Auf dem Staatshof

By Theodor Storm

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Title: Auf dem Staatshof

Author: Theodor Storm

Release Date: September, 2005  [EBook #8927]
[This file was first posted on August 25, 2003]

Edition: 10

Language: German


*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK, AUF DEM STAATSHOF ***




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Auf dem Staatshof

Theodor Storm



Ich kann nur einzelnes sagen; nur was geschehen, nicht, wie es geschehen
ist; ich weiß nicht, wie es zu Ende ging, und ob es eine Tat war oder nur
ein Ereignis, wodurch das Ende herbeigefÜhrt wurde.  Aber wie es die
Erinnerung mir tropfenweise hergibt, so will ich es erzÄhlen.



Die kleine Stadt, in der meine Eltern wohnten, lag hart an der Grenze der
Marschlandschaft, die bis ans Meer mehrere Meilen weit ihre grasreiche
Ebene ausdehnt.  Aus dem Nordertor führt die Landschaft eine Viertelstunde
Weges zu einem Kirchdorf, das mit seinen Bäumen und Strohdächern weithin
auf der ungeheueren Wiesenfläche sichtbar ist.  Seitwärts von der Straße,
hinter dem weiß getünchten Pastorate, geht quer durchs Land ein Fußsteig
über die Fennen, wie hier die einzelnen, fast nur zur Viehweide benutzten
Landflächen genannt werden; von einem Heck zum andern, aber auf schmalem
Steg über die Gräben, durch welche die Fennen voneinander geschieden sind.

Hier bin ich in meiner Jugend oft gegangen; ich mit einer andern.  Ich
sehe noch das Gras im Sonnenscheine funkeln und fernab um uns her die
zerstreuten GehÖfte mit ihren weißen Gebäuden in der klaren Sommerluft.
Die schweren Rinder, welche wiederkäuend neben dem Fußsteige lagen,
standen auf, wenn wir vorübergingen, und gaben uns das Geleite bis zum
nächsten Heck; mitunter in den Trinkgruben erhob ein Ochse seine breite
Stirn und brüllte weit in die Landschaft hinaus.

Zu Ende des Weges, der fast eine halbe Stunde dauert, unter einer düstern
Baumgruppe von Rüstern und Silberpappeln, wie sie kein andres Besitztum
dieser Gegend aufzuweisen hat, lag der "Staatshof".  Das Haus war auf
einer mäßig hohen Werfte nach der Weise des Landes gebaut, eine sogenannte
Heuberg, in welcher die Wohnungs- und Wirtschaftsräume unter einem Dache
vereinigt sind; aber die Graft, welche sich ringsumher zog, war besonders
breit und tief, und der weitläufige Garten, der innerhalb derselben die
Gebäude umgab, war vorzeiten mit patrizischem Luxus angelegt.

Das Gehöfte war einst neben vielen andern in Besitz der nun gänzlich
ausgestorbenen Familie van der Roden, aus der während der beiden letzten
Jahrhunderte eine Reihe von Pfennigmeistern und Ratmännern der Landschaft
und Bürgermeistern meiner Vaterstadt hervorgegangen sind.--Neunzig Höfe,
so hieß es, hatten sie gehabt und sich im Übermut vermessen, das Hundert
voll zu machen.  Aber die Zeiten waren umgeschlagen; es war unrecht Gut
dazwischengekommen, sagten die Leute; der liebe Gott hatte sich ins Mittel
gelegt, und ein Hof nach dem andern war in fremde Hände übergegangen.  Zur
Zeit, wo meine Erinnerung beginnt, war nur der Staatshof noch im Eigentum
der Familie, von dieser selbst aber niemand übriggeblieben als die
alternde Besitzerin und ein kaum vierjähriges Kind, die Tochter eines früh
verstorbenen Sohnes.  Der letzte männliche Sprosse war als
fünfzehnjähriger Knabe auf eine gewaltsame Weise ums Leben gekommen; auf
der Fenne eines benachbarten Hofbesitzers hatte er ein einjähriges Füllen
ohne Zaum und Halfter bestiegen, war dabei von dem scheuen Tier in die
Trinkgrube gestürzt und ertrunken.

Mein Vater war der geschäftliche Beistand der alten Frau Ratmann van der
Roden.--Gehe ich rückwärts mit meinen Gedanken und suche nach den Plätzen,
die von der Erinnerung noch ein spärliches Licht empfangen, so sehe ich
mich als etwa vierjährigen Knaben mit meinen beiden Eltern auf einem
offenen Wagen über den ebenen Marschweg dahinfahren; ich fühle plötzlich
den Sonnenschein mit einem kühlen Schatten wechseln, der an der einen
Seite von ungeheuren Bäumen auf den Weg hinausfällt; und während ich
meinen kleinen Kopf über die Lehne des Wagenstuhle recke, um den breiten
Graben zu sehen, der sich neben den Bäumen hinzieht, biegen wir gerade in
die Schatten hinein und durch ein offenstehendes Gittertor.  Ein großer
Hund fährt wie rasend an der Kette aus seinem beweglichen Hause auf uns zu;
wir aber kutschieren mit einem Peitschenknall auf den Hof hinauf bis vor
die Haustür, und ich sehe eine alte Frau im grauen Kleide, mit einem
feinen blassen Gesicht und mit besonders weißer Fräse auf der Schwelle
stehen, während Knecht und Magd eine Leiter an den Wagen legen und uns zur
Erde helfen.  Noch rieche ich auf dem dunkeln Hausflur den strengen Duft
der Alantwurzel, womit die Marschbewohner zur Abwehr der Mücken
allabendlich zu räuchern pflegen; ich sehe auch noch meinen Vater der
alten Dame die Hand küssen; dann aber verläßt mich die Erinnerung, und ich
finde mich erst nach einigen Stunden wieder, auf Heu gebettet, eine warme
sommerliche Dämmerung um mich her.  Ich sehe an den aus Heu und Korngarben
gebildeten Wänden empor, die um mich her zwischen vier großen Ständern in
die Höhe ragen, so hoch, daß der Blick durch ein wüstes Dunkel hindurch
muß, bis er aufs neue in eine matte Dämmerung gelangt, die zwischen
zahllosen Spinngeweben aus einem Dachfensterchen hereinfällt.  Es ist das
sogenannte Vierkant, worin ich mich befinde.  Der zum Bergen des Heues
bestimmte Raum im Innern des Hauses, wovon das Hofgebäude in unsern
Marschen die eigentümlich hohe Bildung des Daches und seinen Namen
"Heuberg" oder "Hauberg" erhalten hat.--Es ist volle Sonntagsstille um
mich her.  Aber ich bin hier nicht allein; in der gedämpften Helligkeit,
die durch die offene Seitenwand aus der angrenzenden Loodiele hereinfällt,
steht ein Mädchen meines Alters; die blonden Härchen fallen über ein
blaues Blusenkleid.  Sie streckt ihre kleinen Fäuste über mir aus und
bestreut mich mit Heu; sie ist sehr eifrig, sie stöhnt und bückt sich
wieder und wieder.  "So", sagt sie endlich und atmet dabei aus
Herzensgrunde, "so, nun bist du bald begraben!" Und wie ich eine Weile
regungslos daliege, sehe ich durch die lose mich bedeckenden Halme, wie
sie ihr Köpfchen zu mir niederbeugt, und wie sie dann plötzlich kehrtmacht
und sich zu einer alten Bäuerin hinarbeitet, die mit einem Strickstrumpf
in der Hand uns gegenübersitzt.  "Wieb", sagt sie, indem sie der Alten die
Hand von der Wange zieht, "Wieb, ist er tot?"

Was die Alte darauf geantwortet, dessen entsinne ich mich nicht mehr; wohl
aber, daß wir bald darauf durch einen dunkeln Gang auf den Hausflur und
von dort eine breite Treppe hinauf in die obern Räume des Hauses geführt
wurden, in ein großes Zimmer mit goldgeblümten Tapeten, in welchem viele
Bilder von alten weiß gepuderten Männern und Frauen an den Wänden hingen.
Meine Eltern und die übrigen Gäste sind eben von einer gedeckten Tafel
aufgestanden, die sich mitten im Zimmer unter einer großen Kristallkrone
befindet.  Bald sitze ich, in eine Serviette geknüpft, der kleinen Anne
Lene gegenüber; Wieb steht dabei und serviert uns von den Resten.  Ich
befinde mich sehr wohl; nur zuweilen stört mich ein Krächzen, das aus der
Ferne zu uns herüberdringt.  "Höre!" sage ich und hebe meine kleinen
Finger auf.  Die alte Wieb aber kennt das schon lange.  "Das sind die
Raben", sagt sie, "sie sitzen im Baumgarten, wir wollen sie nachher
besuchen."--Aber ich vergesse die Raben wieder; denn Wieb teilt zum
Dessert noch die Zuckertauben von einer Konditortorte zwischen uns; nur
scheint es nicht ganz unparteiisch herzugehen, denn Anne Lene erhält immer
die Hahnenschwänze und die Kragentauben.

Etwas später sehe ich die Gesellschaft auf den geschlungenen Gartenwegen
zwischen den blühenden Büschen promenieren; die alte Dame mit der Fräse,
welche am Arme meines Vaters geht, beugt sich zu mir niedere und sagt,
indem sie mir den Kopf aufrichtet: "Du muß dich immer hübsch gerade halten,
Kind!" Ich glaube noch jetzt, daß von dieser kleinen Ermahnung sich der
fast scheue Respekt her schreibt, den ich, solange sie lebte, vor dieser
Frau behalten habe.--Doch schon faßt Wieb mich bei der Hand und führt uns
weit umher auf den sonnigen Steigen; zuletzt bis zur Graft hinunter, an
der ein gerader Steig entlang führt.  So gelangen wir zu einem
Gartenpavillon, in welchem die Gesellschaft bei offenen Türen am
Kaffeetische sitzt.  Wir werden hereingerufen, und da ich zögere, nimmt
meine Mutter einen Zuckerkringel aus dem silbernen Kuchenkorb und zeigt
mir den.  Aber ich fürchte mich; ich habe gesehen, daß das hölzerne Haus
auf dünnen Pfählen über dem Wasser steht; bis endlich doch die
vorgehaltene Lockspeise und die bunten Schäferbilder, die drinnen auf die
Wände gemalt sind, mich bewegen, hineinzutreten.

Mir ist, als hätte ich es mit einem besonders angenehmen Gefühl mit
angesehen, wie Anne Lene von meiner Mutter auf den Schoß genommen und
geküßt wurde.  Späterhin mögen die Männer, wie es dort gebräuchlich ist,
zur Besichtigung der Rinder auf das Land hinausgegangen sein; denn ich
habe die Erinnerung, als sei bald eine Stille um mich gewesen, in der ich
nur die sanfte Stimme meiner Mutter und andre Frauenstimmen hörte.  Anne
Lene und ich spielten unter dem Tische zu ihren Füßen; wir legten den Kopf
auf den Fußboden und horchten nach dem Wasser hinunter.  Zuweilen hörten
wir es plätschern; dann hob Anne Lene ihr Köpfchen und sagte: "Hörst du,
das tut der Fisch!" Endlich gingen wir ins Haus zurück; es war kühl, und
ich sah die Büsche des Gartens alle im Schatten stehen.  Dann fuhr der
Wagen vor; und in dem Schlummer, der mich schon unterwegs überkam, endete
dieser Tag, von dem ich bei ruhigem Nachsinnen nicht außer Zweifel bin, ob
er ganz in der erzählten Weise jemals dagewesen, oder ob nur meine
Phantasie die zerstreuten Vorfälle verschiedener Tage in diesen einen
Rahmen zusammengedrängt hat.



Späterhin, als sich allmählich die Hilfsbedürftigkeit des Alters
einstellte, zog die Frau Ratmann van der Roden mit ihrer Enkelin in die
Stadt und ließ den Hof unter der Aufsicht des früheren Bauknechtes Marten
und seiner Ehefrau, der alten Wieb.  Vor dem Hause, welches sie einige
Straßen von dem unsern entfernt bewohnte, standen granitne Pfeilersteine,
die durch schwere eiserne Ketten miteinander verbunden waren.  Wir Jungen,
wenn wir auf unserm Schulwege vorübergingen, unterließen selten, uns auf
diese Ketten zu setzen und, mit Tafel und Ranzen auf dem Rücken, einige
Male hin und her zu schaukeln.  Aber ich entsinne mich noch gar wohl, wie
wir auseinanderstoben, wenn einer von uns das Gesicht der alten Dame
hinter den Geranienbäumen am Fenster gewahrte, oder gar, wenn sie mit
einer gemessenen Bewegung den Finger gegen uns erhoben hatte.

Desungeachtet ließ ich mir gern, was öfters geschah, vom Vater eine
Bestellung an sie auftragen.  Ich weiß nicht mehr, war es das kleine
zierliche Mädchen, das mich anzog, oder war es die alte Schatulle, deren
Raritäten ich in besonders begünstigter Stunde mit ihr beschauen durfte;
die goldenen Schaumünzen, die seidenen, bunt bemalten Fächer oder oben auf
dem Aufsatz der Schatulle die beiden Pagoden von chinesischem Porzellan,
die schon vom Flur aus durch die Fenster der Stubentür meine Augen auf
sich zogen.  Am Sonnabendnachmittag stellte ich mich regelmäßig ein, um
die Frau Ratmann mit der kleinen Anne Lene zum Sonntag auf den Kaffee
einzuladen, was bis zur letzten Zeit vor ihrem Absterben ebenso regelmäßig
von ihr angenommen wurde.  Am Tage darauf präzise um drei Uhr hielt dann
die schwere Klosterkutsche vor unsrer Haustreppe; unsre Mägde hoben die
alte Dame und ihr Enkelchen aus dem Wagen, und meine Mutter führte sie in
das Festzimmer des Hauses, das schon von dem Dufte des Kaffees und des
sonntäglichen Gebäckes erfüllt war.  Wenn dann die Enveloppen und Tücher
abgelegt waren und die beiden Damen sich gegenüber an dem sauber
servierten Tische Platz genommen hatten, durften auch wir Kinder uns an
ein Nebentischchen setzen und erhielten unsern Anteil an den "Eiermahnen"
und "Bieschen", oder wie sonst die schönen Sachen heißen mochten.  Mir ist
indessen, wenn ich dieser Sonntagnachmittage gedenke, als sei ich niemals
unglücklicher in den Versuchen gewesen, meinen Kaffee aus der Ober- in die
Untertasse umzuschütten; und ich fühle noch die strengen Blicke, die mir
die alte Dame von ihrem Sitze aus hinübersandte, während meine Mutter mir
meine kleine Gespielin zum Muster aufstellte, von der ich mich nicht
entsinne, daß sie jemals beim Trinken die Serviette oder ihr weißes Kleid
befleckt hätte.

Ein solcher Sonntagnachmittag, nachdem schon einige Jahre in dieser Weise
vorübergegangen waren, ist mir besonders im Gedächtnis geblieben.--Ich
hatte mich in dem angenehmen Bewußtsein des Feiertages in unserm Hofe
umhergetrieben und war endlich in das Waschhaus gelangt, das am Ende
desselben lag.  Auch hier hatte sich der Sonntag bemerklich gemacht; die
föhrenen Tische waren gescheuert, die holländischen Klinker, womit der
Boden gepflastert war, sahen so feucht und frisch gespült aus; dabei war
eine so liebliche Kühle, daß ich mich fast gedankenlos an einen Tisch
lehnte und auf das träumerische Gackeln der Hühner lauschte, das aus dem
anstoßenden Hühnerhof zu mir hereindrang.  Nach einer Weile hörte ich
drunten im Wohnhause aus der im Erdgeschoß befindlichen Küche das
Kaffeegeschirr herauftragen, das Klirren der Tassen und Kaffeelöffel; und
endlich vernahm ich auch von der Straße her das Anfahren der Kutsche und
bald darauf das Aufschlagen der Haustür.  Aber das süße Gefühl, die
Nachmittagsfeier so ganz unangebrochen vor mir zu haben, ließ mich immer
noch zögern, ins Haus hinabzugehen.  Da vernahm ich das Summen des
Fliegenschwarms, der in der Sonne an der offenen Tür gesessen.--Anne Lene
war unbemerkt herangetreten.  Noch sehe ich sie vor mir, die kleine
leichte Gestalt, wie sie ruhig auf der Schwelle stand, den Strohhut am
Bande in der Hand hin und her schwenkend, während die Sonne auf das
goldklare Haar schien, das ihr in kleinen Locken um das Köpfchen hing.
Sie nickte mir zu, ohne weiter heranzutreten, und sagte dann: "Du solltest
hereinkommen!"

Ich kam noch nicht; meine Augen hafteten noch an dem weißen
Sommerkleidchen, an der himmelblauen Schärpe und zuletzt an einem alten
Fächer, den sie in der Hand hielt.  "Willst du nicht kommen, Marx?" fragte
sie endlich, "Großmutter hat gesagt, wir sollten einmal das Menuett wieder
miteinander üben."

Ich war es wohl zufrieden.  Wir hatte vor einigen Wochen in der Tanzschule
diese altfränkischen Künste auf den gemeinsamen Wunsch der Frau Ratmann
und meines Vaters mit besonderer Sorgfalt eingeübt.  Wir gingen also
hinein; ich machte meine Reverenz vor Anne Lenes Großmutter und trank, um
mich schon jetzt meiner zierlichen Partnerin würdig zu zeigen, meinen
Kaffee mit besonderer Behutsamkeit.  Späterhin, als mein Vater ins Zimmer
getreten war und sich mit seiner alten Freundin in geschäftliche
Angelegenheiten vertiefte, nahm meine Mutter uns mit in die
gegenüberliegende Stube und setzte sich an das aufgeschlagene Klavier.
Sie hatte den "Don Juan" aufs Tapet gelegt.  Wir traten einander gegenüber,
und ich machte mein Kompliment, wie der Tanzmeister es mich gelehrt hatte.
Meine Dame nahm es huldvoll auf, sie neigte sich höfisch, sie erhob sich
wieder, und als die Melodie erklang: "Du reizest mich vor allen;
Zerlinchen, tanz mit mir", da glitten die kleinen Füße in den
Korduanstiefelchen über den Boden, als ginge es über eine Spiegelfläche
hin.  Mit der einen Hand hielt sie den aufgeschlagenen Fächer gegen die
Brust gedrückt, während die Fingerspitzen der andern das Kleid emporhoben.
Die lächelte; das feine Gesichtchen strahlte ganz von Stolz und Anmut.
Meine Mutter, während wir hin und her schassierten, uns näherten und
verneigten, sah schon lange nicht mehr auf ihre Tasten; auch sie, wie ihr
Sohn, schien die Augen nicht abwenden zu können von der kleinen
schwebenden Gestalt, die in graziöser Gelassenheit die Touren des alten
Tanzes vor ihr ausführte.

Wir mochten auf diese Weise bis zum Trio gelangt sein, als die Stubentür
sich langsam öffnete und ein dickköpfiger Nachbarsjunge hereintrat, der
Sohn eines Schuhflickers, der mir an Werkeltagen bei meinem Räuber- und
Soldatenspiel die vortrefflichsten Dienste leistete.  "Was will der?"
fragte Anne Lene, als meine Mutter einen Augenblick innehielt.--"Ich
wollte mit Marx spielen", sagte der Junge und sah verlegen auf seine
groben Nagelschuhe.

"Setze dich nur, Simon", erwiderte meine Mutter, "bis der Tanz aus ist;
dann könnt ihr alle miteinander in den Garten gehn." Dann nickte sie zu
uns hinüber und begann das Trio zu spielen.  Ich avancierte; aber Anne
Lene kam mir nicht entgegen; sie ließ die Arme herabhängen und musterte
mit unverkennbarer Verdrossenheit den struppigen Kopf meines
Spielkameraden.

"Nun", fragte meine Mutter, "soll Simon nicht sehen, was ihr gelernt habt?"

Allein die kleine Patrizierin schien durch die Gegenwart dieser
Werkeltagserscheinung in ihrer idealen Stimmung auf eine empfindliche
Weise gestört zu sein.  Sie legte den Fächer auf den Tisch und sagte: "Laß
Marx nur mit dem Jungen spielen."

Ich fühle noch jetzt mit Beschämung, daß ich dem schönen Kinde zu Gefallen,
wenn auch nicht ohne ein deutliches Vorgefühl von Reue, meinen
plebejischen Günstling fallen ließ.  "Geh nur, Simon", sagte ich mit
einiger Beklemmung.  "Ich habe heute keine Lust zu spielen!" Und der arme
Junge rutschte von seinem Stuhl und schlich sich schweigend wieder von
dannen.

Meine Mutter sah mich mit einem durchdringenden Blick an; und sowohl ich
wie Anne Lene, als diese späterhin in ein näheres Verhältnis zu unserm
Hause trat, haben noch manche kleine Predigt von ihr hören müssen, die aus
dieser Geschichte ihren Text genommen hat.  Damals aber hatten die kleinen
tanzenden Füße mein ganzes Knabenherz verwirrt.  Ich dachte nichts als
Anne Lene; und als ich ihr am Montage darauf ein vergessenes
Arbeitskörbchen ins Haus brachte, hatte ich es zuvor ganz mit
Zuckerplätzchen angefüllt, deren Ankauf mir nur durch Aufopferung meiner
ganzen kleinen Barschaft möglich geworden war.

Etwa ein Jahr später kam ich eines Nachmittags auf der Heimkehr von einer
Ferienreise an Anne Lenes Wohnung vorüber.  Da die Haustür offenstand, so
fiel es mir ein, hineinzugehen, um eine Kleinigkeit, die ich unterwegs für
sie eingehandelt hatte, schon jetzt in ihre Hand zu legen.  Ich trat in
den Flur und blickte durch die Glasscheiben der Stubentür; aber ich
gewahrte niemanden.  Es war eine seltsame Einsamkeit im Zimmer; der weiße
Sand lag so unberührt auf der Diele, und drüben der Spiegel war mit weißen
Damasttüchern zugesteckt.  Während ich dies betrachtete und eine unbewußte
Scheu mich hinderte, hineinzutreten, hörte ich in der Tiefe des Hauses
eine Tür gehen, und bald darauf sah ich meinen Vater mit einem schwarz
gekleideten Kinde an der Hand auf mich zukommen.  Es war Anne Lene; ihre
Augen waren vom Weinen gerötet, und über der schwarzen Florkrause
erschienen das blasse Gesichtchen und die feinen goldklaren Haare noch um
vieles zärtlicher als sonst.  Mein Vater begrüßte mich und sagte dann,
indem er seine Hand auf den Kopf des Mädchens legte: "Ihr werdet jetzt
Geschwister sein; Anne Lene wird als mein Mündel von nun an in unserm
Hause leben, denn ihre Großmutter, deine alte Freundin, ist gestorben."

Ich hörte eigentlich nur den ersten Teil dieser Nachricht, denn die
bestimmte Aussicht, nun fortwährend in Gesellschaft des anmutigen Mädchens
zu sein, erregte in meiner Phantasie eine Reihe von heiteren Vorstellungen,
die mich den Ort, an welchem wir uns befanden, vollständig vergessen
machten.  Ich merkte es kaum, als Anne Lene ihre Arme um meinen Hals legte
und mich küßte, während ihre Tränen mein Gesicht benetzten.

Einige Tage darauf fand das Leichenbegängnis statt, mit aller
Feierlichkeit patrizischen Herkommens, so wie die Verstorbene es bei
Lebzeiten in allen Punkten selbst verordnet hatte.  Ich befand mich mit
meiner Mutter und Anne Lene im Sterbehause.  Noch sehr wohl erinnere ich
mich, wie das Geläute der Glocken, die gedämpfte Redeweise, in der alle
die schwarzen Leute miteinander verkehrten, und die kolossalen,
florbehangenen Wachskerzen, welche brennend vor dem Sarge hinausgetragen
wurden, ein angenehmes Feiertagsgefühl in mir erregten, das dem
unwillkürlichen Grauen vor diesem Gepränge vollkommen die Waage hielt.

Am andern Tage begann der werktätige Gang des Lebens wieder.  Anne Lene
war nun zwar mit mir in einem Hause, aber die Zeit unsern Beisammenseins
bestand nicht mehr wie sonst nur in sonntäglichen Spielstunden.  Meine
Hausarbeiten für das Gymnasium wurden von meinem Vater noch strenger
überwacht als sonst, und Anne Lene war außer ihren Schulstunden meist
unter der Aufsicht der Mutter beschäftigt.  Während meiner Freistunden
nahmen die eigentlichen Knabenspiele einen immer größeren Raum ein, und
ich habe meine kleine Freundin nie bewegen können, unser Räuberspiele
mitzumachen oder auch nur in dem türkischen Zelte Platz zu nehmen, das ich
von alten Teppichen in der Spitze eines Birnbaumes aufgeschlagen hatte.

Nur eine Freude blieb uns während unsrer ganzen Jugend gemeinschaftlich.
--Die Ländereien des Staatshofes waren seit dem Tode der alten Frau
Ratmann an einen benachbarten Hofbesitzer verpachtet, während man das
Wohnhaus mit der Werfte unter der Aufsicht der alten Wieb und ihres Mannes
ließ.  Da der Hof nur eine halbe Stunde von der Stadt lag, so war uns ein
für allemal erlaubt, sonntags nach Tische dort hinauszugehen.  Und wie oft
sind wir diesen Weg gegangen!  Auf der ebenen Marschlandstraße bis zum
Dorfe und dann seitwärts über die Fennen von einem Heck zum andern, bis
wir die dunkle Baumgruppe des Hofes erreicht hatten, die schon beim
Austritt aus der Stadt auf der weiten Ebene sichtbar war.  Wie oft beim
Gehen wandten wir uns um und maßen die Strecke, die wir schon zurückgelegt
hatten, und sahen zurück nach den Türmen der Stadt, die im Sonnendufte
hinter uns lagen!  Denn mir ist, als habe an jenen Sonntagnachmittagen
immer die Sonne geschienen und als sei die Luft über dieser endlosen
grünen Wiesenfläche immer voll von Lerchengesang gewesen.

Den alten Ehelauten auf dem Hofe war im unteren Stock des Hauses ein
früher von der Familie bewohntes Zimmer zur Benutzung angewiesen; allein
sie bewohnten nach eigener Wahl nach wie vor das Gesindezimmer, da dieses
mit dem Stall und den übrigen Wirtschaftsräumen in Verbindung stand.
Gewöhnlich kam und der alte Marten in sonntäglich weißen Hemdärmeln schon
vor dem Tore entgegen und reichte uns in seiner schweigsamen Art die Hand;
er konnte es nicht lassen, nach seinen jungen Gästen auszusehen.  Hatten
wir uns etwas verspätet, so trafen wir ihn wohl schon auf unserm Wege
draußen auf den Fennen, seinen unzertrennlichen Begleiter, den Springstock,
auf der Schulter; und während Anne Lene auf dem Fußbrett um die Hecken
ging, lehrte er mich, nach Landesweise über die Gräben zu setzen.  Im
Zimmer drinnen pflegte dann auf dem langen blank gescheuerten Tische schon
der Kaffeekessel seinen Duft zu verbreiten, und die alte Wieb, wenn sie
mir die Hand gegeben und ihrem Lieblingskinde die heißen Haare von der
Stirn gestrichen hatte, schenkte uns viele Tassen ein, so viele, als wir
immer trinken konnten, und dann noch eine "fürs Nötigen", wie sie sagte.
Wenn wir uns auf diese Weise erquickt hatten und das Geschirr wieder
abgeräumt war, holte die Alte ihr Rad aus dem Winkel hinter der Tragkiste
hervor und begann zu spinnen.  Sie ließ dann wohl den Faden durch Anne
Lenes Finger gleiten und zeigte uns die Glätte und Feinheit desselben;
denn, wie sie mit später einmal vertraute, es sollte aus dem Flachse, den
sie sonntags spann, das Brautlinnen für ihre junge Herrschaft gewebt
werden.--Aber es duldete uns nicht lange neben ihr; wir ruhten nicht, bis
sie uns ihr großes Schlüsselbund eingehändigt hatte, in dessen Besitze wir
dann die dunkle Treppe nach dem oberen Stockwerk hinaufstiegen und eine
nach der andern die Türen zu den verödeten Zimmern aufschlossen, in denen
die feuchte Marschluft schon längst an Decken und Wänden ihren
Zerstörungsprozeß begonnen hatte.  Wir betraten diese Räume mit einer
lüsternen Neugierde, obgleich wir wußten, daß nichts darin zu sehen sei
als die halberloschenen Tapeten und etwa in dem einen Seitenzimmer das
leere Bettgestell der verstorbenen Besitzer.  Wenn wir zu lange blieben,
rief die Alte uns wohl herunter und schickte uns in den Garten, der vor
dem Hause lag.  Aber die Einsamkeit, die oben in den verlassenen Zimmern
herrschte, war auch dort.  Wohin man sehen mochte, zwischen den hohen
Sträuchern hing das Gespinst der Jungfernrebe; über den mit Gras
bewachsenen Steigen in den rot blühenden Himbeerbüschen hatten die Wespen
ihre pappenen Nester aufgehangen.  Obwohl seit Jahren keine pflegende Hand
dort gewaltet, so wuchs doch alles in der größten Üppigkeit durcheinander,
und mittags in der schwülen Sommerzeit, wenn Jasmin und Kaprifolien
blühten, lag die alte Heuberg wie im Duft begraben.--Anne Lene und ich
drangen gern aufs Geratewohl in diesen Blütenwald hinein, um uns den Reiz
eines gefahrlosen Irregehens zu verschaffen; und nicht selten glückte es,
daß wir uns nach der feuchten Laube im Winkel des Gartens hinzuarbeiten
meinten und statt dessen unerwartet vor dem alten Pavillon standen,
welcher jetzt zur zeitweisen Aufbewahrung von Sommerfrüchten diente.  Dann
sahen wir durch die erblindeten Fensterscheiben nach dem zärtlichen
Schäferpaar hinüber, das noch immer, wie vor Jahren, auf der Mitte der
Wand im Grase kniete, und rüttelten vergebens an den Türen, welche von der
alten Wieb sorgfältig verschlossen gehalten wurden; denn der Fußboden
drinnen war unsicher geworden, und hier und dort konnte man durch die
Ritzen in den Dielen auf das darunter stehende Wasser sehen.

So verging die Zeit.--Anne Lene war, ehe ich mich dessen versehen, ein
erwachsenes Mädchen geworden, während ich noch kaum zu den jungen Menschen
zählte.  Ich bemerkte dies eigentlich erst, als sie eines Tages mit
veränderter Frisur ins Zimmer trat.  Seitdem sie selbst für ihre Kleidung
sorgte, war diese fast noch einfacher als zuvor; besonders liebte sie die
weiße Farbe, so daß mir diese in der Erinnerung von der Vorstellung ihrer
Persönlichkeit fast unzertrennbar geworden ist.  Nur einen Luxus trieb sie;
sie trug immer die feinsten englischen Handschuhe, und da sie
dessenungeachtet sich nicht scheute, überall damit hinzufassen, mußte das
getragene Paar bald durch ein neues ersetzt werden.  Meine bürgerlich
sparsame Mutter schüttelte vergebens darüber den Kopf.  Aus dem
nachgelassenen Schmuckkästchen ihrer Großmutter nahm sie an ihrem
Konfirmationstage ein kleines Kreuz von Diamanten, das sie seitdem an
einem schwarzen Bande um den Hals trug.  Sonst habe ich niemals einen
Schmuck an ihr gesehen.



Die Zeit rückte heran, wo ich zum Studium der Arzneiwissenschaft die
Universität besuchen sollte.--In Anne Lenes Gesellschaft machte ich meinen
Abschiedsbesuch bei unsern alten Freunden auf dem Staatshof.  Wir kamen
eben von einer Fenne, wo der Pächter, wie es dort gebräuchlich ist, seine
Rapssaaternte auf einem großen Segel ausdreschen ließ.  Nach der Sitte des
Landes, die bei der schweren Arbeit den Leuten in jeder Weise gestattet,
sich die Brust zu lüften, waren wir mit einem ganzen Schauer von Schimpf-
und Neckworten überschüttet worden; weder meine rote Schülermütze noch
meine damals allerdings "ins Kraut geschossene" Figur war verschont
geblieben.  Auch Anne Lene hatte ihr Teil bekommen; aber man wußte kaum,
waren es Spottreden oder unbewußte Huldigungen; denn alles bezog sich am
Ende doch nur auf den Gegensatz ihres zarten Wesens zu der derben und
etwas schwerfälligen Art des Landes.  Und in der Tat, wenn man sie
betrachtete, wie der Sommerwind ihr die kleinen goldklaren Locken von den
Schläfen hob und wie ihre Füße so leicht über das Gras dahinschritten, so
konnte man kaum glauben, daß sie hier zu Haus gehöre.  Das kleine Kreuz,
welches an dem schwarzen Bändchen an ihrem Halse funkelte, mochte bei den
Arbeitern diesen Eindruck noch vermehrt haben.

Als wir auf die Werfte kamen, fanden wir die alte Wieb in Zank mit einer
Bettlerin vor der Haustür stehen, die sie vergeblich abzuweisen suchte.
Die leidenschaftlichen Gebärden dieses noch ziemlich jungen Weibes waren
mir wohlbekannt; sie ging auch in der Stadt alle Sonnabend von Tür zu Tür
und zehrte dabei seit Jahren an dem Gedanken, daß sie von dem alten Ratman
van der Roden, dem in seiner Amtsführung die obervormundschaftlichen
Angelegenheiten übertragen waren, um ihr mütterliches Erbteil betrogen sei.
Sie war infolge derartiger Äußerungen schon mehrfach zur Strafe gezogen;
und jetzt schien sie, nach dem beiderseitigen Betragen zu urteilen, fest
entschlossen, auch der alten Dienerin der van der Rodenschen Familie diese
verblaßte Geschichte vorzutragen.

Die Streitenden rührten sich bei unsrer Ankunft in ihrem Eifer nicht von
der Stelle, und da wir nach dem Flur zwischen beiden hindurch mußten, so
nahm Anne Lene ihr Kleid zusammen, um nicht an das der Bettlerin zu
streifen.

Aber diese vertrat ihr den Weg. "Ei, schöne Mamsell", sagte sie, indem sie
einen tiefen Knicks vor ihr machte und mit einer abscheulichen Koketterie
ihre durchlöcherten Röcke schwenkte, "haben Sie keine Angst, meine Lumpen
sind alle gewaschen!  Freilich die seidenen Bändchen sind längst davon,
und die Strümpfe, die hat dein Großvater selig mir ausgezogen; aber wenn
dir die Schuhe noch gefällig sind?"

Und bei diesen Worten zog sie die Schlumpen von den nackten Füßen und
schlug sie aneinander, daß es klatschte.  "Greif zu, Goldkind", rief sie,
"greif zu!  Es sind Bettelmannsschuhe, du kannst sie bald gebrauchen."

Anne Lene stand ihr völlig regungslos gegenüber; Wieb aber, deren Augen
mit großer Ängstlichkeit an ihrer jungen Herrin hingen, griff in die
Tasche und drückte der Bettlerin eine Münze in die Hand.  "Geh nun, Trin",
sagte sie, "du kannst zur Nacht wiederkommen; was hast du noch hier zu
suchen?"

Allein diese ließ sich nicht abweisen.  Sie richtete sich hoch auf, indem
sie mit einem Ausdruck überlegenen Hohnes auf die Alte herabsah.  "Zu
suchen?" rief sie und verzog ihren Mund, daß das blendende Gebiß zwischen
den Lippen hervortrat.  "Mein Muttergut such ich, womit ihr die Löcher in
eurem alten Dache zugestopft habt."

Wieb machte Miene, Anne Lene ins Haus zu ziehen.

"Bleib Sie nur, Mamsell", sagte das Weib und ließ die empfangene Münze in
die Tasche gleiten, "ich gehe schon; es ist hier doch nichts mehr zu
finden.  Aber", fuhr sie fort, mit einer geheimnisvollen Gebärde sich
gegen die Alte neigend, "auf deinem Heuboden schlafe ich nicht wieder.  Es
geht war um in eurem Hause, das pflückt des Nachts den Mörtel aus den
Fugen.  Wenn nur das alte hoffärtige Weibe noch daruntersäße, damit ihr
alle auf einmal euren Lohn bekämet!"

Auf Anne Lenes Antlitz drückte sich ein Erstaunen aus, als sei sie durch
diese Worte wie von etwas völlig Unmöglichem betroffen worden.  "Wieb",
rief sie, "was sagt sie?  Wen meint sie, Wieb?"

Mich übermannte bei dem Anblick meiner jungen hilflosen Freundin der Zorn;
und ehe das Weib zu einer Antwort Zeit gewann, packte ich sie am Arm und
zerrte sie den Hof hinunter bis hinaus auf den Weg. Aber noch als ich das
Gittertor hinter mir zugeworfen hatte und wieder auf die Werfte hinaufging,
hörte ich sie ihre leidenschaftlichen Verwünschungen ausstoßen.  "Geh
nach Haus, Junge", schrie sie mir nach, "dein Vater ist ein ehrlicher Mann;
was läufst du mit der Dirne in der Welt umher!"

Drinnen im Gesindezimmer fand ich Anne Lene vor ihrer alten Wärterin auf
den Knien liegen, den Kopf in ihren Schoß gedrückt.  "Wieb", sprach sie
leise, "sag mir die Wahrheit, Wieb!"

Die Alte schien um Worte verlegen.  Sie schalt auf die Bettlerin und
redete dies und das von allgemeinen Dingen, indem sie ihre rauhe Hand
liebkosend über das Haar ihres Lieblings hingleiten ließ.  "Was wird es
sein", sagte sie, "dein Großvater und dein Urgroßvater waren große Leute;
die Armen sind immer den Reichen heimlich feind!"

Anne Lene, die bis dahin ruhig zugehört hatte, erhob den Kopf und sah sie
zweifelnd an.  "Es mag doch wohl anders gewesen sein, Wieb", sagte sie
traurig, "du mußt mich nicht belügen!"

Was weiter zwischen den beiden gesprochen worden, weiß ich nicht; denn ich
verließ nach diesen Worten das Zimmer, da ich glaubte, die Alte werde das
Gemüt des Mädchens leichter zur Ruhe sprechen, wenn sie allein sich
gegenüber wären.--Aber nach einigen Tagen war das Diamantkreuz von Anne
Lenes Hals verschwunden, und ich habe dieses Zeichen alten Glanzes niemals
wieder von ihr tragen sehen.



Ich mochte etwa ein Jahr lang in der Universitätsstadt gewesen sein, als
ich durch einen Brief meines Vaters die Nachricht von Anne Lenes Verlobung
mit einem jungen Edelmann erhielt.  Er teilte mir die Sache mit, ohne ein
Wort der Billigung oder Mißbilligung von seiner Seite hinzuzufügen.--Der
Bräutigam war mir wohlbekannt; seine Familie stammte aus unsrer Stadt, und
er selbst hatte sich kurz vor meiner Abreise wegen einer
Erbschaftsangelegenheit dort aufgehalten.  Da er sich meines Vaters als
Geschäftsbeistandes bediente und keine weiteren Bekanntschaften in der
Stadt hatte, so war er in unserm Hause ein oft gesehener Gast geworden.
--Mir waren die blanken braunen Augen dieses Menschen vom ersten
Augenblick an zuwider gewesen; und auch jetzt noch schienen sie mir nichts
Gutes zu versprechen.  Doch sagte ich mir selbst, da diese Meinung keine
unparteiische sei.  Ich war von dem Herrn Kammerjunker als ein junger
bürgerlicher Mensch von vornherein mit einer mir sehr empfindlichen
Oberflächlichkeit behandelt worden; er hatte in meiner Gegenwart in der
Regel getan, als ob ich gar nicht vorhanden sei; was aber das schlimmste
war, ich hatte zu bemerken geglaubt, daß er meiner jungen Freundin nicht
in gleichem Grade wie mir mißfallen hatte.

Obgleich die seit meiner Knabenzeit in mir keimende Neigung für Anne Lene,
da sie keine Erwiderung gefunden, niemals zur Entfaltung gekommen war, so
wurde ich doch jetzt durch die Nachricht von ihrer Verbindung mit einem
mir so verhaßten Manne auf das heftigste erschüttert und, ich darf wohl
sagen, beunruhigt.  Meine Phantasie ließ nicht nach, mir die kleinsten
Züge seines Wesens wieder und wieder vor Augen zu führen; und besonders
mußte ich mich eines übrigens geringfügigen Vorfalls erinnern, der mich
gegen die Natur dieses Menschen in völligem Widerspruch setzte.

Es war im Spätsommer; unsre Familie saß in der Ligusterlaube beim
Nachmittagskaffee, wozu außer dem alten Syndikus auch der Kammerjunker
sich eingefunden hatte.  Die Herren mochten, ehe ich hinzukam,
geschäftliche Sachen erörtert haben; denn das alte Porzellanschreibzeug
meines Vaters stand neben dem übrigen Geschirr auf dem Tische.  Anne Lene
ging in stiller Geschäftigkeit ab und zu; bald um im Hause die Bunzlauer
Kanne aufs neue zu füllen, bald um die Wachskerze für die Tonpfeife des
Syndikus anzuzünden, die über dem Plaudern immer wieder ausging.  Das
Gespräch der beiden älteren Herren hatte sich mittlerweile auf städtische
Angelegenheiten gewandt, welche für den Fremden wenig Interessen boten.
Er hatte die Arme vor sich auf den Tisch gestreckt und schien seinen
eignen Gedanken nachzugehen; nur wenn draußen zwischen den sonnigen Beeten
das Kleid des jungen Mädchens sichtbar wurde, hob er die Augenlider und
sah nach ihr hinüber.  Es war in diesem lässigen Anschauen etwas, das mich
in einen ohnmächtigen Zorn versetzte; zumal als ich sah, wie Anne Lene die
Augen niederschlug und sich, wie um Schutz zu suchen, an meiner Mutter
Seite auf das äußerste Ende der Bank setzte.  Der Kammerjunker, ohne sie
weiter zu beachten, haschte eine Mücke, die eben an ihm vorüberflog.  Ich
sah, wie er sie an den Flügeln sorgsam zwischen seinen Fingern hielt, wie
er den Kopf herabneigte und die hilflosen Bewegungen des Geschöpfes mit
Aufmerksamkeit zu betrachten schien.  Nach einer Weile nahm er die neben
ihm liegende Schreibfeder, tauchte sie in das Tintenfaß und begann nun
nacheinander Kopf und Brustschild seines kleinen Opfers in langsamen Zügen
damit zu bestreichen.  Bald aber änderte er sein Verfahren; er zog die
Feder zurück und führte sie wie zum Stoß wiederholt gegen die Brust der
Kreatur, welche mit den feinen Füßen die auf sie eindringende Spitze
vergebens abzuwehren strebte.  Seine blanken Augen waren ganz in dies
Geschäft vertieft.  Endlich aber schien er dessen überdrüssig zu werden;
er durchstach das Tier und ließ es vor sich auf den Tisch fallen, indem er
zugleich eine Frage meines Vaters beantwortete, die seine Aufmerksamkeit
erregt haben mochte.--Ich hatte wie gebannt diesem Vorgange zugesehen, und
Anne Lene schien es ebenso ergangen; denn ich hörte sie aufatmen, wie
jemand, der von einem auf ihm lastenden Druck mit einem Male befreit wird.

Einige Tage darauf vermißten wir Anne Lene bei der Mittagstafel, was sonst
niemals zu geschehen pflegte.--Als ich, um sie zu suchen, in den Garten
trat, begegnete mir der Kammerjunker, der wie gewöhnlich mit einem halben
Kopfnicken an mir vorbeipassierte.  Da ich Anne Lene nicht gewahrte, so
ging ich in den untern Teil des Gartens, in welchem mein Vater eine kleine
Baumschule angelegt hatte.  Hier stand sie mit dem Rücken an einen jungen
Apfelbaum gelehnt.  Sie schien ganz einem innern Erlebnis zugewendet; denn
ihre Augen starrten unbeweglich vor sich hin, und ihre kleinen Hände lagen
fest geschlossen auf der Brust.  Ich fragte sie: "Was ist denn dir
begegnet, Anne Lene?" Aber sie sah nicht auf; sie ließ die Arme sinken und
sagte: "Nichts, Marx; was sollte mir begegnet sein?" Zufällig aber hatte
ich bemerkt, daß die Krone des kleinen Baumes wie von einem Pulsschlage in
gleichmäßigen Pausen erschüttert wurde, und es überkam mich eine Ahnung
dessen, was hier geschehen sein könne; zugleich ein Reiz, Anne Lene fühlen
zu lassen, daß sie mich nicht zu täuschen vermöge.  Ich zeigte mit dem
Finger in den Baum und sagte: "Sieh nur, wie dir das Herz klopft!"

Diese Vorfälle, welche damals bei der kurz danach erfolgten Abreise des
Kammerjunkers bald von mir vergessen waren, ließen nun nicht ab, mich zu
beunruhigen, bis sie endlich von den Leiden und Freuden des
Studentenlebens aufs neue in den Hintergrund gedrängt wurden.



Ich habe nicht von mir zu reden.

Etwa zwei Jahre später um Ostern kehrte ich als junger Doctor promotus in
die Heimat zurück.  Schon vorher hatte man mir geschrieben, daß das
fortdauernder Sinken der Landpreise den Verkauf des Staatshofes nötig
machen werde, und daß Anne Lene aus einem immerhin noch reichen Erbin
wahrscheinlich ein armes Mädchen geworden sei.  Nun erfuhr ich noch dazu,
daß auch ihre Verlobung sich aufzulösen scheine.  Die Briefe des
Bräutigams waren allmählich seltener geworden und seit einiger Zeit ganz
ausgeblieben.  Anne Lene hatte das ohne Klage ertragen; aber ihre
Gesundheit hatte gelitten, und sie befand sich gegenwärtig schon seit
einigen Wochen zu ihrer Erholung draußen auf dem Staatshof, wo man eins
der kleineren Zimmer in dem oberen Stockwerk für sie instand gesetzt hatte.

Obwohl ich seit ihrem Brautstande nicht an sie geschrieben, so konnte ich
doch nicht unterlassen, noch am Tage meiner Ankunft zu ihr hinauszugehen.
--Es war schon spätnachmittags, als ich den Staatshof erreichte.  Die alte
Wieb fand ich draußen auf dem Wege an einem Heck stehend, von wo ein
Fußsteig über die Fennen nach dem Deiche zu führte.  Sie hatte mich nicht
kommen sehen, da sie den Rücken gegen den Weg kehrte, und als ich
unvermerkt ihre harte Hand erfaßte, vermochte sie mich erst nicht zu
erkennen.  Bald aber trat ein Ausdruck der Freude in das alte Gesicht, und
sie sagte: "Gott sei Dank, daß du da bist, Marx!  So eine treue Seele tut
uns gerade not!"

"Wo ist Anne Lene?" fragte ich.  Die Alte zeigte mit der Hand ins Land
hinaus und sagte bekümmert: "Da geht sie wieder in der Abendluft!"

Etwa auf dem halben Wege nach dem Haffdeiche, der hier nördlich von dem
Hofe die Landschaft gegen das Meer hin abschließt, sah ich eine weibliche
Gestalt über die Fennen gehen.  "Setz nur den Kessel ans Feuer, Wieb",
sagte ich, "ich will sie holen, wir kommen bald zurück."--Nach einer Weile
hatte ich Anne Lene erreicht.  Als ich ihren Namen rief, stand sie still
und wandte den Kopf nach mir zurück.  Ich fühlte plötzlich, wieviel von
ihrem Bilde in meiner Erinnerung erloschen sei.  So lieblich hatte ich sie
mir nicht gedacht; und doch war sie dieselbe noch; nur ihre Augen schienen
dunkler geworden, und die Linien des zarten Profils waren ein wenig
schärfer gezogen als vor Jahren.  Ich faßte ihre beiden Hände.  "Liebe
Anne Lene", sagte ich, "ich bin eben angekommen; ich wollte dich noch
heute sehen!"

"Ich danke dir, Marx", erwiderte sie, "ich wußte, daß du dieser Tage
kommen würdest."--Aber ihre Gedanken schienen nicht bei diesem Willkommen
zu sein; denn sie wandte die Augen sogleich wieder von mir ab und begann
auf dem Fußsteige weiterzugehen.  "Begleite mich noch ein wenig", fuhr sie
fort, "wir gehen dann zusammen nach dem Hof zurück."

"Aber es wird kalt, Anne Lene!"

"Oh, es ist nicht so kalt", sagte sie, indem sie das große Schaltuch
fester um die Schultern zog.--So gingen wir denn weiter.  Ich suchte
allerlei Gespräch, aber keines wollte gelingen.  Es wurde schon abendlich;
ein feuchter Nordwest wehte vom Meere über die Landschaft, und vor uns auf
dem Haffdeich sah man gegen den braunen Abendhimmel einzelne Fuhrwerke wie
Schattenspiel vorbeipassieren.  Nach einer Weile bemerkte ich einen Mann
an der Seite des Deiches herabsteigen und uns auf dem Fußwege
entgegengehen.  Es war der Postbote, der zweimal in der Woche für die
Hofbesitzer die Briefe aus der Stadt holte.  Ich fühlte, wie Anne Lene
ihren Schritt beeilte, da er in unsre Nähe kam.  "Hast du etwas für mich,
Carsten?" fragte sie und suchte dabei in ihrer Stimme vergebens eine
innere Unruhe zu verbergen.

Der Bote blätterte in seiner Ledertasche zwischen den Briefen umher.  "Für
dieses Mal nicht, liebe Mamsell!" sagte er endlich mit einer verlegenen
Freundlichkeit, indem er die aufgehobene Klappe wieder über seine Tasche
fallen ließ.  Er mochte ihr diese Antwort schon oft gegeben haben.  Anne
Lene schwieg einen Augenblick.  "Es ist gut, Carsten", sagte sie dann, "du
kannst erst mit uns gehen und Abendbrot essen."--Sie schien das Ziel ihrer
Wanderung erreicht zu haben; denn sie kehrte bei diesen Worten um, und wir
gingen mit dem Boten nach dem Hofe zurück.  Die Dämmerung war schon stark
hereingebrochen.  Von dem Ackerstück, an welchem wir vorüberkamen, vernahm
man die kurzen Laute der Brachvögel, die unsichtbar in den Furchen lagen;
mitunter flog ein Kiebitz schreiend vor uns auf, und auf den Weiden stand
das Vieh in dunkeln, unkenntlichen Massen beisammen.--Wir hatten auf dem
Rückwege, als geschehe es im Einverständnis, kein Wort miteinander
gewechselt; als wir schon fast im Dunkeln auf der Werfte angelangt waren,
ergriff Anne Lene meine Hand.  "Gute Nacht, Marx", sagte sie, "verzeih mir;
ich bin müde, ich muß schlafen; nicht wahr, du kommst recht bald einmal
wieder zu uns heraus!" Mit diesen Worten trat sie in die Haustür, und bald
hörte ich, wie sie die Treppe nach ihrem Zimmer hinaufging.

Ich begab mich zu den alten Hofleuten, die in Gesellschaft des Boten am
warmen Ofen bei ihrem Abendtee saßen.  Wieb entfernte sich für einen
Augenblick, um Anne Lene ein Licht hinaufzubringen; dann nötigte sie mich,
an ihrer Mahlzeit teilzunehmen, und ich mußte erzählen und erzählen lassen.
Darüber war es spät geworden, so daß ich nicht mehr zur Stadt
zurückkehren mochte.  Ich bat meine alte Freundin, mir eine Streu in ihrer
Stube aufzuschütten, und schlenderte, während dies geschah, in den Garten
hinaus.  Da ich in das Boskett an der nördlichen Seite kam, bemerkte ich,
daß Anne Lene noch Licht in ihrem Zimmer habe.  Ich lehnte mich an einen
Baum und blickte hinauf.  Es schien alles still darinnen.  Plötzlich aber
entstand hinter den Fenstern eine starke Helligkeit, die eine Zeitlang in
die kahlen Büsche des Gartens hinausleuchtete und dann allmählich wieder
verschwand.  Mich überkam, während ich so im Dunkeln stand, eine
unbestimmte Besorgnis, und ohne mich lange zu bedenken, ging ich durch die
Hintertür ins Haus und die Treppe nach Anne Lenes Zimmer hinauf.

Die Tür war nur angelehnt.  Anne Lene saß an einem Tischchen mit den Füßen
gegen den Ofen, in welchem ein helles Feuer brannte.  Unter der Schnur
eines Päckchens, das auf ihrem Schoße lag, zog sie einen Brief hervor; sie
entfaltete ihn und schien aufmerksam darin zu lesen.  Nach einer Weile
bewegte sie die Hand ein wenig, so daß das Papier von der Flamme des neben
ihr auf dem Tische stehenden Lichtes ergriffen wurde.  Ihr Gesicht trug
dabei einen solchen Ausdruck von Trostlosigkeit, daß ich unwillkürlich
ausrief: "Anne Lene, was treibst du da?"

Sie blieb ruhig sitzen, ohne sich nach mir umzuwenden, und ließ den Brief
in ihrer Hand verbrennen.

"Sie sind kalt", sagte sie, "sie sollen heiß werden!"

Ich war mittlerweile ins Zimmer getreten und hatte mich neben ihren Stuhl
gestellt.  Plötzlich, wie von einem raschen Entschluß getrieben, stand sie
auf und legte beide Hände fest um meinen Hals; sie wollte zu mir sprechen,
aber ihre Tränen brachen unaufhaltsam hervor, und so drückte sie den Kopf
gegen meine Brust und weinte eine lange Zeit, in welcher ich nichts tun
konnte, als sie still in meinen Armen halten.  "Nein, Marx", sagte sie
endlich und mühte sich, ihrer Stimme einen festeren Klang zu geben, "ich
verspreche es dir, ich will nicht länger auf ihn warten."

"Hast du ihn denn so geliebt, Anne Lene?"

Sie richtete sich auf und sah mich an, als müsse sie erst nachsinnen über
diese Frage.  Dann sagte sie langsam: "Ich weiß es nicht--das ist auch
einerlei."

Ich blieb noch eine Weile bei ihr, und allmählich wurde sie ruhiger.  Sie
versprach mir, Mut zu fassen, mir und unsrer Mutter zuliebe; sie wollte
arbeiten, sie wollte in der kleinen Wirtschaft der alten Wieb die Anfänge
des Landhaushaltes lernen, damit sie einmal als Wirtschafterin ihr Brot
verdienen könne.  Sie sah dabei fast mitleidig auf ihre kleinen Hände,
deren Schönheit sie der Not des Lebens opfern wollte.  Nur zur Rückkehr
nach der Stadt vermochte ich sie nicht zu bewegen.  "Nein, nicht unter
Menschen!" sagte sie und sah mich bittend an.  "Laß mich hier, Marx,
solange es mir noch gestattet ist; aber komm oft einmal heraus zu uns."

So verließ ich sie an diesem Abend; aber ich ging von nun an häufig den
Weg über die Fennen nach dem Staatshof.--Anne Lene schien ihr Versprechen
halten zu wollen; ich fand sie mehrere Male beim Sahnen in der Milchkammer
oder am Butterfasse, wo sie abwechselnd mit der alten Wieb den Stempel
führte; ja, sie ließ es sich nicht nehmen, die Butter zum Kneten in die
Mulde zu tun, ganz wie sie es von ihrer alten Wärterin gesehen hatte; sie
schien es auch nicht zu merken, daß diese hinterher ganz im geheim die
letzte Hand an ihre Arbeit legte.  Allein man fühlte leicht, daß die
Teilnahme an diesen Dingen nur eine äußerliche war; eine Anstrengung, von
der sie bald in der Einsamkeit ausruhen mußte.



Es war schon in der heißen Sommerzeit, als einige junge Leute aus unsrer
Stadt mit ihren Schwestern und Bekannten eine Landpartie nach dem
Staatshofe hinaus zu machen wünschten.  Man bat mich um eine Vermittlung
bei Anne Lene; und mit einiger Mühe erhielt ich ihre Einwilligung.--So
waren denn eines Sonntagnachmittags die verwilderten Gänge des Gartens
wieder einmal von geputzten Leuten belebt, und man sah zwischen den
Büschen die weißen Kleider und die bunten Schärpen der Mädchen.  Die alte
Wieb mußte den großen Kaffeekessel hervorsuchen; dann wurden die
mitgebrachten Körbe ausgepackt und alles vor der Haustür dem Garten
gegenüber serviert.  Als der Kaffee vorüber war, stiegen die besten
Kletterer unter uns in den Gipfel der beiden alten Linden, die zu den
Seiten des Hoftores standen, indem jeder das Ende eines ungeheueren Taues
mit sich hinaufnahm.  Bald war zwischen den höchsten Ästen eine Schaukel
festgeknüpft, und die Mädchen wurden eingeladen, sich hineinzusetzen.
"Komm, Anne Lene", rief ein junger, robust aussehender Mensch, indem er
fast mitleidig auf ihre feine Gestalt hinabsah, "setz dich hinein; ich
will dir einmal eine ordentliche Motion machen!"

Anne Lene bedankte sich, aber ein munteres schwarzäugiges Mädchen ließ
sich williger finden; und bald schwenkte Claus Peters die Schaukel, bis
die kleine Juliane wie ein Vogel zwischen den Zweigen saß und endlich
flehentlich um Gnade schrie.--Claus Peters war der Sohn eines reichen
Brauers, und es hieß, sein Vater werde ihm den Staatshof kaufen, sobald er
zum Aufstrich komme, und ihm eine glänzende Wirtschaft einrichten.  Auch
schien er in seinen Gedanken sich schon als den künftigen Besitzer zu
betrachten; denn als wir später in Begleitung des Hofmanns zwischen den
Baulichkeiten herumgingen, fand er überall etwas zu tadeln und sprach von
Verbesserungen, die hier vorgenommen werden müßten, während der alte
Marten mit einem mißvergnügten Brummen nebenherging.

Es war allmählich spät geworden.  Als wir von unsrer Umschau zurückkehrten,
fanden wir die Mädchen vor der Haustür versammelt und Anne Lene unter
ihnen.

Zwei derselben hatten ihre Hände gefaßt, als könnte sie nur mit zärtlicher
Gewalt hier zurückgehalten werden.  "Ja, wenn wir Musik hätten!" sagte die
eine.--"Musik!" rief Peters, indem er an den dicken Goldberlocken seine
Uhr aus der Tasche zog.  "Ihr sollt bald Musik haben; in einer halben
Stunde bin ich wieder da!"

Er war zu Pferde herausgekommen und rief nun ins Haus nach dem Hofmann.
"Bring mir den Braunen, Marten; aber brauch deine Beine!" Der Alte knurrte
etwas vor sich hin, aber er tat doch, wie ihm geheißen, und bald ritt
Peters im Galopp zum Tore hinaus.  Wir andern gingen ins Haus und
besichtigten oben den Tanzsaal.  Es kam uns eine dumpfe Luft entgegen, als
wir die Tür des alten Prunkgemaches geöffnet hatten.

Die goldgeblümten Tapeten waren von der Feuchtigkeit gelöst und hingen
teilweise zerrissen an den Wänden; überall stachen noch die Stellen hervor,
wo vorzeiten die Familienporträte gehangen hatten.  Wir gingen wieder
hinab und trugen einen Tisch und einige Gartenbänke in das leere Zimmer;
dann öffneten wir die Fenster, durch welche es von den draußen stehenden
Bäumen schon hereinzudunkeln begann, und die Mädchen umfaßten sich und
tanzten miteinander.  "Wartet!" rief ich, "wir wollen einen Kronleuchter
machen!" Denn oben an der Zimmerdecke gewahrte ich noch die Krampe, an der
einst die Kristallkrone über der Festtafel des Hauses gehangen hatte.
Bald waren zwei Holzleisten aufgefunden und kreuzweis übereinandergenagelt.

Anne Lene ging mit den Mädchen in den Garten hinab; und aus dem Fenster
sah ich, wie sie die Blumen von den Jasminbüschen und von den rot
blühenden Himbeersträuchen brachen.  "Pflückt nur", sagte Anne Lene, als
eins der Mädchen fragend zu ihr umschaute, "es blüht hier doch für sich
allein." Aber sie selber stand dabei; sie pflückte nichts.--Nach einer
Weile kamen alle wieder herauf und machten sich daran, meinen Kronleuchter
eins ums andre mit weißen und roten Blüten zu bewinden; dann, nachdem an
jedem Ende eine Kerze befestigt und angezündet war, wurde das Kunstwerk
aufgehangen.  Die wenigen Lichter konnten den weiten Raum nicht erhellen;
aber draußen war schon der Mond aufgegangen und schien durch die Fenster,
und es war anmutig, wie die Blumenleuchte mitten in dem öden Zimmer
schwebte und wie der Duft erregt wurde, wenn die Mädchen unten durch
tanzten.  Plötzlich hörten wir ein Pferd auftraben und einen lauten
Peitschenknall.

"Da kommt die Musik!" hieß es; und alle drängten an die Fenster.--Draußen
unter den Bäumen hielt Peters; eine kleine dürre Gestalt klebte hinter ihm
auf dem Pferde, Geige und Bogen in der Hand.

Bei näherem Hinschauen erkannte ich wohl, daß es der alte Drees-Schneider
war, ein vielgewandtes Männchen, das bald mit der Nadel, bald mit dem
Fiedelbogen für seinen Unterhalt sorgte, und den die harte Zeit gelehrt
hatte, sich manchen derben Spaß gefallen zu lassen.--"Nun, Drees, spiel
eins auf!" rief Peters.  "Mach dein Kompliment vor den Damen!" Aber sowie
der Alte die Hand vom Sattel ließ und seine Geige unters Kinn stützte,
rührte Peters das Pferd mit den Sporen, daß es ausschlug; und der Alte
schwankte und griff wieder hastig nach dem Sattel.  Anne Lene stand vor
mir; ich sah in der schwachen Beleuchtung, wie die Röte ihr in die Schläfe
hinaufstieg.

"Drees", rief ich, "komm herab, Drees!"--Der Alte machte Anstalt
hinabzuklimmen; aber der Reiter lachte und gab seinem Pferde die Sporen.
"Marten", sagte Anne Lene zu dem Hofmann, "halte das Pferd, Marten!"--"Oho,
Anne Lene!" rief Peters; allein er machte doch keinen Versuch, seine
Späße fortzusetzen, und ließ es geschehen, daß Marten dem alten Drees
herunterhalf.

Gleich darauf waren alle oben im Saal, und nachdem Peters dem alten
Musikanten seine Angst durch einige Gläser Wein vergütet hatte, setzte
dieser sich auf ein kleines Faß und begann seine Stücke aufzustreichen.
Die Paare traten an, und bald wurde unsre Blumenleuchte vom Wirbel der
Tanzenden hin und her bewegt.  Ich suchte Anne Lene, aber sie mußte
unbemerkt hinausgegangen sein, und da für mich keine Tänzerin
übriggeblieben war, so verließ ich ebenfalls den Saal, in der Meinung, sie
unten bei den alten Hofleuten anzutreffen.

Als ich in das Gesindezimmer trat, sah ich indessen nur die alte Wieb,
welche eifrig an ihrem Strickstrumpf arbeitete.  Sie zog eine Nadel aus
dem Brustlatz und störte damit in der Lampe, die den ziemlich großen Raum
nur spärlich erhellte.  Dann sah sie zu mir auf und sagte: "Ihr seid ja
gewaltig lustig, Marx!  Claus Peters spielt wohl schon den Herrn im
Staatshof?"

"Er wird es bald genug sein", antwortete ich, "das ist nicht mehr zu
ändern!"

Die Alte schwieg eine Weile, und ihre Gedanken schienen sich von dem alten
Besitztum der Familie zu dem letzten Nachkommen derselben hinzuwenden.
"Marx", sagte sie, indem sie den Strickstrumpf auf den Tisch legte, "warum
bist du auch so lange fort gewesen"

"Was hätte ich denn ändern können, Wieb?"

"Und die zwei langen Jahre!--Wenn nur der Unglücksmensch nicht gekommen
wäre!" fuhr sie fort, wie zu sich selber redend.  "Sie war dazumal noch
die reiche Erbtochter; heißt das, sie war so in der Leute Mäuler; aber
schon als die alte Frau in die Ewigkeit ging, ist nichts übrig gewesen als
die schweren Hypotheken.  Gott besser's!  Nun soll gar der Hof verkauft
werden.--Nicht meinetwegen, Marx, nicht meinetwegen; Marten und ich helfen
uns schon durch die übrigen paar Jahre."

"Es ist wohl so am besten, Wieb", sagte ich; "vielleicht bleibt noch ein
Restchen übrig für Anne Lene, so daß sie nicht ganz verarmt ist."

Die alte Frau wischte sich mit der Schürze über die Augen.  "Es ist
grausam", sagte sie kopfschüttelnd, "so eine Familie!"

Von oben schallte das Scharren der Tanzenden; im anstoßenden Stalle hörte
ich, wie täglich um diese Zeit, den Hofmann den Karren und die übrigen
Geräte für die Nacht an ihren Platz bringen.

Als ich aufsah, stand Anne Lene in der Tür.  Sie war blaß, aber sie nickte
freundlich nach uns hin und sagte: "Willst du nicht tanzen, Marx?  Ich bin
oben gewesen; die kleine Juliane sucht dich mit ihren braunen Augen schon
in allen Ecken!"

"Du scherzest, Anne Lene; was geht mich Juliane an?"

"Nein, nein, Marx!  Nimm dich in acht; Claus Peters tanzt schon den
zweiten Tanz mit ihr."

"Aber, Anne Lene!"--Ich trat zu ihr.  "Willst du mit mir tanzen?"

"Weshalb denn nicht?"

"Aber ein Menuett, Anne Lene!"

"Ein Menuett, Marx!--Und", fügte sie lächelnd hinzu, "nicht wahr, Freund
Simon darf dabeisein?"

Als wir gehen wollten, faßte die Alte Anne Lenes Hand.  "Kind", sagte sie
besorgt, "der Doktor hat's dir ja verboten!"

Aber Anne Lene erwiderte: "Oh, gute Wieb, es schadet nicht; ich weiß das
besser als der Doktor!" Und mein Verlangen, mit ihr zu tanzen, war so groß,
daß ich mir diese Versicherung gefallen ließ.

Als wir oben in den Saal getreten waren, ging ich in die Ecke zu dem
kleinen Drees und bestellte ein Menuett.  Er blätterte in seinen Büchern
umher; aber er hatte den alten Tanz nicht mehr darin; wir mußten uns mit
einem Walzer begnügen.  Claus Peters trat an den Tisch, schenkte ihm das
Glas voll und stieß mit ihm an.  "Aufgespielt, Drees!" rief er, "aber
kratze nicht so, es kommen feine Leute an den Tanz."

Der Alte setzte sein Glas an den Mund.  "Nun, Herr Peters", sagte er,
indem er den jungen Menschen mit seinen kleinen scharfen Augen ansah, "auf
daß es uns wohlgehe auf unsern alten Tagen!"

"Weshalb soll es uns nicht wohlgehen, Drees?" erwiderte Peters, indem er
der kleinen Juliane die Hand bot und sich mit ihr an die Spitze der
Tanzkolonne stellte.

Ich trat mit Anne Lene in die Reihe.  Der Alte begann seine Geige zu
streichen und nickte uns freundlich zu, als wir im Tanz an ihm
vorüberkamen.--Ich glaube noch jetzt, daß er damals vortrefflich spielte;
denn er war nicht ungeschickt in seiner Kunst, und eingedenk mancher
kleinen Freundlichkeit, die er von uns empfangen, mochte er nun sein
Bestes versuchen.

Wir hatten lange nicht zusammen getanzt, Anne Lene und ich.  Aber es war
nicht vergessen; ich fühlte bald, sie tanzte noch wie sonst.  Es ging so
leicht zwischen den übrigen Paaren hin; ihre Augen glänzten; sie lächelte,
und ihr Mund war geöffnet, so daß die weißen Zähne hinter den feinen roten
Lippen sichtbar wurden; ich glaubte es zu fühlen, wie die Lebenswärme
durch ihre jungen Glieder strömte.  Bald sah ich nichts mehr von allem,
was sich um uns her bewegte; ich war allein mit ihr; diese festen
klingenden Geigenstriche hatten uns von der Welt geschieden; sie lag
verschollen, unerreichbar weit dahinter.

Dann pausierten wir.  An dem offenen Fenster, wo wir standen, floß das
Mondlicht mit dem dürftigen Kerzenschein zu einer unbestimmten Dämmerung
zusammen.  Anne Lene stand atmend neben mir, sie schien mir ungewöhnlich
blaß.  "Wollen wir uns aufhalten?" fragte ich sie.

"Weshalb, Marx?  Es tanzt sich heut so schön!"

"Aber du verträgst es nicht!"

"O doch!--Was liegt daran!"

Wir tanzten schon wieder, als sie die letzten Worte sprach.  Wir tanzten
noch lange.  Als aber Anne Lene mit der Hand nach dem Herzen griff und
zitternd mit dem Atem rang, da bat ich sie, mit mir in den Garten
hinabzugehen.  Sie nickte freundlich, und wir gingen aus dem Saal nach
ihrem Zimmer, um ein Umschlagtuch für sie zu holen.--Ich fühlte wohl
damals schon, daß sie Sorge um Anne Lenes Gesundheit mich nicht allein zu
jener Bitte veranlaßt hatte; denn als wir die Treppe zu dem dunkeln Flur
hinabstiegen, war mir, als wenn ich mit einem glücklich geraubten Schatz
ins Freie flüchtete.

Mir ist aus jenen Stunden noch jeder kleine Umstand gegenwärtig; ich
glaube noch durch die Fensterscheibe der altmodischen Haustür das
Mondlicht zu sehen, das draußen wie Schnee auf den Steinfliesen vor dem
Hause lag; im Heraustreten hörten wir drinnen in der Gesindestube die alte
Wieb den Schrank verschließen, in welchem sie das Brautlinnen ihres
Lieblingskindes aufgespeichert hatte.--Es war eine laue Nacht; über unsern
Köpfen surrten die Nachtschmetterlinge, die den erleuchteten Fenstern des
oberen Stockwerks zuflogen; die Luft war ganz von jenem süßen Duft
durchwürzt, den in der warmen Sommerzeit die wolligen Blütenkapseln der
roten Himbeere auszuströmen pflegten.  Anne Lene knüpfte ihr Schnupftuch
um den Kopf; dann gingen wir, wie wir es oft getan, um die Ecke des Hauses
und über die Werfte nach dem Baumgarten zu.  Wir sprachen nicht; ich
wollte Anne Lene bitten, ihre Augen wieder nach der Welt zurückzuwenden
und nicht mehr in den Schatten der Vergangenheit zu leben; aber das
beunruhigende Bewußtsein einer eigennützigeren Bitte, die ich für
günstigere Zeiten im Grunde meines Herzens zurückbehielt, raubte mir den
Atem und ließ kein Wort über meine Lippen kommen.  Das Herz klopfte mir so
laut, daß ich immer fürchtete, es werde auch ohne Worte meine innersten
Gedanken kundmachen.  Wir gingen durch die kleine Pforte in den Baumgarten
hinein, zwischen die schimmernden Stämme der ungeheuren Silberpappeln,
deren Laubkronen keinen Lichtstrahl durchließen.  Die dürren Zweige,
welche überall den Boden bedeckten, knickten unter unsern Füßen; und über
uns, von dem Geräusch aufgestört, flogen die Raben von ihren Nestern und
rauschten mit den Flügeln in den Blättern.  Anne Lene ging schweigend und
in sich verschlossen neben mir; ihre Gedanken mochten dort sein, von wo
ich sie so sehnlich zurückzurufen wünschte.--So waren wir bis zur Graft
hinabgekommen, welche auch hier die Grenze des eigentlichen Hofes bildete.

Zwischen den Bäumen, welche jenseits des Wassers standen, sah man wie
durch einen dunkeln Rahmen in die weite mondhelle Landschaft hinaus, in
welcher hie und da die einzelnen Gehöfte wie Nebelflecken aus der Ebene
ragten.  Es war so still, daß man nichts hörte als das Säuseln des Schilfs,
das in den Gräben stand.  "Sieh, Anne Lene", sagte ich, "die Erde
schläft--wie schön sie ist!"

"Ja, Marx", erwiderte sie leise, "und du bist noch so jung!"

"Bist du denn das nicht mehr?"

Sie schüttelte langsam den Kopf.  "Komm", sagte sie, "es ist hier feucht.
"--Und wir gingen weiter durch eine verfallene Umzäunung in den seitwärts
vom Hause liegenden Gemüsegarten und unten an dem Wasser entlang nach den
Boskettpartien, die vor dem Hause lagen.  Hier waren wir auf unserm alten
Spielplatz; es waren noch dieselben Büsche, zwischen denen wir einst als
Kinder in die Irre gegangen waren; nur hingen ihre Zweige noch tiefer in
den Weg als damals.  Wir gingen auf dem breiten Steige neben der Graft,
die sich im Schatten der Bäume breit und schwarz an unsrer Seite hinzog.
Man hörte das leise Rupfen des Viehes, welches jenseits auf der Fenne im
Mondschein graste, und drüben von der Rohrpflanzung her scholl das
Zwitschern des Rohrsperlings, des kleinen wachen Nachtgesellen.  Bald aber
horchte ich nur dem Geräusch der kleinen Füße, die in einiger Entfernung
so leicht vor mir dahinschritten.

In diese heimlichen Laute der Nacht drang plötzlich von der Gegend des
Deiches her der gellende Ruf eines Seevogels, der hoch durch die Luft
dahinfuhr.  Da mein Ohr einmal geweckt war, so vernahm ich nun auch aus
der Ferne das Branden der Wellen, die in der hellen Nacht sich draußen
über der wüsten geheimnisvollen Tiefe wälzten und von der kommenden Flut
dem Strande zugeworfen wurden.  Ein Gefühl der Öde und Verlorenheit
überfiel mich; fast ohne es zu wissen, stieß ich Anne Lenes Namen hervor
und streckte beide Arme nach ihr aus.

"Marx, was ist dir?" rief sie und wandte sich nach mir um.  "Hier bin ich
ja!"

"Nichts, Anne Lene", sagte ich, "aber gib mir deine Hand; ich hatte das
Meer vergessen, da hörte ich es plötzlich!"

Wir standen auf einem freien Platze vor dem alten Gartenpavillon, dessen
Türen offen in den zerbrochenen Angeln hingen.  Der Mond schien auf Anne
Lenes kleine Hand, die ruhig in der meinen lag.  Ich hatte nie das
Mondlicht auf einer Mädchenhand gesehen, und mich überschlich jener
Schauer, der aus dem Verlangen nach Erdenlust und dem schmerzlichen Gefühl
der Vergänglichkeit so wunderbar gemischt ist.  Unwillkürlich schloß ich
die Hand des Mädchens heftig in die meine; doch mit der Scheu, die der
Jugend eigen, sah ich in demselben Augenblick zu Boden.  Als aber Anne
Lene ihre Hand schweigend in der meinen ließ, wagte ich es endlich, zu ihr
emporzusehen.  Sie hatte ihr Gesicht zu mir gewandt und sah mich traurig
an; mitleidig, ich weiß noch jetzt nicht, ob mit mir oder mit sich selbst.
Dann entzog sie sich mir sanft und trat auf die Schwelle des Pavillons.

Ich sah durch die Lücken des Fußbodens das vom Mond beleuchtete Wasser
glitzern und faßte Anne Lenes Kleid, um sie zurückzuhalten.  "Sorge nicht,
Marx", sagte sie, indem sie hineintrat und ihre leichte Gestalt auf den
losen Brettern wiegte.  "Holz und Stein bricht nicht mit mir zusammen.
"--Sie ging an das gegenüberliegende Fenster und sah eine Weile in die
helle Nacht hinaus, dann hob sie mit der Hand ein Stück der alten Tapete
empor, das neben ihr an der Wand herabhing, und betrachtete im Mondlicht
die halb erloschenen Bilder.  "Es hat ausgedient", sagte sie, "die schönen
Schäferpaare wollen sich auch empfehlen.  Es mag ihnen doch allmählich
aufgefallen sein, daß die sauberen, weiß toupierten Herren und Damen so
eines nach dem andern ausgeblieben sind, mit denen sie einst zur
Sommerzeit so muntere Gesellschaft hielten.--Einmal", und sie ließ die
Stimme sinken, als rede sie im Traume, "einmal bin ich auch noch mit dabei
gewesen; aber ich war noch ein kleines Kind, Wieb hat es mir oft nachher
erzählt.--Nun fällt alles zusammen!  Ich kann es nicht halten, Marx; sie
haben mich ja ganz allein gelassen."

Mir war, als dürfe sie so nicht weiterreden.  "Laß uns ins Haus gehen",
sagte ich, "die andern werden bald zur Stadt zurück wollen."

Sie hörte nicht auf mich; sie ließ die Arme an ihrem Kleid herabsinken und
sagte langsam: "Er hat so unrecht nicht gehabt; wer holt sich die Tochter
aus einem solchen Hause!"

Ich fühlte, wie mir die Tränen in die Augen schossen.  "O Anne Lene", rief
ich und trat auf die Stufen, die zu dem Pavillon führten, "ich--ich hole
sie!  Gib mir die Hand, ich weiß den Weg zur Welt zurück!"

Aber Anne Lene beugte den Leib vor und machte mit den Armen eine hastige
abwehrende Bewegung nach mir hin.  "Nein", rief sie, und es war eine
Todesangst in ihrer Stimme, "du nicht, Marx; bleibt!  Es trägt uns beide
nicht."

Noch auf einen Augenblick sah ich die zarten Umrisse ihres lieben
Antlitzes vor einem Strahl des milden Lichtes beleuchtet; dann aber
geschah etwas und ging so schnell vorüber, daß mein Gedächtnis es nicht zu
bewahren vermocht hat.  Ein Brett des Fußbodens schlug in die Höhe; ich
sah den Schein des weißen Gewandes, dann hörte ich es unter mir im Wasser
rauschen.  Ich riß die Augen auf; der Mond schien durch den leeren Raum.
Ich wollte Anne Lene sehen, aber ich sah sie nicht.  Mir war, als renne in
meinem Kopfe etwas davon, das ich um jeden Preis wieder einholen müßte,
wenn ich nicht wahnsinnig werden wollte.  Aber während meine Gedanken
diesem Unding nachjagten, hörte ich plötzlich vom Hause her die Tanzmusik.
Das brachte mich zur Besinnung; ich stieß einen gellenden Schrei aus und
sprang neben dem Pavillon hinab ins Wasser.  Die Graft war tief; aber ich
war kein ungeübter Schwimmer; ich tauchte unter, und meine Hände griffen
zwischen dem schlüpfrigen Kraut umher, das auf dem Grunde wucherte.  Ich
öffnete die Augen und versuchte zu sehen; aber ich fühlte nur wie über mir
ein trübes Leuchten.  Meine Kleider, deren ich keines abgeworfen, zwangen
mich, auf die Oberfläche zurückzukehren.  Hier suchte ich wieder Atem zu
gewinnen und wiederholte dann noch einmal meinen Versuch.--Es war
vergebens.  Bald stand ich wieder auf dem abschüssigen Uferrande und
blickte ratlos über die Graft entlang.  Da fühlte ich eine Hand sich
schwer auf meine Schulter legen, und eine Stimme rief: "Marx, Marx, was
macht ihr da?  Wo ist das Kind?" Ich erkannte, daß es Wieb war.  "Dort,
dort!" schrie ich und streckte die Hände nach dem Graben zu.  Die Alte
faßte mich unter den Arm und zog mich gewaltsam an den Rand der Graft
hinunter.  Endlich brachte ich es heraus; und wir liefen an dem Wasser
entlang, bis an die Laube in der Gartenecke, wo die alten Erlen ihre
Zweige in die Flut hinabhängen lassen.  Wir haben sie dann endlich auch
gefunden; die Augen waren zu, und die kleine Hand war fest geschlossen.

Ich gab der alten Wieb einige Anordnungen zu dem, was jetzt geschehen
mußte, dann zog ich den Braunen aus dem Stall und jagte nach der Stadt, um
einen Arzt zu holen, denn ich traute meiner jungen Kunst in diesem Falle
nicht.  Wir waren bald zurück; aber die Schatten der Vergänglichkeit, die
schon so früh in dieses junge Leben gefallen waren, ließen sie nun nicht
mehr los.

Als wir einige Stunden später zur Stadt zurückkehrten, war die Marsch so
feierlich und schweigend, und die Rufe der Vögel, die des Nachts am Meere
fliegen, klangen aus so unermeßlicher Ferne, daß mein unerfahrenes Herz
verzweifelte, jemals die Spur derjenigen wiederzufinden, die sich nun auch
in diesen ungeheuren Raum verloren hatte.


Der jetzige Besitzer des Staatshofes ist Claus Peters.  Er hat die alte
Heuberg niederreißen lassen und ein modernes Wohnhaus an die Stelle
gesetzt.  Die Wirtschaftsgebäude liegen getrennt daneben.--Er hat recht
gehabt, es geht wohl; er liefert die größten Mastochsen zum Transport nach
England, und in seinen Zimmern stehen die kostbarsten Möbel, und er und
seine Juliane glänzen von Gesundheit und Wohlbehagen.  Ich aber bin
niemals wieder dort gewesen.


Ende dieses Projekt Gutenberg Etextes Auf dem Staatshof, von Theodor Storm.






*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK, AUF DEM STAATSHOF ***

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