiert auf Gottes weiter Welt, nichts und gar nichts, als einzig und
immer wieder Jucunda Buchner!«

»Herr Thumser, ich bitte Sie um Ihr unparteiisches Zeugnis!« sagte
Jucunda ruhig, ganz beherrschte Weltdame -- »ist das nun gerecht, wie
diese Dame mich behandelt? Habe ich auch nur den geringsten Versuch
gemacht, Sie -- wie hat sie gesagt? -- mit Beschlag zu belegen? Haben
wir nicht vollkommen harmlos geplaudert alle drei? Und auf einmal aus
heitrem Himmel diese Explosion? Habe ich das verdient, Herr Thumser?
Bitte, sprechen Sie.«

In tödlichster Verlegenheit hatte Hans Thumser diesen Ausbruch, dieses
Zwiegespräch der Kolleginnen über sich ergehen lassen. Er suchte
vergebens nach der rechten Antwort auf Jucundas Frage.

»Gnädiges Fräulein ...« stammelte er zuletzt, »verzeihen Sie, wenn ich
auf Ihre Frage nicht antworte. Wir sind beide Fräulein Thönys Gäste ...
Ich bin untröstlich, daß ich Ihr Mißfallen erregt habe, Fräulein Thöny
... ich darf Ihnen zwar versichern, daß es keineswegs meine Absicht war,
Sie irgendwie zu ... wie soll ich sagen? ... zu vernachlässigen ... Wenn
ich dennoch ... es an der schuldigen Rücksicht habe fehlen lassen -- so
bitte ich tausendmal um Entschuldigung ...«

Asta Thöny antwortete nicht. Sie stand noch immer am Fenster ... der
Schein der Straßenlaternen von drunten umrandete ihre dunkle Silhouette
mit einem silbernen Streif -- den weißen Batist, den zarten Flaum des
Armes, die Flimmerlöckchen des schwarzen Haars. Wie das Kabinettstück
eines der holländischen Kleinmeister sah das aus.

Jucunda und Hans blickten einander an -- der Jüngling in ratloser
Befangenheit, das Mädchen gelangweilt, mit verdrossenem Achselzucken ...

In diesem Augenblick erklang draußen eine heftige, erregte Stimme, die
Jucunda auffahren machte:

»Na, Gott sei Dank und Lob -- endlich also! G'sucht hab' ich das Mädchen
durch die halbe Stadt ... nee so was, nee so was!«

Die Tür sprang auf, und eine massive Frauengestalt füllte den Rahmen --
Frau Wehe verschwand fast ganz hinter dem roten, schwitzenden Gesicht,
das von den Samtschleifen, den Seidenbändern eines schwarzen Kapothutes
eingesäumt war -- hinter den mächtigen Schultern unterm perlbesetzten
Samtcape ...

»Jucunda -- endlich ... Wenn Du wüßtest, was ich hab' müssen aussteh'n
diesen Nachmittag Dir zuliebe ... Daß mich der Schlag nicht hat
gerührt, das is mir ä blaues Wunder ...«

»Mutter -- Du?« sagte Jucunda langsam und ungnädig. Sie empfand dunkel,
daß diese Erscheinung in schroffem Widerspruch stand zu dem mystischen
Glanz, der, sie wußte es, von ihr ausging, wenn sie wollte, und wenn der
Glückliche, der in diesem Glanze stand, die nötige Naivität besaß.

»Was ist denn passiert? Darf ich zunächst bekannt machen? Meine Kollegin
Fräulein Asta Thöny -- Herr Studiosus -- na wie war's doch noch?
Dummser, nicht wahr?«

»Thumser,« sagte Hans.

»-- meine Mutter, Frau Rat Buchner. Also was steht Dir zu Diensten,
Mama?«

»Nu nee -- ich weeß nich recht, ich mecht wohl mal e Wertchen mir Dir
alleene sprech'n, Jucunda ... Entschuldigen Se nur, meine Herrschaft'n
-- aber kannste nich e bißchen mit mir uff de Straße 'nunter kommen,
Kind?«

»O bitte, gnädige Frau, wenn Sie mit Ihrem Fräulein Tochter etwas unter
vier Augen zu besprechen haben« -- fiel Hans Thumser ein -- »meine Stube
ist nebenan, die steht Ihnen mit Vergnügen zur Verfügung -- darf ich
Mutter Ach -- Frau Wehe, wollt' ich sagen, darf ich ihr Auftrag geben,
daß sie Licht macht?«

Jucunda dankte mit einem Lächeln, kühl und hoheitsvoll, wie nie zuvor,
als gälte es, den etwas befremdlichen Eindruck, den das Erscheinen ihrer
Mutter gemacht, durch doppelt königliches Wesen wettzumachen. Und Hans
und Asta blieben allein zurück.

Stumm war's im Zimmer, während jenseits der Tür, jenseits der beiden
Kleiderschränke, die sie hüben und drüben verbarrikadierten, ein
erregtes Flüstern anhob. In weißen Schwaden lag der Zigarettenqualm über
dem Tisch, wob um die Hängelampe, ward von Wärmestrudeln in ihren Schirm
hineingesogen und stieg um ihren Zylinder steil wie aus einem Schlot
empor.

Ein weiches, brüderliches Gefühl zog Hans zu dem Mädchen hin, das noch
immer schweigend am Fenster stand, vom Laternenlicht umsilbert, von
stoßweis zuckendem Schluchzen den schlanken Leib geschüttelt.

»Fräulein Asta!« sagte er und trat ein paar Schritte auf sie zu; das
Herz schlug ihm bis in den Hals. Nun war es da: er war zum erstenmal in
seinem Leben mit einem Mädchen allein.

Sie antwortete nicht, nur heftiger flossen ihre Tränen beim Klang der
gedämpften Stimme, die so erregt, so gütig ihren Namen sprach.

»Fräulein Asta,« sagte Hans noch einmal, »so wahr ich lebe, ich habe
nicht daran gedacht, daß mein Benehmen Sie kränken könnte. Und Sie
müssen mir's glauben, wenn ich Ihnen sage: es war reiner Zufall, daß
ich ... daß ich mich mehrmals hintereinander mit meinem Gespräch
nur an Fräulein Buchner gewendet habe -- ich weiß wohl, daß ich
gesellschaftlich noch nicht sehr gewandt bin ... aber ... Fräulein
Buchner ... Ihnen ... vorziehen ... daran hab' ich ja mit keinem
Sterbensgedanken gedacht ... ich wäre doch auch ein Narr ... Sie ...
Sie sind ja so ein ... so ein wundervolles Geschöpf ... Sie ahnen ja gar
nicht, wie ich ... hingerissen gewesen bin ... gestern, wie ich Sie auf
der Bühne sah ...«

Er lauschte, ob eine Antwort käme ... aber regungslos stand das Mädchen,
Arm und Stirn an die Scheiben gepreßt, die von der Wärme ihrer Glieder
mit einem feinen Nebel beschlugen. Und wie Hans sich zage, Schritt um
Schritt, der Fensternische näher schob, fiel sein Blick auf die
Sophienstraße: drüben, vorm Eingang des Carolatheaters, drängte sich
schon wieder, noch weit über eine Stunde vor Beginn der Vorstellung, ein
dichter Menschenhauf, des Augenblicks wartend, da die Kasse sich zur
ersten Wiederholung der »Jungfrau« öffnen würde. Noch nicht
vierundzwanzig Stunden waren vergangen, seit er Asta Thöny zum ersten
Male gesehen ...

Aber ihre Tränen waren versiegt: sie harrte, ohne sich zu rühren ... es
war, als lausche sie ... als lechze sie, mehr zu hören ... mehr ...

Hans Thumser fühlte, wie alle seine Glieder nur ein einziges banges,
verlangendes Beben wurden ... auch seine Stimme bebte heftig, als er
weitersprach, ohne zu wissen, was er sagte ...

»Asta ... ich habe noch nie ... noch nie ein Mädchen berührt ... ich bin
ein ganz dummer, dummer Bub ... Sie ... Sie müssen Geduld mit mir haben
... Wenn Sie ahnen könnten, wie mir zumut ist ... wie ich mich sehne ...
ach, wie namenlos ich mich sehne ... ach, und ich hab' mich ja schon so
gesehnt ... seit ich Sie gesehen hab' da drüben ... in Ihrer Schönheit
... und heut nacht, o Mädchen, wie haben meine Gedanken, meine Träume
sich an Dich gedrängt ... hast Du das denn nicht gefühlt? nicht geahnt?
Seien Sie doch nicht so stumm, sagen Sie mir doch, daß Sie mir verziehen
haben ... mir ist ja so bang, so namenlos bang ist mir nach Dir ...«

Da wandte das junge Weib sich um ... Ihre duftenden Arme warf sie dem
Knaben um den Nacken und überflutete ihm die Lippen, die Augen, den Hals
mit dem schäumenden Strom ihrer Küsse.


»Also, Jucunda, Du weeßt nu, was die Glocke geschlagen hat ...« beendete
drüben in Hans Thumsers Studentenbudchen Mutter Doris ihren Bericht über
die schwerste Stunde ihres Lebens -- wie sie den Nachmittagsbesuch des
Herrn vom Nassau-Dillingenschen Hofe genannt hatte. Sie thronte auf dem
Kanapee unter den gekreuzten durchbohrten Mützen, den staubigen,
verblichenen Bändern in ihrer ganzen schnaubenden, dampfenden
Leiblichkeit ... Die Korsettstangen knackten unter den keuchenden
Atemstößen der eingepreßten Lungen, die fleischige Hand wedelte ohn'
Unterlaß mit dem feuchten Taschentuch den beperlten Hängebacken
Erfrischung zu. Jucunda saß stumm in einem der geblümten Fauteuils, mit
zusammengepreßten Lippen, das stolze Haupt ein wenig zurückgeneigt, die
blauen Augen starr zur Decke gerichtet. Sie schwieg auch, als die Mutter
ihren Bericht geendet und erwartungsvoll an den Zügen der Tochter hing.

»Nu rede Du aber gefälligst ooch en Ton!« polterte Mutter Doris
schließlich heraus. »Ich mein', ich hätte mich nu genügend abgerackert
für Dich!«

»Na, wenn Du meine Meinung denn wirklich hören willst, Mutter: Du
scheinst mir eine märchenhafte Dummheit begangen zu haben.«

»I herrjemersch nee ... nu wird mer'sch aber doch zu tolle! Und was wär'
das fier ä Dummheit, wenn's gefällig wär?«

»Wie Du den Brief hast herausgeben können, Mutter, das versteh ich
einfach nicht ... das Geld, mag sein, obgleich mir's schon lieber wäre,
ich hätte einen Postquittungsschein in Händen ... aber den Brief --
unglaublich einfach!«

Sie sprang heftig auf, stieß den Fauteuil mit einem Ruck zur Seite, daß
er in seinen Grundfesten krachte, und rannte zum Fenster -- starrte
hinaus, wie drüben vorher die zierliche Kollegin ...

Ach ... da drunten drängten sich die Massen -- eben war der Kassenflur
geöffnet worden -- stießen sich, balgten, prügelten sich um den Vorrang
... wem galt das alles als ihr? Die alle da unten, hatten die einen
anderen Gedanken als -- Jucunda Buchner?

Und nach der Tortur dieser letzten Viertelstunde, nach all dem Ekel, der
Zukunftsbangigkeit, die in ihr aufgequollen war beim Bericht der Mutter
-- kam da auf einmal eine wunderbare Gelassenheit über das Mädchen. Pah
-- was konnte ihr geschehen?!

Inzwischen hatte Mutter Doris sich von ihrem ersten Schreck erholt.

»Nee, weeßte, Jucunda, ich versteh Dich nich, wahrhaft'gen Gott, ich
versteh Dich nich. Erscht stellst Du Dich an wer weeß wie sähre, daß De
so än Brief kriegst, un ... un das andre ... un nu kommt der, der Dir's
geschickt hat, und holt sich's wieder ab -- un nu is ooch wieder nicht
recht -- -- un ich hab' Dir doch bloß die scheißliche Geschichte woll'n
vom Halse halten ... nee, nee, so was! Das hätt' ich wissen sollen, dann
hätt' ich dem dicknäsigen Herrn ganz einfach gesagt: kommen Se
gefälligst wieder, wenn Fräulein Jucunda Buchner derheeme is -- mich
geht's nischt an!«

»Hättest Du das man getan, Mutter ... Ich hätte dem Herrn schon
beigebracht, wie man mit Jucunda Buchner spricht -- das kannst mir
glauben! Ach -- aber es ist ja alles egal ...«

Sie reckte sich ... ein harter Glanz kam in ihre Augen ... Noch eine
knappe Stunde, und die Rampenlichter flammten auf, und sie tauchte
hinein in ihren blendenden Schimmer -- und von jenseits, aus dem dunkel
gähnenden Zuschauerraum, dampfte die Vergötterung der anderthalb Tausend
ihr entgegen ...

»Was wirscht De denn nu anfangen?« fragte Mutter Doris ganz halblaut.
»Wo der Herr Major doch verlangt hat, Du sollst machen, daß der ... der
Herr Korpsstudent seine ... seine Aufforderung zum Duell ... daß er die
zurück tut nähm'!«

Jucunda versank in einen Wirbel der Gedanken. Das Bild des jungen
Gesellen stieg in ihr auf, der so viel für sie getan ... aus einem
ritterlichen Empfinden heraus, das so einfach, so natürlich war, daß
Jucunda es wohl verstehen mußte, würdigen konnte in seiner schlichten,
starken Mannhaftigkeit ... Und nun sollte sie selber von ihm verlangen,
daß er den kühnen, verhängnisvollen Schritt, den er zu ihrem Schutze
getan -- rückwärts tun sollte ... Sie war in einer Luft groß geworden,
in die immerfort, aus den Stübchen der Mieter ihrer Eltern in die gute
Stube da hinten mit den grünen Plüschmöbeln, in die Träume ihres eigenen
Mädchenkämmerleins hinein -- die romantischen Vorstellungen und Begriffe
von korpsstudentischem Schneid, von Burschenehre hineingeweht waren ...

O sie wußte ganz genau, was es für den weiland Ersten Chargierten der
Franconia bedeutete, aus dem Korps auszutreten, um einen Prinzen, der an
offiziellen Kneipabenden die grüne Mütze anlegte, zum Säbelduell fordern
zu können ... und was es nun erst bedeuten mußte, wenn sie ihm
zumutete, seine Forderung zurückzunehmen, ohne daß eine Sühne erfolgt
war ... ohne selbst eine formelle Bitte um Entschuldigung ... denn als
eine solche konnte doch der Besuch des Majors, seine unverblümten
Drohungen, die Erlistung des Briefes und des Geldes aus der Hand der
hilf- und ahnungslosen Mutter unmöglich aufgefaßt werden ...

Immerhin -- hier war der Ansatzpunkt. Die Sache mußte dem Studenten so
dargestellt werden, als habe der Major den Auftrag gehabt, eine Bitte um
Verzeihung im eigenen Namen und im Namen seines prinzlichen Zöglings
zu überbringen ... als ob er diese Bitte auch tatsächlich überbracht
habe ... und wenn sie, die Beleidigte, sich mit dieser Genugtuung
einverstanden erklärte, dann war ja doch wohl für ihren Beschützer kein
vernünftiger Grund mehr, seine Forderung aufrecht zu erhalten ... und
alles in schönster Ordnung ...

Alles in Ordnung? Nein ... Jucunda war ein viel zu klarer Kopf, als daß
sie die Folgen des Geschehenen nicht zu Ende gedacht hätte ...

Also er zieht seine Forderung zurück, und dann? Nun dann ist er, auf gut
deutsch gesagt, der unrettbar Blamierte ... Er ist aus dem Korps
ausgetreten und hat ein Mitglied des Korps gefordert -- die Forderung
ist zwar nicht zum Austrag gekommen, aber die unsühnbare Feindschaft
zwischen den beiden jungen Männern besteht -- sie können nicht mehr auf
der Kneipe zusammensitzen, nicht mehr die gleichen Farben tragen ... Und
da das Korps seiner ganzen Tradition nach, um seiner Beziehungen zu Hof,
Behörden, Gesellschaft willen den Prinzen nicht fallen lassen kann, so
wird eben Pilgram dran glauben müssen ... Er hat sein Band verloren,
ist ausgeschieden aus dem Kreise der Freunde seiner Jugend ... All das
tapfere Ringen, Mensuren, Chargen, verbummelte Semester umsonst ...

Das alles wußte Jucunda und wurde sich im angestrengten Nachsinnen
weniger Minuten über all diese Folgen klar, mitleidslos gegen sich und
ihn ...

Und wieder meinte sie sein hartes, herrisches Gesicht zu sehen, wie es
weich, selbstlos, opferfreudig aufglühte um ihrer Ehre willen ...

»Sie haben weinen müssen -- -- -- das sollen sie mir bezahlen, die zwei
...«

Wie gut, wie tapfer, wie ... heldenhaft seine Worte, seine Tat ... und
nun?!

Hieß das nicht ... ihn schmählich verleugnen ... wenn sie nun
zurückwich, sie ... und dadurch seiner Tat den ritterlichen Glanz
raubte ... sie zu einer Narrensposse, zu einem Dummenjungenstreich
erniedrigte?

Aber ... ihre eigene Zukunft? Ihre Karriere? War das nicht alles, alles
das, was der Major ihrer Mutter angedeutet hatte ... waren das nicht
alles Wahrheiten?!

Einen Augenblick lang war sie geneigt, das alles in den Wind zu schlagen
... Pah ... Engagement in Frage gestellt ... Bericht gegen sie beim Hof
in Meiningen ... War sie nicht Jucunda Buchner? Brauchte sie die
Hoftheater? Oder brauchten die Hoftheater -- sie?!

Ach nein ... So stand es doch nicht ... Man war nicht immer achtzehn
Jahre, nicht immer eine neue Entdeckung, eine Sensation, eine Mode ...
Jucunda wußte schon viel, viel zu viel von den brutalen Gesetzen der
Macht, der Laune, des Glücks, des Wechsels, welche die schillernde Welt
regierten, in der es ihr bislang so herrlich, so unverdient und
unfaßbar glänzend gegangen ... sie dachte an ihre alte, verknitterte
Garderobiere, die auch einmal eine vergötterte junge Liebhaberin gewesen
war -- freilich nur am Stadttheater in Stallupönen, aber je höher der
Anstieg, um so grimmiger die Gefahr, um so steiler und zerschmetternder
der Sturz ... Nein, beim Theater konnte sich niemand erlauben, nur auf
sein Talent, seine eigene Kraft und Persönlichkeit zu bauen und die
Gunst der Mächtigen, der Brotgeber leichtsinnig zu verscherzen ...
Niemand konnte sich das erlauben, auch Jucunda Buchner nicht ...

Er ... oder ich -- -- so stellte sich schließlich die Frage ... und
waren da die Chancen nicht doch zu ungleich? Schließlich ... ersparte
sie nicht auch ihm durch ihren Entschluß, ihn fallen zu lassen, das
größere Opfer, das noch ausstand? Das Risiko eines, nein zweier
Zweikämpfe mit schweren Waffen, unter den schärfsten Bedingungen?
Ersparte sie ihm nicht den definitiven, den viel größeren, gar nicht
wieder gut zu machenden Skandal?!

Eine ... Enttäuschung ... eine schmerzliche Wunde für sein jugendlich
enthusiastisches Empfinden bedeutete es ihm, wenn sie sich zurückzog ...
mehr doch nicht ... Für sie aber stand ihre ganze Zukunft, ihre Zukunft
als Künstlerin wie ihre materielle Existenz auf dem Spiele ...

Gab es da eine Wahl?

Und letzten, allerletzten Endes: Hatte er das alles nicht sich selber
zuzuschreiben? Hatte sie ihn um seinen Schutz -- gebeten?! Nein, das
hatte sie nicht getan, mit keinem Wort, keinem Blick ... Er hatte sich
zum Verteidiger ihrer Ehre aufgeworfen ... Hatte sich eigentlich, wenn
man es einmal mit einem etwas scharfen Ausdruck bezeichnen wollte,
aufgedrängt ... Und hatte sie nicht alles Mögliche versucht, ihn von
diesem unerbetenen Opfer abzuhalten?! Aber er war ja fortgestürmt, als
ging's um seine eigene Ehre, um sein Leben ...

Jucunda stand am Fenster, noch immer regungslos. Und hinüber, herüber
schossen die Gedanken, anklagend und entschuldigend ...

Mutter Doris saß ganz still und gedrückt in ihrem Kanapee ... Daß sie
eine furchtbare Dummheit gemacht, als sie das verhängnisvolle Briefchen
aus der Hand gegeben ... das war ihr nun völlig klar ... Ihre
spießbürgerliche Verschlagenheit sagte ihr ja nun selber, daß man aus
solchen Beweisstücken Kapital hätte schlagen müssen ...
Selbstverständlich nicht im materiellen Sinne -- o nein, so etwas hatte
man ja gottlob nicht nötig ... Aber man kann doch nie wissen, wozu man
ein solches Zettelchen einmal gebrauchen kann ... So etwas läßt man sich
doch nicht ganz umsonst aus den Fingern drehen ...

Und dies Bewußtsein: die einzige Waffe, die ihre Tochter besaß, blöde,
gedankenlos aus der Hand gegeben zu haben -- das machte sie klein und
stumm ...

Jucunda schloß unterdessen ab. Ganz kühl, ganz klar hatte sie alles
abgewogen. Nein, es ging nicht ... Sie konnte sich nicht, wider ihre
innersten Lebensinteressen, von dem Don-Quichotte-Streich des jungen
Burschen durch dick und dünn fortschleppen lassen ... Losketten mußte
sie das Schiff ihres Glücks von der toll und steuerlos dahinrasenden
Fahrt des überheizten Dampfers, der sie so mir nichts dir nichts ins
Schlepptau genommen ...

Und doch ... und doch ...

'Sie haben weinen müssen ... Das sollen sie mir bezahlen ... die
zwei ...'

Wenn man -- diesen Ton, diesen Blick nur los werden könnte ...

Pah ... Es =mußte= sein ...

Und schließlich und endlich -- wer war Herr Pilgram?! Ein gleichgültiger
junger Mensch, von dem sie nichts wußte, als daß er sie einmal sehr grob
in ihrer Arbeit gestört ... sich für diese Grobheit dann freilich sehr
manierlich entschuldigt ... und eine Abendstunde mit ihr geplaudert
hatte ... in der sie, das wußte sie ganz genau, ihm nicht die leiseste
Andeutung einer Sympathie gemacht hatte, die sie ja auch nie empfunden
hatte ... Denn schließlich, sie machte sich ja doch nicht das mindeste
aus ihm ... Er war ein kreuzbraver, aber doch durchaus alltäglicher
Geselle ... Ja, wenn noch etwas in ihrem Herzen sich geregt hätte bei
dem Gedanken an ihn ... die Ahnung von etwas Besonderem ... wie sie es
eben, vor einer halben Stunde, so deutlich gefühlt hatte im Gespräch
mit ... jenem andern grünbemützten Studenten, in dessen Zimmer sie jetzt
stand ... der so schöne Verse machen konnte und so seltsam verhaltene
Worte reden... in dem irgend etwas gärte und brodelte, das ihrem eigenen
Wesen und Wollen auf eine geheimnisvolle Weise verwandt war ...

Nein ... Herr Pilgram war ... irgendein Herr Pilgram ... war nichts und
niemand ... Herr Pilgram hatte sich in ihr Leben eingedrängt ... man
würde ihn mit möglichster Schonung, doch unmißverständlich wieder
hinauskomplimentieren müssen ...

»Es ist gut, Mutter ...« sagte Jucunda und wandte sich ruhig um. »Ich
will Herrn Pilgram schreiben ... jetzt gleich ... er soll seine
Forderung zurückziehen ... Den Brief kannst Du ihm hernach -- wenn wir
aus dem Theater nach Hause kommen -- dann kannst Du ihm den Brief auf
die Stube legen ... Hoffentlich ist er nicht zu Hause, wenn wir kommen
-- sonst -- na sonst mußt Du ihm den Brief eben geben.«

»Na, das is verninft'g von Dir, Mädchen!« seufzte die stattliche Frau
und atmete tief auf, daß die Korsettstangen knackten. »Hier, mache nur
schnell ... Da is ja der Schreibtisch, und Briefpapier liegt ooch genug
herum -- gleich setz' Dich und schreib'! Kannst Dich ja hernach bei dem
Herrn entschuld'gen ...«

Jucunda ging zum Schreibtisch des Studenten hinüber, fand Briefbogen,
entdeckte aber, daß sie sämtlich oben in der linken Ecke den Zirkel des
Korps Franconia und darunter das Monogramm des Eigentümers trugen. Da
drehte sie kurz entschlossen einen Bogen herum und schrieb auf die
Rückseite:

                                       »Leipzig, den 31. Oktober 1888.

                          Sehr geehrter Herr!

  Ihr ritterliches Eintreten für mich hat den gewünschten Erfolg gehabt:
  die beiden Herren, die mir diesen abscheulichen Brief geschickt haben,
  haben mündlich bei mir um Entschuldigung gebeten. Ich bin über diese
  Lösung hocherfreut und danke Ihnen innigst für Ihren gütigen Beistand,
  ich weiß wohl, daß Sie mir ein großes Opfer gebracht haben. Nun ist
  der Zweck Ihres Handelns erreicht. Bitte tun Sie mir nun auch den
  Gefallen und nehmen Sie so bald als möglich Ihre Herausforderung zum
  Duell zurück, damit nicht noch weitere Unannehmlichkeiten entstehen.

   Ich bin mit der nochmaligen Versicherung meines aufrichtigen Dankes

                                             Ihre ganz ergebene
                                                                J. B.«

In einem Zuge, ohne Besinnen, hatte Jucunda geschrieben: Nun überlas
sie die Zeilen und wunderte sich, wie klar und einfach und
selbstverständlich das alles klang. Und darum wunderte sie sich noch
viel mehr, weshalb ihr nur so übel dabei zumute war. Sie hatte ja doch
recht, tausendmal recht ... Es war eine so klare vernünftige Lösung --
es konnte ja doch schlechterdings nicht anders gemacht werden ...

'Sie haben weinen müssen ... Das sollen sie mir bezahlen, die zwei ...'

Das war ja doch eigentlich ein Unsinn ... Was gingen ihn, den fremden
jungen Mann, ihre Tränen an? Was berechtigte ihn, für diese Tränen Sühne
zu fordern? Da war irgend etwas, das stimmte nicht ... ein Fehler, ein
Gedankenfehler ... Und aus diesem Fehler war alles entstanden ...

Dennoch ... Sie fühlte es ganz deutlich: Um das törichte, unbesonnene
Handeln des Jünglings war etwas Leuchtendes, etwas, das den Taten des
Mädchens von Orleans verwandt war ... Und es war wie in Talbots Worten,
des eisigen Vernünftlers, dessen hundeschnäuzige Kriegsmathematik vor
dem frommen Wahn der Jungfrau zusammenbrach:

    »Unsinn, du siegst ... und ich muß untergehn ...«

Und während Jucunda Buchner den Brief kuvertierte und die Adresse darauf
schrieb:

                         »Herrn Stud. Pilgram«

-- seinen Vornamen entsann sie sich auf der Visitenkarte gelesen zu
haben, die er an seine Tür genagelt hatte, aber er wollte ihr nicht
einfallen -- als sie so schrieb, da empfand sie es ganz deutlich, ganz
unabweisbar, daß sein Tun gut und groß gewesen war ... und ihres frostig
und häßlich und gemein ...

»Da, Mutter, steck den Brief in Deinen Pompadour ... und jetzt« -- sie
zog die Uhr -- »sieben bereits!« Donnerwetter! Jetzt revidierte der
Inspizient drüben schon die Garderoben! Teufel auch -- höchste Zeit ins
Theater -- »Vorwärts, Mutter!«

»Willste nich Deine Kollegin daneben abholen?«

»Na -- die wird wohl schon hinüber sein -- aber ich kann ja mal
nachsehen ...«

Sie klopfte an die Tür des Nachbarstübchens, und da keine Antwort kam,
klinkte sie auf. Die kleine Kammer lag dunkel und still. Nur durch die
Fenster fiel der Schein der Gaslaternen von der Straße durch die
Gardinen, malte ein paar große Rechtecke an die weißgetünchte Decke.
Also Asta Thöny warf sich drüben bereits wieder in den steiflinigen
Brokat der Agnes Sorel ...

»Sie ist schon hinüber -- und kommt doch erst im ersten Akt -- und ich
muß schon zum Prolog 'raus ... Glücklicherweise nur das Bauernkleid ...
Vorwärts, Mutter ...«

Das hatte sie freilich nicht sehen können oder wenigstens nicht gesehen
in der Finsternis, daß auf dem Sofa noch einsam und regungslos der
junge Student gesessen hatte, das Poetlein, um dessen »schwindelschmalen
Pfad Abgründe klafften rechts und links ...«

Daß er noch immer da saß, seitdem das Mädchen sich aus seinen Armen
gerissen ... Alle Glieder und das Herz wie mit Blei beschwert vor
trunkener Zärtlichkeit, sein ganzes Wesen durchschauert von
Erfüllungsglück ...

Jucunda schritt über den Hof, der mit Dekorationsstücken vollgepfropft
war, die zum Schutze gegen den Regen mit Wachsleinwand verhangen waren
-- stolperte über die Beine des ausgestopften schwarzen Pferdes, dessen
Leichnam im dritten Akt so überzeugend die Stimmung des blutgedüngten
Schlachtfeldes heraufbeschwor -- nahm dies Stolpern für ein gutes Omen,
hastete weiter, so schnell, daß Mutter Doris in weitem Abstande hinter
ihr drein schnaufte ... Und als sie nun das schmale Pförtchen aus
Eisenblech öffnete, das zum Bühnenraum führte, als ihr der vertraute
Dunst von Schminke, wirbelndem Staub und Menschenbrodem entgegenschlug,
als sie den schlechterleuchteten Korridor, den halbdunklen Bühnenraum
kreuzte, auf dem die Arbeiter eben den Prospekt zum Prolog anbohrten ...
als sie dann die hallende Steintreppe hinanflog, in ihr Kämmerchen
schoß, wo die zerknitterte Krausen herzklopfend ihrer harrte -- (»Ach
Gottchen nee, gnäd'ges Fräulein, daß Se nu endlich kommen! Der
Inspizient und der Herr Oberregisseur sind schon sechsmal mind'stens
dagewäsen nach Ihn' fragen!«) als ihr weißes Gewand, als das blanke
Eisen ihrer Rüstung, ihres Helmes aufgleißten im hellen Licht der
Spiegellampen --

-- da fühlte sie, wie alles, alles abfiel, was dieser Tag ihr Fremdes,
Verworrenes, unheimlich Störendes gebracht. Fühlte, daß sie noch
dieselbe war wie gestern abend um diese Stunde -- dieselbe, die sie
immer sein würde, so oft der Rausch des Komödienspiels, des
Im-Spiele-Gestaltens über sie kam.

Sie riß die Taille ihres Straßenkleides ab, reckte die herrlichen Arme,
schmetterte durch den Raum, daß die Wände wankten:

    »Ins Kriegsgewühl hinein will es mich reißen,
    Es treibt mich fort mit Sturmes Ungestüm,
    Den Feldruf hör' ich mächtig zu mir dringen,
    Das Schlachtroß steigt, und die Trompeten klingen!«

Ja, es parierte, das erzene Organ ... vor dem sogleich die anderthalb
Tausend da drunten erzittern würden ... Ja, sie war es noch, um
derentwillen die alle da draußen vor allem doch gekommen waren -- die
Heldin des Stückes, die Heldin dieses Abends ...

Kaum stand sie im Bäuerinnengewand, die braunen Haare zu schlichtem
Flechtenbau um das runde Haupt gelegt, da trat Franz Burg ein, im
ledernen Koller bereits, doch noch ohne das rasselnde Blech drüber, noch
ohne Maske:

»Nun, Langbeinchen? Das kennt man ja gar nicht von Ihnen, daß Sie mal zu
spät kommen! Wie ist die Stimmung?«

»Prima prima!« lachte sie und leuchtete den Freund an.

»Nichts Neues in der Affäre?« fragte er leise.

»Nichts von Belang ... Ich denke, es renkt sich ein.«

»Oh!« Franz Burg zog die tiefschattenden Augenbrauen hoch -- »das wäre
aber jammerschade ... Können Sie denn nichts dazu tun, daß die
Geschichte mit dem nötigen Theaterdonner zum Klappen kommt?«

»Ach ... Ich bin froh, wenn sie aus der Welt ist ... Ich muß freien Kopf
haben, freie Arme zum Arbeiten, zum Schaffen ...«

»Soll ich Ihnen mal was verraten? -- Ihr Erbprinz ist im Theater -- hat
noch vor einer halben Stunde einen Levkoyen geschickt und eine Loge
bestellen lassen ... Da alles futsch war, hat der Intendant die
Direktionsloge zur Verfügung gestellt ...«

»Hm ... Das ist ja interessant ... Werde mir den jungen Herrn doch mal
anschaun ...«

»Sie kennen ihn noch gar nicht?«

»Keine Ahnung ...«

»Na -- die Hauptsache ist: Er ist da -- jedenfalls ein Beweis, daß man
nicht ungnädig ist ... Na, die Reklame haben Sie verscherzt, nun halten
Sie sich wenigstens den hochgeborenen Verehrer warm ...«

Der Inspizient steckte den Kopf zur Tür herein:

»Fräulein Buchner -- bitte auf die Szene!«

»Also, Langbeinchen, wieder mal: Hals- und Beinbruch!«

»Danke, Meister!«

Mit Wohlgefallen sah Franz Burg der weißen, stolzen Gestalt nach.
Künstlerblut! dachte er, kennt nichts als sich und ihre Arbeit ... Alles
andre ist Dreck ...

Und Jucunda schritt die Treppe hinunter. Alles grüßte mit vertraulicher
Höflichkeit, wenn sie vorüberging: die Friseure, die Bühnenarbeiter, die
Statisten, die Volontäre ...

Und in ihrer Seele schwoll die unbändige Lust des Schaffens. Es schwang
und klang in ihr von dröhnendem Jambenstrom und schmelzender
Trochäenklage ... »Frommer Stab, o hätt' ich nimmer mit dem Schwerte
dich vertauscht« ... Kaum konnte sie das Maß, die scheue, entrückte
Gebärde für die Stimmung des Anfangs finden, da sie noch ein schlichtes
Hirtenmädchen ist, von geheimen Stimmen, phantastischen Visionen
geängstigt, doch ihrer Sendung noch ahnungsvoll unbewußt ...

Und endlich rauschte die Gardine empor, wogte drunten das Gebraus, das
wohlbekannte, von Zettelknistern und Räuspern und Zurechtrücken,
klappten die Sitze der Zuspätkommenden, tönte das leise Zischen der
Gestörten ... Und all dies wirre Durcheinander verebbte nach und nach,
und die große schaurige Stille ward, in die ihrer Partner Verse
hineinklapperten, wie eine belanglose Ouvertüre, ein gleichgültiger
Auftakt des Augenblicks, da sie die ersten Worte zu sprechen haben würde
... Ach, aber wie endlos lang dieser Auftakt! Die kamen ja heut wohl gar
nicht vom Fleck, der alte Thibaut, ihre Schwestern, die Bräutigame --
biedre Chormitglieder, die heute ein paar Verse zu lallen hatten ...

Gesenkten Hauptes, stumm stand das Hirtenmädchen im Hintergrund ... Nur
zuweilen hob sie zaghaft und scheu die großen Augen, ließ sie von einem
zum andern flattern, als verstände sie die Sprache ihrer nächsten
Menschen nicht mehr ... Und aus den verträumten Augen Johannas d'Arc
spähte Jucunda Buchners ganz wacher, lauernder Sinn in den
Zuschauerraum, dorthin, wo dicht an der Rampe links die Direktionsloge
lag ... Die Lichter blendeten abscheulich -- dennoch konnte sie
allmählich ganz vorn, matt angestrahlt vom Widerschein des hellen
Bühnentages, zwei Gesichter erkennen: ein fahles, junges mit der
blinkenden Scherbe im Auge -- und daneben ein verwettertes,
tiefgebräuntes mit flatterndem Schnurrbart ... Also das waren die zwei
-- »von Dillingen -- von Gorczynski« -- das waren die Schreiber des
verhängnisvollen Briefchens -- die Spender des Rosenturms und der ...
beiden ... blauen ... Lappen ...

Achtung jetzt! Bertrand kommt, den blinkenden Helm in der Hand, den »ein
Bohemerweib« ihm aufgedrungen im Gewühl ... Gleich wird das Stichwort
kommen ... Horch ... Die letzten Verse rannen hin:

    »Da war das Weib mir aus den Augen schnell --
    Hinweggerissen hatte sie der Strom
    Des Volkes, und der Helm blieb mir in Händen.«

In diesem Augenblick versank alles, alles ... Jucunda Buchner versank,
und nichts mehr war als Johanna von Orleans ... Die schoß nun wie ein
Meteor aus der scheuen Zurückgezogenheit vor, riß dem alten Bauern den
Helm aus der Hand:

    »Gebt mir den Helm!«

Erschrocken fragt der Alte:

                          »Was frommt Euch dies Gerät?
    Das ist kein Schmuck für ein jungfräulich Haupt!«

Und wie eine Fanfare jauchzt es aus der endlich entfesselten Brust der
jungen Heldin:

    »Mein ist der Helm -- und mir gehört er zu!«

Alles -- alles ist versunken -- nur eines wirkt und wogt: der große
Rausch des Schaffens ...

Und Johanna wurde erst wieder Jucunda, als nach dem ersten großen
Monolog die Gardine sank und gleich darauf, wie hinweggerissen vom Orkan
des Beifalls, wieder emporrauschte ... als tausendstimmiger Jubelruf sie
umbrandete ...

Da war Jucunda wieder da -- ganz wach, ganz klar ... Und sie neigte sich
... neigte sich zuerst mit tiefem Hofknix nach der Direktionsloge.




                                   9.


Als Herr Borgmann Neo-Borussiae das Hotel Hauffe verließ und verloren,
ziellos nach dem Augustusplatz hinüberschlenderte, kam er sich
entsetzlich dumm vor. Was sollte er nun seinem Auftraggeber und
Doppelgegenpaukanten ausrichten? Man hatte seine Forderung nicht
angenommen, aber auch nicht abgelehnt ... Ein Witz ... aber ein fader
... Ist bei Ihrem Auftraggeber eine Schraube los? Rabiater Bursche --
ich danke für einen Skandal ... Koller ... Pathologischer Zustand ...
Verlange absolut geräuschlose Erledigung ... Rechne dabei auf Ihre
Mitwirkung ... Das waren so ungefähr die Schlagworte, die Herrn Borgmann
noch im Gedächtnis hängen geblieben waren und nun in der korrekten
Chargiertenseele einen tollen Tanz vollführten ... Ja, was sollte man
auch einem Prinzen antworten, der von korpsstudentischer Direktion und
Haltung keinen Schimmer hatte? Der eine so blutig ernste Sache wie eine
Säbelforderung einfach behandelte ... wie ... na wie einen
Hanswurststreich ... wie einen faulen Kalauer?!

Und das hatte man sich gefallen lassen? Man hatte Ja und Amen gesagt zu
der ungeheuerlichen Zumutung, nach solch einem Affront auch noch an
einer ... hm, hm! geräuschlosen Beilegung mitzuwirken?!

Herr Borgmann nahm die weiße Mütze mit dem weiß-schwarz-weißen
Randstreifen ab und tupfte die von weißblonden, seltsamerweise schon
etwas gelichteten Haaren umsäumte Stirn. Was konnte man seinem
Auftraggeber nun eigentlich berichten? Hatte der Prinz irgend eine
Erklärung zur Sache selbst abgegeben? Eine Entschuldigung bei der
beleidigten jungen Dame in Aussicht gestellt? Nicht das mindeste ... Er
hatte nichts weiter geäußert als Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit des
Mandanten -- und das kategorische Verlangen, die Sache müsse aus der
Welt geschafft werden!

Na, und du, Wilhelm Borgmann, Neo-Borussiae gewesener Zweiter, Erster?!
Was für eine Antwort hast du gefunden?

Gar keine! Völlig aus dem Konzept hat man dich gebracht, verblüfft,
verhohnepiepelt ... Schindluder hat man mit dir getrieben, ganz einfach!

Und warum? Warum hast du nicht aufgemuckt? Warum hat deine ganze
mühevoll erworbene korpsstudentische Direktion, deine Haltung, dein
Schimmer dich verlassen? Weil dies junge hagere Herrchen im hellblauen
Dragonerüberrock mit den silberblinkenden Knöpfen ein ... Prinz von
Geblüt war ... Da war von deiner Spießbürgerseele der dünne Firnis des
Kavaliers abgefallen, den man dir in einer Dressur von fünf Semestern
aufgepinselt -- und du warst in Lakaiendevotion submissest
zusammengeknickt!

Und drüben im Theaterrestaurant sitzt der unglückselige Pilgram, weiland
Franconiae, und wartet auf Antwort ... Wartet auf das Schicksal ...

Ja, was sagt man ihm nur? So wie die Geschichte in Wirklichkeit
abgelaufen ist, so kann man sie ja gar nicht erzählen -- der rabiate
Bursche schlägt sonst Krach! Das muß man sich erst ein bißchen
zurechtlegen ...

Herr Borgmann suchte einen Zufluchtsort. Café Felsche? Viel zu viel
Betrieb jetzt da, wahrscheinlich auch ein Tisch voll Neo-Borussen -- --

Ein Einfall! Das Museum! Das war zu dieser Stunde vielleicht noch
geöffnet ...

Und Studiosus Borgmann tat etwas, was ihm in seinen fünf Semestern, die
er in Leipzig zugebracht, noch niemals passiert war: Er ging ins Museum
hinein, stieg die prächtige Marmortreppe hinan, schritt gleichgültig
durch die Säle voll bemalter Lappen in goldenen Rahmen und versank in
einem Plüschsofa des großen Oberlichtsaales ... Und sann, wie er die
Sache deichseln könne, ohne seine Blamage eingestehen zu müssen.

Inzwischen saß Valentin Pilgram in regungslosem Warten in einer dunklen
Ecke des Theaterrestaurants. Was werden würde? Nun das war ja ganz klar:
Sowohl der Major als auch der Erbprinz, der die Charge eines
Rittmeisters bekleidete, würden die militärisch korrekte Erklärung
abgeben, daß sie die Tatsache der erfolgten Forderung ihrem zuständigen
Ehrenrat unterbreiten würden ... Der würde dann einen formellen
Ausgleichsversuch machen -- wenn dieser, wie selbstverständlich,
gescheitert wäre, würde der Erbprinz einen Ersatzmann stellen, einen
möglichst fechtgewandten Offizier eines Gardekavallerieregiments ... Und
dann stiegen eben die beiden Partien ... Na Himmel, das hatte man ja
doch schon fünfmal durchgemacht -- zwar nicht unter ganz gleich schweren
Bedingungen ... Aber -- na ja, Eisen ist Eisen, und fechten haben wir ja
gottlob gelernt ...

Und dann ...

Valentin Pilgram versank in Träume ... Dann mußte irgend etwas kommen,
etwas Schönes, von dem man sich keine rechte Vorstellung machen konnte.
So ganz ohne Dank und Lohn würde man ihn doch nicht laufen lassen ...

Dank und Lohn? Aber wie?

Valentin Pilgram hatte bewiesen, daß er bereit war, sich jeden vors
krumme Messer zu langen, der an dies Mädchen anders dachte denn an eine
Heilige ... Und Heilige ... Wie belohnen sie denn?

Mit ihrer Gnade ... Mit Fürsprache im Himmel ...

Sie belohnen von ferne ... Mit Gaben, für die man sich auf Erden
verdammt wenig kaufen kann ...

Na, und das wird ja auch wohl dein Fall sein, mein guter Valentin --
nicht wahr?!

Na -- und wenn auch! Wir haben eben getan, was wir mußten ...

Ein alter Reckenspruch aus den goldenen Tagen des Rittertums klang ihm
durch den Sinn:

    _A Dieu mon âme,
    Ma vie au roi,
    Mon coeur aux dames,
    L'honneur pour moi._

_Pour moi_ ... Na eben, das war's: das Bewußtsein: So gehört sich's --
und so hab' ich's gemacht ...

Endlich! Da kam sein Kartellträger ...

»Bitte, nehmen Sie Platz, Herr Borgmann ...«

»Gewiß, gern ... Herr Ober, eine Schale Schwarz ...«

»Also ... Angenommen?«

»Hm ... Die Herren haben Erklärungen abgegeben, die vielleicht ... als
befriedigend gelten könnten ...«

»Was! sie kneifen?!«

»Hm ... Doch wohl etwas zu schroffer Ausdruck ... Der Prinz hat den
Major beauftragt, die Angelegenheit in Güte zu arrangieren ... Ich nehme
also an, daß er Familie Buchner im beiderseitigen Namen um Verzeihung
bitten wird ... Was macht's, Ober? Fünfundzwanzig? Schön -- ziehen Sie
fünfunddreißig ab ...«

Valentin Pilgram war wie vor den Kopf gestoßen.

In Güte arrangieren ... Fräulein Buchner um Verzeihung bitten ... Hm ...
Verteufelt einfache Lösung ... Und das hatte man sich nicht mal im
Traume vorgestellt, daß es so kommen würde ... kommen ... müßte ...

Himmel ja -- man war eben Korpsstudent -- trat für alles, was man gesagt
und getan -- selbst in der Hitze gesagt und getan -- für das trat man
eben stramm und rücksichtslos ein mit Waffe und Blut, mit Schädeldach
und Nase, mit Brustbein und Armknochen -- konnte sich gar nicht
vorstellen, daß jemand auswich -- revozierte und deprezierte -- den
Schwanz einzog und ... na eben kniff.

Und ... jeden andern Kneifer durfte man einen Kneifer schimpfen ...
Dieser aber stand außerhalb der Lebensgesetze der akademischen Welt --
der er _pro forma_ doch angehörte ... Der konnte sich eine Kneiferei
leisten, obwohl er doch auch Student, offiziell sogar Korpsstudent war
...

Was für ein Hohn ... Was für eine blöde Farce!

»Hm ... Und Sie meinen, Herr Borgmann -- mit diesen Erklärungen müsse
ich mich begnügen?«

»Ich ... glaube wenigstens nicht, daß ... nach diesen Erklärungen ...
das Ehrengericht Ihre Forderung noch genehmigen würde, wenn Sie darauf
bestehen wollten ... Selbst ein S. C. Ehrengericht nicht ... Aber vor
das kommt die Sache ja überhaupt nicht ... Die kommt vor den
Offiziersehrenrat ... Na und der wird eben selbstverständlich die Sache
für erledigt erklären unter diesen Umständen ...«

Ach so ... Also alles in schönster Ordnung ... Die Ehre der
angegriffenen jungen Dame _in integrum_ restituiert durch die
Deprekation ... und nur er selber ... er selber um sein Korpsband
gekommen ... und eigentlich ... der ... Blamierte ...

Hm ... es stimmte ... Da war nichts zu machen ... Aber auch gar nichts
...

Ja ... Wie war denn das aber möglich? Hatte er denn irgend einen ...
Fehler gemacht?

Nein ... Er hatte den Geboten der Ehre, der Ritterlichkeit gefolgt ...
Und was sich da wider ihn aufreckte ... das war etwas, was er bis dahin
noch nicht geahnt hatte -- der Unsinn des Daseins ... die Tragikomödie
des Idealismus ... dieses phantastischen romantischen Idealismus, der
den eigenen Adel, die eigene heroisch-naive Auffassung von Pflicht und
Ehre noch für das Gesetz des Weltganges hält ...

Valentin Pilgram stand auf ... stumm ... stieren, korrekten Antlitzes.

»Ich danke Ihnen verbindlichst für Ihren gütigen Beistand, Herr Borgmann
... Nun, dann wird sich die Sache ja wohl in aller Güte und Freundschaft
erledigen ... zwischen den ... =Nächstbeteiligten= ... Adieu, Herr
Borgmann ...«

Donnerwetter -- dachte Wilhelm Borgmann -- das hat besser gegangen, als
ich mir's träumen ließ ...

Valentin Pilgram irrte durch die Straßen ... Dies Menschengewoge, der
Spätherbstglanz über der Welt, die Wagen, die klingelnde Pferdebahn, das
alles machte ihn rasend. Er floh ins Rosental, strich ziellos durch die
Laubgänge ...

Jucunda! Das war sein einziger Trostgedanke ... Jucunda würde zu ihm
stehen ... ihm danken, ihn belohnen ... irgendwie ... für alles, was er
ihr geopfert ...

Er rannte immer weiter, immer tiefer ins Holz hinein -- über die Elster
hinüber, kreuzte die sumpfigen Wiesen jenseits der Marienbrücke, verlor
sich in den braunen Forsten des Leutzscher Holzes. Es kam die frühe
Dämmerung, es wurde feucht und frostig unter dem Laubdach, von dem
langsam Blatt um Blatt niederrieselte im melancholischen Schweigen des
windstillen Herbstabends -- Valentin Pilgram bemerkte es nicht. Und wie
die Fledermäuse, die lautlos um die schattenhaften Säume der Gebüsche
schwirrten, über den perlmuttfarbenen Spiegeln der Sumpfteiche huschten,
so flatterten durch des wackern Gesellen Hirn die aberwitzigen
Gedanken.

Er hatte doch recht getan -- gehandelt wie ein Mann und Kavalier ... Und
eine lächerliche Blamage war die Folge ... Das Korpsband, das geliebte,
war von seiner Brust hinweggeweht, wie ein klagender Abendhauch die
ziehenden Nebelstreifen dort auf den Wiesen hinwegstreifte ...

Das konnte doch das Ende nicht sein -- so dummejungenmäßig beiseite
geschoben werden, das war doch kein Abschluß für Valentin Pilgrams
stolze, prangende Burschenherrlichkeit ...

Nein ... Es mußte noch irgend etwas kommen -- die Ahnung irgend eines
süßen oder schrecklichen Ereignisses düsterte durch die Seele des
einsamen Wanderers.

Es war schon Nacht, sternüberflimmerte Spätherbstnacht, als er vor sich
die dunklen Umrisse des Leutzscher Bahnhofes auftauchen, die
grellfarbigen Lichter des Bahnkörpers flimmern sah. Eine dumpfe
Sehnsucht nach der Stadt zurück überkam ihn plötzlich, nach wogenden
Menschenmassen, nach Wagenlärm und glitzernden Schaufenstern. Er
erkundigte sich: der nächste Zug fuhr erst in einer halben Stunde. In
dem schmutzigen Bahnhofsrestaurant schüttete er hastig, gedankenlos ein
paar Glas Bier in die brennende Gurgel. Als der Zug herannahte und er
die Börse zog, bemerkte er, daß er an seiner Uhrkette noch den
Bierzipfel trug, ein Stück des grün-gold-roten Korpsbandes mit goldenen
Beschlägen ... Da hakte er mit einem bitteren Zucken der Mundwinkel den
blanken Zierat ab und barg ihn in seiner Brieftasche.

Als er auf dem Thüringer Bahnhof ankam, war es gegen neun Uhr. Er
hastete heimwärts. Jetzt war Jucunda im Theater -- spielte abermals die
Jungfrau ... An allen Anschlagsäulen hing der Theaterzettel, der ihren
Namen trug ... Es trieb ihn nach Hause, dahin, wo sie geboren und groß
geworden war, eine seltene, phantastische Wunderblume, in einem
abgezirkelten, banalen Spießergärtchen erblüht ...

Alles war still und finster in dem engen, muffigen Korridor, als er die
Entreetür öffnete. Natürlich, die Eltern waren ja mit im Theater, ihr
Goldkind zu bewundern ...

Er suchte seine Zündholzschachtel, fand sie, aber sie war leer.
Vergebens tappte er nach Licht. Die Tür zur Wohnstube war angelehnt, ein
matter Lichtreflex von der Straßenbeleuchtung fiel heraus. Valentin
konnte der Versuchung nicht widerstehen und trat ein. Stumm und dunkel
und dumpfig lag das Zimmer. Dort am Fenster hatte er mit ihr gestanden
-- wann doch nur? Vor einer Ewigkeit?! Pah -- es war noch nicht
vierundzwanzig Stunden her ... Und hier auf dem verschlissenen Plüsch
hatte sie gesessen, das weiße Königinnenhaupt zurückgelehnt ... und --
wie hatte sie nur gesagt? 'Vielleicht kann ich doch einmal einen Ritter
gebrauchen -- dann will ich an diese Stunde denken und Sie rufen ...'
Und jetzt? Hatte sie ihn nicht gerufen? -- Nein -- das eigentlich wohl
nicht ... Aber hatte sie nicht geweint?! Sie ... sie ... und hatte
geweint um einer bübischen Kränkung willen ...

Und da hatte er getan, was er genau so rasch, so selbstverständlich und
geradezu getan hätte für seine Schwesterchen daheim in Dresden ... Und
morgen würde ganz Leipzig über ihn lachen ...

Hastig trat er auf den stockfinstern Korridor zurück und tappte nach
seiner Stube hinüber. Zufällig bekam er die Klinke zu Jucundas
Kammertür in die Hand ... Er drückte sie nieder, und ein Duft wehte ihm
entgegen, der ihn mit einem Schwall stummer, wirrer Sehnsuchtswünsche
bedrängte. Das Zimmer lag nach einem Seitengäßchen hinaus und war fast
völlig finster. Nur aus einem gegenüberliegenden Fenster fiel ein ganz
matter Lichtschein hinein. In diesem Schein leuchtete das weiße Bett,
schon aufgeschlagen, für die Nachtruhe der Künstlerin ...

Ein Grausen des Verlangens schnürte dem reckenhaften Burschen die Kehle
zusammen. Er schloß hastig die Tür und stand einen Augenblick lang in
der Dunkelheit. Alle Glieder bebten, seine Kinnbacken schlugen im Frost
zusammen. Dann übergoß ihn glühende Scham. Er war der Mann nicht, sich
an dem Dunste der Geliebten verstohlen schnüffelnd zu erletzen. Er
rannte hinaus, fand endlich die Tür seiner Bude und saß lange mit
fiebernden Gliedern in der Finsternis, auf seinem Sofa. Endlich fuhr er
auf, schwankte zu seinem Nachttischchen hinüber, machte Licht, zündete
die Petroleumlampe an und sah die aufgeschlagenen Repetitorien liegen,
wie er sie morgens verlassen hatte, als die Kanzleirätin in sein Zimmer
gestürzt war ...

Und eine stumpfe Ruhe kam über ihn. Arbeiten! Arbeiten! Er wühlte sich
in die schematisch öde Zusammenstellung der elementaren Grundbegriffe
seiner Wissenschaft hinein. Seiner Wissenschaft -- ah bah! Die Quelle
des Wissens, die hell in seiner Nähe sprudelte, hatte er ängstlich
gemieden sieben Semester lang und nur dem Korps gedient ... Nun galt es
hastig und mechanisch einen Haufen seelenloser Notizen in sich
hineinzustopfen, um den toten Popanz, die pappdeckelne Attrappe einer
fadenscheinigen Examensweisheit aufzurichten ...

Immerhin ... wenigstens Vergessen wirkte dies stumpfsinnige Büffeln ...

Und eine Stunde verrann -- zwei Stunden ... Plötzlich draußen auf dem
Flur die Stimmen der heimkehrenden Familie Buchner. Valentin lauschte
angestrengt ... Ob sie ihn denn nicht noch zu sprechen wünschte? Ihm zu
danken für die ... glückliche Lösung, die sein Eingreifen doch
herbeigeführt?

Und wirklich -- es pochte an seine Tür ...

»Herein!«

Mutter Kanzleirätin stand auf der Schwelle. Ein wenig rot und verlegen
... In der schleifenbesetzten Kapuze, dem altmodischen Abendmantel,
genau wie gestern, als er sie aus dem Wagen gehoben ...

»Sie wär'n entschuld'gen, Herr Pilgram -- hier is Sie nämlich ä
Briefchen von meiner Tochter ...«

Ein -- Brief? Und warum konnte sie denn nicht selber --?!

So deutlich stand diese Frage in des jungen Mannes starr aufgerissenen
Augen, daß Frau Buchner die unausgesprochene beantwortete:

»Nämlich, Se dürfen's ihr nich iebel nähm', selber kann se's Ihn' nich
sagen, sie is Ihn' nämlich gar zu sähre angegriff'n von der Vorstellung
... Gut Nacht, Herr Pilgram, wünsch' gute Ruh ...«

Und hastig war die massive Gestalt aus der Tür ... Nur der Brief blieb
zurück, lag weiß und fremd auf dem fleckigen, grellgemusterten
Tischtuch.

Mit einem bitteren Geschmack auf der Zunge nahm Valentin das Kuvert und
studierte die großen, fahrigen Züge der Aufschrift:

                       »Herrn Stud. Pilgram ...«

Weder Fakultät noch Vorname ...

Was steht darin? Nun, es kann doch nur eins sein: Dank und abermals
Dank, feuriger, inniger Dank ...

Er riß den Umschlag auf und las:

                        »Sehr geehrter Herr ...«

Er las und las ... »erwünschte Erfolg« -- »Herren haben mündlich bei mir
um Entschuldigung gebeten« -- »danke Ihnen innigst« -- »großes Opfer« --
»Zweck erreicht« -- »nehmen Sie Ihre Herausforderung zurück, damit
nicht noch ... weitere ... Unannehmlichkeiten entstehn ...« -- »mit
der nochmaligen Versicherung meines aufrichtigsten Dankes Ihre ganz
ergebene ...«

Na ja ... na also ...

Völlig korrekt das alles ... Nichts fehlte, was man so erwarten und
verlangen konnte ...

Nichts fehlte ... gar nichts ...

Valentin Pilgram sah lange und regungslos in den hellen Lichtkegel der
Petroleumlampe, bis die Augen ihn zu schmerzen anfingen.

Na ja ... na also ...

Und endlich klappte er den Brief zusammen. Wollte ihn in den Umschlag
schieben ... Da auf einmal blieben seine Augen an etwas hängen, das er
nicht begriff. Auf der letzten Seite des Bogens, am unteren Rande und
mit dem Kopfe nach unten, fand sich ein Monogramm aus den Buchstaben T
und H und darüber der Zirkel eines wohllöblichen C. C. der Franconia zu
Leipzig.

Was war das?!

T. H.? Oder ... H. T.? Und darüber der Frankenzirkel?

Kein Name der verflossenen Korpsbrüder fing mit einem H an, aber mit
einem T? Thumser? Hans ... Thumser ... Das ... stimmte ...

Was war das? Wie kam Jucunda Buchner zu einem Briefbogen von Hans
Thumser?! Teufel --

Hatte der am Ende den Makler gespielt? Und geholfen, ihm diese ungeheure
Blamage einzubrocken?!

Valentin Pilgram dachte nach. Nun, der kleine Thumser war ein Faselhans,
hatte den Kopf voll konfuser Ideen, voll unvorschriftsmäßiger,
inkorrekter, umstürzlerischer Gedanken über allerhand heilige,
unantastbare Dinge, Dinge, die immer so gewesen waren und immer so
bleiben sollten ... Sah ein bißchen von oben herab auf alle Menschen und
Zustände -- aber eine Gemeinheit, eine heimtückische Verräterei und
Niedertracht -- die war ihm denn doch nicht zuzutrauen ...

Aber -- wie war dies -- Unfaßbare da -- zu erklären?!

War denn irgendeine Möglichkeit, daß Jucunda und der versedrechselnde,
kunstsimpelnde Korpsbruder in Berührung hätten kommen können?

Gestern abend -- so viel stand fest -- kannte Thumser die Künstlerin
noch nicht persönlich -- hatte zwar die Idee gehabt mit dem
Pferdeausspannen, aber nicht ein Wort mit dem Mädchen gewechselt ...

Aber -- hatte nicht er selber, Valentin, gestern abend im Gespräch mit
der Familie Buchner den Namen Thumsers genannt als desjenigen, der den
glorreichen Einfall mit der Pferdeausspannerei ausgeheckt ...

'Dafür hätten Sie 'nen Kuß gekriegt,' hatte Jucunda gesagt ... Noch ganz
deutlich entsann sich Valentin einer dunklen Regung von Eifersucht ...

Wär's möglich -- sie hätte sich vielleicht an den gewandt um ... um
einen Ausweg aus der Verlegenheit, in die Valentin Pilgrams rasche
Ritterschaft sie hineingestürzt?!

Oder?! Hatte er -- Hans Thumser -- die Bekanntschaft eingeleitet? Er
wußte aus dem C. C., was vorgefallen war ... Er war sehr schweigsam
gewesen im C. C. ... Sollte er diese ... Gelegenheit ... seine
Wissenschaft um die Situation -- sollte er die benutzt haben, um sich
bei Jucunda lieb Kind zu machen?!

Wie es auch sein mochte -- es war etwas geschehen zwischen den beiden
... Hans Thumser hatte seine Hand im Spiel -- in dem falschen,
ränkevollen Spiel, an dessen Ende seine, Valentins, hilflose Blamage
stand ...

Himmel und Hölle! Da stand ja auf einmal ein neuer Feind auf -- ein
Feind, der eine harmlos grinsende Freundesmaske trug ... und einer, der
nicht unangreifbar war, wie die andern -- nicht geschützt wie diese
Jucunda durch ihr Geschlecht -- nicht durch Rang, durch Pflichten der
Rücksichtnahme, durch die Ausnahmegesetze der militärischen
Standesordnung -- wie das fürstliche Käsegesicht mit der Scherbe im Auge
oder sein schnurrbärtiger Begleiter ...

Einer, den man sich langen konnte!

Ein Korpsbruder?! Pah ... er selber war ja nicht mehr Korpsstudent ...
Konnte ramschen, mit wem es ihm beliebte ... Seine Rache kühlen an dem
ersten besten, der seinem Grimm in den Weg lief ...

Ja, seinem Grimm -- der besinnungslosen Wut, die ihm nun auf einmal in
die Augen stieg mit blutrotem Schimmer, ihm Blick und Fassung trübte --
daß er aufsprang, die Halsbinde, den Kragen aufriß, um nicht zu
ersticken ...

Nebenan raschelten Kleider, klapperten die leisen Tritte müder
Mädchenfüße ...

Sie -- und nur eine dünne Wand zwischen ihm und seinem Schicksal ...

Er lauschte ... flüsternde Frauenstimmen klangen: Mutter Kanzleirätin
brachte wohl das Goldkind schlafen ... Nun knarrte die Tür, nun
schlürften die Pantoffeln der Alten über den Korridor, zum ehelichen
Schlafgemach hinüber ... Und ein herzhaftes, langgezogenes Gähnen ...
Und nun krachte das Bett, rauschten die Kissen ...

Valentin Pilgram saß noch immer steif und regungslos an seinem
Schreibtisch und starrte in den Lichtkegel der Petroleumlampe ... Und in
der Faust hielt er den halbzerknüllten Briefbogen, der vorne Jucunda
Buchners Brief und hinten Hans Thumsers Monogramm und den Frankenzirkel
trug ...

Na ja ... Na also -- -- --!!




                                  10.


Die Franken hatten C. C. gehabt und Chargenwahl vollzogen. Ivo Volkner
aus Düsseldorf war Erster geworden an Pilgrams Statt. Hartwig, der
Vertreter des Marburger Kartellkorps, hatte die zweite Charge bekommen,
und der eben erst rezipierte Jungbursch Feldmann die dritte. Volkner
Senior -- das bedeutete einen Wechsel des Regimes. Statt des zähen,
wortkargen, sparsamen und fechtgewaltigen Sachsen der leichtsinnige,
wohlhabende, lebenslustige Rheinländer -- das war ein wahrer Umschwung
für den Geist des Frankenbundes ...

Hans Thumser säumte nicht, von diesem Umschwung zu profitieren. Alle
paar Tage bat er um Dispens zum Besuch der Konzerte, des Theaters,
schwänzte regelmäßig Sonnabends das gemeinsame Mittagessen, um der
Motette des Knabenchors in der Thomaskirche zu lauschen ...

Und eines Morgens erlangte er gar die Erlaubnis, bei den Meiningern zu
statieren ...

Die Meininger ... sie hielten ihn völlig im Bann. Er versäumte keine
Premiere. Drama auf Drama reckten sich die genialen Machtschöpfungen der
erhabensten Meisterwerke des germanischen Theaters vor dem
schönheitshungrigen Auge des jungen Studenten auf ...

Und all die heiße Inbrunst, die solch aufrüttelnde, seelenentzückende
Schau in ihm entflammt hatte, die küßte er der zierlichen Asta Thöny auf
den feuchten, bebenden Mund ... Es war ein toller Märchenrausch von
Begeisterung und Liebe, in dem die Tage, die Nächte dahinrasten. Und so
ganz versunken war alles, was sich nicht der Erinnerung aufdrängte, daß
er nicht ein einziges Mal auf den Einfall gekommen war, sich nach dem
armen Valentin Pilgram umzusehen, mit dem er doch drei Semester lang die
gleichen Farben getragen -- der aus dem Korps geschieden war um eines
Entschlusses willen, den er heiß bewunderte wie alle Korpsbrüder ... Er
wußte, die andern pflegten eifrig den Verkehr mit dem ausgeschiedenen
Freunde -- er nahm sich täglich vor, ihn aufzusuchen, und täglich vergaß
er's in seinem Taumel von Sehnsucht und Erfüllung, Erfüllung und
Sehnsucht ...

Ja, Erfüllung ... und Sehnsucht ... Denn wenn Hans Thumsers flaumige
Jugend in Asta Thönys schimmernden Armen lag, dann am heißesten
verlangte seine Seele nach der andern, die Abend für Abend die ganz
großen, ganz lichten Visionen der Dichter verkörperte, statt jener
kleinen, sündigen, irdischen Geschöpfe, die Asta Thönys Kunst umspannte
...

Aber außerhalb der Bühne hatte er sie niemals wieder zu sehen bekommen
-- Jucunda, die allvergötterte. Es war ein förmliches Jucundafieber
ausgebrochen unter der Leipziger Jugend, der männlichen wie der
weiblichen, der akademischen wie der Philisterwelt ... Allabendlich
schritt die Künstlerin durch ein jubeltrunkenes Spalier ihrer Verehrer
zu ihrem Wagen -- nach jeder Premiere wiederholte sich die gleiche
Komödie. -- Der Kutscher strängte die Gäule schon vorher ab und stellte
sie auf Seite und sich daneben, damit ihm die Tiere nicht ganz verrückt
wurden und er selber ohne blaue Flecke vom Bock herunterkäme ...

Und Liebesbriefe ohne Zahl, voll ungelenker Gedichte, stammelnder
Mädchenverzückung und kecker Jungmännerwerbung flatterten in das
bescheidene Kämmerchen an der Katharinenstraße ...

Selbst die Waffenstudenten, deren Gesichtskreis doch sonst mit ihren
Couleurangelegenheiten völlig ausgefüllt war, wurden in den allgemeinen
Theatertaumel mit hineingezogen. Wenn Jucundas Triumphwagen mit seiner
keuchenden, brüllenden Bespannung durch die Straßen südlich des
Königsplatzes der Altstadt zurollte, dann blinkten in der Schar der
Ziehenden und der Geleitenden die Mützen der Korps neben denen der
Burschenschaften, der Turner neben denen der Landsmannschaften -- Arion
und Paulus wetteiferten mit dem heiligen Wingolf im Dienste der
Jucundabegeisterung ... Es war wie im Paradiese, da das Lämmlein bei dem
Tiger weidete ...

Und der regelmäßigste Besucher war der Gast der fest abonnierten
Proszeniumsloge vorn links vom Schauspieler, neben der Direktionsloge
... war der Erbprinz von Nassau-Dillingen. Zu jeder Premiere schleppten
die herzoglichen Leibdiener ein kostbares Blumenarrangement von
schier unermeßlichen Dimensionen auf die Bühne, daran ein Kuvert mit
geprägtem Wappen hing ... Es enthielt des Erbprinzen Visitenkarte,
darauf immer nur die Worte: »In Verehrung« ... geschrieben in einer
unausgeschriebenen Knabenschrift. Niemals aber hatte sich Jucunda
künftighin über den leisesten Versuch einer Annäherung zu beklagen
gehabt.

Und Jucundas Dank beschränkte sich stets auf den Hofknix vor der ersten
Parkettloge links ...

»So ist's recht, Langbeinchen,« sagte Franz Burg mehr als einmal zu der
jungen Freundin -- »so muß man's machen: hübsch in Distanz halten die
hochgeborenen Verehrer -- aber keinesfalls wegöden ... das hat keinen
Sinn -- immer warm halten -- man kann nie wissen, wozu man so etwas
einmal brauchen kann ...«

Und Jucunda begriff. Es blieb doch nicht nur bei dem Hofknix. Wie jeder
andre Spender einer Blumengabe bekam auch Erbprinz Heribert ein paar
Dankesworte auf goldgerändertem Kärtchen ... Anfangs waren's nur drei
konventionelle, schematische Zeilen ... Bei der dritten Spende aber
stellte sich ein Zusatz ein:

  »Sie beschämen mich, Durchlaucht, -- ich weiß nicht, wodurch ich
  soviel gnädige Anteilnahme verdient habe.«

Das nächste Mal enthielt das wappengeprägte Kuvert an der riesigen
Seidenschleife, die in den Nassau-Dillingenschen Landesfarben von einem
riesigen Lorbeerrade niederrauschte -- enthielt das Kuvert ein Briefchen
von zwanzig Zeilen:

  »... Sie sind mir böse gewesen, und ich muß leider zugeben, nicht ganz
  ohne Grund, obwohl ich für die geschmacklose Form der Huldigung, die
  Ihnen in meinem Namen überreicht wurde, nichts kann. Sind Sie wieder
  gut? Ich bitte Sie um ein Zeichen ...«

In der Premiere des »Wintermärchens«, die kurz auf dies Briefchen
folgte, lockte der tumultuarische Applaus nach der Gerichtsszene die
eben hinter den Kulissen gestorbene Hermione-Jucunda auf die Bühne ...
Und wieder schleppten livrierte Diener eine weißleuchtende Kaskade von
rieselnden Chrysanthemen heran ... Da zog Hermione aus dem Blütenschwall
eine ganze Handvoll der märchenhaften, hundertstrahligen Blumensterne
und steckte sie an ihre Brust, um sich dann erst mit feierlichem Lächeln
im tiefen Hofknix zu neigen gegen die Proszeniumsloge vorn links vom
Schauspieler ...


Also Hans Thumser durfte statieren -- mit hoher Genehmigung des Herrn
Ersten Chargierten. Er ging sonach eines Morgens um zehn nach dem
Fechtboden zum Bureau des Carolatheaters und meldete sich als Statist
für »Wallensteins Tod«. Er wurde sofort und freundlich angenommen. Denn
es war hier wie immer und überall: Nach den ersten Tagen der
Begeisterung waren von den angeworbenen und mühsam eingedrillten
Komparsen viele Dutzende abgefallen, hatten sich schriftlich
entschuldigt oder waren einfach weggeblieben. Er mußte gleich in die
Probe. Es handelte sich nur um zwei Szenen: die große Kürassierszene am
Schluß des dritten Aktes und die Mordszene am Ende des fünften.

Vom Bureau aus schickte man Hans Thumser auf die Bühne. Aber den Weg
mußte er sich selber suchen und erfragen. Er wurde durch sechs bis acht
verschiedene Türen gewiesen, kam sechs- bis achtmal an das weglose Ende
dunkler, verschlossener Korridore, stieß sich die Schienbeine wund an
allerhand unbeschreiblichen, geheimnisvollen Gegenständen, welche in der
Finsternis herumstanden ... Endlich fand er ein eisernes Pförtchen, an
dem in Weiß die Aufschrift stand: Zur Bühne ... und voll Ehrfurcht trat
er in einen hohen, frostigen Raum, in dem im halben Tageslicht ein
Gewirr von hölzernen Lattenrahmen, mit grauer Leinwand überspannt,
erkennbar war. An diesen Wänden war vielfach die aufgepinselte Inschrift
zu erkennen: »W. T. III. Saal.«

Man wies ihn an, eine hohe bretterne Treppe hinanzuklimmen, auf deren
oberem Podest er plötzlich ein seltsames Schauspiel sah: eine Wand wie
ein riesiges, aus zahllosen kleinen Scheiben bestehendes Fenster, hinter
dem der Treppenpodest wie eine lange Galerie sich hinzog. Das
Glasfenster lief jenseits der Treppe in eine eichene Tür aus, von der
aus dann eine andere Treppe zum Bühnenpodium hinunterführte ... Diese
Treppe aber war im Bogen geschweift und aus massivem, dunkelgebeiztem
Eichenholz mit schwerem Renaissancegeländer -- wenigstens sah sie so
aus. Unten ein dunkler, wuchtiger Saal mit Kamin, Gobelins, gepolsterten
Bänken an den Wänden, und da standen an siebenzig jüngere Männer und
lauschten andächtig der Instruktion des Oberregisseurs Burg.

»Aha -- noch 'n Kürassier?« unterbrach dieser seinen Vortrag. »Kennen
Sie 'n Wallenstein?«

»Auswendig ...«

»Um so besser ...

    »Geselle Dich zu uns -- komm hier!
    Es ist ein pudelnärrisch Tier ...«

Also bitte weiter zu hören, meine Herren. Ihr wollt Euren geliebten
Oberst Max -- hier steht er, Barthel ist sein Name, Alexander Barthel,
na, Ihr werdet doch unsern großen, schönen Alexander kennen?«

»Ja! ja!« murmelten die Kürassiere mit Begeisterung.

»Also den wollt Ihr dem Friedländer -- das heißt mir! -- entreißen ...
Ihr bildet Euch nämlich ein, ich hielte ihn in Gefangenschaft. Einzeln,
truppweise strömt Ihr herein, und wie Ihr in den Saal kommt, seht Ihr
etwas ganz Unerwartetes: Euer Kommandeur ist nicht gefesselt, sondern
frei: nicht ich halte ihn, sondern etwas anderes, der stärkste Magnet,
den es gibt, natürlich ein Frauenzimmer: die da, meine Tochter Jucunda,
ich wollte sagen Thekla ...«

Ein weißer Schatten im halbdunklen Raum: sie, die Erträumte, von tausend
Sehnsuchtsgedanken Umschwärmte, die Verkörperung des Mädchenideals
deutscher Jugend im neunten Jahrzehnt des neunzehnten Jahrhunderts ...
da stand sie im fußfreien grauen Rock, eine schlichte graue Bluse um den
festen Oberkörper ...

»Nun stutzt natürlich jede Gruppe,« fuhr der Oberregisseur in seiner
Instruktion fort, »und es verstummen die Rufe, mit denen Ihr einander
angefeuert ... Die erstaunten Blicke gehen von ihm zu mir, von mir zu
ihr -- befangen flüstert einer dem andern zu, was er sich bei der Sache
denken mag ... und so steht Ihr schweigend, mit gesenkten Schwertern ...
nichts ist vernehmbar, als das leise Rascheln der eisernen Rüstungen --
bis Euer Führer sich an Euch wendet und Euch warnt, ihm zu folgen. --
Schlagen Sie an, Barthel!«

Und der schöne Alexander trat einen halben Schritt vor, sprach lächelnd,
mit halber Stimme:

    »Bedenket, was ihr tut! Es ist nicht wohlgetan,
    Zum Führer den Verzweifelten zu wählen --
    Ihr reißt mich weg von meinem Glück -- wohlan,
    Der Rachegöttin weih' ich Eure Seelen ...«

»Bitte halt!« unterbrach Burg. »In diesem Augenblick richtet sich jeder
auf, die Augen blitzen mutig den Führer an: Herr befiehl! Wir sind Dein
-- führ' uns in die Schlacht, führ' uns in den Tod, wir folgen Dir ...
Das geht wie ein Ruck durch die ganze eisenstarrende Gesellschaft durch,
versteht Ihr? Und nun weiter, Barthel!«

    »Ihr habt gewählt zu eigenem Verderben --
    wer mit mir geht, der sei bereit zu sterben!«

so schmetterte der schöne Barthel heraus, berauscht von der klingenden
Herrlichkeit seines erzenen Organs.

»So -- und auf dies Wort wirft er sich herum und stürzt sich in Eure
Mitte -- mit einem einzigen Aufschrei des Jubels, des wilden,
todbereiten Jubels umringt Ihr ihn, so daß die Eisenmasse ihn
gewissermaßen einschluckt, die Schwerter schießen in die Höhe wie eine
schäumende Flut, die über seinem Helmbusch zusammenschlägt ... Noch
einmal taucht er auf, als er in Eurer Schar die Treppe hinaufstürzt, Ihr
hinter ihm drein; der Schwall wälzt sich durch die Galerie, im Gedränge
werden ein paar Glasscheiben eingestoßen und klirren schneidend in das
Getös des Sterbejauchzens, der Hörner hinein, die von drunten zum
letzten Kampfe werben -- und denn Vorhang und aus!«

Mit sprühenden Augen, mit langhin malenden Gesten seiner hageren Arme
hatte der Oberregisseur die ganze ungeheure Szene aufgebaut vor den
Augen der lauschenden Statistenlehrlinge ... die brachen nun in lauten
Beifall aus, als ihr Meister aus der hinreißenden Beredsamkeit in einen
trockenen Ulkton am Schluß fiel ...

»So, Herrschaften, nun zählt mal von vorne nach hinten ab, und jeder
merke sich genau seine Zahl!«

Dann wurden die zweiundsiebenzig in sieben Gruppen eingeteilt nach der
Nummer, und jede bekam ihr Stichwort zugeteilt ... »Scheidet -- Gott!«
hieß dasjenige für die erste Gruppe -- »Dein ewig teures und verehrtes
Antlitz« das für die zweite -- und so fort. Und dann mußten sie alle
über die breite Renaissancetreppe zurück -- »damit Ihr Euch an die
Stufen gewöhnt,« -- und draußen in der Dunkelheit wurden sie vom
Inspizienten zu einzelnen Klumpen zusammengeballt und aufgestellt ...

»Sind Sie fertig, Ruperti?« klang dann Burgs Stimme von drinnen. »Ja? Na
dann bitte -- ich fange an: Dreiundzwanzigster Auftritt, ich komme mit
Illo und Buttler die Treppe hinunter --«

Und nun herrenhaft, mit grollendem Erzklang in der Stimme. »Terzky!«

»Mein Fürst!« antwortete drinnen eine andere Stimme, erregt, geschmeidig
--

                            »Laß unsre Regimenter
    Sich fertig halten, heut noch aufzubrechen,
    Denn wir verlassen Pilsen noch vor Abend ...«

Und auf einmal war alles im Fluß. Der Zauber wirkte, der ungeheure, dem
einst der zitternde Knabe erlegen war, im Barmer Stadttheater, auf dem
Eckplatz des zweiten Ranges ... nur daß der Jüngling nun hineinschaute
in das Innere des komplizierten Mechanismus, der das Wunder wirkte ...
und eine dumpfe Sehnsucht sprang auf -- diesen geheimnisvollen Apparat
einmal aus eigener Machtvollkommenheit heraus zum Funktionieren zu
bringen ...

Gott ... welch ein Gedanke ... selbst einmal etwas zu schaffen aus der
Magie des eigenen Innern heraus ... etwas, das die hundert Geister
dieses dunklen Heerbannes zur Tat, zur Heeresfolge zwingen könnte ...

Scheuer Knabentraum, bist du mehr als nur ein Traum -- bist du die
mystische Vorahnung kommender Kraft, der Vorklang künftigen Schicksals?!

Und Gruppe auf Gruppe der jungen Männer wurde vom Inspizienten
losgelassen, tobte die Treppe hinauf, erstarrte droben in staunender
Verständnislosigkeit, schob sich dann scheu und verhalten drüben die
breite Treppe hinunter in den Saal, wo Max Piccolominis todgeweihte
Liebe ihren letzten Verzweiflungskampf mit dem Dämon der Eidespflicht
ausfocht ...

Freilich, manchesmal empfing sie drunten ein Hohngelächter des
Spielleiters.

»Ne, Kinder, so geht das nicht -- Ihr seid ja keine Verbrecherbande ...
Ihr macht ja auf einmal Gesichter, als hättet Ihr alle einen Sack
silberne Löffel gestohlen! Ihr seid Soldaten, wüste Kerle, schlichte
Burschen, die nicht recht verstehen, weshalb man eines Mädels wegen
soviel Umstände macht ... dazu ein Rest von Scheu vor dem geliebten,
gefürchteten Auge Eures Feldherrn, 'das Eure Sonne war in heißer
Schlacht' -- aber vor allem doch Trotz, Empörertrotz, verhalten,
verbissen, gedämpft, aber Entsetzen einflößend, Schauer aushauchend,
kalt wie das blanke Eisen in Eurer Faust -- so will ich's haben, so hat
der Schiller sich's gedacht!«

Das alles klang nur durch die bemalten Lappen hindurch an Hans Thumsers
Ohr. Denn er gehörte ja zur allerletzten Gruppe ... er würde nicht viel
mehr zu sehen bekommen ... und er ahnte nur die Gegenwart des Mädchens,
um dessen Bild all seine Gedanken kreisten, ihr Bild, das ihm die Seele
dieser wundersamen Kunst erschien, die aus Schein und Flitter das
ungeheure Widerspiel des Lebens webt, wahrer als alle Wirklichkeit,
tiefer als alles reale Erdengeschehen ...

Als er so in stummem Lauschen den Gang der gigantischen Maschine
verfolgte, die das werdende Werk schuf -- da sah er plötzlich aus der
Gruppe sechs ein Augenpaar mit hartem, feindlichem Ausdruck zu sich
herüberblitzen. Es waren Valentin Pilgrams Augen ...

Im Nu war er an der Seite des einstigen Korpsbruders.

»Pilgram, Du? Also endlich ... endlich seh' ich Dich mal wieder ...«

»Hm ... hat Dir wohl wenig dran gelegen -- sonst hättest Du das
Vergnügen früher haben können ...«

»Hast ganz recht, es ist meine Schuld ... es ist ein Skandal, daß ich
mich so gar nicht um Dich gekümmert habe ... Aber wenn Du wüßtest ...
ich will mich auch bessern, sei mir nicht bös ... Und nun sag' nur, wie
kommst Du hierher?«

»Das könnte ich Dich fragen,« sagte Pilgram hart.

»Nu -- ich ... Du weißt doch, daß ich Dich selber seinerzeit schon um
Erlaubnis gebeten hatte -- Du wolltest nicht ... Na, nun haben wir den
Volkner, der ... denkt ein bißchen anders über solche Sachen ...«

»Jawohl ... und seid mich glücklich los ... gratuliere.«

»Aber Pilgram! Du weißt doch, wie furchtbar leid es uns allen getan hat
...«

»Dir auch?!« fragte Pilgram finster.

»Ich versteh Dich nicht, Pilgram ... so wie Du und ich doch immer
miteinander gestanden haben ...«

»Hm ... wenn Deine korpsbrüderlichen Gefühle für mich ... echt gewesen
wären ... dann hätten sie sich wohl ein bißchen besser gehalten ...«

»Aber Pilgram --!«

»Ruhe, meine Herren!« fuhr der Inspizient dazwischen. »Sie da, Sie
gehören doch überhaupt zur Gruppe sieben -- nu bleiben Sie gefälligst
aber auch bei Ihrem Haufen! Ausquatschen können Sie sich ja genügend,
wenn's hier aus geworden ist!«

»Wir sprechen uns noch!« sagte Thumser und trat zu seiner Gruppe zurück.

Himmel -- was hatte der Pilgram nur? Und wie schrecklich er sich
verändert hatte in den wenigen Tagen seit seinem Austritt aus dem
Korps ... Die Augen, tiefumrändert, waren in ihre Höhlen gesunken ...
der sonst so peinlich korrekte Anzug vernachlässigt ... die früher
straffen und sicheren Bewegungen unruhig und zerfahren ...

Und Valentin Pilgram fragte sich: Wie ist es möglich, daß ich es bis
heute ausgehalten habe, diesen falschen Hund nicht zu stellen? -- Es
kann ja nur sein böses Gewissen sein, das ihn von mir ferngehalten
hat ... alle die Tage, die zwei Wochen seit ... damals ...

Ha, warum hatte er's nicht getan? Aus Furcht vor ... einer neuen
Uebereilung ... einer neuen Blamage ...

Daß Thumser seine Hand in dem schändlichen Spiele gehabt haben müsse,
das man ihm gespielt, das war ja klar. Der Briefbogen mit dem
Frankenzirkel und dem H. T. auf der Rückseite und mit Jucundas
Absagebrief auf der Vorderseite -- das war ja doch ein untrüglicher
Beweis. Mit Jucundas Absagebrief! Ja, ein Absagebrief, das war's, und
nichts andres! Die glatten, gleißnerischen Dankesworte, ihn, den
Desillusionierten, blendeten sie nicht mehr. Er verstand, sie hatte ihn
verleugnet, er hatte sie verloren. Aber wie kam der andere dazu? Welche
Rolle hatte er gespielt in dem Gewirr von Ränken und Tücken, von denen
Valentin Pilgram sich umstrickt sah? Das war nicht zu erraten und nicht
zu erfahren ... Und aufs Geratewohl abermals unbedacht zufahren mit
einem züchtigenden Wort, einem rächenden Schlag -- Valentin Pilgram
besaß nicht mehr die frühere Sicherheit des Handelns, seit sein Instinkt
ihn so schmählich in die Irre, in die Wirrnis, in die lächerliche
Don-Quichottiade hineingestoßen hatte. So hatte er von einem zum andern
Tage gewartet und gewartet in der dumpfen Hoffnung, daß irgend etwas
sich ereignen würde, das ihm Klarheit gäbe ... Er hatte auf ein
Wiedersehen mit Jucunda, auf einen Besuch Thumsers gehofft, auf eine
Aussprache mit ihr und mit ihm, in deren Verlauf er brüsk und
kategorisch die Frage hätte stellen können: Wie war das möglich? Wie ist
dieser Brief auf dieses Blatt geraten? Erklärt mir den Zusammenhang,
zerstreut meinen grausamen Verdacht und bekennt, bekennt und empfangt
den Lohn, den Euer Verrat verdient!

Aber nichts von alledem war geschehen. So häufig er den teilnahmsvollen
Besuch seiner ehemaligen Korpsbrüder erhielt, so oft er mit ihnen am
dritten Orte zusammentraf -- der schlanke Fuchsmajor blieb aus. Und
Jucunda? Sie war wie aus der Welt verschwunden. Wohl hörte er abends ihr
Heimkommen aus dem Theater, ihr herzhaftes Gähnen, den energischen
Plumps, mit dem sie sich arbeitsmüde auf ihr krachendes Bettchen warf,
und nachts, wenn er sich schlaflos auf seinem Lager wälzte, ihr
geruhsames, selbstzufriedenes Schnarchen ... denn bei Gott, sie
schnarchte wie ein Mann ... Und morgens vernahm er wohl, wie sie leise
ihre Rollen repetierte. Ach, wie gern hätte er noch einmal den sonoren
Alt in seinem vollen Glanze von da drüben schmettern gehört! Aber sie
hatte einen Flor über ihr Organ gebreitet, und er fühlte, das war die
Scheu vor ihm. Und die gleiche Scheu mußte es sein, unter deren Druck
sie es darauf anlegte, ihm um jeden Preis aus dem Wege zu gehen. Es war,
als überwache sie sein Gehen und Kommen und richte ihre eigenen
Ausgänge, ihre Rückkunft danach ein. Oft legte er es geradezu darauf an,
mit ihr im Korridor, auf der Treppe zusammenzutreffen, aber wie ein
Geist war sie dann von hinnen gehuscht, hinter irgend einer Tür
verschwunden, die Treppe hinuntergeschnurrt ...

Der tolle Wirrwarr von Wut und Sehnsucht, von Ekel und Hingebung, in dem
seine Tage, seine Nächte dahinrannen, trieb ihn immer und immer wieder
ins Theater. Und dann sah und hörte er nichts von dem Stück -- er sah,
er fühlte, er träumte nur Jucunda. In welcher Gestalt, welcher Maske,
welchem Gewande sie auf der Bühne stand, ihm galt es gleich. Er sah
nicht die Künstlerin, er sah nur das Mädchen, dem seine Seele wie sein
Leben verfallen war. Fiebernd, stumpfsinnig harrend ließ er die
Auftritte an sich vorübergehen, bis sie erschien. Von folternden
Schmerzen zermartert und doch an ihr Bild gebannt, weit vorgebeugten
Oberkörpers, verfolgte er jeden Schritt, jede Bewegung, bis sie wieder
die Bühne verließ oder der Vorhang fiel -- er hätte seinen Nachbarn an
die Kehle fahren können, wenn sie fanatisch Beifall trampelten, wenn sie
wie toll ihr »Buchner! Buchner!« riefen ... Und wenn's zu Ende war, dann
stand er draußen unter der harrenden Rotte der Verehrer, den Kragen
seines Paletots hoch aufgeklappt, den Hut tief in die Stirn geschoben,
sah sie vorüberschweben und mit königlicher Gnade ein Lächeln rechts,
ein Lächeln links verteilen, atmete tief und stöhnend auf, wenn der
Wagenschlag klappte, die Pferde anzogen ... Wenn aber nach der Premiere
die schäumende Begeisterung der Jugend abermals den gewohnten Triumphzug
entfesselte, dann stellte sich Valentin Pilgram inmitten derer auf, die
von hinten Jucundas Wagen schoben, und arbeitete im Schweiße seines
Angesichts. Dann war ihm am wohlsten, dann fühlte er sich ihr am
nächsten ...

Und als er eines Tages auf den Anschlagsäulen ersah, daß der
»Wallenstein« in Vorbereitung sei, da fiel ihm Thumsers Bitte ein,
in diesem Stücke mit statieren zu dürfen. Damals hatte er als Senior
diese Bitte abgeschlagen, nun nickte er sich selbst ein bitter
lächelndes Ja, als eine Stimme in ihm befahl, er solle sich in die Schar
der Pappenheimer Kürassiere mischen, um den Geliebten aus Theklas Armen
und in den Schwertertod hineinzureißen ... Und so war er nun hier, in
dieser pappdeckelnen, bretternen Trödelwand. Nie hätte er sich's träumen
lassen ... Nun war er, der weiland Erste Franconias, ein Statist in
Gruppe sechs ...

Die Probe ging ihren Gang.

Wie eines Meisters Hände den bildsamen Ton, so knetete Franz Burgs
zielsichere Regie die Schar der zweiundsiebenzig jungen und älteren
Männer in eine Horde entfesselter Pappenheimscher Soldateska um. Immer
und immer wieder wurde eine Gruppe nach der andern die Treppe hinauf-
und hinuntergejagt, jedes Knurren der Wut, jedes Aufheulen der
Begeisterung wurde einstudiert, jede Bewegung, jeder Blick festgelegt
und in das tausendmaschige Gewebe des farbenleuchtenden Teppichs
eingefügt, den der Szenenmeister vor dem lauschenden Publikum zu
entrollen gedachte. Und immer klarer, immer überzeugender modellierte
sich das Bild des kurzen, erschütternden Vorganges heraus, wie die
todestrunkene Schar der Kürassiere sich ihren Führer aus den
Verstrickungen der Liebespflicht herausholt und ihn auf schäumender Woge
hinwegreißt in Tod und Vernichtung. Keiner spürte Ermüdung, keiner nahm
Anstoß am derbsten Poltern, am spitzigsten Spotte des eisernen Mannes,
der diese Zweiundsiebzig am Drahte seines Willens zappeln ließ wie
ebensoviel Marionetten.

Und endlich schien's getan: tief aufatmend lachte Franz Burg: »So,
Herrschaften, ich denk', nun könnt Ihr's, jetzt kommt der Tragödie
zweiter Teil: Rüstungen verpassen! Also Pause zum Verschnaufen und dann
gefälligst gruppenweise hinauf zur Rüstkammer, dort laßt Ihr Euch die
klapprigen Konservenbüchsen um den Leib hängen, holt Euch Euren
Eisentopf und Eure Bratspieße -- und denn geht's wieder von vorne los!«

Da leuchteten die ermüdeten Augen der abgejagten Schar wieder hell auf.
Das hatte ja nur noch gefehlt, das Kostüm, das vollendete die
Verwandlung, das brachte das Letzte an Stimmung, was noch fehlte ... Und
während die Gruppen zwei bis sieben sich plaudernd und lärmend in dem
dunklen Hintergrunde des schwarzgähnenden Bühnenraumes verloren,
kletterte Gruppe eins unter Führung des Inspizienten lachend und
prustend die hallenden Steintreppen hinauf, um droben das Eisengewand
der Pappenheimer anzulegen.

Hans Thumser hatte sich vergebens den Kopf zerbrochen, weshalb wohl der
Korpsbruder so maßlos gereizt auf ihn sein könne. Himmel ja, er hatte
ihn ja unverantwortlich vernachlässigt in der letzten Zeit -- aber
schließlich war das doch kein Grund, ihn dermaßen hundemiserabel zu
behandeln. Na, man würde nochmals um Entschuldigung bitten, und dann
müßte der arme Kerl doch schließlich Vernunft annehmen. Also, wo steckt
er denn bloß?

Gruppe sechs -- wo ist Gruppe sechs? jawohl -- alles durcheinander
gewürfelt, alles wie verschluckt von der schwarzen Finsternis dahinten
jenseits des Prospekts.

Hans Thumser drängte sich durch die Gruppen der »Kürassiere«, rief hin
und wieder halblaut Pilgrams Namen, aber umsonst, der Freund ließ sich
nicht sehen -- schließlich postierte er sich unten an der Treppe, die
zur Rüstkammer hinaufführte. Aber selbst als Gruppe sechs, der er
angehörte, vom Inspizienten zum Empfang der Rüstungen geführt wurde, war
Valentin Pilgram nicht darunter. Es schien, er wolle sich nicht sehen
lassen ... und schließlich konnte Hans das am Ende begreifen: er war
eben böse, weil Hans ihn so schnöde vernachlässigt hatte. Nun, das ließ
sich am Ende nachholen ...

Und mit ganz wunderlichen Empfindungen ließ sich auch Hans Thumser den
rasselnden Eisenharnisch der Pappenheimer Kürassiere um die
geschmeidigen Glieder schnallen. Es war ja nur Spiel, nur Mummenschanz
-- und doch, welch sonderbare Macht lag in diesem starren Eisengewand,
lag überhaupt im Kostüm! Hans meinte ordentlich zu fühlen, wie er ein
anderer wurde, wie schlichte, rohe und starke Gefühle aus
jahrhundertfernen Tiefen sich an die Oberfläche seiner Seele drängten,
wie er verschmolz mit der gepanzerten Schar seiner Gefährten ...

Und nun hinunter! Die matt erhellten Korridore, der stockfinstere Raum
hinter dem Prospekt war nun von geheimnisvollem Rascheln und Klirren
erfüllt. Es war, als sei der Geist der Wallensteinschen Soldateska über
die ganze junge Schar gekommen: rauher und härter klangen die Stimmen,
derber und knapper die Scherze, das Gelächter.

Und von neuem begann die Probe. Teufel! war das schwer, sich in diesem
niederwuchtenden Gewand, in den kolossal steifen Stulpenstiefeln zu
bewegen, den mächtigen Pallasch mit dem breit ausladenden Stahlkorb
nicht zwischen die Beine zu bekommen! Und nun gar die Treppen hinauf,
hinunter! Da verhedderte sich mancher in den handlangen stählernen
Sporen, stolperte, krachte zu Boden und mußte schwerfällig, wie eine
Schildkröte, von den Kameraden aufgerichtet werden.

Und unten auf dem Podium inmitten des Schloßsaales stand Franz Burg und
hielt sich beide Seiten vor Lachen ... und neben ihm im Halbkreis
gruppiert: Thekla, Terzky, Illo, Buttler, Max Piccolomini -- und alle
lachten sie sich schier zu Tode über die stolpernde, prustende,
schwitzende Kürassiergarde.

Und doch, allmählich klärte sich auch dies neue Chaos. Und endlich sagte
Franz Burg:

»So, meine Herrschaften, nun fangen wir richtig zu probieren an! Also
bitte, Kürassiere von der Bühne, die Soloherrschaften an ihre Plätze!«

Und abermals stand die harrende Schar der Eisenreiter im Hintergrunde zu
Füßen der schmalen Holztreppe versammelt -- und abermals klang's von
drinnen herrenhaft in grollendem Erzklang:

    »Terzky!«
              »Mein Fürst!«
                            »Laß unsre Regimenter
    Sich fertig halten, heut noch aufzubrechen,
    Denn wir verlassen Pilsen noch vor Abend.«

Und Gruppe auf Gruppe erhielt ihr Stichwort, Gruppe auf Gruppe klirrte
die Treppe hinauf, strudelte die Galerie entlang, ergoß sich in den Saal
hinab ...

Als aber Gruppe sechs aus dem Finster der Bühnentiefe die Treppe
hinanstieg, sah Hans Thumser, daß Pilgram doch noch vorhanden war. Seine
riesige Gestalt, sein hartes Herrengesicht standen vortrefflich zu der
blanken Wehr -- aber kein Blick für den einstigen Korpsbruder ...

Was er nur haben mochte? -- Das war doch Kinderei, so offiziell zu tun.

»Also Gruppe sieben!« zischte der Inspizient. »Los! Los!«

Und Hans Thumser keucht die schmalen Stufen empor, stößt wie die
Kameraden rauhe gurgelnde Töne aus, stutzt droben am Treppenrande,
stutzt und verstummt ...

Aber nicht nur, weil es so probiert ist ... Im gelben Lichte
der Proberampe sieht er drunten Jucunda Buchners schmales
Prinzessinnengesicht ... aber jetzt nicht mehr wie vorhin, von Lachen
und Schelmerei gerötet -- nein, nun ist sie plötzlich Thekla,
das verzweifelnde Kind, das Liebe, Glück, Leben versinken sieht in
den eisenschäumenden Wogen des Schicksals. So abgrundtief, so
herzdurchbohrend der Ausdruck des Schmerzes auf ihren tränengefurchten
Wangen -- Hans Thumser kann den Blick nicht lassen von diesem Bild
adligen Grams ...

Aber die Masse der Kameraden schiebt ihn vorwärts -- und plötzlich fühlt
er keinen Boden mehr unter seinen Füßen, er strauchelt, schlägt krachend
nach vorn, alle Glieder knacken -- tausend Feuerräder kreiseln in seinem
Hirn -- ein lauter Aufschrei übertönt das Knacken und Klirren der
hundert Eisenringel, die seine Glieder umschlossen halten und im Sturz
in Schulter und Schienbein sich hineinzwängen -- und dann nichts mehr.

Eine hilflose Masse, so war des Studenten Körper die fünfundzwanzig
Stufen der Freitreppe hinuntergekollert, anfangs noch ein wenig
aufgehalten durch die Schienbeine seiner Vordermänner, dann aber, als
alles instinktiv zur Seite sprang, ganz hemmungslos. Nun lag er bleich,
mit geschlossenen Augen am Fuß der Treppe. Die Sturmhaube war ihm vom
Kopf gefallen und in weiten Sprüngen ihm voran in den Saal
hineingehüpft. Einen Augenblick hatte alles vor Schrecken erstarrt
gestanden, nun sprangen fünf, sechs der nächststehenden Kürassiere zu
und richteten den schwerfälligen Körper auf.

Durch den Wall der Geharnischten aber drängte sich Jucunda Buchner
hindurch. Sie hatte den Jüngling straucheln und vornüber stürzen gesehen
und in dem Augenblick sein Gesicht erkannt, ohne daß sie gleich wußte,
woher. Nun kniete sie neben dem aufgerichteten Oberkörper des Studenten
nieder, umfaßte seine Schultern und legte seinen zerschundenen Kopf
behutsam auf ihr Knie. Und da schlug Hans Thumser die Augen auf -- und
in diesem Augenblick wußte Jucunda, wo sie diesen leuchtenden Blick
schon einmal gesehen hatte -- der junge Poet ... er, neben dessen
»schwindelschmalem Pfade Abgründe klafften rechts und links« -- nun, in
einen dieser Abgründe war er nun glücklich hineingeplumpst ... freilich,
es schien ihm ganz gut bekommen zu sein, denn mit einem zufriedenen
Lächeln schloß er die erstaunten Augen, reckte sich ganz behaglich und
machte sich's ordentlich bequem auf dem weichen Kissen, auf das er sich
gebettet fühlte.

Und nun löste sich der allgemeine Schreck in ein befreites Aufatmen. Da
schlug der Student die Augen abermals auf, und nun schien ihm das
Komische seiner Situation bewußt geworden zu sein: mit einem Ruck
richtete er den Oberkörper auf, sprang auch sofort auf die Beine und
reckte die Knochen.

»Na? Kein edlerer Teil entzwei?« fragte der dröhnende Baß des
Szenenleiters. Hans Thumser versuchte sich diejenige Stelle seines
Körpers zu reiben, welche bei dem Fall am meisten in Mitleidenschaft
gezogen war, aber das gelang ihm nicht -- sie war zu gut gepanzert ...

Nun brach ein endlos dröhnendes Gelächter aus, dazu rasselten die
Rüstungen der Pappenheimer, die sich die eisenbewehrten Bäuche hielten.
Am hellsten aber lachte Jucunda. In einer raschen Wallung trat sie auf
den jungen Burschen zu und klopfte ihm mit beiden Händen die glühenden
Backen.

»Dunnerwetter!« tönte da aus den Reihen der Kürassiere eine neiderfüllte
Stimme. »Ich wär' nächstens ooch mal de Treppe 'nunner purzeln!«

»Na, ich dächte, nach diesem kleinen Zwischenfall probieren wir weiter!«
rief Burg, »also alles zurück, meine Herrschaften, und noch einmal von
vorne!«

Hans Thumser war's nun aber doch zumut, als klapperten alle seine
Knochen einzeln und lose in dem großen Blechtopfe durcheinander, der sie
einschloß -- und er bat um die Erlaubnis, sie wieder zusammenzusuchen.

Als dies gewährt worden war, trat er vorn an die Proberampe und kam
neben Jucunda zu stehen. Die lachte ihn an und flüsterte ihm zu:

»Ich habe ja so lange nichts mehr von Ihnen gehört -- warten Sie nach
der Probe auf mich -- ich möchte wissen, wie es Ihnen inzwischen
ergangen ist!«

Da wurde es Hans Thumser klar, daß er wieder mal mehr Glück als Verstand
gehabt hatte ...

Noch eine weitere halbe Stunde voll schwitzenden Bemühens -- dann war's
geschafft. Und nun harrte der Student am Bühnenpförtchen seiner Göttin.
Er drückte sich in den dunklen Schatten der Donnermaschine und ließ den
Schwall der Geharnischten an sich vorüber strudeln. Und endlich kam sie
-- kam nicht allein, sondern am Arm der majestätischen Kollegin Frau
Anna Cederlund, welche die Gräfin Terzky spielte. Im ersten Augenblick
verließ den Studenten der Mut ... Als aber die beiden ragenden
Frauengestalten an ihm vorüberschritten, ohne ihn zu bemerken, da
sprach's in ihm: Sei kein Narr! Und er schoß aus seiner Finsternis
hervor, daß die Frauen ordentlich zusammenschraken.

»Gnädigste haben mich zu sprechen befohlen!«

»Ah, sieh da, Herr Dummerle! Nun? Was macht die Poesie? Gestatten Sie,
Annerl -- Herr Studiosus Dummerle, dichtet -- hat immer die Nase in der
Luft und purzelt deswegen mit Vorliebe die Treppen hinunter -- meine
Kollegin, Frau Cederlund. Ja, also was fang' ich nun mit Ihnen an?
Wissen Sie was? Sie könnten ja auch mal zu mir zum Tee kommen -- wollen
Sie?«

»Darf es heute sein?« antwortete Hans Thumser.

»Aber warum denn nicht? Also um fünf -- soll's gelten?«

Hans Thumser konnte sich nur stumm verneigen -- tief, tief auf die
schlanke Hand, die sich ihm entgegenstreckte -- und dann war's vorbei
...

Und wie ein Begnadeter stolperte Hans Thumser die hallenden Steintreppen
zur Rüstkammer hinauf, um sich aus einem Pappenheimer wieder in einen
Fuchsmajor zu verwandeln. Zwei Minuten aber, nachdem das Eisenpförtchen,
das vom Bühnenraum zum Garderobenumgang führte, hinter ihm zugeklappt
war, löste sich aus dem Dunkel der Kulissen noch eine zweite
Kürassiergestalt los. Die einsame Glühbirne, die am Inspizientenpulte
brannte, beleuchtete ein finstres, verzerrtes Jungmännergesicht unter
dem tiefschattenden Doppelschirm der Sturmhaube: es war das Gesicht des
weiland Ersten der Franconia.




                                  11.


Asta Thöny war ein wenig eingenickt nach dem bescheidenen Mittagsmahl,
das Frau Wehe ihr aufgetischt. Nun fuhr sie empor, flog ans Fenster,
steckte den glühenden Kopf hinaus und klatschte jubelnd in die Hände,
als sie die ersten Schneeflocken durch das mürrische Grau der
Sophienstraße wirbeln sah ...

Köstlich! köstlich! Würde das ein fröhliches Streifen werden mit dem
geliebten Jungen durch dies wattige Weiß hindurch an der graulich
gurgelnden Pleiße entlang! Sie wußte, wie gut ihr die prachtvolle
Sealskingarnitur stand, das splendide Andenken ihres Rittmeisters in
Gera ... Und nun schmückte sie sich nach Herzenslust für den Leipziger
Freund. Ob er wohl schon daheim war? Sie klopfte an die Wand -- keine
Antwort. Na, er würde schon nicht auf sich warten lassen, um vier Uhr
hatte er ja versprochen sie zum Spaziergang abzuholen. -- Aber es wurde
vier -- und kein Hans Thumser! Na, vielleicht war er schon längst zu
Hause und lag drüben auf seinem Kanapee in den geliebten
Nachmittagsschlaf versunken. Sie hatte eine Tüte Pralinees für ihn
gekauft, sie kannte seine schwache Stelle. Die steckte sie in die
Jackettasche, hüpfte zur Tür hinaus und pochte an die seine; da keine
Antwort kam, klinkte sie auf -- und richtig -- da lag er auf dem Sofa,
lang hingestreckt, in Hemdsärmeln, das blinkende Korpsband über der
Weste. Auf Zehen schlich sie heran und hielt ihm die duftende Tüte unter
die Nase. Da schlug er blinzelnd die Augen auf, lachte sie fröhlich an
und breitete die Arme aus -- mit einem leisen Jauchzen warf sie sich
hinein.

Nachdem sie sich satt geküßt, richtete sie sich stramm auf und befahl:

»So, nun antreten zum Spaziergang!« (Die militärischen Allüren ihrer
jüngsten Vergangenheit saßen ihr noch in den Gliedern.)

Aber statt des erwarteten Entzückens trat in Hans Thumsers Züge
plötzlich eine peinliche Befangenheit, und ein Erröten stieg ihm langsam
in die Augen.

»Nun, was ist Dir?«

»Liebes Kind, ich bin trostlos ... Spaziergang ist nicht.«

»Was ist das? Was fällt Dir ein!«

»Ja ... ich ... ja ... ich ... es tut mir entsetzlich leid ... aber ...
wir haben heute nachmittag C. C. ...«

»Das ist abscheulich, Hans! Wie kommt denn das, was ist denn los?! Und
ich hatte mich doch so gefreut, habe mich so hübsch für Dich gemacht,
das hast Du Ungeheuer überhaupt noch gar nicht bemerkt!«

»Ob ich das bemerkt habe! ... aber -- es tut mir riesig leid, Du weißt,
das Korps spaßt nicht.«

Asta sah, daß er ihren Blick vermied -- lügen hatte er noch nicht
gelernt.

»Du, das mit dem C. C. das ist geschwindelt, da steckt was andres
dahinter! Beichte!«

»Aber nein ... ganz wahrhaftig, Kind, wir haben C. C., Du kannst Dich
drauf verlassen.«

»Sieh mich an, Hans --! Siehst Du, Du kannst es nicht --«

»Aber ja ... ich kann's.«

Nein wahrhaftig, er konnte es nicht.

»Also heraus damit! Was ist los?«

Sie stampfte mit den zierlichen Füßen auf, die in mächtigen
pelzbesetzten Boots steckten.

Hans kämpfte einen Augenblick, dann sah er ihr gerade ins Gesicht mit
dem Ausdruck eines trotzigen Buben, der sich auf einer Schandtat ertappt
sieht:

»Die Buchner hat mich zum Tee geladen.«

»Das ist nicht wahr! Das darf nicht wahr sein!«

»Aber warum soll ich denn nicht auch mal zur Buchner zum Tee gehen?«

»Weil Du mir gehörst. Das gibt's nicht. Da wird nichts draus.«

»Ich hab's versprochen.«

»Dann bleibst Du eben einfach weg. Die Buchner weiß ganz genau, daß Du
mein bist. Es ist eine Niedertracht von ihr -- ich laß mir's nicht von
Dir gefallen!«

»Und ich laß mir's nicht von Dir gefallen, daß Du über mich verfügst,
wie über ein Spielzeug.«

»Hans, so darfst Du nicht zu mir sprechen, das weißt Du auch, daß Du
das nicht darfst! Du hast auch ein böses Gewissen dabei!«

Hans Thumser ging mit drei raschen Schritten ans Fenster und trommelte
an die Scheiben. Wahrhaftig, sie hatte recht -- es war ihm hundeelend
zumute -- nichts als Liebes hatte sie ihm getan, weit über Hoffen und
Träumen hinaus hatte sie ihn glücklich gemacht ... und er -- er hatte
immer über sie hinweg geträumt von der andern.

»Nun, hast Du Dich besonnen -- kommst Du mit mir?«

»Ich kann's nicht ... ich hab's versprochen.«

»Und mir? -- Wem hast Du's zuerst versprochen, mir oder ihr?«

»Aber Kindchen, das mußt Du doch einsehen ... daß das für mich -- wie
soll ich sagen -- daß das für mich eine große Sache ist ... schließlich
ist sie doch ... die Buchner.«

»Ach so -- und ich, ich bin nur die Thöny, die kleine Thöny, und sie die
große Jucunda! Hansel, das wird Dir noch mal leid tun!«

Laut aufweinend stürzte sie hinaus ... die Schleppe ihres Pelzjacketts
fegte die Pralineetüte vom Tisch, und alles kollerte in die Stube. Hans
Thumser mußte aufsammeln. Dabei glühten seine Backen vor Scham. Es war
wirklich hundsgemein von ihm, das herzliebe Mädel so ruppig zu versetzen
-- er fühlte, er hatte sie bis ins Tiefste gekränkt. Mit hundert
Gewalten zog's ihn hinüber, die Tränen von den schönen Augen
wegzuküssen, die ihm so manche Stunde durchsonnt hatten ... und dann
fiel sein Blick auf Jucundas Bild, auf das bronzene Heroinenprofil, das
unterm Helm der Jungfrau so sieghaft leuchtete. -- Und er wußte, daß
zehn Astas diese Stunde nicht aufwiegen würden, die ihm bevorstand.

Er lauschte -- wieder wie in jener ersten Nacht klang da drüben jenseits
der Doppeltür und der beiden Kleiderschränke, die sie verbarrikadierten,
das herzerschütternde Weinen ... aber diesmal nicht verhalten wie damals
-- nein -- in wilder leidenschaftlicher Empörung. -- Und diese, diese
Tränen hatte er auf dem Gewissen ...

Und das war so niederträchtig, so infam: daß man im tiefsten Grunde
seiner Seele sogar noch etwas wie eine Genugtuung empfand über diese
Tränen, die man selbst verschuldet hatte. War es nicht eigentlich ein
verdammt stolzes Gefühl, daß man ein Kerl war, um den so heiße
Mädchentränen fließen konnten?

Hans Thumser warf einen Blick in den Spiegel: also so sieht so ein
verfluchter Gesell aus, um den ein Mädchen wie Asta Thöny -- Tausende
würden ihn beneiden um so einen süßen Kameraden! -- um den so ein
himmelsüßes Geschöpf sich quält?

Und mit einem verwegenen Ruck stülpte er die grüne Franken-Mütze auf den
braunen Schädel und ging zu Jucunda Buchner.


War's nicht eigentlich toll? Hans Thumser war in einer ganz
niederträchtig vergnügten Stimmung, als er durch das wirbelnde
Flockengestiebe den Peterssteinweg, die Petersstraße hinanschlenderte.
Jedem Mädel guckte er verwegen, wie er's nie getan, unters Pelzbarett:
Ja, wenn ihr wüßtet, ihr Leipziger Gänschen --! Eben hab' ich die Asta
Thöny geküßt ... die von den Meiningern, ihr wißt doch! Und nun -- nun
gehe ich zur Buchner ... und wer weiß -- wer weiß! So ein Kerl bin ich,
verflucht nich noch mal!

Als er den schneebepuderten Marktplatz überquerte und in die
Katharinenstraße einbog, fiel ihm plötzlich ein, daß er ja nun endlich
den Weg zu Valentin Pilgrams Wohnung gefunden habe. Der arme Junge! Ob
der wohl auch schon mal von Jucunda Buchner zum Tee geladen worden war?
Wohl schwerlich -- und doch, was alles hatte der an dies Mädchen gesetzt
... und er --? Er hatte nichts getan, und alles fiel ihm in den Schoß.
Teufel auch -- man war eben ein Poet, ein Götterliebling --! nischt wie
verdammte Pflicht und Schuldigkeit vom Schicksal!

Ob er den armen Burschen wohl mal aufsuchte? Eigentlich hätte sich's
gehört ... daß er gekränkt war, lag ja auf der Hand nach seinem Benehmen
von heut morgen ... aber freilich ... erst zu Pilgram gehen und dann
sich von ihm verabschieden mit der Erklärung, man sei zu Jucunda Buchner
zum Tee geladen -- das war doch wahrhaftig mehr eine Kränkung, wie die
Dinge nun einmal lagen, als die Erfüllung der längst geschuldeten
Freundschaftspflicht. Also lassen wir's doch lieber ...

Glücklicherweise, im letzten Augenblick, fiel's ihm ein, daß er ja noch
ohne Blumen war. Er fand eine Gärtnerei, wählte die herrlichsten Rosen,
die es gab, und erschrak nicht im mindesten, als die Verkäuferin ihm
fünf Mark abverlangte. Denn diesmal war's ja in der ersten Hälfte des
Monats und nicht Ultimo, wie damals, als er mit dem gepumpten Markstück
ein Dahliensträußchen für Asta erstand ... Und so bewaffnet bis an die
Zähne kletterte er die wohlbekannten Stufen im dunklen Treppenhause
empor und zog die gellende Klingel an der Korridortür des Kanzleirats
Buchner.

Eine stattliche Frau öffnete ihm. Er erkannte in ihr sofort Jucundas
Begleiterin von jenem ersten Triumphzuge wieder. Alle Wetter ja, seine
Idee von damals hatte Schule gemacht ... das blitzte ihm so durch den
Kopf, als er seiner Führerin durch den dunklen Korridor folgte, bis sie
haltmachte und anklopfte.

»Bist Du es, Mutter?« tönte von drinnen die wohlbekannte Stimme ... die
Stimme, die durch sein Wachen und seine Träume klang. So hatte sein
junges Herz noch niemals an die Rippen gehämmert ... auch nicht bei
Beginn des Abiturienten-Examens ... auch nicht vor der ersten Mensur.

»Hier ist der Herr, wo Du zum Tee hast eingeladen!«

»Herein -- nur herein!«

Die Tür sprang auf, und als dunkle Silhouette gegen die schimmernd
weißen Vorhänge abgehoben, stand Jucunda. Mit ausgestreckten Händen kam
sie ihm entgegen:

»Wie freue ich mich! -- Die Poesie bei mir zu Gast ... das ist das
erstemal. Laß uns allein, Mutter.«

Hans warf einen Blick in der Stube umher. Tausend ja, hier sah's anders
aus als damals bei Asta. Jucunda, das sah er sofort, hatte nicht
vergessen, daß sie sein Kommen gewünscht -- alles war sorgfältig für
seinen Empfang vorbereitet, der Tisch zierlich gedeckt und mit Rosen
bestreut, die Teemaschine dampfte, Zigaretten, Zigarren standen bereit,
eine gehäufte Schüssel Gebäcks. Und ringsum herrschte Ordnung,
Sauberkeit, noch mehr: Schönheit ... oder doch wenigstens die deutliche
Absicht sie hervorzuzaubern ... überall Blumenarrangements und Körbe
lebender Pflanzen, an den Wänden die welkenden Lorbeerkränze mit
riesigen langflutenden goldbedruckten, goldbefransten Atlasschleifen.
Uebers Bett aber war ein hermelinbesetzter Mantel von Purpursamt
königlich hingebreitet, und ein frischer Strauß tiefdunkelroter Rosen
lag oben drauf. Alles war abgetönt mit einem naiven Sinn für Eleganz und
Repräsentation.

Hans Thumser sah nicht, daß die Möbel abgeschabt, die Bezüge
verschlissen waren, fühlte nicht, daß der Stuhl wackelte, auf den
er sich setzte, der Tisch, auf dem das Teegeschirr brannte ... auch
nicht, daß die Tassen gesprungen waren, und hier und da gar ein Henkel
fehlte ... ihm war zumut, als sei er in einem Königsschloß, in einem
Märchenpalast. Und wie eine Königin erschien ihm auch Jucunda. Sie
trug ein lang hinschleppendes Spitzenkleid, das ihm vorkam wie eine
märchenhafte Kostbarkeit -- er konnte ja nicht beurteilen, daß es
maschinengewebte Spitzen waren, nur bestimmt auf die Entfernung zu
wirken -- er war im Bann, im Traum. Und nur die eine Empfindung
durchdrang ihn mit wohligen Schauern: hier war er erwartet, hier hatte
man Staat für ihn gemacht, hier wollte man ihn ehren, ihn entzücken.

Er saß ganz still, als Jucundas große, schlanke Hände den Tee
bereiteten, und sah nichts als das anmutige Spiel der elfenbeinfarbenen
Arme, die aus den Spitzenärmeln hervorlugten:

»Erinnern Sie sich noch, daß wir schon einmal beim Tee zusammengesessen
haben?«

»Wie können Sie fragen, gnädigstes Fräulein! Ich habe seitdem von nichts
geträumt, als daß dies einmal kommen könnte ... dies, was jetzt ist.«

Jucunda stellte den dampfenden Tee vor ihn hin, sah ihn von oben her mit
ironischem Lächeln an und fragte:

»Und Asta?! Haben Sie die Courage gehabt, ihr zu verraten, daß Sie heute
bei mir sind?«

»Warum sollte ich nicht? Das ist doch nicht verboten!«

»Nun, und was sagte sie?«

Hans wurde rot. Ob Asta geschwatzt hatte? Ob Jucunda wußte, wie er mit
ihr stand?

»Sehen Sie wohl,« lachte das Mädchen, »Sie können nicht antworten -- Sie
haben Schelte bekommen --! Dacht' ich mir's doch.«

»Ich wüßte nicht, daß irgend jemand das Recht hätte mich zu schelten,«
sagte der Student etwas kleinlaut und trotzig.

»Sagen Sie das nicht!« sagte Jucunda. »Wohltun verpflichtet -- oder ist
die ... Episode schon zu Ende?«

»Welche Episode?«

»Fragen Sie nicht so dumm!«

Hans Thumser sah sich durchschaut. Aber wenn Jucunda doch wußte, daß
Asta immerhin doch gewisse ... Ansprüche geltend machen konnte ... warum
hatte sie ihn geladen, was wollte sie von ihm? Er richtete sich auf:

»Gnädiges Fräulein, ich glaube nicht, daß Sie mich zu sich gebeten
haben, um mir klar zu machen, daß ich eigentlich wo anders hingehörte.«

»Da haben Sie recht,« lachte die Schauspielerin, »Sie sind nun einmal
hier, nun seien Sie's auch ganz. Asta ist tot, es lebe Jucunda, nicht
wahr?«

Sie streckte ihm die Fingerspitzen hin, er neigte sich darüber.

»Nun, blaue Flecke von heute morgen?«

»An allen Gliedern!« gestand Hans. »Na, irgend etwas muß der Mensch doch
schließlich tun, um eine solche Stunde zu verdienen.«

»O, seien Sie nur ruhig, man wird von Ihnen vielleicht noch mehr
verlangen!«

»Verlangen Sie.«

»Was macht Ihr Korpsbruder Pilgram?«

»Mein ... früherer Korpsbruder, wollten Sie sagen.«

»Hm ... er tut mir so leid, aber ich habe ihm nicht helfen können, er
hatte es gar zu eilig, sich in die Bredouille zu stürzen -- also, was
treibt er? Erzählen Sie!«

»Ja, haben Sie ihn denn heute morgen nicht bemerkt?«

»Wo? doch nicht etwa auch unter den Kürassieren?«

»Gewiß! der Längste und Schönste unter den Pappenheimern.«

»Nein wahrhaftig -- er ist mir nicht aufgefallen! Er hat sich ja auch
nicht so bemerkbar gemacht wie Sie!«

»Ja, es hat eben nicht jeder den Dusel, über fünfundzwanzig
Treppenstufen Ihnen geradewegs vor die Füße zu kollern.«

»Wie denkt er denn über mich und -- über die ganze Affäre?«

»Das weiß ich nicht. Ich schäme mich es zu gestehen, aber ich sah ihn
seitdem nicht mehr -- meine Schuld -- doch was will ich machen? Wenn ich
nicht Franke bin, so bin ich Meininger, in jeder Stunde, Tag und Nacht.
Ach, gnädigstes Fräulein, ich habe nie gedacht, daß es so etwas gäbe,
daß man sich so ganz verlieren, so ganz vergessen kann! Ich lebe wie im
Fieber -- mir ist, als hätte ich Flügel -- ich möchte tausend Augen,
tausendfache Sinne haben, um all das festzuhalten, was in mir strudelt
und braust. Was für Hexenmeister seid Ihr: alles, was ich ahnte, wenn
ich in meinem Knabenstübchen die großen Dichter las, ist Leben geworden,
Wirklichkeit, Erfüllung ... Und damit nicht genug, ich selber, ich
schaue nicht nur, ich selber stehe mitten drin, in all dem Schwall --
ein Strom von Glück und Sehnsucht braust unter mir und wirbelt mich auf
und nieder. Wo soll ich hin mit all dem Drang -- wo soll ich hin?!«

Lächelnd hob Jucunda die Hand und streichelte die glühenden Wangen des
Jünglings, wie sie es heut morgen im Theater getan.

»Sie Dichter!« sagte sie, »Sie Dichter --! Lassen Sie es doch brodeln
und gären, lassen Sie's doch! Machen Sie Gedichte daraus, schön wie das,
welches Sie mir damals sprachen ... so schön und schöner noch!«

»Ja,« sagte er, »das will ich tun ... später einmal, später, wenn alles
das vorüber ist ... denn ich weiß ja, es währt nicht ewig ... acht Tage
noch, dann zieht Ihr fort ... und ich bin wieder, was ich war -- ein
armes Studentlein, Franconiae Fuchsmajor, einer von Tausenden -- und um
mich ist wieder nichts als Bier und klirrende Speere und Drogenwelt und
die Dutzendgesichter meiner Kommilitonen -- o Gott! wie soll ich das
ertragen! Ich weiß, ich werde irgendeine Dummheit machen -- ich laufe
fort, in die weite Welt, dahin, wo Ihr seid -- wo Sie sind, Sie
wunderbarer Mensch -- Sie Zauberin!«

»Das werden Sie nicht tun!« sagte Jucunda. »Ich weiß, daß Sie das nicht
tun werden -- ich weiß, Sie werden dann stille Stunden der Besinnung
haben ... es wird Ihnen werden, wie es denen gewesen ist, deren Verse,
deren Szenen wir abends sagen und gestalten. Sie werden dichten --
glauben Sie's mir.«

»Ach, wenn das wahr wäre -- wenn das möglich sein könnte!«

»Es wird so sein,« sagte Jucunda. Ihre Stimme war weich, ihre blauen
Augen hingen an den braunen des Knaben. Soviel lebendige Dichter
hatte sie nun schon gesehen in ihrem Leben: was waren das alles für
reservierte, verbrauchte, zermürbte, grauköpfige Herren gewesen --
wie hatten sie gezittert hinter den Kulissen, wenn ihre Stücke vom
Stapel gingen, da draußen -- wie hatten sie ängstlich auf den Applaus
gelauert, wenn der Vorhang sank, wie hilflos sich hinausziehen lassen
ins blendende Rampenlicht, um sich linkisch und schweratmend nach dem
schwarz gähnenden Zuschauerraum hin zu verneigen, wo das Publikum über
das Schicksal ihrer Schöpfungen entschied! -- Dieser hier war noch ganz
Poet, er wußte noch nichts von all dem Gräßlichen, das auf ihn wartete
hinter den grauen Schleiern, die seine Zukunft verhüllten, ihn trennten
von diesem schauderhaften Leben des angstvollen Ringens um Erfolg,
um Gold und Lorbeer, in das sie selbst, die Achtzehnjährige, schon so
tiefe Blicke hineingetan. In ihm sprudelten noch ganz ungetrübt die
heiligen Quellen der Phantasie, darinnen Sonn' und alle Sterne sich
spiegelten ...

Einen Augenblick war's ganz still im Zimmer -- der Tee wurde kalt in den
Tassen, und sein Duft mengte sich mit dem Rosenhauch, mit den blauen
Wölkchen der Zigaretten, die durch die Stube kräuselten. Von der Straße
her fiel der erste Laternenschein in die umdunkelte Stube und ließ die
goldigen Schriften der Kranzschleifen matt aufglimmern. -- Mit langsamen
Bewegungen stand Jucunda auf, um Licht zu machen.

»Nicht doch,« wehrte Hans -- »nicht Licht machen ... es ist so schön
so.«

»Aber anders ist es besser!« sagte Jucunda mit leisem Lächeln und
entzündete die Lampe. Und wieder ließ sie sich in das Sofa fallen und
neigte den flechtenbeschwerten Kopf auf die Lehne zurück.

Wie seltsam das doch war --! Sie kannte so viel Männer von Geist und
Rang ... wie kam's, daß ihr heut zumut war wie nie zuvor --? War's die
Kraft, die ungebrochene, die ihrer selbst noch unbewußte, die sie ahnte
in den Tiefen dieser empor sich ringenden Seele? War's die edlere Rasse,
die sie witterte, sie, das Kind einer enggebundenen Welt, einer Welt
ohne Schwung und Größe? Sie war Künstlerin genug, dies alles zu ahnen,
was in dem jungen Menschen da vor ihr wirkte und wallte ...

Und Hans fragte sich immer wieder im stillen, ob das denn wahr, ob das
denn möglich sei ... ob das Leben wirklich so schön sein könne, so
maßlos reiche Gaben spende ...

Still war's. Von der Katharinenstraße heraus klapperten behäbig
trottende Pferdehufe, der Schritt der Fußgänger, die von ihrer Arbeit
heimwärts steuerten.

»Wie gut,« sagte Jucunda, »daß ich heut abend mal ausnahmsweise nicht
spiele, so gehört uns diese Stunde wenigstens ganz!«

»Und wehe dem, der kommen wollte sie uns zu stören -- Sie wissen das
alles ja gar nicht -- Sie wissen nicht, was das alles mir bedeutet, was
Sie mir bedeuten -- ich weiß es selber erst seit wenig Augenblicken. Ich
denke zurück an zwei Abende meiner Jugend, die der Wendepunkt waren, ich
fühle es nun. Ihr spieltet daheim, in dem alten engen Stadttheater an
der Rathausbrücke -- Sie waren eben entdeckt worden, ein märchenhaft
aufleuchtender Stern -- und ich, ein sehnsüchtiger Primaner droben auf
dem zweiten Rang im »Wallenstein« -- Sie drunten als Thekla mit der
Laute in den rotsamtnen Vorhang geschmiegt, weißleuchtend abgehoben von
dem riesigen Glasfenster, durch das die sternlose Nacht hineingähnte.
Sie sangen Ihr Lied, Sie wissen's ja -- Sie singen's übermorgen wieder
-- Und wissen Sie, wie ich Sie empfand? Sie waren die leuchtende Seele
des gigantischen Gedichts, Sie waren die Schönheit, die versinken muß
unterm erbarmungslosen Schritte des Schicksals -- Sie waren die Tugend,
die zermalmt wird von den geifernden Kinnbacken des Verbrechens, Sie
waren ... das Ideal, das waren Sie ... ach! und Sie sind's mir
geblieben. Jetzt fühl' ich's, daß Sie immer mit mir gegangen sind in den
zwei Jahren -- und nun, ist's möglich! Nun sitze ich Ihnen gegenüber,
könnte Ihre Hand erreichen, wenn ich's wagte, darf in Ihre Augen sehen
und fühlen: das Geschick meines Lebens ist über meinem Haupt.«

Seine Stimme zitterte -- die braunen Augen leuchteten, der Atem flog.

»Und dennoch --« sagte Jucunda langsam, großäugig -- »und dennoch haben
Sie Asta Thöny geküßt.«

»Ja, Jucunda, ich habe Asta Thöny geküßt. -- -- Wie soll ich Ihnen das
erklären -- sie war die erste, die kam, damit ist alles gesagt. Sie hat
mich genommen, weil alles in mir nach der Erfüllung lechzte, die nur
Jucunda heißen durfte. Ach! so ist's wohl stets im Leben, daß man sich
bescheiden muß und dankbar sein, wenn man Kupfer bekommt für Gold. Das
andere, das ganz große Glück, das gibt's ja nicht, das darf's ja gar
nicht geben -- denn gäb' es das, wir wären Götter und nicht Menschen ...
und Götterschicksal erträgt sie ja wohl nicht, diese arme, irdische
Seele, dieser schwache, tönerne Leib. -- Und doch, ich fühl's: daß ich
das habe tun können, daß ich, Ihr Bild im Herzen, die andere umarmt
habe, das hat mich Ihrer unwert gemacht und unwert auch all dessen, was
ich mir an eigenem Wert und Werden erträumt habe. Ja, Jucunda, ich habe
Asta Thöny geküßt -- und nun muß ich ja wohl auch gehen, nicht wahr?«

Er war aufgestanden, gesenkten Auges stand er neben ihr. Da griff sie
nach seiner Hand:

»Du lieber, süßer, dummer Junge, Du ... Hans Thumser, kleiner dummer
Bub, komm, sei vernünftig, setz' Dich mal her zu mir aufs Sofa. Ja, es
ist schade, lieber Freund, daß Sie so zu mir kommen -- aus den Armen der
andern. Aber vielleicht bin ich selber dran schuld ... warum habe ich
Sie nicht erkannt beim erstenmal, da wir uns sahen? Ich, ich bin in
Ihrer Schuld, ich war in Wirklichkeit die Dumme ... die Blinde ... Doch
was tut's, das alles? Ich will, daß es nicht gewesen sein soll -- und es
ist fort -- ich wisch' es aus, ich streiche den Namen Asta Thöny von der
Tafel Deines Lebens ... Und nun ist nichts mehr da als ich, nicht, mein
Hans?!«

»O nichts, nichts als Du --!« stammelte er und sank neben dem Sofa in
die Knie. Seine glühende Stirn sank in ihren Schoß, ihre weißen Hände
glitten über seine braunen Locken. -- Da richtete er sich auf, irren
Auges, die Wangen feucht, und sah sie an, so ganz Inbrunst, Ergebung und
Verlangen, daß es sie niederzog zu ihm. Sie umschlang seinen Nacken,
ihre Lippen hingen über den seinen.

In diesem Augenblick wurde heftig an die Tür geklopft. Die beiden jungen
Menschen fuhren empor -- das war nicht wahr, das durfte nicht sein ...
aus solchem Traume gibt's kein Erwachen, eh er zu Ende geträumt ist. Und
doch -- es klopfte abermals.

»Jucunda, darf' ich 'rein kommen?« klang Frau Buchners fette Stimme.

Die beiden Kinder richteten sich auf. Die mühevoll eindressierte
Haltung, sie versagte nicht in diesem trauervollsten Augenblick. Im Nu
saß Hans Thumser auf seinem Stuhl, ganz Korpsstudent, ganz korrekter
junger Gentleman -- und sie, ihm gegenüber, auf dem Sofa, ganz Dame,
ganz Komödiantin:

»Bitte, Mama ...«

Frau Buchner trat ein, mit einem Lächeln des Triumphs auf den Lippen.
Ein wenig stutzig sah sie von einem zum andern, doch ihr prüfender
Mutterblick fand keine Spur, die Besorgnis erregt hätte.

»Nu, Jucunda, was sagste nu?« Mit spitzen Fingern hielt sie eine
Visitenkarte in den Bereich der Lampe, eine vielzackige Krone darauf und
darunter die Worte:

Heribert Hans Herwig, Erbprinz von Nassau-Dillingen

»Was?« rief Jucunda, »er ist draußen?«

»Ei, herrjemerschnee! Ne so was -- ne so was ... Natierlich ist er
draußen -- in höchsteigener Person! Soll ich 'n 'rinlassen?«

Mit einem Blick hatte auch Hans Thumser die Schrift auf der Karte
entziffert, der zweite flog mit schreckhafter Spannung zu Jucunda
hinüber.

Und -- sie? Das Gesicht, das ihm eben geleuchtet hatte wie der Genius
seines Lebens selbst, es hatte den Ausdruck völlig gewandelt: ein dünnes
Lächeln befriedigter Eitelkeit spielte um die schmalen, herrischen
Lippen, die Augen flackerten einen Augenblick in unstetem Sinnen, die
Stirn hatte sich gekraust. Aber schon war der kurze Kampf zu Ende:

»Selbstverständlich, Mama. Sie haben ja wohl nichts dagegen, Herr
Thumser, wie? Der Herr ist ja doch ein Korpsbruder von Ihnen.«

Mit einem Ruck war Hans Thumser emporgeschnellt:

»Dann verzeihen Sie wohl, wenn ich mich empfehle, mein gnädigstes
Fräulein -- ich wünsche nicht zu stören.«

»Aber ich bitte Sie, was heißt stören? Wir könnten ja so nett zu dreien
...«

Starr und förmlich verneigte sich der Student:

»Adieu, meine Damen.«

Er griff nach seiner grünen Mütze, die auf einem Stuhl an der Tür lag,
dem spanischen Rohr mit Silberbeschlag, das daneben lehnte, und schritt
hinaus.

Im engen Korridor stand der Erbprinz, in Ueberrock und spiegelnden
Lackschuhen, den Zylinder in der Hand, die Scherbe im Auge. Sein Gesicht
wies den Ausdruck blöder Verblüffung. Mit einer kurzen Verneigung
stürmte Hans Thumser an ihm vorüber und ließ die Korridortür ins Schloß
fallen.




                                  12.


Vor ihrem Bett war Asta Thöny in die Knie gesunken und hatte geweint,
wie nie zuvor in ihrem Leben -- und doch, wieviel Tränen waren schon
über ihre vergangenen Tage geflossen ... Wie teuer hatte sie die
flüchtigen Augenblicke des Glücks erkaufen müssen, zwischen denen nichts
gewesen war als Kampf -- Kampf mit zusammengebissenen Zähnen -- Hunger
und Verzicht -- Abschied und Sehnsucht ... Und nun war's wieder einmal
tief, tief dunkel geworden um sie her ...

Sie sprang in die Höhe. Die eingeschlossene Luft in dem engen Stübchen
preßte ihr die Brust zusammen -- sie riß das Fenster auf: da draußen auf
der Sophienstraße noch immer das Flockentreiben und all die Fenstersimse
der schwarzen Häuserzeilen schon weiß überlagert, die Straßen drunten
wie versunken unter der weißen Last -- die aufgespannten Regenschirme
bestäubt, die Hutkrempen, die Mäntel schneebepudert. Da hinein, in dies
wehmütig tolle Treiben hatte sie mit dem Liebsten schwärmen wollen -- da
hinein zog's sie nun, die glühenden Augen zu kühlen, die schneidende
Luft in tiefen Atemzügen in die schmerzende Brust zu saugen.

Einen kurzen Blick warf sie in den Spiegel und sah ihre Lider, ihr
ganzes Gesicht fieberisch gerötet. Sie suchte den dichtesten Schleier,
den sie hatte, und knüpfte ihn fest ums Gesicht. Dabei fiel ihr Auge auf
die schönen neuen pelzgefütterten Glacéhandschuhe. Sie waren ganz
verdorben vom Strom ihrer Tränen ... ach, wie gleichgültig das war.

Nun war sie drunten auf der Straße -- wie dunkel es schon war um diese
frühe Nachmittagsstunde -- wie sie emporblickte, lag's über den Dächern
wie eine graue Decke, aus der es unablässig niederrieselte. Im Nu trug
auch sie die Livree des Winters.

Den wirbelnden Flockenschauern entgegen stapfte sie gen Westen, kreuzte
die Zeitzer Straße und überschritt auf schmalem Brückchen den Mühlgraben
... In den Wald hinaus, nur fort von den Menschen, fort aus der Stadt --
in die Einsamkeit, dahin, wo sie hatte einsam sein wollen mit ihm.
Nun dehnte sich zur Rechten die endlose Schneefläche der Rennbahn, und
vor ihr stand der Wald, ein schwarzer Saum, weiß überzackt. Unter
der Schleußiger Brücke gurgelten gelb und angeschwollen die trägen
Pleißefluten -- ohn' Unterlaß sanken die leuchtenden Flocken in die
schmutzigen Gewässer und wurden eingeschluckt -- wie der Schwall des
Lebens Wesen um Wesen verschluckt. Den schmalen Pfad schlug sie ein, der
hart am Ufer drüben aufwärts führte zu den graulich aufragenden
Eichenschäften, dem Gewirr des Ufergestrüpps, dran jedes Zweiglein
schon seine feuchte weiße Last trug ... Und wirr durcheinander, wie
die stäubenden Flocken, jagten ihre Gedanken. Gott, wie grenzenlos
allein sie doch war auf der Welt: Tochter eines kleinen Gerichtsbeamten
in München, war sie von der strengen katholischen Rechtgläubigkeit und
engen Spießbürgersittsamkeit ihrer Eltern um jener ersten Liebschaft
willen, die sie einem schmucken Leutnant von den Chevauxlegers in
die Arme geweht hatte, aus Haus und Heimat verstoßen worden. Das
Gräflein hatte brav an ihr gehandelt. Ihre berufliche Ausbildung, ihren
ersten Schatz an Kostümen verdankte sie seiner Freigebigkeit. Und
dennoch hatten am Ende der Abschied, die Tränen, die Verlassenheit
gestanden ...

Und nun: die kleinen Engagements in Nürnberg, in Regensburg, in
Augsburg. Immer umringt von einer Verehrerrotte, die nichts von ihr
wollte als immer das gleiche -- das eine -- für die sie niemals eine
Seele, ein Mensch, eine Künstlerin gewesen war, sondern immer nur eine
hübsche Schale, ein Spielzeug, ein Zeitvertreib, eine Sklavin ... Und
endlich das große Glück: ein einziges Mal ein Mensch, der sie ernsthaft
nahm, Franz Burg, der Meininger Oberregisseur, der sie entdeckte ganz
hinten im Ensemble eines Mittelstadtbühnchens. Und nun: Engagement,
kleine Rollen, mittlere Rollen, Erfolg -- Karriere. Karriere? Ach, du
lieber Gott! Bis zu den Sternen war man nicht gekommen -- immerhin, man
war geborgen, man konnte sich ausruhen, konnte arbeiten -- stand
inmitten eines großen, künstlerischen Treibens, brauchte sich nicht mehr
wegzuwerfen, zu verkaufen.

Aber ach, verdorben war man nun doch einmal, konnte nicht mehr leben
ohne Küsse, ohne Rosen, ohne Liebesbriefe, ohne Zärtlichkeiten ... Und
so flog man doch auch jetzt immer noch aus einem Arm in den andern,
blieb ein Spielzeug -- blieb der rasch vergessene Kamerad flüchtiger
Taumelstunden ...

Da war der eine gekommen, dies grasgrüne Studentlein, das so ganz, ganz
anders war als alle die frühern ... Was war's eigentlich gewesen, was
ihn von ihnen unterschied? Er hatte sie genommen, sie hatte sich ihm
gegeben, genau wie's immer gewesen war -- nur eines war anders gewesen
-- ach, sie wußte es wohl, der Klang seiner Rede war's, die schäumende
Flut von klingenden, schwingenden Worten, in denen seine Zärtlichkeit,
sein Rausch sich ausströmte über sie hin -- ach nein -- auch noch ein
andres. All die andern, die sie gekannt hatte, waren erfahrene,
abgebrühte, blasierte Burschen gewesen -- diesem einen, sie wußte es,
hatte sie das erste Glück des Lebens gebracht. Sie hatte träumen dürfen,
ihm etwas zu sein, etwas, das nicht verfliegen könnte mit dem Rausch der
flüchtigen Erfüllungsstunden ... Und nun, nun war auch das ein Trug, ein
Wahn gewesen ...

Tief gesenkten Hauptes schritt das einsame Mädchen fürbaß. Und wie ein
fernes Brausen klang weit, weit hinten das Treiben der großen Stadt,
gedämpft durch die rastlos niedersinkenden Flockenmassen. Und in der
Nähe schien jeder Schall des Lebens erstorben -- nur der eigne Schritt
knirschte leise im lockren Teppich, der die Welt überzog. Und zur Linken
glucksten die gelben Wasser. Unter der nassen Last lösten sich die
letzten gelben Blätter von den Wipfeln und sanken schwer und matt wie
dunkle Schattengebilde inmitten des weißen Geriesels nieder, lagen ein
paar Sekunden als schwarze Flecken auf dem leuchtenden Grund und wurden
dann schnell verschüttet und begraben ... Und Asta sann in die Zukunft
-- was hatte sie noch zu hoffen? Zu den höchsten Höhen der Kunst,
dorthin, wo die strahlende Rivalin stand, ach, dorthin würde sie sich
niemals emporschwingen. Nur die Niederungen waren ihr bestimmt, die
wenigen Jahre, bis Jugend und Anmut verweht sein würden -- und was dann?
-- Und was inzwischen? -- Immer nur Neid und Enttäuschungen ... Ab und
an, wenn einmal eine neue Rolle neue Hoffnung brachte, ein verzweifeltes
Emporraffen, ein neues zähneknirschendes Einsetzen der ganzen Kraft --
dem, ach, doch immer wieder das Versagen, das Ermatten, die Erkenntnis
der Begrenztheit des eigenen Wesens und Könnens folgen müßten, wie noch
stets bisher.

Und wo war dann Trost als in neuen Umarmungen, in neuen Tändeleien, ohne
Glauben, ohne Hoffnung, ohne Sinn?

Nein, wenn sie nicht einmal diesen einen dauernd hatte fesseln können,
wenn selbst dieser eine, in dessen Leben sie am Anfang der Liebe
gestanden, wenn sie nicht einmal ihn länger hatte binden können denn auf
ein paar Wochen, dann war sie doch wohl gar nichts wert. Nicht einmal
als Liebchen, nicht einmal als Weibchen! Und das nun immer und immer
wieder erleben müssen, hatte das einen Zweck? -- Ließ sich das ertragen?

Und doch, etwas in ihr bäumte sich auf gegen diese Verneinung ihres
ganzen Daseins. War sie denn wirklich so ein Nichts, so ein Püppchen
ohne Existenzberechtigung, ohne Lebenswert? Ach nein ... nur den
falschen Weg war sie gegangen -- nein -- nicht gegangen: gestoßen war
sie worden von dem aberwitzigen Schicksal. Damals, als sie sich von dem
blinkenden Rock, der gleißenden Grafenkrone ihres ersten Galans hatte
blenden lassen, als sie ihren einzigen Besitz, ihr Mädchentum, einem
eitlen, egoistischen Jungen hingeworfen hatte, ohne zu denken, ohne zu
fragen wohin, wozu -- damals war sie aus dem Gleise geworfen worden ...
Irgendwo in der Welt lebte doch gewiß ein braver, schlichter Mensch
ihres eigenen Standes, des Standes, in dem alle ihre Instinkte
wurzelten, dem hätte sie in Bescheidenheit und Treue Gesellin und
Helferin werden müssen. Das wäre dann ein Leben gewesen, für das ihre
Kräfte gereicht hätten, in das sie Sonne, Glücksgenügen hätte zaubern
können für ein ganzes Erdendasein. -- Nun hieß sie eine Künstlerin, ohne
ein Künstlermensch zu sein ... Nun sollte sie gestalten, ohne in sich
die Fülle der Gesichte zu tragen ... Sollte die Schöpfungen von
Dichtern verkörpern, ohne selbst ein Stück Dichterin zu sein ...

Die Dämmerung kam. Immer schauriger ängstete die Stille um sie her, und
lichtlos wie die nebelverhangene Waldeinsamkeit ringsum lagen Zukunft
und Leben. Eine grenzenlose Müdigkeit kam über das verlassene Kind --
eine Sehnsucht nach Schlaf ohn' Erwachen. Und in der lastenden Stille,
in die sie sich hineingesogen fühlte, war nun ein Laut nur noch: das
einlullende Rieseln und Rauschen der gelben Gewässer neben ihrem Pfad,
die so erbarmungslos die weißen Flocken einschluckten in ihren
gurgelnden Schwall. Ach! wer auch so eine weiße Flocke wäre, so rasch
und völlig versinken, zergehen könnte ...

Aber schreckhafte Gesichte drängen sich vor -- wie schauervoll müßte das
Ende sein, wären diese Flocken nicht fühllos, wären sie nicht der Flut
wesensgleich, die sie verschlang? Du aber, Asta, du bist ein junges,
heißes Menschenkind, du wirst nicht leicht und sanft dich auflösen und
verschmelzen mit den Gewässern, die meerwärts rollen da unten. Du wirst
dich quälen müssen, alles in dir wird im letzten verzweifelten Ansturm
noch einmal nach dem Leben in Glanz und Licht verlangen, dem du verwandt
bist, in dem du dich umgetrieben, zwar oft in Tränen und Verzweiflung,
doch bisweilen auch in Schauern von Seligkeit ...

Und dennoch, eine Stille wird kommen nach der kurzen Qual -- eine lange,
tiefe, wunschlose Stille.

Und noch ein Gedanke kam, der Furcht und Grauen schuf: Asta war in
römischer Frömmigkeit erzogen, der Kinderglaube war nie ganz versiegt in
ihrer unbewehrten Seele. Wenn's nun wahr wäre, was man sie gelehrt
hatte von ewiger Verdammnis, von einem Wiedererwachen zu unnennbarer,
unendlicher Qual? Ach nein, das war doch wohl nur Märchen und
Kinderschreck -- ach nein -- wenn erst die Glut hier drinnen verloschen
war, wenn die Glieder, die so heiß gefiebert hatten im Ueberschwang der
Daseinswonne -- wenn sie erst so kalt und leblos geworden waren wie
drunten die strömende Flut, dann war's aus und vorbei, dann kam nichts
mehr -- kein Glück mehr und kein Schrecknis.

Da stieg aus den falben Nebeln, die mählich den Fluß überlagerten, ein
niedres Gebäude empor, eine hölzerne Wirtschaftsbaracke, grau
gestrichen, hart bis an die Strömung des Flüßchens herangeschoben, mit
einer Galerie, die über das Ufer vorsprang. »Zum Wassergott« lautete die
Inschrift auf dem getünchten Wirtshausschild. Im Sommer mochte hier zur
Abendstunde muntres Treiben herrschen, friedliche Philisterbehaglichkeit
-- nun lag das kleine Anwesen kläglich verödet, ganz versunken in
trostloses Schweigen.

Asta trat ans Geländer und sah, wie die gelbe Flut in quirlenden
Strudeln um die schneeverwehte Treppe rauschte, an der sonst das
Fährboot anlegen mochte. Und nun zu denken, daß man morgen so gefunden
würde, weit, weit unten irgendwo, entstellt, zerzaust, aufgedunsen -- --
Aber ... das ging einen ja dann nichts mehr an, das fühlte man ja doch
nimmer. Dann mochte die Welt laufen, wie sie wollte. Dann mochte der
kleine Hans Thumser vor Jucunda Buchner auf den Knien rutschen und um
die Gunst betteln, die Asta ihm, ach, allzu wohlfeil, allzu willfährig
gewährt. Dann mochten sie Komödie spielen, solange es ihnen noch Spaß
machte, sich abzuquälen für die undankbare Bande im dunkeln Parkett --
ach! und wie dankbar war man doch gewesen, wenn die mal ein bißchen
mitgegangen waren, wenn man ab und an sich hatte vorlügen dürfen, man
sei auch wer, man habe auch die Kraft in sich, die da hinten zu packen
und durch und durch zu rütteln, wie die paar es konnten, die paar
Echten, die paar Großen ... Ja, spielt nur, spielt nur Komödie -- auf
den Brettern und im Leben. Lügt Euch Gefühle vor und laßt Euch welche
vorlügen, glaubt daran oder tut doch wenigstens so, als glaubtet Ihr.
Denn auch Du hast ja gelogen, kleiner Hans Thumser, als Du unter Küssen
und Tränen mir schwurst, ich habe Dir das Glück geschenkt. Ich weiß es
ja nun, Du hast in meinen Armen immer nur an die andre gedacht. Ob Du's
bei ihr finden wirst, das Glück, das sogenannte Glück? Ob Du es
überhaupt jemals finden wirst im Leben? Ich will Dir's gönnen, kleiner
Hans, denn ich habe Dich sehr lieb gehabt -- ich will Dir's gönnen,
kleiner Hans -- ich aber -- ich tu nicht mehr mit, ich habe genug ...

Einen spähenden Blick noch warf Asta in die Runde. Es war nun fast ganz
dunkel geworden und nichts ringsum, als das sachte Sinken der weißen
Kristalle, hinter denen die schwarzen Stämme ragten, finster und stumm.
-- Ob es wohl lange dauern würde? Ob es sie noch einmal emportragen
würde an die Oberfläche? Hoffentlich würden die nassen Kleider sie rasch
in die Tiefe ziehen. Es war nicht schade drum, sie hatte sich für einen
Fußmarsch im Schnee zurecht gemacht. Das bissel Flitter, was daheim
herumlag, dafür würde sich schon irgendeine Verwendung finden: nur das
schöne Sealskinjackett und das Barett und der Muff dazu, das war doch zu
schade für die Pleiße! Irgendein Armes mochte das hier finden und es
verkaufen und sich einen guten Tag dafür machen ... Sie zog die
kostbaren Hüllen ab und legte sie sorgfältig zusammengefaltet unter das
weitvorspringende Holzdach der Wirtschaftsveranda, wo sie einigermaßen
vor dem Schnee geschützt waren. Nun schauerte sie fröstelnd zusammen im
Nebelhauch der Waldtiefe. Gott -- und daß nun niemand, niemand morgen
weinen wird, wenn sie's hören, wenn's in der Zeitung steht, wenn zum
letzten Mal von Asta Thöny was in der Zeitung steht -- ach, allzu viel
Schönes hat nie dringestanden über Asta Thöny -- und keiner wird weinen,
nicht ein einziger von all den vielen, vielen, die mich geküßt und mir
von Liebe geschwatzt haben, nicht einer. Auch Du nicht, Hans Thumser,
ach, auch Du nicht ...

Und sachte wie die weißen Flocken in die träge ziehenden Fluten
niederglitten, so sachte ließ Asta Thöny sich niedergleiten von der
schneeverwehten Treppe an der Holzveranda des Restaurants »Zum
Wassergott« ...


Valentin Pilgram war nachmittags gegen halb vier von dem Repetitor nach
Hause gekommen, um sich in das gewohnte, besinnungslose Arbeiten
hineinzustürzen, mit dem er nun schon seit Wochen sich zu betäuben
gewohnt war.

Als er durch den dunklen Korridor schritt, kam die Frau Kanzleirätin aus
der Küche mit einem Brett voll Teegeschirr und ging zu Jucundas Stube
hinüber. Verlegen erwiderte sie seinen Gruß; wie die Tochter, so wich
auch die Mutter dem Zimmerherrn aus, wo irgend möglich, seit jenem
verhängnisvollen Morgen ...

Als sich die Tür zu der Stube der Schauspielerin öffnete, sah Valentin
Pilgram mit einem Blick, daß dort Vorbereitungen für den Empfang eines
Besuches getroffen wurden: festlich gedeckt glänzte der Tisch,
sorgfältig waren die Blumenspenden der letzten Abende arrangiert, kurz,
alles verriet ein nahes Fest.

Wer mochte erwartet werden? Ein paar Kolleginnen oder Kollegen ... oder?
-- Valentin wußte, daß der Erbprinz keine Vorstellung versäumte, in der
Jucunda auftrat, er hatte bei jeder Premiere unter den Riesenschleifen
der Lorbeerkränze die Farben von Nassau-Dillingen erkannt. Also zum
mindesten war Seine Durchlaucht nicht mehr in der Ungnade ...

Merkwürdig: der gewohnte Arbeitsfriede wollte heute nicht kommen. Immer
lauschte der Kandidat auf Stimmen da drüben, in der ingrimmigen,
quälenden Hoffnung, sie möchten recht behalten, jene ekelhaften
Vermutungen, die sich immer deutlicher in ihm emporreckten: der
Erwartete möchte der Erbprinz sein ...

Und endlich schlug die Glocke im Hausflur an. Valentin Pilgram fuhr in
die Höhe, schlich zur Tür und lauschte. Dabei überkam ihn brennende
Scham: was war aus ihm geworden, daß er das Tun und Treiben anderer
Menschen zu beschnüffeln und zu bespitzeln gelernt hatte? Das war doch
früher nie gewesen ...

Und horch -- die Stimme eines jungen Mannes ... aber das näselnde,
gequetschte Organ des Prinzen war's nicht, es war eine frische,
klangvolle Stimme ... es war ... Hans Thumsers Stimme ... Ach -- also
der!

Er hörte ganz genau, wie Mutter Kanzleirätin den Besuch zur Stube der
Tochter führte, wie sie anklopfte, wie des Mädchens volltöniger Alt das
Herein ertönen ließ, wie sie lebhaft und freudig den Besucher begrüßte,
wie jener verbindlich und bewegt erwiderte.

Das Blut stieg dem Lauscher ins Hirn, in die Augen -- die Gedanken
quirlten einander überstürzend empor und machten ihn schwindeln. Also er
--! Wundervoll! wundervoll! Wie das alles sich zusammenfand, wie die
vagen Vermutungen, die greulichen Phantasien der letzten Wochen sich nun
zu festen, zweifelsbaren Schlüssen zusammenfügten! Nun freilich -- nun
war's ja klar, wie der Frankenzirkel und Hans Thumsers Initialen auf
jenen Bogen geraten waren, der Jucundas Absagebrief trug! Man hatte es
verstanden, ihn beiseite zu schieben -- hatte seine schnelle
Ritterschaft lächerlich zu machen gewußt, um seine eigenen Chancen zu
verbessern! Freilich, daß man mit einer solchen Gemeinheit auf dem
Gewissen den Mut nicht gefunden hatte, den Hintergangenen, den an die
Wand Gedrückten in seiner Einsamkeit zu besuchen -- kein Wunder
schließlich! Und auch heute hatte man den Weg zur Tür des einstigen
Korpsbruders nicht gefunden, obwohl man unter einem Dache mit ihm war!
Also so etwas gab's -- so viel Infamie barg sich hinter der zur Schau
getragenen Besonderheit, der phantastischen Eigenart des
Reimedrechslers! -- -- Na warte, Bursche!

Valentin Pilgram hatte kein Talent zum Lauscher an der Wand. Er schlich
an seinen Schreibtisch zurück, vergrub den Kopf in den Händen und wühlte
sich in das krause System des römischen Erbrechts hinein. Aber die
Buchstaben hüpften vor seinen Augen, die Sätze verwirrten sich, führten
sinnlose Tänze auf, und etwas Unwiderstehliches zog ihm immer wieder die
geballten Fäuste von den Ohren ... Da drüben klapperten die Tassen,
plätscherte munteres Gespräch ... kein Satz zu verstehen, höchstens
einmal ein einzelnes Wort. Nun ein erregtes Lachen, nun Schritte durchs
Zimmer, nun in raschem Wechsel Geplauder, ein Hinüber und Herüber von
Scherz und Neckerei jetzt und nun von Rede, deren Sinn man nicht
verstand, deren Klang aber deutlich genug von wachsender
Vertraulichkeit, von innigem Austausch redete ... Ja freilich, der wußte
besser, wie man mit Frauen, mit Künstlerinnen reden muß, um Eindruck zu
machen!

Valentins Gedanken verwirrten sich. Es war ihm nun, als müsse Hans
Thumser das alles mit diabolischem Raffinement ausgeheckt haben, was
sich vollzogen hatte. Gewiß war er schon längst hinter Jucunda her --
war er's nicht gewesen, der die Idee mit dem Pferdeausspannen ausgeheckt
-- und war er nicht an jenem Abend als des Erbprinzen Gast an seiner
Seite im Theater gewesen? Gewiß hatte er auch in Erfahrung gebracht, mit
welch geschmackloser Zudringlichkeit der Erbprinz und der Major sich bei
Jucunda einführen wollten, und hatte schon damals sein Plänchen
geschmiedet ... Alle Wut und Qual der letzten Wochen knäuelte sich
zusammen zu einem einzigen, alles verdrängenden Gefühle der Empörung,
des Ingrimms, der Rachelust ... ihn, diesen glatten Lächler, diesen
geschmeidigen Buben, stellen ... züchtigen!

Aber nein -- das war nicht länger zu ertragen, dieser Zusammenklang der
zwei Stimmen da drüben, der gehaßten und der ach ... in tausend
Schmerzen geliebten! War er denn verdammt, all jenes Glückes Ohrenzeuge
zu sein, das er für sich selbst nur in fernen Träumen zu ersehnen gewagt
hatte? Und das dem Buben da drüben in den Schoß fiel. Nein, das nicht,
das doch nicht! Fort, hinaus, in das Schneegetriebe da draußen, weg aus
diesem dumpfen Zimmer, dessen Luft bis zum Ersticken angefüllt war mit
vergangener und gegenwärtiger Gedankenqual!

Valentin Pilgram stand auf. Er warf seinen Winterpaletot um, stülpte den
weichen, zerknüllten Filzhut auf den unfrisierten Kopf, nicht achtend,
daß beide Kleidungsstücke seit Tagen nicht gebürstet, von dickem Staub
umlagert waren. Er, der sonst so peinlich gestriegelte Korpsstudent,
hatte seit Wochen sein Aeußeres schlimmer vernachlässigt als der
armseligste Prolet unter den Kommilitonen ... Er griff nach dem wüsten
Knotenstock, den er sich für fünfzig Pfennig in irgend einem Kram
gekauft, seit er das silberbeschlagene spanische Rohr mit der Dedikation
seines Leibburschen nicht mehr führen durfte ... und nun hinaus -- nur
hinaus!

In der kurzen Stunde, seit der Jungschnee sich eingestellt, waren
Bürgersteig und Straße mit fußhohen Schneemassen überschüttet. Mühsam
bahnten sich die Fußgänger ihren Weg, trübselig stapften die
Droschkengäule daher, wie schwarze Silhouetten schoben Menschen, Tiere,
Gefährte einander vorüber, die ersten Laternen äugelten mit trübem
Blinzeln durch den Flockennebel, der ohn' Unterlaß herniederwogte. Von
weißen Kanten eingesäumt, reckten sich die finstern Fronten der alten
Barockpaläste zu beiden Seiten der engen Straße. Jedes Geräusch war
eingesogen von den weichen Polstern des Grundes, den stiebenden
Flockenmassen, welche die Luft verhängten.

Der junge Gesell, der mit aufgeschlagenem Rockkragen, die Hände in den
Manteltaschen vergraben, verloren und ziellos durch die Straßen
pendelte, hielt es nicht aus inmitten des lautlosen Lebens, das sich
schattenhaft an ihm vorbeidrängte. An der Thomaskirche vorüber, deren
schwarzer Giebel sich droben in dem weißen Dunst verlor, pendelte er auf
den Ring hinaus, wo die Zweige der Baumreihen, des Gebüschs unter der
Wucht ihrer weißen Last sich bogen und knackten. Zur Linken stieg das
finster dräuende Massiv der Pleißenburg in die silbernen Schwaden, das
Rund des Turmes hob sich als riesiger Schattenriß von den Lichtfluten um
den Roßplatz und Königsplatz ab. Und nun der winterstille, menschenleere
Johannispark! Hier ließ sich aufatmen, hier wurde die Brust freier. Hier
klärte sich das Gedankenchaos ...

Ja, es mußte gehandelt werden. Die ganze Fülle der verhängnisvollen
Ereignisse, die Valentin Pilgram aus seines Lebens sicher
vorgezeichneter Bahn so jählings hinausgeschleudert in ein uferloses
Nichts, das alles drängte zu einer entladenden, entlastenden Tat. Und
diesmal würde seinem Vorsatz Erfüllung werden -- diesmal würde er nicht
wie Don Quichotte gegen die Windmühlenflügel anrennen, um alsbald
entsattelt an der Erde zu zappeln, ein Spott der Welt ... Diesmal würde
er den waffengeübten Arm zum sicher treffenden Schlag zu brauchen
wissen, mitten in des Feindes Fratze!

Des Feindes! -- es gab ja nur den einen! In ihm schien dies aberwitzige
Schicksal der letzten Wochen Gestalt angenommen zu haben -- in jenem
jungen Burschen, der sich jetzt gewiß von Jucundas Lippen den Dank holte
für eine ganze Kette von Niederträchtigkeiten und Bübereien. Ihn
züchtigen -- ja das war's! Das forderte die Stunde!

Und dann? Was kam dann?! Dann würde man sich gegenüberstehen, Aug'
in Auge, den Lauf der Waffe auf des Feindes Herz gerichtet ... das war
dann das Gottesgericht ... Dann würde sich's zeigen, wer von ihnen
beiden weichen müsse von dieser Welt, die nicht Raum mehr hatte für sie
beide ...

Und ... dann?!

Hans Thumser sollte fallen. Er wollte es. All die eiserne Willenskraft,
die bis zu dieser Stunde sein junges Leben vorwärts getrieben, er würde
sie in das kleine Stückchen Blei hineinlegen, das des Feindes Herz
finden sollte. Das war dann die Sühne, das war die Wiederherstellung
der heiligen Weltordnung, welche von den Gesetzen der Ehre regiert wird,
der Ehre, deren Ritter er gewesen war, und die jener andere mit Füßen
getreten hatte ... jener andere, der heut noch das dreifarbene Band
um die Brust trug, das er, der Getreue, eingebüßt hatte dank jenem
sinnlosen Schicksal, dem er unterlegen war bis heut. Aber dies
stumpfsinnige, brutale Schicksal, es sollte nicht Meister bleiben
in der Welt, solange er noch Kraft hatte, den Hahn einer Pistole
abzudrücken ...

Und dann?! Er wußte den Gesetzesparagraphen zu nennen, dem er dann
verfallen war; die Höhe der Strafe, welche seiner wartete. Das war ja
wiederum der groteske Unsinn dieser Zeit, daß die Gesetze des Staates
das Recht der Selbsthilfe dem Manne versagten, der am Heiligsten seines
Lebens gekränkt war: an seiner Ehre ... Dieselben Gesetze, die den
Beleidiger der Ehre mit Strafen von kindischer Winzigkeit bedrohten ...

Immerhin -- lieber zwei Jahre lang als Gefangener auf dem Königstein,
lieber das, was liberale Zeitungsschmierer einen Duellmord nannten,
lieber das alles, als dieses zermürbende Gefühl der Ohnmacht, der
Wehrlosigkeit gegen menschliche Infamie und den Aberwitz des Fatums!

Schon war des einsamen Wanderers Hutkrempe von einem dichten Schneekranz
umlagert. Nasse Schauer sprühten ihm um die glühenden Wangen, eisige
Tropfen rieselten ihm über Hals und Nacken. Er achtete es nicht. Den
Kopf tief in den Schultern vergraben, stolperte er fürbaß. Schon lag der
Park hinter ihm, mechanisch verfolgte er den nächsten Pfad, der hart am
Saume des rechten Pleißeufers zwischen den reckenhaften Schäften der
hochstämmigen Eichen und dem dürren Gestrüpp der Erlen entlang führte.
Als sein Blick zufällig die gelben Fluten der gurgelnden Pleiße
streifte, stieg mitten in sein finsteres Brüten hinein ein lachendes
Bild heiterer Jugendlust:

Die S. C.-Kahnfahrt nach Connewitz, welche die Leipziger Korps in jedem
Sommersemester gemeinsam unternommen hatten ...

Wann war doch das gewesen? Vor einer Ewigkeit ... in einem andern,
versunkenen Leben ... Damals hatte die Welt in tausend Farben
geleuchtet, hatten bunte Mützen und grellfarbige Bänder geblinkt, heiter
abgehoben vom dunklen Grün der Ufersäume, vom Blau des klaren Himmels,
das sich in den freundlichen Wellen des Flusses spiegelte ... Flüchtig,
wie es herangeweht, zerstob das Bild, und wieder war nichts als der
schneestarrende Wald und drunten die blaugraue Flut und ringsum
Dämmerung und lastende Einsamkeit. Nur drüben, am jenseitigen Ufer, wohl
zwanzig Schritte vor Pilgram, ging noch ein anderer einsamer Mensch,
ein schwarzer, formloser Schatten, vorüberhuschend vor dem silbernen
Reif, der den ganzen Wald, der alle Welt überflitterte.

Und wieder tauchte Valentin Pilgram tief in den schaurigen Abgrund
seiner Grübeleien.

Wie, wenn es nun anders kam? Wenn das Gottesgericht gegen ihn entschied?
Nun dann war eben alles aus -- und er brauchte doch wenigstens nicht
mehr zu leben auf einer Welt ohne Sinn ...

Aber -- die daheim --?! Die Eltern, deren Stolz er war, er wußte das ...
Der eifrige Vater, der in rastloser Arbeit zu einer der obersten
Stellungen in der Königlich sächsischen Rechtspflege emporgestiegen war
und in den zwanzig Jahren rüstiger Arbeit, die noch vor ihm liegen
sollten, noch höher zu steigen hoffte? Er, in seiner starren
Rechtlichkeit, seiner tadellosen Korrektheit der Art des Sohnes so innig
verwandt? Nie hatten Vater und Sohn voreinander Worte zu machen
gebraucht von dem, was sie beide längst wußten: daß sie Menschen einer
Rasse, eines Wesens waren, würdige Glieder einer uralten Familie
hochangesehener Gelehrten, Geistlichen, Beamten, die stets eine Zierde
der Stadt, des Staates gewesen waren ... und die gute Mutter, ein
Mensch, so recht zur Ergänzung dieses Schlages geschaffen, ohne starke
Persönlichkeit, voll tiefsten Respekts gegenüber dem Gatten und dem
Sohne, denen sie sich allzeit als freudige und nützliche Dienerin
untergeordnet hatte, entsprechend den Traditionen der ehrbaren
Geschlechter, aus denen auch sie entsprossen war, und die allzeit
aufrechte Säulen der Ordnung und Tüchtigkeit gewesen waren. Die
Schwestern, von der Mutter nach ihrem Vorbilde erzogen zu braven
Gattinnen für diese ehrenfeste Art Männer, wie das Vaterland sie immer
gebraucht hatte und, will's Gott, immer brauchen würde ... und nun --
ein Sohn im Duell gefallen ... in einem Duell, in dem eine Rolle, eine
wenn auch noch so entfernte Rolle immerhin ... eine Schauspielerin ...
gespielt hatte? War das nicht wider den Stil der Familie? wider alle
Gewohnheit ihrer Daseinsführung?

Nein, das war es nicht. Untadelig war, was immer er getan, seit Jucunda
Buchners Bild emporgetaucht war in seinem jungen Leben, das nichts als
Ehre gewesen war. Untadelig ... Und so würde er's vor jenem ernsten
Gange für die Lieben daheim aufzeichnen, würde für jeden seiner Schritte
die Motive, die Handlungen angeben, die Zeugen benennen. Und so würden
die Seinen des Gefallenen mit tiefer und reiner Trauer ohne Groll und
ohne Scham gedenken können, ja mit Stolz als eines Menschen, der auch
diesem absurden Spiel dämonischer Mächte gegenüber geblieben, was er
stets gewesen: ein Mensch ihrer Art ...

In diesem Augenblick trieb ein Windstoß dem einsamen Wanderer einen
heftigeren Guß prickelnden Schnees ins Gesicht und scheuchte ihn aus
seiner Versunkenheit auf. Es war fast völlig finster geworden, und
Valentin Pilgram entschloß sich zur Stadt zurückzukehren. Seine
Entschlüsse waren gefaßt, klar vor ihm lag der Weg, den seine Pflicht
ihn gehen hieß. Zu was noch länger ziellos durch die Einsamkeit
streifen? Daheim waren die Bücher ... und in wenig Tagen würde das
Examen beginnen ... und Ruhe würde ja nun auch geworden sein daheim.
Heut abend waren wieder die »Piccolomini« -- Jucunda würde schon im
Theater sein ...

Schon war Valentin Pilgram im Begriff kehrtzumachen, da fiel sein Blick
zum jenseitigen Ufer, und er sah im letzten Dämmerschein etwas
Unbegreifliches:

Kaum noch in matten Umrissen erkennbar, lag drüben die Sommerwirtschaft
»Zum Wassergott«. Dort hatte er nach manchem Spaziergange mit
Korpsbrüdern die Hitze des Marsches an einer Gose gekühlt und dem
munteren Treiben der sonntäglichen Kähne auf dem Flusse zugeschaut. Und
seitlich, an der Treppe, wo die Fähre anzulegen pflegte, stand ein
Mensch, eine Frau. Auch sie nur ein grauer Schatten vor dem Dunkel, das
unter der Galerie lastete. Und dieser Mensch tat nun etwas ganz
Sonderbares: dieses Weib legte seine Kopfbedeckung ab -- es schien eine
Pelzmütze zu sein -- und zog das Jackett aus, schob beides
zusammengefaltet nach hinten in das Dunkel und stieg nun die Treppe
hinunter bis dicht ans Wasser. Und nun -- -- in jähem Schrei entlud sich
Valentins Entsetzen!

Schon in der nächsten Sekunde aber reagierte ganz automatisch sein
Instinkt auf das grauenhafte Schauspiel, das sich bot. Mit einem Ruck
riß er die Knöpfe seines Paletots und seines Rockes auf, schleuderte
beide Kleidungsstücke mit einer jähen Bewegung in den Schnee und war mit
einem Satz am Ufersaum, mit einem zweiten schoß er in die gelbe Flut
hinaus. -- Die markerschütternde Kälte des Wassers lähmte eine Sekunde
lang seine Glieder wie sein Hirn, im nächsten Augenblick aber durchschoß
ihn ein siedender Feuerstrom. Jeder Nerv, jeder Muskel spannte sich an
wider das eisige Grauen -- Arme und Beine strafften sich, mit heftigen,
ruckartigen Stößen setzte er sich zur Wehr gegen die zähe Umklammerung
des kalten Elements, in dem er trieb. Er schwamm, er wußte sein Ziel.
Ueber der fernen Stadt lag ein roter Schwaden, dessen Widerschein sich
in den träge hingleitenden Fluten spiegelte. In diesem matten
Perlmutterglast glitt eine dunkle Masse, auf die schwamm er zu. Wenig
Stöße, dann war's getan. Er griff in ein nasses Bündel Kleider hinein,
fühlte warme Menschenglieder, umspannte eine schlanke Gestalt. Kaum
spürte der wehrlose Körper die fremde Berührung, da zuckte er in
aufbäumendem Entsetzen zusammen, krümmte sich, warf sich hin und her in
den Eisstrudeln, welche die hintreibenden Leiber umquirlten. Doch nicht
umsonst hatte der Student seine Muskeln in der harten Zucht des
Fechtbodens gestählt und ihre Kraft in mehr denn zwanzig Waffengängen
erprobt. Mit eisernem Griff umschlang er das zarte Figürchen, rang die
strampelnden Arme nieder und lenkte mit heftigen Beinstößen dem nahen
Ufer zu. Die nassen Kleider legten sich wie stählerne Klammern um seine
Beine, der Druck der Schuhe machte die Füße schwer und hilflos, doch mit
wildem Ungestüm zwang der Wille jedes Hemmnis nieder, den Frost, den
Verzweiflungskampf der zuckenden Glieder, die er mit seinen Armen
umschloß. Nach wenigen Sekunden fühlten die Füße Grund, Schlammgrund,
doch er hielt. Nun packten beide Arme mit unwiderstehlichem Griff das
leichte Körperchen um Hüften und Knie -- noch ein kurzes, heftiges
Ringen, dann griff die Linke einen tiefniederhängenden Weidenast, die
Rechte schleifte die zappelnde Last durch die gurgelnden Wellen. Nun
spannten beide Arme noch einmal sich an und hoben mit hartem Ruck den
gefangenen Leib in die knackenden Büsche der Uferböschung hinein. Nun
klang ein wimmerndes Stöhnen, nun keuchten klagende Laute wie eines
kranken Kindes Stimme:

»Lassen Sie mich doch ... o bitte ... bitte, lassen Sie mich doch los!«

»Ne -- gibt's nich!« keuchte der Student. Mit letzter versagender Kraft
würgte er sich selber durch die schneeüberstäubten Zweige des
Ufergestrüpps hindurch, zog den Körper der Geretteten vollends hinauf
und ließ ihn in den lockeren Schnee gleiten, weil die ausgepumpten
Muskeln nichts mehr hergaben. Schwarze Finsternis ringsum -- nichts
hörte Valentin, als das raschelnde Keuchen der eigenen Lungen, das
ratternde Hämmern des eigenen Herzschlages und dazu aus der
geheimnisvollen Dunkelheit zu seinen Füßen das wimmernde Schluchzen
einer Mädchenstimme -- immer nur dies wimmernde Schluchzen, dies
hilflose Greinen.

»Lassen Sie mich doch los ... o bitte, bitte ... lassen Sie mich doch!«

»Ne,« keuchte Valentin Pilgram, »das können Sie nun wirklich nich ...
von mir ... verlangen, Verehrteste ... ich hab' mich dermaßen für Sie
... abgeschunden ... jetzt lass' ich Sie nich wieder ... in die nasse
Sauce da!«

Mit der Ueberwindung der Gefahr war ein grimmiger Humor über ihn
gekommen. Er richtete sich auf, reckte die stählernen Glieder, schlug
ein paar mal die Arme über der Brust mit kräftigem Ruck zusammen, um
sich gegen die Frostschauer zu wehren, die sich in seine Haut einfraßen.
Dann bückte er sich zu der Geretteten, bekam das schlanke Figürchen um
die Taille zu fassen und setzte es mit einem energischen Hub auf die
Beine.

»So, nun bleiben Sie gefälligst stehen ... aber nein, kommen Sie mit
mir, wir rennen zum »Wassergott« zurück ... das macht warm ... Sie
haben ja da meines Wissens Ihre Oberkleider gelassen, die holen wir ...«

Dabei versuchte er die Dunkelheit zu durchdringen, um etwas von den
Zügen der Gesellin dieser seltsamen Begebenheit zu erkennen. Umsonst --
nur etwas Nasses, Zitterndes hielt er in seinen Armen, dessen Wärme
langsam die eisige Nässe der Hüllen durchdrang, die um ihre Glieder
schlotterten. Die zarte Gestalt wollte wieder in die Knie sinken, aber
er raffte sie empor, zog sie herzhaft an seine Seite und zwang sie, in
raschem Schritt durch den lockeren Schnee mit ihm den Fußpfad
pleißeaufwärts zu verfolgen.

Dabei redete er ohn' Unterlaß auf das junge Menschenkind ein, das
wankend und noch immer leise wimmernd an seiner Seite schritt.

»Nun sagen Sie bloß, meine Gnädigste, wie sind Sie auf die verrückte
Idee gekommen, bei so schauderhaftem Wetter Schwimmversuche in der
Pleiße zu machen? -- Dabei können Sie sich ja einen Schnupfen holen, den
Sie in diesem Leben nicht mehr los werden. Denken Sie bloß, wenn ich
nicht zufällig des Weges gekommen wäre ... Und noch dazu in Kleidern,
das bringt ja nicht einmal ein Mann fertig, geschweige denn so ein
kleines zartes Mädel wie Sie. -- Oder sind Sie gar eine junge Frau? Dann
sagen Sie's mir, damit ich Sie richtig anrede ... kommen Sie, wir müssen
schneller laufen ... damit wir warm werden, Sie zittern ja
gottserbärmlich. Schade, daß der »Wassergott« zugemacht hat, ich wäre
kolossal für einen Grog oder auch deren mehrere, Sie nicht auch?«

So schwatzte er drauf los, allerhand banales Zeug, was ihm gerade in den
Kopf kam, und nahm mit Befriedigung wahr, daß das Wimmern schwächer und
schwächer ward und schließlich ganz verstummte.

Und dann kam eine wilde Lust an dem unerwarteten Abenteuer über ihn, das
in seine verzweifelte Stimmung hineingeplatzt war wie ein Weckruf zu
neuem Leben ... Und immer brennender wurde in ihm die Neugierde, die
Züge der Unbekannten zu sehen, in deren Schicksal er hatte eingreifen
dürfen wie vom Himmel gefallen.

Als die beiden einen Augenblick verpusteten, griff er in seine
Hosentasche und zog die Zündholzschachtel hervor, sie war ganz trocken.
Die wenigen Sekunden, die er in dem nassen Element zugebracht, hatten
nicht genügt, um seine Kleidung gänzlich zu durchfeuchten. Da ließ er
ein Hölzchen aufflammen und sah mit jähem Entzücken, welchen holdseligen
Fang er gemacht. Dabei weckte ihm das triefende, glühende Gesicht, von
langen dunklen Haarsträhnen überhangen, unbestimmte Erinnerungen ...

Aber eine Scheu verbot ihm zu fragen ...

Und das Flämmchen verlosch, das angstvolle Gesicht, die hilflos
blickenden Augen versanken wieder in der Finsternis. Nein, jetzt nicht
fragen -- wie wund mußte diese arme flüchtige Seele sein ...

Da war der »Wassergott«. Valentin stapfte in die schneeverwehte Galerie
hinein, aber die Gerettete ließ er dabei nicht los.

»Ne, ne, kommen Sie ruhig mit, Gnädigste, ich habe Angst, Sie möchten zu
viel Geschmack an Ihren Schwimmkünsten gefunden haben ... und ob ich Sie
zum zweiten Male da herausbrächte? Ich weiß wirklich nicht.«

In der Finsternis fand er die weichen, duftigen Pelzhüllen, ahnte voll
Respekt, daß es sich um Kostbarkeiten handeln müsse, und hüllte seine
Gefangene sorglich hinein. Sie wehrte sich nicht ...

Und nun der Heimweg. Durch das schneebepuderte Gitterwerk des dürren
Waldes am jenseitigen Ufer leuchtete der Widerschein der fernen Stadt,
der einen gelblichen Lichtbogen wie eine matte Aureole in die
niederwallenden Schneenebel hineinzeichnete. Perlmutterfarben
widerleuchtete sein Schein auf den friedlich meerwärts gleitenden
Pleißefluten.

Das junge Blut, vom raschen Gang, von der fiebernden Erregung der Herzen
aufgepeitscht, besiegte mählich die Frostschauer, die von den nassen
Kleidern her die Glieder überrieselten. Und mit einem geheimnisvollen
Gefühl brüderlichen Stolzes hielt der Student das zarte Figürchen
umschlungen, preßte es an sich, wie um ihm abzugeben von der Siedeglut,
die ihn durchpulste.

Noch immer schwieg sie, und wie ein Wasserfall redete Valentin auf sie
ein:

»Das hätt' ich mir weiß Gott auch nicht träumen lassen, daß ich meinen
Spaziergang in so angenehmer Gesellschaft beenden würde. -- Und Sie?
Finden Sie es nicht doch viel netter, zu zweit hier im Schnee zu waten,
als einsam da unten in der dreckigen Pleiße zu paddeln? -- Sehen Sie
mal, wie hübsch sich drüben das Gezweige von dem roten Himmel abhebt! Da
kann man's wahrhaftig sehen, wie helle die Leipziger sind -- sogar der
ganze Himmel ist hell über dem guten alten Biernest ... Aber nu sagen
Sie doch auch mal was, Fräulein! oder haben Sie Ihre Stimme da unten im
Wasser gelassen? Das wäre doch schade. Ich denke mir, Sie müssen sehr
niedlich plaudern können ... Soll ich Sie vielleicht noch einmal
erleuchten und mich auch, damit Sie sehen, daß Sie es mit einem ganz
ordentlichen Kerl zu tun haben? Sie haben doch am Ende nicht gar Angst
vor mir?«

Und horch!

Da klang's auf einmal aus der Dunkelheit neben seiner Schulter, leise
wie ein Taubengirren:

»Angst ... ach nein -- wie könnte ich Angst vor Ihnen haben, Sie sind ja
so gut zu mir --«

»Hurra! sie kann wieder reden!« jauchzte der Bursch. »Herrlich!
herrlich! Und nun -- nun sagen Sie mir's mal gleich, wohin ich Sie
bringen darf? Denn nach so einer Strapaze gehören kleine Mädchen ins
Bett ... Auch ein Glühwein könnte nicht schaden. Also -- wohin soll's
gehen? Heraus damit!«

Leise nannte das Mädchen seine Adresse. Unwillkürlich schmiegte sie sich
fester in den führenden, schützenden Arm. Ihr war, als sei ihr noch nie
so wohl gewesen, so geborgen wie in diesem Augenblick. Das Dasein, das
ihr vor einer Viertelstunde noch schal und wertlos erschienen war, nun
glomm es wieder auf in ihr voll Sehnsucht nach neuem Erleben, voll
Dankbarkeit, noch da zu sein, die eigene Wärme siegen zu fühlen über die
eisige Nässe, der sie sich anvertraut -- das ferne Leuchten zu sehen
über der Stadt, wo die Menschen hausten, wo das Leben brandete, wo man
Komödie spielte -- aß und trank, lachte und küßte ... Gott, welch ein
Wahn, welch eine Raserei war doch nur über sie gekommen und hatte sie da
hinuntergetrieben --?

Ach leben -- nur leben. Besser, sich prügeln lassen vom Schicksal,
besser, sich auf und ab wirbeln lassen zwischen Glückseligkeit und
Tränen, Tränen und Glückseligkeit, als dies kalte Nichts da unten.

»Ich danke Ihnen,« stammelte sie. »Ich danke Ihnen!«

Und lustig schwatzend von den gleichgültigsten, törichtsten Dingen, als
seien sie zwei alte Bekannte, die sich beim Spaziergang begegnet,
stapften die zwei Menschen fürbaß durch den knietiefen Schnee.

»Haben Sie warme Backen?« fragte der Student. »Au! Teufel ja, die
brennen ja wie ein Oefchen -- und die Hände? Ziehen Sie doch die nassen
Handschuhe aus, das gibt ja Rheumatismus -- richtig, die sind wie zwei
Eiszapfen. Da weiß ich Rat, wir werden uns schneeballen. Los! Greifen
Sie zu, ich laufe voraus. Daß Sie mir aber nicht wieder auskneifen und
in die Pleiße spazieren!«

Nein -- Asta hatte keine Sehnsucht mehr nach der Pleiße. Sie bückte
sich, griff mit den erstarrten Händen in die lockere Masse, die alles
überlagerte -- und klatsch, da flog ein raschgeformter Ball dem riesigen
Begleiter vor die Brust, daß es nur so knallte ... Und lachend, rennend,
prustend, wie zwei Kinder, tollten die zwei den Weg entlang.

Schon schatteten die dunklen Fronten der Vorstadthäuser in das silberne
Flockengeflitter hinein. Nun galt's sittsam und verständig nebeneinander
durch die Straßen zu schreiten, in denen nur wenige schneebepuderte
Gestalten unter weißbezuckerten Regenschirmen hastig und lautlos ihren
Behausungen zustrebten.

Als aber der erste Laternenschein dem wandelnden Paar die Gestalt des
Partners zeigte, schrie das Mädchen plötzlich auf:

»Um Gottes willen, Sie sind ja in Hemdärmeln! Sie werden sich den Tod
holen!«

»Ach! keine Spur!« lachte der Student. »Ich glühe nur so! vorwärts, nur
vorwärts!«

Jeder Vorüberwandelnde stutzte, als er das seltsame Schauspiel sah, daß
ein junger Mann barhäuptig und hemdärmelig neben einer elegant bepelzten
Dame herschritt.

Rasch war Valentin des Anstarrens, des Stehenbleibens satt. Auf der
Zeitzer Straße rief er eine Droschke an, deren schneebepackter Gaul
mühselig und dampfend dahin keuchte. Und nun war nach wenigen Minuten
die Sophienstraße erreicht, die Hausnummer, die das Mädchen angegeben.

Es kostete Mühe, in den nassen Kleidern die Treppe hinan zu kommen, den
Korridorschlüssel zu finden.

Mit Ueberraschung bemerkte der Student, daß es die wohlbekannte Wohnung
war, in der Mutter Ach schaltete, sie, die ganze Generationen von
Franken beherbergt hatte. Sie, bei der jetzt jener andere wohnte, dem
Valentin Pilgram in ingrimmiger Einsamkeit eine fürchterliche Vergeltung
geschworen ...

Starr vor Entsetzen stand die behäbige Witwe, als im matten Schein des
Flurlämpchens ihre Mieterin vor ihr stand:

»Ei, herrjemerschnee! ne so was -- ne so was ... Was hab'ns denn nur
gemacht, Freilein? ... Und wer is denn das? -- Weeß Knebbchen, das is
Sie ja der Herr Pilgram! Herr Pilgram, is es meeglich?! Nu komm' Se doch
bloß mal in die Stube 'nein -- ich wer' gleich Feier machen -- und Tee
wer' ich 'n kochen, i nee so was, nee so was.«

Bei dem Namen Pilgram hatte das Mädchen gestutzt. Höher noch flammte ihr
glühendes Gesicht. Stumm klinkte sie ihre Stubentür auf und huschte
hinein. Die Tür ließ sie offen in dem dunklen Gefühl, daß ihr Retter
einen Anspruch auf die behagliche Wärme habe, die ihr von drinnen
entgegenschlug.

Doch der folgte ihr nicht -- starr hingen seine Augen an dem weißen
Kärtchen, das an der Stubentür befestigt war.

»=Das= -- sind Sie?« fragte er mit zusammengebissenen Zähnen.

»Ja, das bin ich -- kommen Sie doch herein -- wärmen Sie sich.«

Zögernden Schrittes trat der Student näher. In scheuem Staunen musterten
sich die beiden jungen Menschen, das Hirn von wirren Gedanken
durchkreuzt ...

Frau Wehe hastete herein, rannte geschäftig zum Feuer, um frische Kohlen
aufzuschütten.

»Nu sagen Se bloß, Herr Pilgram, was haben Se denn angefangen alle zwei?
Wer looft denn bloß in so en' Wetter hemdärmlig 'rum und mit bloßem
Koppe?! Und naß wie de Katzen seid 'r alle zwee! Da soll wer anders
draus klug wer'n!«

»Das Fräulein ist spazierengegangen an der Pleiße, hat im Dunkeln den
Weg verfehlt, ist ins Wasser gefallen, ich habe sie herausgezogen,«
erklärte Pilgram hastig.

»Gott soll mich bewahr'n!« schrie Frau Wehe. »Nu aber mal schnell ins
Bett mit dem Kind! -- Und Sie, Herr Pilgram, Sie gehen nebenan zum Herrn
Thumser und nehm' sich Wäsche und Kleider, versteh'n Se mich?! Am besten
wär's schon, Sie legten sich einfach da nebenan ins Bette! Herr Thumser
wird schon nich beese sinn! Und dann koch' ich Euch Tee oder Grog, 'ne
paar Wärmepullen unter de Decke, ich wer' schon machen!«

»Nein!« schrie da Asta Thöny. »Herr Thumser, nein -- das geht nicht --
der darf nichts davon wissen ... der auf keinen Fall!«

»Ach Quatsch!« rief die stämmige Wirtin. »Ihr holt Euch ja den Tod alle
zwee, da gibt's nischt zu reden -- machen Se fort, Herr Pilgram, in's
Bette mit Ihn' --!«

Mit angstvollen, flehenden Blicken hingen des Mädchens Augen an den
erstarrten Zügen ihres Retters, seiner finster zusammengekrausten Stirn.
-- Sie schwieg, sie wußte, daß sie nicht länger bitten durfte, wo es um
seine Gesundheit ging, vielleicht um sein Leben ...

Heiser fragte da Valentin Pilgram:

»Thumser? Warum darf der nicht wissen --? Kennen Sie Thumser?«

Tief senkte das Mädchen den Kopf, stand regungslos, schauerte plötzlich
in Frösten zusammen. Auch der Student schwieg. In wirrem Grübeln, in
finstrem Forschen gingen seine dunklen Blicke zwischen dem zitternden
Mädchen, der hilflos, verständnislos dreinglotzenden Frau hin und wider.

»Kennen Sie Hans Thumser, gnädiges Fräulein?« fragte er noch einmal,
hart und befehlend. Ein Verdacht reckte sich dräuend in ihm auf. So
phantastisch, so aberwitzig, daß der Verstand sich sträubte, ihn zu
formulieren ...

Asta antwortete nicht. Sie sank immer tiefer in sich zusammen. Und
plötzlich knickte sie in die Knie, ihre Arme fielen auf einen Stuhlsitz,
das Köpfchen mit den triefenden, zerzausten Flechten glitt in die
silbernen Falten des Pelzwerks, das sich um ihre Glieder schmiegte, und
ein jähes Schluchzen durchrüttelte die hingeworfene Gestalt.

Valentin Pilgram begriff ... Das fehlte noch, das war das letzte ... Und
die ganze, kochende sinnverwirrende Wut, die den Nachmittag über sein
Inneres verwüstet, schlug in roter Lohe aus den Tiefen seines Wesens
empor, stieg ihm in die Augen, in die Stirn, in die Fäuste. --

»Der Hund --! Ah, der Hund!« knirschte er. »Sorgen Sie mir gut für das
Fräulein, Frau Wehe! Adieu!«

Er stürzte hinaus. Die Stubentür, die Korridortür krachten hinter ihm
ins Schloß.

Asta Thöny war emporgefahren. Blitzschnell schloß sich die
Gedankenkette: Also der da, ihr Retter, das war Valentin Pilgram -- er,
den sie kannte aus Hansens Erzählungen, von dem sie wußte, wie er in
jähem Zorn sich zur Sühne für eine Schmach gedrängt, die ihrer großen
Kollegin widerfahren ... Und nun, nun stürmte er von hinnen,
unvollkommen bekleidet wie er war, schäumend vor Wut, wie sie ihn mit
einem letzten Blick gesehen. Und sein letztes Wort war eine gräßliche
Drohung für Hans Thumser gewesen. Für ihn, von dem er nicht einmal in
dieser Not trockene Kleider hatte annehmen wollen.

Das bedeutete Gefahr -- Todesgefahr für den geliebten, den treulosen
Jungen --!

Todesgefahr --! Noch meinte sie den stählernen Druck des Armes zu
fühlen, der sie aus dem kalten Flutengraus gerissen, der sie so sicher
und brüderlich heimgeleitet.

Wehe dem, der diesem Arm verfiel.

Nein, nein ... das nicht, das nicht! Um diesen Preis gerettet zu sein,
nein, das nicht ... o Gott, das nicht --!

»I herrjemerschnee, Fräulein Thöny, was hat er denn nur, der Herr
Pilgram, was hat er nur?« stammelte Frau Wehe.

»Still, still!« winkte Asta ab. »Lassen Sie mich einen Augenblick.« Und
hastig sann sie, wo Hans Thumser nur stecken könne in diesem Augenblick
...

Ach so -- Mittwoch -- offizielle Kneipe ... Ach, sie kannte den
Wochenkalender des Korps in- und auswendig. Also im Cafébaum, auf der
Frankenkneipe ... Und da ... da würde ja auch der Rächer ihn suchen ...
nein -- das nicht ... o Gott, das nicht --

Und mit einem Ruck stülpte sie das Barett wieder auf, klappte den Kragen
des Pelzjacketts in die Höhe, und triefend und schlotternd, wie sie war,
rannte sie an der verblüfften Wirtin vorüber, flog die halbdunkle Stiege
hinunter, stand auf der Sophienstraße ...

Drüben fluteten dichte Menschenströme, vom Glast der Laternen des
Carolatheaters überstrahlt, vom Flockengestiebe silbern umflittert, in
die dunkel gähnenden Pforten des Kassenflurs hinein.

Gott sei Dank, »Piccolomini« --! Asta war dienstfrei. In die erste
Droschke, die drinnen ihre Fracht abgeladen hatte und aus der dunklen
Ausfahrt herausrumpelte, sprang Asta hinein, rief im Einsteigen dem
Kutscher zu:

»Kleine Fleischergasse, Cafébaum, so schnell das Pferd laufen kann --
einen Taler Trinkgeld sollen Sie haben, wenn's rasch geht!«

Der Wagenschlag klappte, der Kutscher schlug die Peitsche dem Gaul um
die dampfenden Flanken, und durch die dunklen, schneeverwehten Straßen
schwerfällig von dannen rollte das Gefährt.




                                  13.


Auf der Sophienstraße geriet Valentin Pilgram in den Schwall der
Theaterbesucher hinein, der zum Carolatheater drängte.

Ach so -- ha, ha! natürlich, da spielte man ja Komödie, heut' wie alle
Abende!

Und Jucunda Buchner natürlich wieder der Stern des Abends, der Zielpunkt
aller Blicke, die Sehnsucht aller Herzen! Ja gewiß: wie er sich durch
die Menge schob, auf allen Lippen das leise, andächtig hingesprochene:
Die Buchner ... die Buchner ...

Der lange Gesell, der im tollen Schneetreiben hemdärmelig und barhaupt
sich durch die Menge zwängte, machte alles stutzen, alle Hälse sich
wenden.

»Nanu, was hat denn der? Das is wohl ä Verrickter am Ende! Schutzmann!
he, Schutzmann! Nähmen Se'n doch feste, den Langen da!«

Nein -- so ging's nicht weiter. Er erwischte eine Droschke, warf sich
hinein, befahl Katharinenstraße zweiundzwanzig. Er konnte ja auch
unmöglich so auf Korpskneipe erscheinen, sie hätten ihn da wohl auch für
wahnsinnig gehalten -- hätten sein Rächeramt, seine heilige Mission, die
beleidigte Ehre des grün-gold-roten Bandes wiederherzustellen, für einen
Ausfluß des Aberwitzes genommen. Und dann: es schüttelte ihn. Fieberglut
und Frostschauer tobten abwechselnd durch seine Reckenglieder.

Herrgott! Dieser alte Klepper wollte gar nicht vom Fleck.

Und doch -- es wurde geschafft. Er flog die Treppe hinauf, langte
keuchend oben an. Als er den Schlüssel suchte, taumelte er -- das
Fieber verwirrte sein Hirn. Kaum gelang es ihm, den Schlüssel
einzustecken -- so leise er konnte, drehte er um, schlich sich auf
Zehenspitzen durch den dunklen Flur, machte drinnen Licht -- erschrak,
als er sein fahles Gesicht im Spiegel sah mit den stieren Augen, den
rotfleckigen Wangen.

Einerlei -- nur fort, nur es zu Ende bringen!

Er riß die triefenden, dunstigen Kleider vom Leibe, die schweißnasse
Wäsche, zog sich vom Kopf bis zu Füßen frisch an, schauerte zusammen in
der Siedeglut, die ihn durchrann. Er fühlte sich plötzlich müde zum
Sterben -- das aufgeschlagene Bett zog ihn magnetisch an. War's nicht
das beste, da hineinzukriechen, die Decke über die Ohren zu ziehen und
unterzusinken in bleiernes Vergessen ...?

Aber nein -- das ging ja nicht. Die Mission! die Mission ... Abrechnung
mußte gehalten werden. -- Sauber mußte die Welt wieder werden ... Der
Schandfleck mußte weg ... Und mit fliegenden Händen kleidete er sich an.
Taumelte abermals, als er die Stiefel anziehen wollte, biß die Zähne
zusammen, bezwang die todgleiche Erschlaffung.

Als er vor dem Spiegel die Halsbinde zu schlingen versuchte, versagten
die Hände. Da knüpfte er nur die Enden in einen wüsten Knoten, stülpte
statt des Hutes, der draußen an der Pleiße geblieben, eine
schwarzseidene Mensurmütze auf, hing statt des Winterpaletots, den er
ebenfalls im Schnee gelassen, einen dünnen Sommerhavelock um ... und nun
fort -- fort ...

Er warf einen Blick auf die Uhr -- dreiviertel neun, gerade recht. Die
offizielle Kneipe mußte eben begonnen haben, und bis zur Kleinen
Fleischergasse waren's ja nur zwei Minuten.

Halt! Einen Stock brauchte man noch, man konnte nicht wissen ...

Nun, so mochte es schon das silbern beschlagene spanische Rohr sein, die
Dedikation seines Leibburschen. Daß er kein Recht mehr hatte, dieses
Stück zu führen, das mit dem Zirkel Franconias geschmückt war, was
verschlug's in dieser Stunde --?! Es war eben doch ... ein Stock ...


Noch einer war an diesem Nachmittage bis tief in den endlosen
Novemberabend hinein draußen im Schnee umhergeirrt: Hans Thumser.

Als er aus Jucundas Zimmer gestürzt, an dem verblüfften Erbprinzen
vorüber, da war es auch ihm unmöglich gewesen, es auszuhalten zwischen
den hastenden Menschen, den keuchenden, dampfenden Droschkengäulen, in
den engen, finstern Straßen, unter den blinzelnden Laternen.

Er war ins Rosental geraten und stundenlang durch die schweigende
Einsamkeit des schneeverwehten Parks geirrt.

Ha! ha! Also so lief die Karre! Freilich, freilich! Wenn Fürstengnade
winkte, was galten da ein paar armselige Studentlein ...? Denen spielte
man eine nette kleine Komödie vor: Hilflose, beleidigte,
schutzbedürftige Unschuld dem einen, glühendes Verständnis, tiefinnige
Seelenharmonie dem andern ... Und dann -- dann ließ man einfach im
rechten Augenblick den Vorhang fallen, und ein neues Stück fing an.

Komödie -- Komödie -- jedes Wort, jeder Blick, nichts als Reminiszenzen
aus abgespielten Stücken, nichts als der Nachhall erlogenen,
erheuchelten Gefühls ... Komödie ... Komödie ... Komödie --!

War das nicht Strafe? War dieser Abfall, diese Blamage, die fressende
Scham -- da drinnen -- war das alles nicht verdient?! Hatte nicht auch
er selber leichtherzig den Vorhang fallen lassen über einem lieblichen
Spiel voll erster Seligkeit, voll flammender Glut und reizender
Tändelei, das die vergangenen Wochen seinem jungen Leben beschert
hatten?

War er besser als jene Jucunda? Er, der danklos und roh die Gesellin so
köstlicher Entzückungen beiseite geschoben, um diesem gleißenden Phantom
nachzujagen, das heute vor seinen entsetzen Augen die Larve hatte fallen
lassen?

Asta! Asta! Dich hatte ich. Du hast dich mir geschenkt ... und ich ließ
dich los und rannte einem Irrwisch nach ...

Ja, Hans Thumser ging streng mit sich ins Gericht. Er kam sich so klein
vor, so dummejungenhaft, so unwert alles dessen, was die vergangenen
Wochen ihm in den Schoß geworfen. Eine jähe Sehnsucht kam über ihn, sich
in Astas Arme zu flüchten, die Stirn an ihre Knie zu drücken und um
Verzeihung zu betteln.

Und doch -- Knabentrotz und Knabenscham jagten ihn immer tiefer in die
Schneewildnis hinein. Jetzt vor Asta hintreten und bitten: vergiß --?!

Sie würde sogleich begreifen, daß er -- nun, daß er eben ... abgefallen
war bei Jucunda. Und würde sie dann nicht triumphieren, sich bedanken
für das Vergnügen, ihn über seinen Abfall trösten zu sollen?

Nein -- das ging nicht. Das mußte man allein hinunterwürgen. Ha ha!
Gab's nicht ein Mittel, die Qual dieser Beschämung, dieser
fürchterlichen Blamage abzukürzen? Wozu war man denn Student --
Korpsstudent -- Fuchsmajor?! Und wozu heut abend offizielle Kneipe?

Ganz recht: besaufen werden wir uns! einen Eimer Bier in uns
hineinpumpen, bis wir mitsamt der ganzen Corona der Füchse unterm Tisch
liegen und den Himmel für 'nen Dudelsack ansehen. Hol' der Teufel die
Weiber --!

Und morgen früh auf dem Fechtboden -- Filzmaske aufgesetzt, drauflos
gedroschen, solange Arm und Schädel halten wollen --!

Kaum konnte Hans die Stunde der offiziellen Kneipe erwarten. Als er zum
Cafébaum schlenderte, grinsten ihm von allen Anschlagsäulen die riesigen
Lettern entgegen:

                          »Wallensteins Lager«
                           »Die Piccolomini«

Pah! was für Hieroglyphen waren das eigentlich?! Was ging das alles ihn
an? Pah, die Meininger! Pah! Schiller --!

Komödie ... Komödie!

Damit war man fertig, das mußte versunken sein und vergessen. -- Und was
stand ganz unten am Rande des Zettels?

                    »Freitag: Wallensteins Tod« --?!

Ja, hatte man gestern nicht selbst probiert, sollte morgen früh wiederum
probieren für die Komödie von übermorgen? Hatte man nicht im Eisenwams
der Pappenheimer Kürassiere gesteckt und sich als Friedländischer
Reitersknecht gefühlt, eine Stunde lang?

Lüge, alles Lüge ... äffisches Spiel mit längst verpulster Glut, längst
verschütteter Leidenschaft -- Komödie das alles! Unwürdig des jungen
sehnenden Menschentums, das man in allen Knochen fühlte, das leidend
sich aufkrampfte gegen die Not der Stunde -- das nach wildem Rausch,
nach taumelnder Betäubung sich sehnte, das sich selbst vergessen wollte
und vergessen alles um sich her --!

Nein -- Hans Thumser wird niemals wieder Komödie spielen ...

Hans Thumser wird mehr nicht sein wollen, als er ist: ein ungarer,
unfertiger Mensch, dessen verdammte Pflicht und Schuldigkeit das eine
nur ist: zu lernen, zu arbeiten, sich zu stählen für die kommenden
Kämpfe des wahren, des wachen Lebens. Morgen, morgen soll's beginnen --
heut aber: Bier her! Saufen bis zum Umsinken! Vergessen ... vergessen
... vergessen ...

Da war der »Cafébaum«. Da winkte vom Sims des ersten Stockwerks das
dreifarbene Schild, schneeüberlagert. Und der steingemeißelte riesige
Türke, der sich von dem feisten kleinen Putten die Mokkaschale kredenzen
läßt, trug über seinem steinernen Turban einen doppelt so hohen aus
Schnee ...

Nun die enge, muffige Stiege hinauf, nun die Klingel gezogen. Drinnen
lärmten schon die Korpsbrüder, die sich zum gewohnten Zechgelage
versammelten. Als der Korpsdiener öffnete, empfing den Ankömmling schon
auf dem Korridor, wo rings die grünen Kneipjacken mit den rot und
goldenen Schnüren an den Wänden hingen, lautes Hallo.

Volkner, der Senior, hatte geschwatzt: er war Hans Thumser begegnet, als
dieser mit einem mächtigen, seidenpapierumhüllten Rosenstrauß in das
Haus Katharinenstraße zweiundzwanzig hineingegangen war. Daß dieser
Besuch nicht etwa dem früheren Korpsbruder Pilgram gegolten habe, das
hatte der Blumenstrauß verraten. Wo also konnte Thumser gewesen sein als
bei Jucunda Buchner? Halb mit Ulk und halb mit Neid empfing man den
Glücklichen. Der Name Jucundas war ein bißchen verdächtig von dem Fall
Pilgram her. Obwohl der weiland Senior sich bei den Besuchen der
früheren Korpsbrüder hartnäckig über seine Beziehungen zu der Diva
ausschwieg, hatten die Korpsbrüder doch allmählich herausbekommen, daß
jenem sein ritterliches Eintreten für das gekränkte Mädchen wenig Dank
eingetragen hatte ...

Sich mit Jucunda Buchner einzulassen, das hatte also beinahe schon einen
Beigeschmack von Komik und drohendem Hereinfall ...

Und dennoch ... der Duft des Lorbeers, der eine ganze Stadt berauschte,
zog wie lichter Weihrauchdunst auch durch die Hirne, welche die grünen
Mützen bedeckten ...

Der Schwall der Neckereien, die sich über Hans Thumser ergossen, ging
ihm heiß in das siedende Blut -- immer wilder schwoll die sinnlose
Saufstimmung in ihm empor.

»Füchse, _ad loca_!« brüllte er und nahm am unteren Ende der Kneiptafel
Platz, auf dem hochlehnigen Stuhl, der in Eichenschnitzerei die
Märchengestalt eines aufrechtstehenden Fuchses zeigte, in Cerevis,
Couleurband und Kanonenstiefeln, den Vorderlauf mit einem Schläger
bewehrt. Und um ihren jungen Herrn und Meister zur Rechten und zur
Linken scharte sich die Fuchscorona, sieben junge Bürschlein, darunter
vier Krasse, die erst seit ein paar Wochen der Zucht ihres
Schulmeisters entronnen waren, um der noch viel gestrengeren des
Fuchsmajors zu verfallen -- und drei Brander, Wangen und Nasen schon mit
den ersten Dokumenten bewährten Mensurschneids verziert.

»Füchse, ich komm Euch den ersten und den zweiten Halben!« rief Hans
Thumser und schüttete das volle Glas hinunter, das der Korpsdiener vor
ihn hingesetzt.

Gleichzeitig beschied auch der Senior Volkner alles, was der Fuchtel des
Fuchsmajors bereits entwachsen war, an das obere Ende der Kneiptafel:
die Korpsburschen, die Inaktiven der Kartell- und befreundeten Korps,
die sich in Leipzig studienhalber aufhielten und beim Korps verkehrten,
und einzelne Alte Herren aus der Stadt, die sich dann und wann zu den
Zusammenkünften des Korps einfanden.

Und nun entwickelte sich das altvertraute Bild: von allen Wänden
schauten die Wappenschilder, die gekreuzten Fahnen und Schläger, die
Ehrenhumpen und silberbeschlagenen Trinkhörner, die zahllosen
jahrzehntealten Gruppenbilder, Silhouetten, Porträte der einstigen
Mitglieder des Bundes auf die zechende und lärmende Schar herunter.

Mit zeremoniellem Anstand erhob sich der Erste:

»_Silentium!_ Wir trinken zur Eröffnung einer fidelen, offiziellen
Kneipe unser Glas in Gestalt eines Schoppens Salamander! _Ad exercitium
salamandri_ -- eins, zwei, drei!«

In langen Güssen kollerte der erste Ganze in die zechbereiten Mägen,
rasselnd wirbelte der Salamander und endete mit einem krachenden
Aufklappen aller Gläser auf die massive Eichenplatte der Kneiptische.

»_Silentium!_« klang da wieder die Stimme des Präsidenten: »Wir singen
als erstes offizielles Lied auf Seite 159: Brüder, zu den festlichen
Gelagen ...«

In rauhem, taktfestem Unisono schwoll das Lied durch den niedern Raum,
in dem das Brandopfer der Pfeifen und Zigarren sich mystisch über der
Sängerschar emporkreiselte:

    »Brüder, zu den festlichen Gelagen
    Hat ein guter Gott uns hier vereint,
    Allen Sorgen laßt uns jetzt entsagen,
    Trinken mit dem Freund, der's redlich meint.
        Da, wo Nektar glüht,
        Holde Lust erblüht,
    Wie den Blumen, wenn der Frühling scheint.«

Und Hans Thumser fühlte beglückt, wie die dumpflastende Beklemmung der
einsamen Spätnachmittagstunden von ihm abfiel, und in grimmigem Behagen
stürzte er sich hinein in den schäumenden Strudel des Gelages, spürte,
wie alles, was ihn so im Tiefsten erschüttert, verschwamm, versank,
verflog -- und nichts mehr war, als der tolle Rausch der Stunde.

»Füchse! Ich komme Euch den elften und zwölften Halben!«

    »Lasset nicht die Jugendkraft verrauchen,
    In dem Becher winkt der goldne Stern!
    Honig laßt uns von den Lippen saugen,
    Lieben ist des Lebens süßer Kern!
        Ist die Kraft versaust,
        Ist der Wein verbraust,
    Folgen, alter Charon, wir Dir gern!«

-- so verscholl das hellaufrauschende Lied ...

»_Silentium_ -- schönes Lied _ex_! Ein Schmollis den Sängern!«

Da trat der Korpsdiener ein. Das glänzende Bemmchengesicht verstört,
fassungslos. Er schlich sich zu dem ragenden Stuhl des Ersten heran,
flüsterte mit vorgehaltener Flosse seinem jungen Herrn etwas ins Ohr,
das diesen stutzen und auffahren machte. Einen Augenblick sann Volkner
nach -- dann flüsterte er dem Korpsdiener zu:

»Es ist gut -- sagen Sie's Herrn Thumser -- er mag hinausgehen.«

Mit scharfen Blicken verfolgte Volkner den Gang des Korpsdieners, der
sich nun mit so lächerlicher Behutsamkeit, als tripple er auf Eiern,
hinter den Stühlen seiner Herren entlang zum Fuchsmajor schob und auch
diesem seine Botschaft zuraunte:

»Entschuld'gen Se, Herr Thumser -- da draußen is Sie nämlich der Herr
Pilgram -- der läßt Ihn' bitten, ob Se nich mächten so freindlich sinn
und gomm'n een Augenblickchen auf'n Flur -- er hat 'n ä wicht'ge
Mitteilung zu machen!«

Ganz deutlich sah Volkner, wie Thumser zusammenschrak, hastig aufsprang,
einen Augenblick nachsann, dann mit einem fragenden Blick die Erlaubnis
erbat, die Kneiptafel zu verlassen. Nachdem Volkner Gewährung genickt,
bat Thumser den ihm zunächst sitzenden Korpsburschen, ihn in seinem Amt
als Vorsitzender der Fuchsentafel eine Weile zu vertreten. Dann raffte
er sich zusammen und schritt aufrecht, doch blaß, mit zusammengezogenen
Brauen zur Tür hinaus.

Als er mit dem Korpsdiener durch das anstoßende Konventszimmer schritt,
flüsterte der Alte ihm zu:

»Se missen nämlich wissen, Herr Thumser, es is Sie schon vor eener
Viertelstunde eene sähre hiebsche, junge Dame dagewesen und hat mich
gefragt, ob der Herr Pilgram mächte uff der Kneipe sinn. Nu, da hab'ch
ihr natierlich nur kennen sagen, daß der Herr Pilgram ieberhaupt nich
mehr wirde uff Kneipe komm' -- und da is se denn wieder abgemacht. Ich
kann Ihn' nur sagen, Herr Thumser, sähr ä hiebsche Dame is es gewesen!
Nobel, püh, ich kann Ihn' sagen, Herr Thumser --!«

Hans Thumser war einen Augenblick stehengeblieben. Wirre Vermutungen
schossen hin und wider. Pilgram --? Und eine Dame, die nach Pilgram
fragte? Was für unwahrscheinliche Begebenheiten -- auch nicht den
Schimmer eines Verständnisses fand Hans.

Wer konnte die Dame sein, die Pilgram auf der Frankenkneipe vermutete
--? Was wollte Pilgram von ihm selber --?!

Nun -- man würde ja hören ... Und abermals straffte Hans den Nacken und
öffnete die Tür zum Korridor.


Herzklopfend, von Glut und Frost hin und wider geschüttelt, war Asta
Thöny vor dem Cafébaum aus der Droschke in den weichen Schnee
gesprungen, der nun schon fußtief Bürgersteig und Fahrdamm der schmalen
Gasse überzog. Ob ihr Retter wohl schon drüben sein mochte?

Hell erleuchtet glänzten die Fenster des ersten Stocks in das
schummerige Dunkel der Straße hinaus, während die ragenden Fronten der
geschwärzten Gebäude ringsum nur noch wenige matte Lichtspuren zeigten.
Auf der Kleinen Fleischergasse wohnte nur bescheidenes Bürgertum, da
ging man früh zur Rast.

Asta trat auf das jenseitige Trottoir und spähte hinauf. Ab und an
huschte droben schattenhaft der Umriß einer jungen bemützten
Männergestalt vorüber. Durch die verschlossenen Doppelfenster drang
Lachen, vielstimmiges Gespräch, Tabakwolken kräuselten zur Decke,
Wappenschilder, Schläger blinkten an den Wänden -- sonst war nichts zu
erkennen.

Es blieb nichts übrig: Asta mußte sich in das dunkle jahrhundertalte
Gebäude hineinwagen, mußte fragen, ob droben Herr Pilgram schon
eingetroffen. Mit versagendem Herzschlag kletterte sie die winklige,
dunstige Stiege hinan, hielt einen Augenblick vor der Tür still, an der
ein grün-gold-rotes Farbenschild angebracht war und ein längliches
Porzellanschildchen mit der Aufschrift:

                           »Corps Franconia.«

Drinnen klang lauter nun Lärm und Gelächter. Was half's -- sie mußte es
wagen ...

Eine schrille Klingel schlug an, Schritte tappten heran, ein ältliches,
gerötetes, glattrasiertes Männergesicht lugte durch den Spalt und
blinzelte befremdet, als es des ungewohnten Besuches ansichtig ward.

Mit stammelnden Lippen fragte Asta, ob Herr Pilgram schon angekommen.
Verblüfft grinste der Türhüter und erklärte: Herr Pilgram gehöre nicht
mehr zum Korps, er komme überhaupt nicht mehr.

Gottlob -- also jedenfalls noch nicht zu spät gekommen ...

Und Asta huschte wieder die Treppe hinunter, stapfte in den Schnee
hinaus und patrouillierte auf dem jenseitigen Bürgersteig,
frostgeschüttelt, erwartungfiebernd.

Ab und zu kam noch eine grünbemützte Jünglingsgestalt und bog in den
schlechterleuchteten Flur des Cafébaums ein. Von Pilgram keine Spur! --
Ob er seinen Vorsatz aufgegeben hatte? Sie wußte ja nicht, was er
eigentlich geplant hatte, aber etwas Grausames, etwas Wildes, etwas
Schauerliches mußte es gewesen sein! Davon hatten seine Züge deutlich
genug gesprochen. Und geduldig trippelte das Mädchen auf und ab, ohne
einen Blick von dem schmalen Lichtspalt zu wenden, der durch die
angelehnte Tür des Restaurants auf die Straße lugte.

Der Schneefall hatte aufgehört. In winterlicher Schwermut gähnte die
menschenleere Straße. Und in die lautlose Stille, welche die abendliche
Stadt überlagerte, klang nun von drüben ein munterer Burschensang,
gedämpft durch die Doppelfenster, doch deutlich vernehmbar. Die Weise
meinte Asta zu kennen, aber Worte dazu wußte sie nicht. Ach, da oben war
er, der liebe, böse Junge ...

Schau! zur Rechten, vom Marktplatz her glitt lautlos ein riesiger
Schatten heran, scharf abgezeichnet von dem weißen Grunde der Straße,
vom gelben Lichthof, den die Laternen in die Nebel der Nacht zeichneten.

Er war's! Mit raschen Schritten steuerte er dem »Cafébaum« zu. Da schoß
Asta über den schmalen Straßendamm, traf hart an der Tür auf Pilgram:

»Herr Pilgram -- ach, Herr Pilgram!«

Gesenkten Blickes war jener geschritten, nun schrak er zusammen bei der
unerwarteten Begegnung.

»Ah -- Sie, mein gnädiges Fräulein? -- Ja, um Gottes willen, sind Sie
denn toll? Warum nicht im Bett -- warum hier -- was soll das heißen?!«

»Ich hatte solch entsetzliche Angst, Herr Pilgram!«

»Angst? Was fällt Ihnen ein! Angst? Um wen?«

»Um Sie, Herr Pilgram, um Sie und ... ach! Sie wissen's ja ... um wen --
um wen noch. Herr Pilgram, ich bitte Sie -- ich flehe Sie an, was haben
Sie vor gegen Herrn Thumser?«

Flehend hatte sie mit beiden Händen den linken Arm des Studenten
umklammert.

»Aber Verehrteste ... ich begreife faktisch nicht ... wie kommen Sie auf
derartige Vermutungen?«

»Ach, ich weiß ... ich weiß ... Sie wollen sich rächen an Herrn Thumser!
Ich weiß alles -- alles weiß ich ... Fräulein Buchner, meine Kollegin --
Sie sind für sie eingetreten damals ... und dann ... dann hat sie sich
schlecht gegen Sie benommen ... und Sie, Sie hatten doch so viel für sie
dahingegeben, nicht wahr, so war's doch? Und heut -- heut ist Herr
Thumser bei Fräulein Buchner zum Tee gewesen, nicht wahr? ... Und Sie,
Sie haben das gehört und sind wütend auf ihn -- weil Sie denken, er hat
mehr Glück bei Fräulein Buchner als Sie nicht wahr? O, gestehen Sie's
nur, es ist ja keine Schande -- und dann, dann haben Sie mich gefunden
da draußen und denken, er hat mich auf dem Gewissen ... Sie sehen, ich
weiß, ich weiß alles. Und nun, nun wollen Sie ihn -- ich weiß nicht, was
Sie mit ihm machen wollen, aber etwas Schreckliches ist's gewiß. Sehen
Sie -- Sie schweigen -- sehen Sie, ich habe alles begriffen, alles!
Ist's nicht so?«

Mit zusammengekniffenen Lippen, die Augen fast geschlossen, regungslos
hatte Valentin Pilgram den Schwall dieser bebenden Fragen über sich
dahinschauern lassen. Mit grimmiger Scham fühlte er sich durchschaut,
fühlte den geheimsten Trieb seines Wollens bloßgelegt, den er vergeblich
mit dem lügnerischen Pomp eines Rächers verratener Ehre verhüllt hatte,
und der doch nichts anderes war im letzten Grunde als der Neid des
Verschmähten gegen den Glücklichen, als Eifersucht -- ganz ordinäre,
banale Eifersucht ...

Doch nein, das war ja nicht wahr -- das durfte ja nicht wahr sein! Da
oben klang der muntere Burschensang -- da oben tafelte die Runde derer,
die sich Mitglieder des ältesten Korps der Hochschule nennen durften,
die das grün-gold-rote Band tragen durften, das nur den Makellosen
schmücken soll. Und in ihrer Mitte saß einer, der doppelten Verrats
schuldig war: an dem Gefährten dreier Semester und an der Gesellin
glückseliger Liebesstunden.

Und er --? Er hatte auf all das verzichtet, verzichten müssen um der
Ehre willen. Hatte das einen Sinn? Durfte das so bleiben? Nein, beim
Himmel, das sollte es nicht, solange es einen Valentin Pilgram gab. Wenn
er denn schon selber die geliebten Farben nicht mehr tragen durfte,
deren er doch wahrhaft würdig war wie einer, sollte dann der andere sich
mit ihnen brüsten dürfen, der das Recht auf sie schmählich verscherzt
hatte ...?!

»Herr Pilgram,« klang's da in schmelzendem Flehen neben ihm, »so
sprechen Sie doch! Bitte, bitte, so sprechen Sie doch, habe ich nicht
recht?«

»Mein verehrtes Fräulein,« sagte der Student, indem er seinen linken
Arm der flehenden Umschlingung entzog, »ich bedaure, Ihnen über mein
Tun und Lassen keine Rechenschaft ablegen zu können. Es mag sein, daß
ich etwas Aehnliches, wie Sie denken -- nun, daß ich ... das gewollt
habe ... und noch will. Wenn es so ist, so dürfen Sie überzeugt sein:
ich weiß genau, was meine Pflicht ist ... Und darum muß ich Sie schon
bitten, mich gewähren zu lassen.«

Da trat ihm das Mädchen in den Weg, legte beide Hände auf seine
Schultern, brennende Augen starrten zu ihm empor, aus denen Tränen
rannen, hell aufblitzend im matten Lichtstreifen, der aus der Flurtür in
den Schnee der Gasse fiel:

»Nein -- nein, das dürfen Sie nicht! Mir zuliebe dürfen Sie's nicht ...
Ja, es ist wahr, wegen dem da oben hab' ich heute das Leben wegwerfen
wollen -- nun haben Sie mich gerettet -- aber wenn Sie ihm etwas zuleide
tun, dann ist alles aus, dann hätten Sie mich nur lieber gleich da unten
in der Pleiße lassen sollen ... Ich will nicht, daß ihm ein Leids
geschieht um meinetwillen -- ich will's nicht -- und Sie, Sie dürfen's
nicht -- Sie dürfen mich nicht wieder dahin zurückstoßen, woher Sie mich
heut abend geholt haben -- nein! Herr Pilgram, das dürfen Sie nun und
nimmermehr.«

»Gnädiges Fräulein,« sagte Valentin, »wenn es Sie beruhigen kann, so
will ich Ihnen versichern: das, was jetzt gleich geschehen wird, war
beschlossene Sache schon ehe ich Sie ... da draußen ... fand. Ich kann
mich nicht darauf einlassen, Ihnen das alles so auseinanderzusetzen. Was
Sie von mir denken mögen oder nicht denken mögen -- ich kann's bedauern,
aber ich kann's nicht ändern. Das alles muß nun seinen Lauf gehen.
Versuchen Sie nicht mich aufzuhalten, es hat keinen Zweck.«

Es sollte wohl nur ein sanfter Druck sein, mit dem die hageren Hände des
weiland Frankenseniors die runden Gelenke der Schauspielerin von seinen
Schultern lösten, doch er war unwiderstehlich, wie das Zupacken
stählerner Zangen. Mit der gleichen unerbittlichen Gewalt, mit der er
vor wenig Stunden des Mädchens Glieder der Flutenumschlingung entrissen,
schob er sie nun zur Seite, wie ein willenloses Püppchen, und war mit
zwei raschen Schritten im gähnenden Toreingang verschwunden.

Asta taumelte, als der Druck der gewaltigen Hände plötzlich nachließ.
Dabei trat sie unversehens einen halben Schritt rückwärts, geriet mit
dem Fuß in den lockeren Schneeaufwurf über dem Rinnstein, sank tief ein,
strauchelte, fiel in die Knie, stieß einen Schmerzenslaut aus: sie mußte
sich den Fuß verstaucht haben. Aber die heiße Angst um das, was werden
mochte, jagte sie wieder empor. Sie humpelte mit schmerzverzogenem
Gesicht zur Tür, stieß sie auf, lauschte hinein. Droben auf der Treppe
waren Pilgrams Schritte schon verhallt. Nur das Burschenlied brauste
noch immer weiter, klang und schwang durch das ganze altersmüde Gebäude.
In dem kleinen Restaurant des Erdgeschosses zur Linken das schläfrige
Stammtischgeschwätz, das Auftrumpfen der Karten, das Klappern der
Biergläser. Asta schlich durch den Hausflur, hinkte mühsam die Treppe
hinauf, stand wieder an der Tür mit dem Porzellanschildchen: Corps
Franconia, legte das Ohr an die dünne Holzwand und lauschte.

Ganz deutlich dröhnte nun ein neuer Vers des feierlichen Liedes da
drinnen, dazwischen halblaute Stimmen, es schien Pilgram zu sein,
welcher im Flur mit dem alten Mann verhandelte, der sie vorhin an der
Pforte beschieden. Aber dies leise Gespräch blieb unverständlich,
dagegen war der Text des Liedes Wort für Wort zu verstehen. In frohem
Trotz scholl die alte Jugendweise daher:

    »Lasset nicht die Jugendkraft verrauchen,
    In dem Becher winkt der gold'ne Stern!
    Honig laßt uns von den Lippen saugen,
    Lieben ist des Lebens süßer Kern!
        Ist die Kraft versaust,
        Ist der Wein verbraust,
    Folgen, alter Charon, wir Dir gern!«

Und nun plötzlich war das Lied zu Ende, ein paar unverständliche,
kommandoartige Worte klangen von drinnen, ein lustiger Aufschrei von
vielen Stimmen, dann munter durcheinander schwirrendes Stimmengewirr.
Einige Sekunden verflossen so: dann hörte Asta ganz deutlich, wie
drinnen eine Tür heftig aufgerissen wurde und jemand in den Flur trat --
und jetzt klang drinnen gedämpft, doch klaren, festen Klanges des
geliebten Jungen Stimme:

»Guten Abend, Pilgram -- Du hast mich zu sprechen gewünscht? Bitte, was
steht zu Deinen Diensten?«

Da fühlte Asta, wie der Puls ihres Herzens aussetzte. Ganz fest preßte
sie ihr Ohr an das glatte, ölgestrichene Holz, ihre froststarren Hände
umklammerten krampfhaft den messingenen Türgriff, und in schlotterndem
Lauschen vernahm sie jedes Wort, das drinnen gesprochen wurde, vernahm
sie alles, was drinnen geschah ...


Hochaufgerichtet standen die zwei schlanken Jünglingsgestalten einander
drinnen gegenüber in dem schmalen Flur, den nur eine schwelende
Petroleumlampe erleuchtete. Rechts und links hingen Kneipjacken und
Garderobenstücke an den Regalen, welche die Wände umzogen -- ein fader
Dunst von altem Tabak und Bierneigen füllte den dumpfen Raum. Hinter der
mittleren Tür, die zum Kneipzimmer führte, klang heftiges Stimmengewirr,
das stiller und stiller ward. Offenbar war man drinnen aufmerksam
geworden, daß hier draußen sich Ungewöhnliches vollziehe, wartete man
gespannt, wie das wohl werden möchte.

Hans Thumser hatte Pilgram die Hand hingestreckt. Der übersah sie, griff
stumm in die Brusttasche seines Rockes und reichte Hans Thumser einen
Brief hin.

»Lies!« sagte er.

Hans ließ die erstaunten Blicke hin und wider gleiten zwischen dem
Schreiben und dem, der es ihm gereicht, dann trat er in den Lichtbereich
des mattglänzenden Flurlämpchens und erkannte, daß der Brief mit
fahrigen, steilen Schriftzügen einer Frauenhand bedeckt war:

  »Sehr geehrter Herr! Ihr dankenswertes Eintreten für meine Ehre hat
  schnell den gewünschten Erfolg gehabt. Die beiden Herren, welche mir
  zu nahe getreten waren, haben mündlich bei mir um Entschuldigung
  gebeten. Ich danke Ihnen innigst für das große Opfer, das Sie mir
  gebracht haben ...«

Verblüfft ließ Hans den Brief sinken:

»Was soll ich damit?« fragte er, »was geht das mich an?!«

»Dreh doch gefälligst einmal den Bogen um!« befahl Pilgram in
ingrimmiger Ruhe.

Hans wandte den Bogen um und entdeckte mit grenzenlosem Staunen rechts
an der unteren Ecke der vierten Seite, auf dem Kopfe stehend, seine
Initialen und darüber den Frankenzirkel. Er drehte den Bogen um, und
richtig: es war kein Zweifel, das war einer von seinen eigenen
Briefbogen. Völlig verdutzt sah er den einstigen Korpsbruder an, um
dessen festgeschlossene Lippen ein mattes Lächeln des Triumphes irrte.

»Von wem ist der Brief?« fragte Hans Thumser mit unsicherer Stimme.

»Spiel' mir gefälligst keine Komödie vor!« brauste Pilgram auf.

»Aber ich versichere Dir, ich habe nicht den leisesten Schimmer.«

»Pfui Deubel -- nicht mal den Mut hast Du ... Gib her den Brief! Und nun
weiter! Warst Du heut' nachmittag bei Fräulein Buchner?«

»Aber ich verstehe faktisch nicht,« stammelte Hans. »Wenn ich Dir sage,
daß ich auch nicht die entfernteste Ahnung habe --!«

»Ich frage Dich, ob Du heut nachmittag bei Fräulein Buchner warst? Gib
Antwort -- oder ich mache kurzen Prozeß mit Dir!«

Nun richtete sich Hans denn doch aus der unsicheren Haltung verlegenen
Staunens zu seiner ganzen Größe auf. Zwar reichte er nicht an die
riesige Länge des einstigen Freundes, aber gleich straff emporgereckt
stand er ihm gegenüber, sah ihm von unten frei und trotzig ins Gesicht,
und funkelnd, wie zwei Säbelklingen in der Auslage, so blitzten das
braune, das blaue Augenpaar einander an.

»Ich frage Dich,« sprach er kalt gemessen, »was Dich berechtigt, mich in
einem derartigen Ton zur Rede zu stellen?«

»Das weißt Du.«

»Nein, ich weiß es nicht. Ich wünsche es von Dir zu hören.«

»Ich verzichte darauf, Dir Aufklärung zu geben. Ich wiederhole Dir meine
Frage -- willst Du antworten?!«

»Wer mich in diesem Tone fragt, bekommt keine Antwort!«

»Schön! Was wirst Du nun aber sagen, wenn ich Dir mitteile, daß in
derselben Stunde, in der Du bei Jucunda Buchner warst, Fräulein Asta
Thöny am 'Wassergott' in die Pleiße gesprungen ist --?!«

Da wurde Hans Thumsers fester Blick plötzlich stier und starr. Die
Kinnbacken klappten herunter, langsam schob sich seine Rechte an der
Brust empor, glitt tastend nach dem Achtzentimeterkragen.

»Das ist ... das ist nicht wahr!«

»Mein Ehrenwort, daß es wahr ist ... und Du weißt, scheint's, auch, wer
sie hineingetrieben hat?!«

Da umklammerte Hans Thumser plötzlich mit beiden Händen des ehemaligen
Korpsbruders Arm und stammelte, schlotternd vor Entsetzen:

»Sie ist tot?!«

Valentin Pilgram machte sich frei, trat einen halben Schritt zurück.

»Ich hatte das Glück sie zu retten ... bedank' Dich also bei mir, daß Du
nicht als Mörder vor mir stehst.«

Ein stöhnender Laut, ein Jauchzen halb und halb ein Schluchzen brach aus
Hans Thumsers Brust zwischen den zusammengebissenen Zähnen hervor:

»Erzähl' doch -- so erzähl' mir doch.«

»Nein,« sagte Valentin Pilgram hart, »Du hast Fräulein Thöny von Dir
gestoßen -- es mag Dir genügen, daß sie lebt -- alles weitere geht Dich
nichts mehr an.«

»Also was willst Du von mir?« schrie Hans Thumser, »sag' mir endlich,
was Du von mir willst?!«

»Du sollst bekennen, daß Du ein elender, wortbrüchiger Bube bist ... Du
sollst das Korpsband da abziehen ... Du verdienst nicht mehr, es zu
tragen. Willst Du? Oder soll ich Dich dazu zwingen?«

Da straffte sich Hansens Gestalt aufs neue. Seine Fäuste ballten sich,
als erwarteten sie den Angriff des Feindes -- ja, des Feindes, denn was
in den blauen Augen drüben düster flammte, war Feindschaft --
Todfeindschaft ...

»Versuch's!« sagte er nur.

In diesem Augenblick ward die Tür zum Kneipzimmer hastig von drinnen
aufgerissen, blendender Lichtglanz quoll hervor, und hinter der Tür,
Kopf an Kopf, drängte sich das Korps: ein zu Tode erschrockenes
Jungmännergesicht hinter dem andern, ganz hinten stand man auf Stühlen
und Tischen, um das entsetzenerregende Schauspiel zu erreichen, wie da
zwei Jünglinge, die einst die gleichen Farben getragen, auf Leben und
Tod einander gegenüberstanden.

»Pilgram! Thumser!« schrie alles durcheinander, »um Gottes willen, was
habt Ihr nur?!«

Gleichzeitig schlug mit gellendem Schrillen die Etagenklingel an, und
gegen das Holz der Flurtür hämmerten matte Schläge, wie von einem zarten
Kinderhändchen. Und wie ein Schrei klang draußen das wimmernde Flehen
einer Frauenstimme:

»Herr Pilgram -- tun Sie's nicht, Herr Pilgram!«

Mit halbem Blick nur überflog Valentin Pilgram die hervordrängende Schar
der einstigen Korpsbrüder ... dann, als sei er noch allein mit dem
Gegner Aug' in Auge, wandte er sich wieder zu ihm und wiederholte:

»Also noch einmal: Gibst Du es zu, daß Du ein elender Schelm bist?
unwürdig des Bandes, das Du trägst?«

Mit eisiger Festigkeit hielt Hans Thumser des Feindes haßsprühenden
Blick aus.

»Geh!« sagte er, »das weitere findet sich morgen.«

In derselben Sekunde hatte Valentin Pilgram dem Gegner das Korpsband von
der Brust gerissen und es zu Boden geschleudert. Nun holte seine Rechte
weit aus, um ihm die Mütze vom Kopf zu schlagen. Im selben Augenblick
aber warfen sich die Korpsburschen mit lauten Entsetzensschreien auf
beide Gegner von hüben und drüben, trennten sie, alles schrie wie toll
durcheinander:

»Pilgram, Du bist wohl wahnsinnig!«

»Zurück, haltet Ruhe, zum Teufel!«

»Was fällt Euch ein?!«

»Wir sind auf Korpskneipe!«

»Schmeißt ihn hinaus, er hat hier nichts mehr zu suchen!«

»Laß gut sein, Thumser, er wird Dir Satisfaktion geben, morgen findet
sich alles -- morgen!«

Volkner, der Senior, brach sich Bahn durch die dicht zusammengekeilte
Schar der jungen Männer.

»_Silentium!_« schrie er. »Ich bin hier der Herr im Haus. Tritt vor,
Pilgram, was soll das, was fällt Dir ein? Dich hier einzudrängen und
Dich an einem von uns zu vergreifen? Du weißt, Du hast kein Recht mehr,
hier zu sein!«

Die Zucht vieler Semester, die eiserne Disziplin des Korps rief Pilgram
zur Besinnung zurück.

»Du hast recht, Volkner,« sagte er. »Habt die Freundlichkeit mich
loszulassen ... es wird nichts weiter passieren, verlaßt Euch drauf.«

Und ruhig und gemessen trat er vor den Senior:

»Verzeih mir -- ich hatte mich vergessen. Ich denke, Ihr verzichtet wohl
alle auf eine weitere Aufklärung ... dafür ist ja das Ehrengericht da.«

»Allerdings,« sagte Volkner, »dafür ist ja wohl das Ehrengericht da.«

»Gut,« sagte Pilgram. »Ich bitte das Korps also nochmals feierlichst um
Entschuldigung -- ich bin morgen vormittag bis ein Uhr in meiner
Wohnung. Guten Abend.«

Alles wich zur Seite. Noch einmal maß Valentin Pilgram mit kurzem Blick
der Todfeindschaft seinen Gegner, der schwer atmend, mit
rotunterlaufenen Augen, doch völlig gefaßt inmitten seiner Korpsbrüder
stand ... schritt zur Tür, riß sie auf.

Da bot sich ein unerwartetes Schauspiel: Auf der Schwelle kniete,
tränenüberströmt, zusammengekauert, ein Mädchen im grauen Pelzjackett.
Nun sprang sie auf die Füße, starrte mit angstverzerrten Zügen, blöden
Blicks in den Korridor hinein, in dem Kopf an Kopf Grünbemützte sich
drängten, warf sich dann jählings herum und floh wie gejagt die Treppe
hinunter.

Und langsam, schwerfälligen Schritts ging Valentin Pilgram von dannen
und ließ die Tür ins Schloß fallen.




                                  14.


Asta hatte nicht schlafen können. Das Fieber hatte in dem zierlichen,
doch kerngesunden Körperchen rumort -- doch der Gedankensturm, der ihr
Hirn durchbrauste, der Drang zu leben, zu helfen, ihr armes bißchen Sein
dafür einzusetzen, daß nicht unsagbar Entsetzliches geschähe -- dies
inbrünstige Wollen hatte die heraufbrauende Krankheit niedergeworfen.
Und früh um neun schon klopfte sie an Jucunda Buchners Tür.

Frau Kanzleirätin, noch in Nachtjacke und Unterrock, hatte hoch und
teuer geschworen, Jucunda sei noch nicht zu sprechen. Asta Thöny hatte
sich nicht abweisen lassen.

»Sie wird mir's danken, gnädige Frau!«

Aber Jucunda Buchner dankte nicht.

Aus unruhigen Morgenträumen voll ehrgeiziger Hoffnungen und
ahnungsvoller Beklemmungen hatte das Pochen der Kollegin sie
aufgeschreckt. Nun saß sie aufrecht im Bett, sehr ungnädiger Laune,
kaum, daß sie der Besucherin einen Stuhl anbot. Sie liebte es nicht,
sich unvorbereitet überraschen zu lassen.

Mit fliegenden Worten berichtete Asta: ihren Spaziergang an der Pleiße
verschwieg sie allerdings, um so genauer aber erzählte sie von dem
Renkontre zwischen Pilgram und Thumser auf der Frankenkneipe und sparte
nicht an grellen Farben. Sie war überzeugt gewesen, Jucunda würde
alsbald um Hans Thumsers willen mit allen Anzeichen des Entsetzens aus
dem Bette springen und Hals über Kopf zu dem Geliebten wollen, um ihm
nicht von seiner Seite zu weichen, bis die Gefahr an ihm vorübergegangen
war ...

Statt dessen sah Jucunda sie stillschweigend mit spöttisch
zusammengebissenen Lippen an, als sie hocherglühend ihren Bericht
geendet.

»Nun?« fragte Asta ganz erstaunt.

»Mir fällt etwas auf an Deiner Erzählung, liebes Kind,« sagte Jucunda.
»Du erzählst mir da von einem Auftritt, der sich auf der Frankenkneipe
zugetragen hat ... und zwar wenn ich recht verstanden habe, hast Du
nicht nur vom Hörensagen berichtet, sondern Du warst selber dabei
gewesen -- stimmt's oder stimmt's nicht?!«

Astas Wangen, vom heftigen Gang durch den Schnee gerötet, glühten noch
höher auf.

»Ja ... ich habe alles ... selbst mit angehört ...« gestand sie.

»Hm -- dann darf ich mir wohl die Frage gestatten: wie kommst denn Du
auf die Frankenkneipe?«

Astas Hände zupften unstet an den Falten ihres Rockes.

»Ja, wie soll ich Dir das ... erklären? Es ist ja auch ... eigentlich
gleichgültig ... wie ich hingekommen bin -- ich war eben ... da.«

»Nun, so gleichgültig kann ich das eigentlich nicht finden,« meinte
Jucunda. Sie lehnte sich zurück in die Kissen, stützte sich auf die
Ellbogen und fixierte die niedliche Kollegin mit überlegen spöttischem
Blick. »Na, also lassen wir das einstweilen mal dahingestellt. Aber: zu
welchem Zweck teilst Du mir denn das alles mit?«

»Ja, aber um Gottes willen, Jucunda, das geht doch nicht, das darf doch
nicht sein, daß die zwei guten Jungens sich totschießen Deinethalb!«

»Meinethalb?« Jucunda hatte sich hochaufgerichtet. »Wieso meinethalb?
Erkläre mir das!«

»Ja, aber Jucunda -- das ist doch ganz klar! Uebrigens, um Gottes
willen, der eine, der Pilgram, der wohnt doch hier nebenan, gelt, kann
der uns auch nicht etwa hören?«

»Beruhige Dich, liebes Kind, meine Mutter hat mir schon mitgeteilt, daß
er heut nacht nicht nach Hause gekommen ist. Also bitte, wie kommst Du
auf diesen Einfall?«

»Aber begreifst Du denn das noch immer nicht?! Der Pilgram ist doch nur
eifersüchtig auf den Thumser, weil Du ihn hast abfallen lassen und den
andern -- --«

»Und den andern?!« fragte Jucunda scharf. »Na, was denn! Bitte, was
denn?!«

»Nun, der andere ... ist denn der andere nicht gestern nachmittag bei
Dir ... bei Dir gewesen --?«

»Er war gestern nachmittag zum Tee bei mir, nu! Und was weiter?«

»Zum -- Tee --?!« fragte Asta mit einem halb wehmütigen, halb
verschmitzten Lächeln. »Nur zum Tee --?«

»Na! zu was denn sonst, bitte?!« fragte Jucunda heftig.

»Na, wir wollen nicht streiten,« meinte Asta. »Also: ob die zwei braven
Kerle sich Löcher in den Leib schießen Deinethalb, Dir ist's rund herum
egal, scheint's?!«

»Meinethalb? Ich weiß nicht, ob sie's meinethalb tun, mir haben sie's
nicht gesagt. Und übrigens -- ich möchte wissen, was ich daran ändern
kann, wenn die zwei sich's in den Kopf gesetzt haben, aufeinander
loszuknallen. Ich habe sie nicht geheißen, ich kann sie nicht hindern!«

Asta Thöny spielte mit den Zipfeln ihres Pelzjacketts und sann
angestrengt nach mit zusammengekniffenen Brauen. Dabei stieg eine helle
Freude, ja ein lustiger Uebermut langsam, aber immer mächtiger in ihr
empor. Das war ja eigentlich wunderschön, was sie da erfuhr. Sieh da,
Hanschen! Viel Glück scheinst du mit deinem Teebesuch bei der großen
Jucunda ja nicht gehabt zu haben! Und für das bißchen Ehre auch noch
totgeschossen zu werden -- nein, das wollen wir doch mal sehen, ob wir
das nicht hintertreiben können. Aber dazu brauchen wir ja wohl nicht die
große Jucunda -- das können wir uns schließlich auch allein verdienen
...

»Verzeih, liebe Jucunda,« sagte sie. »Ich habe mir eingebildet, Du
hättest was übrig für Hans Thumser, da habe ich mich also anscheinend
geirrt. Nun dann freilich --«

»Allerdings, mein Kind, da hast Du Dich geirrt. Vielleicht erinnerst Du
Dich daran, daß Herr Thumser zwanzig Jahr und ein Student ist. Es mag ja
Kolleginnen geben, die sich aus derartig -- ungaren jungen Herren was
machen. Ich für meine Person -- ich lege auf derartige Bekanntschaften
keinen Wert.«

Ach so, die Großartige willst du spielen! Na warte --!

»Wenigstens nicht, wenn's ein x-beliebiger Bürgerlicher ist, willst Du
sagen, nicht wahr? Wenn's freilich ein Prinz wäre -- das ist was andres,
gelt, Jucunderl, denn kann er so ungar sein wie er will, hab' ich
recht?«

Da fuhr Jucunda Buchner so heftig in die Höhe, daß Asta Thöny
unwillkürlich aufstand und einen halben Schritt zurückwich. Die schönen
Hände krallten sich, das majestätische Gesicht verzerrte sich zum
Ausdruck einer Medusa, die stahlblauen Augen funkelten Wut gleich den
Lichtern einer gereizten Katze:

»Was fällt Dir ein, was erlaubst Du Dir?!« Doch rasch glätteten sich
ihre Züge zum Ausdruck eiskalter Verachtung, sanken die schönen
Schultern nachlässig in die Kissen zurück, und mit einer Handbewegung,
gleich jener, mit der eine Königin eine unbotmäßige Kammerfrau entläßt,
befahl sie:

»Verlassen Sie mein Zimmer, mein Fräulein!«

Asta Thöny lächelte ihr boshaftes Spitzbubenlächeln. Sie sank in einem
tiefen Hofknix zusammen:

»Zu Befehl, Frau Marquise, wünsche gute Karriere.« Und schon war sie
hinaus.

Während sie die Katharinenstraße hinunterschritt und den Marktplatz
überquerte, dessen Schneedecke grell im duftumschleierten Lichte des
frühen Wintermorgens gleißte, fühlte sie sich fast erstickt von der
Seligkeit, die verhaßte Rivalin einmal bis aufs Blut geärgert zu haben.

So eine Hundeschnauze! so eine eiskalte! Tut, als hätte sie keine
Ahnung, daß sie es doch allein ist, die all den Unfug angestiftet hat in
den Brauseköpfen hüben und drüben -- Gott! und wer weiß, was für
Dummheiten sie sonst noch alles auf dem Gewissen hat! Ist nicht dies
ganze Nest wie verrückt nach ihr? Aber das ist das Blödsinnige an dem
Ruhm: hat unsereins sich erst mal durchgesetzt, dann liegt die Welt vor
ihr auf dem Bauch, und das verrückte Mannsvolk bringt sich um für das
Glück, von ihr mit Füßen getreten zu werden ...

Aber jetzt -- jetzt ist sie wild. Jetzt faucht sie zu Hause, jetzt hat
sie einmal gespürt, daß auch noch andere Katzen Krallen haben --!

Aber schau -- wer war denn das? Da kamen aus der Kleinen Fleischergasse
zwei grüne Mützen heraus, zwei Franken-Korpsburschen, sehr feierlich.
Der eine, der ältere, trug den Paletot nachlässig geöffnet, und man sah
darunter den bis hoch hinauf zugeknöpften Bratenrock ... Handschuhe
trugen sie, gestreifte Hosen und Gummigaloschen. Der ältere, den kannte
sie, den hatte ihr Hans einmal von ihrem Fenster aus gezeigt, es war
Volkner, der jetzige Häuptling des Frankenbundes. Ingrimmigen Ernst auf
den jungen Gesichtern, steuerten die zwei über den Marktplatz, bogen in
die Katharinenstraße und verschwanden in der Tür, die sie selber soeben
verlassen.

O Gott -- sie wußte, was die zwei zu suchen hatten bei Valentin Pilgram
da droben ... sie wußte: die sollten ihm Hans Thumsers Forderung
überbringen ... das waren die Kartellträger ...

Daß Hans Thumser kein Glück gehabt bei Jucunda ... und daß sie selber es
der verhaßten Rivalin einmal gründlich gegeben -- über dieses doppelte
Glück hatte Asta völlig den blutigen Ernst der Situation vergessen ...
Sie wußte: Kavaliere -- und waren sie auch erst seit ein paar Semestern
flügge geworden, wie die Herren Korpsstudenten -- die fackeln nicht
lange mit dem Austrag solcher Händel. Und wenn erst die Pistolen geladen
sind, dann kommt guter Rat zu spät ... und dabei mußte sie ja doch in
die Probe. Morgen abend war ja Abschiedsvorstellung -- »Wallensteins
Tod« -- und wenn sie auch nur ein winziges Röllchen hatte, das Fräulein
von Neubrunn, Theklas Gesellschafterin und Vertraute -- die Probe
versäumen, das hätte sie sich doch nicht getraut. Der stramme
Pflichtgeist, der das Meininger Ensemble beseelte, ließ einen solchen
Gedanken selbst in höchster Not niemals aufkommen. Schon dreiviertel
zehn, also höchste Zeit! Asta sprang in eine Droschke, befahl »Zum
Carolatheater!« und drückte sich fröstelnd in den verschlissenen Plüsch.
All ihr Uebermut war verweht. Was auf den starren, korrekten
Amtsgesichtern der zwei jungen Gesellen da gestanden hatte, das legte
sich wie eisig umklammernde Knochenfinger um ihr Herz.

Die zwei suchten Pilgram ... und wenn er jetzt noch nicht daheim war, er
würde kommen, sie würden ihn finden, würden ihre Botschaft ausrichten
... Und dahinter lauerte ein Schreckensbild: das Bild einer
tiefverschneiten Waldblöße, die in unberührter, weiter Fläche daliegt im
ersten Morgenschein ... Nun rollen von hüben und drüben zwei Wagen
heran, lautlos ... ein paar junge Männer entsteigen ihnen, rüsten sich
zu geheimnisvoll grausigem Tun -- nun treten sie alle rechts und links
zur Seite, und zweie nur bleiben inmitten stehen, wenige Schritte nur
voneinander, sie heben blitzende Läufe -- einer zielt nach des andern
Herzen ... und der eine von ihnen heißt Hans Thumser ...

Was tun? o Gott, was tun?!

Da, ein rettender Gedanke: Franz Burg ... der war doch einmal
akademischer Bürger ... Wenn einer der Meininger nicht mehr ein noch aus
wußte, ging er ja immer zu Franz Burg ...

Ja, das war's! Franz Burg mußte Rat schaffen. Aber wie den Gestrengen
erreichen? Wenn sie auf die Bühne kam, würde die Generalprobe bereits
begonnen haben -- und bis die beendigt war, durfte man dem Szenenleiter
mit nichts anderm kommen, aber auch mit gar nichts. Solange gehörte er
nur seinem Werk. Und jeder Versuch, ihn mit andern Dingen zu befassen,
würde höchstens eine erstaunliche Grobheit eingetragen haben.

Und darüber würde es drei Uhr werden ... Gott, was konnte inzwischen
alles geschehen! So lange war man machtlos, war man im Dienst ... war
man »Fräulein von Neubrunn, Hofdame der Prinzessin«.

Und die Prinzessin? -- Selbstverständlich Jucunda Buchner ... die große
Jucunda ...


Drei Uhr nachmittags.

Auf der Kneipe des Korps Misnia tagte das S. C. Ehrengericht zur
Entscheidung über die hängende Pistolenforderung des Korpsburschen eines
wohllöblichen C. C. der Franconia Thumser wider den früheren C. B.
Pilgram.

Der Kneipsaal, sonst nur »zu den festlichen Gelagen« bestimmt, war nun
zu verhängnisschwerer Tagung eingerichtet. An den hufeisenförmigen
Tischen saßen die Ehrenrichter, je zwei von jedem der fünf Leipziger
Korps, und von dem präsidierenden Korps Misnia noch ein dritter
Korpsbursch als Protokollführer.

Wie um das feierlich Eindrucksvolle des Femgerichts zu unterstreichen,
waren die Schlagläden heruntergelassen, und die gelben Flammen der
Gaslichtkrone warfen zuckende Reflexe auf die bunten Mützen, die
dreifarbenen Bänder, die blinkenden Scheiben der Klemmer und Monokels,
die schmißdurchsetzten Jugendwangen, die in feierlich offizielle Falten
gelegt waren.

Hans Thumser, als der Beleidigte, wurde zuerst gehört.

Mit knappen Worten berichtete er den Vorfall, der sich am gestrigen
Abend auf der Kneipe seines Korps zugetragen. Als er geendet, fragte der
Vorsitzende, Graf Schmettow, der Erste der Meißner, ein über die Maßen
patenter, hagerer Gesell, dessen linke Wange eine furchtbare Säbelnarbe
von der Schläfe über den Mundwinkel bis ins Kinn hinein durchzog:

»Danke, Herr Thumser. Ihre Erzählung ist natürlich so, wie sie da
vorgetragen worden ist ... äh ... nicht so recht verständlich ...
offenbar ist doch zwischen Ihnen beiden ... äh ... noch irgend etwas
andres vorgekommen ...? Wollen Sie uns auch darüber Auskunft geben, oder
wünschen Sie, daß zunächst sich Ihr Herr Gegner ... äh ... über den von
Ihnen vorgetragenen Tatbestand erklärt?«

Hans Thumser sann einen Augenblick nach. Astas Bild, Jucundas tauchte
einen Augenblick vor seinem Geiste auf. Hatte es einen Zweck, diese
Erlebnisse in die Verhandlung mit hineinzuziehen? -- Es war ja
schließlich ganz gleichgültig, wie das alles geworden war ... wie es
hatte kommen können, daß der einstige Korpsbruder ihm das Band von der
Brust gerissen ... das war nun einmal geschehen. Die Tat lag vor, nackt
und unerbittlich ... Für sie hatte er Sühne zu fordern -- sie zu
erklären war allenfalls des andern Sache, nicht die seine ...

»Ich habe vorläufig nichts weiter mitzuteilen, Herr Vorsitzender.«

Damit war er entlassen.

Und mit angespannter Neugier hingen nun die Blicke der jugendlichen
Ehrenrichter an der Reckengestalt des Jünglings, der so lange als der
Besten einer in ihrer Mitte gestanden hatte, dessen scharfe Klinge nicht
nur, dessen scharfes Wort, dessen ganzes vorbildliches Wesen einem jeden
stets den vollkommensten Respekt abgezwungen. Da war keiner im
Leipziger S. C., der nicht den Fall Pilgram mit brennendem Interesse,
mit aufrichtiger Sympathie verfolgt hätte. Und jeder hatte Gelegenheit
gehabt zu beobachten, wie Franconias einstiger Senior schon gar bald
nach seinem Ausscheiden aus dem Korps wie unter der Last eines
grundstürzenden Erlebnisses förmlich in sich zusammengesunken war,
verändert, verwildert, tiefster Verbitterung anheimgefallen.

Nun schien er wieder der Alte, zum mindesten in seiner äußeren
Erscheinung. Korrekt gescheitelt und gekleidet, in tadellosem Gehrock
und Lackschuhen stand er vor dem Ehrengericht, nur um seine Brust fehlte
das Band und auf seinem Gesicht das alte trotzig-heitere
Selbstbewußtsein ...

»Herr Pilgram,« begann der Vorsitzende, »ich brauche Ihnen nicht zu
sagen, worum es sich handelt. Herr Thumser Franconiae hat Ihnen eine
Pistolenforderung auf fünfzehn Schritt Barriere und Kugelwechsel bis zur
Kampfunfähigkeit übersandt wegen eines Renkontres, das Sie mit ihm
gestern abend gegen neun Uhr auf der Frankenkneipe gehabt haben.
Entsinnen Sie sich der Ausdrücke, die Sie gebraucht haben, und ist es
Ihnen auch bewußt, daß Sie ihm das Korpsband von der Brust gerissen,
dann zum Schlage ausgeholt haben, und nur durch das Dazwischentreten der
Herren Korpsbrüder des Herrn Thumser verhindert worden sind, Herrn
Thumser noch weiter tätlich anzugreifen?«

»Allerdings,« erklärte Pilgram ruhig. »Ich entsinne mich des Vorfalls
genau. Ich war vollständig Herr meiner Sinne und übernehme für meine
Handlungsweise die volle Verantwortung.«

»Sie sind also bereit, Herrn Thumser die standesübliche Genugtuung mit
der Waffe zu geben? Und haben andrerseits nicht die Absicht,
irgendwelche andere Formen der Sühne in Vorschlag zu bringen?«

»Nein!« sagte Valentin Pilgram.

Einer der Ehrenrichter bat ums Wort. Herr ten Brink, der Erste
Chargierte der Guestphalia, ein langer, semmelblonder, sommersprossiger
Sohn der roten Erde.

»Es ist mir was aufgefallen in der Erzählung des Herrn Thumser,« sagte
er. »Herr Thumser hat erzählt, Sie hätten ihm einen Brief zu lesen
gegeben, dessen Inhalt ihm vollständig unbekannt gewesen sei. Wollen Sie
sich über diesen Punkt vielleicht auslassen?«

»Darf ich mir die Frage gestatten, Herr Vorsitzender,« erwiderte
Pilgram, »ob Herr Thumser über diesen Punkt bereits nähere Erklärungen
gegeben hat?«

»Nein!« sagte Graf Schmettow. »Wir haben vorläufig darauf verzichtet,
uns überhaupt mit der Frage zu beschäftigen, was für ... äh ... Motive
hinter dem ... Renkontre vorhanden gewesen sein mögen.«

»Dann --« sagte Valentin Pilgram, »dann würde ich für meine Person
vorziehen, diese Seite der Sache ebenfalls unerörtert zu lassen,
vorausgesetzt, daß ein hohes Ehrengericht nicht seinerseits darauf
besteht.«

»Ich verstehe,« sagte der Vorsitzende. »Die Herren scheinen also einig
darüber zu sein, daß der Tatbestand der Beleidigungen lediglich an und
für sich hier zum Gegenstand der Verhandlung gemacht werden soll, ohne
daß auf ihre Veranlassung weiter einzugehen sein würde -- aus Gründen
der Diskretion vermutlich, nicht wahr?«

Pilgram nickte stumm.

»Wenn ich recht verstehe,« fuhr der Vorsitzende fort, »so stellen die
beiden Herren Gegner sonach den Sachverhalt übereinstimmend dar. Danach
würde wohl eine Vernehmung von Zeugen und jede weitere Aufklärung des
Sachverhalts erübrigen, nicht wahr, meine Herren?!«

Zustimmend nickten die Ehrenrichter, und der Vorsitzende entließ den
Beleidiger.

Die Beratung war nur kurz. Der Fall lag ganz klar: es handelte sich um
eine tätliche Beleidigung, die zur Ausführung gekommen war, und um eine
solche, deren Ausführung nur durch das Eingreifen Dritter verhindert
worden war. Die erstere, das Abreißen des Korpsbandes, kam an Schwere
der zweiten, vereitelten mindestens gleich. Neben diesen Realinjurien
spielen die vorgefallenen wörtlichen Beleidigungen nur eine
nebensächliche Rolle. Der Beleidiger hatte zugegeben, bei klarem
Verstande und wohlüberlegt vorgegangen zu sein. Unter diesen Umständen
war es vollkommen klar, daß die Forderung genehmigt werden mußte, und
zwar ohne daß ein Anlaß vorlag, die sehr scharfen Bedingungen zu
ermäßigen.

Schon neigte sich die Verhandlung ihrem Ende, da erbat Herr ten Brink
Guestphaliae Erster noch einmal das Wort:

»Ich weiß nicht, meine Herren, die Sache kommt mir eigentlich ein
bißchen merkwürdig vor. Die Geschichte mit dem Brief will mir nicht
aus dem Kopf, ich habe das Gefühl, da steckt ein Mißverständnis hinter.
Ich meine, das Ehrengericht ist doch schließlich nicht bloß dazu da,
über eine Forderung zu entscheiden -- ich meine, unter Umständen wäre es
doch unsere verdammte Pflicht und Schuldigkeit, Mißverständnisse
aufzuklären ... kurz, zwischen den Parteien zu vermitteln. Ich meine,
wir sollten in diesem Fall doch ein wenig genauer auf die Vorgeschichte
des Renkontres eingehen. Um so mehr, als meines Erinnerns Herr Thumser
geäußert hat, der fragliche Brief sei von einer Dame geschrieben
gewesen. Na, meine Herren, wir wissen doch alle, wenn die Weiber in so
'ne Affäre hineinspielen, dann ist es meistens halb so schlimm.«

Ein kurzes, verständnisinniges Schmunzeln auf allen Gesichtern, das aber
schnell der gewohnten, feierlichen Korrektheit wich. Der Vorsitzende
meinte:

»Ich halte uns nicht für befugt, in die persönlichen Angelegenheiten
der Kontrahenten einzudringen, wenn diese nicht selbst Wert darauf
legen. Ich glaube -- der Versuch einer Vermittlung zwischen den Herren
würde ... äh ... eine Ueberschreitung unserer Kompetenz sein ... und
zugleich ein Eingriff in die Verfügungsfreiheit der Herren, den sie sich
nicht gefallen zu lassen brauchten. Aber ich weiß nicht, wie die anderen
Herren darüber denken? Bitte sich zu äußern!«

Es stellte sich heraus, daß ten Brink mit seiner Auffassung ganz allein
stand. So wurde denn die Forderung mit den Stimmen aller Ehrenrichter
gegen die seinige genehmigt und dies den beiden Parteien mitgeteilt.

Das Schicksal war gefallen.

Gleich nach dem Ehrengericht traten die Sekundanten der beiden Parteien
zusammen. Volkner für Thumser und Herr Borgmann Neo-Borussiae Erster für
Pilgram. Sie verabredeten als Platz für das Duell die Heiderwiese, eine
Waldlichtung im Ratsholz, südwestlich von Connewitz, unfern des linken
Pleißeufers, am Reitwege nach Gautzsch, und als Zeit für die Austragung
punkt sechs Uhr am folgenden Morgen.

Hiervon benachrichtigten sie ausschließlich den Grafen Schmettow und
ersuchten ihn, als Senior des derzeit präsidierenden Korps das Amt
eines Unparteiischen zu übernehmen.

Dann wurden die Korpsdiener unter Hinweis auf ihre Pflicht zu absoluter
Verschwiegenheit ins Vertrauen gezogen und angewiesen, den
Pistolenkasten instandzusetzen, Wagen zu bestellen. Den Vertrauensarzt
des S. C. in derartigen Fällen, den Sanitätsrat Dr. Collwitz, einen
Alten Herrn der Neo-Borussia, übernahm Herr Borgmann zu bestellen.

Diese Vereinbarungen hatten im Konventszimmer der Misnia stattgefunden,
welches den Herren für diesen Zweck zur Verfügung gestellt war. Nun
verabschiedete man sich voneinander mit dem üblichen Händedruck bei
hochgehobenen, eingewinkelten Ellenbogen und zeremonieller Verbeugung.

Volkner begab sich in eine gegenüberliegende Konditorei, in der Hans
Thumser seine Mitteilungen abwartete, und benachrichtigte ihn vom
Geschehenen.

Das alles geschah in kurzen, formelhaften Wendungen. Kein Wort wurde
gesprochen zwischen den beiden jungen Leuten, das über das sachlich
absolut Notwendige hinausging. Jeder mußte die letzte Kraft aufwenden,
Haltung zu bewahren angesichts des Grauens, das von diesem Unabwendbaren
ausging, von diesem Unabwendbaren, das nun herankroch mit dem
schleichenden Schritt der Sekunden und Minuten; das sich vollenden
mußte, bevor es abermals Tag geworden.


Nach Schluß der Probe mußte Asta lange warten, bevor sie den
Oberregisseur für sich allein bekam. Tausend Geschäfte, tausend Bitten
drängten sich noch an ihn heran. Schließlich wurde es ihm zu toll:

»Kinder, ich bin auch nur ein Mensch und muß heut abend den Wallenstein
spielen. Jetzt schert Euch gefälligst alle zum Teufel! Ich will
schlafen.«

Asta schoß hinter ihm drein.

»Meister, eine Bitte, Sie müssen mich anhören, es geht um Tod und
Leben!«

»Und wenn's um sechsundzwanzig Paar Regensburger Würschte geht, ich kann
nicht mehr.«

»Helfen Sie mir, Meister, oder soll ich hier auf dem Korridor einen
Kniefall tun?«

»Nützt Ihnen auch nichts, kommt alle Tage vor. Lassen Sie mich in
Frieden!«

Asta brach in Tränen aus und hängte sich an des Davonhastenden Arm.

»Pah!« brummte der, »auch noch flennen! nützt Dir auch nichts, kommt
auch alle Tage vor!«

Aber er schüttelte sie doch nicht ab, als sie sich an seinen Arm hing
und das feuchte Gesichtchen an seiner Schulter barg -- als sie sich
hinter ihm in seine Garderobe drängte.

»Also in drei Teufels Namen, was gibt's? Aber kurz, bitte!«

Er ließ seine lange Gestalt mit einem Grunzen halb des Grimms, halb des
Behagens auf das schminkfleckige Sofa fallen. Wies der Besucherin mit
Handwink den Frisierstuhl als Sitzgelegenheit. Asta drehte den Stuhl
herum, hockte auf seiner vordersten Kante, erzählte stockend, befangen,
verwirrt ...

Als sie schwieg, tippte Franz Burg mit dem Mittelfinger der Rechten auf
seine Brust und zuckte ein paarmal langsam die Schultern. Seine Brauen
waren hochgezogen, um die schmalen Lippen spielte in tausend Fältchen
ein Mephistoschmunzeln.

»Sie sollen mir raten, was ich tun soll, Meister!«

»Ja, Kindchen, soweit ich aus der Geschichte klug geworden bin, handelt
es sich also um zwei Studenten, und einer von ihnen ist momentan
Quartiergast in dem Kämmerchen da drüben unter Ihrem Pelzjackett, das
freilich, soviel mir bekannt ist, häufig seinen Mieter wechselt. Aber,
wat sall ick dorbi dauhn?«

»Einen Rat -- einen Rat will ich, lieber Herr Burg. Sie sind doch
Student gewesen -- was fängt man nur an, um die zwei wieder
auseinanderzukriegen? Was soll ich tun, sagen Sie mir, was soll ich
tun?!«

»Die Karre laufen lassen, wie sie laufen will! Ich bitt' Sie -- die
jungen Leute müssen doch was erleben ... Sehen Sie sich doch um in der
Welt! da geht ja heute alles so verflucht ehrbar, korrekt und
vorschriftsmäßig zu, es passiert nichts -- und passieren muß doch was in
der Welt ... wovon sollen wir denn sonst leben, wir armen Komödianten,
und die Poeten, die für uns Komödie schreiben! Ist ja 'n wahrer Segen,
daß wenigstens auf deutschen Hochschulen noch manchmal 'n bißchen
gerauft und geknallt wird. Ich freue mich immer, wenn ich sehe, daß noch
Leidenschaft in der Jugend drin steckt ... daß noch Tragödien passieren.
Das wäre ja doch ein wahrer Jammer, wenn man so was hintertreiben
wollte.«

»Aber wenn nun ein Menschenleben dabei zugrunde ginge, bedenken Sie
doch, Meister! So ein blühendes, herziges, junges Studentenleben!«

»Na -- wenn schon!« knurrte Burg, »Studenten gibt's doch weiß Gott genug
auf der Welt. Eine große Sensation ... eine -- na, einen Stoff -- das
ist wahrhaftig so'n Allerweltsstudentenleben wert!«

»Herr Burg, Sie sagen Allerweltsstudentenleben ... das stimmt hier aber
nicht; der eine, das ist kein Allerweltsstudent, das ist was ganz
Besonderes --«

»Der eine? Also =Ihrer= selbstverständlich, nicht wahr?«

»Gott ja, meiner, wenn Sie wollen.«

»Nun, was ist denn so Besonderes an ihm?!«

»Er ist ein Dichter! Ach, so wundervolle Gedichte macht er. Wenn ich
doch nur eins bei mir hätt'!«

»Sieh, sieh!« schmunzelte der Oberregisseur. »Also ein zukünftiger
Bühnenlieferant. Na, dann soll er sich erst recht schießen!«

»Aber Herr Burg ... um Gottes willen!«

»Ja gewiß soll er. Entweder er geht drauf -- na, in Gottes Namen: er ist
der erste nicht. Wie mancher Homer ist blind geworden, =ehe= er Zeit
gehabt hat, die Welt, das Leben so tief in sich hineinzusaugen wie der
alte Griechenbarde ... Wie mancher Aeschylos mag in der Seeschlacht
gefallen sein, wie mancher Schiller auf der Karlsschule in Verzweiflung
und Verblödung hineingeknutet ... Das ist Kismet ... Wenn er aber übrig
bleibt, glauben Sie nicht, daß er dann ein ganz andrer Kerl ist wie
vorher, wenn er mal dem Tode ganz nahe ins Gesicht gesehen hat? Glauben
Sie nicht, daß er Ihnen nachher noch viel schönere Verse machen wird;
daß er noch 'ne ganz andere Nummer von Tragödie zustandebringt, wenn er
erst mal erlebt hat, wie einem zumute ist, der die Nase hinhalten muß,
wenn's drüben blitzt und knallt?«

Asta sprang auf, rannte schluchzend zum Fenster.

»Das ist entsetzlich, Herr Burg, das ist grausam!«

»Ne, das ist klug, das ist weise, Kindchen!«

»Also gut!« schrie die Kleine, warf sich herum, stand mit geballten
Fäusten vor dem Oberregisseur, das reizende Gesicht von Grimm und Haß
verzehrt. »Also gut! Sie sollen sich schießen ... einer soll auf dem
Platze bleiben, alle beide -- was kommt dabei heraus?! Nur eine neue
Reklame für sie, für die große Jucunda! Was wird's heißen? Zwei
Studenten haben sich geschossen ... wegen ihr, wegen Jucunda Buchner!
Das ist's ja auch, was sie will, darauf hat sie's ja auch angelegt mit
allem Raffinement, die Katze, die verdammte! Der ist's recht, wenn ein
paar so fesche junge Kerle zum Teufel gehen ihretwegen -- das paßt ihr
grad in ihren Kram, dem hundeschnauzenkalten Weibsbild, das an nichts
denkt -- nur an sich, nur an sich!«

»Ach so!« lächelte Franz Burg. »Da zielt's hinaus! Mag sein, Sie haben
recht, Kindchen ... Vielleicht ist unsere große Jucunda wirklich eine
ganz haarsträubende Egoistin -- aber ich wollte zu Ihrem Besten, Kleine,
Sie selber wären's auch. Wenn Sie das erfreuliche Temperament, das Sie
anscheinend im Leben besitzen, ein bißchen mehr zusammenhielten und auf
Ihre Kunst losließen, statt auf Ihre ... auf die Mieter Ihres
Herzenskämmerleins -- glauben Sie mir, Sie wären eine größere
Künstlerin, als Sie's leider sind. Sagen Sie mir nichts gegen die
Jucunda, die ist ganz gut so wie sie ist. Die ist, was Sie nicht sind:
eine Komödiantin. Die fühlt und weiß, wozu sie auf der Welt ist: nämlich
zum Komödienspielen! Lieben und sich lieben lassen -- schöne Sache, o
ja, für die andern, für die Alltagsweiber -- aber nicht für Euch.
Zusammenhalten sollt Ihr Eure Glut, kalt wie Hundeschnauzen sollt Ihr
meinetwegen sein im Leben, wenn Ihr nur abends, sobald der Lappen in die
Höhe fliegt, Vulkane seid, wie die Jucunda einer ist! -- Na, haben Sie
noch weiter Schmerzen, Kleine?«

Gesenkten Blickes, mit zuckendem Kinn hatte Asta die Standrede des
Meisters über sich ergehen lassen. Nun warf sie den Kopf trotzig in den
Nacken, stampfte mit dem Fuß auf:

»Ich will aber nicht, ich will nicht, daß der lange Pilgram mir meinen
süßen Jungen totschießt! Wollen Sie mir helfen, wollen Sie mir einen
vernünftigen Rat geben?! Oder soll ich meiner Wege gehen?«

»Hm ... also das sage ich Ihnen, Astachen, gehen Sie weg vom Theater,
aus Ihnen wird niemals was. -- Also, wenn's denn absolut sein muß, die
Sache ist doch entsetzlich einfach: Wenn Studenten Dummheiten machen,
dann steckt man sich hinter ihre Eltern. Leben die respektiven Herren
Väter noch?«

»Beide, soviel ich weiß.«

»Na also, und wo wohnen sie denn, die würdigen Erzeuger der beiden
Hitzschädel?«

»Der eine wohnt da hinten im Rheinland irgendwo, soviel ich weiß.«

»Welcher? Ihr moralischer Schwiegerpapa oder der andere?«

»Nein, der =eine=,« sagte Asta, und das alte Schelmenlächeln blitzte
durch Grimm und Tränchen wieder hindurch.

»Also an den wird bis morgen nicht dranzukommen sein -- und der andere?«

»Der andere, der ist, soviel ich weiß, irgendein hohes Tier in
Dresden!«

»Teufel, das trifft sich ja glänzend! Also, setzen Sie sich auf die
Bahn, Kindchen, und rücken Sie dem Alten -- wie heißt er? -- dem alten
--?«

»Pilgram,« half Asta ein.

»Also, rücken Sie dem alten Pilgram auf die Bude und petzen Sie ihm, daß
sein wackerer Sprößling seinen Monatswechsel dazu mißbraucht, statt
hinter seinen Büchern zu hocken, andern jungen Leuten Löcher in den
Bauch zu schießen. Ich wette, dann entwickelt sich alles weitere
historisch.«

Asta sprang auf den Oberregisseur zu, der noch immer langhingestreckt
auf dem schminkfleckigen Sofa lag, fiel ihm um den Hals und küßte ihn
stürmisch.

»Ach, Franzel, Sie sind doch der Allerbeste! Das wird gemacht, das ist
die Rettung!«

»Aber bitte, erst nach dem 'Lager' -- die kleine Oerzen ist krank
geworden. Sie spielen heut abend die Gustel von Blasewitz. Nachher
reisen Sie meinetwegen, wohin Sie wollen.«

»Ich danke Ihnen, oh, ich danke Ihnen tausendmal, Sie Goldiger!«

»Es ist ein Skandal,« knurrte Franz Burg. »Da hat unser Herrgott endlich
mal wieder eine richtiggehende Tragödie angelegt, und so ein dummes,
kleines Gör zerreißt ihm das Konzept und macht eine Posse draus!«




                                  15.


Wenige Minuten nach halb zwölf stieg Asta Thöny am Böhmischen Bahnhof in
Dresden aus dem Leipziger Schnellzuge. Sie hatte schon in Leipzig das
Dresdener Adreßbuch eingesehen und festgestellt, daß der
Senatspräsident am Oberlandesgericht Heinrich Pilgram in der
Marschallstraße Nummer zweiundzwanzig wohnte.

In dem milderen Klima der Residenzstadt war der Neuschnee des gestrigen
Tages schon geschmolzen und hatte das Pflaster mit einer zähen
Schlammkruste überzogen. In den Straßen war schon alles Leben erstorben.
Trübselig spiegelte sich der Schein der Straßenlaternen in den Kotlachen
der überschwemmten Rinnsteine. Trübselig klapperte der Gaul durch die
physiognomielosen Straßen der Vorstadt und durch die kaum angebauten
Alleen an der Grenze der Altstadt.

Eigentlich doch ein wahnsinniger Plan: um Mitternacht einer wildfremden
Familie auf die Bude zu rücken! Aber schließlich, man hatte doch wohl
alle Veranlassung, ihr dankbar zu sein. -- Endlich: da stand sie vor der
Pforte einer vierstöckigen Mietskaserne, und während der Wagen von
dannen rollte, riß sie sich schier die Hände ab in dem Bemühen, den
Portier zu alarmieren.

Ein Tattergreis, der hastig Hose und Rock über sein Nachtgewand gezogen,
mit wirrem Graukopf und schlampigen Pantoffeln empfing sie, bösartig
knurrend, und war nur durch etliche Markstücke so weit zu bezähmen, daß
er sie bei der schwankenden Beleuchtung einer schwelenden Handlaterne
bis zum dritten Stock hinaufbegleitete, wo ein Porzellanschild mit der
Aufschrift »Pilgram« an einer breiten, mit Vorhängen abgeblendeten
Glastür den Eingang wies.

Drinnen alles finster.

Wahnsinnige Situation! Aber was half's! Die Klingel schrillte, und zu
Astas freudiger Ueberraschung erschien schon nach wenigen Minuten ein
verschlafenes Dienstmädchen, das entsetzt zurückprallte, als es der
fremden, eleganten Dame ansichtig wurde.

Die Herrschaften seien in Gesellschaft, würden aber wohl bis ein Uhr
wieder zurück sein ...

Den unbekannten Besuch in die Wohnung einzulassen, dazu war das Mädchen
nicht zu bewegen, und so mußte Asta unter Führung des Tattergreises
abermals die drei Stiegen hinunter, um draußen auf der ganz verlassenen
Straße in Schlamm und Tauwind auf und ab zu patrouillieren, wie sie
abends vorher im Schnee auf der Kleinen Fleischergasse auf- und
abpatrouilliert war ...

Endlich nach einer Stunde Wartens nahten von der Altstadt her vier
vermummte Gestalten: ein Herr im Zylinder, den Rockkragen
hochgeschlagen, und drei Damen, eine kugelrunde und zwei schlanke,
hochgewachsene, in Abendmänteln und Kapuzen.

Im Augenblick, als der alte Herr den Schlüssel einschob, um zu öffnen,
trat Asta auf ihn zu:

»Um Verzeihung! Ich habe wohl die Ehre, Herrn Präsidenten Pilgram ...«

Der alte Herr richtete sich aus seiner gebückten Stellung auf, stand
völlig verblüfft, musterte die Fragerin.

Im selben Augenblick sah Asta durch goldgefaßte Brillengläser hindurch
zwei scharfe, klare Augen mit durchdringendem Blick auf sich gerichtet.

»Allerdings! Ich heiße Pilgram -- Sie wünschen?!«

Inzwischen waren die Damen herangekommen, starrten völlig verblüfft und
verständnislos auf die zierliche Gestalt im silbergrauen Jackett, deren
Züge ein grauer Schleier fast ganz verbarg.

»Entschuldigen Sie gütigst, Herr Präsident, könnte ich Sie wohl einen
Moment allein sprechen?«

»Was für eine Angelegenheit, bitte, meine Dame? Es ist ein Uhr!«

»Eine sehr dringende Angelegenheit,« stammelte Asta, »ich komme aus
Leipzig, es handelt sich um Ihren Sohn.«

Ein noch schärferer Augenblitz traf das Mädchen.

»Hm ...« sagte er nur, dann bückte er sich aufs neue, schloß auf und
sagte zu seinen Damen:

»Ihr seid wohl so freundlich und geht schon hinauf solange.«

Mit angstvoller Neugier musterten die drei Damen die Fremde, aber ein
scharfes: »Also bitte!« veranlaßte sie, dem Wunsche des
Familienoberhauptes Folge zu leisten. Die Tür fiel ins Schloß.

»Also zuvörderst, wer sind Sie?« fragte der alte Herr.

»Ich bin die Herzoglich Meiningische Hofschauspielerin Asta Thöny.«

»Hm ... und Sie wünschen?«

»Ihr Sohn Valentin wird sich morgen früh mit einem andern Studenten
schießen.«

Die buschigen Augenbrauen zogen sich zusammen, der graue
Fransenschnurrbart zuckte.

»Und dieser andere Student ist wer?«

»Ein Herr Hans Thumser.«

»Hans Thumser?! Das ist ja ein Korpsbruder meines Sohnes!«

»Ihr Herr Sohn ist schon vor Wochen aus dem Korps ausgetreten ...«

»Was ist das?!«

Der Präsident richtete sich straff auf:

»Das müßte ich denn doch wohl wissen, mein Fräulein!«

»Es ist aber so, Herr Präsident.«

»Hm ... lassen wir's zunächst einmal dahingestellt, ob Sie recht haben.
Was veranlaßt Sie, mir diese Mitteilung zu machen?«

Asta war auf diese Frage vorbereitet und hatte sich ihre Antwort
zurechtgelegt.

»Ich bin ... mit Herrn Thumser ... nahe befreundet.«

»Hm -- mit Herrn Thumser? Sie machen mir also Ihre Mitteilungen weniger
im Interesse meines Sohnes als vielmehr in dem des Herrn Thumser, wenn
ich recht verstanden habe?«

»Nein, das doch nicht, Herr Präsident. Allerdings ... vor allem doch
wohl Herrn Thumser zuliebe ... Aber Ihren Herrn Sohn kenne ich auch,
zwar nur sehr flüchtig, aber ich bin ihm zu großem Dank verpflichtet, er
hat mich ... er hat mir gestern ... das Leben gerettet.«

Der alte Herr sah das erregte Mädchen mit einem Blick an, in dem ganz
deutlich zu lesen war, er zweifle an ihrem Verstand.

»Darf ich Sie bitten, meine Gnädigste, Ihren Schleier zu heben, damit
ich sehe, wen ich eigentlich vor mir habe?!«

Mit zwei raschen Bewegungen streifte Asta Thöny den Schleier in die
Höhe. Sie fühlte sich mit scharfer Prüfung gemustert. Aber das Ergebnis
mußte wohl nicht ungünstig sein, denn erheblich liebenswürdiger als
zuvor fuhr der alte Herr fort:

»Darf ich Sie bitten, mein gnädiges Fräulein, sich mit mir hinauf in
meine Wohnung zu bemühen: Sie werden mir erzählen.«

Er entzündete ein Wachsstreichholz und leuchtete dem seltsamen Gast die
Treppe hinauf. Der Hausflur war nun hell erleuchtet. An einer
halboffenen Tür drängten sich drei weibliche Köpfe, die hastig
verschwanden, als der Präsident mit seinem Besuch eintrat. Sehr höflich
nahm er dem Gaste den Regenschirm ab und geleitete ihn in ein dunkles
Zimmer zur Rechten, entzündete zwei Gasflammen, bat, ihn einen Moment zu
entschuldigen.

Einen raschen Blick warf Asta in dem Zimmer umher. Die übliche,
gutbürgerliche Einrichtung der sechziger Jahre: Mahagonimöbel, grüner
Plüschbezug, an den Wänden ehrwürdige Familienbilder in Oel mit
Darstellungen von Priestern und Gelehrten aus den beiden letzten
Jahrhunderten. Am Fenster ein Mahagonisekretär mit Rolljalousie, darauf
zahlreiche Photographien in Ständerrahmen, unter denen Asta sofort die
eines schlanken Studenten in Mütze und Band herauserkannte.

Der Präsident kam zurück, bat, auf dem Sofa Platz zu nehmen, und setzte
sich ihr gegenüber in einen Plüschsessel. Er hatte abgelegt. Auf der
linken Brust seines Fracks schimmerte eine blinkende Ordenreihe.

Und abermals mußte Asta die Geschichte des gestrigen Abends erzählen.
Der Präsident lauschte gespannt, ohne sie mit einem Wort, mit einer
Frage zu unterbrechen. Als sie geendet, trat er auf sie zu, streckte ihr
die Hand hin:

»Ich danke Ihnen, meine Gnädigste. Das war sehr gescheit von Ihnen, daß
Sie gekommen sind. Ich fahre mit Ihnen nach Leipzig. Ich habe schon
nachgesehen, um drei Uhr vierzig fährt der Zug, um halb sechs sind wir
drüben. Darf ich Sie inzwischen meinen Damen zuführen?«

»Sehr gütig, Herr Präsident. Und was wird werden, was wollen Sie tun?«

»Den beiden jungen Herren klar machen, daß ihre Eltern sie nicht deshalb
großgezogen haben, damit sie sich untereinander als Zielscheibe
benutzen.«

»Aber werden wir auch nicht zu spät kommen? Wollen Sie nicht vielleicht
vorher noch ein dringliches Telegramm an Ihren Sohn ablassen?«

»Liebes Fräulein, ich war selbst einmal Student -- bin sogar Alter Herr
des Korps Franconia --, wie ich die Buben kenne, scheren sie sich in
solchen Fällen den Teufel um ein väterliches Telegramm. Im Gegenteil:
wenn sie erst wittern, daß wir ihnen auf der Spur sind, dann kriegen wir
sie morgen früh überhaupt nicht mehr zu fassen. Um halb sechs Uhr sind
wir dort, vor sechs Uhr wird's ja überhaupt nicht hell um diese
Jahreszeit; inzwischen werden wir überlegen, was zu tun ist. Darf ich
Sie jetzt bitten, zu meiner Frau und zu meinen Töchtern
hinüberzukommen?«

»Verzeihung, Herr Präsident, würden Sie es nicht für besser halten, wenn
Sie zunächst Ihre werten Damen über den Zweck meines Besuchs
aufklärten?«

»Da haben Sie recht, liebes Fräulein. Wenn Sie mich also einen
Augenblick beurlauben wollen ...?«

Nur wenige Minuten blieb Asta allein. Dann flogen zwei schlanke Mädels
herein, in Balltoilette, mit glühenden Backen, glänzenden Augen, in
denen die Angst um den Bruder und dabei doch auch brennende Neugier und
gespannte Erregung standen, und stellten sich mit befangenen Knixen vor.
Achtzehn und zwanzig mochten sie sein, die ältere dem Vater und Bruder
wie aus den Augen geschnitten; die jüngere, ein munteres, molliges Ding,
das Ebenbild der Mutter, wie sich alsbald herausstellte, als nun auch
die rundliche Frau Präsidentin auf der Bildfläche erschien. Und alsbald
saß Asta mit Valentin Pilgrams Mutter und Schwestern unter der
Hängelampe eines altmodisch-behaglichen Speisezimmers. Man stopfte sie
mit Butterbrot und Süßigkeiten, man fragte sie aus nach tausend Dingen,
von denen sie keine Ahnung hatte.

Während dessen hatte sich der Präsident entfernt, kam nach ein paar
Minuten zurück.

»So, mein gnädiges Fräulein, ich habe mir die Sache überlegt. Ich werde
jetzt gleich zum nächsten Telegraphenamt gehen und eine dringliche
Depesche an die Leipziger Polizei aufgeben. Hören Sie, was ich
aufgesetzt habe:

  'Königl. Kreishauptmannschaft Leipzig! Morgen früh soll dort
  Pistolenduell zwischen meinem Sohn Valentin und Stud. Hans Thumser
  stattfinden. Ort und Zeit unbekannt. Abreise sofort, um selbes zu
  verhindern. Ankomme 5.29 dort Dresdener. Erbitte Unterstützung,
  womöglich berittenen Gendarmen, am Bahnhof.

                                                  Pilgram,
                                  Senatspräsident am Oberlandesgericht.'

So, ich nehme an, daß man einem königlichen Beamten meines Ranges in
angemessener Weise entgegenkommen wird. Wenn die Polizei einigermaßen
ihre Pflicht und Schuldigkeit tut, so kommen die jungen Herren morgen
früh überhaupt nicht aus ihrer Bude heraus, sondern werden gleich mit
Beschlag belegt. Sollte aber wider alles Erwarten die Sache nicht
klappen, so sind wir ja da!«

»Ja, aber um Gottes willen, Herr Präsident,« meinte Asta, »wir haben
doch keine Ahnung, wo die schreckliche Geschichte eigentlich vom Stapel
gehen soll -- wie wollen Sie das denn herauskriegen?«

»Ja, Papachen, wie willst Du das nur herauskriegen?« echoten die
Töchter.

»Liebe Kinder, ich war doch selbst mal in dem Geschäft. Gebt acht: Wenn
man sich schlagen will, geht man nicht zu Fuß heraus, sondern bestellt
sich einen Wagen. Wenn man aber Korpsstudent ist, so hat man für diesen
Wagen eine ganz bestimmte Bezugsquelle: das Korps nimmt nämlich seinen
Wagen immer bei ein und demselben Fuhrwerksbesitzer, der ihm
Vorzugspreise gewährt. Den Namen aber des Wagenlieferanten der
Franconia, den kenne ich leider nur zu genau. Oder soll ich jetzt sagen:
glücklicherweise? Ich habe nämlich am Schluß des vorigen Semesters für
unseren guten Valentin noch eine ganz erkleckliche Wagenrechnung
berappen müssen ... Der gute Mann wohnt in der Nähe des Bayrischen
Bahnhofs, an ihn also wenden wir uns zunächst und versuchen
herauszubekommen, wohin die Fahrt gehen soll.«

»Aber wird er's auch verraten?« meinte Asta, »das könnte das Korps ihn
doch teuer entgelten lassen?«

»Ich glaube, wenn ich mit der Polizei drohe und darauf aufmerksam mache,
daß man ihn wegen Beihilfe zum Zweikampf mit tödlichen Waffen am
Schlafittchen kriegen könnte, dann wird er wohl mit sich reden lassen!«

»Ach, Papachen, wie klug Du bist!« riefen die Töchter, strahlend vor
Entzücken über das unerwartete Abenteuer. Himmel, wie interessant endete
der Abend, der so langweilig, ganz nach dem Schema F verlaufen war.

»Nun aber müssen Sie schlafen, liebes Fräulein,« meinte die Präsidentin,
nachdem ihr Gatte sich entfernt hatte, um das Telegramm aufzugeben. »In
einer Stunde müssen Sie schon wieder zum Bahnhof, die sollen Sie
wenigstens zur Ruhe benutzen.«

Aber Asta dankte. Sie könne nachher in der Eisenbahn noch genug
schlafen, sie würde jetzt doch kein Auge zutun. Nur Hunger habe sie
noch, wenn sie's denn schon sagen solle, und Durst auch.

Und die vier Frauen schwatzten und lachten zusammen wie alte Freundinnen
... und nur selten einmal ging's einer von ihnen durch den Kopf, was für
morgen auf dem Spiele stand.

Papachen würde schon alles machen. Wenn Papachen eine Sache in die Hand
genommen hatte, dann konnte es ja nicht schief gehen!


Als Asta und der Präsident fast als einzige Passagiere dem Frühzuge
entstiegen, trat ein behäbiger Herr in einem undefinierbaren Räuberzivil
auf den alten Herrn zu.

»Verzeihen Sie gütigst, ich habe wohl die Ehre, Herrn Senatspräsidenten
Pilgram ... Mein Name ist Gensel, Königlicher Kriminalkommissar. Stelle
mich im Auftrage der Kreishauptmannschaft zu Ihrer Verfügung.«

»Ah, charmant, Verehrtester. Haben Sie auch einen Gendarmen zur Hand?«

»Der wartet draußen mit seinem Gaul.«

»Nun, und was ist sonst geschehen?«

»Ja, Herr Präsident, wir haben unser Möglichstes getan. Wir haben sofort
zwei Kriminalschutzleute zu den Wohnungen der beiden jungen Leute
geschickt und feststellen lassen, ob sie zu Hause wären. Ihr Herr Sohn
hat seine bisherige Wohnung bei dem Kanzleirat Buchner seit gestern ganz
aufgegeben und ist ins Hotel übergesiedelt, in welches, das wußten die
Leute nicht. Und der andere, Herr Thumser heißt er ja wohl, der ist heut
nacht nicht nach Hause gekommen.«

»Teufel! Das ist scheußlich -- was nun?!«

»Ja, was nun, Herr Präsident? Ich weiß auch nicht, was ich machen soll!«

Der Jurist sann eine Weile nach, dann erklärte er dem Polizeibeamten
seinen Plan, durch den Fuhrwerksbesitzer den Duellanten auf die Spur zu
kommen.

Der Kommissar war völlig einverstanden. Man stieg in eine Droschke und
rollte durch die hier noch immer mit kotigem Schnee bedeckten Straßen
zum Bayrischen Bahnhof.

Im trüben Laternenschein huschten hastige Fußgänger vorüber, das Leben
der großen Stadt erwachte -- die Arbeit begann.

Die Herren berieten eifrig während der kurzen Fahrt. Der Präsident im
Rücksitz, der Kriminalkommissar ihm gegenüber. Asta lehnte in ihrer
Ecke, fröstelnd, übernächtig, von Angst geschüttelt, und lauschte der
halblauten Unterhaltung der Herren.

Der Gendarm war vorausgetrabt. Als man vor dem Fuhrhof ankam, hielt er
bereits an dem Portal mit dem Geschäftsinhaber, einem grobknochigen Mann
in Flausrock und Holzpantoffeln.

Schnell kletterte der Kommissar aus dem Wagen und inquirierte sofort den
Fuhrherrn:

»Ist der Wagen für das Korps Franconia schon fort?«

»Weeß Knebbchen, ja, Herr Kommissar, schon seit zehn Minuten is er
weg ... tut mir sähre leid.«

»Und wohin geht die Fahrt?«

»Das kann ich Sie nich sagen, uff mei Ehrenwort nich. Der Wagen is
bestellt für um den Herrn Volkner abzuholen, Kleine Fleischergasse fünfe
... aber da wird er nu ja woll ooch schon nich mehr sinn.«

Der Präsident war ebenfalls ausgestiegen und fragte: »Na, lieber Herr,
Sie werden ja doch wohl eine Ahnung haben, wohin es geht?! Wo fahren
denn die jungen Herren gewöhnlich hin, wenn sie was Besonderes vorhaben,
he?!«

»Nu, mei gutester Herr, wenn ich's ehrlich sagen soll, gewehnlich machen
se doch so was im Ratsholz ab, un da gibt's eigentlich nur een' Weg:
Kaiser-Wilhelm-Straße 'runter, dann Kaiserin-Augusta-Straße, am alten
Wasserwerk vorbei und ins Streitholz hinein. Freilich, was für ä
Plätzchen se sich dasmal haben ausgesucht, davon habe ich Sie natierlich
de leiseste Ahnung nich, mei gutester Herr.«

»Also, Herr Robolski,« sagte der Kriminalkommissar, »ich mache Sie
darauf aufmerksam: Wenn sich's herausstellt, daß Sie uns nicht die reine
Wahrheit gesagt haben, dann krieg' ich Sie bei die Hammelbeene,
verstehen Sie mich?!«

»Mein Ehrenwort,« sagte der Fuhrherr, »mein heiligstes Ehrenwort, Herr
Kommissar, das, was ich gesagt habe, ist alles, was ich weeß.«

»Schön! Also, Gendarm Mehlhorn, Sie haben gehört: sitzen Sie auf, traben
Sie was haste was kannste nach dem Streitholz. Wir kommen nach. Sie
reiten bis zum Schnittpunkt der 'Neuen Linie' und der 'Linie',
meinetwegen auch die 'Linie' hinauf, bis zum Flußgraben, dann zurück bis
zum Wegekreuz, dort warten! Merken Sie inzwischen was von den
Duellanten, so greifen Sie selbständig ein, verstanden?!«

»Zu Befehl, Herr Kommissar!« sagte Mehlhorn dienstlich, schwang sich auf
seinen Braunen und klapperte die Bayrische Straße hinunter.

Die beiden anderen Herren verabschiedeten sich mit flüchtigem Gruß und
Dank von dem Fuhrwerksbesitzer, wiesen den Kutscher an, hinter dem
Gendarmen drein zu fahren, stiegen ein, und die Gäule zogen an.

Die drei im Wagen schwiegen und sannen.

Vom Bayrischen Bahnhof blinkten grelle Signallichter, schrillten
Lokomotivenpfiffe, ratterten mit dumpfen Stößen ausfahrende Züge über
die Schienen. Drüber stand schon heller Tagesglast. Auf der matt
erleuchteten Kreisscheibe der Bahnhofsuhr standen die beiden Zeiger in
einer geraden, senkrechten Linie ...

O Gott, wenn man zu spät kam! Es konnte sich ja nur um Minuten handeln.




                                  16.


Hans Thumser erwachte. Oben an der Decke war irgend etwas, das blendete
ihn. Mit verschlafenen Augen blinzelte er hinauf und sah, daß es
Laternenschein war, der, von drunten herauffallend, das Lichtbild eines
Fensters auf die weiße Tünche zeichnete. Teufel ja, wo kam das denn her?
Das war sonst doch nicht so?!

Mit einem Mal fiel's ihm ein: er war ja gar nicht in seinem eigenen
Zimmer, lag nicht in seinem Bett ... aber wo nur? Richtig, er war ja
doch auf Volkners Bude -- aber warum nur, was war denn eigentlich los?

Mit einemmal krampfte sich sein Herz zusammen in siedendem Schreck: o
Gott, morgen früh --!

Eigentlich doch eine sehr vernünftige Idee von Volkner, ihn nicht allein
zu lassen in dieser Nacht, in dieser vielleicht ... letzten Nacht. Und
auch sonst war alles sehr vernünftig gewesen, was der Senior gesagt und
geraten:

»Weißt Du, Thumser, vor einer solchen Affäre ist das einzig Richtige,
sich so zu betragen, als sei gar nichts Besonderes los. Um Gottes
willen, bloß sich nicht hinsetzen und ein halbes Dutzend Abschiedsbriefe
schreiben: an die Eltern, an den Schatz, an die Erbtante, und wer weiß
an wen sonst noch. Das hat ja gar keinen Zweck. -- Mein Gott, so'n
bißchen Knallerei! Ja, wenn Du jedesmal Dein Testament machen wolltest,
wenn Du Dich in Lebensgefahr begibst, dann müßtest Du es von Rechts
wegen machen, so oft Du vor die Tür gehst! Ueberall kann Dir ein
Dachziegel auf den Schädel fallen. Und wenn Du in Deiner Bude und im
Bette bleibst, kann schließlich die Decke einstürzen ...«

Des Korpsbruders rheinischer Leichtsinn hatte Hans Thumser über die
Abendstunden hinweggeholfen. Man war auf der Kneipe gewesen, hatte
Quodlibet gespielt und den blödesten Bierulk betrieben. Dann hatte
Volkner ihn mit auf seine Bude geschleift, ihm großmütig sein Bett
abgetreten und sich dann selber auf dem Kanapee einlogiert. Von dort
herüber drang jetzt sein melodisches Schnarchen. Na ja, der hatte gut
schnarchen!

Vorher aber, vor dem Einschlafen, hatten die zwei noch einen besonderen
Trall ausgeheckt: Volkner hatte seine Geige genommen, und beide waren
sie vor die Kammertür von Volkners bejahrter Hauswirtin gezogen und
hatten ihr ein Ständchen gebracht, indem sie zu sanft hinschmelzender
Violinbegleitung das schöne Lied gesungen hatten:

    Seh ich ein Haus von weitem,
    Wo ein lieb Mädel träumt,
    Sing ich zu allen Zeiten
    Ein Lied ihr ungesäumt.
    Und wird's im Fenster helle,
    Sei es auch noch so spat:
    So weiß ich auf der Stelle
    Wieviel's geschlagen hat.

Erst als die Pantoffeln der Alten von drinnen gegen die Tür knallten,
hatten sie Ruhe gegeben und waren dann beide auch sofort eingeschlafen.

Volkners Bude befand sich im ersten Stock des Hauses, das an der Kleinen
Fleischergasse dem Cafébaum direkt gegenüber lag. Und der Lichtschein
der Laterne, die neben dem Eingang des Restaurants stand, war es, der
Hans Thumser geweckt hatte. Er tastete nach seiner Taschenuhr und
stellte im matten Reflex des Deckenlichts fest, daß es zwei Uhr war.

Auf halb fünf war der Korpsdiener zum Wecken, auf viertel sechs der
Wagen bestellt. Um viertel sieben sollte der erste Schuß fallen ... also
noch zwei und eine halbe Stunde Schlaf und vielleicht noch vier und eine
viertel Stunde zu leben ...

Die ganze vorige Nacht hindurch hatte Hans Thumser wie ein Sack
geschlafen. Die nötige Bettschwere hatte er sich ja schon vor dem
Zusammenstoß mit Pilgram angezecht. Der gestrige Tag war in beständiger
Unrast hingegangen, und so kam jetzt in nächtlicher Stille zum erstenmal
Ordnung in den Wirrwarr der Gedanken, die um das Schicksal der kommenden
Morgenstunde flatterten.

Also sterben vielleicht ... und warum denn eigentlich? Nun, die Antwort
war sehr einfach: Ein anderer war Hansens Ehre zu nahe getreten, hatte
ihn tätlich aufs schwerste beleidigt, dafür galt es eben die
standesübliche Sühne zu fordern.

Schön! Das klang ja ganz vernünftig. Aber schließlich ... eine
Beleidigung hatte doch irgendeinen Grund, ein Motiv. Was hatte er
Pilgram denn eigentlich zuleide getan? Was hatte er begangen, daß
Pilgram ihn wie einen ehrlosen Buben behandelt hatte? Nun, das eine war
ja klar: Pilgram war eifersüchtig, er bildete sich ein, er selber, Hans
Thumser, sei sein Nebenbuhler bei Jucunda, und zwar ein begünstigter.
Ein begünstigter? Ach, du lieber Gott ...!

Freilich, an ihm selber hatte es ja nicht gefehlt ... Und wer weiß, was
geschehen wäre, wenn nicht im Augenblick, als Jucunda anfing, gnädig zu
werden, sehr gnädig -- -- wenn nicht der andere dazu gekommen wäre,
dieser fade Laffe, über dessen blasiertem Geckenschädel der Nimbus einer
Fürstenkrone schwebte?

Aber schließlich, es war doch ein Irrtum, wenn Pilgram sich einbildete,
Thumser sei glücklicher gewesen als er selber.

Also ein Mißverständnis! Ein Wahn!

Aber da war noch etwas andres, das nicht stimmte: Was das nur mit dem
Brief gewesen war, den Pilgram ihm vorgehalten? Offenbar ein Brief von
Jucunda, ein Brief, in dem sie sein Eintreten für ihre Ehre mehr oder
weniger verblümt abgelehnt hatte. Und dieser Brief hatte auf einem
Briefbogen gestanden, der seine, Hans Thumsers, Initialen trug. Wie kam
der Brief auf dieses Papier? Erst jetzt in der Stille der Nacht fand
Hans Zeit, um über dies Phänomen nachzugrübeln ...

Und plötzlich stand ihm der Augenblick vor der Seele, wie er Jucunda
und ihrer Mutter sein Zimmer zur Verfügung gestellt hatte, um sich
auszusprechen. Natürlich, das war's ja! Da hatten die Frauen das
Uriasbrieflein ausgeheckt und das liebliche Plänchen gleich realisiert.
Sie hatten genommen, was gerade zu erreichen war, das Briefpapier
des Mannes, der ihnen vertrauensvoll seine Behausung zur Verfügung
gestellt ...

Pilgram aber, der hatte natürlich für die sonderbare Erscheinung sich
eine ganz andere Erklärung in den Kopf gesetzt. Er mußte sich
eingebildet haben, der Korpsbruder sei mitschuldig an der Abfassung des
Briefes, habe ihn vielleicht sogar redigiert ...

Also Mißverständnis Numero zwei.

Schön! Zwei grobe Irrtümer in der Rechnung. Wenn man sich aber einmal in
Pilgrams vermutliche Auffassung hineinzudenken versuchte, so konnte man
ihm schließlich nicht so unrecht geben, wenn er bis aufs Blut gereizt
war, wenn er den einstigen Korpsbruder infamer Gesinnung und
Handlungsweise verdächtigte.

Und darum Mord und Totschlag! Darum zwei junge Leben vor die Mündung
geladener Pistolen gestellt! War das nicht Wahnsinn? War es nicht noch
in diesem Augenblick Pflicht, eine offene Aussprache herbeizuführen, den
Irrtum aufzuklären?!

Aber bei dem Irrtum war es nicht geblieben. Er hatte eine schreckliche
Folge gehabt: die rasche Tat, eine Tat, die nicht milder war denn ein
Schlag mitten ins Angesicht des Feindes. Und auch zu diesem Schlag wär's
ja gekommen, wenn nicht die Korpsbrüder dazwischen getreten wären.

Mißverständnisse und Irrtümer ließen sich aufklären -- die Tat war nicht
ungeschehen zu machen. Der Kavalier, der von einem Kavalier einen Schlag
erhält, muß blutige Sühne fordern. Das war das eiserne Gebot des
Ehrenkodex, daran war nicht zu deuteln noch zu rütteln.

Und dann -- wer mochte den ersten Schritt tun? Machte der sich nicht
verdächtig, als sei es nur die Angst vor der blauen Bohne, die ihn zur
Aussöhnung geneigt machte? Würde man ihn nicht der Kneiferei zeihen?

Der Kneiferei? Nun, wer vierzehn Schlägermensuren mit Ehren bestanden
hatte, brauchte der sich vor dem Verdacht der Kneiferei zu fürchten?

Halt! So eine Knipserei, das war doch was andres als das bissel
Bestimmungsmensur mit Binden und Bandagen.

Nein, da war nichts zu wollen, dafür war man Korpsstudent! Der andere,
der war an allem schuld. Der hätte die Aussprache herbeiführen müssen
vor der Tat. Daß er dem Freund, dem Korpsbruder aus drei Semestern eine
ehrlose Gesinnung überhaupt zugetraut, das war die eigentliche
Beleidigung, das war die Schmach, die nur mit Blut abgewaschen werden
konnte. Die Worte, die Handlungen, die aus dieser abscheulichen
Unterstellung erwachsen waren, die waren schließlich nichts anderes als
der zufällige Ausdruck für einen Verdacht, der auch ohne Wort und Schlag
ins Herz der Ehre traf.

Nein, es gab keinen anderen Ausweg -- und so würde man morgen früh
aufeinander losknallen »bis zur Kampfunfähigkeit«.

Und nun kamen die Gedanken an daheim. An Eltern und Geschwister -- nein,
das ging ja doch nicht, einen solchen Gang zu tun, ohne sich vorher von
den liebsten Menschen verabschiedet zu haben. Wenn er nun fiel -- wie
sollten sie diese wirre, dunkle Geschichte verstehen? Sie würden doch
nachforschen, würden wissen wollen, was denn eigentlich geschehen war,
wie es hatte so weit kommen können -- und dann war's zu spät. Dann war
sein Mund, der allein Licht in die Wirrnis hätte bringen können,
verstummt. Sein Tod würde den Lieben ein düsteres, grauenhaftes Rätsel
bleiben.

Also das geht nicht. Hans wird aufstehen und einen langen, langen Brief
an die Geliebten daheim schreiben. Ihnen alles erzählen, ohne
Verschweigen, auch das Glück -- die landläufige Moral nannte es ja wohl
ein sündiges Glück --, das er in Asta Thönys Armen genossen, auch die
verworrenen Dränge, die ihn zu Jucunda getrieben. Alles, alles wird er
berichten, und so wird wenigstens Klarheit liegen über seinem
schauerlichen Ende ...

Ob sie ihn verstehen werden daheim? Mein Himmel, der Vater ist doch auch
einmal jung gewesen ...

Und in Gedanken entwarf Hans Thumser den Wortlaut seiner Beichte. Immer
eindringlicher, immer inbrünstiger vertiefte er die Schilderung seines
Seelenzustandes, immer heißer und drängender formte er seine Bitte um
Verständnis, um Vergebung, um ein Gedenken ohne Groll. Und über all dem
Sinnen und Grübeln war er plötzlich versunken und verschwunden und
wachte erst wieder auf, als Volkner ihn wach rüttelte, und die
schlampige Alte, die sie beide gestern abend angeserenadet, in
Nachthaube und Nachtjacke, grimmigen Gesichts und knurrenden Mundes den
Kaffee auf den Tisch setzte.

Nun war's zu spät, nach Hause zu schreiben. Nun blieb's doch bei
Volkners Theorie.

Die trockenen Semmeln von gestern wollten nicht in die Kehle, der
glühheiße Bliemchenkaffee blieb fast unberührt. Ein Glück, daß Volkner
mit ein paar Tafeln Schokolade und einem besseren Schnaps versehen war.

Geschäftig bediente er den Korpsbruder, wie man um einen Kranken, um
einen Sterbenden sich müht. Und dabei fühlte Hans Thumser ganz deutlich,
daß der andere sich im tiefsten Innern höchst mollig fühlte bei dem
Gedanken: Gott sei Dank, daß ich selber nicht derjenige welcher bin!

Um Punkt halb sechs knallte drunten die Peitsche des Kutschers. Die
jungen Männer machten sich bereit.

Im Schauer des dämmrigen Morgens fuhr Hans Thumser fröstelnd zusammen,
als sie vor die Tür traten, als sein Blick auf die eingeschnurrte
Gestalt des Korpsdieners fiel, der übernächtig auf dem Bock neben dem
Kutscher hockte und auf den Knien einen schmalen, schwarzpolierten
Kasten trug ...

Nebeldurchdunstet lagen die Straßen. Das Weiß des frischen Schnees war
längst in ein kotiges Braun verwandelt, das der Frost der jüngsten Nacht
mit tausend Rauhreifkristallen überzogen hatte. Ringsum erwachte das
Leben der großen, fleißigen Stadt der Arbeit.

Den Rockkragen hochgeschlagen, dampfenden Atems schritten die Männer,
huschten die Frauen einher, jeder an sein Geschäft. Schwarz und finster
reckten sich die Fronten der alten Straßen, deren Häuser sich im Laufe
der Jahrhunderte aus eleganten Wohnpalästen in dumpfe, mit Affichen
überladene Geschäftshäuser verwandelt hatten.

Aber die Nebel sanken, von Osten wuchs die junge Tageshelle. Erste,
schüchterne Sonnenstrahlen spielten droben um die Giebeldächer, ein Tag
voll winterlicher Herrlichkeit flammte herauf.

Nun wurden die Anlagen durchquert. Weißleuchtend zackte sich das Gewirr
der umreiften Aeste ins junge Blau.

Ivo Volkner aber und Hans Thumser studierten eifrig den
S. C.-Pistolen-Komment, der in einem handschriftlichen Exemplar auf
ihren Knien lag, und zündeten eine Zigarette an der anderen an.

Ganz kühl und geschäftsmäßig sprachen sie immer und immer wieder den
vorgeschriebenen Gang der Mensur durch, um später auch nicht den
leisesten Schnitzer zu begehen.

Endlich aber hielt es Hans Thumser nicht mehr aus. Er schob das
schwarzgebundene Heft zurück, riß das frostbeschlagene Wagenfenster auf,
atmete in tiefen Zügen die Morgenfrische und sog mit brennenden Augen
das Bild der Morgenwelt in sich hinein.

Und eine wilde Sehnsucht kam über ihn -- Sehnsucht nach all dem
Unsagbaren, das von da draußen in seine Seele hineinflutete, nach all
dem unendlich Schönen des Lebens, das er doch kaum mit erstem Erwachen
des Begreifens gegrüßt ... und das doch schon tausend Vorahnungen
künftiger Glücksmöglichkeiten in ihm geweckt hatte. Ach,
Glücks=möglichkeiten=?! Nein, er =war= ja schon glücklich gewesen!

Asta Thöny! klagte es in seiner Seele. Gott! so undankbar konnte man
sein? An sie hatte er noch gar nicht gedacht ... Daß er von ihr sich
verabschieden mußte, das war ihm nicht einmal in den Sinn gekommen ...
Und doch -- wieviel hatte sie ihm geschenkt! Wie unsäglich gut war sie
zu ihm gewesen, und er ... er hatte sie achtlos beiseite geschoben. Und
das letzte, das er von ihr gesehen, waren bittere Tränen gewesen.

Zu spät ... Nun mußte das Schicksal seinen Gang gehen. Nun blieb nur
noch eins: der Feindeskugel die Brust zu bieten und die Stirn dem
wahllosen Walten des Geschicks.

Und doch, wie schön die Welt! Wie reich, was sich barg hinter den weißen
Nebelschwaden, die das Kommende verhüllten. Wie selig selbst dieser
Augenblick ahnungsvollen Grauens ...

Und Hans Thumsers Seele fühlte sich leben in diesem Augenblick. Leben,
wie sie nie zuvor gelebt ... In langen, schmerzvollen Zügen trank sie
das Glück des Augenblicks hinein. Das Glück, noch da zu sein, noch ein
paar schmerzvoll süße Minuten lang die tiefe Wonne des Daseins atmen zu
dürfen.


In einem billigen Zimmer des Hotel de Russie -- dritter Stock nach
hinten hinaus -- hatte Valentin Pilgram sich einquartiert und die halbe
Nacht mit Briefeschreiben zugebracht. Erst nach Mitternacht hatte er
sich aufs Bett gestreckt und ein paar Stunden hingedämmert ...

Nun marschierte er auf dem Reitweg, der erst rechts, dann links der
»Neuen Linie« durch das Streitholz führte, dem Kampfplatz entgegen, ein
einsamer Wanderer ...

Er hatte sich nicht entschließen können, die letzten Augenblicke in
Gesellschaft seines ihm tief unsympathischen Sekundanten Borgmann
zuzubringen, mit dem er zweimal die Klinge und noch viel öfter in
hitzigen Debatten des S. C. das Schwert des Wortes gekreuzt.

Um nicht mit dem Wagen zusammenzutreffen, war er vom Fahrdamm abgebogen,
auf den Reitweg hinüber, auf dem um diese Morgenstunde noch keine
Begegnung zu befürchten war. Er sah nicht die Pracht des jungen Tages,
fühlte nicht die Schönheit des Daseins, die ringsum tausend Wunder
winterlicher Herrlichkeit erblühen ließ. Er fühlte nichts als seinen Haß
-- sah nichts als die Gestalt des Gegners, wie sie nun gleich vor ihm
stehen würde, ein sicheres Ziel dem stählernen Druck seiner Hand, dem
unbeirrbaren Blick seines Auges.

Da ließ ein Geräusch ihn aufschauen, ein Geräusch, das rasch sich
näherte. Pferdegetrappel war's, gedämpft durch den Schnee -- nur wenn
die Hufe ab und an gegen die harte Eiskruste stießen, die den Boden
überzog, dann gab's einen klirrenden Ton. Der hatte ihn geweckt.

Da vorne, in den silbernen Nebeln, die noch über der Pleißeniederung
lagerten, tauchten, schattenhaft abgehoben vom umgoldeten Himmel, zwei
Reitersilhouetten auf: ein Herr und eine Dame. In raschem Trabe näherten
sich die schnaubenden Gäule.

Valentin Pilgram konnte keines Menschen Blick ertragen in diesem
Augenblick. Er trat rasch hinter den mächtigen Schaft einer Eiche und
ließ die Reiter vorüberflitzen. Im letzten Augenblick erkannte er sie:
es waren Jucunda und der Erbprinz.

Es war ihm, als hätte er einen Stoß vor die Brust erhalten. Er taumelte,
starrte ein paar Sekunden wie ein Blödsinniger hinter den enteilenden
Schatten her. Noch klang Jucundas übermütiges Lachen, des Prinzen
näselnde Stimme in sein Ohr:

»... mal sehen, ob der Generalintendant meines alten Herrn für ein
Gastspiel in diesem Winter ...«

Das waren die Worte, die er aufgefangen ...

Ha ha! -- ha ha ha ha ha --!! Das also war das Ende! Darauf lief es
hinaus!

Während er zum Todesgange schritt mit jenem andern, der ihm der
Glückliche gewesen war bis zu diesem Augenblick ... In derselben
Stunde ... pfui Deubel! pfui Deubel!

In dumpfer Betäubung trottete er weiter.

Wo war der blindwütende Haß, der ihm den Nacken gestählt, die Sehnen
gestrafft? Verweht -- verflattert, wie die weißen Nebelschwaden um die
rauhreifumsilberten Kronen der Bäume zerwehten.

Und plötzlich ward er sich des grausamen Wahnsinns bewußt, der in all
den Geschehnissen lag, die er selbst ins Rollen gebracht, und die nun
abschwirrten, wie ein gräßlich zermalmender Mechanismus, unhemmbar,
unwiderstehlich.

Da blinkte schon der Lauf der Pleiße ... da vorn tauchte aus den
Morgendünsten der Umriß eines Wagens auf, der sich im Schritt gen Süden
bewegte, und hinter ihm klang das Rollen eines zweiten Wagens.

Er beschleunigte den Gang, er mochte sich nicht überholen lassen, weder
von seinem Sekundanten noch von der ... andern Partei.

Nun hatte er die »Linie« erreicht, verfolgte sie einige hundert Schritte
weit gen Osten ... und sieh, da öffnete sich rechts eine weite Lichtung:
die Heiderwiese ...

Am Wegekreuz hielt der Wagen, der vor ihm gefahren war. Er sah, wie drei
männliche Gestalten ihm entstiegen und durch den Schnee ins Innere der
Lichtung hinein wateten. Das waren die andern: Hans Thumser, Volkner,
der Korpsdiener.

Valentin Pilgram blieb am Chausseerand stehen und wartete auf seinen
Sekundanten. Nach wenigen Minuten war der Wagen heran. Ihm entstiegen
Herr Borgmann im grellkarierten Winterpaletot, sehr zeremoniös,
platzend vor Feierlichkeit, und Graf Schmettow, der Meißner-Senior, der
als Unparteiischer zu fungieren hatte, verkatert, die Scherbe im Auge.
Und ferner der alte Sanitätsrat Dr. Collwitz, der sich als zweiten
Paukarzt einen seiner Assistenten mitgebracht hatte. Einen jüngeren,
bebrillten Herrn mit langflutendem blonden Vollbart. Dieser wurde als
Doktor Köllicker vorgestellt.

Pilgram dankte den Aerzten für ihr Erscheinen, die üblichen Redensarten
wurden getauscht in gezwungen nachlässigem Tone, den der Ernst der
Stunde mit frostigem Schauer durchzitterte. Dann stapften die Herren der
Gegenpartei nach gen Süden.

Hinter ihnen schritt der Korpsdiener der Neo-Borussia, er trug einen mit
gelben Messingknöpfen benagelten Koffer, der Instrumente und Materialien
für die Aerzte enthalten mochte.

Valentin Pilgrams Blicke suchten den Gegner und erkannten die schlanke,
geschmeidige Gestalt. Aber wohin war der Haß geschwunden, der ihn durch
Wochen gemartert, wenn er Hans Thumsers bloß gedachte?! Er sah nur noch
den Freund, den Korpsbruder aus drei Semestern.

Thumser hatte seinen Paletot abgelegt und stand mit offenem Jackett,
über der Weste blitzte das grün-gold-rote Band.

Und dahin sollte man nun zielen, dahin das Todesblei entsenden?!

Und doch, es gab kein Zurück ... Und ob er wollte oder nicht, die
grausame Farce mußte nun mit Anstand zu Ende gespielt werden ...

Und rasch und vorschriftsmäßig wickelte sich nun der Gang der Dinge ab.
In genauestem Anschluß an den Wortlaut des Komments wurden nun die
Plätze bestimmt, so daß das Licht gleichmäßig verteilt war; wurden die
Waffen geladen, die Duellanten instruiert. Der Unparteiische schritt
selber mit Riesensätzen seiner langen Storchbeine die Barriere ab und
bezeichnete sie durch zwei niedergelegte Spazierstöcke, hüben und
drüben. Noch zehn Schritt weiter jenseits wurden durch Kreuze, die in
den Schnee geritzt wurden, die Plätze für die Duellanten festgelegt, die
sonach durch fünfunddreißig reichlich bemessene Schritte voneinander
getrennt waren.

Zuletzt nahmen die Sekundanten ihren Fechtern noch Brieftasche, Uhr und
Geldbörse ab und geleiteten sie dann zu ihrem Platze. Dort übergaben sie
ihnen die Waffen und traten dann jeder zwanzig Schritt zur Seite.

Der Unparteiische nahm seinen Stand zwanzig Schritte seitwärts von der
Mitte der Schußlinie.

»Meine Herren!« sprach er mit schallender Stimme, »ich wiederhole noch
einmal: ich zähle bis vier. Wenn ich eins! gezählt habe, dürfen Sie
avancieren bis an die Barriere, bis vier müssen Sie abgeschossen haben.
Herr Thumser, als der Beleidigte, hat den ersten Schuß. -- Bin ich
verstanden?«

Mit stummem Nicken antworteten die Gegner.

Hochaufgerichtet stand Hans Thumser und sah übers schneeblinkende Feld.
Endlos schien ihm die Entfernung, die ihn von dem Feinde trennte. Aber
er wußte, daß sie sich rasch verringern würde, zusammenschrumpfen zu
einem schrecklichen Aug' in Auge ...

Ein jähes Frösteln rann durch seine Gestalt, kaum konnte er das Klappern
seiner Zähne bemeistern, kaum den Hahn der Pistole spannen ... Und nun
noch ein Blick in die goldige Morgenwelt hinaus. Ein Blick in die
Zukunft, die vor ihm versinken wollte wie der Tau einer Nacht. Und da
überfiel ihn eine jähe, ingrimmige Wut auf den, der ihm das alles rauben
wollte. Nein, sich wehren ... sich wehren bis zum letzten Atemzug! Ins
Herz den Gegner treffen -- ins Herz! Wenn einer fallen soll, gut, so
sei's der andere!!

»Eins!« scholl da schneidend scharf das Kommando des Unparteiischen.

Und nun war alles versunken, alles bis auf die hagere, starr
emporgereckte Gestalt da drüben, die einst geliebte, nun bis in den Tod
gehaßte ...

Wie fern sie war, wie klein ... und nun, nun kam sie heran, nun wuchs
sie ... wuchs und wuchs ... und nun blieb sie stehen ... bot sich zum
Ziel ...

Da raffte auch Hans Thumser sich zusammen. Mit hastigen Schritten schoß
er vorwärts, bis seine Fußspitzen den Spazierstock berührten, der die
Barriere bezeichnete.

»Zwei!« klang des Unparteiischen Stimme.

Hans Thumser hob die Waffe bis in die Augenhöhe, zielte auf des Gegners
Brust, sah ganz deutlich, wie über dem Visier die breiten Schultern
standen, das fahle Gesicht.

»Drei!«

Da drückte er los ...

Er sah den Gegner wanken, sah, wie die Rechte, welche bisher die Waffe
gesenkt gehalten, eine rasche, zuckende Bewegung nach der linken
Schulter machte. Dann aber fand der Taumelnde Halt, hob nun ebenfalls
den Lauf, aber hoch bis über die Stirn, und schoß -- schoß hoch in die
Luft ...

»Vier!« klang das Kommando des Unparteiischen.

In diesem Augenblick ließ Valentin Pilgram die Pistole fallen und griff
mit der Rechten krampfhaft in das linke Schultergelenk hinein.

Doktor Köllicker sprang zu, riß Pilgrams Rock auf, das weiße Hemd wies
Blutflecken, er zertrennte es mit raschem Zerren, untersuchte das
verletzte Gelenk. Dann winkte er dem Sanitätsrat, der hinzutrat.

Auch Borgmann, der Sekundant, und Graf Schmettow eilten zu dem
Verwundeten heran.

Der lächelte mit schmerzverzerrtem Munde. »Viel scheint's nicht zu sein,
meine Herren. Von mir aus kann's weiter gehen!«

Aber der linke Arm hing kraftlos herunter, ein Versuch, ihn zu bewegen,
mißlang.

Die Herren steckten in flüsternder Beratung die Köpfe zusammen. Die
Forderung lautete bis zur Kampfunfähigkeit ... und die lag wohl nicht
vor, obwohl das Schultergelenk schwer verletzt schien.

Hans Thumser trug's nicht länger. Der andere hatte, obwohl getroffen,
seinen Schuß verloren gegeben. Was konnte das bedeuten? Doch nur dies
eine: die Erkenntnis begangenen Unrechts.

Hans winkte seinen Sekundanten heran.

»Ich kann nicht mehr, Volkner -- geh und biete Satisfaktion an ...«

In derselben Sekunde scholl auf der Chaussee ein hastiges Hufegeklacker,
und eine atemlose Männerstimme keuchte:

»Halt! Im Namen des Gesetzes: halt, meine Herren!«

Zwischen den Büschen des Wiesenrandes tauchte ein goldblinkender Helm
auf, ein grüner Waffenrock, der braune Bug eines Pferdes, in rasendem
Galopp gestreckt. Fünf Minuten später preschte der Reiter an der Gruppe
der Herren vorüber, die sich um den Verwundeten zusammengeballt hatten,
warf den Gaul herum, versuchte den Flankenzitternden, Schäumenden zum
Stehen zu bringen.

Hans Thumser hielt sich nicht länger. In langen Sätzen übersprang er die
fünfzehn Schritt, die ihn von dem Verwundeten trennten, streckte ihm die
Hand hin:

»Komm, Pilgram -- das geht ja doch nicht mehr!«

Die Herren, die den Verwundeten umdrängten, hatten ihm Platz gemacht.

Aug' in Aug' standen die einstigen Freunde einander gegenüber, tauschten
einen Blick, in dem mehr als Versöhnung lag ... Genesungsglück
schimmerte darin, neue Hoffnung, neues Leben ...

Mit der heilen Rechten schlug Valentin Pilgram in Hans Thumsers Hand
ein ... und auf einmal lagen die Jünglinge sich in den Armen.

Da klangen wiederum Hufschläge auf der Chaussee. Und sieh, ein Wagen
hielt am Wiesenrand, ihm entstiegen zwei Herren und eine Dame, die mit
hastigen Schritten über den schneebedeckten Wiesengrund herankamen.

Nun löste sich aus der Gruppe der drei die hagere Gestalt eines alten
Herrn in Gehpelz und Zylinder los, der mit langen Sätzen über die
klirrenden Schollen voranstelzte. Immer hastiger ward sein Gang ... ward
zum Lauf ...

»Donnerwetter!« schrie da Volkner plötzlich, »sieh doch nur, Pilgram --
Dein alter Herr!«

Die Aerzte hatten sich ins Mittel gelegt und die Umarmung der
wiedergefundenen Freunde getrennt, um sich ihres Patienten zu
bemächtigen und die verletzte Schulter genauer zu untersuchen.

Nun hob Valentin Pilgram den Kopf, alles wich zurück, so daß die Gruppe
der Herankommenden frei wurde -- und Pilgram erkannte seinen Vater ...

Schon war der Präsident heran, ergriff mit beiden Händen die Rechte des
Sohnes, die sich ihm entgegenstreckte. Mit zuckenden Augen, mit
zuckenden Lippen standen Vater und Sohn einander gegenüber.

»Ihr verfluchten Bengels!« sagte der alte Herr, »was macht Ihr für
Geschichten?«

»Etwas zu spät bist Du doch gekommen, lieber Papa -- Du siehst, der Fall
ist bereits erledigt!«

»Ich wollt's Euch auch geraten haben! Schlimm genug, daß es so weit
gekommen ist! Na, was hat's denn abgesetzt?«

»Ach, nicht der Rede wert,« lachte der Junge und zwang den grimmigen
Schmerz nieder, der von dem verletzten Gelenk aus durch den ganzen
Oberkörper fraß.

»Nun, und Du wunderst Dich gar nicht, daß ich hier bin?!«

Valentins Blicke hatten die Gestalt des jungen Weibes erkannt, das nun
herankam in Begleitung eines dicken Herrn. An diesen ritt der Gendarm
heran und machte ihm in dienstlicher Haltung eine Meldung, während das
Mädchen mit glühenden Backen und strahlenden Augen nähertrat, um dann
ein paar Schritt vor den Herren plötzlich tiefbefangen stehen zu
bleiben.

»Die da, nicht wahr?« fragte Valentin den Vater.

»Jawohl, die da ... zum Dank für ... vorgestern!«

»Ach, ich glaube, es war ihr weniger um mich zu tun ...« sagte Valentin
Pilgram und suchte das Auge des wiedergefundenen Freundes.

Aber der hatte keinen Blick für ihn. In tiefer Erschütterung, regungslos
starrte er zu der hellen Gestalt hinüber, die über die weißen Schollen
herangeschwebt kam wie ein Frühlingshauch. Als sie nun aber stehen
blieb, da sprang er ihr entgegen, die Hände weit ausgestreckt. Da hob
auch sie ihm die Hände entgegen, und er ergriff sie und drückte sein
glühendes Gesicht hinein.


Erbprinz Heribert hatte nach seiner Rückkehr vom Morgenritt wie
gewöhnlich von neun bis zwölf das Kolleg besucht und war dann in seine
Wohnung im Hotel Hauffe zurückgekehrt, um mit Major von Gorczynski zu
frühstücken.

»Nun, Durchlaucht, wie war's?« Der Major hob das Portweinglas.

»Danke, ganz nett.«

»Nur ganz nett?!«

»Ach, wissen Sie, lieber Gorczynski, ich glaube, das ist eine von den
ganz Gerissenen ... die sichert sich =vorher= -- verstehen Sie?«

Der aufwartende Lakai brachte auf silbernem Brett eine Besuchskarte. Der
Prinz las:

                               =Pilgram=
             Senatspräsident am Königlichen Oberlandesgericht
                                             Dresden.

»Haben Sie gesagt, daß wir beim Frühstück sind?«

»Zu Befehl, Durchlaucht, aber der Herr bittet dringend um eine
Unterredung.«

»Schön -- ins Empfangszimmer.«

Als der Bediente verschwunden war, reichte der Erbprinz seinem Erzieher
die Karte hinüber.

»Vermutlich der Vater meines ... äh ... meines Kollegen!«

»Kollegen?! Wieso?«

»Na, weil der auch auf die Buchner reingefallen ist. Kommen Sie mit,
lieber Gorczynski -- für alle Fälle.«

Hoch aufgerichtet, die Ordensrosette im Knopfloch seines Ueberrocks,
erwartete der alte Herr den jungen Fürsten. Des Umgangs mit
hochgestellten Persönlichkeiten gewohnt und seiner guten Sache sicher,
neigte er sich mit gemessenem Selbstbewußtsein.

»Sehr erfreut -- Herr Präsident, was verschafft mir die Ehre? Darf ich
bekannt machen? Herr Major von Gorczynski -- Herr Präsident Pilgram. --
Stört Sie die Gegenwart meines Begleiters, Herr Präsident?«

»Ich bitte, Durchlaucht.«

»Bitte Platz zu nehmen, meine Herren.«

»Durchlaucht, ich komme im Interesse meines Sohnes Valentin, den Sie
kennen!«

»Ich habe die Freude.«

»Durchlaucht wissen, daß mein Sohn aus dem Korps Franconia ausgetreten
ist, um Ihnen gegenüber für eine Dame eintreten zu können, von der er
annahm, daß Sie, Durchlaucht, ihr -- --«

»Hm ...« machte der Erbprinz, »ich weiß.«

»Durchlaucht haben die Güte gehabt, diese Angelegenheit in ritterlicher
Weise beizulegen. Trotzdem hat das Korps Franconia aus Rücksicht auf
Durchlaucht davon Abstand genommen, meinen Sohn in die Reihen seiner
Mitglieder wieder aufzunehmen.«

»Allerdings ...« sagte der Erbprinz. »Das habe ich mir wohl so gedacht
-- aber wenn ich mir eine Zwischenbemerkung erlauben darf, Herr
Präsident: die Geschichte war mir höchst fatal ... und ich habe mich
seitdem vom Verkehr bei dem Korps fast völlig zurückgezogen ... Es war
mir kolossal peinlich ... verstehen Sie, Herr Präsident?«

»Ich begreife sehr wohl,« sagte der Präsident ruhig. »Die jungen Herren
haben wohl eine zu geringe Meinung von Euer Durchlaucht wohlwollendem
Verständnis für die korpsstudentische Auffassung gehabt, sonst hätte
sich doch wohl ein Ausweg finden lassen, um meinem Sohn die
wohlverdiente Ehre der Zugehörigkeit zu dem Korps -- zu dessen Alten
Herren ich, beiläufig bemerkt, auch selber zähle -- wiederum zu
verschaffen. Oder täusche ich mich, Durchlaucht?«

»Ne, ne, mein verehrter Herr Präsident. Sie haben in der Tat vollkommen
recht ... Wenn's nach mir gegangen wäre ... aber man hat mich ja gar
nicht gefragt. Mir für meine Person wär's ja doch zehnmal angenehmer
gewesen, wäre die ganze Geschichte diskret behandelt worden. Aber man
hatte ja die Sache dermaßen übers Knie gebrochen ... ich stand vor einem
_fait accompli_ ... und da hielt ich's für das beste, mich um gar nichts
mehr zu bekümmern. Das werden Sie begreifen, nicht wahr, Herr
Präsident?«

»Ich begreife vollkommen, Durchlaucht. Ich sehe aber auch, daß ich mich
in meinen Vermutungen über Eurer Durchlaucht Ansichten von der Sache in
keiner Weise getäuscht habe: und darum komme ich jetzt mit der formellen
Bitte, die der Zweck meines Besuches ist: wollen Durchlaucht die große
Güte haben, durch meinen Mund dem Korps Franconia mitteilen zu lassen,
daß einer Rückgabe des Bandes an meinen Sohn Ihrerseits nichts im Wege
steht?«

»Aber mit dem größten Vergnügen, Herr Präsident! Ich bin ja höchst
erfreut, daß die fatale Geschichte endgültig aus der Welt kommt ...«

»Ich danke ehrerbietigst für diese Gnade, Durchlaucht. Ich glaube, sie
ist an keinen Unwürdigen verschwendet! Da Sie nun aber in so überaus
verständnisvoller Weise meinem Vorschlage entgegengekommen sind, so darf
ich wohl auch noch eine andere Begebenheit erzählen, die mit der
besprochenen nicht ganz ohne Zusammenhang ist, und die glücklicherweise
ebenfalls eine Wendung zum Besseren genommen hat?«

Und nun erzählte der Präsident in knappen Worten von dem Renkontre der
beiden einstigen Korpsbrüder und seinem blutigen Austrag. Die Motive des
Zusammenstoßes ließ er unberührt. Er konnte sich wohl vorstellen, daß
der Erbprinz den Zusammenhang auch so durchschauen würde ... und darin
hatte er sich nicht getäuscht. Als er geschlossen hatte, erhob sich der
Erbprinz und streckte seinem Besucher die hagere Hand hin:

»Ich danke Ihnen, Herr Präsident, Ihre Geschichte soll mir eine Lehre
sein ... gewisse Leute sind anscheinend ... äh ... mit Vorsicht zu
genießen. Was meinen Sie, lieber Gorczynski? Na, ich werde mir's
merken!«

»Gestatten Durchlaucht nochmals meinen ehrerbietigsten Dank.«

»Aber ich bitte, mein verehrter Herr Präsident -- nur ich habe zu
danken, nur ich ... Sie haben mir einen größeren Dienst geleistet,
als Sie vielleicht ahnen. Grüßen Sie Ihren Sohn, oder noch besser:
sagen Sie ihm, ich hoffe heute abend auf der Frankenkneipe mit ihm auf
gute Freundschaft anzustoßen ... Doch halt! Vorher müssen wir noch
einmal ins Theater ... Nicht wahr, lieber Major? Heut ist ja die
Abschiedsvorstellung der Meininger, das dürfen wir uns doch nicht
entgehen lassen ... Aber nachher, nicht wahr, Herr Präsident, dann
treffen wir uns im Cafébaum!«

»Ich hatte gleichfalls vor, das Theater zu besuchen, Durchlaucht, wenn
ich mir die Bemerkung gestatten darf -- und zwar mit meinem Sohn und
unserm Korpsbruder Thumser. Die Verletzung meines Sohnes ist ja freilich
nicht ganz unbedeutend: das linke Oberarmbein ist in Höhe des unteren
Ansatzes des Oberarmkopfes getroffen, die Kugel ist im Knochen stecken
geblieben, konnte aber mit Leichtigkeit entfernt werden.«

»Sehr erfreulich zu hören, Herr Präsident. Also auf Wiedersehen heut
abend, nicht wahr?«


Um zwölfeinhalb Uhr fuhr der alte Pilgram am Cafébaum vor, stieg die
Stufen zur Frankenkneipe hinan und wurde vom Korpsdiener in das
Konventszimmer geführt, wo Franconias Korpsburschen bereits zum C. C.
versammelt waren.

Ehrerbietig begrüßte die Schar der Studiosen den Alten Herrn, der sofort
beim Eintreten eine grüne Mütze, die der Korpsdiener ihm dargereicht,
auf seinen grauen Schädel gestülpt hatte.

Volkner bat Platz zu nehmen und eröffnete den C. C. Er erteilte dem
Alten Herrn Pilgram das Wort. Dieser berichtete über seinen Besuch bei
dem Prinzen und entledigte sich seiner Mission.

Mit strahlenden Gesichtern vernahmen die Korpsburschen die frohe
Botschaft.

Unmittelbar, nachdem der Alte Herr geendigt, sprach der Senior:

»Ich stelle den Antrag, dem früheren C. B. Pilgram, gewesenen Zweiten,
Ersten, Ersten das Band zurückzugeben. Wünscht jemand zu dem Antrage das
Wort?«

Alles schüttelte den Kopf, aus jedem Auge strahlte helles Glück. Hans
Thumser aber schämte sich nicht, daß ihm zwei Tränen über die frischen
Wangen rollten. Unfähig jeden Wortes, reichte er dem Präsidenten über
den Tisch hinüber die Hand.


Und nun saßen sie im Carolatheater, auf einer der vordersten
Parkettreihen. Präsident Pilgram inmitten der beiden jungen Gesellen,
zur Rechten sein Sohn: er trug den linken Arm in der schwarzen Binde,
fest im Gipsverband verschient, den Rock nur lose über die linke Achsel
gehängt, den Aermel leer. Ueber die rechte Schulter aber, über die Weste
und die schwarze Binde zog sich das grün-gold-rote Band.

Hans Thumser saß zur Linken. Ueber den alten Herrn hinweg aber schauten
die Freunde sich immer und immer wieder in die Augen. Sie fühlten: so
hatten sie sich noch nie gehört, so sich noch nie geliebt. Und diese
Liebe, die würde nun bleiben fürs ganze Leben ...

Oft aber flogen ihre Blicke auch nach der zweiten Proszeniumsloge des
Parketts vorn rechts hinüber. Da saß der Erbprinz, die Scherbe im fahlen
Gesicht, und hinter ihm verschwanden die groben Züge, der wehende
Schnurrbart des Majors im Dämmer des Logenhintergrundes.

Aber auf den blasierten Zügen des jungen Fürsten lag heute ein seltsames
Leuchten, das noch niemand an ihm gekannt hatte. Und wenn sein Blick den
Augen des alten und der beiden jungen Franken da unten im Parkett
begegnete, dann lachte sein ganzes Gesicht so knabenhaft fröhlich, so
jung und gut, als sei auch er ein x-beliebiges junges Studentlein und
nicht der Erbe eines deutschen Fürstenthrones.

Ringsum aber drängte sich ganz Leipzig und füllte das Haus bis zum
letzten Stehplatz droben auf der Galerie. Eine festlich dankbare
Stimmung lag über der erregten Versammlung.

Fünf Wochen lang war dies Haus ein Tempelhaus gewesen. Fünf Wochen lang
hatte man hier den höchsten Offenbarungen gelauscht, welche die edelste
Blüte der zeitgenössischen Bühnenkunst geschaffen hatte im Bunde mit den
erhabensten Genietaten der großen Szenenbeherrscher des Dramas der
Weltliteratur. Und nun wollte man am letzten Tage noch einmal mit voller
Seele, mit allen Sinnen genießen, wollte in sich aufnehmen die
gigantischste Schöpfung der deutschen Tragödie: »Wallensteins Tod«.

Das Spiel begann.

Inmitten der Bilder seiner Gestirne stand der einsam-stolze Mann, über
dessen Haupte schon die schwarzen Fledermausschwingen des Verbrechens,
die Rabenfittiche des Todes rauschen. Am nächtlichen Himmel suchte er
den Stern seines Lebens, der sich nun so bald verfinstern sollte ... Und
in raschen, unfehlbaren Schlägen vollzog sich sein Geschick.

Der alte Herr aber da vorn im Parkett und seine beiden jungen Gefährten
harrten ungeduldig des Augenblicks, da der Vorhang sich zum dritten Akt
heben und die beiden Mädchengestalten auftauchen würden, die so tiefe
Furchen in die Herzen, in die Geschicke der jungen Männer gezogen.

Und sieh -- nun erfüllte sich's.

Die Gardine rauschte empor; und es erschloß sich ein dunkler wuchtiger
Saal mit Kamin, Gobelins, gepolsterten Bänken an den Wänden. Nach hinten
stieg eine Treppe empor, im Bogen geschweift aus massivem,
dunkelgebeiztem Eichenholz mit schwerem Renaissance-Geländer. Sie führte
zu einer langen Galerie, die gegen die Bühne zu von einem riesigen, aus
zahllosen kleinen Scheiben bestehenden Glasfenster abgeschlossen war.

Und wie verloren in dem weiten, angstdurchschauerten Raum saßen vorn
rechts auf der Bank zwei Frauengestalten mit weiblichen Arbeiten
beschäftigt, während eine dritte oben auf der Galerie stand und aus den
Fenstern nach drunten spähte -- Wallensteins Schwägerin, die Schwester
seiner Seele ...

Die zwei da unten aber -- die beiden jungen Franken, die kannten sie.

Scheu und wesenlos wie ein gutes, dienstbares Geistlein hockte Asta
Thöny als Fräulein von Neubrunn neben der jungen, schönheitsstrahlenden
Herrin.

Die aber saß weiß und blaß, den adligen Kopf in schmerzvoller Starrheit
zurückgelehnt an die braune Täfelung.

Sie war die Schönheit, die versinken muß unterm erbarmungslosen Schritt
des Schicksals, sie war die Tugend, die zermalmt wird von den geifernden
Kinnbacken des Verbrechens, sie war die leuchtende Seele des
gigantischen Gedichts, sie war ... das Ideal ...

Und alles vollendete sich nun.

Mit unerhörter Wucht stampfte das Fatum daher und ließ den Lügenbau der
friedländischen Größe zusammenkrachen. Blatt um Blatt sank hernieder von
dem ragenden Baum, bis er einsam stand, entlaubt, doch herrlich in
seinem starren Trotz.

Und nun kam jene gewaltigste aller Szenen, die Valentin Pilgram und Hans
Thumser als Pappenheimer Kürassiere mitprobiert hatten, und der sie nun
als Zuschauer nur lauschen durften, wie damals, als Hans, ein scheuer
Primaner, sie zum erstenmal erschaut, dahinten, weit in der Heimat -- im
Barmer Stadttheater, auf dem Eckplatz des zweiten Ranges.

Zwischen den zwei eisengeharnischten Männern, dem fürstlichen Vater
rechts, dem ritterlich prangenden Geliebten links stand das
unglückselige, geopferte Mädchen. Vor die grausame Pflicht gestellt, zu
wählen zwischen Gehorsam und Liebe.

Und sie wählte den Gehorsam ... Mit den unschuldig reinen Händen riß sie
die Liebe aus ihrem Herzen und stieß sie von hinnen ... in den
unerbittlichen Schlachtentod ...

War das Jucunda Buchner? War's das junge Ding von achtzehn Jahren, mit
dem die zwei schlanken Burschen da unten an einem Tisch gesessen, in
einer Stube? Um derentwillen sie heut morgen in der Frühe des
leuchtenden Wintertages einander mit der Pistole in der Hand gegenüber
gestanden hatten, während sie mit einem gefürsteten Knaben über Feld
ritt, nur von dem einen Gedanken erfüllt, ein Gastspiel am Hoftheater in
Nassau-Dillingen für den nächsten Winter herauszuschlagen?

Nein, sie war es nicht. Ihre sterbliche Hülle war's! Und doch auch die
nicht mehr. Auch die verwandelt, erhöht, durchleuchtet, durchseelt von
der geheimnisvollen Flamme, die tief drinnen in ihr loderte,
unerklärlich, unbegreifbar ... der heiligen Flamme, die, solange sie
loderte, alles überstrahlte, alles verzehrte, alles verklärte, was
irdisch, was menschlich, was gewöhnlich, was häßlich war an ihr ...

Horch, schon brandete von draußen der Schwall der Pappenheimer heran ...
Schon klang die wilde Feuerweise des Reitermarsches, der zu Kampf und
Tode lud ...

Und nun -- nun tobte der rasselnde Schwall die Stiegen hinauf, stapfte
in die Galerie hinein, daß die Scheiben klirrend barsten, strudelte die
Treppe hinunter, überschwemmte in immer erneuten Güssen blinkender Wogen
die ganze Bühne ... entblößte Schwerter, haßflammende Blicke ...

Und inmitten die zwei jungen Menschen, -- neben dem todgeweihten Manne
das todgeweihte Weib, die weiße, unschuldig leuchtende Gestalt, das tief
gesenkte, sterbensmatte Haupt.

Und nun, nun ist der grausame Kampf zu Ende gekämpft. Aus dem Arm der
Geliebten reißt Oberst Max sich los.

    »Bedenket, was Ihr tut. Es ist nicht wohlgetan,
    Zum Führer den Verzweifelten zu wählen.
    Ihr reißt mich weg von meinem Glück, wohlan,
    Der Rachegöttin weih' ich Eure Seelen!
    Ihr habt gewählt zum eigenen Verderben,
    Wer mit mir geht, der sei bereit, zu sterben!«

Und mit hochgereckten Armen stürzt er sich hinein in die eisenschäumende
Woge. Die brüllt hell auf, schäumt gischtend empor, schlingt ihn
hinunter, reißt ihn von hinnen. Die Treppe hinauf strudelt der gärende
Schwall -- noch einmal taucht der wehende Helmbusch, der silberne
Harnisch auf ... versinkt aufs neue in den gleißenden Fluten. In den
wütenden Jubel der todestrunkenen Schar gellen die wirbelnden, erzenen
Rhythmen des Reitermarsches ...

Da unten, da vorn, bricht das verlassene Kind vor des starren Vaters
eisenumschienten Knien zusammen ... es erfüllt sich das tragische Los
des Schönen auf der Erde ... Das Edle sinkt ... Das Ideal verweht ...

Vorbei ... vorbei ...

Während die Gardine niederrauschte, legte der alte Präsident seine
beiden Hände um die Schultern der jungen Männer zu seiner Rechten und
seiner Linken:

»Kinder ... =jetzt= versteh' ich Euch ...!«


Am andern Morgen begleitete Hans Thumser seine Asta im Wagen zum
Bayrischen Bahnhof. Das Leipziger Gastspiel der Meininger war zu Ende --
weiter rollte der Thespiskarren ... Schon übermorgen abend würde man im
Gärtnerplatz-Theater in München mit »Jungfrau« eröffnen ...

Auf dem Bock thronte ein riesiger Reisekoffer. Vier Kisten mit Kostümen
waren schon als Eilgut vorausgegangen.

Drinnen aber im Wagen lachten die zwei und machten die tollsten Witze.
Das Herz war ihnen gar zu voll und gar zu schwer.

»Asta ...« sagte Hans mit einem Male im tiefsten Ernst, »-- ich bin ein
dummer, grüner Junge ... und ein Habenichts dazu ... sonst sagte ich zu
Dir: Laß uns zusammenbleiben ...«

»Du Dummerle!« schalt Asta heftig und gab ihm einen derben Klaps auf die
Backe -- »Du bist doch wirklich ein riesengroßes Dummerle! So etwas darf
man nicht einmal denken ... so ein feiner, nobler Junge wie Du ... und
eine ... eine Landstreicherin wie ich ...«

Aber ihre Lippen zuckten bitter und sehnsüchtig dabei, und in den Augen
schimmerte es verdächtig ...

»Pfui, Asta! Abscheulich, so von Dir zu sprechen! Von meiner ... meiner
süßen Asta --!«

»Sag's noch einmal!« bat Asta. »Es klingt so schön ... und ich werd's ja
doch niemals wieder hören ...«

»Niemals wieder?! So oft Du willst, Süße, so oft Du willst ... und so
oft ... ich ... kann ...«

»Da hast Du's ja ... Du wirst nicht können, mein armes Dummerle ... und
ich ... ich werde auch nicht wollen ... Es war so schön ... nun ist's zu
Ende ... und das ist gut so. Für uns beide ... für mich auch ... Denn
wenn's noch länger gedauert hätte ... dann ... dann wär ich am Ende doch
nicht mehr von Dir los gekommen ...«

»Asta ... Asta ... So viel hast Du für mich getan ...«

»Ja siehst Du -- da hast Du wieder so recht mein ganzes Pech: alles,
was ich für Dich hab' tun wollen, ist beim guten Willen geblieben ...
Ich hab' Dich glücklich machen wollen ... und Du bist zur Jucunda
gelaufen ... Ich hab' Dir das Leben retten wollen ... und bin zu spät
gekommen ... Eh wir dazwischen kamen, hattet Ihr Euch schon vertragen
... So geht mir's immer -- --«

»Asta ... mein Mädchen ... ich ... ich hab' Dich ja so lieb ...
so unsagbar lieb ... ich laß Dich nicht fort ... ich ... ich brenne
durch ... Ich geh' mit nach München ... Ich frage Euren Herrn Burg, ob
er einen Volontär brauchen kann ... Ich sollte meinen, zu einem
Komödianten müßt' es doch auch bei mir reichen ...«

Asta tupfte die Augen mit ihrem Spitzentüchelchen, und die zuckenden
Mundwinkel lachten schon wieder ihr lieblichstes Spitzbubenlachen.

»Ne, Hanserl -- das glückt Dir nicht ... Das können wir vor Deinen
Herren Eltern nicht verantworten! Bleib Du, was Du bist ... ein Jurist
... oder ... werd' einmal ein Dichter, wenn Du kannst ... ich glaube,
Du kannst -- -- und dann, in zehn oder zwanzig Jahren schreibst Du
einmal ein Stück, das über alle Bühnen geht -- mit einer wunderhübschen
Rolle für die komische Alte darin ... Und wenn Du dann auf Reisen
zufällig einmal nach Krotoschin oder nach Stallupönen kommst und siehst
an irgendeiner Bauernkneipe oder Scheune den Theaterzettel einer
Schmiere kleben, die Dein Stück spielt, und hinter der Rolle der
komischen Alten findest Du den Namen Asta Thöny ... dann setz Dich
irgendwo unter das 'verehrliche Publikum' ... aber ganz, ganz weit
hinten ... daß ich Dich nicht etwa erkenne ... und denk' daran, daß das
alte, häßliche Weiblein da oben einmal in Deinen Armen gelegen hat ...
vor langer, langer Zeit ... als Du noch jung warst und unberühmt und
nichts weiter als ein Korpsstudent in Leipzig ... Gelt, Hans, Das tust
Du --?«

Hans Thumser konnte nicht sprechen. Er küßte nur immer wieder die
rosige, weiche Hand, die er zwischen seinen harten, waffengestählten
Tatzen eingepreßt hielt, als wollte er sie zerdrücken.

Der Wagen hielt vor dem Abfahrtportal des Bayrischen Bahnhofs. Es war
zehn Uhr morgens. In grellem Weiß standen die beschneiten Dächer gegen
das satte Himmelsblau, das gleißende Sonnenlicht.

Auf dem Bahnsteig hielt bereits der Münchener Schnellzug. Für das
Ensemble der Meininger waren auf Bestellung ein paar Extrawagen
angehängt worden. Im Kassenflur, unter der Halle, wimmelte es von
glattrasierten Männergesichtern, von lebhaften mit betonter Eleganz
gekleideten Frauen. Riesige Koffermassen wurden in die Gepäckwagen
verstaut ...

Daß Asta Thöny sich auf dem Bahnhof in Begleitung eines grünbemützten
Studenten einfand, erregte keinerlei besondere Sensation unter ihren
Kollegen und Kolleginnen. Derartiges war man von ihr gewohnt. Sonst
war's meist eine Uniform ...

Die große Jucunda schritt mit spöttischem Naserümpfen an dem Paare
vorüber, einen ungeheuren Strauß der wunderbarsten Rosen in der Hand,
den ihr soeben ein prinzlicher Lakai überbracht hatte. Ja ... den
Rosenstrauß hatte sie wohl ... aber keinen herzlieben Jungen zur Seite,
der bei ihr hatte bleiben wollen bis zum letzten Augenblick ... Nur ihre
Eltern gaben ihr das Geleit, Mutter Doris aufgedonnert im
unglaublichsten Staat -- Vater Kanzleirat im abgeschabten Winterpaletot
und zerbürsteten Zylinder, ein armseliger, hüstelnder Schatten neben den
beiden mächtigen Frauengestalten.

Die übrigen Kollegen gingen mit diskret abgewandten Gesichtern an Asta
und ihrem schmucken Begleiter vorüber.

Nur Franz Burg trat grüßend heran:

»Guten Morgen, Kleine ... Na -- ist das Ihr Dichter?«

»Ja, liebster Freund -- das ist er ...«

Burg lüftete lächelnd seinen Hut, nannte seinen Namen, streckte dem
Studenten die Hand hin:

»Nun, ich sehe, Sie sind noch sehr lebendig ... Höchst erfreulich das.«

Mit korrekt eingewinkeltem Arm schlug Hans Thumser ein in Franz Burgs
Händedruck und zog höchst offiziell die Mütze.

»Hm,« machte der Oberregisseur und musterte ungeniert das feierlich
zurechtgefaltete Jugendgesicht -- »vorläufig ist noch nicht viel
zu lesen auf der Physiognomie da ... aber wer weiß ... vielleicht
stehen wir uns noch einmal an anderer Stelle gegenüber, und Sie legen
mir ehrfurchtdurchfröstelt das Manuskript Ihres ersten Dramas in die
Hand ... wer weiß! Dann wollen wir uns dieses Augenblicks erinnern ...«

»Und ich werde mich Ihres 'Wallenstein' erinnern, Meister -- --
einstweilen lassen Sie mich Ihnen dafür danken ...« sagte der Student
... und Franz Burg sah auf einmal mit Staunen, wie auf dem jungen
Gesicht die feierlich korrekten Falten sich auflösten, wie aus den
dunklen Augen eine heiße Flamme sehnsüchtiger Leidenschaft schlug. Da
leuchtete auch sein Blick dem jungen Gesellen freundlich und ermunternd
ins Gesicht.

»Also -- auf dereinstiges Wiedersehen, junger Freund --! Jetzt aber
sollt Ihr zwei die paar letzten Augenblicke noch füreinander haben,
Kinder ...«

Die paar letzten Augenblicke -- --

Hans Thumser und Asta Thöny senkten die Häupter und die Blicke ... Hoben
sie dann und ließen die Augen lange, lange ineinander ruhen ... Dabei
schwiegen die Lippen, Unsagbares quoll auf in ihren Herzen.

»Bitte Platz nehmen!« schnarrten da die Stimmen der Schaffner.

Da warf Asta die Arme um Hans Thumsers Nacken. Es kümmerte sie nicht,
daß die Kollegen vom Fenster aus mit Grinsen und halblautem Scherz den
Abschied beobachteten ...

»Leb wohl ... mein Hanserl ... auf ewig ... leb wohl ...«

»Nein ... nicht auf ewig ... das ist ja unmöglich ... das ertrag ich ja
nicht --«

»Ach, Hanserl -- wie gut Du das ertragen wirst ... aber Du ... von Zeit
zu Zeit einmal an mich denken ... gelt? an ... Dein ... erstes Glück ...
gelt, Hanserl?!«

Aus der finstern Halle polterte der Zug in die sonnige Morgenhelle
hinaus. Grell im Sonnenlichte leuchtete der weiße Rauchschwaden, den der
enteilende Schlot der Maschine hinter sich herzog. Und ein großes
Abschiedwinken ging aus den Fenstern des Zuges, ging auf dem Bahnsteig,
wo in ganzen Rudeln die Freunde und Verehrer standen, welche die
scheidende Künstlerschar bis zum letzten Augenblick begleitet hatten ...

Ein Tüchlein aber wehte länger als alle andern ... und Hans Thumser
blickte ihm nach, winkte ihm nach, bis alles vorbei war.

Dann wandte er sich rasch und schritt gesenkten Hauptes aus der Halle.
Einen Korpsstudenten in Couleur sollte niemand weinen sehen.




               Von =Walter Bloem= sind früher erschienen:


                              Sonnenland


          Eine Fahrt in die Schönheitswelt Griechenlands, in die
          Märchenstädte des Orients an Bord eines schmucken
          Lloyd-Schiffes, auf dem der Zufall eine bunte
          Reisegesellschaft zusammenwürfelt. Ein munterer Kreis
          meist humoristisch gesehener Gestalten und im
          Hintergrund ein leuchtender Reigen von Kultur- und
          Landschaftsbildern aus den gesegneten Zonen des
          sonnigen Südens.

                            Preis 1 Mark


                                   *


                          Das lockende Spiel


          Ein Buch vom Theater, von seiner berauschenden Magie,
          die keinen aus ihrem Zauberkreis entläßt, der ihr
          einmal verfiel. Wer es einmal gespielt hat das
          »lockende Spiel«, er kann es nimmer lassen. Eine neue
          Theatergründung in Berlin wird zum Mittelpunkt für ein
          fröhliches Ringen um die Palme des Bühnendichters,
          Schauspielers, Regisseurs. In diesen Kampf verkettet
          sich ein zweites »lockendes Spiel«, das Spiel und
          Gegenspiel der Liebe bei zwei jungen Menschenpaaren.

                              Preis 1 Mark


                   Verlag Ullstein & Co / Berlin-Wien







                             Ullstein & Co

                       [Illustration Verlagslogo]

                              Berlin SW 68




   Anmerkungen zur Transkription


     Rechtschreibung und Zeichensetzung des Originaltextes wurden
     übernommen, nur offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert.

     Der Originaltext ist in Fraktur gesetzt, fremdsprachliche Passagen,
     die im Original in Antiqua gesetzt sind, sind _so_ gekennzeichnet,
     für Abkürzungen, wie C. C. und Regentenzahlen wie XIV wurde dies
     nicht gemacht. Text der im Original g e s p e r r t gesetzt ist,
     ist hier =so= gekennzeichnet.





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WARRANTIES OF MERCHANTABILITY OR FITNESS FOR ANY PURPOSE.

1.F.5.  Some states do not allow disclaimers of certain implied
warranties or the exclusion or limitation of certain types of damages.
If any disclaimer or limitation set forth in this agreement violates the
law of the state applicable to this agreement, the agreement shall be
interpreted to make the maximum disclaimer or limitation permitted by
the applicable state law.  The invalidity or unenforceability of any
provision of this agreement shall not void the remaining provisions.

1.F.6.  INDEMNITY - You agree to indemnify and hold the Foundation, the
trademark owner, any agent or employee of the Foundation, anyone
providing copies of Project Gutenberg-tm electronic works in accordance
with this agreement, and any volunteers associated with the production,
promotion and distribution of Project Gutenberg-tm electronic works,
harmless from all liability, costs and expenses, including legal fees,
that arise directly or indirectly from any of the following which you do
or cause to occur: (a) distribution of this or any Project Gutenberg-tm
work, (b) alteration, modification, or additions or deletions to any
Project Gutenberg-tm work, and (c) any Defect you cause.


Section  2.  Information about the Mission of Project Gutenberg-tm

Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
electronic works in formats readable by the widest variety of computers
including obsolete, old, middle-aged and new computers.  It exists
because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from
people in all walks of life.

Volunteers and financial support to provide volunteers with the
assistance they need, are critical to reaching Project Gutenberg-tm's
goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
remain freely available for generations to come.  In 2001, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations.
To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4
and the Foundation web page at http://www.pglaf.org.


Section 3.  Information about the Project Gutenberg Literary Archive
Foundation

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
Revenue Service.  The Foundation's EIN or federal tax identification
number is 64-6221541.  Its 501(c)(3) letter is posted at
http://pglaf.org/fundraising.  Contributions to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent
permitted by U.S. federal laws and your state's laws.

The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S.
Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered
throughout numerous locations.  Its business office is located at
809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887, email
[email protected].  Email contact links and up to date contact
information can be found at the Foundation's web site and official
page at http://pglaf.org

For additional contact information:
     Dr. Gregory B. Newby
     Chief Executive and Director
     [email protected]


Section 4.  Information about Donations to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
spread public support and donations to carry out its mission of
increasing the number of public domain and licensed works that can be
freely distributed in machine readable form accessible by the widest
array of equipment including outdated equipment.  Many small donations
($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
status with the IRS.

The Foundation is committed to complying with the laws regulating
charities and charitable donations in all 50 states of the United
States.  Compliance requirements are not uniform and it takes a
considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
with these requirements.  We do not solicit donations in locations
where we have not received written confirmation of compliance.  To
SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any
particular state visit http://pglaf.org

While we cannot and do not solicit contributions from states where we
have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
against accepting unsolicited donations from donors in such states who
approach us with offers to donate.

International donations are gratefully accepted, but we cannot make
any statements concerning tax treatment of donations received from
outside the United States.  U.S. laws alone swamp our small staff.

Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
methods and addresses.  Donations are accepted in a number of other
ways including checks, online payments and credit card donations.
To donate, please visit: http://pglaf.org/donate


Section 5.  General Information About Project Gutenberg-tm electronic
works.

Professor Michael S. Hart is the originator of the Project Gutenberg-tm
concept of a library of electronic works that could be freely shared
with anyone.  For thirty years, he produced and distributed Project
Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support.


Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S.
unless a copyright notice is included.  Thus, we do not necessarily
keep eBooks in compliance with any particular paper edition.


Most people start at our Web site which has the main PG search facility:

     http://www.gutenberg.org

This Web site includes information about Project Gutenberg-tm,
including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
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