Altneuland : Roman

By Theodor Herzl

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Title: Altneuland
        Roman

Author: Theodor Herzl

Release date: October 31, 2025 [eBook #77162]

Language: German

Original publication: Berlin: Hermann Seemann Nachfolger, Verlagsgesellschaft m.b.h, 1912

Credits: The Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net/ for Project Gutenberg (This file was produced from images generously made available by The Internet Archive/Canadian Libraries)


*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK ALTNEULAND ***




                               ALTNEULAND

                                 ROMAN
                                  VON
                             THEODOR HERZL

                                                 Wenn Ihr wollt,
                                            Ist es kein Märchen

                            SIEBENTE AUFLAGE

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                              Dem Andenken

                       meines Vaters Jacob Herzl
                geb. 14. April 1835, gest. 9. Juni 1902

                                  und

                     meiner Schwester Pauline Herzl
                geb. 10. März 1859, gest. 7 Februar 1878

                                gewidmet










1. BUCH.

EIN GEBILDETER UND VERZWEIFELTER JUNGER MANN.


1. KAPITEL.


Dr. Friedrich Löwenberg saß in tiefer Melancholie an dem runden
Marmortische seines Kaffeehauses. Es war eines der alten gemütlichen
Wiener Cafés auf dem Alsergrunde. Er kam seit Jahren dahin, schon als
Student. Mit der Regelmäßigkeit eines Bureaukraten pflegte er um die
fünfte Nachmittagsstunde einzutreten. Der blasse, kranke Kellner
begrüßte ihn ergebenst. Löwenberg machte eine höfliche Verbeugung vor
der ebenfalls blassen Kassiererin, mit der er nie sprach. Dann setzte
er sich an den runden Lesetisch, trank seinen Kaffee, las alle
Zeitungen durch, die ihm der Kellner beflissen brachte. Und wenn er mit
den Tages- und Wochenzeitungen, Witzblättern und Fachjournalen fertig
war, was nie weniger als anderthalb Stunden in Anspruch nahm, kamen die
Gespräche mit Freunden oder die einsamen Träume.

Das heißt: ehemals waren es Plaudereien gewesen, jetzt waren es nur
noch Träumereien, denn die zwei guten Gesellen, die jahrelang mit ihm
diese eigentümlich leeren und charmanten Abendstunden im Café
Birkenreis verbracht hatten, sie waren beide in den letzten Monaten
verstorben. Beide waren älter gewesen, als er, und es war, wie der
eine, Heinrich, in seinem Abschiedsbrief an Löwenberg schrieb, bevor er
sich eine Revolverkugel in die Schläfe schoß: „es war sozusagen
chronologisch begreiflich, daß sie früher verzweifelten, als er.“ Der
andere, Oswald, war nach Brasilien gezogen, um für eine Ansiedelung
jüdischer Proletarier thätig zu sein, und dort war er unlängst dem
gelben Fieber erlegen.

So kam es, daß Friedrich Löwenberg seit einigen Monaten einsam an dem
alten Tische saß und, wenn er sich durch den Zeitungshaufen
durchgeschlagen hatte, vor sich hinträumte, ohne eine Ansprache zu
suchen. Er war zu müde, neue Bekanntschaften zu schließen, als wäre er
nicht dreiundzwanzig Jahre alt, sondern ein Greis gewesen, der schon zu
oft hatte von lieben Leuten Abschied nehmen müssen. Da saß er und
starrte in den leichten Dunst hinein, der die ferneren Winkel des
Saales verschleierte. Um den Billardtisch standen mit langen Stöcken
und kühnen Stoßgeberden einige junge Leute. Die waren nicht unvergnügt,
obwohl sie sich in ähnlicher Lage befanden, wie er: es waren angehende
Aerzte, neugebackene Doktoren der Rechte, absolvierte Techniker. Die
höheren Studien hatten sie vollendet, und zu thun gab es nichts. Die
meisten waren Juden und pflegten zu klagen, wenn sie nicht gerade
Billard oder Karten spielten, wie schwer es „in dieser Zeit“ sei, das
Fortkommen zu finden. Einstweilen vertrieben sie sich „diese Zeit“ mit
endlosen Spielpartien. Löwenberg bedauerte und beneidete zugleich diese
Gedankenlosen. Sie waren eigentlich nur bessere Proletarierer, Opfer
einer Anschauungsweise, die vor zwanzig oder dreißig Jahren in den
mittleren Schichten der Judenschaft geherrscht hatte. Die Söhne sollten
etwas anderes werden, als die Väter gewesen. Los vom Handel, von den
Geschäften. Da hatte ein Massenauszug des Nachwuchses nach den
„gebildeten“ Berufen stattgefunden. Das Ende war ein jammervoller
Ueberfluß an studierten Leuten, die keine Beschäftigung fanden, zu
bescheidener Lebensführung nicht mehr taugten, in Aemtern nicht
unterschlüpfen konnten, wie ihre christlichen Kollegen, und sozusagen
auf dem Markte lagen. Dabei hatten sie Standespflichten, ein kümmerlich
hochmütiges Standesbewußtsein und recht mittellose Titel. Die einiges
Vermögen besaßen, konnten es langsam aufzehren, oder sie lebten aus der
väterlichen Tasche weiter. Andere lauerten auf die „gute Partie“, mit
der hübschen Aussicht, Eheknecht im Solde eines Schwiegervaters zu
werden. Die dritten unternahmen eine rücksichtslose und nicht immer
reinliche Konkurrenz in Berufen, welche eine vornehmere Lebenshaltung
erforderten. So daß man das wunderliche und traurige Schauspiel hatte,
sie, die nicht einfache Kaufleute sein wollten, als „Akademiker“
Geschäfte machen zu sehen: Geschäfte mit geheimen Krankheiten oder
unerlaubten Prozessen. Manche wurden aus Not Journalisten und handelten
mit öffentlicher Meinung. Noch andere tummelten sich in
Volksversammlungen herum, hausierten mit wertlosen Schlagworten, um
bekannt zu werden und parteiliche Beziehungen zu ergattern, die später
Nutzen bringen mochten.

Keinen dieser Wege wollte Löwenberg gehen. „Du taugst nicht fürs
Leben,“ hatte der arme Oswald ihm vor der Abreise nach Brasilien in
grimmiger Laune gesagt; „denn du ekelst dich vor zu vielen Dingen. Man
muß was hinunterschlucken können, zum Beispiel Ungeziefer, Unrat. Davon
wird man dick und kräftig, und man bringt es zu etwas. Aber du, du bist
nichts als ein feiner Esel. Geh’ in ein Kloster, Ophelia! ... Daß du
ein anständiger Mensch bist, wird dir niemand glauben, weil du ein Jud’
bist ... also was? Du wirst mit den paar Groschen Erbteil früher als
mit deiner Rechtspraxis fertig werden. Dann wirst du doch etwas
anfangen müssen, wovor du dich ekelst — oder dich aufhängen. Ich bitte
dich, kauf’ dir einen Strick, solange du noch einen Gulden hast. Auf
mich kannst du nicht rechnen. Erstens werde ich nicht hier sein,
zweitens bin ich dein Freund.“

Oswald hatte ihn bereden wollen, mit nach Brasilien zu gehen. Friedrich
Löwenberg aber konnte sich dazu nicht entschließen. Den heimlichsten
Grund seiner Weigerung nannte er freilich dem Freunde nicht, der damals
hinauszog, um auf fremder Erde früh den Tod zu finden. Es war ein
blonder, schwärmerischer Grund, ein äußerst süßes Geschöpf. Nicht
einmal den beiden vertrauten Freunden wagte er von Ernestinen zu
sprechen. Er fürchtete die Scherze über sein zartestes Gefühl. Und nun
waren die beiden Guten nicht mehr da. Er konnte sie nicht mehr, auch
wenn er wollte, um ihren Rat und ihre Teilnahme bitten. Denn es war
eine schwere, schwere Sache. Er wollte sich vorstellen, was wohl die
beiden dazu gesagt hätten, wenn sie nicht von ihm gegangen wären,
sondern noch dasäßen auf ihren alten Plätzen an dem runden Lesetische.
Er schloß die Augen ein wenig und träumte das Gespräch.

„Meine Freunde, ich bin verliebt — nein, ich liebe ...“

„Armer Kerl!“ würde Heinrich sagen.

Oswald aber: „Eine solche Dummheit sieht dir ganz ähnlich, lieber
Friedrich.“

„Es ist mehr als eine Dummheit, meine lieben Freunde, es ist schon
ausgewachsener Wahnsinn. Denn Herr Löffler, ihr Vater, wird mich
wahrscheinlich auslachen, wenn ich ihn um die Hand Ernestinens bitte.
Ich bin nichts als ein Advokaturskandidat mit vierzig Gulden
Monatsgehalt. Ich habe nichts, gar nichts mehr. Die letzten Monate
waren mein Ruin. Die wenigen hundert Gulden, die noch von meinem Erbe
übrig waren, sind aufgezehrt. Ich weiß ja, daß es Unsinn war, mich so
von allem zu entblößen. Aber ich wollte in ihrer Nähe sein, ihre Anmut
sehen, ihre holde Stimme hören. Da mußte ich im Sommer den Kurort
besuchen, wo sie war, und nun Theater, Konzerte. Ich mußte mich auch
gut kleiden, um in ihre Gesellschaften zu kommen. Und jetzt habe ich
nichts mehr und liebe sie noch immer so, nein, mehr als je.“

„Und was willst du thun?“ würde Heinrich fragen.

„Ich will ihr sagen, daß ich sie liebe, und will sie bitten, ein paar
Jahre auf mich zu warten, bis ich mir eine Existenz geschaffen habe.“

Da hörte er im Traume Oswalds höhnisches Lachen: „Jawohl, warten! so
unvernünftig ist Ernestine Löffler nicht, daß sie auf einen
Hungerleider warten wird, bis sie verblüht ist. Hahaha!“

Aber das Lachen erscholl wirklich neben Friedrich Löwenberg, und er
öffnete bestürzt die Augen. Herr Schiffmann, ein junger Bankbeamter,
den Friedrich im Löfflerschen Hause kennen gelernt hatte, stand vor ihm
und lachte herzlich:

„Scheinen gestern spät ins Bett gegangen zu sein, Herr Doktor, daß Sie
jetzt schon schläfrig sind.“

„Ich habe nicht geschlafen,“ sagte Friedrich verlegen.

„Na, heute wird es auch lange dauern. Sie gehen doch zu Löfflers?“ Herr
Schiffmann setzte sich ungezwungen an den Lesetisch.

Friedrich konnte den Burschen nicht sonderlich leiden. Dennoch ließ er
sich seine Gesellschaft gefallen, weil er mit ihm von Ernestinen reden
durfte und öfters durch ihn erfuhr, in welches Theater Ernestine gehen
werde. Herr Schiffmann hatte nämlich feine Beziehungen zu
Theaterkassierern und verschaffte Sperrsitze selbst zu den
unzugänglichsten Vorstellungen.

Friedrich sagte: „Ja, ich bin heute auch zu Löfflers eingeladen.“

Herr Schiffmann hatte eine Zeitung in die Hand genommen und rief aus:
„Das ist doch sonderbar!“

„Was denn?“

„Diese Annonce!“

„Ah, Sie lesen auch die Annoncen?“ sagte Friedrich ironisch lächelnd.

„Wie heißt: auch?“ erwiderte Schiffmann. „Ich lese hauptsächlich die
Annoncen. Die sind das Interessanteste in der Zeitung — vom
Börsenbericht abgesehen.“

„So? Ich habe den Börsenbericht noch nie gelesen.“

„Nun ja, Sie! ... Aber ich! Ich brauche nur einen Blick auf den
Kurszettel, so sag’ ich Ihnen die ganze europäische Lage ... Dann
kommen aber gleich die Annoncen. Sie haben keine Ahnung, was da alles
drin steht. Das ist, wie wenn ich auf einen Markt geh’. Da giebt es
eine Menge Sachen und Menschen zu verkaufen. Das heißt: zu verkaufen
ist ja eigentlich alles in der Welt — nur der Preis ist nicht immer zu
erschwingen ... Wenn ich da hereinschau’ in den Inseratenteil, erfahr’
ich immer, was es für Gelegenheiten giebt. Alles soll man wissen,
nichts soll man brauchen ... Aber da seh’ ich schon seit ein paar Tagen
eine Annonce, die ich nicht versteh’.“

„Ist sie in einer fremden Sprache?“

„Da sehen Sie her, Doktor!“ Schiffmann hielt ihm das Blatt hin und
deutete auf eine kleine Anzeige, die so lautete:

„Gesucht wird ein gebildeter und verzweifelter junger Mann, der bereit
ist, mit seinem Leben ein letztes Experiment zu machen. Anträge unter
N. O. Body an die Expedition.“

„Ja, Sie haben recht,“ sagte Friedrich, „das ist ein merkwürdiges
Inserat. Ein gebildeter und verzweifelter junger Mann! Solche sind
vielleicht zu finden. Aber der Nachsatz macht die Sache schwerer. Wie
verzweifelt muß einer sein, wenn er mit seinem Leben ein letztes
Experiment wagen soll.“

„Er scheint ihn auch nicht gefunden zu haben, der Herr Body. Ich seh’
die Annonce immer wieder. Wissen möcht’ ich aber doch, wer dieser Body
mit dem sonderbaren Geschmack ist.“

„Das ist niemand.“

„Wie heißt niemand?“

„N. O. Body — nobody. Niemand auf Englisch.“

„Ah, so ... Ans Englische hab’ ich nicht gedacht. Alles soll man
wissen, nichts soll man brauchen ... Aber es wird Zeit, wenn wir nicht
zu spät zu Löfflers kommen wollen. G’rad’ heute muß man pünktlich
sein.“

„Warum gerade heute?“ fragte Löwenberg.

„Bedaure! Kann ich nicht sagen. Bei mir ist Diskretion Ehrensache ...
Aber Sie können sich auf eine Ueberraschung gefaßt machen ... Kellner!
Zahlen!“

Eine Ueberraschung? Friedrich empfand plötzlich eine unbestimmte Angst.

Als er mit Schiffmann das Kaffeehaus verließ, bemerkte er einen Knaben
von etwa zehn Jahren außen in der Thürnische. Der Junge hatte in seinem
dünnen Röckchen die Schultern hoch hinaufgezogen, die Arme verschränkt
an den Leib geklemmt, und er stampfte mit den Füßen den leicht
herangewehten Schnee dieses geschützten Winkels. Das Hüpfen nahm sich
beinahe possierlich aus. Aber Friedrich sah, daß das arme Kind in den
zerrissenen Schuhen bitterlich fror. Er griff in die Tasche, suchte
beim Scheine der nächsten Laterne drei Kupferkreuzer aus dem Kleingelde
hervor und gab sie dem Knaben. Dieser nahm sie, sagte leise mit
fröstelnder Stimme „Dank!“ und lief schnell davon.

„Was? Sie unterstützen den Straßenbettel?“ sagte Schiffmann indigniert.

„Ich glaube nicht, daß dieser Kleine sich zum Vergnügen im
Dezemberschnee herumtreibt ... Mir scheint auch, es war ein
Judenjunge.“

„Dann soll er sich an die Kultusgemeinde wenden oder an die
israelitische Allianz und nicht am Abend bei Kaffeehäusern
herumstehen!“

„Regen Sie sich nicht auf, Herr Schiffmann, Sie haben ihm doch nichts
gegeben.“

„Mein lieber Doktor,“ sagte Schiffmann bestimmt, „ich bin Mitglied des
Vereins gegen Verarmung und Bettelei. Jahresbeitrag ein Gulden.“








2. KAPITEL.


Die Familie Löffler wohnte im zweiten Stock eines großen Zinshauses in
der Gonzagagasse. Im Erdgeschosse befand sich die Tuchniederlage der
Firma „Moriz Löffler und Komp.“

Als Friedrich und Schiffmann in das Vorzimmer traten, bemerkten sie an
der Menge der schon dahängenden Winterröcke und Mäntel, daß die
Gesellschaft heute zahlreicher sein mußte, als gewöhnlich.

„Ein ganzes Kleidergeschäft,“ meinte Schiffmann.

Im Salon waren einige Leute, die Friedrich schon kannte. Fremd war ihm
aber der kahlköpfige Herr, der neben Ernestinen am Klavier stand und
ihr ganz vertraulich zulächelte.

Das junge Mädchen streckte dem Ankömmling liebenswürdig die Hand
entgegen:

„Herr Doktor Löwenberg, lassen Sie sich vorstellen! Das ist Herr
Leopold Weinberger.“

„Mitchef der Firma Samuel Weinberger und Söhne in Brünn“, ergänzte Papa
Löffler nicht ohne Feierlichkeit und Wohlwollen.

Die beiden Herren reichten einander erfreut die Hände, und Friedrich
nahm bei dieser Gelegenheit wahr, daß Herr Weinberger, der Mitchef der
Brünner Firma, beträchtlich schielte und eine sehr feuchte Handfläche
hatte. Das mißfiel Friedrich nicht, weil es den ersten, blitzartigen
Gedanken verscheuchte, von dem er bei seinem Eintritte befallen worden
war. Ernestine mit einem solchen Menschen — das war einfach unmöglich.
Wie sie jetzt dastand, schlank, anmutreich, das holde Haupt lieblich
geneigt, entzückte sie seine Augen. Er mußte sich aber ein wenig
zurückziehen, denn andere Gäste kamen und wurden begrüßt. Nur Herr
Leopold Weinberger aus Brünn behauptete sich einigermaßen zudringlich
an Ernestinens Seite.

Friedrich erkundigte sich bei Schiffmann:

„Dieser Herr Weinberger ist wohl ein alter Bekannter des Hauses?“

„Nein,“ sagte Schiffmann, „sie kennen ihn erst seit vierzehn Tagen,
aber es ist eine feine Tuchfirma.“

„Was ist fein, Herr Schiffmann? das Tuch oder die Firma?“ fragte
Friedrich belustigt und getröstet. Denn ein Mensch, den man erst seit
vierzehn Tagen kannte, war doch sicherlich kein Bräutigam.

„Beides,“ erwiderte Schiffmann. „Samuel Weinberger und Söhne kriegen so
viel Geld sie wollen für vier Percent. Hochprima ... Ueberhaupt geht es
heute hier nobel zu. Sehen Sie: der Magere dort mit den Glotzaugen, das
ist Schlesinger, der Prokurist von Baron Goldstein. Er ist ein
zuwiderer Mensch, aber sehr beliebt.“

„Warum?“

„Wie heißt, warum? Weil er der Prokurist von Baron Goldstein ist ...
Kennen Sie den mit dem grauen Backenbart? Auch nicht? Ja, von wo kommen
Sie denn? Das ist der Großspekulant Laschner, einer der bedeutendsten
Börsianer. Der spielt Ihnen mit ein paar tausend Effekten wie gar
nichts. Jetzt ist er gerade sehr reich. Mir gesagt! Ob er nächstes Jahr
noch etwas haben wird, weiß ich nicht. Heute hat seine Gemahlin die
größten Brillanten-Boutons ... die anderen sind ihr auch alle darauf
neidig.“

Frau Laschner saß in einer Ecke des Salons mit mehreren ebenfalls stark
geputzten Damen, und sie sprachen leidenschaftlich von Hüten. Die
übrigen Gruppen waren noch in der kühlen Stimmung vor dem Nachtmahl.
Auch schienen einige von der bevorstehenden Ueberraschung unterrichtet
zu sein, die Schiffmann im Kaffeehaus angedeutet hatte. Sie machten
diskrete Mienen und flüsterten miteinander. Friedrich fühlte sich
unbehaglich, ohne recht zu wissen warum. In dieser Gesellschaft spielte
er nächst Schiffmann die unbedeutendste Rolle. Sonst hatte er das nie
bemerkt, weil Ernestine mit ihm zu bleiben pflegte, wenn er kam. Aber
heute wandte sie keinen Blick und kein Wort an ihn. Herr Weinberger aus
Brünn mußte ein sehr anregender Plauderer sein. Noch etwas empfand
Friedrich als Demütigung des Schicksals. Er und Schiffmann waren die
Einzigen, die nicht im Frack oder Smoking erschienen waren, sondern im
Salonrock. Dadurch waren sie auch äußerlich als die Parias des Abends
gekennzeichnet. Am liebsten wäre er weggegangen, aber dazu fand er
nicht den Mut.

Der große Salon war schon überfüllt. Man schien aber noch jemanden zu
erwarten. Friedrich wandte sich mit einer Frage an seinen
Elendgenossen. Schiffmann wußte es auch wirklich, denn er hatte soeben
eine Bemerkung der Hausfrau erlauscht.

„Man wartet nur noch auf Grün und Blau.“

„Wer ist das?“ fragte Friedrich.

„Was? Sie kennen Grün und Blau nicht? Die zwei geistreichsten Menschen
von Wien? Es giebt doch keine Gesellschaft, keine Hochzeit, keinen
Polterabend, oder was immer, ohne Grün und Blau. Manche sagen, Grün ist
der Geistreichere; manche sagen, Blau. Grün ist mehr auf Wortspiele
eingerichtet, Blau macht sich mehr über die Leute lustig. Blau hat
darum auch schon mehr Pätsch’ bekommen, aber das geniert ihn nicht. Er
hat das richtige Gesicht dafür. Seine Wangen werden nicht rot, wenn man
sie ohrfeigt ... In den besseren jüdischen Kreisen sind die zwei Herren
sehr beliebt. Nur kann einer den anderen nicht ausstehen — natürlich,
sie sind ja Konkurrenten.“

Eine kleine Bewegung im Salon. Herr Grün war eingetreten, ein langer
hagerer Mensch mit rötlichem Bart und auffallend weit vom Kopf
abstehenden Ohren, die Herr Blau die „uneingesäumten Ohren“ nannte,
weil ihr oberer Rand nicht der Muschel zu gefaltet war, sondern flach
auslag.

Ernestinens Mutter ging dem berühmten Witzbold mit einem
liebenswürdigen Vorwurf entgegen:

„Warum kommen Sie erst jetzt, Herr Grün?“

„Ich hab’ nicht später kommen können,“ antwortete er humoristisch. Die
es hörten, lächelten dankbar. Doch über die Züge des Humoristen flog
ein Schatten: Blau war erschienen.

Herr Blau, ein mittelgroßer Mann von etwa dreißig Jahren, hatte ein
glattrasiertes Gesicht, und auf der stark gebogenen Nase saß ihm ein
Kneifer.

„Ich war im Wiedener Theater“, sagte er, „bei der Première. Nach dem
ersten Akt bin ich weggegangen.“

Die Mitteilung erregte Interesse. Damen und Herren scharten sich um
Blau, der weiter berichtete:

„Der erste Akt ist zum allgemeinen Erstaunen nicht durchgefallen.“

Frau Laschner rief ihrem Gatten herrisch zu: „Moriz, ich will morgen
dazu gehen.“

Blau fuhr fort: „Die Freunde der Librettisten haben sich ausgezeichnet
unterhalten.“

„So gut ist die Operette?“ fragte Schlesinger, der Prokurist des Baron
Goldstein.

„Nein — so schlecht!“ erklärte Blau. „Die Freunde der Verfasser
unterhalten sich doch nur, wenn das Stück schlecht ist.“

Man ging zu Tische. Der große Speisesaal war noch zu klein für die
heutige Gesellschaft. Man saß dicht gedrängt. Ernestine neben Herrn
Weinberger. Friedrich und Schiffmann hatten am untersten Ende der Tafel
Platz nehmen müssen.

Anfänglich gab es mehr Tellergeklapper und Klirren von Eßzeug, als
Gespräche. Herr Blau rief seinem Konkurrenten über den Tisch zu:

„Grün — essen Sie nicht so laut! Man hört seinen eigenen Fisch nicht.“

„Sie sollten keinen Fisch essen, sondern Neidhammelkeule.“

Die Anhänger des Herrn Grün lachten über diesen Witz. Die Anhänger des
Herrn Blau fanden ihn matt.

Aber die Aufmerksamkeit der Tafelrunde wurde von den beiden Witzbolden
abgelenkt, als ein älterer Herr, der neben Frau Löffler saß, mit etwas
lauterer Stimme sagte:

„Bei uns in Mähren wird die Lage auch schlecht. In den kleineren
Landstädten sind unsere Leute wirklich in Gefahr. Sind die Deutschen
schlecht aufgelegt, schlagen sie den Juden die Fenster ein. Sind die
Czechen schief gewickelt, brechen sie bei den Juden ein. Die armen
Leute fangen an, auszuwandern. Aber sie wissen nicht, wohin sie
sollen.“

„Moriz!“ schrie in diesem Augenblick Frau Laschner, „ich will
übermorgen ins Burgtheater.“

„Gieb jetzt Ruh!“ antwortete der Börsenmann. „Doktor Weiß erzählt uns,
wie es bei ihnen in Mähren aussieht. Auf Ehre nicht schön.“

Samuel Weinberger, der Vater des Herrn Leopold Weinberger mischte sich
ein:

„Herr Doktor, Sie als Rabbiner sehen etwas zu schwarz.“

„Weiß sieht immer schwarz!“ sagte einer der Spaßmacher; aber der Witz
fiel ins Leere.

Samuel Weinberger fuhr fort:

„Ich fühl’ mich in meiner Fabrik ganz sicher. Wenn man bei mir
Spektakel macht, ruf’ ich die Polizei oder geh’ zum Platz-Kommando.
Wenn das Gesindel nur die Bajonette sieht, hat es schon Respekt.“

„Das ist doch aber ein trauriger Zustand,“ meinte Rabbiner Weiß mit
Sanftmut.

Der Advokat Doktor Walter, der ursprünglich Veiglstock geheißen hatte,
bemerkte: „Ich weiß nicht mehr, wer gesagt hat: Mit Bajonetten kann man
alles machen; nur sich darauf setzen kann man nicht.“

„Ich seh’ schon,“ rief Laschner, „wir werden alle wieder den gelben
Fleck tragen müssen.“

„Oder auswandern,“ sagte der Rabbiner.

„Ich bitte Sie, wohin?“ fragte Walter. „Ist es vielleicht anderswo
besser? Sogar im freien Frankreich haben die Antisemiten die Oberhand.“

Doktor Weiß aber, der arme Rabbiner einer mährischen Kleinstadt, der
entschieden nicht wußte, in welchen Kreis er da geraten war, wagte eine
schüchterne Einwendung: „Es giebt seit einigen Jahren eine Bewegung,
man nennt sie die zionistische. Die will die Judenfrage durch eine
großartige Kolonisation lösen. Es sollen alle, die es nicht mehr
aushalten können, in unsere alte Heimat, nach Palästina gehen.“

Er hatte ganz ruhig gesprochen und nicht wahrgenommen, wie die
Gesichter um ihn her sich allmählich zum Lächeln verzogen, und er war
daher ordentlich verdutzt, als das Gelächter beim Worte Palästina
plötzlich losbrach. Es war ein Lachen in allen Tonarten. Die Damen
kicherten, die Herren brüllten und wieherten. Nur Friedrich Löwenberg
fand diesen Heiterkeitsausbruch brutal und ungeziemend gegen den alten
Mann.

Blau benützte die erste Pause im allgemeinen Gelächter, um zu erklären:
„Wenn es in der neuen Operette einen einzigen solchen Witz gegeben
hätte, wär’ uns wohl gewesen.“

Grün schrie: „Ich werde Botschafter in Wien.“

Erneutes Gelächter. Einige riefen dazwischen: „Ich auch, ich auch.“

Da sagte Blau ernst: „Meine Herren, alle können es nicht werden. Ich
glaube, die österreichische Regierung wird so viele jüdische
Botschafter nicht annehmen. Sie müssen sich um andere Posten umsehen.“

Der alte Rabbiner war aber sehr verlegen und sah nicht mehr von seinem
Teller auf, indessen die Humoristen Grün und Blau sich mit einer wahren
Lust auf den spaßigen Stoff warfen. Sie teilten das neue Reich ein,
schilderten die Zustände. Am Schabbes wird die Börse geschlossen sein.
Der König wird den Männern, die sich um das Vaterland oder um die Börse
herum Verdienste erworben haben, den Davidsorden oder den Orden vom
„fleischigen Schwert“ verleihen. Wer aber soll König sein?

„Jedenfalls Baron Goldstein,“ sagte der Witzbold Blau.

Herr Schlesinger, der Prokurist dieses berühmten Bankiers, bemerkte
unwillig: „Ich bitte die Person des Herrn Baron von Goldstein nicht in
die Debatte zu ziehen, wenigstens nicht in meiner Gegenwart.“

Fast alle Anwesenden gaben ihm durch Kopfnicken ihre Zustimmung zu
erkennen. Der witzige Herr Blau beging wirklich manchmal
Taktlosigkeiten. Die Person des Herrn Baron Goldstein in die Debatte zu
ziehen, das ging denn doch ein bißchen zu weit. Herr Blau aber fuhr
fort:

„Justizminister wird Herr Doktor Walter. Er bekommt den Adelsstand mit
dem Prädikate „von Veiglstock“. Walter Edler von Veiglstock.“

Man lachte. Der Advokat errötete über seinen Vatersnamen und rief dem
Witzling zu:

„Sie haben schon lang keine fremde Hand in Ihrem Gesicht gespürt.“

Grün, der Wortwitzige, aber Vorsichtigere, flüsterte seiner Nachbarin
eine Silbenkombination zu, in der das Wort Ohrfeiglstock vorkam.

Frau Laschner erkundigte sich: „Wird es Theater auch geben in
Palästina? Sonst geh’ ich nicht hin.“

„Gewiß, gnädige Frau,“ sagte Grün. „Bei den Festvorstellungen im
Hoftheater von Jerusalem wird die ganze Israelite versammelt sein.“

Der Rabbiner Weiß meinte nun schüchtern: „Ueber wen machen Sie sich
lustig, meine Herren? Ueber sich selbst?“

„Nein, ernst werden wir uns nehmen!“ sagte Blau.

„Ich bin stolz, daß ich ein Jud’ bin,“ erklärte Laschner; „denn wenn
ich nicht wär’ stolz, wär’ ich doch auch ein Jud’. Also, bin ich lieber
gleich stolz.“

In diesem Augenblick gingen die beiden Stubenmädchen hinaus, um eine
andere Schüssel zu holen. Die Hausfrau bemerkte:

„Wenn die Dienstboten dabei sind, sollte man lieber nicht über jüdische
Sachen reden.“

Blau erwiderte sofort: „Entschuldigen gnädige Frau, ich hab’ nicht
gewußt, daß Ihre Dienstboten nicht wissen, daß Sie Juden sind.“

Einige lachten.

„Nun ja,“ sagte Schlesinger mit Autorität; „aber man muß es doch nicht
an die große Glocke hängen.“

Champagner wurde hereingebracht. Schiffmann stieß seinen Nachbar
Friedrich Löwenberg mit dem Ellbogen:

„Jetzt wird’s losgehen!“

„Was wird losgehen?“ fragte Friedrich.

„Haben Sie’s denn noch immer nicht heraus?“

Nein, Friedrich hatte es noch immer nicht erraten. Aber im nächsten
Augenblicke wurde ihm die Gewißheit.

Herr Löffler klopfte mit dem Messer an sein Glas und erhob sich. Stille
trat ein. Die Damen lehnten sich zurück. Der Humorist Blau schob noch
schnell einen Bissen in den Mund, er kaute, während Papa Löffler
sprach:

„Meine hochverehrten Freunde! Ich bin in der angenehmen Lage, Ihnen
eine freudige Mitteilung zu machen. Meine Tochter Ernestine hat sich
mit Herrn Leopold Weinberger aus Brünn, Mitchef der Firma Samuel
Weinberger und Söhne, verlobt. Das Brautpaar soll leben. Hoch!“

Hoch! Hoch! Hoch! Alle hatten sich erhoben. Die Gläser klangen. Dann
ging man um den Tisch herum, zu den Eltern, zum Brautpaare, Glück
wünschend. Auch Friedrich Löwenberg machte diesen Weg mit, obwohl er
eine Wolke vor den Augen hatte. Eine Sekunde lang war er vor Ernestine
gestanden und hatte mit zitternder Hand sein Glas dem ihrigen genähert.
Sie sah flüchtig über ihn hinweg.

Dann war die Stimmung an der Tafel fröhlich geworden. Ein Trinkspruch
folgte dem andern. Schlesinger hielt eine würdevolle Rede. Grün und
Blau zeigten sich auf der Höhe ihrer humoristischen Aufgabe. Grün
verrenkte in seinem Toast noch mehr Silben als gewöhnlich, und Blau
machte allerlei taktlose Anspielungen. Die Gesellschaft geriet in die
beste Laune.

Friedrich hörte das alles nur undeutlich, wie aus der Ferne, und es war
ihm zu Mute, als befände er sich in einem dichten Nebel, in dem man
nichts sieht und schwer Atem holen kann.

Das Mahl ging zu Ende. Friedrich hatte den einzigen Gedanken,
fortzukommen, weit weg von all diesen Leuten. Er kam sich überflüssig
vor in diesem Zimmer, in dieser Stadt, in der Welt überhaupt. Aber als
er sich in dem kleinen Gedränge nach der Tafel unauffällig
hinausdrücken wollte, kam ihm Ernestine in den Weg. Lieblich war ihre
Stimme, als sie ihn anhielt:

„Sie haben mir noch nichts gesagt, Herr Doktor!“

„Was soll ich Ihnen sagen, Fräulein Ernestine? ... Ich wünsche Ihnen
Glück. Ja, ja — ich wünsche Ihnen viel Glück zu dieser Verlobung.“

Aber da war schon der Bräutigam wieder neben ihr, legte den Arm mit der
Sicherheit des Besitzers um ihre Taille und zog sie fort. Sie lächelte.








3. KAPITEL.


Als Friedrich Löwenberg in die Winternachtluft hinaustrat, legte er
sich die Frage vor, was das Widerlichere gewesen sei: die
Besitzergeberde des Herrn Weinberger aus Brünn, oder das Lächeln des
jungen Mädchens, das er bisher so bezaubernd gefunden hatte. Wie? Seit
vierzehn Tagen erst kannte der „Mitchef“ die Holde, und er durfte seine
schwitzende Hand auf ihren Leib legen. Welch ein ekelhafter Handel. Es
war der Zusammenbruch einer feinen Illusion. Der Mitchef hatte offenbar
Geld, und Friedrich hatte keines. In diesem Kreise, wo man nur für
Vergnügen und Vorteil Sinn hatte, war Geld alles. Und doch war er auf
diesen Kreis der jüdischen Bourgeoisie angewiesen. Mit diesen Leuten
und leider auch von diesen Leuten mußte er leben, denn sie stellten die
Klientel einer zukünftigen Advokatenpraxis vor. Wenn es hoch kam, wurde
man Rechtsbeistand eines Mannes wie Laschner — von dem phantastischen
Glücksfalle, daß man einen Kunden wie Baron Goldstein bekam, gar nicht
zu träumen. Die christliche Gesellschaft und eine christliche Klientel
gehörten zum Unzugänglichsten in der Welt. Also was? Entweder sich dem
Löfflerschen Kreise einfügen, dessen niederes Lebensideal teilen, die
Interessen zweifelhafter Geldmenschen vertreten und zum Lohne für
solche brave Aufführung nach so und so viel Jahren auch eine Kanzlei
besitzen, mit dem Anspruch auf die Hand und Mitgift eines Mädchens, das
nach vierzehntägiger Bekanntschaft den erstbesten heiratet. Oder, wenn
einem das alles zu ekelhaft war, die Einsamkeit und Armut.

Er war in solchen Gedanken wieder vor dem Café Birkenreis angelangt.
Was sollte er auch jetzt schon zu Hause in seinem engen Stübchen
anfangen? Es war zehn Uhr. Schlafen gehen? Ja, wenn es kein Erwachen
mehr gäbe ...

Vor der Thüre des Kaffeehauses wäre er beinahe über einen kleinen
Körper gestolpert. Auf der Stufe des Einganges hockte ein Knabe.
Friedrich erkannte ihn: es war derselbe Junge, den er vor wenigen
Stunden beschenkt hatte.

Barsch ließ er ihn an: „Was? Du bettelst da schon wieder?“

Der Knabe erwiderte mit fröstelnder Stimme: „Ich wart’ auf mein’
Taten.“ Dann stand er auf und hüpfte wieder und schlug die Arme
übereinander, um sich zu erwärmen. Friedrich war so unglücklich, daß er
für das frierende Kind kein Mitleid empfand.

Er trat in den qualmigen Raum ein und setzte sich auf seinen gewohnten
Platz am Lesetisch. Um diese Stunde war das Kaffeehaus schwach besucht.
Nur in den Winkeln einige verspätete Spieler, die sich voneinander
nicht trennen konnten und immer wieder die letzten Runden ankündigten,
an die sich die allerletzten und unwiderruflich letzten sowie die
„Schuft mein Name“ letzten anschlossen.

Eine Weile saß Friedrich und starrte vor sich hin, dann kam ein
schwatzhafter Bekannter an den Tisch heran. Friedrich flüchtete sich
hinter eine Zeitung und that als ob er läse. Aber wie er in das Blatt
hineinsah, fiel sein Blick zufällig wieder auf die Anzeige, von der
Schiffmann vor einigen Stunden gesprochen hatte:

„Gesucht wird ein gebildeter und verzweifelter junger Mann, der bereit
ist, mit seinem Leben ein letztes Experiment zu machen. Anträge unter
N. O. Body an die Expedition.“

Wie sonderbar. Jetzt paßte die Anrufung auf ihn. Ein letztes
Experiment! Das Leben war ihm ohnehin verleidet. Bevor er es wegwarf
wie sein armer Freund Heinrich, konnte er immerhin noch etwas damit
unternehmen. Er ließ sich vom Kellner einen Kartenbrief geben und
schrieb an N. O. Body diese wenigen Worte:

„Ich bin Ihr Mann. Doktor Friedrich Löwenberg IX. Hahngasse 67.“

Während er den Brief zuklebte, kam von hinten jemand an ihn heran:

„Zahnbürsteln, Hosenträger, Hemdknöpf’ gefällig?“

Friedrich scheuchte den zudringlichen Hausierer mit einem barschen
Worte weg. Der zog sich seufzend zurück, mit einem ängstlichen Blick
nach dem Kellner, der ihn vielleicht hinausweisen würde. Da bereute
Friedrich, daß er den armen Menschen eingeschüchtert hatte, rief ihn
zurück und warf ihm ein Zwanzighellerstück in das Hausiererkästchen.
Der Mann hielt ihm seinen Trödel hin:

„Ich bin kein Bettler ... Sie müssen etwas kaufen, sonst kann ich das
Geld nicht behalten.“

Um ihn loszuwerden, nahm Friedrich einen Hemdknopf aus dem Kästchen.
Jetzt erst dankte der Mann und ging weg. Friedrich sah ihm gleichgültig
nach, wie er zu dem Kellner trat und diesem das eben erhaltene
Geldstück gab. Der Kellner holte aus einem Korb altgebackene Brote
hervor und lieferte sie dem Hausierer aus, der sie hastig in seine
Rocktaschen stopfte.

Friedrich erhob sich, um wegzugehen. Als er vor der Thüre des
Kaffeehauses stand, sah er den frierenden Jungen wieder, diesmal mit
dem Hausierer, der ihm die harten Brötchen übergab. Das war also der
Vater des Knaben.

„Was macht Ihr da?“ fragte Friedrich.

„Ich geb ihm die Kipfeln, gnädiger Herr,“ sagte der Hausierer; „daß er
sie soll zu Haus tragen zu mein’ Weib. Es ist heut’ mei’ erste Losung.“

„Ist das wahr?“ forschte Friedrich.

„So soll es nicht wahr sein, wie es wahr ist,“ sagte der Mann stöhnend.
„Ueberall werfen sie mich heraus, wenn ich handeln will. Wenn man ein
Jud is, soll man lieber gleich in die Donau gehen.“

Friedrich, der noch kurz vorher mit dem Leben abgeschlossen hatte, sah
plötzlich eine Gelegenheit, sich zu bethätigen, jemandem nützlich zu
sein. Eine Ablenkung seiner Gedanken. Er steckte den Kartenbrief in
einen Postkasten. Dann ging er mit den beiden weiter und ließ sich vom
Hausierer erzählen.

„Wir sind von Galizien hergekommen. In Krakau hab’ ich gewohnt in ein’
Zimmer mit noch drei Familien. Wir haben gelebt von der Luft. Hab’ ich
mir gedacht, schlechter kann es nit mehr werden, und bin mit mei’ Weib
und meine Kinder hergekommen. Hier is es nit schlechter, aber auch nit
besser.“

„Wieviel Kinder haben Sie?“

Der Hausierer begann im Gehen zu schluchzen: „Fünfe hab’ ich gehabt,
drei sind mir gestorben, seit wir hier sind. Jetzt hab’ ich nur den da
und das kleine Mädel, was noch an der Brust is ... David, lauf’ nit so
schnell.“

Der Knabe drehte sich um: „Die Mutter war so hungrig, wie ich ihr die
drei Kreuzer von dem Herrn da gebracht hab’.“

„So? Sie waren der gute Herr?“ sagte der Hausierer und haschte nach
Friedrichs Hand, um sie zu küssen.

Friedrich zog die Hand rasch zurück: „Was fällt Ihnen denn ein? ...
Sag’ mein Junge, was hat deine Mutter mit den paar Kreuzern
angefangen?“

„Milch hat sie geholt für Mirjam,“ sagte der kleine David.

„Mirjam ist unser anderes Kind,“ bemerkte der Hausierer erklärend.

„Und die Mutter hungerte weiter?“ fragte Friedrich erschüttert.

„Ja, Herr,“ erwiderte David.

Friedrich hatte noch einige Gulden bei sich. Ob er die besaß oder
nicht, war ziemlich gleichgültig, da er ohnehin mit dem Leben fertig
war. Diesen Leuten konnte er die bitterste Not erleichtern, wenn auch
nur für kurze Zeit.

„Wo wohnt Ihr?“ fragte er den Hausierer.

„Auf der Brigittenauer Lände. Wir hab’n a Kabinett — aber es is uns
schon gekündigt.“

„Gut, ich will mich überzeugen, ob das alles wahr ist. Ich gehe mit
Ihnen nach Hause.“

„Bitte!“ sagte der Hausierer. „Sie wer’n ka Vergnüg’n hab’n, gnädiger
Herr. Wir lieg’n am Stroh ... Ich hab’ noch in andere Kaffeehäuser
gehen wollen. Aber wenn Sie wünschen, geh’ ich zu Haus.“

Sie gingen über die Augartenbrücke der Brigittenauer Lände zu. David,
der jetzt neben seinem Vater einherschlich, fragte mit leiser Stimme:

„Tate, darf ich ein Stückl Brot essen?“

„Eß nur,“ entgegnete der Alte. „Ich werd’ auch ein Stückl essen. Für
die Mutter bleibt noch.“

Und nun kauten Vater und Sohn hörbar an dem harten Gebäck, das sie aus
ihren Taschen hervorgeholt hatten.

Vor einem hohen, neugebauten Hause an der Lände blieben sie stehen. Das
Haus atmete noch den feuchten frischen Baugeruch aus. Der Hausierer zog
die Klingel. Alles blieb still. Nach einer Weile zog er wieder den
Messingknopf und sagte:

„Der Hausmeister weiß schon, wer da is. Da laßt er sich Zeit. Oft steh’
ich da a Stund! Er ist ein grober Mensch. Manchesmal trau’ ich mich gar
nit her, wenn ich ihm keine fünf Kreuzer Sperrgeld geben kann.“

„Was thun Sie dann?“ fragte Friedrich.

„Dann geh’ ich herum bis in der Früh, bis das Hausthor offen is.“

Friedrich ergriff nun selbst den Knopf und riß ein paarmal heftig die
Klingel. Jetzt wurde Geräusch hinter dem Thore vernehmbar. Schlurfende
Schritte, Klirren von Schlüsseln, und durch die Ritzen drang ein
Lichtschein. Das Thor ging auf. Der Hausmeister hielt ihnen die Laterne
entgegen und schrie:

„Wer reißt denn so an der Glocken? Was? Die Judenbagasch?“

Der Hausierer entschuldigte sich furchtsam:

„Nit ich war es — der Herr da!“

Der Hausmeister schimpfte: „So a Frechheit! ...“

„Augenblicklich schweigen Sie, Kerl!“ herrschte ihn Friedrich an und
warf ihm eine Silbermünze vor die Füße.

Als der Hausmeister den Silberklang auf den Fließen hörte, wurde er
kleinlaut und unterwürfig:

„Euer Gnaden hab’ i net g’meint. Dö Juden da!“

„Schweigen Sie!“ wiederholte Friedrich, „und leuchten Sie mir über die
Stiege.“

Der Hausmeister hatte sich gebückt und das Geld aufgehoben. Eine ganze
Krone. Das mußte ein vornehmer Herr sein.

„Es is im fünften Stock, gnädiger Herr,“ sagte der Hausierer.
„Vielleicht borgt uns der Herr Hausbesorger e Stückl Kerzen.“

„Dem Littwak burg’ i nix,“ rief dieser; „aber wenn Euer Gnaden a Kirzen
wolln ...“

Er nahm auch gleich das Stümpfchen aus der Laterne und gab es
Friedrich. Dann verschwand er brummend. Friedrich stieg mit Littwak und
David die fünf Treppen hinan.

Es war gut, daß sie die Kerze mithatten, denn es umgab sie tiefe Nacht.
Auch in dem einfenstrigen Stübchen Littwaks brannte kein Licht, obwohl
die Frau, die auf einer Streu ihr Lager hatte, wach und aufrecht dasaß.
Friedrich sah im Halbdunkel des Kerzenstümpfchens, daß der schmale Raum
keinerlei Möbel enthielt. Kein Stuhl, kein Tisch, kein Schrank. Auf dem
Fensterbrett befanden sich einige Fläschchen und zerbrochene Töpfe. Ein
Anblick des tiefsten Elends. Die Frau hatte ein kleines, wimmerndes
Kind an der schlaffen Brust. Sie starrte ihnen hohläugig und angstvoll
entgegen:

„Wer ist das, Chajim?“ stöhnte sie erschreckt.

„E guter Herr,“ beruhigte sie ihr Mann.

David ging zu ihr hin. „Mutter, da is Brot,“ und gab es ihr.

Sie brach es mit Mühe und schob sich langsam einen Bissen in den Mund.
Sie war recht schwach und abgemagert, aber das verhärmte Gesicht wies
doch noch Spuren einer vergangenen Schönheit auf.

„Da wohnen wir,“ sagte Chajim Littwak mit bitterem Lachen. „Aber ich
weiß nicht emal, ob wir übermorgen noch das haben werd’n. Sie hab’n uns
scho’ gekündigt.“

Die Frau seufzte laut auf. David hatte sich neben sie hin auf das Stroh
gekauert und schmiegte sich an sie.

„Wieviel brauchen Sie, um hier bleiben zu können?“ fragte Friedrich.

„Drei Gulden!“ erklärte Littwak. „E Gulden zwanzig auf Zins und das
Uebrige bin ich der Hausfrau schuldig. Wo soll ich bis übermorgen drei
Gulden hernehmen? Dann lieg’n wir mit die Kinder auf der Gass’n.“

„Drei Guld’n!“ jammerte die Frau leise und hoffnungslos.

Friedrich griff in die Tasche. Er hatte acht Gulden bei sich. Die gab
er dem Hausierer.

„Gerechter Gott! Is es möglich?“ rief Chajim, und es liefen ihm Thränen
über die Wangen. „Acht Gulden! Rebekka! David! Gott hat uns geholfen.
Gelobt sei sein Namen!“

Frau Rebekka war auch fassungslos. Sie hatte sich auf die Kniee erhoben
und schleppte sich zu dem Retter hin. Im rechten Arm hielt sie ihr
schlummerndes Wickelkind, mit der Linken haschte sie nach Friedrichs
Hand, um sie zu küssen.

Er entzog sich ihrem Danke rasch:

„Macht doch keine solchen Geschichten! Für mich sind die paar Gulden
gar nichts — ob ich sie habe oder nicht ... David kann mir
hinunterleuchten.“

Die Frau war auf ihr Lager zurückgesunken und schluchzte bitterlich vor
Freude. Chajim Littwak begann ein hebräisches Gebet zu murmeln.
Friedrich ging, von David begleitet, hinaus und die Treppe hinunter.
Als sie im zweiten Stock waren, hielt David, der die Kerze hoch trug,
an, und sagte:

„Gott wird aus mir e starken Mann machen. Dann werd’ ich Ihnen zahlen.“

Friedrich war von dem Ton und den Worten des Kleinen überrascht. Es war
etwas eigentümlich Festes, Reifes in seiner Art.

„Wie alt bist du?“ fragte er ihn.

„Mir scheint zehn Jahr’,“ antwortete David.

„Was willst du werden?“

„Lernen will ich. Viel lernen!“

Friedrich seufzte unwillkürlich: „Und glaubst du, daß das genügt?“

„Ja!“ sagte David. „Ich hab’ gehört, wenn man gelernt hat, is man stark
und frei. Gott wird mir helfen, daß ich lernen kann. Dann werd’ ich mit
meine Eltern und Mirjam nach Erez Israel gehn.“

„Nach Palästina?“ fragte Friedrich erstaunt. „Was willst du dort?“

„Das is unser Land. Dort können wir glücklich werden!“

Der arme Judenjunge sah gar nicht lächerlich aus, als er sein
Zukunftsprogramm energisch in zwei Worten angab. Friedrich mußte an die
läppischen Humoristen Grün und Blau denken, die über den Zionismus ihre
schalen Witze rissen. David fügte noch hinzu:

„Und wenn ich etwas hab’, werd’ ich Ihnen zahlen.“

„Ich habe ja das Geld nicht dir gegeben, sondern deinem Vater,“ meinte
Friedrich lächelnd.

„Was man mei’ Taten giebt, hat man mir gegeben. Ich werd’ es zahlen —
Gutes und Schlechtes.“ David sagte es energisch und ballte seine kleine
Faust gegen die Hausmeisterwohnung, vor der sie jetzt angelangt waren.

Friedrich legte seine Hand auf das Haupt des Jungen:

„Möge dir der Gott unserer Väter beistehen!“

Und er wunderte sich selbst über seine Worte, nachdem er sie
gesprochen. Seit den Tagen der Kindheit, da er mit seinem Vater zum
Tempel gegangen war, hatte Friedrich vom „Gott unserer Väter“ nichts
mehr gewußt. Diese merkwürdige Begegnung aber weckte das Alte,
Vergessene in ihm auf, und sekundenlang überflog ihn ein Heimweh nach
dem starken Glauben der Jugendzeit, in der er mit dem Gotte der Väter
noch in Gebeten verkehrte.

Der Hausmeister schlurrte heran. Friedrich sagte ihm:

„Von jetzt ab werden Sie diese armen Leute in Ruhe lassen — sonst haben
Sie es mit mir zu thun! Verstanden?“

Da diese Worte von einem neuerlichen Trinkgelde begleitet waren,
begnügte sich der Grobe, ein „Küss’ d’ Hand, Euer Gnaden!“ zu murmeln.
Friedrich gab dem kleinen David die Hand und trat auf die einsame Lände
hinaus.








4. KAPITEL.


In dem Briefe, den Friedrich von dem N. O. Body der Zeitungsannonce
erhalten hatte, war ein vornehmes Hotel auf der Ringstraße als Ort der
Zusammenkunft angegeben. Um die bezeichnete Stunde fand er sich ein und
fragte nach Mister Kingscourt. Man wies ihn nach einem Salon des ersten
Stockes. Als er eintrat, kam ihm ein hoher, breitschultriger Mann
entgegen:

„Sind Sie Doktor Löwenberg?“

„Der bin ich.“

„Nehmen Sie einen Stuhl, Doktor!“

Sie setzten sich. Friedrich betrachtete den Fremden aufmerksam und
wartete auf dessen Erklärungen. Mr. Kingscourt war ein Mann in den
Fünfzigern, mit ergrauendem Vollbart und dichtem braunen Haupthaar, das
von Silberfäden durchzogen war und an den Schläfen schon weiß
schimmerte. Er rauchte in langsamen Zügen eine große Zigarre.

„Rauchen Sie, Doktor?“

„Jetzt nicht,“ gab Friedrich zur Antwort.

Mr. Kingscourt hauchte mit Sorgfalt einen Rauchring in die Luft, folgte
der Auflösung der wolkigen Linien mit Spannung, und erst nachdem sie
ganz verschwebt waren, sagte er, ohne seinen Gast anzusehen:

„Warum sind Sie lebensüberdrüssig?“

„Darüber gebe ich keine Auskunft,“ erwiderte Friedrich ruhig.

Mr. Kingscourt sah ihn jetzt voll an, nickte zustimmend, streifte die
Asche seiner Zigarre ab und sprach: „Hol’s der Deibel, Sie haben Recht.
Das geht mich ja auch nichts an ... Wenn wir handelseins werden, wird
schon die Zeit kommen, wo Sie es mir erzählen. Einstweilen will ich
Ihnen sagen, wer ich bin. Mein eigentlicher Name ist Königshoff. Ich
bin ein deutscher Edelmann. Ich war in meiner Jugend Offizier, aber der
Waffenrock wurde mir zu eng. Ich kann’s nicht leiden, daß ein fremder
Wille über mir ist, und wär’s der beste. Das Gehorchen war gut für ein
paar Jahre. Aber dann mußt’ ich fort. Ich wär’ sonst explodiert und
hätte Schaden angerichtet ... Ich ging nach Amerika, nannte mich
Kingscourt, erwarb mir in zwanzig Jahren blutschwitzender Arbeit ein
Vermögen — und als ich so weit war, nahm ich ein Weib ... Was sagen
Sie, Doktor?“

„Nichts, Mr. Kingscourt!“

„Gut. Sie sind unverheiratet?“

„Jawohl, Mr. Kingscourt ... aber ich dachte, Sie würden mir sagen,
worin das letzte Experiment besteht, das Sie mir vorzuschlagen haben.“

„Ich bin schon dabei, Doktor ... Wenn wir beisammen bleiben sollten,
werde ich Ihnen ausführlich erzählen, wie ich es anfing, mich
hinaufzuarbeiten, bis ich meine Millionen hatte. Denn ich habe
Millionen ... Was sagen Sie?“

„Nichts, Mr. Kingscourt.“

„Energie ist alles, Doktor! Darauf kommt’s an. Was man recht stark
will, das erreicht man unbedingt totsicher. Ich sah erst drüben in
Amerika ein, was wir Europäer für ein faules, willenloses Gesindel
sind. Hol’ mich der Dezibel! ... Kurz, ich hatte Erfolg. Aber als ich
so weit war, da begann ich meine Einsamkeit zu fühlen. Der Zufall
wollte es, daß ein Königshoff Dummheiten gemacht hatte, der bei der
Garde stand, ein Sohn meines Bruders. Ich nahm den Burschen zu mir,
gerade um die Zeit, da ich auf Freiersfüßen ging. Ja, ich wollte mir
einen Hausstand gründen, einen Herd, eine Frau suchen, die ich mit
Juwelen behängen konnte wie jeder andere Parvenu. Ich sehnte mich nach
Kindern, damit ich doch wisse, warum ich stets so furchtbar geschuftet
hatte. Ich meinte es verdammt schlau anzufangen, indem ich ein armes
Mädchen zur Frau nahm. Sie war die Tochter eines meiner Angestellten.
Hatte ihr und ihrem Vater viel Gutes erwiesen. Natürlich sagte sie ja.
Das hielt ich für Liebe, aber sie war nur dankbar oder vielleicht feig.
Sie wagte nicht, mich abzuweisen. So richteten wir ein Haus ein, und
mein Neffe wohnte bei uns. Sie werden sagen, daß es eine Dummheit war —
ein alter Mann zwischen zwei jungen Leuten, die sich finden mußten. Ich
habe mich auch in der ersten Zeit nach der Entdeckung einen Esel
gescholten. Aber wenn nicht er, wäre es ein anderer gewesen. Kurz, die
Beiden haben mich betrogen — ich glaube, vom ersten Augenblick an. Als
ich es herausfand, war mein erster Griff nach dem Revolver. Dann sagte
ich mir, daß eigentlich nur ich der Schuldige war. Da ließ ich sie
laufen. Gemeinheit ist menschlich, und jede Gelegenheit ist eine
Kupplerin. Man muß den Menschen ausweichen, wenn man an ihnen nicht zu
Grunde gehen will. Sehen Sie, das war mein Zusammenbruch. Da schlich
der Gedanke heran, mit einer Kugel der schäbigen Komödie des Lebens ein
Ende zu machen. Aber es fiel mir ein, daß man zum Erschießen ja noch
immer Zeit hat. Freilich das Anhäufen von Geld war jetzt für mich
sinnlos geworden. Zum Erwerben hatte ich keine Lust mehr, vom Traum der
Familie hatte ich genug. Blieb noch die Einsamkeit als letztes
Experiment. Aber eine große, unerhörte Einsamkeit mußte es sein. Nichts
mehr wissen von den Menschen, ihren elenden Kämpfen, Unsauberkeiten,
Treulosigkeiten. Die wirkliche, echte, tiefe Einsamkeit ohne Wunsch und
Ringen. Die volle wahre Rückkehr zur Natur! Diese Einsamkeit ist das
Paradies, das die Menschen durch ihre Schuld verloren haben. Und diese
Einsamkeit habe ich gefunden.“

„So? Sie haben sie gefunden?“ sagte Friedrich, der noch nicht erriet,
wo der Amerikaner hinauswollte.

„Ja, Doktor, ich habe meine Geschäfte aufgelöst und bin meinen
Bekannten wieder einmal entronnen. Niemand weiß, wo ich hingekommen
bin. Habe mir eine gute Jacht gebaut und bin auf ihr, wie man sagt,
verschollen. Viele Monate bin ich auf den Meeren umhergetrieben. Das
ist ein herrliches Leben, müssen Sie wissen. Möchten Sie das nicht
kennen lernen — oder kennen Sie es schon?“

„Ich kenne es nicht,“ entgegnete Friedrich; „aber ich möchte wohl!“

„Gut, Doktor! ... Das Leben auf der Jacht ist schon die Freiheit, aber
noch nicht die Einsamkeit. Man muß doch Schiffsleute um sich haben, man
muß ab und zu in einen Hafen, um Kohlen einzunehmen. Man kommt wieder
mit Menschen in Berührung, und das ist schmutzig. Aber ich kenne eine
Insel in der Südsee, wo man ganz allein ist. Da will ich leben. Es ist
ein kleines Felsennestchen im Cooks-Archipel. Die habe ich mir gekauft
und mir dort von Leuten aus Rarotonga ein komfortables Haus erbauen
lassen. Das Gebäude liegt so versteckt hinter den Felsen, daß man es
von keiner Seite bemerkt, wenn man auf dem Meere vorbei fährt. Es sind
übrigens auch die Schiffe dort selten. Meine Insel sieht nach wie vor
unbewohnt aus ... Ich lebe dort mit zwei Dienern, einem stummen Neger,
den ich schon in Amerika hatte, und einem Tahitier, den ich im Hafen
von Avarua aus dem Wasser zog, als er sich aus Liebesgram ersäufen
wollte. Jetzt bin ich auf meiner letzten Reise in Europa, um mir noch
einzukaufen, was ich für mein ferneres Leben dort brauche. Namentlich
Bücher, physikalische Instrumente und Waffen. Die Lebensmittel versorgt
mein Tahitier von der nächsten bewohnten Insel. Er fährt jeden Morgen
mit meinem Neger im elektrischen Boote hinüber. Braucht man sonst noch
etwas, auf Rarotonga ist für Geld alles zu haben, so wie in der übrigen
Welt ... Verstehen Sie?“

„Ja, Mr. Kingscourt. Nur weiß ich nicht, warum Sie es mir erzählen.“

„Warum, Doktor? Weil ich mir einen Gesellschafter mitnehmen will, um
das Sprechen nicht zu verlernen, und um jemand zu haben, der mir die
Augen zudrückt, wenn ich sterbe. Wollen Sie der sein?“

Friedrich schwieg und überlegte eine halbe Minute lang. Dann sagte er
in festem Tone: „Ja!“

Kingscourt nickte zufrieden und fügte hinzu:

„Ich muß Sie aber aufmerksam machen, daß Sie eine lebenslängliche
Verpflichtung eingehen. Wenigstens so lange ich lebe, muß es gelten.
Wenn Sie mit mir gehen, dürfen Sie nicht mehr zurück. Sie müssen alle
Fäden abschneiden.“

Friedrich entgegnete:

„Mich bindet nichts. Ich stehe ganz allein in der Welt und habe das
Leben vollkommen satt.“

„Einen solchen Mann brauche ich, Doktor! Thatsächlich verlassen Sie das
Leben, wenn Sie mit mir gehen. Sie werden nichts mehr vom Guten und
Bösen dieser Welt erfahren. Sie sind tot für die Welt und die Welt ist
untergegangen für Sie. Paßt Ihnen das?“

„Es paßt mir.“

„Dann werden wir gut zusammenleben. Ihre Art gefällt mir.“

„Eines muß ich Ihnen noch sagen, Mr. Kingscourt: ich bin Jude. Stört
Sie das nicht?“

Kingscourt lachte:

„Hören Sie? Die Frage ist komisch. Ein Mensch sind Sie, das sehe ich.
Ein gebildeter Mann scheinen Sie auch zu sein. Des Lebens sind Sie
überdrüssig, das spricht für Ihren guten Geschmack. Alles übrige ist
dort, wohin wir gehen, furchtbar gleichgültig ... Also schlagen Sie
ein!“

Friedrich nahm die dargebotene Hand und schüttelte sie kräftig.

„Wann sind Sie reisefertig, Doktor?“

„Jede Stunde.“

„Gut. Sagen wir morgen. Wir fahren nach Triest. Dort ankert meine Jacht
... Sie werden sich hier vielleicht noch einiges besorgen wollen?“

„Ich wüßte nicht, was,“ sagte Friedrich. „Das ist ja keine Lustreise,
sondern ein Abschied vom Leben.“

„Immerhin, Doktor! Sie brauchen vielleicht Geld für Anschaffungen.
Verfügen Sie über mich.“

„Danke, ich brauche nichts, Mr. Kingscourt.“

„Haben Sie keine Schulden, Doktor?“

„Ich besitze nichts und schulde nichts. Meine Rechnung ist glatt.“

„Haben Sie keine Verwandten oder Freunde, denen Sie etwas hinterlassen
wollen?“

„Niemand!“

„Umso besser! Wir reisen also morgen! ... Aber wir könnten schon heute
miteinander speisen.“

Kingscourt klingelte. Die Kellner deckten auf seinen kurzen Befehl den
Tisch im Salon und brachten ein reichliches Mahl. Die beiden Männer
näherten sich einander sehr rasch in ihren Gesprächen. Friedrich fühlte
nach all dem Vertrauen, das ihm Kingscourt so schnell geschenkt hatte,
das Bedürfnis, auch seine eigene Geschichte zu erzählen. Er that es in
kurzer und deutlicher Weise. Als er damit zu Ende war, sagte der
Amerikaner:

„Ich glaube jetzt, daß Sie mir nicht durchgehen werden, wenn ich Sie
auf meiner Insel habe. Liebeskummer, Weltschmerz und Judengram — das
ist zusammen genug, um auch einen jungen Mann für immer Abschied nehmen
zu lassen vom Leben.

Nämlich vom Leben mit den Menschen. Selbst wenn man ihnen Gutes thut,
wird man von ihnen betrogen und gequält. Die größten Narren sind die
Wohlthäter. Glauben Sie nicht?“

„Ich glaube, Mr. Kingscourt, daß man beim Wohlthun ein angenehmes
Gefühl hat ... Und da fällt mir etwas ein. Sie haben mir Geld
angeboten, falls ich vor meinem Abschied vom Leben etwas hinterlassen
wollte. Ich weiß eine Familie in tiefster Not. Der möchte ich helfen,
wenn Sie es mir erlauben.“

„Es ist ein Unsinn, Doktor. Aber ich kann es Ihnen nicht verweigern.
Ohnehin es war überhaupt meine Absicht, Ihnen einen Betrag zur Ordnung
Ihrer Angelegenheiten zu geben. Machen Sie damit, was Sie wollen. Sind
fünftausend Gulden genug?“

„Oh, reichlich!“ sagte Friedrich. „Und es ist doch auch für mich ein
schöner Gedanke, daß mein Abschied vom Leben nicht ganz ohne Zweck
ist.“








5. KAPITEL.


Die Stube der Familie Littwak sah bei Tage nach elender aus, als bei
Nacht. Und doch fand Friedrich Löwenberg diese armen Leute in beinahe
rosiger Stimmung, als er bei ihnen eintrat. David Littwak stand vor dem
Fensterbrett, auf dem ein aufgeschlagenes Buch lag, und er las darin,
während er an seinem mächtigen Butterbrot kaute. Der Vater und die
Mutter saßen auf der Streu. Die kleine Mirjam spielte mit Halmen.

Chajim Littwak erhob sich rasch, um den Wohlthäter zu begrüßen. Auch
die Frau wollte aufstehen, aber Friedrich ließ es nicht zu. Er kniete
schnell neben ihr nieder und streichelte das Brustkind, das ihn aus den
armseligen Fetzen heraus mit lieblichen Augen anlachte.

„Nun, wie geht es heute, Frau Littwak?“ fragte Friedrich.

Die Arme haschte vergeblich nach seiner Hand, um sie zu küssen:

„Besser, gnädiger Herr!“ sagte sie. „Wir haben Milch für Mirjam und
Brot für uns.“

„Zins hab’ ich auch schon gezahlt!“ ergänzte Chajim stolz.

David hatte sein Butterbrot hingelegt, stand mit verschränkten Armen da
und betrachtete Friedrich festen Auges.

„Warum siehst du mich so durchbohrend an, kleiner David?“

„Damit ich Sie nie vergess’, Herr! Ich hab’ einmal gelesen eine
Geschichte von einem Manne, der einem kranken Löwen geholfen hat.“

„Androklus!“ lächelte Friedrich.

„Er hat schon viel gelesen, mein David,“ sagte die Mutter mit schwacher
und zärtlicher Stimme.

Friedrich stand auf, legte die Hand auf den runden Kopf des Knaben und
scherzte:

„Bist du am Ende der Löwe? Juda hatte einst einen Löwen ....“

David entgegnete beinahe trotzig:

„Was Juda gehabt hat, kann es wieder haben. Unser alter Gott lebt
noch.“

Frau Littwak rief klagend: „Nit amal ein’ Sessel können wir Ihnen
anbieten, gnädiger Herr!“

„Nicht nötig, liebe Frau. Ich wollte nur nachsehen, wie es Ihnen geht,
und — etwas bringen. Sie sollen diesen Brief erst öffnen, nachdem ich
fortgegangen bin. Er enthält eine gute Empfehlung, die Euch im Leben
nützen wird. Sie müssen sich gut nähren, Frau Littwak, damit Sie dieses
schöne, kleine Mädel zu einer braven Frau erziehen, wie Sie selbst
sind.“

„Mehr Glück soll sie haben!“ seufzte die Frau.

„Und diesen guten Jungen lassen Sie etwas Tüchtiges lernen. Gieb mir
deine Hand, Bürschchen! Versprich mir, daß du ein ordentlicher Mensch
wirst.“

„Ja, das verspreche ich Ihnen.“

Was der Bub für merkwürdige Augen hat! dachte sich Friedrich, als er
die kleine Hand schüttelte. Dann legte er den umfangreichen Brief auf
das Fensterbrett und wollte gehen.

„Entschuldigen Sie, gnädiger Herr,“ sprach ihn Chajim Littwak bei der
Thüre an; „is in den Brief vielleicht eine Empfehlung an der
Kultusgemeinde?“

„Ganz richtig,“ entgegnete Friedrich. „Das wird Sie auch der
Kultusgemeinde empfehlen.“

Und rasch ging er hinaus, die Treppen lief er hinunter, als fühlte er
sich verfolgt. Vor dem Thore hielt sein Fiaker, eilig stieg er ein und
rief dem Kutscher zu: „Schnell fahren!“

Die Pferde zogen an. Es war die höchste Zeit. Eine Minute später
keuchte David atemlos aus dem Thore hervor, spähte nach allen
Richtungen, und als er keine Spur mehr von dem Helfer entdecken konnte,
fing er bitterlich zu weinen an. Friedrich sah es durch das Guckloch in
der Rückwand seines Wagens, und er freute sich, daß es ihm gelungen
war, den Dankesergüssen zu entgehen. Mit den fünftausend Gulden war
diese Familie hoffentlich gerettet.

Im Hotel erwartete ihn Kingscourt mit breitem Lachen:

„Haben Sie also Ihr gutes Werk gethan, Doktor?“

„Sie könnten mit mehr Recht sagen, daß es das Ihrige sei. Es war Ihr
Geld, Mr. Kingscourt!“

„Oho! dagegen verwahre ich mich aber schon ganz entschieden. Ich hätte
nicht einen Heller hergegeben, um Menschen Gutes zu erweisen. Ich habe
nichts dagegen, daß Sie ein Narr der Nächstenliebe sind — ich bin
keiner mehr. Das war Ihr Handgeld, damit konnten Sie machen, was Sie
wollten.“

„Auch recht, Mr. Kingscourt.“

„Ja, wenn Sie mir gesagt hätten, daß Sie für Hunde oder Pferde oder
sonst ein anständiges Vieh was Mildes vorkehren möchten, da hätten Sie
mich dazu haben können. Aber Menschen? Nee, kommen Sie mir mit der
Sorte nicht! Die ist oberfaul. Die ganze Vernunft besteht darin, daß
sie niederträchtig sind ... Da war neulich in den Blättern zu lesen,
daß eine alte Dame ihr Vermögen ihren Katzen hinterlassen hat. Sie
befahl in ihrem letzten Willen, daß ihr Haus in so und so viele feine
Appartements für das Katzenvolk eingeteilt werde, mit Pflegepersonal
und so weiter. So’n Kerl von Zeitungsschreiber hat dazu die blödsinnige
Bemerkung gemacht, die Alte sei wahrscheinlich verrückt gewesen. Solch
ein Hornochse! Nicht verrückt war sie, sondern riesig gescheit. Eine
Demonstration gegen das menschliche Geschlecht, und insbesondere gegen
ihre lumpige, erbgierige Verwandtschaft wollte sie machen. Den Tieren,
ja — den Menschen, nein! Sehen Sie, das kann ich der alten Dame innigst
nachfühlen, Gott habe sie selig!“

Das war Kingscourts Lieblingsthema, und darin entwickelte er eine
unerschöpfliche Verve.

Friedrich Löwenberg ordnete seine geringen Angelegenheiten. Er war
damit am anderen Tage fertig. Seiner Quartierfrau sagte er, daß er
einen Ausflug auf den Großglockner unternehme. Sie entsetzte sich
darüber: Mitten im Winter! Man höre so viel von Bergunfällen.

„Schön,“ meinte Friedrich mit melancholischem Lächeln, „wenn ich in
acht Tagen nicht wiederkomme, so können Sie mich als vermißt bei der
Polizei melden. Dann bin ich wohl in einer Felsenspalte besorgt und
aufgehoben. Meine Habseligkeiten, die da sind, vermache ich Ihnen.“

„Reden Sie nicht so sündhaft, Herr Doktor!“

„Ich mache ja Spaß!“ rief er.

Mit dem Abendzuge verließ er in Kingscourts Gesellschaft Wien. Er war
nicht wieder in das Café Birkenreis gegangen und wußte nicht, daß der
kleine David Littwak Nacht für Nacht vor der Thüre stundenlang auf ihn
wartete.

Im Hafen von Triest schaukelte sich die schmucke Jacht Mr. Kingscourts
auf den Wassern. Die beiden machten noch ihre letzten Einkäufe für die
lange Reise, und eines hellen Dezembertages lichteten sie die Anker und
steuerten südwärts, ostwärts. Friedrich wäre wohl unter anderen
Umständen von der Meeresfreiheit tief beglückt gewesen; so aber
verdankte er der sonnigen Fahrt nur eine geringe Erleichterung seines
Grames.

Kingscourt war freilich ein prächtiger Mensch, gutmütig bei aller
seiner Prahlerei mit Menschenhaß, und liebenswürdig und zartfühlend.
Wenn er Friedrich in trüben Stimmungen sah, bemühte er sich mit allen
möglichen Scherzen, ihn aufzumuntern. Er ging mit ihm um, wie mit einem
kranken Kinde. Da pflegte Friedrich wohl zu sagen:

„Wenn unsere Schiffsleute uns beobachten, müssen sie eigentlich eine
ganz falsche Vorstellung bekommen. Sie werden mich für den Herrn und
Sie für den Gast halten, den ich mir eingeladen habe, um mir die Zeit
zu vertreiben. Ach, Mr. Kingscourt, Sie hätten sich auch einen
lustigeren Gesellen aussuchen können, als mich!“

„Mein Lieber, ich hatte keine Wahl!“ antwortete Mr. Kingscourt mit
grimmigem Ernst. „Einen Lebensüberdrüssigen mußte ich haben, und die
sind in der Regel keine guten Gesellschafter. Aber Sie werd’ ich schon
noch heilen. Sie werden mir doch noch ganz anders dreinschauen, bis wir
erst das Menschengesindel ganz hinter uns haben. Da werden Sie auch
noch so ein vergnügter Kerl werden, wie ich. Bis wir auf unserer
seligen Insel sind! Hol’ mich der Deibel, wenn’s nicht wahr ist!“

Die Jacht war sehr behaglich, mit allem amerikanischen Komfort
eingerichtet. Friedrich hatte einen ebenso schönen Schlafsalon, wie
Kingscourt selbst. Der gemeinschaftliche Speiseraum war mit einer
wahren Pracht ausgestattet, und wenn sie abends nach dem Essen unter
dem freundlich stetigen Lichte der elektrischen Deckenlampe beisammen
saßen, verflogen die Stunden unter den besten Gesprächen. Es war auch
eine gewählte kleine Bibliothek an Bord, aber zum Lesen kam man gar
nicht, so abwechslungsreich vergingen die Meerestage. Kingscourt war
immer beflissen, seinen Gefährten zu zerstreuen. Man hatte bei
lebhafterem Wogengange die Insel Kreta passiert, da rückte er plötzlich
mit einem Vorschlag heraus:

„Sagen Sie ’mal, Doktor, hätten Sie denn keine Lust, noch ihr Vaterland
zu sehen, bevor wir von der Welt Abschied nehmen?“

„Mein Vaterland?“ staunte Friedrich. „Sie wollten noch einmal nach
Triest zurückkehren?“

„I bewahre!“ schrie Kingscourt. „Ihr Vaterland liegt ja vor uns,
Palästina!“

„Ach, so ist das gemeint? Sie irren sich. Zu Palästina habe ich
keinerlei Beziehung. Ich war nie dort. Es interessiert mich nicht.
Meine Vorväter sind seit achtzehnhundert Jahren weg. Was habe ich da zu
suchen? Ich glaube, nur die Antisemiten können behaupten, daß Palästina
unser Vaterland sei ...“

Aber während er dies sagte, fiel ihm David Littwak ein. Da fügte er
hinzu: „Außer von Antisemiten habe ich es nur noch von einem kleinen
Judenjungen sagen hören, daß Palästina unser Land wäre. Wollten Sie
mich damit necken, Mr. Kingscourt?“

„Da soll doch gleich ein Donnerwetter reinschlagen, wenn ich Sie geuzt
habe. Das hab’ ich ganz ernst gemeint. Wahrhaftig ich verstehe Euch
Juden nicht. Ich wär’ auf so was furchtbar stolz, wenn ich ein Jude
wäre. Und Ihr schämt Euch wohl gar dessen. Da könnt Ihr Euch nicht
wundern, wenn man Euch verachtet — die Anwesenden natürlich
ausgeschlossen.“

„Herr von Königshoff, sind Sie vielleicht ein Antisemit?“ sagte
Friedrich empört. Zum erstenmal redete er ihn mit seinem deutschen
Namen an, er wußte selbst nicht warum.

Kingscourt lächelte:

„Nu regen Sie sich auf, mein Sohn! Daß ich n’allgemeiner Menschenfeind
bin, das war Ihnen sozusagen schnuppe. Daß ich aber unter andern auch
die Jüdschen nicht mag, das nehmen Sie mir geschwind übel. Trösten Sie
sich, Doktorchen, ich hasse die Juden nicht mehr und nicht weniger als
die Christen, Mohammedaner und Feueranbeter. Alle zusammen kein Schuß
Pulver wert. Ich verstehe den guten ollen Nero: ein einziger Hals, und
dann mitten durch mit einem Hieb. Oder nein: noch schöner ist es, daß
die Lumpenbande leben bleibt, und daß sie sich langsam gegenseitig zu
Tode ärgern.“

Friedrich war schon versöhnt: „Ich war dumm. Daß Sie mich mitnahmen,
war doch der beste Beweis.“

Kingscourt sagte:

„Da fällt mir ’ne Sache ein, die ich einmal mit einem Ihrer Landsleute
oder Glaubensbrüder oder — hol’ mich der Deibel — kurz, mit einem Juden
hatte. Es war im Re’ment. Wir hatten da so ’nen Freiwilligen — Cohn
hieß die Kreete, ein jemein ... Entschuldigen Sie! Dieser Cohn war ’n
ganz verflucht krummbeiniges Subjekt — wie für die Kavallerie
geschaffen. Es war einmal in der Reitstunde. Ich ließ die Schweinehunde
Barrière springen. Das heißt, ich wollte; sie wollten nicht, oder
konnten nicht. War auch ’n bißchen hoch. Na, ich habe sie traktiert,
wie’s sich für solche gottverlassene Schweinebande geziemt. Damals
konnte ich noch fluchen, hol’ mich der Deibel! Seitdem hab’ ich’s
verlernt ... Ich gab ihnen zu verstehen, so durch die Kavall’rieblume,
daß ich sie für das zitterlichste Lumpenpack hielte. Und den Cohn holte
ich mir besonders. ‚Sie sind wohl ein besserer Wechselreiter?‘ höhnte
ich ihn. Da schoß dem Juden das Blut ins Gesicht, und er ritt an.
Stürzte aber und brach sich den Arm. Das hat mich dann eine Weile
gewurmt. Wozu hat so ’n Aas auch Ehrgefühl?“

„Sie meinen, ein Jude sollte kein Ehrgefühl haben?“

„Nee, so was! Sie verdrehen mir ja das Wort im Mutterleibe ...
Uebrigens, wenn die Juden Ehrgefühl haben, warum lassen sie sich alle
die Bübereien gefallen?“

„Was sollten die Juden thun, Mr. Kingscourt?“

„Was? Ja, das weiß ich nicht. Irgendwas, wie mein Cohn in der
Reitschule, ich habe doch mehr Respekt vor ihm bekommen.“

„Weil er sich den Arm gebrochen hat?“

„Nein, weil er mir seinen Willen gezeigt hat ... Ich, wenn ich an Eurer
Stelle wäre, ich würde irgendwas Mutiges, Großes unternehmen, daß auch
die Feinde vor Staunen die Mäuler aufreißen müßten. Vorurteile, mein
Lieber, wird’s immer geben. Das Menschenpack nährt sich von
Vorurteilen, von der Wiege bis zum Grabe. Also, da man die Vorurteile
nicht abschaffen kann, muß man sie für sich erobern ... Je mehr ich
darüber nachdenke: es müßte ganz interessant sein, heutzutage ein Jude
zu sein. Gerade weil man alle Welt gegen sich hat.“

„Ach, Sie wissen nicht, wie das schmeckt.“

„Nicht süß, das kann ich mir schon denken ... Na, und wie ist’s mit dem
ollen Palästina? Wollen wir uns das noch begucken, bevor wir aus der
Menschheit verschwinden?“

„Mir ist alles recht, Mr. Kingscourt.“

Und so bekam die Jacht den Kurs nach Jaffa.








6. KAPITEL.


Sie verbrachten einige Tage im alten Lande der Juden.

Von Jaffa hatten sie einen unangenehmen Eindruck. Die Lage am blauen
Meere wohl herrlich, aber alles zum Erbarmen vernachlässigt. Die
Landung in dem elenden Hafen mühselig. Die Gäßchen von den übelsten
Gerüchen erfüllt, unsauber, verwahrlost, überall buntes orientalisches
Elend. Arme Türken, schmutzige Araber, scheue Juden lungerten herum,
alle träg, bettelhaft und hoffnungslos. Ein sonderbarer Moderduft, wie
von Gräbern, beengte einem das Atmen.

Kingscourt und Friedrich beeilten sich auch, fortzukommen. Sie fuhren
auf der schlechten Eisenbahn nach Jerusalem. Auch auf diesem Wege
Bilder tiefster Verkommenheit. Das flache Land fast nur Sand und Sumpf.
Die mageren Aecker wie verbrannt. Schwärzliche Dörfer von Arabern. Die
Bewohner hatten ein räuberhaftes Aussehen. Die Kinder spielten nackt im
Straßenstaube. Und in der Ferne des Horizontes sah man die entwaldeten
Berge von Judäa. Der Zug fuhr dann durch öde Felsenthäler. Die Abhänge
verkarstet, wenig Spuren einer einstigen oder gegenwärtigen Kultur.

„Wenn das unser Land ist,“ sagte Friedrich melancholisch, „so ist es
ebenso heruntergekommen, wie unser Volk.“

„Ja, es ist einfach scheußlich, geradezu polizeiwidrig —,“ erklärte
Kingscourt. „Und doch ließe sich da viel machen. Aufforsten müßte man.
So eine halbe Million junge Riesentannen — — Die schießen hoch wie
Spargel. Das Land braucht nur Wasser und Schatten, dann hätte es noch
eine Zukunft, wer weiß wie groß!“

„Wer soll da Wasser und Schatten herbringen?“

„Die Juden, Kreuzschockschwerenot!“

Es war Nacht, als sie in Jerusalem ankamen, eine wundersame Mondnacht.

„Donnerwetter, ist das schön!“ schrie Kingscourt. Der Wagen, in dem sie
vom Bahnhof nach dem Hotel fuhren, mußte auf seinen Befehl halten. Er
herrschte den Lohndiener an:

„Sie können auf dem Bock bleiben und dem Kameel von einem Kutscher
sagen, daß er langsam hinter uns nachfahren soll. Wir gehen ein Stück
zu Fuß, Doktor, wollen Sie? ... Wie heißt diese Gegend?“

Der Lohndiener antwortete demütig:

„Das Thal von Josaphat, gnädiger Herr.“

„Hol’ mich der Deibel, das giebt es also wirklich? Das Thal von
Josaphat! Ich glaubte, das sei nur so ’ne Sache, in der Bibel. Hier ist
nu unser Herr und Heiland herumgegangen. Was sagen Sie dazu, Doktor?
... Ach so! Na ja, aber Ihnen muß das doch auch etwas sagen? Diese
alten Mauern, dieses Thal ...“

„Jerusalem!“ sagte Friedrich mit leise bebender Stimme halb vor sich
hin. Er wußte sich gar nicht zu erklären, warum ihn der Anblick dieser
unbekannten Stadtumrisse derart ergriff. Erinnerungen vielleicht an
Worte der frühen Kindheit? Gebetstellen, die des Vaters Stimme
gemurmelt hatte? Die abendliche Weihe des verschollenen Passahfestes
zog ihm durch die Seele. Einer der wenigen hebräischen Sätze, die er
noch wußte, klang in ihm auf: Leschonoh haboh Beruscholajim. — Uebers
Jahr in Jerusalem! ... Und er sah sich plötzlich als kleinen Knaben an
der Seite seines Vaters zum Tempel gehen. Ach, der Glaube war tot, die
Jugend war tot, der Vater war tot — und vor ihm ragten die Mauern von
Jerusalem in märchenhaftem Mondesglanz. Heiß strömte es ihm in die
Augen. Es überwältigte ihn. Er blieb stehen, und die Thränen flossen
ihm langsam über die Wangen.

Kingscourt erstickte mehrere Deibel in seiner Kehle, winkte dem
nachfahrenden Kutscher gewaltig zu, stillzuhalten, und er selbst trat
lautlos einen Schritt hinter Friedrich zurück, um dessen wehmütige
Andacht nicht zu stören.

Mit einem Seufzer erwachte Friedrich aus der Bezauberung.

„Verzeihen Sie, Mr. Kingscourt,“ sagte er ein wenig beschämt. „Ich habe
Sie da warten lassen. Es war — es ist mir jetzt so eigen zu Mute. Ich
weiß gar nicht, was das ist.“

Kingscourt aber schob seinen Arm unter den des jungen Mannes und sagte
mit ungewöhnlich weicher Stimme:

„Sie, Friedrich Löwenberg, ich habe Sie gern!“

Und so ging in großer Mondnacht ein Christ mit einem Juden Arm in Arm
der alten heiligen Stadt Jerusalem zu ...

Weniger entzückend war der Anblick Jerusalems bei Tage.

Geschrei, Gestank, ein Geflirr unreiner Farben, ein Durcheinander
zerlumpter Menschen in den engen dumpfen Gassen, Bettler, Kranke,
hungernde Kinder, kreischende Weiber, heulende Händler. Tiefer konnte
das einst so königliche Jerusalem nicht sinken.

Kingscourt und Friedrich besichtigten die berühmten Plätze, Bauten und
Ruinen. Sie kamen auch in das traurige Gäßchen der Klagemauer. Der
widerliche Anblick der geschäftsmäßig betenden Bettler belästigte sie.

„Sie sehen, Mr. Kingscourt,“ sagte Friedrich, „wir haben uns wirklich
zu Tode gestorben. Vom jüdischen Reiche ist nichts mehr übrig, als ein
Stückchen Tempelmauer. Und ich kann in meinem Gemüte bohren so viel ich
will, mit diesen kleinen verkommenen Industriellen der Nationaltrauer
habe ich nichts gemein.“

Er hatte das laut gesagt, ohne zu bemerken, daß ihn auch andere hören
konnten. Außer den Bettelbetern und Fremdenführern befand sich in dem
Augenblicke noch ein dritter Herr in europäischer Kleidung vor der
Klagemauer. Dieser sagte in fremdartig betontem, aber gebildetem
Deutsch:

„Mein Herr, nach Ihren Worten scheinen Sie ein Jude oder doch jüdischer
Abstammung zu sein.“

„Ja,“ antwortete Friedrich ein wenig verwundert.

„Dann gestatten Sie mir vielleicht,“ fuhr der Fremde fort, „daß ich
Ihren Irrtum berichtige. Von der jüdischen Nation ist mehr übrig
geblieben, als die alten Quadern dieses Mauerstückes und als die armen
Schlucker hier, die freilich kein schönes Handwerk betreiben. Sie
dürfen die jüdische Nation in heutiger Zeit weder nach ihren Bettlern
noch nach ihren Reichen beurteilen.“

„Ich bin kein Reicher,“ meinte Friedrich.

„Ich sehe, was sie sind: ein Fremder Ihrem Volke. Wenn Sie einmal zu
uns nach Rußland kämen, würden Sie erkennen, daß es noch eine jüdische
Nation giebt. Wir haben noch eine lebende Ueberlieferung, eine Liebe
zur Vergangenheit und einen Glauben an die Zukunft. Bei uns sind die
Besten und Gebildetsten dem Judentume als einer Nation treu geblieben.
Wir wollen zu keiner anderen gehören. Wir sind was unsere Väter waren.“

„Das ist recht,“ rief Kingscourt.

Friedrich zuckte leicht die Achseln, sprach aber noch einige höfliche
Worte mit dem Unbekannten, dann gingen sie. Als sie am anderen Ende der
Gasse waren und um die Ecke bogen, blickten sie zurück. Der russische
Jude stand noch dort. Er war in ein stummes Gebet vor der Klagemauer
versunken.

Abends, in dem englischen Hotel, in dem sie wohnten, sahen sie ihn
wieder. Er saß bei Tische neben einer jungen Dame, offenbar seiner
Tochter. Nach dem Essen traf man sich in der großen Halle. Das Gespräch
vom Vormittag wurde zwanglos wieder aufgenommen. Der Russe nannte
seinen Namen: Dr. Eichenstamm.

„Ich bin meines Zeichens Augenarzt. Meine Tochter auch.“

„Wie? Das Fräulein ist ’n Doktor?“ fragte Kingscourt.

„Ja, sie hat bei mir und nachher in Paris studiert. Sie ist jetzt meine
Assistentin. Ein ganz gelehrtes Haus, meine Sascha!“

Das Fräulein Doktor errötete bei dem Lobe.

„Aber Papa!“ sagte sie abwehrend.

Dr. Eichenstamm fuhr sich mit der Linken über den langen grauen
Kinnbart:

„Was wahr ist, kann man sagen. Wir sind auch nicht nur zum Vergnügen
hier, meine Herren. Wir beschäftigen uns mit den Augenkrankheiten.
Leider giebt es deren genug. Der Schmutz und die Verwahrlosung rächen
sich. Alles liegt im Argen. Und wie schön könnte es sein. Das Land ist
ja ein goldenes Land.“

„Dieses Land?“ sagte Friedrich ungläubig. „Die Geschichte von Milch und
Honig ist doch nicht mehr wahr!“

„Sie ist immer wahr!“ schrie Eichenstamm begeistert. „Nur die Menschen
müssen da sein, dann ist alles da.“

„Nee! Von Menschen ist gar nichts zu erwarten,“ erklärte Kingscourt mit
Entschiedenheit.

Doktor Sascha wandte sich an ihren Vater:

„Du solltest den Herren raten, die Kolonien zu besichtigen.“

„Was für Kolonien?“ erkundigte sich Friedrich.

„Unsere jüdischen Ansiedelungen,“ antwortete der alte Herr. „Auch davon
wissen Sie nichts, Herr Doktor? Es ist doch eine der merkwürdigsten
Thatsachen im modernen Leben der Juden. In verschiedenen Städten
Europas und Amerikas haben sich Gesellschaften gebildet, die
sogenannten ’Liebhaber von Zion’, mit dem Zweck, hier in unserem alten
Lande die Juden zu Ackerbauern zu machen. Es giebt schon eine Anzahl
solcher jüdischer Dörfer. Auch einige reiche Wohlthäter haben der Sache
Geld zugewendet. Unser alter Boden trägt wieder Früchte. Besuchen Sie
diese Niederlassungen, bevor Sie Palästina verlassen.“

Kingscourt brummte:

„Können wir ja machen, wenn Sie Lust haben, Löwenberg.“

Friedrich bejahte schnell.

Am andern Tag unternahmen sie in Gesellschaft Eichenstamms und Saschas
einen Ausflug nach dem Oelberge. Vor der Höhe kamen sie an dem
eleganten Hause einer englischen Dame vorbei.

„Sie sehen,“ sagte der Russe, „daß man auf der alten Erde auch neue
Paläste errichten kann. Das ist ein vornehmer Gedanke, hier zu wohnen.
Wäre auch mein Traum.“

„Oder wenigstens eine Augenklinik,“ meinte Doktor Sascha mit feinem
Lächeln.

Vom Oelberge aus bewunderten sie die hügelreiche Stadt, die steinernen
Wellen der Berge im weiten Umkreise bis an das tote Meer.

Friedrich wurde nachdenklich.

„Schön muß Jerusalem einst gewesen sein! Vielleicht haben unsere Väter
diese Stadt darum nicht vergessen können. Vielleicht wollten sie darum
immer zurückkehren?“

Eichenstamm schwärmte:

„Mich erinnert es an Rom. Auf Hügeln könnte man abermals eine Weltstadt
erbauen, etwas Herrliches. Denken Sie sich den Blick, den man dann von
hier aus hätte. Prächtiger als vom Gianiculo! Ach, wenn meine alten
Augen das noch sehen könnten!“ ...

„Das werden wir nicht erleben,“ sagte Sascha traurig.

Kingscourt wunderte sich im Stillen über diese Phantastereien. Als er
wieder mit Friedrich allein war, sprach er:

„Das ist ein merkwürdiges Paar, der Doktorsvater mit der
Doktorstochter. So praktisch und dabei so närrisch. Ich habe mir die
Juden auch anders vorgestellt.“

Am folgenden Morgen nahmen sie Abschied von den Beiden und fuhren
richtig deren Rat befolgend nach den Kolonien. Sie sahen die
Ortschaften Rischon-le-Zion, Rechoboth und andere, die als Oasen in der
verdorrten Umgebung lagen. Viele fleißige Hände hatten sich da regen
müssen, bis die Scholle wieder zum Leben erwacht war. Sie sahen
wohlbebaute Felder, eine stattliche Weinkultur und üppige
Orangengärten.

„Das ist alles in den letzten zehn — fünfzehn Jahren entstanden,“
erklärte ihnen der Vorsteher der Judenkolonie Rechoboth, an den sie von
Eichenstamm empfohlen worden waren. „Nach den Verfolgungen in Rußland
zu Anfang der Achtziger Jahre hat diese Bewegung begonnen. Es giebt
aber noch verdienstlichere Kolonien als unsere. Zum Beispiel die von
Katrah. Die ist von studierten Leuten angelegt worden. Sie haben die
Bücher verlassen und sind auf den Acker hinausgezogen. Solche Bauern
giebt es wohl nirgends auf der Welt. Gelehrte Männer, die auf dem Felde
arbeiten.“

„Das ist ’ne starke Nummer!“ rief Kingscourt. Aber noch größer wurde
sein Erstaunen, als der Vorsteher die jungen Burschen von Rechoboth zu
Pferde steigen ließ. Eine Art arabischer Fantasia wurde vor den Gästen
aufgeführt. Die Bursche stürmten weit weg ins Feld hinaus, warfen die
Rosse herum, kehrten jauchzend zurück, warfen im vollsten Lauf ihre
Mützen oder ihre Gewehre in die Luft, fingen sie wieder auf.
Schließlich ritten sie in einer Reihe und sangen ein hebräisches Lied.

Kingscourt war hingerissen.

„Da soll doch ein mehrfach gesalzenes Donnerwetter dreinschlagen. Die
Kerls reiten ja wie der Deibel!“

Mit so ’was hätte mein Ur-Ur auch die Attake bei Roßbach — — —

Aber Friedrich hatte wenig Interesse für die Bethätigungen einer
gesunden Lebenslust, und er war froh, als sie die Ansiedelungen
verließen, um nach Jaffa zurückzukehren.

Die Jacht war zur Abfahrt bereit. Sie schieden in den letzten
Dezembertagen vom besonnten Strande Palästinas und steuerten nach Port
Said. In diesem Hafen blieben sie zwei Tage, dann ging es durch den
Suezkanal weiter. Am Abende des 31. Dezember 1902 kamen sie ins rote
Meer. Friedrich hatte wieder eine Zeit völliger Niedergeschlagenheit.
In dieser Stimmung war ihm alles gleichgültig.

Nach Sonnenuntergang rief ihn Kingscourt auf’s Verdeck:

„Heute, Doktor, wollen wir uns was besonders anthun! Da, sehen Sie
unsere Tischkarte. Habe auch eine genügende Anzahl Silberhälse in Eis
kühlen lassen.“

„Was ist denn heute für ein besonderer Tag, Mr. Kingscourt?“

„Das wissen Sie nicht, Mensch? Der letzte Tag des Jahres! Das ist kein
banales Datum — wenn Daten überhaupt einen Sinn haben.“

„Für uns ist das ohne jede Bedeutung,“ sagte Friedrich müde. „Für uns
beginnt nun die Zeitlosigkeit, ist es nicht wahr?“

„Jawohl, jawohl. Aber es ist doch ’n verdammt kurioser Tag. Um
Mitternacht wollen wir die Zeit ins Meer senken, in Euer rotes Meer,
und wenn das blödsinnige Zeitalter um ist, in dem wir zu leben
verurteilt waren, da wollen wir an etwas Großes denken! ... ’nen
gediegenen Punsch lasse ich uns auch brauen. Das ist verhältnismäßig
noch das Reellste, in der allgemeinen Niedertracht des Daseins.“

Und so thaten sie. Der Schiffskoch hatte sein Bestes geleistet. Auch
die Weine waren vorzüglich. Kingscourt, ein gewaltiger Zecher vor dem
Herrn, trank dreimal so viel wie Friedrich, und blieb dabei ziemlich
klar und frisch, indessen sein junger Gefährte einen Nebel in sich
aufsteigen fühlte und nur noch wie im Traum diese Worte vernahm, als es
zwölf Uhr schlug:

„Mitternacht!“ rief Kingscourt mit dröhnender Stimme. „Verrecke, Zeit!
Ich leere mein Glas auf deinen Tod. Was warst du? Schande, Blut,
Gemeinheit und Fortschritt. Stoßen Sie an, Mensch, Mann, isolierter
Zeitgenosse!“

„Ich kann nicht mehr,“ lallte Friedrich.

„Kleines Geschlecht! ... Hier sollten Sie sich doch auf die Fußspitzen
stellen. Klassische Gegend! Hier hat Euer oller Moses eines seiner
größten Kunststücke gemacht ... Sie gingen trockenen Fußes hindurch,
offenbar grade Ebbe gewesen. Und das Vieh von einem Pharao hinterdrein
mitten rin in die Flut. Keine Zauberei! Aber gerade das Natürliche
daran imponiert mir! Die einfachsten Mittel! Aber sehen muß man sie,
und gebrauchen können. Denken Sie mal, was war das für ’ne arme Zeit,
und was hat Euer oller Moses vollbracht. Wenn der heute wiederkäme und
sähe die Wunder alle — die Eisenbahnen, die Telegraphen, die Telephone,
die Maschinen, die Jacht mit der Schraube, mit dem elektrischen
Scheinwerfer. Er würde nichts davon verstehen. Man müßte ihm vielleicht
drei Tage lang immerzu erklären. Aber nach drei Tagen hätte er alles
raus. Und wissen Sie, was er dann thäte? Lachen würde er, furchtbar,
grimmig lachen! Weil die Menschen mit all dem fabelhaften Fortschritt
nichts anzufangen wissen. Im einzelnen Schicksal kommt man zur
Ueberzeugung, daß die Menschen schlecht sind. Aber beim Gesamtüberblick
entdeckt man, daß sie nur dumm sind. Namenlos dumm, dumm, dumm! Nie war
die Welt so reich, und nie hat es so viel Arme gegeben, wie jetzt.
Leute verhungern, während ungebrauchtes Korn verschimmelt. Mir kann’s
recht sein. Je mehr zu Grunde gehen, umso weniger Undankbare, Lügner
und Treulose giebt es in der Welt.“

Friedrich sprach mit schwerer Zunge:

„Glauben Sie nicht, Mr. Kingscourt, daß die Menschen viel besser wären,
wenn es ihnen besser ginge?“

„Nee, wenn ich das glaubte, würde ich nicht nach meiner einsamen Insel
ziehen, sondern mitten unter die Menschen. Ich würde ihnen sagen, wie
sie’s anfangen müßten, um besser dran zu sein. Nicht tausend, nicht
hundert, nicht fünfzig Jahre brauchte man zu warten. Heute! Mit den
Ideen, Kenntnissen, Mitteln, die heute am 31. Dezember 1902 im Besitze
der Menschheit sind, könnte sie sich helfen. Man braucht keinen Stein
der Weisen, kein lenkbares Luftschiff. Alles Nötige ist schon
vorhanden, um eine bessere Welt zu machen. Und wissen Sie, Mann, wer
den Weg zeigen könnte? Ihr! Ihr Juden! Gerade weil’s Euch schlecht
geht. Ihr habt nichts zu verlieren. Ihr könntet das Versuchsland für
die Menschheit machen — dort drüben, wo wir waren, auf dem alten Boden
ein neues Land schaffen. Altneuland!“

Das hörte Friedrich Löwenberg nur noch im Traum. Er war eingeschlafen.
Und träumend fuhr er durch das rote Meer der Zukunft entgegen.










2. BUCH.

HAIFA, 1923.


1. KAPITEL.


Die Jacht Kingscourt fuhr wieder durch das rote Meer, aber in
umgekehrter Richtung.

Kingscourts Bart und Haare waren schneeweiß geworden. Auch Friedrich
konnte, vor dem Spiegel seiner Kajüte stehend, an seinen Schläfen die
ersten Silberfäden entdecken.

Der Alte rief ihn aufs Verdeck:

„Holla, Fritz! Kommen Sie ’n bißchen rauf!“

„Was wollen Sie, Kingscourt?“ sagte er, indem er hinaustrat.

„Hol mich der Deibel, wenn ich das verstehe. Seit wir da im roten Meere
fahren, hab’ ich noch sehr wenige Personendampfer gesehen.
Frachtschiffe, ja, viele. Erinnern Sie sich denn nicht, wie das vor
zwanzig Jahren war, anno Neunzehnhundertundzwei? Da war doch Verkehr
hier. Ostindienfahrer, Chinaschiffe! Die lumpigen Dampfer, die wir
jetzt treffen, gehen nur nach den afrikanischen Häfen und Madagaskar.
Ich habe mich bei dem Vieh von einem Lotsen nach jedem passierenden
Schiff erkundigt. Es giebt keine Ostindier, Japaner und Chinesen mehr
in diesen Gewässern; wie gesagt, nur Frachten. Am Ende hat England,
seit wir weg waren, seinen indischen Besitz verloren?
Kreuzmillionenschockschwerenot — an wen?“

„Fragen Sie doch den Lotsen, wenn es Sie interessiert!“

„Nischt wird jefragt! Das heb’ ich mir alles auf, bis wir in Europa
sind. Ich bin nicht neugierig — sind Sie’s vielleicht, Fritzken?“

„Nein, Kingscourt. Mir ist alles gleichgültig. In den zwanzig Jahren
hab’ ich jedes Interesse an den Vorgängen außerhalb unserer lieben
Insel verloren. Mir lebt kein Freund mehr, kein Blutsverwandter. Wonach
sollte ich mich erkundigen?“

Kingscourt hatte sich es auf einem ruhebettartigen Lehnstuhl bequem
gemacht und schmauchte eine große Havanna:

„Na, übel ist Ihnen unsere Insel nicht bekommen, Fritz! Wenn ich denke,
was Sie für’n grüner Judenjunge mit eingesunkenem Brustkasten waren,
als ich Sie mitnahm. Heute sind Sie ’n Baum von einem Menschen. Mir
scheint, Sie könnten jetzt den Weibern gefährlich werden.“

„Sie sind komplett verrückt, Kingscourt!“ lachte Friedrich. „Zu Ihrer
Ehre will ich annehmen, daß Sie mich nicht nach Europa schleifen, um
mich zu verheiraten.“

Kingscourt wälzte sich vor Lachen: „So’n Rabenvieh! Verheiraten! Für’n
solchen Hornochsen halten Sie mich doch nicht? Was fing’ ich dann mit
Ihnen an?“

„Na, vielleicht ist es eine feine Art, mich loszuwerden. Sie haben
meine Gesellschaft wohl satt gekriegt?“

„Nu fischt das Rabenvieh noch nach Komplimenten!“ schrie der Alte,
dessen Gemütlichkeit sich gern in Schimpfworten austobte. „Sie wissen
doch sehr gut, Fritzchen, daß ich ohne Sie nicht mehr leben könnte. Die
ganze Reise hab’ ich doch nur Ihretwegen unternommen. Damit Sie dann
wieder ein paar Jahre mit mir Geduld haben.“

„Hören Sie, Kingscourt, Sie wissen, ich kann nicht grob sein —
wenigstens nicht so grob, wie Sie. Aber das ist gelinde gesagt, eine
...“

„Eselei?“

„Etwas dergleichen!... Wann habe ich eine Ungeduld gezeigt? Ich war
glücklich auf unserer Insel, vollkommen glücklich. Diese zwanzig Jahre
sind mir vergangen, wie ein Traum. War es gestern, daß Sie hier Ihre
Abschiedsrede an die Zeit hielten? Ich wäre auch nie mehr weg von
unserer seligen Insel, ich nicht! Und nun wollen Sie mir weiß machen,
daß Sie meinetwegen nach Europa fahren. Schämen Sie sich, alter Mann,
daß Sie solche faule Ausreden gebrauchen. Sie sind neugierig, wie’s
drüben aussieht, Sie wollen hin — nicht ich! Der beste Beweis, daß ich
mir nichts mehr aus der bewohnten Welt mache, ist der, daß ich alle die
Jahre hindurch keine Zeitung in die Hand genommen habe.“

„Kunststück, wir hatten keine auf unserer Insel. Das war meine oberste
Gesundheitsmaßregel: keine Zeitung!“

„So? Vor einigen Jahren kam eine Sendung von Rarotonga. Da waren alle
Gegenstände der Kiste in englische und französische Tagesblätter
eingewickelt. Einen Augenblick war ich in Versuchung, sie zu lesen.
Wenn sie auch Monate oder Jahre alt waren, für mich enthielten sie
jedenfalls neues. Wir schrieben damals 1917, und ich hatte seit
fünfzehn Jahren nichts mehr von der Welt gehört. Aber ich raffte die
Blätter alle zusammen und verbrannte sie ungelesen. Und jetzt sagen Sie
noch, daß ich mich zurücksehne.“

Der Alte schmunzelte behaglich:

„Na, wenn Sie mir auf meine Lügen kommen, dann will ich’s gestehen. Ja,
ich möchte wissen, was aus der niederträchtigen Welt geworden ist. Ob
die Menschen noch immer so schlecht und dumm sind, wie dazumal.“

„Mein guter Kingscourt, ich wette, wir werden froh sein, wenn wir nach
unserer stillen Insel zurückkehren können.“

„Bei der Wette finden Sie keine Kontrepartie. Ich wette dasselbe.“

Die Jacht durchlief die Wasserstraße von Suez. In Port Said stiegen sie
wieder ans Land. Im Hafen war ein lebhafter Güterverkehr, aber zwischen
den verfallenden Bazaren der Stadt war der bunte, vielsprachige
Spaziergang nicht mehr zu sehen, der einst die Originalität des Ortes
war. Hier kreuzten sich ehemals die Wege der Menschen, die vom Westen
nach dem Osten und von Osten nach Westen zogen. Man war hier ehemals
den elegantesten Globetrottern begegnet, und jetzt lungerten vor den
schmutzigen Kaffeehäusern außer den Eingeborenen nur einige
halbbetrunkene Matrosen.

Kingscourt und Friedrich waren in einen Laden eingetreten, um Zigarren
zu kaufen. Sie verlangten bessere Sorten. Da sagte der griechische
Händler klagend:

„Führen wir nicht. Kommen ja keine Käufer mehr. Kommt niemand mehr, der
feine Zigarren will. Nur Matrosen um Kautabak, schlechte Zigaretten.“

„Wie ist das möglich?“ fragte Kingscourt. „Wo sind denn die Reisenden,
die nach Indien, Australien, China gehen?“

„Oh die sind schon lange fort. Die fahren jetzt auf dem anderen Weg.“

„Auf einem anderen Weg?“ rief Friedrich. „Was giebt es denn für einen
anderen? Doch nicht um das Kap der guten Hoffnung?“

Der Händler sagte ärgerlich:

„Der Herr will über mich lachen. Das weiß doch jedes Kind, daß man nach
Asien nicht mehr durch den Suezkanal fährt.“

Die Rückkehrenden sahen einander betroffen an. Dann brummte Kingscourt:

„Natürlich weiß das jedes Kind. Sie werden uns doch nicht für so
unwissend halten, daß wir nichts von dem verdammten neuen Kanal gehört
haben.“

Da schlug der Grieche wütend auf den Ladentisch:

„Machen Sie, daß Sie hinauskommen! Zuerst foppen Sie mich mit teuren
Zigarren, dann machen Sie solche dumme Witze. Hinaus!“

Kingscourt wollte über den Tisch langen und dem Griechen eins über den
Schädel geben, aber Friedrich zog den alten Hitzkopf fort:

„Es scheint, in unserer Abwesenheit ist etwas Großes vorgegangen, was
wir nicht wissen, Kingscourt.“

„Hol’ mich der Deibel, das glaub’ ich auch. Das müssen wir also zuerst
’rauskriegen.“

Im Hafen erfuhren sie es vom Kapitän eines deutschen Kauffahrers. Der
Verkehr zwischen Europa und Asien hatte einen neuen Weg genommen: über
Palästina.

„Da, giebt es denn dort Häfen, Eisenbahnen?“ fragte Friedrich.

Der Kapitän lachte herzlich:

„Ob es in Palästina Häfen und Bahnen giebt? Herr, von wo kommen Sie
denn? Haben Sie denn nie eine Zeitung oder einen Fahrplan gesehen?“

„Nie, will ich nicht sagen. Aber einige Jahre ist es doch schon her ...
Palästina kennen wir übrigens als ein wüstes Land.“

„Ein wüstes Land! ... Gut, wenn Sie das ein wüstes Land nennen wollen,
ich bin es zufrieden. Nur sind Sie dann sehr verwöhnt.“

„Hören Sie, Kapitän,“ rief Kingscourt, „wir wollen Ihnen reinen Wein
einschenken. Wir sind ein paar verdammt unwissende Bengels. Wir haben
uns zwanzig Jahre um nichts als um unser Vergnügen gekümmert. Also was
ist das mit dem ollen Palästina?“

„Wenn ich Ihnen das erzählen wollte, brauchte ich mehr Zeit als Sie, um
von hier hinzufahren. Kommt es Ihnen auf ein paar Tage nicht an, so
machen Sie doch den kleinen Umweg. Sie finden übrigens in Haifa und
Jaffa die schnellsten Schiffe nach allen europäischen und
amerikanischen Häfen, falls Sie Ihre Jacht verlassen wollen.“

„Nee, unsere Jacht verlassen wir nicht. Aber den Umweg können wir ja
machen, Fritze? Was meinen Sie? Woll’n wir nochmals das Land Ihrer p.
t. Vorfahren besichtigen?“

„Mich zieht es dahin ebensowenig, wie nach Europa. Ganz egal!“

Und sie steuerten nach Haifa.

Es war eines Frühlingsmorgens nach einer der in diesen Meeren so
weichen Nächte, als die Küste Palästinas in Sicht kam. Die beiden
standen auf der Kommandobrücke und lugten seit zehn Minuten unverwandt
durch ihre Ferngläser, nach derselben Himmelsgegend aus.

„Man möchte schwören, daß dort die Bucht von Akka ist,“ sagte
Friedrich.

„Man könnte auch das Gegenteil schwören,“ meinte Kingscourt. „Ich habe
noch das Bild dieser Bucht in der Erinnerung. Vor zwanzig Jahren war
sie leer und öde. Aber da rechts, das ist doch der Karmel, und da
drüben links ist Akka.“

„Wie verändert!“ rief Friedrich. „Da ist ein Wunder geschehen.“

Sie kamen näher. Nun konnten sie schon durch ihre guten Gläser die
Einzelheiten etwas besser sehen. Auf der Rhede zwischen Akka und dem
Fuße des Karmel ankerten riesige Schiffe, wie man deren schon am Ende
des neunzehnten Jahrhunderts zu bauen pflegte. Hinter dieser Flotte sah
man die anmutige Linie der Bucht. An der Nordspitze Akka in alter
orientalischer Bauschönheit, graue Festungsmauern, dicke Kuppeln und
schlanke Minarets, die sich vom Morgenhimmel reizend abhoben. An diesen
Umrissen war nicht viel anders geworden. Aber südwärts unterhalb der
ruhmreich schwergeprüften Stadt, am Bogen des Uferbandes, war eine
Pracht entstanden. Tausende weißer Villen tauchten, leuchteten aus dem
Grün üppiger Gärten heraus. Von Akka bis an den Karmel schien da ein
großer Garten angelegt zu sein, und der Berg selbst war auch gekrönt
mit schimmernden Bauten.

Da sie vom Süden kamen, verdeckte ihnen der Bergvorsprung zuerst den
Anblick des Hafens und der Stadt Haifa. Nun aber lag auch diese vor
ihnen, und da waren die Deibel Kingscourts überhaupt nicht mehr zu
zählen.

Eine herrliche Stadt war an das tiefblaue Meer gelagert. Großartige
Steindämme ruhten im Wasser und ließen den weiten Hafen dem Blicke der
Fremden sogleich als das erscheinen, was er wirklich war: der bequemste
und sicherste Hafen des mittelländischen Meeres. Schiffe aller Größen,
aller Arten, aller Nationen hielten sich in dieser Geborgenheit auf.

Kingscourt und Friedrich waren wie betäubt. Auf ihrer zwanzig Jahre
alten Seekarte fand sich nichts von dieser Hafenstadt, und nun war sie
wie hergezaubert. Die Welt war also während ihrer Abwesenheit nicht
stillgestanden.

Die Jacht ging vor Anker. Dann fuhren sie im Landungsboote durch das
verblüffende Gewühl der Schiffe hindurch nach dem Qai. Sie tauschten in
kurzen abgerissenen Sätzen ihre Eindrücke aus.

An den steinernen Stufen des Uferdammes legte ihr Boot an. Sie stiegen
aus. Einige Schritte von ihnen entfernt wollte eben ein Herr die Stufen
hinabgehen, zu der elektrischen Barke, die offenbar seiner harrte. Als
dieser die beiden erblickte, blieb er betroffen stehen. Er starrte
Friedrich mit weitaufgerissenen Augen an.

Der Alte bemerkte es und brummte:

„Was hat denn der Kerl? Sollte er noch nie zwei zivilisierte Menschen
gesehen haben?“

Friedrich lächelte:

„Das ist nicht anzunehmen. Die Leute da auf dem Quai schauen
zivilisierter aus als wir. Es könnte eher sein, daß wir ihm veraltet
vorkommen. Sehen Sie doch da hinauf! Dieses weltstädtische Treiben auf
der Straße. Die vielen gutgekleideten Menschen. Ich glaube, unsere
Anzüge sind ein bißchen aus der Mode.“

Sie hatten dem Bootsmanne aufgetragen, sie an derselben Stelle zu
erwarten und schritten über andere Steintreppen der erhöhten Straße zu,
von deren Treiben sie am Wasserrande schon etwas gesehen hatten. Um den
Unbekannten, der sie so auffallend anstarrte, kümmerten sie sich nicht
weiter. Doch er folgte ihnen. Er bemühte sich, die Sprache zu
erlauschen, in der sie redeten. Jetzt war er dicht hinter ihnen, jetzt
streifte er vorbei und blieb mit einem Ruck vor ihnen stehen.

„Herr!“ brauste Kingscourt auf, „was wollen Sie eigentlich von uns?“

Der Fremde gab ihm keine Antwort, sondern wandte sich an Friedrich, mit
einer männlich warmen, aber vor Erregung zitternden Stimme:

„Sind Sie der Doktor Friedrich Löwenberg?“

Aufs Tiefste überrascht, an so fremdem Ort plötzlich seinen Namen zu
hören, entgegnete dieser:

„So heiße ich.“

Da riß ihn der Unbekannte stürmisch an seine Brust und küßte ihn auf
beide Wangen. Dann ließ er ihn los und wischte sich die Thränen aus den
Augen.

Es war ein junger, kräftiger, hochgewachsener Mann von dreißig Jahren
mit sonnegebräuntem Gesichte, das ein kurzer, schwarzer Bart umrahmte.

„Und wer sind Sie?“ fragte Friedrich, nachdem er sich von der
stürmischen Begrüßung erholt hatte.

„Ich! Sie werden sich wohl meiner nicht mehr erinnern. Ich heiße David
Littwak.“

„Der kleine Junge vom Café Birkenreis?“

„Ja, Herr Doktor! ... Derselbe, den Sie vom Hungertode gerettet haben,
samt seinen Eltern und seiner Schwester.“

„Ach, sprechen wir nicht davon!“ wehrte Friedrich ab.

„Im Gegenteil! Wir werden noch viel davon sprechen. Was ich bin und
habe, verdanke ich Ihnen. Zunächst sind Sie mein Gast — und wenn dieser
Herr Ihr Freund ist, so ist auch er bei mir zu Hause.“

„Das ist mein bester, einziger Freund in der Welt, Mr. Kingscourt.“








2. KAPITEL.


Noch ehe sie recht wußten, wie ihnen geschah, hatten Friedrich und
Kingscourt sich von David Littwak die Dammtreppe hinaufführen lassen.

Erst als sie oben, auf dem Straßenniveau angelangt waren, begann ihnen
der volle Eindruck dieser wundervollen Stadt und ihres Verkehres
aufzugehen.

Vor ihnen weitete sich ein großer Platz, den die hochgeschwungenen
Arkaden stattlicher Gebäude umgaben. In der Mitte war ein mit Gittern
eingehegter Palmengarten. Palmen, hier ein gewöbnlicher Baum, standen
auch überall rechts und links an den Rändern aller Straßen, die auf den
Platz mündeten. Man sah gleich, daß diese Palmen doppelten Dienst
hatten. Bei Tage spendeten sie Schatten, und nachts Licht, denn die
elektrischen Straßenlampen hingen an ihnen wie große gläserne Früchte.
Das war die erste Einzelheit, auf die Kingscourt ergötzt hinwies. Dann
erkundigte er sich nach dem Charakter der Paläste, welche den großen
Platz umgaben. David Littwak antwortete, es seien die Bureauhäuser
verschiedener europäischer Seehandelsgesellschaften und Kolonialbanken.
Der Platz führe darum den Namen Völkerplatz. Das war er in der That,
nicht nur wegen der Gebäude, sondern auch wegen der Menschen, die ihn
belebten.

Die Ankömmlinge staunten und starrten in das Gewühl. Es fand hier
offenbar ein Verkehr aller Völker statt, denn man sah die buntesten
Trachten des Morgenlandes zwischen Gewändern des Occidents. Chinesen,
Perser, Araber wandelten durch die geschäftige Menge. Vorherrschend war
freilich die Kleidung des Abendlandes, wie diese Stadt ja überhaupt
einen durchaus europäischen Eindruck machte. Man hätte glauben können,
daß man sich in einem großen Hafen Italiens befinde. Die Bläue des
Himmels und des Meeres und das Leuchten der Farben gemahnten an die
glückliche Riviera. Nur waren die Gebäude viel moderner und reinlicher,
und der Straßenverkehr enthielt bei aller Lebhaftigkeit weniger Lärm.
Das kam von der gemessen ernsten Art der vielen Orientalen, aber auch
daher, daß keine Zugtiere in diesen Straßen waren. Man hörte weder den
Hufschlag von Pferden, noch auch Peitschenknallen oder Rädergerassel.
Die Fahrdämme waren so glatt, wie die Fußsteige, und die Automobile
hasteten auf ihren Gummirädern ziemlich geräuschlos vorüber, nur mit
einigem Getute der warnenden Signalhörner. Ein Rollen über ihren Köpfen
machte die Fremden aufschauen.

„Alle Deibel, was ist das?“ schrie Kingscourt, indem er nach einem über
den Palmenwipfeln vorbeisausenden großen Eisenwagen wies, aus dessen
Fenstern Fahrgäste herunterblickten. Der Wagen hatte die Räder nicht
unten, sondern oben, über dem Dach. Er hing und schwebte an einem
mächtigen, eisernen Brückengeleise.

David Littwak erklärte:

„Das ist die elektrische Schwebebahn. Die müssen Sie doch auch in
Europa gesehen haben.“

„Wir waren zwanzig Jahre nicht in Europa.“

„Die Schwebebahn ist ja nichts neues. Sie war schon in den neunziger
Jahren des vorigen Jahrhunderts zwischen Barmen und Elberfeld im
Betriebe. Wir haben sie in unseren Städten gleich von vornherein
eingerichtet, weil der Massenverkehr so leichter und gefahrloser
bewältigt werden kann. Der Bau war auch billiger, als der von Straßen-
oder Hochbahnen.“

„Erlauben Sie, erlauben Sie!“ rief Kingscourt. „Sie sprechen von
Städten! Es giebt demnach in Palästina noch mehr solcher Städte?“

„Das wissen Sie nicht, meine Herren?“

„Nein,“ sagte Friedrich; „wir wissen weder das noch etwas anderes. Wir
wissen gar nichts. Wir waren zwanzig Jahre tot.“

„Für tot hielt ich Sie freilich, lieber Herr Doktor!“ sprach David
Littwak, indem er Friedrichs Hand nahm und noch einmal drückte.

„Haben Sie sich denn nach mir erkundigt? Ja, woher wissen Sie überhaupt
meinen Namen? Ich glaube doch, ihn damals nicht genannt zu haben.“

„Als Sie sich unserem Danke entzogen, waren wir ganz trostlos. Ich
dachte mir, Sie seien vielleicht ein Stammgast des Café Birkenreis.
Dort habe ich viele Nächte vor der Thüre auf Sie gewartet. Mein Vater
auch.“

„Lebt Ihr Vater noch?“

„Ja, Gott sei Dank, und meine Mutter auch, und Mirjam, die Sie als
Wickelkind sahen ... Ich kam endlich auf den Einfall, Sie dem Kellner
des Kaffeehauses zu beschreiben. Er erkannte Sie nach meiner
Schilderung sofort und nannte mir Ihren Namen. Aber wie groß war mein
Schmerz, als der Mann hinzufügte, Sie seien bei einer Bergbesteigung
verunglückt, und die Blätter hätten Ihren Tod gemeldet ... Ich kann
Ihnen sagen, Herr Doktor, wir haben um Sie viel geweint. Wir haben auch
immer pünktlich die Jahrzeit für Sie angezündet an dem Tage, den ich
aus den Zeitungen herausgefunden hatte.“

„Jahrzeit? Was ist das?“ fragte Kingscourt.

Friedrich gab Auskunft:

„Ein Brauch der Juden. Am Sterbetage des Hingeschiedenen zünden seine
Angehörigen zum Gedächtnis ein Licht an.“

„Oh, ich habe Ihnen viel, viel zu erzählen, lieber Herr Doktor!“ sagte
David Littwak. „Aber hier werden wir nicht stehen bleiben. Vor allem
bringe ich Sie in mein Haus, daß Sie von jetzt ab als Ihr eigenes
betrachten werden ... Kommen Sie, meine Herren!“

„Und unser Boot, unsere Jacht?“

David Littwak wandte sich zu einem livrierten Neger, der ihm in kurzer
Entfernung nachgefolgt war, und gab leise einige Befehle, worauf der
Diener verschwand. Jetzt sprach David zu seinen Gästen:

„Alles ist besorgt. Das Boot wird nach der Jacht zurückkehren, und in
Friedrichsheim wird man Ihre Aufträge abholen.“

„Wo?“

„In Friedrichsheim. So heißt mein Haus. Sie ahnen schon, wem zu Ehren?
Gehen wir, meine Herren! Das heißt, wir werden fahren.“

Er hatte bei aller Liebenswürdigkeit etwas Bestimmtes in seinem Ton.
Kingscourt murmelte aber nicht unzufrieden:

„Fritze, der übernimmt das Kommando! Wollen mal sehen!“

David Littwak hatte ein Automobil herangewinkt. Er bat die Herren
einzusteigen. Doch als er ihnen folgen wollte, wurde er von jemandem
angerufen:

„Herr Littwak, Herr Littwak.“

Er drehte sich um:

„Ah, Sie sind’s? Was wünschen Sie?“

„In den Morgenblättern steht, daß Sie heute in Akka eine Versammlung
abhalten. Ist es nicht wahr?“

„Ich wollte eben hinüberfahren. Aber ich muß die Versammlung absagen.
Ich habe heute Wichtigeres vor. Richtig, ich will noch rasch
hinübertelephonieren.“

„Darf ich es vielleicht für Sie thun, Herr Littwak?“

„Ja, wenn Sie so freundlich sein wollen.“

„Wahrscheinlich einen besonderen Besuch erhalten, Herr Littwak?“
forschte der Eifrige, indem er mit dem linken Daumen über die Schulter
hinweg nach dem Wagen deutete.

David lächelte, antwortete aber nicht und nickte nur mit dem Kopfe.
Dann rief er dem hintenauf sitzenden Heizer zu: „Nach Friedrichsheim!“

„Dieses Gesicht kommt mir bekannt vor,“ sagte Friedrich, als der Wagen
davonrollte. „Ich muß es in einer anderen Form gesehen haben, ohne
grauen Backenbart, ohne den Kneifer auf der Nase.“

„Ja, er ist auch aus Wien, er hat mir oft von Ihnen erzählen müssen.
Ich wollte ihn nur jetzt nicht herankommen lassen. Heute gehören Sie
mir allein ... Er war auch ein Gast des Café Birkenreis. Nun raten
Sie!“

Eine Erinnerung blitzte auf.

„Schiffmann!“ sagte Friedrich lachend. „Wie? Der ist auch hier?“

„Der und viele, viele andere Juden aus allen Städten und Ländern.“

Kingscourt, der neugierig nach allen Seiten hin ausblickte, warf jetzt
die Frage ein:

„Wollen Sie vielleicht sagen, daß die Rückkehr der Juden nach Palästina
stattgefunden hat?“

„Freilich will ich das sagen.“

„Donner und Gloria!“ schrie der Alte. „Sie sind aus Europa ausgetrieben
worden?“

David erklärte freundlich lächelnd:

„Nun, Sie dürfen sich das nicht so wie im Mittelalter vorstellen.
Wenigstens in den Kulturländern hatte es nicht diesen Charakter. Die
Operation war zumeist unblutig. Den Juden wurde am Ende des neunzehnten
und zu Anfang dieses Jahrhunderts das Verbleiben an ihren Wohnorten
unleidlich gemacht.“

„Aha! Rausgeekelt?“

„Die Verfolgungen waren sozialer und ökonomischer Art. Boykott im
Geschäftsleben, Aushungerung der Arbeiter, Aechtung in den freien
Berufen, von den feineren, moralischen Leiden gar nicht zu sprechen,
die ein höher organisierter Jude um die Jahrhundertwende zu erdulden
hatte. Die Judenfeindschaft war mit den neuesten, wie mit den ältesten
Mitteln thätig. Das Blutmärchen wurde aufgefrischt, aber gleichzeitig
hieß es auch, daß die Juden die Presse — wie einst im Mittelalter die
Brunnen — vergifteten. Die Juden wurden von den Arbeitern gehaßt, als
Lohnverderber, wenn sie ihre Genossen waren; als Ausbeuter, wenn sie
die Unternehmer waren. Sie wurden gehaßt, ob sie arm oder reich oder
mittelständig waren. Man nahm ihnen das Erwerben, aber auch das
Geldausgeben übel. Sie sollten weder produzieren noch konsumieren. Von
den Staatsämtern wurden sie zurückgestoßen, vor den Gerichten hatten
sie das Vorurteil gegen sich, überall im bürgerlichen Leben fanden sie
Kränkungen. Unter diesen Umständen war es klar, daß sie entweder die
Todfeinde einer von Ungerechtigkeiten strotzenden Gesellschaft werden
oder nach einem Zufluchtsorte ausblicken mußten. Das letztere ist
geschehen, und hier sind wir. Wir haben uns gerettet.“

„Altneuland!“ murmelte Friedrich.

„Jawohl, das ist es,“ sagte David Littwak ernst und bewegt. „Auf
unserem alten teuren Boden haben wir uns eine neue Gesellschaft
eingerichtet. Sie werden sie kennen lernen, meine Herren.“

„Der Deibel, das ist furchtbar interessant. Da giebt es riesig viel zu
sehen. Ich wollte Sie nicht stören in Ihrer geschätzten Anklageschrift
gegen das olle Europa, sonst hätte ich Sie nach einigen Bauten gefragt,
an denen wir vorbeigefahren sind.“

„Ich werde Ihnen alles zeigen.“

„Hören Sie ’mal, geschätzter Mann und Jude, ich will Ihnen zuerst ein
Geständnis ablegen, sonst bereuen Sie nachher Ihre Aufmerksamkeiten.
Ich bin nämlich kein Jude. He? Nu werden Sie mich wohl ’rausschmeißen
oder gelinde rausekeln, was?“

„Aber Kingscourt!“ wehrte Friedrich ab.

Ruhig sprach David Littwak:

„Daß Sie kein Jude sind, erkannte ich schon an einer Ihrer früheren
Fragen. Lassen Sie sich sagen, daß meine Genossen und ich keinen
Unterschied zwischen den Menschen machen. Wir fragen nicht, welchen
Glaubens und welcher Rasse einer ist. Ein Mensch soll er sein, das
genügt uns.“

„Millionen Bomben und Haubitzen! Und alle Bewohner dieser Gegend denken
wie Sie?“

„Nein,“ bekannte David offen; „das sage ich nicht. Es giebt noch andere
Strömungen.“

„Aha! Das dachte ich mir auch gleich, verehrter Menschenfreund!“

„Ich will Sie jetzt nicht mit unseren politischen Kämpfen langweilen.
Die sind so wie überall in der Welt. Aber das kann ich Ihnen sagen: die
Grundsätze der Menschlichkeit werden bei uns allgemein in Ehren
gehalten. Und was die Religionen betrifft, Sie finden bei uns neben
unseren Tempeln die Gotteshäuser von Christen, Mohammedanern,
Buddhisten und Brahmanen. Die beiden letzteren Glaubensgesellschaften
sind allerdings nur in den Seestädten vertreten, zum Beispiel hier in
Haifa, in Tyrus, Sidon und in den größeren Orten längs der Bahn, die
nach dem Euphrat führt, etwa in Damaskus und Tadmor.“

Friedrich staunte:

„Tadmor! Die Stadt Palmyra lebt wieder?“

David nickte bestätigend:

„Das große Schauspiel des allgemeinen Gottesfriedens werden Sie aber in
Jerusalem genießen.“

„Mein Kopf, mein Kopf!“ stöhnte Kingscourt. „Wie soll man denn das
alles auf einmal behalten?“

Sie waren an einer Straßenkreuzung angelangt, wo der größere
Wagenverkehr eine augenblickliche Stauung verursachte. Das Automobil
mußte halten. Da erkannten sie, wie praktisch die Schwebebahn war.
Unter den dicken eisernen Doppelgeleisen sausten die großen Kasten hoch
in der Straßenmitte dahin, ohne die Fußgänger zu stören oder von ihnen
gestört zu werden.

Von diesem Punkte ihres erzwungenen Aufenthaltes blickten sie in
mehrere Straßen. Die Mannigfaltigkeit der Baustile erfreute ihre Augen.
Dann ging die Fahrt weiter durch lebhafte Stadtteile. Die Wohnhäuser
waren zumeist klein und zierlich, offenbar nur für den Gebrauch der
einzelnen Familie berechnet, wie man sie in belgischen Städten sieht.
Umso stattlicher ragten die Kaufhäuser und die öffentlichen Gebäude,
die als solche leicht erkennbar waren. David Littwak nannte ihnen
einige im Vorüberfahren: das Seeamt, das Handelsamt, die
Arbeitsvermittelung, die Unterrichtsverwaltung, das Amt für
Elektrizität. Ein großer heiterer Palast, dessen Vorderseite eine
freskengeschmückte Loggia hatte, fesselte ihre Aufmerksamkeit.

„Das ist das Bauamt,“ sagte David. „Hier haust Steineck, unser erster
Architekt. Von ihm ist der Stadtplan entworfen worden.“

„Der Mann hatte eine große Aufgabe,“ sprach Friedrich.

„Groß, jawohl, aber auch freudig. Er durfte aus dem Vollen schaffen,
wie übrigens wir alle. Nie in der Geschichte sind Städte so rasch und
herrlich erbaut worden, wie bei uns, weil man nie vorher solche
technische Mittel zur Verfügung hatte. Die Leistungsfähigkeit der
Kulturmenschheit war ja in dieser Beziehung schon am Ende des
neunzehnten Jahrhunderts kolossal. Wir brauchten nur die bekannten
Dinge zu uns herüberzuverpflanzen. Wie das geschehen ist, werde ich
Ihnen später noch erzählen.“

Sie waren jetzt in eine Villengegend der Stadt geraten. Der Fahrweg
stieg an. Sie befanden sich auf dem Karmel. Hier standen schmucke
Schlößchen inmitten duftender Gärten. An einzelnen Häusern maurischer
Bauart bemerkten sie Holzgitter von engem Geflechte vor den Fenstern.

David kam der Frage zuvor:

„Hier wohnen einige vornehme Mohammedaner. Da sehen Sie gerade meinen
Freund Reschid Bey.“

Vor dem schmiedeisernen Thore eines Gartens, an dem sie vorbeifuhren,
stand ein schöner Mann von etwa fünfunddreißig Jahren. Zur dunklen
europäischen Kleidung trug er das rote Fez. Er grüßte nach
orientalischer Art, indem er mit der Rechten den Luftschnörkel machte,
der das Aufheben und Küssen des Staubes bedeutet. David rief ihm einige
Worte in türkischer Sprache zu, worauf Reschid mit leicht norddeutscher
Betonung zurückgab:

„Wünsche eine recht anjenehme Unterhaltung!“

Kingscourt riß die Augen auf:

„Was ist denn das für’n Muselmännchen?“

David lachte:

„Er hat in Berlin studiert. Sein Vater war einer derjenigen, die den
Vorteil der Judeneinwanderung sofort begriffen. Er machte unseren
ökonomischen Aufstieg mit und wurde reich. Reschid ist übrigens auch
Mitglied unserer neuen Gesellschaft.“

„Der neuen Gesellschaft?“ wiederholte Friedrich. „Was ist das für
eine?“

Kingscourt setzte hinzu:

„Hochgeliebter Mann, uns müssen Sie wie neugeborene Kälber in allem
Wissenswerten unterweisen! Wir kennen weder die alte noch die neue
Gesellschaft.“

„Doch!“ sagte David. „Die alte kennen oder kannten Sie. Unsere neue
werde ich Ihnen vorstellen, wenn wir mehr Muße haben. Jetzt ist dazu
nicht mehr Zeit. Wir sind gleich dort, wo Sie sich fortab zu Hause
fühlen sollen.“

Immer freier öffnete sich der Ausblick auf dem geschlängelten Wege. Nun
lagen Stadt und Hafen von Haifa, die weite Bucht mit dem Gartenkranze
und am anderen Ende Akka mit seinem Berghintergrunde vor den entzückten
Augen der Fahrenden. Und nun waren sie ganz oben auf der Nordspitze des
Karmel. Rechts und links, nach Norden und Süden dehnte sich das
herrliche Gestade von Palästina, und vor ihnen weitete sich blau und
goldig die endlose Fläche des Meeres. Weiße Schaumkämme flatterten wie
Möven darüber hin, dem hellbraunen Strande zu.

David hatte den Wagen halten lassen, damit sie den einzigen Anblick
genössen. Er stieg aus, und die Beiden folgten ihm. Er wandte sich zu
Friedrich:

„Sehen Sie, Herr Doktor, das ist das Land unserer Väter!“

Und Friedrich wußte nicht, warum ihm bei diesen einfachen Worten des
jungen Mannes die Augen von Thränen warm wurden. Doch war es eine
andere Stimmung, als in jener Nacht von Jerusalem, zwanzig Jahre
früher. Damals hatte er den mondbeglänzten Tod vor sich, und jetzt ein
sonnenfreudiges Leben. Er blickte David an. Was war aus dem
bettelhaften Judenjungen geworden! Ein frei und ernst schauender,
gesunder, gebildeter Mann, der fest in seinen eigenen Schuhen zu stehen
schien. Noch hatte David kaum eine Andeutung über seine eigenen
Verhältnisse gemacht, aber es mochte ihm nicht schlecht ergehen, da er
in dieser eleganten Gegend wohnte, wo es nur Villen und Schlösser gab.
Er mußte aber auch ein angesehener Bürger sein, denn sie hatten
unterwegs bemerkt, wie viele Leute ihn grüßten. Selbst ältere Personen
kamen ihm mit dem Gruße zuvor. Jetzt stand er mit einem Ausdrucke
tiefen Glückes in den Mienen auf der Karmelhöhe und sah hin über Land
und Meer. Und jetzt erst glaubte Friedrich in dem freien Manne den
merkwürdigen Knaben von der Brigittenauer Lände zu erkennen, der einst
gesagt hatte, er wolle zurück nach dem Lande Israels!








3. KAPITEL.


Friedrichsheim war ein helles, hohes Schloß maurischen Stils, umgeben
von Gärten. Vor der weißen Freitreppe lag in Stein gehauen ein Löwe.
Wieder mußte Friedrich an die Worte des kleinen Hausierersohnes denken,
da vom Löwen Judas die Rede gewesen. „Was Juda gehabt hat, kann es
wieder haben. Unser alter Gott lebt ja noch!“ hatte der Junge damals
gerufen. Der Traum war erfüllt ...

Der Pförtner hatte ein Glockenzeichen gegeben, als David Littwak mit
seinen Gästen durch das Gitterthor kam. Sie wurden an der Freitreppe
von zwei Dienern erwartet.

„Ich lasse meine Frau und meine Schwester in den unteren Salon bitten,“
sagte David dem einen, der hierauf über die teppichbelegte Treppe der
großen Eingangshalle in den ersten Stock hinaufeilte. Der andere Diener
öffnete den Herren die Salonthüre. Sie traten in einen hochgewölbten
Raum, der mit herrlichen Kunstwerken geschmückt war. Die Wände mit
rosiger Seide verkleidet, die Möbel von der zarten englischen Bauart,
an der Decke ein elektrischer Kronleuchter, schimmernd von Gold und
Krystall. Eine Thüre und vier Fenster ließen durch hohe Spiegelscheiben
das volle Tageslicht hereindringen. Man sah hinaus auf ein weiches
Rasenparterre mit Blumenbeeten bis zur marmornen Brüstung, hinter
welcher das Meer blaute. Im Salon standen zu beiden Seiten der
Hauptthüre siebenarmige Leuchter von Mannshöhe aus Silber. An der einen
Schmalwand ein großes Gemälde, das einen alten Mann mit einer alten
Frau in einfacher dunkler Kleidung darstellte.

„Meine Eltern!“ bemerkte David, als er Friedrichs Augen darauf
gerichtet sah.

„Ich hätte sie gewiß nicht erkannt,“ lächelte Friedrich. „Und wer ist
das?“ Er deutete nach einem Oelbilde, das über dem mächtigen Kamin
hing. Es war das Porträt einer schlanken, schwarzlockigen, jungen Dame
von großer Schönheit.

„Das ist meine Schwester Mirjam. Sie werden sich gleich selbst
überzeugen können, ob es ähnlich ist.“

Im nächsten Augenblicke traten die Damen ein: Mirjam und eine blühende
junge Frau, die Gattin Davids.

„Sarah, Mirjam!“ rief der Hausherr mit leicht bebender Stimme. „Wir
haben den teuersten, unerwartetsten Besuch erhalten. Dieser Tag hat mir
die größte Freude meines Lebens gebracht. Ihr könnt nicht erraten,
nicht einmal ahnen, wen wir zu beherbergen das Glück haben. Denjenigen,
den wir für tot hielten, der unser Wohlthäter, unser Retter war!“

Die Damen blickten verwundert drein.

„Doch nicht — Friedrich Löwenberg?“ fragte das junge Mädchen.

„Er selbst, Mirjam! Er selbst! Da steht er.“

Da eilte sie auf den Gast zu, streckte ihm beide Hände entgegen,
begrüßte ihn freudestrahlend wie einen alten Freund.

Es war ihm wunderlich und selig zu Mute, als er von dieser lieblichen
Stimme seinen Namen aussprechen hörte. Er kam sich wie verzaubert vor
an dem herrlichen Orte, unter den prächtigen Menschen.

„Und das ist Mr. Kingscourt, der Freund des Doktors, also auch unser
Freund und werter Gast.“ Er berichtete kurz, wie er die Herren im Hafen
erblickt und Friedrich sogleich erkannt hatte. Denn er hatte sich als
kleiner Knabe die Züge des Nothelfers tief eingeprägt, und Friedrich
war eigentlich wenig verändert. Selbstverständlich dürften die Herren
in kein Hotel gehen, sondern müßten hier wohnen.

Frau Sarah wollte die Gäste gleich nach ihren Zimmern geleiten lassen.
David übernahm dies aber selbst. Er bat die Herren, ihm zu folgen.

„Gehen wir hinauf! Ich möchte Ihnen oben auch einen jungen Mann
vorstellen, der den hier nicht mehr ungewöhnlichen Namen Friedrich
führt.“

So schritten alle fünf die Halltreppe hinauf in den ersten Stock. David
führte und blieb vor der letzten Thüre des Korridors stehen.

„Hier hält sich dieses Individuum auf,“ sagte er glücklich lachend und
öffnete.

Es war ein weißes Zimmer. In der Mitte thronte auf seinem hohen
Kinderstuhl ein pausbackiges Baby. Es hatte sich die Schuhchen von den
Füßen gestreift und war eben bemüht, auch die kleinen Strümpfe durch
beharrliches Reiben der Zehen an den drallen Wädchen loszuwerden. Vor
ihm stand seine ältliche Pflegerin mit einem Teller Milchspeise. Das
Kind schlug lustig seinen Löffel auf den Brei, daß es nur so patschte,
und schien diese Unterhaltung für wichtiger zu halten, als das Essen.

„Dieser Dummkopf ist mein Sohn Friedrich,“ rief David und es klang zum
erstenmal etwas wie Stolz aus seinen Worten.

Aber Jung-Friedrich ließ den Löffel fahren. Kingscourts weißer Bart
hatte es ihm angethan. Er jauchzte hoch auf und reckte dem Alten beide
Aermchen entgegen. Kingscourt reichte ihm seinen Zeigefinger, und das
Bübchen klammerte sich fest an.

Die Anderen wollten dann hinausgehen, Kingscourt blieb wie angewurzelt
stehen.

Friedrich wandte sich in der Thüre um:

„Kommen Sie denn nicht mit, Kingscourt?“

„Der Kerl läßt mich nicht los!“ erwiderte er geschmeichelt. Und er
blieb dann auch richtig noch eine ganze Stunde beim kleinen Friedrich.

Mit diesem Augenblicke begannen die Beziehungen zwischen dem alten
Menschenfeinde Kingscourt und dem jüngsten Littwak. Man konnte nie
Genaueres über den Inhalt ihrer Unterredungen erfahren, weil der kleine
Fritz noch nicht sprechen konnte, und Kingscourt unter den
furchtbarsten Flüchen leugnete, daß er das Kind lieb habe. Indessen
wurde später durch Aussagen der Dienstleute festgestellt, daß
Kingscourt oft in die Kinderstube geschlichen kam, wenn er wußte, daß
kein anderer da war, und daß er sich zu den unvernünftigsten Streichen
hergab. Er ließ das Kind auf seinen Schultern reiten oder legte sich
platt auf den Boden, damit das Bürschchen gefahrlos an ihm
herumklettern könne. Wenn das Fritzchen aber weinte, führte er, um es
zu trösten, sehr erstaunliche Tänze auf und sang ihm uralte deutsche
Lieder vor, wobei er seine rauhe Stimme recht wohlklingend zu machen
versuchte.

Am ersten Tage seiner Bekanntschaft mit dem Kleinen fand sich
Kingscourt ein wenig verlegen beim Mittagstische ein. Doch gab es so
vielerlei zu fragen und zu erzählen, daß seine plötzliche Schwäche für
das Bübchen unbemerkt und unerörtert blieb.

Sie saßen in dem holzgetäfelten Speisesaale und hielten eine gute
Mahlzeit. Die Weine erregten besonders die Zufriedenheit Kingscourts.
Er bekam die Auskunft, daß es durchwegs Palästinensische Weine seien,
zum Teile sogar Eigenbau Davids. Mit der Weinkultur hatte ja die
Kolonisation des Landes schon in den achtziger Jahren des vorigen
Jahrhunderts begonnen. Die besten Rebensorten waren gepflanzt worden
und gediehen vortrefflich.

Mirjam erhob sich vor Ende des Mahles. Sie mußte fort, zur Schule.
Nachdem sie hinausgegangen war, beantwortete David eine Frage
Löwenbergs:

„Ja, Mirjam ist Lehrerin. Sie unterrichtet im Mädchengymnasium. Ihre
Fächer sind Französisch und Englisch.“

Kingscourt brummte:

„So? Das arme Mädel muß sich mit Stundengeben schinden?“

Es lag ein geheimer Vorwurf darin, den David lächelnd aufgriff:

„Sie thut es nicht um den Lebensunterhalt. So weit bin ich, Gott sei
Dank, daß ich meine Schwester nicht darben lasse. Aber sie hat
Pflichten und erfüllt sie, weil sie auch Rechte besitzt. In unserer
Neuen Gesellschaft sind die Frauen gleichberechtigt mit den Männern.“

„Alle Deibel!“

„Daß sie das aktive und passive Wahlrecht haben, ist
selbstverständlich. Sie haben treu mit uns gearbeitet am Aufbau unserer
Einrichtungen, ihre Begeisterung für unseren Hochgedanken hat den Mut
der Männer beflügelt. Es wäre die häßlichste Undankbarkeit gewesen,
wenn wir sie an den Gesindetisch unseres Hauses oder in ein verschämtes
Serail verwiesen hätten.“

„Sie sagten uns unterwegs,“ warf Löwenberg ein, „daß Reschid Bey auch
ein Mitglied Ihrer Gesellschaft sei. Ihr Wort vom Serail bringt mich
auf eine Frage.“

„Die ich errate, Herr Doktor. Niemand ist gezwungen, unserer Neuen
Gesellschaft beizutreten. Wer in ihr aufgenommen wird, ist wieder nicht
gezwungen, seine Rechte auszuüben. Das steht in seinem Belieben.
Kannten Sie im alten Europa nicht auch Männer, die kein Interesse an
den Wahlen hatten, nie zur Urne gingen und um keinen Preis eine Wahl
angenommen hätten? So ist es mit dem Wählen und Gewähltwerden der
Frauen in unserer Neuen Gesellschaft. Glauben Sie nur ja nicht, daß die
Hausmütterlichkeit bei uns darunter gelitten habe. Meine Frau zum
Beispiel geht nie in eine Versammlung.“

Frau Sarah lächelte:

„Daran ist aber nur Fritzchen schuld.“

Kingscourt träumte einen Augenblick von der Kinderstube und murmelte
wie verloren:

„Das begreife ich.“

„Ja,“ fuhr David fort, „sie hat unseren Buben gesäugt und bei dieser
Gelegenheit ihre unveräußerlichen Rechte ein bißchen vergessen. Früher
gehörte sie der radikalen Opposition an. So habe ich sie auch kennen
gelernt, als Gegnerin. Jetzt macht sie mir nur noch zu Hause Opposition
— freilich die allergetreueste, die man sich denken kann.“

Dröhnend lachte Kingscourt:

„Das ist ’n verdammt gescheites Mittel, einer Opposition beizukommen.
Das vereinfacht die politischen Zustände außerordentlich.“

Und David erklärte weiter:

„Ich muß Ihnen aber sagen, meine Herren, daß die Frauen bei uns
vernünftig genug sind, sich nicht auf Kosten ihres Privatwohles mit den
allgemeinen Angelegenheiten abzugeben. Es ist nicht nur ein weiblicher,
es ist ein menschlicher Zug, daß man sich um das Erreichte nicht mehr
viel kümmert. Der Zustand, den wir haben, wurde auch schon im vorigen
Jahrhundert vorbereitet. Es gab in einzelnen Ländern Vertretungskörper
von lokalem oder professionellem Wirkungskreise, in denen die Frauen
als Wähler und Gewählte zugelassen wurden. Sie haben sich da als klug
und tüchtig bewährt. Sie haben nicht mehr Zeit vertrödelt, kein
dümmeres Zeug geschwätzt, als die Männer. Es lag wirklich kein Grund
vor, diese günstige Erfahrung unbenützt zu lassen. Im übrigen ist die
Politik bei uns kein Geschäft oder Beruf, weder für Männer noch für
Frauen. Diese Seuche haben wir uns fernzuhalten gewußt. Leute, die von
ihrer deklamierten Ueberzeugung zu leben versuchen, statt von ihrer
Arbeit, werden rasch erkannt, verachtet und unschädlich gemacht. Die
Gerichte haben wiederholt in Ehrenbeleidigungsfällen entschieden, daß
’Berufspolitiker’ ein Schimpfwort ist. Diese Thatsache sagt Ihnen wohl
genug.“

„Wie besetzen Sie aber die öffentlichen Aemter?“ fragte Friedrich
Löwenberg. „Gebäude, die Sie uns im Vorbeifahren zeigten, lassen doch
die Annahme zu, daß es auch bei Ihnen Aemter giebt.“

„Gewiß. Wir haben besoldete und Ehrenämter. Die besoldeten werden aber
nur nach der fachlichen Tüchtigkeit der Bewerber vergeben. Die
Parteigänger, welcher Art sie auch seien, haben von vorneherein das
gesunde Vorurteil aller gegen sich. Aktive Beamte dürfen sich überhaupt
in keiner Weise an öffentlichen Diskussionen beteiligen. Anders ist es
um die Ehrenämter bestellt. Für die Besetzung dieser haben wir einen
einfachen Grundsatz. Die sich hervordrängen, schieben wir sachte
beiseite. Wir bemühen uns, das echte Verdienst in seinen bescheidensten
Schlupfwinkeln aufzustöbern. Darin sehen wir die Bürgschaft, daß unser
teures Gemeinwesen nicht Strebern zum Raub werde. So ist der jetzige
Präsident unserer Gesellschaft ein greiser, russischer Augenarzt. Der
übernahm das Amt höchst ungern, weil er seine Praxis aufgeben mußte.“

„War die so einträglich?“ fragte Kingscourt.

„O nein, hauptsächlich eine Armenpraxis. Er hat sie seiner Tochter
übergeben. Sie ist auch eine bedeutende Heilkünstlerin. Jetzt ist sie
Vorsteherin der großen Augenklinik. Ein braves Frauenzimmer, hat nicht
geheiratet, und widmete ihr Leben, ihre geschickte Hand den armen
Leidenden. Sie ist so recht ein Beispiel, welcher Nutzen die alten
Mädchen, die einsamen Frauen in einer vernünftigen Gesellschaft werden
können. Ehemals wurden sie verspottet oder als Last empfunden. Bei uns
wirken sie sich und anderen zum Heile. Das ganze Departement der
öffentlichen Wohlthätigkeit ist in den Händen solcher Damen. Auch darin
haben wir nichts Neues geschaffen, sondern nur das längst Vorhandene in
ein System gebracht, ordentlich zentralisiert. Spitäler, Siechenhäuser,
Kindergärten, Ferienkolonien, Volksküchen, kurz, alle milden
Einrichtungen, die Sie schon in Europa kannten, sind bei uns
zusammengefaßt und werden einheitlich verwaltet. Durch diese
Organisation ist es möglich geworden, jedem Hilfsbedürftigen oder
Kranken beizustehen. Es werden zwar bei uns an die öffentliche
Wohlthätigkeit geringere Anforderungen gestellt, als es in den früheren
Verhältnissen der Fall war, weil bei uns die Zustände — ich darf es
wohl sagen — im allgemeinen gesünder sind. Aber Hilfsbedürftige giebt
es auch hier, weil wir ja die Natur der Menschen nicht zu ändern
vermochten. Schwäche, Sorglosigkeit, verschuldetes und unverschuldetes
Unglück richten auch bei uns manchen zu Grunde. Wir helfen den Kranken
durch Pflege, den Gesunden durch Arbeit. Das alles haben wir nicht
erfunden, sondern nur angewendet und ausgebildet. Sie kannten
sicherlich schon in der alten Zeit die Einrichtungen der Arbeitshilfe
und Arbeitsvermittelung. Bei uns hat jeder ein Recht auf Arbeit, und
somit auf Brot; dafür aber auch die Pflicht zur Arbeit. Den Bettel
dulden wir nicht. Ein Gesunder, welcher Almosen nimmt, wird zu den
schwersten Arbeiten gezwungen. Der mittellose Kranke braucht sich nur
im Wohlthätigkeitsamte zu melden. Keiner wird abgewiesen. Die einzelnen
Spitäler sind selbstverständlich mit der Zentrale telephonisch
verbunden, und es wird durch rechtzeitige Vorkehrungen dem
gelegentlichen Platzmangel vorgebeugt. Wir müßten uns ja schämen, wenn
ein Leidender von Spittel zu Spittel wankte, wie es ehemals vorkam. Ist
ein Krankenhaus voll, so stehen im Hofe Wagen, um den neuankommenden
Patienten in die nächste aufnahmsbereite Anstalt zu bringen.“

„Das muß doch ungeheure Kosten verursachen,“ sagte Friedrich.

„Nein. Bedenken Sie, daß durch die planvolle Einteilung alles
ökonomischer wird. Die alte Gesellschaft war schon an der
Jahrhundertwende reich genug, nur litt sie an ihrer namenlosen
Verworrenheit. Sie war eine überfüllte Schatzkammer, in der man keinen
Suppenlöffel fand, wenn man ihn brauchte. Die Leute waren keineswegs
dümmer oder schlechter, als wir — oder, wenn Sie wollen, wir sind nicht
klüger oder besser, als jene waren. Der Grund des Gelingens unserer
sozialen Versuche ist ein anderer. Wir haben unsere Gesellschaft
gleichsam ohne erbliche Belastung eingerichtet. Zwar haben auch wir an
die Vergangenheit angeknüpft, und wir mußten es — der alte Boden, das
alte Volk — nur haben wir die Einrichtungen verjüngt. Die Völker mit
ununterbrochener Geschichte mußten Lasten tragen, die ihre Väter auf
sich genommen hatten. Wir nicht. Am deutlichsten sehen Sie das am
Beispiel irgend eines der Staatshaushalte, die Sie ehemals kannten. Da
bildeten die Zinsen und Amortisationen längstvergangener Schulden einen
riesigen Rechnungsposten. Es gab nur zweierlei: entweder den
schimpflichen Bankerott, oder das seufzende Fortschleppen der schweren
alten Lasten. Die Neue Gesellschaft war von vorneherein in einer
günstigeren Lage. Ich werde Ihnen das noch im einzelnen zeigen. Jetzt
will ich nur Ihre Frage nach den Kosten der Wohlthätigkeitsanstalten
beantworten. Obwohl diese Anstalten bei uns für alle Notfälle
ausreichen, allen Schwachen und Kranken zweckmäßig helfen, sind sie
doch weit billiger. Die Bauten und Einrichtungen wurden und werden, wie
es schon früher in jeder zivilisierten Gesellschaft geschah, aus
öffentlichen Mitteln bestritten, insoweit die bei uns Juden von jeher
üblichen Tempelspenden und letztwilligen Verfügungen nicht ausreichen.
Für das pflegende Personal aber haben wir durch ein System von
Mitgliedspflichten vorgesorgt. Alle Mitglieder der Neuen Gesellschaft,
die männlichen wie die weiblichen, müssen zwei Jahre ihres Lebens dem
öffentlichen Dienste widmen. In der Regel ist es die Zeit vom
achtzehnten bis zum zwanzigsten Lebensjahre, nach Vollendung der
Studien. Dabei will ich schon jetzt bemerken, daß der Unterricht auf
allen Stufen, mit Einschluß der Universität, für die Kinder unserer
Mitglieder unentgeltlich ist. In der zweijährigen öffentlichen
Dienstpflicht haben wir also ein unerschöpfliches Reservoir von
Hilfskräften für alle diejenigen Anstalten und Arbeiten, deren
allgemeine Nützlichkeit von der Gesellschaft anerkannt ist. Geleitet
werden die Anstalten und Arbeiten von besoldeten Beamten.“

„Ich verstehe,“ sagte Friedrich. „Ihre Armee besteht aus
Berufsoffizieren und Freiwilligen.“

„Ich acceptiere das Gleichnis,“ erwiderte David. „Aber mehr als ein
Gleichnis ist es nicht. Ein Kriegsheer giebt es nämlich in der Neuen
Gesellschaft nicht.“

„Au weh!“ spottete Kingscourt.

David lächelte:

„Was wollen Sie, Mr. Kingscourt? Nichts ist vollkommen auf Erden, also
auch unsere Neue Gesellschaft nicht. Wir haben ja keinen Staat, wie die
Europäer Ihrer Zeit. Wir sind eine Gesellschaft von bürgerlichen
Leuten, die nur durch Arbeit und Bildung ihres Lebens froh werden
wollen. Wir begnügen uns damit, unsere Jugend auch körperlich tüchtig
zu machen. Wir bilden wie den Geist so den Leib unserer Jugend. Turn-
und Schützenvereine genügen uns für diesen Zweck, wie sie in der
Schweiz genügten. Auch haben wir Wettspiele nach englischem Muster:
Cricket, Fußball, Rudern. Auch diese bewährten Dinge haben wir
übernommen, und sie bewähren sich nun bei uns. Einst waren die
Judenkinder bleich, schwach und scheu. Sehen Sie sie heute an! Die
Erklärung dieser wunderbar scheinenden Verwandlung ist die einfachste
von der Welt. Wir haben sie aus dumpfen Kellerlöchern, Elendhütten,
Proletarierstuben an das Licht gebracht. Pflanzen gehen ohne Sonne zu
Grunde, Menschen auch. Pflanzen kann man retten, wenn man sie in den
von ihrer eigenen Art geforderten Boden setzt, Menschen auch. So ist es
geschehen!“

Friedrich Löwenberg sprach sinnend:

„Wenn man Ihnen zuhört — und all das, was Sie uns schon gezeigt haben
und noch zu zeigen versprechen, will es ja bestätigen — so möchte man
glauben, daß es eine wirkliche Begebenheit und keine Utopie sei. Und
doch fehlt mir etwas. Den Umfang und die Bedeutung Ihrer Neuen
Gesellschaft beginne ich zu ahnen. Sie werden sie uns gewiß noch näher
erklären. Das bringt mich auch gar nicht in Verwirrung. Etwas anderes
ist es. Ich gebe ja zu, daß Sie uns lauter Dinge vorführten, die uns
nicht befremden dürfen, weil wir sie sämtlich schon in Europa, obwohl
nur zerstreut und ohne Harmonie geschaut haben. Aber wenn ich auch
sehe, höre, greife — begreifen kann ich nicht, wie das entstehen
konnte. Wie soll ich mich nur ausdrücken? Ich verstehe den neuen
Zustand, soviel ich bisher von ihm weiß, vollkommen — nur sein Werden
verstehe ich nicht. Der Uebergang von dem alten Zustande, den ich
kannte, in den neuen ist mir unerklärlich. Käme ich heute auf die Welt,
so würde ich das alles hinnehmen, wie ich das Gewordene meiner Zeit als
vernünftig hinnahm. Gewiß hätte ich auch damals vieles als wunderbar
und unwahrscheinlich empfunden, wenn ich es plötzlich mit dem
entfremdeten Blick eines zwanzig Jahre Abwesenden erschaut hätte. Wären
wir beispielsweise von 1880 bis 1900 weg gewesen, so hätten uns im
elektrischen Licht, im Telephon, in der Kraftübertragung durch den
Draht viel größere Ueberraschungen erwartet. Sie setzen uns hingegen
nichts technisch Neues vor, und ich glaube doch zu träumen. Der
Uebergang fehlt mir.“

„Den will ich Ihnen auch zeigen,“ sagte David. „Ich werde Ihnen meine
eigene Geschichte erzählen, in der Sie selbst eine so große Rolle
gespielt haben. Nur nicht hier, nicht jetzt. Sie werden von der Reise
müde sein. Ruhen Sie vor allem! Abends wollen wir, wenn Sie Lust haben,
in ein Theater gehen, in die Oper oder in das deutsche, englische,
französische, italienische, spanische Theater.“

„Schwere Not!“ schrie Kingscourt, „das alles giebt es hier? Also wie in
Amerika zu meiner Zeit? Da gab es ja auch Schauspieler aus aller Herren
Ländern. Aber daß Sie das hier haben ...“

„Ist doch gewiß nicht erstaunlich. Von Europa ist es hierher viel
näher, als nach Amerika. Auch haben es die Leute, denen vor der
Seekrankheit bangt, bequemer, nach Palästina zu kommen. Das im vorigen
Jahrhundert begonnene Netz der kleinasiatischen Bahnen ist längst
ausgebaut. Man fährt im Eisenbahnwagen nach Damaskus, Jerusalem oder
Bagdad. Seit die Eisenbahnbrücke über den Bosporus fertig ist, kann man
ja überhaupt ohne den Wagen zu wechseln von Petersburg oder Odessa, von
Berlin oder Wien, von Amsterdam, Calais, Paris, Madrid und Lissabon
nach Jerusalem fahren. Die großen europäischen Expreßlinien haben
sämtlich Anschluß an die Linie nach Jerusalem, sowie die
palästinensischen Bahnen wieder Anschluß nach Egypten und Nordafrika
haben. Die nord-südafrikanische Linie, für die sich der deutsche Kaiser
schon in den neunziger Jahren interessierte, und die sibirische Bahn
nach den Grenzen Chinas ergänzen dieses Eisenbahnnetz der alten Welt.
Wir befinden uns an einer vorzüglichen Stelle dieses Netzes.“

„Hol’s der Deibel, das ist ’ne dolle Nummer!“

„Sie werden sich doch nicht über Eisenbahnen wundern, die Sie selbst
gesehen haben, Mr. Kingscourt? Das ist nichts Uebernatürliches. Die
russisch-chinesische Bahn war vor zwanzig Jahren schon fertig, die
Bagdadbahn im Bau, die Nil-Kap-Bahn geplant. Unerklärlich müßte man es
nur finden, wenn Palästina, genau im geographischen Mittelpunkte der
Verkehrskreuzung zwischen Europa, Asien und Afrika liegend, noch länger
ausgeschaltet geblieben wäre.“

„Nee, lieber Hausherr, darüber wundere ich mich nicht. Sondern — darf
ich es sagen? — daß Ihr Juden das gemacht habt. Sie nehmen mir’s nicht
krumm?“

Friedrich bemerkte:

„Offen gesagt, das ist auch mein Erstaunen. Uns Juden hätte ich das
nicht zugetraut.“

David sagte gelassen:

„Nur wir Juden konnten es. Nur wir allein. Nur wir waren im Stande,
diese Neue Gesellschaft und diesen Verkehrsmittelpunkt zu schaffen.
Eins griff ins andere, und es konnte nur durch uns, durch unsere
Schicksale hindurchgehen. Unsere moralischen Leiden waren dazu
notwendig wie unsere wirtschaftlichen Erfahrungen und unser
Kosmopolitismus. Doch genug davon für heute. Ruhen Sie jetzt,
unterhalten Sie sich dann. Morgen in Tiberias erzähle ich Ihnen
weiter.“








4. KAPITEL.


An eine Fortsetzung der Reise nach Europa war vorläufig nicht zu
denken. Friedrich Löwenberg meinte zwar aus Diskretion, er müsse seinem
Freunde diesen Vorschlag machen, weil Kingscourt sich wohl kaum für die
Schicksale des jüdischen Volkes interessieren mochte. Aber der Alte
erklärte mit Entschiedenheit, daß er da bleiben wolle, so lange man sie
dulde. Das sei doch eine ganz verdammt kuriose Geschichte, die sich da
mit den Juden abgespielt habe. Und wenn der Herr Dr. Friedrich
Löwenberg für seine eigene Nation keine Teilnahme mehr habe, er,
Kingscourt, sei kein solcher Unmensch.

Kurz und gut, als der Steuermann von der Jacht heraufkam, wurde ihm
bedeutet, daß man in Haifa bleibe. Kleider und Wäsche sollten nach
Friedrichsheim geschickt werden, und die Mannschaft könne sich ein paar
gute Tage machen.

Die Fremdenzimmer, in denen sie untergebracht waren, grenzten
aneinander. Kingscourt stand in Hemdärmeln auf der Schwelle der
Verbindungsthüre und machte heftig gestikulierend seine Randbemerkungen
zu allem, was sie bisher gesehen und gehört hatten. Friedrich ruhte in
einem Lehnstuhl und blickte träumend zur offenen Terassenthüre hinaus
aufs Meer. Ein herrlicherer Aufenthaltsort ließ sich nicht denken. Und
was waren das für prächtige Menschen, die sich in diesem hohen und
freien Wohlstand so gelassen bewegten. David heiter und energisch,
selbstbewußt und doch nicht unbescheiden. Seine Frau neben ihm ein
glückliches Bild der jungen und frohen Mütterlichkeit. Und dieses
anmutige, edle Mädchen Mirjam, ernsteren Pflichten ergeben, als es
vormals der Brauch gewesen in reichen, jüdischen Häusern. Nach langen
Jahren zum erstenmal mußte er wieder an Ernestine Löffler denken, die
er so thöricht geliebt, und die ihm den Abschied vom Leben so leicht
gemacht hatte. Ob wohl Mirjam auch fähig wäre, eine solche Ehe
einzugehen, wie einst Ernestine? Er wußte selbst nicht, wie er auf
diese komische Frage kam. Nein, das war ein anderes Mädchen, und das
waren andere Menschen als die im widerwärtigen Löfflerschen Kreise. Wer
weiß, ob es damals nicht besser gewesen wäre, männlicher,
menschenwürdiger, zu streben und zu kämpfen, statt sich vor dem Leben
zu flüchten.

„Kingscourt!“ seufzte er aus diesem Gedankenzuge heraus, „ich frage
mich, ob unser Schiff keinen falschen Kurs hatte, als wir die selige
Insel dort drüben suchten. Womit habe ich nun zwanzig schöne Jahre
verbracht? Mit Jagen, Fischen, Essen, Trinken, Schlafen, Schachspielen
...“

„Und mit einem alten Esel, was?“ brummte Kingscourt verletzt.

„Den alten Esel schieben Sie mir unter,“ lachte Friedrich, „ohne Sie
könnte und möchte ich ja nicht mehr existieren. Aber es ist doch
schade, daß man nicht nützlicher war. Da ist nun die Welt um solch ein
Stück weiter gekommen, und man hatte kein Teil daran, kein Verdienst.“

„Nee, so was. Nu war der Mensch zwanzig Jahre in meiner Schule und hat
noch solche Gedanken. Sagen Sie gleich, daß Sie Mitglied der Neuen
Gesellschaft sein möchten.“

„Ich sage es nicht, weil ich sie noch nicht genügend kenne. Aber minder
abstoßend, als die frühere, kommt sie mir doch vor.“

„Minder abstoßend? Minder abstoßend!“ schäumte der Alte. „Bitte, treten
Sie nur in die saubere Gesellschaft ein. Ich kann ja allein
weiterdampfen und sehen wie ich mit mir fertig werde.“

„Regen Sie sich nicht auf, Kingscourt! Ich werde nicht länger hier
bleiben, als Sie selbst.“

„Das ist ein Wort?“

„Mein Ehrenwort ... Und ich werde auch nicht in Davids Neue
Gesellschaft eintreten. Es wäre denn ...“

„Was?“

Friedrich lächelte bei diesem Gedanken:

„Es wäre denn — daß Sie auch eintreten.“

So gelacht hatte Kingscourt schon lange nicht.

„Fritze, hahaha, was haben Sie doch für pudelnärrische Einfälle. Oh hoh
hahaha. Sehen Sie mich als Mitglied einer jüdischen Gesellschaft! Mich,
Adalbert von Königshoff, einen königlich preußischen Offizier und
christlichen germanischen Edelmann. Nee, Fritze, das ist zu jut, zu
jut.“

„Der Junker spricht.“

„Da is er nu gleich pikiert. In meinen Augen sind Sie ja ’ne Ausnahme.
Einer is Keiner.“

„Und was haben Sie gegen David Littwak einzuwenden?“

„Vorläufig nischt. Scheint ’n ganz strammer Kerl zu sein ...“

Ihr Gespräch wurde durch den Hausherrn unterbrochen, der kam, sich nach
ihren Wünschen zu erkundigen. Ob sie sich schon für ein Theater oder
Konzert entschieden hätten. Er legte ihnen den Vergnügungsanzeiger
einer Zeitung vor.

Kingscourt deutete auf das Blatt, ohne zu lesen:

„Wachsen noch immer so viele Lügen in der Welt?“

„Nur so viele, als die Leser wollen,“ entgegnete David.

„Also enorm viel,“ schmunzelte Kingscourt.

„Das ist ganz verschieden. Im allgemeinen sind die genossenschaftlichen
Blätter wahrheitsliebend und anständig.“

„Was für Blätter?“

„Die genossenschaftlichen. In unserer mutualistischen
Wirtschaftsordnung mußten auch die Tageszeitungen natürlich diesen
Charakter annehmen.“

Kingscourt unterbrach ihn:

„Halt, halt! Nicht zu schnell! In welcher Wirtschaftsordnung leben
Sie?“

„In der mutualistischen. Stellen Sie sich aber darunter keine eisernen
Regeln, keine unbeugsamen Grundgesetze, überhaupt nichts Hartes,
Steifes, Doktrinäres vor — sondern einen harmlos und natürlich
fließenden Gebrauch. Auch das hat schon zu Ihrer Zeit existiert, wie
alles andere, was Sie bei uns sehen. Es gab Erwerbs- und
Wirtschaftsgenossenschaften aller Art. Alle Arten werden Sie auch bei
uns wirksam finden. Das ganze Verdienst unserer Neuen Gesellschaft
besteht nur darin, daß sie das Aufkommen und Gedeihen der
Genossenschaften durch Kredit und — was wichtiger war — durch die
Unterweisung der Massen gefördert hat. In der Wissenschaft des vorigen
Jahrhunderts war die Bedeutung der Genossenschaften längst klar
gestellt worden. Im praktischen Leben rangen sie sich nur schwer und
zufällig durch. Die Genossen waren in vielen Fällen zu schwach, um bis
an den Erfolg, der kommen mußte, durchzuhalten. Sie hatten auch mit der
dumpfen oder offenen Gegnerschaft bedrohter Interessen zu kämpfen. Die
Lebensmittelhändler waren selbstverständlich über die Konsumvereine
nicht sehr froh. Die Möbelfabrikanten waren von den
Tischlergenossenschaften nicht entzückt. Alle Trägheit, alle
Reibungswiderstände, alle Hemmungen eingealterter Zustände wirkten
gegen die Entstehung der Genossenschaften. Und doch ist das die
mittlere Form zwischen Individualismus und Kollektivismus. Der Einzelne
wird nicht der Anregungen und Freuden des Privateigentums beraubt, und
dennoch kann er sich im Zusammenstehen mit Genossen der
kapitalistischen Uebermacht erwehren. Der Jammer, der Fluch ist von
unseren Armen genommen, daß sie am Erzeugnisse weniger verdienen und
den Verbrauch teurer bezahlen, als die Reichen. Bei uns ist das Brot
des Armen ebenso billig, wie das des Reichen. Es giebt keinen
Lebensmittelwucher. In der alten Gesellschaft wären hunderttausende von
Händlern dabei zu Grunde gegangen. Wir ließen die Händler alten Stils
gar nicht erst entstehen, sondern richteten von Anfang an die
Konsumvereine ein. Da haben Sie wieder den Vorzug unserer
Lastenfreiheit. Wir mußten niemanden zu Grunde richten, um unseren
armen Massen zu helfen.“

„Aber die Zeitung?“ fragte Friedrich. „Wir sprachen von Zeitungen. Wie
können die genossenschaftlich eingerichtet werden? Gehören sie
sämtlichen Redakteuren, oder wie ist das?“

„Sehr einfach. Die genossenschaftliche Zeitung gehört den Abonnenten.
Der Abonnementsbetrag ist die Einlage der Mitglieder, die darüber
hinaus nicht haften. Je größer der Leserkreis, umso bedeutender sind
die Einnahmen aus Inseraten und Ankündigungen verschiedener Art. Dieser
Gewinn gebührt eigentlich den Lesern oder wenigstens den Abonnenten,
und er wird zum Jahresschluß den Mitgliedern rückvergütet. So daß in
besonders günstigen Fällen die Abonnenten schließlich ihre Einlage ganz
wiedererhalten. Es ist auch schon vorgekommen, daß sie mehr als die
Einlage erhielten.“

„Fabelhaft! Unglaublich fabelhaft,“ schrie Kingscourt. „Da kriegt man
also eine Prämie für fleißiges Zeitungslesen?“

„Ja, haben Sie denn in Europa und Amerika nie davon gehört, welche
Einkünfte die großen Zeitungen hatten? Sie wurden auch immer billiger,
obwohl die Ausgaben für Depeschen und Mitarbeiterhonorare sich riesig
steigerten. Die größten Blätter wurden unter den Entstehungskosten
hingegeben, und dabei wuchs der Gewinn der Unternehmer doch immer mehr.
Darin war also schon das Prinzip der Gewinnvergütung an die Abonnenten
enthalten. Dasselbe finden Sie hier bei uns, nur gelangt auch der
Löwenanteil des Unternehmers zur Verteilung an die Mitglieder der
Zeitungsgenossenschaft. Die Redaktion ist der geschäftsführende
Ausschuß, und Sie können versichert sein, daß diese hochstehenden
Arbeiter, deren Geist ja das bedruckte Papier erst lesenswert macht,
besser daran sind, als früher. Sie sind es, die das Geld für die
Abonnenten verdienen, und dafür hat auch der gewöhnliche Mann das
Einsehen. Es kommt die Dankbarkeit für die guten, schönen und gerechten
Aufsätze hinzu, durch die Tag um Tag die allgemeine Bildung gepflegt
und erweitert wird. Unsere Zeitungen ergänzen den Volksunterricht
unermüdlich, sie belehren, aber sie unterhalten auch; sie dienen den
praktischen Bedürfnissen des Verkehrs, des Handels und der Industrie
nicht minder eifrig, als der Kunst und Wissenschaft. Und wie anders
freudig arbeiten diese Journalisten im Bewußtsein ihrer öffentlichen
Wichtigkeit und des zu erwartenden rückhaltlosen Dankes. Um wieviel
ernster nehmen sie ihre Aufgabe, für die es nunmehr auch eine
Verantwortung giebt.“

„Das klingt verführerisch,“ warf da Friedrich ein. „Nur scheint mir,
daß solche genossenschaftliche Zeitungen den Launen der Menge sklavisch
unterworfen sein müssen. Die Redaktion, in ihrer ganzen Existenz von
den Lesern abhängig, wird augendienern, dem Publikum schmeicheln, den
Leidenschaften der Abonnenten zu fröhnen suchen.“

„Wenn dem so wäre,“ entgegnete David, „wäre das vielleicht etwas neues?
Hat es nicht auch früher solche Erscheinungen gegeben? Es gab
Redakteure, die ängstlich nach den Stimmungen des Publikums aushorchten
und auslugten, die das Eine verschwiegen und das Andere übertrieben, je
nachdem sie glaubten, es ihren Lesern recht zu machen. Und dabei waren
sie erst noch im ungewissen, ob sie es auch trafen. Anders jetzt. In
den jährlichen Versammlungen wird Rechenschaft gegeben, aber auch vom
organisierten Publikum der Zeitung für die Zukunft eine Richtschnur
erteilt.“

„Gräßlich!“ rief Kingscourt. „Versammlungen von hunderttausend
Abonnenten!“

„Wo denken Sie hin? Die Abonnenten wählen hundert oder zweihundert
Vertrauensmänner, die das besorgen. Der Vorgang ist einfach. In der
Zeitung selbst kandidieren Leute für dieses kurze Amt. Der
Abonnementsschein hat einen Koupon, der als Wahlzettel dient.
Fünfhundert oder tausend übergeben ihre Wahlzettel einem Vertrauensmann
für die Generalversammlung. Ein solcher pflegt in der Zeitung selbst zu
inserieren: Ich gedenke in der Generalversammlung diesen und diesen
Standpunkt einzunehmen. Wer mit mir einverstanden ist, möge mir seinen
Zettel einschicken.“

„Schön,“ sagte Friedrich; „dem Publikum wird reichlich Rechnung
getragen. Aber darin sehe ich noch keinen Vorteil für das Volk. Die
neuen Gedanken und Bewegungen werden selten gleich verstanden. Sie
könnten es ebensogut Kindern anheimstellen, ob sie etwas lernen wollen,
wie dem Publikum, ob es seine Anschauungen verbessern, erneuern oder
vertiefen will. Ihre öffentliche Meinungsgenossenschaft muß notwendig
zur Volksverdummung in den extremsten Formen, nämlich zu Reaktion und
Revolution führen. Die Leute werden entweder taub gegen den Wert des
Neuen oder blind gegen den Wert des Alten sein. Der Nutzen einer
geistigen Führung, die nur vom begabten Individuum kommen kann, geht
Ihnen verloren.“

„Sie haben mich nicht ausreden lassen, Herr Doktor. Ich sagte nicht,
daß die genossenschaftliche Zeitung die einzige Form sei. Diese ist nur
an Stelle derjenigen Publizitätsunternehmungen getreten, welche durch
den Umfang der Anlage, die Kosten der technischen Herstellung und den
teuren Nachrichtendienst einen großindustriellen Charakter hatten. Wir
haben aber auch Zeitungen, die von einzelnen gemacht und geführt sind.
Ich selbst besitze eine solche. Ich brauche sie in dem Kampfe, den ich
gegenwärtig in unserer Neuen Gesellschaft auszufechten habe. Mein
Hauptgegner, der Rabbiner Dr. Geyer hat auch sein eigenes Blatt. Ich
werde meine Zeitung nicht länger herausgeben, als der Streit dauert.
Geyer wird es wahrscheinlich anders halten, denn er lebt von diesem
Hader. Und so giebt es noch vielerlei im Eigentum einzelner befindliche
und als solche kenntliche Zeitungen, die verschiedenen Zwecken dienen.
Kommt eine neue Richtung, tritt ein schöpferischer Geist auf, so können
sie sich in der öffentlichen Meinung bethätigen. Gewiß werden sie auch
recht bitter zu kämpfen haben, gleichwie in der vorigen Zeit. Sie
werden den Ernst ihrer Ueberzeugungen, ihren Mut, ihre Ausdauer
erhärten müssen, und das ist nicht schlecht. Glauben Sie mir, wir sind
durch unseren Mutualismus nicht ärmer geworden an kräftigen
Individualitäten, sondern reicher. Der Einzelne wird bei uns weder
zwischen den Mühlsteinen des Kapitalismus zermalmt, noch von
sozialistischer Gleichmacherei geköpft. Wir kennen und schätzen die
Entwickelung des Individuums, so wie wir seine wirtschaftliche Basis,
das Privateigentum, respektieren und schützen.“

„Na, Gott sei Dank!“ sagte Kingscourt, „ich dachte schon, Ihr hättet
den Unterschied von Mein und Dein aufgehoben.“

„Dann wäre wohl das alles, was Sie schon gesehen haben und noch sehen
werden, nicht entstanden,“ erklärte David. „Nein, so verrückt waren wir
nicht. Den Ansporn zur Arbeit, Bemühung, Entdeckung und Erfindung haben
wir nicht aus der Welt geschafft. Die größere Begabung muß ihre größere
Talentrente, die größere Anstrengung ihren größeren Lohn haben. Den
Reichtum brauchen wir, als Lockung für die Strebsamen und als Nahrung
für die seltene Kunst. Ich selbst gehöre zu den besser Bemittelten. Ich
bin Schiffsrheder. Meine Unternehmung ist von der Art derjenigen, die
nach wie vor nur von einzelnen oder von Aktiengesellschaften mit Erfolg
betrieben werden können. Das ist ja ein Hauptvorzug des Mutualismus,
daß er das Fortbestehen und Neubegründen anderer wirtschaftlicher
Formen nicht ausschließt. In meinem Hause werden Sie zum Beispiel eine
interessante Mischform finden. Ich bin der Eigentümer der Firma. Meine
Arbeiter bilden untereinander eine Genossenschaft, die mir gegenüber
immer selbständiger wird, und zwar mit meinem Willen, meiner
Unterstützung. In den Anfängen meiner Unternehmung und ihrer
Genossenschaft hatten sie nur einen Konsumverein, der sich zur
Sparkasse erweiterte. Sie müssen bedenken, daß unsere Arbeiter als
Mitglieder der Neuen Gesellschaft ohnehin für Unfälle, Krankheit, Alter
und Tod versichert sind. Ihre Sparkraft wird somit nicht zersplittert.
Ich habe freiwillig ihre Spargenossenschaft durch Zuweisung eines
Gewinnanteiles gestärkt. Ich that es nicht aus Edelmut, sondern aus
Egoismus, weil ich mir dadurch außer ihrer Arbeitshingebung auch noch
den günstigen Verkauf meines Unternehmens sicherte für den Zeitpunkt,
in dem ich mich vom Geschäfte zurückziehen werde. Dann verwandle ich
meine Rhederei in eine Aktiengesellschaft und habe für diesen Fall der
Spargenossenschaft meiner Arbeiter das Vorkaufsrecht auf Grundlage
einer mäßigen Verzinsung schon im Vorhinein eingeräumt. Darum sind
meine Arbeiter auch meine besten Freunde. Es giebt zwischen uns weder
Lohnstreitigkeiten, noch andere. Es ist, wenn Sie wollen, das
patriarchalische Verhältnis, aber in den modernsten Verkehrsformen
ausgedrückt. Wenn ein Aufwiegler zu meinen Arbeitern käme, brauchte ich
ihn nicht gewaltsam entfernen zu lassen — sie würden ihn einfach
hinauslachen. Sie wissen, woran sie sind, und damit hat aller unklare
Sozialismus ein Ende.“

Kingscourt brummte gemütlich:

„Sie sind noch ein junger Mensch und halten schon so verdammt weit.“

„Ich habe eben früh angefangen. Wir waren unter den ersten
Einwanderern. Persönliches Verdienst war es nicht, oder nur zum
geringeren Teile. Der allgemeine Aufschwung hat mich mit
hinaufgetragen. Aber das will ich Ihnen erst in Tiberias erzählen.“

„Warum in Tiberias?“ fragte Friedrich.

„Sie werden dort den Grund erfahren, da Sie wahrscheinlich keine Ahnung
haben, welches Fest wir begehen ... Jetzt aber wählen Sie endlich Ihre
Abendunterhaltung, meine Herren. Wollen Sie lieber das Programm aus der
gesprochenen Zeitung hören?“ Er nahm zwei Hörmuscheln von der Wand, an
der sie hingen, und reichte sie seinen Gästen.

Kingscourt lachte:

„Euer Hochwohlgeboren, damit imponieren Sie mir nicht. Den Zauber kenn’
ich. Eine solche Telephonzeitung war schon vor fünfundzwanzig Jahren in
Budapest im Betrieb.“

„Ich wollte Ihnen durchaus nichts neues zeigen. Uebrigens ist auch
diese gesprochene Zeitung eine genossenschaftliche.“

„Die wird aber kein Erträgnis abwerfen, da es keine Inserate giebt?“

„Im Gegenteil. Diese Ankündigungen werden am höchsten bezahlt. Den
Inseratenteil der gedruckten Zeitungen muß der Leser nicht anschauen,
er kann darüber hinwegblättern. Hingegen ist er gegen die Reklame
wehrlos, die aus diesen Muscheln kommt. Horchen Sie, vielleicht wird
gerade eine verlesen.“

Sie nahmen die Hörmuschel ans Ohr. Zuerst vernahmen sie die Anzeige
eines Dockbrandes in Yokohama, dann den kurzen Bericht über eine
Pariser Theaterpremière, die neuesten Baumwollkurse von New-York — und
jetzt erscholl es deutlich, noch schärfer betont, als das Frühere:

„Bei Samuel Kohn bekommt man die edelsten Edelsteine, sowohl echte wie
falsche, zu den garantiert brillantesten Preisen. Bei Sa—mu—el Kohn,
Große Galerie 47.“

Sie lachten herzlich.

David sagte noch:

„Das wird oft auf eine witzige Weise gemacht, daß der Hörer nicht
merkt, es werde auf eine Reklame hinauslaufen. Das Erträgnis dieser
Zeitung ist kolossal. Die Abonnenten zahlten ursprünglich einen Schekel
monatlich und bekamen mehr zurück. Diese Zeitung hat ja weder Druck-
noch Papier- noch Zusendungskosten. Aber die Stadt Haifa und die Neue
Gesellschaft machten sich das Unternehmen tributär. Es steht übrigens
auch unter besonderer Aufsicht. In der Zentrale wachen Beamte der Neuen
Gesellschaft darüber, daß kein Unfug begangen, keine Lügen,
Alarmnachrichten oder Unanständigkeiten in den Apparat hineingesprochen
werden.“

Friedrich war ein Wort aufgefallen:

„Tributär?“ „Wie kann sich die Stadt oder Ihre Neue Gesellschaft, deren
Verfassung Sie uns noch schuldig sind, ein Privatunternehmen einfach
tributär machen, wenn es ergiebig wird?“

„Das ist ein ganz besonderer Fall. Die Telephonzeitung muß ihre Kabel
doch irgendwohin legen. Nun haben wir unter unseren Straßen Hohlräume
zur Aufnahme aller möglichen schon vorhandenen und noch kommenden
Drahtleitungen und Röhren für Gas, Wasser und Kanalisation. Unter dem
Fahrdamm läuft dieser Tunnel mit Mündungen an jedem Hause. Jedes Haus
hat einen unterirdischen Eingang für solche Röhren und Drähte. Man muß
nicht erst das Pflaster aufreißen, wenn man etwas neues einführen will.
Sie können darin meinetwegen auch einen symbolischen Zug unserer
Einrichtungen erblicken. Die großen Städte, die Sie kannten, waren
zufällig und planlos entstanden. Leuchtgas, Wasserversorgung, Kanäle,
elektrische Leitungen verursachten immer wieder ein Aufreißen der
kranken Eingeweide jener Straßen. Dabei wußte man nie genau, in welchem
Zustande sich die einzelnen Leitungen befanden, erfuhr es gewöhnlich
erst nach einem Schaden, einer Explosion. Wir aber kannten schon die
Bedürfnisse moderner Städte, als wir die unsrigen anlegten und bauten
deshalb die Straßen vernünftig mit diesem Hohlraum in der Mitte. Das
war ziemlich kostspielig, rentiert sich aber großartig. Wenn Sie das
Budget von Haifa mit dem von Paris oder Wien vergleichen, werden Sie
sehen, was wir durch die unterirdischen Hohlräume ersparen. Da drin
liegen unter andern auch die Drähte der Telephonzeitung, und es muß
dafür eine mit dem Erträgnis gewachsene Miete gezahlt werden. Das kommt
ja wieder nur der Allgemeinheit zu statten.“

Kingscourt bekannte:

„Das ist das erste, was mir bei Euch imponiert: daß Ihr die edelsten
Edelsteine des Samuel Kohn zur Straßenpflasterung verwendet. Ihr seid
doch ein verflucht pfiffiges Volk! Darauf wäre ich nie gekommen.“

„Ihre Komplimente schmecken bitter, Mr. Kingscourt!“ sagte David
freundlich. „Aber vielleicht wird sich Ihr Urteil noch ändern, wenn Sie
erst einige Zeit bei uns sind.“

„Schön! Mich sehen Sie prinzipiell bereit einzugestehen, daß ich ’n
oller Esel bin — aber ich verlange Beweise dafür! ... — Und nun führen
Sie uns in Deibelsnamen ins Theater.“

„In welches Sie wollen, lieber Littwak,“ ergänzte Friedrich.

„Da Sie keine Wahl treffen wollen, meine Herren, so denke ich, wird’s
am besten sein, wir überlassen die Bestimmung den Damen.“

Damit waren die Gäste einverstanden.








5. KAPITEL.


Die Damen waren schon in Abendtoilette. Frau Sarah sagte:

„Die Herren werden wohl hier im Theater nicht etwas sehen wollen, was
sie ebensogut in London, Berlin oder Paris genießen können. Obwohl wir
gerade jetzt eine vorzügliche französische und die beste italienische
Schauspielergesellschaft in Haifa haben. Ich meine, die jüdischen
Schauspiele werden Sie mehr interessieren.“

„Es giebt jüdische Schauspiele?“ staunte Friedrich.

Kingscourt scherzte:

„Haben Sie denn nicht immer jehört und jelesen, daß das Theater janz
und jar verjudet ist?“

Frau Sarah warf einen Blick in die Zeitung:

„Man spielt heute im Nationaltheater ein biblisches Drama: Moses!“

„Das ist eine sehr erhabene Dichtung,“ erklärte David.

„Aber doch zu ernst. In der Oper giebt man Sabbatai Z’wi. In einigen
Volkstheatern werden Possen im Jargon aufgeführt. Die sind lustig, aber
nicht sehr geschmackvoll. Ich würde die Oper empfehlen.“

Dafür war auch Mirjam. Es sei das schönste jüdische Tonwerk der letzten
Jahre, die doch so reich waren an musikalischen Hervorbringungen. Aber
man müsse sich beeilen, weil die Fahrt nach dem Opernhause eine halbe
Stunde dauere.

„Werden wir noch Plätze kriegen?“ fragte Kingscourt.

David antwortete:

„An der Kasse wäre wohl um diese Stunde nichts mehr zu haben, weil die
meisten Genossenschafter heute ihr Bezugsrecht ausgeübt haben dürften.
Aber ich habe von der Gründung des Hauses her meine Loge.“

„Auch die Oper eine Genossenschaft?“ rief Löwenberg.

„Abonnement, Fritze! Sie nennen das hier Genossenschaft. Wird ähnlich
sein wie bei der Zeitung.“

„Ganz ähnlich,“ lachte David. „Lassen Sie sich nicht verblüffen, Mr.
Kingscourt. Es giebt nichts neues bei uns, es sieht nur so aus.“ Er
hatte ein paar weiße Handschuhe hervorgeholt und begann sich sie über
die Finger zu ziehen.

Handschuhe! Und gar weiße. Weder Kingscourt noch Friedrich hatten
welche. Auf ihrer Insel im stillen Ozean waren sie zwanzig Jahre lang
solcher Flausen enthoben gewesen. Aber da man doch nun wieder in die
verzweifelte Lage geraten war, mit Damen ins Theater gehen zu müssen,
wollte man sich wie ein zivilisierter Mensch benehmen. Kingscourt
fragte, ob man auf dem Wege nach der Oper beim Laden eines
Handschuhmachers vorbeikäme. Nein. Es gebe überhaupt keine derartigen
Läden. Da wäre der alte Herr beinahe böse geworden:

„Uzen Sie mich? Sie haben doch selbst schon die Lederhülsen auf den
Däumen. Oder machen Sie sich die selbst? Sie sind wohl auch in der
Genossenschaft der Handschuhmacher?“

Es war ein Mißverständnis, das unter allgemeiner Heiterkeit aufgeklärt
wurde. Es gab nämlich keine besonderen Geschäfte für Handschuhe, weil
man diese wie alle anderen Bekleidungsgegenstände in den großen
Kaufhäusern feil hielt.

Vor der Freitreppe von Friedrichsheim standen zwei Motorwagen bereit,
als die Gesellschaft aufbrach, um nach dem Opernhause zu fahren. Im
ersten nahmen Frau Sarah, Mirjam und Friedrich Platz, im zweiten
Kingscourt und David. Es war ein Abend des Südens, an die weichen
Nächte der Riviera gemahnend. Unter ihnen lag das Lichtmeer von Haifa.
Im Hafen und auf der Rhede bis nach Akka hin gab es Schwärme von
Glühkörperchen im spiegelnden Wasser, das waren die Lampen der vielen
Schiffe.

Als sie am Hause Reschid Bey’s vorbeikamen, hörten sie den Gesang einer
wundervollen Frauenstimme heraus.

Mirjam sagte:

„Die da singt, ist die Gattin Reschid Bey’s. Sie ist unsere Freundin,
ein sehr artiges, gebildetes Geschöpf. Wir kommen oft mit ihr zusammen,
aber nur in ihrem Hause. Die mohammedanischen Gebräuche, an denen
Reschid festhält, machen es ihr schwer, zu uns zu kommen.“

„Aber Sie dürfen nicht glauben, daß Fatma sich darum nicht wohl
fühlte,“ fügte Sarah hinzu.

„Es ist eine vollkommen glückliche Ehe. Sie haben reizende Kinder. Nur
tritt die Frau nicht aus ihrer friedlichen Abgeschlossenheit heraus.
Das ist gewiß auch eine Form der Glückseligkeit. Ich begreife sie ganz
gut, obwohl ich ein vollberechtigtes Mitglied der Neuen Gesellschaft
bin. Wenn es der Wunsch meines Mannes wäre, würde ich ohne weiters das
Leben Fatmas führen.“

„Das kann ich bestätigen,“ ergänzte Mirjam, indem sie ihre Hand
liebkosend auf die Hand der neben ihr sitzenden Schwägerin legte.

Friedrich sprach nachdenklich:

„Ich verstehe. Hier in Ihrer Neuen Gesellschaft kann jeder nach seiner
Façon leben und selig werden.“

Sarah erwiderte:

„So ist es, Herr Doktor! Jeder und jede.“

Nun waren sie wieder in den hellerleuchteten Straßen der Stadt. Vor
einem riesigen Gebäude, aus dessen weiten Fensteröffnungen Lichtfluten
herausdrangen, hielten die beiden Wagen. Das war doch nicht etwa die
Oper? Nein! Ein Warenhaus nach Pariser Art war es.

„Das ist ja der Bon-Marché!“ rief Kingscourt.

David lächelte:

„Etwas ähnliches. Wir haben nur solche Kaufhäuser. Es giebt gar keine
kleinen Läden.“

„Was? Die habt Ihr alle umgebracht? Die armen kleinen Schufte von
Händlern habt Ihr mausetot gemacht?“

„Nicht doch, Mr. Kingscourt! Wir haben sie nicht zu töten gebraucht,
weil wir sie gar nicht entstehen ließen.“

Friedrich, der mit den Damen ein wenig nach den ausliegenden
Modeschätzen geblickt hatte, mischte sich nun in das Gespräch:

„Wie? Sie haben den Kleinhandel verboten! Ist das Ihre Freiheit?“

„Bei uns ist jeder frei und kann thun oder lassen, was er will,“
entgegnete David. „Bestraft werden nur dieselben Verbrechen und
Vergehen, die man in den Kulturländern Europas zu ahnden pflegte.
Verboten ist bei uns nichts, was nicht auch dort verboten war. Und wir
halten ja den Kleinhandel nicht für eine Schlechtigkeit, sondern für
etwas Unwirtschaftliches. Das war eines der Probleme, die unsere
Gesellschaft lösen mußte. Es war höchst wichtig, besonders in den
Anfängen, weil ja große Massen unserer Leute vom Kleinhandel herkamen.
Mein guter Vater selbst — Sie erinnern sich wohl noch, Herr Doktor —
verdiente sich unser bißchen hartes Brot als Hausierer, und das ist die
ärmste, unglücklichste Art des Kleinhandels. Er ging mit seinem
Kästchen von Schenke zu Schenke.“

„Hören Sie ’mal, Herr Littwak,“ brummte Kingscourt; „Sie scheinen sich
dessen nicht zu schämen?“

„Ich? Ich bin weit davon entfernt, mich dessen zu schämen. Für mich hat
er sich geplagt und schinden lassen. Da wäre ich doch der letzte
Mensch.“

„Lassen Sie sich die Hand drücken! Das gefällt mir.“ Und er schüttelte
die Rechte des jungen Mannes ganz energisch.

Während sie nach der Abteilung der Handschuhe weitergingen, forschte
Friedrich noch:

„Wie sind Sie nun der Frage des Kleinhandels beigekommen, wenn nicht
durch ein Gesetz oder Verbot?“

„Ganz einfach! Durch das, was Sie hier sehen: durch das große
Warenhaus. Diese Riesenbazare und Versandtgeschäfte mit
Zweigniederlassungen an vielen Orten mußten im Zeitalter der
Dampfmaschinen und Eisenbahnen entstehen. Es war keinem Zufall, keinem
Genieblitz eines geistreichen Kaufmannes zu verdanken. Es lag eiserne
Notwendigkeit in dieser Entwicklung. Die Art der Massenproduktion
erzwang sich diese Art des Absatzes. Natürlich gingen dabei die kleinen
Geschäftsleute dumpf und fassungslos zu Grunde, wie die Fuhrmänner auf
der Landstraße, wenn die Eisenbahn erschien. Nur pflegten die Kutscher
ihr Los schneller zu erraten, als die Ladenmenschen mit ihrer
kurzsichtigen Pfiffigkeit. — Diese waren übrigens auch viel hilfloser,
weil ihr Geschäftchen hauptsächlich aus ihrem Kapitälchen bestand, und
das war in der Regel schon verloren, wenn ihnen die erste Ahnung der
Gefahr aufstieg. Sie waren an ihrem Ruin unschuldig, die guten
Krämerseelen. Sie waren von der neuen Zeit ohne Kriegserklärung
überfallen worden. Bei uns aber — das ist einer der Schlüssel unseres
Erfolges — kam es gar nicht zur Einrichtung der überlebten
Wirtschaftsformen. Wir fingen gleich mit der Neuzeit an. Niemand war so
dumm, sich einen kleinen Laden neben einem großen Kaufhause zu
errichten. Niemand ging mehr mit dem Pack auf dem Rücken von Haus zu
Haus oder von Ort zu Ort, wenn er wußte, daß ihm die Versandtgeschäfte
mit Preislisten, Mustersendungen und Zeitungsannoncen längst
zuvorgekommen waren. Kleinhandel und Hausierhandel versprachen keinen
Gewinn mehr — darum wandten sich unsere Leute diesen Erwerbszweigen gar
nicht erst zu, als sie in die neuen Verhältnisse kamen. Im alten
Europa, das so vielerlei erworbene Rechte ungleichen Datums zu schützen
hatte, war das eine böse Frage. Der untere Teil des kaufmännischen
Mittelstandes geriet durch die großen Magazine in Todesgefahr. Sollte
man die großen Kaufhäuser von amtswegen sperren — bei welchem Umfange
begann das Warenhaus „groß“ zu sein? Sollte man sie durch Steuern
erschöpfen? Davon hatte der Fiskus eine Kleinigkeit und die Händler
nicht viel. Aber das Publikum wollte, brauchte diese Häuser, wo man
ohne Zeitverlust alle möglichen Gegenstände zu Preisen des
Massenumsatzes findet. Der Fabrikant kann den großen Häusern billiger
liefern als den kleinen. Kurz: Produktion und Konsumtion forderten das
moderne Warenhaus. Bei uns wurde dadurch niemand ruiniert, weil das
Verkehrsleben erst begann. Dagegen war damit für uns ein
sozialpolitischer Zweck verknüpft: wir konnten so die Seele und den
Leib unserer kleinen Leute von gewissen alten, unwirtschaftlichen und
schädlichen Formen des Handels heilen.“

Die Damen gaben leichte Zeichen der Ungeduld, als David so ausführlich
erklärte. Man würde zu spät in die Oper kommen. Aber Kingscourt wollte
doch noch etwas wissen, während er seine großen, roten Hände der
Verkäuferin hinhielt, die sie ihm in die weißen Handschuhe pressen
mußte:

„Da stimmt mir etwas nicht, Euer Hochwohlgeboren! Heute, seh’ ich, habt
Ihr ’nen großen Verkehr. Aber so war’s doch nicht gleich? Man hat doch
nicht diese Warenpaläste auf die nackte Erde hingestellt, und dann sind
plötzlich die Kunden ’reingeströmt. Das können Sie Ihrem Fritzchen
erzählen, nicht so ’nem alten Wüstenpilger wie mir.“

„Nein, Mr. Kingscourt, so war es auch nicht. Die Dinge haben sich
natürlich und selbstverständlich entwickelt. Als die Judenwanderung
nach Palästina im großen Maßstabe begann, da war von einem Tag auf den
anderen ein enormer Warenbedarf eingetreten. Wir produzierten noch gar
nichts und brauchten alles. Dieser Zustand war in der ganzen Welt
bekannt, weil sich die Judenwanderung in größter Oeffentlichkeit
vollzog. In Folge dessen beeilten sich die Inhaber von Warenhäusern, an
den wichtigsten Punkten Palästinas Zweigniederlassungen zu errichten.
Nicht nur Juden benutzten diese Konjunktur, ihre Ladenhüter
loszuwerden. Deutsche, englische, französische, amerikanische
Kaufhäuser waren im Handumdrehen aufgebaut. Zuerst waren es nur eiserne
Baracken. Als mit dem Strom der Einwanderung die Bedürfnisse sich
mehrten und verfeinerten, als es nicht mehr galt, die armen Ankömmlinge
der ersten Zeit zu versorgen, weil sie anfingen, seßhaft und bemittelt
zu werden — da verwandelten sich die Baracken allmählich in steinerne
Kaufhäuser. Die Neue Gesellschaft hütete sich davor, sie zu bedrängen
oder zu unterdrücken. Im Gegenteile, sie wurden begünstigt, weil sie
den doppelten Vorteil boten, die notwendigen Massenartikel rasch und
billig ins Land zu schaffen, und unsere kleinen Leute vom unfruchtbaren
Handel abzuhalten. Wir wollten kein Volk von Krämern sein.“

„Wirklich?“ fragte Friedrich. „Es gibt keine Händler außer den großen
Warenhäusern?“

„O doch!“ war die Antwort. „Die Menschen sind ja bei uns nicht
reglementiert. Es giebt weder eine monarchische noch eine
sozialistische Tyrannei. Jeder treibt es, wie er’s will. Die
kostbarsten und die mindestwertigen Sachen, zum Beispiel Schmucksachen
und alter Trödel werden von einzelnen gehandelt. Aber das sind durchaus
nicht lauter Juden. Griechen, Levantiner, Armenier, Perser stellen zu
diesen Beschäftigungen ein ansehnlicheres Kontingent, als die Juden,
insbesondere als die Juden, die Mitglieder unserer Neuen Gesellschaft
sind.“

„Wie?  Giebt es auch Juden, die nicht zu Ihrer Gesellschaft gehören?“

„Jawohl ... Aber nun wollen wir gehen.“ David wandte sich zur
Verkäuferin: „Was kosten die Handschuhe der beiden Herren?“

„Sechs Schekel.“

Kingscourt blickte verwundert:

„Alle Deibel! Was ist das?“

David lächelte:

„Unsere Währung. Wir haben unsere althebräische Münze neu gewertet. Ein
Schekel ist so viel, wie ein französischer Franc. Da Sie nicht
vorgesehen sind, erlauben Sie wohl, daß ich für Sie bezahle.“

Er warf ein Goldstück auf den Kassentisch, erhielt einige Silberlinge
zurück, und dann schritten die Damen und Herren dem Ausgange zu.

Kingscourt kniff David in den Arm und schnauzte ihn lustig an:

„Das Jeld habt Ihr also nicht abgeschafft in Eurer Gesellschaft? Hätte
mich auch von Euch gewundert.“

David war nun schon mit der Ausdrucksweise des Alten befreundet, und er
gab in ähnlichem Tone zurück:

„Nee, Mister Kingscourt, vom Jelde haben wir uns nicht trennen können.
Erstens, weil wir verdammt habgierige Juden sind. Zweitens, weil das
Geld ein ausgezeichnetes Mittel ist. Man müßte es erfinden, wenn es
nicht schon da wäre.“

„Jüngling, Sie reden mir aus der Seele! Das hab’ ich immer gesagt: das
Jeld ist ’ne gute, schöne Sache. Die Menschen haben es nur verdorben.“








6. KAPITEL.


Die Ouverture war schon fast vorüber, als sie in die Loge traten. Die
Damen beeilten sich, Platz zu nehmen; denn schon sahen viele aus dem
Zuschauerraume herauf. Friedrich und Kingscourt waren von der Pracht
dieses Opernhauses überrascht. Ja, der Bau hatte aber auch fünf Jahre
gedauert und war von der Neuen Gesellschaft subventioniert worden. Ein
gewöhnliches Theater stand in der Regel binnen Jahresfrist vollendet
da, wenn die Genossenschaft nur erst vereinigt war.

In der Loge nebenan saßen zwei geputzte, mit zu viel Edelsteinen
geschmückte Damen, eine bejahrte und eine junge, und zwischen ihnen ein
älterer Herr. Diese grüßten auffallend devot, und es kam Friedrich vor,
wie wenn Littwaks den Gruß eher ablehnten, als erwiderten. Die ältere
Dame und den Herrn glaubte er schon irgendwo gesehen zu haben, in einer
fernen Zeit.

„Wer sind die Leute?“ fragte er David leise.

Dieser zuckte die Achseln:

„Ein Herr Laschner mit Frau und Tochter.“

Laschner! Der reiche Börsenmann von Wien. Friedrich sah plötzlich den
Abend von Ernestine Löfflers Verlobung vor sich. Es war eine
schmerzliche und komische Erinnerung.

„Das muß ich sagen: die hätte ich hier nicht erwartet.“

„Sie sind eben auch nachgekommen, als unser Haus fertig war,“ erklärte
David. „Man findet ja jetzt hier dieselben Bequemlichkeiten, wie in den
Großstädten Europas. Man findet aber auch, wenn man ein Laschner ist,
dieselbe Verachtung wieder, die man dort genoß. Wir haben das Geld
nicht abgeschafft, mein lieber Kingscourt — aber es ist bei uns nicht
alles. Die Mitglieder der Neuen Gesellschaft sind wirtschaftlich so
frei geworden, daß der ehemalige widerliche Respekt vor den reichen
Leuten naturgemäß geschwunden ist. Herr Laschner kann Geld haben, kann
ausgeben, wieviel er will — den Hut zieht darum noch niemand vor ihm.
Ja, wenn er ein anständiger Mensch wäre, so würden wir ihn gerne gelten
lassen. Was wir von jedem fordern, ist das Gefühl und die Bethätigung
der Solidarität. Dieser Mensch aber hat sich nicht einmal bemüht,
Mitglied der Neuen Gesellschaft zu werden. Er wollte die Pflichten
unserer Gemeinschaft nicht auf sich nehmen. So lebt er auch hier als
ein Fremder. Er kann sich frei bewegen, wie jeder andere Fremde; nur
genießt er keine Achtung. Das müssen Sie begreifen.“

„Ob ich das begreife!“ murmelte Kingscourt und blickte mit
Geringschätzung nach der Loge des Protzen.

Der Vorhang ging auf. Man sah Volksszenen in Smyrna und den kommenden
Propheten im Kreise seiner ersten Anhänger. Kingscourt bat seine
Nachbarin Mirjam um Aufschluß über den Helden der Oper.

Das junge Mädchen sprach im Flüstertone:

„Dieser Sabbatai Z’wi war ein falscher Messias, der am Anfange des
siebzehnten Jahrhunderts in der Türkei auftrat. Es gelang ihm, eine
große Bewegung unter den Juden des Orients hervorzurufen, aber später
fiel er selbst vom Judentum ab und endete schmählich.“

Kingscourt nickte verständnisvoll:

„War also ’n janz miserabler Kerl. Da kann man natürlich ’ne Oper draus
machen.“

Die Szene stellte den Platz vor der Synagoge zu Smyrna dar. Die Partei
der gegen Sabbatai aufgebrachten Rabbiner sang ergrimmte Chöre, nachdem
der falsche Messias mit seinen Freunden abgegangen war. Ein junges
Mädchen, das für Sabbatai schwärmte, wagte es, der aufgeregten Menge
mit einer großen Arie entgegenzutreten. Da kehrte sich die Wut der
Leute wider die Verteidigerin, und es wäre ihr ohne das
Dazwischentreten des zurückkehrenden Propheten gewiß etwas Schlimmes
angethan worden. Selbst auf die Feinde übte die Persönlichkeit des
Volksverführers eine Macht aus. Die Erbitterten wichen vor ihm scheu
zurück. Das Mädchen warf sich ihm zu Füßen. Er hob sie gütig auf und
sang mit ihr, wie das in Opern zu geschehen pflegt, ein Duett. Sobald
dieses zu Ende war, erfolgte der effektvolle Aktschluß. Gegen Sabbatai
wurde der rabbinische Bann ausgesprochen, und im Finale erklärte der
Messias seine Absicht, Smyrna in Begleitung seiner Freunde zu
verlassen. Das junge Mädchen flehte ihn an, sie mitzunehmen; sie wolle
ihm folgen und ihm dienen, wo immer hin er seine Schritte lenke. Und
der Vorhang fiel.

Die kleine Gesellschaft in Littwaks Loge plauderte im Zwischenakte
weiter über den farbigen Helden dieser Oper.

„Der Schwindler wird es jewiß zu was bringen,“ sagte Kingscourt; „das
kann ich mir denken.“

Frau Sarah meinte: „Ursprünglich scheint er ein Schwärmer gewesen zu
sein. Erst als er den Zulauf der Gläubigen hatte, wurde er unehrlich.“

Mirjam zitierte lächelnd Goethes Wort: „Jeglichen Schwärmer schlagt mir
ans Kreuz im dreißigsten Jahre — kennt er nur einmal die Welt, wird der
Betrogene der Schelm.“

„Merkwürdig ist nur,“ bemerkte Friedrich, „daß solche Abenteurer immer
wieder Glauben finden konnten.“

David entgegnete:

„Mir scheint, das hat einen tiefen Grund. Das Volk glaubte nicht was
sie sagten, sondern sie sagten, was das Volk glaubte. Sie kamen einer
Sehnsucht entgegen. Nein, noch richtiger: sie kamen aus der Sehnsucht
hervor. Das ist es. Die Sehnsucht macht den Messias. Nun müssen Sie
denken, was das für arme, dunkle Zeiten waren, in denen ein Sabbatai
oder seinesgleichen erschienen. Unser Volk war noch nicht imstande,
sich auf sich selbst zu besinnen, und da berauschte es sich an solchen
Gestalten. Spät erst, am Ende des neunzehnten Jahrhunderts, als schon
alle anderen zivilisierten Völker ihr Selbstbewußtsein erlangt hatten
und es bethätigten, kam auch unser verstoßenes Volk zu der Erkenntnis,
daß es das Heil nur von der eigenen Kraft, und nicht von phantastischen
Wunderthätern erwarten dürfe. Nicht eine einzelne Person, wohl aber die
erwachte und rührige Volkspersönlichkeit müsse das Erlösungswerk
vorbereiten. Auch die Frommen sahen endlich ein, daß in dieser
Auffassung nichts Gottwidriges enthalten sei. Gesta Dei per Francos,
hieß es einst bei den Franzosen — Gottes Thaten durch die Juden! sagen
unsere echten Frommen, die sich nicht durch parteiische Rabbiner
verhetzen lassen. Welcher Werkzeuge sich Gott für seine
unerforschlichen Zwecke bedienen will, das steht bei ihm. So war das
geklärte Raisonnement unserer Frommen, als sie sich dem nationalen
Werke begeistert anschlossen. Und so hat sich das jüdische Volk wieder
erhoben.“

„Bravo!“ brummte Kingscourt.

In diesem Augenblicke wurde an die Logenthüre geklopft. Auf Davids
„Herein!“ schob sich mit unterwürfigem Lächeln ein befrackter
graubärtiger Herr in die Loge. Es war derselbe, den Friedrich bei der
Ankunft auf dem Hafendamme gesehen hatte, Herr Schiffmann aus dem Café
Birkenreis.

„Ich bin so frei, Herr Littwak,“ sagte er entschuldigend. „Ich hab’ von
unten gesehen hier oben einen alten Bekannten. Ich weiß nicht, ob der
Herr Doktor sich noch kann erinnern an mich.“

„Gewiß, Herr Schiffmann!“ lächelte Friedrich, und streckte ihm die Hand
entgegen.

„Merkwürdig, soll ich so leben! Sie sind also nicht gestorben?“

„Es scheint nicht ... Und Sie haben mich gleich wiedererkannt?“

„Auf Ehre, nein. Es is mir jemand zu Hilfe gekommen. Eine Dame, die Sie
einmal gut gekannt haben. Raten Sie, wer?“ Er lächelte vielsagend.

Friedrich erschrak. Er ahnte plötzlich, wer es war, doch wagte er
nicht, ihren Namen auszusprechen.

„Nu? Können Sie nicht raten, Herr Doktor? Haben Sie Ihre alten Freunde
und Freundinnen vergessen?“

Friedrich sagte ein wenig rauh: „Ich weiß nichts von Freunden, die ich
hier habe — außer diesen da.“

„Sie hat den Anfangsbuchstaben Ernestine!“ schmunzelte Schiffmann.

„Wie? Fräulein Löffler?“

„Nein, Frau Weinberger! Sie werden doch wissen? Sie waren doch bei der
Verlobung. Richtig, es war das letztemal, was ich Sie, Herr Doktor,
gesehen hab’. Gleich drauf sein Sie verschwunden.“

„Ja, ja, ich entsinne mich. Und Fräulein — Frau Weinberger lebt auch
hier?“

„Freilich! Da unten sitzt sie, neben mir. Ich werd’ sie Ihnen zeigen
...“ Er neigte sich dicht an Friedrichs Ohr, so daß die anderen, die in
den Zuschauerraum hinausblickten, ihn nicht hören konnten: „Unter uns
gesagt, es geht ihr nicht am besten. Ihr Mann, der Weinberger, is doch
ein Schlemihl. In Brünn hat er Pleite gemacht, und dann war er in Wien
Agent, und zum Schluß is er da hergekommen, aber auch als Schlemihl.
Wenn ich mich nicht hätt’ angenommen um sie, möchten sie gut
ausschauen. Und Sie wissen doch, das war gewöhnt an seidene Kleider und
Logen und Bälle. Jetzt, wenn ich ihr nicht manchesmal Theaterkarten
schicken möcht’, könnt’ sie zu Haus sitzen und Trübsal blasen. Es
ändern sich die Zeiten.“

Friedrich war von diesem Gerede angeekelt und wollte Schiffmanns
vertraulichen Mitteilungen ein Ende machen: „Es würde mich allerdings
interessieren, Frau Ernestine zu sehen. Wo sitzt sie?“

„In der vorletzten Reihe, am Eck. Wenn Sie sich vorbeugen, können Sie
sie sehen. Uebrigens geh’ ich jetzt herunter. Wenn Sie mich auf meinem
Platz werden sehen, neben mir sitzt ihre Tochter und dann sie ... Es
war mir ein besonderes Vergnügen, Herr Doktor. Sie bleiben doch hier
bei uns, hoffentlich? Jedenfalls längere Zeit?“

„Ich weiß nicht. Es hängt von den Umständen ab, Herr Schiffmann.“

„Also schön! Wenn Sie mich wünschen, brauchen Sie mich nur per Telephon
rufen zu lassen ... Empfehle mich allerseits bestens, meine Damen und
Herren.“

Er schob sich seitlich, wie er gekommen war, zur halbgeöffneten
Logenthüre hinaus.

„Den mag ich nun wieder gar nicht,“ bemerkte Kingscourt halblaut zu
Friedrich, der die Achseln zuckte.

Der zweite Akt begann. Sabbatai hielt Hof in Egypten. Die Szene zeigte
ein üppiges Fest mit Gesängen und Tänzen. Aber Friedrich sah und hörte
nicht viel davon. Er war in alte Träume versunken. Dort, neben
Schiffmann saß sie. Zuerst unterlag er einer wunderlichen Täuschung.
Ernestine Löffler sah noch genau so aus, wie vor zwanzig Jahren.
Dieselben jungen feinen Züge, dieselbe zarte Gestalt. War es möglich,
daß zwanzig Jahre sie so gar nicht verändert hatten? Aber dann sah er
seinen Irrtum ein. Dieses junge Mädchen war nicht Ernestine, sondern
deren Tochter. Frau Weinberger war die fette, verblühte, in allzu
grelle Farben gekleidete Dame auf dem Nebensitze. Sie sah auch herauf,
lächelte einladend und nickte lebhaft mit dem Kopfe, als Friedrich sich
vor ihr verneigte.

In diesem Augenblicke zerfiel etwas in Staub, was zwanzig Jahre
überdauert hatte. In der Einsamkeit von Kingscourt Insel hatte er an
Ernestine gelegentlich mit Wehmut zurückgedacht, sein erster Groll war
milderen Stimmungen gewichen, und zum Schluß war diese ganze Liebe in
verdämmernde Rosenfarben getaucht. Aber wenn er von ihr träumte, sah er
sie in der Gestalt jener Zeit. Den natürlichen Vorgang des Alterns
erblickte er nun plötzlich in einem Ergebnisse, das ihn betroffen
machte. Er empfand Scham und auch Erleichterung. Um dieses Weib hatte
er sich gegrämt. War es möglich?

Er wurde aus seinem Sinnen von einer warmen, lieblichen Stimme
aufgeweckt.

„Wie hat es Ihnen gefallen?“ fragte Mirjam.

„Gott sei Dank, daß es vorbei ist!“ gab er zerstreut zur Antwort.

„Wie? So schlecht fanden Sie den zweiten Akt?“

Er war verlegen: „Nein, ich meinte nicht den zweiten Akt, Fräulein
Mirjam! Ich mußte an etwas Altes denken, das ich noch für lebend hielt.
Es ist aber tot.“

Sie sah ihn ein wenig erstaunt an und fragte nicht weiter.

Ein fremder Herr war in die Loge getreten. Er wurde vorgestellt: Herr
Dr. Werkin, Sekretär der Präsidentschaft. Es war ein schmächtiger Mann
mit kurzem braun und grauem Barte, hinter funkelnden Brillengläsern ein
Paar forschender Augen. Dr. Werkin kam mit einem Gruße des Präsidenten,
der die Herren Kingscourt und Löwenberg in seine Loge bat.

Kingscourt war verblüfft:

„Uns! Was ist das für ’n Präsident? Und wieso kennt er uns arme
Wüstenpilger?“

David erklärte lächelnd:

„Der Präsident unserer Neuen Gesellschaft. Er sitzt dort drüben in der
ersten Loge, der alte Herr mit dem schneeweißen Barte.“

Sie blickten hinüber.

„Alle Wetter — mir ist auch, als ob ich ihn kennte! Woher nur?“ sagte
Kingscourt.

Friedrich erinnerte sich: „Der Augenarzt von Jerusalem — Doktor ...“

„Doktor Eichenstamm!“ ergänzte David. „Er ist der Präsident, den wir
uns gewählt haben.“

„Und der hat uns nach zwanzig Jahren wiedererkannt?“ staunte Kingscourt
noch immer.

Dr. Werkin sagte: „Seine Tochter hat die Herren erkannt und den
Präsidenten auf Sie aufmerksam gemacht.“

David wandte sich an den Sekretär:

„Darf ich mitkommen, Herr Doktor?“

„Gewiß, Herr Littwak. Der Präsident möchte von Ihnen etwas über Ihren
Kampf mit dem Geyer hören.“

Sie ließen sich von Dr. Werkin nach der Präsidentenloge führen. In dem
eleganten kleinen Salon, der durch einen Thürvorhang vom offenen Teile
der Loge getrennt war, erwartete sie der alte Präsident stehend, auf
einen Stock gestützt.

„Welch ein Wiedersehen, meine lieben Herren, nicht wahr?“ sprach der
Alte mit leise zitternder Stimme und reichte einem nach dem anderen die
freie Hand.

„Ja, hol’ mich der Deibel, Herr Präsident, wenn ich das alles erwartet
habe.“

„Wir wollen uns setzen, meine lieben Herren — ich bin nicht mehr sehr
rüstig, Sie sehen!“ lächelte der Präsident und sank in den Lehnstuhl,
den ein Diener heranschob. „Ja, ja — für unser Volk ist dies jetzt die
bessere Zeit, aber für mich war es jene. Sie wissen: senectus ipsa
morbus ... Nun, wie es kommt, so muß es uns Menschen recht sein.“

Dann deutete er auf die neben ihm stehende Dame, die sehr einfach in
schwarze Seide gekleidet war: „Meine Tochter Doktor Sascha hat Sie
erkannt und mich an den Tag von der Klagemauer erinnert. Ach, das ist
weit, meine lieben Herren!... Ja, ja, die einstige Klagemauer!“

„Die einstige?“ sagte Friedrich. „Ist sie auch nicht mehr? Nicht einmal
dieser letzte Rest?“

Der Präsident betrachtete ihn kopfschüttelnd: „Sie waren wohl noch
nicht in Jerusalem, da Sie so fragen?“

David näherte sich bescheiden:

„Nein, Herr Präsident! Die Herren sind erst angekommen. Sie haben noch
sehr wenig sehen können.“

Der Präsident legte dem Sprecher freundlich die Hand auf den Arm: „Ich
freue mich, Sie zu sehen, mein lieber Littwak. Ich freue mich immer
über Sie, besonders jetzt. Halten Sie nur aus in dem Kampfe! Sie haben
Recht, Geyer hat Unrecht. Mein letztes Wort an unsere Juden wird sein:
Der Fremde soll sich bei uns wohlfühlen! Und Sie, Littwak, Gott erhalte
Sie so, wie Sie sind ... Sie haben noch wenig von unserem Lande kennen
gelernt, meine lieben Herren? O doch, Sie kennen einen unserer Besten.
Auf diesen David Littwak da bin ich stolz, wie wenn ich etwas dafür
könnte, daß er so tüchtig und rechtschaffen ist.“

David war blutrot geworden. Er senkte die Augen, wie ein Knabe und
stammelte: „Herr Präsident! ...“

„Lassen Sie es sich gefallen, Littwak, daß ich Sie ins Gesicht lobe.
Ich bin ein alter Mann und will von Ihnen nichts erschmeicheln ...
Sehen Sie, meine lieben Herren aus der Fremde: ich bin die Welle, die
geht, und er ist die Welle, die kommt ... Gieb mir auch ein Täßchen
Thee, Sascha!“

Der Thee wurde nach russischer Art serviert. Als die Herren im Laufe
des Gespräches erwähnten, daß sie zwanzig Jahre ferne von der
Kulturwelt gelebt hätten, meinte Dr. Sascha:

„Thut es Ihnen nicht leid um die versäumte Zeit? Sie hätten an so viel
Großem mitwirken, so vielen Menschen Gutes erweisen können.“

„Nee, gar nicht leid, Fräulein Doktor!“ erklärte Kingscourt. „Wir sind
zwei ausgepichte Menschenfeinde. Wir wollen niemandem Gutes thun, als
uns selbst. Das ist unser olles Programm. Was, Fritze?“

„Sie scherzen!“ sagte Sascha darauf. „Ich verstehe wohl, daß Sie
scherzen. Gutes thun, ist doch ein Glück, dem nichts anderes
gleichkommt.“

David sprach: „Fräulein Sascha redet aus Erfahrung, denn sie kennt
dieses Glück. Sie leitet die größte Augenklinik der Welt. Wenn Sie es
erlauben, Fräulein Doktor, will ich die Herren in Ihre Anstalt führen,
sobald wir nach Jerusalem kommen. Dort ist schon vielen Menschen das
Augenlicht gerettet oder wiedergegeben worden. Es war eine ungeheure
Wohlthat für die orientalischen Länder. Patienten kommen aus ganz Asien
und Nordafrika. Der Segen, der von unseren Heilanstalten wie ein Strom
ausgegangen ist, hat uns hier in Palästina und in den Nachbarländern
noch mehr Freunde gemacht, als alle unseren technischen und
industriellen Einrichtungen.“

Fräulein Sascha wehrte das Lob ab: „Herr Littwak überschätzt meine
geringen Leistungen. Ich habe nichts neues gemacht. Aber wir haben
einen großen Mann im Lande, das ist Steineck, der Bakteriologe. Das
Institut Steineck müssen Sie kennen lernen, da werden Sie Ehrfucht
empfinden.“

„Haben Sie schon einen Reiseplan, meine lieben Herren?“ fragte der alte
Dr. Eichenstamm.

„Zunächst will ich meine Gäste nach Tiberias führen, Herr Präsident.
Wir fahren morgen zu meinen Eltern.“

„Zum Pessachfeste, nicht wahr?“ sagte der Präsident. „Grüßen Sie Ihre
Eltern von mir, Littwak! Und wenn die Herren nach Jerusalem kommen,
bringen Sie sie auch in mein Haus. Ich rechne darauf.“

Er reichte wieder jedem der Herren die Hand, und sie nahmen Abschied,
weil die hereindrängenden Klänge des Orchesters den Beginn des dritten
Aktes anzeigten.

Als sie nun durch das leere Foyer schritten, rief Kingscourt:

„Scheint ein braver Kerl zu sein, Euer Präsident. Aber ’n bißchen alt
und gebrechlich. Warum habt Ihr Euch gerade den ausgesucht?“

„Das kann ich Ihnen mit einem Wort sagen, Mr. Kingscourt,“ erwiderte
David. „Wir haben ihn gewählt, weil er es nicht wollte.“

„Oho, das ist noch schöner.“

„Ja, wir haben einen Grundsatz bei unseren Weisen gefunden: Die Ehren
gebe man dem, der sie nicht sucht!“










3. BUCH.

DAS BLÜHENDE LAND.


1. KAPITEL.


Es war ein wonnevoller Frühlingsmorgen, an dem die Gesellschaft von
Friedrichsheim aufbrach, um nach Tiberias zu fahren. Ein mächtiger
Reisewagen mit motorischem Betrieb hielt vor der Freitreppe. Das
Gefährt konnte ein Dutzend Personen fassen.

„Donnerwetter!“ schrie Kingscourt gutgelaunt. „Das ist ja die Arche
Noah. Da hätte all sündhaft Vieh und Menschenkind Platz.“

„Wir werden im ganzen nur elf Personen sein,“ sagte David.

„Elf? Ich sehe nur neun,“ zählte Kingscourt. „Sie scheinen Fritzchen
für drei zu rechnen. War übrigens kein schlechter Einfall, daß Sie den
Burschen mitnehmen.“

Fritzchen schien auf dem Arm seiner Kindsfrau zu verstehen, daß von ihm
die Rede war. Mit lautem jauchzendem „O — o“ streckte er die Händchen
verlangend nach Kingscourts weißem Bart aus.

„Wir werden unterwegs noch zwei Freunde abholen,“ sprach Frau Sarah.
„Reschid Bey und den Architekten Steineck.“

Unterdessen hatten Diener vielerlei Handgepäck an den Wagen
herangebracht und es in die unter den Sitzen befindlichen Hohlräume
geschoben. Nur ein Speisekorb, welcher Milchflaschen für Fritzchen und
noch einige Lebensmittel enthielt, wurde auf einen oberen Platz
gestellt. Hintenauf stiegen der Heizer und ein schwarzer Diener. Auf
den vorderen gepolsterten Bänken saßen Mirjam, Sarah und Friedrich.
Kingscourt wollte in dem durch eine Glaswand geschützten Wagenteile
sitzen, angeblich um vor dem Winde geborgen zu sein, in Wirklichkeit,
weil er gehört hatte, daß Fritzchen da unterkommen solle. Er kletterte
auch zuerst hinein und ließ sich das Kind reichen. Als aber Fritzchen
auf Kingscourts Arm war, klammerte es sich fest an ihn und mochte um
keinen Preis mehr zu seiner Kindsfrau zurück. David, der als letzter
einstieg, versuchte es mit väterlicher Strenge. Vergeblich.

Kingscourt war sehr böse, wenigstens in Worten: „So’n ungezogener
Bengel! Wirst du gleich weggehen!“

David bat: „Geben Sie ihn mir! Ob er nun heult oder nicht.“

Kingscourt dachte nicht im Entferntesten daran, das Bübchen
loszulassen. Er hatte es sich auf den Schoß gesetzt und kitzelte es an
der Brust, unter dem Kinn, bis es laut lachte.

„So’n Kerl! Dem liegt freilich nichts daran, wenn der alte Kingscourt
zum Gespött von ganz Haifa wird. Zum Glücke kennt mich hier keiner!“

Und so fuhr der Reisewagen zum Thore von Friedrichsheim hinaus. Hinten
der schwarze Diener blies lustige Stückchen auf seinem blechernen Horn.
Fritz klatschte vergnügt in die Hände.

„Guck’ mal!“ sagte Kingscourt, „das ist ja fast wie in der guten Zeit.
Der Schwager mit dem Posthorn.“

David bemerkte: „Er bläst, um uns bei Reschid anzukündigen. Wir wollen
unterwegs keine Zeit verlieren.“

Sie fuhren die nun schon bekannte Karmelstraße thalwärts. Richtig stand
Reschid Bey schon vor seinem Hause reisefertig. Die Begrüßung war
herzlich und fröhlich. Hinter dem Holzgitter eines Fensters im ersten
Stock erhob sich eine schöne, weiße Frauenhand und winkte mit dem
Taschentuche.

Frau Sarah rief lächelnd hinauf zur Unsichtbaren:

„Grüß’ dich Gott, Fatma! Wir werden dir deinen Mann unbeschädigt
zurückbringen, sei ganz ruhig!“

Und Mirjam rief:

„Küß’ mir deine Kinder, Fatma!“

Nun war auch das kleine Gepäck Reschids im Wagenkasten versorgt. Der
Bey saß neben David. Noch die letzten Abschiedsgrüße an die winkende
weiße Frauenhand hinter dem Holzgitter, und die Motorarche pustete
weiter.

Friedrich wandte sich zu seiner Nachbarin Mirjam:

„Die arme Frau muß nun allein zu Hause bleiben.“

„Sie ist ein so zufriedenes, heiteres Weib,“ erwiderte Mirjam.

„Ich bin überzeugt, daß sie ihrem Manne die Freude dieses Ausflugs von
Herzen gönnt. Und er führe nicht mit uns, wenn es für sie eine Kränkung
wäre. Er und sie sind wahrhaft gute Menschen.“

„Immerhin bewundere ich die Frau, die gefügig hinter ihrem Gitter
bleibt — an solch einem Morgen, meine Damen!“

„Nicht wahr?“ sagte Sarah mit strahlender Miene. „Solche Frühlingstage
giebt es nur in unserem Lande. Das Leben schmeckt hier besser, als
irgend anderswo.“

Auch Friedrich fühlte sich durchströmt von Glück, er wußte es sich gar
nicht zu erklären. Er war wieder jung, ja übermütig, und in dieser
Laune gefiel es ihm, seine reizende Nachbarin zu necken:

„Wie ist es aber mit der Schule, Fräulein Mirjam? Heute haben Sie wohl
die Pflichten ein bißchen an den Nagel gehängt?“

Mirjam lachte:

„Er weiß nichts, rein nichts mehr vom Judentum! ... Erfahren Sie denn,
mein Herr, daß heute unsere Osterferien begonnen haben. Wir fahren ja
darum zu den Eltern nach Tiberias, weil wir dort den Seder feiern
wollen. Hat Ihnen David nichts davon gesagt?“

„Ihr Bruder deutete einige Male darauf hin, daß wir in Tiberias mehr
von der Judenwanderung hören sollten. So war’s also zu verstehen? Nun,
die Wanderung aus Mizrajim kenne ich ja noch von meiner Knabenzeit
her.“

„Vielleicht hat er auch etwas anderes gemeint,“ sprach Mirjam in
nachdenklichem Tone.

Der Reisewagen war inzwischen am unteren Ende der Karmelstraße
angekommen, hatte aber nicht die Richtung nach dem Mittelpunkte der
Stadt, sondern rechts ab genommen. Es war die Vorstadt, die der Kison
durchfloß. Sie kamen auf einen mit Bäumen bepflanzten Quai. Vor einem
entzückenden Palästchen hielten sie an. Da stand ein heftig
gestikulierender Herr, der einen grauen Schnurrbart hatte und mit
zurückgeworfenem Kopfe über den Rand seines abrutschenden Kneifers
hinweg die Ankömmlinge betrachtete:

„Ich wäre an Eurer Stelle gar nicht gekommen!“ schrie er ihnen
entgegen. „Seit einer halben Stunde steh’ ich mir da die Beine in den
Leib. Ich werde nie wieder pünktlich sein.“

David hielt ihm statt jeder Antwort die Taschenuhr vor die Augen.

„Das beweist nichts,“ rief Steineck; „Ihre Uhr geht zu langsam. Ich
glaube überhaupt nicht an Uhren ... Da, nehmen Sie meine Pläne! Aber
nicht verdrücken, bitte! So, und jetzt rückwärts fertig.“ Er hatte die
drei großen Kartonrollen, die er unter dem Arme gehalten, David und
Reschid zugeschoben, und war schnaufend in den Wagen geklettert. Aber
kaum war dieser in Bewegung, so schrie Steineck klagend auf:

„Halt, halt! Zurück! Ich habe meine Reisetasche vergessen.“

„Man wird sie Ihnen mit dem großen Gepäck nachschicken,“ beschwichtigte
ihn David. „Sie wissen, daß ich unser Gepäck auf der Eisenbahn direkt
nach Tiberias schaffen lasse, weil wir doch den Umweg machen.“

„Unmöglich!“ jammerte der Architekt. „Ich habe meine Rede in der
Reisetasche. Wir müssen zurück.“

Sie mußten zurück. Die Handtasche wurde geholt, aufgeladen, Steineck
atmete erleichtert und wurde plötzlich sehr gut gelaunt. Es waren aber
in diesem Augenblicke zwei der größten Schreihälse in dem
verhältnismäßig engen Raume der Motorarche beisammen: Kingscourt und
Steineck. Gleich dem alten Menschenfeinde, pflegte auch Steineck die
gleichgültigsten Dinge mit furchtbarem Poltern vorzutragen. Kaum waren
sie einander vorgestellt worden, brüllten sie sich gegenseitig in die
Ohren. David und Reschid hörten es ergötzt mit an. Plötzlich legte aber
Kingscourt den Zeigefinger an den Mund, und veranlaßte dadurch auch
Steineck, zu schweigen.

„Herr Steineck,“ flüsterte der Alte, „Sie waren zwar sehr laut, aber
Fritzchen ist dabei doch eingeschlafen.“ Und er hob, während die
anderen lachten, das Kind, das ihm auf dem Schoße schlummerte, behutsam
auf und legte es in den Arm der rückwärts sitzenden Kindsfrau.

„Mr. Kingscourt,“ raunte Steineck sehr gekränkt, „ich glaube nicht, daß
ich lauter gesprochen habe, als Sie.“

Die Straße, auf der sie fuhren, bot den beiden Fremden immer neue
Gelegenheit zu staunenden Fragen. Der Verkehr war hier natürlich viel
schwächer, als in der Stadt, es gab jedoch Leben genug. Radfahrer und
Motorwagen eilten an ihnen vorüber. Auf einem weichen Reitpfade zur
Seite des Fahrwegs tauchten ab und zu Reiter auf, manche in der
malerischen Tracht der Araber, andere in europäischer Kleidung. Auch
sah man öfters Kameele, einzeln und in Zügen, die malerischen und
primitiven Ueberbleibsel einer überwundenen Epoche. Die Fahrstraße war
vorzüglich glatt, und man rollte angenehm dahin. Rechts und links
kleine Häuser mit Gärten, weiterhin wohlbestellte Felder von jungem
Grün überhaucht. Es fiel Kingscourt auf, daß von den Drähten, die längs
der Straße auf Stangen hingezogen waren, Abzweigungen in die einzelnen
Häuser gingen.

„Sind das Telephondrähte?“ erkundigte er sich. „Und was ist das für
eine Art Leute, die hier wohnt?“

Reschid Bey klärte ihn auf: „Hier wohnen zumeist Handwerker. Das hier
ist ein Schuhmacherdorf. In diesen Drähten wird ihnen elektrischer
Strom für ihre kleinen Maschinen zugeleitet. Ist Ihnen das etwas
neues?“

„O nein, das war schon zu meiner Zeit bekannt. Aber praktisch wurde
dieser Kraftverschleiß wenig ausgenützt. Und woher kommt der Strom,
wenn ich fragen darf?“

„Es giebt verschiedene Elektrizitätsgesellschaften. Die Leute hier
beziehen den Strom zumeist von den Gebirgsbächen des Hermon und Libanon
oder vom Toten-Meer-Kanal.“

„Nein!“ schrie Kingscourt überrascht.

„Ja!“ brüllte Steineck.

David aber sagte:

„Diese Handwerker sind auch halbe Bauern. In beiden Eigenschaften sind
sie genossenschaftlich verbunden. Ihre gewerblichen Erzeugnisse liefern
sie im Wege der Genossenschaft an die großen Warenhäuser,
Versandgeschäfte und Exporteure ab. Zugleich bilden sie aber auch
landwirtschaftliche Verbände. Da giebt es die mannigfaltigsten Formen.
In der Nähe der größeren Städte ist die gewerbliche Thätigkeit
überwiegend und der Feldbau daneben unbedeutend, so daß ein solcher
Handwerker über seinen Eigenbedarf hinaus nur wenig Bodenfrüchte zieht,
beispielsweise Obst und Gemüse für die städtischen Markthallen. In der
Küstenzone, die ja ganz den Charakter der Riviera hat, werden, wie in
der Umgebung von Nizza Tomaten, Artischokken, Melonen, petits pois,
haricots verts und dergleichen gezogen. Unsere Frühgemüse schicken wir
mit der Bahn in alle Weltgegenden, nach Paris, Berlin, Moskau, St.
Petersburg. Dann giebt es wieder Gegenden, wo das umgekehrte Verhältnis
ist, wo das Landwirtschaftliche vorwiegt und das Gewerbliche nur den
Charakter einer bescheidenen, wenn auch modernen, mit guten technischen
Hilfsmitteln arbeitenden Hausindustrie hat. Das sind unsere Dörfer, die
über das ganze blühende Land zerstreut sind. Zum Beispiel da drüben in
der Ebene von Jesreel. Sie dürfen freilich keine solchen armen
Schmutznester erwarten, die man in früheren Zeiten Dörfer nannte. Wir
werden heute noch Gelegenheit haben, das neue Dorf zu sehen, den Typus,
der sich unzählig in Palästina wiederholt, west- und ostwärts vom
Jordan.“

Sie waren über eine Brücke des Kison gefahren, und der Wagen rollte
schneller zwischen herrlichen Orangen- und Zitronengärten hin. Die
roten und gelben Früchte leuchteten aus dem Laube.

„Hol’ mich der Deibel, das ist ja Italien!“ sagte Kingscourt.

„Kultur ist alles!“ brüllte Steineck, als ob er einen Widerspruch
niederzukämpfen hätte. „Wir Juden haben Kultur hierhergebracht.“

Reschid Bey lächelte freundlich:

„Verzeihen Sie, mein Bester! Diese Kultur war auch früher da,
wenigstens andeutungsweise. Schon mein Vater hat Orangen in großer Zahl
gepflanzt.“ Er wandte sich zu Kingscourt und deutete mit dem Finger
nach einer Anlage zur Rechten: „Das weiß ich besser, als Freund
Steineck, denn hier ist meines Vaters Garten, jetzt der meinige.“

Es war eine Pracht, wie die wohlgepflegten Bäume dastanden. Auf den
immerblühenden Limonenstämmen sah man Blüten, grüne und gelbe Früchte
nebeneinander.

Steineck donnerte: „Ich will nicht leugnen, daß Ihr schon vor uns Eure
Bajaren hattet, aber verwerten könnt Ihr sie erst jetzt ordentlich.“

Reschid Bey nickte: „Das ist richtig. Unsere Erträgnisse sind sehr
erheblich gewachsen. Unser Orangenexport hat sich verzehnfacht, seit
wir die guten Verkehrswege nach der ganzen Welt haben. Alles ist ja
durch Eure Einwanderung mehr wert geworden.“

„Eine Frage, Reschid Bey!“ warf Kingscourt ein. „Die Herren werden sie
mir nicht übel nehmen, dazu sind Sie ja viel zu gescheit. Sind die
früheren Bewohner von Palästina durch die Einwanderung der Juden nicht
zu Grunde gerichtet worden? Haben sie nicht wegziehen müssen? Ich
meine: im Großen und Ganzen. Daß Einzelne dabei gut fuhren, beweist ja
nichts.“

„Welche Frage!“ entgegnete Reschid. „Für uns alle war es ein Segen.
Selbstverständlich in erster Reihe für die Besitzenden, die ihre
Landstücke zu hohen Preisen an die jüdische Gesellschaft verkaufen
konnten oder auch weiter behielten, wenn sie noch höhere Preise
abwarten wollten. Ich für meinen Teil habe die Grundstücke unserer
neuen Gesellschaft verkauft, weil ich dabei meine Rechnung besser
fand.“

„Sagten Sie nicht vorhin, das wären Ihre Gärten, an denen wir
vorbeifuhren?“

„Freilich! Nachdem ich sie der Gesellschaft verkauft hatte, pachtete
ich sie wieder.“

„Da hätten Sie sie doch gleich nicht hergeben sollen.“

„So war es aber für mich vorteilhafter. Da ich mich der Neuen
Gesellschaft anschließen wollte, mußte ich mich auch ihren Landregeln
unterwerfen. Die Mitglieder haben kein Privateigentum an Grund und
Boden.“

„Friedrichsheim gehört nicht Ihnen, Herr Littwak?“

„Das Grundstück nicht. Ich habe es nur bis zum nächsten Jubeljahre
gepachtet, wie Freund Reschid seine Gärten.“

„Jubeljahr? Bitte, erklären Sie sich gefälligst näher. Mir scheint
wirklich, daß ich da drüben auf meiner Insel viel verschlafen habe.“

„Das Jubeljahr,“ sagte David, „ist keine neue, sondern eine sehr alte
Einrichtung unseres Lehrers Moses. Nach siebenmal sieben Jahren, also
in jedem fünfzigsten Jahre, fielen die verkauften Grundstücke wieder an
den ursprünglichen Besitzer ohne Entschädigung zurück. Wir haben das
allerdings ein bißchen anders gemacht. Bei uns fallen die Grundstücke
an die Neue Gesellschaft. Schon Moses wollte dadurch der sozialen
Gerechtigkeit in der Bodenverteilung dienen. Sie werden einsehen, daß
unsere Methode diesem Zwecke nicht schlechter dient. Die Wertvermehrung
des Bodens kommt nicht Einzelnen, sondern der Gesamtheit zu statten.“

Steineck glaubte einen Einwand Kingscourts im vorhinein zerstreuen zu
müssen: „Sie werden vielleicht sagen, daß dann niemand mehr Lust haben
wird, auf einem nicht ihm gehörenden Boden Verbesserungen und schöne
Bauten aufzuführen.“

„O nein, mein Herr, das werde ich nicht sagen. Für ein solches Rindvieh
müssen Sie mich nicht halten. Ich weiß, daß in London die Leute ihre
Häuser auf fremden Grundstücken bauen, die sie auf 99 Jahre gemietet
haben. Das ist doch ganz dasselbe ... aber ich wollte Sie fragen, mein
lieber Bey, wie es den früheren Einwohnern erging, die nichts besaßen —
den vielen arabischen Mohammedanern?“

„Mr. Kingscourt, diese Frage beantwortet sich von selbst,“ sagte
Reschid. „Die nichts besaßen, also nichts zu verlieren hatten, die
haben natürlich nur gewinnen können. Und sie haben gewonnen:
Arbeitsgelegenheit, Nahrung, Wohlergehen. Es hat nichts armseligeres
und jämmerlicheres gegeben, als ein arabisches Dorf in Palästina zu
Ende des neunzehnten Jahrhunderts. Die Bauern hausten in erbärmlichen
Lehmnestern, die zu schlecht waren für Tiere. Die Kinder lagen nackt
und ungepflegt auf der Straße und wuchsen auf, wie das liebe Vieh.
Heute ist das alles anders. Von den großartigen Wohlfahrtseinrichtungen
haben sie profitiert, ob sie wollten oder nicht, ob sie sich der neuen
Gesellschaft angliederten oder nicht. Als die Sümpfe des Landes
ausgetrocknet wurden, als man die Kanäle anlegte und die
Eukalyptusbäume pflanzte, welche den Boden gesund machen, da wurden
diese einheimischen, widerstandsfähigen Menschenkräfte zuerst verwendet
und gut belohnt. Blicken Sie nur da hinaus ins Feld! Ich erinnere mich
noch aus meiner Knabenzeit, daß hier Sümpfe waren. Diesen Boden hat die
Neue Gesellschaft am billigsten erworben und hat ihn zu dem besten
gemacht. Die Aecker gehören zu dem blanken Dorfe, das Sie dort auf dem
Hügel sehen. Es ist ein arabisches Dorf. — Sie bemerken die kleine
Moschee. Diese armen Menschen sind viel glücklicher geworden, sie
können sich ordentlich ernähren, ihre Kinder sind gesünder und lernen
etwas. Nichts von ihrem Glauben und ihren alten Gebräuchen ist ihnen
verstört worden — nur mehr Wohlfahrt ist ihnen zu teil geworden.“

„Ihr seid eigentlich kurios, Ihr Mohammedaner! Seht Ihr denn diese
Juden nicht als Eindringlinge an?“

„Christ, wie sonderbar ist Ihre jetzige Rede!“ antwortete der
freundliche Reschid. „Würden Sie den als einen Räuber betrachten, der
Ihnen nichts nimmt, sondern etwas bringt? Die Juden haben uns
bereichert, warum sollten wir ihnen zürnen? Sie leben mit uns wie
Brüder, warum sollten wir sie nicht lieben? Ich habe unter meinen
Glaubensgenossen nie einen besseren Freund gehabt, als diesen David
Littwak da. Er kann zu mir kommen bei Tag oder Nacht und von mir
verlangen, was er will, ich werde es ihm geben. Und ich weiß auch, daß
ich auf ihn rechnen kann, wie auf einen Bruder. Er betet in einem
anderen Hause als ich zu demselben Gotte, der über uns allen ist. Aber
diese Gotteshäuser stehen nebeneinander, und ich glaube immer, daß
unsere Gebete, wenn sie erst einmal im Aufsteigen sind, sich irgendwo
in der Höhe vereinigen, und dann setzen sie den Weg zusammen fort, bis
sie ganz oben sind bei unserem Vater.“

Reschid hatte in schlichtem Tone gesprochen, der alle bewegte, auch
Kingscourt. Dieser räusperte sich:

„Hm — hm. Ganz recht, ganz schön. Das läßt sich hören. Aber Sie sind
ein gebildeter Mann, Sie haben in Europa studiert. All das gilt jedoch
nicht von den gemeinen Stadt- und Landleuten.“

„Viel eher von diesen, Mr. Kingscourt. Sie müssen schon entschuldigen,
aber Duldsamkeit habe ich im Abendlande nicht gelernt. Wir Mohammedaner
haben uns von jeher besser als Ihr Christen mit den Juden vertragen.
Schon in der Zeit, als die ersten jüdischen Kolonisten hier erschienen,
zu Ende des vorigen Jahrhunderts, kam es vor, daß streitende Araber
einen Juden zum Richter wählten oder sich geradezu an den Waad einer
jüdischen Niederlassung um Rat, Hilfe oder Urteil wandten. Da gab es
wirklich keine Schwierigkeit. Und so lange die Richtung des Dr. Geyer
nicht die Oberhand bekommen wird, so lange wird auch das Glück unseres
gemeinsamen Vaterlandes dauern.“

„Ja, was ist’s denn mit diesem Geyer, von dem ich immer wieder sprechen
höre?“

Steineck wurde dunkelrot im Gesichte, und er schrie: „Ein vermaledeiter
Pfaffe ist er, ein Augenverdreher, Leutverhetzer und Herrgottsfopper.
Die Intoleranz will er bei uns einführen, der Hallunke. Ich bin gewiß
ein ruhiger Mensch, aber wenn ich so einen intoleranten Kerl sehe, den
könnte ich mit Vergnügen ermorden.“

„Also Sie sind der Duldsame?“ lachte Kingscourt. „Nun kann ich mir
denken, wie bei Euch die Unduldsamen aussehen.“

„Diese geberden sich natürlich viel sanfter,“ scherzte David.

Der Motorwagen hatte die Ebene verlassen und rollte ostwärts in das
wellige Land hinein, bergauf nicht langsamer als bergab. Ueberall waren
die Hügellehnen bis hinauf bebaut, jedes Fleckchen Erde benutzt. An den
steileren Hängen erhoben sich Terrassen, wie in der alten salomonischen
Zeit. Hier wuchsen Trauben, Granatäpfel und Feigen. Zahlreiche
Baumschulen zeigten, welche verständige Sorge die Bevölkerung der
Aufforstung dieser einst kahlen Strecken zugewendet hatte. Auf den
Kämmen der kleinen Berge ragten die Umrisse von Pinien und Cypressen in
den blauen Himmel.

Jetzt kam der Wagen in ein liebliches Thal, das die Reisenden durch
seine Blumenfülle überraschte. Wie ein leuchtender Teppich in weißen,
gelben, roten, blauen und grünen Farben war es vor ihnen ausgebreitet.
Und es war ihnen zu Mute, als wären sie in ein Duftmeer hineingeraten.
Ein Windhauch trug die wohlriechenden Luftwellen heran, und die beiden
Neuankömmlinge waren ganz bezaubert von dem Naturspiele, das sie sich
gar nicht zu erklären wußten. Der Aufschluß wurde ihnen zu teil, daß
hier eine großartige Blumenkultur für Parfümindustrie eingerichtet sei.
Jasmin, Tuberosen, Geranien, Narzissen, Veilchen und Rosen wurden hier
in großen Massen gezogen. Dieses Thal war ein einziger Garten. Am Rande
des Weges pflegten die arbeitenden Landleute den Vorbeiziehenden Grüße
zuzurufen, die bald Littwak, bald Reschid Bey oder Steineck galten.
Alle drei schienen viele Bekannte unter diesen sichtlich frohgemuten
Bauern zu haben. So kamen sie nach der Ortschaft Sepphoris, wo der
Wagen zum erstenmal hielt. Auf dem Platze vor der griechischen Kirche
stieg David aus und bat seine Freunde, sich einen Augenblick zu
gedulden; er müsse dem Popen einen kurzen Besuch machen. Er trat in das
schmucke kleine Pfarrhaus ein.

Die anderen verließen auch die Motorarche, um ein paar Schritte bis an
den Hügelrand zur Ruine der alten zerstörten Kirche zu gehen. Von da
genoß man einen schönen Fernblick über die fruchtbare Ebene bis an den
Karmel. Und Mirjam erzählte, daß hier einst ein christliches Gotteshaus
zu Ehren Joachims und Annas gestanden sei, welche die Eltern Marias,
der Mutter Jesu gewesen waren und hier gelebt hatten. Die neue
griechische Kirche diene der Kolonie russischer Christen, die um
Sepphoris herum entstanden war. Mit dem Popen sei David befreundet, und
lade er ihn ein, zur Sederfeier nach Tiberias zu kommen. Dann erschien
David wieder, begleitet von dem stattlichen Popen, der aber bedauerte,
nicht gleich mitfahren zu können. Er würde nachmittags mit der
elektrischen Bahn über Nazareth nach Tiberias kommen und wahrscheinlich
noch vor der Gesellschaft bei Littwaks Eltern eintreffen.

So nahmen sie denn Abschied von dem geistlichen Herrn, und der
Reisewagen rollte in nördlicher Richtung der Ebene zu.








2. KAPITEL.


Die Glaswand zwischen dem vorderen und dem mittleren Teile des Wagens
war gesenkt worden, um das Gespräch auch mit den vorne Sitzenden zu
erleichtern. Außerhalb von Sepphoris mußten sie an einer Bahnschranke
einige Minuten stillhalten, weil ein Zug angekündigt war. Jetzt sauste
er vorüber, nach Süden zu, sehr eilig. Es fiel den Fremden auf, daß der
Lokomotive die Rauchfahne fehlte, und sie erfuhren, nachdem sie das
Geleise passiert hatten, daß der Betrieb hier, wie auf den meisten
Bahnen Palästinas, elektrisch sei. Das war einer der großen Vorzüge der
Einrichtung einer neuen Kultur in diesen Gegenden gewesen. Gerade weil
hier alles bis zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts völlig
vernachlässigt, in einer Art von Urzustand lag, hatte man gleich die
neuesten und höchsten technischen Errungenschaften benützen können. Es
war wie bei der Anlage der Städte so auch in allem anderen zugegangen,
im Eisenbahnwesen wie beim Kanalbau, in der Landwirtschaft wie in der
Industrie. Die Erfahrungen aller Kulturvölker standen ja den jüdischen
Ansiedlern, die aus aller Welt herbeiströmten, zu Gebote. Die
Gebildeten aber, die von den Universitäten, den technischen,
landwirtschaftlichen und Handelshochschulen der zivilisierten Staaten
herkamen, waren ausgerüstet mit jeder notwendigen Wissenschaft. Und
gerade diese arme junge Intelligenz, für die es keine Verwendung in den
antisemitischen Ländern gegeben hatte, und die dort zu einem
hoffnungslosen umsturzlustigen Proletariate herabgesunken war — diese
gebildete und verzweifelte jüdische Jugend war zum größten Segen
Palästinas geworden, denn sie brachte die neueste Wissenschaft in allen
praktischen Gestaltungen hierher. So berichtete David.

Friedrich erinnerte sich plötzlich eines Wortes, das in seinem Leben
eine Rolle gespielt hatte, und er richtete an seinen Freund eine den
anderen unverständliche Frage:

„Ein gebildeter und verzweifelter junger Mann! Wissen Sie noch,
Kingscourt? Kein Wunder, daß ein Jude sich meldete. In jener Zeit
wuchsen unter uns viele solche, wir waren fast alle so.“

Kingscourt jedoch interessierte sich mehr als für Friedrichs
Empfindsamkeiten, für die Erzählung Davids:

„Ihr seid aber ein sündhaft pfiffiges Volk — uns habt Ihr das alte
Eisen gelassen, und Ihr fahrt mit den neuen Maschinen.“

Steineck schrie:

„Hätten wir uns vielleicht veraltetes Zeug anschaffen sollen, wenn wir
für dasselbe Geld gutes neues kriegen und machen konnten? Uebrigens,
was Sie hier sehen, gab es alles schon in den neunziger Jahren des
vorigen Jahrhunderts in Europa und Amerika, besonders in Amerika. Die
drüben waren der verdummten alten Welt weit vor. Natürlich haben wir
von den Amerikanern gelernt, im elektrischen Bahnwesen und in noch
anderen Dingen.“

„Für uns,“ ergänzte David, „war der Uebergang zu den besten, modernsten
Betriebformen viel weniger kostspielig, weil wir nichts altes zu
amortisieren hatten. Schlechtes rollendes Material brauchten wir nicht
bis zur Abnützung mitzuschleppen. Unsere Waggons enthalten alle
Bequemlichkeiten, Ventilation, helles Licht bei Nacht, keine
Belästigung durch Rauch und Staub, und man wird fast gar nicht
aufgerüttelt, obwohl wir mit bedeutender Geschwindigkeit fahren. Die
Insassen der Arbeiterzüge werden nicht in Pferchen gemartert, wie
ehemals. Wir achten selbstverständlich auf die Volksgesundheit in einem
so wichtigen Verkehrsmittel. Es wird Sie auch interessieren, wie billig
die Bahnbenützung bei uns ist. Wir haben für die Personenbeförderung
das Tarifsystem nachgebildet, welches im Lande Baden unter der
Regierung des guten weisen Großherzogs Friedrich eingeführt wurde. Das
Aufsuchen der Arbeitsgelegenheit wollten wir im allgemeinen Interesse
so leicht und frei als möglich machen. Sie werden bei uns die
Erscheinung nicht sehen, daß von einem Orte, wo man Menschenkraft wie
einen Bissen Brot braucht, nach einem anderen Orte, wo Arbeitswillige
den Bissen Brot nicht finden können, Eisenbahnwagen leer hin und her
geschleift werden, weil die Fahrpreise zu hoch sind. Vom Libanon bis
ans tote Meer und von der Mittelmeerküste nach dem Dscholan und Hauran
ziehen sich die Schienenstränge zur Befruchtung des Landes, wie eine
Kanalisation der Menschenkraft. Selbstverständlich ist auch der
Frachtverkehr, einheimischer wie Transit, sehr erheblich, da wir
Kornkammern und Häfen, sowie Anschluß an die kleinasiatischen und
nordafrikanischen Linien haben ... Doch von all diesen sozialen und
wirtschaftlichen Vorzügen unseres Bahnverkehrs will ich jetzt nicht
sprechen. Diese Dinge sind Ihnen ja geläufig, meine Herren, obwohl Sie
zwanzig Jahre außer der Welt waren. Das alles haben die Menschen schon
vor zwanzig Jahren aus täglicher Erfahrung gewußt.“

„Auch wenn sie noch so beschränkt waren,“ warf Steineck liebenswürdig
ein.

David fuhr fort: „Aber was man nicht kannte, war die Schönheit unseres
teuren Landes. Viel ist freilich durch unsere Kulturarbeit geschaffen
worden, aber die natürlichen Reize der Gottesgabe lagen durch viele
Jahrhunderte ungesehen, ungekannt, vergessen da. Wo finden Sie in der
Welt noch ein Land wie unseres, das Ihnen in allen Jahreszeiten den
Frühling so nahe erreichbar macht? Es giebt eine warme, eine gemäßigte
und eine kalte Zone, die nicht weit auseinander liegen. Im Süden des
Jordanthales die beinahe tropische Landschaft, an der weichen
Meeresküste die Wonnen der italienischen und französischen Riviera, und
unfern die tragisch großartigen Gebirge des Libanon und Antilibanon,
der schneebedeckte große Hermon. Und das alles ist in wenigen Stunden
Eisenbahnfahrt zu erreichen. Gott hat unser Land gesegnet!“

„Ja,“ sagte Reschid, „bei uns ist das Reisen ein großer Genuß. Ich
setze mich manchmal in den Aussichtswaggon und fahre ganz planlos
spazieren, nur um beim Fenster hinauszuschauen.“

„Verehrtester Gastgeber,“ bemerkte Kingscourt; „ich meine, Sie hätten
uns damit vor allem bekannt machen müssen — ohne Ihrer famosen Arche
nahetreten zu wollen. Man fährt wirklich recht sanft.“

David entschuldigte sich: „Aus zwei Gründen, meine Herren, ließ ich Sie
heute nicht auf der Bahn fahren. Erstens weil Sie im Motorwagen mehr
von Land und Leuten sehen. Zweitens, weil in den Tagen vor Ostern ein
ungeheurer Fremdenandrang auf der Linie Haifa-Nazareth-Tiberias
herrscht. Nun ist zwar auch dieses kosmopolitische Treiben, dieses
Durcheinander aller Nationen, der Zug von Pilgern nach den heiligen
Stätten der Christenheit in hohem Grade fesselnd. Aber zuerst wollte
ich Ihnen doch das organische Leben unseres Gemeinwesens zeigen.“

„Ja, wie haben Sie die Frage der heiligen Stätten gelöst?“ sagte nun
Friedrich.

„Das war kein Kunststück,“ entgegnete David. „Als im vorigen
Jahrhunderte diese Frage durch die zionistische Bewegung in Fluß kam,
hielten es viele Juden, gleich Ihnen, Herr Doktor, für unmöglich, mit
dieser Schwierigkeit fertig zu werden. Infolge Ihrer langen Abwesenheit
haften Sie, wie ich sehe, auch jetzt noch an dieser veralteten
Anschauung. Zunächst ergab es sich vor etwa fünfundzwanzig Jahren aus
der publizistischen Erörterung, wie aus den Aeußerungen maßgebender
Staatsmänner und Kirchenfürsten, daß dieses Hindernis nur in der
Einbildung allzu ängstlicher Juden existierte. Die heiligen Stätten der
Christenheit hatten sich doch seit undenklicher Zeit im staatlichen
Besitze von Nichtchristen befunden. So wie man schon seit mehreren
Jahren keine Kreuzzüge geführt hatte, so war auch allmählich eine
andere und jedenfalls viel höhere Auffassung für die Besitzverhältnisse
dieser vom Glauben geheiligten Orte geltend geworden. Gottfried von
Bouillon und seine guten Ritter empfanden es als eine Kränkung, daß
Palästina in den Händen der Muselmanen war. Wo haben Sie ein ähnliches
Gefühl bei den Rittern und Grafen am Ende des neunzehnten Jahrhunderts
wahrgenommen? Und die Regierungen? Hätten die vielleicht den
Parlamenten eine außerordentliche Kreditforderung zur Eroberung des
heiligen Landes vorzulegen gewagt? Die Sache war nämlich die, daß ein
solcher Krieg weniger gegen den Großtürken als gegen andere christliche
Mächte hätte geführt werden müssen. Es wäre ein Kreuzzug nicht gegen
den Halbmond, sondern gegen ein anderes Kreuz gewesen. So war man zu
der Ansicht gelangt, daß der sogenannte status quo für alle Teile das
Beste sei. Aber das war doch nur eine realpolitische
Nützlichkeitserwägung. Daneben ging auch noch eine höhere, eine, wenn
ich das Wort gebrauchen kann, idealpolitische Auffassung. Um den
Sachbesitz konnte es sich bei den heiligen Stätten wohl nicht handeln.
Den religiösen Empfindungen schien mehr Genüge geleistet, wenn diese
Orte der Andacht sich in niemandes ausschließendem Besitze befanden,
als wenn sie irgend einer einzelnen irdischen Macht gehörten. In einer
Begriffsbildung, die dem römischen Recht entlehnt war, erschienen all
die heiligen Stätten als res sacrae, extra commercium. Das war das
sicherste, das einzigste Mittel, sie für immerwährende Seiten zum
Gemeingute aller Gläubigen zu machen. Und wenn Sie nach Nazareth,
Jerusalem oder Bethlehem kommen, werden Sie versöhnte Pilgerzüge wallen
sehen. Auch mich, der ich ein überzeugter Jude bin, ergreifen diese
Bilder tiefster Andacht mit eigener Gewalt.“

„Man fühlt sich an Lourdes in den Pyrenäen erinnert, wenn man nach
Bethlehem oder Nazareth kommt,“ sagte Steineck. „Auch ein so kolossaler
Fremdenverkehr, neue Hotels, Massenherbergen und Klöster.“

In solchen Gesprächen waren sie nach der Ebene gelangt. Eine
langgestreckte Niederung, reichbebaut mit Weizen und Gerste, Mais und
Hopfen, Mohn und Tabak. Blanke Dörfer und einzelne Wirtschaftshöfe im
Thale und an den Berglehnen. Saftige Weideplätze, auf denen Rinder und
Schafe beschaulich grasten. Da und dort sah man das Eisen großer
landwirtschaftlicher Maschinen blitzen. Und in der Sonne dieses
Frühlingstages machte die ganze Landschaft einen unsagbar friedvollen
und glücklichen Eindruck.

Sie kamen durch einige kleinere Ortschaften, blickten in stattliche
Bauernhöfe hinein, sahen Männer und Frauen bei der Arbeit, Kinder beim
Spiele, und Greise, die sich still vor den Häusern sonnten. Den
Fahrenden fiel es auf, daß die Fußgänger auf dem Wege sich mehrten, je
weiter man kam. Alle strebten offenbar einem gemeinsamen Ziele zu, und
dieses schien eine südlich auf der Höhe gelegene große Niederlassung zu
sein. Sie überholten die Fußgänger, Männer und Frauen, die ihnen Grüße
und auch „Hedad!“ zuriefen. Einzelne rückten aber ziemlich verdrossen
ihre Hüte oder blickten sogar mißmutig zur Seite. Noch lebendiger wurde
es hinter dem Motorwagen. Kaum war er vorbei, so kamen aus jedem
Bauernhof Leute heraus, die sich hinterdrein in Bewegung setzten,
manche laufend. Einige schwangen sich auf Pferde und ritten im Galopp
nach. Andere endlich bestiegen Fahrräder und bemühten sich, den
mechanischen Wagen zu überholen. Davids Gäste hatten bald den Eindruck,
daß sie erwartet würden.

Und so war es wirklich. Die Niederlassung, deren ländlichen Reichtum
sie an den prächtigen Wirtschaftsgebäuden, am wohlgenährten Vieh, an
der hochstehenden Kultur der Felder wahrnehmen konnten, war die
Ortschaft Neudorf. Eine Menschengruppe harrte ihrer vor dem schmucken
Gemeindehause, und als der Motorwagen hielt, brauste den Ankömmlingen
ein hundertstimmiges „Hedad!“ entgegen.

„Hedad! ist so viel wie Hoch!“ sagte Reschid zu Kingscourt gewendet,
als sie ausstiegen.

„Hab’ ich mir gleich gedacht, daß es entweder Hoch! oder Nieder!
heißt,“ schmunzelte der Alte.

Indessen konnten sie nicht gleich ins Haus eintreten, weil ein kleiner
Chor von sauber gekleideten Schulkindern unter dem Kommando des Lehrers
ein hebräisches Begrüßungslied anstimmte. Das mußten sie stehend
anhören. Fritzchen war wieder munter und sang auf dem Arme seiner
Kindsfrau das Lied in unartikulierten Lauten mit.

Dann trat der Gemeindevorsteher Friedmann, ein kräftiger Bauer von etwa
vierzig Jahren, vor und hielt eine kurze Ansprache, in der er die Gäste
und insbesondere die Parteiführer Littwak und Steineck willkommen hieß.
Er sprach im russisch-jüdischen Dialekte.

„Alle Wetter!“ brummte Kingscourt dem neben ihm stehenden David ins
Ohr, „das wußt’ ich gar nicht, daß Sie ein Parteiführer sind.“

„Nur vorübergehend, Mr. Kingscourt; für ein paar Wochen. Meine
Profession ist es nicht.“

Aber ein anderer Bauer war vorgetreten, auch ein stämmiger,
sonngebräunter Mensch. Er drehte seinen Hut ein wenig verlegen zwischen
den harten Händen und sprach mit unsicherer Stimme:

„Herr Littwak und Herr Steineck, Sie werden schon erlauben, daß ich
auch etwas sag’.“

Einige Fäuste streckten sich nach dem unvermuteten Redner aus, um ihn
wegzuziehen. Mehrere schrieen:

„Mendel soll nicht reden! Er hat nicht zu reden.“

Mendel stand jedoch trotzig da, und seine Entschlossenheit wuchs, als
man ihn verhindern wollte.

„Ich werd’ reden!“

Es erhob sich ein Lärm. „Nein, nein!“ schrie die Mehrzahl. Mendels
Anhänger wetterten dazwischen: „Ja, er soll nur reden!“

David beruhigte sie mit einer Geberde seiner erhobenen Hand:

„Gewiß soll er reden!“

Mendel sagte höhnisch zu seinen Gegnern: „Ihr seht! ... Herr Littwak is
gescheiter, wie Etz chamoirem! Also was ich sagen will, is nur das:
Friedmann hat nix geredt für de ganze Gemeinde.“

Wieder verworrener Lärm:

„O ja! O ja! Er ist der Vorsteher!“

Mendel fuhr unbekümmert fort:

„Die Gäst’ darf er begrüßen, ja. Das muß er. Da hat er gesprochen für
uns alle Männer von Neudorf. Mir sind nit grob gegen unsre Gäst’. Aber
als Parteiführer darf er die Herren da nix begrüßen. Bei uns in Neudorf
giebt es noch en andere Partei, was nit den Herrn Littwak sei’ Partei
is. Das hab’ ech Ihner sag’n woll’n, Herr Littwak und Herr Steineck.“

Der Sturm der Zuhörer hatte sich während Mendels Rede gelegt, ja es
schien sogar, als wären viele mit dieser Einschränkung einverstanden,
weil so die Gastfreundlichkeit mit dem Parteistandpunkte zugleich
gewahrt blieb.

„Oho?“ erkundigte sich Kingscourt bei Steineck. „Wir scheinen da in
Feindesland geraten zu sein?“

„Fressen werden sie uns nicht,“ gab der Architekt zur Antwort. „Wir
sind ja hier, um sie zu bekehren. Ich werde ihnen ihre Bauernschädel
schon zurechtsetzen ... Um Gotteswillen, wo hab’ ich meine Rede?“ Er
durchsuchte seine Handtasche, die er sich vom Diener hatte reichen
lassen. „Meine Rede ist nicht da!“

Frau Sarah lachte: „Sie hatten sie doch in der Reisetasche?“

„Jetzt fällt mir ein, ich habe sie in den Koffer gesteckt.“

Mirjam sagte: „Sprechen Sie doch aus dem Stegreif!“

Steineck machte ein verzweifeltes Gesicht. Mit Stegreifreden hatte er
gewöhnlich kein Glück.

Im Haufen der Landleute öffnete sich eine Gasse. „Reb Schmul kommt!“
hatten einige gerufen, und man machte ihm ehrfurchtsvoll Platz.

Rabbi Samuel war ein alter, gebückt einhergehender Mann von ungemein
mildem Wesen. Er nahm Davids Hand in seine zitternden Greisenhände und
begrüßte ihn herzlich, so daß man sehen konnte, er stehe nicht auf der
Seite Mendels und der Trotzigen.

Mirjam aber erzählte den Fremden in leisem Tone, wer dieser weißbärtige
Rabbi war. Er sei mit den ersten Einwanderern ins Land gekommen, als
diese jetzt so fruchtbare Ebene dürftig dalag und die Ebene von Asochis
dort hinter den nördlichen Höhen noch von Sümpfen durchzogen war, und
im Süden die weite Ebene von Jesreel noch die alte Mißwirtschaft
aufwies. Rabbi Samuel war der Tröster und Seelsorger der Männer von
Neudorf gewesen, die zum größten Teile von Rußland herkamen und den
Kulturkampf mit dem alten Boden aufnahmen. Er war und blieb der
einfache Landrabbiner, harrte bei seiner Gemeinde aus, obwohl er von
größeren Stadtgemeinden oft genug berufen worden war. Denn er wurde
wegen seines gottesfürchtigen und weisen Lebenswandels allgemein
verehrt. Der östliche Teil der Ortschaft, wo das Häuschen des Rabbiners
stand, hieß der Garten Samuels. Und an den Festtagen, wenn Rabbi Samuel
im Tempel von Neudorf predigte, kamen die Andächtigen von weit her, um
seinen Worten zu lauschen.

Der Vorsteher Friedmann ließ jetzt den Gästen den Willkommstrunk und
einen Imbiß reichen. Auf dem Platze hinter dem Gemeindehause war eine
luftige Halle improvisiert. An hohen Stangen und Baumästen waren lange
Streifen von Segeltuch gespannt, die genügenden Schatten gewährten.
Dahin begab sich die Menge.

Ein leichtes Gerüst war als Rednerbühne aufgerichtet. Davor, in der
ersten Reihe, standen Stühle für Rabbi Samuel und die Gäste. Die
Uebrigen hatten Bänke, oder sie mußten stehen.

Friedmann sprach zuerst und ermahnte die Zuhörer, die Redner nicht zu
stören, auch wenn man nicht mit allem Vorgebrachten einverstanden wäre.
Das verlange der gute Ruf von Neudorf. Dann gab er dem Architekten
Steineck das Wort. Dieser bestieg die Erhöhung, räusperte sich mehrmals
und begann, erst stockend, dann immer lebhafter:

„Liebe Genossen! Mir ist — hm ein — hm — Unfall zugestoßen, auf der
Reise — hm. Ich habe nämlich meine — hm — meine Rede verloren. Ich habe
mir nämlich für euch eine Rede ausgearbeitet. Es war eine gute, schöne
Rede, das müßt ihr mir glauben, weil ihr sie nicht kennen lernen
werdet.“

Einige lachten. Steineck fuhr fort:

„Wir sind in unserer neuen Gesellschaft — hm — an einem Wendepunkt
angelangt — hm — an einem Wendepunkt. Ich sage euch nichts als das: an
einem Wendepunkt!“

Redner wischte sich den Schweiß ab.

„Worin besteht dieser Wendepunkt, meine lieben Freunde? ... Aber bevor
ich mich diesem Wendepunkt — hm — zuwende, möchte ich — hm — auf die
Vergangenheit zurückgreifen. Was war die Vergangenheit, eure, unsere
Vergangenheit? Hm? Das Ghetto!“

Rufe: „Sehr richtig!“

„Wer hat Euch aus dem Ghetto herausgebracht? Hm? Wer?“

Mendel rief mit starker Stimme dazwischen: „Wir selbst!“

Rufe: „Ruhe! Ruhe!“

Steineck aber wurde hitziger:

„Wer ist das, wir selbst? Hm? Ist es Mendel oder ein anderer?“

Mendel schrie wieder: „Das Volk!“

„Ich bitte mich nicht zu unterbrechen! Hm. Ich nehme übrigens das Wort
von Mendel auf. Das Volk, ja! Gewiß, das Volk. Hm. Aber allein war das
Volk das nicht imstande. Hm. Unser Volk war zerstreut in der ganzen
Welt, in kleinen hilflosen Gruppen. Bevor es sich selbst helfen konnte,
hat man es zusammenbringen müssen.“

Mendel lärmte wieder:

„Ja, ja, die Führer, das wissen wir schon!“

Jetzt fuhr aber Friedmann mit einer Donnerstimme dazwischen:

„Augenblicklich schweigst du, Mendel! Ich bitte, Herr Steineck, reden
Sie weiter.“

„Hm, ja, ich rede weiter. Die Führer, sagt Mendel. Ich glaube, hm, er
sagt es höhnisch. Aber es ist wahr. Hm. Wo war euer Geyer, der euch
jetzt aufhetzt, damals? Ich will es euch sagen. Euer Doktor Geyer war
damals ein antizionistischer Rabbiner. Ich habe ihn gekannt. Er war
auch damals unser wütender Gegner, schützte aber andere Gründe vor, oh,
ganz andere. In einer Sache ist er freilich immer derselbe geblieben.
Hm. Ich will euch sagen, was er war, ist und sein wird. Er ist der
Rabbiner des nächsten Vorteils. Als wir Zionisten der ersten Stunde uns
auf den Weg machten, unser Volk und unser Land aufzusuchen, da hat uns
der Herr Rabiner Dr. Geyer gescholten. Ja, Narren und Betrüger hat er
uns gescholten.“

Ein junger Landmann von etwa fünfundzwanzig Jahren näherte sich der
Rednerbühne und sprach in höflichem Tone:

„Entschuldigen Sie, Herr Steineck! Das ist nicht möglich. Man hat doch
immer gewußt, daß wir Juden ein Volk sind und daß Palästina unser
angestammtes Land ist. Also kann Dr. Geyer unmöglich jemals das
Gegenteil behauptet haben.“

„Er hat es aber gethan!“ schäumte Steineck. „Er hat unser Volk und Land
verleugnet. Er hat aus dem Gebetbuch heraus Zion gelesen, und dann hat
er den Schafen, die ihm zuhörten weiszumachen gewagt, daß damit etwas
anderes gemeint sei. Unter Zion soll man etwas anderes verstehen, als
Zion! Alles andere sollte man darunter verstehen, nur das eine, wahre
nicht. Zion war überall, nur nicht in Zion!“

Einige schrieen: „Nein, nein! Das hat Geyer nicht gesagt. Das ist
unmöglich!“

Aber Rabbi Samuel war aufgestanden. Zitternd stützte er sich auf seinen
Stock und erhob die andere Hand, worauf sofort alle still wurden.

„Es ist wahr!“ sagte der Greis. „Es hat gegeben solche Rabbiner.
Vielleicht war Geyer auch einer von sie. Das weiß ich nicht. Da muß ich
Steinecken glauben. Aber es hat gegeben solche Rabbiner, es hat gegeben
solche ...“ Er setzte sich erschöpft nieder.

Steineck aber, in dessen Munde die Worte sich zu überstürzen anfingen,
da er einmal im Zuge war, sprach:

„Die Rabbiner des nächsten Vorteils haben uns das Leben sauer gemacht,
und das thut der auch jetzt. Damals, in unserer schweren Anfangszeit,
hat er gar nicht wollen, daß von Palästina gesprochen wird. Jetzt ist
er palästinensischer, als wir alle. Er ist der Patriot, er ist der
Nationaljude — wir sind die Fremdenfreunde, und wenn wir ihm noch lang
zuhören, sind wir die schlechten Juden oder gar auch Fremde in seinem
Land Palästina. Ja, das ist es: er will uns absondern von der
Gemeinschaft. Mißtrauen sät er zwischen euch und uns. Die Augen
verdreht er, der fromme Mann, und dabei lugt er scharf aus nach dem
nächsten Vorteil. Früher, im Ghetto, waren die Reichen in der Gemeinde
die Einflußreichen, da hat er nach dem Munde der Reichen gesprochen.
Den Reichen war die nationale palästinensische Idee unbequem, da hat er
also das Judentum in ihrem Sinn ausgelegt. Da hat er gesagt, daß das
jüdische Volk nicht heimkehren darf, weil das den Herren
Kommerzienräten und Hochbankiers die Kreise gestört hätte. Da haben er
und seinesgleichen die Fabel von der Mission des Judentums erfunden.
Das Judentum sollte dazu da sein, den Völkern Lektionen zu geben. Darum
mußten wir in der Zerstreuung leben. Wenn uns die Völker nicht ohnehin
gehaßt und verachtet hätten, so hätten sie uns schon wegen einer
solchen Arroganz auslachen müssen. Und Zion war nicht Zion! Die
Wahrheit aber war, daß wir keine Lektionen gegeben, sondern bekommen
haben, Tag für Tag, fort und fort, blutige, schmerzliche Lektionen —
bis wir uns ermannt haben und bis wir noch einmal den Weg aus Mizrajim
heraus gesucht und gefunden haben. Ah, freilich, dann ist auch der Herr
Dr. Geyer nachgekommen, mit seiner alten Arroganz und Scheinheiligkeit.
Und in den jüdischen Gemeinden sieht es jetzt auch, Gott sei Dank!
anders aus. Nicht mehr die Reichen machen das Gesetz, sondern alle. Die
Vorsteherschaft in den Gemeinden ist jetzt nicht mehr eine Prämie für
gute Geschäfte, wie es ehemals der Fall war. Die Vorsteher werden jetzt
nicht nach ihrem Reichtum, sondern nach ihrer Achtbarkeit und
Tüchtigkeit gewählt. Da muß natürlich den Instinkten der Menge
geschmeichelt werden. Da muß natürlich eine Theorie für den nächsten
Vorteil der Menge gefunden werden, — oder wenigstens für das, was die
Menge als ihren nächsten Vorteil ansieht. Und darum wird das Schlagwort
gegen die Fremden ausgegeben. Ein Nichtjude soll in die neue
Gesellschaft nicht aufgenommen werden. Je weniger Leute sich an die
Schüssel setzen, desto mehr fällt an einen ab. Ihr glaubt vielleicht,
daß das euer nächster Vorteil ist. Aber es ist nicht wahr. Verarmen
würde das Land, und verdorren, wenn ihr diese blödsinnige, engherzige
Politik macht. Wir stehen und fallen mit dem Grundsatz, daß wer sich
zwei Jahre in den Dienst der neuen Gesellschaft gestellt hat, wie es
vorgeschrieben ist, wenn er sich diese zwei Jahre ordentlich aufgeführt
hat, Mitglied werden kann, welcher Nation oder Konfession er auch immer
angehören mag. Und darum sage ich euch, daß ihr daran festhalten sollt,
was uns groß gemacht hat, am Freisinn, an der Duldung, an der
Menschenliebe. Zion ist nur dann Zion! Ihr werdet einen Delegierten zum
Kongreß wählen. Wählet einen, der nicht an den nächsten Vorteil denkt,
sondern an den dauernden. Wenn ihr aber einen Geyerianer wählt, so seid
ihr nicht wert, daß euch die Sonne unseres heiligen Landes bescheint.
So. Ich habe gesprochen.“

Der Beifall war nicht groß. Einigemale hatte der Redner wohl Eindruck
auf seine Zuhörer gemacht, aber der Schluß hatte sie, wie man deutlich
sehen konnte, verstimmt. Nur einem hatten gerade die Schlußworte
gefallen, und er sagte es auch dem Architekten, der sich in Schweiß
gebadet neben ihn hinsetzte. Dieser eine war Mr. Kingscourt, doch besaß
dieser kein Stimmrecht in Neudorf.








3. KAPITEL.


„Will noch jemand reden?“ fragte Friedmann, der Vorsitzende.

„Ich!“ schrie Mendel, und war mit einem Satz auf der Rednerbühne.

„Der Herr Architekt Steineck hat uns e Red’ gehalt’n. Me kenn sag’n es
war e scheene Red’, me kenn auch sag’n, es war e grobe Red’. Ich sag’,
es war e grobe Red’.“

Friedmann fiel ihm ins Wort:

„Du, Mendel, beleidigen wirst du nicht! Das erlaub’ ich nicht.“

Aber Mendel entgegnete:

„Beleidigen? Wer beleidigt? Er hat uns beleidigt. Er hat gesagt, mir
sein nit wert, daß uns bescheint de Sonn’. Worum sein mir es nit wert?
Weil mir nit woll’n ereinlass’n e jed’n. Wer hat sech geplagt un
gerackert mit den Boden? Mir! Wer hat erausgeklaubt de Staner? Mir! Wer
hat ausgetrocknet de Sümpf’, gegrab’n de Kanäl’, gepflanzt de Bäum’,
wer hat geschwitzt un gefror’n bis dos alls fertig war? Mir, mir, mir!
Un jetzt auf amol soll es nix uns gehörn? Na, dos is ka Red’. Mir
sennen ehergekummen, da war hier nix, gar nix. Jetzt is da e
Musterwirtschaft. Da drin steckt unser Schweiß un Blut un unsere Arbet.
Dos mit’n nächsten un dauernden Vorteil, dos versteh’ ech nit.
Vielleicht versteht’s Etz es besser? Was den Dr. Geyer betrefft, der
liegt mir stark auf. Was er früher gesogt hat, liegt mir auch stark
auf. Aber jetzt hat er Recht, dos waas ech. Wos mir uns geschafft hob’n
mit unsere Händ, dos muß uns bleib’n, dos lass’n mir uns nit
ewegnemmen, von niemanden. So! Mehr hob ech nit zu sog’n.“

Schüchterner Beifall regte sich in der Menge, aber man hielt sich
offenbar aus Rücksicht auf die Gäste von einem lauten Ausbruche zurück.

Nachdem Mendel abgegangen war, schritt David Littwak zur Tribüne. Sein
Gesicht hatte einen ernsten Ausdruck, als er mit klarer, weithin
vernehmbarer Stimme anfing:

„Meine Freunde! Ihr werdet mich anhören. Ihr wißt, ich bin aus eurem
Blut. Ich habe wie ihr auf dem Felde gearbeitet, an meines Vaters
Seite. Ich habe mich etwas höher hinaufgeschwungen, aber ich kenne die
Schmerzen und Freuden des Landmannes. Ich weiß, wie euch zu Mut ist,
und dennoch sage ich euch, daß Mendel nicht Recht hat.

Vorerst denkt niemand daran, euch etwas wegzunehmen, was euch gehört.
Wenn das einer versuchen wollte, würde ich bis zu meinem letzten
Atemzuge an eurer Seite kämpfen. Nein, es handelt sich gar nicht darum,
eure guten erworbenen Rechte zu schmälern. Die Früchte eurer Arbeit
sollen euch bleiben und werden sich mehren. Die Frage steht anders,
ganz anders, als man es euch sagte.

Mendel ist guten Glaubens, aber er irrt sich. Vor allem irrt er sich
darin, wenn er meint, daß alles, was wir sehen können, das Werk eurer
Hände ist. Eure Hände haben es gemacht, aber eure Köpfe haben es nicht
erdacht. Ihr seid zwar, Gottlob! nicht so unwissend, wie es die Bauern
früherer Zeiten und anderer Länder waren, aber doch kennt ihr die
Herkunft eurer eigenen glücklicheren Verhältnisse nicht. Was ist
Neudorf? Wer es zum erstenmal sieht, ohne die Geschichte der
Niederlassung zu kennen, der wird sich höchstens wundern oder freuen,
daß an der alten Römerstraße nach Tiberias, im Wadi Rummane diese
blühende Ortschaft entstanden ist. Ich bin heute mit zwei fremden
Herren herausgefahren, und ich war stolz, ihnen unsere Herrlichkeiten
zeigen zu können, unsere Felder, auf denen jetzt die Gerste blüht,
unsere Weiden und Baumschulen, unsere grünen Gärten, unsere schmucken
Häuser, unsere Zuchttiere und Maschinen, unsere Bewässerungen und
unsere eroberten Moore. Ich sage unser, obwohl mir keine Spanne Feld
und kein Stück Vieh gehört. Alles ist euer, aber ich fühle mich da so
zu Hause, daß ich „unser“ sagen kann. Und wenn mich die Herren fragen,
wer das alles in zwanzig kurzen Jahren hervorgezaubert hat, so werde
ich ihnen genau so wie Mendel antworten: Wir, wir, wir!

Ja, aber wie? Sind wir einfach hergegangen und haben mit unseren Händen
gearbeitet, wie Mendel sagt? Mit unseren ungeschickten Händen, die
früher so wenig die Feldarbeit gewohnt waren? Wie konnten wir solche
Resultate erzielen, die man früher hier nie erzielt hat? Wenigstens hat
man sie nie erzielt, bevor die deutschen protestantischen Bauern am
Ende des neunzehnten Jahrhunderts hierherkamen und einzelne Kolonien
gründeten. Und diesen Tüchtigsten der Tüchtigen haben wir es
gleichgethan, haben sie sogar überflügelt. Wie ist das zugegangen?

Es ist wahr, ihr habt gearbeitet, mit der ganzen Begeisterung, die wir
Juden für unsere heilige Erde haben. Für andere war das ein
unergiebiger Boden, für uns war es ein guter, weil wir ihn mit unserer
Liebe düngten. Unsere ersten ruhmreichen Kolonisten haben das schon vor
dreißig Jahren gezeigt. Und doch waren jene Ansiedelungen ökonomisch
nicht viel wert, weil sie nach einem falschen Prinzip errichtet waren.
Die dort drüben konnten mit all ihren modernen Maschinen doch nur das
alte Dorf machen. Ihr aber habt das neue Dorf, und das ist nicht allein
eurer Hände Werk, meine Freunde!

Und ihr werdet es für einen Scherz halten, wenn ich euch sage, daß
Neudorf gar nicht in Palästina gebaut worden ist, sondern anderswo. Es
ist gebaut worden in England und Amerika, in Frankreich und in
Deutschland. Es ist entstanden aus Erfahrungen, Büchern und Träumen.
Die mißglückten Versuche von Praktikern wie von Phantasten mußten euch
zur Lehre dienen, ihr wißt es gar nicht.

Ehemals gab es Bauern, die so fleißig waren, wie ihr, und doch auf
keinen grünen Zweig kommen konnten. Der Bauer alten Stils kannte seinen
eigenen Boden nicht. Er wußte nicht, was in seiner Erde stak, denn er
war zu beschränkt, um die Scholle chemisch untersuchen zu lassen. Er
schwitzte nur darauf los, wandte mehr Kraft auf als nötig war oder an
der unrichtigen Stelle oder mit ungeeigneten Mitteln. Der alte Bauer
konnte nicht ökonomisch arbeiten, weil er wie im Nebel nicht drei
Schritte vor sich hin sah. Brauchte er für Verbesserungen Kredit,
geriet er in Wucherschulden, so daß auch der beste Ertrag schon auf dem
Halm hin war. Gegen Hagelschlag und Ungezieferplage war er nicht
versichert. Zur Bewässerung und Entwässerung des Bodens reichte seine
einzelne Kraft nicht aus. Bei Mißwachs kam er ins Elend und eine gute
Ernte machte ihn nicht reich, weil er den Weltmarkt nicht aufsuchen
konnte. Er hatte zu wenig oder zu viele Arbeitskräfte. Seine hungrigen
Kinder konnte er nichts lernen lassen, und so wuchsen sie in derselben
Dumpfheit auf, wie er selbst und seine Vorfahren. Und als die neuen
Verkehrsmittel aufkamen, da schien es, als wären alle nur für den
Untergang der alten Bauern ersonnen. Der Ackerbau wurde in
jungfräulichen Ländern großwirtschaftlich. Die Maschinen machten den
großen Grundbesitzer noch reicher und den kleinen noch ärmer. Eine neue
Hörigkeit entstand. Der freie Bauer mußte Knecht werden und seine
Kinder wanderten als Lohnsklaven in die Gefangenschaft der Fabrik.

Im Bauernstande war die alte Gesellschaft an ihrer breiten Grundlage
getroffen, und viele rechtschaffene Männer haben darüber geseufzt,
haben studiert und probiert, wie man es bessern könnte. Alle
Hilfsmittel der Wissenschaft und Erfahrung wurden aufgeboten. Das eine
war jedem klar, daß im Zeitalter der Maschinen die Grundbedingungen der
menschlichen Existenz unserer neuen Kenntnis der Naturkräfte angepaßt
werden mußten. Das neunzehnte Jahrhundert war ein merkwürdig hinkendes
Zeitalter.

Im Anfange dieser kuriosen Zeit nahm man die konfusesten Schwärmer
ernst und hielt die praktischsten Erfinder für verrückt. Der große
Napoleon glaubte nicht, daß das Dampfschiff Fultons etwas nützliches
sei. Hingegen gewann der verworrene Fourier gleich einen Anhang für
seine Phalansterien, die den Wohn- und Arbeitsort für einige hundert
Familien bilden sollten. Stephenson, der Begründer der Eisenbahn und
Cabet, der Träumer von Ikarien, waren Zeitgenossen. So könnte ich euch
noch viele Namen nennen, die ihr vielleicht zum erstenmal hört.“

Alle hatten diesen Worten, die mehr ein belehrender Vortrag als eine
Volksrede sein wollten, ruhig gelauscht. Jetzt, in der Atempause
Davids, erhob sich Mendel und sagte höflich, aber laut: „Zu der Sach’!
Wos hat dos mit unser Neudorf zu schaff’n?“

David entgegnete gelassen:

„Sehr viel, meine Freunde!

Jeder neuen Maschine pflegte in diesem kuriosen neunzehnten Jahrhundert
ein neuer sozialistischer Traum zu antworten. Dieses Jahrhundert ist
mir immer wie eine große Fabrik erschienen, in der sinnreiche Apparate
von unglücklichen Menschen bedient wurden. Aus dem Fabrikschlote
stiegen Rauchwolken in den Himmel, der früher blau gewesen. Diese
wunderlich geformten, unbestimmten, zerfließenden Rauchwolken aber
stellten die Zukunftsverheißungen der Sozialisten dar. Und wenn die
seufzenden Menschen hinaufblickten, sahen sie nicht mehr ihren Himmel
von einst, sondern die fabriksrauchgeborenen Wolken eines
Zukunftsstaates.

Es gab auch rosigere Wolken, zum Beispiel die berühmte Wolke des
Amerikaners Bellamy, der in seinem „Rückblicke aus dem Jahre 2000 auf
das Jahr 1887“ eine edle kommunistische Gesellschaft darstellt. Dort
kann jeder aus der allgemeinen Schüssel so viel essen, als er mag. Der
Wolf weidet neben dem Lamm. Schön, sehr schön! Nur sind dann die Wölfe
keine Wölfe und die Menschen keine Menschen mehr. Nach Bellamy kam der
Staatsromantiker Hertzka und entwarf seine Utopie „Freiland“, ein sehr
brillantes Zauberkunststück, vergleichbar dem unerschöpflichen Hute des
Taschenspielers. Es sind schöne Träume oder wenn ihr wollt Luftschiffe,
aber lenkbar sind sie nicht. Denn diese edlen und menschenfreundlichen
Erzähler begannen ihre sinnreichen Werke mit einem Beweisfehler. Die
Gelehrten unter euch — ich weiß, daß es auch in Neudorf wie vor dreißig
Jahren in Katrah gelehrte Bauern giebt — die werden mich verstehen,
wenn ich sage, daß die Erzähler jener Utopien eine petitio principii
begingen. Sie bewiesen mit etwas, das erst zu beweisen war: nämlich,
daß die Menschen bereits die Reife und Freiheit des Urteils hätten,
welche zur Einrichtung einer anderen Gesellschaft nötig sind. Oder
vielleicht waren sie sich darüber klar, und es fehlte ihnen nur der
feste Punkt, an dem Archimedes den Hebel einsetzen wollte. Sie
glaubten, die Maschinerie sei das Wichtigste, um etwas Modernes zu
schaffen. Nein, die Kraft ist es, nach wie vor die Kraft, immer nur die
Kraft. Freilich, wenn ich einmal über die Kraft verfüge, dann werde ich
sie durch die neuesten Erfindungen im Maschinenwesen aufs höchste
ausnützen. Wir aber, wir hatten diese Kraft. Woher hatten wir sie? Aus
dem ungeheuren und allseitigen Druck, der auf uns geübt wurde, aus der
Verfolgung, aus der Not. Das trieb die Zerstreuten zusammen und machte
ihre Vereinigung stark, denn es waren nicht nur Arme, sondern auch
Mächtige, nicht nur Junge, sondern auch Weise, nicht nur Enthusiasten,
sondern auch Gebildete, nicht nur Hände, sondern auch Köpfe dabei. Ein
Volk, ein ganzes Volk fand sich zusammen, nein, fand sich wieder. Und
wir haben die neue Gesellschaft gemacht, nicht weil wir bessere
Menschen waren, sondern nur ganz einfach Menschen mit den
gewöhnlichsten menschlichen Bedürfnissen nach Luft und Licht, nach
Gesundheit und Ehre, nach Freiheit im Erwerben und Sicherheit im
Besitze. Und da wir ans Bauen gehen mußten, haben wir uns eben das Haus
von 1900 und nicht etwa das Haus von 1800 oder von 1600 oder aus irgend
einer früheren Epoche gebaut. Das ist doch alles selbstverständlich und
klar. Wir hatten dabei kein großes Verdienst, wir leisteten nichts
ungewöhnliches, wir thaten nur, was zu thun in unserer Zeit, unter
unseren Umständen eine historische Notwendigkeit war.“

Mendel wurde ungeduldig und lärmte:

„Zu der Sach’! Zu der Sach’!“

David sagte freundlich:

„Ich bin gleich zu Ende, denn ich will euch nur euren Anfang zeigen.
Euer Anfang wäre nicht möglich gewesen, ohne die riesige
sozialpolitische Arbeit, welche im neunzehnten Jahrhundert geleistet
wurde. Einzelne Juden haben sich an dieser Arbeit beteiligt, aber
keineswegs Juden allein. Was aus den gemeinsamen Anstrengungen
hervorging, darf keine Nation als ihr Eigentum ausgeben. Es gehört
allen Menschen. Wer dankbar oder wißbegierig ist, wird vielleicht nach
den Pfadfindern auf diesem glücklicheren Wege der Menschheit fragen.
Dem angelsächsischen Stamme, meine Freunde, gebührt da der oberste
Ruhm. Denn bei den Engländern finden wir zuerst die Ansätze des
genossenschaftlichen Wesens, das wir übernommen und fortentwickelt
haben. Die deutsche Wissenschaft hat auch ihr tiefes Wort dazugegeben.
Wenn jemand von euch darüber mehr wissen will, so werde ich ihm die
Bücher zur Geschichte der Cooperation in England, Deutschland und
Frankreich zeigen.“

Ein junger Bauer erhob seine Hand, als wenn er zu sprechen wünschte.

Friedmann sah ihn und fragte laut:

„Was willst du, Jakob?“

Der Jüngling errötete, weil er nachträglich über seine Kühnheit
erschrak, und sprach in bescheidenem Tone:

„Ich hab’ Herrn Littwak nur sagen wollen, daß wir in der
Gemeindebibliothek die Geschichte der Pioniere von Rochdale haben.“

„Geben Sie sie Herrn Mendel zu lesen,“ antwortete ihm David. „Es ist
eine schöne, lehrreiche Geschichte. Die redlichen Pioniere von
Rochdale, wie man sie nannte, haben viel für euch gethan. Das heißt,
sie haben für die ganze Menschheit viel gethan — obwohl sie nur an sich
selbst dachten. Wenn ihr heute in euren Konsumverein geht und die
besten Waren zum billigsten Preise bekommt, so habt ihr das den
Pionieren von Rochdale zu verdanken. Und wenn euer Neudorf heute eine
blühende landwirtschaftliche Produktivgenossenschaft ist, so habt ihr
das den armen Märtyrern von Rahaline in Irland zu verdanken. Auch
diesen war es nicht klar, welche weltgeschichtliche That sie
vollbrachten, als sie im Jahre 1831 das erste neue Dorf der Welt mit
Hilfe ihres Gutsherrn Mr. Vandaleur begründeten. Ja, es vergingen viele
Jahrzehnte, bevor die Gelehrtesten und Klügsten die Idee von Rahaline
begriffen. Rochdale mit dem Konsumverein wurde viel früher verstanden,
als Rahaline mit dem neuen Dorf auf genossenschaftlicher Grundlage. Als
aber wir unsere neue Gesellschaft einrichteten, da legten wir natürlich
gleich das neue Dorf an, statt des schlechten alten. Nichts ist hier in
Neudorf, was nicht schon in Rahaline war. Der ganze Unterschied ist,
daß an Stelle des Mr. Vandaleur hier die große Vereinigung steht, deren
Mitglieder ihr auch wieder seid: nämlich die neue Gesellschaft.“

Wieder hob jener junge Bauer die Hand auf, und als der Redner erstaunt
einhielt, sagte er bescheiden:

„Wollen Sie uns nicht die Geschichte von Vandaleur und Rahaline sagen,
Herr Littwak?“

„Gern, meine Freunde! ... Zu jener Zeit war Irland ein armes Land mit
der unglücklichsten Bevölkerung. Die Landpächter waren
Lumpenproletarier, ja sogar Diebe und Mörder geworden. Es gab da einen
Gutsherrn, welcher Vandaleur hieß. Der hatte eine besonders ungestüme
Pächterschaft auf seinen Gütern. Anfangs 1831 war das Elend sehr groß.
Die Landleute begingen aus Not einige scheußliche Verbrechen. Mr.
Vandaleur hatte einen Verwalter, der wegen seiner Strenge bei den
Arbeitern verhaßt war, und in ihrer Verzweiflung ermordeten sie diesen
rohen Vogt. Was that nun Vandaleur? Etwas großes. Statt die Leute noch
härter zu behandeln, verfiel er auf den übermenschlichen Gedanken,
ihnen gutes zu thun. Er rief die trotzigen und verwahrlosten Männer
zusammen, vereinigte sie zu einer Arbeitergenossenschaft und gab dieser
Genossenschaft sein Gut Rahaline in Pacht. Der Zweck dieser Vereinigung
war, daß sie ein gemeinsames Kapital benutzen, sich gegenseitig
unterstützen, eine bessere Lebensweise führen und ihre Kinder
ordentlich erziehen sollten. Die Vorräte und Werkzeuge der Wirtschaft
sollten so lange Eigentum des Grundherrn Mr. Vandaleur bleiben, bis sie
von der Genossenschaft bezahlt würden. Darum sollte die Genossenschaft
ihre Reinerträge in einen Reservefonds bringen. Die Genossenschaft
verwaltete sich selbst. Ein Komitee wurde von den Mitgliedern frei
gewählt, es bestand aus neun Männern. Jeder dieser neun Räte hatte eine
Abteilung unter sich: der eine die Landwirtschaft, der andere die
Manufaktur, der dritte die Handelsgeschäfte, der vierte die
Jugenderziehung, und so weiter. Die täglichen Arbeiten wurden vom
Komitee bestimmt. Jeder mußte mitarbeiten, nach seinen Kräften. Der
Lohn, der den Mitgliedern von der Genossenschaft ausgezahlt wurde, war
der in der Gegend übliche. Von ihrem Lohn mußten sie geringe Abgaben an
den Krankenfonds und dergleichen leisten. Sie waren scheinbar
Lohnarbeiter eines Pächters, aber der Pächter waren sie selbst. Mr.
Vandaleur behielt sich nur die Oberaufsicht bei diesem Versuche vor.
Und der Versuch gelang wunderbar gut. Mr. Vandaleur bezog aus Rahaline
mehr Rente und Zinsen, als je vorher. Und die Arbeiter, die im tiefsten
Elend gelebt hatten, begannen plötzlich, ohne jeden Uebergang, wie von
einem Zauberstabe berührt, zu gedeihen. Sie arbeiteten mit Lust und
Erfolg. Sie wußten, daß sie es für sich selbst thaten, und das gab
ihnen Wunderkräfte. Dieselben Männer von Rahaline, die ihren Vogt
ermordet hatten, verrichteten die größten Arbeiten ohne Aufseher. Denn
sie beaufsichtigten sich gegenseitig. Ueber die Arbeitsdauer und
Leistung eines jeden Arbeiters wurde Buch geführt, und am Ende der
Woche erhielt jeder so viel, als er wirklich verdient hatte. Keine
Gleichheit im Verdienst! Dem Tüchtigen mehr, dem Faulen weniger!“

„Bravo!“ schrie hier jemand aus der Menge, und man lachte ein bißchen.

David aber fuhr fort:

„Es wurde bald festgestellt, daß ein Arbeiter von Rahaline im
Durchschnitte doppelt so viel leistete, wie ein Arbeiter der Umgegend.
Und es war doch derselbe Boden, es waren dieselben Menschen. Aber sie
hatten das erlösende Prinzip gefunden: die landwirtschaftliche
Produktivgenossenschaft! Die Lohnzahlung erfolgte nicht in Geld,
sondern in Arbeitsnoten, die nur im Kramladen von Rahaline Kurs hatten.
Aber alles, was sie brauchten, bekamen sie in ihrem Kramladen, der auch
der Genossenschaft gehörte. Der Laden führte nur Waren bester Qualität,
zu Engrospreisen. Die Geschichtsschreiber melden uns, daß die Leute von
Rahaline in ihrem Laden alles um fünfzig Prozent billiger bekamen.
Jedes Mitglied war steter Beschäftigung und desselben Betrages aus dem
Unterhaltungsfonds an jedem Tage des Jahres sicher. Die Kranken und
Invaliden fanden Unterhalt und Pflege. Beim Tode des Vaters war für die
Kinder gesorgt ... aber ich will euch da nicht lange erzählen, was ihr
in Büchern besser finden könnt. Ich werde euch lieber die Bücher von
Webb-Potter, Oppenheimer, Seifert, Huber und wie sie alle heißen, für
eure Bibliothek schicken.“

Noch einmal ließ sich der bescheidene junge Arbeiter vernehmen:

„Herr Littwak, wie ist es dann in Rahaline weitergegangen?“

David entgegnete:

„Im Laufe von nur zwei Jahren blühte Rahaline außerordentlich auf.
Wohnungen und Möbel, Essen, Kleidung, Lebenshaltung und Kindererziehung
zeigten den Wohlstand gesunder Bauern. Die jährlichen Reinerträge über
die Pachtsumme wuchsen, und die Genossen von Rahaline wären wohl nach
kurzen Jahren die Eigentümer des Pachtgutes geworden — wenn Mr.
Vandaleur sein eigenes Werk nicht im Stiche gelassen hätte. Vandaleur
verlor sein Vermögen am Spieltisch in Dublin, und er entfloh nach
Amerika. Seine Gläubiger verkauften Rahaline, die Pachtgenossen wurden
vertrieben, und die glückliche Insel versank wieder in einem Meer von
Elend ... Aber die Lehre von Rahaline ging nicht verloren. In der
Wissenschaft wurde sie aufbewahrt, und als wir unser Volk auf den
geliebten Boden von Palästina zurückführten, da haben wir Tausende von
Rahalines geschaffen. Ein Vandaleur wäre dazu nicht stark und
verläßlich genug gewesen. Es mußte eine große mächtige Gesamtperson
sein. Und diese Gesamtperson ist unsere Neue Gesellschaft. Die ist euer
Gutsherr, die hat euch das Land und die Arbeitsmittel verschafft, denen
ihr euren jetzigen Wohlstand verdankt. Aber auch die Neue Gesellschaft
hat das alles nicht aus sich selbst, hat es nicht nur aus den Köpfen
ihrer Führer oder aus den Taschen ihrer Gründer. Die Neue Gesellschaft
beruht vielmehr auf den Ideen, die ein gemeinsames Produkt aller
Kulturvölker sind. Versteht ihr jetzt, meine lieben Freunde, was ich
meine? Es wäre unsittlich, wenn wir einem Menschen, woher er auch
komme, welchen Stammes oder Glaubens er auch sei, die Teilnahme an
unseren Errungenschaften verwehren wollten. Denn wir stehen auf den
Schultern anderer Kulturvölker. Schließt einer sich uns an, erkennt er
unsere Gesellschaftsordnung an, nimmt er die Pflichten unserer
Gemeinschaft auf sich, dann soll er auch alle unsere Rechte voll
genießen. Was wir besitzen, verdanken wir den Vorarbeiten anderer.
Darum gehört es sich, daß wir unsere Schuld abzahlen. Und dafür giebt
es nur einen Weg: die höchste Duldung. Unser Wahlspruch muß jetzt und
immer lauten: Mensch, du bist mein Bruder!“

Der alte Rabbi Samuel erhob sich und mit seinen zitternden Händen
klatschte er dem Redner Beifall. Die Menge folgte diesem Beispiel; sie
jubelten David zu, der die Tribüne verlassen wollte. Aber Mendel schrie
mit gewaltiger Stimme:

„Dann werd’n uns die Fremden unser Brot wegessen.“

David kehrte auf den Stufen um, winkte der Menge zu, daß er noch etwas
zu sagen habe:

„Nein, Mendel, das ist ein Irrtum! Die später kommen, machen euch nicht
ärmer, sondern reicher. Der Reichtum eines Landes sind seine
arbeitenden Menschen. Das wißt ihr ja von euch selbst. Je mehr Arbeiter
kommen, umso mehr Brot giebt es, wenn die Gesellschaftsordnung so
gerecht ist, wie die unsrige. Natürlich sollt ihr den später Kommenden
nicht eure guten Felder, nicht eure erworbenen Rechte ausliefern. Aber
so wie es für Neudorf gut ist, wenn immer mehr Ansiedlungen an seinem
Rand entstehen, so ist es auch für die Neue Gesellschaft. Jeder muß die
Güter schaffen, die er genießen will. Und je mehr Güter geschaffen
werden, desto mehr besitzt unsere Gemeinschaft. Die Aelteren von euch,
die die Geschichte von Neudorf thätig miterlebt haben, wissen das aus
eigener Erfahrung. Zuerst waren hier einige zwanzig Familien. Ich
frage: war es für die schlecht, daß allmählich noch dreißig, noch
fünfzig, noch hundert Familien hinzugekommen sind? Ich frage: sind die
ersten Ansiedler ärmer oder reicher geworden?“

Stürmisch erscholl die Antwort der Leute, die ihn erst jetzt völlig
verstanden:

„Littwak hat recht! Es geht jetzt allen besser. Ja, besser!“

David schloß: „Da habt ihr also die Antwort. Was bisher gegolten hat,
gilt noch weiter. Je mehr Menschen kommen, um zu arbeiten, desto besser
wird es allen gehen. Darum sollen wir nicht nur aus Nächstenliebe
rufen: Mensch, du bist mein Bruder! Wir müssen auch aus Eigennutz
sagen: Bruder, du bist willkommen! ... Die Aelteren von euch wissen,
wie es hier vor zwanzig Jahren ausgesehen hat, wie öd und wüst. Die
ersten Ansiedler haben das beste Land besetzt. Die zweiten haben
minderes genommen und es auch gut gemacht. Immer schlechteres Land
haben die Späteren bekommen und haben es urbar gemacht, steiniger Boden
wurde fruchtbar, Sümpfe wurden ausgetrocknet. Denn an den Grenzen einer
Niederlassung übt auch schlechter Boden eine Anziehungskraft aus. Und
heute ist Neudorf ein Garten, ein weiter, herrlicher Garten, in dem es
gut zu leben ist. Aber alle eure Pflanzungen sind nichts wert, und sie
werden verdorren, wenn bei euch Freisinn, Großmut und Menschenliebe
nicht gedeihen. Die sollt ihr hegen und pflegen, die sollen bei euch
blühen. Und weil ich das von euch erwarte, darum rufe ich hoch! hoch!
und noch einmal hoch Neudorf!“

Jetzt war die Begeisterung da. „Hoch Littwak! Hoch Neudorf!“ schrieen
die Männer und Frauen. Sie hoben den Redner, der sich lachend vergebens
dagegen sträubte, auf ihre Schultern und trugen ihn im Kreise herum.

An diesem Tage verlor Dr. Geyer die Stimmen der Wähler von Neudorf.








4. KAPITEL.


Die Reisegesellschaft besichtigte dann noch die musterhaften
landwirtschaftlichen Einrichtungen von Neudorf. Mr. Kingscourt
interessierte sich besonders für die chemische Versuchsstation und das
moderne Maschinenhaus der Gemeinde. Friedrich Löwenberg verweilte
länger in der Volksschule und in der mit populärwissenschaftlichen
Werken reich versehenen öffentlichen Bibliothek. Mirjam, die als
Lehrerin Bescheid wußte, gab ihm über alles Auskunft. Er war zuerst
froh erstaunt, aber je mehr er von den schönen und nützlichen
Vorkehrungen für die geistige und körperliche Hebung des
heranwachsenden Geschlechtes erfuhr, umso trauriger wurde seine Miene,
und endlich seufzte er tief.

„Was haben Sie, Herr Doktor?“ fragte Mirjam freundlich.

„Es fällt mir schwer aufs Herz, Fräulein Mirjam! Ich sehe jetzt, daß
ich eine Pflicht versäumt habe. Ich hätte mitthun können, mitthun
müssen an diesem wundervollen Werke der Volksaufrichtung. Ich war einer
von den Gebildeten und hätte verstehen müssen, was in der Zeit sich
vorbereitete. Aber nein, ich war nur mit meinen eigenen jämmerlichen
Schmerzen beschäftigt. Ich lief davon, ich verbrachte zwanzig Jahre in
der dümmsten Nutzlosigkeit. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie mir zu
Mute ist. Ich — ich schäme mich.“

Sie wollte begütigend abwehren.

„Nein, Fräulein Mirjam, versuchen Sie nicht, mich zu trösten. Sie, mit
Ihrem nützlichen Leben, Sie können mir nur aus Erbarmen widersprechen,
nicht aus Ueberzeugung. Ich schäme mich meiner Unthätigkeit, meines
Egoismus. Ein gebildeter Jude meiner Zeit hatte die Pflicht, sich
seines armen Volkes anzunehmen. Diese Pflicht habe ich schmählich
desertiert. Beklagen Sie mich, Fräulein Mirjam, aber verachten Sie mich
wenigstens nicht!“

„Verachten! Wie könnte ich das?“ erwiderte sie mit ihrer weichen
Stimme. „Sie, den Wohlthäter unseres Hauses verachten?“

„Ach, bitte, sprechen Sie nicht mehr davon!“ sagte er. „Sie demütigen
mich nur, wenn Sie mich loben. Ich weiß ja zu gut, daß ich kein Lob
verdiene. Es giebt eine Pflicht der Intellektuellen, wie es in alten
Zeiten ein Noblesse oblige! gab. Es ist die Pflicht, an der Erhöhung
des Menschengeschlechtes mitzuwirken, jeder nach seiner Kraft und
Einsicht. Mit all Ihrer Güte, Fräulein Mirjam, werden Sie mir nicht
begreiflich machen können, daß ich mir keinen Vorwurf zu machen habe.“

„Ist es denn schon zu spät?“ gab sie zur Antwort. „Sie können ja noch
in die Reihen der Neuen Gesellschaft eintreten. Man wird Ihnen einen
Platz anweisen, wo Sie sich bethätigen können. Bei uns ist jede Kraft
willkommen. Sie hörten es von meinem Bruder. Und wie gerne wird man Sie
aufnehmen!“

„Glauben Sie das wirklich, Fräulein Mirjam?“ sagte er beglückt. „Es
wäre noch nicht zu spät? Ich könnte noch ein nützlicher Mensch werden?“

„Gewiß!“ lächelte sie.

In ihm wallten Hoffnungen auf. Er fühlte sich plötzlich verjüngt, er
sah ein neues Leben vor sich auftauchen. Aber dann fiel es ihm ein, und
er seufzte stärker:

„Ach nein, Fräulein Mirjam! Es wäre zu schön. Ich kann nicht thun, wie
ich wollte. Ich darf nicht hierbleiben. Ich bin nicht frei.“

Da wurde sie um einen Schatten blässer, und ihre Stimme zitterte
leicht:

„Sie sind nicht frei?“

„Nein, ich bin für Lebenszeit an jemanden gebunden.“

Sie sagte tonlos: „Darf man wissen, wer es ist?“

„Mr. Kingscourt!“ Und er setzte ihr sein Verhältnis zu dem Alten
auseinander. Er habe sich Kingscourt durch Ehrenwort verpflichtet, ihn
nie zu verlassen. Er könne also nicht länger im Lande verweilen, als es
seinem Freunde gefiele, und das werde wohl nicht übermäßig dauern.

Mirjams Gesicht hatte sich bei dieser Auskunft aufgehellt. Sie fragte:

„Und wenn Mr. Kingscourt Ihnen Ihr Wort zurückgiebt?“

„Er wird es nicht, wenn ich ihn nicht darum bitte. Aber schon eine
solche Bitte wäre Treulosigkeit und Undankbarkeit gegen diesen
prächtigen Menschen. Ich habe keinen besseren Freund, als ihn, auf der
Welt, und er hat nur mich. Was sollte aus ihm werden, wenn ich ihn
verließe?“

„Er müßte eben auch bei uns bleiben!“ meinte Mirjam.

Das hielt Friedrich, wie er den Alten kannte, für ganz und gar
ausgeschlossen. Im günstigsten Falle würde Kingscourt noch ein paar
Tage oder Wochen im Lande herumreisen, die Sehenswürdigkeiten
betrachten, aber dann ginge es unaufhaltsam weiter, nach Europa.

Während sie so sprachen, hatten die übrigen ihren Rundgang beendet. Im
Hause des Vorstehers Friedmann wurde den Gästen das einfache Mittagmahl
vorgesetzt. Man saß noch ein Stündchen bei Tische und redete allerlei
über Neudorfs Vergangenheit und Zukunft. Die meisten Dörfler waren nach
der vormittägigen Versammlung zur Arbeit und auf die verstreuten Höfe
zurückgekehrt. Nur eine kleine Anzahl von Leuten, die im Kern der
Ortschaft wohnten, war bei der Abfahrt des Motorwagens zugegen. Diese
schwenkten die Hüte und ließen Tücher flattern, als Davids Gesellschaft
zum Dorfe hinausfuhr.

Rechts und links von der Landstraße wohlgepflegte Felder, Wein- und
Tabakspflanzungen, Baumschulen, und nirgends mehr ein Fuß breit wüsten
Landes. In einiger Entfernung vom großen Wege sahen sie eine
Mähmaschine über das Kleefeld streichen. Ab und zu schwankte ein mit
Heu hochbeladener Wagen an ihnen vorbei, Heu von Luzerne für
Viehfutter. Mirjam erklärte dem in diesen Dingen unbewanderten
Friedrich die natürlichen und wirtschaftlichen Vorgänge in der
Landschaft, die sie durcheilten. Da und dort lugte schon die
Sommersaat, Mais und Sesam, Linse und Wicke, aus der Erde. Auf den
Brachfeldern durchfurchten elektrische Pflüge den noch vom Winterregen
etwas feuchten Boden, um ihn für die nächste Wintersaat vorzubereiten.
Der Tabak war gerade aus den Saatbeeten übergepflanzt, und die Leute
waren damit beschäftigt, von den zwei Pflänzchen, die der vorsichtige
Bauer an jeder Stelle zusammensetzt, das schwächere zu entfernen. Die
Hopfenstöcke waren schon in vollem Austreiben, und die Landleute holten
sich Eukalyptusäste herbei, um sie als Stützen der Hopfenranken zu
benützen. Andere gebrauchten zu demselben Zwecke Drahtgeflechte. Die
aber Aeste vom Eukalyptus nahmen, ließen an diesen die Zweige
unbeschnitten, damit sich die Hopfenranken auch gut verzweigen könnten
und ihre Blüten mehr Schutz vor den Sonnenstrahlen genössen.

Architekt Steineck mischte sich hier in das Gespräch und sang ein
begeistertes Loblied auf den Eukalyptus, diesen herrlichen
australischen Baum, dessen hundert Arten in unzähligen Schiffsladungen
lebend herbeigeschafft worden waren, als die große planmäßige
Kulturarbeit in Palästina begann. Ohne den Eukalyptus, der so schnell
wächst, der die Sümpfe wie mit Zauberkraft austrocknet und auch sonst
noch so viele Eigenschaften der Nutzbarkeit und Schönheit hat — ohne
den Eukalyptusbaum hätte man vielleicht überhaupt nichts anfangen,
gewiß aber keine solchen raschen Kulturerfolge erzielen können.

„Ja,“ sagte Frau Sarah scherzend, „Herr Steineck hat dafür auch unseren
guten Eukalyptus aus Dankbarkeit in Stein verewigt. Seine
Lieblingsornamente an den Häusern sind vom Eukalyptus genommen.“

So fuhren sie weiter, und es war Heiterkeit von der Landschaft in ihrem
Gemüte. Denn ein lieber Frühling sproßte um sie her. Alle Raine und
Wegränder bedeckt mit herrlichstem Blütenflor, mit kleinen blauen Iris
und hochragenden rosenfarbenen Schwertlilien mit sonnenäugigen Tulpen
und prächtigen Orchideen. An manchen Stellen waren in die Felder hinein
Pflanzungen von Mandel-, Aprikosen- und Maulbeerbäumen verstreut.

Durch eine romantische Schlucht lief jetzt der Fahrweg. Das waren die
Felsen mit den abenteuerlichen Höhlenlöchern, in denen sich einst, in
verschollenen bösen Tagen die Verteidiger des jüdischen Landes vor
ihren Feinden bis zum letzten Kampfe verborgen hatten.

David erinnerte mit einigen bewegten Worten an diese Zeit. Und noch
eine kurze Strecke mußten sie fahren, da machte die Straße eine
Biegung, und vor ihnen lag plötzlich im Nachmittagssonnenglanze die
holde Ebene von Genezareth, vor ihnen lag der See. Ein Ausruf des
Entzückens entrang sich dem Munde Friedrichs bei diesem unerwarteten
und herrlichen Anblick.

Auf der weiten Fläche des Sees von Genezareth zogen viele große und
kleine Schiffe ihre leuchtenden Furchen. Segel schimmerten und
Messingteile der elektrischen Barken blitzten. Am jenseitigen Ufer und
überall im Grün der beforsteten Höhen sah man weiße Villen glänzen. Und
hier war Magdala, ein funkelnd neues, zierliches Städtchen mit Gärten,
mit schmucken Häusern. Aber die Reisenden fuhren ohne Aufenthalt weiter
gegen Tiberias, südwärts am Strande hin. Sie hatten ein Schauspiel von
heller Lebensfreude vor sich, etwas, das an die glorreichen Saisontage
an der Riviera zwischen Cannes und Nizza erinnerte. Allerlei lustiges
Fuhrwerk mit eleganten Leuten trieb vorüber. Zumeist waren es
Motorwagen von hübscher Gestalt für zwei, drei und mehr Insassen. Doch
sah man auch altertümliche mit Pferden oder Mauleseln bespannte Karren,
und zwischendurch Radfahrer, Reiter, und auf dem glatten Fußpfade längs
des Wassers wohlgelaunte Spaziergänger. Es war das internationale
Publikum jener Badeorte, die den modischen Zulauf haben. Kingscourt und
Friedrich erfuhren jetzt, daß Tiberias wegen seiner heilkräftigen
warmen Quellen und wundervollen Lage von den wohlhabenden
Winterflüchtlingen aus Europa und Amerika aufgesucht werde, die gewohnt
waren, den ewigen Frühling in Sizilien oder Egypten aufzusuchen. Sobald
die ersten vornehmen Hotels in Tiberias errichtet waren, begann der
Fremdenstrom auch hierher zu fließen. Geschickte Schweizer Gastwirte
hatten die klimatischen Vorzüge und landschaftlichen Schönheiten der
Gegend von Tiberias zuerst erkannt, ausgenützt und dabei glänzende
Geschäfte gemacht.

Der Motorwagen fuhr jetzt an einigen dieser Hotels vorbei. Auf den
Balkonen saßen Damen und Herren, und betrachteten das bunte Schauspiel
der Fahrstraße, das heitere Treiben auf dem See. Hinter den Gasthöfen
waren Tenniswiesen, auf denen Mädchen und Jünglinge in weißer Tracht
Ball spielten. Auf einigen großen Terrassen gab es Musik, ungarische,
rumänische und italienische Banden im Nationalkostüm. Dies alles nahmen
Davids Gäste nur im Vorübereilen wahr, denn ihr Ziel war ferner. Sie
durchfuhren die Stadt Tiberias der Länge nach vom Norden nach Süden,
blickten flüchtig in die netten Gäßchen, die sich von der
Hauptverkehrsader abzweigten, sahen Plätze mit feinen stillen Palästen
und einen orientalisch lebhaften kleinen Hafen. Sie sahen stattliche
Moscheen, Kirchen mit dem lateinischen und griechischen Kreuz, und
Synagogen in steinerner Pracht. Dann waren sie am Südende der Stadt, wo
es wieder Villen und Hotels gab, die sich in schmucker Reihe, nur von
Gärten unterbrochen, beiläufig eine halbe Gehstunde weit bis zu einem
größeren Haufen von Gebäuden fortsetzten: dort befanden sich die heißen
Quellen, die ausgedehnten Badeanstalten.

Ungefähr in der Mitte zwischen der Stadt und den Bädern, vor dem Gitter
einer in Laubwerk halb verborgenen Villa machte der Motorwagen Halt.

„Wir sind angelangt!“ rief David, indem er seinen Sitz verließ.

Das Gitter öffnete sich. Ein alter Herr trat auf die Steinschwelle,
lüpfte mit freudigem Gesichtsausdruck sein Käppchen und fragte:

„David, mein Kind, wo ist er?“

Friedrich wußte nicht, wie ihm geschah. Auch hier, im Hause des alten
Littwak, wurde er schon sehnsüchtig erwartet. Es ging dabei freilich
nicht mit Wundern zu, denn die fröhlich unerwartete Botschaft von
seiner Ankunft war den Eltern Davids und Mirjams durch das Telephon von
Friedrichsheim aus mitgeteilt worden.

Und dieser stattlich und frei auftretende alte Mann war jener
kümmerliche Hausierer, dem Friedrich einst in dem Wiener Kaffeehause
ein Almosen hatte reichen wollen. Welch eine merkwürdige, glückliche
Veränderung. Und doch war alles auf die natürlichste Weise von der Welt
gekommen. Die Littwaks hatten eben zu den Ersten gehört, welche beim
Beginn der großen Kulturarbeit hierhergeeilt waren. Sie ernteten die
Früchte des wirtschaftlichen Aufschunges, den sie redlich mitbereiten
geholfen hatten.

Aber es gab auch einen Schmerz im Hause, und zu diesem Schmerze wurde
Friedrich vor allen Dingen geführt. Das war die kranke Mutter Davids
und Mirjams. Oben im ersten Stocke, auf der Veranda, von der man eine
so schöne Fernsicht über den See genoß, da lag sie mehr als sie saß in
ihrem Lehnstuhle. Sie streckte Friedrich ihre abgezehrte gelbliche Hand
entgegen, als er zu ihr hintrat, und ihre schmerzensreichen Augen
blickten aus dem wächsernen Gesichte mit unendlicher Dankbarkeit zu ihm
auf.

„Ja,“ sagte sie nach den einleitenden Begrüßungs- und Dankesworten mit
leidender Stimme, „ja, lieber Herr Doktor, Tiberias is schön, und die
Bäder sein gut — aber herkommen muß man, solang es noch Zeit is. Bei
mir war es schon zu spät. Zu spät!“

Mirjam stand neben ihr und streichelte ihr das Gesicht: „Mutter du
siehst besser aus, seit du hier bist. Die Kur hat dir wohlgethan. Du
wirst es erst recht spüren, wenn du wieder zu Hause bist.“

Frau Littwak lächelte wehmütig:

„Mein gut’ Kind, ich bin schon so auch zufrieden. Ich bin ja beinah
schon im Garten Eden. Schau’n Sie da hinaus, Herr Doktor, was ich da
vor mir hab’. Nicht wahr, der Garten Eden?“

Friedrich trat, wie sie ihn anwies, an die Brüstung der Veranda und
blickte in die Landschaft hinaus. Da schimmerte der See von Genezareth.
Vom Frühling weich die Umrisse der Ufer und fernen Höhen. Jenseits die
steilen Abhänge des Dscholan, die sich in den Wassern spiegelten. Am
Nordrande des Sees die Mündung des Jordanflusses und dahinter
großartig, in schneeiger Majestät der Hermon, wie ein greiser Riese die
kleineren Berge, die verjüngten Lande überschauend. Und hier zur
Linken, immer näher die milden Buchten, die lieblichen Gestade, die
Ebene von Genezareth, Magdala, Tiberias, das neue steinerne Juwel,
überragt von den dunklen Mauern der Burgruine auf dem Berge. Und
überall ein Grünen und Blühen, eine junge, duftende Welt.

„Es ist der Garten Eden!“ sagte Friedrich ganz leise vor sich hin, und
als er Mirjam neben sich fühlte, ergriff er unwillkürlich ihre Hand und
preßte sie sanft, als ob er ihr dafür danken wollte, daß das Leben noch
so schön sei.

Die Kranke sah es von ihrem Lehnstuhl aus. Eine Freude stieg in ihr
auf, ihr Herz klopfte stärker.

„Kinder!“ murmelte sie unhörbar, und versank in Träume.








5. KAPITEL.


In der kleinen Villa, welche die alten Littwaks für die Dauer des
Kurgebrauches gemietet hatten, konnten die Gäste nicht beherbergt
werden. Nur Mirjam wohnte bei ihren Eltern. David hatte für sich und
seine Freunde in einem Hotel neben den Badeanstalten Zimmer bestellt.
Das Gepäck aller war schon dahin gesendet worden, und als sie nach der
Begrüßung von Littwaks Eltern nach ihrem Quartier fuhren, um sich vom
Wegstaube zu säubern, da war für sie schon Ordnung und Bequemlichkeit
vorbereitet. In der Halle des Hotels wurden sie von einer älteren Dame
und zwei Herren freundlich erwartet. David machte diejenigen, die
einander noch nicht gesehen hatten, bekannt. Die Dame war eine Jüdin
aus Amerika, Mrs. Gothland. Sie hatte etwas so Mildes in ihrer Art, daß
jeder von ihr sehr bald bezaubert war. Unter den grauen Haaren hatte
ihr gütestrahlendes Gesicht noch immer einen Liebreiz. Von den beiden
Herren war der eine, der den klappenlosen schwarzen Schlußrock der
anglikanischen Geistlichen trug, der Reverend William H. Hopkins,
Seelsorger der englischen Kirchengemeinde in Jerusalem. Er hatte einen
langen weißen Prophetenbart, schöne schwärmerische blaue Augen, und er
freute sich zum größten Erstaunen Kingscourts, als ihn dieser zuerst
irrtümlich für einen Juden hielt. Der andere Herr in Mrs. Gothlands
Gesellschaft war des Architekten Bruder, der Bakteriologe Professor
Steineck, ein lustiger, hastiger und zerstreuter Gelehrter, der so laut
sprach, als ob er immerfort mit einem Auditorium von Schwerhörigen zu
thun hätte. Mit seinem Bruder geriet er in der Regel nach fünf Minuten
Beisammenseins in Streit, obwohl sie einander vergötterten. So geschah
es auch jetzt. Der Architekt hatte den Fremden vorgeschlagen, das
Institut Steineck, die berühmte Werkstätte seines Bruders, zu
besichtigen.

Der Professor sträubte sich dagegen und schrie stirnrunzelnd:

„Ich bin bereit, Sie verstehen? Aber es giebt bei mir nichts zu sehen.
Nicht der Mühe wert. Ein Haus mit mehreren Zimmern und
Meerschweinchenställen. In jedem Zimmer steht ein Mensch, der
experimentiert. Das ist alles. Sie verstehen? Mein Bruder bringt mich
immer in solche Verlegenheiten.“

Mrs. Gothland lächelte:

„Die Herren werden Ihnen nicht glauben. Ihr Institut ist als eine
Sehenswürdigkeit bekannt.“

Hierauf lachte Professor Steineck, daß es in der Halle dröhnte:

„Falsch! Mikroben wollen Sie sehen? Es ist das charakteristische der
Mikroben, daß man sie nicht sieht, das heißt, nicht mit freiem Auge.
Das sind mir schöne Sehenswürdigkeiten. Ueberhaupt kennt man meinen
Standpunkt. Ich glaube nicht an die Mikroben. Züchte sie nur einerseits
und bekämpfe sie andererseits. Sie verstehen?“

„Nein!“ brummte Kingscourt ergötzt. „Kein Wort versteh’ ich. Es scheint
so eine Art chemischer Küche zu sein. Was kochen Sie da eigentlich,
Herr Professor?“

Dieser schmunzelte sehr gemütlich:

„Pest, Cholera, Dyphteritis, Tuberkulose, Kindbettfieber, Hundswut,
Malaria ...“

„Pfui Deibel!“

Mrs. Gothland sagte:

„Nämlich die Heilmittel gegen alle diese Feinde der Menschheit. Wir
wollen ihn aber nicht lange fragen und auch ohne ihn sein Institut
besuchen. Fremden von Distinktion ist der Eintritt nicht verboten. Es
wird uns schon jemand herumführen.“

„Halt!“ rief der Professor, „so will ich denn in Gottesnamen mitgehen.
Sonst stoßen Sie gerade auf meinen dümmsten Assistenten, der Ihnen den
Streptokokken-Bacillus für den Cholerabacillus ausgiebt. Sie
verstehen?“

„Kein Wort!“ gestand Kingscourt.

Die Gesellschaft löste sich für ein Weilchen auf. Der Architekt hatte
die Pläne eines neuen englischen Spitals, das in der Nähe von Jerusalem
erbaut werden sollte, für Mr. Hopkins mitgebracht, und die beiden
hatten nun miteinander einiges zu besprechen. Frau Sarah wollte vor
allem Fritzchen versorgen. David bat um Urlaub, weil er noch in das
Franziskanerkloster müsse, um den Pater Ignaz, einen der zur Feier des
heutigen Abends geladenen Gäste, abzuholen. Es wurde verabredet, daß
man zum Nachtessen in der Villa des alten Littwak wieder zusammenkomme.
Mrs. Gothland übernahm es, die Herren pünktlich hinzuführen, und dann
fuhr sie in Begleitung Kingscourts, Friedrichs, Reschid Beys und des
Professors nach dem Institut Steineck, das in einer Viertelstunde
erreicht war. Es lag südlich am Seeufer, hinter einem Bergvorsprunge,
und war ein schmuckloses Gebäude von mäßiger Ausdehnung.

Der Professor bemerkte erklärend:

„Wir brauchen für unsere Zwecke kein großes Haus. Mikroben nehmen nicht
viel Platz ein. Meine Stallungen befinden sich in den Zubauten, die Sie
dort sehen. Ich brauche sehr viele Pferde und anderes Getier. Sie
verstehen?“

„Aha, Sie reiten viel aus?“ sagte Kingscourt. „Begreif’ ich — in dieser
prachtvollen Gegend.“

„Was wollen Sie von der Gegend?“ rief Professor Steineck. „Ich brauche
die Pferde und Esel und Hunde, kurz, meine ganze Menagerie, zur
Herstellung von Serum. Ich erzeuge große Mengen dieser Heilmittel.
Meine Ställe reichen bis dort hinunter, wo Sie die Gebäude der
Luftfabrik sehen.“

„Wa—as?“ schrie Kingscourt, „verehrtester Pferdevergifter, Sie werden
mir doch nicht erzählen, daß hier Luft fabriziert wird. Es giebt doch
Luft jenug, sogar janz famose zum Einatmen.“

„Natürlich meine ich flüssige Luft, Mr. Kingscourt! Sie verstehen?“

„Ach so! Das verstehe ich freilich. Das hab’ ich schon vor meinem
Abgang aus der jebildeten Welt in Amerika kennen jelernt. Also diese
Industrie habt Ihr auch herbekommen?“

„Diese und jede andere — alle! In der Kälteerzeugung besitzen wir sogar
ein gewisses Prestige. Weil wir ein warmes Land haben — wenigstens von
hier den Jordan hinunter ist es das ganze Jahr hindurch recht behaglich
eingeheizt. Also darum haben wir uns die Kälteindustrien besonders
angelegen sein lassen. Sie verstehen? So wie man die besten Oefen in
den kalten Ländern hat, während man in Italien im Winter bitterlich
friert. Ganz so haben wir uns für die Hitze mit genügendem Eis zu
versorgen gewußt. Wenn Sie zum Beispiel um die heiße Jahreszeit auch
nur in eines unserer bescheidenen Häuser kommen, werden Sie den
kühlenden Eisblock in der Mitte des Zimmers sehen. Wer um eine
Kleinigkeit mehr zahlen will, kauft sich einen Blumenstrauß im Eise und
stellt ihn auf den Mittagstisch.“

„Kenn’ ich!“ sagte Kingscourt, „diesen Witz mit den frischen Blumen im
Eisblock hab’ ich schon auf der Pariser Weltausstellung im Jahre 1900
jesehen.“

„Ich wollte Ihnen auch nichts neues erzählen. Wir haben uns eben alles
Vorhandene zu Nutzen gemacht. Die Kälteartikel sind bei uns ein
Volksbedürfnis und werden daher durch die Konkurrenz spottbillig in
Massen erzeugt. Der Minderbemittelte kann natürlich nicht wie die
Wohlhabenden ins Libanongebirge ziehen, wenn der Sommer kommt. Den
ärmeren Europäern geht es ja geradeso. Aber die Wissenschaft hat uns
gelehrt, wie wir uns den Aufenthalt auf der Erdoberfläche überall
angenehmer und gesünder machen können. Sie verstehen? Wir haben durch
unsere technisch vorgebildete Jugend und durch die
Unternehmungslustigen alle bekannten Industrien hierherverpflanzt
erhalten. Der kosmopolitische Zug der Industrie war eine Erscheinung,
die Sie schon zu Ihrer Zeit gesehen haben. Warum hätten wir dies alles
nicht auch bekommen sollen, da es einträglich war? In unserer Erde
staken Schätze, wenn man sie nur zu heben verstand. Die chemischen
Industrien erschienen hier am frühesten, sie sind ja sozusagen am
leichtesten transportabel. Mr. Kingscourt, haben Sie vielleicht im
vorigen Jahrhundert zufällig an einer Universität Chemie studiert?“

„Nee, zufällig nich!“

„Da hätten Sie es hören können, wie man schon damals in gelehrten
Kreisen über den Wert von Palästina dachte. Reschid Bey, der sich in
Deutschland das Doktorat der Chemie geholt hat, mag es Ihnen sagen.“

Reschid sagte bescheiden:

„Sie bringen mich in Verlegenheit, Professor, wenn ich in Ihrer
Gegenwart mein bißchen Wissen auskramen soll. Uebrigens wußte das vor
zwanzig Jahren schon jeder junge Student der Chemie, daß der Boden von
Palästina ungehobene Reichtümer enthielt. Das Jordanthal und die Gegend
um das Tote Meer waren geradezu als Schulbeispiele bekannt. Ein
deutscher Chemiker schrieb zu Ende des vorigen Jahrhunderts über das
Tote Meer: ’Dieses am tiefsten unter dem Ozeanspiegel gelegene
Wasserthal bildet eine fast konzentrierte Salzlauge von sich nicht
wiederholender Zusammensetzung, und es hat Auswürflinge asphaltischer
Massen, die auf solche Weise nirgends wieder hervortreten ...’ Wenn Sie
die Einrichtung unserer Wasserkräfte besichtigen, meine Herren, werden
Sie erfahren, wie wir uns den Niveauunterschied zwischen diesem
tiefsten Wasserspiegel der Erde und dem Mittelmeer zu Nutze machten.
Aber das ist eine andere Sache, die Sie später kennen lernen werden.
Ich will Ihnen nur sagen, daß das Tote-Meer-Wasser eine nahezu
gesättigte salinische Lauge vorstellt, wie sie ähnlich nur in Staßfurt
vorkommt. Sie haben gewiß von den Staßfurter Kalisalzwerken gehört, die
den Weltmarkt beherrschten. Wir haben das heute in einem noch viel
größeren Umfange am Toten Meer ...“

„Fabelhaft!“ schrie Kingscourt.

„Gar nicht!“ lächelte Reschid Bey. „Das ist alles so selbstverständlich
wie nur möglich. Was man in Staßfurt konnte, kann man doch auch am
Toten Meer. Freilich ist dieses unser Wasser viel reicher, als irgend
ein anderes der Welt. Man muß ordentlich an die alten Sagen denken, in
denen ein Hort in Fluten versenkt wurde. Kinder glauben, daß ein
solcher Hort nur in güldenen Spangen, Ketten und Münzen bestehen kann.
Aber die Salze des Toten Meeres sind auch Gold. Der Bromgehalt dieses
Wassers wird von keiner anderen natürlichen Lauge erreicht. Sie wissen
doch, welch’ ein kostbarer Stoff Brom ist. Und was erzeugen wir sonst
noch alles in dem fruchtbarsten Bezirke unseres Landes, der früher der
ödeste, der tote war! Im Jordanthal und am Toten Meere giebt es
bituminöse Kalke, aus denen der anerkannt beste Asphalt der Welt
hergestellt wird. Der deutsche Chemiker Elschner bemerkte aber auch
seinerzeit, daß die geologische Beschaffenheit der Gegend auf das
Vorhandensein von Petroleum hindeute. Dieses wurde thatsächlich
erbohrt. Schwefel und Phosphate besitzen wir ebenfalls in unerschöpften
Massen. Die Bedeutung der Phosphate für die Kunstdüngerfabrikation
kennen Sie so gut wie ich. Thatsächlich konkurrieren unsere Phosphate
erfolgreich mit den tunesischen und algerischen, und dabei ist ihre
Gewinnung weit müheloser und billiger als zum Beispiel die der
Phosphate im amerikanischen Lande Florida. Die künstlichen Dungmittel,
die wir so nahe und wohlfeil haben konnten, trugen begreiflicherweise
zum großartigen Aufblühen unserer Landwirtschaft bei ... Aber ich
fürchte, daß Mrs. Gothland sich bei diesen nüchternen Geschichten
langweilen wird.“

„Durchaus nicht!“ versicherte die Dame liebenswürdig.

Der Professor fügte hinzu:

„Im modernen Leben giebt es solche Zusammenhänge zwischen Industrie und
Landwirtschaft. Sie verstehen? Alles gehört zu allem. Es muß nur der
Unternehmungsgeist und das Wissen da sein, um die Verbindungen
herzustellen. Ich selbst, wie Sie mich da sehen, obwohl ich nur ein
Esel der Gelehrsamkeit bin, ich schaffe auch für die Industrie und
Landwirtschaft.“

„Wenn Sie mir das erklären können, verehrtester Mikrobenzüchter!“
staunte Kingscourt.

„Sollen Sie haben!“ entgegnete Steineck schmunzelnd. „Es war eine
bekannte Thatsache der Bakteriologie, daß der Geschmack verschiedener
Käse, das Aroma der Tabaksarten von solchen Mikroorganismen herrührt,
mit denen ich mich herumzuschlagen pflege. Da haben wir uns also in
diesem Institute bemüht, diese kleinen Ursachen delikater Wirkungen
herzustellen, um sie den Käsefabrikanten und Tabakpflanzern zu liefern.
Die Käsesorten unseres Landes wetteifern jetzt an Güte mit den besten
Schweizer und französischen Erzeugnissen. Und im warmen Jordanthale
werden Rauchkräuter erzielt, die nicht hinter denen von Havanah
zurückbleiben.“

Und er führte nun seine Gäste durch die Laboratorien der Anstalt, die
dem Pariser Institut Pasteur nachgebildet war. Seine zahlreichen
Assistenten ließen sich durch den Besuch nicht sonderlich stören und
arbeiteten ruhig mit ihren Prüfgläschen, Mikroskopen und an ihren
Herden weiter, nachdem sie auf die gestellten Fragen kurz und höflich
Antwort erteilt hatten. Einer schnauzte aber seinen Lehrer Steineck
gemütlich grob an:

„Lassen Sie mich in Ruhe, Herr Professor! Ich habe jetzt für solche
Fragereien keine Zeit. Der Kerl entschlüpft mir sonst wieder.“

Steineck zog seine Gäste sofort folgsam aus der Stube und sagte
draußen:

„Er hat ganz Recht. Der Kerl ist nämlich sein Bacillus. Sie verstehen?“

Er führte sie dann in seine eigene Werkstätte, die ebenso einfach
ausgestattet war, wie die seiner jungen Gehilfen.

„Hier arbeite ich.“

„Woran, wenn man fragen darf?“ erkundigte sich Friedrich.

Der Blick des Gelehrten wurde träumerisch:

„An der Erschließung Afrikas!“

Die Besucher glaubten, nicht recht gehört zu haben, oder war der
Forscher doch ein bißchen übergeschnappt?

Kingscourt wiederholte mit verdächtigem Augenblinzeln:

„Sie sagen: an der Erschließung Afrikas?“

„Jawohl, Mr. Kingscourt. Ich hoffe nämlich, das Mittel gegen die
Malaria herauszubringen. Hier in Palästina sind wir zwar mit der
Malaria ziemlich fertig geworden, Dank unseren Entsumpfungsarbeiten,
Kanalisationen, Dank den Eukalyptuspflanzungen. Aber die Verhältnisse
sind anders in Afrika. Dort sind alle diese Aufwendungen nicht möglich,
weil die Voraussetzung, die Masseneinwanderung fehlt. Der weiße Mensch,
der Kolonisator, geht dort zu Grunde. Afrika wird für die Kultur erst
dann eröffnet sein, wenn die Malaria unschädlich gemacht ist. Erst dann
werden kolossale Gebietsstrecken für die überproduzierten Bevölkerungen
der europäischen Staaten zugänglich. Erst dann wird den proletarischen
Massen ein gesunder Abfluß verschafft. Sie verstehen?“

Kingscourt lachte:

„Sie wollen also die weißen Menschen in den schwarzen Erdteil
verfrachten, Sie Zauberkünstler?“

Aber Steineck erwiderte ernst:

„Nicht nur die Weißen! Die Schwarzen auch. Es giebt noch eine ungelöste
Frage des Völkerunglücks, die nur ein Jude in ihrer ganzen
schmerzlichen Tiefe ermessen kann. Das ist die Negerfrage. Lachen Sie
nicht, Mr. Kingscourt! Denken Sie an die haarsträubenden Grausamkeiten
des Sklavenhandels. Menschen, wenn auch schwarze Menschen, wurden wie
Tiere geraubt, fortgeführt, verkauft. Ihre Nachkommen wuchsen in der
Fremde gehaßt und verachtet auf, weil sie eine andersfarbige Haut
hatten. Ich schäme mich nicht, es zu sagen, wenn man mich auch
lächerlich finden mag: nachdem ich die Rückkehr der Juden erlebt habe,
möchte ich auch noch die Rückkehr der Neger vorbereiten helfen.“

„Sie irren,“ sagte Kingscourt; „ich lache nicht. Im Gegenteil — ich
finde es sogar großartig, hol’ mich der Deibel! Sie zeigen mir
Horizonte, die ich mir nicht ’mal im Traume vorgestellt hätte.“

„Darum arbeite ich an der Erschließung Afrikas. Alle Menschen sollen
eine Heimat haben. Dann werden sie gegen einander gütiger sein. Dann
werden sich die Menschen besser lieben und verstehen. Sie verstehen?“

Und Mrs. Gothland sprach in sanftem Tone aus, was sich die drei anderen
dachten:

„Herr Professor Steineck — Gott segne Sie!“








6. KAPITEL.


Aus der feierlichen Stimmung, in die sie beim Besuche des Steineckschen
Institutes geraten waren, kamen die Fremden auf dem Rückweg in eine
ergötztere Laune. Denn als sie an der Badeanstalt vorüberfuhren, machte
Reschid Bey den Vorschlag, auszusteigen und ein halbes Stündchen im
Kurhausgarten bei der Musik zu verbringen. Sie verließen ihren
Motorwagen und betraten die schönen Anlagen, in denen jetzt viele Leute
saßen, umherwandelten und den Weisen der Kurkapelle lauschten. Es war
die gemischte Menge der Badeorte: Müßiggänger, geputzte Damen. Unter
den Palmen saßen sie auf Stühlen aus biegsamem Eisenblech, musterten
die Vorübergehenden, klatschten und flirteten, wie man es überall in
der Welt sehen kann.

Kingscourt stellte das mit grimmigem Behagen fest:

„Na also, da sind sie endlich, die Jüdinnen mit den Edelsteinen! Mir
war schon bange danach. Ich dachte mir, das Ganze ist vielleicht doch
eine Fopperei, und wir sind gar nicht im Judenland. Nun seh’ ich erst,
es ist wahr. Da sind die wandelnden Federhüte, die grellen
Seidenkleider, die Juwelen-Israelitinnen. Nichts für ungut, Mrs.
Gothland. Sie sind ja eine andere Nummer.“

Mrs. Gothland nahm es auch durchaus nicht übel, und Professor Steineck
lachte dröhnend.

„Geniert uns gar nicht, Mr. Kingscourt! Solche Bemerkungen konnten uns
in früherer Zeit verletzen, aber jetzt nicht mehr. Sie verstehen?
Früher hat man die Promenadejüngelchen, die Protzen und
Juwelen-Hebräerinnen als die Vertreter der Judenschaft angesehen. Jetzt
weiß man, daß es auch andere Juden giebt. Jetzt können Sie über dieses
Gelichter schimpfen, soviel Sie wollen, edler Fremdling! Wenn es
finster wird, schimpfe ich mit.“

Im Kurgarten erregte die lachende kleine Gesellschaft, wie sie durch
die Hauptallee schritt, Aufsehen. Den Professor kannten offenbar alle
Leute, und darum reckten sie sich auch die Hälse aus nach den
auffallenden Fremden in seiner Begleitung. Um den neugierigen Blicken
zu entkommen, bog Steineck mit den Gefährten in einen Seitenweg ein,
doch da gerieten sie erst recht mitten in den Kreis, dem sie hatten
entrinnen wollen. Da saßen in einer Rundung von Büschen mehrere Damen
und Herren in lebhaftem Geplauder. Einer sprang auf, eilte mit heftigen
Bewegungen der Freude auf Friedrich zu und rief ihm laut entgegen:

„Herr Doktor, Herr Doktor! Von wem meinen Sie, daß wir haben gesprochen
jetzt die ganze Zeit? Nu? Raten Sie! Von Ihnen! Ich bin so froh!“

Dieser frohe Herr war Schiffmann. Er zog Friedrich in den Kreis,
stellte ihn mit sprudelnden Worten vor, schob ihm einen Stuhl zurecht
und drückte ihn auf den Sitz nieder. Das alles geschah so verblüffend
rasch, daß Friedrich, auch wenn er nicht vor Ueberraschung
widerstandslos gewesen wäre, sich kaum hätte wehren können. Die
Ueberraschung aber war, daß er plötzlich seine Jugendliebe Ernestine
Löffler dicht vor sich sah. Sie begrüßte ihn mit Blick und Lächeln,
noch bevor sie sprach, und er fand keine Worte. Indessen war Schiffmann
zu Steineck, den er kannte, und den anderen zurückgeeilt. Er nötigte
sie auch, näherzutreten, ungefähr wie der Straßenverkäufer vor einem
Kleidergeschäft. Der Professor hatte sichtlich keine Lust, der
Einladung zu folgen; aber Kingscourt meinte, man könne Friedrich doch
nicht allein stecken lassen: mitgefangen, mitgehangen. Schiffmann
lachte gefällig über diese zweifelhafte Liebenswürdigkeit. Dann
schleppte er Stühle herbei, nannte die Namen der Anwesenden: Herr, Frau
und Fräulein Schlesinger, Herr und Frau Dr. Walter, Frau Weinberger,
Fräulein Weinberger, die Herren Grün und Blau, Herr Weinberger.

Friedrich sah und hörte dies alles wie durch einen Nebel. Alte Zeiten
standen wolkig auf. Er sah sich wieder an jenem Verlobungsabend im
Löfflerschen Hause. Da war jene unerträgliche Gesellschaft, der er
damals verzweifelnd entfloh. Alle gealtert, und doch noch dieselben.
Nur die beiden jungen Mädchen bedeuteten eine andere Generation. Diese
Zarte, die ihn mit fremden Augen ansah, völlig Ernestinens Ebenbild. Er
hörte von dem Gespräch ringsum nur schwaches, verworrenes Geräusch, so
sehr war er von den Erinnerungen betäubt. Erst als eine Frage ihn
geradezu anfiel, erwachte er.

Herr Grün, der Spaßmacher, hatte ihn angeredet:

„Nun, Herr Doktor Löwenberg, wie gefällt es Ihnen da? Was, Sie finden
keine Worte? Vielleicht sind Ihnen zu viel Juden da?“

Man lachte. Friedrich entgegnete langsam:

„Offen gestanden, Sie sind der Erste, der mich auf diesen Gedanken
bringt.“

„Sehr gut, höhöhö!“ wieherte Schiffmann. Die übrigen stimmten in das
Gelächter ein. Friedrich bemerkte erst daran, daß man seine Antwort für
einen der unartigen Scherze gehalten hatte, die in diesem Kreise üblich
waren. Herr Grün, an ärgeres gewöhnt, nahm es nicht übel. Herr Blau,
der andere Witzbold, nahm aber grinsend die Verfolgung seines Rivalen
auf:

„Grün wär’ imstande, sogar hier die Leute zu Antisemiten zu machen.“

„Ihre Späße werden alt, Herr Blau,“ mischte sich Dr. Walter ein. „Es
giebt ja, Gott sei Dank! keine Antisemiten mehr in der Welt.“

„Wenn ich das sicher wüßt’,“ entgegnete Blau, „möcht’ ich mich in
diesem Geschäft etablieren.“

Kingscourt neigte sich flüsternd ans Ohr des neben ihm sitzenden
Steineck:

„Mein lieber Professor, mir scheint, Sie dürften diesen Herrschaften
nichts von Ihrer Negeridee erzählen. Man würde Sie schön auslachen!“

„Beweist nichts gegen meine Idee,“ erwiderte Steineck ebenso; „diese
Gesellschaft hat auch anfangs den jüdischen Volksgedanken ausgelacht.
Das sind die letzten, denen man etwas Großes erzählen darf.“

Aber Friedrich griff die frühere Bemerkung auf.

„Ist es richtig,“ fragte er, „daß der Judenhaß abgenommen hat?“

„Wie heißt: abgenommen?“ rief Herr Schlesinger. „Sagen Sie:
verschwunden.“

„Darüber,“ sagte Blau keck, „wird Ihnen niemand bessere Auskunft geben,
wie Herr Doktor Veiglstock. Der hat sich benommen, wie ein Kapitän. Er
hat das Schiff zuletzt verlassen.“

Der Advokat ärgerte sich:

„Sie, Herr Blau, ich werd’ Sie bei den Ohren nehmen und Ihnen einsagen,
wie ich heiße. Walter heiße ich ein- für allemal. Merken Sie sich das!
Obwohl ich mich des ehrlichen Namens meines Vaters nie geschämt habe,
das weiß jeder. Früher mußte man den Vorurteilen Konzessionen machen,
wenn man nicht geschunden werden wollte.“

„Und das ist jetzt nicht mehr nötig?“ forschte Friedrich.

„Nein. Uebrigens ist das ausnahmsweise wahr, was Herr Blau in seiner
pseudowitzigen Weise angiebt. Ich bin erst vor kurzem hierher
übersiedelt. Man kann aber daraus nur ersehen, daß ich nicht der Not
gehorchte, sondern dem eigenen Triebe.“

„Ende Jud, alles Jud!“ meckerte der angenehme Herr Grün. Herr Blau
jedoch traute dem Landfrieden nicht mehr und machte daher nur eine ganz
leise Bemerkung, die der Advokat nicht hören konnte, über den
eingetretenen Mangel an Klienten.

Dr. Walter warf sich nun in die Brust und begann zu erzählen, welche
Wirkungen die Auswanderung so vieler Juden in Europa gezeitigt habe.
Für ihn, Dr. Walter, sei es ja von allem Anfang an festgestanden, daß
die zionistische Bewegung sowohl für die Abziehenden wie für die
Zurückbleibenden die heilsamsten Folgen hervorrufen müsse. Er sei einer
der Allerersten gewesen, welche die Nützlichkeit dieser Bewegung
einsahen, und wenn ihm auch seine damalige Lebensstellung nicht
gestattete, seinen Empfindungen und Ueberzeugungen ganz freien Lauf zu
lassen, so habe er doch in einer bescheidenen, unauffälligen Weise für
den Nationalgedanken gewirkt. Als Beweis führte er hierfür an, daß er
damals in seiner Kanzlei einen armen Studenten als Schreiber
beschäftigt hatte, und daß er diesem nicht das Brot entzogen, ihn nicht
weggejagt, obwohl der junge Mann zionistische Versammlungen besucht
hatte. Auch zum Nationalfonds habe er, Dr. Walter sein Scherflein
beigetragen, als dieser Volksschatz bereits mehrere Millionen Pfund
Sterling enthielt, also die Bürgschaften der Sicherheit in der eigenen
Größe hatte.

Herr Blau, der Scherzhafte, suchte eine kleine Revanche für die vorhin
erlittene Demütigung:

„Ein Scherflein? Entschuldigen, Herr Doktor, wenn ich frage. Ist das
eine neue Münze? Scherflein, Scherflein?“

Herr Dr. Walter ließ sich nicht aus dem Gleichgewicht bringen. Er
zuckte nur die Achseln, sah über den Frager geringschätzig hinweg und
erzählte weiter. Daß die nach Palästina Gezogenen hier eine glückliche
große Heimat gefunden hätten, sehe und wisse heute schon jeder. Doch
auch den Juden, die an ihren Wohnorten verblieben waren, ging es
endlich gut. Sie waren von Angriffen verschont, seit die jüdische
Konkurrenz schwächer geworden oder ganz verschwunden war. In den mit
Juden überfüllten, oder wie man damals zu sagen pflegte, verjudeten
Ländern war eine bemerkenswerte soziale Erleichterung eingetreten. Der
Abfluß hatte zwar zunächst nur aus den unteren Schichten der Armen und
Proletarier sich ergeben, aber dennoch wurde die Wirkung auch bald in
den mittleren und höheren Schichten fühlbar. Diejenigen, die nichts zu
verlieren und alles zu gewinnen hatten, zogen zuerst nach dem altneuen
Lande. Es ging, da die Wanderung eine ganz freiwillige war, nur wer die
Sicherheit hatte, sich durch die Uebersiedlung sein Los zu verbessern.
Die Arbeitslosen, die Verzweifelnden strömten dahin ab, wo ein breites
Feld von Arbeit und Hoffnung sich eröffnete. Diese Erscheinung war doch
selbstverständlich. In Palästina gab es die weltbekannte Gelegenheit,
in den massenhaft aufsprießenden Unternehmungen sogleich Brot und
binnen kurzem sogar einen gewissen Wohlstand zu erwerben. Dazu die
lockende Freiheit. Keine Zurücksetzung wegen der Konfession und
Nationalität. Schon das war Anziehung genug. Aber es fand auch eine
vernünftige Vereinigung aller längstbestehenden jüdischen
Wohlthätigkeitsgesellschaften statt. Die hatten früher ihre liebe Not
gehabt mit den Glaubensgenossen, die durch Verfolgungen und materielles
Elend von Land zu Land gehetzt wurden. Ehemals war jeder örtliche
Notstand eine allgemeine Plage der Judenheit geworden. Wenn die
Aermsten es in einem der osteuropäischen Länder nicht aushalten konnten
und sich auf die jammervolle Reise begaben, so wurden nach und nach
auch die entlegeneren Gemeinden in Mitleidenschaft gezogen. Man gab und
gab den Wanderbettlern und konnte doch nie ausreichend geben. Unsummen
wurden aufgewendet, ohne die Möglichkeit einer Prüfung im einzelnen
Falle, folglich auch ohne Gewähr, daß nur die Würdigen bedacht wurden.
Und das Ergebnis war keineswegs eine auch nur vorübergehende Linderung
der Misere, sondern im Gegenteile die Züchtung von Professionsbettlern,
die Unterstützung einer schmählichen Elendindustrie. Durch den
zionistischen Gedanken war das Feld gegeben, auf dem sich alle
humanitären jüdischen Bestrebungen vereinigen konnten. Die Gemeinden
der ganzen Welt unterstützten die Ansiedlung ihrer eigenen Armen in
Palästina. Dadurch wurden sie diese hilflosen Kostgänger los, es war
billiger als die frühere unüberlegte Methode des Verschickens in
irgendeine Fremde und es lag darin zugleich die Bürgschaft, daß nur
Arbeitswilligen, Würdigen, unter die Arme gegriffen wurde. Wer etwas
Redliches schaffen wollte, der fand in Palästina jede Möglichkeit, sich
zu bethätigen. Wer behauptete, auch in Palästina kein Fortkommen finden
zu können, der gab sich schon dadurch als Lump und Faulenzer zu
erkennen; er verdiente keine weitere Teilnahme. Es gab in der ersten
Zeit Unverständige, die meinten, eine solche Proletarieransiedlung
könne nicht gedeihen. Wie dumm und ungebildet diese Auffassung war, das
erkannte der Sprecher, Dr. Walter, und alle Leute, die gleich ihm einen
weiteren Horizont hatten, von vornherein. Waren denn nicht im ganzen
Laufe der Weltgeschichte die neuen Ansiedlungen von Hungerleidern
gemacht worden? Die Satten haben keinen Grund, die Grenzen der Kultur
hinauszurücken. Die Satten bleiben zu Hause. Aber den Hungrigen gehört
die Welt. Die im Glauben beunruhigten Puritaner besiedeln Nordamerika.
Die Glücksucher lassen sich in Indien oder Südafrika nieder. Und wo gab
es eine Kolonie, die von schlechteren Elementen geschaffen wurde, als
Australien, das große, blühende, stolze, reiche Australien. Das war zu
Anfang des neunzehnten Jahrhunderts eine verachtete Sträflingskolonie
und wuchs in wenigen Jahrzehnten zu einem mächtigen, gesunden
Staatswesen heran. Zu Ende des neunzehnten Jahrhunderts war es ein
Kronjuwel des britischen Weltreiches.

Wie gesagt, Dr. Walter und seinesgleichen, die gebildet genug waren,
lachten über den Einwand, daß Proletarier keine Ansiedlung sollten
gründen können. Wenn arme Sträflinge das in Australien vermochten, um
wieviel eher waren es die Pioniere des jüdischen Volkes imstande, da
sie in ihrer glückverheißenden Arbeit für die Freiheit und Ehre der
Nation vom ganzen Hause Israel unterstützt wurden. Die Ereignisse
bestätigten auch die Voraussicht Dr. Walters, das wollte er in aller
Bescheidenheit betonen. Denn die gewaltigen Besiedlungsarbeiten
erforderten auch ein zahlreiches modern vorgebildetes Personal von
Ingenieuren, juristischen und kommerziellen Beamten. Plötzlich war
damit eine Verwendung für die Massen studierter junger Leute geboten,
die früher, in den antisemitischen Zeiten nirgends hatten ankommen
können. Während die gebildeten Juden vormals bei ihrem Abgange von den
Universitäten, technischen Hochschulen und Handelsakademien ratlos und
hoffnungslos dastanden, bekamen sie in Palästina nun Anstellungen bei
den öffentlichen und privaten Unternehmungen. Die Folge war, daß sie
ihre christlichen Kollegen nicht mehr genierten. Der Jude hörte auf,
ein lästig empfundener Mitbewerber zu sein, und damit schwand natürlich
allmählich der wirtschaftliche Haß und Neid. Mehr noch: die nützlichen
Eigenschaften der Juden fingen an, erkannt zu werden, als das Angebot
auf dem Markte schwächer wurde. Der Wert der Dienste wächst, je weniger
man sie anbietet. Jeder weiß das. Warum hätte das nicht auch von den
Diensten der Juden im wirtschaftlichen Verkehre gelten sollen? Und so
machte sich die Besserung der Zustände von allen Seiten geltend. In
Ländern, wo man nicht mehr Juden auswandern lassen wollte, trat ein
freundlicher Umschwung in der öffentlichen Meinung ein. Man gab den
Juden die volle Gleichberechtigung nicht nur auf dem Papier der
Gesetze, sondern in lebendiger Uebung, im täglichen Umgang, in den
Sitten und Gebräuchen. Zwangsmaßregeln hätten nicht vermocht, die Juden
zur freudigen Mitarbeit in Kunst und Wissenschaft, in Handel und
Verkehr und auf allen übrigen Gebieten der bürgerlichen Bethätigung zu
bewegen. Die Güte aber brachte das zuwege. Erst als die umhergehetzten
Juden in ihrem eigenen Lande zur Ruhe kamen, trat die großgemeinte
Emanzipation in jedem Staate in Kraft. Die sich einem anderen
Volkskörper assimilieren konnten und wollten, durften es nun in einer
offenen, weder feigen noch verlogenen Weise thun. Es gab manche, die
den Glauben der sie umgebenden Volksmehrheit annehmen wollten; sie
konnten es jetzt, ohne den Verdacht der Stellenjägerei oder Streberei
auf sich zu laden. Denn es war nicht mehr nützlich, vom Judentum
abzufallen. Die Juden, die sich in allem, nur nicht im religiösen
Bekenntnis eins fühlten mit ihren Mitbürgern, erfreuten sich der
ungeschmälerten Wertschätzung auch als Angehörige einer
Minoritätskonfession. Denn Duldung kann und wird immer nur auf
Gegenseitigkeit beruhen, und erst als auch die Juden hier, wo sie die
Mehrheit bilden, sich tolerant erwiesen, wurde ihnen aus sittlicher
Reciprocität überall dasselbe zu teil.

„Darum,“ schloß Dr. Walter seinen kleinen Vortrag mit einem gefälligen
Seitenblick auf Professor Steineck; „darum bin ich ein Anhänger und
Verfechter der Ideen, die von der Littwak-Steineckschen Partei
vertreten werden. Ich werde unentwegt, bis zu meinem letzten
Blutstropfen für diese Idee eintreten.“

Herr Blau fügte schneidend hinzu:

„Bitte, vergessen Sie nicht, das Ihrem Herrn Bruder auszurichten, Herr
Professor. Wenn Sie Herrn Dr. Walter auf Ihrer Seite haben, dann haben
Sie die Majorität.“

Der Advokat wurde dunkelrot im Gesichte:

„Was wollen Sie damit sagen, Sie — Sie?“

„Bitte, gar nichts,“ sagte der Witzbold mit gespielter Harmlosigkeit.
„Ich habe Sie noch nie anderswo, als bei der Majorität gesehen. Darum
ist den Leuten, denen Sie sich anschließen, immer zu gratulieren.“

„Wenn Sie mit Ihren faulen Witzen sagen wollen, daß ich meine Ansichten
zu ändern pflege, so kann ich darüber nur lachen. Jeder vernünftige
Mensch wird mit der Zeit klüger. Die Hauptsache ist: wenn ich einmal
von etwas überzeugt bin, so halte ich daran unentwegt fest.“

„Nu ja,“ sagte Herr Grün, indem er sich sein „uneingesäumtes“ Ohr
zwischen Daumen und Zeigefinger rieb; „das versteh’ ich. Wenn Dr.
Walter eine Ueberzeugung hat, so haltet er an ihr fest, unentwegt. Wenn
er aber die Ueberzeugung nicht mehr hat oder eine andere vorzieht, so
wär’ es doch nicht charaktervoll, wenn er die frühere Ueberzeugung, die
er nicht mehr hat, noch mit Gewalt festhalten wollte.“

Herr Schlesinger, der in diesem Kreise als geschäftlicher Vertreter des
Baron Goldstein noch immer ein gewisses Ansehen genoß, warf sich mit
Autorität zwischen die Streitenden:

„Was ist das, meine Herren? Sind wir hier in einer Volksversammlung?
Was gehen uns die Ueberzeugungen an? Ich kenn’ nur zweierlei: Geschäft
und Vergnügen.“

„Bravo!“ rief Kingscourt. „Und zuerst det Jeschäft.“

„Sie sehen, der Herr denkt auch so,“ schloß Schlesinger. „Ist jetzt
Geschäftsstunde? Nein. Also lassen wir uns in Ruh’!“

„Sie treffen doch immer den Nagel auf den Kopf, Herr Schlesinger!“
schmeichelte Schiffmann und wandte sich dann zu Kingscourt und
Friedrich mit einer halblauten Erklärung, die jeder hören konnte:
„Nicht umsonst genießt er das Vertrauen der Barone von Goldstein. Er
ist der Vertreter in Jaffa von diesem großen Haus.“

„Was Sie nicht sagen!“ entgegnete Kingscourt und machte eine
bewundernde Miene.

Herr Schlesinger starrte bescheiden vor sich hin, wie ein berühmter
Mann, der den Leuten gezeigt wird.

Indessen waren die Damen wieder zu ihren früheren Gesprächen über die
neuen Pariser Hüte zurückgekehrt. Frau Laschner führte das große Wort.
Sie bezog ihre Putzgegenstände geradewegs aus der Rue de la Paix.

Frau Ernestine Weinberger aber hatte Friedrich bedeutet, er möge seinen
Sessel näher heranrücken, und sie plauderte leise.

„Ja, und das ist meine Tochter. Was die Zeit vergeht? Wie finden Sie
sie? Hübsch, häßlich?“

„Ganz die Mutter!“ sagte der mechanisch.

„Also häßlich? Sie Schlimmer!“ und dazu ein koketter Augenaufschlag.

Ihm war ganz traurig zu Mute, als er dieses gefallsüchtige, verblühte
Frauenzimmer betrachtete. So sehen die Gründe unserer großen Schmerzen
nach zwanzig Jahren aus. Man versteht nicht mehr, wie man sich um
solches grämen konnte. Ach, die verlorene Zeit!

Sie, die keine Ahnung davon hatte, was in ihm vorging, schäkerte
weiter. Was er denn jetzt vorhabe? Ob er hier bleiben oder nach Europa
gehen wolle?  Wenn er im Lande bliebe, würde er nun wohl auch daran
denken, einen Hausstand zu gründen, ein Weib zu freien.

„Ich?“ sagte er verwundert. „Ich, in meinen Jahren? Das habe ich
versäumt, wie manches andere, wichtigere.“

„Jetzt sind Sie nicht ehrlich,“ meinte Frau Ernestine Weinberger. „Sie
befinden sich noch in den Jahren. Sie sehen viel jünger aus, als Sie
sind. Auf Ihrer einsamen Insel haben Sie sich gut konserviert ...
Warten Sie, ich will ein unbefangenes Kind raten lassen, wie alt Sie
sind ... Fifi, rat’ einmal, wie alt Herr Dr. Löwenberg ist.“

Fräulein Fifi Weinberger, das unbefangene Kind, blickte ihn ein bißchen
an, senkte dann die Augen und lispelte:

„Anfang der Dreißig, Mama!“

„Ach nein, liebes Fräulein! Da haben Sie mich nicht genau angesehen.“

„Oh doch!“ lispelte sie wieder. „Ich sah Sie ja neulich in der Oper,
als Sie mit Mirjam Littwak waren.“

„A propos,“ sagte Ernestine, „wie gefällt Ihnen Mirjam Littwak? Ich
meine nicht: äußerlich. Sie ist ja ganz hübsch. Aber ihre Art, ihre
Pose. Sie thut ein bißchen groß mit Pflichterfüllung und solchen
Scherzen. Sie spielt Lehrerin. Das ist jetzt hier das Neueste.“

Friedrich war empört:

„Meine Gnädige, so viel ich weiß, spielt Fräulein Littwak nicht die
Lehrerin, sondern sie ist es wirklich. Sie nimmt ihre Aufgabe so ernst,
wie es sich gebührt.“

„Schau, schau, wie Sie Fräulein Littwak verteidigen!“ spöttelte
Ernestine.

„Mein Freund giebt mir ein Zeichen,“ sprach Friedrich, indem er sich
erhob. „Wir müssen uns verabschieden.“

Er empfahl sich und ging mit seinen Freunden weg. Kingscourt faßte ihn
unter den Arm und sagte:

„Fritz, raten Sie mal, was ich mir die ganze Zeit in der furchtbar
netten Gesellschaft jedacht habe!“

„Keine Ahnung!“

„Daß es für uns Zeit wird, abzureisen. Darum waren wir doch nicht
Räuber und Mörder, um beim Vertreter der Barone von Goldstein zu enden.
Oder wollen Sie vielleicht hier vor Anker jehen?“

„Sie fragen, Kingscourt? Sie wissen sehr gut, daß ich Ihnen gehöre und
mit Ihnen gehe, wann Sie wollen, wohin Sie wollen.“

Da blieb der Alte stehen und drückte ihm die Hand.










4. BUCH.

PASSAH.


1. KAPITEL.


In der Villa des alten Littwak hatte man die Passahfeier vorbereitet.
Es war Abend, als die Gäste zurückkehrten. Der russische Pope von
Sepphoris war schon vor einer Stunde eingetroffen. Jetzt kam auch David
in Begleitung des Franziskanerpaters Ignaz. Dieser war ein
wohlgenährter rotbackiger, blondbärtiger Mann, den die braune Kutte
noch gedrungener erscheinen ließ. Er stammte aus Köln am Rhein und
lebte schon seit einem Vierteljahrhundert in Tiberias, doch hatte er
noch seinen unverfälschten kölnischen Dialekt im Munde. Anders als
Deutsch konnte der gute Pater nicht sprechen. Der Pope und der
Anglikaner Mr. Hopkins machten darum löbliche Anstrengungen, sich mit
Pater Ignaz in seiner Muttersprache zu verständigen.

Der Sedertisch war im Speisesaale des Erdgeschoßes hergerichtet. Etwa
zwanzig Gedecke lagen auf dem schimmernden Linnen. David hatte allen
Gästen die Plätze angewiesen und saß selbst am unteren Ende der Tafel,
der sein Vater präsidierte. Der Stuhl zur Rechten des alten Littwak
blieb aber leer, weil er für die kranke Mutter bestimmt war; sie konnte
nicht an der Feier teilnehmen. Zur Linken des Hausvaters saß Mrs.
Gothland.

Das schöne uralte Melodrama des Seders begann. Der erste Becher war
eingeschenkt und der Hausherr sprach das Kiduschgebet, worin für die
Frucht des Weinstockes und für alle Gnaden gedankt wird, welche Gott
seinem Volke erwiesen hat.

„Ewiger, unser Gott! Du hast uns bestimmte Zeiten zur Freude, Fest- und
Feiertage zur Wonne gegeben, wie diesen Festtag des ungesäuerten
Kuchens, die Zeit unserer Freilassung zur heiligen Verkündigung, zum
Andenken unseres Ausganges aus Mizrajim ...“

Als dieses Gebet vorüber war, trank man den ersten Becher. Kingscourt
sah nur zu. Da neigte sich Mrs. Gothland zu ihm, in englischer Sprache
flüsternd:

„Sie müssen alles mitthun, was die anderen machen. Es ist der Brauch.“

Kingscourt würgte einige Deibel hinunter, hatte aber Humor und gute
Lebensart genug, die sonderbaren Gebräuche den übrigen Gästen gleich zu
befolgen. Die christlichen Seelsorger schlossen sich auch nicht aus.

Jetzt wusch der Hausvater sich die Hände in einem silbernen Becken, das
Mirjam ihm dienend reichte. Hierauf nahm er von der vor ihm stehenden
Sederschüssel ein Stückchen Petersilie, tauchte es in das
Salzwassergefäß, sprach den Segen und aß es. Dann wurde jedem der
Tischgenossen ein wenig Petersilie gegeben, und jeder aß es. Kingscourt
mit einer lustigen Grimasse, über die seine Nachbarin Mrs. Gothland
sanft lächelte. Dann wurden das Ei und der Knochen mit dem gebratenen
Fleisch von der Sederschüssel genommen, und die verhüllte Platte hob
man hoch mit den feierlichen Worten:

„Dieses ist das Brot des Leidens, das unsere Vorfahren im Lande
Mizrajim gegessen haben ...“

Wieder half Mrs. Gothland dem Verständnisse Kingscourts nach, indem sie
mit dem Finger die Stelle in der vor ihm liegenden Hagadah wies, wo
neben dem hebräischen Urtexte die deutsche Uebersetzung zu lesen war.
Dann wurde der zweite Becher Weines eingeschenkt, und David, welchem es
als dem jüngsten Manne in der Tischgesellschaft zukam, erhob sich zu
der überlieferten Frage:

„Ma nischtaneh halajloh haseh? ... Wodurch ist diese Nacht
ausgezeichnet vor allen übrigen Nächten? denn in allen anderen Nächten
können wir essen Gesäuertes und Ungesäuertes — in dieser Nacht nur
Ungesäuertes. In allen anderen Nächten können wir essen allerlei
Kräuter — in dieser Nacht nur bittere Kräuter ...“

Dann wurden die flachen Passahbrote der Sederschüssel aufgedeckt, und
alle zusammen antworteten auf die Frage des Jüngsten:

„Einst waren wir Knechte des Pharao in Mizrajim, da zog uns der Ewige
unser Gott heraus von dort, mit starker Hand und ausgestrecktem Arme
...“

Und so nahm die Feier, halb Gottesdienst und halb Familienschmaus ihren
Fortgang, ergreifend für jeden, dessen Herz von Ehrwürdigem gerührt
werden konnte. Denn dieses jüdischeste aller Feste reichte weiter
hinauf in die Vergangenheit der Menschen, als irgend eine lebende
Uebung der Kulturwelt. So wie jetzt wurde dies alles geübt vor vielen,
vielen Jahrhunderten, und die Welt hatte sich seither verwandelt,
Völker waren untergegangen, andere waren in der Geschichte erschienen,
der Erdkreis hatte sich erweitert, unbekannte Kontinente tauchten aus
den Meeren, ungeahnte Naturkräfte erleichterten und verschönten das
Leben — und nur dieses eine Volk war noch da, wie ehemals, hegte noch
die unveränderten Gebräuche, treu sich selbst und eingedenk der Leiden
seiner Altvorderen. Es betete noch immer mit tausendjährigen Worten zum
Ewigen seinem Gotte, das Volk der Knechtschaft und Freiheit — Israel!

Einer war an dem Sedertische, der sprach die hebräischen Worte der
Hagadah mit der Inbrunst eines Heimgekehrten. Ihm war es ein
Wiederfinden und manchmal schnürte ihm Rührung die Kehle zu, daß er
sich zusammennehmen mußte, um nicht laut aufzuschluchzen. Bald dreißig
Jahre waren es her, daß er selbst als Knabe das „Mah nischtaneh“
gefragt hatte. Dann war die „Aufklärung“ gekommen, die Loslösung von
allem Jüdischen und endlich logisch der Sprung ins Leere, da er gar
keinen Halt mehr im Leben besaß. An diesem Seder kam er sich vor, wie
der verlorene Sohn.

Als der erste Teil der Feier vorüber war und die Speisen aufgetragen
wurden, rief ihm Kingscourt über den Tisch zu:

„Fritz, ich wußte gar nicht, daß Sie ein so perfekter Hebräer sind.“

„Offen gestanden, ich wußte es selbst nicht!“ war seine Antwort. „Aber
es scheint, daß man das aus der Jugend her nicht vergißt.“

In den Tischgesprächen kehrte öfters der Name eines Herrn wieder, den
Kingscourt und Friedrich noch nicht kannten: Mister Joseph Levy. Die
beiden Steinecks nannten ihn nur „Joe“, in der englischen Abkürzung. Es
klang in ihrem Munde wie „Tschoh“.

„Es ist doch ein furchtbares Unrecht, daß Tschoh nicht da ist!“ sagte
der Architekt laut.

„Ja,“ ergänzte sein Bruder; „daß Joe heute fehlt, ist nicht in der
Ordnung. Die Feier ist nicht vollständig. Sie verstehen?“

„Nee janz und jar nich,“ erklärte Kingscourt. „Es intriguiert mich
schon die ganze Zeit, was Sie eigentlich von diesem unbekannten Joe
wollen.“

„Er kennt Joe nicht!“ schrie der Architekt und hielt sich die Seiten
vor Lachen.

„Das ist eine Lücke in Ihrer Bildung, meine Herren!“ sagte der
Professor. „Joe muß man kennen. Ohne Joe säße mancher heute nicht, wo
er sitzt. Joe hat die merkwürdigsten Dinge mit den geringsten Mitteln
vollbracht. Joe ist ein wunderbarer Kerl. Er besitzt nämlich eine
Eigenschaft, die seltener ist als Gold, seltener als Platin, seltener
als Uran, seltener als das Seltenste, was es giebt.“

„Deibel, Sie spannen mich, Professor! Und diese Eigenschaft wäre?“

„Einfacher, gesunder Menschenverstand! Sie verstehen?“

„Ich fange an ... Nun möcht’ ich aber den wundervollen Mann auch
sehen!“

Der Architekt machte ein Sprachrohr aus seinen Händen und rief lustig:

„Tschoh, Tschoh!“

Mrs. Gothland winkte dem Schreihals zu, er möge schweigen. Dann sagte
sie:

„Lieber Freund, so laut können nicht einmal Sie sprechen, daß er Sie
hört. Es wäre denn, daß Sie sich an das Telephon bemühen. Dann ist es
freilich leicht. Sie brauchen nur den Anschluß an Marseille zu
verlangen. Unser guter Joe ist heute Nachmittag in Marseille
angekommen. Er läßt alle grüßen. Ich habe vorhin mit ihm telephoniert.“

„Wa—as?“ schrie der Architekt. „So plötzlich? Ohne ein Wort zu sagen?“

„Ja, er hat sich vor einigen Tagen plötzlich entschlossen,“ berichtete
Mrs. Gothland weiter. „Sie kennen ja unseren Joe. Es wurde ihm
gemeldet, daß ein Fabrikant in Lyon eine neuartige Maschine hergestellt
habe. ’Das muß man sich ansehen’, sagte Joe und fuhr noch am selben
Tage nach Europa hinüber. Da die Blätter dort von seiner bevorstehenden
Ankunft telegraphisch verständigt wurden, so hat er zur Stunde
wahrscheinlich eine Belagerung von Fabrikanten, Maschinenagenten und
Ingenieuren auszuhalten. So ist es immer, wenn Joe nach Europa geht.“

Reschid Bey bemerkte:

„Es erwarten ihn gewöhnlich schon die Vertreter aller möglichen
Industrien. Er arbeitet mit England, Deutschland, Frankreich und
besonders mit Amerika. Morgen wird er vielleicht auf dem Wege nach
Amerika sein, wenn er nicht nach London geht oder hierher zurückreist.
Man weiß bei Joseph Levy nie vorher, was er thun wird. Nur das eine
weiß man: es ist das Richtige. Er schließt schneller einen Handel über
fünf Millionen Dollars ab, als ein anderer sich einen Rock kauft. Die
Amerikaner sind von ihm entzückt. Er bestellt rasch, zahlt gut und irrt
sich nie.“

„Donnerwetter, der Mann jefällt mir!“ brummte Kingscourt. „Was ist er
denn hier?“

„Generaldirektor des Industrieamtes,“ sagte David. „Es giebt freilich
kein Amt, das Joseph Levy nicht bekleiden könnte. Das ist einmal ein
Mensch, der alles versteht, was sich einem gesunden Blick und einem
eisernen Willen erschließt. Er hat eine blitzartige Intelligenz und
klärt Ihnen im Nu die verworrenste Situation auf. Und wenn Joe Levy
sich etwas vornimmt, dann können Sie gleich einen Eid ablegen, daß er
es auch durchsetzt. Ich dachte mir, daß dieser Vollmensch Sie
interessieren würde, meine Herren. Sie sollen ihn nach Tische
wenigstens reden hören, da ich ihn heute nicht anders als im Bilde
zeigen kann.“

„Da müssen wir wohl ans Telephon ran?“ meinte Kingscourt.

„Nicht nötig!“ lächelte David. „Sie werden es bequemer haben. Und nicht
nur Sie, auch spätere Zeiten werden seine Rede vernehmen. Ich dachte
mir, daß es immerhin merkwürdig wäre, die Stimme des Befehlenden
festzuhalten, der den neuen Anzug der Juden ordnete. Darum bat ich
Joseph Levy, den Bericht über die Besiedlung unseres Landes in den
Phonographen hineinzusprechen. Sie kannten ja diese sinnreiche
Erfindung schon vor zwanzig Jahren, meine Herren. Ich ließ die
Wachsrollen, auf die Joe seinen Bericht gesprochen hat,
vervielfältigen. Einge hundert Exemplare schenkte ich jetzt zum
Passahfeste den Schulen. Wir aber werden uns heute an der ersten
Vorführung dieser Denkwürdigkeit erfreuen.“

Kingscourt fand es sehr ergötzlich:

„Janz famos. Da haben Sie einen reichen Gedanken jehabt, verehrtester
Mann der Zukunft. Ohnehin fragte ich mich schon die ganze Zeit nach dem
Ueberjang. Das Fertige sehn wir ja vor uns. Aber wie ist es jeworden?
Da liegt schließlich des Pudels Kern begraben. Daß es Eisenbahnen,
Häfen, Fabriken, Automobile, Tele-, Phono-, Photo- und Gott weiß was
für Grafen jibt, das wußten auch wir minderjebildeten Europäer schon,
bevor wir den erstaunten Fuß auf Palästinas Erde setzten. Aber wie
haben Sie das alles herüberverpflanzt? Darum wollt’ ich Sie eben ooch
jebeten haben.“

„Joe wird Ihnen den Anfang sagen, nachdem wir Ihnen das Ende gezeigt
haben,“ antwortete David. „Und dieser Sederabend schien mir dafür die
weihevolle Zeit. Wir lesen heute in unserer alten Hagadah, wie die
Weisen einst an einem solchen Abende zu Bene-Berak zusammen kamen, und
sich die ganze Nacht hindurch über den Ausgang aus Mizrajim
unterhielten. Wir sind die Nachfahren von Rabbi Elieser, Rabbi
Jehoschua, Rabbi Eleasar dem Sohne Asarias, Rabbi Akiba und Rabbi
Tarphon. Und dies ist unser Abend von Bene-Berak. Altes will in neues
übergehen. Wir werden zuerst unseren Seder in der Weise unserer
Vorfahren zu Ende führen. Dann möge sich die andere Zeit melden, wie
sie gekommen ist. Wieder gab es ein Mizrajim und wieder einen
glückhaften Auszug. Dieser wurde selbstverständlich auf eine Art
gemacht, welche dem Kulturzustande und den technischen Mitteln zu
Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts entsprach. Es konnte nicht anders
sein. Es konnte auch nicht früher sein. Das technische Zeitalter mußte
erschienen sein. Die Völker mußten die Reife zur Kolonialpolitik
erlangt haben. Statt der Segelschiffe mußten die großen
Schraubendampfer mit zweiundzwanzig und mehr Seemeilen Geschwindigkeit
existieren. Kurz, das Inventar, von 1900! Wir mußten neue Menschen
geworden und doch auch dem alten Stamme nicht untreu sein. Und auch die
wohlwollende Teilnahme der Völker und ihrer Fürsten mußte dabei sein,
sonst wäre das ganze Werk nicht möglich gewesen.“

„Gott hat uns geholfen!“ sagte der alte Littwak und murmelte hebräische
Worte.

Reverend Hopkins erinnerte seine geistlichen Kollegen von den anderen
Kirchen an den Osterstreit des Altertums, und wie sich all der müßige
Hader nun in Harmonien aufgelöst habe. Heute könnten sie als Christen
friedlich im Hause eines Juden zur Passahfeier zusammenkommen, und
nähme keiner Anstoß an den Anschauungen des anderen. Denn ein Frühling
der Menschheit sei auferstanden.

„Er ist wahrhaftig auferstanden!“ sagte der Pope von Sepphoris.








2. KAPITEL.


Die Nachtischfeier folgte, und als sie mit allen Vorschriften der
Hagadah fertig waren, gingen sie in den Salon hinüber, wo schon der
Phonograph mit Joes Erzählung auf einem Tischchen bereit stand. Es war
der Kingscourt wohlbekannte Apparat, verbessert durch eine einfache
automatische Vorrichtung, welche die Rollen nacheinander abgleiten
ließ. Die ganze Erzählung konnte so abgespielt werden, ohne daß eine
Unterbrechung fühlbar geworden wäre. Wollte man aber eine Pause machen
oder sich etwas wiederholen lassen, so genügte ein Handgriff, um die
Walze aufzuhalten oder einige Sätze weit zurückzustellen. Alle hatten
auf Lehnstühlen und Sofas Platz genommen. David setzte sich an das
Tischchen, stellte den Schalltrichter nach den Zuhörern hin, rückte
einen kleinen Knopf an dem Apparat und sagte:

„Unser Freund Joe Levy hat das Wort.“

Im Phonographen schnurrte es ein wenig, dann wurde mit völliger
Deutlichkeit eine kraftvolle Mannesstimme laut:

„Meine geehrten Anwesenden!

Ich soll Ihnen über die neue Judenwanderung berichten. Die ganze Sache
war sehr einfach. Ich glaube, es wird zuviel Wesens daraus gemacht. Um
die politische Vorbereitung hatte ich mich nicht zu kümmern.
Glücklicherweise. Ich bin kein Politiker, war es nie, werde es nie
sein. Ich hatte meinen Auftrag und führte ihn aus. Unsere Gesellschaft
war unter dem Titel „Neue Gesellschaft für die Kolonisierung von
Palästina“ gegründet worden. Sie hatte mit der türkischen Regierung
einen Besiedlungsvertrag geschlossen. Die Bedingungen dieses Abkommens
sind aller Welt bekannt. Als ich vor Abschluß des Charters gefragt
wurde, ob wir die großen Geldleistungen an den türkischen Staatsschatz
alljährlich würden erschwingen können, bejahte ich es unbedingt. Bei
Unterzeichnung des Charters hatten wir der türkischen Regierung zwei
Millionen Pfund Sterling bar zu erlegen. Dazu kam noch die jährliche
Abgabe von fünfzigtausend Pfund Sterling jährlich durch dreißig Jahre
und ein Viertel des Reinerträgnisses der „Neuen Gesellschaft für die
Kolonisierung von Palästina“, ebenfalls an den türkischen Staatsschatz
zu entrichten. Nach Ablauf der ersten dreißig Jahre aber werden wir
bekanntlich den Reinertrag der Neuen Gesellschaft mit der türkischen
Regierung teilen, falls diese es nicht vorzieht, den letzten
zehnjährigen Durchschnitt der von uns erhaltenen Geldleistungen als für
immer gleichbleibende Abgabe zu beziehen. Die Erklärung hierüber hat
uns die türkische Regierung im siebenundzwanzigsten Vertragsjahre
kundzumachen. Wir können allerdings schon heute vermuten, daß die
türkische Regierung lieber den halben Reinertrag der Neuen Gesellschaft
in Anspruch nehmen wird, weil dabei für sie viel mehr herauskommt. Für
diese Abgaben erhielten wir die Verwaltung der zu besiedelnden
Gebietsteile, deren Oberhoheit dem Sultan dabei erhalten blieb.

Nun waren das freilich sehr große Geldleistungen, und es regten sich
anfänglich Zweifel, ob die Neue Gesellschaft so gedeihen könne. Das
Land war bettelarm und unsere Ansiedler sollten aus dem Proletariat
aller Länder herkommen. Zwar gab es mehrere große Stiftungen für
jüdische Nationalzwecke. Ihr Gesamtbetrag wurde Ende 1900 mit zwölf
Millionen Pfund Sterling festgestellt. Aber es waren ja außer den
Zahlungen an die türkische Regierung noch große Aufwendungen für den
privatrechtlichen Ankauf von Grund und Boden, für das Ansiedeln ganz
mittelloser Menschen, für die Urbarmachung, Bepflanzung, Aufbesserung
des Landes nötig. Woraus sollten alle diese Erfordernisse bestritten
werden? In unserem engeren Komitee gab es Furchtsame, die den
Zusammenbruch des Unternehmens vorhersagten. Meine Freunde und ich
trugen den Sieg über diese Bedenken davon. Es gelang uns, darzuthun,
daß wir die Berechnung nicht nur auf Grund des Vorhandenen anstellen
müßten, sondern auch auf Grund dessen, was nach aller menschlichen
Erfahrung durch den Beginn unserer Arbeiten hinzukommen würde. Unser
für die Zukunft errichtetes Werk würde auch durch diese selbst erhalten
und gestärkt werden. Nach zehn Jahren sind die Knaben, die wir
hinführen, Männer. Wenn wir Menschen haben, haben wir alles. Die
Menschen aber bringen wir selber hin, erziehen sie, wie wir sie
brauchen und benützen sie, wie es uns und ihnen, das heißt der
Gemeinschaft, frommt. Es ist das einfachste Raisonnement von der Welt.
Man macht es im kleinsten Ländchen, bei den unbedeutendsten Völkern.
Nur die Juden hatten dieses ABC des Volkstums verlernt.

Es kam noch ein Wichtigeres hinzu, das unsere Juden merkwürdigerweise
nicht wußten, obwohl sie es täglich auf anderen Gebieten ausübten: die
Unternehmungslust! Ich will dazu ein Beispiel geben. Als zu Ende des
neunzehnten Jahrhunderts die Goldfunde im unwirtlichen Klondyke gemacht
wurden, strömten erwerbshungrige Scharen nach dem eisigen Alaska. Ich
spreche nicht von den Goldsuchern, sondern von den Unternehmern, die
sich den Goldsuchern an die Fersen hefteten. Plötzlich wanderten
Betten, Tische, Stühle, Hemden, Stiefel, Röcke, Konserven,
Weinflaschen, Aerzte, Lehrer, Sänger nach Klondyke — mit einem Wort,
alles was man braucht und nicht braucht, wanderte hin, weil einige
Leute dort Geld in der konzentriertesten Form erlangten. Die
Nachströmenden waren nur zum Teile Goldgräber. Sie gingen nicht dem
Verdienste nach, der in der Erde verborgen war, sondern dem, der schon
zu Tage lag. Sie wollten an dem bereits gefundenen Golde verdienen.“

Der Professor konnte sich an dieser Stelle nicht enthalten, ein lautes
„Sie verstehen?“ dazwischenzurufen, aber sein Bruder zischte ihn so
heftig nieder, daß er beschämt schwieg. Und der Phonograph sprach
weiter:

„Ich habe dieses grelle Beispiel gewählt, um zu zeigen, wie jede
Erwerbsgelegenheit, wenn sie den Unternehmungsgeist anspricht, schnell
noch andere Erwerbsgelegenheiten schafft. Jeder praktische Mensch weiß
das beinahe instinktiv, ohne erst auf die Professoren der
Nationalökonomie zu warten, die es ihm in geheimnisvollen Ausdrücken
erklären. Thatsächlich gehörten wir Juden schon seit langer Zeit zu den
findigsten Unternehmern. Nur auf unsere eigene Zukunft hatten wir
früher nie wirtschaftliche Hoffnungen gebaut. Warum? Weil die
Sicherheiten fehlten. Wenn die Sicherheiten aber geschaffen wurden,
mußten wir in diesem Lande mindestens dieselbe Unternehmungskraft
bethätigen, wie in anderen Ländern.

Darum machte mir das Hervorkommen der notwendigen Kapitalien keine
übermäßige Sorge. War das Land bereit und die Einwanderung eingeleitet,
so mußte jedes angemessene Gelderfordernis aufzubringen sein. Und darum
bejahte ich die Frage, ob wir die Geldleistungen an die türkische
Regierung in diesem Umfange auf uns nehmen könnten, ohne befürchten zu
müssen, daß es uns dann an den Investitions-Kapitalien fehlen werde.
Das war von mir kein Experiment. Es war die Anwendung von weltalten
Thatsachen und Erfahrungen.

Der Charter wurde abgeschlossen. Wir erlegten die Bezahlung. Da mir von
diesem Augenblick an die Leitung der Kolonisation übertragen war,
bedang ich mir vor allem aus, daß der Charter vorläufig noch nicht
veröffentlicht werden dürfe. Ich wollte kein tumultuarisches Einwandern
haben. Es wäre gewiß zu argen Unordnungen gekommen. Die ärmsten,
gierigsten Leute wären hierhergestürzt, Kranke und Alte hätten sich
hergeschleppt. Wir würden vor allem anderen Hungersnot und Epidemien
gehabt haben. Es giebt ein altes französisches Theaterstück, das heißt:
die Furcht vor der Freude. So wie es darin zugeht, so hatte auch ich
Furcht vor der Freude meiner armen Juden. Ich mußte sie behutsam
vorbereiten. Ich mußte auch uns vorbereiten.

Das Direktorium der Neuen Gesellschaft wurde eingesetzt. Das
Direktorium ernannte mich zum General-Manager auf fünf Jahre. Dann
erhielt ich für die ersten Ausgaben den Kredit von einer Million Pfund
eingeräumt. Einer meiner Ingenieure meinte, das sei wenig ...“

„Verdammt wenig!“ schrie Kingscourt und winkte heftig: „Stoppen Sie
’mal den Klapperkasten!“

David hatte den Phonographen schon zum Stillstand gebracht.

„Wenn Sie mich ollen Meerjreis ernstlich aufklären wollen, müssen Sie
mir jefälligst einiges sagen, sonst versteh’ ich Ihren janzen Joe
mitsamt seinem Telephonographen nicht ... Was ist das für ’ne neue
Jesellschaft? Ist das dieselbe, von der in Neudorf mehrstenteils die
Rede war? Und was ist das für’n Direktorium? Und woher haben sie das
Jeld, wenn’s auch nich viel ist?“

David nickte mit dem Kopfe:

„Alle diese Fragen begreife ich. Joe Levy glaubte freilich nicht, daß
er davon erzählen müsse, weil jedes Kind es weiß. Die Neue Gesellschaft
von damals und heute sind eins und dennoch verschieden. Es war
ursprünglich eine Aktiengesellschaft und ist heute eine Genossenschaft.
Die Genossenschaft ist vermögensrechtlich die Erbin der
Aktiengesellschaft.“

„Sie verstehen?“ rief der Professor.

„Nee! Haben die Aktionäre ihr Jeld hergeschenkt? Dann ist es ’n
Märchen.“

„Mr. Kingscourt,“ entgegnete David, „es wird Ihnen gleich klar sein,
wenn Sie die verschiedenen Rechtspersönlichkeiten auseinanderhalten.
Wir haben da drei juristische oder moralische Personen. Eine Person:
die Stiftungen, die Ende 1900 ein Vermögen von zwölf Millionen Pfund
hatten. Zweite Person: die Aktiengesellschaft, die von den unserer
Sache ergebenen Londoner Financiers mit einem Kapital von zehn
Millionen Pfund Sterling gegründet wurde, nachdem die Erteilung des
Charters gesichert war. Dritte Person: die Genossenschaft der
Kolonisten. Die letzteren waren durch ihre auf den Kongressen gewählten
Führer vertreten. Diese Führer setzten die Massen erst dann in
Bewegung, als sie mit der Aktiengesellschaft über deren spätere
Vergenossenschaftlichung einig geworden waren.“

„Sie erstaunen mich, edler Märchenprinz!“ lachte Kingscourt. „Auf
solche Sache wären Aktienmenschen, Syndikatshyänen eingegangen?“

„Es waren keine Syndikatshyänen, Mr. Kingscourt,“ erwiderte David. „Es
waren anständige Geschäftsleute, die sich mit einem anständigen Gewinne
begnügten. Das Abkommen wurde zwischen Kapital und Arbeit gerecht
getroffen. Das Geld allein, die Arbeit allein konnten den
Schwierigkeiten nicht beikommen. Die Geldleute sollten ihre Sicherheit
haben, die Arbeitsleute auch. Wäre das nicht vorher in Ordnung gebracht
worden, so mußte mit der Zeit eine oder die andere Ungerechtigkeit
eintreten: entweder hätte sich das Volk über die Rechte der Aktionäre
hinweggesetzt, oder es wäre in ihre Sklaverei geraten. Beidem wurde
durch die Vereinbarung vorgebeugt, daß die Genossenschaft der
Kolonisten berechtigt sei, nach Ablauf von zehn Jahren die Aktien der
Neuen Gesellschaft einzulösen. Als Ablösungssumme wurde die
fünfperzentige Kapitalisierung des in den letzten fünf Jahren erzielten
Durchschnittsertrages bestimmt. Die Ablösungssumme durfte aber nicht
weniger als das thatsächlich eingezahlte Aktienkapital nebst Zinsen
betragen.“

Hier wagte Friedrich ein wenig schüchtern die Bemerkung:

„Das scheint mir doch eine unmögliche Bedingung. Woher sollten die
mittellosen Kolonisten solche Summen erschwingen, um die Aktien der
Gesellschaft zurückzukaufen?“

„Nee, mein Sohn,“ meinte Kingscourt, „mir ist es jetzt schon klar wie
Kloßbrühe. Wenn die Kolonisation gelang, waren die Kolonisten nicht in
Verlegenheit, sich das Geld zu verschaffen. Sie konnten es als
aufstrebende Genossenschaft auch jepumpt kriegen.“

„Richtig!“ sagte David, „als die Genossenschaft an die Einlösung der
Aktien zu gehen beschloß, nahm sie das notwendige Geld in Form einer
vierprozentigen Anleihe auf. Schon daran hat die Genossenschaft ein
gutes Geschäft gemacht. Der Reinertrag vom fünften bis zum zehnten
Jahre war durchschnittlich eine Million Pfund gewesen. Für die
Einlösung der Aktien waren also zwanzig Millionen erforderlich. Mit
einer jährlichen Zinsverpflichtung, die dem bisherigen Reinertrage
gleichkam, konnte aber die Genossenschaft zu vier Perzent
fünfundzwanzig Millionen Kapital erhalten. Es blieben somit nach
Erwerbung des Aktienvermögens noch fünf Millionen Gewinn von dieser
Operation übrig.“

„Verdammte Jungens!“ staunte Kingscourt. „Wodurch war denn die
Aktiengesellschaft so reich geworden?“

„Hauptsächlich durch die Wertsteigerung des Bodens, den sie angekauft
hatte,“ sagte David. „Diese Werterhöhung war den Arbeitern zu
verdanken, und ihnen mußte sie schließlich gerechterweise zu gute
kommen. Sie sehen jetzt auch, wie wir den Uebergang des Bodens an die
Gemeinschaft vollziehen konnten. Das Gemeingut wurde Eigentum der
Genossenschaft, die von da ab den offiziellen Namen ’Neue Gesellschaft’
trug.“

Architekt Steineck rief:

„Unseren lieben Gästen wird es vielleicht nicht gefallen, daß wir uns
solcher anrüchiger Mittel, wie Aktien und dergleichen bedient haben.
Wir konnten uns aber nicht anders helfen.“

„Da irren Sie sich groß,“ erwiderte Kingscourt, „wenn Sie mich für ’n
solches Hornvieh halten. Ich habe ja in Amerika jelebt. Ich weiß doch,
was ’ne Harke ist. Eine Aktiengesellschaft ist ’n Jefäß, da kann man
Jutes und Schlechtes hineinthun. Ebenso könnte einer sagen, eine
Flasche sei verwerflich, weil man sie mit Gift oder Fusel füllen kann.
Auch solche Kolonialgesellschaften hat’s doch in der Jeschichte jenug
jegeben. Es waren miserable und ausjezeichnete drunter. Die Ostindische
Kompagnie war doch nicht schlecht. In Eurer Neuen Jesellschaft find’
ich sogar ’nen sittlichen Grundzug. Das mit der
Verjenossenschaftlichung ... Nu möcht’ ich aber hören, wie’s weiter
war. Lassen Sie doch ’mal Ihren Klapperkasten wieder laufen.“








3. KAPITEL.


David stellte den Phonographen wieder ein, und aus dem Schalltrichter
hörte man abermals Joe’s Stimme, die früheren letzten Worte
wiederholend:

„Das Direktorium ernannte mich zum General-Manager auf fünf Jahre. Dann
erhielt ich für die ersten Ausgaben den Kredit von einer Million Pfund
eingeräumt. Einer meiner Ingenieure meinte, das sei wenig. Für den
Anfang reichte es jedenfalls. Ich machte mir also meinen Plan. Wir
waren im Herbst. Nach dem Winterregen wollte ich die geordnete
Wanderung beginnen lassen. Ich hatte beiläufig vier Monate zur Arbeit
vor mir. Da durfte keine Stunde verloren werden.

Vor allem richtete ich mir meine Zentralkanzlei in London ein und
stellte für die wichtigsten Abteilungen Chefs auf, die ich kannte oder
die mir gut empfohlen waren. Smith für Personentransport, Rübenz für
Frachten, Steineck für das Bauamt, Warszawski für Maschinenkauf,
Alladino für Landkauf, Kohn und Brownstone für die Verpflegung,
Harburger für Sämereien und Baumpflanzungen. Leonkin hatte das
Rechnungsdepartement, Wellner war mein Generalsekretär. Ich nenne sie
in der Reihenfolge, wie sie mir einfallen. Als erster Gehilfe und
Chefingenieur diente mir Fischer, den uns leider schon der Tod
entrissen hat. Er war ein herrlicher, ernster, begeisterter Mensch. Wir
werden nie genug um ihn trauern können.

Das Erste war, daß ich Alladino nach Palästina schickte, um so viel
Land zu kaufen, als er nur bekommen konnte. Er war ein spanolischer
Jude, des Arabischen und Griechischen kundig, ein verläßlicher, kluger
Mann aus einer jener stolzen Familien, die ihren Stammbaum bis in die
Zeit der Vertreibung aus Spanien nachweisen. Vor der Veröffentlichung
des Charters waren die Bodenpreise mäßig. Ich durfte darauf rechnen,
daß der undurchdringliche Alladino sich auch von den pfiffigsten
Agenten nicht werde überlisten lassen. Die Landkäufe gingen natürlich
auf ein anderes Konto der Neuen Gesellschaft, es waren dafür zunächst
zwei Millionen Pfund Sterling bewilligt. Fünfzig Millionen Francs waren
für die damaligen Bodenverhältnisse in Palästina eine große Summe. Da
ich mir beim Abschluß des Charters von der türkischen Regierung hatte
versprechen lassen, daß die bisherigen behördlichen
Einwanderungsschwierigkeiten bis auf weiteres bleiben sollten, war ich
gegen eine überstürzte Immigration ziemlich gesichert.

Eine in kleine numerierte Gevierte eingeteilte Landkarte von Palästina
wurde in meinem Bureau aufbewahrt, die genaue Kopie nahm Alladino mit.
Er hatte mir einfach die Nummern der Parzellen, die er angekauft hatte,
zu telegraphieren. So wußte ich jeden Tag, wieviel und welchen Boden
wir bereits besaßen und konnte danach meine Dispositionen treffen.

Zur gleichen Zeit schickte ich den Botaniker Harburger nach Australien
zum Ankaufe von Eukalyptusbäumchen. Auch hatte er diskretionäre
Vollmacht zur Anschaffung solcher Setzlinge der Mittelmeerflora, die er
zu Nutz und Zier nach Palästina verpflanzen wollte. Alladino und
Harburger reisten zusammen nach Marseille. Dort trennten sie sich.
Alladino ging mit dem nächsten Schiffe nach Alexandrien. Harburger
reiste langsamer die Riviera hinunter, überall Bestellungen bei
Gärtnern und Pflanzenhändlern für das kommende Frühjahr machend. Seine
Aufgaben zeigte er täglich Rübenz an. Eine Woche später schiffte sich
Harburger in Neapel nach Port-Said ein, und ich hörte dann erst wieder
von ihm, als er in Melbourne angelangt war.

Ferner schickte ich sofort den Maschineningenieur Warszawski nach
Amerika zum Einkauf der neuesten landwirtschaftlichen Geräte, Maschinen
und aller Arten von transportablen Motoren, Straßenwalzen und so
weiter. Warszawski hatte, wie alle meine Chefs, den Auftrag, sich nie
ängstlich an meine Detailbefehle zu halten, sondern nur das Praktische
auszuführen. Lange Berichte wünschte ich nicht. Alles Wichtige mußte
mir aber sofort mit Ziffern und Thatsachen telegraphiert werden. Wer
irgendwo etwas Neues, Praktisches, für unsere Zwecke Verwendbares sah,
auch wenn es nicht in sein Ressort einschlug, hatte es mir sofort zu
signalisieren, am liebsten telegraphisch. So habe ich im Verlaufe der
Zeit manche glänzende Anregung bekommen. Unser Werk ist nur darum
gelungen, weil es fort und fort auf der modernsten Höhe der Zeit war.
Ich sagte Warszawski beim Abschiede bloß: Kaufen Sie kein altes Eisen!
Er verstand mich.

Warszawski hatte noch einen Nebenauftrag. Er sollte die Rückwanderung
der nach Amerika verschlagenen osteuropäischen Emigranten einleiten.
Auf dieses Bevölkerungselement legte ich das größte Gewicht. Es waren
Leute, die sich schon einmal mit Energie aus elenden Verhältnissen
losgerissen und nachher die gute amerikanische Schule des Lebenskampfes
durchgemacht hatten. New-York war zu Ende des neunzehnten Jahrhunderts
die größte Judenstadt der Welt. Freilich konnten sich diese
osteuropäischen Flüchtlinge in solchen Massen dort nicht halten. Sie
drückten einander entsetzlich wie in einem Pferch und waren aus einer
Misere in die andere gekommen. Da war also der Abfluß ein ebensolches
Erlösungswerk, wie in Osteuropa selbst. Es mußte auf ähnliche Weise die
Wanderung nach Palästina vorbereitet werden. Warszawski hatte den
Auftrag, die Leiter der bestehenden zionistischen Ortsgruppen zu einer
vertraulichen Besprechung einzuladen. Um einer verfrühten Ablüftung des
Planes vorzubeugen, hatte er ihnen nur folgendes zu sagen: „Es hat sich
eine kapitalkräftige Gesellschaft gebildet und Konzessionen in
Palästina erhalten, um landwirtschaftliche und industrielle
Unternehmungen anzulegen. Tüchtige gelernte und ungelernte Arbeiter
dürften im Monate Februar gebraucht werden. Fertigen Sie mir
verläßliche Listen aus den Angehörigen Ihrer Ortsgruppen an. Die
Rubriken sind: Namen, Alter, Geburtsort, bisherige Beschäftigung,
Familienstand, Besitzverhältnisse. Unter den ungelernten Arbeitern
erhalten die ledigen Leute den Vorzug, unter den Handwerkern die
Verheirateten. Jede Ortsgruppe übernimmt für die von ihr Empfohlenen
die moralische Verantwortung. Diese Verantwortung wird darin wirksam,
daß eine Ortsgruppe, deren Angemeldete dann den Dienst versagen oder
sich irgendwie untüchtig erweisen, späterhin vom Präsentationsrechte
ausgeschlossen sein soll. Es muß eine Ehrensache der Ortsgruppen sein,
nur die geeigneten Menschen vorzuschlagen. Ihre Sache ist es, wie sie
die herausfinden: durch allgemeine Wahl der Mitgliederversammlung oder
durch Ernennung seitens des Gruppenvorstandes. Die Mittel zur
Erforschung der Eigenschaften haben Sie in jedem einzelnen Falle, da
sie einander kennen, jeden in ihrem kleineren Kreise arbeiten und
wirtschaften sehen.“

Wörtlich die gleiche Vorschrift ließ ich auch in Rußland, Rumänien,
Galizien und Algerien zur Kenntnis der zionistischen Ortsgruppen
bringen. Zu diesem Zwecke sandte ich Leonkin nach Rußland, Brownstone,
der in Jassy zu Hause war, nach Rumänien, Kohn nach Galizien und Smith
nach Algerien. Leonkin war nach drei Wochen, die anderen schon nach
vierzehn Tagen wieder bei mir in London. Sie hatten den erforderlichen
Korrespondenzdienst überall eingerichtet. Natürlich mußte das alles
einfach und stramm zentralisiert sein. Ich hatte in den einzelnen
Ländern erklären lassen, daß mein Bureau nur mit den Zentralstellen
verkehren werde. Wir wären sonst in Schreibereien ertrunken. Die
Vorsteher der Ortsgruppen wählten für größere Distrikte ein
gemeinschaftliches Komitee. Die Vorsteher der Distriktskommitees wieder
wählte ihre Landeszentrale, die allein mit meinem Bureau zu thun hatte.
Ich brauchte nur das Verzeichnis der Ortsgruppen nach Distrikten und
Ländern geordnet.

Um mir den beständigen Ueberblick zu erleichtern, hatte ich einen
kleinen Anschauungsbehelf. Ich ließ mir Stecknadeln mit
verschiedenfarbigen Glasköpfen machen. Dunkelblau, lichtblau, gelb,
rot, grün, schwarz, weiß. Diese Nadeln steckte ich in die auf Bretter
gespannten großen Landkarten der einzelnen Staaten. Jede Farbe
bedeutete den Vorbereitungszustand einer Ortsgruppe. Weiß bedeutete zum
Beispiel nur, daß an diesem Ort eine organisierte Gruppe bestehe, die
in der Ausarbeitung der Arbeiterliste begriffen sei. Grün bedeutete
landwirtschaftliche, rot Industriearbeiter, gelb selbständige
Handwerker, lichtblau endlich die bereits mit gemeinschaftlichem
Vermögen gebildeten landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften, die
nur ein Stück geliehenen Bodens zur Ansiedlung verlangten. Schwarz war
das Zeichen für die Ortsgruppe, deren Sendlinge sich nicht bewährt
hatten. Dann gab es auch gemischtfarbige Köpfe an meinen Stecknadeln,
grün-rot, lichtblau-gelb, und so weiter. Das sind geringe Details, die
mir aber die Mühe sehr vereinfachten. Ich konnte Dank meinem
Nachrichten- und Kartendienst Jahre hindurch jeden Tag den ganzen Stand
unserer Bewegung deutlich bis in die letzten Einzelheiten überblicken.
Diese Landkarten und Telegramme begleiteten mich überallhin. Später
kamen Stecknadeln mit Ziffern für die Eisenbahn- und Schiffsmarkierung
hinzu. Ich wußte zu jeder Stunde, wieviel Transporte unterwegs und
genau an welcher Stelle sie waren. Befand ich mich selbst auf der
Reise, so wurden mir die eingelaufenen Depeschen zweimal täglich in
einem Gesamtberichte von meinem braven Wellner aus London
nachgedrahtet.

Vielfach war in früherer Zeit die Ansicht verbreitet gewesen, daß die
Aussicht auf eine bevorstehende Auswanderung die Leute demoralisieren
müsse. Niemand würde mehr Lust zur Arbeit oder zur Erfüllung seiner
Verpflichtungen haben, wenn er demnächst wegziehen sollte. Das
Gegenteil des Befürchteten trat ein. Da die Ortsgruppen in ihrem
eigenen wohlverstandenen Interesse nur die Anständigsten, Fleißigsten
vorschlagen durften, so entstand überall ein löblicher Wettbewerb um
die Aufnahme in die Liste. Diese wurde unversehens das Ehrenbuch der
Gemeinden. Wen man für würdig erklären sollte, ins gelobte Land zu
ziehen, der mußte sich redlich bemühen. So ergab sich daraus eine
Nebenwirkung; ich gestehe offen, daß ich diese nicht im Traum erwartet
hätte. Und sie war doch eigentlich so leicht vorauszusehen gewesen.
Mancher unordentliche oder hoffnungslose Mann strengte sich mehr an,
als bisher, und wirtschaftete vernünftiger. Mancher Haushalt wurde
befestigt, mancher halb Verlumpte raffte sich wieder auf. So war die
Wirkung des geregelten Auswanderns auch auf die ganz vorzüglich, die
noch dableiben mußten. Und wie sie sich innerlich erhoben, so wurden
sie auch ihren äußeren Verpflichtungen gerecht. In der Instruktion an
die Ortsgruppen war mit größter Deutlichkeit gesagt, daß nur diejenigen
angenommen werden könnten, die von ihrer politischen Behörde ein
richtiges Abgangszeugnis erhielten. Für Vagabunden hatten wir keine
Verwendung. Von den Regierungen, die über unser Werk vollkommen
unterrichtet waren, wurden wir nach Möglichkeit unterstützt. Uebrigens
kam das erst später.

In den ersten Wochen, nachdem ich Alladino, Warszawski und die anderen
ausgeschickt hatte, war ich nur mit meinem Chefingenieur Fischer,
Steineck und Wellner in London. Da wurden die großen technischen Pläne
zum erstenmal umrissen. Viele davon sind heute verwirklicht. Manche
mußten wir aufgeben; andere wurden noch großartiger ausgeführt, als wir
gehofft hatten. Ich behaupte nicht, daß wir Nochnichtdagewesenes
geleistet haben. Die amerikanischen, englischen, deutschen und
französischen Ingenieure haben das alles schon vor uns gemacht. Aber im
Orient waren wir doch die ersten Boten dieser Kultur.

Von Steineck ließ ich Pläne für Arbeiterhäuser und Stationsgebäude
anfertigen. Einige billige Typen mußten für den Anfang genügen.
Hauptsache war die rasche Herstellung. Auf Schönheit konnte in der
ersten Zeit nicht reflektiert werden. Die großen Leistungen Steinecks
in der zweckmäßigen, graziösen und stellenweise majestätischen Anlage
von größeren Ortschaften, Städten sind späteren Datums. Im Anfang hatte
er nur für die rohen Unterkunftsbauten zu sorgen. Auf seinen Vorschlag
bestellte ich in Frankreich fünfhundert Baracken eines neuen Systems,
die wie Zelte abgebrochen und innerhalb einer Stunde aufgestellt werden
konnten. Die Baracken mußten Mitte Februar in Marseille geliefert
werden, wo sie Rübenz übernehmen ließ. Ich gab, nachdem die typischen
Hauspläne fertig waren, Steineck den allgemeinen Auftrag, sich das
Baumaterial und die Baumeister schnell, billig, nach seinem Ermessen zu
schaffen. Steineck mußte sein Bauamt sofort einrichten und ich wollte
ihm die weiteste Selbständigkeit gewähren. Ich sagte ihm: Begeben Sie
sich unverzüglich an Ort und Stelle! Seine Antwort machte mich stutzig.
Er sagte: „Ich werde zuerst nach Schweden und Finnland gehen ...“

Hier wurden die Worte des Phonographen überlärmt von einem lustigen
Ausbruch des Architekten Steineck. Die Erinnerung riß ihn so hin, daß
er dröhnend lachte. Sein Bruder wies ihn streng zurecht:

„Beherrsche dich! Du störst uns!“

David mußte die Walze wieder zurückstellen, so daß man die letzten
Worte nochmals hörte:

„... machte mich stutzig. Er sagte: Ich werde zuerst nach Schweden und
Finnland gehen ... Das war doch nicht die Route nach Palästina? Aber
ich urteile vorschnell. Er ging nach Schweden, um Bauholz einzukaufen.
Dann reiste er nach der Schweiz, nach Oesterreich und Deutschland und
warb an den technischen Hochschulen junge Leute, die eben mit ihren
Studien fertig wurden.

Nach sechs Wochen hatte er in Jaffa seine erste Baukanzlei im Betrieb,
mit ungefähr hundert Bauingenieuren und Zeichnern, unter denen sich
bald sehr tüchtige Kräfte bemerkbar machten. Die Kunde vom unverhofften
Bedarf an jüdischen Technikern verbreitete sich aber durch die
Studentenvereine sehr rasch an allen Hochschulen. Auch da zeigte sich
die Erscheinung, die wir auf einer unteren Stufe in den Ortsgruppen
sehen konnten. Die Aussicht, in Palästina Verwendung und eine
vielleicht glänzende Karrière zu finden, beflügelte den Lerneifer der
jungen Leute. Sie machten ihre Prüfungen eiliger, als bisher. Sie
vertrödelten ihre Zeit nicht mit politischem Firlefanz oder
Kartenspiel, sondern trachteten, mit möglichster Beschleunigung
brauchbare Menschen zu werden.

Das Holz, das Steineck in Schweden und Finnland gekauft hatte, sowie
seine Eisenbestellungen in Deutschland und Oesterreich gab er unserem
Tarifmanne Rübenz auf. Dieser hatte sich inzwischen mit Eisenbahnen,
Schiffahrtsgesellschaften und Dockverwaltungen in Verbindung gesetzt.
Rübenz war ein geschickter Tarifeur und löste die Aufgabe in den
nächsten Monaten vorzüglich. Seine Leistung ist heute ziemlich
vergessen, weil ein so großartiger Schiffsverkehr zwischen unseren und
den europäischen Häfen besteht. Aber in den ersten drei, vier Jahren
gehörte Witz dazu, billige Frachtmittel zu finden. Rübenz benützte die
erstaunlichsten Gelegenheiten, spanische, griechische, nordafrikanische
Schiffe. Ich hatte ihn immer im Verdacht, daß er das Speditionsgeschäft
als Sport betreibe. Er ließ seine Waren die wunderbarsten Reisen und
Umwege machen. Aber am Tag, an dem man sie brauchte, waren sie da, und
es stellte sich manchmal heraus, daß er eine langsamere Beförderung
gewählt hatte, um Lagerzins zu sparen. Das Schiff war in seiner
Behandlung ein schwimmendes Dock. Er hatte in seiner Abteilung auch
mehrere Landkartensysteme mit bunten Stecknadeln, die Getreide, Mehl,
Zucker, Kohle, Holz, Eisen und so weiter bedeuteten. Wollte ich mich
über den Materialstand orientieren, brauchte ich nur in sein Bureau zu
gehen. In wenigen Minuten hatte ich alle Auskünfte und ein
übersichtliches Bild unserer Vorräte. Rübenz war ein Pfennigsparer.
Damit hat er unserer Wirtschaft riesige Summen eingebracht.

Es war auch ein Gedanke des Rübenz, die großen Kaufhäuser in England,
Frankreich und Deutschland noch vor Beginn der Wanderung zu
verständigen. Diese Kaufhäuser hatten Massen alter Ladenhüter und ihre
Besitzer durften froh sein, solchen Absatz zu finden. Für uns war es
eine bedeutende Entlastung, daß wir nicht für alle
Lebensnotwendigkeiten unserer Ankömmlinge im vorhinein sorgen mußten.
Wie sollten wir alle die Betten, Tische, Schränke, Matratzen, Kissen,
Decken, Schüsseln, Teller, Töpfe, Wäsche, Kleider, Stiefel vorbereiten?
Das wäre an sich schon eine ungeheure Aufgabe gewesen. Wir überließen
sie am besten solchen konkurrierenden Großunternehmern, die sich dabei
ihren Vorteil suchen mochten. Diese Kaufleute hatten freilich in den
armen Einwanderern keine sehr geldkräftige Kundschaft. Anders als in
Teilzahlungen konnten die Ansiedler die Waren nicht erstehen. Doch gab
es eine Sicherheit darin, daß die Neue Gesellschaft die vereinbarten
Raten den Arbeitern und Angestellten vom Lohn abzog und den Kaufhäusern
direkt zuführte. Dadurch erlangten wir aber auch einen gesunden Einfluß
auf die Warenpreise, die unseren Ansiedlern gerechnet wurden. Unser
Rechnungsdepartement ließ sich mit den Kaufhäusern auf solchen Verkehr
nur ein, wenn sie ihren festen Preistarif vorgelegt hatten. So wurde
die Bewucherung der armen Leute verhindert, und die Warenmagazine
machten große Umsätze bei völliger Sicherheit. Ja, es ist noch selten
in der Weltwirtschaft vorgekommen, daß die Lieferanten einen
bevorstehenden Warenverbrauch mit solcher Wahrscheinlichkeit abschätzen
konnten. Die Lieferung hatte etwas Heeresmäßiges und doch Freies. Die
Konkurrenz blieb allen offen. Dadurch wurde alles billiger. Einer
Kartellierung der Warenhäuser war leicht vorzubeugen. Für Geschäfte,
die sich zu einem Preiskartell zusammenthaten, besorgten wir die
Verrechnung nicht. Sie mochten dann zusehen, woher sie ihre Kundschaft
nahmen. Unsere ordentlichen Leute bekamen sie nicht.

Auf diese Art schufen wir in zwei, drei Monaten den Markt der ersten
Zeit. Während sich in allen Ländern die Ortsgruppen um die Auswahl der
Tüchtigsten bemühten, bereiteten englische, deutsche und französische
Warenhäuser ihre Niederlassungen in Haifa, Jaffa, Jericho und vor den
Thoren Jerusalems vor. Die einheimische Bevölkerung sah das Auftauchen
der abendländischen Sachen mit Staunen. Man wußte sich anfangs die
Merkwürdigkeit gar nicht zu erklären. Ein schnurriger Brief des
Architekten Steineck aus dieser Zeit schildert die gravitätische
Verblüffung der Orientalen beim Erscheinen dieser Wunder. „Ernste
Kamele blieben stehen und schüttelten den Kopf,“ schreibt unser Freund.
Aber die Einheimischen fingen gleich zu kaufen an, und bis nach
Damaskus und Aleppo, nach Bagdad und an den persischen Golf verbreitete
sich die Kunde von den neuen Bazaren. Die Leute strömten herbei. So
bewirkte schon die Vorahnung unseres Unternehmens ein Aufleben von
Handel und Wandel. Nach den glänzenden Resultaten der ersten Monate
begannen einige Großhändler die gangbarsten Waren in Palästina selbst
zu erzeugen, weil sie dabei die Transportspesen ersparten. Das waren
die frühesten Ansätze zu unserer heutigen blühenden Großindustrie.

Man hat mir später einen Vorwurf gemacht, daß ich das Reichwerden von
Unternehmern begünstigte. Ich bin dafür auch in Zeitungen beschimpft
worden. Das ist mir sehr gleichgiltig. Anders war es nicht zu machen,
und jedem kann man es nicht recht machen. Ich hatte nur darauf zu
sehen, daß kein Beamter der Neuen Gesellschaft mehr als seinen
rechtmäßigen Gehalt verdiene. Darauf habe ich erbarmungslos gesehen,
das wird mir jeder bezeugen. Daß ich kein Vermögen gemacht habe, ist
auch bekannt. Wenn aber freie Unternehmer reichlich erwarben, so konnte
mir das im Interesse unserer Sache nur recht sein. Wo Gold aus der Erde
gewaschen wird, dort strömen die Menschen hin. Auf welche Weise es
gewaschen wird, ist gleichgiltig. Ich unterschätze die idealen und
sentimentalen Beweggründe nicht, aber die materialistischen sind auch
etwas wert.

Ich greife da wieder einer späteren Entwicklung vor. Nach Steinecks
Abgang hatte ich Zeit, die Pläne meines guten Fischer zu studieren.
Seine Entwürfe für die Straßen, Wasser- und Kraftversorgung,
Eisenbahnen, Kanäle und Häfen waren klassisch. Sein größtes Werk, der
Kanal vom Mittelländischen zum Toten Meere, mit der geistreichen
Ausnützung des Niveauunterschiedes, breitete er schon damals auf dem
Papier vor mir aus. Ein Schweizer Ingenieur, ein Christ, der aus
Begeisterung für den Zionismus zum Judentum übergetreten war, und den
Namen Abraham angenommen hatte, half ihm bei dieser Arbeit. Der
bescheidene Fischer pflegte ihn immer als den eigentlichen geistigen
Urheber des Werkes hinzustellen. Die ausgezeichneten Landkarten des
englischen Generalstabs und namentlich die plastische Karte Armstrongs,
die vom Palestine Exploration Fund herausgegeben worden, leisteten uns
dabei unschätzbare Dienste. Um diese Zeit regte ich auch die Gründung
der ersten Eisenbahngesellschaften an. Die armselige Linie
Jaffa-Jerusalem konnte natürlich den kommenden Bedürfnissen nicht
genügen. Die Küstenbahn von Jaffa südwärts nach Port-Said, nordwärts
über Cäsarea, Haifa, Tyrus, Sidon, nach Beirut mit dem Anschluß nach
Damaskus wurde vor allem gesichert. Es folgte die neue Linie nach
Jerusalem, die Jordanthalbahn mit den östlichen und westlichen
Abzweigungen am See von Genezareth, die Libanonbahnen. Die Kapitalien
wurden von Warszawski in Amerika und von Leonkin in Rußland
aufgetrieben. Ich hatte Kämpfe mit meinem Direktorium wegen der
Zinsengarantien. Man erklärte mich für tollkühn, weil ich die
Rentabilität solcher Linien gewährleisten wollte. Ich setzte meinen
Willen durch und behielt mit meinen Schätzungen Recht. Es war
allerdings eine Affaire von fünf Jahren, in denen ich nach und nach
eine Linie um die andere durchdrückte. Heute ist das alles alte
Geschichte, die Bahnen sind ja in’s Eigentum der Neuen Gesellschaft
übergegangen.

Nächst den Transportfragen beschäftigte mich die des Zugviehs am
meisten. Eine meiner Aufgaben war ja die Einrichtung einer sehr großen
Landwirtschaft. Die Zugviehherden mußten nicht nur angeschafft, sondern
auch nach Palästina gebracht und gefüttert werden. Ich hatte darüber
manche sorgenvolle Unterredung mit Brownstone, in dessen Abteilung das
fiel. Seine Vorschläge sagten mir nicht recht zu. Ich hatte ordentlich
Angst vor dem Gedanken, Herden von vielen tausend Ochsen in den
Donauländern anzukaufen und sie auf langsamen Land- und Wasserwegen
hinüberzuschaffen. Brownstone drängte, es wäre schon die höchste Zeit,
aber ich konnte mich lange nicht entschließen. Am sympathischsten war
mir der Gedanke, Zugvieh aus Egypten zu holen. Dagegen sprach auch
manches.

Während der ersten Wochen konnte ich mich nicht von London wegrühren.
Aber einmal machte ich einen Sprung nach Deutschland, um mir den neuen
elektrischen Motorpflug anzusehen. Ich war von dem Ergebnis geradezu
begeistert. Den elektrischen Pflug rechne ich zum allergrößten, was uns
das neunzehnte Jahrhundert geschenkt hat. Heute ist der elektrische
Pflug freilich viel praktischer, als er damals war. Aber schon in
seiner frühen Form fand ich ihn ausgezeichnet. Ich kaufte
augenblicklich den ganzen Vorrat der Fabrik auf, bestellte nach, was
sie bis Februar liefern konnte und telegraphierte an Warszawski nach
New-York: „Kaufen Sie elektrische Pflüge Motorsystem zusammen, so viel
Sie bis Februar bekommen können.“ Er antwortete: „Werde sehen.“ Als ich
wieder in London eintraf, hatte ich seine Depesche: „Dreihundert
Motorpflüge werden Mitte Februar in Jaffa sein.“

Durch diesen Fund war ich von einigen Sorgen erleichtert. Es gab nach
meiner Rückkehr aus Deutschland einen komischen Auftritt mit
Brownstone. Ich sehe noch sein verblüfftes und beleidigtes Gesicht, als
ich ihn in meiner Freude anschrie: „Mein Lieber, Sie sind überflüssig
geworden — wir brauchen keine Ochsen mehr! ...“ Erst aus dem Gelächter
der Umstehenden erkannte ich das drollige Mißverständnis, bat ihn um
Entschuldigung und erklärte die Sache. Brownstone jauchzte laut auf,
und so thaten die übrigen. Allerdings war unser Freund Brownstone auch
jetzt nicht überflüssig geworden. Es gab noch reichlich für ihn zu
thun, wenn er auch weniger Zugochsen aufzubringen hatte. Wir brauchten
immer noch genug Pferde, Milchkühe, Schafe, Geflügel und entsprechende
Futtervorräte für all das Getier. Dieser Zwischenfall hatte sich bald
nach Brownstones Rückkehr aus Rumänien abgespielt. Jetzt schickte ich
ihn nach Holland, der Schweiz und Ungarn, um gutes Vieh einzukaufen.

Statt der Ochsen mußten wir uns nun Kohlen für die Pflüge besorgen. Das
war die Sache Rübenz’. Damals war die asiatische Kohle noch nicht so
leicht erreichbar, wie jetzt. Rübenz deckte sich den voraussichtlichen
Bedarf an Kohle in England durch einfachen Depeschenwechsel. Innerhalb
vierundzwanzig Stunden war das erledigt. Es war einer der glücklichen
Momente, in denen einem der Kulturfortschritt fühlbar wird. Denn schon
das hielten wir damals für eine kolossale Errungenschaft. Sie war es
auch. Wir hatten damals noch nicht die Wasserkraft des
Toten-Meer-Kanals. Heute brauchen wir ja nicht mehr die englische
Kohle, um den Boden von Palästina zu pflügen. Auch das Lokomobil, das
am Feldrande stand, ist für uns eine altertümliche Erscheinung
geworden. Wir haben jetzt unsere Drähte, in denen die Kraft vom
Jordangefälle, vom Toten-Meer-Kanal oder von den Bächen des Libanon und
Hermon weit über’s ganze Land den Pflügen zugeleitet wird. Statt der
Kohle haben wir das Wasser.

Dies waren in großen Zügen meine ersten Vorkehru..“

Hier bat Professor Steineck geräuschvoll um’s Wort. David stellte
sogleich die Walze ein.

„Ich muß eine Bemerkung machen,“ sagte der Professor. „Es ist eine mehr
litterarische Bemerkung, nehmen Sie mir das nicht übel. Wissen Sie, was
das ist, was wir soeben vom verborgenen Joe gehört haben? Das neue
Chad-Gadja. Sie verstehen?“

Kingscourt verstand natürlich nicht. Man mußte es ihm erklären. Chad
Gadja, chad Gadja, das Lämmchen, das Lämmchen, ist die letzte halb
scherzende und halb nachdenkliche Geschichte im Buche des Passahfestes.
Das Lämmchen wird von der Katze gefressen, der Hund zerreißt die Katze,
der Stock erschlägt den Hund, das Feuer verzehrt den Stock, die Quelle
löscht den Brand, der Ochse trinkt die Quelle aus, der Schlächter tötet
den Ochsen, der Todesengel nimmt den Schlächter fort — und über allen
ist Gott, der den ganzen Weg regiert, vom Todesengel bis zurück zum
Lämmchen, zum Lämmchen.

„So,“ meinte der Professor, „geht es auch mit den Kräften am Pflug. Den
Ochsen verdrängt die Kohle, die verdrängt wird vom Wasser ...“

Worauf der alte Littwak sagte:

„Und über allen ist Gott — bis zurück zum Lämmchen.“








4. KAPITEL.


Es war spät, und die Zuhörer waren müde geworden. So beschloß man, die
weitere Erzählung des Phonographen auf einen anderen Tag zu
verschieben.

Die Gesellschaft entfernte sich.

Es war eine mondhelle Nacht, und der Weg von der Villa des alten
Littwak an dem Seeufer hin nach dem Hotel ein genußvoller Spaziergang.
Kingscourt wandelte mit Professor Steineck voran, Fragen über Fragen
stellend. Er war allmählich warm geworden für diese Judengeschichte,
hielt es jedoch für notwendig, wiederholt zu betonen, daß es
ausschließlich das Element von modernem Großbetrieb darin sei, was ihm
einigermaßen fessle. Für das Schicksal von Menschen, sie seien Juden
oder Nichtjuden, könne er sich nun einmal absolut nicht interessieren.
Er sei und bleibe ein Menschenfeind, halte es für den größten Unsinn,
sich um den lieben Nächsten zu kümmern, denn das sei das lächerlich
Undankbarste. Aber als kurioses Massenunternehmen wolle er sich diese
Judenwanderung immerhin gefallen lassen. Er wolle sich sogar morgen
recht gerne die Fortsetzung der phonographischen Erzählung anhören.

Die anderen Sedergäste schritten zu zweien und dreien plaudernd
hinterdrein. Zuletzt kam Frau Sarah mit Friedrich, der ganz in Träumen
war und seiner liebenswürdigen Begleiterin kein Wort gab. Sie waren
schon beinahe an ihrem Ziele angelangt, als sie ihn endlich mit seiner
Schweigsamkeit leise neckte. Da wachte er auf und sagte:

„Welche Nacht! Der Mondesduft auf dem See von Genezareth — und all dies
Wunderbare, das nur natürlich ist! Auch ich möchte die Frage des Seders
stellen: Wodurch unterscheidet sich diese Nacht von anderen Nächten?
Ich ahne es schon: durch die Freiheit, in der wir erst Menschen werden
... Ach, Frau Sarah, wer da mitarbeiten, mitleben dürfte!“

„Dürfen Sie denn nicht?“

„Nein. Kingscourt will bald fort.“

„Ach was!“ lachte sie. „Das werden wir schon einrichten. Ihr beide
gehört zu uns. Sie als Retter unserer Familie, er als Ihr Freund. Den
Herrn Doktor Löwenberg werde ich demnächst hier ansiedeln — bitte,
keine Widerrede! Ich werde doch auch etwas zu sagen haben. Und was den
alten Brummer betrifft, den werde ich schon durch Liebesbande zu
fesseln wissen.“

Friedrich schrie ergötzt auf:

„Sie wollen ihn verheiraten?“

„Wenn ich wollte, thäte ich es,“ erklärte Frau Sarah. „Ich würde ihn
zum Beispiel mit Mrs. Gothland — oder mit meiner Schwägerin Mirjam
verheiraten.“

„Der Scherz ist ein bißchen grausam gegen den alten Herrn.“

„Ein Mann,“ sagte sie darauf ganz ernst, „ist nie zu alt zum Heiraten.
Das habt Ihr trotz der Gleichberechtigung noch immer vor uns voraus.
Uebrigens, Ihren Mr. Kingscourt will ich durch andere Liebesbande
festhalten. Von meinem Fritzchen ist er entzückt, das habe ich schon
bemerkt. Es wundert mich nicht, denn das sieht doch jeder, daß es noch
nie ein solches Kind gegeben hat, wie mein Fritzchen.“

Friedrich ging auf ihre liebe mütterliche Narrethei ein:

„So schön!“

„Er ist noch gescheiter als schön, noch gutartiger als gescheit,“ sagte
sie eifrig. „Was meinen Sie nun, wenn ich Mr. Kingscourt oft mit meinem
Fritzchen beisammen sein lasse, wird ihm das Kind nicht ans Herz
wachsen? Dann kann er sich nicht losreißen, bleibt für immer hier, und
Sie mit ihm.“

Friedrich lächelte gerührt über die Herzenseinfalt der sonst so klugen
Frau und störte ihr den Glauben nicht, daß man sich von ihrem Fritzchen
nicht losreißen könne. Das war aber auch ein liebes lustiges
Bürschchen, und es schien sogar, als hätte Frau Sarah die
Anziehungskraft ihres Sohnes auf den alten Herrn nicht überschätzt.
Kingscourt wurde am nächsten Vormittage von Friedrich in einer wahrhaft
beschämenden Lage überrascht: er kroch nämlich im Zimmer des Kindes auf
allen Vieren und ließ Fritzchen auf sich herumreiten.

„Der Junge wird entschieden ein Kavallerist,“ sagte er in seiner
Verlegenheit, nachdem ihm Friedrich wieder auf die Beine geholfen
hatte. „Und jetzt gehst du zu deiner Kinderfrau, sonst versohl ich
dich, daß dir die Schwarten knacken.“

Da er diese Drohung aber mit seinem freundlichsten Schmunzeln ausstieß,
verspürte das Kind keine Angst, klammerte sich vielmehr noch fester an
ihn. Der kleine Knabe wußte nämlich nicht, daß er es mit einem der
grimmigsten Menschenhasser zu thun hatte. Ja, als das Fritzchen dann zu
den Großeltern geschickt werden sollte und Kingscourt nicht mitging,
erhob es ein solches Geheul, daß die verzweifelte Mutter den alten
Herrn bat, sich seiner zu erbarmen. Was wollte Kingscourt thun? Er
opferte sich mit scheinbarer Selbstüberwindung, lachte aber über das
ganze Gesicht, als Fritzchen nun wieder den vollen Sonnenschein der
guten Laune zeigte. Die anderen mögen nur später nachkommen, wann es
ihnen beliebe; er wolle sich noch dieses eine Mal für den ungezogenen
Rangen opfern. Frau Sarah, David und Friedrich folgten schon nach
einigen Minuten auf dem Seewege, und da sahen sie vor sich in der
Entfernung Mr. Kingscourt, wie er hinter der Kindsfrau ging, auf deren
Arm Fritzchen zurückgewendet jauchzte. Den ganzen Weg machte er,
unbekümmert um die Vorübergehenden dem Bübchen einen Narren. Denn er
war alt geworden, ohne die Tyrannei und den Zauber eines kleinen Kindes
kennen gelernt zu haben. Er wußte gar nicht, daß ein solches rosiges
Baby einem gefährlich werden könne, und weil er so ganz ahnungslos,
ganz wehrlos war, geriet er in die komischeste Knechtschaft. Fritzchen
hatte ihm den Namen „Otto“ gegeben. Die Sprachforscher des
Bekanntenkreises führten dies auf das „Hüh hottoh“ zurück, das die
ersten freundschaftlichen Beziehungen zwischen Adalbert von Königshoff,
genannt Kingscourt, und Fritzchen Littwak ausgefüllt hatte. Genug, Mr.
Kingscourt hieß im Munde des Baby „Otto“.

So lange Fritzchen munter war, durfte Otto sich mit niemand und nichts
anderem beschäftigen. Erst als der junge Despot nach der Mittagmahlzeit
mit roten Wangen eingeschlummert war, konnte Kingscourt die Fortsetzung
von Joe Levys Erzählung verlangen. Alle gestrigen Zuhörer waren nicht
da. Mrs. Gothland, die an der Spitze einer Pflegerinnengesellschaft
stand, war auf Krankenbesuch aus. Der Pope von Sepphoris hatte
heimkehren müssen. Pater Ignatius war heute auch nicht frei. Die Brüder
Steineck sollten später eintreffen. Aber da man den Phonographen zu
beliebiger Zeit die Rede wiederholen lassen konnte, so waren auch die
Abwesenden in der Lage, das Versäumte gelegentlich nachzuhören.

David hatte den Apparat in den Salon des ersten Stockes bringen lassen,
der an das Krankenzimmer der Mutter grenzte. Die Leidende befand sich
heute etwas besser. Man konnte sie auf dem Rollstuhle hereinschieben.
Sie saß mit einem freundlich wehmütigen Lächeln im wächsernen Gesichte
da und lauschte gleich den anderen. Neben ihr kauerte Mirjam auf einem
Schemel, von Zeit zu Zeit die Hand der Kranken befühlend. Der alte
Littwak hatte es sich in einem großen Fauteuil bequem gemacht, ebenso
Kingscourt. Reschid Bey half David beim Herrichten des Apparates und
setzte sich dann still hin. Der gute Mr. Hopkins hatte mit Friedrich in
einer Ecke Platz genommen. Friedrich konnte von da aus über die Köpfe
der Zuhörer hinweg zu den Fenstern hinaus ins Freie blicken, bis nach
den Bergen jenseits des Sees. Und zwischen ihm und dem Landschaftsbilde
war der lichtumflossene Umriß Mirjams.

David stellte die Walze ein und Joe Levys Stimme nahm die Erzählung an
der gestern verlassenen Stelle auf:

„Dies waren in großen Zügen meine ersten Vorkehrungen.

Schon war aber die Maschine in Gang. Von Alladino kamen günstige
Nachrichten über den Landkauf. Steineck meldete, daß er im Monate März
in Haifa eine Ziegelei nach neuem System und eine Zementfabrik eröffnen
lassen werde. Warszawski und Leonkin zeigten an, daß in den Ortsgruppen
überall die vortrefflichste Stimmung herrsche. Brownstone und Kohn
hatten sich bereits die Lieferung von Getreide und Vieh für das
Frühjahr gesichert.

Wir mußten aber nicht nur an die mittellosen Massen denken, sondern
auch an die wirtschaftlich höheren Schichten, die nach Palästina
gezogen werden sollten. Auf diese konnte nicht durch Arbeitshilfe oder
direkte Unterstützung gewirkt werden. Es war eine andere Form der
Anregung für sie zu suchen. Ich bediente mich einer Idee des Khedive
Ismail von Egypten. Wer sich verpflichtete, ein Haus im Werte von
mindestens dreißigtausend Francs zu bauen, dem überließ Ismail das
erforderliche Grundstück ohne Entgelt. So that auch ich, bedang aber
den Heimfall des Grundeigentums an die Neue Gesellschaft im fünfzigsten
Jahre. Wir hatten ja beschlossen, das altjüdische Jubeljahr wieder
einzurichten. Es ist bekannt, wie der Khedive durch seinen klugen
Ratschluß die reizende Stadt Kairo entstehen machte. Die Wirkung war
bei uns eine ähnliche. Kaum war diese Vergünstigung durch unsere
Vertrauensmänner ausposaunt worden, so liefen auch schon die
Bauanmeldungen aus allen Ländern massenhaft ein. Generalsekretär
Wellner arbeitete nun in Gemeinschaft mit dem Chefingenieur Fischer
eine Belehrung für die Baulustigen aus. Die Stadtpläne von Haifa,
Jaffa, Tiberias und noch anderen Orten waren in großen Umrissen noch
vor Steinecks Abreise festgestellt worden. Auch hatte unser Architekt
mehrere Typen von schmucken Bürgerhäusern geliefert. Wir ließen diese
Pläne nebst den Preisangaben vervielfältigen und schickten sie den
gemeldeten Baulustigen, die aber nicht an diese Typen gebunden waren.
Sie sollten nur sehen, was und mit welchem Kostenaufwande es gemacht
werden könne. Die erste allgemeine Zuweisung der Bauplätze sollte am
21. März, am Tage des Frühlingsanfanges erfolgen. Bei dieser Zuweisung
sollten nur die bis zum ersten März eingelaufenen Anmeldungen
berücksichtigt werden. Voraussetzung war aber, daß der Platzbewerber
der allgemeinen Genossenschaft unserer Ansiedler als Mitglied beitrat,
daß er eine Kaution in Barem oder in Wertpapieren in der Höhe eines
Drittels vom geplanten Bauwerte an der Kasse der Neuen Gesellschaft
erlegte, und daß er persönlich oder durch einen Bevollmächtigten
vertreten bei der Zuweisungs-Tagfahrt erschien. Die Kaution konnte der
Bauherr zurückfordern, sobald er den Bau des Hauses begonnen hatte.

Dann ließ ich durch Wellner eine Verordnung für das Zuweisen der Plätze
ausarbeiten. Am Tage des Frühlingsanfangs hatte ein Beamter der Neuen
Gesellschaft an jedem Orte, wo Baulustige gemeldet waren, die Wahl
einer drei-, fünf- oder siebengliedrigen Kommission — je nach der Größe
der Liste — zu leiten. Die Angemeldeten wählten aus ihrer Mitte die
Kommission. Bei der Zuweisung der Plätze kamen die zuerst, die zuerst
mit dem Bau beginnen wollten. Bei gleichem Anfang aber hatten die
Gruppen, die Zahlreicheren vor den Wenigen den Vorzug. Zuletzt kamen
die Einzelnen. Bei völliger Gleichheit aller Bedingungen sollte das Los
entscheiden. Die Bevorzugung der Gruppen hatte den Zweck, die
Entstehung eines kräftigen Ansiedlungskernes überall zu begünstigen und
auch gleich die Gemeindeverbindung zur Uebernahme der örtlichen Lasten
anzubahnen. Thatsächlich wurde dadurch erreicht, daß auch die einzeln
Erschienenen sich noch im Augenblicke vor der Zuweisung einer Gruppe
anschlossen und die kleineren Gruppen den größeren. So wurden bei aller
Freiheit Streitigkeiten vermieden. Für die Verteilung der Plätze
innerhalb der Gruppen gab es nämlich auch Bestimmungen. Wer einen
größeren Teil der örtlichen Lasten, als da sind: Herstellung von
Straßen, Wegen, Kanalisation, Beleuchtung, Wasserversorgung, übernahm,
dem gebührte auch der bessere oder geräumigere Platz. Diese einfachen
und gerechten Grundsätze waren leicht durchzuführen. Der anwesende
Beamte der Neuen Gesellschaft hatte über den Zuweisungsakt ein
Protokoll aufzunehmen, das die Kommission mitunterschrieb.

Das Protokoll wurde noch am selben Tage dem Rechtsbureau meiner
Zentraldirektion nach Haifa eingeschickt. Entsprach es den allgemeinen
Bestimmungen und war dagegen kein Protest von einem richtig
Angemeldeten eingebracht, so wurde die Platzanweisung rechtskräftig und
die Besitztitel wurden nach Ablauf einer Woche ausgestellt. War aber
ein Protest da, so wurde eine Untersuchung des Falles an Ort und Stelle
unverzüglich vorgenommen. Zu diesem Zwecke richtete ich schon im
vorhinein die reisenden Beschwerdeämter ein, die vom Rechtsbureau in
Haifa ausstrahlten. Ein solches Reiseamt bestand aus zwei
rechtskundigen Beamten und einem Schriftführer. Es bekam die Route der
Orte vorgezeichnet, aus denen Beschwerden gekommen waren und hatte mit
größter Beschleunigung von einem Orte zum anderen zu fahren. Die Kosten
hatte derjenige zu tragen, auf dessen Unrecht erkannt wurde. Einen
weiteren Rechtszug gab es nicht. Für diese und andere Aufgaben des
Rechtsbureaus ließ ich durch Wellner, unter dem es zunächst stehen
sollte, ungefähr fünfzig absolvierte Juristen und junge Doktoren der
Rechte in verschiedenen Ländern anwerben. Wir brauchten diese
vielsprachige Juristerei auch für unsere Korrespondenz, die ja in allen
Sprachen geführt werden mußte.

Wohl der wichtigste Teil der Korrespondenz waren die Auskünfte, die wir
den selbständigen Unternehmern von Industrien zu geben hatten. Da
arbeitete Wellners juristisches Sekretariat Hand in Hand mit dem
technischen Departement Fischers. Wir hatten durch die Blätter aller
Länder verlautbart, daß Unternehmer, welche in einem Küstenlande des
mittelländischen Meeres mit einigem Kapital an die Gründung von
Industrien gehen wollten, Rat, genaue Auskünfte über Arbeits- und
Absatzverhältnisse, eventuell auch Maschinenkredit erhalten könnten.
Mit jeder Post sendeten die Expeditionen der Zeitungen, in denen wir
inseriert hatten, Stöße von Briefen ein. Die Beantwortung war zunächst
leicht, denn in der Mehrzahl der Fälle wurde nur gefragt, welches Land
es sei. Für die gleichförmigen Anfragen genügten fünf oder sechs
gleichförmige Bescheide, die ich drucken ließ. Das Sekretariat hatte
nur die Adressen zu schreiben. Aber bald lösten sich aus den zahllosen
Tausenden mehrere hundert ernster Projektanten heraus. Es waren
keineswegs Juden allein. Anfänglich waren sogar die Nichtjuden und
unter diesen die protestantischen Deutschen und Engländer überwiegend,
weil diese ja die stärksten und kühnsten Kolonialunternehmer unter den
Völkern sind. Bei der Erledigung der Anfragen ließen wir uns von keiner
Rücksicht auf Nationalität oder Konfession leiten. Jeder, der den Boden
Israels bearbeiten wollte, war uns willkommen. Unser technisches Bureau
und das Sekretariat lieferten alle gewünschten Angaben gewissenhaft.
Natürlich zogen auch wir, bevor wir uns mit dem Einzelnen tiefer
einließen, Erkundigungen über seine Vertrauenswürdigkeit ein. Den
Würdigen vermittelten wir alle denkbaren Erleichterungen unentgeltlich.
Die Unternehmer, die sich an uns wendeten, mußten auch weniger Lehrgeld
zahlen, als anderswo. Denn sie erfuhren von uns, auf welchen Punkten
eine übermäßige Konkurrenz bereits thätig war oder sich vorbereitete.
Es lag im Interesse der Neuen Gesellschaft, daß alle Unternehmungen,
die sich ihr anschlossen, auch gediehen. Darum bedienten wir die freien
Unternehmer, als hätten sie unsere eigenen Angelegenheiten besorgt. Aus
diesen Anfragen und Antworten des Londoner Sekretariates entwickelte
sich allmählich unser Departement für Arbeits- und
Unternehmungsstatistik. Dem haben wir unendlich viel in unserer
Volkswirtschaft zu verdanken. Wir konnten dadurch den jetzigen Zustand
erreichen: eine Freiheit ohne wahnsinnige Ueberproduktion, eine Ordnung
ohne Druck auf den Einzelnen.

Nachdem ich diese und noch manche andere ernste Dinge in Gang gebracht
hatte, ließ ich mir auch eine heitere Sache angelegen sein ...“

In diesem Augenblicke gab die kranke Frau Littwak ihrem Sohne ein
Zeichen. David hielt die rollende Walze sofort auf und eilte zu seiner
Mutter. Sie fühlte sich müde und wollte wieder zu Bette gebracht
werden. David und Mirjam schoben den Rollstuhl sachte hinüber in die
Krankenstube. Die arme Dulderin grüßte die Zurückbleibenden noch mit
den Augen. Dann schloß die Thüre sich hinter ihr. Der alte Littwak
seufzte, und auch die anderen waren traurig.








5. KAPITEL.


Nach einer kleinen Weile kam David wieder herein. Er fragte die
Freunde, ob sie jetzt die Fortsetzung der Erzählung wünschten. Als sie
bejahten, ließ er den Phonographen an der vorigen Stelle einsetzen. Und
der unsichtbare Joe Levy sprach:

... ließ ich mir auch eine heitere Sache angelegen sein. Sie wurde
anfänglich als Unterhaltung und Sport gedeutet und vielfach bekrittelt.
Ich rüstete nämlich das Schiff der Weisen aus. Dieses Schiff wollte ich
den rückkehrenden Juden vorauf ziehen lassen nach dem alten und neuen
Lande. Schon sein Erscheinen in den mittelländischen Gewässern sollte
die andere Zeit bedeuten.

Die Veranstaltung war nicht schwer. Ich warb den ersten Beamten eines
großen englischen Reisebureaus an, sagte ihm mein Vorhaben, und in
vierzehn Tagen legte er mir alle Kostenvoranschläge, Vertragsentwürfe
und Pläne vor. Von einer italienischen Schiffsgesellschaft mietete ich
auf den Vorschlag des Reisemarschalls den eleganten modernen Dampfer
„Futuro“, der zwischen Neapel und Alexandrien zu verkehren pflegte. Das
Schiff sollte am fünfzehnten März in Genua bereit sein und uns durch
sechs Wochen zur Verfügung bleiben. Ferner ließ ich durch den
Reisemarschall die Verpflegung von fünfhundert Passagieren in den
besten Hotels der italienischen, ägyptischen, kleinasiatischen und
griechischen Städte versorgen. Die Mitfahrenden konnten nach Belieben
in Genua oder Neapel den Futuro besteigen. Ihre Billete gaben ihnen das
Recht zur Fahrt auf allen italienischen Bahnen und zum Aufenthalt in
den ersten Hotels. Aeußerlich nahm sich die Expedition wie eine der
schon damals gebräuchlichen Vergnügungsreisen nach dem Orient aus. Es
war aber mehr. Die Damen und Herren, die wir eingeladen hatten, auf
dieser sechswöchentlichen Frühlingsfahrt nach dem Morgenlande unsere
verehrten Gäste zu sein, gehörten zum erlauchtesten Geistesadel der
Kulturwelt. Ein Komitee von Schriftstellern und Künstlern war
eingesetzt worden, um die Liste dieser Ehrengäste zu entwerfen. Die
Besten aus aller Welt wurden gerufen, selbstverständlich ohne
Unterschied von Nationalität und Konfession. Die Besten wurden gerufen,
und sie kamen gerne, nicht nur weil wir ihnen eine helle Frühlingsreise
versprachen, sondern vor allem, weil es eine so einzige Zusammenkunft
mit ihresgleichen war. Auf dem Futuro trafen sich Dichter und
Philosophen, Erfinder und Entdecker, Forscher und Künstler aller
Zweige, Staatsgelehrte, Volkswirtschafter, Politiker und Journalisten.
Für Körper und Geist war in reichlichem Maße vorgesorgt. Der
Reisemarschall hatte den ganzen Luxus, den die besten
Gesellschaftsausflüge der damaligen Zeit bieten konnten, verschafft.
Die Gäste des Futuro sollten in diesen sechs Wochen das Glück der
wolkenlosen Tage erfahren. Von der Musikkapelle, welche zur Tafel
aufspielte, bis zur täglich am Morgen ausgegebenen Bordzeitung war
nichts vergessen. Und daß es dieser im Schiffsraume gedruckten Zeitung
an fesselndem Inhalte nicht fehlte, das ergab sich schon aus der
Zusammensetzung der Reisegesellschaft. Es war viel Küstenfahrt, und in
allen Häfen warteten schon die neuesten Depeschen aus der ganzen Welt
auf den Futuro. Wenn das Schiff nachts auf einer Reede angelegt hatte,
fand man die dort erhaltenen Depeschen am nächsten Morgen im Blatte.
Aber viel köstlicher war der litterarische Teil. Denn die Vorgänge und
Erlebnisse des Tages wurden von den feinsten Federn geschildert.
Namentlich erschienen in der Bordzeitung von Tage zu Tage, wie sie
gehalten worden, die später berühmt gewordenen Tischgespräche; man hat
sie die neuen Platonischen Dialoge genannt. Von allen höchsten Fragen
war da in erhabener Form die Rede. Die edelsten Geister der Menschheit
äußerten sich, unvergeßliche Anregung gebend und empfangend. Ich will
nur einige der behandelten Gegenstände erwähnen. Man sprach über die
Einrichtung eines wahrhaft modernen Gemeinwesens, über die Erziehung
durch die Kunst, über Bodenreform, über die Organisierung der
Wohlthätigkeit, über die Arbeiterfürsorge, über die Rolle der Frau in
einer zivilisierten Gesellschaft, über die Entwicklung der Technik in
Wissenschaft und Praxis und noch über manches andere, woraus alle
Menschen einen unvergänglichen Nutzen ziehen konnten. Die
„Tischgespräche des Futuro“ sind längst eine Kostbarkeit der
Weltlitteratur geworden. Ich selbst kenne sie nur aus der Lektüre, denn
es war mir nicht vergönnt, sie mitanzuhören. Ich hatte ja nicht Zeit,
diese einzige Vergnügungsfahrt mitzumachen, weil ich bei der Arbeit
sein mußte. Ich war schon lange in Haifa, als der Futuro noch in Genua
ankerte. Aber gelesen habe ich die Bordzeitung mit einer Aufmerksamkeit
und Dankbarkeit, wie nie vorher oder nachher ein Tagblatt. Ich bin kein
Philosoph und konnte mich auch in jenen Tagen weniger als je mit
abstrakten Dingen abgeben. Aber was aus den Tischgesprächen des Futuro
in praktische Energie umzusetzen war, das bemühte ich mich
herauszufinden und anzuwenden. Denn mir kam es vor, als hätte vom
Futuro her der Geist der Menschheit zum jüdischen Volke gesprochen, als
es eben daran war, sich eine neue Existenz zu gründen. Diese Lehren
mußten beherzigt werden. Besonders reich und fruchtbar wurden sie, als
unsere edlen Gäste den Boden von Palästina betraten. Das Schiff der
Weisen fuhr die Küste entlang, die Reisenden schwärmten nach ihrer
freien Wahl im Lande umher, in kleineren Gruppen und Expeditionen, für
die der Reisemarschall mit seinem Stabe von Gehilfen alle
Bequemlichkeiten und Erleichterungen vorbereitet hatte. Alle
interessierten sich nicht für alles in gleichem Maße. Die Geologen
wollten anderes sehen, als die Elektrotechniker; die Botaniker anderes,
als die Architekten; die Maler anderes, als die Volkswirtschafter. Die
wahlverwandten Gruppen zogen also aus und kehrten auf den Futuro
zurück, wann sie wollten. Die hohe und heitere Geselligkeit auf dem
Futuro übte aber auf manche eine derartige Anziehungskraft aus, daß sie
sich vom Schiffe selten entfernten. Einige sahen vom Lande nichts als
die Bahnstrecke nach Jerusalem und diese Stadt. Von einem geistreichen
Schriftsteller wird erzählt — ich weiß nicht, ob es wahr ist — daß er
das Schiff überhaupt keinen Augenblick verlassen habe. Er soll gesagt
haben: „Dieses Schiff ist Zion!“ Er beschrieb aber nachher ausführlich
das Land und seine Leute.

Er konnte das freilich aus den besten Quellen schöpfen. Denn die
Ausflügler, die nach dem Futuro zurückkehrten, brachten Material in
Hülle und Fülle, mit sachkundigen Augen gesehen, in meisterhafter
Schilderung. Da hatten die Tischgespräche neuen Stoff, und es begann
eine Reihe wunderbarer Dialoge über das, was sich in Palästina schaffen
ließe. Diesen Teil der Tischgespräche habe ich mit Ehrfurcht oft und
oft gelesen. Ich weiß sie noch heute fast wörtlich auswendig. Den
tiefsten Eindruck machten auf mich die Ratschläge der Künstler,
offenbar weil ich selbst keiner bin. Im praktischen war ja nur ein
bißchen gesunder Menschenverstand nötig, um die Dinge, die es anderswo
schon gab, auf unsere Verhältnisse zu übertragen. Den Künstlern von
Futuro verdankte ich die herrliche Lehre, daß unser Land in seinen
natürlichen Schönheiten erfaßt und entwickelt werden müsse. Schön
sollte es werden, schön überall, schön vor allem. Weil Schönheit die
Herzen der Menschen immer erfreut.

Zu meinen merkwürdigsten Erlebnissen gehört es, daß ich den Futuro
nicht einmal ordentlich zu Gesicht bekam. Ich hatte seine Fahrt
vorbereitet, mich um sein Wohl bekümmert, ich dachte immer an ihn, und
folgte den Worten seiner Weisen. Aber gesehen habe ich ihn nicht,
wenigstens nicht genau. Und das kam so.

Als der Futuro an unserer Küste erschien, war ich eben im Inneren des
Landes beschäftigt. Fischer, Steineck und Alladino begrüßten das Schiff
namens der Neuen Gesellschaft, als es vor Jaffa anlegte. Ich wollte
mich unseren Gästen vorstellen, sobald ich meine damaligen dringenden
Arbeiten erledigt hätte. Denn das war eine Zeit, wo ich Tag und Nacht
unterwegs sein mußte, von einem Arbeitslager zum anderen. Ich schlief
öfters in meinem großen Motorwagen, der mich von Ort zu Ort brachte.
Von unserem heutigen Komfort war damals begreiflicherweise noch keine
Rede. Wenn ich vorher wußte, wo ich übernachten würde, ließ ich mir
eine Baracke aufschlagen. Aber das war nicht immer im vorhinein
bestimmbar. Auch war es nützlich, daß ich da und dort unerwartet
auftauchte, um die Straßenarbeiten, die Landverteilung und den Feldbau
zu besichtigen. Wohl waren für alles detaillierte Pläne und
Instruktionen da, doch wollte ich mich auch persönlich überzeugen, ob
alles am Schnürchen ging. Mit meinem Hauptquartier zu Haifa war ich in
beständiger Verbindung. Von dort kamen Meldungen, die mich zu hastigen
Kreuz- und Querfahrten veranlaßten. Bei aller Planmäßigkeit gab es doch
Zwischenfälle mit den Arbeitern oder in der Verpflegung, die rasches
Eingreifen, Aenderungen im Vorgesehenen, neue Dispositionen nötig
machten. Bei der Bodenzuweisung schürzten sich manchmal gordische
Knoten, die nur ich zerhauen konnte. Auf den eigenen Ländereien der
Neuen Gesellschaft war man beim Frühjahrsanbau. Wir hatten zwar die
landwirtschaftlichen Produktivgenossenschaften nach dem System von
Rahaline eingerichtet, aber die Leute waren noch neu bei der Sache, sie
brauchten eine führende Autorität und gelegentlich eine höhere
Entscheidung. Es waren durchaus keine ungewöhnlichen Aufgaben, sie
erforderten nur eine stete Aufmerksamkeit. Sommerweizen, Gerste, Hafer,
Mais, Rüben anzubauen ist gewiß keine Kunst. Hier gab es jedoch
allerlei Schwierigkeiten. Wir mußten mit dem widerspenstig gewordenen
Boden ringen. Wir hatten die modernsten Mittel und den zähesten Willen,
wir haben den Boden besiegt, und er ward unser Freund. Die Organisation
war die Hauptsache, und die hatten wir schon vor der Mobilisierung fix
und fertig. Der Arbeitstag der Leute, welche von der Neuen Gesellschaft
abhingen, hatte nur sieben Stunden, aber es waren Stunden voll
konzentrierten Eifers. Die einen machten Wege, die anderen gruben
Kanäle, die dritten lasen Steine aus den Feldern, die der elektrische
Pflug furchen sollte, die vierten bauten Häuser, die fünften pflanzten
Bäume, und so weiter. Und jeder wußte, daß er für alle arbeite und alle
für ihn. Singend zogen sie zur Arbeit und singend kehrten sie in ihre
Lager zurück. Und es war ein rascher Frühling in diesem Werden, wie man
es in der Natur sieht, wenn die dürren Bäume plötzlich zu grünen
anfangen. Und jeder Tag machte die erworbene Geschwindigkeit unseres
Fortschrittes wachsen. Ich hatte vor allen Dingen das Telegraphen- und
Telephonnetz zu legen begonnen. Dem allgemeinen Verkehre konnte es
natürlich nicht gleich dienen, unserer Verwaltung diente es sehr bald.
Von Haifa strahlten die Leitungen längs den Hauptlinien unserer Arbeit
aus. Ein Telegraphist fuhr in einem der Begleitwagen immer hinter mir
her, und der Anschluß an mein Bureau in Haifa, somit auch an die
Londoner Zentrale war schnell hergestellt. Ein guter Nachrichtendienst
war mir natürlich immer das Wichtigste. Nur so konnte ich über Menschen
und Material übersichtlich disponieren. Jetzt gab es jeden Tag
Landungen von fünfhundert, tausend, zweitausend Einwanderern in den
verschiedenen Häfen von Jaffa bis Beirut. Am Tage nach der Ankunft
wurden sie schon weiterdirigiert, ohne Verzug an die Arbeit. Für die
Eisenbahnlinien allein waren zehntausende von Männern erforderlich.
Andere zehntausende für die Errichtung der öffentlichen Gebäude unserer
Neuen Gesellschaft: Betriebsämter, Verwaltungsstellen, Schulen,
Krankenhäuser und so weiter. Die Ausführung war kein Kunststück, wenn
nur der Plan so feststand, wie es bei uns der Fall war. Für die Arbeit
an Wegen, Eisenbahnen und anderen öffentlichen Bauten bekamen unsere
Arbeiter nicht nur den Lohn ausgezahlt — nach Abzug der Raten, die wir
mit den Kaufhäusern für die von den Einzelnen bezogenen Waren
verrechneten — sie erwarben auch Anspruch auf die spätere
Kolonisierung. Der Mann, den wir vom Hafen weg zu den verschiedenen
Arbeiten kommandiert hatten, sollte bis zum Herbst bereits das für ihn
inzwischen hergestellte Haus in einer Kolonie beziehen und seine
Familie zu sich rufen können. Die Sache war, wie gesagt, sehr einfach,
es mußte nur ein Plan da sein. Die Militärverwaltungen der großen
Staaten hatten im neunzehnten Jahrhundert viel schwierigere Aufgaben
gelöst. Es ist eigentlich schon unbescheiden, daß ich unser Werk mit
solchen Leistungen vergleiche. Wir hatten bis zum Herbst nur eine halbe
Million Menschen anzusiedeln und bis dahin war eine erste Ernte zu
gewärtigen. Die Heeresverwaltungen des vorigen Jahrhunderts mußten
Millionen Menschen versorgen, möglicherweise in Feindesland, jedenfalls
in einer Zeit allgemeiner Einschüchterung von Handel und Verkehr. Wir
dagegen befanden uns in Freundesland, nein, auf dem väterlichen Boden,
und wir verscheuchten nicht, wir zogen vielmehr Handel und Verkehr
gewaltig an. Die Leute, die wir zunächst verpflegten, schufen sogleich
die Mittel zu ihrer baldigen eigenen Verpflegung und zu derjenigen der
Nachkommenden. Ueberall im Lande wurden von freien Unternehmern
Fabriken gebaut, die im Herbst unter Dach sein sollten. Thatsächlich
mußte doch jeder vernünftige Mensch einsehen, welch glänzende Aussicht
für Industrien sich in diesem Lande eröffnete. Der Absatz an Ort und
Stelle bei so mächtiger Einwanderung, die Möglichkeit, bei billigem
Tarif die jetzt noch ohne Rückfracht fahrenden Importschiffe zu
benützen, die Küstenausdehnung, die Lage des Landes in der Mitte
zwischen Europa und Asien — das alles zusammen lockte die Leute her.
Und als ich nach der ersten Ernte, die nicht einmal besonders gut,
sondern eben nur erträglich war, den Stand der Dinge überblickte,
konnte ich den Entschluß fassen, die Einwanderung im Herbste nicht zu
unterbrechen. Ursprünglich war es so geplant gewesen. Aber die
Sistierung war Gott sei Dank! nicht nötig. Ich telegraphierte dies dann
an alle Landeszentralen, und es erregte ungeheuren Enthusiasmus in den
Ortsgruppen. Von unserer ersten Ernte datiere ich den Sieg der Neuen
Gesellschaft. Es gab später viel reichere Ernten, das alte Gold der
Brotfrucht wuchs uns üppiger aus dem Boden, aber nie wieder heimsten
wir so viel ein. Denn wir ernteten damals das Vertrauen unserer Brüder
in der ganzen Welt. Kaum zwölf Monate waren vergangen, seit ich meinen
großen Generalstab in London versammelt hatte, und ich durfte meinen
Freunden im Hauptquartier zu Haifa sagen, daß das erste Jahr gut
gewesen sei.

Unser Direktionsgebäude in Haifa war in jenem Herbste wohl schon unter
Dach, aber im Inneren noch nicht fertig. Bezogen sollte es erst im
zweiten Frühjahr werden. Ich konnte dennoch schon meinen wackeren
Gehilfen erklären: Unser Haus ist unter Dach! Ich meinte damit die
ganze Neue Gesellschaft. Es galt nur, von da weiter auch nichts zu
versäumen, immer mit gespannter Aufmerksamkeit unsere Pflicht zu thun.
Die Aufgaben wurden umfangreicher, und doch waren sie in der Folge
leichter zu bewältigen. Der Apparat war aufgestellt, wir mußten ihn nur
richtig in Stand und Gang erhalten. Die größeren technischen Werke
wurden geschaffen, namentlich unsere Wasseranlagen. Wir knüpften da an
eine sehr alte Tradition unseres Volkes wieder an. Die Salomonischen
Teiche zeugen noch von der verschollenen Tüchtigkeit unserer Vorfahren.
Wir hatten freilich andere Wasserwerke herzustellen, nicht nur für die
Trinkwasserversorgung von Jerusalem und anderen Städten; auch für Kraft
und Licht. Der Tote-Meer-Kanal und die übrigen technischen Leistungen
beweisen, daß die Ingenieure der Neuen Gesellschaft nicht rasteten.
Ihnen allen immer voran ihr herrlicher Chef, der unvergeßliche Fischer.

Und noch ein anderer Strom ergoß sich befruchtend über unser Land:
Kapital und Kredit. Unsere zielbewußte Arbeit, unsere ersten Erfolge
weckten das Vertrauen. So wie wir in den landwirtschaftlichen
Produktivgenossen neue Bauern auf die Scholle gesetzt hatten, so
brachten wir auch den modernen Ackerbaukredit ins Land. Früher hatte
man geglaubt, daß wir unsere Geldmittel erschöpfen würden, wenn wir
unseren Ansiedlern Wohnhäuser und Wirtschaftsgebäude, Felder und
Maschinen, Pferde, Kühe und Schafe und Geflügel, Wagen und Geräte,
Lebensmittel, Saat und Futter gäben. Die Klügsten unserer Gegner hatten
sogar ausgerechnet, wann wir auf dem Trockenen sitzen müßten. Eine
Familie, nach dem Durchschnitt mit fünf Köpfen angenommen, koste zur
Ansiedlung ungefähr sechshundert Pfund Sterling. Folglich kosteten
tausend solche Familien sechsmalhunderttausend Pfund, zehntausend sechs
Millionen, das ist hundertundzwanzig Millionen Mark, und so fort. Diese
ausgezeichneten Rechner hatten dabei nur die Kleinigkeit übersehen, daß
die Ansiedler einen bedeutend größeren volkswirtschaftlichen Wert
repräsentieren, und daß man auf Wertvolles auch Geld geborgt erhält.
Die Neue Gesellschaft konnte ihre Geldmittel durch wohlgedeckte und
amortisierbare Anleihen gewaltig vermehren. Mit einem Worte: je mehr
der Ansiedler wir herüberbrachten, umsomehr Geld strömte uns zu. So ist
es überall in der Welt, wo man zu wirtschaften versteht; warum hätte es
nicht auch bei uns so sein sollen? Das war ebenso einfach und
selbstverständlich, wie alles andere.

Aber ich bemerke eben, daß ich von der Zeit abgekommen bin, von der ich
erzählen wollte. Das war die Zeit, in der uns der Futuro besuchte. Ich
war im Inneren des Landes beschäftigt, wie ich schon erwähnte. Von Tag
zu Tag mußte ich meine Abreise nach Jaffa verschieben. Dort lag das
Schiff der Weisen, die ich so gerne gesehen und gesprochen hätte, vor
Anker. Einmal geschah es, daß mehrere Wagen mit Ausflüglern vom Futuro
in meiner Jähe auftauchten. Ich war zu Pferde auf dem Feld, als sie auf
dem neuen Wege vorüberkamen. Sie betrachteten die große
Dampfstraßenwalze, sahen auch einen Augenblick unseren Leuten beim
Arbeiten zu. Von den Hüten der Damen flatterten die lichten seidigen
Sonnenschleier, und das sah sehr hübsch aus. Ich ritt aber doch nicht
an die Wagen heran, weil ich, bestaubt und verschwitzt wie ich war, der
Eindruck eines Wegelagerers zu machen fürchtete. Ich dachte mir, ich
würde schon in Jaffa Gelegenheit haben, mich diesen interessanten,
feinen Menschen vorzustellen. Es kam anders. Am nächsten Tage erhielt
ich ein Telegramm, das mich zu schleuniger Fahrt nach Konstantinopel
zwang. Ich mußte mit der türkischen Regierung eine sehr wichtige Sache
ins Reine bringen. Die Zeit drängte. In aller Eile ließ ich meine Jacht
in Haifa heizen und berief die Chefs der Abteilungen zusammen. Den
Oberbefehl übergab ich Fischer, der alle meine Absichten genau kannte,
und ich dampfte mit meinen Sekretären noch am selben Tage nach
Konstantinopel ab.

Den Futuro hatte ich nicht besuchen können, aber ich hoffte, ihn bei
meiner Rückkehr von Stambul noch an der Küste zu finden. Ich that auch
mein Möglichstes, um die Verhandlungen rasch zu beenden. Doch wie es
nun einmal in dieser liebenswürdigen und schläfrigen Stadt geht, alles
zog sich in die Länge, und meine Ungeduld half mir nichts. Im Geiste
und in den Dispositionen war ich freilich bei unseren großen Arbeiten
in Palästina. Mit Fischer und dem Londoner Bureau blieb ich in
allstündlichem Zusammenhange. Nur mit der geistreichen Heiterkeit des
Weisenschiffes konnte ich mich auf telegraphischem Wege nicht
verbinden. Mein Bedauern wuchs in dem Maße, als der Futuro nordwärts
fuhr. Die täglichen Telegramme Fischers brachten auch über das
Verbleiben des Futuro Nachricht. Schon war er in Tyrus, in Sidon
gewesen. Vor Beirut sollte er länger ankern, um den Ausflug nach
Damaskus zu ermöglichen. Da hoffte ich ihn auch zu finden, als ich
endlich von Konstantinopel wegkam. Ich hatte zwar die größte Eile,
meine Arbeiten wieder an Ort und Stelle aufzunehmen, aber einen halben
Tag Aufenthalt in Beirut wollte ich mir gönnen, um die Bekanntschaft
dieser ausgezeichneten Menschen zu machen. Meine gute Jacht flog nur so
über die Wellen hin. Ich hatte den Kapitän gebeten, das Äußerste der
Geschwindigkeit zu leisten. Dennoch kamen wir zu spät. Bei der Insel
Cypern, an der wir eines Morgens vorüberkamen, sah ich ferne ein Schiff
in entgegengesetzter Richtung fahren. Wie der Blitz durchzuckte es
mich: das ist der Futuro! Ich stürmte auf die Kommandobrücke und sah
durchs Fernrohr. Ich hätte ein geübterer Seemann sein müssen, um ein
Schiff auf diese Distanzen zu erkennen. Der Kapitän war leider nicht
auf der Brücke, sondern in seiner Kajüte. Bis man mir ihn holte, war
jenes Schiff aus unserem Gesichtskreise verschwunden. Aufs Geradewohl
hinterdrein zu jagen, wäre nicht ratsam gewesen. Erstens war es
fraglich, ob wir jenen Dampfer noch erreichen konnten; zweitens
versäumte ich vielleicht eben dadurch den Futuro, falls er noch vor
Beirut lag. Wir blieben also in unserem Kurs. Erst in Beirut erhielt
ich die Kunde, daß ich richtig vermutet hatte. Jenes Schiff im
Morgensonnenscheine vor Cypern war der Futuro gewesen.

Ich empfand darüber einen gewissen Schmerz. Und seither habe ich den
Wunsch, es möge mir wenigstens vergönnt sein, die Wiederkehr des Futuro
zu sehen. Denn fünfundzwanzig Jahre nach seiner ersten Fahrt soll er
wiederkommen. Allerdings nicht das gleiche Boot, weil es eine veraltete
Form hat; ein neues Prachtschiff wird seinen für immer berühmten Namen
erhalten. Und allerdings auch nicht ganz die gleichen Gäste, weil
manche schon gestorben sind; wir wollen eben außer den Überlebenden von
der ersten Reise auch noch diejenigen einladen, die inzwischen die
Besten der Kulturwelt geworden sind.

Und alle fünfundzwanzig Jahre soll ein Dampfer Futuro einen solchen
Areopag, vor dessen Urteil wir uns beugen wollen, zu uns bringen. Wir
werden nicht die Potemkin’schen Dörfer einer Weltausstellung
aufrichten. Das ganze Land soll zur Besichtigung da sein, die Gäste vom
Futuro unsere werte Jury. Und wenn sie nun wiederkommen, und unser
Herrgott mich sie diesmal nicht versäumen läßt, und sie finden, daß
Joseph Levy seine einfache und doch schwere Aufgabe einigermaßen
anständig gelöst hat, dann — dann will ich in Pension gehen. Und wenn
ich sterbe, legt mich an die Seite meines teuren Freundes Fischer, dort
oben hin auf den Karmelfriedhof, von wo man den Blick hat auf mein
liebes Land und auf mein liebes Meer.“








6. KAPITEL.


Die Erzählung des Phonographen war zu Ende. Die letzten Worte hatten
auf die Zuhörer einen tiefen Eindruck gemacht.

Kingscourt räusperte sich stark und bemerkte:

„Scheint ’n charmanter Kerl zu sein, Euer Joe, ’n ganz charmanter Kerl.
Schade, daß er nicht hier ist. Hätte ihm gern die Hand gedrückt. Na,
hoffentlich sieht man ihn doch, bevor man weiterzieht ... Auf eine
Sache hat er mich übrigens recht gespannt gemacht: auf den
Toten-Meer-Kanal. Scheint ja so ’ne Art Weltwunder zu sein. Wann werden
wir ihn denn beaugapfeln, den sagenhaften Kanal?“

David versprach es für die ersten Tage nach der Passahwoche. Diese Zeit
aber verbrachten sie in heiterer Ruhe zu Tiberias. Kingscourt aß wacker
mit von den ungesäuerten Broten und schimpfte zwischendurch, daß man
ihn, einen christlichen und deutschen Edelmann, ganz und gar verjude.
Mit besonderer Heftigkeit schimpfte er auch über Fritzchens Tyrannei,
die täglich anspruchsvoller wurde. Dieser kleine Schuft glaube wohl,
daß der alte Kingscourt auf die alten Tage nichts Gescheiteres zu thun
habe, als sich zum Steckenpferd eines solchen Rangen herzugeben. Doch
gestattete sich der Brummbär das Raisonnieren nur, wenn Fritzchen
schlief, und alle Vorsätze der Auflehnung schwanden, sobald das Kind
nach „Otto“ rief. Als man sich nach Ablauf der Osterwoche anschickte,
die Fahrt durch das Jordanthal nach Jericho zu machen und David das
Kind bei den Großeltern zurücklassen wollte, hatte Kingscourt allerlei
einzuwenden. Der Bursche solle doch auch das Land ein bißchen kennen
lernen, und David wäre eigentlich ein Rabenvater, wenn er Fritzchen
allein ließe, und im schlimmsten Falle würde er, Kingscourt, sich
opfern und auf den ganzen Toten-Meer-Kanal verzichten, wenn Fritzchen
nicht mitkäme. Kurz, er drang so lange darauf, bis man sich entschloß,
auch das Bübchen mitreisen zu lassen. Da that Kingscourt freilich, als
wäre ihm das äußerst gleichgültig; er war persönlich daran nicht im
Mindesten beteiligt, er hatte sich nur des hilflosen Kindes angenommen.

Architekt Steineck und Reschid Bey waren mittlerweile nach Haifa
zurückgekehrt. Reschid wollte nach seiner Familie sehen, versprach
aber, in Jerusalem wieder zu den Freunden zu stoßen. Der Architekt
hatte mit den nahebevorstehenden Delegiertenwahlen für den Kongreß viel
zu thun. Wie die Zeitungen und Privatnachrichten meldeten, machte die
Partei Geyer ungeheure Anstrengungen. Da mußte Steineck auf dem Posten
in Haifa sein, wo sämtliche Fäden der Agitation zusammenliefen und
allstündlich die Losungsworte an die Ortskomitees hinaus telephoniert
oder telegraphiert wurden. David aber hatte in seinen eigenen
Geschäften noch einiges drüben in der Landschaft Dscholan zu besorgen,
bevor er die Fahrt nach Jericho antreten konnte. Er lud seine Gäste
ein, ihn nach dem Dscholan zu begleiten, wo es auch Merkwürdiges zu
sehen gäbe. Friedrich Löwenberg schloß sich bereitwillig an, da auch
Mirjam und Professor Steineck mit von der Partie sein sollten. Hingegen
blieb Kingscourt noch länger in Tiberias, weil er Frau Sarah und Mrs.
Gothland nicht allein im Motorwagen nach Besan fahren lassen wollte.
Man verstand seine liebenswürdige Schwäche für Fritzchen schon und
neckte ihn nicht übermäßig wegen seines Verweilens in Tiberias. In zwei
Tagen also würden sich die beiden Teile der Reisegesellschaft wieder zu
Besan im Jordanthale vereinigen. Kingscourt sollte mit Frau Sarah, Mrs.
Gothland, dem Kinde und der Kindsfrau im Motorwagen nach Besan fahren
und dort im großen Hotel auf die vom Dscholan Kommenden warten.

Eine schmucke Barke mit elektrischem Betriebe harrte der vier
Reisenden, die nach dem jenseitigen Ufer des Sees von Genezareth
übersetzen wollten. Die Zurückbleibenden hatten ihnen das Geleite bis
ans Schiff gegeben. Friedrich Löwenberg reichte seinem alten Freunde
zum Abschiede die Hand.

„Wissen Sie, Fritze,“ sagte Kingscourt mit grimmiger Betonung, „daß wir
da vor einer Neuerung stehen? Seit zwanzig Jahren haben wir uns keinen
Tag verlassen. Mensch, geraten Sie mir in der Gegend mit dem verrückten
arabischen Namen da drüben auf keine Abwege! Sonst soll Sie ein
mehrfach gesalzenes Donnerwetter einholen. Und sie, Fräulein Mirjam,
benützen Sie gefälligst die Gelegenheit nicht, um diesem Jüngling den
Kopf zu verdrehen! Er ist erst dreiundvierzig Jahre alt. Das ist das
gefährlichste Alter. Und nun Gott befohlen! In Besan sieht man sich
wieder!“

Mirjam war bei dem derben Scherz des Alten rot geworden, aber Friedrich
auch. Ganz verwirrt stiegen beide in die Barke. Kingscourt sah Mrs.
Gothland mit bedeutungsvollem Zwinkern der Augen an, und er freute sich
unbändig, daß es ihm gelungen war, die beiden in Verlegenheit zu
bringen.

Es war einer der weichen Frühlingstage, die am See von Genezareth so
lieblich sind. Rasch durchschnitt die Barke die von einer spielenden
Brise bewegten Wellen. Die lichten Palästchen und Villen von Tiberias
wurden immer kleiner und die steilen Höhen des östlichen Ufers rückten
heran. Wundervoll war der Blick auf den schneeigen Hermon im Norden,
und die zahlreich vorbeistreichenden Schiffe aller Arten und Größen
boten die munterste Unterhaltung. So verging die Fahrt hinüber wie ein
eiliger Traum. Am anderen Gestade legte die Barke in einer kleinen
Bucht an. Die Reisenden hatten nur wenige Schritte zur Station der
elektrischen Bahn. Sie mußten auch nicht allzulange auf den Zug warten,
der sie weiterbringen sollte. Sie nahmen in einem Salonwagen Platz und
fuhren nach El Kunetra. Dort hatte David Littwak seine Geschäfte
abzumachen. Das Bahngeleise stieg allmählich an, da es bis El Kunetra
tausend Meter Meereshöhe zu erreichen hatte. Diese Stadt war als ein
Knotenpunkt der Bahnen im Ostjordanlande zu ansehnlicher Bedeutung
gelangt. Zwischen Safed und Damaskus liegend, war sie ein wichtiger
Stapelplatz des Verkehrs.

Als David mit seinen Freunden aus dem Salonwagen stieg, bemerkten sie
auf einem anderen Geleise, wo der Zug nach Beirut zur Abfahrt bereit
stand, einen Waggon, aus dem singende Knabenstimmen tönten. Es waren
Jungen im Alter von vierzehn bis zu sechszehn Jahren.

„Die machen wohl einen kleinen Ausflug?“ erkundigte sich Friedrich.

„Jawohl, einen kleinen Ausflug — rund um die Erde,“ erwiderte Professor
Steineck schmunzelnd.

Und Mirjam erklärte dem erstaunt Aufhorchenden, was das für eine
Schülerreise war. Man hatte eine Einrichtung der klugen und gelehrten
Benediktinermönche nachgebildet. Die französischen Benediktiner
pflegten schon zu Ende des vorigen Jahrhunderts Karawanen von Schülern
unter der Hut ihrer Lehrer in fremde Länder zu schicken. Dort erwarben
die jungen Leute die Kenntnis der Sprachen und Gebräuche. Lehr- und
Wanderjahre wurden auf diese Art planvoll verbunden. Diese Jugend war
inhaltsreicher, als die der früheren Zeiten, und ihre Ausbildung war
nicht nur gediegener, sondern auch ökonomischer. Man bekam die fertigen
Menschen schneller, und was die Neue Gesellschaft an Geldmitteln auf
diese Schulkarawanen verwandte, das trug bald seine Zinsen. Den
Karawanen wurden nur die besten Schüler aller Unterrichtsanstalten des
Landes eingereiht, weil man solche Kosten an möglicherweise faule und
unnütze Bursche nicht verschwenden durfte. Zugleich war darin aber auch
die wirksamste Prämie auf den Lerneifer gesetzt. Die Knaben hatten
keinen höheren Ehrgeiz, als die Erlangung eines Schulreiseplatzes. Die
Abenteuerlust, welche die Jungen gerade in diesen sonderbaren
Flegeljahren zu befallen pflegt, wurde da nicht nur gebändigt, sondern
geradezu bewirtschaftet und zu einem weiteren Vorwärtskommen
ausgenützt, gleich den kleinen Explosionen, die das Automobil treiben.
Durch die Unterrichtsverwaltung der Neuen Gesellschaft waren diese
Schulkarawanen in ein gehöriges System gebracht worden. An mehreren
Orten in den verschiedenen Ländern, die besucht werden sollten, hatte
die Neue Gesellschaft Schulhäuser mit allem zum Unterricht wie zur
Verpflegung der Kinder Nötigen eingerichtet. Stille Kleinstädte in
einiger Entfernung von der Hauptstadt des Landes wurden als
Niederlassungsorte gewählt, für Frankreich zum Beispiel Versailles. Das
war für Leib und Seele wichtiger, als das Wohnen in den gefährlichen
Metropolen. Jede dieser Anstalten stand unter der Leitung eines
Direktors, der immer da blieb, während die Karawanen mit ihren
Klassenlehrern nach drei Monaten weiterzogen. Durch eine in Jerusalem
zentralisierte Verfügung wurde der Weg der Karawanen geregelt. Die
Knaben lernten die Welt kennen, ohne daß ihr Lehrgang unterbrochen
worden wäre.

„Und die Mädchen?“ fragte Friedrich lächelnd.

„Die Mädchen machen solche Reisen nicht,“ sagte Mirjam. „Wir glauben,
daß der Platz der heranwachsenden Jungfrau bei ihrer Mutter ist, wenn
sie auch etwas Tüchtiges gelernt hat und ihre Pflichten in der Neuen
Gesellschaft erfüllen muß.“

Während David seine geschäftlichen Angelegenheiten erledigte, machten
Mirjam, Friedrich und Professor Steineck einen Spaziergang durch die
heiter belebte Stadt, besichtigten die Bazare, die aber nur wenig
Orientalisches hatten, sondern die Niederlagen europäischer Kaufhäuser
waren. Sie fanden in einem recht guten englischen Hotel Unterkunft.
Friedrich wunderte sich über den Komfort, der hier geboten war, nicht
mehr. Es kam ihm jetzt schon selbstverständlich vor, daß an einem Orte
des Weltverkehrs auch Bequemlichkeiten für zivilisierte Reisende sich
befanden. Das Abendessen wurde früh eingenommen, weil man am nächsten
Tage bei Zeiten aufbrechen wollte, um einen Ausflug nach der
sogenannten Kornkammer zu machen.

Es war ein Morgen in zarten Farben. Sie fuhren mit einer elektrischen
Sekundärbahn in die bezaubernd junge Landschaft hinaus. Friedrich
empfand in dieser Umgebung die Frühlingsgefühle seiner ersten
Jünglingsjahre. Neues Leben war in ihm aufgebrochen beim Anblick all
dieser glücklichen Arbeit, auf den Feldern und auch — kaum wagte er es
sich zu gestehen — die Nähe der schönen Mirjam war nicht ohne Einfluß
auf die Fröhlichkeit seiner Stimmung. Wie verständig erklärte sie ihm
alles, was seine Aufmerksamkeit erregte. David und Steineck halfen mit
mancher Erläuterung aus, wo Mirjams Wissen doch nicht ausreichte. In
dieser Gegend des Ostjordanlandes befanden sie sich an einer
eigentümlichen Wasserscheide. Fern vom technischen Erfindungswesen des
neunzehnten Jahrhunderts aufgewachsen, mit einer bloß juristischen
Bildung ausgestattet, hatte Friedrich eigentlich nicht viel von den
modernen Möglichkeiten gewußt. Er glich darin den meisten mittleren
Gebildeten seiner Zeit. Das Treiben der geschlossenen, wie der
„offenen“ Fabriken war ihm völlig unbekannt. „Offene Fabriken“ nannte
nämlich Steineck in seinen plaudernden Erklärungen die neueren
landwirtschaftlichen Betriebe, die sie auf ihrem Ausfluge zu sehen
bekamen. Und eine Wasserscheide sei diese Gegend, weil die Wässer, die
vom Norden und Süden heraufflossen, hier zusammentrafen. Friedrich
glaubte zuerst an einen Scherz des Gelehrten, als dieser von den
heraufströmenden Gewässern sprach. Steineck wollte sich wohl über die
Unwissenheit eines so weit Zurückgebliebenen lustig machen. Doch der
Aufschluß ließ nicht auf sich warten. Die Wasser selbst flossen wohl
nicht bergauf, wohl aber die Kraft ihrer Wellen. Die Naturgewalten zu
ändern war man auch in Altneuland nicht fähig gewesen, so wenig wie die
Beschaffenheit der Menschen; wohl aber hatte man im Gefolge der
allgemeinen Kultur die Naturkräfte besser kennen und ausnützen gelernt.
Es war nicht mehr notwendig, das Mühlenrad unmittelbar unter dem
Wasserfall anzubringen, wie in den einfältigen Zeiten. Ein Bach, der in
einer Ferne von fünfzehn oder zwanzig Meilen zu Thale stürmte, trieb
die Räder, denn seine Kraft wurde als elektrischer Strom in den Drähten
hierhergeleitet. Am Ende des neunzehnten Jahrhunderts war dieses
Problem bereits vollkommen gelöst. In Amerika hielt man darin schon vor
zwanzig Jahren weit genug. Vom Niagara wurde elektrischer Strom in eine
Entfernung von 162 Kilometern geleitet. Von den San-Bernardino-Bergen
nach der Stadt Los Angeles in Süd-Kalifornien gab es damals eine
Leitung von 133 Kilometer Länge mit sehr geringem Kraftverlust. Das
waren leicht nachzuahmende Einrichtungen. Und so konnten auch die
Wasserkräfte vom südlichen Toten-Meer-Kanal wie von den Gebirgsquellen
des Libanon und Hermon im Norden herangezogen werden.

„Die wahren Gründer von Altneuland,“ sagte David, „waren die
Wasserbautechniker. Drainage der Sümpfe, Berieselung der verdorrten
Strecken, und dazu das System der Kraftanlagen — darin lag alles.“

Nach anderthalbstündiger Fahrt kamen sie auf der Musterwirtschaft an,
welche unter der Aufsicht der Neuen Gesellschaft von einem
millionenreichen Wohlthätigkeitsvereine angelegt worden war. Der
Direktor dieser ausgedehnten großkapitalistisch geführten Unternehmung
zeigte den Gästen alles auf dem prachtvollen Landgute. Die besondere
Bewunderung Friedrichs rief die elektrische Zentrale neben dem
Direktionsgebäude hervor. Da waren die Wände rings mit Knöpfen,
Vertiefungen, Nummern und kleinen Täfelchen bedeckt. Zwei junge Damen
in schlichter Kleidung hantierten da nach den Anweisungen eines
Beamten, der selbst hinter einem Pult saß und jeden Augenblick die
Hörmuschel eines Telephons ans Ohr legte. Friedrich erinnerte sich bei
diesem Anblick, Aehnliches einmal in einer Telephonzentrale gesehen zu
haben. Der Direktor erklärte, wie von hier aus durch die Drahtleitungen
nach allen Punkten der Wirtschaft die Kraft versendet werde, sobald man
sie benötige, aber auch nicht um eine Minute länger. Von dieser Stube
aus wurden nämlich nicht nur die eigentlichen Feldarbeiten mit Kraft
gespeist, sondern auch die mit der Landwirtschaft zusammenhängenden im
großen betriebenen Gewerbe: eine Zuckerfabrik, eine Bierbrauerei, die
Spiritusbrennerei, die Mühle, die Stärkefabrik und so weiter.

In den Wirtschaftsgebäuden, die sie besichtigten, wie in den Fabriken,
auf den Wegen und Feldern war alles nach der modernsten
landwirtschaftlichen Lehre eingerichtet, eine peinliche Sauberkeit
herrschte, und es ging merkwürdig ruhig zu. Das riesige Räderwerk der
Musterwirtschaft machte nicht mehr Geräusch, als unumgänglich nötig
schien. Friedrich fiel es auf, als ein kleiner Trupp von Arbeitern in
gleichmäßiger Kleidung mit Geräten auf den Schultern an ihnen
vorüberzog. Die Leute schritten gesenkten Blickes vorbei. Die einen
sahen verdrossen aus, die anderen scheu. Zwei Aufseher folgten
hintennach. Diese grüßten den Direktor militärisch.

„Darf ich mir eine kritische Bemerkung erlauben?“ sagte Friedrich. „Wir
haben bisher in Altneuland so viel Schönes bewundert, daß ich
vielleicht auch ein Bedenken äußern kann.“

„Gewiß!“ entgegnete David. „Was ist es?“

„Die Arbeiter kommen mir sonderbar gedrückt vor, als wären sie von der
prachtvollen Maschine, der sie dienen, innerlich ein bißchen zermalmt.
Und was nützt all die sinnreiche ökonomische Einrichtung, wenn die
Menschen dabei nicht glücklicher werden? Beim Anblick dieser Leute
fielen mir die Fabriksarbeiter früherer Seiten ein. Es ist wahr, ganz
so traurig sind die Mienen der Leute hier nicht, sie sehen auch viel
gesünder aus, als die ehemaligen Fabrikslöhner — aber immerhin, eine
Aehnlichkeit ist vorhanden. Und das finde ich betrübend. Wenn man
bedenkt, daß dieses Gut einer wohlthätigen Gesellschaft gehört, sollte
man hier doch beglücktere Menschen erwarten. Ich gestehe, daß ich ein
wenig enttäuscht bin.“

Der Gutsdirektor sah ihn erstaunt an und wandte sich dann fragend an
die anderen:

„Weiß Herr Doktor Löwenberg denn nicht, wo er sich befindet?“

„Nein,“ sagte David. „Wir haben es ihm absichtlich verschwiegen, weil
er zuerst einen unbefangenen Eindruck haben sollte. Daß diese
Musterwirtschaft eine Sträflingskolonie ist, damit wollten wir ihn
überraschen.“

„Ist es möglich?“ staunte Friedrich. „Dies eine Sträflingskolonie? Das
ändert freilich viel an meinem Urteil. Und wie sind die Resultate der
Erziehung zum Guten, Herr Direktor?“

„Die Leute werden moralisch und körperlich gesund,“ erwiderte der
Direktor. „Die Meisten gewinnen das Landleben lieb und wollen es nicht
mehr lassen. Sie bleiben nach verbüßter Strafe gerne noch weiter hier
und werden bezahlte Arbeiter, oder wir siedeln sie als Farmer auf immer
weiter vorgeschobenen Posten an. Der Reinertrag unseres Betriebes wird
für solche Ansiedlungen verwendet, und diese beginnen schon nach
einigen Jahren das Hineingesteckte abzuzahlen. Wir machen aus den
Abfällen der Gesellschaft wieder Menschen ....“

Als die Reisenden am darauffolgenden Tage in Besan mit Kingscourt und
den übrigen zusammentrafen, berichtete Friedrich über das Gesehene. Der
alte Herr brummte:

„Natürlich! Wenn ich ’mal nicht in der Gefechtslinie bin, passieren die
größten Wunder; das Wasser fließt bergauf und die Gefängnisse bestehen
aus Freiheit.“

Jetzt fuhr die Motorarche durch das Jordanthal südwärts. Die
wohlgepflegte Landstraße traf und verließ öfters den vielgewundenen
Flußlauf. Der Jordan war in seiner Frühlingsfülle, die Landschaft hüben
und drüben in saftigem Grün. Reizende kleine Ortschaften, Städte und
villenartige Niederlassungen blinkten von den östlichen und westlichen
Höhen. Von Zeit zu Zeit stürmten auf dem rechten Ufer Züge der
Jordanthalbahn vorüber. Der Verkehr auf der Wagenstraße selbst war auch
lebhaft genug. Es war die Zeit, in der die meisten Fremden von Jericho,
dem weltberühmten Winterkurort, schon abzureisen pflegten. Hier im
Jordanthale war es für die verwöhnten Eleganten, die aus Europa vor der
rauhen Jahreszeit flüchteten, jetzt schon zu warm. Man begegnete
mehreren großen Reisekutschen, ähnlich der Motorarche David Littwaks.
Die fuhren mit ihren hellgekleideten fröhlichen Passagieren, Damen und
Herren, in entgegengesetzter Richtung, nach Norden zu; denn jetzt kamen
die Modewochen für den Libanon. Ende April schifften sich die eleganten
Herdenmenschen gewöhnlich in Beirut ein, um nach Europa zurückzukehren,
wenn sie es nicht vorzogen, mit den Eilzügen der Kleinasiatischen
Bahnen noch rascher nach Konstantinopel zu kommen.

Aber in diesem Jordanthale, das die Vergnügungsmenschen um die wärmere
Jahreszeit verließen, blieb doch noch Leben zurück, eigentlich das
gesündeste und stärkste Leben. Denn die von altersher wegen ihrer
wunderbaren Fruchtbarkeit hochgepriesenen Ebenen zu beiden Seiten des
Flusses waren üppiger als jemals. Vernünftig bewirtschaftet, mit allen
neuen und besten ökonomischen Mitteln ausgestattet, brachte das
Jordanthal die reichsten Erträge. Reis und Zuckerrohr, Tabak und
Baumwolle gediehen prachtvoll. Die Kunst der Wasseringenieure hatte
hier das Herrlichste geleistet. Die Jordanregulierung war nur ein Teil
ihrer Thätigkeit gewesen. Großartige Thalsperren, namentlich zwischen
den Bergen der Ostseite, ermöglichten die volle Ausnützung aller
Wasserkräfte des gesegneten Landes. In den traurigen Zeiten der
Vernachlässigung war der Regenreichtum fruchtlos versickert. Durch das
einfache, in Kulturländern so wohlbekannte System der Thalsperren wurde
sozusagen jeder vom Himmel fallende Tropfen für die allgemeine
Wohlfahrt verwendet. Und so geschah es, daß wieder Milch und Honig in
der alten neuen Heimat der Juden floß, und es war, was es gewesen: das
gelobte Land!

Und all diese praktische Nützlichkeit war noch gehoben und verklärt
durch Schönheit. Aus den grünen Gärten, von den Terrassen der Abhänge
hüben und drüben leuchteten weiße Gemäuer. Marmorvillen ragten. Der
Stein war aus den unfernen Brüchen der Umgebung vom Toten Meere geholt.
So war für Friedrich und Kingscourt kein Ende des erfreuten Staunens
auf dem ganzen Wege nach Jericho. Und als sie in diese elegante Stadt
kamen, war selbst der grimmige Raisonneur Kingscourt sprachlos über die
Pracht und Zahl der großen Hotels, Palästchen und Villen, die sich
inmitten der tropischen Pflanzenanlagen und Palmenalleen erhoben. So
entzückend hatten sie sich den klimatischen Kurort Jericho gar nicht
gedacht.

Aber Kingscourt wollte vor dem Hotel nicht absteigen. Er wünschte
gleich nach dem Toten-Meer-Kanal weiterzufahren. Zum Glück war
Fritzchen schon eingeschlummert, sonst hätte „Otto“ wohl keine solchen
Sonderideen haben dürfen. Die Damen blieben also mit dem Kinde im Hotel
zurück, und nur die Herren fuhren die kurze Strecke thalwärts. Vor
ihnen dehnte sich der tiefblaue Spiegel des Toten Meeres. Ein
donnerndes Brausen wurde vernehmbar — die Wasser des Kanals, die durch
Tunnels vom Mittelländischen Meere hierhergeführt, in die Tiefe
stürzten. David erklärte mit kurzen Worten die Anlage des Werkes. Das
Tote Meer war bekanntlich der tiefste Punkt der Erdoberfläche, sein
Spiegel lag 394 Meter unter dem Niveau des Mittelmeeres. Es war der
einfachste Gedanke von der Welt, diesen gewaltigen Niveauunterschied zu
einer Kraftquelle zu machen. Der Gefällverlust im Laufe des Kanals von
der Küste bis ans Tote Meer betrug nur einige achtzig Meter. Es blieben
also noch über dreihundert Meter Fallhöhe. Bei einer Breite von zehn
und einer Tiefe von drei Metern lieferte der Kanal etwa fünfzigtausend
Pferdekräfte.

Kingscourt wollte sich um keinen Preis verblüffen lassen. Er sagte:

„Die Kraftstation der Niagara Falls Hydraulic Power Company erzeugte
schon zu meiner Zeit vierzigtausend Pferdekräfte.“

David entgegnete:

„Mit dem Niagara Falle und den Millionen Pferdekräften, die er liefert,
dürfen wir natürlich die Anlage des Toten-Meer-Kanals nicht
vergleichen, obwohl der Niagara Fall nur fünfzig Meter hoch ist. Dort
giebt es eben ungeheure Wassermengen. Aber ich denke, es ist ganz
hübsch, daß wir in den verschiedenen Kraftstationen im Jordangebiet und
am Toten Meer insgesamt eine halbe Million Pferdekräfte erzeugen.“

„Sie haben eigentlich recht, hochgeschätzter Wasserkünstler,“ gestand
nun der Alte; „es ist wirklich ganz hübsch. Aber eins verstehe ich
nicht. Jetzt strömt um so viel mehr Wasser in das tote Becken, das
keinen Abfluß hat. Ist denn eine andere Verdunstung da als früher?“

„Die Frage ist nicht unintelligent,“ bemerkte hierauf Steineck. „Sie
müssen aber wissen, meine Herren, daß wir dem Toten Meer auch
ebensoviel Wasser entziehen, als wir ihm zuführen. Das Süßwasser
nämlich entwenden wir ihm in entsprechendem Maße. Wir pumpen es in
Reservoirs hinauf und benützen es dann zur Bewässerung des Bodens dort,
wo es ebenso nötig, wie hier überflüssig ist. Sie verstehen?“

„Freilich versteh’ ich,“ schrie Kingscourt, und diesmal war sein
Poltern nicht so ungerechtfertigt wie sonst, denn der Donner des
Wassersturzes war schon in der Nähe. „Verdammt schlaue Jungens seid
Ihr, das muß Euch der Neid lassen.“

Und da waren sie vor der Kraftstation angelangt. Sie hatten auf dem
Fahrwege von Jericho her keinen vollen Ausblick auf das Becken des
Toten Meeres gehabt. Jetzt lag es weit und blau vor ihnen, groß wie der
Genfer See. An dem nördlichen Ufer, an dem sie standen, hatten sie zur
Rechten ein schmal zulaufendes Stück Land vor sich. Dieses zog sich
unter dem Felsen hin, von dem das Wasser des Kanals herunter donnerte.
Unten befanden sich die Turbinenhäuser und oben langgestreckte
Fabrikgebäude. So weit der Blick um den See und seine Uferberge
reichte, sah man großartige Fabrikanlagen. Die Kraftquelle hatte all
die verschiedenartigen Industrien angezogen. Der Kanal hatte das Tote
Meer zum Leben erweckt. Beim Anblicke der eisernen Röhren, in denen das
Kanalwasser auf die Turbinenräder niederschlug, erinnerte sich
Kingscourt der Anlagen am Niagara. Hier am Toten Meere gab es etwa
zwanzig solcher mächtiger Eisenröhren, die aus dem Felsen in
gleichmäßigen Abständen hervorragten. Senkrecht standen die Röhren auf
den Turbinenhäusern und sahen wie phantastische Rauchfänge aus. Aber
der Donner aus ihnen und der weiße Gischt des Abflusses verkündeten,
was da Gewaltiges vorging. Die Reisenden traten in eines der
Turbinenhäuser ein. Friedrich war von dem Ungeheuerlichen dieser
Kraftentwicklung betäubt, indessen Kingscourt sich im Lärm der
Industrieschlacht ordentlich wohl zu fühlen schien. Er schrie aus
Leibeskräften Bemerkungen, die allerdings im Gebrause niemand verstehen
konnte. Dennoch ahnte man aus seinen Mienen, daß er endlich einmal
vollkommen befriedigt war. Das war aber auch etwas prachtvoll
Cyklopisches, wie das Wasser auf die riesigen Bronzeschaufeln der
Turbinenräder herunterkrachte und sie zu rasenden Umdrehungen trieb.
Und von da ging die wilde, die gebändigte Naturkraft in die Generatoren
des elektrischen Stromes über, und sie lief in die Drähte und
durcheilte das Land, das altneue Land, und machte es aufblühen, daß es
ein Garten und eine Heimat wurde für Menschen, die ehemals arm,
schwach, hoffnungslos, heimatslos gewesen ...

Friedrich fand endlich Worte:

„Ich fühle mich wie zermalmt von dieser Größe.“

„Uns,“ entgegnete David ernst, „hat die große Kraft keineswegs zermalmt
— sie hat uns erhoben.“










5. BUCH

JERUSALEM.


1. KAPITEL.


Einst waren Friedrich und Kingscourt bei Nacht und vom Westen her nach
Jerusalem gekommen, jetzt kamen sie bei Tage und vom Osten. Einst
hatten sie eine schwermutsvolle Stadt des Verfalles auf diesen Hügeln
liegen gesehen, jetzt sahen sie da eine Stadt verjüngter Regsamkeit und
Pracht. Einst war Jerusalem tot, jetzt war es auferstanden.

Sie waren von Jericho hierhergefahren und standen auf dem Oelberg, auf
dem alten wundervollen Berge, von wo der Blick so weit in die Runde
hinaus schwärmen kann. Noch war es die heilige Landschaft der
Menschheit, noch ragten die Wahrzeichen, die der Glaube vieler Zeiten
und vieler Völker aufgerichtet hatte, aber ein Neues, Mächtiges,
Freudiges war hinzugekommen: das Leben! Jerusalem war ein gewaltiger
Körper geworden und atmete Leben. Die Altstadt zwischen den ehrwürdigen
Mauern hatte sich, soviel man von diesem Aussichtspunkte bemerken
konnte, am wenigsten verändert. Sie sahen die Grabeskirche, die
Omarmoschee und die anderen Kuppeln und Dächer von einst. Nur war
manches Herrliche dazu entstanden.

Jener neu schimmernde ausgedehnte Prachtbau zum Beispiel war der
sogenannte Friedenspalast. Eine große Ruhe lag über der Altstadt.

Aber anders war das Bild außen ringsum. Da waren moderne Stadtteile
entstanden, von elektrischen Bahnlinien durchzogen, breite,
baumbesetzte Straßen, ein Häuserdickicht, nur von grünen Anlagen
unterbrochen, Boulevards und Parks, Lehrinstitute, Kaufhallen,
Prunkgebäude und Belustigungsorte. David nannte die Bauten, die man
hervorragen sah. Es war eine Weltstadt nach den Begriffen des
zwanzigsten Jahrhunderts.

Doch immer wieder kehrten die Blicke zur alten Stadt im Mittelpunkte
des Bildes zurück. Vor ihnen, jenseits des Kidronthales, lag sie im
Nachmittagssonnenglanze, und es war etwas Festliches in diesem Anblick.
Kingscourt hatte schon alle möglichen Fragen gestellt und von David
Auskunft erhalten. Jetzt erkundigte er sich nach einem gewaltigen und
prunkvollen Bau, der weiß und goldig leuchtete, auf marmornen Säulen
ruhte sein Dach, ja, es war ordentlich ein Wald von Säulen mit goldenen
Knäufen, die man sah. Und Friedrich vernahm es mit einer eigentümlich
tiefen Bewegung, als David sprach:

„Das ist der Tempel!“



Es war ein Freitag Abend, an dem Friedrich Löwenberg zum ersten Male
den Tempel von Jerusalem betrat. David hatte für die ganze Gesellschaft
Wohnung in einem der elegantesten Gasthöfe vor dem Jaffathore genommen.
Als es Abend wurde, rief David seinen Freund zum Tempelgange. Friedrich
Löwenberg schritt mit Mirjam voraus, David und Sarah folgten. Sie
gingen durch die prachtvollen Straßen der Neustadt, die mittags noch
das rauschendste Leben gezeigt hatten. Jetzt, plötzlich, sonderbar,
begann dieser große Verkehr zu erlahmen, zu stocken. Die Zahl der
fahrenden Wagen verminderte sich auffallend, und überall wurden die
Läden geschlossen. Der Sabbath senkte sich langsam und feierlich auf
die vorhin laute Stadt. Und in Scharen strömten die Andächtigen den
Synagogen zu. Denn außer dem großen Tempel gab es in der alten wie in
der neuen Stadt noch viele Häuser des unsichtbaren Gottes, dessen Geist
von Israel Jahrtausende lang durch die Welt war getragen worden.

Schon ergriff ein Vorgefühl hoher Stimmung die Wallenden, als sie in
den Frieden der heiligen Stadt eintraten. Denn was jetzt innerhalb der
uralten Mauern von Jerusalem lag, das war nicht mehr die
Unreinlichkeit, der Lärm, der üble Geruch, wie vor zwanzig Jahren.
Damals mußten sich die Pilger aller Konfessionen innerlich verletzt
fühlen, wenn sie oft nach langer Fahrt an dieses Ziel ihrer Sehnsucht
kamen, so widerwärtig war mancher Anblick, der sich in verwahrlosten
Straßen bot. Und bevor ein frommer Wanderer zum Heiligsten seines
Glaubens gelangte, mußte er durch Unerfreuliches, Weiheloses hindurch.
Anders war es jetzt. Die Gassen und Gäßchen waren mit neuen Steinen
gepflastert, wohlgepflegt, glatt und sauber wie der Estrich einer guten
Stube. Privathäuser gab es in der Altstadt nicht mehr. Alle Gebäude
dienten Zwecken der Wohlthätigkeit oder Andacht. Es gab da Pilgerhäuser
für die Gläubigen aller Bekenntnisse. Christen, Mohammedaner und Juden
hatten ihre gemeinnützigen Anstalten, ihre Spittel und Siechenhäuser,
die in bunter Reihe nebeneinander standen. Ein gewaltiges Viereck aber
nahm der ernste und großartige Friedenspalast ein, in welchem die
internationalen Kongresse von Friedensfreunden und von Gelehrten aller
Wissenszweige abgehalten wurden. Die Altstadt war überhaupt ein
internationaler Ort, welcher allen Völkern als eine Heimat erscheinen
mußte. Denn hier war das Menschlichste zu Hause: das Leiden.

Und ebenda waren auch alle Formen der Hilfe versammelt, welche das
menschliche Geschlecht im Laufe seiner Geschichte wider das Leiden
gesucht hat: Glaube, Liebe, Wissenschaft.

Man mußte in eine andächtige Stimmung geraten, wenn man durch diese
Gassen wandelte, wie immer man sich auch zu den Religionen stellen
mochte. Die Leute, die einander begegneten oder überholten, grüßten
stumm und freundlich. Es war ein Sabbath in den Herzen.

Mirjam und Friedrich kamen an einem alten Herrn vorbei, der ziemlich
schwer an seinem Stocke daherging. Mirjam nickte ihm zu, und er schloß
sich dann dem rückwärtigen Paare David und Sarah an, das ihm zuliebe
den Schritt verlangsamte.

„Dieser Alte,“ sagte Mirjam leise zu ihrem Begleiter, „hat auch seinen
Frieden hier gefunden. Sie müssen sich einmal von meinem Bruder die
Geschichte erzählen lassen, wie er den Mann fand und bekehrte. Es war
in Paris, wo David geschäftlich zu thun hatte. Er lernte Monsieur
Armand Ephraim durch Zufall kennen. Sie wissen ja schon, wie unser
David ist. Seine Liebenswürdigkeit gewinnt ihm alle Herzen. So fühlte
sich auch der steinreiche Monsieur Ephraim zu David hingezogen, mehr
als zu seinen eigenen Verwandten, die nur auf seinen Tod warteten, um
als Erben zu lachen. Monsieur Ephraim hatte immer nur Geld verdient und
Geld für sein Vergnügen ausgegeben. Nun war er zu alt, um sich zu
unterhalten, und er fand in seinem ermüdeten Gehirn keinen Gedanken,
was er mit dem vielen Gelde anfangen sollte. Nur eins wußte er: den
lustigen Erben wollte er es nicht lassen. Da bewog ihn David, nach
Jerusalem zu kommen. Hier könne er sich noch einmal für sein Geld
unterhalten. Der Alte kam, und David führte ihn in den Friedenspalast.
Dieser Prachtbau ist mit der Zeit ein merkwürdiger Mittelpunkt milder
Bestrebungen geworden. Hier wirkt man keineswegs für das jüdische Land
und seine Bewohner, sondern für andere Länder und Völker. Wir sind ja
in unserer Neuen Gesellschaft mit einigen Problemen fertig geworden,
welche der früheren Zeit Sorge machten. Aber es giebt leider noch genug
Jammer auf der Erde, und nur die gemeinschaftliche Anstrengung aller
kann erleichternd wirken. Im Friedenspalaste finden sich solche
universellen Bestrebungen zusammen. Wenn zum Beispiel irgendwo in der
Welt eine Katastrophe hereinbricht — Brände, Ueberschwemmungen,
Hungersnot, Epidemien — so wird es hierher telegraphiert. Hier ist
immer ein Hilfereservoir in großen Barmitteln vorhanden, weil ebenso
wie die Bittgesuche auch die Spenden sich hier zentralisieren. Ein
ständiger großer Rat, dessen Mitglieder von den verschiedenen Nationen
gewählt werden, wacht über die gerechte Verteilung und Ausgleichung der
Gaben. Hierher wenden sich aber auch Erfinder, Künstler, Gelehrte um
Unterstützung ihrer Arbeiten. Es lockt sie der Spruch, der über dem
Thore des Friedenspalastes leuchtet: „Nil humani a me alienum puto“.
Und es wird ihnen, wenn sie würdig sind, nach Möglichkeit geholfen ...
Hier hat nun Monsieur Ephraim die Unterhaltung gefunden, die ihm unser
David versprach. Monsieur Ephraim besucht mit Vergnügen die Sitzungen
der Kommissionen, in denen über die Hilfsgesuche berichtet wird, und er
verläßt sie immer erleichtert. Er schenkt nämlich nach und nach sein
ganzes Vermögen weg. Er behält sich nur den Nutzgenuß vor, den er bis
zu seinem Tode braucht. Dann soll alles guten Zwecken zufallen.“

Friedrich sagte lächelnd: „Wenn er das durchführt, wird er es
erreichen, daß seine Verwandten wirklich um ihn trauern.“

Sie blieben jetzt stehen, um auf die Nachkommenden zu warten. Sie
hörten, wie Mr. Ephraim hüstelnd eine früher begonnene Erzählung
schloß: „Und fünfhundert Pfund Sterling habe ich einem Seehospiz für
verwahrloste Londoner Kinder gegeben. Im ganzen heute hunderttausend
Francs. Kein schlechter Tag — höhö — kein schlechter Tag! Wenn ich
nicht mehr da wäre, hätte vielleicht heute einer meiner Neffen beim
Wettrennen ebensoviel verspielt ... So habe wenigstens ich meine Freude
gehabt — und sie werden nicht lachen, meine Erben hehehe ... Sondern
ich lache — hehehe! Und die kleinen Kinder von London werden auch
lachen, wenn sie in die gute Luft kommen ... Die armen Kindlein.“

Und jetzt waren sie vor dem Tempel von Jerusalem angelangt.

Er war wieder aufgerichtet worden, weil die Zeiten sich erfüllten. Er
war wie einst aus Kalkquadern aufgebaut, die aus den nahen Steinbrüchen
kamen und an der Luft zu härtestem Gestein sich festigten. Wieder
standen die Säulen, aus Erz gegossen, vor dem Heiligtume Israels. Es
hieß die linke Säule Boaz, die rechte aber hieß Jachin. Im Vorhofe
stand ein gewaltiger erzener Altar, und auch der weite Wasserbehälter
war da, den man das eherne Meer nannte, wie in den alten Zeiten, da
Salomo der König regierte.

Sarah und Mirjam waren nach der Frauenabteilung gegangen. Friedrich
stand im Tempel neben David in der hintersten Reihe.

„Ich habe mir,“ sagte David, „als die Tempelplätze vergeben wurden, den
allerletzten ausgesucht, und ich möchte keinen anderen haben.“

Durch den herrlichen Raum begannen Gesänge und Lautenspiel zu rauschen.
Wundersam ergriffen diese Klänge das Gemüt Friedrichs. Sie trugen ihn
zurück in Fernen seines eigenen Lebens und in andere Zeiten Israels.
Die Beter um ihn herum singsalierten und murmelten die vorgeschriebenen
Worte. Ihm aber kamen schöne deutsche Verse in den Sinn: die
„Hebräischen Melodien“ von Heinrich Heine. Da war Prinzessin Sabbath
wieder „die man nennt die stille Fürstin“. Der Tempelsänger hob das
alte Lied zu singen an, das in vielen hundert Jahren dem zerstreuten
Volke heimwehweckend erklungen war, in unzähligen Synagogen auf dem
Erdenrunde, das Lied des edlen Dichters Salomon ben Halevy:


        „Lecho Daudi Likras Kalle ...“


Und wie es Heine deutsch gemacht:


        „Komm, Geliebter, deiner harret
        Schon die Braut, die dir entschleiert
        Ihr verschämtes Angesicht!“


Ja, Heine fühlte als ein wahrhafter Poet die Romantik, welche im
Schicksale seines Stammes enthalten war. Und daß er die innigsten
deutschen Lieder sang, hinderte ihn nicht, auch die Schönheit der
hebräischen Melodien zu finden. Friedrich aber besann sich jetzt einer
schmählichen Zeit, in der die Juden sich alles jüdischen schämten. Sie
glaubten vornehmer auszusehen, wenn sie sich nicht als Juden zu
erkennen gaben. Aber gerade dadurch zeigten sie die Gesinnung von
Bedienten oder Freigelassenen. Und sie konnten sich noch über die
Geringschätzung wundern, die ihnen zu teil wurde, da sie doch wahrlich
keine Selbstachtung an den Tag gelegt hatten. Nachgekrochen waren sie
den anderen, und es ereilte sie dafür die gerechte Strafe: sie wurden
abgelehnt. Aber in seltsamer Verblendung zogen sie daraus nicht die
richtige Lehre, sondern eine ganz verkehrte. Diejenigen, die gute
Geschäfte gemacht oder sich sonst irgendwie hervorgethan hatten, fielen
öffentlich vom Glauben ihrer Väter ab. Sie bemühten sich, ihre Herkunft
und Stammeszugehörigkeit wie einen Makel zu verbergen. Und wenn
diejenigen, die vom Judentume herkamen, die also genau wissen mußten,
was es war, sogar ihre eigenen Väter und Mütter verleugneten, nur um
damit nichts zu schaffen zu haben — so mußte es wohl etwas recht
Gemeines, Verwerfliches und Böses sein. Freilich entkamen die
Abtrünnigen dennoch nicht, und es erging ihnen wie den Flüchtlingen aus
einer verseuchten Gegend. Sie waren verdächtig und blieben gleichsam in
der Quarantaine liegen. Marranen hießen im Mittelalter die getauften
Israeliten in Spanien. Das Marranentum war die Quarantaine der
entflohenen Juden.

Und das Judentum kam bei alledem immer tiefer herab. Es wurde das
„Elend“, ganz im Sinne des alten deutschen Wortes: nämlich das
Aus-land, das fremde Land, der Aufenthaltsort von Verbannten. Wer im
„Elend“ war, der war ein Unglücklicher, und wer unglücklich war, es zu
nichts bringen konnte, der suchte seinen Schlupfwinkel im Elend. So
kamen die Juden aus eigener wie aus fremder Schuld immer tiefer hinein.
Elend, Golus, Ghetto! Worte in allen Sprachen für dasselbe Ding.
Verachtet werden, und sich schließlich selbst verachten! ...

Und aus diesem tiefsten Zustande hatten sie sich nun herausgehoben!
Alles, was Friedrich umgab, zeigte ihm, wie es gekommen war. Das
Judentum sah jetzt einfach darum anders aus, weil die Juden sich seiner
nicht mehr schämten. Nicht nur die Bettler, Hilfesucher und
Verstauchten bekannten sich in einem verdächtig einseitigen
Solidaritätsgefühle dazu. Nein, auch die Starken, Freien, Erfolgreichen
waren heimgekehrt, und sie empfingen wahrlich mehr, als sie gaben. Denn
immer noch waren ihnen die Menschen anderer Völker dankbar, wenn sie
etwas Großes leisteten. Das Judenvolk aber verlangte von ihnen nichts
anderes, als daß sie nicht den vergeblichen Versuch machen sollten,
sich von ihm loszusagen. Jedem Großen ist die Welt dankbar, wenn er ihr
etwas bringt; er muß ihr etwas bringen. Nur das väterliche Haus ist
seinem Sohne dankbar, auch wenn er nichts bringt, als sich selbst ....

Plötzlich, in diesen Betrachtungen, die von den hebräischen Melodien
durchrauscht waren, ersah und verstand Friedrich die Bedeutung des
Tempels. Einst, in der Zeit, da Salomo der König regierte, war der
Tempel ein mit Gold und Edelgestein geschmücktes Wahrzeichen für den
Stolz und die Macht Israels. Mit kostbaren Erzen, mit Oliven-, Cedern-
und Cypressenholz war der Tempel im Geschmack der Zeit geziert, daß er
eine Lust der Augen sei. Aber wie herrlich für die Begriffe jener Tage
dies alles auch gewesen, um den sichtbaren und greifbaren Bau konnten
die Juden doch nicht achtzehn Jahrhunderte hindurch gejammert haben. An
den Trümmern konnten sie nicht um das zerstörte Mauerwerk geklagt haben
— für eine Dauer von achtzehn Jahrhunderten wäre ein solcher Jammer zu
läppisch gewesen. Nein, sie ächzten um etwas Unsichtbares, für das der
Tempel nur ein steinerner Ausdruck gewesen. Und dieses Unsichtbare
fühlte Friedrich im neuerstandenen Tempel zu Jerusalem. Es wurde ihm
weit und frei zu Mute. Da standen die heimgekehrten Söhne von Gottes
altem Volk und erhoben ihre Seelen zum Unsichtbaren. Sie standen wie
einst ihre Väter auf dem Berge Moria.

Salomos Worte waren wieder lebendig: „Gott hat verheißen, in einer
Wolke zu weilen, gebaut hab’ ich einen festen Wohnsitz dir, o Gott!
eine Stätte für dein Bleiben für immer“.

Gebetet hatten sie mit mehr oder weniger Andacht in vielen Tempeln auf
dem Erdenrunde, in prächtigen und armen, in allen Sprachen der
Zerstreuung. Ihr unsichtbarer Gott, der Allgegenwärtige, mußte ihnen
doch überall gleich nah oder fern sein. Dennoch war nur hier allein der
Tempel. Warum?

Weil sie erst hier zu der freien Gemeinschaft gediehen waren, in der
sie für die höchsten Zwecke der Menschheit wirken konnten. Sie hatten
in früheren Seiten die Gemeinsamkeit gekannt, in der Verfolgung, im
Druck, im Ghetto. Sie hatten später die Freiheit gekannt, als ihnen die
Kulturvölker die Gleichberechtigung schenkten. Aber in der Judengasse
waren sie ehrlos, wehrlos, rechtlos, und als sie die Gasse verließen,
hörten sie auf Juden zu sein. Beides mußte da sein: Freiheit und
Gemeingefühl. Da erst durften sie das Haus des Unsichtbaren und
Allmächtigen errichten, welchen die Kinder sich anders vorstellen, als
die Weisen, der aber als der Wille zum Guten im All gegenwärtig ist.

Und als sie nach beendetem Gottesdienste hinaustraten, als die vielen
stattlichen, ernst und frei blickenden Menschen einander mit
Freundlichkeit zunickten und „Guten Sabbath!“ wünschten, da sagte
Friedrich zu seinem Freunde David:

„Jawohl, Sie hatten auf dem Oelberg Recht, als Sie mir dieses Haus
zeigten. Das ist der Tempel!“








2. KAPITEL.


Am folgenden Sonntag fanden im ganzen Lande die Delegiertenwahlen
statt.

David war in der Nacht vom Samstag auf den Sonntag nach Haifa gefahren,
um den Wahltag vom Mittelpunkte der Bewegung aus zu leiten. Die Partei
Geyer machte überall die größten Anstrengungen. Geyers Zeitungen
brachten den Tag über in rasch aufeinander folgenden Extraausgaben
zuversichtliche Stimmungsberichte. Damit waren unbestimmte
Verdächtigungen vermischt. Eines dieser unsauberen Blätter nahm den
Generaldirektor der Neuen Gesellschaft Joseph Levy besonders aufs Korn.
Es wurde von der allzu unbeschränkten Gewalt dieses Mannes über die
Millionen der Neuen Gesellschaft gesprochen. Der Schreiber des Artikels
beteuerte zwischendurch immer wieder, daß er Herrn Joseph Levy nicht
anklagen wolle; es handle sich lediglich um das allgemeine Wohl, um die
sauer erworbenen Groschen der Armen, um die Existenz der uns allen so
teueren Gemeinschaft. Geschrieben war das Ganze in einem süßlichen Tone
und mit Bibelworten fromm unterspickt.

Professor Steineck, der dieses Blatt im Beisein Kingscourts erhielt,
wurde beim Lesen hochrot im Gesichte, und stieß fort und fort dumpfe
Wutrufe aus:

„Oh du Rabenvieh! ... Oh du Schweinehund! ... Oh du — du — du Geyer!
... Der Schuft weiß ganz gut, daß unser Joe die Ehrlichkeit selbst ist.
Er weiß, daß Joe sich geschunden und gerackert hat, um die Neue
Gesellschaft in die Höhe zu bringen. Denn das weiß jedes Kind, das weiß
die ganze Welt. Und dieser Lumpenkerl wagt es, Joe’s Namen in seinen
verruchten Lügenmund zu nehmen. Alles nur wegen der Wahlen — Sie
verstehen? Das soll die Leute bei der Abstimmung beeinflussen, daß sie
Delegierte der Opposition wählen. Sie verstehen?“

Grimmig zerriß er das Blatt, ballte die Fetzen zu einem Knäuel und
schleuderte diesen mit einem Ausruf des Ekels zum Fenster heraus.

Kingscourt lachte: „Ob ich das verstehe! Geliebter Mikrobenvater, ich
habe doch auch in der Welt jelebt. Ich werde doch wissen, was die
Menschen für jemeine Bestien sind. Wissen Sie, offen jestanden hab’ ich
an manches in Eurer Neuen Jesellschaft, trotz Oojenschein nich
jeglaubt. Die janze Jeschichte war mir ’n bißchen zu rosenrot und
potemkinisch. Seh’ ich aber, daß Ihr auch Hallunken von allen Sorten
auf Lager habt, dann fängt es an, mir einzuleuchten. Dann muß auch ich
oller Wüstenpilger zujeben, daß die Jeschichte wahr ist.“

Im übrigen war aber in diesem Kreise von den Wahlen nicht mehr viel die
Rede, so schwer es auch schien, dem Tagesereignis auszuweichen, das
durch alle Ritzen hereindrang. Man bedauerte David Littwak, weil er
sich so tief in den Streit eingelassen habe; doch nun kam er ja bald
zur Ruhe. Er hatte oft erklärt, daß er gleich nach den Wahlen zu seinen
gewohnten Arbeiten zurückkehren werde. Das Mandat eines Delegierten
strebte er zwar an und wollte es ausüben, aber der Kongreß tagte nur
wenige Wochen im Jahre.

Auf Mirjams Anregung benutzten Friedrich und die Freunde gerade diesen
Wahltag, um einen von der Politik weit abgelegenen Ort aufzusuchen,
nämlich eine Künstlerwerkstatt. Mirjam und Friedrich fuhren mit dem
Professor hinaus nach dem Atelier des Malers Isaaks. Das Haus des
Meisters lag in einer stillen Gegend im Osten der Neustadt. Es enthielt
Kunstschätze erlesener Art. Isaaks liebte die edle Geselligkeit, und
die Feste, die er öfters in seinem Palästchen veranstaltete, waren
durch ihre Pracht und Feinheit berühmt.

Die Mauer des Künstlerhauses, die der Straße zugekehrt war, ließ noch
nichts von der heiteren Eleganz des Inneren ahnen. Um so freudiger war
man überrascht, wenn man den Vorhof betrat. Isaaks hatte sich ein
reizendes Heim geschaffen. Die Vorhalle, deren Glasdach auf den
vergoldeten Knäufen schlanker Marmorsäulen ruhte, war mit alten
Gobelins verkleidet. Hier standen einige meisterhafte Nachbildungen
antiker Skulpturen. Die Gäste wurden von einem Diener weitergeführt und
kamen in einen Hof, der die Mitte des Hauses einnahm. Es war dies
eigentlich ein Salon ohne Zimmerdecke. Der blaue Himmel war sein
Plafond. Auf drei Seiten war der mit großen Steinplatten belegte Hof
von Säulengängen umgeben, auf der vierten Seite grenzte ihn gegen den
Garten ein auf Rädchen verschiebbares vergoldetes Gitter ab, das jetzt
weitgeöffnet stand. Man blickte in den Garten hinaus, der um mehrere
Stufen tiefer lag und nicht sehr groß war, jedoch durch eine kunstvolle
Stellung der Gebüsche den Eindruck bedeutender Tiefe machte. Aus dem
Palmengrün leuchtete da und dort der Marmor edler Bildsäulen. Im Hofe
selbst befand sich in der Mitte ein Springbrunnen mit weitem Becken,
dessen Wasser leise rauschten. Gute Lehnstühle von reicher
Verschiedenheit der Formen waren in Plauderwinkeln gruppiert. Der
breite um einige Stufen erhöhte Säulengang, der von drei Seiten den Hof
umgab, konnte in einen geschlossenen Raum verwandelt werden, indem man
aus der Tiefe Glaswände aufsteigen ließ. Aber in der milden Jahreszeit
war alles offen. Dieser Hof mit seinen Kolonnaden bildete einen
einzigen herrlichen Saal. Es führten aus dem Säulengange hohe,
geschnitzte Thüren nach anderen Räumen des Hauses. Einzelne waren
geöffnet, man erblickte den Prunk ihrer Ausstattung. Es war der Palast
eines Fürsten der Kunst.

Und dort die Thüre, die jetzt aufging, war die seines Ateliers. Isaaks,
dem die Gäste gemeldet worden, kam in Begleitung eines vornehm
aussehenden Paares. Professor Steineck stellte Friedrich vor, und
Isaaks nannte die Dame und den Herrn, die bei ihm waren: Lord Sudbury
und Lady Lillian, dessen Gemahlin. Sie hielten sich in Jerusalem auf,
weil Isaaks das Porträt der schönen Lady Lillian malte. Meister Isaaks
war ein stattlicher Mann von etwa vierzig Jahren. Er bewegte sich und
sprach mit einer heiteren Würde; man sah ihm die Gewohnheit an, mit
eleganten Leuten als Gleichgestellter zu verkehren. Und doch war auch
er ein armer Judenjunge gewesen, der es nur von Talentes Gnaden zu
seinem jetzigen Range in der Welt gebracht hatte.

Isaaks weckte durch seine liebenswürdige Art sehr bald ein Gefühl des
Behagens bei seinen Gästen. Diener trugen Erfrischungen herbei. Dann
brannten die Herren Cigarren an — duftende Kräuter, die, wie der
Hausherr lächelnd bemerkte, in Palästina gewachsen waren. Es war das
Einzige, worauf er mit sichtlichem Stolze hinwies. „Blume des Jordans“
nenne man die Sorte. Die Tabakspflanzungen lagen nämlich im
Jordanthale.

Während die Herren schmauchten und plauderten, hatte sich die schöne
Lady Lillian der ihr schon von früheren Besuchen her bekannten Mirjam
genähert und flüsterte ihr bittend etwas zu. Mirjam schien abzulehnen
und milderte ihre Weigerung durch ein Lächeln. Es kam Friedrich vor,
als hätte Mirjam beim verneinenden Kopfschütteln nach ihm hingeblickt.
Auch Lady Lillian sah ihn daraufhin flüchtig an. Die Damen standen
jetzt am goldenen Gitter, zwei schlanke Gestalten, die den Blick
erfreuten. Mirjam, dunkelhaarig und von etwas kleinerem Wuchs, machte
in ihrer sehr einfachen Kleidung doch keine schlechte Figur neben der
hochragenden, blonden Engländerin, deren Toilette auf die Kunst eines
Pariser Schneiders hinwies. Friedrich hatte ein unbestimmtes Gefühl von
Stolz, als er das Judenmädchen, die Tochter des Hausierers in so
bescheidener und doch nicht unsicherer Haltung neben der englischen
großen Dame sah. Und im Tone seines abwesenden Freundes Kingscourt
dachte er sich:

„Alle Deibel — nu bringen wir es sogar zu einem bescheidenen Auftreten
in der Gesellschaft.“

Aber die Lady und Mirjam schritten jetzt langsam in den Garten hinaus,
und Friedrich, so gern er ihnen auch gefolgt wäre, mußte dableiben,
denn das Gespräch wandte sich hauptsächlich an ihn. Ihm erklärte man
Dinge, die er noch nicht wußte: die Rolle der Kunst und Philosophie in
der Neuen Gesellschaft. Jetzt erst, als Meister Isaaks mit seiner
wohlklingenden Stimme davon sprach, fiel es Friedrich ein, daß ihm ein
Aufschluß über die Fragen bisher gefehlt hatte. Er hatte den Tempel und
die elektrischen Maschinen, das alte Volk und die neuen Formen seiner
Vergesellschaftung in Altneuland gesehen. Aber wie stand es mit den
Bedürfnissen feiner Geister in Kunst und Wissenschaft? Dies war ja vor
Zeiten ein gewichtiger Einwand der sogenannten modernen Menschen gegen
die zionistische Bewegung gewesen. Man hatte die Idee von der
Wiedergeburt des jüdischen Volkes als eine blödsinnige Reaktion, als
eine Art chiliastischen Schreckens hingestellt. Und nun hörte Friedrich
vom Maler Isaaks, daß es mit nichten so war. In der Neuen Gesellschaft
herrschte alles eher als Volksverdummung, wenn man auch einen jeden
nach seiner Façon selig werden ließ. Glaubenssachen waren ein- für
allemal von der öffentlichen Beeinflußung ausgeschaltet. Ob einer im
Tempel, in der Kirche, in der Moschee, im Kunstmuseum oder im
philharmonischen Konzerte die Andacht suchte, die ihn mit dem Ewigen
verbinden sollte, darum hatte sich die Gesellschaft nicht zu kümmern.
Das machte jeder füglich mit sich selbst aus.

Kunst und Philosophie hatten ihre unabhängige Pflegestätte in der
Jüdischen Akademie, die ja auch keine funkelnagelneue Erfindung war,
sondern in der Französischen Akademie ein jahrhundertealtes Vorbild
besaß. Die Mittel zur Errichtung dieser Akademie waren von einem
reichen Amerikaner gestiftet worden, der als Gast die Reise des
Dampfers Futuro mitgemacht hatte. Der Geist vom Futuro sollte auch
immer die Jüdische Akademie erfüllen, dafür war in den Satzungen nach
Möglichkeit vorgesorgt. Vierzig war die Zahl der Mitglieder, gleichwie
im Palais Mazarin, und wenn ein Fauteuil durch Todesfall frei wurde, so
wählten die übrigen Mitglieder den würdigsten Nachfolger. Die
Mitglieder bezogen einen Gehalt, welcher sie jeder Sorge um den
Lebensunterhalt enthob, so daß ihre Kunst, Philosophie und
Gelehrsamkeit nach keiner Gunst auszuschielen brauchte. Es ergab sich
auch von selbst, daß die vierzig Juden der Akademie von nationalem
Chauvinismus frei waren. Als dieses Institut errichtet wurde, kamen
seine ersten Mitglieder aus verschiedensprachigen Kulturen zusammen und
einigten sich auf dem Boden der Menschlichkeit. So schuf ihr
Beisammensein einen Geist, welcher nicht entthront werden konnte, weil
sie selbst sich die folgenden Genossen wählten. Die erste Satzung des
Stifters aber lautete:

„Die Jüdische Akademie hat die Aufgabe, das Verdienst einzelner um die
Menschheit aufzusuchen.“

Diese Aufgabe war selbstverständlich nicht an die Grenzen des Landes
gebunden.

Die Vierzig der Jüdischen Akademie bildeten auch das Ordenskapitel der
Judenehre, die ebenfalls nach einem französischen Muster geschaffen
war: nach der Ehrenlegion. Das Abzeichen war ein gelbes Band im
Knopfloch. Friedrich hatte dieses Bändchen schon bei mehreren gesehen,
aber es nicht sonderlich beachtet. Es war offenbar die wohlbekannte
Ordensnarrheit der früheren Zeit. Dennoch machte es auf ihn einen
gewissen Eindruck, als Meister Isaaks, der gleich dem Professor
Steineck das gelbe Bändchen besaß, in dieser Weise davon sprach:

„Sie dürfen nicht glauben, lieber Doktor Löwenberg, daß wir das aus
lauter Dummheit und Eitelkeit eingerichtet haben. Die Ehre verlangt
auch nach einer Umlaufsmünze, das haben die Staatskünstler der alten
Gesellschaft wohl erkannt. Warum hätten wir dieses Mittel verschmähen
sollen, womit man für die Gemeinschaft so viel erzielen kann? Nur haben
wir seinen Wert von vorneherein hoch zu halten uns bemüht, indem wir es
schwer erreichbar machten. Die höheren Grade sind sehr selten.
Großmeister ist der Präsident unserer Akademie, und diese, das
Ordenskapitel der Judenehre besteht aus Leuten, die keinerlei
Privatinteressen haben und von allem politischen Treiben entfernt sind.
Daraus ergiebt sich, daß diese Auszeichnung für Geld oder Parteidienste
nicht zu haben ist. Wenn einer gute Geschäfte gemacht hat, so zeichnen
wir ihn dafür nicht aus. Darum waren ja die Orden in der alten
Gesellschaft lächerlich. Bei uns bedeutet dieses sonst so komische
Bändchen ernste Leistungen, die dazu dienten, das allgemeine Niveau zu
heben. Die Farbe aber soll uns an die schwersten Zeiten unserer
Volksgeschichte erinnern und uns noch im Erfolge zur Demut mahnen. Aus
dem gelben Fleck, den unsere unglücklichsten, standhaften Väter tragen
mußten, aus dem Zeichen der Schande haben wir das Zeichen der Ehre
gemacht.“

„Sie verstehen?“ rief Steineck.

Friedrich nickte nachdenklich.

In diesem Augenblicke meldete ein Diener den Doktor Marcus. Meister
Isaaks erhob sich rasch und eilte dem weißbärtigen alten Herrn
entgegen:

„Sie kommen wie der Wolf in der Fabel, Herr Doktor!“ sagte Isaaks und
stellte den Lord und Friedrich vor. „Herr Doktor Marcus ist der
Präsident der Jüdischen Akademie ... Ich habe meinen lieben Gästen
soeben einiges von der Akademie erzählt. Lord Sudbury wußte ja das
meiste schon, aber diesem Herrn, obwohl er ein Jude ist, war alles
neu.“

„Wie ist es möglich?“ fragte Doktor Marcus.

Friedrich berichtete mit wenigen Worten seine Schicksale. Der Präsident
der Akademie hörte mit leisem Kopfschütteln zu. Dann sagte er:

„Vor zwanzig Jahren! Ja, ja, ich begreife Ihre Verwunderung. Und doch
war schon alles vorhanden. Erinnern Sie sich der Worte des Koheleth:
Was ist’s, das geschehen ist? Eben das hernach geschehen wird. Was
ist’s, das man gethan hat?  Eben das man hernach wieder thun wird; und
geschieht nichts neues unter der Sonne ...“

„Erlauben Sie, mein lieber Präsident!“ schrie Steineck auf. „Das ist
denn doch wohl nur cum grano salis zu verstehen. Alles was ist, war
noch nicht da, und alles was kommen wird, liegt noch nicht hinter uns.
Ich erinnere Sie nicht an Koheleth, aber an Stockton-Darlington. Sie
verstehen?“

„Was ist das mit Stockton-Darlington?“ erkundigte sich Lord Sudbury.
„Meinen Sie die erste Eisenbahnlinie der Welt, die George Stephenson
vor hundert Jahren baute?“

„Ganz recht, Mylord!“ rief der Professor. „Wir haben in unserer
Akademie vor einigen Tagen den Beschluß gefaßt, der gesamten
zivilisierten Welt einen Vorschlag zu machen. Es soll im Jahre 1925 die
Feier von Stephensons That begangen werden, und zwar in würdiger Weise.
Es sollen nämlich in der Minute, wenn die hundert Jahre voll sind, alle
eben fahrenden Lokomotiven auf allen Linien der Erde drei lange
Signalpfiffe ertönen lassen. Das ist die Stockton-Darlington-Feier, die
wir proponieren. In der ganzen Welt werden die Menschen, die in dieser
Minute im Coupé sitzen, an Stephenson denken müssen, an den Bringer der
neuen Zeit ... Sie werden mir zugeben, mein guter Präsident, daß die
Weisheit des Koheleth zwischen Stockton und Darlington entgleist.“

Doktor Marcus entgegnete freundlich:

„Das gebe ich gerne zu, um so lieber, als ich es gar nicht bestritten
habe. Ich dachte nur an die Coexistenz der Dinge, die mich oft
beschäftigt. Es ist der Gedanke meiner Ruhe, meiner Beruhigung. Die
Jahre oder Monate oder Tage, die ich noch im Lichte zu verbringen habe,
sind mir darum angenehm. Ich sage keineswegs: sie gefallen mir nicht.
Es ist mein Trost, daß alle Dinge, die waren, da sind. Auch das
Künftige ist schon vorhanden, und ich kenne es: es ist das Gute. So
komme ich aus denselben Voraussetzungen zu einem anderen Schlusse, als
der Prediger, der Sohn Davids, der über Israel König war zu Jerusalem.
Aber vielleicht hat auch der Prediger Salomo dasselbe gemeint, obwohl
er sagte, daß alles ganz eitel sei, und obwohl er fragte, was der
Mensch für Gewinn von all seiner Mühe unter der Sonne habe. Alles ist
eitel, jawohl, wenn wir es aus dem vergänglichen Gesichtspunkte unserer
Person ansehen. Aber es ist nicht eitel, wenn wir imstande sind, unsere
eigene Person davon hinwegzudenken. Dann sind sogar meine Träume ewig,
denn andere werden sie träumen, wenn ich nicht mehr da bin. Schönheit
und Weisheit gehen nicht verloren, auch wenn ihre Hervorbringer
sterben. Gleichwie es keinen Gebildeten giebt, dem die Erhaltung der
Energie unbekannt ist, so müssen wir uns auch von dem Lehrsatze
durchdringen lassen, daß es eine Erhaltung der Schönheit und Weisheit
giebt. Ist etwa die Kunst der heiteren Griechen vergangen? Nein, sie
wird in anderen Zeitaltern immer wieder neugeboren. Sind die Sprüche
unserer Weisen etwa erloschen? Nein, sie leuchten fort, wenn sie auch
am Tage des Glückes weniger sichtbar sind, als in der Nacht des
Unglücks. Darin gleichen sie allen Flammen ... Und was folgt daraus?
Daß wir es uns sollen angelegen sein lassen, die Schönheit und Weisheit
auf dieser Erde zu vermehren, bis zu unserem letzten Augenblick. Denn
die Erde sind wir selbst. Wir sind von ihr und kehren wieder zu ihr
hin. Sagt es doch schon Koheleth, und dem haben wir auch heute nichts
hinzuzufügen: Die Erde bleibet aber ewiglich! ...“

Nach den Worten Doktor Marcus’ schwieg man ein Weilchen. Jeder gab sich
seinen Gedanken hin. Und in dieser Stille hörte man auf einmal den
Gesang einer Frauenstimme, die durch Mauern und Thüren gedämpft
herausklang. Nun wollte erst recht keiner mit lauter Rede stören.

„Wer ist die Sängerin?“ sagte Friedrich flüsternd.

„Wie, Sie wissen es nicht?“ entgegnete Isaaks. „Fräulein Mirjam!“ Der
Meister erhob sich und schritt in den Säulengang. Er öffnete
geräuschlos die Thüre des Musikzimmers, in das die beiden Damen sich
vorhin zurückgezogen hatten. Jetzt kam der herrliche Gesang voll
heraus. Mirjam, die sich nicht belauscht wußte, sang der Lady Lillian
Schumann und Rubinstein und Wagner, Verdi, Gounod — die Musik aller
Völker vor. Unerschöpflich flossen die Melodien, und eine Seligkeit
überkam den zuhörenden Friedrich im Kreise dieser erlesenen Geister,
die still und hoch das Leben in den edelsten Formen verwirklichten: in
Schönheit und Weisheit. Als aber die Sängerin Mirjam das Lied anhub,
das er immer sehr geliebt hatte, das sehnsuchtsvolle Lied aus Mignon:


        „Kennst du das Land, wo die Citronen blühn ...“


da sagte Friedrich halblaut vor sich hin:

„Dies ist das Land!“








3. KAPITEL.


Die Stunden im Hause des Malers vergingen wie ein Traum. Gegen Abend
wurde Professor Steineck ans Telephon gerufen. Kingscourt war es, der
ihn rief: er möge sofort heimkehren. Im Wagen, in dem sie mit Professor
Steineck fuhren, sagte Friedrich:

„Fräulein Mirjam, ich danke Ihnen dafür, daß ich Sie durch Ihren Gesang
kennen lernen durfte. Erst jetzt weiß ich, wer Sie sind.“

Sie errötete und schwieg.

Aber im Gasthofe, in dem die ganze Gesellschaft Littwaks wohnte,
erwartete sie eine böse Ueberraschung.

Vor dem Thore stand Kingscourt unbedeckten Hauptes und schrie dem
Professor entgegen:

„Zum Wetter, Sie hätten sich auch mehr beeilen können!“

„Ja, was giebt es denn?“ fragte der Professor ruhig.

„Was es giebt? Das Bübchen, Fritzchen — krank ist es! Nu fackeln Sie
aber jefälligst nicht lange rum und kommen Sie zu Fritzchen.“

Sie eilten in das Zimmer des Kindes. Fritzchen lag mit heißen Wangen
und fieberisch glänzenden Augen im Bette.

„Otto!“ schrie es dem alten Kingscourt entgegen. Und „Otto“ gehorchte
schleunigst seinem kleinen Tyrannen. Er setzte sich auf einen Stuhl am
Kopfende nieder, und diesen sollte er in den folgenden Tagen nicht oft
verlassen. Denn war die Gewalt des gesunden Fritzchens über Mr.
Kingscourt recht groß gewesen, das kranke Fritzchen gar konnte mit ihm
machen, was es wollte.

Professor Steineck hatte nach der Untersuchung den Kopf bedenklich
geschüttelt. Zwar beruhigte er Frau Sarah, die ganz verzweifelt war;
aber dem alten Kingscourt verbarg er seine Besorgnisse nicht. Das Kind
war ernstlich krank: eine schwere Halsentzündung. Kingscourt erschrak
heftiger, als er es zeigen wollte. Vor allem rief er Friedrich herbei,
schleppte ihn in ein abgelegenes Zimmer und begann lästerlich zu
fluchen. Die Erkrankung des Kindes werfe alle Pläne um, man könne jetzt
nicht mehr thun, was man wollte, und es gelte, jetzt einen anderen
Entschluß zu fassen.

„Ich verstehe, Kingscourt!“ sagte Friedrich bekümmert; „Sie wollen
abreisen. Nun denn, ich bin bereit!“

„I wo werd’ ich!“ schrie Kingscourt hochrot. „Sie verstehen jar nischt
mehr. Ihre Intellijenz hat im Verkehr mit diesem Frauenzimmer sichtlich
jelitten. Das ist ja eben die Schlemastik, wie ihr Juden euch
ausdrückt: daß wir jetzt schandenhalber nich abreisen können. Sie
halten mich für nen netten Jemütsmenschen. Zuerst Jastfreundschaft
jenossen, amüsiert, Schmarotzerpflanze jewesen — und wenn nu mal
Schatten übers Haus kriechen, soll’ man gleich ausreißen. Nee, mein
Lieber, Sie können meinetwejen abdampfen, wenn Sie Europa durchaus
nicht länger entbehren wollen. Ich bleibe hier, bis Fritzchen jesund
ist — aus reinem Anstandsjefühl. Das jehört sich einfach.“

Die Grobheit des alten Herrn, der er auch diesmal einen lustigen
Anstrich geben wollte, kam aber nicht echt heraus. Er hatte mehr Angst
um das Bübchen, als er es zeigen wollte. Er blieb auch die Nacht über
im Krankenzimmer Fritzchens, wachte mit Frau Sarah und der Kindsfrau
zusammen. Und als ob Fritzchen eine Ahnung von der über alles
merkwürdigen Wandlung gehabt hätte, die im Gemüte des alten
Menschenfeindes vorging, es klammerte sich an Kingscourt an, wie an
keinen anderen. Professor Steineck suchte diese Erscheinung auf
rationalistische Weise zu erklären: der schöne lange blütenweise Bart
Kingscourts habe es dem Kinde angethan, oder vielleicht waren es die
Grimassen und Späße, die der alte Herr machte.

Doch wie man es auch deutete, das stand fest, daß Fritz von seinem
grimmigen Freunde nicht ließ. Im steigenden Fieber umspannte er mit
seinem Händchen den Zeigefinger des am Bette sitzenden Alten.
Kingscourt war der einzige, von dem er Arznei annahm; der einzige, von
dem er sich in Schlaf summen ließ. Kingscourt verfügte über keinen
großen Schatz an Liedern. Am besten gelang ihm noch:


        „Wer reit’t mit zwanzig Knappen ein
        Zu Heidelberg im Hirschen?
        Das ist der Herr von Rohodenstein,
        Auf Rheinwein will er pi-a-i-a-i-irschen.“


Mit diesem Gesange hatte er früher einmal bei Fritzchen Glück gehabt,
und nun mußte der Rodensteiner ununterbrochen zu Heidelberg im Hirschen
einreiten. Das zweite Lied Kingscourts war:


        „Der Gott, der Eisen wachsen ließ,
        Der wollte keine Knechte.“


Mit diesen beiden musikalischen Leistungen lullte er sein leidendes
Freundchen ein.

David Littwak war von der Erkrankung des Kindes nicht benachrichtigt
worden. Man wollte ihn nicht beunruhigen, da er am nächsten Tage
ohnehin nach Jerusalem kommen sollte. Er kam als Sieger im Wahlkampfe.
Die Geyersche Hetzpartei war fast in allen Kreisen, wo sie zu
kandidieren gewagt hatte, geschlagen worden. Dr. Geyer selbst hatte nur
in einem einzigen Bezirke eine relative Stimmenmehrheit erlangt und
mußte sich am folgenden Sonntag der Stichwahl unterziehen. Hingegen war
David Littwak in einunddreißig Bezirken zum Delegierten gewählt worden.
Er entschied sich, nur das Mandat von Neudorf anzunehmen.

Doch als er in dieser frohen Stimmung zu Jerusalem eintraf, erwartete
ihn die Trübung des Glückes im Kinderzimmer. Weinend fiel ihm Frau
Sarah um den Hals:

„Wir waren zu glücklich, David. Nun sucht uns Gott so fürchterlich
heim. Vielleicht waren wir hochmütig oder nahmen das Gute als zu
selbstverständlich hin?“

Er entgegnete sanft und ernst:

„Wir wollen uns jedenfalls an die Brust schlagen und uns selber zur
Demut mahnen. Das kann nie schaden. Im übrigen aber wollen wir mit der
Krankheit kämpfen, was in unserer Macht ist.“

Und sie kämpften. Die besten Aerzte versammelten sich früh und abends
zur Beratung. Alle Kunst der Heilung wurde aufgeboten, um das kleine
Leben zu retten. Aber die Krankheit schien dieser Anstrengungen zu
spotten. Des Kindes Zustand verschlimmerte sich mehr und mehr. Es kam
ein Abend, an dem die Aerzte traurig und kopfschüttelnd das Haus
verließen; nur Professor Steineck blieb da. Er und Kingscourt hielten
gemeinschaftlich mit der Pflegerin im Krankenzimmer aus. Frau Sarah war
vor Aufregung und Ermüdung zusammengebrochen und selbst erkrankt. Man
hatte sie zu Bette bringen müssen. Mirjam und Mrs. Gothland wachten bei
ihr. David Littwak aber hielt sich zwischen den beiden Krankenzimmern
seiner Lieben in einem Salon auf. Er ging bald hier und bald dort
nachsehen, ob alles beim Rechten war. Besonnen traf er die nötigen
Anordnungen, und Friedrich, der nebst Reschid Bey dem bekümmerten Manne
Gesellschaft leistete, mußte ihn bewundern, wenn er diese Gelassenheit
sah. David gab den näheren Freunden, die Nachrichten einholten, ruhig
Auskunft. Doch auch seine Kraft überstieg es endlich. Er bat einen der
Freunde, hinunterzugehen und die Besucher im Vestibule des Gasthofes zu
empfangen. Reschid Bey übernahm diese Aufgabe. Im Bekanntenkreise
Davids hatte sich die Nachricht eilig verbreitet, daß es um den kleinen
Kranken schlecht stand, und von allen Seiten eilten die Leute herbei,
um sich zu erkundigen. Der Präsident der Neuen Gesellschaft ließ sich
jede Stunde berichten. Die Liebe und Achtung, deren David Littwak sich
bei seinen Mitbürgern erfreute, kamen bei diesem Anlasse zum Vorschein.
Vor dem Gasthofe stauten sich die Teilnehmenden. Die Wenigsten kannten
das gute Fritzchen, aber daß es David Littwaks Sohn war, genügte. Viele
beteten für dieses schwache kleine Leben, das vielleicht dereinst ein
großer Segen für die Gemeinschaft werden konnte, wenn es erhalten
blieb.

Und oben redete David gebeugt aber ruhig mit Friedrich:

„Sehen Sie, mein lieber Dr. Löwenberg, das haben wir nicht anders
machen können, als es war. Als es war vor zwanzig und vor zweitausend
Jahren. Wenn die Stunde des früher glücklichen Hiob schlägt, muß er
sich fassen und sagen: Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen
...“

Bei diesen Worten trat Steineck aus Fritzchens Zimmer und flüsterte:

„Noch nicht!“ Aber es klang wenig Hoffnung daraus. Der Professor fügte
hinzu: „Wenn das Kind nur einschlafen könnte. Ein ordentlicher Schlaf
wäre ein Glück, vielleicht die Rettung.“

„Stört das Gebrumm Kingscourts das Kind nicht?“ fragte Friedrich.

„Nein,“ entgegnete Steineck. „Er muß weitersingen, ob er will oder
nicht. Wenn Fritzchen aus dem Halbschlummer erwacht, muß der Alte
singen. Es ist rührend, wie er es thut.“

„Er hat das Kind unendlich gern,“ sagte Friedrich.

Da begann David zu weinen. Aus dem Nebenzimmer aber hörten sie
Kingscourts Stimme:


        „Der Gott, der Eisen wachsen ließ,
        Der wollte keine Knechte ...“


Und dann ging es in den Rodenstein über, der auf Rheinwein
pi-a-i-a-i-irschen wollte. Doch immer trübseliger ritt der Herr von
Rodenstein zu Heidelberg im Hirschen ein, und im Nebenzimmer horchten
sie mit Bangen, ob der Gesang nicht jetzt und jetzt völlig verstummen
werde.

Jetzt — eine Pause. Man hörte nichts mehr. Und im nächsten Augenblick
erschien Kingscourt in der Thüre. Seine Augen waren blutunterlaufen,
und er legte den Finger bedeutsam auf den Mund:

„Still! Er schläft! ... Keinen Ton mehr im Hause! Wer mir da draußen
auf dem Korridor Lärm macht, den schlag’ ich nieder. Ich setze mich
raus ... Wenn Fritzchen aufwacht, ruft ihr mich!“

Und so that Kingscourt. Er setzte sich in den Gang vor Fritzchens
Zimmer auf einen Stuhl und wachte. Er blickte Diener und Gäste, die
vorbeiwollten, so fürchterlich an, daß sie vor ihm erschraken. Dazu
knurrte er heiser, sie möchten anderswohin gehen, hier sei ein Kranker.

Eine Stunde verging so, dann eine zweite. Da ging Friedrich zu
Kingscourt hinaus vor die Thüre. Der Alte fuhr von seinem Stuhle auf:

„Hat es mich jerufen?“

„Nein,“ flüsterte Friedrich. „Es schläft noch immer.“ Im selben
Augenblick fühlte er sich beim Kopfe gepackt. Kingscourt hatte ihn
umschlungen und raunte ihm ins Ohr:

„Fritze, wenn das Wurm aufkommt, bleib’ ich hier, für immer. Das jelobe
ich hiermit feierlich. Dieses Opfer bring’ ich für seine Jenesung, so
wahr ich Adalbert von Königshoff heiße ...“

Stunde um Stunde verrann. Fritzchen schlief und schlief. Er schlief
sich in die Gesundheit hinüber. Aus Nacht ward Morgen. Und mit der
Sonne ging auch wieder die Hoffnung auf. Als man in der Frühe
Kingscourt an das Bett des Kindes rief, hatte es schon wieder helle
Aeuglein und es jauchzte ihm entgegen: „Ottoh! Ottoh!“

„So ’n Kerl!“ brummte Kingscourt und versuchte eine unzufriedene Miene
zu machen, weil er sich seiner nächtlichen Verzagtheit vor Friedrich
schämte. „Nun gehen Sie aber auch schlafen, Kingscourt!“ sagte dieser.
„Sie brauchen jetzt Ruhe. Und was Ihre Worte vom Korridor betrifft, die
will ich einfach nicht gehört haben.“

„Nee, mein Lieber!“ entgegnete Kingscourt stolz, „da kennen Sie mich
doch erst zur Hälfte. Was ich einmal jeschworen habe, ist jeschworen
... Aber vor allem denk’ ich einen langen Schlaf zu thun ... Nachher
wollen wir sehen, wie wir uns hier in die Neue Jesellschaft aufnehmen
lassen. Jawohl!“

Friedrich wußte noch immer nicht, ob der Alte scherzte. Hier zu bleiben
war ja sein sehnlichster Wunsch. Ein nützliches Mitglied der Neuen
Gesellschaft werden, mitarbeiten an all dem Guten, was er gesehen
hatte, dauernd ein Genosse der Wackeren sein — es war sein bisher
verschwiegener Traum. Und noch etwas anderes, das er sich gar nicht zu
gestehen wagte.

Aber Kingscourt hielt Wort. Gleich am folgenden Tage, als Fritzchen
wieder frisch und munter war und auch Frau Sarah sich vom Schrecken
erholt hatte, der ihre ganze Krankheit gewesen, mahnte Kingscourt
selbst an die Ausführung des Vorhabens. Erriet er die Freude, die er
dem Genossen seiner zwanzig Inseljahre machte? Man durfte es ihm wohl
zutrauen, dem angeblichen Menschenfeinde, der dem Zauber des Kindes
erlegen war. Sein Verhältnis zu Fritzchen suchte er wenigstens auf eine
prinzipientreue Weise zu rechtfertigen, nachdem er es nicht mehr zu
leugnen vermochte. Er könne das Bübchen allerdings recht gut leiden,
aber nur ungefähr so, wie man ein unschuldiges Tierchen gern habe.
Fritzchen sei eben noch kein Mensch, folglich vergebe sich ein
Menschenhasser nichts, wenn er so ’n Kerlchen liebgewinne.

„Die Motivierung, Kingscourt, schenke ich Ihnen,“ lachte Friedrich;
„mir genügt die Thatsache. Wann sollen wir uns zum Eintritt in die Neue
Gesellschaft melden?“








4. KAPITEL.


Sie beschlossen, es ohne Verzug zu thun. Sie wollten dem Präsidenten
Eichenstamm, der sie schon damals in Haifa eingeladen hatte, einen
Besuch machen und ihn um Rat fragen, wie sie es am besten anfingen, in
die Neue Gesellschaft als ordentliche Mitglieder einzutreten. So fuhren
sie nach dem Hause des Präsidenten. Das war ein Gebäude, das an die
Palazzi der genuesischen Patrizier erinnerte. Unmittelbar vor ihnen war
ein Motorwagen vorgefahren, dem zwei ältere Herren und Professor
Steineck entstiegen. Der Professor stand schon auf der Freitreppe, als
er die beiden Freunde sah, die mit dem Portier parlamentierten. Er
winkte ihnen einen Gruß zu, und das hatte die Folge, daß der Pförtner
weiter keine Schwierigkeiten machte und sie durchließ. Aber Steineck
war im nächsten Augenblicke verschwunden.

Kingscourt und Friedrich hatten nach Dr. Werkin, dem Sekretär des
Präsidenten, gefragt. Ein Diener führte sie in dessen Bureau, und dort
hieß man sie warten. Sie warteten ein Weilchen in dem schönen hohen
Vorsaale, dann wurde Kingscourt ungeduldig:

„Nee, das mach’ ich nicht länger mit. Sieben Jahre werd’ ich nicht im
Vorzimmer dienen. Reden Sie mit einem der Sklaven, Fritze! Am Ende hat
man uns nicht jemeldet.“

„Sklaven scheint es hier nicht zu geben,“ lächelte Friedrich. „Aber der
Maschinenschreiber dort wird uns Auskunft geben.“

Der Schreiber an der Maschine gab Auskunft. Dr. Werkin sei schon seit
zwei Stunden beim Präsidenten, und es heiße, daß der Präsident
plötzlich schwer erkrankt sei.

„Ah — hah! Nu jehn mir die Lichter auf. Darum ist Steineck so schnell
verschwunden? Wissen Sie vielleicht auch, verehrtester Maschinist, wer
die zwei Herren waren, die mit Steineck kamen.“

„Ja. Das waren zwei Professoren der Medizin von der Zions-Universität.“

„Ich glaube, Kingscourt,“ sagte Friedrich, „wir ziehen uns zurück. Wir
lassen unsere Visitenkarte für Dr. Werkin hier und wollen wiederkommen,
wenn es dem Präsidenten besser geht.“

So verließen sie unverrichteter Sache das Haus des Präsidenten. In der
Stadt Jerusalem war von dem Ereignis noch nichts bekannt. Der Verkehr
rauschte mit der gewöhnlichen Lebhaftigkeit durch die Neustadt. Die
Freunde, die sich schon in den Straßen zurechtfanden, bogen von den
Boulevards ab und betraten einen großen Park, der nach englischem
Muster angelegt war. Am Eingange dieses Parks bemerkten sie ein
ausgedehntes Gebäude mit der Aufschrift: „Gesundheitsamt der Neuen
Gesellschaft“.

Kingscourt lachte laut auf:

„Sieh mal, da haben sie wieder was Jescheutes nachjemacht. Das ist
offenbar dem Deutschen Reichsjesundheitsamte nachjebildet. Da brauch’
ich nicht erst die Einjeborenen zu befragen. Ich kenne mich schon janz
aus in Altneuland. Es ist ’ne Mosaik — eine mosaische Mosaik. Juter
Witz, was?“

„So gut wie alle Ihre Witze, Mr. Kingscourt; auch nicht besser,“ sagte
Friedrich. „Aber mir scheint, Altneuland ist in seinem Wesen nicht
erschöpft, wenn wir nur feststellen, daß alle Einrichtungen bei unserer
Abreise aus der Kulturwelt vor zwanzig Jahren schon da oder dort
existiert haben. Jawohl, alles war schon vorhanden. Die Naturkräfte
waren genügend erforscht — ich meine, genügend für den jetzigen
Zustand. Die technischen Möglichkeiten waren gegeben. Kein Gebildeter
vom Jahre 1900 hätte sich über irgend etwas wundern können, was wir
hier gesehen haben. Ja, sogar das Maß von sozialer Fürsorge, das man
hier verwirklicht hat, kann einen zivilisierten Menschen unserer
damaligen Zeit nicht überraschen. Im Bewußtsein der besseren
Durchschnittsmenschen war die Forderung schon damals durchgedrungen,
daß man dem rohen Egoismus in der Gesellschaft Schranken setzen müsse.
Diese Schranken sind hier freilich nicht drückend, da der Einzelne in
der Genossenschaft wieder zurückbekommt, was ihm individuell genommen
ist. Aber auch die Formen der genossenschaftlichen Produktion und
Konsumtion waren schon da. Und doch ist aus all dem Alten etwas Neues
geworden. Altneuland ist noch mehr, muß noch mehr sein, als eine
Zusammenfassung aller sozialen und technischen Fortschritte.“

„Warum? Ich finde schon das janz hübsch,“ warf Kingscourt ein.

„Als Jurist, als Europäer vom Ende des neunzehnten Jahrhunderts frage
ich mich, wie diese Gesellschaft im Gleichgewicht erhalten wird. Ich
sehe eine Ordnung in der Freiheit, und doch bemerke ich nirgends eine
staatliche Autorität hervorlugen.“

„Ja, Fritze, da liegt der Hase im Pfeffer. Die Juristerei und
Europäertum verdunkeln Euch jar vieles. Man kann mit sehr wenig
staatlicher Autorität auskommen. Wenn Sie, wie ich, drüben in Amerika
jelebt und jeliebt hätten, wüßten Sie das besser. Nee, das verblüfft
mich nu jar nicht. Wissen Sie, was mich verblüfft, schon die janze
Zeit? Das sind die Bäume! Die Bäume in diesem Park sind unter Brüdern
ihre fünfzig bis vierzig Jahre alt. Wo haben die Kerls das
rausjekriegt?“

Er hatte so laut gesprochen, daß ein vorübergehender Herr ihn hörte,
lächelte und stehen blieb. Kingscourt redete ihn natürlich sofort an:

„Ich sehe, daß Sie über mich in jelinde Heiterkeit jeraten, jeschätzter
Vorüberjehender. Wissen Sie vielleicht Antwort auf meine Frage?“

„Gewiß, mein Herr,“ sagte der Angerufene. „Ich diene im Gesundheitsamte
und kenne die Verhältnisse einigermaßen. Daß man auch erwachsene Bäume
verpflanzen kann, ist eine bekannte Sache. In Köln, zum Beispiel, wo
ich früher lebte, gab es einen Volksgarten, in dem man vierzigjährige
Bäume einsetzte. Das ist freilich recht kostspielig, aber für die
öffentliche Gesundheit wird bei uns viel aufgewendet. In den Parks, die
für das Volk da sind, ist nichts zu teuer. Es rentiert sich in den
kommenden Geschlechtern. Uebrigens haben wir nicht überall so alte und
kostbare Bäume gesetzt. Wir haben namentlich von Australien jüngere
Bäume, rasch wachsende Eukalyptusarten bezogen. Die Mittel wurden
anfangs durch den nationalen Baumverein aufgebracht, der in allen
Weltteilen Sammlungen einleitete, als das jüdische Volk noch zerstreut
lebte. Die Spender haben schon damals für den Schatten gesorgt, in dem
sie später sitzen wollten.“

„Danke,“ sagte Kingscourt; „das leuchtet mir ein. Und wenn Sie jetzt
noch Ihre Wohlthat vollmachen wollen, dann erklären Sie, bitte, woher
alle die Kinder sind, die man da auf den Wiesen sieht?“

Sie waren nämlich an Wiesengründen vorbeigekommen, auf denen Schwärme
halbwüchsiger Knaben und Mädchen die Spiele Englands spielten: die
Mägdlein Tennis, die Burschen Cricket und Fußball.

Der Beamte gab willig Auskunft:

„Das sind Schulkinder aus den Instituten, die um diesen Park
herumliegen. Abwechselnd werden alle Klassen herausgeführt zu den
athletischen Spielen, die wir in der Entwickelungszeit für ebenso
wichtig halten, wie das Lernen.“

„Das scheinen aber nur die Kinder wohlhabender Leute zu sein?“ fragte
Friedrich. „Alle sind gleich schmuck und reinlich gekleidet, wie ich
sehe.“

„Nein, Herr!“ erwiderte der Beamte. „Das sind die Kinder aller Leute.
Es giebt in der Schule keinen Unterschied, weder in der Kleidung, noch
in irgend etwas anderem — mit Ausnahme der Begabung und des Fleißes. In
unserer Neuen Gesellschaft sind wir durchaus nicht für die
Gleichmacherei. Jedem nach seinen Werken. Den Wettbewerb haben wir
nicht abgeschafft. Aber die Bedingungen sind für alle gleich, wie bei
einem Preiskampf oder Wettlauf. Am Anfang müssen alle gleich sein,
nicht am Ende. In der früheren Gesellschaft konnte es vorkommen, daß
ein einziges gutes Geschäft eines Mannes seinen Kindern und
Kindeskindern zu allen Wohlthaten der höheren Erziehung verhalf und sie
für immer sorglos machte. Auf der anderen Seite mußten wieder die
Nachkommen nicht etwa nur für die Sünden, nein, sogar für die
schlechten Geschäfte des Vaters büßen. Eine verarmte Familie geriet ins
Proletariat, und es war Heldenkraft nötig, um sich daraus noch einmal
zu erheben ... Bei uns aber werden die Kinder für die Geschäfte der
Väter nicht belohnt und nicht bestraft. Für jede neue Generation
stellen wir wieder den Anfang der Dinge her. Darum sind sämtliche
Schulen, von der Elementarschule bis zur Zions-Universität
unentgeltlich, und die Schüler müssen bis zur Reifeprüfung in der
Mittelschule die gleiche einfache Kleidung tragen. Wir glauben nämlich
nicht, daß es moralisch gut ist, wenn Rang oder Reichtum der Eltern die
Kinder in der Schule unterscheidet. Das verdirbt alle. Die Kinder der
Vornehmeren werden hochmütig und faul, die Kinder der anderen werden
früh verbittert ... Aber Sie verzeihen, wenn ich Sie verlasse. Mich
ruft meine Pflicht.“

Und mit einem höflichen Gruße entfernte er sich.

Friedrich und Kingscourt sahen ergötzt noch eine Weile dem lustigen und
geschickten Völkchen zu. Kingscourt, der noch aus früheren Tagen mit
Cricket und Fußball wohlvertraut war, fühlte in sich die alte Passion
für diese Spiele erwachen. Er feuerte die Kinder mit Zurufen an. Am
liebsten hätte er mitgespielt. Endlich zog ihn Friedrich am Arm fort:

„Wir wollen auch sehen, wie es Fritzchen geht, Sie Rabenottoh! Und
vielleicht sind Nachrichten vom Präsidenten Eichenstamm da?“

Sie kehrten in das Hotel zurück. Fritzchen war schon frisch und munter
und begrüßte seinen Freund mit einem Gesange, den Kingscourt an dem
i-a-i-a-i-i als sein eigenes Lied vom Rodensteiner zu erkennen glaubte.
Der Alte und das Kind waren auch bald in ein sehr intimes, allen
Uebrigen unverständliches Gespräch verwickelt.

Von Eichenstamm kamen aber keine guten Nachrichten. Steineck sandte an
David Littwak eine kurze Meldung: „Hoffnungslos!“ Und als es Abend
wurde, kam der Professor zurück. An seinem Gesichtsausdruck erkannten
die Freunde, was geschehen war.

„Er ist groß gestorben,“ sagte Professor Steineck. „Ich war bei ihm bis
zur letzten Minute. Er sprach über das Sterben. Er sagte, es sei
schmerzlos, wenn man sich damit schon lange vorher beschäftigt habe.
‚Ich fühle,‘ sagte er, ‚wie sich mein Bewußtsein allmählich verdunkelt.
Ich höre mich noch sprechen, aber immer schwächer. Ich werde vielleicht
noch denken, unter Schleiern, wenn ich nicht mehr reden kann. Ich habe
von mir selbst schon Abschied genommen — wie schade, daß ich nicht auch
von all den anderen Abschied nehmen kann, die mir im Leben gut waren.‘
Dann schwieg er lange, sein Blick war in eine Ferne gerichtet. Wieder
kehrten seine Augen dann zu mir zurück. ‚Ich hatte Freunde,‘ sagte er.
‚Viele Freunde. Wo sind sie? Freunde sind der Reichtum des Lebens. Ich
hatte viele, viele Freunde. Wo sind sie? ...‘ Es ging mit ihm zu Ende.
Er murmelte dann noch, und mir schien, als sagte mir sein betrübter
Blick: Du siehst, jetzt kann ich nicht mehr reden, aber noch denken.
Und in einer letzten Anstrengung fand er sich wieder. Er sagte deutlich
das Wort als letztes, das wir oft von ihm gehört haben: ‚Der Fremde
soll sich bei uns wohl fühlen! ...‘ Dann wurden seine Augen starr. Ich
drückte sie ihm zu.“

So starb Eichenstamm, der Präsident der Neuen Gesellschaft.








5. KAPITEL.


Auf den achten Tag nach Eichenstamms feierlichem Begräbnis war der
Kongreß der Neuen Gesellschaft zur Wahl eines Präsidenten einberufen.

Die Delegierten, an die vierhundert, Frauen und Männer, waren schon am
Abend vorher fast vollzählig eingetroffen. In vielen Klubs und
Gasthäusern fanden hitzige Besprechungen statt. Soviel sich an diesem
Vorabend erkennen ließ, lag die Wahl zwischen Dr. Marcus, dem
Präsidenten der Akademie, und Joseph Levy, dem Generaldirektor der
Neuen Gesellschaft. Die Aussichten der beiden waren ungefähr gleich.
Wenn man nun annahm, daß mehrere weniger ernste Kandidaten einen Teil
der Stimmen im ersten Wahlgange auf sich lenken würden, so durfte man
vermuten, daß keiner die absolute Majorität erreichen und eine
Stichwahl zwischen Marcus und Levy nötig sein werde.

Joseph Levy war übrigens von seiner Europareise noch gar nicht
zurückgekehrt. Man erwartete ihn stündlich. Es gab Leute, die
behaupteten, er wolle eine Wahl zum Präsidenten überhaupt nicht
annehmen. Andere wieder sagten, dieses Gerücht werde nur von den
Anhängern des Dr. Marcus ausgesprengt. Kurz, es entwickelte sich das
Treiben, das man überall in der Welt um eine Wahl herum beobachten
kann: Schliche der Parteigänger, Lärm, Zank, Scherz und Ernst.
Kingscourt unterhielt sich dabei ausgezeichnet.

Aber am Morgen des Wahltages kam David Littwak mit bestürzter Miene in
Friedrichs Zimmer:

„Sie müssen ohne mich in das Kongreßhaus gehen, meine Herren. Ich habe
eine Depesche erhalten, die mich nach Tiberias ruft. Meine Mutter ...“
Sein Blick verdunkelte sich und seine Stimme brach: „Der Zustand meiner
Mutter hat sich verschlimmert. Ich reise mit Mirjam sogleich nach
Tiberias. Meine Frau wird mit Fritzchen später nachkommen.“

„Sollen wir nicht mit Ihnen fahren, lieber Littwak?“ fragte Friedrich
teilnehmend.

„Ach, Sie können ja nicht helfen. Ich fürchte, da kann niemand mehr
helfen ... Bleiben Sie ruhig beim Kongreß — für Sie wird es immerhin
ein Erlebnis sein. Was aber mich betrifft, mir ist das alles
gleichgültig geworden. Mögen sie wählen, wen sie wollen.“

Kingscourt sagte:

„Wir werden Ihre Frau und Fritzchen später nach Tiberias begleiten.“

„Danke!“ erwiderte David. „Ich habe nur die eine Bitte, daß Sie niemand
etwas von meiner Abreise sagen. Es giebt Momente, wo einem auch die
Freunde zu viel sind. Man würde mich mit Erkundigungen bestürmen. Ich
will allein sein ... Leben Sie wohl!“

„Ich wünsche Ihrer Mutter eine baldige Besserung!“ sagte Friedrich.

David zuckte traurig die Achseln:

„Ich weiß, wie die Besserung aussehen wird. Leben Sie wohl!“

Nach Davids und Mirjams Abreise fuhren die Freunde nach dem
Kongreßhause. Blauweiße, wegen Eichenstamms Tod umflorte Fahnen wehten,
und eine große Menschenmenge wogte um das monumentale Gebäude.

Der Raum, in welchem die Wahl stattfinden sollte, war ein weiter,
hoher, ernster Marmorsaal mit Oberlicht, das durch eine matte Glasdecke
hereindrang. Die Bänke waren noch leer, denn die Delegierten hielten
sich vor der Sitzung in den Vorsälen, Wandelgängen und
Kommissionszimmern auf. Es ging heiß her, wie ab und zu einer auf die
Galerien melden kam.

Die Galerien aber waren schon dicht gefüllt. In den Logen sah man mehr
Damen als Herren. Gedämpfte Farben herrschten in der Frauentracht vor,
denn es war noch die Trauerzeit für Eichenstamm. Nur in der Loge neben
Kingscourt und Friedrich saßen einige Damen in sehr hellen Kleidern und
mit schreiend bunten Hüten. Es waren die Damen Weinberger, Mutter und
Tochter, die alte und die junge Laschner, Herr, Frau und Fräulein
Schlesinger, und Dr. Walter, Schiffmann, auch Grün und Blau, die
Humoristen, fehlten nicht. Am liebsten wäre Friedrich auf und davon in
eine andere Loge gegangen, aber es gab nirgends mehr einen Platz. Auch
wollte Kingscourt diese Nachbarschaft, die ihn höchlich amüsierte,
nicht aufgeben. Sie hörten alles, was in der Nebenloge geredet wurde.
Vorne an der Brüstung saßen die Damen und Herr Schlesinger, der
Vertreter der Barone von Goldstein.

Der wortwitzige Herr Grün, der Mann mit den „uneingesäumten“ Ohren
sagte:

„Also das is der Kongreß? Mir scheint, mehr Kohn als greß. Obwohl einem
auch gräßlich zu Mut sein kann, wenn man ein Kandidat ist, was
durchfallt.“

„Ich hab’ gehört, Marcus wird durchfallen,“ erklärte Herr Schiffmann.

„Woher wissen Sie das?“ fragte der Vertreter der Barone von Goldstein.
„Mir is es, unter uns gesagt, ganz einerlei.“

Schiffmann lächelte geheimnisvoll:

„Ich hab’ meine Informationen. Alles soll man wissen, nix soll man
brauchen.“

Blau bemerkte neidisch:

„Schiffmann is imstand und spielt auch damit auf der Börse.“

„Das möchte ich wissen, wie sich diese Wahl in Hausse oder Baisse
ausdrücken soll,“ erkundigte sich Dr. Walter.

„Sehr einfach,“ meinte Schiffmann; „Levy ist ein unternehmender Kopf,
also giebt es unter ihm mehr Geschäfte, also Hausse. Hingegen ist
Marcus mehr eine beschauliche Natur, also nix zu handeln, also Baisse.“

„Großartig!“ höhnte Blau, „wenn ich einmal vierundzwanzig Stunden so
wenig Verstand hätt’, wie Sie, Herr Schiffmann, hätt’ ich ausgesorgt
für mein Leben.“

Schiffmann wehrte sich:

„Es ist besser, daß Sie mehr Verstand haben wie ich, denn sonst könnten
Sie nicht auf Hochzeiten Spaß machen gehen.“

„Wer sind denn die Leute, die dort beim Maler Isaaks sitzen?“ fragte
Ernestine Weinberger über die Logenwand hinweg Friedrich. „Ich sah
vorhin, daß Sie sie grüßten.“

„Das ist Lord und Lady Sudbury.“

Frau Laschner mischte sich ein:

„Man sieht auf Ehre, daß sie ist mindestens eine Lady. Auf Ehre! Den
Hut hat sie sich gewiß in Paris gemacht.“

Dr. Walter wurde feierlich:

„Die Anwesenheit solcher Personen beweist immerhin, daß unsere
Einrichtungen das Interesse auch besserer Kreise erwecken.“

Friedrich neigte sich zu Kingscourts Ohr:

„Wenn ich diese Leute höre, möchte ich wieder mit Ihnen auf unsere
Insel zurückkehren.“

„Hohoh, ein Rückfall! ... Da bin ich doch schon weiter. Ich weiß, daß
es in jedem besseren Tiergarten auch einen Affenkäfig jeben muß. So
auch im Menschengarten.“

Jetzt begann es unten im Saale lebhaft zu werden. Einzelne Delegierte
suchten ihre Plätze auf. Auf den Stufen zwischen den im Halbkreise
ansteigenden Bankreihen bildeten sich Gruppen.

Auf der Rechten, in einem Knäuel weiblicher Delegierten, sahen die
Freunde Mrs. Gothland sitzen. Sie schien ihren Zuhörerinnen eine kleine
Agitationsrede zu halten. Es war bekannt, daß Mrs. Gothland zu den
Parteigängern des Dr. Marcus gehörte. Daß der Architekt Steineck für
Joe Levy hitzig eintrat, konnte man leicht wahrnehmen, wenn man ihn
jetzt am Fuße der Rednertribüne gestikulieren sah und aus dem
wachsenden Stimmengebrause seine schrille Stimme heraushörte: „Tschoh!
Tschoh!“

Reschid Bey kam zu Kingscourt und Friedrich. Er brachte das Neueste aus
den Couloirs: die Wahl Joseph Levys sei nahezu gesichert. Er werde
schon im ersten Wahlgange durchdringen. Er sei nämlich im ganzen Lande,
dessen Aufblühen ja seiner Energie zu danken war, volkstümlich, und die
Delegierten wollten in der Mehrzahl darauf Rücksicht nehmen. Marcus
hingegen stehe doch nur den Höhergebildeten nahe. Joseph Levy sei
übrigens heute Morgens von der Reise zurückgekehrt und werde
selbstverständlich in den Kongreß kommen.

„Den Mann müssen Sie mir schleunigst zeigen, wenn er kommt,
jeliebtester Pascha,“ sagte Kingscourt. „Scheint nach alledem ein
schneidijer Kerl zu sein. Ich bin bejierig, mit welcher Art Anstand er
unter sein versammeltes Kriegsvolk tritt.“

Im „Affenkäfig“, wie Kingscourt gescherzt hatte, machte man indessen
weiter Glossen und Witze. Je mächtiger das Bild der Versammlung wurde,
umso schlechter wurde die Laune einzelner im Affenkäfig, als wäre
dieser Zusammentritt befreiter, selbstbewußter Menschen für sie da oben
eine persönliche Beleidigung.

Herr Schlesinger, der Vertreter der Barone von Goldstein, ließ sich
vernehmen:

„Na also! Jetzt sieht man doch, auf was es herausgegangen ist. Der eine
hat die Stelle und der andere jene Stelle haben wollen. Jetzt haben sie
sie. Jetzt ist die Judenfrage gelöst.“

Herr Dr. Walter hatte schon die ganze Zeit gierig in den Saal hinunter
geblickt, in dem leider für ihn kein Platz war, und er entgegnete dem
übrigens hochgeschätzten Goldsteinschen Vertreter:

„Entschuldigen Sie, verehrter Herr Schlesinger, wenn ich da ein wenig
widerspreche. In dem Erstreben eines Mandates von seinesgleichen kann
ich an und für sich nichts Unschönes erblicken. Es kann ja im einzelnen
Fall etwas Unschönes sein, gewiß haben Sie da Recht. Und ich begreife,
daß ein Mann wie Sie, der einige dreißig Jahre im Hause Goldstein
thätig ist, strenge Anforderungen an die Menschen stellt. Aber
schließlich: warum soll man sich nicht um ein Amt in der Neuen
Gesellschaft bemühen?“

„Wenn es etwas einträgt!“ ergänzte der Spaßmacher Herr Blau, und er
fügte, als er das ermunternde Lächeln Schlesingers bemerkte, hinzu:
„Aber ich glaube, Herr Doktor Walter, da hätten Sie früher aufstehen
müssen, wenn Sie hätten eines bekommen wollen.“

Dr. Walter wurde rot vor Zorn und brummte dem Spötter zu:

„Sie haben, Herr Blau, schon lange keine fremde Hand im Gesicht
gehabt.“

Aber Schiffmann stiftete Frieden, indem er die Empfindungen aller in
die wehmütigen Worte zusammenfaßte:

„Mir scheint, wir haben alle die Ueberfuhr versäumt. Wir stehn schon
wieder alle und sehn beim Gitter heraus, wo die freien Menschen sein.
Es is mir gegangen so seit meiner Jugend — wo ich immer bin
hingekommen, hab’ ich nur Schlesinger und Laschner, Grün und Blau
getroffen. Es is ein Pech ...“

Ein Glockenzeichen ertönte. Das kündigte das Erscheinen des
Kongreßpräsidiums an. Die Galerien wurden mit einem Schlage still, und
auch der Affenkäfig verstummte.

Die Delegierten strömten zu allen Thüren herein in den Saal.

„Der dort ist Joe Levy,“ sagte Reschid Bey und zeigte hinunter. „Der
mit dem buschigen grauen Schnurrbart und der Glatze. Der jetzt dem
Architekten Steineck die Hand giebt.“

Sie sahen ihn. Es war ein hagerer Mann von Mittelgröße, sehr gebräunt
im Gesicht und an der Stirne bis an die Hutlinie, sehr rasch und
energisch in seinen Bewegungen. Er drückte viele Hände, weil sich die
Delegierten an ihn herandrängten, um den Heimgekehrten zu begrüßen. Den
Ferneren nickte er lächelnd zu, winkte wohl auch mit erhobener Hand. Er
sah unbefangen und gar nicht feierlich aus.

Ein zweites längeres Glockenzeichen. Alle nahmen ihre Plätze ein,
hinter dem erhöhten Sitze des Präsidiums öffneten sich beide Flügel der
vergoldeten Thüre, und der Vorsitzende des Kongresses erschien mit
seinem ganzen Bureau.

Vor allen Dingen hielt er dem hingegangenen Präsidenten der Neuen
Gesellschaft einen schönen Nachruf, den alle stehend anhörten. Dann
verkündigte er:

„Wir haben uns heute versammelt, um einen neuen Präsidenten zu wählen.“

Da ertönte zum allgemeinen Erstaunen die Stimme Joseph Levys, der in
der dritten Bank im Centrum saß:

„Ich bitte ums Wort!“

Der Vorsitzende sprach:

„Herr Joseph Levy hat das Wort.“

Ein leichtes Brausen stieg aus dem Saale auf, während Joe Levy mit
elastischem Schritte der Rednerbühne zustrebte. Was hatte er vor? Jetzt
war er oben:

„Geehrte Kongreßmitglieder! Ich habe nur eine kurze Erklärung
abzugeben. In meiner Abwesenheit waren einige meiner Freunde so
freundlich, meine Kandidatur aufzustellen. Sie haben mich vorher nicht
befragt, ob es mir auch recht ist.“

Kleiner Lärm in den Reihen der Marcus-Partei: „Hört, hört!“

Architekt Steineck schrie:

„Ausreden lassen!“

Joe Levy wiederholte:

„Ich habe nur eine ganz kurze Erklärung abzugeben. Es ist für mich eine
hohe Ehre. Aber ich will dem Kongreß nicht die Mühe einer namentlichen
Abstimmung machen. Nach unserer Wahlordnung für die Präsidentschaft muß
bei Namensaufruf jeder Delegierte persönlich seinen Stimmzettel hier
auf der Tribüne abgeben. Dieser Vorbeimarsch dauert vier Stunden. Dann
wird das Scrutinium vorgenommen. Das dauert wieder zwei Stunden. Dann
kommt es vielleicht erst noch zu einer Stichwahl. Diesen Zeitverlust
kann ich nicht auf mein Gewissen nehmen. Schade um die Zeit. Denn ich
bin fest entschlossen, die Wahl, wenn sie auf mich fiele, nicht
anzunehmen.“

Jetzt lärmten wieder seine Anhänger: „Warum, warum?“

„Die Gründe, verehrter Kongreß, sind einfach. Ich fühle in mir noch die
Kraft, zu arbeiten, und wenn Sie mit mir zufrieden sind, so lassen Sie
mich weiterarbeiten. Wenn Sie mich wählen, schicken Sie mich eigentlich
in Pension. Ich glaube, dazu bin ich trotz meiner grauen Haare noch zu
jung. Im übrigen wird Ihnen Herr Dr. Marcus meine Meinung sagen. Ich
habe ihn nämlich heute früh, gleich nach meiner Ankunft aufgesucht,
weil er, wie ich hörte, der Gegenkandidat ist. Wir haben uns
verständigt. Wir sind nämlich nicht so weit auseinander, wie unsere
beiderseitigen Freunde ...“ (Heiterkeit.) „Herr Dr. Marcus wird Ihnen
seine und meine Ansicht sagen — besser als ich es kann. Was mich
anbelangt, bei meinem Entschluß bleibt es. Meine lieben Freunde, ich
danke Euch für die Absicht! Geehrte Kongreßmitglieder, wählen Sie mich
nicht!“

Es entstand nun eine allgemeine Unruhe im Saale. Rufe des Unwillens,
der Ueberraschung, der Enttäuschung rauschten auf. Levy, der die
Tribüne verließ, wurde von seinen Anhängern umringt und mit Fragen
bestürmt. Er lächelte und zuckte die Achseln.

„Der Mann jefällt mir,“ sagte oben Kingscourt. „Reden kann er nicht,
aber ein nobler Kerl scheint er zu sein.“

Anders wurde der Vorfall im Affenkäfig kommentiert.

„Die Trauben werden ihm zu sauer gewesen sein,“ vermutete Blau.

„Seine Nation is die Resignation,“ bemerkte Grün witzig.

Schiffmann aber sagte:

„Nu, Herr Schlesinger? Da is gleich einer, der kein Amt schnappen will.
Was sagen Sie jetzt?“

„Wie heißt, was ich sag’? Weiß ich denn, was ihm seine jetzige Stellung
eintragt? Wahrscheinlich kann er bestehen. Ein praktischer Mensch is er
ja. Wer weiß, was er abgemacht hat mit Marcus? Das müßte man auch
wissen.“

Friedrich hörte diese Bemerkungen und war empört, obwohl er dem Dr.
Marcus erst einmal begegnet war und Mr. Joe Levy heute zum ersten Male
sah. Er hatte nur den Wunsch, daß Kingscourt und Reschid Bey diese
Abscheulichkeiten nicht ebenfalls hören mögen. Er schämte sich des
Affenkäfigs. Zum Glück waren die beiden mit den Vorgängen im Saale
beschäftigt.

Der Vorsitzende läutete stark, um Ruhe zu schaffen für den
Akademie-Präsidenten Marcus, der das Wort erbeten hatte. Dr. Marcus
stieg nicht ohne Mühe die wenigen Stufen hinan, und er wartete, bis der
Saal ganz ruhig war, sonst hätten sie seine schwache Stimme nicht
vernommen. Jetzt war lautlose Stille eingetreten, und er sprach:

„Geehrter Kongreß! Mein Freund Levy hat in seiner tüchtigen Weise vom
Zeitsparen gesprochen. Ich glaube, wir werden mit der kostbaren Zeit
der Neuen Gesellschaft gut zu Rate gehen, wenn wir uns vor allem
verstehen. Erst verstehen, dann entschließen!

Wir sind hier nicht, um ein Staatsoberhaupt zu wählen, denn wir sind
kein Staat.

Wir sind eine Gemeinschaft, in neuen Formen zwar, aber zu einem Zwecke,
der so alt ist, daß er schon im ersten Buche von den Königen vorkommt.
Dort heißt es, daß Juda und Israel sicher wohneten, ein jeglicher unter
seinem Weinstock und unter seinem Feigenbaum, von Dan bis gen
Beer-Seba.

Wir sind einfach eine Genossenschaft, eine große Genossenschaft,
innerhalb deren es wieder eine Anzahl kleinerer Zweckgenossenschaften
giebt. Und dieser unser Kongreß ist im Grunde nichts als die
Generalversammlung der Genossenschaft, welche die Neue Gesellschaft
genannt wird. Dennoch aber fühlen wir alle, daß es hier um mehr geht,
als um die rein materiellen Interessen einer Erwerbs- und
Wirtschaftsgenossenschaft. Wir pflanzen Parks und Schulen, wir
bekümmern uns über die gemeine Deutlichkeit und Nützlichkeit der Dinge
hinweg auch um die Weisheit und Schönheit. Denn auch dies wird als ein
Vorteil der Genossenschaft von uns verstanden. Wir verstehen, daß für
eine Gemeinschaft von Menschen das Ideal ein Nutzen, ein Vorteil —
sagen wir es heraus: daß es unentbehrlich ist. Das Ideal zieht uns
hinan. Auch diese Wahrnehmung haben wir nicht zuerst gemacht, sie ist
alt wie die Welt. Was für den einzelnen Wasser und Brot ist, das ist
für die Gesamtheit das Ideal. Und unser Zionismus, der uns hierher
führte und höher hinaufführen soll in noch unbekannte Regionen der
Gesittung, er ist nichts anderes, als ein endloses, endloses Ideal.

Glaubt jemand, ich sei abgeschweift? Nein, Freunde, ich bin bei der
Sache, bei unserer Wahl. Der, den wir an die Spitze unserer Neuen
Gesellschaft wählen sollen, der hat nur ein Pfleger des Ideals zu sein.
Das Materielle geht ihn nichts an, umsomehr das Ideale. Er soll dabei
ein ruhiger Mann, ein Gerechter und Bescheidener sein, entrückt dem
Streite augenblicklicher Meinungen. Wir wählen ihn ja auf sieben Jahre.
Freund Levy hat die Wahl abgelehnt, weil er in solchen sieben Jahren
uns durch seine Arbeit mehr glaubt nützen zu können. Ich pflichte ihm
bei. Aber auch ich lehne meine Wahl ab. Ich bin zu alt. Ich glaube
nicht, daß ich die sieben Jahre noch leben werde. Zu häufige Wahlen
sind aber nicht gut, sie reizen die Ehrbegierde in einer ungesunden
Weise auf, sie führen zu persönlichen Parteiungen. Wählen Sie mich
nicht, ich bin zu alt. Ich habe nicht mehr die Beweglichkeit des
Körpers, vielleicht auch nicht mehr die des Geistes. Vielleicht
verstehe ich die Ideale jüngerer Menschen nicht mehr. Denn auch das
Ideal wird immer neugeboren, und es giebt Renaissancen, die unsereiner
nicht mehr begreift.

Aber Levy und ich wollen nicht nur Nein sagen. Wir wollen Ihnen auch
einen Vorschlag machen. Der Vorschlag ist von Levy, der sich auf die
Auswahl von Menschen versteht, und das empfiehlt den Vorschlag; ich
habe ihm nur von ganzem Herzen zugestimmt.

Der Mann, den wir Ihnen empfehlen wollen, ist noch jung, jünger als
Levy, viel, viel jünger als ich. Er ist einer von den neuen Menschen,
welche diese alte Erde wieder fruchtbar und schön machten. Er ist an
der Seite seines Vaters hinter dem Pfluge gegangen, er hat aber auch
hinter den Büchern gesessen. Er hat einen gesunden Sinn für das
öffentliche Leben, ohne sich hervorzudrängen. Ich sehe ihn jetzt nicht
im Saale. Wenn er aber hier ist, so ist er gewiß der Letzte, der meine
Worte auf sich bezieht, so wahr ist seine Demut. Er ist auch tüchtig in
seinen eigenen Angelegenheiten. Er hat sich aus den bescheidensten
Verhältnissen ehrlich hinaufgearbeitet, ein Emporkömmling ist er nicht.
Und gerade, daß er von ganz unten aufgestiegen ist, macht ihn uns wert.
Wenn wir ihn wählen, so ehren wir nicht nur den wackeren Mann, der er
ist, wir eifern auch eine ganze Jugend zu den edelsten Anstrengungen
an, wir thun damit ein Werk von unermeßlicher Bedeutung für die Zukunft
unserer Neuen Gesellschaft. Jeder Sohn Venedigs konnte Doge werden.
Jedes Mitglied der Neuen Gesellschaft soll auf den höchsten Sitz
gelangen können.“

Brausend erhob sich bei diesen Worten der Beifall im Hause. Viele
riefen: „Den Namen, den Namen! Wer ist es?“ Dr. Marcus hob die Hand zum
Zeichen, daß er noch etwas hinzufügen wolle. Da wurde es still, und er
sagte:

„Ich will den Namen unseres Kandidaten nicht von der Tribüne herab
nennen, weil es nach unserer hergebrachten Uebung nicht angeht, den
Wahlkongreß zu einer Wahlbesprechung zu machen. Ich bitte den Herrn
Vorsitzenden, die Sitzung zu unterbrechen.“

Dies geschah. In großer Bewegung verließen die Delegierten ihre Plätze.
Marcus und Levy wurden umringt. Sie standen den stürmisch auf sie
Eindringenden Rede. Sie nannten den Namen ihres Kandidaten. Die
Näherstehenden schrieen ihn den Ferneren zu, in immer stärkeren Zurufen
schwirrte der Name durch den Saal, und nach wenigen Minuten kam er zu
den Galerien hinaufgeflogen, der Name — David Littwak.

„Donner und Gloria!“ schrie Kingscourt begeistert.

Friedrich drückte ihm bewegt die Hand: „Und er sitzt jetzt am
Sterbebette seiner Mutter ... Soll man es ihm telegraphieren?“

„Nee, mein Junge. Wir wollen was Jescheiteres thun. Der arme Kerl hat
jetzt jenug Aufregung mit seiner Mutter. Wozu sollen wir ihn noch mit
der Wahl quälen. Am Ende wird er jarnicht jewählt. Nehmen wir lieber
den nächsten Zug nach Tiberias. Bis die hier mit der Wahl fertig sind,
können wir dort sein. Dann treten wir ein und fragen einfach: Wohnt
hier der Präsident der Neuen Jesellschaft, Herr Littwak?“

Reschid Bey wurde ins Vertrauen gezogen. Er solle ihnen das Resultat
der Wahl schleunigst nach Tiberias telegraphieren. Den Aufenthaltsort
Davids möge er aber bis nach der Wahl geheimhalten.

Im Affenkäfig wurde die Kandidatur Davids mit gemischten Gefühlen
aufgenommen. Grün und Blau machten schauerliche Witze.

Grün sagte: „Wer littwakt — gewinnt.“

Blau erklärte: „Wenn ich das nächste Mal auf die Welt komm’, werd’ ich
auch der Sohn von ä Hausierer.“

Herr Schlesinger, der Vertreter der Barone von Goldstein, meinte
mißmutig: „Nu frag’ ich Sie, kann man in eine solche Gesellschaft
eintreten? Das nennt sich die Neue Gesellschaft.“

„Und wissen Sie, was wir sind?“ rief plötzlich Schiffmann, in dem eine
Reue mächtig aufstieg. „Wir sind — eine schöne Gesellschaft.“








6. KAPITEL.


Als Kingscourt und Friedrich in den Gasthof kamen, um Frau Sarah und
Fritzchen auf die Reise abzuholen, waren diese schon fort. Frau Sarah
war ihrem Gatten mit dem nächsten Zuge nachgeeilt. Es ging aber gleich
wieder ein Expreß nach Tiberias, und diesen benützten die Freunde. Im
Wagen der elektrischen Eisenbahn sitzend, schauten sie in die
Landschaft hinaus, die vorüberflog, und sie hielten auch eine Rückschau
über die bisher wahrgenommenen Einrichtungen von Altneuland.

Kingscourt war sehr überrascht, als Friedrich im Eifer dieses
Gespräches plötzlich sagte:

„Ich möchte nach Europa hinüber.“

„Was, Sie launenhafter Schlingel? Nun haben Sie das Land Ihrer
hebräischen Ahnen schon wieder satt bekommen?“

„Nein, mein lieber guter Kingscourt. Ich bin zu froh, daß Sie hier
bleiben wollen, und daß ich wenigstens noch versuchen kann, ein
nützliches Mitglied der Neuen Gesellschaft zu werden. Vielleicht kann
ich meine juristischen Kenntnisse irgendwie verwerten? Vielleicht
bekomme ich in irgend einem Zweige der Verwaltung eine
Arbeitsgelegenheit? Aber ich möchte dennoch für kurze Zeit nach Europa
hinüber, um zu sehen, wie sich die Verhältnisse seither dort gestaltet
haben. Ich kann mir nämlich gar nicht vorstellen, daß in den zwanzig
Jahren unserer Abwesenheit nicht auch dort große Veränderungen
eingetreten seien. Wenn ich bedenke, daß wir hier eigentlich nur die
schon damals bekannten Materialien in einer neuen Ordnung
wiedergefunden haben, so muß ich glauben, daß ähnliches, wie hier, auch
dort existieren muß. Die Worte des Akademikers Marcus brachten mich auf
diesen Gedanken. Er sagte: wir sind kein Staat, sondern eine große
Genossenschaft ...“

„Die Jenossenschaft mit dem endlosen Ideal!“ schmunzelte Kingscourt.

„Ich frage mich nämlich,“ fuhr Friedrich ernst fort, „ob wir da nicht
bei einer Antwort auf manche Frage unserer vergangenen Zeit stehen.
Damals sprach man viel vom Zukunftsstaate, qualmig thaten es die einen,
höhnisch die anderen, grimmig die dritten. Das Ausmalen künftiger
Zustände war in den Augen der sogenannten praktischen Leute eine große
Lächerlichkeit. Sie vergaßen, daß wir immer in künftigen Zuständen
leben, denn das Heute ist die Zukunft von Gestern. Man sah den
unmöglichen Zukunftsstaat nur auf den unwahrscheinlichen Trümmern der
bisherigen Einrichtungen. Also ein Weltuntergang, an den wirklich nur
ein Hasenfuß glauben kann. Zuerst ein Chaos, und dann irgend etwas, von
dem es fraglich blieb, ob es besser wäre, als das Frühere. Aber
derselbe Marcus sprach neulich ein Wort, welches mir nachgeht: daß es
eine Koexistenz aller Dinge gebe. Das Alte muß nicht mit einem Ruck
untergehen, damit das Neue entstehe. Nicht jeder Sohn ist ein
Posthumus, in der Regel leben die Eltern noch eine Zeitlang mit den
Kindern fort, und eine alte Gesellschaft geht noch nicht unter, weil
eine neue kommt. Seit ich hier gesehen habe, wie man mit lauter alten
Materialien eine neue Ordnung der Dinge errichtet, glaube ich weder an
eine völlige Zerstörung, noch an eine völlige Erneuerung der
Institutionen. Ich glaube — wie soll ich es nur sagen — an einen
allmählichen Umbau der Gesellschaft. Ich glaube auch, daß ein solcher
niemals planmäßig, sondern zufällig vor sich geht. Das Bedürfnis ist
der Baumeister. Zur Auswechslung eines Fußbodens, einer Stiege, einer
Mauer, eines Daches, einer Wasserleitung, einer Beleuchtungsform
entschließt man sich erst, wenn die Not drängt oder eine Erfindung
siegt. Das Haus bleibt als ganzes, was es war. So kann ich mir auch den
Staat, den wir einst sahen, erhalten denken, auch wenn das Neue
hinzukam. Und dies möchte ich in Europa suchen ... Als wir damals von
der Kulturwelt Abschied nahmen, sahen wir schon überall neue
Lebensformen aufsprießen. Ich verstehe das
Stockton-Darlington-Jubiläum. Damit hat alles angefangen. Es ist die
Feier der Entstehung einer anderen Zeit. Wie lange war diese da, neben
der früheren, sie durchdringend, von ihr durchdrungen — und die klugen
praktischen Leute sahen davon noch gar nichts. Die Grenzen bestanden
fort, aber Menschen und Waren durchzogen die Welt. Und wo kam man mit
den Maschinen und auf der Eisenbahn überall hin! In andere Verkehrs-,
in andere Wirtschaftsverhältnisse. Das Alte lebte noch, und das Neue
war schon da. Die Genossenschaft der Kleinen, das Kartell der Großen —
die beiden Formen kannten wir schon. Warum sollten sich nicht auch die
Genossenschaften kartellieren, wenn es die einzelnen Fabrikanten thun
konnten? ...

Es kam schon früher vor, daß vernünftige Unternehmer die Fürsorge für
ihre Arbeiter und deren Familien freiwillig übernahmen. Jede große
Fabrik hatte ihre Wohlfahrtseinrichtungen, je größer das Unternehmen,
umso größer konnte die Wohlfahrt eingerichtet sein. Die Kartelle wieder
konnten, wenn sie wollten, das Los ihrer Arbeiter freundlicher
gestalten, weil sie mehr Mittel hatten, als der einzelne Fabrikant, und
weil sie sturmfester organisiert waren. Das weiß ich aus Ihren eigenen
Erzählungen, Mr. Kingscourt. Die amerikanischen Trusts haben ja Sie
mich kennen gelehrt.“

„Janz richtig. Und wo wollen Sie raus?“

„Ich meine, daß es eine notwendige Entwicklung war, wenn die
Produktivgenossenschaft sich gegenüber dem Einzelunternehmen bildete.
Das Betriebskapital war ursprünglich die schwache Seite dieser
Genossenschaft, aber die Möglichkeit, auch den Konsum zu organisieren,
war ihre starke Seite. Und die Genossenschaften mußten wachsen mit der
allgemeinen Bildung. Und ich meine endlich, daß die großen Trusts
wohlthätig wirken mußten, weil sie den Weg bahnten zur Organisierung
der Arbeit. Die Genossenschaften konnten sich nach diesem Beispiel
einmal kartellieren. Die Neue Gesellschaft, die wir hier gesehen haben,
ist in meinen Augen nichts als ein Kartell von Genossenschaften. Ein
großes Kartell, das alle Geschäfte in sich macht, die gemeine Wohlfahrt
im Auge hat, und aus lauter Nützlichkeit auch das Ideal pflegt. Ich
möchte nun sehen, ob dergleichen jetzt auch schon in Europa vorhanden
ist.“

„Wollen Sie vielleicht jar sagen, daß so ’ne Neue Jesellschaft auch
anderswo möglich ist?“

„Ja, das will ich sagen. Diese Neue Gesellschaft könnte überall
existieren, in jedem Lande, ja es kann in jedem Lande mehrere solcher
Genossenschaftskartelle geben. Der Uebergang zu dieser Form der
Wirtschaft ist ja denkbar, wenn es Genossenschaften und Kartelle giebt.
Dabei braucht der alte Staat keineswegs aufzuhören, er besteht vielmehr
fort und schützt die Entwicklung der Neuen Gesellschaft, die ihm ja
zugute kommt, die ihn stärkt und erhält. Das ist die Koexistenz der
Dinge, und daran glaube ich ...“

Da waren sie in Tiberias angelangt.

Sie eilten vom Bahnhofe nach der Villa des alten Littwak. Ein Diener,
der sie an der Thüre empfing, antwortete auf ihre Frage nach dem
Befinden von Davids Mutter mit einem traurigen Kopfschütteln. Zugleich
übergab er Kingscourt eine dringende Depesche, sie war soeben
eingetroffen.

Kingscourt riß das Papier auf, indem er Friedrich bedeutsam anblickte.
Und wirklich, da stand es zu lesen:


    „David Littwak ist vom Kongresse mit 363 von 395 abgegebenen
    Stimmen zum Präsidenten der Neuen Gesellschaft gewählt worden.

        Reschid.“


Sie stiegen die Treppe hinan und kamen in den Salon, an den das
Krankenzimmer grenzte. Im Salon saß der alte Littwak mit Frau Sarah.
Die Thüre stand offen, und sie konnten in die Leidensstube blicken. Sie
sahen Davids Mutter im Bette liegen. Das Antlitz der Dulderin war schon
so bleich, wie das Kissen, von dem es sich abhob, doch sie lebte noch.
Ihre sanften Augen waren mit einem unendlich liebreichen Ausdruck auf
ihre Kinder gerichtet, die am Fußende des Bettes standen und leise mit
ihr sprachen. Der Arzt saß an der Seite des Bettes und betrachtete sie
aufmerksam.

Kingscourt gab wortlos die eben erhaltene Depesche dem alten Littwak.
Dieser nahm das Papier teilnahmslos, starrte darauf, dann gab es ihm
einen Ruck. Er wischte sich die Augen mit dem Handrücken und las
nochmals. Dann reichte er es seiner Schwiegertochter, seine Stimme
zitterte:

„Sarah, les’ mir das vor!“

Frau Sarah überflog das Telegramm mit den Blicken. Sie wurde blutrot,
es schossen ihr die Thränen in die Augen, dann las sie es mit
erstickter Stimme dem Alten vor. Dann sprang sie auf, schwang das Blatt
hoch und winkte damit ihren Mann heran.

David kam auf den Fußspitzen heraus. Er sah Kingscourt und Friedrich im
Hintergrunde stehen, da nickte er ihnen kurz und ernst zu. Er wandte
sich an Sarah und sagte mit leisem Unwillen:

„Was giebt es denn?“

Sein Vater war aufgestanden und ging mit schwankenden Schritten auf ihn
zu:

„David, mein Kind — David, mein Kind!“

Die Frau hatte ihm das Telegramm gereicht. Er las es ruhig und runzelte
die Stirne:

„Nein, daß Reschid solche Scherze macht, hätte ich nicht geglaubt! Ich
bin wahrlich dazu nicht aufgelegt.“

„Es ist kein Scherz!“ erklärte Friedrich und berichtete den Hergang,
soweit er dessen Zeuge gewesen war.

„Nein, nein!“ sagte David. „Wie komme ich dazu? Es ist ja gar nicht
möglich. Ich habe mich nicht beworben.“

„Eben darum!“ bestätigte Kingscourt.

„Ich eigne mich nicht dazu. Hundert andere sind eher berufen, als ich.
Und ich nehme es auch nicht an. Bitte, telegraphieren Sie gleich an
Marcus, daß ich es nicht annehme.“

Da sagte sein Vater stark:

„Du wirst es annehmen, David! Du mußt es annehmen — wegen deiner
Mutter. Es ist die letzte Freude, was du deiner Mutter machen kannst.“

David bedeckte sich die Augen.

Mirjam trat aus dem Krankenzimmer:

„Was geht hier vor? Die Mutter ist unruhig; sie will wissen, was hier
vorgeht.“

Und sie gingen an das Lager der Sterbenden.

„Mutter!“ sagte der alte Littwak, „der Herr Doktor Löwenberg hat uns
etwas Gutes gebracht.“

„Ja?“ hauchte die Dulderin, ihre Züge verklärten sich. „Wo ist er? Ich
will ihn sehn. Man soll mich aufrichten.“

Der Arzt holte Friedrich aus dem Salon, während Mirjam und David ihre
Mutter aufsetzten und ihren schmalen Rücken mit Kissen stützten.

Nun stand auch Friedrich an dem Bette. Die Mutter blickte ihn so gut
an. Sie murmelte:

„Ich — hab’ — mir’s — gleich gedacht — damals — wie Ihr — am Balkon
war’s ... Da draußen ... Kinder! ...“ Sie tastete schwach in der Luft
herum. „Mirjam hat mir — nichts gesagt ... Aber — eine Mutter — sieht
das ... Kinder! ... Ihr sollts Euch — die Hand geben ... Meinen Segen —
meinen Segen!“

Und so geschah es, daß Mirjam und Friedrich einander die Hände
reichten. Aber sie thaten es so zögernd und verlegen, daß es ihr
auffiel. Da blickte sie mit Angst von einem zum anderen und flüsterte:

„Oder — oder? ...“

„O ja!“ sagte Friedrich warm und drückte die Hand des Mädchens fester.
„Ja,“ sagte auch Mirjam leise.

So wahr ist es, daß eine Mutter, auch wenn sie schon ganz schwach und
hilflos ist, noch immer die Kraft hat, ihres Kindes Glück zu schaffen.

Sie lehnte nach dieser großen Anstrengung mit geschlossenen Augen in
den Kissen und atmete kaum noch. Da erschrak der Alte, daß sie
entschlummern könnte, bevor er ihr die Größe ihres Sohnes gemeldet
hätte.

„Mutter!“ schrie er laut. Sie öffnete noch einmal die Lider, und es war
ein Bedauern in ihrem Blicke, daß man sie in dem schönen Traume störe,
den sie fein hinüberspinnen wollte — hinüber ....

„Mutter!“ rief der Alte. „Wir müssen dir sagen etwas Großes. Weißt du,
wer geworden ist der Präsident von der Neuen Gesellschaft? ... Unser
David ist geworden der Präsident! Mutter, unser David! ...“

Da lag David wie als Knabe auf den Knieen vor seiner kranken Mutter und
weinte bitterlich auf ihre wachsbleiche, erkaltende Hand. Sie aber zog
die Hand hervor und streichelte ihm sanft das Haar, als ob sie ihn
hätte im voraus trösten wollen.

„Mutter!“ rief der Alte noch einmal angstvoll, „hast du gehört?“

„Ja!“ hauchte sie, „mein — mein David ...“

Und ihre Augen brachen.



Man begrub sie.

Man sang die alten hebräischen Gesänge, und der gute Rabbi Samuel von
Neudorf sprach die Gebete. Es wurde keine Grabrede gehalten. David
hatte es nicht gewünscht.

Aber als er mit den Freunden vom Friedhofe kam und im Trauerzimmer
niedersaß, da hielt er selbst ihr den Nachruf:

„Sie war meine Mutter. Sie war für mich die Liebe und das Leiden.

Die Liebe und das Leiden waren in ihr verkörpert, so daß mir die Augen
übergingen, wenn ich sie nur sah.

Ich werde sie nicht mehr sehen, und sie war meine Mutter.

Sie war unser Haus und unsere Heimat, als wir nicht Haus noch Heimat
hatten.

Sie hielt uns aufrecht, als wir im Elend waren, denn sie war die Liebe.

Sie lehrte uns Demut, als es uns besser ging, denn sie war das Leiden.

Sie war in bösen und guten Tagen die Ehre, die Zierde unseres Hauses.

Als wir so arm waren, daß wir auf Stroh lagen, da waren wir doch reich,
weil wir sie hatten.

Sie dachte immer an uns, und nie an sich.

Unser Haus war nur eine kümmerliche Stube, und es barg einen Schatz.
Mancher Palast hat keinen solchen Schatz. Das war sie, die Mutter.

Sie war eine feine Dulderin. Das Leiden beugte sie nicht, es erhöhte
sie.

Da habe ich sie manchmal angeschaut als das Judentum in der Zeit der
Leiden. In ihrer Gestalt sah ich es.

Sie war meine Mutter — und ich werde sie nicht mehr sehen. Nie mehr,
Freunde!

Nie mehr. Und ich muß es tragen ...“

Die Freunde hörten seinem Schmerze zu, und sie schwiegen.

Allmählich kamen ihrer mehr herein in das Trauergemach. Es waren alle
da, welche David Littwak und seinem Hause näher standen.

Dr. Marcus begann das Gespräch hierhin und dorthin zu führen. Es war
erkennbar, daß er Davids Gedanken ablenken, ins Leben zurückgeleiten
wollte. Die Reden hatten einen ernsten und hohen Zug.

In dieser Stimmung warf Friedrich Löwenberg die Frage auf, die sie
nacheinander beantworteten. Jeder that es in seiner Weise.

Dies aber war die aufgestellte Frage:

„Wir sehen hier eine neue, eine glücklichere Form des Zusammenlebens
von Menschen — wer hat das nun geschaffen?“

Der alte Littwak sagte: „Die Not!“

Architekt Steineck sagte: „Das wiedervereinigte Volk!“

Kingscourt sagte: „Die neuen Verkehrsmittel!“

Dr. Marcus sagte: „Das Wissen!“

Joe Levy sagte: „Der Wille!“

Professor Steineck sagte: „Die Naturkräfte!“

Der englische Prediger Hopkins sagte: „Die gegenseitige Duldung!“

Reschid Bey sagte: „Das Selbstvertrauen!“

David Littwak sagte: „Die Liebe und das Leiden!“

Der alte Rabbi Samuel aber stand feierlich auf und sagte: „Gott!“


                            ENDE.








NACHWORT DES VERFASSERS.


.... Wenn Ihr aber nicht wollt, so ist und bleibt es ein Märchen, was
ich Euch erzählt habe.

Ich gedachte, eine Lehrdichtung zu verfassen. Mehr Dichtung als Lehre!
werden die einen sagen — — mehr Lehre als Dichtung! die anderen.

Denn jetzt, nach drei Jahren der Arbeit, müssen wir uns trennen, und es
beginnen deine Schmerzen, du mein liebes Buch. Durch Feindschaften und
Entstellungen hindurch wirst du deinen Weg nehmen müssen, wie durch
einen finsteren Wald.

Wenn du aber zu freundlichen Leuten kommst, so grüße sie von deinem
Herrn Vater. Er meint: das Träumen sei immerhin auch eine Ausfüllung
der Zeit, die wir auf der Erde verbringen. Traum ist von That nicht so
verschieden, wie mancher glaubt. Alles Thun der Menschen war vorher
Traum und wird später zum Traume.











*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK ALTNEULAND ***


    

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accordance with this agreement, and any volunteers associated with the
production, promotion and distribution of Project Gutenberg™
electronic works, harmless from all liability, costs and expenses,
including legal fees, that arise directly or indirectly from any of
the following which you do or cause to occur: (a) distribution of this
or any Project Gutenberg™ work, (b) alteration, modification, or
additions or deletions to any Project Gutenberg™ work, and (c) any
Defect you cause.

Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg™

Project Gutenberg™ is synonymous with the free distribution of
electronic works in formats readable by the widest variety of
computers including obsolete, old, middle-aged and new computers. It
exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations
from people in all walks of life.

Volunteers and financial support to provide volunteers with the
assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg™’s
goals and ensuring that the Project Gutenberg™ collection will
remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
and permanent future for Project Gutenberg™ and future
generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see
Sections 3 and 4 and the Foundation information page at www.gutenberg.org.

Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non-profit
501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
Revenue Service. The Foundation’s EIN or federal tax identification
number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by
U.S. federal laws and your state’s laws.

The Foundation’s business office is located at 809 North 1500 West,
Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up
to date contact information can be found at the Foundation’s website
and official page at www.gutenberg.org/contact

Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

Project Gutenberg™ depends upon and cannot survive without widespread
public support and donations to carry out its mission of
increasing the number of public domain and licensed works that can be
freely distributed in machine-readable form accessible by the widest
array of equipment including outdated equipment. Many small donations
($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
status with the IRS.

The Foundation is committed to complying with the laws regulating
charities and charitable donations in all 50 states of the United
States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
with these requirements. We do not solicit donations in locations
where we have not received written confirmation of compliance. To SEND
DONATIONS or determine the status of compliance for any particular state
visit www.gutenberg.org/donate.

While we cannot and do not solicit contributions from states where we
have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
against accepting unsolicited donations from donors in such states who
approach us with offers to donate.

International donations are gratefully accepted, but we cannot make
any statements concerning tax treatment of donations received from
outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.

Please check the Project Gutenberg web pages for current donation
methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
ways including checks, online payments and credit card donations. To
donate, please visit: www.gutenberg.org/donate.

Section 5. General Information About Project Gutenberg™ electronic works

Professor Michael S. Hart was the originator of the Project
Gutenberg™ concept of a library of electronic works that could be
freely shared with anyone. For forty years, he produced and
distributed Project Gutenberg™ eBooks with only a loose network of
volunteer support.

Project Gutenberg™ eBooks are often created from several printed
editions, all of which are confirmed as not protected by copyright in
the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not
necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper
edition.

Most people start at our website which has the main PG search
facility: www.gutenberg.org.

This website includes information about Project Gutenberg™,
including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
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