Indienfahrt

By Waldemar Bonsels

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Title: Indienfahrt


Author: Waldemar Bonsels



Release Date: January 20, 2008  [eBook #24377]

Language: German


***START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK INDIENFAHRT***


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WALDEMAR BONSELS

INDIENFAHRT







113. bis 123. Tausend

[Illustration: Verlags-Signet]

1920

Verlag der Literarischen Anstalt
Rütten & Loening
Frankfurt a. M.

Das Buch ist im Jahre 1912 entstanden.
Die erste Auflage erschien im Herbst 1916.
Alle Rechte, besonders das der Übersetzung, vorbehalten.
Copyright 1916 by Literarische Anstalt Rütten & Loening, Frankfurt a. M.
Die Einbandzeichnung ist von Walter Tiemann.
Druck der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig.
Die schwedische Ausgabe bei C. W. K. Gleerup, Verlag, Lund.
Die finnische Ausgabe bei Werner Söderström Osakeyhtiö, Porvoo, Suomi.
Die holländische Ausgabe im Verlag »Patria«, Amersfort.




                 INHALTSÜBERSICHT


     I. Von Panja, Elias und der Schlange          9
    II. Cannanore, die Fischer und das Meer       29
   III. Die Nacht mit Huc, dem Affen              47
    IV. Am Silbergrab des Watarpatnam             65
     V. Dschungelleute                            80
    VI. Im Fieber                                104
   VII. In den Bergen                            123
  VIII. Am Thron der Sonne                       137
    IX. Die Herrschaft des Tiers                 154
     X. Sumpftyrannen                            168
    XI. Mangalore                                189
   XII. Von Frauen, Heiligen und Brahminen       207
  XIII. Das letzte Feuer und der alte Geist      228
   XIV. Der Heimat zu                            246




Erstes Kapitel

Von Panja, Elias und der Schlange


Als ich in der gesegneten Provinz Malabar in der Stadt Cannanore anlangte,
führte mich der Hindu Rameni vor das Haus, das er mir für die Zeit meines
Aufenthaltes vermieten wollte. Es war nach Art der europäischen Häuser
Indiens erbaut, einstöckig, mit hohem überhängenden Dach und einer breiten
Veranda, die die ganze Front entlang lief. Ich erblickte es, nachdem wir
uns mit vereinten Kräften durch den verwilderten Garten gearbeitet hatten.
Rameni sagte: »Dies ist mein liebstes Besitztum auf Erden. Ich habe es
geschont und behütet, und seit sieben Jahren hat kein menschlicher Fuß es
betreten. Sein letzter Bewohner war Sahib John Ditrey, ein englischer
Offizier von großer Macht, dem jeder Soldat Gehorsam leistete, der in seine
Nähe kam. Er war Tag für Tag glücklich unter diesem Dach und wäre es heute
noch, wenn die Regierung ihn und seine Leute nicht an einen anderen Ort
verschickt hätte.«

Ich betrachtete die großen, meist leeren Räume, in denen sich eine üppige
Vegetation entwickelt hatte und in denen eine Tierwelt ihr Dasein fristete,
deren Mannigfaltigkeit meine Erwartungen aufs höchste steigerte.

»Alle diese Tiere sind arglos,« sagte Rameni freundlich, »sie werden sich
zum großen Teil wahrscheinlich zurückziehen, denn sie lieben die
Gesellschaft der Menschen nicht. Aber da du in Begleitung bist, Sahib,
einen Hund, einen Diener und einen Koch mitgebracht hast, wird dein Gemüt
von keiner Einsamkeit zernagt werden. Ich gebe Hühner, wenn du willst...«

Rameni beherrschte die englische Sprache in einem Maße, daß ich fühlte, wie
meine Haare sich unter dem Korkhelm sträubten.

»Auch du bist ein Engländer,« sagte er zu mir, als er eine lange Ruhmrede
auf Sir John Ditrey, den Offizier, beendet hatte.

Ich sagte ihm, daß ich ein Deutscher sei, und er tröstete mich.

»Ich habe von diesem Land niemals gehört,« sagte er endlich, »aber seine
Bewohner gelten als freigebig, und wahrscheinlich ist es reicher als das
britische Reich.«

Da ich ihn verstand, fragte ich nach dem Preis, den er als Miete für seine
Besitzung fordere. Er sprach darauf so eifrig von anderen Dingen, daß meine
Befürchtungen an Raum gewannen. Endlich gelang es mir, ihn zu Geständnissen
zu überreden, und er begann zu rechnen und addierte mit geheimnisvoller
Ergriffenheit die Verluste zusammen, die ihm in den sieben Jahren
entstanden waren, in denen sich kein Mieter gefunden hatte. Ich beobachtete
schweigend ein Volk weißer Ameisen, das die Dielen des Fußbodens und das
Mauerwerk auf das geschickteste zur Anlage ihrer Ortschaften untergraben
hatte. Ich werde euch nicht hindern, dachte ich, eure Reiche sollen unter
meiner Herrschaft zu ungeahnter Blüte gelangen, und ich will euch ein
weiser Fürst und treuer Gefährte sein. Durch das Palmendickicht am Fenster
strahlte die Morgensonne, durch grüne Schleier voll zackiger Ornamente. Das
unfaßliche Bewußtsein jenes Glücks, unter dem ich erzitterte, seit ich den
Boden Indiens betreten und zum erstenmal den Geruch, die Wärme und das
Licht dieses Landes eingesogen hatte, sank mir aufs neue ins Herz.

»Fürchte dich nicht, Sahib,« sagte Rameni und zählte an seinen krampfhaft
gespreizten Fingern, vor Zweifel, Hoffnung und Erwartung beinahe
fassungslos. Ich sprach von meinem Mut, und er hob die Hand zum zehnten
Male, um aufs neue die braunen, mageren Finger von rechts nach links
nebeneinander zu ordnen. Dann vergaß er alles und sprach hastig von der
Teuerung und den schlechten Reisernten. »Jeder Kuli wird es dir
bestätigen,« rief er, »soll ich einen rufen?«

»Wieviel forderst du?« sagte ich streng. »Ich habe von einem Haus am Meer
gehört, das der Kollektor vor Jahren bewohnt haben soll, und das die
Regierung für einen geringen Preis hergibt.«

Rameni gab sich mit großer Anstrengung einen Ruck und teilte mir mit, daß
das Haus im Jahre wohl einen Mietwert von hundert Rupien habe, für die
verlorenen sieben Jahre wolle er mir nur den vierten Teil dieser Summe in
Rechnung stellen, unter der Bedingung, daß ich ihm für die drei kommenden
Jahre den vollen Preis vorauszahlte.

Als ich nickte, erblaßte er.

»Sahib,« stammelte er, »verspottest du deinen Diener? Es ist wahr, ich habe
eine große Forderung gemacht. Vergessen wir die sieben verderblichen Jahre,
ich werde die Schickung des Himmels verschmerzen, zumal sie vorbei ist.
Wenn du in der Tat drei Jahre vorausbezahlst, so werde ich dir so lange
dienen, als ich lebe.«

Ich habe über meine Bereitwilligkeit niemals Reue empfunden und obgleich
ich nur einige Monate in Cannanore geblieben bin, hat mein geringes Opfer
sich in der ausgiebigsten Weise belohnt, denn Rameni setzte seine ganze
Ehre ein, um die Beschämung gutzumachen, die ich ihm ohne meinen Willen
angetan hatte. Er sandte mir beinahe täglich Eier und Früchte, Fische oder
Geflügel und widersetzte sich keinem meiner Wünsche, die sich auf
Einrichtungen oder Veränderungen in Haus und Garten bezogen. Erst als er
nach Wochen bemerkte, daß ich in einem Glaskasten eine lebende Kobra
unterhielt, zog er sich von mir zurück, ohne meine Schwelle noch einmal zu
betreten und ohne meine Hand noch einmal zu berühren. Er vermied es weniger
aus Furcht und, wie ich zuverlässig weiß, nicht ohne Kummer, sondern weil
er es nicht mit seinen Überzeugungen vereinigen konnte, eine Gottheit
gefangenzusetzen, um durch eine Glasscheibe zu beobachten, was sie tat.
Aber die Zeit unserer Gemeinschaft bis zu dieser Entdeckung gehört zu den
liebenswürdigsten Erinnerungen meiner indischen Jahre.

Als mein Gepäck auf einem Ochsenwagen vom Hafen herbeigeschafft worden war,
begann ich die bestgelegenen Zimmer für die Nacht einzurichten, wobei mir
mein Diener Panja und der Koch zur Hand gingen. Panja warnte mich oft und
eindringlich, kannte mich damals aber schon gut genug, um zu wissen, daß
gerade seine Befürchtungen nur zu häufig auf dasselbe hinausliefen, wie
meine Hoffnungen. Der Koch, ein Sohn aus den Bergen von Südmaratta, der in
Bombay an den Umgang mit Europäern gewöhnt worden war, widerstand längst
nicht mehr dem Bösen in mir. Allerdings war ich ihm gleichgültig; er tat
verschlossen und in stoischer Ruhe seine Pflicht, bestahl mich, wo er
konnte, und erwartete mit matt gesenkten Lidern meinen Untergang, den er
jedesmal voraussagte, wenn ich ihn über einer Ungehörigkeit ertappte.
Trotzdem habe ich immer eine Neigung für diesen eigensinnigen und auf seine
Art stolzen Mann empfunden, der es nicht über sich brachte, sich vor den
Europäern zu beugen, und der seinen Haß gegen die Fremden um der Liebe zu
seiner Heimat willen nährte. Gegen Panjas gefügige Unterwürfigkeit, die
übrigens keiner niedrigen Gesinnung entsprang, sondern einer kindlichen
Bewunderung für den Glanz alles Fremden, hob sich der schweigsame
Widerstand dieses Mannes seltsam würdig ab. Ich nannte ihn Pascha, weil ich
seinen Namen nicht behalten konnte. Das hätte übrigens niemand gekonnt.

Als ich auf die Veranda hinaustrat, um mich davon zu überzeugen, daß im
Hause keine Scheibe heil war, hockte Panja auf einer Bücherkiste, rauchte
und zog meine Hängematte über die Knie.

»Sie ist überall zerrissen«, sagte er, ohne aufzustehen, und ohne, wie er
es anfangs getan hatte, bei meinem Herannahen in größere Arbeitseile zu
verfallen. »Sahib, das kommt davon, wenn du eine Hängematte zum Fischen im
Fluß verwendest.«

»Es war ein ausgezeichneter Gedanke«, entschuldigte ich mich. Aber Panja
antwortete nur: »Du hast nichts gefangen.«

Ich untersuchte die Fußböden, die überall von den Ameisen untergraben
waren; die Steinfliesen und Bretter schaukelten fast alle, oder sanken tief
ein, wenn man darauf trat, ein Sodom und Gomorra dieses Volks vernichtend.

»Wenn du sehen willst, was diese Tiere tun,« sagte Panja spöttisch, »so
darfst du sie nicht stören. Übrigens sind Ratten im Haus,« fügte er hinzu,
»und vor dem Tor von Cannanore ist die Pest.«

»So müssen wir Katzen halten«, entschloß ich mich. »Morgen wirst du in die
Stadt gehen, um welche zu kaufen.«

Panja sah mich mitleidig an: »Wer wird eine Katze bezahlen?« fragte er,
»überall laufen sie herum. Auch in diesem Hause werden Katzen wohnen.« Er
meinte die Moschuskatzen, eine kleinere Art, die mir in Malabar viel
begegnet ist, und die in fast keinem älteren Gebäude fehlt. So beschloß ich
zu warten. Aber da die Ratte als Trägerin der Pest gilt und diese
furchtbare Seuche immer noch nicht erlosch, obgleich die eigentliche
Regenzeit längst vorüber war, handelte es sich darum, vorsichtig zu sein.
Meistens erlischt die Pest mit dem letzten Regen, zu Beginn des indischen
Frühlings, da ihr Bazillus nur im Feuchten fortkommt. Mit dem ersten Regen,
nach der heißen Zeit, taucht sie aufs neue auf.

Übrigens könnte die Darstellung unseres Gesprächs ein falsches Bild meiner
Stellung zu Panja geben und der Stellung der Europäer zu den dienenden
Klassen der Hindus überhaupt. Es ist wahr, daß ich Panja, wie überhaupt
allen Leuten, die mir dienten, viel persönliche Freiheit ließ, aber meine
Opfer an Autorität oder gar an Selbständigkeit wurden durch eine Gegengabe
bedankt, die ich immer höher eingeschätzt habe, als jede andere Darbietung,
und dieses Geschenk bestand in der freimütigen Offenheit des
Menschenwesens. Die Verwendbarkeit eines Menschen ist der geringste Teil
seiner Anlagen, die mir Interesse abnötigen, und alle Unterwürfigkeit
verbindet sich mit Verstellung. Die Art, wie die Engländer die Hindus
behandeln, verschließt ihre Charaktere und unterdrückt ihr wahres Wesen,
wenngleich ich ohne Einwand zugebe, daß solche Stellungnahme, wie die ihre,
das unerläßliche Erfordernis zur Beherrschung des Landes ist. Aber ich bin
nicht nach Indien gereist, um es zu beherrschen.

Übrigens gab es auch zwischen Panja und mir erregte Szenen im Ringen um die
Oberhand des Einflusses. Für gewöhnlich endete solch ein Auftritt damit,
daß ich diesen Sklaven niederschlug. Nun waren allerdings mein Schlag und
sein Niedersinken zwei Erscheinungen, die in keinerlei Beziehung zueinander
standen, denn häufig brach er schon zusammen, bevor meine Hand ihn erreicht
hatte, und im schlimmsten Falle wußte er sich für gewöhnlich immer noch auf
eine Art zu wenden oder zu schützen, die kaum mehr als eine Deformierung
seines Turbans oder seiner geölten Haarfrisur zuließ. Trotzdem brach er
jedesmal zusammen, wälzte sich von einer Ecke des Zimmers in die andere,
beklagte heulend meine Undankbarkeit und die Folgen seiner Treue. Aber ehe
der Abend hereinbrach, sorgte er doch dafür, daß die Last solcher
Verschuldung gegen ihn mir nicht die Nachtruhe raubte.

»Sahib«, sagte er und pflanzte sich kerzengerade vor mir auf, wobei ein
Stolz und eine Menschenwürde seine Züge verklärten, die in der Tat mein
Herz mit Dankbarkeit erfüllten. Aber er schien nicht zu wissen, wem er
beide verdankte. »Sahib, wie konntest du dich so vergessen?« Sein Gesicht
trug einen Ausdruck so ehrlicher Traurigkeit, daß ich alles eher vermocht
hätte, als an ihr zu zweifeln. Ich erklärte ihm bescheiden den Umfang
seines Vergehens und die Bedeutung der Folgen, aber in solchen Fällen
verstand er nicht genügend englisch, um mich zu verstehen.

»Deine Studien in Hindustani machen keine Fortschritte«, meinte er dann
etwa betrübt, und wir beide waren froh, ein Gebiet gefunden zu haben, das
uns wieder auf die Straße unseres gewöhnlichen Verkehrs brachte. Es kamen
dann Zeiten eines glücklichen Wandels und schönster Gemeinschaft, in denen
Panjas Selbstentäußerung so weit ging, daß er sogar meinen Whisky
unverdünnt auf den Tisch brachte, und ich daher genau nachprüfen konnte,
wieviel er aus der Flasche gestohlen hatte.

Ich war damals im zehnten Monat in Indien, und außer Panja und Pascha war
noch ein prächtiger Hund die ganze Zeit hindurch mein treuer Begleiter
gewesen. Er hieß Elias und hatte eben sein erstes Lebensjahr vollendet, so
daß mir vergönnt gewesen war, seine Erziehung selbst zu leiten und seine
Entwicklung zu überwachen. Leider ist es bei den Hunden so bestellt, daß
man bei einem zwei Monate alten Tierchen sehr schwer in der Lage ist, über
seine Abstammung und seine endgültige Ausgestaltung irgend etwas mit
Bestimmtheit auszusagen. Aber ich habe immer eine besondere Neigung für
solche Menschen empfunden, die allen Erscheinungen und Personen die besten
Seiten abzugewinnen wissen und ihre eigenen Tugenden in andere so lange
hineinlegen, bis sie eines Schlechteren belehrt werden. Und in der
Nacheiferung solcher Charaktere ist es mir gelungen, in Elias das Muster
eines vortrefflichen Tieres zu erblicken. Ich möchte bei der Aufzählung
seiner Vorzüge nicht in Dingen seiner äußeren Erscheinung steckenbleiben,
zumal nicht abzusehen ist, ob sich im Laufe der Zeit nicht noch das eine
oder andere bei ihm verändern wird, aber sicher ist, daß er einen gesunden
Appetit und einen gesunden Schlaf hat. Er ist außerordentlich vorsichtig
und begibt sich niemals in Gefahr, auch fällt er keine Fremden an und
unterdrückt seine Wachsamkeit aufs äußerste, was mir um so willkommener
ist, als ich oft in aufreibende geistige Arbeit verstrickt bin, bei der
jedes Gebell mich stören würde. Seine Anhänglichkeit ist so groß, daß er
sie auf alle Menschen erstreckt, die ihm begegnen, und besonders muß man,
ohne das Vorurteil einer selbstsüchtigen Hoffnung, den außerordentlichen
Eigensinn seines Willens rühmen, der die Grundlage des echten Charakters
ist. Elias läßt sich weder durch Drohungen noch durch Versprechungen dazu
bringen, die Wünsche anderer, oder die meinen, zu beachten. Er verunreinigt
weder den Garten noch die Straße und nimmt uns auch, was seine Fütterung
betrifft, jede Mühe ab, die durch Herzutragen von Nahrung entsteht.

Leider ist es mir bisher nicht gelungen, zwischen ihm und Panja ein
erträgliches Verhältnis herzustellen. Wahrscheinlich läßt Panja sich als
Orientale in seinen herkömmlichen Begriffen vom Wesen des Hundes gehen,
sicher ist, daß ihm jedes tiefere Verständnis für Rasse abgeht.

»Sahib, was ziehst du für ein Schwein ins Haus?« rief er, als ich damals
den eben erworbenen Elias heimbrachte.

»Er ist bestaubt, und die Schnur hat sich am Hals zugezogen,« sagte ich,
»warte, bis er gewaschen ist.«

»Willst du ihn waschen?« fragte Panja und verschlang abwechselnd mich und
Elias mit übergroßen Augen.

»Es ist ein vorzüglich veranlagtes Tier, das uns gute Dienste leisten
wird«, versicherte ich etwas enttäuscht von dem Empfang, den uns Panja
bereitete, und mit einem nachdenklichen Blick auf Elias, der die
Türschwelle bekämpfte und in seinem hilflosen Eifer einen entzückenden
Anblick unschuldiger Tatkraft bot.

Wenn nicht alle Samenkörner, die ich in Elias' junge Seele legte, zu
gedeihlicher Entfaltung erblüht sind, so ist sicher Panja schuld daran, der
seine herabwürdigende Meinung über dieses Tier niemals bekämpft hat. Nach
meiner Überzeugung verdankt alle pädagogische Einwirkung auf ein
unerwachtes Gemüt ihren Erfolg der gemeinsamen Mühe aller Hausgenossen.
Solange Elias keinen Rückhalt an Panja hat, und Panja Elias zur Quelle
allen Übels macht, werde ich kaum an einem von ihnen die volle Freude
erleben, die ich mir versprochen habe.

                  *       *       *       *       *

Der Abend überraschte uns nach diesem ersten Tag in Cannanore. Panja
stöberte in den Kisten umher, um Kerzen zu finden, und warf alles
durcheinander, um Ordnung zu schaffen. Die Moskitoschleier für mein Lager
befanden sich in der größten Kiste zu unterst, da Panja sie bei unserm
Aufbruch naturgemäß zuerst abgenommen und damit auch am tiefsten vergraben
hatte.

Ich saß noch lange, nachdem Panja schlief, auf der Veranda meines neuen
Hauses und wartete auf den Mond und auf die Kühle. Aus den unbeweglichen
Vorhängen der Bäume, Büsche und Pflanzen des Gartens zog ein schwüler Hauch
voll betäubender Gerüche, alles blühte, und eine leidenschaftliche
Lebensfülle drängte sich auf mich ein, um den Weg in mein Blut zu finden.
Überall entzündete der gewaltige, stille Drang zu überschwenglichem Keimen
die von den Grillen schallende Luft, die so ruhig war, daß die Flamme
meiner Kerze nur wie in der Bedrängnis der übersättigten Luft zitterte,
ohne zu flackern. Aus den Palmwaldungen, irgendwoher aus der Ferne hinter
dem Garten, klangen die Blasinstrumente der Hindus aus einem Tempelhof,
untermischt mit einförmigem blechernem Klirren. Man merkte dem begleitenden
Gesang die zunehmende Trunkenheit der priesterlichen Sänger an.

Wenn ich die Augen schloß, überwältigte mich bei dieser Musik ein Bild aus
meiner frühesten Kindheit. Ich erinnerte mich, daß ich einmal durch ein
seltsames Klingen, dem ich nichts von allem Bekannten zu vergleichen
vermochte, aus dem elterlichen Garten auf die Landstraße gelockt wurde. Es
schallte fernher, von dort, wo die Chaussee-Linden, die sich beim Dorf
einander zu nähern schienen, alles in geheimnisvolle Schatten hüllten, und
ich lief hinaus in die Sonne, die Gartentür blieb hinter mir offen, und ich
vergaß das Verbot meiner Mutter. Vor einem Bauernhof fand ich im Kranz
einer hellhaarigen Schar von Dorfkindern zwei große, traurige Männer unter
einem Baum stehen, mit schwarzen Bärten und in langen Mänteln. Sie bliesen
diese schreiende Musik auf grauen Säcken und überwältigten mein Herz zum
ersten und größten Ereignis meiner Kindheit. Ich weiß deutlich, daß ich wie
in einem Taumel des Bluts Halt suchte, um nicht zur Erde zu sinken. Heute
begreife ich, daß seit jener Stunde die Ahnung einer schmerzlichen
Ruhlosigkeit in meiner Seele wach geworden ist, und daß der erste Blick
meines Geschicks mich segnete. Immer noch gehen die Wünsche meiner Seele
dieser tierhaften Klage voll ungestümer Lustbegier wie im Banne einer
Erlöserhoffnung nach. Sie tauschen mir das Nahe und Vertraute gegen das
Fremde und Ungewisse ein, das Haus gegen die Straße und die Heimat gegen
die Welt. --

Als ich die Augen öffnete, saß ein großer brauner Nachtfalter auf dem
kupfernen Griff des Leuchters und sah bestürzt und hilflos in das unfaßbare
Licht. Nach einer Weile begann er langsam die Flügel zu heben und zu
senken, und seine Augen voller Angst und unbeweglicher Schwärze füllten
sich mit dem Lichtwesen des heiligen Feuers. Die Luft trug seine starken
Flügel leicht, diese Luft, die so schwer in meine Brust einzog und so
ermüdend auf ihr lastete. Ich bemerkte erst jetzt, daß die Veranda sich
bevölkert hatte, und daß ein beflügeltes Geschlecht nächtlicher Vagabunden
bei mir zu Gast gekommen war. Alles drang auf geheimnisvolle Art aus dieser
grünen Mauer hervor, die mich und mein Haus einschloß. Der Mond mußte
hinter ihr aufgegangen sein, denn ich unterschied in der warmen
Pflanzenwand nun hellere und dunklere Flecke, die Ornamente der
Palmenfächer und die gewaltigen Formen der Bananenblätter, die wie die
Keulen schlafender Riesen emporragten, oder gebrochen, wie zerrissene Häute
niederhingen. Den Himmel konnte ich nicht sehen. Da löschte ich mein Licht
aus, und eine matte, magische Dämmerung erhob sich lautlos um mich her, als
sei die Welt durch ein grünes Glasmeer vom Licht getrennt. --

                  *       *       *       *       *

Von allem, was dem Menschen gegeben ist, sind seine Gedanken das
Herrlichste. Und die Nachtgeborenen, die auf ihrer Reise über die Erde das
unvergängliche Licht erstreben, werden in der Nacht am lebendigsten, als
erwachten sie im Dunkeln, wie in heimlicher Angst, zu verdoppelter
Tatkraft. Ihnen ist nichts verschlossen, der Weg in die Zukunft ist ihnen
so frei, wie der in die Vergangenheit, und sie dringen in die Geheimnisse
der versunkenen Geschlechter ein, in die Kelche der Blumen und in den
Schlafraum der Geliebten. Die kleinen Dinge des Alltags, mit denen sie sich
beschäftigen, nehmen ihnen die Schwungkraft nicht, das Wesen Gottes zu
ermessen. Ihr Triumph liegt im Grenzenlosen, und ihr unbewußtes Ziel ist
die Ewigkeit. Je stärker sie sind, um so mehr streben sie die Ordnung an,
die Schwester der Erkenntnis, und es ist ihre irdische Arbeit, die
Zusammenhänge zwischen den versunkenen und den gegenwärtigen Geistern zu
finden.

Während ich so meinen Besinnungen freie Fahrt ließ, hörte ich merkwürdige
Geräusche aus dem Hause dringen, bald war es ein Scharren oder Pochen, bald
rieselte es von den Wänden, oder knisterte im Gebälk. Manchmal unterschied
ich Tierstimmen, seltsam klagende Laute des Kampfes oder der Liebe. Es war
schwer zu unterscheiden, ob die Laute von außen oder von innen zu mir
drangen, aber ich entzündete nach kurzer Zeit mein Licht aufs neue, um den
Ungewißheiten der nächtlichen Dämmerung zu entgehen. Als ich aufbrach, um
mich zur Ruhe zu begeben, war der Mond voll aufgegangen; es lockte mich,
den beschienenen Garten zu betreten, aber die damit verbundenen Gefahren
waren auf einem fremden und seit langem von Menschen verlassenen Gebiete zu
groß.

Im Hausgang schlief Panja auf seiner Kokosmatte am Boden, und sein
Schnarchen beruhigte mich als der einzige vertraute Laut in dieser
Abgeschiedenheit. Im Hintergrund flüchtete ein niedriger Schatten lautlos
in eine der geöffneten Türen der Gartenzimmer. Ich erwog es, ihm
nachzugehen, unterließ es aber. Elias lag auf meinem Bett, als ich eintrat.

Die Holzstäbe an den Fenstern waren morsch und teilweise zerbrochen,
Scheiben waren nicht mehr vorhanden. Auch hier verhüllte die
undurchdringliche Pflanzenwand den Ausblick ins Freie und den Zuzug
frischerer Luft. Der Blütenduft im Raum war berauschend, bald giftig, bald
süß, die Düfte erschienen mir schwer und greifbar, während der Gesang der
Grillen betäubend im Mondlicht zunahm.

Ich untersuchte meine Schußwaffe, obgleich ich wußte, daß sie in Ordnung
war, und rückte mein Lager weit vom Fenster ab. Es stand mir schwer bevor,
Elias wecken zu müssen, denn es war mir bekannt, daß ihn jede Störung aufs
tiefste verletzte, und für diese unsichere Nacht wollte ich meinen einzigen
Gefährten ungern verstimmen. Aber er knurrte nur unwillig und schlief am
Boden weiter, ohne recht erwacht zu sein. Da ich gezwungen war, das Licht
bald zu löschen, weil seine Anziehungskraft auf die Insektenwelt zu groß
ist, lag ich bald unter den Gazevorhängen im grünlichen Dämmerlicht und
versuchte einzuschlafen.

Draußen wurde es von Viertelstunde zu Viertelstunde lauter und
leidenschaftlicher; die Lebendigkeit des fremden Getiers teilte sich meinem
Blut in aufreizender Art mit, und ich fühlte den Augenblick herannahen, in
welchem man die letzte Hoffnung auf Schlaf fahren läßt. Meine Gedanken
beschäftigten sich mit den vielerlei Veränderungen und Einrichtungen, die
für einen dauernden Aufenthalt in diesem Hause notwendig waren. Solche
Erwägungen verstimmten mich, wie leicht gleichgültige Dinge es tun, die mit
einem Augenblickszwang an Stelle guter und harmonischer Besinnungen treten.
Aber allmählich umfaßten meine Gedanken die Gegenstände nicht mehr, mit
denen sie sich abgaben, die Umrisse verwischten sich, ich hatte unter den
geschlossenen Lidern noch den unbestimmten Eindruck, als ob es im Zimmer
heller geworden sei, und das Grillengeschrei verschwamm zu einem schwülen,
drückenden Luftmeer, in dem ich leblos dahintrieb. Ich versank in Schlaf
wie in einen Opiumrausch.

Ein weiches Gedräng an meiner Seite ließ mich auffahren, erstarrt blieb ich
in der Haltung liegen, in die mich mein Erwachen gestürzt hatte, bis ich
Elias erkannte, der sich mitsamt dem Moskitoschleier unter meine Decke
verkrochen hatte. Wäre nicht ein schrecklicher Lärm im Zimmer stärker als
mein Zorn gewesen, so hätte ich sicher meinem unschuldigen Hunde eine ganz
neue Art des Luftsprungs beigebracht, aber mein Instinkt sagte mir rasch,
daß das äußerste Entsetzen Elias zu seinem Vorgehen veranlaßt hatte, er
zitterte heftig, und sein Winseln glich den Lauten der Todesangst. So ließ
ich ihn gewähren, drückte ihn an mich und forschte nach der Ursache des
eigentümlichen Lärms, der meinen Schlafraum füllte.

Es war fast hell im Zimmer, da der Mond nun so hoch am Himmel stand, daß
seine Strahlen durch die Palmenwipfel den Weg ins Haus fanden, aber die
Lichtflecke am Boden und die blassen Streifen in der Luft verwirrten mein
Auge anfänglich, bis ich erkannte, daß der Fußboden von einer erregten
Schar großer Ratten wimmelte, die sich wie zu einem Angriff an der einen
Seite des Raums gesammelt hatten. Ihnen gegenüber kauerte in der Ecke eine
Katzenfamilie, kleinere, langhaarige Tiere mit ihren Jungen, und zwischen
den beiden Parteien lagen getötete Ratten, einige verwundete schleiften
sich mühsam unter kläglichem Piepen voran, einen Blutstreifen hinter sich
zurücklassend. Es war deutlich erkennbar, daß die Katzen -- ich zählte
derer ohne die Jungen etwa vier oder fünf -- sich im Zustande höchster
Angst und äußerster Bedrängtheit befanden. Sie kämpften einen
Verzweiflungskampf gegen die Übermacht der Ratten. Ihr drohendes Fauchen
und Miauen hatte etwas, selbst überlegene Gegner, außerordentlich
Einschüchterndes, und ihre Gebärden erinnerten mich an die eines gereizten
Panthers. Es schien eine alte Feindschaft zu sein, die seit langem im
Bereich dieses Hauses herrschte, und die in dieser Nacht vielleicht zum
soundsovielten Male blutig ausbrach. Es mag einmal anders gewesen sein,
vielleicht herrschte vorzeiten das Geschlecht der Katzen ohne Einschränkung
und als tyrannischer Unterdrücker der Ratten, bis diese zu jener
Überlegenheit gelangt waren, die mir jetzt über jeden Zweifel erhaben
schien.

Die Ratten rückten langsam und mit widerwärtigen Lauten des Zorns und der
Blutgier heran. Das magische Licht und der fast leere Raum, dessen Ecken in
Dämmerung gehüllt waren, verschob meinen Sinnen auf eigenartige Weise die
Verhältnisse von Größe und Weite, es kam mir vor, als rückten dunkle
Ungeheuer zum Kampfe gegeneinander heran, ich selber war kleiner als sie,
auf einem weit entfernten Berg.

Als die erste Katze, wie es mir erschien, ein alter und erfahrener Kater,
zur Verteidigung mit einem langen, flachen Satz vorsprang, erschreckte und
begeisterte mich die Wildheit seiner Bewegung. Der Kater verließ sich im
Kampfe weniger auf sein Gebiß, als vielmehr auf seine Pranken, die mit
zäher Geschmeidigkeit und tödlicher Sicherheit dreinhieben. Die Ratten
stoben anfangs auseinander, als er mitten unter sie sprang, nur eine, die
von seiner Tatze getroffen worden war, wand sich schreiend neben ihm am
Boden, ohne daß er sie vollends tötete, oder auch nur noch beachtete. Seine
glühenden Augen, dicht über dem Boden, waren auf die aufs neue
heranrückenden Gegner gerichtet. Sie kamen langsam und mit häßlichem
Kreischen näher, aus welchem sowohl Todesangst als auch äußerste Kampfeswut
klangen, aber ein erneuter Sprung des Katers mitten unter sie hatte nicht
mehr die gleiche Wirkung, wie der erste. Die diesmal getroffene Ratte hatte
sich offenbar an seiner Lippe festgebissen, jedenfalls schlug das Tier, von
seinen Schmerzen wie von Sinnen, mit ungeheurer Wut planlos um sich, sprang
hoch empor und wälzte sich am Boden, während immer die eine Ratte, schon
fast zerfleischt und in Strömen blutend, an seinem Maule festgebissen hing
und hin und her geschlenkert wurde, hinauf und hinab. Und während ich, von
Grauen fast atemlos, sah, daß die unheimlichen schattenhaften Gefährten der
geopferten ersten sich von allen Seiten in der kämpfenden Katze
festbissen, beobachtete ich sogleich, wie hart an der Wand eine andere
Rattenschar gegen die in der Ecke zusammengedrängten Katzen vorrückte. Sie
glitten, eng aneinandergedrängt, wie ein langsamer Schatten dahin, und das
furchtbare Geschrei des sterbenden Katers mitten im Zimmer begleitete ihren
gespenstigen Zug wie eine greuliche, herausfordernde Kampfesmusik.

Plötzlich, wie auf einen heimlichen Zuruf hin, stürzte der herannahende
Schatten blitzschnell auf die zusammengekauerten Katzen, und es entspann
sich ein zweiter, nicht weniger erhitzter Kampf im Dunkel, der mich um so
mehr entsetzte, als ich keine Einzelheiten zu erkennen vermochte.

Ein winziges, junges Kätzchen von zärtlichster Anmut flüchtete betroffen,
und scheinbar die Gefahr kaum ahnend, mit zierlichen Sätzen ins Licht. Zwei
rasche Schatten folgten ihm, man sah keine Bewegungen an ihnen als einzig
die des Dahingleitens, und in wenig Augenblicken war das Tierchen zerfetzt.
Auf den kurzen, jammervollen Angstschrei arbeitete sich die Mutter mit
verzweifelten Anstrengungen zur Hilfe heran, und zu meinem Entsetzen sah
ich die schauerlichen Nachtgesellen in ihren Leib verbissen, und sie
schleppte, vor Schmerzen heulend, wie ich niemals eine Katze habe klagen
hören, ihre blutdürstigen Mörder mit sich, ohne ihrem Kinde Hilfe bringen
zu können.

Wäre dieser Kampf nicht gleich darauf auf eine entscheidende Art
unterbrochen worden, so hätte ich sicher eingegriffen, um ihn endlich zu
beenden. Ich habe mich später oft gefragt, was mich daran gehindert haben
mochte, es gleich zu tun. Dem Menschengemüt haftet ein sonderbarer Hang an,
kämpfenden Tieren zuzuschauen, und der wollüstige Genuß an solch erregenden
Schauspielen ist nicht nur verwerflicher Art, sondern er muß auch eine
Achtung vor den selbsttätigen Bewegungen der Natur zur Grundlage haben und
ein heimliches Bewußtsein für die Wahrheit, daß der Mensch ihrem Walten
weder etwas nehmen noch hinzufügen kann. Ich entsinne mich, daß ich schon
als Kind einem Hahnenkampf mit Freude und Genugtuung zuschaute, und daß ich
sein Ende mit dem erhebenden Gefühl einer Bewunderung und ohne Beschämung
erwartete. So habe ich als Knabe auch nur schwer begreifen können, daß die
Menschen Hunde zu trennen suchten, die in eine Beißerei geraten waren, und
obgleich einem reizenden Affenpinscher, den ich mein eigen nannte und dem
ich aufrichtig zugetan war, von einem Wolfshund die Kehle durchbissen
wurde, weiß ich doch gut, daß ich trotz meines Schmerzes dem bösen Sieger
mit einer Ergriffenheit nachschaute, die geradezu an Anbetung grenzte und
die mit heftigem Neid auf seinen Lorbeer gemischt war.

In jenem Augenblick nun, als ich, von Entsetzen und Mitleid gepeinigt, in
den blutigen Kampf der Tiere einzugreifen beschloß und vorsichtig nach
meiner Schußwaffe tastete, im voraus mit heimlicher Genugtuung die
furchtbare Wirkung ermessend, die das Krachen eines Schusses auf dem
nächtlichen Schlachtfeld hervorrufen würde, erklang aus dem dunklen Winkel
des Raumes, hinter mir, ein Laut, dessen gebieterische Macht stärker war,
als der feurige Donner aus dem eisernen Mund meiner Waffe. Es war ein
leises Zischen, das man auch ein trübes Fauchen hätte nennen können und das
den seltsamen und etwas lächerlichen Lauten zu vergleichen war, mit denen
bisweilen Gänse mit gesenktem Kopf gegen einen Gegner vorzugehen pflegen.
Aber die Wirkung dieser klanglosen und widerlich eindringlichen Stimme war
alles andere als lächerlich, sie war von einer geradezu grauenhaften Macht.
Ich fühlte mein Blut in den Adern gerinnen, und die Totenstille, die im
Raume eingetreten war, erhöhte den Schauer meines Entsetzens zu einer
todesartigen Erstarrung. Es war so still, daß ich mein gehemmtes Blut in
den Ohren sausen hörte, bis langsam, ganz langsam mein Herz jenes
furchtbare, dumpfe Hämmern begann, unter dem der Atem stockt und ein
schmerzhaftes Gefühl des Erstickens einsetzt. Ich sah die Tiere wie dunkle,
reglose Flecke am Boden, selbst das Todesgeschrei der Verwundeten
verstummte für eine Weile, nur eine große Ratte, deren Leib völlig
aufgerissen war, kreiste in einer Lache ihres Blutes am Boden, in ihr
Eingeweide verwickelt, mitten im Mond, und ihr heiseres Piepen hatte in
Gemeinschaft mit ihrem scheußlichen Reigen eine fast komische Wirkung
unbeteiligten und ahnungslosen Eifers.

  »Die Schlange hat gesprochen, unter den heißen Steinen,
  ihr tauber Gesang schüttet das Herz in Schnee,
  aus ihrer Stimme brechen die Augen des Todes
  wie aus den Berggefilden des ewigen Schnees.«

Ich hatte diese Verse in Maratta von einem Fakir gehört und sie mir später
geben lassen, wobei ich erfuhr, daß sie alter Herkunft sind und einem viel
gesungenen Liede der Bergvölker der West-Gates entstammen. Nun dachte ich
in diesem Augenblick zwar nicht an sie, sondern die Verse schienen an mich
zu denken, sie bemächtigten sich meiner in dieser schrecklichen Lage, und
mir geschah aufs neue das ergreifende Wunder jener erhabenen Gelassenheit,
die, in Augenblicken der Angst, wie eine höhere und unbeteiligte Gewalt
über uns hereinbrechen kann.

Darüber sah ich eine große Schlange herangleiten, ihr schmaler Kopf war
wohl eine Handbreit über dem Erdboden erhoben, und als er ins Licht kam,
sah ich die feine Zunge eifrig spielen. Es erschien mir, als lächelte das
Tier.

Unter meinen Augen begann nun das grausame Spiel der Schlange, das alle
Völker auf Erden kennen und rühmen oder verfluchen. Keinem anderen Tiere
ist die geheimnisvolle Macht dieser Wirkung verliehen, die lautlos,
unerklärbar, und wie aus einer unterirdischen Welt des Bösen stammend,
daherkommt. Kraft und Mut, oder gute Waffen und kühner Sinn bringen ihrer
Herrschaft nur selten Gefahr, denn sie hat neben vielen magischen Mitteln
jenes furchtbare in ihrer Begleitschaft, das auch den Helden wehrlos macht,
den Ekel. Aber neben ihm und vielem anderen, das ihr Wesen enthält,
erstrahlt jener dämonische Abglanz aus ihren Regungen, der uns wie eine
alte Erinnerung an den beständigen Triumph des Bösen anmutet. So ist ihr
listiges Schleichen mit Weihe gepaart, ihre Schönheit mit Verstecktheit und
ihre Macht mit Niedrigkeit. Alle Eigenschaften, welche dem Starken Freimut
verleihen, verbindet sie, wie in einer heimlichen Genugtuung eigennütziger
Bosheit, mit Falsch. Die Elemente von Wasser, Erde und Luft scheinen bei
den Bewegungen dieses Körpers ihre unterscheidende Eigenart einzubüßen,
denn der Gang der Schlange ist dem keines anderen Lebewesens zu
vergleichen; in ihm ist das einfältige Rieseln des Wassers mit den
Beschwörungen der Magier verbunden.

Die Schlange umkreiste eine verwundete Ratte, die noch lebte, fuhr aus
ihrem verschlafenen Tanz, der alle Wesen bannt, jählings zu und begann das
erbeutete Tier zu verschlingen. Ihre Sorglosigkeit und die überlegene
Sicherheit ihres Tuns erregte meine Bewunderung in hohem Maße, es war, als
wäre sie sich keiner Feindschaft bewußt, die ihr etwas anzuhaben vermöchte.
Das Zimmer blieb still, nur von der Decke rieselte bisweilen ein feiner
Staub, und die zackigen Lichtornamente am Boden rückten langsam beiseit.
Die Erde kreist, dachte ich, mit mir, mit dieser Räuberin, mit den kleinen
Sterbenden und Toten dieses Raumes und mit allen, von denen ich durch ein
unendliches Meer getrennt bin. Draußen schnarchte Panja, und Elias war an
meinem Rücken eingeschlafen. So nahm ich vorsichtig vom Kofferrand eine
der großen indischen Landzigarren, die braun wie Torf und feucht wie Erde
sind, zündete sie an und wartete auf den Morgen. Meine Gedanken zogen mit
den Rauchwolken in die grünliche Dämmerung, und ihr Gegenstand war das
Leben der Menschen und Tiere auf der merkwürdigen Erde.




Zweites Kapitel

Cannanore, die Fischer und das Meer


Ehe die Morgendämmerung hereinbrach, trieb es mich hinaus, um den stillen
Kampf der roten Morgensonne mit dem grünlichen Silberlicht des Mondes zu
sehen. Oft sah ich die einsamen, hohen Palmen am Meer auf der einen Seite
in rote Glut getaucht, während die andere noch die silbernen Wahrzeichen
des Mondlichts trug, aus dessen kaltem Leuchten sie langsam im Morgenwind
zu erwachen schienen. In solcher Licht- und Farbenpracht standen sie gegen
das bewegte Meer, dessen Stimmen den heraufeilenden Tag begrüßten.

Aber ich sollte diesen Morgen nicht zur Freude des herrlichen Anblicks
gelangen, denn Panja hatte mit mir zu verhandeln.

»Sahib,« rief er, als ich um Wasser bat, »was ist dies für ein Haus, in
welches du eingezogen bist!«

Ich begann es zu beschreiben, aber er unterbrach mich mitleidig.

»Ich habe die ganze Nacht kein Auge zugemacht!« rief er, und die
herausfordernde Traurigkeit seiner Augen grenzte geradezu an Mißachtung.

»Sieh, Panja,« sagte ich so freundlich, als es mir möglich war, »ich
brauche nun Wasser, bedenke die Sitten meines Landes.«

Da führte mich Panja durch den Garten, ohne noch etwas zu sagen, denn er
verzweifelte offenbar daran, mich anders als durch Tatsachen von der
Ungerechtigkeit meiner Forderung zu überzeugen.

Die ganze Frische des indischen Frühlingsmorgens umfing uns. Alle Blüten
strömten von Tau über, ihre Farben leuchteten im ersten Licht, so daß meine
Augen das Entzücken dieser Pracht nicht zu fassen vermochten, und der
Geruch von Nässe, Erde und tausend aufbrechenden Blumen ließ mich taumeln
vor Glück. Auch über Panja kam dieser Rausch, als risse das irdische
Lebensheimweh der Blühenden seine Seele, wie auch die meine, mit sich
empor. Er hob die braune Nase in die Luft, lächelte breit in einfältigem
Behagen und sah sich nach mir um. Mit allen Sinnen sog er die Frische und
das Licht ein, und sein dunkler, nackter Körper glänzte von Tau.

Als wir am Ende des Gartens, dicht beim Palmendickicht, an der Zisterne
anlangten, erblickte ich anfänglich nichts als eine turmartige Wildnis von
Schlinggewächsen, und erst als Panja die Ranken zerteilte, gewahrte ich die
zum Wasserspiegel niederführende Treppe, die wie in eine unterirdische
Höhle hinabging. Die zerbröckelten Steinquadern in der Dämmerung waren von
seltsamen Moosen übergrünt und fast ganz bedeckt, ein kühler Modergeruch
kam mir entgegen, und Panja, der den Eifer seiner Entrüstung vergessen zu
haben schien, warnte mich mit einem geflüsterten Wort und sah fast
ehrfürchtig drein. Sein braunes Gesicht unter dem weißen Turban schaute aus
einer Wolke halboffener, roter Blüten hervor, die so groß wie Kinderköpfe
waren. Ein Falter, wie aus blauem Samt, erhob sich schläfrig aus ihrem
Ampellicht und zog lautlos davon, in die Pflanzenwildnis hinein.

»Du darfst nicht hinabsteigen,« sagte Panja, »überall hockt der Tod im
halben Licht, hierhin geht er aus dem Tag der Menschen; tritt zurück. Ich
habe das Wasser gesehen, es ist grün wie sterbendes Laub und von Pflanzen
bedeckt, es trägt Blumen, die niemals ein Sonnenstrahl getroffen hat und
die deshalb giftig sind, wie die Schlange und das Fieber, die bei ihnen
wohnen.« Dann besann er sich plötzlich, seine kindlichen Augen verloren
ihren andächtigen Ernst und er sagte mit gerunzelter Stirn:

»Solch ein Haus mietest du! Wie lange willst du hier bleiben? Wir reisen
nach Bitschapur zurück, ich werde alles in die Koffer stecken.«

Auf dem Rückwege trafen wir Pascha, den Koch, der über die Straße kam und
auf das Haus zuging. Einen roten Tonkrug mit Wasser auf der Schulter,
schritt er durch die Sonne, die inzwischen aufgegangen war. Aus dem Hause
drang Holzfeuergeruch. Pascha grüßte mich mit der freien Hand und schritt
stumm an mir vorüber. Mir war zumute, als sei er stolz auf sein Land und
auf seine Pflicht, gönnte mir das erste nicht und täte das zweite um seiner
selbst willen. In seinen großen, samtartigen Augen, unter den langen
Wimpern, verbarg sich sein Verlangen nach den Bergen. Seine männliche
Gestalt entzückte mich, ich empfand plötzlich den Namen, den ich ihm
zugelegt hatte, als lächerlich und wünschte mir, den seinen zu wissen, nur
um ihn vor mich hinsagen zu können, diesen fremdartigen Namen seines
fremden Geschlechts aus den Bergen. Mich ergriff aufs neue jene sonderbare
Traurigkeit, die mich in Indien nie verlassen hat, und die dem menschlichen
Herzen, allem Unerforschbaren gegenüber, eigentümlich ist.

Panjas empfindsamer Sinn für alle meine Regungen, die sein Interessengebiet
berührten, ahnte auf seine Weise, daß Paschas wortlose Tätigkeit mir
wohlgefiel. Er sagte:

»Diese Hunde aus den Felsspalten haben eine Spürnase für alles Genießbare.
Er wird aber vergessen, das Wasser zu kochen, und morgen hast du Fieber,
Sahib. Ich werde also nach dem Rechten sehen.«

Er ging ins Haus, und gleich darauf hörte ich Elias klagen. Die
Sonnenstrahlen wärmten bereits spürbar, obgleich ihr Licht noch rötlich
war. Der Garten dampfte, und Vogelstimmen, mit den ersten Lauten der
ausschwirrenden Insekten gepaart, drangen aus der nebligen Morgenschwüle
des Dickichts. Ich verließ den gärenden Garten und betrat den rötlichen
Sandweg, der unter uralten wilden Feigenbäumen breit dahinführte, auf
Cannanore zu, in freierer Luft. Mein Haus lag etwa in der Mitte zwischen
der Stadt und dem Meere; um die eine oder das andere zu erreichen, mochte
etwa eine Viertelstunde Wegs zu gehen sein. So entschloß ich mich, die
Stadt zu einem kurzen Besuche zu betreten, während Pascha den Tee
bereitete.

Der breite Weg war fast leer, über Cannanore lag ein bläulicher
Holzfeuerrauch, der aus den Palmen stieg, die Ortschaft war ganz von ihnen
verborgen, wie die meisten Städte und Dörfer der fruchtbaren malabarischen
Küste. Es war so still umher, daß ich das Rauschen des Meeres an den Felsen
vernahm, und das Sonnenlicht war von unfaßbarer Milde und Wohltat. Ein
Ochsenwagen knatterte langsam heran, die hohen Räder mahlten leise im Sand,
und ein Hindu hockte auf der Deichsel, dicht zwischen den Schwänzen der
prächtigen, geduldigen Tiere, sein Kinn zwischen den mageren Knien. Er
blinzelte scheu zu mir herüber, ohne einen Gruß zu wagen, die gewaltigen
Hörner der Ochsen schaukelten gemächlich wohl einen Meter lang über den
blendend weißen Rücken.

Am zerfallenen Stadttor erhob sich zur Rechten und zur Linken eine einsame
Palme, jene nach rechts, diese ein wenig nach links geneigt und ihre
Fächerkronen, über den flachen Dächern der Häuser, zeichneten sich dunkel
und deutlich gegen den klaren Morgenhimmel ab, die Stämme waren von der
Sonne bemalt, wie mit roter Farbe. Ich sah durch das Tor in die bereits
belebte Basarstraße, in der die eiligen nackten oder weiß bekleideten
Gestalten sich zwischen den niedrigen Häusern bewegten und die Händler ihre
Straßenläden öffneten und ihre Waren ausbreiteten. Der Wächter am Tore
erhob sich, um sich tief zu verneigen, wobei er sein Gesicht mit den
Händen bedeckte. Ich beschritt die Basarstraße und empfand die Stille und
das Erstaunen, die ich hinter mir zurückließ; nur die Brahminen, die graue
Schnur auf der nackten Brust, gingen stumm und steil an mir vorüber, ohne
zu grüßen und ohne sich umzuschauen. Ich erblickte schöne Gestalten und
stolze Gesichter unter ihnen und las aufs neue aus ihren Zügen die ferne
Verwandtschaft mit den germanischen Völkern unseres Erdteils, deren Wesen
die Jahrtausende nicht ausgelöscht haben. Sie haben lange das gewaltige
Reich beherrscht, bis Mohammed seine Fahnen inmitten ihrer Königsschlösser
aufpflanzte und ihnen langsam mehr und mehr die furchtbare und
geheimnisvolle Macht erschütterte, die heute nur noch tief im Lande, in
düsterer Gewalttat und mystischem Dunkel waltet. Bis auch Mohammeds Zeichen
und die Pracht seiner Könige erblaßte, als das Gebrüll des britischen Löwen
sich über dem Meer erhob und das Land erfüllte. Als ich mich nach kurzem
Gang zum Heimweg wandte, sah ich die Umrisse des englischen Forts gegen das
Meer. Seine Kanonen sind Tag und Nacht auf das Schloß des Hindukönigs, im
Herzen der Stadt, gerichtet, um es beim ersten Zeichen einer Revolte in
Trümmer zu legen. Unter dem stummen eisernen Mund, der unerbittlich und
unveränderbar unter der zornigen Sonne und dem ruhigen Mond auf die Stadt
schaut, flackern die letzten, schüchternen Reste der alten Königsmacht von
Cannanore.

                  *       *       *       *       *

Es war freilich mancherlei in meinem Hause vorzubereiten, bevor ich es zu
dauerndem Aufenthalt behalten konnte, und beim Tee sprach ich mit Rameni
und Panja über die Maßnahmen. Rameni hatte seine offenen Schuhe vor meiner
Tür stehen lassen und versuchte während unserer Unterhaltung vergeblich ein
erträgliches Verhältnis zu dem Liegestuhl zu finden, den ich für ihn
aufgerichtet, und den er aus Höflichkeit angenommen hatte. Endlich stand
er auf und ordnete sein weißes Gewand, aus dem von den Knien ab seine
mageren braunen Beine schauten.

»Es soll alles nach deinem Willen geschehen, Sahib«, sagte er so
liebenswürdig, als sein furchtbares Englisch zuließ. Panja verachtete ihn
so angestrengt, daß ihm der Schweiß ausbrach.

Es war herrlich auf der Veranda. Der Morgen des indischen Frühlings -- es
war nach unserer Zeitrechnung Ende Oktober -- ist frisch und erquickend,
erst nach drei oder vier Stunden wird die Sonne wirklich heiß. Panja wurde
guter Laune, als Rameni gegangen war.

»Wie das Schwein stinkt«, sagte er freundlich. »Er wird dich überall
betrügen, Sahib. Wenn deine Reichtümer nicht unermeßlich wären, so würde
dieser Schurke dein Untergang sein. Zuerst werde ich nun die Ameisen
vernichten, sie fressen alles, was sie finden. Wenn man Whisky zwischen die
Steinplatten gießt und zündet ihn an, so ist es um die Tiere geschehen. Gib
eine Flasche, ich werde beginnen, wenn du ans Meer gehst.«

Ich schlug vor, es mit Petroleum zu versuchen, das man sicher in der Stadt
auftreiben würde.

Panja schüttelte sich.

»Die armen Tiere«, sagte er.

Nach einer Weile rückte eine Schar alter Weiber mit Besen, Eimern und
Tuchfetzen heran, deren Anblick zuerst den ahnungslosen Elias und dann auch
mich vertrieb. Nur Panja hielt dem Ansturm dieser wilden Amazonen stand,
weil ihm daran gelegen war, seine Autorität in Szene zu setzen.

Das Haus war in wenig Tagen derart instand gesetzt, daß ein beschauliches
Leben voll reicher Eindrücke für mich hätte beginnen können. Auch Panja
fand sich bald in unsere neue Lebenslage, und es kamen stille, herrliche
Frühlingstage, die ich nie vergessen werde. Die beständige Sonne weckte
mich, und meine durch tiefen Schlaf belebten Sinne empfingen die ferne
Stimme des Meeres, das mich Tag für Tag in sein glitzerndes Bereich
hinablockte. Die Fischer wurden meine ersten Freunde in Cannanore, und ich
hatte mich bald daran gewöhnt, ihre Arbeit mit ihnen zu teilen. Es gelang
mir, ihr anfängliches Mißtrauen zu zerstreuen, und ich lernte von ihnen,
wie sie von mir.

Wir saßen in der Abenddämmerung bis tief in die Nacht hinein auf den
schwarzen Uferfelsen, die in geraden, hohen Blöcken weit in die Meerflut
hineindrangen. Oft mußten wir von einem Steinplateau zum andern springen,
oder über schmale Holzbretter balancieren, um bis an das äußerste Riff zu
gelangen, von wo aus die Angeln weit in die See geschleudert wurden. Neben
uns, zur Rechten und zur Linken, wogte still die ungeheure Wassermasse,
erst in tiefem, klarem Blau, dann färbte sie sich langsam rot und blendete
den Blick, bis sie endlich tiefschwarz und drohend auf und ab stieg, so daß
es erscheinen konnte, als tauchte der Fels in einem unbeweglichen dunklen
Spiegel auf und nieder. Weit hinter uns donnerte die Brandung, und hinter
ihr ging über den Palmen der rötliche Mond auf.

Es war in der Hauptsache auf den Fang größerer Fische abgesehen, die
Angelhaken hatten die Größe eines gekrümmten Kinderfingers und waren mit
dem Eingeweide erbeuteter Fische umwickelt. Etwa vier bis fünf Meter vom
Köder entfernt war ein Stückchen leichter Baumborke als Schwimmer an der
Leine befestigt, und die Angeln wurden über dem Kopf in Kreisform
geschwenkt, so daß sie bis zu zwanzig Metern weit ins Meer hinaus
gelangten. Dann hockten die Männer sich nieder und verharrten unbeweglich,
wie mit dem Fels verwachsen, bis ein leises Rucken am Seil sie vom Erfolg
ihrer Mühe unterrichtete.

Oft kam das wogende Meer bis hart an unsere nackten Füße, dann wieder sahen
wir es viele Meter tief unter uns. Selbst in der Nacht erkannten die Leute
deutlich das Herannahen einer größeren Welle, und ein leiser Zuruf warnte
mich, damit ich mich am Felsen festhalten möchte. Wenn dann für Augenblicke
der Steinboden den Blicken entschwand und nichts als das leise brodelnde
nächtliche Element unter mir kenntlich war, hatte ich anfangs ein dumpfes
Gefühl der Angst, ja der Todesfurcht zu überwinden, und nur die
unerschütterliche Gelassenheit meiner Nachbarn sicherte meinen Mut.

Die Männer hielten ihre Leinen niemals fest in den Händen, sondern nur
leicht zwischen den Fingern, weil es vorkam, daß ein Haifisch anbiß, und
weil der erste Ruck ihnen hätte verhängnisvoll werden können. In solchem
Fall, den ich einmal erlebt habe, schreckte ein lauter Zuruf alle empor.
Ich sah die Leine wie ein Ankerseil in rasender Schnelligkeit ins Meer
gleiten und wie ihr Ende hastig um einen Felsvorsprung gewickelt wurde. In
den meisten Fällen war das Gerät dann verloren; zuweilen gelang es aber,
das Raubtier durch die Felslücken bis auf den Strand zu schleifen, und ich
erschrak über die Lebenskraft und Wildheit des Gefangenen, der trotz seiner
Hilflosigkeit einen geradezu einschüchternden Widerspruch gegen seine
Bändiger an den Tag legte. Man befestigte den Rest der Angelschnur mit
einem Pflock im Sande, ohne den Haken zu lösen, und ließ das Tier auf dem
Trockenen sterben, so gut und rasch es konnte. Erst am andern Tage oder
nach Stunden bemächtigten sich die Frauen alles Verwendbaren von seinem
glatten Leibe, dessen Fleisch nicht genossen wird.

Gegen Norden zu brachen die dunklen Küstenfelsen jählings ab, und es
breitete sich, soweit das Auge reichte, die freie Bucht entlang, weißer
Sand aus. Oft wuchsen Palmen, besonders wenn sie einem kleineren Bach das
Geleite gaben, bis dicht an den Meeresstrand hinab. Dort sah man, noch nahe
dem Ort, die bunten Boote der Eingeborenen in Reih und Glied im Sand, und
weiter hinaus begann eine Stille und Verlassenheit, die wohl dazu angetan
war, ein empfindsames Herz zu locken.

Dort lag ich oft am Wasser, bohrte mich in den Sand und warf die Lasten
meiner unnützen Gedanken weit von mir. Es war herrlich, der Stimme des
Meers zu lauschen, die die ganze Welt zu beherrschen schien, und die endlos
langen, ebenmäßigen Wogen zu betrachten, welche heranliefen wie sanfte
Windwellen unter blaßblauer Seide, sich lautlos hoben und sich mit
jubelndem Erbrausen, in ein weites Lichtband zerbrechend, auf den
geduldigen Strand warfen. Das ging so lange so fort, wie nur immer die
Sinne sich in Geduld und Traum hinzugeben vermochten, denn das Meer kennt
keine Zeit. In seiner Stimme sind weder Hoffnungen noch Verheißungen, keine
Liebe und kein Drohen, weder Wahrsagungen noch Beschwichtigungen. Das Wesen
des Meeres hat keine Gemeinschaft mit dem unsrigen, und nichts als ein
beseligter Unfriede erwacht in uns, wenn wir uns ihm zu nähern trachten,
nur seine Größe erhebt uns, wie alle großen Formen dem Gemüt eine Ahnung
künftiger Freiheit vermitteln. Das Meer enthält keine Maßstäbe für unsere
Rechte oder für unsere Pflichten, wie die Erde sie uns bietet, die uns
trägt und ernährt und deren Schicksal dem unsrigen verwandt ist. Die
Dichter haben das Meer selten verstanden, sie haben es nur beschrieben,
aber wer würde durch sie ein Bild von seiner unermeßlichen Gewalt und
Freiheit bekommen, wenn er das Meer niemals gesehen hätte? Nur in jenem ins
Mystische hinüber verblühenden Geiste des großen, gottberauschten
Schwärmers der Apokalypse leuchtet ein wahrsagerisches Licht vom Wesen des
Meers auf, als er das Tausendjährige Reich in seinen unendlichen Visionen
erblickt, und vom Meer sagt, es sei nicht mehr. In dieser Erkenntnis liegt
eine tiefe Ahnung vom Wesen des Meers, das nicht wie die Erde verflucht
scheint, und keinem Gericht, keiner Wiederkehr und keinem Wandel
unterstellt ist.

So hat auch das Meer keineswegs eine Verwandtschaft mit der Seele des
Menschen, wie manche festgestellt haben, die weder das eine noch die andere
kennen, und die nur deshalb, weil sie in der Seele etwas Bodenloses
wittern, auf den Gedanken gekommen sind, sie wäre vielleicht so tief wie
der Ozean in der Mitte. Das ist ein leichtfertiger Schluß, der schwer zu
erweisen ist, die einzige Ähnlichkeit zwischen solchen Seelen und dem Meer
ist die, daß man oft in beiden herumfischt, ohne etwas zu fangen. --

Einmal fand ich am Strand einige große Meerschildkröten, die auf dem Rücken
lagen und nach Wasser schnappten. Aus den Spuren nackter Füße, die sie wie
ein in den Sand eingeprägter Lorbeerkranz umgaben, ließ sich leicht
entnehmen, daß diese Tiere sich nicht freiwillig in solche Lage begeben
hatten und daß sich ein menschlicher Zweck mit dieser Grausamkeit verband.
Und richtig sah ich unter den Bäumen einen braunen Hinduknaben flüchten,
dessen Respekt vor mir so groß war, daß er eine Palme bis an den Wipfel
erklomm.

Die Schildkröten waren in dieser Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheit
einem langsamen Tode in der unbarmherzigen Sonne ausgesetzt, der um so
qualvoller war, als sie nicht wie die Fische rasch sterben, wenn sie ihrem
Element entrissen worden sind, sondern eine zähe Lebensdauer, auch auf dem
Trockenen, beweisen. In der Tat war auch der Gesichtsausdruck einzelner von
ihnen bereits sehr verstimmt, anderen hing der merkwürdig häßliche Kopf
schon leblos nieder, an dem faltigen Hals, der mir wie ein welker, rissiger
Schlauch erschien. Ich kehrte mit großer Mühe diejenigen um, die mir noch
regsam genug für eine Fortsetzung ihres Daseins erschienen, aber sie
taumelten wie betrunken hin und her und fanden das Wasser erst, als ich
ihnen den Weg wies. Dort schwammen sie rasch und erregt hinaus und tauchten
sobald als möglich unter, sichtlich im Zweifel darüber, ob dieser Vorgang
eine Tatsache war, oder nur eine neue greuliche Vorstellung ihrer
Fieberphantasien im Sonnentod.

Später erfuhr ich, daß die Tiere von den Eingeborenen in diese Lage
gebracht werden, damit sie sterben, denn sie können sich nicht aus eigenen
Kräften wieder umkehren. Auf diese Weise gewinnen die Leute das sehr
begehrte Schildpatt, ohne einen Eingriff in das Leben der Tiere
vorzunehmen, was ihnen verboten ist und auch ihrer Überzeugung
widerspricht. Die Tiere sterben auf diese Art durch den Willen der Gottheit
und werden so nach Vorstellung der Hindus nicht von Menschen getötet;
offenbar ersieht man aus der Tatsache, daß die Götter die Schildkröten
nicht wieder umdrehen, ihren Beschluß, sie zum Nutzen der Menschheit
sterben zu lassen.

Übrigens hatte ich es mit jener Handwerkerkaste in Cannanore endgültig
verdorben, denn eben jener Knabe, welcher mir Achtung erwies, hatte von
seinem hohen Versteck aus meine Maßnahmen wahrgenommen und er nahm Anlaß,
diese Neuigkeit in Cannanore zu verbreiten.

Es gab am Strand vielerlei Krebse und allerhand kleines Meergesindel, mit
dem ich mich einließ, auch Ratten kamen bisweilen die Bäche herab und
erkundeten, ob das Meer Tote angeschwemmt oder ausgewühlt hatte. Eine
bestimmte Kaste in Malabar begräbt ihre Pesttoten am Meer im Sand; zwar
werden meist die Sandbänke und Inseln gewählt, aber häufig findet man auch
die Spuren der Gräber an der Küste.

Einmal machte ich die Bekanntschaft einer größeren Fliege, die nur einen
Flügel hatte und den Rest ihres Lebens am Gestade zu verbringen schien. Ich
beobachtete sie, während ich am Strand lag und rauchte. Sie suchte sich die
Steine aus, die besonders rund, blank und heiß waren, und es schien, als
bevorzugte sie die weißen. Wenn sie eine Weile auf einem solchen gesessen
hatte, faßte sie einen anderen ins Auge und versuchte ihn mit einem
sprungartigen Flug zu erreichen, aber sie landete jedesmal auf irgendeinem
dritten, weil sich leider das Fehlen ihres einen Flügels beim Einhalten der
Richtung bemerkbar machte.

Jedesmal schaute sie anfänglich etwas verdutzt um sich, ergab sich aber
dann ihrem merkwürdigen Schicksal, immer anderswo landen zu müssen, als sie
gewollt hatte. Mit einem etwas bekümmerten, aber keineswegs gereizten
Ausdruck orientierte sie sich über die ihr bestimmte Umgebung, schließlich
schien die Sonne auch hier, und sie blieb sitzen, im heißen Licht, vor dem
glitzernden Wasser.

Ich faßte eine gewisse Neigung zu dieser flüchtigen Freundin meiner
einsamen Stunden am Meeresstrand. So sehr viel besser ging es schließlich
im Leben auch mir nicht, und im Grunde kam es uns beiden auf die Sonne an.
Ich erzählte ihr, wie ich es mit dem Dasein hielt, aber da sie nicht auf
mich achtete, warf ich mit kleinen Steinen nach ihr, die lustig über die
runden Brüder ihrer Jahrtausende kollerten und vergnügt klirrten. Die
meisten dieser Steine waren prächtig abgerundet, ich nahm einen von ihnen
in die warme Hand und polierte ihn sorgenvoll. »Du bist noch nicht rund
genug, mein Kleiner«, und ich warf ihn ins Meer zurück, damit ihn die Flut
noch ein paar weitere tausend Jahre lang abschliffe. Es kam mir auf tausend
Jahre nicht an, so wenig wie auf einen Tag. Aber vielleicht würde dieser
Stein mich nicht vergessen, sicherlich war es ihm noch nicht geschehen, daß
einer dieser vergänglichen Menschlein sich seiner annahm und plötzlich
einen solchen Eingriff in seine gemächliche Entwicklung machte.

Das Meer trug leichte und liebliche Gedanken in meinen Sinn, törichte und
sinnvolle, aber niemals schwere. Seine Gaben waren Traum, Vergessen und
Schlaf, sie stiegen mit der flimmernden, heißen Luft in unbekannte Regionen
empor, und der flüchtige Seewind trug sie von dannen. Die Menschen meines
verflossenen Lebens versanken in einem schimmernden All, in welchem ich
wesenlos, wie sie selbst, dahintrieb, und auch die Liebe wurde zur
Erinnerung.

Nie aber, daß Langeweile oder Mißmut mich plagten, das Leben war ein
makelloses Gefäß, angefüllt mit dem klaren alten Wein lieblicher
Sinnenfreude und heiterer Daseinslust. Ich begriff die Menschen dieses
Landes und dieser Sonne, die kein anderes Begehren zu bewegen schien, als
das Dasein auf solche Art als seligen Bestand auszukosten und sich dem
selbsttätigen Walten von Erstehen und Vergehen, den vergänglichen
Glücksgütern der Erdenzeit gegenüber wahllos und zufrieden, ohne Bedenken,
anheimzustellen. Was den Unedlen zu einem Anlaß anteillosen Verkommens
wurde, das wurde im verwandten Geist den Edlen zu einer tiefen Offenbarung
tatlosen Versinkens in einer hellseherischen Demut der Selbstbeschränkung.

Zuweilen zollte ich am Strande dem Tode eine kleine Abschlagszahlung auf
seine künftigen Rechte und schlief ein, aber die Stimme des Meerwassers
ging mit mir in das dunkle, ruhige Land. Die Monotonie seiner frischen
Stimme verwandelte sich in meinen Träumen in einen beredten Glanz von
großer Mannigfaltigkeit, und ich erfuhr Wunder und Sagen vom Gang der Welt,
die ein ganzes Buch füllen würden, aber etwas an der Weisheit des
Meerwassers verhinderte mich daran, so törichte Pläne zu fassen. »Ich sage
es allen,« rief es gleichmütig, »warum willst du es tun? Niemand wird Dinge
durch Menschen hören, die ihm die Natur nicht vertraut, und ihr, die ihr
nicht einmal euch selbst versteht, wie wollt ihr mich, das Meer, in seinem
heiligen Wesen erfassen?« Als ich erwachte, sah ich im Abendglanz auf der
Silberleiste der Meerflut groß und nah ein schwarzes Boot im roten
Himmelsschein dahinfahren, das von vier Männern angetrieben wurde, die
stehend ruderten, und die mir gleichfalls schwarz erschienen, weil das
Licht hinter ihnen mich gelinde blendete.

Vielleicht fuhren sie ins Weite hinaus, vielleicht kehrten sie heim, ich
wußte es von ihnen so wenig wie von mir.

                  *       *       *       *       *

Ein bedauernswertes Ereignis dieser Zeit, das den Wert meines Charakters in
den Augen der Einwohner Cannanores ernstlich in Frage stellte, ist mir
lebhaft im Gedächtnis geblieben. Von Jugend auf habe ich den Hang verspürt,
Schmetterlinge und Käfer zu sammeln, es aber leider auf diesem Gebiet
niemals zu Erfolgen gebracht, im Gegenteil begleitete mich stets ein
spürbares Mißgeschick bei solchen Unternehmungen, und es lag nachweislich
kein Segen darauf. Der prächtige Kasten mit einem Glasdeckel, den meine
Eltern mir zur Förderung meiner lehrreichen Neigung schenkten, wurde bald
zu einer Goldgrube billiger Ernährung für eine kleine, lausartige Sorte von
Parasiten, die über meine gesammelten Insekten herfielen und sie
verzehrten. Auf den Rat eines erfahrenen Schulfreundes hin erwarb ich das
prächtige Schutzmittel, das Naphthalin genannt wird, aber die Parasiten
fielen auch über das Naphthalin her, fraßen es auf und gediehen dabei
zusehends. So sah ich die Resultate meiner Bemühungen zuschanden werden bis
auf einen rötlichen Erdfloh, der hoch an einer rostigen Stecknadel hockte
und kaum größer war, als ihr Knopf.

Es wäre sicherlich besser gewesen, wenn ich mir diese Erfahrungen meiner
Jugend auch in Indien zunutze gemacht hätte, anderseits aber wird es jedem
verständlich sein, daß meine alte Leidenschaft bei der außerordentlich
mannigfaltigen und prächtigen Insektenwelt Indiens aufs neue angeregt
wurde. Ich schlug Panjas Einwände in den Wind und ließ in Cannanore
bekanntgeben, daß ich Erwachsenen oder Kindern für jeden Schmetterling oder
Käfer, die mir in meine Niederlassung gebracht würden, den Preis von einer
Anna zu zahlen bereit sei.

Am Morgen nach dieser Kundgebung weckte mich in aller Frühe ein seltsames
Geräusch vor meinem Hause, das ich anfänglich vergeblich zu erkennen
trachtete, bis ich endlich herausbrachte, daß es ein Volksgemurmel war.
Erschrocken trat ich ans Fenster und erkannte nun eine auffallend geordnete
Reihe von Menschen, Kindern, Greisen, Frauen mit Säuglingen auf den Hüften,
Männern und Jünglingen, auch fehlte es nicht an Bettlern, Straßendirnen und
Landstreichern. Die Reihe machte gehorsam den Bogen des Gartenwegs mit,
schlängelte sich durch die offene Pforte und ging dann auf Cannanore zu. Es
war nicht abzusehen, wie lang sie war; diese Erfahrung blieb mir anfänglich
erspart, wie es das Leben bei harten Schicksalsschlägen seinen Opfern
zuweilen dadurch erleichtert, daß es nicht sofort die ganze Fülle des
Ungemachs offenbart.

Panja sagte nur: »Sahib, die Leute bringen die Tiere.«

Ich muß gestehen, daß ich in große Verwirrung geriet und mich nur mühsam
fassen konnte, aber es gelang mir doch, weil ich Panja den Triumph nicht
gönnte, der hinter seinen stillen Augen lauerte, welche schräg und
erwartungsvoll ohne Unterbrechung auf mir ruhten.

»Hast du kleine Münze genug?« fragte ich ihn fröhlich, während ich mich
rasch ankleidete. Panja fragte mich ernst, ob ich genug große hätte.

Da nahm ich Elias an mich, setzte den Korkhelm auf und betrat mutig die
Veranda meines Hauses. Ein beifälliges Murmeln der Erwartung begrüßte mich.
Recht gelegentlich, als läge mir nur daran, ein paar Schritte in der
Frische des Gartens zu tun, trat ich bis an die Pforte und schaute die
Straße nach Cannanore hinab. Die Kette der wartenden Menschen erstreckte
sich weiter, als meine Augen reichten, fern unter dem Dach der wilden
Feigenbäume verlief sie im Laubschatten wie ein schwarzer Kohlestrich, auf
dem roten Latrittweg. Elias zog sich still ins Haus zurück, weil dieser
Anblick ihm neu war, und auf der Veranda empfingen mich wieder Panjas ruhig
abwartende Augen; er hatte einen Liegestuhl für mich herausgetragen.

Es blieb mir nichts anderes übrig, als zu beginnen. So sandte ich denn
Pascha mit einer Handvoll Rupien zum Wechseln in die Stadt, denn ich
brauchte Panja als Dolmetscher, auch wäre er wahrscheinlich bis zum Abend
ausgeblieben, um mich dadurch am Erfolg meines Unternehmens zu hindern.

Der erste der zahlreichen Ankömmlinge war ein kleiner dicker Knabe mit
prachtvollen dunklen Augen und völlig nackt. In der festgeschlossenen
kleinen Faust, die er mir mutig hinreckte und die von Schmutz starrte,
entdeckte ich die Staubreste einer kleinen Motte, die völlig zerquetscht
und aufgeweicht war. Ich verabfolgte eine Anna, um nicht mit einem
verneinenden Bescheid zu beginnen, und der kleine nackte Jäger entfernte
sich mit einem glücklichen Satz, ohne daß er wagte, in den Jubel
auszubrechen, der ihm die Brust weitete. Offenbar hatte er bis zuletzt
nicht an den Erfolg dieses Geschäftes geglaubt. Panja sah ihm nach und
sagte boshaft: »Unterwegs wird er sich lausen, und dann schließt er sich
hinten wieder an.«

Der nächste der Wartenden war ein alter Mann, der in der mageren Hand einen
grünen Beutel aus einem großen Blatt emporreckte, das er oben zuhielt. Es
befanden sich weiße Ameisen darin, von denen mein ganzes Haus wimmelte, und
er war mit der Hoffnung herzugetreten, seine Tiere einzeln honoriert zu
bekommen. Ich wies ihn ab, da legte er sich aufs Bitten und begann die
Schicksale seiner Familie zu erzählen, der es in der Tat nicht gut gegangen
zu sein schien; so gab ich zwei Anna, und er entfernte sich mit einem
mißgünstigen Blick auf meine Münzen, nachdem er mir zwei Ameisen
auszuhändigen versucht hatte.

Ich kann nicht alles aufzählen, was mir an diesem Morgen an Gewürm,
Fliegen, Ungeziefer und Kerbtieren zugetragen worden ist, es gelang mir,
Indiens Reichtum an diesen Geschöpfen zu ermessen. Eine alte Frau brachte
ein Kücken, das von Ratten zur Hälfte aufgefressen worden war und keine
Federn mehr hatte. Sie hoffte, daß ich es meiner Sammlung einverleiben
würde, weil sie keine rechte Vorstellung von meinen Interessen hatte. Ein
Mädchen, blühend wie der sonnige Morgen, in welchem sie schüchtern vor mir
stand, hatte einen wahrhaft schönen Schmetterling von der Größe eines
Singvogels, orangegelb, mit zartestem Lila an den Rändern, aber er war
zwischen ihren Fingern zerdrückt, wie ein Trambahnbillett in einem
Handschuh. Ich betrachtete das Kind und den unschuldigen Glanz seiner
großen Augen, die mir erschienen wie dunkler Samt in braune Seide gebettet.
Jahrtausendalte Träume brachen aus ihnen hervor, ruhig und traurig, Mohn
und Schlaf. Mich überkam ein jäher Wandel meines Empfindens und eine
Traurigkeit; plötzlich ward ich mir der ganzen Nichtigkeit meines Vorhabens
in beschämender Klarheit bewußt. Wie hatte ich dem Irrtum verfallen können,
zu glauben, daß wir den Herrlichkeiten der Natur dadurch auch nur um ein
Geringes näher kommen, daß wir ihre Erzeugnisse unter Glas und in Kästen
bergen. Ich empfand mich plötzlich als vielfacher Mörder, und vor mir
harrte das Heer der blutigen Krieger ihres Lohns. Da gab ich dem Kinde den
Rest des Geldes, das Pascha mir gebracht hatte, und stand auf, um verkünden
zu lassen, daß meine Ansprüche befriedigt seien, und daß ich keiner
weiteren Insekten mehr bedürfte.




Drittes Kapitel

Die Nacht mit Huc, dem Affen


Eines Morgens stand auf der Veranda meines Hauses in Cannanore ein brauner
Hinduknabe, der einen Affen auf der Schulter trug. Wie lange er schon dort
gestanden hatte, wußte ich nicht, weil die Eingeborenen bescheiden zu
warten pflegen, bis es dem fremden Herrn gefällt, sie anzureden. Auch wenn
sie annehmen, längst gesehen worden zu sein, harren sie geduldig fort, oft
stundenlang, ob es nun auch gefällt, sie zu beachten. Dieser Umstand hat
mir in der ersten Zeit meines indischen Aufenthalts oft einen nicht
gelinden Schreck eingebracht, denn auch wenn ein Diener des Hauses ein
Zimmer betritt, wartet er still in der Nähe des Herrn, bis er angeredet
wird. Es geschah mir in Bitschapur, wo ich zu Anfang meiner Reise inmitten
alter zerfallener Königsschlösser mein Lager aufgeschlagen hatte, daß ich
nächtlicherweile plötzlich am Schreibtisch den Eindruck gewann, es stünde
jemand hinter mir. Solche Befürchtung ist in der Verlassenheit tiefer Nacht
um vieles beängstigender, als die Gewißheit eines jähen, unerwarteten
Zusammentreffens. Ich weiß noch heute genau, daß ich lange nicht wagte,
mich umzuschauen, und als ich es endlich langsam, Zoll um Zoll, tat und
plötzlich den Umriß einer braunen Gestalt, dunkel in dunkel, hinter mir
gewahrte, emporfuhr, als sei es der Böse selber, der mich heimsuchte. Der
Bote hatte, in der festen Annahme, daß ich längst von seiner Gegenwart
Notiz genommen hatte, bescheiden und geduldig auf meine Anrede gewartet. Da
die Hindus den Tritt nackter Füße, selbst auf einer Kokosmatte, deutlich
hören, begreifen sie nicht ohne Schulung, daß unser Ohr an deutlichere
Beweise einer Annäherung gewöhnt ist. Glücklicherweise erschrak damals der
nächtliche Ankömmling so heftig über meinen Schreck, daß mich ein Lachen
befreite und aus meinem Entsetzen riß.

Eine große Zahl Berichterstatter aus dem heutigen Indien behaupten in
Büchern und Journalen immer wieder, dies Land sei aller Geheimnisse und
Wunder und aller Mystik längst entkleidet. Wahrscheinlich kennen sie von
Indien nur die neumodischen Hotels. Ich habe den poetischen Glanz der Veden
und den Geist Kalidasas überall gefunden und erst im Lande selbst recht
würdigen und fassen gelernt, und der bedauernden Ernüchterung der modernen
Propheten habe ich nur den Kummer entgegenzuhalten, daß meine Kräfte nicht
ausreichen, von den mystischen Herrlichkeiten und dem geheimnisvollen
Zauber aller Erscheinungen ein rechtes Bild zu geben. Wer allerdings die
Wunder Indiens in der Kunst der Taschenspieler sucht und enttäuscht ist,
wenn ihm keine Gelegenheit geboten ist, auf einem frei hängenden Seil
emporklettern zu können, wird seine Erwartungen nicht erfüllt sehen, aber
er wird nicht nur in Indien, sondern überall in der Welt enttäuscht sein,
wo er glaubt, etwas Rechtes erleben zu können, ohne etwas Rechtes zu sein.
Denn das Mystische ist weder das Dunkle und Unklare, noch das phantastisch
Bedrohliche unverständlicher oder geheimnisvoller Vorgänge, sondern es
umschließt, seiner tieferen Bedeutung nach, viel eher die Gewißheit ewiger
Wahrheiten in ihrem Fortwirken jenseits unserer Erkenntnis.

Jener Knabe nun, den ich vor meinem Hause fand, bot mir seinen Affen zum
Kauf an, ich erfuhr durch Panja sein Anerbieten und den nützlichen Zweck,
der sich für jeden Garteninhaber mit dem Besitz eines Affen verbinde. »Er
holt die Kokosnüsse aus den Palmen«, erklärte mir Panja. Das kleine,
graubraune Tierchen, das etwa die Größe eines Foxterriers hatte, sah mich
von seinem erhöhten Sitz ruhig aus seinen alten Zügen an. Es war an einer
Kette befestigt, deren Ende einen Ring um seine hageren Lenden bildete.
Der Knabe erklärte sich bereit, seinen Affen vorzuführen, und in der Tat
zeigte sich das Tier außerordentlich gut unterrichtet. Kaum war er von
seiner Fessel befreit worden, als er mit großer Geschwindigkeit eine Palme
erstieg, eine große Nuß abdrehte und sich geduldig wieder festlegen ließ,
nachdem die Nuß gefallen war, und er, um vieles langsamer, wieder
niederkletterte. Panja verhandelte mit dem Knaben wegen des Kaufpreises,
und während ich, ohne zu verstehen, die beiden beobachtete, gewahrte ich,
daß eine sichtbare Besorgnis das Gesicht des Hinduknaben betrübte. Er
schien begierig und traurig zugleich. »Er will seinen Affen nur vermieten,«
erklärte Panja, »das kommt daher, daß er ein Dummkopf ist.«

Mir schienen die Dinge anders zu liegen; ich bemerkte deutlich, daß der
Knabe heißes Verlangen nach der Kaufsumme trug, die er zu erzielen hoffte,
daß er sich aber schwer für alle Zeit von seinem Affen zu trennen
vermochte.

»Biete ihm fünf Rupien als Kaufsumme«, sagte ich.

Panja bot eine. Der Knabe zitterte heftig, denn schon diese kleine Summe,
die nach unserem Geld noch nicht zwei Mark ausmacht, bedeutete ihm einen
großen Schatz. Da die Ergriffenheit des Kindes mich deshalb fesselte, weil
ich deutlich zu fühlen glaubte, daß nicht einzig seine Geldgier ihn
bewegte, gab ich Panja ein nicht mißzuverstehendes Zeichen, daß ich
vorübergehend Gehorsam von ihm forderte. Er wußte, daß ich genug
kanaresisch verstand, um ihn kontrollieren zu können, und sank in eine
Haltung gottergebener Verzweiflung zusammen, die er stets einnahm, wenn ich
meinem Untergang entgegenging, ohne seine Hilfsbereitschaft zu beachten.
»Weshalb willst du den Affen nicht verkaufen?« ließ ich fragen.

»Ich habe sonst kein Eigentum«, antwortete das Kind.

»Aber wenn ich dir eine große Summe gebe, so kannst du leicht neue Affen
erstehen. Ich biete dir fünf Rupien.«

Panja verschluckte sich bei der Summe und mußte sie noch einmal sagen.

Der Knabe zitterte so heftig, daß ich ihn am liebsten in die Arme
geschlossen hätte. Er sagte zögernd:

»Es ist kein Affe so gut wie Huc. Aber,« fügte er schnell und mühsam hinzu:
»für diese große Summe will ich ihn dir geben. Du wirst Huc weder schlagen
noch töten, und wenn du erlaubst, werde ich zuweilen kommen und durch das
Gartengitter schauen.«

»Weshalb verkaufst du ihn, wenn du deinen Affen liebst?« fragte ich.

»Soll ich so was wirklich übersetzen?« fragte Panja.

Ich sah ihn an, und er übersetzte meine Worte wie ein Automat.

»Meine Eltern hungern«, sagte das Kind einfach, ohne Klage und ohne
Anklage. Und im Verlauf des Gespräches erfuhr ich eine merkwürdige
Geschichte, die mich lebhaft fesselte. Der Vater dieses Knaben war von der
deutschen Missionsgesellschaft in einer Weberei, die in Cannanore von den
Missionen unterhalten wird, angestellt gewesen, nachdem er sich zum
Christentum bekehrt hatte. Da er sich aber im Verlauf seiner Tätigkeit
wiederholt Diebstähle hatte zuschulden kommen lassen, war er entlassen
worden. Seine Stammesgenossen, die ihn längst als Abtrünnigen betrachtet
hatten, wollten nun, bei seiner Wiederkehr in ihr Bereich, nichts mehr von
ihm wissen, und er war hier wie dort ein Geächteter geworden und in Elend
geraten. Nun begriff ich wohl, daß man in einer Industrie keine Diebe
gebrauchen kann, aber der Gedanke, ob im Tempel eine Weberei am Platze sei,
erfüllte mich nach dieser Erfahrung mit mancherlei Zweifeln. Die Wechsler
und die Priester werden in keinerlei Gotteshaus zum Segen einander dienlich
sein, am wenigsten in einem christlichen.

Ich sollte auf diesem Gebiet noch recht unterhaltsame Erfahrungen machen,
und es stand mir noch bevor, einige dieser Gottesboten kennen zu lernen,
sowie auch den Geist und Wert ihres Wesens. Panja mußte nun zu seiner
Bekümmernis mit dem Knaben einen Vertrag abschließen, nach welchem mir das
Recht auf den Affen Huc für zwei Monate zustand, wogegen ich die Summe von
fünf Rupien im voraus als Gebühr entrichtete. Dem Besitzer stand es zu,
seinen Affen zweimal in der Woche zu besuchen und ihn abzuholen, falls ich
früher als in der ausgemachten Frist Cannanore verließ.

Das Kind eilte glücklich heim, und Panja kündigte mir den Dienst; dies
hatte aber weiter nichts zu bedeuten, denn er tat es oft. Als ich von
seiner Abkehr keine Notiz nahm, blieb er stehen und sah mich an.

»Sahib,« begann er, »du wirst in wenigen Wochen ruiniert sein, und was wird
dann aus mir und meiner alten Mutter, meinen Geschwistern, den Schwestern
meiner Mutter und den Reisfeldern am Purrha?«

Ich erwiderte höflich:

»Panja, als ich dir vor wenigen Wochen die zehnte Rupie deines Vorschusses
ausbezahlte, sagtest du mir, deine Mutter sei gestorben, und du brauchtest
das Geld für ihre Bestattung.«

»Es war meine Großmutter,« sagte Panja, »soll ich dir von ihr erzählen?«

»Deine Großmutter starb bei unserer Ankunft in Bitschapur.«

»Du wirfst alles durcheinander,« sagte Panja traurig, »nur den Vorschuß
behältst du richtig im Gedächtnis.«

Diesen Tadel meiner Gesinnung zog ich mir deshalb zu, weil Panjas Vorschuß
doppelt so groß war, als ich gewagt hatte, anzuführen, und ich nahm mir
ernstlich vor, künftig ehrlicher zu sein.

Als ich gegen Abend vom Meer heimkehrte, nachdem ich am Strand der
Fischerstadt ein Boot erhandelt hatte, fand ich Huc in meinem Zimmer. Panja
war nirgends aufzutreiben, und Pascha servierte mir schweigend den Reis am
Ausgang zur Veranda. Ich sah seinen Bewegungen und dem gelassenen Schaffen
des Mannes zu. Er nahm die Tonkrüge mit gekochtem Wasser aus ihren
Bambusschaukeln, in denen sie zur Kühlung geschwenkt werden, trug die
Speisen und Früchte ernst und sorgfältig herzu, alles in kleinen Gerichten
und zierlich verwahrt, Früchte des Zimtapfelbaums, Ingwer, geröstete
Pisangfrüchte und Reis mit Curry und Kokossaft. Ich hatte mich damals
längst an die indische Kost gewöhnt, die in ihrer großen Mannigfaltigkeit
wahrhaft kennen zu lernen wenigen vergönnt ist, denn selbst in den
Hinduhotels bemühen sich die Eingeborenen, den Europäern die Speisen auf
deren Art zuzubereiten. Wer den Reichtum der indischen Früchte kennen
gelernt hat und ihre Art seinen Bedürfnissen anzupassen versteht, ist in
Indien wohl daran und wird diese erfrischende und gesunde Ernährungsart
jeder anderen vorziehen und niemals vergessen.

Als Pascha die Ananas und die Bananen brachte und die ersten Mangofrüchte,
die noch nicht in Malabar gereift waren, sah er Huc, den Affen, neben den
Speisen auf dem Tisch sitzen und erschrak.

»Ich werde ihn hinausbringen«, sagte er.

Aber ich erklärte ihm, daß ich mit Huc sprechen müsse, und er ging still
hinaus. Anfänglich hatte der Affe nur geringes Zutrauen zu mir gehabt und
sich in seiner weichlichen Vorsicht immer wieder zurückzuziehen versucht,
aber bald hatte er herausgebracht, daß ich es gut mit ihm meinte, und in
seiner scheinbar so nachlässig abwartenden Art betrachtete er mich und nahm
zögernd mit matter, immer ein wenig hängender Hand, was ich ihm darbot. Er
hatte großes Mißtrauen gegen die Menschen, der Arme, denn einem gefangenen
Affen ist in Indien kein gutes Los beschieden, er muß den Haß und die
Verachtung erleiden, die seinen räuberischen Gefährten gelten. Jeder
Vorübergehende vergnügt sich eine Weile damit, an dem Gefangenen einen Teil
seines Zornes auszulassen, den seine Brüder in der Freiheit mit ihrem
frechen, spöttischen Wesen, in der Sicherheit ihrer Palmenkronen,
heraufbeschworen haben. Am schlimmsten aber setzen die Kinder ihm zu, deren
gedankenlose Grausamkeit in keinem Lande schlimmer ist, als in Indien, da
die Verdorbenheit der Gesinnung und des Blutes schon früh hinzukommt; und
wieviel gilt in Indien das Leben eines Affen, wo kaum das Leben eines
Menschen etwas gilt. Der Knabe, der mir Huc gebracht hatte, bildete in
seiner Stellung zu dem Tier eine Ausnahme.

Die Abendsonne schien noch. Da ich im Garten eine schmale Bresche in das
Dickicht hatte schlagen lassen, so war nun ein Ausblick auf das Meer
hinüber möglich, aber ich sah nur die Hochebene, hinter der es atmete,
spürte seinen kühlenden Hauch und vernahm sein gedämpftes Dröhnen an den
Felsen. Auf der Höhe der Ebene erblickte ich die Silhouetten zweier Palmen,
deren eine kerzengerade emporstieg, während die andere sich demütig in
einem sanften, ebenmäßigen Bogen zur Seite neigte. Fein und schwarz, wie
mit Kohle gezeichnet, sah ich diese zierlichen Figuren in der Ferne gegen
das Ampelrot des Abendhimmels, sie erhoben sich in der Melodie des Meeres
mitten auf jenem Wege in die Freiheit des Himmels, den meine Augen nun
Abend für Abend nahmen, so lange ich in Cannanore weilte. Lange noch,
nachdem ich die Stadt verlassen hatte, erschien oft dies Bild unter meinen
geschlossenen Lidern und mit ihm die verlorenen und versunkenen Gestalten
meines indischen Lebens, dessen Herrlichkeit kein irdischer Mund wird
nennen können. Im Getriebe der tobenden Großstädte Europas, mitten im
Straßengetümmel, in erleuchteten Sälen unter schwatzenden und lachenden
Menschen, oder in der einsamen Ruhe meines nächtlichen Arbeitsraums
erscheint mir bisweilen noch dies einfache Bild, und mit ihm ersteht die
große Melodie des Ozeans und der Ruf des Wassers an den dunklen Felsen. Das
unstillbare Heimweh nach der Fremde liegt darin beschlossen und ein großer
Friede.

Die Nacht sank nieder, aber Huc tat deutlich den Wunsch kund, noch in
meiner Nähe zu verweilen, und ich ließ es zu, da mich ohne Aufhör das
merkwürdig beklemmende Bewußtsein gefangenhielt, daß wir einander in Rede
und Antwort noch vieles schuldig seien. Kein Lebewesen der Schöpfung löst
in so hohem Maße den Hang zur Nachdenklichkeit über sich selbst in uns aus,
wie der Affe. Während ich langsam ein Glas des schweren indischen Palmweins
nach dem andern meiner isolierten Seele gönnte, zog der gewohnte Reigen
meiner Traumgestalten, von Weinlaub bekränzt, an meinen Augen vorüber, und
langsam verlor mein Herz die Kraft des Alltags, um sie gegen eine bessere
und höhere Kraft einzutauschen, die keine irdischen Erweise ihrer Gewalt zu
geben vermag. Während dieser Stunde saß Huc still und nachdenklich vor mir
und betrachtete mich geduldig. Seine merkwürdig zarten, hellgrauen
Augenlider, die an dünnen Guttapercha erinnerten, hoben sich nur selten
über die Hälfte des scheinbar ermüdeten Auges empor, und die dunklen
Greisenhändchen mit den schwarzen Nägeln führten ein schläfriges und
gesondertes Leben, von dem seine Gedanken nichts zu wissen schienen.

»Huc,« sagte ich zu ihm, »mein geliehener Affe, der Gang, den das
menschliche Herz antritt, wenn es sich ohne Gesellschaft den beschwingten
Führungen des Weins anvertraut, ist überall in der Welt der gleiche, nur
im Grad voneinander unterschieden, aber in seiner Art wie die Gemeinschaft,
derer alle teilhaftig werden, die sich unter die Segnungen eines Sakraments
stellen. Ist es nicht zuerst, als träten die Sorgen des Alltags einen
stillen Rückzug an, daß unser Gefühl erstaunt und sehr erfreut nach der
Ursache dieser Flucht forscht? Auf der nun begrünten Walstatt ihres
quälenden Aufenthalts erhebt sich der freundliche Engel unserer Hoffnung,
der, ohne unsere Augen zu blenden, in feierlicher Weise das Schönste
unserer Zukunft zur Gewißheit macht, so daß wir unvermerkt und heimlich am
Ziel unserer Wünsche angelangt sind. Aber so ist es mit uns, Huc, an diesem
Ziel wird uns plötzlich traurig zumute, weil es solcher Gestalt Guten, wie
der Wein sie aus uns macht, nicht wohl tut, ohne Verlangen zu sein, es
entsteht uns aus dem erreichten Ziel nicht mehr als ein Ausblick auf ein
neues. Und mit der zugleich schmerzvollen und doch seligen Ahnung, daß es
immer so bleiben wird, erwacht in unserm Herzen das Heimweh nach einem
bleibenden Gewinn.«

»Prost«, sagte Huc.

»Du mußt mich jetzt nicht stören«, antwortete ich in jener Bekümmernis, in
die leicht Leute geraten können, die ihre Gedanken viel wichtiger nehmen,
als sie sind, und die deshalb glauben, man wollte sie ablenken, wenn man
ihre Ergriffenheit nicht teilt. »Huc, wir müssen nun sehen, wo dieser Trost
zu finden ist, und in welcher Gestalt er einhergeht. Er taucht aus dem
Grund unseres Glases hervor, aus dem Schatten des Kelchs und wird zum
Bildnis einer Frau auf seinem goldenen Spiegel.

  Alles was wir gern geglaubt
  strahlt aus seinem Grund,
  Jesu schmerzgeneigtes Haupt
  und der Liebsten Mund.«

»Keine Verse, bitte«, sagte Huc.

»Vergib,« antwortete ich, »es kommt zuweilen vor, ohne daß man es
beabsichtigt, aber ich begreife, daß die Wesen selten sind, die erkennen
können, daß man die Dinge wahrhaft schön nur in Versen sagen kann. Sieh
nun, Huc, das Bildnis dieser Frau gleicht dem keines dieser Wesen, die wir
kennen, die Schönheit und Milde dieses Angesichts ist niemals in der Welt
zu finden, und darin liegt sein unnennbarer Trost. Aus dem Grund ihrer
Augen erstrahlen das unvergängliche Leben und der irdische Schlaf, und vom
Schlaf steigen liebliche Schleier empor, wie der Duft des Jasmins in der
Sommernacht, und legen sich über unsere Augen, so daß wir in Ruhe
versinken, als hätten wir uns nichts gewünscht, als diese gnädige Ruhe.«

»Ein Asket bist du also nur,« antwortete Huc, »weil der Weg dorthin mit
einer Reihe genußreicher Annehmlichkeiten verbunden ist.« Er fuhr sich
rasch mit der Hand über die schmalen Lippen seines großen Mundes, der wie
in eine dunkle Halbkugel eingeschnitten war, und ließ dann mit
hochgezogenen Brauen die Hand wieder sinken, als habe er sie vergessen.
»Gib einen Schluck her«, fuhr er fort und zog die Schultern hoch, wobei
sein Kopf vorrückte und mir so groß erschien wie ein Menschenkopf. Er trank
vorsichtig, leckte sich umständlich die Lippen und atmete so schmerzvoll
auf, wie nur Menschen aufatmen können.

Es war eine Weile still zwischen uns, die nächtlichen Geräusche der Natur
drangen gedämpft zu uns herein und das leise, heimliche Sausen der
reisenden Erde. Da legte Huc die welke Hand auf die Gegend seines Herzens
und sagte einfach:

»Ich bin schwindsüchtig und werde nicht mehr lange leben, ich will dir von
den Wäldern erzählen. Viel kann ich nicht sagen, denn die Schönheit der
Wälder ist so groß, daß die Gedanken und Worte darüber zu Träumen werden,
je näher sie der Wahrheit kommen. Denke nicht, meine Krankheit betrübte
mich, nur armselige Wesen leiden an ihrem Leibe, alle Schmerzen des Körpers
und seine Hinfälligkeit sollte man nur mit einem Lächeln hinnehmen.«

»Ich bin erstaunt über deine Weisheit, Huc«, sagte ich.

»Wie hochmütig du sein mußt, um darüber zu erstaunen«, antwortete Huc ohne
Eifer. »Ihr Menschen habt verlernt, in den lebendigen Wesen der Schöpfung
den Schöpfer zu ehren, und ihr überschätzt eure Eigenschaften so sehr, daß
ihr darüber diejenigen aller anderen Wesen belächelt. Aber wir sind alle
auf dem gleichen Wege, und wenn wir Sinne hätten die Zeit zu ermessen und
sie in Vergangenheit und Zukunft zu überschauen vermöchten, würden wir
ehrfürchtiger sein, bescheidener und frömmer. Gib einen Schluck her.«

Ich reichte ihm das Glas, das er mit beiden Händen nahm und langsam mit
geschlossenen Augen leerte.

»Alle guten Menschen haben den Hang, den Tieren in ihrem Gehabe und Wesen
zuzuschauen,« fuhr Huc ruhig fort, »es regt ihre Ahnungen einer zukünftigen
Vollendung in Rührung und ungewissem Glauben an; andere sind schon viel
weiter und lernen es, die Eigenarten der Pflanzen zu bewundern, die,
obgleich sie sich von denen der Tiere unterscheiden, doch nicht weniger
mannigfaltig sind; wann aber werdet ihr das Leben der Steine beachten? Die
Menschen haben die Geduld verloren. Ich habe lange unter ihnen leben müssen
und darunter nicht nur gelitten, wie du meintest, als du mich ausliehst,
sondern ich habe auch gelernt. Ich habe ihre Häuser und Städte kennen
gelernt, bin auf Schiffen die Küste entlang gefahren, so daß die Wälder an
den Ufern mir wie feine blaue Nebelstriche erschienen, sogar eine
Eisenbahnfahrt habe ich gemacht, so daß ich weiß, worauf ihr stolz seid. In
der Gesellschaft mit Menschen habe ich mir meine Krankheit zugezogen, denn
ich habe in Regen und Wind und in der furchtbaren Sonne ohne Schutz auf
meinem Pfahl zubringen müssen, an den ich mit einer Kette angeschlossen
war. Du wirst mein letzter Herr sein. Prost!«

Ich holte ein zweites Glas für mich herbei und schenkte uns beiden aufs
neue ein. Huc saß still mit seinen alten, nachdenklichen Augen dicht vor
mir auf dem Tisch, so daß unsere Stirnen etwa in gleicher Höhe waren,
zwischen zwei glänzenden Flaschen im Kerzenlicht. Eine Weile spielte er mit
dem farbigen Stanniol, zerriß es und roch daran. Als er es endlich aus den
Händen fallen ließ, als habe er nie Interesse daran bekundet, zweifelte ich
wieder für einen Augenblick an seiner Bedeutung.

»Du bist doch nur ein Affe«, sagte ich, und raffte mich auf wie aus einem
Traum.

Huc zog seinen langen Schwanz melancholisch durch die Hand, hielt endlich
das Ende fest und fragte, das runde Maul mit einem Ruck auf mich zustoßend:

»Wieviel hast du eigentlich schon getrunken?«

Ich entschuldigte mich beschämt; so war also Huc doch im Recht, wie ich
gleich anfangs angenommen hatte, als er mich von der Schulter seines jungen
Herrn aus mit seinem unbeirrbaren Ernst und seiner versunkenen
Überlegenheit angesehen hatte. »Erzähle von den Wäldern«, bat ich.

»Ich meine oft,« begann Huc ruhig, »ich kenne die Wälder erst, seit ich sie
habe verlassen müssen, weil ich mich von jenem Tage an, Stunde für Stunde,
bis tief in meine Träume hinein habe mit ihnen befassen müssen, und darüber
habe ich auch erfahren, daß das Geliebte erst recht unser Eigentum zu
werden scheint, wenn wir es verloren haben. Alles Kleine ist dahingesunken,
und mir ist nur ein einziges strahlendes Bild von herrlicher Freiheit im
Gemüt zurückgeblieben, es ist verwoben mit dem weißen Licht des Mondes
über dem Blätterdach der Bäume, mit dem Spiel des Sonnenscheins im frischen
Grün, mit dem Lied der Nachtigall am Wasser und dem Geruch der Blüten,
deren es so viele gibt, wie unsere Sinne nur immer an Farben und Gestalten
ersinnen können. Du wirst länger leben als ich, so will ich dir die
Sehnsucht nach den Wäldern als Erbteil zurücklassen, bewahre sie.«

Ich hob mein Glas, um es als Zeichen der Bestätigung aufs neue zu leeren,
aber Huc trank nicht mehr mit. Er schmiegte sich an die eine Flasche, die
nur um weniges kleiner war als er, als könnte ihr buntes Funkeln im
Kerzenschein ihn wärmen, und sprach eintönig und scheinbar ohne
Begeisterung weiter, seine Züge lächelten weder, noch verrieten sie Trauer.

»Es war an einem Frühlingsmorgen, als ich in Gefangenschaft geriet, meine
Heimat liegt weit von hier, in den Dschungeln von Mangalore, der alten
Priesterstadt am Meer. Ich geriet auf einem Reisfeld in eine Schlinge, die
von den Menschen gelegt worden war, und ergab mich in mein Geschick, als
ich merkte, daß das Hanfseil unzerreißbar war, das sich mir um Arm und
Schultern gelegt hatte. Zwei Knaben schleppten mich in eine armselige
Hütte, die aus Lehmwänden und Palmblättern zwischen den hängenden Wurzeln
eines wilden Feigenbaums errichtet worden war. Es roch nach Sandelholz und
verbranntem Kuhmist und war so dumpf und dunkel, daß ich lange Zeit wenig
erkannte. Als ich nach der ersten Nacht am Morgen erwachte, sah ich den
Sonnenschein auf den Bananenblättern vor dem engen Fenster und dachte an
die Gefährten in der Freiheit, die sich nun, wie einst auch ich, auf den
Wipfeln der Arekapalmen im Morgenwind schaukelten und den Kranichen
zuschauten, die auf den Sandinseln im seichten Wasser des Flusses standen
und fischten. Wenn ich meine Augen schloß, so hörte ich das Wasser
rauschen und die Stimmen der Schilfpflanzen am Ufer. Ich hörte die Lockrufe
der Wildtauben aus den dichten Lauben des Gehölzes dringen und sah den
Panther durch das Ried schleichen, um zu trinken. Er bewegte sich zwischen
den Sonnenspeeren und Schattenstrichen des hohen Schilfs, als spielten
Sonne und Wind mit Schatten und Licht, und niemand erkennt ihn, wenn ihn
sein heiseres Keuchen nicht verrät, oder sein dampfender Atem, der von dem
Blutgeruch seines nächtlichen Raubs schwer ist. Hoch über mir sang der
Milan seinen hellen Jagdruf im Blauen, nach Beute ausspähend, wie von Gold
übergossen schwebte er klein und selig in der kühlen Morgenhöhe, über dem
wilden, grünen Meer des Dschungels. Ich saß Schulter an Schulter mit den
Gefährten in der rötlichen Frühsonne in der Höhe, atmete die herrliche Luft
ein und fühlte die schweigsamen Bewegungen der unzähligen Pflanzen unter
mir, die sich gegen die Sonne emporreckten. Du würdest lernen, das
leidvolle und süße Geräusch der aufbrechenden Blumen zu hören, wenn du mit
mir im Urwald gelebt hättest, du könntest den Duft des ersten Aufbrechens
vom Hauch des Verblühens unterscheiden, und das wollüstige Drängen, das
sehnsüchtige Keimen, und die Hingabe dieser Geduldigen, in der Lust und Not
ihres Frühlings Erzitternden.

Aber was ist euch Alltäglichen nicht alles wichtig und wie vielerlei
Geringfügiges setzt ihr höher an, als die beschauliche Gemeinschaft mit dem
Leben der großen Natur. Wir Affen gelten bei euch als ein unnützes
gedankenloses Volk, das nichts Gescheites zustande bringt und seinen Tag
vertändelt. Aber wieviel wißt ihr vom Glück unseres freien Daseins in der
Sonne oder im Mondglanz in der weißen, gärenden Nacht, von unserer
Gemeinschaft mit dem unschuldigen Geschick der tausendfältigen Geschöpfe
der Natur? Glaubst du, wir gäben nicht für eine einzige Stunde friedvoller
Gemeinschaft mit den Glücklichen des Waldes den ganzen Tand dahin, um
dessentwillen ihr euch euren hastigen Tag hindurch so wichtig gebärdet? Die
Wahrheit, daß wir euer Wesen nicht haben, schließt uns vom irdischen
Daseinsglück nicht aus, und habt ihr denn in der Zeitlichkeit ein anderes
Ziel als das Glück? Ihr verlacht uns, wenn ihr uns unsere Freiheit genommen
habt, und vergeßt, daß wir ohne sie nichts mehr sind. Nur im Glück lernt
man ein Wesen wahrhaft kennen, denn das Glück ist die Vorbedingung zum
wohlabgewogenen Selbstbewußtsein, und aus dem Selbstbewußtsein kommt alles
Große.«

»Was ist denn von euch Affen Großes gekommen?« fragte ich.

Huc zog die Achsel hoch, und sein Gesicht wurde grau und alt, als wären
Jahrtausende über diese Züge dahingegangen; er bekam etwas von einer
ägyptischen Mumie und zugleich etwas schwermütig Tierhaftes von
unbeschreiblich drohendem Ernst.

»So kann nur ein Mensch fragen,« sagte er matt. »Immer noch glaubt ihr, der
Natur etwas hinzufügen zu können, und meint, etwas erschaffen zu müssen, um
bestehen zu bleiben. Euer ewiger Bestand hat nichts zu tun mit euren
Werken, und solange ihr glaubt, euch im Streben Erlösung zu sichern,
beweist ihr nur, daß ihr nicht wißt, was Erlösung ist. Das Große, das dem
rechten Selbstbewußtsein entspringt, ist nicht Werk von Menschenhand,
sondern die Liebe zu allem Erschaffenen der Natur.«

»Was weißt denn du von Gott, du Affe!« sagte ich.

»Es kommt nur darauf an, daß Gott etwas von mir weiß,« antwortete Huc, »und
er tut es. Unglücklich sind nur diejenigen, derer Gott sich nicht
erinnert.«

»Das ist wahr, Huc, das ist wahr, ich habe dir unrecht getan, Huc.«

»Nun fängst du gar an, mir zu glauben,« entgegnete der Affe melancholisch,
»nichts könnte mich mehr an der Wahrheit meiner Worte irre machen.«

Huc hatte nun einmal keine gute Meinung von mir, ich weiß nicht, wodurch
ich sein Mißfallen erregte, vielleicht dadurch, daß ich zu viel Palmwein
getrunken hatte.

»Erzähle von den Wäldern,« bat ich, »über Gott soll man nicht streiten,
kein Weiser streitet über Gott.«

»Das wäre für dich ein Grund, es zu tun«, sagte Huc, öffnete sein Maul ein
wenig, so daß ich seine Zähne blinken sah, und es erschien mir plötzlich,
als lauerte eine erschreckende Bosheit hinter seinen Zügen.

Es ergriff mich über dieser Wahrnehmung ein unbeschreiblicher Zorn, dessen
Ursprung gewiß nicht allein in diesem heimlichen Hohn des Tieres zu suchen
war, sondern vielmehr in jener an Wut grenzenden Beschämung, in welcher man
das Gebäude einer falschen Gotterkenntnis unter den einfältigen
Liebesansprüchen der Natur zusammenbrechen fühlt. In Besinnungslosigkeit
und Verblendung ergriff ich jählings eine der Flaschen, packte sie am Hals
und schwenkte sie hoch durch die Luft, um sie mit einem wuchtigen Schlag
auf Hucs kahlem Schädel zu zerschmettern. Die Scherben stoben in einem
bunten Regen nach allen Seiten auseinander und ich glaubte einen dunklen
Schatten davonhuschen zu sehen, als ich die von einem jähen Licht
geblendeten Augen öffnete.

Da erkannte ich, daß draußen die Morgensonne auf die Blätter schien, und
daß ich in der Nacht am Tischrand auf meinen Armen eingeschlafen war.
Bestürzt und benommen sah ich mich um, denn das Klirren des Glases lag mir
so deutlich im Ohr, daß kein Zweifel darüber herrschen konnte, daß eine
Flasche zerschlagen war. Da erkannte ich, daß ich im Schlaf ein Glas vom
Tisch gestoßen hatte, am Boden blinkten die Scherben im Morgenlicht, und
vom halbgeöffneten Fenster her wehte es kühl herein und brachte das
Geschrei der Sittiche aus den Mangobäumen mit sich. Ich raffte meine
erstarrten Glieder mühselig auf, eins nach dem andern, und gähnte über die
stille dunkle Weinlache hin, die den Tisch zierte, und in der meine Zigarre
jämmerlich ertrunken war. Immer noch ein wenig betäubt, bückte ich mich
endlich nieder, um Hucs Leiche aufzulesen, aber ich fand den Affen
nirgends. Da fiel mein Blick auf das ungeschlossene Fenster, und mit leisem
Schreck begriff ich Hucs Geschick. Ich trat, nicht ohne einen Anflug von
Altersschwäche, mit geraden Beinen und etwas krampfhaft geschwenkten Armen
auf die Veranda hinaus und richtig fand ich Huc auf dem Gipfel einer
Papeiapalme. Es sah aus, als säße er auf seinen Händen, dabei schaukelte er
sich seelenvergnügt nach besten Kräften, und auf meinen Zuruf hin schaute
er nieder, zog den Kopf zwischen die Schultern und zeigte mir fletschend
die Zähne, als verlachte er mich. Aber bald wurde ich ihm gleichgültig, er
blinzelte in die rote Morgensonne hinein, ließ den Zweig ausschwanken, wie
er wollte, legte den kleinen, klugen Menschenkopf in den Nacken und schloß
vor Lebensseligkeit die Augen.

Als ich ins Zimmer zurückging, stand Panja in der geöffneten Tür, die Hände
auf dem Rücken, morgenfrisch und ausgeschlafen stand er da, den sauberen
Turban auf dem kohlschwarzen Strähnenhaar, und seine Augen wanderten mit
unaussprechlichem Ausdruck von der umgestoßenen Weinflasche bald zu den
Scherben am Boden, bald über meine arme Gestalt hin, die in der Tat der
Frische und Schwungkraft entbehrte.

»Sahib...«, sagte er und stemmte die Hände in die Hüften.

Ich will den Ausdruck seines Gesichts nicht schildern, es ist eine
unangenehme Erinnerung für mich. Nun wird er nach dem Affen fragen, dachte
ich, aber es geschah nicht. Panja war seit dieser Nacht, nach welcher er
Elias allein in meinem Bett gefunden hatte, davon überzeugt, daß selbst er
mir nicht zu helfen in der Lage sei. Er sagte nur in einer ganz
abscheulichen Überlegenheit, die ich ihm nicht vergessen werde:

»Sahib, es ist ein Fischer draußen, der dir sagen läßt, der Ostwind sei
gekommen, und dein Boot sei für die Meerfahrt bereit.«




Viertes Kapitel

Am Silbergrab des Watarpatnam


Es wurde von Tag zu Tag heißer, ich schlief in der Mittagsstunde mit der
Zigarre in der Hängematte ein, erwachte unfroh und matt, und auch die
Bücher blieben oft tagelang, immer die gleiche Seite aufweisend, offen auf
dem Schreibtisch liegen. Mein Entschluß zu reisen, stand fest, ich
studierte die recht unvollständigen Karten, war aber schon entschlossen,
den Weg nach Norden durch die Flußniederungen der Küste zu machen, obgleich
die Ströme noch reich an Wasser waren und das Land teilweise überschwemmt
hatten. Die Offiziere der englischen Garnison, deren einige ich
kennengelernt hatte, rieten mir ab, aber sie verstanden meine Absichten
nicht, und wenn sie des Glaubens waren, daß mir daran gelegen sei, rasch
und bequem voranzukommen, so hatten sie recht. Immerhin hatte ich in etwa
vierzehn Tagen alle Vorbereitungen getroffen, der Ochsenwagen war gedungen,
Proviant für zwei Monate war herbeigeschafft, und eines Morgens brachte mir
ein Knabe die Nachricht, daß in Tschirakal am Seeufer die Boote auf uns
warteten.

Der Watarpatnam und der Ponani sind, im Norden und Süden Malabars ins Meer
einmündend, die größten Ströme des Landes. Der Watarpatnam bildet, wie die
meisten Flüsse der Westküste, vor seiner Einmündung ein gewaltiges
Seenbecken, in welchem sich die Meerflut durch einen schmalen Ausfluß mit
seinen Wassern verbindet. Die einzelnen Flußmündungen dagegen sind unter
sich, mitsamt ihren Seen durch Kanäle verbunden, die vor der Zeit der
Kämpfe Tippu Sultans mit den Engländern, dieser ebenso umsichtige wie
grausame Fürst anlegen ließ, um den Handel zur Zeit der Monsunstürme, die
die Küste unbefahrbar machen, in den Meerstädten keine Unterbrechung
erleiden zu lassen. Heute, wo der Hauptküstenhandel durch die Dampfschiffe
besorgt wird, ist diese herrliche Wasserstraße durch die Seeniederungen und
den Urwald fast vergessen worden. Die Kanäle sind zum Teil durch die
Anschwemmungen der Regenzeit versandet, oder das leidenschaftliche Wachstum
seiner Ufer hat sie völlig eingesponnen.

Panja war in bester Laune, seit ich meinen Entschluß kundgetan hatte, die
Stadt zu verlassen, denn er liebte Cannanore nicht und wünschte sich, mit
mir in Gebiete zu kommen, in denen wir allein herrschten. Als er von den
Wegen hörte, die ich zu machen gesonnen war, kratzte er sich froh und
nachdenklich im Nacken und sah mich geistesabwesend von der Seite an; heute
weiß ich, daß er vielleicht manches besser überschaute, was unserer
wartete, als ich, und daß es ihn heimlich erfreute, mich bald in großer
Abhängigkeit von sich zu wissen. Er leitete die Vorbereitungen mit viel
Umsicht, und aus mancher Anschaffung, die er entschlossen und selbständig
machte, gewann ich langsam einen Einblick in die Schwierigkeiten, die es zu
überwinden galt. Er vertauschte meine letzten Lederkoffer mit solchen aus
Eisenblech, und eine Mauer von Blechbüchsen verschwand im Gepäckwagen, er
riet mir, meine Waffen nicht zur Schau zu tragen, sie aber wohl zu rüsten,
da die Mohammedaner uns rudern würden.

Ich wußte damals noch nicht, wie weit seine Befürchtungen angebracht waren,
aber es war mir bekannt, daß vielerlei Gesindel der Hinduwelt nur deshalb
zum Islam übertritt, um die größeren Freiheiten dieser Lehre zu genießen.
Die Mohammedaner bilden in den Westprovinzen eine entschlossene und geeinte
Gesellschaft, von der England größere Gefahr droht, als von den Anhängern
des Hinduismus, der durch den Kastengeist hundertfältig gespalten und in
die verschiedensten Interessengebiete zergliedert ist.

Sonst verriet unsere Expedition eher die Friedlichkeit, als die Gefahren
des Landes, die nicht von den Menschen kommen, und ich erinnerte mich,
vergleichend, einer anderen Ausfahrt in die Wildnis, die in meiner
Gegenwart für den Sudan ausgerüstet wurde. Damals starrte das bunte Lager
von Waffen und Todesbereitschaft, die glänzenden Riesengestalten der Neger
verbreiteten das heimliche Grauen vor ihren blutdürstigen Brüdern im
Innenlande, und mit den Schwingen der Aasgeier, die den Ausgangsort der
Expedition umkreisten, rauschten in der Luft die Fittiche des Todesengels,
dessen furchtbare Züge die Seuchen Afrikas und den Blutdurst in
Fieberschwüle ausstrahlten. Viel später, als ich längst nach Europa
zurückgekehrt war, erfuhr ich, daß von jener Gesellschaft nicht ein
Einziger in die Heimat zurückgekehrt sei, der letzte Name ist in einem
Krankenhaus von Genua verklungen, in das ein fiebernder Straßenbettler
eingeliefert wurde, der, aller Mittel beraubt, und von einer furchtbaren
Krankheit zerfressen, den Versuch gemacht hatte, seine deutsche Heimat von
Neapel aus zu Fuß zu erreichen.

Die Gefahren Indiens haben dagegen wenig mit dem Charakter der
Urbevölkerung zu tun, denn seine Menschen sind friedliebend und ergeben,
sie töten nicht und sind seit Jahrtausenden gewohnt, beherrscht zu werden.
Abgesehen von den durch politischen Fanatismus aufgewühlten Leidenschaften
und ihren von Rachgier, Haß und Herrschsucht entfesselten Unbillen, sind
die europäischen Reisenden im größten Teil des Landes vor den Eingeborenen
sicher; gäbe es nicht die Gefahren des Fiebers, der wilden Tiere und der
Pest, so wäre das heutige Indien für die, welche um ihr Leben besorgt sind,
weit weniger gefahrvoll, als die Umgebung unserer europäischen Großstädte
bei Nacht. Indiens Gefahren, seine Einflüsse und geheimnisvollen Mächte
walten in anderen Regionen des Seins, als dort, wo das Messer oder die
Büchse über Wohl und Wehe entscheiden. Indien wird kaum jemand gefährlich
werden, dessen Ansprüche nicht über die Erhaltung seines leiblichen Lebens
hinausgehen, aber sein dämonischer Geist trifft das Mark der Seele dort
inmitten, wo ihr Flug die großen Fragen allen Seins und die Höhen des
Menschenbewußtseins zu erstürmen sucht. Der alte Geist des ewigen
Gottreichs lähmt mit der unfaßbaren Stille seines himmlischen Triumphs
allen zornigen Eifer des Kampfes und der Forschung, alle Jugend im Streit
um die Erkenntnis und die Frische jeder Tat im Geist. Es ist alles gewesen.

  Erkenntnis ist es, welche Opfer zeitigt,
  Erkenntnis nur vollzieht die heiligen Werke,
  die Götter auch, im Licht, allein verehren
  als Brahman, als das älteste, die Erkenntnis.
  Und wer begreift als Brahman die Erkenntnis,
  und wer sich nicht mehr ab vom Brahman wendet,
  streift schon im Leibe alle Übel von sich,
  und alle Wünsche werden sich erfüllen.

Den Himmelswelten der Upanishad und ihrem Licht ist kein Geistesstrahl
fremd, der ihr aus der Erkenntniswelt unserer Kulturen entgegenbricht, es
gibt nur Einkehr in Gehorsam und Stille oder eine ruhlose Umkehr, und
überall in Indien träumt ihr Friede über all den lebendigen und erstorbenen
Wesen seines Schaffens und Wandelns. Ein altes Sprichwort sagt, daß, wer
ohne Geduld nach Indien ginge, sie dort bald lernte, daß aber jeder, der
mit Geduld gewappnet einzöge, sie dort verlöre. Dieses Wort läßt sich
leicht, auf äußerliche Dinge angewandt, gleichmütig zu den Anekdoten
rechnen, aber sein tieferer Sinn trifft auf das alte Geisteswesen der
Jahrtausende zu, das überall waltet. Auf den Wegen Indiens hockt der Geist
der Menschheit mit grauen Haaren und jungen Augen, mit einem stillen
Triumphlächeln in den Zügen, über seine eingeäscherten Völker und über den
törichten Lichteifer der neuen Geschlechter. Niemand, in dessen Gewissen
der alte Schuldgedanke der Menschheit brennt, kommt an ihm vorüber, nur die
leuchtenden Augen der Kinder sind vor seinem Anblick gefeit und die
erbarmungswürdige Selbstsicherheit der Pharisäer.

Es war zweifellos zum guten Teil mein seltsamer Traum von Huc, dem Affen,
gewesen, der mich hinaustrieb in die unberührte Natur, die Mutter des
Glaubens und der Klarheit für alle Aufrichtigen. Wer will ermessen, ob
unsere Träume unsere Gedanken anzuregen vermögen, wie in einer unschuldigen
Selbsttätigkeit des Gehirns, die an wunderreiche Offenbarungen erinnert,
oder ob nur unsere Gedanken unsere Träume zu befruchten vermögen? Damals
erschien es mir, als läge ein ganz neues Evangelium der Weltanschauung in
Hucs schlichter Meinung, daß alles Große des Erdendaseins uns allein aus
unserer Liebe zu allem Erschaffenen der Natur erwachsen könnte. Daneben
blieb mir der Satz im Sinn: Euer ewiger Bestand hat nichts zu tun mit euren
Werken, und solange ihr glaubt, euch im Streben Erlösung zu sichern,
beweist ihr nur, daß ihr nicht wißt, was Erlösung ist.

Solcherlei Gedanken waren es, die mich mit Ruhlosigkeit erfüllten und
dahintrieben, als gelte es, das Herz des alten Reichs im Rauschen der
Ströme und Bäume des Landes zu finden, im Himmelsblau über den Wildnissen
des Dschungels, im Gebaren seiner Geschöpfe, seien es nun Menschen, Tiere
oder Pflanzen, und in der strahlenden oder gärenden Flut des Sonnenlichts
über dem jahrtausendalten Wandel und der geduldigen Wiederkehr, die alle
miteinander in innigstem Verein das Brahman geboren zu haben schienen, als
höchsten Anspruch und endliche Erfüllung.

So trieben mich die glücklichen Irrtümer meiner Jugend, wie sie Millionen
vor mir erhöht oder erniedrigt, befreit und gefesselt, gesegnet, verdorben
oder vernichtet, aber niemals zur vollen Genüge gebracht haben. Aber ihre
Leiber erbrausen verwandelt als neue Hoffnung und als neuer Glaube in den
Auferstandenen der Natur, im stürzenden Quell, in schwellenden Früchten
oder in den Liedern der Singvögel, die in Lichtwellen verwoben, über
aufbrechende Blüten dahinklingen. Krishnas große Worte vom eigenen Wesen,
der Glanz der höchsten Gottheit, verführt und leitet uns immer aufs neue zu
friedlosem Suchen nach Vollendung in uns selbst.

  Ich bin der Weg, der Träger, Fürst und Zeuge,
  der Freund, die Heimat und die Zufluchtsstätte,
  Ursprung und Endziel und Bestand der Dinge,
  bin der Behälter und der ewige Same.

                  *       *       *       *       *

Die erwachten Hindus standen noch, in der Morgenkühle fröstelnd, in den
Eingängen ihrer Hütten, als unsere Ochsenwagen Cannanore gegen Norden zu
verließen. Es war von unaussprechlicher Frische umher, das Leben der
Menschen hatte noch kaum begonnen, nur die Vogelstimmen begrüßten uns, das
im Tau funkelnde Morgenlicht, das in unfaßlichem Rot, wie in Farbenflecken,
im Grün und Braun der Palmen und des Buschwerks und auf der breiten
Heerstraße lag, die anfänglich sacht emporstieg.

Ich schaute nicht zurück, der rastlose Frohsinn meines erwartungsvollen
Bluts kämpfte mit der gelinden Traurigkeit des Scheidens, aber ich empfand
keinen Schmerz, sondern nur die Wehmut derer, die in tausend Hoffnungen
eine alte Liebe aufgeben, um sie dennoch zu bewahren. Der Postwagen aus den
Bergen, von Dindumalla, kam uns entgegen, ein schreiender Sturmwind, von
Trompetengeschmetter begleitet. Vier kleine, abgehetzte Steppenpferdchen,
die wie in Todesverzweiflung galoppierten, dampften unter der sausenden
Peitschenschnur ihres Führers, der halb hockend und mit dem Geschrei eines
geärgerten Affen auf sie einhieb. Ein kleiner, überfüllter Wagen rasselte
in Sprüngen und Zickzackkurven hinterdrein. Dieser Postwagen hätte keine
Maus mehr beherbergen können, selbst in den Rahmen der Fenster und auf dem
gebrechlichen Verdeck hockten die halbnackten Gestalten auf Bündeln und
Kisten und klammerten sich mit einem Geschrei, das zur Hälfte Ergriffenheit
und Jubel und zur Hälfte Angst war, aneinander fest. Niemand begriff, aus
welchen Gründen diese furchtbare Hast ihrer aller Leben gefährdete, man
schob die Wichtigkeit der Sendung auf die geheimnisvolle Weisheit der
Behörde, deren halbeuropäische Mischlingsvertreter noch in Cannanore
schliefen. Eine rötliche Wolke hüllte diese Höllenjagd aus Unfrieden und
Torheit hinter uns ein.

Panja, welcher neben dem Ochsentreiber, der zugleich Besitzer unserer Wagen
war, über dem Deichselende kauerte, wandte sich nach mir um, schob die
Bambusvorhänge zur Seite und unterrichtete mich lakonisch über den Vorfall.
Er sagte nur: »Wilde Schweine«, und ließ die Bambusmatte wieder fallen. Es
wurde wieder still umher, die Sonne stieg, die Räder knarrten, und aus den
Niederungen der Reisfelder rief die Häherdrossel ihre drei melodischen
Flöttöne.

Nach einer Weile bogen wir von der Heerstraße ab, um einen schmaleren Weg
einzuschlagen, der schlicht und ohne Baumbestände zwischen frisch
bewässerten Reisfeldern dahinführte. Die kleinen, weißen Rennochsen griffen
kräftig aus, so daß unser Wagen fast die Geschwindigkeit eines mäßigen
Pferdetrabs erreichte. Man reist in den Südprovinzen beider Indien bei
weitem gesicherter und zuverlässiger mit Ochsen, als mit Pferden, da
erstere die Hitze besser ertragen und anspruchsloser in der Ernährung
sind.

Mit dem heraufsteigenden Tage zog der Frohsinn der Menschen bei mir ein,
die sich jung und sorglos auf der Reise befinden. Auf der Reise sind die
meisten Menschen besser als in den kleinen Bedrückungen ihrer engen
Häuslichkeit; mit meiner Erinnerung an meine Reisejahre, die fast meine
ganze Jugend ausfüllten, verbindet sich für mich die Vorstellung, daß ich
damals ein bei weitem besserer Mensch war, als heute. Das Reisen läutert
das Gemüt, denn die Fremde macht bescheiden, und durchaus nicht auf die
Art, wie es nur die Lumpen sein sollen. Die Achtung vor fremdem Wesen, die
gerade uns Deutschen so gern als Tadel nachgesagt wird, ist nur dann eine
Untugend, wenn sie sich mit einer Preisgabe des eigenen Wesens verbindet.
Dieser Respekt aber vor fremdem Geist und Tun und vor der Lebensart anderer
wird in allen reicheren Herzen die Tadelsucht und die Selbstüberhebung
dämpfen, die beiden Grundfehler unserer jungen Generation.

Nicht, daß solcherlei Gedanken mich damals beschäftigten, sie kommen erst
später, sind meistens zwecklos und dienen nur denen, die sie im Grunde
nicht brauchen. Denn gute Gedanken werden nur von denen recht verstanden,
deren Wert darin beruht, daß sie ihre eigenen haben. Nein, mich nahm das
herrliche Bild des klaren Morgens gefangen, das stille Leben auf den
fruchtbaren Reisäckern, der Takt der Wassermühlen und die schönen Gestalten
der arbeitenden Männer und Frauen. Langsam verwilderte das Land mehr und
mehr, nur einmal noch, als unser Wagen, wie aus einer Laube, aus hohen
Buschbeständen und Laubwald in ein Stückchen freien Landes ausfuhr,
breitete sich vor meinen Augen ein dunkler Acker aus, der gepflügt, aber
noch nicht bewässert worden war, und das schräge Sonnenlicht legte die
aufgeworfene Erde in Schatten und Licht. Ein reicher Glanz der
Morgenfrische strahlte über dem dampfenden Land, das duftete und von
Fruchtbarkeit zu gären schien. Zwei schneeweiße Ochsen vor dem Krummholz,
das unseren Pflug ersetzt, wurden von einem jungen Manne gelenkt, der außer
seinem schmalen Lendenschurz nur einen leuchtend roten Turban auf den
schwarzglänzenden, langen Haaren trug. Ein Palmenwald schloß das Bild im
Hintergrund ab, und darüber strahlte ein unfaßlich blauer und klarer Himmel
von seliger Weite.

Am Ende des Feldes waren Mädchen an der Wassermühle beschäftigt, sie
mochten vierzehn oder fünfzehn Jahre alt sein, waren fast völlig nackt, und
ihr tiefschwarzes Haar, das von Öl glänzte, hing in einem langen, schmalen
Knoten in den lichtbraunen Nacken nieder. Sie hantierten eifrig, ihre
jungen Körper bewegten sich in einem noch unverstandenen Glücksbewußtsein
kindlicher Freiheit und in jener großzügigen Schamhaftigkeit der
selbstseligen Natur, die unbegrenzten Frohsinn um sich her verbreitet, und
sangen einstimmig ein monotones Lied von großer Traurigkeit. Der Fall des
stürzenden Wassers und ihre Stimmen bewirkten, daß sie das Herannahen des
Wagens nicht sogleich bemerkten; als sie uns aber erblickten, flüchteten
sie mit einem hellen Aufschrei hinter die trockenen Schilfwände einer
kleinen Hütte, wobei sie, wie zwei aufgeschreckte Antilopen, über einen
kleinen Bach sprangen. Aus der Hütte trat gleich darauf eine
zusammengeschrumpfte Alte, die uns aus ihren welken Zügen anlächelte und
uns winkte. Dann nahm der Wald uns auf, der dichter und dichter wurde. Die
Sonnenstrahlen drangen nur noch in spitzen Speeren bis zu uns herab, es
wurde dämmerig und schwül, die Bambusdickichte und die hängenden,
buntverwobenen Teppiche der Lianen verhüllten mehr und mehr den Blick in
die Schatten des Urwalds.

Niemand schien anfänglich über den Verlauf unseres Unternehmens erfreuter
als Elias. Die erste Tagesstunde hindurch durchmaß er unseren Weg etwa
zehnmal, die zweite machte er ihn ungefähr fünfmal und selbst in der
dritten Stunde, in der es schon empfindlich heiß geworden war, lief er
immer noch munter kreuz und quer, uns alle an Eifer und Ausdauer
übertreffend. Erst als wir in den Urwald kamen, wurde er nachdenklicher,
blieb zuweilen betroffen stehn und suchte die Dämmerung unter den Bäumen
mit seinen Blicken zu durchdringen, wobei er gewöhnlich das eine Vorderbein
emporhob und die Pfote im rechten Winkel herabhängen ließ. Seine Ohren
bewegten sich dabei unablässig, zuweilen sah er mich forschend an, wie in
Unsicherheit darüber, ob diese Umgebung mir ebensowenig geheuer sei, wie
ihm.

Übrigens hatte Elias sich auf das prächtigste entwickelt, er trug nun die
Merkmale eines Wolf- und Schäferhundes nicht minder deutlich, wie die eines
forschen und geschmeidigen Terriers, jener tüchtigen Rasse, die damals die
Engländer bevorzugten und pflegten. Seine wollige Behaarung erfreute auch
verwöhnte Kenner durch ihre Fülle und die Mannigfaltigkeit ihrer Färbung,
während ein großer Ringelschwanz ihn auf das prächtigste zierte. Da er noch
ein wenig gewachsen war, so verband er mit seiner Anmut eine gewisse
Bedrohlichkeit der Erscheinung, die er jedoch wegen der Vortrefflichkeit
seines Charakters in keiner Weise auszubeuten suchte. Zweifellos floß auch
vom Blut des sehr beliebten Hühnerhundes ein gut Teil in seinen Adern, denn
sobald sich ein Geflügel zeigte, verriet Elias einen unbezähmbaren Hang,
sich dieses Getiers zu bemächtigen, um es zu zerreißen. Hier zeigte er
einen nachahmungswerten Mut, der so leicht nicht wieder bei einem Hunde
gefunden werden wird.

                  *       *       *       *       *

Es begann eine herrliche Zeit! Wie soll ich die leuchtende Klarheit der
hereinbrechenden Morgen schildern, die in unfaßbarer Beständigkeit
heraufzogen, den stillen, glühenden Glanz der Tage und den magischen
Frieden der weißen, gefährlichen Nächte! Von allem, was mir aus dieser Zeit
der Wanderung durch die Wildnis am tiefsten im Gedächtnis geblieben ist,
preise ich die Kanufahrt durch die Seen und Kanäle. Ich vergesse die
Abendstunde niemals, in der unsere Wagen in Tschirakal anlangten, einem
kleinen Ort an jenem Binnensee, den der Watarpatnam vor seinem Austritt ins
Meer bildet. Der Ort lag unter Palmen und hob sich weiß, braun und grün von
der merkwürdig stillen, graublauen Silberwand des großen Wassers ab, als
wir die Straße zum Hafen niederfuhren. Aus den niedrigen Häusern und
Palmenhütten stieg blauer Rauch auf, und aus der Dämmerung einer hölzernen
Tempelpagode drang ein priesterlicher Singsang. Es regte sich kein Windzug,
die Mattigkeit des Tages lagerte in der Luft, und der bunte Hafen war so
still wie ein Bild. Ungeheure Laubbäume, unserem Ahorn vergleichbar,
überschatteten den schmalen Wassereinschnitt, in dem die Kanus ruhig, wie
eingelassen in erstarrtes Metall, dicht nebeneinander lagen, sie waren zum
Teil hoch mit grell bemalten Warenballen bepackt, und die Zugänge zu diesem
Hafen führten eng an den Häusern entlang. Es duftete nach Tee, Gewürzen und
Früchten, und als unsere Wagen dicht am Rand des Wassers haltmachten, erhob
sich ein alter Mann, ganz in ein weißes Gewand gehüllt, und begrüßte mich
im Namen Allahs und des Propheten.

»Bist du der Herr, der das Wasser befahren will, um nach Taliparambu zu
gelangen?«

Seine Stirn war dicht über den Brauen, wie von einer weißen Binde,
abgeschnitten, die schwarzen Augen sahen mich sicher und abwägend an. »Gib
die Geldsumme für die Fahrt, Sahib, wir müssen die Ruderer ablohnen, damit
sie gehorsam sind.«

Panja trat zwischen uns, absichtlich so, daß der Alte einen gelinden Stoß
empfing und zurücktreten mußte. Er funkelte Panja zornig an.

»Wer hat dir erlaubt, den Sahib anzureden?« zischte Panja. Ich war erstaunt
über seine Keckheit. »Tritt zur Seite und zeig' deine Kanus her, ob sie dem
Herrn genügen, glaubst du, der Sahib wäre gekommen, um mit dir zu
schwatzen?«

Der Alte schwankte und sah zweifelnd zu mir herüber, aber dann folgte er
Panja und sagte zögernd:

»Die Kanus sind gut.«

»Das entscheide ich«, sagte Panja kalt.

»Führst du einen großen Herrn durchs Land?« fragte der Alte.

Panja lachte. »Ihr wißt in Tschirakal nicht mehr als die Frösche in euren
Sümpfen«, sagte er geringschätzig. »Ich habe meine Seide nicht gestohlen.
Der Kollektor von Mangalore wartet so ungeduldig, daß er einen Boten nach
dem anderen sendet. Ist kein Bote angekommen?«

Der Alte schüttelte den Kopf und wandte sich scheu nach mir um. Panja
gefiel mir, und trotz seiner sonstigen kleinen Eitelkeiten empfand ich, daß
hier sein Vorgehen Gründe hatte. Ich war oft vor den Mohammedanern gewarnt
worden. Panja kannte sein Land.

Wir besichtigten die Boote eingehend. Es waren etwa acht Meter lange Kanus
aus Baumstämmen mit langen Auslegern, da sie von stehenden Ruderern
angetrieben werden, und mit wohlgepflegten Leinendächern, die den mittleren
Teil beschützten, etwa auf die Art, in der in Deutschland Lastfuhrwerke mit
Leinen gedeckt sind, straff angespannt und gewölbt. Zwischen dem
Leinenschirm und dem Bootsrand war ein schmaler Durchblick gelassen, und
vor dieser Kabine befand sich ein etwa zwei Meter langer Aufenthaltsort für
kühlere Stunden, in denen der Sonne nicht ausgewichen zu werden brauchte.
Der Boden war sorgfältig gepolstert und mit sauberen Bambusmatten belegt,
aber die Boote selbst waren nicht breiter als ein schmales Feldbett.

Panja zeigte sich zufrieden. Ich sah über den See hinaus, der sich rötlich
färbte.

»Wann kommt der Mond?« fragte Panja.

»Gegen Mitternacht,« antwortete der Alte nachdenklich, »wir werden in der
Morgendämmerung fahren.«

»Wer will reisen?« fragte Panja gelassen, »du oder der Herr? Wir fahren
sogleich.«

»Es geht nicht, die Leute sind in Tschirakal weit verstreut und nicht so
rasch zu finden.«

»Wieviel Ruderer hast du?« fragte Panja, ohne auf den Einwand des Schiffers
einzugehen.

»Für jedes Boot vier.«

»Es genügen zwei für jedes Boot,« entschied Panja, »das Wasser ist still.«

Der Alte schüttelte den Kopf. »Morgen kommt ihr am offenen Meer vorüber,
wenn auch nur für eine kurze Zeit, so können doch zwei Männer das Boot
nicht durch die Brandung rudern.« Diesmal schien der Alte recht zu haben,
denn Panja fügte sich, aber er forderte, daß die Leute sogleich gerufen und
in den Booten verteilt würden. Er sagte mir später, daß es besser sei, die
Ruderer tauschten ihre Meinung über uns zuvor nicht aus, und er setzte
seinen Willen durch. Unser Gepäck wurde hinübergetragen, die Ochsenwagen
kehrten noch in dieser Nacht um, und wir fuhren nach kaum einer Stunde
hinaus, unter den aufgehenden Sternen dahin.

Der Gesang der Ruderer weckte mich. War ich denn eingeschlafen? Ich
brauchte eine kleine Weile, um zu mir zu kommen, die Luft roch fremd und es
war kühl, ich hörte das Wasser und taumelte empor in einen sanften
weißlichen Lichtschein.

Es fiel mich ein stechender Glanz vom Himmel her an, als ich aus der
Kabine kroch: die Sterne! Unter mir sanken sie in unendliche
schwarzblinkende Abgründe, totenstill, ohne zu zittern, wie Diamanten auf
kohlschwarzer Seide. Zwischen den beiden zornigen Lichtwelten, am Firmament
und in der Totentiefe, schaukelten und schwankten zwei riesige dunkle,
nackte Körper vor mir hin und her, stießen in das dunkle von Sternen und
Sternbildern funkelnde All und sangen. Ihre Ruder tauchten in die Flut und
hoben sich wieder, wie mit fließendem Silber übergossen, sprühend und
glitzernd troff es nieder, und als ich mich umwandte, sah ich eine schmale
Silberstraße von solchem Glanz, daß meine Augen geblendet wurden.

Wie ein traurig ertönender Komet mit langem Schweif schoß unser Boot durch
ein uferloses, von Himmelsfunken flimmerndes Weltall. Ich vermochte
nirgends Land zu erkennen, wir waren mitten auf dem See, diesem Bett des
ruhenden Stromes, der, über tausendjährigem Schlamm, zögernd ins Meer
hinüberglitt. Ich tauchte meine Hand ins Wasser, und sie überzog sich mit
Silber. Kraftlos sank ich, ohne Erfassen und Begreifen gegen die Wandung
meines Verdecks, erbebend in übersinnlichem Schwindel vor diesem Wunder der
Nacht.

Gegen Mitternacht tauchten im Licht des aufgehenden Mondes bläuliche
Nebelkuppen vor uns auf. Der Mond stand, eine ockerrote Sichel, über dem
Dschungel. Wir liefen Land an, ich empfand lange Zeit nichts anderes als
nasse Zweige, die mein Gesicht streiften, hörte die Zurufe der Mohammedaner
in der feuchten Finsternis, und meine Augen wurden nur selten durch einen
weißlichen oder rötlichen Schein über mir getroffen. Von solchem
Hintergrund hoben sich große Blätter oder die Schwerter eines hohen Schilfs
ab. Einmal schoß mit durchdringendem Klageruf, der noch lange draußen über
dem Wasser gurgelte, ein großer Sumpfvogel empor.

»Panja!« rief ich.

Da flammte vor mir ein Feuerschein auf, in dem ich eine schmale Sandbank
erkannte, auf die das Kanu aufgelaufen war. Es öffnete sich darüber ein
Laubengang, so dicht verwachsen, daß er wie eine grüne Höhle wirkte, mitten
darin stand Panja in seinem weißen Gewand, hielt eine Fackel hoch und
winkte mir.

Die Leute mußten einige Stunden ruhen. Es wurde ein Halbkreis von Feuern
gegen das Land zu angebrannt, nach kurzer Zeit lagen die Männer in tiefem
Schlaf auf ihren Matten, und Panja hockte mir gegenüber am Feuer und sprach
leise und erregt ohne Aufhör. Ich merkte ihm die Ruhlosigkeit der
tropischen Sommernacht an, die Ruderarbeit der Leute hatte eine merkwürdig
im Blute siedende Erinnerung an wilde Taten in mir zurückgelassen, und es
lauerte in der gärenden Stille umher eine aufreizende Liebessucht und die
Ahnung eines hastigen törichten Todes. Es war, als erwartete die
Daseinsgier und der Lebensdrang der üppig und in stiller Wildheit
ausbrechenden Pflanzen und Bäume unsere Leiber. Mein Blut pochte in den
Spitzen der Finger, in den Schläfen und im Halse.

Nach einer Weile brach Panja auf, er wand sich aus trockenen Lianen und
vermodertem Holz eine Fackel, goß Öl darauf und entzündete sie am Feuer.

»Wohin gehst du, Panja?«

»Zu den Frauen«, sagte er dumpf.

Noch eine Weile sah ich den Schein seiner Fackel rot durch das Dickicht
schaukeln, er schwenkte sie hoch empor und weit hinter sich, zum Schutz
gegen die wilden Tiere, im Takt seines raschen, weichen Tritts. Dann blieb
ich allein am Feuer zurück mit Elias, Pascha schlief im Boot bei den
Koffern, er hatte seine Matte quer über meinem Eigentum ausgebreitet und
bewachte es schlafend mit seinem Leibe.




Fünftes Kapitel

Dschungelleute


Panja roch die Dörfer, ehe wir sie erreichten, wenn der Wind seinen
Forschungen günstig war.

»Es kommt ein Dorf, Sahib,« pflegte er zu sagen, »hier schlagen wir das
Zelt ein.« Es geschah hauptsächlich deshalb dort, weil wir sicher sein
konnten, in der Nähe einer Niederlassung frisches Wasser, Reis und Bananen,
auch Geflügel oder Eier zu bekommen.

Wir hatten viel Umstände und Mühe damit, Träger zu finden, denn einmal
brauchten wir auch für kleinere Lasten meistens zwei Männer oder Frauen,
und zum andern wurden die Leute gewöhnlich nach zwei oder drei Tagen von
Heimweh befallen und liefen zurück, obgleich ich ihnen ihren Lohn erst nach
der beendeten Frist auszuzahlen pflegte. Sie ließen ihn um so leichter im
Stich, als sie für gewöhnlich irgend etwas stahlen, was sie reichlich
entschädigte, ohne mir empfindliche Verluste beizubringen.

Jedesmal, wenn wieder einer unserer Sklaven fehlte, sprach Panja die
Hoffnung aus, der Panther möchte ihn auf seiner Flucht erwischen, er hoffte
es herzlos und aufrichtig und wechselte niemals das Raubtier, dem der
Flüchtling erliegen sollte. Dann blieben wir oft tagelang am Rand der
Steppe oder mitten in der Dschungelwildnis liegen, ließen die Sonne kommen
und gehen, rauchten, schliefen und jagten. Ich hatte die genaue
Orientierung auf der Karte verloren, aber es war nicht wichtig, da ich die
Breite des Dschungels kannte und der Richtung durch die Sonne und den
Kompaß gewiß war. Auch zeigten uns die Flüsse, die wir auf schmalen Furten,
oder in den Kanus der Eingeborenen überquerten, daß wir im wesentlichen die
Richtung nicht verloren hatten. Und hatte ich denn ein Ziel?

Einer der jungen Träger ist lange bei mir geblieben und er fand nicht
allein meine, sondern endlich auch Panjas Gunst, was eine große Seltenheit
war. Er hieß Gurumahu und war ein Jüngling von etwa achtzehn Jahren,
hochgewachsen und sehr schlank, aber geschmeidig und kräftig. Er war zum
Islam übergetreten, weil er die größten Hoffnungen auf die Freiheiten
gesetzt hatte, die sich mit dieser Lehre für sein künftiges Leben
einstellen sollten, aber leider hinderte sein gutmütiger Charakter ihn
daran, Gebrauch von ihnen zu machen. Er erzitterte nach wie vor vor den
Brahminen und änderte seine Lebensgewohnheiten in keiner Weise. Er kam uns
auf die nicht eben ungewöhnliche Art eines Diebstahls besonders nahe, und
zwar hatte sein unersättlicher Drang nach Reichtümern ihn auf meine
Kupferkessel gestürzt.

Gurumahus Diebstahl wurde gottlob zeitig genug entdeckt, denn wir wären in
nicht geringe Verlegenheit geraten, wenn er mit seiner Beute entkommen
wäre. In der Hauptsache ist seine Entlarvung Elias zu danken, was
allerdings von Panja bestritten wurde. Wir hatten damals unser Zelt am Rand
der Steppe aufgeschlagen, so daß der Ausgang den Blick auf die hüglige
Ebene zuließ, und ich erwachte vom Knurren des Elias. Da sah ich Gurumahu
im Mondschein über die Steppe laufen, rechts und links einen unserer
Kupferkessel in der Hand. Er fraß den Boden mit so riesigen Sprüngen, als
hinge das Heil seiner Seele von ihrer Länge ab. Ich nahm den Revolver und
schoß in die Luft, die Kugel hätte ihn ohnehin nicht mehr erreicht, auch
lag es mir fern, ihn töten zu wollen. Man täte in Indien nicht gut daran,
so entscheidend vorzugehen, da die Hindus nicht das gleiche Vergnügen am
Sterben empfinden, wie nach den Berichten der Afrikareisenden die Neger.
Auch wußte ich, daß der Knall eine nützliche Einwirkung auf das böse
Gewissen des Räubers ausüben würde, der selbst eine große Schießwaffe
besaß, auf die ich später noch zu sprechen kommen werde. Gurumahu warf
sich mit einem gellenden Aufschrei der Länge nach zu Boden, auf das
Gesicht, und die beiden Kessel rollten, funkelnd im Mond, zu beiden Seiten
über ihn hinaus ins Steppengras.

Als es hinter ihm still blieb und er keine Verfolger sah, raffte er sich
langsam auf und begann seine Glieder der Reihe nach zu befühlen. Er fing
mit den Beinen an, die ihm in dieser Situation wahrscheinlich am
wichtigsten waren, ging langsam bis zu den Armen empor und gedachte zuletzt
auch seines Kopfes, der ihm anscheinend, wie alles andere, an seinem Platze
und in Ordnung vorkam. Dann sprang er auf und lief gebückt, in Sprüngen,
weiter, ohne die Kupferkessel, die ihm nicht gegönnt waren, noch eines
Blicks zu würdigen.

Panja holte sie zurück und putzte sie, boshaft wie er war, mit großer
Ausführlichkeit. »Der Panther wird ihn erwischen«, sagte er und warf
ärgerlich Reisig ins Feuer. Es verstimmte ihn tief, daß er durch meinen
Schuß um seine Nachtruhe gebracht worden war. Ich gab im stillen, nicht
ohne Bedauern, Gurumahu verloren, wenn auch nicht unbedingt auf die Art,
wie Panja es tat, aber ich sollte mich hierin täuschen, denn er kam am
andern Tage gegen Mittag in unser Lager geschlichen. Wahrscheinlich hatte
ihm der Dschungel bei Nacht in seiner Verlassenheit nicht gefallen, oder
der Currygeruch unserer Reismahlzeit zog ihn an. Panja führte ihn mir
majestätisch vor, der arme Verbrecher sah aus, als wäre er aus dem Wasser
gezogen worden.

»Ich werde dich töten«, sagte ich still.

Er sprang ein Meter hoch in die Luft und fiel dann zur Erde nieder.

»Soll ich ihn aufhängen?« fragte Panja so gleichmütig, daß ich darüber die
ganze Niederträchtigkeit meiner Drohung erkannte. Es ist merkwürdig, wie
rasch einem eine Ungerechtigkeit auffällt, wenn ein anderer sie sich
zuschulden kommen läßt.

»Er hat ein ganzes Glas mit Salz gefressen,« berichtete Panja sachlich,
»vom Whisky will ich schweigen, denn er hat ihn nicht finden können.«

»Hat dich der Hunger hergetrieben? Wo warst du so lange?« fragte ich den
Übeltäter.

Er hob den Kopf und versuchte meinen Blick auszuhalten, was den
Eingeborenen der Urbevölkerung sehr schwer ist, wenn es sich um blaue Augen
handelt, in die sie hineinsehen müssen, und wenn sie selten mit Weißen in
Berührung kommen. Aber Gurumahu erkannte den Ausdruck meines Gesichts doch
und begann zu lachen wie ein Kind.

»Du bist freundlich, Herr,« sagte er zögernd und dann mit Überzeugung: »du
bist nicht klug und gerecht, wie die Engländer. Ich werde deine Kessel
bewachen, bis ich sterbe.«

»Wenn du sonst nichts tun willst, kannst du dich wieder in die Sümpfe
scheren«, grollte Panja, aber Guru ließ sich nicht im Genuß seines ihm eben
erst geschenkten Lebens beeinträchtigen, und als sich die beiden
entfernten, hörte ich ihn hochmütig zu meinem Diener sagen:

»Hat schon ein Sahib auf dich geschossen, du Abtrünniger? Du bist keine
Kugel wert, deshalb lebst du und kriechst dem Herrn zwischen den Füßen
umher, ich aber habe mit ihm gekämpft!«

»Das ist wahr, du Kupferfresser,« sagte Panja, »ich danke dir, daß du ihn
nicht zerschmettert hast, du Blattlaus!«

Aber Gurumahu blieb von nun an bei uns, wir nannten ihn Guru, weil sein
Name mir zu lang war, übrigens war es nicht sein einziger, er hatte noch
eine ganze Reihe wohlklingender Namen, aber auf Gurumahu schien es ihm am
meisten anzukommen.

                  *       *       *       *       *

Einmal hatten wir das Herabsinken der Sonne trotz Panjas Vorsicht verpaßt,
und die Finsternis überraschte uns am sumpfigen Ufer eines Flusses. Guru
schnupperte in die feuchte Nachtluft hinaus und spähte vom Ufer aus zu den
gegenüberliegenden Palmenhainen hinüber, und richtig sahen wir nach einer
Weile ein schwaches Lichtlein aufblinken. Als das Zelt aufgeschlagen worden
war und die Feuer brannten, hörten wir, wie das Flußwasser von
Ruderschlägen plätscherte, oberhalb unseres Zeltes verklang das Geräusch,
und das Dickicht raschelte, aber dann blieb alles still.

»Jetzt haben die Mangroven Augen bekommen,« sagte Panja, »aber es muß ein
leichtsinniges Volk sein, denn sie fürchten den Panther nicht.«

Auf Elias war in dieser Beziehung kein rechter Verlaß, denn seine
Gesinnungsart hinderte ihn daran, friedlich sich nähernde Nachtwandler
durch Gebell zu ängstigen. Hörten wir den Panther in der Nähe des Lagers
husten, so pflegte Elias sich in den Hintergrund des Zeltes zurückzuziehen,
nicht etwa, weil er Furcht hatte, sondern weil es ihm dort besser gefiel.

Am Tage hatte ich eine Häherdrossel geschossen, ich rupfte ihr das braune
Gefieder aus, und das zierliche Köpfchen mit den hellblauen Augenringen
schlenkerte mit geöffnetem Schnabel über meinem Knie. Gurus Augen fehlten
nur noch diese hellfarbigen Ringe, um ebenso starr und leblos
dreinzuschauen wie meine Jagdbeute. Er begriff nicht, daß ich Vögel
verspeiste, in denen wahrscheinlich die Seele eines Abgeschiedenen
mitverschlungen wurde. Panja war in dieser Beziehung seiner heimatlichen
Weltbetrachtung längst entrückt. In den Kupferkesseln siedete das Wasser,
und eine Unmenge beschwingten Nachtvolks sammelte sich im Feuerschein,
umschwärmte die Flammen wie farbige Funken, oder glotzte von den Blättern
aus in dies unfaßbare rote Leben, aus dessen Glut der Tod lockte.

Panja brachte mir freundlich die Reste meines Rasiermessers, das einer
Taschensäge glich und auch als solche hier und da Verwendung fand. Es war
in Zeiten betrüblicher Unkenntnis einmal von einem Koch zum Schlachten
einer Ziege verwendet worden; so rächt es sich, wenn wir Europäer ein
argloses Volk zu unsern barbarischen Sitten verleiten. Ein Schatten dieses
Barbarentums lagerte nun seit langem in unsteten Wucherungen um mein Kinn
und um meine Wangen und wetteiferte an planloser Ausgestaltung mit der
Pflanzenwelt des Dschungelbodens. Guru hatte in den Pfefferranken bei Tage
Vogelnester ausgenommen und mir die Eier gebracht, wir kochten aber nur
die, welche noch nicht piepten. Panja kaute Betel und sah mir zu, er hatte
viel Sinn dafür, wann eine Arbeit mich selbst vergnügte und wann er sie mir
abnehmen mußte, auch fühlte er sich in der letzten Zeit in seiner Rolle als
Reiseführer sichtlich geläutert, und mir schien es, als täte er seine
Arbeit mit einem ganz neuen Bewußtsein schöner Freiheitlichkeit. Pascha
putzte Palmenschößlinge, das zarteste und wohlschmeckendste Gemüse, das
Indien zu bieten hat, aber ein streng verbotenes Gericht, weil das Leben
der Palme, durch diesen Raub ihres Herzens, zerstört wird. Der weißliche,
mittlere Trieb des Baumes wird herausgeschnitten, er ist zart wie ganz
frische Haselnüsse und schmeckt ähnlich; mit Öl und saurem Fruchtsaft
zubereitet, stellt er einen Salat dar, wie ihn die europäische Küche nicht
aufzuweisen hat.

»Soll ich die Leute fragen, ob Mangobäume im Dorf stehen?« sagte Guru
plötzlich.

»Welche Leute?« fragte ich erstaunt.

»Jene dort«, sagte Guru und zeigte vor sich hin.

Da erkannte ich die braunen Gesichter im Feuerschein zwischen den Blättern
der Mangroven. Ich hatte mich längst daran gewöhnt, daß ich niemals allein
war, aber ich erschrak jedesmal aufs neue. Erst zählte ich fünf, dann zehn
und endlich etwa zwanzig große und kleine Gesichter, das ganze Dorf schien
versammelt.

Ich schickte Guru hinüber, die Gesichter tauchten unter, aber dann begann
ein immer lebhafteres Geschnatter im Dunkeln, endlich wurde Feuer gemacht,
und die Ruder polterten im Kanu. Ich hätte gern mit den Leuten gesprochen,
aber sie waren zu furchtsam, brachten uns jedoch alles, was wir wollten.
Die Bewohner dieser Landstriche, wie auch die der östlichen Berge
entstammen der Urbevölkerung und haben sich mit den eingewanderten
indogermanischen Stämmen kaum vermischt. Ihre Hautfarbe ist fast ganz
schwarz, und ihre Gesichtszüge ähneln eher denen der Neger, als denen der
Brahminen. Sie stehen auf einem außerordentlich niedrigen Stande der
Zivilisation, sind aber arglos und sehr friedsam. Ihre Religion ist
anscheinend in den primitivsten heidnischen Vorstellungen geblieben, sie
beten hölzerne Götzen an, und nur hier und da ist ein schwacher Lichtschein
des Brahman oder der buddhistischen Lehre in ihre Geisteswelt gedrungen.
Irgendeine der vielen Inkarnationen Brahmas lebt hin und wieder in ihrer
Vorstellung in entstellter Gestalt fort, ohne daß ihr Sinn lebendig
geworden ist.

Der Dschungel ernährt sie freigebig in guten Zeiten, sie tragen Pfeffer in
die kleinen malabarischen Häfen, wo die eingeborenen Gewürzhändler ihn
ihnen für sehr geringes Entgelt abnehmen. Ihre Nahrung besteht aus
Früchten, einige fischen sogar, andere sollen auch Fleischkost zu sich
nehmen, ich habe es aber nie gesehen. Auf den flachgeklopften
Lehmplätzchen, vor ihren Laubhütten, breiten sie die Pfefferbeeren zum
Trocknen in der Sonne aus, und man erblickt dort in wohlgeordneten
Rechtecken den Pfeffer in allen Farbennuancen seines Dörrens am Boden
ausgebreitet, vom saftigen Grün bis zum tiefsten Schwarz. Ihre
Hauptbesitztümer sind Kinder. Ich habe niemals so viele kleine Kinder
gesehen wie in diesen Dörfern, wie Orgelpfeifen standen die schwarzen
Reihen vor den Hütten, mit kleinen Kugelbäuchlein und Rotznasen, und
glotzten uns an, wenn wir vorüberkamen.

Dieser Abend und diese Nacht sind mir unvergeßlich geblieben, weil unter
meinen Augen ein bebendes Lebenslichtlein in der Dschungelnacht erlosch.
Ich hatte keine Vorstellung, wie weit die Zeit vorgeschritten war, ein
lauter Ruf weckte mich. Panja fuhr neben mir empor und stieß in der
Schlaftrunkenheit gegen meine Hängematte, so daß ich fast herausgefallen
wäre und im ersten Augenblick in ihm einen Feind vermutete. Das Feuer war
fast erloschen. Panja war mit einem Satz an der glühenden Asche, und ich
begreife heute noch nicht, wie rasch es ihm gelungen ist, eine Flamme
emporzuschüren. Der klagende Ruf wiederholte sich laut und nahe beim Feuer
in der dichten Finsternis, die nun so schwarz wie Kohle war, nur die
beschienenen Bäume, dicht am Feuer, glommen phantastisch und unwirklich,
wie Ungeheuer, die mit verschlungenen Gliedmaßen, unter verworrenen
Laubkränzen, in ein rotstrahlendes Gemach drängen. Pascha rief etwas vom
zweiten Feuer her, das Guru eifrig schürte. »Was sagt er?« fragte ich
Panja.

»Eine Frau schreit aus Angst vor dem Tod«, sagte Panja, der noch nicht
verstanden hatte, um was es sich handelte.

Ich trat aus dem Zelt heraus und erkannte nun im Dickicht schwelende
Fackeln und die dunklen Gestalten der Wilden. Das Geschrei einer
Frauenstimme zerriß mein Herz. Ich habe selten wieder etwas so
Durchdringendes an Schmerz und Verzweiflung gehört. Ein tierischer
Wehelaut, der doch die erbarmungswürdige Erniedrigung der Menschenseele
enthielt, fiel mich wie ein nächtliches Gespenst an, und ich mußte mich
wieder und wieder aufraffen, um nicht in tatlosem Erstarren zu lauschen und
um nicht meinem Entsetzen zu erliegen.

»Feuer!« brüllte ich, »Licht!«

Eine Wolke gelben Qualms hüllte uns ein, dann flackerte eine hohe, rote
Säule daraus empor. Guru schrie: »Es ist die Mutter!«

Endlich brachte Panja Ordnung in einen scheu herandrängenden Haufen
halbnackter Gestalten, die ein dunkles Etwas auf einer Bahre aus Zweigen
heranstießen. Eine Frau, der das schwarze Haar wild um das Gesicht hing,
und deren Arme durch die Luft irrten, schrie mir etwas zu. Sie wagte sich
trotz der großen Erregtheit, die das Ereignis mit sich brachte, das sie zu
mir geführt hatte, nicht in meine unmittelbare Nähe, aber ich sah nun, daß
ihr Gesicht von Angst und Hoffnung entstellt war.

Auf den Zweigen lag ein Kind von vielleicht zwölf oder dreizehn Jahren, ein
Mädchen, dürftig mit einem bunten Kattunfetzen bedeckt, unter dem sich der
kleine, dunkle Körper wand, und ich hörte einen matten zischenden
Klagelaut, ein ersticktes Gurgeln, aus dem Knäuel hervordringen.

Guru stöhnte bedauernd und hob sich auf die Zehen als fröre er.

»Die Kobra«, sagte Panja kurz und sah mich an. »Die Mutter hofft, du
könntest ihrem Kind helfen.«

Mein Herz blutete unter den Blicken der alten Frau, die in ihrem Schmerz
und ihrer bedürftigen Häßlichkeit unsagbar rührend und bejammernswert vor
mir stand. Ihre welke Brust hing leblos nieder, und es zitterte und zuckte
in den Furchen ihres eingefallenen Gesichts. Sie klagte nicht mehr, ihre
Erwartung hielt sie gefesselt, und ihre Augen, im vorgereckten Angesicht,
prüften und suchten in meinen Zügen, aus denen sie den Tod oder das Leben
ihres Kindes glaubte entnehmen zu können, nach meinem Willen.

Das Mädchen war mit den andern Bewohnern des Orts an unser Lager
geschlichen, um den sonderbaren Mann aus einer fremden Welt zu sehen, die
jenseits des Meeres lag und unerforschlich war an Geheimnissen und Wundern.
Und ihr Verlangen nach dem Glanz dieses Neuen, Unfaßbaren hatte sie die
Vorsicht vergessen lassen, die so not tut im Dschungelland, die man sie von
Kind auf an gelehrt hatte, und die sie in allen Fällen so klug und sorgsam
zu beachten gewußt hatte. Nun hatte es im Finstern den kleinen, bösen Stich
gegeben, den anfänglich das Herz nicht als das furchtbare Verhängnis
glauben will, obgleich das Blut es ahnt und die Schrecken des jähen
Dahinsinkens wie dunkle Flügel um die Schläfen brausen. Ein Dorn, ein Dorn
war es, vom Rand eines Palmblatts, oder vom Zedernbaum..., aber dann kam
der feine süße Schwindel, der in den Augen beginnt und der den Pulsschlag
des Herzens so eigen behindert, der zuerst die Hände und langsam alle
Glieder in trockene, kurze Krämpfe zerrt, als trieben Glassplitter im Blut,
die die Adern zerrissen. Bis die gräßliche Klage aus der Gewißheit brach:

»Die finstere Königin!«

Diese aus Ehrfurcht vor der Gottheit und aus tiefstem Grauen gemischte
Wehklage erfüllte die Walddunkelheit.

Es war zu spät. Ich öffnete die Wunde, die nur in einem winzigen,
schwarzumrandeten Pünktchen am Fuß bestand, aber das Blut floß nicht mehr
rot und warm, sondern zersetzt und stockend. Wir versuchten es mit Whisky,
aber das Kind konnte trotz unserer Mühe das scharfe Getränk nicht
aufnehmen, und die großen brechenden Augen flackerten angstvoll unter den
Peinigungen ihrer grausamen Bedränger. Feuer hilft nur im ersten
Augenblick, auch hätte ich es um alles nicht über mich gebracht, auch
diese neue Marter noch dem kleinen Leib zuzufügen. Laß das Kind sterben,
rief es in mir, das ist sein letztes, irdisches Recht.

Die Blicke der Mutter marterten mich, ich wandte mich ihr zu in der
einzigen Barmherzigkeit, welche es für sie in dieser Stunde gab. Sie brach
mit einem langen Klagelaut zusammen und blieb die ganze Nacht stumm an der
Leinwand des Zeltes liegen, wie ein dunkles Kleiderbündel.

Als das Kind gestorben war, erschütterte mich, wie mit rauhen Fäusten, die
bittere Erkenntnis unserer Menschenohnmacht. Wir sind nicht, was wir nach
unserem besten Verlangen sein könnten, wo ist die Macht, die wir in unserem
Begehr nach Vollendung ahnen, wo die Hoheit, die unsere Güte sucht, wo
unser Glaube, der Berge versetzt?

                  *       *       *       *       *

Düster, lieblich und glühend strichen diese seltsamsten Tage meines Lebens
dahin. Wir blieben oft tagelang am gleichen Platze, ich vergaß mein Ziel
und die Zeit. Die grünen Sumpfaugen des Dschungels und das Silberwehen der
Steppennächte bannten mich, das tiefe Atmen bei geschlossenen Augen
ersetzte die Gedanken, das Licht wurde zu einer unermüdlichen Gewißheit der
Lebensfreude und die Nacht zum gestaltlosen Traum. Das gewaltige, stille
und geduldige Leben der Pflanzen, die die ganze Erde für sich
beanspruchten, raubte meinem Gemüt langsam das Bewußtsein seiner eigenen
Rechte, gewiegt von Staunen und erfüllt von fremdem Daseinswillen trieb
mein Geist wie schlafend dahin, und doch überwach und tief innerlich
durchglüht von einem heiligen Daseinsglauben. Ich ahnte das
grünlich-morastige Gift des Waldes, dessen Königin und Göttin mir in ihrer
ganzen Macht erschienen war, ich sah den Fiebergeist im feuchten Dämmern
schleichen, aber mein Widerstand war zu einer vagen Hoffnung auf mein
Glück herabgesunken. Diese gärende, brodelnde Sumpffruchtbarkeit würde auch
meinen Leib aufnehmen und neu erblühen lassen, wenn sie ihn in ihr Bereich
saugte. Der Wald war mächtiger als die Menschen. --

Eines Nachts lag ich im Zelt auf einem Laublager, da ich die unsichere
Nachgiebigkeit der Hängematte nicht mehr ertrug. Guru war am Feuer
eingeschlafen. Er hockte neben der glühenden Asche vor dem Dreieck des
Zelteingangs wie ein Geköpfter, den Nacken zwischen den hochgezogenen
Knien, und seine fast drei Meter lange, uralte Araberflinte überragte ihn
wie eine halb gesunkene Fahnenstange. Er liebte dieses Gewehr zärtlich und
trug es meist bei sich, besonders wenn Aussicht vorhanden war, daß wir
Menschen begegneten. Dabei lebte er in dem festen Glauben, daß diese Waffe
es ihm niemals antun würde, eines Tages loszugehen. Er war nicht in Gefahr,
enttäuscht zu werden, denn die Flinte war hundert Jahre alt, hatte sicher
vom Sudan bis Singapore den ganzen Orient bereist, und es bestand keine
Möglichkeit, sie zu laden oder gar abzufeuern. Aber Guru wäre mit dieser
Waffe mitten im Urwald sorglos eingeschlummert, so sicher war er, daß außer
ihm kein anderes Wesen ähnliche Hoffnungen wie er auf seinen langen
Talisman setzte.

Wir waren am Tage an Felsausläufer des Gebirges gekommen, in deren
Schluchten der Dschungel sich aufwärts erstreckte, um sich mehr und mehr zu
lichten. In den Felsspalten floß klares Wasser, und als wir endlich
umkehrten, da der Boden zu zerklüftet und verwachsen war, kamen wir an ein
kleines Dorf von etwa zehn Laubhütten, das Itupah hieß. Unweit dieser
Niederlassung hatten wir die Zelte aufgeschlagen und die Lagerfeuer
angezündet. Die Leute waren gekommen, um uns Früchte anzubieten, hatten
sich aber bald zurückgezogen, da unsere Gerätschaften ihnen allzu magisch
und gefahrdrohend erschienen waren.

Ich konnte nicht einschlafen. Die Stimmen der wilden Tiere und der Mond
störten mich. Panja war in das Hindudorf geschlichen, um Liebesabenteuer zu
bestehen, er benutzte die Aufregung, die meine Gegenwart in Itupah
hervorgerufen hatte, um darzutun, wie berechtigt sie war. Ein paar Flecke
Mondlicht lagen am Zelteingang wie Papierschnitzel, und die Grillen füllten
die Luft mit ihrem Zirpen, als würde feiner Silberdraht gefeilt von vor
Hast toll gewordenen Sträflingen.

Es raschelte in der Zeltecke, und als ich hinübersah, entdeckte ich ein
kleines Tier, das ich anfänglich für einen Marder hielt. Es saß totenstill
da, nachdem meine Bewegung es mißtrauisch gemacht hatte, und sah mich mit
zwei riesengroßen schwarzen Augen an, die sehr weit vorn und dicht
beieinander saßen, wie bei einem Affen. Das zierliche Köpfchen war nicht
viel größer als eine Walnuß in ihrer grünen Schale, und die Färbung des
Fells erschien mir graubraun, wie bei einem Eichkätzchen im Winter.

Der Kleine gefiel mir außerordentlich, und ich versuchte Anschluß an ihn zu
gewinnen.

»Treten Sie näher«, sagte ich und pfiff leise ein paar immer gleiche Töne
in die dämmerige Nachtluft. Das Tierchen rührte sich nicht, und ich sann
auf ein Anlockungsmittel. Als ich eine Bewegung mit der Hand machte, um ihm
ein englisches Biskuit anzubieten, das neben mir lag, tat es einen
lautlosen Ruck, und der Zeltwinkel war leer. Aber nach einer Weile huschte
es wieder wie ein Schatten durch die Mondflecke, der kleine Fremde war
wieder da, offenbar wurde er durch seine Neugier geplagt.

Die beiden schwarzen Augenkugeln saugten, weit geöffnet und starr vor
Erstaunen, meine Erscheinung in sich auf, ich bin noch niemals so
angeglotzt worden. Der Kleine schien furchtbar aufgeregt vor Begierde,
herauszubringen, was es für eine Bewandtnis mit mir hatte, und was mich aus
meinem entlegenen Lande nun gerade in die Nähe der Menschenstadt Itupah und
dort in die Gegend seiner Behausung geführt haben mochte. Ich hätte es ihm
nicht sagen können. Aber enttäuschen wollte ich ihn auch nicht.

»Haben Sie Familie?« fragte ich leise.

Fort war er. Die Frage mag für den Beginn einer Bekanntschaft vielleicht
etwas zudringlich gewesen sein, aber nach einer kurzen Weile kam der Kleine
doch wieder, diesmal genau an derselben Stelle, zwischen unsern Salzgläsern
und Panjas Sandalen. Er schien nun bemerkt zu haben, daß meine Worte nicht
so gefährlich waren, wie er anfänglich angenommen hatte, und kam ein wenig
näher, um besser glotzen zu können.

Es tat mir leid, daß ich nichts anzubieten hatte, und daß meine
Gastfreundschaft sein Mißtrauen erregte.

»Es scheint, Sie leben des Nachts,« begann ich vorsichtig, »ich entnehme es
Ihren Augen und der Tatsache, daß wir uns zu dieser Stunde begegnen. Ich
bitte Sie darum, keine falschen Schlüsse aus den vielerlei Gerätschaften zu
ziehen, die Sie hier erblicken, im Grunde bewegt uns lange aufrechte Wesen
kein anderer Herzensdrang als euch. Es läßt sich so leicht sagen: das
Glück, im Sonnenschein in der Welt zu sein, die Liebe und der Schlaf.
Darüber wacht etwas, wie eine unermüdliche Hoffnung, es möchte eines Tages
alles noch um vieles herrlicher werden. Das spricht auch aus deinen großen
Nachtaugen; und ist die Begierde, die dich herzutreibt, im Grunde etwas
anderes, als die meine, die mich veranlaßte, in die Wildnis deiner Heimat
zu kommen?«

Da antwortete mir ein heller, böser Pfiff, der mir durch Mark und Bein
ging, und gleich darauf erscholl, als Entgegnung, ein ärgerliches Zischen
im Laub meines Lagers. Nun galt es, still zu liegen, das wäre ein
verdrießlicher Abschluß meiner Dschungelfahrt gewesen...

Ich wußte nun, wen ich vor mir hatte, aber bei weitem wichtiger war mir,
wen ich in meiner unmittelbaren Nähe in den welken Blättern wußte. Das
kleine Tier vor mir begann sich sanft und sonderbar zu schaukeln und
brachte dabei hell und stoßweise einen halb gepfiffenen, halb geknarrten
Ton hervor, der der Gefährtin meines Lagers galt. Nun quoll es dicht unter
meinen Augen aus dem Reisig hervor, wie das Rinnsal einer dicken, dunklen
Flüssigkeit und suchte den Ausgang zu gewinnen. Ein kleiner Schatten vom
Zeltrand her huschte der Schlange blitzschnell nach, und draußen begann für
eine kurze Weile ein von Fauchen, Zischen und Schnarchen wildbewegtes
Rascheln und Schleifen. Dann wurde es still, und ich hörte nur die
Hammerschläge meines Herzens und sah die weißen Papierschnitzel des
Mondlichts, bis langsam die eintönige Grillenmusik wieder die Nacht
beherrschte. Mir war, als habe sie geschwiegen, während sich ein Schicksal
unter den Geschöpfen des Nachtvolks vor meinen Augen abgespielt hatte.

Wie eigenartig unterscheiden sich oft unsere Erwartungen von den
Erscheinungen selbst! Ich hatte von diesem merkwürdigen Tier oft gehört,
das in Indien als der ärgste Feind der Schlange gepriesen wird, und das
sogar oft von den Engländern wie ein Haustier zum Schutz gegen die Kobra
gehalten werden soll, aber ich hatte mir die Erfüllung meines Wunsches,
diesem Tier einmal zu begegnen, anders vorgestellt. Was hatte sich mehr
zugetragen, als ein von wenigen Rufen des Kampfes, der Angst und der
Lebensgier zerrissenes Huschen und Springen? Schattenhaft, fast unwirklich
war es geschehen, grau, im Halbdunkel und ohne jene pathetische Gebärde,
die erst die Erkenntnis langsam dem Ereignis verleiht. Erst die Erinnerung
erschafft die Gestalten der Helden. War dies alles? Wie wird es uns mit dem
raschen, kleinen Leben ergehen, das wir in Erwartungen dahinhuschen lassen?

                  *       *       *       *       *

Oft, wenn ich von unserm Zelt aus mit der Büchse und Elias den Dschungel
durchschweifte, sah ich vom Flußufer aus die Alligatoren in der Sonne
liegen. Sie sonnten sich auf den Sandbänken und lagen kreuz und quer
durcheinander, einmal lagen sogar zwei aufeinander, das war peinlich. Der
Ausdruck ihrer sehr ausgedehnten Gesichter war in der Regel ungemein
vergnügt, die winzigen Äuglein funkelten fröhlich, und die riesigen, oft
weit geöffneten Mäuler zeigten deutlich einen Hang zum Lächeln. Man merkte
den Tieren an, wie wohl ihren knorpligen Schuppenhäuten die Sonnenglut tat,
und entschloß sich schwer, etwas Böses von ihnen anzunehmen. Zuweilen
gluckst etwas in ihren gelben Hälsen, die zart und weich wie Wachs sind.

Ich habe niemals welche gesehen, deren Länge zwei Meter überschritt, ihre
afrikanischen Geschwister scheinen einem anderen Volksschlag anzugehören
und mehr Wert auf die Einschüchterung der Menschen zu legen. Zuweilen schoß
ich auf eine dieser riesigen Eidechsen, aber meine Kugel wirkte nie so
ausschlaggebend, daß das verwundete Tier nicht noch Zeit gewann, ins Wasser
zu schnellen. Es kann auch sein, daß ich niemals getroffen habe. Nachdem
der Donner des Schusses verhallt war, war die Sandbank für gewöhnlich leer.
Diese Tiere haben eine geradezu verletzend geschwinde Art, sich zu
empfehlen, sie schießen ins Wasser wie Torpedos, es ist unmöglich, eine
Bewegung ihrer Beine zu unterscheiden, und es erweckt den Anschein, als
wären sie an gestrafften Gummibändern mit dem Wasser verbunden und würden
plötzlich losgelassen. Sie schwimmen prächtig und erinnern in der Flut an
Hechte, sind aber außerordentlich scheu und werden nur kleinerem Rotwild
gefährlich, das sie an der Tränke überraschen.

Ich warf ihnen eines Morgens die Überreste einer erlegten Hirschantilope
zu, von der ich nicht mehr als ein Rückenstück hatte genießen können, und
die sonst die Sonne oder die Schakale vernichtet hätten, und erschrak über
die sinnlose Gier dieses Flußgesindels. Es dauerte kaum eine Minute, bis
der Körper des Tiers in einem dahintreibenden blutigen Schaumbecken, in
hundert Fetzen zerrissen, verschwunden war. Am Mittag lagen die Ungeheuer
wieder in der Sonne und lächelten, während der breite, trübe Strom gurgelnd
dahinzog und den Sonnenschein in mörderischen Lichtpfeilen in die
schmerzenden Augen schleuderte, die die Dschungeldämmerung verwöhnt hatte.

Einmal saß ich in der Nähe unseres Zeltes in den Rankenverschlingungen der
Luftwurzeln eines wilden Feigenbaumes in der Morgensonne am Fluß und putzte
meine Jagdflinte, als es neben mir in den Mangroven raschelte. Als ich mich
umwandte, sah ich einen kleinen Hinduknaben vor mir stehen, der vor Schreck
völlig erstarrt war. Seine Augen schienen leblos geworden, wie zwei
schwarze, runde Spiegel, und sein Mund stand offen. Es war recht
begreiflich, denn ich hatte gebadet und so viel am Leibe, wie man ohne
Übertreibung etwa mit nichts bezeichnen kann. Offenbar hatte der Kleine auf
seinem Morgengang zum Fluß alles andere erwartet, als solch ein weißes
Ungetüm vorzufinden, das ihn angrinste.

Er zitterte heftig und schluckte, wagte aber keine Bewegung. Dies war
schlimmer als der Tiger, es war ein furchtbarer Waldspuk. Über und über
weiß war dies fremde Wesen, das da vor ihm eine unfaßliche blanke Sache
über den Knien hielt, triefte und glitzerte und Augen hatte, in die man
nicht hineinschauen konnte, ohne seinen Untergang zu riskieren. Als aber
dies dampfende Ungeheuer nun plötzlich nieste, entwand sich der gequälten
kleinen Brust, die ganz mit Entsetzen angefüllt war, ein lauter Jammerruf
und wahrscheinlich machte der Kleine innerlich einen raschen Strich unter
sein verflossenes Dasein und beschloß es in seinen Erwartungen endgültig.
Jedenfalls fiel er zu Boden, preßte sein Gesicht in die Pflanzen und stieß
wieder und wieder denselben monotonen Klagelaut hervor, in dem er sich
wahrscheinlich dem besonderen Wohlwollen irgendeines Götzen empfahl.

Es kam mir gar nichts in den Sinn, was ich etwa anstellen könnte, den
gebrochenen, kleinen Mann zu beruhigen. Wenn ich ihn berührt hätte, so wäre
er vor Angst gestorben, so ließ ich ihn einstweilen liegen und stellte
fest, daß sich seine Toilette in einer ähnlichen Etappe der Entwicklung
befand, wie die meine. Dann verfiel ich darauf, ihm eine arglose und
sinnvolle Weise vorzupfeifen, die nach meiner Überzeugung etwas
Beschwichtigendes enthielt, erst wählte ich ein altes Wiegenlied, dann
einen Choral und endlich »Heil dir im Siegerkranz«.

Das wirkte. Mein Freund drehte das dunkle Köpfchen am Boden so weit, daß er
mich mit dem einen Auge bis etwa an meine Knie hinauf betrachten konnte.
Daß ich Menschen fraß, war immer noch sicher für ihn, aber es schien doch,
als wenn ich es nicht besonders eilig damit hätte. Ich gab ihm nun in
zurückhaltender Weise zu verstehen, daß er sich erheben sollte, und er
gehorchte, immer noch am ganzen Körper zitternd, aber sichtlich erstaunt
darüber, daß ich wie ein vernünftiger Mensch zu sprechen verstand und noch
dazu in seiner Sprache. Er bestand gewissermaßen nur noch aus Augen, und in
ihnen brannte nur ein einziger Wunsch, der, sich auf möglichst unauffällige
Art empfehlen zu dürfen; glotzen ließ sich weit besser aus einem Versteck,
und was konnte aus dieser Annäherung gutes kommen?

Aber er änderte seine Meinung doch, als ich nach meinen Kleidern tastete
und ihm eine Kupferanna unter die Augen hielt. Zunächst war sie da, das
ließ sich begreifen, aber nur langsam dämmerte in seinem Köpfchen der
Glaube hervor, daß sie ihm gehören sollte. Das war schlechthin unmöglich.
Als ob er den Wert dieser runden Metallplättchen nicht kannte, die sein
Vater zuweilen aus den Hafenstädten mitbrachte, wenn er Pfeffer oder
Ingwerwurzeln hinabgetragen hatte, und mit Hilfe derer man alles erlangen
konnte, alle Herrlichkeiten der Welt, buntes Tuch, die Süßigkeiten der
Basarstraße, Reis und Maniokbrot und Macht über alle Knaben des Ortes.

Und so entwischte er ungefressen mit seinem Schatz, nachdem er endlich
begriffen hatte, daß meine Pläne sich in diesem Opfer erschöpften.
Vielleicht erinnert er sich meiner zu einer Zeit, wo er ein Jüngling
geworden ist und zu seiner ersten Kupferanna in den Hafenstädten so manche
andere verdient, und seine Meinung über uns Weiße geändert haben mag, in
einem zweifachen Sinn. --

Mehr und mehr empfand ich von Tag zu Tag, daß ein fremder Bestand, der
nicht festzustellen war, die Beschaffenheit meines Bluts veränderte. Ich
schob die Schuld, wie man es in solchen Fällen zu tun pflegt, bald auf das
eine, bald auf das andere, heute schien mir das Trinkwasser der Anlaß zu
sein, morgen der Tabak, oder eine fremde Frucht, dann wieder verband ich
meinen Zustand mit meiner Schlaflosigkeit, oder mit der Beschaffenheit
dieser schwülen, von tausend Düften geheizten Luft. Panja betrachtete mich
oft lange und besorgt von der Seite, ohne zu wissen, daß ich seine Blicke
gewahr wurde, und daß sie mich reizten. Ich behandelte ihn ungerecht und
hart, aber er blieb geduldig und verfiel nicht wie früher in sein
gekränktes Schmollen. Überhaupt hatte er sich in der letzten Zeit merklich
geändert, mir war oft, als habe ihn eine neue Verantwortlichkeit über sich
selbst hinausgehoben, gerade als ob er sich hätte bewähren müssen, um sich
seiner Kräfte und Tugenden bewußt zu werden. Ich lohnte ihm diesen Wandel
schlecht, aber ich konnte nicht anders.

Mir war bisweilen, als habe mein Gehirn sich um vieles verkleinert und als
mache es eigenartige Drehungen und Schwankungen in seiner Schale, wie ein
schwimmender Ball in einem Wasserglas. Dabei verfiel ich auf alle möglichen
Heilmittel, nur nicht auf das einzige, das mir hätte helfen können: auf die
Flucht aus den Niederungen des Dschungels.

War es Morgen, so mußte ich den Mittag erwarten, in welchem die Insekten
mit einem seligen Brausen, oder die großen Schmetterlinge leicht und
lautlos von Blüte zu Blüte zogen, durch unwahrscheinlich tiefes Blau oder
Grün, während die Welt in heißer Fülle verging. Mit dem leisen Unbehagen
des sinkenden Mittags mußte ich den Abend erwarten und an ihm die Nacht mit
ihrem Licht und Läuten über schwarzen Tiefen, ihren gurgelnden und
stöhnenden Stimmen der Raubgier und der Liebeswut und mit ihren blendenden
Gestirnen. Tag und Nacht waren für mich längst keine Begriffe des Wachens
oder der Ruhe mehr, sondern wechselnde Züge des indischen Weltenantlitzes,
magisch ineinander überwogend, wahrsagerisch entstellt.

Ich hatte meine Heimat vergessen. Europa versank in meiner Erinnerung wie
ein lauter, häßlicher Traum voll unnützer Erregtheit, und ich lächelte
mitleidig über die Schande, die mir in den kleinen Beteiligtheiten meiner
hastigen Vergangenheit widerfahren zu sein schien. Wie ein einziger,
kreischender, grellfarbiger Lebensirrtum erschien mir das Treiben der
großen Städte, und ich verging und erstand in Schlafen und Wachen wie in
Frühling und Winter, das Angesicht der Tages- und der Jahreszeiten
verschmolz miteinander zu einem unbestimmbaren Gefühl des Wandels, und die
Unschuld der Pflanzen, die mich einhüllten, wie ein lebendiges Gewand, war
die stärkste Gewalt über meine langsam verschwindende Erkenntniskraft.

Es trieb mich zuweilen aus der Dschungelnacht an den Steppenrand zurück, es
war ein Verlangen, den offenen Himmel zu sehen und das weite braune
Hügelland, und es war mir angesichts dieser Helligkeit, als entkleidete
mich ein lautloser stiller Sturm des Lichts. Oft brachen wir mitten in der
Nacht auf, nahmen zuweilen den gleichen Weg, den wir am Tage mit Mühe
durchmessen hatten, und errichteten das Lager an der verlassenen
Feuerstätte. Mir war, als hätten die Pflanzen mich am Atmen behindert, als
raubten sie meiner Brust, was ihr zum Leben not tat. Oft ertappte ich mich
über gereizten und boshaften Blicken auf eine blühende Pflanze, deren
dargebotene Liebeswut in purpurroten Kelchen mich mit Zorn und Haß und
zugleich mit hingebender Demut erfüllte.

Langsam war eins meiner Manuskripte und Bücher nach dem andern dem
nächtlichen Feuer zum Opfer gefallen, ich sah die weißen Blätter in
hämischer Genugtuung in der Glut welken und fühlte mich freier, wenn die
verkohlten Rollen zerbröckelten. Nur ein kleines, törichtes Büchlein
begleitete mich lange noch, ich weiß zuversichtlich, daß ich es nur deshalb
nicht zerstörte, weil eine merkwürdig verschlungene Ranke aus geprägtem
Gold den Einband verzierte, ungefällig, sinnlos und aufdringlich, aber es
tat mir wohl, diesen Linien mit den müden Augen nachzugehen. Einmal
versuchte ich, mich darauf zu besinnen, wo Nachrichten für mich liegen
könnten, ich schloß auf Bombay, Goa und Madras, aber ich wußte es nicht
mehr.

In den Ohren die Muschelstimmen des Chinins, träumte ich oft in der
totenstillen Mittagsglut mit geschlossenen Augen vom Winter. Immer wieder
tauchte das gleiche Bild vor mir auf: ein graues Flußtal im Abendnebel, auf
den Feldern der bläuliche Schnee im sinkenden Tageslicht, und ein eisiger
Wind über dem pechschwarzen Wasser, auf welchem Eisschollen dahintrieben.
Sie stießen sich und knarrten und läuteten, auf einigen von ihnen saßen
Raben und ließen sich mitnehmen. Dann empfand ich die Kälte plötzlich als
schneidenden Schmerz an Stirn und Wangen, und meine Brust weitete sich, wie
zerspringend vor Frische. In kalten Schauern schlief ich über solchen
Visionen zuweilen ein, aber die sinnlosesten Träume raubten meinen Schlaf
die ersehnte Erquickung.

Eines Nachts träumte mir, ich sei am Meer eingeschlafen, in einer
Bergschlucht, und plötzlich weckten mich die Stimmen zweier Männer, deren
Klang eine eigenartige Verwandtschaft mit dem Reden des Meerwassers hatte.
Ich richtete mich halb empor, stemmte die Ellenbogen in den Sand und sah
betroffen auf. Die Sonne war ins Meer gesunken und schien aus der Tiefe,
durch das Wasser. Obgleich sie selbst rötlich glänzte, war doch das Licht
der Luft grünlich und blaß, und merkwürdige Schattenwellen zogen hindurch,
wahrscheinlich entstanden sie durch die Uferwogen.

Die beiden Männer standen gerade nebeneinander im Sand, der wie Türkisen
schimmerte. Sie hatten ihre Arme schlicht und ohne Gebärde an den Körper
gelegt, und unter ihren leichtgesenkten Stirnen sahen mich ruhige, runde
Augen von einem gleichmäßigen sehr hellen Blau an, in denen ich keine
Abzeichnung der Pupillen unterscheiden konnte. Die Färbung ihrer Haut war
bernsteingelb und ihr Haar weißlich, sie hatten breite, aber hagere
Schultern, und ihre Hüften waren so schlank und so wenig ausgezeichnet, daß
man von der Achselhöhle bis an die Fußknöchel hinsah, wie an einer geraden,
schräg gestellten Leiste. An ihren Schläfen war ein eosinrotes Band
befestigt, das in einem breiten Fächer auf die linke Schulter herabsank und
hinter ihr verschwand.

So standen die Zwei, die sonst nicht bekleidet waren, ruhig vor mir in der
grünlichen Luft mit ihren geheimnisvollen Schattenwellen. Es schien mir,
als lächelten sie, aber eher neugierig als spöttisch. Endlich begannen sie
eine Unterhaltung miteinander und versuchten den Anschein zu erwecken, als
sei ihnen an meiner Beachtung nichts gelegen, aber ich unterschied doch,
daß sie nur meinetwegen sprachen. Sie lächelten verstohlen und ungefällig
und sahen bisweilen mit einem raschen Blick zu mir hinüber. Nun wies einer
von ihnen zu den Felsen einer Schlucht empor, wo sich in halber Höhe der
Berge ein gleichmäßiger, tiefer Einschnitt im Gestein bemerkbar machte, der
rundlich ausgehöhlt war.

»Richtig,« antwortete der andere, »das ist unsere alte Meergrenze, die
letzte, aber wo ist die Grenze der Väter geblieben?«

»Die Gipfel schwemmen gar zu rasch nieder,« lautete die Antwort, »die neue
Welt wird klein.«

Dann unterschied ich nicht mehr alles, was sie sagten oder meinten, aber
ich empfand, daß sie von versunkenen Reichen sprachen, deren Kulturstätten
der Meersand seit undenkbaren Zeiten in tiefen Gründen der Flut vergraben
hatte, und sie tuschelten davon, daß nun bald die Zeit anbrechen müsse, in
der der Meerboden und der Erdboden vertauscht werden sollten. Bestürzt
überfiel mich eine dunkle Ahnung der Reiche, die das Meer verbarg, und ich
sah sie, nach ihrer Auferstehung, von Sonne, Wind und Regen langsam aus
ihrer sandigen Hülle brechen. Ich wagte keine Frage, obgleich mein Herz vor
Begierde brannte, an den Erfahrungen der beiden Menschen teilzunehmen, aber
es war, als ahnten sie, daß ich die Absicht im Sinn trug, ihnen ihre
Geheimnisse zu entreißen, denn sie berührten einander die Schultern mit der
Hand, so daß sie zu einem seltsam schönen Ornament verschmolzen, wandten
sich dem Wasser zu und schwebten hinein und in die Tiefe, wie durch die
Luft. Ich sah sie noch einmal, als sie an der Sonne vorüberzogen, die sehr
tief gesunken war, dann schlief ich ein, in großer Traurigkeit, wie ich sie
nie gekannt habe, und wie man sie nur im Schlaf empfinden kann.

Ein anderes Mal im Traum schenkte mir irgend jemand ein Kriegsschiff mit
weiblicher Bedienung, damit ich gegen meine Feinde vorgehen könnte, aber
ich hatte deren leider nur drei und die lebten auf dem Festlande. So
entließ ich die Damen, damit diese drei Gegner glücklich würden. Mit den
Kanonen schoß ich auf Möwen, aber sie schnappten nach den Kugeln, ja, dies
Geflügel wartete geradezu an der Öffnung der Geschütze, es war ungemein
ärgerlich. So sah ich ein, daß es hiermit nichts Rechtes werden würde, und
löste einstweilen spielend eine Reihe von Problemen, die mich früher auf
ganz unverständliche Art gequält hatten. Dabei brachte ich endgültig
heraus, daß man zu dererlei Geistesexperimenten am Boden umherkriechen
mußte, und ich tat es mit Ausdauer und fröhlich.

Als ich aber nach vielerlei Träumen dieser Art, die ich vergessen habe,
eines Tages mit trockenem Mund und einer scheußlichen Leere hinter der
Stirn, in der Mittagshitze frierend, am Fußboden, in einem Winkel des
Zeltes, erwachte, ergab ich mich anteillos den Weisungen Panjas, ließ mich
in Wolldecken wickeln und erwartete meinen Verbrennungstod in diesen
phantastischen Feuern meines Bluts und meiner Seele, die von boshaften
Dämonen geschürt wurden.




Sechstes Kapitel

Im Fieber


In einer ungewissen Stunde, die nicht am Morgen und nicht am Abend war, kam
ich mit dem bestimmten Bewußtsein zu mir, nach jener denkwürdigen Nacht mit
Huc, dem Affen, am Morgen gestorben zu sein. Es muß nach dem Tode einen
seltsamen Halbschlaf der ersterbenden Sinne geben, der uns noch eine
Zeitlang den Fortgang des Lebens vortäuscht, eine Art Erinnerung des
Körpers, der sich seinem Verfall noch nicht zu ergeben vermag, in welcher
die Hoffnung unseres Herzens in einem mitleidigen Spiel den Gang des
Daseins fortsetzt, nachdem die Seele ihrer Hülle entflohen ist. In jenem
Stadium mußte mir alles geschehen sein, was ich bis zu diesem Morgen erlebt
zu haben glaubte; ich lächelte geringschätzig und melancholisch in die
grauen, sanft erklingenden Sphären hinein, in denen ich dahintrieb.
Immerhin erfreute es mich, daß mein Bewußtsein nicht völlig erloschen zu
sein schien, und die Erkenntnis, nun endlich mit Sicherheit zu wissen, daß
ich gestorben war, beruhigte mich sehr; ich begriff nun deutlich die
qualvolle Ungewißheit, die über allem gelegen hatte, was mir in der letzten
Zeit zugestoßen war. War nicht alles wie aus grauen Spiegeln emporgetaucht
und in anderen wieder versunken, in seltsamem Kreisen und liederlicher
Gleichgültigkeit gegen die Wirklichkeit? Bei dieser neuen Offenbarung über
meinen Tod, den ich mir aus einer im Grunde recht kleinlichen
Lebensängstlichkeit bisher nicht einzugestehen gewagt hatte, entschloß ich
mich in einer wundervollen Gelassenheit des Gemüts, nun niemand mehr zu
dienen, als allein der Erinnerung. Es war merkwürdig, daß Panjas Gesicht
mich dabei störte, das ungewiß und groß, wie ein Wolkenschatten, zuweilen
über mir erschien, mein Dahinziehen durch das flimmernde All hinderte und
in sinnloser Aufdringlichkeit in meiner Nähe verharrte. Ich ließ mich nicht
täuschen, ich erkannte in unzweifelhafter Klarheit, daß der Durst, der
meinen Körper durchglühte, der Wissensdurst meiner Seele war; er war mein
einziger Schmerz, und ich pries mich glücklich.

Irgend jemand sprach zu mir; ich beachtete es lange absichtlich nicht, weil
ich mich nicht von der Überzeugung trennen wollte, daß niemand das Recht
hat, mit einem Toten zu reden. Merkte denn dies wesenlose Geschöpf immer
noch nicht, daß Tote andere Interessen haben, als sich mit dem
vergänglichen Tand abzugeben, der die Lebendigen der ungewöhnlich kleinen
Erde beschäftigt, die nicht einmal in der Lage ist, sich ruhig zu verhalten
und in lächerlicher Abhängigkeit von der Sonne umhertanzt? So entschloß ich
mich endlich, mir Ruhe zu verschaffen, und wandte mich in der prächtigen
Freiheit des Muts um, den nur Tote haben, um Schweigen zu gebieten. Aber da
erkannte ich, daß mein Ich neben mir saß und rauchte. Es hatte sich meiner
Pfeife bemächtigt, meiner Kleider und Schuhe und trug meinen fünfmal
gewundenen Schlangenring aus Gold mit den Saphiraugen und der
Brillantenkrone. Ich fand im Augenblick nicht den rechten Ton, denn es ist
ungewöhnlich schwer, sich im Tode richtig gegen jemand zu benehmen, den man
im Leben oft hintergangen hat. Mein Ich lächelte mir ermutigend zu, aber
ich ließ mich nicht irreführen; dies Lächeln kannte ich, man weiß doch,
womit man andere über sich selbst zu täuschen pflegt, und was hinter seinem
eigenen Lächeln steckt. Aus irgendeinem Grunde sagte ich rasch und
ärgerlich:

»Nur keine Philosophie, bitte.«

Mein Ich erwiderte freundlich, daß ihm dererlei völlig fernläge, und daß
nach der Scheidung, die ich als vor sich gegangen zugeben müßte, überhaupt
alle Fragen über das Wesen von Sein und Nichtsein aufgehoben wären.

Es war ungemein fesselnd, meine eigene Stimme zu hören, derer sich mein
Gegenüber bediente; aber irgend etwas am Klang der Stimme ging in kühler
Sachlichkeit weit über die arme Befangenheit hinaus, in welcher ich mich
früher dieser Stimme bedient hatte. Dies ärgerte mich empfindlich, denn ich
erkannte, was ich zu Lebzeiten versäumt hatte.

»Siehst du, was alles in mir gesteckt hat?« fragte ich, aber ich verwand
meinen Verdruß rasch, denn mein abgeklärtes Ich an meiner Seite hatte etwas
ungemein Imponierendes.

»Habe ich eigentlich jemals auf einen Menschen einen ähnlichen Eindruck
gemacht, wie Sie auf mich?« fragte ich.

»Du kannst schon du sagen,« meinte mein Ich recht liebenswürdig und ohne
kränkendes Wohlwollen, »wir müssen versuchen, uns endlich zu verstehen.«

Das sah ich ein. »Gib wenigstens den Ring her!« bat ich.

Da sah ich, wie ich selbst, an meinem Lager sitzend, meinen Ring vom Finger
zog, genau auf die gleiche Art, wie ich es zu Lebzeiten getan haben mochte,
wenn ich ihn irgend jemand auf seinen Wunsch hin zeigte. Ich versuchte, den
Ring anzustecken, aber mein Finger brach ab. »Verflucht, ist es schon so
weit mit mir, Sahib?« fragte ich unwirsch. Mein Ich nahm den Finger und
steckte ihn umständlich in die Tasche, und zwar in die richtige, die ich
für solcherlei Gegenstände leer zu halten pflegte.

»Sind wir noch in Indien?« fragte ich; aber unmittelbar, nachdem ich diese
Frage ausgesprochen hatte, überkam mich die Erkenntnis, wie völlig
belanglos solch ein Umstand für mich war. »Was soll geschehen?« fragte ich
etwas burschikos, denn ohne einen bestimmten Zweck würde mein Ich sich
hier kaum niedergelassen haben, so gut glaubte ich mich zu kennen.

Und wirklich erhob sich nun das Ich in meiner Gestalt, zog seinen Rock
zurecht, trat einmal mit dem Bein nach vorn, um die Hose zu glätten, und
strich sich über das Haar. Ich wußte schon, daß es sich darum handelte, daß
ich mein Grab kennen lernen sollte.

»Du darfst dir keine besondere Vorstellung von der Ausstattung machen«,
hörte ich. »Panja hat dich im Wald verscharrt, kaum tiefer, als deine Arme
lang sind, und die Waldblumen wachsen über deinen Augen.« Nachdem diese
Worte verklungen waren, sah ich niemand mehr und empfand nun, daß ich in
meinem Grabe ruhte. Einen kleinen Augenblick lang huschten mir noch
Gedanken durch den Sinn, aber dann überwältigte mich eine unbeschreibliche
Ruhe.

Diese Ruhe vermag kein irdischer Mund zu schildern; es ist mir niemals eine
Wohltat geschehen, die dieser Ruhe zu vergleichen wäre. Nach einer langen
und ermüdenden Wanderung voll ungesunder Hast und qualvoller Befürchtungen
langte ich früher in meinem Leben einmal am Ort meiner Bestimmung an und
außer einer trostreichen Gewißheit empfing mich ein kühles, weißes Lager in
einem stillen Raum, dessen Fenster den Blick auf die Berge hinausführten.
Die wenigen Minuten, in welchen ich meinen übermüdeten Körper vor dem
Einschlafen auf diesem Lager ruhen fühlte, sind vielleicht entfernt dem
glücklichen Zustand zu vergleichen, in welchem ich nun im Grabe lag, aber
man muß sich diese Wohltat bis an die Grenze der Bewußtlosigkeit gesteigert
denken und wie im friedlichen Rausch einer überirdischen Musik.

Meine Hände waren hoch auf der Brust übereinandergelegt, ohne gefaltet zu
sein; ich ruhte ganz gerade ausgestreckt, und die schwere Decke der Erde
war eine glückliche Last; sie lag auf meiner Stirn und auf meinem Gesicht,
wie die liebevollen Hände einer besorgten Mutter nicht sanfter ruhen
können. Ich vernahm einen gleichmäßigen, starken Pulsschlag, dessen
Ursprung ich nicht erkannte, der mich aber mit großer Beruhigung erfüllte.
So lange unter den lebenden Wesen der Erde noch eines meiner in Liebe
gedachte, blieb mein Bewußtsein wach, aber ohne qualvolle Erinnerungen; es
war ein unbeschreiblich erhabenes und freies Lächeln, mit welchem ich der
irdischen Ereignisse gedachte, ohne mich ihrer recht zu erinnern. So ruht
das Korn in der winterlichen Erde, es trägt sein Gedenken an den Sommerwind
und an die Sonne, in der es herangereift ist, wie einen Frühlingstraum
durch seinen Schlaf. Das Licht, der Regen, das Schwanken in der bewegten
Luft und der Schnitter sind eine einzige lind durchbebte Ahnung der
Vergangenheit, die keine Trauer oder kein Gefühl der Verlassenheit
aufkommen läßt. Denn im dunklen Schlummerland pocht ein herber,
gleichmäßiger Pulsschlag; ob es die Lichtwellen der Sonne, ob es Tag und
Nacht sind, oder der Wechsel der Jahrtausende, ist niemals die Sorge eines
im Erdreich Schlummernden gewesen, denn nun ist der Tod überwunden; man muß
ihn nur kennen, um zu wissen, wie wesenlos seine Mächte sind, die die armen
Erdbefangenen als eine so unerhörte Herrschaft feiern. Nun sind tausend
Jahre wie ein Tag. Ich hatte weder den Wunsch, jemand von denen
wiederzusehen, die ich geliebt hatte, noch kannte ich Sorge um ihr
Geschick. Glückseliger konnten die Frommen nicht sein, die Gottes Angesicht
schauten.

Nach einer unabsehbar langen Zeit, in der ich keinerlei Veränderung spürte,
schien es mir, als würde es langsam dunkler um mich her und in mir. Nicht
die Furcht, nun vergessen zu sein, bewegte mich, aber eine laue
Anteillosigkeit auch an dieser Möglichkeit. Vielleicht war das Laub des
Waldes dichter und dichter über meiner Ruhestatt niedergesunken, oder die
Erde kreiste nicht mehr um die Sonne, vielleicht war sie von einem anderen,
größeren Gestirn aufgenommen, auf welchem der Wechsel der Zeit nach anderen
Gesetzen vor sich ging. Mehr und mehr verlor ich das Bewußtsein meiner
selbst, aber ohne darüber in Gram zu sinken; es war mir, als ob der Rest
meiner Klarheit sich in einem einzigen Fünkchen sammelte, das ähnlich
glomm, wie die Hoffnung in den Herzen der lebendigen Menschen.

Da bemerkte ich allmählich, in einem heraufdämmernden Zeitraum, den ich
nicht begrenzen kann, einen sanften Lichtschein über mir, der still anwuchs
und sich langsam näherte. Er war weißlich, ohne zu glänzen, und erschien
mir wie ein blasser Strahl von zartem Umriß und langsamem Leben; er senkte
sich auf die Gegend meines Herzens nieder und ohne einen Schein im Erdreich
zu verbreiten, glomm er doch in lieblicher Seligkeit, und der unfaßbare
Zauber einer fernen Erinnerung an die Sonne verband ihn mit meiner
Zuversicht. Da erkannte ich, daß es der tastende Wurzelkeim einer Pflanze
war, der sich meiner Brust näherte, und mich ergriff ein tiefer Schauer,
der nicht Freude noch Hoffnung war, aber man könnte ihn vielleicht mit der
Ergriffenheit vergleichen, in der die Irdischen bei einer großen
Erschütterung ihres Gemüts in Tränen ausbrechen, ohne dabei schon Lust oder
Schmerz zu verspüren. Je näher der bleiche, saugende Mund auf kindlicher
und frommer Wanderschaft und in gehorsamem Wachstum meiner Brust kam, um so
mehr verwandelte sich mein erlöschendes Menschbewußtsein in ein seliges
Allgefühl von erhabener Gestilltheit und froher Bereitschaft zum Vergehen
in ein unversiegbares Bereich. Da geschah es bald darauf, daß die Wurzel
der Pflanze in mein Herz eindrang und in einem funkelnden Erklingen, in
einem von Frische und seliger Wildheit betäubenden Lichtwirbel wurde mein
Wesen emporgerissen in das warme, leuchtende Brausen der Erdoberfläche.

Über meinem Grab brach eine große Blume auf und öffnete sich gegen die
himmlische Sonne. --

Nun kam es mit weichen Schritten durch die dichten Lauben des Urwalds
heran, auf diesen verschlungenen Pfaden, die kaum ein paar Schritt weit zu
übersehen sind und wie grüne Höhlen wirken; unendlich weich und geschmeidig
schritt es dahin, von der stolzen Erhobenheit der Gestalt, die unter allen
Geschöpfen nur die Menschen haben. Es war ein Mädchen, das herankam,
beinahe noch ein Kind an Jahren. In jener schattigen Lichtung im großen
Urwald, an welcher unter einem Baum vorzeiten mein Grab gegraben worden
war, und in welcher nun die frische Blume sich langsam gegen das
Sonnenlicht kehrte, machte das Mädchen halt und beugte sich nieder. Sie
trug Lotusblüten im Haar, von sanftem Rot und einen schmalen Gürtel von
gewundener ockerroter Seide um die zarten Hüften. Ein Hauch von Ambra
begleitete sie, wie unsichtbare Flügel der Jugend.

Um den Hals trug sie eine zweifache Schnur aus roten Angolaerbsen, und ein
breiter Goldring, der um ihr Fußgelenk geschmiedet war, funkelte im Tau der
Bodenpflanzen.

Als ihre Augen mit dem nächtlichen Glanz einer tausend Jahre alten
Schwermut sich über das frische, helle Blau der kaum erblühten Blume
neigten, war es, als begegneten einander ein himmlisches Erstrahlen und ein
irdischer Widerschein. Aber das Mädchen brach die Blume nicht, sondern es
schien, als erinnere sie sich zuvor einer köstlichen Pflicht, denn ihr
Angesicht belebte sich unter einer mit Schamhaftigkeit gemischten
Erwartung. Über die Wurzeln der Bäume dahin, im weichen Erdreich und über
braunem Laub, floß ein Bach; sein klares Wasser zog rasch und lautlos
durch Sonnenflecke und Buschschatten. Das Mädchen legte ihre Halsschnur ab
und hängte sie in kindlicher Fürsorge nachdenklich in die Betelranken, die
die hängenden Zweige des Baumes mit dem Waldboden verbanden; sie legte
ihren Gürtel ab und blinzelte fröhlich in das warme Licht. Nur die Blumen,
die ihr Haar schmückten, ließ sie in der nachtdunklen, glänzenden Fülle
ruhen, in der sie zum Ruhm ihrer jungen Herrlichkeit verwelken sollten.

Das Wasser wurde unter der Freude ihres lieblichen Körpers beredt; es
überrieselte wie mit fröhlichem Lachen die helle Bronze dieses Leibes, der
sich unter den Berührungen der Natur beseligt dehnte und in einer Hingabe
ohnegleichen seinen Schöpfer lobte, den Schöpfer der Waldriesen, die ihn
behüteten, der Milliarden Pflanzen und allen Getiers, das gleich ihm im
duftenden Schatten atmete, und der großen Sonne, die ohne Aufhör goldenes
Glück zum Wohlergehen der Ihren auf die geduldige Erde sandte.

An einem besonnten Hügel, der weich von Moos gepolstert war, legte das
Mädchen sich auf den Boden nieder, um in der warmen Luft zu trocknen; sie
gab sich dem Licht in holder Bedachtlosigkeit preis, denn es gibt vor ihm
keine Geheimnisse des Körpers oder der Seele, und beide sehnen sich nach
ihm. Sie schien mit dem Boden zu verschmelzen; der Pulsschlag der Erde
verband sich mit dem Pochen ihres Bluts, und die Blüten in ihrem Haar
dufteten noch einmal empor im Verein mit dem sanften Hauch von Müdigkeit,
der wie ein Lied von ihrem Leib aufstieg. Die Sonnenstrahlen glitten
spielend über die zierlichen Hügel der kleinen Brüste dahin, über die
Rundungen der warmen Glieder; hier leuchteten sie auf, dort tauchten sie in
heimliche Schatten nieder, allmächtiger als der stärkste Beherrscher, der
sich jemals eine Welt zu eigen gemacht hat, und mit der Anmut eines
Geliebten, der nach überwundenen Stürmen seine Wohltäterin beglückt.

Wie in reglosem Stolz, erstarrt vor Andacht, sah die grüne Waldherrlichkeit
auf den ruhenden Triumph der Schöpfung nieder, bis jählings mit hellem
Flöten ein Vogel im Rankendickicht ein Lied begann, überselig, beinahe
grell und erschreckend, und aus der Nähe drang eine gejubelte Antwort. Da
erhob sich das Mädchen, legte bedächtig ihren geringen Schmuck aufs neue an
und bückte sich über die Blume nieder, in der das Blut meines Leibes
auferstanden war; sie brach sie und befestigte sie, indem ihre großen Augen
über dem zitternden Kelch lächelten, in ihrem Gürtel. --

Wie war es doch gewesen? Ach, nun erinnerte ich mich, jene große Blume von
leuchtendem Blau rief mir alles ins Gedächtnis zurück. Ich kannte dies
Mädchen und ihre Blume schon längst; es war in einer jener vertanen Nächte
in Bombay, in einer jener Nächte, die ruhlos und ziellos beginnen und oft
so trostlos verstreichen, hingegeben an Nichtigkeiten, in denen unsere
hohen Erwartungen, vom Geist des Weins umhüllt, in grauen Morgenstunden
versiegen. Aber es gibt keine Hoffnungen, die nicht irgendwo in unserer
Seele und irgendwo in unserer Zeit mit einem jenem Lächeln verwandten Glanz
gestillt werden, in dem sie erwachen. Hoffnungen sind den Blüten
schlummernder Rechte vergleichbar, im Dämmerlicht der Ahnung.

Ich hatte damals in einer Abendstunde das Hotel verlassen, in dem ich schon
seit Tagen auf einen Dampfer wartete, der mich nach Singapore bringen
sollte, und war die breite, belebte Straße hinabgeschlendert, ohne
Ausrüstung für eine bewegte Nacht, ja, ohne eine andere Absicht, als die,
mich noch für einige Minuten in der kühleren Luft des Abends zu ergehen und
dem bunten Straßentreiben zuzuschauen. Aber es lag keine Linderung in der
schwülen Luft, die nach verdunstendem Sprengwasser, nach Pferden und Öl
duftete, sowohl die freien Atemzüge behinderte, als auch die vernünftigen
Gedanken. Oft wirkt diese Atmosphäre wie eine Ankündigung des Fiebers,
verwirrend und zu allerhand Sinnlosigkeiten ermunternd; die Lebensleiden
der Verlassenheit gären darin, satt von Melancholie; kleine Teufel erheben
darin die nach Abenteuern lüsternen Narrenköpfe, während der nahende, rote
Mond den nüchternen Sinn aller Dinge in Schleier legt. --

Ich ließ mich nach einer Weile am Holztischchen eines Straßencafés nieder;
es erschien mir, als verbürgen mir alle, die mich anschauten, etwas, in
mitleidiger Überlegenheit. Eine kleine, ganz in ein dunkles Tuch gehüllte
Straßenbettlerin hielt mir die braune, offene Hand hin, und unter ihrem
Lächeln verstand ich plötzlich die Nacht.

Nun war es dunkler geworden, als ich weiterschritt. Aus geöffneten Türen
drang der Schein bunter Lichter; die Straßen wurden enger und die Passanten
seltener. Ich hörte Schritte herannahen und jählings hinter mir verstummen,
sobald eine der vermummten Nachtgestalten an mir vorübergegangen war; man
blieb stehen und sah mir nach, neugierig, oder lüstern auf einen Raub, von
einer Ahnung der Ruhlosigkeit und Unsicherheit angeweht, die mich
gefangenhielten und dahintrieben. Einen Augenblick war ich um mein Leben
besorgt, da ich die Gefährlichkeit dieser Stadtgegend kannte, aber dann war
mir, als sei dies, mein geliebtes und umsorgtes Leben, eine ganz fremde und
gleichgültige Sache für mich geworden. Es kam auf ganz andere Dinge an; die
Nacht forderte ihr Recht, die Nacht der Erde und die meiner unruhigen
Seele, die nach einem mystischen Tag ihrer Wandlung Verlangen trug.

Die Tür eines Holzhauses stand angelehnt, und als ich sie aufstieß, blickte
ich in einen schmalen Korridor, der durch eine grünliche Papierampel
dämmerig erhellt wurde. Zur Rechten und zur Linken der Ampel waren an den
kahlen Wänden Spiegel angebracht, die das matte, schwebende Gestirn dieses
stillen Bereichs nach beiden Seiten hin tausendfach in ein magisches All
hinüberzauberten. Von irgendwoher erklang gedämpft eine klimpernde Musik,
der einer Mandoline vergleichbar, aber um vieles unbelebter und im Takt oft
von einem lang anhaltenden Ton unterbrochen, der einer Flöte entstammen
konnte. Ein schwerer, süßer Geruch drang mir entgegen, wie von gärendem
Honig und betäubendem Räucherwerk; er quoll aus dem Spalt eines roten
Vorhangs im Hintergrund, wie aus der Wunde einer überreifen Frucht.

Als ich an diesem Ort eine kleine Weile gestanden und gelauscht hatte,
öffnete der niedrige Vorhang sich, und eine alte Frau trat zögernd und
scheinbar überrascht auf mich zu. Sie war welk, und ihr ergrautes Haar
flimmerte vermodert in dem blaßfarbigen Licht der Papierlaterne über ihrem
Scheitel, ein gelbes Tuch war wie eine Fahne um ihren Körper geschlungen,
so daß ihre Schultern und Arme, sowie ihre Beine von den Knien an abwärts
unbedeckt waren. Nachdem sie sich von ihrer anfänglichen Überraschung
erholt hatte, lächelte sie mir in feiner, unpersönlicher Herzlichkeit zu,
die Leuten eignet, die aus Beruf oder Gewohnheit gastfreundlich sind, und
lud mich, nach einem prüfenden Blick über meine europäische Kleidung ein,
näherzutreten. Sie sagte ein paar Sätze, die ich nicht verstand, denen aber
leicht ein Willkomm zu entnehmen war und eine ehrende Begrüßung. Da ich
ohne Zögern nähertrat, verdoppelte sie ihre Unterwürfigkeit, und ich hatte
den Eindruck, als kröche sie mir die Stiege hinauf voran, die wir im
rötlichen Dämmerlicht erklommen; ich sah immer nur ihr Angesicht dicht vor
meinem, während ihr übriger Körper bereits voraus war. Sie grinste süßlich
und boshaft; irgendwo bimmelte zaghaft ein Glöcklein; beklommen folgte ich,
ohne Aufwand von Mut, ohne Umsicht, ja fast ohne rechte Erwartung; was
geschehen sollte, mochte geschehen. Das Leben wog leicht.

Wir kamen an eine mit buntem Papier bezogene Tür, die die Treppe hart
abschloß, und die sich lautlos und leicht unter dem Druck der welken Hand
der alten Frau öffnete.

»Tritt ein, Herr«, sagte sie auf Hindustani und drückte sich an die Wand,
die nachgab und schwankte; ich hatte den bestimmten Eindruck, daß wir von
allen Seiten beobachtet wurden. So tappte ich nun vorsichtig voran in das
von Rauch wie in Nebel getauchte bläuliche Dämmerlicht eines niedrigen
Raumes, in welchem ich anfänglich, außer dem erlöschenden Mond einer
stillen Ampel, nur hängende Wandteppiche in mancherlei gedämpften Farben
und seltsamen Ornamenten zu erkennen glaubte. Es glitzerte mir in matten
Goldtönen entgegen und ein sanft betäubender Hauch von welkendem Jasmin und
Opium beengte die Brust.

Ich durchschritt mit meiner Führerin diesen Raum, um in einen zweiten zu
gelangen, der noch kleiner und finsterer war, und in dem ich zuerst nur ein
breites Ruhebett erkannte, das mit vielfarbigen Decken und Fellen belegt
und kaum einen Fuß hoch war. Die Alte verbeugte sich viele Male, nachdem
ich, wie sie es zu wünschen schien, auf diesem Lager Platz genommen hatte,
und sagte im Hinausgleiten in gebrochenem Englisch:

»Ich werde Goy für dich holen, Herr, du wirst zufrieden sein.«

Als ich ihr mit zwei zustimmenden Worten zunickte, lachte sie, glücklich
und stolz darüber, verstanden worden zu sein. O, sie war eine hochgebildete
Frau, nun hatte sie den Beweis erbracht, und nichts wäre in der Lage
gewesen, sie zu einer Handlung zu bewegen, die mich an dieser Meinung über
sie wieder irremachte.

Ich sah mich kaum im Zimmer um, als ich allein war; es mußte alles so sein
und kommen, wie es für diese Nacht bestimmt war.

Unter einer winzigen grünen Ampel, dicht an der Decke, erblickte ich ein
rundes Tischchen mit unwahrscheinlich dünnen Beinen, und in einer mit roten
und blauen Ornamenten ausgelegten Messingschale, die darauf stand, lagen
trockene, fremdartige Früchte, Tabak, Hanf und Betel. Da meine Augen sich
bald an das ebenmäßige, sanfte Licht gewöhnt hatten, erblickte ich, als nun
die Tür sich öffnete, sogleich mit der übersinnlichen Deutlichkeit einer
Vision das Mädchen, das meinen Raum betrat und vorsichtig die Tür hinter
sich schloß und verriegelte. Sie trat so gelassen und freundlich auf mich
zu, als sei ich ihr ein längst vertrauter Gast, und grüßte mich, indem sie
nach kanaresischer Sitte die Spitzen ihrer Hände an die Stirn legte und
sich tief verneigte. Sie war völlig nackt unter einem unendlich feinen
Schleier von rauchfarbenem Seidenflor; ihr schwarzes Haar war mit grauen
Blumen geschmückt, und ein schmaler Ledergürtel von verblichenem Ockerrot
legte sich, ohne ihren Körper zu beengen, wie ein Ring aus rostigem Metall
um ihre Hüften, die, obgleich ich ein Kind vor mir zu haben glaubte, doch
von weicher Rundung und lieblicher, ebenmäßiger Fülle waren. In diesem
Gürtel war eine große Blume von hellem Blau befestigt, mit tiefem
goldbraunem Kelch; sie hob sich fast unwirklich und in seltsam wohltuendem
Kontrast vom Bronzeton des jungen Körpers ab.

Alles, außer dieser frischen Blume, hatte jene seltsam überzeugende
Bewußtheit in Farbe, Erscheinung und Bewegung, wie nur eine jahrhundertalte
Tradition sie verleihen kann, alles außer dieser Blume und dem schmiegsamen
Mädchenleib.

Ich weiß nicht, ob ich alles verstanden habe, was in dieser denkwürdigen
Nacht dieses Kind zu mir sagte, wohl aber weiß ich, daß wir einander
verstanden. Die Ausschließlichkeit, welche das glühende Bereich
heraufbeschwört, in das der Liebreiz dieses Mädchens mich zog, verbannte
alle kleinen Einzelinteressen und Begierden, die unser Leben spalten und
bedrängen, und es gab nur ein Ziel für unser Blut.

»Soll ich tanzen?« fragte Goy, »sage mir, was dir wohltut?«

Sie tanzte unter dem grünlichen Mond der kleinen Ampel, der eine ganze Welt
bestrahlte. Es war schwül und totenstill in dieser Welt. Ich hörte nur den
Schlag der weichen Füße auf den Matten, und wenn ich die Augen schloß, so
fühlte ich den zarten Fuß auf den Herzensquellen meines Lebens tanzen. Mit
jedem neuen Erwachen meiner Blicke erschien mir Goys erblühter Kinderkörper
erneut; er blieb mir fremd und wechselte wie eine Landschaft, die der Geist
im Flug durcheilt. Nun wurde es still, und ihre Frauenaugen lächelten
erfahren, kindlich und begierig über den meinen:

»Willst du mir nicht befehlen, Herr?« sagte Goy so langsam, daß mir war,
als stünde mein Herz unter den unausgesprochenen Verheißungen ihrer Bitte
still, aber doch lauerte hinter ihrer Unterwürfigkeit, ohne Falsch, das
glückliche Bewußtsein ihrer Herrschaft. Nun hockte sie sanftmütig,
merkwürdig beschienen vom Ampellicht, wie eine große, goldene Katze vor mir
auf dem Lager, drehte bedächtig Papyrus, zerbröckelte Tabak und Hanf und,
als sie Opium hineinmischte, verwandelte sie sich mir plötzlich in eine
Göttin, die den Schlaf herbeiführt.

Goy war, wie die meisten Frauen des Orients, auf eine Art für die Liebe
erzogen, die die Folge einer grauenhaften Verwöhntheit ist, aber über allen
ihren Handlungen lag ein zauberhaftes Glück von einer Unschuld der
Gesinnung, die wie Keuschheit wirkte. Goy tat ihre Pflicht, und kein
Gewissen, wie es in unserer Brust wohnt, behinderte ihre geschäftige Treue
gegen den einzigen Genuß, den sie kannte und austeilte.

Ich rauchte in tiefen, durstigen Zügen und sank mehr und mehr in
Betäubung. Das Mädchen ließ keinen Augenblick verstreichen, in dem sie sich
nicht hinzugeben schien; ihr Bild verwandelte sich unaufhörlich; sie gab
keines ihrer Geheimnisse preis, ohne ein neues ahnen zu lassen.

»Vergiß das Leben«, sagte sie mit sanftem Tadel, scheinbar über mein Zögern
in milden Schrecken versetzt. »Bin ich nicht schön?«

»Doch, du bist sehr schön, Goy, schöner als alle, die ich gesehen habe.«

»O, nein,« antwortete sie nachdenklich, »die blassen Mädchen sind schöner.«
Sie schaute mit ihren übergroßen Kinderaugen auf mich hin und lächelte, als
ich schwieg. Ihre Nägel waren rot bemalt, und ihre Hände, wie ihr ganzer
Körper waren mit großer Sorgfalt gepflegt.

»Die Menschen legen mit den Kleidern die Lüge nicht ab,« sagte Goy, »ich
glaube an nichts, als an die Liebe und an die Lust, die durch sie kommt.«

Ich verstand, wie sie ihre Worte meinte, denn sie stand, als sie so sprach,
innig dargeboten und aufgerichtet vor mir und hob ihre Arme, als ob sie
eine Schale darreichte. Ihr Haupt verdunkelte die Ampel, so daß ihre
Gestalt in magischen Lichträndern glomm. Aber ihre Worte bewegten sich in
meinem Herzen auf eine andere Art, sie nahmen Glanz an und entzündeten sich
für eine weite Reise.

Goy las in meinen Zügen.

»Vergiß,« sagte sie, »woran mußt du denken? Hier ist weder Zeit, noch Tag
und Nacht.«

»Und doch, du Geliebte dieser kleinen Ewigkeit, ist nicht das Leben länger
als die Jugend?«

»Nein,« sagte Goy sicher, und ihr Lächeln hatte etwas unfaßlich
Überzeugendes, »vielleicht für euch Männer, aber für uns Mädchen nicht.
Eine alte Frau ist schlimmer als eine ausgepreßte Mangofrucht, mit den
Gliedern welkt die Hoffnung, denn das Blut verliert seine Stimme, der der
Gang der Welt gehorcht. Kein Kind wird meine Freude sein.«

»Was kann ich für dich tun, Goy? Nimm alles, was ich habe!«

»Ich nehme nichts«, sagte das Mädchen. »Ich habe niemals etwas genommen.
Die Alte nimmt. Sage mir, daß ich schön bin und daß ich dich beglückt
habe.«

»Du bist sehr schön.«

»Du sagst nur das eine, so bist du undankbar, oder du bist von denen, die
niemals sich selbst vergessen können, als wären sie so wichtig, ach, so
wichtig!«

Sie kam mir ganz nah und sah mir unter die Augen, dann zog sie gelinde den
Finger vom Winkel meines Auges über die Wange und um den Mund herum,
seufzte tief auf, als beklagte sie mich, und nickte.

Ich schloß die Augen. Die feuchte Blüte an ihrem Gürtel näherte sich meinem
Gesicht, und mir war für einen Augenblick, als legte sie sich kalt auf
meine Stirn.

»Welche Menschen meinst du?« fragte ich. Mir war, als wiche der bunte
Rausch, wie Wolken dem Wind weichen, für kurz von mir.

Goy sann nach und lächelte wehmütig, als gäbe sie mich verloren; dann hob
sie die Hand an meine Stirn, tippte schnell mit der Spitze des Fingers an
die Schläfen und sagte:

»Das kalte Feuer dort! Es ist stärker als alle anderen Flammen und scheint
heller. Es kämpft mit der Wärme des Herzens und hat schon viele Herzen
ausgelöscht. Ihr müßt immer von einem zum andern. Wer alle Hindernisse zu
seinen Mitteln machen will, verdirbt seine Ruhe, denn die Welt ist voller
Hindernisse. Wohin willst du? Unsere Weisen lächeln über euch. So komm',
vergiß!« --

Als ich aus dem Hause trat, fiel mich die Sonne wie ein Raubtier an. Ich
taumelte und tastete mich an den Häusern entlang voran, bis langsam meine
Besinnungen zurückkehrten. Ich wußte nicht, wieviel Zeit verstrichen war.
So muß Lazarus die Welt empfunden haben, als ihn ein Gott ins Leben
zurückrief. Ich erinnerte mich langsam der Einzelheiten meiner Erlebnisse,
wie der eines tiefen Traumes. --

Es mag nun wohl gewesen sein, daß eine habgierige Alte mich geführt und ein
verdorbenes Kind mein Lager geteilt hatte, aber da ich von beiden
Eigenschaften keine fürchte, so bekümmern sie mich wenig, denn es kam mir
damals nicht darauf an, wieviel die Dinge in den richterlichen Augen einer
Weltgerechtigkeit wert sein mochten, sondern es kam mir darauf an, wie sie
sich in meinen Augen spiegelten.

Das Leben aber trübt die Augen der Menschen mit Träumereien, Scherzen und
Tränen.

                  *       *       *       *       *

Langsam empfand ich nun mehr und mehr, daß es einzig noch auf jene
sonderbare Blume ankam und auf ihr schimmerndes Blau, das sich seltsam
herrschsüchtig und still vor mir auszudehnen schien. Da war mir, als
erwachte ich wiederum zu einem neuen Dasein. Eine unendliche Mattigkeit
beschwerte meine Glieder, und meine Augen waren unsicher und benommen, wie
befangen von jenem strahlenden Azur meiner Traumblume, die sich nun als
eine endlose blaue Mauer vor mir ausbreitete. Ich versuchte mit großer
Anstrengung, diese blaue Mauer zu begreifen. Da sah ich plötzlich, wie
einen ganz fremden Gegenstand, meine Hand auf meinen Knien liegen,
abgemagert und ganz weiß. Ich versuchte, sie zu heben, und sie gehorchte
mir. Die unbeschreiblichen Schauer eines ganz neuen Lebens ließen meine
Glieder erbeben; sie gingen vom Bewußtsein aus und rieselten wie
Lichtgarben durch meine Adern, eigensinnigen Funken gleich, heiß und kalt.
Ich seufzte tief auf und weiß heute noch gut und genau, daß ich laut sagte:

»Es kann das alte Leben nicht sein.«

Da kam Panja um eine weiße Säule geschritten, die sich von der blauen Wand
abhob, und starrte mich an. Er stand merkwürdig unwirklich da, als schwebte
er in der Luft. Dies ist ja ein brauner Mann mit einem weißen Turban,
dachte ich.

»Sahib!« schrie er, als er in meine Augen sah. »Sahib, sprich.«

»Wo sind wir, Panja?« fragte ich matt, »was ist mit der Zeit geschehen,
Panja?«

Mein Diener starrte mich verständnislos und in einer deutlich in seinem
Gesicht aufs neue auftauchenden Angst an, aber sie wich mehr und mehr, je
länger er in meine Augen schaute.

»Sahib, sprich gute Worte«, bat er, zweifelnd und hoffnungsvoll zugleich.

Da kam mir zum Bewußtsein, daß ich meine Frage in deutscher Sprache
gestellt hatte, und ich wiederholte sie englisch.

An Stelle einer Antwort stieß Panja einen lauten Schrei aus und warf sich
auf die Knie, indem er die meinen mit seinen Armen bedeckte. Schluchzend
stammelte er: »Sahib, du wirst leben!«

»Wohin sind wir geraten, Panja? Was ist dort für eine blaue Wand?«

Panja erhob sich mit glücklichem Lachen, trat zur Seite und sagte: »Es ist
das Meer. Wir sind hoch in den Bergen, du siehst auf das Meer hinab. Wir
haben dich aus den Sümpfen hinaufgetragen, zwei Tage und zwei Nächte lang,
ohne zu schlafen und kaum, daß wir geruht haben, bis die leichte Luft kam,
die Kühle und die Ruhe. Sieh um dich, sieh die Wälder an! Dies ist das
verlassene Bungalow einer englischen Farm. Wir haben die Affen vertrieben,
die von ihm Besitz ergriffen hatten«, er stockte und sah mich an. »Ach,
Sahib, nun bist du erwacht und gesund geworden, der Sinn ist in deine Augen
und Worte zurückgekehrt und die Freude in meine Brust.«

Ich sah Panja weinen und begriff, daß er die Wahrheit sprach, und daß mein
Geist aus dem Bereich der Fiebergifte in die Wirklichkeit zurückgekehrt
war. Da sah ich in einiger Entfernung Guru am Boden hocken und mich
unverwandt mit seinen großen Nachtaugen anstarren. Es lag etwas in seinen
Blicken, was ich nie vergessen werde.

Erst nach Tagen erfuhr ich langsam, was sich zugetragen hatte, denn Panja
verschonte mich mit allem, bis ich danach fragte. Ein großer Teil unseres
Gepäcks war verloren, da die Leute sich meiner annehmen mußten und keine
Träger zu bekommen waren. Panja hatte hauptsächlich Proviant mitnehmen
lassen und die Koffer, von denen er wußte, daß sie meine wertvollsten
Besitztümer bargen, ebenso meine Waffen und ein Zelt. Zwar waren seit
gestern Pascha und ein Kuli hinabgestiegen, um zu retten, was noch zu
finden war, und um Sorge zu tragen, daß alles noch Vorhandene in einem
Eingeborenendorf untergebracht werden sollte, aber Panja hatte wenig
Hoffnung und fürchtete, daß die ersten Gewitter hereinbrechen könnten. Er
saß oft lange schweigend in der Mittagsglut neben meinem Liegestuhl und sah
den Himmel über dem Meer an und die weite, blaue Fläche, die aus dieser
Höhe so ebenmäßig erschien, wie eine Platte aus Metall. Zuweilen lag ein
feiner, grauer Dunst darüber. Aber außer dieser Besorgnis, deren Gewicht
ich kannte, bedrückte ihn ein anderer Kummer; ich merkte es ihm an, wollte
aber nicht fragen. Erst als ich meine erste Zigarre anzündete, lächelte
Panja melancholisch und meinte: »Nun wirst du auch das Schlimmste ertragen,
da deine Kraft zurückgekehrt ist.«

Elias war vom Panther geholt worden.




Siebentes Kapitel

In den Bergen


Panja prüfte aufs neue das verfallene Haus, in dem ein Raum notdürftig für
mich hergerichtet worden war, so daß er geschlossen werden konnte, da ich
die Nacht ohne Feuer verbrachte.

»Willst du bleiben, Sahib, bis die großen Regen kommen?«

Ich wußte, daß dies nicht anging, und daß wir verloren sein würden, wenn
die ersten Gewitter uns in den Bergen überraschten. Erfolglos versuchte ich
die Zeit seit unsrer Abreise von Cannanore zu ermessen, es mochten vier,
fünf oder sechs Monate vergangen sein.

Gurumahu war eines Morgens zu mir gekommen und hatte sich heimwehkrank
gemeldet. Er trennte sich mit schwerem Herzen von uns, aber wenn er sein
Dorf vor Anbruch der großen Regen erreichen wollte, so mußte er sich nun
auf den Weg machen.

Ich schenkte ihm meine verlötete Tropenuhr aus Nickel. Das war gewiß an
sich kein großes Geschenk, obgleich sie aufgeregt zu ticken verstand und
bei trockener Witterung sogar ging, aber Guru nahm sie beglückt entgegen.
Er wird künftig alles aus ihr ersehen, was sein Herz zu wissen begehrt: die
Jahreszeiten, die Windrichtung und den Gang der Gestirne. --

Oft fehlte es uns am Nötigsten. Panjas besorgte Augen schreckten mich aus
der Täuschung, in der ich mich dem Glauben hingab, daß die wohltuende, oft
kühle Luft der Berge und der hochgemute Seelenzustand, wie er Genesende
erfreut, zu hoffnungsvollem Blick in die Zukunft berechtigten. Unser Gepäck
war zum größten Teil gerettet, nur unter den Nahrungsmitteln hatten die
weißen Ameisen auf das furchtbarste gewütet, aber außer Panja und Pascha
hatte ich nur noch zwei Träger aus Süd-Kanara bei mir, die uns unter
großem Müheaufwand und oft unter Einsetzung ihres Lebens mit Reis und
Früchten aus dem nächsten Dschungeldorf versahen. Die dortigen Bewohner
hatten unsere Abhängigkeit von ihrer Leistung herausgebracht, und meine
Geldvorräte schmolzen immer mehr zusammen, eine Tatsache, die Panja in
stille Raserei brachte. Er schwor den Erpressern unten im Grünen Rache und
versprach mehr als einmal, ihr Dorf in Brand zu stecken; meine
Gleichgültigkeit führte ihn zu ernstlichen Ermahnungen:

»Sahib, du bist ein großer Herr, und du kannst tun, was du willst, aber du
tust nichts. Die Tage verstreichen, einer nach dem andern, wie die
Wasserwogen an der Meeresküste, sie lassen keine Spuren zurück und bringen
immer das gleiche. Wer lebt so? Als wir in Anandapur waren, hast du die
Brahminen verlacht, die den ganzen Tag in der Sonne liegen und den
Tempelreis fressen, der ihr Anrecht ist, aber wie machst nun du es? Früher
hast du alles in Büchern verzeichnet, was du sahst, und mich oft gefragt,
aber nun tust du auch das nicht mehr, und die Bücher sind verbrannt.«

Das war Panja ein großer Kummer, denn er wußte, daß auch seiner oft in
diesen Büchern Erwähnung getan war, und er hatte sich auf den Ruhm
vorbereitet, der seiner im Okzident, im Lande der Herren, wartete. Ich
lachte ihn aus; nur was die Gewitter betraf, hatte er recht, und so
entschloß ich mich eines Tages, den kürzesten Weg nach Mangalore zu nehmen,
um im Schutz dieser alten, gesicherten Hafenstadt die Regenzeit abzuwarten.

Aber im Herzensgrund ahnte ich bei solchen Vorsätzen, was ich aufgab und
dahinten ließ, und daß meinem Leben keine Zeit mehr würde gegeben werden,
die der verstrichenen an Licht und Freiheit glich. Und so kam es, daß sich
unsere Abreise von Tag zu Tag hinauszögerte, obgleich alle meine Erlebnisse
in den Bergen sich im Schleier jener dämmerigen Unwahrscheinlichkeit und
heimlichen Ruhlosigkeit zutrugen, die uns befallen können, wenn wir an
schöner Stätte den Gedanken des Abschieds schon mit uns umhertragen. --

Da war Gong, ich werde ihn nicht vergessen, wahrscheinlich ist er
inzwischen gestorben, denn er zählte schon damals nicht mehr zu den
Jüngsten, und er überwand sein Mißtrauen gegen mich niemals ganz. Er
gehörte jener Sorte von halbgroßen Affen an, die in Indien nur in den
Bergen leben, sie sind bedeutungsvoller als ihre Brüder aus dem Dschungel,
und sie haben andere Eigenschaften, aber keineswegs bessere.

Ich nannte diesen meinen Gefährten der Frühmorgenstunden Gong wegen seiner
außerordentlich häßlichen Stimme, die so klang, als ob man einen alten,
rostigen Blechkessel gegen eine Steinmauer würfe. Gottlob sagte er nicht
viel, aber meine Erscheinung nötigte ihm das größte Interesse ab, offenbar
hatte er sich in den Kopf gesetzt vor seinem Hinscheiden noch etwas ganz
Besonderes zu erleben, und sich meine Person ausgewählt, die ihm dazu
angetan schien und die sich morgens unter den hohen alten Latan- und
Tamarindenbäumen finden ließ.

Kaum daß die ferne Fläche des Meeres sich im Dämmern silbern färbte, als
ich auch schon mein Lager verließ, um die kühlsten Stunden nicht zu
verpassen. Ich sah diesen blassen Himmelsschein wie er sich vor der
vergitterten Öffnung meines Fensters matt und glanzlos abhob, nur wenig vom
Licht des Mondes unterschieden und vom ersten Ruf der Raubvögel erfüllt,
die weit hinter mir, schon in hellerem Licht, um die Felszacken kreisten.
Nun dauerte es noch etwa eine Stunde, bis die ersten Sonnenstrahlen unser
Hochland erreichten, zuerst sah ich sie fern auf dem Wasser funkeln, und im
Osten zeigten die Felszacken goldene Ränder in unendlich freier, weiter
Höhe gegen den blaßblauen Morgenhimmel emporgereckt. Es gingen ein Glanz
und eine Stille von ihnen aus, die jeden Morgen aufs neue mein Gemüt
erfüllten und es bis weit in die Tagesstunden hinein begleiteten, da nichts
geschah, was ihren Frieden in meiner Seele auszulöschen vermochte. Nur wer
auf diese Art und unter solchen Bedingungen die Natur aufzunehmen vermag,
lernt sie begreifen, denn sie erfordert, wie alles Große, unsere
schrankenlose Hingabe, um sich uns voll zu offenbaren.

In dieser Stunde wartete Gong auf einem der meinem Hause nahe stehenden
Bäume, meistens auf einem niedrigen dicken Ast. Die eine Hand umklammerte
allerdings in der Regel, für alle Fälle, einen höheren Zweig, und wenn ich
meine Büchse bei mir hatte, so konnte anfangs kein Zureden ihn bewegen, zu
verharren. Ich weiß nicht, auf welche Art er die Bekanntschaft meiner Waffe
gemacht haben kann, sicher ist, daß die Affen mich weit länger kannten und
beobachtet hatten, als ich sie.

Seine Gefährten flohen anfänglich in großen Scharen. Es war leicht, sie
dabei zu beobachten, weil die Bäume in großen Abständen voneinander
wuchsen, und die Herren sich jedesmal die Mühe machen mußten, erst wieder
auf den Erdboden herabzusteigen, wenn sie weiterkommen wollten. Gong nun
machte eines Tages eine Ausnahme, er blieb sitzen, als ich nahte, und ich
blieb stehen, denn es war mindestens erstaunlich, daß dieser Affe sich
nicht auf- und davonmachte. Er saß auf einem niedrigen, dicken Ast, hielt
sich mit allen vier Händen fest, als ob er sich hindern wollte, schließlich
doch die Flucht zu ergreifen, zitterte und sah mich mit hochgezogenen
Brauen zugleich neugierig, boshaft und ängstlich an.

Ich habe nun bei Tieren immer zu erkennen geglaubt, daß sie es in der Regel
erst dann böse mit uns meinen, wenn wir ihnen Anlaß dazu geben. Es mag
sein, daß diese Anschauung daher kommt, daß ich in meiner Jugend niemals
schlechte Erfahrungen mit Hunden, Pferden oder Katzen gemacht habe,
obgleich diese Geschöpfe aus jener Zeit durchaus nicht das gleiche von mir
behaupten werden, auch mag es daran liegen, daß ich mich nicht im
Bewußtsein einer Überlegenheit wohlzufühlen vermag. Von allen Empfindungen,
die die Geselligkeit unter andern Wesen, seien es nun Menschen oder Tiere,
mit sich bringt, ist mir die der Überlegenheit am peinlichsten; ich habe
immer gesehen, daß die beschränktesten Menschen sie am ergiebigsten
auskosteten, wenn sich ihnen einmal Gelegenheit dazu bot. Es liegt im Wesen
aller Andacht vor dem Lebendigen, daß man sich einschließt, indem man
Rechte zugesteht, und sie erst dann einfordert, wenn das gemeinsame
Wohlergehen unserer Leitung bedarf. Von den gewaltigen Lebensstimmen, die
in der kurzen Wegstrecke des Erdendaseins unser Gemüt erschüttern, ist das
Seufzen der unterdrückten Kreatur, wie die leitende und klagende Melodie in
einem brausenden Orgellied, immer das Vernehmlichste gewesen, das mir zu
Ohren gedrungen ist, und da ich verabscheue, Mitleid zu geben oder zu
empfangen, ist mir nur der Weg geblieben, in allem Lebendigen einen meinem
Leben gleichberechtigten Ausdruck der Natur zu erblicken.

Als nun Gong sitzen blieb, ohne mit seinen Gefährten zu flüchten, und ich
mich ihm langsam näherte, unterschied ich deutlich in seinen Zügen die
Anspannung eines, der mit Herzklopfen zwischen Angst und Neugier schwankt.
Darüber aber schien ihm plötzlich einzufallen, daß es noch einen dritten
Weg gab, und er schlug ihn ein und machte den Versuch, mich dadurch
einzuschüchtern, daß er mir auf seine Art einen Beweis seiner Waldrechte
und seiner persönlichen Bedeutung vermittelte. Er zog den Kopf tief
zwischen die Schultern ein, reckte ihn darauf mit einem Ruck vor und
schüttelte zugleich den Ast, auf dem er saß, durch ein energisches
Schaukeln seines ganzen Körpers so wild und angreiferisch, als seine Kraft
irgend zuließ. Dabei stieß er aus rund gehöhlten Lippen einen Ton hervor,
der sehr schwer zu schildern ist, von dem man aber dadurch einen Begriff
bekommen würde, wenn man einen Lampenzylinder fest an die Lippen setzte und
im Brustton ergrimmtester Überzeugung hineinstieße: »Großer Gott!«

Diese Erfahrung wirkte im ersten Augenblick so komisch auf mich, daß ich
lachen mußte, und ich schlug auf meine Schenkel und tat es laut. Einen
Augenblick schaute Gong verdutzt drein, aber dann nahm er meine Gebärde als
ein Zeichen wohlwollender Annäherung und wiederholte sie, so gut er konnte.
Seine Augen blieben dabei merkwürdig ernst, und seine Stirn zeigte tiefe
Falten.

Wir erwiesen uns nun diesmal und künftig unser Verständnis füreinander
dadurch, daß wir uns nach bestem Vermögen nachahmten, und so belustigend
wir vielleicht dabei aufeinander gewirkt haben mögen, blieb mir doch eine
Bekümmernis und eine leichte Melancholie im Sinn, wenn ich bedachte, wie
groß und unüberbrückbar die Schranke war, die mich von Gong trennte.

Ich habe im Verlauf unserer Bekanntschaft die deutliche Beobachtung
gemacht, daß Gong sich verstimmt zeigte, wenn ich einmal ausgeblieben war,
und daß er sich ehrlich über meine kleinen Aufmerksamkeiten freute.
Vielleicht mag ihn ein ähnlicher Gedanke bei seiner Betrachtung meiner
Person bewegt haben. Er versuchte zu lernen und zu begreifen, was irgend
sich für ihn verstehen ließ, und wenn es häufig auch nur bei der äußeren
Gebärde blieb, so war doch auf beiden Seiten der Wunsch erkennbar, einander
näherzukommen.

Zwar ließ er mich äußerlich niemals weiter an sich herankommen, als bis
etwa auf fünf oder sechs Schritte. Sobald ich den Versuch machte, diesen
Abstand zu verkürzen, hob er mit einem bedauernden Ablehnen die Hand und
ergriff einen höheren Ast, um mir anzudeuten, welche Folgen mein
Entgegenkommen haben würde.

Gong hatte im Laufe unserer Bekanntschaft alles gelernt, was sich mit den
Augen von den Vornahmen eines Menschen begreifen läßt, er hat meinen
Tropenhut auf dem Schädel gehabt, mein Taschentuch gebraucht, und er weiß
wozu ein Messer gut ist. Er hat meine Notizbücher durchblättert und in
meiner Hängematte geschaukelt, und er verstand die Bewegungen des An- und
Ausziehens eines Rockes so täuschend nachzuahmen, als sei er von alters her
gewohnt, Kleidung zu tragen.

Oft allerdings begriffen wir einander gar nicht, denn Gong wußte in seiner
Sucht, mir gleich zu sein, bald kein Maß mehr zu halten, und verstimmte
mich zuweilen empfindlich durch seine Nachahmungen, so daß ich mir
lächerlich in meinen Bewegungen vorkam und den bestimmten Eindruck gewann,
verspottet zu werden. Es mußte nun darüber nachgedacht werden, auf welche
Art Gong eines Teils seiner Erziehung wieder zu entwöhnen war, denn es
wurde von Tag zu Tag offenkundiger, daß sowohl er selbst, wie auch seine
Gefährten, mich nicht mehr ernst nahmen und es an dem Respekt fehlen
ließen, den ich glaubte beanspruchen zu dürfen. Die Tiere lachten geradezu,
wenn ich kam. Zuweilen warteten sie morgens in Reih und Glied auf mich, um
mich bei jeder Gelegenheit auszulachen. Sie stießen sich gegenseitig an, um
sich aufmerksam zu machen, rieben sich vor Vergnügen die grauen Hände und
schlugen sich auf die Schenkel, dabei quietschten sie in allen Tonarten,
mißgönnten sich im nächsten Augenblick ein Glück, das sie einander noch vor
kaum einer Minute zuerteilt hatten, und fühlten sich bei alledem auf eine
Art wichtig, die auch bescheidenere Leute, als ich einer bin, ernstlich
verdrossen hätte.

Ich war nirgends mehr allein, wo immer ich mich aufhielt, und selbst die
Achtung vor meiner Büchse schwand von Tag zu Tag, da die Herren
herausgebracht hatten, daß es mir auf Vögel und Rotwild ankam, und daß das
wichtige Geschlecht der Affen völlig außer Gefahr war, geschädigt zu
werden. War es mir aber einmal gelungen, irgendein kleineres Tier zu
erbeuten, so warteten sie, bis ich die Büchse beiseite legte, und kamen
herzu, wobei sie sich gebärdeten, als hätte ich diesen Erfolg einzig ihnen
zu verdanken.

Am meisten ärgerte ich mich über ihre Vergeßlichkeit. Es war schändlich,
wie wichtig sie sich bei einer Sache anstellen konnten, die ihrem
Gedächtnis gleich darauf entglitt, als wäre sie nie in der Welt gewesen.
Jeden Augenblick fiel ihnen etwas anderes ein, und immer beanspruchten sie,
in ihrer neuen Pose völlig ernst genommen zu werden. Ich kam mir
schließlich so vor, als sei ich in einer fremden Stadt ein zum Amüsement
der Bürger geduldeter Sonderling, und begann an meiner Tier- und
Weltbetrachtung ernstlich irrezuwerden.

So klagte ich Panja mein Leid. »Oh,« sagte er, »die Affen! Wer wird sich
mit den Affen einlassen, Sahib? Aber wenn du nur eine Heuschrecke
erblickst, so wirst du schon sorgenvoll und redest sie an, und dann tust du
so, als ob es dir antwortete, das Vieh. Wer aber mit Affen umgeht, hat bald
den Eindruck, als sei sein eigener Schatten närrisch geworden, und den
Schatten kann man nicht fangen.«

»Ich will Gong haben«, antwortete ich.

Panja dachte nach. »Ich habe als Kind manchen Affen in der Schlinge
gefangen, und wenn der Affe, den du haben willst, dich kennt und kein
Mißtrauen hegt, so kannst du ihn leicht fangen, wenn du ihm zuvor genau
zeigst, wie man in eine Schlinge geht. Von diesem Kunststück lernt er nur
die erste Hälfte, und wenn du rasch hinzuspringst, kannst du ihn greifen.
Aber du mußt ihm mit der linken Hand entgegenkommen und ihn unversehens
mit der rechten im Genick packen. Die alten Affen beißen, solange sie noch
Hoffnung haben, entwischen zu können. Später denken sie nach und geben es
auf.«

Das war ein ausgezeichneter Gedanke. Ich nahm am andern Morgen ein
haltbares Hanfseil, fettete es ein, und als meine Peiniger mich empfingen,
begann ich mich auf alle Arten, bald am Arm, bald am Hals, aufzuhängen,
wobei ich besonders Gongs Aufmerksamkeit zu erregen suchte. Seine Gefährten
zogen sich betroffen zurück, da meine Maßnahmen ihnen fremd waren, aber
Gong sah mir nachdenklich zu und wurde ungemein ernst. Als ich glaubte,
genügsam durch mein Beispiel gewirkt zu haben, öffnete ich die Schlinge,
soweit als nötig, zog mich zurück und legte mich in einiger Entfernung ins
Gras, um meiner Genugtuung in aller Ruhe entgegenzusehen.

Aber Gong blieb ruhig auf seinem Ast sitzen und schaute mit hochgezogenen
Brauen bald die Schlinge an, bald mich. Dann machte er sein böses, rundes
Maul, stieß den Kopf gegen mich vor, sagte verächtlich »Großer Gott« und
wandte sich ab, um die Gegend zu betrachten.

Da hörte ich Panja hinter mir lachen und beschloß, ihn sofort zu töten.

»Sahib, dieser Affe kennt die Schlinge, er kennt auch die Menschen, deshalb
ist er damals so nahe herangekommen.«

»Warum lachst du?« schrie ich. »Wer hat dir erlaubt, zu lachen?«

»Das muß man«, sagte Panja.

Da sah auch ich es ein und lachte mit ihm zusammen.

                  *       *       *       *       *

Die grüne Wildnis des Dschungels unter mir dampfte in der Frühsonne und
blieb oft bis Mittag verhüllt, ich begriff nun zuweilen schwer, wie ich es
dort unten so lange Zeit ertragen hatte, jetzt, da die Klarheit der
Bergluft kühl um meine Stirn wehte. Nachts kam der Panther bisweilen bis
auf die Veranda des Hauses, von Hunger aus dem dürren Hügelland in unsere
Nähe getrieben. Das Wild hatte sich aus der verbrannten Steppe in den
Dschungel zurückgezogen, und ich begegnete außer Schakalen bald nur noch
Hyänen, wenn ich mit der Büchse aus den Waldpartien bisweilen des
Nachmittags über die kahlen Berge zog. Aber immer huschten die Tiere in
Abständen und außer Schußweite am Horizont dahin. Die graubraunen Schakale,
die die Farbe des Bodens hatten, reizten mich oft zum Schuß, aber kaum
hatten die zierlichen Köpfchen mit den hochstehenden Ohren sich gezeigt, so
schien der Boden sie auch schon wieder verschlungen zu haben.

Nahe bevor wir abreisten, schoß ich meinen ersten Panther. Es war in einer
klaren Mondnacht, als ich hörte, wie Panja in mein Zimmer drang und mich
rief. Hinter ihm stand Pascha still und steil im Mond, von unten her ein
wenig vom Schein des Feuers beleuchtet, das nur schwach am Boden des
Vorplatzes brannte.

»Sahib,« sagte Panja, »der Panther ist so hungrig, daß er Feuer frißt, wir
können ihn nicht vertreiben und keinen Schlaf finden.«

Mir war die Nachricht willkommen, ich nahm die Büchse und befahl Panja, das
Feuer zu löschen. Die Träger waren unterwegs in die Niederungen, um Reis
und Geflügel zu kaufen, und wurden nicht vor Ablauf des kommenden Tages
zurückerwartet. Ich lud beide Läufe mit Kugeln und legte den Revolver neben
mich. Das Fenster enthielt keine Scheiben, sondern war nur mit dicken
Holzstäben versehen, die Panja zum Teil erneuert hatte, die aber einem
energischen Eingriff keineswegs standgehalten hätten. Ich stellte mich in
den Mondschatten, und wir warteten.

Pascha legte sich im Winkel des Raumes zum Schlafen nieder, und ich hörte
ihn nach kurzer Zeit schnarchen; Panja dagegen blieb dicht an meiner Seite,
nachdem er sich mit dem längsten Messer bewaffnet hatte, das unser
Lagerbestand aufwies, und mit einer Wegaxt. Er schüttelte sie wie ein
Indianerhäuptling und grinste vor Aufregung, dann begann er das Meckern
einer Ziege so täuschend nachzuahmen, daß mir zum ersten Mal mit ganzer
Klarheit vor Augen trat, daß wir hier das große Raubtier erwarteten.

Es war vielleicht eine Stunde vergangen, und ich begann bereits die Geduld
zu verlieren, als plötzlich unter meinen Augen, jenseits des Fensterbretts,
das Mondlicht erlosch. Ich dachte zuerst an alles andere, merkwürdigerweise
nur nicht an den Panther, zumal sich nichts mehr rührte, weil das Tier mit
seinem letzten Schritt Witterung von uns bekommen haben mußte. Und nun
erkannte ich die große Katze unmittelbar vor mir, niedriger zwar, als sie
in meiner Vorstellung lebte, und merkwürdig farblos, aber ich unterschied
deutlich die geschmeidige Belebtheit der schönen Rückenlinie und den
herrlichen Katzenkopf, der mir mit halb geöffnetem Rachen zugekehrt war. In
diesem Augenblick brach ein Geräusch aus den zurückgezogenen Lippen hervor,
das mein Blut erstarren machte, es war ein fauchendes Schnarchen, überlaut
und von einem Zorn und einer Angst hervorgestoßen, die den Willen bannten.
Ich erinnerte mich, dieses häßliche und zugleich so überwältigende Fauchen
in meiner Kindheit im Tiergarten am Käfig des Tigers gehört zu haben, wenn
der Wärter nahe an den Stäben vorüberschritt. Nun trennte mich allerdings
auch in diesem Augenblick ein Gitterwerk von dem Raubtier, aber der Grimm
dieser Stimme erweckte die Vorstellung einer so unmittelbaren Nähe, daß
auch die stärksten Eisenstäbe kein Vertrauen eingeflößt hätten.

Ich entsinne mich nicht mehr, ob ich die Büchse im Anschlag hatte, oder ob
ich sie emporriß, jedenfalls zielte ich ohne das geringste Zutrauen zur
Wirkung meines Geschosses, zwischen die Augen, die ich deutlich
unterschied, wobei ich mich mehr auf die natürliche Fähigkeit der Arme
verließ, dem Lauf die notwendige Richtung zu geben, als auf das Visier, und
drückte, wahrscheinlich viel zu rasch, beide Läufe ab.

Ich hörte ein Geräusch am Boden, als spränge das Tier in diesem Augenblick
vom Hausdach herunter vor mich hin, gleich darauf zerkrachte wie ein
Zündholz einer der Fensterstäbe unter einem furchtbaren Tatzenhieb. Dann
wurde es ruhig vor mir und leer, wir hörten den rollenden Widerhall der
Schüsse von den Bergen her, sie polterten bellend von Felswand zu Felswand,
rollten durch die Täler und verhallten endlich fern in der Mondnacht wie
zwei gehetzte, klagende Brüder auf der Flucht.

Die erste deutliche Empfindung, die mich zu mir brachte, war das Schmerzen
meiner Hand, mit der ich den Revolver so fest umklammerte, als ob ich mit
dem ganzen Körper daran hinge. Ich erinnerte mich nicht mehr, ihn ergriffen
zu haben, lockerte aber nun aufatmend die Finger und gewahrte, daß ich am
ganzen Körper zitterte wie im Frost. Ich habe später in Kanara und Maisur
noch manchen Panther erlegt, auf Reisfeldern, in Bäumen auf der Lauer
liegend und in Felsschluchten, aber nie wieder durchschüttelte mich, selbst
bei weit größerer Gefahr, ein annähernd so starkes Fieber des Entsetzens
und der Hilflosigkeit. Ein unzulänglicher Schutz ist oft bei weitem
beängstigender als die volle Gewißheit einer schrankenlos wirkenden Gefahr,
und nicht nur, wenn es sich um einen Panther handelt. Es mag hinzukommen,
daß es in der Tat überwältigend ist, plötzlich zum ersten Mal dieser großen
Katze Auge in Auge gegenüberzustehen, deren Ankündigung aus geheimnisvoller
Nachtfinsternis man monatelang vernommen hat, und aus der die Phantasie in
unablässiger Beschäftigung ein bei weitem schlimmeres Fabelwesen
erschaffen hat, als der Panther es in Wirklichkeit ist.

Er ist im Grunde sehr scheu und fällt fast niemals Menschen an, selbst
Kinder nicht, wenn ihn nicht die äußerste Not des Hungers oder die
Bedrängnisse der Treibjagd nötigen. Im gesättigten Zustande weicht er stets
der Begegnung mit dem Menschen aus und er mordet nicht mehr, als zur
Erhaltung seines Daseins erforderlich ist. Alle Hirten, die mir in Malabar
vom Tiger oder Panther erzählt haben, stimmten in ihrer Erfahrung darin
überein, daß diese Katzen sich mit dem begnügen, was sie brauchen; unter
gewöhnlichen Verhältnissen nimmt der Panther eine Ziege aus der Herde,
schleppt sie davon, sättigt sich und überläßt die Reste seiner Beute
neidlos den Hyänen, die fast immer in seiner Gefolgschaft zu finden sind,
und die er nur dann angreift, wenn der äußerste Hunger ihn nötigt.

Vom Tiger gibt es vielerlei widersprechende Geschichten, die aber alle mit
großer Vorsicht aufgenommen sein wollen, denn die abergläubische Furcht der
Hindus vor dem Tiger ist so groß, daß kaum einer noch in der Lage ist,
zwischen Tatsachen und allegorischen Erfindungen zu unterscheiden. Das
Grauen der Eingeborenen vor dem Tiger ist so nachhaltig, daß sich in vielen
Provinzen der Begriff des Bösen, des Satans, im Namen mit dem dieses
Raubtiers deckt, eine Tatsache, die nur verständlich ist, wenn man die
unerhörte Überlegenheit des Tigers über die dortigen Menschen kennt, die
fast alle ohne Waffen sind, und deren Laubhütten keinen genügenden Schutz
gegen einen nächtlichen Überfall bieten. Von vielen Sagen beruht jedenfalls
die auf Wahrheit, daß Tiger, welche den Genuß des Menschenfleisches kennen,
selten noch andere Nahrung zu sich nehmen, und solche Exemplare können dem
Lande ein außerordentlicher Schrecken werden. --

Wir fanden den erlegten Panther in der Morgendämmerung in den Aloën. Der
Boden umher war zerwühlt und im Todeskampf aufgerissen worden, aber das
große Tier lag jetzt ruhig, fast friedlich da, ohne Entstellung und ohne
Spuren eines Todeskampfs. Ich fand nur den Weg der einen Kugel, die hinter
dem Ohr in den Nacken gedrungen war und den Wirbel zerschmettert hatte. Die
Augen waren geschlossen, was man sehr selten bei einem erlegten Tier
findet, und das schön geschnittene Maul, in einem wehmütigen und beinahe
zärtlichen Ernst, war ein klein wenig geöffnet, wie von einem letzten
Todesseufzer bewegt.

Seltsam harmonisch, fremdartig und zugleich im Sinn dieses Landes vertraut
und notwendig, hoben sich die stachligen, blaugrünen Blätter der
Aloëstauden von der gelben Färbung des Fells ab. Ich vergesse diesen
Anblick niemals, der sich mir so entscheidend in die Seele einprägte, als
erfaßte ich zu dieser Stunde zum ersten Mal mit ganzer Inbrunst den
unnennbaren Begriff Indien, den der Pinsel keines Malers und das Wort
keines Dichters in seiner ganzen Fülle und Eigenart zu vermitteln vermögen.

Panja war den ganzen Morgen über schweigsam, ein mächtiger Herr der Berge
war gestorben. Ich trug mich den Tag hindurch mit eigenartigen Gedanken,
und zuweilen war mir zumut, als sei eine arge und sinnlose Willkür
geschehen, als habe ich einen Eingriff in die Pracht und Mannigfaltigkeit
der Schöpfung getan, die mit dem Aussterben der großen Katzen in Indien
langsam um ihre vollkommensten Resultate geschmälert wird.




Achtes Kapitel

Am Thron der Sonne


Nachts, wenn ich nicht einschlafen konnte, weil das Mondlicht wie das
wahrsagerische Gespenst einer ewigen Todeskühle an den zerbröckelten Mauern
entlang geisterte, die mich vor den Gefahren der Außenwelt schirmten,
erwachte in meiner Brust der Wunsch, jene Höhen zu erreichen, auf denen des
Morgens das rote Gold der aufgehenden Sonne leuchtete. Es verlangte mich
danach, von jener kühlen, hohen Ruhe aus auf das indische Land jenseits der
Berge hinabzusehen und angesichts der unermeßlichen, hügligen Weite meine
Gedanken noch einmal durch jene Tage zu führen, die ich durchlebt hatte,
bevor ich in Cannanore angelangt war.

Panja riß die Augen auf, als ich mit meinen neuen Plänen herausrückte. Er
stampfte den Wasserkessel in das Feuer, daß die Funken stoben und
betrachtete mich eine Weile auf jene Art, die Leute an den Tag zu legen
pflegen, die aus lauter Hoffnungslosigkeit, jemals überzeugen zu können, am
Rande der Verzweiflung angelangt sind, und die doch darüber ihren Wunsch zu
überzeugen nicht verbergen können. Als ich meinen Lebensretter so
erblickte, im Augenblick aber mehr Verlangen nach dem Tee, als eben nach
seinem Verständnis trug, mußte ich für eine kurze Weile an eine Schulstunde
zurückdenken, in der mir von einem ähnlich ergriffenen Männerangesicht
zugemutet wurde, Pythagoras dadurch gleichzusein, daß ich ihn begriff. Auch
dort erstickte ein bedauernswerter Zorn in der Hochflut anschwellender
Ohnmacht, und sprachlos gewordene Verachtung sagte mir an bösem
Lebensgeschick weit mehr voraus, als ein vereinzeltes Gemüt, mit leisem
Hang zum Grübeln, ertragen kann.

»Du siehst aus wie Professor Stolzenburg«, sagte ich zu Panja, denn ich
halte dafür, daß man böse Gedanken guten Leuten gegenüber am besten offen
ausspricht, damit sich ein Weg zum Ausgleich mit gemeinsamen Kräften suchen
läßt. Hätte ich das nur in der Schule auch schon gewußt, vielleicht hätte
der gestrenge Verbitterer so mancher meiner Morgenstunden zwischen zehn und
elf Uhr mit sich reden lassen.

Panja verschmähte es der Bedeutung meines Vergleichs nachzuforschen, er
sagte nach einer Weile resigniert:

»Nun, es ist ja gleichgültig, Sahib, ob wir hier oder dort im Wasser
umkommen.«

Das befestigte meinen Beschluß aufs beste, denn wie alle leichtsinnig und
zugleich eigensinnig veranlagten Naturen habe ich oft dem Hang in mir
nachgegeben, jede Latte, die mir zwischen die Füße geworfen worden ist, als
Sprungbrett zu benutzen. Man muß allerdings springen können, um dererlei
wagen zu dürfen, das ist wahr, und dieses »Springen-Können« ist im Grunde
nichts anderes, als das, was die Menschen in der Regel »Glück-Haben«
nennen. Glück haben gibt es nicht. Das sogenannte Glück ist so eng mit
Geschicklichkeit verbunden, wie Unglück mit Ungeschick, und diese Wahrheit
bezieht sich durchaus nicht einzig auf äußere Vorgänge, auch das Unglück
der Seele ist zuletzt Ungeschick, wenn auch in einem weit höheren Sinn, der
sein Recht in der Gesetzmäßigkeit des Weltwesens findet.

Ich habe das Panja damals nicht gesagt, er lief hin und her und hantierte
dergestalt mit den Gegenständen, daß man deutlich wahrnehmen konnte, daß
keine Zweckmäßigkeit mit seinem Eifer verbunden war. Es ist merkwürdig, daß
Leute, die ärgerlich geworden sind, so oft dazu neigen, leichtere
Gegenstände von einem Platz auf den anderen zu stellen, und dann mitunter
sogar wieder von dem neuen Platz auf den alten zurück. Offenbar liegt es
daran, daß ihre Gedanken mit den Entschlüssen ähnlich verfahren, und daß
ein heimlicher Hang existiert, den Körper und die Seele möglichst im
Einklang miteinander zu erhalten. Ich erinnerte mich bei Panjas nutzloser
Beschäftigung meines Vaters, wenn er aus irgendeinem Grunde zum Ausdruck
brachte, daß seine Weltanschauung sich nicht mit der meinen deckte. Leider
geschah dies gewöhnlich bei den Mittagsmahlzeiten, denn sonst vermied ich
es nach Kräften, ihm ohne Grund längere Zeit ruhig gegenüberzusitzen, und
dann sah ich, wie das Messer oder die Gabel, auch das Salzfaß oder der
Serviettenring bald an die rechte, bald an die linke Seite des Tellers
wanderten. Leider hatten wir damals Messerschärfer aus Schmirgelstein in
Gebrauch, runde, schwarze Stäbe von der Länge einer mäßigen Spargel und mit
einem polierten Handgriff aus Hartholz. Wenn zufällig eine besonders
wichtige Meinungsäußerung meines Vaters mit dem Transport dieses nützlichen
Gegenstandes zusammenfiel, so geschah es in der Regel, daß der
Schmirgelstein zerbrach, denn seine Überlegenheit, selbst dem besten Stahl
gegenüber, bewährt sich nicht im Kampf mit der Tischplatte.

Dies erhöhte den Verdruß meines Vaters bis an die Grenze bedenklicher
Einseitigkeit und zog die Laune meiner Mutter in Mitleidenschaft, während
es meist meinem Selbstbewußtsein einen erheblichen Aufschwung verlieh und
mir nicht ohne Berechtigung den Gedanken beibrachte, daß mein Charakter in
den Augen meines Vaters um vieles milder angesehen würde, wenn wir
Messerschärfer aus gerilltem Stahl in Gebrauch nähmen.

So sagte ich denn Panja meine Ansicht über Messerschärfer, und dieser
unerwartete Ausdruck meiner Überzeugung brachte ihn so weit zur Besinnung,
daß ich Tee bekam.

Er trank mit, wie gewöhnlich, hockte mir gegenüber in der Morgensonne und
rückte melancholisch an seinem Turban. Außer ihm trug er nun schon seit
Wochen nicht mehr als ein schmales Lendentuch, aber auf seinen schweren
Turban verzichtete er selbst in der größten Hitze nicht. Es ist wirklich
recht merkwürdig mit diesem Panja gewesen, je entschiedener sein
Widerspruch oft zu Anfang war, um so lebhafter wurde sein Eifer für
gewöhnlich von dem Augenblick an, in dem er merkte, daß ich nicht
umzustimmen war. In beidem erkannte ich die ehrliche Besorgnis seiner
Neigung, und ich erinnere mich seiner niemals ohne den Kummer über einen
der größten Verluste meines Lebens. Die Harmonie unseres Verhältnisses mag
im Grunde auf seiner Gewißheit beruht haben, daß die Überlegenheit meiner
Rasse mit der Unerschütterlichkeit eines Naturgesetzes feststand. Das nahm
seinem Wesen jede Devotion im niedrigen Sinn und machte seine Ergebenheit
durch eine Demut würdig, die beinahe einen Einschlag von Religiosität
hatte. Heute bebaut er in Malabar die Reisfelder am Purrha, jenem
beschatteten Landstrich am Palmenwald, auf dem die Hütte seines Vaters
stand, und den er aufgeben mußte, um in der Fremde zu dienen, weil seine
Brüder den Verlockungen der großen Städte in Verschwendung erlegen waren.
Der Rückkauf dieses Stückchens Land war meine letzte Gabe an ihn, und es
bedrückt mich, daß ich ihm niemals die Gewißheit habe verschaffen können,
daß seine Gaben an mich reichere und unvergänglichere Geschenke gewesen
sind.

Als der Tee getrunken war, sagte er wütend:

»Aber Pascha bleibt hier.«

Er tat immer noch so, als wäre an diese Reise auf keinen Fall zu denken,
und wahrscheinlich meinte er deshalb nach einer Weile:

»Es sind drei Tage oder Nächte für den Aufstieg nötig, aber in der halben
Zeit steigen wir ab. Hast du etwa geglaubt, wir brauchten länger?«

Ich hatte es nicht geglaubt.

Panja sah hinauf zu den Gipfeln. Oben flutete alles in Licht, ein nie
gesehener Glanz verklärte die einsame Ruhe, die kreisenden Adler
schimmerten, als wären sie aus Gold.

»Alle Träume bleiben lange leicht von der Frische der Höhen«, sagte er
versunken.

»Panja, höre, nur wer die Schönheit der Erde lieben gelernt hat, hat die
Erde in seinen kurzen Lebenstagen wahrhaft beherrscht. In diesem Sinn ist
sie uns von Gott gegeben, so hat er es mit uns gemeint, als er sie uns
gab.«

Panja lächelte kindlich, in solchen Augenblicken hätte ich ihn in die Arme
schließen können.

»Dir wird nichts geschehen, Herr«, sagte er still und wie zu sich selbst.
Ich weiß nicht, ob er bei solcher Zuversicht an Gottes Hilfe glaubte oder
an seine, gewiß ist, daß ich selten im Leben wieder durch eines Menschen
Nähe so glücklich geworden bin wie durch die seine. Durch nichts vermag ein
Mensch uns seine eigenen Kräfte besser zur Verfügung zu stellen, als indem
er die unseren glaubt.

                  *       *       *       *       *

So wagten wir vor Anbruch des kommenden Tages den Aufstieg zu zweien, noch
als die Nacht umher herrschte und über den blauen Zelten der Berge vor uns
die Sterne leuchteten. Wir schritten im spärlichen Gesang der Grillen durch
dürres Steppengras unter den hohen Latambäumen dahin, die in weiten
Abständen voneinander standen. Zuweilen schalt über unseren Köpfen ein
Affe, den unser Tritt geweckt hatte, oder ein Vogel flog auf mit einem
lauten Warnruf, der unser Nahen der ahnungslosen Natur verkündete, die an
diesen Stätten wohl seit undenkbar langer Zeit der Fuß keines Menschen
betreten hatte. Es war kühl und still, Panja sprach nicht, und ich schritt
im Traumbann einer so tiefen Einsamkeit dahin, daß mir zuweilen war, als
sähe ich, wie ein fremder Dritter, uns kleine Zwei durch die riesenhaften,
graugrünen Wogen der Hügellandschaft dahinschreiten, im Dämmerlicht unter
den Bäumen und Sternen.

Es war unvorsichtig genug, daß wir den Weg ohne Fackeln machten, denn am
Morgen ist in dieser Jahreszeit der Panther am kühnsten, wenn er nach
vergeblichem nächtlichem Raubzug durch die Dämmerung schweift. Aber es war
so hell unter den Sternen, daß wir das Land weithin übersahen, und ich trug
die Büchse in der Hand. Panja schritt schweigend neben mir dahin, leichten
Tritts und mit erhobenen Augen, Kraft und Freude gingen von ihm aus, und
ich empfand ihn als allen Lebewesen seines Landes zugehörig, und die
Harmonie seiner Seele teilte sich mir mit, als sei auch ich in der Heimat.

Plötzlich begann er leise zu singen, immer die Augen auf die Höhen
gerichtet und so versunken in sich selbst, als schritte er allein durch das
Land. Seine gedämpfte Stimme erinnerte mich, wie auch der eintönige
Rhythmus seines Liedes, an den Singsang der Priester, deren Tempel in
Cannanore hinter dem Garten meines Hauses im Grünen lag, und jählings war
ich aus der freien Höhe und aus der kühlen Luft in die tropische Niederung
versetzt, so daß mir war, als schlügen die schwülen Dämpfe des
leidenschaftlichen Wachstums über mir zusammen.

Als ich nach einer Weile die Blicke hob, nachdem wir die letzten
Baumbestände durchschritten hatten, erschrak ich vor einer zackigen,
flammend roten Lichtlinie, die den Himmel vor uns, hoch oben, in
wagerechter Richtung zerteilte. Totenstill und wie aus Farbe zog sich dies
rote Band längs des Gebirgskamms dahin, hinter den Höhen war die Sonne
aufgegangen. Ich wandte mich erschüttert um und sah hinter mir das Land
unter dem besternten Dämmerblau der sinkenden Nacht, fern auf dem Meer
regte sich ein matter Silberglanz. Wie zwischen zwei Himmeln aus Blut und
Silber pochte mein entzücktes Herz seinen Lebensschlag auf den weiten,
grünbraunen Wellen der Erde, unendlich klein und doch die beseligte Quelle
meiner unfaßbaren Daseinsfreude. Panja warf sich auf die Knie und verbarg
sein Gesicht in den Händen. --

Eine Stunde, nachdem die Sonne über die Bergzinnen schaute, hörten die
Bäume fast ganz auf. Wohl sahen wir, sobald wir eine Höhe erklommen hatten,
zur Rechten oder Linken die dunklen Mauern großer Wälder in der Ferne, aber
bald wurde uns der Ausblick erschwert, da wir in einer Schlucht, im Bett
eines eingetrockneten Gebirgsbachs aufwärts klommen. Einen der Berggipfel
ersteigen zu können, stellte sich bei der Art unserer mangelhaften
Ausrüstung bald als unausführbar heraus, und so schlug Panja den Versuch
vor, einen der nächstliegenden Pässe zu besteigen. Wir konnten fast den
ganzen Morgen hindurch marschieren, denn die Luft war kühl und von einer
Durchsichtigkeit, gegen die ein wolkenloser deutscher Sommertag wie in
Nebel gehüllt wirkt. Panjas Fröhlichkeit erleichterte mir jede Strapaze, er
lachte oft ohne allen erkennbaren Grund, nur aus Überfluß von Daseinskraft
und glücklich über die Tatsache, in der von himmlischem Blau überdachten
Welt da zu sein.

Als wir gegen Mittag, um vieles höher, im Schatten eines Felsens Rast
machten und Panja unser Mahl bereitete, schreckte in nicht allzu weiter
Entfernung ein dumpfer, anwachsender Donner mich auf. Panja sprang empor
und spähte mit geschützten Augen in die flimmernden Steppenwogen.

»Die Büffel!« rief er, »sieh die Wolke, die sich den Hang niederwälzt.«

Es war das erstemal, daß ich aus so unmittelbarer Nähe eine Büffelherde
gewahrte. Sie rollte wie eine dunkle Lawine dahin, und der Erdboden
dröhnte. Nur für kurz unterschied ich im Vordergrunde einen oder den andern
der schwer gehörnten schwarzen Köpfe, den Glanz der großen Augen und den
Fall der Mähnen. Ich schoß nicht, da Panja mir erregt in den Arm fiel, als
ich die Büchse emporhob, und später erklärte er mir, daß es vorgekommen
sei, daß der leitende Stier, durch einen Angriff in Schrecken oder Wut
versetzt, plötzlich die Richtung geändert und gerade auf das Hindernis zu
genommen habe. Zwar hätten wir einen Schutz auf den Felsen gefunden, aber
wenn unsere Flucht uns mißlungen wäre, so würden wir zerstampft worden
sein, da die ganze Herde dem Stier folgt.

»Die Büffel kämpfen mit dem Tiger,« erzählte mir Panja, »selbst die
gezähmten fürchten ihn nicht, und wenn du mit ihnen das Reisfeld bestellst,
so wird der Tiger sich hüten, euch anzugreifen. Der Büffel spürt ihn eher
als du, und es wird dir nicht gelingen, ihn von seinem Standort zu
verdrängen, denn er wendet sich genau dem Tiger zu, wie eine Fahne, die du
gegen den Wind trägst. Wenn der Tiger den Sprung wagt, so endet er auf den
Hörnern, und du bist in Sicherheit, solange du dich hinter dein Tier
stellst.«

Die Staubwolke verrauchte im tieferen Gelände, und die klare Luft war
wieder still. Ich schlief kurz nach diesem Vorfall ein, ohne Nahrung zu
mir genommen zu haben, und Panja weckte mich nicht, denn er kannte die
ermüdende und gefährliche Kraft der Sonne, deren Strahlen auf den
Berghöhen nicht anders wirken als im Tal, obgleich die Kühle darüber
forttäuschen kann. So gilt es in den Bergen, fast mehr noch als im Tal,
den Kopf und die Schläfen nicht ungeschützt zu lassen, die Sonne hat viele
tödlich getroffen, die ihre Macht über diesen kälteren Regionen nicht
geglaubt oder vergessen haben. Mein Korkhelm drückte mich auch keineswegs
sonderlich, im Gegenteil, er wurde von Tag zu Tag leichter, weil eine
Schar mottenartiger Parasiten von ihm Besitz ergriffen hatten und ihn
zugleich bebauten und verzehrten. Bisweilen rieselte ein feines Korkmehl
nieder, wie ein liebevoller Beweis der Natur, daß sie keinen Menschen in
völliger Vereinsamung seinen Weg machen läßt. Panja war bereits mit
allerlei Mitteln gegen diese Tiere ins Feld gezogen, aber sie verließen
sich auf mich und vermehrten sich um so leidenschaftlicher, je mehr Panja
sie unterdrückte. --

So geschah es mir, daß ich bald darauf von einem hohen Paß aus einen Blick
in das weite indische Land hinab gewann, das ich vor meiner Zeit in Malabar
durchreist hatte. Die ungeheure Hügellandschaft erstreckte sich, wie von
Urzeiten her gelagert, ohne ein Anzeichen menschlichen Werks, und wie die
riesenhaften Wogen eines Meeres, das mitten im Sturm in Erstarrung geraten
war. Die Ebene in weiter Ferne schimmerte lichtgrau und wie die Oberfläche
eines gewaltigen Sees, ich glaubte winzige Spitzlein und Türmchen in ihr zu
erkennen, deren Silhouetten nicht anders gegen den Himmel abstachen, als
sei der Horizont mit feinem Stacheldraht umzäumt.

Wir blieben den Tag über auf der Paßhöhe, unter dem Dach eines schräg
gesunkenen Felsens gegen die Strahlen der Sonne geschützt, und durch die
unbeschreibliche Stille der Höhe zogen die Gestalten meiner Erinnerung, wie
in der Stunde eines Abschieds, unter dem Lied der Adler, noch einmal durch
meinen Sinn. Geister kamen aus dem Blau zu meinem Geist, Dahingesunkene
drangen in die Bewußtseinswelt des noch Verweilenden ein, Brüder und Gegner
in Gesinnung, Hoffnung und Schicksal, Freunde und Feinde in der Welt der
Lust und Trübsal und des raschen Todes.

Auf jedem Erdteil hat der Tod ein anderes Angesicht, nirgends sind seine
Züge feierlicher, als bei uns in Europa, ich habe ein wenig verlernt, seine
pathetische Sonntagsgebärde meiner Heimat zu überschätzen. Es hat noch
niemand dem Gespenst der Willkür sein Schauriges dadurch genommen, daß er
es heiligsprach; sicherlich ist die schwerfällig romantische Auffassung vom
Tode, die in Europa herrscht, eine Folge der Einwirkung der Kirche, die die
Tatsache des Todes so sehr in das Bereich des Ungeheuerlichen gerückt hat,
um aus ihrer Einwirkung einen Teil ihrer Autorität zu gewinnen. Uns ist das
Sterben in der Vorstellung so schwer gemacht, daß sicherlich ein gut Teil
Gerechter und Ungerechter beim Tode auf das angenehmste enttäuscht sein
wird.

Sterben ist Pflicht, wie auch das Leben. Es wird ein jeder so leicht oder
so schwer sterben, als seiner Natur das Leben geworden ist, und wer das
eine verstanden hat, wird auch das andere können. Die Menschen Indiens
sterben leichter, selbstverständlicher und gewissermaßen unauffälliger als
wir, sie überlassen der Gottheit die Sorge für ihr künftiges Ergehen und
werden den Gedanken schwer erfassen lernen, daß sie selbst in letzter
Stunde für einen geordneten Abzug verantwortlich sein sollten. Diese
Auffassung, die christlich genannt wird, entstammt auch keineswegs der
Überzeugung des unschuldigen Begründers unserer Kirche, sondern vielmehr
der berechnenden Klugheit ihrer Verwalter.

Langsam zog die Sonne ihren strahlenden Bogen, und das Land wechselte in
ihrem Schein. Wann wieder sollen Tage für mich kommen, die in so großer
Stille dahingehen, dem Gedanken und der Erinnerung geweiht, durchklungen
vom Kampfruf der Adler? Während ich hinabschaute ins Land, bald umwunden
vom schwermütigen Weinlaub des Traums, das glühte von Licht, bald in
wunderbare Klarheit des Äthers getaucht, durchlebte ich noch einmal so
manches, das ich gesehen und erfahren hatte, als ich das Land zu meinen
Füßen durchzog. Gegen Nordosten mußte Bitschapur liegen, die alte
Königsstadt, aus deren Schlösserruinen sich die mächtige Halbkugel erhob,
die einst ein mohammedanischer Fürst erbaut und ganz mit Gold hatte
ausschlagen lassen. Sie war gegen die aufgehende Sonne geöffnet, deren
Licht sich in tausendfachem Glanz darin brach, so daß kein Auge
hineinzuschauen vermochte, ohne geblendet zu werden. Mitten im Herzen
dieser Kuppel, unter dem gewölbten Golddach, waren die beiden Thronsessel
des Maharadscha und des Maharadscha Khunwar, des Königsohns, aufgestellt,
und in dem zornigen Strahlengefunkel, das das Feuer der Morgensonne
millionenfach widerspiegelte, empfing der König seine Gäste. So dienten das
kostbare Blut seiner Berge und das Himmelslicht des neuen Tages seiner
Herrlichkeit, und die bestürzten Freunde seines Reichs, die im Augenblick
des Sonnenaufgangs vor seinen Thron geführt wurden, hörten den Gruß des
Fürsten aus einem Glanz erklingen, der ihre Augen schloß und die Knie zu
Boden zwang. Es mag gewesen sein, als dienten Himmel und Erde einem
Allmächtigen, um seine Hoheit unfaßbar zu machen. Zwischen jener Goldkuppel
und dem Marmorplateau, auf welches die Ankömmlinge geführt wurden, war ein
tiefer gelegener Garten voll blühender Blumen, wie sie sich in Duft und
Pracht nur dem tropischen Himmel öffnen, und die Wohlgerüche ihrer Kelche
gesellten sich dem Glanze.

Der prachtliebende Sultan fiel von der Hand eines stärkeren Königs, der von
Norden kam und die Stadt zerstörte. Ihre Tore waren bis an die runden Bogen
der Gewölbe mit Toten angefüllt, und die Zähne des gefallenen Herrn der
Stadt konnten nicht aus dem elfenbeinernen Griff seines Säbels gelöst
werden, den er, zerfetzten Leibes, den Feinden nicht hatte überlassen
wollen. So ist er unter einem Berg seiner gefallenen Getreuen gefunden
worden, und die Sage erzählt, daß er auch so bestattet worden sei unter
dem gewaltigen Kuppelbau, den er sich selbst, wie alle Fürsten jener Zeit,
zu seinen Lebzeiten hat erbauen lassen.

Diese riesenhaften Grabdenkmäler der Stadt überragen noch heute das
Trümmerfeld von Bitschapur, sie erinnern in ihrer Bauart und Größe an
Moscheen, auch wird in einigen noch Gottesdienst gehalten, oder sie locken
Tausende von mohammedanischen Pilgern als Wallfahrtsort aus weiter Umgebung
in die heilige Stadt der großen Toten. Man erblickt in diesen Bauten
seltene Steinblöcke eingefügt, deren Entstammung bis heute nicht hat
aufgeklärt werden können, besonders als Grabsteine sind hier und da
schwarze, basaltartige Felsstücke verwandt worden, deren Beschaffenheit die
Gelehrten sich nur dadurch erklären können, daß sie sie unter die
Meteorsteine einreihen. Die größte dieser Kapellen ist von einer Kuppel
gedeckt, von deren Galerie der schwindelnde Blick unter sich die beiden
Grabsteine klein wie Streichholzschächtelchen erblickt, und das Auge ist
nicht in der Lage, einen Menschen von Angesicht zu erkennen, der sich ihm
gegenüber auf derselben Galerie befindet, wohl aber versteht er das
leiseste Wörtlein, das drüben im Flüsterton, gegen die Wand gesprochen,
fällt, da das Kreisrund des Steingefüges auf wunderbare Art den Schall
bewahrt und deutlich herumträgt. Man erzählt, daß der Sultan auf solche Art
die Ergebenheit seiner Minister, die Treue seiner Gäste und die Neigung
seiner Frauen erprobte, von denen er die einen oder anderen mit ihren
Vertrauten auf diese Galerie führte und sich, nach herausfordernden Worten,
wie zufällig von ihnen trennte, um dann Wort für Wort ihre Gedanken am
verräterisch erklingenden Kreisrund der Galerie zu erlauschen. In banger
Ehrfurcht vor diesem Wunder zittert das Volk noch heute in der Erinnerung
an die geheimnisvolle Macht des Toten.

In einem dieser Dome, fast dem größten, fand ich statt der gewohnten zwei
Grabsteine, die die Leiber des Königs und der Königin bergen und den
einzigen Inhalt der Gebäude darstellen, deren drei und erfuhr die
Geschichte dieser seltsamen Ausnahme, in der die Geliebte des Königs neben
ihm und seiner rechtmäßigen Gattin, der Mutter des Königssohns, beigesetzt
worden ist. Es geschieht sonst in keinem Fall, da nur die Favoritin, die
den Erben des Reichs geboren hat, im Tode neben dem Sultan ruht, seine
übrigen Frauen bleiben rechtlos, sowie auch deren Kinder, so ausgiebig sie
ihre Macht und ihren Einfluß im Leben angewandt oder mißbraucht haben
mögen. Aber die Geschichte erzählt, daß der König diese junge Gefährtin
seines Alters zärtlich liebte, und als er aus einem Kriegszug heimkehrte,
gelang es den Intrigen der Benachteiligten, Mißtrauen gegen ihre Treue in
sein Herz zu säen.

Sie beschwor ihre Unschuld, aber die falschen Beweise überzeugten den König
gegen seinen Glauben. Jedoch im Zwiespalt seiner Empfindungen mag er auf
den Gedanken gekommen sein, ein Gericht Gottes über Schuld und Unschuld der
jungen Frau entscheiden zu lassen. Er führte sie auf die hohe Galerie
seiner vollendeten Grabkirche, über deren niedriges Steingeländer hinab dem
Blick das Gefüge der großen Steinquadern des Bodens klein, wie die
Musterung eines Schachbretts, erscheint, und befahl ihr, hinabzuspringen.
Die Luft verfing sich während des Falls in ihren weiten Gewändern, und sie
langte unversehrt in der Tiefe an, grüßte hinauf zu ihrem Herrn, der ihr
mißtraut hatte, und tötete sich mit einem kleinen Dolch, der noch heute in
der Gegend ihres Herzens hockt. Das Volk nennt sie »die Fremde«, ihr
Grabstein wird mit heimlicher Scheu erwähnt, es mag dies seinen Grund darin
haben, daß ihr freiwilliger Tod nach erwiesenem Recht dem Geist der
orientalischen Weltbetrachtung wunderbar und unerklärlich erscheint.

Der König fiel in Schwermut, und der Gram seiner Reue soll oft in große
Grausamkeit umgeschlagen sein, seine Rachsucht ist furchtbar gewesen und
erst durch den Tod gestillt worden, man erzählt, daß er seit jenem Tage,
nachdem die Verleumder eines gräßlichen Todes gestorben waren,
allmorgendlich die Schärfe seines krummen Säbels im nackten Rücken des
Sklaven prüfte, der ihm die Steigbügel seines Pferdes hielt. Sein Bildnis,
das Händler der Stadt in kunstvollen bunten Kopien aus Wasserfarbe
feilbieten, zeigt ihn auf einem hohen Samtkissen hockend, das Schwert über
den Knien und den Blick unter dem roten, mit Edelsteinen geschmückten
Turban starr und erkaltet in die Weite gerichtet. Seltsam genug meldet die
Kunde von ihm, daß er, obgleich er niemals in Berührung mit seinem Volke
gekommen ist und sein Anblick Entsetzen verbreitete, auch kein Mädchen
seines Landes vor ihm sicher war, doch zugleich geliebt worden sei, wie
kein anderer Fürst vor oder nach ihm. Seine Krieger sollen für ihn in den
Tod gegangen sein, als spräche die Sterbenspflicht unter seinem Willen ihre
Seelen für alle Ewigkeit frei, und seine Widersacher verfielen der
Volkswut. Es ist dies ein neuer Beweis dafür, wie wenig die
Volkstümlichkeit eines regierenden Fürsten mit seinen guten Eigenschaften
zu tun hat, und daß kein Irrtum größer ist als der, daß die Liebe der
Untertanen und die Nahbarkeit des Herrschers Hand in Hand gehen.

Als ich Bitschapur sah, lag die Stadt voll Toter. Wir kamen in der
Morgenfrühe auf Pferden an, ohne Kunde davon erhalten zu haben, daß die
Pest in so furchtbarer Weise in der Stadt wütete. Als wir nahe vor den
Toren waren, wies mein Begleiter auf die Hügel im Umkreis der Stadt, die
mit Zelten bedeckt waren, und riet zur Umkehr, aber es bot sich uns keine
Möglichkeit dazu, da es uns an Wasser und Nahrung gebrach.

Die Lager auf den Höhen unterrichteten uns darüber, daß die Bewohner aus
der Stadt geflüchtet waren, und so fanden wir nur Tote im Bereich der
herrlichen Ruinen. Die Pferde zitterten, als uns der erste, widerlich süße
Hauch der Verwesung entgegenschlug, und Wolken von Aasgeiern erhoben sich
träge mit häßlichem Geschrei bei jeder Straßenbiegung. Die Leichen lagen in
den offenen Türen und auf den Gassen, aus leeren Augenhöhlen und
geschwärzten Angesichtern starrte der Tod uns an, und die Hufe unserer
Tiere verwickelten sich in den faulenden Schläuchen der menschlichen
Eingeweide, die die Geier weit über die Wege gezerrt hatten.

Die unbarmherzige Sonne spiegelte im Marmor, ihren stillen Liebeszorn
bewegte kein Lufthauch, ein paar vergessene Ziegen irrten durch die
furchtbare Todesöde und den gigantischen Prunk der Vergangenheit. Es war
eine Hungersnot vorangegangen. Heute noch sehe ich die mageren, dunkeln
Menschenkörper, geschwärzt vom Gift der Verwesung, gegen weiße Mauern
gelehnt, über Steintreppen geworfen, oder am rötlichen Boden. Zwei Kinder,
die einander umschlungen hielten, schienen am Rand eines Tempelteichs
eingeschlafen zu sein, die Lage ihrer zärtlichen Gestalten verriet weder
Angst noch Schmerzen, aber die Augen fehlten, und in geschäftigem, frohem
Eifer bohrte ein grauer Geier seinen Schnabel unter die Stirnen, so daß die
Köpfchen schaukelten. Als ich mich näherte, hob der Vogel den kahlen Kopf
mit dem harten Schnabel, und seine gelben Augen sahen mich räuberisch an,
als ob er Verwunderung darüber empfände, daß ein aufrechter, lebender
Mensch sein Totenreich betrat.

                  *       *       *       *       *

Als die Sonne ins Meer gesunken und ihr letztes Licht wie in violettem,
feuchtem Qualm über dem fernen Wasser zergangen war, brannte Panja ein
kleines Feuer auf der Berghöhe unter unserem Felsen an, der uns nach zwei
Seiten hin schützte. Wir mußten mit dem Brennmaterial sparsam umgehen,
Panja hatte es zum guten Teil unterwegs sammeln und bis zu unserer hohen
Lagerstätte schleppen müssen.

Die Nacht war totenstill, die ganze Welt schien erstorben, nur ein paar
große Nachtschmetterlinge besuchten mein Feuer, und ihr Surren zitterte in
der Luft, bis Panjas Schnarchen sie füllte. Aus weiter Ferne unterschied
ich Hyänenstimmen und schwaches Bellen der Schakale. Der Sternschein
tauchte in blassem Dunst der Tiefe glanzlos unter, aber über den Bergkuppen
und -zacken funkelte das Licht hart und zornig, wie im göttlichen Rausch
seiner unirdischen Freiheit. Der schmale Mond war erst gegen Mitternacht zu
erwarten.

Ich schlief nur ganz kurze Zeit, um den Aufgang der Sonne nicht zu
verpassen, und die Stunden eines einsamen Wachens auf der Höhe, in der
blauen silbernen Tropennacht sind mein unvergängliches Eigentum geblieben,
ein feierliches Kleid der Erinnerung, das meine Seele niemals ablegen wird.
Es ist ihr bannender Zaubermantel gegen die Bedrängnisse des kleinen
Alltags geworden, das Leben und der Tod wiegen ihr in solcher Hülle leicht,
und der Gedanke an das Unendliche rückt nahe, wie sich das Bild im
spiegelnden Wasser dem Knienden nähert.

Ich vergaß in jener Nacht, daß die Erde bewohnt ist, und ich begriff, daß
wir Menschen unseres Jahrhunderts unser ganzes Wesen zu sehr darauf
eingestellt haben. Unsere Beziehung zur Natur ist oft nur durch eine Flucht
vor den Menschen und aus unseren Lebensverhältnissen möglich, und so
erscheint uns das nur für kurz gegönnt, was uns von Anfang an zum Eigentum
bestimmt war. Der Satan der neuen Welt entschädigt uns überreichlich für
die Verluste unserer alten Rechte, und doch werden wir am Ende die
Betrogenen sein, denn der beste Teil entgeht uns, jener Anteil, der die
Gelassenheit der Besinnung mit sich bringt, die Ruhe des guten Gedankens
und den Frieden der Erkenntnis unserer selbst.




Neuntes Kapitel

Die Herrschaft des Tiers


Unendliche Mattigkeit lagerte in der Luft. Wir waren nun den zweiten Morgen
unterwegs, um Mangalore zu erreichen, und die Ausläufer der
Dschungelwaldungen deckten uns zu, zwischen ungeheuren Felsschluchten.

Der Abstieg von den Bergen zur Küste ging langsam vonstatten, da wir
unmöglich länger als die Stunde vor Sonnenaufgang und zwei oder drei
nachher marschieren konnten. Bisweilen unternahmen wir noch kleine Strecken
am Abend, aber es wurde wenig vom Wege zurückgelegt, da die anstrengenden
und umständlichen Vorbereitungen für unser Nachtlager die kühlere Stunde
vor Aufgang der Nacht beanspruchten.

Eine schmerzende Rastlosigkeit und ein dumpfer Druck in meiner Brust
machten mir die Weiterreise fast unmöglich. Ich glaubte, nicht atmen zu
können, und mir war, als zersprengte mein Blut seine Gefäße wie gärender
Wein. Mich befiel ein Taumel, dem kein Rausch zu vergleichen ist, und ich
begriff nicht, daß ich monatelang in diesem kochenden Dunst hatte leben
können, wobei ich allerdings nicht bedachte, daß das Jahr vorgeschritten
war und die heiße Zeit ihren Höhepunkt erreicht hatte. Die bösen
Erinnerungen an mein überstandenes Fieber überfielen mich wie Raubtiere;
ich fürchtete sie mehr als die hungrigen Bestien, die nicht von unserer
Fährte wichen, und als die Giftschlangen, deren Biß in dieser Zeit am
gefährlichsten ist und fast unmittelbar tödlich wirkt. Der ganze Urwald
schien von diesem Gift erfüllt, und die Ermattung seiner Geschöpfe teilte
sich dem Körper mit, bis tief in die Kammern des Herzens. Mehr als einmal
verlangte ich gebieterisch, daß der Rückweg in die Berge angetreten würde,
aber Panja und Pascha, die kaum noch widersprachen, taten in stoischer
Gelassenheit, was sie für richtig hielten und was es unter den drohenden
Ereignissen der Natur auch einzig gewesen sein mag.

Ich verlor den Sinn für die Pracht der Gegenden, durch die wir kamen; die
einzige Hoffnung, die mich aufrecht erhielt, war der Gedanke an das Meer,
und oft flehte ich, der tödlichen Gefahr zum Trotz, in heimlicher
Gemeinschaft mit den schmachtenden Geschöpfen der Natur, den Himmel um
Regen an. Es kam hinzu, daß ich die sichere Orientierung auf der Karte
völlig verloren hatte, ich wußte mit Bestimmtheit kaum mehr als die
Himmelsrichtung und mußte mich ganz auf Panja verlassen, dessen Urteil mir
um so leichtfertiger erschien, je mehr er mich mit falschen Aussichten
vertröstete. Auch mußten wir oft die Richtung wechseln, da wir uns
unüberwindbaren Hindernissen gegenübersahen, so daß sich die in der Tat
zurückgelegte Wegstrecke auf unser ungewisses Ziel zu oft kaum bestimmen
ließ. Bald fehlte es uns an Nahrung, bald an Wasser, und nur Panjas
Kenntnissen der vielerlei Früchte des Waldes ist es zu danken, daß wir
nicht in bittere Not gerieten. Zuweilen fand ich trotz des schmerzenden
Hungers nicht den Aufwand von Energie, mit der Büchse Umschau zu halten,
und oft waren die Milch einer Kokosnuß oder eine Ananas meine einzige
Nahrung für einen Tag.

Aus der Reihe der Entbehrungen und Leiden dieser Tage ist mir ein Eindruck
geblieben, der sich tief in meine Seele gegraben hat, und dem ich den
letzten Aufschwung meiner Kraft verdankte. Wir kamen an einem Frühmorgen,
bevor die Sonne aufgegangen war, in die schmale Felseinmündung zu einer
Schlucht, die sich bald groß und weit vor unseren Augen öffnete. Es
herrschte noch jenes seltsame und ergreifende Zwielicht von Mondschein und
hereinbrechendem Morgenlicht, das ich nur in den Tropen in diesem
magischen Glanz eines Kampfes um die Herrschaft angetroffen habe. In den
Ländern des Abendlandes scheint die Nacht dem Tage auszuweichen, ihre
Gestirne verblassen gelinde, lange bevor die Sonne am Horizont sichtbar
wird, und der schüchterne Morgenmond, der noch bisweilen zu sehen ist,
wirkt wie eine verlöschende Erinnerung an die Nacht. Aber in Indien sind
die Lichter der Nacht mit dem Glanz des hereinbrechenden Tages in einen
leidenschaftlichen Kampf verstrickt, der seine Zwiespälte der Seele um so
eindringlicher mitteilt, je mehr die Stille der Lichtwelten ihre Gewalt und
Beharrlichkeit behauptet.

Die ersten Tierstimmen erwachten um uns her, aber nichts regte sich. Wir
waren tief im Grünen und krochen und sprangen abwärts in weiten Abständen
voneinander, von Fels zu Fels, über gestürzte Baumstämme und sumpfige
Löcher, in denen die Überreste eines Gebirgsbachs faulten. Nach einer Weile
öffneten sich Bambuswände, und ich gewann für kurze Zeit einen freien Blick
über die ungeheure Schlucht. Zur Rechten und zur Linken erhoben sich
gelbliche Felswände, beinahe senkrecht abfallend und fast ohne Vegetation.
Sie liefen in der Ferne auseinander und ließen einen Blick in die
dampfende, grauschimmernde Weite zu. Der Dschungel erschien wie eine dicke,
grüne Decke im Winkel eines riesenhaften Gemachs mit braunen Wänden, und
der Morgenhimmel darüber war von gläserner Klarheit.

Die westliche der beiden steilen Felswände war bis zur Hälfte wie mit
dunkelroter Farbe bemalt, gegenüber flimmerte das Mondlicht im Grünen. Ich
stand, von diesem Bild gebannt, in Betrachtung versunken da. Zugleich mit
der Hoffnung, daß nun der schwierigste Teil unserer Reise überwunden sein
möchte, glaubte ich die Wohltat eines leisen, kühleren Windes zu verspüren,
und meine Augen glitten entzückt über die goldene Glutbahn des
Morgenlichts an der Felswand dahin.

Auf halber Höhe dieser Wand, etwa dort, wo sie der Sonnenschein teilte,
lief eine ausgehöhlte Bahn wagerecht durch das Gestein, die man wohl für
eine alte Meergrenze hätte halten können. Sie wirkte wie ein überdachter
Weg und mag auch zum großen Teil gangbar gewesen sein, führte an
halbkuppelartigen Höhlen vorüber und gewährte vereinzelten Zwergpalmen und
Aloëstauden Halt. Vor der größten dieser Höhlen war ein kleines
Felsplateau, nicht größer als etwa der Raum, den ein alter Lindenbaum in
der Mittagssonne zu beschatten vermag, und am Rand dieser Felsplatte in der
Sonne lag etwas. Ich erinnere mich deutlich, daß, noch bevor der Eindruck,
der meine Augen fesselte, mir irgend zum Bewußtsein gedrungen war, noch ehe
ich darüber sann, was dies gelbliche ruhige Etwas sein möchte, ein
Unterbewußtsein, wie eine ahnungsvolle Ehrfurcht mich bannte. Aber dann
wußte ich es jählings, wie durch einen lauten Zuruf aufgeklärt, und auch
ohne daß ich noch Figur und Zeichnung recht unterschied: der Tiger.

Es ist das einzige Mal gewesen, daß ich in Indien einen Tiger in der
Freiheit erblickt habe. Ich lehnte mich an den Stamm eines Baumes, schloß
die Augen und öffnete sie wieder und sah hinauf wie einer, der sich von
seinen Blicken betrogen glaubt. Niemals werde ich die hellbraunen Felswände
vergessen, das Morgenlicht in der Steinkuppel und vor ihr, wie auf einem
Marmorsockel als Thron, im Schutze des steinernen Baldachins, die ruhende
Sphinxfigur des Tigers. Die Entfernung und die Höhe der Felswände ließen
ihn mir klein erscheinen, aber ich unterschied die Zeichnung des Fells
deutlich und sah die Pranken nebeneinander ruhen unter dem schrecklichen
Haupt, das unbeweglich, wie gemeißelt, die geschmeidige Linie des Rückens
und des breiten Nackens vollendete und dessen Augen in die Weite gerichtet
schienen. Eine Majestät ohnegleichen ging von diesem glühenden Monument der
Natur aus.

Es ergriff mich eine Traurigkeit, die ich niemals ganz werde begreifen
lernen, aber ich weiß, daß meine Hände sich ballten und zitterten. Damals
erfaßte ich zum ersten Male die Schönheit und Größe der ägyptischen Sphinx,
dieses gewaltigsten Steinmonuments, das der Geist und die Erkenntnis des
Menschen jemals im Licht des Anspruchs und der Ehrfurcht erschaffen haben.
Die Begriffe der Gottheit, der Natur und des Menschseins sind in ihren
vielfachen Widersprüchen in dieser Gestalt zu einem Kunstwerk vereint,
welches das Unerbittliche lieblich mit der Hoffnung verbindet, die
Herrschsucht mit der Anmut, die Gefahr mit der Lust und die Gottheit mit
dem Spiel. Und keineswegs einzig durch den Abstand, welcher uns von diesem
Bildwerk scheidet, sondern an sich und für alle Zeiten der Vergangenheit
und Zukunft stellt die Sphinx das gewaltige Denkmal der Historie dar, jener
Historie, die über der Gewißheit einer großzügigen Entwicklung jede
Erinnerung an Einzelheiten und Geschehnisse zu verschmähen scheint und nur
in erhabenen Merksteinen die Jahrtausende mißt, welche das Menschenherz im
unveränderbaren Pulsschlag durchpocht.

Der Anblick dieser großen ruhenden Katze in der Sonne, hoch in der
Felsenfreiheit, über dem unruhig gärenden Bett der vielerlei kleinen
Geschöpfe und Pflanzen des Dschungels, trug meinen Geist über die Geschicke
der Zeiten fort, zurück bis an jenen ältesten Stein der
Menschheitserinnerung. So erschien mir das herrliche Tier in seiner
Vereinsamung, wie ein später Nachkomme einer versunkenen Zeit, schon im
schwermütigen Schatten des Abschieds seines starken Geschlechts von der
Erde der Menschen, denen es mit vielen, längst vergessenen Wesen hat
weichen müssen.

Aber hier war noch das Reich seiner Herrschaft. In der Morgensonne funkelte
sein steinerner Thron, und den erwachenden Urwald, tief unter dieser
königlichen Ruhe, schreckten die Schauer vor solcher Majestät. Arm, müde
und machtlos schlichen ein paar Menschlein unten durch das schützende Grün,
und unter ihnen ich, geduldet und eingeschüchtert durch die Herrschaft des
Tiers.

                  *       *       *       *       *

Als ich am Abend im Zelt einzuschlafen versuchte, entdeckte ich zwischen
den Bäumen hindurch an den Himmelslücken einen rötlichen Schein, der nicht
von unserem Feuer kommen konnte. Ich trat hinaus und prüfte die Weite
umher, so gut es mir gelang. Der Mond ging erst gegen Morgen auf; ich sah,
daß der ganze Himmel glutete, und weckte Panja.

»Die Steppen brennen«, sagte er, nachdem er sich umgesehen hatte, und sog
die Luft durch die Nase ein, aber die windlose Nacht trug keinen
Brandgeruch bis zu uns. »Die Berge brennen,« wiederholte er schlaftrunken,
»tausend Tiere sterben, darunter die schädlichen. Die Bergmalabaren zünden
die Reste an, die die Sonne zurückgelassen hat; oft entstehen die Feuer
auch, ohne daß jemand weiß, wer sie angelegt hat.«

Der Glutschein nahm zu und verbreitete eine erregende, matte Helligkeit im
nächtlichen Wald, die Stimmen der Tiere schienen vereinzelter und
gedämpfter zu klingen, wie in Ehrfurcht vor dem draußen herrschenden
Element.

»Es heult nicht, das Feuer,« sagte Panja und lauschte, »ruhig schleicht es
über die Höhen.«

Er legte sich wieder zur Ruhe nieder, es drohte uns keine Gefahr, aber
mich floh der Schlaf, den ich eben noch ohne Glauben gesucht hatte. Ich sah
im Geist die roten, wehenden Feuerfahnen über die endlosen graugrünen
Hügelweiten flattern in der blauen Nacht, und mir war, als hörte ich die
Stimmen des fliehenden und ereilten Getiers, das im Streit um den Besitz
der Berge, dem Menschen auf der Walstatt eines unaufhörlichen Kampfes
erlag. Gegen Morgen würde der Mond durch den Rauch scheinen, bis langsam
die Sonne die goldenen Kämme der Berge in ihrer Ruhe über dem bewegten Bild
entzündete; dort oben war es still, die ewigen Kriege waren dort längst
verrauscht.

In der Schlucht rief ein Uhu, immer lange, wie aus tiefer Brust
hervorgehauchte Töne, in weiten Abständen voneinander, bald wie in dumpfer
Daseinsangst, bald wie in Liebesqual. Als der rote Schein zunahm,
verstummte er, die Felsschlucht schwieg, die dunklen Wände im rötlichen
Nebel vereinsamten aufs neue, und die verlassene Nacht zog weiter, im
glühenden Schleier.

Es war eine lautlose Unruhe in der trägen Üppigkeit des verblühten Waldes
und die Geister der Vermoderten kamen aus der Vergangenheit hinüber in die
Bereiche meiner Erinnerung und begannen zu mir zu reden. Überall umher
lagen überwache Sinne in Krankheit, aus Löchern, Höhlen und grünen
Schlünden starrten die Masken unersättlicher Gier und gereizter Ermattung
einander an, im steilen Bambus schlief der Wind, hingesunken wie ein von
giftigen Gasen zum Taumeln gebrachter Falter. Die Ungeduld des Erdbodens,
an der widrigen Grenze süßlicher Ersticktheit, teilte sich dem Blut der
Wesen mit, aber nichts half mehr, kein Geschrei und keine Klage, kein Trost
und keine Wut. Nur im Wasser oder im Feuer war Errettung zu finden. Hatte
nicht Panja eben noch gesagt, die Steppen entzündeten sich selbst?

Es klagte matt in der belebten Stille, ein Vogel, ein Waldtier oder ein
sinkender Baum, der sich seufzend in das morastige Bett seiner Entstehung
neigte. Ich lauschte auf die röchelnden Flüstertöne des Verfalls, in denen
die Stimmen der Versunkenen meine willenlosen Gedanken in ihr vergessenes
Bereich zurückführten. Der Geist des Fiebers schillerte mich böse, mit
grünen Augen, aufs neue an, und ich fühlte mich vom Sterben umhüllt und ihm
unrettbar preisgegeben. Ich empfand in merkwürdig tauber Verwirrung der
Verlassenheit, daß ich das Sterben noch nicht gelernt hatte, mich verlangte
inbrünstig nach Taten, nach Kampf und Anstrengungen, und meine höchste
Angst bestand im Gedenken an dies laue, erstickende Welken des Bluts, wie
es umher von mir gefordert wurde.

War es, weil meine Augen am Tage die Hoheit des Dschungelherrschers gesehen
hatten, daß ich den Mut und die Kraft zum eigenen Lebensrecht nicht mehr
aufzubringen vermochte? Die Bedrängnisse, in denen sich die Natur befand
und die sich meinem Gemüt von Stunde zu Stunde eindringlicher und
überwindender mitteilten, ja, denen ich völlig zu erliegen drohte, weckten
im Grunde meiner Gedanken ein bohrendes Bewußtsein von Schuld. Welcher
Empfindende und Verstehende suchte in aller Not nicht zuerst die Schuld in
der eigenen Brust? Die Erkennenden sind verantwortlich, sie sind es, welche
in Wahrheit Opfer bringen und welche die Sühne tragen, im Kleinen wie im
Großen. Hatte ich die Trauer und Größe der alten Herrschergewalt dieses
Landes nicht erschauernd erblickt und ehrfürchtig auf meine Art erkannt,
wie ein verächtlicher Eindringling, und im Herzen schuldig aus Hochmut?

Wenn ich die Augen schloß, so war mir, als dränge durch die Erschlaffung
der verschmachtenden Welt ein Pesthauch von jener Stätte zu mir hinüber, an
der ich zwischen den bläulichen Stachelarmen der Aloën den gelben Leib des
toten Panthers gesehen hatte, dann wieder tauchte die beschienene,
steinerne Kuppel vor meinem Geiste auf, die als ein goldstrahlender
Baldachin den Thron des Tieres schützte. Der Tiger war berufen, in diesen
Bereichen zu herrschen, ihn vergifteten die Dünste des Dschungels nicht,
der Brand der Tropensonne wurde seinem zähen Leib mit den eisernen Strängen
der Sehnen zur Wohltat, er durchschwamm die reißenden Ströme zu seiner
Erfrischung, wie im Spiel, und durchschweifte die Steppe tagelang, ohne
Gefährdung und ohne Bedrängnisse.

Wie in den zugleich bedrückenden und beängstigenden Sinnesschwankungen des
nahenden Fiebers, die sowohl Verwirrungen als auch die übernatürlichen
Klarheiten der Vision mit sich bringen, war mir, als könnte unmöglich jene
Grenze gar zu weit zurückliegen, an welcher der Wechsel der Herrschaft von
Tier und Mensch über die Erde stattgefunden haben sollte. Als habe sich
meinen eingeschüchterten Sinnen erwiesen, wie töricht der Menschenhochmut,
in der leichtfertigen Sicherheit seiner zerbrechlichen Städte, sein
Machtbereich und seine Herrschaft überschätzt. Und mir war aufs neue, als
träte der Geist dieses Landes und seiner alten Völker zu mir und überredete
mein Herz. Ich begriff eine Lehre, die das Tier ehrt, anbetet und niemals
tötet, deren religiöses Bewußtsein und Bekenntnis eine tiefe Beziehung zum
Wesen des Tiers ahnen läßt, und die die tatlose Geduld, die ehrfürchtige
Erwartung und das heilige Harren in demütiger Ergebenheit preist. Wie
vorzeiten in einer unvergeßlichen Traumnacht ein Affe im Triumph seiner
überwundenen Gefangenschaft zu mir gesprochen hatte.

Wie aber die ungewisse Neigung zur Ehrfurcht Angst und noch keine
Beruhigung erzeugt, deren Friede erst mit der eingetretenen Erkenntnis
hereinbricht, so erschien es mir in heimlichem Erzittern zu dieser Stunde,
als sei die Herrschaft des Tiers auf der Erde nicht überwunden, sondern als
bestünde sie noch, wenn auch verborgen und beengt, so doch in ihrer
ursprünglichen Gewalt und Finsternis.

Mit den ermüdeten Zügen Hucs, des Affen, der mir zu Beginn meiner
leichtfertigen Fahrt in die überblühten Ruinen des alten Gottreichs
erschienen war, trat aufs neue der Geist dieser versunkenen Zeit vor mich
hin, und seine grauen Augen sahen mich an: »Noch herrscht das Tier, hier,
um dich her, im Rahmen der ihm zugehörigen Natur, in die der Mensch nicht
weiter eingedrungen ist, als ein Borkenkäfer in einen Baum, dort verborgen
in der aufrechten Gestalt, unter der weißen Haut, hinter der klugen Stirn
und den schönen Augen. Vollzieht sich die Wandlung unter dieser Hülle nicht
immer noch rasch und leicht? Nicht allein auf Schlachtfeldern und im
Getümmel der entflammten Haufen, auch in stillen Kammern oder auf offenen
Märkten, unter den Marterpfählen der Heiligen, oder im Schmeicheln der
süßesten Rede? Noch herrscht das Tier. Die Weisen der Erde erzittern auf
ihrem Weltpfade unter dem Gebrüll, das um sie her erklingt, wenn sie
eilend, gerafften Kleids, mit verwundeter Hoffnung ihre Zeit durchmessen.«

Mit feurigen Schritten schlich die Nacht träge dahin, der Himmelsschein der
brennenden Steppen erlosch allmählich, aber es war, als habe er eine
vermehrte Hitze zurückgelassen, immer noch war kein Hauch des nahenden
Morgens zu verspüren. Vergebens forschte ich am Himmel nach dem
Morgenstern, und mit den düsteren Wetterwolken, die wie böse Ahnungen im
glühenden All herandrängten, begann neben mir monoton die Stimme meiner
Angst aufs neue:

»Das Tier herrscht. Wenn der Morgen sich ankündigt, so wird dein Blut
erloschen sein, du sollst in diesem schwülen, grünen Mantel ersticken.«
Meine Qual entstand nicht durch den Gedanken an den Tod meines Leibes,
sondern durch diese düstere Ahnung von der Herrschaft des Tiers und durch
die Hoffnungslosigkeit, in der ich, am Rande des Wahnsinns, nach einem
Ausweg suchte, nach einer erlösenden Gewißheit, nach dem Licht der Zukunft.
Wie der Zweifelnde das Leben seiner Geliebten argwöhnisch nach Beweisen
ihrer Schuld durchforscht, gegen seinen besseren Willen, ja, fast gegen
sein Gewissen, so durchforschte mein Geist in diesen Nachtstunden die
Geschichte der Erde nach den Merkmalen des Tiers, und aufs neue tauchte das
Bildwerk der Sphinx vor meinen geistigen Augen empor. Es verschmolz mir in
der alten Erinnerung des Menschenwesens und in der Erinnerung meiner
eigenen zeitlichen Erlebnisse mit der Erscheinung des ruhenden Tigers an
der Felsenwand. Es war, als habe diese Erscheinung, von der meine Augen am
vergangenen Tage betroffen worden waren, im mystischen Zusammenhang mit der
alten Menschenfurcht und -ehrfurcht, einen erklärenden Lichtschein auch in
meine Erkenntniswelt geworfen, und in jener Nacht hätten keine menschliche
Weisheit und keine Überzeugungskraft mich vom Wege meiner Gedanken
abzubringen vermocht.

In ihm, jenem alten Volke der Ägypter, mußte das Bewußtsein klar gelebt
haben, daß die Herrschaft des Tiers nicht überwunden war, sie erschufen in
unfaßbarer organischer Einheit den Katzenleib mit dem Menschenkopf und den
Menschenleib mit dem Löwenhaupt. Sie erhoben diese Standbilder zu
Gottheiten, verehrten sie in ihnen und erkannten sich selbst darin.

Während meine Gedanken nach Sicherheit suchten, nach dem entscheidenden
Gegenwert, nach der Verkündigung der Wahrheit, daß das Tier dennoch
überwunden sei, schritt auch Johannes an mir vorüber, der den
göttlich-weisen Heiligen von Golgatha am lautersten geliebt hatte. Auch
ihn, den, wie keinen, die menschliche Hoheit und der göttliche Triumph
seines Meisters durchdrungen hatten, schreckte in den verzückten Ahnungen
eines künftigen Reichs des Menschensohns, das Tier. In seinen letzten
Visionen, in denen Furcht und Hoffnung das liebende Gemüt im zerrütteten
Leib zerrissen, erschien ihm das Tier:

»Und ich trat an den Sand des Meers und sah ein Tier aus dem Wasser
steigen, das hatte sieben Häupter und zehn Hörner und auf seinen Hörnern
zehn Kronen und auf seinen Häuptern Namen der Lästerung. Und ich sah seiner
Häupter eines, als wäre es tödlich wund, aber seine tödliche Wunde ward
heil, und der ganze Erdboden verwunderte sich des Tiers. Und sie beteten
das Tier an und sprachen: 'Wer ist dem Tiere gleich? Wer kann mit ihm Krieg
führen?!' Und ihm ward gegeben, zu streiten mit den Heiligen und sie zu
überwinden, und ihm ward Macht über alle Geschlechter gegeben.« --

Die brodelnde Finsternis des heißen Urwalds umdunkelte meine überwachen
Sinne, wie im Taumel einer nahenden Ohnmacht, und meine armen Gedanken
huschten wie blasse Irrlichter darüber hin. Damals war mir der Gedanke an
meinen nahen Tod zur Gewißheit geworden, und ich weiß zuversichtlich, daß
ich seinem Schatten niemals näher war. Eine unbeschreibliche Sehnsucht nach
dem Morgen wachte, wie eine letzte Hoffnung, unverstanden und von düsterer
Traurigkeit bedrückt, in meinem Herzen, das erstickend in Finsternis und
Erdschwüle nach Erlösung rief. Ich muß kurz nach diesen letzten
Erinnerungen in Schlaf gesunken sein, über mir den qualmenden Rachen des
Tiers.

Aber der Traum, mit welchem ich im Morgenlicht erwachte, war leicht und
lieblich, als belohnte ein gnädiger Geist die Bedrängnis meiner Gedanken
mit einer frohen Zusicherung. Es ergeht uns Irdischen oft so, daß sich der
Wechsel und Ausgleich von Finsternis zum Licht mit dem Wechsel von Schlafen
und Wachen vollzieht, oder bisweilen wohl auch umgekehrt, als läge die
Absicht, zu schlichten und zu besänftigen, im natürlichen Wandel unserer
Zustände. So mag es sich erklären, daß ein heiter verbrachter Tag sich in
düsteren Traumbildern spiegelt, oder daß die Angesichter der Toten zuweilen
nach furchtbaren Qualen des Sterbens einen unnennbaren Frieden in ihren
Zügen tragen.

Ich erinnere mich keines Traums, der meinem Gemüt eine größere Helligkeit
gebracht hätte, und keine Wohltat ist jener Ruhe zu vergleichen, die mir in
den Lösungen geschah, die sich wie gnädige Offenbarungen an die Pein meiner
Angst und meines Zweifels im Schlafe anschlossen. Erkenntnisse, welche uns
durch Träume vermittelt werden, haben eine seltsame Unschuld der Erfahrung,
es erscheint oft, als schlössen sie alle jene Irrtümer aus, die das
bereitwillige Denkvermögen des wachen Gehirns so leicht begeht, in seiner
Hoffnung, es möchte aus dem Vielerlei ein Viel entstehen, und aus dem
Mancherlei ein Besonderes. Das Grübeln ist der Feind des Denkens, denn die
guten Gedanken kommen zu uns wie das Licht oder die Wärme, unversehens, wie
ein Sonnenblick durch die Schleier der Wolken, oder wie eine Knospe an
ihrem Strauch im Frühlingsregen aufbricht. So mag der Schlaf ein tätiger
Freund des Denkens sein, und das oft scherzhaft gebrauchte Wort, daß der
Herr es den Seinen im Schlafe gibt, hat ebensowohl einen tiefen Sinn, wie
das uralte Verlangen der Menschen, Träume auf rechte Art deuten zu lernen.

In einem hellen Zug, der auf dunklem Erdgrund allein und deutlich von einem
klaren Himmelsstrahl beschienen wurde, zogen die Heiligen der Geschichte,
die das Tier überwunden haben, im Traum an mir vorüber. Die Reihe rückte
aus unergründbarer Welttiefe, die ganz in Finsternis gebettet war, so hell
heran, als flösse ein weißer Bach in der Nacht über schwarzen Erdgrund. Und
jedesmal mit dem Augenblick, in welchem eine Gestalt deutlich erkennbar
wurde, zerfloß sie in das große Wort ihres wichtigsten Bekenntnisses. Mit
dem Erklingen dieses Worts aber, das sich wie ein Lichtschein in meine
Sinne ergoß, versanken das Angesicht und der Name seines Trägers, aber es
erschien mir, als läge es so im Willen der Heiligen. Im Halbdämmern, das in
ihrer Nähe herrschte, erkannte ich undeutlich in ihrer Begleitschaft die
gewaltigen Umrisse gefesselter Tiere. Ich erblickte darunter einen Drachen,
hundertfach verschlungen und in dunklen, glühenden Farben von großer
Pracht, das Löwenhaupt der Sechmet, über den lieblichen Mädchenschultern,
tauchte empor und erlosch, die heilige Schlange, gekrönt, mit geblähtem
Hals unter dem Gift des Rachens, und das weiße Rind.

Unter den Heiligen kam auch aufs neue jener seltsamste Prophet zu mir, den
die Religionen der Völker kennen, und dessen Worte über die Macht des Tiers
mir noch kurz zuvor durch den Sinn gegangen waren, aber seine Erscheinung
hatte die Gebärde des heimgesuchten Märtyrers seiner Angst verloren. Er war
der Letzte; mit ihm und dem Wort seiner Gottheit erlosch der strahlende
Zug:

»Ich bin der Erste und der Letzte. Ich bin der Ursprung des erwählten
Geschlechts, ein heller Morgenstern.«




Zehntes Kapitel

Sumpftyrannen


Es würde schwer halten, mit Sicherheit über den Zeitraum zu berichten, der
zwischen den inneren Erlebnissen dieser Nacht lag, in welcher ich dem Tier
begegnete, und der Morgenstunde, in welcher bald nachher Panjas helle
jubelnde Stimme mir aus dem Buschwerk entgegendrang. Beim Klang seiner
lauten Worte überkam mich nach seinen vielerlei Vertröstungen zum erstenmal
die ganze Zuversicht unserer Befreiung. Ich verstand anfänglich immer nur
ein Wort, und da er es im Rufen mehr sang als sprach, so unterschied ich
den Sinn nicht, bis er lachend vor mir stand und zitternd vor Freude
erklärte, sie seien bis an die Ufer des Kumardary vorgedrungen, des großen
Stroms von Süd-Kanara, dessen Wasser aus den Bergen von Kurg und Maisur
zusammenströmen und der bei Uppanangadi in den Netrawati einmündet, an
dessen Ausfluß in das Meer Mangalore liegt, die Stadt, die unser Ziel war.

»Der Fluß hat noch Wasser genug für die größten Kanus,« rief Panja
glücklich, »wenn wir Boote aufgetrieben haben, so brauchst du keinen
Schritt mehr zu machen, bis die Palmen von Mangalore dich beschatten, und
der Regen mag kommen. Der Fluß trägt uns schnell hinab.«

Seine frohe Gewißheit teilte sich mir anfänglich mit. Nach seinen
Schilderungen näherten wir uns dem rechten Ufer des Flusses, in einem
Abstieg genau von Norden nach Süden, hatten sein Bett also im Laufe der
zurückliegenden Wochen bereits einmal überschritten, wahrscheinlich in den
heißen Tagen des glücklichen Wanderlebens vor meinem Fieber. Eine
merkwürdige Ernüchterung überkam mich plötzlich, sie stellte sich in
Gemeinschaft mit einer neuen Lebenskraft ein, aber zugleich mit einer
tiefen Verstimmung. Eine veränderte Wirklichkeit rückte heran, mit den
grauen Bildern der gewohnten Lebensweise, und die tiefere Wirklichkeit des
Traums wurde darüber schadhaft und unwahr. Ach, gewißlich würde ich die
Erlebnisse der zurückliegenden Zeit niemals vergessen, aber irgend etwas an
ihnen schien mir plötzlich seine Inbrunst einbüßen zu müssen; was einst dem
Ernst meiner Seele heilig war, das würde nun im Schein eines feinen
Lächelns zurückbleiben. Gewiß, jener schöne Zustand der Vergangenheit war
einmal groß und wichtig gewesen, aber es war nun nicht mehr der einzige,
denn die neue Welt würde aufs neue meine Hingabe, wiederum meinen Ernst und
meine Andacht einfordern.

Damals war es, als ich mir vornahm, niemals über die große Welt meines
Erlebens zu schreiben oder zu erzählen, sondern mich bei beiden an die
äußeren Ereignisse zu halten. Ich wandte mich um und sah hinter mich, als
könnten meine Augen noch einmal alles übersehen, was mich bedrängt und
erhoben hatte. Aber nur die undurchdringlichen grünen Wände, deren
Palmengefieder in der Sonne glitzerte, boten sich meinen Augen, keine Spur
unserer Füße war mehr kenntlich, ich war vergessen in dem Bereich, das ich
flüchtig durchmessen, nur in der Ahnung begriffen und im eingeschüchterten
Gemüt geliebt hatte.

Heute, nach Jahren, über die weißen Blätter gebeugt, die meine Gedanken,
meine Freuden und die Bilder und Farben meiner Erinnerung tragen sollen,
begreife ich jene Trauer besser. Damals schlug in meiner Brust die Stunde
der Umkehr, damals fühlte ich, daß ich hätte bleiben sollen, denn es gibt
keine Berührungen und Umarmungen in der Welt, die an Glück denen der Natur
zu vergleichen sind, welche unschuldig und großzügig bleiben, und in keinen
weiß sich die besondere Art unseres Lebensbewußtseins geborgener. Auch
mögen damals heimliche Erinnerungen an die Hast und Willkür des
europäischen Treibens in mir erwacht sein, die alles in Begleitschaft und
zum Ziel haben, was immer Menschenaufgabe sein mag, Glück führen sie nicht
herbei. Der Zustand des Glücks ist nicht ohne die Ruhe zur Selbstbesinnung
möglich, denn Selbstbetäubung führt zur Verarmung.

Und doch ergriff mich daneben der Taumel des Neuen, das mich erwartete, und
ich weiß deutlich, daß mich damals schon eine Ahnung streifte, welcher Art
meine Erlebnisse sein würden. Lichtwelten und Stürme der Geisteswelt künden
sich begierigen Seelen so deutlich an, wie Gewitter oder Sonnentage sich in
der Natur vor ihrem Herannahen zu offenbaren pflegen. Mir war damals für
einen Augenblick zumut, als sähe ich durch das Buschwerk der
Dschungelwildnis nieder auf das Meer, erblickte den bläulichen Rauch der
Hindustadt über dem unruhigen Beet der großen und kleinen, bald geneigten,
bald kerzengeraden Palmen, und hier und dort das Schimmern einer weißen
Mauer. Ich sah eine braune, hölzerne Tempelpagode zackig aus dem Grün
steigen und hinter ihr den blauen Streifen des Ozeans. So sah die Wohnung
des alten Geistes in meiner Vorstellung aus, und mich verlangte nach keiner
Begegnung inniger, als nach der mit einem der Söhne dieses Geistes. Wohl
war ich hier und dort auf meiner Reise mit Brahminen zusammengetroffen,
aber niemals war ich einem nahe getreten, da die heute zugängigen unter
diesen Leuten meist in Gewohnheit und Bildung von der Tradition ihres
Geschlechts gelassen haben, sie sind nicht mehr Priester oder Gelehrte,
sondern Händler geworden.

Mangalore aber, soviel wußte ich gut, war ein alter und von der neuen Welt
nur wenig berührter Platz, eine der wenigen größeren Meerstädte der
Westküste, die weder von der Eisenbahn noch vom Dampfschiffverkehr berührt
werden und in denen, wie sonst nur tief im Lande, die Herrschaft der
Priesterkaste noch große Macht ausübte. Es kam hinzu, daß sowohl die
Jesuiten als auch die Protestanten dort Niederlassungen ihrer kirchlichen
Einwirkung unterhielten, so daß der Kampf der Geister belebt und heimlich
in der Stadt wogte.

                  *       *       *       *       *

In solch geteiltem Zustand meines Empfindens durchmaß ich mit den braunen
Gefährten meinen letzten Tag im Urwald. Wir erreichten gegen Mittag ein
kleines Dorf, das nah am Fluß auf einem sanften Hügel lag, und auf das wir
nur durch das Trompeten eines Elefanten aufmerksam wurden. Den Fluß hatte
ich den Tag über noch nicht zu Gesicht bekommen, obgleich wir uns an seinem
sumpfigen Ufer dahinbewegten, nur das Gurgeln und Schnattern von
Wasservögeln verriet ihn und der morastige Dunst der Luft.

Wir kamen bald auf einen ausgetretenen Pfad, der wie ein braunes Band in
mancherlei Verschlingungen, tief in Schilfwände eingebettet, dahinführte,
und trafen dort nach langer Zeit einmal wieder einen Menschen an. Es war
eine alte Frau, die an einem Stab einen Kupferkessel über der Schulter
trug, und die bis auf einen Lendenschurz nackt war. Ihre Augenbrauen waren
mit Henna gefärbt, und sie trug ein dunkles Abzeichen auf die Stirn gemalt,
das in der Form einer großen Spinne glich.

Als ich ihr winkte, kam sie schüchtern näher, eigentlich blieb sie eher
stehen und ließ nur zu, daß ich an sie herantrat, dann hob sie die Arme und
verneigte sich, ihre Gebärde schien anzudeuten, daß sie sich zu jeder
Dienstleistung bereit erklärte, aber im schlimmsten Fall auch zur Flucht.

Panja schaute in ihren Topf.

»Pfui Teufel,« sagte er würdig, »es hockt eine Kröte darin.«

Er konnte sich nur schwer mit der Alten verständigen, die kein Wort
hindustani und nur sehr wenig kanaresisch verstand, aber wir erfuhren, daß
der Ort Schamaji hieß, und daß der König den weißen Herren gnädig gesinnt
sei und zwei Elefanten besäße, beide männlichen Geschlechts.

»Weiß Gott, was das für ein König ist«, sagte Panja ohne Respekt und sah
mich mit einer Grimasse an, die mindestens Fragwürdigkeit ausdrückte. Es
gibt in Malabar und Süd-Kanara eine ganze Reihe kleiner Hindukönige, die
sich aus ihren städtischen Sitzen, langsam der Macht der Mohammedaner oder
der Engländer weichend, in die Provinz zurückgezogen haben, um ganz ihrem
Volke leben zu können, oder besser von ihrem Volke. Es geht ihnen mit ihrer
Macht ähnlich wie manchem angeblich verkannten Dichter mit seinem Genie,
beide entwickeln sich in der Ausgeschlossenheit ins Ungeheuerliche, aber
nur in den Augen ihrer wenig glücklichen Träger. Diese Despoten geistiger
oder weltlicher Macht haben etwas ungemein Rührendes, und es gehört
geradezu Hartherzigkeit dazu, sie ihrer Illusion zu berauben. Es verbirgt
sich soviel Gutmütigkeit hinter der meisten Eitelkeit, daß man lernen
sollte, sie mit weniger Verachtung zu ertragen, denn der wahrhaft Böse ist
selten eitel. Diese vereinsamten Gewaltigen ihrer verkannten Herrlichkeit
sind oft durch einen unvermuteten fremden Glauben an ihre Bedeutung so
heftig zu erschüttern, daß ihre Hoheit sich in bittere Anklage verwandelt,
sobald sie einmal nicht bestritten wird.

Trotz dieser Kenntnis beschloß ich, den König von Schamaji so ernst zu
nehmen, als sei er der Maharadscha von Maisur; die kleinen Geschenke, die
ich ihm hätte zum Empfang senden können, würden wahrscheinlich keinen
großen Eindruck auf ihn gemacht haben, denn diese vergessenen Fürsten sind
oft noch vermögend genug, um sich mit allem erreichbaren Tand zu umgeben,
den der Handel aus dem Westen einführt. Ich beschloß deshalb, zuerst seine
Bekanntschaft zu machen, und schickte Pascha mit der Alten, um um eine
Audienz einzukommen und um die Erlaubnis, mein Zelt bis zum Morgen in der
Nähe seines Throns aufschlagen zu dürfen. Pascha ging, ernst wie immer und
ohne erkennen zu lassen, was er von meinem Vorhaben hielt, die Alte
quietschte vergnügt und schloß sich ihm an, in merkwürdigen Sprüngen, die
eher auf ihre Rüstigkeit, als auf ihre Würde schließen ließen und die
sicherlich ihre erbeutete Kröte auf das unangenehmste berührten. Panja
dagegen erhob Einspruch:

»So darfst du keinen König behandeln, Sahib«, sagte er nachdenklich und
ohne Eifer. Er schien wirklich besorgt, und ich hatte alles andere
erwartet, als er fortfuhr: »Er wird sich auf seinen lahmen Elefanten hocken
und auf dich herabsehen wie auf einen Bettler. Wenn du ihm aber erlaubt
hättest, dich zu sehen, so würde er dir seinen Elefanten geschickt und sich
zur Erde geworfen haben, wenn du in seine Residenz eingeritten wärst.«

»Panja, ich will nicht, daß der König mich sieht, sondern ich möchte ihn
sehen, und zwar so, wie er gesehen sein will und wie er zu leben pflegt.
Glaubst du, der gebeugte Nacken eines Menschen sei unterhaltsamer, als sein
erhobenes Gesicht?«

»Das ist der Kummer,« sagte Panja, »du hältst nichts auf deine Würde. Du
könntest wie ein Fürst durch den Dschungel ziehen und kommst wie ein
Wandermönch, der überall bitten muß. Es ist schwer, solchem Herrn dienen zu
müssen. Dies wäre nun wirklich einmal ein König für uns gewesen. Bei
anderen Königen, die noch Macht und Reichtümer haben, wäre dir ohnehin
nichts anderes übriggeblieben.«

Er hockte sich bekümmert auf einen Gepäckballen und betrachtete die
Ameisen, die ihn zu erobern suchten. Im Grunde dachte er gewiß nicht so,
und er wäre leicht vom Gegenteil zu überzeugen gewesen, es lag ihm nur
daran, mein Ansehen zu heben und seines in Szene zu setzen, und da sich für
das letzte gewiß noch Gelegenheit bieten würde, ließ ich ihn in seinem
Kummer allein.

Sein Schmerz brach noch einmal durch:

»Glaubst du, ich hielte dich für arm oder machtlos, Sahib? Ich weiß alles.
Aber was hilft ein goldgesticktes Kleid, wenn man es verkehrt anzieht und
zuknöpft? Wer ehrlich ist, zeigt was er ist.«

»Panja, es ist zu heiß zum Reden, wir wollen ein wenig ruhen, bis der König
kommt.«

»Nein, du sollst sprechen!«

Als ich schwieg, stampfte er mit dem Fuß.

»Glaubst du, ich sei glücklich, wenn ich recht behalte?« fragte er böse.

»So geht es auch mir,« antwortete ich ihm, »und so ist es mit dem
goldgestickten Kleid, von dem du gesprochen hast.«

Er schüttelte eifrig den Kopf.

»So kann es nicht sein, denn ich bin dein Diener, du aber bist der Herr und
mußt recht behalten. Bist du ein Diener des Königs, daß es dich quälen
könnte, wenn er schweigt, und du fühlst, daß er doch im Grunde recht hat?
Du läßt ihn sitzen und gehst. Aber ich kann nicht fortgehen.«

»In dem Reiche, in welchem es mir gefällt, gibt es keine Herren und
Knechte, Panja, sondern nur lebendige Wesen, und das Ziel aller Lebendigen
ist die Freiheit. Der Wunsch nach rechter Freiheit aber richtet seine Augen
nicht auf andere, sondern zuerst in die eigene Brust. Auf diese Art braucht
niemand um sein Recht besorgt zu sein, es fällt jedem sein Teil zu, wenn
jeder sein Teil erkennt und bewacht.«

»Wenn dein Gott dich das lehrt,« sagte Panja, »so kennt er die Welt nicht
und weiß nicht, wie es in ihr zugeht.«

»Vielleicht weiß er nicht, wie sie ist, aber er weiß, wie sie sein sollte.«

»So sage mir, was du Freiheit nennst? Wie soll ich dich verstehen?«

»Freiheit beginnt mit der Erkenntnis und dem Willen, daß man sein Handeln
nicht mehr danach richtet, was man anderen damit antut, sondern danach, was
man sich selbst zufügt, oder was man um seiner selbst willen unterläßt.
Nimm an, du schlägst einen Menschen oder ein Tier, das mag zuweilen
notwendig sein. Du und das fremde Wesen, ihr beide werdet etwas dabei
empfinden. Es wird dir solange gleichgültig sein, was ein anderer dabei
fühlt, bis du gelernt hast, zu beachten, was dir selbst dabei durch die
Seele geht. Hierauf achtzuhaben und sein Handeln danach einzustellen, ist
der erste Schritt zur Freiheit.«

»Und der letzte?« fragte Panja.

»Der letzte ist der Wille, alles Böse deines Herzens in Liebe zu
verkehren.«

»Ich weiß nicht, was gut ist und was böse. Alle Menschen denken darüber
verschieden. Die Brahminen denken anders als ich, du denkst anders als die
Fakire, die aus den Bergen niedersteigen, und wenn du gar einem Missionar
begegnest, so denkt er so darüber, daß sich deine Haare sträuben.«

»Das ist nicht wahr, du weißt doch, was böse ist, und du brauchst es nur
für dich selbst zu wissen. Es ist nicht deine Aufgabe, dem Bösen zu
begegnen, das dir bei anderen entgegentritt. Für dich selbst aber wirst du
es wissen.«

»Gut, wenn ich aber keine Liebe habe, Sahib?«

»Dann bist du verloren, Panja, dann kann kein Gott dir zur Freiheit
verhelfen, der meine nicht und der deine nicht, keiner. Solche Menschen
sind wahrhaft arm und verloren.«

Panja schien sich mit diesem Resultat einer bescheidenen Reflexion
zufrieden zu geben, er lächelte vor sich hin, als käme er selbst bei einer
solchen Lage der Dinge nicht eben schlecht weg. Aber dann begann er sich zu
kratzen, und ich erkannte, durch den Sonnenschein blinzelnd, daß kein
äußerlicher Grund für diesen Kraftaufwand vorlag. Er meinte vorsichtig:

»Was du in deinem Kopf ausdenkst, Sahib, ist gar nicht übel, aber wenn es
herauskommt und man will etwas damit anfangen, so geht es einem ähnlich,
als wollte man sich Sonnenlicht für die Nacht aufheben. Das Leben ist doch
anders, das ist die Sache.«

»Es ist dunkel, Panja. Dadurch unterscheidet sich unser Herz von unseren
Händen, in ihm läßt sich Licht aufheben und bewahren.«

Wäre nicht eine trippelnde Schar kleiner Wilder am Ende des Pfades vom Dorf
her erschienen, so hätte sich Panja sicher noch einen Einwand ausgedacht,
jedenfalls behielt er insofern auch ohne Entgegnung recht, als die
greifbaren Tatsachen des Lebens gebieterisch die Oberhand forderten. Es
waren vielleicht zwanzig oder dreißig Hindukinder, die in einiger
Entfernung auf dem schmalen Weg den Versuch machten, immer eins vor dem
andern zu stehen, da jedes die Absicht mit sich trug, am besten glotzen zu
können. Dies Bestreben bewirkte, daß das belebte Knäuel sich immer mehr
näherte, bis endlich die stärksten Knaben vorn waren und die Beine in den
Boden stemmten, um nicht weiter an uns herangedrängt zu werden. Einige
kletterten in die Pfefferranken, und die schwarzen Augen sahen über den
braunen Pausbacken durch die grünen Blätter.

»Eine Botschaft im Kopf einer alten Frau ist wie Reis in einem groben
Sieb«, sagte Panja und lachte.

»Es war keine junge da, Panja.«

Er sah mich neugierig an und meinte dann:

»Dir ist es gleichgültig, Sahib. Du siehst auf die Frauen meines Landes wie
ich auf die Gedanken deiner Stirn.«

Ich wunderte mich in der letzten Zeit oft über Panjas Freimut und über den
vergnügten Eifer, mit dem er vertrauensvoll im Element unserer Beziehung
umherzuschwimmen begann. Ich empfand darüber große Freude, denn meine Art,
mich mit ihm einzulassen, hätte bei den meisten Männern seines Volkes und
seines Standes zu Enttäuschungen geführt.

Panja trat gebieterisch vor die lebenden Resultate der erfolgreichsten
Bemühung der Einwohner der Königsstadt, aber der Eindruck, den er machte,
war nicht so groß, als er erwartet hatte. Da kehrte er um, nahm mein Gewehr
und ging wieder zurück. Jetzt wichen ihm die Kleinen scheu aus, und er
lächelte befriedigt und hielt eine Ansprache in hindustani, die einen um so
stärkeren Eindruck machte, als sie nicht verstanden wurde. Er wurde durch
ein fernes Klirren und Flöten unterbrochen und kam rasch zu mir zurück.

»Der König kommt,« rief er, »wenn er nicht zu neugierig wäre, würde er dich
wahrscheinlich länger haben warten lassen.«

Die lärmende Musik kam näher, sie spannte seltsam die Erwartung, wie sie
hinter den grünen Vorhängen des Dickichts heranrückte, und ihr Rhythmus
erschütterte das Blut geheimnisvoll. Das erste, was ich bald darauf
erblickte, war der graue Schädel eines riesigen Elefanten und über ihm das
bunte Kattundach eines etwas schiefen Baldachins, der von drei vergoldeten
Stangen gehalten wurde und von einer eisernen. Unter dem hellen Dach war
ein geflochtener Verdeckstuhl aus Rohr kunstvoll befestigt, und auf ihm saß
der König von Schamaji und spähte mit eifrig bewegtem Kopf nach seinem
Besuch aus. Acht Diener zur Rechten und Linken des Elefanten trugen Fächer
aus Pfauenfedern, die an dünnen Bambusstangen befestigt und etwas schadhaft
waren, ihre vielfarbigen Augen waren zum Teil erblindet, wie auch die
Gewänder der Gefolgschaft in etwas den Eindruck einer raschen
Zusammengesuchtheit erweckten. Immerhin entbehrte der Anblick des Zuges
keineswegs einer gewissen Pracht, besonders die Decken des Elefanten
gefielen mir wohl und waren, bis auf die faustgroßen, gläsernen Edelsteine,
wertvoll, von reicher Stickerei und schönem Stoff. Die Musikanten
schritten, entgegen der gewohnten Art solcher Festzüge, hinter dem
Elefanten, wahrscheinlich hatte der König ihnen den Vortritt nicht gegönnt,
und so gruppierten sie sich auch eher neugierig, als eben feierlich, und
suchten zur Rechten und zur Linken des dicken Ungeheuers soviel als möglich
von dem Fremden zu erspähen. Hinter ihnen zog in ungeordneten Haufen das
ganze Dorf heran.

Wir waren bis zu einer Lichtung vorangeschritten, und der König nickte mir
huldvoll zu, nachdem er den Aufstieg der Musik durch eine Bewegung seiner
braunen Hand beschwichtigt hatte. Er hieß mich auf englisch in seinem Reich
willkommen, nachdem er zuvor einen prüfenden Blick auf mein Gepäck geworfen
hatte. Ich antwortete ihm englisch, und Panja übersetzte meine Worte, denn
er traute dem König keine weiteren Kenntnisse dieser Sprache zu, und er
behielt darin recht.

Der König kletterte hierauf mit großem Geschick von seinem Elefanten, wobei
er so selbstverständlich auf die Schultern seiner Würdenträger trat, als
bildeten sie eine natürliche Treppe. Durch den Abstand, in welchem er sich
von mir hielt, deutete er mir an, daß er die abendländische Sitte eines
Händedrucks zu vermeiden gedächte, und ich sagte ihm einige Höflichkeiten
über sein Ansehen und über seine Macht, von welchen beiden der Dschungel
widerklänge. Das gefiel ihm wohl, und so erfuhr ich von ihm, daß er noch
einen zweiten Elefanten besäße, der aber nicht mitgewollt hätte, daß mir
der Zutritt in seine Stadt offen stünde, und daß ich mein Zelt im Garten
seines Schlosses aufschlagen dürfte. Wir standen in einem braun-weißen Ring
von staunenden Menschen, im Schatten des Elefanten, und sagten uns noch
eine ganze Weile angenehme Dinge. Endlich fragte der König, was mein Begehr
sei.

Panja riet mir rasch, eine Regierungspflicht vorzuschützen, aber es
widerstand mir, und so antwortete ich, daß ich gekommen sei, sein Land und
seine Stadt zu sehen, von der ich im Abendland gehört hätte. Ich glaube
nicht, daß Panja dies richtig weitergegeben hat, jedenfalls minderte seine
Auskunft die Gunst des Königs nicht herab, und er begleitete uns ins Dorf
zurück, immer bemüht, mir nicht zu nahe zu treten, und außerordentlich
unhöflich gegen sein Volk.

»Bist du ein Engländer?« fragte der König zögernd, und Panja antwortete,
bevor ich etwas entgegnen konnte:

»Der Sahib läßt fragen, ob du ein König seist?«

Das wurde verstanden, ich wunderte mich sehr darüber auf wie freundliche
Art, aber man muß die Kälte und Sicherheit der englischen Beamten im Innern
Indiens gesehen haben, um zu begreifen, daß diese Gegenfrage keinesfalls
das gewohnte Maß der englischen Arroganz überschritt. So war ich also ein
Engländer. Wahrscheinlich hätte die Verkündigung meiner deutschen
Nationalität keinen größeren Eindruck auf diesen Fürsten gemacht, als wenn
sich in Berlin ein Neger mit Stolz als zum Stamme der Aschanti gehörig
ausgibt.

Wir kamen über den Dorfplatz, der, wie mit großen graugrünen Zelten, mit
wilden Feigenbäumen umstellt war, deren hängende Wurzeln, wie das
Gitterwerk eines Käfigs, den Ausblick auf die fast ganz im Grün verborgenen
Hütten anfänglich verdeckten. Das Schloß lag am Ende des Dorfs in einem
Hain von wilden Zitronenbäumen und Arekapalmen, es war zweistöckig und weiß
getüncht, von einem hohen Kakteenzaun umgeben, zwischen dem Termitenbauten
natürliche Befestigungstürmchen bildeten. Die mit Bambusgitterwerk
verhangenen Fenster schwiegen geheimnisvoll in dem abendlichen
Sonnenschein, der schräg durch die Palmen drang, nur zuweilen klirrten die
blanken Stäbchen leise, als rührte sich hinter ihnen die Hand einer
Neugierigen.

Ich habe nur den Hof des Hauses betreten dürfen und hätte nach dieser
kurzen Begrüßung den König wahrscheinlich nicht mehr zu Gesicht bekommen,
wenn nicht ein aufregender Vorfall mein Interesse aufs höchste gespannt und
meine zur Stunde nicht sonderlich auf äußere Abenteuer gestimmte Seele in
ein gefahrvolles Ereignis verwickelt hätte.

                  *       *       *       *       *

Als der rasche Abend niedersank und wir vor unserem Zelt unsere Mahlzeit
beendet hatten, vernahm ich aus dem Dunkel des Gartens einen klagenden
Sington von merkwürdig einschmeichelnder und zugleich wehmütiger
Verlorenheit. So singen zuweilen im Einsamen beschäftigte Menschen vor sich
hin, die sich für unbeobachtet und unbelauscht halten. Es waren
langgezogene, wie mit dem schweren Atem hervorgehauchte Töne, nur wenig
voneinander unterschieden und tierhaft traurig. Sie wiederholten sich immer
wieder und bemächtigten sich meiner auf eine geradezu dämonisch zwingende
Art, so daß ich mich getrieben sah, ihnen wider meinen Willen nachzugehen.
Panja ließ mich auf diesem Streifzug durch den nächtlichen Garten nicht
allein. Die Sterne schienen hell, und die riesigen Blätter der
Bananenstauden zur Rechten und zur Linken der schmalen Wege erhoben sich
wie gestürzte und sinkende Säulen eines heidnischen Bollwerks gegen die
Macht böser Götter, oder sie hingen zerrissen im Sternenschein nieder, wie
die Häute zerfetzter Ungeheuer.

»Der König gibt uns Boote,« sagte Panja leise, »aber er erwartet eine
Bezahlung, die seiner Würde entspricht. Er hat auch Ruderer ausgewählt,
sogar Bananen, Papaya und Gewürze für den Reis.«

Ich nickte schweigend, wir sprachen nicht über die Töne, die uns lockten.
Vielleicht setzte Panja voraus, daß ich wußte, um was es sich handelte,
vielleicht hielt ihn eine ähnliche Scheu von seinen Mitteilungen ab wie
mich vom Fragen.

Dicht am Kakteenzaun des Gartens erhob sich nach einer Weile schwarz und
mächtig die hölzerne Pagode eines Tempels, wir sahen in den Hof hinüber,
was vom königlichen Garten aus möglich war, und erblickten die heilige
Ziege zwischen den braunen Pfählen des Vorplatzes zum Heiligsten. Es rührte
sich nichts an der geweihten Stätte, nur ein schwacher, rötlicher
Lichtschein glomm hinter dem niedrigen dunkeln Türrahmen, als wäre ein
Vorhang aus zartroter Seide vor dem geheimnisvollen Raum ausgespannt.

Als unsere Schritte sich einem Bambusdickicht näherten, hinter dessen leise
sirrendem Gefieder der Umriß eines niedrigen Gebäudes sichtbar wurde,
verstummte der trübe Singsang, ähnlich wie der Grillengesang im hohen Gras
erlischt, wenn ein nächtlicher Späher herantritt. Wir drangen in die hohen
Stauden ein, auf einem schmalen, kaum sichtbaren Pfad, über uns hingen die
Sterne im dünnen Bambusblätterwerk, wie stechende, kleine Ampeln. Hinter
einer vergitterten Tür, im Schwarzen, erklang ein schwaches Stöhnen, dicht
an den hölzernen Stäben.

»Wir müssen Licht haben«, sagte ich leise zu Panja.

Dies wäre nur durch eine Fackel möglich gewesen, und ihr Schein hätte uns
verraten. Wir wären unserem königlichen Gastgeber wohl kaum als sonderlich
höflich erschienen, wenn er uns darüber ertappt hätte, wie wir sein
häusliches Bereich nächtlicherweile durchforschten.

»Wenn wir warten, so werden wir sehen lernen«, meinte Panja. Die Sterne
schienen sehr hell, ich hörte mein Herz klopfen und stand unentschlossen.

»Ist es ein Tier?« fragte ich Panja.

Er sah mich überrascht an, als hätte er mich für unterrichtet gehalten und
wundere sich nun über meine Frage.

»Ein Tier? Es ist ein Weib, das klagt«, sagte er. »Vielleicht hat die Liebe
sie verwundet, vielleicht erleidet sie eine Strafe.«

Ein trüber Dunst, der den Atem benahm, schlug mir entgegen, als ich nun
nahe an das Holzgitter herantrat. Meine Furcht war jenem gedankenlosen Mut
der Empörung gewichen, der mit Panjas Worten in mir erwachen mußte. Ich
hielt mich seitlich, um den schwachen Lichtschein auf die dunkle Öffnung
fallen zu lassen. Das niedrige Häuschen war gemauert und glich einem
vernachlässigten Stall.

»Wer ist dort?« fragte ich auf kanaresisch. Panja stand dicht hinter mir.
Da sah ich nach einer kurzen Weile bedrängten Wartens ein schmales
Menschengesicht, merkwürdig farblos und von kranker Blässe, zwischen zwei
Stäben des Gitters erscheinen. Rechts und links von dem schwarzen Haar, das
gelöst niedersank, erblickte ich die erschreckend mageren Finger der Hände,
die in der Höhe der Augen je einen Stab umklammerten. Diese Erscheinung war
im nächtlichen Licht so grauenhaft in ihrer Verdammnis, als tauchte das
Gesicht einer längst Verstorbenen aus der Gruft empor. Die großen dunklen
Augen saugten die Nacht auf und gaben sie in lähmender Stille zurück. Mir
war, als erlösche mein Herz, und ich taumelte und ergriff Panjas Arm.

»Komm, Sahib,« sagte er, »wenn sie krank ist, so schleicht die Seuche in
deine Glieder.«

»Ist sie krank?«

»Ich weiß es nicht«, sagte er zögernd.

»Du weißt es doch«, schrie ich, die Zähne aufeinander gepreßt.

Panja erschrak.

»Ich weiß nur, Herr, daß untreue Frauen in diesem Lande auf solche Art
bestraft werden, aber es ist möglich, daß sie erkrankt ist.«

Mich verließ der Rest meiner natürlichen Besinnung, ich packte einen der
Holzstäbe des Gitters mit beiden Fäusten, stemmte den Fuß gegen die
Bodenmauer und setzte jenen großen Aufwand entfesselter Kraft ein, den die
höchste Empörung uns verleihen kann, aber meine Bemühung war vergebens, da
die Stäbe aus Bambus waren.

Panja zog mich zurück. Ich entsinne mich nicht, daß er mich jemals vorher
berührt hat, und mehr diese Kühnheit als seine Absicht brachten mich zur
einsichtvolleren Betrachtung der Lage, die zweifellos recht schwierig war,
wenn ich erwog, daß ich auf jeden Fall alles einsetzen wollte, dieser
Unglücklichen ihr Geschick zu erleichtern, und mich zum andern die
Angelegenheit durchaus nichts anging. Der König würde mir einen
eigenmächtigen Eingriff in seine Rechte niemals verzeihen, und wenn seine
Machtbefugnisse auch keinesfalls so groß waren, wie er wähnte und vorgab,
so hatte ich andererseits nicht den Rückhalt, den er bei mir vermutete. Die
Engländer pflegen die Gebräuche und die persönlichen Gewohnheiten der
vornehmen Hindus, wie auch die der Brahminen auf das zurückhaltendste zu
respektieren, weil sie erkannt haben, daß sie durch die Unterschiede der
Sitten, welche die einzelnen Kasten auszeichnen, das Land um so leichter
beherrschen. So gering ihre Zahl im Vergleich zu den Eingeborenen ist, so
groß ist sie als eine einzige geschlossene Gesellschaft, selbst der
mächtigsten Kaste gegenüber.

So mußte ich wohl bedenken, daß ich keinen Schutz bei einer Regierung
finden würde, deren Verwaltungstendenz einen Eingriff, wie den von mir
geplanten, verurteilte, am wenigsten vielleicht als Deutscher. Gerade
damals war England noch nicht über Deutschlands Kräfte und Rechte
unterrichtet, und man hielt in London das erste energische Vorgehen der
Deutschen in überseeischen Ländern nur für anmaßend.

Trotzdem stand mein Entschluß fest, meinen Wunsch zur Geltung zu bringen,
und ich nahm mir vor, Panja in der Morgenfrühe zum König zu senden und ihn
um eine besondere Unterredung zu bitten. Es ist seltsam, wieviel leichter
wir grausame oder ungerechte Handlungen begehen, als bei anderen dulden
können. Der Gedanke an das Elend dieser eingekerkerten Frau überschüttete
mich in einer schlaflosen Nacht in der Schwüle unter dem Moskitovorhang mit
einem heißen Schauer der Empörung nach dem andern. Im kurzen Eindämmern
eines qualvollen Halbschlafs erschien das wächserne braune Frauengesicht
vor mir in glühendem Nebel, und die klagenden Singtöne ihrer ersterbenden
Stimme füllten die von Unheil und nahenden Ungewittern schwangere
Nachtluft.

                  *       *       *       *       *

Ich erhob mich mit dem ersten Morgengrauen in einem ins Schmerzhafte
gesteigerten Verlangen danach, endlich das Meer, die Weite, den Widerschein
der Befreitheit zu erblicken. Mir war, als hätten die grünen Wände meine
Augen, ja alle Sinne abgestumpft und bis zur äußersten Gereiztheit
eingezwängt, ich fühlte mich schuldig und am Ersticken. In diesem Zustand
mag der Eigensinn eines Gedankens um so ausschweifender und zäher Gewalt
gewinnen, es war zweifellos eine gesteigerte Wut, in der ich bald darauf
dem König gegenübertrat. Es kam mir wenig auf die Folgen meiner
Handlungsweise an, und dieser Verfassung mag ich mehr an Erfolg verdankt
haben, als ich vielleicht einem überlegten Vorgehen zu danken gehabt hätte.

»Du hältst ein Weib in deinem Garten gefangen«, sagte ich barsch. »Es ist
eines mächtigen Fürsten unwürdig, so gegen ein hilfloses Wesen vorzugehen.
Ich verlange, daß du ihr sogleich ihre Freiheit zurückgibst. Mehr nicht,
aber das. Tu es gleich!«

Nach einem betroffenen Aufblick kam eine große Geschmeidigkeit in das Wesen
des Hindufürsten, eigensinnig und zugleich unterwürfig und von einer
Ausdauer im Umständlichen, die auch den größten Langmut ermüdet hätte.
Panja war sehr ernst und übersetzte jedes Wort aufs genaueste, ich fühlte,
daß er nicht wagte, in dieser Situation eine Verantwortlichkeit zu
übernehmen.

»Ich sehe, daß du mir nicht zu Willen bist,« ließ ich dem König antworten,
»so erinnere ich dich an das Gesetz der Regierung, das verbietet zu töten
und das den Mord mit Tod bestraft.«

Der König erblaßte und seine Lippen zitterten leicht, aber er blieb
freundlich und herbeilassend und versuchte mich zu überzeugen, daß es sich
um eine leichte Strafe handelte, die zu verhängen sein gutes Recht sei.
Auch sei mir das Vergehen dieser Frau unbekannt. Er wüßte von der Strenge
der Engländer, aber zugleich habe er bisher niemals Grund gehabt, an ihrer
Gerechtigkeit zu zweifeln, und er würde eher glauben, daß ein ungerechter
Mann kein Engländer sei, als er einem Engländer eine Ungerechtigkeit
zutraue.

Ich begriff aufs neue die Schlauheit und Zähigkeit dieser Menschen, ihre
Beharrlichkeit und die List, mit der sie ihre kleinsten Zweifel zu Waffen
machen, ohne eine nachweisbare Kränkung damit zu verbinden. Billigerweise
blieb mir kein anderer Ausweg, als nachzugeben, bevor ich nicht die Rechte
zu einer Prüfung erbracht, oder die Gründe für die Bestrafung der
Eingekerkerten angehört hatte. Aber die kleine Enge, in die ich getrieben
worden war, machte mich nicht vorsichtig, sondern zornig, und so rief ich
böse: »Wenn die Engländer ihre Gerechtigkeit von den indischen Königen
gelernt hätten, so säßest du hinter jenen Stäben, noch ehe ich nach Bombay
zurückgekehrt wäre.«

Es ist sonst nicht meine Art, Königen auf so unhöfliche Weise zu begegnen,
aber nach dem Anfang, den ich gemacht hatte, blieb mir nur dieser Weg
übrig, denn mir ist die Klugheit fremd, die ihre Zelte auf der Walstatt
errichtet, auf welcher ein hochherziger Vorsatz von Furcht überwältigt
worden ist. Ich sah Panja an, daß er meine Antwort für richtig hielt, er
trat vor und sagte ruhig:

»Die Beine der Gefangenen sind bis an die Knie hinauf von den Ameisen
zerfressen.«

Der König gab ihm keine Antwort, er sah vor sich nieder, als ginge ihn dies
alles plötzlich nichts mehr an, und zum erstenmal schlich, über dieser
neuen Gebärde meines Gegners, eine graue Furcht in mein Herz. Ich fühlte,
daß er den Gebrauch von Waffen erwog, denen keine Gesinnung gewachsen ist;
dies war die Stille, in der das Böse, zum äußersten getrieben, das Niedrige
beschwört.

»Ich werde die Gefangene freigeben, Sahib Kollektor«, sagte er ruhig und
trat zurück.

Dieser Titel war mir gewiß nicht aufrichtigen Herzens zugelegt, denn der
englische Kollektor ist der höchste Regierungsbeamte des Bezirks und würde
sicherlich nicht in meinem Aufzug durch die vergessene Wildnis des
Dschungels von Kanara reisen. Ich wußte dies wohl, und nicht nur der
lauernde Blick des Königs unterrichtete mich über die Tücke dieses
Angriffs.

»Wenn der Kollektor hätte kommen wollen, so wäre ich nicht selbst
gegangen«, sagte ich frech. Es kam mir nun durchaus nicht mehr darauf an,
etwas anderes zu geben, als gute Antworten. Ich forderte die Entgegnung des
Königs mit ruhigen Augen heraus, und sicherlich hat ihre Farbe ihn mehr
bedrängt als meine Anmaßung. Er sah mich nur einmal rasch und voll
unterdrückten Hasses an. Das dunkle Gift der Dschungelnacht blinkte in
seinen müden Samtaugen auf, die Bosheit der Fremde und der ganze Rassenhaß
eines unterdrückten Volks.

Ich hielt es für angebracht, mich vorderhand mit diesem Zugeständnis zu
begnügen und abzuwarten, welche weitere Wirkung meine Forderung haben
würde. So verabschiedete ich mich vom König, wobei wir uns beide beflissen
zeigten, so gnädig als möglich zu erscheinen. Ich ließ das Zelt abbrechen
und alles zur Abfahrt vorbereiten, nahm mir aber fest vor, das Boot nicht
eher zu betreten, als bis ich das Resultat meiner Bemühung gesehen hatte.
Es blieb mir kaum recht Zeit zu überlegen, ob ein Erfolg oder ein Mißerfolg
größere Schwierigkeiten für mich mit sich bringen würde, denn noch ehe die
letzten Eisenkoffer geschlossen waren, brachten zwei Diener des Königs
seine Gefangene zu uns. Die junge Frau war in ein weißes Tuch gehüllt und
schritt langsam und mühselig dahin, ich sah kaum mehr als ihre Augen, als
sie vor mir stand, und die flackernde Furcht darin machte mich ratlos.

Panja versuchte mit ihr zu sprechen, und nach langer Mühe gelang es ihm,
ihr verständlich zu machen, daß sie uns ihre Befreiung aus ihrer Lage
verdankte, und daß es ihr anheimgestellt sei, zu gehen, wohin es ihr
beliebte.

Sie ließ sich stumm am Boden nieder, wahrscheinlich aus Erschöpfung, und
schloß immer wieder für lange ihre Augen, die des Lichts entwöhnt waren.
Kein Zeichen von Dank oder Freude belohnte uns, bis sie endlich, nachdem
ich mich zurückgezogen hatte, Panja fragte, ob sie den fremden Sahib
begleiten müsse.

Panja will ihr gesagt haben, daß wir nichts von ihr forderten oder
erwarteten, er hat ihr die Freiheit so verlockend geschildert, als sie ihm
nur immer erschienen sein mag. Nach einer kleinen Weile kam er zu mir und
sagte ohne Triumph oder Parteinahme, aber ehrlich bestürzt:

»Sahib, die junge Frau bittet dich, sie zurückkehren zu lassen.«

»In ihr Gefängnis?«

»Ja, Herr. Sie hat die Hände auf ihr Herz gelegt und den Namen des Königs
genannt.« --

Eine Stunde darauf stießen unsere Boote vom Landungsplatz des Dorfes
Schamaji aus in die lauen Strudel des Kumardary, der uns träge und still
nach Westen trug, auf das Meer zu. Der Liebe lassen sich keine
Liebesdienste erweisen, sie ist in ihrem Fortgang selbständiger und
beharrlicher als jedes andere menschliche Gefühl, und ihre Sicherheit ist
höheren Ursprungs als die Vernunft.




Elftes Kapitel

Mangalore


Die merkwürdige Tatsache unseres irdischen Daseins ist mir immer in den
Augenblicken des Erwachens am wunderbarsten erschienen. Wenn sich unsere
Sinne, unter dem Glanz der Morgensonne oder durch das Lied eines Vogels im
Licht erweckt, aufs neue zum Bewußtsein zusammenfinden, so bricht über das
Herz bisweilen wie ein Schauer von Glück und Erstaunen die Gewißheit
herein, am Leben zu sein, noch nach Unzähligen, die versunken sind, und
nach Ungezählten, die kommen werden, auf der beschienenen Oberfläche der
Erde ein lebendiger Mensch zu sein. Ich wurde mir dieses freudigen
Erstaunens in keiner Stunde stärker bewußt, als an jenem Morgen, an dem ich
im Boot auf dem Fluß erwachte. Am Abend vorher hatten wir einen toten Arm
des versandeten Stroms gefunden, in dem das Wasser, still wie in einem See,
unter einer grünen Decke wunderlicher Sumpfpflanzen lag, und da keine
Möglichkeit bestand, die Boote durch den Morast der Ufer an festes Land zu
ziehen, hatte Panja geraten, auf dem Wasser zu übernachten. Es war mir
gegen Morgen entgangen, daß das Boot, in welchem ich schlief, wieder in die
Strömung gestoßen wurde, und so erwachte ich erst, als schon die Sonne
schien, und der leise Gesang des Wassers traf meine leicht bestürzten
Sinne. Ich erinnerte mich nur langsam der Lage, und sogar meine Lebenszeit
hatte sich mir für Augenblicke verwischt. In einem von aller Zeitrechnung
befreiten Aufstieg meines Bewußtseins wurde mir nur eines zur Gewißheit:
Die Sonne scheint auf die Erde, in den Bäumen rufen lebendige Geschöpfe und
du selbst lebst.

Solche Augenblicke erscheinen uns oft in späterem Gedenken daran sehr
bedeutungsvoll, da sie mit dem Abstand wachsen, und weil die Erinnerung
die Geschehnisse nicht nach ihrer Dauer und ihrem Wert zu bewahren pflegt,
sondern nach dem Maße ihrer Eindringlichkeit. Und ob ein Erlebnis uns im
Gedächtnis zurückbleibt, hängt wenig von seiner erkennbaren Bedeutung ab.
Vielmehr sind es zumeist so unscheinbare, ja oft geradezu kleinliche
Begebenheiten, welche unsere Erinnerung unauslöschbar bewahrt, daß wir ihr
nur ein Lächeln gönnen, ohne zu begreifen, daß ihre Kräfte ein eigenes
sittliches Reich darstellen, dessen mystische Eigenart unserem Willen in
keiner Weise untergeordnet ist. »Wenn Gottes Augen, welche ohne Aufhör die
Regionen seiner Schöpfung durchschweifen, unser Dasein treffen, so bleibt
der Augenblick in unserer Erinnerung für immer haften«, sagte einmal ein
buddhistischer Mönch aus Kaschmir zu mir, der Malabar auf der Suche nach
einem heiligen Baum mit grauen Blüten durchwanderte. So werden die
Lebensstunden, welche wir für groß gehalten haben, oft abhängige Kindlein
kleiner Einzelfälle, an die sie sich lehnen müssen, um nicht im Dunkel zu
versinken. --

Ich richtete mich im Boot auf und sah die Ufer gleiten, sie waren so dicht
umwachsen, daß es erschien, als wären wir zwischen zerbröckelten grünen
Mauern auf stiller, eiliger Flucht, zwischen Wänden, die bald
auseinanderwichen, bald aufeinander zurückten. Das unsterbliche
Himmelsblau, unwirklich in seiner funkelnden Farbstille, spannte sich
darüber aus, und bisweilen schossen die blendenden Strahlen der Morgensonne
in meine Augen und schlossen sie.

Der zurückliegende Tag war voller Beschwerden gewesen, und wir hatten
Uppanangadi nur mit Mühe erreicht, ohne die Stadt angeschaut und ohne
länger Rast gemacht zu haben, als es aus Rücksicht gegen die Ruderer
notwendig war. Ihre Tätigkeit bestand zu Anfang unserer Fahrt mehr im
Steuern als im Rudern, sie taten es stehend, und indem sie, je nach der
Richtung, die eingehalten werden mußte, ihr Ruder zur Rechten oder Linken
des Kanus ins Wasser tauchten. Dies geschah mit großem Geschick und
unterhielt mich lange. Es war häufig vorgekommen, während wir noch auf dem
Kumardary schwammen, daß die Boote sich auf Sandbänken festfuhren, wir
mußten dann ins Wasser und sie mit vereinten Kräften wieder flott machen.
Bisweilen kreisten wir sanft, aber recht ausdauernd, in tiefen Kesseln oder
glitten niedrige Fälle nieder, eine Beschäftigung, an die sich meine Sinne
gewöhnen mußten, weil die Vorstellung etwas durchaus Erschreckendes hatte,
dort zu kentern und vom trüben Wasser an die sumpfigen Ufer getrieben zu
werden, oder in Stromschnellen und tiefen Wirbeln mit den Alligatoren in
nahe Berührung zu kommen.

Nachts war es am schönsten. Zwar fuhren wir nachts nur die Stromstrecke vor
der Stadt Uppanangadi bis an die hölzernen Landungsstege des Orts, aber die
wandernden Fackeln im Dunkel der Ufer, die wie riesige Leuchtkäfer
aussahen, erregten die Phantasie geheimnisvoll und unterrichteten uns
darüber, daß wir uns bewohnteren Gegenden näherten.

Je weiter wir nun den Netrawati hinabtrieben, um so gemächlicher zog die
Flut, und die Arbeit der Ruderer setzte ein. Bei Krümmungen des Stroms
verloren wir oft das zweite Boot für lange aus den Augen, aber es lag kein
Grund zur Besorgnis vor, denn Pascha, der unser Gepäck im andern Kanu
bewachte, genoß jenen Respekt bei den Leuten, der schweigsamen Menschen
leicht zufällt, die, ohne unhöflich zu erscheinen, niemals ein Lächeln und
selten eine Frage erwidern. Meine Träger waren in Schamaji von Panja
entlassen worden, ich langte nach dreitägiger Fahrt, in Begleitung von
Panja und Pascha, in Mangalore an, die Kanus kehrten im Hafen um, ohne daß
die Leute aus Schamaji das Ufer betreten hatten. Sie leben in keinem guten
Einvernehmen mit den Küstenvölkern, die sie für abtrünnig und
fremdenfreundlich halten.

Die letzten Stunden war unser Boot langsam durch trübes, stehendes Wasser
gerudert worden. Die Vegetation nahm immer mehr ab, Reisfelder wechselten
mit sumpfigen Einöden, auf denen böse, stille Lachen spiegelten, von
schweren Dünsten umlagert und von Menschen und Tieren verlassen. Dort
schlief die Pest ihren Sommerschlaf, um mit den ersten Regen wieder zu
erwachen. Es war so drückend heiß, daß das Atmen zur qualvollen Mühe wurde,
die Ruderer arbeiteten zuletzt wie in einer dumpfen Betäubung, und die
Stimmen des trüben Wassers erloschen oft ganz. Der Fluß teilte sich in
vielerlei breite und schmale Kanäle, aus den Palmen am Ufer ragte der rote
Schornstein der deutschen Ziegelei.

Wir durchfuhren die ganze Stadt bis zum Meerhafen, der am Ort unserer
Ankunft kahl und öde, durch eine Sandbank gegen das Meer geschützt, lag,
und die Dünste der See, ohne Leben und Frische, enttäuschten mich bitter.
Von der Stadt hatten wir so gut wie nichts gesehen, sie liegt ganz im
Palmengrün auf drei sanften Hügeln. Nun aber erblickte ich die Häuser des
Hafens, schlechte zerfressene Steinbauten, unfreundlich und verlottert, in
jener ganzen Roheit und erbärmlichen Charakterlosigkeit, wie man sie oft in
orientalischen Häfen findet, deren Tradition längst zerstört und deren neue
Gewohnheiten und Einrichtungen dem Geist einer flachen und räuberischen
Geschäftigkeit dienen. Ein paar alte, große Segelboote mit hohem Bug und
breitem Deck lagen kreuz und quer, bald halb im Wasser, bald eingesunken in
schmutzigen Sand. Es war fast menschenleer, nur auf einer kleinen
Dampfschaluppe kauerte ein Hindu im Schatten und rauchte. Er spähte
neugierig nach uns aus; als ich mich im Boot erhob, sprang er empor, rief
gellend und überlaut ein paar Worte über den Damm gegen die trüben Fenster
eines bemalten Hauses. Sein kleines Schiffchen vermittelt den
Personenverkehr zwischen der Küste und den Hochseedampfern, die einige
Kilometer vom Land entfernt Anker werfen, um für zwei oder drei Stunden auf
Passagiere zu warten. Der Hafen von Mangalore selbst ist für den Verkehr
größerer Dampfschiffe nicht geeignet.

                  *       *       *       *       *

Die ersten Eindrücke, die ich von Mangalore empfing, boten sich mir um so
abstoßender dar, als ich nach der Lebensweise der zurückliegenden Zeit
alles mit der großzügigen Einfachheit der unberührten Natur zu vergleichen
genötigt war. Es kam hinzu, daß die Stadt in einem dumpfen Schlaf der
Erwartung lag und mir überall Trägheit, Verfall und Teilnahmlosigkeit
begegneten. Der vernachlässigte Hindugasthof, in dem ich meine ersten Tage
zuzubringen genötigt war, ermutigte meine Unternehmungslust in keiner
Weise, und das qualvolle Harren auf die ersten Gewitter nahm allen und
endlich auch mir den Rest wohlbestellter Daseinsfreude. Als Mangalore nach
wenig Monaten im Glanz der Frühlingssonne seine bunte Auferstehung feierte,
glaubte ich die Stadt nicht wiederzuerkennen. Die Unterschiede zwischen
unserem deutschen Sommer und Winter sind in ihrer Einwirkung auf das
Befinden und die Lebensgewohnheiten der Menschen bei weitem nicht so
bedeutungsvoll, wie der Wechsel der Jahreszeiten in den Tropen. Die Meinung
von dem Gleichmaß und der steten Sommerlichkeit der Witterung in diesen
Zonen, entstammt der mangelhaften Kenntnis oberflächlicher Passanten oder
einer falschen Vorstellung; wer das tropische Jahr von Beginn bis zu Ende
in der Nähe des Äquators durchlebt hat und die Menschen in Leid und Freude
seines Wechsels beobachtet hat, wird dagegen die Unterschiede unserer
Jahreszeiten in den gemäßigten Zonen als unerheblich empfinden.

Später lernte ich vieles in Mangalore verstehen, das ich anfangs mit
Geringschätzung übergangen hatte, manches lieben, das mir zuerst fremd und
abstoßend entgegentrat, und ich schied mit der Gewißheit aus der Stadt, daß
kein bewohnter Ort der Welt an paradiesischer Schönheit und Versunkenheit
sich mit Mangalore zu messen vermöchte. Wir erlangen in unseren kurzen
Lebenstagen niemals das Maß von Erfahrung fremden Erscheinungen gegenüber,
das uns ermöglichte nach dem ersten Eindruck gerecht auf den allgemeinen
Wert zu schließen.

                  *       *       *       *       *

In einem unbeschreiblichen Zustand von Gereiztheit entschloß ich mich am
dritten Tage meines Aufenthaltes kurzer Hand den englischen Kollektor
aufzusuchen, um endlich Gewißheit über die Möglichkeit eines längeren
Aufenthalts, über die Wohnungsverhältnisse und die Lebensbedingungen zu
erhalten.

Die Leute drückten sich überall in einer mir völlig unverständlichen Angst
um offene Antworten herum, bald fürchteten sie, es mit der Regierung zu
verderben, bald mit den Priestern, selbst meine Opfer an Geld machten mir
nur den Pöbel gefügig.

Das Bungalow des Beamten lag herrlich auf einem beschatteten Hügel und
erinnerte mich an einen alten Herrensitz. Der Garten war aufs beste
gepflegt, die Amtsräume sauber, kühl und groß. Im Vorzimmer saß ein
Mischling in weißer, halbeuropäischer Kleidung an einem großen Schreibtisch
und stellte sich ungemein beschäftigt. Ich war zu Anfang so bescheiden, als
meine Nerven irgend zuließen, aber die gedankenlose Einbildung dieses
Sklaven auf seine Beziehungen zu einer Kultur, die er nicht verstand,
brachte mich auf. Ich hätte mich sicher beherrscht, wenn Panja nicht an
meiner Seite gewesen wäre.

»Stehn Sie auf, wenn ich rede«, sagte ich.

Mein Blut kochte. Es bedarf in der Tat nur eines sehr geringen Grades von
Erregtheit, um in dieser Zeit das ohnehin vor dem Sieden stehende Blut zum
Überschäumen zu bringen.

Der Schreiber erhob sich träge, als hätte er Blei in den Knien, aber sein
frecher, erstaunter Blick entzündete mir Feuer in den Händen, und noch ehe
er ganz auf seinen dürren, braunen Beinen stand, schallte eine Ohrfeige
durch den würdigen Raum, die ich wie einen kalten Wasserguß genoß. Ihn mag
sie anders berührt haben. Er drehte sich einmal um sich selbst, sein
Strohsessel machte es ihm in bureaukratischer Ergebenheit dienstbeflissen
nach, und, auf der verschonten Wange erbleichend, rang er vergeblich nach
Fassung. Die dunklere Linie seiner Abstammung besann sich auf die Gasse.

»Ich wünsche den Kollektor zu sprechen«, sagte ich freundlich. Es ging mir
um vieles besser, aber ich bin lange Zeit nicht fähig gewesen mir die
Rauheit dieser Handlung voll erklären zu können. Sicherlich hing diese
bedachtlose Aufwallung und mein Mangel an Beherrschung mit der Verwöhntheit
zusammen, in der ich fast ein halbes Jahr lang nur unter Menschen
zugebracht hatte, bei denen selbst auch nur ein Gedanke an
Gleichberechtigtheit niemals aufgekommen war, so daß mir der erkennbare
Widerstand dieses Menschen weit mehr als Überhebung erscheinen mußte, als
er es in der Tat gewesen sein mag.

Der in zweierlei Hinsicht arg betroffene Mann begann den Kampf um seine
beleidigte Beamtenehre erst, nachdem er einen Abstand von etwa vier Metern
und einen Tisch aus gebeiztem Hartholz zwischen sich und mich gebracht
hatte. Alles an ihm war Empörung, sogar sein geöltes Haar, von dessen
glänzender Frisur das graue Leinenkäppchen sich entfernt hatte, schien mir
vor Entrüstung zu funkeln.

Ich nahm für alle Fälle ein schwarzes Kästchen aus Ebenholz vom Tisch, in
dem Stahlfedern, ein Radiergummi und Kupferannas mit dem Anstand geordnet
waren, mit dem eine Prinzessin Juwelen verwahrt. Dabei war ich entschlossen
das erste unehrerbietige Wort dadurch zu erwidern, daß ich dies Kästchen
als Wurfgeschoß verwandte. Ich habe einmal davon gehört, daß Bauern, deren
Felder unter anhaltender Hitze in Gefahr sind zu verdorren, den Regen durch
Kanonenschüsse herbeizulocken suchen. Eine ganz ähnliche Hoffnung muß mich
damals bewegt haben, und ein verwandter Glaube. Aber es kam zu keinem Wort
und keinem Gewaltakt mehr zwischen mir und meinem Widersacher, weil die Tür
sich öffnete und mit kühlen Augen und wohlrasiertem Antlitz der englische
Beamte im Rahmen erschien und seinen Blick gelassen bald von mir zu seinem
Sklaven und bald wieder zurück wandern ließ.

Der Abstand, in dem wir uns voneinander befanden, der Tisch zwischen uns,
die an die Wange gelegte Hand des Schreibers und meine streitsüchtige
Haltung mögen den Beherrscher Süd-Kanaras genugsam darüber unterrichtet
haben, was etwa vor sich gegangen sein mochte. Die im Tropendienst und an
ausgesetzten Posten bewährten, gebildeten Engländer haben eine
bewunderungswerte Besonnenheit in allen ungewöhnlichen Lagen und verstehen
es ausgezeichnet, die Dinge zunächst einmal so zu nehmen, wie sie sind,
ohne vorschnell kundzutun, wie sie nach ihrer Meinung sein sollten. Das
zeugt mindestens von großem Selbstbewußtsein. Und so wandte der Beamte sich
mir ruhig zu und fragte höflich, ob er in der Lage sei, durch seine
Einmischung diese Situation harmonischer zu gestalten. Dabei wies er ohne
weitere Frage auf die geöffnete Tür zu seinem Zimmer und ich trat ein, ohne
ein Wort der Beschwerde, denn ich merkte, daß dies in Gegenwart eines
Untergebenen nicht erwünscht sei. Ich sah mich gleich darauf in einem
bequemen Korbsessel einem Manne von etwa fünfzig Jahren gegenüber, dessen
starke, wohlbestellte Gestalt, dessen kluges und zugleich wohlwollendes
Gesicht mir das unbedingteste Vertrauen einflößten, und da ich etwa dreißig
Jahre jünger war als er, wurde es mir leicht, ihn zu bitten, die
ungewöhnliche Art meiner Einführung nicht als Mißachtung gegen die
englische Regierung oder gegen seine Person anzusehen. Als ich ihm meinen
Namen nannte, sagte er mir kühl den seinen und fragte mich, ob ich
Engländer sei.

Wie wichtig den Vertretern dieser Nation diese an sich so unschuldige
Tatsache erscheint! Auf meine Antwort hin glitt ein kleiner Schatten von
Unwillen über seine Stirn und er fragte mich, ob ich der deutschen Mission
in Mangalore zugehörte.

»Schließen Sie das aus der Behandlung, die ich Ihrem Schreiber angedeihen
ließ?« fragte ich.

Er lächelte und schüttelte den Kopf, schien aber ohne weitere Erklärung aus
der Art meiner Antwort zu ersehen, daß ich seine Frage damit verneinte, und
dann wartete er. Als ich sprach, musterte er mich unauffällig, und ohne daß
sich auch nur ein Schatten von Kritik in seinen Zügen zeigte. Nach seinem
Ausdruck zu schließen, hätte ich selbst und meine Erzählung ihm ebensogut
unausstehlich wie angenehm, oder völlig gleichgültig sein können. Bei einer
Pause, die ich machte, setzte er eine kleine Tischglocke in Bewegung und
gab einem eintretenden Diener einen Befehl, und gleich darauf pflanzte ein
stilles, braunes Wesen ein Tablett zwischen uns auf, das Whisky, Sodawasser
und -- Eis trug.

Mein Herz schlug in Empfindungen, wie sie nicht zärtlicher für einen Vater
hätten sein können, und dies Gefühl wurde noch durch die einfache Warnung
des Kollektors erhöht, als er mich bat, mit dem Trinken vorsichtig zu
sein, da ich wahrscheinlich in Schamaji kein Eis vorgefunden hätte. Die
Geschichte mit dem König hatte ihm gefallen, nach einer Weile meinte er:

»Als ich vor Jahren meinen ersten tropischen Sommer erlebte, wurde ich
nahezu ein Mörder, im zweiten ein Verzweifelter und erst im dritten begann
ich wieder einem Engländer zu ähneln. Sie brauchen sich deshalb nicht
besorgt zu zeigen, wenn Ihre Besinnung sie für Augenblicke verlassen hat,
die Geduld verliert man in Indien zuerst, dann gewöhnlich den Verstand. Nur
wenige finden beides wieder, aber diese pflegen sie dann auch zu brauchen.«

Ich erfuhr damals, was ich in meiner Angelegenheit wissen wollte, und
brauchte dabei nur wenig zu fragen.

Im Amtszimmer des Kollektors fiel auch in späteren Tagen zuerst der Name
Mangesche Raos, des Brahminen. Bei diesem Klang und beim Anhören der kurz
und ohne tieferes Verständnis vorgetragenen Lebensgeschichte dieses Mannes,
empfand ich deutlich eine Beziehung, die weit über Neugierde oder Interesse
hinausging. Der Beamte erzählte mir nach und nach folgendes, anknüpfend an
meine Bitte, mir in Mangalore unter den gebildeten Brahminen eine
Persönlichkeit zu nennen, mit der ich nutzbringenden Umgang pflegen könnte,
und nachdem unsere Beziehung zu einiger Freundschaftlichkeit erprobt war:

»Mangesche Rao ist unter den jüngeren Brahminen Mangalores, ja Süd-Kanaras,
einer der bekanntesten, und zweifellos auch einer der klügsten. Über seine
Gesinnung kann ich keinen Aufschluß geben, da seine Interessengebiete die
unseren nur politisch berühren, und kaum eine andere Leidenschaft verhüllt
den Charakter des Gegners vor dem Gegner mehr, als eben eine solcher Art.
Der Mann hat uns viel zu schaffen gemacht und nur deshalb, weil er das
Verständnis und die Teilnahme seiner Kastengenossen nicht einmütig
gefunden hat, ist er uns nicht gefährlich geworden. Da er die Universität
von Madras besucht hat und so weit akademisch gebildet ist, als die
englischen Hochschulen in Indien es ermöglichen, hat er naturgemäß das
Vertrauen seiner Kaste verloren, dagegen lange das unsere besessen, im
Grunde allerdings niemals mein persönliches. Ich war als Vertreter der
Regierung verpflichtet, ihn so weit zu fördern, als er uns nützte, wenn er
mir aber, was damals oft geschah, in jenem Sessel gegenübersaß, den nun Sie
einnehmen, so bin ich niemals ein Gefühl heimlicher Scheu vor der seltsamen
Undurchdringlichkeit seines Wesens losgeworden. Er erreichte bald einen
führenden Posten am hiesigen englischen College, man sah ihn unter den
Jesuiten, in geheimen Versammlungen seiner Stammesgenossen und sogar im
Lager der protestantischen Mission. Ich habe nie in Erfahrung bringen
können, ob ihm die Sympathie, die er überall zu erwecken schien, aufrichtig
entgegengebracht, oder ob sie ihm gezeigt worden ist, weil man ihn
fürchtete.

Vor einem halben Jahre ist er entlassen worden. Ich habe nicht gewagt,
weiter gegen ihn vorzugehen, weil ich inzwischen erfahren habe, daß sein
Einfluß groß ist, und wahrscheinlich auch sein Anhang, wenn auch nicht eben
in der Provinz, so doch im ganzen Reich. Wir müssen uns wohl hüten, in
diesem Lande die Strafe als Vergeltung oder Rache aufzufassen, vielmehr
dürfen wir in solchen Fällen durchaus nur so weit vorgehen, als unsere
Gegner unter ihr machtloser werden. Es hatte sich folgendes ereignet. Ein
Jesuitenpater des hiesigen Klosters ließ sich eines Tages bei mir melden,
und brachte mir ein kleines, in Malayalam verfaßtes Schulbüchlein, wie sie
hier überall in den Regierungs- und Missionsschulen nach Form und
Aufmachung Verwendung finden. Ich will Ihnen das Buch zeigen.«

Er erhob sich und schritt im Nebenraum auf einen eisernen Schrank zu, dem
er nach einigem Suchen unter Akten und Papieren ein graues, heftartiges
Büchlein entnahm und vor mich hinlegte. Es war schmal und an drei Seiten
beschnitten, nüchtern und sachlich von Gewand und wies in der
traditionellen Anordnung eines Lehrbuchs einen Titel auf und unten die
Abzeichen der Druckerei der Jesuiten, die für ihre Propaganda eine
Druckerei mit mehr als zehn verschiedenen Schriftzeichen der
Eingeborenensprachen unterhalten. Der Kollektor übersetzte mir den Titel:
»Ein Lehrbuch der vergleichenden Sprachwissenschaft über den Zusammenhang
der Südindischen Dialekte mit dem Sanskrit. Bearbeitet von Mangesche Rao,
Lehrer am englischen College zu Mangalore, gedruckt in der Offizin der S.
J. daselbst.«

Der Titel und die ersten zehn Seiten des unscheinbaren Heftes wurden in
kurzen Vergleichen seiner Aufschrift gerecht, dann aber folgte eine mit
großem Verstand und agitatorischer Inbrunst verfaßte Kritik der englischen
Regierung in den Südprovinzen, die um so aufreizender wirkte, als sie
sachlich war und eingehende Kenntnis verriet, ohne daß etwa ein
Landesverrat nachzuweisen war. Ich habe mir diese Abhandlung später von
Panja im einzelnen übersetzen lassen.

Der Beamte fuhr fort: »Der Pater erzählte mir, daß ein Zufall zur
Entdeckung dieses Mißbrauchs ihrer Druckerei geführt habe, er lehnte die
Verantwortung seines Ordens der Regierung gegenüber mit diesem
Eingeständnis ab, und teilte mir mit, daß die bestochenen Leute entlassen
seien. Auf meine Bitte, mir seinen Verdacht zu nennen, wen er für den
Verfasser dieser Broschüre hielte, erwiderte er in großer Höflichkeit, daß
wohl ein solcher Verdacht bestünde, daß es aber nicht zu den Absichten und
Gewohnheiten seines Ordens gehöre, über Verbrechen Meinungen auszutauschen,
die nicht klar zu begründen seien. Es war augenscheinlich: die Leute hatten
Furcht, Furcht, wie hier alle haben, die nicht dem interesselosen Pöbel
angehören. Es ist allzuoft vorgekommen, daß die eifrigsten Führer einer
Partei an einem Morgen, gekrümmt vom Gift ihrer Gegner, tot in ihren
Häusern aufgefunden wurden. So war es an mir, Mut zu zeigen, aber alle
unbedachte Art von Kühnheit, die nicht von höchster Vorsicht geleitet ist,
hat hierzulande nur den Wert einer eiteln Knabenposse. Mir wurde, noch ehe
ich eine Verhandlung eingeleitet hatte, sehr unverblümt deutlich gemacht,
daß ich im Falle eines unbesonnenen Eingriffs nicht mit einem
leichtsinnigen Verbrecher, sondern mit einer mächtigen Partei des ganzen
indischen Reiches zu kämpfen hätte. Das steht mir weder zu, noch garantiert
die Tragweite meiner Stellung mir auch nur geringen Erfolg. Ich gab den
Fall an die Regierung weiter.

Naturgemäß ging es nicht an, hier nur Vorsicht und sonst nichts erkennen zu
lassen. So ließ ich Mangesche Rao zu mir bitten. Diese Begegnung vergesse
ich niemals. Zunächst ließ der Brahmine mir sagen, daß ihm ein späterer Tag
zu einer Begegnung lieber sei. Ich war betroffen, da ich daraus entweder
auf völlige Unbefangenheit, oder auf einen Fluchtversuch schließen mußte,
und so ließ ich ihn überwachen, ohne ihn zu drängen. Ich weiß heute, daß er
diese Überwachung, die er sofort merkte, absichtlich durch sein Zögern
heraufbeschworen hatte, um zu erfahren, ob es sich um etwas Bedeutsames
handelte. So kam er am nächsten Tage, und war auf alles gefaßt.

Ich gab ihm, mitten in einer gleichgültigen Unterhaltung, unversehens das
Buch.

Er nahm es, warf einen Blick darauf und sagte höflich:

»Ich will es prüfen, sobald ich Zeit finde.«

»Es ist von Ihnen«, sagte ich.

»Ja«, antwortete er ruhig, als habe ich alles andere gesagt, »es geschieht
bald.«

»Dies Buch trägt Ihren Namen als Verfasser«, fuhr ich fort, und ich
gestehe, innerlich unsicher und aufgebracht.

Mangesche Rao sah mich an, als erwartete er bestimmt, ich würde fortfahren,
in jener vermeintlichen Sache zu sprechen, die durchaus nichts mit dem
kleinen Heft zu tun hatte, das er gleichgültig zwischen den Fingern drehte.
Endlich folgte er meinen Augen und, scheinbar erst jetzt aufmerksam
geworden, begann er in dem Heft zu blättern und durchaus nicht, wie es
zweifellos jeder andere getan hätte, in den harmlosen ersten Seiten,
sondern mitten in dem verräterischen Angriff auf die Regierung.

Er sah einen Augenblick auf, fragte höflich und mit ein wenig gerunzelten
Brauen, »Sie erlauben?« und las weiter. Nach einer Weile wandte er die
Einbanddecke, betrachtete wieder den Titel, verglich, lächelte befangen und
fuhr fort zu lesen. Der Mann hat es fertig gebracht, eine Viertelstunde
lang unter meinen Augen seinen eigenen Text zu lesen, nicht etwa mit
Anzeichen des Erstaunens oder der Empörung, sondern ohne Anzeichen. Und ich
habe die ganze Verhandlung hindurch sicherlich eher als er den Anschein des
Geprüften erweckt. Nun, ich blieb geduldig, mir dessen bewußt, daß er
innerlich gelassen den Grund meiner Geduld erwog. Als er aber nach einer
guten Weile mit einem amüsierten Lächeln aufsah, den Kopf schüttelte und
begann, mir einen ganz sonderlich treffenden und zugleich boshaften Absatz
vorzulesen, brauchte ich meine ganze Beherrschung, um dieses Lächeln zu
erwidern. Er legte das Heft nachdenklich hin und meinte besorgt und mit
erhobenen Brauen:

»Das ist nicht angenehm für uns.«

»Haben Sie einen Verdacht, wer der Verfasser sein könnte?«

Mangesche Rao antwortete nicht und ich sah mich genötigt, fortzufahren:

»Wie mag Ihr Name auf dies Heft gekommen sein?«

Der Brahmine beantwortete meine erste Frage, nachdem er mich zuvor kurz
angesehen hatte, als wollte er zu meiner zweiten sagen: War das nicht ein
wenig plump geforscht?

»Ich habe keinen Verdacht. Was mich am meisten überrascht, ist die
Tatsache, daß die Jesuiten ihre Befugnisse so gedankenlos in den Dienst
einer Sache stellen, welche der Regierung schadet, die sie schützt.«

Es blieb mir nichts anderes mehr übrig, als nun entweder meinen Argwohn
gegen den Brahminen auszusprechen, oder die Unterhaltung abzubrechen, aber
das erste durfte ich nicht ohne Beweis, dem ein Eingriff folgte, und das
zweite wollte ich nicht. So wählte ich noch einmal einen Mittelweg,
obgleich ich die Ergebnislosigkeit meines Vorgehens wußte.

»Wie mag der Verfasser gerade auf Ihren Namen gekommen sein?« fragte ich
mich laut.

Mangesche Rao meinte, daß, nach dem flüchtigen Eindruck, den er nach der
Lektüre empfangen hätte, ihn dieser Mißbrauch, bei parteiloser Betrachtung
des Bildungsgrades, der aus der Arbeit spräche, wenigstens nicht eben
bloßstellte, aber dann fügte er ernst hinzu:

»Der Gedanke lag nahe. Wurde das Buch schon in Mangalore gedruckt, so
wählte man am besten als Deckung den Namen eines Lehrers vom hiesigen
englischen College. Es wird eher deshalb geschehen sein, weil es galt, die
Jesuiten zu täuschen, als aus Gründen einer anderen Vorsicht.«

»Man hätte auch einen englischen Namen nehmen können.«

Mangesche Rao betrachtete den Titel, dann erwiderte er mir mit bescheidenem
Kopfneigen:

»Das wäre nicht klug gewesen, denn jeder in Indien, der lesen kann, weiß,
daß ein Engländer nur selten etwas von fremden Sprachen versteht.« Nun, ich
schluckte auch dies noch und begriff, daß ich einen falschen Weg
eingeschlagen hatte. Als das Meisterlichste dieser diplomatischen
Sicherheit meines Gegners erschien mir seine von jedem, auch dem kleinsten
Triumph völlig freie Art der Verabschiedung. Er ging still und ein wenig
beklommen, als wäre ihm langsam klar geworden, daß diese seltsame
Entdeckung ihm doch unangenehmer werden könnte, als er zu Anfang geglaubt
hatte. Ich hatte damals bereits Beweise in Händen, die ich weitergab; es
ist über jeden Zweifel erhaben, daß Mangesche Rao der Verfasser dieses
Pamphlets ist, er hat es mir später, nicht ohne Hohn, auf eine Art
eingestanden, die nur mich, mich aber gründlich überzeugt hat. Die
Regierung verfügte in höflicher Zurückhaltung seinen vorübergehenden
Rücktritt von seinem Posten, mit der Begründung, daß zwar kein Verdacht
gegen ihn vorläge, daß jedoch sein Name auf eine Art bloßgestellt sei, die
diese Verfügung für kurze Zeit notwendig mache.«

So lautete, aus Einzelheiten zusammengesetzt, die ich nach und nach erfuhr,
die Geschichte des Brahminen Mangesche Rao, und meine Erwartungen waren
gespannt, als Wochen darauf der Tag kam, an welchem ich seine Bekanntschaft
machen sollte.

                  *       *       *       *       *

Inzwischen hatten die großen Regen eingesetzt. Es war mir gelungen am Hang
einer bewaldeten Anhöhe den Flügel eines schönen Hauses zu mieten, mit
großen Zimmern und einer breiten Veranda, die ganz von Buschwerk umschattet
war, aber einen Ausblick auf eine herrliche Allee von Platanen eröffnete,
die auf ein altes Stadttor führte.

Die niederbrechenden Wassermengen und die furchtbaren Unwetter, die die
Regenzeit einleiten, verbannten mich lange in meine weißen Räume, in denen
ich wie in einer ununterbrochen mißhandelten Trommel hauste, zwischen
Wasserwänden, deren matte Silberströme lau und klatschend vor den Scheiben
niederdonnerten. Nachts flackerte das All in bengalischen Flammenkränzen,
die Ketten der Blitze knatterten, und oft betäubten die Donnerschläge alle
Empfindung, bis zuletzt auch die Furcht in einer dumpfen Ergebenheit
versank, in welcher alle Geschöpfe verharrten, wie in den Flammenzeichen
des Jüngsten Gerichts, während im Umkreis entzündete Häuser und Bäume
aufleuchteten und erloschen. Es ging wochenlang so fort, ohne abzukühlen,
unter den undurchdringlichen, nahen Wolkenmassen konnten die schwülen
Dünste der monatelang durchglühten Erde nicht aufsteigen. Die Lungen
stießen die von Feuchtigkeit und Wärme übersättigte Luft, wie unter den
trüben Scheiben eines überhitzten Treibhauses aus und ein, und langsam
erlosch die letzte Lebenskraft.

Draußen aber begann ein Wachstum von beängstigender Gewalt. Nach sieben
Tagen drang kein Lichtstrahl mehr in meine Räume, und Panja arbeitete mit
der Axt im spritzenden Saft. Die blauen Feuer der Blitze zeichneten
nächtlicherweile ein kohlschwarzes Blättergewebe, wie ein wirres,
flackerndes Gitterwerk, vor die Scheiben meiner Fenster, und es war mir
unbegreiflich, an den ersten stilleren Tagen, die Stadt Mangalore noch an
ihrem Platz zu finden.

Langsam wurde es unter dem andauernden Regen von Tag zu Tag kühler. Niemand
beschreibt die Befreitheit und das Glück meiner Sinne, als mich nach langer
Zeit zum ersten Mal die Sonne im Palmengrün weckte. Es ging aufs neue dem
indischen Frühling entgegen, und die von Entzücken und tausend Düften
geschwellte Brust wußte ihren Jubel nicht zu bergen.

Mangalore brach auf vor meinen Augen, wie eine wunderbare, fremde Blume,
bunt und üppig, geheimnisvoll-verschwiegen, von giftig-süßer Lebensgier.
Ihr Duft brachte Vergessen mit sich, ihr Klang unnennbare Träume von der
Mannigfaltigkeit der Welt, und ihre Farben berauschten die Sinne bis zur
Verzücktheit. Über das hölzerne Geländer der Veranda brach wie eine grüne
Schlange eine Schlingpflanze, öffnete über Nacht blaue Blumen von der Größe
eines Kinderköpfchens, mit einem gelben, gierigen Auge, das am Tage die
Falter lockte und sich am Abend schloß. Der Jasmin betäubte mich bis zum
Taumeln, die schnarrende Klage der Kröte mischte sich melancholisch und
liebesselig in die metallische Klarheit des Nachtigallenlieds, und im Mond
blühten die Lotusblumen auf den schwarzen Spiegeln der Brunnen und Sümpfe
auf.

Die braunen Menschen in weißen Gewändern im Grünen, lautlos auf rötlichen
Wegen dahinschreitend, bewegten sich auf ihrem gesegneten Erdland wie
unnahbare Gestalten eines Märchens, erdacht, längst bevor die Wiege unseres
Volks, unter Eichen im fernen Westen, von den ältesten Sagen umklungen
wurde. Und mit allen Wohltaten solcher Schönheit trat, wie ein Jüngling aus
einer tauglitzernden Wiese, der Schlaf wieder an mein Lager und mit ihm das
glückliche Bewußtsein von Gesundheit, von Kraft und fröhlichen
Daseinsrechten.




Zwölftes Kapitel

Von Frauen, Heiligen und Brahminen


So waren die Eindrücke, die ich in den ersten Monaten meines Aufenthalts in
Mangalore erhielt, außerordentlich bunt und mannigfach, und so eifrig ich
nach dem Sinn der Erscheinungen forschte, so verwirrte mich das meiste
eher, als daß es mein Verständnis förderte. Aber wie der glückliche Zustand
fröhlichen Wohlbefindens, besonders in der Jugend, eher zu gedankenloser
Hingabe, als zu hingebenden Gedanken führt, so ließ ich die farbigen Bilder
an meinen Augen vorüberziehen, wie ein munterer Wanderer die wechselnde
Landschaft, und wenig von allem sank in mein Herz, bis zu jenem Tage, an
dem Mangesche Rao mein Haus betrat.

Panjas Übermut verführte mich oft zu frohsinniger Oberflächlichkeit, wir
bummelten am Hafen umher, der sich von Tag zu Tag mehr belebte, ließen uns
zur Jagd auf Sumpfvögel die Flußarme emporrudern, die etwa um das Zehnfache
breiter erschienen, als am Tage unserer Ankunft, wagten hier unser Leben
und dort unser Geld und vergaßen miteinander, daß es in der Welt noch etwas
anderes gab, als diese grüne, blühende Wildnis und diese bunte Stadt.

Vor den Tempeln und der Basarstraße gab es Feste heidnischen
Götzendienstes, am Hafen Schlägereien zwischen mohammedanischen Hindus und
den Negern, die in großen Seglern von Arabien kamen, um Gewürze
einzutauschen. Es war ergötzlich, dem bald trägen, bald ausschweifenden
Leben des Hafens beizuwohnen, in beschaulicher Tatlosigkeit der englischen
Regierung und dem lieben Gott die Sorge für das eigene und fremde
Wohlergehen überlassend. Ich schloß Freundschaft mit Negern, Elefanten und
Königen, von denen allen es in Mangalore ein gut Teil gibt. Der Frühling
spendete uns Rausch, Vergessen und Andacht, der durchsonnte Lebensstrom,
der die ganze Stadt überflutete, riß uns mit sich fort.

Eingehüllt in die Geheimnisse der Fremde, wieder erlöst durch die
himmlische Klarheit der Sonne und geleitet von der unermüdlichen Lebenslust
der Jugend, flossen meine Tage dahin. Meine letzten Bücher wurden ein Raub
der Insekten, meine Gedanken eine Beute der Träume, und selbst meine
Zukunftshoffnungen fielen für lange dem sanften Rausch so vergänglicher wie
überwältigender Genüsse zum Opfer. Ich erwachte unter dem Glitzern der
Sonnenspeere, die durch die Blumen und Palmengefieder in mein Zimmer
sanken, unter dem Duft des Tees, den Panja mir an mein Lager brachte, und
meine erste Erwartung galt der grünlichen feuchten Landzigarre, die, dick
und lang wie ein Treibhausspargel, aus besten Blättern gewickelt worden
war. Der goldene Tag zog herum bei Schmetterlingsjagden oder Kahnfahrten,
am frischen Meer oder im tiefen Schatten des Palmendickichts, zwischen
weisen und närrischen Menschen oder Tieren, zu Pferd oder zu Fuß verbracht,
und immer in jener unnennbaren Erhobenheit, die das Bewußtsein einträgt,
von allen geachtet oder gefürchtet, sicherlich aber für etwas ganz
Außerordentliches angesehen zu werden. Bis der kühle Abend niedersank, mit
dem Gesang der Menschen, dem gespenstig wandernden Licht der großen
Leuchtkäfer, den Lauten der liebesseligen Tiere, und ob ich die weißen
Nächte im Schein des gewaltigen Monds allein zubrachte oder nicht, werde
ich nicht sagen, denn es gibt zu viele Menschen, die solcherlei Erwägungen
in ernstliche Besorgnis wirft, und man soll niemand Sorge bereiten, am
wenigsten durch die Erinnerung an eigene Freuden.

Auf diesem so ausgedehnten Gebiet muß Panja in ernstliche Bedrängnisse
geraten sein, eines Morgens schüttete er mir sein Herz aus. Das hatte
einen ganz besonderen Grund, und der Anlaß waren zwei lange Schrammen, die
vom Auge über seine Wange niederliefen, und deren Ursprung sich um so
leichter erraten ließ, als er die Nacht über fort gewesen war.

Als er sah, daß ich sein Gesicht musterte, während er das Frühstück
bereitete, meinte er bedauernd:

»Diese Dornen, Sahib! Man weiß nicht, wie man ihnen im Dunkeln entgehen
soll, es ist Zeit, daß ich im Garten wieder Platz schaffe.« Und wir klagten
eine Weile miteinander über die Dornen.

»Zuweilen sitzen zwei nebeneinander,« sagte ich, »ähnlich wie die
Fingernägel einer Hand.«

Panja musterte mich mißtrauisch, aber da ich ernst blieb, meinte er
zögernd:

»Ja, auch das, es kommt allerlei vor.« Aber dann mußte er doch ein Lächeln
gewahr geworden sein, denn er sprang ärgerlich auf, stampfte mit dem Fuß
und rief:

»Also weißt du es, Sahib! Gut, aber was wird dadurch besser? Ist es schön
von dir, jemand zu verhöhnen, der ohnehin Undank geerntet hat?«

Ich beruhigte ihn und sprach ihm Trost ein, er war ernstlich erbittert und
weit davon entfernt, auch nur einen Schatten von Schuld an diesem Unheil
bei sich zu suchen. Da wurde er melancholisch, wie gutmütige Leute mit
bösem Gewissen es leicht werden, wenn man ihr Verbrechen auf andere
schiebt.

»Kratzen die Frauen deines Landes auch?« fragte er, da er mein bewiesenes
Verständnis aus meinen Erfahrungen ableitete.

»Und wie, Panja! Sich und andere.«

»Spotte nicht,« bat er, »dies sind ernste Dinge, und wenn ich auf den
Schlaf warte, so muß ich viel darüber nachdenken.« Und er blinzelte in die
Morgensonne, die grünes Feuer im Palmengitter entzündete, und spiegelte
sich dann gedankenvoll in einer runden Kupferkanne, die ihm sein Bild
ähnlich zurückgegeben haben mag, wie die Welt seiner Gedanken in seinem
Kopf aussah.

»Warum heiratest du nicht?« fragte ich ihn. Es war einen Augenblick still.
Das Geschrei der Handelsleute und Ausrufer von der Basarstraße klang zu uns
herüber, und die Zweige im Gebüsch schaukelten unter dem Morgenspaziergang
irgendeines größeren Tiers.

»Vielleicht ein Affe«, meinte Panja. Man sah, er dachte an etwas anderes.
»Gut,« brach er plötzlich eifrig los, »ich heirate, aber was dann? Es ist
nicht verlockend, zu wissen, was einen auf dem Nachtlager erwartet, solange
man jung ist. Zur Liebe gehören die Neugierde und die Gefahr, die erlaubte
Liebe ist wie ein gefangener Vogel.«

Ich beschloß, ein wenig ernster zu werden, und sagte deshalb leichthin:

»Wenn es nur das gäbe, was du jetzt Liebe nennst, Panja, so hättest du
recht, aber es kann vorkommen, daß das Herz sich überall wie ein gefangener
Vogel vorkommt, nur nicht dort, wo eine bestimmte Frau wartet.«

Panja dachte nach. »Es kommt vor, Sahib, aber es geht vorüber.«

»Vielleicht kommt dafür etwas anderes?«

»Was sollte kommen, Sahib?«

»Vielleicht ein Sohn.«

»O Gott,« sagte Panja betroffen, »wer denkt gleich an das Schlimmste!? Aber
auch, wenn ich mich darüber freuen sollte, so kann ich doch nicht an einen
Sohn denken, wenn ich keinen habe.«

»Ist das Vergessen schöner oder die Erinnerung, Panja? Sieh um dich in der
Natur, wohin du willst, und unter den Menschen, immer geht die Liebe mit
der Erinnerung und das Laster mit dem Vergessen. Ist nicht ein Kind die
schönste Erinnerung an die Liebe und der lieblichste Begleiter auf dem Wege
vom Sommer zum Herbst?«

Panja rückte an seinem Turban und kratzte sich umständlich, was immer ein
Beweis war, daß etwas über seine Sinnenwelt hinaus in sein Herz gesunken
war, aber es blieb in der Regel sein einziges Zugeständnis an mich.

»Ich bin kein Brahmine,« sagte er endlich, »warum soll ich also nachdenken?
Du hast nur deshalb schöne Gedanken, Sahib, weil du die Frauen nicht
kennst. Wenn du einmal ein Weib genommen hast, so werden die guten Gedanken
ausbleiben.«

Ich mußte lachen, und Panja triumphierte. Nun war er es, der mich belehrte.

»Vielleicht sind die Frauen deines Landes anders, Sahib, aber
wahrscheinlich ist es mit den Frauen wie mit der Palme, überall in der Welt
ist sie dieselbe. Hast du niemals gemerkt, daß sie im Grunde alle dumm
sind? Du kannst es daran sehen, daß sie sich in gleichem Maße vor einem
Tiger fürchten wie vor einer Maus, denn nicht einmal zwischen diesen beiden
Tieren können sie den Unterschied herausbringen. So kennen sie auch bei den
Männern keine Unterschiede, und als der beste erscheint ihnen immer der,
den sie lieben.«

»Ist das nicht ein Vorzug?«

Aber Panja ließ sich nicht ablenken: »Sagst du etwas recht Dummes, so
reißen sie die Augen auf und strahlen, nur weil es vielleicht auf das
Gleichgültigste der Welt zutrifft; sagst du aber etwas Gescheites, was alle
Klugen bewundern würden, so vergessen sie es sofort, nur, weil sie es nicht
in ihr Haar stecken können. Oh, was kann nicht alles geschehen! Mit der
Zeit wird vielleicht deine Liebe abnehmen, und du kehrst zu vernünftigen
Gedanken zurück, aber dann nimmt die ihre genau in dem Maße zu, wie sie dir
gleichgültig wird. Sie behängt dich mit allem, was sie ausdenkt oder
findet, wie einen wundertätigen Götzen, bis du anfängst, selbst so
Ungeheuerliches von dir zu glauben, daß du ein Gespött der Männer wirst.
Wie aber ist es erst, wenn dein Herz an dem ihren hängen bleibt, und dein
Eifer und deine Mühe machen sie kälter und kälter? Gib du selbst alles, was
du hast, und ohne Rückhalt dich selbst, sofort fängt sie an, nach anderen
Männern Ausschau zu halten. Die Seele solcher Frauen ist wie eine Grube,
die kleiner wird, je mehr man hinzutut, und das Elend in deinem Hause nimmt
kein Ende. Ach, du weißt nicht, wie es selbst den Braven ergeht! Du hast
einmal gesagt, durch Geben wird niemand arm, aber alles, was einem
herzlosen Weib gegeben wird, ist verloren.«

»Das ist vielleicht richtig, Panja,« unterbrach ich seinen Eifer, »aber
nicht alle Frauen sind herzlos.«

»O Sahib, solange du lieben mußt, ist in deinen Augen alles schön, was du
an einer Frau erblickst,« entgegnete Panja überzeugt, »und das Böse an ihr
entfacht nur den Eifer deiner Gunst.«

So fuhr Panja fort, mir noch lange die irdische Misere der Herzen zu
schildern, die lieben, oder die es wollen, ohne es zu können, oder müssen,
ohne es zu wollen. Ich antwortete ihm wenig, aber es wurde mir deutlich,
wie viele Männer unserer Zeit und unseres Landes über eine ähnliche
Betrachtung der Frau niemals hinausgekommen sind. Hatte Panjas Anschauung
auch zweifellos die heitere Beigabe einer kindlichen Auffassung, so lag ihr
doch ein Urteil zugrunde, das mir, im nachdenklichen Sinn bewegt, nur allzu
vertraut war. Wenn ich ihm nur beiläufig widersprach, so bedachte ich bei
meiner Zurückhaltung seine Jugend und die Tatsache, daß die meisten Männer
erst durch die Erfahrung belehrt werden, und daß niemandes Erlebnisse
größer sind als er selbst. Auch dient eine solche oder ähnliche
Betrachtungsart gutmütigen Jünglingen zu einer Vorsicht, die dem Grade
ihrer Widerstandskraft angepaßt sein mag.

Aber im Grunde ist es nicht gut, in solchen Anschauungen allzu lange ein
Kind zu bleiben, und ich habe die Männer selten sonderlich ernst zu nehmen
vermocht, die der Frau die selbständigen Kräfte des Gemüts nur deshalb
absprachen, weil sie anderer Art als die des Mannes sind; denn nur
Oberflächliche rechnen Verborgenes leichtfertig dem Fehlenden zu. Auch
bleibt es hinreichend lächerlich, Eigenschaften der Frau zu tadeln, die wir
nicht genug loben können, solange ihre Wirkung uns selbst zugute kommt. Je
eher das Gemüts- und Geistesleben einer Frau im Zusammenhang mit ihren
Eigenschaften einen Charakter darstellt, um so sicherer wird sie auch ohne
äußere Erfahrung die Wahl treffen, die ihrem Werte entspricht. Dieser Wert
aber wird sich, nach ihrer Entscheidung, nicht in ihrer Fähigkeit zeigen,
die Männer gerecht miteinander vergleichen zu können, sondern in ihrer
Beständigkeit.

So ging mancher Morgen in nachdenklicher Plauderei und gedankenlosem Spiel
mit Nichtigkeiten herum, die Sonne begann uns Irdische dieser gesegneten
Zone langsam wieder an Beständigkeit zu übertreffen, an Treue und Kraft.
Wie es manchen auf der Reise ergehen mag, so verlangte es auch mich, im
Übermaß der sonntäglichen Freiheit, nun oft nach der herben Sicherheit
jener höheren Freiheit im Geist, die uns bei ganzer Anspannung unserer
besten Kräfte vergönnt ist. Aber dies Klima erlaubt unserem Blut nicht den
Ernst unserer Rasse, nicht den Eigensinn zur Tätigkeit, der ihr
eigentümlich ist, und am wenigsten die Neigung zu beständiger Arbeit.
Ungezählte unseres Volkes sind, solange die Geschichte es kennt, den
Verführungen der südlichen Sonne erlegen, fast unvermerkt, unheilbar der
Süßigkeit des tatenlosen Genusses verfallen, und erst nach eingebüßter
Lebenskraft zu jenem Heimweh aufgeschreckt, das im Glanz der weichen Tage
zu einer wollüstigen Wehmut herabgesunken war.

Oft, wenn ich am Meeresstrand unter schattigen Bäumen lag und Traum und
Wille sich im Blau des Himmels und des Wassers schaukelten, gedachte ich
Homers und seines Helden, der, an den Mastbaum seines Schiffes gefesselt,
mit empfänglichen Sinnen, machtlos und zerrissen von Verlangen, an dem
gepriesenen Eiland vorüberfuhr, erkennend und durch den Geist gefeit, vom
Verstand gemeistert, der älter war als sein Verlangen, hingegeben und
beherrscht. Oft beneidete ich ihn, oft bedauerte ich ihn, wie einen, den
die Kälte seines Geistes vom Altar beseligter Hingabe verbannt hat. Aber in
meinen Träumen erschienen mir die singenden Frauen, und ich ahnte unter dem
Glanz ihrer lockenden Leiber die tödliche Kraft ihrer mörderischen Krallen.

Es trieb mich, bei innerer Ruhlosigkeit, äußerlich von einem zum andern,
ich versuchte zu arbeiten, verbrannte aber bald nach den armen Anfängen die
untüchtigen Versuche, die Herrlichkeit um mich her in Worten und Gestalten
zu bannen. Entzündete die Sonne ihr grüngoldenes Morgenfeuer in den
Büschen, die meine Fenster einhüllten, so tauchten meine Sinne in der
Ahnung einer Vollkommenheit unter, die jedes Menschenwerk zu nichtigem und
vergänglichem Tand herabsetzte, es gab nur Befreitheit in andächtiger
Hingabe.

Panja beobachtete mich sorgenvoll, und eines Tages meinte er:

»Sahib, weshalb verbrennst du dein Papier nicht, bevor du es beschreibst?«

Nun, das ärgerte mich. Zu solcher Frage hat ein Diener kein Recht.

»Dummkopf,« sagte ich, »weißt du nicht, daß man Gedanken auf ein Blatt
Papier niederschreiben kann, und daß, wenn beide zugleich verbrannt werden,
der Gedanke als Rauch in die Köpfe von Menschen zieht, die wir von unserer
Meinung überzeugen wollen?«

Panja riß die Augen auf und schwieg andächtig. Er hatte es noch nicht
gewußt. Nach einiger Zeit ertappte ich ihn darüber, daß er im Garten unter
merkwürdigen Sprüngen einen Brief verbrannte, und entfernte mich mit der
Genugtuung, daß enttäuschte Hoffnungen ihn für seine unbotmäßige Frage
strafen würden.

Auch mit den Vertretern der deutschen Mission in Mangalore kam ich flüchtig
in Berührung, es sind tätige und ernste Leute, die in kleinen Industrien
die übergetretenen Eingeborenen beschäftigen und den Geisteskampf mit den
gebildeten Repräsentanten des Hinduismus nur vereinzelt und immer erfolglos
wagen. Es fehlt ihnen an Bildung und Kenntnis und vor allem an Achtung vor
dem Brahman oder der Lehre Buddhas, und der einfältige Glaube, es hier mit
»finsterem Heidentum« zu tun zu haben, ist der beste Weg zur gründlichen
Erfolglosigkeit. Ich habe kuriose Leute unter diesen Missionaren und
Missionsfrauen angetroffen. Was sie einem feineren Anspruch immer wieder
fatal macht, ist ihre bewußte Beschränkung und Ausschließlichkeit in einer
Weltbetrachtung, deren wirkende Kraft unerprobt bleibt. Es ist leicht,
recht zu behalten, wenn man nur sich selbst oder Meinungsgenossen hört, und
das Lächerliche solcher Erscheinungen beruht darauf, daß ihre Einfalt mit
Großartigkeit verbunden ist und ihre Behutsamkeit mit Mangel an Takt.

Ein bezeichnendes Merkmal, woran solche Leute im Fall eines Zweifels bald
zu erkennen sind, ist ihre Fähigkeit, über alle Dinge mitzureden, sie zu
beurteilen oder einzuschätzen, ohne daß sie sich je die Mühe gemacht
hätten, sie auch zu verstehen. Naturgemäß verbindet sich mit einem solchen
Standpunkt der Weltbetrachtung eine besondere Vorliebe für die Kehrseite
der Dinge, die sich überall, wie auch beim Menschen, leichter kenntlich,
übersichtlicher und ohne komplizierten Ausdruck oder vielseitige
Linienführung darbietet. Und so findet man auch in der Regel, daß das
Selbstbewußtsein dieser Menschen sich daran aufzurichten pflegt, daß sie
die Schattenseiten anders gesinnter Brüder oder fernliegender Dinge zuerst,
oder gar ausschließlich entdecken, und da es leichter ist, etwas zu tadeln,
als etwas zu begreifen, so findet dieses Selbstbewußtsein fast stündlich
Nahrung und entwickelt sich auf das prächtigste. Panja meinte einmal,
nachdem wir unsere ersten Bekanntschaften hinter uns hatten:

»Diese Herren sind wie der König von Schamaji, immer herrschen sie, aber
man weiß nicht, warum oder über wen.«

Wahrhaft Bescheidene fordern nicht heimlich den Dank für ihre
Beschaffenheit ein, und es ist immer ein wenig peinlich, wenn Dienstboten
sich deshalb für etwas Besonderes halten, weil ihre Herrschaft etwas Großes
geleistet hat. Trotzdem ist mir ein Beweis inniger Glaubenskraft erbracht
worden, und da ich durch die bezeichnenden Worte, welche ich über diese
Leute vorangeschickt habe, ungern in den verpönten Ruhm kommen möchte, auf
der Bank der Spötter zu sitzen, will ich die Geschichte so folgen lassen,
wie ich sie gehört habe:

In einer Gebetsversammlung dieser kleinen christlichen Gemeinde erhob sich
jüngst eine Missionsfrau, die aus den dunkleren Provinzen des im übrigen so
gesegneten Königreichs Württemberg stammte und die in ihrer Beziehung zur
Einfalt in der Gottesfurcht etwas geradezu Außerordentliches leistete. Sie
sagte nach kurzem Gebet, das in solchen Versammlungen laut und allgemein
verrichtet zu werden pflegt, daß es Gott dem Herrn in seinem
unerforschlichen Ratschluß gefallen habe, ihre neben ihr sitzende, bereits
erwachsene Tochter Helene mit einem Bandwurm zu schlagen. Darauf forderte
sie die Gemeinde in bekümmertem Werben von geneigter Stirn inständig auf,
Gott mit ihr und ihrem Kinde gemeinsam um das Ausscheiden des unangenehmen
Parasiten anzuflehen. Ihrem Ersuchen wurde bereitwillig stattgegeben, und
Männer und Frauen der Versammlung beschäftigten sich eine angemessene
Zeitlang vor Gottes Augen in inniger Fürbitte mit dem Bandwurm der jungen
Dame und mit der Laufbahn, welche für die Zukunft dieses merkwürdigen Tiers
erhofft wurde.

Am Schluß der Versammlung erklärte eine freundliche Beisitzerin im Saale,
daß sich in ihren Privatbeständen ein wirkungsvolles Mittel befände, dem
auch ein energischer Bandwurm nicht zu widerstehen in der Lage sei, und
dieses Medikament wurde mit Dank angenommen. Schon in der nächsten
Zusammenkunft konnte die Mutter der aufhorchenden Gemeinde die Mitteilung
machen, auf wie wunderbare Art die Kraft der gemeinsamen Fürbitte bei ihrer
Tochter gewirkt habe. Sie erzählte mit bewegter Stimme den Versammelten,
daß der Bandwurm gekommen sei, augenscheinlich im bereits entschlafenen
Zustande, daß sich aber ein großer Frieden in seinen Zügen ausgedrückt
habe. --

Daß Gottes Hand sichtbar über dem Wohlergehen dieser opferfreudigen Leute
waltet, geht auch aus einer anderen, nicht weniger eigenartigen Geschichte
hervor, die mir in Mangalore von einem sehr erfahrenen und im Heidendienst
erprobten Manne erzählt worden ist. Als sich dieser Herr zu Beginn seiner
Laufbahn an einem schönen Abend auf der Veranda seines Hauses aufhielt,
erblickte er plötzlich einen Tiger, der die Treppe vom Garten emporkam.
Gott gab dem bestürzten Manne jedoch rechtzeitig einen guten Gedanken ein,
der zur Errettung führte. Auf der Terrasse stand zum Glück, von der letzten
Kinderlehre im Freien her, noch das Harmonium, ein besonders in
pietistischen Glaubenskreisen recht beliebtes Erbauungsinstrument, das auch
in indischen Missionen hier und da Verwendung findet, obgleich es den
Einwirkungen des Klimas nur selten zu widerstehen vermag. Auf dieses
Instrument stürzte sich der beklommene Mann und begann, in zuversichtlichem
Glauben an seine Aussichten, den bekannten schönen Choral zu spielen:

  Wie soll ich dich empfangen
  Und wie begegn' ich dir?

Der Tiger soll sich sofort entfernt haben, um den Schutz der Wildnis
aufzusuchen.

                  *       *       *       *       *

Eines Nachmittags, als ein Händler aus Kaschmir seine bunten Messingvasen
und Stickereien auf meiner Veranda zur Schau ausbreitete, kam ein Bote aus
der Stadt und blieb nach Art der eingeborenen Diener bescheiden am Aufgang
zur Treppe stehen, eine Anrede erwartend. Es kamen zu vielerlei kleine
Nachrichten für Panja oder den Koch, als daß ich den Fremden sonderlich
beachtete, er räusperte sich nach einer Weile dezent, und als ich
hinübersah, legte er die Hand an die Stirn und verneigte sich zum zweiten
Male. So ging es mich an, und ich winkte ihm.

»Du kommst mir gelegen,« sagte ich, »wie viel Wert hat nach deiner Meinung
dieser mit Gold bemalte Vorhang, du bist unparteiisch, sag' es mir.«

Der Fremde prüfte das Tuch und die Arbeit aufmerksam, mir schien aber, als
besänne er sich dabei auf einen Ausweg, zugleich meiner und der Forderung
des Händlers gerecht zu werden. Dann sagte er:

»Ich kenne den Wert dieser Arbeiten nicht genau, aber ich kenne Dewan
Chundar, den Kaufmann, der dich bedient, und weiß, daß er gerecht und
vorsichtig ist.«

»Wenn er es nicht wäre, so könnte er es von dir lernen«, sagte ich. Die
Antwort gefiel mir, und ich betrachtete den Ankömmling genauer. Seine
Gewandung war sorgfältig und gut und ohne Anlehnung an die europäische
Kleidung, der rote Turban war aus Seide, das weiße Hüftentuch breit gelegt,
und es reichte, wie eine weite Pumphose, bis an die Knie, ein kurzes
Jäckchen aus dunklem Tuch, wie es die Perser in Bombay tragen, verhüllte
Brust und Arme.

»Und du selbst? Was führt dich zu mir?«

»Mein Herr bittet dich, ihn morgen um diese Stunde zu erwarten, er dankt
dem fremden Sahib für seine Bitte.«

»Du dienst dem Brahminen Mangesche Rao?«

»Mein Herr ist Bahadur Mangesche Rao.«

Der stille Sklave erhielt eine Silberrupie, mein Herz schlug vor freudiger
Überraschung. Eigentlich ohne rechte Hoffnung auf den Erfolg meiner Mühe
war ich dem Rat des Kollektors gefolgt und hatte den Brahminen in einem
Brief angegangen, ob er willens sei, mir Unterricht im Sanskrit und in der
Geschichte seines Landes zu geben. Mir war in den letzten Wochen zumut
gewesen, als müßte ich mir durch meine leichtfertigen Umtriebe in der Stadt
das Vertrauen dieses ernsten Politikers und Diplomaten verscherzt haben,
denn ich fiel auf, da ich mich sowohl anders als die Engländer benahm, als
auch die Gebräuche der Missionare nicht eben zum Vorbild wählte. Sonst gab
es wenig Europäer in Mangalore. Panja hatte mir allerlei Lustiges über die
Bilder berichtet, die man sich im Volk von mir machte, ich galt hier als
verkappter Spion der englischen Regierung, dort als Perlenhändler und im
niedern Volk als Zauberer, weil ich einmal mit einem Taschenkünstler in
Konkurrenz getreten war, der noch niemals ein Spiel französischer Karten
gesehen hatte und von der Volte so wenig verstand, wie ich vom
Schlangenbändigen.

Nun, es erschien, als habe der Brahmine weiter nicht Anstoß an meinem Ruf
genommen. Der Händler erhielt den geforderten Preis und benutzte den Rest
des Tages zum gemächlichen Einpacken seiner Schätze, offenbar hatte das
Geschäft, das er mit mir gemacht hatte, ihm ermöglicht, sich für einige
Wochen ins Privatleben zurückzuziehen. Ich rief nach Panja.

»Ich weiß schon,« sagte er kalt, »du ziehst Verbrecher ins Haus. In kurzer
Zeit werden wir alle drei gehängt werden.«

»Woher weißt du denn, wer kommt?«

»Du hast es mir ja selbst gesagt, Sahib.«

Ich war überzeugt, es nicht getan zu haben, konnte aber nicht für mich
bürgen. Die Tatsache, mich bis ins kleinste beobachtet zu finden,
überraschte mich immer wieder, aber Neugierde ist die heiligste Pflicht
eines indischen Dieners, und es erscheint einem oft, als stünden
Todesstrafen auf Verschwiegenheit. Sicher war, daß Panja diesem Besuch
ungern entgegensah, er häufte alles an Schmähungen und Verdächtigungen an,
was er aus einem zweitausendjährigen Ruf dieser Kaste nur immer in
Erfahrung gebracht hatte. Trotzdem gewahrte ich deutlich eine Scheu, jene
alte Achtung, die allen Kasten den Brahminen gegenüber eigentümlich ist,
und die kein Haß und keine Furcht verdrängt haben.

Mangesche Rao kam am nächsten Tage mit großer Pünktlichkeit genau zur
angegebenen Stunde. Er ritt durch das Gartentor ein, bis dicht vor die
Holztreppe der Veranda. Der Diener, der sein Pferd am Zügel führte, diesmal
ein anderer, meldete seinen Herrn durch einen gedämpften Zuruf an, der mir
in seiner seltsamen Feierlichkeit und seinem eindringlichen Pathos
unauslöschlich im Gedächtnis geblieben ist. Panja erschien, ernst und
würdevoll.

Der Brahmine schritt die Treppe erst empor, als ich ihm in der Tür
entgegentrat, er reichte mir nach europäischer Sitte die Hand, das einzige,
was mich außer seiner Erscheinung in seinen Gewohnheiten an seine Kaste
mahnte, war die eigentümliche rituale Vorsicht, mit der er seine Schuhe an
der Schwelle der Tür ablegte, um das fremde Haus mit nackten Füßen zu
betreten. Er bückte sich dabei nicht, die safranroten sandalenartigen
Schuhe blieben zurück, wie durch einen Zauberspruch von den Füßen gelöst.

Wahrscheinlich wird mein Gast sich keine Vorstellung von dem Eindruck
gemacht haben, den seine Erscheinung von den ersten Augenblicken an auf
mich machte. So groß das Selbstbewußtsein eines Menschen sein mag, der sich
seines Werts bewußt ist, immer wird ihn vom unbedingten Glauben seiner
Wirkung die Erkenntnis abhalten, daß ein anderer nur so viel würdigen kann,
als er beansprucht, und in dieser Hinsicht lag für den Brahminen gewiß kein
Grund vor, von mir ein besonderes Erfassen seiner Vorzüge anzunehmen. Ich
war überrascht, wie jung er wirkte, als ich sein Alter erfuhr. Nicht allein
sein sorgfältig rasiertes und sehr schmales Gesicht ließ darüber in
Zweifel, sondern vor allem seine ungewöhnlich schlanke Gestalt und die
Anmut seiner Bewegung, die allerdings weit von jeder Gefallsucht entfernt
war. Als seine Augen, dunkel aus dem hellen Braun des Gesichts, unter dem
gelben Seidenturban hervor, zum ersten Male in die meinen sahen, erfaßte
mich wie ein Taumel von Begierde, Befriedigung und Stolz eine Ahnung vom
Geist der Jahrtausende, die ihrem späten Sohn den Glanz ihrer Kultur wie
einen Kranz um die Schläfen gelegt zu haben schienen. Etwas vom Zauber
jener Träume meiner Jugend, die unter dem Namen Indien in mir erwacht
waren, beglückte mich, und mir erschien, als stünde ich erst heute
wahrhaft vor den Toren seiner Geheimnisse.

Die fremden Augen sahen mich bei den ersten Worten unserer Unterhaltung an,
als läge dem Sinn dieses Mannes nichts so fern, als mich zu prüfen. Es ist
das erstemal gewesen, daß diese Bescheidenheit der Überlegenheit mir
wohltat, ich begriff, wie viel Unsicherheit, wie viel Abwehr und falsche
Besorgnis in jenem Prüfen liegt, mit dem wir in den meisten Fällen einer
neuen Bekanntschaft beginnen oder empfangen werden. Diese Unbeteiligtheit
der Augen wirkte höflich und verbreitete eine Gelassenheit, als gäbe es in
der Welt nichts Natürlicheres, als unsere Zusammenkunft. Ich dachte an die
Erzählung des Kollektors und mußte über seinen Eifer lächeln, mit dem er
sich bemüht hatte, mir ein Bild dieses Mannes zu entwerfen, ich begriff, wo
die Besorgnis des Engländers ihren Ursprung hatte, und war über nichts so
glücklich, als daß kein politisches Interesse den Brahminen und mich
zusammengeführt hatte.

So mag es gekommen sein, daß ich ohne Rückhalt, ohne kleinliche Vorsicht
und in heiterer Offenheit zu diesem Manne sprach, und er schien rasch zu
bemerken, daß ich nichts zu verlieren fürchtete, als seine persönliche
Achtung. Es war erstaunlich, wie richtig er aus den Äußerungen meines
Temperaments auf meine Gesinnung schloß. Offenbar hatte er, ohne falsch
oder auch nur vorsichtig zu erscheinen, schon nach der ersten halben Stunde
unserer Unterhaltung eine ganze Reihe heimlicher Prüfungen vorgenommen,
deren Resultat den Rest seiner Befürchtungen zerstreute. Wir sprachen von
der englischen Regierung, er lobte ihre Umsicht, die Rede kam auf die
deutsche Mission und Mangesche Rao sagte, höflich gegen mich, als den
Landsmann ihrer Vertreter, das Beste über diese Leute, was sich über sie
sagen ließ.

Ich war jung genug, nicht ohne weiteres zu dulden, daß ich mit diesen
Propheten der heiligen Einfalt zusammen das Deutsche Reich in Indien
repräsentieren sollte, und sagte:

»Die Leute sind einfältig.«

»Das schließt ihre Aufrichtigkeit nicht aus«, meinte Mangesche Rao, doch
ich konnte mich nicht enthalten, hinzuzufügen:

»Sie müssen Ihnen wenig schaden, da Sie so nachsichtig sind.«

Mangesche Rao lächelte, meine Unvorsichtigkeit schien ihm wohlzutun, und so
bemerkte er leichthin:

»Wir begegnen einander nur auf Gebieten, die wir ihnen überlassen.«

Seine Meinung über die Jesuiten unterschied sich wesentlich von der über
die protestantische Mission, und aus den Ansprüchen, die er durch die
Wirksamkeit und Eigenart dieses Ordens befriedigt sah, merkte ich rasch,
wie wenig ihm alles galt, was nicht im Geistigen zu suchen war.

Aus keiner Einzelheit, die unsere Unterhaltung berührte, war bisher zu
entnehmen, daß mein Gast sich auch nur beiläufig um Politik bekümmerte, ja
auch nur das kleinste Interesse am Ergehen des Landes, an seiner
wirtschaftlichen oder sozialen Lage nahm. Ich war vorübergehend in Zweifel,
ob sich der Kollektor nicht mit seiner Annahme im Irrtum befand und die
Unschuld seines vermeintlichen Gegners für höchste Verstellungskunst
gehalten hatte.

Die Sonne trieb ihr buntes Spiel im ruhigen Raum, der Besuch saß im
gedämpften Licht, und sein Anblick erfüllte mich mit der stolzen Freude des
Gastgebers einem ungewöhnlichen Fremden gegenüber. Der blaue Vorhang, den
ich am Tage vorher erstanden hatte, schmückte die Wand meines Zimmers als
Hintergrund, und die Schultern, das glänzende schwarze Haar und das
gedämpfte Seidengelb vom Turban Mangesche Raos hoben sich unwirklich und
fremdartig davon ab, mir erschien der Anblick zuweilen wie ein Bild aus der
Märchenwelt von TausendundeineNacht. Panja, lautlos und vorsichtig, brachte
Tee und Tabak, ich war nicht wenig darüber erstaunt, als ich sah, wie tief
und feierlich er den Brahminen begrüßte, der durch einen Blick dankte, ohne
auch nur die Stirn zu neigen.

Es schien dem Gast nach einer Weile in Frage und Antwort doch zu hastig zu
gehen. Die vornehmen Inder verkehren mit den Europäern in außerordentlich
gesetzter Weise und haben sich in ihrem Umgang mit den Herren ihres Landes
daran gewöhnt, das Wort als ein Mittel zu betrachten, um die Gedanken zu
verbergen. Diese Kunst haben sie gewiß nicht erst in ihren Kämpfen mit den
mohammedanischen oder englischen Eroberern gelernt, aber sie sind zu oft
getäuscht worden, um nicht mißtrauisch zu sein, bis zur Verstecktheit. Wie
ich Mangesche Rao später kennen lernte, lag seiner Natur der Freimut näher
als die Verstellung, aber zu Beginn unserer Bekanntschaft prüfte er meine
Äußerungen wieder und wieder darauf hin, was sie hinter ihrem Wortlaut
bedeuten möchten, oder was darüber hinaus. Das ließ ihn oft zögern oder
schweigen, und ich erkannte bald, daß mein bestes Mittel, ihn rascher zu
Vertrauen zu gewinnen, sicherlich eine gewisse Gleichgültigkeit gegen jede
Vorsicht war. Aber welcher Vorsichtige erwägt nicht, selbst vor der
arglosen Gebärde einer Preisgabe, die Möglichkeit eines Mittels zu
verborgenem Zweck? Mangesche Rao wählte geschickt einen Weg, der ihm
Gelegenheit zu beiläufigem Beobachten und Schweigen gab, er nahm vom
Nebentisch ein Schachbrett und begann, wie in Gedanken und scheinbar
unbeteiligt, die Figuren zu ordnen.

Das Spiel, das sich alsbald zwischen uns ergab, war sehr erheiternd für
mich, aber es dauerte nur kurze Zeit. Der Brahmine sagte mir nach dem
vierten Zuge, den ich machte, mit höflichem Bedauern mein unvermeidliches
Geschick voraus und fragte mich, auf welchem Feld des Bretts mein König am
liebsten seinen Untergang erlebte. Ich gab es an, und der hölzerne Fürst
rutschte, eine Weile von eigenen und fremden Kriegern bedrängt, wie ein
gescholtener Kuli hin und her, bis er seine unrühmliche Herrschaft, von
einem feindlichen Bauern aus dem Hinterhalt überfallen, auf jenem Felde
aufgab, das ich bestimmt hatte.

»Dem geht es ähnlich unter Ihrem Verstand wie dem englischen Kollektor«,
sagte ich und lachte.

Ohne Besinnen antwortete mir Mangesche Rao:

»Überschätzen Sie die kleine Arbeit nicht, die dem Beamten zu schaffen
macht, ich hoffe, das alles einmal wirkungsvoller zu sagen.«

»Also Sie haben es geschrieben und geben es ohne weiteres zu?«

»Was ich unter vier Augen zugebe, kann ich unter sechs ohne Mühe
widerrufen. Aber glauben Sie, daß mir von einer Regierung Gefahr droht, die
nicht den Mut hat, unumwunden zu fragen, aus Furcht eine Antwort zu
erhalten, die sie zu einem Eingriff zwänge? Mich schützt nicht meine
Geschicklichkeit, sie war zur Hälfte Nachsicht gegen die Persönlichkeit
dessen, der sie nicht zu übertreffen vermochte; was mich schützt, sind die
Macht und der Wille der Gleichgesinnten im Reich.«

»So wissen Sie auch, daß ich zuweilen ein Gast des Kollektors war?« fragte
ich, aufs höchste angeregt.

Mangesche Rao nickte. »Es ist leichter für uns, in Mangalore einen Europäer
zu beobachten, als umgekehrt. Zu Anfang habe ich den Gedanken erwogen, Sie
möchten mich im Interesse der englischen Regierung zu sich geladen haben,
deshalb bin ich gekommen. Aber dieser Gedanke war falsch.«

»Was bürgt Ihnen dafür?«

»Ihr Bemühen, arglos zu erscheinen,« sagte der Brahmine und lächelte, »auf
diese Art versuchen es nur Leute, die es sind.«

Ich lachte, und da er ernst blieb, fragte ich:

»Und wenn ich nun, Ihrer Meinung zum Trotz, vielleicht nur aus
gleichgültigem Unterhaltungsbedürfnis, dem Kollektor Ihr Geständnis
erzählte?«

»Sie würden sich weder Dank erwerben, noch Schaden tun«, meinte der
Brahmine, ohne ein Anzeichen von besonderem Interesse. »Es ist niemandem
wichtig, Dinge zum zehnten Mal zu hören, die er weiß.«

Der Tag verlief damit, daß ich Mangesche Rao meine in seinem Lande
verbrachten Tage von Anfang bis zu Ende erzählte. Ich sprach nicht nur von
Ereignissen, sondern auch von den Empfindungen, welche mich bewogen hatten,
sie zu suchen. Er hörte mir mit ruhigen Augen zu, warf hier und da eine
Frage ein, die mir sein Verständnis erwies und mich zu immer größerem
Freimut bewegte. So gestand ich ihm endlich auch den Grund ein, aus welchem
ich ihn gebeten hatte mein Haus aufzusuchen, und seine Freude war nicht
ohne Stolz, als er mir auf seine vornehme Art versicherte, das Beste seines
geistigen Eigentums sei so weit das meine, als ich Verlangen danach trüge.

»Ich begreife den Geist, der Sie in die Welt hinaustreibt,« sagte er zum
Abschied zu mir. »Immer erfaßt bei allen Völkern Einzelne diese
Rastlosigkeit, sie finden nirgend Ruhe und mischen die Welt. Mit ihnen
gehen Segen oder Unsegen, und diese entstehen nach dem Maße des Werts
solcher Menschen. Die Einen treibt ihre ungebändigte Fülle hinaus, die
Anderen ihre Leere. Die letzteren glauben bereichert zurückzukehren, aber
sie lassen überall nur Unordnung und Verwirrung zurück, auch bringen sie
in Wahrheit nichts heim, denn in leeren Köpfen ist am wenigsten Platz. Die
Reichen aber geben, indem sie suchen, und der Notstand ihrer Wanderung
gereicht oft denen zum Nutzen, die ihnen begegnen.«




Dreizehntes Kapitel

Das letzte Feuer und der alte Geist


Es war damals noch die Zeit des »Prabuddha Bhârata«, des erwachten Indiens.
Die Ausläufer des großen Geistesstromes hatten weit über das Land hin die
Gemüter zu neuem Glauben an eine Einigung der Völker unter dem Licht der
urväterlichen Religion befruchtet. Die Wirkung Brahma-Samajs, der die
Veden, besonders aber die Upanishads im Sinn eines geklärten Theismus
auslegte, hatte über die Finsternis des Götzendienstes und Aberglaubens
hin, den Versuch einer sozialen Reform hervorzurufen, die mit Raghunatha
Rao einsetzte und sich in eigensinnigen Kämpfen zuerst gegen den
Kastengeist wandte. Der Name Swâmi Vivekânandas klang wie ein heller
Weckruf durch das schlafende, unterdrückte Land, aber die schwelende Flamme
dieser neuen Wahrheit schlug niemals zum vollen Glauben an die Freiheit
empor.

Es folgten diesen Propheten der Erhebung andere. Die verschiedenen
Richtungen der Auffassung zerteilten ihre Anhänger zu Parteien, und was im
Sinn einer Einigung zu einer neubelebten Landesreligion begonnen hatte,
artete in Parteigezänk aus, und als gar europäische Agitatoren sich der
großen Sache annahmen, wuchs das Mißtrauen der Menge. Der Gedankenstrom
geriet hier in buddhistische Geistesbahnen, dort in den Einfluß
christlicher Ideen, und die englische Politik, sich dessen wohl bewußt, daß
die Macht ihrer Einigkeit von der Zersplitterung der feindlichen Parteien
abhing, verwertete die verschiedenen Regungen geschickt zu ihrem Vorteil
und spielte sie gegeneinander aus.

Dadurch ergab sich naturgemäß, daß die zu Beginn dem Aufbau einer erneuten
Landeskirche zugedachten Reformen mehr und mehr ein politisches Gepräge
bekamen, die fanatischsten Anhänger der erneuten Religion sahen in ihr
bald ein Mittel zur Befreiung des Landes von der englischen Herrschaft, und
mit diesem Umschwung war das Herz der Sache tödlich verwundet, und ihre
Kraft versickerte im Vielerlei einer von Tendenz und Leidenschaft erfüllten
nationalen Bestrebung.

Ich erfuhr von diesen Dingen zum ersten Mal durch den Brahminen Mangesche
Rao, dessen aufrichtiger Glaube an die Möglichkeit eines geeinten Indiens
mich hinriß, wie auch sein Haß gegen England, welche beide im Verlauf
unserer Beziehung immer unverhohlener zutage traten. Ich gewann Mangesche
Raos Vertrauen in dem Maße, als er an meine Anteilnahme glauben lernte, und
wenn er auch, mehr einem Prinzip als eben einer Befürchtung folgend, alle
praktischen Einzelheiten vor mir geheimhielt, so gewann ich doch bald einen
allgemeinen Einblick in das Interessengebiet des politisch kämpfenden
Indiens.

Er setzte voraus, daß seine Ideen mir wertvoller waren, als seine Mittel,
sie zu realisieren, und überließ mir den Schluß vom Gedanken auf die
Möglichkeiten zur Tat. Die Liebe zu seinem Lande begeisterte mich, seine
Hoffnung war heiß und jugendlicher Art und stand in einem seltsamen
Gegensatz zur Gelassenheit und Beherrschung des Wesens, die er zur Schau
trug. Ich lernte ihn um der glühenden Hingabe willen lieben, in welcher er
sich einer Sache opferte, deren Bedeutung und Aussichten ich damals nicht
zu übersehen in der Lage war. Sicher ist, daß ich leicht bei meiner raschen
Anteilnahme in Dinge hätte verwickelt werden können, die mir verhängnisvoll
geworden wären.

Aber was der Brahmine aus seiner reichen Welt großer Ideen in einen
politischen Kampf hinübernahm, hing so eng mit seiner Jugend zusammen, wie
sein Eifer mit seiner Hoffnung. Im Grunde war er so wenig Politiker, wie
die Fragen nach Mein und Dein ihn lange in ihrem zänkischen Bereich hätten
fesseln können. Die priesterliche Tradition seines Stammes, die tief in
seinem Blute lebte, zog ihn immer wieder in ihre beschauliche Stille
zurück, und im Grunde lockte die Erkenntnis ihn mächtiger, als der Kampf um
den äußeren Glanz der Welt.

Die Bekanntschaft und mein immer mehr zunehmender Umgang mit ihm
veränderten meine Lebensweise und meine Betrachtungsart der Welt, die mich
umgab. Ich strich nun oft allein und nachdenklich durch den belebten Basar
und am Dunkel der Tempeleingänge vorüber, deren gelbe Messingplatten am
alten, von unzähligen Händen und Füßen dunkelpolierten Holz, geheimnisvoll
aufblinkten, wie die Riegel zu Höhlen voll ungeahnter Wunder. Ich achtete
mit neuem Verständnis auf die vielerlei Abzeichen auf den Stirnen der
Inder, die bald mit Ruß oder Asche, bald mit Henna gemalt waren, und
lernte die Kasten voneinander unterscheiden.

Wenn die Trommeln und Pfeifen und der wahrsagerische Gong im Dämmern der
Tempelhöfe erklangen, kamen mir die Worte Mangesche Raos über den Sinn der
einzelnen Zeremonien neu belebt ins Gedächtnis, und gemeinsam mit seiner
Hoffnung erwachte der Wunsch in mir, der alte Geist möchte sich einst von
den Schlacken dieser heidnischen Entstellungen zu seiner ehemaligen
Freiheit erlösen.

Einmal waren wir weit über die Stadt hinaus am Meer dahingeschritten, unter
der geraden Palmenallee, und ich sah die nackten Hindus, braun im
Sonnenlicht glänzend, im flachen Wasser fischen, unser Gespräch war bald,
wie schon so oft, von weltlichen Dingen der Politik auf religiöse Fragen
gekommen, und vielleicht in der Hoffnung, einmal klar und bestimmt den Sinn
des Hinduismus zu erfassen, fragte ich Mangesche Rao:

»Was ist das Brahman? Ich höre Gedanken von tiefem Sinn, Weisheit voller
Schönheiten, Erlösungsgedanken voll hellen Befreiungsglaubens, aber über
dem Begriff des Brahman selbst schwebt ein mystisches Dunkel.«

Da antwortete mir der Brahmine:

»Das Wesen des Göttlichen kann ein Herz nur empfinden, aber ich will Ihnen
so antworten, wie die ältesten Priester der Veden es gedeutet haben. Nach
ihnen ist das Brahman das Licht des Geistes und die Seligkeit ohne Leid.
Das Brahman ist die Freude, das uranfängliche Wissen, eine unterschiedslose
Masse von Erkenntnis, aus Seligkeit bestehend, zugängig durch das
Bewußtsein, mit höchster Einsicht ausgestattet.«

Wie nah lag nach dieser herrlichen Darlegung die Frage nach der
Möglichkeit, auf die ein Herz dieses Heils teilhaftig werden könnte.
Mangesche Rao dachte eine Weile nach, dann sagte er:

»Ich will Ihnen eins der Distichen aus dem Atmabodha nennen, das vielleicht
Ihre Frage nicht so beantwortet, wie sie gestellt ist, das aber die rechte
Entgegnung auf eine recht gefaßte Frage wäre:

  Der Fromme, der des rechten Wissens kundig,
  erschaut es mit dem Auge der Erkenntnis,
  daß in ihm selbst beruht das ganze Weltall,
  und daß er selbst das Eine ist und alles.
  Wie eine Eisenkugel, die durchglüht ist
  vom Feuer, so durchdringt das Brahman
  das ganze All im Innern und von außen
  mit seinem Licht, indem es selbst erstrahlt.«

Er sprach leise und feierlich. Mir war, als erinnere sich ein
tausendjähriges Geisterreich seines versinkenden Lichts, und zum ersten Mal
überkam mich mit dunkler Gewalt die Trauer um das verlorene Indien. Ich
begriff in heimlicher Beängstigung die Vergeblichkeit des Kampfes, in
welchen dieser Mann neben mir, wie in sein Schicksal, verstrickt war, und
mein Verlangen schwankte unruhig zwischen dem Wert der alten und der neuen
Welt. Mangesche Rao schien meine Gedanken zu ahnen, denn nach einer Weile
des Schweigens meinte er in leichterem, fast geschäftigem Tone:

»Es ist niederdrückend, erkennen zu müssen, daß alles, was wir unter großen
Opfern zur Wohlfahrt des geknechteten Volks errungen haben, immer wieder
zum Anlaß seines Mißtrauens wird. Als ich mich entschloß, die Hochschule in
Madras zu besuchen, wurde ich aus der Gemeinschaft meiner Kaste
ausgestoßen, und als ich mit Erfolg um eine einflußreiche Stellung unter
den Feinden rang, verlor ich das letzte Zutrauen im engsten Kreis meiner
Freunde. Und doch haben wir Inder keinen anderen Weg, den Kampf mit England
aufzunehmen. Heute unterdrückt in Indien noch die politische Macht die
Freiheit des Geistes, aber es wird bald so weit kommen, daß auch hier, wie
überall in der Welt, der Geist die Herrschaft antritt. Damit wird Englands
Niedergang in Indien beginnen. Die Einsichtigen wissen es, und es beginnt
bereits eine starke Strömung, die uns die eingeräumten Rechte wieder zu
schmälern sucht, denn England fühlt, wo es uns gewachsen ist und wo nicht.
Aber wie bitter ist es, in solchem Kampf erfahren zu müssen, daß unsere
eigenen Landsleute, deren Wohl unsere Mühe gilt, sich gegen uns wenden.«

Ich habe später oft an diese Worte denken müssen, als das Geschick meines
Freundes sich erfüllt hatte, ich erinnerte mich ihrer, wie einer
ausgesprochenen Ahnung seines Verhängnisses.

Zwischen den Palmen glitzerte das farbige Meer. Wir kamen an den
Verbrennungsstätten für die Toten vorüber. Ein Holzstoß war für den
hereinbrechenden Abend geschichtet, und der Tote lag, mit kunstvoll
gebrochenen Gliedern, fast rechteckig gefügt, nackt auf dem kleinen
Scheiterhaufen. Zahllose Aschenstätten umher verrieten die Feiern der
vergangenen Tage, und plötzlich erinnerte ich mich jenes merkwürdig
quälenden Brandgeruchs an manchen Abenden. Im Qualm des verbrannten
Fleisches stiegen die Seelen ins Nirwana empor. Ich sah Mangesche Rao an.
Hinter dieser ruhigen Stirn brannte die furchtbare Hoffnung, daß bald der
Aufstand durch die Gassen heulen würde.

Ein aussätziger Bettler kroch auf allen Vieren über den roten Weg auf uns
zu, er hatte sich im Dickicht verborgen gehalten, um den Steinen seiner
Verfolger zu entgehen, nun bellte er heiser und drehte den Kopf mit den
zerstörten Wangen, wie vom Irrsinn seiner Qual genarrt. Am Strand hatten
die Raben sich gesammelt, ihr Geschrei beunruhigte die sonnentrunkene
Stille. Ich sah fort, als ich den von allem Fleisch entblößten Brustkorb
eines Menschen erkannte.

»Die Pest und die Blattern haben ihren Einzug gehalten«, sagte Mangesche
Rao. Er sprach auf dem Rückweg kein Wort mehr. Vielleicht war ihm, wie auch
mir, bedrohlich durch den Sinn gezogen, wie vielerlei Feinde sein Land
belagerten und zersetzten, Feinde, gegen die kein Kampf von Nutzen war. Es
waren jene Opfer des Lebendigen, die sich mit dem Alter und der Müdigkeit
eines Volkes einstellen, der Verfall der Sitte, das Laster, das Elend und
die schleichenden Seuchen. --

                  *       *       *       *       *

Panja hielt es immer noch für nötig, mich zu warnen, und vom Standpunkt
seiner Betrachtungsweise hatte er recht. Ich beruhigte ihn nach Kräften,
obgleich seine Besorgnisse in diesem Fall eher seiner Eifersucht, als
seiner Fürsorge entstammen mochten.

»Die Engländer fürchten meinen Freund, Panja. Das Schlimmste, was ihm
geschehen kann, wird seine Verbannung sein, und wenn auch mich dies Unheil
träfe, so käme es nur mit meinen Absichten zusammen, und wir führen
vielleicht auf Staatskosten nach Bombay statt auf eigene.«

Panja wandte sich ohne Erregung, fast traurig ab.

»Du kennst das Land nicht, Herr. Wer spricht von einer Gefahr, die dir oder
dem Brahminen von England drohen könnte? Weißt du nicht, daß Mangesche Rao
unter den Priestern seiner Kaste so verhaßt ist, wie die Hyäne unter den
Schakalen? Ihre Waffen ersticken den Schrei im Halse, unter dem
Palmendickicht ist Finsternis, in die kein Richter schaut. Man sagt von der
Kobra, daß man sie erst erblickt, nachdem der Tod einem die Augen geöffnet
hat, und die Kaste dieser Priesterlichen nennt diese Schlange heilig.«

»Was meinst du denn, Panja?«

Ich fragte angeregt, denn wenn dieser merkwürdige und kindliche Freund
meiner indischen Tage nicht in Eifer geriet, so war ihm sicherlich zu
glauben. Ich wußte längst, daß sein anfänglicher Haß gegen Mangesche Rao
sich in heimliche Neigung verkehrt hatte, eine Wandlung, die seine
Eifersucht nicht ausschloß, die mich aber aufmerksamer auf seine
Besorgnisse machte.

»Ich weiß es nicht,« antwortete er, »warum aber begibst du dich in Gefahr?
Wer würde dich schützen? Einem Engländer darfst du nur so lange trauen, wie
du ihm Vorteile bietest, und wenn du mit seinen Feinden umgehst, kann er
dich nicht für seinen Freund halten. Mangesche Rao steht in der Mitte, die
keinen Halt gewährt, sowohl die Priester als auch die Regierung halten ihn
für einen Verräter, denn im Kampf um das Land schaut niemand eines Menschen
Herz an, wie du es tust.«

»Panja, die Freuden des Daseins, welche sich allen ohne Gefahr bieten, sind
mir gleichgültig. Was ich empfange, ist meinen geringen Einsatz wert.«

»Ich spreche nicht so, weil ich dich verlassen will«, antwortete Panja
einfach. Ich hatte ihn lange nicht mehr so ernst gesehen, und nachdenklich
erwog ich meine Lage.

                  *       *       *       *       *

Mangesche Rao kam in den letzten Wochen seltener. Es lag eine aufreibende
Spannung in der Luft, die um so drückender wirkte, als sich ihre Ursache
beharrlich verbarg, aber die Stimmung meines neuen Freundes schlug in
Stunden unseres Beisammenseins oft in heitere Unbefangenheit um. Er vergaß
über unseren vielerlei Gesprächen die verantwortungsvollen Lasten, die
seine freiwillige Pflicht ihm auflud. Eines Abends brachte sein Diener, der
ihn begleitete, das Fell eines siamesischen Panthers mit, das mir Mangesche
Rao zum Geschenk machte. Er wollte, daß ich ein Andenken von ihm annehmen
sollte, und mir war für einen Augenblick, als handelte es sich um einen
Abschied. Meine Augen ruhten den Abend hindurch oft auf dem tiefen Schwarz
des herrlichen Fells, mit tausend Erinnerungen an die Wildnis stieg der
Gedanke an die Nacht in meiner Seele empor, an die Nacht Indiens und an die
Herrschaft des Tiers.

An jenem Abend, wir hatten uns zur Nachtstunde auf die Veranda begeben, kam
unser Gespräch auf die Weltliteratur und ihre größten Vertreter. Eine
bewegte Wolke geflügelten Nachtvolks sammelte sich im Schein der Lampe, und
bald sah die Tischplatte wie ein Schlachtfeld nach einem wilden Treffen
aus. Die geheimnisvolle Nacht erklang im tropischen Liebesfieber ihrer
unzähligen Geschöpfe, und der Mond glitzerte weiß in den blanken Blättern.

Es berührte mich seltsam genug, daß Goethes Name, durch Meere und Welten
von seiner deutschen Heimat getrennt, so selbstverständlich erklang, als
sei er längst geistiges Eigentum der ganzen bewohnten Erde. Die Meinung des
Brahminen über das große Werk seines Lebens, die er meiner jugendlichen
Begeisterung entgegenhielt, war eigenartig genug, um mir für immer in
Erinnerung zu bleiben.

»Goethe,« sagte Mangesche Rao, »ist so sehr der Erzieher des deutschen
Volks in Gesinnung und Anspruch geworden, daß es Ihren Landsleuten sehr
schwer fallen muß, seine Bedeutung über die pädagogische Einwirkung hinaus
gerecht einzuschätzen, da die meisten wie mit seinen Augen auf ihn blicken,
und die überragende Autorität seiner Erscheinung knüpft an keine Tradition
an, die einen Maßstab bieten könnte. Zuletzt wird er, wie alle Großen, nach
dem Umfang seiner Gestaltungskraft eingereiht werden, und in dieser
Hinsicht erscheint uns Friedrich Schiller als der größere Meister.«

Wir kamen auf Dante zu sprechen, dessen hohen, sittlichen Anspruch er pries
und den er über alles liebte, auf Shakespeare und endlich auf Kalidasa,
dessen Sakuntala er weit über alles stellte, was der große Engländer jemals
empfunden, gedacht und gestaltet hat.

Die Art seiner Betrachtungsweise und die Ansprüche in seinen Begründungen
gaben mir ein merkwürdig neues und allgemeines Bild. Ich mußte mit
heimlichem Lächeln an alle die »Großen« denken, welche die Generation
unserer Väter, und mit ihr wir selbst in unserer Jugend, so bereitwillig
neben bedeutsame Geister gestellt haben.

Panja war am anderen Tage sehr glücklich, als ich ihm mitteilte, daß ich
mit Mangesche Rao eine Reise ins Land verabredet hatte, an der auch er
teilnehmen sollte, und die einige Tage währen und uns in die Nähe von
Barkur und zu den Wasserfällen des Shita führen würde.

                  *       *       *       *       *

Ich saß mit Mangesche Rao am Feuer, am Rand des Urwalds in der unendlichen
Nacht. Die Steppe klagte, und ihre Stimmen bewegten mein Gemüt zu Begierde
und Trauer. Ich habe die Sterne selten wieder so hell gesehen, wie in
dieser denkwürdigen Nacht, die mir um vieler Gedanken willen, die der
schweigsame Mann aussprach, unvergeßlich geblieben ist. Panja schlief
damals schon im Zelt, was er eigentlich stets tat, wenn er sich für
abkömmlich hielt, und aus dem Schattendunkel des Dschungelwalds erklang in
der Nähe unseres Feuers das Grasraufen der weidenden Ochsen und das
Schnauben ihrer Nüstern am Boden. Der Mond war noch nicht aufgegangen; aber
es war hell in der Weite, unter den Sternen.

Mangesche Rao hatte nach der Abendmahlzeit schweigend die selbstgerollte
Zigarette durch die hohle Hand geraucht, und wir hätten uns gewiß in dieser
Nacht, wie in so mancher anderen, ohne viel Worte zur Ruhe gelegt, wenn uns
nicht ein eigenartiger Vorfall aufgeschreckt hätte. Einer der grasenden
Ochsen, der sein Geschirr noch zum Teil trug, begann plötzlich sich auf
eigentümliche Art zu schütteln. Mir erschien dies Geräusch erst dadurch
ungewöhnlich, daß Mangesche Rao plötzlich rasch hintereinander zwei Hände
voll Reisig auf das Feuer warf, so daß eine hohe Flammensäule in die Nacht
emporstieg, unter deren Schein die blaue Weltweite für kurze Zeit in
Finsternis zu versinken schien und die nähere Umgebung aufleuchtete wie ein
rotes Gemach. Er stand auf und schritt vorsichtig auf das Tier zu, die
hängende Büchse, am Lauf gefaßt, wie er es stets tat, lauernd hinter sich
herziehend, und ich folgte ihm mit der meinen. Es gibt wenig Gefahren in
Indien, die man deutlich nahen sieht und denen man ruhig entgegentreten
kann, dieses Abwartende und gebärdelos Hereinbrechende eines Verhängnisses
macht einen Teil des großen Grauens aus, das niemanden in der indischen
Wildnis verläßt, dessen Sinne diesen Ahnungen erschlossen sind. Wie wenig
das einzelne Ereignis, das mein Leben oder das meiner Freunde gefährdet
hat, es im Grunde war, das mich erschütterte, sondern wie vielmehr es die
Ungewißheit seiner unfaßbaren Annäherung war, geht mir daraus hervor, daß
heute noch eine Palmengruppe oder der schwüle Luftzug eines Treibhauses
mich aufs tiefste entsetzen können. Mit der gefiederten Gestalt des harten
Grüns eines Palmblattes ist mir dauernd eine Ahnung des Todes verknüpft,
während ich den Bewegungen einer Schlange ohne andere Ergriffenheit
zuzuschauen vermag, als in der, welche ihre Schönheit und Eigenart
auslösen. Nach einer Begegnung mit einem mohammedanischen Hindu in einer
engen Gasse von Bombay, der einen Schuß auf mich abfeuerte, ist mir weder
vor den Männern seines Volkes noch vor einer Schußwaffe auch nur ein
Schatten von Besorgnis verblieben, aber noch jahrelang hat mich der kaum
hörbare Klang nackter Füße auf einem Steinboden entsetzt. Ich erinnere mich
von diesem Geschehnis kaum an etwas empfindsamer, als an dieses dumpfe,
leise »Tapp-Tapp«, mit dem es hinter mir begann.

Und so hätte auch in dieser Nacht am Steppenrand die Gewißheit, daß etwa
ein Panther unser Lager umschliche, mich nicht so erregen können, wie die
zweiflerische Vorstellung bald von etwas Nichtigem, bald von
Ungeheuerlichem. Mag es ein jeder nennen, wie er will, wir fanden unseren
Ochsen in einem seltsamen Erstarrungskrampf, er zitterte so heftig, daß
sein Geschirr unaufhörlich klirrte, und war nicht zu bewegen, in die Nähe
des Feuers zu gehen, in dessen Schein wir nach der Ursache seiner Plage
hätten forschen können. Plötzlich sagte Mangesche Rao zu mir, daß ich
stillstehen und keinen Fuß rühren solle, aber ich kam nicht zur Befolgung
seines Ratschlags, weil das gewaltige Tier lautlos umsank und am Boden in
furchtbaren Verrenkungen und unter keuchendem Schnauben verendete. Das
Feuer war wieder auf ein bescheidenes Flämmchen zurückgebrannt, und ich sah
den weißen Koloß des toten Tiers im Sternenlicht im Gras liegen und hinter
ihm die unendliche Weite des blauen Steppenlandes.

Der Brahmine schien die Ursache dieses plötzlichen Todes zu wissen, denn er
suchte mit Aufmerksamkeit und bewußt wie nach der Bestätigung einer
feststehenden Annahme. Endlich brannte er einen größeren Span am Lagerfeuer
an und zeigte mir im Licht der rauchenden Flamme ein winziges, dunkel
umrandetes Löchlein am Maul des verendeten Tiers.

»Hier ist die Ursache,« sagte er langsam in einer Wichtigkeit, die nichts
als Ergriffenheit war, »es ist der Stich der Kobra. Ich glaube, daß das
grasende Tier die Schlange im Gras aufgestört hat.«

Es faßte mich ein Schauer, dessen nachhaltige Einwirkung ich damals kaum
recht zu begreifen vermochte, aber ob hier ein Mensch oder ein Tier dem
Gift erlegen war, schien mir angesichts des verdorbenen Lebens zu meinen
Füßen ohne entscheidende Bedeutung. Mich erfaßte die Ehrfurcht vor der
Kobra aufs neue, und das Angesicht Mangesche Raos spiegelte in seinem Ernst
diese Ehrfurcht wieder, wie eine uralte Erinnerung seines Geschlechts an
eine erhabene Gottheit, die keine Aufklärung hatte beeinträchtigen können.

Durch dieses Erlebnis mag es gekommen sein, daß unser Gespräch
vorübergehend den Gedanken und Begriff des Todes streifte, und was mir
daraus unauslöschlich im Gedächtnis geblieben ist, will ich erzählen. Nach
einer Weile saßen wir wieder am Feuer, das in dieser Nacht nicht mehr
erlosch. Eine seltsame Ruhlosigkeit war über den gelassenen Mann gekommen,
es stimmte mich wehmütig, ihn im inneren Kampf zwischen seinen klugen
Gedanken und der seinem Blute innewohnenden Tradition der Weltbetrachtung
seiner Priesterkaste zu wissen. Noch heute sehe ich seine aufrechtsitzende
Gestalt so deutlich vor mir, wie keine Worte sie dem Bewußtsein eines
anderen zuzutragen vermögen, den rot beschienenen Seidenturban über der
Stirn und den bedächtigen Augen, seine schmalen, fast zierlichen Schultern
und den gesenkten Kopf, der beim Sprechen eine Haltung einnahm, als suchten
die Augen die Gedanken von den Händen zu lesen, die auf den Knien ruhten.
Zuweilen hob er eine der mageren hellbraunen Hände, wenn es ihm galt, einem
Wort besonderes Gewicht zu verschaffen. Ich habe niemals im Leben wieder
mit einem Menschen im Eifer und mit Leidenschaft über wichtige Fragen
unserer Seele gesprochen, der mit so viel Gelassenheit und so feinem
Anstand sein Gegenüber ausreden ließ. Einmal sagte er mir: »Sie müssen
einem Gegner Ihrer Betrachtungsart sein Amt nicht dadurch erleichtern, daß
Sie ihn unterbrechen, dadurch nehmen Sie ihm oft die Gelegenheit, zu
erweisen, wie wenig er zu sagen hat.« Überhaupt war sein Spott von
merkwürdiger Umständlichkeit der Darbietung, und seine schärfsten Bosheiten
sagte er freundlich. Er genoß niemals den Triumph seiner Überlegenheit
sichtbar und sprach am eifrigsten, wenn sein Gegner eine Niederlage zu
verwinden hatte. Wahrhaft empfindlich aber konnte seine Art zu schweigen
auf Gemüter wirken, die empfanden, daß er damit darauf verzichtete, zu
überzeugen, und weshalb.

In Mangalore besuchte ich ihn eines Tages, als er vor seinem Hause auf dem
Lehmboden im Palmschatten mit einem Pater der Jesuitenniederlassung Schach
spielte. Gewiß unterhielt er sich dadurch, daß er spielte, aber er gewann
nach der Meinung seines Partners zugleich dadurch, daß er sich unterhielt.
Als der Pater ihm vorwarf, daß er ein Gespräch führte, um ihn abzulenken,
wurde eine neue Partie ausgemacht, unter der Bedingung, daß während des
Spiels kein Wort fallen sollte. Der Ordensbruder konnte sich, in etlichem
Verdruß nach seiner Niederlage, nicht enthalten, hinzuzufügen: »Wenn es
Ihnen möglich ist, so lange zu schweigen.«

Mangesche Rao antwortete nicht, sondern ordnete die Figuren. Nach wenigen
Zügen verlor sein Gegner die Dame und gab das Spiel auf, worauf Mangesche
Rao bescheiden sagte: »Ich habe sie nur genommen, weil es unhöflich gewesen
wäre, in Gegenwart einer Dame so lange zu schweigen.« --

In jener Nacht nun sprach ich vom Tode, anfänglich im leichtfertigen
Übereifer meiner Ergriffenheit und bewegt von der romantischen
Betrachtungsart meiner Jugend. Mangesche Rao hörte mir zu und sagte
endlich:

»Hören Sie die hungernden Hyänen in der Steppe heulen?«

Ich gab es ihm, ein wenig ernüchtert, zu, und er meinte, ohne
Nachdenklichkeit, die nur diejenigen zur Schau tragen, die ihren Gedanken
nicht trauen: »Welch einen Festtag hat der Tod den Hyänen beschert. Sie
finden das tote Tier, wenn wir unsern Lagerplatz verlassen haben, um
weiterzuziehen.« Und er fuhr fort: »Ich habe den Tod verstehen gelernt, als
ich als Jüngling an einem Tag im Sommer vor das Stadttor ging, von
unliebsamen Gedanken gepeinigt und die Bedrängnisse einer tödlichen
Krankheit im Blut. Ich durchschritt mühsam, mich im Fieber dahinschleppend,
ein Trümmerfeld im Steppengras, das von der Sonne so trocken war, daß es
knisterte. Da überraschte mich ein sonderbares Blinken zwischen den
Steinquadern im Sonnenlicht, und ich traute meinen Augen kaum, als ich eine
funkelnde Schlange im Sande liegen sah. Die Hitze flimmerte über den
herrlichen Farben ihrer Haut, die vom zornigen Blitzen des Diamanten bis
zum stillen Glühen der Rubinen alle Farben des gebrochenen Sonnenstrahls zu
enthalten schien. Die Pracht und Lebensfülle dieses blendenden Anblicks
entzückte mich in so hohem Maße, daß ich begierig einen Schritt nähertrat.
Aber da geschah ein erregtes Brausen, die leuchtende Schönheit des sanft
geringelten Körpers zu meinen Füßen erhob sich als eine bunte Schar
beflügelter Insekten in das warme Licht der Luft empor, und vor mir lagen
die verwesenden Überreste einer kleinen Steppenschlange, in denen ich die
zarten Rippen zwischen der zerfressenen grauen Haut deutlich unterschied,
und der süßliche und widerwärtige Hauch der Zersetzung strömte mir
entgegen.«

Das Lagerfeuer zwischen uns züngelte in matten Flämmchen in den irdischen
Saal der Sterne ins Blau empor, und ich fühlte mein Herz unter dem Wunder
erzittern, in welchem es zu begreifen scheint, ohne daß die Gedanken seiner
herrlichen Freiheit folgen können.

»Ich fühle die Wahrheit, die in diesem Gleichnis liegt, wie Sie sie damals
empfunden haben mögen,« sagte ich, »aber ich vermag so wenig wie zuvor
meine Gedanken über den Tod zu einer Gewißheit der Erkenntnis zu ordnen.«

»Es war jener letzte Schritt auf die Schlange zu, den Sie mit Ihrer
Gewißheit meinen«, sagte der Brahmine. »Wenn Sie mir sagen können, wo das
Leben aufhört, und wo der Tod beginnt, so will ich Ihnen den Tod erklären.
Wollen Sie bei den Pflanzen nach dieser Grenze suchen, bei den Menschen,
bei den Steinen oder bei den Tieren? Ich sehe die Erneuerung aller
hinfälligen Gestalt in der Natur, wohin ich blicke. Bis zur Bildung der
Kristalle im Gestein erblicke ich Leben und in der mathematischen Ordnung
solcher Erstarrung, die sowohl gedankenvoll zu sein scheint, als sie schön
ist, glaube ich die Gesetze zu erkennen, nach denen ich atme, mich bewege
oder Lust und Sorge erleide. Tod ist eine vage Annahme, die unsere Sinne um
der Beschränkung ihrer Zeitbegriffe willen aufzustellen genötigt sind. Und
was unsere Bewußtheit betrifft, so liegt ihr der Glaube an den Tod um so
ferner, je eingeschlossener in die Allgemeinheit alles Lebendigen wir uns
sehen oder fühlen. Und doch ist es mit dem Tode wie mit der Wahrheit, sie
lassen sich sicherer empfinden als jedes andere Element der lebendigen
Seele, aber sie lassen sich nicht erklären. Es wird immer zwei Arten von
Menschen geben, die einen nehmen den Tod als Pflicht des eigenen Wesens,
die anderen als die Willkür einer fremden Macht. Eure Kirche lehrt den Tod
als Sold der Schuld, aber euer Gott starb ihn als freie Pflicht.«

»So rechnen Sie Christus den Ihren zu?« fragte ich. »Sie glauben seine
Lebensweise und sein Gedankenreich der Ideenwelt Ihrer Gottheit einreihen
zu können?«

Mangesche Rao antwortete mir:

»Ich vermag es so weit, als der Sinn aller irdischen Religionen, oder
besser, die Religiosität aller Irdischen, aus einer gleichen Quelle des
Anspruchs und der Hoffnung fließt, nicht aber so weit, als es die Lehre
unserer Kirchen betrifft. Die Gedanken Christi sind größer als unsere
Gedanken und führen weiter. Es ist viel über die Unterschiede und über die
Ähnlichkeiten der christlichen Religion und der Religion unseres Volkes
nachgedacht worden, aber die meisten Vergleiche sind deshalb bedeutungslos,
weil es schwerhält, zwei Erscheinungen erfolgreich miteinander zu
vergleichen, die im Wesen voneinander verschieden sind, denn das Brahman
ist Philosophie, aber die Weisheit Christi ist praktische Lehre. Menschen,
welche das Wesentliche der Erscheinungen schwer festzustellen und
nachzuempfinden vermögen, lieben es besonders von unwesentlichen
Begleiterscheinungen aus zu vergleichen und gegen einander abzuschätzen. In
den meisten Fällen liegt solchen Bemühungen keine andere Absicht zugrunde,
als die, den einen Wert auf Kosten des anderen herabzusetzen. So hart
solche Behauptung klingen mag, so wenig werde ich sie einschränken, denn es
ist den meisten Menschen, die Begreifen über Empfinden setzen, oder
Verstehen über Glauben, eigentümlich, daß sie auch Verkleinern über
Vergrößern setzen. So erscheint es mir auch gleichgültig, ob etwa Christus
die Weisheit der Alten gekannt hat oder nicht. Große Gedanken sind niemals
jung, so wenig, wie sie alt werden, und sie gleichen einander im Wesen, wie
die höchsten Spitzen der Berge im Schnee einander ähnlich sind. Je
niedriger das Auge sucht, um so mehr Unterschiede wird es finden; der Pöbel
ist am buntesten und nur im Elend einig. Aber das Ziel ist, in der Freude
einig zu sein.«

Ich war über diese Worte sehr überrascht und beglückt. Weniger in der
Absicht, zu widersprechen, als vielmehr in dem lebhaften Wunsche, die
Betrachtungsweise Mangesche Raos um so besser zu erfahren, sagte ich:

»Aber wie furchtbar ist die Wirkung der Lehre Christi auf das
Menschengeschlecht gewesen. Sollte man nicht mehr als an jedem anderen
Bekenntnis am Christentum verzweifeln, wenn man seine blutige Einwirkung
auf die Geschicke der Völker übersieht?«

»Wer übersieht diese Wirkung denn?« fragte Mangesche Rao. »Was Sie als
Resultat dieser Lehre hinstellen, erscheint uns wie ihr erster Beginn. Ich
möchte das furchtbare und blutige Ringen der Menschen um den Sinn des
Christentums eher die Geburtswehen dieser Lehre als ihr Resultat nennen.
Diese Lehre ist sehr jung und noch kaum recht verbreitet. Ist man nicht
ohne Mühe befähigt, sogar noch ihren äußeren Weg auf der Landkarte
nachzuzeichnen, wie sie von Asien über Griechenland und Rom in das Herz
Europas einzog, als wäre sie diesen Weg erst gestern gegangen? Und der Teil
der Erde, welcher ihre Bekenner trägt, ist nicht größer, als daß wir ihn
mit der Masse des Himalaja mit seinen Menschen, Städten und Kirchen
verschütten könnten. Wenn die Zeit von Christi Hinscheiden bis heute noch
dreimal vergangen ist, wird sein großer Geist sich aus dem engen Mantel der
Kirche geschält haben und weit mehr zum Element der Geister geworden sein.«

Die Sonne ging über der Steppe auf, es schien, als würde sie aus Gründen
ewiger Gluten emporgeschleudert, und begann ihren Weg über das Erdreich zum
ungezählten Male, in unfaßbarem Triumph einer jauchzenden Herrschsucht. Das
Geschrei der Tiere im Urwald erklang ohrenbetäubend und das lärmende
Erwachen der Natur vertrieb den letzten Gedanken an Schlaf aus meinem Blut.
Ich trennte mich von meinem Gefährten, nahm die Büchse und ging in die
Steppe hinaus, den dampfenden, tobenden Dschungel hinter mir lassend. Und
in den Flammen, die läuternd emporsteigen, wenn die Jugend und der Morgen
einander begegnen, kamen mir die Worte Christi in den Sinn: »Solchen
Glauben habe ich in Israel nicht gefunden.«




Vierzehntes Kapitel

Der Heimat zu


Wir waren kaum einige Tage wieder in Mangalore angelangt, als eine
Nachricht die Stadt durchlief, die die Gemüter in hohem Maße bewegte. Es
war über Nacht eine Abteilung englischer Soldaten angelangt, angeblich
verschlagen auf einer Felddienstübung, bei einer Inspektionsreise durch die
Provinz, wie sie zuweilen unternommen werden. Aber niemand schenkte dieser
arglosen Auslegung Glauben, die widersprechendsten Gerüchte durchflogen die
Stadt, und man sah überall in der Basarstraße und auf den Plätzen
Gleichgesinnte in feierlichen Gruppen versammelt. Nur der Straßenpöbel
trollte unbekümmert um Rechte und Pflichten einer gleichgültigen Regierung
seine gewohnten Straßen, und die Händler versprachen sich gute Tage, als
die leuchtend roten Jacken der Soldaten im bunten Bild des Basarlebens
auftauchten.

Sie schritten, wie es damals Vorschrift war immer zu vieren, gemächlich
dahin, bestaunten die unverstandenen Eigentümlichkeiten der fremden Stadt,
hielten sich hier ein wenig auf, amüsierten sich dort auf ungezwungene
Weise und erweckten im allgemeinen den Anschein von Arglosigkeit, so daß
ich den heimlichen Befürchtungen und mancherlei törichten Gerüchten wenig
Achtung schenkte.

Mangesche Rao ließ sich nicht bei mir sehen. Ich war nicht wenig erstaunt,
als ich ihn nach einigen Tagen im Wagen des englischen Oberst erblickte, zu
seiner Linken aber Seite an Seite mit ihm, die ruhigen Züge ohne jedes
Zeichen einer Beteiligtheit oder auch nur einer Bewegung unter dem gelben
Seidenturban, den ich so gut kannte. Der englische Offizier sprach lebhaft
und gestikulierte eher vergnügt als erregt, alles erweckte deutlich den
Anschein einer gelegentlichen Begegnung. Ich ritt an seinem Wagen vorüber,
er erwiderte meinen Gruß gemessen.

Aber seltsam, seit diesem Zusammentreffen war es um meine Ruhe geschehen,
obgleich bei vernünftigen Erwägungen gerade das Gegenteil hätte der Fall
sein müssen. Aber ganz abgesehen davon, daß kein Land sich weniger als
Indien dazu eignet, eine politische Macht in energischer Offenheit und
schneidiger Entschiedenheit zu dokumentieren, war dieser fast freundliche
englische Besuch mir plötzlich verdächtig und um so gefährlicher
erschienen, je mehr er sein Ansehen und seine Bedeutung zu verbergen
trachtete. Nichts erweckt in tiefer Beunruhigung stärker das Gefühl der
Unsicherheit, als dies leise schleichende Indien. Plötzlich war mir, als
gingen alle Wesen und Menschen in falschen Gesichtern umher, ich mißtraute
bald dem Brahminen, den ich liebte, bald Panja, bald meinen eigenen Sinnen,
es verlangte mich danach, aus den Verwicklungen einer Interessenwelt
entlassen zu werden, die ich nicht übersah, weil es mir an Hingabe fehlte,
und in die ich doch eingeschlossen war, weil meine Liebe zu Mangesche Rao
mich fesselte. Und so begrüßte ich die seltsame Gelegenheit, mich
beteiligen zu können, die sich mir kurz darauf eröffnete, mit großer Freude
und erachtete die Gefahr um der Befreitheit willen gering, die sich
einstellte, wie mit einem Entschluß nach langem Zweifel.

So viel erschien mir nach den letzten Erfahrungen sicher, daß der Brahmine
weit höher eingeschätzt und viel ernster genommen wurde, als er selbst es
mir oder andern jemals zu erkennen gegeben hatte. Diese Erfahrung erfüllte
mich mit Bewunderung und heimlichem Stolz, und solche Empfindungen mögen
viel dazu beigetragen haben, daß ich in fast gedankenloser Bereitwilligkeit
auf seinen Wunsch einging, den ersten und einzigen, den er jemals vor mir
ausgesprochen hat.

Es war in einer mondlosen Nacht gegen zwei Uhr, als Panja mich durch sein
vorsichtiges Räuspern neben meinem Bett weckte. Er hatte immer noch die
alte zurückhaltende Art der Ankündigung und war besonders zartfühlend, wenn
er mich aus dem Schlafe rief, denn er wußte, daß dieser Vorgang, mehr als
alle andern, das Heer meiner schlechten Eigenschaften entfesselte. Es war
so dunkel, daß ich nur das finstere Dreieck im helleren, zurückgeschlagenen
Moskitovorhang unterschied. Ich erkannte niemand.

»Mach' Licht!« rief ich, da ich Panjas Gegenwart vermutete. »Weshalb kommst
du?«

»Es soll kein Licht gemacht werden, Sahib, steh auf, ein Fremder ist da,
der dich sprechen will, er sagt, der Brahmine Mangesche Rao schicke ihn.«

Es war Mangesche Rao selbst. Panja hatte mir geraten, auf keinen Fall zur
Nacht einen Besuch zu empfangen, der forderte, daß kein Licht angezündet
würde, aber ich dachte mir, schließlich sieht mein Gegner auch nicht viel
mehr von mir, als ich von ihm, und der Name meines Freundes machte mich
gefügig. Der Brahmine war seltsam durch eine ungewohnte Kleidung entstellt,
ich schickte auf seinen Wunsch Panja hinaus.

Wir saßen uns gegenüber, ein matter Schein von den Sternen beleuchtete das
Bereich der Fenster spärlich, ich glaubte nun, da ich Mangesche Raos
Gesicht zu unterscheiden vermochte, zu erkennen, daß es schmaler und bleich
war, aber es mochte vom unsicheren Nachtlicht herrühren. Mir schien, als
ränge er innerlich mit dem Entschluß zu einem Bekenntnis, einem Wunsch,
über die Mühe der zurückliegenden Tage ein Wort der Klage zu äußern, aber
es geschah von alledem nichts. Er sagte nach einer Weile des Schweigens, in
der ich Gelegenheit hatte, die merkwürdige Entstellung zu betrachten, die
seine nächtliche Kleidung herbeiführte, ruhig und unmittelbar:

»Morgen werden die Soldaten der Regierung in Ihrem Hause nach Dokumenten
einer Verschwörung suchen, die über das ganze Land hin verbreitet sein
soll, und deren Anhänger sie auch in Mangalore vermutet. Ich stehe, wie Sie
wissen, im Verdacht, ein Gesinnungsgefährte der Unzufriedenen zu sein, und
da ich oft in Ihrem Hause ein und aus gegangen bin, bringt man Ihre Person
in Beziehung zu meinen Interessen.«

»Eine Verschwörung?« fragte ich erschrocken.

Mangesche Rao wartete, ob ich noch etwas hinzufügen würde, aber mir fiel im
Augenblick nichts ein, diese nächtliche Begegnung, die Aussichten für den
nächsten Tag und jene Enthüllung nun verwirrten mich in gleichem Maße, wie
sie mich anregten. Wie anders die Dinge vor der Entscheidung als in
romantischer Entfernung aussahen.

»Verschwörungen gibt es hierzulande beinahe täglich«, sagte Mangesche Rao
langsam, und als dächte er an andere Dinge. »Sie werden entdeckt und
vereitelt; und wenn sie nicht entdeckt werden, so brechen sie deshalb auch
noch nicht aus. Die englischen Beamten brauchen Unterhaltung und ein Feld
für ihren Eifer. Uns geht es ähnlich.«

Er wandte sich ab wie in heimlichen Zweifeln und sah mit einem traurigen
Ausdruck in die dämmerige Nacht hinaus. Man hörte die Grillen feilen, ein
paar Sterne hingen wie Funken im Gefieder der Papayakronen.

»Leider habe ich ein gutes Gewissen«, sagte ich. Seltsamer und fremder war
mir dies Land nie erschienen. Ich kannte die zurückhaltende Art des
Brahminen genügsam, um zu wissen, daß er weit mehr verbarg, als er erkennen
ließ, auch hätten keine Worte mich so entscheidend von der Wichtigkeit
seiner Angelegenheit und vom Stand der Dinge überzeugen können, als sein
nächtlicher Besuch es tat.

Es waren an diesem Tage noch kurze Regenschauer gefallen, es drang kühl
durch die Stäbe der offenen Fenster zu uns herein und zog mit Duft und
feinem Klingen bis in die dunklen Ecken des Zimmers. Mir war, als träumte
ich.

»Was kann ich tun?« fragte ich.

Mangesche Rao öffnete sein Gewand über der Brust und entnahm ihm einige
verschnürte Päckchen, die Papiere zu enthalten schienen oder Briefe, ich
sah es undeutlich, jedoch war die Verpackung derart, daß man leicht auf
solcherlei Dinge schließen konnte.

»Wollen Sie diese Schriftstücke in Ihrem Hause verbergen?« fragte er
gleichmütig.

Ich bejahte seine Frage ohne Besinnen, im Augenblick nur in schnellen
Erwägungen damit beschäftigt, welcher Ort meiner Wohnung oder meines
Gartens am geeignetsten sein möchte. Es kam mir keinen Augenblick in den
Sinn, daß es in Mangalore Verstecke genug für eine Handvoll verdächtiger
Papiere geben mußte, und der Gedanke, etwa mißbraucht zu werden, lag mir so
fern, wie ich tief durchdrungen war vom Charakter und Wert des Mannes, der
mich bat.

Später habe ich oft daran denken müssen, welche Empfindungen in der Seele
eines jungen Menschen Entschlüsse ähnlicher Art zu zeitigen vermögen, und
wie selten die Gesinnung eines auf solche Weise Bereitwilligen im Grunde
mitzuspielen braucht. Es mag sich so mancher, der durch einen raschen
Entschluß, den vielleicht die gedankenlose Erbötigkeit eines Augenblicks
mit sich gebracht hat, um die Freiheit seiner ganzen Jugend und um den
Preis seines tätigen Lebens gebracht haben.

Ich griff nach dem Päckchen. »Verlassen Sie sich auf mich«, sagte ich.
Darüber kam mir in den Sinn, daß mein Freund mir soeben noch mitgeteilt
hatte, daß ich morgen mit einer Haussuchung zu rechnen hätte, und ich
stellte eine Frage, um diese seltsamen Zusammenhänge aufgeklärt zu sehen.

»Ich möchte, daß diese Schriftstücke bei Ihnen gefunden werden«, sagte
Mangesche Rao. Er sprach leise und vorgeneigt, aber ohne Eifer und ohne den
Wunsch, mir seine Verfügung dadurch geheimnisvoller zu machen. Wer in
Indien eigene und gefahrvolle Interessenwege beschreitet, weiß, daß nicht
nur die Wände Lauscher verbergen, sondern daß auch von der Nacht, den
Frauen und dem besten Freunde Gefahr drohen kann. Ich ahnte seine Besorgnis
und sagte:

»Mein Diener ist zuverlässig.«

Mangesche Rao schüttelte den Kopf. »Er ist ein Kind«, sagte er. »Gesinnung
und Aufrichtigkeit ohne Schlauheit sind wie Verräter für jeden bei uns,
welcher die Mittel seiner Feinde kennt. Sie müssen aus einem Lande stammen,
in welchem der Freimut und die Kraft neben der Kühnheit als hoher Ruhm
gelten, sie mögen zur Ehre eines freien Volkes gehören, dies Volk hat seine
Freiheit fast vergessen.«

Irgend etwas überwältigte mich nach diesen Worten zu einer Traurigkeit, in
welcher ich zum ersten Mal die Liebe meines Herzens zu diesem Manne in
ihrer ganzen Tiefe empfand, und ich hätte ihn inständig bitten mögen, von
diesem fruchtlosen und bösen Kampf zu lassen. Mir wurde klar, daß sein
Wesen bei aller Kraft seines Geistes den Waffen seiner Gegner nicht
gewachsen war, denn den Hochgesinnten überwältigt im Kampf mit der
Niedrigkeit zuletzt der Ekel, aber ich schwieg aus Ehrfurcht vor dem Feuer,
das in seiner Seele brannte.

Mangesche Rao fuhr fort: »Machen Sie es den Suchenden nicht gar zu leicht,
aber tragen Sie Sorge, daß sie die Papiere auf jeden Fall finden. Sollte
der Zufall, der so gerne dort zu spielen liebt, wo die Absicht am
deutlichsten ist, den Erfolg der Engländer vereiteln, so verraten Sie die
Dokumente dadurch, daß Sie sie, scheinbar ungeschickt, zu verstecken
trachten, während noch gesucht wird.«

Er brach plötzlich ab und wartete wie auf einen Einwand, aber ich sprach
das Mißtrauen oder die Besorgnisse nicht aus, die er bei mir zu vermuten
schien, weil kein Argwohn gegen den Freund in meinem Herzen war, und weil
ich wußte, daß er niemals etwas von mir fordern würde, das ihm diente,
indem es mich schädigte. So erklärte er mir die Absicht, die er mit dieser
Maßnahme verfolgte:

»Unsere Zeit ist noch nicht gekommen,« sagte er einfach, »die Funde, welche
in Ihrem Hause gemacht werden, sind argloser Natur, aber immerhin
bezeichnend genug, um als eine wichtige Entdeckung gelten zu können. Der
Verdacht wird durch diese Dokumente abgelenkt und die Spur verwischt
werden, man wird ihren Inhalt dankbar als Resultat der Untersuchung
betrachten und an ihm die Eigenart und den Umfang jener Umtriebe messen,
die Verdacht erregt haben. Einige unserer Freunde werden bloßgestellt, aber
sie sind bereit, der Sache das Opfer zu bringen, das in der Verbüßung einer
geringen Strafe besteht. Zuletzt wird man nicht viel mehr in Erfahrung
gebracht haben, als ohnehin schon bekannt ist.«

»Sie sagen mir viel«, antwortete ich dankbar und voller Bewunderung für das
Geschick dieses Plans.

»Ihr Vertrauen verdient das meine«, sagte Mangesche Rao einfach, und ein
warmer Blick, der das kühle Maß dieser stets so beherrschten Züge
durchbrach, traf meine Augen kurz und traurig.

Ich fragte noch, wie ich mich einem Verhör gegenüber zu verhalten hätte,
welches danach forschte, wie die Papiere in mein Haus gekommen seien.

»Nennen Sie meinen Namen«, entschied Mangesche Rao.

»Und wenn Sie selbst eine Strafe trifft?«

»Man wird es nicht wagen und sich an die halten, welche wir vorgeschoben
haben, aber besser wäre es, man wagte es, weil meine Bestrafung mir das
Vertrauen derer sichern würde, für welche ich sie trage. Je mehr die
Regierung mich schont, um so eher werden die Brahminen von Mangalore mich
für einen Abtrünnigen halten. Meine Offenheit gegen die Priesterkasten
selbst würde Verräter im eigenen Lager erwecken, meine Vorsicht dagegen
macht sie mißtrauisch. Es ist schwer, im dunkeln Wald einen geraden Weg zu
gehen.«

                  *       *       *       *       *

Strahlend stieg ein neuer Tag über Mangalore empor. Ich ritt, schon bevor
die Sonne die Spitzen der braunen Pagoden färbte, durch die sumpfigen
Mangroven-Dickichte der Flußniederungen, von Panja begleitet, der wie in
einer Ahnung der hereinbrechenden Ereignisse nicht von meiner Seite wich.
Eine seltsame Fremdheit lag in meinen Augen über der Landschaft, ihren
Tieren und Pflanzen und über allen Dingen. Als ich nahe bei einem hölzernen
Lagerschuppen ein Boot im dunklen Wasser erblickte, auf dem ein Hindu
fröstelnd in der Morgenkühle hockte und, noch benommen vom Schlaf, in die
grünschimmernde Weite starrte, kam mir jener Tag in den Sinn, an welchem
ich zu Beginn meiner Dschungelfahrt in Tschirakal am Watarpatnamsee
angelangt war und Panja mit den Mohammedanern um den Preis der Kanus
stritt.

Die Erlebnisse und die Bilder meiner Reise zogen mit dem heraufsteigenden
Tag durch meine Erinnerung, mit ihrem Glanz und ihren Sorgen und ihrem nie
ruhenden Wunsch meines Herzens es möchte in diesem Lande Heimatrechte und
jene Beziehungen erwerben, die Vertrautheit zur Liebe führen. Huc, der Affe
meines Traums, saß wieder mit alten Augen vor mir, wahrsagerisch und weise,
von jenen Hoffnungen der seufzenden Kreatur ermüdet, die so alt sind wie
die Schicksale der Erde.

Waren es die Unrast, der Haß und die Erbitterung der neuen Menschen meiner
Erfahrung und ihre kleinen und doch so wichtigen Interessen, die mir den
Glauben an die Harmonie zerstörten, welche die unberührte Natur und das
große Meer mir vermittelt hatten? Nie kam ich mir verirrter vor in dieser
Welt des Wirkens, als an jenem Morgen, und am liebsten hätte ich alles
dahinten gelassen, um aufs neue in die grünen Schatten der durchklungenen
Wildnis zu ziehen, die die Sicherheit und den Wohlstand des armen Daseins
gefährden mochte, die aber den Weg der Seele zu jenem Erkennen bereitete,
das allein Frieden bringen kann.

Aber mein Verlangen erschien mir bald darauf wie ein Hang zur Flucht, als
warteten Pflichten und Aufgaben meiner in einem anderen Land, in einem
Bereich, dessen Kräften und Zielen ich durch Abstammung und Überlieferung
verbunden war, und zum ersten Mal seit Jahren wandten sich meine inneren
Augen über das Meer hin der Heimat zu. Ich dachte daran, daß der Mann, dem
nun seit lange meine tiefste Teilnahme gehörte, wie in einem wehmütigen
Bewußtsein des Untergangs seines eigenen Geschlechts und seiner Rasse, den
nahen Ruhm und die Hoffnung der meinen ahnungsvoll ausgesprochen hatte, und
ich fühlte die Kraft seines Glaubens wie ein Vermächtnis im Gewissen
glühen. --

Die Ereignisse des Tages verliefen ähnlich, wie ich sie nach Mangesche Raos
Worten erwarten mußte. Gegen Mittag meldete sich ein junger Offizier, der
in Begleitung von drei Soldaten kam, bei mir an. Er nahm seine Pflicht
ungemein wichtig, er versuchte den Anschein zu erwecken, als sei er der
König von England, und ich beantwortete seinen pathetischen Erlaß damit,
daß ich ihm mein Taschenmesser aushändigte, als habe er meinen Degen
gefordert. Er mußte lachen und schien sich darauf zu besinnen, daß ein
Privatmann kein Rekrut und ein Deutscher kein englischer Untertan ist, auch
erinnerte ich ihn daran, daß ein Verdacht kein Beweis und ich selbst kein
verdächtiges Dokument sei.

Sein Selbstbewußtsein uniformierte sich wieder, als die Papiere gefunden
wurden, und auf sein Ersuchen begleitete ich ihn im Ochsenwagen zum
Regierungsgebäude. Er war unterwegs höflich, still und sehr ernst, und ich
freute mich heimlich des gelungenen Plans meines Freundes. Übrigens sah
nach diesem öffentlichen Eingriff in die Privatrechte einer Reihe der
Einwohner Mangalores das militärische Aufgebot plötzlich um vieles
gewichtiger aus. Von den Fenstern des Regierungsgebäudes aus erblickte ich
draußen auf dem Meere den niedrigen eckigen Umriß eines Kanonenbootes, das
schwarz und drohend im stillen Blau schwamm, wie mit Kohle gezeichnet. Der
unfreundliche Hof des Gebäudes wimmelte von Soldaten. Einen Augenblick
überkam mich ein Gefühl heißer Besorgnis um Mangesche Raos Geschick. Die
nächstliegenden Eindrücke sind besonders dann die stärksten, wenn man die
Aussichten der Parteien nicht übersieht. Panjas totenblasses Gesicht ging
mir wie ein Gespenst nach, er war wie versteinert am Gartentor
zurückgeblieben, ich wußte nicht, ob er meinen Befehl verstanden hatte,
mich am Abend zu erwarten, und ich fürchtete ernstlich, er würde irgend
eine heldenmütige Dummheit begehen.

Nach einer zweistündigen Wartezeit, in welcher ich eine treuherzige
Schildwache mit einer Reihe der furchtbarsten Dschungelmärchen in ihrem
Glauben an Hexen und böse Geister bestärkte und sie mit Zigaretten wieder
beruhigte, erschien der Kollektor und verbürgte sich dem englischen Oberst
gegenüber, der ihn begleitete, für meine Unschuld. Es mußte wohl eine
ausführlichere Verhandlung über mich vorangegangen sein, der Beamte
entschuldigte sich höflich aber etwas gereizt bei mir, offenbar erinnerte
er sich dessen, daß ich die Bekanntschaft Mangesche Raos seiner Vermittlung
verdankte, und daß ich mich seit jenen Tagen nicht gut zu einem
gefährlichen Umstürzler hatte auswachsen können. Es schien mir zudem aus
allem hervorzugehen, daß man den Brahminen zu schonen wünschte. Ein Rekrut
machte sich auf den Weg, mein Pferd zu holen, und ich wurde etwas herzlos
und beiläufig verabschiedet. Man war offenbar beschäftigt.

Panja empfing mich glücklich und stolz, mir war, als schämte er sich seiner
Ängste, nun er mich wohlbehalten in unserm Hause wiedersah, aber weder
seine Freude noch die eigene Erleichterung ließen mich aufatmen. Es trieb
mich den Rest des Tages hindurch in großer Unruhe von einem zum andern,
nichts wollte mir gelingen, nichts beschäftigte mich ernstlich, ich wartete
und wußte nicht worauf.

Gegen Abend schickte ich Panja zu Mangesche Rao. Er traf ihn nicht in
seinem Hause an, aber ich erfuhr wenigstens, daß er auf freiem Fuß belassen
worden war, ohne daß ich mich nun für eine Genugtuung oder für eine neue
Besorgnis entschließen konnte.

Aus diesen bedrängenden Stunden ist mir ein kleiner Vorfall ohne Bedeutung
so lebhaft im Gedächtnis geblieben, als habe meine Sorge sich einzig um ihn
gedreht. In der kurzen Dämmerung, als schon der Mond leuchtete, und ich mit
meiner Zigarre im Liegestuhl auf der Veranda weilte, sah ich einen
beweglichen Schatten am Gartentor. Ich beobachtete ihn eine Weile, ohne ihm
Gewicht beizumessen, endlich rief ich Panja, der hinausging und gleich
darauf ein Kind zu mir brachte, das mich mit stillen Augen betrachtete und
lange kein Wort wagte. Es war ein Mädchen von etwa dreizehn Jahren, mit
einem rötlichen Kittel bekleidet, mit offenem Haar und seiner
Gesichtsbildung nach den niederen Kasten angehörig. Mit Panjas Hilfe erfuhr
ich bald die Geschichte und die Bitte meines späten Gastes, und mit einem
heimlichen Schauer sah ich das junge Wesen plötzlich mit ganz anderen Augen
an, als ich wußte, daß es vor einigen Tagen Mutter geworden war. Man muß
erfahren haben, wie gewöhnlich solche Fälle im tropischen Indien sind, um
solcher Aussage ohne weiteres Glauben zu schenken. Die junge Mutter kam aus
einem Dorfe im Flußtal und bat mich um Schutz. Es handelte sich offenbar um
eine Verwechslung meines Hauses mit der Missionsniederlassung.

»Es ist die Nacht der freien Liebe in ihrem Ort«, erklärte mir Panja.
»Einmal im Frühling muß dort in ihrer Kaste jede Frau und jedes Mädchen
jedem Manne angehören, der sie begehrt, das ganze Dorf heult und wimmert
die Nacht hindurch, wie ein Sumpf mit Ertrinkenden, die zu ewiger Wollust
verdammt sind. Es dauert, bis die Sonne am Erdrand erscheint, dann wird es
still, und den Tag hindurch schlafen die Menschen. Das Kind ist aus Furcht
geflohen.«

Panja führte die junge Mutter in die Missionsschule hinunter, ich blieb mit
den Grillen allein in der weißschillernden Nacht, der letzten in Indien, an
die ich klare Erinnerungen habe, denn am Morgen des hereinbrechenden neuen
Tages stand ich vor der Leiche Mangesche Raos.

                  *       *       *       *       *

Ich weiß, daß ich im Morgengrauen aufs Pferd stieg, im Reiten meinen Rock
knöpfte und mir dessen bewußt wurde, daß ich den Korkhelm vergessen hatte.
Darüber kam mir in den Sinn, daß ich bei meiner Rückkehr den Schatten
aufsuchen müßte, und hörte Panjas fremde Stimme, der mit meinem Pferd
sprach, das er laufend am Zügel führte. Er schrie einen Ochsenkarren an,
der uns in der Nähe des Stadttors den Weg versperrte, und ich sah einen
kleinen gekrümmten Mann, der ängstlich und mit bösen, unterwürfigen Augen
seine Tiere in den Graben zerrte. Er hatte Maisschößlinge geladen und trat
mit seinem nackten Fuß aufgeregt in die Weichen der schwerfälligen Ochsen.
Hatte diese selbe Stimme Panjas nicht eben noch geschrien: Die Brahminen
haben Mangesche Rao vergiftet?

Es war noch nicht ganz hell im Haus des Toten. Der festgetretene Lehmboden
vor der Veranda glänzte feucht, am Zaun waren weiße Ziegen angebunden, und
die Palmenwedel sirrten im Morgenwind. Ich vernahm eine Stimme, die
merkwürdig gleichförmig klagte, immer in demselben Tonfall, die hellen
Seufzer folgten einander mit dem ausgestoßenen Atem, und mein erster
Gedanke war: So ist er nicht tot, ich werde ihn noch lebend finden.

An der Tür zum Totenzimmer flüchteten einige dunkle Gestalten, ich sah im
Raum, dicht am Fenster, ein niedriges Lager, auf das das Morgenlicht fiel,
grünlich und blaß, wie aus einem erlöschenden Scheinwerfer. Unter einem
weißen Tuch erkannte ich undeutlich die Umrisse einer gekrümmten Gestalt,
eine zur Faust verkrampfte Hand sah seitlich aus den Falten hervor und
reckte sich, wächsern gefärbt, ein wenig aufwärts gebogen, in den fahlen
Glanz des nahenden Tags empor.

Ich schlug das Tuch zurück und ließ es sogleich wieder über das entstellte
Gesicht zurückfallen. Das höllische Gift, dem der Brahmine erlegen war,
verrät sich selbst unzweifelhaft durch seine Wirkung und zugleich die
heimtückische Macht derer, die es im Namen ihrer zu hämischen Götzen
herabgesunkenen Gottheit mischen.

Als ich mich abwandte, begegnete ich Panjas Augen, und als er mein Gesicht
sah, warf er sich zur Erde, als habe eine Faust ihn niedergeschlagen, und
brach in ein Geheul aus wie ein Tier. --

Auf der Basarstraße hatte das bunte Leben des neuen Tages begonnen, die
braunen, nackten Gestalten unter den farbigen Turbanen eilten in gewohnter
Weise dahin, geschäftig oder lässig, bald von Lasten gebeugt, bald steif
und würdig im vertrauten Müßiggang. Ein mohammedanischer Händler, dem ich
seit langem schon versprochen hatte, ein Bündel Ingwerwurzeln abzukaufen,
die ich mitnehmen wollte, verfolgte mich lange. Am Tempelteich, in dem eine
weiße Mauer sich spiegelte, predigte ein fremder Pilger. Es roch nach
verdunstendem Sprengwasser und Ochsen, die Sonne schien, die vereinzelten
Palmen hoben sich schräg und still über den Lärm der Straße und über die
weißen, flachen Dächer der Häuser. Es begann warm zu werden.

Als wir die hohe Palmenallee erreichten, die am Meer dahinführt, und die
Geräusche der Stadt im eintönigen Rauschen des Wassers verklangen, gab ich
Panja mein Pferd und schritt allein weiter. Eine Müdigkeit, die Leib und
Seele wie ein bitterer Strom durchdrang, ließ mich nach einer Weile
innehalten, und ich lehnte mich an den Stamm eines Baums und schloß die
Augen.

Da sah ich im Abendfrieden ein Dorf meiner deutschen Heimat. Der Holunder
blühte am Zaun, es hatte geregnet, und die Luft war kühl und feucht. Hoch
auf dem Giebel eines Bauernhauses sang eine Amsel in der letzten Sonne, und
die klare Süßigkeit ihrer Stimme erfüllte das ruhige Land mit Glück.


  Ende




Im Verlag von Rütten & Loening in Frankfurt a. M. erschien

  Waldemar Bonsels
  Menschenwege
  Aus den Notizen eines Vagabunden

  75. Tausend


Aus Urteilen der Presse:

Als Dichtungen, mit sokratischer Methode gewertet, sind diese sieben
Kapitel des Waldemar Bonsels das Reinste, Klingendste, Gewählteste, was mir
seit langem begegnete. Eine Keuschheit des Geistes ist in diesen
Begegnungen, eine Zucht des Worts, eine Regie der Führung, die uns aus
jeder Bedrängnis der Gegenwart in das Lichtgebäude eines geruhsam
betrachtenden Willens führt.

  »Tägliche Rundschau«, Berlin


Waldemar Bonsels ist der tiefgründige Denker und künstlerisch reife
Gestalter, der Dichter mit der umfassenden Menschenliebe und Wortführer für
eine neue, auf voraussetzungsloser Güte aufgebaute Weltordnung. Zu der
Weisheit und Liebe, die sein neues Buch: »Menschenwege, aus den Notizen
eines Vagabunden« ausströmt, gesellt sich als weiteres Geschenk die
wahrhaft adelige Form der Sprache, in die der Dichter den Reichtum seiner
Gedanken gefaßt hat.

Gerade in unserer haßerfüllten und ungerechten Zeit, die so viel
Schmerzliches und Bitteres über uns gebracht hat, wirkt ein so ganz aus
Seelengüte, Milde und feierlichem Ernst gestimmtes Werk wie eine
Offenbarung, in der wir den tieferen Sinn unseres Lebens wie eine
Verheißung von neuem erkennen.

  »Straßburger Post«


Eine Vertiefung des Geistigen, eine Verinnerlichung des Seelischen und eine
Umhüllung des Ganzen mit einer Atmosphäre des mystisch Reinen und Frohen,
eines ins Höchste gerichteten Sinnes, spricht aus dieser Dichtung, daß es
sie schädigen hieße, wollte man versuchen, die Linien nachzuziehen. Es ist
eine über alle dogmatischen Satzungen erhobene, freie Religiosität, die als
einziges Ziel das Unvergängliche hat, um das sich seit Anbeginn der Kosmos
mit seinen Menschlein bewegt: Gott.

  »Frankfurter Zeitung«


Über aller Wirklichkeit der bunten Lebensgeschehnisse dieses Buches steht
leuchtend die Wahrheit, die der Dichter in prophetischem Geiste verkündet.
Seine neue Betrachtung der Welt erwächst allein aus dem Glauben an eine
reine Menschlichkeit. Dieser Vagabund ist die Verkörperung der Sehnsucht
der neuen Jugend.

  »Hannoverscher Courier«




Urteile der Presse über:

  Waldemar Bonsels
  Indienfahrt

Ich gestehe offen, daß mir noch niemals ein so formvollendetes,
künstlerisch durchdachtes und von Schönheit überquellendes Buch unter die
Augen gekommen ist.

  »Der Bund«, Bern


Waldemar Bonsels' Buch ist nicht nur das Schönste, was ich je über Indien
gelesen habe, auch ohne Rücksicht auf den Gegenstand muß ich es zu den
wenigen großen Kunstwerken der Literatur der Gegenwart zählen, die an sich
vollkommen sind. In meiner tiefen Ergriffenheit möchte ich auf dieses Buch
alle die Lobsprüche häufen, wie sie schlagwortartig bei Anerkennungen
wiederkehren.

  »Die Hilfe«, Berlin


Es ist unmöglich, die Glut dieses Buchs aus Rausch, Fieber, Weisheit und
Liebe zu zergliedern! Das Erlebnis Indien ist für Waldemar Bonsels das
Erlebnis der Natur ohne Konventionen, ohne Zivilisation, ohne
Mechanisierung des Lebens. Der Dichter durchstreift den Dschungel, immer
auf der Suche nach reiner ungetrübter Natur, voll Qual und Lust, voll Größe
und Einsamkeit. So wird der Leser vom stofflichen Reiz, vom Interessanten
zur Philosophie, zur Betrachtung, zum Miterleben einer Dichtung geleitet,
deren Gegenstand ein wirkliches Land ist, und aus einer Summe von
Eindrücken wird ein phantastisches, großartiges und kühnes Gemälde des
Lebens, wie es überall aus Gott fließt und zu seinem Urgrund zurückflutet.

  »März«, München


Bonsels zeigt _sein_ Indien, das Indien eines Menschen, der mit durstiger
Seele durch die Wälder und Berge zieht. So, aus dem Persönlichen heraus,
erwacht dieses Land mit einer Lebendigkeit vor unseren Augen, als stünden
wir selber auf seiner Erde, als quölle der Dunst seiner Frühe und die Glut
indischen Mittags vor uns aus dem Boden mit all seinen Gefahren und
mystischen Verlockungen. Mir scheint dies wirklich die einzige Methode zu
sein, mit der ein Land deskriptiv zu erfassen ist. Man darf nicht mit der
Kamera und dem Lot auf solch eine Reise gehen, sondern mit einer Seele;
einer Seele, die hell sein muß wie ein Spiegel, der die Sonne aufnimmt und
widerstrahlt aus der Begrenztheit seiner Dinghaftigkeit in die
Unbegrenztheit seelischen Erlebnisses.

  »Berliner Tageblatt«




Im Verlag von Schuster & Loeffler in Berlin erschienen:

  Waldemar Bonsels
  Die Biene Maja und ihre Abenteuer

  315. Auflage


Gebt dieses Buch euren Kindern; es ist ein herrliches Buch!

  »Die deutsche Frau«, Berlin


Es ist das Werk eines Dichters und Sehers, der eine große Offenbarung über
das tiefste Wesen der Dinge zu verkünden hat.

  »Straßburger Post«




  Waldemar Bonsels
  Das Anjekind
  Eine Erzählung

  49. Auflage

In diesem Buche schlägt das Herz einer dichterischen Wahrhaftigkeit, das zu
schlagen nie aufhören wird. Es ist ein Einklang zwischen Natur und Mensch
dargestellt, wie er ergreifender kaum gedacht werden kann.

  »Hannoverscher Courier«




  Waldemar Bonsels
  Himmelsvolk
  Ein Buch von Blumen, Tieren und Gott

  240. Auflage

Dies zarte, berauschende Buch ist ein Buch des Kämpfens, des Sieges und des
Untergangs. Alle Entwicklungen des Buches, sein inneres Ereignis, wird
dargestellt in Unterhaltungen mit Blumen, in Gesprächen von Tieren, deren
Ernst von einer kaum glaubbaren, niegekannten Heiterkeit getragen ist.
Jedes Wort aber scheint hingeschrieben in großer Leidenschaft, tief erfühlt
und in dem Willen, durch sein Werk beizutragen zu einer kommenden,
reineren, alles auf das Erleben stellenden, um Gott wissenden Menschheit.

  »Berliner Börsen-Courier«




Im Verlag von Schuster & Loeffler in Berlin erschienen:

  Waldemar Bonsels
  Wartalun
  Eine Schloßgeschichte

  56. Auflage

...das ist der Sinn des Geschehens zu Wartalun, einer Geschichte von so
hohem dichterischen Gewicht, daß ich sie nach den Maßen anderer Romane
nicht messen möchte. Der sie schuf, ist ein großer Künstler, wer sie liest,
empfängt eines der schönsten, um Natur- und Menschengeheimnis gewebten
Gedichte. Es klingt wie Urweltrauschen durch dies Buch, Winde, Bäume,
Tiere, die Erde selbst scheint zu reden, und das Tun der Irdischen ist wie
ein Glied der großen unendlichen Kette, die alles Leben bewegt.

  »München-Augsb. Abendzeitung«




  Waldemar Bonsels
  Der Tiefste Traum
  Eine Erzählung

  46. Auflage

Ein Stimmungszauber geht von dem Buche aus, der die Sinne mit lockender
Gewalt zur innigsten Anteilnahme zwingt. Der eigenartige Zauber liegt auf
der rein menschlichen Seite des tiefen Problems, und die ganze Entwicklung
der beiden Charaktere ist einzig darauf gerichtet, alles in eine ungemein
vertiefte und goldverklärte Harmonie ausklingen zu lassen.

  »Generalanzeiger für Elberfeld«




  Waldemar Bonsels
  Don Juan
  Eine epische Dichtung

  7. Tausend

  Erschienen 1919




                  *       *       *       *       *




Anmerkung: Gegenüber dem Originaltext wurden folgende
Änderungen vorgenommen:

    Buchseite 132: »kühl um seine Stirn wehte«
    wurde geändert in: »kühl um meine Stirn wehte«.
    Buchseite 134: »Maisor« wurde geändert in »Maisur«.
    Buchseite 154: »Mangolore« wurde geändert in »Mangalore«.
    Buchseite 168: »Upanangadi« wurde geändert in »Uppanangadi«.
    Buchseite 191: »Kumadary« wurde geändert in »Kumardary«.
    Buchseite 199: »Malealym« wurde geändert in »Malayalam«.
    Buchseite 224: »Indier« wurde geändert in »Inder«.
    Buchseite 230: »Indier« wurde geändert in »Inder«.

    Ein neuer Absatz wurde begonnen:
    Buchseite 54: vor »Die Nacht sank nieder«
              76: vor »Wir besichtigten die Boote«
              78: vor »Gegen Mitternacht«
              80: vor »Wir hatten viel Umstände«
             119: vor »Goy sann nach«
             122: vor »Ich sah Panja weinen«
             122: vor »Erst nach Tagen«
             132: vor »Mir war die Nachricht willkommen«
             185: vor »Ich begriff aufs neue«
             199: vor »Er erhob sich«
             223: vor »Die Sonne trieb ihr buntes Spiel«



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receive the work electronically in lieu of a refund.  If the second copy
is also defective, you may demand a refund in writing without further
opportunities to fix the problem.

1.F.4.  Except for the limited right of replacement or refund set forth
in paragraph 1.F.3, this work is provided to you 'AS-IS', WITH NO OTHER
WARRANTIES OF ANY KIND, EXPRESS OR IMPLIED, INCLUDING BUT NOT LIMITED TO
WARRANTIES OF MERCHANTIBILITY OR FITNESS FOR ANY PURPOSE.

1.F.5.  Some states do not allow disclaimers of certain implied
warranties or the exclusion or limitation of certain types of damages.
If any disclaimer or limitation set forth in this agreement violates the
law of the state applicable to this agreement, the agreement shall be
interpreted to make the maximum disclaimer or limitation permitted by
the applicable state law.  The invalidity or unenforceability of any
provision of this agreement shall not void the remaining provisions.

1.F.6.  INDEMNITY - You agree to indemnify and hold the Foundation, the
trademark owner, any agent or employee of the Foundation, anyone
providing copies of Project Gutenberg-tm electronic works in accordance
with this agreement, and any volunteers associated with the production,
promotion and distribution of Project Gutenberg-tm electronic works,
harmless from all liability, costs and expenses, including legal fees,
that arise directly or indirectly from any of the following which you do
or cause to occur: (a) distribution of this or any Project Gutenberg-tm
work, (b) alteration, modification, or additions or deletions to any
Project Gutenberg-tm work, and (c) any Defect you cause.


Section  2.  Information about the Mission of Project Gutenberg-tm

Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
electronic works in formats readable by the widest variety of computers
including obsolete, old, middle-aged and new computers.  It exists
because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from
people in all walks of life.

Volunteers and financial support to provide volunteers with the
assistance they need, is critical to reaching Project Gutenberg-tm's
goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
remain freely available for generations to come.  In 2001, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations.
To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4
and the Foundation web page at http://www.gutenberg.org/fundraising/pglaf.


Section 3.  Information about the Project Gutenberg Literary Archive
Foundation

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
Revenue Service.  The Foundation's EIN or federal tax identification
number is 64-6221541.  Contributions to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent
permitted by U.S. federal laws and your state's laws.

The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S.
Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered
throughout numerous locations.  Its business office is located at
809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887, email
[email protected].  Email contact links and up to date contact
information can be found at the Foundation's web site and official
page at http://www.gutenberg.org/about/contact

For additional contact information:
     Dr. Gregory B. Newby
     Chief Executive and Director
     [email protected]

Section 4.  Information about Donations to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
spread public support and donations to carry out its mission of
increasing the number of public domain and licensed works that can be
freely distributed in machine readable form accessible by the widest
array of equipment including outdated equipment.  Many small donations
($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
status with the IRS.

The Foundation is committed to complying with the laws regulating
charities and charitable donations in all 50 states of the United
States.  Compliance requirements are not uniform and it takes a
considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
with these requirements.  We do not solicit donations in locations
where we have not received written confirmation of compliance.  To
SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any
particular state visit http://www.gutenberg.org/fundraising/donate

While we cannot and do not solicit contributions from states where we
have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
against accepting unsolicited donations from donors in such states who
approach us with offers to donate.

International donations are gratefully accepted, but we cannot make
any statements concerning tax treatment of donations received from
outside the United States.  U.S. laws alone swamp our small staff.

Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
methods and addresses.  Donations are accepted in a number of other
ways including checks, online payments and credit card donations.
To donate, please visit:
http://www.gutenberg.org/fundraising/donate


Section 5.  General Information About Project Gutenberg-tm electronic
works.

Professor Michael S. Hart is the originator of the Project Gutenberg-tm
concept of a library of electronic works that could be freely shared
with anyone.  For thirty years, he produced and distributed Project
Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support.

Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S.
unless a copyright notice is included.  Thus, we do not necessarily
keep eBooks in compliance with any particular paper edition.

Most people start at our Web site which has the main PG search facility:

     http://www.gutenberg.org

This Web site includes information about Project Gutenberg-tm,
including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
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