Der krasse Fuchs

By Walter Bloem

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Title: Der krasse Fuchs

Author: Walter Bloem

Release date: February 23, 2025 [eBook #75450]

Language: German

Original publication: Leipzig: Grethlein & Co. G. m. b. H, 1910

Credits: Peter Becker, Hans Theyer and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net (This file was produced from images generously made available by The Internet Archive)


*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DER KRASSE FUCHS ***



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                    Anmerkungen zur Transkription:

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                            Der krasse Fuchs

                                 Roman

                                  von

                              Walter Bloem


                            47.-49. Tausend


                  Grethlein & Co. G. m. b. H. Leipzig




             Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung,
                von der Verlagsbuchhandlung vorbehalten.
             Copyright 1910 by Grethlein & Co. G. m. b. H.
                                Leipzig




                              Erstes Buch




                                  I.


Aus hundert blühenden Apfelbäumen strich eine laue Welle Frühlingsduft
über die morgenflimmernde Chaussee, und aus den Büschen zu beiden
Seiten schmetterte Nachtigallenjauchzen. Feine Glockentöne waren in der
Luft.

    »Ein Tag, von Gott, dem hohen Herrn der Welt,
    Gemacht zu süßerm Ding, als sich zu schlagen!«

zitierte Werner Achenbach und schob seinen Arm in den des neben ihm
marschierenden Korpsbruders.

»Du hast gut reden,« sagte der. »Bis du mal selbst vors lange Messer
kommst! Aber ich, siehste! Wer weeß, ob 'ch mei scheenes grades
Neeschen wieder wer' mit zuricke bring'n!«

»Wie ist dir denn eigentlich zumute, Dammer?«

»Nu, äbens doch e bißchen benaut,« sagte der stämmige kleine
Dresdener ehrlich. »Wenn's bloß wegen der Senge wäre, nu, das tät'n
mir schon machen, denk 'ch -- aber daß m'r ooch den Ansprichen eines
wohlleeblichen C. C. geniegt --«

»Wieso?«

»Nu, bei der ganzen korpsstudent'schen Fechterei kommt's doch eenzig
und alleene aufs gute Stehen an!« erklärte Dammer, und was sein
Leibbursch und sein Fuchsmajor ihm im vorigen Semester eingeprägt und
eingeprügelt durch die Filzmaske hindurch, das setzte er dem »Krassen«
in längerer Rede auseinander: daß der Hauptzweck der Mensur Erziehung
zur Standhaftigkeit und Charakterstärke sei.

Werner hörte kaum mehr zu. Er sah den Frühling ringsum, er fühlte
die Jugend und Freiheit durch alle Glieder rieseln. Schwüler schon
flimmerte die Maisonne. Blendend flammte die Chaussee; aber das
strahlende Grün der Laubmassen in den Gärten, sachtes Grüßen der
schwellenden Waldberge labten das ermüdete Auge. Und aus den lichten
Büschen hoben sich viele schmucke Landhäuser, streckte sich droben das
graue Gemäuer des Marburger Schlosses in den sanften Morgenhimmel, und
zur Linken, wenn einmal die Gärten den Durchlug gestatteten, überflog
der Blick das breite, gesegnete Tal, durch dessen mattschimmernde
Fläche die Lahn ein flirrendes Band hindurchwob ... so schön war der
Frühling noch nie gewesen, selbst damals nicht, als Werner, das rote
Sekundanerkäppchen auf dem Kopfe, zum ersten Male zwei blonden Zöpfen
nachgestiegen war ...

Student -- Korpsstudent ... Himmel, das war ja wie ein Traum. Und
plötzlich riß Werner mit der freien Linken die hellblaue Cimbernmütze
vom Kopfe, stieß einen wilden, formlosen Jubelschrei aus ...

Nervös zuckte Dammer zusammen. »Nanu? biste verrickt geworden?« Seine
blassen Nasenflügel zitterten.

»Ach so!« Werner fand es komisch, daß der andere, der Brandfuchs, Dampf
hatte vor seiner ersten Mensur. Und das war ersichtlich der Fall. Er,
Werner Achenbach, hätte am liebsten gleich einen Schläger in die Hand
genommen ...

»Na warte nur, mei Jungchen, wenn du mal erscht den Rummel da draußen
wirscht kennen!« meinte der Ältere. »Nämlich sehre gemietlich is das
gerade nich, das kann 'ch dir sagen! Aber nu sei stille, jetzt kommt
mei Orakel!«

»Dein Orakel?«

»Nu äben! nämlich, hier zur Linken das große weiße Haus, das ist das
Pensionat Vogt, mußte wissen, un da nämlich, da is meine ~Sonne~
dadrinne!«

»Deine Sonne?!«

»Nu ja, mei Mädichen nämlich, weeßte, mei sießes Mädichen! Kätchen
heeßt se, Kätchen Fröhlich ... un wenn ich die jetzt zu sehen krieg,
weeßte, dann is das e gutes Omen für mei erschte Mensur, verstehste?«

Werner verstand und drückte ein wenig den Arm des neuen Freundes.
Beide forschten im Schreiten gespannt an der langen Fensterfront des
Pensionats, ob irgendwo ein Mädchenkopf sich blicken ließe.

Umsonst ... in der frühen Morgenstunde waren alle die Fensterchen mit
weißen Vorhängen dicht verhüllt.

»Du, was meenste, wenn m'r da mal kennt e bißchen hinterkucken?« meinte
der Sachse.

Werner erschrak und wurde rot. Er hatte den gleichen Gedanken gehabt,
aber wie man den Mut und die Schamlosigkeit haben konnte, solch einem
tempelschänderischen Wunsch Worte zu leihen -- --

Sieh da: an einem der letzten Fenster öffnete sich inmitten der weißen
Gardinen ein Spalt: ein lieblich verschlafenes Köpfchen lugte einen
Augenblick hervor -- unter dem Kinn bauschte und knitterte der Vorhang,
als zögen da zwei Fäustchen das Leinen fest zusammen -- muntere Augen
spähten einen Moment zum Schloß empor, flogen dann zur Chaussee
hinunter -- und hui, war alles verschwunden wie weggeweht.

Dammer war zusammengezuckt, hatte ohne Bedenken seine blaue Mütze
heruntergerissen. Nun preßte er den Arm des Korpsbruders: »Du,
Achenbach ... hast se gesehen? Das war se! Ach, Kätchen, Kätchen,
sießestes Mädichen!«

Und dann richtete er sich stramm auf und schlug mit dem
silberbeschlagenen spanischen Rohr in seiner Rechten einen mächtigen
Lufthieb. »So, mei gutester Herr Pasche Guestphaliae, nu kenn' Se sich
meineswegens in acht nähm'!« und dann schmetterte er los:

    »Auch von Lieb umgä'm
    Ist 's Studentenlä'm,
    Uns beschitzet Fenus Cipriah,
    Mäddchen, die da lie'm
    Und das Kissen ie'm,
    Waren stets in schwerer Menge da,
    Aber die da schmacht'n
    Und bladonisch tracht'n,
    Ach, die liebe Unschuld tut nur so ...
    Denn so recht inwend'g
    Brennts doch ganz unbänd'g
    Fier den kreizfidelen Studio!«

Werner war ganz still geworden. Dieses plötzlich auftauchende blühende
Jugendgesicht hatte jählings in ihm aufgewirbelt, was seit seiner
Ankunft in Marburg, unterm ersten Ansturm der tausend neuen Eindrücke
des Studentenlebens geschlummert hatte: ein dumpfes, sehnsüchtig-süßes
Weh ... Und den Anblick des ruhesatten Gesichtchens ergänzte seine
beutelustige Phantasie durch ein Traumbild der ganzen Erscheinung, die
der neidische Vorhang verhüllt hatte: da mußte ja ein ganzer, lebender,
duftender Leib dazugehören, kaum verhüllt vom Nachtgewande -- ein
Mädchen ... ein junges, junges Weib ...

Da war sie wieder, die tolle Sehnsucht, die ihn so oft gequält in
seinen drei letzten Schuljahren, auf harten Bänken, im öden Wechsel von
Mathematik und zerfetzten, mißhandelten und doch unverwüstlichen und
heimlich aufwühlenden Dichterworten ...

Und im munteren Schreiten summte da die Melodie des alten
Burschenliedes und die seltsamen Worte in ihm nach:

    »Auch von Lieb umgeben
    Ist Studentenleben,
    Uns beschützet Venus Cypria:
    Mädchen, die da lieben
    Und das Küssen üben,
    Waren stets in schwerer Menge da ...
    Aber die da schmachten
    Und platonisch trachten ...«

also nicht alle trachteten platonisch?! »die da lieben und das Küssen
üben«?! Himmel --!

Und seine Seele sprang aufgescheucht und ruhelos in ihm hin und her,
wie ein Raubtier im Käfig, wenn die Stunde der Fütterung naht.

Indessen hatten die beiden Wanderer die letzten Häuser von Marburg
hinter sich gelassen und schritten nun munter aus, dem nahen Dörfchen
Ockershausen zu, wo die Marburger Korps allsamstäglich ihre Mensuren
schlugen. Noch war vom Ziele nichts zu sehen als der Morgenrauch, der
in blauen Säulchen über einem Schwall blühender Apfelbäume kräuselte.
Aber da nun die Chaussee schnurgerade vor ihnen lag, konnten sie sehen,
daß sie nicht die ersten waren. Vor ihnen marschierten schon, zu zweien
und dreien, in ganzen kleinen Trupps die Angehörigen der drei Marburger
Korps: die blaumützigen Cimbern, die hellgrünen Hessen-Nassauer und
die Westfalen in ihren weißen Sommerstürmern. Und auch von hinten
klang Geplauder und Lachen. Die ganze Landstraße war betupft von
bunten Farbflecken: den hellen, schmucken Anzügen, den gleißenden
Mützen und Bändern der Korpsstudenten, die in den Frühlingsmorgen
hineinmarschierten, nicht zu fröhlicher Lenzfahrt, sondern zu blutigem
Turnier.

Dieser Anblick brachte Werner zur Gegenwart zurück und zu dem
herannahenden Erlebnis dieses Tages. Zum ersten Male sollte sein
junges Leben Waffen und Blut schauen. Und da befiel ihn denn doch eine
sachte wachsende Beklemmung. So friedvoll war seine Jugend verlaufen,
so sturmbehütet im sichern Elternhause, inmitten gleichstrebender
Freunde, nur den Studien, harmlosen Vergnügungen, vor allem den
Dichtern gewidmet ... erst die letzten drei Jahre hatten heimliche,
verschwiegene Ängste und Kämpfe gebracht ... Draußen war immer Friede
gewesen ... nun war's auf einmal anders geworden -- das Leben kam. Er
fühlte, wie ihm ganz langsam etwas die Kehle verengerte. Immer mehr,
ganz leise, aber stetig. Er mußte sprechen, um das Gefühl zu bekämpfen.

»Kommst du zu allererst dran?« sagte er zu Dammer, der auch ganz still
und etwas fahl geworden war.

»Nunee,« sagte Dammer, »das wär nu doch gerade keene wirdije Eröffnung
nich fiers Fechtsemester. Zuerst kommt unser Scholz kontra Seydelmann,
den Ersten von den Nassauern.«

Scholz! bei diesem Namen hatte Werner Achenbach ein unbehagliches
Gefühl. Ein Gefühl -- ähnlich dem, das er, der zarte, geistige Knabe,
in der Schule stets den stämmigen Schulkameraden gegenüber gehabt, die
er in allen Unterrichtsgegenständen leicht und verächtlich hinter sich
gelassen, während sie ihm beim Turnen und Spielen mit Hohngelächter
über seine unbeholfenen und schwächlichen Versuche vergolten hatten.
Scholz! Eine hagere, riesige Gestalt, ein schmales, herrisches
Gesicht mit scharfen, gebietenden Augen, mit einem Munde, der meist
zusammengekniffen war, aber auch plötzlich lächeln konnte, flüchtig,
überlegen, halb mitleidig, halb spöttisch; einem Munde, dessen Lächeln
etwas Geheimnisvolles hatte ... etwas, das den Knaben Werner abstieß
und lockte. Scholz! den gefürchteten und für die Füchse unnahbaren
Senior des Korps -- den sollte er heute fechten sehen ... das konnte
ein Schauspiel werden. Und bei diesem Gedanken empfand Werner ein
seltsames Doppelspiel der Empfindungen: jenes physische Mißbehagen
in der Kehle und zugleich im Herzen ein neugieriges, schauensfrohes
Jauchzen.

»Gib mal Achtung,« sagte Dammer, »das wird e wiestes Geflitze wer'n,
das Mensierchen. Der Scholz und der Seydelmann, die haben im vorichten
Winter schon eemal zusammen gefochten, das war e beeses Gemärsche, das
kann 'ch dir nur sagen. Damals haben sie ausgepaukt.«

»Ausgepaukt? Was heißt das?«

Dammer erklärte dem Novizen, es gäbe zweierlei Arten von Mensuren:
Bestimmungsmensuren und Kontrahagen. Bei letzteren sei ein unangenehmes
Zusammentreffen und demnach eine Forderung vorausgegangen: das sei aber
unter Korpsstudenten Ausnahme: meist fechte man nur aus Bestimmung,
das heißt, die zweiten Chargierten der drei Korps kämen zusammen und
machten untereinander aus, welche ihrer Korpsbrüder gegeneinander auf
Mensur treten sollten: das seien also lediglich Turniere ohne alle
persönliche Feindschaft.

Und derjenige Fechter, der allen andern im Seniorenkonvent, also unter
allen aktiven Korpsstudenten der Hochschule, überlegen sei, den nenne
man den S.-C.-Fechter. Zwischen Scholz und Seydelmann sei das noch
unentschieden, und obwohl die Mensur des letzten Winters beide Fechter
viel Blut gekostet, sei sie doch ohne Entscheidung zu Ende gegangen,
keinem der Rivalen sei es gelungen, innerhalb der vorgeschriebenen Zeit
den andern kampfunfähig zu machen. Nun solle der heutige Morgen gleich
zu Anfang des Semesters die Entscheidung bringen.

»Ich für mein Teil, weeßte, ich möcht ja schon am liebsten, daß wir
Cimbern täten den S.-C.-Fechter haben, aber was der Scholz is, das
hochmietige Luder, weeßte, dem tät 'ch schon genn', daß er mal e paar
ticht'ge über die Schnauze tät kriegen. Freilich, seine Mädchens, die
täten scheene traurig sein.«

»Seine Mädchen? Hat er denn mehrere?«

»Nu, der? Hinter ihm sein se doch alle her, wer weeß wie sehr! Von dem
laufen in Marburg wenigstens drei Bälger herum.«

Werner fühlte etwas wie einen Stoß, der von unten, vom Magen her,
gegen das Herz geführt worden wäre. Was --?! so etwas ... so etwas
Fürchterliches ... das gab's?!

Da lies ein junger Mann von -- na vielleicht von zwei-, dreiundzwanzig
Jahren in Marburg umher, trug die Mütze eines Korps, war sein
gefürchteter und gefeierter Senior, und hatte ...?

»Unehelich: +pelice ortus, spurius, incerto+ oder +nullo patre
natus+« rezitierte etwas in seinem Innern ganz mechanisch.

Ja, was war denn das für eine Welt, in der ... war denn so etwas keine
Schande?! Machte denn so etwas nicht verächtlich, unwürdig, unehrlich?!

Werner schauderte. Ein Gefühl von Einsamkeit, Verlassenheit, Heimweh
überkam ihn. Und dann dachte er wieder an Scholz, an sein ehernes
Gesicht, sein spöttisch-mitleidiges Lächeln, seinen Herrscherblick.
»Hinter dem sein se doch alle her --?« Und ... ~so~? ~der~
kannte das alles, was in Werners Seele seit ein paar Jahren als
brennendes, verzehrendes Rätsel gärte und wühlte, was in schlaflosen,
schwülen Nächten seine jungen Glieder umherwarf ... der hatte Mädchen
umfangen, dem hatte die Schönheit des Weibes sich hingegeben ... und
von all diesen Erfüllungen gab's Zeugen in Marburg ... kleine Menschen,
lebende, zappelnde ...?

Ganz verworren marschierte Werner dahin. Beide schwiegen; Erich Dammer
dachte an seine nahe Mensur und ahnte nicht, was für Stürme in der
Seele des Jünglings tobten, dessen Arm in dem seinen hing. Er, der
Großstädter, war früh witzig geworden ... Nur den einen Wunsch hatte er
an die Zukunft in diesem Augenblick: daß er schon sechs Stunden älter
sein möchte und alles vorüber ... Er mußte noch einmal anfangen zu
sprechen und fragte:

»Hast du dir ooch schon e Leibburschen ausgesucht?«

»Nein,« sagte Werner auffahrend. »Ich ... es ist ja wohl noch Zeit ...
ich bin doch erst zehn Tage in Marburg.«

»Ja, nimm dir nur e bißchen Zeit,« sagte Dammer, »sieh dir se nur e
bißchen gründlich an, die Herren C. B. C. B. Und vor allem: daß du nu
nich am Ende gar den Scholz nimmst. Erschtens: er geht balde weg, und
dann: schlecht tut er sie behandeln, seine Leibfichse, nu ja, die ha'm
nischt zu lachen.«

Inzwischen waren die Wanderer in das Dörfchen Ockershausen eingerückt.
Hier umsäumten verschnittene Weißbuchenhecken den Pfad, braune Dächer
lugten aus dem Grün, manche Häuser standen, aus gelbem Lehmfachwerk
mit schwärzlichen Balken erbaut, dicht an der Straße, und durch ihre
breiten Tore und Einfahrten fiel der Blick in die Höfe voll Ackergerät,
Stallungen und Mist. Dorfkinder lärmten an der Straße, die Jungens auch
in der Sonnenglut in verschlissenen Pelzmützen, die Mädchen in jener
schmucken Hessentracht, die Haare nach dem Scheitel zu gestrichen, das
magere Krönchen von dem bebänderten Rotkäppchen bedeckt. Sie begrüßten
die lang vermißten Studenten mit einem Freudengeheul und begleiteten
sie, die Kleinsten, Stolpernden, an der Hand fassend: »Hurra! die
Cimbern sein widder da! Hurra, die Nassove! Hurra, die schwazze
Weschtfale!«

Und nun war man am Ziel: dem Wirtshause von Ruppersberg. Ein
bäuerliches Anwesen, von den andern nur unterschieden durch einen
Fachwerkbau von zwei Stockwerken, der unten Ställe, oben aber einen
geräumigen Saal enthielt. Man stolperte eine steile Treppe empor,
nun sah man links in den Saal hinein, in dem schon Gruppen von
Korpsstudenten sich ansammelten; rechts zog sich ein Flur, auf den
niedrige Türen stießen ...

»Willst mal die Flickstub' sehen?« sagte Dammer zu dem Neuling und
stieß eine der Türen auf. Ein betäubender Dunst von Karbol und
Jodoform schlug Werner entgegen: er erkannte rechts am Fenster, an
einem kleinen Tische, eine Gestalt in Hemdsärmeln und schwarzer
Lederschürze: es war der Paukarzt, ein Mediziner kurz vor dem
Staatsexamen und inaktiver Korpsbursch der Cimbria, Wichart mit Namen,
ein gemütlicher, heiterer Marburger. Der stand gebückt und hantierte
mit einem blinkenden Schwall von merkwürdigen und unheimlichen
Instrumenten, flachen Schalen, Waschbecken, Flaschen ... nun hob er
etwas gegen's Licht: es war eine krumme, starke Nadel, wie ein kleiner
Finger lang, in die fädelte er einen langen Seidenfaden hinein.

Und an der andern Seite stand Scholz, bis an die Hüfte nackt, vor ihm
Peter, der Korpsdiener der Cimbern, ein gutmütiges Doggengesicht; er
hatte ein blendend weißes Paukhemd über die Arme gestreift und raffte
es in Falten, um es dem gestrengen Senior überzustreifen. Werner
starrte den sonnübergleißten Jüngling an -- der Apoll von Belvedere
stand vor ihm, oder der Apoxyomenos, und in der Ferne dämmerte die
Gestalt des leuchtenden Achilleus ... vollkommen schön war dieser
stählerne Leib gebildet, und darüber das kühne Gesicht, dessen linke
Seite durch zahlreiche Hiebnarben einen mittelalterlich wilden Ausdruck
erhalten hatte, während die gänzlich unberührte rechte Seite die
Idealität eines antiken Kopfes zeigte ... Und da mußte Werner denken,
wie Dammer gesagt hatte: von dem laufen in Marburg wenigstens drei
Bälger herum ... und ihm war's, als säh' er an diese Brust, an diese
Schultern geschmiegt einen Mädchenkopf, einen blonden ... und nun
war's auf einmal ein schwarzer ... und nun ein rötlich-blonder ... und
aus den Umarmungen der Schönheit und der Stärke jedesmal entsproß ein
junges Leben ... doch +pelice natus, spurius, sine patre+ oder
+incerto patre natus+ ...

Aber nun hatte Scholz die Angekommenen bemerkt. »Was habt ihr da zu
gaffen, Füchse? Schert euch in den Saal!« Beschämt schlichen die beiden
Jüngeren hinaus, und Werner folgte Dammer in den Fechtsaal.

Da gab's viel zu sehen und zu staunen. Im bäuerlich getünchten, von
rechts und links durch je vier Fenster erhellten Saal standen Reihen
Tische an den Fensterwänden entlang; hinten war das Gemach durch eine
Schmalwand abgeschlossen; darin war eine Orchesternische eingelassen,
von deren Fußgestell herab Sonntags die Tanzweisen dörflicher Fiedler
ertönen mochten. Aber wo sonst die Paare im Reigen sich drehten,
da wurde nun alles für ein ernsteres Schauspiel bereitet: inmitten
von buntbemützten Gruppen plaudernder Jünglinge standen zwei in
Hemdsärmeln, mit einem ungefügen Schurz um die Lenden, der beim
einen die Farben grün-weiß-blau, beim andern blau-rot-weiß trug --
im letzteren erkannte Werner den vorläufigen zweiten Chargierten
seines Korps, den schönen, stämmigen, wangenroten und augenleuchtenden
Mediziner Willy Klauser. Beide Herren trugen ferner eine hohe,
steife Halsschutzbinde, gelbe Armstulpen und wüste Mützen mit weit
vorspringenden Lederschirmen. Es waren die Sekundanten, die eben in
Gegenwart des Unparteiischen, eines lockigen Westfalen, mit steifem
Zeremoniell gravitätisch die Mensur abmaßen und durch zwei rücklings
gegenübergestellte Stühle bezeichneten. Und um sie her stand man
in Gruppen zusammen, begrüßte sich, umdrängte den bierschleppenden
bäuerlichen Kellner und entriß ihm die Gläser, um den Nachdurst
der Spielkneipe und die Hitze des Morgenmarsches zu kühlen. Aber
die Gruppen der blauen, grünen und schwarzen Mützen hielten sich
gesondert, und nur ein gelegentliches »Herr Soundso, darf ich mir
gestatten?« schwirrte über die Klüfte hinüber, so die rivalisierenden
Völkerschaften der Cimbern, Westfalen und Nassauer trennten. Nun
schmetterte plötzlich Gelächter: in der Tür erschien ein schmächtiger
Westfalenfuchs und trug sorgsam unterm Arm einen korbartigen Käfig aus
Weidenruten, in dem ängstlich ein weißes Huhn gackerte. Das überreichte
er mit höflich abgezogener Mütze dem Paukarzt der Westfalen mit den
Worten: das sei das Mensurhuhn. Neues schallendes Gelächter der
ganzen Versammlung: Werner ließ sich von Dammer erklären, das sei ein
Fuchsleim, ein uraltüberlieferter Scherz: man habe dem guten Jungen
eingeredet, er müsse ein Huhn besorgen, aus dessen Fleisch etwaige
abgeschlagene Nasen sofort ersetzt werden könnten.

Indessen entstand eine Bewegung an der Saaltür: in vollem Mensurwichs,
durch die breite schwarze Paukbrille häßlich entstellt, betrat den
Saal der Senior der Hasso-Nassovia, ein vierkantiger, stierschultriger
Gesell, den mit seidenen Binden dick umwickelten rechten Arm auf die
erhobenen Hände eines Fuchses gestützt, schritt auf einen der die
Mensur bezeichnenden Stühle zu, lehnte sich mit dem Gesäß an dessen
Lehne und ließ mit gemachter Ruhe und Gleichgültigkeit seine aus der
Paukbrille hervorfunkelnden Augen durch den Saal gleiten. Noch summte
das Gespräch, etwas leiser, weiter, nur die Zigarren ließen bläuliche
Kringel über die Versammlung emporsteigen. Aber sachte begann man sich
doch im Kreise um den Kampfplatz zu scharen, und eine Erregung begann
und schwoll an, als nun auch die Tür zum Bandagierzimmer der Cimbria
von innen aufgestoßen wurde und Scholz erschien.

Werner fühlte, wie ein Frösteln ihm durch alle Glieder lief. Vergebens
suchte er sich an seinen Primanererinnerungen aufzurichten, Bilder
homerischer Heldenkämpfe in sich heraufzubeschwören: ihm schauderte
das ungestählte, friedgewohnte junge Herz. Und er vermochte den Blick
nicht vom Gesichte des Korpsbruders zu wenden: auf der schmalen Wange
zwischen Paukbrille und Halsbinde flammten jetzt die alten Narben, in
gebändigter Kampflust flackerten die grauen Augen aus den kurzen Röhren
der Brille hervor, unter dem weißen Bausch des Paukhemdes meinte man
alle Nerven sich straffen, alle Muskeln sich anspannen zu sehen.

Nun klangen aus dem Munde der beiden Sekundanten, des Unparteiischen
ein paar rasche formelhafte Wechselworte, die Werner in seiner Erregung
nicht verstand; dann vernahm er das Kommando: »Fertig!«, und beide
Fechter taten, aufgerichtet, den rechten Arm mit der Waffe hoch
aufgereckt, ein paar feste, schnelle Schritte nach vorn, so daß sie auf
anderthalb Armlängen einander gegenüberstanden. Die Sekundanten setzten
rasch von hinten den Fechtern ihre großen Sekundiermützen auf, und
Klauser kommandierte gelassen: »Los! Halt!« Das war der »Scheingang«;
die Sekundanten setzten ruhig ihre Mützen wieder auf, kauerten nun wie
sprungbereite Katzen zur Linken ihrer Paukanten nieder, und abermals
klang's, aber jetzt heiser und erregt, in die Totenstille hinein:

»Fertig!« -- »Los!«

Und krach, krach, dröhnten drei-, viermal die blechgeschützten Körbe
der Schläger aneinander, dann klirrte ein doppeltes »Halt!!« und von
beiden Seiten warfen die Sekundanten die stumpfen Klingen ihrer
Schläger, ihre stulpgeschützten Arme zwischen die Fechter und trennten
sie.

»Herr Unparteiischer, bitte drüben nachzusehen und einen Blutigen zu
konstatieren!« rief, Triumph in der Stimme, der Nassauersekundant.

Werner war's blau und schwarz vor den Augen geworden: mit Mühe zwang
er eine Bewegung seiner Eingeweide nieder, die seinen Mageninhalt
ausstülpen zu wollen schienen, und sah unverwandt Scholzens Gesicht
an. Nun fuhr aus dem wirren, dunkelblonden Haar des Seniors ein roter,
senkrechter Strich über Stirn und Wange, und dann schossen auch gleich
ganze Bäche Bluts über das Gesicht, röteten das Weiß des Paukhemdes und
rannen auf den Boden.

»Silentium! Ein Blutiger auf seiten von Cimbria!« sagte der
Unparteiische ruhig, ohne sich vom Platze zu bewegen, und machte
eine Notiz. Nun kam der Paukarzt Wichart, die Hemdärmel wie ein
Schlächtergeselle aufgekrempelt, bedächtig heran, einen nassen,
karbolduftenden Wattebausch in der Hand, untersuchte die Wunde, die
nun auf der linken Kopfseite als langer, klaffender Spalt durch die
ganze Kopfhaut sichtbar wurde, fühlte mit dem Zeigefinger hinein und
machte plötzlich ein bedenkliches Gesicht. Er sah Klauser an, Klauser
schüttelte heftig mit dem Kopfe; da zog Wichart die völlig blutbedeckte
Hand zurück und sagte: »Na, meinetwegen!«

Was, dachte Werner entsetzt: ist das denn jetzt nicht aus? Ihm
flimmerte alles vor den Augen: er trank hastig einen tiefen Schluck
Bier. Und wie er den blutüberströmten Kopf da anstarrte, fiel ihm
wieder ein: von dem laufen in Marburg wenigstens drei Bälger herum.

Es war nicht aus. Wieder kauerten die Sekundanten nieder, flogen die
Klingen der Fechter in die Luft, klangen die Kommandos, krachten die
Waffen zusammen, und abermals nach wenig Hieben dröhnte das »Halt!« der
Sekundanten, und sieh, nun klaffte Scholzens linke Wange vom Ohr bis in
die Mitte des Jochbeins. Wieder schoß das Blut hervor, aber kein Fleck
des Gesichts war mehr weiß, den es hätte färben können.

Und abermals untersuchte Wichart, runzelte bedenklich die Stirn und
ließ dann doch die Mensur weitergehen.

Als abermals die Klingen in der Luft standen, stieß Dammer den neben
ihm stehenden Werner an und wies mit den Augen auf Scholzens Klinge:
die zitterte nervös, wie rachgierig: »Gib acht, jetzt tut er's ihm
gä'm.«

Kommando, Zusammenkrachen der Waffen, dreimal, dann schneidendes Halt
der Sekundanten und ein unwillkürlicher Laut aus aller Munde: drei,
vier Strahlen roten Blutes spritzten meterweit aus der Schläfe von
Scholzens Gegner über die Mützen und hellen Anzüge der Versammlung.
Hart über dem Riemen der Paukbrille hatte Scholzens »Durchgezogener«
dem Gegner das linke Ohr und die ganze Schläfenbreite gespalten. Ohne
auch nur einen Moment länger hinzusehen, sprang der Hessen-Nassauer
Paukarzt von hinten mit einem großen Watteballen auf Seydelmann zu,
bedeckte mit der Watte dessen linke Kopfseite, preßte mit beiden
Händen den Kopf zusammen, sagte »Raus!«, drehte seinen Patienten herum
und führte ihn durch den sich öffnenden Schwarm hinaus, während der
Nassauer-Sekundant in ärgerlichem Tone seinen Paukanten für abgeführt
erklärte.

Ein schwaches Hohnlächeln um die blutbekrusteten Lippen, von den
Glückwünschen der Korpsbrüder umringt, verließ nun auch Scholz den
Saal.

Während aufgeregte Gespräche den weiten Raum durchschwirrten, suchte
Werner den Weg zur Tür, stolperte die Treppe hinab und ging in den
Garten, um frische Luft zu schöpfen. Da standen in langen Reihen rohe
gestrichene Tische und Stühle, Wäsche hing an Leinen, und im Dickicht
am sonnenflimmernden Bach entlang schmetterten die Nachtigallen; über
den Wiesen stieg Lerchengetriller in die Luft, und der Jasmin und
Flieder dufteten um die Wette. Und wieder fiel dem jungen Studenten
sein Kleist ein:

    »Ein schöner Tag, so wahr ich Leben atme!
    Ein Tag, von Gott, dem hohen Herrn der Welt,
    Gemacht zu süßerm Ding, als sich zu schlagen!
    Die Sonne schimmert rötlich durch die Wolken,
    Und die Gefühle flattern mit der Lerche
    Zum heitern Duft des Himmels jubelnd auf!«

Und doch war's ihm, als sei es ein süßes Ding, sich zu schlagen. Doch
war ihm, als sei alles, was er sich auf seiner Schulbank geträumt, nun
Leben geworden, als kenne er sie nun wirklich, die düster-herrischen
Reckengestalten seiner Dichter. Schauder und Liebe rangen in seiner
Seele, die nun ihren Helden gefunden hatte: ja, er, der reine,
scheue Knabe, liebte den Jüngling an der Schwelle der Mannesjahre,
den S.-C.-Fechter, den, von dem »wenigstens drei Bälger in Marburg
herumliefen« ... liebte ihn mit jener bangen Scheu, mit der er das
Leben liebte, an dessen geöffneter Pforte er nun plötzlich stand.

-- -- Es war vorüber. Noch acht weitere Mensuren hatten stattgefunden:
auf die Dielen des Saales hatten die Korpsbrüder mehr als einmal
Sägemehl streuen müssen, um das geflossene Blut aufzusaugen, und als
die Schar nach getaner Arbeit gen Marburg aufbrach, da schwamm im Saale
ein Dunst, aus Schweiß, Blutgeruch, Bier und Tabakrauch gemischt. ...
Auch Dammer hatte seine ersten Nadeln bekommen im Verlauf eines wenig
aufregenden Kampfspiels, das sich nicht gar sehr vom Zusammenschlagen
der Klingen beim festlichen Landesvater unterschieden hatte. Aber
Achenbach gesellte sich auf dem Heimwege nicht zu ihm. Er wußte es
einzurichten, daß er beim Heraustreten aus dem Ruppersbergschen Hof an
Scholzens Seite kam. Scholz trug über seinem fahlen, verschwollenen
Gesicht einen mächtigen weißen Wickelverband, über den er statt der
Coleurmütze eine schwarze Mensurkappe gezogen hatte. Er war etwas
überrascht, als er das schlanke Füchschen neben sich sah. Das stammelte
errötend seine Bitte, wie ein Liebesgeständnis:

»Scholz, ich möchte dich bitten, mein Leibbursch zu werden.«

»Hm -- sag' mal, ich hab' deinen Namen noch nicht behalten.«

»Achenbach.«

»So ... aus Elberfeld, nicht wahr?«

»Ja.«

»Also, mein lieber Achenbach, ich bleib' nur noch drei Wochen hier ...«

»Nur noch drei Wochen?«

»Ja -- dann werd' ich inaktiv und geh' nach Berlin ... aber für die
drei Wochen ... gut.« Er hatte einen scharf prüfenden Blick auf das
Studentlein geworfen. »Also schön ... Leibfuchs Achenbach.« Ein
Händedruck, ein rasches Verweilen Aug' in Auge, dann war Achenbach
entlassen, und Scholz gesellte sich zu seinem Sekundanten Klauser.

Eben rasselte eine Kalesche an den Marschierenden vorbei nach Marburg
zu, drinnen ein paar blasse, verbundene Gesichter; Werner erkannte
den Bulldoggkopf des Nassauerseniors und sah, daß auch Scholz den
besiegten Gegner erkannt hatte: mit einem kurzen Anlegen der Hand an
seine Mensurmütze grüßte Scholz in die Kutsche hinein, aber nicht das
leiseste Lächeln des Triumphs war auf seinen fest geschlossenen Lippen
zu entdecken.

Werner hielt sich dicht hinter seinem neuen Idol. Dammer gesellte
sich zu ihm. Still und etwas müde trotteten beide den Heimweg bei
sinkender Sonne, deren Abendstrahlen das ruhevolle Tal mit unsäglichem
Abendfrieden übergoldeten. Oben stand das Schloß noch in vollem
Glanz; über die Wipfel der Chausseebäume strich sehnsüchtig ziehender
Schwalbenflug.

Als die heimkehrenden Studenten näher an Marburg herankamen, zogen
ihnen mancherlei Spaziergänger entgegen: darunter vor allem die
Primaner und Sekundaner des Gymnasiums, die in den Angelegenheiten der
Studentenverbindungen manchmal besser Bescheid wußten, als im Sallust
und Aeschylos: und ferner ... die Sonnen ...

Neugierig durchmusterten die jungen, hübschen Marburgerinnen die
buntbemützte Schar, und ängstlich spähte manch ein rosiges, blauäugiges
Gesicht, ob man »Ihn« auch nicht zu schlimm zugerichtet ...

Und Werner dachte: ob wohl auch ihm einmal so ein zartes, schmiegsames
Figürchen entgegenspähen würde? Dabei fiel ihm ein, daß das ja doch
nicht sein dürfe, weil sein Herz der Trägerin eines gewissen Paares
blonder Zöpfe die Treue gelobt hatte ... ach, nur sein Herz ... aber
die war weit ... weit ... und nie, seit der Tanzstunde, hatte er ein
Wort mit ihr gesprochen ... und dann, war er nicht jetzt Student?!

    »Aber die da schmachten
    Und platonisch trachten ...«

Himmel ... konnte man denn solch ein junges, holdseliges Geschöpf
anders als platonisch ...?

Niemals -- niemals!

Da stieß Dammer Werner an: »Nu gib mal äbens e bißchen Achtung!
Nämlich, die da links kommt, das is Lenchen Trimpop, Scholzen seine
jetzige!«

Und da kam in schlichtem, weißem Strohhütchen, in einem hellblauen,
verwaschenen Kattunkleidchen eine vollerblühte Mädchengestalt ... nie
hätte Werner es für möglich gehalten, daß so ein junges, liebliches,
jungfräuliches Geschöpf ... ach, gewiß schwindelte Dammer auch nur!
Sie glühte über und über, als sie Scholz erblickte: der grüßte sie
vollkommen wie eine Dame, und sie dankte sittig und zeremoniell. War's
möglich? Nein -- unmöglich!! Unmöglich!! Und doch --

    »Aber die da schmachten
    Und platonisch trachten,
    Ach, die liebe Unschuld tut nur so --«

sang nicht so das alte rauhwuzige Renommistenlied?!

»Du ... nu jetzt kommt äbens meine Sonne!« sagte Dammer und glänzte wie
ein Gänsefettbemmchen. Er riß die Mütze herunter, und drüben nickten
die Köpfe von acht Backfischchen, die paarweise zum Spaziergang zogen,
von einer spinösen Mademoiselle geführt ... »Hast se gesehn? Die gelbe
war's, die in dem gelben Fähnichen! Ach, Kätchen, sießestes Mädichen!
Ob sie wohl mei' Kompresse gesehen hat?« --

An diesem Abend betrank sich Werner Achenbach besinnungslos unter der
Cimbernlinde in Maibowle und Jugendfieber.




                                 II.


Werner lag im Bett und träumte in den Sonntagmorgen hinein. Er hatte
keinen Katzenjammer, nur schien's über allen Dingen wie ein leichter
Flor zu liegen, so eine mollige, duselig-dämmerige Atmosphäre, in der
sich's gut faulenzen und sinnieren ließ. Er hatte zwei winzige Stuben
an der Wettergasse, der winklig-engen, altertümlichen Hauptstraße von
Marburg, die sich um die halbe Höhe des Schloßberges herumwand, hinter
der Elisabethkirche am Steinweg in die Höhe stieg, dann eine Strecke
lang horizontal hinlief und jenseits sich wieder senkte, um schließlich
in die Ebene zurückzulaufen und in die Ockershausener Landstraße zu
münden. Werners Wohnzimmer sah nach der Wettergasse, und zwar gerade
da, wo gegenüber ein Brunnen aus der Felsmauer sprudelte, neben dem
eine Straße zwischen hohen Gartenmauern links, gartenumbuschten Villen
rechts, allmählich zur Sternwarte, weiter zur Cimbernkneipe und
schließlich zum Schlosse führte. Sein Schlafzimmer dagegen sah in die
weite, frühlingsprangende Lahnebene hinaus. Tief unten ging der Fluß,
weiterhin sah man Felder und Wiesen, jenseits am Bergrande lief die
Eisenbahn, und drüber hin stieg ein stattlicher Bergzug an, dessen Höhe
das bescheidene Gasthaus Spiegelslust krönte. Dies alles konnte Werner
vom Bette aus überschauen, wenn er nur den Kopf ein wenig wandte. Und
ganz links sah er auch die Elisabethkirche, dies himmlische Kleinod der
frühen Gotik. Und die Glocken der Elisabethkirche waren es auch, die
nun vollchörig den Sonntag einläuteten.

Werners Herz war groß und weit vor Glück. Noch vor wenig Wochen ein
geplagter Abiturient, nun ein freier Student, gebunden freilich
durch die selbsterwählte Zucht des Korps, die stramm genug war,
strammer in mancher Hinsicht, als die der Schule und des Elternhauses
zusammengenommen ... aber dennoch frei ... frei von der Bürde des
Schülertums, frei vom Zwange des formelhaften Unterrichts in tausend
Dingen, deren Zweck der gesunde Menschenverstand beim besten Willen
nicht einsehen wollte ... dies neunjährige Pauken des Lateinischen,
das ihn doch noch nicht einmal so weit gebracht hatte, auch nur die
kleinste flüssige Unterhaltung in lateinischer Sprache zu führen,
geschweige denn in griechischer ... Und Französisch und Englisch?
Daß Gott erbarm ... jeder Oberkellner hätte ihn beschämt ...
Geschichte? Geographie? Ja, in Hellas und Rom wußte er Bescheid,
aber vom Mittelalter kannte er nur den äußeren Verlauf, und die
neuere Zeit endete beim Jahre 1815 ... Der Reichstag, der Bundesrat,
das Abgeordnetenhaus ... was waren das alles für merkwürdige Dinge?
Was hatte der Kaiser zu sagen, was der Fürst von Reuß ältere
Linie? Was waren Steuern? Wie kam es, daß man dienen mußte? Was war
Selbstverwaltung eigentlich für ein Ding? Was ein Bürgermeister, ein
Landrat, ein Beigeordneter, ein Kreis, ein Provinziallandtag? Davon
hatte er keine Ahnung, wohl aber kannte er die Steuerordnung des
Servius Tullius, die Grundzüge der solonischen Gesetzgebung, den Sitz
der Stämme Israels, die Namen der Leibärzte des Achilleus ...

Und nun gar die Natur? Was wußte er von der? Wie kam es, daß die Erde
sich um die Sonne drehte? Woher stammten die zahllosen Arten von
Lebewesen? Wo war der Himmel, wo die Hölle, von der man ihm in der
Religionsstunde erzählt hatte? Was war die Seele für ein Ding? Wo kam
sie her, wo ging sie hin? Was war überhaupt dies Leben, das er so selig
prickelnd in allen Gliedern fühlte? Und warum gab's gar von allen Wesen
zweierlei Geschlechter? Warum mußten sich immer zwei Geschöpfe von
beiden vereinigen, um ein drittes zu schaffen? Wie ging das alles vor
sich?

So wirblicht, so chaotisch sah es in dem Kopf des Knaben aus, den man
mit dem Zeugnis der Reife ins Leben hineingestoßen hatte ...

Ja ... er haßte die Schule, haßte seine Lehrer, diese stumpfsinnigen
Banausen, die jeder nur das Bestreben kannten, den von oben
vorgeschriebenen Lehrplan für ihr Spezialfach abzuhaspeln und auf
diesem engen Gebiete möglichst glänzende Resultate herauszudressieren
... deren jeder sein Fach für die Hauptsache angesehen und diejenigen
Schüler aufs abgeschmackteste bevorzugt hatte, die hier etwas
leisteten, mochten sie sonst als Menschen, als werdende Charaktere und
Gesamtpersönlichkeiten sein, wer immer sie wollten ...

Und dabei war's ihm nicht einmal schlecht gegangen. In allen Fächern
war er obenan gewesen und hatte seit Jahren in seiner Klasse den ersten
Platz kampflos und unbestritten innegehabt. Wie mochte erst den andern
zumute sein, die vor jedem Schultage und nun gar vor Zeugnis- und
Versetzungsterminen hatten zittern und beben müssen?

Und sein feierlicher Vorsatz war der: nun sich »von allem Wissensqualm
zu entladen«, sich dem Strom des Lebens zu überlassen, der ihn gepackt
hatte und in seine Wirbel zog, planlos und ziellos den Dingen sich
hinzugeben und nur dem Augenblick zu dienen.

Und dieser Augenblick hieß Marburg, hieß Cimbria!

Mit zärtlichem Blick flog sein Auge zu der hellblauen Cimbernmütze
hinüber, die auf dem Tische lag, zu dem blau-roten Fuchsbande, das
neben seinen Kleidern am Stuhle hing. Er nahm's und streichelte es
zärtlich. Wenn doch seine Eltern ihn mal so sehen könnten, in Mütze
und Band, ihren Ältesten, ihren Liebling!

Denn das war er ja, er wußte es wohl ... und in die Heimat streiften
seine Gedanken voll Liebe und Zärtlichkeit ...

Er sah den Vater in seinem kleinen Bureau, meinte seine Stimme zu
hören, wie er mit seinen Klienten konferierte, oft lustig plaudernd,
oft erregt debattierend. Er sah die Mutter in ihrer Fensterecke, vor
der ein Kastanienbaum im Sommer lieblich schattete, im Winter nackt und
kahl mit seinen Ästen voll harziger Knospen in die Luft starrte ...
nichts als Liebe und Vertrauen war da gewesen, bis ...

Ja, bis eines Tages etwas in ihm erwacht war, das sich der Hingabe
an die Elternliebe verschloß. Bis jene unheimlichen seelischen
Veränderungen in ihm begonnen hatten, zu denen Elternsorge die Brücke
nicht gefunden, ja nicht einmal gesucht hatte ...

Oh, er wußte das alles ja noch so gut!

Vier Brüder waren sie daheim, und er der älteste. Auch in den
befreundeten Familien gar keine Mädchen, wenigstens keine
gleichaltrigen ... so hatte seine ganze Jugend sich im Verkehr mit
Knaben abgespielt. Seine Mutter hatte in dem beständigen Umgang mit
ihren Söhnen selbst etwas Männliches angenommen. Nichts Weiches, nichts
von anschmiegsamer, hingebender Zärtlichkeit kannte sein Leben.

Mit dreizehn Jahren hatten die Eltern ihm Tanzunterricht geben lassen.
Da war er zum ersten Male mit Mädchen zusammengekommen, aber auf einem
Boden, der eitel Unnatur war. Als Miniaturkavaliere und Duodez-Dämchen
hatte man dort die Kinder ausgebildet, so alle Vertraulichkeit und
Unbefangenheit ausgeschaltet und eine Atmosphäre geschaffen, die schwül
und berauschend war wie die der Salons und Tanzsäle der Großen.

Und damals war erwacht, was hinfort die geheime Folter und Seligkeit
seines Lebens geworden war ... Seele und Sinne waren erwacht ... zu
früh in dieser süßlich-schwülen Luft, und -- -- nicht in Einigkeit und
herrlicher Harmonie, sondern jedes für sich ...

Als wär's gestern gewesen, so stand jene erste Tanzstunde vor ihm ...
hüben ein Rudel ungelenker Knaben, drüben eine Reihe buntgewandeter,
verlegen kichernder Mädchen, die von dem Knaben gar keine Notiz nahmen
...

Da war eine gekommen, ganz zuletzt, ein blasses, schlankes Dingelchen
in einem grauen Kleidchen, dunkelblauer Schärpe, mit großen, lichten
Augen und einem stets leicht geöffneten Mund, aus dem ein paar große
Vorderzähne blitzten -- zwei prachtvolle Blondzöpfe hingen ihr schwer
vom Scheitel. Die hatte vor den Jungens frisch und brav mit dem
Köpfchen genickt, ehe sie sich unter die Mädchen gemischt ... und
da hatte Werner Achenbachs Knabenherz die Herrin seiner Jugendträume
gefunden ...

Hoch und heilig stand diese Liebe über seinem Leben hinfort. Alles, was
Großes und Reines auf ihn zuströmte aus den Werken der Dichter, den
Geschehnissen der Geschichte und der Betrachtung der Natur und Kunst,
alles flocht Werner zusammen zu einem Strahlenkranz um Jung-Elfriedens
blonden Scheitel.

Wohl hatten seine Eltern gemerkt, daß der Knabe anders geworden. Daß
er sich sorgfältiger kleidete, daß ein Ernst und eine Bedeutsamkeit
in seine Lebensführung gekommen war. Aber die heilige Größe des
Geheimnisses, welches sich in der Seele vollzog, der sie das Leben
gegeben, die hatten sie nicht begriffen. Sie hatten es nicht
verstanden, in diesem entscheidenden Augenblick ihres Kindes
Herzensfreunde zu werden und zu bleiben. Und so hatte das Kind schon
gelernt, sein Tiefstes in sich zu verschließen.

Hier war ein Neues, aber ein Glück und eine Erhebung. Keine Gefahr.

Doch daneben wuchs etwas anderes in dem Knaben. Ganz unabhängig von der
hohen und lichten Liebe, die das junge Herz ihm schwellte.

Daß Mädchen anders aussehen wie Knaben, das hatte ein junger Freund,
der Schwestern hatte, ihm in kindlichem Geplauder ganz harmlos
verraten. Und nun lasen die Knaben in der Schule den Ovid und die
Bibel, und da wurden oft einzelne Stellen ausgelassen. Und jedesmal
bekam dann der Lehrer einen roten Kopf, und jedesmal lasen neugierige
Knabenaugen heimlich die unterdrückten Stellen. Und jedesmal mußten sie
gewahr werden, daß es sich dann um geheimnisvolle Beziehungen zwischen
einem Manne und einem Weibe handelte, um Umarmungen, Zärtlichkeiten,
Küsse ... da löste ein Gott einer Erdentochter den jungfräulichen
Gürtel, teilte mit ihr das Lager und zeugte ihr einen Sohn, oder
ein Satyr verfolgte eine nackte fliehende Nymphe und bezwang sie,
oder Töchter machten ihren Vater berauscht und schliefen bei ihm,
daß sie Samen von ihm erhielten, und was die hundert und aberhundert
rätselhaften und seltsam lockenden Dinge mehr waren. Und immer handelte
es sich um einen Er und eine Sie, und das Sehnen des Mannes schien
immer nach dem Weibe zu gehen, nach dem Besitz seines Körpers, nach dem
Anschauen und Umfangen seiner Nacktheit ...

Und da das Leben dem Knaben den Anblick der Weibesschönheit versagte,
so begann er nun auf einmal mit leuchtenden, begierigen Augen die Werke
der Kunst zu betrachten. Und seltsam bestätigten ihm die, daß es etwas
Süßes sein müsse um des Weibes unverhüllte Leiblichkeit ... denn sie
stand ja doch im Mittelpunkt alles Kunstschaffens, sie feierten tausend
Werke der Plastik, tausend farbenglühende, lebenzitternde Gemälde ...

Und zur bebenden Frage seiner Phantasie sprach Ja die Seligkeit seines
schauenden Auges, das brünstige Erschauern seines zarten Leibes beim
Anblick dieser hochherrlichen Gestalten ... die Kunst ward ihm der
Schlüssel zum Vorhof des Lebens ...

Aber wenn ihm Aug' und Sinne tanzten in Seligkeit und
Glücksüberschwang, dann rang seine Seele in Sünderbangigkeit und
Verbrecherbewußtsein. Dann aber war niemand, der zu ihm gesprochen
hätte: sieh hin, mein Junge, sieh dir's an; das alles, was du dir
ersehnst, ist gut und recht und einfach und heilig, das alles wird
einmal dein Besitz und Eigen sein, wenn du ein Mann geworden bist
und reif und würdig, die Erfüllung der Lebenswonne zu erringen und
zu genießen, reif, Leben zu umfangen, um Leben zu zeugen. Inzwischen
genieße ruhig im Anschauen hoher und reiner Kunst einen Vorgeschmack
der künftigen Wonnen ... Dann aber kehre zurück in die Wirklichkeit
und sieh, daß du noch ein unfertiges Kind bist, sei enthaltsam, wahre
deinen jungen Leib heilig. Rüste ihn wie deine Seele zu künftiger
Mannbarkeit, und überreich wird dir das Leben einst lohnen ...

Ja, wenn einer so zu dem Knaben gesprochen hätte ...!

Aber da war keiner ... keiner ... Die Eltern?! Zu denen hatte auch
niemals einer so gesprochen, und Werners Eltern waren nicht die
Menschen dazu, etwas anders zu machen, als ihre Väter und Mütter
es einst mit ihnen selbst gemacht ... die Mutter wußte nichts von
Knabenängsten, der Vater ging auf in den Sorgen seines Berufs, in dem
er tüchtig war, ohne ihn zu lieben und ihm ganz gewachsen zu sein ...
eine weiche, heitere, sinnig-liebenswürdige Natur, ein Mensch voll
Güte, aber ohne Festigkeit und Willensstärke ... so mußte der Knabe
einsam bleiben und leiden.

Die Freunde? Vielleicht kämpften sie alle denselben einsamen Kampf
... nie im Traume war's Werner eingefallen, sich hier einem Freunde
anzuvertrauen ...

Und die Lehrer? Wußten sie denn nicht, wie's aussieht in einem
vierzehn-, fünfzehnjährigen Knabenherzen? Sie waren viel zu träg
oder feige, an ihren Schülern irgendetwas zu tun außerhalb des
vorgeschriebenen Lehrplans und der etwa angrenzenden Privatbestrebungen
... sie waren abgestumpft durch die große Zahl, die individuellen
Unterschiede, den beständigen Wechsel ihrer Schüler.

Einer nur, der Religionslehrer, ein wohlmeinender, aber possierlicher
Mann, hielt alljährlich einmal den Primanern eine große Rede wider die
Fleischeslust ... aber erstens wirkte er komisch, und dann drohte er
mit der Hölle, mit der die Primaner nichts anzufangen wußten ...

Und so hatte Werner einsam leiden, sich sehnen und suchen müssen ...
und er hatte gesucht ... das Konversationslexikon, die Dichter und
Romanschriftsteller in seines Vaters Bücherschrank, Bocks »Gesunden
und kranken Menschen« hatte er durchwühlt, um das Geheimnis seiner
Dränge zu ergründen ... sein Sehnen war nicht gestillt worden ...
schließlich war er ganz von selbst, wie im Traum zu jenem unheimlichen
Aushilfsmittel gekommen, auf das alle Knaben verfallen -- -- aber seine
Bangigkeit, seine Sünderangst war dadurch nur gestiegen und hatte ihn
mehr als einmal bis dicht an eine bange Verzweiflungstat herangebracht
-- so schmutzig, so elend und verworfen war er sich vorgekommen in
seiner einsamen Qual ...

~Und nun?!~

    »Auch von Lieb umgeben
    Ist Studentenleben«

Wieder summten ihm die Renommistenverse durch den Kopf -- --

Ja, hier draußen, hier war's auf einmal ganz anders ... diese
muntern Gesellen um ihn her, die sahen alles, was er in Qualen und
Gewissensfoltern ersehnt, als das selbstverständliche Recht ihrer
Jugend an ... denen war das Weib, der grauenvoll süße Dämon seiner
Einsamkeiten, eine leichte, rascherrungene Beute ... was ihm Sünde
und doch wildumgierte Seligkeit schien, das war ihnen ein Scherz und
Zeitvertreib, ein munterer Sport, nichts anders, als das blutige
Spiel der langen Messer und die Saufturniere der offiziellen Kneipe.
Und wenn schließlich das Ziel all des Ringens erreicht war, wenn aus
geheimnistiefen Gründen ein Menschenleben erwacht war, dann nahm man
auch das nicht tragisch ... lästig war's nur, daß man Alimente bezahlen
mußte, aber dafür stieg man dann auch mächtig in der Hochachtung seiner
Kommilitonen ...

Und die so leicht hinwegtändelten über die ungeheuersten Dinge, das
waren dieselben Menschen, die draußen mit der unnahbaren Würde von
Hofmarschällen einherschritten im Schmuck ihrer Farben, deren Ehrgefühl
durch einen scheelen Blick zum Verlangen blutiger Sühne gereizt wurde
-- --

Sonderbare Welt ... sonderbare Welt ...

Und da sollte er mittun?

Ja! schrie die eine, die heischende Stimme in ihm. Das Lenchen,
Scholzens Lenchen tauchte vor ihm auf, die dem sehnenstarken Senior
der Cimbern angehören sollte ... solch ein Geschöpf des Himmels, solch
ein blühendes, schwellendes, glühendes Gebild in seinen Armen halten
dürfen, wehrlos hingegeben, aus den bergenden Hüllen schälen das ganze
blendende, duftende Geheimnis ihrer Holdseligkeit ... Gott, war's denn
möglich, daß so etwas ihm einmal zuteil werden könnte ... ihm, dem
sehnsuchtbebenden Knaben?

Aber eine andere Stimme war in ihm -- das Bild seiner Mutter stieg
vor ihm auf in ernster Mahnung: ihm war, als würde er ihr nie wieder
unter die Augen treten können, wenn er das getan hätte ... und noch ein
anderes Bild ... seine süße, ferne, blonde Geliebte, die Heilige seines
Herzens, der er tausendmal in seiner Stille die Treue geschworen, an
die er nie anders gedacht als in Reinheit und kniefälliger Anbetung ...
in einem sturmgeschützten verborgenen Heiligtum seines Herzens hatte
ihr Bild gestanden, angeglüht von der ewigen Lampe seiner Seelenliebe,
unberührt vom Toben der Stürme, unter denen des Knaben Physis gewankt
hatte wie ein junges Bäumchen im Frühlingsorkan -- -- nein -- rein
bleiben, rein wie sie, rein für sie, rein und keusch!

Aber mächtiger schrie in ihm die andere Stimme: Erlösung! Erfüllung!
ein Ende der einsamen Qual! einen Mund her, ihn mit wilden Küssen zu
versengen, rote Flechten, sie aufzulösen und die flutenden Locken zu
küssen, einen weißen Leib, die glühende Stirn hineinzugraben, ihn zu
pressen mit flatternden Händen --!

Einsam lag der Knabe, noch immer einsam in seiner keuchenden Angst, und
schon drängte seine Phantasie der unwürdigen Handlung entgegen, die
ihm schon manchmal für eine Woche die dumpfe Ruhe gegeben hatte, die
leichter zu ertragen war, als dies marternde Begehren. --

Aber nein! Er fuhr auf, und sein Blick fiel auf die Mütze an der Wand,
die er neulich beim Landesvater getragen; in der Mitte zeigte sie einen
kleinen Riß, die symbolische Wunde, ein Gleichnis der Bereitschaft zum
Tode fürs Vaterland -- eine welke Rose war hindurchgesteckt, und Werner
fielen die Verse ein:

    »Halten will ich stets auf Ehre,
    Stets ein braver Bursche sein ...«

Ob es ehrenvoll war, ohne Ring und Segen den Kuß der Liebe zu rauben?!
Er wußte es nicht, ihm kam's vor, als dürfe er das nicht glauben ...
aber das stand fest: ehrlos und eines braven Burschen unwert war, was
er als Knabe getrieben, um seine Qual zu lindern ... das sollte nun aus
sein ...

Und er sprang aus dem Bette, wusch Gesicht, Brust, Rücken, Arme, Beine,
überschwemmte die ganze, ungestrichene Diele mit dem seifengrauen
Wasser, und ihm wurde wohl.

Draußen klang Gesang in die Morgenfrühe. Halb angekleidet trat er in
sein Wohnzimmer und spähte durch die Vorhänge auf die Wettergasse
hinaus. Da kam vom Berge her ein Trupp Bauernburschen und Mädchen im
ländlichen Sonntagsstaat; sie sangen mehrstimmige Volkslieder und
marschierten der Elisabethkirche zu.

Das war ihm wie ein sehnsüchtiger Gruß von Jugend zu Jugend, wie ein
Weckruf des Lenzlebens da draußen drang das hinein in seine Klause.
Die da marschierten munter in den Frühlingsmorgen, Burschen und Mädel
Arm in Arm, nicht getrennt durch die Schranken des Herkommens, ein
Geschlecht dem andern nicht fremd, beide Früchte des mütterlichen
Erdreichs, gesund und gemeinsam reifend in Sturm und Sonne, bis eins
dem andern zugeweht wurde, wie der Wind oder die Füße der Biene den
Blütenstaub vom Staubfaden zum Stempel tragen. Ach, auch so singend
wandern dürfen mit Mädeln und Buben Arm in Arm, morgens zur Kirche,
nachmittags zum Tanz, abends ins Scheunenstroh oder ins Roggenfeld oder
unter den nächsten Heckenbusch ... und andern Morgens zur Arbeit, auch
Mann und Weib vereinigt!

Aber nie, außer in den läppischen Zieraffereien der Tanzstunde,
nie hatte er ein Mädchen in der Nähe gesehen ... Geheimnis und
dumpfes, drängendes Verlangen war alles, was das Weib, das ferne, das
unbekannte, in ihm weckte ... so war er ein Knecht seines Begehrens
geworden, so hatte in seiner reifenden Seele alles, alles eine
unbewußte Richtung auf dies große, süß-grauenvolle Rätsel bekommen.

Und ohne daß seiner Seele dies klar geworden wäre, hatten seine Sinne
in dieser Stunde beschlossen, in dies entnervende, zermürbende Dunkel
Helle zu bringen ... sich auf das erste, das beste Wesen des anderen
Geschlechts zu stürzen und aus ihm den Himmel der Erfüllung und
Versöhnung zu schaffen für alles, was Unnatur und Gedankenlosigkeit an
ihm, dem werdenden Geschöpf, gefrevelt ...

Werner Achenbach hatte das blau-rote Fuchsband der Cimbria über die
helle Sonntagsweste gehängt und den Rock angezogen. Nun ließ er
sich in sein zersessenes Plüschsofa fallen und zog den mit einer
verschlissenen Glasstickerei geschmückten Klingelzug. Dabei stellte
er sich die siebzehnjährige Babett vor, der Witwe Siegmund Markus,
seiner Wirtin, bäuerliches Dienstmädel. Bis zu dieser Stunde hatte
er in ihr nur das subalterne Geschöpf gesehen, das dem Sohne einer
höheren Kaste so fern stand wie etwa ein Affenweibchen. Aber in seiner
augenblicklichen Stimmung, da noch die schwermütig-lustigen Rhythmen
der Volkslieder von draußen in seinen Nerven nachzitterten, war's ihm,
als müsse er sich das Bauernmädel auch mal von einem anderen Standpunkt
aus betrachten. Und er stellte sie sich vor in ihrer ländlichen
Tracht: ein blau und weiß gemustertes, enganliegendes Jäckchen mit
tiefem, umsäumtem Halsausschnitt, den aber ein nicht immer blendend
weißes Halstuch neidisch ausfüllte; darunter ein grauer, vielfaltiger
Rock, unter dem sie um die Hüften wohl ein wurstförmiges Kissen rings
um den Leib trug -- denn so wulstig setzte der Rock hoch über den
Hüften an; unten -- er reichte kaum über die Knie -- säumten ihn zwei
dunkelgrüne Tuchstreifen, und drunter schauten die drallen Waden vor
in weißen Strümpfen mit schön gestrickten Zwickeln über den niedrigen
Lederpantoffeln -- das war die Tracht -- die derben, verarbeiteten
und zerstochenen Finger hatten ihm immer abscheulich mißfallen, wenn
sie ihm das Frühstückstablett hingesetzt ... aber stets hatte sie ein
freundliches »Winsch aach gude Abbeditt!« dabei gesagt und ihn aus
harmlos grauen Augen in sommersprossigem Gesicht scheu vertraulich,
verehrungsvoll zutulich angeschaut ... so würde sie nun gleich
hereintreten, ihn anschauen, still um ihn wirken einen Augenblick, und
dann still und demütig verschwinden.

Die Tür ging auf, und Werner schrak zusammen, das war nicht Babett, das
war ... ja, wer nur?

Werner sah nur einen wuschligen Schwarzlockenkopf, drunter ein paar
Augen, die dunkel flirrten und flimmerten, ein weißes, städtisches
Batistkleid, aus dessen Ausschnitt ein bronzegelber Hals kräftig
aufstieg. --

»Gude Morge, Herr Achebach, ah, Sie kenne mich noch nit, ich bin die
Rosalie Markus, habbe Sie mich dann noch nimmer unne im Lade g'sehn?«

»Nein, Fräulein ... Rosalie ...«

»Nu bedanke Se sich mal scheen für die große Ehr, daß ich Ihne selbscht
das Frühstück bring ... 's Babett is in der Kirch.« -- Es klang fast
wie eine Entweihung, die derben chattischen Akzente aus diesem blühend
wundervollen Munde zu vernehmen, dessen Schnitt seine Abstammung von
uralter Volksherrlichkeit verriet ...

Werner faßte sich Mut. »Also ich bedank mich, Fräulein -- hoffentlich
für mehr als einmal.«

»So? meine Se?«

»Weil's mir dann jedenfalls noch mal so gut schmeckt.« Werner erschrak
über seine eigene Kühnheit.

»Wann Ihne nix G'scheiteres einfallen tut --«

»Was Gescheiteres? augenblicklich nicht ... wahrscheinlich nachher,
wenn Sie wieder draußen sind --«

»Was ich mir dafür kaafe tu!«

Werners Blick flog von dem lachenden Munde mit seinen festen,
blitzenden Zähnen, von den flimmernden, rastlos hüpfenden Augen zu den
runden, mattgelben Handgelenken, den schlanken, vollen Händen, die so
behende das Geschirr dicht vor seinen Augen ordneten, und alles, was
er sah, schuf ihm Rausch und Jubel. Schon war sie fertig. »Na, gude
Morche, Herr Achebach -- un auf gude Freindschaft, gelle?«

Die schöne Rechte streckte sich ihm entgegen, er hatte sie gefaßt und,
was er noch nie getan, einen ungelenken Kuß daraufgedrückt. Und ein
neckendes Lächeln auf den Lippen stapfte der süße Fremdling zur Tür,
noch ein Blick aus den flackernden Schwarzaugen, und aus war's. --

Himmel! die und mit ihm unter einem Dache!

Betäubt, schwindelnd saß Werner Achenbach und starrte nach der Tür.
Sie war hinaus, aber etwas war in der Stube zurückgeblieben von ihr
... ein ganz feiner Duft umwitterte Werner, ein Duft, der ihm neu
war, ganz fremd, der ihm ins Hirn stieg, daß es wie ein roter Nebel
auf seine Augen sank. Und seine Sinne kannten auf einmal ihr Ziel
... nicht mehr ~ein~ Weib war's, das sie verlangten, sondern
dies Weib ... Rosalie ... Rosalie ... dieweil seine Seele sich zu dem
Idol seiner Jugend flüchtete, das Bild der fernen blonden Geliebten
heraufbeschwor aus jenem innersten, tiefsten Heiligtum seines Herzens,
war in unbekannten, unzugänglichen Regionen seiner Menschlichkeit die
Entscheidung schon gefallen ... hinfort würde seine Phantasie um dies
Bild gaukeln müssen, wie um das lockende Licht jene Nachtschwärmer,
die der Knabe einst nächtens mit der Laterne gejagt -- und Sättigung
erjagen seiner Sehnsucht, oder verzweifeln.

Unten ertönte ein Pfiff, den Werner kannte: das Signal der Cimbria
... er steckte den Kopf aus dem niedern Fenster seiner Wohnstube auf
die Wettergasse: da stand ein ganzer Schwarm blaumütziger Cimbern,
in ihrer Mitte der schöne Klauser, hell und sonntäglich patent, auch
Dammer, Dresdens herrlicher Sohn, sehr geschniegelt und doch unelegant
mit seinem glänzenden Gänsefettbemmchengesicht und den gutmütig
verschlagenen Äuglein. Und Werner rettete sich aus der Einsamkeit
seiner stürmenden Gefühle in den Schwarm der Korpsbrüder. Stolzer als
eine Schar von Florentiner Nobili zog das Rudel Cimbern die Wettergasse
entlang, laut lachend und plaudernd, durch das untertänige Städtchen,
in dem jeder Philister von den Studenten lebte und von ihrer ungeheuren
Wichtigkeit demnach durchdrungen war. Seit mehr als sechs Jahrzehnten
war Cimbria, Marburgs älteste Couleur, mit der Geschichte der Stadt und
Universität verwachsen, keine Familie, kein Haus, kein Einzelleben, das
nicht zu Cimbrias Söhnen in irgendeine Beziehung getreten wäre.

Und andere Couleurstudenten kreuzten den Weg; die Vertreter der andern
Korps wurden korrekt höflich und zeremoniell mit tief herabgezogener,
dabei im Bogen nach außen geschwenkter Mütze begrüßt, die Angehörigen
der Burschenschaften, der Turnverbindungen, des Wingolf und der
»freien« Verbindungen mit eisiger Nichtachtung geschnitten, auch
wenn etwa der eine oder andere einen früheren Mitschüler unter jenen
Böotiern bemerkte ... höchstens ein unauffälliges Kopfnicken war
erlaubt ...

Lange nach der Gründung des einigen deutschen Reiches zeigten die
deutschen Hochschulen noch das trauliche Bild der weiland deutschen
Kleinstaaterei in ihrer unwillkürlichen Buntscheckigkeit, ihren
aufreibenden, kleinlichen Bruderkämpfen mit all ihrem Haß und ihrer
kindischen Rivalität und Neidhammelei ...

Aber das alles empfand Werner nicht, so wenig als einer seiner
Korpsbrüder ... er wurde sich freudig stolz bewußt, die Farben der
ältesten und angesehensten Verbindung der Alma mater Philippina zu
tragen, und freute sich der stattlichen Zahl von blauen Mützen, die
Marburgs alte düstere Straßen mit ihrem Farbenfest belebten, das mit
dem Sonnenhimmel droben und den Kornblumensträußchen wetteiferte,
welche den schlendernden Cimbern von spekulativen Bauernweibern
feilgeboten wurden und reißenden Absatz fanden, so daß bald jeder
Cimber schier in jedem Knopfloch so ein Sträußchen trug. Auch hinüber
und herüber zwischen den sich begegnenden Freunden flogen diese
bunten Symbole, es war förmlich eine kleine Blumenschlacht auf der
Wettergasse, und unter den Haustüren standen die feiernden Philister
mit der Sonntagspfeife und sahen schmunzelnd dem Treiben ihrer
Lieblinge zu.

Nun rückte der Zeiger der Elisabethkirche auf Elf, und Cimbrias Söhne
teilten sich in zwei Parteien. Was für hehre Weiblichkeit schwärmte,
schlenderte den Steinweg hinab, um an der Pforte von Sankt Elisabeth
»Kirchenparade abzunehmen«; robuster organisierte Seelen zogen eine
Morgen-Kegelpartie im Garten der Korpskneipe oder einen Vorfrühschoppen
vor. --

Natürlich schloß sich Werner den »Kirchgängern« an. Auf halber Höhe des
Steinwegs kam Scholzens Riesengestalt den Schlendernden entgegen. Er
war bei Wichart gewesen, der ihm den Wickelverband abgenommen und ihm
statt dessen je eine mächtige schwarzseidene, watteunterlegte Kompresse
auf die linke Schädelseite und Wange gebunden hatte. Das sah gar
martialisch und reckenmäßig aus.

Achenbach ging ihm entgegen und streckte ihm die Hand hin: »Guten
Morgen, Leibbursch!«

Scholz mußte sich erst einen Augenblick besinnen. »Leibfuchs Achenbach
-- Morgen! Kater?«

»Keine Spur.«

»Wohin?«

»Zur Elisabethkirche.«

»Mädels begaffen?«

»Haha! ja!«

»Kindsköpfe. Ich geh kegeln.«

»Was? Mit deinen Schmissen?«

»Macht nix. Morgen, Leibfuchs.«

»Morgen, Leibbursch.«

Scholz stieg den Steinweg hinauf, alle Cimbern zogen die Mützen vor dem
gefürchteten Senior, und man stieg zur Kirche hinab.

Werner war neben Klauser geraten, und das freute ihn. Klauser war
ein rechtes Gegenstück zu Scholz. Dieser war hager, unzugänglich,
sarkastisch, Klauser etwas behäbig, von behaglicher Umgänglichkeit,
sprach gern und mit melodischer Stimme, war ein großer Sänger und
so weit Schwärmer, als sich das mit dem im Korps herrschenden Ton
vertrug. Und Werner sagte sich, während er mit dem Zweitchargierten
plauderte, daß dieser ihm eigentlich geistig weit näher stände als der
eherne, gladiatorenhafte Scholz. Aber wenn er zum zweiten Male hätte
wählen sollen, er hätte sich abermals zu Scholz bekannt ...

Nun strebten aus Blütenballen und Maiengrün die braunen Türme
von Sankt Elisabeth in keuscher Herrlichkeit hoch ins Blau. Eben
setzte drinnen die Orgel brausend zur Schlußfuge ein, und aus der
alten Pforte ergoß sich der Strom der Besucher. Studenten waren
nicht zahlreich darunter, nur die weißen Mützen des Wingolf, der
evangelischen Theologenverbindung, tauchten pflichtmäßig auf. Denn
das Hessenland war ja eine Vorburg des Luthertums ... droben im alten
Schloßsaale hatte jenes berühmte Religionsgespräch zwischen Luther
und Zwingli stattgefunden, das schon über der Geburtsstunde des neuen
Bekenntnisses den Unsegensstern der Zwietracht hatte aufgehen lassen;
und das Gotteshaus der heiligen Elisabeth war seit Jahrhunderten eine
protestantische Predigthalle geworden.

Cimbria hatte nur Augen für die jungen Mädchen.

Die »ganz waschechten Cimberndamen« bekannten sich auch äußerlich zur
Farbe des Korps, indem sie hellblau an Sommer- und Ballkleidern jeder
andern Farbe vorzogen. Die Hessen-Nassauer-Damen konnte man ebenso am
Hellgrün erkennen -- beides selbstverständlich, soweit der Teint es
zuließ ... hier war die Grenze der weiblichen Gesinnungstüchtigkeit ...

Eine der hellgrünen jungen Damen fiel Werner auf, eine schlanke,
sehr sichere Blondine mit ruhigen, festen Blauaugen; sie erwiderte
einen Gruß der Cimbern, die sie von den winterlichen Museumsbällen
her kannte -- selbstverständlich mit Ausnahme der krassen Füchse, die
gesellschaftlich noch nicht eingeführt waren. Und Werner wollte Klauser
um den Namen des Mädchens fragen; aber als er den Blick zu dem älteren
wandte, blieb ihm die Frage im Munde stecken. Das Gesicht des Studenten
zeigte eine Veränderung, über die Werner erschrak ... einen Ausdruck,
den er noch nicht kannte, aber verstand: den der wilden, hoffnungslosen
Leidenschaft, unter der diese ganze hochstämmige, schon fast männlich
reife Gestalt sich zusammenzuziehen schien wie unter einem furchtbaren
körperlichen Schmerz ...

Da fragte Werner nicht und ging still neben dem schweigenden
Korpsbruder den Steinweg hinauf. Weit vorn flatterte ein hellgrünes
Gewand, ein Gewand, das nicht Cimbrias Farben trug ... und an diesem
fernen lichten Farbfleck, der mit den Maienbüschen der Berggärten zur
Rechten wetteiferte, hingen die Augen von Cimbrias Subsenior. Da
wurde Werner zumute wie einst, als er von Weislingens Leidenschaft zur
schönen Adelheid las.

Das kannte er noch nicht ... was dieses Jünglings Mienen verzerrte,
seinen Augen diesen düstern Fieberglanz weckte, das war doch noch etwas
anderes als seine, Werners, fromme Anbetung vor dem Altare, den er
seiner heiligen Elfriede aufgerichtet im inneren Herzenskämmerlein ...
etwas anderes, als die prickelnden Schauer, die ihn durchbebt hatten,
als heut morgen das schelmische Judenmädchen in seine Kammer getreten
war ...

Was war es denn?

Liebe --?!

Und jene Gefühle, die er kannte, waren sie nicht Liebe?

Oder gab es am Ende nicht nur ~die~ Liebe, sondern Liebe von
vielerlei Art?

Der Knabe Werner wußte keine Antwort auf all die stürmenden Fragen
seines aufgewühlten Herzens.




                                 III.


Drei heftige, angstvolle Schläge von draußen an Werners Tür. Bumm!
bumm! bumm! »Herr Achebach!«

Tiefe Stille drinnen.

Bumm! bumm!

»Herr Achebach!«

»Hrrm -- hö -- hm.«

»Herr Achebach!« Bumm, bumm, bumm, bumm -- bumm!!

»Wa? -- was gibt's -- wer ist denn da?«

»Ich bin's!«

»Wer -- ich?«

»'s Babett! Se müsse uffstehe, Herr Achebach! Heechste Zeit zum
Fechtbode! 's Friehstick hann ich scho mitg'bracht!«

»Ja, ja! Setzen Sie's nur vor die Tür!«

»Aber Se dirfe nit widder einschlafe!«

»Ne, ne, is gut!« -- --

Herrgottsakra! Der Brummschädel! Ach so, gestern abend war spezielle
Kneipe, und der lange Korpsbursch Papendieck, der trunkfeste
Mecklenburger, der Fuchsmajor, hatte mal wieder nach allen Regeln des
Bierkomments die Füchse »erzogen«. Das merkte man am andern Morgen,
und nun gar früh um halb sieben, wenn man von der Kneipe heimgekommen
war -- ja, wann eigentlich? Und wie eigentlich? Keinen Schimmer! Und
nun schon wieder heraus! Teufel! Aber was war zu wollen? Fechtboden
schwänzen tut zehn Mark Korpsstrafe -- Zuspätkommen drei Mark -- also
in Satans Namen -- raus!!

Golden stieg die Sonne über Augustenruh, durchschimmerte das
Schlafzimmer, daß die brennenden Augen sich schmerzhaft schlossen
-- -- so, platsch, platsch, einen Schwamm nach dem andern über den
gemarterten Schädel -- ah, das tut herrlich! Und nun in die Kleider --
Donnerwetter -- da saß die Hose ja auf einmal verkehrt herum, wie hatte
er die denn gestern nacht von den Beinen gezogen? So, anders rum wird
'ne Buchs' draus! Weste, so -- nun das Band umhängen, aber nicht wieder
verkehrt um, das Rote nach oben! Das kostet ja ebenfalls Beifuhr,
ein Em fünfzig! Also aufgepaßt, wenn's auch schwer fällt -- so, nun
rasch einen Schluck Kaffee -- das Brötchen? Unmöglich, es bliebe ja im
Halse stecken ... also die Treppen hinuntergestolpert und nun, trab,
trab, zum Fechtboden! Und dabei dieser Dickschädel! Hol der Satan den
Fuchsmajor! »Füchse, ich komm' euch den vierundzwanzigsten Halben!
Füchse kommen den dreißigsten und einunddreißigsten Halben nach!
Senior, Fuchsmajor und Füchse trinken einen Ganzen auf dein Wohl!«
Himmel, wie war's nur möglich, so viel Bier in einen armen kleinen
Menschenmagen hineinzuschütten -- --!

Und wie wohl gestern das Ende gewesen sein mochte, das sich, wie
stets, in alkoholischem Nebel der Erinnerung entzog? Ob man wohl in
seiner Besäuftheit auch die nötige »Direktion« bewahrt hatte? Nicht
zärtlich, nicht ungemütlich und krakehlerisch geworden war -- oder
gar das besoffene Elend bekommen? Nicht eingeschlafen auf der Kneipe?
Oder gar den Weg zur Tür nicht rechtzeitig gefunden, um dort die alte
Zechersitte zu üben, die ihm schon aus dem Cicero bekannt war, und
so Platz für neue Bierfluten zu schaffen? Wehe, wenn anstatt einer
freiwilligen Explosion da draußen eine unfreiwillige unterwegs erfolgt
war! Na, im nächsten Renoncenkonvent würde man's ja erfahren!

Renoncen -- das war die offizielle Bezeichnung für die Füchse --
jawohl, Renoncen! Denn renonciert, verzichtet hatte man ja auf die
mühsam erkämpfte akademische Freiheit, als man sich dieser heillos
strammen Korpszucht unterwarf!

Doch da war der Fechtboden. Drinnen schon reges Leben. Eilig legte
alles Mütze, Rock und Weste ab, den Paukwichs an: einen leinenen,
wattierten, gesteppten Schurz um Brust und Leib, den steifen, nach
altem Schweiß stinkenden Stulpärmel über Hand und Arm, die mächtig
schwere, mit Eisenstangen und Drahtgitter geschützte Korbmaske auf den
Kopf, nun den ungefügen Fechtbodenschläger in die Hand, und angetreten!

Himmel, war das ein Getöse, wenn zwölf, fünfzehn Paare gleichzeitig
ihre Gänge schlugen! Bald dampfte die Luft von Schweiß und Staub.

»Leibfuchs Achenbach! hierher!« Der lange Scholz rief's, und
herzklopfend folgte Werner. Die Anfangsgründe hatte der gemütliche,
alte Universitätslehrer den Füchsen beigebracht, dann hatten die
Korpsburschen die weitere Ausbildung in die Hand genommen -- und da
gab's nichts zu lachen ...

»Also leg aus und schlage: Quart, Terz, Quart. Dazwischen immer sofort
zurück in die Parade!«

Und bumm, bumm, nach jedem Hieb, den der Fuchs zaghaft geschlagen,
dröhnte der Nachhieb des Lehrmeisters unparierbar auf Werners Maske.

»Oho! Du willst mucken? Nu warte, Söhnchen, das wollen wir dir mal
abgewöhnen! Korb runter, Filzmaske auf!« Und statt des immerhin noch
leidlich schützenden Eisenkorbes mußte nun der unglückliche Werner
eine Maske aufsetzen, die zwar vor dem Gesicht mit Eisenstangen und
Drahtgitter geschützt war, über Stirn und Schädel aber nur mit einer
dünnen, sehr stark mitgenommenen Filzschicht. Auf die hagelten nun
Scholzens Hiebe mit voller Wucht nieder, daß jeder Schlag fast den
Schädel sprengen wollte und dicke, schmerzende Beulen aufquollen!

»So, mein Muttersöhnchen, das Reagieren, das wollen wir dir schon
austreiben! Laß das verdammte Zucken mit den Augen! Stille gehalten den
Schädel! Hör gefälligst nicht auf zu schlagen, ehe ich aus sage! So,
jetzt wird's schon besser -- Donnerwetter, den Kopf nicht wegstecken,
wenn die Hiebe kommen! Du bist Korpsstudent, verstehst du mich?!«

Nach einer Stunde war's überstanden; seelenvergnügt warf man den
Paukwichs in die riesigen Kisten an den Wänden, kleidete sich an, und
dann ging's zum -- Friseur.

Vor drei Wochen hatte Werner noch nicht gewußt, daß es überhaupt Männer
gab, die sich frisieren ließen; jetzt ließ er sich allmorgendlich
nach dem Fechtboden wie die andern rasieren, obgleich von einem Tage
zum andern kaum ein Härchen sproßte; dann wurde der Kopf gewaschen,
pomadisiert, ein Scheitel durchgezogen von der Stirn bis in den Nacken
und jedes Härchen rechts und links korrekt gestriegelt und festgeklebt
...

Und dann: »Wo gehst du hin?« -- »Ich? Ins Kolleg.« -- »Was? Ins Kolleg?
Du bist wohl meschugge! Du, ein Jurist? Ja, wenn du noch Mediziner
wärst! Juristen brauchen in den ersten zwei Jahren überhaupt nichts
zu tun. Im dritten geht man zum Repetitor und läßt sich einpauken ...
Kolleg ist für die Minderbegabten ...« -- »Ich gehe aber doch ...«--
»Na gut, wenn du dir nicht zu schade bist für den Stumpfsinn, den die
Professoren quasseln ... ich geh schwimmen.«

Werner strebte zum Kolleg. Er kam an seiner Wohnung vorbei. In der
Haustür stand Rosalie: ihre Augen hüpften wie ein paar muntere
Schmetterlinge, luden zu einem Schwätzchen in der Ladentür zwischen
Konfitürengläsern und Konservenbüchsen. -- Werner blieb standhaft;
wie vor einer Prinzessin zog er tief und korrekt die blaue Mütze und
strebte zur Universität ...

Klosterstille und Klosterluft, wenig Studenten in den kühlen, dumpfen
Gängen ... nicht nur die Korpsstudenten schwänzten ...

Im Institutionen-Kolleg vielleicht anderthalb Dutzend Hörer. Der
Professor kam, von einem kurzen Trampeln begrüßt. »Meine Herren,«
begann er geschäftsmäßig, entfaltete dann erst sein zerlesenes,
vergilbtes Heft, nach dem er bereits seit Jahrzehnten allsommerlich
denselben Lehrstoff in derselben Weise behandelte. »Der Kreis der
klagbaren gegenseitigen Konsensualkontrakte war ein festgeschlossener.
Klagbar waren nach klassischem Rechte nur vier Verträge mit
typischem, genau bestimmtem Inhalt: nämlich Kauf, Miete, Mandat und
Gesellschaft. Formlose gegenseitige Geschäfte, welche nicht unter
einen dieser Typen fielen, waren nicht klagbar. Aber auch diese
sogenannten Innominatrealkontrakte werden im Laufe der römischen
Rechtsentwicklung ...« und so weiter in dieser Tonart. Die Hörer
versanken in Stumpfsinn, lauschten kaum mit halbem Ohre den leblosen
Darstellungen eines seit anderthalb Jahrtausenden versunkenen,
verschollenen Rechtszustandes, mit dessen Schilderungen man sie ödete,
ohne irgendwelche Anschauungen in ihnen zu erwecken, ohne anzuknüpfen
an vorhandene Vorstellungen und Begriffe, ohne ihre jungen Seelen
anzulocken mit irgendeinem Lebenswert. Mumien breitete man vor ihnen
aus, Mumien uralter Formen, mumienhaft war der Vortrag, eine Mumie,
eine redende, schien gar dieser alte Geheimrat selbst, der seit Jahren
vergessen hatte, daß da vor ihm junge, sehnsüchtige Menschenleben saßen
... er aber redete wie die abschnurrende Walze eines Phonographen,
seelenlos und wie zu Seelenlosen ...

Noch saß Werner täglich gewissenhaft seine drei Stunden Kolleg ab ...
aber immer dümmer und alberner kam er sich dabei vor; nicht lange mehr,
das fühlte er, so würde er diesem Hause den Rücken kehren, dessen
Lehrmethoden noch weit sinnloser waren als die des Gymnasiums, dem
er entflohen, und mit den Gefährten seiner Jugend bummeln, wandern,
schwimmen, rudern, poussieren ...

Endlich waren die drei Stunden in mühsamem Kampf gegen Schlaf und Ekel
überstanden, und erleichtert schlenderte der Student zum offiziellen
Frühschoppen ...

Aber bitter waren seine Gedanken. Das also war die +universitas
litterarum+, das war das ersehnte freie Studium!

Beim Frühschoppen herrschte große Heiterkeit. Sie ging auf Kosten
eines Korpsburschen, der mit etwas blassem Gesicht am Tische saß
und in seinem Bierkruge statt des gewohnten Trunkes aus München ein
dünnes Gebräu aus Rotwein und Selterswasser mischte. Alles ulkte ihn
an, sprach ihm ein scherzhaftes Beileid aus, ohne daß Werner sich
erklären konnte, was eigentlich der Grund der allgemeinen Heiterkeit
sei. Er fragte einen der Korpsburschen, was denn eigentlich mit Dettmer
los sei. Antwort: »Na, siehst du's denn nich? Er ist bierkrank,
hat sich's bei 'ner Sau in Gießen geholt.« Das begriff Werner nun
ebensowenig. Aber der Dresdener Dammer hatte die Frage gehört und den
verständnislosen Ausdruck in Werners Gesicht beobachtet. Er fragte:
»Sag' mal, Achenbach, wo warscht denn du eigentlich noch uff der Penne
(Gymnasium), sag' mal?«

»Nun, du weißt doch, in Elberfeld.«

»Nu, da wart ihr wohl eine sähre unschuldige Gesellschaft?«

»Wieso?«

»Nu, daß du nicht verstehst, was eben mit Dettmern los ist?«

Und mit Grauen und Ekel vernahm nun Werner das Neue und Ungeheuerliche:
jener Korpsbruder dort war nach Gießen gefahren, dort zu einer
Dirne gegangen (»ich sah ihn gehn in solch ein schlechtes Haus, will
sagen ein Bordell«, fiel's Wernern dabei aus dem Hamlet ein), und
nach einigen Tagen, just heute morgen, hatte sich die Krankheit bei
ihm eingestellt. Das alles fiel in Werners Seele wie lauter dumpfe,
wuchtige Keulenhiebe. Wohl hatte er aus der Lektüre der Klassiker eine
schattenhafte Vorstellung davon gehabt, daß es im Altertum Buhlerinnen
und Lupanare gegeben habe, wußte auch, daß damals selbst Jünglinge
edlen Blutes und vornehmer Sitten zu solchen Weibern gegangen waren,
ja, daß selbst in der Gegenwart leichtsinnige, heruntergekommene und
verwahrloste Menschen sich mit ähnlicher Schande besudelten, davon
hatte er eine dunkle Ahnung. Aber daß junge Leute aus guten Familien,
brave, harmlose Jungen wie dieser gute, semmelblonde Dettmer ...
Himmel, das war ja ungeheuerlich!! Und da schämte man sich nicht bis
in den Tod, das gestand man ganz ruhig, und das Korps trat nicht
ohne weiteres zusammen, um den Unwürdigen, den Ehrlosen auszustoßen,
noch dazu, da er sich mit einer offenbar schmutzigen, widerwärtigen
Krankheit besudelt hatte ... nein, man faßte die Sache als ein
harmloses Mißgeschick auf, fügte zum komischen Malheur den scherzhaften
Ulk ...

Himmel, dachte er, und mit denen sitze ich zusammen, mit denen trage
ich die gleichen Farben ... wenn das meine Eltern wüßten, meine
gütigen, liebevollen Eltern ... meine Mutter ... aber auch mein Vater
... wußte er denn nicht, daß es so etwas gab? Und wenn er's wußte,
warum hatte er ihm nichts davon gesagt? ihn nicht gewarnt vor diesen
gräßlichen Gefahren?!

Aber wozu ihn ~warnen~? Denn hier gab's ja für ihn, für Werner
Achenbach, keine ~Gefahr~! -- Und er, der sich brennend nach
Weibesliebe gesehnt, er wies den Gedanken weit von sich, zu einem
käuflichen, verworfenen Weibe zu gehen ... sich mit Geld zu erhandeln,
was nur süße Liebe, schwer atmender Sinnenrausch gewähren dürfte,
gewähren und nehmen ...

Der gutmütige Dammer, der erst schon im Begriff gewesen war, seine
erheiternde Entdeckung von Werners Kinderunschuld dem versammelten
Kreise der Korpsbrüder zu verraten, sah die düstere Erregung in des
jüngeren Korpsbruders Gesicht und nahm sich vor, den Ahnungslosen
nun aber auch gleich gründlich und freundschaftlich aufzuklären.
Und während der Frühschoppen die letzten Reste des Katers von der
speziellen Kneipe aus den Köpfen der Cimbern hinwegspülte und
scherzhaftes Geplauder, derbe Lieder und Trinkscherze hin und wider
flogen, sank von Werners Augen die rosige und duftende Wolke -- nackt
und schamlos, geschminkt und parfümiert stand vor ihm Frau Welt, die
brüstestarre Dirne, Frechheit und Geldgier im erloschenen, entweihten
Auge ...

Ein Fieberschauer schüttelte Werners Seele. Kaum war er imstande, den
gemeinsamen Mittagstisch des Korps noch mitzumachen. Er floh in die
Bergwälder und rannte lange ziellos und grauengeschüttelt umher.

Einige Stunden später stand er in Scholzens Arbeitszimmer vor seinem
Leibburschen.

»Was willst du, Leibfuchs?«

»Ich bitte um meinen Austritt aus dem Korps.«

»Nanu? Ist was passiert?«

Werner verneinte stumm.

»Dann sag' mir, bitte, deine Gründe.«

»Ich passe nicht zu euch.«

»So -- -- das erklär' mir gefälligst.«

»Das kann ich nicht.«

»So, das kannst du nicht. Aber weißt du, so einfach geht das denn
doch nicht. Wenn du keine Gründe angibst, dann können wir dich nicht
entlassen -- in Ehren entlassen.«

»Was? Ihr könnt mich doch nicht zwingen, im Korps zu bleiben?«

»Das nicht, aber wenn du ohne Grund austreten willst, dann entlassen
wir dich nicht einfach, dann geben wir dich als unbrauchbar ab, das
wird nach außen gemeldet, du kannst dann nie wieder in ein anderes
Korps eintreten und kannst auch im späteren Leben mancherlei
Unbequemlichkeiten davon haben. Also ... rück mal raus.«

Werner schwieg noch immer, und Scholz betrachtete ihn nun genauer.
Der Cimbernsenior war in seinem sechsten Studienjahr; er hatte schon
manchen jungen Fuchs ins Korps eintreten und sich entwickeln sehen. Er
hatte unter den jüngeren Korpsbrüdern ein halbes Dutzend Leibfüchse. Um
die älteren von diesen hatte er sich noch eifrig bemüht, sie angelernt
und erzogen; später hatten seine Chargensorgen und sein medizinisches
Studium ihm dazu keine Muße mehr gelassen. Vollends zu diesem da hatte
er gar kein inneres Verhältnis. Aber nun machte er sich doch einen
leisen Vorwurf, als er den jungen Korpsbruder vor sich stehen sah,
schwer atmend, in dem weichen, ungeprägten Gesicht die deutlichen
Spuren inneren Wirbels.

Und er hieß Wernern sich setzen, bot Zigarren an, suchte den Schlüssel
zu des Knaben Herzen in die Hand zu bekommen. Und bald wußte er, was er
wissen wollte.

»Ja, lieber Leibfuchs, daß die Welt ein bißchen anders aussieht, als du
dir das bei Vatern und Muttern auf deiner Schulbank vorgestellt hast,
da wirst du dich dran gewöhnen müssen. Und daß wir Korpsstudenten, und
daß die deutschen Studenten überhaupt gerade keine Tugendengel sind,
das stimmt auch. Aber das ist nun mal so. Das ist immer so gewesen
... und du wirst das auch nicht ändern. Und gerade mit der sogenannten
Liebe ... sieh, ich bin Mediziner, und unsereiner hört und sieht da
noch 'ne ganze Menge mehr davon als ihr Juristen zum Beispiel. Was
willst du machen? Mit dreißig oder zweiunddreißig Jahren wirst du
Amtsrichter, kriegst dreiundeinhalbtausend Mark -- mit sechs- bis
achtunddreißig kannst du zur Not mal eine Familie ernähren -- und
inzwischen? Willst du dir wirklich alle die langen Jahre so helfen,
wie du dir jedenfalls bisher geholfen hast? Denn so siehst du mir
auch nicht aus, als wärst du ein Phlegmatikus, der ein Mädel für
einen Laternenpfahl ansieht. Ja, wenn du ein Fabrikarbeiter wärst,
dann nähmst du dir jetzt mit deinen zwanzig Jahren ein Fabrikmädel
von siebzehn, machtest ihr ein Kind, gingst dann dienen, inzwischen
bleibt das Mädel mit ihrem Balg einfach bei den Eltern, jeder findet
das selbstverständlich; wenn du auf Urlaub kommst, machst du ihr das
zweite Kind, wenn du fertig bist, heiratet ihr, mietet euch eine Stube
für zehn Mark und orgelt weiter, bis ihr euer Dutzend Orgelpfeifen
beisammen habt. Aber so? Ja, was denkst du dir denn? Du mußt einfach zu
Weibern gehen, du mußt! Und wenn du dir's heute noch verkneifst, in ein
paar Monaten tust du's doch! --«

Werner saß stumm, den Blick zu Boden gesenkt, und hatte das Gefühl,
als zöge jener ihn nackt aus und sähe kalt und sicher jedes Fältchen
seines Leibes und seiner Seele.

»Die Weiber,« sagte Scholz weiter, »die sind besser dran als wir.
Die können warten. In denen schweigt der innere Schweinehund, bis er
geweckt wird. Aber unser Corpus, der meldet sich von selber, wenn er
so weit ist! Und dann ist kein Halten mehr, dann heißt's entweder zum
Mädel oder -- -- pfui Deuwel! -- -- Ich weiß nicht, ob man dir auch
schon erzählt hat, wie ich's gemacht hab'. Ich hab' mich auch geekelt
vor dem Viehzeug, vor den Dirnen. Da hab' ich mir denn sogenannte
anständige Mädels hergenommen -- Dienstmädchen, Bürgermädchen, so eine
nach der andern im Laus der Zeit. Na, und was ist passiert? Drei Würmer
hab' ich nach und nach in die Welt gesetzt. Daraufhin haben sich die
armen Mütter mit ihren Eltern entzweit, haben ihre Stelle verloren,
ich hab' mächtig berappen müssen, mein Alter hat getobt, ich darf gar
nicht mehr nach Hause kommen -- und da liegt gerade noch der Brief von
einem sehr netten guten Mädel, die auch was gefangen hat; ich soll sie
heiraten, sonst will sie ins Wasser. Weißte, schön ist das verdammt
nicht. Dann schon lieber nach Gießen.«

»Und ... der Dettmer?«

»Ja ... der hat sich ein bißchen angesengt ... das läßt sich nicht
vermeiden. Aber was willst du machen? Heiraten is nich, bleibt also nur
huren oder ... na, du weißt schon. Oder hast du einen andern Rat?«

»Himmel -- dann wär's doch besser noch, einfach auf alles zu verzichten
... auf alles ... bis man ... bis man heiraten kann.«

»Versuch's doch mal! Haha! Versuch's doch mal! Vielleicht hast du ja
für zehn Pferde Willenskraft ... dann bringst du's vielleicht fertig.
Aber wenn du nicht zugleich wie ein Mönch lebst, die Augen zukneifst,
wenn ein helles Kleid von weitem blinkt, nur wissenschaftliche Bücher
liest, keinen Tropfen Alkohol trinkst, kurz, auf alle Lebensfreuden
verzichtest -- wenn du das nicht tust, mein Junge, und dann doch dabei
enthaltsam leben willst ... dann ruinierst du dir deine Nerven in Grund
und Boden und sitzest in fünf Jahren im Irrenhaus -- das garantiere
ich dir. So, nu lauf und zerbrich dir den Kopf nicht über die Welt. Du
hast sie ja nicht gemacht, und ändern wirst du sie auch nicht. Mach's,
wie's die andern machen, laß dich belehren, wie man Ansteckung und
Kinderkriegen vermeidet, oder häng' die Studien an den Nagel und werde
Fabrikarbeiter. Ich weiß keinen andern Rat.« -- -- -- -- -- -- -- --

                   *       *       *       *       *

Gott, Gott! Da stand Werner auf der Straße.

Und wie ihn das Gefühl hilfloser Einsamkeit übermannen wollte, da kam
ihm der Gedanke an seine Heimat. Seinem Vater schreiben ... ihm alles
erzählen, ihn fragen, was er tun solle. Aber dann sah er ein, daß
es ihm unmöglich sein würde, auch nur schriftlich mit seinem Vater
... warum hatte ihm der denn nichts von alledem gesagt? Warum ihn ins
Leben hinausgestoßen, wie man einen Schuh vor die Tür stellt? Wußte
der denn das alles nicht? War der denn anders gewesen, unschuldig,
kampflos durchs Leben gegangen? Der hatte mit vierzig Jahren geheiratet
und ihn, seinen Ältesten gezeugt ... und vorher? Hatte der vielleicht
auch Dienstmädchen und Bürgermädchen verführt, und liefen vielleicht
irgendwo in der Welt Menschen in der Arbeiterbluse oder im Bauernkittel
herum, die seine Halbgeschwister waren? Hatte der vielleicht auch
einmal Rotwein und Selterswasser getrunken, wie C. B. Dettmer Cimbriae?
--

Himmel, welch fürchterliche Gedanken! Welch ein Sturz von rosigen
Wolkenhöhen hinab in bodenlose Nächte! Wo ein Halt, wo eine Hilfe?

-- Werner war daheim. Er saß im Dämmern auf dem zersessenen Plüschsofa
seines Wohnzimmers und hatte den Kopf in den Armen auf die Tischplatte
geworfen. Alles in ihm tobte.

Da klopfte es. »Herein!« Es war die blonde Babett.

»Entschuldige Se, Herr Achebach, ich hann nit gewußt, daß Se derheem
sinn.«

»Lassen Sie sich nicht stören, Babett.«

»Darf ich die Zimmern zurecht mache?«

»Nur zu.«

Einen scheuen Blick voll Güte und Verehrung warf Babett auf den
Studenten.

Immer tiefer sank die Dämmerung in die Stube -- nur des Jünglings
hellseidenes Band und sein fahles Gesicht leuchteten aus der Sofaecke
auf.

Und Babett hantierte im Zimmer. Brachte frisches Wasser, zog die
Spreite vom Bette. Ihre junge Gestalt beugte sich über des Knaben
unentweihte Lagerstatt.

»Babett ...« heiser, schreckhaft fremd hatte das geklungen.

»Herr Achebach?«

Plötzlich stand Werner vor ihr, und wie sie, tödlich erschrocken, die
Arme wehrlos niederhängen ließ, da fühlte sie sich umfaßt.

Wild, wahnsinnig umfaßt. Und ohne Widerstand gab sie sich den irren
Küssen hin, die sie trafen, auf Haar und Stirn, auf Gesicht und
Schulter.

Auf einmal war sie frei. Und der Student riß seine Mütze vom Tisch,
stolperte hinaus.

Da mußte die junge Babett sich auf das Bett setzen und herzbrechend
weinen.




                                  IV.


Unter dem schmalen Türchen, das zum Delikateßwarengeschäft der Witwe
Markus führte, stand die schwarze Rosalie und ihr Bruder Student. Die
Geschwister zankten sich.

»Das kann ich dir sagen, Rosalie,« sagte Simon, »wenn du nit irgendwie
dafür sorgst, daß die Mama mir am Wechsel zulege tut, hernach tu ich
noch emal e G'schicht mache, wo ihr alle zwei dran sollt zuviel
kriege.«

»Tu, was du nit kannst lasse,« sagte Rosalie mit einem unendlich
gleichgültigen Achselzucken. »Du bist ebe nit als Sohn von ein
Millionär auf d' Welt komme.«

»Ich weiß, daß ich der Sohn von der alte Markus bin,« knurrte Simon,
und seine schmale blasse Wange glühte. »Aber ich weiß auch, daß die
alte Markus Geld hat für ihrer Rosalie zehn neue batistene Sommerbluse
zu kaufe, un denn tut's mer nit passe, daß ich als Student muß ins
Vadders nachgelassene Kontorröckelcher erumlaufe. Wann ich soll
erumlaufe wie e Fellcheshändler, hernach hätt mei Mutter nit gebraucht,
mich Medizin studiere lasse.«

»Ich kann mir auch nit denke, was se sich dabei gedacht hat, die alt
Markus. Du un e Student! du un e Mediziner! en Herr Doktor! Wer krank
is un dein Fisionomie sieht un tut dich noch zu Rat ziehe, den kannst
immer gleich obe nach Kappel in d'Irrenanstalt bringe lasse!«

»Was? Du un mein Fisionomie schlecht mache? mein Fisionomie -- die is
mir wenigstens zu schad, um se von eime jede ablecke zu lasse!!«

»Simon!!« Wie eine Megäre sah das schöne Mädchen aus. »Ich kratz' dir
die Auge aus auf der offene Straß!«

»Das kannst gern! Ebe kommt da euer Mieter, der Herr Korpsstudent, der
Herr Cimbrefuchs Achebach -- kratz nur -- kratz! Dann weiß der auch
gleich, was ihm emal von dir passieren wird, wann er dich leid is!«

Und mit Grinsen sah Simon, wie sich das Gesicht der Schwester plötzlich
verwandelte, als Werner, die Kollegmappe umterm Arm, schmuck und
geschniegelt, ein eben erstandenes Kornblumensträußchen im Knopfloch,
von der Universität her die Wettergasse entlang geschlendert kam,
seinen Arm lässig in den des guten Dammer geschoben.

Unwillkürlich strich bei diesem Anblick das Mädchen die losen Löckchen
aus der Stirn, die sich, wie auch die Innenseite ihrer Hand, bei dem
kurzen Wortgefecht rasch mit feinen Schweißtropfen bedeckt hatte.

Und Werner kam näher, sah Rosalie, sah ihr verheißungsvolles Lächeln
und verabschiedete sich plötzlich und verlegen von dem grinsenden
Dammer. Er schritt an den Geschwistern, die noch immer in der Ladentür
standen, vorüber mit dem zeremoniell-respektvollen Gruß, der Rosalien
immer so riesig angenehm übers Herz strich, trat in den schmalen
Sondereingang, der zur Treppe führte, und stolperte in seine Bude.
Rosaliens Lächeln machte seine Pulse hüpfen.

Kaum war er oben, da klopfte es, und Rosalie trat ein, unterm Arm
ein wohlbekanntes Paket: den grauen Leinensack, in dem er alle drei
Wochen seine Wäsche nach Hause schicken sollte ... das hatte er vor
kurzem zum ersten Male, nach Mutter Achenbachs strengem und ach so
zärtlich gemeintem Befehle, getan, und wunderlich war ihm zumut, wie
da die Sendung der guten, vergötterten Mutter unterm Arm der +filia
hospitalis+ bei ihm eintraf ...

»Da, Herr Achebach -- fünfzehn Pfennig hat's kost!« sagte Rosalie und
legte das Paket auf den Tisch.

»Ah -- Sie haben's ausgelegt, Fräulein Rosalie? Tausend Dank -- hier
...« Er zog sein Portemonnaie heraus -- aber ... kein Pfennig fand sich
vor -- auch nicht einer.

»Himmel -- was haben wir denn heut für'n Datum?«

»De sechsundzwanzigste -- ach so!«

Student und Mädel sahen sich an und mußten lachen, daß ihnen die
Tränen die Backen herunterliefen.

»Noch vier Tag, dann kommt der Stephan!«

»Inzwischen kann ich zehnmal verhungert sein!«

»Korpsstudent, un verhungern in Marburg? -- gibt's nit -- wär auch
schad um Ihne!«

»So -- finden Sie?!«

»Allemal!« Ein Blitz aus den dunklen Augen sagte: ja, ich mein's
wirklich so. Werner war ganz benommen vor Glückseligkeit. »Nu? de Wasch
von Haus? Soll ich Ihne helfe auspacke?«

Das meinte Werner nicht verschmähen zu dürfen, und behaglich sah er zu,
wie die gewandten runden Finger die Knoten der Verschnürung lösten.

Aber die Öffnung des Sackes war mit Mutters sorgfältigen, gleichmäßig
sauberen Stichen vernäht, und Werner mußte sein Taschenmesser hergeben
-- daß ihn dabei die runden Finger streiften, war nicht seine Schuld,
und daß diese flüchtige Berührung ihm ins tiefste Herz hineinschauerte,
auch nicht. Und wieder war's ihm wunderlich, daß die Stiche alle, die
seine Mutter so sauber und akkurat, so treusorglich und liebesgetrost
einen neben den andern hingesetzt, nun von einem schimmernden flinken
Händchen mit einem raschen Schnitt getrennt wurden ...

Als nun aber die Wäsche zum Vorschein kam, ward Werner doch rot und
verlegen und wollte das Amt des Auspackens den allerliebsten Fingern
entziehen. Aber das ließ Rosalie sich nicht gefallen. »Stelle Se sich
nur an die Kommod -- ich geb's Ihne an!« Und ohne Scheu zählte sie ihm
vor: »-- -- zwölf, dreizehn, vierzehn Hemde -- -- zehn, elf, zwölf Paar
Unnerhose -- -- zehn, elf, zwölf, dreizehn Nachthemde -- uh, was habe
Se für schön gestickte Nachthemde!«

Und dabei lachte sie ihn dreist an, und als sie sein Erröten sah,
lachte sie noch viel stärker.

Indessen das Auspacken und Einräumen der Wäsche war ohne Zwischenfall
beendigt, nur daß Werners Stimmung einen Augenblick umschlug, als
Rosalie unter Lachen und Späßen zwischen den Taschentüchern und
Strümpfen eine Trüffelwurst, eine Büchse Ölsardinen, ein Stück Gervais,
eine Schachtel Zigaretten, ein Paket Schokolade und einen dicken Brief
mit der Aufschrift »An dich!« zutage förderte. Der Brief verschwand
in Werners Rocktasche, und als ob Rosalie empfunden hätte, daß sie in
diesem Augenblicke auf Werner nicht mehr zu wirken vermöge, verdoppelte
sie ihre Lustigkeit.

»Ah! Zigarette! un sicher gute!«

Ihre Augen funkelten begehrlich.

»Wollen Sie eine?« Werner hatte noch nie ein weibliches Wesen rauchen
sehen. Doch -- einmal auf Reisen eine Russin im Eisenbahnwagen.

»Aber allemal!« Mit den Fingernägeln ritzte Rosalie die Verpackung
auf, und eins, zwei, drei hatte sie die Zigarette entzündet. Nach
ein paar Zügen stand sie vor Werner: »Die is fir Ihne!« Und eh' er
sich's versah, hatte sie ihm die angerauchte Zigarette zwischen die
Lippen geschoben. Er fühlte die Wärme, den Hauch von Feuchtigkeit auf
dem Mundstück, und eine wilde Sehnsucht kam ihm nach diesen hüpfenden
Lippen.

Rosalie zündete sich auch eine Zigarette an, saß auf der Sofalehne,
baumelte mit den Beinen, rauchte stumm, ließ die blauen Nebelflöckchen
lässig durch die Lippen steigen und sah Werner an, der, wie ein
Schuljunge, der nicht mehr weiter kann, zu ihr aufschaute.

»Nu?« sagte sie nach einer Weile.

Werner schwieg und zerbiß das Mundstück seiner Zigarette. Seine
Kinnbacken bebten leise.

»So e hübscher Jung -- un so langweilig!« sagte Rosalie.

»Langweilig? finden Sie mich langweilig?«

»Arg,« sagte Rosalie.

Langsam drehte sich Werner herum und ging ans Fenster, starrte durch
die tief zusammengezogenen Vorhänge auf die Wettergasse hinaus.

»Gude Morge, Herr Achebach!« sagte Rosalie und ging langsam, lauernd
zur Tür. Jetzt mußte er sich doch umdrehen, mußte sie in die Arme
nehmen -- das war doch bei den andern auch so gewesen ...

Aber Werner drehte sich nicht um, und mit einem mißtönigen Lachen der
Enttäuschung ließ Rosalie die Tür ins Schloß knallen.

Und Werner fiel in einen Sessel. Er zog den Brief der Mutter aus der
Brusttasche. Die wohlbekannten, geheiligten Schriftzüge ... »An dich!!«

Und auf einmal konnte Werner weinen.

Bange, wilde Tränen ... aber doch Tränen ...

Kindertränen, Sehnsuchtstränen, wie sie vor wenig Tagen im selben
Zimmer die blonde Babett geweint hatte.

»An dich!« Wie mochte sich Mutter sein Leben vorstellen -- und wie
anders war das Antlitz der Wirklichkeit -- --

Ja, in seinen Briefen, da dichtete er den Eltern ein akademisches Idyll
vor ... ein Gegenstück zu jenem, das des Vaters Jugenderzählungen
dem Familienkreise vorgezaubert hatten ... ein Idyll aus Becher- und
Schlägerklang, aus Festen der Freundschaft und Festen der Wissenschaft,
aus schwärmerischen Spaziergängen im Mondenschein mit begeisterten
Freunden ... und die Wirklichkeit?

Verkatertes Auffahren morgens früh bei Babetts Wecken, eilig
hinuntergeschüttetes Frühstück, Galopp zum Fechtboden, eine
Stunde Zitterns und Bebens unter der Behandlung der ausbildenden
Korpsburschen, dann der Friseur, ein paar Stunden schläfrigen,
verständnislosen Hindämmerns im Kolleg, Frühschoppen, Mittagessen
in der von Mensur- und Weibergesprächen ausgefüllten Runde der
Korpsbrüder -- dann ein endloser, bleierner Nachmittagsschlaf, ein
Bummel auf der Wettergasse, eine Kegelpartie auf der Kneipe, und
abends -- Spiel- oder offizielle Kneipe, aber hier wie dort Bier --
Bier -- Bier ... endlose Ströme Bier ... Halbe und Ganze, einfache,
doppelte, dreifache Bierjungen, Bier, Bier, Bier ... und wenn der Magen
rebellierte, eine Flucht nach draußen, eine Entlastung, ein Schütteln
des Ekels und Grauens ... und dann wieder hinein in den dumpfen, von
dichten Tabakwolken überlagerten Raum, und wieder Bier -- Bier -- Bier
...

Und dazwischen immerfort, von diesem wahnsinnigen Alkoholkonsum
geschürt, die unseligen Sinnenkämpfe ...

Das war sein Leben, das war die heißersehnte akademische Freiheit ...

Ja, Werner weinte lange und heiß vor dem Briefe, aus dessen Aufschrift
Mutterhoffnung, Mutterstolz, Mutterglaube so schlicht und ruhig ihm ins
Auge schauten.

Dann riß er den Brief auf. Der meldete nicht viel Neues: sprach von
der Eltern Befriedigung, daß der Sohn sich glücklich fühle auf der
Hochschule, erzählte von kleinen Freuden und Leiden daheim, brachte die
Grüße des Vaters, der Brüder, den Kuß der unversieglichen Mutterliebe.

Und wieder einmal war es Werner, als könne er's nicht mehr tragen, als
müsse er dies Joch, das er freiwillig auf sich genommen, abwerfen ...
aber was dann?

Dann mußte er verzichten auf dies ganze Studentenleben, nach dem er
sich so gesehnt, verzichten auf den Schmuck der Korpsfarben, den Glanz
des Auftretens, in dem sich seine ungefestigte Seele, ach so gerne
doch! sonnte --

Denn in eine andere Verbindung eintreten, dieser Gedanke konnte
ihm niemals kommen; soviel meinte er schon vom akademischen Leben
begriffen zu haben, daß die anderen Korporationen doch nichts anderes
seien als Korps zweiter bis siebenter Klasse. Also verschwinden,
versinken in das Dunkel des Finkentums, verzichten auf die glanzvolle
Zusammengehörigkeit mit allen Angehörigen des hohen Kösener Verbandes,
der sämtliche Korps und ihre alten Herren zusammenschloß zu einer
imposanten Masse gleich Erzogener, gleich Gesinnter, zu einem starken
Rückhalt in den einstigen Kämpfen des wirklichen Lebens ... ohne den
historischen Schmuck der Farben durch seine Studentenjahre gehen,
wie irgendein Kommis ... angewiesen auf den Verkehr in irgendwelchen
obskuren Kneipen -- die angesehenen waren der Tummelplatz der Couleuren
und darum für den »Finken« fast unmöglich -- angewiesen auf den Zufall,
der ihm einen Kreis von Kommilitonen zuführen möchte, mit denen er
einigermaßen harmonieren könnte ... am Ende gar dem Spotte ausgesetzt,
als sei es die Angst vor dem langen Messer gewesen, die ihn aus dem
Korps getrieben -- --

Nein -- lieber aushalten ... die Zähne zusammenbeißen ... saufen mit
der Kraft der Verzweiflung, der Eifrigste sein auf dem Fechtboden,
damit wenigstens die niederdrückende Fuchsenzeit bald ihr Ende finden
möchte ... und dann eine Rolle spielen im Korps -- Chargierter werden
-- Senior wie Scholz ... S.-C.-Fechter ... herrschen ... Macht ausüben
... herausragen über die andern, Primus omnium auch in dieser Welt, wie
er's auf dem Gymnasium gewesen ...

So kämpfte Werner Enttäuschung und Widerwillen hinunter und stülpte
am Ende ein wenig beruhigter die Mütze auf den Kopf, um vor dem
Frühschoppen noch einmal die Wettergasse auf und ab zu schlendern.

Und ganz vergessen hatte er über diesem Sinnen und Kämpfen, daß die
erste Quelle seiner Tränen und Kümmernisse das schöne Mädel gewesen,
die ihm so deutlich gemacht, daß sie nicht schmachte und platonisch
trachte, nein, daß recht inwendig ...

Und er merkte auch nicht, daß seinem blonden teutonischen Wandel aus
der Dämmerung des Ladens der alten Markus zwei dunkle Augenpaare
folgten; in Spott und dennoch in aufsaugendem Begehren das eine, in
wildem, dumpfem Neiderhaß das andere.

Simon stand ganz allein. Auf dem Gymnasium in Marburg war er in
seiner Klasse der einzige Jude gewesen. Jahrelang hatte er ein paar
Freunde unter seinen Mitschülern gehabt; und wenn auch der Sohn
des Delikateßwarenhändlers niemals in die Häuser der Bürgerssöhne
eingeladen worden war, niemals den Besuch seiner Freunde unter
seines Vaters Dach empfangen hatte ... in jenen Jugendjahren hatte
das Scheusal des Rassenhasses doch nicht zwischen den Bankgenossen
gestanden, Simon war nicht allein gewesen inmitten seiner Kameraden.
Aber dann, als er in die oberen Klassen aufrückte, war's langsam
gekommen: die unbegreifliche, allmähliche Abkehr der Schulkameraden
von ihm, die unbegreifliche, ungreifbare Vereinsamung. In Sekunda
und Prima des Gymnasiums herrschte schon die Weltanschauung der
akademischen Jugend, und diese schied den Juden aus dem Kreise der
gleichberechtigten Kommilitonen aus.

Nun war Simon Student in der Heimatstadt, die zugleich eine Hochburg
des Antisemitismus war, und die Herkunft aus dem Käseladen, seine
armselige Börse verschloß ihm sogar die Möglichkeit, sich den wenigen
semitischen Kommilitonen anzuschließen, die sich aus Unkenntnis der
Verhältnisse nach Marburg verirrt hatten.

Darum hockte er tagaus, tagein in seinen kollegfreien Stunden im Laden
der Mutter. Nicht einmal ein eigenes Stübchen besaß er während des
Semesters, denn das winzige Haus enthielt außer den drei Schlafzimmern,
die im Erdgeschoß lagen, nur noch die zwei Zimmer im Mittelstock, die
Werner inne hatte, und daneben noch eine zweite Studentenwohnung,
die aber nur ein Zimmer hatte. Doch das war in diesem Sommer
ärgerlicherweise unvermietet geblieben. Indessen durfte man ja, vier
Wochen nach Semester-Anfang, die Hoffnung noch nicht aufgeben, und das
Zimmer blieb leer und wartete.

Simon nannte also im Hause seiner Mutter nichts als sein Schlafzimmer
sein eigen, und so war er um die Mittag- und Abendstunden immerfort im
Laden zu finden.

Hier gab es wenigstens etwas zu sehen; die Kunden kamen und machten
Einkäufe, hielten auch wohl einen Schwatz mit der Mutter oder mit
Rosalie, und Simon beteiligte sich manchmal daran; namentlich machte
es ihm Vergnügen, die samt und sonders in die hessische Landestracht
gekleideten Dienstmädchen durch gewagte Scherze derbsten Kalibers zum
Kichern und Quieken zu bringen. Niemals aber war er zu bewegen, auch
nur die kleinste Handreichung zu tun. Und so war denn seine Gegenwart
der Mutter und Rosalien gleich verdrießlich. Die Mutter brummelte wohl
mal ihren Ärger darüber halblaut vor sich hin; Rosalien war es eine
besondere Genugtuung, den Bruder bei jeder Gelegenheit fühlen zu
lassen, daß er im Wege sei. Ging sie aber bei ihm vorüber mit einer
Schieblade voll Reis oder Sago, mit einer Trittleiter, so konnte Simon
sicher sein, einen festen Puff mit der ersten besten scharfen Holzkante
abzubekommen.

Und Simon ließ sich's gefallen. Er stieß nicht wieder -- schimpfte nur
selten einmal. Er beneidete die schöne Schwester um ihren wundervollen
Körper, um die schlenkernde Lustigkeit ihres Temperaments ... er
beneidete sie, und doch war sie aller Stolz seines Lebens ...

Er hatte eine dunkle Ahnung, daß manches vorging zwischen ihr und den
Studenten, die Semester für Semester die drei Zimmer im Mittelstock
des elterlichen Hauses bewohnten ... eine dunkle Ahnung ... und diese
Ahnung war in seinem lichtlosen Leben die schreckhafte Finsternis, in
die seine nachtgewohnten Blicke nur mit Grausen hineinstierten.

Seitdem er vom Gymnasium entlassen worden war und ihm das medizinische
Studium die Augen geöffnet hatte, umlauerte er jeden Schritt, jede
Bewegung, jeden Blick und jedes Wort der Schwester, wenn er daheim war.
Kam er vom Kolleg zurück oder vom Präparierboden, so galt sein erster,
forschender Blick der Schwester: was mochte sie inzwischen getrieben
haben?

Und wenn er jeden Couleurstudenten mit zähneknirschendem Pariahaß
betrachtete -- eine kaum zu unterdrückende, würgende, kehlumschnürende
Raserei packte ihn jedesmal, wenn er die Mieter seiner Mutter sah ...
es waren seit Generationen Angehörige des Korps Cimbria ... einer
von denen, das fühlte er, das fraß an ihm als ein unwiderlegliches
Wissen, einer von denen hatte einmal den ersten Jugendzauber von
seiner Schwester lachendem Munde geküßt, einer sie zuerst in den Armen
gehalten, einer sie wissend gemacht ... und der jetzt da oben wohnte,
dieser blonde, blauäugige Rheinländer, der besaß vielleicht jetzt ihren
Leib ...

Und darum mußte sich Simon Markus jedesmal abwenden, wenn er Werner
Achenbach im Hausflur, im Laden, auf der Treppe begegnete -- mußte sich
abwenden, um den fürchterlichen Drang in sich hineinzuwürgen -- den
Drang, jenem die blaue Mütze, das Band abzureißen und seine Zähne in
den weißen Hals des Jünglings zu bohren ...

Heute war Rosalie, das hatte Simon wohl gemerkt, alsbald nach Werners
Rückkehr zu ihm hinaufgestiegen und länger als eine Viertelstunde in
seiner Stube geblieben ... was mochten die zwei in dieser Viertelstunde
da oben getrieben haben? Das riß an Simons Herzen, an seiner Phantasie,
seinen Sinnen ... Bilder quälten ihn, die er immer wegstieß, und
die dennoch immer, immer wiederkamen ... und derweil kauerte er auf
einem Schemel hinter dem Kontorpult in der Ecke des Ladens ... eine
beständig schwälende Petroleumlampe hing dahinter und goß ein fahles
Licht über seine ungeschlachte Nase, daß die rechte Gesichtshälfte
von einem breiten Schlagschatten überschnitten wurde. Und Rosalie
hantierte indessen munter und ahnungslos inmitten des Raums hinter
den Verkaufstischen ... sie hatte alle Hände voll zu tun, so kurz vor
Mittag.

Eben kam ein großes, blondes Mädchen in lichtgrünem Waschkleide, vor
deren Eintritt die Dienstmädel, Offiziersburschen und Laufjungen
ehrerbietig zur Seite wichen. Sie warf einen raschen Blick auf die
Gasse zurück und lächelte unwillkürlich leise befriedigt, als draußen
in diesem Augenblick die prachtvolle Gestalt des Zweiten Chargierten
der Cimbria vorüberspazierte -- Klauser hatte das Mädchen, das sein
ganzes Wesen beherrschte, in dem niederen Laden verschwinden sehen, und
ohne sich einen Moment zu besinnen, trat er gleichfalls ein.

»Fräulein Hollerbaum?« sagte Rosalie diensteifrig, »womit kann ich Ihne
diene?«

Marie Hollerbaum mußte einen Augenblick überlegen, da sie nur
eingetreten war, um zu versuchen, ob Klauser ihr wohl folgen würde.
Schließlich verfiel sie auf ein halbes Pfund Datteln.

Klauser trat heran und zog die Mütze.

»Guten Tag, Fräulein Hollerbaum.«

Marie nickte nur, aber daß sie rot wurde, konnte sie nicht hindern,
noch verbergen.

»Darf ich fragen, ob Sie morgen abend auf der Museums-Reunion sein
werden?«

»Oh, ich denke doch -- und Sie?«

»Ich bin da -- aber ich werde um halb elf nach Hause müssen.«

»Ach so --« lächelte sie, »Samstag?! Mit wem?«

»Herr Seydelmann.«

»Was?! Na, dann sollten Sie aber lieber am Freitag nicht tanzen.«

»Wenn Sie tanzen, komme ich.«

»Ich kann's Ihnen nicht verbieten. Guten Morgen, Herr Klauser!«

Sie hatte ihre Datteln in ihren Pompadour gleiten lassen, nickte kurz
und schwebte hinaus. Klauser stand mit abgezogener Mütze und starrte
so hingenommen hinter ihr drein, daß die Mägde und Burschen die Köpfe
zusammensteckten. Kaum konnte er auf Rosaliens Frage die Bestellung
einer Büchse Ölsardinen zusammenbekommen. Wie er hinausging, grinste
Rosalie zu ihrem Bruder hinüber, und er grinste selig mit. Mochten
diese Affen, diese Fatzken sich vergaffen, in wen sie wollten, wenn's
nur nicht Rosalie war.

Aber kaum hatte Rosalie einen Teil der harrenden Kunden abgefertigt, da
kam ein anderer Besuch: ein junges Bürgermädchen, etwa zwanzig Jahre
alt, durch ihre einfache, schwarze Tracht als Ladnerin kenntlich.

»Tag, Lenche,« sagte Rosalie, strich die Rechte an der Schürze ab und
reichte sie über die Theke hinüber der Angekommenen. »Aber -- was hast,
Mädche?«

Die blauen Augen der Angekommenen standen voll Tränen.

Ein Schauer überlief ihre schlanke, feste Gestalt. »Salche, ich muß
dich spreche -- allein muß ich dich spreche -- du mußt mer helfe,
sonscht --«

»Na, da geh im Zimmer -- ich komm -- nur ebe die Kunde muß ich
abfertige ... gleich is Middag, da wird's still.«




                                  V.


Lenchen tastete sich zitternd in das halbdunkle Hinterzimmer. Dort
stand im dunkelsten Winkel der fettige Ledersessel, von dem aus die
alte Markus ihren Laden zu leiten pflegte. Seit ein paar Tagen war er
leer gewesen; das mühselige Weibchen mit dem verknitterten Ledergesicht
hatte vor Asthma die zwei Treppen nicht hinuntergekonnt und lag nun
oben im Bett, keuchend und schwitzend vor Angst, immerfort rechnend und
rechnend, wieviel Ausfall ihre Krankheit für ihr Krämche wohl bedeuten
möchte. Sie hielt sich noch immer für die Seele des Geschäfts und ahnte
nicht, daß das zerfahrene, verliebte Salche längst die Zügel in die
Hand genommen hatte und strammer hielt, als Mutter Sidonie sie jemals
gehalten. In ihren verlassenen Sessel verkroch sich nun Lenche Trimpop.
Kaum vermochte das rumplige Gerät ihre mächtigen Hüften zu fassen; es
knackte in allen Fugen, aber Lenche achtete nicht darauf ... einen
Augenblick Rast, irgendwo, wo es keine Menschen gab, die sie kannten,
einen Augenblick ... sie schloß die Augen und saß ganz still ... aber
nun schauerte sie zusammen ... da war es wieder, dies fürchterliche
Pochen in ihrem armen Leibe ...

»Na, Lenche, was bringst gut's?«

Frisch, rosig, nach allen möglichen Spezereien und Eßwaren duftend,
stand Rosalie vor der Freundin.

»Ach, Salche -- ich muß ja sterbe, Salche!«

»Was mußt? Sterbe? Bist nit gescheit?!« Und Rosalie kniete neben der
Freundin und umfaßte ihren Leib -- --

Was war das?!

»Lenche --!!«

»Ja, Salche -- das is es --«

»Nit möglich -- Lenche -- wie hast denn das angefange? Na, aber so e
Dummheit! Bist denn erst gestern uf d' Welt komme?! Nu wer -- wer --
von wem hast es denn?«

»Kennst du de Scholz?«

»De Scholz? De lange von de Cimbre? De Erste von de Cimbre?«

Lenchen nickte und schluchzte stoßweise vor sich hin.

»De Scholz -- na, wer kennt den nit in Marburg?! Wie kann mer sich auch
mit so eme einlasse? Das weiß doch jedes Kind in Marburg, daß der schon
e Stücker drei hat unglücklich gemacht! Hast denn das nimmer g'wußt,
Lenche?«

»Ach, Salche -- du kennst en nit, Salche! Du kennst en nit, wie ich en
kenn! -- Das is einer, Salche -- wenn der dich will, da kannst de nit
nein sage!!«

Salche mußte in sich hinein lachen. Nein sagen würde sie ja vielleicht
nicht ... aber so wie dem dummen Lenchen würde es ihr trotzdem nicht
gehen.

»Ach, Salche, sag mer nur, was fang ich jetzt an?«

»Was de anfangst? Du kriegst dei Kindchen, un der Scholz muß zahle!«

»Oh, Salche, du kennst doch mei Vadder -- der tut mich dotschlage, wenn
er's merkt! Ach, un mei Mutter! Un mei Stell verlier ich, un -- oh,
Salche, ne, ich muß sterbe! Ich geh in de Lahn geh ich, Salche!«

»Es is nit so schlimm, Lenche,« sagte Rosalie. »Es hann als mehr Mädche
Kinner kriegt un sinn nit in de Lahn gange. Wie lang is es denn schon?«

»Es is noch aus em vorige Jahr, glaub ich.«

»Himmel, schon im sechsten Monat! Ja, dann wirst es wohl nimmer lange
verberge könne, un für bei de Hebamm in Frankfurt zu gehn, is es auch
schon e bißche zu spät, da könnst bös ereinfalle ... na, da geh doch
zum Vadder un sag's em, fresse kann er dich nit!«

»Ne, Salche, das is ganz unmöglich, das gibt e gräßlich Unglück, dot
tut er mich schlage, gewiß un wahrhaftig, das kann ich nit, da hab ich
kein Kurasch for, och, Himmel, was mach ich nur, was mach ich nur?«

»Weiß denn dein Scholz davon, wie es mit dir steht?«

»Der weiß es, dem hab' ich's gesagt, nu, er hat mer gesagt, daß er
selbstverständlich tät das Kind bezahle -- aber ... heirate will er
mich nit!«

»Heirate? Der Scholz dich heirate? Hast de dir das am End gar in de
Kopp gesetzt?«

Lenchens blonder Scheitel sank tief nach vorn. »Ach, Salche ... was
redt mer sich nit alles ein, wenn mer eine mag ... un mer denkt, wenn
de so viel für en tus, hernach muß er doch auch was für dich tun ...«

»Ja, wenn du so e dumm Gans gewese bis, hernach geschieht dir nit mehr
wie recht ...«

E dumm Gans! -- Langsam, stockend hob Lenchen an, der Freundin alles
zu erzählen. Wie ihr's zuerst aufgefallen war, daß der lange Scholz
so gar viel Schlipse und Kragen brauchte -- wie er ihr das erste
Veilchensträußchen brachte ... wie sie stolz war, daß der berühmteste
Student in Marburg, er, von dem ihre Freundinnen und Kolleginnen so
viel zu munkeln wußten, daß der ihr offenkundig huldigte, ihr, der
armen Schreinerstochter, der blutjungen Ladenmamsell -- und dann
der erste Ausflug, der erste Tanz am Sonntag draußen in Marbach,
unmittelbar nach dem Beginn der Herbstferien ... und dann der
Heimspaziergang durch die Augustvollmondnacht -- am andern Morgen
wollte er in die Ferien reisen, auf zwei Monate fort ... und dieser
Abschied am Waldrand -- und wie sie sich erst schon losgerissen hatte
-- und dann doch zu ihm zurück mußte -- zurück in das Waldesdämmern
... und andern Morgens war er doch fort gewesen ... und dann nach
zwei Monaten dieses Wiedersehen, ach, und die Dutzende von Mittag-
und Abendstündchen, wenn sie auf dem Heimweg vom Geschäft in seine
Bude geschlüpft war, und inmitten all der fürchterlich interessanten
Dinge, der Wände voller bunter Mützen, Bänder, Schläger, Farbenschilde,
Photographien als selige Beute in seinen Armen gelegen hatte ... und
niemals, niemals hätte sie's fassen können, daß das einmal enden könnte
-- daß das Leben sie aus diesen Armen reißen könnte -- nein, das war ja
unmöglich ... war's nicht Wunder genug, daß sie sein war? Was wollte
dagegen das andere sagen, was noch fehlte: daß er sie mitnahm, heraus
aus ihrer armseligen Häuslichkeit, heraus aus dem Lärm und Brodem der
väterlichen Werkstatt, aus Elterngekeif und Kindergebrüll, aus dem
öden Einerlei ihres Berufslebens, hinaus in die höhere Welt, der er
angehörte ... das mußte ja kommen, das würde kommen ... denn das wußte
sie ja nicht, daß er selber doch noch am Anfang stand, am Anfang eines
sozialen Kampfes, der nicht viel minder hart als der ihre sein würde,
eines Kampfes um Amt und Brot -- -- für sie war er immer ein Gott
gewesen, ein Gott, der leicht und kampflos auf Wolken wandelte, er,
der junge Student, dessen Vater die dreihundert Mark Monatswechsel,
die er dem Sohne zukommen lassen mußte, als Frauenarzt in Hannover auch
nicht mit Spazierengehen verdiente ...

»So e dumm Gans!«

Oh, Gott, und nun?! Nun war es aus ... seit sie ihm ~das~ erzählt
hatte, war es aus ... so fest hatte sie an ihn geglaubt, so dumm und
sicher sich auf ihn verlassen, daß er sie heilig halten würde, nun
doppelt heilig ...

Das alles erzählte sie Rosalie, und wenn das schöne Mädchen anfangs
Lust gehabt hatte, die Freundin recht gründlich auszulachen ... das
Lachen verging ihr nach und nach, und dumpf und wuchtend überkam sie
das Gefühl, daß ihrer beider Geschick doch im Grunde das gleiche sei:
den jungen Herren in patenten Anzügen, in blinkenden Mützen und Bändern
als Spielzeug zu dienen, um dann eines Tages achtlos beiseite geworfen
zu werden, abgewelkte, entblätterte Rosen, in den Staub, in den
Gassenkot, in die ganze Armseligkeit ihres dürftigen Daseins ...

Und so weinten am Ende die beiden Mädchen ... und das forsche Salche
mußte die Freundin ohne Trost ziehen lassen ... Nur daß Lenchen nicht
in die Lahn gehen sollte, hatte Rosalie sich versprechen lassen.

Kaum war Lenchen fortgeschlüpft, da klangen und klirrten draußen
Stimmen und Jugendschritte. Hundegebell erscholl dazwischen,
Aufschlagen eisenbeschlagener Stockspitzen klapperten auf dem
holprigen Pflaster. Das Korps Cimbria kam vom Frühschoppen und zog die
Wettergasse entlang zum Mittagessen im Museum. Hell blinkten die blauen
Mützen, die eleganten Sommerwesten und drüber die frischen Bänder im
Mittagsglaste der Maisonne. An dreißig Jünglinge zogen vorüber, alle
frisch, rosig, wohlgenährt, die feisten Wangen der Älteren von mancher
roten Narbe zerrissen; laut schwatzend schritten sie dahin, die Herren,
die Fürsten dieses Städtchens.

Herzklopfend stand Rosalie, haßgrinsend ihr Bruder Simon hinter den
Ladenfenstern. Mancher Blick flog aus dem Schwarm suchend herüber nach
der Tür, unter der sonst stets das schmucke Judenmädchen zu sehen
war, wenn Cimbria vorüberzog. Aber diesmal suchten die Blicke der
Cimbern umsonst -- Rosalie mochte ihr verweintes Gesicht nicht zeigen
... umsonst suchten auch Werner Achenbachs heiße Augen nach dem roten
Munde, der ihn vor wenig Stunden so gebefreudig angelacht ...

Nicht nach Werners Anblick fahndete diesmal Rosalie ... sie suchte
den langen Scholz, den sie sich bislang eigentlich nie so recht genau
betrachtet ...

Da kam er, inmitten der Korpsbrüder, den Kopf im Nacken, die Augen
halb geschlossen; durch das Gewirr der alten Schmisse auf seiner
linken Wange zog sich rotleuchtend die neue Errungenschaft des ersten
Bestimmtages. Inmitten der schwatzenden und lachenden Freunde ging er
stumm, unnahbar, herrisch in sich geschlossen.

»Dettmer!« Eine Stimme wie Schwerterklang. Rosalie sah, wie der
Angerufene, der um einige Paare vor Scholz schritt, herumfuhr,
gehorsam stehen blieb und ehrerbietig, mit leichtgelüfteter Mütze, im
Weiterschreiten den Worten des Seniors lauschte.

Das arme Ladenmädel drinnen hatte in seinem Leben niemals andere
Angehörige der herrschenden Klasse zu Gesichte bekommen, als diese
jungen Studenten. Sie bebte bei Scholzens Anblick, als sei ein Gott in
Mächten und Prächten an ihr vorübergeschritten.




                                 VI.


Marburgs Bürgerschaft gliederte sich in zwei Kasten: in die
Gesellschaft und in das, was nicht zur Gesellschaft gehörte. Ob
der einzelne Mensch, die einzelne Familie in die eine oder die
andere Klasse zu rechnen sei, darüber entschied ein sehr einfaches
Unterscheidungsmerkmal: die Mitglieder des Vereins »Museum«
bildeten die Gesellschaft; wer diesem Kreise nicht angehörte,
war ein unqualifiziertes Lebewesen. Die Mitglieder der Behörden,
der Universität, der städtischen Verwaltungskörperschaften, das
Offizierkorps des Jägerbataillons, ferner auch sämtliche private
Akademiker und die wohlhabenden Kaufleute gehörten dem Verein an. Die
Studenten konnten um ein Geringes die außerordentliche Mitgliedschaft
erwerben, und so waren die Angehörigen der Korps, Burschenschaften,
Landsmannschaften, akademischen Turnvereine ohne Ausnahme
museumsberechtigt.

Aber auch innerhalb der Gesellschaft gab es noch zahlreiche engere
Zirkel, die, wenn auch in Einzelheiten rivalisierend, doch im ganzen
und großen noch eine innere gesellschaftliche Hierarchie in zuerst jäh,
dann langsamer absteigendem Aufbau bildeten.

Daß die jungen Korpsstudenten sich nur an gewisse genau bezeichnete
oberste Schichten dieser Hierarchie zu halten hätten, wurde ihnen vom
Fuchsmajor an jedem Renoncenconvent eingeprägt. Werner wußte also schon
ganz genau, als er zu seiner ersten Museumsreunion schritt, daß er
beileibe nicht mit jedem Mädchen, das ihm etwa gefallen möchte, tanzen
dürfe; daß er sich vielmehr, bevor er sich vorstellen lasse, jedesmal
bei einem Korpsburschen zu erkundigen habe, ob die betreffende Dame
auch dem Kreise angehörte, in dem das Korps verkehrte.

Aber er wußte noch zu wenig vom Leben, um sich durch die engen
Schranken, innerhalb deren er Vergnügungen und Anregung suchen durfte,
sonderlich beengt zu fühlen. Er war nach und nach schon so weit Cimber
geworden, daß er es selbstverständlich fand, nur mit »Cimberndamen« zu
tanzen. Für sein blau-rot-weißes Empfinden kamen die anderen so wenig
in Betracht, als etwa für einen römischen Bürger der ältesten Zeit die
Frauen derjenigen fremden Völkerschaften, mit denen kein +commercium
et connubium+ bestand.

Und so spähte er denn, als er in den Museumsgarten trat, zunächst
unwillkürlich nach den hellblauen Kleidern, in denen sich die ganz
waschechten Cimberndamen bei festlichen Gelegenheiten zu präsentieren
pflegten, und erschaute ihrer eine nicht geringe Zahl. Dann aber
fesselte ihn doch das Gesamtbild, und er machte an der Eingangspforte
des Berggartens halt; unwillkürlich zog er die Mütze, tupfte mit dem
Taschentuch den Schweiß von der Stirn und ließ die Augen wandern.

In drei Terrassen baute sich der Garten auf; unter blühenden Linden,
unter dem noch hellen Bronzebaum weitschattender Blutbuchen zogen da
gedeckte Tische sich hin. Es war fünf Uhr nachmittags, und die Maisonne
flimmerte munter durch die Wipfel, tupfte mit blinkenden Lichtbüscheln
die hellen Gewänder der Damen, die in langen Reihen beim Kaffee
saßen; in ihrer Mitte sah man zuweilen das bequeme Sommerjackett, den
ergrauten Kopf, den Panamahut eines arbeitsfreien Familienvaters. Sonst
war das männliche Geschlecht einzig und allein durch die Studenten
vertreten. Weder die Offiziere des Jägerbataillons, noch die Beamten,
soweit sie nicht Alte Herren einer Korporation waren, verkehrten auf
den Museumsfestlichkeiten. Sie fühlten sich durch das Überwiegen der
grünsten Jugend um ihr Behagen gebracht.

Aber die Studenten! Auf den ersten Blick hatte Werner natürlich seine
Korpsbrüder erspäht, deren schon eine stattliche Zahl versammelt war.
Daneben der Tisch der Hessen-Nassauer, deren hellgrüne Mützenreihe so
lustig leuchtete, wie das junge Lindengrün darüber, und der Tisch der
Westfalen, die jetzt im Sommer statt der schwarzen Mützen weiße Stürmer
trugen.

In gewissem Abstande vom S. C. dann die Burschenschaften, violette
Alemannen und ziegelrote Arminen, und alle die anderen Korporationen,
deren Nam und Art Werner noch immer nicht ganz sicher beherrschte.

Und an allen Tischen scholl lustiges Geplauder, überall wurden von
schwitzenden Kellnern Flaschenbatterien angeschleift, überall konnte
man beobachten, wie in riesigen Steinguttöpfen von sachverständiger
Hand über die Würzeblättlein des Waldmeisters endlose Moselfluten
ausgegossen wurden, bis eine Flasche Wachenheimer Schaumwein,
Kostenpunkt zwei Mark zwanzig Pfennige, dem Gebräu die letzte festliche
Vollendung gab.

Und zwischen den leuchtenden Farbflecken der Damenkleider, den
grellbunten der Burschenmützen konnte ein sorgfältiges Auge schon jetzt
ein geheimes Hinüber und Herüber erkennen, einen Austausch von Blicken
hin und her -- -- als wären da unsichtbare Drähte gespannt, fluteten
feine, geheime Ströme hinüber und herüber, hin und her, im Maienhauch,
unterm leise schwankenden Lindenlaub, getragen von den schaukelnden
Wogen der Orchestermusik, hinüber, herüber, herüber, hinüber ...

Und Werner empfand das alles im Schauen. Eine große Freudigkeit weitete
ihm die Brust. Sein erster Ball! Wenn auch nicht im kerzengeschmückten
Saale, nicht im feierlichen Winterschmuck -- dafür in Sonn' und
Lindenluft, bei Mückentanz und Amselschlag.

Ach, hinein in diese duftenden Wogen, diese farbigen Fluten -- Leben,
Jugend, hinein in deine festliche Fülle, hinein, hinein!

Hinein, dorthin, wo lose Locken wehen und helle Augen flackern, wo
weiche, schmiegsame Mädchengestalten in raschen Rhythmen sich wiegen,
wo alles Verheißung ist und Sehnsucht und Erfüllung und freigebendes
Auskosten der gnädigen Stunde! Hinein -- hinein!

Mit souveräner Nasenhebung schritt Werner an den Tischen der Turner
und Burschenschafter vorbei, mit feierlich abgezogener Mütze an den
Niederlassungen der Hessen und Westfalen, mit lächelnder, doch auch
zeremonieller Verbeugung trat er an den Cimberntisch, wo man ihn
willkommen hieß, nicht mit jugendlich lautem Hallo, sondern mit der
gemessenen Heiterkeit, welche die Korpsstudenten überall zur Schau
trugen, wo sie sich beobachtet wußten. Dann setzte er sich zu den
Mitfüchsen, die ihn, den Rheinländer, als Bowlesachverständigen
willkommen hießen. Und Werner, eingedenk, wie oft er dem geselligen
Vater beim Bowlenbrauen hatte helfen müssen, war bald eifrig
beschäftigt, das Gebräu anzusetzen und, was bei der Waldmeisterbowle so
wichtig, es abzukosten, ob auch die Kräuter schon genügend »gezogen«
hätten.

Inzwischen beobachtete er die Korpsbrüder und entdeckte bald die ihm
schon bekannten Beziehungen. An der Spitze des Tisches saß Scholz,
eisern, blasiert, gleichgültig: die Damen der Gesellschaft kamen als
unnahbar für ihn nicht in Betracht ... Aber neben ihm saß Klauser
... den Ausdruck seines Gesichtes kannte Werner schon, und mit einer
leichten Linkswendung des Kopfes folgte er den starren, gebannten
Blicken seines Korpsbruders ... natürlich, da drüben saß ja die schöne
Marie Hollerbaum, neben einer zarten, grauhaarigen Dame, umringt
von einer Schar junger Mädchen, wieder in Hellgrün, der Grundfarbe
Hasso-Nassovias, die dem Cimbernherzen nun einmal fatal war ... Ihr
Kopf mit dem blumenwippenden Sommerhütchen hing nach vorn über einer
Häkeltändelei -- aber jetzt -- jetzt hob sie den Kopf, und ein Blick
blitzte aus umdunkelten Augen unter dem Hutrand hervor, daß Klauser
den mächtigen Brustkasten dehnte und aufflammenden Gesichts rasch ein
ganzes Glas Bowle hinunterstürzte.

Und glänzte nicht auch Dammers Bemmchengesicht wie frisch geschmiert?
Drüben saß ja, in neutrales Weiß gekleidet, das ganze Vogtsche
Pensionat, anderthalb Dutzend frischester Mädelgestalten, rechts
und links des Tisches aufgereiht ganz wie zwei Reihen Täubchen auf
der Stange, sorgsam behütet von den ruhelosen Augen einer unendlich
gutmütig dreinschauenden Vorsteherin und dem Falkenblick der hageren
Mademoiselle ... aber »Kätchen, das sießeste Mädichen« zu erspähen
glückte Werner nicht ... die Kinder sahen alle egal aus ...

Und poussierte nicht auch der biedere Korpsbursch Dettmer heftig
mit den Augen, obwohl er an der Bowle nicht teilnahm, und vor ihm
noch immer Rotwein und Selterswasser verräterisch aufgebaut waren?
Aber auch er, ob er schon das schmutzige Gift aus Gießen noch mit
sich herumschleppte, ließ seine Blicke zum Vogtschen Pensionate
hinüberschweifen, und da entdeckte Werner auch gar bald ein
Madonnenköpfchen voll himmlischer Kinderunschuld, dessen friedvolle
Augen halb bewußt widerstrebend, halb unbewußt hingebend die Blicke des
blaubemützten Studiosen auffingen, dessen Gesicht durch die Blässe der
Krankheit einen Ausdruck von Geist bekommen hatte, der ihm in gesunden
Tagen fremd war.

Ach, es waren wenige unter den Cimbern, die nicht an irgendeiner Stelle
des weiten Museumsgartens einen Haltepunkt für ihre Augen, ein Ziel
ihrer feurigen Blicke gefunden hatten. Die wenigen Unberührbaren aber
vertieften sich um so eifriger in die Bowle.

Und die Mütter, die Pensionsvorsteherinnen sahen schmunzelnd, friedvoll
dem Treiben zu. Es war immer so gewesen in Marburg. In ihrer Jugendzeit
hatten auch sie ganze Generationen von Studenten durchgeliebt ... das
war nun einmal das Schicksal der jungen Mädchen in einem kleinen
Universitätsnest, wo der Student die anderen Tänzer und Courmacher
verdrängte ... schließlich blieb doch einmal einer hängen ... und wenn
nicht ... dann wurde man eben alte Jungfer ... das sollte ja auch
anderswo als in Universitätsstädten vorkommen ... mochten sie sich
doch ihres Lebens freuen, die jungen Dinger ... und wenn auch einmal
ein paar Rendezvous und Küsse dabei vorkamen ... daran sind wir Alten
ja seinerzeit auch nicht gestorben ... ernstere Gefahren drohten den
jungen Damen ja nicht von Studenten ... dafür gab's andere Mädchen ...
bequemere, gefahrlosere Gelegenheiten.

Und der Tanz begann. Im Nu liefen all die bunten Farbflecke
durcheinander, flossen hinüber und herüber und mündeten dann in
einen schmalen Strom, der sich nun mitten zwischen Tischen und
Menschengruppen hindurch zur obersten Terrasse emporwand, wo unter
freiem Himmel das niedere bretterne Tanzgerüst aufgeschlagen war. Und
das krachte nun unwillig unter der Last von Jugend, die sich darüber
hin ergoß.

Werner hatte nicht engagiert. Er wollte sich's erst mal ansehen. Und
etwas in ihm jauchzte und frohlockte still und gelassen im Anschauen
von so viel brünstiger Jugendkraft, so viel festlich aufschäumender
Lebensfülle.

Er sah dem Tanze zu, sah, wie Klauser Marie Hollerbaum fest im Arm
hielt und, ein etwas stürmischer, doch sicherer Tänzer, sie durch das
Gewühl der Paare steuerte; dabei kam's ihm nicht darauf an, dies Paar
rechts, jenes links beiseite zu schieben oder auch zu stoßen.

Gleichzeitig bemerkte er aber auch, daß derjenige, mit dem Klauser
morgen den schwersten Gang seines korpsstudentischen Lebens zu bestehen
haben würde, daß der Hessen-Nassauer-Senior Seydelmann ohne zu tanzen
beiseite stand und des Gegners Eifer mit unmerklichem Lächeln
verfolgte.

Aber fest und hingebend lag die schlankerblühte Mädchengestalt in
Klausers Arm, und Werner wußte, daß auch ihn kein Morgen, kein
künftiger Kampf gehindert haben würde, das Glück eines solchen
Augenblickes in sich hineinzutrinken, wenn ... wenn jene hier gewesen
wäre, nach der ihn auf einmal eine süße Sehnsucht überfallen hatte ...
jenes einzige weibliche Wesen, das bisher zu seiner Seele gesprochen
hatte.

Elfriede! Wie ein Heimweh überkam den Zuschauenden der Gedanke. Nein,
er würde keine »Sonne« haben in Marburg, er würde niemals hier draußen
das bebende Jauchzen, den wunderverheißenden Ruck am Herzen spüren, den
ihr Anblick ihm stets gegeben ... niemals das wilde, heilige Glück,
wie er es daheim empfunden, wenn er sie im Konzert, bei einem Feste
erkannt, nie den lastenden und dennoch beseligenden Schmerz, wenn er
sie hatte vermissen müssen.

Elfriede! Das war ihm mehr als ein Name, als das Symbol ihrer Person:
es war ihm eine Zauberformel ... bei deren Erklingen die innersten
Pforten seines Herzens weit, weit aufsprangen, auf daß ein Festzug
einziehe, dem alles folgte, was es Seltenes, Heilig-Herrschendes gab
auf Erden und in den Himmeln aller Vergangenheiten und kommenden Tage
...

Aber der Tanz war aus, und um den schauenden Jüngling schwoll nun der
Strom der Tänzer dem Ausweg zu. Und um ihn herum nichts als glühende,
tief atmende Mädchenfrätzchen, scherzende, schwitzende Knabengesichter,
alles hell, alles warm, alles duftend vom Hauch gepflegten, gehüteten
Jugendlebens, alles brandend, brausend von Heiterkeit und sehnsüchtiger
Kraft ...

Und wieder klang's in ihm: hinein!

Und als sein Fuchsmajor an ihm vorüberstrich, der hagere Papendieck,
ein wuschliges Blondköpfchen an seiner Seite in einem weißen
Spitzenfähnchen, da ließ er sich vorstellen und bat um den nächsten
Tanz. Mit kecker Neugier musterte ihn die Kleine -- nickte dann dem
Fuchsmajor den Abschied, zog ihre feuchte Hand aus seinem Arm und sagte
zu Werner: »Wollen wir gleich hier oben bleiben?«

»Ei, warum denn nicht?«

»Na also! Los!«

Und schon fühlte Werner das Händchen in seinem rechten Arm, fühlte, daß
sie ihn mit einem leichten Druck rechts herum zog, und da schwenkte er
denn rasch herum, daß auch sie ein bißchen flog, und lachend trollten
die beiden in einen von wildem Wein übersponnenen Seitengang hinein.

»Na, also zunächst mal, wie heißen Sie eigentlich?« sagte die Blonde,
trat ihm gegenüber und musterte ihn nochmals recht eingehend. »Ich hab'
Ihren Namen bei der sogenannten Vorstellung natürlich nicht verstanden,
wie immer.«

»Also Achenbach, Werner Achenbach, Cimbriae, +studiosus juris+ aus
Elberfeld ... und Sie, Fräulein?«

»Ich heiß' Ernestine Buchner, bin aus Siegen in Westfalen und bei Tante
Vogt in Pension -- nun wissen Sie's!«

»Danke -- also Sie studieren auch hier -- auch erstes Semester?«

»Ne, zweites -- Brandfuchs!«

»Ich bin Krasser --«

»Das weiß ich -- sonst kennte ich Sie ja schon vom Winter her.«

»Was? Kennen Sie denn alle tausend Marburger Studenten?«

»Die Korpsstudenten kennen wir bei Tante Vogt jedenfalls alle und nun
gar die Cimbern: Frau Vogt ist ja 'ne Alte Dame von Ihnen!«

»So? Das wußte ich ja noch gar nicht.«

»Doch -- ihr verstorbener Seliger, der Sanitätsrat, war Alter Herr von
Ihrem Korps. Ihr Korps und unsere Pension haben doch überhaupt Kartell
-- innige und alte Kartellbeziehungen -- wissen Sie das denn nicht?!
Wie gefällt Ihnen denn dieser Betrieb?«

»Betrieb?« fragte Werner. »Was für ein Betrieb?«

»Na, hier die Hopserei! die Wald-, Wiesen- und Hecken-Hopserei!«

»Ach so, Sie meinen die Reunion? Nun -- seit einigen Minuten -- ganz
erträglich.«

»Quasseln Sie nich! Komplimente sind bei mir nicht angebracht. Haben
Sie denn einen Schimmer vom Tanzen?«

»In der Tanzstunde hat der Tanzlehrer mich immer gelobt ...«

»Und seitdem --?«

»Hab' ich bis heute keinen Schritt mehr getanzt.«

»Und wie lange ist das her?«

»Vier Jahre,« sagte Werner etwas kleinlaut.

»Oh, Sie Unglückswurm -- oder vielmehr ich Unglückswurm! -- Na, Kopf
hoch, ich kriege Sie schon rum. Aber wenn Sie mir aus die Hühneraugen
treten, dann schmeiß ich mit feuchtem Lehm.«

Etwas verblüfft sah Werner zu dem strammen Figürchen an seiner Seite
herunter. Sie reichte ihm gerade bis über die Schultern. Ein völlig
kindliches Gesicht, das Mündchen eines verzogenen Backfischchens,
und --

»Sie -- schnell, kehrt, marsch, marsch!« rief die Kleine plötzlich
erschrocken, »da ins Gebüsch!«

»Himmel -- was ist denn los?«

»Mademoiselle kommt! Jedenfalls hat sie beim Abzählen eines von ihren
Küken vermißt, und nu kommt se und will mich bei de Hammelbeine
kriegen!«

Und eh' er sich's versah, stak Werner mit seiner »Dame« mitten in einem
blühenden Jasmindickicht. Draußen spürte die Mademoiselle herum.

»Hier bleiben wir, bis der Tanz losgeht! Ich find's ganz nett hier --
Sie auch?«

»Ich auch,« sagte Werner, ganz benommen.

»Raum ist in der kleinsten Hütte«, sagte Ernestine pathetisch, »für ein
glücklich liebend Paar. Glücklich liebend! Hehe! Sie machen gar kein
sehr glückliches Gesicht! Wollen Sie wohl mal schnell ein glückliches
Gesicht machen?«

Und dabei hatte sie seine beiden Arme oberhalb der Ellenbogen gepackt
und schüttelte ihn ganz derb.

Und Werner wurde warm. Das lachende Milch- und Blut-Gesicht vor seiner
Nase, von lauter feinen Schweißperlchen Stirn und Näschen bedeckt, die
losen Löckchen, die ihm manchmal kitzelnd ins Gesicht wehten, dies
dralle Figürchen dicht vor seiner Brust und die Umklammerung der
festen kleinen Fäuste um seine Arme ...

    »Auch von Lieb umgeben
    Ist Studentenleben -- «

Schon umspannten seine Hände ihre Taille, er zog sie an sich heran, und
sie hob ihr Mäulchen seinem Kuß entgegen --

Da schoben sich die Zweige des Bosketts auseinander, und dazwischen
erschien das gelbe Gesicht der Mademoiselle.

                   *       *       *       *       *

Die Mademoiselle hatte Werner energisch anbefohlen, ihr und der trotzig
leise schluchzenden kleinen Westfälingerin einen ordentlichen Vorsprung
zu lassen. So stak Werner im Boskett und versuchte, sich die Folgen
dieses Abenteuers auszumalen. Er nahm als gewiß an, daß Frau Vogt, die
»Alte Dame«, sich beim Korps über ihn beschweren und man ihn dann mit
Schimpf und Schande hinauswerfen würde.

Wie ein beim Naschen erwischter Köter kroch er tief gesenkten Hauptes
aus dem Gebüsch und schlich an den Korpstisch zurück.

»Nanu?« rief der lange Papendieck. »Wo hast du denn die kleine
Siegerländerin gelassen? Eben geht doch der Tanz los?«

Werner wies nur mit stummem Kopfnicken zum Tisch des Vogtschen
Pensionats hinüber.

»Was? -- eingeheimst? nanu? hast du am Ende gar --?«

Werner hielt es für das beste, dem Fuchsmajor die ganze Sache offen zu
erzählen. Der lachte übers ganze Gesicht und sah den jungen Fuchs mit
einem Ausdruck an, dem selbst der unerfahrene Werner entnehmen mußte,
daß er, Werner, statt einer Korpsstrafe entgegenzugehen, in der Achtung
seines Erziehers um einige Haupteslängen gestiegen sei.

Aber sein Tatendrang war dennoch vergangen. Und statt abermals um
eine Tänzerin zu werben, vertiefte Werner sich in die Bowle. Aber
nicht weichen wollte von ihm ein süßes und neues Gefühl; als er die
blonde Ernestine an sich gezogen, da hatte er ihre Arme umspannt ...
O Gott, waren die seltsam weich und kühl gewesen! -- Und als sie
Brust an Brust vor ihm gestanden, da hatte er an seinem Herzen etwas
noch viel Weicheres gefühlt ... das wollte nicht fort von ihm, dies
quälend-entzückende Gefühl ... ihm wurde ganz wirr davon. Und er trank
unmenschlich. --

Und das Fest ging seinen Gang. Über dem Hin- und Herströmen der
Tänzerpaare, über den Wirbeln und Verschlingungen ihrer Rundtänze und
Kontres senkte sich die Nacht. Kühle kam. Hunderte bunter Lampions
flammten auf. Und immer weiter ging's: Lanciers, Polka, Walzer, Walzer,
Walzer ...

Röter flammten die Wangen der Burschen, höher atmeten die jungen Brüste
der Mädchen unter leichten Batisthüllen, doch strenge Sitte, eiserne
Kavalierspflicht türmte eine trennende Schranke ... und wenn auch das
eine oder andere Paar sich auf ein paar Minuten in einen Laubengang
verlor ... mehr als ein paar scheue Küsse forderte auch der Keckste,
bewilligte die Leichtsinnigste nicht. Kavalier und Dame ... so standen
sich diese jungen Kinder gegenüber. Und dabei waren fast alle diese
Jünglinge schon wissend; fast alle hatten sie schon weit, weit abseits
der Sphären dieser bürgerlichen Wohlanständigkeit, in dunklen, dumpfen
Lasterhöhlen das Geheimnis des Lebens ergründet ...

Hier aber gaben sie sich als die korrekten, kittelsaubern Gentlemen,
denn sie trugen die Farben ihrer Couleur, ihres Korps, und die jungen
Mädchen an ihrem Arme waren Damen ... Damen, deren Reinheit von der
Pistole bewacht wurde, für deren Unschuld das Leben von Vätern und
Brüdern bürgte.

Und sie waren ahnungslos. Die Schlimmsten und Schlauesten unter ihnen,
für die das Storchmärchen Kinderspott, die sich einbildeten, wunder
wie aufgeklärt zu sein über die Bestimmung der Geschlechter, sie waren
reine Engel gegen die Jünglinge, zu denen sie aufschauten, die aus dem
Anschmiegen ihres jungen Körpers, aus dem Duft ihrer holden Wärme das
süße Gift friedloser Sehnsucht sogen, das so manchen von ihnen spät
nach dem Tanz in geheime Winkel trieb, wo für ein paar Silberlinge zu
erkaufen war, was Sitte und Satzung hier dem Sehnenden lockend zeigte
und dann hämisch aus den Armen riß ...

Auch Werner sehnte sich. Es trieb ihn von dem Zechertisch weg, wo um
den immer neu aufgefüllten Bowlennapf die Köpfe der Trinkenden immer
schwerer, die Augen immer stierer wurden ... höher stieg er in den
Garten, und die leichten Walzermelodien, der Mondflimmer, der das Tal
mit flutenden Nebeln füllte, der Nachtigallenruf aus den Uferbüschen
drunten in der Ferne wühlten das Blut in ihm auf, der Wein in seinem
Hirn, die Erinnerung an jenen Augenblick hastigen Erhaschens verwirrten
sein Wollen ... Leib und Seele ächzten auf, ihre Sehnsucht schrie
ineinander: ein Weib ... ein Weib ...

Da, als er fast taumelnd an dem Boskett vorbeischlenderte, in dem
Ernestine ihm ihre Lippen geboten, vernahm er drinnen ein Geflüster:

»Es ist Zeit für dich, Liebster -- wahrhaftig, es ist Zeit -- schon
dreiviertel elf ... ich will nicht, daß der greuliche Seydelmann dich
mir morgen zu arg zurichtet ...«

Und dann eine Stimme, die er kannte:

»Noch einen Kuß, Liebchen -- noch einen Kuß --«

Und eine Stille, ach, eine lange Stille ...

»Willst du mir das Däumchen halten morgen?«

»Aber gewiß!«

»Tu's lieber nicht -- du meinst es nicht ehrlich -- du bist eine
Hessen-Nassauer-Dame --«

»Mit dir mein' ich's ehrlich --«

»Liebste -- komm -- so -- und so -- und nun -- nun müssen wir gehn!«

»Hast du mich lieb -- Willy?!«

»Du! Marie! Du! -- -- hast du mich auch lieb, Marie?«

»Willy -- Willy ... meiner -- mein Willy!«

»Meine Braut -- meine süße, süße Braut --«

Und da traten sie aus dem Gebüsch, der Klauser und sein blonder Schatz
... und sie an seinem Arm, so schritten sie dem fernen Lärm des Tanzes
zu, durch den Mondglast der Berggartenwiese ...

Und Werner war allein ...

Allein? Warum?

Wußte er nicht auch ein paar Arme, die sich ihm auftun, ein paar
Lippen, die sich ihm nicht versagen würden?

Rosalie! Er sah ihren gewährenden Blick, ihr ermutigendes Lächeln ...

Er hatte eine geheime Angst vor dem wissenden, überlegenen Ausdruck
ihrer Augen ... aber in dieser Stunde ... sie war ein Weib ... ein Weib
--!!

Seinen Stock, den er am Bowlentische stehen gelassen -- ein schönes
Stück, eine Dedikation Dammers -- ließ er im Stich ... er flog nach
Hause, immer nur von dem Gedanken beseelt, daß er an Rosaliens
Zimmertür pochen müsse ... mochte dann kommen, was da wolle, er mußte
anklopfen, er mußte ...

Er zog die Schuhe aus, schlich die zwei Treppen hinauf ... oft knackten
die trockenen, jahrhundertalten Dielen ... dann hielt er lauschend den
Atem an ...

Ihn fror, seine Hände flogen, seine Kinnbacken schlotterten ...

Nun stand er oben vor der Tür ... die Hand lag auf der Klinke -- --

In diesem Augenblick faßte ihn ein solch jähes Zittern, daß er sich
kaum auf den Beinen halten konnte. Ein wilder Schrei -- ein Schrei,
der nichts Menschliches hatte, ein Klang wie das Todesgeheul einer
waidwunden Bestie -- war draußen, drunten in der Tiefe erklungen -- --
zum offenen Flurfenster hinein ...

Bebend schlich er ans Fenster und spähte hinaus. Monddurchwoben lag das
breite Lahntal zu seinen Füßen; tief unten zog sich die Straße, daneben
gingen die ruhigen Wasser des Flusses. Da unten -- da unten mußte es
gewesen sein ... ein Schrei aus Menschenmund war das gewesen ... aber
ein Schrei, wie Werner noch keinen gehört hatte.

Doch alles blieb still und ruhig drunten. Alles schlief ... niemanden
schien die schreckhafte Stimme geweckt zu haben ...

Werner ging nicht zu Rosaliens Tür zurück. Er tastete sich in dumpfem
Beben die Treppe hinunter ... im Zimmer riß er die Kleider vom
Leibe, kroch zähneklappernd ins Bett und versank tief, tief in die
unfruchtbaren Schauer seiner Knabeneinsamkeit -- --




                                 VII.


Der Spuk der Nacht war verweht, die wilden Beklemmungen des Begehrens
waren gelöst, der rätselvoll grauenbange Schrei der Finsternis im Ohr
verhallt. Der erste Junimorgen wob überm Lahntal, und munter schritt
Werner, wie jeden Samstagmorgen, dem Schlachtfeld Ockershausen zu. Er
hatte den Weg über Schloß Dammelsberg gewählt und freute sich seiner
Wahl.

Ach, dies altersbraune Schloß, wie ruhig und trutzig reckte es
seine ungefügen Mauern und Dächer in das junge Blau. Und von den
Terrassen zu seinen Füßen, welch eine Schau in die Tiefe! Gen Norden
überflog Werners Blick die Häuser des Städtchens im Grunde, aus
deren modriger Alltäglichkeit die unverwelkliche Zauberknospe Sankt
Elisabeth sich hob. Die Stadt verlor sich nach rechts in die breite,
tannenbergumsäumte Lahnebene, nach links verkroch sie sich in die
lieblichen Blütenbüsche des Marbachtals ... und da grüßte auch, nur
um ein geringes unter Werners Standpunkt, aus schmuckem Berggarten
die altersmächtige Cimbernlinde, drunter das ehrwürdige bescheidene
Korpshaus, nicht unähnlich einer schlichten Bauernhütte; aber von
seinem Dache flatterte lustig die blau-rot-weiße Fahne, schon ein
wenig ausgefranst vom Zerren des Frühlingswindes, ausgebleicht vom
Maiensonnenblick, doch das Symbol des Bundes, dem Werner seine Jugend
verschrieben, geheiligt durch seinen Willen, sie als eines Heiligen,
seines Heiligsten Gleichnis gelten zu lassen. Und wie befreit von
schweren wuchtenden Qualen atmete der Jüngling die sonnenduftende,
taugekühlte Morgenbrise: sie kam vom Dammelsbergwald und brachte den
Geruch der blühenden Eichen mit.

Und Werner schritt unterm mächtigen Torbogen durch, und vor ihm lag die
südliche Lahnebene nach Gießen zu, ganz durchhellt von Morgenprächten.
In weitem Bogen umschlossen von lichtgrünen Bergwäldern, vom
Silberzickzack des Flusses durchflirrt, fern überragt vom düstern
burgtrümmer-überzackten Frauenberg, reckte sich die schimmernde Flur.
Und um den Schloßberg hatten sich, hoch herauf geklettert vom Ufersaum
der Lahn, die braunen Ziegeldächer des Städtchens gelagert, wie eine
rastende Pilgerschar, aus deren Mitte die Helme reisiger Begleiter
aufragten -- die stumpfen Kirchturmhelme ...

Ein gelbes Band, lag drunten ein Stück der Ockershäuser Chaussee, die
sich bald in jungen Blütenhalden verlor: Fliederblüten wölbten violette
Sträuße über der Burschenwalstatt. Und auf der Chaussee erkannte
Werners Auge die wandernden Farbtupfen: blaue, grüne, weiße Punkte,
alle zu dem bekannten Ziele strebend ...

Aber Werner hatte einmal allein des Weges wandern wollen und schwang
nun rüstig sein dünnes Gymnasiastenstöckchen, das ihm heute den gestern
abend im Stich gelassenen Couleurstock ersetzen mußte. Bald nahm der
Dammelsbergwald ihn auf, er war allein, er war glücklich, sein Herz
schlug vor Jugend und Überschwang, er mußte singen:

    »Wohlauf, die Luft geht frisch und rein,
    Wer lange sitzt, muß rosten ...
    Den allersonnigsten Sonnenschein
    Läßt uns der Himmel kosten ...«

Viktor Scheffels Verse und eines ihm unbekannten Tonsetzers Weise waren
ihm nur das gleichgültige Fahrzeug seines Morgenglückes ...

Und was war im Tiefsten seines Freuens Grund? Daß er gestern nacht
umgekehrt war von der Schwelle, hinter der die schöne Rosalie
schlief ... daß ein unbekanntes Etwas, der grausige Widerhall eines
geheimnisvollen Ereignisses ihn abgelenkt hatte vom Ziele seiner
brünstigen Dränge.

Eine Reinheit wogte durch seine Seele, ein Hauch von jungfräulicher
Frische, der keuschen Stille des Morgenwaldes verwandt, die sein
rascher Fuß durchwallfahrtete ... und in diesem frommen Morgenfrieden
jubilierte sein Herz noch lauter als sein Mund, lobpries einem
unbekannten Geber solcher Gnadenfülle, streckte sich allem Guten und
Großen entgegen, das heranzuwehen schien und in den wiegenden Kronen
der Eichen einen Morgensang des Lebens harfte.

Reinheit! Reinheit! War es nicht doch besser, die Sehnsucht der Sinne
niederzuringen und Sieger zu bleiben des Begehrens? Konnte man so selig
stolz seines Weges ziehen, wenn man genossen hatte? Lag nicht doch ein
tiefer Sinn in der alten Mär vom Baum der Erkenntnis?

Waren Tugend und Keuschheit nicht am Ende doch mehr als Maulkörbe für
feige, geduldige Hundel?

Wernern war's, als blinke aus jedem frischen Tautropfen ein Ja auf
diese Frage ihm entgegen, als wehe der Morgenhauch ihm Kraft und
Kampftrotz in die Seele, in die Sinne, zu wahren die Unschuld und
fromme Tumbheit seiner Kinderjahre, abzutun die buhlerischen Wünsche,
Herz und Leib in priesterlichem Stande zu erhalten bis auf jenen
fernen, fernen Tag, der auch ihm einst Erfüllung brächte ... jene
Erfüllung, die nicht anders als -- -- Elfriede heißen konnte ...

Elfriede! Elfriede! Es war ihm eine süße Musik, diesen Namen zu
denken, in seiner Seele nach den Zügen zu suchen, die ihm immer in
traumhafte Fernen entflossen. Doch da: er hatte, er haschte ihr Bild,
ihr Profil, wie er's noch vor wenig Wochen daheim beim letzten Konzert
im Kasino lange hatte betrachten dürfen ... und dazu hatten sie droben
Beethovens Zweite gespielt, und als der zweite Satz erklungen war, da
hatte er diese Weise mit dem Bilde der Geliebten vermählt und Elfriede
getauft ... und nun umschwebte, umrauschte, umschattete ihn wieder
diese kühlend, heilend, heiligende Weise, umhegte das Bild des fernen,
kaum gekannten Mädchens sein schauerndes Herz und weckte ihm Räusche
von Hoffnungen und Gewißheiten künftiger Glücksüberschwänge, daß ihm
die Gegenwart versank, daß er sich enthoben fühlte dem Sinn der Stunde
in eine flutende Fülle sinnlos heiligen Glücksgenießens.

Aber -- der Wald war zu Ende, steil senkte sich der Fußpfad,
Ockershausen war erreicht -- da zogen die blau-rot-weißen,
grün-weiß-blauen Völkerschaften heran, und im Winde verflatterten
Träume und Beseligungen ... die Gegenwart, die Wirklichkeit war da.

Karboldunst und Zigarrenqualm, Blutbrodem und Bierhauch umfing den
waldgeschmeichelten Sinn und weckte ihn vollends zum Tage. Und schon
klangen die Kommandos der Sekundanten, schmetterten krachend die Körbe
zusammen, knallten die flachen Hiebe auf die Stulpen und Köpfe der
Paukanten ...

Der kleine Dammer focht seine Rezeptionspartie: es war seine vierte
Mensur, die entscheiden sollte, ob er nun zum Blau-rot der Füchse das
blutumworbene Weiß der Korpsburschen und damit die vollen Rechte
eines Angehörigen des Cimbernbundes erhalten solle. Darum hatte er
eine überlegene Partie bekommen, einen Gegner, dem er eigentlich
nicht gewachsen war, den dicken Zweiten der Westfalen. Herr Bracken
schonte seinen Gegner gutmütig eine Weile, denn Cimbria und Guestphalia
standen augenblicklich gut miteinander, und Bracken gönnte dem andern
Korps den neuen Korpsburschen, dem allgemein beliebten gutmütigen
Dresdener das Band. Er schonte ihn, damit die Mensur lange genug
dauere, um als Rezeptionspartie vor dem sehr strengen Korpskonvent
der Cimbria angerechnet werden zu können. Aber schließlich war er
wohl allzu sorglos gewesen: plötzlich schlug der Cimbernfuchs eine
kecke Tiefquart und spaltete dem Subsenior der Westfalen beide Lippen
und die Nasenspitze. Fast schien's, als wollte der Westfalenpaukarzt
die Verantwortung für ein längeres Stehenlassen des Zweitchargierten
nicht mehr übernehmen; aber Herr Bracken, der nicht imstande war, zu
sprechen, stampfte mit dem Fuß auf und schüttelte so energisch den
Kopf, daß der Paukarzt achselzuckend zurücktrat.

»Herr Unparteiischer, von unserer Seite aus kann's weitergehen!«

»Silentium -- Pause ex!«

»Fertig!«

»Los!!«

Krach, krach, krach --

»Halt!«

»Halt!!«

Die Sekundanten hatten's beide fast in derselben Sekunde gerufen, aber
auch aus der Korona waren unwillkürlich Haltrufe ertönt. Donnerwetter!
Da hatte es ihn aber gehascht, den kleinen Cimbernfuchs!

»Herr Unparteiischer -- wir erklären die Abfuhr!«

»Silentium! Cimbria erklärt Abfuhr nach sechs Minuten!«

»Herr Unparteiischer, bitte zuvor noch drei Blutige auf seiten von
Cimbria zu erklären!«

»Silentium! Drei weitere Blutige auf seiten von Cimbria! Wünscht einer
der Herren noch Erklärungen? -- Silentium, Mensur ex!«

Dammer war schauderhaft zugerichtet. Jeder Hieb hatte gesessen.
Anhieb auf Außenquart ins linke Ohr, zweiter Hieb auf Quart, linke
Schädelseite der Länge nach gespalten bis auf die Knochen, dritter Hieb
auf Terz, Lappen bis tief in die Kopfschwarte hinein, Knochensplitter
in allen drei Schmissen ... aber Dammer fragte nichts nach seinen
Abfuhren ... während wahre Güsse Bluts über seine Stirn und Wangen
rannen, suchten seine Augen nur den Blick seines Leibburschen, der
ihm sekundiert hatte, um aus seinen Mienen zu lesen, ob er auch gut
gestanden ... aber Krusius, der Leibbursch, hatte nur auf seine
Sekundantenaufgabe geachtet und war seiner Sache nicht ganz sicher
-- -- er mußte sich selbst erst informieren. Doch alles schien
befriedigt, und so klopfte er dem Blessierten beruhigend mit der vom
Sekundierstulp befreiten schweißdampfenden Rechten auf die Schulter ...

»Brav, Leibfuchs!«

Da lachte Dammer glückselig unter der Paukbrille, unter den rinnenden
Quellen seines Blutes hervor:

»Nu, denn --! Ich dank der ooch scheen, Leibbursch! Na, Wichart, nu
kucke du zu, wie du mich wieder wirscht zusammenbringen!«

»Maul halten!« brüllte der gutmütige Paukarzt; »du hast grad' genug!«

Werner hatte Dammern zur Flickstubentür begleitet und das kurze
Gespräch zwischen Krusius und dem Abgeführten aufgefangen. Er freute
sich unendlich für Dammern, daß dieser nun Korpsbursch sei und das
Ziel erreicht haben würde, für das er nun viermal Stirn und Wange
dem Schläger des Gegners geboten. Und das Herz schlug ihm höher in
dem Wunsche, auch ihm möchte es bald vergönnt sein, vor einem hohen
S. C. zu Marburg die Blutprobe des Muts und der Standhaftigkeit
abzulegen. Aber noch eine andere Probe hatte Dammer zu bestehen.
Werner drängte sich in die Flickstube, wo eine ganze Schar von
Korpsburschen der Cimbria sich um den Paukarzt und seinen Patienten
gruppiert hatte und die Hälse streckte, um die mordsmäßigen Abfuhren
des Brandfuchsen etwas näher zu betrachten. Es gelang Wernern, an der
Seite durchzuschlüpfen, und nun erst sah er, wie grauenhaft der wackere
Freund zersäbelt war. Rechts hing ihm die halbe Kopfschwarte als großer
mit Haaren besetzter Lappen nach außen; links war die Schläfe von vorn
bis hinten gespalten, und darunter hing das linke Ohr von vorne nach
hinten mitten durch halbiert, in zwei trübseligen Fetzen herunter.
Wichart war offenbar eine Sekunde in Verlegenheit, wo er eigentlich
anfangen solle. Aber er entschied sich für den Schläfenschmiß, weil
dort die Schlagaderäste zu toll spritzten; rasch und gewandt fuhr er
mit Pinzetten in die Zuflußkanäle der durchschlagenen Arterien hinein
und klemmte die dünnen Schläuche, aus denen das Herzblut spritzte,
zusammen; bald baumelten vier solche Arterienfänger aus der Stirnwunde
heraus. Dann kamen die Arterien vor dem Ohre dran, und nun begann,
da der ärgste Blutstrom gestillt war, die Desinfektion. Aus einem
Irrigator ergossen sich Ströme kalten Wassers mit Karbollösung in die
Wunden und spülten sie rein, damit der Arzt zunächst den Zustand des
Knochens untersuchen könne. Und da runzelte der sonst immer ruhige und
gemütliche Wichart einen Augenblick die Stirn, so daß die zuschauenden
Korpsburschen näher herandrängten. Das ärgerte wieder den Arzt, und er
schrie: »Donnerwetter, schert euch raus, alle zusammen raus! Scholz,
sorg mal, daß ich hier Luft kriege!« Werner wollte sich drücken, wie
alle andern, aber Wichart rief: »Das Füchschen kann bleiben und dem
Dammer die Waschschüssel halten, sonst fällt mir der am Ende noch
ab!« So durfte Werner weiter zuschauen, und freute sich, seine Nerven
bereits so weit gestählt zu fühlen, daß er dem blutigen Schauspiel mit
Interesse folgen konnte. Aber dennoch krampfte sich sein Herz in die
Höhe, als nun der Paukarzt mit einer scharfen Zange in die Wunden fuhr
und erst die losen Knochensplitter herausholte, dann aber die noch
halb festsitzenden mit kräftiger Drehung losbrach. Bei dieser Prozedur
stieß Dammer, der bisher keine Miene verzogen hatte, einen nicht
unterdrückbaren rauhen Kehlton aus.

Dann wurde abermals mit dem Irrigator nachgespült, und nun begann das
Rasieren. Mit scharfem Messer barbierte Wichart kunstgerecht einen
Finger breit neben den Kopfnarben die Haare weg, um freie Hand für das
Nähen zu haben. Dabei strömte aus den Wundrändern von neuem das Blut,
und auf Wicharts Befehl mußte Werner das Waschbecken, das Dammer vor
sich auf der Stuhllehne hielt, ausgießen, da es völlig mit dunklem
Blut gefüllt war, und mit frischem Karbolwasser füllen, das aber auch
in zwei Sekunden tief dunkel gerötet war. Dabei schaute er zufällig
auf und sah, daß am andern Ende des kleinen Zimmers der Korpsdiener
Peter bereits den nächsten Paukanten -- Klauser -- anbandagierte. Mit
Entzücken haftete Werners Auge eine Sekunde lang an dem entblößten
Oberkörper des wunderschönen Jünglings; dabei fiel ihm aber auf, wie
matt und unstet sein Gesichtsausdruck war. Doch ein »Aufpassen!«
Wicharts rief ihn zu seiner Pflicht zurück, und indem er den Fortgang
der Flickarbeit verfolgte, blieb ihm keine Zeit, dem zweiten
Chargierten weiterhin Aufmerksamkeit zu schenken.

Er beobachtete sorgfältig, wie Wichart nun zunächst mit Fäden
aus Katzendarm ganz innen die knorpligen Häute der Ohrmuschel
zusammennähte, wobei Dammer wiederum verhalten aufstöhnte; dann
wurde in gleicher Weise die Knochenhaut zusammengeheftet, und immer
spülte dazwischen der Irrigator. Dann ging's an die Außennähte. Stich
für Stich drangen die krummen Nadeln, von der Pinzette in unfehlbar
sicherer Hand geführt, in das Fleisch seitlich der Wunde, durch deren
Grund hindurch und an der anderen Seite wieder heraus. Dann wurden die
Fäden abgeschnitten und ihre Enden sorgsam zusammengeknotet.

Mitten in der Arbeit bemerkte Werner plötzlich, daß Dammer ganz grün an
Gesicht und Händen wurde, und seine Finger, welche die Flickschüssel
umklammert hielten, nachließen. Er machte Wichart aufmerksam, der nahm
schnell die Schüssel weg, reichte sie Wernern, damit der sie auf den
Tisch setze, und unterstützte Dammers Schultern, die eben zurücksinken
wollten. »Schnell! einen Kognak und eine Flasche Selterswasser!«

Werner sprang. Als er zurückkam, war Dammer schon wieder bei Besinnung,
nur der Blick seiner Augen war glasig und matt. Gierig trank er seinen
Sodaschnaps.

Eben trat Scholz im Sekundierwichs herein: »Na, Klauser, wo bleibst
du?«

»Wichart ist noch nicht fertig mit Dammer.«

»Ach, nur noch ein paar Nadle -- macht schon immer los, so fix wird der
Klauser sich doch nit haue lasse!«

»Na, dann raus!«

Und wenig Sekunden später klirrten draußen im Saale die messerscharfen
Kommandoworte, krachten die Körbe der Schläger blechern zusammen.

Gar zu gern wäre Werner entwischt, um die Mensur des Zweiten anzusehen.
Aber Wichart konnte seine Hilfe noch nicht entbehren.

»Du hast dich ganz gut gehalte, Füchsche,« sagte er. »Bist eigentlich
Mediziner?«

Dabei zog er Nadel um Nadel mit maschinenmäßiger Sicherheit durch
Dammers feiste Schädelschwarte.

»Nein -- Jurist,« sagte Werner.

»Warst schon mal auf'm Präparierbode?«

»Was ist das, Präparierboden?«

»Nun, die Anatomie, wo die Medizinfüchs das Mensche-Tranchiere lerne!«

»Nein, da war ich noch nicht -- möcht' aber gern mal hin -- wenn du mir
dazu verhelfen könntest, Wichart, ich wäre dir sehr dankbar.«

»Nu, das is e einfache Geschicht -- komm Montag 'mal runner um zehn,
ich bin ja Prosektor.«

Das gedachte Werner sich nicht zweimal sagen zu lassen. Dabei fiel
ihm eine Anekdote aus seines Vaters Jugendzeit ein. Sein Vater hatte
ursprünglich Medizin studieren wollen. Als gar junges Bürschchen war er
zur Hochschule gekommen, und der erste Besuch auf dem Präparierboden
hatte ihn so entsetzt, daß er an der Tür des Saales umgekehrt und
schleunigst zur Universitätskanzlei gestürzt war, um sich von der
medizinischen zur juristischen Fakultät überschreiben zu lassen. Werner
erzählte das Wichart, der herzlich lachte; auch Dammer wurde jetzt, am
Ende der Schinderei, munter und lachte etwas jämmerlich mit.

»Na, ich denk, du wirst nit weglaufe,« meinte Wichart, »du bist nit so
zärtlich.«

»Ich hoffe nein.«

»Für alle Fäll kannst du dir ja vorher en Eimer gebe lasse, damit du
wenigstens nit de Vorsaal verunreinigst.«

Und wieder lachten alle drei. Und draußen schmetterte dazwischen Gang
auf Gang, Kommandos, krachende, dumpfdröhnende Hiebe, das Halt der
Sekundanten und ihr Gekläff um Inkommentmäßigkeiten, dann schwüle
Pausen -- neue Kommandos, neue Hiebe. Wie mochte es draußen stehen?

Eben hatte Wichart eine feste Watteverpackung um Dammers Schädel und
linke Kopfseite verstaut und so gründlich mit Stärkebinden umwickelt,
daß nur Augen, Nase und Mund aus dem weißen Paket hervorschauten --
da entstand, unmittelbar nach Beendigung eines Ganges, draußen jene
allgemeine Bewegung, die das Ende der Mensur verriet, und gleich
darauf trat Klauser, den bandagierten Arm noch auf den Händen des
Schleppfuchses ruhend, blutüberströmt herein. Hinter ihm Scholz und ein
paar andere Korpsburschen, alle ganz merkwürdig still und blaß.

»Nu?« fragte Wichart.

»Quartabfuhr nach achteinhalb Minuten,« sagte Scholz in
unheilverkündendem Ton. Dann riß er den Sekundierstulp ab und
schleuderte ihn auf den Boden, Mütze und Schurz hinterher.

»Hm?« machte Wichart.

Scholz schlug zweimal mit der Rechten durch die Luft, eine Geste, die
deutlich erkennen ließ, daß irgend etwas Schlimmes passiert sei.

»Na, kommt raus!« sagte Scholz. Und alle Korpsburschen gingen. Hastig
vollendete Wichart Dammers Verband, hieß ihn Hemd, Weste, Band und Rock
anlegen, schickte ihn und Werner hinaus. -- Drinnen blieben nur der
blessierte Klauser und der Paukarzt.

Werner begriff nicht, was vorgefallen sein mochte. Er sah, daß draußen
der Fuchsmajor alle Korpsburschen zusammenberief und sie alle sich
aus dem Saale entfernten. In dem dumpfen Gefühl, daß etwas Böses sich
ereignet haben müsse, fragte er Dammer: »Hast du eine Ahnung, was die
Korpsburschen eigentlich haben?«

»Nu ja, nu ne -- Klauser hat, scheint's, iebel gefocht'n.«

»Wieso?«

»Schlecht gestanden scheint er äbens zu haben.«

»Nun, und --?«

»Na -- du siehst doch, daß de Korpsburschen zum A. O. C. C.
(außerordentlichen Korpskonvent) sein abgetreten -- da werden sie wohl
beschließen, Klausern auf unbestimmte Zeit hinauszutun.«

»Und -- was wird dann weiter mit ihm?«

»Dann muß er Reinigungspartie fechten.«

»Und ... dann kommt er wieder ins Korps hinein?«

»Wenn seine Mensur als Reinigungsmensur genügt, dann wird die Dimission
aufgehoben.«

»Und wenn sie ... nicht genügt?«

»Ja -- dann tun sie'n äbens ganz rausschmeißen tun sie'n dann.« -- --

Dammer hatte richtig vermutet.

Nach wenigen Minuten kamen die Korpsburschen zurück, alle tief ernst
und gedrückt; der Fuchsmajor ging zuerst zu den Senioren der beiden
anderen Korps und machte diesen mit feierlich abgezogener Mütze eine
kurze Meldung, dann rief er die Füchse in einen Winkel des Saales
zusammen und befahl:

»Silentium für den A. O. R. C. (außerordentlichen Renoncenkonvent).«

Er und alle Füchse nahmen die Mützen ab.

»Es wird den Renoncen aus dem C. C. mitgeteilt: C. B. Klauser Zweiter
seiner Charge entsetzt und derselbe auf unbestimmte Zeit dimittiert. --
Hat jemand sonst noch etwas vorzubringen? Silentium -- so ist der A. O.
R. C. geschlossen.«

Schweigend setzten die Füchse die Mützen auf und gingen beklommen zu
ihren Plätzen.

Über den Tischen der Cimbern lag ein dumpfes Schweigen. Aber auch bei
den beiden andern Korps ging es minder lebhaft zu als sonst. Man ehrte
Cimbrias Muttertrauer über die Strafe, die sie an einem ihrer Söhne
hatte vollziehen müssen, den sie vor andern wert gehalten hatte.

Leise tauschten auch die Füchse ihre Ansichten über das schmerzliche
Ereignis aus. Die Brandfüchse behaupteten fast alle, sie hätten während
der Mensur ganz genau gemerkt, daß Klauser schlecht stände.

»Er hat mehrfach den zweiten Hieb ausgelassen.« behauptete einer.

»Als er die Temporalisabfuhr bekam, hat er ganz merklich reagiert,«
wußte ein anderer zu melden.

»Mir hat seine ganze Haltung von Anfang an nicht gefallen. Es war, als
ob er gar nicht recht bei der Sache gewesen wäre.«

»Ja, als ob ihm eigentlich alles wurst wäre. Als ob er immerfort an was
anderes dächte.«

»Hat er ja vielleicht auch getan.« Zwischen den ernsten Betrachtungen
ein heimliches, verstohlenes Schmunzeln auf allen Lippen.

»Einmal hat er mitten im Gange aufgehört zu schlagen.«

»Das hab' ich auch gemerkt -- als er die Terz weghatte: er machte ein
ganz verdutztes Gesicht.«

Was der eigentliche Grund von Klausers Dimission sei, vermochte Werner
sich aus all dem Wirrwarr der Ansichten nicht recht klar zu machen. Er
beschloß, seinen Leibburschen zu befragen.

Aber da kam er schön an. »Das sind deine Sachen nicht!« schnauzte
Scholz den Leibfuchs an. »Sorg, daß du selber anständig fechten lernst,
und überlaß das übrige den Korpsburschen! Wenn du mal selber das Band
hast, dann magst du mitreden.«

Mit hängenden Ohren schlich Werner zu seinem Platze.

Es war ein trüber Tag für die Cimbern. Noch eine ganze Reihe von
Mensuren folgte, und bei fast allen war Cimbria als weitaus stärkstes
Korps beteiligt, aber die frisch-fröhliche Raufstimmung der andern
Tage fehlte. Die Entgleisung des zweiten Chargierten war so rasch nicht
zu verschmerzen. Geschäftsmäßig wickelte sich der Tag ab.

Am Spätnachmittage kehrte man heim. Dammer fuhr seines Wickelverbandes
halber in der Mensurdroschke. Der starke Blutverlust hatte ihn müde
gemacht, er schlief, tief in die Wagenecke gedrückt, und als die
Kalesche am Vogtschen Pensionat vorüberrollte, verfehlte er die
Gelegenheit, das Herz des »sießesten Mädichens« durch den Anblick
seines Zustandes zu rühren und mit noch tieferer Bewunderung für seinen
Mannesmut zu erfüllen.

Vergebens hatte Werner sich nach dem unglücklichen Klauser umgesehen.
Der hatte, nachdem Wichart ihn geflickt und verbunden hatte, von Scholz
die offizielle Mitteilung bekommen, daß er seine Charge verloren habe
und dimittiert sei. Das hatte er schon vorher gewußt. Er hatte eine ihm
sonst ganz fremde Unsicherheit und Apathie während der Mensur selbst
deutlich genug empfunden, aber er war ihrer nicht Herr geworden. Das
Benehmen seiner Korpsbrüder aber unmittelbar nach der Mensur hatte ihm,
dem Erfahrenen, genug gesagt. Und dennoch schnitt es ihm ins Herz, wie
Scholz so kalt und gemessen vor ihm stand und ohne ein Freundeswort,
ohne ein Beben in der Stimme ihm eröffnete: »Klauser, ich habe dir
aus dem C. C. mitzuteilen, daß du deiner Charge entsetzt und auf
unbestimmte Zeit dimittiert bist.« Dann hatte Scholz sich umgewandt und
ihn stehen lassen wie einen Geächteten.

Da nahm er das Band vom Riegel, und statt es über die Weste zu hängen,
wie sonst beim Ankleiden, ließ er's stumm in die Tasche gleiten.
Und die Korpsmütze versteckte er unter der Weste ... Über seinen
Wickelverband zog er eine schwarze, seidene Mensurmütze bis tief in die
Stirn, griff zum Stock und wollte gehen.

Der gute Wichart hatte ihm schweigend zugesehen. Klauser fühlte seinen
Blick und wandte sich zu ihm.

»Wann bin ich wieder so weit, Wichart?«

»In vierzehn Tagen, Klauser!«

»Was ... erst in vierzehn Tagen --?!«

»Ja -- Temporalisabfuhr -- Knochensplitter -- so lange wirst du wohl
aushalte misse.«

»Himmel!«

»Na, so vierzehn Tag -- die sinn doch fix herum!«

»Vierzehn Tage in Dimission --«

»Kopf hoch, Klauser! Bist ja so e strammer Kerle --«

Ein Händedruck, und Klauser ging einsam hinaus. Er stieg dumpf brütend
die Treppe hinunter und ging allein nach Marburg zurück -- den Weg,
den er heute morgen in Träumen voll wilder, jung-junger Seligkeit
hergekommen war.

Denn das hatte er ja seinen Korpsbrüdern nicht sagen können, daß er
die ganze Nacht kein Auge zugetan hatte -- daß er nichts anderes hatte
denken und träumen können, als daß sie nun sein sei -- seit gestern
abend ... seine Verlobte, seine Braut -- seit jenem Spaziergang im
Museumsgarten, abseits vom Fiedeln der Walzergeigen, seit jenem kurzen
Augenblick im Jasminboskett, der ihm den ersten Kuß seines Lebens
gebracht hatte -- den Kuß einer Liebe, die, so wähnte er, nur mit dem
Schlagen dieses stürmischen Herzens enden könne ...

Und nun?!

Langsam tropften schwere Tränen aus dem Auge des Jünglings, der
inmitten der Jugendspiele Mannesrechte und Mannespflichten auf sich
genommen und darüber den Schmuck der Jugend eingebüßt hatte.

Schwere Tränen tropften auf die Brust, an der gestern Mariens gelber
Flechtenbau geruht hatte, auf der heute das Band Cimbrias fehlte.

Schwere Tränen, Kindertränen ...

Am Spätnachmittage hielten die Korpsburschen der Cimbria nochmals
außerordentlichen Korpskonvent ab, und zwar auf der Kneipe. An
Klausers Stelle wurde der dritte Chargierte, Krusius, Dammers
Leibbursch, beauftragt, interimistisch die zweite Charge zu versehen,
und ferner beschlossen, die Brander Böhnke, Dammer und Ehlert,
deren Rezeptionsmensuren am Vormittage den Anforderungen eines
wohllöblichen C. C. genügt hatten, ins engere Korps zu rezipieren.
Das wurde diesen Glücklichen, die man schon ohne Angabe des Zweckes
auf die Kneipe bestellt hatte, in feierlichster Form eröffnet, indem
der Außerordentliche Korpskonvent sich sofort als »Feierlicher
Korpskonvent« konstituierte, die rezipierten Brander vorlud, ihnen ihre
Aufnahme eröffnete, ihnen den Burscheneid auf die Konstitution des
Korps abnahm und sie feierlich mit dem blau-rot-weißen Bande schmückte.

Hernach war's noch eine Stunde Zeit bis zum Beginn der speziellen
Kneipe. Das benutzten die Jungburschen selbstverständlich, um sich dem
staunenden Marburg alsbald im neuen Schmucke der drei Farben zu zeigen.
Auch Dammer hatte sich soweit erholt, daß er, trotz seines bis zur
Unkenntlichkeit vermummten Kopfes, die Wettergasse herunterschlenderte
bis zum Pensionat Vogt. Aber seine Sehnsucht erfüllte sich nicht: die
Vogtei saß jedenfalls beim Abendessen.

Auf der Kneipe sah er sich allerdings zum Genusse eines Gebräues aus
Ei, Kognak und Rotwein verurteilt, das er durch ein Röhrchen trinken
mußte, da der angeschlagene Kaumuskel Trinken im eigentlichen Sinne und
Essen verbot. Trotzdem war er selig.

Und auch das Korps überwand in der Freude über seine drei Jungburschen
allmählich die Mißstimmung über den Verlust des Subseniors. Ach ja, der
Lebende hat recht, und was ist ein einzelner unter einer Schar von mehr
denn vierzig!

Vielleicht am aufrichtigsten und dauerhaftesten trauerte Werner um
Klauser. Er sah immer noch den Freund am Arm des schönen Mädchens
aus dem Boskett in den Mondflimmer hineintauchen und meinte noch den
unerhört süßen Nachhall der gestammelten Worte zu hören:

»Willy -- meiner -- mein Willy ...«

Nun lag der Arme gewiß einsam und schlaflos daheim und fühlte das
Brennen seiner Wunden und seiner Scham ...

Und warum?!

Grausam -- grausam ...

Und Werner betrank sich.




                                VIII.


»Du -- Salche -- hernach muß ich dich allein spreche!«

So hatte am Sonnabend früh der Studiosus Simon Markus seine Schwester
im Laden angezischt.

»Hernach, wenn ich aus'm Kolleg zurückkomm!«

Seine Augen schielten flackernd an der unförmlichen Nase entlang, deren
wulstige Flügel bebten.

»Hernach? Warum nit gleich und nit hier? Was du mir zu sage habe
kannst, das kann e jed's heere!«

»Nein! das kann nit e jed's hören.«

Damit war er aus dem Laden gestolpert und zur Anatomie geschlendert,
den Rücken gekrümmt von der Last unfaßbarer Qualen.

Rosalie hatte keine Ahnung, was ihren Bruder so erregte. Und darum, als
der heimkehrende Bruder sie ins Hinterzimmer zog und anfauchte:

»Ich hab's gehört, heut nacht!«

-- da konnte sie mit unschuldigster Verwunderung antworten:

»Was hast geheert?«

»Ja, mach nur e Gesicht! Heut nacht is er aus deinem Zimmer komme und
de Trepp erunter gange!«

»Aus mein Zimmer? Ja, ~wer~ denn?«

»Wirscht's schon wisse!« »Hernach bitt ich mir aus!! Wer soll in mei'm
Zimmer gewese sein heut nacht?«

»Na, der Achebach -- hä? oder gar nit?!«

»Bist verrickt, Simon?!« Ihre Augen funkelten gefährlich, ihre Finger
krallten sich. Sie glaubte, der Bruder wolle sie ganz grundlos
beleidigen.

»Ich hab's geheert. Die Trepp is er nunter auf de Sock! Ich weiß es!
Aber ich tu'n haue! Ins Gesicht schlag ich ein, dem Affe, dem Fatzke!«

»Du, Simon, mach dich nit unglücklich! Es is nit wahr, ich weiß von gar
nix weiß ich!«

Simon überlegte. Eigentlich hatte er ja wirklich nichts anderes gehört
als einen Schrei draußen, drunten, an der Lahnstraße ... der ihn
aufgeweckt hatte ... und dann einen verstohlenen Schritt, abwärts, die
knackenden Dielen hinab ... sachtes Öffnen der Tür zum Zimmer, das
der junge Korpsstudent bewohnte ... sonst nichts ... vielleicht wußte
Rosalie wirklich nichts -- vielleicht war wirklich nichts geschehen --

»Salche! sieh mer an!! --?«

Seine Finger krampften sich um des Mädchens stramme Oberarme.

»Au, du tust mich kneife!«

»Is wahr, daß du von nix weißt?«

»Ich hab dir's gesagt -- laß mich in Friede!! Verrickt biste, verrickt!
Laß mich in Friede!! Un wenn's gewese wär, tut's dich was angehe? Hä?
Bist du mei Vormund?«

Tränen standen in ihren Augen, halb des Schmerzes über den rauhen Griff
des Bruders, halb der Wut über seine Anmaßung -- ja, wenn er wenigstens
noch einen Grund gehabt hätte -- aber es war ja nicht mal was passiert
...

Simon ließ ihre Arme los, nachdem er sie mit einem letzten harten Ruck
einen Schritt zurückgeschoben.

»Dei Vormund bin ich nit, Gott sei's gelobt! Un ob mich das was angeht,
das is mer egal, verstehst? Das ein will ich dir sage: ich leid's nit,
daß du eine an dich eranläßt von dene Kerle ... von dene geschwollene
Korpsstudente, von dene dicknäsige Großschnauze ... und wenn du's
tust, den Betreffende den schlag ich in die Fresse, un wenn's Mord un
Totschlag drum tät gebe!!«

Und damit rannte er hinaus -- er schnappte nach Luft ... in seinem
Herzen war eine so lichtlose, grauenhafte Finsternis, daß er nicht
wußte, wie das Leben ertragen ... allein er gemieden, geschnitten
von den alten Schulkameraden, ohne Möglichkeit, Freunde zu finden,
dem blöden Herzen der hinsiechenden Mutter, dem lebenslüsternen der
saftstrotzenden Schwester entfremdet, einsam, arm ...

Ja, wenn er nach Berlin gekonnt hätte! Da, das wußte er, gab es große
Zirkel jüdischer Studenten, die in freundschaftlichem Zusammenschluß,
im Genuß der Literatur und Kunst einander den Fluch ihres Blutes
vergessen machen konnten ... nein, dort galt dieser Fluch überhaupt
nichts ... dort war das Judentum eine Macht, beherrschte Presse,
Literatur, Bühne.

Aber in Marburg ... in dem ausgewucherten Hessenlande, wo seine
Glaubensgenossen, das mußte er als billig denkender Mensch zugeben,
einen Teil des Fluches verdient hatten, der ihren Schritten folgte --

Und fortlaufen? sich auf eigene Faust durchschlagen?! Das hieße, den
einzigen Menschen, mit dem ein menschliches Band ihn verknüpfte, das
hieß die Schwester schutzlos zurücklassen, ein Spielzeug jener Bande,
die er wütender als alles haßte: der blonden, vierschrötigen Söhne
Teuts, die dies Nest beherrschten mit ihrer ganzen knallprotzigen,
reckenhaften Arroganz, ihrer siegessicheren, gladiatorenhaften
Dreistigkeit -- die über die Studentenschaft das Schreckensregiment
des Schlägers, des Säbels, der Pistole führten und stark genug waren,
jedem Kommilitonen, der ihre Weltanschauung nicht teilte, das Leben
in Marburg unerträglich zu machen. Fühlten sich doch selbst die
theologischen Verbindungen, der protestantische Wingolf genau so gut
wie die katholische Verbindung Rhenania, schwer bedrückt durch die
Übermacht und alte Herrlichkeit der Waffenverbindungen.

Und der arme Judenknabe floh in den dunkelnden Wald und warf sich an
finsterster, einsamster Stelle ins Moos. Seine Hände krallten sich in
die kühlen Polster. Tränen waren ihm versagt, aber ächzen konnte er
hier ungehört und ungestört. Und er preßte den breiten Mund, die wüste
Nase tief in das Grün und brüllte wie ein waidwundes Wild sein Weh in
die Mooskissen hinein -- sein lebenzerfressendes Weh über den sinnlosen
Fluch, der auf seinem Volke lastete, der täglich neu auf ihn und seine
Blutsgenossen getürmt wurde von jenen, die längst nicht mehr an den
Heiland glaubten, den seine Voreltern vor zweitausend Jahren ans Kreuz
geschlagen haben sollten.

                   *       *       *       *       *

Rosalie aber nahm sich vor, Werner das Vorgefallene zu erzählen und
irgendwie herauszubekommen, ob er wirklich in der Nacht vor ihrer Tür
gewesen. Sie zweifelte kaum daran. Und das machte ihr Blut hochheiß.
Sie wollte diesen keuschen Josef munter machen, sie hatte sich's in den
Kopf gesetzt, seine zitternde Unschuld zu besiegen. Sie kannte sich
schon genügend aus unter dieser bierfrohen und raufstolzen Jugend,
um wittern zu können, daß hier ein edleres Blut kreiste, eine Seele
von sonderlicher Art um ihren angeborenen Adel rang. Das war's, was
sie ahnte: dieser war nicht wie die anderen. Und darum wollte sie ihn
haben. Ein Raffinement, das auch weit erfahrenere Frauen als Salchen
Markus gereizt hätte, würzte ihr Begehren nach dem weichen Knaben,
der so mannhaft wider die Dränge seines Blutes kämpfte; daß er nicht
feige war, daß seine Flucht vor ihrer Nähe nicht eine Chamade der
Armseligkeit, sondern des Stolzes war, das las ihr Weibinstinkt in dem
scheuen, doch lodernden Auge. Und sie dünkte sich schön und feurig
genug, um würdig zu sein, diese tastende Seele in das tiefste Geheimnis
des Lebens und der Schönheit einzuweihen.

Sie würde ihn fragen, ob er an ihrer Tür gewesen, sie würde zürnen und
ihre Verzeihung sich abbetteln lassen ...

Aber wenn sie gehofft hatte, Werners noch am Samstag habhaft zu werden,
so sah sie sich enttäuscht. Werner kam erst spät von Ockershausen
zurück, fragte nur im Laden, ob Briefe gekommen seien, und war gleich
wieder hinaus.

Und als Rosalie mitten in der Nacht von einem Lärm im Hause erwachte,
da konnte sie hören, daß das junge Blut, nach dem es sie verlangte,
sich recht gründlich ausgetobt hatte. Das war ein Gepolter auf der
Stiege, ein Türenschlagen, ein Anstoßen an Möbeln und Waschgeräten in
der Stube!

»Dunner, der hat gelade!«

Rosalie kicherte in ihre Kissen.

Am Sonntagmorgen schlief der Student bis halb eins, stürzte dann,
ohne nach seinem Frühstück geklingelt zu haben, zum Frühschoppen. Und
Rosalie wußte, daß sie ihn nun am ganzen Sonntag nicht so leicht mehr
zu Gesicht bekommen würde. Denn sonntags pflegte das Korps gleich
nach dem Mittagessen zum »offiziellen Exbummel« aufzubrechen, einem
gemeinsamen Spaziergang zu einem der herrlichen Ausflugsorte der
Umgegend. Gegen Abend kehrte man dann heim, und in der Regel ging
alles sofort zur Kneipe, wo in dem prächtigen Garten des Korpshauses
der Sommerabend mit Kegelschieben, Skat und Quodlibet zu Ende genossen
wurde.

Aber vielleicht würde der Student nach der Rückkehr vom Spaziergange
noch einen Augenblick von der Kneipe heruntergesprungen kommen, um die
Sonntagsgarnitur gegen eine ältere Mütze, ein schon bierbegossenes
Korpsband einzutauschen?

Darauf wollte Rosalie hoffen, denn die Gelegenheit zu einem
Schäferstündchen kam so günstig nicht vor dem übernächsten Sonntag
wieder. Die Mama Markus hatte sich nämlich erholt, und wenn sie
munter war, verlangte sie von ihren beiden Kindern abwechselnd den
Liebesdienst, daß eins sie zu ihrer gleichfalls verwitweten Schwester,
der Frau Isidora Mayerstein auf der Ketzerbach, begleitete, wo man
einige Stunden verplauderte. Diesmal war Simon an der Reihe, die Mutter
zu geleiten, und so würde sie von nachmittags fünf bis neun allein
im Hause sein, da auch Babett Ausgang hatte und in ihr Heimatdörfchen
Frohnhausen gepilgert war.

Und sie mochte nicht lange warten. Er sollte, er mußte kommen! Sie
wollte es, sie wollte es!

Als nach dem Nachmittagkaffee die Mama am Arme ihres Sohnes die
Wettergasse hinabgehumpelt war, schloß Rosalie den Laden zu, legte die
schweren Holzläden vor, verwahrte sie mit den Eisenriegeln und stieg in
ihr Zimmer empor. Sie hatte noch Zeit, vor sieben würde Werner nicht
kommen. Inzwischen wollte sie Toilette machen.

Sie kramte eine viereckig ausgeschnittene Batistbluse heraus, bei
deren Anblick sie lächeln mußte, denn sie hatte schon einmal, im
vorigen Sommersemester, ihre Wirkung erprobt. Hehe! der gute Bennert!
Fritzchen! Damals war er dritter Chargierter der Cimbria gewesen. Es
war sehr nett gewesen mit ihm. Simon war damals noch ein ahnungsloser
Primaner gewesen mit einem unerschütterlichen Schlaf ... Bennert
ein hübscher, strammer, rotbäckiger, sommersprossiger Westfale ...
ein wackerer Liebeskamerad ... allerdings kein Werner Achenbach
... jetzt war er inaktiver Korpsbursch und büffelte in Berlin zum
Referendarexamen. Anfangs hatte er noch geschrieben ... ungeschlachte
Briefe, die stets schlossen: »Dein Dich liebender Fritz« -- dann war's
eingeschlafen ...

Aber die weiße Bluse, die wußte noch von jenem ersten Abend zu erzählen
... es war Zeit, daß sie einmal etwas Neues erlebte.

Und wie Rosalie ihren Spiegel befragte, da war sie sicher, daß dieses
neue Erlebnis nicht mehr fern sei. Himmel! so gab's doch in Marburg
keine zweite!

Und sie wollte! sie wollte! sie wollte! --!!

Sie stieg die Treppe hinunter, setzte sich auf Werners Sofa, nahm
ein Buch vom Tisch und begann zu lesen. Sie hatte schon seit ihrer
Backfischzeit von der Lektüre ihrer studentischen Mieter profitiert und
hatte so eine wirre Menge Bücher durcheinander verschlungen, von den
Wahlverwandtschaften bis zu Casanovas Memoiren ... dies Buch kannte sie
noch nicht; es trug die Zahl des laufenden Jahres, 1887, und führte den
Titel: Frau Sorge. Der Verfasser hieß Hermann Sudermann.

Sie las und war rasch gefesselt.

Aber plötzlich, nach etwa einer Stunde, legte sie das Buch mit einem
Ruck aus der Hand. Auf der sonntagnachmittagstillen Straße klang das
Klappern der Spazierstöcke, klang Hundegezänk und der wohlbekannte
Cimbernpfiff ...

Sie fuhr ans Fenster. Fünf, sechs Cimbern kamen von der Barfüßergasse
her die Wettergasse entlang, offenbar vom Spaziergang zurück: sie
hatten rote Köpfe, Sonnenbrand, frische Luft und Alkohol leuchteten um
die Wette von ihren Gesichtern. Sie lachten laut und unaufhörlich;
ihre Mützen saßen im Nacken; mancher von ihnen schlug mit dem
Spazierstock einen Lufthieb nach dem andern. So trollten sie des Wegs
entlang, bogen den Pfad nach dem Korpshause zu und verschwanden. Alles
war wieder sonntagsstill; die ganze Wettergasse schien ausgestorben;
nur ein mageres Kätzchen schlich den Rinnstein entlang; schon war die
Sonne längst hinterm Schloßberg verschwunden; Dämmerung sank auf die
Straße, tiefere lag in den Winkeln des schlichten Studentenstübchens.

Und Rosalie dehnte sich in ihrer einsamen, quellenden Schönheit. Sie
sehnte sich bis zum Verschmachten nach dem Knaben, dessen Jugendträume
diese Stube durchwitterten. Dort standen die Bilder seiner Eltern, der
schöne Weißkopf des Vaters mit den leuchtenden Augen, die Rosalie so
gut kannte. Dort die herberen Züge der Mutter, aus denen ein kräftiges
Wollen sprach: von diesen Linien meinte Rosalie kaum scheue Spuren in
dem Gesichte des Ersehnten zu finden. Und da lag ein Päckchen frisch
vom Photographen gekommener Bilder. Werner selbst. Ja, das war er,
seine noch verschwommenen, unausgeprägten Züge, sein suchendes Auge.
Grellbunt leuchtete die grob aufgesetzte Bemalung der Mütze und des
Bandes. Das mußte sie haben; kurz entschlossen mauste sie eins und
schob's in ihre Schürzentasche. Sie wollte ihn schon entschädigen.

Und wieder klangen draußen Schritte und frische Stimmen, und wieder
fuhr Rosalie ans Fenster. Und wieder waren es andere als der, dessen
sie wartete.

Und sie stöberte ruhelos in dem Stübchen umher, drehte jeden
Gegenstand, den sie bemerkte, in den Fingern; inzwischen liebäugelte
sie mit dem Sofa, steckte gar den Kopf ins Nebenzimmer und warf dem
Bette einen vertraulichen Nicker zu ... das alles kannte sie ja so gut
...

Und doch war ihr jungfräulich, war ihr bräutlich zumute ... als
wenn sie rein wäre, wie jener, dessen unberührte Jugend sie an ihre
lechzenden Brüste pressen wollte.

Da -- da -- Schritte auf der krachenden Stiege, polternd im lichtlosen
Dämmer des Flurs -- -- an der Klinke eine tastende Hand -- und Werner
stand im Rahmen.

»Fräulein Rosalie -- --«

»Ach -- guden Abend, Herr Achebach -- grad e bißche aufgeräumt hab ich
da in der Stub --«

»Ich dank Ihnen schön --«

»Na -- sinn Se spaziere gewesen?«

»Na -- der übliche Sonntagsnachmittags-Exbummel ... wir waren in Wehrda
draußen.«

Er hatte seine neue Mütze an die Wand gehängt und eine ältere
aufgestülpt. Nun nahm er auch ein älteres Band herunter, knüpfte es an
das neue, das er trug, und zog es durch Abziehen des alten unter den
Rock. Dabei stand er von Rosalie abgewandt. Seine Finger zitterten.

»Herr Achebach!«

»Fräulein Rosalie?«

»Ich muß Ihne mal was frage --!«

»Nun?« Er fuhr herum -- der Ton der Frage hatte so seltsam
geklungen ...

»Herr Achebach -- sinn Se in Freitag nacht obe vor mei'm Zimmer
g'wese?«

»Fräu--lein -- -- Rosalie --«

»Sie --?« sie drohte mit dem Finger.

»Ach Gott -- ich -- ich werde wohl ... bekneipt gewesen sein --
entschuldigen Sie nur -- es soll nicht wieder vorkommen --«

»Ja -- was ich Ihne sagen wollt -- mei Bruder hat's geheert, wie Sie
nunner sinn gange, un er hat mir de greeßte Skandal gemacht deshalb. De
greeßte Skandal!«

»Fräulein Rosalie -- ich werde morgen ... mit Ihrem Herrn Bruder
sprechen ... und ihm sagen, daß Sie gar nichts ... ich meine, daß ich
allein --«

»Um Gottes wille, das mache Se nur nit, die größte Unannehmlichkeit
könnt das gebe! Schon so grad schlimm genug is es gewese!«

»Ach, verzeihen Sie mir doch nur -- ich -- Himmel, ich könnt mich
prügeln deshalb --«

»Ja, verzeihe, verzeihe! Sie habe gut rede! Sie sinn der große Herr,
ich bin das arm Mädche, was alles muß ausbade!«

»Fräulein Rosalie!« Er tat einen Schritt auf sie zu -- endlich, endlich.

»Ach, Herr Achebach --!«

»Wollen Sie mir verzeihen?!« Er streichelte ihre Hand, ihren Arm --
endlich! Endlich!

Und fünf Minuten später hatte sie ihn auf dem Sofa.

Und Werners Fassung schwand. Die wilden Küsse des Mädchens machten ihn
toll.

Da fuhr Werner plötzlich auf: draußen klang der Cimbernpfiff!

»Himmel, meine Korpsbrüder!«

»Verflucht! Laß se doch pfeife!«

Einen Augenblick lauschte Werner den Pfiffen, die sich dringender
wiederholten.

Plötzlich polterten Schritte auf der Stiege.

»Die Tier! Is de Tier abgeschlossen?! Schnell! Tu se zuschließen!«

Werner fuhr auf -- verdammt! Der Schlüssel stak draußen!

Es war zu spät -- da tauchte eine blaue Mütze aus der Dämmerung -- ein
gebieterisches, hageres Gesicht -- der lange Scholz -- --

»Guten Abend, Leibfuchs!«

»Leibbursch, du? Guten Abend --«

»Na, warum hast du denn auf meinen Pfiff nicht reagiert, wenn du doch
zu Hause bist? --«

»Oh, ich -- -- womit kann ich dir dienen?«

»Ich wollt mir nur 'ne alte Mütze bei dir holen -- es scheint ein
Gewitter zu kommen.« Und schon war Scholz in der Stube. Vom Sofa
leuchtete Rosaliens helle Bluse. »Ach, so!! -- Ei, sieh doch den
Duckmäuser! Wer ist denn das?«

»Fräulein Rosalie Markus -- meine +filia hospitalis+ --«

»Äh -- +filia hospitalis+ --!«

    »Denn keine ist +aequalis+
    Der +filia hospitalis+!«

sang Scholz mit näselndem Ulkton.

»Mach mal Licht an, Leibfuchs! Die schöne Rosalie Markus ist wert, daß
man sie auch mal bei Lichte besieht!«

Verstört, fassungslos zündete Werner die Petroleumlampe an. Scholz nahm
sie und leuchtete Rosalien ins Gesicht.

»Verdammt. Dich hab' ich eigentlich noch nie so recht angeschaut,
Mädel! Hat keinen schlechten Geschmack, der kleine Leibfuchs.«

Rosalie sprang auf, um zu entfliehen.

»Was, weglaufen? Jetzt, wo's grad gemütlich wird?«

Und die stählernen Finger des Seniors der Cimbria umklammerten
Rosaliens blühende Handgelenke, preßten das ringende Mädchen
widerstandslos ins Sofa zurück.

»Au, mein Arme -- lasse Se los, Sie -- Sie ung'schliffener Mensch, Sie!«

»Wenn du brav bist!«

Rosalie war frei, sie rieb sich die Handgelenke. »Da, sehe Se nur, wie
Sie mich verdruckt habe!« Sie hielt die Handgelenke unter die Lampe,
Scholzen entgegen; in der Tat, die Finger des jungen Mannes hatten sich
wie eiserne Handschellen in dem weißen, schwellenden Fleisch eingeprägt.

»Na ja! So geht's, wenn man mir nicht pariert!« lachte Scholz
behaglich. Seine grauen Augen musterten kennerhaft die Gestalt des
Mädchens und hafteten an dem Ausschnitt der Bluse.

»Donnerwetter! Ich kann nur staunen! Ich kenne mich doch sonst aus
unter den Marburger Mädeln -- warum hab' ich dich eigentlich bisher
übersehen? Nun hat der kleine Leibfuchs da dich mir weggeschnappt.
Schade!«

»Oh -- weggeschnappt!« sagte Rosalie gedehnt.

Scholz zog, wie freudig erstaunt, die Augenbrauen hoch. Also noch
nicht? Das wäre! lag in diesem Blick, der Rosalie galt. Und dann über
die rechte Achsel zu dem Jüngeren, der noch immer regungslos und
hilflos dastand:

»Na, Leibfuchs? Du schweigst ja in sieben Sprachen?!«

»Gehst du mit zur Kneipe, Leibbursch?« fragte Werner heiser.

»Oh -- wenn du zur Kneipe willst, ich will dich nicht abhalten. Ich ...
wenn du erlaubst, daß wir noch ein Weilchen auf deiner Bude bleiben
... dann möchte ich Fräulein Rosalie gern noch ein Augenblickchen
Gesellschaft leisten.«

»Das sollt mer grad fehle!« höhnte Rosalie und stand abermals auf,
aber ihr Blick ruhte freundlich auf dem Unverschämten und mied das
brennende, düstere Auge des Knaben, den sie vor fünf Minuten so wild
geküßt.

»Schönes Kind, du zwingst mich abermals zu Gewaltmaßregeln!«

»Herr Scholz, mache Se jetzt keine Unsinn un lasse Se mich vorbei!« Sie
mochte Werner so tief nicht kränken.

»Also heute nicht? Dann ein andermal, du süßer Racker!« Und während
Rosalie an seinen Knien vorbeistrich, packte er sie dreist um die
Hüften. Sie riß sich los, warf noch einen spöttisch-bedauernden Blick
auf Werner, einen schmollenden, doch verheißungsvollen auf Scholz und
war hinaus.

»Du, Leibfuchs, die Kleine spann ich dir aus, für die bist du noch zu
jung,« sagte Scholz. »Wenn du der in die Finger fällst, dann bleibt für
die Mensuren nichts mehr von dir übrig.«

Und gleichmütig hing er seine Mütze an die Wand, nahm die beste
ältere, die da war, stülpte sie auf den Hinterkopf und sagte: »Komm,
Leibfuchs, wollen zur Kneipe!«

Er blies die Lampe aus, schob seinen Arm in den Werners und zog ihn zur
Tür.

Und willenlos, kampflos folgte Werner.




                                 IX.


Und abermals war das Geheimnis, die Erfüllung an Werner
vorübergegangen. Und als er andern Morgens im Bette übersann, wie
alles gekommen war, da erfüllte ihn nicht mehr die dankbare Stimmung
selbstbewahrter Reinheit ... da empfand er nichts als Scham und Groll
gegen sich selbst. Diesmal hatte er den Becher nicht selbst von den
Lippen gedrängt, ein Stärkerer war gekommen und hatte den zagen Händen
des Knaben den Trank entrissen. Und er hatte nicht einen Finger zur
Abwehr geregt. Er fühlte: das konnte Rosalie ihm nicht verzeihen. Ihren
Abschiedsblick vergaß er nicht; der brannte noch immer mit ätzender
Schärfe in seiner Seele. Klein und feige hatte er sich die Geliebte
entreißen lassen.

Die Geliebte! Hahahaha!!

Dieser Gedanke kam ihm läppisch vor.

Wer ihm noch vor wenig Monaten gesagt hätte, daß man ein Weib küssen,
ihren Besitz stürmisch begehren könnte, ohne sie zu lieben?!

Wenn jetzt einer gekommen wäre und hätte ihm erzählt, Rosalie sei in
der Nacht gestorben -- würde er eine einzige Träne um sie vergossen
haben?!

Was war denn das nun, was ihn zu dem wundervollen Geschöpf gezogen
hatte?

Werner hatte keinen Namen für dies Gefühl. Und dennoch wußte er, daß es
ein Glück war, ein süßes, leuchtendes, trunken machendes Glück, das an
ihm vorübergegangen war für immer.

Für immer?

Ja, für immer. Diese Stunde würde nicht wiederkommen. Diese Stunde,
die ihm vergönnt hätte, seine so lange aufgestaute Sehnsucht in den
Schoß eines Mädchens auszuschütten, das ihm alle seine Schönheit als
freudiges Geschenk entgegengeworfen hatte, das sein gewartet, das ihn
begehrt hatte in hinlechzendem Verlangen. Begehrt hatte ... und nun nie
mehr begehren würde, da er sich unmännlich gezeigt hatte.

Und in seinem Herzen war eine tiefe Trauer um ein verlorenes Glück ...

Ja, um ein Glück!

Der Primaner in ihm versuchte ihn zu belehren, daß ja doch dies Glück
eine Sünde gewesen wäre --

Sünde --!! Hahahaha!

Wo waren die Begriffe hingekommen? Sünde -- Schuld!

Das Leben wußte nichts von ihnen. Das Leben kannte nur zwei
Empfindungen, nur zwei Seelenzustände: Glück ... und Leid ...

Narr, wer das Glück von sich stieß! Zehnfacher Narr, wer sich's rauben
ließ!

Das Leid, das mußte man wegstoßen -- das zudringliche Leid, das immer
wieder von selber kam -- dem mußte man mit Keulen auf den Schädel
dreschen, daß es heulend entweichen mußte ...

Und haschen, haschen das flüchtige Glück ...

Er hatte es entweichen lassen --

»Du Narr! Du Esel!!« Er schlug sich mit der geballten Faust vor die
Stirn.

Babett brachte ihm das Frühstück. Er hatte das liebe Kind, dessen
Mund seine ersten Küsse einst empfangen, seit jenem Abend nicht mehr
beachtet. Und still wie ein Schatten war das schlichte Mädel durch sein
Zimmer gehuscht, nie hatte ein Blick ihn daran erinnert, was zwischen
ihnen vorgefallen.

Heute zum ersten Male ließ er seine Augen auf ihr ruhen. War
die vielleicht sein Schicksal? Er brauchte wohl nur den Finger
auszustrecken --

Aber nein -- die da begehrte er nicht. Was war sie gegen Rosalie?

Sie hatte seinen prüfenden Blick gefühlt, und ein tiefes Rot stieg aus
ihrem Brusttuch bis unter die Wurzeln der zurückgestrichenen Haare.
Aber er blieb stumm.

Und stumm schlich Babett hinaus.

Nach dem Fechtboden ging Werner zur Anatomie, um von Wicharts
Gefälligkeit Gebrauch zu machen und den Präparierboden zu besichtigen.
Es war ohnehin Zeit. Die warmen Tage waren nahe, und da würde der
Präparierboden geschlossen werden müssen.

In der Vorhalle fahndete Werner nach einem dienstbaren Geist, gab dem
seine Karte für Wichart und wartete. Und wie er so stand, ging hin
und wieder die Tür zum Präpariersaal auf, und Studenten gingen ab und
zu. Sie trugen lange, graue Leinenkittel und hatten die Ärmel wie
Schlächter aufgestreift. Die Kittel waren wie mit braunen Farbkrusten
beschmutzt, die Hände dunkel gefärbt ...

Und aus dem Saale quoll ein Dunst, der sich schwer auf Werners
Brust legte. Der Qualm von Zigarren- und Pfeifenrauch, gemischt mit
einer andern, einer süßlich-faden Witterung ... Werner fühlte sich
unaussprechlich ekel.

Der Anatomiediener kam: »Der Herr mecht schon immer in de Saal gehe.«

Und Werner trat ein. Unter der Tür meinte er fast zu ersticken an dem
widerlichen Brodem, der auf ihn zuquoll. Aber das Bild arbeitender
Menschen fesselte seinen Geist und half ihm den Schauder der Sinne
bändigen.

An vielen kurzen Tischen saßen an hundert Studenten, fast ausnahmlos
junge Semester wie Werner. Alle qualmten sie, alle saßen sie tief
gebeugt, alle hatten sie irgendein seltsam formloses Etwas in der Hand,
an dem sie mit scharfen Instrumenten herumschnitzelten. Neben jedem
lag ein aufgeschlagenes Buch mit Illustrationen in rot und blau,
oder deren mehrere ... und der Blick der Arbeitenden ging hin und her
zwischen den Abbildungen ihrer Bücher und den Gegenständen in ihren
Händen.

Und diese Gegenstände waren leblose Teile menschlicher Körper.

Als Werners Augen das Gesamtbild des Saales aufgenommen und nun zum
Einzelnen strebten, fiel ihr erster Blick auf einen blutjungen,
bartlosen Menschen von kindlichem Gesichtsausdruck, der ein langes
menschliches Bein unter den Händen hatte. Er war beschäftigt, die
einzelnen Muskeln von den zwischenliegenden Schichten aus Fett und
Bändern zu befreien und herauszulösen. Eben hatte er einen breiten,
roten Schenkelmuskel lospräpariert, schob seine Rechte darunter her,
strich mit der Linken befriedigt, wie liebkosend über den gesäuberten
Muskel und schmunzelte selbstzufrieden vor sich hin, im Bewußtsein
sauber besorgter Arbeit. Werner mußte in all seinem Schauder lächeln.

Und er ging weiter von Tisch zu Tisch. Hier wurde ein Arm, dort
ein Fuß, dort eine Hand zersäbelt. Und staunend sah Werner diese
selbstverständliche Ruhe und Gelassenheit, mit der diese gleichaltrigen
Jünglinge das Geheimnis des Meisterstücks der Schöpfung erschürften,
geschäftsmäßig, mit dem sachlichen Ernst von Knaben, die ein Spielzeug
zertrümmern, um seinen Mechanismus zu ergründen.

Schließlich stand er hinter einem Studenten, der vor sich einen
menschlichen Kopf liegen hatte. Die von Haaren entblößte Schädelhaut
war durch einen Schlitz von der Nasenwurzel bis zum Hinterkopf
gespalten, dann die Schädeldecke flach abgesägt worden, und aus der
Gehirnhöhle hatte der Arbeitende das Hirn losgetrennt und gesäubert.
Eben war er fertig geworden und ließ die quabblige, schaukelnde
Hirnmasse auf einen Porzellanteller gleiten. Erleichtert atmete er auf,
empfand, daß jemand hinter ihm stehe, und wandte sich herum. Es war
Scholz.

»Tag, Leibfuchs! Na? Was suchst du denn bei uns?«

»Tag, Leibbursch! Wichart hat mich aufgefordert, mir hier die Sache mal
anzusehen.«

»So, so -- na, wie gefällt dir's denn in dem Ausschank?«

»Na -- gefallen? Jedenfalls interessiert mich's riesig.«

»Nicht wahr? Und dann riecht's auch so gut.«

»Entschuldige, Leibbursch -- was treibst du denn hier? Ich denke, du
stehst schon ziemlich nahe vor'm Staatsexamen?«

»Na -- immerhin noch anderthalb Semester -- aber du hast recht --
eigentlich hab' ich hier ja nichts zu suchen ... uneigentlich aber
mach' ich hier Studien für meine Doktordissertation. Schau dir das
mal an! Das ist die Denkmaschine. Das muß eigentlich jeder gebildete
Mensch mal gesehen haben. Das und 'ne Entbindung. Dann kommt man
dahinter, daß der Mensch ein grad so armseliges Viech ist, wie alle
andern. So die Romanschreiber und die Dichter und so 'ne Leute: die
müßten das mal sehen, dann würden sie nicht so viel idealistischen
Blödsinn quasseln.«

Diese Logik war Werner unbegreiflich. Mit tiefer Ehrfurcht betrachtete
er die opalisierende Masse auf dem Teller. Ihm war, als wachse vor
diesem Anblick das Geheimnis des Denkens und Schauens nur tiefer
ins Unermeßliche hinab. Wenn nicht eines Gottes kommandierende
Allweisheit dies millionenfach verschlungene Chaos von Gängen und
Fäden und Äderchen gebildet, wenn das alles »geworden war«, so sich
entwickelt hatte im Laufe der Jahrmillionen -- war das nicht tausendmal
wunderbarer -- weckte es nicht tausendmal tiefere Ehrfurchtsschauer?!

Das alles zuckte nur als dumpfes Ahnen durch des Knaben Hirn ... von
dem Naturerkennen der Zeit waren nur erst flüchtige Blitze in die
dumpfe Geistesdämmerung der Elberfelder Oberprima gedrungen.

Und er stand vor dem Sitz des Lebens, wie er manchmal in heimischen
Fabriken oder auf der großen Düsseldorfer Gewerbeausstellung vor
sieben Jahren den riesigen Maschinen gegenübergestanden hatte; das
eine konnte man so wenig begreifen wie das andere; nur eine Anschauung
von einer tiefdurchdachten, langsam und kämpfend herangereiften
Zwecktüchtigkeit und Bedeutungsfülle strömte, wie von jenen
schwerfälligen eisernen Kolossen, von dem Unbegreiflichen, dem ewig
Rätselhaften des Seins wie von dem Menschengeiste, der rastlos sich
selber zu ergründen trachtete. Und der nüchterne, eiserne Gesell da vor
ihm, der ihn vor wenig Stunden um einen süßesten Augenblick betrogen,
wuchs in diesem Moment für Werners Empfinden zu einem Pionier des
Geistes empor, der auf oft betretenen, nie bis zum Ende verfolgten
Pfaden tiefer und tiefer in den Urwald des Unbegriffenen einzudringen
trachtete ...

Da schreckte ein Ruf ihn aus seinem Sinnen:

»Achenbach!«

Wichart stand unter einer Tür, die zu einem Nebengelaß führte; auch
er in Kittel und aufgekrempelten Ärmeln, wie Werner ihn schon von der
Mensur her kannte.

Werner schob sich zwischen den Schemeln der arbeitenden Studenten
hindurch und begrüßte Wichart, streckte ihm die Hand hin. Aber der
sagte:

»Ne, Füchsche, Hand gibt's net -- ich hab schon gearbeitet!« und
er hielt dem jungen Korpsbruder die besudelte Hand unter die Nase:
»Kannscht es rieche?«

»Ach, Wichart,« sagte Werner, »ich bin dir ja kolossal dankbar! Es ist
großartig interessant!«

»Nit wahr? Aber wart nur, jetzt sollst was zu sehe kriege, was mer auch
nit alle Tag vor die Auge bekommt. Ebe ist was Neues bracht worde: 'ne
Selbstmörderin, wo se gestern abend unne bei Frohnhause aus der Lahn
gezoge habe!«

Und er zog Werner ins Nebenzimmer. Dort standen zwei Anatomiediener,
der eine hatte eine Säge in der Hand, der andere hielt etwas fest --

»Warte Se eine Augenblick, Michel,« sagte Wichart und schob Wernern
ganz heran.

O Gott -- --!!

Ein junges Weib, ein schönes, wunderschönes Mädchen ... eine Leiche ...
schon bläulich angelaufen, ein wenig gedunsen vom Wasser -- aber ...

Das also war des Weibes Leiblichkeit!!

Oh, so ganz anders, als der Jüngling sie geträumt hatte ...

Das Weib und der Tod -- da lagen sie beide vor des Knaben Augen --
schleierlos -- allübermächtig ...

Tot ... und warum tot?

Eine Selbstmörderin --! Aus dem Wasser gezogen!

O Gott, o Gott!

Aus blühender Lebensfülle in die nasse, kalte Flut --

Wichart schien die Frage von Werners zuckendem Gesichte gelesen zu
haben. Er wies auf den Leib, der sich stark wölbte.

»Da steckt's drin!« sagte er. »Das hat sie ins Wasser gebracht. Ja,
Kerlche, so is das! Aber se könne ja die Finger nit davon lasse --! Der
Vater is en Schreiner mit zehn lebendige Kinner, un in seiner Wut, daß
se in de Schand komme is, hat er se uns verkauft.«

Wernern schüttelte das Grauen so unbezwinglich, daß er mit einem jähen
Laut die Luft durch die klappernden Zähne zog.

In dem Augenblick trat Scholz ein. »Na, Wichart, was habt ihr denn da
gut's?«

»Willst es Gehirn habe?« fragte Wichart und wandte sich zu einem
Instrumentenschrank.

Plötzlich sah Werner, wie Scholzens Augenlider sich weit aufrissen,
die Stirn sich hoch in Falten zog, der Unterkiefer wie haltlos
herunterklappte. Und beide Hände tasteten langsam, irr am grauen Kittel
herauf nach dem Kragen. So stierte er mit blicklosen Augen eine Sekunde
lang auf die Leiche ... und noch eine Sekunde ... dann machte er kurz
kehrt und war hinaus.

Himmel -- was war ihm?!

Einen raschen Blick voll zähneknirschend angstvollen Forschens ließ
Werner in das Totenantlitz gleiten -- ja -- sie war's -- sie war's --
Lenchen Trimpop.

Wichart hatte nichts bemerkt. Er kramte unter seinen Instrumenten und
holte eine große Schere heraus. Die gab er dem einen der harrenden
Anatomiediener und deutete auf das lang und naß herunterhängende
Blondhaar der Leiche. »Schneiden's ab! Du kannst dir den Kopf gleich
mitnehme, Scholz! Nanu? Wo ist denn der Scholz?«

Werner konnte nicht antworten. Er drückte Wichart die Hand und
stammelte, totenhaften Gesichts: »Adieu, Wichart, ich danke schön.«
Dann taumelte er hinaus.

»Is wohl aach kee Mediziner nit, der Herr?« meinte Michel, der
Anatomiediener, und setzte die Schere an.




                                  X.


Gott, Gott! --

Ein Mensch war in Verzweiflung getrieben!

Ein junges, blütenjunges Leben hatte flüchten müssen aus der Welt, in
der es Eltern gab, Geschwister, einen Mann, dem es in Liebe angehört
... in der es Mutterhoffnung gab ... aber keine Heimat ... keine
Rettungshand ... nicht Luft noch Licht zum Leben ...

Was würde sich nun ereignen?

Eine Katastrophe, ein Weltuntergang ...

Aber draußen flimmerte die Sonne heiß und heiter auf dem
Straßenpflaster, übergoldete die Stadt und den friedlichen Fluß, in
dem ... das würde man nie vergessen können ... und nie diesen Anblick,
nie diesen fahlleuchtenden, mütterlichen Mädchenleib mit nassen
Blondsträhnen und den grünlichen Flecken ... nie ... nie ...

Heim! heim! ins Dunkel, in die Einsamkeit ...

Er fand in Dumpfheit seine Straße, seine Stiege, sein Sofa ... wühlte
sich in eine Decke, fror und schluchzte und sann.

Da stürzte Rosalie heulend herein: »Herr Achebach, Herr Achebach! Ach,
das Malheur, das Malheur!«

»Fräulein Rosalie?«

»Meine Freundin, es Lenchen Trimpop, is in de Lahn gange!« sie fiel in
einen Stuhl, sie heulte, sie ächzte, stoßweise schrie sie es heraus.

»Un ich weiß auch, weshalb! E Kind hat se, un ich weiß auch von wem!
Vom Scholz hat se's gehabt, von eurem Scholz --!!«

                   *       *       *       *       *

Ja, nun würde die Rache kommen. Die da, dies Mädchen, das gestern der
Überrumpelung des Sieggewohnten fast erlegen war ... die wußte nun,
wer er war ... die würde nun durch alle Straßen von Marburg heulen:
der erste Chargierte der Cimbern ist schuld, daß das Lenchen Trimpop
ins Wasser gegangen ist! Und dann würden die Steine Echo schreien,
die Leute sich auf den Verführer, den Mörder stürzen wie auf eine
gefährliche Bestie und die Rache der Menschheit an ihm vollziehen ...

Nicht, daß er wieder ein »Balg« in die Welt gesetzt -- nicht das war
das Ungeheuerliche ... sondern daß er hatte die in Verzweiflung sterben
lassen, die ihm ihr Alles gegeben ... das war's, das würde Rosalie als
Anklägerin in alle Lüfte heulen, und die Steine würden Echo schreien ...

Mit schlotternden Knien suchte Werner um die Mittagsstunde den Kreis
der Korpsbrüder auf, die er im Quentinschen Lokal beim Frühschoppen
wußte. Er glaubte nicht anders, als daß er alles in wilder Verstörung
antreffen würde. Aber sehr behaglich kneipend saßen die Füchse im
Garten über der hohen Terrassenmauer. Die Korpsburschen, hieß es, seien
auf der Kneipe im C. C.

Ah! also dort vollzog sich das Strafgericht!

Aber nein.

Bald kamen die Korpsburschen: sofort sah Werner an ihren Gesichtern,
daß nichts von besonderer Bedeutung vorgefallen.

Und bald wurde den Füchsen aus dem C. C. mitgeteilt: »C. B. Scholz,
gewesener Dritter Erster, Erster, Erster, Erster +ad interim+
tritt von seiner Charge ins Korps zurück und derselbe mit Farben
inaktiv. Unter demselben Datum definitive Chargenwahl: Papendieck,
gewesener Fuchsmajor, Erster, Krusius, gewesener Dritter, Zweiter,
Dettmer Dritter. Unterm selben Datum: i. a. C. B. Scholz, gewesener
Dritter, Erster, Erster, Erster in Berlin.«

Also das war das Ende? Das war alles?!

Ja, da mußte doch etwas nachkommen! So konnte das doch nicht ausgehen?!

Rosalie würde reden! Ja, die wußte ja nicht bloß, wie Werner, aus
Anzeichen -- -- die wußte aus dem Munde der Toten, was geschehen war!

                   *       *       *       *       *

Rosalie schwieg. Ein paar Tage lang hatte sie verweinte Augen ... lief
ein paar Tage im Hause herum, ohne wie sonst zu trällern und zu pfeifen
-- dann pfiff und trällerte sie wieder. Und hatte geschwiegen.

Und nichts geschah ... nichts.

Ein paar Tage sprach man in Marburg davon, daß eine Tischlerstochter
sich ertränkt habe; sie solle ein Verhältnis mit einem Studenten gehabt
haben, das nicht ohne Folgen geblieben sei: dann war Lenchen Trimpop
vergessen. Als wäre eine Mücke ertrunken.

Und niemand klagte ihren Mörder an. Niemand kannte ihn. Niemand.

Doch, einer: er -- Werner! --

Er würde die Stimme erheben müssen, er würde zeugen müssen gegen den
weiland Senior Cimbrias, den gefürchteten S.-C.-Fechter, gegen seinen
Leibburschen!

Was konnte alles daraus werden --?!

Eine furchtbare Katastrophe im Korps!

Vielleicht würde später Scholz ihn fordern ... gar auf schwere Waffen
-- auf Säbel ... auf Pistolen!

Was konnte daraus werden?!

Und mit Schaudern malte Werner sich alle möglichen ungeheuerlichen
Folgen seiner Enthüllung aus.

Vielleicht würde sich Scholz, wenn das Korps ihn exkludierte, das Leben
nehmen ...

Aber das wäre dann eben die Nemesis, die Rächerfaust der Erinnyen:

    »Wir heften uns an seine Sohlen,
    Das furchtbare Geschlecht der Nacht!
    -- -- Geflügelt sind wir da, die Schlingen
    Ihm werfend um den flüchtgen Fuß,
    Daß er zu Boden fallen muß!«

O ja, er kannte seinen Schiller! Er wußte, daß es eine ewige, rächende
Gerechtigkeit gab ... und wie durch jener Kraniche Mund der Mord des
frommen Sängers an die Sonne kam; er, Werner, war das Werkzeug der
Vorsehung, des Weltenrichters, den tödlichen Frevel an dem armen
Schreinerskinde zu rächen!

Mochte kommen, was da wolle! --

Und er ging zu Papendieck, seinem verflossenen Fuchsmajor, dem
neugebackenen Ersten Cimbrias.

Der lange Senior saß mit der Pfeife vor einem medizinischen Buche und
»strebte« fürs Physikum. Er war etwas ungnädig über die Störung. Er war
meistens ungnädig, seit er Erster geworden war.

Aber bald wurde er aufmerksam. In seinem Gesichte zuckte es ganz
wunderlich, als Werner stammelnd, glühend seine Anklage vorbrachte.

»Na -- büst fertig?« sagte er, als Werner schwieg und in zuckender
Spannung den Gestrengen ansah.

»Ich bin fertig.«

»Na, nu will ick dir mal wat sagen, lütt Jung. Du hast 'n Vagel. Äwer
'n utgewassenen. Nu gah nah Hus, lütt Jung, un leg di up't Ohr.«

Werner sprang auf. »Habe die Güte, mir das zu erklären!« Seine Augen
funkelten so bedrohlich, daß Papendieck sich zu einer Erläuterung
verstand.

»Zuerst, min Sähn, mußt du dir klar machen, daß allens, wat du wissen
willst, man Hirnges -- pinste sind, Hirnges--pinste -- versteihst du
mir? Sonst nix! Scholz hat große Augen gemacht, wie er die Leiche von
dem unglücklichen Mädchen gesehn hat, und denn is er weggegangen. Das
is allens! -- Aberst nu will ich mal annehmen, es verhielt sich allens
wirklich so, wie du dir das zusammenklaviert hast, was wäre denn nu
denn dorbi? Wat? Sollen wir vielleicht unsen Senior von drei Semestern
mit Schimpf und Schann rutsmiten, weil so'n doemliches Ding sich ihm
von Rechts wegen an'n Hals hätt smeten? Wat? Scholzen, den s--trammsten
Korpss--tudenten in Marburg?! Nee, nee, min Sähn, da büst du hellschen
schiew gewickelt! Un nu gah, min Sähn, un wenn ick dir nen gauden Roat
soll gewen: denn swig din Mul! vers--tehst du mich?! sonsten kann
dich das noch hellschen slecht bekommen! Der Scholz, weißt du, der
vers--teht keinen S--paß!«

Werner war draußen. Alles wirbelte um ihn her.

    »Ich durchbohr den Hut und schwöre:
    Halten will ich stets auf Ehre,
    Stets ein braver Bursche sein.«

Nicht wahr? So hatten sie doch gesungen auf dem S.-C.-Antritts-Kommers
beim Landesvater? Das war doch der feierliche Burschenschwur, den sie
damals alle miteinander getan?!

Ja, was war denn Ehre, wenn ~der~ nicht ehrlos war?!

Aber, Werner Achenbach, schlag an deine eigene Brust! Hat nicht vor
wenig Tagen dieser selbe Scholz, den du verdammst, dich davor bewahrt,
zu tun, was jenes Mädchen in den Tod getrieben hat?!

Doch nein ... nicht jene trunkenen Stunden, in denen die Tote das Leben
in ihren Schoß empfangen hatte -- nicht die waren's, um die Werner den
Verführer verdammte.

Jene späteren, kalten, rohen, die gekommen sein mußten, in denen Scholz
der Genossin glücklicher Nächte seinen Beistand versagt hatte, versagt
haben mußte ... hatte nicht Scholz ihm selber gestanden, daß ein Mädel,
das etwas »gefangen« habe, sich hilfeflehend an ihn gewandt habe ...
er solle sie heiraten, sonst müsse sie ins Wasser gehen? Er hatte
keine Hilfe für sie gefunden ... hatte sie verzweifeln und sterben
lassen ... das war's ... das war für Werners Empfinden die eigentliche
Ehrlosigkeit, das endgültige Verbrechen, der unsühnbare Mord.

Waren sie denn alle so, die Blau-rot-weißen, wie dieser Papendieck?

Eine andere Stimme wollte Werner hören ... alle die Jünglinge um ihn
herum standen mitten drin in diesem Treiben ... waren noch beeinflußt
von Scholzens Persönlichkeit, die anderthalb Jahre lang das Korps in
fester Zucht gehalten hatte. Eine menschlichere Stimme klang in Werners
Ohren nach, die Stimme eines jungen Mannes, der schon an der Schwelle
des wirklichen Lebens stand -- Wicharts.

Er suchte ihn auf, erzählte ihm den Sachverhalt.

»Ja,« sagte der, »das sieht em ähnlich, dem Scholz. Er kann's nu mal
nit lasse. Was willst mache? Laß doch die Mädche ihre siebe Sache
beisamme behalte!«

»Wichart! und das könntest du ... das brächtest du fertig, den Menschen
noch länger als Korpsbruder zu behandeln? So einen Ehrlosen?!«

»Ehrlose? Na, Fichsche, die hohe Töne, die wolle mer lieber unnerwegs
lasse un wolle der Sach mal ruhig auf de Grund gehe. Sieh mal, wann
e Mädche sich emal tut hernehme lasse, hernach muß se's doch von
vornherein wisse, was das absetze kann, möglicherweis. Sieh mal, in
Deutschland werde jedes Jahr hunnertunachtzigtausend uneheliche Kinner
gebore. Ob da nu eins mehr oder eins weniger komme wär -- darum wär die
Welt nit unnergange. Oder meinst? Na, un wenn nu das dumme Mädche ihr
Kindche ruhig hätt zur Welt gebracht -- der Scholz hätte zahle misse,
un es wär sicher e strammes Biebche geworde. Warum is se in de Lahn
gange? Wenn alle Mädche, die Kinner kriege, in de Lahn wollte gehn
-- so viel Platz is ja gar nit in der Lahn. Also: der Scholz hat nit
mehr und nit weniger getan, als wir alle tun. Und wenn das Mädche dran
zugrunde is gange -- Pech genug für de arme Scholz, der wird's auch nit
so bald vergesse, wie se da is gelege auf ein Prosektortisch. Ja!«

»Wichart -- und das alles ist ... wirklich ... deine Ansicht?«

»Na, aber allemal! Oder hätt er se am End gar heirate solle? die
Schreinerstochter? Da hätt er ja als Student schon e kleine Harem
beisamme.«

»Wichart -- in mir dreht sich überhaupt alles --«

»Oder am End gar stehst auf dem Standpunkt vom Keuschheitsprinzip? Die
Burscheschafte, da gibt's so was, bei einige wenigstens. Keuschheit
bis zum Ehebett! Je, dann hättst zu de Armine gehe müsse -- hättst nit
Korpsstudent dirfe werde.«

Werner richtete sich hoch auf. »Lieber Wichart -- ich will dir ganz
offen etwas sagen. Ich bin jetzt acht Wochen in Marburg. Acht Wochen
aktiv. Aber was in den acht Wochen aus mir geworden ist ... wenn ich
das vorher gewußt hätte -- ob ich Armine geworden wäre, das weiß ich
nicht -- aber Cimber -- Korpsstudent -- bei Gott nicht!«

Wichart schwieg einige Zeit, zündete sich eine frische Zigarre an, sann
erst vor sich hin, lächelte dann still in sich hinein, richtete sich
auf und sprach:

»Hernach, lieber Achebach, muß ich dir emal e Rede rede. Sieh mal,
ich hab e bißche mehr von der Welt gesehn, wie du. Ich begreif das
alles ganz gut. Bis vor acht Woche bist mollig un weich im Elternhaus
gesesse, un von der Welt is nix an dich ran komme. Und die Magister,
die habe dir nix gesagt, un so bist e ganz kleins dummes Gänsche
gebliebe mit deine achtzehn Jahr un mit deine lange Knoche. Un nu
auf einmal kopfüber, kopfunter mitte nein in die Welt! Un, ach du
liebe Güte, wie is die so anners, als du dir's träumt hast! Un nu
willst verzweifeln un denkst, das is das Korps, wo all die Mensche so
schlecht macht. Ich aber sag dir: sieh dich mal erst um im Lebe! Dann
wirst finde: die Korpsstudente, die alte wie die junge, sind gewiß
keine weißgewaschene Engelche ... aber ~die Beste im Land~ sinn
doch mit dabei! Ich will ja nit sage, daß es auf anner Weis nit geht,
e richtiger Kerl zu werde, wie das Lebe sie braucht, ich weiß auch:
manches bei uns is faul, könnt anners werde ... aber weißt -- worauf's
ankommt im Lebe -- das habe die alte Korpsstudente im Korps alle
gründlich gelernt. Denn im Lebe, weißt, da schaut's anners aus als auf
der Prima! da heißt's: durchkomme! sich wehre mit Zähn un Klaue! un das
lernst im Korps, verlaß dich drauf! un wenn dabei die Fetze vom Herze
nur so runnerfliege wie die Schwartelappe drauße in Ockershause ...
laß fliege, laß fliege! das wachst wieder nach ... von selber wachst's
wieder nach!!«

»Aha -- also sieht's aus! sorgen, daß man durchkommt!! und all das
Gerede von Ehre, Ehre, Ehre, das ist also nur Schein! nur Dekoration!
Komödie! Schwindel!!«

»Komödie?! Schwindel?! Du, da wolle wir uns mal in zehn Jahre wieder
drüber spreche! Lieber Achebach, es is noch e bißchen zu frieh für
dich, so abzuurteilen über die Welt, wo du erst seit acht Woche aus
deiner Kinnerstub nein bist sprungen. Denkst du, mir habe hier all nur
darauf gewartet, daß du kommst, für um uns nu fix fix umzukrempeln nach
deine achtzehnjährige Gedanke? Nee, Männche ... lern du erst emal, dich
in die Welt schicke! Verbessern kannst se immer noch, hernach, wenn mal
bist wer geworde! Lern heule zuerst mit de Wölf, sonst fresse se dich!«

»Wichart ... nur das eine sag mir ... ich will ja ... ich will
ja mir Mühe geben zu lernen. Was ist sie denn, diese sogenannte
korpsstudentische Ehre, die wir hochhalten sollen? Das wird uns ja
gepredigt in jedem R. C. -- wie soll ich sie hochhalten können, wenn
ich nicht weiß, was sie ist?«

»Ja, lieber Junge, die Ehre! die korpsstudentische Ehre! wenn mer
das so könnt mit Worte sage! ... Sieh mal, ich glaub, die Ehre,
da is es grad mit wie ... wie mit der Mensur. Schau, is das nit
eigentlich e Bleedsinn, die ganze Fechterei?! Zwei junge Kerl, die
sich im Lebe nimmer nix zuleid getan habe, die werde von dene
zweite Chargierte widerenanner gestellt un misse sich nu die Nase
un die Keps entzweischlage. Bleedsinn is es! aber ... ~mer wird
e Kerl dabei~!! Haar kriegt mer auf die Zähne ... un das is es
doch, worauf es ankommt im Leben! Un so, mein ich, so is es auch mit
der korpsstudentischen Ehre. Eigentlich auch Bleedsinn. Wär's nit
Bleedsinn, wenn mer sich einbildt, mer wäre was Besonners, wann mer
so e blau-rot-weißes Fetzche über der Weste kann trage? Aber trag's
mal so vier Semester lang, mach mal de Bleedsinn e paar Jahr lang mit!
sollst sehe, was das fir e Muck gibt in de Knoche! -- -- Ich weiß ja,
das alles is nur die Schal von der Nuß, un unner der glatte, harte
korpsstudentische Schal, da is auch manch taube Nuß un manch faule
auch. Aber der Kern, weißt, wenn der gesund is, hernach sollst sehn,
wie gut's dem tut, wann die Schale so fest is un so glatt! -- -- Weißt,
lieber Freund, es Lebe is nit so einfach, wie du's dir gedacht hast auf
em Gymnasium; es is e verdammt schwierige Einrichtung un e komplizierte
dazu! Un in manchem Bleedsinn steckt mehr Vernunft un mehr Gesundheit
als in de Kepf von zwei Dutzend Professore!! Na, nu geh un denk e
bißche nach über mei lange Red ... ich muß in d' Klinik!«

                   *       *       *       *       *

Werner schlenderte durch die breiten, uncharakteristischen Straßen der
neuentstehenden Südstadt und sann über Wicharts Worte. Er fühlte die
gute Meinung, die Aufrichtigkeit in den Darlegungen des Reiferen, aber
das alles schloß sich nicht zu einem Ganzen zusammen ... das wollte
nicht verschmelzen mit dem Ideenkomplex, mit dem Moralkodex, mit dem
Schule und Elternhaus ihn ausgerüstet. Es sprach nicht zu seinem Herzen
... sie wärmte nicht, diese Weisheit, sie rief nicht zu Taten der
Begeisterung ... Gab es denn keine Stelle, wo der Herzschlag seiner
Sehnsucht Echo fand? War er denn wirklich allein, ganz einsam inmitten
der Stadt der Jugend, wo auf zehn Einwohner ein Student kam? Tausend
Altersgenossen ... tausend Kommilitonen ... und kein Herz ... kein
Freund?

Und da stand das Angesicht des einen vor seiner Seele, von dem er
wußte, daß er zum mindesten ein Gefühl mit ihm teilte ... aber das
höchste, das wundertätigste ... Klauser ... der arme, dimittierte
Klauser ...

Ob er den überhaupt besuchen durfte? Ob er sich nicht straffällig
machte dadurch? Er konnte ja fragen ... aber nein ... vielleicht gab's
dann ein Verbot ... und das würde er dann übertreten müssen. Denn eine
Sehnsucht, ein Heimweh nach einem Herzen, das er zum wenigsten erfühlen
könnte, zog ihn unwiderstehlich zu dem Jüngling, zu dem er ein Mädchen
hatte sprechen hören, wie zu ihm selber in seinen Träumen Elfriede
sprach. Er wollte mindestens versuchen, ob da auf die Fragen eines
bangenden Menschenherzens eine Antwort zu hören sei -- -- nicht eine
korpsstudentische, sondern eine menschliche Antwort.

Klauser saß lesend auf seinem Sofa, als Werner eintrat. Er sprang auf,
seine Augen leuchteten in dankbarer Freude -- als er den Besucher sah.

»Gott sei Dank, endlich bekümmert sich mal einer um mich. Willkommen,
Achenbach!«

Mit Rührung sah Werner in das dick verquollene, blasse Gesicht unter
dem turbanartig den Kopf einhüllenden Wickelverbande. Himmel, sah der
Arme verändert aus! Es war die Scham über sein Mensurunglück, die
schimpfliche Strafe, die Einsamkeit von vier Tagen, angefesselt in all
der jungen Sommerpracht an ein dumpfes Studentenbudchen, das man nicht
verlassen durfte, ohne daß die Spießer mit Fingern auf einen zeigten ...

Vor ihm auf dem Tische stand eine Kabinettphotographie im Rahmen ...
die nahm Klauser hastig und errötend weg und wollte sie verbergen.

»Laß,« sagte Werner und legte seine Hand leicht auf den Arm des
Korpsbruders -- »laß nur -- ich weiß Bescheid. Das ist Marie. Deine
Braut. Ich gratuliere dir tausendmal.«

»Achenbach?«

»Ich ... hab' euch im Museumsgarten zusammen gesehen ... neulich auf
der Reunion. Ich habe ein paar Worte aufgeschnappt ... aber du mußt
nicht denken, daß ich gehorcht hätte!«

»Das denk' ich auch nicht von dir, Achenbach. Nun, wenn du's weißt,
dann ... ich danke dir. Du bist ... der erste, der ... ich danke dir.«

Die Jünglinge schüttelten sich die Hände. Beider Augen schimmerten,
ihre Lider schlossen und öffneten sich rasch ein paarmal.

»Setz' dich! Was trinkst du? Einen Schnaps -- Bier?«

»Was du hast.«

»Ich brauche nur zu klingeln.«

»Na, dann natürlich ein Bierchen.«

Eine alte Wirtin erschien, nahm den Befehl entgegen und verschwand.

»Zigarre oder Zigarette?«

»Erst das letztere, dann das erstere.«

»Recht so!« Die Dunstwölkchen kräuselten um Mariens Bild, das in seiner
schlanken Herbheit zwischen den Jünglingen stand.

»Und wie geht's dir, Klauser?«

»Na, wie's einem geht, wenn -- na, du weißt ja.«

»Verzeih, aber mir kommt das alles entsetzlich wunderlich vor. Was hast
du denn eigentlich verbrochen, daß man dich so einfach ...«

»Ja, was hab' ich verbrochen? Meine Mensur hat eben dem C. C. nicht
genügt. Und dann fliegt man raus. Das ist nun mal so.«

»Ja, ich begreife das alles wirklich nicht.«

»Warum hast du's dir nicht von deinem Leibburschen erklären lassen? Der
ist doch dafür da.«

»Mein Leibbursch ist Scholz --«

»Ach so -- dann freilich --! Na, dann will ich dir helfen. Also sieh
mal, bei uns Korpsstudenten ist die Mensur nicht ein einfacher Sport,
ein Waffenspiel, sondern ein ... Erziehungsmittel. Es soll nämlich der
Korpsstudent auf der Mensur beweisen, daß ihm körperlicher Schmerz,
Entstellung, selbst schwere Wunden und Tod ... daß ihm das alles
gleichgültig ist. Verstehst du? Und dazu erzieht die Mensur.«

»Das begreif' ich sehr wohl und find' es auch sehr schön. Aber ... hast
du dich denn so benommen, als wenn du ... ja, du mußt mir nicht böse
sein, ich frage ja nur -- als wenn du Angst hättest?«

»Angst?! Ich und Angst? Haha!«

»Ja -- warum hat man dich denn dann --«

»Ja, warum? Sieh mal, wenn du länger im Korps bist, dann wirst du das
alles besser begreifen lernen. Im Korps sind seit einigen Jahren die
-- Anforderungen an die Mensur ... ein bißchen überspannt worden. Man
... verlangt da Dinge, die ... die eben nicht jeder leisten kann. Und
mancher kann sie heute leisten und morgen wieder nicht. Es kommt da
viel auf die Stimmung an ... auf den Gesundheitszustand ... auf die
Verfassung, in der die Nerven sind ...«

»Ja, mein Himmel -- dann bist du also dafür bestraft worden, daß du ...
dich am Abend vorher verlobt hast --?!«

»Ja -- wenn man's deutsch nennt -- dann stimmt's.« -- -- --

»Das ist Wahnsinn. Wahnsinn ist das.«

»Ja, sieh mal ... du darfst eben nie vergessen ... das sind Menschen,
die uns beurteilen ... junge Dächse, wie du und ich auch ... die sind
natürlich nicht unfehlbar. Der C. C. ist der Ansicht gewesen, daß meine
Mensur schlecht war, und dann ist sie eben schlecht. Das ist gerade
wie vor Gericht. Da wird auch manchmal ein Unschuldiger verknackt. Das
nennt man dann persönliches Pech.«

»Persönliches Pech?! Ich meine, das ist eine furchtbare Härte, eine
schauderhafte Unvollkommenheit des Korps --! Ach -- Klauser ...
überhaupt das Korps!! --«

»Achenbach --?!«

»Ach, Klauser -- ich bin ja einfach fast am Verzweifeln!! -- Na und du?
Dir muß es doch ähnlich gehen! Du fühlst doch wahrhaftig die Segnungen
dieser famosen Institution am eigenen Fleisch und Blut ... in diesem
Augenblick!«

»Am eigenen Fleisch und Blut! Ja, das tu ich.«

Ernst, mit bitter zusammengezogenem Munde, lehnte sich Klauser einen
Augenblick in seinem Stuhle zurück. Er ließ schwere Rauchwolken zur
Decke steigen und starrte ihnen nach.

»Ja ... wenn man's noch einmal zu tun hätte --!«

Aber dann schüttelte er plötzlich energisch den Kopf.

Er setzte sich aufrecht, legte seine Hand auf die des Freundes und
sagte:

»Kind, sieh mich an. Wie ich hier sitze, hat mich das Korps auf meine
fünfzehnte Mensur herausgeklebt, mir meine Charge genommen, und ich
weiß noch nicht, komme ich Samstag in acht Tagen wieder hinein in den
Bund, oder fliege ich perpetuell raus. Also, kannst mir glauben, zum
Schönfärben und Vertuschen ist mir grad' nicht zumut. Ja, vieles ist
bei uns nicht schön. Vieles könnte anders sein -- milder, menschlicher,
weniger nach Schema F. Aber ... wenn ich noch mal krasser Fuchs wär ...
ich würde doch wieder Korpsstudent!!«

»Doch wieder? Trotz alledem?«

»Ja -- trotz alledem! Ich weiß nicht, mein Gefühl sagt mir: das muß
alles so sein. Das ist alles so eingerichtet, damit wir brauchbar
werden für das, was später kommt ... Damit wir lernen, die Zähne
zusammenbeißen -- -- damit wir Männer werden! -- Und du -- -- halt nur
zwei Semester aus ... dann sprichst du geradeso!! --«

Eben kam die Alte mit dem Bier. Sie schenkte ein, schlich hinaus.

»Prost, Achenbach!«

»Prost, Klauser!«

»Was soll's gelten? -- Ich weiß: auf ein ewiges +Vivat, crescat,
floreat+ unserer lieben Cimbria! Auf daß sie grüne und gedeihe in
alter Herrlichkeit! Auf daß sie Freude erlebe an uns, ihren getreuen
Söhnen! Rest!!«

Leuchtenden Auges tranken sie aus und schauten einen Augenblick ins
leere Glas. Dann füllte Klauser stumm aufs neue die Gläser.

»Und nun,« sagte Werner, »nun will ich auch eins ausbringen. Aber dabei
müssen wir aufstehen! -- Auf ... ~die da~! Klauser! Auf die da ...
und auf ... auf eure Liebe, Klauser! Auf daß sie euer Leben reich mache
... reich ... und schön ... schön ... Marie soll leben! Deine Marie!«

»Marie! -- -- Marie!«

Die Gläser stießen aneinander, Auge ruhte in Auge, feierlich tranken
sie aus.

Und wie ein Goldglanz wob es durch die Stube. Heller, leuchtender noch
als das Bild auf dem Tische schwebte vor den Herzen der Jünglinge
strahlend ein Mädchenantlitz vorüber und grüßte die Zecher ...

»Na und nun?« Klauser schenkte zum dritten Male ein. »Wie heißt der
dritte Spruch?

    Es lebe die Liebste ~deine~,
    Herzbruder, im Vaterland!

denn -- -- du hast auch eine, Achenbach, oder ich will ein schlechter
Kerl sein.«

»Ja, Klauser ... ich habe eine -- im Vaterland ... daheim!«

»Die heißt?!«

»Elfriede --«

»Also -- Elfriede soll leben!«

»Elfriede!«

Still war's im Zimmer. Zwei junge Herzen schlugen dem Glück entgegen.
Dem fernen, dem unerreichbar fernen Glück ...

»Ach, Klauser,« rief Werner, »es ist ja alles Unsinn -- sich zu grämen
über die Welt -- --«

»Ist auch Unsinn! Haha! Die Welt! Ist ja viel Dummes und Blödes und
Scheußliches drin ... aber auch das andre ... das ist auch da!«

»Ja, das Gute, das Heilige ... das Schöne.«

»Da wollen wir uns dran halten, wenn uns bange wird ...«

Und die glücklichen Knaben erzählten einander. Jeder von seiner Liebe
... sie konnten kein Ende finden.

Und lächelnd, rätselvoll lächelnd stand Mariens Bild zwischen ihnen.
Das Bild eines Weibes ... eines reifen Weibes ...

Plötzlich zog Klauser die Uhr und rief: »Menschenskind ... es ist ja
die höchste Zeit, daß du auf die Kneipe gehst! Zu spät kommen zu
spezieller Kneipe kost' zwei Em! Raus! raus!«

»Ich danke dir, Klauser ... es war schön.«

»Ja, es war schön, und du hast mir verdammt gut getan in meiner
Einsamkeit ... mir ist so wohl, so ... und Samstag in acht Tagen ...
ich hab' so'n Gefühl ... es wird gut gehn mit mir ... ich komm schon
wieder hinein in den Bund ... läßt du dich mal wieder sehn inzwischen?«

»Wenn ich darf?«

»Du darfst! Brauchst nur um Dispens zu bitten!«

»Mach ich! Also ... auf Wiedersehn!«

»Auf Wiedersehn, lieber Achenbach! Und nochmals tausend Dank!«

Und als die Jünglinge sich zum Abschied in die Augen sahen, da
löste sich für einen Augenblick die glatte Rinde korpsstudentischer
Gemessenheit um ihre jungjungen Herzen. Sie lagen sich plötzlich in den
Armen.

Halb beschämt über diese Selbstvergessenheit, halb glückselig in einem
nie erlebten Gefühl des Einklangs, trennten sie sich mit einem derben
Lachen. Und doch war ihnen beiden so warm und stark im Herzen.

Sie waren noch etwas Besseres als Korpsbrüder geworden in dieser Stunde.

Sie waren Brüder geworden.




                                 XI.


Seit Werner mit Klauser und Mariens Bilde ein fein Kollegium gehalten,
war ihm heller zu Sinn.

Allmählich verblaßte in seiner Erinnerung das Grauengesicht des
ertrunkenen Lenchens. Das zurückgekrampfte Totenhaupt mit den
halbgeschlossenen, geschwollenen Augenlidern verschwebte im
Dämmerlichte der Erinnerung, und dafür hob sich Mariens lebenswarmes
Gesicht, von innen mit strahlender Glut erhellt. Er liebte das Mädchen
nun mit der ritterlichen Schwärmerei eines dienstgetreuen Bruders.
Wenn er ihr auf der Straße begegnete, grüßte er ehrerbietig, obgleich
er ihr noch nie vorgestellt war. Das erstemal dankte sie erstaunt und
kühl, bei der zweiten Begegnung hatte Werner die stolze Freude, von
ihr, der Fremden, ein vertrauliches, kameradschaftliches Nicken zu
ernten. Das sagte deutlich: er hat mir von dir erzählt! Er! Und da
wußte Werner auf einmal auch noch etwas anderes von Marien: daß sie
Mut habe ... daß sie, die »Hessen-Nassauer-Dame«, deren Vater, der
Universitätsprofessor Geheimrat Hollerbaum, wie auch ihre drei Brüder,
Alte Herren des rivalisierenden Korps waren, den armen verbannten
Cimbern die Strafe nicht hatte entgelten lassen, die sein junges Glück
ihm eingetragen ... daß sie ihn gesehen, getröstet hatte ... einerlei
wo und wann ... Oh, wie er sie liebte dafür! Ach, es hatten doch nicht
alle Jugendträume gelogen! So ganz anders war sie doch nicht, die Welt!
Wohl gab es manches darinnen, wovon seine Lehrer, seine Dichter ihm
nichts verraten hatten; aber auch das andere, das Schöne, das Heilige
war da, es wandelte wie auf leuchtenden Wolken mitten durch Blut und
Tränen, durch Schmutz und Alltäglichkeit ...

Und auch im Korps fand Werner sich nun besser zurecht. Er begann sich
einzufügen, einzuordnen in die Jahrzehnte alte Organisation, die
sicherlich nicht auf ihn gewartet hatte, um sich alsbald nach seinen
Ideen zu wandeln ... die am starren Zaun der Tradition entlang ihren
eisenklirrenden Weg schritt.

Eifriger als je war er auf dem Fechtboden. Zum Leibburschen hatte er an
Scholzens Stelle den neuen Zweitchargierten, Krusius, gewählt. Einen
Augenblick hatte er daran gedacht, zu warten, bis Klauser sich aus der
Dimission gepaukt haben würde, und diesen dann zum Leibburschen zu
wählen. Aber nein, ein solches offizielles Verhältnis dünkte ihm unwert
des Bundes, den ihre Herzen geschlossen hatten ... und der stramme
Fechtchargierte schien ihm der rechte Erzieher, nun er sich ernstlich
entschlossen hatte, seine ohnmächtige Kritik an den Zuständen des Korps
aufzugeben und zunächst einmal sein ganzes Wesen in die harte Form
pressen zu lassen, die sich ihm darbot und ihm zum mindesten einen Halt
versprach.

Und noch eine andere Quelle der Unruhe und Qual schien versiegt in dem
ungeheuren Riß, den jene erste Berührung mit dem Ursprung und Ende des
Seins durch seine Seele gezogen hatte. Sein wildes Begehren nach dem
Weibe war einem tiefen Entsetzen gewichen. Des Weibes nackte Schönheit,
die ihn so gequält: er hatte sie zum ersten Male geschaut im Stande der
Auflösung -- der Vergänglichkeit -- der Vernichtung, und die Schauer
dieser Erinnerung hatten die Sehnsucht in ein fröstelndes Grauen
verwandelt. Und aus diesem Grauen rang sich nach und nach eine Ruhe los
... eine tiefe, entsagende Ruhe.

Rosalie!

Wie ein schönes Bild nur sah er die jüngst so wild Begehrte noch an.
Und sie schien zu empfinden, daß die Flammen erloschen waren, die sie
so hoffnungsgierig geschürt hatte. Sie blieb Wernern fern, und wenn
sich ja einmal ein Zusammentreffen fügte, so verkehrten sie ruhig und
heiter zusammen, wie ein paar gute Kameraden. Vollends Babett war ihm
zu einem geschlechtslosen Wesen geworden, zu einem guten, dienstbaren
Geistlein, das um ihn schwebte wie ein körperloser Hauch.

Und mit ausgebreiteten Armen warf sich Werner hinein in den lustigen
Strudel des Korpslebens. Nun focht's ihn nicht mehr an, wenn er
des Morgens auf dem Fechtboden einmal von einem Korpsburschen derb
gerüffelt wurde. Dann holte er selbst die Filzmaske, ließ sich mit
zusammengebissenen Zähnen den Schädel verdreschen und klopfte weidlich
wieder, so daß der Fechtchargierte Krusius mehr als einmal beifällig
äußerte:

»Wenn das mit dir so weiter geht, Leibfuchs, dann stell ich dich noch
als Krassen am Semesterschluß ein- oder zweimal raus.«

Das Kolleg hatte sich Werner nun gänzlich abgewöhnt. Dafür ging's vom
Fechtboden stracks zur Lahn zum Schwimmen. Dann lag er stundenlang im
Grönländer auf dem Wasser. Ach, das war schön! Von dichtem Gebüsch
umrandet, schlängelte sich der schmale Flußlauf durch die breite
Ebene; zur Rechten und Linken säumten die ernsten Bergschranken das
Talbett ein. Blau lag über dem friedvollen Tale das Himmelsdach ...
weiße Wolken segelten von Westen herauf über den Buchenwäldern zur
Linken, wanderten still über Fluß und Ebene und versanken hinter den
Tannen von Spiegelslust. Als Ziel der Ruderfahrt winkte das Dörfchen
Wehrda, friedlich in eine Bergmulde eingebettet, zwei Dutzend schlichte
Häuschen um einen ehrwürdigen Turmstumpf gedrängt; dort gab's saure
Milch und würzigen Handkäs. Und dann zurück ... gar zu gern ließ Werner
die Doppelschaufel des Ruders ein Weilchen ruhen und träumte in die
sommerliche Schönheitsstille hinaus, bis ein plötzlicher Ruck, ein
Schwanken des Bootes ihn gemahnte, daß er sich einem gar empfindlichen
Fahrzeug anvertraut.

Oder es ging vom Fechtboden aus gleich auf die Wanderschaft. Oft
allein, oft auch in Gesellschaft zweier oder dreier Korpsbrüder
marschierte er los: bald kannte er Weg und Steg der Umgegend. Und er
schloß diese wundersame, versonnene, geheimnisstille Landschaft in sein
Herz. Es war gar nicht auszudenken, was alles diese weiten Bergwälder,
was diese weltverlorenen Hochebenen mit ihren vereinzelten Eichenriesen
über jungem Buschdickicht der Seele sagten.

Zum Frühschoppen mußte man dann wieder im Quartier sein, und Werner saß
nun nicht mehr als steinerner Gast, nicht mehr als dumpfer, düsterer
Grübler inmitten der munteren Schar. Er sang die derbsten Katerlieder
lachenden Mundes mit, errötete nicht mehr über die massivste
Landsknechtszote, wenn er auch nie selber solche kolportierte. Das
Mensursimpeln langweilte ihn nicht mehr, und niemals mehr fiel's
ihm ein, ein Gespräch über Literatur und Kunst oder Politik und
Religion anfangen zu wollen. Kurz, er war auf dem besten Wege, ein
Korpsfuchs nach dem Herzen des Seniors Papendieck zu werden. Sein neuer
Leibbursch, der Zweite Krusius, war geradezu stolz auf ihn und erzog
ihn mit zärtlichster Vaterliebe.

Und im stählenden Betrieb des Fechtstudiums, in Luft und Sonne blühte
Werner auf. Der schmächtige Körper streckte sich in Länge und Breite,
die verräterischen Ringe unter den Augen, die Zeugen heimlicher Kämpfe
und Qualen, verschwanden. Die Ströme Biers, die Dammer, der nun zum
Fuchsmajor ernannt worden war, durch seiner bisherigen Mitfüchse
Verdauungsapparat allabendlich hindurchleitete, gaben Werners Gliedern
eine behagliche Rundung, seinem Gesicht eine frische Röte; dabei
bewahrten Ruder und Wanderstab und Rappier den jungen Körper vor
Stauung und Fülle.

Schöne Wochen waren gekommen. Hinter ihm lag die Zeit der Kritik.
Hinter ihm die Erinnerung an seine kunstgeweihte, lernfreudige
Gymnasiastenzeit. Nicht mehr war sein Wahlspruch das Homerwort, das
ihn allezeit auf dem ersten Platze der Klasse festgehalten bis zum
+primus omnium+ -- nicht mehr trachtete er »immer der Erste zu
sein und vorzustreben den andern« -- nein -- aufzugehn in der Menge,
nicht herauszufallen aus dem engen Rahmen, der straffen Norm, die
das Korps der Persönlichkeit vorzeichnete, sich anzupassen der neuen
Lebensform, in die er hineingeraten, das war nun das Trachten seiner
Tage.

Und Werner wurde heiter. Er wurde lustig, geräuschvoll, ausgelassen
im Kreise der Korpsbrüder. Mit Staunen sahen die, wie er, der früher
manchem unheimlich gewesen war in der grüblerischen Unruhe seines
haltlosen Wesens, auf einmal als überschäumend munterer Kumpan
sich entpuppte, plötzlich begann, gar in Tollheiten zu schwelgen.
Eines Abends kamen Werner Achenbach, mit ihm der jüngst gewählte
Dritte, Dettmer, die Jungburschen Böhnke und Dammer, der Fuchsmajor,
von der Kneipe herunter auf gemeinsamem Nachhausewege und lenkten
in die Wettergasse ein. Dort war das Pflaster aufgerissen: bei
der mangelhaften Beleuchtung stolperte Dettmer über einen Haufen
Pflastersteine und fluchte barbarisch.

In diesem Augenblick fiel Werners Auge auf die offenen Fenster eines
niedern Bürgerhauses: der Schneidermeister Ackermann wohnte da, ein
geriebener Bursche, der den Korpsstudenten pumpte, solange sie in
Marburg waren, und sie dadurch zu bösartigem Kleiderluxus verleitete
-- und kaum, daß sie den Rücken gewandt, an die Eltern schrieb und mit
den Gerichten drohte. Er war deshalb vor kurzem in den S.-C.-Verruf
geflogen.

»Herrschaften, ich hab' 'ne Idee!« rief Werner.

»Silentium für Achenbachs Idee!« kommandierte Dettmer.

»Also da oben hinter den offenen Fenstern ist Ackermanns beste Stube,
das weiß ich, man kann sie von meiner Bude aus sehen! Wie wär's, wenn
ich da hineinkletterte -- ihr reicht mir Pflastersteine an, und wir
verzieren ihm seine Renommierbude ein bißchen!«

Jubel! Im Augenblick war der Plan durchgedacht: Böhnke lehnte sich
an die Wand zwischen Ackermanns kleinen Schaufenstern, und mit
der Sicherheit und Kühnheit, welche der zwanzigste Schoppen dem
ausgepichten Korpsfuchsen verleiht, turnte Renonce Achenbach auf
Böhnkes Schultern. Von da aus konnte er bequem die Fensterbrüstung im
ersten Stock erreichen: ein kräftiges Ziehen: Böhnke, der als Oberjäger
der Reserve etwas vom Turnen verstand, schob mit den Händen unter
Werners Fußsohlen nach, und mit einigem Gepolter langte Werner in der
Stube an. Nun klopfte ihm doch das Herz: er lauschte einen Augenblick,
aber Familie Ackermann schlief den Schlaf des ungerechten Mammons. Nun
ließ Werner einen Stuhl zum Fenster hinaushängen: die andern Cimbern
packten Pflastersteine hinauf, ein kräftiges Heben, die Ladung war
oben. Und mit dem Behagen eines Künstlers arrangierte nun Werner die
Basaltklötze auf Salontisch, Vertikow, Sofa und Plüschsesseln, mitten
zwischen den geschmackvollen Nippsachen eines Schneidermeistersalons.
Noch eine zweite Ladung konnte untergebracht werden: dann turnte Werner
zurück, und voll Hochgefühls zog man fürbaß. Schlafen gehen mochte
keiner: der Tatendrang war einmal geweckt. Das sonst so beliebte
Laternenausdrehen reizte heute nicht sonderlich, denn der Vollmond
stand schmunzelnd über Stadt und Schloßberg und beschämte die
armseligen Funzeln der Gasflammen. Und Dettmers Vorschlag, den Mond
auszudrehen, mußte man nach längerer Beratung als unausführbar fallen
lassen.

Aber es mußte etwas geschehen. Und man kam auf folgende Idee -- diesmal
war Dammer das Ingenium gewesen:

Von der Barfüßerstraße führten viele kleine dunkle Gassen steil hinab
zur unteren Stadt. In eine solche wollte man aus Pflastersteinen
eine Barrikade bauen; dann sollte unten skandaliert werden, um einen
Wächter der Nacht herbeizulocken: dieser sollte, abwärts eilend, über
die Barrikade stolpern und schmählich zu Falle kommen. Damit aber der
Dienst der Pflicht für ihn nicht mit schwerer Körperverletzung endige,
sollte hinter der Barrikade ein hoher Sandhaufen aufgetürmt werden.

So ward's, nachdem mancher Schweißtropfen geflossen, und bald konnten
die Exzedenten den tiefen Fall eines Polypen bejubeln, dessen
schlaftrunkenes Haupt sich im Sande begrub.

Aber die Rache kam. Ein Brunnen plätscherte silbertönig in die stille
Nacht. Es war gar nicht einzusehen, warum die vier Strahlen Wassers
sich nun immer und immer in die vier darunter befindlichen Steinbecken
ergießen sollten. Mit Hilfe je zweier Bretter von einem nahen Neubau
und einiger Pflastersteine ließen sich leicht ein paar Rinnen
improvisieren, die das Wasser auf das Pflaster ablenkten. Das würde
bald eine hübsche Überschwemmung absetzen.

Schon plätscherte das Wasser lustig auf den Steinen, da griff plötzlich
eine kräftige Faust in die Gruppe der Bauenden: an dieser Faust blieb
der C. B. Dammer aus Dräsen zappelnd hängen.

»Na, Ihne hab ich!«

Wie der Wind waren Dettmer, Böhnke und Achenbach auseinandergeflogen.
Ihre Schritte verhallten in der Ferne der nächtlichen Straßen.

»So,« sagte der Wächter des Gesetzes, »wenn Se nun vernünftig sinn und
bringe die Geschicht da wieder in Ordnung, und schleppe da die Bretter
wieder an ihr Stell un die Pflasterstein, hernach will ich Ihne laafe
lasse, weil die Herre Cimbre immer so anständig sinn.«

Das letztere war ein Wink der Sehnsucht nach den üblichen Biermarken
der Sühne.

Aber Dammer fand es unter seiner Würde, die angerichtete Störung der
öffentlichen Ordnung +in integrum+ zu restituieren.

»Nu heern Se mal, mei Gutester,« sagte er, »wie kommen Se mir denn vor
-- eegentlich, heern Se? Bin ich denn hier der Wächter der effentlichen
Ordnung, oder sind's gar am Ende Sie, mei Gutester? Also sein Se so gut
und tun Sie, was Ihres Amtes ist.«

Das ging dem Beamten übern Spaß. Sein Biermarkentraum versank, und der
ehemalige preußische Unteroffizier tauchte aus dem Schlummer zweier
Jahrzehnte empor.

»Sie komme mit zur Wach!«

»Nu, da mißt ich doch närr'sch sein!«

»Sie zeige mir Ihre Studentekart!«

»Nu, da mißt ich doch närr'sch sein!«

»Na, alsdann kurze Prozeß!«

Und eine energische Faust packte den kleinen Dammer, und der, als
Jurist plötzlich eingedenk, daß es irgendeinen geheimnisvollen
Paragraphen über Widerstand gegen die Staatsgewalt geben mußte, ließ
sich schieben.

Inzwischen hatten seine drei Komplizen die Entwicklung der Dinge
vorsichtig beobachtet und machten Rettungspläne. Auch hier hatte
Werner eine Idee. Auf einem halsbrechenden Wege, durch berganklimmende
Seitengassen, überholten sie den Wächter des Gesetzes und sein Opfer.

Als der Nachtrat Dammern bis in die Nähe des Marktplatzes geschafft
hatte, standen da auf einmal zwei Cimbern über eine dunkle Masse
gebückt, die auf dem Straßenpflaster lag. Bei näherem Besehen war es
ein Mensch. Ein junger. Ein Student ohne Kopfbedeckung oder sonstige
Abzeichen.

Der eine der Zuschauer näherte sich dem Nachtwächter -- fragte
zunächst: »Was hat denn dieser unglückliche Jüngling da verbrochen,
daß er in Ketten und Banden in das Haus des Entsetzens geschleift wird?«

»Das geht Ihne gar nichts an, verstehn Se mich? Gehe Se Ihrer Wege!«

»Auf höfliche Frage eine grobe Antwort. Na, Geschmacksache! Herr
Nachtrat, da in der Straßenrinne liegt ein unglücklicher Mitmensch, den
offenbar der Schlag gerührt hat. Tot ist er aber nicht, wir haben schon
gehorcht.«

»Wird wohl besuffe sinn!«

»Das haben wir auch geglaubt, aber aus seinem Munde geht kein Hauch von
Alkohol. Überzeugen Sie sich nur.«

»Ich hann kee Zeit -- ich muß hier de Gefangene transpottiere!«

»Und wenn der arme Jüngling nun stirbt?! Jeder Augenblick kann kostbar
sein.«

»Wir machen Sie verantwortlich für das Leben dieses Menschen!«

»Nu sähn Se, Herr Nachtrat, das is doch wahrhaftig wicht'ger, als mich
ins Kittchen zu bring'n?«

So redeten Dammer, Achenbach, Dettmer auf den unglücklichen Beamten ein.

Böhnke stöhnte inzwischen schauerlich.

»Da sehn Sie's! er stirbt, wenn Sie nicht sofort anfassen! Wir helfen
Ihnen!«

»Ich loof nich fort, Herr Nachtrat! ich loof nich fort!« --

Der Nachtwächter verlor die Fassung. Er ließ Dammer los: »Na, da fasse
Se an die Bein an, meine Herre, ich nemm en obbe!«

Er bückte sich über den Röchelnden ... in diesem Augenblick versetzte
der ihm einen Stoß vor die Brust, daß er zurücktaumelte, und im Hui
waren der Sterbende, die beiden Samariter und auch der Arrestant
verschwunden.

»Bande, verfluchte!«

Der Beamte klopfte seine Mütze ab, die in den Staub gefallen war, und
befühlte seine schmerzenden Glieder.

»Die Cimbre sinns gewese! aber wenn ich nur tät wisse, welche! es sinn
doch Stücker vierzig ihre hier!«

Aber er beschloß, reinen Mund zu halten. Er würde sonst nur den Spott
seiner Kollegen ernten ... und wenn ihm morgen nacht auf einmal ein
paar Biermarken in die Tasche regneten, dann würde er ja auch wissen,
woher die kämen.




                                 XII.


Aber noch war der Tatendurst des Vierkleeblatts nicht gestillt. Die
Vollmondnacht lockte so lau, die Geister waren erregt vom Laufen und
Lachen, es mußte noch etwas geschehen.

»Herrschaft'n,« schlug Dammer vor, »ich weeß was! Mir gehn vor die
Vogtei und bring'n meinem sießen Mädichen ä Ständchen!«

Das war ein Gedanke. Es gab zwar aus Rücksicht auf die »Alte Dame« bei
den Cimbern ein altes Verbot, die Vogtei nächtlich anzuserenaden, aber
es brauchte ja nicht herauszukommen, daß die vier Attentäter auf die
Ruhe der Pensionsmädel Cimbern seien. Man würde die Mützen unter die
Westen stecken und die Röcke zuknöpfen.

Gedämpften Schrittes schlichen die Viere die Barfüßergasse entlang. Da
lag die Vogtei, mondüberflossen; im Obergeschoß standen alle Fenster
offen; die weißen Vorhänge leuchteten im grellen Licht und wehten leise
hin und her, wie vom Atem der schlummernden Bewohnerinnen angehaucht.
Es war so still. Die Büsche und Bäume des Gartens bebten dann und wann
im Nachthauch. Fern raunte die Lahn.

Herzklopfend standen die vier jungen Gesellen am Gartenzaun, im
tiefen Schatten einer Blutbuche geborgen. Und da war keiner unter
ihnen, dessen Phantasie nicht auf den Pfaden der Sehnsucht gewandelt
wäre. Jugend droben, Jugend drunten ... heißes Blut und heißes Blut,
dazwischen kalte, starre Mauern, starre, kalte Satzungen, überflattert
nur vom unruhvollen Flügelschlag des hoffnungslosen Begehrens.

Und wehmütig werbend klang's zweistimmig in die Nacht:

    »Der Sang ist verschollen, der Wein ist verraucht,
    Stumm irr ich und träumend umher,
    Es taumeln die Wälder, vom Sturmwind umhaucht,
    Es taumeln die Wellen ins Meer.
    Und ein Mägdlein winkt mir vom hohen Altan,
    Hell flattert im Winde ihr Haar,
    Und ich schlag in die Saiten und schwing mich hinan,
    Wie hell glänzt ihr Aug und wie klar!
    Und sie küßt mich und drückt mich und lacht so hell,
    Nie hab ich die Dirne geschaut -- --
    Bin ein fahrender Schüler, ein wüster Gesell --
    Was lacht sie und küßt mich so traut?!«

Werner und Dettmer, die beide musikalisch waren, hatten die zweite
Stimme gesungen; es hatte ganz feierlich und anmutvoll in die
Nachtstille hineingetönt. Und hinter den Vorhängen regte sich's;
hier und dort öffnete sich ein schmales Ritzchen, breit genug,
um hinauszuspähen, aber zu geizig, um auch nur ein neckisches
Stumpfnäschen aufblitzen zu lassen im Mondenschein. Aber ein leises
Kichern klang doch ab und zu, nun der Sang wirklich verschollen war,
zu den Lauschenden hinunter und trieb ihnen das Blut schneller durch
die Adern.

Und die Burschen stimmten in ihrem Buchenschatten ein zweites Lied an;
es schloß:

    »Seh ich ein Haus von weitem,
    Wo ein lieb Mädel träumt,
    Sing ich zu allen Zeiten
    Ein Lied ihr ungesäumt.
    Und wird's im Fenster helle,
    Wär es auch noch so spat,
    So weiß ich auf der Stelle,
    Wie viel's geschlagen hat.«

Und wirklich ward's im Fenster helle. Ein flackerndes, scheues
Lichtlein huschte von Kammer zu Kammer, von Fenstervorhang zu
Fenstervorhang, und droben verstummte das Kichern ...

»Die Mademoiselle! die revidiert!«

Schließlich erschien an einem der Vorderfenster zwischen den Vorhängen,
in ein Kopftuch gehüllt, ein hageres Gesicht, eine vor Erregung
überschnappende Stimme kreischte in die Nacht hinaus:

»Nachtwächter --! Nachtwächter!!«

Die vier unter der Buche am Zaun platzten heftig aus -- hielten's dann
aber doch für geraten, mit hochgeschlagenem Rockkragen und barhaupt,
dicht am Zaungebüsch entlang schleichend, das Feld zu räumen.

Alle vier waren sie still geworden. Jeder schlich in dumpfem Sinnen
seinen Pfad.

    »Was lacht sie und küßt mich so traut?«
    »Und wird's im Fenster helle --
    -- So weiß ich auf der Stelle,
    Wie viel's geschlagen hat ...«

Ach, das war nur im Liede so. In Wirklichkeit mußten sie nun jeder
hinein in ein einsames Knabenstübchen.

Werner dachte an jenen kurzen Augenblick im Jasminboskett
des Museumsgartens. Die ihm damals weich und lockend sich
entgegengeschmiegt, die war auch da droben hinter den weißen Vorhängen
gewesen ...

Ach, ein armer Fabrikarbeiter sein und mit einem Mädel gleichen Standes
und gleicher Art, in Ehren und Rechten, die Sehnsucht des Blutes
stillen, die Wonne der Jugend auskosten ...

Und alle, alle sannen sie so, jeder in seiner Tonart, im Takte seines
Herzens ...

Und endlich fand der gerissene Dettmer das Wort, das über die Stimmung
des Augenblicks dräuend geschwebt hatte:

»Kinder -- wir gehn zur Lina!!«

Einen Augenblick schwiegen die drei andern. Böhnke mahnte:

»Wir sind doch in Couleur!«

»Das hat nichts zu sagen,« beschwichtigte Dettmer. »Die Lina wohnt
draußen im Marbacher Tal, das Haus steht abseits vom Weg in einem
Garten, da legen wir Mützen und Band und Bierzipfel, und was einer
sonst an Abzeichen an sich trägt, unter einen Busch, und los! Das hab'
ich schon öfter so gemacht!«

»Na, denn in Deibels Namen!«

Es war ein ziemlicher Weg, den Dettmer führte. Um abzukürzen, stieg
man den Berg hinan, und westlich vom Schloß über die Höhe hinunter
ins Marbacher Tal. Enge Berggäßchen, schmale Heckenpfade, jetzt in
schwarzer Finsternis tastend, jetzt in die grellste Helle tauchend.
Einer hinter dem andern, alle schweigend, nur selten wechselte man
ein Wort wegen des einzuschlagenden Weges. Und eine Hast war in ihrem
Marsch, ein Drängen nach vorwärts, als klatschte eine Geißel über den
Nacken der Schreitenden.

Zeit genug, nachzudenken ...

Aber der Alkohol, die buhlerische Schwüle der Nacht lähmten das Hirn --
und im Nacken klatschte die Geißel.

Wie im Traum zogen die zauberhaften Bilder des vollmondnächtlichen
Marsches an Werners Blicken vorüber. Nun also würde sich's plötzlich
erfüllen, nun würde er wissend werden ...

Da schwebten sie alle noch einmal vorbei an seinem Geiste ... die
Frauen, um die er sich gebangt: die blonde Babett, die seine ersten
wirren Küsse empfangen ... Ernestinens Mäulchen, das sich ihm
entgegenhob im grünen Jasmingebüsch, in dem ihre schwellende Jugend
sich an ihn schmiegte -- Rosaliens glühende Brüste, die sich aus
blühenden Spitzen seinen Lippen entgegendrängten --

Und fern, fern verschwebten zwei andere Schatten -- ein grünlich
schimmerndes Totenantlitz und eine ganz, ganz verschwimmende, angstvoll
winkende Gottheit ... Elfriede ...

Das alles hatte sein junges Leben gekannt, das alles hatte durch die
Sehnsucht seiner achtzehn Jahre gewirrt ...

Und das würde nun das Ende sein -- Lina ... irgendeine Lina.

Gut ... gut ... mochte es so kommen ... das war das Schicksal. Das
war die Weltordnung. Dahin hatte ja doch alles gezielt, alles, was er
erlebt hatte. Es lag eine grauenhafte Logik in dem allen.

Und nun standen die vier Jünglinge vor einem dicken Gebüsch in einem
verstohlenen Berggarten, zogen die Bänder und sonstigen Couleurschmuck
ab, legten alles in die Mützen und bargen es im taufeuchten Grün.
Schlichen dann barhaupt Dettmern nach und standen bald vor einem
einstöckigen Häuschen mit dicht verschlossenen braunen Holzladen.

Dettmer klopfte.

Nichts rührte sich.

Alle vier lauschten mit angehaltenem Atem. Werners Knie bebten heftig.
Er hätte sterben mögen.

Abermals klopfte Dettmer. Und wieder blieb's still. --

Nun ward Dettmer ungeduldig. Er legte seinen Mund an eine Fensterspalte
und rief halblaut:

»Lina!«

Nun schlürften innen Schritte, und die Läden wurden von innen
vorsichtig geöffnet.

»Wer is es denn?«

»Ich bin's -- der Theodor!«

»Bist denn allein?«

»Nein -- ich hab' noch ein paar Freunde mitgebracht! Brauchst keine
Angst zu haben, wir sind alle ganz nüchtern!«

»Oh, ne -- wann du nit allein bist ... ich bin müd -- was kommt ihr
auch so spät in der Nacht -- geh nach Haus!«

»Du bist verrückt, Lina -- schnell mach auf -- sonst komm ich nicht so
bald wieder!«

»Na, meinetwege! Aber anziehe tu ich mich nit lang -- ich bleib in
meiner Kammer; du kannst im Wohnzimmer Licht mache, Bescheid weißt du
ja.«

»Is jut, riegle man auf.«

Nach ein paar Sekunden knarrte ein Schlüssel in der Tür. Dettmer
klinkte rasch auf und trat in die Dunkelheit. Ein Kreischen wurde laut.
Eine Tür knallte.

Da zündete Dettmer innen ein Streichholz an und trat näher. Ihm folgten
die beiden andern Korpsburschen.

Als sie sich's aber in dem niederen Wohnzimmerchen der Dirne bequem
machen wollten, sahen sie sich nur zu dreien.

Renonce Achenbach war verschwunden.

                   *       *       *       *       *

Von Ekel geschüttelt floh Werner zu Tal. Nein -- das durfte nicht das
Ende sein!! Das nicht!!

Und wenn er sie denn nicht bändigen konnte, die zehrende, brüllende
Sehnsucht da drinnen ...

Er würde sie nicht bändigen können ... sie war wacher denn je, sie
brüllte wilder denn je ...

Aber so nicht -- so nicht!

Nicht in den Kot sollte sie fallen, die Erstlingsblüte seines
Sinnenfrühlings, nicht in den Kot! --

Da unten lag die Stadt ... da unten schlief ein Mädchen, so schön und
so begehrenswert ...

Einmal hatte er schon vor ihrer Zimmerschwelle gestanden ... das würde
er nicht wieder tun ... das freilich nicht ... aber ...

Einmal hatte sie in seinen Armen gelegen, da war jener Scholz gekommen
...

Der war ferne ... der konnte ihm das Glück nicht wieder entreißen im
Augenblick, da sein vollster Becher ihm entgegenduftete --

Und bald sollte es sein -- vielleicht schon morgen -- übermorgen ...

Mochte daraus werden, was wollte ...

Ihm saß die Geißel im Nacken ... er mußte -- er mußte!!

Aber nicht bei der da oben -- nein, da nicht, nicht im Kot, nicht im
Pfuhl! ...

Rosalie! -- Rosalie! -- --

Hell schien am Himmel noch der Vollmond.

Aber über Spiegelslust lagen schon rötlichleuchtende Wolkenstreifen.

Und Werner schritt zu Tal.

Rosalie -- -- Rosalie -- -- --




                             Zweites Buch




                                  I.


Und wieder einmal marschierte Werner Samstag morgens allein gen
Ockershausen. Der Gedanke an Klauser, der heute Reinigungspartie
fechten sollte, überschattete alle persönlichen Empfindungen.

Selbst die der grausamen Enttäuschung, die ihn gepackt, als er gestern
morgen erfahren hatte, daß Rosalie tags zuvor auf sechs Wochen zu einer
Freundin nach Frankfurt gefahren sei. -- -- --

Vor ihm auf der Landstraße marschierte ein Mann. Eine ragende,
breitnackige Gestalt. Kräftig schritten die langen, wohlgebauten Beine
aus. Die Linke trug den Spazierstock, einen derben Weichselzweig
mit krummem Griff und eisenbeschlagener Spitze, horizontal, wie
ein Offizier den Säbel. Und militärisch muteten auch die ruhigen,
taktmäßigen Bewegungen an, mit denen die Arme den stattlichen Marsch
des Schreitenden begleiteten. Ab und zu warf der Wind die Mähne eines
rötlichen Blondbarts über die Schulter zurück.

Na, ein alter Korpsstudent ist das wohl auch nicht, dachte Werner,
dazu sieht er nicht patent genug aus. Der Panamahut saß eingeknüllt
im Nacken; unter dem niederen Umlegekragen wallte mit dem Bart um die
Wette ein loser, dunkelblauer Lavallier, eine Lodenjoppe mit lose
baumelndem Hüftgurt und kräftige Touristenstiefel ließen erkennen,
daß der Fremde mehr Wert auf Bequemlichkeit, denn auf Eleganz und
Korrektheit legte.

Werner, den Ungeduld und Unruhe zu einem schnelleren Tempo antrieben,
überholte den Vordermann, und als er im Vorbeischreiten einen
flüchtigen Blick auf seine Erscheinung warf, erkannte er etwas
erstaunt, daß jener unter der Joppe über dem losen, farbigen Hemde das
blau-rot-weiße Band trug. Also ein Alter Herr! Und unwillkürlich zog
Werner die Mütze und hielt den Schritt an.

Da zog auch gleichzeitig der andere den Panama und streckte Wernern die
Rechte hin. Der trat nun vollends näher, nahm die Mütze in die Linke,
ergriff, die Arme korrekt eingewinkelt, die dargebotene Tatze des
anderen, deren wuchtiger Druck ihn fast schmerzte, und nannte seinen
Namen:

»Achenbach!«

»Professor Dornblüth,« sagte der andere freundlich, »Alter Herr Ihres
Korps. Nun, auch unterwegs nach Ockershausen?«

»Allerdings,« sagte Werner, »großer Bestimmtag heute draußen, dreizehn
Partien.«

»Also großes Schlachtfest!« meinte Dornblüth. »Da kann ich ja gleich
eine ganze Menge Jugenderinnerungen auffrischen.«

»Wann sind Sie in Marburg angekommen, Herr Professor?«

»Gestern abend mit dem Elf-Uhr-Schnellzuge von Cassel.«

»Auf der Durchreise?«

»O nein -- -- na, da scheint man also im Korps noch nicht zu wissen ...
ich denke dauernd hier zu bleiben, ich bin als Nachfolger von Professor
Wilhelmi an unsere alte Alma mater Philippina berufen.«

»Ach? Das -- davon habe ich im Korps noch nichts gehört. In welcher
Fakultät, wenn ich fragen darf?«

Der Professor schmunzelte. »In der juristischen,« sagte er. »Sie sind
wohl Mediziner?«

»Nein,« sagte Werner errötend, »ich bin Jurist.«

»So,« lachte der Professor. »Aber von den internen Verhältnissen Ihrer
Fakultät haben Sie, scheint's, noch nicht allzuviel Ahnung. Na, werden
Sie nur nicht rot ... ich war als krasser Fuchs auch nicht besser,
und doch soll ich jetzt meine jungen Korpsbrüder in die abgründigen
Geheimnisse der Pandekten einführen. Also erzählen Sie mir mal was vom
Korps. Ich war zehn Jahre in Berlin und habe da den Zusammenhang mit
dem Korpsleben etwas verloren. Nun mich aber das Schicksal wieder ins
alte Marburg gerufen hat, hoffe ich ...«

Er führte seinen Satz nicht zu Ende und sah erwartungsvoll auf Werner.

»Wir ... haben siebenunddreißig Aktive,« meldete Werner nach einigem
Besinnen, wo er anfangen solle. »Neunzehn Korpsburschen, darunter acht
Jungburschen aus diesem Semester, achtzehn Renoncen, darunter noch drei
Brander.«

»Na ja, das ist ja ganz erfreulich. Aber auf die Zahlen kommt's mir
eigentlich weniger an. Wie ist das Leben im Korps ... wie gefällt es
Ihnen?«

»Oh -- selbstverständlich wundervoll -- großartig.«

»Selbstverständlich. Diese Antwort hätte ich von einem krassen
Fuchsen eigentlich erwarten können. Was gibt's denn heute draußen bei
Ruppersberg? Ist Cimbria stark vertreten?«

Werner wurde etwas verlegen. »Also zunächst sollen sich die drei
Brander, die noch nicht das Band haben, in die Rezeption pauken.«

»Na, das wird nicht hervorragend interessant werden. Weiter.«

»Dann -- fechten von unseren neugewählten Chargierten zweie.
Papendieck, unser Erster, gegen Herrn Cornelius Hasso-Nassovia
gewesenen Zweiten, Zweiten, und der Dritte Dettmer gegen Herrn Bergmann
Guestphaliae Dritten.«

»Wird's da was zu sehen geben?«

»Nun -- besondere Fechter sind die beiden gerade nicht. Aber dann --
dann ficht unser Klauser ... der bis vor kurzem zweiter Chargierter war
... gegen Seydelmann Hasso-Nassovia gewesenen Ersten, Ersten, Ersten
Reinigungsmensur.«

»Was? Das Korps hat seinen Zweiten auf Mensur verloren?«

»Allerdings.«

Der Professor schwieg einen Augenblick. Mit gerunzelten Brauen schritt
er fürbaß. Werner betrachtete ihn verstohlen von der Seite. Und dieser
eine, dieser erste Blick genügte, um Werners junges Herz für diesen
seinen Korpsbruder und künftigen Lehrer zu begeistern.

»Also der Unsinn mit diesen aberwitzig scharfen Mensuransprüchen ...
der besteht noch immer? Aber na -- darüber werd ich mich mit den
Korpsburschen mal unterhalten. Was ist denn Klauser für ein Mann?
Erzählen Sie mir was von ihm. Wünschen Sie ihm, daß er heute gut
abschneidet?«

»Das wünsche ich von ganzem Herzen, Herr Professor. Klauser ist mein
bester Freund im Korps.«

»Ach -- sieh da. Also ein guter und braver Kerl?«

»Ein ganz wundervoller Mensch, Herr Professor.«

»Nun, dann wollen wir beide ihm mal ordentlich den Daumen halten. Das
wäre ja auch zu dumm, wenn ein Korpsbursch, von dem sein Freund in
solchem Tone spricht, unserer lieben Cimbria auf diese Art --« Wieder
schwieg der Professor.

Eben schritt man an den letzten Villen nach Ockershausen zu vorbei. Da
bog aus einem Seitenwege eine Dame in die Chaussee und kam langsam und
unruhig in der Richtung auf die Marschierenden zu näher. Werner fühlte
eine tiefe Bewegung; unwillkürlich wandte er den Blick zurück, und
richtig: dort, etwa fünfzig Schritt hinter ihm und dem Alten Herrn kam
Klauser geschritten, einsam, den Strohhut tief in die Stirn gedrückt.
Marie hatte dem Geliebten vor seinem schweren Gange noch einmal
begegnen, ihm wenigstens einen stummen Gruß spenden wollen ...

Hochaufgerichtet, vor Erregung und Sehnsucht glühend das schöne
Gesicht, schritt sie vorüber und erwiderte Werners ehrerbietigen Gruß
mit einem ernsten Blick des Einverständnisses.

»Wer war das?!« klang da die Stimme des Professors in einem ganz
seltsamen Tone an Werners Ohr.

»Das -- o -- das war ... das war ein Fräulein Marie Hollerbaum.«

Der Professor sah Werner von der Seite an und beobachtete das Gehen
und Kommen der stürmenden Gefühle auf dem verräterisch weichen
Knabenantlitz.

»Ihre Flamme wohl, wie?«

»Nein, meine nicht ...«

»Aber?«

»Ja, ich weiß nicht recht ... aber schließlich, warum soll ich Ihnen
das nicht sagen, ganz Marburg weiß es doch ... das war Klausers ...
Braut.«

»Ach?! Seine Braut? Offiziell?«

»Offiziell natürlich nicht --«

»Wie alt ist denn der glückliche Bräutigam?«

»Einundzwanzig.«

»Und -- sie?«

»Auch einundzwanzig -- meines Wissens.«

»Kinder, Kinder!! -- Und er -- welche Fakultät?«

»Mediziner.«

»Vor dem Staatsexamen?«

»Nein -- hat das Physikum noch vor sich.«

»Und dann -- Bräutigam! Ach, Himmel, wenn ihr jungen Leute wüßtet
... na, mich geht's ja schließlich nichts an.« Der Professor versank
in Grübeln. Und Werner mußte den Blick zurückwenden; eben schwebte
Marie an Klauser vorbei -- er zog den Hut tief, sie neigte das
flechtenschwere, blonde Haupt, und vorbei eins am andern ...

Der Professor folgte Werners Blick und beobachtete ebenfalls die
Begrüßung.

»Der da mit dem Strohhut ... das ist wohl --?«

»Ja -- das ist Klauser.«

Der Professor wiegte leise das Haupt. »Eine Braut, die ihren Bräutigam
auf dem Wege zur -- Reinigungsmensur begrüßt ... ach Jugend, Jugend
... man muß sie ja so lieb haben ... deine Eseleien.« Er hatte das
letzte halb zu sich selbst gesprochen.

»Herr Professor, verzeihen Sie ... aber das mit Klauser und Marie ...
das ist heiliger Ernst --!«

»Na selbstverständlich ist es heiliger Ernst! Das wäre auch noch
schöner, mit ~so einem~ Mädchen anders als in heiligem Ernst ...
Wollen wir nicht auf Klauser warten?«

»Wenn Sie auf ihn warten wollen, Herr Professor ... ich darf nicht,
verzeihen Sie ... Klauser ist doch in Demission.«

»Ach so ... richtig ... und da dürfen Sie sich mit Ihrem besten Freunde
nicht ... richtig, richtig ... ja, ja ... man muß sich erst wieder
eingewöhnen.«

Einen Augenblick schwiegen beide und sannen.

Dann war's, als müsse Dornblüth irgend etwas abschütteln.

»Na -- nu erzählen Sie mir mal noch mehr vom Korps. Und von Marburg
... von allem, was Ihnen grad' einfällt. Sie können sich wohl denken,
daß mir heut ganz wunderlich ums Herz ist. Als ich zum letzten Male
diesen Weg ging, das war vor dreizehn Jahren. Damals war ich inaktiver
Korpsbursch und stand vorm Referendarexamen ... heut >hab' ich Semester
und heiß altes Haus< ... aber das da, das Schloß da oben und diese
wunderbaren Berge ... das ist grad' so wie damals ... erzählen Sie,
Herr Korpsbruder, erzählen Sie!«

Und Werner plauderte von allerlei Erlebnissen und Zuständen im Korps
... nicht sein eigenes Empfinden ließ er laut werden ... nein, was und
wie eben ein korrekter, wohlerzogener Korpsfuchs einem Alten Herrn
erzählen konnte, den er vor zehn Minuten kennen gelernt hatte, und von
dem er zum Überfluß wußte, daß er dem akademischen Lehrkörper angehören
würde.

Und dennoch ... wider seinen Willen geschah's, daß etwas von der
eigenen Stimmung Werners, von seinen Kämpfen, Qualen und Zweifeln in
seinen Bericht hinüberströmte. Und gefesselt hörte der Professor zu.

Dann aber schienen seine Gedanken plötzlich abzuschweifen.

»Hollerbaum? Nannten Sie das junge Mädchen da nicht eben Hollerbaum?«

»Ja -- so heißt sie.«

»Der Dekan meiner Fakultät, dem ich hauptsächlich meine Berufung ...
mit dem ich hauptsächlich wegen meiner Berufung nach Marburg verhandelt
habe, heißt Geheimrat Hollerbaum.«

»Das ist der Vater der jungen Dame.«

»So ... also die Tochter eines Kollegen. Hm. Na, erzählen Sie weiter.
Also das Kolleggehen haben Sie sich abgewöhnt ... wer weiß, vielleicht
gewöhnen Sie sich's jetzt wieder an. Es sollte mich freuen, wenn ich
meinen jungen Korpsbrüdern die sogenannte trockene Rechtswissenschaft
etwas genießbar machen könnte.«

»Ach, ja, das wär wundervoll! Denn, Herr Professor, das Bummeln ist ja
ganz schön -- aber ... der Moralische, den man dabei immer hat! Ich
glaube, wenn man vernünftig arbeiten würde ... das Korpsleben würde
einem dann viel besser schmecken.«

»Na, Sie können's ja im nächsten Semester mal probieren! Für dies
Semester lohnt's ja gar nicht erst anzufangen. Ich muß allerdings
die Vorlesungen des verstorbenen Kollegen Wilhelmi zu Ende führen,
und es traf sich gut, daß ich, einer größeren Arbeit zuliebe, meine
Berliner Vorlesungen diesen Sommer ganz ausgesetzt habe ... im nächsten
Semester, hoffe ich, sollen dann die blauen Mützen immer reihenweise
in meinem Auditorium hängen. Dann werden wir hoffentlich beide Freude
aneinander erleben.«

»Das wäre herrlich, Herr Professor!«

»Von wegen Verschwindens des >Moralischen<, nicht wahr?«

»Nein -- überhaupt, Herr Professor, überhaupt!«

                   *       *       *       *       *

Mit bebender Spannung hatte Werner die Reinigungsmensur des Freundes
verfolgt. Er hatte noch zu wenig Urteil, um mit Bestimmtheit vermuten
zu können, ob die Mensur genügen würde oder nicht. In jeder Pause hatte
er unruhig und sorgenvoll in die Gesichter der Korpsburschen gespäht,
um aus deren Ausdruck zu erkennen, welchen Eindruck Klausers Haltung
auf den C. C. mache. Aber eisern verschlossen blieben die Mienen der
jugendlichen Richter.

Und so steigerte sich denn Werners Erwartung zum Fieber, als der
Unparteiische nach einem Schlachten, das mit den Pausen über eine
Stunde gedauert hatte, endlich verkündete:

»Silentium -- zehn Minuten sind geschlagen. Wünscht einer der Herren
Sekundanten noch Erklärung? -- Silentium. Mensur ex --!«

Fast unkenntlich, Gesicht, Paukhemd, Lederschurz mit halbtrockenem und
frischem Blut dick verklebt, verließen beide Paukanten den Schauplatz
des unentschieden gebliebenen Zweikampfes. Werner folgte Klausern. Er
hatte das Bedürfnis, ihm in der nächsten Viertelstunde zur Seite zu
sein; der Viertelstunde, welche darüber entscheiden sollte, ob der
Freund für würdig befunden würde, das schon halb verscherzte Korpsband
aufs neue zu tragen, oder ob er als ungeeignet für alle Zeiten aus
den Reihen der Cimbern ausgestoßen werden würde ... Er sah, wie
Dammer, der Fuchsmajor, auf Papendiecks Anordnung die Korpsburschen
zum außerordentlichen Korpskonvent in den Garten lud, und es war ihm
wie eine geheime Beruhigung, zu sehen, daß auch Professor Dornblüth
dieser Einladung Folge leistete. Und während Klauser sich unter
Wicharts Pflege begab, trat Werner an das Fenster in der Flickstube
und nickte und lächelte dem Freunde immerfort zu. Er fühlte, während
Wicharts unfehlbare Finger dem Freunde Nadel um Nadel durch Kopf- und
Gesichtsfleisch zogen, daß dieser schier unempfindlich war gegen die
körperlichen Schmerzen und nur unter dem einen Gedanken erbebte: was
mögen die da unten jetzt beraten? Was werden sie mit mir machen?!

In einer schattigen Laube, dicht umhangen von Pfeifenblatt- und
Jelängerjelieber-Ranken hatte der C. C. der Cimbria Platz genommen.
Obenan saß der Senior Papendieck, ihm zur Rechten der Alte Herr
Dornblüth und einige Inaktive, die heute zur Mensur herausgekommen
waren, um dem aktiven C. C. bei Beurteilung von Klausers
Reinigungsmensur ihren Rat nicht vorzuenthalten. Daran schlossen sich
die Korpsburschen dem Alter nach: die jüngsten hatten auf den Bänken
nicht mehr Platz gefunden und drängten sich am Eingange der Laube.

»Silentium für den A. O. C. C.,« sagte Papendieck feierlich, und alle
nahmen die Mützen ab und legten sie vor sich auf den Tisch, auch der
Alte Herr Dornblüth, dessen mächtiger Kopf statt des durchgezogenen
vorschriftsmäßigen Scheitels ein freies Gewoge leicht ergrauender
Locken trug.

»Ich stelle die Reinigungsmensur unseres Korpsbruders Klauser zur
Besprechung. Wer wünscht das Wort?«

»Ich bitte ums Wort.«

»Ich auch.«

»Ich auch.«

Von allen Seiten klang's.

»Silentium für Krusius,« sagte Papendieck und notierte die Namen der
anderen Bewerber.

»Also meine Meinung ist folgende,« begann Klausers glücklicherer
Nachfolger in der Fechtcharge. »Die merkwürdige Nervosität, die uns vor
vierzehn Tagen an Klauser aufgefallen ist, hat sich heute womöglich
noch in verstärktem Maße gezeigt. Ich will nicht verkennen, daß er sich
die äußerste Mühe gegeben hat, dagegen anzugehen, aber ohne Erfolg.
So war der äußere Eindruck seiner ganzen Haltung auf mich ein äußerst
ungünstiger. Dazu kommen folgende Einzelheiten:« -- Der Sprecher schlug
sein Notizbuch auf -- »er bringt bei jedem Hieb die rechte Schulter
etwas vor, dabei die linke etwas zurück und holt den Hieb sozusagen
aus dem Schultergelenk heraus. Das sieht einfach niederträchtig aus.
Zweitens: einmal, ich weiß nicht, ob es den anderen Herren auch
aufgefallen ist, hat er sich beim +a-tempo+-Hieb ganz deutlich
zurückschlagen lassen. Dann hat er auf die Terz unverkennbar, zwar
nicht mit dem Kopf gemuckt, das nicht, aber die Augen zugekniffen und
das Gesicht verzogen. Kurz: mir hat die Mensur nicht genügt.«

»Als Reinigungsmensur nicht oder überhaupt nicht?« fragte der Erste.

»Überhaupt nicht.«

»So. Hm. Also dann Silentium für i. a. C. B. Koch.«

Koch, ein feister Mediziner im siebenten Semester, ein Mensch, den
Phlegma und Gemütsruhe fast erstickten, sagte ruhig:

»Ich verlange von einer Reinigungsmensur, daß der Betreffende sich
einfach hinstellt und sich verprügeln läßt. Bei Klausers Mensur
habe ich immer das Gefühl gehabt, als ob eigentlich der andere die
Reinigungsmensur zu schlagen hätte. Es sah ja aus, als wenn es dem
Klauser nur darum zu tun wäre, den andern möglichst bald abzustechen.
Und dabei kam es doch nur darauf an, daß Klauser seine Hiebe bekam und
uns bewies, daß er stehen kann, auch wenn's Senge gibt. Das hat mir
sehr schlecht gefallen.«

»Silentium für Dettmer!«

»Ich kann mich Krusius und Koch keineswegs anschließen. Ich finde,
Klauser hat heute weit besser gestanden als neulich. Er hat zwar wieder
einigemal den zweiten Hieb ausgelassen, aber sonst ist mir nichts
aufgefallen. Mir hat die Mensur als Reinigungsmensur genügt.«

»Na, wenn dir weiter nichts aufgefallen ist,« sagte Papendieck, »dann
hast du die Oogen würklich 'n büschen feste zugemacht. Ich kann nur
sagen, daß Klauser sehr zapplig gefochten hat, sehr unsicher. Es waren
ja gerade keine Einzelheiten, aber seine ganze Haltung war nicht nach
meinem Gs'mack. Ich meine, wenn einer sein Korps so blamiert hat, wie
Klauser uns neulich mit seine sweinmäßige Fechterei, dann is der dem
Korps eine andere Reinigungsmensur schuldig, als wir sie heute zu sehen
bekommen haben.«

Eine mildere Auffassung schienen die Jungburschen zu haben. Aber sie
wagten sich nicht so recht mit der Sprache heraus.

Nur Dammer nahm energisch Klausers Partei.

»Liebe Korpsbrüder,« sagte er mit einem Beben der Aufregung, doch mit
Festigkeit, »ich bin noch nicht sähre lange im C. C., aber ich kann
nach mein' Gefiehle nur sagen, ich hab gefunden, wenn der Klauser nich
gestanden hat, wie mer's am Ende kennte verlangen, dann is das nur
darum gewesen, weil er sich gar zu viel Miehe hat gegä'm. Gar zu gut
hat er's wollen mach'n, und darum ist er so unruhig gewesen. Un ich
meine, wir kenn' doch Klausern alle, und wir wissen, daß er einer is,
der den leibhaftigen Deifel aus der Helle tät rausholen, wann's mal
mechte netig sein. Und das is doch schließlich die Hauptsache, meen
'ch.«

»Na, wenn's nach Dammer seiner Ansicht ging, denn brauchen wir ja
schließlich überhaupt keine Mensuren mehr zu schlagen, dann kriegte
einfach der das Band, der nach Ansicht seiner Korpsbrüder guten Willen
hat und dat Hart up den rechten Flag!« So meinte der Senior. »Es
scheinen also zwei Ansichten vertreten zu sein: Krusius und Koch, ihr
findet die Mensur wohl völlig ungenügend; na, dann muß ich also bitten,
Krusius, daß du einen ents--prechenden Antrag s--tellst.«

»Ich beantrage: C. B. Klauser perpetuell zu dimittieren.« Krusius hatte
es hart und kalt ausgesprochen, und es ging denn doch einen Augenblick
ein jähes Frösteln durch die Versammlung.

»Na, das wäre also dein Antrag, Krusius. Sollte etwa auch jemand den
Antrag stellen wollen, die Dimission von Klauser aufzuheben -- so daß
also seine Mensur als Reinigungsmensur zählen würde?«

»Ich stelle den Antrag,« sagte Dammer ruhig und fest.

»Ich für meine Person,« sagte der Erste, »mir hat die Mensur zwar
genügt, aber nicht als Reinigungsmensur. Demnach werde ich beide
Anträge ablehnen, den Antrag Krusius auf perpetuelle Dimission sowohl
wie den Antrag Dammer. Wünscht jemand vor der Abstimmung noch das Wort?«

»Ich bitte ums Wort.« Professor Dornblüth hatte es mit markiger
Stimme gesprochen. Alle Augen flogen zu seinem Gesichte hinüber, das,
tiefgebräunt, von scharfen Furchen durchzogen, mit der hohen, schon
etwas kahlen Stirn und dem wehenden, schon leicht angegrauten Rotbarte
ganz seltsam mächtig und wuchtend zwischen den rosigen, flaumigen
Knabengesichtern stand.

»Liebe Korpsbrüder,« sagte der Professor, »ich kenne Sie alle erst
seit einer Stunde, Klauser persönlich überhaupt noch nicht. Ich stehe
seit dreizehn Jahren, obwohl ich während des größten Teils dieser
Zeit Hochschullehrer gewesen bin, dem studentischen, dem Korpsleben
ziemlich fern. Für diejenigen unter Ihnen aber, die es noch nicht
wissen sollten, teile ich hier mit, daß ich als ordentlicher Professor
der Rechtswissenschaft nach Marburg berufen worden bin und hoffe, in
Zukunft auch mit unserer lieben Cimbria in so angenehmem und innigem
Zusammenleben zu stehen, wie es mir als Altem Herrn und in meiner
Stellung als Universitätslehrer noch besonders ziemlich erscheint. Das
voraus. Nun ein paar Worte über unsern Fall. Liebe Freunde, ich erwarte
von Ihnen nicht, daß die Ansicht eines Alten Herrn in Mensursachen sehr
starken Eindruck auf Sie machen wird. Ich war ja doch selbst aktiv,
war zwei Semester Erster und entsinne mich wohl genug, mit welcher
souveränen Verachtung wir als Aktive auf diese fossilen Reste längst
vergangener Ansichten und Auffassungen herabsahen, welche sich in den
Alten Herren verkörperten.«

Er lachte behäbig, und auf allen Gesichtern zeigte sich ein
verständnisinniges Schmunzeln.

»Nur eins möchte ich zu bedenken geben: Sie wollen -- wenigstens möchte
Ihr vortrefflicher Zweitchargierter, Krusius, den ich zum mindesten als
glänzenden Sekundanten schon schätzen gelernt habe, der möchte Sie dazu
veranlassen, unsern Klauser endgültig aus dem Korps auszuschließen.
Wissen Sie, was das für Klauser bedeutet?! Da draußen weiß kein
Mensch, was zweiter Hieb und was rechte Schulter vorbringen und Augen
zukneifen bedeutet. Da wird man von Klauser nur so viel wissen: das
ist ein herausgeschmissener Korpsstudent -- herausgeschmissen, weil
er sich auf der Mensur feige benommen hat!! -- Und das wird der Mann
sein Leben lang nicht ganz los! Daraus können Neider und Feinde immer
bei Gelegenheit Knüppel schneiden, um sie ihm zwischen die Beine zu
werfen!! -- Nun, meine Herren Korpsbrüder, ich appelliere an Ihre
Freundschaft: mögen Sie den Mann, den Sie vier Semester lang Bruder
genannt haben, so ins Leben hinausstoßen --? Hat er das verdient?!«

Er sah umher. Krusius wirbelte nervös sein flaumiges Schnurrbärtchen,
Koch kraulte seinen kahlgeschorenen Schädel, Papendieck war verlegen,
die jüngeren Korpsburschen konnten sich kaum halten, dem Alten Herrn
zuzujubeln.

»Nun zur Mensur selbst. Ich bin festiglich davon überzeugt, daß Sie,
meine jungen Herren, von Mensuren viel mehr verstehen, als ich alter
Knabe, der heut zum erstenmal seit vierzehn Jahren wieder einmal hat
Blut fließen sehen. Aber ... von Menschen verstehe ich vielleicht
einiges und habe Blick dafür ... und da kann ich nur sagen: ich hab'
das sichere Gefühl, als ob dieser junge Klauser aus dem Holz wäre, aus
dem das Leben Männer schnitzt ... Männer ... Freunde ... Kämpfer ...
aber Sie kennen ihn ja besser: täusche ich mich am Ende?«

»Nein! Nein! Klauser ist ein Prachtkerl! Ist keiner im Korps, der ihn
nicht mag!« so klang's von allen Seiten in die parlamentarische Stille
hinein.

»Silentium!« gebot Papendieck. »Sie hören, Alter Herr, so is dat nich,
dat irgendeiner wat gegen Klauser hat, ne, so nich.«

»Nun, also! Und wenn einer, den ihr alle liebt, der euch allen würdig
dünkt, euer Freund zu sein ... wenn der in der wahnsinnigen Aufregung
des Kampfes um das korpsstudentische Sein oder Nichtsein ... in der
Hitze seines offenbar feurigen Temperaments um ein paar Linien von dem
Ideal der korpsstudentischen Fechterei abweicht ... dürft ihr ihn darum
als unwürdig ausstoßen?! Ich meine, jeder Zoll seines Wesens, jede
Bewegung bei seiner Mensur zeigte: ich habe nur den einen Gedanken:
es dem C. C. recht zu machen, ihm zu genügen, mich würdig des Bandes
zu zeigen, das ich schon halb und halb verscherzt habe ... war's nicht
so?!«

Aller Augen hingen an seinem Munde, und man sah, daß es auch jenen, die
Klausers Ausschließung befürwortet hatten, dabei nicht wohl gewesen
war: daß sie sich lediglich verpflichtet geglaubt hatten, dem Ideal von
Mensurschneid, das ihnen von Rechts wegen vorschwebte, wieder einmal
ein Opfer zu schlachten, um die vermeintliche Schmach, die Klauser dem
Korps als dessen Zweiter durch eine ungenügende Mensur angetan, zu
sühnen.

»Nun, meine lieben Herren Korpsbrüder, ich habe als Alter Herr in Ihrem
Konvent nur Sitz, aber keine Stimme. Ich schlage Ihnen vor: nehmen Sie
den Antrag unseres jungen Herrn, von dem ich bisher nichts weiß, als
daß er aus Dresden ist und das Herz auf dem rechten Fleck hat --«

»Ich heeße Dammer,« warf der Fuchsmajor mit einer linkischen
Verbeugung, errötend, dazwischen. Alles lachte laut und befreit auf.

»Also lieber Korpsbruder Dammer, ich bitte die Herren Korpsbrüder,
Ihren Antrag anzunehmen.«

»Ich ziehe meinen Antrag, Klauser perpetuell zu dimittieren, hiermit
zurück,« sagte Krusius.

»Somit ist nur noch über den Antrag Dammer abzustimmen: die Dimission
auf unbestimmte Zeit des C. B. Klauser aufzuheben. Ich schreite
hiermit zur Abstimmung: Der Antragsteller stimmt zuerst, dann der
jüngste Korpsbursch. Also bitte?«

»Dafier,« sagte Dammer im Brustton. Und: »Dafür!« »dafür!« »dafür!«
ging's von Mund zu Munde.

Nur Krusius und Papendieck, die beiden ersten Chargierten, stimmten
gegen den Antrag. Sie fühlten sich für den Mensurschneid Cimbrias
verantwortlich und hätten es immerhin lieber gesehen, wenn Klauser noch
eine zweite Reinigungspartie hätte fechten müssen. Aber im tiefsten
Herzen waren doch auch sie, wie alle andern, geradezu erlöst. Mit
lautem Geplauder, viele zu zweit und zu dritt Arm in Arm, verließ man
die Laube und schwärmte in den Saal zurück. Und nicht wenige umgaben
den Professor, der, fast alle um Haupteslänge überragend, in der
Schar der Jungen heitern Herzens durch das Grün und den Glanz des
Sommermittags wandelte, froh der seltsam jugendlichen Frische, die ihn
durchpulste ... und vor seinem Blick stand dabei das Bild eines fest
schreitenden, voll erblühten Mädchens, dessen ernstes Auge nun bald
aufstrahlen würde, beglückt entgegenleuchten jenem andern, dem Knaben,
ihrem »Bräutigam«, dem er, Wilhelm Dornblüth, soeben das Korpsband
gerettet hatte. -- --

Oben hatte es ~allen~ dreien, dem Paukanten, dem Freunde und auch
dem guten, teilnahmsvollen Herzen des wackeren Paukarztes erscheinen
wollen, als nähme der Mensuren-C. C. kein Ende. Längst war Wichart
fertig, längst Klausers Kopf und linke Wange im dichten Wattebausch
eingewickelt und wieder mit dem bergenden Turban versehen ... die
Korpsburschen kamen noch nicht ... unzählige Male hatte Werner die Hand
des Freundes tröstend gedrückt ... da plötzlich rief Wichart, der am
Fenster stand: »Sie komme!«

Werner schoß ans Fenster: »Hurra, Klauser, ich gratuliere! sie lachen
... alle sind sie vergnügt, alle strahlen sie ... gut hat's gegangen!«

Und schon stand Papendieck in der Tür. Am selben Fleck, wo vierzehn
Tage vorher Scholz Klauser seine Strafe verkündet hatte, eröffnete nun
der neue Senior ihm seine Erlösung, in gleich offizieller Haltung, mit
den gleichen formelhaften Worten:

»Klauser, ich habe dir aus dem C. C. mitzuteilen, daß deine Dimission
aufgehoben ist. Gratuliere!«

Und ohne jede Gefühlsäußerung, korrekt und feierlich, schüttelten die
beiden Jünglinge sich die Hände, aber es zitterte doch ein Unterton
von Zusammengehörigkeitsgefühl, von Kameradschaft hindurch, in dem das
Menschliche ganz, ganz zaghaft durch den rasselnden Harnisch, das tief
niedergeklappte Visier dieses modernen Rittertums hindurchleuchtete.

Und dann ging Papendieck hinaus, Wichart gratulierte feuchten Auges,
doch lächelnden Mundes:

»Na, schaust, Klauser? Nur or'ntlich druffdresche! Hernach geht's
schon!«

Und Werner? Er wäre Klauser am liebsten um den Hals gefallen. Aber
das wäre unkorpsstudentisch gewesen. So begnügte er sich, Klauser
behilflich zu sein, das blau-rot-weiße Band anzulegen, und flüsterte
ihm dabei selig zu:

»Du ... Marie --!!«

Und nun drängten die andern Korpsburschen herein und gratulierten
Klauser, und in ihrer Mitte schritt er zurück in den Saal. In seinem
Herzen war auf einmal eine seltsame Bitterkeit, die er sich nicht
erklären konnte. Nun auf einmal wieder Bruder, Freund, und vierzehn
Tage lang verbannt, ausgestoßen, verlassen ... und warum das alles?
warum?!

Er hätte glücklich und versöhnt sein müssen -- aber er war es nicht.




                                 II.


Rosalie war fort. Und wieder einmal hatte Werners Sehnsucht dicht vorm
Tor der Erfüllung gestanden. Und das Tor war wieder einmal verschlossen
geblieben.

Und wieder empfand er das seltsame Doppelspiel der Gefühle: die
folternde Enttäuschung der Sinne und das befreite Aufatmen der Seele,
wie nach Errettung aus wild anbrandender Gefahr ...

Und wie er dann am Tage seines neunzehnten Geburtstages aus einem
Schwall von kleinen Gabenpaketen neue Kabinettaufnahmen der geliebten
Eltern herauswickelte, und das Doppelpaar der treusorgendsten
Augen ihn anblickte so voll gläubiger Liebesruh, und wie aus den
Glückwunschbriefen der Teuren der ganze Zauber seiner umfriedeten,
lautern Heimat ihm entgegenhauchte, da war es ihm wieder einmal
kinderstill zu Sinn, da segnete er sich wieder einmal, daß nicht
eigenes Verdienst, sondern etwas wie eine sonderbarlich leitende
Führerhand ihm bis zur Stunde die Unberührtheit des Leibes erhalten
hatte über alle Stürme der Sinne, über alle Fährlichkeiten der
Versuchung hinweg ...

Aber andere Stunden kamen wieder, die Beängstigungen der Nächte
stellten sich ein, die immer wieder nach Sättigung schrien ... und
manchesmal noch schlich er von der Kneipe nach Hause, vertauschte
die Couleur mit einem Strohhut und strich ein paar Stunden lang in
den nächtigen Straßen des schweigenden Städtchens umher, als müsse
ihm der Zufall irgendein Weibliches in den Weg treiben ... wirklich
sprach ihn einmal ein Frauenzimmer an, aber wie er ihr in das zerstörte
Lasterantlitz geschaut, entwich er schaudernd.

Und wenn dann die hellen Sommermorgen kamen, die wolkenlosen
Sonnenaufgänge einer wahrhaft gnadenreichen, dauerhaften Gebelaune der
Natur, dann war wieder alles verflogen, und Werners Seele jauchzte
dem Tag, der Jugend entgegen, stürzte sich in den Strom harmloser,
kritikloser Lust ... Er war jetzt ganz der korpsstudentischen Formen
Herr geworden, und mit der Sicherheit mehrte sich die Freude an dem
ganzen geregelten, streng abgezirkelten, doch innerhalb dieser engen
Schranken so tollen und rauhfröhlichen Korpsbetrieb.

Namentlich die Museumsreunions, die alle vierzehn Tage stattfanden,
machten ihm nun ein unbändiges Vergnügen. Er wurde ein beliebter
Tänzer, galt als amüsanter Gesellschafter unter den jungen Mädels, bei
den Müttern als ein Muster tadellosen und vertrauenswürdigen Benehmens.
Nur vor einer hütete er sich: mit der kleinen Siegerländerin tanzte
er wohl einmal, aber wenn die Runden herum waren, führte er sie
stets schnell zum Tisch des Vogtschen Pensionats ... er wußte, dort
beobachtete man ihn ganz besonders, wenn er mit der kleinen Ernestine
tanzte, und fürchtete die Spionenaugen der Mademoiselle. Er mochte
nicht mit diesem Mädchen zusammen genannt werden, er schämte sich jener
raschen Aufwallung, die ihn mit ihr zusammengebracht, er floh vor dem
Sturm der Sinne, den ihm jene geweckt, die ihn doch niemals befriedigen
würde ... er sehnte sich jetzt nach Ganzheit ... wenn er einmal wieder
glühte, dann wollte er auch hoffen dürfen, zu besitzen ... ihm graute
bei der Erinnerung an die Stimmung jener Ständchennacht, die vom Vorhof
des Paradieses bis zum Vorhof des Höllenpfuhls geführt hatte.

Rosalie würde wiederkommen, und dann würde ihm werden, was er brauchte
... sie würde ihn glühen machen und auch seine Glut kühlen ... die
Sehnsucht aber, die jene unbewußten und unberührten Kinder weckten,
die, das wußte er jetzt aus Erfahrung, die endete bei Lina ... wenn
man nicht eine Natur wie Klauser war, eine anima candida, eine lautere
Seele, die in einen Körper von so herrlicher Gesundheit gebannt war, an
dem das Fieber der Sinne nicht mehr zu zehren schien, denn die Flammen
am Golde.

Ja, wenn Werner einen Menschen beneidete, dann war's Klauser. Den
trug seine Liebe, seine junge, heilige Liebe über den Schlamm der
Sinnendränge, der durfte sich von den Lippen der Geliebten den Mut und
die Kraft zur Reinheit und Entsagung küssen ... ja, wenn Werner ein
einziges Mal von Elfrieden gehört hätte:

Mein Süßer! Mein Geliebter! --

O, dann wäre er gewiß nicht nachts wie ein losgelassener Hund durch die
Straßen von Marburg gerannt ...

Und in die prangenden Hochsommertage des Juli fiel ein heiteres, ein
stolzes Fest. Die Alma mater Philippina zählte zum ersten Male, seit
Landgraf Philipp sie im Jahre des Heils 1527 als Hochburg des jungen
Evangeliums gegründet, die Zahl von tausend Studenten. Senat und Stadt
rüsteten eine festliche Heerschau über ihre geliebte Studentenschaft,
und auf dem Dammelsberg, dessen grüne Kuppe das natürliche Zelt über
einen der schönsten Festplätze Deutschlands wölbte, war alles zur Feier
bereitet. Der Himmel selbst feierte mit, spannte über dem jubilierenden
Städtchen, über den schon angedunkelten Bogen des Dammelsbergzeltes ein
zweites, lichteres Gezelt in tiefem Blau, und die Sonne übernahm die
Beleuchtung bis zum Abend, wo programmäßig Tausende von Lampions sie
ablösen würden.

Im Garten des Korpshauses sammelte sich Cimbria zum Festzuge. Schon
standen die drei Herren Chargierten im vollen Wichs bereit.

»Donnerwetter, Leibbursch, du siehst ja prachtvoll aus!«

Werner hatte es ehrlich herausgesagt. Obwohl ein zutraulicheres
Verhältnis sich auch zu seinem neuen Couleurvater nicht herausgebildet
hatte, standen doch beide trefflich zusammen. Und er war auch wirklich
ein schmucker Bursche, dieser blonde, glatte, korrekte Gesell, dem
alles stand, was er trug und tat, der in Milch und Blut des Gesichtes,
in Blond und Blau von Haar und Auge so recht das Musterbild eines
deutschen Durchschnittsjünglings war, und dessen Temperament und Geist,
dessen Manieren und Ansichten sich ebenso sicher auf der mittleren
Linie des Wohlgefällig-Trivialen bewegten. Heut sah er wirklich aus
wie ein Bild: das Blau der Pekesche und des Cerevises wetteiferte
mit dem Blau der Augen, die weiß und goldene Verschnürung blitzte,
knapp umschlossen die weißen Lederhosen, die langen Lackschäfte das
wohlgeformte Bein, strahlend umzog das Korpsband und darüber die
blau-rot-weiße Atlasschärpe die hochgewölbte Brust, und in wildledernen
Fausthandschuhen mit mächtigen Stulpen steckte die schwertgeübte Hand
des Fechtchargierten, an dessen Seite der Paradeschläger in blinkender
Stahlscheide stolz schleppend über den Gartenkies hüpfte.

Neben dem Subsenior machte Dettmer, der Dritte, sonst auch ein
hübscher, doch zu schmächtiger Bursche, eine unbedeutende, der
baumlange dürre Papendieck eine fast komische Figur.

Und in den Laubgängen des Kneipgartens ordnete sich der Zug. Zu zweien
Arm in Arm, so rangierten sich Cimbrias Söhne, heute verstärkt durch
die Inaktiven und die in Marburg studierenden Vertreter der Kartell-
und befreundeten Korps, die heut alle in ihren Farben erschienen waren,
um das Fest der Philippina mitzufeiern und Cimbrias Auftreten beim
Feste imposanter zu gestalten.

Papendieck ordnete die Korpsburschen, Dammer die Füchse. Als endlich
alles paarweise geordnet war, bemerkte Papendieck, daß Klauser seinen
Arm in den der Renonce Achenbach geschoben hatte.

»Nanu?! ein Korpsbursch unter den Füchsen?!«

»Wenn's mir doch Vergnügen macht! Ich möchte nun mal gerne mit
Achenbach gehen.«

Ein schiefer Blick des Ersten traf Klauser.

Aber er sagte nichts weiter, denn eben trug der Korpsdiener aus dem
dunklen Eingange der Kneipe das Cimbernpanier hervor, entrollte es
unter der Linde und übergab es dem strammen Böhnke, der, gleichfalls
im Wichs der Chargierten, nur über der Schärpe noch ein schwarzes
Lackbandelier tragend, die Fahne in Empfang nahm, sie im Bandelier
befestigte und nun an der langen Reihe der Korpsbrüder entlang zur
Spitze des Zuges schritt. Mächtig rauschend bauschte sich das seidene
Banner im Winde, und mit lautem Zuruf und Mützenschwenken begrüßte das
Korps das Symbol seines Bundes.

Und nun zog das Korps auf dem nächsten Wege zur Ketzerbach hinab, wo
der Festzug der Studentenschaft sich versammelte. Unten standen schon
fast alle Korporationen aufgereiht: nach langen Verhandlungen hatte man
sich geeinigt, daß die beiden ältesten Verbände, der Seniorenkonvent
der Korps und der Delegiertenkonvent der Burschenschaften, um Spitze
und Schluß des Zuges losen sollten, und dem S. C. war die Spitze
zugefallen. So eröffnete Cimbria diesmal als zurzeit im S. C.
präsidierendes Korps den ganzen Zug. Die Cimbern marschierten an den
schier endlosen Linien der aufmarschierten Studentenschaft vorbei;
selbstverständlich ohne die geringste Begrüßung hinüber und herüber:
auch heute fiel die Schranke nicht, welche die Farben zwischen den
Kommilitonen, den Söhnen eines Volkes, eines Reichs, einer Hochschule
gezogen hatten. Nur als man vorne an der Spitze angelangt war und an
den Reihen der bereits aufgezogenen beiden andern Korps vorbeizog,
flogen die blauen Deckel hüben, die hellgrünen und weißen drüben von
den Köpfen.

Musik erklang:

    »Stoßt an, Marburg soll leben!
      Hurra hoch!
    Die Philister sind uns gewogen meist,
    Sie ahnen im Burschen, was Freiheit heißt
    Frei ist der Bursch, frei ist der Bursch!
    Frei, frei, frei ist der Bursch!«

Feierlich tönte der in Marburg übliche verlängerte Schluß der alten
Jubelweise über die breite Allee, die niederen Häuschen, weckte stolzes
Echo an Sankt Elisabeths braunem Doppelgetürm und wogte weit hinaus, zu
den grünen Lahnbergen hinüber.

Und der Zug trat an und schob sich langsam den ansteigenden Steinweg
hinauf. Alle Fenster der mit Fahnen und Girlanden buntgeschmückten
Häuser waren besetzt, der Geringste in Marburg nahm teil an dem
Jubelfest der Hochschule, aus den Dachluken selbst lugten hellgewandete
Mädchengestalten, wehten winkende Tücher. Und von Fensterbrüstungen
und Balkons flogen Blumensträußchen ohne Zahl auf die Studenten, die
Helden des Tages, hernieder. Die griffen eifrig in die Luft, hielten
die Mützen hin, schmückten jedes Knopfloch, jedes Täschchen, den Rand
der Mützen, ja selbst die Ränder des Rockkragens mit den lieblichen
Spenden. Und als es gar keinen Platz mehr gab, da ließ man die lustigen
Wurfgeschosse dahin zurückfliegen, von wannen sie gekommen waren
-- hinauf, hinunter flogs, mit Jauchzen, Gelächter, sinnigem oder
täppischem Scherz.

»Paßt auf, Kinder, das da ist für die Schönste von euch!«

Und zwischen drei blühenden Töchtern tauchte der lachende Graukopf der
Mutter auf, und ihr flog das Sträußchen mitten ins Gesicht.

»Wie galant!« rief die und nestelte das Sträußchen ans dunkelseidene
Festgewand.

»Sie waren, auf Ehre, nicht gemeint, gnädige Frau!«

»So? Na, da haben Sie's wieder!«

»So! Nun paßt aber auf, ihr drei! Wer's schnappt, ist die Schönste!«

Und diesmal blieb's in den zierlichen Fäusten eines braunzöpfigen
Backfischchens.

»Is so recht?«

»Allemal!«

Und wenn's nun gar bei Bekannten vorbeiging!

»Herr Papendieck, passen Sie auf, die weiße Rose sollen Sie haben!«

Schwapp! mitten auf des Cimbernseniors stattlichem Gesichtshaken.

»Daß du die Nase ins Gesicht behältst!« zitierte der Mecklenburger
seinen berühmten Landsmann.

Eine keckere Mädchenstimme schrie:

»Schöner Krusius, das hier ist für dich!«

»Ich fühle mich getroffen,« rief Krusius, denn das Sträußchen hatte ihm
unsanft die linke Backe mit dem kaum verheilten Durchzieher von der
letzten Mensur gestreift. Er führte es an die Lippen und schwenkte es
dann grüßend nach oben.

»-- Das da ist für die, die mich liebt!«

Jungbursch Ehlert ließ drei, vier rasch zusammengebundene Sträußchen
mitten in einen Balkon voll schmucker Weibchen hineinsausen.

Und: »Ich! ich! ich!« schrien sie alle, alle und streckten die Hände.
Im Nu war das Sträußchen in tausend Fetzen zerrissen.

Und die Musik spielte:

    »Wenn wir durch die Straßen ziehen!«

Da fielen sie alle, alle ein, die Studenten, die jungen Damen, die
Väter, die Mütter, der Friseur und seine Gehilfen vor der Ladentür, die
sich eifrig verbeugten, wenn ihre Kundschaft im strahlenden Schmuck
der frisch durchgezogenen Scheitel vorüberkam, die Ladenfräuleins im
Erdgeschoß und die rotbemützten Dienstmädchen oben unterm Dach, die
Gymnasiasten und die Spielkinder, alle, alle sangen sie mit:

    »Wenn wir durch die Straßen ziehen,
    Recht wie Bursch in Saus und Braus,
    Schauen Mädchen, schwarz und braune,
    Rot und blond aus manchem Haus,
    Und ich laß die Blicke schweifen
    An den Fenstern hin und her,
    Fast als wollt ich eine suchen,
    Die mir die allerliebste wär.«

Und als gält es nur für ihn allein, so inbrünstig sang Werner Achenbach
heraus:

    »Und doch weiß ich, daß die Eine
    Wohnt viel Meilen weit von mir,
    Und doch kann ich's Schau'n nicht lassen
    Nach den schmucken Mädchen hier.
    Liebchen, laß dich's nicht betrüben,
    Wenn dir eins die Kunde bringt,
    Und daß dich's nicht überrasche,
    Dieses Lied ein Wandrer singt.«

Ja -- an wen dachte er dabei! An Elfriede -- oder an Rosalie?
Vielleicht an beide ... und an keine so recht ... es war so ein wildes,
formloses, gegenstandsloses Sehnsuchtsgefühl, dem dies Lied Worte,
Klänge lieh ...

Eben kam der Zug an Werners Bude vorbei: aus dem Fenster seines
Wohnzimmers hätte Rosalie schauen müssen, aber sie war fern: die blonde
Babett guckte heraus, mit ein paar Freundinnen aus ihrem Heimatdorf,
sie errötete selig, als Werner ihr zunickte -- im Erdgeschoß stand
Mama Markus welken, gütig lächelnden Angesichts in der Ladentür, und
hinter den Flaschen und Büchsen im Schaufenster gewahrte Werner einen
Augenblick die verzerrte, qualzerrissene Grimasse Simons ... nanu --
warum hockte denn der zu Haus? War denn der nicht auch Student?! --
gehörte denn der nicht mit dazu, wenn Alma Philippina feierte?! -- ach
so ...

Musik, jauchzender Gesang, flatternde Fahnen und Blumen, Blumen
überall, Blumen fliegend aus jedem Fenster, Blumen an jeder Brust,
Blumen den Boden bedeckend wie den Einzug ruhmreicher Sieger, und doch
nur eine Huldigung der Jugend an die Jugend, ein Gruß des Lebens ans
Leben ... lächelnd, lachend, jubelnd jeder Mund, leuchtend jede Wange
...

Doch nein -- eine nicht --

»Klauser, was ist dir?«

»Nichts ... was soll mir denn sein?«

»So freu dich doch! Bist du nicht vergnügt? Fehlt dir was?«

»Nicht das geringste!«

»Vorhin ist's mir schon aufgefallen -- du bist nicht wie sonst -- ist
dir was passiert?!«

»Was sollte mir passiert sein? Nicht das mindeste ... ich bin bloß
nicht in Stimmung. Ich bin kein Freund von so viel Rummel.«

»Nanu? Das ist doch das erstemal, daß ich das an dir merke?! Dann
rapple dich aber jetzt gefälligst ein bißchen auf -- gleich sind wir
am Barfüßertor ... weißt du, wer da wohnt? Haha! Da mußt du aber ein
andres Gesicht machen!«

»Ach -- lieber Kerl -- ich ... mir ist hundemäßig zumute ...«

»Ja, was ist denn?!«

»Nichts -- laß mich -- da sieh, wie schön der Markt!«

Und wahrlich, hier entrollte sich das Bild des feiernden Städtchens
in seiner ganzen ehrwürdig-lieblichen Pracht. Der enge Platz war
ganz von Zuschauern freigehalten, und in langem Bogen umzog nun der
Festzug den Markt, dicht unter den Fenstern der niederen, altersdunklen
Häuserfronten, des schlichten, strengen Rathauses entlang. Hier hatten
alle Häuser noch ein übriges an Festschmuck aufgeboten. Girlanden von
Tannen- und Eichengrün, lange Reihen kleiner Fähnchen überspannten den
ganzen Platz der Länge und Quere nach ... und wieder war bis obenhin
ein jedes Fenster mit geputzten, jubelnden, blumenstreuenden Menschen
besetzt ... und durch die flatternden Tücher der Fahnen, die wehenden,
winkenden Hände, die harzig duftenden Girlanden zog es wie ein Sturm,
wie ein Rausch der Jugend, der Kraft, des Glückes ... als seien alle
diese Jünglinge hier nur zusammengeströmt, um in einem Fest ohne Ende
sich ihrer blühenden Jahre zu freuen, als hieße Student sein nichts
anderes als Olympier sein, als heiter, wunschlos, herrscherhaft wandeln
auf blumenbestreuten Pfaden, von Rosen umduftet, von Schönheit und
Liebe gefeiert und begnadet, selig, selig, selig ...

Aber ein anderes sprach sich auf dem Gesichte des Freundes aus, dessen
Arm schwer in dem Werners lag, der nur lässig ein Blumensträußchen an
die Brust gesteckt, dessen Herz sich ausschloß vom Jubel der Stunde,
dessen Auge düster hineinstarrte in ein unfaßbares, ungreifbares
Verhängnis, das seine leuchtende Jugend zu überschatten schien mit der
Ahnung unabwendbarer Seelenstürme, unversiegbarer Tränenschauer ...

»Klauser -- du sollst mir sagen, was du hast! Ich finde das einfach
unfreundschaftlich von dir, mir hier die Stimmung zu verderben, wenn du
keinen Grund hast ...«

»Keinen Grund?! Ich hoffe, ich habe keinen Grund.«

»Klauser? Gott, sei doch nicht so albern. Ich bin doch dein Freund.
Rede jetzt, sonst laß ich dich stehen und geh mit einem andern.« Das
war scherzhaft gesprochen, doch Werners Stimme bebte dabei leise, und
Klauser verstand die Meinung des Freundes.

»Ach ... ich bin verrückt, wirst du sagen. Es ... ist eigentlich nichts
... Marie hat seit acht Tagen nicht zu mir wie sonst ... sie hat
mich zweimal beim Rendezvous warten lassen ... das drittemal ist sie
gekommen, aber ... ganz verändert ... ganz ... ich weiß nicht ... äh
... ich werd's mir wohl nur eingebildet haben.«

»Ja ... so sprich doch ... was ... sagte sie denn ... was machte sie
denn ..«

»Ja, Himmel, sie war eben ... anders ... zurückhaltend, befangen,
sonderbar ... eben anders ... und dann auf einmal zum Abschied küßte
sie mich so wild und so wehmütig ... als ob ... ich sage dir, Achenbach
... es war --«

»Himmel, du bist ja ein Tor -- vielleicht hat's zu Hause Kummer oder
Verdruß gegeben --«

»Dann hätte sie mir erzählen sollen --«

»Oder was sonst gewesen ist ... du ... du wirst doch nicht gar -- an
Marien ... ich meine, du bildest dir doch nicht gar ein, sie könnte am
Ende --«

»Ich bilde mir gar nichts ein ... nur daß mir elend seitdem ist ...
einfach schauderhaft ist mir --«

»Nimm dich zusammen! Da ist das Haus!«

Zur Rechten des zum Schloß hinanführenden Weges lag inmitten
eines altprächtigen Gartens über hoher Böschungsmauer das
behaglich-altfränkische Schweizerhaus des Geheimrats Professor Doktor
Hollerbaum. Der alte Herr stand oben, auf dem weißen Scheitel die
verschossene hellgrüne Mütze der Hessen-Nassauer, das falb gewordene
Band umzog seine Brust unter dem Überrock, auf dessen Klappe ein langes
Ordenskettchen klingelte. Er grüßte höflich die Farben der Cimbria,
gegen die er vor Jahrzehnten so manches Mal auf Mensur gestanden; alle
Cimbernmützen flogen herunter; und neben des Professors Silberkopf
neigte sich ein anderes, noch jugendlicheres Haupt ... Mariens Mutter
... aber wo war ~sie~?

Halb verborgen hinter den Eltern hatte sie gestanden. In weißem Kleide,
nicht im gewohnten Hellgrün -- nun neigte sie sich über die Mauer,
nickte den grüßenden Cimbern zu, suchte mit den Augen, fand Werner und
Klauser und goß plötzlich aus einem Körbchen, das auf der Mauer stand,
einen Schwall weißer Rosen über Willys Haupt, das sich eben grüßend
entblößt hatte.

Einen Schwall weißer Rosen.

Und neben ihr tauchte da eine blaue Cimbernmütze auf. Darunter ein
lächelndes, leuchtendes Angesicht -- das Gesicht eines Mannes ...

Professor Dornblüth.

Er winkte den bergansteigenden Korpsbrüdern mit der Hand lächelnd zu --
rief:

»Auf Wiedersehen auf dem Dammelsberg!«

Werner suchte Klausers abgewandtes Gesicht. Es war fahl geworden ...
fahl ... es mahnte Werner an jenes Mädchenantlitz, das auf dem Tisch
der Prosektorstube dem Messer des Anatomiedieners entgegengeharrt
hatte. Eine Rose hielt Klauser in der Hand ... eine einzige, weiße Rose
... an der hingen seine starren Augen.

Gott ... wäre das möglich?!

Werner hatte Mariens Blick gesehen, als sie die Rosen über Klauser
ausgoß. Ein Unsägliches hatte darin gelegen, das Werner vergebens zu
enträtseln suchte: Weh ... und Scham ... und Dank ... und Liebe ...
ja, auch Liebe ... aber eine Liebe, sterbend, verwelkend wie jene
weiße Rose in Klausers Hand ... und Dank ... ach, ein Dank, der den
Empfänger quält wie ein Schimpf ... und über alles ... Abschied ...
Abschied ... Abschied ...

Und Werner fragte nicht. Er zog den Arm des Freundes fest an sich heran
... und stumm stiegen die Jünglinge bergan, inmitten der lachenden,
schwatzenden Korpsbrüder, durch die flimmernde Herrlichkeit des
glühenden Julinachmittags, dem Dammelsberg entgegen, dem Fest der
Jugend entgegen.




                                 III.


Wenige Schritte nur hatten die Freunde in dumpfem Schweigen
zurückgelegt. Da riß Klauser seinen Arm aus dem des Freundes, ballte
die Fäuste und zischte zwischen den Zähnen:

»Vor die Pistole muß er mir! Vor die Pistole --«

»Wer -- der Alte Herr?!«

»Was schiert mich das?! Meinst du, ich lasse sie mir so einfach
wegnehmen? Ich schieß ihn über den Haufen --!!«

»Komm, Klauser, nimm dich ein bißchen zusammen, die andern werden schon
aufmerksam auf dich. Höre mich doch bitte einmal einen Augenblick lang
ruhig an. Ich glaube, du bildest dir das alles nur ein.«

Klauser lachte wild auf.

»Doch, Klauser, wahrhaftig, ich glaub's! Sieh mal, der Alte Herr ist
noch nicht drei Wochen in Marburg. Der alte Hollerbaum ist Dekan der
Juristenfakultät, außerdem ist er doch auch Pandektist; also da ist
doch das ganz erklärlich, daß Dornblüth bei ihm verkehrt! Und daß
der Alte seinen Kollegen eingeladen hat, sich von seinem Garten aus
den Festzug anzusehen ... na, das ist doch alles ganz natürlich, da
brauchst du doch nicht gleich auf Gedanken zu kommen!«

»Haha! und sie?! Ihr Benehmen gegen mich?! Ach geh mir doch mit
deinem faden Trost ... es ist aus ... oder es soll aus sein! Ach,
diese Weiber! Da kommt einer in Amt und Würden, und eins, zwei, drei,
wird man beiseite geschoben wie ein dummer Junge --! Na, wartet, ihr
da unten, in mir sollt ihr euch geirrt haben! Ich laß mich nicht
abschieben, ich habe Rechte! Rechte!«

»Komm, liebster, einziger Klauser, sei doch nur nicht so wild! Denk
doch, die andern müssen ja was merken! Sieh mal, ich kann's nicht
glauben, ich kann's einfach nicht, daß der Alte Herr Absichten auf
Marie hat --«

»Ja, warum denn nicht? Was sollte ~den~ denn hindern?«

»Klauser, ich muß dir etwas gestehen. Neulich, auf dem Wege nach
Ockershausen, am Samstag vor drei Wochen, als du dich wieder in den
Bund hineinpauktest, da tauchte ja der Alte Herr Dornblüth zum ersten
Male auf, erinnerst du dich? Du mußt doch gesehen haben, daß ich mit
ihm vor dir marschierte, weißt du's noch --?«

»Ja -- mir fällt's ein -- nun, und --?«

»Also da bin ich mit dem Alten Herrn ganz zufällig zusammengetroffen,
und da fragte er mich nach allem aus, was los sei im Korps, und dann
ist uns Marie begegnet, und da fragte er auch, wer die wäre, und -- da
ist's mir eben entschlüpft, daß sie und du ... daß ihr verlobt wärt.«

»So -- und --?!«

»Du mußt mir nicht böse sein, es kam so ganz von selber ... na und
siehst du, nun weiß also der Alte Herr doch, daß die Marie mit einem
Korpsbruder von ihm verlobt ist, und einem Korpsbruder die Braut
abspenstig machen ... so eine Gemeinheit, so eine verdammte Schurkerei
wirst du dem doch nicht zutrauen? So sieht der mir wahrhaftig nicht
aus!«

Klauser sann einen Moment schweigend vor sich hin. Dann brach er aus:

»Und wenn du recht hast -- um so schlimmer für mich!! Dann hätte die
Marie sich eben ohne sein Zutun ... denn daß sie von mir nichts mehr
wissen will ... das weiß ich, das fühl ich, da kann mir keiner dawider
reden!! Aber sie soll mich kennen lernen! Kämpfen will ich um sie,
kämpfen bis zum letzten Blutstropfen!!!«

Ȇbereile doch nur nichts, Klauser, um Himmels willen! Marie kommt ja
doch jedenfalls hernach auf den Dammelsberg, ihr könnt zusammen tanzen,
du kannst sie ja einfach fragen, und ich bin überzeugt, sie lacht dich
aus und fragt dich, ob du toll bist! Oder sie haucht dich gründlich an,
daß du überhaupt so abscheulich an ihr zweifeln kannst!«

So tröstete Werner den Freund. Und der Trost wirkte. Er wirkte, weil
so vieles ihm half. Das gläubige, vergötterungsbedürftige Herz des
verliebten Jünglings, der Rausch der Festfreude ringsum, der lustige
Anstieg zum Schloßberg, der hoffnungatmende Sommerhauch.

Und als Werner den Erfolg seiner Trostgründe beobachtete, da begann er
schließlich selber an sie zu glauben ...

Und über den Einmarschierenden wölbte sich nun der Eichenwald. Noch
einen letzten Blick vom Waldrand rückwärts! Da wand sich der Zug vom
Schloßberg hernieder durch heckenumsäumte Wiesenpfade, eine Schlange,
deren Schuppen in den Farben des Regenbogens glänzten. Und von rechts
und links auf Nebenpfaden wallfahrtete nun auch Marburgs Bürgerschaft
heran. Überall tauchten blinkende Gewänder auf, dazwischen die
hellen Sommeranzüge, die Strohhüte, die dunkleren Seidenkleider und
Sonnenschirme schwitzender Väter und Mütter. Und alles verschlang der
Festwald.

Drinnen war's kühl und herrlich. Alle die geräumigen Festplätze, die
für solche Tage, wie den heutigen, geschaffen waren, hatte man für
den Andrang einer ganzen festfrohen Stadtgemeinde vorbereitet. Von
Baum zu Baum zogen sich buntbebänderte Tannengirlanden, spannten
sich Wimpelketten, lange Reihen bunter Lampions. Und unten waren
Tische und Bänke aufgeschlagen -- jeder Tisch trug auf mächtigem
Pappschild in schwarzen Lettern den Namen der Korporation, für welche
er reserviert war. Ein ganzer Festplatz gehörte dem akademischen
Senat, einer den Stadtbehörden, ein größter der Bürgerschaft, soweit
sie nicht Anschluß bei den Korporationen hatte. Und inmitten all der
Feststätten war der Tanzboden aufgeschlagen ... Überall aber walteten
schon die Küfer ihres Amtes, stellten auf Kreuzböcken mächtige Fässer
Casseler Lagerbier auf, schlugen sie an, daß der Gischt schäumte, und
ließen sich's nicht nehmen, als erste zu probieren. Und über all dem
Treiben bauschten sich Fahnen in den Farben der Stadt Marburg, des
Reiches, Preußens, der Provinz Hessen-Nassau, endlich der sämtlichen
Marburger Korporationen. Und noch höher droben rauschten und webten die
Eichen- und Buchenwipfel, von flatternden, hüpfenden Sonnenlichtern
durchwirrt. Und in das ganze wohlbereitete Festgefilde ergoß sich nun
der Strom der feierlustigen Menge. Das rannte und schrie durcheinander,
das begrüßte sich, wies einander zurecht, lachte, schalt, schnauzte
mit Füchsen, Kellnern, Korpsdienern -- und zwischen den trotzigen
Knabengesichtern, dem Gewimmel bunter Mützen und den Sommerhüten der
farblosen Verbindungen und der Finken, die erhitzten, augenblitzenden
Mädchenlarven unter wippenden Blumenhüten, die hin und her pendelnden,
krampfhaft hochgehobenen Sonnenschirmchen ... ein Wirrwarr, ein Lärm,
ein quirlendes Chaos ... da würde niemals Ordnung werden.

Doch nach einer Viertelstunde hatte sich alles zurechtgefunden. Alles
saß an seinem Platze, ein wenig eng, doch dafür war eben Festtag -- und
wer hätte gar nach mehr Platz verlangt, wenn er eine hübsche Nachbarin
erwischt hatte -- man würde sich einzurichten wissen ...

Und das Fest begann. Gedruckte Liederhefte waren schnell verteilt,
und bald brauste durch den ganzen weiten Festwald das alte festliche
Burschenlied:

    »Wo zur frohen Feierstunde
    Lächelnd uns die Freude winkt« --

Und ein zweites Lied -- und ein drittes --

»Du -- da oben steigt wieder eine Rede!«

»Laß sie reden! Kannst dir's denken, was da oben offiziell gequasselt
wird!! Die Herren Professoren hören für uns alle mit!«

Plötzlich Orchestertusch ... und lautes Hoch da droben --

»Los, Kinder! Hoch! hoch! hoch!!«

»Auf wen geht's denn?!«

»Is ja egal! Is ja ganz schnuppe! Brüllt nur ordentlich mit!«

»Hoch! hoch! hoch!!«

»Und nun -- Umtrunk!«

»Prost!«

»Prost doppelt!«

Einer kam hinzu: »Stellt euch vor, ihr Herren, eben hat der
>Tausendste< geredet!«

»Was hat er denn gesagt?«

»Das hat kein Mensch verstanden. Heimtückischerweise ist's ein Russe,
der kaum drei Töne deutsch reden kann!«

»Aber schön war's doch -- was?!«

»Allemal! Kinder, gebt mir was zu saufen -- ich verdurste!«

                   *       *       *       *       *

»Sie sitzt auf dem Professorenplatz bei ihren Eltern,« berichtete
Werner, der auf Erkundung ausgegangen war, dem harrenden Freunde am
Cimberntisch.

»Und -- ist der -- auch dabei?«

»Professor Dornblüth -- ja -- der ist auch dabei.«

»Hm. Setz dich. Wann fängt der Tanz an?«

»Um halb sieben.«

»Gut. Inzwischen -- prost -- einen Halben auf dein Wohl.«

»Du, Klauser, trink nicht ... denk nur, was heut alles auf dem Spiel
steht für dich.«

»Ja, ja, schon gut.«

In diesem Augenblicke entstand oben am Cimberntisch eine Bewegung.
Man erhob sich, die Mützen flogen von den Köpfen. Einige der älteren
Alten Herren des Korps waren herangetreten, begrüßten die Korpsbrüder
und nahmen oben neben dem Ersten Platz, während die übrigen
zusammenrückten. In ihrer Mitte auch Dornblüth.

Eine Weile verging. Man trank, ein allgemeines Lied wurde gesungen,
von droben klang wieder der entfernte Tonfall einer Festrede; am
Cimberntisch lärmte und schwatzte man munter weiter, die Alten Herren
tranken den Chargierten zu, schließlich beim Tusch schrie alles munter
mit: Hoch! und stieß mit den wuchtigen Henkelgläsern an.

Da trat der Korpsdiener zu Klauser heran und sagte halblaut:

»Herr Klauser, der Alte Herr Professor Dornblüth täte sich erlaube,
Ihne eins zu komme, und ob er Ihne hernach gelegentlich kennt e paar
Minute spreche!«

»Sagen Sie dem Herrn Professor, Peter, ich werde zu seiner Verfügung
stehen und erlaube mir, nachzukommen.« Er trank, warf aber keinen Blick
hinüber, obwohl Werner ihn anstieß:

»Du -- er schaut herüber.«

»Meinetwegen. Hast du verstanden, was Peter sagte?«

»Ja.« Werner legte die Hand auf des Freundes Arm und drückte ihn leise.

In diesem Augenblick entstand oben am Tisch ein wahres Hallo. Die
Freunde blickten hinüber und sahen neben dem Senior Papendieck, der
sich in seiner ganzen Länge erhoben hatte, eine Riesengestalt in
Reiseanzug und leichtem Filzhut -- Scholz ...

Eben warf der seinen Hut dem Korpsdiener zu, nahm aus dessen Hand eine
Mütze entgegen, stülpte sie sich auf den Hinterkopf, streckte beide
Hände den andrängenden Korpsbrüdern hin und lächelte, soweit es seine
starren Gesichtszüge, sein herber Mund gestatteten. Und die meisten der
Cimbern sprangen auf, ihn zu begrüßen, aber er wehrte ab:

»Bleibt sitzen, Herrschaften, ich komme zu euch.«

Und er schritt den Tisch entlang, streckte immerfort die langen Arme
über die Schultern der Nächstsitzenden nach jenseits zur Begrüßung,
antwortete auf einen Schwall von Fragen, kam so näher.

Werner schauderte bei diesem Anblick. Wie ihn begrüßen ... den
Entsetzlichen, der es wagte zu leben und zu lachen, dieweil ...

»Guten Tag, Leibfuchs Achenbach ... na, da wär ich wieder!«

»Guten Tag, Leibbursch.« Werner fühlte die hagere, eiserne Tatze des
weiland Cimbernseniors in seiner Hand.

»Na, laß dich mal besehen -- noch alles glatt? Gut schaust du aus --
ordentlich dick geworden. Das macht die gute Luft im Korps, seit ich
weg bin. Du, Leibfuchs, gratulier mir mal schnell: ich hab vorgestern
in Berlin den Doktor gemacht -- +magna cum+!«

Werner gratulierte und schüttelte nochmals die Hand, von der ein
Eisstrom ihm die Glieder durchlief.

»Ah, und da ist ja auch Klauser. Gratuliere zu -- na du weißt schon.
Donnerwetter, du hast dir aber ein hübsches Lokal zugelegt! Wer hat
denn das gekonnt?«

Aber er wartete gar nicht erst auf Antwort, begrüßte die Füchse im
Ramsch mit einer winkenden Handbewegung:

»Tag, Füchse -- na, munter!« und schritt dann zurück zum oberen Ende
des Tisches, wo er mitten zwischen den Alten Herren Platz nahm und
bald in ein eifriges Gespräch verwickelt war, an dem er sich in seiner
kalten, gemessenen, doch entschiedenen Weise beteiligte.

Scholz wieder da -- Doktor Scholz ... und nächstens müßte Rosalie
wiederkommen -- --

Nun trat Professor Dornblüth, ein gefülltes Bierglas in der Hand, von
hinten an Klauser heran und sprach:

»Herr Korpsbruder, ich glaube, wir haben noch nicht Gelegenheit gehabt,
Bruderschaft zu trinken ... darf ich Ihnen also Schmollis anbieten?«

Steinernen Gesichts erhob sich Klauser. Leise, nur Wernern vernehmbar,
erwiderte er:

»Herr Professor, ich glaube, Sie hatten mir etwas zu sagen. Wollen wir
... das ... das Schmollistrinken ... nicht bis nach der Unterredung
verschieben?!«

Der Professor stutzte einen Augenblick, mehr noch über den Ton der
Worte als über ihren Sinn. Dann sah er Klauser ruhig ins Auge und sagte
mit einem Lächeln, das in seltsamem Kontrast zu der Schärfe seines
Blickes stand:

»Aber warum denn das? Um so freundschaftlicher werden wir plaudern
können.«

Es durfte kein Aufsehen geben. Klauser griff zum Glase, nahm mit der
Linken die Mütze ab, der Professor tat ein gleiches -- sie stießen mit
den Gläsern an, tranken, nahmen die Gläser in die Linke, schüttelten
sich kurz Auge in Auge die Hände und bedeckten die Köpfe.

Dann setzte der Professor sein Glas auf die ungehobelte Tischplatte und
sagte:

»Na, nun komm also, lieber Klauser, laß uns eins schwatzen.«

Und wortlos folgte Klauser, weiß bis in die Lippen.

Werner begleitete die beiden mit den Augen. Kaum konnte er das rasende
Pochen des Herzens ertragen. Da ging der Freund in die schwerste Stunde
seines jungen Lebens ... tausendmal schwerer als alle Mensuren, als
alles zusammengenommen ... was er bisher überhaupt erlebt ... und was
würde werden? Was würde werden?!

Er muß mir vor die Pistole! hatte Klauser gesagt.

Und er war der Mann, sein Wort wahrzumachen ...




                                  IV.


Dornblüth hatte seinen Arm in den Klausers geschoben, und so lange
dieser fürchten mußte, vom Korps beobachtet werden zu können, ertrug er
die schwere Männerhand in seiner Ellenbeuge. Kaum war man aber aus dem
Bereich des Cimbernplatzes, da ließ er ruckartig den rechten Unterarm
fallen und schritt stumm zur Linken des Alten Herrn weiter.

Auch Dornblüth schwieg. Schweigend drängten sich die beiden
blaubemützten Männer durch den Schwall der hin und her flutenden
Festteilnehmer, der dunkelgrünen, violetten, weißen, ziegelroten
Mützen, der flatternden Sommerfähnchen, der keuchenden,
bierschleifenden Kellner und Couleurdiener. Nun waren sie draußen, und
hart neben dem Trubel des Festplatzes führte ein wohlgehaltener Fußpfad
in Kühle und Schatteneinsamkeit. Die Sonne war schon verschwunden: es
dämmerte durch den Bergpark.

»Ich ... es kommt mir vor, als hättest du, lieber Klauser, schon eine
Ahnung, was ich mit dir zu besprechen habe.«

»Daß ich nicht wüßte,« sagte Klauser kalt gemessen.

»Lieber Freund,« sagte der Professor, »ich habe dir eben Bruderschaft
angeboten. Ich hab's getan, weil ich ein gutes Recht dazu habe -- als
Träger dieses Bandes. Ich hab's gerade jetzt getan, weil ich meine:
das, was wir uns zu sagen haben werden, das kann nur im Sinne der
Freundschaft, im Sinne der Korpsbruderschaft, meine ich, kann das zum
Guten erledigt werden. Es handelt sich um Fräulein Marie Hollerbaum.«

Mit einem Ruck stand Klauser still.

»Herr Professor, ich denke, wir kürzen ab. Ich bitte Sie, morgen früh
meine Zeugen zu erwarten. Haben Sie mir sonst noch etwas mitzuteilen?«

Dornblüth stand Klauser gegenüber und legte seine Hand auf des Jüngeren
Schulter.

»Komm, mein Junge, laß uns als Korpsbrüder, laß uns als Menschen
zueinander reden. Ich versichere dir, du hast keinen Grund, mir zu
zürnen, keinen, dich von mir beleidigt zu fühlen, keinen, von mir
Genugtuung mit der Waffe zu verlangen. Willst du mich ruhig anhören?«

»Bitte.« Klauser preßte die Zähne zusammen und stand, seitwärts
gewandten Gesichts, die bebenden Fäuste in den Rocktaschen vergraben.

»Wir wollen dabei wandern, wenn's dir recht ist. Also hör, mein Lieber:
ich hab von einem unbedachten Füchschen durch einen Zufall erfahren,
daß du eine Neigung zu ... zu der Dame, die ich dir nannte ... daß du
diese Dame ... liebst ... und ... daß du Grund hast, an Gegenliebe zu
glauben. Damals hatte ich diese junge Dame nur einen Augenblick lang
gesehen ... inzwischen hat's das Schicksal gewollt, daß ich sie kennen
lernte. Sie ist die Tochter eines Kollegen von mir, wie du weißt, und
... du -- gerade du, wirst mich am besten verstehen, wenn ich dir sage,
daß sie ... mir sehr wert geworden ist.«

Er hielt einen Augenblick im Schreiten inne, wie um für seine
stürmenden Gefühle das rechte friedvolle Wort zu suchen.

»Sieh, lieber Freund ... wenn du nun ein xbeliebiger junger Student
gewesen wärest ... dann würde mich's wenig gekümmert haben, daß
Fräulein ... Marie ... ich will sagen, dann hätte ich einfach um
sie geworben und hätte ihre Entscheidung zwischen mir und jenem ...
andern ... abgewartet. Aber nun bist du mein Korpsbruder ... ich bin
ja eigentlich seit Jahren aus all den akademischen Beziehungen heraus
... aber trotzdem ... ich fühle, dich und mich verbindet etwas ... das
darf ich nicht so ohne weiteres beiseite schieben. Und ich will's auch
nicht. Nicht nur will ich selber wie ein alter Korpsstudent handeln ...
auch in dir möchte ich an den Korpsstudenten appellieren. --«

Er schwieg wieder einen Augenblick und suchte nach Worten.

»Also ... lieber Klauser ... du ... betrachtest dich als den Verlobten
von Fräulein Hollerbaum ... und sie ... hat sich wohl bis heute ... als
deine Braut betrachtet ...«

»Bis heute?!«

»Demnach hast du also ganz unzweifelhaft ... Rechte ... Rechte, die ich
als Mann zu achten habe und in die ich nicht eingreifen darf, ohne zu
erwarten, daß du von mir Sühne verlangst -- Genugtuung. Darum laß mich
dir als Korpsbruder -- und als Mann von Ehre versichern, daß ich bis zu
diesem Augenblick nicht mit einem Wort, nicht mit einem Blick in diese
deine Rechte eingegriffen habe. Willst du mir das glauben? Antworte
mir, ob du mir das glauben willst --!«

»Ich ... will's glauben.«

»Das ist schön, das ist gut. Nun aber hör mich an ... ich sagte dir
schon ... Fräulein Marie ist mir wert geworden ... so wert, wie noch
keine Frau zuvor in meinem vielerfahrenen Leben.«

»Herr Professor ... ich bitte um Verzeihung ... aber ich kann diese
Unterredung nicht mehr ertragen. Lassen Sie mich gehen ... tun Sie, was
Sie nicht lassen können, ich tu dann auch, was ... was ich muß ... aber
das da anhören, das kann ich nicht länger ... ich geh.«

»Freund, noch ein kurzes Wort hör an, du weißt ja noch gar nicht,
was ich dir eigentlich zu sagen habe! Sieh mal, es handelt sich doch
wahrhaftig um heilige und wichtige Dinge ... da kann man sich schon mal
ein wenig zusammennehmen ... solch schwere Stunden ... Männer müssen
die ertragen lernen! Meinst du vielleicht, mir fiele das leicht, das
da?«

»Also, was willst ... was ... wollen Sie von mir?«

»Du findest das korpsbrüderliche Du anscheinend noch nicht -- deshalb
laß ich mir's aber nicht nehmen. Also sieh mal -- wenn zwei Männer ...
wie du und ich ... zwei Ehrenmänner ... wenn die ein und dasselbe Weib
... zur Gattin begehren ... wer hat dann zu entscheiden?«

»Die Waffe!!«

»Ich glaube, dieser Standpunkt, mein Lieber, ist nicht mehr ganz
zeitgemäß. Ich glaube, dann hat die Beteiligte, die umworbene Frau ...
die, meine ich, hat dann zu entscheiden! -- Sieh mal, es könnte doch
immerhin sein, daß Fräulein Marie ... ich ziehe ihre Gefühle für dich
nicht im geringsten in Zweifel, im Gegenteil, ich bin überzeugt, sie
hat dich sehr, sehr gern, es ist ja gar nicht anders möglich, denn du
bist ein so lieber, prachtvoller Mensch ... aber --«

»Aber --?!«

»Du bist eben noch jung ... sehr jung ... und vielleicht hat sich
Fräulein Mariens Neigung nur darum dir zugewandt, weil sie ... hier
in der Universitätsstadt ... bisher wenig Gelegenheit hatte ... zu
vergleichen ... denn sieh mal ... du bist ein lieber, prächtiger,
herrlicher Mensch, aber doch eben ... noch ein werdender Mensch, ein
Student, das ist ein Strebender, ein sich Entwickelnder ... und,
glaube mir, du kennst das Leben noch nicht, ich kenn's! Eine junge
Dame, wie Fräulein Marie, die ... ist reif, die ist fertig ... und zu
ihrer Ergänzung ... da bedarf sie eines reifen, eines fertigen Mannes.
Ich weiß nicht, ob ich mich täusche ... ich habe mich, wie gesagt, bis
heute ihr nicht im geringsten genähert ... erst wollte ich das mit dir
ins reine bringen ... und hätte auch ganz gewiß eine gelegenere Stunde
als diese abgewartet ... wenn nicht vor zwei Stunden ... du weißt ...
jene Begegnung, als ihr vorüberzogt ... deine Blicke ... und ihre ...
da wußte ich, es ist keine Zeit mehr zu verlieren ... wenn nicht gar
ein Unglück vorkommen soll ... ein großes, verhängnisvolles Unglück.
Also, mein Freund ... wir beide stehen vor unserer Schicksalsstunde
... und die Entscheidung liegt in einer Hand, in einem Herzen, das uns
beiden heilig ist ... wollen wir nicht ... in diesem bedeutungsschweren
Augenblick, als Männer, als Korpsbrüder, als echte deutsche
Korpsstudenten ... Arm in Arm dieser Stunde entgegensehen ... und sie
als Freunde, als Brüder tragen ... wem auch immer sie das Glück ... wem
sie die Trauer, die Entsagung bringt?!«

Er hatte mit beiden Händen des Jünglings Schultern ergriffen ... seine
Stimme ward seltsam rauh, und die bärtigen Lippen zuckten.

»Na, deine Antwort, mein Junge?!«

Klausers Augen hafteten am Boden. Schwer, fast stöhnend, ruckweise,
ging sein Atem -- und auf einmal erschütterte ihn ein kurzes, hastiges,
trockenes Schluchzen.

»Lieber, lieber Freund!« sagte da der Professor erschüttert und schlang
den linken Arm um Klausers Nacken.

Der suchte sich loszumachen und schrie:

»Ach, lassen Sie mich!! Es ist ja doch alles aus! Ich weiß ja, Sie
haben sie mir genommen! Geraubt haben Sie sie mir! -- Es ist nichts
mehr zu entscheiden -- Marie ... es ist aus! Lassen Sie mich los!
Ich will zu ihr, sie selber soll mir's bestätigen, ... und dann ...
dann hab ich nur noch eins zu tun ... abzurechnen mit Ihnen! Ja, mit
Ihnen! Sie wußten, daß die Marie mir gehört ... mir! Und da hätten Sie
überhaupt nicht wagen dürfen, an sie zu denken! ... Und darum ... und
darum werden wir uns woanders weiter sprechen --!!«

Aber der Professor ließ ihn nicht. Er hielt ihn fest umschlungen und
sagte:

»Lieber Freund, Sie sagen, Marie gehöre Ihnen? -- Gehöre? -- Kann ein
Mensch einem andern gehören? Nichts ist freier, soll freier sein, als
des Weibes Liebeswahl ... und wenn es wirklich wahr wäre ... wenn Marie
sich von Ihnen ... von dir abwendete zu mir ... dann ... den Schimpf
wirst du doch dem Mädchen, das du liebst, nicht antun, zu glauben, sie
täte es, um schneller versorgt zu sein ... dann mußt du, wenn du sie
wirklich liebst und heilig hältst ... dann mußt du ihr glauben, daß
sie, die dich so innig geliebt hat, mich doch noch mehr, noch tiefer
liebt ... mich, den Mann. Und dann -- dann wolltest du dem Mädchen,
das du liebst ... wie tief und wahr du sie liebst, das seh' ich ja ...
der wolltest du dann den Mann wegknallen, bei dem sie Glück zu finden
hofft? Wäre das eines Korpsstudenten würdig ... wäre das ritterlich,
männlich, menschlich?! Also du siehst, wie immer du die Sache
betrachtest ... Marie wird zu entscheiden haben, und du, mein Freund,
du wirst ihre Entscheidung ehren ... und wenn sie dir Trauer und Tränen
bringen sollte, dann wirst du so stramm und straff, wie neulich und
so oft schon deinem Gegner auf Mensur -- so wirst du auch dem Schmerz
gegenüberstehen, ohne zu mucken, ohne zu reagieren, im Leben beweisen,
was es heißt, ein Korpsstudent sein ... willst du mir das versprechen?!«

Es war ganz dunkel geworden in dem einsamen Laubgang. Nur von ferne
klang das rhythmische Stampfen von Becken und Trommel, der quäkende
Ton eines Fagotts, der Dreivierteltakt der Trompeten durch die Stille
herüber; da hinten also hatte der Tanz bereits begonnen. Draußen überm
Tal lag noch rote Dämmerung, und zwischen den Bäumen blinkte die
breite Lahnebene, flimmerte der ferne Fluß. Und Kühle webte durch die
Eichenhallen ... Kühle ... Stille ...

Und alles -- alles aus -- das Jugendglück entschwindend ... ach, schon
verloren ...

Und er -- der andere? Der Räuber?!

Da stand er, mit ausgestreckter Freundeshand ... mit leuchtendem
Freundesauge --

Wozu?!

Hahaha! um ihm, dem Besiegten, auch das letzte noch zu rauben -- die
Wollust der Rache ... das Recht des Entscheidungskampfes auf Tod und
Leben ...

Kämpften also nicht Hirsch und Stier um die allbegehrte Beute?
Kämpften, bis einer auf dem Platze blieb?!

Und er sollte nicht dürfen, nicht einmal das dürfen?

Und eine tiefe, lastende, hoffnungslose Müdigkeit sank auf sein Herz.
Wozu noch kämpfen? Es war ja aus -- nicht nur der Sieg, die Waffe
selbst war ihm entwunden ... er war der Knabe, der dumme, grüne Junge,
den noch Jahre der Arbeit und des Reifens vom Leben, von der Liebe
trennten.

Und plötzlich warf er sich herum.

»Gute Nacht, Herr Professor.«

»Wohin?«

»Ich will nach Hause. Schlafen.«

Herrgott! durchfuhr's da den Professor -- hatte er's am Ende doch
falsch gemacht? doch die empfindliche junge Seele zu tief geknickt?!

Schon war der andere ein paar Schritte entfernt. Dornblüth stürzte ihm
nach, holte ihn ein:

»Klauser ... dein Ehrenwort, daß du mir keine Dummheiten machst --!«

»Dummheiten?«

»Du darfst jetzt nicht allein bleiben ... ich hab' Angst um dich ...«

Da erwachte der Knabentrotz.

»Ich brauche deine Angst nicht. Denkst du, ich tu mir ein Leids an? um
ein Mädel, das ... äh!! Nee -- das nicht!! So armselig bin ich denn
doch nicht!! -- Da kannst du ganz ruhig sein, Alter Herr!«

Und abermals riß er sich los und stürmte nun, statt zu Tal, den bergan
führenden Weg hinan. Bald war er im Dunkel der Eichen verschwunden.

Dornblüth sah ihm lange nach. Oh, wie er ihn liebte! --

Der kommt durch, sagte er still. Nun zu Marie --!




                                  V.


Nein -- so doch nicht! so doch nicht!

Was, so einfach verschwinden? Stumm, schattenhaft dahinhuschen ...
hinaus aus ihrem Leben?

Er, der ihre ersten Küsse gepflückt hatte?

Er, dessen Leben hinfort nur Qual und sinnlos zehrendes Heimweh sein
würde?!

Nein -- das letzte Wort wenigstens, das Abschiedswort -- das wollte er
ihr nicht ersparen! Wenigstens sehen, fühlen, wissen sollte sie's, was
sie ihm getan hatte! --

Hahaha! Darum so treu, so rein, so unberührt sich erhalten -- darum
bezwungen Jugendfieber und Stürme des Bluts ... darum, um weggestoßen
zu werden wie ein verbrauchtes Spielzeug?

Ach, sie hatten ja recht, die andern, die ihn ausgelacht hatten, wenn
er nicht mitgemocht hatte zu den losen Mädchen ...

Liebe -- Treue -- Keuschheit -- alles Blödsinn!

Weiber! Weiber! Dirnen allesamt! Die eine wie die andere!

Die Dummen, die waren für zwei Taler zu haben ... die Gerissenen, die
taten's nur um einen goldenen Ring und eine lebenslängliche Versorgung
--!

Und so lange, bis einer kam, der das beides auf den Tisch des Hauses
legen konnte, nahm man auch mit einem vorlieb, auf den man warten mußte!

Aber, wenn sich's dann doch noch schickte ... wenn er kam, der
Ersehnte, der Mann mit dem großen Portemonnaie ... dann weg mit dem
Jungen, dem armen, dem dummen Buben!

Weg -- Fußtritt -- aus -- vergessen!

Nein, Mädel, du hast dich verrechnet!!

So einfach in die Ecke fliegen, stumm, wehrlos, wie eine zerknüllte
Puppe ... das gibt's nicht! Das gibt's nicht!

Wenigstens will ich dir noch sagen, wer du bist! will dir sagen, daß
ich dich jetzt kenne! daß der Traum von der Göttin ausgeträumt ist! daß
ich dich erkannt hab' in deiner ganzen Erbärmlichkeit! -- -- daß ich
nun weiß: du bist wie alle!

Feil für Gold, nur verschmitzter, nur raffinierter als die arme Lina da
hinten im Marbacher Tal! feil ... feil! --

Und durch die Büsche brach er sich Bahn, dorthin, wo die Walzerrhythmen
hüpften, wo der rauhe Dielenboden knarrte ... wo arme, betrogene,
verblendete Bürschlein die nichtsnutzigen, verschlagenen,
ränkespinnenden Weiberchen im Tanze drehten ...

Mit rötlichem Schein überflutete das unstete Licht von Hunderten
buntschimmernder Lampions den Tanzplatz. Glühenden Auges starrte
Klauser in das wirbelnde Gewühl -- fahndete gierig nach einem lichten
Scheitel über der wohlbekannten, adlig reinen, ernst geschwungenen
Stirn, den vergötterten, heilig strahlenden Augen ...

Da -- -- da kam sie heran, sicher geleitet durchs Getümmel der Paare
von einem starken, tragenden Arm ... sie ... in seinem Arm ...

Daß die Adern nicht sprangen, das Herz nicht riß, die Brust nicht barst
in einem wilden, weidwunden Todesschrei -- --!!

Und aus war der Tanz ... durcheinander, auseinander quollen die Paare,
strudelten den Ausgängen zu ...

Alle überragend die Hochgestalt des Blondbarts unter der vergilbten
Cimbernmütze ... die wies ihm den Weg ...

Ein paar Minuten dumpfen Harrens am Eingang des Platzes der
Professorenschaft ... dann hüpfte eine kecke Masurkaweise auf ... und
Willy Klauser stand mit abgezogener Mütze neben Marien.

»Gnädiges Fräulein -- darf ich um den Tanz bitten?«

Entsetzen stand in Mariens Blicken, düsterer Schreck im grauen
Augenblitz des Professors ...

»Ich danke ... ich möchte nicht mehr tanzen ... meine Eltern wollen
eben aufbrechen --«

»Ach, so eilig ist's nicht, Mariechen!« klang da des alten Geheimrats
behagliche Stimme von der andern Tischseite, und:

»Den einen Tanz kannst du schon noch riskieren, Mariechen!«
lächelte wohlwollend, festlich heiter auch Frau Hollerbaums mildes
Madonnengesicht ...

»Nein, wirklich, ich danke, Herr Klauser -- ich möchte mich noch ein
wenig abkühlen!« Sie hatte die Augen tief gesenkt, ihre Stimme versagte.

»Ich habe heut' noch gar nicht Gelegenheit gehabt, Sie um einen Tanz
zu bitten ... schlagen Sie mir den letzten Tanz nicht ab, ich bitte
darum!« Es war ein befehlender Ton in der Bitte.

»Tanz nur, Mariechen, es ist noch ein Rest in der Bowle, den laß ich
nicht umkommen!« lachte der Vater.

Ein hilfesuchender Blick flog aus Mariens Augen zu Dornblüth hinüber.
Er erwiderte mit einem unmerklichen, ruhigen Kopfnicken.

Und wortlos, totenblaß stand Marie auf. Ihre zitternden Fingerspitzen
schob sie in Klausers Arm, und hochaufgerichtet machte er sich Bahn ...

Am Tanzplatz führte er sie vorüber ...

»Wohin?!«

»Komm mit! ich rat es dir gut!!« Und mit der Linken griff er nach ihrer
Hand, zog sie fest in seinen Arm, riß sie von hinnen, in den Laubgang
hinein ... aus dem blendenden Lichterspiel ins nächtige Dunkel.

»Ich geh nicht weiter -- laß mich los!«

»Du bleibst! Bist du zu feige, meinen Glückwunsch zu deiner Verlobung
in Empfang zu nehmen?«

»Ich habe mich nicht verlobt!«

»Also noch zu früh? Tut nichts -- er hält sich bis morgen!«

»Laß mich! Ich will dir schreiben ... will dir alles ... erklären!«

»Die Mühe spar dir! Ich weiß schon Bescheid! Ich weiß alles -- alles!«

»Willy ... ich kann nicht anders ... vergib mir ... und laß mich gehn!«

Er faßte sie an beiden Handgelenken. Durch die Zweige drang ein letzter
Schein der Illumination; der gab in seinen Augen düster flackernden
Widerschein, und rum-tata-tita-rum-tata! klang die Masurka.

»Laß mich, Willy ... ich hab' ihn lieb ... ich ...«

»Hast ihn lieb! wirklich! und mich? was? wann hast du denn eigentlich
gelogen? Hä? damals? oder jetzt? oder gar damals ~und~ jetzt?«

»Ich hab' dich nicht belogen, Willy. Ich hab' dich lieb gehabt ... ich
hab' dich noch lieb --«

»Marie!«

»Ja, Willy -- das ist wahr! Immer, immer werd' ich dir dankbar sein ...
für all das Glück ... für deine Liebe ... für alles ... aber jetzt ...
jetzt ... laß mich!«

»Ja, geh! geh! und lach, daß du mich zertreten hast! zertreten und
zerschmissen!«

»Willy -- ach Willy -- verzeih mir!«

»Verzeihen? Niemals -- niemals! Werde glücklich, wenn du kannst!
wenn du den Mut hast, zu vergessen, was du aus mir gemacht hast! du
Verräterin! du Lügnerin!« Und er schleuderte ihre Hände von sich weg,
daß sie fast taumelte.

»Jetzt ist's genug!« klang da eine schneidende Stimme, und Professor
Dornblüth trat aus dem Dickicht. Er legte seinen Arm um die Wankende.

»Marie steht unter meinem Schutze!«

»Hahaha! gut -- nimm sie, Alter Herr! und laß dich von ihr betrügen,
wie sie mich betrogen hat!«

»Knabe?!« Einen mächtigen Schritt trat Dornblüth auf Klauser zu.

Da fiel von dem Jüngling ab, was Elternhaus und Schule, was die
Erziehung des Korps, was das Menschentum von Generationen an ihm
gebildet. Die Bestie brüllte nach Blut. Und weit ausholend führte er
einen wuchtigen Faustschlag nach des Nebenbuhlers Haupt.

Aber mit Riesenkraft fing der den Angriff auf. Mit beiden Tatzen packte
er den Gegner am Unterarm und zwang ihn in die Knie.

»Danke du Gott, daß du mich nicht getroffen hast!«

Und er zog die wild aufweinende Marie von dannen.




                                 VI.


Von verzehrender Ungeduld geschüttelt, hatte Werner auf des Freundes
Rückkehr geharrt. Und als Viertelstunde um Viertelstunde verrann,
ohne daß Klauser an den Cimberntisch zurückkehrte, hatte es ihn nicht
mehr inmitten der zechenden und schwatzenden Korpsbrüder gelitten.
Ruhelos hatte er den Festwald durchstreift, hatte sich durchs Gebüsch
an den Professorenplatz herangeschlichen und beobachtet, wie Marie
bald von diesem, bald von jenem Tänzer aufgefordert worden war; hatte
schließlich Dornblüth zurückkommen und in ruhiger Haltung am Tische,
dem Frau Geheimrat Hollerbaum präsidierte, Platz nehmen sehen. Dann
war Marie am Arm des Hessen-Nassauer-Ersten Seydelmann zurückgekommen;
Dornblüth hatte sie aufgefordert, und dann hatte Werner das dem
Tanzplatze zuschreitende Paar im Getümmel der andrängenden Tänzer
verloren. Er hatte sie zusammen tanzen sehen; als er dann nach Schluß
des Tanzes sich bemüht hatte, das Paar weiter zu beobachten, war er
wiederum abgedrängt worden und konnte erst nach geraumer Zeit zum
zweiten Male sich einen Beobachterposten unweit des Professorenplatzes
erobern. Marie und Dornblüth fehlten am Hollerbaumschen Tisch ... und
erst nach längerem Warten sah er sie beide herankommen. Die unstete
Beleuchtung der Lampions verwehrte ihm die Möglichkeit, beider
Gesichtsausdruck zu beobachten. Alsbald brach das Ehepaar Hollerbaum
auf; Dornblüth legte sorgsam einen Mantel um Mariens Schultern,
ließ sich, wie alle Herren, von einem Kellner einen brennenden
Lampion, der an einer zierlichen Stange baumelte, als Heimkehrleuchte
geben, bot Marie den Arm und folgte mit ihr einer ganzen Gruppe von
Universitätslehrern, die jetzt mit ihren Familien aufbrachen.

Nun kehrte Werner an den Tisch seines Korps zurück, ob der Freund
sich dort etwa eingefunden. Aber auch da keine Spur von ihm. Die
Stimmung war schon vorgerückt. Die Alten Herren, die Inaktiven waren
verschwunden, auch Scholz war nicht mehr zu erblicken. Was noch von den
Aktiven vorhanden war, hatte scharf getanzt und schärfer getrunken.
Nun die meisten Familien schon aufgebrochen waren, blieb nur noch
das Trinken übrig. Und das wurde denn auch gründlich betrieben. Die
Nacht war schwül, die Kehlen vom Tanzen, Singen, Schwatzen ausgedörrt.
Unheimlich glühte des Seniors scharfgeschnittenes Gesicht, der schöne
Krusius stierte mit glanzlosen Augen vor sich hin; unten, wo die Füchse
saßen, thronte Dammer auf einem geleerten Bierfaß, das man auf den
Tisch gesetzt hatte, und ließ sich Glas auf Glas heraufreichen, um den
Füchsen einen Halben nach dem andern vorzutrinken.

Und Werner überkam eine wilde, sinnlose Sauflust. All die Erregung
der letzten Stunden, die Angst um des Freundes Schicksal würgte ihm
in der Kehle, riß ihm an den Nerven und zwang ihn zu trinken. Dabei
zündete er eine Zigarre nach der andern an und paffte dicke Wolken in
die Nachtluft. Die grölende Bezechtheit der Füchse störte ihn; er mußte
nachholen, um stumpfsinniges Vergessen zu finden.

Immer wüster ward das Ende des Festes. Von allen Tischen, wo noch die
Studenten saßen, klang rauher, unsicherer Gesang von Bummelliedern, der
monotone Lärm eines immer toller ausartenden Saufgelages.

Und plötzlich fühlte Werner, daß er zuviel hatte. Er hob sich
schwerfällig auf, taumelte ins Gebüsch, und der plötzlich überschwemmte
Magen gab die wüst hineingegossenen Bierfluten von sich.

Und sofort war Werner stark ernüchtert. Ekel und Gram, eine
fürchterliche Angst um den Freund, ein unsägliches Grauen vor der
ganzen Welt überkam ihn, und hastig, so schnell die unsicheren Beine

vorwärts mochten, tastete er sich weiter durchs Gebüsch, fühlte endlich
den harten, knirschenden Boden eines Fußpfades unter den Sohlen und
tappte weiter durch die Finsternis, an den Buchenhecken entlang, die
den Weg einsäumten. Nun endete der Wald, und über seinem Haupte spannte
sich plötzlich der tiefschwarze Sternhimmel aus, überflammt von den
unfaßbaren Herrlichkeiten des Unendlichen.

So übergewaltig riß diese unerwartete Schau an den aufgepeitschten
Nerven des einsamen Knaben, daß ein jäher Strom brennender Tränen ihm
in die Augen schoß.

Ach, Leben! Leben! Unermeßliche Welt ... was ist dein Sinn? Was quälst
du mit so wirrem Schrecknis deiner hilflosen Kinder verlassene Seelen?
Warum von Leid zu Leid, warum von seligen Graten des Glücksjauchzens
immer wieder hinunter in lichtlose Gurgelschächte?!

Ach, eine Seele wissen, in die man sie ausgießen dürfte, die fressende,
rüttelnde Lebensbangigkeit! zwei Hände, die sich kühlend über die
fiebernden Augen legen würden, auf das schmachtende, keuchende Herz!

Einen gnädigen Mund, sattzuküssen an ihm die ängstende, schwellende,
jagende Sinnenpein -- einen Busen, die qualfiebernde Stirn dran zu
bergen!

Liebe -- Liebe --!!

Nicht jene, die den armen Freund so grausam quält ... nicht jene
blasse, blutlose Seelenliebe mit all den schattenhaften, phantastischen
Hoffnungen in verdämmernde Lebensfernen, nein, die einzige, die
Gewißheit gäbe: die Liebe der Stunde, des Augenblicks, die erfüllende,
die befriedigende, die erlösende Sinnenliebe --!!

Und wieder stand das blühende, wangenrote Verheißungsbild vor
seinen Augen, das Bild des Mädchens, das schon einmal ihre junge
gewährungsfrohe Schönheit den verlechzenden Lippen des Knaben geboten
... wo blieb sie so lange? Wußte sie denn nicht, daß er sie ersehnte?
Daß er ihr Bild an seine Seite beschwor in jeder seiner verlassenen
Nächte?!

Wann würde sie kommen? Er mußte doch einmal fragen ... und wenn auch
der Bruder Simon noch so haßfunkelnde Blicke schießen würde aus seiner
Ecke hinter dem Ladenpult ...

Und dann, wenn sie käme ... dann schnell! schnell! schnell!!

Denn Scholz war ja wieder im Land ... Scholz, der Sieger, der
verachtende Bezwinger, der mit einem Hohnlächeln seiner schmalen Lippen
die Weiber zu füßeküssenden Sklavinnen machte ...

Darum schnell! schnell!

Und dann wollte er sie heiß und toll in die Arme pressen, sie so
wahnsinnig küssen, so schonungslos sich hineinwühlen in all ihre
Wunder, daß sie nach keinem andern mehr verlangte.

Rosalie ... Rosalie ...

Da stand er vor dem niedern Häuschen, vor der Schwelle, über die sie
nun bald wieder hinüberschreiten würde ... hinüberschreiten, um ihn zu
beglücken ...

Und der Schlüssel knackte im Schloß, die Stiege knackte -- und Werner
stand in seinem dunkeln Stübchen. Noch einmal ans Fenster! Noch einen
Abschiedsblick zu den weißen, erstarrten Sternenschäumen da oben ...
und dann ins Bett ... das nun nicht lange mehr einsam sein sollte ...

Da ... ha!

Was? War denn das Nebenzimmer jetzt vermietet?

Und so dünn war die Wand? Man konnte ja die Stimmen ...

Was?! Unmöglich ...

Doch ... seine Stimme ... Scholz ...

Und nun -- eine andere Stimme ... eine -- Frauenstimme --

Barmherzigkeit --!! Rosalie!!

Abgebrochene ... flüsternde ... stammelnde Worte ... töricht-lockendes
Liebesgeschwätz ...

Nun Stille ... ein Tappen von nackten Füßen -- nun eine werbende,
dunkeltönige Mannesstimme ... wehrende, kichernde, schmollende
Weibeslaute ...

Und wieder still ... und Rascheln wieder und ...

Und nun -- und nun -- -- Werner mußte alles hören ... alles ... mußte
er hören ... alles.

Stille dann ... Stille ...

~Das also war die Liebe?! -- Gott -- -- das war die Liebe --?!~

                   *       *       *       *       *

Und im Verzweiflungswahnsinn fuhr Werner empor. Er riß die Kleider über
die schlotternden Glieder, knöpfte zu, so gut die tatternden Finger
den Dienst verrichten wollten, fand seinen alten Reisehut, seinen
Stock, dann zur Tür -- --

Ach ... Geld ... er brauchte ja Geld ... Hahaha! Rundes, blinkendes,
bares Geld ...

Das Portemonnaie war leer ... schnell den Schlüssel ins Schubfach ...
so, da drin war ja noch was ... acht, zehn, zwanzig Mark ... so ... so
....

Und nun die Treppe hinunter ... den Steinweg hinab ... da die
Ketzerbach ... die Beine flogen ... das Herz raste ... die Sinne
schrien ... die Seele schrie ... schrie ... schrie ...

Da war's ... da bog der Seitenweg in die Hecke hinein ... da war das
massive Gartentor ... da ragte der niedere Giebel des Fachhauses als
schwarzes Dreieck in die Sternenprächte des Firmaments hinein.

Was stockst du, tastender Fuß? Hinein! Hinein! Das ist das Ende!

Da ... in der Haustür knarrt von innen ein Schlüssel ... sie öffnet
sich ... es kommt wer heraus ... rasch ins schützende Gartengesträuch
...

Eine dunkle Männergestalt taumelt vorüber ... bückt sich ... greift
nach irgend was unter dem Gebüsch am Boden ... nun flimmert im
Sternenschein der weiße Besatz einer Cimbernmütze ... die wird
mit raschem Ruck auf ein dunkles Haupt gestülpt ... und matt,
gespensterhaft eine Sekunde aufleuchtend im fahlen Himmelsglanz, huscht
ein stieres Antlitz vorbei, die Augen tief in schwarze Schattenlöcher
versunken ... Willy Klauser ...

Ah! Hahaha! Recht so!! Der auch!

Das ist das Ende!!

Nicht Sinnenliebe, nicht Seelenliebe retten vor diesem Ende ...

Hahaha! Der auch!!

Verstoßen, verbannt aus dem Arm des Lebensglücks ... von reinem Munde,
aus keuschen Armen verbannt und verstoßen ...

Das ist das Ende!!

Wozu sich noch sträuben!

Hinein, hinein in den Pfuhl --!!

Dort ist Wasser für deine Fieberdürste, betrogene, geschändete Seele,
für deine lechzenden Brünste, gefolterter, gehetzter Leib ... Wasser ...

Zwar es stinkt ... es ist voll Gift ...

Aber es ist doch Wasser ... es löscht die rasenden Qualen ...

Trinken ... trinken!! ...

Und Werner klopfte an Linas Tür.




                                 VII.


    »Mein Herzensjunge!

  Das ist nun der letzte Brief, den ich Dir in Dein erstes Semester
  schreibe, denn heute in acht Tagen werden wir Dich ja, wie Du
  schreibst, schon wieder bei uns haben! Ich kann es noch gar nicht
  recht glauben, daß uns dann unser Ältester wieder für mehr als
  zwei Monate gehören soll, denn die vier Monate, daß Du fort bist,
  wollten gar nicht vorübergehen, und kann ich mir kaum vorstellen,
  daß es nicht wenigstens ein Jahr war seit Deinem Abiturientenexamen.
  Hoffentlich wird es Dir nun aber, nach dem schönen Burschenleben da
  draußen in Saus und Braus, in Deinem einfachen Elternhause auch noch
  gefallen. Wir freuen uns alle riesig auf Dich, die Brüder schwatzen
  von nichts anderem als vom Bruder Student und freuen sich, alle Deine
  Herrlichkeiten zu sehen; ich glaube, sie denken, Du läufst immer mit
  einem Schläger an der Seite herum. Und unser guter Vater freut sich
  schon sehr darauf, mit Dir über das Römische Recht, das Du ja nun
  schon kennst, tüchtig fachsimpeln zu können.«

Hier mußte Werner, trotz seiner Rührung, lächeln, halb verlegen, halb
verschmitzt.

  »Vor allem aber freut sich Deine Mutter auf Dich: ich bin ganz stolz
  darauf, einen so großen und wohlgeratenen Sohn zu haben, der auch
  draußen in der Fremde dem Namen seines Vaters Ehre macht und im Leben
  bewährt, was wir Eltern nach unsern schwachen Kräften versucht haben
  ihm mitzugeben. So schließe ich denn für heute mit dem Wunsche, daß
  Dir, mein lieber Sohn, noch einige schöne Sommertage in Deiner neuen
  Heimat beschert sein mögen und Du dann zurückkehrst, gestärkt und
  gereift an Leib und Seele und beglückt in dem Bewußtsein, täglich
  vorwärts zu schreiten in allem Guten und Tüchtigen.«

Werner ließ den Brief einen Augenblick sinken. Mechanisch trank er
einen Schluck Kaffee und starrte zur Decke empor.

Täglich vorwärts in allem Guten und Tüchtigen --! Ach ja ... der
Dammelsberg ... der heiter-prächtige Anfang und das wüste, scheußliche
Ende: der Heimweg in stolperndem Rausch, und --

Äh -- das mußte der wüste Kopf doch nur geträumt haben ...

Nein ... nein ... es war Wirklichkeit: er ~war~ nun wissend ... er
hatte die Blume der Sehnsucht gepflückt ... und sie war ihm in den Kot
gefallen ...

Ah -- pfui -- pfui! Der Ekel, die Schmach!!

Und alles stand auf einmal wieder vor ihm da!

Das Entsetzen dieser Nacht ... die schreckhafte Erkenntnis, daß auch
ihn, wie seinen Freund, ein Reifer, ein Sicherer, ein Mann um seine
Liebe betrogen hatte ...

Um seine Liebe --? Hahaha!!

Und doch ... war das nicht auch Liebe, was ihn zu Rosalien gezogen?
War dieser Schmerz, in dem seine Seele sich krümmte, war der Jammer
um ihren Verlust, der ihn blindlings hinaus und in die Arme der Dirne
gehetzt hatte ... war das nicht auch ein Gram um ein verlorenes
Liebesglück?!

Liebe? Was war Liebe überhaupt anderes als das Verlangen nach dem
Besitz?

Ja, sie war ihm verloren, an die sich sein Sehnen angeklammert, in der
es die Erfüllung heißesten Erdenglücksbegehrens erblickt hatte ... sie,
die ihm nicht ein armes Judenmädel, ein armes Käseladenfräulein gewesen
war, sondern Aphrodite, die süße und schreckliche Herrin der Erde ...

Sie hatte am Morgentore seines Lebens stehen sollen als Spenderin
erlösender Erstlingswonnen, hatte ihn hineinführen sollen in das
Allerheiligste des Daseins, das ihm Liebe, Liebe -- Liebe!! hieß!

Und nun war sie jenem andern, dem Erfahrenen, dem Desillusionierten,
dem Pascha in die Arme geweht worden, dem ihre Liebe nicht ein
ungeheures, umwälzendes, erlösendes Erlebnis war ... nein, ein Blatt
mehr in einem Notizbuch flüchtiger Erinnerungen an lustige Stunden ...

Und Werners Blume lag im Kot ... gemein, trivial, weihelos, ekel war
die erste Stunde in Weibesarmen gewesen, Sünde, weil sie schmutzig und
würdebar, Schande, weil sie käuflich und häßlich gewesen war ...

Das war nicht wieder gut zu machen ... der Fleck aus dem Leben nicht
mehr wegzuwischen ... nein, das würde bleiben ... die Erinnerung an
die frechen, entehrenden Zärtlichkeiten, die rohe Vertraulichkeit, die
hungrige Groschengier der Dirne würde sich besudelnd eindrängen in
alles Glück, das ihm künftig zuteil werden möchte ...

Unsühnbar -- untilgbar das Andenken an die erste Liebesstunde, besudelt
-- besudelt ...

                   *       *       *       *       *

Ein hartes Klopfen an der Tür.

Und Scholz trat ein.

»Morgen, Leibfuchs -- na? Jammer? Sieht so aus!«

Stumm stand Werner auf. Ihm war's, als hätte er dem andern ins Gesicht
schreien müssen, was alles er ihm genommen ... wie jener, jener schuld
sei an der Katastrophe seines Liebeslebens ...

Aber der würde ihn nicht verstanden haben ... eiskalt, höhnisch ihn
angegrinst ...

Nein ... Schweigen ... Haltung ... herunter das Visier ...

Er hieß den Älteren willkommen. Scholz streckte sich aufs Kanapee,
schob die Beine lang in die Stube hinein, gähnte geräuschvoll und
bedeckte eine Sekunde lang die Augen.

»Verdammt müde ... aber schön war's doch ... na und du, Leibfuchs?
Wunderst du dich nicht, daß ich hier bin? Ich bin nämlich seit gestern
abend dein Nachbar. Habe da nebenan die kleine Bude für nächstes
Semester gemietet und bin gleich eingezogen. Laß dir erzählen, wie
das gekommen ist. Ich kam gestern abend von Berlin mit dem Casseler
Schnellzug an; zugleich kam von der andern Seite der Frankfurter D-Zug
auch, ich sah zufällig hin, und aus der dritten Klasse klettert wer?
die schöne Rosalie, deine +filia hospitalis+ nee, ~unsere~!
Na, ich begrüßte sie natürlich, machte mich mit Gepäckbesorgung galant,
erzählte ihr, daß ich promoviert hab' und nun zum Abschiedskommers
zurückkomme ... daß ich nächstes Semester wieder nach Marburg will ...
frage ganz im Spaß, ob bei ihr nicht eine Wohnung frei ist ... und ...
+me voilà!+ was sagst du dazu?!«

Auf der Straße klang der Cimbernpfiff und überhob Werner der Antwort.
Beide gingen ans Fenster; unten stand der Zweite, Krusius, und neben
ihm der Senior der Hasso-Nassovia, Herr Seydelmann.

Krusius bemerkte zuerst Werner und rief:

»Sag mal, Achenbach, ist das richtig, daß i. a. C. B. Doktor Scholz
jetzt bei dir im Hause wohnt?«

»Allerdings, zu dienen!« sagte Scholz und ließ seinen Oberkörper
am Fenster erscheinen. »Guten Morgen, Krusius, guten Morgen, Herr
Seydelmann -- na? Wie schaut's aus? Wieviel Gramm Antipyrin haben Sie
heute morgen schon gefressen?«

»Lieber Scholz,« sagte Krusius mit tiefernstem Gesicht, »Herr
Seydelmann hat etwas mit dir zu besprechen.«

Scholzens Gesicht versteinerte sofort ebenfalls in offiziellen Falten.
»Wenn die Herren sich freundlichst heraufbemühen wollen?«

Die Angeredeten tappten die Treppe hinauf und standen bald darauf an
der Tür, die Scholz ihnen höflich geöffnet hatte.

»Bitte einzutreten.«

»Möchten wir nicht lieber in dein Zimmer --?« meinte Krusius mit einem
Seitenblick auf den Fuchs Achenbach.

»Ich habe nur ein Zimmer, und das ist noch nicht aufgeräumt,« sagte
Doktor Scholz. »Ich denke, mein Leibfuchs erlaubt uns einen Augenblick
seinen Salon?«

»Selbstverständlich, Leibbursch -- ich gehe so lange hinaus.«

»Nee, nee, bitte bleib nur --«

»Es ist aber eine sehr ... persönliche Angelegenheit --« meinte
Seydelmann.

»Tut nichts, hier, mein Leibfuchs, der kann ruhig zuhören, schad't
ihm nichts, wenn er auch ein bißchen Schimmer bekommt. Also. Herr
Seydelmann --?«

»Herr Doktor Scholz,« sagte Seydelmann, »ich habe den Auftrag,
Ihnen namens des +studiosus medicinae+ Simon Markus
eine Pistolenforderung auf fünfzehn Schritt Barriere bis zur
Kampfunfähigkeit zu überbringen.«

Eine Sekunde lang standen alle vier jungen Männer in der engen Stube
regungslos; langsam zog Scholz die Augenbrauen ganz hoch in die Höhe.
Eine Kälte, ein Schauer wehte allen ans Herz.

»Hm --« machte Scholz. Wieder ein paar Herzschläge lang Schweigen.

»-- -- bitte, teilen Sie Ihrem Auftraggeber mit, daß ich die Forderung
annehme,« sagte Scholz dann in eisiger Ruhe.

»Nein, Scholz, das darfst du nicht!« fuhr da Krusius dazwischen. »Das
darfst du nicht! Es handelt sich doch jedenfalls um -- um das Mädel ...
die Schwester von dem Kerl --«

»Wir brauchen darüber kein Wort zu verlieren,« sagte Scholz. »Die
Forderung kann binnen vierundzwanzig Stunden ausgetragen sein. Wann
kann das Ehrengericht zusammentreten?«

»Nun, heut nachmittag um drei, denke ich,« sagte Herr Seydelmann. »Ihr
Gegner hat sich dem S. C. Ehrengericht und dem S. C. Pistolenkomment
ohne weiteres unterworfen, die Sache ist also sehr einfach.«

»Ich leid's nicht, Scholz!« rief Krusius erregt. »Du wirst dich doch um
so'n Frauenzimmer nicht schießen? Und mit so 'nem Judenjungen, dessen
Schwester nicht viel besser als 'ne Hure ist?«

»Oho?!« meinte Scholz. »Woher weißt du das?«

»Ja, ja, woher weiß man das? Ich kann nichts Positives gegen das Mädel
behaupten, aber seit Ewigkeiten wohnen hier Korpsbrüder von uns, und es
müßte doch mit dem Teufel zugehen, wenn die alle sich den Bissen da bis
jetzt hätten entgehen lassen!«

»Wenn du nichts Positives weißt -- dann braucht man ja gar nicht
darüber zu reden. Hat Ihnen, Herr Seydelmann, Ihr Auftraggeber einen
Grund der Forderung angegeben --?«

»Allerdings,« sagte Seydelmann mit diskreter Zurückhaltung im Ton.
»Herr +studiosus+ Markus behauptet, Sie hätten heut nacht seine
Schwester ... in Ihrem Schlafzimmer gehabt.«

»Also gut, Herr Seydelmann ... ich werde, wenn Sie mir keinen
anderweitigen Bescheid mehr zukommen lassen, um drei Uhr auf Ihrer
Kneipe zum S. C. Ehrengericht erscheinen.«

»Nein, meine Herren, das ist einfach Wahnsinn,« sagte Krusius, »da darf
nichts draus werden! Ich telegraphiere sofort an unsere Inaktiven, die
in den letzten Jahren hier im Hause Markus gewohnt haben, und frage an,
ob sie das Schicksel da unten nicht auch gehabt haben, und wenn auch
nur einer ja sagt, dann hast du doch wahrhaftig keine Veranlassung,
dich mit ihrem Bruder zu schießen, als wenn du sie verführt hättest --!
Was sagen Sie, Herr Seydelmann?«

»Da mein Auftrag noch nicht erledigt ist, so bedaure ich, eine
Ansicht über diesen Punkt nicht äußern zu können,« erwiderte der
Hessen-Nassauer.

»Sie haben vollkommen recht,« sagte Doktor Scholz. »Lieber Krusius,
deine Anfrage an die Inaktiven ist überflüssig. Das Mädchen ist keine
Dirne, und nach meiner Auffassung ist der Bruder berechtigt, sich jeden
zu kaufen, der sie mit der Fingerspitze berührt. Und gegen den Herrn
Markus liegt meines Wissens auch nichts vor ... ich würde es also
geradezu als Kneiferei auffassen, wenn ich mich weigern wollte, ihm
Satisfaktion zu geben.«

»Nun, dann bin ich wohl fertig,« meinte Seydelmann. »Mein Bedauern,
Herr Doktor, daß ich in so fataler Angelegenheit gegen Sie tätig sein
muß -- nachdem wir uns beide bisher --« er lächelte diskret, korrekt,
verbindlich, wies mit leichter Handbewegung erst auf seine, dann auf
Scholzens Narben, die sie beide einer dem andern verdankten -- »immer
so ausgezeichnet vertragen haben.«

Als der Hessen-Nassauer fort war, bestürmte Krusius nochmals mit aller
Entschiedenheit den Korpsbruder, das Duell nicht anzunehmen.

»Ich finde, Scholz, du kannst das deinen Eltern gegenüber einfach nicht
verantworten, dich wegen so einem Frauenzimmer zu schießen! Denn daß du
bei der nicht der erste gewesen bist, dafür laß ich mich hängen! Zwar
die Korpsbrüder, die früher hier gewohnt haben, die haben anscheinend
immer nach dem bekannten Grundsatz vom dankbaren und verschwiegenen
Jüngling gehandelt. Aber wenn's um Tod und Leben eines Korpsbruders
geht, dann werden sie wohl herausrücken. Du brauchst gar nicht selbst
zu telegraphieren, gib nur deine Zustimmung, daß ich es tu.«

»Ich hab' dir schon einmal gesagt, es kommt, meiner Auffassung nach,
gar nicht darauf an, ob das Mädel unschuldig war oder nicht. Ja, es
ist wahr: ich habe sie heut nacht hier, im Hause ihrer Mutter, im Bett
gehabt. Und daß sie einen Bruder hat, der Student ist, und gegen dessen
Honorigkeit nicht das geringste vorliegt, das hab' ich auch gewußt.
Also es wäre die tollste Drückebergerei, wenn ich mich jetzt der
Verantwortung entziehen wollte.«

»Das finde ich verrückt, nimm mir's nicht übel,« sagte Krusius und
ließ sich wütend in eine Sofaecke fallen. »Das heißt wirklich, die
Schneidigkeit ins Fatzkenhafte übertreiben.«

»Lieber Krusius, du weißt, ich bin immer ein großer Sünder gewesen.
Wie viele Weiber ich im Arm gehabt habe, ich glaub', ich krieg's
nicht mehr zusammen. Aber eins ist mir dabei stets klar gewesen: der
Korpsstudent kann tun und lassen was er will, wenn er nur stets bereit
ist, mit seiner Person für all seine Handlungen einzutreten. Und wenn
ich Geschichten mit einem Mädel mach', dann muß ich jeden Augenblick
daraus gefaßt sein, daß irgendeiner, der des Mädels natürlicher
Beschützer ist, mich vor die Mündung fordert. Ja -- so weit wäre ich
nun diesmal glücklich gekommen ... da heißt's eben, die Nase hinhalten
... aber an die Korpsbrüder telegraphieren ... und das Mädel, das sich
mir ... na -- die zur Hure machen, bloß damit ich ihrem Bruder nicht
vor die Pistole brauch' ... nee ... das macht Hubert Scholz nicht. Also
gib dir keine Mühe, lieber Krusius, um drei Uhr ist Ehrengericht.«

Krusius stürzte in großer Erregung hinaus. Im Weggehen rief er noch:

»Na, jedenfalls besprech ich die Sache zunächst noch mal mit
Papendieck.«

Als der Zweite fort war, wurde Scholzens Haltung plötzlich matt und
schlaff. Er schien Werners Gegenwart ganz vergessen zu haben; wie eine
tiefe, haltlose Müdigkeit ging es über seine Züge, seine Glieder, er
setzte sich schwerfällig in das Sofa und bedeckte das Gesicht mit
beiden Händen.

Werner rührte sich nicht in seiner Fensternische, in die er sich
beim Eintritt des Nassauer-Seniors zurückgezogen, von der aus er mit
fliegenden Pulsen, fröstelnden Fingern die Vorgänge verfolgt hatte.
Und mit einem Male begriff er diese undurchdringliche Seele. Er
verstand, was diesem jungen Manne die sieghafte Rücksichtslosigkeit,
die brutale Überlegenheit gegeben hatte. Und noch tiefer meinte er
hineinzuschauen in das innerste Herz des Korpsbruders; er wähnte zu
sehen, wie vor dessen innerem Auge langsam, unabweisbar das Bild eines
verlassenen, ausgestoßenen Mädchens aufstieg, eines kinderjungen,
holdselig-grauenvollen Leibes, den er einst besessen, in dem er die
Keime des Lebens geweckt, um sie dann schutzlos, wehrlos dem Schicksal
zu überlassen, das ihr den Wellentod befahl ... ihm war's, jener lechze
danach, dem Sühnetode die Brust zu bieten, um mindestens sich selber
zu zeigen, daß er nicht nur die Dreistigkeit habe, Glück zu stehlen,
sondern auch den Mut, es bar zu bezahlen.

Und während Werner den Starken, den Gefürchteten, den Unnahbaren da
sitzen sah, stumm, aufgelöst, von der unerschütterlichen Haltung
verlassen, da kam über ihn eine große, feierliche Liebe zu dieser
schuldbeladenen, doch edlen und mannhaften Seele. Da fühlte er
plötzlich, daß der Drang, der jenen von Munde zu Munde, von Busen
zu Busen getrieben hatte, kein anderer sei, als jener, unter dessen
Geißelhieben auch er geblutet hatte -- er und jener andere auch, der in
dieser Nacht zuerst seinen Verzweiflungswahnsinn zur Dirne geschleppt
hatte.

Und er ging auf Scholz zu, setzte sich auf die Sofalehne und legte den
Arm um den Nacken des Brütenden.

»Es wird gut gehn, Leibbursch.«

»Ach -- Leibfuchs -- entschuldige ... ich hatte dich ganz vergessen.«
Er ließ die Hände sinken ... trocken, glanzlos starrten seine Augen.

»Wenn sie mich nun morgen früh so ... zurückbringen ... und dann
telegraphieren sie meinem Vater ... und dann kommen meine Eltern und
wollen wissen, was eigentlich passiert ist ... das begreift dann doch
kein Mensch ... ein Lump, den der Teufel geholt hat ... ja ... so reden
dann die Menschen ... und daß das alles so hat sein müssen ... äh --
bah ... is ja egal ... is ja egal.«

Er stand mit hartem Ruck auf.

»Komm, Leibfuchs, wollen zum Frühschoppen gehn -- morgen trinkt ihr ihn
vielleicht ohne mich.«




                                VIII.


Professor Dornblüth hatte sich beim Einschlafen vorgenommen, sehr
früh aufzuwachen, um dann sofort Klauser aufzusuchen. Ihm bangte für
den jungen Korpsbruder, den er lieben mußte, trotz des grauenhaften
Auftritts vom Dammelsberg. Was da geschehen war, das überstieg
das Maß menschlicher Verantwortung. Es war eine Wahnsinnstat ...
eine Tat, die eben nur die Leidenskraft des Herzens verriet, aus
dem sie emporgelodert war. Und so fühlte Dornblüth sich für die
Gemütsverfassung des Jünglings verantwortlich.

Daß es auch im Interesse von Fräulein Hollerbaum, im Interesse seiner
eigenen Hoffnungen liegen müsse, den unglücklichen Studenten von
unbedachten Schritten abzuhalten, war dem Professor völlig klar. Und
er dünkte sich Diplomat und wortgewaltig genug, um alles zum Frieden
hinauszuführen. Ja, seine Pädagogenseele empfand eine gewisse lockende
Genugtuung darin, diese jungen Herzen zu lenken wie Schachfiguren und
mit seinem eigenen Herzenswunsch zugleich auch das zu fördern, was
er das wohlverstandene Interesse seiner Auserwählten und ihres nun
zurückgedrängten Verehrers nannte.

Und doch war ihm nicht ganz wohl bei seiner Mission ... doch empfand
er ein seltsames Gefühl, wenn er an Klausers Ausbruch am gestrigen
Abend dachte ... so etwas konnte ja ihm, Dornblüth, längst nicht mehr
passieren ... aber war es nicht doch auch schön, ach schön gewesen, als
noch alles Gärung und schwellender Überschwang war da drinnen?

O ja, man war klar, man war klug, man war dem Leben gewachsen ... ach,
und dennoch ...

Jugend -- Jugend ...

Wann fing denn eigentlich das Leben an -- das wahre Leben? Wenn man
begann, der Meister der Dinge zu werden -- dann hatten sie auch schon
den süßen Duft, die wonnevolle Dämmerhaftigkeit verloren, die sie uns
so begehrenswert erscheinen ließ.

War denn nicht heute Wilhelm Dornblüths Verlobungstag? Würde nicht
heute Wilhelm Dornblüth sich im Überrock und Zylinder das Jawort seiner
Braut und seiner Schwiegereltern holen? Würde nicht heute der zweite
Teil seines Lebens beginnen ... der erfüllen, der halten sollte, was
der erste ersehnt, erstrebt, erarbeitet?

Und doch ... wo blieb die holde Osterstimmung der Seele, wo blieb
das Sonntagmorgenglockenglück, das Sinn und Herz und Welt hätte
zusammenklingen lassen müssen zu einer großen, hoch aufrauschenden
Sinfonie des Lebens?!

War es nicht eben die Sicherheit, die Überreife, die all das zerstörte?

Wie wäre wohl dem armen Klauser zumute gewesen, wenn ihm der Morgen des
Brautglücks aufgestrahlt wäre?

Ja, der wäre erwacht, wie die erlösten Seelen im Paradiese erwachen
mögen ... der hätte sich die Augen gerieben und geblendet sie schnell
geschlossen vor der überkühnen Herrlichkeit seines Traumes. Der hätte
angebetet vor der Gnadenfülle dieser Stunde, der hätte demütig, mit
abgezogenen Schuhen das heilige Land des Menschenglücks betreten ...

Freilich, das hätte ja dann nicht immer so bleiben können ...
Enttäuschung, Bitterkeit wäre gekommen.

Wilhelm Dornblüth würde keine Enttäuschung erleben, weil er keine
Illusionen hatte; er freite ein Mädchen, einen Menschen, und wußte
aus tausend Beobachtungen, was das heißt -- daß Unvollkommenheit und
Entsagung Menschenlos ist ...

Ach, und doch -- und doch ...

Oh, wenn solch ein Mädchen wüßte, wie arm, wie seelenlos diese Ruhe
und Reife der Männer ist, die ihnen so imponiert, und wie heilig und
reich die taprige Tumbheit der Knaben, die sie belächeln und beiseite
schieben, um sich an die breite, sturmgemiedene, entgötterte Brust des
abgeklärten Mannes zu bergen ...

Und Wilhelm Dornblüth sehnte sich am Morgen seines Verlobungstages nach
dem Seelenreichtum des Knaben, den er aus dem Herzen seiner Erkorenen
so spielend verdrängt hatte ...

Und den er doch dem Leben, dem Hoffen zurückzugeben sich vorgenommen
hatte.

Und ehe der Professor den Weg zur Villa des Geheimrats Hollerbaum
hinauflenkte, stieg er in der Morgenfrühe zu der schlichten
Studentenbude des Jünglings hinunter, dessen Faust gestern nach seinem
Haupte gezielt hatte.

Klauser hatte dumpfbrütend, mit verrückten Entschlüssen ringend, vor
seinem unberührten Frühstück gesessen, als Dornblüth eintrat. Er fuhr
auf, stand starr und steif.

»Komm, lieber Klauser, gib mir die Hand ... ich komme als Freund!«
begann der Professor, und mechanisch legte der Student seine kalte Hand
in die ausgestreckte des Besuchers.

»Darf ich mich setzen? Aber nicht, ehe du dich setzest! Nun, was
hast du denn gestern abend noch angefangen nach unserer ... unserer
Auseinandersetzung? Hoffentlich bist du vernünftig gewesen, gleich nach
Hause und in die Falle gegangen und hast dir einen klaren, ruhigen Kopf
angeschlafen? Ich hab's so gemacht ... das ist das beste, was man tun
kann an solchen Wendepunkten des Schicksals. Oder ... hast du dich am
Ende bekneipt, hä?«

»Ich bin bei der Lina gewesen,« sagte Klauser mit starrer Ruhe.

»Wa--?! Wo bist du gewesen?!«

»Bei der Lina -- der Sau da oben im Marbacher Tal.~Zum
erstenmal.~«

»Klauser --!! Himmel ... ~so elend~ hab' ich dich gemacht?!«

Klauser zuckte mit den Achseln und sah zum Fenster hinaus.

Der Professor tupfte mit dem Taschentuch über seine Stirn, die
plötzlich feucht geworden war.

»Komm, liebster, einziger Junge,« sagte er dann mühsam, nach Worten
suchend -- »sieh mal, das hab' ich ... doch nicht gewußt ... daß ...
daß das ~so~ bei dir war ... ich hab' eben gedacht, 's ist 'ne
Jugendschwärmerei, wie wir sie eben alle mal durchmachen ...«

»Wir wollen das lassen,« sagte Klauser. »Was wollen ... was willst du
von mir?«

»Vor allem mich nach dir umsehen, lieber Freund. Sind wir nicht
Korpsbrüder? Heißt nicht der Wahlspruch unserer lieben Cimbria: >Einer
für alle, alle für einen?< Ich sehe nicht ein, warum ich die Pflicht
und das Recht, dir beizustehen in deinem Schmerz, deshalb weniger haben
soll, weil ich daran schuld bin ... oder wenigstens die Veranlassung.
Wir beide, du und ich, haben gestern abend eine ... einen Austritt
miteinander erlebt, der ... aus dem vielleicht ein jugendliches Gemüt
die Veranlassung zu ... zu bedauerlichen Schritten schöpfen könnte.
Ich halte dich für viel zu vernünftig und geschmackvoll zu solchen
Dummheiten ... aber ich will dir doch auch formell entgegenkommen: ich
reiche dir die Freundeshand und schlage dir vor: Vergessen und Vergeben
hinüber und herüber! Willst du?!«

»Alter Herr,« sagte Klauser mit gefrorenem Blick, »du kannst unbesorgt
sein. Ich werde dir nicht mehr in den Weg treten. Ich werde auch keinen
Skandal machen, du kannst ganz ruhig sein. Ich werde so geräuschlos
aus eurem Leben verschwinden, wie ihr's nur wünschen könnt. Aber ...
Freundeshand?! Nein. Ich fühle ja jetzt selber ... ich habe wohl zu
hoch hinausgewollt. Ich hab' von ... Dingen geträumt ... die für mich
noch nicht da sind. In Zukunft werd' ich mich besser einzurichten
wissen. Die Lina ist ja soweit ein ganz liebes Mädchen. Und für einen
dummen grünen Jungen gerade gut genug. Für diese Lehre ... dank ich
dir. Aber ... geh jetzt ... in acht Tagen ist das Semester zu Ende ...
dann wird mich das Korps hoffentlich inaktivieren ... obwohl ich im
vierten Semester mal vorbeigefochten habe ... und wenn sie nicht wollen
... dann lassen sie's bleiben ... ich geh fort ... und komm nicht
wieder ... das Physikum glückt mir doch nicht mehr hier. Also ... die
acht Tage ... ich will dir aus dem Wege gehn ... und wenn du ... auch
deinerseits ... mir nicht zu oft begegnen wolltest ... dann würde ich
dir dankbar sein ... Alter Herr.«

»Und das soll also das Ende sein? Du willst mich von dir lassen in dem
Bewußtsein, daß ich das, was ich dir getan habe, niemals gut machen
kann?!«

»Nein, Alter Herr, das kannst du niemals.«

Der Professor sah mit schmerzlicher Ratlosigkeit zu dem Jüngling
hinüber, dessen Augen die seinen mieden.

»Ja, lieber Klauser ... ich habe jetzt getan, was ich irgend vor mir
selbst und ... verantworten konnte. Wenn du dich nicht überwinden
kannst ... du mußt es wissen. Ich könnte mich vielleicht noch darauf
berufen, daß ich dir doch auch vor kurzem einen wesentlichen Dienst --
doch nein --«

»Wieso? Was meinst du damit, Alter Herr?«

»Nein -- das gehört nicht hierher. Das magst du dir gelegentlich
einmal von den Korpsbrüdern erfragen. Also ... unsere Wege sollen sich
scheiden ... und werden sich nie mehr begegnen. Du willst es so ... das
ist mir sehr bitter ... und wird noch jemanden tief schmerzen. Aber ...
ich ehre deine Entscheidung. Leb wohl.«

Er stand auf, Klauser schnellte empor ... mit dem feierlich-finstern
Gesicht, das wie eine eiserne Maske jede Gemütsbewegung verhüllte,
schüttelten sie sich kurz die Hand. Und dann ging der Professor.

Klauser aber stand noch einen Augenblick in dunklem Grübeln. Dann griff
er langsam zu seiner Korpsmütze.

Blau-rot-weiß! ... ja, wenn man diesen Halt nicht hätte!

Cimbria +vivat, crescat, floreat+!

Und er ging dahin, wo die andern waren. Die andern, die nicht zu wissen
brauchten, daß er mit den Dämonen der Verzweiflung und Verneinung
gekämpft hatte ...

Als er über den Markt kam, sah er noch, wie Dornblüth, jetzt im
Besuchsanzuge, seine Schritte dem Berge zulenkte. Sein Zylinder blinkte
in der Sonne.

Wo wollte er denn hin?

Ach so ...!!

Er, Willy Klauser, besaß überhaupt noch gar keinen Zylinder.




                                 IX.


Selbstverständlich hatte Werner von dem Ausfall des Ehrengerichts
nichts erfahren. Krusius, sein zweiter Leibbursch, hatte ihn noch
einmal auf dem Frühschoppen beiseite genommen: »Leibfuchs, du hast
heute morgen nichts gehört -- aber auch nicht das Geringste, verstehst
du mich?!«

»Nein, nein, Leibbursch, das versteht sich ja ganz von selber.«

»Also, allen Ernstes, auch nicht den leisesten Ton zu irgend
jemanden, wenn ich dir's raten soll! Du könntest die allertollsten
Unannehmlichkeiten haben.«

»Nein, nein, du kannst ganz ruhig sein.«

Um halb drei waren dann beim Kaffee die beiden ersten Chargierten still
verschwunden, mit ihnen Scholz. Und keinen von ihnen hatte Werner mehr
zu sehen bekommen.

Auch Klauser war zwar beim Frühschoppen erschienen, hatte eine Zeitlang
stumm, teilnahmslos, unzugänglich inmitten der katerfidelen Runde
gesessen, war dann aber, kurz bevor das Korps zum Mittagessen aufbrach,
plötzlich verschwunden.

Und Werner war allein geblieben mit all seinem bedrängenden,
beängstigenden Wissen um das Schicksal der anderen. Und schließlich
hatte er sich dann aus dem Kreise der ahnungslosen Korpsbrüder, deren
inhaltlose Unterhaltung ihn heute geradezu anwiderte, losgemacht und
war stundenlang allein in den Wäldern herumgerannt, unfähig, das Grauen
vor dem Erlebten wie dem Kommenden zu besiegen.

Was mochte zwischen Dornblüth und Klauser vorgefallen sein, wenn
Willy Klauser, der Unberührte, der immer wie auf einer Wolke von
Reinheit zwischen den andern, den alltäglichen, gewöhnlichen Naturen
hingeschritten war, wenn der sich zur Lina geflüchtet hatte?! Was
mochte jetzt in ihm vorgehen? Welche Lösung würde er finden für das
Sphinxrätsel seines sinnlosen Elends?

Und der andere, der Vielerfahrene, der kalt überlegene Sieger --
hatte sich nicht auch vor dem plötzlich das Gorgonenhaupt aufgereckt?
Standen nicht beide, der Schuldlose wie der Schuldbesudelte, plötzlich
dem spöttisch grinsenden Schicksal gegenüber, das nach ihrem Herzblut
lechzte?

Daß Klausers junges Leben aus unheilbaren Wunden seine Kraft
vertropfte, das war offenbarer scheußlicher Hohn des Fatums -- hier
mußte jeder Versuch nach einer sittlichen Erklärung scheitern.

Aber was für ein Sinn lag denn darin, daß um eine Liebesnacht zwei
Jünglingsleben vor die Pistolenmündung gestellt werden sollten,
bis eins von ihnen die Kraft nicht mehr hätte, den Hahn der Waffe
abzuziehen? Und wenn nun einer fiele? Der arme, tapfere, kleine
Jude, der sein Leben so mannhaft für eine Tugend einsetzte, die
wahrscheinlich längst zerlöchert war, zum mindesten aber doch zum Falle
reif gewesen, wie nur ein rotbäckiger Apfel im September? Wenn der nun
fiele -- was für ein Sinn darin?

Aber selbst Scholz ... war er des Todes schuldig? War er es um
Rosaliens willen?

Also alle diese Not ohne Sinn, ohne irgendwelchen Zusammenhang mit
irgendwie erkennbaren, konstruierbaren Weltgesetzen ... wenn nicht eben
dies das Gesetz war, daß es kein Gesetz gab ...

Wenn nicht am Ende gar der Mensch wehrlos und machtlos dem Ansturm
der Dinge und Geschehnisse ausgesetzt war, auf nichts angewiesen
als auf seine eigene Kraft und Schläue, gezwungen, sich selber sein
Schicksal zu schmieden in trotziger Auflehnung wider die Brutalität
des Weltganges, und äußersten Falles noch mit der Herzensmacht begabt,
unbeugsamen Grausamkeiten des Daseins gegenüber unerschüttert und
trotzig zu fallen ...?

Und was war es denn, was jenen erst an das Herz des reinen Mädchens
und dann in die Arme der Buhlerin geführt, was diesen von einer zur
andern getrieben hatte zu immer neuem, flüchtigem Augenblicksentzücken,
dem dann immer, ach so rasch, Erkaltung, Ermattung, Abkehr und Jammer
folgen mußten?

War es nicht die gleiche, grauenvoll herrschergewaltige Macht, die
auch Werner wie ein unstetes Wild durch alle Abgründe des einsamen
Begehrens, des schaudernden Ergreifens gehetzt hatte?

Jene Macht, von deren Gnaden, auf deren Geheiß doch alles lebte, was da
war?!

Wie sie nennen, diese teuflisch-göttliche, paradiesisch-höllische,
dunkellichte, küssetränenblutbrünstige Macht?!

Die Liebe?!

Was war ein Name? Ein Name gab keinen Sinn, vermittelte kein Begreifen,
schmiedete keine Waffe ...

Und der einsame Knabe, der da oben am Waldrand im Moose lag und
herniederstarrte auf die alte Stadt, in der seinem jungen Leben so
Ungeheures aufgegangen war, der wußte keine Lösung für die stürmenden
Schauer, die dahinrasten über sein bebendes, schluchzendes Herz. --

Am Abend war dann Spielkneipe. Klauser hatte sich mit Unwohlsein beim
ersten Chargierten schriftlich entschuldigt; Scholz erschien nicht; die
beiden Ersten spielten ein Quodlibet mit zwei Inaktiven. Niemanden als
Werner konnte es auffallen, daß die beiden jungen Männer sehr blaß,
fieberhaft aufgeregt waren: die anerzogene Haltung verschleierte ihre
Stimmung vor jedem Auge, das nicht durch Mitwisserschaft geschärft war.

»Nun, was ist denn geworden, Leibbursch?« Schüchtern hatte Werner die
Frage gewagt.

»Geht dich nichts an!« schnauzte Krusius nervös ... dann sah er das
heißerregte Gesicht des Leibfuchsen und setzte in freundlicherem Tone
hinzu: »Nimm mir's nicht übel, Leibfuchs ... ich darf dir's nicht
sagen, auf Ehrenwort nicht!«

Da glaubte Werner genug zu wissen ... also wirklich ... morgen früh ...

Schon um zehn Uhr waren Papendieck und Krusius verschwunden ...

Da machte sich auch Werner von dannen ... er meinte Scholz noch einmal
sprechen zu müssen, ihm vielleicht die schwere Nacht, die vor ihm lag,
tragen helfen zu können ... sie waren ja Zimmernachbarn.

Aber in dem Zimmer, das in der vergangenen Nacht Rosaliens wilden
Liebesrausch umschlossen, war kein Licht. Bang klopfte Werner an: keine
Antwort ... er drückte die Klinke ... das Zimmer war leer -- keine Spur
von einem Bewohner -- Schränke, Schubfächer leer -- offenbar war Scholz
ins Hotel übergesiedelt, um nicht in der letzten Nacht mit jenem unter
einem Dache zu sein, der ihm morgen ...

Ins Hotel? Vermutlich ... und dann natürlich ins Pfeiffer ... das war
ja das Cimbernhotel.

Und von einer unwiderstehlichen Macht getrieben, rannte Werner
den Steinweg hinab und patrouillierte in der Dunkelheit vor dem
Pfeiffer auf und ab. Der Gasthof war schon geschlossen, in den
Wirtschaftsräumen jedes Licht erloschen. Nur in einem Zimmer des ersten
Stocks schimmerte noch Licht; das Fenster war geöffnet, und sachtes,
oft verlöschendes Geplauder von Männerstimmen drang auf die totenstille
Straße. Werner meinte einmal die sonore Stimme des Ersten zu erkennen.
Sonst vermochte er nichts zu unterscheiden.

Schließlich schien man droben aufzubrechen. Nach einigen Minuten Stille
rasselte in der Tür des Hotels ein Schlüssel; Werner drückte sich in
eine dunkle Haustürnische und sah, wie Papendieck und Krusius aus dem
Gasthof kamen und sich von Scholz verabschiedeten.

»Also schlaf nur gehörig,« sagte Papendieck. »Wir kommen um punkt halb
sechs und wecken dich, da kannst di man up verlaten.«

Sie drückten ihm die Hände und schritten wortlos, Arm in Arm der Stadt
zu.

Die Hoteltür wurde geschlossen. Nach kurzer Zeit erschien droben am
offenen Fenster Scholzens riesige, hagere Gestalt. Lange stand sie am
Fenster, regungslos; das Haupt schien, in den Nacken zurückgeworfen,
den Sternenhimmel zu suchen.

Werner aber blieb regungslos in seiner Nische. Er fühlte, daß er nicht
das Recht hatte, sich in die Seele des andern einzudrängen, die der
seinen nicht wesensverwandt war und ihrer nicht bedurfte, nicht nach
ihr verlangt hatte angesichts dieser lichtlosen Nacht, durch die sie
sich hindurchzuringen hatte.

Und er schaute nur stumm aus seinem Versteck zu dem Einsamen droben
empor und empfand zum ersten Male in seinem jungen Leben mit
erschütternder Gewalt die finstere Erkenntnis, daß es unter Menschen
keine Gemeinsamkeit gibt ... daß gerade in den dunkelsten Stunden des
Lebens auch der letzte Schimmer des fröhlichen Wahns zerfällt, als
könnte einer dem andern irgend etwas sein ...

                   *       *       *       *       *

Aus wirrem Schlummer fuhr Werner auf und war sich rasch bewußt, daß
dieser erwachende Tag ein verhülltes Schrecknis heranführe ... Er
fuhr auf; unmöglich, noch eine Sekunde länger im Bett zu bleiben ...
Luft, Luft ... und etwas tun, um zu vergessen ... um über die Stunden
hinwegzukommen, die ihn von der Gewißheit trennten ...

Er kleidete sich an, und während er sich wusch, vernahm er über sich
die leisen Tritte eines andern, der auch schon munter war ... der sich
auch ankleidete, um sein junges Leben an den wirrsten und zerfahrensten
Wahn zu setzen ...

Wie verrückt, was jener tat!! --

Und doch, wie begriff Werner den Juden da oben!

Ob jenes Mädchen vorher rein gewesen war -- was ging das den Bruder an?
Für ihn war sie rein gewesen bis zu der Nacht, als er, weiß der Himmel
wie, gewahr werden mußte, daß sie jenem andern das Lager schmückte ...
ihm hatte man sie entehrt, ihm besudelt in dem Augenblick, da er ihrer
Schande wissend geworden war ... und so lechzte jener nach Rache nicht
für die Unschuld seiner Schwester, sondern für das eigene, in den Kot
getretene Herz, für seine eigene, geschändete Bruderliebe ...

Nun tappte er die Treppe hinunter ... und durch die Vorhänge sah
Werner ihn auf die Gasse treten ... drüben standen zwei Herren, die
ihn empfingen: Herr Seydelmann und Herr v. Göhren, der erste und der
zweite Chargierte der Hasso-Nassovia, beide im Hut, nur das Band
schimmerte unter ihren Röcken hervor. Stumm begrüßten die Nassauer
ihren Waffenbeleger und schritten dann mit ihm von dannen, den Bergpfad
hinan, der über die Cimbernkneipe zum Schlosse führte ...

Und nicht lange, da klangen auch Schritte vom Steinweg her ... zwischen
Papendieck und Krusius kam Scholz ...

Aller dreier Gesichter waren fahl ... Krusius strich ohne Unterlaß den
blonden Schnurrbart, Papendieck rieb mit dem Zeigefinger immerfort an
seiner mächtigen Hakennase, Scholz hatte den Kopf hoch in den Nacken
geworfen und die Augen in das durchgoldete Blau des jungen Morgens
gerichtet ...

Da gingen sie hin ...

Und Wernern hielt es nicht länger. Er schlich hinter ihnen drein ...
sah sie hinter der Sternwarte zur Cimbernkneipe hinan einbiegen ...
erreichte dann wieder ihren Anblick, als ihre hellgekleideten Gestalten
sich durch die Heckenwege zum Schloß hinaufschoben ... sah sie unter
dem Torbogen des Schlosses verschwinden ... dann hatte er sie wieder
vor sich, als sie den Weg zum Dammelsberg einschlugen ... und so
schritten sie immer vor ihm her, die beiden Gruppen ... ganz fern die
Hessen-Nassauer, den kleinen, schäbig gekleideten, hochschultrigen
Simon Markus in der Mitte ... und dahinter, ihm zunächst, die drei
stattlichen Cimbern, der stattlichste in der Mitte ...

So schritten die Jünglinge in den Morgen des ersten August hinein ...

Und ringsum erwachte die Welt. Schon kräuselte erster Rauch aus manchem
Schornstein im Tal. Ein Bahnzug brauste von Frankfurt her die Lahnebene
hinauf ... lustig schwoll der Pfiff der Lokomotive, klang das Rasseln
der Wagen auf den Schienen. Und der Weg, auf dem man schritt, trug noch
die Spuren der Festnacht. Welke Blumensträußchen dorrten hier und dort,
verkohlte Lampions lagen am Wege.

Und nun nahm der Dammelsbergwald die vorderste Gruppe auf -- Werner
wartete, bis auch die zweite ein Stück in den Wald hineingedrungen
war, damit nicht ein zufällig zurückschweifender Blick ihn erspähen
möchte.

Und ein Wagengeroll hinter ihm ... schnell barg er sich hinter einem
Busch und sah einen der wenigen schwerfälligen Marburger Mietwagen auf
dem schmalen und steilen Wege sich emporwinden. Darin saßen der erste
Chargierte der Guestphalia und ein älterer Herr, in dem Werner nach
einigem Besinnen den Sanitätsrat Doktor Kuhlemann erkannte ... auf dem
Rücksitz des Wagens standen zwei Kästen: ein großer, verschlissener und
ein schmaler, niederer, eleganter.

Und dem Geräusch des Wagens folgte Werner. Es ging mitten durch den
Festplatz hindurch, wo von vorgestern noch fast der ganze Aufbau
vorhanden war. Die Arbeiter, welche die Aufräumungsarbeiten zu
besorgen hatten, waren gestern offenbar nicht sehr eifrig beim Werke
gewesen. Zerfetzt, zerschlissen schillerte das lustige Prunkgewand
des Festtages. Und spukhaft huschten durch das Hirn des Jünglings die
Bilder jener wirren Nacht.

Und plötzlich verstummte das Knirschen der Wagenräder. Werner bog ins
Gebüsch ab, schlich näher und sah, wie der Wagen auf dem Platze hielt,
den vorgestern der akademische Senat mit seinen Familien innegehabt
hatte. Herr Paschke, der Westfalensenior, war ausgestiegen und half
mit dem Kutscher zusammen den größeren der beiden Koffer aus dem
Wagen zu heben. Dann lud der Kutscher den Koffer auf seine Schultern,
und die Herren stiegen zwischen Büschen einen letzten Treppenpfad zu
dem obersten und größten der Festplätze hinauf, der vorgestern die
Marburger Bürgerschaft beherbergt hatte ...

Werner suchte sich durch das Gestrüpp einen Weg zu irgendeinem Punkte
zu bahnen, der ihm eine Übersicht über den Kampfplatz gewähren könne.
Eine fieberhafte Neugier war in ihm erwacht, die das Grauen seines
Herzens besiegte. Er wollte, er mußte nun alles sehen.

Aber der Festplatz war ringsum dicht mit einer Kette niederer, kaum
mannshoher Fichtenbäume umpflanzt. Unmöglich, da hindurchzudringen.
-- Werner mußte versuchen, auf einem Umwege einen höheren
Beobachtungspunkt zu erreichen.

Eine geraume Zeit verging, bis er sich orientiert hatte. Und plötzlich
fiel ihm ein, daß sein Tun nicht gefahrlos sei ... denn da oben würden
gleich Kugeln fliegen ... und daß jemand im Gebüsch herumkriechen
könnte, darauf war man da oben nicht gefaßt ...

Über diesem Sorgen, Erwägen, dem planlosen Hin- und Herklettern war
einige Zeit vergangen ... doch Werner gab seine Absicht nicht auf ...
das Abenteuerliche des eigenen Beginnens ließ ihn vergessen, daß
droben schon die Todeslose geschüttelt wurden:

Und plötzlich klang's vernehmlich durch die Stille:

»Eins ... zwei ... drei ...«

Und paff ... paff ... knallten zwei Schüsse, und dicht über Werners
Kopfe pfiff's hin, riß Blätter und dünne Äste von den Bäumen ...

Da packte ihn eine Angst ... und er stand ab und kroch durchs Gebüsch
zurück, dem Platze zu, wo das Wiehern und Scharren der Pferde den
Standpunkt des Wagens verriet ...

Wie still auf einmal alles ... Gott ... vielleicht war alles schon
vorbei ...

Da war der Weg; der Kutscher stand bei den Pferden, hielt die unruhigen
am Gebiß, sprach ihnen zu und lauschte dabei gespannt nach oben ...

Und plötzlich kamen rasche Schritte von droben. Und tief gesenkt den
Kopf, den Hut in der Stirn, daß fast nur die wüste Nase hervorschaute,
kam der Student Markus die Treppe herunter, schritt, ohne den Kopf zu
heben, an dem Kutscher vorüber ... und ... auf einmal wurde sein Gang
zum Lauf ... er raste zu Tal ...

Also ... Scholz ...

Und dann, nach einer Weile dumpfen, gedankenlosen, blöden Wartens,
klang der Ruf:

»Michel! Michel! Komme Se mal da nauf!«

Da ließ der zitternde Kutscher die Pferde und stürmte mit drei Sätzen
die Treppe hinan ...

Und bald hörte Werner die keuchenden Atemzüge, die
schwerfällig-unsicheren Tritte schwer tragender Männer. Nun kam der
Sanitätsrat die Treppe herunter. Er trug seinen Strohhut in der Hand,
wischte mit dem Taschentuch die kahle, schweißbedeckte Stirn, besah
mit blöden Blicken seine Rechte -- sie war dunkelgefärbt. Er machte
eine unwillkürliche Bewegung, als wolle er sie an seinem hellen
Flanellanzuge abwischen, ließ es aber, rieb sie mit dem Taschentuch,
riß dann den Wagenschlag auf, strich sich immer wieder krampfhaft über
das gelichtete Haar und durch den langsträhnigen grauen Bart. Dann
erschien der Kutscher zwischen den Büschen. Er tappte mühsam Stufe für
Stufe herunter; die Ellenbogen trug er angewinkelt; ein Paar lange
Unterschenkel in hellen Beinkleidern und gelben Schuhen baumelten
darunter hervor. Und da wußte Werner, was geschehen war. So trug man
keinen Verwundeten.

Papendieck und Krusius hielten den Oberkörper, hinter ihnen kamen die
beiden Hessen-Nassauer und der Westfale. So schob sich die Gruppe
langsam die Stiege herunter. Die Arme des Toten hingen lang herab,
tief auf der Brust das Haupt mit dem wirren Haar. Unter dem Korpsband
waren Weste und Hemd aufgerissen; die weiße, behaarte Brust zeigte
Blutflecke.

Und keuchend, die Stirnadern zum Platzen aufgeschwellt, machten die
Träger inmitten der Stiege einen Augenblick halt und senkten die Leiche
auf die Bohlen. Da hielt sich Werner nicht länger: aufschluchzend
sprang er aus dem Gebüsch und fiel neben dem Toten in die Knie.

Es war, als seien die Jünglinge durch den Anblick des Todes abgestumpft
gegen irdisches Staunen.

»Ja, kleiner Achenbach,« sagte Papendieck, »deinen Leibburschen haben
sie totgeschossen.« --

Als man die Leiche im Wagen untergebracht hatte, fragte der Kutscher,
der das Verdeck geschlossen hatte:

»Wo soll ich die Herre hinfahre?«

Die drei Cimbern sahen sich an.

»Ins Hotel dürfen wir ihn nicht bringen,« sagte Papendieck. »Das dürfen
wir dem Wirt nicht antun.«

»Der würde uns auch wohl schwerlich aufnehmen,« meinte Krusius. »Und
in seine neue Wohnung bei der alten Markus ... ist ja selbstredend
ausgeschlossen.«

»Könnte man ihn nicht ... auf die Kneipe --?« meinte Werner schüchtern.

Die Chargierten überlegten. Es schien so naheliegend. Es war doch das
Heim des Korps, nicht ein gewöhnlicher Ausschank.

Doch schließlich meinte Krusius: »Ich weiß nicht ... das wird man dann
nie wieder los. Keiner von uns. Gibt's denn nicht eine Leichenhalle
oder so was?«

»Dazu müßte man erst die Genehmigung der Gemeinde haben,« erklärte der
Sanitätsrat. »Und der Kirchhof liegt ja dann wieder so weit draußen.
Wird er denn hier beerdigt werden? Vermutlich werden doch ... Sie
sagten ja, er hat noch Eltern ... die werden die Leiche doch wohl
heimholen?«

»Zweifellos,« sagte Krusius.

»Dann schlage ich Ihnen vor, meine Herren, Sie bringen ihn in die
Anatomie. Da kann er in der Prosektorstube untergebracht werden, bis
der Vater ihn holen kommt.«

Und in diesem Augenblicke war's Werner, als ob eine Stimme aus ewigen
Fernen erklungen wäre. Eine ruhige, doch übergewaltige Stimme.

»Die Rache ist mein,« sprach diese Stimme. »Ich will vergelten.«

Also die gab's doch -- diese Stimme? Oder klang sie nur aus dem eigenen
Herzen herauf?

Und er sah Papendieck an. Und wie in des Seniors Augen plötzlich die
Erinnerung an jene Erzählung Achenbachs aufflackerte, da ruhten die
Blicke der Jünglinge eine Weile lang ineinander. Und jeder fühlte
Anbetung, Ergebung, Sühne.

»Gut,« sagte Papendieck. »Also in die Anatomie.«

Er stieg in den Wagen und setzte sich neben den toten Korpsbruder.
Krusius und Werner gegenüber. Ein stummes Lüften der Hüte zu dem
Sanitätsrat, dem Unparteiischen, den Hessen-Nassauern, und der Wagen
zog an.




                                  X.


Munter trällerte Rosalie Markus durch das Haus. Daß ihr Bruder nicht
zum Mittagessen gekommen war, kümmerte sie nicht sonderlich. Er
war schon früh am Morgen aufgebrochen -- er mochte einen Ausflug
unternommen haben.

Und daß der Doktor Scholz gleich am Morgen nach jener Nacht seinen
Koffer vom Korpsdiener hatte verpacken lassen und ins Pfeiffer schaffen
... das grämte sie auch nicht sonderlich. Ach ja ... es war schon ein
ganzer Kerl, der Scholz ... aber wenn er nach einem Male genug hatte
von ihr ... na, sie würde sich zu trösten wissen. Mama Markus sollte
ihm einen Brief schreiben und ihn um Einhaltung des Mietvertrages
ersuchen. So einfach ausrücken ... das gab's denn doch nicht.

Jedenfalls war es hübsch, daß sie ihn nun auch kannte ... den
berühmtesten Studenten der letzten Semester ... den gefürchteten,
gefährlichen Scholz ... Haha! Er war schließlich auch nicht viel anders
als die andern ...

Um die Mittagsstunde fiel es ihr auf, daß die Cimbern sich alle nach
und nach in dem schräg gegenüberliegenden Mützenladen einfanden. Sie
sah näher zu und entdeckte, daß einer nach dem andern herauskam, einen
Flor um den untern Rand der Mütze und um das Band. Ach, die Cimbern
hatten tiefe Korpstrauer? Wer mochte denn gestorben sein? Sie hatte
doch gar nichts gehört!

Da kam die Babett durch die Hintertür in den Laden:

»Freile Rosalie! Freile Rosalie!«

»Was is?«

»Habbe Se's denn noch nit geheert? Der Doktor Scholz von dene Cimbern,
wo vorgestern nacht hier geschlafen hat, den habe se heut morge im Wald
erschosse!«

»Ach, mach doch kee Geschwätz!« -- --

»Das is kee Geschwätz -- die Lies vom Friseer Boß driebe hat's mer
erzählt!«

Der Scholz ... erschossen ... im Wald --?!

Es war Rosalie plötzlich, als legten sich zwei kalte Fäuste um ihren
schönen Hals und drückten ihn langsam, immer mehr, immer mehr zusammen.
Aber sie mochte das nicht glauben -- es konnte ja nicht wahr sein ...

Aber ... wenn es nun doch ... und -- erschossen?! -- Im Wald
erschossen?! Das konnte doch nur ein Duell -- Straßenräuber gab's doch
keine mehr im Hessenland ... ein Duell ... und -- der andere? Wer war
der andere?!

Herrgott -- und Simon morgens um fünf aus dem Haus -- ohne Frühstück --
ohne Abschied -- --

»Mama!!«

»Was schreist du?«

»Wo is der Simon?!«

»Is er noch immer nit heemkomme? Ich hab en nit gesehen!«

»Gott sei mer gnädig!«

Sie stürzte zum Friseur Boß hinüber.

»Herr Boß -- is es wahr, daß der Herr Scholz von de Cimbre --«

Herr Boß sah sie von oben herab an mit der Miene eines Richters.

»Na, ich denk, Sie müßte das doch am erschte wisse, Fräulein Markus!«

»Ich?! Warum ich?!«

»Weil's Ihr eigne Herr Bruder is, wo en totgeschosse hat!«

Da schrie die schöne Rosalie auf und fiel gegen einen Barbierstuhl.

Und bald wußte die ganze Wettergasse, daß der Zweikampf, in dem der
weiland Cimbernsenior gefallen war, um der Rosalie willen ausgefochten
worden war. -- --

Indessen war bei Cimbria ein Telegramm aus Hannover eingegangen:

»Treffe halb acht dort ein, nehme meinen Sohn Hannover mit.+Dr.+
Scholz.«

Das hatte die Chargierten der Cimbria sehr erleichtert, denn allerhand
peinliche Sorgen traten nun an sie heran.

Eine Beerdigung in Marburg hätte zunächst ohne Beteiligung der
Geistlichkeit stattfinden müssen, denn diese würde schwerlich einem
Duellanten das letzte Geleit gegeben haben, der noch dazu um eines
Weibes willen gefallen war. Und das wußte schon am Nachmittag, infolge
der Szene im Boßschen Friseurladen, ganz Marburg.

Und wie stand es alsdann mit der Beteiligung der Studentenschaft?
Durfte das Korps überhaupt in der üblichen Weise mit einer Aufforderung
zur Beteiligung an die übrige Studentenschaft herantreten? Scholz hatte
zwar zuletzt in Berlin gearbeitet, war aber in Marburg immatrikuliert
geblieben und gehörte demnach noch der Marburger Studentenschaft
an. Wie peinlich aber wäre es für das Korps gewesen, wenn es die
Studentenschaft zur Beerdigung seines Seniors aus drei Semestern
eingeladen hätte, und einige oder gar viele Korporationen hätten sich
nicht beteiligt mit der Begründung: es scheine ihnen nicht angezeigt,
einem Toten die letzte Ehre zu geben, der unter solchen Umständen
gefallen sei! Und diese Antwort wäre zum Beispiel von den theologischen
Korporationen unfehlbar gekommen, meinten die Cimbern.

Der Entschluß des Vaters, den Sohn in der Heimat beizusetzen, überhob
das Korps aller dieser Unannehmlichkeiten. Es handelte sich nun nicht
um eine Beerdigung, sondern nur um die Überführung der Leiche von der
Anatomie zum Bahnhof. Und dieses Zeremoniell konnte das Korps füglich
als interne Angelegenheit behandeln. Nur den beiden andern Korps wurde
Anzeige gemacht, und beide erklärten sofort, daß sie um die Ehre bäten,
sich an der Feierlichkeit beteiligen zu dürfen.

Aber die Cimbern sollten die Erfahrung machen, daß der Tod die
Schranken niederlegte, die im Leben die verschiedenen Gruppen der
akademischen Jugend trennten. Im Laufe des Nachmittags fanden
sich von sämtlichen Korporationen, mit Ausnahme der Wingolf, der
katholischen Verbindung Rhenania und des Evangelisch-theologischen
Vereins, Vertreter auf der Cimbernkneipe ein, erkundigten sich nach
den Absichten des Korps betreffend die Beisetzung des Gefallenen und
erklärten gleichfalls, daß sie es für selbstverständlich erachten, sich
der letzten Ehrenerweisung für den in ehrlichem Männerkampfe gefallenen
Kommilitonen anzuschließen. Und dankbar und in beschämter Ergriffenheit
nahmen die Cimbern das Anerbieten der Kommilitonen an.

Inzwischen hatte die medizinische Fakultät ihre Genehmigung erteilt,
daß mit Rücksicht darauf, daß Scholz in Marburg noch nicht wieder
eine Wohnung gemietet habe, das Prosektorzimmer der Anatomie zur
Aufbewahrung der Leiche benutzt werden dürfe. Man hatte sofort beim
Gärtner Gewächsschmuck bestellt, und korpsbrüderliche Sorge schmückte
die kahle Stube, die schmale Holzpritsche feierlich mit akademischem
Totenprunk.

Als die Aufbewahrung der Leiche und die Ausschmückung des Zimmers
vollendet war, trat die Totenwache ihren Dienst an. Zunächst standen
der erste und zweite Chargierte. Von Stunde zu Stunde sollten sie dann
durch zwei andere Korpsburschen abgelöst werden, und danach sollten die
Füchse darankommen.

Werner hatte sich an all diesen Vorbereitungen nicht beteiligen können.
Die Fahrt vom Dammelsberg bis zur Anatomie zu viert mit der Leiche,
dann ...

Ja dann --!

Dann hatten sie Scholzens Leiche durch den hallenden Flur des
Anatomiegebäudes hinübergeschleppt in das Prosektorzimmer und hatten
sie auf den Tisch am Fenster gelegt ... und Wichart hatte sie in
Empfang genommen, hatte die breite Brust entblößt, die Wunde mit der
Sonde untersucht und dann still gesagt:

»Das Herz is glatt durchgeschlage --«

Und dann hatte der Anatomiediener Michel die Leiche entkleidet, und
in ihrer nackten, frischen Schönheit, noch unberührt vom Hauch der
Auflösung, hatte sie dagelegen im strahlenden Mittagslicht ...

Und wieder war Werner hinausgestürzt und hatte sich in seine Stube
geflüchtet -- hatte seinen fieberschauergeschüttelten Leib in die
Decken gewühlt und in dumpfem Grübeln um den Sinn dieses Schicksals
gerungen ...

War das Sühne?! War das die strafende Gerechtigkeit eines Ewigen?! Oder
war es nur ein Zufall ... ein Zufall, der nur für ihn, den Wissenden,
die Grimasse eines gerechten Gerichts, einer Sühne trug?

War es nicht Sentimentalität, war es nicht Romantik, in dieser
zufälligen Aufeinanderfolge deutungstiefe Symbolik zu suchen ... eine
Symbolik, eine Predigt, die der doch nicht vernehmen konnte, den sie
zuvörderst anging? Oder wurde gar die Seele des Entschlafenen in dieser
Stunde von einem Engel des Gerichts zur Konfrontation in den kahlen
Raum hineingeschleppt ... zur Konfrontation mit ihrem starren Leibe,
zur Konfrontation mit ihrer schlotternden Erinnerung an einen andern
starren Leib, der einmal auf der gleichen Stelle gelegen hatte, gleich
nackt und bloß? Zur Konfrontation mit der Erinnerung an eine andere
Stunde, da diese beiden nackten Leiber sich umschlungen gehalten hatten
in heißem, fieberndem Lebensüberschwang, und ein anderes Leben gezeugt
... ein Leben, dessen Wachsen und Schwellen die Mutter in Verzweiflung
und Tod getrieben hatte?!

Ja, ~wer das wüßte~! Wer Zeuge sein dürfte nicht bloß einer
willkürlichen Aufeinanderfolge von Ereignissen, die heute wirr- und
sinnlos nacheinander abrollten, morgen einmal für einen Augenblick den
Schein eines inneren, gesetzmäßigen Zusammenhanges annehmen, einer
höheren Ordnung, eines waltenden Oberwillens ... um schnell wieder aus
dem Kosmos in das Chaos zu zerflattern!

Ja, in das Chaos ... denn draußen auf dem Flur hatte in diesem
Augenblicke das wahnsinnige Verzweiflungsgeschrei eines Weibes
eingesetzt -- eines Weibes, das sich schuldig zieh am Tode des Mannes,
der vorgestern nacht in ihren Armen gelegen -- --

Schuldig?! Ach, Himmel ... war sie schuldig?! War sie nicht einfach
dem Gesetz ihrer Natur gefolgt, ihrer Natur, die sie zur Liebe, zum
gedankenlosen Genusse des Augenblicks, zum Kusse der Sinnenliebe
geschaffen hatte?!

Warum war der gestorben an ihrem Kusse und jene andern nicht, seine
Korpsbrüder, die doch auch in ihren Armen gelegen haben sollten?! Warum
nicht er, Werner selbst, den doch wahrlich nicht sein Wille gehindert
hatte, ein Gleiches zu tun?!

Nein, es war vergebens, in der ungeheuren Wirrnis dieses Daseins nach
einem Sinn zu suchen ...

Und jene Stimme, die er droben vernommen, als es zuerst geheißen hatte:
in die Prosektorstube mit ihm ... jene Stimme, die gesprochen hatte:
die Rache ist mein -- war sie etwas anderes, denn ein Reflex aus
Jugendtagen, der Widerhall eines jahrtausendalten Wahns?

Und vor dem frierenden Knaben, dem am sengenden Augustmittag unter
warmen Decken die Zähne schlugen und die Glieder schauerten ... vor
dem reckte sich das starre Riesenantlitz der Sphinx ... die blicklosen
Augen ins Unendliche gerichtet ... ins Unendliche.

                   *       *       *       *       *

Am Nachmittage ging Werner dann, Band und Mütze frisch umflort, zur
Anatomie, um einen Strauß weißer Rosen als Scheidegruß auf die Knie
seines Leibburschen zu legen.

Unterwegs begegnete ihm Klauser ... auch er trug einen weißen
Rosenstrauß.

Die Freunde hatten sich seit dem Dammelsberg-Abend noch nicht gesehen.

Stumm, ein Würgen in der Kehle, drückten sie sich die Hände.

Und schritten stumm selbander.

Nach einer Weile zog dann Klauser ein Zeitungsblatt hervor. Er gab es
dem Korpsbruder, wies auf den Rosenstrauß und sprach:

»Den hat mir eben ein Dienstmann gebracht.«

Werner entfaltete das Zeitungsblatt; er wußte, was er dort finden
würde; und unter der Rubrik der Familienanzeigen begann er zu lesen:

»Die Verlobung ihrer Tochter Marie mit Herrn Professor +Dr. jur.+
Wilhelm Dornblüth beehren sich ...«

Er konnte nicht weiter lesen. Seine Blicke umschleierten sich. Und er
schob seinen Arm in den des Korpsbruders und zog ihn an sich.

Und schweigend schritten die Jünglinge dem Hause des Todes zu.

Die Vorhalle der Anatomie war in einen grünen Gang ernsten dunklen
Laubes verwandelt. In der Prosektorstube stand nun der Tisch, vom
Fenster ab, mitten in die Stube hinein. Am Fußende Papendieck und
Krusius, in Wichs, Cerevis und Schärpe, Band und Verschnürungen
umflort, im Arm den blanken Schläger mit umflorten Farben. So hielten
sie die Totenwacht.

Über Scholzens Haupt hing das Cimbernbanner. Auf dem bleichen Gesichte,
das noch im Tode den hochmütig-starren Ausdruck wies, spielten
die flackernden Kerzen, glühten und mischten sich mit den letzten
Abendstrahlen, die durchs Fenster fielen.

Und Werner legte zuerst seine Rosen auf den toten Freund. Klauser aber
zögerte noch. Eine der weißen Blüten brach er ab und steckte sie rasch
in die linke Brusttasche. Dann senkte auch er seinen Strauß auf die
Bahre -- den Strauß, den ihm Marie zum Abschied geschickt hatte.

                   *       *       *       *       *

Der Frankfurter Schnellzug brauste heran. Der ganze Bahnhofsperron war
dicht gedrängt von dem Schwall der Studenten besetzt. Die Fremden,
die den Zug benutzen wollten, konnten sich kaum Bahn schaffen. Vorn,
wo der Gepäckwagen halten mußte, stand, mit Kränzen übersät, auf zwei
zusammengeschobenen Gepäckwagen, der Sarg. Obenauf der Kranz der
Cimbria mit riesiger, umflorter blau-rot-weißer Schleife. Und neben dem
Sarge, im Zylinder, eine totenblasse, hochaufgerichtete Männergestalt;
die hochmütigen, unnahbaren, herbgeschlossenen Züge waren den Cimbern
seltsam bekannt und vertraut: nur daß diese Augen, dieser schmale Mund
von buschigem Grau überschattet waren ...

Und rings umdrängten die Chargierten der Marburger Korporationen den
Sarg. Keine fehlte: auch die theologischen Verbindungen hatten sich,
unangemeldet, zu allgemeinem Staunen noch eingefunden. Voran das
leidtragende Korps, dahinter der übrige S. C. Und dann in bunter Reihe
Burschenschaften, Wingolf, freie Verbindungen und alle die andern. Alle
in Wichs, alle Farben umflort, heut einmal alle geeinigt unterm Banner
des Todes. Und hinter den Chargierten die ganze Studentenschaft, Kopf
an Kopf, alle die Tausend ... auch der Russe vom Dammelsberg fehlte
nicht.

Nun hielt der Zug. Neugierig staunend fuhren die Gesichter der
eleganten Reisenden ans Fenster, erst belustigt, dann mitergriffen von
dem feierlichen Schauspiel jugendlicher Totenklage.

Und wie man den Sarg in den Waggon hob, da senkten sich auf einmal alle
Fahnen der Verbindungen, die Mützen und Hüte der Tausend flogen von den
Köpfen, und Musik hob erschütternd an:

    »Jesus, meine Zuversicht,
    Und mein Heiland ist im Leben ...
    Dieses weiß ich: soll ich nicht
    Darum mich zufrieden geben?
    Was die langemTodesnacht
    Mir doch für Gedanken macht!«

Dann begleiteten die Cimbern den Vater zum Coupé, das graue Haupt
entblößte sich, dankend schüttelte er die Hände der Jünglinge, dankend,
doch starr, gemessen, tränenlos ...

»Fertig!« -- »Fertig!« -- »Fertig!«

»Abfahren!«

Schrille Pfiffe ... Pfauchen der Lokomotive.

Und die Schläger der Chargierten flogen blitzend in die Luft.

Aus tausend Kehlen schwoll zum feierlichen Klang der Hörner das
Burschenabschiedslied:

    »Ist einer unser Brüder dann geschieden,
        Vom blassen Tod gerufen ab,
    Dann weinen wir und wünschen tiefen Frieden
        In unsres Bruders stilles Grab.
    Wir weinen und wünschen den Frieden hinab
        In unsres Bruders stilles Grab.«

Und taktmäßig schlugen die Klingen zusammen ... in stillem Gruß wehten
tausend Mützen und Hüte dem Zuge nach ...

Ade -- ade -- ade -- --

Draußen sammelte sich dann der Zug.

Das leidtragende Korps Cimbria zog zuerst von dannen, stumm, zur Kneipe
hinauf, zum feierlichen Trauersalamander.

Die andern Korporationen aber nahmen die Flöre von Fahnen und
Cerevisen und Schlägern. Und bald klang ein flotter Marsch, und zu
schmetternden Lebensfanfaren ging's in endlosem Zuge, wie neulich zum
Dammelsbergfeste, dem Marktplatze zu.

Da traten die Chargierten inmitten des Platzes abermals zusammen, aber
diesmal senkten die Fahnen sich nicht, sie flatterten lustig in Wind
und Sonne.

Und abermals klangen die Schläger, hob sich Burschengesang:

    +Gaudeamus igitur,
    juvenes dum sumus;
    post jucundam juventutem
    post molestam senectutem
    nos habebit humus+ ...,

    +Vita nostra
    brevis est,
    brevi finietur --
    venit mors velociter, rapit nos
    atrociter, nemini parcetur -- -- --+

    +Vivat academia,
    vivant professores,
    vivat membrum quodlibet,
    vivant membra quaelibet,
     semper sint in flore+ ...

Ja, und als sei schon vergessen, um wessen willen das jüngst
verloschene Jugendleben sich verblutet habe, klang's huldigend und
heiter auch also:

    +Vivant omnes virgines
    faciles, formosae,
    vivant et mulieres
    tenerae, amabiles,
    bonae, laboriosae!+

Und:

    +Pereat tristitia!+

klang's zum Schluß ...

Da schwollen, tief aufatmend, die Busen der jungen Studenten dem
Sonnenlicht, dem jungen Tage, der ersehnten Weibeshuld, dem Leben, ach
ja, dem lachenden, blühenden, hochaufschäumenden Leben entgegen --

Nieder die Traurigkeit ...

    +Pereat tristitia!+

so klang's über Marburgs altehrwürdigen Marktplatz ...

            -- -- -- --
    +Pereat tristitia!+
            -- -- -- --

Eine Straße weiter aber schrie ein junges Weib wild auf, als die
lebenlockenden Klänge herüberrauschten, daß die ganze alte Stadt zu
klingen und zu schwingen schien ... sie schrie auf in ihrer Kammer, in
ihrem Bett, unter den Händen des Arztes und der Mutter ...

Und stumm und verbissen schluchzte nebenan ein Jüngling in das
Taschentuch ... der einzige Student in Marburg, der ausgeschlossen
gewesen war an diesem Tage von der Scheideklage, wie vom Hymnus des
Lebens.




                                 XI.


Der letzte Bestimmtag des Sommersemesters!

Die tiefe Korpstrauer hätte den Cimbern eigentlich die Verpflichtung
auferlegt, sich an den Mensuren nicht zu beteiligen. Aber das ging
einfach nicht, das ließ sich nicht durchführen. Und da ohnehin am
Abend der S. C. Abschiedskommers sein sollte und Cimbria hier aus
Rücksicht auf den S. C. nicht fehlen durfte, so wurde die Korpstrauer
für diesen Tag, es war der siebente August, ganz aufgehoben. Und
ohne die Abzeichen der Trauer erschien das Korps zu gewohnter früher
Morgenstunde auf der Wahlstatt in Ockershausen.

Vor allem hatten jene Korpsburschen noch einmal zu fechten, die Marburg
verlassen wollten, sei es, um mit Semesterschluß inaktiviert zu werden,
sei es, um im nächsten Semester als Vertreter des Korps bei einem
befreundeten Kartell oder befreundeten Korps aktiv zu werden.

Von den Chargierten wünschten Papendieck und Dettmer, welche beide
schon vier Semester aktiv gewesen waren, inaktiviert zu werden; der
Erste hatte die Inaktivierung auch ohne Mensur sicher, Dettmer, der
die dritte Charge tadellos geführt hatte, sollte doch noch eine letzte
Probe seiner Fechtsicherheit ablegen. Noch drei weitere Korpsburschen
baten um ihre Inaktivierung; von ihnen mußte Klauser nach seiner
Reinigungspartie noch eine tadellose Mensur schlagen, um Anspruch
auf sofortige Inaktivität zu haben. Böhnke wollte nach Leipzig zu
den Lausitzern, der Zweite, Krusius, nach Heidelberg zu den Schwaben
gehen. Das gab vier Partien, die unter allen Umständen gefochten
werden mußten. Aber der Zweite, Krusius, hatte den Ehrgeiz, am letzten
Tage seiner Führung der zweiten Charge noch mit einem möglichst
langen Bestimmzettel aufzuwarten, und hatte noch für drei weitere
Korpsburschen Partien verlangt und bekommen. Wenn man eine Stunde auf
die Partie rechnete, so konnte es, da der erste Hieb um sieben Uhr
morgens fiel, immerhin bis zwei Uhr nachmittags dauern, dann blieb
gerade noch Zeit zum Essen, Schlafen und Mensuren-C. -C., und dann
mußte man zum Abschiedskommers. Also ein gut besetzter Tag.

Und programmäßig wickelte sich das »Schlachtfest« ab. Jeder setzte
sein Bestes ein, das Blut floß in Strömen, und Wichart sowohl wie
seine Kollegen bei Hasso-Nassovia und Guestphalia hatten viele
Dutzende Nadeln einzufädeln, auch die Lieferanten von Sublimat und
Verbandstoffen kamen auf ihre Rechnung.

Klauser hatte das Unglück, seinen ihm eigentlich überlegenen Gegner im
dritten Gang auf eine mächtige Quart abzuführen. Da es sich um seine
Inaktivierung handelte, so mußte er noch einmal ordentliche Hiebe
bekommen, um dem Korps den Beweis zu liefern, daß er die gute Haltung
seiner Reinigungsmensur dauernd bewähre.

Krusius fragte sofort bei den Westfalen an, ob sie eine zweite Partie
für Klauser stellen könnten, und Paschke, der Senior, erklärte sich
bereit. Klauser blieb gleich anbandagiert in der Flickstube sitzen
und wartete geduldig auf seinen zweiten Gegner. Nach wenig Gängen
hatte Paschke ihn so zugedeckt, daß den kühnsten Anforderungen an eine
Inaktivierungsmensur +in puncto+ der Quantität der empfangenen
Prügel Genüge geleistet war, und ein Durchzieher, der die Unterlippe
bis auf die Zähne spaltete, gab den Rest.

Im Korps herrschte nur eine Stimme staunender Bewunderung über Klauser.
Der war mit seinem nervösen Temperament, seinem ausgesprochenen
Fechtehrgeiz -- immer ein nicht so ganz sicherer Mann gewesen, trotz
seines unverkennbaren Elans. Heute hatte er die beiden Mensuren mit
einer so vollkommen unerschütterlichen Gleichmütigkeit hingenommen,
als sei das einzig Lebendige an ihm der Mechanismus der bei der Mensur
beteiligten Muskeln. Und daß er inaktiviert werden könne, darüber war
kein Zweifel mehr im C. C.

Die nächste Partie hatte der Jungbursch Ehlert gegen Bandler, den
Dritten der Hessen-Nassauer, ein elegantes, fixes kleines Männchen, das
leicht, doch mit großer Gewandtheit focht.

»Sag mal, Krusius -- meinst du eigentlich, daß ich mit ~dem~
Handgelenk fechten kann?« meinte Ehlert im Augenblick, als der
Korpsdiener ihm das Paukhemde überstreifen wollte, zum Zweiten, der
selbst seine Abschiedspartie schon hinter sich und mit einem Dutzend
Nadeln hüben und drüben ausgepaukt hatte und nun schon wieder im
Sekundierwichs stand, um eine Partie nach der andern zu sekundieren.

»Donnerwetter! Das ist ja die reinste Knolle! Hast du das schon länger?«

»Ja, ich schlag mich schon vierzehn Tage damit herum!«

»Ja, Menschenskind -- das ist ja ... eh, lieber Wichart, willst
du dich mal einen Augenblick herbemühen? Der Ehlert scheint eine
Sehnenscheidenentzündung zu haben.«

Wichart tupfte Klausers zerfetzte Visage mit einem mächtigen
Wattebausch und befahl Werner, der auch dieses Mal beim Flicken des
Freundes Hilfsdienste leistete, zu halten. Dann trat er zu Ehlert.

»Nanu?! Mit dem Ärmche willst du fechte, Menschenskind? Du bist ja
e chloroformierte Kindsleich! Gleich machst du, daß du die Kleider
widder an den Leib bekommst, und dann Prießnitz, bis die Lappe nur so
runnerfalle!«

»Verdammt! Wen stell ich nun gegen den Bandler? Das hättest du mir auch
eher sagen können, Ehlert!« schalt Krusius.

Da fiel sein Auge auf Werner.

»Na, Leibfuchs Achenbach, wie wär's? Hättest du Lust, noch vor
Toresschluß vors lange Messer zu kommen?«

Ein siedender Schreck und zugleich ein jäher Stolz durchfuhr Werner.

»Selbstverständlich, Leibbursch.«

»Bist auch aufgelegt? Hast heut morgen nicht zu viel getrunken? Bist
gestern und vorgestern nicht beim Mädchen gewesen?«

»Alles in Ordnung, Leibbursch.«

»Na, dann runter mit der Weste und rin in die Lappen.«

Werner bebte denn doch am ganzen Leibe vor Aufregung, als er nun an
Ehlerts Stelle trat, Rock, Weste, Hemd ablegte und sich das Paukhemd
überstreifen ließ.

Und dann wurde das Herz durch ein kreisrundes Blech in Lederfassung,
die Achselhöhle durch einen seidenen gesteppten Latz geschützt, die
Hand schlüpfte in den wildledernen, ungefügen Kettenhandschuh, der
rechte Arm wurde vom Korpsdiener langsam und sorgfältig durch eine
endlose Umwicklung mit seidenen, zerfetzten und blutgetränkten Binden,
schließlich durch einen langen Zopf aus Seidengeflecht der Länge nach
verwahrt. Ekelhaft war das Gefühl, als nun die Halsbinde umgelegt
wurde, an der noch Klausers, Dettmers, Krusius' erkaltetes, klebriges
Blut starrte. Dann kam der Schurz, schwerfällig, steif von Strömen
angetrockneten Bluts. Inzwischen hatte schon ein anderer krasser
Fuchs, nicht ohne Neid auf das Glück seines Konsemesters, das Amt des
Schleppfuchses übernommen und stützte Werners schwer verpackten rechten
Arm.

Und über all den Vorbereitungen fühlte Werner dennoch nichts anderes
als das stürmische Klopfen seines Herzens, das immer munter trommelte:
»Du, jetzt geht's los! Du, jetzt geht's los!«

»So, nu stehe Se mal auf, Herr Achebach!«

Und Werner stand auf. Es war inzwischen im Saale laut geworden, daß der
krasse Fuchs Achenbach an Ehlerts Stelle einspringen solle, und fast
alle Korpsburschen kamen neugierig in die Flickstube, um zu sehen, wie
er sich halte. Es regnete Witze:

»Du, kleiner Achenbach, der Mann, der gleich auf dich zukommt, der will
dir was tun, den mußt du feste hauen, sonst haut er dich!«

»Du, Füchschen, stich den Gegner ab und nicht deinen Sekundanten, das
kostet fünfundzwanzig Em Korpsstrafe!«

»Macht mir meinen Leibfuchs nicht dammelig!« rief Krusius dazwischen.

»Aha! Wenn man den Herrn Zweiten zum Leibburschen hat, dann kommt man
als Krasser schon auf Mensur!«

Und Papendieck kam auch heran, sah Werner stumm und herablassend an und
zitierte schließlich wieder einmal seinen Landsmann Bräsig:

»Daß du die Nase ins Gesicht behältst!«

Dammer kam mit einem Spiegel, hielt ihn Werner vor und griente:

»Nu darfste Abschied nähm von dei'm glatten Gesichte -- so kriegst es
nich wieder zu sähn!«

Und mit einem seltsamen Gemisch aus Grauen und Stolz erkannte Werner
sein jugendrosiges Gesicht in der abschreckenden Vermummung von
Halsbinde und Paukbrille, die Peter ihm eben anlegte und von hinten mit
so kräftigem Ruck zusammenschnallte, daß Werner rief:

»Donnerwetter, Peter, Sie sprengen mir ja den Schädel!«

»Schad't nix, muß so sinn,« sagte Peter gleichmütig.

»Bandler schon drinnen?« fragte Krusius.

»Ja!«

»Also los -- raus! Nein, warte -- liegt dir der Speer gut in der Hand?«

Und Werner trat einen Schritt vor, führte mit dem Schläger, den der
Testant ihm in die Hand gedrückt, einen kräftigen Lufthieb ... es
pfiff, die Bandage saß, eng, doch elastisch.

»Vergiß nicht, daß der erste Gang nur Scheingang ist! Na, und immer
feste draufschlagen, alles andre kommt von selbst!«

Wie im Traum schritt Werner hinaus. Es rauschte und flimmerte vor
seinen Augen und Ohren -- durch die ungewohnte Paukbrille erkannte
er kaum den bekannten Saal -- sah, wie alles sich im Kreise drängte,
wie zweihundert Augen auf ihn starrten, fühlte den Stuhl an seinen
Hinterbacken, packte mit der Linken fest den Riemen seiner Hose,
umspannte noch einmal mit klammernden Fingern den Griff des Rappiers,
und --

»Herr Unparteiischer, wir bitten um Silentium für einen Gang Schläger
mit Mützen und Sekundanten auf zehn Minuten bis zur Abfuhr!«

»Silentium für einen Gang Schläger mit Mützen und Sekundanten auf zehn
Minuten bis zur Abfuhr!«

»Herr Unparteiischer, wir bitten um Silentium für die Mensur!«

»Silentium für die Mensur!«

Wie aus weiter Ferne klangen diese Worte in Werners Ohr. Durch die
engen Öffnungen der Paukbrille starrte er geradeaus ... da stand der
andere, der Gegner, mit dem er sich nun messen sollte im blutigen
Turnier ...

Und plötzlich summte ihm eine bekannte Weise, altgeliebte Dichterworte,
durch den Sinn:

»Da tritt kein andrer für ihn ein, Auf sich selber steht er da ganz
allein ...«

Er reckte sich.

»Herr Unparteiischer, wir bitten um Silentium für den Scheingang!«

»Silentium für den Scheingang!«

»Fertig!« rief der Gegensekundant.

Und mechanisch, wie er es oftmals in den letzten Wochen auf dem
Fechtboden geübt, trat Werner zwei Schritte vor, den Arm hoch
aufgereckt, den Schläger in fest umklammernder Faust emporgestreckt.

Und er fühlte, wie der rechte Fuß seines Leibburschen sich fest neben
seinen linken stellte. Das machte ihn ruhig und sicher.

Zugleich fühlte er, wie der Sekundant ihm von hinten die riesige Mütze
zum Scheingang aufstülpte.

Ruhig klang das Kommando aus Krusius' Munde:

»Los -- halt!«

Nun verschwand die Mütze von seinen Haaren. Wie eine Katze,
sprungbereit, kauerte sich Krusius an seine Seite, und scharf und grell
scholl des Gegensekundanten Kommando:

»Fertig!!«

»Los!!«

Krach -- krach -- krach!

»Halt!«

»Halt!«

Das hatte gesessen ... ein scharfer und ein dumpfer Schmerz
nacheinander ...

Und über die linke Röhre der Paukbrille rann's hernieder ... sein Blut
... sein warmes, junges Herzblut ...

Und wie die ersten heißen Tropfen über sein Gesicht rannen, war alle
Aufregung, alle Befangenheit dahin ...

»Silentium -- ein Blutiger auf seiten von Cimbria!«

»Fertig!«

»Los!«

Krach, krach, rack-tack-bumm-tack-rack-tack-bumm-tack, bumm, bumm --

»Halt!«

Nichts ...

»Fertig!«

»Los!«

Und wieder ein Gang, und wieder nichts ... nur flache Hiebe waren wie
Knüppelschläge über die Auslage hinweg auf Werners Schädel und Nase
niedergesaust ...

Er hörte die Stimme seines Leibburschen an seinem Ohr:

»Ein wenig ruhiger den Oberkörper, sonst -- ganz famos!«

Ah!! Wie das spornte!

O wilde Schwerterlust! -- O jungjunges, pochendes Herz!

Und Gang auf Gang ... und da ... da färbte sich ja auch das weiße
Paukhemde drüben!

»Silentium -- ein Blutiger auf seiten von Hasso-Nassovia!«

»Bravo, Leibfuchs!«

Der Paukarzt drüben machte ein ganz merkwürdiges Gesicht ...

Kurze Beratung mit dem Gegensekundanten --

»Herr Unparteiischer, wir bitten um Pause!«

»Silentium -- Pause für Hasso-Nassovia!«

Der Paukarzt ließ den Gegner seinen Kopf beugen, fühlte mit dem Finger
in den Schlitz der Kopfhaut ...

Abermals ein bedenkliches Gesicht -- kurze Beratung ...

»Herr Unparteiischer, von unserer Seite aus kann's weitergehn!«

»Silentium -- Pause ex!«

»Fertig!«

»Los!«

Krach, krach, rack-tack-bumm, tack --

»Halt!«

»Halt!«

Über Werners linke Backe war's wie ein leises Wehen hinweggegangen ...

Wichart schmunzelte:

»Rest, Füchschen! Da bringst deiner Frau Mutter aber gleich e scheene
Bescheerung mit!«

Und: »Herr Unparteiischer, wir erklären Abfuhr!«

»Silentium -- Cimbria erklärt Abfuhr nach viereinhalb Minuten.«

Was? War er denn getroffen?

O ja, er war getroffen. Seine linke Wange klaffte vom Ohrläppchen bis
unter die Nasenwurzel.

Werner Achenbach hatte die Bluttaufe bekommen.




                                 XII.


Und Willy Klauser und Werner Achenbach standen am Bahnhof. Sie hatten
sich aus der Schar der Korpsbrüder abgesondert, um die letzten Minuten
allein zu verplaudern. Bald würden von Süden und Norden die Züge
kommen, um Klauser ins heimische Magdeburg, Achenbach über Gießen
ins Wuppertal zu entführen. Das nächste Semester würde sie nicht
wieder zusammenbringen. Klauser würde in Berlin das vernachlässigte
Physikum bauen, Werner in Marburg weiter mit Blut und Eisen Cimbrias
Band umwerben ... und bei Professor Dornblüth eifrig Pandekten hören.
Denn der Alte Herr hatte schon in den letzten drei Wochen Zug in das
Rechtsstudium seiner jungen Korpsbrüder gebracht ... das war hochnötig
gewesen.

Die Erinnerung an den Abschiedskommers, an die letzte Wanderung des
Korps nach Wehrda, den Beschluß eines wohllöblichen C. C. der Cimbria,
seinen C. B. Klauser mit Farben zu inaktivieren, stimmte die Herzen der
Freunde heiterer, als sie selbst erwartet hätten.

»Und weißt du, Willy, das andere ... da wirst du auch noch mal drüber
kommen,« wagte Werner endlich zu sagen. Es mußte auch dies letzte Wort
noch gesprochen werden.

Eben noch hatte Klauser unter seinen Kompressen, seinen Wattebäuschen
heiter gelächelt. Jetzt verlor sein Auge den Glanz, nervös bebten seine
Lippen.

»Dafür werden hoffentlich die kleinen Mädchen in Berlin sorgen.«

»Ach nee, Willy, nicht so, nicht so! Laß dich doch nicht so
unterkriegen! Du wirst schon noch was Besseres finden, um ... das
andere zu vergessen.«

»Was Besseres? Hahaha! Es gibt nichts Besseres für dumme, grüne Jungen,
wie wir zwei. Das geht nicht ans Herz und nicht ans Blut, das geht nur
... ans Portemonnaie.«

»Willy -- bist du noch mal ... da oben gewesen?!«

»Da oben?! Bei dem Vieh?!« Voll Ekel und Abscheu wandte sich Klauser ab.

»Glaubst du, daß sie in Berlin anders sind?!«

»Nee -- das glaub ich freilich nicht -- --«

»Also ... du ... für das Pack ... sind wir doch wohl zu schade ... äh
komm ... laß uns jetzt von was anderem sprechen ... du -- schön war's
doch ... dieser Sommer ... und ... du und ich ... nicht wahr?!«

»Ja, ~das~ war schön, Werner ... und soll auch schön bleiben.«

Die Freunde sahen sich in die Augen.

»Ich wünsch dir alles Schönste,« sagte Klauser. »Und -- nimm dir ein
Beispiel an mir. Du hast mir mal was von einer -- Elfriede erzählt ...
laß sie laufen ... vergiß sie ... sonst geht's dir noch mal wie mir.«

Elfriede! -- War's nicht Werners seligster Gedanke gewesen in diesen
letzten Tagen, daß er sie nun wiedersehen würde --?! Trotz allem --
trotz allem?!

»An was soll man sich denn schließlich halten in der Welt?«

»Halt dich an das da,« sagte Klauser und zeigte auf Werners Band.
»Vorläufig gibt's keinen besseren Halt für unsereinen. Wenn das nicht
gewesen wäre ... dann wär' ich verkommen in diesen Tagen. Später
einmal, wenn die Universitätsjahre hinter uns liegen ... dann gibt's
andere Ideale, hoff ich ... Beruf ... und Vaterland ... und so was
... vielleicht auch ... Weib und Kind -- für mich wohl kaum -- aber
hoffentlich für dich, wenn du klug bist -- und dich vor Enttäuschungen
hütest, über die man nicht hinwegkommt --«

»Aber Willy!«

»Wir ... wir sind dumme Jungen ... Schüler ... Lehrlinge ... wir müssen
uns vorläufig mit einem Symbol der großen Lebensideale begnügen ...
und dies Symbol heißt uns ... Cimbria ... das blau-rot-weiße Band
... das ist, scheint's mir, der tiefere Sinn von dem allen, was ich
hier zwei Jahre lang getrieben habe ... zwei Jahre lang, die ich nicht
missen möchte ... wenn auch vielleicht mancher denken mag, sie seien
verplempert und vergeudet ... aber, was soll das Klugreden ... da
hinten kommt mein Zug ... leb wohl, Werner ... bleib mir gut ...«

Und die Freunde küßten sich ... ein einziges Mal in ihrem Leben. Sie
waren deutsche Jünglinge der neuen Zeit ... der Zeit von Blut und Eisen
... die Dichter der Empfindsamkeit hatten ihre Kindheit begleitet ...
die Lehrer ihrer Jünglingsjahre hießen Korpsband und Rappier.

Und nun gesellten sie sich wieder zu den Korpsbrüdern. Alle
Norddeutschen führte der Zug hinweg. Papendieck, Dettmer, Böhnke,
Klauser würden nicht mehr wiederkehren. Ihnen galt's das Scheidelied zu
singen.

Und wie vor wenig Tagen der Zug einen Toten aus der Mitte der Cimbria
hinweggeführt hatte, so trug er jetzt eine Schar lebender Scheidender
der Heimat zu. Ein Abschied auch diesmal.

Aber Rührungstränen und sentimentale Wehmut waren dieser Jugend
ausgetrieben worden in der eisernen Zucht des Korps. Unter Witzen
und Gelächter barg sich, was die jungen Herzen tief bewegte ... der
Abschied von den Freunden, vom Korps, von der geliebten, wundervollen
Hessenstadt ... von der Aktivität ... von einem ersten, herrlichen
Abschnitt der Jugendzeit ...

»Fertig!« -- »Fertig!« -- »Fertig!«

Abfahren!«

Ein letztes Händedrücken ... bellend sprangen die Korpshunde noch ein
Stück dem Zuge nach ... blaue Mützen wehten und weiße Tücher ...

Und im letzten Augenblick trat da ein Paar aus dem Wartesaal, wo
es verborgen des Augenblicks der Abfahrt gewartet hatte, auf den
Bahnsteig ... der Mann hochgewachsen, gütigen, strahlenden Auges ...
das Mädchen in hellem Gewand, den Blick von unaufhaltsam strömenden
Tränen verschleiert ... sie winkte mit weißem Tuch, ihr Auge suchte
einen, einen, an dessen Lippen sie vor wenig Wochen gehangen in erster,
keuscher Seligkeit ...

Und hatte ihn doch verlassen ...

Da hatte auch er sie erkannt ... starrer Trotz schoß in seine Züge, und
rasch trat er vom Fenster zurück.

Da lehnte sie ihr blondes Haupt an die breite Brust des erwählten, des
glücklichen Mannes und weinte um den verlorenen Traum ihrer Jugend.

    »Bemooster Bursche zieh ich aus,
      Ade!
    Behüt dich Gott Philisterhaus!
      Ade!
    Zur alten Heimat zieh' ich ein,
    Muß selber nun Philister sein,
      Ade, ade, ade.
    Ja, Scheiden und Meiden tut weh!«

so sangen, die da schieden und die da blieben.

                   *       *       *       *       *

Ja, Scheiden und Meiden tut weh ...

Und Marie Hollerbaum erkannte erst in diesem Augenblick, was sie
dahingegeben habe für immer ... für alle Zeit ...

                   *       *       *       *       *

Und nun saß auch Werner im Coupé. Er fuhr allein und dankte das dem
Geschick. Zu viel stürmte durch sein Herz ... es wäre ihm schmerzlich
gewesen, diese Scheidestunde mit einem andern teilen zu müssen, sie zu
entweihen durch gutgemeintes, doch alltägliches Geschwätz.

Der Zug umkreiste in weitem Bogen die Stadt da drüben am Berge. Vor
wenig Monden hatte Werne, von Verehrungsschauern seligbang umwittert,
dies wundersame Bild zum ersten Male erschaut. Vor wenig Monaten ...
war's möglich?

Damals war's ein wundersames, doch fremdes Bild gewesen ... nun war
jedes Fleckchen beseelt von Erinnerungen an ungeheure, grundstürzende
Erlebnisse seiner Seele ...

In ernster, gleichgültiger Erhabenheit thronte droben das Schloß;
Jahrhunderte waren an ihm vorübergezogen ... Völkergeschicke,
Weltgeschicke ... und Millionen, Millionen von Einzelschicksalen ...
Millionen von Herzensgeschicken ... es stand und stand in seiner
braunen Unnahbarkeit ...

Und länger noch standen und grünten die Berge, die Werners Jugendträume
umschlossen hatten, wie die der andern tausend, die gekommen waren in
diesem Sommer und nun auseinanderflogen in ihre Heimat ...

Und da unten blühte Sankt Elisabeth, die unverwelkliche Wunderknospe ...

Und um den Berg herum, ins Tal hüben und drüben hinein und hinunter,
alle die alten, alten Häuser, die spitzen Giebel, die winzigen Fenster
...

Da oben flatterte Cimbrias Panier, für das er nun auch zum ersten Male
sein Herzblut vergossen ...

Dort unter dem steilen Dache des Anatomiegebäudes hatte das tote
Lenchen gelegen ... und dann ein paar Wochen später ihr toter Liebster
... der Vater ihres Kindes ...

Seine drei lebendigen »Bälger« aber ... wo mochten die herumkrabbeln?!

Auch dort hinten irgendwo ...

Und dort ... in einem der kleinen Häuschen ... da weinte die schöne
Rosalie ... da harrte der arme Simon Markus des Richterspruchs ...

Erinnerungen -- Erinnerungen überall ...

Nun wandte sich der Zug, und die Südstadt tauchte auf. Der Dammelsberg
... Fanfahrengedröhn und Geigengequiek, ein scharfer, doppelter
Pistolenknall ... dies alles wurde wach ... das alles war aufgezeichnet
in Werners Hirn, unauslöschlich ... unvergeßlich ...

Und unter jenen Bäumen im Tale lag Ockershausen ...

»Fertig!«

»Los!«

Krach -- krach -- krach --

»Halt!«

»Halt!«

Vorbei -- vorbei ...

Und rasch entfloh der Zug ... rasch verschwamm das Bild ... so war es
vor wenig Monden zum ersten Male vor des Knaben Augen aufgetaucht ...
so schwand es nun ... geheimnisvoll ... deutungstief ...

Das Schicksal, das Erleben eines einzigen, kurzen Sommers ...

Und in Werners Seele quoll ein warmes, tiefes, heiliges Empfinden empor
... ein glockenfeierliches Dankgefühl ...

Das war das Leben ... nun war er eingetreten in seine Tempelhallen ...

Becherklang und Pistolenknall, brünstige Küsse und wilde
Verzweiflungstränen, wüste Zechgelage und friedliche
Waldeseinsamkeiten, ekle Buhlschaft und erhabenes Liebesentsagen ...
Jauchzen und Totensang ... Lust und Weh ...

Das war eingeschlossen in diesen kurzen Monden ... das alles hatte er
erlitten und erfahren, fühlend geschaut und fühlend durchlebt ...

Oh, Leben, Leben -- heiliges, herrliches, grausiges, mächtiges ...
heiliges, dreimal heiliges Leben --!!

Und doch ... war denn dies alles schon das Leben selbst gewesen?!

Das wirkliche, wahre, eigene Leben?!

Und die Liebe, die ihn und jene andern, seine Freunde, seine Brüder,
gefoltert und entzückt, durch eine Welt von Brünsten und Ängsten,
Küssen und Tränen, Seligkeiten und Todesschauer gejagt ... war das
schon die wirkliche Liebe gewesen?!

Ein Knabe, des Lebens unkund, war er gekommen ... ein Wissender kehrte
er zur Heimat, sollte er heut abend vor das forschende Vaterauge
treten, ausruhen in gläubigen Mutterarmen ...

Ein Wissender -- aber nicht doch ein Knabe noch?!

War nicht am Ende dies alles, Leben, Liebe, Leid ...

-- War das alles nicht am Ende doch nur ein Vorspiel gewesen?!

Eine furchtbar ernste Vorbereitung, aber doch eben nur eine
Vorbereitung?

Ein mächtig ergreifendes Vorspiel, ein Vorspiel, das Ungeheures,
Hochherrliches ankündigte ... aber eben doch nur ein Vorspiel?!

Fern, fern ahnte Werner ein anderes, ein volleres, ein erschütternderes
Erleben ... das wahre Leben ... die wahre Liebe ... das wahre Leid.

Das alles würde kommen, wenn er ein Mann geworden sein würde ...

Ja, ein Mann! Das wollte er werden ... das gelobte er seinem Bande da
um seiner Brust, seiner jungen Burschenwunde, allen gewaltigen und
heiligen Erinnerungen dieser vergangenen Monde ...

Dem teuren Bilde der geliebten Eltern daheim --

Elfrieden, dem Idol seiner Knabenjahre ...

Und sich selbst, seiner bebenden, weinenden, erstarkenden, werdenden,
jauchzenden Seele ...

Ja, ein Mann werden! --

Das Vorspiel war zu Ende ...

Und über das Erinnern dieses übergewaltigen Vorklanges hinweg grüßte
der Knabe Werner die Zukunft seiner Seele ...

Grüßte das kommende Glück, das kommende Leid ...

Grüßte die wahre Liebe ... das wahre Leben.

                            [Illustration]




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                              Vergeltung

                       Schauspiel in drei Akten

              Preis broschiert M. 2.--, gebunden M. 2.80


                         Das jüngste Gericht

                       (Der Paragraphenlehrling)

                                 Roman

                              34. Tausend

              Preis broschiert M. 4.--, gebunden M. 5.--

Ein gesunder Idealismus spricht aus dem Werk, das nicht nur dem
Juristen willkommen sein kann, sondern auch von dem beachtet werden
wird, dem die Gesundung unserer Rechtsverhältnisse am Herzen liegt. Die
in dem Roman gezeichneten Zustände bilden gewissermaßen ein Pendant
zu der Kritik, die Beyerlein in seinem »Jena oder Sedan« vor einigen
Jahren an unseren militärischen Verhältnissen übte.

                                                ~Hamburger Wochenblatt~


Lebensprudelnd ist vor allem die Schilderung der bergischen
Eisenindustrie mit den kernigen, bodenständigen Gestalten der
Arbeitgeber und Arbeitnehmer, die beide gleichermaßen die gemütlichen
Laute des Wuppertaler Niederdeutsch erklingen lassen.

                                                   ~Berliner Tageblatt~


Bei der Liebesgeschichte erfreut wiederum die Lebenswärme, mit der
die besondere, etwas spießbürgerliche und patriarchalische, aber auch
wieder behagliche, anziehende Art des bergischen Bürgertums in der
Familie und in der Geselligkeit zur Geltung gebracht wird. Auch die
industriellen Arbeiterverhältnisse beherrscht Bloem, und er zeichnet
sie mit großer Anschaulichkeit und lebhafter Bewegung; so wirkt
namentlich die Schilderung der technischen Versuche mit einem neuen
Stahlverfahren nichts weniger als trocken, sondern dramatisch lebendig.
Wir haben ein ausgezeichnetes Buch vor uns, das voll aus dem Leben
geschöpft ist und Zeugnis einer echten Gestaltungskraft gibt. Der
»Paragraphenlehrling« darf sich neben das bekannte Buch Rudolf Herzogs,
des engeren Landsmannes Bloems, »Die Wiskottens«, ebenbürtig stellen.

                                                    ~Kölnische Zeitung~


                W. Moeser Buchdruckerei, Berlin S. 34.





*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DER KRASSE FUCHS ***


    

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