Die Republik des Südkreuzes: Novellen

By Valery Yakovlevich Bryusov

Project Gutenberg's Die Republik des Südkreuzes, by Waleri Brjussow

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Title: Die Republik des Südkreuzes
       Novellen

Author: Waleri Brjussow

Translator: Hans von Guenther

Release Date: January 7, 2012 [EBook #38518]

Language: German


*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE REPUBLIK DES SÜDKREUZES ***




Produced by Jens Sadowski




Valerius Brjussoff

Die Republik des
Südkreuzes

Novellen






München 1908
Verlegt bei Hans von Weber



Die autorisierte Übertragung dieses Buches aus
dem Russischen ist von Hans von Guenther besorgt.
Den künstlerischen Schmuck zeichnete
Otto zu Gutenegg. Gedruckt wurde es bei Oscar
Brandstetter zu Leipzig. 50 Exemplare wurden
auf Van Geldern abgezogen, in goldgepreßtes
Leder gebunden und handschriftlich numeriert.




Die Republik des Südkreuzes
Die Schwestern
Im unterirdischen Kerker
Die letzten Märtyrer
Jetzt aber, wo ich erwacht bin . . .
Im Spiegel
Das Köpfchen aus Marmor








Die Republik des Südkreuzes



Artikel der Spezialnummer des »Nordeuropäischen Abendblattes«



In letzter Zeit erschien eine ganze Reihe von Beschreibungen jener
entsetzlichen Katastrophe, welche die Republik des Südkreuzes heimsuchte.
Sie sind einander überraschend unähnlich und geben nicht wenig offenbar
phantastische und unwahrscheinliche Begebenheiten wieder. Die
Zusammensteller dieser Beschreibungen verhielten sich augenscheinlich zu
leichtgläubig gegenüber den Berichten jener Bewohner der Sternenstadt, die
sich gerettet hatten, und die, was ja bekannt ist, _alle von einer
psychischen Störung betroffen wurden_. Darum also halten wir es für
nützlich und zeitgemäß, die Summe aller _glaubwürdigen_ Nachrichten, die
uns bislang von der Tragödie auf dem Südpole bekannt wurden, zu ziehen.

Die Republik des Südkreuzes entwickelte sich vor etwa vierzig Jahren aus
300 in den südpolaren Gebieten gelegenen Stahlfabriken. In einem Zirkular,
das allen Regierungen des Erdballes zugesandt wurde, erhob der neue Staat
Ansprüche auf alle Länder, ob sie nun kontinentalen oder insularen
Charakters waren, die in dem Bezirke des südpolaren Kreises lagen, wie auch
auf jene Teile dieser Länder, die über dieses Gebiet hinausragten. Er
erklärte sich bereit, diese Länder von den Regierungen käuflich zu
erwerben, unter deren Protektorate sie standen. Die Prätensionen der neuen
Republik begegneten keinem Widerstand von seiten der fünfzehn Großmächte
der Erde. Einige strittige Punkte betreffs weniger Inseln, die außerhalb
des Polarkreises lagen, dennoch aber eng an das südpolare Gebiet grenzten,
erforderten besondere Traktate. Nach Erfüllung verschiedener Formalitäten
wurde die Republik des Südkreuzes in die Familie der Weltherrschaften
aufgenommen und ihre Vertreter bei den in Frage kommenden Regierungen
akkreditiert.

Die Hauptstadt der Republik, die den Namen der Sternenstadt erhielt, war am
Pole gelegen. An jenem gedachten Punkte, den die Erdachse berührt und wo
alle Meridiane zusammentreffen, stand das städtische Rathaus, und die
Spitze seines Fahnenmastes war zum Zenith des Himmels emporgerichtet. Die
Straßen der Stadt entfernten sich vom Rathaus in der Richtung der
Meridiane, und die Meridionalen wurden von anderen durchschnitten, die in
der Richtung der Parallelkreise strebten. Die Höhe und das Äußere aller
Baulichkeiten waren gleichartig. Die Wände hatten keine Fenster, denn das
Innere der Gebäude war durch Elektrizität beleuchtet. Elektrizität
beleuchtete auch die Straßen. In Anbetracht des rauhen Klimas war über der
Stadt ein das Licht abschließendes Dach errichtet worden, in das mächtige
Ventilatoren eingelassen waren, zum beständigen Erneuern der Luft. Jene
Länder des Erdballes kennen im Laufe des Jahres nur einen Tag von sechs
Monaten und eine lange Nacht von gleichfalls sechs Monaten, doch die
Straßen der Sternenstadt wurden beständig vom gleichen und klaren Lichte
beschienen. Ganz ebenso, wie zu allen Jahreszeiten die Temperatur auf den
Straßen künstlich auf der gleichen Höhe gehalten wurde.

Nach der letzten Zählung erreichte die Zahl der Sternenstadtbewohner die
Höhe von 2500000 Menschen. Die ganze übrige Bevölkerung der Republik, die
auf 50000000 geschätzt wurde, verteilte sich auf die Hafenstädte und
Fabriken. Diese Punkte bildeten gleichfalls Ansammlungen von Millionen
Leuten und erinnerten in ihrem Äußeren an die Sternenstadt. Dank einer
geistvollen Anwendung elektrischer Kraft, waren die Einfahrten aller
offenen Häfen das ganze Jahr über eisfrei. Elektrisch betriebene
Hängebahnen verbanden die bewohnten Orte der Republik miteinander und auf
ihnen wurden täglich Zehntausende von Menschen und Millionen Kilogramm
Waren aus einer Stadt in die andere befördert. Was das Innere des Landes
anbetrifft, so blieb es unangesiedelt. Vor den Blicken der Reisenden, die
durchs Waggonfenster schauten, zogen nur einförmige Wüsten vorbei, die im
Winter völlig weiß und nur in den drei Sommermonaten von spärlichem Grase
bewachsen waren. Wilde Tiere waren schon längst ausgerottet, und für das
Leben fehlte dort jegliche Existenzmöglichkeit. Doch um so erstaunlicher
war das angeregte Leben in den Hafenstädten und Fabrikzentren. Um einen
Begriff von diesem Leben zu geben, sei nur erwähnt, daß in den letzten
Jahren etwa _sieben Zehntel_ allen Metalles, das auf der Erde zutage
gefördert wurde, in den staatlichen Fabriken der Republik zur Umarbeitung
gelangten.

Die Konstitution der Republik schien äußerlich die völlige Verkörperung von
Volksherrschaft darzustellen. Als die einzig voll berechtigten Bürger
galten die Arbeiter der metallurgischen Fabriken, die etwa 60 Prozent der
Bevölkerung bildeten. Diese Fabriken waren Staatseigentum. Das Leben der
Arbeiter auf den Fabriken war nicht nur mit allen möglichen
Bequemlichkeiten ausgestattet, sondern sogar luxuriös. Zu ihrer Verfügung
standen außer den wundervollen Räumlichkeiten und einem erlesenen Tische
noch die verschiedensten Bildungsmittel und Zerstreuungen: Bibliotheken,
Museen, Theater, Konzerte, Säle für alle Arten Sport usw. Die tägliche Zahl
der Arbeitsstunden war eine äußerst geringe. Um Erziehung und Bildung der
Kinder, um medizinische und juristische Hilfe, um Gottesdienst aller
Religionen bekümmerte sich die Regierung. Die in der Befriedigung aller
ihrer Nöte, ihres Bedarfes, ja selbst ihrer Wünsche ganz sorglos gestellten
Arbeiter der staatlichen Fabriken erhielten allerdings für ihre Arbeit
keine Geldentschädigung; doch die Familien der Bürger, die mehr als 20
Jahre auf einer Fabrik gedient hatten, wie auch jene der im Dienste
gestorbenen oder arbeitsunfähig gewordenen, erhielten eine reiche
lebenslängliche Pension unter der Bedingung, die Republik nicht zu
verlassen. Aus der Zahl der Arbeiter wurden auf dem Wege allgemeiner
Stimmabgabe Vertreter gewählt für die gesetzgebende Kammer der Republik,
die alle Fragen des politischen Lebens im Lande entschied, ohne allerdings
das Recht zu haben, es in seinen Grundgesetzen zu verändern.

Dies demokratische Äußere verhüllte eine rein selbstherrliche Tyrannei der
Mitglieder und Begründer des früheren Trustes. Den anderen die Plätze der
Deputierten in der Kammer überlassend, wählten sie immer nur ihre
Kandidaten zu Direktoren der Fabriken. In den Händen des Rates dieser
Direktoren konzentrierte sich das ganze ökonomische Leben des Landes. Sie
empfingen alle Bestellungen und verteilten sie an die Fabriken; sie kauften
Material und Maschinen für die Arbeit; sie führten die ganze Haushaltung in
den Fabriken. Durch ihre Hände flossen ungeheure Summen Geldes, die nach
Milliarden zählten. Die gesetzgebende Kammer hatte immer nur die ihr
vorgelegten Quittungen der Ausgaben und Einnahmen in der Fabrikverwaltung
zu bestätigen, obgleich oftmals die Balance dieser Quittungen das ganze
Budget der Republik weit überwog. Der Einfluß des Direktorenrates auf die
internationalen Verhältnisse war ungeheuer. Seine Entschlüsse konnten ganze
Länder arm machen. Die Preise, die er aufstellte, bestimmten den Verdienst
von Millionen arbeitender Menschen auf der ganzen Erde. Gleichzeitig war,
wenn auch nicht so direkt, der Einfluß des Rates auf die inneren Geschicke
der Republik immer entscheidend. Die gesetzgebende Kammer vollstreckte im
Grunde nur gehorsam den Willen des Rates.

Diese Gewalt konnte der Rat nur durch ein unerbittliches Reglement des
ganzen Lebens im Lande in seinen Händen erhalten. Bei anscheinender
Freiheit war das bürgerliche Leben bis herab zu den kleinsten Kleinigkeiten
normiert. Die Gebäude aller Städte in der Republik wurden nach ein und
demselben vom Gesetz bestimmten Muster gebaut. Die Ausstattung aller
Räumlichkeiten, die den Arbeitern zur Verfügung standen, war bei all ihrer
Pracht doch aufs strengste einförmig. Alle erhielten die gleiche Speise zur
gleichen Stunde. Die Kleidung, welche die Staatsspeicher hergaben, war
unveränderlich und immer zehn Jahre von gleicher Art. Nach einer bestimmten
Stunde, die ein Signal vom Rathaus her ankündigte, war es nicht gestattet,
aus dem Hause zu gehen. Die ganze Presse war einer strengen Zensur
untergeordnet. Kein Aufsatz, der gegen die Diktatur des Rates gerichtet
war, wurde durchgelassen. Übrigens war das ganze Land so sehr von der
Wohltätigkeit eben dieser Diktatur überzeugt, daß die Setzer sich
weigerten, Zeilen zu setzen, welche den Rat kritisierten. Alle Fabriken
waren voll Agenten des Rates. Bei der geringsten Unzufriedenheit mit dem
Rat beeilten sich diese Agenten auf eilig versammelten Meetings, in
leidenschaftlichen Reden alle Zweifelnden zu überzeugen. Der
wirkungsvollste Beweis war natürlich jener, daß das Leben der Arbeiter in
der Republik für die ganze Welt ein Gegenstand des Neides sei. Man sagt
auch, daß der Rat, im Falle unentwegter Agitation einzelner Personen, einen
politischen Mord nicht verschmähte. Jedenfalls aber wurde, so lange die
Republik besteht, bei der allgemeinen Stimmabgabe noch kein Direktor von
den Bürgern in den Rat gewählt, der den Gründern feindlich gewesen wäre.

Die Einwohner der Sternenstadt bestanden hauptsächlich aus Arbeitern, die
ihre Zeit abgedient hatten. Das waren, sozusagen, Rentiers des Staates. Die
Regierung gab ihnen Mittel und Möglichkeit, komfortabel zu leben. Darum ist
es nur natürlich, daß die Sternenstadt in den Ruf einer der fröhlichsten
Städte auf der Welt kam. Für verschiedene Entrepreneure war dies ein
gefundenes Fressen. Die Berühmtheiten der ganzen Welt trugen ihre Talente
hierher. Hier waren die besten Opern, Konzerte, Kunstausstellungen; hier
erschienen die bestunterrichteten Zeitungen. Die Magazine der Sternenstadt
überraschten durch reiche Auslagen, die Restaurants durch Pracht und
Erlesenheit der Gedecke; die Freudenhäuser betörten durch alle Formen des
Lasters, welche die alte und neue Welt erdacht hatten. Trotzdem war das von
der Regierung ausgehende Reglement des Lebens auch in der Sternenstadt zu
bemerken. Es ist wahr, die Ausstattung der Wohnungen, die Moden der
Gewänder waren nicht eingeschränkt, doch auch hier blieb das Verbot des
Ausgehens nach einer bestimmten Stunde in Kraft, gleichwie die Strenge der
Preßzensur, und der Rat hielt sich auch hier eine ganze Armee von Spionen.
Die Ordnung wurde offiziell von der Volkswacht aufrecht erhalten, doch
Seite an Seite mit ihr existierte die geheime Polizei des allwissenden
Rates.

In den allgemeinen Zügen war dies das Leben in der Republik des Südkreuzes
und ihrer Hauptstadt. Aufgabe eines künftigen Historikers dürfte es sein,
zu bestimmen, in wieweit dieses Leben auf die Entstehung und Verbreitung
jener unheilvollen Epidemie einwirkte, die zum Untergange der Sternenstadt
führte und vielleicht auch zu dem des ganzen jungen Staates.

                                * * *

Die ersten Fälle einer Erkrankung am »Widerspruche« wurden schon vor etwa
20 Jahren in der Republik bemerkt. Damals trug diese Krankheit noch einen
zufälligen und sporadischen Charakter. Die dort ansässigen Psychiater und
Neuropathologen interessierten sich für sie, gaben ihre genaue Beschreibung
und es wurden ihr auch auf dem damals in Lhassa stattfindenden
internationalen Medizinerkongreß mehrere Berichte gewidmet. Allein man
vergaß sie später, obwohl es in den psychiatrischen Kliniken der
Sternenstadt niemals an von dieser Krankheit Befallenen mangelte. Seinen
Namen erhielt dies Leiden daher, daß die an ihm erkrankten beständig sich
selbst und ihren Wünschen widersprachen, das eine wollten, aber ein ganz
anderes sagten oder taten. (Der wissenschaftliche Name dieser Krankheit ist
mania contradicens.) Sie setzt gewöhnlich mit schwach angedeuteten
Symptomen ein, vorwiegend in einer Art eigentümlicher Aphasie. Der
Erkrankte sagt anstatt »Ja« -- »Nein«; an Stellen von freundschaftlichen
Worten, überschüttet er den anderen mit Schimpfreden usw. Größtenteils
beginnt der Kranke gleichzeitig zu sich selbst und seinen Handlungen in
Widerspruch zu treten; will er links gehen, so wendet er sich nach rechts;
gedenkt er seinen Hut abzunehmen, um besser sehen zu können, so drückt er
sich ihn um so tiefer in die Stirne usw. Bei einer Weiterentwicklung der
Krankheit erfüllen diese Widersprüche das ganze körperliche und seelische
Leben des Kranken, dabei natürlich mit großer Mannigfaltigkeit und der
individuellen Eigenheit eines jeden entsprechend auftretend. Im allgemeinen
sind die Reden des Kranken unverständlich, seine Handlungen töricht. Auch
die Regelmäßigkeit der physiologischen Verrichtungen des Organismus wird
gestört. Das Unvernünftige seines Handelns erkennend, gerät der Kranke in
äußerste Erregung, die oft an Ekstase grenzt. Sehr viele beenden ihr Leben
durch Selbstmord, was zuweilen in einem Wahnsinnsanfall geschieht, zuweilen
aber auch in Minuten seelischer Klarheit. Einige sterben durch einen
Bluterguß ins Gehirn. Fast immer führt die Krankheit zu einem letalen Ende;
Fälle der Wiederherstellung sind äußerst selten.

In der Sternenstadt nahm die mania contradicens erst in den mittleren
Monaten dieses Jahres ihren epidemischen Charakter an. Bis zu dieser Zeit
war die Zahl der an Widerspruch erkrankten niemals größer als 2 Prozent der
überhaupt Erkrankten. Doch dieses Verhältnis stieg im Mai (dies ist ein
Herbstmonat in der Republik) plötzlich auf 25 Prozent und wurde in den
folgenden Monaten immer größer, während gleichzeitig auch die absolute Zahl
der Erkrankungen proportional wuchs. In der Mitte des Juni waren schon 2
Prozent der _ganzen Bevölkerung_, d. h. etwa 50000 Menschen offiziell als
am Widerspruch erkrankt erklärt. Nach dieser Zeit fehlen alle statistischen
Daten. Die Krankenhäuser waren überfüllt. Das Kontingent der Ärzte war bald
zu klein. Dazu kam noch, daß auch die Ärzte sowie die Krankenwärter der
Krankheit erlagen und sehr bald schon war es vielen Kranken unmöglich,
ärztliche Hilfe zu erlangen, und deshalb wurde eine genaue Registrierung
der Krankheitsfälle illusorisch. Übrigens treffen die Berichte aller
Augenzeugen darin zusammen, daß man bereits im Juli keine Familie mehr
sehen konnte, in der nicht ein Erkrankter gewesen wäre. Zu diesem kam noch,
daß die Zahl der Gesunden sich beständig verringerte, da eine
Massenemigrierung aus der Stadt, wie aus einem verseuchten Orte, begann,
und die Zahl der Kranken zunahm. Es läßt sich denken, daß jene nicht weit
von der Wahrheit entfernt sind, welche behaupten, daß schon im August
_alle_, die in der Sternenstadt zurückgeblieben waren, von einer
psychischen Störung ergriffen waren.

Das erste Auftreten der Epidemie kann man in den dortigen Zeitungen
verfolgen, die das alles in eine ständig anwachsende Rubrik eintrugen:
Mania contradicens. Da es so schwierig ist, die Krankheit in ihren ersten
Stadien zu erkennen, so ist die Chronik der Tage im Beginn der Epidemie
voll von komischen Episoden. Ein erkrankter Kondukteur der Metropolitaine
nahm kein Geld von den Passagieren, sondern zahlte es ihnen. Ein
Straßenwächter, dessen Pflicht es war, die Bewegung auf der Straße zu
regulieren, hemmte und verwirrte sie im Verlaufe eines ganzen Tages. Ein
Museumsbesucher nahm in den Sälen, die er durchschritt, alle Bilder
herunter und hängte sie umgekehrt wieder auf. Eine Zeitung, deren Korrektur
von einem erkrankten Redakteur gelesen wurde, war voll lächerlicher
Versehen. Im Konzerte störte plötzlich ein erkrankter Geiger durch
fürchterliche Dissonanzen, die vom Orchester ausgeführte Pièce usw. Eine
lange Reihe solcher Zufälle gab den dortigen Feuilletonisten Stoff zu
witzigen Ausfällen. Doch einige Ereignisse anderer Art brachten bald die
Spötter zum Schweigen. Das erste bestand darin, daß ein Arzt, der am
»Widerspruch« erkrankt war, einem Mädchen ein unbedingt tödliches Mittel
verschrieb, und daß seine Patientin starb. Ganze drei Tage waren die
Zeitungen mit diesem Vorfall beschäftigt. Dann waren es zwei Ammen, die im
Stadtkindergarten in einem Anfall des Widerspruchs einundvierzig Kindern
die Gurgel durchschnitten. Die Nachricht von diesem Fall erschütterte die
ganze Stadt. Doch am selben Tage rollten zwei Erkrankte aus dem Hause, in
dem die Stadtmilizen einquartiert waren, eine Mitrailleuse und
überschütteten die friedlich wandelnde Menge mit Kartätschen. An 500
Menschen wurden getötet oder verwundet.

Nach diesem Vorfall begannen alle Zeitungen, sowie die ganze Gesellschaft
stürmisch nach sofortigen Maßregeln gegen die Epidemie zu verlangen. In
einer Extrasitzung des Stadtrates und der gesetzgebenden Kammer wurde
beschlossen, Ärzte aus den anderen Städten und dem Auslande aufzufordern,
sofort die alten Krankenhäuser zu vergrößern, neue zu eröffnen, sowie
Häuser zur Isolierung der am »Widerspruch« Erkrankten zu gründen, eine
Broschüre über die neue Krankheit, in der auf alle Anzeichen und
Heilungsmethoden hingewiesen werden sollte, in 500000 Exemplaren drucken
und verteilen zu lassen, und endlich in allen Straßen spezielle Jouren von
Ärzten und ihren Gehilfen zu organisieren, sowie auch regelmäßige Besuche
in den Privatquartieren zum Erweisen der ersten Hilfe usw. Es wurde auch
beschlossen, täglich ausschließlich für Kranke bestimmte Züge auf allen
Strecken verkehren zu lassen, da die Ärzte als bestes Mittel gegen die
Krankheit eine Ortsveränderung empfahlen. Ähnliche Mittel wurden
gleichzeitig auch von verschiedenen Privatassoziationen, Vereinigungen und
Klubs ergriffen. Es wurde sogar eine besondere »Gesellschaft zum Kampf mit
der Epidemie« begründet, deren Mitglieder schon bald eine wirklich
aufopfernde Tätigkeit entwickelten. Doch ungeachtet dessen, daß all diese
und ähnliche Mittel mit unermüdlicher Energie durchgeführt wurden, wurde
die Epidemie nicht schwächer, sondern mit jedem Tage stärker, betraf in
gleicher Weise Kinder und Greise, Männer und Frauen, arbeitende Menschen
und solche, die sich erholten, Asketen und Wüstlinge. Und bald wurde die
ganze Gesellschaft von unüberwindlichem, elementarem Grauen vor diesen
unerhörten Nöten ergriffen.

Die Flucht aus der Sternenstadt begann. Anfangs beeilten sich einige aus
der Zahl der hervorragenden Beamten, Direktoren, Mitgliedern der
gesetzgebenden Kammer und des Stadtrates, ihre Familien in die südlichen
Städte Australiens oder nach Patagonien zu schicken. Nach ihnen kam dann
die zufällig angereiste Bevölkerung: Ausländer, die sehr gerne »die
allerlustigste Stadt der Südhemisphäre« besuchten, Artisten aller
Professionen, Abenteurer verschiedenster Art, Frauen von leichter
Aufführung. Als die Epidemie trotzdem neue Fortschritte machte, flohen auch
die Kaufleute. Ihre Waren verkauften sie eiligst und ihre Magazine
überließen sie dem Schicksale. Gleichzeitig mit ihnen flohen die Bankiers,
die Besitzer von Theatern und Restaurants, die Herausgeber von Zeitungen
und Büchern. Endlich trat die Notwendigkeit auch an die Stammbevölkerung
heran. Nach dem Gesetze durften die gewesenen Arbeiter die Republik nicht
ohne eine besondere Erlaubnis verlassen, unter Androhung des Verlustes der
Pension. Doch um sein Leben zu retten, kümmerte sich keiner mehr um diese
Drohung. Man desertierte. Es flohen die in den staatlichen Behörden
dienenden, es flohen die Glieder der Volksmiliz, es flohen die Schwestern
in den Krankenhäusern, die Pharmazeuten, die Ärzte. Das Bestreben zu
fliehen, wurde seinerseits fast zur Manie. Es flohen alle, die fliehen
konnten.

Die Stationen der elektrischen Bahnen waren beständig von riesigen
Volksmengen umlagert. Die Billette zu den Zügen wurden für enormes Geld
gekauft, und es wurde um sie gekämpft. In der Minute der Abfahrt des Zuges
brachen neue Menschen in die Waggons und traten die eroberten Plätze nicht
ab. Die Menschen hielten die nur für Kranke bestimmten Züge an, zogen sie
aus den Waggons, nahmen ihre Zellen ein und zwangen den Maschinisten zu
fahren. Der ganze bewegliche Bestand an Eisenbahnen in der Republik
arbeitete seit Ende Mai nur auf den Linien, welche die Hauptstadt mit den
Häfen verbanden. Die aus der Sternenstadt kommenden Züge waren überfüllt;
die Passagiere standen in den Gängen, wagten es sogar, draußen zu stehen,
obgleich bei der Schnelligkeit der heutigen elektrischen Bahnen die Gefahr
des Erstickungstodes drohte. Die Dampferkompagnien Australiens, Südamerikas
und Südafrikas machten verhältnismäßig gute Geschäfte bei der Überfahrt der
Emigranten aus der Republik in andere Länder. Zur Sternenstadt aber fuhren
die Züge fast leer. Für kein Geld konnte man Menschen bereit finden, einen
Dienst in der Hauptstadt zu übernehmen; nur zuweilen besuchten exzentrische
Touristen und Liebhaber starker Emotionen die verseuchte Stadt. Man hat
berechnet, daß vom Beginn der Emigrierung bis zum 22. Juni, als der
regelmäßige Bahnverkehr aufhörte, etwa 1500000 Menschen die Sternenstadt
auf den sechs Bahnlinien verließen, also fast zwei Drittel der gesamten
Einwohnerschaft.

In dieser Zeit hat sich der Vorsitzende des Stadtrates, Horace Divile,
durch seine Unternehmungslust, Willenstärke und Männlichkeit ewigen Ruhm
erworben. In der Extrasitzung vom 5. Juni übertrug der Stadtrat im
Einvernehmen mit der Kammer und dem Rate der Direktoren dem Divile die
diktatorische Gewalt über die Stadt mit dem Titel des Befehlhabers, übergab
ihm die Stadtkasse zur Verfügung, die Volksmiliz und die städtischen
Unternehmungen. Hierauf wurden die Regierungsinstitutionen und das Archiv
aus der Sternenstadt in den Nordischen Port übergeführt. Der Name Horace
Divile müßte mit goldenen Buchstaben zu den alleredelsten Namen der
Menschheit geschrieben werden. Im Verlauf von 1 1/2 Monaten kämpfte er
unablässig mit der fortschreitenden Anarchie in der Stadt. Ihm gelang es,
sich eine Schar mutiger Gehilfen zu bilden. Ihm gelang es unter der
Volksmiliz und den städtischen Beamten, die das Grauen vor der allgemeinen
Not ergriffen hatte, und deren Zahl durch die Epidemie fortwährend
dezimiert wurde, noch lange die Disziplin und Subordination aufrecht zu
erhalten. Hunderttausende verdanken Horace Divile ihre Rettung, da es ihnen
nur dank seiner Energie und seinen Anordnungen abzureisen gelang. Anderen
Tausenden von Menschen erleichterte er die letzten Tage, gab ihnen die
Möglichkeit im Krankenhause bei guter Pflege und nicht unter den Schlägen
der entmenschten Menge zu sterben. Ferner hat Divile der Menschheit die
Chronik dieser Katastrophe erhalten, denn nicht anders kann man diese
kurzen aber inhaltsreichen und genauen Telegramme nennen, die er täglich
und auch mehreremale am Tage aus der Sternenstadt nach der zeitweiligen
Residenz der republikanischen Regierung beförderte: nach dem Nordischen
Port.

Bei Übernahme des Postens eines Stadtbefehlshabers war Diviles erstes Werk
der Versuch, die aufgeregten Gedanken der Bevölkerung zu beruhigen. Er gab
Manifeste heraus, die darauf hinwiesen, daß die psychische Ansteckung am
ehesten auf erregte Menschen wirke, und welche die gesunden und
gemütsstarken Leute aufforderte, auf die Schwachen und Nervösen den Einfluß
ihrer Autorität geltend zu machen. Gleichzeitig trat Divile in Verbindung
mit der »Gesellschaft zur Bekämpfung der Epidemie« und verteilte unter
deren Mitglieder alle öffentlichen Orte, Theater, Versammlungen, Märkte,
Straßen. In diesen Tagen verging kaum eine Stunde, in der nicht an irgend
einem Orte eine Erkrankung konstatiert wurde. Bald hier, bald dort bemerkte
man Menschen, oder ganze Gruppen von Menschen, deren Benehmen offenkundig
ihre Abnormität bewies. Größtenteils hatten die Kranken, die ihren Zustand
erkannten, den unmittelbaren Wunsch, jemand um Hilfe anzugehen. Aber unter
dem Einfluß ihrer gestörten Psychen verwandelte sich dieser Wunsch in
feindliche Handlungen gegen die in der Nähe Weilenden. Die Kranken wollten
zu sich nach Hause laufen oder ins Krankenhaus, flohen aber statt dessen in
die entfernten Stadtviertel. Ihnen kam der Gedanke, jemand um Trost zu
bitten, statt dessen packten sie die zufällig Vorübergehenden an die
Gurgel, würgten sie, schlugen und verwundeten sie oft mit Messer oder
Stock. Deshalb flohen alle Menschen, sobald sich jemand in der Nähe zeigte,
der vom »Widerspruch« befallen war. In solchen Minuten kamen die Mitglieder
der »Gesellschaft« zu Hilfe. Einige von ihnen überwältigten den Kranken,
beruhigten ihn und transportierten ihn in das nächstliegende Krankenhaus;
die anderen beruhigten die Menge und erklärten ihr, daß keine Gefahr
vorhanden sei, daß nur ein neues Unglück geschehen wäre, mit dem alle nach
dem Maße ihrer Kraft zu kämpfen hätten.

In den Theatern und Versammlungen führten die Fälle plötzlicher
Erkrankungen sehr oft zu tragischen Endspielen. Anstatt den Sängern ihr
Entzücken auszudrücken, stürzten einige hundert Zuschauer, die in der Oper
von plötzlichem Massenwahnsinn ergriffen wurden, plötzlich auf die Szene
und prügelten die Darsteller. Ein Artist, dessen Rolle mit einem
Selbstmorde schließen mußte, schoß in einem Anfall plötzlicher Erkrankung
im großen dramatischen Theater mehrere Male in den Zuschauerraum. Der
Revolver war natürlich nicht geladen. Doch unter der Einwirkung dieser
Nervenerschütterung brach bei mehreren Personen im Publikum die Krankheit,
die sie schon heimlich ergriffen hatte, offen aus. Bei dem entstehenden
Gewühl, während dessen die natürliche Panik durch die Handlungen der
»Widerspruchsvollen« noch verstärkt wurde, wurden an 100 Menschen getötet.
Doch am allerfurchtbarsten war das Ereignis im »Feuerwerktheater«. Die
dorthin zur Beaufsichtigung des Feuers gesandte Truppe der Stadtmiliz
zündete in einem Anfall der Krankheit die Szenerie an, sowie jene Schleier,
welche die Lichteffekte verteilen. Vom Feuer und im Gedränge kamen nicht
weniger als 200 Menschen um. Nach diesem Geschehnis verbot Horace Divile
alle theatralischen oder musikalischen Ausübungen in der Stadt.

Eine für die Einwohner furchtbare Gefahr bildeten die Räuber und Diebe, die
bei der allgemeinen Desorganisation ein weites Feld für ihre Tätigkeit
fanden. Man beteuert, daß einige von ihnen erst zu dieser Zeit in die
Sternenstadt aus dem Auslande gekommen seien. Um unbestraft zu bleiben,
simulierten einige Wahnsinn. Andere hielten es nicht einmal für nötig, den
offenen Raub durch Heuchelei zu bemänteln. Die Räuberbanden brachen in die
verlassenen Magazine und trugen die wertvolleren Sachen fort, drangen in
die Privatquartiere und verlangten Gold, hielten die Passanten an und
nahmen ihnen ihre Kostbarkeiten, Ringe, Uhren, Bracelets fort. Zu den
Räubereien gesellten sich Gewalttaten jeder Art und vornehmlich
Vergewaltigungen der Frauen. Der Stadtbefehlshaber entsandte ganze
Abteilungen der Miliz gegen die Verbrecher, aber diese erkühnten sich, in
offenen Kampf zu treten. Es gab furchtbare Vorfälle, wenn unter den Räubern
oder den Miliztruppen plötzlich am »Widerspruch« Erkrankte auftauchten und
ihre Waffen gegen die Kameraden wandten. Die arretierten Räuber sandte der
Befehlshaber anfangs aus der Stadt. Doch die Bürger befreiten sie aus ihren
Waggonzellen, um ihre Plätze einzunehmen. Da fühlte sich der Befehlshaber
genötigt, die Straßenräuber und alle Gewalttätigen zum Tode zu verurteilen.
So wurde nach einer fast 300jährigen Unterbrechung auf der Erde aufs neue
die unverhüllte Todesstrafe eingeführt.

Im Juni begann in der Stadt ein Mangel an Gegenständen der ersten Notdurft
fühlbar zu werden. Die Lebensmittel reichten nicht aus und ebensowenig die
Medikamente. Die Zufuhr auf der Eisenbahn begann sich zu vermindern; in der
Stadt selbst hatte fast jegliches Gewerbe aufgehört. Divile organisierte
städtische Brotbäckereien und verteilte an alle Einwohner Brot und Fleisch.
In der Stadt wurden allgemeine Speisesäle nach dem Muster jener auf den
Fabriken eröffnet. Doch es war unmöglich, Arbeiter in genügender Zahl zu
finden. Die freiwillig Arbeitenden mühten sich bis zur Erschöpfung, doch
ihre Zahl wurde stets kleiner. Die Krematorien hatten den ganzen Tag zu
tun, doch die Zahl der Leichname in den Grabkammern wurde nicht geringer,
sondern wuchs, und schon wurden auf den Straßen und in den Privatquartieren
Leichen aufgefunden. Die städtischen zentralen Unternehmungen, der
Telegraph, das Telephon, die Beleuchtung, Wasserleitung, Kanalisation,
wurden von einer stets kleiner werdenden Zahl von Menschen bedient.
Erstaunlich war es, wie Divile überall hingelangte. Alles verfolgte er,
alles leitete er. Nach seinen Berichten kann man denken, daß er keine Ruhe
kannte. Und alle, die sich aus der Katastrophe gerettet haben, bezeugen
einstimmig, daß seine Tätigkeit über alles Lob erhaben war.

Mitte Juni begann es an Eisenbahnbeamten zu mangeln. Es waren zu wenig
Maschinisten und Kondukteure da, um die Züge zu bedienen. Am 17. Juni fand
auf der Südwestlinie die erste Eisenbahnkatastrophe statt, deren Ursache
ein am »Widerspruch« erkrankter Maschinist war. In einem Anfall der
Krankheit stürzte der Maschinist den Zug aus dreißigfüßiger Höhe auf das
Eisfeld herab. Fast alle Passagiere wurden getötet oder verstümmelt. Die
Nachricht von diesem Fall brachte der nächste Zug in die Stadt und sie
wirkte wie ein Donnerschlag. Sofort wurde ein Sanitätszug ausgesandt. Er
brachte die Leichen und die verstümmelten halblebendigen Körper zurück.
Doch am Abend desselben Tages verbreitete sich bereits die Nachricht, daß
eine analoge Katastrophe auch auf der ersten Linie geschehen sei. Nun waren
bereits zwei der Eisenbahnlinien, welche die Sternenstadt mit der Welt
verbanden, untauglich. Natürlich wurden aus der Stadt, sowie aus dem
Nordischen Port Abteilungen zur Ausbesserung der Bahnen gesandt, doch im
Winter ist es in jenen Gebieten fast unmöglich, zu arbeiten. Diese zwei
Katastrophen waren nur Vorläufer der nun folgenden. Mit je mehr Furcht die
Maschinisten an ihre Sache traten, desto sicherer wiederholten sie das
Vergehen ihrer Vorgänger in einem Anfall der Krankheit. Eben darum, weil
sie sich _fürchteten_, ein Unglück herbeizuführen, führten sie es herbei.
Vom 18. bis zum 22. Juni, also in 5 Tagen, wurden sieben Eisenbahnzüge, die
alle voller Menschen waren, in die Abgründe gestürzt. Tausende von Menschen
fanden dort ihren Tod, da sie entweder zerschmettert wurden oder in
Schneewüsten Hungers starben. Nur sehr wenige Menschen fanden die Kraft,
zur Stadt zurückzukehren. Die sechs Magistralen (so hießen die elektrischen
Bahnen), welche die Sternenstadt mit der Welt verbanden, waren untauglich
geworden, die etwa 600000 Menschen zählende Einwohnerschaft der Stadt war
von der ganzen übrigen Menschheit abgeschnitten. Einige Zeit hindurch
verband sie nur noch der Telegraphendraht.

Am 24. Juni wurde der Verkehr auf der Stadtmetropolitaine eingestellt, da
es an Beamten mangelte. Am 26. Juni wurde der Dienst am Stadttelephon
eingestellt. Am 27. Juni wurden alle Apotheken außer der zentralen
geschlossen. Am 1. Juli ordnete der Befehlshaber an, daß alle Einwohner in
die Zentralteile der Stadt übersiedeln und die Peripherien verlassen
müßten, damit die Aufrechterhaltung der Ordnung, sowie das Verteilen der
Lebensmittel und die ärztliche Hilfeleistungen leichter vor sich gehen
könnten. Die Leute verließen ihre Quartiere und bezogen fremde, von ihren
Besitzern verlassene Wohnungen. Das Gefühl des Eigentums verschwand. Keinem
tat es leid, das seine zu verlassen, keinem kam es eigentümlich vor,
fremdes zu benutzen. Übrigens fanden sich noch immer Marodeure und Räuber,
die man schon eher als Psychopathen bezeichnen muß. Sie setzten ihr
Plündern noch weiter fort und man findet gegenwärtig nicht selten in den
leeren Sälen verlassener Häuser ganze Schätze von Gold und Kostbarkeiten,
in deren Nähe der halbverfaulte Leichnam des Räubers liegt.

Es ist bemerkenswert, daß trotz des allgemeinen Ruins das Leben dennoch
seine gewöhnlichen Formen beibehielt. Es fanden sich noch Kaufleute, die
Magazine eröffneten und aus irgend welchen Gründen ihre der Plünderung
entgangenen Waren zu unerhörten Preisen verkauften: Leckereien, Blumen,
Bücher, Gewehre . . . . . Ohne zu murren, gaben die Käufer ihr unnütz
gewordenes Gold fort, welches die geizigen Kaufleute dann törichterweise
versteckten. Noch gab es heimliche Freudenhäuser mit Karten, Getränken,
Lastern, wohin die Unglückseligen strömten, um dort die furchtbare
Wirklichkeit zu vergessen. Die Kranken vermischten sich dort mit Gesunden
und keiner hat die Chronik der Greuelszenen, die dort vor sich gingen,
geschrieben. Noch erschienen zwei oder drei Zeitungen, deren Herausgeber
bemüht waren, die Bedeutung des literarischen Wortes in dem allgemeinen
Verfall ringsum aufrecht zu erhalten. Die Nummern dieser Zeitungen, die
schon heute mit dem zehn- und zwanzigfachen ihres Anfangspreises bezahlt
werden, müssen einst die größten bibliographischen Seltenheiten werden. In
diesen Textspalten, die inmitten des herrschenden Wahnsinns geschrieben und
von halbverrückten Setzern gesetzt wurden, ist ein lebendiges und
furchtbares Bild all dessen enthalten, was die unglückliche Stadt erlebte.
Es fanden sich Reporter, die über Stadtereignisse berichteten;
Schriftsteller, welche die Sachlage erregt erörterten, und sogar
Feuilletonisten, die in diesen Tagen der Tragik zu erheitern versuchten,
aber die Telegramme, die aus anderen Ländern kamen, von wirklichem gesunden
Leben sprachen, die mußten die Seelen der Leser, welche dem Untergang
geweiht waren, mit Verzweiflung erfüllen. Man machte hoffnungslose
Rettungsversuche. Anfang Juli beschloß eine riesige Menge von Männern,
Frauen und Kindern, die von einem gewissen John Lew geführt wurde, zu Fuß
den nächsten besiedelten Platz Lundontown zu erreichen. Divile begriff die
Torheit ihres Vorhabens, konnte sie aber nicht zurückhalten und mußte sie
sogar mit warmer Kleidung und Lebensmitteln versorgen. Dieser ganze Trupp,
es waren etwa 2000 Menschen, verirrte sich und verdarb in den Schneewüsten
des Polarlandes, umgeben von schwarzer, sechs Monate währender Nacht. Ein
gewisser Whiting begann ein anderes mehr heroisches Mittel zu predigen. Er
schlug vor, _alle_ Kranken zu töten, in der Annahme, daß alsdann die
Epidemie aufhören würde. Er fand nicht wenig Anhänger, obgleich übrigens in
jenen dunklen Tagen selbst der allerwahnsinnigste, allerunmenschlichste
Vorschlag, sofern er nur Rettung versprach, Anhänger gefunden hätte.
Whiting und seine Freunde durchsuchten die ganze Stadt, brachen in alle
Häuser und töteten alle Kranken. In den Krankenhäusern vollführten sie
Massenschlächtereien. In der Ekstase schlugen sie auch jene tot, die nur im
Verdacht standen, nicht ganz gesund zu sein. Zu diesen Ideenmördern
gesellten sich Wahnsinnige und Räuber. Die ganze Stadt verwandelte sich in
eine Arena des Kampfes. In diesen schweren Tagen bildete Horace Divile aus
seinen Mitarbeitern eine Truppe und begeisterte sie persönlich zum Kampf
mit den Anhängern des Whiting. Mehrere Tage währte die Verfolgung. Hunderte
von Menschen fielen auf dieser und jener Seite. Zum Schluß wurde Whiting
selbst gefangen genommen. Er wurde als im letzten Stadium der mania
contradicens befunden und darum nicht zur Hinrichtung geführt, sondern ins
Krankenhaus, wo er auch bald darauf verschied.

Am 8. Juli traf die Stadt einer der härtesten Schläge. Die Beamten, welche
die Tätigkeit der elektrischen Zentralstation beaufsichtigten, zerbrachen
in einem plötzlichen Anfall der Krankheit alle Maschinen. Das elektrische
Licht versagte und die ganze Stadt, alle Straßen, alle Wohnungen tauchten
in absolute Finsternis. Da die Stadt keine Beleuchtung und keine Beheizung
außer der elektrischen kannte, so befanden sich jetzt alle Einwohner in
absolut hilfloser Lage. Divile hatte eine solche Gefahr vorausgesehen. Er
hatte ganze Lager von Pechfackeln und Beheizungsmaterial hergerichtet. Auf
allen Straßen wurden Scheiterhaufen aufgestellt. Die Einwohner erhielten
Fackeln zu Tausenden, doch diese kümmerliche Beleuchtung konnte unmöglich
die gigantischen Perspektiven der Sternenstadt erhellen, die sich oft 10 km
lang in geraden Linien und in der furchtbaren Höhe von 30 Etagen hinzogen.
Mit Ausbruch der Finsternis floh die letzte Disziplin aus der Stadt. Alle
Seelen wurden von Entsetzen und Wahnsinn erfaßt. Die Gesunden konnte man
nicht mehr von den Kranken unterscheiden. Es begannen die furchtbaren
Orgien der verzweifelten Menschen.

Mit erstaunlicher Schnelligkeit trat bei allen das Schwinden des sittlichen
Gefühles zutage. Alle Kultur fiel von diesen Leuten ab, gleich einer
dünnen, wenn auch jahrtausend alten Rinde, und sie waren wie jene wilden
Menschen, Tiermenschen, die damals noch auf der jungfräulichen Erde lebten.
Jeder Begriff von Recht verschwand, -- nur die Kraft wurde anerkannt. Für
die Frauen wurde der Durst nach Befriedigung das einzige Gesetz. Die
allerbescheidensten Familienmütter führten sich wie Prostituierte auf,
gingen willig von einer Hand in die andere über und redeten die
unanständige Sprache der Freudenhäuser. Die Mädchen liefen auf die Straße,
boten ihre Unschuld öffentlich aus, führten ihren Erkorenen in die nächste
Türe und gaben sich ihm auf dem fremden Bette eines Unbekannten. Die
Trinker veranstalteten in den zerstörten Kellern Feste, gar nicht darauf
achtend, daß in ihrer Mitte oftmals unbestattete Leichname lagen. Das alles
wurde durch die Anfälle der noch immer grassierenden Krankheit noch mehr
kompliziert Furchtbar war die Lage der von ihren Eltern dem Schicksal
überlassenen Kinder. Einige wurden von lasterhaften Elenden vergewaltigt,
andere von Anhängern des Sadismus, die es plötzlich in großen Mengen gab,
gefoltert. Die Kinder starben in ihren Kinderzimmern vor Hunger oder vor
Scham und Schmerzen nach der Vergewaltigung; viele wurden auch absichtlich
oder zufällig getötet. Manche behaupten sogar, daß sich Unholde gefunden
hätten, welche die Kinder fingen, um an ihrem Fleische ihre wiedererwachten
Menschenfresserinstinkte zu befriedigen.

Während dieser letzten Periode der Tragödie konnte Horace Divile natürlich
nicht der ganzen Bevölkerung helfen. Im Gebäude des Rathauses eröffnete er
für alle, die noch ihren Verstand bewahrt hatten, ein Asyl. Der Eingang ins
Gebäude wurde verbarrikadiert und beständig bewacht. Innen waren Proviant
und Wasser für dreitausend Menschen auf 40 Tage hergerichtet. Doch um
Divile sammelten sich nur etwa 1800 Männer und Frauen. Natürlich waren in
der Stadt wohl auch noch mehr Menschen mit ungetrübter Erkenntnis, doch
kannten sie Diviles Asyl nicht, und verbargen sich in ihren Häusern. Viele
wagten nicht, auf die Straße zu gehen, und man findet jetzt in einigen
Zimmern zuweilen Leichname von Menschen, die in der Einsamkeit Hungers
starben. Es ist bemerkenswert, daß unter den ins Rathaus Geflüchteten sehr
wenig Fälle der Erkrankung am »Widerspruch« vorkamen. Divile verstand es,
die Disziplin in seiner kleinen Gemeinde aufrecht zu erhalten. Bis zum
letzten Tage führte er ein Journal aller Vorgänge und dieses Journal ist
zusammen mit den Telegrammen Diviles wohl die beste Quelle, aus der wir
unsere Kenntnisse von der Katastrophe schöpfen können. Dieses Journal wurde
in einem Geheimschrank des Rathauses, zusammen mit besonders wertvollen
Dokumenten aufgefunden. Die letzte Nachricht datiert vom 20. Juli. Divile
berichtet in ihr, daß eine wahnwitzige Menge den Sturm aufs Rathaus
begonnen habe und daß er genötigt wäre, den Angriff mit Revolversalven
abzuschlagen. »Worauf ich hoffe,« schreibt Divile, »weiß ich nicht. Vor dem
Frühling Hilfe zu erwarten, ist undenkbar. Bis zum Frühjahr kann ich mich
mit den Vorräten, die in meinen Händen sind, unmöglich halten. Doch ich
werde bis zuletzt meine Pflicht erfüllen.« Dies sind die letzten Worte
Diviles. Welch edle Worte!

Es ist anzunehmen, daß am 21. Juli die Menge das Rathaus im Sturmangriff
einnahm, und daß seine Verteidiger entweder getötet oder vertrieben wurden.
Diviles Leichnam ist zurzeit noch nicht aufgefunden würden. Wir haben keine
einigermaßen glaubwürdigen Nachrichten über das, was in der Stadt nach dem
21. Juli vorging. Nach den Spuren, die man jetzt bei der Reinigung der
Stadt findet, ist anzunehmen, daß die Anarchie ihre äußerste Grenze
erreichte. Man kann sich die Flucht halbdunkler Straßen vorstellen,
beleuchtet vom Gewitterschein der Scheiterhaufen, die aus Stößen von Möbeln
und Büchern errichtet waren. Feuer erhielt man, indem man Feuerstein auf
Eisen schlug. Um die Scheiterhaufen drängten sich in wilder Fröhlichkeit
die Scharen von Wahnwitzigen und Betrunkenen. Ein großer Becher machte die
Runde. Dort tranken Männer und Frauen. Dort geschahen Szenen viehischer
Sinnlichkeit. Dunkle atavistische Gefühle erwachten in den Instinkten
dieser Stadtbewohner, und die Halbnackten, Ungewaschenen, Ungekämmten
tanzten in Reigen die Tänze ihrer fernen Vorfahren, die noch Zeitgenossen
der Höhlenbären waren, und sangen dieselben wilden Lieder, welche die
Horden sangen, wenn sie mit ihren Steinbeilen das Mammut anfielen. Mit den
Liedern, dem sinnlosen Geschwätz, dem idiotischen Lachen vermengten sich
die Wahnsinnsschreie der Kranken, die schon die Möglichkeit verloren
hatten, ihre Fieberträume in Worten auszudrücken, und das Stöhnen der
Sterbenden, die sich dort selbst inmitten schon zerfallender Leichname
wälzten. Zuweilen wurde der Tanz von einer Prügelei unterbrochen, um ein
Faß Wein, um ein schönes Weib oder auch ganz ohne Anlaß in einem jener
Wahnsinnsanfälle, die zu sinnlosen, widerspruchsvollen Handlungen trieben.
Entfliehen konnte man nicht; überall waren dieselben Greuelszenen,
dieselben Orgien, Kämpfe, dieselbe tierische Lust, tierische Wut -- oder
die absolute Finsternis, die noch furchtbarer zu sein schien und der
erregten Einbildung noch unerträglicher.

In diesen Tagen war die Sternenstadt ein ungeheurer großer Kasten, in dem
noch einige tausende lebender menschenähnlicher Wesen im Gestanke von
hunderttausend Leichnamen vegetierten, wo es unter den Lebenden schon
keinen mehr gab, der seine Lage begriffen hätte. Dies war die Stadt der
Verrückten, ein gigantisches Irrenhaus, das größte und abscheulichste
Bedlam, das je die Welt gesehen. Und diese Verrückten rotteten einander
aus, erdolchten einander, bissen sich die Gurgeln durch, oder starben vor
Wahnsinn, starben vor Grauen, starben vor Hunger und an all jenen
Krankheiten, deren Miasmen die verseuchte Luft beherrschten.

                                * * *

Es versteht sich, daß die Regierung der Republik durchaus nicht gleichmütig
dem furchtbaren Unglück, das die Hauptstadt betroffen hatte, zuschaute.
Doch schon sehr bald mußte man jeglicher Hoffnung, Hilfe zu bringen,
entsagen. Ärzte, Diakonissinnen, Militärs, Beamte jeder Art -- alles
weigerte sich, in die Sternenstadt zu fahren. Nach der Einstellung der
elektrischen Bahnfahrten war jede direkte Verbindung mit der Stadt
unterbrochen, da das rauhe örtliche Klima keine anderen Verkehrswege
gestattete. Außerdem wurde die Aufmerksamkeit der Regierung bald schon auf
Erkrankungsfälle am »Widerspruch« gelenkt, die in anderen Städten der
Republik auftraten. In einigen von ihnen drohte die Krankheit gleichfalls
epidemischen Charakter anzunehmen und es begann eine allgemeine Panik, die
den Ereignissen in der Sternenstadt ähnelte. Dies führte zu einer
Emigrierung der Einwohner aus allen bewohnten Punkten der Republik. Auf
allen Fabriken wurde die Arbeit eingestellt und das ganze Handelsleben des
Landes erlosch. Doch dank den energischen Maßnahmen, die in den anderen
Städten zeitig getroffen wurden, gelang es, die Epidemie zum Stillstand zu
bringen, und nirgends erreichte sie einen solchen Umfang wie in der
Hauptstadt.

Es ist bekannt, mit welcher aufgeregten Aufmerksamkeit die ganze Welt das
Unglück der jungen Republik verfolgte. Im Beginne, als noch niemand das bis
zu so unerhörter Ausdehnung erfolgende Anwachsen des Elendes erwartete, war
die Neugierde das herrschende Gefühl. Die hervorragenden Blätter aller
Länder (darunter auch unser »Nord-Europäisches Abendblatt«) entsandten in
die Sternenstadt ihre Spezialkorrespondenten zum Berichterstatten über den
Gang der Epidemie. Viele dieser tapfern Ritter von der Feder wurden ein
Opfer ihrer professionellen Pflicht. Kaum aber, daß Nachrichten
bedrohlichen Charakters auftauchten, boten sofort die Regierungen
verschiedener Staaten sowie die Privatgesellschaften der republikanischen
Regierung ihre Hilfe an. Die einen entsandten Truppen, die andern
formierten Escadres von Ärzten, die dritten trugen Geldspenden bei, aber
die Ereignisse entwickelten sich mit solcher Vehemenz, daß der größte Teil
dieser Operationen nicht zur Ausführung kam. Nach der Einstellung des
Eisenbahnverkehrs kamen als einzige Lebensnachrichten von der Sternenstadt
nur die Telegramme des Befehlshabers. Diese Telegramme wurden sofort an
alle Weltenden versandt und dort in Millionen von Exemplaren verbreitet.
Nachdem die elektrischen Maschinen zerbrochen waren, funktionierte der
Telegraph noch einige Tage, da sich auf der Station einige geladene
Akkumulatoren vorfanden. Der genaue Grund, weswegen die telegraphische
Verbindung völlig abbrach, ist bisher unbekannt: vielleicht waren die
Apparate beschädigt. Das letzte Telegramm Horace Diviles trägt das Datum
des 27. Juni. Von diesem Tage ab blieb die Menschheit fast 1 1/2 Monate
lang ohne jede Nachricht aus der Hauptstadt der Republik.

In den letzten Tagen des August erreichte der Äronaut Thomas Billie auf
seiner Flugmaschine die Sternenstadt. Er fand auf dem Dach der Stadt zwei
Menschen, die längst schon den Verstand verloren hatten und vor Kälte und
Hunger halbtot waren. Durch die Ventilatoren sah Billie, daß die Straßen in
absoluter Dunkelheit lagen, hörte aber auch wilde Schreie, die bewiesen,
daß noch Lebewesen in der Stadt wären. In die Stadt selbst wagte Billie
sich nicht herunter. Anfang September gelang es, die eine Linie der
elektrischen Eisenbahn bis zur Station Lissis, die nur 105 km von der Stadt
abliegt, wieder herzustellen. Ein Trupp gutbewaffneter, mit ausreichendem
Proviant und den Mitteln für die ersten Hilfeleistungen versehener Leute
gelangte durch das nordwestliche Tor in die Stadt. Diese Truppe konnte sich
allerdings infolge des furchtbaren Gestankes, der die Luft erfüllte, nicht
über die ersten Quartale hinauswagen. Sie mußten faktisch Schritt für
Schritt machen, die Straßen von Leichnamen säubern und die Luft durch
künstliche Mittel reinigen. Die Menschen, die sie in der Stadt noch lebend
antrafen, waren bis zur Unkenntlichkeit entstellt. In ihrer Wildheit
glichen sie bösen Tieren und mußten mit Gewalt eingefangen werden. Endlich,
es war etwa Mitte September, gelang es, eine regelmäßige Verbindung mit der
Sternenstadt herzustellen, und konnte man mit der systematischen
Renovierung beginnen.

Gegenwärtig ist der größte Teil der Stadt bereits von Leichnamen gesäubert.
Die elektrische Beleuchtung und Beheizung sind wieder hergestellt.
Unbesetzt sind bisher nur noch die Amerikanischen Quartale, doch man nimmt
an, daß in ihnen keine Lebewesen sind. Im ganzen sind gegen 10000 Menschen
gerettet, doch der größte Teil von ihnen hat eine unheilbare psychische
Störung erlitten. Die, welche mehr oder weniger wieder genesen, sprechen
nur höchst ungern von dem, was sie überlebten und von den grauenhaften
Tagen. Zudem sind ihre Erzählungen voller Widersprüche und werden sehr oft
vom dokumental Gegebenem nicht bestätigt. An verschiedenen Orten hat man
Nummern der Zeitungen aufgefunden, die in der Stadt noch bis Ende Juli
erschienen. Die letzte bis jetzt aufgefundene, vom 22. Juli datierte,
enthält die Nachricht vom Tode Horace Diviles und den Aufruf, das Asyl im
Rathaus wiederherzustellen. Allerdings wurde noch ein Blättchen gefunden,
das vom August datiert, doch dessen Inhalt ist derart, daß man den Autor
(der vermutlich seinen Irrsinn selbst gesetzt hat) entschieden für
unzurechnungsfähig erklären muß. Im Rathaus wurde das Tagebuch Horace
Diviles entdeckt, das in folgerichtiger Ordnung die Chronik der Ereignisse
in in jenen drei Wochen vom 28. Juni bis zum 20. Juli enthält. Nach den
furchtbaren Funden, die man auf den Straßen und im Innern der Häuser
gemacht hat, kann man sich eine klare Vorstellung von jenen
Ungeheuerlichkeiten machen, die in den letzten Tagen in der Stadt
geschahen. Überall sind furchtbar verstümmelte Leichen: Menschen, die des
Hungertodes starben, Menschen, die gemartert und erwürgt wurden, Menschen,
die von Wahnsinnigen in Anfällen der Ekstase getötet wurden, und endlich --
benagte Körper. Die Leichen findet man in den allerunerwartetsten Orten: im
Tunnel der Metropolitaine, in den Kanalisationsröhren, in unterschiedlichen
Koffern, in Kesseln: überall suchten die ihres Verstandes beraubten
Einwohner Rettung vor dem sie umgebenden Entsetzen. Das Innere fast aller
Häuser ist zerstört und die Immobilien, die den Plünderern nutzlos
erschienen, findet man in geheimen Zimmern und unterirdischen Räumen
versteckt.

Zweifellos werden bis zur Wiederbewohnbarkeit der Sternenstadt noch einige
Monate vergehen. Gegenwärtig ist sie fast leer. Die Stadt, die gegen drei
Millionen Menschen beherbergen kann, wird augenblicklich von etwa 30000
Arbeitern bewohnt, die mit der Säuberung von Straßen und Häusern
beschäftigt sind. Übrigens kamen auch einige der früheren Einwohner an, um
die Leichen ihrer Verwandten aufzusuchen und die Reste ihres vernichteten
oder gestohlenen Eigentums zu sammeln. Zugereist sind auch einige
Touristen, die das ausschließliche Schauspiel der verwüsteten Stadt
hingelockt hat. Zwei Unternehmer haben bereits zwei Hotels eröffnet, die
schon recht flotte Geschäfte machen. In kurzer Zeit wird auch ein kleines
Café chantant eröffnet werden, für welches die Truppe bereits engagiert
ist.

Das »Nord-Europäische Abendblatt« hat seinerseits einen neuen
Korrespondenten, Herrn Andrew Ewald, in die Stadt gesandt und wird in
genauen Berichten die Leser mit allen neuen Entdeckungen bekannt machen,
die in der unglücklichen Hauptstadt der Republik des Südkreuzes gemacht
werden sollten.




Die Schwestern



Ein unaufgeklärter Fall





1.


Ferne erstarb der Glockenton, zerschmolz fast klagend, so daß es bald
schwer wurde, zu unterscheiden, ob man ihn noch höre, oder ob er nur in der
Erinnerung klänge.

Langsam und schweigend kehrten die Schwestern in den Saal zurück. Keine sah
die andere an. Wußten nicht, was zu sprechen.

Noch standen auf dem Tische die Reste des vor kurzem beendeten traurigen
Abendbrotes, eine kaum angebrochene Weinflasche, ein kalt gewordener
Teekessel.

Lydia wagte es, zu sprechen:

-- Kett, willst du nicht Tee? Ich glaube, du trankst noch nicht.

Mara zuckte nervös mit den Achseln. Kett schüttelte den Kopf.

Alle drei setzten sich, schwiegen, dachten an dasselbe. Dachten an ein
Schneefeld und an ein Dreigespann, das schnell über die Wege frischen
Schnees dahinbraust; dachten an ein Stationsgebäude, das ganz in Lichtern
steht; hörten schon das gleichmäßige Räderrollen, das sich immer, kaum daß
die Wange sich an das harte Polster des Waggons gelehnt hat, so sehr mit
den ersten Bildnissen des Traumes vermischt . . . . Dann dachten sie an das
ferne Paris, an breite und helle Plätze, an bunte, schwirrende Boulevards.
Dachten daran, daß Nikolai nun nie wieder zurückkäme.

Und in jeder Seele erhob sich das Gefühl kraftloser zu später Reue, schwoll
an wie Wasser, strömte über: das quälendste aller Gefühle. Und in den drei
verschiedenen Sprachen dreier verschiedener Seelen sprachen sie, sagten
sich selbst, sagten sich die gleichen Worte: wie es möglich war, diesen
letzten Augenblick vorübergehen zu lassen. Wie es möglich war, nicht den
letzten, und sei es verzweifelten Versuch zu wagen? Wie, wenn man eilen
würde, ihn ereilen, etwas sagen, etwas ausführen? . . . Oder ist es schon
zu spät? Zu spät? Zu spät?

Die Schwestern schwiegen, doch es war ihnen, als tauschten sie
nichtssagende Worte aus. Und vielleicht tauschten sie auch nichtssagende
Worte aus und es war ihnen nur, als wenn sie schwiegen.

Draußen begann der Schnee zu wirbeln. Und im Netz der wehenden
Schneeflocken war noch verwischter die Biegung des Weges und der Abhang mit
dem schwärzlichen Zaune jungen Fichtenwaldes und weiterhin rechts die Ferne
leblosen Feldes.

Irgend eine Zeit verging. Und es wäre ein Tropfen genug gewesen, zu fallen
in dies Gefäß der Hoffnungslosigkeit, ein Wort, ein Anstoß, damit diese
drei Frauen aufspringen würden mit dem Schrei des Entsetzens, hinstürzen
wie ohne Gefühle oder sich aufeinander wie drei Wölfinnen werfen, um sich
zu zerfleischen und mit den Krallen zu zerreißen.

Doch in gleicher Erstarrung folgten die Minuten den Minuten. Nur der
Schneewirbel wurde dichter. Nur die Töne verstummten in dem Häuschen, das
die Dienerschaft bewohnte.

Und jemand sagte, daß schon Mitternacht wäre.

Die Schwestern standen auf, verabschiedeten sich von einander, gingen in
ihre Zimmer. Und hörbar wurde in den Zimmern das Rauschen der Kleider. Dann
verstummte auch dies.

Und mit jeder waren die Nacht und ihre Gedanken.

Draußen hob der Sturm an.

                                * * *

Ferne erstand der Glockenton, war anfangs kaum hörbar, so daß es schwer
wurde, zu unterscheiden, ob man ihn höre oder ob er nur in der Erinnerung
klänge, ergoß sich langsam in die nächtliche Stille, verstärkte sich,
gewann eigenen Körper. Und schon klingen die Glockentöne nah und deutlich.
Das Dreigespann eilt flink auf dem Wege heran, biegt ab und schon wird auf
dem frischen Schnee das dumpfe Knirschen der Schlittenkufen hörbar, und,
der Freitreppe sich nähernd, hält der Kutscher die Pferde an.

Die Schwestern an der Tür sehen einander ins Gesicht. Alle drei sind
bleich. Sie haben alles erraten, aber wagen nichts zu sagen. Erwarten.

Da ist der bekannte Schritt. Schon geht er durch die Vorhalle. Die Tür geht
auf. Herein strömt der Winternacht harte Kälte. In seinem von Schnee
silbern gewordenen Pelz steht Nikolai in der Türe.

Niemand fragt ihn. Er beeilt sich die vorbereitete auswendig gelernte
Antwort zu sagen:

-- Ich kam zu spät zum Zuge. Ich wollte nicht bis zum Morgen auf der
Station sitzen. Ich habe mich entschlossen, morgen zu fahren. Der Abendzug
ist bequemer. Und vielleicht überlege ich's mir und fahre überhaupt nicht.

Und plötzlich stürzte Lydia weinend auf ihn zu und wollte etwas
tränenerstickt sagen, ganz vergessend, daß die Schwestern sie hören. Doch
leise wehrte er ab.

-- Morgen will ich alles erklären; morgen. Ich bin heute sehr müde. Möge
man mir ins Kabinett Wein bringen. Ich habe mich ein wenig im Froste
erkältet. Und bitte regt mich nicht auf. Ich muß einige wichtige Briefe
schreiben.

Kett und Mara waren in der Tiefe des Zimmers. Er blickte sie nicht an, doch
er sah sie. Er fühlte die Notwendigkeit, auch ihnen etwas zu sagen, doch er
hatte keine Worte.

Eine Minute lang erhob er den Kopf, doch den unbeweglichen Augen Maras
begegnend, senkte er ihn wieder, und ging schweigend hinaus, glitt vorbei,
verschwand in der Türe seines Kabinetts.

Lydia lief fort. Man hörte ihre geschäftige Stimme.

Kett schritt langsam im Saal auf und ab und wickelte sich in ihr
dunkelhimbeerfarbenes Tuch.

Mara fühlte eine Schwüle. Sie öffnete die Türe und schritt die Freitreppe
hinab. Fast erstickend zerriß sie den Kragen ihres Kleides. Der Sturm
schlug ihr ins Gesicht. Die feuchten Schneeflocken zerschlugen sich an
ihrer Brust und das kühle Wasser rieselte an ihrem Körper herab. Sie
erbebte, aber sie zog die kalte Luft tief ein.

Der Schnee ließ den Himmel bleich erscheinen. Der Wind bewegte die
kraftlosen, weißen Massen. Am Tore und über dem Zaune heulte der Sturm.

Im fernen Pferdestall sah man die schwankende Laterne des Kutschers, der
die Pferde bestellte.



2.


Nikolai saß an seinem Schreibtisch.

Alles ringsum war ihm so bekannt: die farbigen Tapeten, die Bücherreihen
auf ihren Brettern, die Mappen mit den angefangenen und lang schon
vergessenen Arbeiten. Es brannte die bekannte Lampe unter dem
grünmetallenen Lampenschirm.

Nikolai lehnte sich tiefer in den Sessel und legte die Füße auf das
Bärenfell. Er wollte denken, viel denken, immer und immer noch denken. Sich
dem Gedankengange so hingeben, wie auf dem langen Wege der Schneefelder. Es
lag eine physische Wollust darin, daß die Gedanken wieder so auf den
vorgemerkten Wegen eilen konnten.

Natürlich dachte er daran, was schon zwei Jahre sein ganzes Leben ausmachte
und seine ganze Seele erfüllte: an diese drei Frauen, an die er durch
furchtbare Banden der Seligkeit und Qual gefesselt war. Und so nach einem
sinnlosen Fluchtversuch, um sich wieder einer dunklen Freiheit
anheimzugeben, um sein Leben an einem Punkte in zwei Teile zu teilen, ist
er wieder hier, bei ihnen, und wieder haben die Tage der entrückten Stunden
zu beginnen, die Tage des Jubels und der Verzweiflung. Er begriff, o er
begriff heute, daß er außerhalb dieser Atmosphäre gemeinsamer Beleidigungen
und Anbetungen, die sie einander entgegenbrachten, nicht leben könnte, daß
er ohne sie sterben müßte, wie eine tropische Pflanze ohne Treibhaus. Er
wußte, daß er auf ewig hierher zurückgekommen war.

Sein Kopf drehte sich und schmerzte, vielleicht vor Müdigkeit, vielleicht
von Erkältung. Die Bilder und Gestalten der Gedanken waren so deutlich, wie
sonst nur im Traum oder im Fieber. Und wie im Anfangsstadium des Traumes
fühlte er sich fähig, den Wechsel der Erscheinung zu beherrschen, Gestalten
herbeizurufen, wie es ein Zauberer durch die Kraft seiner Beschwörungen
vermag.

Er wollte Lydias Bildnis vor sich erscheinen lassen, so wie sie in den
ersten Tagen nach ihrer Hochzeit war, -- ein schüchternes Mädchen, ein
schamhaftes Weib, das in dem für sie Unsagbaren unvernünftig wurde. Und er
sah ihr Zimmer wieder in irgend einem Hotel an der Riviera, sah deutlich,
die Spitzen an den Bettkissen und in dem rosigen Licht des elektrischen
Lämpchens inmitten der zerdrückten Pfühle ihren zerbrechlichen und fast
kindlichen Körper. Und wieder bedeckte er ihn mit beseligten Küssen, küßte
jeden Muskel, jedes Haar, dabei die berauschenden Worte: du bist mein! du
bist mein! wiederholend, und von neuem die ganze naive Ekstase ihrer nur
unklar zum Durchbruch kommenden Sinnlichkeit mit ihr durchlebend.

Und gleichzeitig ließ er ein anderes Gesicht Lydias erscheinen, eines, wo
sie im Augenblick der letzten Verzweiflung, verwundet von Eifersucht, nackt
auf den schneebedeckten Hof herauslief, auf der Freitreppe hinstürzte, so
daß aus ihrem zerschlagenen Kopfe das Blut strömte. Und wieder hob er sie
auf seine Hände und trug sie ins Haus; zwei irrsinnige ungläubige Augen,
die plötzlich förmlich nur aus der Iris bestanden, sahen ihn an. Sie war
ganz wie ein vergiftetes Tierchen und in seiner Seele war nichts, außer dem
unersättlichen Mitleid zur Geliebten, außer dem zärtlichen Hunger, ihr ein
grenzenloses Glück zu geben und in ihm wie in den Strahlen der Sonne zu
zerschmelzen.

Doch sei dies nicht Lydia, -- o würde in seinen Händen der entblößte,
völlig nackte Leib Maras zittern in einer jener heimlichen Zusammenkünfte,
welche die beiden aus der Welt der Lebenden völlig hinausrissen und sie auf
einen anderen und entfernten Planeten trugen. Und wieder ergriff ihn das
Verlangen der Entrückung, das er immer noch so gut kannte, wenn er mit ihr
war, das Verlangen nach etwas größerem als Küsse, als Zärtlichkeiten, als
die leidenschaftliche Hingabe seiner selbst; das Verlangen, mit seinem
ganzen Leben in sie einzudringen und wiederum ihr ganzes Wesen in sich
aufzunehmen. In seinen Augen lagen so berückend die Linien ihres Leibes und
das eigentümliche quälend-erwünschte Atmen dieses Leibes floß förmlich in
seine Nasenflügel und Lippen wie ein scharf berauschendes Getränk.

Und wieder sind sie einander nah. Und wieder entsteht die Qual der
sinnlichen Verzückung. Sie wächst, sie geht bis an alle Grenzen, sie
verwandelt sich in Wut und Haß. Und da stoßen auch beide schon mit Abscheu
einander von sich. Als ob sie erwacht wären, sehen sie sich voll Entsetzen
an und jedem ist es unerträglich, mit dem andern zu sein. Einer erkennt im
andern seinen ewigen, seinen vorher bestimmten Feind, und all die
beleidigenden Worte der Schmähung, welche nur der Haß ihnen zuflüstern
kann, kommen auf ihre Lippen. Sie schämen sich ihrer Nacktheit. Seine
Blicke sind ihr eine Schmach, und erniedrigend scheint ihr seine Berührung.
Und auch er will sich auf sie werfen, sie schlagen, töten, töten . . .

Doch dies ist schon nicht mehr Mara. Kett steht vor ihm, hoch, schlank,
jungfräulich, unberührt. Sie kam zu ihm, wie sie so oft schon früher in
dieses Kabinett kam, wenn alles im Hause schlief, um ihm noch einmal zu
sagen, daß sie ihn liebt, nur ihn ersehnt, aber niemals sich ihm hingeben
wird. Durch ihre Augen sieht er in ihre Seele. Und der frühere Glaube, daß
mit ihr, nur mit ihr es ihm möglich wäre, den unsagbaren und unerforschten
Segen zu erlangen, daß sie, nur sie alle die geheimsten Wünsche seines
Wesens in ihrer dunklen Begeisterung errät, läßt ihn wieder sich ihr
zuneigen, und wieder ihr die einzigen unwiederbringlichen Worte sagen. Und
da neigen sich auch schon, als ob es wider ihrem Willen geschieht, ihre
Gesichter einander zu und von neuem erstehen die alten wütenden Küsse,
welche die Lippen blutig zerspringen lassen. Die Hände verschlingen sich in
Umarmungen, die fast wie Schmerz sind, vereinigen sich wie Ringe; sie
fallen auf den Fußboden und pressen ihre Kniee aneinander. Und wie Feinde
in einem Walde, so kämpfen sie. Er bricht ihre Hände, und sie beißt ihn wie
eine Katze. Das verhaltene Atmen geht zu Schreien über. Wie metallene
Federn springen sie plötzlich jäh auf; sie mit zerrissenen Kleidern, er mit
entblößter Brust. Er wirft sich in einen Sessel, sie verschwindet wie ein
Schatten . . .

Gesichter der Wirklichkeit, Gesichter des Vergangenen kreisen wie
Schneeflocken hinterm Fenster. Und abwechselnd beugen die drei Frauen über
ihn ihre Gesichter, die bald glücklich sind, bald berauscht, bald von
Verzweiflung verzerrt, bald wahnsinnig, bald beleidigend verächtlich. Er
hört Worte der Liebkosungen und erbitterte Vorwürfe. Und er will, er will
das alles: wie dies Glück, so auch diese Qual. Er dreht sich mit diesen
Frauen in trunkenem Tanze, bald preßt er sich an ihre entblößten Brüste,
bald verhüllt er die Augen vor ihren wilden Schlägen. Das Tempo des
teuflischen Walzers wird immer rascher und schon ist er kraftlos, und schon
ist er kraftlos, ihm zu folgen.

Ein Windstoß schlägt heftig ans Fenster. Nikolai erwacht auf einen
Augenblick. Seine Hand fährt über die Stirn. Die Bilder waren so deutlich,
daß er wie nach einer körperlichen Anstrengung in seinen Händen eine
Schwäche fühlt. Oder sollte er sich auf dem Wege ernstlich erkältet haben?
Er trinkt ein Glas starken Wein und Feuerströme fließen durch seine Adern.

Hinterm Fenster heult der Sturm seinen ungeheuerlichen Walzer. Und nichts
ist dort zu sehen, außer dem Netz aus weißen Punkten.



3.


Vor Nikolai stand Kett.

Lange schaute er sich in sie hinein und wußte nicht, ob dies wirklich Kett
wäre oder nur eines seiner Traumgesichter. Endlich begann er zu glauben und
reichte ihr seine Hände.

-- Du? Du kamst? Ich erwartete dich. Nur dich.

Sie schüttelte verneinend den Kopf.

Er sank vor ihr auf die Knie. Er liebte es, vor ihr auf den Knien zu liegen
und ihre langen schmalen Finger zu küssen. Er flehte:

-- Küsse mich. O beug dich über mich.

Kett sah ihn mit ihren traurigen Augen an. Dann sprach sie:

-- Ich kam, um mich von dir zu verabschieden. Ich darf nicht mehr mit dir
sein. Ich ersehnte eine grenzenlose unendliche Liebe. In dir ist keine
solche Liebe. Meine Liebe ist allzu groß für dich; und deine ist für mich
-- zu klein. Ach die Liebe ist tyrannisch! Sie verlangt, daß man sich ihr
völlig hingebe. Nichts halbes nimmt sie entgegen. Du aber gabst unserer
Liebe nur ein Drittel deiner Seele, ganz genau ein Drittel und förmlich wie
auf der Wage abgewogen!

Er suchte sie zu besänftigen, indem er sein Gesicht an ihre Finger preßte.

-- Kett! Kett! sprich nicht so zu mir. Sage mir nichts. Ich bin müde, ich
bin kraftlos. Ich weiß ja selbst nichts. Laß mich mit dir sein, nur in
deiner Nähe sein, nur fühlen, daß du meine Seele begreifst.

Sie befreite ihre Hände aus den seinen und entwand sich ihm.

-- Deine Seele? Ja, ich begreife deine Seele! Habe sie zwei Jahre
beobachtet. Sie hat von allem ein wenig nötig. Ein wenig meiner Liebe, ein
wenig der Zärtlichkeit meiner einen Schwester, und ein wenig der
Leidenschaft meiner anderen Schwester. O, wenn du doch nur einmal etwas
ganz verlangen würdest! Wenn auch nicht mich, so doch etwas Ganzes, etwas
bis zum Ende! Ach selbst, wenn du gewagt hättest, zu entfliehen! Doch du
fuhrst bis zur Station und kehrtest zurück. Wie sieht das dir ähnlich!

Sie sprach hart und kalt. In ihrer Stimme waren Befehle des Höheren zum
Niederen. Unendliche Trauer, unendliche Bitterkeit, unendliche Beleidigung
erfüllten die Seele Nikolais. Und noch immer hielt er ihre Hände fest,
obgleich er ihr rauh und mitleidlos antworten wollte.

-- Wie aber, wenn du dich täuschest? fragte er sie. Wie, wenn ich zu lieben
verstehe, wie du niemals geliebt hast? Mir genügt deine reine klare
kristallene Seele nicht! Mir genügt dein geschlechtloses Gefühl nicht! Ich
begehre auch nach jener Zärtlichkeit und jener Leidenschaft. Ihr selbst
zerreißt meine einige, lebendige Liebe in drei Teile, und verwünscht dann
die Kleinheit der blutenden Fetzen. Es ist an mir, eure Kleinlichkeit, eure
Enge zu verachten. Ja, ich kehrte zurück, doch ich tat es, um zu sagen, daß
ich nicht mehr euer Sklave bin, daß ihr mich nicht mehr beherrscht.

Hochmütig lächelnd entgegnete ihm Kett:

-- Mir ist jetzt alles gleich. Ich verlange nichts mehr von dir. Ich
träumte einmal davon, die ganze Fülle der Liebe zu erblicken. Ich hatte den
sinnlosen Traum, die Liebe über alles siegen zu sehen, -- über
Leidenschaft, Mitleid, über das Bedingte. Doch du wagtest es nicht, deine
Liebe mir hinzugeben, weil es dir furchtbar war, deine Frau zu betrügen:
sie würde vielleicht vor Schmerz sterben! Du wagtest es nicht, deine Liebe
mir hinzugeben, weil es dir schwer wurde, dich von den Küssen meiner
anderen Schwester zu trennen! Und ferner, -- dich hinderten die
verschiedenen Bedingungen des Lebens! Und so entbinde ich dich von allen
Schwüren, die du an mich verschwendet hast. Wenn ich mein Wesen nicht jener
Liebe, die ich suchte, hingeben konnte, so werde ich es dem Tode geben, den
ich will. Leb wohl!

Die Worte Ketts verwundeten Nikolais Seele wie kleine Pfeile. Schon lag er
nicht mehr vor Kett auf den Knien. Zwischen ihnen war der Tisch. Seine
Hände fest an seine Brust drückend, bemühte sich Nikolai gleichfalls hart
und kalt zu sprechen:

-- Warum heuchelst du? Glaubst du, ich hätte nicht schon lange den
wirklichen Sinn deiner großen Worte erraten? Du willst einfach deine
Mädchenunschuld bewahren. Du fürchtest die Sünde, dich dem Manne deiner
Schwester hinzugeben. Du hütest deine erste Nacht für deinen gesetzlichen
Ehegatten.

Da bog sich Kett über den Tisch, näherte ihr Gesicht dem Nikolais, so daß
er in ihrer Iris sein Bild sah. Und dieses Mal waren in ihrer Stimme Wut
und Spott:

-- Glaubtest du denn, daß ich dich liebe? Glaube es nicht: ich
experimentierte nur! Ich wollte nur in deiner Seele die Flamme der wahren,
alles verzehrenden Liebe sehen. Nun ja! der Versuch ist nicht geglückt! Ich
habe mich umsonst gezwungen, deine Küsse zu ertragen. Ich habe umsonst das
Zittern des Abscheus bekämpft, wenn ich dir erlaubte, mich zu umarmen.
Deine Seele war noch kleiner und enger als selbst ich es erwartete.
Triumphiere, -- du hast mich betrogen, da du dich größer und würdiger
anstelltest, als du tatsächlich warst.

Sie begann zu lachen.

So standen sie im Triebe gegenseitigen Hasses einander aufs neue wie schon
viele Male im Leben gegenüber und schleuderten sich Beleidigungen zu. Vor
Nikolais Augen war es wie ein Nebel, und Ketts Bildnis verschwand bald, um
dann aufs neue zu erstehen. Und schon wußte er nicht, ob sie zu ihm die
wütenden Flüche sprach, oder ob er sie für Kett sich selbst sagte.

Wie Gewitterschein fiel plötzlich ein seltsamer Gedanke in die Weiten der
Erkenntnis Nikolais. Scheu und ungläubig streckte er seine Hand aus und
berührte ihre Hände.

-- Kett! Kett! Bist du dies? fragte er. Oder bist du eine Erscheinung? Es
ist ja nicht möglich, daß du mir das alles sagen kannst. Es sind doch
dieselben Gedanken, die ich heute auf dem Wege durch die Schneefelder
dachte? Du konntest ja nichts von dem wissen? Antworte mir!

Und sehr unerwartet, mit sehr verändertem Gesicht, mit unendlicher
Zärtlichkeit, mit der letzten Liebkosung antwortete Kett:

-- O, natürlich, natürlich, ist das alles Lüge! Es ist nur das eine wahr,
daß ich dich liebe, doch ich darf nicht mit dir sein. Und so kam ich her,
dir meine Liebe beweisen.

Nikolai erblickte in Ketts Hand einen Dolch. Sie führte die Schneide an
ihre Lippen und küßte sie. Dann öffnete sie das Kleid. Langsam stieß sie
den Dolch dort hinein, wo ihr Herz schlagen mußte. So stand sie noch einige
Augenblicke, bleich und mit geöffneten Lippen. Dann fiel sie hin.

Und sofort verließ Nikolai jene Erstarrung, die sich immer im Traum
einstellt, wenn man fliehen muß. Er warf sich auf Kett, um sie aufzuheben,
seine Lippen auf ihre Wunden zu drücken, ihr zu sagen, daß er nur sie liebe
-- und erwachte.

Er war allein in seinem Kabinett, und saß auf seinem Sessel. Unter dem
grünmetallenen Schirm brannte die Lampe hell und gleichmäßig. Ringsum war
es still.

War es denn Kett, die zu ihm hereinkam? Oder war alles nur ein Fiebertraum?

Er trank noch mehr Wein. In den Schläfen hämmerte es.



4.


Lange saß Nikolai so, seinen Kopf in seine Hände gepreßt. Um seine Erregung
zu bekämpfen, bemühte er sich, etwas Nebensächliches, Unwichtiges zu
denken. »Dann, dann,« sprach er zu sich, »dann will ich alle Fragen
entscheiden, aber jetzt muß ich mich beruhigen, sonst werde ich verrückt.«
Doch es waren immer dieselben Gedanken, immer dieselben Bilder, die zu ihm
kamen, wie Wellen in der Stunde der Flut zu dem ausgehöhlten Stein kommen.

Es ist sehr schwer, so allein zu sein mit den Gedanken, wenn sie plötzlich
ein unabhängiges Leben gewinnen, unerbittlich einen bestürmen und die
geschwächte Erkenntnis mit langen Speeren besiegen! Könnte man weggehen aus
diesem einsamen Zimmer, das allen Traumgesichtern offen steht, -- zum
Licht, zum Menschenwort, zu den Menschen! Ist denn wirklich der schweigende
Ruf der Seele zu schwach, um jemand hereinzurufen, der mitleidig wäre und
trösten könnte? Er hat keine Kraft mehr, er bittet um Erbarmen.

Und leise und kaum hörbar öffnete sich die Türe. Mit den zärtlichen
Schritten des liebenden Weibes kam Lydia herein, trat an ihn heran, legte
ihre Hände auf seine Schultern:

-- Du bist müde, Nikolai, bist krank, leg dich zu Bett.

Fieberhaft grub er sich in ihre Hände. Er wandte ihr sein erhitztes Gesicht
zu. In der Welt quälender Halluzinationen, wie war es freudig, ein
schlichtes und mildes Gesicht zu sehen! Und war nicht ein leichtes Scheinen
um diesen Kopf wie bei den Heiligen der raphaelitischen Bilder?

Er lehnte seine Wange an Lydias Hand und gehorsam sagte er:

-- Ja Lydia, ich bin krank, bin müde, sehr müde. Doch nicht vom heutigen
Tage, aber vom ganzen Leben. Ja, nimm mich, ja, führe mich fort. Doch nicht
nur aus diesem Zimmer, aber aus den Qualen meines Lebens. Ich ziehe mich
zurück. Ich erkläre mich für besiegt. Rette mich, da du allein mich retten
kannst.

Ihre Augen füllten sich leise mit Tränen. Kraftlos sank sie zu seinen Füßen
nieder, bettete ihren Kopf auf seine Knie, flüsterte ihm zu:

-- Jetzt bittest du mich um Hilfe. Aber dachtest du an mich in jenen
Monaten, wo ich tags und nachts mit dem Kopf an die Wände schlug, wo ich
stundenlang auf dem Fußboden lag, im Verlangen, tiefer zu fallen, noch
tiefer. Wenn es dir in den Kopf kam, mich zu liebkosen, dachtest du daran,
daß ich vor Trauer fast verrückt wurde? Aber du verlangtest, daß ich
lächeln sollte; du fragtest, ob ich nicht glücklich wäre und warum ich mich
nicht freue, daß ich mit dir sei? Gehorchend wurde ich fast zu einem
Automaten. Ich lernte lachen, wenn du mein Lachen wolltest, lernte Worte
sprechen, die du mir vorsagtest. Alles, was in mir mein war, mein
Eigenstes, rissest du heraus. Du hast meine Seele verwüstet, was erwartest
du jetzt noch von mir?

Wie in einem Anfall plötzlichen Schmerzes preßte Nikolai ihre Hände.
Antwortete voller Trauer:

-- Ich werde nicht lügen. Ich habe dir nichts zu geben und will dir alles
nehmen. Ich bitte dich um ein Opfer, eine Tat. Ich werde niemals aufhören,
jene, die anderen, zu lieben. Und zuweilen werde ich dich darum hassen,
weil du nicht sie bist und nicht ihre Worte und Liebkosungen kennst. Doch
du zeige mir die ganze Grenzenlosigkeit der Liebe. Sei mein Schicksal,
meine Gnade, mein Segen. Sei mir eine Mutter. Sei mir eine ältere
Schwester. Wiege mich ein mit zärtlichen Händen. Streichle mit ihnen mein
Herz, -- es hat so nötig die Berührung zarter Finger.

Ihr Atem ging unmerklich in Schluchzen über. Sie zitterte auf seinen Knien,
die Kleine, die Hilflose.

-- Zu spät! sprach sie durch Tränen. Monate und Monate hindurch erwartete
ich diese Worte. Mit letzter Anstrengung hielt ich in mir die versiegenden
Quellen der Liebe und Verzeihung zurück. Ich sagte mir: er wird zu mir
kommen, ein Unglücklicher, Zerquälter und ich werde alles vergessen und ihm
alles sein, was er nur verlangt. Doch du kamst zu mir mit Lippen, die noch
heiß waren von anderen Küssen, suchtest in mir nur ein anderes, als in den
anderen, verlangtest, daß ich in deinem Leben eine Dekoration wäre. Und
vergebens sprach ich noch zu mir: das wird morgen sein . . . Aber ich weiß
selbst nicht, es flossen unbemerkt die letzten Tropfen aus mir, es verwehte
der letzte Rausch. Ich bin eine Wüste. Ich bin nur ein Schatten. Was könnte
ich dir geben?

Nikolai beugte sich zu ihrem Ohr, lehnte ihren so bekannten ihm verwandten
Körper an seinen und, indem er sich bemühte, seiner Stimme all die Töne
früherer Tage zu geben, flüsterte er ihr zu:

-- Lydia! Im Namen unseres gestorbenen Sohnes . . . im Namen unseres
künftigen Kindes.

Sie befreite sich aus seinen Händen. Ihr von Tränen gerötetes, ihr seltsam
zerdrücktes Gesicht mit den auf die Stirn hinunterfallenden Haaren, war
furchtbar und erbarmenswert und wieder wurden die Augen wahnsinnig und
groß.

-- Unseres Sohnes? fragte sie zurück. Hast du es denn noch nicht begriffen,
daß ich selbst ihn getötet habe? Hast du nicht begriffen, warum ich an
seinem Sarge nicht weinen konnte? Aber ich weinte, habe zuviel um ihn
geweint, als er noch lebendig war. Doch ich war das Werkzeug Gottes, der
mir, der Mutter, befahl, dich in deinem Sohne zu treffen. Ich nahm ihn aus
seinem Bettchen, ich legte ihn auf ein Kissen und während ich weinte und
seinen Körper küßte, erwürgten ihn meine Hände. Und als er aufgehört hatte
zu atmen, da ging ich, dich und deine Geliebten rufen und den Doktor und
alle! Und ihr begrifft es nicht, niemand, niemand!

Sie lachte mit dem furchtbaren Jubel des hysterischen Lachens. Nikolais
Gedanken verwirrten sich. Er wußte, er fühlte, daß sie die Unwahrheit
sprach. Doch es fehlte ihm an Kraft, zu entdecken, worin die Unwahrheit
wäre. Er fand keine Worte, und wiederholte nur stumm:

-- Es ist Lüge, es ist Lüge.

Ohne Kraft zu sprechen, zeigte sie mit der Hand zur Seite. Dort, auf dem
Sessel, auf dem weißen verhüllten Kissen lag mit purpurnem Gesicht und
hervorgequollenen Augen der Leichnam seines Kindes.

»Wie aber hat der Doktor denn nicht begriffen, daß es erwürgt sei?« dachte
Nikolai.

Dann aber begriff er diesen Gedanken und schrie sich selbst zu:

-- Welcher Irrsinn! Mein Sohn ist vor einigen Wochen gestorben und längst
begraben. Dies ist wieder ein Fiebergesicht.

Er glaubte zu ersticken und versuchte angestrengt, zu erwachen. Aber das
Zimmer begann sich mit kleinen nackten Körpern gestorbener Kinder zu
füllen, mit diesen blutlosen, verkrümmten, abscheulichen. Das war eine
ungeheuere Morgue, in welcher er der Mörder aller war, schuld an jedem
Tode. Und sein Kopf drehte sich und alles begann, sich ringsum zu drehen,
und ein wildes Geheul erfüllte seine Ohren, als würden Teufel um ihn
kreisen.

Mit letzter Willenskraft entriß er sich diesem Alpdrücken und kehrte zur
Wirklichkeit zurück.

Rings war alles wie immer still. Wie früher saß er an seinem Schreibtisch.

Er fühlte große Hitze. Er hatte Fieber. Man müßte weggehen von hier, sich
ins Bett legen. Doch es fehlte an Kraft. Er fühlte, daß die Klarheit nur
einen Augenblick dauern würde, daß das Fieber sofort aufs neue beginnen
müsse.

Einige Zeit kämpfte Nikolai noch auf der Grenze des Realen, wehrte sich
gegen den Schritt in die Welt der Gespenster und des Entsetzens. Doch
irgend eine Kraft besiegte ihn und wie in eine Schlucht, so stürzte er
wieder in den Abgrund seiner Gesichter.



5.


Die Türe bewegte sich zum dritten Male.

»Jetzt werde ich Mara sehen«, dachte Nikolai.

Mara kam herein.

Ihre Lippen waren aufeinandergepreßt. Ihre Augen schauten konzentriert. Sie
sagte:

-- Ich kam, um dich zu holen.

Und schon fehlten ihm Kraft und Willensstärke, um zu kämpfen. Mit einem
Zeichen hieß sie ihn aufstehen und gehen. Wie ein Mondsüchtiger folgte er
ihr durch die dunklen Zimmer und dachte daran, wie der Fieberwahn das
Aussehen aller Gegenstände verändere.

Im Gastzimmer brannten die Kerzen hell in ihren Kandelabern.

-- Sieh hin, sagte Mara.

Auf dem Divan lagen zwei Körper. Es waren Lydia und Kett. Beide waren tot.
Auf dem Boden lag in dunkelroten Flecken das Blut, und färbte in
ungeheueren Kreisen den Stoff des Divans. Blutgeruch erfüllte das ganze
Zimmer.

Im Kopf Nikolais verwirrten sich die Bilder und Gedanken. Sein ganzer
Körper zitterte. Um nicht zu fallen, stützte er sich auf die Lehne eines
Sessels. Zuweilen glaubte er an die Realität all dessen, was er sah,
zuweilen erkannte er, daß es nur ein Fieberwahn sei. Bald wollte er
erwachen, bald seinen Wahnsinn fortsetzen.

Mara sagte ihm etwas, und es war gewaltig und voller Befehle. So wird man
vielleicht auf dem Letzten Gerichte sprechen. Langsam begann Nikolai zu
hören und den Sinn ihrer Worte zu verstehen.

-- Darum tötete ich sie, sagte Mara, weil du sie liebtest. Diese Stunde war
ihre letzte Stunde und ich konnte sie schon nicht mehr vorübergehen lassen.
Sie würde sich nicht wiederholt haben. Ich willigte ein, das Schicksal zu
spielen. Das Schicksal muß wohl schön sein. Und nur jene Liebe ist wirklich
schön, die vom Tode gekrönt wird. Unser Zweikampf ist der ewige Zweikampf
des Mannes und der Frau. Du hättest wohl gewünscht, daß alle Frauen der
ganzen Welt dir gehören sollen; ich aber wäre bereit, die ganze Welt zu
verwüsten, um mit dir allein zu sein. Lange warst du der Sieger, doch der
letzte Kranz ist mein! Vielleicht wurde mein Sieg nur durch Untreue
erkämpft, aber die Liebe rechtfertigt alles und auch die Untreue! Unsere
Welt ist verwüstet, da wir nur noch einige Stunden zu leben haben und in
diesen Stunden werden wir allein sein!

Noch immer konnte Nikolai kein Wort sprechen. Manchmal glaubte er, den
Verstand zu verlieren. Mara dachte, daß er schwankend geworden wäre und
sprach ihm mit weißem und verzerrtem Gesichte von etwas anderem. Daß sie
alles vorhergesehen hätte. Daß es nutzlos wäre, jemand zu rufen. Daß man
ihn in jedem Falle der Mitschuld am Verbrechen bezichtigen würde, ihn
richten, verurteilen . . .

Die letzten Worte machten Nikolai fast lächeln. So lächerlich erschien ihm
der Gedanke, daß der nächste Tag in irgend einer Verbindung mit dieser
wahnsinnigen Nacht sein könnte.

Seltsam kam es Nikolai vor, daß er nicht bemerkt hatte, wann Mara die
Kleider auszog. Und in dem Zimmer des Todes stand sie vor ihm so sehr
nackt, wie sie es liebte, sich ihm hinzugeben. Durch den erstickenden
Blutgeruch drang der bekannte und so einzige Duft ihres Körpers bis zu ihm.

Und Mara rief ihn, zärtlich und liebkosend.

-- Liebster, komm her, komm. Ich will, daß du mich liebkosen sollst. Ich
will dich. Will, daß wir im selben Augenblicke dasselbe fühlen sollen. Und
dann wollen wir beide sterben und auch im selben Augenblick. Und der Tod
wird uns sein, wie eine Zärtlichkeit.

Doch erst, als Mara ihm schon ganz nah war und sich an ihn schmiegte und
ihm in die Augen schaute, konnte Nikolai erwidern:

-- Ich weiß, daß du ein Schatten bist, ein Traumgesicht, nur eine
Erscheinung Maras. Doch der Erscheinung kann und will ich alles sagen, was
ich ihr nicht gesagt. Ich glaube, daß aus all den Gefühlen, die mich
peinigten und betörten, nur jenes heilig war, das ich ihr entgegenbrachte,
deinem Urbilde! Weil unsere Liebe der Ruf des Körpers zum Körper war, und
ganz ein sinnliches Verlangen, das noch nicht von Freundschaft oder
Mütterlichkeit befleckt war. Unsere Liebe war das auf allen Welten gleiche
elementare Geheimnis, das den Menschen ähnlich macht den Dämonen und
Engeln.

Nikolai konnte selbst nicht begreifen, warum er von seiner Liebe als von
etwas Vergangenem sprach.

Dann ließen sich die zwei langsam auf einen Teppich sinken und preßten sich
in Umarmungen aneinander. Die Wirklichkeit begann zu schmelzen und zu
verschwinden und zur Unendlichkeit wurde jener kleine Raum, in dem sich die
beiden Körper befanden. Der Augenblick jenes Rausches trat ein, wo der
Mensch sich als einen Vogel fühlt, der über dem Abgrund hängt, und wo er
immer grade vor sich die anderen Augen sieht, die beschattet sind von der
Qual entrückter Sinnlichkeit, und wo er kreist und kreist und plötzlich
loslassend wie ein Pfeil hinunterschießt in die Gischt der Abgründe.

Als er erwachte, sah Nikolai die beiden toten Körper, die noch immer so
unbeweglich auf dem Divan ausgestreckt lagen. Lydias Gesicht war milde und
ihre klagenden geöffneten Lippen fragten: schon? -- aber das stolze und
ruhige Gesicht Ketts antwortete: mag sein! Als Nikolai sich den Körpern
nähern wollte, hielt Mara ihn zurück:

-- Nicht nötig, nicht nötig.

Es war Wein da. Sie tranken ihn. Sie sogen den Duft aus Blut, Wein und
Leidenschaft ein. Sie bemühten sich, nur einander in die Augen zu schauen.
Ihre Gesichter brannten, und in ihren Augensternen spiegelten sich die
brennenden Kerzen wie Funken.

Die Stunden vergingen. Und es waren Ekstasen der Leidenschaft und Ekstasen
der Ermattung. Und es war die Seligkeit der Bekenntnisse und die Seligkeit
des Schweigens. Ihre Körper waren von Umarmungen geschwächt und konnten
dennoch nicht den Liebkosungen entsagen. Ihre Seelen, die sich einstmals
dem Leben wie blühende Blumen geöffnet hatten, errieten hinter jedem
gesagten Worte die ganze Unendlichkeit seiner Bedeutung. Dann aber
verschmolz sie das schon nicht mehr zu befriedigende Verlangen wieder und
wieder in eines und sie taumelten auf dem harten Fußboden, der kaum vom
Teppich bedeckt war, inmitten der Flecken von Blut.

Draußen begann es, trotz des wütenden Sturmes allmählich heller zu werden.
Bleiche Lichtflächen legten sich auf die Wände, die Möbel, die Teppiche.
Langsam veränderte sich die Welt.



6.


Drei Tage lang beschäftigten sich die örtlichen Zeitungen mit den
ungeheuerlichen Vorkommnissen auf dem Gehöfte des Nikolai S. Die vier
Leichname konnten niemand von den Geheimnissen der furchtbaren Nacht
erzählen. Die Dienerschaft wurde anfangs arretiert, doch bald infolge
mangelnder Beweise wieder freigelassen. Das Geschehnis blieb ein
unaufgeklärter Fall. Die Nachricht von dem geheimnisvollen Morde oder
Selbstmorde der drei Schwestern und des Mannes einer derselben drang nur in
Form von kurzen Bemerkungen in die größeren Blätter und erschien dort in
kleiner Schrift auf der vierten Seite in der »Provinzialchronik«. Übrigens
konnten sich die Leser dieses intimen Familiendramas im Lärme der großen
politischen Ereignisse jenes Jahres dafür auch nicht interessieren.




Im unterirdischen Kerker



Nach einer italienischen Handschrift des 16. Jahrhunderts





1.


Sultan Mahomed II., der Eroberer, welcher zwei Kaiserreiche sich
unterworfen hatte, vierzehn Königreiche und zweihundert Städte, schwor, daß
er sein Roß mit Hafer vom Altar des heiligen Petrus in Rom füttern wollte.
Achmed Pascha, der Großvezier des Sultans, durchschiffte mit einem
ungeheuren Heere die Bucht, umlagerte Otranto zu Wasser und zu Lande und
nahm es im Sturmangriff vom 26. Juni im Jahre des Heils 1480. Die Sieger
kannten ihren Greueln keinen Einhalt: Messer Francesko Largo, den
Befehlshaber des Heeres, zerschnitten sie mit einer Säge, viele der noch
kampffähigen Einwohner wurden umgebracht, der Erzbischof, die Priester und
die Mönche wurden in ihren Kirchen auf alle mögliche Weise beleidigt, die
wohledlen Damen und Jungfrauen durch Vergewaltigung geschändet.

Des Francesko Largo Tochter, die schöne Julia, begehrte der Großvezier
selbst in seinen Harem. Doch die stolze Neapolitanerin willigte nicht ein,
Maitresse des Ungläubigen zu werden. Sie empfing den Türken bei seinem
Besuche mit solchen Schmähungen, daß ihn ein furchtbarer Zorn gegen sie
befiel. Natürlich hätte Achmed Pascha den Widerstand des schwachen Mädchens
mit roher Gewalt besiegen können, doch er beschloß, sich grausamer zu
rächen und ließ sie in den städtischen unterirdischen Kerker werfen. In
diesen Kerker warfen die neapolitanischen Herrscher nur unverbesserliche
Mörder und schwärzeste Bösewichte, deren Strafe schlimmer sein sollte als
der Tod.

Julia, die man an Händen und Füßen durch dicke Stricke gefesselt hatte,
wurde in einer verhüllten Sänfte zum Kerker getragen, da selbst die Türken
ihr eine gewisse Ehrerbietung die ihr nach Geburt und Stellung zukam, nicht
verweigern konnten. Auf enger und schmutziger Treppe wurde sie in die
Kerkertiefe hinabgezerrt und mit einer eisernen Kette an die Wand
geschmiedet. Julia hatte nur ihr prächtiges Gewand aus Lyoner Seide an,
alle ihre Schmucksachen hatte man ihr fortgenommen: goldene Ringe und
Armbänder, ihr Perlendiadem und die diamantenen Ohrringe. Jemand zog ihr
sogar die Safianstiefelchen, die aus dem Orient stammten, ab, so daß Julia
barfuß blieb.

Der Kerker war eine Erdhöhle unter dem Turme der Stadtmauer. Zwei mit
dicken Eisenstäben fest vergitterte und dicht an der Decke belegene winzige
Fenster reichten nur mit ihren oberen Teilen ans Tageslicht. Sie ließen nur
ein wenig Helligkeit durch, damit im Kerker kein ewiges Dunkel wäre, und
damit die an das Halbdunkel gewöhnten Augen die Mitgefangenen unterscheiden
könnten. In den Steinmauern waren starke Haken mit Ketten und Eisengürteln
angebracht. Diese Gürtel wurden fest um die Eingesperrten geschlungen und
dann verschlossen.

Sechs Gefangene waren im Kerker. Die Türken wollten keinen von ihnen
befreien, da sie die Gebräuche der Länder, die sie erobert, fortzuführen
liebten. Und Julia ward angekettet neben der alten Vanozza, die wegen
Zauberei und Verkehr mit dem Teufel verurteilt worden war, und neben dem
bleichen Jüngling Marco, der schon während der Belagerung hier eingesperrt
wurde, da er an einer Verschwörung gegen den Befehlshaber der Stadt
teilgenommen hatte.



2.


Julia lag in den ersten Stunden ihrer Gefangenschaft wie eine Tote. Sie war
von all dem mit ihr Geschehenen erschüttert und glaubte in der dumpfen und
übelriechenden Kerkerluft ersticken zu müssen. Von Minute zu Minute
erwartete sie ihr Hinscheiden.

Die andern Gefangenen, die noch nichts von der Einnahme der Stadt wußten,
besprachen unterdes, was sie gesehen. Anfangs stritten sie lange über den
Grund des Erscheinens der Türken in ihrem Loche. Dann sprach man von Julia,
kritisierte ihr Äußeres, ihr Gesicht, ihre Kleidung und warf die Frage auf,
wer sie sei und was sie wohl in diese Höhle gebracht hätte.

-- Ein schönes Mädchen, sagte Lorenzo, der alte Räuber, der an dem der
Julia entgegengesetzten Ende des Kerkers angekettet war, -- schade nur, daß
ich so weit von ihr bin. Du aber, Marco, säume nicht!

-- Das ist ein wichtiger Vogel, ist nicht für uns, sagte die alte Vanozza,
-- und was trägt sie für ein Kleid! Einen ganzen Dukaten ist die Elle wert.

-- Daß ich den Kopf ihr zerschlüge, wär sie mir nur näher, sagte Cosimo aus
seiner dunklen Ecke heraus, -- sie ist von jenen, die in Seide gehen,
während wir hungern.

Die leidende Maria, die schon längst fast zum Skelett geworden, und die der
frühere Kerkermeister jeden Tag fragte, ob sie nicht bald stürbe,
bemitleidete Julien:

-- O, schwer wird es ihr werden, so vom weichem Pfühle auf die nackte Erde
zu kommen, vom fürstlichen Mahle zu Wasser und Brot!

Aber der Prophet Filippo, der entsprungene Mönch, der im Kerker schon über
zwanzig Jahre saß, und ganz mit Haaren bewachsen war, drohte mit
schrecklicher Stimme:

-- Nah ist die Zeit, sie ist nah. Die Welt ist den Ungläubigen übergeben,
zur Züchtigung der Stolzen und Schlemmenden, damit später die Kleinen und
Armen sich freuen können. Freut euch.

Und nur Marco schwieg. Übrigens betrachteten ihn die Gefangenen noch nicht
völlig als den ihrigen, da er ein Neuhinzugekommener war.



3.


Langsam kam Julia zu sich. Doch ihre Augen blieben geschlossen und sie
bewegte sich nicht. Sie hörte von sich sprechen, aber begriff kaum ein
Wort. Dann dunkelte es immer mehr und die Gefangenen schliefen einer nach
dem andern ein. Von allen Seiten scholl lautes Schnarchen. Da erst konnte
Julia weinen und sie schluchzte bis zum ersten Lichte.

Früh am Morgen stiegen die neuen Kerkermeister zu ihnen herab. Das waren
zwei Türken: der eigentliche Kerkermeister war älter, sein Gehilfe jünger.
Sie begannen, wie das auch ihre Vorgänger taten, den Kerker zu reinigen.
Der Gehilfe nahm mit einer Schaufel den Unrat, der sich tagsüber
ansammelte, weg, während der andere den Gefangenen Stücke verschimmelten
Brotes zuteilte und in ihre Lehmkrüge Wasser goß.

Anfangs wagten die Gefangenen nicht zu sprechen, aber dann erkühnten sie
sich, zu fragen, was denn eigentlich geschehen sei, und warum man sie nicht
freiließe, wenn doch die Stadt von anderen beherrscht würde. Doch die
Türken verstanden kein Italienisch.

Den altern Kerkermeister reizte Julias Schönheit und Jugend. Er legte
seinen Brotsack beiseite, sagte ihr einiges in schmeichelndem Tone und
wollte sie umfangen. Doch Julia, die ihre traurige Lage vergaß, wollte
keine solche Beleidigung ertragen und schlug ihn ins Gesicht.

Der Türke wurde wütend, ergriff eine Peitsche, die er zufällig bei sich
trug, und begann, sie grausam zu peitschen. Alsdann, akkompagniert vom
Lachen und fröhlichen Schreien des ganzen Gefängnisses, vergewaltigte er
sie.

So gewann die Jungfernschaft der schönen Julia Largo, die ihre Gunst selbst
dem Großvezir des Sultans versagt hatte, ein einfacher Türke, dem es nicht
einmal gegeben war, die Frauen aus dem Harem seines Paschas jemals sehen zu
können.



4.


So vergingen die Tage im Kerker.

Julia gewöhnte sich allmählich an ihre furchtbare Umgebung, an die
verpestete Luft, an das steinharte Brot und an das faulende Wasser. Sie
gewöhnte sich selbst an Dinge, an die sie früher ohne die äußerste Scham
nicht einmal denken konnte. Schweigend nahm sie des Kerkermeisters
Liebkosungen täglich hin, sowie auch zuweilen seine Schläge. Sie entschloß
sich, wie alle Gefangenen es taten, vor aller Augen das zu tun, was die
Leute gewöhnlich verbergen.

Die Gefangenen waren in solchen Abständen angekettet, daß der eine sich nur
mit Mühe bis zum andern strecken konnte. Die Länge der Kette erlaubte ihnen
zu sitzen, doch schon zu stehen war unmöglich. Doch ungeachtet dessen
erdachten die Gefangenen sich eine ganze Reihe von Zerstreuungen. Lorenzo
und Cosimo stellten sich Würfel her und würfelten ganze Tage -- um Brot und
Wasser; zuweilen mußte der Verlierende ganze fünf Tage hungern. Sehr oft
nahm auch die Vanozza an ihrem Spiele teil. Cosimo belustigte sich außerdem
damit, auf die anderen Gefangenen mit Steinen und Erde zu werfen. Dadurch
brachte er dann den Filippo so in Wut, daß der wie ein Stier zu brüllen
begann und an den Ketten riß, daß die Wände nur so zitterten. Sonst war
Filippo eifrig damit beschäftigt, eine Kreuzigung Christi in die Wand neben
sich zu meißeln. Zuweilen auch erhoben sich unter den Gefangenen lange
Gespräche, die immer in ein wüstes Geschimpfe übergingen. Zuweilen aber
gingen ganze Tage vorbei, an denen keiner sprechen wollte: alle lagen in
ihren Winkeln, voll Wut und Verzweiflung.

Inmitten der Gefangenen blieb Julia einsam. Sie antwortete auf keine Frage,
und es war, als hörte sie die Schmähungen nicht, mit denen sie überschüttet
wurde. Sie sagte keinem, wer sie sei, und dies blieb ein Geheimnis für alle
Insassen des Kerkers. Sie verbrachte die Tage in schweigsamem Nachsinnen,
ohne zu weinen, ohne zu klagen.

Nur mit ihrer Nachbarin, der alten Vanozza, tauschte sie zuweilen einige
Worte aus. Vanozza, die im Kerker schon viele Jahre saß, gab Julien mehrere
wichtige Ratschläge. Unterwies sie, von Zeit zu Zeit auf den Zehenspitzen
zu sitzen, damit die Füße nicht steif würden. Zeigte ihr, wie man es
anstellen müsse, damit der eiserne Gürtel nicht allzu sehr den Körper
presse. Riet ihr, jeden Morgen den im Kruge gebliebenen Wasserrest
auszusprengen, damit das Wasser nicht verfaule. Julia mußte die
Nützlichkeit dieser Ratschläge einsehen und antwortete aus Dankbarkeit auf
die Stimme der Vanozza.

Einmal stieß Julia unversehens an ihren Krug und vergoß ihr Wasser. Die
Gefangenen hüteten ihr Wasser sehr, denn es war Sommer und im Kerker sehr
heiß. Furchtbar quälte Julia der Durst, aber sie zeigte es nicht.

Der neben ihr angekettete Marco rückte ihr seinen Krug heran.

-- Du willst trinken, sagte er, -- und ich bitte dich, nimm mein Wasser.

Julia sah den Marco an. Seine schwarzen Augen kamen ihr schön vor und
ebenso seine bleichen Wangen.

Sie sagte:

-- Ich danke dir.

An diesem Tage war das schlechte Wasser ganz besonders erfrischend.



5.


Seit diesem Tage begann Julia mit dem Marco zu sprechen. Anfangs waren ihre
Gespräche sehr abgerissen. Aber allmählich begannen sie mehr und mehr
miteinander zu reden. Und zuletzt verbrachten sie ganze Tage in
Unterhaltungen.

Julia erzählte von der Pracht und dem geselligen Leben in den Palästen: von
den gewölbten Galerien und dem Fußboden aus Mosaik, von Möbeln aus
kostbarem Holze und Lüstern aus venezianischen Glase, von Gärten mit
künstlichen Wasserfällen und Fontänen, von Kleidern, die mit Gold und
Perlen ausgenäht sind, vom Fest und vom prunkenden Mahl, von Bällen mit
Tanz, Maskeraden in den von Lampions geschmückten Gärten, von
Illuminationen und von den heiteren Jagden im Walde; von
Theateraufführungen und vom Spiel auf dem Spinett, der Zither, Flöte und
dem Klaviere; erzählte von den Werken der Kunst, von Spangen, Braceletten,
Diademen, welche die besten Juweliere gearbeitet hatten, von feinen artigen
Medaillen, von Statuen der alten und neuen Bildhauer, von wundervollen
Bildern der großen neuen Maler, die Geschehnisse aus der heiligen
Geschichte, Szenen aus den römischen Göttersagen oder Bilder des
gegenwärtigen Lebens darstellten; erzählte alles, was sie in den Büchern
des Filelfo, Pontano, Panoramito, Alberti und anderer zeitgenössischer
Schriftsteller gelesen hatte; wiederholte die Novellen des Poggio und
Boccaccio und deklamierte die Verse des Petrarca.

Marco hingegen sprach von den schönen Muscheln, die er im Meere gesammelt,
von den wunderlichen und bunten Fischen, die er in seinen Netzen gefangen,
von den Krabben, deren Gang seitwärts ist, und von den unförmlichen
Tritonen; gedachte der nächtlichen Fischfänge, beim Schein der Pechfackeln,
der Wettfahrten in Boten, der tiefblauen Grotten, der furchtbaren Stürme
auf dem Meere; beschrieb das Leben in Sizilien und Afrika, in den Ländern,
wo schwarzhäutige Menschen, Elefanten und Kamele leben; gab wieder die
Erzählungen von den Irrfahrten Sindbads des Seefahrers, der einst den
Rücken eines Meeresungeheuers für ein Eiland angesehen hätte, der in den
Ländern war, wo Menschen ohne Köpfe leben, der den Vogel Rochen weit hinter
den Mondbergen gejagt hatte; er träumte von den Sirenen des Meeres, die des
Nachts auf Leiern mit goldenen Saiten spielen und die jungen Fischer zu
sich heranlocken, um sie zu ertränken, träumte von den Salamandern, die
unsichtbar in der Luft rings um uns leben, und die nur im Feuer sichtbar
sind, weil sie durch dieses hindurchgehend, entflammen müssen, träumte von
den schwarzen Titanen, die unter dem Vesuv liegen und deren Atem schwarzer
Rauch ist, und auch von dem Leben auf der Sonne und den Sternen und von den
singenden Blüten und von den Mädchen mit Flügeln, ganz wie Schmetterlinge.

Nur von einem sprachen Julia und Marco nie: von ihrem Gegenwärtigen und
Zukünftigen, von dem, wie die Tage im Kerker wären, und was sie erwartete.

Die anderen Gefangenen lachten anfangs über ihre Gespräche, hörten aber
bald auf, ihnen irgend welche Aufmerksamkeit zu schenken.



6.


Da sie einander erkannten, schämten sich Julia und Marco wieder vor
einander. Und wieder begannen sie jenes im geheimen zu tun, was die Leute
vor fremden Augen verbergen.

Eines Morgens wandte der Kerkermeister Julien seine Aufmerksamkeit wieder
zu, obgleich sie, geschwächt durch Hunger, Luftmangel und Krankheit, nicht
mehr zu den ausnehmenden Schönheiten gerechnet werden konnte. Der Türke
setzte sich neben sie auf den Fußboden, lachte und wollte sie umfangen, wie
er solches in den ersten Tagen ihrer Kerkerzeit getan. Doch Marco packte
ihn von hinten an den Schultern, warf ihn um und zertrümmerte ihm fast mit
seiner Kette das Hirn.

Dem heraneilenden Gehilfen war es natürlich ein leichtes, den von der
langen Gefangenschaft geschwächten Jüngling zu bewältigen. Beide Türken
stürzten sich auf ihn und begannen ihn unbarmherzig zu peitschen. Sie
schlugen ihn abwechselnd, bis beider Hände vor Ermattung niedersanken.
Schimpfreden und Drohungen ausstoßend, entfernten sie sich endlich und
ließen den Marco in einer Blutlache zurück.

Im Kerker schwieg alles. Keiner wußte, was zu sagen.

Julia näherte sich dem Marco, soweit ihre Ketten es zuließen, wusch seine
Wunden und legte ihm feuchte Umschläge um den Kopf.

Marco öffnete die Augen und sagte:

-- Ich bin im Paradies.

Julia küßte ihn auf die Schulter, da sie seine Lippen nicht erreichen
konnte und sagte ihm:

-- Ich liebe dich, Marco. Du bist so licht.

Alle dachten, daß der Türke am nächsten Tage Marco totschlagen würde. Doch
aus irgend welchen Gründen kamen am nächsten Morgen zwei neue
Kerkermeister, den Kerker zu reinigen: beide waren düster und beachteten
die Gefangenen keineswegs. Hatten nun die Bisherigen Furcht vor der Rache,
oder wurden sie abgelöst -- dies blieb für den Kerker ein Rätsel.



7.


Marco war einige Wochen lang krank, und Julia pflegte ihn nach Kräften.
Doch als Marco wiederhergestellt war, erkrankte Julia.

Eines Abends begann sie laut zu stöhnen, da sie ihre Schmerzen nicht länger
verbeißen konnte. Die alte Vanozza erfaßte die Sachlage und hieß sie
näherrücken.

Gegen den Morgen gebar Julia ein totes Kind.

-- Schade, daß es tot ist, sagte Lorenzo, -- es wäre ein prächtiger Halunke
geworden! Selten genug trifft einen das Schicksal, im Kerker geboren zu
werden.

Cosimo beschimpfte die Vanozza, weil sie Julien geholfen hatte.

-- Laß sie, es ist ein Weib, entgegnete ihm die leidende Maria.

Am Morgen kamen die türkischen Kerkermeister, wie immer, schaufelten den
kleinen ungetauften Leichnam mit dem Unrat zusammen und trugen ihn irgend
wohin fort.



8.


Einige Tage darnach sagte Julia zu Marco nachts, als alle schliefen:

-- Marco! Du mußt mich ja verachten. Ich bin gefallen. Du bist der Erste,
den ich lieb gewann. Aber ich kann dir nicht mehr die Reinheit meines
Körpers hingeben. Gegen meinen Willen hat man mich beschmutzt. Ich bin
deiner unwürdig, obwohl ich mich nicht an dir versündigt habe. Ach, wäre
ich dir in früherer Zeit begegnet, und hättest du als erster meine Brust
gesehen, die kein Mann je zu berühren wagte! Dann gäbe es keine Liebkosung,
die ich nicht in mir finden würde, um sie an dich mit aller Hingabe der
Liebe und Leidenschaft zu verschwenden. Jetzt aber, Marco, laß mich, und
wage es nicht, an mich als an ein Weib zu denken. Wenn es mir schon
unmöglich ist, dir als Mitgift die einzige wirkliche Kostbarkeit, die ein
Mädchen besitzt, ihren ehrlichen Namen, mitzubringen, so will ich auch
nicht, daß du dich späterhin deiner Wahl schämen müßtest. Ich werde dich
ewig lieben, doch du sollst nicht an mich denken. Aber so lange uns noch
der gerechte Zorn des Herrn in dieser Hölle festhält, o, so lange erlaub
mir zuweilen dein Gesicht anzusehen, damit ich die Versuchung überwinden
kann, die Todsünde des Selbstmordes zu begehen. Sollte aber die Fürsprache
der reinen Jungfrau Maria uns die Freiheit wieder erwirken, so gedenke
vielleicht zuweilen jener Seele, der du ewig als ein Leuchten erscheinen
wirst. Ich aber werde in der Zelle des Klosters nicht ermüden, Gebete für
dich emporzusenden.

Jedoch Marco entgegnete ihr:

-- Julia! Du bist der lichte Engel über mir. Niemals noch, sei's im Traum
oder im Wachen, sah ich etwas, was schöner wäre, als dein Bildnis. Du
ließest mich wieder an Gottes Barmherzigkeit und an den Duft seiner
Paradiese glauben. Denn wenn dort, inmitten der hohen Lilien, solche
Menschen sind, wie du, so verlohnt es sich schon, die Qualen auf der Erde
zu erdulden. Der Gedanke an dich blendet mich mit blauem Feuer, wie der
Blitz. Wenn deine Hände mich berühren, erbebe ich: es ist wie eine
glühende, aber süße Kohle, Deine Stimme ist wie ein Vogellied auf der
taufrischen Wiese, oder wie das Raunen einer leise schaumgekrönten Welle,
nicht weit vom steinigen Ufer. Den Fleck zu küssen, den du berührst, ist
meine höchste Bestrebung. Du bist unberührt und in deinem Wesen aller
Sünden ledig; die Sünde ist unter dir und du bist immer über ihr, wie der
kristallene Himmel immer über den Wolken ist. O, meine Herrin, laß nicht
mich entbehren den Regenbogen deiner Blicke.

Da aber kniete Julia nieder und sagte zu ihm:

-- Marco! Mein Geliebter! So nimmst du mich denn zur Frau?

Da aber kniete Marco nieder und sagte zu ihr:

-- Mädchen! Vor dem Antlitz Gottes des Herren, der alles sieht, nehme ich
dich zum Weibe, verlobe mich mit dir und vereinige uns in einem Bunde, den
kein Mensch jemals die Macht hat, aufzulösen.

Und so vereinte sie die Ehe, nachts, während alle schliefen und nur die
beiden auf den Knien voreinander lagen.



9.


Die christlichen Herrscher konnten den Gedanken natürlich nicht ruhig
ertragen, die Ungläubigen in einem Lande zu wissen, in dem sonst der
Stellvertreter Christi sich beständig aufhielt. Alfons, der Herzog von
Calabrien und Sohn des damaligen Königs von Neapel, berief, um die Türken
aus Italien zu verjagen und Otranto wieder mit Neapel zu vereinigen, ein
gewaltiges Heer. Papst Sixtus IV. ließ kirchliche Geräte einschmelzen und
zu Münzen umprägen, bemannte 15 Galeeren und sandte sie Alfons zu Hilfe.
Ein Gleiches taten die Arragonier und Ungarn.

Die ausgezeichnete Tapferkeit der Christen brach den Widerstand der
Ungläubigen, denen außerdem der Mut entfiel, als sie vom Tode ihres Sultans
Mahomed hörten, der sein ungestümes Leben im Mai des Jahres 1481 beschloß.
Die Muselmänner flohen aus Italien und aufs neue nahmen die Neapolitaner
die wohledle Stadt Otranto ein.

Inmitten der Befehlshaber des christlichen Heeres befand sich auch Pietro,
der Bruder des unglücklichen Fernando Largo, und er beeilte sich, den
Aufenthaltsort seiner Nichte auszukundschaften. Man führte Julia aus ihrem
Verließ. Sie vermochte kaum, auf ihren geschwächten Füßen zu stehen und
unerträglich blendete sie das Licht der Sonne. Jene aber, die ihre Blässe
und Magerkeit sahen, konnten sich kaum der Tränen enthalten. Flinke
Dienerinnen badeten sie in wohlriechendem Wasser, kämmten ihre Haare, und
kleideten sie in leichtes feines Linnen.

Julia war wie von Sinnen, und gab kaum auf die vielerlei Fragen Antwort. Am
Tage nach ihrer Befreiung befiel sie eine schwere Krankheit, und mehrere
Wochen hindurch war sie dem Tode nahe. Im Fieberwahne kam es ihr vor, als
ob sie schon tot sei und zu ewigen Qualen im Fegefeuer verurteilt wäre, und
als ob die Teufel auf jede nur denkbare Weise ihren Körper zu peinigen und
schänden bestrebt wären. Sie erkannte keinen ihrer Verwandten und alle ihr
sich Nähernden flößten ihr Entsetzen und Abscheu ein.

Als sie dank der ärztlichen Kunst und der Fürsorge ihrer Verwandten sich
langsam zu erholen begann, schien es ihr, als wäre all das Vergangene,
jenes furchtbare Jahr, das sie im unterirdischen Kerker zubrachte, nur eine
Erscheinung ihrer Fieberträume. Niemand versuchte es, von den Monaten ihrer
Gefangenschaft zu sprechen, und sie selbst bemühte sich, bei ihnen nicht
einmal im Gedanken zu verweilen.



10.


Nach ihrer endgültigen Wiederherstellung reiste Julia nach Neapel und
wohnte dort bei einem ihrer Onkel. Der heute bereits entschlafene König
Fernando gab ihr im Angedenken des Märtyrertodes ihres pflichtgetreuen
Vaters eine jährliche Rente von tausend Dukaten. Außerdem gingen als ihr
Erbe alle Schlösser und Länder ihres Vaters in vollem Bestande an sie über.
Die Schönheit Juliens erblühte in solcher Pracht wie nie zuvor. Auf den
Hoffesten setzte sie alle in Verwunderung, und, da sie reich war, so fehlte
es ihr nicht an jungen, artigen und hochgeborenen Männern, die sich um ihre
Hand bewarben.

Einstmals ging Julia am Hafen, wo die neuen bemerkenswerten Gebäude
errichtet waren, mit ihren Dienerinnen spazieren. Plötzlich bemerkte sie in
einem kleinen Haufen von Fischern, die an einem Boote standen, den Marco.
Er war ganz wie ein Seemann angezogen, trug eine Jacke mit Posamenten und
eine rote phrygische Mütze.

Als hätte ein böser Zauberer ihr mit seinem Magierstabe gedroht, wurde es
Julien plötzlich traurig und qualvoll zumute. Sie wollte so tun, als hätte
sie den Marco nicht bemerkt, doch offenbar hatte er sie bereits gesehen und
erkannt. Da schickte Julia eine ihrer Dienerinnen zu dem Marco, und hieß
ihn, am Abend desselben Tages bei ihr zu erscheinen. Sie bemerkte noch, wie
Marco lächelte und zum Zeichen des Einverständnisses mit dem Kopfe nickte.

Den ganzen Tag über kannte Julia keine Ruhe. Am Abend erschien Marco, jung,
frisch, kräftig, kühn. Julia empfing ihn in ihrem Zimmer. Mit ihr waren
ihre Freundin Monna Lucrezia und zwei vertraute Dienerinnen. Julia trug ein
goldverbrämtes Samtgewand, mit durchbrochenen Ärmeln, ein Perlengeschmeide
zierte ihren Hals, und auf die Stirne fiel ihr ein Diamantschmuck herab.
Sie saß in einem hohen Sessel bester florentinischer Arbeit.

Ehrfürchtig verbeugte sich Marco vor ihr, wie es ein einfacher Fischer vor
einer edlen Signora gewiß tun mußte.

Einige Zeit hindurch wußte Julia nicht, was zu sprechen; dann fragte sie
ihn:

-- Sage mir, mein Freund, womit beschäftigst du dich jetzt?

Marco sah sie mit seinen schwarzen Augen an, lächelte ebenso wie am Morgen
und entgegnete:

-- Signora, ich bin ein Fischer, handle mit Fischen und führe zuweilen
Waren aus Otranto nach Neapel.

-- Und du bist mit deiner Lage zufrieden? fragte Julia.

-- Mehr habe ich nicht nötig, als leben und die goldene Sonne und blauen
Wellen sehen können, antwortete Marco, und seine Stimme tönte so zart, wie
in den Stunden ihrer langen Gespräche im Kerker.

Doch Julia bezwang ihr Herz und sagte nur:

-- Ich werde dir auf meine Kosten eine Barke ausrüsten lassen, damit du
einen selbständigen Handel beginnen kannst.

Marco senkte den Kopf.

-- Ich danke Ihnen, Signora, und will Sie nicht durch eine Weigerung
kränken. Erlauben Sie mir nur, die Barke zum Gedächtnis an Sie mit Ihrem
Namen zu benennen.

Nach diesen Worten verbeugte sich Marco abermals aufs höflichste und bat um
die Erlaubnis, sich entfernen zu dürfen. Nachdem er hinausgegangen war,
sagte Julia zu der Monna Lucrezia:

-- Ich weiß, daß dieser Mensch an einer Verschwörung gegen meinen Vater
teilgenommen hat. Doch da er gleich mir die Einnahme unserer Stadt
überlebte, kann ich ihm nicht zürnen. Ich werde tatsächlich für ihn eine
Barke ausrüsten lassen, werde aber bitten, daß man ihm verbiete, sich in
Neapel zu zeigen. Mag er seine Geschäfte irgendwo um Tarent weiterführen.




Die letzten Märtyrer



Ein unbestellter und dem Henker zum Verbrennen übergebener Brief



Diesen Brief schrieb mir mein unglücklicher Freund Alexander Athanatos nach
seiner wunderbaren Rettung als Antwort auf meine dringenden Bitten, jene
fabelhaften Szenen zu beschreiben, als deren einziger lebendiger Zeuge er
verblieb. Den Brief fingen die Agenten der zeitweiligen Regierung ab und
vernichteten ihn als ein schädliches und sittenloses Werk. Erst nach dem
tragischen Tode meines Freundes, als mir alle seine hinterlassenen Sachen
zugestellt wurden, fand ich inmitten seiner Papiere das Konzept zu dieser
Erzählung; alsdann erfuhr ich denn auch das Schicksal des eigentlichen
Briefes.

Diese wahrhafte und, soweit ich beurteilen kann, vorurteilslose Geschichte
eines der charakteristischen Begebnisse, welche im Beginne jener riesigen
geschichtlichen Bewegung, die ihre Anhänger heute die »Welt-Revolution«
nennen, vor sich ging, braucht man, schätze ich, nicht dem Vergessen
anheimzugeben. Die Niederschriften Alexanders illustrieren natürlich nur
einen winzigen Teil des, was in der Hauptstadt an jenem denkwürdigen Tage
des Aufstandes geschah, sind dafür aber für einige Fakten die einzigen
Quellen, aus der künftige Historiker ihr Wissen schöpfen werden. Das
Bewußtsein dieses Umstandes, schätze ich, veranlaßte den Autor, seine Worte
mit besonderer Aufmerksamkeit zu wägen, und, ungeachtet eines gewissen
blütenreichen Stiles, im Rahmen strengster historischer Wahrhaftigkeit zu
bleiben.

Zum Schluß kann ich nicht umhin, jenem Lande, das mir ein Asyl bot, meine
Dankbarkeit auszudrücken und meine Freude darüber, daß es auf der Erde noch
einen Ort gäbe, wo sich die Freiheit des gedruckten Wortes bewahrte und wo
man ruhig Meinungen aussprechen könne, die nicht unbedingt zu einer
Lobpreisung der Zeitweiligen Revolutionären Regierung neigen.



1.


Du weißt, daß ich, wie viele, dem Ausbruche der Revolution völlig
unvorbereitet gegenüberstand. Allerdings gingen dunkle Gerüchte, es wäre
zum Neujahrstage ein allgemeiner Aufstand angekündigt, aber die letzten
unruhvollen Jahre lehrten uns, solchen Warnungen nicht besonders zu trauen.
Die nächtlichen Ereignisse kamen für mich völlig unerwartet. Ich hatte
beschlossen, das neue Jahr nicht zu feiern, und arbeitete ruhig in meinem
Zimmer. Plötzlich versagte die elektrische Leitung. Bevor ich noch eine
Kerze anzünden konnte, hörte ich hinterm Fenster das hölzerne Knattern von
Schüssen. Man hatte sich schon an diese Töne gewöhnt, und ich zweifelte
nicht.

Ich zog mich an und ging auf die Straße hinaus.

Im völligen Dunkel der Winternacht konnte ich eine große Volksmenge, die
auf der Straße auf- und abwogte, mehr erraten als sehen. Die Luft war ein
Getöse von Schritten und Stimmen. Das Schießen verstummte nicht und mir kam
es vor, als bohrten sich die Kugeln in die Wand dicht über meinem Kopfe.
Nach jeder Salve freute ich mich, daß der Tod noch vorübergegangen.

Doch die Neugier des Zuschauers überwog die Furcht. Ich zögerte an der
Haustür in einem Haufen ebenso unschlüssiger Beobachter, wie ich es war.
Wir tauschten kurze Fragen aus. Plötzlich, wie ein durchs Wehr gebrochener
Strom, stürzte auf uns eine Menge von Menschen zu, die schreiend in
panischer Angst liefen. Wir mußten entweder mit ihnen laufen oder zertreten
werden.

Auf dem Ruhmesplatz sah ich mich wieder. Das Rathaus brannte und des
Feuerschadens Schein beleuchtete die Umgebung. Ich erinnerte mich an einen
Vers Vergils: dant clara incendia lucem. Du kennst den Umfang dieses
Platzes. Und sieh, er war so voll, daß es schwer wurde, sich zu bewegen.
Ich glaube, dort waren mehrere hunderttausend Menschen. Die vom flüchtigen
roten Feuer beschienenen Gesichter waren seltsam und unkenntlich.

Ich fragte viele, was geschehen sei. Es war amüsant, eine Reihe sich
widersprechender und unglaublicher Antworten zu hören. Einer sagte, daß die
Arbeiter alle wohlhabenden Leute totschlügen. Ein anderer, daß die
Regierung alle Nichtvermögenden ausrotte, um der revolutionären Bewegung
ein Ende zu machen. Ein dritter, daß alle Häuser unterminiert wären, und
eine Explosion der anderen folge. Ein vierter wollte mich davon überzeugen,
daß dieses gar keine Revolution sei, sondern ein furchtbares Erdbeben.

Und um diese Zeit, als auf dem Platz vor dem Feuerschein fast ein Viertel
der Stadteinwohner plaudernd, verwundert, erregt sich drängte, geschah eben
jenes furchtbare Ereignis, von dem du durch die Zeitungen hörtest. Der
dumpfe Donner von Geschützsalven tönte, ein feuriger Strich zerschnitt das
Dunkel und ein Explosivkörper fiel mitten in die dichteste Ansammlung der
Leute. Neues Kreischen übertönte den Lärm und betäubte, fast wie ein
körperlicher Schlag. Doch im selben Augenblicke explodierte eine zweite
Granate. Dann wieder, wieder und wieder . . .

Das ratlose Ministerium hatte dem Kommandanten der Zentralfestung befohlen,
auf alle Volksansammlungen zu schießen.

Wieder begann ein sinnloses Fliehen. Inmitten der springenden
Granatensplitter, im drohenden Donner der Geschütze, in welchen die
durchdringenden Schreie der Verwundeten drangen, taumelten die Leute
zwischen Steinwänden hin, traten auf Gefallene, schlugen die Imwegstehenden
mit Fäusten, kletterten auf Fensterbretter, auf Laternen, fielen aufs neue
hinab und verbissen sich vor Wut mit den Zähnen in den Füßen der
Nebenanstehenden. Dies war Schrecken und Chaos, war Hölle, in der man
verrückt werden konnte. Auf welche Weise ich auf den Nordischen Boulevard
hinausgestoßen wurde, weiß ich nicht.

Hier begegnete mir eine Abteilung der Revolutionären.

Es waren nicht viele, etwa dreihundert Menschen, nicht mehr, doch es waren
organisierte Truppen vor der bestürzten Menge. Um einander zu erkennen,
trugen sie ihr Abzeichen: eine rote Binde auf dem Arm. Ihre gemessene
Bewegung hielt den Menschenstrom auf. Das sinnlose Fliehen hielt ein, die
Menge beruhigte sich.

Beim Lichte der Pechfackeln, das alles umgebende ungewöhnlich und
unzeitgemäß erscheinen ließ, erhob sich irgend ein Mensch auf den Sockel
der Statue des Nordens und machte ein Zeichen, daß er sprechen wolle. Ich
stand ziemlich weit, eng an einem Baum gedrückt, und konnte daher nur den
allgemeinen Sinn der Rede hören. Die einzelnen Worte erstarben, ohne bis zu
mir zu fliegen.

Der Redner rief zur Ruhe. Erklärte, daß der friedliche Lauf des Lebens
nicht gestört würde und daß keinem der Bürger eine Gefahr drohe. Daß im
ganzen Lande um diese Stunde dasselbe vor sich ginge wie in der Hauptstadt:
überall ginge die Regierung zeitweilig in die Hände der Milizstäbe über.
Daß nur eine geringe Zahl von Leuten gerichtet würde, -- alle die der
gestürzten »uns allen gleich verächtlichen« Regierung anhingen. Daß über
diese Leute das Urteil des Geheimen Gerichtes schon ausgesprochen sei.

Zum Schluß sagte der Redner noch einiges von dem Tage, den man Jahrtausende
hindurch erwartet hätte, von der endlich erkämpften Freiheit des Volkes.

Im allgemeinen war die Rede eine der allergewöhnlichsten. Ich dachte, die
Menge würde den Schwätzer herunterreißen, ihn verjagen wie einen Narren,
der in den Minuten der Gefahr lächerlichen Blödsinn treibt. Doch von allen
Seiten hörte ich ungestüme Schreie der Zustimmung. Die noch vor einem
Augenblick schwankenden, fassungslosen, verzagten Leute verwandelten sich
plötzlich in eine ganze Armee sinnloser und sich aufopfernder Aufrührer.
Den Redner trug man auf den Händen, dabei die Revolutionshymne anstimmend.

Da fühlte ich plötzlich die Notwendigkeit, zu sein nicht in der Menge, aber
mit Menschen, die gleich mir denken, mit Freunden. In meiner Seele erstand
das Bildnis des Domes, und ich begriff, daß in dieser Nacht der Platz eines
jeden Gläubigen neben jenen Symbolen sei, die unsere Anbetung schon zum
Heiligtume gemacht hatte.

Ich lief auf dem Boulevard so rasch, als ich es nur inmitten der
allgemeinen Bewegung konnte. Und schon waren überall die Milizen, welche,
da sie die elektrische Leitung noch nicht herzustellen wünschten, eine
Beleuchtung aus Fackeln inszenierten. Patrouillen schritten vorüber, die
sich um die Ruhe bekümmerten. Hier und dort bemerkte ich kleine Meetings in
der Art von jenem, dem ich beiwohnte.

Irgendwo ferne dröhnten zuweilen noch Salven.

Ich bog in den dunklen Gerichts-Prospekt ab, und, mich allmählich an den
Weg inmitten des Labyrinthes alter Gäßchen erinnernd, tastete ich mich bis
zum Eingang unseres Domes durch.

Die Türen waren geschlossen. Ringsum war es menschenleer.

Ich klopfte an die Türe auf die gewohnte Art und man ließ mich ein.



2.


Die Treppe wurde von einer Lampe nur schwach erhellt.

Und ganz wie Schatten in einem jener Kreise der Danteschen Hölle drängten
die Menschen sich, und stiegen hinab und hinauf. Das halbe Dunkel
veranlaßte alle, zu flüstern. Und fühlbar war die Anwesenheit eines Druckes
in all dem leisen Gespräch.

Ich bemerkte Bekannte, hier waren Hero und Irene und Adamant und Dmitri und
Lycius und alle und alle. Man begrüßte sich mit mir. Ich fragte Adamant:

-- Was denkst du von all diesem?

Er antwortete mir:

-- Ich denke, dies ist das Ultimatum. Dies ist das endliche Scheitern jener
neuen Welt, die, vom Mittelalter an gerechnet, etwa drei Jahrtausende
währte. Dies ist die Ära neuen Lebens, welche unsere Epoche mit den Zeiten
des russisch-japanischen Krieges und den Feldzügen Karls des Großen im
Sachsenlande in ein ganzes vereinigen wird. Wir aber, alle wir zwischen den
zwei Welten werden von diesen gigantischen Mühlsteinen zu Staub zermalmt
werden.

Ich ging nach oben. Der kaum beleuchtete Saal des Domes schien noch
riesiger zu sein. Die Winkel verlängerten sich ins Unendliche. Die Symbole
unserer Feierlichkeiten wuchsen geheimnisvoll und verzerrt aus der
Finsternis.

Im halben Lichte standen Gruppen von Menschen.

Irgendwo war eines Weibes hysterisches Weinen.

Man rief mich an. Es war Anastasia. Sie saß auf dem Fußboden. Ich ließ mich
neben ihr hin. Sie ergriff meine Hand, sie, die gewöhnlich so verhaltene,
selbst in den Stunden der Saturnalien, warf sich aufschluchzend an meine
Brust und sagte:

-- Und so ist alles aus, das ganze Leben, die ganze Möglichkeit zu leben.
Lange Geschlechter, hunderte von Geschlechtern bereiteten meine Seele vor.
Ich kann nur in der Pracht leben und atmen. Ich hab Flügel nötig, kann
nicht kriechen. Ich muß über den anderen sein, ersticke, wenn allzuviele
neben mir sind. Mein ganzes Leben liegt in jenen überzarten, jenen
verfeinerten Erlebnissen, welche nur die Höhe ermöglicht! Wir,
Treibhausblüten der Menschheit, müssen ja in Wind und Staub vergehen. Und
ich will nicht, ich will nicht eure Freiheit und Gleichheit! Ich will
lieber eure verschlagene Sklavin sein, als ein Genosse eurer
Brüderlichkeit!

Sie schluchzte und ihre kleinen Fäuste ballend, drohte sie jemand. Ich
suchte sie zu beruhigen, sagte, daß es noch zu früh wäre zu verzweifeln,
unvernünftig, dem ersten Eindruck sich hinzugeben. Die Revolutionäre
übertrieben natürlich ihren Sieg. Vielleicht würde morgen die Regierung sie
aufs neue unterbekommen. Vielleicht wäre ihnen in der Provinz der Umsturz
gar nicht gelungen . . . Doch Anastasia hörte mich nicht.

Plötzlich kam alles in Bewegung. Viele standen auf und andere hoben die
Köpfe. Licht irrte -- und vor dem Altar stand Theodosius.

Zwei Diakonissinnen in weißen Gewändern trugen wie immer die hohen Leuchter
vor ihm her. Er selbst war in schneeweißem Chitone, seine dunklen Locken
fielen über seine Schultern, sein Gesicht war sehr ruhig und sehr streng.
So stand er vor dem Altar, breitete segnend seine Hände und sprach. Seine
Stimme drang in die Seele wie Wein.

-- Schwestern und Brüder! sagte er, für uns beginnt der Tag der Freude.
Unser Glauben kann nicht sterben, denn er ist die ewige Wahrheit des Seins,
und selbst unsere Denker tragen dies, wenn auch verborgen, wenn auch
unbewußt, in sich. Unser Glaube ist das letzte Geheimnis der Welt, das man
in allen Jahrhunderten gleich verehrt, auf allen Planeten. Für uns aber ist
jetzt der Tag gekommen unsern Glauben zu bekennen vor allen Zeiten und der
Ewigkeit. Wir dürfen uns der höchsten Leidenschaft angeloben: jener vor dem
Tode. Erinnert euch, wie oft wir in sinnlicher Verzückung unsere Körper
geißelten und wie der Schmerz die Süßigkeit des Verlöbnisses verdoppelte.
Der Tod aber wird den Jubel verdreifachen, verzehnfachen. Der Tod wird weit
öffnen die Pforten zur Ruhe, die ihr noch nicht wißt, zum blendenden
Lichte, das ihr noch nicht kennt. Schwestern! Brüder! Der Augenblick
letzter Vereinigung wird wie ein Blitz unser ganzes Sein durchdringen und
noch unser letzter Atem wird ein Schrei sein unsagbaren Glückes. O ihr
letzten Gläubigen, o ihr letzte Märtyrer des Glaubens, ich sehe, o ich sehe
Kränze des Ruhmes auf euren Häuptern!

Ich bin fest davon überzeugt, daß in der Stimme des Theodosius sowohl wie
in seinem Blicke eine hypnotische Kraft ist. Unter seinem Einfluß wurden
alle im Dome wie umgewandelt. Ich sah ekstatische Gesichter. Ich hörte
heroische Ausrufe.

Theodosius befahl, die Hymne zu singen. Jemand setzte sich an die Orgel.
Die Luft wogte. Die Melodie erfüllte den dumpfen Raum, strömte zwischen uns
hin, verflocht uns alle mit ihrem unüberwindlichen Netz in ein
vielgesichtiges Wesen. Die Verse unseres großen Poeten rissen sich
unwillkürlich von unseren Lippen los, so wie unwillkürlich der Ozean tönt
im Rufe des Windes. Wir waren wie singende Saiten eines großen Orchesters,
Stimmen gewaltiger Orgel, rühmend das ewige Rätsel, preisend schöpferische
Leidenschaft.



3.


Etwas später rief man mich in den Rat der Ausführenden. Beim Schein der
Kerzen versammelten wir uns im gewöhnlichen Zimmer des Rates. Kaum
erkennbar waren die göttlichen Fresken an den Wänden. Theodosius war
Vorsitzender.

Er sammelte alle Daten über den Lauf des Aufstandes. Die Lage war
hoffnungslos. Die ganze Armee ging zu den Revolutionären über. Alle
Generäle und höheren Offiziere waren arretiert und größtenteils schon
verurteilt. Die Zentralfestung erlag dem Sturmangriff. Sämtliche
Regierungsgebäude -- das Palais, das Parlament, die Polizeipräfektur --
nahm die Miliz ein. Die aus der Provinz kommenden Nachrichten meldeten
betreffs der anderen Städte einen ähnlichen Erfolg des Aufstandes.

Die Frage wurde aufgeworfen, was zu tun sei. Die Mehrzahl schlug vor, sich
zu ergeben und der Gewalt zu unterwerfen.

Theodosius schwieg zu all diesem. Dann nahm er aus einem Täschchen ein
Papier und legte es uns zur Durchsicht vor. Das war eine der
Proskriptionslisten des Zentralstabes. In ihr waren all jene aufgezählt,
die in unserem Ausführenden Rate saßen, darunter auch ich. Uns alle hatte
das Geheime Gericht zum Tode verurteilt.

Ein bedrücktes Schweigen begann. Theodosius sagte:

-- Brüder! Lasset uns die Schwächeren nicht in Versuchung führen. Zeigen
wir diese Liste allen Gläubigen, so werden viele schwankend werden. Werden
hoffen durch Verrat und Abtrünnigkeit sich das Leben zu kaufen. Aber die
Liste verheimlichend, lassen wir sie an der großen Ehre teilnehmen, durch
die Tat des Todes die Reinheit ihres Glaubens zu besiegeln. Erlauben wir
ihnen denn mit uns zu teilen unser dreifach beneidetes Schicksal.

Jemand wollte erwidern, doch zaghaft. Theodosius näherte ruhig das Papier
mit den Namen dem Licht und verbrannte es. Wir sahen, wie die kleine Rolle
sich langsam in Asche verwandelte. Plötzlich klopfte eine Diakonissin. Ein
Vertreter des Stabes begehrte uns zu sprechen.

Ein junger, entschlossener, zuversichtlicher Mensch trat ein. Im Namen der
zeitweiligen Regierung verlangte er, daß ein jeder von uns sich in seine
Wohnung verfüge. Ein besonderes Komitee würde, dies waren seine Worte, das
Statut eures religiösen Bundes durchsehen und feststellen, ob er dem
gesellschaftlichen Leben unschädlich sei.

Wir wußten, daß diese Worte nur Betrug seien, da wir schon verurteilt
waren. Einige Augenblicke schwiegen alle. Die alsdann gesprochenen zwei
Reden -- die des Theodosius und jene des Abgesandten -- kann ich auswendig.
In kurzen Worten sprachen sich in ihnen zwei Weltanschauungen aus.

Dieses sprach Theodosius:

-- Die neue Regierung spricht umsonst mit uns diese lügnerische Sprache.
Uns ist es schon bekannt, daß wir alle vom Geheimen Gericht zur Hinrichtung
verurteilt sind. Wir wissen, daß unser heiliger Glauben von euch schon von
vornherein als unsittliche Sekte gebrandmarkt ist. Aber wir erkennen eure
Gewalt und euer Gericht nicht an. Wir stehen auf jenen Höhen der
Erkenntnis, die ihr niemals erreichtet, und darum ist es nicht an euch, uns
zu richten. Wenn ihr nur ein wenig bekannt seid mit dem Kulturleben eurer
Heimat, so seht die hier Versammelten an. Wer sind diese? Die Blüte unserer
Zeit: eure Poeten, Künstler, Denker. Wir sind der Ausdruck, wir, die Stimme
jenes Lautlosen, Ewigstummen, das sich aus Einsen gleich euch
zusammensetzt. Ihr seid die Finsternis; wir, das aus ihr sich gebärende
Licht. Ihr, die Möglichkeit des Lebens; wir -- das Leben. Ihr seid der
Boden, der not und nützlich ist nur dazu, daß aus ihm wachsen könnten
Stengel und Blüten -- also wir. Ihr verlangt, wir sollen uns in unsere
Häuser begeben und dort eure Dekrete erwarten. Wir verlangen, daß ihr auf
den Händen uns zum Palais trüget und auf den Knien liegend unseren Willen
entgegennähmet.

Du kennst ja den Theodosius. Kennst alle seine Fehler: seine Heuchelei und
Kleinmütigkeit, seine kleinliche Ruhmsucht. Doch dieses Mal, seine letzte
Predigt sprechend, war er wirklich groß und schön. Er war wie ein
biblischer Prophet, sprechend zu aufrührerischem Volke, oder wie ein
Apostel erster Christenzeit, irgendwo in den Katakomben des Kolosseums,
inmitten Scharen von Märtyrern, die gleich in die Arena hinausgeführt
werden, den Raubtieren zum Zerfleischen.

Und dieses antwortete der Abgesandte dem Theodosius:

-- Umso besser, wenn ihr euer Los schon kennt. Tausendjährige Versuche
zeigten uns, daß morschen Seelen kein Platz im neuen Leben sei. Sie waren
eine tote Kraft, die bisher all unsere Siege verhinderte. Nun, am Tage der
großen Umgestaltung der Welt, entschlossen wir uns zu einem unumgänglichen
Opfer. Wir wollen all die Toten, all die zur Neugeburt unfähigen von
unserem Körper abhauen, wenn auch mit gleichem Schmerze, so doch auch mit
gleicher Unerbittlichkeit, mit der man einen kranken Körperteil
abschneidet. Und warum rühmt ihr euch, daß ihr Poeten und Denker wäret! In
uns ist genug Kraft um ein ganzes Geschlecht von Weisen und Künstlern zu
gebären, wie sie die Erde noch nie gesehen, wie ihr sie auch nicht einmal
zu ahnen vermöget. Nur der fürchtet zu verlieren, in dem keine Kraft ist zu
schaffen. Wir sind die schöpferische Kraft. Wir brauchen nichts Altes. Wir
sagen uns von jedem Erbe los, weil wir uns unsere Schätze selbst schmieden
wollen. Ihr seid das Vergangene, wir, das Künftige, aber das Gegenwärtige,
das ist das Schwert in unseren Händen!

Lärm erhob sich. Alle sprachen gleichzeitig. Ich mußte schreien:

-- Ja! Barbaren seid ihr, die keine Vorfahren haben. Ihr verachtet die
Kultur der Jahrhunderte, weil ihr sie nicht begreift. Ihr rühmt eure
Zukunft, weil ihr geistig arm seid. Ihr seid eine Kugel, die schamlos den
Marmor des Altertums zerschlägt!

Der Abgesandte des Milizstabes sagte zuletzt in offiziellem Tone:

-- Im Namen der zeitweiligen Regierung geb ich euch Zeit bis zum heutigen
Mittag. In dieser Zeit habt ihr die Pforten eures Domes zu öffnen und euch
in unsere Hände zu geben. Nur so werdet ihr hunderte von Leuten, die ihr
durch Trug und Verführung an euch zogt, vor unnützem Tode bewahren. Das ist
alles.

-- Und wenn wir nicht gehorchen? fragte Lycius.

-- Werden unsere Geschütze dieses Gebäude dem Erdboden gleich machen, und
euch alle werden die Trümmer begraben.

Der Abgesandte entfernte sich.

-- Den Dom zerstören! wiederholte Lycius, unseren Dom, die wundervollste
Schöpfung Leanders! Mit Statuen und Bildern der größten Meister! Mit
unserer Bibliothek, der fünftgrößten in der Welt!

-- Mein Freund, entgegnete Adamant, für jene ist unsere Kunst schon
Archäologie. Ob nun in ihren Museen zehn unnütze Altertümer mehr sind oder
nicht, -- ist ihnen unwichtig.

Jemand sprach sein Bedauern darüber aus, daß man den Abgesandten lebend
hinausgelassen. Theodosius hieß ihn schweigen.

-- Wir sind hier, sagte er, um _unser_ Blut zu vergießen, nicht _fremdes_.
Wir sind hier für eine Tat des Glaubens, nicht des Mordes. Lasset uns die
purpurne Blässe unseres Martyrtumes nicht verdüstern durch die schwarzen
Flügel des Zornes und der Rache.



4.


Durch die schweren Stores drang kaum ein Strahl des flimmernden
Wintertages.

Unser Dom war völlig von Kerzen erleuchtet. Zum erstenmal sah ich solch
eine Feier des Lichtes. Es waren vielleicht an tausend Flammen.

Theodosius befahl die Liturgie abzuhalten.

Noch nie war er so gewaltig. Noch nie erklangen die Stimmen des Chores so
feierlich. Noch nie war die Schönheit der nackten Hero so flammend und so
verzückend.

Der berauschende Rauch der Weihbecken liebkoste unsere Gesichter als wie
mit schlanken flaumigen Fingern. Im schattenhaft bläulichen Weihrauch
geschahen die großen Handlungen vor dem Symbole. Ihrer Rangstufe folgend,
nahmen die nackten Jünglinge die Hüllen vom Heiligtum. Der unsichtbare Chor
der Diakonissinnen lobpries das Blinde Rätsel.

Fast gar nicht berauschend, erregte ein aromatischer süßglühender Wein
jedes Beben des Leibes, jedes Verlangen der Seele. Beflügelte jeden durch
die Erkenntnis, daß dieser Augenblick einzig und nicht zu wiederholen sei.

Hero in den goldenen Sandalen, mit einer goldenen Schlange als Gürtel
anstatt jeder anderen Gewandung, und ihre zwölf Schwestern, die gleich ihr
angetan waren, -- sie gingen in einem leisen wiegenden Rundtanz durch den
Dom. Die magischen Orgeltöne und das harmonisch-geheime Singen zogen jeden
hinter ihr her, lenkte alle Blicke auf ihr gemessenes Wiegen.

Unmerklich, unfühlbar, unwillkürlich, folgten wir alle ihrem leisen Tanz.
Und dieses Kreisen berauschte mehr als Wein, und diese Bewegung war
trunkener als Liebkosungen, und dieser Gottesdienst übertraf jedes Gebet.
Der Rhythmus der Musik wurde schneller, und schneller wurde auch der
Rhythmus des Tanzes, und mit ausgestreckten Armen strebten wir vorwärts, im
Kreise, ihr nach, der einzigen, der göttlichen, -- Hero. Und schon
entrückte uns die Ekstase, und schon keuchten wir, durchglüht von geheimem
Feuer, und schon zitterten wir, beschattet von der Gottheit.

Da ertönte die Stimme des Theodosius.

-- Kommet ihr Gläubigen, das Opfer zu vollziehen.

Alle hielten ein, erstarben, wurden unregbar. Hero, die wieder nahe dem
Altar stand, erstieg die Stufen. Ein Zeichen des Theodosius rief einen
Jüngling herbei, den ich bis dahin noch nicht gesehen. Errötend warf er
sein Gewand ab und stellte sich neben Hero, nackt wie ein Gott, jung wie
Ganymed, licht wie Balder.

Die Pforten öffneten sich und verschlangen das Paar. Der Vorhang wurde
vorgezogen.

Auf den Knien liegende, stimmten wir die Hymne an.

Und Theodosius verkündete uns:

-- Es ist vollbracht.

Er erhob den Kelch und segnete uns.

Es strömten die betörten Töne der Orgel und keiner hatte mehr die Kraft,
seine Leidenschaft zu verbergen. Wir umschlangen einander, und im
plötzlichen Düster des aufsteigenden Weihrauches suchten sich die Lippen,
die Hände, die Leiber. Dies waren Näherungen, Verbindungen, Vereinigungen,
waren Schreie, Stöhnen, Schmerz und Jubel. War die Trunkenheit
tausendgesichtiger Leidenschaft, wenn ringsum alle Bilder, alle Formen,
alle Möglichkeiten, alle Biegungen weiblicher, männlicher und kindlicher
Körper und alle Verzerrtheit und Verzücktheit der verwandelten Gesichter
sind.

O noch nie, noch nie, fühlte ich solche Flamme, solche Unersättlichkeit des
Verlangens, das vom Leibe zum Leibe eilen hieß in zweifache, dreifache,
vielfache Umarmungen. Und nutzlos waren uns die Flagellanten, die an diesem
Tage gleich allen von der Ekstase der Leidenschaft ergriffen waren.

Plötzlich, ich weiß nicht auf wessen Geheiß, schoben sich die dichten
Hüllen der Vorhänge von den Fenstern und das ganze Innere des Domes ward
den Blicken der Außenstehenden enthüllt: das Bildnis des Symbols, die
rätselhaften Fresken an den Wänden und die Menschen, die in seltsamen
Umschlingungen auf den weichen Teppichen lagen. Ein wütender Schrei drang
von der Straße her bis zu uns.

Und schon bohrte sich der erste Schuß mit Getöse in das Spiegelglas der
Fenster. Und dem ersten folgten weitere. Die pfeifenden Kugeln
durchschnitten die Wände. Die Miliztruppen konnten das Schauspiel nicht
ertragen, das sich hier ihren Blicken enthüllte, und hielten daher die
angegebene Zeit nicht ein.

Doch es war, als höre keiner die Schüsse. Die von unsichtbarer Hand
gespielte Orgel setzte ihr betörendes Lied fort. Des Weihrauches Aroma
wogte in der erregten Luft. Und auch im klaren Tageslichte, wie früher beim
Scheine der heiligen Kerzen, wurde der Kultus der Leidenschaft nicht
geringer.

Hero, die in den Pforten des Altares stand, schwankte als erste und fiel,
während ihre Lippen der Schmerz verzerrte. Hier und dort sanken Arme;
einige Körper fielen wie in endgültiger Ermattung zusammen.

Es begann ein furchtbares Blutvergießen. Die Kugeln fielen zwischen uns wie
Regen, als würde eine gigantische Hand sie schockweise auf uns streuen.
Doch von den Getreuen wollte keiner fliehen oder freiwillig die Umarmung
lösen.

Alle, alle, auch die Verzagten, auch die Kleingläubigen wurden Helden,
wurden Märtyrer, wurden Heilige. Das Todesgrauen floh unsere Seelen, als
würde es einem magischen Worte gehorchen. Mit unserem Blute besiegelten wir
die Wahrheit unseres Glaubens.

Einige, die getroffen waren, stürzten. Andere, in der Nähe der Gestürzten,
drückten ihre Leiber fester aneinander. Und noch die Sterbenden suchten im
letzten wütenden Kusse die begonnene Liebkosung zu vollenden. Ersterbende
Hände streckten sich noch mit einer sinnlichen Geste. Im Haufen verkrümmter
Körper war es schon unmöglich zu erkennen, wer noch liebkoste und wer schon
starb. Inmitten der Schreie konnte man unmöglich das Stöhnen der
Leidenschaft von dem des Todes unterscheiden.

Irgendwelche Lippen preßten sich auf die meinen und ich fühlte den Schmerz
verzückten Bisses, der vielleicht nur der letzte Krampf eines Sterbenden
war. In meinen Händen hielt ich einen Körper, der entweder vor gesättigter
Lust, oder in letzter Agonie erkaltete. Dann warf auch mich ein dumpfer
Schlag auf den Kopf in den Haufen der Körper, zu den Brüdern, zu den
Schwestern.

Allein das letzte, was ich sah, war das Bildnis unseres Symboles. Allein
das letzte, was ich hörte, war der Ausruf des Theodosius, den
tausendfältiges Echo nicht unter den Gewölben des Domes, aber in den
unendlichen, von Finsternis beschatteten Gängen meiner Seele wiederholte:

-- In deine Hände befehle ich meinen Geist!




Jetzt aber, wo ich erwacht bin . . .



Memoiren eines Psychopathen



Natürlich hielt man mich schon in meiner Kindheit für entartet. Natürlich
wollte man mich davon überzeugen, daß niemand meine Gefühle teile. Und ich
gewöhnte mich daran, vor den Menschen zu lügen. Gewöhnte mich daran, platte
Worte zu sprechen von Mitleid und von der Liebe, vom Glücke, andere
Menschen zu lieben. Doch im Innern meiner Seele war ich überzeugt und bin
auch jetzt noch davon überzeugt, daß der Mensch seiner Natur nach
Verbrecher ist. Ich glaube, daß inmitten aller Empfindungen, die man
gewöhnlich Rausch nennt, nur eine ist, die diesen Namen verdient, jene, die
den Menschen beim Anblick von fremden Leiden ergreift. Ich glaube, daß der
Mensch in seinem Urzustand nur nach einem Verlangen trägt, die ihm
Gleichenden zu quälen. Die Kultur legte ihre Fessel auf diese natürliche
Regung. Die Jahrhunderte des Sklaventums führten die menschliche Seele zu
dem Glauben, daß fremde Leiden ihr schmerzlich wären. Und heute weinen die
Leute völlig aufrichtig über andere und leiden mit ihnen. Doch dies ist nur
eine Einbildung und eine Täuschung des Gefühles.

Man kann aus Wasser und Spiritus eine Mischung herstellen, in welcher das
Provenceröl in jeder Lage im Gleichgewicht bleibt, nicht aufsteigt und
nicht hinuntersinkt. Anders gesprochen: die Anziehung der Erde verliert
ihre Wirkung auf das Öl. In den physikalischen Lehrbüchern heißt es, daß
zufolge des Bestrebens seiner Atome das Öl dann die Form einer Kugel
annimmt. Diesem ähneln die Augenblicke, in denen die menschliche Seele sich
von aller Macht der Anziehung befreit, von allen Ketten, die Abstammung und
Erziehung ihr auferlegten, sowie von allen äußeren Einflüssen, die
gewöhnlich unseren Willen bedingen: von der Furcht vor dem letzten Gericht,
von dem Bangen vor der öffentlichen Meinung usw. Das sind nicht Stunden des
gewöhnlichen Schlafes, in welchen das tägliche Bewußtsein, wenn auch
dämmernd, doch immer noch unser schlafendes Ich leitet; das sind auch nicht
Tage des Irrsinns und der Geisteszerrüttung: die gewöhnlichen Einflüsse
werden von anderen, von noch mehr selbstherrlichen abgewechselt. Das sind
Augenblicke jenes seltsamen Zustandes, in dem der Körper im Schlafe ruht,
und der Gedanke dies plötzlich begreift und zu seinem in der Welt der
Träume irrenden Schatten spricht: du bist frei! Begreife, daß deine
Handlungen nur für dich selbst existieren und du wirst dich freiwillig
deinen eigenen, aus der dunklen Tiefe deines Willens aufsteigenden Trieben
hingeben. In solchen Augenblicken hatte ich niemals das Verlangen, irgend
eine gute Tat auszuführen. Im Gegenteil, wissend, daß ich bis zu den
letzten Grenzen völlig unbestraft bleiben würde, beeilte ich mich, irgend
etwas Wildes, Böses und Sündiges zu tun.

Immer schon liebte ich den Traum. Niemals hielt ich die Zeit, die ich im
Traume verbrachte, für verloren. Völlig gleich der Wirklichkeit erfüllt
auch der Traum die Seele, erregt, freut und schmerzt sie ebenso und muß
überhaupt unserem äußeren Leben ganz an die Seite gestellt werden. Streng
gesprochen, ist der Traum nur eine andere Wirklichkeit, -- welche von
diesen man vorzieht, hängt von den persönlichen Neigungen ab. Ich zog schon
seit meiner Kindheit den Traum vor. Schon als Knabe zählte ich die Nächte,
in denen ich keine Träume sah, zu den schweren Entbehrungen. Wenn ich
erwachte, ohne daß ich mich an meinen Traum erinnern konnte, so fühlte ich
mich unglücklich. Den ganzen Tag, zu Hause oder in der Schule, quälte ich
mein Gedächtnis, um dann plötzlich in einem seiner dunklen Winkel einen
Splitter der vergessenen Bilder zu finden und bei einer neuen Anstrengung
plötzlich die ganze Herrlichkeit des kürzlich vergangenen Traumlebens vor
mir zu haben! Heißhungrig vertiefte ich mich dann in diese auferstandene
Welt und stellte alle ihre kleinsten Einzelheiten wieder her. Bei solcher
Schulung meines Gedächtnisses erreichte ich, daß ich meine Träume niemals
mehr vergaß. Wie Stunden ersehnter Zusammenkunft, so erwartete ich nachts
den Traum.

Besonders liebte ich Alpdrücken wegen der erschütternden Kraft der
Wirkungen. Ich entwickelte in mir die Fähigkeit, es künstlich
hervorzurufen. Ich brauchte nur einzuschlafen, indem mein Kopf tiefer als
der Körper lag, und sofort schon preßte mich ein Alpdrücken mit
süßquälenden Krallen. Fast erstickend erwachte ich in einer unnennbaren
Zerschlagenheit, doch kaum hatte ich etwas frische Luft eingeatmet,
beschloß ich, wieder hineinzustürzen in jenen schwarzen Grund, in Entsetzen
und Erbeben. Doch noch mehr liebte ich schon in meinen frühen Jahren jene
Traumzustände, wenn man es weiß, daß man schläft. Schon damals begriff ich,
welche große Geistesfreiheit sie geben könnten. Übrigens verstand ich es
nicht, sie willkürlich hervorzurufen. Im Traume war es mir, als wenn ich
plötzlich einen elektrischen Schlag bekäme, und dann begriff ich mit einem
Male, daß die Welt in meiner Gewalt sei. Ich schritt auf den Wegen des
Traumes durch seine Paläste und Täler, wohin ich wollte. Bei hartnäckiger
Anstrengung des Verlangens konnte ich mich sogar in jeder Umgebung sehen,
die mir gefiel, konnte in meinen Traum jede Person einführen, nach der ich
Verlangen trug. In meiner ersten Kindheit benutzte ich diese Augenblicke,
um mich über die Leute lustig zu machen und alle möglichen Streiche
auszuführen. Doch mit den Jahren ging ich zu anderen mehr erlesenen Freuden
über: ich vergewaltigte Frauen, ich mordete und wurde zum Henker. Und da
erst begriff ich, daß Jubel und Rausch nicht nur leere Worte seien.

Die Jahre vergingen. Es vergingen auch die Tage der Schule und der
Unterwürfigkeit. Ich war allein, ich hatte keine Familie, ich mußte niemals
um das Recht zu leben kämpfen. Ich hatte die Möglichkeit, mich meinem
Glücke ungeteilt hingeben zu können. Im Traum und Halbschlaf verbrachte ich
den größten Teil der Tage. Ich gebrauchte verschiedene narkotische Mittel:
nicht wegen der von ihnen ausgehenden Entzückungen, sondern um meinen Traum
zu verlängern und zu vertiefen. Erfahrung und Gewöhnung gaben mir die
Möglichkeit, mich immer öfter und öfter an der grenzenlosesten aller
Freiheiten, die ein Mensch nur erträumen kann, zu berauschen. Allmählich
begann sich mein nächtliches Bewußtsein in diesen Träumen an Stärke und
Helligkeit dem des Tages nicht nur zu nähern, sondern vielleicht es auch zu
übertreffen. Ich verstand es, in meinen Träumen zu leben, wie auch dieses
Leben von der Seite her zu beobachten. Es war, als würde ich meinen
Schatten, der im Traume dieses oder jenes tat, beobachten und leiten und zu
gleicher Zeit doch alle seine Empfindungen mit ganzer Leidenschaftlichkeit
durchleben.

Ich erschuf mir für meine Traumgesichte eine passende Umgebung. Das war
irgendwo tief unter der Erde ein geräumiger Saal. Er wurde vom roten Feuer
zweier riesiger Öfen beleuchtet. Die Wände waren augenscheinlich eisern.
Der Boden aus Stein. Dort befanden sich alle üblichen Marterapparate:
Schrauben, Pfähle, Sitze mit spitzen Nägeln, Geräte zum Strecken der
Muskeln und zum Aufwickeln der Gedärme, Messer, Zangen, Peitschen, Sägen,
glühende Stangen und Rechen. Wenn ein glückseliges Geschick mir wieder die
Freiheit gab, trat ich überzeugungsvoll in meinen geheimnisvollen
Schlupfwinkel. Mit riesiger Willensanstrengung gelang es mir, wen ich
wollte, in diese unterirdische Halle zu führen, zuweilen meine Bekannten,
öfters aber solche, die nur in meiner Einbildung lebten; meistens waren es
Mädchen und Jünglinge, schwangere Frauen und Kinder. Unter ihnen befanden
sich auch einige, die ich zu meinen Lieblingsopfern erwählte. Ich kannte
ihre Namen. An einigen lockte mich die Schönheit ihres Körpers, an anderen
ihr tapferes Ertragen der größten Qualen, ihre Verachtung aller meiner
Listen, während ich bei den dritten im Gegenteil ihre Schwäche,
Willenslosigkeit, ihr Stöhnen und unnützes Beten liebte. Zuweilen und nicht
einmal selten ließ ich auch die von mir bereits zu Tode gequälten wieder
auferstehen, um mich noch einmal an ihrem Märtyrertode zu erfreuen. Anfangs
war ich ganz allein, sowohl Henker als auch Zuschauer. Dann aber erschuf
ich mir eine Schar unförmlicher Zwerge zu Gehilfen. Ihre Zahl wuchs nach
meinem Belieben. Sie reichten mir die Marterinstrumente und lachend und mit
Verrenkungen führten sie alle meine Befehle aus. Und mit ihnen feierte ich
meine Orgien des Blutes und Feuers, der Schreie und Flüche.

Wahrscheinlich wäre ich so wahnsinnig, einsam und glücklich, wie ich es
war, geblieben. Doch die wenigen Freunde, die ich noch hatte, hielten mich
für krank und nahe dem Irrsinn, und wollten mich retten. Fast mit Gewalt
zwangen sie mich, auszufahren, in Theater und Gesellschaften zu gehen. Ich
hege auch den Verdacht, daß sie jenes Mädchen, das nachher meine Frau
wurde, mir absichtlich in dem allerreizvollsten Lichte zeigten. Übrigens
würde sich wohl kaum ein Mensch gefunden haben, der sie nicht der Anbetung
würdig erklärt hätte. Alle Reize der Frau und des Menschen vereinten sich
in ihr, die ich lieb gewann, die ich so oft mein nannte, und die ich in
allen Tagen meines Lebens, die mir übrig geblieben sind, nicht aufhören
werde, zu beweinen. Ihr aber zeigte man mich als einen Leidenden, als einen
Unglücklichen, den man retten müsse. Sie begann mit Neugierde und ging dann
zu der vollen, selbstvergessenden Leidenschaft über.

Lange Zeit hindurch wagte ich nicht, an eine Heirat zu denken. Wie stark
das Gefühl auch war, das meine Seele unterjochte, mich erschreckte der
Gedanke, meine Einsamkeit zu verlieren, die mir solche Weiten, in denen ich
in Freiheit mich an meinen Traumgesichten berauschen konnte, erschloß. Doch
das regelmäßige Leben, zu dem man mich zwang, trübte allmählich meine
Erkenntnis. Aufrichtig begann ich, daran zu glauben, daß mit meiner Seele
eine Umgestaltung geschehen könne, daß sie ihrer von den Leuten nicht
anerkannten Wahrheit entsagen würde. Am Tage meiner Hochzeit gratulierten
mir meine Freunde wie einem aus dem Grabe zur Sonne Erstandenen. Nach der
Hochzeitsreise bezogen meine Frau und ich ein neues helles und heiteres
Heim. Ich begann mir vorzureden, daß mich die Weltereignisse und
Stadtneuigkeiten interessierten; ich las Zeitungen und unterhielt einen
regen Verkehr. Und wieder lernte ich, am Tage munter zu sein. Nachts,
inmitten der entrückten Liebkosungen zweier Liebender überfiel mich
gewöhnlich ein toter, flacher Schlaf, der ohne Weiten war, ohne Bilder. In
der kurzen Zeit meiner Blindheit war ich bereit, mich meiner Genesung zu
freuen, meines Erwachens aus Wahnsinn zur Alltäglichkeit.

Doch natürlich niemals, o niemals! erstarb in mir das Verlangen nach
anderen Trunkenheiten. Es wurde nur von der allzu faßbaren Wirklichkeit
betäubt. Und selbst in den Flitterwochen des ersten Monats nach der
Hochzeit fühlte ich irgendwo in den Tiefen meiner Seele den unersättlichen
Hunger nach blendenderen und mehr erregenden Empfindungen. Mit jeder neuen
Woche quälte mich dieses Verlangen immer unbesiegbarer. Und gleichzeitig
mit ihm entstand in mir ein anderes unbezwingliches Verlangen, daß ich mir
anfangs gar nicht einmal eingestehen wollte: das Verlangen, sie, meine
Frau, die ich liebte, zu meiner nächtlichen Feier zu bringen, und ihr
Gesicht bei den Qualen ihres Leibes verzerrt zu sehen. Ich kämpfte, kämpfte
sehr lange und bemühte mich, meine Nüchternheit zu bewahren. Ich war
bestrebt, mich mit allen Vernunftsgründen zu überzeugen, doch ich konnte
ihnen nicht glauben. Und umsonst suchte ich Zerstreuung und floh das
Alleinsein mit mir, die Versuchung wuchs in mir, und ich konnte ihr nicht
entfliehen.

Und endlich gab ich ihr nach. Ich tat so, als hätte ich eine große
religionsgeschichtliche Arbeit vor. In meine Bibliothek stellte ich breite
Divans und verbrachte dort ganze Nächte. Etwas später verbrachte ich dort
auch ganze Tage. Auf alle nur mögliche Weise verhüllte ich mein Geheimnis
vor meiner Frau; ich zitterte bei dem Gedanken, daß sie in das eindringen
würde, was ich so eifersüchtig hütete. Sie war mir noch ebenso teuer, wie
zuvor. Ihre Liebkosungen waren mir nicht minder süß, wie in den ersten
Tagen unseres Zusammenlebens. Doch eine größere Wollust trieb mich jetzt.
Ich konnte ihr mein Benehmen nicht erklären. Ich zog es sogar vor, sie bei
dem Gedanken zu lassen, daß ich sie nicht mehr liebe und ein Zusammensein
mit ihr vermiede. Und tatsächlich glaubte sie das, quälte sich und wurde
müde. Ich sah, wie sie bleicher wurde und hinschwand, sah, daß der Gram sie
zum Grabe führen würde. Doch wenn ich, dem Triebe mich hingebend, ihr die
früheren Liebesworte sprach, erblühte sie nur auf Augenblicke: sie glaubte
mir nicht mehr, weil, wie es ihr schien, alle meine Taten meinen Worten
widersprachen.

Doch wenn ich auch, wie früher, ganze Tage im Traume zubrachte und mich
meinen Erscheinungen noch ungeteilter als vor der Hochzeit hingab,
irgendwie hatte ich meine frühere Fähigkeit, völlige Freiheit zu gewinnen,
verloren. Ganze Wochen verbrachte ich auf meinen Divans, erwachte nur, um
mich mit ein wenig Wein oder Bouillon zu stärken und um eine neue Dosis des
Schlafmittels einzunehmen, allein der erwünschte Augenblick kam nicht. Ich
durchlebte die süßen Qualen des Alpdrückens, seine Pracht und
Unerbittlichkeit, ich konnte mich an die Reihe der vielgestaltigen Träume
erinnern, und sie vor mir aufrollen lassen, die Träume, die so konsequent
und furchtbar in dieser triumphierenden Folgerichtigkeit waren, so wild und
unlogisch, so entzückend und prachtvoll in dem Wahnsinn ihrer Verbindung,
aber meine Erkenntnis blieb, wie von einem Wölkchen umhüllt. Mir fehlte die
alte Macht, über den Traum zu verfügen, ich konnte nur jenes, was mir von
außen herkam, belauschen und beschauen. Ich griff zu allen mir bekannten
Mitteln und Rezepten, zu allen existierenden Giften: störte künstlich die
Blutzirkulation, hypnotisierte mich selbst, gebrauchte Opium, Haschisch und
alle anderen betäubenden Gifte, doch sie gaben mir nur ihre eigenen Zauber.
Erwachend gedachte ich mit sinnloser Wut der anreizenden Erscheinungen, in
denen ich kraftlos, wie ein Spielzeug eines fremden Willens, begraben war,
und über die ich nicht zu herrschen vermochte. Ich verging vor Wut und
Verlangen, aber, wie gesagt, ich war kraftlos.

Seit jener Zeit, in der ich zu dem unterbrochenen Rausch der Träume
zurückkehrte, vergingen sechs Monate bis zu dem Tage, da mein verheißenes
Glück wiederum mir zurückgegeben wurde. Im Traume fühlte ich plötzlich den
mir so gut bekannten elekrischen Schlag und begriff, daß ich frei sei, daß
ich schliefe, doch stark genug sei, über den Traum zu verfügen, daß ich
alles ausführen könne, wonach ich verlangte und daß es doch nur ein Traum
bleiben würde! Eine Welle unsagbaren Jubels überströmte meine Seele. Und da
konnte ich auch schon nicht mehr der alten Versuchung widerstehen.
Allerdings verlangte ich nicht mehr nach meiner unterirdischen Halle. Ich
zog es vor, mich in jene Umgebung zu versetzen, an die _sie_ gewöhnt war,
die sie sich selbst hergestellt hatte. Dies war ein noch mehr verfeinerter
Genuß. Und gleichzeitig mit meinem zweiten Traumbewußtsein sah ich mich
selbst in der Tür meiner Bibliothek stehen.

»Gehen wir, sagte ich zu meiner Erscheinung, gehen wir, _sie_ schläft jetzt
und nimm einen schmalen Dolch mit dir, dessen Griff von Elfenbein sei.«

Ich gehorchte und ging den gewöhnlichen Weg durch die dunklen Zimmer. Es
kam mir so vor, als würde ich nicht gehen, und nicht meine Füße bewegen,
sondern fliegen, wie das ja immer im Traume so ist. Als ich durch den Saal
ging, sah ich durchs Fenster die Dächer der Stadt und dachte: »dies alles
ist in meiner Gewalt.« Die Nacht war ohne Mondschein, aber am Himmel
funkelten die Sterne. Unter den Sesseln krochen meine Zwerge hervor, doch
ich ließ sie verschwinden. Lautlos öffnete ich die Türe zum Schlafzimmer.
Das Zimmer wurde von einem Lämpchen genügend erhellt. Ich trat an das Bett
heran, in dem mein Weib schlief. Da lag sie, so schwach, so klein, so
mager; ihre Haare, die sie des Nachts in zwei Zöpfe flocht, hingen vom Bett
herunter. Neben dem Kopfkissen lag ein Tuch: sie hatte wohl geweint, da sie
sich niederlegte, darüber geweint, daß sie mich wieder nicht erwarten
konnte. Ein bitteres Gefühl schnürte mein Herz zusammen. In diesem
Augenblick war ich bereit, an Mitleid zu glauben. Ich hatte sogar das
Verlangen, vor ihrem Bette niederzuknien und ihre frierenden Füße zu
küssen. Doch sofort erinnerte ich mich, daß dieses alles im Traume wäre.

Ein merkwürdig seltsames Gefühl quälte mich. Ich konnte mein geheimes
Verlangen befriedigen, mit dieser Frau alles tun, was ich nur wollte. Und
doch würde alles das nur mir bekannt bleiben. Und am Tage konnte ich sie
wiederum mit allem Rausche der Zärtlichkeit umgeben, sie trösten, lieben
und liebkosen . . . Indem ich mich über den Körper meiner Frau bückte,
preßte ich mit fester Hand ihre Gurgel zusammen, so daß sie nicht schreien
konnte. Jählings erwachte sie, öffnete die Augen und erbebte unter meiner
Hand. Doch ich nagelte sie förmlich an das Bett, und in dem Bestreben, mich
fortzustoßen, krümmte sie sich, war bemüht, mir etwas zu sagen und sah mich
mit verstörten Augen an. Einige Sekunden lang sah ich sie voll unsagbarer
Erregung an, dann aber stieß ich unter der Decke mit einem Schlage meinen
Dolch in ihre Seite. Ich sah, wie sie erzitterte, sich streckte, noch immer
nicht zu schreien vermochte, aber ihre Augen füllten sich mit Entsetzen und
Tränen entströmten ihnen. Über meine Hand, die den Dolch hielt, floß das
klebrige und warme Blut. Dann stieß ich langsam den Dolch mehrere Male in
ihren Körper, riß die Decke von ihr und verwundete sie immer mehr, sie, die
Nackte, die sich bedecken wollte, aufspringen, fortkriechen. Dann erfaßte
ich sie am Kopfe und stieß den Dolch durch ihren Hals, dort, wo die
Halsarterie ist, nahm alle meine Kraft zusammen und schnitt ihre Kehle
durch. Gurgelnd strömte das Blut hervor, da sie sich noch im Todeskampfe zu
atmen bemühte, ihre Hände wollten krampfhaft etwas greifen und fortwischen.
Ein wenig später war sie schon unbeweglich.

Da ergriff eine so furchtbare Verzweiflung meine Seele, daß ich mich sofort
zu erwachen bemühte, aber ich konnte es nicht. Ich machte alle
Willensanstrengungen, ich erwartete, daß die Wände ihres Schlafzimmers
plötzlich zerfallen würden, verschwinden, zerschmelzen, daß ich mich auf
meinem Divan in der Bibliothek wieder sehen würde. Doch das Alpdrücken ging
nicht vorüber. Der blutige und unförmliche Körper meines Weibes lag vor mir
auf dem vom Blute überströmten Bette. Und in der Türe drängten sich mit
Lichtern schon die Menschen, die hierherstürzten, als sie den Lärm des
Kampfes hörten, und ihre Gesichter verzerrte das Entsetzen. Sie sprachen
kein Wort, doch alle blickten mich an und ich sah sie.

Da begriff ich plötzlich, daß dieses Mal alles, was geschehen war, nicht im
Traume geschah.




Im Spiegel



Aus dem Archiv eines Psychiaters



Ich liebte die Spiegel schon seit meinen frühesten Jahren. Als Kind weinte
und zitterte ich oft, wenn ich in ihre durchsichtig-wahrhaftige Tiefe
blickte. In der Kindheit war es mein Lieblingsspiel, durch die Zimmer und
den Garten zu gehen, einen Spiegel vor mir herzutragen und in seinen
Abgrund blickend, mit jedem Schritte den Rand zu überschreiten und vor
Schrecken und Schwindlichkeit fast zu ersticken. Schon als Mädchen begann
ich, mein ganzes Zimmer mit großen und kleinen, getreuen und ein wenig
verzerrenden, klaren und etwas trüben Spiegeln zu füllen. Ich hatte mich
gewöhnt, ganze Stunden, ganze Tage inmitten dieser sich kreuzenden, in
einander übergehenden, taumelnden, verschwindenden und aufs neue
erstehenden Welten zu verbringen. Meine einzige Leidenschaft wurde es, mich
diesen lautlosen Fernen hinzugeben, diesen Perspektiven ohne Echo, diesen
abgesonderten Welten, welche die unsere durchschneiden und, im Widerspruch
zu der Erkenntnis, mit ihr gleichzeitig und am gleichen Platze existieren.
Diese umgedrehte Wirklichkeit, die von uns durch die glatte Spiegelfläche
getrennt und dem Tastvermögen irgendwie unerreichbar ist, zog mich immer an
und lockte mich wie ein Abgrund oder ein Geheimnis.

Mich lockte auch jene Erscheinung, die immer, wenn ich an den Spiegel
herantrat, vor mir erschien und mein Wesen seltsam verdoppelte. Ich bemühte
mich, zu erraten, wodurch jene (die andere Frau) sich von mir unterscheide,
und, wie es sein könne, daß ihre rechte Hand meine linke sei und daß alle
Finger dieser Hand umgestellt wären, obgleich auf einem von ihnen sich eben
mein Verlobungsring befand. Meine Gedanken begannen sich zu verwirren, kaum
daß ich in dieses Rätsel eindringen wollte, um es zu lösen. In _dieser_
Welt, wo man sich an alles herantasten kann und wo Stimmen und Töne sind,
da lebte ich, die Wirkliche; aber in jener _Spiegel_welt, die man nur sehen
kann, lebte sie, die Erscheinung. Sie war fast wie ich und doch nicht
völlig ich; sie wiederholte alle meine Bewegungen, und doch fiel nicht eine
dieser Bewegungen mit dem zusammen, was ich tat. Jene (die andere) wußte,
was _ich_ nicht erraten konnte, verfügte über jenes Geheimnis, das auf ewig
meinem Verstande verborgen war.

Doch ich bemerkte, daß jeder Spiegel seine eigene Welt hätte, seine ihm
eigentümliche. Man stelle auf ein und denselben Ort nacheinander zwei
Spiegel, und es werden zwei verschiedene Welten entstehen. Und in
verschiedenen Spiegeln erstanden verschiedene Erscheinungen vor mir, die
alle mir ähnlich sahen und doch niemals miteinander identisch waren. In
meinem kleinen Handspiegel lebte ein naives Mädchen, dessen klare Augen
mich an meine früheste Jugend erinnerten. Im runden Boudoirspiegel verbarg
sich ein schamloses, freies, schönes, kühnes Weib, das alle die
verschiedenen Süßigkeiten der Liebkosungen erfahren hatte. In der
viereckigen Spiegeltüre des Schrankes wuchs immer eine strenge, machtvolle,
kalte Figur auf mit unerbittlichen Blicken. Ich kannte noch andere
Doppelgänger von mir, in meinem Trumeau, in dem zusammenlegbaren,
vergoldeten Triptychon, im Hängespiegel mit dem eichenen Rahmen, in dem
Halsspiegelchen und in vielen und vielen, die ich bewahrte. All den Wesen,
die sich in ihnen verbargen, gab ich Grund und Möglichkeit, zu erscheinen.
Nach den seltsamen Gesetzen ihrer Welten mußten sie immer das Bildnis
dessen annehmen, der sich vor das Glas stellte. Doch sie bewahrten in
dieser angenommenen Äußerlichkeit ihre nur ihnen eigentümlichen Züge.

Es gab Spiegelwelten, die ich liebte; es gab aber auch solche, die ich
haßte. Ich liebte es, mich in einige von ihnen auf ganze Stunden zu
vertiefen und mich in ihren lockenden Räumen zu verlieren. Andere wiederum
vermied ich. Heimlich liebte ich nicht alle meine Doppelgänger. Ich wußte,
daß alle mir feindlich gesinnt wären, schon weil sie mein von ihnen
gehaßtes Bildnis annehmen mußten. Doch einige der Spiegelfrauen
bemitleidete ich, verzieh ihnen ihren Haß und verhielt mich zu ihnen fast
freundschaftlich. Es gab aber auch solche, die ich verachtete, deren
kraftlose Wut ich zu verlachen liebte, die ich mit meiner Selbständigkeit
neckte, und mit der Macht, die mir über sie zustand, quälte. Dagegen gab es
auch solche, die stärker als ich waren und sich erkühnten, ihrerseits über
mich zu lachen und mir Befehle zu erteilen. Ich beeilte mich, von den
Spiegeln, in denen diese Frauen lebten, freizukommen, sah sie nicht an,
versteckte, verschenkte und zerschlug sie sogar bisweilen. Doch nach jedem
Zerschlagen eines Spiegels mußte ich tagelang weinen, weil ich erkannte,
daß ich ein Weltall vernichtet hatte. Und die vorwurfsvollen Gesichter
einer vernichteten Welt sahen mich aus den Splittern drohend an.

Den für mich schicksalsvoll gewordenen Spiegel kaufte ich im Herbst auf
irgend einem Ausverkaufe. Es war ein großes Trumeau, das sich in
Scharnieren bewegte. Es überraschte mich durch die ungemeine Klarheit der
Wiedergabe. Seine gespenstische Wirklichkeit veränderte sich bei der
geringsten Verschiebung des Spiegels, aber sie war immer selbstständig und
schrankenlos lebendig. Als ich während des Ausverkaufs das Trumeau besah,
schaute die Frau, die mich in ihm vorstellte, mir mit einer hochmütigen
Herausforderung in die Augen. Ich wollte ihr nicht nachgeben, ihr nicht
zeigen, daß sie mich erschreckt hätte, kaufte darum das Trumeau und ließ es
in mein Boudoir stellen. Als ich in meinem Zimmer allein war, trat ich
sofort an den neuen Spiegel heran und heftete meine Augen in die meiner
Gegnerin. Doch sie tat dasselbe und so voreinander stehend, begannen wir,
wie Schlangen einander mit den Blicken zu durchbohren. In ihrer Iris
spiegelte ich mich und sie sich in der meinen. Mein Herz erstarrte und mein
Kopf begann sich vor diesem starren Blicke zu drehen. Durch eine
Willensanstrengung riß ich endlich meine Augen von den fremden Augen, stieß
mit dem Fuß an den Spiegel, so daß er zu schaukeln begann und sich das
Bildnis meiner Gegnerin kläglich verzerrte, und verließ das Zimmer.

Seit jener Stunde begann unser Kampf. Am Abend des ersten Tages dieser
Begegnung wagte ich nicht, mich dem neuen Trumeau zu nähern; ich war mit
meinem Manne im Theater, ich lachte übermäßig, und man hielt mich für sehr
lustig. Am andern Tage, im klaren Lichte eines Septembermorgens, betrat ich
kühn mein Boudoir und setzte mich absichtlich gerade vor den Spiegel. Im
selben Augenblick trat auch jene, die andere, in die Türe, kam mir
entgegen, durchschritt das Zimmer und setzte sich mir gegenüber hin. Unsere
Augen begegneten sich. Ich las in ihren Augen den Haß auf mich, sie in den
meinen den auf sie. Unser zweiter Zweikampf begann, ein Zweikampf der
Augen, zweier unerbittlicher Blicke, die befehlend waren, drohend,
hypnotisierend. Jede von uns bemühte sich, den Willen ihrer Gegnerin zu
besiegen, ihren Widerstand zu zerbrechen und sie ihrem Verlangen Untertan
zu machen. Und es müßte furchtbar sein, so von der Seite zwei Frauen zu
sehen, die einander regungslos gegenübersitzen, vom magischen Einfluß der
Blicke gefesselt sind, und vor psychischer Anspannung das Bewußtsein
verlieren . . . Plötzlich rief man mich. Der Zauber schwand. Ich stand auf
und ging hinaus.

Nun wiederholten sich unsere Zweikämpfe jeden Tag. Ich begriff, daß diese
Abenteurerin absichtlich in mein Haus eingedrungen war, um mich zu
verderben, und um in unserer Welt meinen Platz einzunehmen. Doch schon war
ich zu schwach, um diesem Kampfe zu entsagen. In dieser Rivalität lag für
mich eine geheime Trunkenheit. Und schon in der Möglichkeit einer
Niederlage versteckte sich eine süße Versuchung. Zuweilen zwang ich mich
ganze Tage hindurch, nicht an das Trumeau heranzugehen, beschäftigte mich
mit anderen Dingen, zerstreute mich, doch in der Tiefe meiner Seele blieb
immer das Bild meiner Gegnerin, die meine Rückkehr zu ihr geduldig und
siegessicher erwartete. Und ich kehrte zurück, und sie trat vor mich hin,
noch triumphierender als früher, durchbohrte mich mit dem siegessicheren
Blicke und nagelte mich vor sich an meinen Platz. Mein Herz blieb stehen,
und in kraftloser Wut fühlte ich mich in der Gewalt dieses Blickes.
Zuweilen, wenn ich nicht mit ihr war, kams mir in den Kopf, mein Haus zu
fliehen, in eine andere Stadt zu fahren, um mich vor meinem Feinde zu
verbergen, doch sogleich begriff ich dann, daß dies unmöglich wäre, daß ich
dennoch, gehorsam der lockenden Kraft des feindlichen Blickes, hierher
zurückkehren müßte, in dieses Zimmer, zu meinem Spiegel. Zuweilen wollte
ich sein Glas zerschlagen, es in Splitter zertrümmern, diese unbekannte und
mir drohende Welt vernichten, und zuweilen stürzte ich sogar mit irgend
einem schweren Gegenstand in der Hand in Ekstase auf den Spiegel zu, aber
das verächtliche Lächeln meiner Gegnerin hielt mich zurück. Ein so
erkaufter Sieg wäre das Geständnis ihrer Macht und meiner Niederlage
gewesen. Und so dauerte der Kampf, dauerte, um mit dem Siege einer von uns
zu enden.

Allein bald schon fühlte ich, daß meine Gegnerin stärker war als ich. Mit
jeder neuen Begegnung konzentrierte sich in ihrem Blicke eine immer größer
und größer werdende Gewalt über mich. Allmählich verlor ich denn auch die
Möglichkeit, sie einen Tag hindurch ganz zu fliehen. _Sie_ befahl mir
täglich, mehrere Stunden vor ihr zu verbringen. _Sie_ beherrschte meinen
Willen, wie der Magnetiseur den Willen der Somnambule. _Sie_ teilte mein
Leben ein, wie die Herrin das Leben der Sklavin. Alles, was sie verlangte,
mußte ich ausführen, und ich wurde zum Automaten ihrer schweigenden
Befehle. Ich wußte, daß sie bedacht und vorsichtig, aber auf sicherem Wege
mich zum Verderben führe, doch ich wehrte mich nicht mehr. Ich erriet ihren
geheimen Plan: mich in die Welt der Spiegel zu bannen und selbst in unsere
Welt hinauszutreten, doch schon hatte ich keine Kraft mehr, sie zu hindern.
Mein Mann, meine Verwandten sahen, daß ich ganze Stunden, ganze Tage, ganze
Nächte vor dem Spiegel verbrachte; sie hielten mich für verrückt und
wollten mich heilen. Ich aber wagte es nicht, ihnen die Wahrheit zu
enthüllen, es war mir verboten, ihnen die ganze furchtbare Wahrheit zu
sagen, das ganze Entsetzen, dem ich entgegenging.

Einer jener Dezembertage vor den Feiertagen war der Tag meines Verderbens.
Ich erinnere mich noch an alles, völlig klar, völlig genau bis in die
Einzelheiten: in meiner Erinnerung hat sich nichts verwischt. Wie
gewöhnlich betrat ich schon früh mein Boudoir, noch bevor es düster wurde.
Vor den Spiegel stellte ich einen weichen Sessel ohne Rücklehne, setzte
mich, und gab mich _ihr_ hin. Ohne zu zögern, erschien sie auf meinen Ruf,
rückte gleichfalls einen Sessel heran, setzte sich und begann mich
anzusehen. Dunkle Vorahnungen quälten meine Seele, aber ich hatte nicht die
Macht, mein Gesicht zu senken und mußte den frechen Blick meiner Gegnerin
in mir aufnehmen. Die Stunden vergingen, und es wurde finster. Keine von
uns beiden zündete Licht an. Leise nur glänzte in der Dunkelheit das Glas.
Und schon war kaum mehr etwas zu sehen, nur die siegessicheren Augen sahen
mich mit der alten Kraft an. Ich fühlte weder Zorn noch Entsetzen, wie an
anderen Tagen, nur eine unstillbare Trauer und die bittere Erkenntnis, daß
ich ganz in der Gewalt der anderen wäre. Die Zeit floß hin, und ich schwamm
mit ihr in die Unendlichkeit, in den schwarzen Raum der Schwäche und
Willenslosigkeit.

Plötzlich stand sie, die Wiedergespiegelte, von ihrem Sessel auf. Vor
dieser Beleidigung erbebte ich. Doch etwas Unbesiegbares, etwas von außen
her mich Zwingendes hieß auch mich aufstehen. Und die Frau im Spiegel trat
einen Schritt vor. Ich gleichfalls. Und die Frau im Spiegel streckte ihre
Hände aus. Ich gleichfalls. Mit ihren hypnotisierenden und befehlenden
Augen sah sie mir gerade ins Gesicht und bewegte sich vorwärts, und ich
schritt ihr entgegen. Und merkwürdig: trotz all des Entsetzens meiner Lage,
trotz all meines Hasses auf meine Gegnerin zitterte irgendwo in den Tiefen
meiner Seele der seltsame Trost und die versteckte Freude, daß ich nun
endlich in jene geheimnisvolle Welt, zu der ich seit der Kindheit mich
hingezogen fühlte, und die mir bis heute verschlossen blieb, hineintreten
würde. In einigen Augenblicken wußte ich nicht einmal, wer eigentlich den
anderen zu sich zöge: sie mich oder ich sie; verlangte sie nach meinem
Platz, oder hatte ich diesen Kampf mir nur erdacht, um sie zu verdrängen.

Doch als meine Hände beim Vorwärtsbewegen am Spiegel ihre Hände berührten,
erstarb ich förmlich vor Abscheu. Aber _sie_ faßte mich gewaltig an den
Händen und zog mich krampfhaft zu sich. Meine Hände versanken im Glase, als
wie in feurigkühlem Wasser. Die Kälte des Glases drang unter furchtbaren
Schmerzen in meinen Körper, als ob alle Atome meines Wesens ihr
gegenseitiges Verhältnis veränderten. Und schon nach einem Augenblicke
berührte mein Gesicht das Gesicht meiner Gegnerin, sahen meine Augen die
ihren ganz vor sich, verschmolz ich mit ihr in einem ungeheuerlichen Kusse.
Alles verschwand vor diesem quälenden Leiden, dem nichts vergleichbar ist,
und aus dieser Ohnmacht erwachend, sah ich vor mir mein Boudoir, auf das
ich _aus_ dem Spiegel hinabschaute. Meine Nebenbuhlerin stand vor mir und
lachte. Und ich, -- o Grausamkeit! -- ich, die vor Qual und Erniedrigung
erstarb, ich mußte gleichfalls lachen, alle ihre Grimassen wiederholen, ihr
triumphierendes und helles Lachen. Und, ehe ich noch meinen Zustand ganz
erfassen konnte, drehte sich meine Nebenbuhlerin plötzlich um, schritt zur
Türe, verschwand vor meinen Augen und dann befiehl mich die Erstarrung des
Nichtseins.

Darnach begann mein Leben als Spiegelbild. Ein seltsames halbbewußtes, wenn
auch heimlich süßes Leben. Wir waren viele in diesem Spiegel, dunkle Seelen
voll träumender Erkenntnisse. Wir konnten miteinander nicht sprechen,
fühlten aber unsere Nähe und liebten einander. Wir sahen nichts, wir hörten
nur unklar, und unser Sein war wie eine Ermattung in der Unmöglichkeit, zu
atmen. Und nur wenn ein Wesen aus der Menschenwelt an den Spiegel
herantrat, konnten wir, die wir plötzlich sein Bildnis annehmen mußten, in
die Welt sehen, die Stimmen unterscheiden, mit voller Brust atmen. Ich
denke, daß das Leben der Toten ähnlich sein müßte, ein unklares Bewußtsein
des eigenen Ich, dunkle Erinnerung an das Frühere und das peinigende
Verlangen, wenn auch nur auf einen Augenblick, wieder Gestalt zu gewinnen,
zu sehen, zu hören, zu sprechen . . . Und jeder von uns hegte und pflegte
den verheißenen Traum, sich zu befreien, einen neuen Körper zu finden und
wieder der Welt der Beständigkeit und Unerregtheit anzugehören.

Die ersten Tage fühlte ich mich in meiner neuen Lage sehr unglücklich. Ich
wußte und verstand noch nichts. Gehorsam und sinnlos nahm ich das Bildnis
meiner Gegnerin an, wenn sie sich dem Spiegel näherte um mich zu verhöhnen.
Und sie tat das ziemlich oft. Es bereitete ihr ein großes Vergnügen, vor
mir mit ihrer Lebendigkeit und ihrer Realität zu kokettieren. Sie setzte
sich und auch ich mußte mich setzen, sie stand auf und triumphierte, da sie
sah, daß auch ich aufstand, breitete die Arme aus, tanzte, zwang mich, ihre
Bewegungen zu verdoppeln und lachte, lachte, damit auch ich lachen müßte.
Sie schrie mir Beleidigungen ins Gesicht, und ich konnte ihr nicht
antworten. Sie drohte mir mit der Faust und verspottete meine unbedingte
Wiederholungsgeste. Und mit einem Stoße drehte sie dann plötzlich den
Spiegel um seine Achse und mit einem Schwunge stürzte sie mich in das
Nichtsein.

Allein die Beleidigungen und Erniedrigungen erweckten in mir allmählich die
Erkenntnis. Ich begriff, daß meine Gegnerin jetzt mein Leben lebe, meine
Toiletten gebrauche, die Frau meines Mannes sei und in der Welt meinen
Platz einnehme. Das Gefühl des Hasses und das Verlangen nach Rache wuchsen
in meiner Seele wie zwei feurige Blumen auf. Ich begann, mich bitter zu
schmähen, weil ich aus Schwäche oder aus verbrecherischer Neugierde ihr die
Möglichkeit gab, mich zu besiegen. Ich war überzeugt, daß diese
Abenteurerin niemals über mich hätte triumphieren können, wenn ich ihr
nicht selbst in ihren Listen geholfen hätte. Und nachdem ich mich ein wenig
mit den Bedingungen meines neuen Seins bekannt gemacht hatte, entschloß ich
mich, mit ihr in denselben Kampf zu treten, den sie mit mir geführt hatte.
Wenn sie, der Schatten, es verstanden hatte, meinen Platz als wirkliche
Frau einzunehmen, war denn ich, der Mensch, der nur zeitweilig zum Schatten
wurde, nicht stärker als diese Erscheinung?

Ich begann mit einem Umwege. Anfangs stellte ich mich, als quälte mich der
Hohn meiner Gegnerin immer unerträglicher. Ich ließ sie absichtlich alle
Süßigkeit des Sieges spüren. Und da ich das vergehende Opfer spielte,
reizte ich in ihr alle geheimen Henkerinstinkte. Sie fiel auf dieses
Lockmittel herein. Das Spiel mit mir lockte sie. Indem sie immer neue
Martern für mich ersann, verschwendete sie ihre Phantasie. Sie erfand
tausend Listen, um mir immer und immer noch einmal zu beweisen, daß ich nur
eine Erscheinung wäre, und daß ich kein eigenes Leben mehr hätte. Bald
spielte sie vor mir auf dem Klavier und quälte mich mit der Tonlosigkeit
meiner Welt. Bald saß sie vor meinem Spiegel, trank langsam meine geliebten
Liköre und zwang mich, so zu tun, als würde auch ich trinken. Bald endlich
führte sie in mein Boudoir Menschen, die ich verachtete, erlaubte ihnen vor
meinen Augen ihren Körper zu küssen, und überließ es dabei ihnen, zu
denken, daß sie mich küßten. Und wenn sie dann mit mir allein war, lachte
sie mit bösem und triumphierenden Lachen. Doch dieses Lachen verletzte mich
nicht mehr; seine Schärfe trug eine Süßigkeit: meine kommende Rache!

In den Stunden, wenn sie mich kränkte, zwang ich meine Gegnerin unmerklich,
mir in die Augen zu sehen, begann ich allmählich, ihren Blick zu
beherrschen. Bald lag es schon in meiner Gewalt, ihre Lider zu heben oder
zu senken, diese oder jene Bewegung ihres Gesichtes hervorzurufen. Und
schon begann ich, zu triumphieren, wenn ich auch dieses unter der Maske des
Leides verbarg. Meine seelischen Kräfte wuchsen, und ich erkühnte mich,
meinem Feinde zu befehlen: heute wirst du dieses tun, heute wirst du
dorthin fahren, morgen wirst du zu mir um diese Zeit kommen. Und _sie_
führte es aus! Ich verwickelte ihre Seele in das Netz meiner Wünsche, spann
einen festen Faden, mit dem ich ihren Willen hielt und wenn ich meine
Erfolge bemerkte, triumphierte ich insgeheim. Als sie dann einmal in den
Stunden ihres Lachens auf meinen Lippen plötzlich das siegessichere Lächeln
bemerkte, war es schon zu spät. _Sie_ lief damals in heller Wut aus dem
Zimmer, doch während ich wieder in den Schlaf meines Nichtseins zurückfiel,
wußte ich doch, daß sie morgen wiederkehren würde, wußte, daß sie mir
gehorchen würde! Und der Jubel des Sieges schwebte über meiner willenlosen
Schwäche, zerschnitt das Dunkel meines Halbtodes als regenbogenfarbener
Fächer.

Sie kehrte zurück! In Zorn und Furcht kehrte sie zu mir zurück, schrie mich
an und drohte mir. Ich aber erteilte ihr Befehle. Und sie mußte mir
gehorchen. Es war wie das Spiel der Katze mit der Maus. Zu beliebiger
Stunde konnte ich sie wieder in die Spiegeltiefe stürzen, selbst aber
hinaustreten in die tönende und feste Wirklichkeit. Sie wußte, daß dieses
von meinem Willen abhinge, und dieses Bewußtsein quälte sie zweifach. Doch
ich zauderte. Es war mir angenehm, zu Zeiten im Nichtsein zu sein. Es war
mir angenehm, mich mit der Möglichkeit zu berauschen. Endlich (und dieses
ist gewiß merkwürdig) erwachte in mir das Mitleid mit meiner Gegnerin; die
mein Feind war, mein Henker. Allein es war in ihr etwas von mir und es war
mir furchtbar, sie so aus der Klarheit des Lebens hinauszureißen und sie in
einen Schatten zu verwandeln. Ich schwankte und wagte es nicht, verlängerte
die Frist von Tag zu Tag und wußte eigentlich selbst nicht, was ich wollte
und was mich erschreckte.

Und plötzlich, an einem hellen Frühlingstage, traten in das Boudoir
Menschen mit Brettern und Beilen. Ich war unlebendig, ich lag in einer
süßen Erstarrung, aber wenn ich auch nichts sah, so begriff ich doch, daß
sie hier wären. Die Leute begannen in der Nähe des Spiegels, der mir zum
Weltall geworden war, sich zu beschäftigen. Und eine nach der anderen
erwachten die Seelen, die mit mir den Spiegel bewohnten, und nahmen den
Körper der Erscheinung, die Form des Spiegelbildes an. Furchtbare Unruhe
erregte meine träumende Seele. Im Vorgefühle des Entsetzens, im Vorgefühle
des schon nicht mehr gutzumachenden Verderbens sammelte ich all die Macht
meines Willens. Welche Anstrengung kostete es mich, mit der Entrücktheit
eines halben Seins zu kämpfen. So kämpfen lebendige Leute manchmal mit
einem Alpdrücken, wenn sie sich aus seinen quälenden Ketten zur
Wirklichkeit befreien wollen.

Ich konzentrierte alle Kräfte der Suggestion in den Ruf, den ich ihr,
meiner Gegnerin, zurief: »komm her!« Ich hypnotiserte und magnetisierte sie
mit der ganzen Anstrengung meines träumenden Willens. Und ich hatte so
wenig Zeit. Schon bewegte sich der Spiegel. Schon hatte man vor, ihn in das
Brettergrab zu legen, um ihn fortzuführen: wohin, das war mir unbekannt.
Und so in letztem tödlichem Triebe rief ich wieder und wieder: »komm!
. . .« Und plötzlich fühlte ich, daß ich lebendig wurde. _Sie_, mein Feind,
öffnete die Thüre; und bleich und halbtot kam sie mir entgegen, gehorchte
sie meinem Rufe, wenn auch mit Schritten, die sich sträubten, als würde sie
zum Richtplatz gehen. Mit meinen Augen umschloß ich ihre Augen, fesselte
ihren Blick mit meinem Blicke und dann wußte ich, daß ich siegen würde.

Ich zwang sie, die Leute aus dem Zimmer hinauszuschicken. _Sie_ gehorchte
und machte nicht einmal den Versuch, sich zu widersetzen. Und wieder waren
wir allein. Ich durfte nicht länger zögern. Außerdem konnte ich ihr ihre
Tücke nicht verzeihen. Mitleidlos befahl ich ihr, mir entgegenzugehen. Ein
Stöhnen der Qual entrang sich ihren Lippen, ihre Augen erweiterten sich wie
vor einem Gespenste, doch sie kam, taumelte, fiel, -- sie kam. Und auch ich
ging ihr entgegen, mit Lippen, welche der Triumph verzog, mit Augen, welche
die Freude weit geöffnet hatte, und mit Schritten, die vor trunkenem Jubel
taumelten. Und wieder berührten sich unsere Hände, wieder näherten sich
unsere Lippen und wir stürzten eine in die andere, verbrannt vom
unnennbaren Schmerze der neuen Verkörperung. Und schon nach einem
Augenblick stand ich _vor_ dem Spiegel, meine Brust füllte sich mit Luft
und ich schrie laut und sieghaft auf und fiel hin, fiel vor dem Trumeau
nieder vor Ermattung.

Mein Gatte, die Menschen liefen in das Zimmer. Ich konnte nur sagen, daß
man meinen früheren Befehl ausführen möge, diesen Spiegel ganz und für
immer aus dem Hause fortzutragen. Dann verlor ich das Bewußtsein.

Man legte mich ins Bett. Man berief einen Arzt. Ich bekam nach all dem
Erlebten ein Nervenfieber. Meine Verwandten hielten mich schon lange für
krank und unnormal. Im ersten Jubel war ich so unvorsichtig, ihnen alles,
was mit mir geschehen war, zu erzählen. Meine Erzählung bestärkte nur ihren
Verdacht. Man führte mich in ein psychiatrisches Krankenhaus über, in dem
ich mich auch jetzt noch befinde. Ich bin davon überzeugt, daß mein ganzes
Wesen noch immer tief erschüttert ist. Doch ich darf nicht lange hier
bleiben. Mir blieb noch eine Sache, eine Aufgabe, die ich bald schon
ausführen muß.

Ich zweifle nicht an meinem Siege, nein, nein! Ich weiß, daß ich Ich bin.
Doch sobald ich an jene denke, die jetzt in meinem Spiegel eingeschlossen
ist, so erfüllt mich eine seltsame Ungewißheit: wie, wenn mein wirkliches
Ich dort wäre? Dann würde ich selbst, ich, die dieses hier denkt, ich, die
dieses hier schreibt, ein Schatten sein, eine Erscheinung, ein Spiegelbild.
In mich strömten nur die Erinnerungen, Gedanken und Gefühle jener über, die
mein anderes Ich ist, mein wirkliches. Und tatsächlich wäre ich noch immer
im Nichtsein der Spiegeltiefe, würde mich quälen, würde ermatten, sterben.
Ich weiß, o, ich weiß es fast genau, daß dieses nicht wahr ist. Doch um die
letzten Wolken des Zweifels zu zerstreuen, muß ich wieder, nur noch einmal,
das letztemal in jenen Spiegel schauen. Noch einmal muß ich in ihn sehen,
um mich zu überzeugen, daß dort die Usurpatorin ist, mein Feind, der meine
Rolle während einiger Monate spielte. Ich werde dies sehen, und alle
Bedrücktheit meiner Seele wird weichen, und ich werde wieder sorgenlos klar
und glücklich sein. Wo ist dieser Spiegel, wo werde ich ihn finden? Ich
muß, o, ich muß noch einmal hineinschauen, schauen in seine Tiefe! . . .




Das Köpfchen aus Marmor



Erzählung eines Landstreichers



Man verurteilte ihn wegen Diebstahls zu einem Jahr Gefängnishaft. Mich
intrigierten das Benehmen des Alten vor dem Gerichte, wie auch die eigenen
Umstände des Verbrechens. Ich erreichte eine Zusammenkunft mit dem
Verurteilten. Anfangs hatte er eine gewisse Scheu vor mir, schwieg, dann
aber erzählte er mir doch sein Leben.

-- Sie haben Recht, begann er, ich sah einst bessere Tage, war nicht immer
ein Herumtreiber, schlief nicht immer in den Nachtasylen. Ich genoß eine
ganz gute Erziehung, ich wurde ein Techniker. Als ich jung war, da hatte
ich schon Geld, lebte geräuschvoll: jeden Tag irgend eine
Abendgesellschaft, ein Ball, und alles endete immer mit einem Saufgelage.
An diese Zeit erinnere ich mich gut, selbst an Kleinigkeiten. Aber in
meinen Erinnerungen ist eine Lücke und um sie auszufüllen, würde ich den
ganzen Rest meiner lumpigen Tage hingeben: nämlich alles, was in Bezug zu
Nina steht.

Sie hieß Nina, gnädiger Herr, ich bin davon überzeugt, daß sie Nina hieß.
Sie war mit einem armen Eisenbahnbeamten verheiratet. Sie waren arm. Aber
wie verstand sie es, in dieser kläglichen Atmosphäre vornehm zu sein und so
besonders fein! Sie kochte selbst, aber ihre Hände waren wie gemeißelt. Aus
ihren billigen Fetzen nähte sie sich wundervolle Träume. Ja und auch alles
alltägliche, das mit ihr in Berührung kam, wurde so ungewöhnlich, so
phantastisch. Ich selbst wurde unter ihrem Einfluß ein anderer, besserer,
schüttelte von mir wie Regentropfen alle Gemeinheit des Lebens ab.

Gott verzeih ihr die Sünde, daß sie mich liebte. Rings war alles so
ungeschliffen, daß sie mich lieben mußte, mich, den jungen, hübschen, der
so viel Verse auswendig konnte. Doch wo ich mit ihr bekannt wurde und wie,
dessen kann ich mich schon nicht mehr entsinnen. Aus dem Dunkel reißen sich
einige Bilder. Wir sind im Theater. Sie ist glücklich und lustig (o, wie
selten das bei ihr vorkam!), trinkt sozusagen jedes Wort des Schauspieles,
lächelt mir zu . . . O, dies Lächeln kenn ich noch. Dann sind wir irgend wo
zu zweien. Sie neigt den Kopf und sagt mir: »Ich weiß, du, mein Glück,
wirst nicht lange bei mir verweilen; sei es immerhin, ich habe doch
gelebt.« O diese Worte kenn ich noch. Doch was gleich danach war, -- und
ist dies mit Nina überhaupt wahr? Ich weiß nicht.

Natürlich verließ ich sie. Mir erschien das so selbstverständlich. Vor mir
lag eine glänzende Zukunft und ich konnte mich durch irgend eine
romantische Liebe nicht binden lassen. Es war mir schmerzlich, sehr
schmerzlich, aber ich bekämpfte das und sah darin sogar eine Tat, daß ich
dieses Weh überstand. Ich hörte, daß Nina rasch darauf mit ihrem Mann nach
dem Süden gereist sei und bald gestorben. Doch Erinnerungen und Gespräche
von ihr peinigten mich damals so sehr, daß ich alle Nachrichten vermied.
Ich bemühte mich, nicht an Nina zu denken. Weder ihr Porträt noch ihre
Briefe hatte ich mehr und nichts erinnerte mich an sie. Und natürlich
vergaß ich dann auch ihr Gesicht, ihren Namen, unsere ganze Liebe,
begreifen Sie bitte, vergaß alles. Sie verschwand aus meinem Leben, als
wäre sie nie darin gewesen. Und es ist etwas Schmähliches für einen
Menschen, so zu vergessen.

Nun, die Jahre vergingen. Ich brauche Ihnen wohl nicht zu erzählen, wie ich
Karriere machte. Von Nina getrennt, dachte ich natürlich nur an äußeren
Erfolg, an Geld. Eine Zeit hindurch erreichte ich fast mein Ziel, lebte im
Auslande, heiratete, hatte Kinder. Dann kamen die Verluste: die Frau starb;
mit den Kindern vertrug ich mich nicht, gab sie zu Verwandten und, Gott
verzeih mir, weiß jetzt nicht mal, ob meine Jungen noch leben. Natürlich
trank ich. Dann eröffnete ich ein Geschäft, es kam nichts dabei heraus, ich
verlor nur mein letztes Geld und meine letzten Kräfte. Zum Schluß sank ich
bis zu dem, als den Sie mich heute hier sehen. In den letzten Jahren
beschäftigte ich mich einige Monate, als ich nicht trank, als Arbeiter in
den Fabriken. Doch wenn ich trank, kam ich auf den Trödelmarkt und in die
Nachtasyle. Auf die Menschen war ich furchtbar wütend und träumte immer,
das Schicksal würde sich ändern, ich würde wieder reich werden. Meine neuen
Kameraden verachtete ich deshalb, weil sie diese Hoffnung nicht hatten.

So trieb ich mich denn einmal frierend und hungrig auf irgend einem Hofe
herum, weiß der Teufel warum, ich glaube, der Zufall führte mich. Plötzlich
ruft mich ein Koch an: »Lieber, bist du nicht am Ende ein Schlosser?« »Das
bin ich,« antwortete ich. Man hieß mich ein Schreibtischschloß zurecht
machen. Ich wurde in ein prachtvolles Kabinett geführt; überall Vergoldung
und Bilder. Ich arbeitete, reparierte, was nötig war, und die Gnädige gab
mir einen Rubel. Das Geld nehmend, erblickte ich plötzlich ein auf einer
Säule stehendes Köpfchen aus Marmor. Ich ersterbe, schaue es an und will
meinen Augen nicht trauen: es war Nina!

Ich sage Ihnen, lieber Herr, ich hatte Nina völlig vergessen und dort
begriff ich es erst, daß ich sie vergessen. Ich schaue, zittere fast und
frage: »Gnädige Frau, gestatten Sie zu fragen, was das für ein Köpfchen
ist?« »Das,« antwortet sie, »ist eine sehr teuere Sache, die vor
fünfhundert Jahren gemacht ist, im XV. Jahrhundert.« Nannte mir auch den
Namen des Künstlers, den ich aber nicht behielt, sagte, daß ihr Mann dies
Köpfchen aus Italien mitgebracht hätte und hieraus wäre eine ganze
diplomatische Affäre zwischen dem italienischen und dem russischen Kabinett
entstanden. »Sagen Sie mal,« fragte mich die Gnädige, »gefällt Ihnen das
Köpfchen? Was haben Sie für einen unmodernen Geschmack! Die Ohren,« sagt
sie, »sind nicht am Platze, die Nase ist unregelmäßig . . .« und schwatzt!
und schwatzt!

Wie verhext lief ich aus dem Hause. Das war nicht nur Ähnlichkeit, das war
ein Porträt, sogar noch mehr, das war wirkliches Leben im Marmor. Sagen Sie
mir bitte, durch welch ein Wunder konnte ein Künstler des XV. Jahrhunderts
diese selben mir so bekannten kleinen, ein wenig tief angesetzten Ohren
schaffen, diese selben kaum mandelförmigen Augen, die unregelmäßige Nase
und die lange zurückgelehnte Stirn, aus denen sich ganz unerwartet das
schönste, das reizendste Frauengesicht zusammensetzte? Welch ein Wunder
ließ zwei völlig gleiche Frauen leben, die eine im XV. Jahrhundert, die
andere -- in unseren Tagen? Denn daß jene, nach welcher der Marmorkopf
gemacht wurde, nicht nur im Gesicht, sondern auch dem Charakter, der Seele
nach völlig gleichartig, ja identisch mit Nina war, kann ich nicht
bezweifeln.

Dieser Tag gestaltete mein ganzes Leben um. Ich begriff sowohl die ganze
Niedrigkeit meiner Aufführung im Vergangenen, als auch die Tiefe meines
Sturzes. Ich begriff, daß Nina der Engel war, den mir das Schicksal sandte
und den ich zu erkennen hatte. Es ist unmöglich, das Vergangene ungeschehen
zu machen. Doch gierig begann ich, alle Erinnerungen an Nina zu sammeln, so
wie man zuweilen die Scherben einer zerbrochenen kostbaren Vase aufliest.
O, wenig war es! Trotz aller Mühe konnte ich nichts Ganzes zusammenstellen.
Es waren nur Splitter, Trümmer. Doch wie jubelte ich, wenn es mir gelang,
in meiner Seele irgend etwas Neues zu finden. Nachdenkend und mich
erinnernd verbrachte ich ganze Stunden; man lachte über mich und doch war
ich glücklich. Ich bin alt, es ist für mich zu spät, mein Leben von neuem
zu beginnen. Aber noch kann ich meine Seele von schlechten Gedanken
befreien, von Menschenhaß und vom Murren auf den Schöpfer. Und in der
Erinnerung an Nina fand ich diese Reinigung und Befreiung.

Ich hatte ein leidenschaftliches Verlangen, die Statue noch einmal zu
sehen. Ich strich ganze Abende in der Nähe des Hauses, in welchem sie
stand, herum und bemühte mich, das Köpfchen aus Marmor zu erblicken, doch
es stand zu weit von den Fenstern. Ganze Nächte verbrachte ich vor dem
Hause. Ich sah alle in ihm Lebenden, merkte mir die Verteilung der Zimmer,
knüpfte mit der Bedienung Bekanntschaften an. Im Sommer fuhren die Besitzer
aufs Land. Und länger konnte ich mein Verlangen auch nicht bekämpfen. Ich
glaubte, daß, wenn ich noch einmal die marmorne Nina ansehen könnte, ich
mich an alles erinnern würde, an alles bis zum Ende. Das wäre mein letztes
Glück gewesen. Und ich entschloß mich zu dem, wofür man mich verurteilt
hat. Sie wissen, daß es mir nicht gelang, man ergriff mich schon im
Vorzimmer. Auf dem Gericht stellte sich heraus, daß ich in den Zimmern
schon einmal als Schlosser war, und daß man mich nicht selten in der Nähe
des Hauses hatte herumlungern gesehen . . . Ich bin ein Bettler, da hab ich
dann eben die Schlösser erbrochen . . . Übrigens ist die Geschichte aus,
gnädiger Herr!

-- Aber wir wollen appellieren, sagte ich, man wird Sie freisprechen.

-- Wozu? entgegnete der Alte. Weder betrübt, noch schändet meine
Verurteilung jemanden, und ist es nicht imgrunde gleich, wo ich an Nina
denke, im Nachtasyl oder im Gefängnis?

Ich fand nichts zu erwidern, doch, indem mich der Alte mit seinen seltsamen
verblichenen Augen ansah, sagte er plötzlich noch:

-- Eines beunruhigt mich. Wie, wenn Nina niemals existiert hätte? Wenn nur
mein armer, durch Alkohol geschwächter Verstand sich die ganze Geschichte
dieser Liebe erdacht hätte, während ich das Köpfchen aus Marmor ansah?







End of Project Gutenberg's Die Republik des Südkreuzes, by Waleri Brjussow

*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE REPUBLIK DES SÜDKREUZES ***

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To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
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and the Foundation web page at http://www.pglaf.org.


Section 3.  Information about the Project Gutenberg Literary Archive
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permitted by U.S. federal laws and your state's laws.

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Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered
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[email protected].  Email contact links and up to date contact
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