Das Land unserer Liebe : Roman

By Walter Bloem

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Title: Das Land unserer Liebe
        Roman

Author: Walter Bloem

Release date: February 26, 2025 [eBook #75470]

Language: German

Original publication: Leipzig: H. Finkentscher Verlag, Grethlein & Co, 1924

Credits: Hans Theyer and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net


*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DAS LAND UNSERER LIEBE ***



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                         [Illustration: Cover]


                            [Illustration]




                        Das Land unserer Liebe

                                  von

                             Walter Bloem




                          46.-65. Tausend

        Alle Rechte, im besondern das der Übersetzung in fremde
           Sprachen, von der Verlagsbuchhandlung vorbehalten
             Copyright 1924 by Grethlein & Co. in Leipzig
                   Druck von G. Kreysing in Leipzig




                            ~Hafis-Ausgabe~

                            [Illustration]




                           ~Robert Hohlbaum~
               dem Freunde, dem Dichter, dem Deutschen!




                                   1


Um die kahlen, von harzigen Knospen geschwellten Ulmenriesen
des Harvestehuder Weges brandete der Märzsturm. Auf den breit
anschwellenden Rasenflächen der Villa Freimann taute letzter Schnee.
Der Generaldirektor kam schleppenden Schrittes die breite Freitreppe
herunter. Fröstelnd zog er den Nerzpelz um seine Schultern zusammen.

Der legt mächtig ein! dachte der Chauffeur. Und im tiefsten Herzen des
altbewährten Bediensteten regte sich doch fast unbewußt etwas wie eine
geheime Genugtuung des Kleinen, des Knechtes, über den unverhehlbaren
Verfall des Mächtigen, des Hochmögenden ... Dies Gefühl war den
Tönen jenes Liedes verwandt, dessen verwehte Klänge durch den trüben
Vorlenzmorgen von der Lombardsbrücke herüberflatterten:

  »Was hoch und stolz, das fällt
  im Sturm der neuen Zeit --
  jetzt bringen wir der Welt
  die rote Seligkeit!«

Auch der Generaldirektor horchte auf. Eine neue Falte querte sich
senkrecht durch die tiefen Furchen seiner schmal gewordenen Stirn.

Der Chauffeur gewahrte dies Lauschen, dies Stutzen.

»Meinen Herr Präsident nicht, daß es besser wäre, heute nicht --«

»-- nicht zu fahren, Hansen? Das souveräne Volk von Hamburg nicht zu
reizen? Es ist alles eins ... Haben Sie übrigens eine Ahnung, was los
ist?«

»Sie sind mal wieder sehr unruhig da drinnen ... Seit gestern kommen
immerfort Züge mit heimkehrenden Kriegsgefangenen aus Rußland an«,
berichtete der Chauffeur. »Die haben uns grad noch gefehlt. Alles die
reinsten Bolschewisten, Herr Präsident!«

Der Generaldirektor zuckte die Achseln. Aber dann schauderte er in
seinem schweren Pelz doch sekundlich zusammen. Ihn schüttelte der Ekel
... Diese Zeit -- dieses Volk ...

Er straffte sich auf. »Los, Hansen!«

Das Auto sauste über die Lombardsbrücke. Einen Augenblick überflog
der Generaldirektor mit einem kaum bewußten Gefühl von liebeschwerer
Verbundenheit das vertraute Bild: zur Rechten das Quadrat der
Binnenalster mit den hufeisenförmig darumgestellten drei Fronten
der majestätischen Handelspaläste -- zur Linken die im Nebel
verschwimmenden Ufersäume des fernhin sich dehnenden Außenbeckens.
Aber leer, wie ausgestorben die ehemals froh belebte Fläche ... Kein
flugfrohes Segel, kein munter flitzendes Dampferchen ... Da fauchte
der Wagen an einem Zuge von Heimkehrern vorüber. Eine rote Fahne wehte
voran. Der sie flattern ließ, trug nicht Feldgrau -- seine kalmückische
Gestalt stak im schwarzen Anzug der russischen Kriegsgefangenen
... Und hinter dem Steppensohne trotteten in Gruppenkolonnen,
wie sie's einst auf dem Kasernenhof gelernt, vier Jahre lang im
Felde geübt, die Entronnenen der kaukasischen Bergwerke -- in
verschlissenen Soldatenmänteln, die hageren Gesichter bartumstarrt,
rote Fetzen irgendwo auf die Monturen genäht, rote Kokarden auf den
schiefgestülpten Feldmützen ...

  »-- jetzt bringen wir der Welt
  die rote Seligkeit --«

Stockung -- Schreie -- geballte Fäuste -- -- aber schon war's vorüber
-- ein Stück verschimmelten Brotes flog gegen Freimanns Nacken.

Der Generaldirektor hatte unwillkürlich den schmerzenden Kopf
tief in den Pelzkragen gedrückt. Als er den Blick hob, traf eine
neue Qual seine gemarterte Seele. Vor ihm zur Linken stieg der
vielfenstrige Würfel des Atlantic-Hotels aus dem Nebel. Auf dem First
der fremdenleeren Riesenkarawanserei, die einstens die Sendlinge des
Erdballs beherbergt hatte, wehten die Banner der Entente und gaben
Kunde, daß drinnen die Kommission des Feindbundes zur Beaufsichtigung
der Auslieferung der deutschen Handelsflotte ihr Standquartier
aufgeschlagen hatte. »-- die rote Seligkeit -- --«

Hatte es Sinn zu arbeiten, -- -- mit zusammengebissenen Zähnen zu
kämpfen für ein rettungslos Verlorenes?!

Georg Freimann fühlte, wie die Verzweiflung über ihm zusammenschlug.

Im stolz hingelagerten Verwaltungsgebäude der Hansa-Transatlantik-Linie
schleppte der Arbeitstag sich gähnend und zwecklos hin -- angefüllt mit
dumpfen Ängsten und Ahnungen. Man arbeitete nicht mehr -- man wurde
beschäftigt ... Die gigantische Maschine lief leer.

Aus dem satten Braun des eichengetäfelten Prunkbureaus trat dem
Generaldirektor eine schlanke Mädchengestalt in schlichter Bluse aus
grauer Kunstseide entgegen. Ein flüchtiges Lächeln überflog die gelben
Züge des Chefs. Wie täglich empfand er halb unbewußt die Wohltat dieses
klaren, in sich gefestigten Gesichts.

»Herr Präsident,« sagte Antje Tietgens, »die Entente-Kommission
hat soeben aus dem Atlantic-Hotel angerufen: der amerikanische
Sachverständige sei gestern angekommen und habe heute die Revision des
›Altreichskanzlers‹ vorgenommen -- das Schiff solle heut nachmittag um
drei Uhr in See gehen und könne nach Prüfung des Ganges auf der Höhe
von Cuxhaven übernommen werden.« In der Stimme der Sekretärin schwang
leise die tiefe Trauer, das grenzenlose Mitgefühl einer Wissenden.

Der »Altreichskanzler«! Georg Freimann mußte sich auf die Stuhllehne
stützen. Längst fällige Botschaft -- dennoch -- unfaßbar --
unerträglich!

Das letzte Schiff der H. T. L. -- das schönste -- und das letzte!

Der »Altreichskanzler« war zwei Jahre vor Kriegsausbruch vom Stapel
gelaufen -- die vollkommenste Schöpfung der Hammonia-Werft -- am
ersten August zum Glück im Heimathafen -- dann, in ein Kriegsschiff
verwandelt, vier Jahre lang als Hilfskreuzer in der Ostsee,
Mitkämpfer der ruhmvollen Tage von Ösel und Dagö -- nun gemäß den
Waffenstillstandsbedingungen in den stolzesten Passagierdampfer
der Welt zurückverwandelt -- um als letzter Besitz der einstmals
erdumspannenden deutschen Großreederei dem Feindbund ausgeliefert zu
werden.

Fräulein Tietgens blieb noch einen Augenblick stehen. Sah es nicht
aus, als würde der gewaltige Mann, dessen Werk die Linie war, auf der
Trümmerstätte seiner Schöpfung zusammenbrechen? Ihr Herz ward weit vor
Mitleid -- und sie zürnte sich selber, daß in den Tiefen ihrer Seele
sekundenlang die geheime Genugtuung der Tochter der Niederung über den
Sturz des Hochmögenden hatte triumphieren wollen ...

Schäm' dich, Antje! --

Ihre weibliche Hilfsbereitschaft brauchte nicht in Wirksamkeit zu
treten: der Chef hielt sich. Aber er schien keine weiteren Befehle zu
haben. Geräuschlos verließ die Sekretärin den Raum.

Georg Freimann war allein. Eine Sekunde lang zuckte wie ein tiefer,
erlösender Traum die Vorstellung durch sein todwundes Hirn, daß
daheim im Schubfach seines Arbeitstisches nun seit dem Tage des
Waffenstillstandes der geladene Browning des Augenblicks harrte, da die
Wucht des Schicksals unerträglich geworden sein würde ... War es so
weit? Konnte es noch tiefer in den Abgrund gehen?

Mein Lebenswerk! ächzte seine Seele. Mein Lebenswerk!

Ja -- es ging zu Ende. Diesen Tag würde Georg Freimann nicht überleben
können.

Horch! und draußen schon wieder das Lied von der roten Seligkeit!
Wahnsinnige, diese einstigen Helden von Gorlice und Tarnopol -- diese
-- -- Deutschen ... Sahen sie denn nicht, daß sie und ihresgleichen
die Heimat in den Ozean der Schande, sich selber und all ihre Welt ins
Elend gestürzt hatten?!

Abermals straffte sich der Generaldirektor. Der Instinkt des
Handelnmüssens, der Verantwortung, des Führertums überwand noch
einmal die tödliche Erschlaffung. Und schon lag der Telephonhörer
in seiner mageren Hand, schon flogen seine Befehle in entfernte
Räume des vielzelligen Arbeitsklosters. Sie stellten aus Ingenieuren
und kaufmännischen Oberbeamten die Kommission zusammen, welche
als Vertreterin der Linie die Probefahrt des »Altreichskanzlers«
mitzumachen und die Übergabeverhandlungen mit den Mitgliedern der
feindlichen Abordnungen zu tätigen haben würde. Aber die sonst so klare
Herrscherstimme des Chefs klang an das Ohr seiner Mitarbeiter wie
geborsten ...

Er überhörte ein bescheidenes Klopfen an der Flurtür und fuhr erst
herum, als eine linde Hand sich auf den Arm legte, der die Schalthebel
des Fernsprechers regierte.

»Ah -- Johanna?!« Des Gatten Auge staunte. »Du strahlst ja -- -- etwa
gar Nachrichten von Heinz --?!« So lächelt eine Mutter nur, wenn sie
Gutes von ihrem Kinde zu melden hat ...

Wortlos leuchtend reichte Frau Johanna ein Telegramm. Georg las:

»Aus Bremerhaven -- Endlich in Freiheit, eintreffe, sobald Zeitläufte
gestatten. Heinz.«

Nun war der Jubel auch in des Vaters Stimme und Auge gekommen. Einen
Augenblick schlugen die Herzen der beiden wesensfremden Menschen
im gleichen Takt. Und über Georg Freimann, der sonst, eiskalter
Rechner, einsam den Weg seines Aufstiegs gegangen war, kam in dieser
Sekunde etwas wie Dankbarkeit gegen die Mutter seines Sohnes ...
Ein Verbündeter, ein Kampfgenoß im Anmarsch ... Er zog die feine,
kühle Hand an seine Lippen. Und vor beider Gatten Augen stand das
Bild ihres Einzigen, wie sie ihn zum letzten Male gesehen -- für
wenige Tage von der flandrischen U-Bootbasis in Brügge her auf Urlaub
eingetroffen -- noch dampfend von ungeheuren Spannungen heroischer
Gefechte, Gebieter einer Nußschale von Kampfschiff, eines stählernen
Haifisches, dessen Kiefer Tod und Verderben durch die Seewüste zu den
Riesen der feindlichen Handelsflotte hinübergespien ... Ein Held, um
so heldenhafter, je weniger sein überzarter Körper, seine überzarte
Seele zu solchem Reckentum der Meerestiefe geschaffen schienen. Und
an seiner Seite die Braut, selig und bangend, in ihrer stolzen,
altererbten Vornehmheit dem Wesen dieser Frau verwandt, die einstmals
die althamburgische Gediegenheit ihrer Gesinnung dem zähen Auftrieb des
Emporsteigenden verbunden -- und dem heißen Wollerblute des Ringers
jenen Schuß verträumter Weichheit beigesellt, die den Vater an seinem
Sprößling oft gestört, befremdet, enttäuscht hatte ...

Die Gatten sahen sich in die Augen. Waren sie einander fremd im
Nebeneinander des Alltags -- wenn's um Heinz ging, so verstanden sie
einer des andern Gedanken.

Wie wird er wiederkommen? Wie wird er, der die Fremde, die
Gefangenschaft so schwer ertrug -- wie wird er die Heimkehr -- -- die
Heimat ertragen?!

»Gottlob, daß er seine Ilse hat ...« sprach Mutter Johanna die Antwort
auf die stumme Frage der beiden Elternherzen.

»Weiß sie's schon?« fragte Georg.

»Einstweilen bist du noch der nächste dazu -- als Vater ...«

Die beiden alternden Menschen sahen sich abermals an -- der zähe
Emporkömmling und die Frau aus altem Bürgerblut. Und sie erlebten im
Flug einer Sekunde noch einmal den Augenblick, da ihrer beider Wesen
zusammengeronnen war, um diesen Menschen zu bilden, der als Ganzes
eben darum ihnen beiden so unähnlich war ... Und abermals neigte
des Generaldirektors schmaler Usurpatorenkopf sich auf die zarte,
mädchenhafte Hand der Frau, die seinem Aufstieg das Relief gegeben
hatte.

»Nun, dann wird's aber höchste Zeit!« lächelte Freimann und bestellte
eine Verbindung mit der Hammonia-Werft.

Inzwischen berichtete er seiner Frau, daß heute nachmittag der
»Altreichskanzler« in See gehe.

Frau Johanna kannte die tragische Bedeutung dieser Nachricht. Ihrer
Vorstellung von althamburgischer Kaufmannssolidität war die rasende
Aufwärtsentwicklung der Linie immer unheimlich gewesen, unsympathisch
die dämonische Betriebsamkeit ihres Ehegefährten, in der sich Kraft
und Anpassung, steifer Nacken und -- gelegentlich! -- krummer Buckel
so seltsam vermischt hatten ... Immerhin: es war doch eine stolze
Höhe, auf die er sich selbst und sie mit hinaufgehoben -- und um so
zäher, vernichtender nun der Sturz. Sie fühlte, daß er litt bis zur
Unerträglichkeit -- fühlte sich seinen Leiden näher als ehedem seinem
unersättlichen Auftrieb. Was sie in Jahren, vielleicht seit einem
Jahrzehnt nicht mehr getan -- sie legte ganz leise den Arm um des
Gatten Haupt und wollte es an sich ziehen.

Aber schon entwand er sich -- er verstand es nicht, sich bemitleiden zu
lassen. Zum Glück schnarrte eben der Apparat.

»Hier Hammonia-Werft!« klang die vertraute Stimme der heimlichen
Verlobten seines Sohnes.

»Guten Morgen, Ilseken!« Und in Georg Freimanns starrem Erobererherzen
tat eine zweite Geheimkammer sich auf. »Mama ist bei mir -- sie hat
eine Nachricht für dich, die sie dir selber sagen muß!«

Frau Johannas Augen wurden feucht, als sie der künftigen
Schwiegertochter die befreiende Kunde zurief. Ach, daß man sich nicht
sah in diesem Augenblick der Erlösung von jahrelangem Bangen ...

Seltsame Härte des modernen Lebens ... Die Mutter und die Verlobte des
Heimgekehrten hörten eine der anderen Stimme -- den Jubel, der durch
die verhaltene Kühle schwang -- und sahen einander nicht ...

»Na, nun gib mal her, Johanna -- ich muß den alten Carstensen noch
sprechen!«

Zauberei! Der kleine schwarze Trichter in des Reeders Hand sprach nun
plötzlich mit der müden, verhaltenen Greisenstimme des ehemaligen
Senators Carstensen -- des Eigentümers und Leiters der Werft. Sie
zitterte, als Georg Freimann die grausame Kunde vom bevorstehenden Ende
der Linie hindurchgegeben.

»Entsetzlich ... wie tragen Sie's?«

Georg Freimann biß die Zähne zusammen.

»Wir sind nachgerade abgehärtet -- wir unglückseligen Deutschen ...«

»Das weiß der Himmel -- aber grausam ist's doch ... Ein Glück, daß Ihr
Junge kommt -- da bekommen Sie Hilfe ... Sein Beruf ist überflüssig
geworden in Deutschland. Wohl ihm und Ihnen, daß in seines Vaters
Riesenbetrieb ein Kontorstuhl für ihn freisteht ... Nur -- ob er mögen
wird --?!«

Des Vaters Lippen wurden schmal und streng. »Er muß.« Ein Befehlsblick
schoß zur Mutter hinüber, die unter diesem Ton, diesem Blick
leise zusammenzuckte -- wie unzählige Male zuvor in einem langen
Gemeinschaftsleben.

»Nun, wir sehen uns ja wohl heut abend,« klang die Stimme des alten
Carstensen. »Ich wenigstens will zur ›Alten Liebe‹ fahren -- von ferne
noch einmal das stolzeste Kind meiner Werft grüßen ... Ach, Freimann --
unser Werk -- unser zertretenes Land ...«

»Auch ich muß hin --« knirschte Georg Freimann, »auch ich ... Man muß
das sehen, man muß ... Und wenn's einen vollends umschmeißt ... Also
Schluß, lieber Freund -- heut abend um fünf an der ›Alten Liebe‹ --«

»Einen Augenblick, Freimann,« klang Carstensens Stimme. »Timmermanns
möchte Sie noch sprechen ...«

Und abermals eine Wandlung. Aus dem kleinen geheimnisvollen Abgrund
in des Präsidenten Hand, der eben noch des alten Herrn vibrierende
Stimme ausgeströmt, dröhnte nun der urweltliche Baß eines Titanen.
Bob Timmermanns -- gleich Freimann ein siegreicher Kämpfer -- die
rechte Hand seines alternden Chefs, das technische Genie der Werft und
Oberleiter des gewaltigen Apparats der Konstruktionsbureaus, aus dem
die Pläne all der umwälzenden Neuerungen hervorgegangen waren, die dann
Gestalt gewonnen hatten.

»Hier Timmermanns ...«

»Hier Freimann ... Haben Sie gehört, Timmermanns -- der
›Altreichskanzler‹ --?!«

Ein zorniges Knurren klang aus dem Apparat. »Hab's gehört ... mache
mit ... Die Kerle, die mein bestes Schiff einstecken wie'n gestohlenes
Portemonnaie -- die muß ich mir doch mal aus der Nähe besehen ...«

»Tun Sie's nicht, Timmermanns -- Sie springen den Burschen ins Gesicht
... hat ja keinen Zweck ... wir liegen unten.«

»Weiß, weiß ...« keuchte es zurück. »Hab' als Kaiserlicher
Marineingenieur auf der in Watte gewickelten Hochseeflotte vier Jahre
den Maulkorb getragen ... So viel Selbstbeherrschung werd' ich schon
noch aufbringen, daß ich den Anblick der Messieurs und Gentlemen und
Signori aushalt', ohne einen davon in die Elbe zu schmeißen ... Aber
einen Schwur werd' ich schwören bei ihrem Anblick -- einen Schwur, den
der Himmel erhören soll ... oder die Hölle -- je nachdem --!«




                                   2


Der Berlin-Hamburger +D+-Zug schnob durch die kahlen Marschen
von Billwärder, auf deren Feldern die Frühsaat saftgrün in Halme
schoß. Seinem regelmäßigen Bestand an Durchgangswagen waren vier
Waggons dritter Klasse angehängt -- für einen Trupp heimkehrender
Kriegsgefangener, die aus Hamburg, Harburg, Altona stammten.

Sie hatten ein abenteuerliches Schicksal hinter sich. Aus den
kaukasischen Bergwerken hatten sie sich nach Ausbruch der russischen
Revolution im Fußmarsch bis Moskau durchgeschlagen. Hier waren sie
einem »Arbeiter- und Soldatenrat« der deutschen Kriegsgefangenen in
die Hände gefallen, der von der Sowjetregierung beauftragt war, die in
der Hauptstadt eintreffenden Kameraden zu empfangen, zu versorgen --
und nebenbei nach Kräften zu bolschewisieren. Die Mitglieder dieses
edlen Rates, eine Gesellschaft übelster Sorte, hatten die ihnen
überwiesenen Leidensgefährten, statt sie unverzüglich nach Deutschland
weiterzubefördern, mit kaum verhüllter Gewalt zurückgehalten. Nur
ab und an fertigten sie, um den Schein zu wahren, einen Transport
nach Deutschland ab. Für den aber suchten sie nach Möglichkeit nur
solche Heimkehrer heraus, welche sich ihre bolschewistische Theorie
und Praxis gründlich zu eigen gemacht hatten. Von dieser Sorte waren
die anderthalb hundert ehemaligen Werft- und Hafenarbeiter aus dem
Hamburger Bezirk, die der Berliner Zug heute morgen ihrer Heimat
entgegentrug. In ihren verworrenen Seelen tobte ein wilder Tanz der
Gefühle: Heimkehrbangen, Wiedersehensfreude, Sehnsucht nach der
lang entwöhnten Berufsarbeit -- das alles wirkte und wühlte wohl im
innersten Herzensbezirk. Aber nach außen trugen sie ein ganz anderes
Wesen zur Schau. Waren sie nicht die Träger und berufenen Verkünder
der großen Heilslehre aus dem Osten? Schon beim Halten in Spandau
waren sie aus den ihnen angewiesenen Wagen herausgeströmt und hatten
sich durch den ganzen Zug verbreitet. Sie lümmelten sich auf den mit
roter Kriegsleinwand bespannten Polstern der ersten Klasse, setzten im
Speisewagen die Unterstützungsgelder der Hilfskomitees in Schnaps und
Sekt um und entsetzten die verschüchterten Fahrgäste durch greuliche
Reden von Zukunftsstaat, Ausrottung der Bourgeoisie und Diktatur des
Proletariats.

In einem Abteil der ersten Klasse lagen, langhingestreckt auf den roten
Bänken, von denen die berechtigten Fahrgäste mit Entsetzen in die
Korridore entwichen waren, zwei ungleiche Kameraden in abgewetzten,
verdreckten, verlausten Feldmänteln. Sie qualmten Zigarette um
Zigarette. Und Tedje Tietgens, einst Nieter auf der Hammonia-Werft,
dann schwerer Artillerist und seit der Brussilowoffensive
Kriegsgefangener im fernen Osten des Zarenreiches, entwickelte dem
Genossen seines Handwerks und seiner Gefangenschaft seine
Zukunftspläne.

»Deerns, Clos, junge Deerns möt ick nu irst mol hebben ... Ick bün, as
wör ick rein dull un uthungert op Deerns ... Öber nich son'n smuddlige
Mietjes ut de Fabriken. Uns' russ'sche Kam'roden, wat dei sünd, weißt
du, Clos, de hebben sick den'n Zoren sien Döchter halt ... Ick hal mi
de Fienste von de Fienen ut'n Harvestehuder Weg ... un denn möt dei
danzen, as ick fleit ... Junge, Junge, dat möt ick erleben ... Nu sünd
wi de Herren, nu warden dei Wiewer requirert, as Volkseigentum erklärt
und denn sozialisert ...«

Und der ungeschlachte Geselle dehnte und rekelte den stämmigen Leib,
dem zwei Jahre harter Fronarbeit unter der Knute russischer Aufseher
von seiner Urkraft so wenig hatten nehmen können wie einst die minder
schwere, doch ungleich gefahrvollere Arbeit des Nietens, hoch droben am
werdenden Eisenleibe gigantischer Schiffsrümpfe.

Sein Gefährte, untersetzt, kräftigen Leibes wie er, doch neben dem
klobigen Gesellen fast schmächtig anzuschauen, lag ganz still und
behaglich hingestreckt und schaute den Kringeln seiner Zigarette nach,
die am Gepäcknetz verstiebten.

»Achtstündigen Arbeitsdag!« träumte er mit verschleierter Stimme vor
sich hin. »Klock veer is Sluß op dei Werft! Un denn nah Huus, un in
mien Quartier heff ick'n Pianino ... un denn späl ick'n ganzen Obend
... ganz wunnerscheune Soken späl ick denn, Schumann un Brahms ... nich
ümmer blot taun Danz as vör Tieden ... Ja ... wenn man blot mien Finger
nich ümmer so stief wören von dei swore Arbeit op dei Werft ... denn
spälte Clos Mönkebüll bi de groten Konzerten.«

»Du büst'n groten Quasselkopp un Spintisierer, Clos!« knarrte Tedje.
»Nu kannst du fiene Dam's kriegen, so väl as du wullt -- un brukst jem
nich erst wat optauspälen, dat du sei dull makst nah di ... Nu brukst
du blot mol kommanderen: Runter mit die Lappen! -- denn hest du s' all,
as sei wussen sünd ...«

Eine Unruhe entstand im Zug. Aus allen Abteilen drängten die
schweißdunstigen, bartumstarrten Gestalten der Heimkehrer in die Gänge.

»Hamborg! Kiekt blot, Jungs, nu kümmt Hamborg!«

Straßenzeilen drängten sich an den Zug heran, hochragende
Speichergebäude, alles grau und geschwärzt im fahlen Lichte des
nebelverhangenen Vorlenztages ... Und nun:

»Kiekt, Jungs -- de Hoben ... Ober wo leddig ... Dunnerslag noch mol --
wo leddig; grod as weer hei utstorben ...«

Die Männer hatten seit ihrer Rückkehr aus Feindesland schon viel von
ihres Vaterlandes Schicksal geschaut. In fremder Städte Bannkreise
waren sie sich der grauenvollen Veränderung nicht voll bewußt geworden
-- hatte der begeisterte Empfang, den die Genossen ihnen bereitet,
das trunkenmachende Bewußtsein des inneren Sieges ihrer Klasse ihnen
die Erkenntnis der vernichtenden Folgen der äußeren Niederlage bis
zu dieser Stunde noch verschleiert. Nun tat sich ihre Heimat, ihre
Arbeitsstätte vor ihnen auf -- nun fröstelte jählings in ihren Seelen
die entsetzliche Ahnung, daß die Hand des Feindes nicht dem verhaßten
Kapitalismus allein, nein, jedem einzelnen von ihnen die Wurzeln des
Daseins abgrub.

Schon lief der Zug in die rußige Halle des Hauptbahnhofs, und
bald strudelten die Heimkehrer die Treppen zur Durchgangshalle
hinan, quollen als mißfarbiger Schwall auf den fast ausgestorbenen
Glockengießerwall hinaus. Und wieder nun, wie bisher auf allen
Stationen, wehte ihnen das geliebte, mit fanatischer Inbrunst verehrte
Rot entgegen. Empfangskomitee, Kaffee, Wurststullen, Begrüßungsreden:

»Willkommen, Brüder, Genossen, Proletarier im befreiten, verjüngten
Vaterlande!«

Die bis zum Überfluß vernommenen Phrasen zündeten nicht mehr so hitzig
wie in Breslau und Berlin ... Auf den gefurchten Stirnen, unter den
früh ergrauten Scheiteln der Familienväter hockte plötzlich die Sorge
um Arbeit und Brot ... Man würde ja nicht hungern müssen, o nein, der
neue Staat sorgte für die arbeitslosen Verteidiger des alten ... Aber
man war nicht heimgekehrt, um stempeln zu gehen -- man sehnte sich
nach dem altvertrauten Schaffen ... nur kürzer müßte es sein, nicht den
ganzen Tag mit Beschlag belegen, nicht Leib und Seele ausdörren ... Und
der Hafen so leer ... Woher sollte da -- --

Die Organisatoren des Empfanges kannten solche Stimmungen. Die sollten
jedenfalls nicht gleich zu Anfang aufkommen. Noch schaltete ja über
Hamburg der Arbeiter- und Soldatenrat ...

Musik zur Stelle -- es ordnete sich ein Zug. Und es war wie eine
Selbstverständlichkeit, daß der lauteste, selbstbewußteste,
klassenbewußteste der Schar, der stämmige Tedje Tietgens, das
bereitgehaltene rote Panier ergriff und hart hinter der Musik dem Zug
der Kameraden vorantrug. Die Trompeten, die einstmals den Ersatz der
Sechsundsiebziger zur Ausfahrt ins Feld begleitet hatten, schmetterten
nun der Heimkehr der bolschewisierten Trümmer der wehrhaften Mannschaft
Hamburgs voran. Taktfester Gesang aus zweihundert Kehlen brandete
an den Mauern der Geschäftshäuser des Glockengießerwalls empor, zum
Alsterbecken hinüber:

  »Wir bluteten vier Jahr
  in Schlamm und Glut und Graus
  für Krone, Thron, Altar --
  nun ist die Knechtschaft aus!

  Was hoch und stolz, das fällt
  im Sturm der neuen Zeit --
  nun bringen wir der Welt
  die rote Seligkeit!«

                   *       *       *       *       *

Wenige Minuten später als der Berliner Zug war von Harburg her der
Bremer in die Halle gelaufen. Ihm entstieg unter dem tagesüblichen
Gewimmel jener Geschäftsleute, die sich im revolutionären Deutschland
einzurichten gewußt hatten, ein junger Marineoffizier in stark
strapazierter Uniform, das Eiserne Kreuz Erster Klasse und eine
breite Ordensschnalle auf der Brust. Er war ja nun wieder frei ...
Aber auch in seinen Zügen stand noch das dumpfe Entsetzen des ersten
Wiedersehens mit dem Hafen, dem Lebenszentrum seiner Vaterstadt.
Auf Urlaub, während des großen Ringens, hatte man diesen Zustand
als natürliche Kriegsfolge empfunden -- sein Fortbestehen nach dem
Waffenstillstande durchschauerte die Seele mit bitteren Beklemmungen
... Die überschatteten die ernsten, feinen Züge des Seemanns, den
seine Ehrenzeichen als Bewährten erkennen ließen -- und nur ein tiefes
Aufatmen der schmalen Brust, ein verstohlenes Glimmen in den stillen,
nach innen schauenden Augen verriet, daß in diesem Jüngling-Mann auch
Hoffnungen und Sehnsüchte der Heimat entgegenjubelten -- aller tiefsten
Trauer um den Jammer des Vaterlandes, der Vaterstadt zum Trotz.

Von so widerspruchsvollen Gedanken durchstürmt trat der
Kapitänleutnant Heinz Freimann aus der Pforte des Hauptbahnhofs auf
den Glockengießerwall hinaus. Heimat ... Vaterstadt ... Wie anders
als einst ... Wohin der brandende Schwall des Reiseverkehrs der
Handelsmetropole? Und in den Lüften alles wie still ... Es fehlte
etwas -- jener Klang, der einstens dem Ankommenden den Gruß der
Schiffahrt entboten hatte -- das vieldutzendstimmige Heulen der
Sirenen aus- und einfahrender Dampfer ... Also Hamburgs Hafen immer
noch in todgleicher Erstarrung ... Und wo war die endlose Reihe der
Autos, die sonst vor dem Bahnhofseingang der Reisenden geharrt hatte?
Nirgends ein Gefährt zu erspähen ... Freilich: das war auch während
der Kriegsjahre so gewesen. Aber -- war denn jetzt nicht Friede? Nur
wogende Menschenmassen -- alles vom Proletariertyp, in jedem Knopfloch,
an jedem Frauenmantel die blutrote Rosette ... Und in der Ferne, nach
der Lombardsbrücke zu, wälzte sich ein Zug von hinnen -- schmetterte
marschfeste Musik, brandete das blutaufpeitschende Lied von der »roten
Seligkeit« ...

Jetzt erst gewahrte Heinz Freimann, daß neben dem Bahnhofseingang vor
einem blutrot lackierten Schilderhaus ein Posten stand -- ein Matrose,
die Flinte am Riemen umgehängt, die Mündung, jedem infanteristischen
Gefühl zum Trotz, nach unten gekehrt. Der Mann stand nicht etwa
stramm, als des Offiziers Auge ihn traf -- den erstaunten Blick des
Vorgesetzten beantwortete er mit einem tückisch-herausfordernden
Grinsen ...

Ach so ...

Vor dem Heimgekehrten stand plötzlich ein sechzehnjähriger Lümmel mit
frechem, verwüstetem Gesicht:

»Na, wat's dit? Sei hebbt woll de niege Tied verslopen?! Wüllt Sei mol
fix den'n ganzen Plünn'nkrom von Achselstücken un Kron' un Ordens un
Kokarr runnernehmen? Öber 'n bäten fix, segg ick ... wat?!«

Der Offizier sah eine Sekunde lang verständnislos auf den unverschämten
Bengel herab -- ihm zuckte die Hand, den Buben abzustrafen -- aber
schon wandten sich ringsum die Köpfe, stockten Schritte, schob sich's
heran, glotzten herausfordernde Blicke, gellten Schreie, Flüche,
Pfiffe.

»So'n utverschamten Reaxionär! Messers rut! Riet em de Plünn'n von'n
Liew!«

Heinz Freimann starrte entsetzt in den Klumpen Gier und Haß, der
sich sekundlich dichter um seine Heimkehr zusammenballte. Und schon
war's geschehen. Derbe, arbeitsrissige Männertatzen, behandschuhte,
parfümierte Dirnenhände, schmutzige Knabenfinger griffen nach ihm,
rissen ihm die Waffe von der Seite -- die Krone vom Ärmel, die
Achselstücke von den Schultern -- vom Rock die Ehrenzeichen, in vielen
Dutzenden todumdräuter, abenteuertoller Seegefechte verdient -- Püffe
regneten ihm wider Brust und Bauch, seine Mütze, der Kokarde beraubt,
wurde ihm roh von hinten wieder aufgestülpt, daß ihm der Schirm über
die Augen fiel ...

Da stand er, taumelnd, gebrochen -- ein Blutrinnsel tropfte ihm übers
Gesicht, auf dem die dicken Beulen aufquollen ... um ihn johlte
Triumphgeheul, Hunderte von haß- und hohngrinsenden Augenpaaren
starrten ihn an ...

Wenn sie mich doch nur ganz zusammengetrampelt hätten -- das war der
erste halbbewußte Gedanke des Geschändeten. ... Der zweite: fort --
fort -- sich verkriechen ...

Wankenden Schrittes tappte Heinz von dannen, der Lombardsbrücke zu.
Da hinten irgendwo gehörte er ja hin ... Dorthin, wo nun jenseits
der Kunsthalle, des Schillerdenkmals der weitgeschwungene Bogen des
Alsterufers auftauchte, Harvestehudes kühl-unnahbare Vornehmheit ...
Der Pöbelhaufe begleitete ihn, johlend, pfeifend --

Und stob plötzlich auseinander -- spritzte nach rechts und links,
gab einem Auto den Weg frei, dem das gellende Hupensignal Bahn riß
... Auf dem Motorgehäuse flatterte ein winziges Sternenbanner. Nur
der Kapitänleutnant hatte den Warnruf nicht vernommen -- taumelte
verblödet seinen Weg ... und ward plötzlich umgerissen ... Der
Chauffeur des Kraftwagens hatte im letzten Augenblick scharf gebremst
und das Steuerrad herumgerissen, sonst hätte er den Betäubten vollends
überfahren.

Seltsam! Dieselben Menschen, die eben noch den Offizier entwaffnet,
beschimpft, mißhandelt hatten, wandten sich nun mit verschärfter Wut
und Empörung gegen den Fahrer und den Insassen des Wagens mit der
feindlichen Flagge.

Der hagere, bartlose Herr, der bisher mit verächtlichem, unbeteiligtem
Gesichtsausdruck im Lederpolster gelegen hatte, sah sich nun bemüßigt,
sich des uniformierten Mannes anzunehmen, den sein Gefährt, achtlos
durch die Massen des besiegten Volkes dahinrasend, zur Strecke
gebracht hatte. Er machte eine lässig beschwichtigende Handbewegung
gegen die Menge, die sein Gefährt mit geballten Fäusten und drohenden
Mienen umdrängte, stieg federnden Schrittes aus, rief seinem Chauffeur
einen Befehl zu und hob mit dessen Unterstützung den sich mühsam
aufrichtenden Offizier in seinen Wagen. Und ehe die Herandrängenden
recht zum Bewußtsein gekommen waren, flog das Gefährt mit dem
flatternden Sternenbanner über die Lombardsbrücke.

»+Beg your pardon, Sir+ --« sagte der Herr des Wagens zu seinem
Opfer und Schützling und fuhr in leidlich verständlichem Deutsch fort:
»Ich bin sehr unangenehm habend Sie beschädigt ... wohin muß ich
bringen Sie?«

Heinz Freimanns Sinne fanden sich langsam wieder zueinander. Er
richtete sich auf und sagte eisig ablehnend:

»Lassen Sie halten. Ich wünsche auszusteigen.«

Sehr höflich bat da der Amerikaner wiederholt um Verzeihung und um
Erlaubnis, das Versehen seines Chauffeurs dadurch wieder gutmachen zu
dürfen, daß er den +captain+ nach Hause fahre.

»Ich meine zu sehen, Sie haben gehabt eine +collision+ mit Ihre
+countrymen+ ...«

»Ich bitte wiederholt, mich sofort aussteigen zu lassen ...«

Je schärfer des Deutschen Stimme klang, desto liebenswürdiger wurde der
Amerikaner. Er ging ins Englische über:

»Mein Name ist Elias Patterson ... ich bitte wiederholt um die
Vergünstigung, Sie heimfahren zu dürfen ...«

Heinz Freimann, im Bann einer unbesieglichen Müdigkeit, gab sich
gefangen. »Harvestehuder Weg 327, Villa Freimann, bitte rechtsum am
Wasser entlang ...«

Der Fremde wurde ein wenig verlegen und verdoppelte seine
Verbindlichkeit. »O -- Villa Freimann ... Ich kenne Villa Freimann ...«

»Ich bin der Sohn des Herrn Freimann«, sagte Heinz auf Deutsch.

»Oh -- ich bin glücklich zu hören, daß Sie mich verstehen in Englisch«
-- und weiter in der heimatlichen Sprache: »Ich bin untröstlich,
daß meine erste Wiederbegegnung mit dem Hause meines alten Freundes
Freimann ein wenig gewaltsam war ... Ich kenne Ihren Vater sehr gut aus
den schönen Tagen des Morgan-Trusts ... Wir haben sehr gut zusammen
gearbeitet zum Wohle der amerikanischen und der deutschen Schiffahrt
-- damals -- in glücklicheren Zeiten. Erlauben Sie mir, Ihnen zu
sagen, wie ich nach Hamburg komme. Die Regierung der Vereinigten
Staaten ist gebeten worden, einen Sachverständigen zu senden, welcher
der Entente-Kommission bei Übernahme des letzten Schiffes der
Hansa-Transatlantik-Linie als Berater zur Seite stehen soll. Ich habe
den Auftrag des Weißen Hauses um so lieber angenommen, als ich als
Chefbesitzer des Patterson-Großreederei-Konzerns in sehr angenehmen
Beziehungen zur H. T. L. und ihrem ausgezeichneten und hochverdienten
Leiter, Ihrem Vater, gestanden habe ...«

In Heinz Freimanns dröhnendem Schädel hatten sich inzwischen die
Gedanken ein wenig geordnet. Allerhand Assoziationen schossen an:
Patterson-Konzern -- natürlich, eine der führenden amerikanischen
Dampfschiffahrtsvertrustungen ... Ja, Heinz meinte sich sogar zu
entsinnen, daß er einmal auf Urlaub in seinem Vaterhause dem Leiter
dieser riesigen Zusammenballung amerikanischer Seeinteressen begegnet
sein müsse ... Aber dazwischen lagen die vier Jahre -- die hatten von
der Tafel des Gedächtnisses unzählige Erinnerungen und Bilder spurlos
ausgelöscht ...

»Mein Vater wird erfreut sein, von Ihnen zu hören«, sagte er in
Haltung.

»Ich weiß nicht genau« -- wieder lächelte Patterson diplomatisch. »Ich
werde ihn darauf vorzubereiten haben, daß meine Sendung nicht ganz
uninteressiert ist ... Aber wie ich Ihren Vater kenne, wird er es
ahnen, wenn er nur meinen Namen hört ... Sagen Sie ihm, er soll nicht
böse sein -- Elias Patterson wird ihn besuchen, wenn das amtliche
Geschäft vorüber ist -- vielleicht machen wir dann noch ein privates
...«

Das Auto hielt inmitten der Doppelreihe der Baumkolosse des
Harvestehuder Weges. Über den schneegesprenkelten Rasenflächen, den
braunen Bosketts stieg in ablehnendem Weiß Villa Freimann auf. Ihr Stil
verriet, daß der Präsident der H. T. L. sich bei der Gestaltung seiner
Lebenshaltung statt von dem eigenen Geschmack von dem unfehlbaren Takt
seiner Gattin beraten ließ.

Heinz Freimann zwängte einen formelhaften Dank über die Lippen.

»Auf Wiedersehen, Herr Freimann ... grüßen Sie Herrn und Frau Freimann
... und lassen Sie sich die Heimat so gut schmecken, daß Sie den
abscheulichen Empfang vergessen!«

Der Seemann hastete den knirschenden Kiesweg hinan. Nur nicht gesehen
werden so -- nur schnell verschwinden und vom Leibe reißen das
besudelte Ehrenkleid ...

Ein Schillervers aus Primanertagen zuckte auf:

  »O schöner Tag, wenn endlich der Soldat
  ins Leben heimkehrt, in die Menschlichkeit --«

Aufschreien hätte er mögen -- aufschreien ...

Und da war er doch gesehen worden ... Ein Willkommen scholl vom Altan,
eine helle, festlich gekleidete Mädchengestalt stieg die Treppe
hinunter in jener vollendeten Haltung, welche die Hamburgerin aus
erster Familie so peinlich wahrt, wenn sie sich in die Sphäre der
Beobachtungsmöglichkeit begibt ... Aber als die Braut die fahlen,
leidensgefurchten Züge des geliebten Mannes enträtselte, da war es
doch um ihre Fassung geschehen. Zwei junge Menschenkinder flogen sich
entgegen, umschlangen sich in Harm und Seligkeit, schluchzten einander
all ihr Trennungsleid und ihren Jammer ums zertretene, geschändete
Vaterland entgegen.

Ilse Carstensen hatte das Fehlen der Achselstücke, der Krone, der
Ehrenzeichen bemerkt und -- in diesem instinktiven Wissen um das
Grausen der Zeit ganz richtig verstanden ... Sie würde seinen Eltern
alles erklären, niemand sollte ihn fragen dürfen.

»Mein Junge du -- mein Junge ... Still -- bist bei mir -- nun wird
alles gut ...«

Und da -- da stand Frau Johanna. Durch Tränenschleier strahlte ihr
Mutterauge doppelt hell ... Auch sie hatte sofort gesehen ... und
begriffen. Man wußte ja aus Zeitungen, wie der deutsche Pöbel seine
Kämpfer empfangen hatte ... Sie winkte dem alten Charlie, der auf der
Terrasse stand, bescheiden im Hintergrunde, doch im Blick den ganzen
tiefen Anteil des vasallentreuen Greises.

»Charlie -- sofort mit Herrn Kapitänleutnant auf sein Zimmer -- Bad,
frische Wäsche, Zivil ...«

Dann erst schloß sie ihren Einzigen in die Arme. Es war ja alles, alles
gleichgültig -- er war da, war frei -- lebte -- es hatte ihn nicht
behalten, das brüllende Meer, der brüllende Krieg ... O doch, es wachte
droben ein gnädiger Hüter ...

Und dann stand Heinz vor dem Vater, der ihn um eines Hauptes Länge
überragte.

»Willkommen, mein Sohn, in dem, was übrig ist von unserm armen
Vaterland ...«

»Still, still, Georg --« flüsterte Frau Johanna. »Ein Festtag ist's,
ein hoher Festtag! Nein, nein, Heinz, jetzt nicht fragen, nicht
erzählen ... Laß ihn, Georg, er kommt von langer Reise, ist müd' und
angegriffen, wie kann's denn anders sein? Komm, mein Junge, deine
Zimmer warten, und Charlie läßt das Bad einlaufen. Das brauchst du
jetzt am nötigsten ... bist ja daheim, mein Junge, bist ja daheim!«

Gott, diese Wonne, sich ganz stumm und einsam in die warme Flut
versenken -- und dämmern -- schweigen -- leben -- --

Wortlos räumte der brave Charlie das verstümmelte Soldatenkleid hinweg
-- grimmige Flüche im Herzen auf das Pack ohne Distanzgefühl -- und
doch ein beglücktes Lächeln auf den schmalen, umfalteten Lippen --
breitete mit Behagen den hechtgrauen Zivilanzug aus, die seidene Wäsche
-- warf ganz bescheiden seinem jungen Herrn einen Blick zu, der sich
verklärte, als er dankbar lächelnd erwidert wurde ...

Und drunten rüsteten die Frauen den Eßtisch, besetzten ihn mit
seltenen, lang aufgesparten Köstlichkeiten ... und zwischendrein sahen
sie einander in die Augen -- die feuchteten sich, es zuckten die Lippen
... und plötzlich fielen die zwei einander in die Arme ...

»Mut, liebste Mama --« sagte Ilse und löste ihr blondes Haupt von der
zuckenden Schulter der Mutter ihres Geliebten -- »Mut! Wir werden
arbeiten -- Heinz an seines Vaters Seite -- wir kommen wieder hoch --
wir kommen hoch!«

Eine trotzige Falte grub sich in Ilse Carstensens Stirn -- das Erbteil
eines alten Geschlechtes von Schiffbauern ... es konnte seinen Ursprung
bis in die Tage zurückverfolgen, da ein Timm Carstensen der Stadt
Hamburg jene stolzen Koggen baute, die dann den Dänenkönig Waldemar
Atterdag das Fürchten lehrten.

Georg aber war in sein Arbeitszimmer getreten. An diesem
Schreibtisch hatte er nach Geschäftsschluß all jene ehrgeizigen
Pläne ausgesonnen und aufgezeichnet, welche die H. T. L. zur ersten
Dampfschiffahrtsgesellschaft der Welt gemacht hatten. Wie manchen Brief
des Kaisers hatte er hier beantwortet in seinem schwungvollen Stil,
der den Geschmack des weiland Schirmherrn deutscher Handels- und
Schiffahrtsgröße so meisterhaft zu treffen gewußt hatte ...

Nun sann er nicht mehr. Dumpf und ausgebrannt war sein Hirn, sein
unverwüstlicher Wille gelähmt. Er fühlte: der schluchzende, unter
ungeahnter Schande zusammengebrochene Jüngling, der seines Blutes
einziger Erbe war, der war nicht aus dem Holz, aus dem die großen
Kommodoren geschnitzt werden. Er wußte: er war allein. Und heute
abend dampfte der »Altreichskanzler« unter der Flagge der vereinigten
Weltmächte in den Ozean hinaus.

Freimann öffnete ein Geheimfach und starrte auf den braunen Lauf des
letzten Trösters ...




                                   3


Wie alltäglich, seit die Revolution dem arbeitenden Volke den
Achtstundentag beschert hatte, verstummte auch heute auf den
Werften das gellende Ticktack der von Menschenfaust geschwungenen
Niethämmer, das unablässige Schwirren um vier Uhr nachmittags. Vater
Tietgens verschloß sorgfältig den Verschlag des riesigen Laufkrans,
den er seit acht Jahren führte, droben auf der schwindelnden Höhe
des weit gedehnten Krangerüstes, das sich über die ganze Breite
der fünf vorderen Helgen der Hammonia-Werft hinzog. Freilich,
von diesen fünf Schiffsbaustellen war jetzt nur eine belegt: ein
Zehntausendtonnen-Passagier- und Frachtdampfer entstand dort. Den hatte
eine neutrale Macht bestellt. Ja, ja, die Spanier -- und die Holländer
-- die kennen uns ... die wissen: sie kommen ja doch wieder hoch ...
die Deutschen ... werden wieder leistungsfähig wie vor dem großen
Unglück ... Aber die anderen vier Helgen standen leer ... Wann würden
sie sich wieder beleben?

Der Vadder Tietgens da oben in seinem Laufkran -- der hatte Augen
im Kopf. Wenn's nicht bald wieder Bestellungen gab -- wenn keine
Schiffe mehr auf Helgen gelegt werden konnten -- dann ging's allen
an den Kragen -- den Kapitalisten natürlich -- den Eigentümern, den
Aktionären der Werften ... aber den Handarbeitern erst recht ...
den Hunderttausenden, die ihr Brot fanden da unten, wo am Südufer
der Norderelbe Werft an Werft sich reckte. Und drüben die endlosen
Arbeiterviertel in Hamburg, Altona, Ottensen! Da hausten sie in
unzähligen Straßen und Häuserblocks, vom Erdgeschoß bis unters Dach der
Mietkasernen -- die Kollegen, die -- Genossen! -- mit Weib und Kind und
Schlafburschen ... Und all das lebte -- vom Hafen ... Hatte während
des Krieges alle Hände voll Arbeit gehabt, die Taschen voll Geld. ...
Aber nun --?! Was würde nun?! Die Kanonen waren verstummt ... der Hafen
verödet ... die Werften so gut wie beschäftigungslos ... Himmel -- wenn
das so bliebe -- was dann?!

Oh -- Vadder Tietgens sah klar. Hier oben bekam man helle Augen --
hellere als drunten im Brodem der Schiffsbauhallen und Eisengießereien
-- oder im Bauch der langsam sich aufwölbenden Schiffsrümpfe -- wo
man ja wohl vorm Getöse der Arbeit sein eigen Wort nicht hören konnte
-- geschweige denn nachdenken. Natürlich -- man war seit Jahrzehnten
ein anerkannter Führer der Hamburger Sozialdemokratie. Marx! Oho! --
jedes Wort ein Evangelium -- aber -- man hatte auch auf der Werft eine
Vertrauensstellung. Man wußte, wie so ein Ding entstand -- so ein
Riesenungeheuer, so ein modernes Seeschiff. Dazu gehörte vor allem ein
Kopf -- viele Köpfe -- und nicht bloß ein paar hundert oder tausend
stramme Fäuste. Kopf und Hand -- nur zusammen konnten sie es schaffen.
Brauchte denn nicht auch er selber, der Kranführer, fast mehr seinen
ruhigen klaren Hirnkasten -- und die sicheren Augen darin als die
nicht minder verläßliche Hand?

Freilich -- man war ein Vorkämpfer seiner Klasse, der Klassenkampf
-- der mußte sein. Der Geldsack und der Kopf -- die hielten zusammen
wie Pech und Schwefel -- da mußten auch die Fäuste zusammenhalten,
sonst rückten Kopf und Geldsack nichts heraus, -- als was das »eherne
Lohngesetz« ihnen abpreßte. Und schließlich -- leben will doch auch der
Mann der harten Faust, nicht wahr? Und ein bißchen besser als das Vieh
... man ist ja schließlich ein Mensch und kein Triebrad, kein Zapfen
bloß im Riesengetriebe ... man will sein bißchen Behagen, sein Stück
Fleisch und einen sauberen Rock für den Feiertag ... und abends ein
paar Ruhestunden, in denen man aufatmen kann, sich selber gehören und
seinen Lieben. Das ist doch nicht zuviel verlangt, he? Und nicht einmal
das wollen sie sich abzwacken lassen, die zwei harten Verbündeten,
Kopf und Geldsack ... also zielbewußter Klassenkampf, zielstrebige
Organisation --! Aber: der Irrsinnsschrei aus dem Osten -- Ausrottung
der Bourgeoisie, Diktatur des Proletariats, »die rote Seligkeit«?!
Nein, davon mochte er nichts hören, der alte Kranführer droben auf
seiner blickweiten Höhe.

Er warf noch einen Blick voll unbewußter Zärtlichkeit auf das vertraute
Bild zu seinen Füßen. Das weite Werftgelände lag tief unter ihm wie ein
sauber aufgestelltes Riesenspielzeug -- bis an den breit hinfließenden
Elbstrom. Seine gelblich opalisierenden Gewässer stießen in unzähligen
schmalen und breiten Streifen tief hinein in das Gewirr der Schuppen,
Bauhallen, Wohnhausgruppen hüben, der turmüberzackten Häusermassen der
gigantischen Doppelstadt da drüben. Das war seine Welt ... Und kaum
geahntes Bewußtsein der Zusammengehörigkeit schlich durch die Seele
des alten Arbeiters ... etwas wie ein traumhafter Stolz. Das alles war
sein ... sein Hamburg ... die Welthandelsstadt ... über deren Brausen
und Brodeln er täglich schwebte und schaltete seit Jahrzehnten ... Er
verwahrte den Schlüssel zu seinem luftigen Reiche sorgfältig in der
Tasche und stapfte über den schmalen Eisensteg zum Fahrstuhl. Der trug
ihn zur Erde hinab -- und die zahlreichen Maler, die auf dem Labyrinth
des Krangerüstes dauernd mit Instandhaltung des Farbanstrichs der
Eisenkolosse beschäftigt waren. Die Gespräche der Genossen, die ihn
umschwirrten, drehten sich wie immer um den einen Punkt: Lohnerhöhung
... Das war so gewesen, solange Timm Tietgens denken konnte. Aber der
Krieg hatte den Beginn der großen Teuerung gebracht, der Umsturz ihr
Anschwellen lawinenhaft beschleunigt. Die Lohnbewegung kam nicht einen
Augenblick zur Ruhe, gärte alle paar Wochen zu neuen Krisen auf. Schon
war es zu schrecklichen Ausbrüchen der Empörung gekommen: Sturm auf
das Verwaltungsgebäude, schimpfliche Bedrohung und rohe Mißhandlung
der Direktoren waren ihre wildesten Gipfelungen gewesen. Und seit
die Heimkehrer aus den östlichen Teilen Rußlands die Gemüter mit
entflammenden Schilderungen der russischen Proletarierherrschaft immer
aufs neue aufpeitschten, schienen neue wilde Dinge sich vorzubereiten.

Timm Tietgens verfolgte wie die Mehrzahl der älteren Kollegen
diese Entwicklung mit tiefer Besorgnis. Er für seine Person hatte
sich abgefunden. Man war als eines von zehn Kindern in einer
Proletariermietskaserne der menschenwimmelnden Vorstädte oder in einem
der uralten Ziegelhäuser der Altstadt-Twieten zur Welt gekommen, hatte
in der Volksschule das Lesen, Schreiben und Rechnen gelernt und war
mit vierzehn Jahren auf die Werft oder in die Fabrik gekommen -- tjä,
da hatte man wenig Aussicht, in einem Villenpalast am Harvestehuder
Weg zu sterben ... Immerhin, auch das war schon vorgekommen ... Aber
dann mußte man einen Kopf haben etwa wie jener Bob Timmermanns
... der hatte sich aus einem Werkmeisterhäuschen bis an die Spitze
der vielverzweigten Konstruktionsabteilung der Werft emporgekämpft
... Und dessen Bruder Armin, der Stadtsekretär vom Rathaus, hatte
es ja wohl gar im Kriege bis zum Leutnant gebracht ... damals, als
man für den Offiziernachwuchs auf die Subalternbeamten als auf ein
wertvolles Material von guter Schule und zuverlässiger Gesinnung
zurückgegriffen hatte ... Timm Tietgens persönlicher Ehrgeiz kannte
nur noch eine letzte Staffel des Aufstiegs: er hätte Werkmeister
werden mögen, einer ganzen Unterabteilung des Riesenbetriebes als
Arbeitsaufseher vorgesetzt -- und eine Dienstwohnung in einem der
schmucken Gebäude beziehen, welche die Werft für ihre sichersten
Vertrauensleute unter den Angestellten im Bannkreis des Werkgeländes
errichtet hatte ... Dann würde man sich fünf Minuten nach Arbeitsschluß
zu Mutters Kaffeetisch heimfinden. Statt dessen mußte man Jahr für
Jahr und Tag für Tag die Heimfahrt über den Elbstrom tun -- in der
vollgepramsten Dampffähre -- und dann die halbe Stunde tippeln bis zum
Neuen Steinweg. Dort versteckte sich in einem Seitenhofe das winklige,
barackenmäßige Häuschen, in dessen oberem Stock der Kranführer Timm
Tietgens mit seiner frühergrauten Lebensgefährtin eine Wohnung von
immerhin drei Kämmerchen innehatte. Sie war einmal recht enge gewesen,
diese Behausung -- damals, als in ihr drei stramme Buben und ein
hageres Mädelchen heranwuchsen. Zwei von jenen lagen in Frankreich
verscharrt -- einer arbeitete in den kaukasischen Bergwerken. Und das
Töchterlein teilte auch nicht mehr die Wohnung der Eltern. Dennoch
strahlte Timm Tietgens, wenn er seiner Antje gedachte. Sie hielt
treulich zu den Eltern, obwohl sie eine Feine geworden war, eine
»Bürgerliche« sozusagen ... Sie war auf die Handelsschule gegangen,
hatte Stenographie gelernt und auf einem der zahllosen Bureaus der
Werft ihre Lehrjahre verbracht. Dann war sie von der befreundeten
Hansa-Transatlantik-Linie am Alsterdamm übernommen worden und hatte
es dort so hoch gebracht, wie sie es in ihrem Beruf überhaupt
bringen konnte. Sie war persönliche Sekretärin des allmächtigen
Generaldirektors geworden, des großen Georg Freimann. Da schickte es
sich denn nicht mehr, daß sie im Seitenhof des Neuen Steinwegs hauste.
Sie wohnte in einer Pension im vierten Stock des Wolkenkratzers am
Binnenhafen, wo sie bis zum Kriege Gelegenheit gehabt hatte, ihre
Sprachkenntnisse im Englischen, Französischen, ja im Spanischen zu
vervollkommnen. Aber jeden Sonntag, ja manchen Wochenabend verbrachte
sie bei Vadder und Mudder -- und hatte immer ein paar Mark übrig, um
den Eltern eine unerwartete Freude zu machen.

Ja, Antje --! Ihr Lebensgang bewies, gleich dem der Werkmeisterjungen
Bob und Armin Timmermanns: der Aufstieg in die beneidete und
gehaßte Sphäre der Bürgerlichkeit war den Söhnen und Töchtern des
arbeitenden Volkes nicht so unbedingt verschlossen, wie die Hetzer
der Volksversammlungen es den Genossen vorschwindelten ... Und der
stramme Tedje, der nun wohl endlich einmal den Heimweg aus dem Kaukasus
gefunden haben müßte --? Ja, wenn der nur ein bißchen von dem zähen
Ehrgeiz, dem sauberen Pflichteifer seiner Schwester Antje gehabt
hätte ... Aber dem waren der Schnaps und die Mädels immer wichtiger
gewesen als die Fortbildungsschule. Der würde ja wohl hoch droben
in der Schwindelhöhe der Laufstege ewig seine Niete setzen, bis
Alter und Gicht ihn zu einer noch anspruchsloseren Hantierung in der
Schiffsbauhalle zwingen würden ... Der würde ewig ein unzufriedener,
hetzerisch gestimmter Lohnsklave bleiben -- und es nicht einmal zum
Kranführer bringen -- oder gar in die Werkmeisterswohnung aufsteigen,
wie Vater Timm es für sich und seine Mine auf ihre alten Tage erstrebte
...

So übersann Timm Tietgens sein Schicksal und das seiner zwei von sieben
Geburten übriggebliebenen Sprößlinge. Das tat er täglich, wenn er, dem
Gewimmel der Dampffähre entronnen, seinen Weg durch die Wallanlagen
der »Neustadt« zulenkte, deren Name längst ein Hohn auf die winklige,
altersgeschwärzte Verkommenheit des größten Teiles ihres Innern
geworden war. Und immer mündete solches Grübeln in einem stillen,
glückseligen Lächeln:

Ja, meine Antje --!

Als er die klapprige Holzstiege zu seiner Behausung emporklomm, vernahm
er droben den polternden Klang einer Männerstimme, die ihm eine Sekunde
lang fremd vorkam. Und dann stand ihm das Vaterherz einen Schlag lang
still: Das war -- Tedje --!

Er sprang die letzten Stufen hinan -- riß die Tür auf und -- hal mi de
Düwel -- dei Jung --!

Da saß er neben Mutter ... die streichelte, mit blinkenden Tränen auf
den welken Wangen, des Heimgekehrten muskelgeschwellten Arm ...

Vater und Sohn schüttelten einander die kräftigen Tatzen, daß sie
knackten.

»Junge, wo sühst du ut -- as 'n Russ' -- mit 'n groten Bort ...«

»Bün ick ok!« grinste Tedje. »Ja, Vadder -- ick bring dei grote
Heilslehre ut'n Osten mit -- Moskau heißt die Parole! Nu späln wi ok
Bolschewismus!« Und mit rauher, offenbar schnapsbefeuchteter Stimme
sang er den Trutzgesang des Radikalismus:

  »Jetzt bringen wir der Welt
  die rote Seligkeit!«

Vater Timm mochte sich die Freudenstimmung über des Sohnes Heimkehr
nicht durch einen politischen Disput verkümmern lassen. Er langte zur
Kaffeekanne, um seinem Letzten, seinem Einzigen, einzuschenken. Da
klang aus der guten Stube ein ungewohnter Ton: Klavierspiel ...

»Na nu? Wat's dit --?!«

Mutter Mining hatte dereinst um wenige Zwanzigmarkstücke ein
altersschwaches Pianino eingehandelt, damit ihr Liebling auch Musik
machen lernte ... Seit Antje die elterliche Wohnung verlassen hatte,
war es verstummt. Nun klang es auf einmal wieder, und zwar anders als
unter Antjes stümpernden Kinderhänden. Seltsame Weisen, den Schlichten
kaum verständlich, doch geheimnisvoll erhebend und tröstend zugleich
... Eine Andacht schwebte heran, vor der selbst Tedjes trunkener Sinn
sich neigen mußte ...

»Dat's mien Kam'rod, Vadder, mien Fründ ut'n Kaukasus -- Clos Mönkebüll
heit hei ... un Schippbuer is hei as ick ok op uns' Werft -- öber
freuher hebbt wi uns nich kennt ...«

Clas sei Nieter wie er, erklärte er flüsternd den Eltern. Er stamme
aus Holstein und habe die ersten beiden Kriegsjahre als Reklamierter
auf der Hammonia-Werft gearbeitet. Dann aber sei er »ausgekämmt« und
in Rußland gefangen genommen worden. Sie beide hätten im Bergwerk
gute Kameradschaft gehalten und beschlossen, sich auch in Zukunft
nicht zu trennen. Sie würden ja beide ihre Arbeitsplätze auf der
Werft wiederfinden und dort als Nieter zusammenarbeiten in jener
zwillingshaften Gemeinschaft, die immer zwei Nieter beim Schaffen --
und in der Regel auch im Leben zusammenhält.

Inzwischen entquollen dem verstimmten Pianino immer neue Weisen,
fremd und seltsam, und dennoch bezwingend für die kunstfernen Hörer
... Sie weckten wunderlich wechselnd Wehmut und Seligkeit, Gram und
Verzückung, Lebensangst und Vernichtungsschauer ... Immer stiller saßen
die drei Tietgens, Eltern und Sohn, und allen ward die Brust zu eng im
Lauschen ... das ungelenke Spiel des Genossen da drinnen rührte mit
unbegriffener Magie an die unerweckten Seelen.

Und keiner von ihnen hörte es, daß sich hinter ihnen leise die Tür
geöffnet hatte. Ein Mädchen schob sich in die Stube, auch sie sofort
zur Andacht entrückt. Ihr Wesen, ihre Kleidung wirkten in dieser
Umgebung geradezu vornehm ... Antje sah den Bruder sitzen -- ihr schlug
das Herz in zärtlicher Liebe und doch in jähem Erschrecken zugleich. Er
war immer ein rauher Gesell gewesen, und niemand, der die Geschwister
beisammen gesehen hätte, wäre auf den Gedanken gekommen, sie für
Vögel aus dem gleichen Neste zu halten. Aber nun -- war es möglich,
dieser struppige, abgerissene Steppensohn, das war ihr Bruder?! Doch
die Töne, die von drinnen quollen, von den Tasten, die sie selber
einst mit kindlichen Fingern mißhandelt hatte -- war's nicht noch ein
viel größeres Wunder als des Bruders unheimliche Verwandlung? Aber
ein beglückendes, ein tröstlich zaubervolles ...? Antje versäumte
kein Konzert in der Musikhalle, sie kannte, erkannte sofort die
schmerzlich-süße Weise: den ersten Satz der Mondscheinsonate. Es
entging ihr nicht, wie verstimmt das Instrument war, wie holprig,
übungsentwöhnt und hart das Spiel -- es strömte dennoch von da drinnen
eine Weihe aus, der auch sie, die an edelste Kunstübung gewöhnt, sich
nicht entziehen konnte.

In dunkelster Schwermut verklang das Spiel. Noch eine Sekunde lang
waren die Lauscher im Bann -- dann schloß Antje dem Bruder von hinten
mit ihren schlanken, sorgsam gepflegten Händen die Augen.

Der Bursch machte sich frei, fuhr auf, stutzte sekundenlang vor der
damenmäßigen Erscheinung der Schwester -- dann glühte in seinem Blick
etwas mühsam Verhohlenes auf, etwas tierisch Wildes:

»Gottverdammi -- Antje -- Deern, wo hest du di rutmokt ...« Sie fühlte
seine glühenden Finger an ihren Armen, es fröstelte sie -- aufatmend
machte sie sich frei, umfing den Heimgekehrten und küßte ihn rasch und
scheu.

»Willkamen, Tedje -- endlich! Scheun, Mudder, scheun, dat wi em wedder
hebben!«

Aber da staunte ja noch ein anderes Augenpaar sie an -- doch
ehrfürchtig wie eines Kindes Blick, das in die Weihnachtslichter
starrt. Clas Mönkebüll, in zerlumptem Feldgrau, bartumzottelt wie sein
Kamerad -- aber in seinem Blick flatterten nicht wilde Dränge -- eine
kaum bewußte Sehnsucht leuchtete drinnen -- und die Rechte, die er
schüchtern in die dargebotene Hand der Schwester des Kameraden legte,
diese derbe Werkmanns- und Soldatenfaust, die dennoch zu Beethovens
Höhe zu langen trachtete, sie zitterte leise, als berühre sie ein
Heiligtum.




                                   4


Der Landungssteg der »Alten Liebe« bei Cuxhaven schwankte wie ein
Schiff auf hohem Meer unterm Anprall der Wellen, welche von der
offenen Nordsee her in die Mündung der Norderelbe hereinbrandeten. Der
Märzsturm zerrte an den Mänteln der beiden Männer, die auf dem Deiche
standen, wirbelte den Schleier des Mädchens in die Lüfte, das an des
älteren Arm hing. Und aller Blicke starrten wie gebannt den breiten
Strom hinauf. Dort tauchte soeben aus den Abenddünsten, noch entfernt,
ein mächtiger Schiffskörper, überragt von den schlanken Strichen
der Lademasten, den klotzigen, dampfspeienden Schächten der drei
Schornsteine. Und wie der Riese nun näher sich heranschob, da erkannten
die Augen der drei Wartenden am Flaggenmaste die schwarz-weiß-rote
Fahne, das heilige Symbol ihres Landes ...

Aufschluchzend schmiegte sich Ilse Carstensen an ihres Vaters Schulter.
Der alte Schiffsbauer stand wie ein Steinbild, unerschüttert, äußerlich
unbewegt -- nur seine fest zusammengekniffenen Lippen, von tausend
Fältchen umspielt, bebten unmerklich fast.

Georg Freimann schwankte wie ein Trunkener, als risse der Sturmwind ihn
hin und her. Die Auflösung seines Innern hatte dem schlanken, ehemals
von Muskeln und Nerven völlig beherrschten Körper des Willensgewaltigen
die letzten Stützen weggeschwemmt. Auch in seine Augen kam kein
feuchter Schimmer. Wie ein gefangener Wiking, dem der Feind vor seinen
Augen die Schiffe verbrennt, so stierte er zu dem majestätischen
Schiffsleib hinüber, der eben jetzt, auf der Höhe der »Alten Liebe«
angelangt, das Zeitmaß seines stolz gelassenen Hingleitens mäßigte.

Und nun geschah's:

Die schwarz-weiß-rote Fahne sank -- und an ihrer Statt stiegen die
Hoheitszeichen der Entente empor: Englands meerbeherrschendes blaues
Banner mit dem roten Diagonalkreuz, Frankreichs Trikolore, gebläht
von Siegestrunkenheit -- Amerikas Sterne und Streifen, in behäbiger
Selbstgefälligkeit sich spreizend -- und im Schutze der drei Gewaltigen
das Grün-Weiß-Rot des abtrünnigen Italien, das Schwarz-Gelb-Rot des
nackensteifen Belgien -- sie alle fünf die Vorkämpfer und Beauftragten
von drei Vierteilen des Erdballs im vierjährigen Ringen gegen dies
eine, dies unrettbar verlorene Volk, das ihnen getrotzt hatte bis über
den Abfall der paar Bundesgenossen hinaus, bis zum unvermeidlichen
inneren Zusammenbruch ... Ihre Banner flatterten im Nordseehauch -- die
Farben des Reiches waren erloschen.

Der »Altreichskanzler« war verloren -- das letzte Schiff der deutschen
Handelsflotte -- das stolzeste Zeugnis deutschen Schaffensdranges und
Wagemutes.

Das bedeutete das Ende der Hansa-Transatlantik-Linie -- der weiland
ersten Großreederei der Welt ... konnte es anders sein?

Georg Freimann, ihr Schöpfer, wagte nicht mehr zu hoffen. Sein
Lebenswerk war zerbrochen -- und mit ihm sein Leben.

Ein einziges Mal schluchzte er auf -- kurz und trocken. Da löste sich
das Mädchen, das seines Sohnes heimliche Verlobte war, von ihrem
Vater, dem nicht minder tief gebeugten, und legte ihre Arme um des
Schwiegervaters zuckenden Nacken.

»Mut, Papa -- Mut -- wir bauen alles neu. Jetzt hast du Hilfe -- Heinz
ist da ...«

Wie tief und fest er geschlummert hatte, als die scheue Braut sich
an Mutter Johannas Arm in des Verlobten Zimmer geschlichen hatte, um
sich von ihm zu dem schweren Gange zu verabschieden ... Mochte er
weiterschlummern -- der Genesung, der Zukunft entgegen.

Eine Dampfbarkasse, im Kielwasser des Riesen schwimmend, hatte sich
bei dessen Abstoppen an seine Flanke herangeschoben. Die Treppe sank
nieder, und eine Schar von Herren tappte sich die steile Fallreep
hinab: die Kommissionen der Werft und der Linie. Kein Zweifel: die
Übernahme war vollzogen.

Und schon quirlte am Hintersteven des »Altreichskanzlers« der weiße
Schaumstreifen auf. Das herrliche Schiff nahm Fahrt, glitt vor den
umflorten Blicken seines Erbauers und des Vertreters seiner Eignerin
dahin, rauschte der freien Nordsee entgegen, die es einst so oft
durchfurcht, von der es vier Jahre lang ausgesperrt gewesen war
-- kehrte dem Heimathafen den Rücken, gewiß um ihm niemals wieder
zuzustreben -- und schwebte von dannen -- immer ferner, ferner -- ins
Reich der Fabel, des Märchens, des nie Gewesenen ... wie der deutsche
Traum von Größe und Weltgeltung.

Die beiden Männer, der Alternde und der Greis, standen stumm und
bewegungslos. Zwischen ihnen, ihrer beider Arme umfassend, stand
die Jugend. Des Mädchens Tränen waren versiegt. Eine Glut leuchtete
auf ihrem weißen Gesicht, in ihren blauen Nordlandsaugen. Immer
höher wuchs ihre feine Gestalt, immer verklärter flammte ihr
Blick. Er haftete nicht mehr am fern verschwimmenden Schattenriß
des entschwebenden Schiffes -- er maß die breite Fläche des
schaumübersprühten Meeres, in dessen Tiefe nun, aus fliehenden Wolken
purpurgolden plötzlich auftauchend, die Abendsonne niederstieg.

Die Männer wandten mit einem Male die Blicke dem jählings
glutüberronnenen Gesichte des Mädchens in ihrer Mitte zu. Und beiden
schwoll das Herz. Sie schauten die Hoffnung -- die Gewißheit der
Wiedergeburt.

Und noch ein dritter Mann starrte wie gebannt zu dem
abendgoldüberflammten Antlitz des jungen Weibes empor. Die Barkasse,
welche die Kommission nach Hamburg zurückführen sollte, hatte an der
»Alten Liebe« angelegt. Ihr war Robert Timmermanns entstiegen. Mit
raschem, grimmdröhnendem Schritt war er auf die Gruppe am Deiche
zugestampft. Nun hemmte er seinen Gang -- am Fuße der Treppe stehend
schaute er wie angewurzelt zu dem glaubensstolzen Mädchen empor -- das
ihm längst schon mehr bedeutete, viel mehr als nur die Tochter seines
Chefs.

Ilse Carstensen war eine junge Dame der großen Welt ihrer Vaterstadt
wie andere mehr gewesen. Ihre schnippische Dünkelhaftigkeit war nur
selten im rauhen Betriebe der väterlichen Schaffensstätte aufgetaucht.
Dann hatte sie die »Angestellten« wie eine Schar Kulis kaum eben mit
einem flüchtigen Blick gestreift. Als aber der Krieg den Bureaus der
Werft einen tüchtigen Mitarbeiter nach dem andern entzogen hatte, da
hatte sie den Tennisschläger und das Paddelruder mit dem Kohinoor
und der Schreibmaschine vertauscht. In vier Jahren strenger Arbeit
war sie als erste Gehilfin ihres Vaters in den Betrieb der Werft
hineingewachsen ... Und als Bob Timmermanns, vor wenigen Monaten nur um
eines Haares Breite der Wut der meuternden Matrosen Kiels entronnen,
seinen Dienst an Bord des »Friedrich der Große« wieder mit seinem
Platz im Direktionsbureau der Werft vertauscht hatte, da hatte er den
blonden Backfisch von einst als pflichtbewußte, kenntnisreiche und
arbeitsfreudige Mitarbeiterin seines Chefs wiedergefunden, um ihr
täglich nun zu begegnen, täglich mit ihr dienstliche Verhandlungen zu
pflegen.

Der Sohn des Werkmeisters hätte es als Vermessenheit empfunden, seinen
Blick mit ernsten Träumen zur Tochter des Werkeigners zu erheben. Zudem
ahnte er seit Monaten, wußte seit heute morgen, daß das Leben der
jungen Dame mit dem eines Mannes aus ihren Kreisen bereits verflochten
war ...

Nun sah er sie im Abendgold, im Strahle schmerzentstiegener Hoffnung.
Er stand wie geblendet in dumpfseligem Schauen.

Aber da war noch ein fünfter herangekommen, bedächtigen Schrittes,
voll gemessener Zurückhaltung -- und doch auch er gebannt von diesem
herzergreifenden Bilde deutschen Leides. Nun schritt der Fremde an
dem regungslos staunenden Recken vorüber, stieg die drei Stufen zum
Deiche hinan -- und seiner trockenen Stimme Ton zerriß den Zauber des
Augenblicks.

»+Good evening+, Mister Freimann!« sagte Elias Patterson mit
weltmännischem Lächeln, in das sich kaum ein ganz leiser Ton von
Befangenheit mischte. »Entsinnen Sie sich noch Ihres alten Konkurrenten
und Mitarbeiters vom Morgan-Trust?«

Die Bestrebungen des amerikanischen Bankiers Pierpont Morgan auf
Schaffung eines alle transatlantischen Reedereien umfassenden
internationalen Zusammenschlusses hatten, von Kaiser Wilhelm
begünstigt, wenige Jahre vor dem Kriege zu einem vollen Einvernehmen
der Hansa-Transatlantik-Linie und später auch der Bremer
Konkurrenzgesellschaft mit den amerikanischen Interessentengruppen
geführt. In jener Zeit hatten die Herren Freimann und Patterson
auf mancher bedeutungsvollen Verhandlung in London, Neuyork,
Hamburg einander kennen und schätzen gelernt. Der Krieg hatte diese
verheißungsvollen Anfänge eines Interessenausgleichs der Weltwirtschaft
zertrümmert.

Georg Freimann, der noch nicht wissen konnte, welch seltsames
Zusammentreffen den einstigen Geschäftsfreund von drüben mit
seinem heimkehrenden Sohne zusammengeführt, setzte der etwas stark
aufgetragenen Jovialität des Mannes aus dem Siegervolke die eisige Ruhe
seiner Verzweiflung entgegen.

»Herr Patterson -- Sie kommen aus dem Lande des Präsidenten Wilson.«

»Herr Freimann,« entgegnete der Amerikaner mit verzeihender Ruhe,
»ich war heut morgen in der angenehmen Lage, Ihren Sohn zu treffen.
Ich betrachte diese Begegnung als ein gutes Omen. Darf ich Sie morgen
in Ihrem Bureau aufsuchen? Meine amtliche Mission ist beendet -- ich
möchte noch über Privatgeschäfte mit Ihnen plaudern. Also wenn Sie
erlauben -- auf Wiedersehen morgen früh!«

Und Elias Patterson kehrte zur Barkasse zurück, mischte sich mit seiner
ganzen dickfelligen Harmlosigkeit unter die Mitglieder der deutschen
Kommission, von denen er sich bereits bei seiner Ankunft auf dem
»Altreichskanzler« hatte versprechen lassen, daß sie ihn nach Hamburg
mit zurücknehmen würden, dieweil die Entente-Kommission an Bord blieb,
um die Fahrt des erbeuteten Schiffes in den Bestimmungshafen zu leiten.

»Verdammter Dickhäuter!« knirschte Bob Timmermanns hinter dem
Amerikaner drein. »Wenn man könnte, wie man wollte -- der söffe jetzt
Elbwasser und Meerwasser halb und halb.« Und dann trat er auf seine
Landsleute zu, schüttelte seinem Chef und dem Generaldirektor der H.
T. L. in stummer Teilnahme die Hand. Auch Ilse streckte dem treuen
Mitarbeiter vertraulich die Rechte entgegen -- er drückte sie, daß das
Mädchen lachend ächzte.

»Fahren die Herrschaften mit der Barkasse zurück?«

»Danke, Timmermanns --« sagte der alte Carstensen. »Unser Auto wartet.«

»Herr Präsident,« wandte der Ingenieur sich an Freimann, »ich möchte
gerade in dieser Stunde im Namen der Werft um Erlaubnis bitten, Ihnen
die Zeichnungen und Anschläge zum ersten der neuen Passagierdampfer
vorzulegen, welche die H. T. L., wie die Werft hofft, demnächst in
Auftrag geben wird.«

Der Reeder sah den Techniker an, als zweifle er an seinem Verstande.
»Passagierdampfer?!« fragte er mit einem seltsamen Beben in der Stimme.
»Die H. T. L. ist bankrott. Mag sie liquidieren wer will -- ich passe.«

»Das Reich wird die Linie zu entschädigen haben. Sie hat in Erfüllung
des Waffenstillstandsvertrages ihre gesamte Flotte +a conto+
Kriegsentschädigung und so weiter an den Feindbund ausgeliefert -- das
Reich ist ihr Schuldner. Sie ist so wenig bankrott -- wie das Reich.«

»Aber das ist ja bankrott?«

»Solange es noch eine Notenpresse gibt« -- grinste Timmermanns --
»solange ihre Marknoten noch einen Bruchteil ihres einstigen Wertes
gelten -- solange ist das Reich nicht bankrott.«

»Das Reich -- wer ist das Reich?«

»Die provisorische Regierung.«

»Die hat Wichtigeres zu tun, als Deutschlands Wirtschaft wieder
aufzurichten. Die muß ihren Parteigängern die Futterkrippe sichern.«

»So wird man sich die Entschädigung für die Handelsmarine aus der
Futterkrippe herausholen müssen.«

»Na, das wäre ja etwas für Sie, Timmermanns«, warf der alte Carstensen
dazwischen.

»Wenn's sein muß, ich tu mit ...« knirschte der Riese. »Mich würde es
laben, mit den roten Reichsverwüstern ein Wörtchen deutsch zu reden.
Also noch einmal, Herr Präsident, wann haben Sie Zeit für mich und
meinen Dampfer?«

Georg Freimann sah den Schiffsbauer voll Bewunderung an. »Sie sind ein
Kerl, Timmermanns ... Also wenn Sie wollen -- heute abend ... Aber
nicht im Bureau -- speisen Sie mit uns -- Sie, Freund Carstensen,
und du, meine Ilse, ihr seid ja ohnehin heute abend unsere Gäste, um
unseren Heimkehrer zu bewillkommnen ... Also bleiben Sie gleich bei uns
-- im Wagen ist Platz.«

Aber Timmermanns entschuldigte sich. Er wolle mit der Barkasse
heimfahren und seine Pläne holen. Zur befohlenen Stunde werde er sich
in Villa Freimann melden.

Und schon stapfte er zum Landungssteg hinab. Aber etwas von ihm blieb
zurück: die ungebrochene Kraft eines trotzigen Lebenswillens.

Und Georg Freimann dachte an seinen Sohn. Dieser Timmermanns --
so ein Kerl hätte sein Erbe sein müssen ... dann hätte man hoffen
dürfen ... Dem alten Manne da neben ihm, der keinen leiblichen Sohn
gezeugt hatte, dem war der Erbe seines Geistes erwachsen. Aber die
Hansa-Transatlantik-Linie?

Ein vakanter Nachlaß ... Und morgen würde der Liquidator antreten: der
Konkurrent von drüben ...

Neben dem Union-Jack war auf dem Weltenmeer nur noch für das
Sternenbanner Platz.

Schwarz-weiß-rot war niedergeholt.

Wie sagte das alte Kennwort der Hansa? »Das Fähnlein ist leicht
an die Stange gebunden, aber es kostet viel, es mit Ehren wieder
niederzuholen.«

Es war niedergeholt -- aber ohne Ehre. Der Feind, der Sieger, hatte es
eingerafft.




                                   5


Langsam, ganz langsam erhellte sich das schützende Dunkel, das Heinz
Freimanns Bewußtsein umlagert hatte. Es war, wie wenn er vordem durch
das Sehrohr des Tauchboots spähte, derweil das Schiff aus der Tiefe
zum Meeresspiegel zurückstrebte: erst lag vor dem Blick nur ein
tiefes Dunkelgrün -- nun tönte sich's, lichtete sich smaragden auf --
jetzt war's schon ein zartes schimmerndes Hellgrün -- und sieh -- da
entschleierte sich plötzlich die wogende Meeresfläche -- versank noch
einmal wieder, und noch einmal in der Dämmerung des Flutenspiels --
und lag nun klar gebreitet, vom Tagesglast übergleißt, vom Sprühschaum
überstiebt -- bis zum fernen Saum, »der Well' und Wolke trennt ...«

Solch dunkellichtes Wogen war auch in des Seemanns Seele, als die
Hülle des Schlafs von seinen Sinnen sich hob. Der Meeresgrund: die
Vergangenheit -- das unruhvolle Schaukelspiel der Fläche: die Gegenwart
-- die geheimnisvolle Grenzlinie der Ferne: die Zukunft -- über allem
die Gnadensonne: Ilse ...

Aber wie die Flut um das auftauchende Periskop des Sehrohrs immer
wieder zusammengeschlagen war, so trübte sich Heinz Freimanns Gemüt
aufs neue unterm Heranschwellen der Erinnerungen, der Zweifel,
der Beklemmungen. Was wartete seiner? Was seiner Liebe -- seiner
Heimat?! Die rote Flut, die ihm beim ersten Eintritt in die Welt
seiner Abkunft, seiner Bestimmungen ihre schmutzigen Spritzer
entgegengebrodelt hatte -- würde sie nicht höher, immer höher steigen,
unterwühlen, zusammenreißen, hinwegspülen, was noch stand von diesem
unglückseligsten aller Länder?!

Heinz Freimann hatte ohne Wimperzucken Zehntausende von Tonnen
feindlicher Handelsschiffe versenkt -- hatte nicht gezagt, wenn das
dumpfe Krachen feindlicher Wasserbomben seinen empfindlichen Tauchkahn
in allen Fugen knacken ließ. Aber er schauderte bei der Erinnerung an
die wutverzerrten Fratzen deutscher Männer, Frauen, Knaben, die ihm den
Willkommen der Heimat mit Schändung und Mißhandlung dargebracht ... Und
in seinem Grüblerhirn bohrte und nagte eine drängende Frage: Wie war
das möglich?!

Verhetzung? Ein Wort nur, keine Erklärung. Neid der Armen gegen die
Reichen, der Kleinen gegen die Großen? Das mochte zutreffen -- aber
es reichte nicht. Was -- wollten diese Menschen? Was wünschten, was
erträumten sie sich?!

Haß?! Er ist immer nur die Kehrseite einer Liebe. Was -- liebten diese
Menschen?!

Gewiß nicht, was er selbst liebte, der halb unbewußt behaglich, halb
bewußt qualvoll hindämmernde Grübler im gepflegten, ruheatmenden
Junggesellenstübchen. Ihre Arbeit liebten sie nicht. Nun gut, sie war
unsauber, geistlos, eintönig -- aber sie gab ihnen doch Nahrung, und
sie verstanden keine höhere. Ihr Vaterland liebten sie nicht -- oder
wenigstens nicht mehr -- sie hatten die Waffen fortgeworfen vor dem
letzten Kampfe -- der vielleicht hoffnungslos gewesen war, den aber
Pflicht und Mannesehre gefordert hätten. Sie glaubten nicht an Gott,
Heiland, jenseitiges Leben -- liebten weder Engel noch Heilige, nicht
die Schrift noch die Kirche ... Was also liebten sie?! Welch eine
Sehnsucht glühte im Hintergrund ihrer fanatisch flackernden Augen,
ihrer fiebrig entzündeten Seelen?!

Heinz Freimann wußte sich frei von Haß. Auch in der wüsten Horde,
die ihn am Morgen bespien und entehrt -- auch in ihr erkannte er
die Genossen seiner Sprache, seines Blutes. Ein Wahn nur war's, was
sie trennte von ihm und seinesgleichen. Er hatte mit der Mannschaft
immer treue Kameradschaft gehalten im Frieden und im Krieg -- war oft
von seinen Vorgesetzten als allzu weich im Verkehr mit den »Kerls«
getadelt worden -- und hatte doch immer straffe Ordnung und Zucht
aufrecht bewahrt und höchste Leistung erzielt in seinem Befehlsbereich.
Von jedem seiner Rekruten und später seiner U-Bootbesatzung kannte er
Vornamen, Beruf, Herkunft, häusliche Verhältnisse -- und die linkischen
Jungen von der Waterkant wie von der Donau und vom Lech hatten ihm
Liebe mit Liebe vergolten. Und ihm -- ihm mußte solches Willkommen
geschehen ... Das war rätselhaft und grauenvoll -- das wollte studiert,
erkannt, begriffen sein ...

Eine Kluft war aufgerissen, tiefer als all die Abgründe der
Vergangenheit, durch die deutsche Menschheit dieser unseligen Tage.
Heinz Freimann, der unzählige Male in die schwarzgrünen Tiefen der
Nordsee, der Atlantis hinuntergetaucht war -- in diesen Abgrund würde
er hinabtauchen, und wenn drunten Gefahren lauerten, schlimmer und
grausamer als Wasserbomben, Minen, Stahlnetze ...

Aber ... auf solcher Tiefenwanderung durfte man nicht allein sein.
Die seines Lebens Gesellin zu werden entschlossen war: würde sie
ihm Gefolgschaft leisten? Er wußte längst, sie war nicht mehr das
verwöhnte, kastenbewußte Dämchen, mit dem er im letzten Winter
vor dem Kriege getanzt hatte, Schlittschuh gelaufen war ... Eine
Arbeiterin war sie geworden, ein Rad im großen Getriebe der deutschen
Kriegsmaschine. Aber -- Dame war sie geblieben, Tochter aus altem
Hause, dessen Ahnenstolz mit dem des Uradels wetteiferte. Die
vieltausendköpfige Masse, die ihres Vaters Schiffe baute, war sie
mehr als ein gigantisches Maschinengetriebe? Heinz wußte es nicht.
Über den kurzen Urlaubstagen, die dem heimlich verlobten Paar ein
flüchtiges, angstumschauertes Glück beschert hatten -- über diesem
schmerzlich-erschütternden Liebestraum hatte die blutige Gegenwart, die
blutige Zukunft gelastet ... Ihr hatte gegolten, was die kargen Monate
der Zweieinsamkeit noch anderes gebracht hatten als scheue Küsse und
wehmutbeladenen Abschied. Wer war sie eigentlich -- seine Ilse?! Er
konnte nur ahnen -- und hoffen.

Wie er sich aufrichtete, um sich ins Leben zurückzufinden,
überschauerte seine Zweifel und Beklemmungen dennoch ein unfaßbar
wohliges Gefühl der Geborgenheit. Das war Mutters Geist, der dieses
Haus durchwehte, der triumphiert hatte über den harten, vorwärts und
aufwärts drängenden Eroberersinn des Vaters ...

Und sieh: da ward ihm schon dieses Geistes ein erstes Zeichen. Neben
dem Stuhl, auf dem der treue Charlie seines jungen Herrn Zivilkleider
sorglich und einladend bereitgehängt, stand auf einem zweiten Stuhl
-- der Geigenkasten mit der Stradivari ... und auf dem Kasten -- ein
Strauß weißen Flieders aus dem Gewächshaus ... Das war der Mutter, der
Braut Gruß an den Erwachenden ...

Aufrecht im Bette sitzend führte Heinz die duftigen Blüten an seine
Lippen, legte sie auf sein Knie -- und dann hob er voll Andacht das
herrliche Instrument an sein Kinn -- führte mit prüfendem Strich den
Bogen über die Saiten -- sogar gestimmt war sie! -- und dann schwollen
Töne durch die stummentrückte Kammer -- die Geigenstimme des Adagio aus
jenem Beethovenschen Streichtrio ...

Bei den ersten Klängen schon öffnete sich die Tür ... Frau Johanna trat
auf Zehenspitzen ein, auf dem mädchenhaften Gesicht ein strahlendes
Mutterlächeln. Sie winkte dem Sohne weiterzuspielen -- setzte sich
still in einen Lehnstuhl und lauschte, einen Himmel von Dank in Herz
und Auge.

Ja -- das war noch da -- das lebte -- das hatten sie uns nicht nehmen
können, konnten es nicht ...

Das war geboren worden, noch ehe es ein Reich, eine Kaiserkrone, eine
Flotte gegeben hatte -- das würde bleiben, wenn all der herrische Prunk
zerstoben, der stolze Traum verweht war ...

Das war ewiges Deutschland ...

Die Weise verklang. Und nun erhob sich Frau Johanna -- schwebte heran
wie der gute Geist ihres Hauses, ihrer Welt -- und zog des Sohnes
zerquältes, zerschundenes Haupt an ihre Brust.

»Sie sind alle zur ›Alten Liebe‹ -- der Vater, Papa Carstensen, deine
Ilse ... Aber nun müssen sie bald wiederkommen -- und dann werden wir
glücklich sein ...«

»Glücklich?!« Und mit einem Male war alles wieder da: der
Zusammenbruch, die Schande, die johlende Menge, das zerbrochene,
zerrissene Vaterland, der klaffende Abgrund, aus dem die rote Flut
emporschwoll. »Glücklich, Mutter?! Nein -- das ist vorbei ...«

»Still -- still, mein Junge ... wir sind beisammengeblieben -- ist das
nicht Glückes genug?!«

Nein! schrie Heinz Freimanns Soldatenherz -- nein, du gütiges
Mutterherz -- für einen Mann ist das nicht genug ... der kann nicht
leben ohne den Stolz auf ein großes, herrliches, machtvolles Volk --
der kann nicht leben ohne Vaterland ...

                   *       *       *       *       *

Sie saßen beisammen im behaglich durchwärmten Speisesaal. Von den
Wänden grüßten kostbare Bilder -- Meisterwerke der Oswald Achenbach,
Trübner, Kalckreuth -- sogar ein Liebermann ... Der Wein funkelte in
kristallenen Römern, die Zigarren dufteten. Aber Heinz Freimann schämte
sich dieser Dinge heute ... Sie bewiesen, daß jene Stimmen aus der
Tiefe recht hatten, die da sich anklagend erhoben und drohend murrten:
ungleich verteilt seien des Krieges Lasten -- der Reiche habe sich noch
immer einen stattlichen Rest Behagens gerettet, dieweil der Arme das
tägliche Brot nicht mehr zu finden wußte ...

»Sentimentalitäten!« schalt der Vater, als Heinz solchem Mißbehagen
Worte lieh.

Frau Johanna sah einen Meinungsstreit am bisher so heiteren Himmel des
Heimkehrfestes heraufziehen. Sie gab Ilse einen Wink -- die legte die
Zigarette weg, trat zum Flügel und schlug die Einleitungstakte der
Kreutzer-Sonate an. Da entwölkte sich schnell ihres Sohnes Grüblerstirn
-- schon griff er zu Geige und Bogen -- und bald entschwebten die
Seelen der zwei Verlobten dem Qualm und Zwang der Gegenwart in
zeitlose, schmerzentrückte Gefilde. Und Frau Johanna gesellte sich zu
ihren Kindern. Leise schob sie sich auf die Doppelbank am Instrument,
um die Blätter zu wenden. Das festliche Zimmer, dessen jeder Winkel vom
erlesenen Geschmack der Hausfrau Kunde gab, füllte sich mit Schönheit
wie die geschliffenen Römer auf dem Tisch mit der goldbraunen Gabe der
Rheingauberge.

Die drei Männer, die am Tische zurückgeblieben waren, warfen einander
einen kurzen Blick zu, in dem etwas von unbewußter Verachtung zuckte.
Die Frauen, nun gut, sie mochten Musik machen. Aber der Sohn des Hauses
-- durfte er in dieser Stunde tändeln?!

Wie auf Vereinbarung standen sie auf und gingen mit böotischer
Rücksichtslosigkeit zur Tür, die in des Hausherrn heimisches
Arbeitsgemach führte -- zur Geburtsstätte all seiner gewaltigen Pläne,
seiner ehrgeizigen Unternehmungen. Hier leuchteten inmitten gepreßter
Ledertapeten sonnübergleißte Seestücke von Hans Bohrdt -- darunter ein
»Porträt« des »Altreichskanzlers«, der stolz in morgenglanzüberhauchte
Wogen hinausstürmt ...

Die Herren versanken in knisternde Klubsessel.

Bob Timmermanns öffnete seine büffellederne Mappe und entnahm ihr
einen mächtigen Stoß Zeichnungen, Statistiken, Tabellen. Dann sah er
respektvoll seinen weißhaarigen Chef an. Dem Herrn der Werft gebührte
jetzt das erste Wort.

Der alte Carstensen holte weit aus. Die Arbeiterschaft der
Werft habe sich beruhigt, der alte Stamm sei trotz der herben
Kriegsverluste wieder beisammen, und die Leitung habe es wagen
können, den Wiederaufbau ihres Betriebes und damit des deutschen
Handelsschiffsbaues -- denn etwas anderes komme ja -- vorläufig! --
nicht in Frage (»Vorläufig!« knurrte Bob Timmermanns dazwischen) --
durch eine Tat größten Maßstabes in Angriff zu nehmen. Die Raubgier der
Entente habe die deutsche Hochsee-Dampfschiffahrt vernichtet. Aber der
Schatz an Erfahrungen, Kenntnissen, Wagemut, der in den gottlob noch
erheblichen Menschenkräften des Personals der Werft von den Leitern
bis zum jüngsten gelernten Arbeiter aufgespeichert sei, verlange
gebieterisch nach neuer Tätigkeit und gewährleiste ihren Erfolg ...
Die Kapitalbeschaffungsfrage könne, wie sein erster Mitarbeiter
schon am Nachmittag auf der »Alten Liebe« mit Recht betont habe,
keine Rolle spielen. Die Werft habe den Plan eines neuen Schiffstyps
fertiggestellt, welcher zwar einen Größen- und Geschwindigkeitsrekord
nicht anstreben dürfe, aber innerhalb des durch die Verhältnisse
gebotenen Rahmens die denkbar größte Wirtschaftlichkeit erreiche.
Er verbinde die höchste Bequemlichkeit und Sicherheit für die
Passagiere mit der äußersten, vom Ertragstandpunkt noch zweckmäßigen
Geschwindigkeit der Frachtbeförderung. Zwar bilde dieser neue
Schiffstyp keinen Wettbewerb für die Wunderwerke deutscher Technik,
deren letztes heute in die Hände des Feindbundes übergegangen sei.
Er stelle einen Kompromiß dar zwischen dem begreiflichen Wunsche der
Werft, ihre Vorkriegsleistungen, welche den Neid des Erdballes erregt
hätten, alsbald wieder zu erreichen, womöglich zu übertreffen -- und
der Notwendigkeit, mit den Mitteln hauszuhalten. Die Mittel, welche das
verarmte Reich in Erfüllung der Entschädigungspflicht eines Tages zur
Verfügung stellen würde, könnten nur gering angesetzt werden, und das
zwinge von vornherein zur Beschränkung.

Das Ergebnis aller dieser Erwägungen sei der Entwurf zu jenem neuen
Schiffstyp, dessen Wesen der Oberleiter der Konstruktionsbureaus der
Werft alsbald im einzelnen erläutern werde. Es sei selbstverständlich,
daß die Hammonia-Werft diesen Entwurf der H. T. L. zur Verfügung
stelle. Das entspreche der örtlichen Nachbarschaft wie der
jahrzehntealten engen Freundschaftsverbindung der Werft und der
Linie. Es entspreche aber vor allem der Lage der H. T. L. Sie sei
es gewesen, die vor dem Kriege in Verbindung mit der Hammonia-Werft
durch ihre beispiellosen, auch heute noch nicht überbotenen Leistungen
auf dem Gebiete der Hochsee-Passagierfahrt den schärfsten Neid der
internationalen Konkurrenz hervorgerufen habe und darum von der
Rachgier der Sieger am gründlichsten ausgeplündert worden sei. Aber die
Person ihres verehrten Leiters bürge dafür, daß es ihr Bestreben sein
werde, ihren alten Platz auf dem Weltmeer nach Kräften zurückzuerobern.

Georg Freimann hatte den mit altväterlicher Feierlichkeit vorgetragenen
Darlegungen seines greisen Freundes mit angespannter Aufmerksamkeit,
doch mit undurchdringlich verschlossenem Gesichte gelauscht. Ab und
zu war eine nervöse Unruhe über seine sonst regungslose Gestalt
hingeglitten, wenn aus dem Nebenzimmer das feinabgetönte Spiel der
zwei Abkömmlinge dieser seegewaltigen Mächte lauter, störend laut
herübergeklungen war. Als aber Carstensen zum Schluß auf des Hausherrn
eigene Person angespielt hatte, da war ein bitteres Zucken in Georg
Freimanns Züge getreten.

»Ich danke Ihnen, lieber Freund Carstensen, für die lichtvolle
Darlegung von Gedankengängen, die, Sie wissen es, den Inhalt auch
meiner Tage und Nächte bilden seit jenen unseligen Novemberereignissen.
Aber ich fürchte, soweit meine eigene Beteiligung in Frage kommt,
Sie überschätzen den Rest der Kraft, den die Katastrophe meines
Lebenswerkes mir noch gelassen hat.«

»Sie haben Ihren Sohn«, sagte der Reeder.

»Meinen Sohn ...« Georg Freimanns Stirn verfinsterte sich. »Er hat
sich im Felde glänzend bewährt. Das erweckt Hoffnungen, die mich
seiner Befreiung mit einem Rest von Glauben an meine eigene Zukunft
entgegensehen lassen. Aber -- -- wir halten Rat -- er musiziert.«

»Ich würde vorschlagen, ihn zuzuziehen«, meinte Carstensen.

Georg Freimanns Züge blieben finster und eisig, als er sich erhob, um
seinen Sohn zu holen. Aber schon war Bob Timmermanns aufgesprungen:

»Gestatten Herr Präsident, daß ich --«

Da war er auch schon an der Tür. Grimmiger noch als der Vater des
Musikanten da drinnen hatte der Ingenieur den Kontrast zwischen dem
Ernst der Stunde und dem Larifari von nebenan empfunden. Grimmiger
-- und doch mit einer wilden Genugtuung. So was freite um eine Ilse
Carstensen! Das mußte doch mit dem Teufel zugehen, wenn man den da
nicht aus dem Felde schlagen sollte ...

Mit seiner ganzen derben Vierschrötigkeit pflanzte er sich in der Tür
auf und platzte mitten ins Spiel hinein:

»Herr Kapitänleutnant -- Ihr Vater wünscht Ihre Gegenwart.«

Jäh zerriß der Tönezauber. Aus Traumestiefen aufgescheucht starrten
die Augen dreier Entrückten den ungeschlachten Mahner an. Mit
disziplinierter Schnelle riß Heinz sich zusammen.

»Gut -- entschuldige, Ilse.«

»Ich gehe mit,« sagte das Mädchen gefaßt -- auch sie war durch vier
Jahre Dienst an Manneswerken zur Beherrschung und Anpassung erzogen.
Und nur Frau Johanna blieb zurück -- einsam, verstört, von wirren
Ahnungen und Ängsten bedrängt.

Ohne weitere Erklärung, mit stummer, herrischer Handbewegung wies
Freimann den Sohn an, Platz zu nehmen. Ilse schob ihren Sessel an
des Vaters Seite und schaute mit sachverständigem Anteil auf die
Zeichnungen, deren Grundsinn sie sofort begriff.

Robert Timmermanns begann seinen Vortrag. Der geplante Dampfertyp weise
beiderseits des Schiffskörpers beträchtliche seitliche »Anschwellungen«
auf, deren Bestimmung es sei, im Schiffsinnern sogenannte
»Schlingerdämpfungsräume« aufzunehmen -- Tanks, deren Inneres mit dem
Meerwasser in Verbindung stehe. Durch diese Vorrichtung werde das
Schwanken des Schiffes in ganz verblüffendem Maße abgedämpft.

Das zweite grundlegende Kennzeichen des neuen Typs sei dies: Die
Stickluft und der Schmutz des ehemaligen »Zwischendecks« würden in
Zukunft der Fabel angehören: auch für die Passagiere der dritten und
zweiten Klasse sei ein früher nie geahntes Höchstmaß von Sauberkeit,
Komfort und vor allem Raum zur Bewegung und zum Atmen vorgesehen. Der
neue Dampfer verwirkliche das amerikanische Ideal des »+democratic
ship+« ...

Das waren die Leitgedanken des ausführlichen Vortrages, durch den der
Konstrukteur an der Hand seiner Zeichnungen die gespannt lauschenden
Hörer in die Eigenart des neuen Schiffswesens einführte. Er schloß
mit dem Wunsche, daß die Verwirklichung dieses Plans das alte
Bündnis zwischen Hansa-Transatlantik-Linie und Hammonia-Werft aufs
neue verketten, es einer kommenden Blüte, einem Wiederaufleben der
deutschen Seegeltung entgegenführen und damit zum Wiederaufbau des
daniedergeworfenen deutschen Heldenvolkes beitragen möge.

Ein tiefes Schweigen entstand, als der Ingenieur geendet. Aller Augen
hingen an Georg Freimann.

Auf des Reeders Gesicht lag eine tiefe, bittere Müdigkeit.

»Meinen Glückwunsch, lieber Carstensen,« sagte er mit schleppender
Stimme, »zu diesen Plänen, dieser Mitarbeiterschaft. Die Werft, ich
fühle es, hat in sich die Kraft, so hohe Ziele zu verwirklichen.
Denn alles ist im Leben die Persönlichkeit. Ihr habt sie -- die
Hammonia-Werft hat sie. Sie, Freund Carstensen, sind in Ihrem weißen
Haar ein Jüngling -- an Ihrer Seite steht die Erbin Ihres Blutes,
und aus der Mitte Ihrer Gehilfen ist Ihnen ein Mann zugewachsen, wie
die Zeit ihn braucht. Ich aber?! Heinz, mein Sohn, diese Frage zu
beantworten, ist an dir.«

Aufglühenden Gesichtes richtete Heinz Freimann sich empor.

»Vater -- ich sehe in diesem Zimmer drei ›Offiziere‹ -- eigentlich
sogar --« und der Verlobte neigte sich mit ritterlicher Achtung vor
dem Antlitz der Braut, in das ein scharf prüfender Zug getreten war
-- »eigentlich sogar deren vier. Aber -- wo ist Ihre Armee, meine
Herrschaften?! Ihre Mannschaft?! Sehen Sie die Beulen auf meiner
Stirn. Was ist von einem Volke zu erwarten, das seine Vorkämpfer so
empfängt?!«

»Pöbel!« knurrte Timmermanns. »So ist das Volk -- bei uns -- und
übrigens in aller Welt. In Dock nehmen -- gründlich überholen -- das
Verrostete in den Schrott -- neue Teile einsetzen! Frisch lackieren --
und das Schiff wird wieder flott!«

»Nein, nein!« sagte der Offizier. »Dies Volk ist krank -- ist morsch
bis in den Kern. Was hilft's, wenn ihr ihm eine neue Flotte schafft?
Es muß von innen aufgebaut werden -- ganz neu. Es ist ein Haufen
Menschen gleichen Blutes, gleicher Sprache -- keine Nation. Was helfen
uns Schiffe, Hochseedampfer? Neue Menschen brauchen wir, Millionen
erneuter, wiedergeborener deutscher Menschen. Sie fassen den Gedanken
des Wiederaufbaus viel, viel zu äußerlich an, Herr Timmermanns, wenn
Sie glauben, mit Schlingertanks und Rauchsalons für die Zwischendecker
Deutschland erneuern zu können. Vielleicht auch das gehört dazu --
aber nicht einmal das werden Sie zustande bringen, solange Sie das Volk
nicht verstehen -- nicht kennen -- und darum nicht führen können -- die
Sehnsucht seiner Herzen nicht stillen.«

»Herrgott noch mal!« knirschte der Ingenieur, »sind wir hier in einer
Volksversammlung -- oder wollen wir arbeiten, wie wir's gelernt
haben?!«

Der alte Carstensen legte halb beruhigend, halb verweisend die Hand auf
die geballte Faust seines ersten Mitarbeiters. »Heinz Freimann,« sagte
er mit tiefem Ernst, »ich habe dir die Hand meiner einzigen Tochter
anvertraut. Ich bin ein Schiffsbauer -- ein Tatsachenmensch. Dein Vater
braucht einen Mitarbeiter -- und hat nur dich. Ist es möglich, daß eine
Aufgabe von solcher Größe dir zuwächst -- und du stellst dich nicht an
deines Vaters Seite -- und kämpfst, solange du einen Atemzug in der
Brust hast?!«

»Ich habe meinen Beruf verloren,« sagte Heinz beklommen, »zu einem
andern fehlen mir die Vorkenntnisse. Es ist selbstverständlich, daß ich
bereit bin, einen Kontorsessel im Betriebe meines Vaters einzunehmen,
wenn er glaubt, daß ich dort nützen kann. Aber ich müßte lügen, wenn
ich mir den Anschein geben wollte, als glaubte ich, meinem Vater jemals
werden zu können, was Sie, Herr Timmermanns, Ihrem Herrn Chef geworden
sind. Ich werde zunächst nichts als ein Lehrling sein.«

»Von einem Anfänger«, sagte der Vater scharf, »erwartet man keine
Meisterschaft. Aber das Werk des Vaters kann und muß von dem Sohne, der
sich ihm einordnet, das eine mindestens verlangen: Glauben.«

»Glauben, Vater? Ich möchte, ich könnte sagen: Ich habe ihn ...
Noch überseh' ich die Gründe des deutschen Versagens entfernt nicht
ganz. Aber soviel glaube ich zu wissen: mit dem bloßen Wiederbeginn
des alten Getriebes, an dessen Ende diese schreckliche Katastrophe
gestanden hat -- damit ist es nicht getan. Die Masse, ohne die Sie
nichts schaffen können -- die haßt Sie, haßt ihre Führer mit einem
zähnefletschenden, zerstörungswütigen Haß. Er war schon vor dem
Kriege da -- er ist sich im Drang und Zwang des Krieges seiner bewußt
geworden -- eine verabscheuungswürdige Verhetzung hat ihn zu wahrer
Höllenglut emporgeschürt -- die kommende Not wird ihn zu noch weit
gräßlicherem Ausbruch verschärfen als den, den wir bereits erlebt
haben. Darum habe ich nicht die Zuversicht, daß Ihre Arbeit, so
angefaßt, als sei gewissermaßen gar nichts Besonderes vorgefallen --
eine ärgerliche Unterbrechung, nicht etwa ein Umsturz aller Grundlagen
unseres nationalen, unseres menschlichen Daseins -- daß eine einfache
Wiederaufnahme der unterbrochenen Tätigkeit unserm Volke Gesundung und
Erstarkung bringen kann. Das alles müßte ganz anders angefangen werden
-- nicht neue Schiffstypen -- neue Menschentypen tun uns not.«

»Verzeihung, Herr Kapitänleutnant, da können wir schlichten
Schiffsbauer und Handelsleute nicht mit«, sagte Timmermanns kategorisch
und abschließend. »Herr Präsident, wir haben keine Zeit zu verlieren.
Was beabsichtigt die Linie zu tun?«

Mit einem verzichtenden Achselzucken raffte der alte Freimann
sich empor. »Ich werde morgen sofort den Aufsichtsrat und das
Präsidium zusammenrufen. Ich zweifle nicht, daß die Leitung -- und
später auch die Generalversammlung mit Begeisterung und Dank Ihre
Vorschläge, Freund Carstensen, und Ihren Vortrag, lieber Timmermanns,
entgegennehmen wird. In diesem Sinne danke ich Ihnen, meine Herren
-- und darf damit vielleicht unsere Aussprache schließen. Ich fühle
mich ein wenig angegriffen -- Sie werden das verstehen -- nach den
tragischen und -- na, und freudigen Erschütterungen dieses Tages ...«

Heinz hatte Ilses Auge gesucht und -- nicht gefunden. Es blieb auch
abgewandt, als der Verlobte sich beim Abschied über die schlanker, aber
straffer gewordene Hand der Geliebten beugte.

»Ilse --!«

»Du bist müd', Heinz -- das will ich als Erklärung nehmen«, sagte das
Mädchen. Ein herber Zug lag auch um ihre Lippen -- der gemeinsame Zug
dieses ganzen Geschlechtes von Tat- und Pflichtmenschen -- den Erben
der Wikinger und Hansen. Sie löste mit raschem Zug ihre Hand aus
Heinzens umklammernder Rechten, schritt ins Nebenzimmer, umarmte Mutter
Johanna und flüsterte ihr zu:

»Gib acht auf Papa, Muttchen -- ich hab' Angst um ihn ...«

Als Heinz sich mit einem zärtlich beklommenen Kuß von der Mutter
verabschiedet hatte, schlich Frau Johanna sich zu des Gatten
Arbeitszimmer. Vor der leise angelehnten Tür hemmte sie den Schritt
-- überwältigt und wie gewürgt von einer jäh aufsteigenden Angst. Da
drinnen saß ein Einsamer -- und der war ihr Lebensgefährte ... sie
hätte seine Kameradin sein müssen ... War sie's gewesen? Hatte sie
ihm seinen einzigen Sohn zu dem erzogen, was er brauchte -- seinem
Gehilfen, seinem Nachfolger, dem Erben seines Lebenswerks?!

Und plötzlich riß vor ihrer Seele ein Schleier, hinter dem
sie geträumt, gelitten, sich in Entsagung und heimlichem
Überlegenheitsgefühl verborgen Jahrzehnte hindurch, und eine Stimme aus
innersten Tiefen sprach: Schuldig -- du bist schuldig!

Daß ihr Sohn, ihr Liebling, der junge Held ihres Herzens so heimkehrte
-- so fremd seinem Vater, so fremd der Aufgabe, zu der er geboren und
berufen war -- -- das war seiner Mutter, das war ihre Schuld ...

Daß der da drinnen einsam war -- einsam in dieser Zeit, die den
Zusammenbruch seines stolzen Traumes, seiner gewaltigen Lebenssiege
über sein aufrechtes Haupt beschworen -- das war ihre, das war der
Gattin Schuld ...

Nein, Georg -- einsam sollst du nicht länger sein ...

Verhaltenen Schrittes trat sie in das Arbeitszimmer. Georg saß und
schrieb -- oder hatte wenigstens geschrieben -- eine einzige Zeile nur
... Er starrte in den stillen Glanz der Schreibtischlampe. Die Frau
trat behutsam näher -- der dicke Smyrnateppich dämpfte ihren leichten
Gang zur Unhörbarkeit.

Und schon hatte Johanna die Arme um des Gatten Nacken geworfen.

»Verzeih mir, Georg ...« stammelte sie. »Du erstickst in Sorgen, und
ich, ich hab' dich nicht getröstet. Und nun das mit Heinz ... Verzeih,
verzeih ... Du willst fort, o Gott ... Tu's nicht, Georg, tu's nicht
... Komm -- wollen alles zusammen tragen -- alles zusammen ...«




                                   6


Als Robert Timmermanns in seiner engen, mit Schiffsmodellen, Büchern,
Seekarten vollgepfropften Junggesellenwohnung auf der Werft ankam, fand
er Besuch. Armin saß auf dem Sofa, ließ sich des Bruders Zigaretten
und Schnäpse schmecken und schmökerte in einem Bande saftiger moderner
Dekameroniaden, wie Bobs barbarischer Lesehunger sie liebte als Paprika
an das derbe Gericht Leben, das er sich zubereitet. Der ehemalige
Stadtsekretär war im Krieg ein strammer, von seinen Untergebenen
gehaßter, aber zugleich wegen seines tollen Draufgängertums geachteter
Leutnant geworden und schließlich aus der Reserve zum aktiven
Dienststand übergetreten. Nun hatte das Feindesdiktat ihm seinen neuen
Beruf genommen. Er hatte noch in Polen gefochten, jetzt lag er auf der
Straße. Er spielte den Mißvergnügten, den grimmigen Monarchisten, war
einer der Mittelpunkte jener Zirkel, die mit dem Gedanken liebäugelten,
durch eine Gegenrevolution, durch Diktatur und Wiederaufrichtung der
umgestürzten Throne das Vaterland zu retten. Er war soeben von Berlin
angekommen und berichtete nun dem Bruder: man werde nun bald die Chose
schmeißen und das Ministerpack von heute an die Wand stellen.

»Na, ich weiß ja, daß ich bei dir keine Gegenliebe finde, teures
Bruderherz«, schnarrte Armin. »Ich warte mit Genugtuung auf den Tag,
wo deine Rotgardisten da unten auch dir den Schädel verkeilen, wie vor
vier Monaten deinen Direktoren. Das sollst du wissen, daß du dann bloß
auf den Knopp zu drücken brauchst, und auch hier in Hamburg stehen
ein paar hundert Kameraden bereit, um dich herauszuhauen und das rote
Gesindel mit Maschinengewehren zusammenzuschießen!«

»Mir wär's lieber, du setztest dich auf die Hosen und tätest was ...«
brummte Bob und warf seine Mappe auf den Tisch. »Steck' da mal die
Nase 'rein, wenn du nicht zu faul dazu bist ... das ist besser als
eure Komplotte gegen die Republik -- die übrigens auch von mir aus der
Teufel holen kann.«

»Na also -- in der Hauptsache sind wir wenigstens einig!« lachte
Armin und zog den Stöpsel aus der Flasche. »Ich lade dich hiermit
freundlichst zu deinem Friedenskognak ein. Als letzte Gegengabe für
die unfreiwillige Gastfreundschaft, die du mir mal wieder erweisen
mußt, hab' ich dir übrigens was mitgebracht.« Er griff nach einem etwas
über einen Meter langen Paket, das hinter ihm auf dem Kanapee lag, und
begann es auszupacken. »Hat Mühe genug gekostet, das durch all die
roten Spione durchzupaschen, die alle Bahnhöfe besetzt halten, alle
Züge nach uns Weißen abschnüffeln ...«

»Bin gespannt«, knurrte Bob. »Das erstemal, daß du dich meinetwegen in
Unkosten gestürzt hättest.«

»Wenigstens in moralische«, lachte der Bruder. »Na, da staunst du, was?«

Aus der Hülle entschälte sich -- ein vom Kriege stark mitgenommener
Karabiner ...

»So -- und da ist auch Futter«, grinste Armin und ließ aus seinen
vollgestopften Rock- und Hosentaschen ein Dutzend Ladestreifen mit
+S+-Patronen auf den Tisch klappern. »Jeder Schuß für Spartakus!«

»Schnurrig, was für Rezepte die Leute nicht alle bereit haben,
um Deutschland gesund zu machen!« zürnte Bob. »Dieser einstige
+U+-Bootwüterich will neue deutsche Menschen erziehen, und du
willst die alten niederknallen!«

Armin spitzte die Ohren. »Wer ist das -- der einstige
+U+-Bootwüterich?«

Bob erzählte von Heinz Freimanns Empfang in der Heimat und seiner
Skepsis für Deutschland. Da horchte Armin auf. Er witterte einen
Gesinnungsgenossen und beschloß, den Kapitänleutnant gleich morgen früh
aufzusuchen.

»Na -- und dein Dank für das da?«

»Ach so -- bezahlen muß ich den also doch ... hab's mir gleich gedacht.
Wieviel brauchst du mal wieder?«

»Je mehr, je besser!« schmunzelte der Leutnant a. D. »Wenn du den da
nach seinem reellen Wert bezahlen solltest, müßtest du ihn genau so
hoch einschätzen wie dich selber ... der wird nochmal der Werft ein
kostbares Leben erhalten!«

»Ich arbeite«, sagte Bob verächtlich. »Mir tut keiner was. Der jüngste
und frechste Lümmel auf der Werft weiß, daß keiner halb soviel
schuftet wie ich ... davor hat die Bande schließlich doch Respekt ...
Und nötigenfalls sind ja die zwei Fäuste da auch noch vorhanden ...
Schießprügel ist was für Schlappstiefel und Angsthasen ...«

»Immerhin -- du behältst ihn, das genügt mir!« triumphierte Armin.
»'s ist mir 'ne brüderliche Beruhigung ... Schöne Bescherung, wenn
Spartakus mir meinen Bankier aufknüpfte ...«

»Wird bald Schluß sein mit dem Bankier!« schalt Bob. »Noch zwei Monate,
dann knöpf' ich die Tasche zu, verstanden?! Also such' dir Arbeit, mein
Jungeken -- das ist der beste Wiederaufbau!«

Bald streckten die Brüder sich zum Schlummer -- der Ingenieur in seinem
Bett, der heimatlose Söldner auf dem knackenden Sofa.

Ilse Carstensen! träumte Bob im Entschlummern. Wer ist deiner mehr wert
-- dieser schnurrige Träumer, der mit dir fiedelt -- oder ich, der ich
mit dir und für dich arbeite und schaffe?!




                                   7


Als Ilse am folgenden Morgen die Schranke des beflissen und
verehrungsvoll grüßenden Portiers durchschritten hatte und zu dem
vielstöckig sich auftürmenden Bureaugebäude weiterschritt, trat
ihr plötzlich ein Bursche in den Weg, nicht größer als sie, aber
mit Schultern wie ein Stier. Er hatte sich mit einem schmächtigen
Gefährten beim Pförtner gemeldet, seine Militärpapiere vorgelegt
und seine und seines Genossen Wiedereinstellung zur Arbeit als ein
Recht des ehemaligen Werftangehörigen und Kriegsteilnehmers in
Anspruch genommen. Der Portier, ein Veteran von Siebzig, hatte den
Mitkämpfer des Weltkrieges achtungsvoll gegrüßt und zu warten gebeten,
bis der Vorsitzende des Arbeiterrats der Werft einträfe, dem die
Neueinstellungen unterstünden. So hatten Tedje Tietgens und Clas
Mönkebüll an der Schwelle ihrer einstigen Arbeitsstätte gewartet, als
Ilse Carstensen den Weg zu ihrer Schreibmaschine angetreten hatte.

Das Mädchen stutzte, als der stämmige Gesell ihr plötzlich den Weg
verlegte. Das freundliche Lächeln, mit dem sie den alten Türhüter
begrüßt, war wie weggefroren: Ilse Carstensen war auf einmal unnahbare
Patrizierin.

»Sie wünschen?«

»Dunnerslag!« griente Tedje, und wie eine heiße Welle stieg die
Mannesgier in seine Augen, »an wat vör'n Pult geheurst du denn, mien
Lütten?! Ick bruk 'n Schatz, mien seuten Engel, du wörst mi grod recht!
Dei smuddligen Bolschewistendeerns in Rußland, dat weur doch nich dat
Richtige op de Duer ...«

»Lassen Sie mich durch!« sagte Ilse in ruhigem Befehlston.

»Du --?!« gurgelte es bedrohlich aus des Bärtigen Kehle, »man nich so
grotsnutig, lüttje Tippdeern ... Wat mien' Kam'roden in Rußland sünd,
dei hebben sich dei Zorentöchter langt ... büst vör mi grod god genog,
du smucke Vagel, du!«

Schon war der Veteran herzugesprungen, hatte den Dreisten am Rock
beiseitegezerrt:

»Büst du besapen, Minsch?! Dat 's dei Dochter von unsen Herrn Chef!«

Und von links sprang Clas Mönkebüll herzu:

»Lot nah, Tedje! Du büst jo woll nich bi Verstand --!«

Tedje schüttelte die zwei Warner ab wie zwei Flaumfedern:

»Lot man, Jungs ... in Wiewersoken soll eener eenen nich rinschnacken!«

Und er griff nach des Mädchens Armen, die in mühsam verhohlenem Schreck
erstarrten.

Aber schon flog er mit einem Ruck beiseite, taumelte gegen den
Sandsteinsockel des Bureauhauses, daß ihm Schädel und Rippen knackten.

»Respekt, du Lümmel!«

Auf den ersten Blick erkannten sie einander: der Werkmeisterssohn,
dessen Aufstieg den Tüchtigen ein Ansporn, ein fressender Neid den
Faulen und Unfähigen war -- und der Sohn des Kranführers, dem
der Schnaps und die Mädels immer wichtiger gewesen waren als die
Fortbildungsschule.

»Och -- Tedje Tietgens!« sagte der Riese mit schnell wiedergekehrter
Jovialität und streckte dem einstigen Schulkameraden die Hand hin:
»Willkamen in de Heimat ... Un nix vör ungaud ... möst beter henkieken,
wen du vor di hest ...«

Aber Tedje Tietgens schlug nicht ein. In seinen rotunterlaufenen Augen
schwelte der Pariagrimm.

»Teuf, du ...« gurgelte er ... »teuft, all ji twei ...«

»Na, denn nich ...!« lachte der Ingenieur. »Entschuldigen Sie, gnädiges
Fräulein --«

»Gnädiges Fräulein!« äffte Tedje nach. »Gnädiges Fräulein gift dat nich
mehr ... Mien Kam'roden in Rußland --«

»-- haben sich die Zarentöchter gelangt, das wissen wir all«, sagte der
Ingenieur. »Lang' du di ok welk, wenn du jem find'st, mien Jung -- öber
wenn du di noch mol ünnersteihst un vergittet den nödigen Respekt vor
dien'n Chef sien Fräulein Dochter, denn sleiht Bob Timmermanns di dien
Knoken tau Mus, versteihst mi?!«

Ilse lachte.

»Er hat's nicht bös gemeint, Timmermanns ... Tedje Tietgens -- hör' ich
-- der Sohn unseres braven Kranführers auf Helgen eins bis fünf? Und
aus der Gefangenschaft zurück? Das freut mich zu hören. Seien Sie auch
mir willkommen -- ein andermal vertragen wir uns besser, nicht? Was
macht Fräulein Antje, Ihre Schwester, drüben bei der Linie? Grüßen Sie
sie recht schön von mir ...«

Wie betäubt stand Tedje Tietgens. Hatte sie ihm wirklich zugelächelt --
die Feine, die Aristokratin -- die ... verdammt -- die Schöne --?

Eine Wut war in Tedje Tietgens' wuchtigem Körper ... eine Wut, wie er
sie noch nie im Leben gespürt ... Warum durfte dieser Bob Timmermanns
mit ihr gehen -- ein Arbeitersohn wie er selber?! Und wie sie den
angelacht hatte, ganz auf gleich und gleich ... Und ihn, den starken
Tedje -- den hatte sie doch nur eben so von oben her angelächelt.

Dumpf grollte Tedje Tietgens in sich hinein.

»Mien Kam'roden in Rußland -- -- Verdammi --!« brüllte er plötzlich auf
und ballte seine Faust hinter dem Paare drein, das eben die Freitreppe
zum Bureauhaus hinanschritt.

»Nich, nich, Tedje!« murmelte Clas Mönkebüll und umfaßte des Genossen
zuckende Schultern. »Nix vör uns.«

»Verdammi, Jung -- doch!« knirschte Tedje Tietgens.

Mit einem Ruck warf er den schweren Körper herum, schob sich an dem
verblüfften Portier vorbei -- und wandte der Werft den Rücken.

Clas Mönkebüll hastete hinter dem Kameraden drein.

»Wat's denn los mit di, Tedje?! Wullst du nich di anmelden tau'r
Arbeit?«

»Arbeit? Wat Schiet!« schrie Tedje. »Besupen dau'k mi -- un du mit --
versteihst mi?!«




                                   8


Bis tief in die Nacht hatten im Hause Freimann die Gatten
beisammengesessen, Hand in Hand, wie kaum in fernen Bräutigamszeiten.
Und ehe sie ihre Zimmer aufsuchten, hatte Georg den Browning aus dem
Schubfach genommen, entladen und in Johannas Hände gelegt »-- zur
Sicherheit gegen Rückfälle!«

Gestärkt und verjüngt war der Präsident erwacht -- gestärkt vom
Kinderglauben der Frau, die auf ihr Vaterland vertraute, weil sie in
ihm nichts anderes erblickte als das vergrößerte und erhöhte Abbild
ihrer eigenen Welt. Und mehr noch hatte sie gewirkt, die Zauberin Güte.
Beim Frühstück bat Heinz den Vater, ihn zum Bureau mitzunehmen und
ihm seinen Platz am Arbeitspult anzuweisen. Georg Freimann antwortete
nur mit einem kurzen »Gut!« Aber er bestellte den Wagen ab, schob den
Arm in den des Sohnes und entwickelte unterwegs einen Arbeitsplan
für Heinzens nächste Ausbildung. Er führte ihn durch das ganze
weitgedehnte, so prachtvolle wie praktische Bureaugebäude der Linie,
erklärte ihm die Einteilung der großen Gruppen des Betriebes.

Um dieselbe Stunde, als Vater und Sohn sich anschickten, die gemeinsame
Arbeit aufzunehmen, betrat Elias Patterson das imposante H. T.
L.-Gebäude.

»Ich wünsche zu sprechen Mister Freimann.«

Marmorgetäfelte Wände, knirschende Smyrnateppiche ...

Bauen können sie, die Deutschen ... oder konnten's ... vorher.

Aber da drinnen, hinter dem geschliffenen Glase der Bureautüren sah's
minder glänzend aus:

Scheinen Zeit zu haben, die Jünglinge ...

Kein Zweifel: eine Konkursmasse vor der Liquidation -- wie dies ganze
zertrümmerte Deutschland ...

Lloyd George hatte recht behalten. Den +knock out+ hatten sie weg,
diese zähen Burschen.

»+Good morning+, Freimann -- ah, auch der +captain+ ... nun,
Sie schauen ja wieder wie ein Gentleman aus ...«

Vater und Sohn gefroren in tiefverletztem Schweigen.

»-- Also hören Sie, Freimann! Der Krieg ist zu Ende. Ich dächte, Sie
und ich, wir ständen mindestens auf gleicher Stufe wie die Preisboxer
-- die reichen sich auch die Hände, wenn's vorbei ist. Der Blödsinn hat
ausgetobt, die Vernunft kommt wieder ans Regiment. Wollen wir wieder
die Alten sein miteinander?!«

»Ich vermute, Sie haben bestimmte Absichten und Vorschläge, Herr
Patterson«, sagte Georg Freimann gemessen. »Bitte, sprechen Sie sich
aus.«

»Gut -- also, Herr Freimann -- die H. T. L. hat ihre sämtlichen
Schiffe verloren bis auf ein paar armselige Küstenkähne. Aber sie
besitzt noch Werte -- für die sie selber keine Verwendung mehr hat.
Vor allem diesen Bureaupalast -- er ist wundervoll ausgefallen, Herr
Freimann, ich mache Ihnen mein Kompliment. Als ich Sie 1913 zum
letztenmal besuchte, stand noch das alte Haus an dieser Stelle -- und
das war auch schon nicht übel. Dann sind da Ihre Kais -- ich habe sie
mir heute morgen schon angesehen. Trostlos leer schaut's da natürlich
aus. Und ferner Ihre Niederlassungen im Ausland ... Zwar in den Ländern
Ihrer Kriegsgegner ist natürlich alles verloren, aber in den neutralen
Ländern sind Ihre ganzen Betriebseinrichtungen ja noch vorhanden. Und
selbst in Feindesland haben Sie noch alte Beziehungen ... Das alles
müßten Sie nun einzeln -- liquidieren -- wie wär's, wenn Sie das Ganze
in Bausch und Bogen an meinen Konzern verkauften? Für Ihre Aktionäre
kämen schließlich als Schmerzensgeld ein paar Prozent mehr heraus.
Sagen Sie ja, Herr Freimann, und lassen Sie Ihre Generalversammlung
einen Mindestpreis festsetzen.«

Georg Freimann hatte stumm zugehört. Ihm zuckte es in den Fingern
aufzuspringen, um den lächelnden Gast aus dem Lande, das Deutschlands
Vernichtung besiegelt hatte, zur Tür hinauszuwerfen. Da fiel sein Blick
auf das Gesicht seines Sohnes.

Empfand er gleiches? Würde er mit jugendlicher Kraft und Geradheit die
Entgegnung finden, welche dem schamlosen Angebot gebührte? Es war eine
Prüfung.

»Mein Sohn -- du hast Herrn Pattersons Vorschlag gehört. Ich bitte um
deine Meinung.«

Heinz Freimann schrak leise zusammen. Er fühlte, daß der Vater ihn auf
die Probe stellen wollte -- daß eine Entscheidung über mehr noch als
über das Schicksal der Liquidationsmasse der H. T. L. von ihm verlangt
wurde.

Oh -- wer jetzt den Glauben hätte -- diesen kindlichen, phrasenseligen
Glauben jenes Timmermanns -- der als Techniker ein Genie des Verstandes
und Wissens war -- und als Mensch ein so engstirniger Vergewaltiger
seiner Mitmenschen ... Heinz Freimann glaubte sein Vaterland zu
sehen, wie es war, in seiner inneren Zersetzung, seinem Kampf aller
gegen alle, seiner hoffnungslosen Todesmattigkeit. War es nicht am
besten, den Traum vom meerbeherrschenden, weltumspannenden Deutschland
zu begraben -- und zunächst einmal ganz von vorne anzufangen, den
deutschen Menschen aufzubauen?!

»Vater -- -- ich würde vorschlagen, Herrn Pattersons Gebot in ernste
Erwägung zu ziehen.«

Georg Freimanns Brauen senkten sich, bis sie die Augen fast verhüllten.
Tonlos, doch mit geheimer Schärfe, klang seine Antwort:

»Ich bin anderer Auffassung.«

Im Gefühl grenzenloser Vereinsamung im Herzen neigte Heinz leise die
Stirn.

»Herr Patterson!« sagte Georg Freimann, »ich ehre in Ihnen den
ehemaligen Freund, den Gesinnungsgenossen jener Bestrebungen, denen wir
beide in schöneren Zeiten gemeinsam gedient haben -- sonst -- würde ich
-- -- Sie haben mich gestern im schwersten Augenblick meines Lebens
gesehen. Der ist mittlerweile überwunden. Ich bin wieder der Alte --
der, den Sie kennen, Herr Patterson. Und der antwortet Ihnen: Die H. T.
L. ist nicht bankrott, ist nicht feil. Ich begreife, daß ihr Amerikaner
den Gedanken habt, der Adler, den ihr zur Strecke gebracht habt, müsse
nun außer Krone und Federn auch Balg und Eingeweide lassen. Sie irren,
Herr Patterson -- tot ist er noch nicht -- der gerupfte, wehrlose
Adler.«

Der Reeder erhob sich. Aus seinen Augen sprühte wieder der alte
Hansegeist.

Aber Elias Patterson blieb sitzen. Ein harmloses Lächeln spielte um
seine schmalen Lippen.

»+Well+, Herr Freimann, ich sehe, Sie geben das Spiel noch
nicht verloren. Sie sind kein Phantast, kein pangermanistischer
Querkopf, ich weiß es. Was Sie anfassen, muß Hand und Fuß haben. Ich
werde zurückfahren über den großen Teich -- und abwarten. Entweder
Sie erleben eine zweite und letzte große Enttäuschung mit Ihrem
Vaterlande -- dann komme ich immer noch zeitig genug, um aus der
großen Liquidationsmasse zu erwerben, was mein Konzern brauchen
kann. Oder aber: Sie bringen's tatsächlich fertig, Ihre Linie, Ihre
stolze Schöpfung, über diese ungeheuerliche Krisis hinüberzuretten
-- dann kann ich Ihnen vielleicht in -- na, sagen wir in einigen
Monaten -- einen anderen Vorschlag machen -- einen Vorschlag, der
Ihrem Instinkt als Führer der Schiffahrt Ihres Landes zusagen wird
-- ohne Ihr Ehrgefühl als Deutscher und als Schöpfer der H. T. L. zu
kränken. Inzwischen -- +good bye+, Mister Freimann -- +good bye,
captain+!«

Den Sohn würdigte Georg Freimann keines Wortes mehr. Da verließ Heinz
wortlos das Arbeitsgemach -- mit einem Gefühl der Heimatlosigkeit, das
ihn aushöhlte. Im Vorzimmer schritt er zum Fenster und starrte dumpf
sinnend hinaus auf das enge Geviert der Binnenalster. Es lag verlassen
... dumpf hinträumend wie diese ganze kriegserstarrte Stadt.

Die Sekretärin hatte beim Eintreten des Sohnes ihres Chefs die
rastlosen Hände von den Tasten der Schreibmaschine sinken lassen. Einen
Augenblick sah sie verständnislos zu dem jungen Herrn hinüber -- ohne
eine Ahnung, was dessen offenbar tiefe Erregung bedeuten könne. Dann
nahm sie gelassen die Arbeit wieder auf.

Beim Klappern der Maschine kam es Heinz zum Bewußtsein, daß er nicht
allein war. Er warf einen flüchtigen Blick zu dem jungen Mädchen
hinüber -- halb unbewußt nahm sein verwüstetes Gehirn den Eindruck von
etwas Geruhigem, Starkem, einfach Klarem auf. Aber von neuem verloren
sich seine Gedanken in die Wirrnisse seines Schicksals. Was nun?!
Diesem verpesteten, versinkenden Lande, diesem von der Weltgeschichte
selbst zum Untergange bestimmten Volke den Rücken kehren?! Aber wohin?
und wozu? Und Ilse --? Wo war ein Halt, ein Sinn, ein Ziel?!

Von den drei Fenstern des Vorzimmers führte eines auf eine Seitengasse
hinaus. Da drunten wurde jetzt Lärm. Gelassen stand die Sekretärin
auf und schaute hinaus. Aha -- wieder mal ein Pütschchen ... Diesmal
galt's dem Postamt gegenüber. Der Pöbel hatte entdeckt, daß dort noch
wie durch ein Wunder die Buchstaben »Kaiserliches« stehengeblieben
waren, da, auf dem Amtsschild, prangte noch der gekrönte Reichsadler.
Meinetwegen weg damit -- nur, daß in der Regel dabei auch die
Tageskasse und die Markenvorräte mit verschwanden ... Antje hatte ein
blutrotes Herz. Aber Illusionen machte sie sich nicht. Die Sorte von
Genossen, die mit solchen Kindereien die Republik befestigte, die
kannte sie.

Mit einem Male verschwand das halb wohlwollende, halb verächtliche
Lächeln von ihren Lippen. Eine Leiter war angelegt -- ein anscheinend
betrunkener Bursche im Militärmantel, mit struppigem Bart, kletterte
unsicheren Fußes hinauf, um das Schild mit dem Adler herunterzuholen.
Der Mob johlte Beifall. Es war Tedje ... den sie auf der Werft -- zur
Arbeit zurückgekehrt wähnte.

Hatte sie einen Laut ausgestoßen, eine erschrockene Bewegung gemacht?
Der Sohn ihres Chefs stand plötzlich neben ihr.

»Ist Ihnen nicht wohl, Fräulein? Haben Sie sich erschreckt?«

Mit stummem Kopfschütteln verneinte das Mädchen.

»Hübsches Bild, wie?« sagte der Offizier. »Nein, diesem Volk ist wohl
nicht mehr zu helfen. Es will seinen Untergang. Sehen Sie bloß diesen
Lumpenkerl von einem Soldaten ... gewiß hat er sich drei, vier Jahre
lang für Kaiser und Reich geschlagen -- nun reißt er mit eigenen Händen
das Symbol seines Vaterlandes herunter, um es im Wetteifer mit unseren
Feinden in den Kot zu zerren!«

»Das ist mein Bruder«, sagte die Sekretärin starren Gesichts.

»Ihr -- verzeihen Sie, das konnte ich nicht ahnen. Sind denn Sie --«

»-- ein Kind des Volkes? Ja«, sagte Antje, nun voll jäher Glut in
Antlitz und Stimme. »Sie meinen, ihm ist nicht zu helfen? So wie Sie
und ... Ihre Klasse es angefangen hat -- so freilich nicht.«

Eine Revolutionärin, die wie eine Bürgerin aussieht, dachte Heinz
Freimann. Vielleicht dämmert hier ein Lichtstrahl ...

»Also, was haben wir falsch gemacht?«

»So ziemlich alles«, sagte das Mädchen. »Ihr gebt uns harte, freudlose
Arbeit und so viel zum Leben, daß wir imstande bleiben, sie zu leisten.
Schönheit -- Seele --! Sehen Sie den da -- ein schöner, starker Bursch,
tüchtig zum Leben und Schaffen -- und hat seit seinem vierzehnten Jahre
nichts gelernt und nichts tun dürfen als täglich jede Minute zwei
Nieten hämmern! Da ist er an das einzige gekommen, was ihm an Schmuck
des Lebens erreichbar war: an den Schnaps und an die Frauenzimmer!«

»Also, Sie meinen,« sagte Heinz, »der Arbeiter habe das Recht, gegen
seine Landsleute, gegen sein Vaterland anzuwüten, weil seine Arbeit
schmutzig und eintönig ist? Aber ist denn diese Arbeit etwa unnötig?
Muß sie nicht getan werden? Und hat, wer sie tun muß -- tun, weil er
nichts anderes gelernt hat -- hat der darum das Recht, sich dem Suff
und den Weibern zu verschreiben? Er mag sich emporarbeiten -- unzählige
seinesgleichen haben's vermocht -- sie waren Proletarier, sie wurden
Bürger ... wir brauchen gar nicht weit zu suchen, um einen Mann des
Aufstiegs zu finden.«

»Aber dazu muß man stark sein, sehr stark, furchtbar stark«, sagte
das Mädchen. »Das war mein Bruder nicht -- so wenig wie die Tausende
von uns, die ewig drunten bleiben müssen -- in der trostlosen Tiefe.
Dann hat er in den Krieg gemußt -- für das Vaterland, das ihm nicht
mehr bedeutete als seine harte Arbeit, seine ärmliche Wohnung, seine
jämmerlichen Freuden ... dafür ist er zweimal verwundet worden -- hat
er zwei Jahre in den kaukasischen Bergwerken arbeiten müssen! Wundern
Sie sich, daß er den Reichsadler zertrampelt, der ihm das Herz aus dem
Leibe gefressen hat?!«

Eine Flamme glühte in des Mädchens Auge -- war es Haß -- oder
verschmähte, zertretene Liebe?! Heinz Freimann war's, als öffne sich im
nächtlichen Urwaldsdickicht eine Lichtung.

»Vielleicht haben Sie recht, Fräulein«, sagte er aus tiefem Sinnen, wie
abschließend. »Ich -- will darüber nachdenken.«

Zu Hause wartete seiner ein Besucher. Der stellte sich in tadelloser
militärischer Haltung als Leutnant a. D. Armin Timmermanns vor und
lud nach etlichen Einleitungsfloskeln den Herrn Kapitänleutnant ganz
gehorsamst ein, dem Geheimbund »Retter des Vaterlandes« beizutreten.
Zweck: Niederzwingung des Bolschewismus, Wiederaufrichtung der
Monarchie, Befreiung der Heimaterde von der Schmach der Fremdherrschaft.

»Hohe, wundervolle Ziele!« sagte Heinz Freimann achtungsvoll. »Nur, so
will mir scheinen, die Möglichkeit ihrer Verwirklichung liegt in weiter
Ferne.«

»1813 hat es sieben Jahre gedauert von Tilsit bis Leipzig«, sagte der
Leutnant. »Wir werden es in der Hälfte der Zeit schaffen.« Es gelte
vor allen Dingen im Innern reinen Tisch machen -- die Herrschaft des
Gesindels müsse gebrochen werden ... Die Novemberverbrecher weggeräumt
-- sie und ihre geheimen Mitschuldigen von der hohen Finanz, der
Presse, der Politik -- damit Raum für den Retter werde.

»Weggeräumt? Wie wollen Sie das bewerkstelligen ...?«

»Mit denselben Mitteln, mit denen unsere Feinde im Kriege die
Flaumacher und Défaitisten beseitigt haben -- also mit allen.«

»Sie sind fehl am Ort, Herr Leutnant«, sagte Heinz Freimann gelassen.
»Ich war selber Défaitist -- und heute bin ich im Begriff, etwas zu
werden, was in Ihren Augen vielleicht noch schlimmer ist --«

»Ich -- verstehe nicht ...«

»Ist auch nicht nötig«, lächelte der Seemann, erhob sich und machte
eine verabschiedende Verneigung.

Armin Timmermanns schlug knallend die Hacken zusammen, eisige
Verachtung im Blick.

Armes Deutschland! dachte Heinz.




                                   9


Von diesem Morgen an lebte Heinz Freimann in seinem Elternhause wie
hinter einer Eiswand.

Zwar Mutter Johanna umgab ihn mit all ihrer rührenden Güte und bis ins
kleinste sich erstreckenden Sorgsamkeit. Aber innerlich das fühlte
er, hatte auch sie sich von ihm abgewandt. Der Wunsch, an ihrem
Manne gutzumachen, was sie in Jahren der Verständnislosigkeit an ihm
gefehlt zu haben überzeugt war, drängte jedes andere Gefühl, auch
ihr mütterliches, in die zweite Linie. Heinz solle sich mit seinem
Vater aussöhnen, den Platz an seiner Seite einnehmen, ein gehorsamer
Mithelfer seiner Pläne werden -- das sei Sohnespflicht -- nicht mehr
und nicht weniger.

Vergebens, wenn Heinz versuchte, der Mutter begreiflich zu machen,
was in ihm vorging. Er begriff sich ja selber nicht -- wieviel weniger
konnte er sich andern erklären.

Ach -- und auch Ilse verstand ihn nicht. Bob Timmermanns -- das war ihr
drittes Wort. Bob Timmermanns hat heute gesagt -- Bob Timmermanns würde
in diesem Falle sagen -- --

»Es ist mir gleichgültig, Ilse, was dieser Herr denkt und tut, sagt
oder sagen würde ... Ich muß meinen Weg gehen.«

»Und wohin soll der führen, Heinz?«

»Wenn ich das selber wüßte! Nur das eine ist mir klar: Etwas ganz Neues
muß werden -- neue Erkenntnisse, neue Gedanken, neue Gefühle -- neue
Ideale mit einem Wort ...«

»Ich glaube,« sagte Ilse, »das ist etwas sehr Altes und Einfaches, was
uns not tut. Wir müssen arbeiten. Jeder an seinem Platze --«

»-- sagt Bob Timmermanns«, schloß Heinz bitter.

Sie entzog sich ihm ... er würde sie verlieren -- hatte sie schon
verloren. Und hatte sie nicht recht? Diese Frau, er fühlte es, wollte
aufschauen zum Manne -- Klarheit verlangte sie, Willen und Ziel. Sie
schauderte vor Wirrnis, Gärung, Halbheit.

Sie hatte verglichen -- und der Vergleich war gegen ihn ausgefallen ...

Aber unwillkürlich verglich auch er. Arbeit -- das war das Zauberwort,
das die Welt, aus der er erwachsen war, ihm täglich in die Seele
schmetterte. Dieser Stahlklang übertönte mehr und mehr die zarten
Weisen, mit denen sein Elternhaus, mit denen wenigstens Mutter und
Braut ihn empfangen hatten. Seit an jenem Heimkehrfeste der knarrende
Baß dieses Herrn Timmermanns die tröstende Kantilene Beethovens
zerrissen hatte, waren weder Mutter noch Ilse ans Klavier zu bringen.
Es war, als schämten die Frauen sich, in dieser finsteren Zeit etwas
anderes zu tun, als mit zusammengebissenen Zähnen dem »Wiederaufbau« zu
dienen ...

Dem Wiederaufbau, wie sie ihn verstanden: Schiffe -- Schiffe -- Schiffe
... Das war fortan der einzige Gedanke, schien der einzige Lebensinhalt
all dieser Menschen geworden zu sein, die Heinz Freimanns Leben
umgaben. Und er inmitten, abseits, müßig, inhaltlos ...

Eine andere Stimme war ihm erklungen -- auch eine Mädchenstimme.
Eine Arbeiterin, ein Arbeiterkind -- aber sie hatte das Wort Arbeit
ausgesprochen mit einem geheimen Haß und Abscheu im Klang ...

Und ihre Lebenslosung -- wie hatte die gelautet? Schönheit -- Freude --
Seele ...

Seltsam: die Menschen hier oben, die fieberten nach Arbeit -- und eine
aus der Tiefe, die erhob Anklage wider die im Lichte Wandelnden -- die
forderte alle jene hohen Güter, die hier droben zu Hause waren -- und
für ihre Eigner plötzlich den Kurs verloren zu haben schienen ...

Immer dichter, immer finsterer lagerten sich Wolken und Wirrnis um
Heinz Freimanns Seele. Zwei Welten, er fühlte es, umschloß dies
Hamburg, dies Deutschland -- zwei Welten, zwischen denen es keine
Gemeinschaft mehr gab -- keine mehr geben konnte. Die Welt von
Harvestehude -- und die Welt von St. Pauli ... Unverbunden standen sie
nebeneinander. Ob sie auch am gleichen Werke schufen -- zwischen ihnen
gab es dennoch keine Beziehung mehr ... in zwei Nationen, zwei Rassen,
in zwei verschiedene Arten von Lebewesen schienen diese Menschen eines
Stammes und Blutes, einer Geschichte und Sprache zu zerfallen.

Und Heinz war heimatlos geworden -- in jener der beiden Welten, aus der
sein Leben stammte. Und die da drüben? Die andere, die nahe und doch
völlig, völlig unbekannte, unerforschte, unerlebte Welt?! Die Welt, die
sich nun anschickte, die Welt seines Ursprungs zu zertrümmern?!

Hier war ein Problem, eine Frage, eine Dunkelheit, ein Rätsel -- --
vielleicht eine Aufgabe -- eine Mission ...

Je tiefer Heinz im Elternhause sich vereinsamt und abgelehnt fühlte,
je stärker tat in ihm eine Sehnsucht sich auf: einmal ganz aus dieser
seiner Welt zu verschwinden -- und in die andere hineinzutauchen ... in
jene Welt, aus der es so erschütternd emporgeklagt hatte:

»Freude -- Schönheit -- Seele -- alles habt ihr uns versagt ...«

Aber -- war das wirklich die Stimme der andern Welt, und nicht am Ende
nur die eines einzelnen Herzens -- eines Herzens, das herausgewachsen
war aus der Sphäre seiner Abkunft -- ohne in der andern Wurzel fassen
zu können?! War diese schlanke Sekretärin, die sich ein Kind der
Arbeit genannt hatte -- war sie vielleicht derselbe Fall wie er -- nur
umgekehrt?! Das mußte man herausbekommen. War jene Welt nur darum so
gestaltlos, schmutzig, haßerfüllt, umsturzlüstern -- weil jene andere,
jene da oben, sich an ihr versündigt hatte -- oder hatte jener andere
recht, der diese ganze Welt da unten Gesindel nannte, dessen Herrschaft
so schnell wie möglich gebrochen werden müsse?!

Ein Plan klärte sich schließlich aus dem Gebrodel empor -- ein
Plan, den vor ihm schon, er wußte es, andere Tieferstrebende seiner
Lebensschicht gefaßt und ausgeführt hatten -- der aber für den Sohn des
Schöpfers der H. T. L. etwas Ungeheuerliches, etwas Grundstürzendes
bedeutete. Wie -- wenn er aus dem Kreise, der ihn ohnehin täglich
frostiger ausschied -- wenn er aus ihm freiwillig und unbemerkt ...
verschwände?! um hineinzutauchen, unterzusinken, für eine Weile
mindestens, in jener andern, unteren, unermeßlich bevölkerten,
scheinbar ungegliederten -- -- Unterwelt?!

Wer wird ihn vermissen -- sich um ihn bangen -- nach ihm forschen, ihn
zurücksehnen?!

Ach -- fast blieb nur noch die Mutter -- und auch die mehr aus
Mutterinstinkt als aus Mutterglauben ... Hatte sie nicht ein ganz neues
Leben begonnen? ein Leben, in dessen Mittelpunkte plötzlich nicht mehr
der Sohn, die Häuslichkeit, die Bücher, die Kunst standen -- sondern
der Gatte, die Linie, die Schiffahrt?!

Und Ilse?! Noch gab es Stunden zwischen den Verlobten, in denen sie mit
schmerzlicher Sehnsucht eins das andere suchten ... Aber eine Kluft
des Empfindens hatte sich zwischen ihnen aufgetan, die mit Küssen,
Tränen, Umarmungen nicht mehr zu überbrücken war ... Der Moloch Arbeit,
der diese Menschen in Fesseln geschlagen hatte, glotzte in jede bange
Suchensstunde hinein und trennte das junge Weib, das diesem Dämon
verfallen war, von dem jungen Manne, der nach dem unbekannten Gotte
bangte ...

Der Vater? Der Schwiegervater? Für beide war er Luft -- ein Abtrünniger
-- ein fast Wahnsinniger. Er brachte es fertig, in dieser Zeit ein
tatenloses Grüblerdasein hinzuschleppen. Er war entartet -- gebrochen
-- »mit den Nerven zusammengebrochen« -- im günstigsten Fall ein
Kranker, dessen Heilung man abwarten mußte. Aber diese harten Männer
des Schaffens, des Bauens hatten nicht die Geduld, den Krankenwärter
zu spielen. Er mochte mit sich selber fertig werden -- oder man mußte
ihn fallen lassen. Es gab viele solcher dekadenten Sprößlinge in allzu
rasch aufgestiegenen Familien -- die ließ man laufen, und wenn sie's
gar zu toll trieben, ließ man sie entmündigen ... Wer sich nicht selber
zu helfen wußte, den mochte der Teufel holen.

Heinz durchschaute sie alle -- alle, seine nächsten, seine liebsten
Menschen. Er wußte, bei ihnen hatte er verspielt.

                   *       *       *       *       *

Ein Abend kam, der gab letzte Klarheit.

Die Generalversammlung der H. T. L. hatte stattgefunden, sie war aus
ganz Deutschland stark besucht worden. All diese gewichtigen Männer,
die Spitzen des Handels und der Industrie, hatten Auftriebsstimmung
mitgebracht. Das süße Gift des Bolschewismus schien seine Kraft
zu verlieren. Die heimgekehrten Krieger fingen an, sich wieder an
regelmäßige Arbeit zu gewöhnen. Die eingeborene deutsche Tüchtigkeit
bewährte sich -- man durfte hoffen. Unter dem Einfluß dieser
erwachenden Zuversicht waren die Pläne der Leitung mit einem Jubel
begrüßt worden. Die Fachleute der Linie berichteten voll Enthusiasmus
über die neuen Entwürfe der Werft. Alle Anträge der Direktion wurden
fast widerspruchslos angenommen. Das Präsidium wurde beauftragt, ohne
Verzug in Verhandlungen mit der Reichsleitung einzutreten, um sie zur
Bewilligung der Ersatzleistungen für den beschlagnahmten Schiffspark zu
veranlassen.

In strahlender Laune kam der Präsident mit Carstensen, welcher der
Generalversammlung beigewohnt und über den neuen Dampfertyp der Werft
persönlich berichtet hatte, zur Villa Freimann. Telephonisch hatten
sie Ilse bestellt -- sie traf wenige Minuten nach den Vätern ein. Frau
Johanna hatte ein Festmahl gezaubert.

Das Tischgespräch war ein einziger Triumph, atmete Hoffnung,
Schaffensdrang, Zukunftsglauben ... »Wir kommen wieder hoch!« Und der
heimliche Triumphator der Stunde war ein Abwesender: Bob Timmermanns
... Sogar Vater Carstensen, dessen Selbstgefühl in den letzten Jahren,
bei absinkender Kraft, ein wenig empfindlich geworden war, erkannte
heute neidlos an: Der Recke war die Seele der Werft, die tragende Kraft
der neuen Pläne.

»Und warum haben Sie ihn nicht mitgebracht?« fragte Johanna. »Heut
abend gehört er doch eigentlich dazu!«

»Das ist wahr!« brach Ilse aus. »Toll von uns, nicht, Vater? Aber das
läßt sich nachholen! Er ist ja Abend für Abend zu Haus und rechnet
über seinen Laderaumtabellen. Ich ruf' ihn an -- ohne Bob Timmermanns
geht's nicht!«

Schon war sie von dannen.

Heinz hatte stumm, unbeachtet, in sich verkrochen inmitten der lauten,
geschäftigen Lustigkeit gesessen. Nun erhob er sich und schlich hinaus,
lautlos, wie von hinnen geweht. Er vernahm, wie Ilse draußen am Apparat
im Tone fröhlich-stolzer Kameradschaft mit dem Mitarbeiter ihres Vaters
sprach, ihn mit schmeichelhaften Worten einlud, an dem improvisierten
Festschmaus teilzunehmen -- des Riesen Stimme knarrte vernehmlich durch
den Trichter in Ilses Lachen hinein. Da ging Heinz leise an der Braut
vorbei, die ihn gar nicht bemerkte -- und stieg zu seinem Zimmer hinan.
Ihm war, er hätte alles verloren -- Elternhaus und Liebe.

Den Plan der Trennung hatte sein Hirn schon längst gewälzt und in
dunklen Stunden in Form gebracht. Versinken -- verschwinden aus dem
Bezirk des Glanzes und Besitzes, in dem er geboren war -- untertauchen
in der fremden, der zweiten, der unbekannten Welt ... Vielleicht war
hier das Deutschland seiner Träume zu finden ... Und auch den Weg hatte
er längst übersonnen.

Aus seiner fernen Seekadettenzeit wußte er seine Matrosenuniform
noch in einer großen Truhe verstaut, die seine Jugendandenken barg.
Nun kramte er die abgestreifte Hülle einer früheren Schicksalsstufe
hervor und schlüpfte hinein. Seltsam, wie gut sie ihm noch paßte!
Gefangenschaft und Heimkehrgram hatten ihn abmagern lassen.

Er streifte Ilses Ring vom Finger, steckte ihn in einen Briefumschlag,
auf den er den Namen seiner Braut geschrieben. Das mochten sie finden,
wenn er fortgegangen war ...

Eine Sekunde lang wurde ihm bang und bitter zum Umsinken. Ilse -- --
ich habe dich geliebt -- geliebt als das Lichte und Klare in einem
dunklen, verworrenen Leben ...

Du aber suchst selber das Klare, das Einfach-Starke ... und hast's
gefunden. Bei einem anderen gefunden -- -- vorbei --

Ein Abschiedsblick auf die Umwelt seiner Jugend -- es war keine Wehmut
drin. Die Vergangenheit fiel von ihm ab wie eine Schlangenhaut --
abgestorben, schmerzlos.

Doch halt! Da stand ja der elegante, schwarzpolierte Kasten mit der
Stradivarius -- die konnte er freilich nicht mitnehmen in die andere
Welt ... Aber ohne Geige -- nein. Die war seines besten Wesens ein
Stück.

Und er fand in den Tiefen eines Schrankes das immerhin noch recht
kostbare Instrument, auf dem er einst die Anfangsgründe geübt hatte.
Nun noch eine letzte Vorsicht, die jedes Mißverständnis ausschließen,
seine Lieben vor unnützen Ängsten bewahren sollte. Ein paar Zeilen in
Hast auf ein abgerissenes Notizblatt gekritzelt:

»Lebt wohl, ihr Lieben, für eine Zeit des Suchens. Sorgt euch nicht um
mich, ich komme wieder. Um eines nur bitte ich, forscht mir nicht nach,
das würde mich nur in weitere Ferne verscheuchen.«

Sein Zimmer führte auf den großen Altan an der Hinterfront der Villa,
auf den Park und die Alsterseite. Er trat hinaus -- es goß in Strömen.
Schadet nichts. Ein Seemann ist wetterfest. Gewandter Klimmer, der
er war, schwang er sich mühelos, den Geigenkasten unterm Arm, übers
Geländer und abwärts in die regennassen Bosketts. Ein triefender
Nebelschwaden hing über dem nächtlichen Bilde seiner versinkenden
Heimatwelt. Fahl schimmerte die regungslose Fläche der träumenden
Alster -- nur wenige Lichter durchblinzelten wie tränentrübe Augen von
der fernen Uhlenhorst herüber das Gedünst ...

Elternhaus -- Liebe -- ade ...

Ich geh' das Deutschland meiner Träume suchen.




                             Zweites Buch




                                   1


Im +D+-Zug Berlin-Hamburg saßen die Freunde zusammen -- Georg
Freimann, Carstensen, Timmermanns. Ihre Herzen brannten vor Verstimmung
und Groll.

»Es war nicht gerade nötig, Freimann, daß Sie die Verhandlungen mit
einem Bekenntnis zur Republik eröffneten«, sagte der alte Carstensen.
»Dieser -- na, sagen wir mal Opportunismus wirkte wenig überzeugend --
gerade an Ihnen, der Sie, wie die Welt weiß, einmal ein Günstling, um
nicht zu sagen ein Freund des Kaisers waren -- und sich in der Sonne
der Allerhöchsten Gnade immer höchst behaglich gefühlt haben.«

»Wenn diese Worte eine Anzweiflung meines Charakters sein sollen,«
entgegnete Georg Freimann scharf, »dann sprechen Sie es bitte deutlich
aus -- damit ich genau weiß, wie ich mich hinfort zu Ihnen zu stellen
habe.«

»Sie sind immer ein großer Diplomat gewesen, lieber Freund«, sagte
der Greis behutsam. »Ich habe Ihre Elastizität stets bewundert.
Sie ist eine der wichtigsten Ursachen Ihrer Erfolge geworden. Aber
diesmal hat, meiner Beobachtung nach, Ihre Anpassungsfähigkeit Ihnen
einen Streich gespielt. Es kann Ihnen nicht entgangen sein, daß Ihre
politische Neueinstellung auf die Herren, mit denen wir verhandelten,
etwas verblüffend gewirkt hat. Ich brauche mich wohl nicht deutlicher
auszudrücken.«

»Nein -- das brauchen Sie nicht«, sagte Freimann eisig. »Über meine
Gesinnung zu urteilen, erlaube ich auch Ihnen nicht. Ich erkenne nur
mein Gewissen als Richter an. Und mein Gewissen -- das ist der Vorteil
der Linie. Heute wie je.«

»Frage nur, ob Sie dem gestern wirklich gedient haben -- dadurch, daß
Sie sich so beflissen auf den Boden der Tatsachen gestellt haben. Das
hat auf die Männer der Stunde keinesfalls überzeugend gewirkt. Das
Ergebnis zeigt's: Wir kriegen kein Geld. Und damit gut' Nacht, H.
T. L., gut' Nacht, Hammonia-Werft! Jetzt können wir beide die Bude
zumachen.«

»Dafür bedanken Sie sich lieber bei Ihrem Herrn Mitarbeiter!« Georg
Freimann warf dem stumm vor sich hinbrütenden Timmermanns einen
bitterbösen Blick zu ... »Es wäre noch alles gut abgegangen, wenn
dieser Gewaltmensch da nicht die Nerven verloren hätte -- und den
rötlichen Herren mit dem Vorwurf ins Gesicht gesprungen wäre, die
Republik scheine nur Geld für Schaffung neuer Ministerien und keins für
die nationalen Aufgaben zu haben ...«

»Kann sein, daß es geschadet hat«, erwiderte Bob Timmermanns mit
grimmiger Genugtuung. »Mich freut's, daß ich's ihnen gesagt hab'! Sie
werden's nicht hinter den Spiegel stecken.«

»Es war trotzdem eine Dummheit, Timmermanns«, sagte der Brotherr des
Getadelten. »Eine Dummheit, für die wir alle büßen müssen.«

Bob Timmermanns hatte eine scharfe Antwort auf der Zunge. Aber der alte
Herr hatte recht ...

Die drei Männer, deren Stellung zueinander eine Lebensfrage der
deutschen Schiffahrt bedeutete, verstummten in Bitterkeit und
Entfremdung. Aber zu stark war in ihnen allen dreien das Gefühl der
Verantwortung für das Schicksal der ihnen anvertrauten Unternehmungen,
der Tausende von Menschenleben, die unmittelbar von ihren Entschlüssen
abhingen -- des Vaterlandes, das Eintracht und Zusammenarbeit von allen
seinen Söhnen gebieterisch forderte -- und von den Führern am meisten.

Georg Freimann war wirklich von den dreien der Anpassungsfähigste.
Er war der erste, dem es gelang, Enttäuschung und Verärgerung
niederzuzwingen. Seit dem rätselhaften Verschwinden seines Sohnes, an
dem er sich selber einen Großteil der Schuld beimessen mußte, war er
ohnehin zu Milde und Nachsicht geneigter denn je zuvor.

»Carstensen,« sagte er, »das hat keinen Zweck. Wir dürfen uns jetzt
nicht entzweien -- wir dürfen nicht. Das wissen Sie so gut wie ich und
auch Timmermanns. Gesagt ist gesagt, geschehen ist geschehen. Also
Schluß damit. Wir müssen vorwärts. Was ist zu tun?«

»Ich weiß es nicht«, sagte der alte Carstensen mutlos. »Küstendampfer
von dreitausend Tonnen bauen -- und ab und zu mal einen neutralen
Auftrag größeren Umfangs ergattern -- dabei kann die Werft nicht
bestehen. Und auch abgesehen davon -- ich müßte danken. Liquidieren,
Freimann! Wenn ich nicht mehr schaffen darf -- Großes schaffen, wie
ich's gewohnt bin -- dann lieber Schluß!«

»Und unsere Arbeiter?!« warf Timmermanns dazwischen.

»Aha! Die Herren Arbeiter!« sagte Carstensen heftig. »Das verdammte
Kapital hat zwar nicht das Recht, den Arbeitern Vorschriften zu machen,
aber die Pflicht, ihnen Brot zu schaffen. Wie es das anfängt, das ist
seine Sache.«

»Jawohl,« sagte Timmermanns, »es ist seine Sache. Und darum hat der
Herr Präsident recht: was tun?«

Freimann hatte tief nachgesonnen. »Sie wissen, meine Herren, ich könnte
der Linie -- und vielleicht auch der Werft aus dem Schlamassel helfen,
wenn ich an Elias Patterson nach Neuyork telegraphierte, die H. T. L.
sei jetzt bereit, seinen Vorschlägen nachzukommen und ihre Aktiva
an den Patterson-Konzern zu verkaufen. Dann faßte die Blue-Star-Line
in Hamburg und damit in Deutschland Fuß, das Personal der H. T.
L. würde übernommen und hätte in Zukunft unter dem Sternenbanner
weiterzuarbeiten -- für die Hammonia-Werft fiele wohl doch im Laufe
der Zeit mancher Auftrag der Amerikaner ab -- und ich für meine Person
würde vielleicht als Subdirektor des Konzerns bis an mein Lebensende
weiter vegetieren dürfen ...«

»Entzückende Aussichten!« brummte Timmermanns. »Dann hätte der
Feindbund ja sein Ziel erreicht: die deutsche Schiffahrt als
europäischer Nebenbetrieb der angelsächsischen ... Die deutsche
Industrie wird den gleichen Weg gehen -- schließlich ist ganz
Deutschland nur noch eine Filiale der Entente, alle Deutschen
Lohnsklaven ihrer Feinde ... Es ist erreicht!!«

»Nein,« sagte Georg Freimann, »es ist nicht erreicht -- noch nicht
... Versuchen wir zunächst noch einmal bei den Banken unser Heil!
Der neue Dampfer muß auf die Helgen, muß ... Diese Gesellschaft, die
sich heute Reichsregierung nennt, wird abwirtschaften ... Wir werden
unsere Entschädigung bekommen, wenn nicht morgen, dann übermorgen ...
Solange müssen die Banken einspringen. Wollen sehen, ob nicht auch sie
begreifen, daß Schiffahrt not ist -- Leben aber nicht!«

In des Reeders Auge glühte der alte Hansentrotz. Die Freunde sahen's
mit stolzer Genugtuung. Des Sohnes Verschwinden -- es hatte dem zähen
Eroberer den Nacken nicht gebrochen, nein gesteift. Und da sprach
auch er selber schon den Gedanken aus, den die anderen hinter seiner
arbeitenden Stirn geahnt:

»Dieser Phantast, der einmal mein Sohn hieß, der soll nicht recht
behalten ... Nicht neue deutsche Menschen braucht's, die alten waren
ganz gut so, so wie sie waren ...«




                                   2


In der zugigen Schiffsbauhalle der Hammonia-Werft stand ein junger Mann
von etwa dreißig Jahren neben einem Vorarbeiter, der ihn anleitete.
Der Lehrer bemühte sich, dem Schüler das »Versenken« beizubringen.
Seltsamer Name für eine Arbeit, die nichts erforderte als eine sichere
Hand, ein aufmerksames Auge und etliche Gewissenhaftigkeit! Eine
Eisenplatte lag flach auf einem kniehohen Gerüst -- um ihre vier Ränder
zog sich eine Doppelreihe sauber eingestanzter Löcher. Sie waren für
die Niete bestimmt, welche die Platte an das stählerne Schiffsgerüst
anheften und damit zu einem Bestandteil der eisernen »Oberhaut« des
werdenden Fahrzeugs machen sollten. Diese Löcher bedurften noch einer
letzten Zurichtung durch Ausfräsen mit einem kegelförmig abgestumpften
Bohrer. Diesen zu führen, sollte der »Neue« lernen -- der heute morgen
vom Betriebsrat der Werft als »Ungelernter« eingestellt worden war.
Er hatte sich als Heimkehrer aus der russischen Kriegsgefangenschaft
angemeldet. Papiere besaß er nicht, die waren in die Hände der
Bolschewisten gefallen. Sein beschmutzter Matrosenanzug und seine
korrekten Antworten auf einige seemännische Fragen machten seine
Aussage glaubhaft, daß er mit +U+ 387, das während eines Vorstoßes
der Hochseeflotte in die Bucht von Ösel durch eine Wasserbombe
außer Gefecht gesetzt worden und in die Hände der russischen
Küstenverteidigung geraten war, in Gefangenschaft gekommen sei. Er hieß
Anders Niemann.

»Junge, du hest 'n Kopp!« lobte der Vorarbeiter, als der Lehrling seine
ersten Versuche gemacht hatte. »Du kümmst bald bi dei Utgeliehrten!«

Anders Niemann lächelte geschmeichelt.

»Büst all organisiert?« examinierte der Lehrmeister.

»Ick weur vor'n Krieg op'n Lann«, erklärte der Neue. »Doar hebbt
wi noch kein Organisatschon hatt ... Öwerst ick lat mi noch hüt
inschrieben ...«

»Dat's gaud,« lobte der Kollege, »süß weur ock dien's Bliewens hier
nich lang west.«

Noch eine halbe Stunde blieb der Vorarbeiter neben seinem Zögling
stehen, um dessen Arbeit zu überwachen -- dann klopfte er ihm derb auf
die Schulter.

»Du brukst kein'n Oppasser mehr -- mok man so wieder ...«

Und Anders Niemann »versenkte« stumm und angespannt arbeitend Nietloch
um Nietloch. War eine Platte fertig, so kam auch schon die nächste
angerollt. Das vollzog sich wie die Arbeit eines ungeheuren Triebwerks,
in dem auch die Menschen nur einzelne Stifte oder Radzähne waren.

In der Mittagspause folgte Anders Niemann dem Strom seiner neuen
Kameraden, der sich aus dem ganzen weithingestreckten Werftgelände,
in vieltausenden Rinnsalen zusammenfließend, zur Kantine ergoß.
Alles bewegte sich in hastigem Tempo, die Hungrigen und Flinksten
gar im Laufschritt. Man gab eine Marke ab, empfing einen Topf mit
Zusammengekochtem, suchte sich in der niederen Halle an den langen,
dichtumdrängten Tischen einen Platz und löffelte seinen Topf aus ...
Anders Niemann hatte einen Schauder zu überwinden. Alles andere war zu
ertragen ... die dumpfe Schlafstelle in der elenden Hafenkneipe drüben
am St. Pauli Fischmarkt -- man würde ja über kurz oder lang ein etwas
menschlicheres Quartier finden. Die Gesellschaft der neuen Kollegen --
der Dunst von frischem Schweiß und verschwitzter, verfilzter Wäsche,
von ungepflegter Körperlichkeit, kurzum so etwas wie der Geruch einer
fremden Rasse -- das kannte er schließlich von der engen Gemeinschaft
der Kaserne, von den Schlafkojen der Hochseeschiffe und des Tauchbootes
... Auf die Gespräche freute er sich ... um ihretwillen war er hier.
Aber wie diese Menschen aßen -- dies Schmatzen, Schlürfen, Schlingen --
daran mußte man sich erst gewöhnen ...

Immerhin -- Anders Niemann fühlte sich sehr wohl inmitten all
der knorrigen, derbknochigen, muskelstarken, in verschlissene,
schmutzstarrende, über und über geflickte Kleider gehüllten Gestalten,
in deren Mitte er, mit aufgestemmten Ellenbogen, wie sie, sein erstes
durch Handarbeit verdientes Mittagsmahl verzehrte. Und als der
Heißhunger gestillt war, kam eine Unterhaltung in Gang. Aber von ihrem
Inhalt war Anders ein wenig enttäuscht. Nichts Grundsätzliches -- keine
Ideen ... Lohnfragen -- nichts als Lohnfragen ... Er war zwischen
lauter ältere Genossen geraten ... Es sei ein Skandal, meinten die, daß
heutzutage der Ungelernte wie der Gelernte bezahlt werde ... Das sei
früher nicht gewesen, und das könne auch nicht bleiben. Und auch, daß
es jetzt keine Akkordarbeit mehr geben solle, das sei ein Unverstand
... Wenn man mit fleißiger Hand nicht mehr verdienen könne als mit
fauler, dann mache das ganze Arbeiten keinen Spaß. ... Anders Niemann
lauschte mit stummer Genugtuung. Die revolutionäre Überspannung des
Gleichheitsbegriffs schien bei den besonneneren Angehörigen der Klasse
schon ihre erste Werbekraft verloren zu haben.

Bald brannten die Zigaretten. Nun kamen die persönlichen Fragen. Anders
Niemann freute sich seiner Beherrschung des Plattdeutschen, das er
seiner Vertrautheit mit der Mannschaft verdankte. Niemand kam auf den
Einfall, der junge hübsche Kerl mit dem kahlgeschorenen »Stiftekopp«
und dem ersten Stoppelflaum eines sprossenden Bärtchens auf der
Oberlippe könne etwas anderes sein als ein waschechter Genosse ...

In bedeutend langsamerem Tempo als der Hinmarsch zur Futterstelle
wurde der Rückmarsch zur Arbeitsstätte angetreten. Und Anders Niemann
»versenkte« weiter seine Nietlöcher. Immer die gleiche Bewegung, das
gleiche Tasten mit dem schnurrenden Bohrer, bis er richtig über der
Mitte des Loches saß ... Dann eine Senkung, die rasenden Feilzähne
packten zu -- rrrr -- das Loch war fertig ... weiter, weiter ... Das
Hirn verblödete, die Augen schmerzten, alle Glieder brannten, bis
endlich die Sirene Feierabend gebot ... Dann trottete Anders Niemann
im Schwarm seiner Arbeitskollegen zur Werft hinaus, überquerte in der
vollgepfropften Dampffähre den gärenden Elbstrom und schlenderte nun
der Reeperbahn zu, um eine Abendunterhaltung im Stil seiner neuen
Lebensführung aufzusuchen. Und alsbald war er untergetaucht in einem
Schwall von Menschen, die in ihren Kleidern den Dunst der Arbeit mit
sich trugen, in ihren Gesichtern die Abspannung eines Tagewerks, das
ihnen nichts als freudlos ertragene Fron bedeutete ... eines Daseins,
aus dem sie nichts zu machen, dem sie keinen Sinn, kein Ziel zu geben
gewußt hatten ... Wie das dahinflutete, ruhelos, hoffnungslos, lechzend
nach einem Augenblick der Entspannung, nach Genüssen, roh und leer wie
ihre Mienen ... Ein grenzenloses Mitleid schwoll in Anders Niemanns
Herzen. Wie arm waren diese Menschen ... Oh, sie waren nicht hungrig
-- sie waren satt, sie konnten sich noch satt essen, während unzählige
Geistige schon darben gelernt hatten ... Sie waren Masse und hatten
es verstanden, als Masse aufzutrumpfen und manches zu erzwingen, was
die Angehörigen höhergestellter Berufe längst entbehren mußten ... Und
dennoch waren sie arm. Sie hatten nicht verstanden, nicht gelernt,
ihr Leben mit Stolz und Auftrieb zu füllen ... Würde man ihnen helfen
können --?!

»Heute gr. Ball!« Anders war in einen Schwall von Pärchen geraten,
der dem grell durch eine Bogenlampe erleuchteten Eingang eines
Tanzlokals zustrebte und sich einsaugen ließ wie ein Schwarm
Nachtschmetterlinge in einen Exhaustor. Drinnen eine Luft zum Schneiden
-- rote Papiergirlanden, rote Fähnchen an den Wänden -- am Klavier
ein abgeschabter Klimpergreis, neben ihm ein hagerer, langhaariger
Jüngling mit der Geige -- zu ihrem blöden Walzergedudel im enggekeilten
Tanzgewirr sich drehend Paar um Paar -- die Söhne und Töchter der
»andern Welt«.

Anders Niemann bestellte sich ein Glas Bier in einen Winkel und
beobachtete. Ihm ging's zunächst wie einst bei seinen Rekruten. Es
schien, als seien das alles dieselben Menschen, derselbe eine Mensch in
ein paar hundert fabrikmäßig hergestellten Exemplaren, nur jedes ein
bißchen anders angemalt und ausstaffiert ... Die Burschen gutmütig,
sinnenhungrig, zu handgreiflicher Gewalt so rasch bereit wie zu
schneller Brüderschaft ... Die Mädchen putzfroh, verliebt, lechzend
nach derber Zärtlichkeit, leichtgläubig und gleich schnell zum Lachen
und Weinen zu bringen ... Allmählich schälte sich dann doch eine ganze
Welt von Typen heraus -- und aus dem Gewühl hob sich gar die eine oder
andere Einzelpersönlichkeit von eigener Prägung.

Ein Strammer namentlich fesselte den versteckten Beobachter. Er
schwitzte und schäumte förmlich Lebenskraft und Lebensgier. Die Mädchen
rissen sich um seine Gunst, klebten an seiner breiten Brust wie Fliegen
am Leimpapier. Aber er schien zu keiner zu gehören -- nachlässig langte
er sich Dirn um Dirn zum Tanz, sprach zu der schmachtenden Partnerin
von oben herab, schob, wenn das Gewoge verebbte, die sehnsüchtig auf
Gespräch und Einladung harrende wie ein lästiges Bündel von sich. Dabei
brannte in seinen Augen ein Feuer, das ihn selber auszudörren schien.
Er löschte es, indem er nach jeder Runde einen Schnaps hinunterkippte
... Eine schöne, wilde, gefährliche Bestie ...

Der Mordskerl, dem die Weiblein sehnsüchtig zuschmachteten, schien
unter den Männern viel Bekannte zu haben. Von allen Seiten trank man
ihm zu, hielt ihm das Henkelglas hin:

»Suup, Tedje, suup! Büst lang naug bi Woter un Brot in't Bargwark
fohrt!«

Aber nur mit einem der Kollegen hielt der Stramme Kameradschaft --
einem Stillen, Seltsamen, der für Anders Niemanns Gefühl ganz aus dem
Rahmen fiel. Blondes Schlichthaar war senkrecht zurückgestrichen von
einer vierkantigen Träumerstirn, unter der ein Paar blaue Kinderaugen
standen. Die Nase bäurisch grob, der Mund schmal und schwärmerisch, das
Kinn breit ausladend und kantig wie der Schädel -- ein merkwürdiger,
unvergeßlicher Kopf.

In einer Pause bemerkte er, wie der Starke auf den wunderlichen Freund
einsprach -- der wehrte ab, aber wie einer, der sich gern nötigen
lassen möchte. Und rundum wurden Stimmen laut:

»Clos Mönkebüll! Du sast uns 'ne Red' hollen! 'ne Red' van de niege
Tied!«

Und endlich stand der Allbegehrte auf. Sein strammer Gefährte hob ihn
wie eine Puppe auf den Tisch -- alles drängte herzu, der Tanzbums wurde
zur Volksversammlung.

»Kam'raden -- Genossen -- Brüder!« hob der Hagere mit leuchtendem
Antlitz an: »Wer von uns fühlt dat nich, dat wir am Anfang stehn von
eine neue Minschheit, von eine bessere, reinere Zeit?! Wir alle, was
wir ältere Jungs sind, wo vor dem großen Massenmorden schon in der
Arbeit gestanden sind, wir wissen es alle, daß wir damals wie in eine
Stickluft gelebt haben und geschafft mit unsre schwielige, rissige
Fäuste. Unsere Arbeit war der Fluch von unser ganzes Leben, wir waren
angefüllt bis zum Bersten mit Haß -- mit dem roten, glühentigen Haß --
gegen den Staat, der nur für die Großen und Mächtigen inricht' wor, un
vör uns arme Schindluder nix öwerig harr as Schinnerei un Invalidität.
Un dorbi war in unsre Herzen ganz tief, tief innen eine große
Sehnsucht, ein großes Heimweh nach eine bessere, schönere Welt ... und
denn hebbt wi Johr üm Johr doar buten in Slamm un Füer liggen müßt un
unsre Brüder drüben in' annern Graben kaputschießen oder uns von sie
kaputschießen lassen ... do hebbt wi Tied naug hatt tau'n Simmelieren
-- doar sünd wi all erweckt worden un hebbt begrepen, dat wi uns blot
sülben helpen künnen ... Un dorüm hebbt wi Sluß mokt un hebbt uns
hulpen un hebbt dei Throns umstött ... Un nu is dat Volk Herr im eignen
Hus ... Aber noch ragt in unsrer Mitte eine mächtige Burg! Doar sitten
sei noch jümmers drin, dei Gewaltigen von't Kapital ... Diese letzte
Zwingburg möt wi noch stürmen un breken, ut düsse letzte Stellung möt
wi den Feind der Minschheit noch rutsmieten, doarmit dat dei grote
Gottesfräden von Brüderlichkeit öber dei Welt kümmt, dat wi all den'n
glieken Andeil an dei irdischen un an dei ewigen Göder bekamen -- dat
dat nich mehr Utpowerer gift un Utpowerte, kein Herren mehr un kein
Sklaven, nix als freie, schöne, glückliche Menschen un Gotteskinner
... dat is dei niege Heilslehr', dei von Moskau utgahn is in alle Welt
... In ehrem Deinst hebbt wi de ierste dütsche Revolutschon mokt -- un
in ehrem Deinste wüllt wi bald dei tweite moken -- un nach dem Götzen
Monarchismus auch den Götzen Kapitalismus in den Abgrund stürzen ... In
diesem Sinne, Genossen un Genossinnen: Es lebe die Weltrevolutschon!!«
-- --

Andächtiger als eine Prozession von Wallfahrern der Predigt unterm
Gnadenbilde, hingerissener, gläubiger hatten diese jungen Männer und
Mädchen dem Propheten aus ihrer eigenen Mitte gelauscht. Nun brach
ein Jubel aus, der die niedere Halle sprengen wollte. Der Redner ward
von nervigen Armen emporgehoben, hinter ihm formte sich ein Zug, der
immer und immer wieder die Runde um den Tanzboden machte. Auch Anders
Niemann ward in den Strudel gerissen. Irgend etwas in ihm jauchzte,
irgend etwas schluchzte ... Er fühlte die Echtheit und Tiefe der
Sehnsucht, die in all diesen jungen, vom Leben, von ihrem eintönig
herben Arbeitsleben wie von den stumpfen, seelenlosen Genüssen ihrer
Ruhestunden ungesättigten Menschen schwelte -- nach etwas, dem sie
selber keinen Namen zu geben wußten ... nach etwas, das vielleicht
unerreichbar war, weil erst die ganze Weltordnung hätte umgebaut werden
müssen ... diese fürchterliche neue Weltordnung des 19. Jahrhunderts,
die aus der Welt Goethes und -- na, meinetwegen auch Napoleons, die
Welt der Massenarbeit und des Massenmordes gemacht hatte -- die Welt
der Maschine, das scheußliche Zerrbild der Schöpfung Gottes ...

Aus der Menge, die hinter dem redemächtigen Burschen wie hinter einem
Triumphator drein tobte, rang ein Lied sich los:

  »Wir bluteten vier Jahr'
  in Schlamm und Glut und Graus
  für Krone, Thron, Altar --
  nun ist die Knechtschaft aus!

  Was hoch und stolz, das fällt
  im Sturm der neuen Zeit,
  nun bringen wir der Welt
  die rote Seligkeit!«

Und bei den ersten Klängen des Liedes geschah etwas Seltsames. Der
gefeierte Redner sprang von den Schultern derer, die ihn erhöht hatten,
und kämpfte sich bis zum Klavierpodium durch. Er schob den verhungerten
Musikmacher vom Drehstuhl und schlug mit geübter Hand, in machtvollen
Akkorden, die Tasten. Wie die Harfenarpeggien eines Rhapsoden rauschten
seine Modulationen daher -- von ihnen umrankt, schwang die neue Weise
wie ein Sturmgesang durch den dumpfen, schweiß- und tabakdunstigen
Raum, und taktfest dröhnte in ihren Rhythmus das Stampfen der
nägelbeschlagenen Schuhe, das Händeklatschen der Mädchen ... Es schien,
als wolle das Lied die Welt aus den Angeln heben -- diese Greuelwelt
des Apparates, der Macht, Allmacht gewonnen über den Menschen ...

Und als das Lied zu Ende war, als der Zug sich auflöste, alles den
Plätzen, dem Schenktisch zustrebte, um die jählings entfachte Glut zu
löschen -- da blieb der Redner und Klaviervirtuos im zerschlissenen
Soldatenrock am Klavier sitzen -- und immer noch glitten seine Finger
über die Tasten ... aber nicht stürmisch und zerschmetternd mehr
erklangen die Weisen, die er dem abgeklapperten Instrument abzwang
... sie wurden immer munterer, lichter, freudiger ... Und Anders
Niemann glaubte seinen Ohren nicht trauen zu dürfen -- sie gingen in
eine Melodie über, die er kannte -- eine Tanzweise ... aber nicht der
übliche Gassenhauer aus der letzten Modeoperette -- es war Webers
»Aufforderung zum Tanz«.

Da zog es den Neuling der Schiffsbauhalle mit geheimer Magie zum
Instrument. Wortlos nahm er dem langmähnigen Geigenjüngling die Violine
aus der Hand, klemmte sie unters Kinn -- und übernahm die Oberstimme
... Der Feldgraue am Klavier sah nur einen Augenblick mit frohem
Staunen zu dem unerwarteten Kumpan am Klavier auf, dann versank er nur
noch tiefer in das perlende Gewoge des unvergänglichen Tanzliedes.
Und durch den Saal, den eben der trunkenmachende Päan von der roten
Seligkeit durchbrandet hatte, schwebte nun wie ein Gruß aus der
fernen Welt der Schönheit und Grazie die holdselige Walzerweise des
Freischützsängers.

Und schau! Die jungen Kerls und Deerns, die sich eben, ein rasender
Haufe Weltenstürmer, hinter dem roten Fanal des berauschenden Liedes
geballt, fanden sich nun Paar zu Paar, umschlangen einander und walzten
durch den Saal, nicht brünstig aneinander geklemmt wie vordem beim
lüsternen Schmalzgedudel der dirnenhaften Foxtrottseufzer, sondern
gelöst, beschwingt, durcheinandergewirbelt von der kecken Heiterkeit
eines naturverbundenen Genius.




                                   3


Die Verhandlungen mit den Banken wollten nicht vorwärts. Georg
Freimanns Zuversicht geriet ins Wanken. Er hatte, dem Auftrage der
Generalversammlung entsprechend, den Vertrag über die Lieferung eines
Doppelschrauben-Turbinendampfers für Fracht- und Passagierbeförderung
von siebenundzwanzigtausend Tonnen nach den Entwürfen der
Hammonia-Werft unterzeichnet, und schon begann auf der größten
Helling das Grundgerüst des Doppelbodens sich aufzubauen. Aber die
Geldbeschaffung machte ernste Schwierigkeiten und drohte völlig ins
Stocken zu geraten. Die Banken verlangten Garantien.

Ein abermaliger Versuch bei der Reichsleitung in Berlin schien nicht
ratsam. Die hatte Wichtigeres zu tun, diesmal im Ernst Wichtigeres. Die
Friedensverhandlungen in Versailles hielten sie in Atem.

In den Sitzungen des Direktoriums der Linie hüben wie in den
Besprechungen der Werftleitung drüben flatterten die Gedanken der
Verantwortlichen immer halb scheu, halb hoffnungsvoll um den einen
Namen, den jeder auf der Lippe hatte, jeder auszusprechen sich scheute.
Es war grauenhaft zu denken, daß dies stolze Deutschland, daß diese
deutsche Handelsschiffahrt, die einmal die zweite Stelle in der Welt
eingenommen hatte, nun nirgendwo anders das Heil erhoffen konnte als
bei dem großen Feinde, dessen Eingreifen den Krieg wider die Welt zu
Deutschlands Ungunsten entschieden hatte. Der Dollar hatte begonnen,
seinen Siegeszug um den Erdball anzutreten.

Und eben von da drüben hatte eine Hand sich ausgestreckt, eine einzige
Hand -- nicht um zu helfen zwar, sondern um auch das Letzte noch zu
nehmen, das der größten deutschen Schiffahrtslinie von einstiger
Machtüberfülle noch geblieben war. Aber hinter dieser Hand stand
immerhin ein Menschenantlitz -- nicht eine Larve des Hasses und
Vernichtungswillens ... Wie, wenn es gelänge, in dem Hirn, das dieses
Antlitz, diese Hand regierte, etwas wie ein menschliches Verständnis,
eine kluge Achtung zu erwecken für den zähen Lebenswillen, den
unausrottbaren Hansengeist, der den Verzweiflungskampf der Linie, der
Werft befeuerte?!

Das war die letzte Hoffnung, welche die harten Ringer diesseits
und jenseits der Norderelbe noch aufrecht hielt, in den endlosen
Besprechungen und Sitzungen, die der brennenden Frage der
Geldbeschaffung galten. Denn schon waren die Banken so schwierig
geworden, daß vorübergehend eine Stockung eintrat. Die Löhne konnten
nur noch mit größter Mühe pünktlich bezahlt werden. Und damit kam aufs
neue die Unruhe unter die Tausende von Angestellten, in den Kontoren
wie auf der Werft. Was fragten diese Tausende nach den Schwierigkeiten
der Leitung?! Sie verlangten an jedem Zahltag ihren Lohn -- und bekamen
sie den nicht pünktlich und richtig, so waren sie schnell bei der Hand
mit unseligen, sinnlosen Taten der Mißhandlung und Sabotage.

Mit solchen Sorgen zerquälten die Leiter aller großen Betriebe
Hamburgs ihre Tage und Nächte in den furchtbaren Sommermonaten des
ersten Jahres nach dem Verstummen der Geschütze. Aber zu solchen
Beklemmungen hatten Georg Freimann und sein Freund Detlev Carstensen
noch einen bitteren Herzenskummer zu tragen. Von dem jungen Manne, der
einmal die Lebenshoffnung dieser beiden Väter gewesen, war seit jenem
regentriefenden Aprilabend, der seine Spur verschlungen und verwischt
hatte, nicht die leiseste Kunde mehr gekommen.

Ein anderer freilich war über dies Verschwinden höchst erfreut gewesen.
Aber gerade der mußte erfahren, daß seine Hoffnungen enttäuscht wurden.

Im dienstlichen Verkehr hatte Bob Timmermanns täglich Gelegenheit,
mit der Tochter seines Chefs in Berührung zu kommen. Er war der Mann,
diesen Vorteil auszunutzen. Er zeigte sich von seiner besten Seite.
Seine Unverwüstlichkeit durchdrang den ganzen Riesenapparat der Werft,
befeuerte das Tempo der Arbeit, rann wie ein belebender Strom durch
Kontore und Bauhallen, in die Docks und Helgen und ließ nirgendwo
Erschlaffung, Unruhe, Unsicherheit aufkommen.

Ilse Carstensen wäre keine Frau gewesen, hätte sie nicht herausgefühlt,
daß solche Leistungen eines Starken noch aus einer anderen Quelle
ihre Unversieglichkeit schöpften als nur aus Pflichtbewußtsein,
Schaffensdrang und Vaterlandsliebe. Bob Timmermanns besaß nicht die
Kunst der Verstellung, des Abwartenkönnens. Das mächtige Gefühl, das
seinen mächtigen Willen durchfieberte, verlangte nach Entladung,
drängte nach Erwiderung.

Es gab Stunden, in denen Ilse der ungeheuren Energie dieser stummen
Werbung, mit der Bob Timmermanns sie umgab, zu erliegen meinte. Das
Gefühl der Wesensverschiedenheit, mit dem sie anfangs die überlaute,
überderbe Art des Riesen abgelehnt, war längst überrannt. Der
Werkmeistersohn war für die Patrizierin in die gleiche Ebene des
Menschentums emporgestiegen.

Wäre Heinz geblieben -- hätte die Braut täglich Gelegenheit gehabt, an
der Stärke des Werbers die Schwäche und Verworrenheit des Verlobten
zu messen -- vielleicht hätte die Kraft gesiegt. Aber der Schwache,
der Komplizierte, der Problematische war fort. Und knirschend erkannte
Bob Timmermanns, was Heinz Freimann, wie Bob ihn zu kennen glaubte, in
naivem Versagen getan -- es war das klügste, was er hätte tun können.
Die Ferne, das Geheimnis waren stärkere Mächte als die Gegenwart, die
Eindeutigkeit ...

Untersinkend hatte der Entrückte im Herzen seines Mädchens, das
immer noch den Ring des Verlobten am Finger und jenen, den er ihr
zurückgelassen, auf dem Busen trug, einen Anker versenkt, der fester
hielt als einst das Treuegelöbnis, die Angst um den Kämpfer, den
Gefangenen, die Seligkeit des Wiederfindens. Ilse wand sich in
Reuequal. Gewiß: wenn Ilse dem Verlobten hatte merken lassen, wie sehr
der Ingenieur ihr imponierte -- so war das nicht ganz ohne einen Hauch
von koketter Bosheit geschehen ... Er hatte es merken sollen -- hatte
es gemerkt. Und darum war er still gegangen -- darum ... So mächtig ist
in der Frau das Allgefühl ihrer Liebe: sie will es nicht wahrhaben,
daß der Geliebte auch noch anderen Einwirkungen unterliegt -- was ihm
geschieht, was er leidet und handelt -- ihre Liebe wähnt sich selber
die einzige Triebfeder der Leiden, der Entschlüsse, der Schicksale des
Mannes, dem sie sich verbunden weiß ...

Das Verhalten seiner Mutter mußte sie in dem Glauben bestärken, sie
allein habe ihn vertrieben. Wohl hatte Frau Johanna selber den Sohn
in seiner Not ohne Mutterhilfe gelassen -- hatte in der plötzlichen
Erkenntnis ihrer Schuld gegenüber ihrem Gatten den Seelenkampf,
die tiefe Verlassenheit ihres Sohnes übersehen ... Aber das hatte
sie längst vergessen. Sie gab es der Schwiegertochter rückhaltlos
zu verstehen: ihre Tändelei mit Timmermanns habe Heinz von hinnen
getrieben ... Ja, selbst ihren Vater hatte Ilse im Verdacht, er denke
das gleiche ... Diese Auffassung, so schmerzlich und drückend sie für
Ilses Gewissen war -- barg sie nicht auch eine ungeheure Schmeichelei?
Eine verführerisch hohe Meinung von ihrem eigenen Wert? Es ist süß,
wähnen zu dürfen, daß man für den geliebten Menschen das Schicksal
bedeutet -- das ganze, das alleinige Schicksal ...

Schließlich: welcher andere Beweggrund für Heinzens Flucht war
erkennbar, war überhaupt denkbar?! In den kurzen Stunden des
Beisammenseins -- ehe das große Mißverstehen kam -- waren die Seelen
einander noch viel zu wenig nahegekommen, als daß Ilse eine Ahnung von
den verwickelten Vorgängen hätte haben können, die Heinz von hinne
getrieben -- als daß sie hätte ahnen können, ihre betonte Abkehr von
ihrem Verlobten sei nicht die einzige, ja nicht einmal die tiefste
Ursache seiner Flucht gewesen -- höchstens der äußere, fast zufällige
Anstoß ...

Einerlei: der schmerzlich-süße Wahn, der Ilses Gewissen belastete, wob
ein festeres Band um sie und das Bild des Geflohenen als dereinst seine
Gegenwart ...

Bob Timmermanns fühlte das. Zu einfach, zu leicht verständlich war
dieser Zusammenhang. Und mit seinem ganzen Berserkergrimm haßte der
Sehnsüchtige den Entflohenen, der aus unbekannter Ferne mehr Macht über
das Wesen seiner Verlobten übte denn jemals durch seine Gegenwart.




                                   4


Anders Niemann hatte das erhoffte Quartier gefunden. Clas Mönkebüll,
sein Partner am Klavier, und dessen strammer Freund Tedje Tietgens
hatten den neuen Kollegen mit heimgenommen. Und mit dem Sohne des
Hauses teilte nun auch der »Neue« das Zimmer, in dem einstmals die
drei Brüder Tietgens gehaust hatten -- -- von denen zwei in Frankreich
verscharrt lagen.

Anders Niemann war den beiden Alten bald ein lieber Hausgenosse
geworden. Nicht nur, daß er und der blonde Holsteiner allabendlich mit
ihrer Musikmacherei ganz neue Freuden in das schlichte Arbeiterheim
gebracht hatten -- es schwatzte sich so gut mit ihm ... Vater Tietgens
taute auf. Er hatte einen Gesinnungsgenossen gefunden. Seinen Sohn
hatte er längst aufgegeben -- das war ein hoffnungsloser Radikaler --
Kunststück, wenn man keinen Abend nüchtern nach Hause kommt -- -- auf
dem Schnapssumpf blühte die Giftblume des Spartakismus am üppigsten --
das hatte Vater Tietgens längst heraus. Schwieriger war's zu verstehen,
daß auch der scheue, schwere Clas ein so hitziger Moskowiter geworden
war.

Anders Niemann glaubte beide genügend zu verstehen, um sie dem Alten
begreiflich machen zu können.

»Vadder,« sagte er, »wat Ehr Tedje is, dei is ganz vullsagen mit Haß --
dorüm will hei alles kaputsloh'n, wo hei nich an kann. Clos is anners!
-- Clos hett tau väl Leiw ... Alle Minschen möchte hei glücklich moken
... Dorüm kann hei't nich mit anseihen, dat weck in Öberfluß sick
mästen -- un weck nich dat dröge Brot hebbt ...«

»Kannst recht hebben, Jung«, sagte der Alte. »Wo hest du blot all dei
Wür her?! Denken kann'k ok so'n Soken -- Öwerst wenn ick dat utspreken
will, dann finn' ick dat nicht tausam'n ...«

Vorsicht! dachte Anders Niemann. Und er bemühte sich, seine Gedanken
ein wenig einfacher zu fassen ...

Immer wieder versuchte er von den Menschen seiner neuen Umgebung zu
erfahren, was der innerste Grund ihrer maßlosen Verbitterung sei. Vater
Tietgens gab zu, es sei dem deutschen Arbeiter vor dem Kriege nicht
schlecht gegangen, die »Verelendungstheorie« habe nicht mehr gestimmt
... Auch die soziale Gesetzgebung erkannte er als einen großen Segen
für die Arbeiterschaft an. Nicht minder war es ihm klar, daß eine
Verteilung der Güter der wenigen Reichen unter die zahllosen Armen
keinem helfen würde -- daß aber der Luxus der Großen vielen Kleinen
Brot und Nahrung gebe.

Er selber, der Alte, stand seit Jahren in der Politik und empfand vor
allem als Politiker. »Unse Klasse hat die mehrsten Minschen -- und
deiht die mehrste Arbet -- da mutt se ok die mehrste politische Rechte
hebben ... Wenn dat Volk tau seggen hatt harr', denn harrn wi den'n
Schietkrieg nich kregen, odder hei weur nah en halv Johr tau Enn' west
...«

Das war ein Urteil, dem Anders auch im Munde seiner Arbeitskollegen
immer wieder begegnete ... Man war zu lange festgehalten worden im
Blutsumpf ... Und derweil hatten daheim die Schieber oben und die
fünfzehnjährigen Rotzbengels unten sich Bäuche und Taschen gefüllt.

»Do sünd dei Kapitalisten an schuld ... un dei Generals in dei Etapp'
... nich blot in Dütschland, ok bi'n Engelsmann un bi'n Franzmann
... Dei hebbt dei Völker nich tauso'm finnen loten ... dei hebbt dei
Verbrüderung hinnert ... Und dorüm möt dat Proletariat miehr Macht
kriegen. -- Nich alle Macht, as dei Spartakisten und dei Bolschewisten
willen -- öwerst miehr Macht, grote Macht ... Denn giwwt dat kein'n
Krieg miehr, denn kümmt dei internationale Solidarität von't
Proletariat! Vadderland? Ick haust op dat Vadderland! -- Vadderland,
so seggen dei Utpowerer, wenn sei den lütten Mann dat Fell öwere Ohren
trecken!«

Ja -- das war es: Dieser alte Mann, der so ganz deutsch lebte, dachte,
handelte -- er fühlte nicht deutsch. Man hatte es ihn nicht gelehrt ...
und das wenige an vaterländischem Gefühl, das Schule, Kasernenhof und
Heimatluft in ihm vielleicht doch geweckt, das hatte er sich aus dem
Herzen wieder herausschwatzen lassen. Und es hätte wenig Zweck gehabt,
würde Anders den Versuch gemacht haben, dem Alten von dem Deutschland
seiner Träume zu erzählen. Es galt, nicht aus der Rolle zu fallen.

Immerhin, mit dem Alten war gut schwatzen. Schlimm war's, wenn Tedje
der Dritte im Bunde war. Der schlug immer auf den Tisch:

»Vadder -- du büst nich in Rußland west -- du kanns goar nich
mitsnacken! Dei Russen hebbt uns wiest, wo't mokt warden mutt! Ick segg
jug, wenn een' dit mit anseih'n hett, wo sei dat Burschoapack tau
foftig un hunnert an de Muur'n stellt hebbt -- un denn eenmol mit'n
Maschinengewehr dröwer hen, dat se ümpurzelten as Bliesoldoten -- da
giwwt Luft vör't Volk!«

»So -- un wer mokt nu de Plän' vör dei Scheep un Dampers?« fragte der
Alte bedachtsam.

»Na -- de Inschineure --!« lachte Tedje. »Dei hebbt sei leben loten!
Dei Inschineure, dei geheuren ok tau't arbeitende Volk ... Dat sünd
Kopparbeiters, weißt du ... Öwerst dei kriegen nu nich dat Hunnertfache
mehr as dei Handlanger un dei Nieters --!«

»Dei Frag' is blot, ob sei denn ok noch so gode Plän' moken köhnt
--« warf Anders behutsam dazwischen. »Kopparbeit is wat anners as
Handarbeit. En Kopparbeiter mutt anners lewen können as'n Handarbeiter
... dei brukt Bäuker -- dei mutt reisen können un sich furtbilden ...«

»Wat du nich all weißt!« knurrte Tedje. »Du büst jo en ganzen Klauken,
du! Öwer dit 's egol ... 'n goden Kierl büst du doch! Kumm, mien Jung,
will'n ein'n drinken -- un denn säukt wie uns en säute Deern un gohn
mit ehr slapen -- kumm, mien Jung!«

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür -- und eine junge Dame trat
ein -- »Gu'n Abend, Vadder -- gu'n Abend, Tedje ... ah, Besäuk?«

Plötzlich verstummte sie -- und starrte den neuen Schlafburschen an wie
ein Gespenst. Und Anders Niemann saß da wie behext ...

Aber schnell hatte Antje sich gefaßt. Sie ging auf den neuen
Hausgenossen der Eltern zu und streckte ihm die Hand hin:

»Entschülligen S' man -- ick harr all dacht, Sei wieren en Bekannten --
Ick bün Antje.«

»Un dit is Anders Niemann,« lachte Tedje, der bei dem seltsamen
Stutzen der Schwester und des Kollegen, wie auch der Vater, zuerst
verblüfft und argwöhnisch dreingeschaut hatte -- »kiek di'n man gaud
an, mien Deern, dat 's 'n fixen Jungen -- en Nieter von de Werft! Un he
wahnt bi Muddern -- un Viegelin spält hei noch'n beten beter as Clos
Mönkebüll Klovier -- dat is nu 's Abens bi Mudder Tietgens dat reine
Künstlerkonzert ...«

Auch Anders hatte sich rasch gefaßt. Er brachte einen wundervoll
linkischen Kratzfuß zustande und stotterte:

»Djä, Fräulein -- dat's jo scheun ... ick harr gor nicht dacht, dat in
de Uhlentwiet so wat Nüdliches wass'n künn ...«

»Dat gleuw ick di, Jung!« griente Tedje behaglich. »Dat is ok mien
Swester ... Wat ick as Jung bün, dat is sei as Deern ... Nich, Mudder?
Grod ut dien Gesicht sneden, donn as du noch jung weurst ...«

Das welke Mutterchen, das stumm und wesenlos in der Ecke hockte und
sich nur zu regen pflegte, wenn es die Mannsleut zu betreuen galt,
lächelte schweigend über sein ganzes, in tausend Fältchen zerknittertes
Gesichtchen.

Und schon saß Antje mit den Männern am Tisch. Bald ward die Runde
vollzählig -- denn auch Clas Mönkebüll, dessen Gutmütigkeit von Mudder
täglich zum Einholen angestellt wurde, kam mit einem Henkelkorb voll
Bierflaschen, Brot und Wurst unterm Arm. Bald kaute alles aus vollen
Backen, lustig flatterte das Gespräch um den Tisch.

Nur ab und zu warf Antje einen heimlichen Blick zu dem Flüchtling der
Villa Freimann hinüber. Sie wußte längst, daß der Sohn ihres Chefs
seit ein paar Tagen spurlos verschwunden war. Aber dies Wiedersehen --
einstweilen überstieg es ihre Fassungskraft. Die Zeit war so kraus, so
abenteuerlich, so vergiftet von Argwohn und Schurkerei -- eine Sekunde
lang schoß ihr der Gedanke: Spitzel? durch den Kopf. Kaum gedacht,
schon verworfen. Diese schwermütigen, innerlichen Züge hehlten nicht
Verrat. Ihr Geheimnis lag tiefer, verschleierter.

Nicht minder unauffällig, nicht minder eifrig beobachtete der »Neue
von der Werft« die Tochter seines Quartiergebers. Ihre Ähnlichkeit
mit Tedje war auffallend -- freilich nur im Gesicht. Die schlanke
Figur mochte sie von der jetzt ganz verbrauchten und verwitterten
Mutter haben. Ein Vergnügen, wie sie mit ihren Lieben verkehrte ...
Sie sprang, um dem Vater Pantoffeln und Pfeife zu holen -- ging der
Mutter beim Abdecken und Spülen zur Hand -- und mit dem rauhen Bruder
stand sie auf einem Fuße derber, oft handgreiflicher Neckerei, die aus
dem schlimmen Tedje ganz ungeahnterweise einen täppisch-vergnügten,
kindlich-gutmütigen Buben herausschauen ließ ... In die Schwester
war er offenbar so verliebt, wie ein sinnlich veranlagter, doch
kerngesunder Bursch in eine bildhübsche Schwester eben verliebt sein
darf. Antje vergalt ihm mit einer harmlos lustigen Kameradschaft,
durch die eine halb mütterlich sorgende, halb überlegen-erzieherische
Zärtlichkeit anmutig hindurchschimmerte ...

Aber Clas Mönkebüll?! Er warf kaum einmal ein schwerfällig
hingestammeltes Wort in das neckische Geschwätz hinein. Er saß mit
aufgestemmten Armen stumm und andachtsvoll dem Mädchen gegenüber --
seine wasserblauen Augen unter der kantigen Stirn folgten jeder ihrer
Bewegungen, sein schmaler Mund über dem breiten Kinn belächelte jedes
ihrer Scherzworte wie eine Offenbarung ... Und Antje beachtete ihn
kaum. Ja, manchmal schien es, als sei dies hingegebene, verzauberte
Anstarren ihr unbequem ...

Sie schickte ihn schließlich selber ans Klavier -- trat mit ins
Nebenzimmer und staunte, daß die zwei Kunstgenossen richtige Noten,
funkelnagelneue, auf das Klavier und auf ein aus Zigarrenbrettern
zusammengezimmertes Stehpult stellten ...

»Darf ich Sie später nach Hause begleiten?« flüsterte Anders Niemann
der Haustochter zu.

»Ja -- aber die andern dürfen's nicht merken -- ich nehme niemals
Begleitung in Anspruch ... Gehen Sie in einer halben Stunde fort und
erwarten Sie mich unten ...«

Clas Mönkebüll hatte zu präludieren begonnen. Es waren die ersten
Takte des Andantes aus der Kreutzer-Sonate. Nur das Thema wollten sie
spielen und die beiden ersten Variationen. Die übrigen waren für Clas
doch gar zu schwer ... Nun sah der Holsteiner sich ungeduldig um. Er
sah, daß sein Kollege und Antje einen Blick tauschten, in dem etwas wie
ein geheimes Einverständnis glomm ... da schaute er schnell wieder auf
seine Noten -- ein banges Zucken um die schmalen Lippen.

Und dann stieg ein fremder, hoher Gast in die Proletarierstube
hernieder. In unbegriffener Andacht neigten sich ihm die Herzen der
wesensverschiedenen Menschen, die hier beisammensaßen, verbunden im
Innersten durch ein gemeinsames, ihnen selber unbewußtes Geheimnis --
das Geheimnis ihrer Sehnsucht ... Die hatte plötzlich Sprache bekommen
-- sie jubelte und klagte in ihnen allen als schmerzlich-seliges
Gefühl einer tiefsten, innerlichsten Zusammengehörigkeit ... Und
Anders Niemann war es zumute, als habe er nie so heiß die Wonne
empfunden, in Tönen sich ausströmen zu können -- nicht im weiland
Kasino beim Damenabend -- nicht einmal im Elternhaus -- wie noch
jüngst im Zusammenspiel mit dem Mädchen, das er so schmerzlich, so
entsagend liebte -- das nun, es konnte ja nicht anders sein, ihm längst
entglitten war, eines Stärkeren, eines Ganzen Beute ... Nein, selbst
bei ihrer Begleitung hatte er nicht so hingegeben, so aufgeschlossen
gespielt -- geschenkt -- sich selber verschenkt wie heut ...

Denn die da oben, die lebten ja in der Fülle ... Sie hatten ihren
Beruf, der war ihnen nicht eine fluchbeladene, zermürbende Hantierung,
deren stumpfes Gleichmaß ihnen die Nerven zerrieb, die Seele aushöhlte
-- nein, höchster Lebensinhalt, Waffe und vollwertiger Ausdruck ihrer
Persönlichkeit -- nicht etwas Fremdes, von der Daseinsnot Erzwungenes
-- nein, sie selber ... Ihre Ruhestunden waren umstellt von einer
Umwelt, die nicht minder ihres eigenen Wesens Prägung war ... Aber der
Genuß der höchsten Schöpfungen des Genius -- was bedeutete er ihnen
mehr als eine Entspannung -- eine Ausbalancierung ihres seelischen
Gleichgewichtes?!

Diese Menschen empfingen das unbegriffene Gnadengeschenk der Schönheit
wie eine Erfüllung ihrer Träume, eine Erlösung vom Fluch ihrer Existenz
... Keiner von ihnen, vielleicht nicht einmal die eine, die sich über
die Sphäre ihres Ursprungs emporgeschwungen hatte -- auch sie hätte
wohl kaum zu deuten vermocht, was dieses rätselvoll bange Behagen denn
eigentlich war, das die Lauschenden durchschauerte, das ihnen die
müden, versorgten, vergrämten Herzen so schwer machte und zugleich
so frei, ihre enge Welt um sie schön und schwebend -- das den Wunsch
entzündete, beisammen zu sein, sich eins dem andern hinzugeben, sich
auszusöhnen, liebend zu verschwenden -- --

Ja -- was war es denn eigentlich?!




                                   5


Anders Niemann hatte es doch nicht fertiggebracht, Antjes Vorschlag zu
folgen und sich wegzustehlen aus dem Kreis, in dem er so unerwartet
heimisch geworden war, um sie draußen zu erwarten. Die Unwahrheit
seines Dahinlebens unter diesen einfachen, natürlichen Menschen
bedrückte ihn ohnehin schon schwer genug. Er hatte eine Maske tragen
müssen -- sein ganzes Jugendleben hindurch -- die starre, in korrekte
Falten gebügelte Maske des wilhelminischen Offiziers. Nun lechzte
er danach, er selber sein zu dürfen ... Wenigstens innerhalb dieses
selbstgewählten Scheinlebens keine unnötige Komödie mehr! Ganz offen
bat er, Antje heimbegleiten zu dürfen.

Die Wirkung solcher fremdartigen Galanterie in diesem Kreise war
verblüffend. Auf den Gesichtern der beiden Alten ein Staunen, fast
als hätte er Antjes Hand erbeten ... Ein rascher Blickwechsel: Oho?!
Na ja -- schließlich: warum nicht? Einmal muß es ja doch sein -- und
der ist der Übelste noch lange nicht ... So stand es im Auge des
müden Frauchens dort in der Ecke. Und der Alte blickte zurück: Hm ...
eigentlich hätt' ich mir für meine Antje noch etwas Besseres gewünscht
als einen Ungelernten aus der Schiffsbauhalle ... Nun, er mag sein
Glück versuchen -- ist er nicht gut genug für sie, wird sie ihn schon
ablaufen lassen ...

Bruder Tedje war nicht der Mann, seine Gedanken und Gefühle bloß mit
Blicken auszudrücken. Er schlug lachend auf den Tisch.

»Kiek mol! So'n Kierl! Gliecks Sprung auf, marsch, marsch! Paß Achtung,
Deern -- dat 's 'n Gefährlichen, dei!« In diesem Blick funkelte etwas,
das zur Harmlosigkeit seiner Worte nicht recht stimmen wollte. Etwas
von brüderlicher Eifersucht -- im Hintergrunde gar etwas wie ein vager,
noch ganz unbewußter Argwohn ...

Clas Mönkebüll aber saß stumm, regungslos, beklommen. Ein Traum, der
entschwebt, ein strahlender Dur-Akkord, der in wehmütiges Moll zerrinnt
...

-- »Es ist eine große Sorge um Sie daheim, Herr Kapitänleutnant«,
sagte Antje und schritt hastig fürbaß, den Neuen Steinweg hinab. Um
beide wogte das abendliche Getriebe der wimmelnden Straßen. Überall
Menschen -- Menschen, vom harten Alltagstempel geprägt ... Und
rechts und links, aufstarrend wie die herzumängstenden Klippen einer
endlosen Felsschlucht, die staub- und rußgeschwärzten Häuserfronten
-- hier die verzogenen, kaum mühselig noch im Lot sich haltenden
Ziegelwände jahrhundertealter Zinshäuser, dort der gräßliche, verlogene
Prunk stucküberladener, aber auch längst wieder halb verwitterter
Warenhausfassaden ...

»Kann mir's denken«, lachte Heinz. »Jetzt, wo's zu spät ist! Übrigens,
bitte -- Anders Niemann heiß' ich!«

Antje meinte zu begreifen. Sie hatte längst bemerkt, daß der Reif,
den Herr Freimann damals an der Linken getragen, verschwunden war. Er
berichtete, wie er zu Antjes Eltern gekommen sei -- selbstverständlich
ohne Ahnung des bevorstehenden Wiedersehens. Er habe ja nicht einmal
den Namen der jungen Dame gewußt, die ihm eine so gründliche Lektion
erteilt habe.

»Die scheint also doch einigen Eindruck auf Sie gemacht zu haben.«

»Ohne sie wäre ich vielleicht nicht hier.«

»Oh ... das ist mehr, als ich mir hätte träumen lassen.« Antje fühlte
Glut in ihren Wangen.

»Sie sprachen mir von der Seele des Volkes -- ich bin hingegangen, sie
zu suchen.«

»Und -- was haben Sie gefunden?!«

»Etwas sehr Schönes: das Gefühl einer tiefen Leere -- und den glühenden
Wunsch, sie ausgefüllt zu sehen.«

»Ausgefüllt -- mit was?«

»Mit etwas Großem, Beglückendem, Aufrichtendem -- mit einem Ideal.«

»Geben Sie's -- das Ideal!«

»Wenn ich's hätte!«

»So helfen Sie's uns suchen.«

»Das will ich. Darum bin ich, wo ich bin. Aber ich glaube sogar, ich
weiß es schon zu benennen -- ein Vaterland -- ein Mutterland, das allen
den Seinen ein rechtes Elternhaus wäre ... Das Land unserer Liebe.«

»Ach, wenn Sie es fänden!«

»Ja -- dann wäre uns allen geholfen -- uns armen, zerrissenen
Deutschen.«




                                   6


Ohne den Freunden, den Gesinnungsgenossen etwas zu verraten, hatte
Georg Freimann an Patterson gedrahtet:

»Erwarte angekündigte Vorschläge.«

Vierzehn Tage später machte eine schlanke Privatjacht unter
amerikanischer Flagge an den St. Pauli Landungsbrücken fest. Der Reeder
ging an Land -- mit ihm ein untersetztes, straffes Girl von siebzehn
Jahren, mit kapriziöser Eleganz gekleidet -- aschblond, nußbraune
Augen, feste, weiße Hände ... Der alte Herr winkte ein Auto heran, Miß
Bessie zog ein kleines Sternenbanner aus der Handtasche und befestigte
es mit einem geübten Griff in der Düse des rumpligen Mietwagens.

»H. T. L.-Gebäude!« befahl der Ankömmling in leise fremdartig
klingendem Deutsch.

»So, +my darling+, du magst nun eine halbe Stunde lang in der
Stadt herumkutschieren --«

»Fällt mir nicht ein«, erklärte Bessie. »Ich bin toll vor Neugier,
diese gräßlichen Deutschen kennenzulernen, die unsere ›Lusitania‹
versenkt und unsere armen Kriegsgefangenen gekreuzigt haben.«

»Diese nicht, die du jetzt kennenlernen wirst, Bessie«, sagte Patterson
gehorsam und entließ das Auto.

»Schade ... die andern will ich aber auch kennenlernen.«

Vater und Tochter schwebten im palisandergetäfelten Lift zum
Präsidentenbureau der Linie empor.

»Ich finde, +daddy+, hier sieht's gar nicht hunnisch aus ...
Sollte der New York Herald uns beschwindelt haben?«

»Möglich«, murmelte Elias Patterson. »So -- nun benimm dich manierlich.
Die Deutschen sind ernsthafte Leute.«

Georg Freimanns Auge leuchtete heimlich auf, als er sah, daß der
Gerufene nicht allein gekommen war. Auf einen Piratenzug nimmt man
keine Dame mit.

»+Good morning+, Freimann -- darf ich wieder Freimann sagen? Der
Mister geniert mich.«

»Sie dürfen, Patterson -- weil Sie so reizende Gesellschaft mitbringen.
Miß Patterson -- willkommen in Deutschland.«

»Dank Ihnen, Mister Freimann«, sagte Bessie. »Sie haben einen Sohn,
sagt +daddy+ ... Er ist verlobt -- schade ... Verlobte junge
Männer interessieren mich nicht ... Verheiratete, das ist was anderes
... Ist er vielleicht schon verheiratet?«

»Leider nein«, sagte Freimann zwischen Lachen und Befangenheit. »Er ist
durchgebrannt -- mir und seiner Braut.«

»Durchgebrannt --?! Das finde ich +smart+ von ihm ... Wo ist er?«

»Ich weiß es nicht, Miß Patterson.«

»Oh -- wir werden ihn suchen und finden. Ich wünsche ihn zu sehen ...«

»So, kleine Maid, nun halt' mal den Mund ...« sagte der Vater. »Ich
habe mit Mister Freimann von Geschäften zu reden.«

»Das ist gut,« sagte Bessie, »ich liebe Geschäfte. Ich mache selber
Geschäfte. Zu Hause, Mister Freimann, züchte ich Hunde -- ganz kleine
und ganz große -- Collies, Neufundländer, alles, was Sie wollen.
Schauen Sie her, das ist einer von meiner Zucht!« Und sie griff in die
Tasche ihres Kleiderrockes und holte einen winzigen Zwergpintscher
heraus, der, aus seiner Haft erlöst, sofort auf den nächsten Stuhl
sprang und seine Freiheit mit wütendem Gekläff begrüßte. Aber schon
hatte seine kleine Herrin ihn beim Wickel, schwenkte ihn ein paarmal
wie einen nassen Lappen im Kreise und stopfte ihn wieder in die Tasche.
»Das ist eins von meinen Zuchtmütterchen ... Von der hab' ich einen
ganzen Wurf zu hundert Dollar das Stück verkauft ... Sehen Sie, das
sind meine Geschäfte ... Von dem Erlös habe ich mir einen fabelhaften
Kodak gekauft mit prima prima Objektiv ... Nachtaufnahmen kann man
damit machen, sag' ich Ihnen!«

»So, nun ist's aber genug!« Vater Elias machte einen krampfhaften
Versuch, Autorität zu markieren. »Herrn Freimanns Zeit ist kostbar.«

»Denkst du, meine nicht?!« lachte die Kleine. »Nun, ich will euch
zweien eine Viertelstunde bewilligen. Dann wirst du mir die Stadt
zeigen, die ich sehr niedlich finde ... Ein reizendes Puppenstädtchen,
wenn man von drüben kommt ... Ich habe im Vorzimmer eine junge Dame
gesehen, ich werde mir von ihr etwas erzählen lassen. Ich wünsche zu
wissen, ob die deutschen Mädchen wirklich so langweilig sind, wie es
immer in unseren Romanen steht.« Und schon war sie fortgeschwirrt.

Die Männer sahen sich an und lachten.

»Sie glauben nicht, Patterson, wie gut das tut, in Deutschland einmal
wieder lachen zu hören und lachen zu dürfen ...«

»Nun, Sie werden sich noch oft genug zu ärgern haben über den Racker
... Sie kann einem schon auf die Nerven fallen ... Werden Sie dann
ruhig grob, sie ist's gewohnt, wenn sie's gar zu bunt treibt ... Und
nun ans Werk, lieber Freund. Sie haben gerufen -- ich bin da.«

Georg Freimann schilderte dem Ankömmling die Lage mit jener
rückhaltlosen Offenheit, die sich in seinem Geschäftsleben immer als
die beste Politik bewährt hatte.

Patterson hörte aufmerksam und leise mit dem schmalen Kopfe nickend zu.
So etwa hatte er sich die Entwicklung selber vorgestellt.

»Ich finde, lieber Freund,« sagte er bedächtig und mit einem Anflug von
Ironie, »die Situation der Linie hat sich wenig geändert, seit Sie mein
Angebot auf Übernahme Ihrer Aktiva so entrüstet zurückgewiesen haben.«

»Sie haben nicht unrecht, Patterson ... aber auch unser Wille hat sich
nicht geändert, lieber unsern Trümmerhaufen mit eigner Hand in die Luft
zu sprengen, als ihn unter das Sternenbanner zu stellen -- wenigstens
unter das Sternenbanner allein.«

»Hm -- und wenn nun die Sterne und Streifen -- sich neben Ihre
Reichsflagge pflanzen würden? Ihr sollt ja eine neue bekommen, schwebt
mir vor -- wie sind doch die Farben?«

»Schwarz-rot-gold«, sagte Freimann unfroh. »Die Farben des Reiches im
Mittelalter ... Auch sie haben eine Tradition.«

»Aber nicht als Handelsmarke«, erwiderte der Amerikaner. »Eine schöne
Dummheit, Freimann. Die Firma ist pleite bis unters Dach -- nur ein
einziges Aktivum hat sie noch: das alte, in der ganzen Welt eingeführte
Warenzeichen ... Und das wollen die Liquidatoren freiwillig fallen
lassen ... Nette Kaufleute das ...«

»Wenn Schwarz-rot-gold uns aus der Tiefe unseres Jammers zu neuem
Aufstieg führt -- wäre es nicht kindisch, ihm die Gefolgschaft
versagen zu wollen? Sie meinen, das schwarz-rot-goldene Banner und das
Sternenbanner -- sie würden sich miteinander vertragen?«

»Da beides die Hohheitszeichen von Republiken sind -- warum nicht?«
sagte der Mann von drüben. »Machen wir's kurz. Ich glaube, daß ihr
dickköpfig genug seid, lieber unterzugehen als zu liquidieren. Ihr
habt's bewiesen. Und Sie, Freimann, werden nicht nach Holland gehen
... Auf Ihren wirtschaftlichen Zusammenbruch zu warten, habe ich keine
Geduld ... Also wie denken Sie über eine Fusion?«

                   *       *       *       *       *

»Guten Tag«, sagte Bessie zu der Sekretärin. »Sie verstehen ja
Englisch, nicht wahr? Sie haben sehr schönes braunes Haar -- es
flimmert wundervoll in der Sonne. Sie haben sich einen sehr guten Platz
ausgesucht -- da am Fenster. Es ist sehr effektvoll. Erlauben Sie einen
Augenblick.«

Antje Tietgens saß in stummer Verblüffung. Knips! machte der Kodak.
»Danke Ihnen«, sagte die Fremde. »Das ist das erste Porträt, das ich
von einer deutschen Dame gemacht habe. Es ist ein guter Anfang.«

»Mit wem habe ich die Ehre?« fragte Antje.

»Oh -- Sie sprechen Englisch, das ist schön«, sagte Bessie. »Waren Sie
drüben?«

»Nein -- ich lebe in einer Pension, in der vor dem Kriege sehr viele
Amerikaner verkehrten.«

»Das merkt man«, sagte die Fremde anerkennend. »Ich bin Bessie
Patterson ... Sie wissen, was das bedeutet?«

»Ich weiß«, lächelte die Deutsche.

»Möchten Sie gerne nach drüben kommen? Es ist drüben schöner als hier.
Die Leute hier machen alle traurige Gesichter -- Sie auch, sogar wenn
Sie lachen. Ich liebe das nicht.«

»Wir haben wenig Grund zu lachen. Wir sind besiegt -- im größten aller
Kriege. Und wir fangen jetzt erst an, es richtig zu merken.«

»Oh -- ich bin sehr neugierig, zu wissen, was ihr für Menschen seid.
Ich habe mir euch ganz anders vorgestellt. Ich will das deutsche Volk
kennenlernen.«

»Das Volk, Miß Patterson? Was nennen Sie das Volk? Bei uns versteht man
unter Volk die sogenannten kleinen Leute.«

»Die will ich gerade kennenlernen. Ich bin eine Demokratin, Miß -- wie
heißen Sie? -- Oh, das ist ein schwerer Name ... aber ich werde ihn
lernen. In Amerika gibt es keine kleinen Leute. Es gibt nur solche, die
das Rennen schon gemacht haben -- und solche, die es noch machen wollen
-- außerdem natürlich auch solche, die ausgeschieden sind -- weil
sie nicht reiten können --. Aber auf die kommt es nicht an, sie sind
uninteressant. Mein Vater, sehen Sie, der hat das Rennen gemacht. Und
ich bin dabei, es zu machen. Dazu fehlt mir nichts als ein Mann. Wenn
ich heimkomme, gehe ich mir vielleicht einen suchen. Vielleicht warte
ich auch noch ein paar Jahre. Ich habe ja noch Zeit. Ich bin siebzehn.
Ich finde schon den, den ich suche. Sind Sie schon dabei zu suchen?«

                   *       *       *       *       *

Es stellte sich heraus, daß Patterson bereits einen fertigen
Entwurf für das Zusammengehen der H. T. L. und seines Konzerns
mitgebracht hatte. Und noch mehr kam heraus: Die Blue Star Line,
die wichtigste der transatlantischen Linien des Konzerns, hatte
drei große Passagierdampfer der H. T. L. angekauft -- darunter den
»Altreichskanzler« ... der hieß jetzt »President Lincoln« und fuhr von
San Franzisko nach Schanghai. Den Atlantischen Ozean oder gar seinen
Heimathafen würde er niemals wiedersehen ...

Mit tiefer Bitterkeit und doch zugleich mit innerer Erleichterung
vernahm der Präsident der H. T. L. die Vorschläge seines einstigen
Konkurrenten -- der nunmehr gewillt war, sein Partner zu werden. Es
würde noch harte Kämpfe geben -- ums Ganze und um tausend Einzelheiten
... Freimann betonte, daß die Linie sich mit der Hammonia-Werft
dermaßen solidarisch fühle, daß eine Vereinigung der Interessen beider
großer Reedereien für die H. T. L. nur annehmbar sei, wenn zugleich
eine Bindung zustande komme, welche der Werft ein beträchtliches
Mindestmaß von Aufträgen für die fusionierten Linien sichern würde ...
Und dann war es immer noch fraglich, ob des alten Detlev Carstensen
hartes Teutonentum für einen Wiederaufbau, dessen Grundlage das
amerikanische Kapital bilden müsse, überhaupt zu haben sein würde ...
Und auch in der Generalversammlung würde es nicht an Stimmen fehlen,
die mit patriotischer Entrüstung jedes Zusammengehen mit Angehörigen
eines der Feindstaaten als Vaterlandsverrat ablehnen würden -- ohne
doch einen anderen Weg der Rettung zu wissen ... Aber diese Gedanken
behielt Georg Freimann für sich. Schließlich und endlich -- blieb
überhaupt eine Wahl?!

Nach einer halben Stunde der Aussprache erhoben sich die Männer und
schüttelten einander die Hände mit dem unbedingten Gefühl, daß man sich
zusammenfinden würde. Ein befreites Aufatmen hob Georg Freimanns Brust.
Aus der Tiefe des deutschen Elends, über das wüste Geröll des deutschen
Zusammenbruchs schien ein erster, noch schlüpfriger und klippiger
Anstieg zu neuen Lebensmöglichkeiten gefunden.

Beim Scheiden trafen die Herren Miß Bessie in heftigem Geplauder mit
der Sekretärin. Das Pintscherlein saß neben der Schreibmaschine und
lauschte der Unterhaltung mit klugen Menschenaugen. Aber kaum waren
die Männer in der Tür erschienen, da warf es sich ihnen mit wütendem
Gekläff entgegen. Schon war seine Herrin hinter ihm drein, packte
das tobende kleine Scheusal und stopfte es gelassen wieder in sein
Gefängnis.

»Ich wünsche Mistreß Freimann meinen Besuch zu machen«, erklärte
Bessie. »+Daddy+, fahr mich zu Mistreß Freimann. +Good
morning+, Miß Tiet-- Tiet-- nein, das ist zu schwer, das kann man
beim ersten Male nicht behalten. Aber ich werde es lernen ... Wie
heißen Sie mit Vornamen? Antje -- oh, das ist reizend, ich werde Sie
Miß Antje nennen. +Good morning+, Mister Freimann -- +go on,
daddy+.«




                                   7


Es war höchste Zeit gewesen. Vorgestern hatte die Werft zum ersten
Male ihren Beamten und Arbeitern nur fünfzig Prozent ihrer Löhne
zahlen können und sie, nach langer, erregter Aussprache mit dem
Arbeiterrat, der schließlich der Maßregel zugestimmt hatte, wegen des
Restes auf Anfang bis Mitte der nächsten Woche vertrösten müssen.
Aber heute, am Montag früh, war die Stimmung auf der Werft bedrohlich.
Überall schleppte die Arbeit sich nur mühsam hin -- allenthalben
standen erregte Gruppen zusammen. Die Hetzer forderten passive
Resistenz und erreichten zum mindesten, daß das sonst so wohlgeregelte
Ineinandergreifen der Hunderte von Arbeitselementen gründlich
durcheinandergeriet. Folge: allgemeine, stündlich steigende Verärgerung.

Ihre trüben Spritzer gischteten bis in die Chefbureaus hinauf. Die
Leitung kannte diese Sturmzeichen.

Bob Timmermanns kam vom Vortrag aus dem Zimmer des alten Carstensen.
Auf seiner kantigen Stirn hockte die Sorge.

»Gnädiges Fräulein -- es wäre vielleicht besser, Sie hielten sich heut
nachmittag zu Hause«, sagte er zu Ilse und blieb schwer atmend neben
ihrem Schreibmaschinentischchen stehen. »Es geht da unten dermaßen
fragwürdig zu, daß kein Mensch die Bürgschaft für den nächsten
Augenblick übernehmen kann. Wenn die Bestie da unten kein Geld zu sehen
bekommt, wird sie gefährlich. Und Ihr Herr Vater weiß auch keinen Rat
mehr. Die Banken rücken nichts mehr heraus. Es geht zu Ende.«

»Ich hoffe, Timmermanns, Sie haben eine zu gute Meinung von mir, als
daß Sie mich ernstlich für eine Drückebergerin halten.« Auch auf
Ilses Stirn vertiefte sich eine Falte -- aber senkrecht über der
Nasenwurzel. Sie war ererbt: Auf allen Bildern der Carstensen seit vier
Jahrhunderten war sie erkennbar.

»Sie sind eine Frau ...« warnte der Riese. »Ich bin nicht immer zur
Hand ... Erinnern Sie sich an Tedje.«

Ein Frösteln lief dem Mädchen über den Nacken. Seit damals war's ihr
immer wieder aufgefallen: Der wüste Kerl stand täglich unfern der
Schranke am Werfteingang, morgens, wenn sie kam, nachmittags, wenn sie
ging ... In seinen Augen der gleiche Ausdruck wie damals, als er das
scheußliche Wort von den Zarentöchtern gesprochen.

»Ich habe keine Angst, Timmermanns. Man muß seinem Schicksal auch ein
bißchen vertrauen. Es gibt Schutzengel -- ich weiß es aus Erfahrung.«
Und sie lächelte dem Getreuen freundlich und dankbar zu. Er hatte es
verdient -- sie hatte ihn recht schlecht behandelt die letzten Wochen
hindurch. Er hatte begriffen und an sich gehalten. Jetzt durfte er
belohnt werden.

Aber um ihre Lippen erstarrte der zarte, schwebende Zug -- es war schon
wieder zu viel gewesen. In die stählernen Augen des Riesen trat ein
Fieber, sein Mund zuckte unterm blonden Stachelbart.

Ilse neigte sich zur Maschine und schrieb eifrig. Da wandte sich Bob
Timmermanns. Er fühlte ein Wanken in seinen Knien, als er hinaustappte.
Und aus seinem Herzen stieg's ihm in die Kehle. Er biß die Zähne
zusammen.

In seinem Bureau fand er unerwarteten Besuch. Bruder Armin -- um seine
Lippen kräuselte sich ein zufriedenes Lächeln.

»Na, Bobchen? Ist's bald so weit?«

Der Riese begrüßte ihn mit einem Knuff gegen den Bauch. »Mal wieder auf
der Hetztour, was?! Hol' dich der Teufel ... Rechtsbolschewisten oder
Linksbolschewisten, Hose wie Jacke.«

»Meinst du? Wer weiß -- vielleicht schon heute nachmittag denkst du
anders. Hier habe ich die Telephonnummer der hiesigen Zentrale vom
Bund ›Retter des Vaterlandes‹ aufgeschrieben. Zwei Panzerautos mit
Maschinengewehren stehen bereit. Du brauchst nur auf den Knopf zu
drücken.« Der Leutnant griff in die Zigarettenschachtel, die auf des
Bruders Arbeitstische stand, und ließ sich behaglich in den Ledersessel
fallen. Er beobachtete mit Genugtuung, daß die Vorstellungsreihe, die
er angesponnen, in seines Bruders Hirn weiterwob.

Er sollte noch eine größere Genugtuung erleben. Bob schritt zu seinem
Kleiderschrank, um den Straßenrock, den er zum Vortrage beim Chef
angelegt, mit einem seiner Arbeitskittel zu vertauschen. Ein Gepolter
entstand -- etwas Schweres plumpste aus dem Schrank auf den Fußboden.
Es war der Karabiner.

»Donnerwetter, Bob -- ist das Dings da etwa aus deiner Bude da drüben
in dein Bureau herübergeflogen?!«

Da mußte Bob Timmermanns wider Willen lachen. Die Brüder sahen sich an
-- sie empfanden: trotz Bobs knurriger Ablehnung waren sie einander
näher gekommen.

»Für den äußersten Notfall ...« grunzte Bob. »In der Sache ändert sich
nichts. Ihr seid genau solche Schädlinge wie die Schürer und Stänker da
unten.«

»Sollte nicht doch ein kleiner Unterschied sein?« schmunzelte der
Leutnant. »Es gibt schließlich doch noch etwas anderes als die
Wirtschaft -- es gibt ein Ding, das heißt Politik! das heißt Partei!«

»Quatsch! Politik! Es gibt nur zweierlei Parteien auf Erden: die
Fleißigen -- und die Faulen! Die, welche arbeiten wollen -- und die
Hetzer! Jawohl, ich habe deinen Karabiner im Schrank stehen -- aber
solange es geht, führe ich Zirkel und Reißstift! Du aber, du hast
nichts als deine Panzerautos und deine Maschinengewehre! Damit bringst
du uns nicht wieder hoch! Arbeit' was! Dann kannst du von mir aus eine
schwere Batterie im Schrank haben!!«

Klirr! Eine Fensterscheibe barst, ein wuchtiger Stein sauste vor Bobs
Nase vorüber und krachte wider die jenseitige Wand. »Die Arbeit ihrem
lieben Kapital!« hohnlachte Armin.

Da schnarrte der Fernsprecher. Bob, schon unterwegs zum Fenster,
bremste die Wucht seines Körpers und nahm den Hörer. Im Lauschen schoß
ein jäher Freudenstrahl in sein Gesicht.

»Donnerwetter! Das ist die Rettung, gnädiges Fräulein -- tausend Dank!
Ich lasse mir sofort den Arbeiterrat kommen. Schluß!«

»Was ist los?«

Aber Bob sprach noch nicht. Die helle Freude auf seinem Gesicht war
abgeblaßt -- irgend etwas schien in ihm sich aufzubäumen. Armin
lauschte atemlos.

»Hilfe in der Not!« kam es keuchend aus Bobs Kehle. »Aber von wo?! Von
-- drüben ... wir müssen ... Hauptsache ist: Wir kriegen Geld ... Wir
können wieder arbeiten ... Ist da Zentrale? Bitte Arbeiterrat ...«

Achselzuckend, zähneknirschend verließ Armin das Zimmer.

                   *       *       *       *       *

Tedje fauchte, als die Anordnung des Arbeiterrats durch die Werkstätten
und Arbeitsplätze schwirrte. Nachzahlung der fehlenden Lohnhälfte für
morgen sichergestellt! Arbeit früh sofort mit Hochdruck aufzunehmen!
Was würde die Zentrale sagen? Und wie würde der Alte da oben auf seinem
Kran triumphieren!

Was Tedje dem Vater niemals zu gestehen gewagt haben würde, war
Tatsache geworden: Die Zentrale des Spartakusbundes hatte ihn zu ihrem
Vertrauensmann auf der Werft bestellt. Ein Agent der Bundesleitung
hatte ihn aufgesucht -- und im Tresor der seit kurzem in Hamburg
eröffneten Filiale einer Moskauer Bank hatte er ein paar Kisten voll
Sowjetrubel deponiert ... Zu dem Geheimfach hatte Tedje Tietgens den
Schlüssel. Und der Agent hatte dem Genossen zwinkernd auf die Schulter
geklopft:

»Alles für großes Befreiungswärk ... Abber kleine Mäddchen in Hamburg
wollen auch lebben ... Mußte ibberall Stimmung machen für großes
Befreiungswärk -- auch bei kleine Mäddchen ...«

Seitdem war Tedje bei den abendlichen Musikunterhaltungen im
Elternhause nur noch ein seltener Gast. Um so bekannter und geschätzter
wurde er von Nacht zu Nacht in den Weiberspelunken um die Reeperbahn
herum.

Nach Berlin hatte er in den letzten Tagen berichten können, die Werft
scheine am Ende ihrer Mittel -- die Krawallstimmung seiner Kollegen sei
im Wachsen. -- Nun würde er mal wieder abblasen müssen ...

Bald kamen Anordnungen der Zentrale, welche der neuen Lage entsprachen.
Die Glut durfte nicht kalt werden -- es galt, sie zuzudecken und
unter der Asche fortglimmen zu lassen. Zu solch heimlichem Schürwerk
taugte der Genosse Mönkebüll nicht -- was er sprach, war Lava aus
glühendem Liebesherzen, wohl geeignet, lodernde Flammen anzufachen --
zu elementar und naiv, um unterirdische Lavaströme im Sieden zu halten.
Aber die Zentrale wußte Rat. Sie hatte ihre Spezialisten für jede
Temperatur.

Sie versprach, den Genossen Dragomiroff zu schicken. Er würde sprechen
über das Thema: »Deutschland als Stoßtrupp der Weltrevolution.« Das
mußte ziehen ... Und nicht etwa als Sonderaktion für die Genossen der
Hammonia-Werft. -- Drüben in der Stadt sollte das arrangiert werden als
Werbeversammlung für das gesamte Proletariat des Unterelbegebietes.

Tedje, der faule Geselle, dem die Arbeit stets eine Last gewesen war,
wurde plötzlich ein vielgeschäftiger Hans Dampf in allen Gassen. Er
setzte seine Freunde rückhaltlos an. Clas und Anders mußten nach
Schichtschluß Plakate kleben, Briefe schreiben, mit Saalbesitzern
verhandeln ... Anders Niemann war mindestens so eifrig wie Tedje.
Tausendfache Gelegenheit, die Gesinnungen seiner neuen Welt zu
erforschen ... Aber wenn er so abends durch die still gewordenen,
im kargen Laternenschein, im Vollmondlicht der Frühsommernächte
phantastisch hindämmernden Gassen Alt-Hamburgs und St. Paulis zog und
die knallroten, in blutrünstigen Phrasen schwelgenden Werbeplakate an
die Anschlagsäulen und Häusermauern pappte, kam er sich wie verhext und
verwunschen vor ... Wenn Ilse ihn so gesehen hätte ... oder auch Antje
...

Antje --! Sie ahnte so wenig wie die braven Tietgens-Eltern etwas
von der unterirdischen Betriebsamkeit der drei jungen Kumpane. Seit
der neue Schlafbursch im Hause war, kam es wie von selbst, daß die
Tochter öfters als vordem abends den Weg zur Uhlen-Twiete fand. Sie
komme nur der schönen Konzerte wegen, betonte sie öfters, als nötig
war. Dann schmunzelten die Alten in sich hinein. Als ob Mudder Minchen
nicht längst gemerkt hätte, daß die Tochter niemals versäumte, ein
paar Blumen für die Stube der drei »Söhne« mitzubringen ... daß sie
Anders Niemanns Wäsche ausbesserte, ihm Bücher auf seinen Nachttisch
legte ... Ja, einmal war Mudder in der Dämmerung der Tochter begegnet,
wie sie mit Anders Niemann in versonnenem Gespräch den Holstenwall
hinabschlenderte und bald mit ihm in die Anlagen um die alten
Wallgräben hineinbog ... Ein seltsames Paar, die elegante Sekretärin
und der schlanke Werftarbeiter im abgewetzten Matrosenanzug ... Aber
der würde vorankommen, tröstete sich Mudder Minchen. Jetzt war er
bereits von seiner eintönigen Hantierung am Versenkbohrer abgelöst.
Er machte nun den Hilfsmann bei seinen Schlafkameraden -- hatte die
glühenden Nieten, welche der Vorwärmjung ihm zureichte, vom Innern des
werdenden Schiffskörpers her durch die Nietlöcher zu stecken, die er
selber noch vor wenigen Tagen »versenkt« hatte -- und sie mit der Zange
festzuhalten, bis Tedje und Clas, die Nieterzwillinge, sie von draußen
mit raschem Ticktack ihrer lustig sausenden Schmiedehämmer unlösbar
mit der Eisenplatte zusammengeschweißt. Derselbe Handgriff auch
hier wieder, tausend-, zehntausendmal an einem Tage derselbe -- aber
man war doch nicht mehr allein, man arbeitete nicht mehr in der öden
Schiffsbauhalle, sondern draußen auf der Helling in der Sommersonne,
durchlüftet vom Hauch der nahen Nordsee -- und konnte ab und an
mit Vadder einen Gruß tauschen, der droben mit seinem Kran hin und
wieder fuhr und aus seiner luftigen Höhe Stahlschiene um Stahlschiene
herniederschweben ließ, die dann dem immer höher sich auftürmenden
Spantengerüst eingefügt wurden ...

Das alles wußte Mudder Tietgens aus den allabendlichen Erzählungen
ihrer Tisch- und Hausgenossen. Ihre vier Mannsleut' waren täglich bei
der Arbeit vereinigt. Schön war das zu denken -- das alte Frauchen,
das im stillen Winkel fast stumm geworden war, vergnügte sich in
seiner Einsamkeit mit der Vorstellung, wie sie da zusammen schafften,
ihre vier Mannsleut' ... Aber den Anders, den hatte sie besonders
in ihr Herz geschlossen, weil er ihr am meisten Ehre gab. Sie war
ja so bescheiden, so wenig verwöhnt ... Aber schön war's eben doch,
daß der Neue sie mit einer Achtung und Rücksicht behandelte, zu der
Vadder und Tedje bei aller Liebe zu Mudder nun doch mal nicht erzogen
waren. Ihr Fritzing, der wäre am Ende auch so geworden ... Aber der
lag an der Somme -- wenn die Granaten seinen Leichnam nicht längst
in tausend Fetzen zerrissen hatten. Ach ja, Fritzing ... Die müden
Augen standen wieder einmal in einsamen Tränen ... Sie begriff's, daß
Antje zu dem schmucken Anders hielt ... Sie und Fritzing waren ja auch
unzertrennlich gewesen ... Und Anders würde aufsteigen -- der könnte es
noch mal zum Werkmeister bringen ... früher als Vadder, der schon so
lange von der Vierzimmerwohnung im Werfthaus drüben schwärmte -- und ja
doch wohl schließlich seinen Kran behalten würde, bis die Invalidität
kam ... Tja, und wenn die Antje sich also für den Anders nicht zu fein
war -- Mudder Mines Segen hatten sie -- die zwei Kinder.

Und Antje?!

Oh, Antje war klug.

So sehr sie in der Theorie Revolutionärin war und für das
republikanische Ideal der Gleichheit schwärmte -- sie stand lange
genug im Leben der Oberschicht -- sie wußte: Zwischen ihr und dem
Sohne ihres Chefs lagen Welten ... Was wollte das besagen, daß Heinz
Freimann sich in einen Anders Niemann gewandelt hatte? Eine Herrenlaune
-- eine Maskerade, die jederzeit abgestreift werden konnte wie ein
Faschingskostüm ... Und Anders Niemann war dann wieder Heinz Freimann.

Und doch gab's Stunden, da war's der braunen Antje, als könne, als
müsse ein Wunder geschehen. Das war, wenn sie einmal Sonntags mit
Anders Niemann nach Blankenese schlenderte oder nach Großborstel. Dann
flatterten Gespräche, Gedanken, Empfindungen zwischen den Kindern der
zwei Welten hin und wider, die ein Band von Gemeinsamkeit woben, wie
Antje sie niemals geträumt ... Sie hatte schon oft genug Gelegenheit
gehabt, die reichen und übermütigen Söhne des Bürgertums aus der Nähe
zu betrachten. In ihrer Pension hatte sie ihre Typen kennengelernt
-- aus aller Herren Ländern. Für die war eine arbeitende Frau stets
nur das Ziel eines einzigen Wunsches ... Und da Antje die leiseste
Anspielung mit dem Stolz einer Prinzessin abwies, hatte sie gar
von diesem und jenem exotischen Jüngling stürmische Heiratsanträge
bekommen. Das war nichts für sie gewesen. Ein Deutscher mußte es sein
... Gegen jenes Vaterland, das ihr die zwei Brüder entrissen, Fritzing,
den Liebling zumal -- gegen Kaisertum, Junkertum, Militarismus -- gegen
das alles empfand sie den leidenschaftlichen Haß ihrer Klasse. Wie
ihre Lieben und auch die Mehrzahl ihrer Kolleginnen schwärmte sie für
internationale Solidarität der Hand- und Kopfarbeiter aller Völker, für
Verbrüderung der Nationen und ewigen Frieden. Aber noch stärker war
in ihr der Weibinstinkt, der die Deutsche zum Deutschen zog ... Ihr
selber völlig unbewußt war sie eine leidenschaftliche Nationalistin des
Rassegefühls ... Und dieser Sohn des Großbürgertums in der ersten Reife
vollerblühter Männlichkeit -- der war ihr verwandt durch etwas, das sie
kaum hätte deuten können. Es gab zwischen ihnen beiden ein gemeinsames
Ideal, einen Traum, ein Wunschbild vom Menschentum -- was war es nur?

In hundert Gesprächen umkreisten die zwei jungen Menschen dies
unbekannte, ersehnte, erahnte Land ... Dies Land, in dem sie beide
sich beheimatet fühlten. Sie vernahmen seine Stimme aus Beethovens
Sonaten und Schumanns Klavierstücken, aus Wilhelm Meister, den er
ihr, und aus Richard Dehmels Gedichten, die sie ihm zu lesen gegeben
hatte. Aber auch in Vater Tietgens' abendlichen Schwärmereien von den
Zukunftsrechten des Proletariats, in Clas Mönkebülls phantastischen
Gesichten von der Erlöserin Weltrevolution, ja selbst in Tedjes
Blutträumen war etwas von diesem fernen, nebelhaft vor den Seelen
schwankenden Land ... Wenn Antje dann nach solchen Spaziergängen und
Gesprächen in ihrem Pensionskämmerchen unter die Decke schlüpfte,
dann träumte sie doch für selbstvergessene Viertelstunden den uralten
Mädchentraum von dem Königssohn, der das Dornröschen weckte zu einem
Leben im Licht ... Und dann rann ihr das trostvolle Gesicht einer
Seelenheimat für alle Menschen ihrer Sprache und ihres Blutes zusammen
mit seinem verengerten, ins Heimliche und Geborgene verkleinerten
Abbild, seiner mütterlichen Urzelle: einer Heimat für zwei Glückliche.




                                   8


Vater Patterson hatte recht gehabt: Die kleine Bessie konnte einem
schon auf die Nerven fallen.

Sie fand es selbstverständlich, daß sie den Vater überallhin begleiten
durfte. An seiner Seite drang sie in die ängstlich umhüteten Bureaus
der unnahbarsten Direktoren -- im H. T. L.-Haus wie drüben auf der
Werft. Und nicht minder ungeniert spazierte sie durch die endlos
hingedehnten Werkstätten, ließ sich im Aufzug zum schwindelnden
Helgengerüst emporfahren, turnte zum Entsetzen der ölbeklexten Maler
zwischen ihnen über die frisch mit Mennig überholten Stahlgerüste,
tauchte neben dem alten Tietgens im Kranführerhäuschen auf, war
plötzlich wieder drunten, kroch durch den Doppelboden des werdenden
Riesendampfers, kletterte an den Leitern der Aufrichtegerüste hinauf,
flitzte über die Laufstege des schon zur vollen Höhe hinangewachsenen
Zehntausendtonnendampfers, stand voll brennenden Interesses neben dem
glosenden Vorwärm-Feuer und beobachtete, wie der Junge die rotglühenden
Niete aus dem Kohlenbecken holte und durch eine offengebliebene Lücke
der Beplattung ins Innere des Schiffes reichte ... staunte, wie der
Stiel des Nietes plötzlich aus einem der Nietlöcher auftauchte, wie
die Nieterzwillinge mit ihren langgestielten Hämmern zuschlugen
und ticktack, ticktack aus dem Stiel ein glattes, rundes Köpfchen
zurechthämmerten ... Und überall Fragen, Fragen -- überall, knips, der
Kodak in Tätigkeit ...

Und kaum war sie zu ebener Erde angekommen, dann tat sie einen
Griff in die Tasche, und das Pintschermütterchen wurde in Freiheit
gesetzt ... Es entschädigte sich für die stumm ertragene Haft,
indem es mit widerlich grellem Kläffen den ernsthaften Herren in
den Direktionsbureaus zwischen die Beine fuhr, die Arbeiter, deren
Geruch das kleine Scheusal empörte, in die schlampigen Hosen biß ...
Dann lachte seine Herrin, so daß der kostbare Reiherbusch auf ihrem
Strohhütchen wippte wie vom Sturm gezaust.

Eines Morgens zog sie beim Frühstück ihrem Vater das Scheckbuch aus der
Brusttasche, reichte ihm ihren Füllfederhalter hin:

»Schreib, +daddy+ ... sechshundert Dollar ...«

»+Goddam+ -- wofür?«

»Wirst du gleich sehen. Habe mir ein Auto gekauft.«

»Du bist toll -- wozu?«

»Für meine Studienreisen.«

»Ach, bitte -- was studierst du, wenn man fragen darf?«

»Die Deutschen. Sie sind sehr merkwürdig, die Deutschen. Sie haben
wenig zu essen, sind schlecht angezogen, mögen nur acht Stunden
arbeiten und schimpfen, wenn man einen guten Anzug trägt. Aber ich
weiß mit ihnen fertig zu werden. Ich lache sie aus, dann werden sie
friedlich. Und noch eins: ihre Kinder ... Wenn man gut zu ihren
Kindern ist, dann kann man alles mit ihnen anfangen.« Sie wies auf ein
mächtiges Paket, das sie aus ihrem Zimmer mitgebracht: »Schau her,
+daddy+ ... alles Süßigkeiten und Schokolade für meine kleinen
Freunde in den schlimmen Vierteln ...«

»In den schlimmen Vierteln?!«

»Gewiß -- ich gehe immer in die schlimmen Viertel. Darum mußte ich
mir das Auto kaufen -- daß ich ordentlich herumkomme in den schlimmen
Vierteln. Oh, du glaubst nicht, wie interessant es ist in den schlimmen
Vierteln!«




                                   9


Tedje hatte so etwas wie ein Hauptquartier aufgeschlagen. In einer
jener finsteren Nebengassen der Neustadt, in denen die Männerwelt
der Unterschicht ihre Trösterinnen zu finden wußte, hauste als
Zuchtmeisterin eines Rudels verlorener Kinder der Schande ein
hexenhaftes Weib, das im Nebengewerbe mancherlei Gut zu bergen und
umzuschlagen wußte, welches ohne Zustimmung seiner Eigentümer in ihre
Hände gelangt war ... Mudder Lore war eine Mexikanerin von Geburt --
sie hatte einmal Dolores Jacinto geheißen. Ein Hamburger Kaufmannssohn
hatte sie als junges Ding aus ihrer Heimat in die nordische Küstenstadt
mitgenommen. Dann hatte er geheiratet, sie hatte die Abfindung, die
der Überdrüssige, doch Dankbare, ihr ohne Knickern hinterlassen,
mit neuen Freunden schnell verpraßt. Von Stufe zu Stufe sinkend war
sie erst Insassin und dann, zum alraunenhaften Scheusal alternd,
Vorsteherin eines Liebesverschleißes niedrigster Sorte geworden.
In dieser Eigenschaft hatte Tedje sie kennengelernt -- und war ihr
Günstling geworden. Ihm führte sie ihre »frische Ware« zu -- er
machte gelegentlich den »Herausschmeißer«, wenn die Kunden zu frech
wurden ... Und eines Tages hatte Mudder Lore ihrem Vertrauten auch
ihre unterirdischen Vorratsräume gezeigt, in denen sie die Stapel
von Waren jeder Art aufspeicherte, welche ihre Geschäftsfreunde ihr
nächtens zutrugen. Tedje staunte: Ein Labyrinth von engen, stickigen
Gängen, schlüpfrigen, ausgetretenen Treppen, muffigen Kellerlöchern
und geheimnisvollen Gewölben -- dazwischen hier und da eingekapselt
plötzlich ein Stübchen für verstohlene Liebesfreuden, mit schwülem,
verschlissenem, nach zweifelhaften Parfüms und altem Zigarettenqualm
riechendem Prunk ausstaffiert -- alles verbunden durch Geheimtüren,
die im Innern von Schränken mündeten, die mit alten Kleidern oder
Fastnachtskostümen vollgepfropft waren ... Eine wahrscheinlich
jahrhundertealte Heimstätte des Lasters, Diebstahls, Verbrechens jeder
Art -- wie aus einem jener mit grellbunten Titelbildern gezierten
Groschenhefte herausgeschnitten, die Tedjes einzige, in Massen
verschlungene Lektüre bildeten.

Tedje schrie vor Wonne, als Mudder Lore ihn in das Geheimnis
ihres »Dachsbaus« einweihte. So etwas hatte er gesucht, seit er
der Vertrauensmann des Spartakistenbundes geworden war. Hier war
Schlupfwinkel, Arsenal und Munitionsdepot zugleich ...

In den nächsten Nächten füllten sich die unterirdischen Räume, in
die vom Grundwasser der Flete feuchte Sickerungen hineindünsteten,
mit ungewohnter, gefährlicher Ware. Dutzende von rostigen
Maschinengewehren, Hunderte von Flinten und Karabinern, Berge von
Handgranatenkisten -- Abraum des grausamsten aller Kriege, Trümmer
aus der großen Konkursmasse Deutschland -- einstmals Werkzeuge
ruhmreichster Verteidigung, nun bestimmt, in scheußlichem Bruderkriege
den zum Irrsinn entarteten Idealen einer kreißenden Zeit zu dienen ...

Bei all solchem Greuelwerk waren Clas Mönkebüll und Anders Niemann die
stets dienstwilligen Helfershelfer ihres Zimmergenossen.

Oft überkam den einstigen Offizier des Kaisers ein dumpfes Grausen.
Furchtbar gefährliches Spiel, das er spielte! Es brauchte nur inmitten
der gärenden Welt, in der er trieb, einer von jenen Hunderten von
Söhnen dieser Welt aufzutauchen, denen er einst Vorgesetzter, Erzieher,
Führer im Kampfe gewesen war -- ein Wort, das ihn entlarvte -- und
der Abgrund, auf dessen schwankendem Boden er sich tummelte wie auf
einem Sportplatz, verschlang ihn -- das stinkende Labyrinth, in dessen
pestaushauchende Tiefen er täglich hinuntertauchte, gab ihn nicht
wieder heraus ...

                   *       *       *       *       *

»Dolores Jacinto, Pensionsinhaberin« stand ehrbar im
Fernsprechverzeichnis. Aber eine geheime Verbindung führte von
dem amtlichen Apparat, der harmlos im Korridor des allbekannten
»öffentlichen Hauses« hing, in das tiefversteckte Kellergelaß, in dem
Tedje seinen »Generalstab« um sich versammelte. Von hier aus sprach
Tedje jeden Nachmittag nach seiner Heimkehr von der Werft mit der
Berliner Zentrale. Um die Gefahr des Abhörens durch die Beamten zu
vermeiden, machte ein Russe den Vermittler. Ihn hatte die Zentrale
ihrem Vertrauensmann als Mitarbeiter -- und ohne sein Ahnen zugleich
als Aufseher -- überwiesen. Er und ein paar Begleiter gleicher
Nationalität waren von Tedje nach und nach als Ungelernte auf der Werft
untergebracht worden. Mit diesem Dolmetscher und mit seinen beiden
Kumpanen suchte Tedje täglich sein Hauptquartier auf.

Heute bekam er aus Berlin ein Lob. Er hatte berichten können, die
Versammlung sei auf übermorgen abend festgesetzt, das Werbeplakat klebe
in ganz Hamburg, ein Riesenandrang sei zu erwarten. Berlin teilte
mit, Genosse Dragomiroff werde pünktlich mit dem Nachmittagszuge
eintreffen. Sollte wider Erwarten der drohende Streik der Eisenbahner
auf der Strecke Wittenberge-Hamburg sich nicht mehr bis übermorgen
aufhalten lassen, so werde Dragomiroff im Auto kommen ... Man möge sich
schlimmstenfalls auf eine unbedeutende Verspätung gefaßt machen.

Dragomiroff -- der große Dragomiroff ... Er galt in Spartakistenkreisen
als so etwas wie ein Prophet ... Tedje und seine Freunde fieberten
nach der Bekanntschaft des Gewaltigen -- keiner brennender als Anders
Niemann ...

In Hochstimmung verließen die Gesellen ihren Unterschlupf und
schlenderten die dunstige Gasse hinab. Als sie in die etwas breitere
Knibbel-Twiete einbogen, sahen sie ein verblüffendes Schauspiel.

Ein winziges, gelblich-weiß-lackiertes Auto kam die Gasse herab,
von den armseligen, verwahrlosten Kindern, die im Gassenschlamm ihr
Wesen trieben, mit Hallo begrüßt. Eine Dame lenkte es -- fast noch
ein Backfisch. Sie winkte den Kindern lachend zu wie eine alte
Bekannte ... streute im Fahren Hände voll in Silberpapier gewickelter
Gegenstände, offenbar Schokoladetäfelchen, unter die jubelnde Schar,
die sich, wie ein Schwarm Hühner aufs Futter, auf die süße Gabe stürzte
mit Balgen und Gekreisch.

Da -- o weh! -- Hatte die Lenkerin im Grüßen und Spenden die nötige
Achtsamkeit versäumt?! -- Ein Stoß, ein Aufschrei, ein vielstimmiger
Schreckensruf als Echo -- ein Mädelchen von fünf Jahren, nur mit einem
schmutzstarrenden Kattunröckchen bekleidet, flog vom Auto angerannt
gegen einen Prellstein und blieb bewußtlos liegen.

Die unglückselige Fahrlässige stoppte ihr Gefährt sofort ab, sprang
heraus, ohne sich um ihren Wagen zu kümmern, hob das kleine Opfer ihrer
Unachtsamkeit mit zartester Sorgfalt empor, preßte es an ihre Brust --
im Nu war sie von einem Rudel zeternder Weiber umringt. Entsetzliche
Schimpfworte, geballte Fäuste, gekrallte Finger --.

Tedje Tietgens hatte den Auftritt beobachtet. Es stieg ihm glührot in
die Augen. Eine Feine -- eine wie jene, die seine Gier seit Wochen
umstrich ... Zupacken -- züchtigen -- und im Strafen sich ersättigen
... Und schon hatte er die Weiber zur Seite gestoßen, stand vor der
unglückseligen Kleinen, deren begütigendes Lächeln im Schreck erfror
-- --. Er riß das Kind aus den Armen der Zitternden, schob es einer
keifenden Dicken zu, packte die »Feine« an den Schultern, zerrte sie
empor, schüttelte sie und schauderte wie im Fieber, als er den Druck
der kleinen, festen Brüste spürte.

Da fühlte er selber sich an den Armen gepackt. Von beiden Seiten.

»Tedje -- büst du öwersnappt?! Lat ehr doch -- is jo unschüllig, dei
Lüttje! Is man'n Malleur west!«

Sie riefens durcheinander, seine beiden Kumpane: Clas, Anders ...

Tedje blaffte wie ein Bullenbeißer, dem ein anderer Köter den
erbeuteten Fleischfetzen streitig machen will. Aber mit derbem Zugriff
zwangen die Freunde den Starken, sein Opfer fahren zu lassen.

Mannesgier, Pariahaß, gekränkte Eitelkeit schäumten auf in Tedjes
zuchtloser Seele.

Er schüttelte die Freunde ab, daß sie zurücktaumelten. Kreischend stob
der Weiberschwarm auseinander, ballte sich ringförmig wieder zusammen
zu lüsternem Gafferkreis. Eine Rauferei zwischen drei Freunden,
Kollegen, Proletariern um ein Kapitalistenfrätzchen?!

Wie bösartige Hunde kläfften die guten Gesellen einander an --
kreischende Hetzrufe schrillten dazwischen. Das armselige Mädelchen,
das des ganzen Spektakels unschuldiger Anlaß gewesen war, hatte sich im
Arm seiner neuen Beschützerin längst von seinem Schrecken erholt und
starrte auf die drei Kampfhähne.

Mit einem Male löste sich die dräuende Spannung des Moments in ein
orkanartig aufbrausendes Gelächter. Die Fremde, durch das Eingreifen
der Freunde ihres Bedrängers ledig geworden, hatte seelenruhig den
Kodak, den sie am Riemen um den Hals trug, aufgeklappt, war einen
Schritt zurückgetreten, hatte kaltblütig visiert -- klapp! die Aufnahme
war fertig.

»+Thank you, gentlemen+ ...«

Die Komik der Situation war so elementar, die Geistesgegenwart der
kleinen Missetäterin so verblüffend und versöhnend zugleich -- daß
aller Groll des in der Tiefe schwelenden Klassenhasses ebenso jäh, wie
er aufgeflammt, in sich zusammensank.

Die Fremde schritt durch eine Gasse besänftigt schmunzelnder Menschen
zu ihrem Auto, nahm eine riesige Bonbontüte heraus, stopfte sie dem
Würmchen, dem sie Schmerz und Schreck zugefügt, in die Hand, pappte
ihm eine Probe des Inhalts ins schleckernde Mäulchen -- und schon saß
sie in ihrem Puppenwägelchen, töffte triumphierend und fuhr durch ein
Spalier lachender Gesichter, krähender Kinderfrätzchen von dannen.




                                  10


In den nächsten Wochen bekam Elias Patterson zu spüren, was deutsche
Gründlichkeit -- und was deutsche Zerrüttung bedeutete.

Er selber hatte sich über die große Wassertiefe hinüber mit seinem
Konzern spielend verständigt. Ein paar lange Kabeltelegramme waren
hinüber- und herübergeflogen -- und wenige Tage nach der grundlegenden
Besprechung mit dem Präsidenten der H. T. L. befand sich Patterson
bereits im Besitz unbeschränkter Vollmachten der gesamten hinter ihm
stehenden Kapitalgruppen, mit den Deutschen im Rahmen seiner Vorschläge
abzuschließen.

Auch finanziell arbeitete er in großem Stil. Zunächst streckte er der
Werft für den Weiterbau des Schnelldampfers eine bedeutende Barsumme
vor. Sodann deponierte er bei drei Hamburger Großbanken Schecks auf
Neuyork und wies die Hinterlegungsstellen an, sich von den bezogenen
amerikanischen Bankfirmen deren Einlösungsbereitschaft telegraphisch
bestätigen zu lassen. Dies Guthaben stellte er den Banken, welche der
Hammonia-Werft bisher das Geld für den Dampfer vorgeschossen hatten,
als Bürgschaft zur Verfügung -- unter dem Vorbehalt freilich, diese
Bürgschaft gegenüber künftig zu erwartenden Abhebungen jederzeit
zurückziehen zu können.

So konnte die Werft bis auf weiteres wieder arbeiten.

Aber Elias Patterson sollte seines Entgegenkommens, die Werft ihres
Flottwerdens nicht lange froh werden. Der deutsche Jammer hemmte
alsbald aufs neue den frisch erwachten Auftrieb.

Täglich versammelte der alte Carstensen seine Direktoren zu
stundenlangen Konferenzen, die sich, außer mit den fast stündlich
anschwellenden Forderungen der Arbeiterschaft, mit der nicht minder
lawinenartig wachsenden Teuerung aller Materialien, Rohstoffe
wie Halbfabrikate, zu befassen hatten. Die mühsam aufgestellten
Kalkulationen des Gestern wurden durch die lächerlich-grausige
Abwärtsentwicklung des Heute bereits wieder über den Haufen geworfen.
Wohin würde man noch kommen? Und wie sollte das enden?! Wahrlich,
es gehörte übermenschliche Nervenkraft dazu, in diesem Wirbel der
Katastrophen den Mut und Entschluß zur Weiterarbeit hochzuhalten.

Der alte Carstensen verfiel sichtlich. Und Ilse wuchs wider Willen und
Ahnen aus ihrer ursprünglichen Tätigkeit als Korrespondentin mehr und
mehr in die Stellung der »rechten Hand« hinein. Das war ihr Stolz, ihr
Glück -- ihre Rettung fast. Denn wie der Vater sich immer tiefer und
tiefer umdüsterte, die Lage des Unternehmens, das er auf altererbtem
Grunde zu seiner stolzesten Blüte entwickelt, sich immer fragwürdiger
gestaltete -- die Wehen und Krämpfe, die das angstumschauerte, von
Zwietracht und Zersetzung umstürmte Werden der jungen deutschen
Republik erschütterten, immer heftiger und schmerzlicher aufzuckten --
in diesem ganzen Wirrwarr von seelischer und körperlicher Überspannung
fühlte Ilse mit schmerzhafter Deutlichkeit, daß sie ein Weib war -- von
der Natur zur Kämpferin im Ringen einer Welt um Neugestaltung nicht
bestimmt. Und wo war die Brust, an die sie sich hätte lehnen, an der
sie Lebensangst und Einsamkeitsschauer hätte ausweinen können?!

Ihr zur Seite stand ein Mann, dessen rauhe Tatkraft wie von selber
in die immer sichtbarer freiwerdende Stelle des Oberleiters dieses
Riesenorganismus zusammengeballter Kräfte vorrückte. Der hatte alles,
was eine Frau in Ilse Carstensens Lage von dem Gefährten, den sie als
Stütze brauchte, nur hätte wünschen können. Alles -- außer dem einen ...

Die Tochter des alten Geschlechts von harten Rechnern, kühnen
Unternehmern, kühlen Ziffern- und Tatsachenmenschen war alles andere
als eine Schwärmerin. Ihr ererbter und durch ihre Arbeit seit vier
Jahren geschärfter Sinn für die Wirklichkeit ihrer besonderen
Lebensbedingungen sagte ihr täglich: der Mann, der da neben ihr
aufgesproßt war wie ein Eichbaum -- in eben die Aufgabe, die sie selber
ihm als Lebensaufgabe anzuvertrauen in der Lage war, hineingewachsen
wie eigens für sie geboren -- das sei der Kamerad, den sie brauchte ...
und nicht jener andere, der kampflos den Platz an ihrer Seite geräumt
hatte, um ins Nichts zu verschwinden ...

Ilse war keine Romantikerin -- ihrer Vorliebe für Schumann und Brahms
zum Trotz. Sie war eine Carstensen -- aber -- sie war eine Frau.
Das zähe Wollen ihrer Vorfahren richtete sich bei ihr auf frauliche
Ziele. Sie verlangte, als Vollmensch, ein volles Leben -- aber eben
ein Frauenleben. Gerade die Carstensen in ihr sehnte sich nach der
verträumten Weichheit, der ziellosen, undurchsichtigen Tiefe, dem
wunderverheißenden Sonntag im Sohn der Johanna Freimann ...

Die Gütige gestattete ihr noch immer, sie Mutter zu nennen ... Aber
in ihrem stillen Schmerzensgesichte las Ilse dennoch immer, immer die
verstohlene Anklage: du -- du hast ihn mir genommen!

Und so hatte Ilse doch schließlich keinen anderen Halt als den Mann,
dem ihr Schicksal sie mit Gewalt in die Arme pressen zu wollen schien.

Ilses Erscheinung verriet trotz der gesucht einfachen Kleidung, die sie
für ihren Arbeitsalltag anlegte, den Bürgeradel ihrer Abstammung. Sie
war nachgerade dem ganzen vieltausendköpfigen Werftpersonal als Tochter
seines Brotherrn bekannt. Es kam ganz von selber, daß sie im Getriebe
des Bureaugebäudes wie der Maschinenhallen, Helgen, Docks bisweilen an
der Seite des Direktors Timmermanns gesehen wurde. Von dem aber wußte
der jüngste Lehrling, daß er der Stellvertreter des alternden und
unverkennbar langsam versagenden Werfteigners war ... Schon bezeichnete
das Gerücht der Kantine die zwei als Brautleute ...

Und als solche galten sie auch in der Meinung jener zwei von den
siebentausend werkenden Männern, die unter beider Leitung standen --
jener zwei, die das Paar noch mit anderen Augen ansahen als mit dem
scheelsüchtigen Aufblick der Dutzendmenschen zu den Auserwählten, den
Begnadeten des Schicksals.

Anders Niemann ... Er sah dies Mädchen, das er einst im Arm gehalten,
nun aus doppelter Ferne ... Sie war ihm verloren, verfallen ohne
Gegenwehr dem Einfachen, dem Klaren, dem Wollenden ...

Bisweilen, wenn er hoch droben am werdenden Schiffsrumpf Niet um Niet
setzen half, sah er da unten, hinten weit im Verwaltungsgebäude,
die wohlbekannte, schlanke Gestalt am Fenster des Chefbureaus
auftauchen oder an der Seite des blonden Gewaltmenschen zur Bauhalle
hinüberschreiten ... Dann schrie sein ganzes Wesen nach ihr ... Am
Abend war er dann verstört, zerrissen, abwesend ... Und wenn seine
Freundin Antje ihn bei ihren immer häufigeren Besuchen im Elternhause
in dieser Verfassung antraf, dann zerflatterte der letzte Nachklang der
törichten Träume, die sie abends beim Einschlummern in der innersten
Herzenskammer gewiegt hatte.

Und noch in einem anderen Manne war Sturm und Not, wenn die Feine,
die Ferne neben dem Herrn Direktor aus dem Werkmeisterhause durch
das Werftgelände ging. Vergebens, daß Tedje Tietgens sich von Mudder
Lore so manches abenteuerlustige Weiblein aus der Kleinbürgersphäre
der Neustadt, so manche ausgehungerte Kriegerswitwe, so manches
mannslüsterne Fabrikgör in seinen Schlupfwinkel zutreiben ließ -- der
wüste Tedje gierte nach seiner »Zarentochter« ... Und es machte ihm ein
grimmiges Vergnügen, sich abends neben der Portierloge aufzupflanzen
und der Vorüberschwebenden mit schreckhaft drohender Begehrlichkeit
ins Gesicht zu starren. Sie mied sein Auge nicht -- sie ließ ihren
Blick mit dem Ausdruck völliger Nichtbeachtung über den Frechling
hinweggleiten ... Aber Tedje Tietgens wußte: bemerkt hatte sie ihn ...
Ihn übersah man nicht. Und das genügte ihm für den Augenblick. Seine
Stunde würde kommen.

                   *       *       *       *       *

Und durch die Sorgen und Kämpfe der Deutschen quirlte die kleine
Hundezüchterin, Photographin, Automobilistin wie ein wahnsinnig
gewordener Sonnenstrahl. Sie war beständig auf Entdeckungsreisen. Und
überall fand sie Menschen, welche sich um Dinge quälten, die ihr neu,
unverständlich, geheimnisvoll interessant waren. Alle diese Deutschen
hatten ihre Sorgen -- und Sehnsüchte.

Ihre neue Entdeckung war Ilse Carstensen. Um die war ja eine förmliche
Dunsthülle von Rätseln ... Eine Braut, der ihr Bräutigam durchgebrannt
ist ... Eine Dame aus den ersten, vornehmsten Kreisen einer Großstadt
-- die arbeitet wie ein Mann -- statt sich verwöhnen, feiern und
beschenken zu lassen ... Und dabei hat sie einen Verehrer, der sie
mit lächerlich ehrerbietiger, täppischer Ergebenheit umwedelt wie ein
treuer, am Auge der Herrin hängender Neufundländer ...

Das war überhaupt das erste, was Bessie herausbekommen hatte:
Dieser Riesenkerl, aus dessen kantigem Schädel die Modelle des
»President Lincoln« und des werdenden Riesendampfers für die neue
Aktiengesellschaft, die ihr Vater zu gründen hergekommen war,
entsprungen sein sollten -- der war in diese kühle, imposante
Stenotypistin verliebt wie nur ein wohldressierter Neuyorker
+business-man+ in eine typische Modeschönheit vom Manhattan
Square. Er tat ihr ein bißchen leid, der arme Neufundländer. Vergebens
Wedeln, Schöntun, Apportieren ... nicht einmal einen freundlichen Blick
bekam er zum Dank, von einem Stückchen Zucker ganz zu schweigen.

Bessie stattete seit dem Beginn ihrer Schwärmerei für Ilse dieser
täglich auf ihrem Bureau einen höchst unbequemen Besuch ab. Eines Tages
wurde sie wieder einmal Zeugin, wie die neue Freundin ihren Seladon,
der mit einer ganzen Menge guter Nachrichten vom Fortgang des Dampfers
um ein freundliches Wort geworben hatte, kurz angebunden und fast
ungnädig entließ. Da faßte sie sich Mut, für den Riesen ein gutes Wort
einzulegen.

»Miß Ilse -- Sie haben das härteste Herz, das ich jemals an einem
jungen Mädchen gefunden habe ...«

Ilse hatte sofort verstanden. »Oh -- Sie haben bemerkt, Kleine?!« sagte
sie mit zurückhaltendem Lächeln.

»Ich bin nicht blind. Sie sind schlecht zu ihm, Miß Ilse.«

Die Deutsche mußte lachen. »Aber wenn er mich doch langweilt,
Bessiechen?«

»Sie verdienen es nicht, daß er sich um Sie grämt. Er grämt sich um
Sie, wissen Sie das nicht? Ja, Sie wissen's -- aber Sie sind schlecht.
Sie freuen sich, daß er sich grämt. Wo wohnt der arme Junge? Ich meine,
welche Zimmernummer hat er? Ich werde ihn besuchen. Ich werde ihn vor
Ihnen warnen. Ich werde versuchen, ihn zu trösten.«

Und schon war sie hinaus.

Als sie vor dem Zimmer stand, dessen Tür die Aufschrift »Direktor
Timmermanns« trug, klopfte ihr keckes Herz doch ein wenig. Von drinnen
klang ein grimmiger Singsang, rauh wie ein indianisches Kriegsgeheul.

Ihr Klopfen wurde überklungen von diesem wilden Getöse. Da klinkte
sie vorsichtig auf -- und erblickte den Gestrengen in einer seltsamen
Beschäftigung. Der Besucherin den Rücken zukehrend, hemdärmelig stand
der Riese -- mit beiden Fäusten hielt er ein Etwas, das Bessie sofort
als ein ziemlich kurzes Soldatengewehr erkannte. Er war beschäftigt die
Waffe zu putzen und sang dazu in dröhnendem Rhythmus ein Lied, dessen
Worte Bessie nicht enträtseln konnte.

  »Was nützet mihaich ein schönes Mädchen,
  wenn andre mit spazieren gehn?
  Was nützet mimamich ein schönes Mädchen,
  wenn andre mit spazieren gehn?
      Und küssen ihr die Schönheit ab,
      und küssen ihr die Schönheit ab --
  Daran ich meine,
  so ganz alleine,
  daran ich meine Freude hab'?!«

»Wundervoll! Entzückend!« jubelte Bessie, als der Barbar seinen
Hunnengesang beendet hatte. Wie besessen klatschte sie in die Händchen.

Bob Timmermanns fuhr herum, vor Staunen blöde. Sie sahen sich an, der
Enakssohn und das Püppchen -- und lachten -- lachten -- lachten, daß
ihnen die Tränen von den Backen liefen.

»Oh -- das ist eine sehr +wonderfull song+«, radebrechte die
Kleine -- der Tölpel konnte ja kein Englisch, sie wußte schon. »Sie muß
lernen zu mir diese +wonderfull song+ ...«

»Das ist ein Soldatenlied, kleines Fräulein.«

»Oh ... Die deutschen Soldaten sind sehr +melancholical+, wenn sie
singen +songs+ so swer -- swer --«

»Schwermütig ...«

»Ja, swermjutig ... Sie müssen lernen zu mir diese swermjutige
+soldiers song+ ... Aber Sie müssen nicht singen swermjutige
+songs+, Sie müssen singen lustige +songs+ ...«

»Kann ich auch, kleine Puppe -- da, nehmen Sie Platz ...« Er faßte die
Besucherin um die Hüfte und setzte sie mit einem Schwung auf seinen mit
Zeichnungen besetzten Arbeitstisch, daß die Röckchen nur so flogen.
»Hören Sie zu:

  ›Bei der Kaiserin Klementine
  haben wir heut Musik gemacht,
  der eine spielte auf der Viggoline,
  der andre auf dem Stiewelschacht --
  Hodahumpahumpahadaha --
  hodahumpahumpahadawumm!‹«

»Das Sie müssen auch lernen zu mir!« jubelte das kleine Ungeheuer. »Ist
es auch eine +German soldiers song+? Ich wünsche zu lernen hundert
+German soldiers songs+ -- das wird machen eine gigantische Effekt
in Amerika ...«




                                  11


Minder als Bessie war ihr Vater mit seinem Aufenthalt in Deutschland
zufrieden. Das Tempo der Entwicklung machte ihn nervös.

Sah er die Werft unterm Druck des im Hintergrunde lauernden
Spartakismus, so fand er die Linie durch die Schwerfälligkeit ihres
Apparats gehemmt.

Zum Abschluß eines Vertrages wie die geplante Fusion war die
Genehmigung der Generalversammlung erforderlich. Schon ihre
Einberufung machte Schwierigkeiten. Bald streikte die Eisenbahn,
bald streikte die Post ... Aus allen Teilen des Reiches kamen
Anträge auf Aufschub, Bitten um Aufklärung, dringende Warnungen vor
einer Verbindung mit dem amerikanischen Kapital ... Auslieferung an
das feindliche Ausland, schmachvolle Kapitulation vor dem Dollar,
Vaterlandsverrat waren tägliche Liebenswürdigkeiten.

Man kam nicht vom Fleck. Patterson verlor die Geduld. Er spielte seinen
letzten Trumpf aus. Er stellte der Linie eine Frist zur Entscheidung
über den Fusionsantrag des Patterson-Konzerns. Nach ihrem fruchtlosen
Ablaufe werde der Kredit gesperrt.

Das half. Die Generalversammlung trat endlich zusammen.

Freimann hatte seinen großen Tag. Vor einer Hörerschaft der ersten
Köpfe und Kapitalmächte der deutschen Hochfinanz, Industrie und
Schiffahrt verfocht er seine These: Besser Schulter an Schulter mit
Amerika leben als verlassen zugrunde gehen ... Die deutsche Ehre sei
nicht in Gefahr ... Der Vertrag sei nicht eine versteckte Aufsaugung
des Besiegten durch den Sieger, sondern ein Bündnis gleichberechtigter
Mächte ... Es sei kein Zeichen nationaler Gesinnung, den ersten Ausweg
aus dem Elend des Zusammenbruchs, den wohlmeinende Hände von drüben
aufgetan, unversöhnlich wieder zu verrammeln ... Das Meer, die Lunge
der Völker, müsse den Deutschen zunächst wieder geöffnet werden, koste
es, was es wolle ...

~Seefahrt ist not~ ...

Georg Freimann feierte einen großen rednerischen Triumph. Er schien
in diesem Jahre furchtbarsten Ringens äußerlich gealtert, innerlich
gereift -- ungebrochen, ja gefestigt, nicht mehr geschmeidiger Stahl
wie früher, nein, starres, kantiges Eisen ...

Fast einstimmig genehmigte die Generalversammlung die Anträge des
Direktoriums. Und noch in derselben Stunde vollzogen die Herren
Freimann und Patterson die längst fertig daliegende Fusionsakte.

Die United Transatlantic Lines waren gegründet.

                   *       *       *       *       *

In derselben Stunde, als die Führer der deutschen Überseeschiffahrt
mit ihren Damen sich auf Einladung ihres neuen Verbündeten von
drüben zu einem Festdiner im Atlantic-Hotel versammelten, strömten
aus ganz Hamburg die Arbeiter und Unterbeamten der Werften und
Häfen in dem niederen, doch weitgedehnten Saale der »Neuen Welt«
am Heiligengeistfelde zusammen, um sich von Wassily Petrowitsch
Dragomiroff aus Moskau über »Deutschland als Stoßtrupp der
Weltrevolution« belehren zu lassen ...

Anders Niemann, der durch Antje über die Vorgänge im Präsidialbureau
der Linie genau unterrichtet war, mußte lächeln in grimmig bitterer
Ironie, als er sich Schulter an Schulter mit seinen Stubenkameraden
zur »Neuen Welt« begab. »United Transatlantic Lines« und »Sturmtrupp
der Weltrevolution« -- konnte das deutsche Elend, die deutsche
Zerrissenheit packender, wahrhaftiger formuliert werden?!

Mit seinen »Söhnen« ging auch Vater Tietgens zum Riesenmeeting seiner
Klasse. Auf seiner Stirn stand Entmutigung und Hoffnungslosigkeit. Der
Wahnwitz der Masse schickte sich an, mit den Trümmern des Deutschen
Reiches auch die marxistische Ideologie in Atome zu zersprengen.
Das Chaos brach an. Und Vater Tietgens, der graue Theoretiker der
sozialistischen Doktrin, begann an allem irre zu werden -- auch an der
beseligenden Lehre vom Zukunftsstaat. Er hatte lange mit dem Entschluß
gekämpft, in der Versammlung das Wort zu ergreifen und vor Überspannung
des republikanischen, des sozialistischen, des Rätegedankens zu warnen.
Er hatte verzichtet. Die Jungen, die Ungelernten, die formlose Masse
der ewig Unbelehrbaren würden ihn niedergebrüllt haben. Das Unheil
mochte seinen Lauf nehmen. Und wer -- wer hatte es heraufbeschworen?!

Der alte Sozialdemokrat fühlte sich dumpf angeekelt von dem Gedanken,
daß der Russe kommen dürfe, den deutschen Arbeiter über seine Aufgaben
bei der Neugestaltung des Menschheitsaufbaues zu belehren ... Noch
fast unbewußt keimte in seiner Brust die Erkenntnis, daß dem Deutschen
nur der Deutsche helfen könne -- daß moskowitische Ideale niemals
Führer sein könnten im Ringen des zertretenen Deutschlands um seine
Wiedergeburt ...

Was Tedje Tietgens bejubelte, anführte, organisierte -- konnte es das
Gute, das Heilsame sein?!

In der Brust des alten Mannes keimte etwas wie Angst und Abscheu vor
der eigenen Brut ... dem Sohn seiner Lenden und seiner Lehren ...

Und nicht minder empört sah er auf diesen Anders Niemann ... In ihm
hatte er gehofft, einen Gesinnungsgenossen zu finden -- und hatte nun
seit Wochen mit ansehen müssen, daß der junge Bursch, um den seine
Antje sich bemühte und härmte -- daß der ganz in die Hörigkeit seiner
beiden Arbeitskameraden geraten war ...

Übrigens sah Tedje nicht drein, als sei er wunschlos glücklich ... Was
er bisher nicht einmal den Hausgenossen anzuvertrauen gewagt hatte, war
der Inhalt eines Eiltelegramms aus Berlin, das ihn vor einer halben
Stunde erreicht hatte. Die Zentrale meldete, der Eisenbahnerstreik
auf der Strecke Wittenberge-Hamburg sei gestern, allen Bemühungen um
Aufschub zum Trotz, um einen Tag zu früh ausgebrochen, die Strecke
lahmgelegt ... Es sei Fürsorge getroffen, daß der Genosse Dragomiroff
in Wittenberge ein Auto vorfinden werde ... Schlimmstenfalls möge das
Bureau die Versammlung bis zum Eintreffen des Hauptredners anderweitig
beschäftigen ...

Tedje biß die Lippen vor Wut. Die Zentrale hatte ja schon vorher auf
diese Möglichkeit hingewiesen ... Als Einberufer, so sagte er sich
zähneknirschend, hätte er für diesen Fall Vorkehrungen treffen, andere
Redner bereithalten müssen ... Seine mangelnde Erfahrung hatte ihm
einen Streich gespielt. Wie würde es möglich sein, eine Versammlung
von fünftausend arbeitsmüden Männern und Frauen auf unbestimmte
Zeit festzuhalten? Die Stimmung würde abflauen, die große Aktion
verkleckern, womöglich alles auseinanderlaufen ... Eine wüste Blamage
lag im Bereich der Möglichkeit ... Und dann war es um seine Stellung
unter den Genossen geschehen ...

Einer von den vier Hausgenossen war ahnungs- und hemmungslos glücklich:
Clas Mönkebüll ... Seit einigen Tagen glaubte er bemerkt zu haben, daß
die Annäherung zwischen Antje und Anders keine rechten Fortschritte
mehr mache. Seit Anders ganz und gar unter Tedjes Einfluß geraten war,
hatten die Musikabende im Hause Tietgens seltener und seltener zustande
kommen wollen. Eines Abends war Clas zufällig zu Hause geblieben,
während seine beiden Freunde im »Hauptquartier« zu schaffen hatten. Da
war Antje gekommen -- schmerzlich enttäuscht ... Was ihr fehle, hatte
Clas bescheiden gefragt ... Ach -- es sei nur, daß sie sich so sehr
auf die Musik gefreut habe ... Ei -- da könne ihr geholfen werden ...
ob er selber ihr vorspielen dürfe ... Und stundenlang hatte sie seinem
vor Erregung doppelt ungelenken, leidenschaftlich hingegebenen Spiele
gelauscht ... Und beim Abschied ein Blick, ein Händedruck -- Clas bebte
bei der bloßen Erinnerung.

Die Welt ist schön, der Mensch ist gut! sang es in Clas Mönkebülls
Herzen. Alles wird neu, alles muß herrlich werden -- »die Welt wird
schöner mit jedem Tag!« Und er glaubte, glaubte brünstiger denn je an
die Zukunft des Menschengeschlechts -- an den neuen Erdentag -- dessen
erste Morgenröte heut aufgehen werde, heut -- mit dem Vortrage des
Genossen Dragomiroff ...

Ob sie auch kommen würde -- sie? O gewiß ... von Tracht und Sitten
eine Bürgerin war sie Genossin im Herzen ... Eine Gläubige auch sie,
ein treues Kind ihres Standes, ihrer Klasse ... Eine Revolutionärin,
rot bis in den innersten Winkel der Seele -- sie, die Verkörperung der
roten Seligkeit ...

                   *       *       *       *       *

Die Enttäuschung der vieltausendköpfigen Versammlung war grenzenlos.

Tedje saß glührot auf seinem Präsidentensitz und starrte in die Menge,
die Kopf an Kopf in dem niederen, dumpfen Saal sich drängte. Seine
Ankündigung, daß der Genosse Dragomiroff auf sich warten lassen müsse,
weil die Genossen auf der Strecke Wittenberge-Berlin in den Streik
getreten seien, hatte mit ihrer ganzen tragikomischen Ironie auf die
harrende Masse gewirkt -- dämpfend, beschämend, stimmungmordend ...
Es war kein Vergnügen, mit müden Knochen, eng zusammengepreßt im
atembeklemmenden Brodem sitzen zu müssen -- Leib an Leib ringsum an den
Wänden zu stehen bis auf die Stiege hinaus ... Gelächter scholl auf,
Scharren, Trampeln, vereinzelte Pfiffe ... Tedje Tietgens schwang die
Klingel, forderte in herrischen Worten Versammlungsdisziplin ... Da
scholl eine Stimme aus dem Hintergrunde:

»Stillgestanden! Richt' euch! Aushalten! Durchhalten! Maul halten!«

Grimmiger, höhnischer scholl das Gelächter.

In dieser Not kam dem Einberufer ein rettender Einfall. Er winkte
seinen Freund Clas heran, der drunten ganz bescheiden im dicken Knäuel
an der Wand klebte:

»Clas -- späl 'n Lütten op!«

Und schon saß Clas Mönkebüll an dem stark strapazierten Flügel,
der als Begleitinstrument für die Proben und Konzerte der
Arbeitergesangvereine im Hintergrunde des Podiums stand. Er schlug
begeistert in die Tasten -- aufbrandete sein Leiblied ...

Mit schmetterndem Gesang fiel die Versammlung ein. Alle zehn Verse
wurden heruntergesungen:

  »Der alte Haß sei tot,
  die Liebe sei befreit --
  aus unsern Herzen loht
  die rote Seligkeit --!«

Aber auch die zehn Verse gingen zu Ende. Und noch immer kein Genosse
Dragomiroff ...

Clas Mönkebüll war aufgestanden, hatte sich auf seinen Stehplatz
zurückschleichen wollen. Da kamen Rufe aus der lauschenden Menge:

»Musik! Mehr Musik!«

Clas warf einen Blick zum Vorsitzenden, der nickte Genehmigung. Und
wieder schritt Clas zum Klavier: und abermals rauschten Klänge auf.
Auch jetzt ein Befreiungsklang ... aber nicht das rohe Trutzlied einer
Kaste, nicht die Losung zum Bürgerkrieg -- ein Sang von der Schmach
und Not eines geknechteten Volkes, von seinem heroischen Dulden,
seinem anschwellenden Ingrimm, seiner aufsteigenden Empörung -- seinem
Siege wider die fremden Bedrücker, seiner Erlösertat -- vom Triumph
der Freiheit -- jener Freiheit, die den Herrenvölkern gebührt -- den
Männervölkern.

Wer von den Fünftausend, die drunten lauschten, kannte dies hochheilige
Freiheitslied -- kannte Beethovens Ouvertüre zu Goethes Egmont --?!

Wer von den Jauchzenden ahnte, daß er nicht den Aufstieg einer
Klasse bejubelte, nicht den Anbruch der roten Seligkeit, den Sieg im
Bürgerkriege, die Diktatur des Proletariats -- nein, den Sieg eines
brüderlich geeinten Volkes wider volksfremde Zwingherrschaft?!

Einer wußte es: der junge Mann mit dem kahlgeschorenen Schädel unter
dem wetterbraunen Gesicht, in dem das kecke Schnurrbärtchen jetzt den
letzten Rest von Ähnlichkeit mit jenem Typus verwischt hatte, den es
durch sein ganzes Jugendleben getragen: dem Typus des kaiserlichen
Marineoffiziers! In seinem verschlissenen Matrosenanzug sah Anders
Niemann heut ganz und gar wie ein frischer, straffer Sohn der Arbeit
aus ...

Aber der Blick, den er quer durch die Breite des Saales zu seiner
braunscheiteligen Freundin sandte -- der funkelte geheime Ironie ...
Es war der Blick eines Wissenden -- eines Liebenden, der hoch über dem
Wust der Stunde in eine lichtere Zukunft seines Volkes schaute ... Und
eine Ahnende erwiderte ihn ...

Du! sagte dieser Blick: gehören wir nicht zusammen -- trotz allem -- du
und ich -- ihr und wir?!

Ist es nicht herrlich, dieser ahnungslose Jubel der Tausende, die da
meinen, den Wahn ihres eigenen, engen Klassensieges zu feiern -- und in
Wahrheit einer Befreiungstat zujauchzen, die -- die uns allen, allen
einmal nicht erspart bleiben wird, wenn wir Freie, wenn wir Deutsche,
wenn wir -- Menschen bleiben wollen?

Die Republikanerin, die Revolutionärin, die -- Proletarierin fühlte in
dieser Sekunde ganz als Deutsche ...

Und der Offizier, der Bourgeois, der Sohn des Großreeders glühte vom
Überschwang brüderlichen Gemeinsamkeitsgefühls mit diesen Tausenden,
deren Seele er in sich hineingetrunken seit Monaten -- die er nun
kannte in ihrer unbewußten, traumhaften Sehnsucht nach einem neuen
Ideal, einer neuen Seelenheimat -- einem neuen -- freien -- großen --
nach innen und außen großen -- wiedergeborenen -- Vaterland --

Mitten in dem Beifallssturm geschah es, daß aller Augen sich der Tür
zuwandten, die vom Flur her auf das Podium führte. Da stand plötzlich,
wie aus der Erde gewachsen, eine fremdartige Gestalt: ein untersetzter
Mann mit stumpfbegehrlichem Slawengesicht, den breiten Mund von
struppigem Graubart umbuscht, mit stechenden Äuglein, in denen es
zuckte und gewitterte von der fressenden Loheglut der Götterdämmerung...

»Dragomiroff!« schrie Tedje Tietgens und stürmte dem Moskowiter
entgegen, tauschte mit ihm zwei schallende Bruderküsse.

Und »Dragomiroff!!« scholl betäubendes Echo des Fanatismus.

Schau! von den Gesichtern der Fünftausend war der feierliche Ausdruck
des hingegebenen Lauschens, der gesammelten Andacht, der ahnungsvoll
gläubigen Erhebung wie weggewischt ... Ein grelles Flackerfeuer loderte
aus diesen zahllosen Augenpaaren, die nun stier und hingerissen auf den
knochigen Burschen im lederumgürteten langen Leinwandkittel starrten...

Die Bestie wachte plötzlich auf -- aus dem Abgrunde der Jahrtausende
brodelte, kreißte, schwelte es wieder empor: das alte Chaos ... die
Urnacht ...

Tedje Tietgens schwang die Klingel:

»Der Genosse Dragomiroff aus Moskau hat das Wort.«




                                  12


Um dieselbe Stunde schäumte im Atlantic bereits der Champagner. Der
Gastgeber konnte sich's leisten.

Die Deutschen, die da zur Tafel saßen, gehörten ausnahmslos zu jener
Oberschicht des Besitzes, an die selbst Kriegs- und Revolutionsnot
nicht herankönnen -- solange der Krieg nicht im eigenen Lande ist und
die Revolution nicht ihre letzten Folgerungen zieht. Erst gegenüber der
Üppigkeit dieses Dollargastmahls kam es ihnen zum Bewußtsein, wieviel
anspruchsloser doch auch die verwöhntesten und geschontesten von ihnen
geworden waren.

Die Feststimmung, die diesen Kreis deutscher Seehandels-, Industrie-
und Geldmagnaten zum ersten Male seit dem Schlußakt der grausen
Tragödie wieder zusammenführte und für eine Stunde über den grimmigen
Daseinskampf ihres Nachkriegsalltags hinwegriß, hatte einen
melancholischen Unterton: aus Bewußtsein der deutschen Verarmung und
Vereinsamung ...

Es war nicht alles Sympathie und Zusammengehörigkeitsgefühl, was aus
den Augen der Deutschen sprach, wenn sie Elias Pattersons schmale,
beherrschte Gestalt betrachteten, sein vor Behagen und Selbstbewußtsein
glänzendes Yankeegesicht ...

Auch auf den Zügen der Damen, der Gesellinnen all dieser Machthaber des
industriellen, kommerziellen, nautischen Deutschland, hatte die Sorge
der Kriegsnot, der Schmerz um liebe Gefallene, das Grausen vor der
roten Sturmflut unverwischbare Zeichen gegraben. Ihre prüfenden Blicke
hingen mit nicht größerem Wohlgefallen denn die Gesichter ihrer Männer
an den Vertreterinnen amerikanischer Weiblichkeit: das waren die Frauen
des Generalkonsuls der Vereinigten Staaten und vor allem die Tochter
des neuen Verbündeten: die exzentrische kleine Bessie Patterson ...

Trotz allem: es war ein Bild langentwöhnten Glanzes, das heute den
eichengetäfelten Spiegelsaal des ersten Hotels des Kontinents füllte.
Man war zwar nur geladen, um die Gründung der United Transatlantic
Lines zu feiern -- aber die Herzen der Deutschen feierten das erste
Zeichen deutschen Wiederaufstiegs.

Auf den Scheiteln und Hälsen der Damen funkelte noch immer manch
blendender Stein- und Perlenschmuck -- die Frackaufschläge der Herren
wiesen, dem Sturz der Throne zum Trotz, den blinkenden Schmuck der
Orden all der verschwundenen deutschen Dynastien, und auf der Brust der
jüngeren Teilnehmer leuchtete der stille, unverlöschliche Glanz der
Eisernen Kreuze.

Auf dem Ehrenplatz der Hufeisentafel, zur Rechten des Gastgebers,
thronte das feine, müde Gesicht Johanna Freimanns. Zu Ehren des
glückhaften Abends hatte sie sich aus der Gesellschaft ihrer Bücher
gerissen, die seit ihres Sohnes Verschwinden die einzigen Vertrauten
ihrer einsamen Tage geworden waren. Während des Krieges hatte sie
Ablenkung genug gehabt als Präsidentin des Roten Kreuzes -- nun blieben
ihr die Dichter ... Aber heute strahlte sie doch: Georg strahlte ja
auch ...

Ihr gegenüber, an der Seite des amerikanischen Generalkonsuls, saß Ilse
Carstensen. Auch sie gab sich betont heiter, unterhaltsam, überlegen.
Ihr Partner strahlte, erzählte ihr, daß gleichzeitig mit dem Abgang der
Nachricht vom Zustandekommen der Fusion nach Neuyork ein Kabelgramm
Pattersons abgegangen sei, welches die Blue Star Line angewiesen habe,
alle Vorbereitungen für die Wiederaufnahme des Verkehrs mit Deutschland
zu treffen. Die »Union«, ihr pompösestes Schiff, solle als erstes
unter der Flagge der neuen Allianzlinie für die Fahrt nach Hamburg
bereitgestellt werden.

»Waren Sie schon drüben, Miß Carstensen? Aber nein, verzeihen Sie, das
war eine dumme Frage -- vor dem Kriege waren Sie ja noch ein Backfisch
... Um so besser: Ihr Vater wird Ihnen erlauben müssen, die erste Fahrt
Hamburg-Neuyork an Bord der ›Union‹ mitzumachen ...«

Mit höflichem Lächeln dankte Ilse. Ob der Gentleman wohl ahnte, daß sie
die Braut eines Tauchbootkommandanten war? Was für Schrecknisse und
Abgründe lagen zwischen den beiden Völkern, deren mutigste Pioniere
einander heute wieder die Hand zu reichen wagten --

Lusitania -- die Argonnenschlacht -- die Vierzehn Punkte.

Dennoch -- man stieß mit den Kristallschalen an, man tauschte
Liebenswürdigkeiten und Zukunftspläne -- es wurde wieder heller in der
Welt -- die Giftgasschicht, die den Erdball umlagert hatte, begann zu
zerflattern ...

Bessie schmollte ein wenig. Sie saß auf einem Ehrenplatze zur Linken
des alten Carstensen, der die Gattin des amerikanischen Generalkonsuls
führte, und zur Rechten des Vorsitzenden des Aufsichtsrats der H. T.
L., des Präsidenten der Deutschen Bank ... Zwischen den Weißköpfen
kam sie sich wie verbannt vor. Sie hatte kategorisch verlangt, ihr
Tischherr müsse der große dicke Direktor werden, der immer in Miß
Carstensens Bureau komme ... Das hatte ihr Vater ihr ausnahmsweise
einmal abgeschlagen -- Robert Timmermanns saß heute, seiner
gesellschaftlichen Stellung entsprechend, am unteren Ende der Tafel
-- inmitten einer Gruppe von Direktoren der Linie und der Werft.
Dazwischen waren die kaufmännischen und technischen Mitglieder des
Stabes eingestreut, den Patterson gleich bei seiner ersten Anwesenheit
in aller Heimlichkeit in Hamburg installiert hatte, und der nun auf
einmal aufgetaucht war und sich als glänzend informiert und mit allen
Hamburger Verhältnissen aufs genaueste vertraut erwies.

Und jetzt erhob sich der Festgeber. Er war rücksichtsvoll genug,
seine Begrüßungsansprache in einer Art von Deutsch zu halten. Ihr
Inhalt schien der zu sein, daß er die Fusion der beiden großen
transatlantischen Reedereien Deutschlands und der Vereinigten Staaten
als ein erstes, hoffnungsvolles Zeichen der Wiederherstellung des
durch den Krieg zerrissenen Weltverkehrs begrüßte, auf das Wohl der H.
T. L. und der Erbauerin des ersten neuen Personendampfers der United
Transatlantic Lines, der Hammonia-Werft, insonderheit der Vorsitzenden
der großen Unternehmungen, der Herren Georg Freimann und Detlev
Carstensen, sein Glas leerte.

Die Versammlung erhob sich, die Deutschen grüßten mit ihren Gläsern
zu ihren neuen Wirtschaftsverbündeten hinüber, in ruhigem, gemessenem
Ernst, mit jenem Ausdruck respektvoller Zurückhaltung, welcher ihren
Gefühlen entsprach. Die deutsche Würde -- bei diesen Führern deutschen
Schaffens war sie wohl aufgehoben.

Und nun schlug Georg Freimann ans Glas. Auf seinem Frackhemde
blinkte das weiße Emaillekreuz des Roten Adlerordens, das Wilhelm
II. ihm eigenhändig umgelegt, als der Reeder dem Kaiser einstens
das Zustandekommen des Morgan-Trusts gemeldet hatte. Es schien ihm
Pflicht, auch äußerlich zu bekunden, daß die deutsche Hochseeschiffahrt
der Republik nur auf dem Fundament weiterbauen könne, welches das
Kaiserreich gelegt habe.

»Meine Damen und Herren!« begann der Präsident. »Aus tausend Wunden
blutet unser zerrissenes, zertretenes Vaterland. Niemand weiß das
besser als wir, als dieser Kreis von Vorkämpfern deutschen Aufschwungs,
der, wie wenige unserer Landsleute, die ganze Tiefe unseres Sturzes
ermißt. Alle Großmächte des Erdenrunds haben wider uns im Felde
gestanden. Eine aber hat durch ihren Beitritt zum Feindbunde den Sieg,
der sich schon auf unsere heldische Gegenwehr niederzusenken schien,
auf die Seite unserer Gegner hinübergezwungen: es ist das Land des
Präsidenten Wilson -- es sind die Vereinigten Staaten von Amerika.«

Alle Blicke im Saale flogen zu dem feinen Weltmannskopfe des
Generalkonsuls und dem holzgeschnitzten Kommodorengesichte des
Präsidenten des Patterson-Konzerns hinüber. In beider Mienen zuckte
kein Nerv.

»Wir alle, meine Damen und Herren, kennen die Welt von Bitterkeit,
welche diese Tatsache umschließt. Und darum wissen Sie auch alle,
welche inneren Kämpfe hinter uns lagen, als wir uns entschlossen, in
die Hand einzuschlagen, die uns zertrümmert hatte. Wir haben es getan
in der schmerzlichen Erkenntnis, daß uns keine Wahl blieb, daß wir nur
zu entscheiden hatten zwischen einsamem Versinken oder Anschluß an
eine jener Mächte, deren Eingreifen unser Glück und unseren Aufstieg
vernichtet hat. Es wäre unseres stolzen Schmerzes unwürdig, wollten wir
diese Tatsachen in dieser Stunde verschweigen oder verschleiern.«

Die Versammlung lauschte in tiefem Ernst. Die Amerikaner konnten es
sich nicht versagen, einen ruhigen Rundblick im Kreis ihrer Feinde von
gestern zu tun. Der Eindruck war erschütternd. Alle diese Gesichter,
die von zähester Energie, lebenslangem Fleiß, von Kenntnissen,
Erfahrungen, angeborenem und anerzogenem Führertum sprachen, wiesen
zugleich den unverwischbaren Stempel eines Jahrfünfts verbissener
Gegenwehr gegen erdrückende Übermacht, versunkener Hoffnungen,
unverwindbar entsetzlicher Enttäuschungen, unstillbarer Trauer,
ungeheuerster Erschütterungen aller Grundlagen ihres Lebens und
Empfindens -- kurz aller tiefsten Leiden und Schmerzen, die über
Staubgeborene verhängt werden können.

Aber in diesen scharfgeprägten Menschenköpfen war auch die Spur
unbändigen Trotzes, unerschütterlichen Lebenwollens, unversieglicher
Hoffnung.

Georg Freimanns Stimme bebte leise von innerem Krampf. »Diese klare
Aussprache der Wahrheit mindert in nichts das Gefühl der Genugtuung,
ja, ich schäme mich nicht zu sagen des Dankes für Sie, meine Herren von
drüben, die Sie als erste die Versöhnungshand uns hingestreckt, als
erste uns zu erneuter, gemeinsamer Arbeit im Dienste der Menschheit
aufgefordert haben -- vor allem für Sie, Freund Elias Patterson --
der Sie zugleich der Gastgeber dieses unvergeßlichen Abends sind.
Seefahrt ist not -- ohne sie muß ein großes Volk in seiner eigenen
Kraft ersticken und verkümmern. Darum haben wir Ihre Hand ergriffen,
die uns den Weg zum Meer aufs neue erschließt. Und Sie, meine Herren
von drüben, Sie haben durch die Tat bewiesen, daß Sie nicht wollen,
daß unser Volk verkümmert und erstickt ... Darum haben Sie auch Ihre
Zustimmung gegeben, daß das erste Schiff, das auf Rechnung zwar unserer
Linie auf deutscher Werft erbaut, doch für gemeinsame Rechnung im
Dienste der United Transatlantic Lines den Ozean, der Ihr und unser
Land verbindet, durchqueren soll -- daß dies stolze Schiff, dessen
Rumpf auf den Helgen der Hammonia-Werft schon stattlich emporwächst,
den Namen tragen soll, der unseren Herzen am teuersten ist: den Namen
›Deutschland‹.«

Ein feierliches Rauschen ging durch die Versammlung -- es klang wie
erster Flügelschlag des Adlers, der, von toddrohender Verwundung
genesen, zu neuem Sonnenfluge sich reckt.

In der Deutschen Augen schimmerte es feucht. Frau Johanna Freimann aber
und Ilse Carstensen senkten tief, tief den grauen, den blonden Scheitel
...

Der Präsident tat ein paar schwere Atemzüge. Nun hatte seine Stimme
wieder den alten Vollklang:

»Meine Damen und Herren! Dunkel liegt auch heute noch die deutsche
Zukunft vor uns. Alles, was uns teuer und heilig war, liegt in
Trümmern, das Werdende ist noch gestaltlos und unbewährt. Wir aber
arbeiten. Und unsere Arbeit, so hoffen wir, wird die Quelle unserer
Zukunft sein, wie sie die Wurzel unseres vergangenen Glanzes gewesen
ist. In dieser Hoffnung, in dieser Gewißheit begrüßen wir das Werk
dieses Tages, begrüßen unsere neuen Mitarbeiter von drüben und den
Herrn Vertreter des großen Volkes, das heute, wir wissen es, in
seiner Gesamtheit noch fremd und ablehnend uns gegenübersteht, das
aber dennoch das erste Land der Erde ist, dessen Bürger sich mit uns
zu gemeinsamer Arbeit zusammengefunden haben. Wir begrüßen das Kind
dieses Tages, die United Transatlantic Lines -- wir begrüßen das freie
Weltmeer, das sich nach vier Jahren der Verstrickung wiederum vor uns
auftut -- wir grüßen die Zukunft -- die Zukunft unseres Volkes, die
Zukunft des Menschengeschlechts.«

Kein Hoch klang, kein Jubelruf, kein Tusch -- in stummem, feierlichem
Ernst neigten sich die Gäste dieses Festes der Versöhnung vor der Weihe
der Stunde.




                                  13


Und endlich forderte die Freude doch ihr Recht.

Der Champagner löste die Lippen, beschwingte die Hoffnungen, machte
die Augen der Frauen leuchten, entrunzelte die Stirnen der Männer. Die
starre, zusammengeraffte Haltung der Deutschen lockerte sich. Man stand
in Gruppen, man fand sich zu immer neuer Begrüßung zusammen.

Um Johanna Freimann, um Ilse Carstensen bildeten sich dichte Kreise der
Verehrung, der Huldigung. War's nicht fast, als hielten zwei Fürstinnen
der Vergangenheit Cercle?

Die Jugend von hüben und drüben drängte sich um den kleinen Wildfang
von der Third Avenue. Bessie aber schaute unzufrieden in der Runde der
bartlosen, geschniegelten Jünglinge umher, die sie umdrängten ... Sie
spähte nach ihrem Lehrmeister -- dem Riesen mit dem struppigen blonden
Bart ...

Natürlich -- da stand er inmitten des Kreises, der sich um Ilse
Carstensen drängte ... Um fast seines ganzen Strudelkopfes Länge ragte
er aus dem Schwall.

Da schoß ein toller Einfall durch Bessie Pattersons Hirn. »Machen
Sie Platz, Gentlemen!« befahl sie und brach sich mit einer Art
Schwimmbewegung durch die Fräcke Bahn. Und schon saß sie am Flügel. Sie
präludierte im Rhythmus einer Jazz-Band ... Aber dann kam plötzlich ein
marschfester Takt in ihr Spiel. Und mit einem munteren Krähstimmchen
begann sie zu singen.

Ihre deutschen Verehrer, auf deren Brust fast überall das Eiserne
Kreuz prangte, verstummten und erblaßten vor Entsetzen. Aus dem kecken
Bubenmündchen der kleinen Yankeemaid klangen Töne und Worte, die sie --
-- kannten -- --

  »Uäß nutzet mich eine schöne Mäddchen,
  uänn andre mit spätziere gehn?
  Uäß nutzet mich eine schöne Mäddchen,
  uänn andre mit spätziere gehn --
  und kussen ihr die Schönheit äbb,
  und kussen ihr die Schönheit äbb -- --«

Mit triumphierendem Rundblick ersättigte sich das kleine Ungeheuer an
der sprachlosen Verblüffung seiner Hörer -- strahlte vor Wonne, als die
Gruppe, die sie umdrängte, aus dem ganzen Saale Zuzug erhielt ...

Und plötzlich lachte sie mitten im Liede schallend auf: Ihr
Gewaltmittel hatte geholfen -- hinter der vier- und fünffachen Reihe
staunender, lächelnder, fassungsloser Jünglinge, Männer, Greise,
verhalten entsetzter alter und überlegen und abschätzig naserümpfender
junger Hamburgerinnen tauchte der blonde Dickschädel ihres Lehrmeisters
auf -- auch in seinen wasserblauen Augen stand ein humoristisches
Grausen ...

Schmetternd trällerte Klein-Bessie:

  »Darän ich meine, so gänz alleine,
  darän ich meine Freude häbb --
  Darän ich meine, so ganz alleine,
  darän ich meine Freude häbb --!«

Da klang in ihr tolles Krähen eine empörungbebende Stimme:

»+Bessie, finish, please --!+«

Elias Patterson, mit entgeistertem Gesicht, drängte sich durch die
Menge und klappte mit einem Ruck den Deckel der Klaviatur zu.

Da wirbelte Bessie sich vier-, fünfmal auf dem Klavierstuhl herum,
patschte in die Hände wie ein Schulmädel und lachte, lachte, lachte ...

Inmitten des verlegenen Entsetzens, das die Familienszene umgab,
klang da ein schmetterndes Echo. Eine Baßstimme, dröhnend wie ein
barbarisches Siegesgeheul ... Der Bann war gebrochen -- Hamburgs kühle
Reserve, die Korrektheit der Ingenieure und Kaufleute aus Pattersons
Stabe -- das alles ward hingerissen in einen Ozean lang aufgestauter
Fröhlichkeit ...

Selbst Papa Patterson entrann seinem Schicksal nicht ... Er mußte
wieder einmal vor Klein-Bessie kapitulieren. Es hielt ihn nicht: er
lachte mit.

Aber -- -- was -- war denn -- das -- --?!

In die aufschäumende Heiterkeit derer, die im Lichte wohnen, drang
plötzlich ein Grollen aus der Tiefe ...

Gegen die geschlossenen Rolläden krachten Steinwürfe --
vieltausendstimmiges Gebrüll brandete von der Alsterpromenade herauf:

»Nieder mit dem Kapitalismus!«

»Licht aus -- Messer 'raus!«

»Es lebe die Weltrevolution!«

Erblassen -- Entsetzen -- starres Verstummen -- fieberndes Lauschen --
--

Nun kam ein stampfender, knirschender Rhythmus in das formlose Getöse,
das den Hotelpalast umbrandete ...

Gesang -- schrecklicher, sturmtoller, Vernichtung dräuender Gesang:

  »Die Guillotine saust,
  der Rachejubel schreit,
  es flammt in unsrer Faust
  die rote Seligkeit!«




                             Drittes Buch




                                   1


Die Räterepublik in München hatte abgewirtschaftet.

Die Weimarer Verfassung war angenommen. Der »Friedensvertrag«
unterzeichnet.

Es schien, als sollte das unglückseligste aller Länder zur Ruhe kommen.

Über Hamburg aber waren in eben jenen Tagen, da im Spiegelsaale
von Versailles deutsche Namen unter das Instrument scheußlichster
Vergewaltigung Deutschlands gesetzt wurden, noch einmal schwere,
entsetzliche Tage gekommen. Durch die Gassen der Innenstadt raste die
Junirevolte.

Eine Woche lang stand diesseits und jenseits der Elbe die Arbeit still.
In den Adern der Stadt stockte das Blut.

Die Männer, welche dem Schaffen ihrer Heimat Führer waren, saßen in
ihren Häusern, ihren Villen untätig, mit gramverzerrten Gesichtern,
ohnmächtig geballten Fäusten.

Die grauen und weißen Häupter, in denen sich die Erfahrungen,
Kenntnisse, Begabungen ihres Zeitalters konzentrierten, waren zu
wertvoll, um dem Wahnsinn der tollgewordenen Masse preisgegeben zu
werden. Ordnung zu schaffen, war Sache der Jugend -- der Söhne und
Erben jener Gesellschaftsschicht, die in guten Tagen zwar die Führung
und Verantwortung des großen Schaffensprozesses der Nation auf sich
genommen, dafür aber auch die Freuden, Genüsse und Erhebungen einer
erhöhten Lebensstellung genossen hatte.

Die Bürgerjugend versagte nicht. Als der Blut- und Plünderungstaumel
des Pöbels auf seinem Höhepunkt angekommen war, als die scheußliche
Hefe der Großstadt im Bunde mit Schwärmen von Gott weiß wo
herangeströmten stadtfremden Gelichters das Innere Hamburgs in ein
Tollhaus zu verwandeln drohte, wurden die Bahrenfelder Jäger und
Husaren alarmiert. Sie rückten ein, stellten sich entsagungsvoll unter
das Kommando des kommunistischen Stadtkommandanten -- kämpften in
hartem Straßenkampfe viele Stunden lang wider die Meute, deren Führer
der entartete Abschaum des ruhmvollen deutschen Heeres geworden war --
und wurden dann durch scheußlichen Verrat überrumpelt, entwaffnet und
unter die Nagelsohlen der vertierten Masse getrampelt.

Tage tiefster Schande für die Stadt der drei Türme -- Tage, die ihre
Chronisten ausstreichen möchten aus ihrer Geschichte ...

Und endlich kam dennoch die Erlösung.

Lettow-Vorbecks Regierungstruppen rückten in die umzingelte Stadt. Und
plötzlich war das Gesindel zerstoben.

                   *       *       *       *       *

Für Anders Niemann war's eine entsetzliche Zeit gewesen. Kaum ein
anderer Sohn der Stadt hatte auch nur entfernt Ähnliches gelitten. Um
nicht den Argwohn seiner Arbeitsgefährten zu erwecken, hatte er sich
nicht völlig zurückhalten dürfen. Aber er hatte einen Ausweg gefunden:
Er hatte sich zum Sanitäterkommando gemeldet, hatte die Leiber seiner
verwundeten Kameraden aus dem heftigsten Feuer herausschleppen, ihnen
die erste Hilfe bringen dürfen ... Und hatte dabei mit hundert Sinnen
beobachtet, gelauscht, gelernt ...

Er wußte nun, was es war, das »Volk«. Er wußte zu unterscheiden.

Er hatte begriffen: Es gab zweierlei »Volk«. Es gab die Masse -- und es
gab den Pöbel.

Die Masse ... Im unmittelbaren Umkreise des namenlosen Daseins, das er
für eine ungewisse Zeit des Schauens und Erkennens über sich verhängt
hatte, gehörten zur Masse die Tietgens-Eltern, Clas Mönkebüll und --
ach ja, auch Antje.

Das waren die Millionen, die seit Beginn der Herrschaft der Maschine
in allen zivilisierten Ländern herangewachsen waren, nicht Opfer, wie
sie selber wähnten, sondern Produkte der Industrie. Die Fabrik hatte
den Fabrikarbeiter, die Maschine den Maschinenmenschen erzeugt. Etwas
völlig Neues in der Geschichte der Menschheit -- mit dem Proletarier
vergangener Epochen auch nicht entfernt vergleichbar. -- Ein neuer
Typus, eine neue Rasse. Zunächst noch ohne seelische Verbindung mit
den geschichtlichen Menschenarten, dann ohne historischen Instinkt.
Und dennoch notwendig, unentbehrlich, ein organischer Bestandteil der
neuen Unterschicht, welche sich zu formen begann unter der Herrschaft
der ungeheuerlichsten aller Wandlungen, die jemals über das »Ebenbild
Gottes« gekommen waren ...

Noch hatte diese Masse sich selber nicht begriffen -- und die andern,
die alten Stände, begriffen sie ebensowenig. Kein seelisches Band
wob sich vom Hause Tietgens zum Hause Carstensen, von Antje zu Georg
Freimann ... fremd und fern standen sie beieinander, diese Menschen,
die an gemeinsamem Werke wirkten ...

Und was das entsetzlichste war: Am Boden der Masse, als dicke
Hefeschicht des brodelnden Gärkessels dieses gigantischen
Wandlungsprozesses hatte sich ein Etwas gebildet, das gar nicht neu,
sondern uralt war, und doch, wie alle anderen Elemente der Menschheit,
sein Gesicht gewandelt hatte -- der Pöbel ...

Überall, wo im Laufe der Menschheitsjahrtausende die Zivilisation in
das Stadium des Stadtlebens hineingewachsen war, überall da hatte
sich Pöbel gebildet -- der Bodensatz der Schwachen, der Faulen, der
Lebensuntauglichen, der nicht Vollwertigen, der Dummen, der Schlechten
... Und uralt war auch die Erscheinung, daß dieser Pöbel, dieser
Großstadtpöbel zuzeiten rebellierte -- daß die Hefeschicht nicht mehr
ruhig und stumpf an der Tiefe sich ablagerte, sondern aufschäumte,
emporquoll, die ganze Masse des Volkstums durchtränkte, verunreinigte,
in wüste Wallung brachte bis zum Überschäumen, bis zur greulichen
Zersetzung ...

War's ein Wunder, daß diese Erscheinung in nie geahnter Furchtbarkeit
an dieser Zeit sich auswirkte -- an dieser nie erhörten Zeit der
Umformung und der Erschütterung, welche die -- -- Maschine über die
Menschheit verhängt hatte?!

Sie hatte ihr die Mittel gegeben, über Kontinente, durch Meerestiefen
hindurch, rund um die Lufthülle des Erdballes zu schreiben erst und nun
auch zu sprechen ... Und endlich hatte der Mensch gar das Fliegen, dem
Grausen der Wassertiefe sich vermählend, das Tauchen gelernt ... Das
alles verdankte er diesem Geschöpf seines Hirns, das nun die Meisterin
seines Schicksals geworden war, der Dämon seines Geschlechts ...

Anders Niemann schwindelte, wenn er solch phantastischer Schickung
nachsann -- in den schlaflosen Stunden dieser finsteren Nächte, in
denen neben ihm der schwere Atem seiner Kumpane klang.

Unsäglich das Grauen solcher Nächte -- durchängstet von der
hoffnungslosen Frage:

Wie soll das enden?!

Aber stärker noch als das Grauen schwoll in Anders Niemanns
aufgeschlossener, von Schauen, Grübeln und Erkennen durchrüttelter
Seele das Mitleid ... ein grenzenloses Mitleid mit diesem verdammten
Geschlecht seiner Tage ...

Das »Volk« ... war es nicht verraten und verloren in seiner hilflosen
Seelenöde? In seinem dumpfen Groll über dies Schicksal seines Daseins,
das es durch eine unüberbrückbar scheinende Kluft vom Zusammenhange mit
der Entwicklung seines Volkstums, mit der Geschichte seiner Nation,
mit dem Seelen- und Geistesleben der historisch gewordenen Gesamtheit
trennte? Das unverstanden und ohne zu verstehen nur das eine begriff:
daß es irgendwie vergewaltigt werde, irgendwie betrogen um sein
Menschenrecht: sinnvoll, befriedigt und freudig mitwirken zu dürfen am
gemeinsamen Werk?

Was half es diesen Millionen, daß der Staat der Vergangenheit ihnen
ein Mindestmaß der Existenz gesichert hatte, sie geschützt vor den
lebenauslöschenden Folgen der Krankheit, des Unfalls, des Alters? Was
half's ihnen, daß sie heute, zur organisierten Masse geballt, imstande
waren, sich von Zeit zu Zeit eine gewisse Anpassung ihrer Entlohnung an
den schwindenden Geldwert zu ertrotzen?!

Arm blieben sie dennoch -- sie konnten nicht glücklich werden, niemals
und auf keine Weise glücklich ...

Denn glücklich lebt nur, wer begreift ... wessen Denken geschult ward,
sein Dasein in einem großen Zusammenhang als nützlich, zweckmäßig,
wesentlich, notwendig, sinnvoll -- heilig zu begreifen ...

Wer hatte sie das gelehrt -- wer sah auch nur die Aufgabe, sie das
zu lehren -- wer war selbstlos, unantastbar -- und dabei wort- und
wissensgewaltig, überzeugt und überzeugend, wer war groß und rein
genug, sie das zu lehren?!

Ach -- und selbst der Abschaum, der Pöbel -- verdiente er Verdammung,
Niederknüppelung, Bändigung durch Knute und Kette, durch Fußtritt und
Maulkorb -- oder war nicht auch er weit mehr des Mitleids würdig, des
Erbarmens, der Erlösung?

Dieser Tedje war von seinen Eltern gewiß mit aller Liebe und Sorgfalt
erzogen, deren ihr tüchtiges, ernsthaftes Wesen, ihr angeborenes und
in harter Lebensfron gestärktes Pflichtgefühl fähig war. Er war gewiß
einmal ein schwieriger zwar, doch im Grunde gutartiger Bursch gewesen
... hätte vielleicht doch im Laufe ruhiger Entwicklungsjahre die
Dämonen seines Wesens, den Schnaps und die Sinnengier, überwunden, und
wär's an der Hand einer strammen, rüstigen, tüchtigen Frau ...

Aber da war der Krieg gekommen und hatte ihn gelehrt zu töten,
zu nehmen, was nicht sein war, zu faulenzen, zu spielen, sich
zusammenzurotten, zu neiden, zu hassen ... Die Gefangenschaft war
gekommen, und die Peitsche kaukasischer Bergwerksvögte hatte seine
Menschenwürde zerstriemt ... So war er geworden, was er war: ein
Bolschewist -- ein Verneiner des Wirklichen, ein Zertrümmerer des
Überlieferten, ein Stück Chaos, ein Stück Satan ...

Und mit dem Haß und der Verneinung war die Gier gekommen und der
Neid ... Haben, was die anderen hatten ... Nicht es verdienen durch
zähe Arbeit des Kopfes -- nein, es erraffen, an sich reißen mit der
Masse der starken Fäuste -- nicht es genießen mit den tausend Organen
verfeinerter Hirne, nein, es verprassen und verwüsten in sinnloser,
verständnisloser Orgie ...

Und wenn man jeden einzelnen der entsetzlichen Horde, welche die
sechzehn jungen Bahrenfelder Jäger zerhackt, zerrissen, ersäuft,
zertrampelt hatte -- wenn man jede einzelne dieser Menschenbestien
wissenschaftlich zergliedert hätte, der Entwicklung ihres Schicksals,
ihrer Seele nachgespürt bis in die letzten Wurzeln ihres Wesens --
hätte man nicht am Ende solchen Analysierens und Durchdringens überall
das gleiche gefunden:

Unabweisbare Folgerichtigkeit -- lückenlose Kausalität -- unentrinnbare
Logik -- --

Notwendigkeit -- --?!

Im Schauer solchen Erkennens begriff Anders Niemann auch sich selber --
sein Handeln, Dulden, Unterlassen ... begriff's, daß er sich nicht, wie
er's unzählige Male im Hirn gewälzt, der selbstgewählten Verstrickung
entraffte -- nein, daß er es fertig brachte, in seiner Maske, in
seiner Rolle auch jetzt noch auszuhalten ... neben diesem rasenden
Tedje, diesem verblendeten Clas ... Denn wichtiger noch als dies: daß
der Ordnung ein Retter mehr, dem Chaos ein Bezwinger mehr entstand --
wichtiger war dies andere: daß einer da war, der Ohren hatte zu hören,
Augen zu sehen und ein Herz zu verstehen ...

Denn wenn hier eines retten konnte, dann war's das Herz -- das hörende,
schauende, verstehende Herz ...

                   *       *       *       *       *

In diesen Wochen letzter Verzweiflung, tiefsten Entsetzens war's für
Anders Niemann ein Glück ohne Maßen gewesen, daß er fast täglich das
Beisammensein mit der Freundin genossen hatte.

Das riesige Verwaltungsgebäude der H. T. L. war in diesen Tagen
verödet gewesen, nur von einer Truppe unbedingt zuverlässiger, mit
Maschinengewehren und Handgranaten schwerbewaffneter Beamten bewacht
und darum von der Meute nicht gefährdet. So hatte Antje, nach Schauen
und Begreifen lüstern wie ihr Freund und um ihres Freundes willen,
sich in der Masse der Neugierigen umgetrieben, die, seltsam genug, am
Rande des Dreckvulkans doch immer Kopf an Kopf sich gedrängt hatte,
durch pfeifende Kugeln und gelegentliche Blutopfer beständig in Angst
und Fluchtbereitschaft gehalten, dennoch nie ganz verscheucht ... Und
abends hatten sie dann an Mudder Minings Tisch ihre Beobachtungen
und Gedanken ausgetauscht, die beiden Alten, die Tochter und der
Hausgenosse, dieweil Tedje und Clas in erstürmten Wirtschaften
und Hotelsälen wüste Orgien gefeiert und ihre Spießgesellen mit
trunkenen Phrasen berauscht hatten ... Und klarer noch als das kühle
Beobachterauge des maskierten Sohnes der anderen Welt hatte das Herz
des Mädchens aus der ringenden Klasse neuer Menschen begriffen und
gedeutet, was sich da eigentlich vollzog ... dem Freunde den Weg
gewiesen in die Tiefen dieser Tausende verworrener, verwahrloster,
verhetzter, irregeführter Menschenherzen -- in jene Tiefe, in der,
ihrer selbst unbewußt, die Sehnsucht schluchzte -- die Sehnsucht nach
Zusammenhang, nach Licht, nach Sinn ...

Ihr Herz war voll Liebe, darum sah sie. Ihr Herz war licht, darum
erkannte sie. Ihr Herz war Güte, darum begriff sie, darum konnte sie
begreifen lehren.




                                   2


Kaum waren die letzten Schüsse verhallt, kaum hatten die ersten
Kompanien Lettows in den Höfen der staatlichen und städtischen
Amtsgebäude ihre Gewehre zusammengesetzt, da kam auch das gewaltige
Rädergetriebe der Arbeit dieser unübersehbaren Zusammenballung von
Kräften und Möglichkeiten wieder in Schwung.

Im H. T. L.-Palast wie auf der Hammonia-Werft fand sich die
überwiegende Mehrzahl der Angestellten aller Abstufungen alsbald wieder
zur Arbeit ein.

Bob Timmermanns meldete sich bei seinem Chef mit verbundenem Kopf und
Arm, dicke Beulen im Gesicht, blaue Flecken am ganzen schmerzenden
Körper. Er war einem Rudel junger Lümmel, die auf der Werft zu plündern
und Maschinen zu beschädigen versucht hatten, mit Armins Karabiner
in der Hand entgegengetreten, hatte einen der Attentäter schwer
angeschossen, war aber dann umzingelt und jämmerlich zusammengehauen
worden. Nur das Eingreifen einer Anzahl Werkmeister, die ihm vom
Familienwohnhause der alten Vertrauensleute mit bewaffneter Hand zu
Hilfe gekommen waren, hatte sein Leben gerettet. Unter ihnen war auch
der alte Tietgens gewesen, der jeden Morgen zur Werft gekommen war, um
nach seinem Kran zu sehen.

Vater Carstensen und Ilse konnten sich nicht genugtun, dem tapferen
Verteidiger ihres Eigentums zu danken. Bob Timmermanns schwamm in Glück.

Aber wenn Ilses ernste Augen ihn mit nie erträumter Herzlichkeit
anstrahlten, dann sah er neben ihrem schmal gewordenen, vom Grauen
der durchlittenen Tage gezeichneten Gesicht ein keckes Stumpfnäschen
auftauchen, hörte ein helles Krähstimmchen trällern:

  »-- und kussen ihr die Schönheit äbb --
  und kussen ihr die Schönheit äbb ...«

Herr Elias Patterson war samt seiner Tochter und seinem ganzen Stabe
mit dem letzten Schnellzug, der vor der Erstürmung des Hauptbahnhofes
durch Spartakus noch hatte abgelassen werden können, inmitten eines
entsetzten Schwarmes flüchtender Ausländer nach Bremen abgereist und
von dort mit einem englischen Frachtdampfer nach drüben zurückgekehrt.

Zum Glück ergab eine telephonische Anfrage bei den Banken, daß er die
eingeräumten Kredite weder eingezogen noch gesperrt hatte ... Also er
hatte den Glauben an die unzerstörbare Kraft der deutschen Wirtschaft
anscheinend noch nicht verloren.

Und kaum hatte der Telegraph die Kunde von Hamburgs Wiederherstellung
in die Welt getragen, da kam auch schon Kabelgramm auf Kabelgramm
geflogen, die dartaten, daß die Hoffnung auf Pattersons Standhaftigkeit
nicht getrogen habe. Er bat um schleunigen Bericht über die Lage und
riet dringend, nunmehr sofort an die Reichsbehörden mit dem Verlangen
nach beschleunigter Anerkennung des Entschädigungsanspruchs der
Reedereien heranzutreten.

So fuhren denn schon wenige Tage nach dem Einrücken der
Regierungstruppen Georg Freimann und Detlev Carstensen mit einigen
ihrer Direktoren nach Berlin. Bob Timmermanns hatten sie diesmal zu
Hause gelassen -- nicht nur weil er mit seinen Beulen und Verbänden
wenig repräsentationsfähig aussah ... Statt dessen hatten sie einige
Unterbeamte der Linie und einige Arbeiter der Werft mitgenommen, unter
letzteren den alten Tietgens als Mitglied des Vorstandes der S. P.
D., Ortsgruppe Hamburg. Dennoch erntete Robert der Gewaltige den Lohn
seiner Aufopferung. Unter Verleihung des Titels »Generaldirektor« wurde
er zum stellvertretenden Oberleiter der Werft ernannt und für die
Zeit der Abwesenheit des Herrn Detlev Carstensen mit der Leitung des
Gesamtbetriebes beauftragt.

Vor wenigen Wochen würde Bob Timmermanns diese ungewöhnliche Ehrung als
Ermunterung noch stolzerer Hoffnungen aufgefaßt haben. Ilse Carstensen
hatte etwas Derartiges befürchtet und sah den Tagen, in denen sie
nun täglich mit dem Getreuen stundenlang zusammen zu arbeiten haben
würde, mit geheimem Bangen entgegen. Aber sie erlebte eine angenehme
Überraschung -- oder hatte sie nicht einen leisen Beigeschmack von
Enttäuschung? -- Der Riese, so sehr er sich draußen im Vollgefühle
seiner neuen Würde sonnte, war der Tochter seines Chefs gegenüber von
einer seltsamen Befangenheit ...

Seine Mimik war so durchsichtig wie seine Psychologie. Die schlaue
Ilse hatte ihn bald durchschaut. Die plötzliche Teilnahme der kleinen
Neuyorkerin für sein Seelenleid -- und dann die Szene im Atlantic --
Bessie deutsche Soldatenlieder singend, Bob Timmermanns vor Lachen
berstend und inmitten des entsetzten Hamburgertums wie ein Berserker
Beifall brüllend -- und nun das jähe Abflauen seiner Huldigungen -- da
bestand ein Zusammenhang ...

Ilse lachte belustigt in sich hinein, als sie ihres Verehrers
Seelennot enträtselt zu haben meinte. Aber bald hatte sie noch mehr
herausbekommen. Bobbie schwankte. Bobbie wußte noch nicht recht: ...
Bessie -- das Täubchen auf dem Dach -- o weh -- es war sogar schon
ein paar Häuser weiter entschwebt ... Ilse: der Spatz in der Hand!
Na, warte, Bobbie -- so leicht soll dir deine Untreue denn doch nicht
werden!

Und fortan machte die stolze Ilse sich das kokette Vergnügen, dem
Abtrünnigen ein wenig einzuheizen.

Aber wenn Ilse Carstensen während der Werktagsstunden sich boshaft
vergnüglich an dem schelmischen Spiel ergötzt hatte, ihren schwankenden
Verehrer zwischen Entzücken und Verstimmung, zwischen hoffender
Gewißheit und im Dustern tappendem Zweifel, zwischen Ilsetraum und
Bessietraum hin und wieder zappeln zu lassen -- dann weinte sie nachts
in ihre einsamen Kissen um den Mann, der nun längst ihr Lebenskamerad
wäre, hätte sie ihn zu verstehen, zu stärken, zu trösten gewußt in
einer Krise, die seinem bewährten Herzen gewißlich keine Schande
gemacht hatte.




                                   3


Die Orkane, welche die drei Türme umtobt hatten, waren verstummt --
aber drunten in der Tiefe brauste und gurgelte noch immer die »Tote
See«.

Die Wahnwitzigen, welche die Lebensmittelgeschäfte ausgeplündert, auf
dem Wochenmarkte die Eierkörbe umgestürzt und den Bauersfrauen die
Preise diktiert hatten, bekamen nun die logische Folge ihres Eingriffs
in den Wirtschaftsorganismus der Stadt zu spüren -- leider mit ihnen
die ganze Bürgerschaft. Die Zufuhr alles Notwendigen war ins Stocken
geraten. Der Bauer blieb auf seinem Dorfe, die städtischen Händler
waren ruiniert. Die Teuerung, die seit dem ersten Kriegsjahre langsam,
doch unabwendbar angeschwollen war -- nun ward sie Lawine und begrub
die Reste des Wohlstandes ganzer Bevölkerungsklassen. Sie lastete wie
immer am schwersten auf den Schultern des Proletariats. Sparen hatte
es nicht gelernt. Seine Vorkämpfer hatten es nicht gelitten. Es durfte
sich ja nicht »verbürgerlichen«.

»Tjä, denn helpt dat allens nich,« murmelte sogar Mudder Tietgens,
»denn möt ji üm Lohnerhöhung inkomen, süß kann'k jug nich miehr satt
kriegen, Jungs ...«

Und wieder telephonierte Tedje an seine Zentrale -- und wieder kamen
russische Hilfstruppen -- kamen Hetzer und Rubelnoten. Die große
Pestbeule war aufgestochen und heilte äußerlich ab -- aber längst
war der ganze Körper infiziert ... Das Gift fraß weiter und fand an
dem tiefgeschwächten Ernährungszustande des hinsiechenden Patienten
Deutschland den günstigsten Nährboden.

Tedje hatte sich von seiner ersten Angst erholt. Seine Stellung auf
der Werft, inmitten seiner Kameraden, war fester als je. Nun schwang
er sich an die Spitze eines Ausschusses der Werftarbeiter, welcher die
neuen Lohnforderungen formulieren und der Leitung vortragen sollte.

Als Termin für die Aktion war der Tag bestimmt, in dessen Frühe die
Regierungstruppen abrücken sollten ...

An diesem Morgen erhielt Bob Timmermanns beim Ankleiden den Besuch
seines Bruders Armin. Der Leutnant erschien in Uniform, marschbereit.
Die Schicksale, die hinter ihm lagen, hatten ihn sehr verändert.

Er hatte sich mit seiner Gefolgschaft junger Kaufleute und Studenten
der Hamburger Einwohnerwehr zur Verfügung gestellt und hingebend
an der Verteidigung des Rathauses teilgenommen. Nachdem die
Hamburger »Regierung« mit dem unterlegenen Mob jenen schändlichen
Waffenstillstand abgeschlossen hatte, war er mit seinen Kameraden
der Rachewut des Gesindels ausgeliefert gewesen und wie durch ein
Wunder mit zwei Messerstichen in Arm und Kopf davongekommen. In
einer Privatklinik versteckt, hatte er einen Nervenzusammenbruch
erlitten. Die Schmach und das Grauen hatten ihn niedergeschmettert. Das
Leiden hatte ihn ernsthafter, aber auch gefährlicher gemacht. Armin
Timmermanns war nicht der Mann zu vergessen. Er wußte jetzt erst, was
Haß ist.

»Also leb' wohl, teures Bruderherz -- und mein aufrichtiges Beileid,
daß du ohne unsern Schutz in diesem Pestloch von Stadt zurückbleiben
mußt ... Was macht der Karabiner?«

»Der ist auf meinem Bureau im Geldschrank eingeschlossen. Du hast recht
behalten -- er hat sich bewährt.«

»Ich weiß. Aber hast du das Gefühl, lieber Kerl, daß du ihn schon nach
seinem vollen Werte bezahlt hast?!«

»Nein!« lachte Bob gutgelaunt und griff in die Brieftasche. »Wann sieht
man dich in Hamburg wieder?«

»Hoffentlich bald ... Ich habe schon einmal so etwas wie deinen
Retter spielen dürfen ... Die große Abrechnung mit den November- und
Juniverbrechern möchte ich nirgendwo anders als hier erleben -- wo man
mich bespuckt und getreten hat ...«

Als der Generaldirektor an diesem Morgen das Werftgelände betrat,
wußte er sofort, daß etwas nicht stimmte ... Überall feiernde,
disputierende Gruppen ... Dicht vor dem Bureauhause, um die Laderampe
und den Güterschuppen der Werfteisenbahn herum so etwas wie eine kleine
Volksversammlung zusammengeballt. Das Gezeter eines Redners von der
Rampe herniederschallend -- grelle Zwischenrufe, die Klingel eines
selbstbestellten Verhandlungsleiters -- ein Güterwagen als »Olymp«, das
Dach des Schuppens dicht von gierig lauschenden Hörern im Arbeitskittel
besetzt -- ja sogar am Schaft eines riesigen Bogenlampenkandelabers
klebten sie wie die Fliegen ... Und als des verhaßten Generaldirektors
allbekannte Gestalt unfern dem Meeting vorüberstapfte, schollen
Pfiffe, Gröhlen, Schimpfworte: »Wullt du een' op de Nehs' hebben,
Grotsnuut?!«

Aber auch das erkannte des Kundigen Auge: Es waren nur die jüngeren
Elemente, die Ungelernten, die »Halbstarken«, welche die »Bewegung«
trugen. Die älteren, besonnenen Werftangehörigen fehlten einstweilen.
Ein Trost -- aber ein geringer. Der Terror der Jugend würde früh genug
auch die Widerwilligen, die Friedfertigen, die Maßvollen mitreißen ...

Ilse kam dem Freunde mit fiebernden Augen entgegen:

»Heut gibt's wieder was! Gut, daß Sie kommen -- ich hatte schon Angst,
man hätte Ihnen den Weg verlegt ...« Und ihre Augen leuchteten Dank,
Vertrauen ... Bobbies Herz klopfte, seine Donnerstimme ward brüderlich
zart:

»Keine Angst, Fräulein Ilse --« wahrhaftig, er wagte es, Fräulein Ilse
zu sagen! -- »es ist vorläufig halb so schlimm ... Nur die Lausebengels
sind beisammen ... Aber freilich: das ist immer der Anfang ... Die
andern lassen sich mitreißen ...«

»Ein Streik muß unter allen Umständen vermieden werden«, meinte Ilse.
»Ein Kabel von Patterson ist da: Der Konzern bestehe darauf, daß die
›Deutschland‹ spätestens Mitte Januar vom Stapel laufe -- andernfalls
werde man die Hoffnung auf Wiederherstellung unserer Bündnisfähigkeit
aufgeben ...«

»Wann wird er kommen?« fragte der Generaldirektor.

Um Ilses Lippen zuckte ein flüchtiges Lächeln. »Er schweigt sich aus.
Aber hier ist noch ein Telegramm an Ihre Privatadresse.«

Timmermanns trat ans Fenster und las -- o weh -- es war Englisch -- und
dabei die Unterschrift: Bessie Patterson ... Verflucht ...

Ein kurzer Kampf -- dann wußte er, was er zu tun hatte. Mochte die
Stolze immerhin wissen, daß die kleine Dollarmaid ihm etwas mitzuteilen
hatte.

»Würden Sie die Güte haben, Fräulein Ilse, mir das vorzulesen?«

Und lächelnd entzifferte Ilse: »Höre bedauernd meines dicken Meisters
Verletzung, kabelt Befinden.« Und mit boshaftem Schmunzeln las sie laut
den Namen der Absenderin.

Bobbie glühte wie ein Stahlblock unterm Fallhammer. Na -- wenn schon --
--

»Machen Sie das Maß Ihrer Güte voll und setzen Sie mir eine Antwort
auf!«

Ilses Lippen zuckten vor Übermut. Sie kritzelte ein paar englische
Worte auf ein Notizblatt und reichte es dem Treulosen.

»Heißt wie auf Deutsch?«

»Knochen wieder gesund, Herz unheilbar angeknackst. Bobbie.«

»Fräulein Ilse --!« stammelte der Riese. »Ich bitte Sie -- wie können
Sie nur --«

»Versuchen Sie nicht zu schwindeln -- -- Herr -- Generaldirektor!«
lachte Ilse. »Das können Sie nicht.«

Ein rauhes Klopfen überhob ihn der Antwort. Und schon sprang die Tür
auf: Eine Gruppe junger und ganz junger Arbeiter stapfte geräuschvoll
herein -- mit ihr eine Wolke von Schweißdunst, Öldunst, Teerdunst,
Schnapsdunst --.

Tedje Tietgens an ihrer Spitze ... auf seinen Zügen flammte die Röte
der Destille. Da sah er Ilse -- und eine zweite heißere Flamme zuckte
in seinen Augen auf. Er wandte sich halb an den Generaldirektor, halb
an die »Feine«.

»Wir sünd die Deputaschon von unsre Kollegen!« begann er pathetisch.
»Wir sünd von die Versammlung unsrer Kollegen beauftragt, die
Forderungen der Arbeiterschaft vorzulegen -- und wir sünd beauftragt,
die Werftdirekschon ein Ul -- ein Ul --«

»-- ein Ultimatum, wollen Sie sagen, Tietgens«, half Timmermanns
herablassend ein.

»Ja -- dat is dat Wort --« stotterte Tedje, »öwerst ick bün nich
Tietgens, dat Sei't wissen, Herr Timmermanns -- ick heiß' Herr
Tietgens!«

Die Kollegen knurrten grinsend Beifall.

»Und ich heiß' Herr Generaldirektor, Herr Tietgens, daß Sie's wissen«,
erwiderte Timmermanns gelassen. »Nehmen Sie Platz, meine Herren, soweit
die Stühle reichen. Bitte um die Aufstellung.«

Tedje setzte sich breitbeinig, reichte ein Blatt, das die Forderungen
der Streikwilligen enthielt. Der Generaldirektor gab die Tabelle an die
Tochter seines Chefs weiter. Die las aufmerksam, gesenkten Hauptes.
Tedje verschlang jede ihrer Bewegungen. Höll' un Düwel -- so was in
die Arme kriegen -- -- das nächste Mal mußte es noch viel doller gehn
-- die rote Woche durfte nur ein Auftakt gewesen sein. Man hatte sich
begnügen müssen, entwaffnete Männer aus der Bourgeoisie zu massakrieren
... bis an die Weiber war man noch gar nicht gekommen ...

Ilse Carstensen reichte ihrem Getreuen das Blatt zurück. Beider Blicke
trafen sich. Bob Timmermanns verstand Ilses stumme Frage: Ist das
überhaupt tragbar? Er schüttelte den Kopf.

»Meine Herren,« sagte der Generaldirektor, »wenn Sie denken, die
Werftleitung hätte die Mittel, um diese Forderungen zu bewilligen,
dann irren Sie sich. Wir verfügen über einen Kredit, der beschränkt
ist -- das Geld ist fast alle. Herr Carstensen ist in Berlin, um mit
der Reichsregierung wegen der Entschädigungen für die Reedereien zu
verhandeln. Werden die vom Reich bewilligt, dann läßt sich über eure
Forderungen reden. Vorher -- ausgeschlossen. Sagen wir heute ja zu
diesen Ansprüchen, dann müssen wir in acht Tagen die Bude zumachen.«

»Een Pund Brot kost' seit gistern hundert Mark, Herr Generaldirektor«,
sagte Tietgens. »Reken Sei sick gefälligs ülben ut, woans en
Familienvadder mit den'n ollen Lohn bestohn kann.«

Und wieder brummten die Genossen Zustimmung.

Timmermanns schwieg in dumpfem Sinnen. Sie hatten recht ... die Leute
... Die Not der Zeit wuchs allen über die Köpfe -- den Arbeitnehmern
wie den Arbeitgebern ... Als ungerecht, als überspannt konnte man die
Ansprüche der Arbeiterschaft unmöglich bezeichnen. Aber was war zu
machen? Es ging nicht ...

»Leute, seid vernünftig ... Wenn wir eure Forderungen bewilligen, ist
die Werft in acht Tagen pleite, ich schwöre es euch ... Es ist eine
schwere Zeit -- wir müssen alle zusammen uns einschränken ...«

»Solang dei Döchder von unse Arbeitgebers noch Brillanten an die
Fingers drägen,« rief Tedje mit einem Vampirblick nach Ilses leise
bebenden Händen, »solang'n söhlen Sei uns nich wat von Inschränken
vörklöhnen --«

In Scham zog Ilse ihre Hand zurück ... Wie hatte sie nur vergessen
können, den Ring abzulegen ...

»Ji sitten in dei Villas un eeten Botter un Wittbrot!« kreischte
Tedje und sprang auf. »Wie slopt op Stroh un fret dreuges Markenbrot
-- kamt uns nich mit Inschränken, süß sprekt wi en anner Word!! Ne,
Timmermanns, so mötten Sei uns nich komen!« Und er hieb mit der
hammergewohnten Faust auf den Tisch, daß die Tintenfässer tanzten.

»Respekt, Minsch, Dunnerslag noch mol!« brüllte da Bob Timmermanns.
»Wenn ji vergeten doht, wen je vör jug hebbt, dann smiet ick Sei an de
Wand, Tietgens, as all eenmol! Hebbt Sei dat all vergeten?«

Diese Erinnerung an seine Niederlage vor den Ohren und Augen dieser
Frau -- der wilde Bursche verlor den Rest seiner Besinnung. Er griff
einen Stuhl und schwang ihn empor. Seine Kameraden fielen ihm in den
Arm. Ilse riß Timmermanns zurück -- ihre Kinnbacken bebten.

»Teuf, mien Deern!« schrie Tedje unter den Fäusten seiner Kollegen.
»Ick will di woll kriegen -- un wenn dien Schlöks von Brögam bi di wakt
und bi di slöppt ... Unsre Kam'roden in Rußland -- --«

Da schnarrte der Fernsprecher.

Ilse nahm den Hörer ... und schon hatte sie ihres Vaters Stimme
erkannt. Es war wie ein Zauber -- als stünde er neben ihr, so laut und
klar klang seine Stimme, dem Beben froher Erregung zum Trotz, das sie
durchschwirrte ...

»Ach, Ilse -- du selber? Eine Freudenbotschaft: Die Regierung bewilligt
der H. T. L. als erste Rate hundert Millionen!«

»Meine Herren,« sagte Ilse, »die Werftleitung bewilligt die Forderungen
der Arbeiterschaft.«

»Verdammi!« knirschte Tedje Tietgens in sich hinein.




                                   4


Selbfünft schritten sie über das Werftgelände, vom Direktionsgebäude
zur Helling hinüber -- umstiebt vom ersten Schnee.

»+Goddam!+« knurrte Elias Patterson, »arbeiten könnt ihr immer
noch, ihr Deutschen ...«

In seinem knisternden Nerzpelz sah er neben der verschlissenen
Vorkriegseleganz Detlev Carstensens wie der reiche Verwandte aus,
der den verarmten Vetter zu besuchen kommt. Aber der verarmte
Vetter brauchte sein Haupt heute nicht niederzusenken, da stand
seine Leistung: die »Deutschland« reckte sich schon bis fast unters
Krangerüst ... Und überall klang im scharfen Dezemberhauch das
tausendfältige Ticktack der Niethämmer, das schnarrende Schwirren des
elektrischen Nietens -- das Knarren der Krane, die viele hundert Tonnen
hoben wie Streichholzschachteln und durch die Lüfte entführten wie
Flaumfedern ... Der alte Carstensen nahm die geflüsterte Anerkennung
des Mannes von drüben mit stummem Behagen hin. Ja -- es ging aufwärts
...

Timmermanns fand sich selber sehr komisch -- zwischen den zwei jungen
Damen, von Bessies frierendem Köterchen mit verärgertem Kläffen
umkreist ... In eine von euch bin ich verliebt, dachte er -- wüßt' ich
nur genau in welche ...

Ilse beobachtete den Getreuen, Treulosen, mit geheimem Schmunzeln ...
Bobbies Psychologie war heute mal wieder sehr durchsichtig ...

Es war, als empfinde auch Bessie, daß ihr langer Lehrmeister nicht mit
ganzem Herzen bei ihr sei. Sie schob plötzlich ihre kleine feste Hand
unter seinen Arm, lachte den Überraschten von unten her vielsagend an.
Es war wie eine Beschlagnahme.

Hoch droben auf dem obersten Laufsteg hämmerten die Zwillinge Tedje und
Clas. Pink, pank! -- Die Gesichter vom Schneesturm gerötet, die Hände
klamm vor Frost, der ganze Oberleib dampfend vom Schaffen, aller halben
Minuten ein Niet -- tick tack -- pink pank.

Plötzlich sah Tedje, daß sein Helfmann Anders entgeistert in die Tiefe
starrte. Tedje folgte dem Blick -- und sah da unten seinen Feind stehen
-- und -- -- die Feine ...

Düwel -- und noch jemanden, den er kannte ...

Dies kleine Gör in dem plustrigen silbergrauen Pelzmantel, war das
nicht -- --

»Verdammi, Jung -- weißt noch, Anders? Wegen dei hebbt wi twei us an de
Köpp kregen vör Tieden!«

Wahrhaftig -- sie war's ... Anders Niemann aber starrte wie verzaubert
auf -- die andere ... So nahe hatte er sie -- seit seinem Versinken --
nicht mehr gesehen ...

Da hob sie den Blick -- alle drei schauten sie an der Steile des
Schiffsrumpfes empor, Bob Timmermanns' erklärendem Finger folgend ...
Mit einem Ruck zog Anders den Kopf in die Luke zurück. Und die kleine
Amerikanerin hob den Kodak, die zwei schwindelfreien Klopfgeister hoch
droben aus der Froschperspektive festzuhalten ...

In Tedjes frostrotes Antlitz schlug die Lohe des Abgrundes. Seine Brust
keuchte, die Augen traten aus ihren Höhlen ...

»Mak keen Beesteri, Tedje!« rief Clas heiser.

Zu spät ... wie aus Versehen glitt der wuchtige Niethammer aus Tedjes
Fingern, sauste in die Tiefe ...

Ein dreifacher Aufschrei drunten --

Haarscharf zwischen Robert Timmermanns und Ilse Carstensen klirrte das
Wurfgeschoß des Hasses auf einen Querbalken der Helling, schnellte
schräg empor, prallte mit hellem Klang wider die eiserne Schiffshaut,
fiel zum zweiten Male dicht vor den Füßen der Erstarrten nieder.

Hoch droben glotzten zwei Jungmännergesichter -- eins aufatmend,
dankbar, daß der Streich mißglückt -- eins grimmzerfressen,
zähnefletschend in tückischer Wut ...

»Entschülligen S' man -- t' weur man 'n lüttjes Verseih'n ...«




                                   5


Herr Patterson hatte einen endlosen Fragebogen mitgebracht: Die
Fusion hatte drüben tausend Probleme und Einzelfragen ausgelöst,
die besprochen und geklärt sein wollten. Und neben Bessie und dem
technischen und kaufmännischen Stabe waren diesmal auch mehrere
führende Persönlichkeiten der Kapitalgruppen mitgekommen, welche
im Patterson-Konzern zusammengeschlossen waren. Während auf der
Hammonia-Werft die »Deutschland« mit wahren Riesenschritten dem Tage
des Stapellaufs entgegenwuchs, kamen für die Direktion der Linie
wie der Werft harte Wochen voll täglicher, stundenlanger Sitzungen.
Die Herren von drüben waren sachkundig, zäh, auf die Wahrung ihrer
Interessen bedacht. Es gab scharfe Auseinandersetzungen. Manchmal
schien es, als solle das junge Bündnis über einem Sonderpunkt wieder
scheitern.

Elias Patterson war diesmal nicht ganz der zärtliche, rücksichtsvolle
Vater wie bei seinem ersten Besuch. Bessie kannte das. Sie wußte,
das Geschäft ging vor. Sie würde sich auch ohne daddy die Zeit zu
vertreiben wissen.

Zu ihrem nicht geringen Ärger versagte aber auch ihr Freund und
Sangesmeister. Auch er stand ganz im Banne der Arbeit. Die Amerikaner
verlangten neuerdings, daß die H. T. L. sofort auch noch zwei
Frachtdampfer von je zwölftausend Tons auf Helgen lege. Dazu reichte
die von der Regierung bewilligte Entschädigungsrate nicht aus. Neue
Reisen nach Berlin, neue Verhandlungen wurden nötig. Und wenn es
heute gelang, bei den Ministerien, beim Reichstage neue Bewilligungen
durchzudrücken -- morgen warf die anschwellende Markentwertung alle
Vorschläge über den Haufen.

Oft zuckten die Amerikaner untereinander die Achseln: Nein, es war
doch unmöglich, mit den Deutschen zu arbeiten ... ihre nationale
Disziplin war zum Teufel -- sie fraßen einander auf, bewucherten sich
gegenseitig in den Hungertod, in den Bürgerkrieg, in den völligen
Untergang hinein ...

Und dann wieder staunten die Herren über täglich neue Überraschungen
deutscher Tüchtigkeit und Unverwüstlichkeit. ... Ein Rätsel, diese
Menschen, dieses Volk ...

Bob Timmermanns verzehnfachte sich. Er hatte sich's in den Kopf
gesetzt, auch die Frachtdampfer müßten völlige Neuschöpfungen werden
... Alle Probleme, welche die Entwicklung der Schiffsbautechnik in den
Jahren der Isolierung und Absperrung Deutschlands hatten heranreifen
lassen, wollten an der Hand der ausländischen Fachliteratur und
Publizistik studiert, durchdacht, immer neuer, eigenartiger Lösung
entgegengeführt sein. Die Konstruktionsbureaus ächzten unter der Last
ihrer Aufgaben, welche der Generaldirektor ihnen stellte. Es galt, die
Sachverständigen von drüben in ständiger sprachloser Verblüffung zu
halten ... Was galt in solchen Tagen die Stimme des Herzens? Sie hatte
zu schweigen. Und sie schwieg. Bob Timmermanns hatte sich in der Gewalt.

Wenn Bobbie jemals geträumt hatte, die Aufmerksamkeit, die Bessie
ihm unverkennbar entgegenbrachte, würde seine Aussichten bei Ilse
verbessern -- dann hatte er sich getäuscht. Die schattenhafte
Eifersucht, die sich fast unbewußt in Ilses Kopf mehr als in ihrem
Herzen geregt hatte -- sie fand keine Nahrung, weil Bob für Bessie
einfach keine Zeit hatte. Aber was das Auftauchen der kleinen
Nebenbuhlerin nicht bewirkt hatte, das erzwang ganz ungewollt und
ahnungslos des Generaldirektors unerhörte Tüchtigkeit. Er imponierte
dem Mädchen, das er vergötterte. In diesen drangvollen Wochen des
Planens und Ringens entfaltete sich Bob Timmermanns' technische
Genialität, seine fanatische Hingabe an die Werft und ihre Aufgaben,
seine titanische Arbeitskraft so überwältigend, daß Ilse sich gefangen
und verstrickt fühlte. Ein Rauhbein, ein Streber, ein Prolet --. Ilses
krampfhafte Selbstverteidigung übte immer neue Kritik an Roberts
Wesen. Aber ohne auf Wirkung auszugehen oder sie, als sie eintrat, auch
nur zu bemerken, zwang der Starke das Mädchen, das ihn nun kannte und
erkannte wie kein anderer Mensch, in den Bann seiner Persönlichkeit.
Ein Rauhbein -- ein Streber -- ein Prolet -- aber ein Mann -- ein Kerl.

Und Heinz Freimanns Bild verblaßte -- ward entrückt ... Die Ferne, die
Zeit übten ihre Rechte.

Nur eine empfand das mit Trauer und Bitterkeit: Johanna Freimann.

In ihrem mütterlichen Herzen stand über allem Gram der felsenfeste
Glaube an das Kind ihres Wesens. Er lebt, er arbeitet, er wächst ... Er
wird wiederkommen, ein Lebensheld, wie er ein Kriegsheld gewesen ...
Ganz gleichgültig, wo er sich verborgen hält und warum -- gleichgültig,
was er treibt, leidet, fühlt -- es ist notwendig -- notwendig für ihn
und darum für sein Volk, sein Vaterland ... Er wird seiner Mutter,
seinem Elternhause, seiner Braut nicht anrechnen, was sie alle
durch Teilnahmlosigkeit, durch Mangel an Verständnis, an gläubiger,
entsagender Liebe wider sein Werden, seine Genesung gefehlt ... Denn
sein Wesen ist Güte, ist Herzenskraft ... In seinem Herzen trägt er den
Kompaß, der ihn leiten wird durch die Wirrnis, die er über sich selber
verhängt hat ...

So sah Mutter Johanna den Sohn, so erklärte ihn ihre Sehnsucht -- so
mühte sie sich, sein Bild im Herzen der Braut aufzurichten ... Ihr
feines Fühlen hatte längst durchschaut, daß jenes Bild in der Seele des
Mädchens, das sie dem geliebten Jungen auch bei seiner zweiten Heimkehr
entgegenführen wollte, nicht mehr ganz hell im Lichte stand ...

Dies Ahnen, dies Wissen hing wie ein quälender Schatten zwischen den
zwei Frauen, die einander so viel geworden waren. Der Kampf gegen
diesen Schatten war der geheime Inhalt aller Gespräche, die endlos
jene immer karger ausgesparten Stunden ausfüllten, in denen Mutter
Johanna und Ilse um die Zukunft rangen.




                                   6


Auch zwischen Bessie und Ilse herrschte nicht mehr das alte muntere
Einverständnis.

»Ilse, ich liebe Sie!« rief die Kleine im Tone der Ausruferin vor einer
Menagerie. »Und ich will, daß Sie mich lieben ... Aber Sie wollen
nicht, ich fühle es ...«

»Kleiner Schafskopf!« erwiderte Ilse. »Ich mag Sie lieber als alle
Mädchen der Welt -- genügt Ihnen das?«

»Ich will, daß Sie mich lieber haben als alle anderen Menschen der Welt
... Aber es gibt zwei Menschen, in die sind Sie verliebt ... Und das
ist mehr als lieben ...«

»Zwei, Bessiechen?«

»Ja, zwei ... Sie tragen einen Ring von einem Manne, den ich nicht
kenne ... Also sind Sie noch immer in ihn verliebt, sonst hätten Sie
den Ring längst abgelegt ...«

»Nun, und der andere?«

Die kecke Kleine wurde rot bis unter die strohblonden Stirnlöckchen.

»Das brauche ich Ihnen nicht zu sagen ... Und er ist sehr verliebt in
Sie, wenn er jetzt auch keine Zeit hat -- für uns beide ...«

Da flog über die stolze Stirn Ilses ein flüchtiges Rot. »Liebling, ich
will Ihnen ganz offen etwas sagen: Der Mann, den Sie meinen, der ist
ein Esel.«

»Schämen Sie sich, Ilse!«

»Doch, er ist ein Esel. Kennen Sie nicht die Geschichte von dem Esel
zwischen den zwei Heubündeln?«

       *       *       *       *       *

Zum Glück hatte Bessie noch eine andere Freundin. Der ging es
besser als ihrer Kollegin von der Hammonia-Werft. Denn sie war nur
»Arbeitnehmerin« und nicht Tochter des Hauses ... Die stülpte um fünf
Uhr den Kasten auf ihre Schreibmaschine -- und war dann frei. Bessie
belegte sie nun energisch mit Beschlag. Und seit sie erst heraus hatte,
daß Antje ein Kind des Volkes, ein Kind jener »schlimmen Viertel« war
-- seitdem fand die kleine Demokratin sie noch viel interessanter ...
Damals, als die Blue Star Line vom 27. Stock eines Wolkenkratzers
am Broadway hernieder ihre Fäden um den Erdball zu spinnen begann
-- damals schon war ihr Leiter ein junger Abenteurer namens Elias
Patterson. Der entdeckte in einem seiner Riesenbureaus eine
allerliebste kleine Stenotypistin, eine Fabrikarbeiterstochter aus Long
Island, und machte sie zu seiner Frau. Kein Wunder, daß die einzige
Tochter dieses Paares eine tiefe Sympathie für die Privatsekretärin des
Herrn Freimann empfand.

Dieser Freundin hatte Bessie natürlich auch ihr Abenteuer mit dem
kleinen Mädchen erzählt ... Und mit geheimem Gruseln hatte Antje
die Geschichte wiedererkannt. Andersherum war sie ihr ja nicht mehr
neu. Sie hatte an manchem Abendschwatz bei Mudder als Gesprächsstoff
herhalten müssen. Aber die Sekretärin bekam doch eine Gänsehaut bei dem
Gedanken: wie, wenn der verkappte Offizier und der herzensgute Clas --
nicht zur Stelle gewesen wären? -- und warnte.

Bessie lachte: »Mein Schutzengel ist mir noch stets auf irgendeine Art
zu Hilfe gekommen ... Er ist immer da, ich weiß es -- sonst wäre ich
nicht so übermütig ...«

Antje war skeptisch -- sie warnte die kleine Phantastin energisch.
»Es könnte vielleicht doch einmal passieren, daß der Schutzengel sich
verschliefe, wenn Sie losgondeln mit Ihrer weißlackierten fliegenden
Nußschale ... oder daß er nicht mit könnte mit Ihrem Tempo ...«

»Schämen Sie sich, Miß Antje!« zürnte Bessie. »Ein Schutzengel kann
alles ...«

Plötzlich klatschte sie in die Hände -- blieb vor einem Ladenfenster
stehen: »Schauen Sie -- da ist er ja schon wieder, und zwar in eigener
Gestalt! Da sitzt er hoch oben auf diesem Tannenbaum ... Aber schauen
Sie -- was ist das für ein merkwürdiger Baum?«

Und Antje erklärte ... Ein Ton von Rührung kam in ihre ruhige Stimme
... Zuviel hatte man erlebt, zuviel ... Zuinnerst war jedes deutsche
Herz verwundet. Die lindeste Berührung machte es zucken -- selbst die
Seligkeit der Erinnerung wurde zum Schmerz.

»Es ist ein Kinderfest, Miß Bessie ... aber wir alle werden Kinder,
wenn Weihnachten kommt -- und warten, daß wir beschenkt werden --
beschenkt mit irgend etwas, das groß und heilig ist und hoch, hoch über
unserm Wünschen und Hoffen steht ...«

»Was haben Sie, Miß Antje? Sie weinen ja ...«

»Ach -- es ist nichts ... Ich bin ein bißchen überarbeitet ... wir
sind's alle ... Ach, Miß Bessie, wenn sie ahnten, wie wir leiden, wir
alle ...«

Bessie ahnte es nur zu gut. Und in ihrem Herzen regte sich etwas wie
böses Gewissen. Sie wußte: An diesem deutschen Leiden -- Amerika hatte
daran sein gerüttelt Maß von Anteil. Man hatte ihm gesagt, es gehe
wider die Hunnen ... Nun wußte Bessie Bescheid im Hunnenlande ...

»Oh,« lachte sie, im Bedürfnis abzulenken, »was ist das für ein
hübscher alter Mann, der da neben dem Lichterbaum steht, mit einem
großen Bart -- und einem großen Sack -- und er trägt einen Besen in der
Hand?«

Das sei der Weihnachtsmann, erklärte Antje. Er gehöre zu einem echten
deutschen Weihnachtsfeste wie der geschmückte Tannenbaum und der
geflügelte Engel an seiner Spitze ...

Ein sehr merkwürdiges Land, das Hunnenland. -- Wie werden meine
Freundinnen staunen in Neuyork, wenn ich ihnen erzähle vom Hunnenland
...

Die Vorstellung des Kinderfestes spukte in Bessies kapriziösem Köpfchen
weiter. So etwas mußte sie machen -- für ihre kleinen Freunde in den
schlimmen Vierteln.

Zuerst nahm sie sich vor, den großen Festsaal im Atlantic mit
Beschlag zu belegen und ihre Günstlinge dorthin einzuladen. Aber
dann hätte +daddy+ davon erfahren -- und die anderen alle, die
sie immer auslachten und exzentrisch schalten ... man hätte ihr Fest
hintertrieben oder ihr wenigstens die Freude verdorben ... Nein -- das
mußte ganz im geheimen geschehen, und erst wenn alles vorbei wäre,
würde Bessie berichten und sich am komischen Entsetzen der andern
weiden ...

Das Christkind steigt zu den Menschen nieder, hatte die ernste Antje
gesagt ... Nein -- es war nicht das richtige, die Kinder der schlimmen
Viertel ins Atlantic zu bestellen ... Sie würden geblendet und blöde
stehen und all die Pracht bestaunen -- und schon in ihren jungen Seelen
würde der Haß aufglühen, von dem die Freundin ihr erzählt hatte ... Der
Neid der Armen auf die Reichen ...

Nein, man würde zu ihnen gehen -- niedersteigen wie das Christkind
selbst ... Bessie fühlte, wie es ihr feucht in die Augen schoß
vor Bewunderung und Ergriffenheit über ihre eigene Güte, ihr
verständnisvolles Zartgefühl ... Man würde einen Saal mieten, einen
kahlen, schmucklosen Tanzsaal mitten drin im Schmutz und Brodem der
Proletariergassen -- den würde man mit Flittergold und bunten Fähnchen
ausputzen, und in der Mitte müßte so ein großer, schöner Baum stehen.
Auf der Spitze ganz oben aber müßte der Schutzengel schweben ... und
ein Weihnachtsmann müßte auch dabei sein -- mit einem langen Bart --
einem Sack voll vergoldeter weißer Nüsse und Apfel -- und einem Besen
unterm Arm ...

Wenn sie nur jemanden wüßte, der ihr helfen könnte ... keiner von
ihren Freunden ... keiner von den Deutschen, die hätten sie nur
ausgelacht und wieder einmal so seltsam angeguckt, als sei sie eine
Sehenswürdigkeit aus dem Zoologischen Garten, irgendein exotisches
kleines Wundertier ... Und die Amerikaner? Es waren smarte Jungen
dabei, die Bessie wohl leiden mochte -- aber sie waren alle nüchtern
und schwunglos wie ein Lineal -- die würden sie groß und respektvoll
anstaunen -- und schleunigst bei daddy verpetzen. Nein -- es müßte
einer aus der andern Welt sein, aus der Welt der schlimmen Viertel.

Und da fiel ihr ein, daß ja ihr Schutzengel schon einmal beliebt
hatte, die Gestalt eines jungen Arbeiters aus den schlimmen Vierteln
anzunehmen. Wie, wenn sich das wiederholen möchte? Man wird sehen.

Und Bessie stopfte Little Puck in die Tasche und kurbelte an.

Ihr Ortssinn war fabelhaft entwickelt, wie all ihre Sinne. Schon im
Lyzeum hatten ihre Lehrer behauptet, sie müsse Indianerblut in den
Adern haben ... Mit der Sicherheit einer Nachtwandlerin fand sie
alsbald die finstere, von hohen, geschwärzten Giebelhäusern umstellte
Gasse wieder, in der es ihr vielleicht doch wohl schlimm ergangen
wäre, wenn der Schutzengel wirklich geschlafen hätte -- oder ihrem
Tempo nicht hätte folgen können ... Pah -- diese Stenotypistin mit dem
braunen Madonnenscheitel -- was wußte die von einem Schutzengel?!

Richtig ... hier war's gewesen -- hier an der Ecke zu dieser -- noch
viel engeren -- puh -- wahrhaftig, ein bißchen gruseligen Gasse war er
aufgetaucht, der schmucke Bursch, in dessen Herz ihr Schutzengel an
jenem Sommernachmittage gefahren war ...

Heute war es kalt, und nur wenig Kinder huschten hin und wider, Körbe
am Arm und schmutzige Geldzettel in den Händen ... Aber die erkannten
sie, schwirrten kreischend heran und boten der Tante die klebrigen
Patschen.

»Kennen ihr ein junges Mann, was hat ein braunes Schnurrbart ... und
hat ein Gesicht sehr gut -- und ist sehr mjutig?«

Die Kinder grinsten verlegen, enttäuscht, daß die gewohnte Spende
ausblieb.

Bei der Gassenkreuzung stand ein hexenhaftes Weib mit lauernden,
gierigen Augen. Sie sah die Fremde, die Vornehme, die Auskunft suchte
-- und sah das elegante Wägelchen, witterte Valuten. Sie schob sich
heran:

»Wat wull dei Dam', Kinnings?«

Die Kinder kicherten: »Dei Dam' söcht en jungen Mann!« Gelächter brach
aus. Die älteren Gören quiekten vor wissender Wonne.

»+Yes, madam+,« bestätigte die Fremde, ein wenig beunruhigt durch
die Erscheinung der Alten, »ich suche ein junges +man+, braunes
Schnurrbart, was ist sehr mjutig.«

Über das Runzelgesicht der Alten zuckte ein jählings aufflackerndes
Verständnis. Nicht die erste kleine Abenteurerin aus der Welt des
glänzenden Scheins, der Dolores Jacinto zu einer perversen, abseitigen
Seligkeit verholfen hatte ...

»Den'n kann ick Sei besorgen,« kicherte die Hexe, »so ein'n kenn ick
gaud ... kam'n Sei man mit mi! Dat Maschinken, dat stellt wi bei mi
ünner -- dat verwohr' ick so lang'n. Doar kümmt Sei nix an ...«

Dunnerslag! dachte Mudder Lore im Voranhumpeln, während die Fremde vom
schwatzenden und feixenden Kinderschwarm umschwirrt, etwas benommen in
die schwarze Schlucht der Nebengasse folgte -- »Fohrräder heff ick all
männigesmol opbewohrt -- öwerst 'n Auto, un noch dortau son'n fien'
-- dat is dat ierstemol ... Tedje sall nich slecht kieken, wenn ick
em dit säute Fräten bring ... Man gaud, dat hei grod doer ünn'n in'e
Gang'n is ...«

In ihrem alten Hirn war die Sprache ihrer mexikanischen Heimat längst
verdunstet -- sie dachte sogar auf hamburgisch.

Es ging in einen stockfinsteren Gang -- Bessie schauderte und schickte
ein wortloses Stoßgebet zu ihrem Schutzengel: Komm, ich fürchte, heut
werd' ich dich brauchen ...

»So ... hier lat'n wi dat Maschinken stohn ... Da kümmt sei nix an
...« Schade -- surrte es durch das Hirn der Alten -- dat wier wat taum
Verschärfen -- öwerst doar wieren tau väl Oogen rund rüm ... Nein --
für das Eigentum der kleinen Kundin war gesorgt ... Auf so gefährliche
Sachen ließ Mudder Lore sich nicht ein. Die Dame würde gut bedient
werden ... dies eine Mal ... Denn solche vornehmen Vögel pflegten nicht
zum zweiten Male wiederzukommen. Die brauchten Abwechslung -- und
scheuten es, eine Spur zu hinterlassen, die entdeckt werden konnte.

Nun eine Stiege hinauf -- durch einen elektrisch beleuchteten, nach
scheußlichen Parfüms duftenden Korridor -- hier und da öffnete sich
eine Tür, ein wuschliger Mädchenkopf tauchte auf, nackte Schultern ...
und noch einer, noch einer -- Kichern, kreischende Worte, kreischendes
Gelächter -- Bessie fühlte, daß ihre blonden Stirnlöckchen sich wie
Schraubenzieher aufrichteten ... Umkehren? fliehen? war es nicht schon
zu spät? Schutzengel, hilf!!

Einen Augenblick machte die Führerin halt, öffnete ein Behältnis, das
in einer Ecke stand -- holte zwei Flaschen mit Goldhälsen und eine
dritte hervor, um deren Hals ein halbmondförmiges Etikett mit drei
Sternen sich schlang -- füllte einen verbeulten Kühler mit knirschenden
Eisstücken, packte alles in einen Korb, entnahm aus einem andern
Schrank ein paar Sektschalen, legte sie sorgsam zu dem übrigen --
grinste vertraulich, streckte die Hand aus ... Bessie, von Entsetzen
geschüttelt, griff in ihre Tasche, drückte der Alten einen ganzen
Haufen Dollarnoten in die Krallen -- die prüfte genau, schmunzelte
zufrieden, knickste und humpelte weiter.

Am Ende des endlosen Korridors hielt die Führerin -- hier schien die
Welt zu Ende ... Aber plötzlich drehte sich wie durch Hexerei die ganze
Abschlußwand -- eine neue Finsternis gähnte ... Doch die Alte fand
drinnen tastend einen Schalter, eine schwache Birne glomm auf, ein
neuer Korridor öffnete sich ... Nun eine ausgetretene Stiege hinunter,
knips, neues Licht, ein neuer muffiger Gang ...

Bessies Kehle war wie zugeschnürt. Wenn der Schutzengel nicht kam, war
sie verloren ...

»Nein -- nein --« stammelte sie zwischen Grausen und Ekel. »Sie wissen
nicht ... Sie taten nicht verstehen mich ... ich will -- lassen mich
gehen ...«

Die Hexe grinste begütigend. Sie kannte solche Anwandlungen von Reue
im entscheidenden Augenblick ... Das legte sich -- das hatte keine
Bedeutung.

»Nein, nein!« stotterte die Kleine noch einmal und klammerte sich an
den skelettartig hageren Arm ihrer Führerin -- »ich will fort, ich will
heraus ...«

»Ruhig, ruhig, mien Düwken!« tätschelte die Alte, »do kümt jo all de
Frigersmann -- nich bang sien, mien Lütting, hei is 'n Strammen, du
schast tofreden sien ...«

Eine mächtige Mannesgestalt tappte den Flur entlang -- tauchte
plötzlich im dunstigen Lichtkegel auf ...

Bessie erstarrte ... Das -- das war -- --

Fassung ... Mut ... und Dreistigkeit -- -- nur Lachen konnte retten ...

Wie ein brünstiges Tier stand er vor ihr, die alte Hexe drückte sich
grinsend in eine Ecke ... er ... vor dessen rohen Tatzen -- damals!
-- der Schutzengel in Gestalt des jungen Mannes mit dem braunen
Schnurrbärtchen -- -- den hatte sie gesucht -- und da war -- der andere
...

Er selber schien nicht minder sprachlos erstarrt als sein Opfer ...

Bessie hatte sich wieder. Sie zwang ein schwirrendes Lachen der
Wiedersehensfreude auf ihre Lippen.

Der stiernackige Bursch im geflickten, rostfleckigen Arbeitskittel
fühlte etwas wie Kavaliersanwandlung.

»Dat's aber scheun, Fräulein -- dat wi uns hier wiederfinnen ...«

»Oh, ich bin entzuckt ... heute Sie gefallen mich viel besser als bei
unser erstes Begegnung.«

»Sei mich auch, Fräulein --« Tedje konnte galant werden, o ja, das
konnte er -- »Sei hebben mi glieks sihr god gefallen, hahaha ...«

»Wie heißen Sie?«

»Ick heit Tedje Tietgens ...«

»Tiet --?!« Bessie horchte hoch auf. »Ich kenne eine junge Mädchen --
was auch heißt Tiet--«

»Wat's dit?! Sei kennen mien' Swester Antje --?!«

»Antje -- +yes+ -- +that's it+!« Schutzengel, hab' Dank!!

Über das Gesicht des Burschen, das sich schon dunkler rötete, glitt
eine jähe Ernüchterung. Antje -- sie kennt Antje ... Er machte eine
Bewegung, als wolle er etwas Bedrückendes, Störendes verscheuchen.
Eine Bekannte, eine Freundin vielleicht von Antje ... hatte nicht die
Schwester etwas von einer kleinen Amerikanerin erzählt, mit der sie
häufig zusammenkomme?

»Sagen Sei, Fräulein -- sind Sei am End' von Amerika?«

»+Yes, yes+, ich bin ein Bürger von die +United States+ ...«
Die Kleine reckte sich. Ihr war, als flattre schirmend über ihrem
Köpfchen das Sternenbanner.

»Düwel, Düwel ...« Tedje richtete sich aus seiner lässig-behaglichen
Haltung auf ... Seine Stimme klang verändert -- beunruhigt, respektvoll
... Etwas von der Verehrung für die Schwester, die in Tedjes rohem
Herzen als stilles Heiligtum ruhte, glitt auf dies fremde Mädchen über,
von dem Antje mit Achtung und Sympathie gesprochen hatte.

»Nu seggen S' mi man dit eine, Fräulein -- wie kamen Sei in dit Lakal
-- un bi Mudder Lore?!« Ein dumpfes Begreifen meldete sich an: Hier war
ein Mißverständnis ... ein Geheimnis ...

»Oh -- ich bin gegangen zu suchen ein junges Mann -- mit ein braunes
Schnurrbart ...«

»Na -- dat heff' ick ja ook --« versuchte Tedje zu scherzen.

»Nein -- ich meine ein andres junges Mann -- was Sie kennen also ...
damals, Sie wissen, wie Sie haben wollen strafen mich, habend geworfen
zur Erde das kleine Mädchen, das andere junge Mann hat gesagt, Sie
nicht Böses tun zu mich ... und ihr habt euch nahe geschlagen, ihr
zwei, für meine Sache ...«

»Dunnerslag ... dat 's mien Fründ Anders Niemann ...«

»Ach ... sehen Sie, Sie kennen ihm ... Sie werden mich bringen zu ihm
...«

Wenige Minuten später schritten sie ganz freundschaftlich die nun
schon tief im Dämmer liegende Lastergasse hinab zur Knibbel-Twiete --
die kleine Amerikanerin und der Spartakist. Sprachlos, verständnislos
glotzte die Mexikanerin hinter den zweien drein. Aus den Fenstern
gafften die Wuschelköpfe ihrer Kinderchen ... Tedje schob Bessies
Auto wie ein Kinderwägelchen vor sich her. Und eine Viertelstunde
später standen die zwei vor Vadder Tietgens' einstöckigem
Ziegelhäuschen. Tedje pfiff das Signal des Freundschaftsbundes der drei
Stubenkameraden: die Anfangszeile des Liedes von der roten Seligkeit
... Alsbald antwortete von droben die zweite Zeile -- aus einem
Fensterchen schob sich der Kopf des jungen Mannes mit dem braunen
Schnurrbärtchen ...

In Bessies Herzen war ein dankbares Frohlocken. Der Schutzengel hatte
auch diesmal nicht geschlafen.




                                   7


Auf die frostklirrenden deutschen Lande senkte die sechste
Schmerzensweihnacht sich nieder. Die sechste Schmerzensweihnacht!

Nach dem Donner der Geschütze der Zweieinhalbtausend-Kilometer-Front
waren zur Stunde auch die Maschinengewehre und Handgranaten des
Bruderkrieges verstummt. Nicht mehr starben täglich zwölfhundert
deutsche Männer den Schlachtentod. Aber immer noch siechten dahin die
Darbenden, die hilflosen Alten, die hilflosen Kinder ... Noch immer lag
auf dem ausgepreßten Volke der würgende Bann der Hungerblockade ...

Und dennoch: Bis dicht an die heilige Stunde heran, im ganzen Lande,
vom Fels bis zum Meer, sausten die Spindeln, ratterten die Webstühle,
glühten die Essen, wuchteten die Fallhämmer, ticktackten die
Nietschlegel ...

Der Geist der Arbeit hatte sich aus Kriegslähmung und
Welterneuerungsfieber losgerungen.

Die Bauleute waren am Werk, die Trümmer wegzuräumen -- und aus dem
Schotter hoben sich langsam die Mauern des neuen Reichsbaues. Auf dem
Gerüst flatterte ein neues -- ein uraltes Panier.

Nicht alle Blicke, längst nicht alle, grüßten es mit Ehrfurcht und
Glauben. Es waren die schlechtesten nicht, jene Hunderttausende,
welche die alten Farben nicht vergessen mochten, für die sie gelebt,
geschafft, gekämpft, geopfert, geblutet.

Aber auch die waren wackere Deutsche, die da glaubten, die neue Zeit
brauche auch ein neues Gleichnis ... Die da hofften, es werde einst
die Stunde kommen, da die Schwarz-weiß-roten und die Roten sich
zusammenfänden, um im Schwarz-rot-gold das Zeichen eines neuen Bundes
aller, aller deutschen Menschen zu verehren ...

Einstweilen war es ein Glück und eine Hoffnung, daß sie alle drei, die
Hüter der heiligen Erinnerungen, die Fanatiker der roten Seligkeit --
und die Vorkämpfer eines Deutschland der Brüderlichkeit sich wieder
zusammenzufinden begannen, tief unterhalb des wirren Treibens der
brodelnden Oberfläche des Parteikampfes zu stiller, scheinloser,
hingebender Arbeit ...

Heute aber schritt über die gärende Fläche und über die schaffende
Tiefe das uralte Fest der Rast -- der Sammlung -- des Einklangs ...

Das Fest der Menschen, die guten Willens sind.

                   *       *       *       *       *

Im palisandergetäfelten Speisesaal der Villa Freimann saßen stille,
müde, sinnende Menschen um einen hohen, schmucklosen Tannenbaum, in
dessen dunklen Nadeln sparsam verteilte Lichter knisterten. Frau
Johanna hatte es sich nicht nehmen lassen, der Braut ihres Sohnes
und dem alten, immer mehr in sich zusammensinkenden Freunde Detlev
Carstensen das Fest zu bereiten. An Gaben fehlte es nicht -- aber
selbst in diesem Kreise, den die rauhe Lebensnot noch nicht zu nahe
bedrängte, trugen die Geschenke den Stempel der ernsten Zeit. Man
spendete nicht mehr Gold, Edelsteine, Bronzen, Bilder -- man schenkte
Genußmittel, die man sich sonst versagte -- man gab Gegenstände des
täglichen Bedarfs ...

Ach -- und mitten in der Reihe waren auch die Gaben für den einen
aufgebaut, der dem Feste fern blieb ... dem gleichwohl aller Gedanken,
Träume, Schmerzen galten. Dem Verschollenen ... Wenn er heimkäme, würde
er sie finden ... und er würde heimkommen -- aus der geheimnisvollen
Ferne, in die er sich geflüchtet vor dem Unglauben der Seinen -- wie
er einst heimgekommen war aus dem Graus der Meerestiefe, in den ihrer
aller Glaube ihn begleitet hatte.

Keine hatte den Abwesenden, den Entrückten reichlicher, sinnvoller,
zarter beschenkt als jene, die sich als die Hauptschuldige seines
Versinkens fühlte ... Ihr war, als hätte sie doppelt gutzumachen --
doppelt innig zu bekunden, wie treu sie zu ihm stände ...

Mutter Johanna hatte in Ilses Beisein den Vorschlag gemacht, den
treubewährten Mitarbeiter ihres alten Freundes am Festabend von seiner
Junggeselleneinsamkeit zu erlösen. Und dabei hatten ihre Augen mit
seltsam scharfer Prüfung die Züge der künftigen Schwiegertochter
gesucht ... Ilse hatte das empfunden, hatte sich heftig gegen diesen
Vorschlag gewandt: Herr Timmermanns stecke tief in der Arbeit, lehne
alle Einladungen ab, fühle sich am wohlsten in seiner verräucherten
Bude zwischen seinen Zeichnungen und Tabellen, sei überhaupt kein Mann
für Feste des Gemüts ... Und schnell und mit geheimem Aufatmen hatte
Johanna die geplante Einladung aufgegeben.

Aber einen anderen Gast hatte man nicht ausschließen dürfen: Bessie
Patterson. Sie gehörte ja seit zwei Wochen zum Hause. Ihr Vater war
heimgekehrt, um bald nach Neujahr an Bord des Dampfers »Union« der
Blue Star Line, welcher als erstes Schiff unter der Flagge der United
Transatlantic Lines den neuen Dienst Neuyork-Hamburg aufnehmen sollte,
wiederum die Europafahrt anzutreten. Aber Bessie hatte es durchgesetzt,
daß sie bleiben durfte. -- »Ich kann meine Studien über dies kuriose
Land jetzt nicht unterbrechen ...« Sie hatte es halbwegs erzwungen, daß
Frau Johanna ihr die Gastfreundschaft ihres Hauses anbot ... obwohl die
den kleinen Exzentrikclown nicht mochte ... Und so war Bessie seit zwei
Wochen in ein Gastzimmer der Villa Freimann übergesiedelt, samt dem
allverhaßten Puck, dem Kodak und dem Puppenauto ...

Selbstverständlich stand auch für sie ein reicher Gabentisch gedeckt.
Aber welch Aufatmen, als Bessie am Nachmittag von irgendwoher da
draußen angerufen hatte, man möge sie zum Feste entschuldigen -- sie
werde vielleicht nach dem Abendessen erscheinen ... Gottlob -- die
Heiligabend-Stimmung war gerettet ...

Ilse hatte still in sich hineingelächelt. Auch sie würde sich nach
der Bescherung für eine Stunde beurlauben müssen. Bessie hatte sie im
letzten Augenblick ins Vertrauen gezogen und zu ihrer Kinderweihnacht
eingeladen. Der Wagen war bestellt.

Als aber die Kerzen brannten, die Gaben ausgetauscht waren -- da
bedauerte Johanna fast, daß der kleine Sprühteufel fehlte. Die Stimmung
war da -- aber anders, als die Festgeberin gehofft hatte. Die Väter
saßen stumm rauchend in ihren Sesseln, von bohrenden Sorgen und
trotzigen Plänen bedrückt und ausgefüllt, und starrten abwesend in die
tröstlichen Lichter.

Die Frauen aber durften einander kaum ansehen, so wurden ihnen auch
schon die Augen feucht. Und der eine, der ihnen allen Trost, Hoffnung,
Stütze hätte sein sollen -- der fehlte. Sie alle fühlten sich schuldig,
ihn missen zu müssen. Sie alle hatten ihn ausgetrieben -- dem
Heimgekehrten hatten sie keine Heimat gegeben, weil er anders war und
anderes ersehnte, als sie es von ihm gehofft, erwartet, verlangt hatten
...

Und kurz nach dem Abendessen stand Ilse auf, bat, sie für eine Stunde
zu beurlauben, da sie zu einer Weihnachtsfeier des Roten Kreuzes
zugesagt habe, und ließ die drei Alten allein.

Da ging Frau Johanna leise aus dem Zimmer. Sie wußte: Georg liebte
keine Tränen.

                   *       *       *       *       *

In Mudder Minings Stube brannte ein winziges Bäumchen, nur mit vier
Kerzen, aber mit viel verblichenem Flitterkram aus besseren Tagen
ausgeputzt. In der engen Wohnstube war's ganz unsagbar gemütlich und
friedvoll. Wie hatte sich aber auch ein jedes angestrengt, die Seinen
zu beschenken! Vollends Tedje -- Kunststück, er war seit Monaten
der reine Großmogul ... Die Eltern fragten nicht nach der Quelle
solches plötzlichen Wohlstandes -- der Junge war großjährig, hatte
sein Tun und Lassen selber zu verantworten ... Jedenfalls war Vadder
sehr erfreut über seine »tapezierten« Zigarren, seinen Tabak, seinen
Schnaps, seine Ölsardinen -- ob er auch tiefinnerst den leisen Verdacht
hegte, diese Schätze möchten irgendwie im Zusammenhang mit den Wirren
vom vergangenen Juni stehen ... Und wenn Mudder ihren Lieben heut
Bohnenkaffee und Frankfurter Würstchen vorsetzen konnte, so dankte sie
auch das der Freigebigkeit ihres Einzigen ... Und wie hatten die zwei
Kostgänger sich angestrengt, Clas und Anders! Ein kaum noch erträumter
Reichtum an allerhand langentbehrten guten Dingen war auf dem
Gabentisch gestapelt --. »Die reinsten Friedensweihnachten --!« meinte
Vadder Tietgens -- paff, paff -- »Dunnerslag -- wat'n Tobak!«

Aber den Vogel schoß Antje ab. Die hatte ja wohl ihre ganzen
Ersparnisse draufgehen lassen ... Sie hatte ihre Gaben nicht unterm
Weihnachtsbaum aufgebaut, sondern war mit einem Berg Pakete gekommen
und ging nun von einem zum andern. Und jeder bekam etwas ganz
Besonderes, etwas, das an jene Zeiten gemahnte, die für deutsche
Menschen wohl sobald nicht wiederkommen würden ... Eine lange Pfeife
mit Hornausguß für Vadder -- für Mudder eine wollene -- ja wahrhaftig,
eine reinwollene Strickjacke ... Dann kam Tedje dran -- er bekam als
Ersatz für die Bolschewistenmütze, die Antje nicht leiden mochte, einen
wunderschönen grünen Lodenhut -- und eine in Seidenpapier gewickelte
Flasche, die er sofort begierig ausschälte ... Da setzte er sie mit
einem harten Bums auf den Tisch, markierte einen Tobsuchtsanfall der
Enttäuschung, warf sich auf die Schwester, packte sie zähneknirschend
an den Armen -- und versetzte ihr einen schallenden Klaps auf jene
Stelle ihres schlanken Körpers, die er vor Jahren manchmal nach
Bruderart harmlos gezüchtigt.

Die anderen am Tische brachen in ein Freudengeheul aus. -- Die
Aufschrift der Flasche lautete:

»Apollinaris« ...

Und dann kam Clas an die Reihe: Er bekam Noten -- Klavierstücke von
Grieg ...

Aber mit wahrer Fieberspannung beobachteten alle Hausgenossen, wie
Antje nun, eine leichte Röte um Stirn und Augen, verlangsamten
Schrittes sich ihrem Anders näherte. Die Alten tauschten einen Blick:
Wird's nun kommen -- das Erwartete -- trotz mancher Bedenken im
geheimen doch Ersehnte?

Mit unsicheren Händen reichte das Mädchen dem Freunde ein Buch -- er
las die Aufschrift:

»Seefahrt ist not ... Roman von Gorch Fock.«

Der Finger der Geberin unterstrich leise die Aufschrift: also wohl auf
die kam es an ...

Anders Niemann hörte die Donner von Skagerrak -- sah aus der
aufgewühlten See die Schaumfontänen aufschießen bis hoch über die
Beobachtungstürme der kämpfenden grauen Schiffsriesen -- fühlte die
Stahlwände auf S. M. S. Derfflinger krachen und knirschen unterm
Einschlag und Bersten der Granaten Jellicoes ... und sah dann unter
Hunderten von Leichnamen deutscher Kameraden einen treiben, um dessen
erblassende Stirn die Glorie des Dichters schwebte ...

Dann blickte er ins Antlitz der Mahnerin. Es sprach: Entscheide dich
... Wohin gehörst du?

Ist dir Seefahrt not, dann laß ab von mir -- und steige wieder empor
in die Höhen, auf denen du geboren bist -- auf denen du entbehrt und
ersehnt wirst ... Ich glaube, ich weiß fast, du wirst es tun ... dann
aber tu's bald -- ich trag's nicht mehr ...

Oder gehörst du zu uns? Dann sag's -- dann laß mich's wissen ... Ich
bin reich, ich habe einen Himmel zu verschenken ... Willst du ihn, dann
sprich ... Ich trag's nicht mehr ...

Und Heinz verstand die bange, schluchzende Frage. Und er gab ihr stumm
die Antwort. Er schenkte der Freundin den »Poggfred« ... Darin stand
die schmerzvoll süße Ballade von der kleinen Fiete -- oft hatte er sie
ihr vorgelesen:

  »Was willst du -- noch einmal dein Köpfchen lehnen
  an meine Brust -- ich soll mich nach dir sehnen?!«

Da neigte sie leise das braungescheitelte Haupt. So stirbt ein
Mädchentraum.

Und keiner der Lauschenden, der Harrenden, der nicht begriffen hätte.
Enttäuscht die Alten -- aufatmend Clas Mönkebüll ... aufknirschend vor
verbissener Wut der Bruder ...

Er hatte nun endlich ernst machen sollen, der Duckmäuser, der um Antje
herumstrich, als könne er das Wort nicht finden ... Der sie längst ins
Gerede gebracht hatte bei allen Kollegen -- bei den Lästermäulern in
allen Höfen und Twieten um den Neuen Steinweg -- bis hinunter zu den
Gemüseweibern auf dem Neumarkt ... Wenn sie denn schon einmal einen
Kerl haben mußte, dann in Gottes Namen den ... Er war wenigstens rot
bis in die Knochen und nicht so ein Halber, Lauer wie Vadder und seine
Gesinnungsgenossen von der S. P. D. -- Aber der Kerl war ja wohl nicht
recht bei Troste ... Sah er nicht, wie Antje sich verzehrte um ihn?
oder -- wollte er nicht sehen? Hatte er am Ende gar -- verdammi!! eine
andere gefunden? -- eine mit Geld? Na wart, Kamerad!!

Immer giftiger schwoll in Tedjes wildem Herzen die Wut. Was sie wohl
auch heut wieder zu tuscheln hatten, die zwei? Und Clas steckte ja
wohl mit ihnen unter der Decke -- wie seit acht Tagen schon -- seit er
selber dumm genug gewesen war, die kleine Dollarkröte laufen zu lassen
und sie gar noch mit seinem Freund Anders zusammenzubringen ... Aber es
kam noch schlimmer. Es war ein förmliches Komplott ... Als man bei den
Bierflaschen saß, fing's trotz aller Enttäuschung an, recht gemütlich
zu werden unter Mudders Weihnachtsbaum. Die guten Leibbinden-Zigarren,
die Tedje vor einem halben Jahr aus dem Alsterpavillon hatte mitgehen
heißen, die feinen Schnäpse aus der Elysium-Bar -- das war doch mal
wieder 'n richtiges Weihnachtsfest ... Plötzlich standen sie alle auf,
Clas, Antje, Anders -- und sagten ein bißchen verlegen, sie hätten
noch 'nen Gang -- in einer halben Stunde wären sie wieder da ... Weg
waren sie -- und hatten Tedje nicht ins Vertrauen gezogen, wie schon
seit acht Tagen nicht mehr, wenn sie die Köpfe zusammensteckten und
verschwunden waren alle drei ...

Nach ein paar Minuten stand auch Tedje brüsk auf. »Ick warr bald wedder
kamen ...«

Und Vater und Mutter blieben allein. Ganz traurig und verlassen saßen
sie da, nur die Schnäpse und Zigarren zur Gesellschaft ...

»Tjä, Mudder, denn helpt dat nich -- denn möten wi uns allein trösten
...«

»Hest jo mi, Vadder --« sagte Mudder Mining und legte ihr müdes,
dünnumsträhntes Köpfchen an ihres Lebensgefährten breite Schulter.

Verlöschend knisterten die Weihnachtskerzen.




                                   8


Im dumpfen Tanzsaal einer verkommenen Gastwirtschaft in der
Wincklerstraße hatten Antje und Bessie den ganzen Nachmittag am
fröhlichen Festwerk gewirkt, bis die Sekretärin sich zur Bescherung der
Eltern verabschiedet hatte. Seitdem arbeitete die kleine Fee aus dem
Dollarlande allein weiter, wie Antje sie's gelehrt. Für dreißig Kinder
hatte sie Gaben besorgt -- für dreißig Kinder, die sie noch gar nicht
kannte. War alles fertig, dann würde sie mit ihrem Freund Anders durch
die Straßen gehen und von den Schaufenstern der Neustadt die Ärmsten
unter den Armen auflesen, die dort herumlungerten, um wenigstens einen
Abglanz des Festes der Glücklichen zu erhaschen. Inzwischen fühlte
Bessie sich seltsam heiter und begnadet. So hatte sie noch nie zuvor
im Leben empfunden, daß Reichtum eine Gnade bedeutet -- und eine
Verpflichtung zugleich ... Sie hatte sich nicht genug tun können im
Kaufen und Auswählen ... Antje hatte sie zügeln müssen.

»Nicht gar zu sehr verwöhnen! -- Sie werden's nie wieder so gut
bekommen -- und später immer enttäuscht und traurig sein ...«

»Unsinn, Antje! Sie sollen ihr Leben lang an dies Weihnachten denken
... Und ich komme ja auch wieder ... Ich möchte immer hierbleiben -- es
gefällt mir viel besser in Deutschland als in Amerika ... Ihr friert,
sagt ihr? Es ist warm bei euch -- viel wärmer als drüben ...«

Nun freute sie sich, daß sie soviel, viel mehr gekauft hatte, als die
Führerin hatte dulden wollen. Sie schob zuletzt unter jeden Teller noch
eine Fünf-Dollarnote. So -- nun war sie aber auch völlig blank ... Gut,
daß sie im Hause Freimann Quartier hatte ...

Und dann kicherte sie heimlich auf: Jetzt mußte der dicke Bobbie
ihren Gabenkorb bekommen haben -- der arme Bobbie in seinem einsamen
Junggesellenstübchen -- zwischen seinen langweiligen Schiffsmodellen
und Kartenstößen ... Ob er sich's wohl schmecken ließ? All die
erlesenen Dinge, die sie zusammengepackt? Und ob er wohl einmal dabei
an sie denken würde?! Ach nein -- er dachte gewiß an die schlanke Ilse
-- die soviel vornehmer war, soviel interessanter, soviel klüger ...
Und der kleinen Bessie Busen hob sich in einem melancholischen Seufzer
...

Ach was -- an die Arbeit ... Ilse hatte recht, ein Esel war er, ein
recht dicker, langohriger Esel ...

An die Arbeit! Wie hübsch der schmutzige, kahle Saal doch geworden war
unter den schmückenden Mädchenhänden! Es war doch gut, daß sie Ilse
eingeladen hatte -- die würde staunen -- und sich vielleicht doch ein
wenig schämen, daß sie sich so wenig um Elias Pattersons verlassenes
Töchterchen gekümmert hatte.

So ... fertig ... Wenn jetzt nur die Freunde kämen ... Antje und
ihre zwei jungen Männer, die sich so nützlich gemacht hatten in den
Tagen der Vorbereitung ... Der hübsche Anders -- dessen Seele einmal
Bessies Schutzengel hatte beherbergen dürfen -- und der wunderliche
Kauz, dessen arbeitsharte Fäuste doch so schön gespielt hatten auf dem
scheußlichen, klapprigen Pianino da hinten in der Ecke ... Wie drollig
er sich ausnehmen würde im Kostüm des Weihnachtsmannes, das nebenan im
Kämmerchen ausgebreitet lag -- samt allem Zubehör: dem langen weißen
Umhängebart -- dem Sack mit Äpfeln und Nüssen -- und der Rute für die
unartigen Kinder ...

Horch -- welch wunderschönes Getön da draußen?! Bessie stieß das
Fenster auf, um zu lauschen. Freilich still war's heute in den
finsteren Höfen ... hinter den schneeüberlagerten Fensterborden der
schwarzen Hausfronten, die das Geviert umstanden, blinkten überall die
Kerzenbäume -- und droben, wo die Hauswände mit schwarzem Strich zu
Ende gingen, ein Stück stahlblauen Nachthimmels, mit tausend funkelnden
Sternen beflittert ...

Aber über all das schwang sich ein mächtiges Getön -- noch nie meinte
die Tochter in der tosenden Millionenstadt der Wolkenkratzer und
autodurchrasten Avenuen solch wunderbare Musik vernommen zu haben.
Glocken -- Kirchenglocken -- aber wie viele -- wie unmenschlich viele!

Sie konnte nicht wissen, die kleine Genießerin aus dem Goldlande, daß
es kaum noch die Hälfte von den Glocken waren, die in dieser Stadt
um diese Stunde dereinst, vor dem Kriege, das Christfest eingeläutet
hatten -- daß mehr als die Hälfte von jenen heute, in hunderttausend
Fetzen zerrissen, eingebettet in der Erde der Schlachtfelder dreier
Erdteile lag, in den Tiefen dreier Ozeane ... inmitten der modernden
Leiber wackrer Soldaten aus allen Kontinenten des wahnsinnig gewordenen
Erdballs ...

Die übriggeblieben waren -- ihr vereinter Schall war immer noch
machtvoll genug, das Herz der hergewehten Lauscherin mit nie geahnten
Schauern zu füllen. Zumal von der Straßenseite her das gewaltige
Geläut der Michaeliskirche die Lüfte durchbrauste ... Der Amerikanerin
war es, sie hörte die Stimme dieses wundersamen, geheimnisvollen,
rätselschweren Landes -- dieses Landes, das sie drüben das
Hunnenland nannten -- und in dem sie nichts als gütige, schnurrige,
traurig-selige, stolze, klingende Menschen gefunden hatte ...

Wahrlich, wenn irgendwo die Lehre des Kindes von Bethlehem in den
Herzen eine Stätte gefunden hatte, dann war es hier -- und nicht im
Lande der Bethlehem Steel Company ...

O holdes Wunder, das im Liede dieser Glocken schwang -- o Seele,
Mädchenseele, erschauernd in nie geahntem Glück der Verbundenheit --
des Einklangs mit Erdseele, Menschenseele, Weltseele ...

Doch -- da waren die Freunde ... Wie sie staunten, die beiden guten
Jungen -- die hatten wohl nie so etwas Schönes gesehen alle zwei ...
Ganz ergriffen standen sie und starrten auf den Glanz dieses reichen
Festes, als sei es ihnen selber zugerichtet ... mit rechten Kinderaugen
staunten sie, die zwei guten Jungen ...

»So, Antje!« befahl die Festgeberin, »nun werden Sie helfen zu Ihr
guter Freund Mister Clas anziehen sein Kostüm ... Und Sie, Mister
Anders, Sie werden gehen mit mir auf die Straße zu suchen unsere
kleine Gäste. In halb eine Stunde, ich hoffe so, wir werden haben
zusammen unsre dreißig. Aber gut achtgeben, Mister Anders, daß sie sind
richtig sortiert ... fünfzehn Jungen, fünfzehn Mädchen, sonst gibt's
+confusion+!«

Und Clas und Antje waren allein. Das Mädchen half unter Kichern und
Prusten ihrem Getreuen die grauwollenen Pluderhosen über seinen
Sonntagsanzug ziehen, den mit weißem Krimmer verbrämten langschößigen
Kittel, die hohe schwarze Pelzmütze, an der ein paar lange weiße Locken
angenäht waren ... Zuletzt hing sie ihm noch den ehrwürdigen Bart um --
klatschte dann jubelnd in die Hände: Der Weihnachtsmann war fertig, wie
aus dem Bilderbuch herausgeschnitten! Ein Spiegel hing im Kämmerchen,
blind, verstaubt:

»Kieken S' mol, Clos, wat vör'n nüdlichen Wihnachtsmann wi ut Sei mokt
hebbt!«

Der gute Junge sah sich an und kannte sich nicht. Nur ein schmerzliches
Gefühl von Unsicherheit und Befangenheit überkam ihn bei dem Anblick,
bei des Mädchens Fröhlichkeit. Er konnte den Entsagungsblick nicht
vergessen, den Seufzer nicht, der ihre volle Brust gehoben hatte, als
sie und Anders einander beschenkt hatten. Er begriff nur schwer, was
in den beiden vorgegangen war in jenem Augenblick ... Nur das eine
fühlte er: und ob sie jetzt lachte und in die Hände klatschte wie ein
Schulkind -- sie litt ...

Er wandte sich ab -- es stieg ihm feucht in die Augen. Er nahm
seinen Sack und seine Rute und stapfte in den Saal zurück. Das alte
zerschrammte Pianino zog ihn wieder magisch an, wie schon einmal
heut am Tage, als er einen Stoß Pakete abgeladen hatte, welche
die Fremde ihm bei Tietz aufgehalst ... Und er saß, hauchte in
die frostverklammten Finger, die vom ewigen Ticktack, vom eisigen
Dezembersturm immer ungelenker wurden -- und schlug die Tasten an:

  »O du fröhliche,
  o du selige,
  gnadenbringende Weihnachtszeit ...«

Auf einmal konnte er nicht mehr weiter. Es warf ihn um. Seine Finger
glitten von den Tasten -- über den weißen Bart kollerten aus des
Jünglings wasserhellen Nordlandsaugen die blanken Tränen ...

»Wat hebbt Sei, Clos?«

»Och ... Antje ... ick bün so unglücklich ... En Musiker harr' ick
warden mücht ... un ick weet, ick harr't warden künnt ... öwerst mien
Vadder weur man 'n Arbeitsmann, as ick nu ok een bün ... ick heff mien
Klavierstünn' opgeben ... öwerst ick heff ümmer flietig speelt -- un
Sei weeten jo ok, Antje, dat ick schön spälen kann -- öwerst nu warden
mien Finger ümmer stiewer und stiewer ... un bald ward dat woll ganz
all sien mit dat Klavierspeelen ...«

Umsonst versuchte Antje den lieben Jungen zu trösten. Sie hatte es ja
selbst bemerkt, wie sein Spiel nachließ ... Proletarierlos ...

Sie trat von hinten an den Freund heran und streichelte ihm ganz lind
und leise die nasse Wange überm flächsernen Umhängebart. Da sank das
Haupt des armen Weihnachtsmannes an Antjes hochatmende Brust -- seine
glühenden Schläfen fühlten das heiße Klopfen des starken, ringenden
Mädchenherzens.

»Antje!« stammelte Clas und suchte der Freundin schlanke Damenhände zu
fassen. »Antje ... mit düssen Anders, dat ward jo doch nix ... ick weit
nich, wat dat is mit den Jungen ... öwerst ick gleuw -- ick gleuw ...
Antje ... ick heff Sei so bannig giern ...«

Da löste die Schlanke sich ganz langsam von Haupt und Händen des Mannes.

»Mien lewe Fründ!« sagte sie leise und innig, »mien lewe Fründ ...«

»Antje ... und dat wier ganz unmögelich, dat Sei ... ick weit, Sei sünd
tau gaud vör mi ... öwerst ick heff Sei so giern, so bannig giern ...«

»Still, still, mien gauden Clos ... ick kann't nich ... ick kann't nich
...«

                   *       *       *       *       *

»Sie kommen!« rief Antje. Auf dem Hofe scholl das Geschwirr halblauter
Kinderstimmen, von Andacht und bang hoffender Spannung gedämpft ...

»Schnell, Clas, Lichter anzünden!«

Bald flammte der Baum im Wunderglanze der seligen Nacht.

Und -- da kamen sie. Die Tür flog auf, Bessie trat ein, so stolz,
frostfrisch und süß wie eine kleine Märchenfee -- sie trat zur Rechten
-- und zur Linken ihr Gefährte, kaum fähig, seine Erschütterung zu
meistern.

Und nun trappsten und trippelten sie herein -- auf ihren
zerschlissenen, geflickten Nagelschuhen -- ach, es waren gar ein paar
Barfüßer dabei -- die Kinder des Elends ... In jedem dieser fahlen,
verquollenen, schrundigen, oft von Narben und Schorf überkrusteten
Gesichter stand eine Geschichte ... das Schicksal einer Blüte, die
der Frost gelähmt, der Wurm zernagt, der Sturm zerpflückt, die Dürre
verödet ... In den meisten noch ein Rest des großen Kinderstaunens
über den Irrsinn des Leidenmüssens -- in vielen aber auch schon die
Gerissenheit und Verschmitztheit des gehetzten Getiers, in dem und
jenem gar schon das Notmal frühreifen Lasters, ererbten, verfrühten
Erwachens des Bewußtseins des zu selbstverständlicher Hantierung
gewordenen Verbrechertums ...

Und doch allen gemeinsam in diesem Augenblick ein verklärender
Zug von Glückseligkeit -- die alle hatten dieser Weihnachtszeit
entgegengehungert ohne Hoffnung auf einen Lichterbaum, einen
freundlichen Willkomm, eine schenkende Hand, eine noch so bescheidene
Gabe -- bei keiner Wohltätigkeitsorganisation waren sie angemeldet,
keine mildtätige Familie hatte sie für diesen Abend in den Frieden
ihres Hauses geladen -- sie waren allesamt Freiwild, Nachwuchs der
Fäulnisschicht, die in der untersten Schlammtiefe der Großstadt
wuchert, prädestiniert zu einstigen Insassen der Obdachlosenasyle, der
Bordelle, der Zuchthäuser, der Irrenanstalten.

Und nun war ihnen doch einmal, ach vielleicht nur dies eine Mal, das
große Kindheitswunder erschienen ... In ihr dumpfes, verpestetes,
verdammtes Leben fiel ein Strahl des ewigen Gnadenlichts ...

Man sah's ihnen an: keines begriff, was eigentlich mit ihm geschah
... Sie ahnten nicht, was die Person mit dem feinen Pelzrock und den
blanken Stiefelchen von ihnen wollte -- wie sie dazu kam, einen Haufen
fremder Kinder von der Straße aufzulesen und mit sich zu schleppen
... Und wie kam es, daß sie sich als Helfer einen jungen Kerl von
ihrer Sorte ausgesucht hatte -- einen Arbeitsmann und ehemaligen
Matrosen?! Und da war ja noch eine Dame, nicht so fein wie die Kleine
-- Dunnerslag! Dies und jenes aus der Neustadt kannte sie sogar: Das
war ja Vadder Tietgens seine Antje aus der Uhlen-Twiete, die bei der H.
T. L. tippen ging!

Aber nun geschah etwas ganz Ungeheuerliches, Unheimliches und doch
eigentlich Wunderschönes: Da stand ja unter dem Lichterbaum auf einmal
-- so'n alter Kerl, wie sie wohl in den großen Ladenschaufenstern
standen, aber ausgestopft -- und das war ein lebendiger -- zwar die
scharfen Augen der Wildlinge sahen sofort: Es war gar kein wirklicher
alter Mann, er hatte ein frisches, rotes Jugendgesicht, und der lange,
ehrwürdige, schneeweise Bart, den er trug, der war aus Wolle, und er
hatte sich ihn nur umgehängt zum Spaß ... aber das war ja gerade das
Schöne, daß es man Spaß war ...

Ach -- und nun ging der Weihnachtsmann ans Klavier und fing an zu
spielen ...

Und die dreißig Kindermünder sangen froh und tapfer und grell und selig
mit, als nun die alte Weise klang -- die wunderliebe deutsche Weise von
der stillen, der heiligen Nacht.

                   *       *       *       *       *

Die drang durch die Fensterscheiben in die schluchtenge,
flockendurchstiebte Gasse hinaus, in die nun draußen, drunten die
gleißenden Lichtkegel eines Automobils fielen. Und aus dem Wagen
tastete sich eine schlanke, pelzbehandschuhte Hand, schob sich ein
feiner Mädchenfuß ... Mit leichtem Gruseln stand Ilse Carstensen im
schmutzigen, schlüpfrigen Schnee.

Und da schrak sie plötzlich heftig zusammen: Aus der Dämmerung, welche
der matte Widerschein der Wagenlampen außerhalb ihres scharfumgrenzten
Bereichs schuf, stierten ein Paar Augen sie an, unstet flackernd,
heißhungrig wie die Lichter eines Wildkaters ...

Mit hastigen Schritten floh Ilse da die Stiege zur Wirtshaustür hinan
... Und nun klang ihr das Lied von droben entgegen:

  »Christ, der Retter ist da --
  Christ, der Retter ist da ...«

Das rüttelte an ihres Herzens Pforten, die sie daheim im Elternhause
gewaltsam hatte zusperren müssen, damit die liebsten Menschen
nicht sähen, was sie doch nicht sehen durften -- ihres einsamen
Herzens hilflos zitternde Not ... Nun sprangen die Riegel, wehrlos,
unverteidigt ergab sich des Mädchens verlassene, verlorene Seele der
Gnadenbotschaft aus der Höhe.

Sie klinkte die Saaltür auf, hinter der soeben die letzten
Klaviernachklänge verschwebten -- und stand geblendet im
verschwenderischen Lichte des Tannenbaums, den die Hand einer
Glücklichen aus glücklichem Lande für die Ärmsten des ärmsten aller
Völker geschmückt hatte. Und Ilse sah ... sie sah das Bild aufatmenden
Kinderglücks, das, ungläubig immer noch und endlich doch begreifend,
unfaßbarer Schätze sich bemächtigt ... Sie sah das lachende, gebeselige
Gesicht ihrer exzentrischen kleinen Freundin, in deren Augen sich die
Neugier der schauensfrohen Globetrotterin mit dem reinen Herzensgold
der Güte so lieblich mischte -- und sie sah, wie nun der Weihnachtsmann
vom Klavier her an der Festgeberin Seite trat und sie ihm dankbar und
bewundernd die Hand schüttelte. Aber da war ja auch noch ein anderes
Paar -- sieh da -- Fräulein Tietgens, ihres Schwiegervaters Sekretärin
-- mit der die kleine Patterson sich ja, Ilse wußte es, in ihrer
unterstrichenen Popularitätssucht so demonstrativ angefreundet hatte ...

Auch sie war um die Kinder bemüht, half ihnen bewundern und packen
-- aber dabei lächelte sie mit weich-wehmütigem Schwesterblick einem
jungen Manne in Matrosenkleidern zu, welcher, der Tür den Rücken
kehrend, mit der Sekretärin plauderte.

Wirklich ein feines, eigenes Geschöpf, dieses Fräulein Tietgens --
sah wahrhaftig wie eine Dame aus -- und war doch, wenn man sich recht
erinnerte, aus ganz kleinen Verhältnissen ... Und der junge Mann, mit
dem sie im Wechsel mit ihren Unterweisungen auf die tausend Fragen der
immer mehr auftauenden Beschenkten so eifrig und hingegeben plauderte
-- das wird wohl so etwas wie ein Schatz sein ... merkwürdiges Paar,
die sorgfältig, fast elegant gekleidete junge Person -- und der Matrose
mit dem kahlgeschorenen Kopfe ...

Nun drehte der Seemann sich um, ein tiefgebräuntes Gesicht mit braunem
Schnurrbärtchen neigte sich zu einem der Buben nieder, ein Paar
arbeitsderbe Fäuste griffen zu, um dem Knaben beim Verstauen seiner
Schätze behilflich zu sein -- jetzt hob der Kopf sich ein wenig -- --

Ilse fühlte etwas wie einen Stoß gegen ihr Herz. Ihre Augen brannten,
in ihrer Kehle stieg ein Schluchzen empor ... das keinen Ausweg fand --

Und wieder wandte er -- er! -- wandte sich wieder an dieses Fräulein
Tietgens, und Scherzworte flogen hin und her -- es lächelte der
weich-wehmütige Schwesterblick ... in tiefem Verstehen strahlten die
zwei jungen Menschen einander an, in ihren Augen war der Abglanz des
Lichterbaumes, die Weihe des Liebeswerkes, in dessen Dienste sie sich
regten, die reine Flamme der Menschengüte.

Sie -- sie ist gut zu ihm -- sie darf um ihn sein, ihm helfen, mit ihm
Gutes tun an den Ärmsten -- und ich -- --

Also hier -- hier ist er -- hierhin hat er sich geflüchtet aus der Welt
der Geschäfte und Fusionen, der Kontore und Werften, der Helgen und
Docks, des Trotzes und Ehrgeizes, des Ringens um Besitz und Macht --?!

In Ilses Wesen löste sich etwas -- etwas Starres und Stählernes --
etwas Stolzes und Steifes -- löste sich, fiel ab wie Schale, wie
Schlacke -- und aus befreiter Tiefe quoll's auf, eine Fülle ward
entbunden, eine Helligkeit brach hervor, eine lang gebundene Musik
ward Harfen- und Schalmeienjubel -- ein Mensch ward sich seiner
Menschlichkeit bewußt.

Und jetzt -- jetzt richtete der junge Mann im Matrosenkittel sich
vollends auf, sein Antlitz, geheimnisvoll angezogen, wandte sich zur
Tür -- -- und da sanken seine Arme am Leib herab -- und auch in seine
Augen kam jählings das gleiche kinderselige Staunen, wie es auf den
dreißig Angesichtern der freudelachenden Beschenkten stand.

Und Blick senkte sich in Blick.

Du bist's -- du -- -- hier find' ich dich -- hier bist du --! staunte
Ilses Auge. Unter den Ärmsten der Armen -- im Kleide der Schlichten ...
hingegeben dem Werk der schenkenden Güte -- --

Verstehst du mich? fragten des Geliebten Blicke zurück.

Nein -- ich versteh' dich nicht -- aber ich glaube -- -- ich -- ahne
dich ... und mir ist, als säh' ich dich heut erst, wie du bist ...
begriff' erst heute, wer du bist ...

Eine Sekunde nur hielten die Augen der Liebenden einander fest --
schimmernd im Glanz der Weihnachtslichter grüßten ihre Seelen sich über
den Abgrund hinüber, den Heinz zwischen sich und seine Welt gelegt ...

Aber diese eine Sekunde gab tiefstes Verstehen -- dieser kurze
Blicketausch war letztes Erkennen -- ein Liebesgeständnis ... ein neues
Verlöbnis. Erlösende, beseligende Zwiesprache der Herzen -- inmitten
des Schwarms, der sich um die Gabentische drängte -- heiligstes
Geheimnis dieser heiligen Nacht -- --

Und schon war Heinz wieder Anders Niemann geworden -- mit einem Ruck
zurückverwandelt ...

Denn hinter Ilse Carstensens Lichtgestalt war im Rahmen ein Schatten
aufgetaucht -- ein Gespenst aus der Tiefe ... inmitten des Liebesfestes
ein Dämon des Hasses ...

Nur einen Moment -- und schon war er verschwunden -- geblendet,
hinweggescheucht vom Glanz der heiligen Stunde.




                             Viertes Buch




                                   1


Ein verschlissenes Plüschsofa, davor ein fleckiges Marmortischchen in
der dumpfen, dunklen Nische eines winzigen, kleinbürgerlichen Cafés
der Steinweg-Passage zwischen Altem Steinweg und Wexstraße -- das war
seit Weihnachten für Heinz und Ilse das Asyl ... Hier wußte niemand,
wer das elegante, schlanke Mädchen war, das sich mit einem Matrosen
traf -- niemand kümmerte sich darum. Hier hatten die Verlobten einander
gefunden. Ilse begriff nun alles -- verstand des Freundes Suchen und
Sehnen -- wußte, was er da unten erhofft und gefunden, kannte seine
Erlebnisse, seine Hoffnungen, seine Enttäuschungen ...

Draußen fegten die Sprühschauer und Sturmböen des Vorfrühlings um
die berußten Ziegelfronten der Neustadt -- aber durch die jagenden
Wolken fiel bisweilen doch auch schon ein Strahl der belebenden
Märzsonne. Unter das Glasdach der stickigen Passage, in die muffige
Enge dieses spießigen Kaffee- und Kuchenverschleißes brach kein
Sonnenblick, wehte kein Lenzhauch. Aber die zwei Menschen, die in der
Frühnachmittagsstunde dieses Sonntags die einzigen Gäste waren, die
hatten ihren Frühling mitgebracht. Sie saßen Hand in Hand, und ihre
Worte, ihre Gedanken jagten sich wie draußen Wind und Wolken, und
durcheinander wirbelten Bangigkeit und Hoffnung, Sorge und Zuversicht.

»Wie schön du dich heute gemacht hast!« strahlte Heinz. »Für mich
armselige Blaujacke schwerlich -- also beichte, für wen?«

»Selbstverständlich nicht für dich!« lachte Ilse. »Für ganz wichtige
Leute! Um drei Uhr legt an St. Pauli Landungsbrücke die ›Union‹ an --
das erste Schiff, das unter der Flagge der United Transatlantic Lines
Hamburg anläuft! Alle diese Pracht ist für die von drüben!«

»Ein großer Tag für meinen Vater!« sagte Heinz versonnen.

»Für uns nicht minder! Für unser ganzes Vaterland!« sagte Senator
Carstensens fleißige Sekretärin. »Und morgen mittag Stapellauf der
›Deutschland‹ -- doch, wir sind ein Stück vorwärts gekommen.«

»Aber,« meinte Heinz bedenklich, »das innerpolitische Thermometer steht
wieder einmal auf Sturm. Die Arbeiterschaft ist furchtbar erregt.
Man munkelt von einem unmittelbar bevorstehenden Rechtsputsch -- die
Republik sei in Gefahr.«

»Es scheint etwas daran zu sein«, gab Ilse zu. »Auch in unserem Bureau
und bei der H. T. L. sind Informationen eingelaufen, daß irgend etwas
bevorstehe wie ein Unternehmen zur Wiederherstellung der alten Ordnung
... Also die Stimmung in ›euren‹ Kreisen ist bedrohlich?«

»Sehr ... es wäre höchst fatal, käme die Sache gerade jetzt zum
Ausbruch ... Also hör': Mein Schlafkamerad Tedje Tietgens ist wieder
sehr tätig. Sollte wirklich ein gegenrevolutionäres Unternehmen in
diesen Tagen zum Klappen kommen, dann sind Rückwirkungen auf die
Hamburger Arbeiterschaft unvermeidlich -- dann kracht's auch hier, und
ganz besonders auf unserer Werft!«

»Das wäre fürchterlich ...« sagte Ilse unruhig. »Ach, Heinz, wie bang'
ich mich um dich ... Vor diesem Tietgens hab' ich eine entsetzliche
Angst ... Du weißt ja, der unheimliche Kerl lauert mir seit Monaten bei
jeder Gelegenheit auf ... Vor ein paar Tagen, ich muß es dir sagen, ist
mir sogar etwas ganz Entsetzliches passiert ...«

Und glühend vor Scham und Empörung erzählte sie dem Freunde, daß der
Arbeiter sich erfrecht habe, sie in der Dämmerung anzusprechen. Er
müsse sie einmal mit Heinz zusammen beobachtet haben ... denn er habe
gesagt »Fräulein, wenn mein Kamerad Anders Niemann die Ehre hat, mit
Ihnen spazierenzugehen, dann ist es vielleicht erlaubt zu fragen, ob
auch unsereins einmal so frei sein darf ...«

»Unverschämtheit!« zischte Heinz. »Das ist allerdings schlimm ... Ich
habe schon seit ein paar Wochen das Gefühl: er ist nicht mehr wie sonst
... er hält sich zurück, belauert mich ... Nun -- und was wurde weiter?
Was sagtest du, tatest du?«

»Alles ist gnädig abgelaufen«, erzählte Ilse, noch fiebernd in der
Erinnerung. »Der Bursche hatte mich kaum angesprochen, da trat ein
hochgewachsener Herr dazwischen und schrie deinen Freund an, er solle
mich in Frieden lassen, ich sei die Tochter des Senators Carstensen ...
es war ein Leutnant Timmermanns -- der Bruder unseres Generaldirektors
...«

»Ah -- deines stillen Verehrers!«

»Ach -- der ist mir längst abtrünnig geworden!« lachte Ilse ein wenig
befangen. »Er zappelt gewiß in diesem Augenblicke vor Ungeduld, bis die
›Union‹ anläuft ... Ich habe ihn an Amerika verloren ...«

»Sein Glück!« gab Heinz das Lächeln zurück und drohte mit dem Finger.
»Nun -- und wie ging's aus?«

»Es hätte nicht viel gefehlt und Leutnant und Arbeiter wären um
meinetwillen handgemein geworden. Aber Herr Timmermanns war zum
Glück nicht allein ... Ein paar sehr stattliche junge Herren, die in
seiner Gesellschaft gewesen waren, erschienen als Verstärkung -- da
ist der böse Tedje schleunigst verduftet. Aber dieser entsetzliche
Abschiedsblick -- mir gruselt noch, wenn ich daran denke ...
ekelhaft ...« Ihre Schultern fröstelten -- unwillkürlich zog sie den
Blaufuchskragen am Hals zusammen. »Heinz -- und du mit solchen Kerlen
seit einem Jahr unter einem Dach, in einer Kammer zusammen -- wie du
das nur erträgst ... Wenn ich nachts schlaflos liege -- du ahnst nicht,
wie oft ich's tu um deinetwillen -- mich ängstigen entsetzliche Bilder
... hast du denn wenigstens das Gefühl, daß deine ganze wunderliche
Unternehmung ihren Zweck erreicht?«

»Das hat sie längst getan, Ilse -- und ich denke, es ist nun genug. Ich
warte jetzt nur noch den Stapellauf der ›Deutschland‹ ab -- dann werde
ich wieder Heinz Freimann -- und Anders Niemann wird Episode gewesen
sein ...«

»Heinz -- ist's wahr?!« Die Braut umschlang den Verlobten und küßte
ihn. Aber ihre Hände und Lippen zitterten. »Und dann, Heinz, und dann?«

»Dann werden meine Erfahrungen ›ausgewertet‹, wie wir im Kriege sagten.
Das ist ein langes Kapitel ...«

»Erzähl' mir, Heinz -- erzähl' mir ... Ich will doch einmal deine
Gehilfin werden, deine Mitarbeiterin -- noch in einem ganz anderen
Sinne als jetzt bei Vater ...«

»Wo soll ich nun anfangen, Ilse, um dir das klarzulegen, was ich
gelernt hab'? Ich kenne nun -- oder bilde mir's wenigstens ein -- ich
kenne das große Rätselding: die Arbeiterseele.«

»Gibt's das denn überhaupt?« fragte Ilse. »Ich lebe doch nun seit vier
Jahren inmitten unserer Arbeiterschaft -- von Seele habe ich wenig
gespürt, möglichst viel Lohn und möglichst wenig dafür leisten müssen
-- da hast du die Arbeiterseele!«

»Ilse! Jetzt sprichst du Harvestehudisch und nicht Deutsch!« zürnte
Heinz.

»Ach nein -- die sind unersättlich, die!« eiferte die Patriziertochter.
»Was hat das Kaiserreich nicht alles für sie getan! Bedenk doch nur --
unsere vorbildliche Arbeiterschutzgesetzgebung!«

»-- die kein großes Kulturvolk uns nachgemacht hat -- sollte das
nicht zu denken geben?! Frag' mal unsere Ärzte, unsere Juristen,
unsere Sozialpsychologen! Da wirst du seltsame Dinge zu hören
bekommen: Rassenverschlechterung trotz der Hygiene ... Untergrabung
des Verantwortlichkeitsgefühls, des Spartriebes, des Familiensinnes
-- Züchtigung der Rentenpsychose und des Simulantentums -- -- Und was
das schlimmste ist: das Volk fühlt halb unbewußt, daß diese Fürsorge
nur seinem leiblichen Wohl gilt -- nur bestimmt ist, seinen Wert als
Produktionsfaktor vor allzu schneller Abnutzung zu bewahren ... Wer
aber hat die wahre, die seelische Aufgabe erkannt, die das riesige
Anwachsen des Industrieproletariats unserer Zeit gestellt hat? Wer
hat es unternommen, dem Manne an der Maschine einen -- Lebensinhalt
zu geben? Sein Dasein einzuordnen in den inneren Entwicklungsgang
der Nation? Wer hat sich den Mächten entgegengestemmt, die es seinem
Volkstum entfremdeten -- es zum Internationalismus erzogen?! Wer hat
den Arbeiter gelehrt, sich als Deutschen zu fühlen?«

»Und das -- das willst du --?!«

»Ich will's -- solange kein anderer es tut -- kein anderer als
vielleicht der Feind -- durch das Übermaß seiner Bedrückung! Diese
Fragen sind die wichtigsten von allen großen Menschheitsfragen unserer
Tage. Entweder wir lösen sie, oder unser Volkstum, unsere Kultur,
unsere ganze Welt versinkt in der roten Flut.«

»Also was willst du tun?«

»Ich gehe nach Berlin. Ich fordere eine Reform des
Volksschulunterrichts auf nationaler und sozialer Grundlage. Ich
werde meine Erfahrungen allen Männern der Zeit unterbreiten, die
irgendwelchen Einfluß auf die Geschicke unseres Vaterlandes haben oder
verdienen. Ich werde schreiben, ich werde schreien, wenn's sein muß:
Hier ist eine ungeheure Not -- Millionen der Menschen, die unsere
Sprache sprechen, die unseres Blutes sind, schmachten in hoffnungsloser
seelischer Verzweiflung. Oh, ich weiß noch gar nicht, was ich alles tun
werde. Ich weiß nur das eine: Hier muß geholfen werden. Ich verstehe ja
jetzt auf einmal alles -- ich begreife, warum wir den Krieg verloren
haben. Darum, weil wir innerlich noch gar kein Volk waren, als die
große Prüfung über uns kam.«

»Und euer berühmter Geist von 1914?«

»Ein schöner Traum -- eine Vorahnung nur von -- etwas, das einmal
kommen muß ... Ein Ergebnis der eisernen Friedensdisziplin unseres
Heeres -- nicht eines tief inneren Zusammengehörigkeitsgefühls unseres
ganzen Volkes ... Das furchtbare Erwachen ist gekommen -- langsam,
unabwendlich. Im Graus der Schlachten zerschmolz mit dem geschulten
Heere der Geist des 1. August ... Wir mußten auffüllen ... aus den
Massen, die der Friedensdrill nicht erfaßt hatte -- die außerhalb
der Volksverbundenheit geblieben waren. Das hat sich in Kürze nicht
ausgleichen lassen -- man hat's auch nur sehr unvollkommen versucht. So
-- ist's gekommen.«

»Und -- was soll werden?« fragte Ilse.

»Hand ans Werk! Der Proletarier muß erkennen lernen, daß auch er ein
Deutscher ist. Daß wir zusammengehören -- über den Klüften der Bildung,
des Besitzes, der Bekenntnisse, der politischen Überzeugungen. Dies
und nichts anderes will die deutsche Stunde, die deutsche Not. Das
alles habe ich inmitten meiner neuen Freunde erlebt und erkannt --
das will ich den Deutschen sagen, das müssen sie begreifen lernen
-- dieser Gedanke, diese Erkenntnis muß die Grundlage alles unseres
zukünftigen Denkens werden. Nicht mit Arbeiterschutzgesetzen,
nicht mit Lohnerhöhungen, nicht mit Sozialisierung der Betriebe,
nicht mit der Diktatur des Proletariats -- aber auch nicht mit
Wiederherstellung der alten Ordnung, nicht mit der Wiedereinführung
des ›Herr-im-Hause-Standpunktes‹ ist uns geholfen ... unser ganzes
nationales Leben muß umgestaltet werden, aufgebaut auf dem einen
Grundgedanken der Erziehung aller Deutschen zur Volksgemeinschaft!«

»Ach, Heinz,« klagte Ilse, »die Volksgemeinschaft -- ist das nicht auch
nur ein Wort, eine Theorie -- eine Phrase?!«

»Es ist ein Wort -- eine Phrase ist es nicht«, sagte Heinz mit stolzem
Ernst. »Es ist -- ~das~ Wort.«

»Welch eine Riesenarbeit nimmst du auf deine Schultern!«

»Ich weiß nicht, ob ich stark genug bin, sie zu tragen. Aber darauf
kommt es auch gar nicht an -- dazu bedarf es aller Kräfte der Nation.
Die Hauptsache ist, daß diese Aufgabe zunächst einmal erkannt wird.
Ich habe sie erkannt -- und ein Lump will ich sein, wenn ich nicht
alle meine Kräfte daransetze, sie in den Brennpunkt unserer nationalen
Arbeit zu rücken! Früher haben wir uns überhoben, jetzt trauen wir uns
überhaupt keinen Aufschwung mehr zu ... Aber hör' ein Beispiel: Ein
amerikanischer Matrose hat mir's in einer Hafenkneipe erzählt. In jeder
Schule in den Vereinigten Staaten, aber auch in jeder, hängt über der
Schultafel eines jeden Klassenzimmers ein riesengroßes Sternenbanner.
Wenn der kleine Bub oder das Mädchen morgens sein Schulzimmer betritt,
stellt es sich zunächst vor die Flagge, legt salutierend die Hand ans
Köpfchen und sagt: +My flag+! Dann kommt der Lehrer, begrüßt die
Kinder, und stehend singt die ganze Klasse zuerst das amerikanische
Flaggenlied! Das nenne ich nationale Erziehung!«

»Wundervoll! Wundervoll!« rief das Mädchen. »Aber -- wer wird die Kraft
haben, so etwas in Deutschland einzuführen? Ja -- und welche Flagge
sollen unsere Schulkinder nun salutieren? Wir haben ja zwei -- an der
einen hängt unser Herz, unsere heiligsten Erinnerungen -- und die
andere -- die wird uns aufgezwungen ...«

»Ja, es ist eine Trauer,« sagte Heinz, »ein rechtes Gleichnis unserer
unausrottbaren deutschen Zerrissenheit. Ich würde vorschlagen:
Wenn die schwarz-rot-goldene Flagge einmal durch ein Reichsgesetz
eingeführt worden ist, wollen wir sie ehren als ein Symbol unseres
einigen, unzerstörbaren Deutschen Reiches. Mit meiner Treue gegen
unsere schwarz-weiß-roten Erinnerungen hat das gar nichts zu tun.
Nicht auf das Zeichen, auf die Sache kommt es an. Ich bin ein so guter
Schwarz-weiß-roter gewesen und geblieben als irgendein Deutscher, ich
dächte, das hätte ich bewiesen und beweise das auch heute noch. Aber
sobald ein Mehrheitsbeschluß vorliegt, der die neue Flagge einführt,
scheint es mir sinnlos, dies neue Gleichnis zu schmähen, das ja
übrigens in Wirklichkeit uralt ist. Hinter der schwarz-rot-goldenen
Flagge wie hinter der schwarz-weiß-roten sehe ich, ehre und liebe ich
die gleiche Sache, mein deutsches Vaterland ... Mein deutsches, denn
ich habe nur eins. Ich kann mich nicht in einen Hamburger und in einen
Deutschen teilen. Und es wäre schön, wenn auch der Preuße und der Bayer
und der Lipper sich endlich als Deutsche fühlen wollten und auf das
Kokettieren mit einem Spezialpatriotismus verzichten lernten ... Siehst
du, das alles sind Bruchstücke der großen neuen Erkenntnis, die das
Jahr in der Tiefe mir gebracht hat ... das alles will ich bekennen vor
meinem Volk, bekennen vor meinen Standesgenossen und meinen Kameraden.
Nicht rückwärts, vorwärts wollen wir schauen in die deutsche Zukunft!«




                                   2


An den St. Pauli Landungsbrücken -- ein Bild fast wie aus der
Friedenszeit ...

Ja, die Stimmung der Hunderte, die wartend harren, noch gespannter,
erregter, fast fieberhaft. -- -- Was einst alltäglich war, nun ist's
ein Langersehntes, ein fast schon Mythe Gewordenes.

Ein Riese des Ozeans wird erwartet -- ach, es ist kein deutsches
Schiff ... das gibt's nicht mehr ... Gibt's -- noch nicht wieder ...
Wird's aber geben, einmal wird's das wieder geben ... Drüben auf der
Hammonia-Werft, auf der vordersten Helling, mit seinem massigen Leib
aufragend bis unters Krangerüst, wuchtet der Gigantenleib der künftigen
»Deutschland« ... Schon flattert auf der Spitze des Aussichtstürmchens,
dessen keckes Stahlskelett in die planvolle Spierenwirrnis des
Helgengerüstes eingebaut ist, das schwarz-rot-goldene Banner des neuen
Reiches -- -- morgen wird das stolze Schiff vom Stapel laufen.

Und was heute kommt, ist fast so etwas Ähnliches wie ein deutsches
Schiff ... Die »Union« der Blue Star Line wird heut zum ersten Male
unter der Flagge der United Transatlantic Lines von Neuyork her Hamburg
anlaufen -- dieser Linie, die trotz ihres englischen Namens das erste
Zeugnis deutsch-amerikanischer Verständigung ist ... ein erstes
tröstliches Zeichen des Wiederaufbaues der Weltwirtschaft -- nach der
allverschlingenden Sintflut die Taube mit dem Ölzweig ...

Am Heck wird sie das Sternenbanner führen, am Top aber die weiße Fahne
mit den Buchstaben »U. T. L.« -- dem Symbol erster Wiederbesinnung der
wahnzerrissenen Menschheit.

Inmitten der Hunderte, die des großen Ereignisses harrten, stand
eine Gruppe von Vertretern der Hansa-Transatlantik-Linie und der
Hammonia-Werft. Es galt, den Chef des befreundeten Konzerns zu
begrüßen, der heut zum dritten Male von drüben kam, diesmal inmitten
eines großen Kreises von Vertretern der Kapitalgruppen, die sich unter
seiner Leitung zur Großmacht des Patterson-Konzerns zusammengeschlossen
hatten. Alle diese Herren, deren Namen und Bedeutung das Kabel schon
längst ihrer Ankunft vorausgesandt, würden kommen, um an das große
Einigungswerk der Linie die letzte Hand zu legen -- und dem feierlichen
Stapellauf der »Deutschland« beizuwohnen, der Zeugnis ablegen sollte,
daß die junge Republik die Nachwehen der furchtbarsten Prüfung, die
qualvollen Wehen ihres Werdens überwunden habe.

Hatte sie das wirklich?!

Wer das Bild des Hamburger Hafens kannte, wie die wartenden Herren von
Linie und Werft es kannten -- wer wußte, was sie wußten -- der mußte es
billig bezweifeln.

Es brodelte wieder einmal mächtig in der Tiefe der Stadt Hamburg -- wie
es in Deutschlands Tiefen brodelte und schwelte.

Seit heute morgen standen die Arbeiter in der Hephästos-Werft im
Streik -- und auch auf der Hammonia hatten den ganzen Tag über die
Versammlungen einander abgelöst. Es war, als sollte den Amerikanern mit
aller Gewalt gleich bei ihrer Ankunft klargemacht werden, daß diesen
Deutschen nicht mehr zu trauen, nicht mehr zu helfen sei ...

Schlimmer noch: die Wissenden ahnten, es müsse noch Ärgeres kommen
als ein örtlicher großer Ausstand im Hamburger Hafen. Mit den ersten
Frühlingslüften war in den Herzen aller derer, die an das neue, an
das schwarz-rot-goldene Deutschland nicht glauben wollten, eine jähe
Hoffnung aufgekeimt. Der starke Mann, der sich's zutraute, das Rad
der deutschen Geschichte um sechs Jahre zurückzudrehen -- -- er war
gefunden.

Die Männer freilich, welche die Ankunft ihrer Vertragsfreunde von
drüben erwarteten, die sahen dieser Entwicklung mit tiefer Beklemmung
entgegen. Was gab ihnen dieser fast Namenlose, von dem man munkelte,
er plane die rettende Tat des Umsturzes von oben, der Gegenrevolution?
Sie kannten ihn nicht, er bedeutete ihnen nichts -- was würde er dem
Volke bedeuten? Und wenn es wirklich zur Tat kam -- würde sie nicht das
Signal sein zur Entfesselung eines neuen, schrecklichen Bürgerkrieges
-- ein neues, vielleicht das letzte Glied in der Kette, die Deutschland
immer noch von der Völkerwelt abschloß, um es nun vollends zu erwürgen?!

Es waren keine hoffnungsfreudigen Gespräche, welche der alte Detlev
Carstensen, schneeweiß und altersgebeugt, und Georg Freimann,
gefurchten Antlitzes, doch stramm und zusammengerissen, mit ihren
Mitarbeitern tauschten.

Ein wenig abseits standen zwei von den Frauen, die dem großen Ereignis
dieses frühlingumwitterten Märznachmittages am nächsten standen: Frau
Johanna -- und Bessie.

Mutter Johanna war verjüngt, aufgeblüht, kaum wiederzuerkennen. Ihr
hatten die zwei Freundinnen, mit Heinzens Erlaubnis, schon am ersten
Weihnachtstage das große Geheimnis anvertrauen dürfen:

Heinz ist gefunden!

Oh, nun war alles gut, alles gut. Der fromme Mutterglaube hatte nicht
getrogen ... Er ging seinen Weg, er wußte sein Ziel. Noch hielt ihn
die Aufgabe, die er selber sich gestellt, in der Tiefe fest, in die
er freiwillig hinabgetaucht ... Wer ein Führer des Volkes werden
wollte, der mußte es vor allem kennen bis in seinen moorigen Bodensatz
hinunter. Aber einst -- doch gewiß bald -- da würde er wiederkehren --
um den Seinen Kunde zu geben, was er da unten erlebt -- und vielleicht
den rettenden Gedanken ins Licht zu heben, die große Versöhnungstat
-- die aus allen Deutschen Brüder machen sollte -- aus den sechzig
Millionen in Wahrheit endlich nach tausendjährigem Irren -- ein Reich
-- ein Volk.

So träumte Mutter Johanna ...

»Wo nur Ilse bleibt?« zürnte die ungeduldige Bessie. »Ich wette, sie
trifft sich einmal wieder mit ihrem Matrosen ... Ach, wer's auch so gut
hätte ...«

Die achtzehnjährige Brust hob sich in einem tiefen Seufzer. Bobbie --
du dummer Klotz ... Bangst dich immer noch um deine Ilse -- willst es
nicht glauben, daß du bei der verspielt hast ... ahnst nicht, daß ein
kleines Mädel aus weiter Ferne dich hunnisches Rauhbein gar zu gern in
einen Gentleman von neuestem Neuyorker Schick umdressieren möchte ...

»Wehe aber, wenn sie zu spät kommt zur Ankunft ...«

Nein -- sie würde nicht zu spät kommen. Eben tauchte sie auf -- ganz
frühlingsmäßig zum Empfang geputzt.

Ach -- es war ihr schlecht bekommen, das Wagnis, an diesem Sonntage,
da es wieder einmal kriselte in der Welt des Hamburger Hafens, in der
Tracht der Glücklichen ohne Geleit einen Gang durch die schlimmen
Viertel zu machen. Sie glühte vor Erregung, ihre stolzen Züge waren
fast zum Weinen verzogen ... Es hatte abscheuliche Rufe, Schimpfworte,
Drohungen gehagelt um ihren hastigen Wandel ... Wenig hätte gefehlt,
und die erbosten Weiber aus den Hafenstraßen hätten ihr das seidene
Jäckchen in Fetzen gerissen ...

Aber nun, zwischen der erschrockenen Schwiegermutter und der
scheltenden Freundin, schüttelte sie Schreck und Scham ab.

»Mama -- Bessie -- ich hab' ihn gesprochen ... übermorgen kehrt er heim
... Nur noch den Stapellauf der ›Deutschland‹ will er abwarten -- dann,
meint er, sei's genug -- dann macht er Schluß mit Anders Niemann -- und
will wieder unser sein ...«

Ein Jubelruf auf Mutterlippen ... fast hätte Mutter Johanna die
Braut umarmt ... Aber nein -- Hamburg ist Hamburg, man weiß sich zu
beherrschen, wenn andere zuschauen.

»Und dann? Und dann, Ilse?«

»Er hat große Pläne ... Er will nach Berlin, will im Kultusministerium
berichten ... hat allerhand Vorschläge für eine Reform des
Unterrichtswesens auf nationaler Grundlage ... freilich -- es will
mir kaum über die Lippen -- unter Anerkennung der Republik -- er, des
Kaisers Offizier ...«

Da rümpfte auch Johanna die Nase. Das war ja kaum möglich ... Nun, man
würde ja hören ... Wenn er nur wiederkam -- alles andere würde sich
finden -- diesmal sollte er nicht mehr klagen dürfen, sein Elternhaus
sei ihm nicht Heimat mehr ...

»Puh!« lachte Bessie, »was ihr zwei für Gesichter macht, wenn ihr
von eurer Republik sprecht ... Sie beißt nicht, die Republik ...
+Daddy+ und ich sind auch Republikaner, sogar geborene ... gebt
mir acht, ihr werdet's auch ... Oh, ich werde sehr gut sein mit Mister
Heinz, wenn er ein Republikaner ist ... Nimm dich in acht, Ilse -- wenn
du schlecht zu ihm bist, schnapp' ich ihn dir vor der Nase weg ... Er
hat mich einmal gerettet, also gehört er mir so schon halb und halb ...«

»Und wie beurteilt Heinz die Lage der Werft?«

»Nicht allzu ungünstig ... Die älteren, besonneneren Elemente sind
gegen den Streik. Zwar leidet alles furchtbar unter der Geldentwertung
... Aber der alte Tietgens, der ihr Führer ist, hat heute drüben in
der Versammlung eine große Rede gehalten: Die Amerikaner kämen heute
an, denen dürfe man nicht das Schauspiel eines inneren Zerwürfnisses
bieten -- sonst verlören sie das Vertrauen -- und die Vereinigung der
beiden Linien bräche wieder auseinander ... Auch würden sie dann der
Werft keinen Dampfer in Auftrag geben ... und wenn die Werft nichts
zu tun habe, könne sie keine Löhne zahlen ... Das hatte Heinz ihm
alles klargemacht ... da siehst du, Mama, wie gut es ist, daß er noch
geblieben ist ...«

Erregung schwoll auf -- alle Hälse reckten sich ... Dort hinten,
wo für das Auge die schwärzlichen Häusermassen von Altona mit den
hochgetürmten Eisengerüsten der Hephästos-Werft zusammenzustoßen
schienen, tauchte zwischen dem Mastengewirr der kleinen Dampfer und
Segler, die nun die Stelle der Riesen von einst belegt hatten, der
Rumpf eines Gewaltigen auf, überragt von den klobigen Zylindern
der drei schwarzen Schornsteine mit dem weißen Reif, auf dem sich
alsbald der blaue Stern abzeichnen würde ... Voran tänzelte das
Lotsendampferchen -- als führe die Hand eines Kindes einen tappenden
Goliath, der sich zum Spaß die Augen hätte verbinden lassen.

Ein Rauschen innerster Bewegung ging durch die harrende Menge. Fünf
Jahre lang war der drittgrößte Hafen- und Handelsplatz der Welt
vom großen Leben des Erdballs abgeschnitten gewesen -- ausgesperrt
vom freien Weltmeer, dem Tummelplatz aller großen Völker, dem
Sehnsuchtsziel germanischer Träume seit Wikingertagen -- dem
Ruhmespfade der Hansa, der froh befahrenen Lebensstraße des zweiten
Kaiserreichs ...

»Unsre Zukunft liegt auf dem Wasser --« herrischer Fürstenmund, der
einst dies kühne Wort gesprochen, nun in selbstgewählter Verbannung
verstummt ...

Der Irrsinn innerer Zwietracht hatte das festlandgebundene Volk der
Deutschen aus der Reihe der hoffenden Nationen getilgt ... Wär's
möglich -- täte die See aufs neue vor ihm sich auf?!

Mit fest zusammengebissenen Zähnen stand Georg Freimann.

War nicht eine Stunde gewesen, da neben dem begonnenen Abschiedsbrief
an die Lebensgefährtin der Browning lag --?

Dankbar suchte das Auge des Reeders der Gattin liebeschweres, wissendes
Antlitz.

Nun flatterten viel hundert weiße Tücher, viel hundert winkende Hände
-- drunten auf dem wimmelnden Landungssteg ... Droben aber auf den
Promenadendecks, der Kommandobrücke, harrten Kopf an Kopf gedrängt die
Sendlinge der Neuen Welt der Ankunft in dem Lande, dessen verzweifelte
Gegenwehr von Amerikas Granaten in den Grund geschossen worden war. Und
auch droben winkte manche Hand, flatterte manches Tuch den Gruß der
wiedererwachten Menschlichkeit.




                                   3


Tedje Tietgens fühlte es in allen Knochen: seine Stunde kam. Immer
näher und näher. Unabwendbar.

Seine Seele war ganz Haß geworden. Ganz Grimm und Rachegier. Die
tollen, blutigen Junitage durften nur ein Vorspiel gewesen sein. Nur
ein Vorspiel.

Die »Deutschland« war fertig. Ihr Stapellauf bedeutete ihm den Triumph
des Kapitalismus -- das Scheitern der Weltrevolution. Und was ihm
selber nur dumpf und wirr in Sinnen und Hirn gor -- der Sendling des
Ostens hatte den Höllensud gargekocht. Die »Deutschland« würde nicht
vom Stapel laufen -- --

Seit Wochen hatten Tedje und sein Vertrauter päckchenweise das Dynamit,
das die Berliner Zentrale geschafft, in ihren Taschen auf die Werft
geschmuggelt. In einem verschwiegenen Keller standen drei Kisten
bereit, groß genug, eine Armada in die Luft zu blasen ...

Oh, wie er es haßte, das stolze Schiff, an dessen Vollendung seine
starken Fäuste seit mehr denn einem Jahre mitgeschafft -- im Bunde mit
seinen Freunden, seinen Stubengenossen!

Aus welchem Kopfe war es entsprungen? Jeder auf der Werft wußte es: Bob
Timmermanns -- der Werkmeisterssohn -- hatte es ersonnen. Er, der ihn
einmal am Kragen gepackt und an die Wand geschmissen wie einen tollen
Hund ...

Wer würde den Ruhm davon haben? Die Hammonia-Werft. Der alte Carstensen
-- für den hatte er sich abgeschunden sein ganzes Jugendleben hindurch
... er und die Tausende seiner Kollegen ... Und oll Carstensens Tochter
würde am Bugspriet stehen und die Sektflasche gegen die Eisenwand des
Dampfers schleudern ... Sie, die Feine, die »Zarentochter«.

Und dann -- dann würde die »Deutschland« zu Wasser gehen -- und nach
Amerika fahren -- und schwer Geld verdienen -- für die H. T. L. Für die
Feinde -- die Kapitalisten.

Und Tedje? Und die andern fünf-, sechstausend, die daran mitgeschafft
hatten in Glut und Frost, in Fleiß und Schweiß?

Nicht zu früh triumphieren -- ihr da oben im Licht!!

Die »Deutschland« läuft morgen ~nicht~ vom Stapel! Die
»Deutschland« geht heut nacht in die Luft!

Und dann -- wenn alles drunter und drüber geht -- dann holt Tedje
Tietgens sich seine Feine -- seine »Zarentochter« --!!

       *       *       *       *       *

In dumpfer Maulwurfshöhle hielt Spartakus Kriegsrat. Tedje Tietgens
hatte nicht den Vorsitz mehr -- die Beratungen leitete im Auftrage der
Berliner Zentrale der Sendling Moskaus: der Genosse Dragomiroff. Und in
der Runde der Spießgesellen, die um Mudder Lores Tisch saßen, an den
Wänden sich rekelten, auf dem Fußboden kauerten, sah man inmitten der
lenzluftgebräunten Köpfe der Werftarbeiter manches fahle, spitzknochige
Slawengesicht. Die Wodkaflasche kreiste, in den Taschen knisterten die
Sowjetrubel.

Dragomiroff war mit der Haltung des Hamburger Proletariats höchst
unzufrieden. Die Schlappmacher von der Mehrheitssozialdemokratie,
selbst die unsicheren Kantonisten, die Unabhängigen -- sie schielten
alle nach dem Brotkorb, den der Kapitalismus ihnen mit kargen Brocken
zu füllen geruhte. Kein Glaube mehr, keine Begeisterung, kein Opfermut!
Da waren wir Russen doch andere Kerle, hatten ganze Arbeit gemacht!!

Nein, so ging's nicht weiter. Jetzt oder nie! Die Gegenrevolution
rüstete zu ihrem längst geplanten großen Streich. Die Zentrale hatte
sichere Kunde, daß in den nächsten Tagen die Weißen mit einer ganzen
Armee gen Berlin rücken würden, um die Regierung der Lauen und Halben
zu stürzen und das Reich des Mammonismus und Militarismus aufs neue
aufzurichten in Deutschland.

Da ging über die angespannten Gesichter der Lauschenden eine jache Glut.

Nieder die Bourgeoisie! Es lebe die Weltrevolution! Die Weißen an die
Laterne!

Der Russe lachte Hohn. Sein gewandtes, östlich schnarrendes Deutsch
goß siedendes Öl in die Seelen seiner Hörerschaft. »Pah -- schreien!
Damit seid ihr immer bei der Hand, ihr schlappen Deutschen! Aber
wo steckt ihr, wenn's ans Handeln geht?! Ein bißchen putschen, ein
paar Cafés und Villen plündern, das Rathaus mit Maschinengewehren
punktieren, einen Haufen entwaffneter Weißgardisten zertrampeln -- dazu
reicht's! Sind das Taten? Lausbubenstreiche sind's, nichts weiter!
Der Feind, der handelt --! In eben dieser Stunde läuft im Hafen ein
Dampfer ein, an dessen Bord die Zwingherren Amerikas von drüben kommen
-- das internationale Kapital reicht dem deutschen die Hand, damit
dem Siegeszuge des Bolschewismus ein Damm entgegengetürmt werde! Und
drüben auf der Werft soll morgen ein Schiff vom Stapel laufen, das ihr
selber, ihr albernen Tröpfe, gebaut habt als Bindeglied und Stärkung
für die Macht des Götzen, der euch alle knechtet, euch Proletarier der
alten wie da drüben in der neuen Welt! Dieses Schiff wird den Namen
›Deutschland‹ tragen -- eine neue Herausforderung des international
gesinnten deutschen Proletariats -- eine neue Verherrlichung des
Nationalismus -- dieser diabolischen Erfindung des Kapitals, das
mit seiner Hilfe die Arbeiter des Erdenrunds verhindert, sich in
unwiderstehlicher Stoßkraft zu verbrüdern -- das sie vier Jahre
lang widereinander gehetzt hat ... Und sie mußten sich gegenseitig
zerfleischen, vorn im vordersten Graben, aber die Offiziere, die
Sendboten des Kapitals, die euch in Blut und Tod jagten, die blieben
hübsch hinten und versteckten ihr kostbares Leben, das Leben eurer
Unterdrücker, in bombensicheren Unterständen!«

»Haut sie!« brüllte der Chor der jungen Gesellen, von denen gut die
Hälfte höchstens im Rekrutendepot den Krieg erlebt hatte. »Messers rut!
An'ne Wand dei Schufte!«

»Deutschland! Was heißt das? Ist Deutschland der Proletarier Vaterland?
Dann ist's ein Rabenvaterland! Hat's für euch jemals etwas anderes
übrig gehabt als verblödende Arbeit -- elenden Hungerlohn -- stinkige
Zinskasernen -- gemeinen Fusel und halbverfaulte Kartoffeln -- und wenn
eure Knochen morsch wurden, aufgerieben und zermürbt von einem Leben
der Arbeit für die Großen -- hundert Mark Invalidenrente?!

Und übermorgen werden sie jubeln, wenn das Werk eurer Hände zu Wasser
geht, jubeln und sich brüsten, als hätten sie es gebaut und nicht ihr!

Soll's dazu kommen?!«

»Nein!« brüllte die Horde.

»Gut -- so sorgt mir, Genossen, ihr Entschlossenen, ihr Jungen,
ihr, die ihr euch ekelt mit mir vor der Halbheit und Lauheit der
Maulproletarier, der verkappten Bourgeois -- sorgt mir, daß die
versumpfende, verrottende sogenannte ›Bewegung‹ endlich Beine bekommt,
Flügel bekommt, Klauen und Zähne bekommt! Sorgt, daß ein Fanal
aufglüht, ein Posaunenstoß schmettert, eine Sprengmine in die Luft geht!

Es lebe die Propaganda der Tat!!«

Der Sendling Lenins ließ sich in einen Stuhl fallen -- stürzte ein Glas
Branntwein hinunter. Und mit eisig kühlem Vivisektorenblick musterte er
die wüste Schar seiner Hörer, die ihn tobend, armefuchtelnd umdrängten.

»Wat söhlt wi moken -- Genosse? Wat köhnt wi dauh'n? Du hest doch'n
Plon, Kierl -- spuck'n mol ut!«

Dragomiroff empfand: Die Zündschnur glomm. Nun mochte ein anderer
pusten, sie in Brand zu halten. Er gab dem Genossen Tietgens das Wort.

Tedje stand auf. In seinen dunklen Augen glosteten drei Höllen auf
einmal: Wollust, Zerstörungswut -- und die gelbste, tückischste,
stinkendste aller Schwefelflammen: der Neid. ... Der Neid des
Unfruchtbaren auf die Könner, des Athleten auf die Gedankenriesen, des
Glaubensleeren auf die Glaubensstarken.

»Jungs!« zischte er, »dei ›Dütschland‹ lopt morgen nich von'n Stopel --
wi blost ehr in dei Luft!! In'n Keller von dei Maschinenbuhalle, doar
stohn dree Kisten Dynamit!!«

Was -- -- -- hatte er gesagt -- der Tedje?!

Die »Deutschland« in die Luft blasen -- mit -- Dynamit?! -- Die -- --
»Deutschland« --?!

Starr saßen sie plötzlich, die jungen Burschen -- glotzten blöden,
jählings erblaßten Gesichts im Kreis -- --

Die Wodkadünste, die Phrasennebel rissen, verflatterten ... Eine Tat
reckte sich auf, scheußlich, irrsinnig -- eine fratzenhafte Ausgeburt
der Hölle ...

Selbst für diese zerrütteten, verrohten Gestalten zu aberwitzig, zu
bestialisch ...

Anders Niemann saß regungslos. Er hatte hundertfachen Schreckenstod
geschaut -- seine Nerven hatten gezuckt wie unter glühenden Zangen --
sein Herz hatte nicht gebebt. Jetzt bebte es.

Die »Deutschland« in die Luft gesprengt ... War's auszudenken?

Dragomiroff -- nun ja, Halbasien -- -- ein Tier mit Menschenantlitz und
Menschensprache, aber mit Wolfsinstinkten ...

Aber Tedje -- --! War das möglich -- dann -- was war dann nicht zu
fürchten -- von der Masse, der entfesselten, der zuchtentsprungenen --?!

Anders Niemann saß in fieberndem Lauschen und Schauen. War's möglich --
sie -- konnten ihn dulden -- -- -- -- diesen -- diesen Plan?!

Sie fielen nicht über ihn her, über diesen höllenentstiegenen Satan --
schlugen nicht mit ihren sehnigen deutschen Werkerfäusten das Hirn zu
Brei, das diesen gräßlichen Gedanken ausgespien?! Ihm und -- -- seinem
Helfershelfer, diesem Sohn einer deutschen Mutter?!

Nein -- sie überlegten -- -- hinter dieser und jener niederen Stirn, in
dem und jenem unstet flackernden Augenpaar glomm's schon auf -- eine
scheußliche, quallige Zerstörungswollust ...

Ja, sie wankten, sie taumelten, diese Haltlosen, Glaubenslosen,
Willenlosen -- stürzten hinein in den Mahlstrom des Irrsinns, der
aus dem giftgeschwollenen Maul des Höllenfremdlings zu ihren Seelen
emporbrandete, ersäufte, hinwegschwemmte, was gut, gesund, eigen -- was
deutsch in ihnen war. Der Osten siegte -- das Nihil ...

Die Ungestalt über die Gestalt, das Chaos über den Kosmos ... Ahriman
über Ormuzd ...

»Verdammi -- ick bün dobi!!«

Clas Mönkebüll hatte es gerufen -- der blauäugige Holste, der Schumann
und Brahms zu spielen wußte und den schmerzlichen Wahn im Herzen trug,
er hätte ein Künstler werden können, hätte des Elends würgende Faust
ihm nicht das Werkzeug der Seele gestumpft ...

»Ick ook! Ick ook!«

Dort und dort reckte sich eine arbeitsharte Faust ... immer mehr --
immer mehr ...

Sinn war in Unsinn verwandelt, Schaffenskraft in Zerstörungswut, Tat in
Untat ...

Waren's noch Menschen, Deutsche, Brüder -- die beisammenhockten, den
scheußlichen Plan durchsprachen bis in alle Einzelheiten, die Rollen
verteilten, die Stunde, die Minute des Vollbringens festlegten, das --
Chaos organisierten --

Anders Niemann blieb noch immer ganz regungslos. Unvorbereitet stand er
dem Entsetzlichen gegenüber, das sich plötzlich hirnerstarrend vor ihm
aufreckte.

Mitwisser -- dieses -- dieses Geheimnisses?! Dieses -- dieses Planes
--!!

Ja -- nun wandte sich's gegen ihn, was er seit einem Jahre,
reinen Herzens, getan und gelebt. Er war in diese Welt der Tiefe
hinabgestiegen, ein Liebender, ein Suchender -- und sah sich plötzlich
nun verstrickt, hineingezerrt in ein entsetzliches Geheimnis -- er,
Georg Freimanns Sohn.

Was tun?!

Die »Deutschland« -- Georg Freimann -- die H. T. L. -- die United
Transatlantic Lines -- das Vaterland -- das alles war eins -- das alles
wollten sie vernichten, diese Verrückten, mit einem einzigen Streich --
einem Bubenstreich -- einem Satansstreich -- --

Heinz -- Anders -- Mann -- Sohn -- Deutscher -- was tun?!

Im Sinnen war's ihm plötzlich, als stäche eine glühende Nadel ihm ins
Hirn. Aufblick: Tedje --! Er belauert, wittert mich! Vorsicht --!!

Anders Niemann fühlte ein Würgen, als griffe eine drosselnde Faust nach
seiner Kehle. Nur jetzt nicht erkannt, durchschaut, zertreten werden!!
Einen Augenblick lang meinte er, klar zu sehen -- wähnte nun erst zu
wissen, was sein Weg war -- meinte plötzlich zu begreifen, daß dies der
eigentliche Sinn seines Handelns habe sein sollen: daß er des grausen
Anschlags Mitwisser hatte werden sollen ... und so der Retter ... der
»Deutschland« ... Deutschlands ...

Aber nein, es war ja ganz anders gewollt, geplant, ausgeführt ... ganz,
ganz anders -- --

Ein Spion -- -- ein Spitzel wider Willen? Wahnwitzige Schrulle des
Geschicks -- --. Zwölf Monate Kamerad unter Kameraden, Freund unter
Freunden, Stubengenoß, Tischgenoß -- dem sie alle vertraut -- den eine
-- -- liebte.

Und nun: Denunziant -- Verräter?!

Unmöglich, Heinz Freimann -- unmöglich!!

Die hohe Sendung, die dich in die Tiefe geführt, sie wäre nicht
nur gescheitert -- sie wäre auch -- geschändet ... dein Sehnen zur
scheußlichen Fratze entstellt ...

Nein -- das war unmöglich -- gab's denn kein anderes Mittel, das
Unausdenkbare zu verhindern?!

Und Anders Niemann warf sich dem Mahlstrom entgegen. Er bat ums Wort.
Er beschwor die Kameraden, abzustehen von ihrem grauenvollen Vorhaben.

»Kameraden!« rief er, »ick begriep dat nich: Dei ›Dütschland‹, dei
hebbt wi doch mokt, alltausomen hebbt wi s' mokt! Nich blot dei
Inschenöre, nich blot Timmermanns -- du un du un du un ick, wi hebbt
unsen Sweit un uns' Gedanken un -- ick kann't nicht beter seggen, wi
hebbt en Stück von uns' Hart 'rinbugt in dat Schipp!«

»Hahaha!!« lachten da um die Wette der bärtige Russe, der ungeschlachte
Tedje.

»So ist's recht!« knarrte Dragomiroff. »Deutscher Knechtssinn!
Unausrottbar! Wer bist du denn, junger Mann, daß du's besser weißt, was
dem Arbeiter frommt, als ich, der Vorkämpfer des siegreichen russischen
Proletariats, he?! Oder dein Kollege Tietgens hier, der Vertrauensmann
der glorreichen Volksrepublik des Ostens?«

Anders Niemann ließ sich nicht den Mund verbieten. Heiß schwoll ihm
das Herz. Arbeiter sein, das durfte doch nicht heißen, das Werk seiner
Hände verachten und hassen! Liebe müsse bei dem Tagwerk sein, sonst sei
es sinnlos und verflucht! Mit wildem Flehen rang er um das Herz der
Brüder. Vollendet stehe da drüben das große, gemeinsame Werk -- vom
rechnenden messenden Kopf ersonnen, aufgetürmt von der tausendfältig
schaffenden Hand ... Morgen solle es hinaus in die freie Flut, um
später, nach weiteren Monaten harter Arbeit der werkelnden Faust,
hinauszufliegen und denen da draußen in aller Welt zu verkünden, daß
Deutschland noch aufrecht stehe -- daß es Erdrosselungskrieg und
Erdrosselungsfrieden überstanden habe und leben, leben, leben wolle ...
Freilich, davon könne Dragomiroff nichts verstehen -- er sei ein Russe,
ein Fremdling ... Und arbeiten habe noch kein Mensch den jemals gesehen
...

»Tedje, Clos!« beschwor er die Freunde, »wi hebbt tausomen vel
hunnertdusend Niete mokt in dei ›Dütschland‹ -- is dat nich uns' Wark,
dat Schipp, is dat nich uns' Kind?!«

In Clas Mönkebülls heißem Gesichte sah Anders den Abglanz seiner Glut
wühlen und flammen ... Aber noch etwas anderes erkannte er in des
Freundes Auge: etwas, das ihn seit Wochen zuweilen angeglotzt aus des
treuen Burschen zerquältem Gesicht: etwas wie dumpf schwelender Haß ...
Und -- Tedje?!

Kiek den Duckmäuser! Tut sich auf einmal als Klugschwätzer auf --
will mir meinen schönen Racheplan vermasseln! Der Schleicher, der
scheinheilige -- um den meine Antje sich härmt! Na teuf, mien Jung!

Dragomiroff hatte lauernd, abwartend beobachtet, wie des Matrosen
Worte wirken würden. Er sah, wie sie eindrangen, dort und dort, in die
verwilderten, verstörten Herzen. Jetzt war's Zeit.

»Hast du nun genug gequatscht, du Schwätzer, du Pope, du
Scheinheiliger?« schrie er wutverzerrten Gesichts. »Ich will dir
helfen, du Esel, klüger sein zu wollen als wir, die Vorkämpfer der
proletarischen Freiheit! -- Genossen! Wer steht zu unserm Plan? Wer
will der vorderste sein am großen Vernichtungswerk, das den Götzen
Mammon zertrümmern soll? Wer legt die Zündschnur -- wer setzt sie in
Brand?!«

Nur zwei traten vor: Tedje Tietgens und -- -- Clas Mönkebüll ...

Arm in Arm stellten sie sich, auf Dragomiroffs Geheiß, in der Kameraden
Mitte. Der Russe nahm sie mit Handschlag in Eid und Pflicht und gab
ihnen einen knallenden Weihekuß. Und so die anderen alle -- sie,
die sich verpflichtet hatten, die ständigen Wächter der Werft von
hinten anzuschleichen und mit zähem Messerschnitt in die Gurgel zu
erledigen. -- »Dann aber, Genossen,« schloß Dragomiroff, »dann, wenn
die Tat geglückt ist -- dann heißt es: Zu den Waffen! Denn die Weißen
stehen bereit, unsere Tat wird auch für sie das Signal. Dann heißt's
die Kameraden fortreißen, ehe die zur Besinnung kommen. Es lebe die
Propaganda der Tat!«

Dann winkte er Tedje zu sich heran.

»Tietgens!« flüsterte er ihm heiser ins Ohr, »gib acht auf den
Quatschkopp, den Niemann -- der Hund ist gefährlich!«

»Dat will'k woll gleuwen, Genosse!« zischte Tedje zurück. »Clos
Mönkebüll sall em op dei Hacken blieben! Verlot di op mi, den'n Kierl
lot wi nich ut Sicht!«

       *       *       *       *       *

Und nun: der Wirrwarr und Lärm des Aufbruchs ... Heinz raffte sich aus
seinem krampfigen Grübeln. Er hatte Klarheit. Was galt Heinz Freimanns
Leben, was galt selbst seine Ehre -- wo es um alles ging?! Nein -- wer
solches plante, der hatte das Recht auf Treue verwirkt ...

Wenn der Anschlag mißglückt -- mißglückt, weil er verraten ist -- Tedje
Tietgens wird wissen, an wen er sich zu halten hat. An den Kollegen,
den er einmal mit der Tochter seines Chefs hat spazierengehen gesehen
... und das bedeutet ein gräßliches Ende -- vielleicht ein spurloses
Verschwinden ... Was tut's? Die ihn lieben, werden wissen, wie und für
was er gestorben ist ...

Aber schweigen? Den Plan dieser Schreckenstat kennen und schweigen?!
Unmöglich ...

In einem Nebelmeer von Zigarettenqualm schwamm das unterirdische Gelaß
-- alles umdrängte den Russen, verlangte noch letzte Weisungen ...
Heinz hatte sich bis zur Tür durchgepirscht. Ein rascher Späherblick
in der Runde -- nein -- niemand beobachtete ihn ... und mit einem Ruck
war er im stockfinstern Flur, tappte sich die wohlbekannten triefenden
Wände entlang, glitschige Stufen hinauf, öffnete eine geheime Tür
nach der andern mit kundigem Druck -- stand im Flur des Vorderhauses,
verschwand in der Telephonzelle, in der sonst die verlorenen Kinder,
die unter Mudder Lores Fuchtel ihre armseligen Leiber feilhielten, mit
ihren Freunden ihre Sonntagsverabredungen trafen. Das aber entging ihm,
daß mit Katzentritten vier Füße ihm nachgeschlichen waren -- daß zwei
Männergestalten dicht neben der Telephonzelle in der Wand verschwunden
waren -- in einem geheimen Versteck, aus dem man jedes Gespräch
belauschen konnte ...

Er hob den Hörer, verlangte die Nummer der Villa Carstensen ...

»Hier bei Senator Carstensen ...«

»Hallo -- kann ich Fräulein Ilse sprechen? Bitte sofort -- es ist
äußerst dringlich ...«

Er lauschte in bebendem Warten. Klangen nicht draußen Tritte?

»Ilse Carstensen ...«

»Hier Heinz ... Ilse, ich muß dich unbedingt sofort sprechen ...«

»Unmöglich, Heinz -- du weißt doch, die Amerikaner -- in einer halben
Stunde beginnt der Empfang bei euch zu Hause -- ich bin gerade bei der
Toilette ...«

Ein Bild stieg sekundenlang vor des Mannes Augen auf ... eine Vision --
beglückend und fern wie ein nie erreichbares Sehnsuchtsland ...

»Wann kannst du dich frei machen?«

»Frühestens nach dem Abendessen, ich denke etwa um halb zehn ...«

»Das wird zur Not genügen. Also höre, Ilse: Ich werde um punkt halb
zehn im Auto an unserer Gartentür vorfahren, auf dem Harvestehuder Weg
... Du erwartest mich, steigst zu mir ein, wir fahren einmal um den
Häuserblock herum, ich sage dir schnell, was zu sagen ist -- und in
fünf Minuten kannst du wieder bei euren Gästen sein ... einverstanden?«

»Ja, Heinz -- kannst du mir nicht wenigstens eine Andeutung --?«

»Telephonisch unmöglich ... Es bleibt dabei: um halb zehn an unsrer
Gartenpforte! Laß mich nicht im Stich, es steht viel, es steht alles
auf dem Spiel ... Auf Wiedersehen, mein Herz ...«

»Auf Wiedersehen ...«

Mit einem Ruck riß Heinz die Tür der Telephonzelle auf -- spähte umher,
ob er unbelauscht geblieben sei -- alles leer, alles still ... Völlig
beruhigt kehrte Heinz um, legte aufs neue den ganzen Weg bis zum
Versteck der Verschwörung zurück und mischte sich unter die Genossen,
die noch immer erregt schwatzend beisammenhockten.

Kaum war er hinter der geheimen Tür verschwunden, welche aus dem Flur
des Vorderhauses in das unterirdische Labyrinth führte, da öffnete sich
neben der Telephonzelle die Wand, und mit wutverzerrten Gesichtern
traten Tedje und Clas aus dem Versteck hervor.

»So'n Hund, so'n entfomtigen Hund!« knirschte Tedje. »Clas, ick mutt
di wat seggen: Düssen Anders, düssen Kierl, de mien Swester 'n Kopp
verdreiht hett -- den'n heff ick -- vor drei Dag heff ick'n seihn, as
hei sick mit Fräulein Carstensen in dei Passage an'n ollen Steinweg
dropen hett -- un is mit ehr in 'ne lüttje Konditorei verswunnen
-- un doar hebbt sei 'n Stünn' un länger tausomen snackt ... Un nu
telephoniert hei 'ne gewisse Ilse, und seggt tau ehr: Hier Heinz ...«

»Verdammi --!« zischte Clas, »verdammi! Is dat denn meuglich, dat hei
-- dat uns' Anders Niemann --«

»-- en Spitzel is? En ganzen hundsgemeinen Spion un Verräter?! Wenn du
dat nu noch nich markt hest, Clos, denn lat di in Alsterdörp in dei
Idiotenanstalt opnehmen -- doar geheurst du hen, mien Jung!«

»Wat mokt wi mit em, Tedje, wat mokt wi blot?!«

»Dat 's nu dien Sok, Clos«, sagte Tedje mit tückischem Grinsen. »Ick
denk', du hest sowieso wat mit em aftaumoken, mit düssen Anders Niemann
odder ... Heinz ... Dunnerslag ... doar fallt mi wat in -- Heinz ... Im
Hause meiner Eltern, hett sei seggt ...«

Und mit atemlosen Worten erinnerte er den Freund: ob er sich denn
nicht mehr entsinnen könne, daß vor einem Jahr in ganz Hamburg davon
gesprochen worden sei, der Kapitänleutnant Heinrich Freimann, der
Sohn des Generaldirektors der H. T. L., eben als Kapitänleutnant
aus englischer Gefangenschaft zurückgekehrt, sei plötzlich spurlos
verschwunden?!

»Dat is hei, Clos! Strof mi Gott, dat is hei!!«

Clas Mönkebülls gutmütiges Musikantengesicht hatte sich längst in Grimm
und Glut verzerrt. Dem Kameraden, dem Kollegen hatte er Antje blutenden
Herzens gönnen müssen ... wehe aber, wenn dieser Kollege ein Schuft
war, ein Verräter, ein Weißer gar, ein -- nicht auszudenken -- ein
Bourgeois, ein ehemaliger Offizier ...

»Du weits nu Bescheid. Clos! Ick verlot mi ganz op di ... Hest 'ne
Waffe?«

»Heff ick!« knirschte Clas und ließ sein Messer einschnappen. »De kümmt
mi nich weg, Tedje.«

»Mok dien Sok' man gaud, Clos ... ick leg' ok 'n gaud Wort vör di in bi
mien Swester ...«

Da lächelte Clas melancholisch und beschattet. Im Augenblick, als er
die Hand zum Schwur dem Russen hingestreckt, hatte er in tiefer Seele
das dunkle Rauschen vernommen -- das er aus den Erzählungen seiner
Kriegskameraden kannte. Wem es erklungen war, der hatte des kommenden
Tages Morgenröte nicht mehr geschaut. --

»Dat 's vörbi, Tedje ... hüt nacht goht wi twei kaput ...«

»Meuglich --« murmelte Tedje ... »öwerst denn sall dei entfomigter
Slieker, dei Anders Niemann -- ne, dei Heinz Freimann -- dei sall denn
mit us twei tausom'n kaput gohn!!«

Wenige Augenblicke später stand Clas Mönkebüll neben Heinz -- der
bewegte sich wieder ganz harmlos inmitten der abschiednehmenden
Kameraden, die sich immer noch nicht von den Wodkaflaschen trennen
konnten.

»Kumm, Anders!« sagte Clas und stieß den Schlafkameraden vertraulich
mit dem Ellbogen an, »wüllt een' Lüttjen nehmen! Wer weit, ob dat nich
de letzte is!«

Anders Niemann fuhr herum. Diese Stimme -- unterirdisches Grollen
... dies Gesicht -- verändert, verzerrt ... Die aufrechte Gestalt wie
seltsam verkrümmt ... Reue?! Freilich, diese arme, arbeitsrissige Hand,
der die Läufer und Passagen immer mehr unter den Fingern wegrollten
-- sie hatte sich einem Werk des Wahnsinns verschworen ... ein
Fluchgezeichneter, ein Todgeweihter vielleicht ... unmöglich, ihm diese
Bitte abzuschlagen. Man wird sich rechtzeitig losmachen müssen.

»'t is recht, Clos -- wo goht wi hen?«

Clas Mönkebülls Augen flackerten irr und trüb. »Wat söhlt wi noch wied
lopen? Lot uns in Mudder Lor' ehr lütt' Kabuff sitten ... sei hett 'n
ollen lüttjen Köhm, so een' is in ganz Hamborg nich weddertaufinnen ...«

Im schlimmsten Falle, du Hund, kommst du aus Mudder Lores Dachsbau
überhaupt nicht wieder heraus! -- --

       *       *       *       *       *

Tedje hatte sich als letzter von Dragomiroff getrennt. Nun war er
sich selber überlassen. Er schlenderte durch die engen Gassen des
unheimlichen Viertels zwischen Wexstraße und Neustädter Straße. Sein
Schädel dampfte, Gesicht und Hände zuckten im Krampfe.

Anders Niemann ein Spitzel ... ein Spion ... der verschollene Sohn
des Generaldirektors der H. T. L.! Und wohnt seit einem Jahr in
Mudders Jungsstübchen ... ißt an Vadders Tisch -- schafft auf der
Hammonia-Werft mit Clas und Tedje ... und macht die arme Antje Tietgens
verrückt ... Hund du -- Hund --!!

Was hat er nur gewollt?! Sekundenlang blitzte es durch Tedjes
brodelndes Hirn, ob doch irgendein Geheimnis dahinterstecken möchte
-- irgendein verborgenes Wollen, das anständig wäre und ehrenwert ...
Nein, nein -- es soll nicht sein! Er soll ein Schuft sein, nichts
weiter als ein ganz gemeiner Verräter. Jetzt ist's ja klar, er hat
spionieren wollen, nichts als spionieren! Na, und das ist ja auch
gelungen -- jetzt weiß er etwas, das lohnt, verdammi, das ganze Jahr
Verstellung!

Wirst dich verrechnet haben, Spion! Der starke Arm, der alle Räder
stehen lassen kann, wenn er will -- der greift nach deiner Gurgel! Wir
lassen dich nicht aus -- sollst danebenstehen und zusehen, wie die
stolze Hoffnung deines Vaters in die Luft geht -- und dann -- dann bist
du reif fürs Messer!

Und wenn du nicht mitgehen willst -- wenn du Anstalten machst, Alarm
zu schlagen, zu warnen -- dann -- schon vorher! Bei Clas bist du gut
aufgehoben -- schon um Antjes willen --!

Arme Antje ... Wenn nun morgen keiner von uns dreien wiederkommt?!
Sie wird weinen -- um wen? Nicht um den armen Clas, der sich hätte
totschlagen lassen für sie ... um den Bruder vielleicht ein paar
Tränchen ... aber die Augen aus dem Kopfe wird sie sich weinen -- um
den Schuft, um den Halunken, um den Verführer, um den Verräter ...

Nein ... Das darf nicht sein ... Sie soll wenigstens wissen, wer er
ist ... Sie soll -- sie soll nicht um ihn weinen ... einerlei, ob er
unter Clas' Messer verblutet oder heut nacht mit der »Deutschland« in
die Luft geht -- Antje Tietgens soll nicht um ihn weinen. Sie soll
erfahren, daß sie ihr Herz und ... wer weiß was sonst noch alles an
einen Lumpen und Verräter weggeschmissen hat. Sie wird sich grämen vor
Schande -- aber sie wird wenigstens nicht um ihn weinen. Das ist er
nicht wert ... Die Ehre soll er nicht mal im Tode genießen.

Also heim -- zu Antje ...

Und dann? War nicht noch etwas anderes zu erledigen, bevor es ans große
Rachewerk geht?! Was war's doch nur?!

Ah -- die Feine ...

Halb zehn an unserer Gartenpforte -- du erwartest mich, steigst zu mir
ins Auto -- --

Wirst vergebens warten auf deinen Bräutigam, schöne Zarentochter ...

Aber wie -- wenn statt seiner -- ein anderer im Auto säße --?!

Düwel, Düwel -- dit wier 'n Snack --!!

Mit einem Ruck blieb Tedje stehen -- mitten in einer der üblen Gassen,
an deren Fenstern die armseligen Huldinnen der schlimmen Viertel auf
Beute warteten.

Da war sie ja, endlich, die lang umlauerte Gelegenheit ... Hahahaha!

Der eigene Bräutigam hatte sie aus ihrer Festung herauslocken müssen --
trieb sie in Tedje Tietgens' Arme ...

Das kommt nie wieder!

Und just in der letzten Stunde vor der großen Entscheidung -- vor der
Tat, die so leicht mißglücken kann -- -- Dynamitkisten sind keine
Schiffsniete ... da kann einer leicht aus Versehen mit in die Luft
gehen ... Und vorher das da!

Düwel, Düwel -- so 'n Snack!

Esel und Schlappstiefel, wer da nicht zupackt!

War ja alles zum Lachen einfach, -- die zwei hatten's ja eingefädelt!

Als wenn man nicht ein halb Dutzend Freunde hätte unter den
Benzinkutschern ... Dazu noch irgendeinen handfesten Kollegen als
Helfershelfer -- ohne Gewalt wird es ja nicht abgehen ... Die läßt sich
in Stücke reißen -- schreit ganz Hamburg zusammen ... Für alle Fälle
ein Paket Watte und eine Flasche Äther, kriegt man in jeder Drogerie --
--

Aber schnell, schnell, in zehn Minuten ist Ladenschluß!




                                   4


Mudder Lores »Bar« entbehrte nicht einer gewissen klebrigen
Gemütlichkeit. Hier hatte Anders Niemann nach mancher Sitzung des
»revolutionären Aktionskomitees« mit seinen Freunden scharf gezecht.
Und nun -- diese Abschiedsstunde ...

Da saß er ihm gegenüber, dem guten Gesellen, mit dem er unzählige
Stunden reinen Glücks erlebt -- wenn sie zusammen an Mudder Minings
klapprigem Pianino Beethovens und Brahms' Sonaten gespielt -- und sich
emporgeschwungen hatten über Enge und Niedrigkeit in strahlende Höhen
kampfgeläuterten Menschentums ... Und nun -- nun war's vielleicht das
letztemal ...

Anders hob das Glas: »Nich so trurig kieken, Clas, vellicht kümmt dat
all man half so slimm.«

Da traf ihn aus des Freundes Augen ein Blick, unter dem er
zusammenzuckte.

»Wi will'n drinken ...« stammelte der Holsteiner, »nich snacken ...
blot nich snacken ... ick kann nich ... ick kann nich ...«

Was war das?! Ahnte er irgend etwas? Unmöglich -- Woher sollte er ...

Clas Mönkebüll war nicht der Mann, eine Hölle verschwiegen in der Brust
zu tragen. Er litt ohne Grenzen.

»Wat hest du, Clos? Is di nich gaud --?!«

»Ne,« sagte Clas, und seine Brauen zogen sich so fest zusammen, daß sie
die Augen fast verhüllten, »gaud is mi nich.«

Anders glaubte zu begreifen. Der Schwur ... die Freveltat, zu der
er sich im Wirbel des Augenblicks hatte dingen lassen ... dieser
wahnwitzige, fluchwürdige Plan -- -- Ach -- wenn man ihn retten könnte
...

»Jo, Clos, hest recht ... dat döggt nich, wat wi uns von düssen Russen
hebbt ansnacken loten.«

»Dat helpt nich ... wi hebbt sworen ...« Clas stürzte ein großes Glas
Schnaps hinunter und winkte der grellbunt gekleideten Aufwärterin um
eine frische Füllung.

»Ick nich, Clos -- ick nich ...«

»Ne ... öwerst ick ...«

Ein ungeheures Mitleid schwoll in Anders Niemanns Seele. Wie er
verzweifelt rang, der treue Bursch, wider das Unausdenkbare, das der
Dämon aus dem Osten ihm eingeblasen ... Oder war's etwa das nicht
allein?! Immer wieder hoben sich des Freundes wirre Augen und sandten
einen Blick herüber, in dem noch mehr lag als nur Verzweiflung über
das eigene Schicksal ... ein Argwohn, ein Verdacht ... Nein, das war
unerträglich. Anders fühlte erst in dieser Stunde mit voller Klarheit:
Dieser junge Mensch aus der Tiefe war ihm wert und lieb geworden --
und dies das letzte Beisammensein vielleicht ... Wie immer der Ausgang
sein sollte, ob es zur Vollendung kam oder nicht -- Anders Niemann und
Clas Mönkebüll würden nie mehr zusammen arbeiten, plaudern, trinken,
musizieren ... O Wehmut ohne Grenzen ... o grausamer Irrsinn des Lebens
...

Wohl hatte Anders Niemann eine Maske getragen -- wohl war zwischen
ihm und dem Proletarier da drüben niemals im letzten Sinne Wahrheit
gewesen ... Dennoch -- ein Band hatte sich geknüpft, stark genug, wenn
eines Tages die Hülle des Truges fiele, über die Klüfte des Standes
und der Bildung hinüber ein Leben lang zu dauern -- ein Anfang war
gemacht, diese Klüfte zu überbrücken ... in seiner Freundschaft zu
diesem Schlichten hatte Heinz Freimann einen ersten Schimmer der
Erfüllung seiner kühnen Träume von einer versöhnenden Gemeinschaft
aller deutschen Menschen erlebt ... Und nun dies Ende ... War denn kein
Ausweg? War es denn ganz unmöglich, diesen kindguten, herzenswarmen
Menschen der höllischen Verstrickung zu entreißen, in die er sich hatte
hineinzerren lassen?!

»Clos ... segg mi, dat -- dat bliwt, dat du hüt nacht -- ick kann't un
kann't nich gleuwen von di ...«

»Dat bliwt!!« sagte Clas hart.

Hier war ein Kamerad über Bord gegangen, kämpfte mit den Wogen, die ihn
verschlingen mußten. Und der alte Seemann stürzte sich in den Strudel.
Rettung! Rettung!

Er nahm seine ganze Kraft zusammen. Welches Glück, daß er der Sprache
des Volkes mächtig geworden war bis in ihre feinsten Schattierungen!
Wie mit wuchtigen Schwimmstößen rang er sich an die Seele des Freundes
heran, packte die widerstrebende, kämpfte verzweifelt wider ihren
selbstmörderischen Willen zum Untergang. Von Deutschland sprach er,
das ihrer beider Vaterland sei. Von dem stolzen Schiff, in das sie
beide seit einem Jahr ihre Kraft und ihren Fleiß hineingebaut. Von dem
Fahneneid, den sie einst als Rekruten geschworen ...

Umsonst. Immer finsterer, immer unnahbarer zog des Arbeiters Seele sich
vor dem heißen Werben des Mannes zurück, den er ein Jahr seinen Freund
genannt. Und plötzlich überkam den Werber die jähe Erkenntnis, daß
zwischen ihm und dem Gefährten noch etwas anderes liegen müsse als der
Schwur, den jener geleistet ...

»Clos -- du hest wat gegen mi -- segg't mi iehrlich, Clos!«

»Ick verstoh nich ...«

»Doch -- du versteihst mi ... hett di een' wat ... seggt öwer mi --?«

Clas konnte nicht lügen. Mit einem Male richtete er sich hoch auf, sah
dem Frager starr ins Auge und sagte:

»Geben Sei sick keine Meuh -- -- Herr -- Kapitänleutnant.«

Anders Niemann fühlte einen Stoß wider das Herz. Also das!! Aber wie?!
und seit wann?!

»Ach so!« sagte er, und ohne sein Wollen ging eine Verwandlung mit
ihm vor. Anders Niemann sank in die Tiefe -- Heinz Freimann ward
wiedergeboren.

»Also du weißt, wer ich bin, Clas Mönkebüll«, sagte er gefaßt. »Ich
will dich jetzt nicht fragen, woher. Komm her, lieber Junge, hier ist
meine Hand. Ich bin dein Freund -- du hast keinen besseren. Glaub'
mir's -- werde nicht irre an mir Ich will dir alles erklären.«

»Geben Sei sick kein Meuh, Herr.«

Er stand auf, gab dem Frauenzimmer am Büfett einen Wink. Die
verschwand. Man hörte, daß sie die Tür hinter sich abriegelte. Nun
schritt Clas Mönkebüll zu der Tür, die zum Flur führte, schloß sie ab,
steckte den Schlüssel in die Tasche und trat auf Heinz Freimann zu.

»Wenn Sei vellicht noch en Vadderunser beden will'n --«

In seiner Hand blinkte das Messer.

Heinz Freimann sprang auf. Einen Augenblick lang fuhr's ihm durch den
Kopf: Eine Waffe! Dann: Schreien! Um Hilfe schreien -- pah -- umsonst.
Er begriff nichts -- nichts als dies eine: Er war verloren.

Und plötzlich ein Blitzstrahl: Antje ... Was in diesen umdüsterten
Augen schwelte, war nicht allein der Haß der Klasse -- solch fressendes
Feuer entzündete nur verschmähte Liebe.

»Ein Wort noch, Clas!« sagte er fest und in Haltung. »Du willst mich
töten, weil ich um euren Plan weiß -- und weil du glaubst, daß ich ihn
verraten will. Ehrlich gestanden, ja -- ich hätte ihn verraten müssen,
wenn du mich leben ließest. Müssen, Clas -- und wenn's mich meine
Ehre gekostet hätte. Ich habe euch gewarnt -- habe euch angefleht mit
allen Kräften meines Herzens, ihr solltet dem Hund, dem Moskowiter,
nicht folgen. Es hat nichts geholfen. Darum muß ich euch verraten
-- muß, wenn du mich leben läßt. Tu du, was du verantworten kannst.
Aber ich glaube, zuvor ist zwischen dir und mir noch etwas anderes
klarzustellen. Du bist unserer Freundin Antje Tietgens gut. Du glaubst,
ich hätte sie dir abwendig gemacht. Und darum willst du mich töten.
Tu's -- aber dann geh hin zu Antje, grüß' sie von mir -- und sag' ihr,
ich hätte dir in meinem letzten Augenblick gesagt, daß ich niemals auch
nur die leiseste Gunst von ihr bekommen hab' ... Ich habe ihre Lippen
niemals berührt --!«

Da wurde Clas Mönkebülls gestraffter Körper plötzlich matt und
schwankte. In die grimmverzerrten Züge trat ein ungläubiges, irres
Staunen. Die zuckenden Lippen stammelten:

»Is -- dat -- wohr?! -- Is dat -- wohr --?«

»So wahr ich ein braver Soldat bin -- und dein guter Kamerad, dein
treuer Freund, der dich wie einen Bruder ehrt und liebt ...«

Des armen Burschen Hand mit dem blinkenden Messer sank schlaff am Leibe
herab. »Nu kann'k 't nich dauhn,« stammelte er heiser, »nu kann'k 't
nich dauhn ...«

»So tu auch das andere nicht, Clas!« rief Heinz und legte seine beiden
Hände auf des Freundes Schultern. »Besinn dich! Du bist ein Deutscher
... Es ist Wahn, dein Lied von der roten Seligkeit ...«

»Dei kümmt -- dei kümmt ...« Das war wie ein verzweifeltes
Sichaufbäumen gegen empordämmernde Erkenntnis -- krampfhaftes
Sichanklammern an treibende Trümmer ... Und nun: ein letzter Blick
-- mit beiden Fäusten umklammerte Clas Mönkebüll des Freundes Rechte
-- es war, als wolle er ihn an seine Brust reißen -- aber mit einem
krampfigen Schluchzen machte er sich los, stürmte zum Ausgang, schloß
auf, zog den Schlüssel ab, warf die Tür von draußen zu -- ein schwerer
Riegel ward vorgeschoben, der Schlüssel krachte ins Schloß. --

Heinz Freimann war gefangen.




                                   5


»Öwersnappt sünd's, Mudder -- öwersnappt!« eiferte Vadder Tietgens.

»Hest recht, Vadder«, hüstelte Mining. »Helpt jo allens nich, dat oll
Gestreik un Geputsch ... flietig in dei Hann' spucken un arbeiten, as
ji freuer arbeit' hebbt -- nich acht Stünn', ne, tein, twolf ... süß
köhnt wi jo nich wedder hoch komen!«

Da paffte Timm Tietgens eine mächtige Unmutwolke: »Ne, Mudder, dat mi
den'n Achtstünndag, dat mutt blieben ... öwerst se möten in dei acht
Stünn' ok würklich arbeiten un nicht ümmer diskurieren un debattieren
...«

Antje saß still und bedrückt den Alten gegenüber. Wo nur die Jungens
blieben?! Es braute sich etwas Schwüles, Dräuendes zusammen -- sie
fühlte es am Zerren ihrer Nerven, am aussetzenden Schlag ihres
gequälten Herzens. Ach, daß ein Mensch so leiden konnte, wie sie litt
seit Monaten. Sie, die aufrechte, nackensteife Frau ...

Vadder Timm gähnte vernehmlich. »Ick bün meud -- ick warr doch
hellschen klapprig, nich, Mudder? So 'n grote Red' -- dat is nix miehr
vor mi ... Geihst du nich to Hus, Deern?«

»Ick wull op dei Jungs luern«, sagte Antje gepreßt. »Öwer goht ji man
tau Bed, all beid ... ick heff' jo 'n Slötel ...«

Und dann saß sie einsam -- lauschte dem Stundenschlag der unzähligen
Kirchtürme, die über dem Brodem der Stadt ihres feierlichen Ruferamtes
walteten -- und sann -- sann -- sann ...

Nun feiern sie in der Villa Freimann -- die Glücklichen, die Reichen
... Und morgen, nach dem Stapellauf, da werden sie wieder feiern ...
Das Werk, das zwölftausend Hände geschaffen, sie rechnen sich's allein
an, weil's aus ihrem Kopf entsprungen ist ... Und wer wird dann der
zwölftausend fleißigen Hände gedenken, ohne die ihr Planen ewig Papier
und Phantasie bliebe?! Nein -- die Faust hatte schon recht, sich zu
ballen und aufzurecken wider den herrischen Kopf, der allein im Lichte
stand ... Gemeinsam war das Werk, gemeinsam sollte die Feier sein ...
die Freude ... der Stolz ...

Einer von denen da oben, der hatte angefangen, das zu begreifen. Der
träumte von einer neuen Welt, in der Kopf und Fäuste das Werk nicht nur
gemeinsam schüfen, nein, auch gemeinsam begriffen, umfingen mit ihrer
ganzen Seelenmacht. -- Er hatte nicht umsonst ein Jahr lang die Luft
dieses Hauses, dieser bescheidenen Stuben geatmet, nicht umsonst aus
Mudders Topf gegessen, mit Vadder geraucht und politisiert, mit den
Burschen geschlafen und gewacht, gearbeitet und geschwatzt ...

Und würde nun doch emporsteigen aus der Niederung -- empor in
seine helle Welt -- in die Welt des herrschsüchtigen Kopfes, des
triumphierenden Geistes, des Glanzes, der Feste -- empor zu seinen
Menschen, den Menschen seiner Rasse, seiner Klasse -- empor -- empor
zu -- der andern ... mit der sie ihn vor wenig Tagen, Schulter an
Schulter, durch die kahlen Bosketts am Glacis hatte schlendern gesehen
-- wie er hundertmal mit ihr geschlendert war -- mit der armen Antje ...

Und Antje würde vergessen sein ... vergessen die unzähligen Stunden,
in denen er ihr, sie ihm gegeben hatte -- das Beste, was ein jedes
besessen -- eine Welt von Gedanken, Gefühlen, Sehnsüchten und
Hoffnungen ...

Ach ja -- einmal ein Jahr aus seiner Welt in die andere
hinüberwechseln, aus der Höhe in die Tiefe steigen ... das konnte er,
das mochte er -- aber dann -- dann tat sie sich doch aufs neue zwischen
hüben und drüben auf, die ewige, die unausfüllbare Kluft zwischen
den zwei Völkern, die eines Blutes waren, eine Sprache redeten, eines
Staates Bürger waren -- eines Vaterlandes Kinder ...

Pah -- Vaterland!!

Ach -- es blieb doch ewig wahr: Nur die da oben, nur die hatten
überhaupt ein Vaterland ... die unten, die blieben ewig die
»vaterlandslosen Gesellen ...«

O Heinz -- du hast das alles empfunden und verstanden -- du Guter -- du
Reiner -- du Großer im Wollen und Sehnen ... du willst sie schließen
helfen, die unüberbrückbare Kluft ...

Oh, wenn dir das gelänge -- ja, wenn du auch nur standhaft, gläubig,
heilig genug wärst, dein Leben zu setzen an dies Werk -- deine Antje
wollte sich's nicht gereuen lassen, daß sie ihr ganzes Herz in dich, in
dein Wollen und Wesen hinein verblutet hat ...

-- Horch ... die Stiege knarrt ... Tedje ... nicht ganz sicher, wie
immer ... aber ... allein. Und Clas und Anders --?!

Da stand er in der Tür ... Gott ... diese Augen --

So blickt kein Mensch ... so blickt ein -- --

»Kiek ... Antje ... un dei Ollen?!«

Das Mädchen legte die Hand auf die Lippen.

Leise schwankend tappte sich der Bruder an den Tisch. In seinen
gedunsenen Zügen zuckten die Gedanken, die Gefühle, wetterleuchtend
von innerem Aufruhr. Jetzt legte er die rissige Arbeitshand auf der
Schwester vollen Arm:

»Hest 'n arg leiw -- dien'n Kierl -- nich wohr, mien Deern?«

»Ick verstoh di nich, Tedje ...«

Nein -- sie verstand ihn nicht ... zwar seine Worte, aber nicht sein
Fühlen. In seinem rohen, zerwühlten Gesicht strahlte jählings etwas
selten, fast nie Geschautes auf -- eine wehe Güte -- eine schmerzvolle
Liebe ...

»Wenn hei nu eens Dogs nich wedder köm' -- dat deed di weih, nich wohr,
mien Deern?«

Wunderlicher Gesell -- seine Stimme zitterte -- es stand etwas in
seinem Auge, das im stillen Schein des Glühdrahts blinkte wie eine
Perle ... Und schon war's verwischt, hinweggeweht ... und etwas
Tückisches, Lauerndes, Abscheuliches flatterte empor.

»Ick will di wat vertellen, Antje ... Clos un ick -- wi gohn hüt nacht
en sworen Gang tausomen ...«

Antje saß erstarrt ... ganz Lauschen -- ganz ahnungsvolles Grausen ...

»Meuglich, dat wi tausom'n dorbi kaput gohn ... dat wi, kein ein
wedder an Mudders Disch tau sitten kümmt ... Dat wull ick di seggen,
mien Deern ... du sast dei Ollen grüßen van uns twei ... un wenn't so
kümmt ... denn sast du Vaddern seggen, dat wi follen sünd op dat grote
Slachtfeld von dei Frieheit -- as truge Söhns von't Proletariat ...«

»Um Gottes willen, Tedje -- wat hebbt ji vör?!«

Und mit dem nervösen Begreifen, das diese grausengewöhnte Zeit ihren
Menschen angezüchtet:

»Den'n Damper! dei ›Dütschland‹? ... dei wöllt ji sabotieren --?!«

Tedje schwieg -- ein Satansgrinsen um die Lippen, zwischen denen die
Zähne bleckten wie ein Hyänengebiß.

»Jo -- dei geiht in dei Luft, hüt nacht!!«

»Dat's nich wohr, Tedje -- dat's nich wohr!«

»So wohr as ik hüt noch hier sitt -- un morgen vellicht nich miehr ...
Wi hebbt sworen, Clos un ick --!«

»Tedje --« schrie das Mädchen, »un Anders? -- Wat is mit Anders?!«

Da verzerrte sich des Bruders Gesicht zu einer Grimasse
urweltentstiegenen Hasses.

»Dien Kierl -- hahaha! Dien Kierl! Weißt du, wer dat is? 'n Spitzel is
hei, 'n ganz hundsgemeinen Verräter!«

Und in grellen, abgerissenen Sätzen stieß er heraus, was er wußte von
Anders Niemann. Daß er in Wahrheit Heinz Freimann sei -- und daß er um
halb zehn das Fräulein Carstensen treffen wolle, seine Braut, um ihr
den Anschlag seiner Kameraden zu verraten.

»Öwerst doar hett hei keen Glück mit -- Clos Mönkebüll bliwt em op de
Hacken ... hei mutt met op dei Werft ... Un wenn wi annern in dei Luft
gohn, denn geiht hei mit! Un wenn hei sich vörher muckst, dann sitt em
Clos sien Messer twüschen dei Rippen!«

Entgeistert hatte Antje der entsetzlichen Kunde gelauscht. Nun saß sie
noch immer bewegungslos, unfähig, das Unfaßbare in sich aufzunehmen.

»Na, Deern, wat seggst nu tau dien'n Kierl?! Dat heff'k di seggen wullt
-- dat du weißt, wat hei vör'n Halunk weur -- un dat hei nich wert is,
dat du di üm em grämst, wenn hei verswinnt op Nimmerwedderseihn ...«

»Tedje!« schrie Antje. »Dat dörft ji nich -- ji dörft em nix dauhn! Ji
kennt em nich -- öwerst ick, ick kenn' em ... Ick heff dat jo allens
wußt, von'n iersten Oogenblick an heff ick dat wußt, donn all, as ick
em seih'n heff an Mudders Disch ...«

»Dat -- hest du -- wußt?!«

»Dat heff ick, Tedje ...« Und in jagenden Worten versuchte sie
dem Bruder klarzumachen, was den Kapitänleutnant Heinz Freimann
heruntergezogen in die Welt der harten Handarbeit ums tägliche Brot ...

Tedje Tietgens hatte sich in einen Stuhl fallen lassen. Er ließ der
Schwester angstgehetzte Schilderung über sich hinbrausen -- im Anfang
mit hämischem Grinsen -- dann immer gebannter ... immer verstörter.
Fern, ganz fern dämmerte etwas herauf -- eine Ahnung, ein mattes,
ungewisses, hauchhaftes Leuchten ...

Nein -- nein -- das durfte nicht sein ... Der Traum von der roten
Seligkeit, die moskowitische Prophetie hatte in Tedjes zerfahrenes,
verludertes Leben etwas wie einen Sinn, ein Ziel, eine Hoffnung
hineingebracht ... An das alles klammerte er sich verzweifelt an, um
nicht ins Bodenlose zu sinken ... Brüsk raffte er sich auf:

»So -- nu is't 'naug, Antje! Hest di gaud besabbeln loten, Deern -- ick
fall' do nich op 'rin! Allens Swindel, allens Kaptalistenhumbug! Adjüs,
Swester -- ick heff di seggt, wat ick weit -- nu mok, wat du wullt ...
grüß dei Öllern -- un wenn wi nich wedderkomen -- denn vergeet mi nich
ganz, heurst?«

Er faßte die Schwester an beiden Schultern, wie er's so oft getan --
preßte sie an sich in wilder, verzweifelter Zärtlichkeit -- riß sich
los -- stürmte hinaus, die hölzerne Stiege hinunter polterten seine
schweren Schuhe, die Tür fiel drunten ins Schloß, auf der Straße
verklang sein Schritt.

An allen Gliedern schlotternd, stand Antje. Über ihre zuckenden Wangen
stürzten die Tränen.

Was tun? Was tun?!

Die »Deutschland« sabotiert -- Antje wußte, was das bedeutete. Die H.
T. L. -- die United Transatlantic Lines -- die Hammonia-Werft -- alles
brach zusammen. Ach -- und ihre kleine Welt? Die Welt ihres armen,
gemarterten Herzens? Der Bruder -- Clas -- verloren beide ... diese
enge, geliebte Stube -- morgen wird sie widerhallen vom Jammer der
Verzweiflung ...

Und Heinz --! Wo war er? Sie wußte es nicht -- kein Schatten einer
Ahnung ... Nur das eine war gewiß: Er war in den Händen der zwei
Männer, mit denen er seit einem Jahr Wachen und Schlaf geteilt -- die
er als seine Freunde, sie wußte es, geehrt und geliebt -- nun waren
sie binnen einer Stunde durch ein unbegreifliches Schrecknis seine
Todfeinde geworden ...

Auch er -- verloren -- verloren ... und damit das letzte, was ihres
eigenen Lebens ganzer Sinn und Inhalt geworden war.

Was tun?! Es gab nur eine Antwort, nur eine Lösung:

Zu ihr -- zu der andern -- zu seiner Braut. Wenn einer noch retten
konnte -- dann war sie es -- sie -- und die Menschen, die sie umgaben
-- die Klugen, die Starken, die Mächtigen.

Und schon stand Antje in Hut und Mantel, schon raste sie die Treppe
hinunter.

Zu ihr ... zur Schwester ihres Leides ...




                                   6


Aus ungezählten hellerleuchteten Fenstern strahlte Haus Freimann die
Siegeshoffnung seines Herrn in die Märznacht -- in die kahlen Parks und
Baumarkaden um die vornehmste Villenstraße Deutschlands.

Die Yankees waren keine zugeknöpften Engländer -- sie waren freimütige
Söhne eines freien Landes. Es war ihnen wohl in dieser Stunde, durch
die ein warmer Hauch von Versöhnung, von Menschlichkeit, von Hoffnung
flutete. Und sie hielten's nicht für Raub, sich behaglich zu geben, wo
sie sich behaglich fühlten.

Die Herren waren im Salon beisammen, in Gruppen um kleine Tische
verteilt. Frau Johanna inmitten -- strahlend in Hoffnung und Güte.
Manch offenes Männerwort wurde gesprochen. Die Deutschen konnten sich
manchen lange getragenen Groll von der Seele reden.

Hinüber und herüber flog's -- Anklagen, Bitterkeiten -- grundlose und
tief berechtigte hüben und drüben ...

Und doch über dem allen eine geheime Entspannung. Man sah sich, man
fühlte sich wieder -- man sprach sich aus ... man fing an, einander zu
begreifen ...

Die Jugend im Saale hatte kurzen Prozeß gemacht. Ihr Lebensdrang, ihr
Freudebedürfnis hatte den großen Abgrund schnell überbrückt. Misses und
Jungmädchen, Jungherren und Gentlemen drehten sich längst im Onestep,
im Boston, im Tango ...

Zwar fehlte von den beiden jungen Königinnen dieses Abends die eine:
Ilse Carstensen hatte sich nach aufgehobener Tafel für eine Stunde
entschuldigen lassen. Die war längst herum -- aber vergebens schauten
die jungen Ingenieure und Abteilungschefs vom Patterson-Konzern sich
die Augen aus nach der schlanken blonden Hamburgerin. Bessie aber
konnte sich kaum des Ansturms der kriegsgestählten Jünglinge erwehren,
auf deren Fräcken -- nu jrade! -- die Eisernen Kreuze von verbrausten
Schlachten, von verschmerzten Leidensjahren erzählten.

Wie ein Turm ragte Bob Timmermanns' Hünengestalt, leuchtete sein
blonder Schädel, flammte sein blonder Bart über dem Tanzgewühl.
Er brach sich und seiner Tänzerin Bahn wie seine Schiffe durchs
Wellentosen des entfesselten Ozeans ... Aber immer wieder sah man
in seinem Arm das straffe Körperchen der munteren Bessie, an seinem
breiten Männerbusen das kapriziöse Köpfchen mit den weißblonden
Wuschellocken. Und im Gewühl neigte der Riese den kantigen
Friesenschädel, schmachtete das Schelmengesicht zu ihm empor:

Bär du -- Hunnensohn -- du gefällst mir ...

Musik verklingt -- Gewühl beruhigt, entwirrt sich ...

Zu Bob Timmermanns tritt auf leisen Sohlen, in Eskarpins und
Seidenstrümpfen, korrekt gefältelten Gesichts der greise Charlie:

»Herr Generaldirektor -- eine Sekunde, wenn ich bitten darf ...«

»Schön -- verzeihen Sie, Miß Bessie ... Gehen Sie hinaus«, flüsterte
Timmermanns dem alten Diener zu. »Ich finde Sie draußen ...«

Verflucht! Jedenfalls etwas Unangenehmes ... Eine Meldung von der Werft
... Nur jetzt keine Krise, nur jetzt nicht ...

Beim Hinaustreten erkannte er sofort die junge Dame im schlichten
Lodenmantel ... die Sekretärin des Hausherrn.

»Fräulein Tietgens -- was gibt's?«

»Herr Generaldirektor -- heut nacht um drei Uhr soll die ›Deutschland‹
in die Luft gesprengt werden.«

»So -- --« sagte Bob Timmermanns tonlos. »So -- -- Erzählen Sie,
Fräulein.«

»Herr Generaldirektor -- ist Fräulein Carstensen wieder im Saal?«

»Nein -- sie hat sich vor -- es muß schon länger als eine halbe Stunde
sein -- sie hat sich entschuldigt -- Kopfschmerzen -- ist nach Hause
gegangen -- wollte bald wieder hier sein. Aber was hat das mit -- mit
der ›Deutschland‹ zu tun?«

»Sie -- ist nicht -- wiedergekommen?! Ich war vor zehn Minuten schon
einmal hier, um nach Fräulein Carstensen zu fragen -- man sagte mir,
sie sei nach Hause gegangen -- ich ging zur Villa Carstensen ... Da ist
sie auch nicht ... ist überhaupt gar nicht da gewesen ...«

Robert Timmermanns griff sich an den Kopf. »Sie machen einen ganz
verständigen Eindruck, Fräulein -- aber alles, was Sie mir da erzählen
-- bitte, nehmen Sie sich ein wenig zusammen -- und sagen Sie mir kurz
und bündig, was Sie zu sagen haben.«

Und nun erzählte Antje. Ihr Bericht war klar wie ein Diktatbrief ihres
Chefs.

Der Generaldirektor hörte ihr mit gespannter Aufmerksamkeit zu, ohne
sie auch nur durch einen Ausruf, einen Laut zu unterbrechen.

»Fräulein,« sagte er dann mit einer Gelassenheit, durch die nur leise
das Beben seiner Erschütterung hindurchschwang, »Sie wissen, was auf
dem Spiele steht. Die Amerikaner dürfen's nicht merken -- Sie verstehen
mich. Ich werde niemanden benachrichtigen als -- als meinen Bruder, der
glücklicherweise drinnen im Saal ist. Und, Fräulein -- Ihren Herrn Chef
werden wir auch in Kenntnis setzen müssen.«

Er winkte dem alten Charlie -- der stand wie eine Mumie an der Saaltür,
hinter der eben jetzt aufs neue die lockenden Tanzweisen aufquirlten.

»Kennen Sie meinen Bruder, den Leutnant Timmermanns? Ich muß ihn
sprechen. Holen Sie ihn heraus -- und auch den Herrn Präsidenten. Aber
so, daß es nicht auffällt -- verstanden?«

Der Diener nickte wortlos. Die Saaltür öffnete sich, eine Sekunde lang
blitzte das Fest in die Dämmerung der Diele hinaus, jubilierten die
Geigen, rauschten die Akkorde des Flügels, schwebte der Tanz einher.
Antjes Seele schrie. Bob Timmermanns stand unbeweglich, das harte
Gesicht in scharfem Überlegen zusammengekrampft.

Im Augenblick, da der Alte die Tür von draußen schließen wollte,
schlüpfte ein zierliches Figürchen an ihm vorüber, von perlmutterfarben
schillernden Pailletten überrieselt, spähenden Blicks -- Bessie ...
Hatten ihre Indianersinne die Witterung des drangvollen Moments?

»Verdammt -- die fehlt uns gerade ...« zischte Timmermanns.

Aber schon hatte Bessie ihre Freundin Antje erkannt. Sie raschelte
heran, streckte beide Hände aus.

»Oh, das ist schön, daß Sie kommen, Miß Antje. -- Ich habe mich den
ganzen Abend nach Ihnen gesehnt! Warum sind Sie nicht auf dem Fest? Sie
gehören doch auch dazu ... Ich wette, Sie haben wegen dieses Schiffes
mehr Briefe geschrieben als alle anderen Menschen zusammengenommen! --
Aber -- was haben Sie? Sie sind ja so aufgeregt? Und auch Sie, Mister
Bobbie.«

Sie ließ sich nicht beruhigen. »Nein, nein, mir macht keiner was vor --
stimmt etwas nicht in Ihrem Stapellauf? Es wäre entsetzlich ...«

»Fräulein Bessie,« sagte Timmermanns, der von ihrem hastigen Englisch
natürlich keinen Ton verstand, aber den Sinn ihrer Fragen erriet,
»gehen Sie ruhig wieder hinein -- ich komme gleich zurück, Sie haben
mir den nächsten Boston versprochen ... Fräulein Tietgens hat etwas
Geschäftliches mit mir zu bereden -- zu Unruhe ist nicht die leiseste
Veranlassung ...«

Umsonst -- da kamen schon die Herren -- der Leutnant, der Präsident.
Und Bessie war nicht abzuschütteln ...

»Nein, nein, ich gehe nicht fort ... Ich will wissen, was los ist ...
Vor allem will ich wissen, wo Miß Ilse ist ...«

Es blieb nichts übrig -- man mußte in ihrer Gegenwart Antjes Bericht
entgegennehmen.

Mit der letzten Anspannung seiner Willenskraft hörte Georg Freimann
seine Mitarbeiterin an. Was die sagte, war unbesehen als Wahrheit
anzunehmen. Aber -- -- welche Kunde!!

Die »Deutschland« in Gefahr -- Ilse verschwunden -- Heinz
wiedergefunden, aber in höchster Not ...

Ein Schwindel wollte den Reeder umwerfen. Gewaltsam raffte er sich
zusammen -- und übernahm sofort die Führung.

»Miß Bessie, Sie haben gehört und verstanden, nicht wahr? Ich erwarte
von Ihrer Freundschaft zu uns allen, daß Sie Ihrem Vater und Ihren
Landsleuten gegenüber schweigen werden. Versprechen Sie mir das?«

Das Mädchen kämpfte vergebens mit den Tränen. »Miß Ilse!« stammelte sie
schluchzend, »o Gott, wo ist Miß Ilse?!«

»Davon später! Ihre Hand, Miß Bessie -- Sie werden die Ihrigen nicht
unnütz und vorzeitig beunruhigen? Gut -- so bleiben Sie ... Herr
Generaldirektor -- Sie übernehmen ja wohl den Schutz der Werft. Mein
Wagen wird Sie zum Hafen bringen. -- Sie alarmieren die Hafenpolizei,
außerdem werde ich Ihnen noch zwei oder drei Ihrer jungen Herren
herausschicken ... Genügt das? Oder haben Sie noch Wünsche oder Fragen?«

»Nein, Herr Präsident!« sagte Robert fest.

»Gut -- so bleiben zwei weitere Fragen: Wo ist Fräulein Ilse Carstensen
-- und wo ist mein Sohn? Haben Sie eine entfernte Vorstellung, Fräulein
Tietgens, was mit den beiden geschehen sein könnte?«

»Nein, Herr Präsident«, flüsterte Antje. »Nicht die leiseste Ahnung ...
Aber ich fürchte, ich fürchte ...«

»Was fürchten Sie?!«

»Ich weiß -- daß mein Bruder ...« Schamglühenden Gesichtes verstummte
sie.

»Ihr Bruder hat schon seit Monaten Fräulein Carstensen beunruhigt --«
sagte Robert. »Wir wissen es, Fräulein Tietgens. Glauben Sie, daß --
halten Sie es für möglich -- -- mein Gott, das wäre ja entsetzlich ...«

»Ich ... kann mir wenigstens Fräulein Carstensens Verschwinden -- nur
auf diese Weise erklären --« stammelte das gepeinigte Mädchen.

»So ... das ... halten Sie für möglich«, sagte Georg Freimann durch
die Zähne. »Und wohin könnte er sie ... mein Himmel -- -- Hamburg ist
groß ...«

Verzweifelt zuckte Antje die Achseln.

Die kleine Bessie hatte bislang stumm und gespannt gelauscht. Jetzt
trat sie hastig einen Schritt vor:

»Ich weiß, wo Miß Ilse ist! Mister Freimann, geben Sie mir einen
tapferen jungen Mann zur Begleitung, mehr brauche ich nicht. Mister
Timmermanns soll sich Polizisten holen, ich werde mir auch Polizisten
holen. Aber außerdem brauche ich einen tapferen und eleganten jungen
Mann zur Begleitung. Geben Sie mir den, ich werde Miß Ilse finden und
befreien.«

Sie ließ sich auf keinerlei weitere Erklärungen ein. Aber ihre
Bestimmtheit hatte etwas dermaßen Ansteckendes und Beruhigendes --

»Gut«, entschied Georg Freimann. »Sehen Sie sich diesen Herrn da an --
Sie wissen, es ist der Bruder des Herrn Generaldirektors Timmermanns --
würde der Ihren Ansprüchen genügen?«

Bessie musterte den Leutnant mit scharfer Prüfung.

»Er tanzt sehr gut, dieser Herr -- er hat auch sehr viele Orden, also
ist er jedenfalls sehr tapfer gewesen -- er genügt mir. Kommen Sie,
Mister Timmermanns.«

»Ich vertraue Ihnen Fräulein Bessie an, Herr Leutnant«, sagte Freimann.
»Ich weiß, Sie werden sich eher in Stücke reißen lassen ...«

»Dessen können der Herr Präsident sicher sein«, sagte Armin.

»Gut -- so bliebe noch zu überlegen, ob wir nichts für meinen -- Sohn
tun können ...«

Und abermals stand Antjes zuckendes Gesicht in dunkler Glut.

»Er wohnt bei meinen Eltern ... Wenn er irgendwo zu finden ist, dann
ist er dort ... Ich will hingehen ... Es ist wenigstens eine entfernte
Möglichkeit ...«

Wiederum griff die kleine Amerikanerin ein. »Wir gehen nachher alle
mit Ihnen, Miß Antje, und suchen den jungen Mister Freimann. Vorher
aber suchen wir Miß Ilse -- und Sie, Sie gehen mit uns. Wir werden in
die schlimmen Viertel gehen -- und Sie, Sie kennen sich aus in den
schlimmen Vierteln ... Miß Ilse haben wir in einer halben Stunde --
dann ist immer noch Zeit, Mister Freimann zu suchen ...«

»Miß Bessie,« sagte der Präsident, »ich mache mir schwere
Gewissensbisse, Sie ohne Zustimmung Ihres Vaters in ein Abenteuer --«

»Oh, oh, Mister Freimann, nein, nein. -- Sie werden doch meinen
guten +Daddy+ nicht aufregen! Ach nein, der ist solche kleine
Überraschungen von mir gewohnt ...«

»Jedenfalls ist es mir eine große Beruhigung, Fräulein Tietgens, daß
Sie mit von der Partie sind ... Mein Gott, welche Zeit, welche Zeit ...«

»Herr Präsident,« sagte Robert Timmermanns, »es ist jetzt alles aufs
beste überlegt. Gehen Sie ruhig zu Ihren Gästen zurück -- die dürfen
unter keinen Umständen etwas merken. Dazu brauchen Sie ihre Nerven.
Alles andere überlassen Sie ruhig Ihren Getreuen ...«

Als die drei jungen Ingenieure der Werft, die Georg Freimann
zusammengesucht hatte, sich im Vestibül einfanden, trafen sie den
Generaldirektor bereits im Pelz. »Vorwärts, vorwärts, meine Herren ...
das Auto wartet ... Ich erkläre Ihnen draußen alles.«

Armin strahlte wie ein Sekundaner beim ersten Rendezvous, als er der
kleinen Amerikanerin den Arm bot. »Gnädiges Fräulein -- ich habe in
Krieg und Frieden manche nächtliche Streife mitgemacht -- aber noch nie
mit einer Dame am Arm ...«

Bessie, bis zur Nasenspitze in einen Sealpelz von märchenhafter
Kostbarkeit gehüllt, schob ihre feste kleine Rechte in den straffen Arm
ihres Kavaliers -- mit der Linken zog sie Antje an sich heran.

»Wir werden gehen an ein sehr schlimmes Platz ... Ich noch nicht weiß,
wie zu kommen hinein ... Ich werde sein ein kleines Mädchen von der
Straße ... und will gehen mit Sie zu solch eine Platz, wo er will
bleiben mit ihr in diese Nacht ...«

»Donnerwetter!« schmunzelte Armin. Aber er schämte sich sofort. Die
Lage war verteufelt ernst.

Die drei traten in den Park hinaus. Ein frühlingslauer Nachtsturm tobte
ihnen entgegen.

»Also kommt ... Ich weiß sehr genau das Weg ... nur ich weiß nicht, wo
zu finden das nächste +Police office+ ...«

»Das weiß ich«, sagte Antje. »Aber schnell, schnell, Miß Bessie ...«

Unter den sturmgepeitschten Ulmen des Harvestehuder Weges warteten
das Carstensensche und das Freimannsche Auto. Wenige Sekunden später
sausten beide davon -- das eine zum Hafen, das andere zur Neustadt.

Georg Freimann aber hatte schon längst mit strahlendem Gesichte
den Saal betreten. Der Tanz war wieder flott im Gange. Amerika und
Deutschland plauderten, flirteten, stepten, becherten um die Wette. Es
war nichts vorgefallen -- gar nichts.

»Ich gratuliere Ihnen, lieber Freund«, sagte Elias Patterson und
klopfte dem Hausherrn bewundernd auf die Schulter. »Ein ganz
entzückendes Fest -- ein glückliches Omen für morgen -- und ein
vielversprechender Auftakt für die Reihe von angenehmen Tagen, die Ihre
Gastfreundschaft uns bereiten wird ... Ihr seid doch Mordskerle, ihr
Deutschen ...«




                                   7


Entsetzlich, mit solch aberwitzigen Träumen ringen zu müssen -- -- und
sich nicht wachkämpfen zu können ... Es war ja, dem Himmel sei Dank,
nur ein Traum, das alles ... Gleich würde sie aufwachen ... in ihrem
behüteten Bettchen daheim -- und die abscheuliche Vision abschütteln
mit einem befreienden Aufatmen ... diese ekelhaften Wahnbilder von
einem angstvollen Gang durch den Freimannschen Park -- um irgendwen --
wen nur? -- zu treffen -- von einem Auto, in das man vertrauensvoll
einstieg, um diesen jemand zu finden. Von einer frechen Umarmung --
einem abscheulichen, süßlichen, erstickenden Geruch -- von mühsamer
Gegenwehr gegen ein grausiges, unfaßliches Etwas, das sich auf Lunge
und Willen stürzte ...

Himmel, wie schwer der Schlaf -- wie mühsam dieser Kampf um das
erlösende Erwachen ... Eine Angst schwoll in Ilses Brust. -- Mein Gott
-- wenn das alles am Ende gar kein -- Traum -- gewesen wäre -- sondern
--

Mit letzter Anspannung rüttelte Ilse an den verschlossenen Pforten des
Erwachens -- nun richtete sie sich empor, nun riß sie krampfhaft die
Augen auf -- -- und schloß sie sofort wieder, von Grausen durchfröstelt
bis ins Mark. Nein -- der Traum war noch immer nicht abgeschüttelt ...
oder -- --?!

Und abermals hob sie mühsam die Lider -- -- und sah -- -- und sah -- --
sah sich -- -- nicht im Nachtgewande, nicht in ihrem behüteten Bettchen
-- nein, in ihrem meergrünen Gesellschaftskleide, mit bloßen Schultern,
denen der pelzgefütterte Abendmantel entglitten war -- -- wo? Auf einem
verschlissenen verstaubten Diwan, inmitten eines Berges abgeschabter
Kissen, die nach alten, schlechten Parfüms und kaltem Zigarettenqualm
rochen ... verknitterte Samtportieren -- ein Taburett, darauf ein
Sektkühler mit zwei goldenen Flaschenhälsen -- zwei Schalen, in denen
die Perlen leise knisternd aufstiegen ...

Wahnsinn!! Gegenüber ein aufgeschlagenes Bett ... aufgleißend im matten
Schein einer roten Ampel ...

Und neben dem Bett saß ... ein Dämon ... ein Tier mit lauerndem
Basiliskenblick ... er ... der Kerl ...

Ein einziger wilder Schrei des Entsetzens -- dann hatte Ilse begriffen.
Und schon hatte sie sich gefaßt. Sie erstarrte in der Haltung einer
unnahbaren Königin. Sie wußte, daß sie verloren war. Und ihre Hände
tasteten, ihre Augen spähten umher nach einem Werkzeug, sich die
hämmernden Adern zu öffnen.

»Na, mien Deern -- glücklich opwokt!« grinste der Unhold. »Wat heff ick
di seggt --?! Mien Kamroden in Rußland -- --«

Seltsam -- Ilse Carstensen empfand eigentlich keine Angst. Nicht ein
Mensch, ein Deutscher, ein Landsmann -- ein betrunkener Gorilla ...
Was diese glotzenden Augen heischten, diese zusammengekrampften Fäuste
zu erzwingen willens waren, das war vollkommen unmöglich -- das würde
nie geschehen. Und ihre schmalen Lippen sprachen im Ton unsäglicher
Verachtung über den Abgrund der Klassen hinüber:

»Ich wünsche ungestört zu bleiben. Machen Sie, daß Sie fortkommen!«

Über Tedjes Haupt klang in diesem Augenblick ein dunkles Rauschen.
Er kannte es -- aus den Erzählungen seiner Kameraden im Felde, wenn
eine größere Unternehmung bevorstand. Dann hatte der oder jener seiner
liebsten Kriegsgesellen ihm heiser flüsternd dies Gefühl beschrieben
... und von denen, die sich solchermaßen ihrer Angst zu entlasten
versucht hatten, war niemals einer wiedergekommen.

Da ächzte der wilde Tedje -- und in seinem fiebergeschüttelten Körper
schäumte gieriger Lebenshunger, quälender Durst nach Helle, Glück,
Genüssen empor ... Die Stunde war da, die er ewig ersehnt hatte.
Die lichte, die obere Welt ... Die Welt, die nichts von Schmutz und
Schweiß, von Frost und Hunger, von eintönig freudloser Arbeit und
stumpfsinnigen, tierischen Genüssen weiß. Die Welt voll Inhalt, voll
Seele, voll Sinn ...

Und wie sie da vor ihm sich auftat -- das Sinnbild seiner Träume, in
seiner Hand, ihm verfallen, wehrlos, rettungslos -- da fühlte, da
wußte sein dumpfgrübelndes Hirn, daß er sie ja doch nie erfassen, nie
besitzen, nie -- haben könnte ... Sie an sich reißen, wie man ein
kostbar gebundenes Buch rauben mag, ein Buch, dessen Lettern man nicht
lesen kann -- ja, das vermochte er ... Ein solches Buch kann der Räuber
verschmutzen, zerreißen, zerstampfen -- begreifen, erfassen, erleben
kann er es nicht.

Das alles schoß als mystisches Ahnen durch den Kopf des wilden Tedje
... Das lähmte ihm den gierenden Willen, den tierischen Trieb. Ein
grenzenloses Mitleid mit sich selber überkam ihn, ein tiefer Ekel
vor der schmutzigen Niedrigkeit seiner Existenz, aus der er selber
nichts zu machen gewußt. Selbst seine Schönheit, die ihm unzählige
Frauen seines Bereichs als willenlose Beute in die Arme getrieben,
seine Manneskraft, der Dunst der Gefährlichkeit, der ihm den Respekt
seiner Feinde, sogar seiner Vorgesetzten im Felde verschafft hatte --
in dieser Frau erweckte das alles nichts als Ekel und Abscheu -- kaum
Haß, ja nicht einmal Furcht, nicht einmal Abwehr ... Die Welt seiner
Sehnsucht lehnte ihn ab, stieß ihn aus, ganz selbstverständlich, ganz
tatlos, durch ihre bloße Gegenwart, durch ihre eisige Fremdheit, ihre
weltenweite Ferne ...

Gut denn -- und wenn er sie denn niemals haben, niemals erleben soll --
die Welt seiner Träume -- so soll sie wenigstens zertrümmert sein.

Langsam, von Selbstekel und Zerstörungswollust geschüttelt, erhob
sich der wilde Tedje. Geduckten Hauptes, wie der Kampfstier in die
Arena schreitet, tappte er auf das niedere Tischchen zu, auf dem die
goldbehalsten Flaschen, die gefüllten Kristallschalen seine Sehnsucht
höhnten. Und da fuhr auch das Mädchen empor. Jetzt hob der Mann die
arbeitsharte Tatze, sie krampfte, sie krallte sich zusammen, die
blassen Schultern der »Zarentochter« mit wütendem Griff zu packen. Da
nahm Ilse Carstensen mit einer gelassenen Bewegung eine der Sektschalen
und stieß sie dem Bedränger ins glutgedunsene Gesicht, daß sie klirrend
zersprang.

Tedje taumelte, von Wein und Blut überströmt -- und fühlte zugleich
eine Faust in seinem Nacken. Die Tür hinter ihm war aufgeflogen -- ein
Herr im Frack -- Schutzmannshelme -- --

Aber schon hatte der Arbeiter sich losgemacht. Ein Sprung -- ein
Griff in das aufgeschlagene Bett -- die Daunendecke flog dem
Befrackten entgegen, umhüllte ihn sekundenlang, daß er wankte -- den
nachdrängenden Beamten in die Arme sank -- -- und jetzt -- Höllenspuk!
jetzt klaffte an der Wand zwischen Bett und Diwan ein meterbreiter
schwarzer Spalt ... ein Hohngelächter gellte -- der Spalt schloß sich --

Tedje Tietgens war verschwunden -- wie weggeweht.

Ein Beben rann durch Ilse Carstensens hochaufgerichtete Gestalt. Ein
Schrei des Entsetzens und der Erlösung zugleich ...

Und schon war das enge Gelaß mit Menschen wie gestopft. Armin
Timmermanns hatte sich freigemacht, schoß auf Ilse zu:

»Zur rechten Zeit gekommen, gnädiges Fräulein?!«

Stumm nickte das Mädchen -- bot ihrem Retter die eiskalte Hand. Der
zog sie ritterlich an die Lippen ... Und jetzt -- jetzt schwirrte ein
helles Triumphlachen -- und da streckte Bessie der geretteten Freundin
ihr festes Händchen entgegen, fiel ihr jauchzend und schluchzend um
den Hals ... und jetzt -- hoch lauschte Ilse auf -- durch das wirre
Brausen erregter Männerstimmen hatte sie eine Stimme vernommen --

Gewimmel der Polizisten, die alle Möbel abrückten, Teppiche und Bilder
aufhoben, um nach der Feder zur geheimen Tür zu fahnden, durch die der
Attentäter verschwunden war.

Sie stießen eine scheußliche, schlotternde, greinende Vettel in die
Mitte des Raumes ...

»Olle Düwelsbroden, wies uns dei Fedder, süß brekt wi di alle Rippen
in'n Liew kaput ...«

Und jetzt -- durch die Reihen der Behelmten drängte sich ein junger
Mann in einer Matrosenbluse ...

»Ilse --!!«

Da warf Senator Carstensens stolze Tochter sich an des Verlobten Brust.
Vergebens Fragen, Bitten, Tröstungen. Sie weinte -- weinte -- weinte.




                                   8


Über den unruhig wogenden Elbstrom, vom Sprühschaum umstiebt, sauste
ein leise fauchendes Motorboot. Am Steven, fieberhaft nach vorn
spähend, als könne sein Blick die Mitternachtsschwärze durchdringen,
stand Robert Timmermanns -- den Zylinder fest in den Nacken geschoben,
den Paletot überm Frack. Neben ihm ein Polizeileutnant, im Boot ein
Vierteldutzend junger Ingenieure der Werft und zwölf Schutzleute,
Karabiner umgehängt, Revolver im Gurt.

»In dieser Nacht, Herr Generaldirektor,« flüsterte der Polizeileutnant,
»rückt die Armee der Ordnung in die Stadt Berlin ein ... Morgen früh
sitzt die Regierung der Republik hinter Schloß und Riegel ... In acht
Tagen herrscht wieder Zucht und Recht in Deutschland.«

»Gott geb's!« knurrte Robert. »Mir ist's im Augenblick wichtiger, daß
wir noch zurecht kommen, ehe sie uns die ›Deutschland‹ in die Luft
sprengen.«

Kommen wir zu spät, dachte er bei sich -- dann schieß' ich mir eine
Kugel aus Armins Karabiner in den Schädel.

Schade wär's doch --! sann er grimmig. Es fing gerade an, ein
bißchen nett zu werden -- das Leben. United Transatlantic Lines --
Generaldirektor -- Stapellauf der »Deutschland« -- und ich laß mich
hängen, wenn ich die tolle kleine Yankeemaid nicht doch noch ein
bißchen lieber habe, als ich diese unheimlich vornehme Ilse jemals
hätte haben können ... Na -- wollen sehen ... Wenn mir von den
Saboteuren einer zwischen die Klauen kommt, dem sei Gott gnädig ...

Auf der Werft alles still. Der riesige Würfel des Verwaltungsgebäudes
zur Linken -- gegenüber das phantastische Gefüge des hochgetürmten,
breit hingelagerten Helgengerüstes -- und darunter wie ein Gebirge
massig aufwuchtend der dunkle Gigantenleib der »Deutschland« -- alles
lag in gelassen rastendem Schweigen.

Da stieß -- des Polizeileutnants Fuß plötzlich an etwas Weiches ...
Dies Gefühl kannte er -- aus hundert Nachtgefechten ...

Eine Taschenlampe blitzte auf: ein lebloser Mann -- an seinem Hals ein
gräßlich klaffender Schnitt -- Blutgüsse auf Kleidern und Fußboden ...
Bob Timmermanns erkannte den Toten: ein braver Werftwächter ...

»Ihr Hunde --!« knirschte er, »ihr Hunde!«

Weiter -- weiter! Heran an die Helling, heran an das Schiff! Wir
dürfen nicht zu spät kommen! Da -- ein paar Gestalten, die sich
niedergekauert, springen auf, rasen gehetzt von dannen. ... Schon
fliegen die Karabiner an die Backen, Schüsse blitzen hinter den
Fliehenden drein -- weiter! weiter! Der hastige Gang wird zum Lauf
-- da sind wir am Schiffsrumpf -- steil klaftert die Eisenwand sich
empor, vom Gewirr der Gerüste und Laufstege befreit, bereit, in die
Flut zu gleiten ...

Schau! Glimmt dort nicht etwas am Boden?! Hölle und Teufel, eine
Zündschnur ... Mit den mächtigen Tatzen zerdrückt Bob Timmermanns die
Glut ... Mit dem Lichtkegel der Laterne verfolgen sie die Schnur: Da
steht eine Blechkiste, groß genug, um ein ganzes Geschwader in die
Luft zu sprengen ... Und da -- noch ein Toter -- nein, ein Sterbender
... Bob Timmermanns kennt das Gesicht, aber nicht den Namen ... Ein
Blondkopf mit großen, halb offenen Träumeraugen -- hinter dieser Stirn
hätte man alles andere gesucht als einen Dynamitarden ... Er ist gut
getroffen ... aus seiner Schlagader rinnt matter schon der pulsende
Strahl. Er öffnet den Mund -- will etwas sagen -- aber es kommt kaum
noch ein Hauch ... Es klingt wie: Antje ...

Hast gebüßt, Gesell. Zieh hin, wo auf dich wartet, was du verdient hast.

Sie haben gut gesorgt, die Hunde. Mittschiffs eine zweite Kiste
aufgebaut, am Heck eine dritte. Vor allem die Zündschnuren
durchschneiden! Unnütze Vorsicht -- die haben sie nicht einmal mehr in
Brand gekriegt -- außer der einen.

Der Polizeileutnant teilt eine Wache und Patrouillen ein. Das ganze
Werftgelände wird abgestreift, ein paar junge Kerle, die sich versteckt
hatten, werden eingefangen und unsanft vor den Leutnant geführt.
Schluchzend gestehen sie ihre Teilnahme an dem Komplott. Aufgefordert
aber, die Namen der Rädelsführer zu nennen, schweigen sie, halb
angstvoll, halb verbissen. Einen Kameraden verraten? Das tut man nicht
-- außerdem würde es einem schlecht bekommen. -- Einer ist gefallen
-- kennt ihr den? Sie werden zu dem Toten geführt: Ja -- das ist der
Mönkebüll.

Still liegt das weite Werftgelände, still dahinter zieht der Fluß
seine Bahn zum Meer. Hamburg schläft, Altona schläft. Die paar Schüsse
haben die Stadt der Arbeit nicht aus dem Schlummer geweckt.

       *       *       *       *       *

Bob Timmermanns saß in seinem einsamen Bureau und braute sich einen
Grog. Über ihn kam eine furchtbare Müdigkeit. Verflucht, waren das Tage
gewesen ... Die Vorbereitungen für die Ankunft der Amerikaner, für den
Stapellauf hatten die Direktion in fieberhafter Anspannung gehalten.
Und dann -- das Fest ... der Tanz ... Die Ankunft der Sekretärin --
ihre Schreckensbotschaft -- Kleine Bessie -- wie mag's dir ergangen
sein.

Des Riesen harte Züge wurden ganz weich. Er streckte sich in seinem
Klubsessel, trank in bedächtigen Zügen das glühheiße Getränk -- und
fiel in Träumerei. Kleine -- süße Bessie ... Ein ganzer Teufelskerl,
diese tolle Neuyorkerin ... Mit ihrer ruhigen Bestimmtheit hatte sie
sogar dem Präsidenten imponiert.

Hamburg ist groß! hatte er mit hängenden Armen gesagt. Und die Kleine:
Ich weiß, wo sie ist ... Glück zu, Prachtkerlchen ... Wenn du das
fertig bringst -- und uns unsere Ilse wiederschaffst -- dann verlange
von Bob Timmermanns, daß er vom Aussichtstürmchen auf dem Helgengerüst
in die Elbe springt -- er tut's.

Kleine ... süßeste ... Bessie ...

»Guten Morgen, Bob.«

Der Generaldirektor fuhr auf. Teufel -- eingeschlafen ... Vor ihm stand
sein Bruder Armin -- auch er noch immer im Frack.

»Erzähl'!«

»Gerettet!«

»Erzähl'!«

»Erst einen Grog, mein Teurer ... Die Hauptsache weißt du ja.«

Ein hastiges Berichten hinüber und herüber.

»Entwischt -- Düwel un Dunnerslag!« fluchte Bob. »Gib acht, der macht
uns noch zu schaffen! Ich wette, der steckt hinter allem ... und du
meinst, er hat ihr nichts getan?«

»Wir sind im allerletzten Augenblick gekommen. Hat ihm einfach das
Sektglas in die Fresse gehauen!«

»Die Ilse! Die Prinzessin! Kaum zu fassen! Wo ist sie nun?«

»Liegt jedenfalls im Augenblick schon mollig und weich in ihrem
seidenen Bettchen ...« schmunzelte Armin. »Ja, mein guter Bob -- bei
der hast du verspielt ...«

Bob Timmermanns entzündete die Spiritusflamme aufs neue. Er lachte
stumm in sich hinein. Wenn du ahntest, Bruderherz ... »Zigarette
gefällig?«

»Danke!« sagte Armin und füllte sich sein Etui.

»Und -- die kleine Amerikanerin?« fragte Bob -- leichthin, wie er
meinte. Aber des Bruders scharfes Ohr hatte doch den Unterton gehört.
Er lachte in sich hinein. Recht so ... Geld in die Familie ...

»Weißt du, was -- ich bekommen habe von der? So wahr ich lebe -- einen
Kuß! -- Da leckst du dir die Lippen, nicht -- Bobchen?! Habe sie dann
persönlich im Atlantic abgeliefert. Sie platzt vor Stolz. Übrigens mit
Recht. Süßer kleiner Käfer -- schwärmt für dich, Bob!«

Er bekam keine Antwort. Einen Augenblick träumten beide Brüder den
Wölkchen ihrer Zigaretten nach.

»Na, mein Jung,« fragte nach einer kleinen Pause Armin, »bist du nun
bald soweit? Glaubst du's nun, daß Republik und Chaos das gleiche
bedeuten?«

Bob gähnte heftig. »Verdammt müde«, sagte er. »Büschen happig, dieses
Nächtchen.«

»Schlaf, Michel, schlaf!« sang Armin wütend. »Du wirst's nicht eher
glauben, als bis du mit der ganzen Werft in die Luft fliegst.«

Bob rappelte sich auf. »Ne, Armin, du hast recht. Wenn dein Kapp es
schafft -- ich war schon ein halber Republikaner -- aber dann mausere
ich mich rückwärts. So geht's nicht weiter.«

»Aha -- dich ins Schlepptau nehmen lassen, wenn's gut gegangen ist! So
reden sie alle -- so schwatzt dies ganze marklose Bürgertum ... Nein --
mittun -- selber handeln -- vorangehen!«

»Das mögen andere machen. Ich bin Generaldirektor der Werft -- werde
morgen alle Hände voll zu tun haben, den Streik niederzuhalten.«

»So is recht -- Herr Generaldirektor! Jeder sorgt für sein Krämchen --
rettet ›die‹ Deutschland -- seine kleine ›Deutschland‹, und derweil
geht das große Deutschland in die Luft -- äh -- schlappe, versumpfende
Nation ...«

»Was soll ich machen?!«

»Erlaube mir, mich morgen mit einer Anzahl meiner Kameraden in
Arbeiterkleidern auf der Werft einzufinden. Wir schaffen noch vor
Dämmerung unsere Waffen heran ...«

»Du vergißt, lieber Kerl: der Eigentümer der Werft ist ein gewisser
Senator Carstensen!«

»Der wird dir's morgen danken, daß du auch diesmal in seinem Interesse
das Richtige angeordnet hast! Kommt's morgen oder übermorgen auf der
Werft zum Krawall -- so greifen wir ein und treiben die Arbeiter zu
Paaren ... Alle öffentlichen Gebäude, alle Werftdirektionen, alle
Bahnhöfe in unsere Hand. Der rote Senat, die rote Bürgerschaft werden
abgesetzt, eine örtliche Diktatur für Hamburg wird aufgerichtet, die
Verbindung mit Berlin wird aufgenommen, über dem hoffentlich morgen
abend die schwarz-weiß-rote Fahne weht.«

Bob war im Lauschen wach geworden. Der Schrecken saß ihm noch in den
Gebeinen. Nein -- wenn sie ihm an seine Schiffe wollten -- dann hörte
die Gemütlichkeit auf.

Und dann -- die Amerikaner! Sollten sie denn schon einmal das
Schauspiel eines deutschen Bürgerkrieges miterleben, dann wenigstens
eines solchen, der mit dem Siege der Ordnung endigte.

»Mein lieber Armin -- das läßt sich hören. Das mußt du mir noch mal
genauer auseinandersetzen.«

Die Brüder steckten die Köpfe zusammen.

Draußen ragte die gerettete »Deutschland«.

Und zu Füßen des Schiffes erkaltete der Leichnam eines jungen
Deutschen, der für das Vaterland seiner Träume gestorben war.




                                   9


Tedje Tietgens tastete sich einen Seitengang im Labyrinth der Mudder
Lore entlang, der, nur ihm bekannt, in einer Nebengasse mündete. Er
hatte sich im Dachsbau verirrt ... hatte lange im Finstern umhertappen
müssen, nachdem er das letzte Streichholz verbrannt. Bis er schließlich
fast durch einen Zufall doch noch einen Ausgang gefunden. Jetzt
öffnete er eine Tür, die ins Freie führte ... Vorsicht ... Vielleicht
hatten die Blauen auch dieses Schlupfloch erspäht und besetzt?! Nein
-- alles still ... und schon war er draußen, schob sich wie eine
Katze an den finsteren, klebrigen Ziegelmauern entlang, stand auf der
menschenverlassenen Wexstraße. Hastete dem Hafen zu. Er hielt einen
Augenblick inne, wischte sich mit dem Rockärmel die angetrocknete
Kruste aus Wein, Blut, Schweiß vom Gesicht. Seine mächtige Gestalt
bebte, seine Kinnbacken knirschten vor fressender Wut.

Die »Zarentochter« war ihm entrissen. Jetzt wenigstens nicht zu spät
kommen, wenn die »Deutschland« in die Luft geht ... Clas Mönkebüll
wird da sein ... Und »Anders Niemann« -- hahaha! Feine, den wenigstens
kriegst du nicht wieder zu sehen -- deinen »Heinz«! Der geht mit deinem
Schiff in die Luft!!

Nur nicht zu spät kommen! ...

Die Turmuhren schlugen an. Verdammt ... drei Uhr ... Er beschleunigte
den Schritt, stand endlich am Hafen, auf St. Pauli Fischmarkt, hart
gegenüber der Werft. Dort hatten Dragomiroff und die Spießgesellen ihn
erwarten wollen.

Alles tot, menschenleer. Verdammt ... also doch zu spät gekommen ...
Aber -- warum ging's denn da drüben noch nicht los?!

Horch -- ein Motorboot töfft über den hochgehenden Strom -- legt zu
Füßen des Lauschers an. Ein paar dunkle Gestalten klimmen die Treppe
hinauf -- im Licht einer Straßenlaterne aus grauem Wirrbart das fahle
Gesicht des Genossen Dragomiroff.

Tedje tut einen leisen Pfiff ... das Signal der Moskauer. Er wird
erwidert ...

»Nun?«

Der Russe knirscht einen schmutzigen Fluch. »Jetzt kommst du,
Scheißkerl -- jetzt, wo alles versaut und vorüber ist ...«

Er erzählte. Eine Stunde und länger hatte er mit den Genossen gewartet
-- kein Clas, kein Tedje. Schließlich war Mönkebüll gekommen ...

»Allein?!« fragte Tedje heiser.

»Allein --«

»Un Anders Niemann? Ick harr em opdrogen, dat hei em mitbringen süll
-- un wenn dat nich güng, denn süll hei em kolt moken ...«

»Wohl bedacht!« lobte der Russe. »Ich habe ihm nie getraut, dem Braunen
... dann wird Clas ja wohl mit ihm abgerechnet haben. Um so besser --«

»Na -- un doar dröben? Worüm is dat denn nich losgohn?«

»Da muß Verrat im Spiele sein ... Wir hatten die erste Lunte bereits
angezündet -- auf einmal fallen Schüsse, Mönkebüll bricht neben mir
zusammen ... Wir reißen aus, was Beine hat ... Na, und da sind wir ...
Ein paar von uns scheinen sie erwischt zu haben.«

»Verdammi ... wat nu, Genosse?«

Der Russe ließ sich Tedjes Abenteuer ausführlich erzählen.

»Hundesohn!« schäumte er. »Das hast du davon, daß du in einer Nacht,
die der Tat gehört, dein Säuchen hüten mußtest ... Nun erzähl' mir
wenigstens alles -- ich merke, du hast noch irgend etwas hinterm Berge
...«

Und schamglühend mußte Tedje gestehen, daß er ein Telephongespräch
belauscht hatte -- und dabei erfahren, daß Anders Niemann, sein Freund
und Vertrauter, der Mitwisser aller Geheimnisse des Komplotts, ein
Spitzel und Verräter war ...

Auf einmal hellte des Russen Gesicht sich auf. »Du -- das rettet uns
vielleicht. Ein Spitzel -- ein Sohn des Präsidenten der H. T. L. -- das
ließe sich ausschlachten ... Laß sehen -- laß sehen ... Ich hab's, du
Ochse! Gib acht: Ich nehme an, Clas Mönkebüll hat dafür gesorgt, daß
der Verräter auf Nimmerwiedersehen verschwunden ist ... jetzt drehen
wir den Spieß um. Ich habe ganz sichere Nachricht, daß heute nacht in
Berlin eine große gegenrevolutionäre Unternehmung zum Klappen kommt.
Glückt sie, so reagiert morgen früh das ganze deutsche Proletariat
mit dem Generalstreik. Also die Stimmung wird morgen früh ohnehin
ziemlich gespannt sein. Da haken wir ein. Du bist ja dank deiner
kleinen Seitensprünge bei der Unternehmung gegen die ›Deutschland‹ gar
nicht kompromittiert -- kannst dein Alibi nachweisen, hahaha! Du wirst
morgen früh den Kollegen die Geschichte mit diesem Anders Niemann oder
Heinz Freimann erzählen -- und daß der die ganze Sabotagegeschichte
angezettelt hat. Er selber kann sich nicht mehr verteidigen, Clas wird
auch schweigen, wenn er nicht überhaupt schon ganz stumm ist ... Hast
du begriffen?«

Mit glühenden Augen hatte Tedje dem Genossen zugehört. Nun dämmerte
ihm das Verständnis. Ein Spitzel -- der ein Jahr lang auf der Werft
gearbeitet hat -- den sie alle kennen, die Kollegen, und der ist ein
Sohn des Präsidenten der H. T. L. -- und jetzt, wo der Anschlag auf
den Dampfer mißglückt, ist er verschwunden ... Daraus ließ sich etwas
machen.

»Also gib acht, du Schuft. Wir stellen die Sache so dar, als ob das
ganze Attentat gegen die ›Deutschland‹ das Werk eines Spitzels gewesen
sei -- eines +agent provocateur+, du weißt wohl, was das ist,
nicht wahr?«

»Weit ick, weit ick«, grinste Tedje. »Ick begriep ganz gaud. Dei
Kollegen söhlen gleuwen, dat dei ganze Sabotasch' --«

»-- nur ein Bluff der Weißen ist -- ein Mittel, das Bürgertum gegen
die Arbeiterschaft aufzuputschen ... Sollst mal sehen, was das für
eine bildschöne Wut gibt ... Hauptsache ist, daß der Stapellauf
morgen vereitelt wird -- daß die Amerikaner den Eindruck bekommen: in
Deutschland geht alles drunter und drüber ... Wie ich sie kenne, werden
sie sich dann für die Weiterführung des Bündnisses bedanken -- werden
abreisen und Werft und Linie ihrem Schicksal überlassen. Wenn wir das
erreichen, ist so gut wie alles gewonnen. Die Verbindung zwischen dem
Kapitalismus Amerikas und Deutschlands, die sich schon angesponnen
hatte, reißt wieder ab -- ein Haupthindernis für das Übergreifen der
Weltrevolution nach Deutschland ist beseitigt. Verstehst du mich,
Tedje?«

Aufleuchtenden Auges bejahte der Bursch. Die Rache ... sie kam also
doch noch ...

Aber -- wenn man ihn morgen da drüben -- wegen seines Attentats auf die
Tochter seines Chefs -- verhaften ließe?!

»Du wirst nicht so dumm sein und ihnen in die Hände laufen. Bring die
Arbeiterschaft nur ordentlich in Bewegung. Wenn's kocht, greift keiner
ungestraft in den Topf.«

»Dat mok ick!« flammte Tedje auf. »Nich koken -- öberkoken sall dei
Supp -- dat oll Timmermanns un oll Carstensen sick dei Nees' verbrennt!«

Und ich -- hab' ich die »Zarentochter« nicht gekriegt -- der andere
kriegt sie wenigstens auch nicht ...

Hahaha -- du Feine! Deinen Bräutigam, den siehst du nicht wieder! Der
liegt, wo Mond und Sonne niemals hinscheinen -- mit Clas Mönkebülls
Messer zwischen den Rippen --!!

Und wenn die »Deutschland« nicht in die Luft gegangen ist -- die
H. T. L. geht deshalb morgen doch in die Luft! Und hoffentlich die
Hammonia-Werft mit ...

Und dann -- Generalstreik ... in Hamburg, in ganz Deutschland ...

Sie kommt ja doch -- kommt doch -- die Diktatur des Proletariats -- die
Weltrevolution -- --!

Die rote Seligkeit -- --!!




                                  10


An der Lombardsbrücke hatten Heinz und Antje sich von Bessie und ihrem
Kavalier, dem strammen Leutnant Timmermanns, verabschiedet.

Als die beiden außer Sicht waren, zog Heinz die Hand der Freundin in
seinen Arm, beugte sich nieder und küßte die fleißigen Finger. In Dank
und Wehmut schwoll ihm das Herz.

»Antje --« sagte er leise -- »Antje ... alles hast du gerettet -- die
›Deutschland‹, die Werft -- die -- Linie -- meines Vaters Lebenswerk --
meine Ilse -- mich selber -- alles ... Mädchen, Mädchen -- wie soll ich
dir danken?!«

Sie schritten den neuen Jungfernstieg entlang. Die träge Wasserfläche
der Binnenalster kräuselte sich kaum -- der Märzsturm, vom starren
Schirm der ragenden Hotel- und Kaufhausfronten abgefangen, brauste
nur droben in den Lüften und hetzte dichte Wolkenzüge, die selten ein
flüchtiges Aufleuchten des sinkenden Mondes durchstieß. Die nächtlichen
Straßen wie gefegt ... an den tief umschatteten Häuserreihen hallten
die Schritte des einsamen Paares gespenstisch wider.

In Antjes Seele rangen Glück und Bitterkeit. Ja, ihr -- -- euch hab'
ich alles gerettet -- und ich?!

Mein Bruder flüchtig, die Polizei auf seiner Spur ... morgen vielleicht
sitzt er hinter Schloß und Riegel -- weil er es gewagt hat, Blick und
Hand zu einer von euch zu erheben ... und vielleicht außerdem als
Schuldiger des scheußlichen Planes, den doch nur die Verführung aus
dem Osten ihm eingegeben haben kann ... Der Anschlag ist mißglückt --
gottlob -- das Getöse der Explosion hätte ganz Hamburg erschüttert.
Nein -- diese Sorge war man los. Der Generaldirektor war zur rechten
Zeit gekommen. Aber Clas Mönkebüll? Der gute, stille, umgängliche
Mensch, der sie einmal vergebens um Liebe gebeten hatte?! Was mag aus
ihm geworden sein? Vielleicht ist er gefangen, vielleicht -- -- und
morgen früh werden die Eltern alles erfahren -- die Kammer der »drei
Söhne« wird verödet sein -- -- für lange Zeit -- vielleicht für immer
... Das stille Glück um Mudders Tisch ist zertrümmert ...

Ach, Antje -- und dein eigenes Herz?!

Er hielt, er küßte ihre Hand -- der Mann, der seit einem Jahr ihres
Lebens Inhalt war ... ihres Lebens Inhalt bleiben würde ... Aus Dank --
nur aus Dank -- weil sie ihm die Braut gerettet hatte ... Ahnte er denn
gar nicht -- auch nicht im leisesten -- was er ihr bedeutete? O doch,
er ahnte, nein, er wußte es -- mußte es wissen ...

Pah -- was war sie ihm? Eine interessante Bekanntschaft -- aus einem
Abschnitt seines Entwicklungsganges, der nun hinter ihm lag -- ein
weibliches Exemplar jener fernen, fremden Rasse, an deren Erforschung
er ein Jahr seines Lebens gesetzt -- ein -- Studienobjekt ... Was wußte
er von ihrer Seele -- von ihrer Liebe? Was -- verlangte er von ihr zu
wissen?!

Heinz wußte von ihr. Alles wußte er -- und daß er ihr ewiger Schuldner
bliebe -- bleiben müßte. Denn morgen war's ja doch zu Ende -- alles,
was zwischen ihnen beiden gewesen war -- dies lange, erlebnistiefe,
schöne -- ja, ja! unsagbar schöne Jahr hindurch. Gott -- zu Ende? War
das möglich? Durfte das möglich sein?

Denn jetzt erst -- jetzt, da es zu Ende ging -- jetzt erst, da dieses
Mädchen ihm die Braut, die Zukunft, das Leben gerettet hatte -- jetzt
erst ward es ihm ganz und schmerzlich klar: er liebte Antje ... nicht
wie eine Freundin -- nein, wie eine Ersehnte, Unentbehrliche -- ein
Stück seines Wesens, ein bestes Teil seines Lebens.

War das möglich?! Liebte er denn Ilse -- nicht?!

O ja, ja -- er liebte Ilse -- heißer, sehnsüchtiger, stolzer, hoffender
denn je ... war das -- möglich?!

Es war Wirklichkeit ... eine Wirklichkeit, zu schön, zu groß, zu hold
für diese Erde ...

Er mußte wählen -- er hatte gewählt. Was ihn zu diesem Mädchen zog,
das da so still, so dunkel, so leidvoll neben ihm schritt -- dem er so
viel, dem er verdankte, was er niemals vergelten konnte -- das mußte
er niederzwingen -- das durfte sie nicht einmal ahnen.

Er raffte sich zusammen. Er begann zu sprechen, hastig, in halb
scherzhaftem Ton fröhlicher, dankbarer Kameradschaft. Sie soll sich
nicht grämen um ihren Bruder. Tedje wird Verzeihung erhalten. Für alles
-- für sein Vergehen gegen Ilse -- für seinen Anteil an dem -- gottlob
-- vereitelten Plane dieser Nacht -- für seine Wühlarbeit auf der
Werft. Man wird für ihn sorgen -- so daß er sich emporarbeiten kann --
er ist ja so begabt, so energisch. Nur mißleitet ist er -- man wird ihn
auf den rechten Weg bringen.

Ob er wohl glaubt, was er da sagt? dachte Antje. Sie fühlte den
herzlichen Willen des Freundes, ihr Gutes und Aufrichtendes zu sagen.
Das machte sie froh -- nur helfen konnte er ihr nicht.

In tiefer Nachtstille lag die gewaltige Stadt. Die Schritte des
einsamen Paares hallten wider an den vielfenstrigen Fronten der
stattlichen Kaufhäuser, der hochgetürmten Bank- und Handelspaläste.
Seine Welt -- die ihn nun wieder an sich zog, ihn halten würde. Und sie
-- sie wird vergessen sein -- wenn nicht morgen, dann übermorgen.

Ihre Seele weinte, rang, schrie -- er hörte es nicht, sollte es ja auch
nicht hören -- nein, das sollte er nicht. Für Mitleid hatte Antje keine
Verwendung.

Heinz redete, redete ... Wieviel er gelernt habe -- in dem langen,
ernsten, reichen Lehrjahr. Wie tief er allen zu Dank verbunden sei --
und daß er seinen Dank in Taten umsetzen wolle. Er wird mit seinem
Schwiegervater sprechen ... Vadders Träume werden sich nun erfüllen
-- in ein paar Tagen wird er Mudder in das Werkmeisterhäuschen neben
dem Werftgebäude führen können. Und auch für Clas Mönkebüll wird nun
gesorgt werden. Er soll nicht länger Niete setzen ... Er ist ja noch
so jung -- man wird ihn auf das Konservatorium schicken -- einen
tüchtigen Musiker aus ihm machen. Und dann -- dann will er selber,
Heinz, sich an die Verwirklichung all der großen und rettenden Pläne
machen, welche das Lehrjahr in ihm gereift. Er will auf ein paar Jahre
in die Direktion der Werft eintreten ... will sofort Bildungskurse für
die Begabten, Strebsamen unter den Arbeitern einrichten, Vorträge für
die ganze Arbeiterschaft -- mit Lichtbildern -- die sie in den Sinn
des ganzen großen Produktionsprozesses einführen. Vielleicht läßt es
sich ermöglichen, die Älteren und Bewährten irgendwie am finanziellen
Erträgnis der Werft zu beteiligen ...

Er redete -- redete ... Antje warf nur zuweilen ein kaum bewußtes Wort
dazwischen: »Ja -- das wär' schön --« oder: »Gewiß, das könnte viel
Segen stiften ...« Aber ihr Herz klagte stumm: er liebt mich nicht. Er
gehört der andern -- gehört ihr allein.

Plötzlich durchkreuzte ihren Schmerz ein angstvoller Gedanke: Tedje --
-- wo war er, was trieb er in diesem Augenblick?!

Die Polizei war hinter ihm drein -- pah, sie würde ihn nicht kriegen,
des war sie sicher. Aber -- was tat er, was plante er sonst?! Er
war nicht der Mann, die Hände in den Schoß zu legen. Und hätte er's
gewollt -- sein böser Dämon lauerte ja auf ihn, würde ihn zu neuen,
entsetzlichen Plänen aufpeitschen -- der Genosse Dragomiroff ...

Nur mit halbem Ohr lauschte sie fortan den Schwärmereien des Freundes.
Was würden sie aushecken in dieser Stunde -- ihr Bruder -- und der
Russe?!

Es half nichts -- sie mußte den Freund warnen ...

Sie unterbrach seine eifrigen Zukunftsphantasien -- fragte ihn, was er
selber jetzt zu tun gedenke. Und nun erst besann sich Heinz, daß er
sich diese Frage im Drange der Ereignisse dieser wilden Nacht noch gar
nicht überlegt hatte. Das war ja selbstverständlich, daß er Antje zu
ihrer Wohnung begleitete ... Aber dann?! In sein Quartier zurück -- zum
Hause Tietgens, um dort womöglich mit Clas und Tedje zusammenzutreffen?
Nein -- das ist vorbei. Nun -- sein Elternhaus steht ihm ja offen --
aber -- dann kommt's schon morgen früh heraus, daß Anders Niemann -- --
Und -- die Arbeiter? Werden nicht die Kollegen sein ganzes Handeln aufs
ungeheuerlichste mißverstehen --?

Hastige Gedanken werden jagende, einander überstürzende Worte.

»Heinz -- bedenk doch -- Dragomiroff -- und -- mein Bruder ...«

»Natürlich -- sitzt die Polizei dem auf den Hacken -- er ahnt ja nicht,
welch eine Fürsprecherin er gefunden hat ... Er muß denken, ihn könne
nichts retten, als wenn -- als wenn morgen --«

»-- alles drunter und drüber geht!« nickte Antje in zitterndem Eifer.
»Alles drunter und drüber -- auf der Werft -- in ganz Hamburg ...«

Da war der Freihafen, da der Wolkenkratzer, in dem Antjes Pension
sich befand. Und die zwei mußten wandern, wandern ... Die Vorsetzen
entlang ... Schon umschritten sie den mächtigen Häuserblock der
Verwaltungsgebäude an St. Pauli Landungsbrücke.

»Gewiß, gewiß,« sagte Antje, und die quälende Sorge um den Freund
durchzitterte immer unverhüllter ihre sachlich verhaltenen Worte, »so
kommt's, verlaß dich drauf! Sie sind zu allem fähig, die zwei!«

»Nun gut -- so geh' ich morgen früh zur Arbeit, als sei nichts
vorgefallen -- und stelle mich dem Sturm.«

»Du bist wahnsinnig, Heinz! Du kennst sie nicht -- die Arbeiter! Der
leiseste Verdacht -- und sie reißen dich in Stücke!! Nein, Heinz, nein
-- das darfst du nicht!«

Sie preßte des geliebten Mannes Arm ... Ihre bebende Angst durchbrach
den Wall der Entsagung.

Heinz fühlte den Druck, hörte das Zittern der Stimme, verstand der
Freundin gefoltertes Herz. Er hätte sie an sich reißen mögen, um sie
nicht zu lassen ... und hatte doch vor wenigen Stunden den Mund einer
anderen geküßt, in kniefälligem Dank um ihre Rettung, um Wiederfinden,
Lebenshoffnung, Glauben an nahe Erfüllung ...

O Glück, o Sehnsucht, o Schmerz ... Laßt ab, ihr ewigen Mächte, mit mir
zu spielen ...

Es ist zu schwer, ein Mensch zu sein ...

»Aber was soll ich denn sonst tun, Antje?«

»Es gibt nur eins: Du mußt zu deinen Eltern gehen, dich verborgen
halten, bis alles vorbei ist ...«

»Damit der Russe und dein Bruder gewonnenes Spiel haben? Damit sie
den Kollegen sagen können, ich sei verschwunden, weil ich ihre Rache
fürchtete?! Dann werden sie glauben, daß die Werftleitung mit mir im
Einverständnis gewesen sei -- werden das Ganze als ein Komplott der
Direktion ansehen ... Und der alte Carstensen, Timmermanns, die Werft?!
Nein -- das ist unmöglich -- -- ich habe die ganze Verantwortung ...
Ich habe für mich allein gehandelt, ich allein muß die Folgen tragen,
darf sie nicht auf alle diese Männer abwälzen, die von mir keine Ahnung
gehabt haben --«

»-- was die Arbeiter aber niemals glauben werden --« warf Antje ein.

»Siehst du, siehst du! Und darum muß ich mich in Bereitschaft halten,
muß im äußersten Falle meine Person einsetzen, um Zeugnis abzulegen vor
der ganzen Arbeiterschaft, daß die Werftleitung nichts von mir gewußt
hat, daß das Attentat auf die ›Deutschland‹ nicht mein Werk ist, nicht
eine Tat der Provokation -- kurz: Für die Wahrheit muß ich zeugen --
komme was wolle!«

»Heinz, Heinz -- du bist verloren!«

»Mag sein -- Früchte meines Tuns --! Ich hab' eine Maske getragen
ein ganzes Jahr lang -- ein Dasein geführt, das ein einziger großer
Betrug war -- und habe Schlafen und Wachen, Dach und Speise, Arbeit
und Muße geteilt mit euch ... Jetzt kehrt sich's gegen mich ... Ich
bin ein alter Seemann und Soldat -- kein Drückeberger ... Ich werde
mich dem Schicksal nicht aufdrängen -- aber bereit werd' ich mich
halten. Ich werde -- -- jetzt weiß ich, was ich tu. Ich fahre morgen
früh im geschlossenen Auto zur Werft, melde mich beim Generaldirektor
Timmermanns. Kommt es zum Äußersten, so stell' ich mich den Arbeitern.
So ist's gut -- so mach' ich's.«

Vergebens, daß Antje in zitternder Angst immer aufs neue den Freund
beschwor, sich in seinem Elternhaus in Sicherheit zu bringen, bis der
Sturm, der kommen müsse, vorbei sei ...

Nun hatten sie die Gebäude am Hafentor umschritten -- da lag die
gigantische Rotunde des Elbtunnels -- und vor ihnen brauste der
sturmgepeitschte Fluß -- und nun -- nun hob sich über die niederen
Schuppen drüben, im ersten fahlen Morgenlicht, das Gewirr der breit
hingelagerten Baugerüste der Werft. Und da -- da lag der Koloß der
»Deutschland« -- unversehrt, wie ein Gebirge aufgetürmt ... Eine
Ruhe strömte von ihm aus, eine Kraft -- die goß neuen Glauben in die
ringenden Herzen der beiden engverbundenen Menschenkinder.

Einen Augenblick standen sie stumm und regungslos, erschüttert vom
Anblick des stolzen Werkes deutscher Tatkraft, deutschen Lebenswillens,
deutscher Hoffnung. Die Sozialistin, des Kaisers Offizier. Zwei
deutsche Menschen -- zwei Liebende.

Es warf sie zusammen. Mit jäher Bewegung riß Heinz das Mädchen in seine
Arme. Sie küßten sich. Ihre Tränen rannen.

Es ist zu schwer, ein Mensch zu sein ...

Sie lösten sich -- sie hielten einander an den Händen. Sie suchten
einer des andern Blick -- auf ihren bleichen Gesichtern lag das erste
ferne Leuchten des neuen Tages. Des Tages, da die »Deutschland« sich
den Wellen des großen Stromes vermählen sollte.

Und sie wußten, daß sie zu entsagen hatten. Sie wußten, daß sie die
Kraft zur Entsagung finden würden.




                                  11


Der Morgen kam. Hamburg stieg in seinen Tag.

Unter den grauen Massen der Hafen- und Werftarbeiter, die längs des
Elbufers auf die Dampfbarkassen und Motorboote warteten, liefen wilde,
erregende Gerüchte um. Berlin in der Hand der Gegenrevolution ...
Die Regierung entflohen -- oder, wie andere wissen wollten, hinter
Schloß und Riegel ... Auch in Hamburg rühren sich die Weißen ... heute
nacht sind ganze Kisten mit Waffen und Munition zur Hammonia-Werft
hinübergeschafft worden ... Die Republik ist in Gefahr ...

Erregte Gruppen rotteten sich zusammen, ballten sich zu immer größeren
Massen, zu förmlichen Volksversammlungen. Hier und dort sprang einer,
der des Wortes mächtig war, auf eine Rampe, eine Treppe, schleuderte
wilde Hetzreden über die murrenden Häupter, die geballten Fäuste seiner
Klassengenossen.

»Kam'roden! Proletarier! Brüder! Die Reakschon is wieder am Werk! Die
Errungenschaften von die Revolution sollen euch entrissen werden! Ji
söhlt wedder veertein Stünn däglich schuften statts acht! Dei Löhne
söhlt jug besneden warden! Der Militarismus erhebt aufs neue sein
scheußliches Haupt! Op dei Hammonia-Werft hefft sei hüt nacht söben
Genossen an de Wand stellt!«

Wutschreie -- Pfiffe -- geschwungene Knüppel ...

Ein anderer wußte noch mehr:

»Spitzel sünd in'ne Gang! Aschang prowockatöhrs! Do dröben op dei
Werft hett hüt nacht so'n Oos den'n niegen groten Dampfer in dei Luft
sprengen wullt, öwer dei Nachtwach hett em bi't Schlaffittchen kregen!«

»Wo is dei Halunk?!« schrie's aus der Menge. »Dei mutt lüncht warden,
dei Swienhund!«

Da heulte die Sirene der Barkasse. In dunklen Strömen fluteten die
Erregten zur Landungsbrücke, trotteten über die schmalen Stege,
schwangen sich über die Brüstung des Dampfers, fanden sich während
der Fahrt zu kleineren Grüppchen zusammen. Die Jungen kreischten und
hetzten: »Wi hebbt Waffen! Wi störmt dei Direkschon! Sei möten uns
den'n Spitzel rutgeben!«

»Proteststreik!« schrie eine grelle Knabenstimme.

»Ne -- Generalstreik! Generalstreik!« --

Das war das Wort der Stunde.

Aber die Älteren, die Besonneneren protestierten.

»Kold Blaud, Jungs, ümmer kold Blaud! Mit Generalstreik fängt dat an,
mit Utsperrung hett dat sin'n Furtgang! Dei Streikkassen sünd leddig.
Dat Leben ward däglich dürer! Dei Verdeinst dörf nich afrieten -- süß
köhnt wie Hungerpooten sugen.«

Vadder Tietgens hatte einen schweren Stand inmitten der Halbwüchsigen,
der Ungelernten, der Kriegsverwahrlosten.

»Dat is allens Bleudsinn mit dei Sabotasch! Dat will wi uns erst mol
negger bekieken!«

»Swiegt Sei man blot still, Vadder Tietgens! Ehr eigen Söhn hett mi dat
vertellt! Hei loppt op dei Landungsbrügg rüm un vertellt dat jeden,
dei't heurn mag!«

»Mien Söhn is en ... Dei Düwel sall em halen! En Hetzer is hei!«

»Ehr Söhn is 'n ganzen dägten Kierl! Ehr Söhn sall vör sien Kollegen
op de Direkschon -- un sall uns' Forderungen vördrägen, sall oll
Timmermanns dat Mul stoppen!«

Der Alte raffte sich zusammen. Auf dem Fährdampfer, der schaumumsprüht
die hochgehende lehmgelbe Elbflut durchquerte, ließ er zum zweiten
Male die große Rede vom Stapel, die er zehnmal hatte halten wollen
-- und zehnmal wieder in sich hineingewürgt hatte aus Angst vor dem
Hohngebrüll der »Halbstarken« ... bis er sie gestern abend endlich
losgeworden war. Heute sprach er noch freier, leidenschaftlicher,
eindringlicher ... Daß sie doch alle Deutsche seien ... Daß die
»Deutschland« vom Stapel müsse, müsse -- damit der Hafen wieder
aufblühe, Hamburg, das Vaterland ... Daß es Wahnsinn sei, wenn die
Arbeiter gegen ihre Brotherren wüteten, ihre Führer im großen Kampf um
Deutschlands wirtschaftliche Wiedergeburt ... Daß man zusammenhalten
müsse, brüderlich zusammenhalten ...

Umsonst -- die Verbohrten, die Verhetzten, die Unbelehrbaren, die
Unreifen brüllten den alten Mann mit rohem Gelächter nieder ...

»Generolstreik -- Generolstreik!«

»Nieder mit die Reakschon!«

»Es lebe das internationale Proletariat!«

»Es lebe die Weltrevolution!«

Drüben auf der Werft fand der alte Tietgens alles in wildester
Erregung. Niemand dachte daran, die Arbeit aufzunehmen Einer erzählte
es dem andern, eine Gruppe schrie der andern die Geschehnisse der Nacht
zu.

»Unsern Kolleg Mönkebüll hebbt sei dotschotten hüt nacht! Sien Liek
liggt in dei Hall von't Direkschonsgebäude!«

»Dei Hellingen sünd polezeilich afsparrt! Polezei is op dei Werft!«

Einer kam vom Eingang herangestürzt:

»Jungs -- Kollegen -- weet ji all dat Niegste? Dei Swienhund, dei hüt
nacht dei ›Dütschland‹ hett in de Luft sprengen wullt, dat is'n Spitzel
west! Un weit ji ok wer? Een von dei Nieters -- Anders Niemann hett
hei sick nennt! Öwerst in Wohrheit weur dat 'n Spion! Offizier is hei
west -- Marineoffizier! Kapteinleutnant! un hett en ganzes Johr op de
Werft as Nieter arbeit! Un weet ji ok, wo hei heet, dei Halunk, dei
entfomigte? Hei heet Freimann, Hinrik Freimann -- un is en Söhn von
den'n Generoldirekter von dei H. T. L.!«

Weit offenen Mundes hatte der alte Tietgens die phantastische Erzählung
angehört. Jetzt legte er dem jungen Burschen seine schwere Faust auf
die Schulter:

»Dat sast du mi bewiesen, mien Jung, wat du doar snackt hest! Anders
Niemann is mien Fründ -- hei wohnt as Kostgänger in mien Hus siet en
Johr! Dat sast du mi bewiesen! -- Wer hett di dat seggt?!«

Der Halbwüchsige hielt den zürnenden Blick des Graukopfes aus. »Dat
hett Ehr Söhn mi seggt, Vadder Tietgens!«

»Lagen is dat -- utverschamt lagen!« schäumte der Alte. »Vör Anders
Niemann legg ick mien Hand in't Füer!«

Umsonst -- von allen Seiten schwirrte es heran, das entsetzliche
Gerücht. Anders Niemann ein Spitzel -- ein +agent provocateur+ der
Gegenrevolution ... ein Saboteur -- ein scheußlicher, schmutziger Spion
und Verräter ...

Hochauf schäumte die Wut. Das war ein Bubenstreich, so abgefeimt,
so bodenlos gemein, daß er nur mit einer unmißverständlichen
Gegendemonstration des ganzen Werftpersonals beantwortet werden konnte.

Von Werkstatt zu Werkstatt, von Halle zu Halle, von Dock zu Dock, von
Helling zu Helling schwirrten die wahnwitzigsten Gerüchte, Vermutungen,
Fragen, Kombinationen.

Wie war es denn möglich, daß der Bubenstreich hatte entdeckt werden
können? Vielleicht war überhaupt alles bloß ein Schwindelmanöver, um
das Bürgertum gegen die Arbeiter aufzuputschen -- Stimmung für den
Umsturz von oben zu machen? Die Republik zu unterwühlen?!

Aber nein -- es war ja geschossen worden auf der Werft -- und da
standen sie ja am Fuß des Helgengerüstes, mit fünf Schritt Abstand,
Gewehr am Riemen, Handgranaten am Gürtel -- die Würgengel des
Proletariats, die Schutzengel des Kapitalismus, die Noskebrüder. In
voller Ausrüstung, als wäre Krieg ... Die ganze Helling, auf der
die »Deutschland« ihres Stapellaufes harrte, war abgesperrt ... Mit
stummem, verächtlichem Lächeln ließen die Beamten die Flüche, die
gräßlichen Schimpfworte der Wütenden über sich ergehen.

Auch droben in den weiten Gängen, Hallen, Treppenhäusern des
Direktions- und Verwaltungsgebäudes fieberte die Erregung, schwirrten
die Gerüchte von Kontor zu Kontor. Die Stimmung war gespalten. Ein
Teil der kaufmännischen und technischen Beamten stand zur Republik,
ein anderer, vor allem die meisten der ehemaligen Kriegsoffiziere,
ersehnte die Gegenrevolution, die Diktatur des starken Mannes, die
Wiederherstellung der alten Ordnung, im letzten Hintergrunde den Sturz
der Republik, die Wiederaufrichtung der Monarchie ... Niemand dachte an
Arbeit -- die ganze Hammonia-Werft stand in tollster Gärung.

Und inmitten dieses wilden Treibens wuchtete stumm, riesenhaft,
herrlich die »Deutschland« -- ein Werk von Menschenhand, doch nicht
leblos, seelenlos -- ein Stück Weltgeist, zu einer Wirklichkeit des
Erdenlebens materialisiert ... Eine Abkürzung, ein Symbol des großen,
immer noch herrlichen, immer noch heiligen Landes, dessen Namen sie in
goldenen Buchstaben zu beiden Seiten des Vorderstevens und über der
massigen Schwellung des Hecks trug.

       *       *       *       *       *

Und wiederum fühlte sich Ilse wie eingehüllt in eine dichte, lastende
Wolke, die nicht weichen mochte. Aber diesmal war es kein ängstliches,
quälendes Gefühl -- eine tiefe, süße Geborgenheit, der das Herz nur
ungern sich entraffte, um wieder hinauszustreben in den heischenden Tag
... Denn diesmal war sie ja wirklich daheim -- in ihrem behüteten Bette
... und alles, alles war gut ... sie war gerettet -- Heinz war gerettet
... alles -- war gut. Und Ilse konnte sich noch nicht entschließen, die
Augen zu öffnen ...

Aber plötzlich meldete sich die Gewohnheit strenger Lebensführung --
das Pflichtbewußtsein. Heute: Stapellauf der »Deutschland« -- großer
Tag für die Werft ... Senator Carstensens fleißige Sekretärin wird
wieder einmal die erste sein auf dem Bureau ...

Mit einem Ruck richtete sie sich auf -- und schau -- an ihrem Bette saß
in all ihrer lächelnden Güte Mutter Johanna. Nun legte sie die Hand auf
die Schultern der Schwiegertochter, drückte sie sanft in ihre Kissen
zurück.

»Aber ich muß doch zur Werft, Mama --«

»Still, Kind, still -- dein Vater will, daß du dich ausschläfst ... und
ich habe ihm feierlich versprechen müssen, dich unter keinen Umständen
vor dem Mittagessen aus dem Bett zu lassen. Wir fahren dann um zwei Uhr
alle zusammen zum Stapellauf -- mein Mann, ich, du, die Herren von der
Linie, die Amerikaner ...«

Ilse ergab sich. Es war so seltsam süß, nach langer Zeit einmal wieder
betreut zu werden von Mutterhänden ...

Frau Johanna hatte tausend Fragen auf der Seele. Aber sie zwang sie
nieder.

»Nur Ruhe, Ilsekind, nur Ruhe -- fürs Erzählen bleibt noch Zeit genug
...«

Das Frühstück mußte im Bett verzehrt werden -- und dann zog Johanna
sich in eine Ecke zurück und Ilse blieb ihren Träumen überlassen.

Heinz kommt wieder, sang ihr Herz: Heute kommt er wieder für immer, für
alle Zeit. Bald bin ich sein ... Ein neues Leben fängt an -- meines und
seines -- unser Leben ...

Nein, sie war nicht geschaffen, ihre Tage auf dem Bureau, an der
Schreibmaschine zuzubringen ... Sie hatte ihre Pflicht getan -- als
Tochter ihres alten Hauses, ihres alternden Vaters -- mit Stolz und
Freude -- aber im tiefsten Innern hatte sie sich immer gesehnt, eines
gepflegten Hauses beglückte, beglückende Herrin zu sein -- wie vor
ihr die lange, lange Reihe der Frauen, deren Bilder alle Wände ihres
Elternhauses schmückten -- wie die Carstensens sie sich im Laufe der
Jahrhunderte aus den ersten Familien ihrer Vaterstadt geholt hatten,
ihnen hauszuhalten und Kinder zu schenken ...

Freilich, sie wird keine Carstensen bleiben -- sie wird eine Freimann
... Im Hause ihres künftigen Gatten hängen keine Ahnenbilder aus vier
Jahrhunderten. Was tut's? Der Mann, dem sie folgen wird, ist ein
zwiefach Bewährter -- ein Kriegsheld -- und hat nun auch im Leben des
Alltags durch tausend Anfechtungen seinen Weg gefunden ... Wird in der
vordersten Linie stehen, nun es gilt, das tief gesunkene Vaterland
wieder emporzuheben. Vertrau' mir, Heinz -- vertrau' deiner Ilse ...
Sie will dir die Kameradin sein, die du brauchst ... Nie mehr wird
sie hochmütig, verschlossen auf die dunklen Massen herabschauen, die
drunten hastend sich mühen, damit die Carstensens reich und geehrt
regieren droben im Kontor -- und in prächtigen Villen wohnen ...
Heinz Freimann soll nicht umsonst da drunten Niete gesetzt und in des
Kranführers Hause gewohnt haben ... Zwar dieser entsetzliche Tedje
ist ein Tier -- aber wer hat denn Ilse Carstensen gerettet aus seinen
Händen? -- Diese Antje -- die seine Schwester ist ... und die Heinz
Freimann seine Freundin nennt ...

Freundin? Ilse lächelte still in sich hinein. Sie wußte: Was Heinz für
dieses Mädchen empfand, war mehr als Freundschaft ... Und das Mädchen
liebte ihn ... Noch vor wenigen Tagen hatte dies Wissen ihr manche
bittere, qualvolle Stunde gebracht. Nun waren die längst verflogen.
Denn dies Gefühl, das zwischen Antje und Heinz war -- was wäre aus
ihr selber geworden ohne diese zarte, verschwiegene Neigung? Sie wäre
verloren ... Was so viel Segen gebracht, konnte es böse, gefährlich,
konnte es unrecht sein?! Nein, ihr beiden tapferen, hilfreichen
Menschen -- ihr sollt Freunde sein, Freunde fürs Leben. Ich vertrau'
euch.

Und um dieser Rettungstat willen, Antje Tietgens, soll auch deinem
Bruder vergeben sein ... Vielleicht ist er noch zu retten ...
vielleicht, wenn in sein wildes Leben ein wenig Fürsorge, ein wenig
Leitung kommt -- vielleicht lernt auch er noch einmal erkennen, daß
Heinz Freimann recht hat: daß wir alle zusammengehören, wir armen,
gepeinigten Deutschen ... ohne Gleichheitswahn, ohne Freiheitsphantom
-- eingereiht zu sorgsam gestufter Gemeinarbeit ...

Oh, wie alles licht wurde, wenn man solche tröstliche zukunftweisende
Gedanken dachte ... solche Heinz-Gedanken ...

                   *       *       *       *       *

Auch jenseits des frühlingssturmüberkräuselten Spiegels der
Außenalster, in einem Hotelzimmer des Atlantic, wob der Morgentraum
um eine Mädchenstirn. Bessie Patterson dehnte sich im Glück ihres
Rettertums. Oh, wieviel würde sie drüben zu erzählen haben ...
Sie würde interviewt werden ... Die Zeitungen würden riesenhafte
Beschreibungen bringen: Junge amerikanische Lady rettet deutschen
Großreeders Tochter -- Bündnis der amerikanischen und deutschen
Transozeanlinien durch Heldentat junger Neuyorkerin gekittet ... Wer
weiß -- vielleicht machten sie drüben aus ihren Hamburger Erlebnissen
gar noch einen Film, der die Welt erobern würde ... Und alle ihre
Freunde müßten darin vorkommen -- vor allem er, der ihr so stark, so
tapfer, so tollkühn erschien wie eine Coopersche Romanfigur -- der
dicke Bobbie ... Ach Himmel -- wie mochte es dem wohl ergangen sein
heut nacht?! Nun gewiß, er war zur rechten Zeit gekommen -- wäre die
»Deutschland« in die Luft gegangen, das hätte man doch wohl in der
ganzen Stadt gehört ...

Ach nein -- was Bobbie anfaßt, das glückt ...

Bobbie ... du armer, dummer Hunne -- du dicker, grauer Esel zwischen
den zwei Heubündeln ...

Es klopfte. »Ich bin's, Bessie -- darf ich?«

»Aber gewiß, +daddy+!«

Vater Elias trat ein, ganz verstört ... »Steh auf, Kind ... Es stimmt
etwas nicht in der Stadt ... Und überhaupt in diesem entsetzlichen,
versinkenden Lande ... Aus Berlin sollen Nachrichten gekommen sein:
Eine Gegenrevolution ist im Gange ... Deutschland steht vor dem
Bürgerkrieg ... Wer weiß, ob der Stapellauf heut nachmittag überhaupt
stattfinden kann ... Vor allem aber erzähl' mir, warum du heut nacht so
ganz heimlich vom Fest verschwunden bist ... Mister Freimann sagte, du
hättest Migräne und seist schlafen gegangen ... Migräne? Ist ja ganz
etwas Neues bei dir ... Ich wollte dich heut nacht nicht stören ...«

»Ach, +daddy+ --« lachte Bessie -- »was ich dir alles zu erzählen
habe --? Du wirst staunen --!«

                   *       *       *       *       *

Antje Tietgens saß längst in ihrem Bureau. Das Telephon stand nicht
still. Kaum war sie eingetroffen, da läutete ihr Chef von seinem Haus
aus an: Er habe Nachricht aus Berlin, daß dort ein Rechtsputsch im
Gange sei. Das Bureau solle versuchen, Verbindung mit der Berliner
Vertretung der Linie zu bekommen. Das Postamt gab zur Antwort: Jede
Verbindung mit Berlin sei unterbrochen. Aber beim Nachtdienst waren
noch Stöße von Telegrammen aus der Reichshauptstadt eingelaufen. Sie
meldeten: Die Truppen der Gegenrevolution marschieren mit wehenden
Fahnen in die Stadt. Die Regierung ist nach Süddeutschland geflohen.
Die Linksparteien werden den Generalstreik proklamieren.

Bald rief die Hammonia-Werft an, die eine eigene Verbindung mit der
Linie unterhielt. Antje erkannte die Stimme des Generaldirektors
Timmermanns.

»Wer ist am Apparat?«

»Tietgens ...«

»Ach, Sie, liebes Fräulein -- nun, so kann ich Ihnen gleich im Namen
der Werft unsern vorläufigen Dank abstatten ... Die Sabotage der
›Deutschland‹ ist vereitelt. Leider nicht ganz ohne Blutvergießen: ein
Werftwächter ist erstochen, ein Werftarbeiter erschossen worden ...«

»-- Ein Werftarbeiter?! -- Wissen Sie zufällig seinen Namen?«

»Doch -- auch das -- ein gewisser Mönkebüll ...«

Clas -- o Gott -- mein armer, armer Clas -- nun hast du sie, deine
»rote Seligkeit« ... Nun schwebt deine unruhvolle Seele in den
Musikantenhimmel, den du so oft heruntergezwungen auf unsere arme
Tränenerde ... Still, mein Herz ... bin ja im Dienst ...

Herr Timmermanns berichtete: Die Stimmung der Arbeiterschaft auf der
Werft sei sehr beunruhigt ... Er hoffe gleichwohl, der Bewegung Herr
werden zu können. Wenn der Herr Präsident komme, sei ihm zu berichten,
daß die Werft entschlossen sei, den Stapellauf stattfinden zu lassen.
Noch Fragen?

»Herr Generaldirektor, darf ich ein gutes Wort für ... für meinen
unglücklichen Bruder einlegen? Ist Ihnen etwas über ihn bekannt
geworden?«

»Noch nicht, liebes Fräulein ... jedenfalls in den Händen der Polizei
ist er nicht, das habe ich bereits festgestellt. Seien Sie überzeugt,
daß er jede erdenkliche Nachsicht erfahren wird -- schon um seines
würdigen Vaters willen, unseres alten treuen Mitarbeiters -- vor allem
aber um Ihretwillen ... Und noch einmal: den Dank der Werft ... auch
im Namen meines Herrn Chefs, der noch nicht eingetroffen ist ... Sie
werden noch von uns hören. Auf Wiedersehen, liebes Fräulein -- seien
Sie getrost, ich werde für ihren Bruder tun, was in meinen Kräften
steht.«

Tief aufatmend legte Antje den Hörer auf die Gabel. Oh, wie gut, wie
gut ... Vielleicht war er noch zu retten -- der arme, wilde, verführte,
der geliebte Junge ...

Georg Freimann trat ein. Mit ausgestreckten Händen ging er auf seine
Mitarbeiterin zu. War's möglich? Er zog ihre Hand an seine Lippen ...

»Fräulein Antje,« sagte er mit einem Ausdruck in Gesicht und Stimme,
den das Mädchen an seinem Chef noch niemals gesehen hatte, »ich finde
keine Worte, um Ihnen zu danken. Was wäre geschehen ohne Sie? Es ist
nicht auszudenken --«

»Meine Pflicht -- Herr Präsident --«

»Ach was, Pflicht -- ein Prachtmädel sind Sie ... Die Linie, die Werft
können Ihnen niemals vergelten, was Sie für uns getan haben ... Und ich
-- ich vollends -- Sie haben mir meinen Sohn, meine Schwiegertochter
und -- mein Lebenswerk gerettet ... Kommen Sie her, Kind -- ich kann
nicht anders ...«

Er nahm das Mädchen in seine Arme -- er küßte ihre Stirn wie einer
lieben Tochter ... Seine herbe Stimme erstickte in einem jähen
Schluchzen.

»Oh, unser Volk ...« stammelte er, ich hab' es oft verflucht und
verlästert in diesen gräßlichen Zeiten ... Um Ihretwillen werd' ich's
wieder lieben, ihm neu vertrauen lernen ... um Ihretwillen, Sie liebes,
liebes, herrliches Mädchen ...«




                                  12


Der alte Carstensen, noch immer tief erschüttert vom Schrecken und
vom Erlösungsglück dieser Nacht, hatte sich in selbstverständlicher
Pflichterfüllung auf sein Kontor begeben. Die Botschaften, die ihn
empfingen, rissen ihn in den Wirbel der Gärung hinein, die sein
Eigentum, die Stätte seiner Lebensarbeit, durchfieberte. Alsbald ließ
er sich seinen getreuen Stellvertreter zum Bericht kommen.

Bob Timmermanns stand vor seinem Brotherrn mit nicht ganz reinem
Gewissen. Zwar erntete er ein warmes Lob und einen herzlichen Dank
für sein tatkräftiges Eingreifen, das die »Deutschland« gerettet
und unübersehbares Unglück von der Werft, der Stadt Hamburg, dem
ganzen Vaterlande abgewandt hatte. Aber er fühlte sich dennoch tief
bedrückt. Seit Morgengrauen hatten hundertfünfundzwanzig junge
Männer in Arbeitertracht, durch Geleitschein von seiner eigenen Hand
ausgewiesen, die Portierloge der Werft passiert. Die packten in diesem
Augenblick, er wußte es nur zu gut, in den weitläufigen Kellerräumen
des Direktionsgebäudes jene geheimnisvollen Kisten aus, die um fünf Uhr
auf einem Lastauto angerollt waren ... War es möglich, daß alle diese
Vorbereitungen unbemerkt geblieben waren -- daß nichts davon bis zu
den erregten Massen der Werftarbeiter durchgesickert war? Die ballten
sich da unten überall, zu Füßen der ragenden Helgengerüste und Docks,
an den Eingängen der Kantinen, der Maschinen- und Schiffsbauhalle, zu
schwärzlichen Klumpen zusammen. Aus denen schrillten abgerissene Fetzen
von Hetzreden, grelle Zwischenrufe, bisweilen ein jähes Aufbrüllen
Hunderter von Männerkehlen herüber. Wußte man dort bereits, daß das
Direktionsgebäude, dem berühmten hölzernen Roß von Ilion vergleichbar,
den gewappneten Feind des Proletariats im Bauche berge --?!

Bob Timmermanns fühlte sich nicht berechtigt, dem Herrn dieses Hauses
und dieses Betriebes das nächtige Geheimnis zu verschweigen.

Der alte Carstensen war entsetzt. »Mein lieber Timmermanns,« sagte er
langsam und nach Worten ringend, »Sie haben heute nacht -- so viel für
mich getan -- daß ich -- daß ich mich schwer entschließen kann, Ihnen
zu sagen -- daß Sie mit dieser Anordnung -- Ihre Kompetenzen denn doch
erheblich überschritten haben ...«

»Ich weiß, Herr Senator, ich weiß --« stotterte der Riese. »Aber bei
der Kürze der Zeit -- --«

Carstensen hob die Hand. Auf seinem zerfurchten Greisengesicht war ein
Zug, den Timmermanns lebenslang kannte. Er kündete den Herrn -- schnitt
jeden Widerspruch ab.

»Wenn Ihr Bruder Gegenrevolution spielen will, so mag er das tun,
wo er es verantworten zu können glaubt -- ich für meine Person muß
Ihnen, lieber Freund, mit aller Bestimmtheit erklären, daß ich mir
auf meinem Grund und Boden jede Betätigung antirepublikanischer
Gesinnung, so ehrlich und edel sie gemeint sein mag, verbitten
muß. Ich habe vor wenigen Minuten telegraphisch aus Berlin die
Schreckensbotschaft bekommen, daß tatsächlich dort in dieser Nacht
eine große gegenrevolutionäre Unternehmung stattgefunden hat --
und zwar, soweit es sich im Augenblick übersehen läßt, mit einem
gewissen ... unleugbaren ... Anfangserfolg. Ich wünsche nicht, daß
meine Werft in diese Bewegung hineingezogen wird, verstehen Sie mich,
lieber Timmermanns? Was geschehen ist, ist geschehen. Ich lehne jede
Verantwortung für Leben und Sicherheit der jungen Leute ab, wenn Sie --
-- nehmen Sie mir's nicht übel, ich bin doch ein bißchen sprachlos!!«

In glühender Beschämung senkte Timmermanns den blonden Schädel. »Herr
Senator, ich werde Sorge tragen, daß niemand sich zeigt ... ich
werde meinem Bruder sagen, daß er sich und seine Leute lediglich als
Schutzmannschaft für die Werft zu betrachten hat -- daß nicht das
mindeste unternommen werden darf ohne einen persönlichen Befehl aus
Ihrem Munde ...«

»Recht so, Timmermanns. Danke Ihnen.«

In diesem Augenblick trat die Sekretärin, die Ilses Dienst übernommen
hatte, ins Zimmer und meldete eine Abordnung der Arbeiterschaft.

»Sollen kommen. Bleiben Sie, Timmermanns.«

Schweren Schrittes stapften die Männer ins helle Gemach. Lauter
gereifte, scharfgeprägte Köpfe -- besonnene, erlesene Vertreter ihrer
Klasse. Werkmeister, Vorarbeiter. Als ihr Sprecher voran der alte
getreue Kranführer Timm Tietgens.

Detlev Carstensen sagte gelassen: »Nehmen Sie Platz, meine Herren.«

Der alte Tietgens begann seinen Spruch. Die Arbeiterschaft sei in
tiefer Erregung. Sie müsse die Werftleitung um Aufklärung ersuchen.
Erstens: es sei heute nacht, wie das Gerücht wissen wolle, ein
Sabotageversuch gegen die »Deutschland« unternommen worden. Dabei solle
einer der Arbeiter erschossen worden sein. Die Arbeiterschaft sei
überzeugt, es sei ausgeschlossen und unmöglich, daß dieses schändliche
Unternehmen in ihren Reihen geplant worden sei. Sollten tatsächlich
Angehörige der Werft bei der Ausführung beteiligt gewesen sein, so
könne es sich nur um einzelne Verführte und Bestochene handeln. Der
angeblich Gefallene -- es werde der Name Clas Mönkebüll genannt -- sei
ihm, dem Sprecher, persönlich bekannt. Er sei seit einem Jahr sein
Kostgänger -- ein etwas phantastischer Junge, leidenschaftlich, aber
grenzenlos gutmütig, leider leicht zu beeinflussen. Ob es Tatsache sei,
daß er gefallen sei?

»Das ist leider Tatsache«, sagte Detlev Carstensen. »Die Werftleitung
hatte von dem geplanten Unternehmen Kunde bekommen -- Herr
Generaldirektor Timmermanns hat die Polizei alarmiert -- es ist ihm
gelungen, die geplante Untat im letzten Augenblick zu vereiteln.
Leider hat man einen meiner braven Werftwächter erstochen aufgefunden.
Dann sind Schüsse gefallen -- man hat den Arbeiter Mönkebüll
sterbend angetroffen, die anderen Täter sind entflohen. Am Fuße der
›Deutschland‹ fanden sich drei Kisten Dynamit, groß genug, um die ganze
Werft zu rasieren. Eine Zündschnur brannte, das ist die Lage.«

Der alte Tietgens richtete sich hoch auf. Die Arbeiterschaft weise
mit Entrüstung und Empörung die Verantwortung und den Verdacht der
Übereinstimmung mit dieser Tat ab.

Carstensen erklärte ruhig und bestimmt, er nehme diese Erklärung mit
Dank und vollem Glauben entgegen. Es habe ihm nichts ferner gelegen,
als die Gesamtheit seiner Mitarbeiter oder auch nur ihre Gesinnung für
eine solche abscheuliche und sinnlose Tat verantwortlich zu machen.

Jetzt müsse aber noch etwas anderes zur Sprache kommen, fuhr der
Sprecher der Arbeiter fort. Es gehe das Gerücht: die Tat sei das Werk
eines Spitzels, eines Provokanten. Es werde der Name eines Arbeiters
genannt, der seit einem Jahr unter dem Namen Anders Niemann auf der
Werft als Nieter tätig sei. Das Gerücht aber wolle wissen, daß dieser
Arbeiter -- in Wirklichkeit gar kein Arbeiter gewesen sei -- daß
sein Name ein angenommener sei -- daß sein Träger in Wirklichkeit
ganz jemand anders sei -- nämlich -- -- der Sohn des Präsidenten
der Hansa-Transatlantik-Linie, der seit einem Jahr verschollene
Kapitänleutnant Heinrich Freimann -- --.

Der alte Carstensen saß wie eine Mumie. Seine Augen nur wurden
unnatürlich groß, in seine wächsernen Züge stieg eine kongestive Röte.
Er hatte das alles ja kommen sehen. Aber nun war es da -- -- und
eine zitternde Wut war in ihm -- gegen den jungen Mann, dem er die
Hand seiner Tochter vertraut hatte -- -- und der legte nun durch sein
phantastisches Tun den Feuerbrand an das Werk, dem Detlev Carstensen
sein Leben gewidmet hatte. Und neben ihm saß der Generaldirektor --
in der gleichen stummen Empörung -- ihm schoß das Blut in die Augen,
in die Stirn ... seine mächtigen Fäuste ballten sich, sie begannen zu
zittern, als müsse er sich zwingen, sich mühsam bändigen ...

»Ich weiß das alles --!« sagte Detlev Carstensen. »Aber -- ich weiß es
erst seit heute nacht.«

»Herr Senator,« begann Robert Timmermanns zwischen zusammengebissenen
Zähnen, »gestatten Sie mir eine Frage an den Sprecher der
Arbeiterschaft? Ich danke ... Herr Tietgens, ist Ihr Sohn auf der
Werft?«

»Ja, Herr Generaldirektor.«

Er wagt es!! dachte Robert Timmermanns. Er wagt es ... Und wider Willen
fühlte er eine dumpfe Bewunderung für des Proletariers freche Größe.

»Haben Sie Ihren Sohn schon gesprochen heut morgen?«

»Das hab' ich, ja. Und er hat mich alles bestätigt, wat ich vorgedragen
hab'. Er is auch der Ansicht, dat der sogenannte Anders Niemann der
Täter is. Der is ja auch heut morgen nich auf de Werft.«

Timmermanns erhielt Erlaubnis, Tedje Tietgens holen zu lassen. Ein
Beamter sollte den Auftrag erhalten -- aber die Arbeiter mischten
sich ein: es sei jetzt nicht rätlich, einen Herrn vom Bureau zu den
Arbeitern hinauszuschicken -- man könne für seine Person nicht bürgen.
Eines der Mitglieder der Abordnung erklärte sich bereit, den jungen
Tietgens herbeizuschaffen.

Carstensen ersuchte mit matter Stimme Herrn Timmermanns, die
Verhandlung weiterzuführen. Regungslos, mit geschwollenen Stirnadern
saß der alte Herr -- folgte dem Fortgang der Besprechung mit abwesendem
Gesicht -- nur die schweren Atemstöße seiner Brust verrieten den Sturm,
der sein Inneres schüttelte.

Der alte Tietgens erzählte ausführlich, wie Anders Niemann zu ihm
gekommen sei, wie er bei ihm gelebt habe, ein Vertrauter seines Hauses,
ein Freund seiner Kinder und des umgekommenen zweiten Kostgängers
geworden sei. Des alten Mannes Augen feuchteten sich in der Erinnerung
... Niemals hätte er für möglich gehalten, was nun Wahrheit zu sein
scheine ...

Die Arbeiterschaft könne sich diesen ungeheuerlichen Vorgang nur
so erklären, daß die Werftleitung von der Anwesenheit des Sohnes
des Leiters der befreundeten Linie Kenntnis gehabt haben müsse ...
Und das um so mehr, als jetzt auch bekannt geworden sei, daß der
Kapitänleutnant Freimann mit der Tochter des Herrn Carstensen verlobt
sei ... Und darüber verlange man in erster Linie Aufklärung.

Jetzt regten sich die Lippen des Greises, der dieses Hauses Herr war,
der Arbeitgeber der Achttausend da unten war, die sich anschickten, ihn
zur Rechenschaft zu ziehen.

»Die Werftleitung hat keine Ahnung gehabt, daß der Nieter Anders
Niemann, wie Sie behaupten, einen falschen Namen getragen hat. Genügt
Ihnen das, meine Herren?«

Die Arbeiter steckten die Köpfe zusammen. Einer der Werkmeister meinte:

»Herr Senator, Ihnen glauben wir alles. Aber -- hat auch der Herr Timm
-- der Herr Generaldirektor nix davon gewußt?!«

»Mein Ehrenwort«, sagte Robert Timmermanns. »Auch ich habe erst heute
nacht erfahren, daß der junge Freimann ein Jahr lang unerkannt auf der
Werft gearbeitet hat.«

»Herr Generaldirektor,« sagte Timm Tietgens, »Sie haben einen Bruder,
der is im Krieg Leutnant gewesen -- dann hat er mit die Bahrenfelder
ins Rathaus gesteckt, letzten Juni, Sie wissen wohl. Und jetzt soll er
ja auch wieder im Land herumspuken. Kann der wohl etwas davon gewußt
haben?«

Timmermanns zuckte die Achseln. »Er ist im Hause -- Sie können ihn
fragen.« Das war ihm herausgerutscht -- schon bereute er.

Die Arbeiter horchten hoch auf -- tuschelten erregt zusammen.

»Dann darf man wohl fragen,« sagte Tietgens bedächtig prüfend, »wat de
Herr Leutnant Timmermanns heut auf die Werft zu suchen hat?!«

»Er hat mich besucht, zum Donner!« rief der Generaldirektor. »Das geht
doch wohl keinem Menschen was an als Herrn Senator Carstensen, nicht
wahr?!« Beschämung und Grimm erstickten des Riesen Stimme.

»Ja -- dat wär' der dritte Punkt«, fuhr Tietgens ruhig und entschieden
fort. »Wir möchten gern wissen, ob dat wohr is, dat heut nacht Waffen
auf die Werft geschafft sünd -- un dat im Keller mehr als hundert
Weißgardisten versteckt sünd?!«

In diesem Augenblick riß der alte Carstensen sich aus seiner
Erstarrung. Sein Mitarbeiter hatte ihm heut nacht sein Eigen, sein
Alles gerettet -- jetzt galt's, für ihn einzutreten. Er richtete sich
auf.

»Die Werftleitung hat es für ihre Pflicht gehalten, Vorkehrungen
zu treffen, um im Notfalle die Anlagen der Werft, das heute nacht
durch bübischen Anschlag gefährdete Schiff und Leib und Leben ihrer
arbeitswilligen Mitarbeiter gegen unbesonnene und frevelhafte Anschläge
verhetzter und landfremder Elemente zu schützen.«

In der Stimme des Greises war Herrenklang. Die Abordnung, die schon
willens gewesen war, sich zu erheben und die Verhandlung abzubrechen,
empfand, verstand diesen Klang.

Da öffnete sich die Tür -- und Tedje Tietgens trat ein.
Hochaufgereckten Hauptes -- polternden Schritts. In seinen verwüsteten
Zügen stand verbissener Wille, knirschender Trotz. Rebell -- Zerstörer
-- Dämon.

»Goden Morrn' alltausomen«, sagte er frech.

Auf einen Wink seines Chefs übernahm Timmermanns die Befragung. Tedje
antwortete knapp, höhnisch, verschlossen.

Ja, es sei wahr -- Anders Niemann sei der Kapitänleutnant Freimann. Die
ganze Arbeiterschaft wisse bereits um den Bubenstreich des fälschlichen
Anders Niemann ... Sie sei überzeugt, daß er ein Werkzeug der Reaktion
sei -- und sie sei entschlossen, diese Schurkerei mit der Verkündigung
des Proteststreiks zu beantworten ... Übrigens sei es inzwischen
bekannt geworden, daß in Berlin ein monarchistischer Putsch gegen die
Republik im Gange sei ... Die Arbeiter seien entschlossen, die Republik
mit allen Mitteln zu verteidigen ... also werde es ohnehin in der
nächsten Stunde zum Generalstreik kommen.

»Genug!« unterbrach da der alte Carstensen und stand auf, mühsam, doch
gebietend. Und alle erhoben sich. »Ich wiederhole noch einmal: die
Werftleitung steht allen diesen Dingen völlig fern und verurteilt sie.
Nun aber noch ein Wort an Sie, meine Mitarbeiter -- wenigstens an die
Verständigen unter Ihnen -- denn Sie, Tedje Tietgens, Sie gebe ich auf,
Sie sind entlassen, mit Ihresgleichen wünsche ich nicht eine Sekunde
länger zusammenzuarbeiten. Aber ihr, ihr alten, getreuen Kameraden, von
denen ich jeden einzelnen seit Jahrzehnten kenne, von euch erwarte ich,
daß ihr nicht die Tat des Wahnsinns, welche die ›Deutschland‹, unser
aller gemeinsames Werk, vernichten wollte -- daß ihr die nicht weit
schlimmer wiederholt. Ihr alle wißt, was dieser Tag für die Werft, für
die H. T. L., für Hamburg, für unser ganzes Vaterland bedeutet. Heut
nachmittag sollte die ›Deutschland‹ vom Stapel laufen -- und ich hoffe
noch immer, sie wird's. Amerika wartet auf dies Ereignis -- als auf ein
Zeichen, daß Deutschland nicht das Werk seiner Feinde vollenden wird
durch innere Zerrüttung -- daß der Bürgerkrieg, der dem Kriege gefolgt
ist, sich ausgetobt hat. Vereitelt ihr diese Hoffnung -- ihr seid alle
viel zu erfahren und vernünftig, als daß ihr nicht wüßtet, was das für
Folgen haben wird -- für unser Vaterland, für die Werft, für euch alle,
für mich! Wir gehören zusammen. Wer uns trennt, vernichtet uns. Nicht
mich allein -- euch alle mit. Guten Morgen, meine Herren, ich danke
Ihnen.«

Er neigte kurz und herrisch das Haupt. Die Arbeiter, tief bewegt,
verbeugten sich mit all der Ehrerbietung, die sich in Jahrzehnten
gemeinsamer Arbeit mit ihrem Brotherrn in ihnen angesammelt hatte. Aber
in die nachdenksame, beherrschte Stille schrillte ein rohes Gelächter.

»Hahaha!« grinste Tedje Tietgens, »kiek, wo se sick duken, wo sei den
Steert intrecken, dei ollen grotmuligen Bullenbieters! Öwerst ji sünd
nich dei Arbeiterschaft -- ji sünd olle lendenlahme Knackstäwels! Wat
wi annern sünd, wi Jungen, wi Radikolen -- wi lat't uns nich besabbeln!
Wi willt unse Republik verteidigen gegen den gefräßigen Götzen Mammon!«

Da winkte der alte Tietgens seinem Sohne Schweigen und trat noch einmal
vor:

»Herr Senator -- meine Kollegen un ich, wir werden dat all beraten, wat
Sie uns gesagt haben. Ich für meine Person, ich glaub' Sie ja dat alles
... Aber dat mit die hundertzwanzig Mann vom Leutnant Timmermanns -- un
mit die Waffenkisten -- dat gefällt uns nich -- un dat eine kann ich
Sie sagen im Namen von die ganze Arbeiterschaft: Reakschon is nich! --
Gegenrevolution is nich! ... An unse Republik laten wi nich rühren --
wer dat verseuken will, dei is unser Feind -- un gegen den'n stohn wi
all tausomen bit op den'n letzten Blaudsdruppen!!«

                   *       *       *       *       *

Die Arbeiter hatten sich entfernt. Carstensen und sein erster
Mitarbeiter blieben allein. Der Greis schwieg. Er fühlte das
Gebäude seines Lebens wanken. Der Sturm aus dem Osten hatte seine
Fundamente unterwühlt. Bis zu dieser Stunde hatte der alte Mann alle
Erschütterungen der Zeit mit einem Achselzucken abgetan. Kriegsfolgen
-- Ermattungs- und Lähmungserscheinungen ... Das gleicht sich aus ...
In einem, in zwei Jahren läuft die Karre wieder wie zuvor ... Die
unruhigen Elemente werden allmählich abgestoßen, man wird wieder Herr
im Hause sein ... Er hatte es bis zur Stunde vermieden, persönlich mit
den Arbeitern zu verhandeln. Dafür war sein Stellvertreter da. Jetzt
hatte er ihnen ins Auge gesehen ... Darin stand etwas Neues, etwas, dem
die Zukunft gehörte. Die Masse war aus ihrer Unpersönlichkeit erwacht.
Man würde sie niederhalten müssen -- aber überhören durfte man sie
nicht mehr.

Gut -- aber er würde dabei nicht mehr mittun. Mochte die Jugend sehen,
wie sie mit der erwachten Masse fertig wurde.

Robert Timmermanns sah, wie die aufgerührten Gedanken hinter der
von harten Adersträhnen gesäumten Stirn seines Chefs arbeiteten. Er
wartete, bis der Senator das Wort an ihn richten würde. Da schrillte
das Telephon. Präsident Freimann erkundigte sich nach der Lage.

»Wollen Sie selber antworten, Herr Senator?«

»Geben Sie her. Glauben Sie, Timmermanns, daß wir es verantworten
können, an dem Stapellauf festzuhalten?«

»Mit Bestimmtheit, Herr Senator.«

»Guten Morgen, Freimann, guten Morgen ... Ja, ja, allerdings, es ist
eine gewisse Unruhe unter der Arbeiterschaft ... Aber zu irgendwelcher
Besorgnis ist einstweilen keine Veranlassung ... Doch, doch, Sie
können die Amerikaner durchaus beruhigen ... Ja, der hat tatsächlich
die Frechheit gehabt, auf der Werft zu erscheinen, als wenn gar nichts
vorgefallen wäre ... Er scheint der schlimmste Hetzer zu sein ...
So, Sie haben seiner Schwester versprochen, ein gutes Wort für ihn
einzulegen ... Nun, er macht's uns freilich schwer genug -- wollen
sehen, was sich tun läßt ... Ich ließe den Schuft am liebsten sofort
verhaften ... Nein, nein, es bleibt alles bei unsrer Verabredung ...
Um drei Uhr erwarte ich die Anfahrt der Herrschaften ... Um drei
ein Viertel geht die ›Deutschland‹ zu Wasser ... Wie meinen Sie? Es
würde die Amerikaner beruhigen, wenn einer meiner Herren sie abholen
würde? Doch, doch, das läßt sich machen ... Ich halte die Lage auf
der Werft sogar für so vollkommen gesichert, daß ich Ihnen meinen
Generaldirektor schicken kann ... Das dürfte den Herren genügen, wie?
Sie nehmen Ilse mit, nicht wahr? -- Ob Heinz hier draußen ist? Nein
-- bis jetzt nicht ... So? Fräulein Tietgens behauptet, er müsse bei
uns sein? Nun, dann wird er wohl noch kommen ... Ich soll ihn nicht
allzu unsanft empfangen? Na, lieber Freund, er hat mir mit seiner
phantastischen Unternehmung eine schöne Bescherung angerichtet ... Ich
soll ihm wenigstens verzeihen, wenn alles gut geht? Wenn alles gut
geht, lieber Freimann -- so weit sind wir leider noch nicht. Grüßen Sie
Ihre Sekretärin ... und bringen Sie das Prachtmädel mit zum Stapellauf
-- sie gehört mit dazu, sie vor allen ... Ich danke ihr dann noch
persönlich. Also auf Wiedersehen um drei, lieber Freund -- Ob mir gut
ist? Doch, doch, selbstverständlich -- meine Stimme -- matt? Keine Idee
... Schluß!«

Mit mächtiger Willensanspannung rang der Greis die tiefe Müdigkeit
nieder ... Heute noch einmal galt es, vor Mitarbeitern und Außenwelt
den Herrn der Werft darzustellen. Einmal noch ...

»Sie haben gehört, Timmermanns ... Die Linie legt Wert darauf, daß Sie
die Amerikaner abholen ... Ich hoffe, die Werft kann Sie entbehren. Im
schlimmsten Falle habe ich ja Ihren Bruder. Ich bin jetzt ganz froh,
daß er da ist. Können ihn mir schicken.«

Schon hatte der Generaldirektor die Türklinke in der Hand, da klopfte
es. Robert Timmermanns öffnete -- Heinz Freimann trat ein in seiner
abgewetzten Matrosenbluse ... Aber in Gesicht und Mienen ganz der
verantwortungsfreudige, tatbewußte Offizier.

»Guten Morgen, Papa. Ich melde mich ganz gehorsamst zur Stelle.«

Detlev Carstensen saß unbewegt. »Ich weiß noch nicht, ob für dich ein
Platz in diesem Zimmer ist, Anders Niemann!« sagte er beherrscht.
»Verantworte dich.«

Timmermanns wollte sich verabschieden. Sein Chef befahl ihm mit
Handwink zu bleiben.

In knappen Sätzen sprach Heinz aus, was ihn bewogen habe, in die Tiefe
hinabzusteigen. Er gab zu, sein Handeln habe sich gegen ihn gekehrt
-- ihn selber und alles, was er liebe, in Gefahr gebracht. Aber der
Schwiegervater wolle nicht vergessen, daß er auch Opfer gebracht --
ein schweres Opfer. Er sei treulos geworden an den Kameraden -- deren
Vertrauen ihn zum Mitwisser ihrer verbrecherischen Pläne gemacht habe.
Sein Leben sei in höchster Gefahr, seine Ehre nicht ganz fleckenrein.
Auch einem Verbrecher die Treue brechen sei Verrat. Er sei bereit, sein
Leben als Sühneopfer darzubieten. Er stelle sich zur Verfügung für den
Fall, wo es gelten möchte, vor der Arbeiterschaft Zeugnis abzulegen,
daß die Werftleitung von seiner Anwesenheit auf der Werft keine Ahnung
gehabt -- daß er kein Spion, kein Spitzel der Direktion, kein +agent
provocateur+ der Gegenrevolution sei, sondern ein Deutscher,
voll heißer Liebe zu seinen Volksgenossen, voll heißer Sehnsucht,
beizutragen zu großen Werke der Versöhnung der Klassen.

Detlev Carstensens strenge Züge waren immer milder geworden beim
knappen, freimütigen Bericht des Verlobten seiner Tochter.

»Du Träumer,« sagte er mit leisem Kopfschütteln, »du Phantast ... Es
ist gut, mein Junge ... Ich glaube dir jedes Wort ... Ich glaube sogar
fast, ich fange an, dich zu verstehen ... Herr Timmermanns wird dich im
Hause verbergen ... Du bleibst zur Verfügung, bis wir dich brauchen ...
Wenn die ›Deutschland‹ zu Wasser gegangen ist, werde ich wissen, ob du
noch wert bist, die Hand meines einzigen Kindes in die deine zu nehmen.«

Er winkte gnädig Entlassung.

                   *       *       *       *       *

Die Mittagspause kam. Von Arbeit war nicht viel die Rede gewesen
auf der Werft. Überall hatten Versammlungen unter freiem Himmel
stattgefunden -- mit dem sausenden Märzsturm kämpfend hatten die
Redner sich heiser geschrien. Ein heißer Kampf: die ruhigen,
verständigen Elemente waren schroff gegen den Generalstreik. Die
Sabotageangelegenheit sei nicht geklärt -- die Werftleitung habe
sorgfältige Untersuchung unter Mitwirkung der Arbeitervertreter
versprochen -- man müsse das Ergebnis abwarten. Es sei Wahnsinn, den
Stapellauf zu hintertreiben -- er müsse heut nachmittag um drei Uhr
planmäßig und ohne Störung stattfinden, sonst sei die Verbindung mit
Amerika gefährdet. Die Folgen seien jedem Vernünftigen klar: Aufhören
der Bestellungen auf Dampferneubauten, Erliegen der Werft, Schluß mit
jeder Arbeitsmöglichkeit --

Die Hetzer griffen's auf: das sei ja im höchsten Grade wünschenswert
--!! Die Verbindung der Kapitalisten von hüben und drüben bedeute eine
neue Versklavung des arbeitenden Volkes -- der Bolschewismus müsse
triumphieren, die Reaktion niedergeschmettert werden -- die Woge der
Weltrevolution werde alle Dämme niederreißen, die das Proletariat des
Erdballs in Nationen zersplittere -- dann werde die neue Menschheit
erstehen, die Brot und Seligkeit für alle bringe ...

Eine Einigung war nirgends zustandegekommen. Als die Sirenen im
ganzen Hafengebiet die Mittagstunde ausriefen, trieb der Hunger alles
in die Kantinen. Die Arbeit hatte stillgestanden -- die Küche war
glücklicherweise treulich am Werke geblieben.

Aber auch die Hetzer blieben am Werke. Der Terror vergewaltigte die
Vernunft. Als die Essensstunde vorüber war, hatten die Fanatiker, die
Wahnwitzigen die Oberhand gewonnen.

Und plötzlich waren auch Waffen da. Woher sie kamen, wer vermochte es
zu sagen? Sie waren da. Die Halbwüchsigen schleppten ganze Arme voll
rostiger Gewehre heran, drängten sie den Unwilligen auf, stopften
jedem ein halbes Dutzend Ladestreifen mit grünspanüberzogenen Patronen
in die Taschen. Auf erhöhten Punkten postierten ehemalige Somme- und
Flandernkämpfer Maschinengewehre.

Armin Timmermanns verstand sein Handwerk: sein Meldedienst
funktionierte. Kein Zweifel, es galt ... Ein Koppel mit Patronentaschen
und kurzem Seitengewehr umgeschnallt, einen Stahlhelm auf dem Kopf,
einen Karabiner umgehängt, trat er in dienstlicher Haltung vor den
alten Carstensen:

»Herr Senator, ich melde ganz gehorsamst: die Roten rüsten zum Sturm
auf das Verwaltungsgebäude.«

Detlev Carstensen thronte in seinem Arbeitsstuhl wie ein Cäsar, der
die Kunde empfängt, seine Hauptstadt sei im Aufruhr. Kaum, daß seine
schneeweißen Brauen sich etwas zusammenzogen.

»Ihr Bruder schon zurück?«

»Nein, Herr Senator.«

»Gut -- ich lege den Schutz der Werft in Ihre Hand. Sie werden
Übereilungen zu verhüten wissen.«

»Jawohl, Herr Senator. Gehorsamsten Dank.«

Draußen harrten seine Adjutanten. Knapp und klar erklangen seine
Befehle. Alles beste Schule. Treppauf, treppab spritzten die jungen
Herren auseinander. Gemessenen Schrittes folgte der nervige Diktator
der Hammonia-Werft. Er wußte: es würde klappen. Mochten sie kommen --
sie sollten sich blutige Köpfe holen.

Jetzt dröhnte die weite Halle des Lichtschachtes, der das ganze Gebäude
durchstieß, vom Ansturm der Jungmannen, die nun behelmt und bewaffnet
dem Keller entquollen und die Treppen hinanstürmten, um die ganze Front
nach der Werft hin zu besetzen. In den Korridoren öffneten sich die
Türen -- erschrockene Köpfe tauchten auf -- Direktoren, Ingenieure,
Prokuristen, Sekretärinnen ... Ah -- also doch! Man war verteidigt ...

Sie mochten kommen.




                                  13


Vor dem Hotel Atlantic, an der stattlichen Häuserreihe entlang,
welche das weitgedehnte Becken der Alster im Osten einsäumt, hielt
die stattliche Reihe der Kraftwagen, welche die Vorstände der United
Transatlantic Lines zum Stapellauf ihres Dampfers »Deutschland« führen
sollten. Im Vestibül waren die Festgäste versammelt: die Direktion
der Hansa-Transatlantik-Linie mit ihren Damen, die Abgesandten des
Patterson-Konzerns. Nur Elias Patterson selber und seine Tochter
fehlten noch.

Georg Freimann bewegte sich inmitten seiner Freunde mit seiner ganzen
weltmännischen Geschmeidigkeit und Sicherheit. Niemand sah ihm an,
welche Sorgen seine Seele bedrängten. Noch fehlte der Generaldirektor
Timmermanns, der ihm Kunde bringen sollte, wie es auf der Werft stehe
... noch fehlte jede Kunde von Heinz ...

Endlich -- da tauchte über dem Gewimmel der glattrasierten
Yankeegesichter der Blondbart des Hünen auf ... Sein holzgeschnitztes
Gesicht strahlte Hoffnung und Zuversicht ... Aber das konnte Maske sein
... und wirklich, was er mit raschen Flüsterworten von der Stimmung der
Arbeiterschaft auf der Werft erzählte, klang nicht übermäßig beruhigend
...

»Was meinen Sie -- können wir's wagen?«

»Ich übernehme die volle Verantwortung ...«

»Also gut ... und mein Sohn?«

»-- ist auf der Werft in Sicherheit. Er benimmt sich glänzend. Sie
können stolz auf ihn sein. Da wächst uns allen eine Stütze heran.«

»Timmermanns ... Sie wissen nicht, was das für mich bedeutet ... Ich
danke Ihnen. -- Also los ... Vielleicht holen Sie Herrn Patterson
persönlich ab ... dritter Stock, Zimmer 285.«

»Noch eins, Herr Präsident ... wenn die Amerikaner im Wagen sitzen,
möchte ich verschwinden und vorauf zur Werft zurückfahren, um mich zu
überzeugen, daß wir es wagen können, unsere Gäste anfahren zu lassen.
Wenn nein, dann lasse ich die ganze Kavalkade bei der Ausfahrt aus dem
Elbtunnel zurückhalten. Ich nehme das vorderste Auto, sause gleich los
und fahre auf dem nächsten Wege über den Rathausmarkt zum Hafen. Sie,
Herr Präsident, nehmen vielleicht den zweiten Wagen und fahren die
Yankees zunächst mal über Lombardsbrücke, Ringstraße und Holstenwall
am Bismarck vorbei -- kann ihnen sowieso nichts schaden, wenn sie den
Schutzpatron unsres Vaterlandes mal zu sehen kriegen ...«

»Abgemacht --« sagte Georg Freimann und trat wieder unter seine Gäste.
Gestrafften Nackens, leuchtenden Angesichts. Er fühlte sich verjüngt,
erneuert. Er war nicht länger erbelos, nicht mehr allein. Er hatte
einen Verbündeten. Sein eigen Fleisch und Blut.

Der Generaldirektor Timmermanns fuhr im Lift zum dritten Stock empor,
den Chef des befreundeten Konzerns persönlich zur Fahrt auf die
Werft einzuladen. Aber seine kraftvolle Rechte zauderte doch einen
Augenblick, ehe er am Salon anklopfte, den der Hotelpage ihm als
Wohnung des Herrn Patterson bezeichnet hatte.

»+Enter, please!+« Eine helle Mädchenstimme hatte es gerufen.
Himmel -- wenn er sie allein träfe ... und wär's auch nur für einen
Augenblick ...

Und -- da stand sie ... Wie der leibhaftige Frühling ...

»Ah, Mister Timmermanns ... Das ist schön -- Sie wollen kommen zu holen
uns ... Nun -- was tun Sie sagen zu Ihre kleine Gesangschülerin? Tat
nicht ich machen sehr gut mein Sache -- diese Nacht?«

»Fräulein Bessie -- Sie sind das prachtvollste kleine Frauenzimmer, das
mir je in meinem Leben vorgekommen ist ...«

»Oh -- das freut mich -- das freut mich -- +quite enormously+ ...«

»Wahrhaftig -- Fräulein Bessie?«

»Aber Sie, Mister Bobbie -- Sie sein ein ganz, ganz dummer dicker Hunne
...«

»Wie -- meinen Sie das -- Fräulein Bessie?«

»Ja, wenn Sie das verstehen noch immer nicht -- dann sind Sie noch
viel, viel dümmer, als ich dachte jemals ...«

»-- -- Bessie -- --!!«

Und schon flog das feine Figürchen in seine Arme. Er hob sie wie ein
Püppchen an seine breite Brust.

Da öffnete sich die Tür, die zu den Schlafgemächern führte -- Elias
Patterson stand mit einem Gesicht, das ihn in der Generalversammlung um
seine ganze Autorität gebracht haben würde.

Bessie machte sich los, stürzte auf den Vater zu, ergriff seine Hand
und zerrte ihn auf den Deutschen zu.

»Deinen Segen, +daddy+, schnell -- schnell -- die Herren warten
drunten schon seit einer Viertelstunde auf uns ...«

       *       *       *       *       *

Die Autokolonne ruckte an. Gleich hinter dem Wagen, in dem die beiden
Chefs der United Transatlantic Lines saßen, kamen die vier Damen:

Mutter Johanna Freimann, überselig, seit Georg ihr hastig zugeflüstert:
»Heinz auf der Werft in Sicherheit -- Timmermanns ist begeistert von
ihm ...«

Neben ihr Klein-Bessie, kaum fähig, ihren Jubel zu bemeistern ... Wenn
man doch erst losfahren möchte! Dann wird sie erzählen ... Warum auch
verschweigen, was so gut wie besiegelt und unterschrieben war? Er
sträubte sich ja noch ein bißchen, der gute +daddy+ -- aber wann
hatte ihm das je etwas genützt?!

Auf dem Rücksitz Ilse Carstensen -- glühend im Glück über so tröstliche
Nachricht -- und doch auch fiebernd vor Unruhe ... Wie mochte es stehen
auf der Werft?!

Alle drei Frauen Vertreterinnen der Oberschicht des Bürgertums zweier
Welten -- verwöhnter, als sie selber ahnen mochten, durch die Macht des
Besitzes ... Die schützte sie vor tausend Stößen des Lebens, denen von
hundert Staubgeborenen neunundneunzig langsam erliegen ...

Und als vierte die eine, sorgfältig, doch im Vergleich unendlich
bescheiden gekleidet -- Antje Tietgens ... die Sekretärin -- heute
von allen mit Ehre überhäuft ... noch ganz benommen von ihrem Glück,
und doch auch sie beklommen von geheimem Bangen vor dem Schicksal der
nächsten Stunde, im Herzen die qualvoll süße Erinnerung an den höchsten
Augenblick ihres Lebens ...

Die Wagenkolonne fauchte über die Lombardsbrücke. Vor den Augen der
Amerikaner tat sich ein Standbild auf, das auch bei den Bürgern der
Metropole der neuen Welt seinen Eindruck nicht verfehlen konnte -- in
seiner bodenständigen Eigenart, seiner alteingewurzelten Vornehmheit.
Zur Linken das enge Becken der Binnenalster, der Jungfernstieg mit
seinem flutenden Verkehr, die drei Türme -- zur Rechten der breit
ausladende See der Außenalster, schon wieder wie in Friedenszeiten vom
lustigen Gewimmel der Paddelboote und im Frühlingssturm sich blähender
Segel belebt ... Dann ging's über die Reste der einstigen Umwallung --
zwischen den märzkahlen Bosketts, aus denen die Spiegel der ehemaligen
Festungsgräben blinkten, und der stattlichen Reihe der Amtsgebäude und
der Musikhalle ...

Und jetzt -- jetzt tauchte aus braunen Baumgruppen ein ragendes
Gleichnis empor: von Hugo Lederers Meisterhand geschaffen, das Bild des
Mannes, der einstmals die Fürsten und Völker Deutschlands zum »ewigen«
Bunde zusammengezwungen ...

Der steinerne Gigant schaute schweigend, wachsam gen Westen -- dorthin,
wo das Meer war, dem Deutschen ewig ersehnt, ihm ewig wieder versperrt
vom Neide der Welt ... Seine gepanzerten Arme hielt er um den Knauf
des Schwertes verschränkt, das er seinem Volke geschmiedet, das sein
Volk sich hatte entreißen und zerbrechen lassen nach vier Jahren eines
Abwehrkampfes, wie nie ein Volk ihn bestanden ...

Die beiden deutschen Mädchen sahen einander in die Augen, die
Patrizierin, die Sozialistin ... und fühlten zum zweiten Male, daß sie
Schwestern waren, Schwestern durch Blut und Schicksal. Und eine preßte
der andern Arm in stummem Gelöbnis:

Zusammenhalten -- -- weil wir zusammengehören --!!




                                  14


Sie kamen.

Aus der Deckung der Maschinenhalle, der Schiffsbauhalle, der
hochragenden Docks schoben sich tausendköpfige Massen zusammen, ballten
sich zu einer lebenden Mauer, die dunkel und dräuend immer näher
auf das Verwaltungsgebäude heranrückte. Dahinter ragte der schwarze
Schattenriß der »Deutschland« -- überhöht vom breitgespannten Schirm
des Eisengerüstes, auf dessen Türmchen die Seehandelsflagge des
Deutschen Reiches flatterte.

Armin Timmermanns überflog vom Fenster des Chefkontors mit dem Blick
des kampfbewährten Führers das Bild der Lage. Die Wahnsinnigen! Wollten
sie als dichtgekeilte Masse zum Sturm antreten?!

Näher -- immer näher ...

»Gestatten Herr Senator, daß ich das Feuer eröffne?«

Detlev Carstensen saß im Thronsessel seiner Arbeit wie sein eigenes
Standbild. Auf seiner kantigen Stirn schwollen die Aderstränge. Nun hob
er sich mit schwerfälligem Ruck.

»Das -- Feuer eröffnen?! Herr Leutnant -- wir sind nicht auf dem
Schlachtfeld -- wir sind auf meiner Werft. Eins ist noch nicht
versucht. Wo ist Heinz Freimann?«

»Er wartet im Zimmer meines Bruders.«

»Soll nach unten in die Vorhalle kommen.«

Der Greis schritt zur Tür.

»Darf ich fragen, was Herr Senator beabsichtigen?« fragte Timmermanns
verständnislos.

»Mit meinen Leuten reden. Mein Schwiegersohn wird mich begleiten.
Geschossen wird nicht.«

»Zu Befehl, Herr Senator.«

Gelassenen Schrittes stieg Detlev Carstensen in die weitgedehnte
Vorhalle hinab. Dort drängten sich, zwischen den Glaskästen mit den
gewaltigen Dampfermodellen, ganze Rudel aufgeregter alter Herren in
Kontorröcken und schlotternde, schluchzende Bureaudamen.

In einem Seitengang harrte der Stoßtrupp -- Studenten, junge Kaufleute
--, alles alte Kriegsoffiziere, zwei Dutzend Teufelskerle vom Schlage
ihres Führers -- des Augenblicks, der sie im Notfalle in den Kampf
reißen sollte --. Carstensen begrüßte die bunt zusammengewürfelte
Versammlung mit einem stummen Kopfnicken. Um ihn war eine Würde, eine
Kraft, vor der sich alles neigte. Durch eine schnell sich öffnende
Gasse schritt er zum Hauptportal -- sah unbeweglich hinaus -- der
dunklen Mauer entgegen, die sich immer näher, immer dräuender gegen
sein Lebenswerk heranschob.

Und jetzt traten zwei junge Männer an seine Seite ... Heinz -- Armin ...

»Sie brauche ich noch nicht, Herr Leutnant«, sagte Carstensen. »Halten
Sie sich bereit -- aber nur für den äußersten Fall.«

Mit ruhigem Griff öffnete der Greis die Tür, schob seinen Arm unter den
des Schwiegersohnes und trat mit ihm auf die breitausladende Freitreppe
hinaus --

Die dunkle Mauer erstarrte -- stand. Eine Stille ward. Nur eine Sekunde
-- dann schwoll dumpfes Wutgebrüll auf, tobten wüste Schreie: »Doar is
hei ja -- dei Schuft! dei Spitzel! dei Spion!«

Detlev Carstensen streckte die Rechte aus -- und abermals ward
lastende, lauschende Stille.

»Arbeiter!« rief Detlev Carstensen, und seine Stimme klang voll und
gebietend wie in den Tagen seiner Lebenshöhe, »dieser Mann ist kein
Spion -- kein Verräter. Um euch nahe zu kommen, hat er mit euch gelebt
und geschafft. Die Werftleitung hat nichts davon gewußt. Was er sonst
noch zu sagen hat, hört von ihm selber.«

Heinz Freimann sprach: »Kameraden! Ich habe nicht viel zu sagen. Ich
bin nicht ehrlos gewesen. Was ich wollte, kann und muß ich vertreten.
Laßt meinen Fall untersuchen und dann macht mit mir, was ihr wollt --
ich wehre mich nicht!«

Und ruhigen Gesichtes löste Heinz Freimann sich von Detlev Carstensen
und stieg langsam die Freitreppe hinunter, der geballten Masse
entgegen, die schweigend, unbeweglich seinen Worten gelauscht hatte.
Viele drohend erhobene Fäuste, viele geschwungene Waffen senkten sich.

Da klang aus der Menge eine wüste, schrille Jungmännerstimme: »Du
Swindler! Klooksnacker du! Olle Volksbedreiger! giv mi mien Fründ
t'rügg -- Clos Mönkebüll giv mi wedder!«

Und aus der Masse drängte ein grimmiger Bursch sich hervor in schmutzig
zerfetztem Arbeiterkittel. Hoch schwang er das Gewehr über dem Kopfe,
sprang mit ein paar wilden Sätzen heran, sich auf Heinz Freimann zu
stürzen.

Im selben Augenblick flog an dem Greise, der droben ragte, und dem
jungen Mann, welcher der Masse seine wehrlose Brust bot, eine andere
Männergestalt vorüber, warf sich dem Anspringenden entgegen: der
Leutnant im Stahlhelm -- und auch er schwang im Anlauf über seinem
Haupte das Gewehr --.

Schon standen die zwei auf eines Schrittes Breite einander gegenüber.
Die Kolben sprangen in die Luft, zielten nach des Feindes Haupt,
sausten nieder --.

Aber Tedje Tietgens' Arm war stärker -- in weitem Bogen flog des
Leutnants Waffe zur Seite, ein zweiter Kolbenschlag donnerte auf seinen
Stahlhelm nieder, daß Armin betäubt zu taumeln begann ... in derselben
Sekunde ließ der Proletarier das Gewehr fallen, zückte sein Messer und
grub es mit tückischem Stoß tief in des Leutnants Hals.

Über dem zusammenbrechenden Leibe des Feindes stand Tedje Tietgens hoch
aufgerichtet -- stieren Blicks -- das blutige Messer in der langsam
sinkenden Hand.

Da -- aus dem ersten Stockwerk des Bureaugebäudes -- ein Knall, ein
Feuerstrahl -- Tedje Tietgens zuckte jäh auf, seine Rechte ließ das
Messer fallen, fuhr nach dem Herzen -- und schon sank der mächtige
Körper in sich zusammen, fiel über den verröchelnden Leib seines Opfers.

Droben Bob Timmermanns, irren Auges, den rauchenden Karabiner in der
Hand -- --.

Das alles in fünf Sekunden ...

Nun endlich brach ein Aufschrei aus Tausenden von Kehlen -- aber ein
Aufschrei nicht der Wut, der Rache -- sondern des Entsetzens -- des
Abscheus vor dem eigenen Tun ...

Kainstat hüben, Kainstat drüben ...

Doch schon einen Atemzug später tausendstimmig ein zweiter Schrei --
Heinz Freimann war vorgesprungen, stand neben den verknäulten Leibern
der Opfer des Wahns -- breitete die Arme gegen seine Kameraden aus:
»Über mich dies Blut -- schlagt mich tot!«

Schon hoben sich aufs neue viel hundert geballte Fäuste, mordgierige
Waffen. Und aus dem Verwaltungsgebäude quoll Armins Stoßtrupp hervor --
des Führers Tod zu rächen. Eine Sekunde noch, und ein Blutbad begann,
unhemmbar, unsühnbar ...

Aber zwischen den gezückten Waffen, den anrückenden Gestalten der
entflammten Rächer zwängten sich mit einem Male zwei Frauengestalten
hindurch. Ilse Carstensen flog mit jagenden Sprüngen über den Platz,
schon stand sie neben dem stumm verzweifelnden Heinz -- trat vor ihn
hin, breitete weit und schützend die Arme aus. Und jetzt stand Antje
Tietgens neben ihr -- auch sie reckte die Arme, den Sohn des Bürgertums
zu decken gegen ihre Klassengenossen ...

Und sieh: der Ansturm von hüben und drüben erlahmte. Bajonette, Kolben
senkten sich -- mit ausgebreiteten Armen standen beide Frauen inmitten
-- Gleichnisse beide von einer höheren Ordnung der Dinge, Künderinnen
einer reineren Zukunft, einer kommenden Menschheit. Zwei Töchter eines
Volkes ...

Da hob Ilse die Rechte -- wie eine Priesterin, wie eine Seherin stand
sie da.

Und aller Blicke folgten der gebietenden Weisung: Hoch überm Schwall
der fiebernden Tausende türmte sich ihrer heute zum Kampf gekrallten
Hände gigantisches Friedenswerk: die »Deutschland« ...

Antje starrte in tränenlosem Jammer auf des Bruders zusammengesunkenen
Leichnam. Nun aber richtete sie sich auf und rief: »Arbeiter,
Kameraden, kennt ihr mich? Der Tote da, das ist mein Bruder -- und
dieser Anders Niemann hier, das ist mein Freund! Keiner hat gewußt,
wer er war, solange er zwischen euch geschafft hat. Ich aber, ich
hab's gewußt! In all der Zeit hab' ich's gewußt! Und ich, ich, die
Proletarierin, ich bezeuge es ihm nun auch: Er ist kein Spitzel, kein
Spion! Er ist unser Bruder, unser Kamerad! ... Gebt Liebe um Liebe!
Laßt uns zusammenhalten -- wir gehören zusammen! Kopf und Faust, Arbeit
und Kapital, Bürger und Proletarier --! Das hat er mich gelehrt, er,
mein Freund, unser Freund -- glaubt mir's, glaubt's ihm ... Der da,
mein armer Bruder, der hat's ihm nicht glauben wollen ... darum ...«
Ihre Stimme wollte brechen -- aber noch einmal raffte sie sich auf:
»Versöhnung! Brüder -- Kameraden -- Versöhnung!!«

Und jetzt trat der alte Carstensen vor bis zu der Stelle, wo der
todbereite Mann stand -- geschützt nur von der Liebe der zwei Frauen,
die ihn verstanden.

Der Senator hob im Vorschreiten das Gewehr von der Erde, das des
Leutnants Händen entfallen war. Und nun ergriff er auch das zweite, das
der Arbeiter hatte sinken lassen, um zum Messer zu greifen. So stand
der alte Mann -- in jeder Hand eine Waffe ... nun hob er beide -- hoch
in die märzlich durchstürmten Lüfte. Über dem schneeweißen Haupt, aus
dem diese ganze Schaffenswelt ringsum entstanden war, schwankten die
zwei braunen Kolben. Nun sausten sie nieder aufs blutgetränkte Pflaster
des Werfthofes, zersplitterten mit einem ächzenden Krachen. So groß
war die Bewegung, so einfach und herrlich ihr Sinn -- sie zwang die
Tausende in ihren Bann.

Und jetzt trat aus der Pforte Bob Timmermanns, den Karabiner in der
Hand, aus dem er den rächenden Schuß getan. Dem Beispiel seines
Meisters folgend hob er als erster die Waffe und schlug sie entzwei.

Da ging durch die harrenden Massen ein tiefes, aufatmenden Begreifen.

Erst waren es drei, vier, sechs Arme, die sich hoben, die Waffe des
Bruderkrieges zu zertrümmern -- schon zersplitterte Kolben um Kolben,
flog Schaft um Schaft zuhauf -- nun stürmten Dutzende heran, dem
Opferfeste, der Versöhnungsfeier sich anzuschließen -- zu Hunderten
jetzt zerkrachten die Gewehre, geweiht dereinst zu des Vaterlandes
Verteidigung, geschändet nun durch den Kampf der Parteien, der
Klassen, der Brüder ...

Und wie Waffe um Waffe zersprang, wie die Trümmer zum Berge sich
türmten inmitten -- da traten sie von hüben und drüben aufeinander zu,
die Roten und die Weißen, und schauten sich ins Auge. Und Hammerhand
und Federhand fanden, fügten sich zusammen über den Leichnamen der
Opfer, besiegelten in stummem Gelöbnis den neuen Bund, den Bund der
Deutschen, schwuren wortlos heiligen Schwur.

Droben aber an einem Fenster des ersten Stockwerks, zwischen
aufatmenden Männern und leise schluchzenden Frauen, stand das Kind
eines fernen, eines glücklichen Landes, eines längst schon einigen
und freien Volkes -- inmitten seiner staunenden Landsleute vom
Patterson-Konzern -- und sah, wie Deutsche zu Deutschen sich fanden --
sah den Starken, den Trotzigen, dem sie sich zu eigen gelobt, drunten
Hand in Hand mit dem alten Manne stehen, dem er den Sohn erschlagen,
dessen Sohn ihm den Bruder getötet ...

Und da quoll aus ihrer jungen Seele ein heiliges Gelöbnis: für dieses
Volk zu zeugen, soweit ihre schwache Mädchenstimme Kraft hatte zu
klingen ... an dieses Mannes, dieses Volkes Zukunft ihr unentweihtes
Herz, ihr freudig pulsendes Leben zu wagen.

Mehr noch -- mehr noch -- immer mehr -- alle -- alle -- --

In dichten Massen drängten sie heran, die eben noch zum Sturm antraten
wider die Herzkammern ihres eigenen Schaffens und Lebens. Zur großen,
freien Sühnetat eilen sie herzu, zerschlagen die Werkzeuge des
Hasses, zerschlagen den Haß, die Verbitterung, den Neid -- schwören
ab dem Bruderzwist, dem Klassenzwist. Geloben sich dem Genius ihres
Volkes, der selbstverleugnenden Arbeit fürs Ganze, der Eintracht, der
Versöhnung, der Wiedergeburt.

                   *       *       *       *       *

Spürst du, wie ein leises Beben den rostfarbenen Gigantenleib der
eisernen Riesin durchrinnt?! Die Hammerschläge dröhnen und treiben die
letzten Keile heraus. Nichts hemmt nun mehr den Drang der Gewaltigen,
der sie zum Strome treibt, in das sturmgepeitschte Wogengetriebe, das
ohne Hasten und ohne Rasten dem nahen, dem freien Meer entgegen sich
wälzt.

Und jetzt -- jetzt ist es getan -- in erhabener Ruhe setzt die lastende
Masse sich in Bewegung. An ihrem Heck flattert die Seeflagge des
Deutschen Reiches ...

Die Bremsketten rasseln, die Gleitbahn ächzt, der Boden wankt unterm
schweren Wandel der Riesin --

Schneller, immer schneller --

Und nun erschallt ein Jauchzen ringsum -- nun heben sich zu jubelndem
Gruß die tausend und aber tausend Hände derer, die sie planten, die sie
bauten -- die aber tausend Hände, noch bebend vom Treugelöbnis, das sie
alle zum neuen Bunde zusammengefügt ...

Jetzt schäumt die Welle des Elbstromes hochauf grüßt schäumend ihre
jüngste Bezwingerin ...

Hoch droben am Heck aber, wo die sturmgepeitschte Fahne des Deutschen
Reiches flattert, sehen die tausend und aber tausend Augenpaare der
Jauchzenden in goldenen Lettern den Namen glänzen, dem sie ihr Herz,
ihre Faust, ihr Leben heut aufs neue geweiht:

                     ~den Namen des Landes unserer
                                Liebe~.




                         ~Walter Bloem Romane~

                            ~Hafis Ausgabe~


                            [Illustration]


                10 Ganzleinenbände in Kassette M. 32.50

                10 Halblederbände in Kassette M. 48.--


                   Jeder Band ist einzeln lieferbar

              in Ganzleinen M. 3.25, in Halbleder M. 4.80




                               ~Inhalt~

  Band 1: Das eiserne Jahr
  Band 2: Volk wider Volk
  Band 3: Die Schmiede d. Zukunft
  Band 4: Das verlorene Vaterland
  Band 5: Der krasse Fuchs
  Band 6: Das jüngste Gericht
  Band 7: Brüderlichkeit
  Band 8: Das lockende Spiel
  Band 9: Sonnenland
  Band 10: Das Land unserer Liebe


Walter Bloem steht seit langem in der ersten Reihe jener Erzähler,
deren Werke dem deutschen Volke ans Herz gewachsen sind. Mit dem
Studentenfrohsinn des »Krassen Fuchses« stürmte er übermütig hervor;
dann klärte der gärende Most sich zum Edelwein in den vaterländischen
Romanen, der Trilogie »Das eiserne Jahr«, »Volk wider Volk« und »Die
Schmiede der Zukunft«, Schilderungen aus der gewaltigen Zeit des
Krieges 1870/71 voll packenden Lebens und begeisterter Gesinnung. Ihre
hellen Flammen wurden vom Sturmhauch des Weltkrieges zu düsterer Glut
angefacht, im »Verlorenen Vaterland« am heißesten lodernd, um dann voll
tiefen Gefühls in »Brüderlichkeit« und dem »Land unserer Liebe« das
Unglück des jüngsten Jahrzehnts zu beleuchten.

Alle diese Romane -- und nicht minder die hier unerwähnten -- können
beste, jedem Leser zuträgliche Geisteskost genannt werden. Geschieht
nun durch billigsten Preis das Möglichste, um diese in Hunderttausenden
von Exemplaren verbreiteten Dichtungen einem noch viel größeren Kreise
zugänglich zu machen, so darf dies als ein wahrhafter Dienst an unserem
Volke gelten.





*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DAS LAND UNSERER LIEBE ***


    

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with your written explanation. The person or entity that provided you
with the defective work may elect to provide a replacement copy in
lieu of a refund. If you received the work electronically, the person
or entity providing it to you may choose to give you a second
opportunity to receive the work electronically in lieu of a refund. If
the second copy is also defective, you may demand a refund in writing
without further opportunities to fix the problem.

1.F.4. Except for the limited right of replacement or refund set forth
in paragraph 1.F.3, this work is provided to you ‘AS-IS’, WITH NO
OTHER WARRANTIES OF ANY KIND, EXPRESS OR IMPLIED, INCLUDING BUT NOT
LIMITED TO WARRANTIES OF MERCHANTABILITY OR FITNESS FOR ANY PURPOSE.

1.F.5. Some states do not allow disclaimers of certain implied
warranties or the exclusion or limitation of certain types of
damages. If any disclaimer or limitation set forth in this agreement
violates the law of the state applicable to this agreement, the
agreement shall be interpreted to make the maximum disclaimer or
limitation permitted by the applicable state law. The invalidity or
unenforceability of any provision of this agreement shall not void the
remaining provisions.

1.F.6. INDEMNITY - You agree to indemnify and hold the Foundation, the
trademark owner, any agent or employee of the Foundation, anyone
providing copies of Project Gutenberg™ electronic works in
accordance with this agreement, and any volunteers associated with the
production, promotion and distribution of Project Gutenberg™
electronic works, harmless from all liability, costs and expenses,
including legal fees, that arise directly or indirectly from any of
the following which you do or cause to occur: (a) distribution of this
or any Project Gutenberg™ work, (b) alteration, modification, or
additions or deletions to any Project Gutenberg™ work, and (c) any
Defect you cause.

Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg™

Project Gutenberg™ is synonymous with the free distribution of
electronic works in formats readable by the widest variety of
computers including obsolete, old, middle-aged and new computers. It
exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations
from people in all walks of life.

Volunteers and financial support to provide volunteers with the
assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg™’s
goals and ensuring that the Project Gutenberg™ collection will
remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
and permanent future for Project Gutenberg™ and future
generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see
Sections 3 and 4 and the Foundation information page at www.gutenberg.org.

Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non-profit
501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
Revenue Service. The Foundation’s EIN or federal tax identification
number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by
U.S. federal laws and your state’s laws.

The Foundation’s business office is located at 809 North 1500 West,
Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up
to date contact information can be found at the Foundation’s website
and official page at www.gutenberg.org/contact

Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

Project Gutenberg™ depends upon and cannot survive without widespread
public support and donations to carry out its mission of
increasing the number of public domain and licensed works that can be
freely distributed in machine-readable form accessible by the widest
array of equipment including outdated equipment. Many small donations
($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
status with the IRS.

The Foundation is committed to complying with the laws regulating
charities and charitable donations in all 50 states of the United
States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
with these requirements. We do not solicit donations in locations
where we have not received written confirmation of compliance. To SEND
DONATIONS or determine the status of compliance for any particular state
visit www.gutenberg.org/donate.

While we cannot and do not solicit contributions from states where we
have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
against accepting unsolicited donations from donors in such states who
approach us with offers to donate.

International donations are gratefully accepted, but we cannot make
any statements concerning tax treatment of donations received from
outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.

Please check the Project Gutenberg web pages for current donation
methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
ways including checks, online payments and credit card donations. To
donate, please visit: www.gutenberg.org/donate.

Section 5. General Information About Project Gutenberg™ electronic works

Professor Michael S. Hart was the originator of the Project
Gutenberg™ concept of a library of electronic works that could be
freely shared with anyone. For forty years, he produced and
distributed Project Gutenberg™ eBooks with only a loose network of
volunteer support.

Project Gutenberg™ eBooks are often created from several printed
editions, all of which are confirmed as not protected by copyright in
the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not
necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper
edition.

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facility: www.gutenberg.org.

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including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
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