Bulemanns Haus

By Theodor Storm

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Title: Bulemanns Haus

Author: Theodor Storm

Release Date: September, 2005 [EBook #8916]
[Yes, we are more than one year ahead of schedule]
[This file was first posted on August 25, 2003]

Edition: 10

Language: German

Character set encoding: ISO Latin-1

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK BULEMANNS HAUS ***




Produced by Mike Pullen and Delphine Lettau.




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BULEMANNS HAUS

beim THEODOR STORM



In einer norddeutschen Seestadt, in der sogenannten Düsternstraße, steht
ein altes verfallenes Haus. Es ist nur schmal, aber drei Stockwerke hoch;
in der Mitte desselben, vom Boden bis fast in die Spitze des Giebels,
springt die Mauer in einem erkerartigen Ausbau vor, welcher für jedes
Stockwerk nach vorne und an den Seiten mit Fenstern versehen ist, so daß
in hellen Nächten der Mond hindurchscheinen kann.

Seit Menschengedenken ist niemand in dieses Haus hinein--und niemand
herausgegangen; der schwere Messingklopfer an der Haustür ist fast schwarz
von Grünspan, zwischen den Ritzen der Treppensteine wächst Jahr aus Jahr
ein das Gras.--Wenn ein Fremder fragt: "Was ist denn das für ein Haus?" so
erhält er gewiß zur Antwort: "Es ist Bulemanns Haus"; wenn er aber weiter
fragt: "Wer wohnt denn darin?" so antworten sie ebenso gewiß: "Es wohnt so
niemand darin."--Die Kinder auf den Straßen und die Ammen an der Wiege
singen:

In Bulemanns Haus, In Bulemanns Haus, Da gucken die Mäuse Zum Fenster
hinaus.

Und wirklich wollen lustige Brüder, die von nächtlichen Schmäusen dort
vorbeigekommen, ein Gequieke wie von unzähligen Mäusen hinter den dunklen
Fenstern gehört haben. Einer, der im Übermut den Türklopfer anschlug, um
den Widerhall durch die öden Räume schallen zu hören, behauptet sogar, er
habe drinnen auf den Treppen ganz deutlich das Springen großer Tiere
gehört. "Fast", pflegt er, dies erzählend, hinzuzusetzen, "hörte es sich
an wie die Sprünge der großen Raubtiere, welche in der Menageriebude auf
dem Rathausmarkte gezeigt wurden."

Das gegenüberstehende Haus ist um ein Stockwerk niedriger, so daß nachts
das Mondlicht ungehindert in die oberen Fenster des alten Hauses fallen
kann. Aus einer solchen Nacht hat auch der Wächter etwas zu erzählen;
aber es ist nur ein kleines altes Menschenantlitz mit einer bunten
Zipfelmütze, das er droben hinter den runden Erkerfenstern gesehen haben
will. Die Nachbarn dagegen meinen, der Wächter sei wieder einmal
betrunken gewesen; sie hätten drüben an den Fenstern niemals etwas gesehen,
das einer Menschenseele gleich gewesen.

Am meisten Auskunft scheint noch ein alter in einem entfernten
Stadtviertel lebender Mann geben zu können, der vor Jahren Organist an der
St. Magdalenenkirche gewesen ist. "Ich entsinne mich", äußerte er, als er
einmal darüber befragt wurde, "noch sehr wohl des hagern Mannes, der
während meiner Knabenzeit allein mit einer alten Weibsperson in jenem Haus
wohnte. Mit meinem Vater, der ein Trödler gewesen ist, stand er ein paar
Jahre lang in lebhaftem Verkehr, und ich bin derzeit manches Mal mit
Bestellungen an ihn geschickt worden. Ich weiß auch noch, daß ich nicht
gern diese Wege ging und oft allerlei Ausflucht suchte; denn selbst bei
Tage fürchtete ich mich, dort die schmalen dunkeln Treppen zu Herrn
Bulemanns Stube im dritten Stockwerk hinaufzusteigen. Man nannte ihn
unter den Leuten den 'Seelenverkäufer'; und schon dieser Name erregte mir
Angst, zumal daneben allerlei unheimlich Gerede über ihn im Schwange ging.
Er war, ehe er nach seines Vaters Tod das alte Haus bezogen, viele Jahre
als Supercargo auf Westindien gefahren. Dort sollte er sich mit einer
Schwarzen verheiratet haben; als er aber heimgekommen, hatte man vergebens
darauf gewartet, eines Tages auch jene Frau mit einigen dunkeln Kindern
anlangen zu sehen. Und bald hieß es, er habe auf der Rückfahrt ein
Sklavenschiff getroffen und an den Kapitän desselben sein eigen Fleisch
und Blut nebst ihrer Mutter um schnödes Gold verkauft.--Was wahres an
solchen Reden gewesen, vermag ich nicht zu sagen", pflegte der Greis
hinzuzusetzen; "denn ich will auch einem Toten nicht zu nahe treten; aber
so viel ist gewiß, ein geiziger und menschenscheuer Kauz war es; und seine
Augen blickten auch, als hätten sie bösen Taten zugesehen. Kein
Unglücklicher und Hilfesuchender durfte seine Schwelle betreten; und wann
immer ich damals dort gewesen, stets war von innen die eiserne Kette vor
die Tür gelegt.--Wenn ich dann den schweren Klopfer wiederholt hatte
anschlagen müssen, so hörte ich wohl von der obersten Treppe herab die
scheltende Stimme des Hausherrn: Frau Anken! Frau Anken! Ist Sie taub?
Hört Sie nicht, es hat geklopft!' Alsbald ließen sich aus dem Hinterhaus
über Pesel und Korridor die schlurfenden Schritte des alten Weibes
vernehmen. Bevor sie aber öffnete, fragte sie hüstelnd:'Wer ist es denn?'
und erst, wenn ich geantwortet hatte:'Es ist der Leberecht!' wurde die
Kette drinnen abgehakt. Wenn ich dann hastig die siebenundsiebzig
Treppenstufen--denn ich habe sie einmal gezählt--hinaufgestiegen war,
pflegte Herr Bulemann auf dem kleinen dämmerigen Flur vor seinem Zimmer
schon auf mich zu warten; in dieses selbst hat er mich nie hineingelassen.
Ich sehe ihn noch, wie er in seinem gelbgeblümten Schlafrock mit der
spitzen Zipfelmütze vor mir stand, mit der einen Hand rücklings die Klinke
seiner Zimmertür haltend. Während ich mein Gewerbe bestellte, pflegte er
mich mit seinen grellen runden Augen ungeduldig anzusehen und mich darauf
hart und kurz abzufertigen. Am meisten erregten damals meine
Aufmerksamkeit ein paar ungeheuere Katzen, eine gelbe und eine schwarze,
die sich mitunter hinter ihm aus seiner Stube drängten und ihre dicken
Köpfe an seinen Knieen rieben.--Nach einigen Jahren hörte indessen der
Verkehr mit meinem Vater auf, und ich bin nicht mehr dort gewesen. Dies
alles ist nun über siebzig Jahre her, und Herr Bulemann muß längst dahin
getragen sein, von wannen niemand wiederkehrt."--Der Mann irrte sich, als
er so sprach. Herr Bulemann ist nicht aus seinem Haus getragen worden; er
lebt darin noch jetzt.

Das aber ist so zugegangen.

Vor ihm, dem letzten Besitzer, noch um die Zopf--und Haarbeutelzeit,
wohnte in jenem Haus ein Pfandverleiher, ein altes verkrümmtes Männchen.
Da er sein Gewerbe mit Umsicht seit über fünf Jahrzehnten betrieben hatte
und mit einem Weib, das ihm seit dem Tod seiner Frau die Wirtschaft führte,
aufs spärlichste lebte, so war er endlich ein reicher Mann geworden.
Dieser Reichtum bestand aber zumeist in einer fast unübersehbaren Menge
von Pretiosen, Geräten und seltsamstem Trödelkram, was er alles von
Verschwendern oder Notleidenden im Laufe der Jahre als Pfand erhalten
hatte und das dann, da die Rückzahlung des darauf gegebenen Darlehens
nicht erfolgte, in seinem Besitz zurückgeblieben war.--Da er bei einem
Verkauf dieser Pfänder, welcher gesetzlich durch die Gerichte geschehen
mußte, den Überschuß des Erlöses an die Eigentümer hätte herausgeben
müssen, so häufte er sie lieber in den großen Nußbaumschränken auf, mit
denen zu diesem Zwecke nach und nach die Stuben des ersten und endlich
auch des zweiten Stockwerks besetzt wurden. Nachts aber, wenn Frau Anken
im Hinterhaus in ihrem einsamen Kämmerchen schnarchte und die schwere
Kette vor der Haustür lag, stieg er oft mit leisen Tritt die Treppen auf
und ab. In seinen hechtgrauen Rockelor eingeknöpft, in der einen Hand die
Lampe, in der andern das Schlüsselbund, öffnete er bald im ersten, bald im
zweiten Stockwerk die Stuben- und die Schranktüren, nahm hier eine goldene
Repetieruhr, dort eine emaillierte Schnupftabaksdose aus dem Versteck
hervor und berechnete bei sich die Jahre ihres Besitzes und ob die
ursprünglichen Eigentümer dieser Dinge wohl verkommen und verschollen
seien oder ob sie noch einmal mit dem Geld in der Hand wiederkehren und
ihre Pfänder zurückfordern könnten.

Der Pfandverleiher war endlich im äußersten Greisenalter von seinen
Schätzen weggestorben und hatte das Haus nebst den vollen Schränken seinem
einzigen Sohn hinterlassen müssen, den er während seines Lebens auf jede
Weise daraus fern zu halten gewußt hatte.

Dieser Sohn war der von dem kleinen Leberecht so gefürchtete Supercargo,
welcher eben von einer überseeischen Fahrt in seine Vaterstadt
zurückgekehrt war. Nach dem Begräbnis des Vaters gab er seine früheren
Geschäfte auf und bezog dessen Zimmer im dritten Stock des alten
Erkerhauses, wo nun statt des verkrümmten Männchens im hechtgrauen
Rockelor eine lange hagere Gestalt im gelbgeblümten Schlafrock und bunter
Zipfelmütze auf und ab wandelte oder rechnend an dem kleinen Pulte des
Verstorbenen stand.

Auf Herrn Bulemann hatte sich indessen das Behagen des alten
Pfandverleihers an den aufgehäuften Kostbarkeiten nicht vererbt. Nachdem
er bei verriegelten Türen den Inhalt der großen Nußbaumschränke untersucht
hatte, ging er mit sich zu Rate, ob er den heimlichen Verkauf dieser Dinge
wagen solle, die immer noch das Eigentum anderer waren und an deren Wert
er nur auf Höhe der ererbten und, wie die Bücher ergaben, meist sehr
geringen Darlehnsforderung einen Anspruch hatte. Aber Herr Bulemann war
keiner von den Unentschlossenen. Schon in wenigen Tagen war die
Verbindung mit einem in der äußersten Vorstadt wohnenden Trödler
angeknüpft, und nachdem man einige Pfänder aus den letzten Jahren
zurückgesetzt hatte, wurde heimlich und vorsichtig der bunte Inhalt der
großen Nußbaumschränke in gediegene Silbermünzen umgewandelt.

Das war die Zeit, wo der Knabe Leberecht ins Haus gekommen war.

Das gelöste Geld tat Herr Bulemann in große eisenbeschlagene Kasten,
welche er nebeneinander in seine Schlafkammer setzen ließ; denn bei der
Rechtlosigkeit seines Besitzes wagte er nicht, es auf Hypotheken auszutun
oder sonst öffentlich anzulegen.

Als alles verkauft war, machte er sich daran, sämtliche für die mögliche
Zeit seines Lebens denkbare Ausgaben zu berechnen. Er nahm dabei ein
Alter von neunzig Jahren in Ansatz und teilte dann das Geld in einzelne
Päckchen je für eine Woche, indem er auf jedes Quartal noch ein Röllchen
für unvorhergesehene Ausgaben dazulegte. Dieses Geld wurde für sich in
einen Kasten gelegt, welcher nebenan in dem Wohnzimmer stand; und alle
Sonnabendmorgen erschien Frau Anken, die alte Wirtschafterin, die er aus
der Verlassenschaft seines Vaters mit übernommen hatte, um ein neues
Päckchen in Empfang zu nehmen und über die Verausgabung des vorigen
Rechenschaft zu geben.

Wie schon erzählt, hatte Herr Bulemann Frau und Kinder nicht mitgebracht;
dagegen waren zwei Katzen von besonderer Größe, eine gelbe und eine
schwarze, am Tage nach der Beerdigung des alten Pfandverleihers durch
einen Matrosen in einem fest zugebundenen Sack vom Bord des Schiffes ins
Haus getragen worden. Diese Tiere waren bald die einzige Gesellschaft
ihres Herrn. Sie erhielten mittags ihre eigene Schüssel, die Frau Anken
unter verbissenem Ingrimm Tag aus und ein für sie bereiten mußte; nach dem
Essen, während Herr Bulemann sein kurzes Mittagsschläfchen abtat, saßen
sie gesättigt neben ihm auf dem Kanapee, ließen ein Läppchen Zunge
hervorhängen und blinzelten ihn schläfrig aus ihren grünen Augen an.
Waren sie in den unteren Räumen des Hauses auf der Mausjagd gewesen, was
ihnen indessen immer einen heimlichen Fußtritt von dem alten Weib eintrug,
so brachten sie gewiß die gefangenen Mäuse zuerst ihrem Herrn im Maule
hergeschleppt und zeigten sie ihm, ehe sie unter das. Kanapee krochen und
sie verzehrten. War dann die Nacht gekommen und hatte Herr Bulemann die
bunte Zipfelmütze mit einer weißen vertauscht, so begab er sich mit seinen
beiden Katzen in das große Gardinenbett im Nebenkämmerchen, wo er sich
durch das gleichmäßige Spinnen der zu seinen Füßen eingewühlten Tiere in
den Schlaf bringen ließ.

Dieses friedliche Leben war indes nicht ohne Störung geblieben. Im Laufe
der ersten Jahre waren dennoch einzelne Eigentümer der verkauften Pfänder
gekommen und hatten gegen Rückzahlung des darauf erhaltenen Sümmchens die
Auslieferung ihrer Pretiosen verlangt. Und Herr Bulemann, aus Furcht vor
Prozessen, wodurch sein Verfahren in die Öffentlichkeit hätte kommen
können, griff in seine großen Kasten und erkaufte sich durch größere oder
kleinere Abfindungssummen das Schweigen der Beteiligten. Das machte ihn
noch menschenfeindlicher und verbissener. Der Verkehr mit dem alten
Trödler hatte längst aufgehört; einsam saß er auf seinem Erkerstübchen mit
der Lösung eines schon oft gesuchten Problems, der Berechnung eines
sichern Lotteriegewinnes, beschäftigt, wodurch er dermaleinst seine
Schätze ins Unermeßliche zu vermehren dachte. Auch Graps und Schnores,
die beiden großen Kater, hatten jetzt unter seiner Laune zu leiden. Hatte
er sie in dem einen Augenblick mit seinen langen Fingern getätschelt, so
konnten sie sich im andern, wenn etwa die Berechnung auf den Zahlentafeln
nicht stimmen sollte, eines Wurfs mit dem Sandfaß oder der Papierschere
versehen, so daß sie heulend in die Ecke hinkten.

Herr Bulemann hatte eine Verwandte, eine Tochter seiner Mutter aus erster
Ehe, welche indessen schon bei dem Tod dieser wegen ihrer Erbansprüche
abgefunden war und daher an die von ihm ererbten Schätze keine Ansprüche
hatte. Er kümmerte sich jedoch nicht um diese Halbschwester, obgleich sie
in einem Vorstadtviertel in den dürftigsten Verhältnissen lebte; denn noch
weniger als mit anderen Menschen liebte Herr Bulemann den Verkehr mit
dürftigen Verwandten. Nur einmal, als sie kurz nach dem Tod ihres Mannes
in schon vorgerücktem Alter ein kränkliches Kind geboren hatte, war sie
Hilfe suchend zu ihm gekommen. Frau Anken, die sie eingelassen, war
horchend unten auf der Treppe sitzen geblieben, und bald hatte sie von
oben die scharfe Stimme ihres Herrn gehört, bis endlich die Tür
aufgerissen worden und die Frau weinend die Treppe herabgekommen war.
Noch an demselben Abend hatte Frau Anken die strenge Weisung erhalten, die
Kette fürderhin nicht von der Haustür zu ziehen, falls etwa die Christine
noch einmal wiederkommen sollte.

Die Alte begann sich immer mehr vor der Hakennase und den grellen
Eulenaugen ihres Herrn zu fürchten. Wenn er oben am Treppengeländer ihren
Namen rief oder auch, wie er es vom Schiff her gewohnt war, nur einen
schrillen Pfiff auf seinen Fingern tat, so kam sie gewiß, in welchem
Winkel sie auch sitzen mochte, eiligst hervorgekrochen und stieg stöhnend,
Schimpf- und Klageworte vor sich herplappernd, die schmalen Treppen hinauf.

Wie aber in dem dritten Stockwerk Herr Bulemann, so hatte in den unteren
Zimmern Frau Anken ihre ebenfalls nicht ganz rechtlich erworbenen Schätze
aufgespeichert.

Schon in dem ersten Jahr ihres Zusammenlebens war sie von einer Art
kindischer Angst befallen worden, ihr Herr könne einmal die Verausgabung
des Wirtschaftsgeldes selbst übernehmen, und sie werde dann bei dem Geiz
desselben noch auf ihre alten Tage Not zu leiden haben. Um dieses
abzuwenden, hatte sie ihm vorgelegen, der Weizen sei aufgeschlagen, und
demnächst die entsprechende Mehrsumme für den Brotbedarf gefordert. Der
Supercargo, der eben seine Lebensrechnung begonnen, hatte scheltend seine
Papiere zerrissen und darauf seine Rechnung von vom wieder aufgestellt und
den Wochenrationen die verlangte Summe zugesetzt.

Frau Anken aber, nachdem sie ihren Zweck erreicht, hatte zur Schonung
ihres Gewissens und des Sprichwortes gedenkend: "Geschleckt ist nicht
gestohlen", nun nicht die überschüssig empfangenen Schillinge, sondern
regelmäßig nur die dafür gekauften Weizenbrötchen unterschlagen, mit denen
sie, da Herr Bulemann niemals die unteren Zimmer betrat, nach und nach die
ihres kostbaren Inhalts beraubten großen Nußbaumschränke anfüllte.

So mochten etwa zehn Jahre verflossen sein. Herr Bulemann wurde immer
hagerer und grauer, sein gelbgeblümter Schlafrock immer fadenscheiniger.
Dabei vergingen oft Tage, ohne daß er den Mund zum Sprechen geöffnet hätte;
denn er sah keine lebenden Wesen als die beiden Katzen und seine alte
halb kindische Haushälterin. Nur mitunter, wenn er hörte, daß unten die
Nachbarskinder auf den Prellsteinen vor seinem Haus ritten, steckte er den
Kopf ein wenig aus dem Fenster und schalt mit seiner scharfen Stimme in
die Gasse hinab.

"Der Seelenverkäufer, der Seelenverkäufer!" schrieen dann die Kinder und
stoben auseinander. Herr Bulemann aber fluchte und schimpfte noch
ingrimmiger, bis er endlich schmetternd das Fenster zuschlug und drinnen
Graps und Schnores seinen Zorn entgelten ließ.

Um jede Verbindung mit der Nachbarschaft auszuschließen, mußte Frau Anken
schon seit geraumer Zeit ihre Wirtschaftseinkäufe in entlegenen Straßen
machen. Sie durfte jedoch erst mit dem Eintritt der Dunkelheit ausgehen
und mußte dann die Haustür hinter sich verschließen.

Es mochte acht Tage vor Weihnachten sein, als die Alte wiederum eines
Abends zu solchem Zwecke das Haus verlassen hatte. Trotz ihrer sonstigen
Sorgfalt mußte sie sich indessen diesmal einer Vergessenheit schuldig
gemacht haben. Denn als Herr Bulemann eben mit dem Schwefelholz sein
Talglicht angezündet hatte, hörte er zu seiner Verwunderung es draußen auf
den Stiegen poltern, und als er mit vorgehaltenem Licht auf den Flur
hinaustrat, sah er seine Halbschwester mit einem bleichen Knaben vor sich
stehen.

"Wie seid ihr ins Haus gekommen?" herrschte er sie an, nachdem er sie
einen Augenblick erstaunt und ingrimmig angestarrt hatte. "Die Tür war
offen unten", sagte die Frau schüchtern.

Er murmelte einen Fluch auf seine Wirtschafterin zwischen den Zähnen. "Was
willst du?" fragte er dann.

"Sei doch nicht so hart, Bruder", bat die Frau, "ich habe sonst nicht den
Mut zu dir zu sprechen."

"Ich wüßte nicht, was du mit mir zu sprechen hättest; du hast dein Teil
bekommen; wir sind fertig miteinander."

Die Schwester stand schweigend vor ihm und suchte vergebens nach dem
rechten Worte.

Drinnen wurde wiederholt ein Kratzen an der Stubentür vernehmbar. Als
Herr Bulemann zurückgelangt und die Tür geöffnet hatte, sprangen die
beiden großen Katzen auf den Flur hinaus und strichen spinnend an dem
blassen Knaben herum, der sich furchtsam vor ihnen an die Wand zurückzog.
Ihr Herr betrachtete ungeduldig die noch immer schweigend vor ihm stehende
Frau. "Nun, wird's bald?" fragte er.

"Ich wollte dich um etwas bitten, Daniel", hub sie endlich an. "Dein
Vater hat ein paar Jahre vor seinem Tod, da ich in bitterster Not war, ein
silbern Becherlein von mir in Pfand genommen."

"Mein Vater von dir?" fragte Herr Bulemann.

"Ja, Daniel, dein Vater; der Mann von unser beiden Mutter. Hier ist der
Pfandschein; er hat mir nicht zu viel darauf gegeben."

"Weiter!" sagte Herr Bulemann, der mit raschem Blick die leeren Hände
seiner Schwester gemustert hatte.

"Vor einiger Zeit", fuhr sie zaghaft fort, "träumte mir, ich gehe mit
meinem kranken Kind auf dem Kirchhof. Als wir an das Grab unserer Mutter
kamen, saß sie auf ihrem Grabstein unter einem Busch voll blühender weißer
Rosen. Sie hatte jenen kleinen Becher in der Hand, den ich einst als Kind
von ihr geschenkt erhalten; als wir aber näher gekommen waren, setzte sie
ihn an die Lippen; und indem sie dem Knaben lächelnd zunickte, hörte ich
sie deutlich sagen: 'Zur Gesundheit!' Es war ihre sanfte Stimme, Daniel,
wie im Leben; und diesen Traum habe ich drei Nächte nacheinander geträumt."

"Was soll das?" fragte Herr Bulemann.

"Gib mir den Becher zurück, Bruder! Das Christfest ist nahe; leg ihn dem
kranken Kind auf seinen leeren Weihnachtsteller!"

Der hagere Mann in seinem gelbgeblümten Schlafrock stand regungslos vor
ihr und betrachtete sie mit seinen grellen runden Augen. "Hast du das
Geld bei dir?" fragte er. "Mit Träumen löst man keine Pfänder ein."

"O, Daniel!" rief sie, "glaub unserer Mutter! Er wird gesund, wenn er aus
dem kleinen Becher trinkt. Sei barmherzig; er ist ja doch von deinem Blut!"

Sie hatte die Hände nach ihm ausgestreckt; aber er trat einen Schritt
zurück. "Bleib mir vom Leibe", sagte er. Dann rief er nach seinen Katzen.
"Graps, alte Bestie! Schnores, mein Söhnchen!" Und der große gelbe
Kater sprang mit einem Satz auf den Arm seines Herrn und kauerte mit
seinen Krallen in der bunten Zipfelmütze, während das schwarze Tier an
seinen Knieen hinaufstrebte.

Der kranke Knabe war näher geschlichen. "Mutter", sagte er, indem er sie
heftig an dem Kleid zupfte, "ist das der böse Ohm, der seine schwarzen
Kinder verkauft hat?"

Aber in demselben Augenblick hatte auch Herr Bulemann die Katze
herabgeworfen und den Arm des aufschreienden Knaben ergriffen.

"Verfluchte Bettelbrut", rief er, "pfeifst du auch das tolle Lied!"

"Bruder, Bruder!" jammerte die Frau.--Doch schon lag der Knabe wimmernd
drunten auf dem Treppenabsatz. Die Mutter sprang ihm nach und nahm ihn
sanft auf ihren Arm; dann aber richtete sie sich hoch auf, und den
blutenden Kopf des Kindes an ihrer Brust, erhob sie die geballte Faust
gegen ihren Bruder, der zwischen seinen spinnenden Katzen droben am
Treppengeländer stand: "Verruchter, böser Mann!" rief sie. "Mögest du
verkommen bei deinen Bestien!"

"Fluche, so viel du Lust hast!" erwiderte der Bruder; "aber mach, daß du
aus dem Haus kommst."

Dann, während das Weib mit dem weinenden Knaben die dunklen Treppen
hinabstieg, lockte er seine Katzen und klappte die Stubentür hinter sich
zu.--Er bedachte nicht, daß die Flüche der Armen gefährlich sind, wenn die
Hartherzigkeit der Reichen sie hervorgerufen hat.

Einige Tage später trat Frau Anken, wie gewöhnlich, mit dem Mittagessen in
die Stube ihres Herrn. Aber sie kniff heute noch mehr als sonst mit den
dünnen Lippen, und ihre kleinen blöden Augen leuchteten vor Vergnügen.
Denn sie hatte die harten Worte nicht vergessen, die sie wegen ihrer
Nachlässigkeit an jenem Abend hatte hinnehmen müssen, und sie dachte sie
ihm jetzt mit Zinsen wieder heimzuzahlen.

"Habt Ihr's denn auf St. Magdalenen läuten hören?" fragte sie.

"Nein", erwiderte Herr Bulemann kurz, der über seinen Zahlentafeln saß.

"Wißt Ihr denn wohl, wofür es geläutet hat?" fragte die Alte weiter.

"Dummes Geschwätz! Ich höre nicht nach dem Gebimmel."

"Es war aber doch für Euern Schwestersohn!"

Herr Bulemann legte die Feder hin. "Was schwatzest du, Alte?"

"Ich sage", erwiderte sie, "daß sie soeben den kleinen Christoph begraben
haben."

Herr Bulemann schrieb schon wieder weiter. "Warum erzählst du mir das?
Was geht mich der Junge an?"

"Nun, ich dachte nur; man erzählt ja wohl, was Neues in der Stadt passiert."

Als sie gegangen war, legte aber doch Herr Bulemann die Feder wieder fort
und schritt, die Hände auf dem Rücken, eine lange Zeit in seinem Zimmer
auf und ab. Wenn unten auf der Gasse ein Geräusch entstand, trat er
hastig ans Fenster, als erwarte er schon den Stadtdiener eintreten zu
sehen, der ihn wegen der Mißhandlung des Knaben vor den Rat zitieren solle.
Der schwarze Graps, der mauzend seinen Anteil an der aufgetragenen
Speise verlangte, erhielt einen Fußtritt, daß er schreiend in die Ecke
flog. Aber, war es nun der Hunger, oder hatte sich unversehens die sonst
so unterwürfige Natur des Tieres verändert, er wandte sich gegen seinen
Herrn und fuhr fauchend und prustend auf ihn los. Herr Bulemann gab ihm
einen zweiten Fußtritt. "Freßt", sagte er. "Ihr braucht nicht auf mich
zu warten."

Mit einem Satz waren die beiden Katzen an der vollen Schüssel, die er
ihnen auf den Fußboden gesetzt hatte.

Dann aber geschah etwas Seltsames.

Als der gelbe Schnores, der zuerst seine Mahlzeit beendet hatte, nun in
der Mitte des Zimmers stand, sich reckte und buckelte, blieb Herr Bulemann
plötzlich vor ihm stehen; dann ging er um das Tier herum und betrachtete
es von allen Seiten. "Schnores, alter Halunke, was ist denn das?" sagte
er, den Kopf des Katers kraulend. "Du bist ja noch gewachsen in deinen
alten Tagen!"

In diesem Augenblick war auch die andere Katze hinzugesprungen. Sie
sträubte ihren glänzenden Pelz und stand dann hoch auf ihren schwarzen
Beinen. Herr Bulemann schob sich die bunte Zipfelmütze aus der Stirn.
"Auch der!" murmelte er. "Seltsam, es muß in der Sorte liegen."

Es war indes dämmerig geworden, und da niemand kam und ihn beunruhigte, so
setzte er sich zu den Schüsseln, die auf dem Tisch standen. Endlich
begann er sogar seine großen Katzen, die neben ihm auf dem Kanapee saßen,
mit einem gewissen Behagen zu beschauen. "Ein paar stattliche Burschen
seid ihr!" sagte er, ihnen zunickend. "Nun soll euch das alte Weib unten
auch die Ratten nicht mehr vergiften!"--Als er aber abends nebenan in
seine Schlafkammer ging, ließ er sie nicht, wie sonst, zu sich herein; und
als er sie nachts mit den Pfoten gegen die Kammertür fallen und mauzend
daran herunterrutschen hörte, zog er sich das Deckbett über beide Ohren
und dachte: "Mauzt nur zu, ich habe eure Krallen gesehen."-Dann kam der
andere Tag, und als es Mittag geworden, geschah dasselbe, was tags zuvor
geschehen war. Von der geleerten Schüssel sprangen die Katzen mit einem
schweren Satz mitten ins Zimmer herein, reckten und streckten sich; und
als Herr Bulemann, der schon wieder über seinen Zahlentafeln saß, einen
Blick zu ihnen hinüberwarf, stieß er entsetzt seinen Drehstuhl zurück und
blieb mit ausgerecktem Halse stehen. Dort mit leisem Winseln, als wenn
ihnen etwas Böses angetan würde, standen Graps und Schnores zitternd mit
geringelten Schwänzen, das Haar gesträubt; er sah es deutlich, sie dehnten
sich, sie wurden groß und größer. Noch einen Augenblick stand er, die
Hände an den Tisch geklammert; dann plötzlich schritt er an den Tieren
vorbei und riß die Stubentür auf. "Frau Anken, Frau Anken!" rief er, und
da sie nicht gleich zu hören schien, tat er einen Pfiff auf seinen Fingern,
und bald schlurfte auch die Alte unten aus dem Hinterhaus hervor und
keuchte eine Treppe nach der andern herauf.

"Sehen Sie sich einmal die Katzen an!" rief er, als sie ins Zimmer
getreten war.

"Die hab? ich schon oft gesehen, Herr Bulemann."

"Sieht Sie daran denn nichts?"

"Daß ich nicht wüßte, Herr Bulemann!" erwiderte sie, mit ihren blöden
Augen um sich blinzelnd.

"Was sind denn das für Tiere? Das sind ja gar keine Katzen mehr!"

Er packte die Alte an den Armen und rannte sie gegen die Wand.

"Rotäugige Hexe!" schrie er, "bekenne, was hast du meinen Katzen
eingebraut!"

Das Weib klammerte ihre knöchernen Hände ineinander und begann
unverständliche Gebete herzuplappern. Aber die furchtbaren Katzen
sprangen von rechts und links auf die Schultern ihres Herrn und leckten
ihn mit ihren scharfen Zungen ins Gesicht. Da mußte er die Alte loslassen.

Fortwährend plappernd und hüstelnd schlich sie aus dem Zimmer und kroch
die Treppen hinab. Sie war wie verwirrt; sie fürchtete sich, ob mehr vor
ihrem Herrn oder vor den großen Katzen, das wußte sie selber nicht. So
kam sie hinten in ihre Kammer. Mit zitternden Händen holte sie einen mit
Geld gefällten Strumpf aus ihrem Bett hervor; dann nahm sie aus einer Lade
eine Anzahl alter Röcke und Lumpen und wickelte sie um ihren Schatz herum,
so daß es endlich ein großes Bündel gab. Denn sie wollte fort, um jeden
Preis fort; sie dachte an die arme Halbschwester ihres Herrn draußen in
der Vorstadt; die war immer freundlich gegen sie gewesen, zu der wollte
sie. Freilich, es war ein weiter Weg, durch viele Gassen, über viele
schmale und lange Brücken, welche über dunkle Gräben und Flethen
hinwegführten, und draußen dämmerte schon der Winterabend. Es trieb sie
dennoch fort. Ohne an ihre Tausende von Weizenbrötchen zu denken, die sie
in kindischer Fürsorge in den großen Nußbaumschränken aufgehäuft hatte,
trat sie mit ihrem schweren Bündel auf dem Nacken aus dem Hause.
Sorgfältig mit dem großen krausen Schlüssel verschloß sie die schwere
eichene Tür, steckte ihn in ihre Ledertasche und ging dann keuchend in die
finstere Stadt hinaus.

Frau Anken ist niemals wiedergekommen, und die Tür von Bulemanns Haus ist
niemals wieder aufgeschlossen worden.

Noch an demselben Tag aber, da sie fortgegangen, hat ein junger
Taugenichts, der den Knecht Ruprecht spielend in den Häusern umherlief,
mit Lachen seinen Kameraden erzählt, da er in seinem rauhen Pelze über die
Crescentiusbrücke gegangen sei, habe er ein altes Weib dermaßen erschreckt,
daß sie mit ihrem Bündel wie toll in das schwarze Wasser hinabgesprungen
sei.

Auch ist in der Frühe des andern Tages in der äußersten Vorstadt die
Leiche eines alten Weibes, welche an einem großen Bündel festgebunden war,
von den Wächtern aufgefischt und bald darauf, da niemand sie gekannt hat,
auf dem Armenviertel des dortigen Kirchhofs in einem platten Sarge
eingegraben worden.

Dieser andere Morgen war der Morgen des Weihnachtsabends.

Herr Bulemann hatte eine schlechte Nacht gehabt; das Kratzen und Arbeiten
der Tiere gegen seine Kammertür hatte ihm diesmal keine Ruhe gelassen;
erst gegen die Morgendämmerung war er in einen langen, bleiernen Schlaf
gefallen. Als er endlich seinen Kopf mit der Zipfelmütze in das
Wohnzimmer hineinsteckte, sah er die beiden Katzen laut schnurrend mit
unruhigen Schritten umeinander hergehen. Es war schon nachmittag; die
Wanduhr zeigte auf eins.

"Sie werden Hunger haben, die Bestien", murmelte er. Dann öffnete er die
Tür nach dem Flur und pfiff nach der Alten. Zugleich aber drängten die
Katzen sich hinaus und rannten die Treppe hinab, und bald hörte er von
unten aus der Küche herauf Springen und Tellergeklapper. Sie mußten auf
den Schrank gesprungen sein, auf den Frau Anken die Speisen für den andern
Tag zurückzusetzen pflegte.

Herr Bulemann stand oben an der Treppe und rief laut und scheltend nach
der Alten; aber nur das Schweigen antwortete ihm oder von unten herauf aus
den Winkeln des alten Hauses ein schwacher Widerhall. Schon schlug er die
Schöße seines geblümten Schlafrocks übereinander und wollte selbst
hinabsteigen, da polterte es drunten auf den Stiegen, und die beiden
Katzen kamen wieder heraufgerannt. Aber das waren keine Katzen mehr; das
waren zwei furchtbare, namenlose Raubtiere. Die stellten sich gegen ihn,
sahen ihn mit ihren glimmenden Augen an und stießen ein heiseres Geheul
aus. Er wollte an ihnen vorbei, aber ein Schlag mit der Tatze, der ihm
einen Fetzen aus dein Schlafrock riß, trieb ihn zurück. Er lief ins
Zimmer; er wollte ein Fenster aufreißen, um die Menschen auf der Gasse
anzurufen; aber die Katzen sprangen hintendrein und kamen ihm zuvor.
Grimmig schnurrend, mit erhobenem Schweif, wanderten sie vor den Fenstern
auf und ab. Herr Bulemann rannte auf den Flur hinaus und warf die
Zimmertür hinter sich zu; aber die Katzen schlugen mit der Tatze auf die
Klinke und standen schon vor ihm an der Treppe.

Wieder floh er ins Zimmer zurück, und wieder waren die Katzen da. Schon
verschwand der Tag, und die Dunkelheit kroch in alle Ecken. Tief unten
von der Gasse herauf hörte er Gesang; Knaben und Mädchen zogen von Haus zu
Haus und sangen Weihnachtslieder. Sie gingen in alle Türen; er stand und
horchte. Kam denn niemand in seine Tür?--Aber er wußte es ja, er hatte
sie selber alle fortgetrieben; es klopfte niemand, es rüttelte niemand an
der verschlossenen Haustür. Sie zogen vorüber; und allmählich war es
still, totenstill auf der Gasse. Und wieder suchte er zu entrinnen; er
wollte Gewalt anwenden; er rang mit den Tieren, er ließ sich Gesicht und
Hände blutig reißen. Dann wieder wandte er sich zur List; er rief sie mit
den alten Schmeichelnamen, er strich ihnen die Funken aus dem Pelz und
wagte es sogar, ihren flachen Kopf mit den großen weißen Zähnen zu kraulen.
Sie warfen sich auch vor ihm hin und wälzten sich schnurrend zu seinen
Füßen; aber wenn er den rechten Augenblick gekommen glaubte und aus der
Tür schlüpfte, so sprangen sie auf und standen, ihr heiseres Geheul
ausstoßend, vor ihm.--So verging die Nacht, so kam der Tag, und noch immer
rannte er zwischen der Treppe und den Fenstern seines Zimmers hin und her,
die Hände ringend, keuchend, das graue Haar zerzaust.

Und noch zwei Mal wechselten Tag und Nacht; da endlich warf er sich
gänzlich erschöpft, an allen Gliedern zuckend, auf das Kanapee. Die
Katzen setzten sich ihm gegenüber und blinzelten ihn schläfrig aus
halbgeschlossenen Augen an. Allmählich wurde das Arbeiten seines Leibes
weniger und endlich hörte es ganz auf. Eine fahle Blässe überzog unter
den Stoppeln des grauen Bartes sein Gesicht; noch einmal aufseufzend,
streckte er die Arme und spreizte die langen Finger über die Kniee; dann
regte er sich nicht mehr.

Unten in den öden Räumen war es indessen nicht ruhig gewesen. Draußen an
der Tür des Hinterhauses, die auf den engen Hof hinausführt, geschah ein
emsiges Nagen und Fressen. Endlich entstand über der Schwelle eine
Öffnung, die größer und größer wurde; ein grauer Mauskopf drängte sich
hindurch, dann noch einer, und bald huschte eine ganze Schar von Mäusen
über den Flur und die Treppe hinauf in den ersten Stock. Hier begann das
Arbeiten aufs neue an der Zimmertür, und als diese durchnagt war, kamen
die großen Schränke daran, in denen Frau Ankens hinterlassene Schätze
aufgespeichert lagen. Da war ein Leben wie im Schlaraffenland; wer durch
wollte, mußte sich durchfressen. Und das Geziefer füllte sich den Wanst;
und wenn es mit dem Fressen nicht mehr fort wollte, rollte es die Schwänze
auf und hielt sein Schläfchen in den hohlgefressenen Weizenbrötchen.
Nachts kamen sie hervor, huschten über die Dielen oder saßen, ihre
Pfötchen leckend, vor dem Fenster und schauten, wenn der Mond schien, mit
ihren kleinen blanken Augen in die Gasse hinab.

Aber diese behagliche Wirtschaft sollte bald ihr Ende erreichen. In der
dritten Nacht, als eben droben Herr Bulemann seine Augen zugetan hatte,
polterte es draußen auf den Stiegen. Die großen Katzen kamen
herabgesprungen, öffneten mit einem Schlag ihrer Tatze die Tür des Zimmers
und begannen ihre Jagd. Da hatte alle Herrlichkeit ein Ende. Quieksend
und pfeifend rannten die fetten Mäuse umher und strebten ratlos an den
Wänden hinauf. Es war vergebens; sie verstummten eine nach der andern
zwischen den zermalmenden Zähnen der beiden Raubtiere.

Dann wurde es still, und bald war in dem ganzen Haus nichts vernehmbar als
das leise Spinnen der großen Katzen, die mit ausgestreckten Tatzen droben
vor dem Zimmer ihres Herrn lagen und sich das Blut aus den Bärten leckten.

Unten in der Haustür verrostete das Schloß, den Messingklopfer überzog der
Grünspan, und zwischen den Treppensteinen begann das Gras zu wachsen.

Draußen aber ging die Welt unbekümmert ihren Gang. Als der Sommer
gekommen war, stand auf dem St. Magdalenenkirchhof auf dem Grab des
kleinen Christoph ein blühender weißer Rosenbusch; und bald lag auch ein
kleiner Denkstein unter demselben. Den Rosenbusch hatte seine Mutter ihm
gepflanzt; den Stein freilich hatte sie nicht beschaffen können. Aber
Christoph hatte einen Freund gehabt; es war ein junger Musikus, der Sohn
eines Trödlers, der in dem Haus ihnen gegenüber wohnte. Zuerst hatte er
sich unter sein Fenster geschlichen, wenn der Musiker drinnen am Klavier
saß; später hatte dieser ihn zuweilen in die Magdalenenkirche genommen, wo
er sich nachmittags im Orgelspiel zu üben pflegte.

Da saß denn der blasse Knabe auf einem Schemelchen zu seinen Füßen, lehnte
lauschend den Kopf an die Orgelbank und sah, wie die Sonnenlichter durch
die Kirchenfenster spielten. Wenn der junge Musikus dann, von der
Verarbeitung seines Themas fortgerissen, die tiefen mächtigen Register
durch die Gewölbe brausen ließ, oder wenn er mitunter den Tremulanten zog
und die Töne wie zitternd vor der Majestät Gottes dahinfluteten, so konnte
es wohl geschehen, daß der Knabe in stilles Schluchzen ausbrach und sein
Freund ihn nur schwer zu beruhigen vermochte. Einmal auch sagte er
bittend: "Es tut mir weh, Leberecht; spiele nicht so laut!"

Der Orgelspieler schob auch sogleich die großen Register wieder ein und
nahm die Flöten- und andere sanfte Stimmen; und süß und ergreifend schwoll
das Lieblingslied des Knaben durch die stille Kirche: "Befiehl du deine
Wege."

Leise mit seiner kränklichen Stimme hub er an mitzusingen. "Ich will auch
spielen lernen", sagte er, als die Orgel schwieg; "willst du mich es
lehren, Leberecht?"

Der junge Musikus ließ seine Hand auf den Kopf des Knaben fallen, und ihm
das gelbe Haar streichelnd, erwiderte er: "Werde nur erst recht gesund,
Christoph; dann will ich dir es gerne lehren."

Aber Christoph war nicht gesund geworden.--Seinem kleinen Sarg folgte
neben der Mutter auch der junge Orgelspieler. Sie sprachen hier zum
ersten Mal zusammen; und die Mutter erzählte ihm jenen dreimal geträumten
Traum von dem kleinen silbernen Erbbecher.

"Den Becher", sagte Leberecht, "hätte ich Euch geben können; mein Vater,
der ihn vor Jahren mit vielen andern Dingen von Euerm Bruder erhandelte,
hat mir das zierliche Stück einmal als Weihnachtsgeschenk gegeben."

Die Frau brach in die bittersten Klagen aus. "Ach", rief sie immer wieder,
"er wäre ja gewiß gesund geworden!"

Der junge Mann ging eine Weile schweigend neben ihr her. "Den Becher soll
unser Christoph dennoch haben", sagte er endlich.

Und so geschah es. Nach einigen Tagen hatte er den Becher an einen
Sammler solcher Pretiosen um einen guten Preis verhandelt; von dem Geld
aber ließ er den Denkstein für das Grab des kleinen Christoph machen. Er
ließ eine Marmortafel darin einlegen, auf welcher das Bild des Bechers
ausgemeißelt wurde. Darunter standen die Worte eingegraben: "Zur
Gesundheit!"

Noch viele Jahre hindurch, mochte der Schnee auf dem Grab liegen oder
mochte in der Junisonne der Busch mit Rosen überschüttet sein, kam oft
eine blasse Frau und las andächtig und sinnend die beiden Worte auf dem
Grabstein.

Dann eines Sommers ist sie nicht mehr gekommen; aber die Welt ging
unbekümmert ihren Gang.

Nur noch einmal, nach vielen Jahren, hat ein sehr alter Mann das Grab
besucht, er hat sich den kleinen Denkstein angesehen und eine weiße Rose
von dem alten Rosenbusch gebrochen. Das ist der emiritierte Organist von
St. Magdalenen gewesen.

Aber wir müssen das friedliche Kindergrab verlassen und, wenn der Bericht
zu Ende geführt werden soll, drüben in der Stadt noch einen Blick in das
alte Erkerhaus der Düsternstraße werfen.

Noch immer stand es schweigend und verschlossen. Während draußen das
Leben unablässig daran vorüberflutete, wucherte drinnen in den
eingeschlossenen Räumen der Schwamm aus den Dielenritzen, löste sich der
Gips an den Decken und stürzte herab, in einsamen Nächten ein unheimliches
Echo über Flur und Stiege jagend. Die Kinder, welche an jenem Christabend
auf der Straße gesungen hatten, wohnten jetzt als alte Leute in den
Häusern, oder sie hatten ihr Leben schon abgetan und waren gestorben; die
Menschen, die jetzt auf der Gasse gingen, trugen andere Gewänder, und
draußen auf dem Vorstadtskirchhof war der schwarze Nummerpfahl auf Frau
Ankens namenlosen Grab schon längst verfault. Da schien eines nachts
wieder einmal, wie schon so oft, über das Nachbarhaus hinweg der Vollmond
in das Erkerfenster des dritten Stockwerks und malte mit seinem bläulichen
Licht die kleinen runden Scheiben auf den Fußboden. Das Zimmer war leer;
nur auf dem Kanapee zusammengekauert saß eine kleine Gestalt von der Größe
eines jährigen Kindes, aber das Gesicht war alt und bärtig und die magere
Nase unverhältnismäßig groß; auch trug sie eine weit über die Ohren
fallende Zipfelmütze und einen langen, augenscheinlich für einen
ausgewachsenen Mann bestimmten Schlafrock, auf dessen Schoß sie die Füße
heraufgezogen hatte.

Diese Gestalt war Herr Bulemann.--Der Hunger hatte ihn nicht getötet, aber
durch den Mangel an Nahrung war sein Leib verdorrt und eingeschwunden, und
so war er im Laufe der Jahre kleiner und kleiner geworden. Mitunter in
Vollmondnächten, wie dieser, war er erwacht und hatte, wenn auch mit immer
schwächerer Kraft, seinen Wächtern zu entrinnen gesucht. War er von den
vergeblichen Anstrengungen erschöpft aufs Kanapee gesunken oder zuletzt
hinaufgekrochen, und hatte dann der bleierne Schlaf ihn wieder befallen,
so streckten Graps und Schnores sich draußen vor der Treppe hin,
peitschten mit ihrem Schweif den Boden und horchten, ob Frau Ankens
Schätze neue Wanderzüge von Mäusen in das Haus gelockt hätten.

Heute war es anders; die Katzen waren weder im Zimmer noch draußen auf dem
Flur. Als das durch das Fenster fallende Mondlicht über den Fußboden weg
und allmählich an der kleinen Gestalt hinaufrückte, begann sie sich zu
regen; die großen runden Augen öffneten sich, und Herr Bulemann starrte in
das leere Zimmer hinaus. Nach einer Weile rutschte er, die langen Ärmel
mühsam zurückschlagend, von dem Canapee herab und schritt langsam der Tür
zu, während die breite Schleppe des Schlafrocks hinter ihm herfegte. Auf
den Fußspitzen nach der Klinke greifend, gelang es ihm, die Stubentür zu
öffnen und draußen bis an das Geländer der Treppe vorzuschreiten. Eine
Weile blieb er keuchend stehen; dann streckte er den Kopf vor und bemühte
sich zu rufen: "Frau Anken, Frau Anken!" Aber seine Stimme war nur wie das
Wispern eines kranken Kindes. "Frau Anken, mich hungert; so hören Sie
doch!"

Alles blieb still; nur die Mäuse quieksten jetzt heftig in den unteren
Zimmern.

Da wurde er zornig. "Hexe, verfluchte, was pfeift Sie denn?" Und ein
Schwall unverständlich geflüsterter Schimpfworte sprudelte aus seinem Mund,
bis ein Stickhusten ihn befiel und seine Zunge lähmte.

Draußen, unten an der Haustür, wurde der schwarze Messingklopfer
angeschlagen, daß der Hall bis in die Spitze des Hauses hinaufdrang. Es
mochte jener nächtliche Geselle sein, von dem im Anfang dieser Geschichte
die Rede gewesen ist.

Herr Bulemann hatte sich wieder erholt. "So öffnen Sie doch!" wisperte er;
"es ist der Knabe, der Christoph; er will den Becher holen."

Plötzlich wurden von unten herauf zwischen dem Pfeifen der Mäuse die
Sprünge und das Knurren der beiden großen Katzen vernehmbar. Er schien
sich zu besinnen; zum ersten Mal bei seinem Erwachen hatten sie das
oberste Stockwerk verlassen und ließen ihn gewähren.--Hastig, den langen
Schlafrock nach sich schleppend, stapfte er in das Zimmer zurück.

Draußen aus der Tiefe der Gasse hörte er den Wächter rufen.

"Ein Mensch, ein Mensch!" murmelte er; "die Nacht ist so lang, so viel Mal
bin ich aufgewacht, und noch immer scheint der Mond."

Er kletterte auf den Polsterstuhl, der in dem Erkerfenster stand. Emsig
arbeitete er mit den kleinen dürren Händen an dem Fensterhaken; denn
drunten auf der mondhellen Gasse hatte er den Wächter stehen sehen. Aber
die Haspen waren festgerostet; er bemühte sich vergebens, sie zu öffnen.
Da sah er den Mann, der eine Weile hinaufgestarrt hatte, in den Schatten
der Häuser zurücktreten.

Ein schwacher Schrei brach aus seinem Mund; zitternd mit geballten Fäusten
schlug er gegen die Fensterscheiben; aber seine Kraft reichte nicht aus,
sie zu zertrümmern. Nun begann er Bitten und Versprechungen durcheinander
zu wispern; allmählich, während die Gestalt des unten gehenden Mannes sich
immer mehr entfernte, wurde sein Flüstern zu einem erstickten heisern
Gekrächze; er wollte seine Schätze mit ihm teilen, wenn er nur hören
wollte; er sollte alles haben, er selber wollte nichts, gar nichts für
sich behalten; nur den Becher, der sei das Eigentum des kleinen Christoph.

Aber der Mann ging unten unbekümmert seinen Gang, und bald war er in einer
Nebengasse verschwunden.--Von allen Worten, die Herr Bulemann in jener
Nacht gesprochen, ist keines von einer Menschenseele gehört worden.

Endlich nach aller vergeblichen Anstrengung kauerte sich die kleine
Gestalt auf dem Polsterstuhl zusammen, rückte die Zipfelmütze zurecht und
schaute, unverständliche Worte murmelnd, in den leeren Nachthimmel hinauf.


Ende dieses Projekt Gutenberg Etextes Bulemanns Haus, von Theodor Storm.







End of the Project Gutenberg EBook of Bulemanns Haus, by Theodor Storm

*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK BULEMANNS HAUS ***

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