Frau Jenny Treibel: Roman aus der Berliner Gesellschaft

By Theodor Fontane

The Project Gutenberg EBook of Frau Jenny Treibel, by Theodor Fontane

This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with
almost no restrictions whatsoever.  You may copy it, give it away or
re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included
with this eBook or online at www.gutenberg.org/license


Title: Frau Jenny Treibel
       Roman aus der Berliner Gesellschaft

Author: Theodor Fontane

Release Date: July 3, 2014 [EBook #46184]

Language: German


*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK FRAU JENNY TREIBEL ***




Produced by Norbert H. Langkau, Martin Oswald and the
Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net









Anmerkungen zur Transkription:

Die Rechtschreibung und Zeichensetzung des Originals wurde weitgehend
übernommen, lediglich offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert.
Die Originalvorlage ist in Fraktur gedruckt. Davon abweichende, in
Antiqua gedruckte Textstellen sind (bis auf römische Ziffern und die
Abkürzung »Dr.«) in dieser Textdatei _so_ markiert; gesperrt gedruckter
Text ist =so= markiert. Am Ende des Textes befindet sich eine Liste
korrigierter Druckfehler.




  Frau Jenny Treibel

  Roman aus der Berliner Gesellschaft

  von

  Theodor Fontane

[Illustration]

  S. Fischer, Verlag, Berlin




  Alle Rechte vorbehalten




Erstes Kapitel


An einem der letzten Maitage, das Wetter war schon sommerlich, bog
ein zurückgeschlagener Landauer vom Spittelmarkt her in die Kur- und
dann in die Adlerstraße ein und hielt gleich danach vor einem, trotz
seiner Front von nur fünf Fenstern, ziemlich ansehnlichen, im übrigen
aber altmodischen Hause, dem ein neuer, gelbbrauner Ölfarbenanstrich
wohl etwas mehr Sauberkeit, aber keine Spur von gesteigerter Schönheit
gegeben hatte, beinahe das Gegenteil. Im Fond des Wagens saßen
zwei Damen mit einem Bologneserhündchen, das sich der hell- und
warmscheinenden Sonne zu freuen schien. Die links sitzende Dame von
etwa dreißig, augenscheinlich eine Erzieherin oder Gesellschafterin,
öffnete, von ihrem Platz aus, zunächst den Wagenschlag, und war dann
der anderen, mit Geschmack und Sorglichkeit gekleideten und trotz ihrer
hohen fünfzig noch sehr gut aussehenden Dame beim Aussteigen behilflich.
Gleich danach aber nahm die Gesellschafterin ihren Platz wieder ein,
während die ältere Dame auf eine Vortreppe zuschritt und nach Passierung
derselben in den Hausflur eintrat. Von diesem aus stieg sie, so schnell
ihre Korpulenz es zuließ, eine Holzstiege mit abgelaufenen Stufen
hinauf, unten von sehr wenig Licht, weiter oben aber von einer schweren
Luft umgeben, die man füglich als eine Doppelluft bezeichnen konnte.
Gerade der Stelle gegenüber, wo die Treppe mündete, befand sich eine
Entreetür mit Guckloch, und neben diesem ein grünes, knittriges
Blechschild, darauf »Professor Wilibald Schmidt« ziemlich undeutlich
zu lesen war. Die ein wenig asthmatische Dame fühlte zunächst das
Bedürfnis, sich auszuruhen, und musterte bei der Gelegenheit den ihr
übrigens von langer Zeit her bekannten Vorflur, der vier gelbgestrichene
Wände mit etlichen Haken und Riegeln und dazwischen einen hölzernen
Halbmond zum Bürsten und Ausklopfen der Röcke zeigte. Dazu wehte, der
ganzen Atmosphäre auch hier den Charakter gebend, von einem nach hinten
zu führenden Korridor her ein sonderbarer Küchengeruch heran, der, wenn
nicht alles täuschte, nur auf Rührkartoffeln und Karbonade gedeutet
werden konnte, beides mit Seifenwrasen untermischt. »Also kleine
Wäsche«, sagte die von dem allen wieder ganz eigentümlich berührte
stattliche Dame still vor sich hin, während sie zugleich weit
zurückliegender Tage gedachte, wo sie selbst hier, in eben dieser
Adlerstraße, gewohnt und in dem gerade gegenüber gelegenen
Materialwarenladen ihres Vaters mit im Geschäft geholfen und auf einem
über zwei Kaffeesäcke gelegten Brett kleine und große Düten geklebt
hatte, was ihr jedesmal mit »zwei Pfennig fürs Hundert« gut getan worden
war. »Eigentlich viel zuviel, Jenny,« pflegte dann der Alte zu sagen,
»aber du sollst mit Geld umgehen lernen.« Ach, waren das Zeiten gewesen!
Mittags, Schlag zwölf, wenn man zu Tisch ging, saß sie zwischen dem
Kommis Herrn Mielke und dem Lehrling Louis, die beide, so verschieden
sie sonst waren, dieselbe hochstehende Kammtolle und dieselben
erfrorenen Hände hatten. Und Louis schielte bewundernd nach ihr hinüber,
aber wurde jedesmal verlegen, wenn er sich auf seinen Blicken ertappt
sah. Denn er war zu niedrigen Standes, aus einem Obstkeller in der
Spreegasse. Ja, das alles stand jetzt wieder vor ihrer Seele, während
sie sich auf dem Flur umsah und endlich die Klingel neben der Tür zog.
Der überall verbogene Draht raschelte denn auch, aber kein Anschlag ließ
sich hören, und so faßte sie schließlich den Klingelgriff noch einmal
und zog stärker. Jetzt klang auch ein Bimmelton von der Küche her bis
auf den Flur herüber, und ein paar Augenblicke später ließ sich
erkennen, daß eine hinter dem Guckloch befindliche kleine Holzklappe
beiseite geschoben wurde. Sehr wahrscheinlich war es des Professors
Wirtschafterin, die jetzt, von ihrem Beobachtungsposten aus, nach Freund
oder Feind aussah, und als diese Beobachtung ergeben hatte, daß es »gut
Freund« sei, wurde der Türriegel ziemlich geräuschvoll zurückgeschoben,
und eine ramassierte Frau von ausgangs vierzig, mit einem ansehnlichen
Haubenbau auf ihrem vom Herdfeuer geröteten Gesicht, stand vor ihr.

»Ach, Frau Treibel ... Frau Kommerzienrätin ... Welche Ehre ...«

»Guten Tag, liebe Frau Schmolke. Was macht der Professor? Und was macht
Fräulein Korinna? Ist das Fräulein zu Hause?«

»Ja, Frau Kommerzienrätin. Eben wieder nach Hause gekommen aus der
Philharmonie. Wie wird sie sich freuen.«

Und dabei trat Frau Schmolke zur Seite, um den Weg nach dem
einfenstrigen, zwischen den zwei Vorderstuben gelegenen und mit einem
schmalen Leinwandläufer belegten Entree frei zu geben. Aber ehe die
Kommerzienrätin noch eintreten konnte, kam ihr Fräulein Korinna schon
entgegen und führte die »mütterliche Freundin«, wie sich die Rätin gern
selber nannte, nach rechts hin, in das eine Vorderzimmer.

Dies war ein hübscher, hoher Raum, die Jalousien herabgelassen, die
Fenster nach innen auf, vor deren einem eine Blumenestrade mit Goldlack
und Hyazinthen stand. Auf dem Sofatische präsentierte sich gleichzeitig
eine Glasschale mit Apfelsinen, und die Porträts der Eltern des
Professors, des Rechnungsrats Schmidt aus der Heroldskammer und seiner
Frau, geborene Schwerin, sahen auf die Glasschale hernieder -- der alte
Rechnungsrat in Frack und rotem Adlerorden, die geborene Schwerin mit
starken Backenknochen und Stubsnase, was, trotz einer ausgesprochenen
Bürgerlichkeit, immer noch mehr auf die pommersch-uckermärkischen Träger
des berühmten Namens, als auf die spätere, oder, wenn man will, auch
=viel= frühere posensche Linie hindeutete.

»Liebe Korinna, wie nett du dies alles zu machen verstehst und wie
hübsch es doch bei euch ist, so kühl und so frisch -- und die schönen
Hyazinthen. Mit den Apfelsinen verträgt es sich freilich nicht recht,
aber das tut nichts, es sieht so gut aus ... Und nun legst du mir in
deiner Sorglichkeit auch noch das Sofakissen zurecht! Aber verzeih,
ich sitze nicht gern auf dem Sofa; das ist immer so weich, und man
sinkt dabei so tief ein. Ich setze mich lieber hier in den Lehnstuhl
und sehe zu den alten lieben Gesichtern da hinauf. Ach, war das ein
Mann; gerade wie dein Vater. Aber der alte Rechnungsrat war beinah noch
verbindlicher, und einige sagten auch immer, er sei so gut wie von der
Kolonie. Was auch stimmte. Denn seine Großmutter, wie du freilich besser
weißt als ich, war ja eine Charpentier, Stralauer Straße.«

Unter diesen Worten hatte die Kommerzienrätin in einem hohen Lehnstuhl
Platz genommen und sah mit dem Lorgnon nach den »lieben Gesichtern«
hinauf, deren sie sich eben so huldvoll erinnert hatte, während Korinna
fragte, ob sie nicht etwas Mosel und Selterwasser bringen dürfe, es sei
so heiß.

»Nein, Korinna, ich komme eben vom Lunch, und Selterwasser steigt mir
immer so zu Kopf. Sonderbar, ich kann Sherry vertragen und auch Port,
wenn er lange gelagert hat, aber Mosel und Selterwasser, das benimmt
mich ... Ja, sieh Kind, dies Zimmer hier, das kenne ich nun schon
vierzig Jahre und darüber, noch aus Zeiten her, wo ich ein halbwachsen
Ding war, mit kastanienbraunen Locken, die meine Mutter, so viel sie
sonst zu tun hatte, doch immer mit rührender Sorgfalt wickelte. Denn
damals, meine liebe Korinna, war das Rotblonde noch nicht so Mode wie
jetzt, aber kastanienbraun galt schon, besonders wenn es Locken waren,
und die Leute sahen mich auch immer darauf an. Und dein Vater auch. Er
war damals ein Student und dichtete. Du wirst es kaum glauben, wie
reizend und wie rührend das alles war, denn die Kinder wollen es immer
nicht wahr haben, daß die Eltern auch einmal jung waren und gut aussahen
und ihre Talente hatten. Und ein paar Gedichte waren an mich gerichtet,
die hab ich mir aufgehoben bis diesen Tag, und wenn mir schwer ums Herz
ist, dann nehme ich das kleine Buch, das ursprünglich einen blauen
Deckel hatte (jetzt aber hab ich es in grünen Maroquin binden lassen)
und setze mich ans Fenster und sehe auf unsern Garten und weine mich
still aus, ganz still, daß es niemand sieht, am wenigsten Treibel oder
die Kinder. Ach Jugend! Meine liebe Korinna, du weißt gar nicht, welch
ein Schatz die Jugend ist, und wie die reinen Gefühle, die noch kein
rauher Hauch getrübt hat, doch unser Bestes sind und bleiben.«

»Ja,« lachte Korinna, »die Jugend ist gut. Aber >Kommerzienrätin< ist
auch gut und eigentlich noch besser. Ich bin für einen Landauer und
einen Garten um die Villa herum. Und wenn Ostern ist und Gäste kommen,
natürlich recht viele, so werden Ostereier in dem Garten versteckt, und
jedes Ei ist eine Atrappe voll Konfitüren von Hövell oder Kranzler, oder
auch ein kleines Necessaire ist drin. Und wenn dann all die Gäste die
Eier gefunden haben, dann nimmt jeder Herr seine Dame, und man geht zu
Tisch. Ich bin durchaus für Jugend, aber für Jugend mit Wohlleben und
hübschen Gesellschaften.«

»Das höre ich gern, Korinna, wenigstens gerade jetzt; denn ich bin hier,
um dich einzuladen, und zwar auf morgen schon; es hat sich so rasch
gemacht. Ein junger Mr. Nelson ist nämlich bei Otto Treibels angekommen
(das heißt aber, er wohnt nicht bei ihnen), ein Sohn von Nelson u. Co.
aus Liverpool, mit denen mein Sohn Otto seine Hauptgeschäftsverbindung
hat. Und Helene kennt ihn auch. Das ist so hamburgisch, die kennen alle
Engländer, und wenn sie sie nicht kennen, so tun sie wenigstens so. Mir
unbegreiflich. Also Mr. Nelson, der übermorgen schon wieder abreist, um
den handelt es sich; ein lieber Geschäftsfreund, den Ottos durchaus
einladen mußten. Das verbot sich aber leider, weil Helene mal wieder
Plättag hat, was nach ihrer Meinung allem anderen vorgeht, sogar im
Geschäft. Da haben wir's denn übernommen, offen gestanden nicht allzu
gern, aber doch auch nicht geradezu ungern. Otto war nämlich, während
seiner englischen Reise, wochenlang in dem Nelsonschen Hause zu Gast. Du
siehst daraus, wie's steht und wie sehr mir an deinem Kommen liegen muß;
du sprichst englisch und hast alles gelesen und hast vorigen Winter auch
Mr. Booth als Hamlet gesehen. Ich weiß noch recht gut, wie du davon
schwärmtest. Und englische Politik und Geschichte wirst du natürlich
auch wissen, dafür bist du ja deines Vaters Tochter.«

»Nicht viel weiß ich davon, nur ein bißchen. Ein bißchen lernt man ja.«

»Ja, jetzt, liebe Korinna. Du hast es gut gehabt, und alle haben es
jetzt gut. Aber zu meiner Zeit, da war es anders, und wenn mir nicht der
Himmel, dem ich dafür danke, das Herz für das Poetische gegeben hätte,
was, wenn es mal in einem lebt, nicht wieder auszurotten ist, so hätte
ich nichts gelernt und wüßte nichts. Aber, Gott sei Dank, ich habe mich
an Gedichten herangebildet, und wenn man viele davon auswendig weiß, so
weiß man doch manches. Und daß es so ist, sieh, das verdanke ich nächst
Gott, der es in meine Seele pflanzte, deinem Vater. Der hat das Blümlein
groß gezogen, das sonst drüben in dem Ladengeschäft unter all den
prosaischen Menschen -- und du glaubst gar nicht, wie prosaische
Menschen es gibt -- verkümmert wäre ... Wie geht es denn mit deinem
Vater? Es muß ein Vierteljahr sein oder länger, daß ich ihn nicht
gesehen habe, den vierzehnten Februar, an Ottos Geburtstag. Aber er ging
so früh, weil so viel gesungen wurde.«

»Ja, das liebt er nicht. Wenigstens dann nicht, wenn er damit überrascht
wird. Es ist eine Schwäche von ihm, und manche nennen es eine Unart.«

»O, nicht doch, Korinna, das darfst du nicht sagen. Dein Vater ist bloß
ein origineller Mann. Ich bin unglücklich, daß man seiner so selten
habhaft werden kann. Ich hätt ihn auch zu morgen gerne mit eingeladen,
aber ich bezweifle, daß Mr. Nelson ihn interessiert, und von den anderen
ist nun schon gar nicht zu sprechen; unser Freund Krola wird morgen wohl
wieder singen und Assessor Goldammer seine Polizeigeschichten erzählen
und sein Kunststück mit dem Hut und den zwei Talern machen.«

»O, da freu ich mich. Aber freilich, Papa tut sich nicht gerne Zwang an,
und seine Bequemlichkeit und seine Pfeife sind ihm lieber als ein junger
Engländer, der vielleicht dreimal um die Welt gefahren ist. Papa ist
gut, aber einseitig und eigensinnig.«

»Das kann ich nicht zugeben, Korinna. Dein Papa ist ein Juwel, das weiß
ich am besten.«

»Er unterschätzt alles Äußerliche, Besitz und Geld, und überhaupt alles,
was schmückt und schön macht.«

»Nein, Korinna, sage das nicht. Er sieht das Leben von der richtigen
Seite an; er weiß, daß Geld eine Last ist und daß das Glück ganz wo
anders liegt.« Sie schwieg bei diesen Worten und seufzte nur leise. Dann
aber fuhr sie fort: »Ach, meine liebe Korinna, glaube mir, kleine
Verhältnisse, das ist =das=, was allein glücklich macht.«

Korinna lächelte. »Das sagen alle die, die drüber stehen und die kleinen
Verhältnisse nicht kennen.«

»Ich kenne sie, Korinna.«

»Ja, von früher her. Aber das liegt nun zurück und ist vergessen oder
wohl gar verklärt. Eigentlich liegt es doch so: alles möchte reich sein,
und ich verdenke es keinem. Papa freilich, der schwört noch auf die
Geschichte von dem Kamel und dem Nadelöhr. Aber die junge Welt ...«

»... Ist leider anders. Nur zu wahr. Aber so gewiß das ist, so ist es
doch nicht so schlimm damit, wie du dirs denkst. Es wäre auch zu
traurig, wenn der Sinn für das Ideale verloren ginge, vor allem in der
Jugend. Und in der Jugend lebt er auch noch. Da ist zum Beispiel dein
Vetter Marcell, den du beiläufig morgen auch treffen wirst (er hat schon
zugesagt), und an dem ich wirklich nichts weiter zu tadeln wüßte, als
daß er Wedderkopp heißt. Wie kann ein so feiner Mann einen so
störrischen Namen führen! Aber wie dem auch sein möge, wenn ich ihn bei
Ottos treffe, so spreche ich immer so gern mit ihm. Und warum? Bloß weil
er die Richtung hat, die man haben soll. Selbst unser guter Krola sagte
mir erst neulich, Marcell sei eine von Grund aus ethische Natur, was er
noch höher stelle als das Moralische; worin ich ihm, nach einigen
Aufklärungen von seiner Seite, beistimmen mußte. Nein, Korinna, gib
den Sinn, der sich nach oben richtet, nicht auf, jenen Sinn, der von
dorther allein das Heil erwartet. Ich habe nur meine beiden Söhne,
Geschäftsleute, die den Weg ihres Vaters gehen, und ich muß es geschehen
lassen; aber wenn mich Gott durch eine Tochter gesegnet hätte, =die=
wäre =mein= gewesen, auch im Geist, und wenn sich ihr Herz einem armen,
aber edlen Manne, sagen wir einem Manne wie Marcell Wedderkopp,
zugeneigt hätte ...«

»... So wäre das ein Paar geworden,« lachte Korinna. »Der arme Marcell!
Da hätt er nun sein Glück machen können und muß gerade die Tochter
fehlen.«

Die Kommerzienrätin nickte.

»Überhaupt ist es schade, daß es so selten klappt und paßt«, fuhr
Korinna fort. »Aber Gott sei Dank, gnädigste Frau haben ja noch den
Leopold, jung und unverheiratet, und da Sie solche Macht über ihn haben
-- so wenigstens sagt er selbst, und sein Bruder Otto sagt es auch, und
alle Welt sagt es -- so könnt er Ihnen, da der ideale Schwiegersohn nun
mal eine Unmöglichkeit ist, wenigstens eine ideale Schwiegertochter ins
Haus führen, eine reizende junge Person, vielleicht eine Schauspielerin
...«

»Ich bin nicht für Schauspielerinnen ...«

»Oder eine Malerin, oder eine Pastors- oder eine Professorentochter ...«

Die Kommerzienrätin stutzte bei diesem letzten Worte und streifte
Korinna stark, wenn auch flüchtig. Indessen wahrnehmend, daß diese
heiter und unbefangen blieb, schwand ihre Furchtanwandlung ebenso
schnell, wie sie gekommen war. »Ja, Leopold,« sagte sie, »den hab ich
noch. Aber Leopold ist ein Kind. Und seine Verheiratung steht jedenfalls
noch in weiter Ferne. Wenn er aber käme ...« Und die Kommerzienrätin
schien sich allen Ernstes -- vielleicht weil es sich um etwas noch »in
so weiter Ferne« Liegendes handelte -- der Vision einer idealen
Schwiegertochter hingeben zu wollen, kam aber nicht dazu, weil in eben
diesem Augenblicke der aus seiner Obersekunda kommende Professor eintrat
und seine Freundin, die Rätin, mit vieler Artigkeit begrüßte.

»Stör ich?«

»In Ihrem eigenen Hause? Nein, lieber Professor; Sie können überhaupt
nie stören. Mit Ihnen kommt immer das Licht. Und wie Sie waren, so sind
Sie geblieben. Aber mit Korinna bin ich nicht zufrieden. Sie spricht so
modern und verleugnet ihren Vater, der immer nur in einer schönen
Gedankenwelt lebte ...«

»Nun ja, ja,« sagte der Professor. »Man kann es so nennen. Aber ich
denke, sie wird sich noch wieder zurückfinden. Freilich, einen Stich ins
Moderne wird sie wohl behalten. Schade. Das war anders, als wir jung
waren, da lebte man noch in Phantasie und Dichtung ...«

Er sagte das so hin, mit einem gewissen Pathos, als ob er seinen
Sekundanern eine besondere Schönheit aus dem Horaz oder aus dem Parzival
(denn er war Klassiker und Romantiker zugleich) zu demonstrieren hätte.
Sein Pathos war aber doch etwas theatralisch gehalten und mit einer
feinen Ironie gemischt, die die Kommerzienrätin auch klug genug war,
herauszuhören. Sie hielt es indessen trotzdem für angezeigt, einen guten
Glauben zu zeigen, nickte deshalb nur und sagte: »Ja, schöne Tage, die
nie wiederkehren.«

»Nein«, sagte der in seiner Rolle mit dem Ernst eines Großinquisitors
fortfahrende Wilibald. »Es ist vorbei damit; aber man muß eben weiter
leben.«

Eine halbverlegene Stille trat ein, während welcher man, von der Straße
her, einen scharfen Peitschenknips hörte.

»Das ist ein Mahnzeichen,« warf jetzt die Kommerzienrätin ein,
eigentlich froh der Unterbrechung. »Johann unten wird ungeduldig. Und
wer hätte den Mut, es mit einem solchen Machthaber zu verderben?«

»Niemand«, erwiderte Schmidt. »An der guten Laune unserer Umgebung hängt
unser Lebensglück; ein Minister bedeutet mir wenig, aber die Schmolke
...«

»Sie treffen es wie immer, lieber Freund.«

Und unter diesen Worten erhob sich die Kommerzienrätin und gab Korinna
einen Kuß auf die Stirn, während sie Wilibald die Hand reichte. »Mit
uns, lieber Professor, bleibt es beim alten, unentwegt.« Und damit
verließ sie das Zimmer, von Korinna bis auf den Flur und die Straße
begleitet.

»Unentwegt«, wiederholte Wilibald, als er allein war. »Herrliches
Modewort, und nun auch schon bis in die Villa Treibel gedrungen ...
Eigentlich ist meine Freundin Jenny noch gerade so wie vor vierzig
Jahren, wo sie die kastanienbraunen Locken schüttelte. Das Sentimentale
liebte sie schon damals, aber doch immer unter Bevorzugung von
Courmachen und Schlagsahne. Jetzt ist sie nun rundlich geworden und
beinah gebildet, oder doch, was man so gebildet zu nennen pflegt, und
Adolar Krola trägt ihr Arien aus Lohengrin und Tannhäuser vor. Denn ich
denke mir, daß das ihre Lieblingsopern sind. Ach, ihre Mutter, die gute
Frau Bürstenbinder, die das Püppchen drüben im Apfelsinenladen immer so
hübsch herauszuputzen wußte, sie hat in ihrer Weiberklugheit damals ganz
richtig gerechnet. Nun ist das Püppchen eine Kommerzienrätin und kann
sich alles gönnen, auch das Ideale, und sogar »unentwegt«. Ein
Musterstück von einer Bourgeoise.«

Und dabei trat er ans Fenster, hob die Jalousien ein wenig und sah, wie
Korinna, nachdem die Kommerzienrätin ihren Sitz wieder eingenommen
hatte, den Wagenschlag ins Schloß warf. Noch ein gegenseitiger Gruß, an
dem die Gesellschaftsdame mit sauer-süßer Miene teilnahm, und die Pferde
zogen an und trabten langsam auf die nach der Spree hin gelegene
Ausfahrt zu, weil es schwer war, in der engen Adlerstraße zu wenden.

Als Korinna wieder oben war, sagte sie: »Du hast doch nichts dagegen,
Papa. Ich bin morgen zu Treibels zu Tisch geladen. Marcell ist auch da,
und ein junger Engländer, der sogar Nelson heißt.«

»Ich was dagegen? Gott bewahre. Wie könnt ich was dagegen haben, wenn
ein Mensch sich amüsieren will! Ich nehme an, du amüsierst dich.«

»Gewiß amüsier ich mich. Es ist doch mal was anderes. Was Distelkamp
sagt und Rindfleisch und der kleine Friedeberg, das weiß ich ja schon
alles auswendig. Aber was Nelson sagen wird, denk dir, Nelson, das weiß
ich nicht.«

»Viel Gescheites wird es wohl nicht sein.«

»Das tut nichts. Ich sehne mich manchmal nach Ungescheitheiten.«

»Da hast du recht, Korinna.«




Zweites Kapitel


Die Treibelsche Villa lag auf einem großen Grundstücke, das, in
bedeutender Tiefe, von der Köpenickerstraße bis an die Spree reichte.
Früher hatten hier in unmittelbarer Nähe des Flusses nur Fabrikgebäude
gestanden, in denen alljährlich ungezählte Zentner von Blutlaugensalz
und später, als sich die Fabrik erweiterte, kaum geringere Quantitäten
von Berliner Blau hergestellt worden waren. Als aber nach dem siebziger
Kriege die Milliarden ins Land kamen und die Gründeranschauungen selbst
die nüchternsten Köpfe zu beherrschen anfingen, fand auch Kommerzienrat
Treibel sein bis dahin in der Alten Jakobstraße gelegenes Wohnhaus,
trotzdem es von Gontard, ja nach einigen sogar von Knobelsdorff
herrühren sollte, nicht mehr zeit- und standesgemäß, und baute sich auf
seinem Fabrikgrundstück eine modische Villa mit kleinem Vorder- und
parkartigem Hintergarten. Diese Villa war ein Hochparterrebau mit
aufgesetztem ersten Stock, welcher letztere jedoch, um seiner niedrigen
Fenster willen, eher den Eindruck eines Mezzanin als einer Beletage
machte. Hier wohnte Treibel seit sechzehn Jahren und begriff nicht, daß
er es, einem noch dazu bloß gemutmaßten friderizianischen Baumeister
zuliebe, so lange Zeit hindurch in der unvornehmen und aller frischen
Luft entbehrenden Alten Jakobstraße ausgehalten habe; Gefühle, die von
seiner Frau Jenny mindestens geteilt wurden. Die Nähe der Fabrik, wenn
der Wind ungünstig stand, hatte freilich auch allerlei Mißliches im
Geleite; Nordwind aber, der den Qualm herantrieb, war notorisch selten,
und man brauchte ja die Gesellschaften nicht gerade bei Nordwind zu
geben. Außerdem ließ Treibel die Fabrikschornsteine mit jedem Jahre
höher hinaufführen und beseitigte damit den anfänglichen Übelstand immer
mehr.

       *       *       *       *       *

Das Diner war zu sechs Uhr festgesetzt; aber bereits eine Stunde vorher
sah man Hustersche Wagen mit runden und viereckigen Körben vor dem
Gittereingange halten. Die Kommerzienrätin, schon in voller Toilette,
beobachtete von dem Fenster ihres Boudoirs aus all diese Vorbereitungen
und nahm auch heute wieder, und zwar nicht ohne eine gewisse
Berechtigung, Anstoß daran. »Daß Treibel es auch versäumen mußte, für
einen Nebeneingang Sorge zu tragen. Wenn er damals nur ein vier Fuß
breites Terrain von dem Nachbargrundstück zukaufte, so hätten wir einen
Eingang für derart Leute gehabt. Jetzt marschiert jeder Küchenjunge
durch den Vorgarten, gerade auf unser Haus zu, wie wenn er mitgeladen
wäre. Das sieht lächerlich aus und auch anspruchsvoll, als ob die ganze
Köpenickerstraße wissen solle: Treibels geben heut ein Diner. Außerdem
ist es unklug, dem Neid der Menschen und dem sozialdemokratischen Gefühl
so ganz nutzlos neue Nahrung zu geben.«

Sie sagte sich das ganz ernsthaft, gehörte jedoch zu den Glücklichen,
die sich nur weniges andauernd zu Herzen nehmen, und so kehrte sie denn
vom Fenster zu ihrem Toilettentisch zurück, um noch einiges zu ordnen
und den Spiegel zu befragen, ob sie sich neben ihrer Hamburger
Schwiegertochter auch werde behaupten können. Helene war freilich nur
halb so alt, ja kaum das; aber die Kommerzienrätin wußte recht gut, daß
Jahre nichts bedeuten und daß Konversation und Augenausdruck und
namentlich die »Welt der Formen«, im einen und im andern Sinne, ja im
»andern« Sinne noch mehr, den Ausschlag zu geben pflegen. Und hierin war
die schon stark an der Grenze des Embonpoint angelangte Kommerzienrätin
ihrer Schwiegertochter unbedingt überlegen.

In dem mit dem Boudoir korrespondierenden, an der andern Seite des
Frontsaales gelegenen Zimmer saß Kommerzienrat Treibel und las das
»Berliner Tageblatt«. Es war gerade eine Nummer, der der »Ulk« beilag.
Er weidete sich an dem Schlußbild und las dann einige von Nunnes
philosophischen Betrachtungen. »Ausgezeichnet ... Sehr gut ... Aber ich
werde das Blatt doch beiseite schieben oder mindestens das »Deutsche
Tageblatt« darüber legen müssen. Ich glaube, Vogelsang gibt mich sonst
auf. Und ich kann ihn, wie die Dinge mal liegen, nicht mehr entbehren,
so wenig, daß ich ihn zu heute habe einladen müssen. Überhaupt eine
sonderbare Gesellschaft! Erst dieser Mr. Nelson, den sich Helene, weil
ihre Mädchen mal wieder am Plättbrett stehen, gefälligst abgewälzt hat,
und zu diesem Nelson dieser Vogelsang, dieser Leutnant a. D. und _agent
provocateur_ in Wahlsachen. Er versteht sein Metier, so sagt man mir
allgemein, und ich muß es glauben. Jedenfalls scheint mir das sicher:
hat er mich erst in Teupitz-Zossen und an den Ufern der wendischen
Spree durchgebracht, so bringt er mich auch =hier= durch. Und das ist
die Hauptsache. Denn schließlich läuft doch alles darauf hinaus, daß ich
in Berlin selbst, wenn die Zeit dazu gekommen ist, den Singer oder
irgendeinen andern von der Kulör beiseite schiebe. Nach der
Beredtsamkeitsprobe neulich bei Buggenhagen ist ein Sieg sehr wohl
möglich, und so muß ich ihn mir warm halten. Er hat einen Sprechanismus,
um den ich ihn beneiden könnte, trotzdem ich doch auch nicht in einem
Trappistenkloster geboren und groß gezogen bin. Aber neben Vogelsang?
Null. Und kann auch nicht anders sein; denn bei Lichte besehen, hat der
ganze Kerl nur drei Lieder auf seinem Kasten und dreht eins nach dem
andern von der Walze herunter, und wenn er damit fertig ist, fängt er
wieder an. So steht es mit ihm, und darin steckt seine Macht, _gutta
cavat lapidem_; der alte Wilibald Schmidt würde sich freuen, wenn er
mich so zitieren hörte, vorausgesetzt, daß es richtig ist. Oder
vielleicht auch umgekehrt; wenn drei Fehler drin sind, amüsiert er sich
noch mehr; Gelehrte sind nun mal so ... Vogelsang, das muß ich ihm
lassen, hat freilich noch eines, was wichtiger ist als das ewige
Wiederholen, er hat den Glauben an sich und ist überhaupt ein richtiger
Fanatiker. Ob es wohl mit allem Fanatismus ebenso steht? Mir sehr
wahrscheinlich. Ein leidlich gescheites Individuum kann eigentlich gar
nicht fanatisch sein. Wer an einen Weg und eine Sache glaubt, ist
allemal ein Poveretto, und ist seine Glaubenssache zugleich er selbst,
so ist er gemeingefährlich und eigentlich reif für Dalldorf. Und von
solcher Beschaffenheit ist just der Mann, dem zu Ehren ich, wenn ich von
Mr. Nelson absehe, heute mein Diner gebe und mir zwei adlige Fräuleins
eingeladen habe, blaues Blut, das hier in der Köpenickerstraße so gut
wie gar nicht vorkommt und deshalb aus Berlin W. von mir verschrieben
werden mußte, ja zur Hälfte sogar aus Charlottenburg. O Vogelsang!
Eigentlich ist mir der Kerl ein Greuel. Aber was tut man nicht alles als
Bürger und Patriot!«

Und dabei sah Treibel auf das zwischen den Knopflöchern ausgespannte
Kettchen mit drei Orden _en miniature_, unter denen ein rumänischer der
vollgültigste war, und seufzte, während er zugleich auch lachte.
»Rumänien, früher Moldau und Wallachei. Es ist mir wirklich zu wenig.«

       *       *       *       *       *

Das erste Kupee, das vorfuhr, war das seines ältesten Sohnes Otto, der
sich selbständig etabliert und ganz am Ausgange der Köpenickerstraße,
zwischen dem zur Pionierkaserne gehörigen Pontonhaus und dem
Schlesischen Tor, einen Holzhof errichtet hatte, freilich von der
höheren Observanz, denn es waren Farbehölzer, Fernambuk- und
Campecheholz, mit denen er handelte. Seit etwa acht Jahren war er auch
verheiratet. Im selben Augenblicke, wo der Wagen hielt, zeigte er sich
seiner jungen Frau beim Aussteigen behilflich, bot ihr verbindlich den
Arm und schritt, nach Passierung des Vorgartens, auf die Freitreppe zu,
die zunächst zu einem verandaartigen Vorbau der väterlichen Villa
hinaufführte. Der alte Kommerzienrat stand schon in der Glastür und
empfing die Kinder mit der ihm eigenen Jovialität. Gleich darauf
erschien auch die Kommerzienrätin aus dem seitwärts angrenzenden und nur
durch eine Portiere von dem großen Empfangssaal geschiedenen Zimmer und
reichte der Schwiegertochter die Backe, während ihr Sohn Otto ihr die
Hand küßte. »Gut, daß du kommst, Helene,« sagte sie mit einer
glücklichen Mischung von Behaglichkeit und Ironie, worin sie, wenn sie
wollte, Meisterin war. »Ich fürchtete schon, du würdest dich auch
vielleicht behindert sehen.«

»Ach, Mama, verzeih ... Es war nicht bloß des Plättags halber; unsere
Köchin hat zum ersten Juni gekündigt, und wenn sie kein Interesse mehr
haben, so sind sie so unzuverlässig; und auf Elisabeth ist nun schon gar
kein Verlaß mehr. Sie ist ungeschickt bis zur Unschicklichkeit und hält
die Schüsseln immer so dicht über den Schultern, besonders der Herren,
als ob sie sich ausruhen wollte ...«

Die Kommerzienrätin lächelte halb versöhnt, denn sie hörte gern
dergleichen.

»... Und aufschieben,« fuhr Helene fort, »verbot sich auch. Mr. Nelson,
wie du weißt, reist schon morgen abend wieder. Übrigens ein charmanter
junger Mann, der euch gefallen wird. Etwas kurz und einsilbig,
vielleicht weil er nicht recht weiß, ob er sich deutsch oder englisch
ausdrücken soll; aber was er sagt, ist immer gut und hat ganz die
Gesetztheit und Wohlerzogenheit, die die meisten Engländer haben. Und
dabei immer wie aus dem Ei gepellt. Ich habe nie solche Manschetten
gesehen, und es bedrückt mich geradezu, wenn ich dann sehe, womit sich
mein armer Otto behelfen muß, bloß weil man die richtigen Kräfte beim
besten Willen nicht haben kann. Und so sauber wie die Manschetten, so
sauber ist alles an ihm, ich meine an Mr. Nelson, auch sein Kopf und
sein Haar. Wahrscheinlich, daß er es mit _Honey-water_ bürstet, oder
vielleicht ist es auch bloß mit Hilfe von _Shampooing_.«

Der so rühmlich Gekennzeichnete war der nächste, der am Gartengitter
erschien und schon im Herankommen die Kommerzienrätin einigermaßen
in Erstaunen setzte. Diese hatte, nach der Schilderung ihrer
Schwiegertochter, einen Ausbund von Eleganz erwartet; statt dessen
kam ein Menschenkind daher, an dem, mit Ausnahme der von der jungen
Frau Treibel gerühmten Manschettenspezialität, eigentlich alles die
Kritik herausforderte. Den ungebürsteten Zylinder im Nacken und
reisemäßig in einem gelb- und braunquadrierten Anzuge steckend, stieg
er, von links nach rechts sich wiegend, die Freitreppe herauf und
grüßte mit der bekannten heimatlichen Mischung von Selbstbewußtsein
und Verlegenheit. Otto ging ihm entgegen, um ihn seinen Eltern
vorzustellen.

»Mr. Nelson _from Liverpool_, -- derselbe, lieber Papa, mit dem ich ...«

»Ah, Mr. Nelson. Sehr erfreut. Mein Sohn spricht noch oft von seinen
glücklichen Tagen in Liverpool und von dem Ausfluge, den er damals mit
Ihnen nach Dublin und, wenn ich nicht irre, auch nach Glasgow machte.
Das geht jetzt ins neunte Jahr; Sie müssen damals noch sehr jung gewesen
sein.«

»O nicht sehr jung, Mr. Treibel, ... _about sixteen_ ...«

»Nun, ich dächte doch, sechzehn ...«

»O, sechzehn, nicht sehr jung, ... nicht für uns.«

Diese Versicherungen klangen um so komischer, als Mr. Nelson, auch jetzt
noch, wie ein Junge wirkte. Zu weiteren Betrachtungen darüber war aber
keine Zeit, weil eben jetzt eine Droschke zweiter Klasse vorfuhr, der
ein langer, hagerer Mann in Uniform entstieg. Er schien
Auseinandersetzungen mit dem Kutscher zu haben, während deren er
übrigens eine beneidenswert sichere Haltung beobachtete, und nun rückte
er sich zurecht und warf die Gittertür ins Schloß. Er war in Helm und
Degen; aber ehe man noch der »Schilderhäuser« auf seiner Achselklappe
gewahr werden konnte, stand es für jeden mit militärischem Blick nur
einigermaßen Ausgerüsteten fest, daß er seit wenigstens dreißig Jahren
außer Dienst sein müsse. Denn die Grandezza, mit der er daher kam, war
mehr die Steifheit eines alten, irgendeiner ganz seltenen Sekte
zugehörigen Torf- oder Salzinspektors, als die gute Haltung eines
Offiziers. Alles gab sich mehr oder weniger automatenhaft, und der in
zwei gewirbelten Spitzen auslaufende schwarze Schnurrbart wirkte nicht
nur gefärbt, was er natürlich war, sondern zugleich auch wie angeklebt.
Desgleichen der Henriquatre. Dabei lag sein Untergesicht im Schatten
zweier vorspringender Backenknochen. Mit der Ruhe, die sein ganzes Wesen
auszeichnete, stieg er jetzt die Freitreppe hinauf und schritt auf die
Kommerzienrätin zu. »Sie haben befohlen, meine Gnädigste ...«
»Hocherfreut, Herr Leutnant ...« Inzwischen war auch der alte Treibel
herangetreten und sagte: »Lieber Vogelsang, erlauben Sie mir, daß ich
Sie mit den Herrschaften bekannt mache; meinen Sohn Otto kennen Sie,
aber nicht seine Frau, meine liebe Schwiegertochter, -- Hamburgerin, wie
Sie leicht erkennen werden ... Und hier,« und dabei schritt er auf Mr.
Nelson zu, der sich mit dem inzwischen ebenfalls erschienenen Leopold
Treibel gemütlich und ohne jede Rücksicht auf den Rest der Gesellschaft
unterhielt, »und hier ein junger lieber Freund unseres Hauses, Mr.
Nelson _from Liverpool_.«

Vogelsang zuckte bei dem Wort »Nelson« zusammen und schien einen
Augenblick zu glauben -- denn er konnte die Furcht des Gefopptwerdens
nie ganz los werden, -- daß man sich einen Witz mit ihm erlaube. Die
ruhigen Mienen aller aber belehrten ihn bald eines Besseren, weshalb er
sich artig verbeugte und zu dem jungen Engländer sagte: »Nelson. Ein
großer Name. Sehr erfreut, Mr. Nelson.«

Dieser lachte dem alt und aufgesteift vor ihm stehenden Leutnant
ziemlich ungeniert ins Gesicht, denn solche komische Person war ihm noch
gar nicht vorgekommen. Daß er in seiner Art ebenso komisch wirkte,
dieser Grad der Erkenntnis lag ihm fern. Vogelsang biß sich auf die
Lippen und befestigte sich, unter dem Eindruck dieser Begegnung, in der
lang gehegten Vorstellung von der Impertinenz englischer Nation. Im
übrigen war jetzt der Zeitpunkt da, wo das Eintreffen immer neuer
Ankömmlinge von jeder andern Betrachtung abzog und die Sonderbarkeiten
eines Engländers rasch vergessen ließ.

Einige der befreundeten Fabrikbesitzer aus der Köpenickerstraße lösten
in ihren Chaisen mit niedergeschlagenem Verdeck die, wie es schien, noch
immer sich besinnende Vogelsangsche Droschke rasch und beinah gewaltsam
ab; dann kam Korinna samt ihrem Vetter Marcell Wedderkopp (beide zu Fuß)
und schließlich fuhr Johann, der Kommerzienrat Treibelsche Kutscher,
vor, und dem mit blauem Atlas ausgeschlagenen Landauer -- derselbe,
darin gestern die Kommerzienrätin ihren Besuch bei Korinna gemacht hatte
-- entstiegen zwei alte Damen, die von Johann mit ganz besonderem und
beinahe überraschlichem Respekt behandelt wurden. Er erklärte sich dies
aber einfach daraus, daß Treibel, gleich bei Beginn dieser ihm wichtigen
und jetzt etwa um dritthalb Jahre zurückliegenden Bekanntschaft, zu
seinem Kutscher gesagt hatte: »Johann, ein für allemal, diesen Damen
gegenüber immer Hut in der Hand. Das andere, du verstehst mich, ist
=meine= Sache.« Dadurch waren die guten Manieren Johanns außer Frage
gestellt. Beiden alten Damen ging Treibel jetzt bis in die Mitte des
Vorgartens entgegen, und nach lebhaften Bekomplimentierungen, an denen
auch die Kommerzienrätin teilnahm, stieg man wieder die Gartentreppe
hinauf und trat, von der Veranda her, in den großen Empfangssalon ein,
der bis dahin, weil das schöne Wetter zum Verweilen im Freien einlud,
nur von wenigen betreten worden war. Fast alle kannten sich von früheren
Treibelschen Diners her; nur Vogelsang und Nelson waren Fremde, was den
partiellen Vorstellungsakt erneuerte. »Darf ich Sie,« wandte sich
Treibel an die zuletzt erschienenen alten Damen, »mit zwei Herren
bekannt machen, die mir heute zum ersten Male die Ehre ihres Besuches
geben: Leutnant Vogelsang, Präsident unseres Wahlkomitees, und Mr.
Nelson _from Liverpool_.« Man verneigte sich gegenseitig. Dann nahm
Treibel Vogelsangs Arm und flüsterte diesem, ihn einigermaßen zu
orientieren, zu: »Zwei Damen vom Hofe, die korpulente: Frau Majorin von
Ziegenhals, die =nicht=korpulente (worin Sie mir zustimmen werden):
Fräulein Edwine von Bomst.«

»Merkwürdig«, sagte Vogelsang. »Ich würde, die Wahrheit zu gestehen ...«

»Eine Vertauschung der Namen für angezeigt gehalten haben. Da treffen
Sie's, Vogelsang. Und es freut mich, daß Sie ein Auge für solche Dinge
haben. Da bezeugt sich das alte Leutnantsblut. Ja, diese Ziegenhals;
einen Meter Brustweite wird sie wohl haben, und es lassen sich allerhand
Betrachtungen darüber anstellen, werden auch wohl seinerzeit angestellt
worden sein. Im übrigen, es sind das so die scherzhaften Widerspiele,
die das Leben erheitern. Klopstock war Dichter, und ein anderer, den ich
noch persönlich gekannt habe, hieß Griepenkerl ... Es trifft sich, daß
uns beide Damen ersprießliche Dienste leisten können.«

»Wie das? Wieso?«

»Die Ziegenhals ist eine rechte Kusine von dem Zossener Landesältesten,
und ein Bruder der Bomst hat sich mit einer Pastorstochter aus der
Storkower Gegend ehelich vermählt. Halbe Mesallianze, die wir ignorieren
müssen, weil wir Vorteil daraus ziehen. Man muß, wie Bismarck, immer
ein Dutzend Eisen im Feuer haben ... Ah, Gott sei Dank. Johann hat
den Rock gewechselt und gibt das Zeichen. Allerhöchste Zeit ... Eine
Viertelstunde warten, geht: aber zehn Minuten darüber ist zu viel ...
Ohne mich ängstlich zu belauschen ich höre, wie der Hirsch nach Wasser
schreit. Bitte, Vogelsang, führen Sie meine Frau ... Liebe Korinna,
bemächtigen Sie sich Nelsons ... _Victory and Westminster-Abbey_ das
Entern ist diesmal an Ihnen. Und nun, meine Damen ... darf ich um Ihren
Arm bitten, Frau Majorin? ... und um den Ihren, mein gnädigstes
Fräulein?«

Und die Ziegenhals am rechten, die Bomst am linken Arm, ging er auf die
Flügeltür zu, die sich, während dieser seiner letzten Worte, mit einer
gewissen langsamen Feierlichkeit geöffnet hatte.




Drittes Kapitel


Das Eßzimmer entsprach genau dem vorgelegenen Empfangszimmer und hatte
den Blick auf den großen, parkartigen Hintergarten mit plätscherndem
Springbrunnen, ganz in der Nähe des Hauses; eine kleine Kugel stieg auf
dem Wasserstrahl auf und ab, und auf dem Querholz einer zur Seite
stehenden Stange saß ein Kakadu und sah, mit dem bekannten Auge voll
Tiefsinn, abwechselnd auf den Strahl mit der balancierenden Kugel und
dann wieder in den Eßsaal, dessen oberes Schiebefenster, der Ventilation
halber, etwas herabgelassen war. Der Kronleuchter brannte schon, aber
die niedrig geschraubten Flämmchen waren in der Nachmittagssonne kaum
sichtbar und führten ihr schwaches Vorleben nur deshalb, weil der
Kommerzienrat, um ihn selbst sprechen zu lassen, nicht liebte, »durch
Manipulationen im Laternenansteckerstil in seiner Dinerstimmung gestört
zu werden.« Auch der bei der Gelegenheit hörbar werdende kleine Puff,
den er gern als »moderierten Salutschuß« bezeichnete, konnte seine
Gesamtstellung zu der Frage nicht ändern. Der Speisesaal selbst
war von schöner Einfachheit: gelber Stuck, in dem einige Reliefs
eingelegt waren, reizende Arbeiten von Professor Franz. Seitens der
Kommerzienrätin war, als es sich um diese Ausschmückung handelte,
Reinhold Begas in Vorschlag gebracht, aber von Treibel, als seinen
Etat überschreitend, abgelehnt worden. »Das ist für die Zeit, wo wir
Generalkonsuls sein werden ...« »eine Zeit, die nie kommt,« hatte
Jenny geantwortet. »Doch, doch Jenny; Teupitz-Zossen ist die erste
Staffel dazu.« Er wußte, wie zweifelhaft seine Frau seiner Wahlagitation
und allen sich daran knüpfenden Hoffnungen gegenüberstand, weshalb er
gern durchklingen ließ, daß er von dem Baum seiner Politik auch für die
weibliche Eitelkeit noch goldene Früchte zu heimsen gedenke.

Draußen setzte der Wasserstrahl sein Spiel fort. Drinnen im Saal aber,
in der Mitte der Tafel, die, statt der üblichen Riesenvase mit Flieder
und Goldregen, ein kleines Blumenparkett zeigte, saß der alte Treibel,
neben sich die beiden adligen Damen, ihm gegenüber seine Frau zwischen
Leutnant Vogelsang und dem ehemaligen Opernsänger Adolar Krola. Krola
war seit fünfzehn Jahren Hausfreund, worauf ihm dreierlei einen
gleichmäßigen Anspruch gab: sein gutes Äußeres, seine gute Stimme und
sein gutes Vermögen. Er hatte sich nämlich kurz vor seinem Rücktritt von
der Bühne mit einer Millionärstochter verheiratet. Allgemein zugestanden
war er ein sehr liebenswürdiger Mann, was er vor manchen seiner
ehemaligen Kollegen ebensosehr voraus hatte, wie die mehr als gesicherte
Finanzlage.

Frau Jenny präsentierte sich in vollem Glanz, und ihre Herkunft aus dem
kleinen Laden in der Adlerstraße war in ihrer Erscheinung bis auf den
letzten Rest getilgt. Alles wirkte reich und elegant; aber die Spitzen
auf dem veilchenfarbenen Brokatkleide, so viel mußte gesagt werden,
taten es nicht allein, auch nicht die kleinen Brillantohrringe, die bei
jeder Bewegung hin und her blitzten; nein, was ihr mehr als alles andere
eine gewisse Vornehmheit lieh, war die sichere Ruhe, womit sie zwischen
ihren Gästen thronte. Keine Spur von Aufregung gab sich zu erkennen, zu
der allerdings auch keine Veranlassung vorlag. Sie wußte, was in einem
reichen und auf Repräsentation gestellten Hause brauchbare Dienstleute
bedeuten, und so wurde denn alles, was sich nach dieser Seite hin nur
irgendwie bewährte, durch hohen Lohn und gute Behandlung festgehalten.
Alles ging infolge davon wie am Schnürchen, auch heute wieder, und ein
Blick Jennys regierte das Ganze, wobei das untergeschobene Luftkissen,
das ihr eine dominierende Stellung gab, ihr nicht wenig zu statten kam.
In ihrem Sicherheitsgefühl war sie zugleich die Liebenswürdigkeit
selbst. Ohne Furcht, wirtschaftlich irgend etwas ins Stocken kommen zu
sehen, konnte sie sich selbstverständlich auch den Pflichten einer
gefälligen Unterhaltung widmen, und weil sie's störend empfinden mochte
-- den ersten Begrüßungsmoment abgerechnet --, zu keinem einzigen
intimeren Gesprächsworte mit den adligen Damen gekommen zu sein, so
wandte sie sich jetzt über den Tisch hin an die Bomst und fragte voll
anscheinender oder vielleicht auch voll wirklicher Teilnahme: »Haben
Sie, mein gnädigstes Fräulein, neuerdings etwas von Prinzeß Anisettchen
gehört? Ich habe mich immer für diese junge Prinzessin lebhaft
interessiert, ja, für die ganze Linie des Hauses. Sie soll glücklich
verheiratet sein. Ich höre so gern von glücklichen Ehen, namentlich in
der Obersphäre der Gesellschaft, und ich möchte dabei bemerken dürfen,
es scheint mir eine törichte Annahme, daß auf den Höhen der Menschheit
das Eheglück ausgeschlossen sein solle.«

»Gewiß,« unterbrach hier Treibel übermütig, »ein solcher Verzicht auf
das denkbar Höchste ...«

»Lieber Treibel,« fuhr die Rätin fort, »ich richtete mich an das
Fräulein von Bomst, das, bei jedem schuldigen Respekt vor deiner
sonstigen Allgemeinkenntnis, mir in allem, was »Hof« angeht, doch um ein
Erhebliches kompetenter ist als du.«

»Zweifellos,« sagte Treibel. Und die Bomst, die dies eheliche Intermezzo
mit einem sichtlichen Behagen begleitet hatte, nahm nun ihrerseits das
Wort und erzählte von der Prinzessin, die ganz die Großmutter sei,
denselben Teint und vor allem dieselbe gute Laune habe. Das wisse, so
viel dürfe sie wohl sagen, niemand besser als sie, denn sie habe noch
des Vorzugs genossen, unter den Augen der Hochseligen, die eigentlich
ein Engel gewesen, ihr Leben bei Hofe beginnen zu dürfen, bei welcher
Gelegenheit sie so recht die Wahrheit begriffen habe, daß die
Natürlichkeit nicht nur das Beste, sondern auch das Vornehmste sei.

»Ja,« sagte Treibel, »das Beste und das Vornehmste. Da hörst du's,
Jenny, von einer Seite her, die du, Pardon, mein gnädigstes Fräulein,
eben selbst als »kompetentste Seite« bezeichnet hast.«

Auch die Ziegenhals mischte sich jetzt mit ein, und das
Gesprächsinteresse der Kommerzienrätin, die, wie jede geborene
Berlinerin, für Hof und Prinzessinnen schwärmte, schien sich mehr und
mehr ihren beiden _vis-à-vis_ zuwenden zu wollen, als plötzlich ein
leises Augenzwinkern Treibels ihr zu verstehen gab, daß auch noch
andere Personen zu Tische säßen, und daß des Landes der Brauch sei,
sich, was Gespräch angehe, mehr mit seinem Nachbar zur Linken und
Rechten, als mit seinem Gegenüber zu beschäftigen. Die Kommerzienrätin
erschrak denn auch nicht wenig, als sie wahrnahm, wie sehr Treibel mit
seinem stillen, wenn auch halb scherzhaften Vorwurf im Rechte sei. Sie
hatte Versäumtes nachholen wollen und war dadurch in eine neue,
schwerere Versäumnis hineingeraten. Ihr linker Nachbar, Krola -- nun,
das mochte gehen, der war Hausfreund und harmlos und nachsichtig von
Natur. Aber Vogelsang! Es kam ihr mit einem Male zum Bewußtsein, daß
sie während des Prinzessinnengesprächs von der rechten Seite her immer
etwas wie einen sich einbohrenden Blick empfunden hatte. Ja, das war
Vogelsang gewesen, Vogelsang, dieser furchtbare Mensch, dieser Mephisto
mit Hahnenfeder und Hinkefuß, wenn auch beides nicht recht zu sehen war.
Er war ihr widerwärtig, und doch mußte sie mit ihm sprechen; es war die
höchste Zeit.

»Ich habe, Herr Leutnant, von Ihren beabsichtigten Reisen in unsere
liebe Mark Brandenburg gehört; Sie wollen bis an die Gestade der
wendischen Spree vordringen, ja, noch darüber hinaus. Eine höchst
interessante Gegend, wie mir Treibel sagt, mit allerlei Wendengöttern,
die sich, bis diesen Tag, in dem finsteren Geiste der Bevölkerung
aussprechen sollen.«

»Nicht, daß ich wüßte, meine Gnädigste.«

»So zum Beispiel in dem Städtchen Storkow, dessen Burgemeister, wenn ich
recht unterrichtet bin, der Burgemeister Tschech war, jener politische
Rechtsfanatiker, der auf König Friedrich Wilhelm IV. schoß, ohne
Rücksicht auf die nebenstehende Königin. Es ist eine lange Zeit, aber
ich entsinne mich der Einzelheiten, als ob es gestern gewesen wäre, und
entsinne mich auch noch des eigentümlichen Liedes, das damals auf diesen
Vorfall gedichtet wurde.«

»Ja,« sagte Vogelsang, »ein erbärmlicher Gassenhauer, darin ganz der
frivole Geist spukte, der die Lyrik jener Tage beherrschte. Was sich
anders in dieser Lyrik gibt, ganz besonders auch in dem in Rede
stehenden Gedicht, ist nur Schein, Lug und Trug. >Er erschoß uns auf ein
Haar unser teures Königspaar.< Da haben Sie die ganze Perfidie. Das
sollte loyal klingen, unter Umständen vielleicht auch den Rückzug
decken, ist aber schnöder und schändlicher als alles, was jene verlogene
Zeit sonst noch hervorgebracht hat, den großen Hauptsünder auf diesem
Gebiete nicht ausgenommen. Ich meine natürlich Herwegh, Georg Herwegh.«

»Ach, da treffen Sie mich, Herr Leutnant, wenn auch ungewollt, an einer
sehr empfindlichen Stelle. Herwegh war nämlich in der Mitte der
vierziger Jahre, wo ich eingesegnet wurde, mein Lieblingsdichter. Es
entzückte mich, weil ich immer sehr protestantisch fühlte, wenn er seine
»Flüche gegen Rom« herbeischleppte, worin Sie mir vielleicht beistimmen
werden. Und ein anderes Gedicht, worin er uns aufforderte, die Kreuze
aus der Erde zu reißen, las ich beinah mit gleichem Vergnügen. Ich muß
freilich einräumen, daß es keine Lektüre für eine Konfirmandin war. Aber
meine Mutter sagte: >Lies es nur, Jenny; der König hat es auch gelesen,
und Herwegh war sogar bei ihm in Charlottenburg, und die besseren
Klassen lesen es alle.< Meine Mutter, wofür ich ihr noch im Grabe danke,
war immer für die besseren Klassen. Und das sollte jede Mutter, denn es
ist bestimmend für unseren Lebensweg. Das Niedere kann dann nicht heran
und bleibt hinter uns zurück.«

Vogelsang zog die Augenbrauen zusammen, und jeder, den die Vorstellung
von seiner Mephistophelesschaft bis dahin nur gestreift hatte, hätte bei
diesem Mienenspiel unwillkürlich nach dem Hinkefuß suchen müssen. Die
Kommerzienrätin aber fuhr fort: »Im übrigen wird mir das Zugeständnis
nicht schwer, daß die patriotischen Grundsätze, die der große Dichter
predigte, vielleicht sehr anfechtbar waren. Wiewohl auch =das= nicht
immer das Richtige ist, was auf der großen Straße liegt ...«

Vogelsang, der stolz darauf war, durchaus eine Nebenstraße zu wandeln,
nickte jetzt zustimmend.

»... Aber lassen wir die Politik, Herr Leutnant. Ich gebe Ihnen Herwegh
als politischen Dichter preis, da das Politische nur ein Tropfen fremden
Blutes in seinen Adern war. Indessen groß ist er, wo er nur Dichter ist.
Erinnern Sie sich? >Ich möchte hingehn wie das Abendrot, und wie der Tag
mit seinen letzten Gluten ...<«

»... >Mich in den Schoß des Ewigen verbluten< ... Ja, das kenn ich,
meine Gnädigste, das hab ich damals auch nachgebetet. Aber wer sich,
als es galt, durchaus nicht verbluten wollte, das war der Herr Dichter
selbst. Und so wird es immer sein. Das kommt von den hohlen, leeren
Worten und der Reimsucherei. Glauben Sie mir, Frau Rätin, das sind
überwundene Standpunkte. Der Prosa gehört die Welt.«

»Jeder nach seinem Geschmack, Herr Leutnant Vogelsang,« sagte die durch
diese Worte verletzte Jenny. »Wenn Sie Prosa vorziehen, so kann ich Sie
daran nicht hindern. Aber mir gilt die poetische Welt, und vor allem
gelten mir auch die Formen, in denen das Poetische herkömmlich seinen
Ausdruck findet. Ihm allein verlohnt es sich zu leben. Alles ist
nichtig; am nichtigsten aber ist das, wonach alle Welt so begehrlich
drängt: äußerlicher Besitz, Vermögen, Gold. >Gold ist nur Chimäre<, da
haben Sie den Ausspruch eines großen Mannes und Künstlers, der, seinen
Glücksgütern nach, ich spreche von Meyerbeer, wohl in der Lage war,
zwischen dem Ewigen und Vergänglichen unterscheiden zu können. Ich für
meine Person verbleibe dem Ideal und werde nie darauf verzichten. Am
reinsten aber hab' ich das Ideal im Liede, vor allem in dem Liede, das
gesungen wird. Denn die Musik hebt es noch in eine höhere Sphäre. Habe
ich recht, lieber Krola?«

Krola lächelte gutmütig verlegen vor sich hin, denn als Tenor und
Millionär saß er zwischen zwei Stühlen. Endlich aber nahm er seiner
Freundin Hand und sagte: »Jenny, wann hätten Sie je =nicht= recht
gehabt?«

Der Kommerzienrat hatte sich mittlerweile ganz der Majorin von
Ziegenhals zugewandt, deren »Hoftage« noch etwas weiter zurücklagen, als
die der Bomst. Ihm, Treibel, war dies natürlich gleichgültig; denn so
sehr ihm ein gewisser Glanz paßte, den das Erscheinen der Hofdamen,
trotz ihrer Außerdienststellung, seiner Gesellschaft immer noch lieh, so
stand er doch auch wieder völlig darüber, ein Standpunkt, den ihm die
beiden Damen selbst eher zum Guten als zum Schlechten anrechneten.
Namentlich die den Freuden der Tafel überaus zugeneigte Ziegenhals nahm
ihrem kommerzienrätlichen Freunde nichts übel, am wenigsten aber verdroß
es sie, wenn er, außer Adels- und Geburtsfragen, allerlei
Sittlichkeitsprobleme streifte, zu deren Lösung er sich, als geborener
Berliner, besonders berufen fühlte. Die Majorin gab ihm dann einen Tipp
mit dem Finger und flüsterte ihm etwas zu, das vierzig Jahre früher
bedenklich gewesen wäre; =jetzt= aber -- beide renommierten beständig
mit ihrem Alter -- nur Heiterkeit weckte. Meist waren es harmlose
Sentenzen aus Büchmann oder andere geflügelte Worte, denen erst der Ton,
aber dieser oft sehr entschieden, den erotischen Charakter aufdrückte.

»Sagen Sie, _cher_ Treibel,« hob die Ziegenhals an, »wie kommen Sie zu
dem Gespenst da drüben; er scheint noch ein Vorachtundvierziger; das war
damals die Epoche des sonderbaren Leutnants, aber dieser übertreibt es.
Karikatur durch und durch. Entsinnen Sie sich noch eines Bildes aus
jener Zeit, das den Don Quixote mit einer langen Lanze darstellte, dicke
Bücher rings um sich her. Das ist er, wie er leibt und lebt.«

Treibel fuhr mit dem linken Zeigefinger am Innenrand seiner Krawatte hin
und her und sagte: »Ja, wie ich zu ihm komme, meine Gnädigste. Nun,
jedenfalls mehr der Not gehorchend als dem eigenen Triebe. Seine
gesellschaftlichen Meriten sind wohl eigentlich gering und seine
menschlichen werden dasselbe Niveau haben. Aber er ist ein Politiker.«

»Das ist unmöglich. Er kann doch nur als Warnungsschatten vor den
Prinzipien stehen, die das Unglück haben, von ihm vertreten zu werden.
Überhaupt, Kommerzienrat, warum verirren Sie sich in die Politik?
Was ist die Folge? Sie verderben sich Ihren guten Charakter, Ihre
guten Sitten und Ihre gute Gesellschaft. Ich höre, daß Sie für
Teupitz-Zossen kandidieren wollen. Nun meinetwegen. Aber wozu? Lassen
Sie doch die Dinge gehen. Sie haben eine charmante Frau, gefühlvoll und
hochpoetisch, und haben eine Villa wie diese, darin wir eben ein _Ragout
fin_ einnehmen, das seinesgleichen sucht, und haben draußen im Garten
einen Springbrunnen und einen Kakadu, um den ich Sie beneiden könnte,
denn meiner, ein grüner, verliert gerade die Federn und sieht aus,
wie die schlechte Zeit. Was wollen Sie mit Politik? Was wollen Sie
mit Teupitz-Zossen? Ja mehr, um Ihnen einen Vollbeweis meiner
Vorurteilslosigkeit zu geben, was wollen Sie mit Konservatismus? Sie
sind ein Industrieller und wohnen in der Köpnickerstraße. Lassen Sie
doch diese Gegend ruhig bei Singer oder Ludwig Löwe, oder wer sonst
hier gerade das Prä hat. Jeder Lebensstellung entsprechen auch bestimmte
politische Grundsätze. Rittergutsbesitzer sind agrarisch, Professoren
sind nationale Mittelpartei und Industrielle sind fortschrittlich. Seien
Sie doch Fortschrittler. Was wollen Sie mit dem Kronenorden? Ich, wenn
ich an Ihrer Stelle wäre, lancierte mich ins Städtische hinein und ränge
nach der Bürgerkrone.«

Treibel, sonst unruhig, wenn einer lange sprach -- was er nur sich
selbst ausgiebig gestattete --, war diesmal doch aufmerksam gefolgt und
winkte zunächst einen Diener heran, um der Majorin ein zweites Glas
Chablis zu präsentieren. Sie nahm auch, er mit, und nun stieß er mit ihr
an und sagte: »Auf gute Freundschaft und noch zehn Jahre so wie heut'!
Aber das mit dem Fortschrittlertum und der Bürgerkrone -- was ist da zu
sagen, meine Gnädigste! Sie wissen, unsereins rechnet und rechnet und
kommt aus der _Regula-de-tri_ gar nicht mehr heraus, aus dem alten
Ansatze: »wenn das und das soviel bringt, wieviel bringt das und das.«
Und sehen Sie, Freundin und Gönnerin, nach demselben Ansatz hab' ich mir
auch den Fortschritt und den Konservatismus berechnet und bin dahinter
gekommen, daß mir der Konservatismus, ich will nicht sagen mehr abwirft,
das wäre freilich falsch, aber besser zu mir paßt, mir besser kleidet.
Besonders seitdem ich Kommerzienrat bin, ein Titel von fragmentischem
Charakter, der doch natürlich seiner Vervollständigung entgegensieht.«

»Ah, ich verstehe.«

»Nun sehen Sie, _l'appétit vient en mangeant_, und wer A sagt, will auch
B sagen. Außerdem aber, ich erkenne die Lebensaufgabe des Weisen vor
allen Dingen in Herstellung des sogenannten Harmonischen, und dies
Harmonische, wie die Dinge nun mal liegen, oder vielleicht kann ich auch
sagen, wie die Zeichen nun mal sprechen, schließt in meinem Spezialfalle
die fortschrittliche Bürgerkrone so gut wie aus.«

»Sagen Sie das im Ernste?«

»Ja, meine Gnädigste. Fabriken im allgemeinen neigen der Bürgerkrone zu,
Fabriken im besonderen aber -- und dahin gehört ausgesprochenermaßen die
meine -- konstatieren den Ausnahmefall. Ihr Blick fordert Beweise. Nun
denn, ich will es versuchen. Ich frage Sie, können Sie sich einen
Handelsgärtner denken, der, sagen wir auf der Lichtenberger oder
Rummelsburger Gemarkung, Kornblumen im Großen zieht, Kornblumen, dies
Symbol königlich preußischer Gesinnung und der zugleich Petroleur und
Dynamitarde ist? Sie schütteln den Kopf und bestätigen dadurch mein
>nein<. Und nun frage ich Sie weiter, was sind alle Kornblumen der Welt
gegen eine Berliner Blaufabrik? Im Berliner Blau haben Sie das
symbolisch Preußische sozusagen in höchster Potenz, und je sicherer und
unanfechtbarer das ist, desto unerläßlicher ist auch mein Verbleiben auf
dem Boden des Konservatismus. Der Ausbau des Kommerzienrätlichen
bedeutet in meinem Spezialfalle das natürlich Gegebene ... jedenfalls
mehr als die Bürgerkrone.«

Die Ziegenhals schien überwunden und lachte, während Krola, der mit
halbem Ohr zugehört hatte, beistimmend nickte.

       *       *       *       *       *

So ging das Gespräch in der Mitte der Tafel, aber noch heiterer verlief
es am untern Ende derselben, wo sich die junge Frau Treibel und Korinna
gegenübersaßen, die junge Frau zwischen Marcell Wedderkopp und dem
Referendar Enghaus, Korinna zwischen Mr. Nelson und Leopold Treibel, dem
jüngeren Sohne des Hauses. An der Schmalseite des Tisches, mit dem
Rücken gegen das breite Gartenfenster, war das Gesellschaftsfräulein,
Fräulein Honig, placiert worden, deren herbe Züge sich wie ein Protest
gegen ihren Namen ausnahmen. Je mehr sie zu lächeln suchte, je
sichtbarer wurde der sie verzehrende Neid, der sich nach rechts hin
gegen die hübsche Hamburgerin, nach links hin, in fast noch
ausgesprochenerer Weise, gegen Korinna richtete, diese halbe Kollegin,
die sich trotzdem mit einer Sicherheit benahm, als ob sie die Majorin
von Ziegenhals oder doch mindestens das Fräulein von Bomst gewesen wäre.

Die junge Frau Treibel sah sehr gut aus, blond, klar, ruhig. Beide
Nachbarn machten ihr den Hof, Marcell freilich nur mit erkünsteltem
Eifer, weil er eigentlich Korinna beobachtete, die sich aus dem einen
oder andern Grunde die Eroberung des jungen Engländers vorgesetzt zu
haben schien. Bei diesem Vorgehen voll Koketterie sprach sie übrigens so
lebhaft, so laut, als ob ihr daran läge, daß jedes Wort auch von ihrer
Umgebung und ganz besonders von ihrem Vetter Marcell gehört werde.

»Sie führen einen so schönen Namen,« wandte sie sich an Mr. Nelson, »so
schön und berühmt, daß ich wohl fragen möchte, ob Ihnen nie das
Verlangen gekommen ist ...?«

»_O yes, yes_ ...«

»... Sich der Fernambuk- und Campecheholzbranche, darin Sie, soviel ich
weiß, auch tätig sind, für immer zu entschlagen? Ich fühle deutlich, daß
ich, wenn ich Nelson hieße, keine ruhige Stunde mehr haben würde, bis
ich meine _Battle at the Nile_ ebenfalls geschlagen hätte. Sie kennen
natürlich die Einzelheiten der Schlacht ...«

»_O, to be sure._«

»Nun, da wär' ich denn endlich -- denn hierlandes weiß niemand etwas
Rechtes davon -- an der richtigen Quelle. Sagen Sie, Mr. Nelson, wie war
das eigentlich mit der Idee, der Anordnung zur Schlacht? Ich habe die
Beschreibung vor einiger Zeit im Walter Scott gelesen und war seitdem
immer im Zweifel darüber, was eigentlich den Ausschlag gegeben habe, ob
mehr eine geniale Disposition oder ein heroischer Mut ...«

»_I should rather think, a heroical courage ... British oaks and british
hearts ..._«

»Ich freue mich, diese Frage durch Sie beglichen zu sehen und in einer
Weise, die meinen Sympathien entspricht. Denn ich bin für das Heroische,
weil es so selten ist. Aber ich möchte doch auch annehmen, daß das
geniale Kommando ...«

»_Certainly, Miss Corinna. No doubt ... >England expects that every man
will do his duty< ..._«

»Ja, das waren herrliche Worte, von denen ich übrigens bis heute
geglaubt hatte, daß sie bei Trafalgar gesprochen seien. Aber warum nicht
auch bei Abukir? Etwas Gutes kann immer zweimal gesagt werden. Und dann
... eigentlich ist eine Schlacht wie die andere, besonders Seeschlachten
-- ein Knall, eine Feuersäule, und alles geht in die Luft. Es muß
übrigens großartig sein und entzückend für alle die, die zusehen können;
ein wundervoller Anblick.«

»_O splendid ..._«

»Ja, Leopold,« fuhr Korinna fort, indem sie sich plötzlich an ihren
andern Tischnachbar wandte, »da sitzen Sie nun und lächeln. Und warum
lächeln Sie? Weil Sie hinter diesem Lächeln Ihre Verlegenheit verbergen
wollen. Sie haben eben nicht jene »_heroical courage_«, zu der sich
_dear_ Mr. Nelson so bedingungslos bekannt hat. Ganz im Gegenteil. Sie
haben sich aus Ihres Vaters Fabrik, die noch in gewissem Sinne, wenn
auch freilich nur geschäftlich, die Blut- und Eisentheorie vertritt --
ja, es klang mir vorhin fast, als ob Ihr Papa der Frau Majorin von
Ziegenhals etwas von diesen Dingen erzählt hätte -- Sie haben sich, sag
ich, aus dem Blutlaugenhof, in dem Sie verbleiben mußten, in den Holzhof
Ihres Bruders Otto zurückgezogen. Das war nicht gut, auch wenn es
Fernambukholz ist. Da sehen Sie meinen Vetter Marcell drüben, der
schwört jeden Tag, wenn er mit seinen Hanteln umherficht, daß es auf das
Reck und das Turnen ankomme, was ihm ein für allemal die Heldenschaft
bedeutet, und daß Vater Jahn doch schließlich noch über Nelson geht.«

Marcell drohte halb ernst-, halb scherzhaft mit dem Finger zu Korinna
hinüber und sagte: »Kusine, vergiß nicht, daß der Repräsentant einer
andern Nation dir zur Seite sitzt, und daß du die Pflicht hast,
einigermaßen für deutsche Weiblichkeit einzutreten.«

»_O, no, no_,« sagte Nelson: »Nichts Weiblichkeit; _always quick and
clever_ ..., das is was wir lieben an deutsche Frauen. Nichts
Weiblichkeit. Fräulein Korinna _is quite in the right way_.«

»Da hast du's, Marcell. Mr. Nelson, für den du so sorglich eintrittst,
damit er nicht falsche Bilder mit in sein meerumgürtetes Albion
hinübernimmt, Mr. Nelson läßt dich im Stich, und Frau Treibel, denk'
ich, läßt dich auch im Stich und Herr Enghaus auch und mein Freund
Leopold auch. Und so bin ich gutes Muts, und bleibt nur noch Fräulein
Honig ...«

Diese verneigte sich und sagte: »Ich bin gewohnt, mit der Majorität zu
gehen«, und ihre Verbittertheit lag in diesem Tone der Zustimmung.

»Ich will mir meines Vetters Mahnung aber doch gesagt sein lassen«, fuhr
Korinna fort. »Ich bin etwas übermütig, Mr. Nelson, und außerdem aus
einer plaudernden Familie ...«

»_Just what I like_, Miß Korinna. >Plauderhafte Leute, gute Leute<, so
sagen wir in England.«

»Und das sag' ich auch, Mr. Nelson. Können Sie sich einen immer
plaudernden Verbrecher denken?«

»_Oh, no; certainly not ..._«

»Und zum Zeichen, daß ich, trotz ewigen Schwatzens, doch eine weibliche
Natur und eine richtige Deutsche bin, soll Mr. Nelson von mir hören, daß
ich auch noch nebenher kochen, nähen und plätten kann, und daß ich im
Letteverein die Kunststopferei gelernt habe. Ja, Mr. Nelson, so steht es
mit mir. Ich bin ganz deutsch und ganz weiblich, und bleibt eigentlich
nur noch die Frage: kennen Sie den Letteverein und kennen Sie die
Kunststopferei?«

»_No_, Fräulein Korinna, _neither the one nor the other_.«

»Nun sehen Sie, _dear_ Mr. Nelson, der Letteverein ist ein Verein oder
ein Institut oder eine Schule für weibliche Handarbeit. Ich glaube sogar
nach englischem Muster, was noch ein besonderer Vorzug wäre.«

»_Not at all; German schools are always to be preferred._«

»Wer weiß, ich möchte das nicht so schroff hinstellen. Aber lassen wir
das, um uns mit dem weit Wichtigeren zu beschäftigen, mit der
Kunststopfereifrage. Das ist wirklich was. Bitte, wollen Sie zunächst
das Wort nachsprechen ...«

Mr. Nelson lächelte gutmütig vor sich hin.

»Nun, ich sehe, daß es Ihnen Schwierigkeiten macht. Aber diese
Schwierigkeiten sind nichts gegen die der Kunststopferei selbst. Sehen
Sie, hier ist mein Freund Leopold Treibel und trägt, wie Sie sehen,
einen untadeligen Rock mit einer doppelten Knopfreihe, und auch wirklich
zugeknöpft, ganz wie es sich für einen Gentleman und einen Berliner
Kommerzienratssohn geziemt. Und ich taxiere den Rock auf wenigstens
hundert Mark.«

»Überschätzung.«

»Wer weiß. Du vergißt, Marcell, daß es verschiedene Skalen auch auf
diesem Gebiete gibt, eine für Oberlehrer und eine für Kommerzienräte.
Doch lassen wir die Preisfrage. Jedenfalls ein feiner Rock, _prima_. Und
nun, wenn wir aufstehen, Mr. Nelson, und die Zigarren herumgereicht
werden -- ich denke, Sie rauchen doch -- werde ich Sie um Ihre Zigarre
bitten und meinem Freunde Leopold Treibel ein Loch in den Rock brennen,
hier gerade, wo sein Herz sitzt, und dann werd' ich den Rock in einer
Droschke mit nach Hause nehmen, und morgen um dieselbe Zeit wollen wir
uns hier im Garten wieder versammeln und um das Bassin herum Stühle
stellen, wie bei einer Aufführung. Und der Kakadu kann auch dabei sein.
Und dann werd' ich auftreten wie eine Künstlerin, die ich in der Tat
auch bin, und werde den Rock herumgehen lassen, und wenn Sie, _dear_ Mr.
Nelson, dann noch imstande sind, die Stelle zu finden, wo das Loch war,
so will ich Ihnen einen Kuß geben und Ihnen als Sklavin nach Liverpool
hin folgen. Aber es wird nicht dazu kommen. Soll ich sagen leider? Ich
habe zwei Medaillen als Kunststopferin gewonnen, und Sie werden die
Stelle sicherlich =nicht= finden ...«

»Oh, ich werde finden, _no doubt, I will find it_«, entgegnete Mr.
Nelson leuchtenden Auges, und weil er seiner immer wachsenden
Bewunderung, passend oder nicht, einen Ausdruck geben wollte, schloß er
mit einem in kurzen Ausrufungen gehaltenen Hymnus auf die Berlinerinnen
und der sich daran anschließenden und mehrfach wiederholten
Versicherung, daß sie _decidedly clever_ seien.

Leopold und der Referendar vereinigten sich mit ihm in diesem Lob, und
selbst Fräulein Honig lächelte, weil sie sich als Landsmännin
mitgeschmeichelt fühlen mochte. Nur im Auge der jungen Frau Treibel
sprach sich eine leise Verstimmung darüber aus, eine Berlinerin und
kleine Professorstochter in dieser Weise gefeiert zu sehen. Auch Vetter
Marcell, so sehr er zustimmte, war nicht recht zufrieden, weil er davon
ausging, daß seine Kusine ein solches Hasten und Sich-in-Szenesetzen
nicht nötig habe; sie war ihm zu schade für die Rolle, die sie spielte.
Korinna ihrerseits sah auch ganz deutlich, was in ihm vorging, und würde
sich ein Vergnügen daraus gemacht haben ihn zu necken, wenn nicht in
eben diesem Momente -- das Eis wurde schon herumgereicht -- der
Kommerzienrat an das Glas geklopft und sich, um einen Toast
auszubringen, von seinem Platz erhoben hätte: »Meine Herren und Damen,
_Ladies and Gentlemen_ ...«

»Ah, =das= gilt Ihnen«, flüsterte Korinna Mr. Nelson zu.

»... Ich bin«, fuhr Treibel fort, »an dem Hammelrücken vorübergegangen
und habe diese verhältnismäßig späte Stunde für einen meinerseits
auszubringenden Toast herankommen lassen -- eine Neuerung, die mich in
diesem Augenblicke freilich vor die Frage stellt, ob der Schmelzezustand
eines rot- und weißen Panaschee nicht noch etwas Vermeidenswerteres ist,
als der Hammelrücken im Zustande der Erstarrung ...«

»_Oh, wonderfully good ..._«

»... Wie dem aber auch sein möge, jedenfalls gibt es zurzeit nur =ein=
Mittel, ein vielleicht schon angerichtetes Übel auf ein Mindestmaß
herabzudrücken: Kürze. Genehmigen Sie denn, meine Herrschaften, in Ihrer
Gesamtheit meinen Dank für Ihr Erscheinen, und gestatten Sie mir des
ferneren und im besonderen Hinblick auf zwei liebe Gäste, die hier zu
sehen ich heute zum ersten Male die Ehre habe, meinen Toast in die
britischerseits nahezu geheiligte Formel kleiden zu dürfen: >_on our
army and navy_<, auf Heer und Flotte also, die wir das Glück haben, hier
an dieser Tafel, =einer=seits (er verbeugte sich gegen Vogelsang) durch
Beruf und Lebensstellung, =anderer=seits (Verbeugung gegen Nelson) durch
einen weltberühmten Heldennamen vertreten zu sehen. Noch einmal also:
>_our army and navy!_< Es lebe Leutnant Vogelsang, es lebe Mr. Nelson.«

Der Toast fand allseitige Zustimmung, und der in eine nervöse Unruhe
geratene Mr. Nelson wollte sofort das Wort nehmen, um zu danken. Aber
Korinna hielt ihn ab, Vogelsang sei der ältere und würde vielleicht den
Dank für ihn mitaussprechen.

»_Oh, no, no_, Fräulein Korinna, _not he ... not such an ugly old fellow
... please, look at him_«, und der zapplige Heldennamensvetter machte
wiederholte Versuche, sich von seinem Platze zu erheben und zu sprechen.
Aber Vogelsang kam ihm wirklich zuvor, und nachdem er den Bart mit der
Serviette geputzt und in nervöser Unruhe seinen Waffenrock erst auf- und
dann wieder zugeknöpft hatte, begann er mit einer an Komik streifenden
Würde: »Meine Herren. Unser liebenswürdiger Wirt hat die Armee leben
lassen und mit der Armee meinen Namen verknüpft. Ja, meine Herren, ich
=bin= Soldat ...«

»_Oh, for shame!_« brummte der über das wiederholte »meine Herren« und
das gleichzeitige Unterschlagen aller anwesenden Damen aufrichtig
empörte Mr. Nelson, »_oh, for shame_«, und ein Kichern ließ sich
allerseits hören, das auch anhielt, bis des Redners immer finsterer
werdendes Augenrollen eine wahre Kirchenstille wiederhergestellt hatte.
Dann erst fuhr dieser fort: »Ja, meine Herren, ich =bin= Soldat ... Aber
mehr als das, ich bin auch Streiter im Dienst einer Idee. Zwei große
Mächte sind es, denen ich diene: Volkstum und Königtum. Alles andere
stört, schädigt, verwirrt. Englands Aristokratie, die mir, von meinem
Prinzip ganz abgesehen, auch persönlich widerstreitet, veranschaulicht
eine solche Schädigung, eine solche Verwirrung; ich verabscheue
Zwischenstufen und überhaupt die feudale Pyramide. Das sind
Mittelalterlichkeiten. Ich erkenne mein Ideal in einem Plateau, mit
einem einzigen, aber alles überragenden _Pic_.«

Die Ziegenhals wechselte hier Blicke mit Treibel.

»... Alles sei von Volkesgnaden, bis zu der Stelle hinauf, wo die
Gottesgnadenschaft beginnt. Dabei streng geschiedene Machtbefugnisse.
Das Gewöhnliche, das Massenhafte, werde bestimmt durch die Masse, das
Ungewöhnliche, das Große, werde bestimmt durch das Große. Das ist Thron
und Krone. Meiner politischen Erkenntnis nach ruht alles Heil, alle
Besserungsmöglichkeit in der Aufrichtung einer Royaldemokratie, zu der
sich, soviel ich weiß, auch unser Kommerzienrat bekennt. Und in diesem
Gefühle, darin wir uns eins wissen, erhebe ich das Glas und bitte Sie,
mit mir auf das Wohl unseres hochverehrten Wirtes zu trinken, zugleich
unseres Gonfaloniere, der uns die Fahne trägt. Unser Kommerzienrat
Treibel, er lebe hoch.«

Alles erhob sich, um mit Vogelsang anzustoßen und ihn als Erfinder der
Royaldemokratie zu beglückwünschen. Einige konnten als aufrichtig
entzückt gelten, besonders das Wort »Gonfaloniere« schien gewirkt zu
haben, andere lachten still in sich hinein, und nur drei waren direkt
unzufrieden: Treibel, weil er sich von den Vogelsangschen Prinzipien
praktisch nicht viel versprach, die Kommerzienrätin, weil ihr das Ganze
nicht fein genug vorkam, und drittens Mr. Nelson, weil er sich aus dem
gegen die englische Aristokratie gerichteten Satze Vogelsangs einen
neuen Haß gegen eben diesen gesogen hatte. »_Stuff and nonsense. What
does he know of our aristocracy? To be sure, he does'nt belong to it --
that's all._«

»Ich weiß doch nicht«, lachte Korinna. »Hat er nicht was von einem _Peer
of the Realm_?«

Nelson vergaß über dieser Vorstellung beinahe all seinen Groll und bot
Korinna, während er eine Knackmandel von einem der Tafelaufsätze nahm,
eben ein Vielliebchen an, als die Kommerzienrätin den Stuhl schob und
dadurch das Zeichen zur Aufhebung der Tafel gab. Die Flügeltüren
öffneten sich, und in derselben Reihenfolge, wie man zu Tisch gegangen
war, schritt man wieder auf den mittlerweile gelüfteten Frontsaal zu, wo
die Herren, Treibel an der Spitze, den älteren und auch einigen jüngeren
Damen respektvoll die Hand küßten.

Nur Mr. Nelson verzichtete darauf, weil er die Kommerzienrätin »_a
little pompous_« und die beiden Hofdamen »_a little ridiculous_« fand,
und begnügte sich, an Korinna herantretend, mit einem kräftigen
»_shaking hands_«.




Viertes Kapitel


Die große Glastür, die zur Freitreppe führte, stand auf; dennoch war es
schwül, und so zog man es vor, den Kaffee draußen zu nehmen, die einen
auf der Veranda, die andern im Vorgarten selbst, wobei sich die
Tischnachbarn in kleinen Gruppen wieder zusammenfanden und
weiterplauderten. Nur als sich die beiden adligen Damen von der
Gesellschaft verabschiedeten, unterbrach man sich in diesem mit
Medisance reichlich gewürzten Gespräch und sah eine kleine Weile dem
Landauer nach, der, die Köpenickerstraße hinauf, erst auf die Frau von
Ziegenhalssche Wohnung, in unmittelbarer Nähe der Marschallsbrücke, dann
aber auf Charlottenburg zufuhr, wo die seit fünfunddreißig Jahren in
einem Seitenflügel des Schlosses einquartierte Bomst ihr Lebensglück und
zugleich ihren besten Stolz aus der Betrachtung zog, in erster Zeit mit
des hochseligen Königs Majestät, dann mit der Königinwitwe, und zuletzt
mit den Meiningenschen Herrschaften dieselbe Luft geatmet zu haben. Es
gab ihr all das etwas Verklärtes, was auch zu ihrer Figur paßte.

Treibel, der die Damen bis an den Wagenschlag begleitet, hatte
mittlerweile, vom Straßendamm her, die Veranda wieder erreicht, wo
Vogelsang, etwas verlassen, aber mit uneingebüßter Würde, seinen Platz
behauptete. »Nun, ein Wort unter uns, Leutnant, aber nicht hier; ich
denke, wir absentieren uns einen Augenblick und rauchen ein Blatt,
das nicht alle Tage wächst, und namentlich nicht überall.« Dabei nahm
er Vogelsang unter den Arm und führte den Gerngehorchenden in sein
neben dem Saale gelegenes Arbeitszimmer, wo der geschulte, diesen
Lieblingsmoment im Dinerleben seines Herrn von langher kennende
Diener bereits alles zurechtgestellt hatte: das Zigarrenkistchen,
den Likörkasten und die Karaffe mit Eiswasser. Die gute Schulung des
Dieners beschränkte sich aber nicht auf diese Vorarrangements, vielmehr
stand er im selben Augenblick, wo beide Herren ihre Plätze genommen
hatten, auch schon mit dem Tablett vor ihnen und präsentierte den
Kaffee.

»Das ist recht, Friedrich, auch der Aufbau hier, alles zu meiner
Zufriedenheit; aber gib doch lieber die andere Kiste her, die flache.
Und dann sage meinem Sohn Otto, ich ließe ihn bitten ... Ihnen doch
recht, Vogelsang? Oder, wenn du Otto nicht triffst, so bitte den
Polizeiassessor, ja, lieber =den=, er weiß doch besser Bescheid.
Sonderbar, alles, was in der Molkenmarktluft groß geworden, ist dem Rest
der Menschheit um ein Beträchtliches überlegen. Und dieser Goldammer hat
nun gar noch den Vorteil, ein richtiger Pastorssohn zu sein, was all
seinen Geschichten einen eigentümlich pikanten Beigeschmack gibt.« Und
dabei klappte Treibel den Kasten auf und sagte: »Kognak oder Allasch?
Oder das eine tun und das andere nicht lassen?«

Vogelsang lächelte, schob den Zigarrenknipser ziemlich demonstrativ
beiseite und biß die Spitze mit seinen Raffzähnen ab. Dann griff er nach
einem Streichhölzchen. Im übrigen schien er abwarten zu wollen, womit
Treibel beginnen würde. Der ließ denn auch nicht lange warten: »_Eh
bien_, Vogelsang, wie gefielen Ihnen die beiden alten Damen? Etwas
Feines, nicht wahr? Besonders die Bomst. Meine Frau würde sagen:
ätherisch. Nun, durchsichtig genug ist sie. Aber offen gestanden, die
Ziegenhals ist mir lieber, drall und prall, kapitales Weib, und muß
ihrer Zeit ein geradezu formidables Festungsviereck gewesen sein. Nasses
Temperament, und wenn ich recht gehört habe, so pendelt ihre
Vergangenheit zwischen verschiedenen kleinen Höfen hin und her. Lady
Milford, aber weniger sentimental. Alles natürlich alte Geschichten,
alles beglichen, man könnte beinahe sagen, schade. Den Sommer über ist
sie jetzt regelmäßig bei den Kraczinskis, in der Zossener Gegend; weiß
der Teufel, wo seit kurzem all die polnischen Namen herkommen. Aber
schließlich ist es gleichgültig. Was meinen Sie, wenn ich die
Ziegenhals, in Anbetracht dieser Kraczinskischen Bekanntschaft, unsern
Zwecken dienstbar zu machen suchte?«

»Kann zu nichts führen.«

»Warum nicht? Sie vertritt einen richtigen Standpunkt.«

»Ich würde mindestens sagen müssen, einen =nicht= richtigen.«

»Wieso?«

»Sie vertritt einen durchaus beschränkten Standpunkt, und wenn ich das
Wort wähle, so bin ich noch ritterlich. Übrigens wird mit diesem
>ritterlich< ein wachsender und geradezu horrender Mißbrauch getrieben;
ich glaube nämlich nicht, daß unsere Ritter sehr ritterlich, das heißt
ritterlich im Sinne von artig und verbindlich, gewesen sind. Alles bloß
historische Fälschungen. Und was diese Ziegenhals angeht, die wir uns,
wie Sie sagen, dienstbar machen sollen, so vertritt sie natürlich den
Standpunkt des Feudalismus, den der Pyramide. Daß sie zum Hofe steht,
ist gut, und ist das, was sie mit uns verbindet; aber das ist nicht
genug. Personen wie diese Majorin und selbstverständlich auch ihr
adliger Anhang, gleichviel ob er polnischen oder deutschen Ursprungs
ist, -- alle leben mehr oder weniger in einem Wust von Einbildungen,
will sagen von mittelalterlichen Standesvorurteilen, und das schließt
ein Zusammengehen aus, trotzdem wir die Königsfahne mit ihnen gemeinsam
haben. Aber diese Gemeinsamkeit frommt nicht, schadet uns nur. Wenn wir
rufen: >Es lebe der König<, so geschieht es, vollkommen selbstsuchtslos,
um einem großen Prinzip die Herrschaft zu sichern; für mich bürge ich,
und ich hoffe, daß ich es auch für =Sie= kann ...«

»Gewiß, Vogelsang, gewiß.«

»Aber diese Ziegenhals -- von der ich beiläufig fürchte, daß Sie nur zu
sehr recht haben, mit der von Ihnen angedeuteten, wenn auch, Gott sei
Dank, weit zurückliegenden Auflehnung gegen Moral und gute Sitte --
diese Ziegenhals und ihresgleichen, wenn die rufen: >Es lebe der König<,
so heißt das immer nur, es lebe der, der für uns sorgt, unser Nährvater;
sie kennen nichts als ihren Vorteil. Es ist ihnen versagt, in einer Idee
aufzugehen und sich auf Personen stützen, die nur sich kennen, das heißt
unsre Sache verloren geben. Unsre Sache besteht nicht bloß darin, den
fortschrittlichen Drachen zu bekämpfen, sie besteht auch in der
Bekämpfung des Vampyradels, der immer bloß saugt und saugt. Weg mit der
ganzen Interessenpolitik. In dem Zeichen absoluter Selbstlosigkeit
müssen wir siegen, und dazu brauchen wir das Volk, nicht das Quitzowtum,
das seit dem gleichnamigen Stücke wieder oben auf ist und das Heft in
die Hände nehmen möchte. Nein, Kommerzienrat, nichts von
Pseudo-Konservatismus, kein Königtum auf falscher Grundlage; das
Königtum, wenn wir es konservieren wollen, muß auf etwas Soliderem
ruhen, als auf einer Ziegenhals oder einer Bomst.«

»Nun, hören Sie, Vogelsang, die Ziegenhals wenigstens ...« Und Treibel
schien ernstlich gewillt, diesen Faden, der ihm paßte, weiter zu
spinnen. Aber ehe er dazu kommen konnte, trat der Polizeiassessor vom
Salon her ein, die kleine Meißner Tasse noch in der Hand, und nahm
zwischen Treibel und Vogelsang Platz. Gleich nach ihm erschien auch
Otto, vielleicht von Friedrich benachrichtigt, vielleicht auch aus
eigenem Antriebe, weil er von langer Zeit her die der Erotik
zugewendeten Wege kannte, die Goldammer, bei Likör und Zigarren,
regelmäßig und meist sehr rasch, so daß jede Versäumnis sich strafte, zu
wandeln pflegte.

Der alte Treibel wußte dies selbstverständlich noch viel besser, hielt
aber ein auch seinerseits beschleunigtes Verfahren doch für angezeigt,
und hob deshalb ohne weiteres an: »Und nun sagen Sie, Goldammer, was
gibt es? Wie steht es mit dem Lützowplatz? Wird die Panke zugeschüttet,
oder, was so ziemlich dasselbe sagen will, wird die Friedrichstraße
sittlich gereinigt? Offen gestanden, ich fürchte, daß unsre pikanteste
Verkehrsader nicht allzuviel dabei gewinnen wird; sie wird um ein
geringes moralischer und um ein beträchtliches langweiliger werden. Da
das Ohr meiner Frau bis hierher nicht trägt, so läßt sich dergleichen
allenfalls aufs Tapet bringen; im übrigen soll Ihnen meine gesamte
Fragerei keine Grenzen ziehen. Je freier, je besser. Ich habe lange
genug gelebt, um zu wissen, daß alles, was aus einem Polizeimunde kommt,
immer Stoff ist, immer frische Brise, freilich mitunter auch Scirocco,
ja geradezu Samum. Sagen wir Samum. Also was schwimmt oben auf?«

»Eine neue Soubrette.«

»Kapital. Sehen Sie, Goldammer, jede Kunstrichtung ist gut, weil jede
das Ideal im Auge hat. Und das Ideal ist die Hauptsache, so viel weiß
ich nachgerade von meiner Frau. Aber das Idealste bleibt doch immer eine
Soubrette. Name?«

»Grabillon. Zierliche Figur, etwas großer Mund, Leberfleck.«

»Um Gottes willen, Goldammer, das klingt ja wie ein Steckbrief. Übrigens
Leberfleck ist reizend; großer Mund Geschmackssache. Und Protegé von
wem?«

Goldammer schwieg.

»Ah, ich verstehe. Obersphäre. Je höher hinauf, je näher dem Ideal.
Übrigens da wir mal bei Obersphäre sind, wie steht es denn mit der
Grußgeschichte? Hat er wirklich nicht gegrüßt? Und ist es wahr, daß er,
natürlich der Nichtgrüßer, einen Urlaub hat antreten müssen? Es wäre
eigentlich das beste, weil es so nebenher einer Absage gegen den ganzen
Katholizismus gleichkäme, sozusagen zwei Fliegen mit einer Klappe.«

Goldammer, heimlicher Fortschrittler, aber offener Antikatholik, zuckte
die Achseln und sagte: »So gut steht es leider nicht und kann auch
nicht. Die Macht der Gegenströmung ist zu stark. Der, der den Gruß
verweigerte, wenn Sie wollen der Wilhelm Tell der Situation, hat zu gute
Rückendeckung. Wo? Nun, das bleibt in der Schwebe; gewisse Dinge darf
man nicht bei Namen nennen, und ehe wir nicht der bekannten Hydra den
Kopf zertreten oder, was dasselbe sagen will, dem altenfritzischen
»_Ecrasez l'Infâme_« zum Siege verholfen haben ...«

In diesem Augenblick hörte man nebenan singen, eine bekannte
Komposition, und Treibel, der eben eine neue Zigarre nehmen wollte, warf
sie wieder in das Kistchen zurück und sagte: »Meine Ruh' ist hin ... Und
mit der ihrigen, meine Herren, steht es nicht viel besser. Ich glaube,
wir müssen wieder bei den Damen erscheinen, um an der Ära Adolar Krola
teilzunehmen. Denn =die= beginnt jetzt.«

Damit erhoben sich alle vier und kehrten unter Vortritt Treibels in den
Saal zurück, wo wirklich Krola am Flügel saß und seine drei Hauptstücke,
mit denen er rasch hintereinander aufzuräumen pflegte, vollkommen
virtuos, aber mit einer gewissen, absichtlichen Klapprigkeit, zum besten
gab. Es waren: »Der Erlkönig«, »Herr Heinrich saß am Vogelherd« und »Die
Glocken von Speier«. Diese letztere Nummer, mit dem geheimnisvoll
einfallenden Glockenbimbam, machte jedesmal den größten Eindruck und
bestimmte selbst Treibel zu momentan ruhigem Zuhören. Er sagte dann auch
wohl mit einer gewissen höheren Miene: »Von Löwe, _ex ungue Leonem_; das
heißt von Karl Löwe, Ludwig komponiert nicht.«

Viele von denen, die den Kaffee im Garten oder auf der Veranda genommen
hatten, waren, gleich als Krola begann, ebenfalls in den Saal getreten,
um zuzuhören, andere dagegen, die die drei Balladen schon von zwanzig
Treibelschen Diners her kannten, hatten es doch vorgezogen, im Freien zu
bleiben und ihre Gartenpromenade fortzusetzen, unter ihnen auch Mr.
Nelson, der, als ein richtiger Vollblutengländer, musikalisch auf
schwächsten Füßen stand und rund heraus erklärte, das liebste sei ihm
ein Nigger, mit einer Pauke zwischen den Beinen: »_I can't see, what it
means; music is nonsense._« So ging er denn mit Korinna auf und ab,
Leopold an der anderen Seite, während Marcell mit der jungen Frau
Treibel in einiger Entfernung folgte, beide sich über Nelson und Leopold
halb ärgernd, halb erheiternd, die, wie schon bei Tische, von Korinna
nicht los konnten.

Es war ein prächtiger Abend draußen, von der Schwüle, die drinnen
herrschte, keine Spur, und schräg über den hohen Pappeln, die den
Hintergarten von den Fabrikgebäuden abschnitten, stand die Mondsichel;
der Kakadu saß ernst und verstimmt auf seiner Stange, weil es versäumt
worden war, ihn zu rechter Zeit in seinen Käfig zurückzunehmen, und nur
der Wasserstrahl stieg so lustig in die Höhe wie zuvor.

»Setzen wir uns,« sagte Korinna, »wir promenieren schon, ich weiß nicht
wie lange«, und dabei ließ sie sich ohne weiteres auf den Rand der
Fontäne nieder. »_Take a seat, Mr. Nelson._ Sehen Sie nur den Kakadu,
wie bös er aussieht. Er ist ärgerlich, daß sich keiner um ihn kümmert.«

»_To be sure_, und sieht aus wie Leutnant Sangevogel. _Does'nt he?_«

»Wir nennen ihn für gewöhnlich Vogelsang. Aber ich habe nichts dagegen,
ihn umzutaufen. Helfen wird es freilich nicht viel.«

»_No, no, there's no help for him_; Vogelsang, ah, ein häßlicher Vogel,
kein Singvogel, _no finch, no trussel_.«

»Nein, er ist bloß ein Kakadu, ganz wie Sie sagen.«

Aber kaum, daß dies Wort gesprochen war, so folgte nicht nur ein lautes
Kreischen von der Stange her, wie wenn der Kakadu gegen den Vergleich
protestieren wolle, sondern auch Korinna schrie laut auf, freilich nur
um im selben Augenblicke wieder in ein helles Lachen auszubrechen, in
das gleich danach auch Leopold und Mr. Nelson einstimmten. Ein plötzlich
sich aufmachender Windstoß hatte nämlich dem Wasserstrahl eine Richtung
genau nach der Stelle hin gegeben, wo sie saßen, und bei der Gelegenheit
allesamt, den Vogel auf seiner Stange miteingeschlossen, mit einer Flut
von Spritzwasser überschüttet. Das gab nun ein Klopfen und Abschütteln,
an dem auch der Kakadu teilnahm, freilich ohne seinerseits seine Laune
dabei zu verbessern.

Drinnen hatte Krola mittlerweile sein Programm beendet und stand auf, um
andern Kräften den Platz einzuräumen. Es sei nichts mißlicher, als ein
solches Kunstmonopol; außerdem dürfe man nicht vergessen, der Jugend
gehöre die Welt. Dabei verbeugte er sich huldigend gegen einige junge
Damen, in deren Familien er ebenso verkehrte wie bei den Treibels. Die
Kommerzienrätin ihrerseits aber übertrug diese ganz allgemein gehaltene
Huldigung gegen die Jugend in ein bestimmteres Deutsch und forderte die
beiden Fräulein Felgentreus auf, doch einige der reizenden Sachen zu
singen, die sie neulich, als Ministerialdirektor Stoeckenius in ihrem
Hause gewesen, so schön vorgetragen hätten; Freund Krola werde gewiß die
Güte haben, die Damen am Klavier zu begleiten. Krola, sehr erfreut,
einer gesanglichen Mehrforderung, die sonst die Regel war, entgangen zu
sein, drückte sofort seine Zustimmung aus und setzte sich an seinen eben
erst aufgegebenen Platz, ohne ein Ja oder Nein der beiden Felgentreus
abzuwarten. Aus seinem ganzen Wesen sprach eine Mischung von Wohlwollen
und Ironie. Die Tage seiner eignen Berühmtheit lagen weit zurück, aber
je weiter sie zurücklagen, desto höher waren seine Kunstansprüche
geworden, so daß es ihm, bei dem totalen Unerfülltbleiben derselben,
vollkommen gleichgültig erschien, =was= zum Vortrage kam und =wer= das
Wagnis wagte. Von Genuß konnte keine Rede für ihn sein, nur von
Amüsement, und weil er einen angeborenen Sinn für das Heitere hatte,
durfte man sagen, sein Vergnügen stand jedesmal dann auf der Höhe, wenn
seine Freundin Jenny Treibel, wie sie das liebte, durch Vortrag einiger
Lieder den Schluß der musikalischen Soiree machte. Das war aber noch
weit im Felde, vorläufig waren noch die beiden Felgentreus da, von denen
denn auch die ältere Schwester, oder, wie es zu Krolas jedesmaligem
Gaudium hieß, »die weitaus talentvollere«, mit »Bächlein laß dein
Rauschen sein« ohne weiteres einsetzte. Daran reihte sich: »Ich schnitt
es gern in alle Rinden ein«, was, als allgemeines Lieblingsstück, zu der
Kommerzienrätin großem, wenn auch nicht geäußertem Verdruß, von einigen
indiskreten Stimmen im Garten begleitet wurde. Dann folgte die
Schlußnummer, ein Duett aus »Figaros Hochzeit«. Alles war hingerissen,
und Treibel sagte zu Vogelsang: »er könne sich nicht erinnern, seit den
Tagen der Milanollos, etwas so Liebliches von Schwestern gesehen und
gehört zu haben«, woran er die weitere, allerdings unüberlegte Frage
knüpfte: ob Vogelsang seinerseits sich noch der Milanollos erinnern
könne? »Nein,« sagte dieser barsch und peremtorisch. -- »Nun, dann bitt'
ich um Entschuldigung.«

Eine Pause trat ein, und einige Wagen, darunter auch der Felgentreusche,
waren schon angefahren; trotzdem zögerte man noch mit dem Aufbruch, weil
das Fest immer noch seines Abschlusses entbehrte. Die Kommerzienrätin
nämlich hatte noch nicht gesungen, ja, war unerhörterweise noch nicht
einmal zum Vortrag eines ihrer Lieder aufgefordert worden, -- ein
Zustand der Dinge, der so rasch wie möglich geändert werden mußte. Dies
erkannte niemand klarer, als Adolar Krola, der, den Polizeiassessor
beiseite nehmend, ihm eindringlichst vorstellte, daß durchaus etwas
geschehen und das hinsichtlich Jennys Versäumte sofort nachgeholt werden
müsse. »Wird Jenny =nicht= aufgefordert, so seh' ich die Treibelschen
Diners, oder wenigstens unsere Teilnahme daran, für alle Zukunft in
Frage gestellt, was doch schließlich einen Verlust bedeuten würde ...«

»Dem wir unter allen Umständen vorzubeugen haben, verlassen Sie sich auf
mich.« Und die beiden Felgentreus an der Hand nehmend, schritt
Goldammer, rasch entschlossen, auf die Kommerzienrätin zu, um, wie er
sich ausdrückte, als erwählter Sprecher des Hauses, um ein Lied zu
bitten. Die Kommerzienrätin, der das Abgekartete der ganzen Sache nicht
entgehen konnte, kam in ein Schwanken zwischen Ärger und Wunsch; aber
die Beredtsamkeit des Antragstellers siegte doch schließlich; Krola nahm
wieder seinen Platz ein, und einige Augenblicke später erklang Jennys
dünne, durchaus im Gegensatz zu ihrer sonstigen Fülle stehende Stimme
durch den Saal hin, und man vernahm die in diesem Kreise wohlbekannten
Liedesworte:

    Glück, von Deinen tausend Losen,
    Eines nur erwähl' ich mir,
    Was soll Gold? Ich liebe Rosen
    Und der Blumen schlichte Zier.

    Und ich höre Waldesrauschen
    Und ich seh' ein flatternd Band --
    Aug' in Auge Blicke tauschen,
    Und ein Kuß auf Deine Hand.

    Geben nehmen, nehmen geben,
    Und Dein Haar umspielt der Wind,
    Ach, nur das, nur das ist Leben,
    wo =sich Herz zum Herzen find't=.

Es braucht nicht gesagt zu werden, daß ein rauschender Beifall folgte,
woran sich, von des alten Felgentreu Seite, die Bemerkung schloß, »die
damaligen Lieder (er vermied eine bestimmte Zeitangabe) wären doch
schöner gewesen, namentlich inniger«, eine Bemerkung, die von dem direkt
zur Meinungsäußerung aufgeforderten Krola schmunzelnd bestätigt wurde.

Mr. Nelson seinerseits hatte von der Veranda dem Vortrage zugehört und
sagte jetzt zu Korinna: »_Wonderfully good. Oh, these Germans, they know
everything ... even such an old lady._«

Korinna legte ihm den Finger auf den Mund.

Kurze Zeit danach war alles fort, Haus und Park leer, und man hörte nur
noch, wie drinnen im Speisesaal geschäftige Hände den Ausziehtisch
zusammenschoben und wie draußen im Garten der Strahl des Springbrunnens
plätschernd ins Bassin fiel.




Fünftes Kapitel


Unter den letzten, die, den Vorgarten passierend, das kommerzienrätliche
Haus verließen, waren Marcell und Korinna. Diese plauderte nach wie vor
in übermütiger Laune, was des Vetters mühsam zurückgehaltene Verstimmung
nur noch steigerte. Zuletzt schwiegen beide.

So gingen sie schon fünf Minuten nebeneinander her, bis Korinna, die
sehr gut wußte, was in Marcells Seele vorging, das Gespräch wieder
aufnahm. »Nun, Freund, was gibt es?«

»Nichts.«

»Nichts?«

»Oder wozu soll ich es leugnen, ich bin verstimmt.«

»Worüber?«

»Über dich. Über dich, weil du kein Herz hast.«

»Ich? Erst recht hab' ich ...«

»Weil du kein Herz hast, sag' ich, keinen Sinn für Familie, nicht einmal
für deinen Vater ...«

»Und nicht einmal für meinen Vetter Marcell ...«

»Nein, den laß aus dem Spiel, von dem ist nicht die Rede. Mir gegenüber
kannst du tun, was du willst. Aber dein Vater. Da läßt du nun heute den
alten Mann einsam und allein und kümmerst dich sozusagen um gar nichts.
Ich glaube, du weißt nicht einmal, ob er zu Haus ist oder nicht.«

»Freilich ist er zu Haus. Er hat ja heut' seinen >Abend<, und wenn auch
nicht alle kommen, etliche vom hohen Olymp werden wohl da sein.«

»Und du gehst aus und überlässest alles der alten guten Schmolke?«

»Weil ich es ihr überlassen kann. Du weißt das ja so gut wie ich; es
geht alles wie am Schnürchen, und in diesem Augenblick essen sie
wahrscheinlich Oderkrebse und trinken Mosel. Nicht Treibelschen, aber
doch Professor Schmidtschen, einen edlen Trarbacher, von dem Papa
behauptet, er sei der einzige reine Wein in Berlin. Bist du nun
zufrieden?«

»Nein.«

»Dann fahre fort.«

»Ach, Korinna, du nimmst alles so leicht und denkst, wenn du's leicht
nimmst, so hast du's aus der Welt geschafft. Aber es glückt dir nicht.
Die Dinge bleiben doch schließlich, was und wie sie sind. Ich habe dich
nun bei Tisch beobachtet ...«

»Unmöglich, du hast ja der jungen Frau Treibel ganz intensiv den Hof
gemacht, und ein paarmal wurde sie sogar rot ...«

»Ich habe dich beobachtet, sag' ich, und mit einem wahren Schrecken das
Übermaß von Koketterie gesehen, mit dem du nicht müde wirst, dem armen
Jungen, dem Leopold, den Kopf zu verdrehen ...«

Sie hatten, als Marcell dies sagte, gerade die platzartige Verbreiterung
erreicht, mit der die Köpenickerstraße, nach der Inselbrücke hin,
abschließt, eine verkehrslose und beinahe menschenleere Stelle. Korinna
zog ihren Arm aus dem des Vetters und sagte, während sie nach der
anderen Seite der Straße zeigte: »Sieh', Marcell, wenn da drüben nicht
der einsame Schutzmann stände, so stellt' ich mich jetzt mit
verschränkten Armen vor dich hin und lachte dich fünf Minuten lang aus.
Was soll das heißen, ich sei nicht müde geworden, dem armen Jungen, dem
Leopold, den Kopf zu verdrehen? Wenn du nicht ganz in Huldigung gegen
Helenen aufgegangen wärst, so hättest du sehen müssen, daß ich kaum zwei
Worte mit ihm gesprochen. Ich habe mich nur mit Mr. Nelson unterhalten,
und ein paarmal hab' ich mich ganz ausführlich an dich gewandt.«

»Ach, das sagst du so, Korinna, und weißt doch, wie falsch es ist.
Sieh', du bist sehr gescheit und weißt es auch; aber du hast doch den
Fehler, den viele gescheite Leute haben, daß sie die anderen für
ungescheiter halten als sie sind. Und so denkst du, du kannst mir ein X
für ein U machen und alles so drehen und beweisen, wie du's drehen und
beweisen willst. Aber man hat doch auch so seine Augen und Ohren und ist
also, mit deinem Verlaub, hinreichend ausgerüstet, um zu hören und zu
sehen.«

»Und was ist es denn nun, was der Herr Doktor gehört und gesehen haben?«

»Der Herr Doktor haben gehört und gesehen, daß Fräulein Korinna mit
ihrem Redekatarakt über den unglücklichen Mr. Nelson hergefallen ist
...«

»Sehr schmeichelhaft ...«

»Und daß sie -- wenn ich das mit dem Redekatarakt aufgeben und ein
anderes Bild dafür einstellen will -- daß sie, sag' ich, zwei Stunden
lang die Pfauenfeder ihrer Eitelkeit auf dem Kinn oder auf der Lippe
balanciert und überhaupt in den feineren akrobatischen Künsten ein
Äußerstes geleistet hat. Und das alles vor wem? Etwa vor Mr. Nelson?
Mitnichten. Der gute Nelson, der war nur das Trapez, daran meine Kusine
herumturnte; =der=, um dessentwillen das alles geschah, der zusehen und
bewundern sollte, der hieß Leopold Treibel, und ich habe wohl bemerkt,
wie mein Kusinchen auch ganz richtig gerechnet hatte; denn ich kann mich
nicht entsinnen, einen Menschen gesehen zu haben, der, verzeih' den
Ausdruck, durch einen ganzen Abend hin so >total weg< gewesen wäre wie
dieser Leopold.«

»Meinst du?«

»Ja, das mein' ich.«

»Nun, darüber ließe sich reden ... Aber sieh' nur ...«

Und dabei blieb sie stehen und wies auf das entzückende Bild, das sich
-- sie passierten eben die Fischerbrücke -- drüben vor ihnen
ausbreitete. Dünne Nebel lagen über den Strom hin, sogen aber den
Lichterglanz nicht ganz auf, der von rechts und links her auf die breite
Wasserfläche fiel, während die Mondsichel oben im Blauen stand, keine
zwei Hand breit von dem etwas schwerfälligen Parochialkirchtum entfernt,
dessen Schattenriß am anderen Ufer in aller Klarheit aufragte. »Sieh'
nur,« wiederholte Korinna, »nie hab' ich den Singuhrturm in solcher
Schärfe gesehen. Aber ihn schön finden, wie seit kurzem Mode geworden,
das kann ich doch nicht; er hat so etwas Halbes, Unfertiges, als ob ihm
auf dem Wege nach oben die Kraft ausgegangen wäre. Da bin ich doch mehr
für die zugespitzten, langweiligen Schindeltürme, die nichts wollen als
hoch sein und in den Himmel zeigen.«

Und in demselben Augenblicke, wo Korinna dies sagte, begannen die
Glöckchen drüben ihr Spiel.

»Ach,« sagte Marcell, »sprich doch nicht so von dem Turm und ob er schön
ist oder nicht. Mir ist es gleich und dir auch; das mögen die Fachleute
miteinander ausmachen. Und du sagst das alles nur, weil du von dem
eigentlichen Gespräch los willst. Aber höre lieber zu, was die Glöckchen
drüben spielen. Ich glaube, sie spielen: >Üb' immer Treu' und
Redlichkeit<.«

»Kann sein, und ist nur schade, daß sie nicht auch die berühmte Stelle
von dem Kanadier spielen können, der noch Europens übertünchte
Höflichkeit nicht kannte. So was Gutes bleibt leider immer unkomponiert,
oder vielleicht geht es auch nicht. Aber nun sage mir, Freund, was soll
das alles heißen? Treu' und Redlichkeit. Meinst du wirklich, daß mir die
fehlen? Gegen wen versünd'ge ich mich denn durch Untreue? Gegen dich.
Hab' ich Gelöbnisse gemacht? Hab' ich dir etwas versprochen und das
Versprechen nicht gehalten?«

Marcell schwieg.

»Du schweigst, weil du nichts zu sagen hast. Ich will dir aber noch
allerlei mehr sagen, und dann magst du selber entscheiden, ob ich treu
und redlich oder doch wenigstens aufrichtig bin, was so ziemlich
dasselbe bedeutet.«

»Korinna ...«

»Nein, jetzt will =ich= sprechen, in aller Freundschaft, aber auch in
allem Ernst. Treu und redlich. Nun, ich weiß wohl, daß du treu und
redlich bist, was beiläufig nicht viel sagen will; ich für meine Person
kann dir nur wiederholen, ich bin es auch.«

»Und spielst doch beständig eine Komödie.«

»Nein, das tu' ich nicht. Und =wenn= ich es tue, so doch so, daß es
jeder merken kann. Ich habe mir, nach reiflicher Überlegung, ein
bestimmtes Ziel gesteckt, und wenn ich nicht mit dürren Worten sage
>dies ist mein Ziel<, so unterbleibt das nur, weil es ein Mädchen nicht
kleidet, mit solchen Plänen aus sich herauszutreten. Ich erfreue mich,
dank meiner Erziehung, eines guten Teils von Freiheit, einige werden
vielleicht sagen von Emanzipation, aber trotzdem bin ich durchaus kein
emanzipiertes Frauenzimmer. Im Gegenteil, ich habe gar keine Lust, das
alte Herkommen umzustoßen, alte, gute Sätze, zu denen auch der gehört:
ein Mädchen wirbt nicht, um ein Mädchen =wird= geworben.«

»Gut, gut; alles selbstverständlich ...«

»... Aber freilich, das ist unser altes Evarecht, die großen Wasser
spielen zu lassen und unsere Kräfte zu gebrauchen, bis =das= geschieht,
um dessentwillen wir da sind, mit anderen Worten, bis man um uns wirbt.
Alles gilt diesem Zweck. Du nennst das, je nachdem dir der Sinn steht,
Raketensteigenlassen oder Komödie, mitunter auch Intrige, und immer
Koketterie.«

Marcell schüttelte den Kopf. »Ach, Korinna, du darfst mir darüber keine
Vorlesung halten wollen und zu mir sprechen, als ob ich erst gestern auf
die Welt gekommen wäre. Natürlich hab' ich oft von Komödie gesprochen
und noch öfter von Koketterie. Wovon spricht man nicht alles. Und wenn
man dergleichen hinspricht, so widerspricht man sich auch wohl, und was
man eben noch getadelt hat, das lobt man im nächsten Augenblick. Um's
rund heraus zu sagen, spiele so viel Komödie, wie du willst, sei so
kokett, wie du willst, ich werde doch nicht so dumm sein, die Weiberwelt
und die Welt überhaupt ändern zu wollen, ich will sie wirklich nicht
ändern, auch dann nicht, wenn ich's könnte; nur um eines muß ich dich
angehen, du mußt, wie du dich vorhin ausdrücktest, die großen Wasser an
der rechten Stelle, das heißt also vor den rechten Leuten springen
lassen, vor solchen, wo's paßt, wo's hingehört, wo sich's lohnt. Du
gehst aber mit deinen Künsten nicht an die richtige Adresse, denn du
kannst doch nicht ernsthaft daran denken, diesen Leopold Treibel
heiraten zu wollen?«

»Warum nicht? Ist er zu jung für mich? Nein. Er stammt aus dem Januar
und ich aus dem September; er hat also noch einen Vorsprung von acht
Monaten.«

»Korinna, du weißt ja recht gut, wie's liegt, und daß er einfach für
dich nicht paßt, weil er zu unbedeutend für dich ist. Du bist eine
aparte Person, vielleicht ein bißchen zu sehr, und er ist kaum
Durchschnitt. Ein sehr guter Mensch, das muß ich zugeben, hat ein gutes,
weiches Herz, nichts von dem Kiesel, den die Geldleute sonst hier links
haben, hat auch leidlich weltmännische Manieren und kann vielleicht
einen Dürerschen Stich von einem Ruppiner Bilderbogen unterscheiden,
aber du würdest dich tot langweilen an seiner Seite. Du, deines Vaters
Tochter, und eigentlich noch klüger als der Alte, du wirst doch nicht
dein eigentliches Lebensglück wegwerfen wollen, bloß um in einer Villa
zu wohnen und einen Landauer zu haben, der dann und wann ein paar alte
Hofdamen abholt, oder um Adolar Krolas ramponierten Tenor alle vierzehn
Tage den >Erlkönig< singen zu hören. Es ist nicht möglich, Korinna; du
wirst dich doch, wegen solchen Bettels von Mammon, nicht einem
unbedeutenden Menschen an den Hals werfen wollen.«

»Nein, Marcell, das letztere gewiß nicht; ich bin nicht für
Zudringlichkeiten. Aber wenn Leopold morgen bei meinem Vater antritt --
denn ich fürchte beinah', daß er noch zu denen gehört, die sich, statt
der Hauptperson, erst der Nebenpersonen versichern -- wenn er also
morgen antritt und um diese rechte Hand deiner Kusine Korinna anhält, so
nimmt ihn Korinna und fühlt sich als _Corinne au Capitole_.«

»Das ist nicht möglich; du täuschest dich, du spielst mit der Sache. Es
ist eine Phantasterei, der du nach deiner Art nachhängst.«

»Nein, Marcell, du täuschest dich, nicht ich; es ist mein vollkommener
Ernst, so sehr, daß ich ein ganz klein wenig davor erschrecke.«

»Das ist dein Gewissen.«

»Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Aber so viel will ich dir ohne
weiteres zugeben, =das=, wozu der liebe Gott mich so recht eigentlich
schuf, das hat nichts zu tun mit einem Treibelschen Fabrikgeschäft, oder
mit einem Holzhof und vielleicht am wenigsten mit einer Hamburger
Schwägerin. Aber ein Hang nach Wohlleben, der jetzt alle Welt
beherrscht, hat mich auch in der Gewalt, ganz so wie alle anderen, und
so lächerlich und verächtlich es in deinem Oberlehrers Ohre klingen mag,
ich halt' es mehr mit Bonwitt und Littauer als mit einer kleinen
Schneiderin, die schon um acht Uhr früh kommt und eine merkwürdige Hof-
und Hinterstubenatmosphäre mit ins Haus bringt, und zum zweiten
Frühstück ein Brötchen mit Schlackwurst und vielleicht auch einen Gilka
kriegt. Das alles widersteht mir im höchsten Maße; je weniger ich davon
sehe, desto besser. Ich find' es ungemein reizend, wenn so die kleinen
Brillanten im Ohre blitzen, etwa wie bei meiner Schwiegermama _in spe_
... >Sich einschränken<, ach, ich kenne das Lied, das immer gesungen und
immer gepredigt wird, aber wenn ich bei Papa die dicken Bücher abstäube,
drin niemand hineinsieht, auch er selber nicht, und wenn dann die
Schmolke sich abends auf mein Bett setzt und mir von ihrem verstorbenen
Manne, dem Schutzmann, erzählt, und daß er, wenn er noch lebte, jetzt
ein Revier hätte, denn Madai hätte große Stücke auf ihn gehalten, und
wenn sie dann zuletzt sagt: >Aber Korinnchen, ich habe ja noch gar nicht
mal gefragt, was wir morgen essen wollen? ... Die Teltower sind jetzt so
schlecht und eigentlich alle schon madig, und ich möchte dir
vorschlagen, Wellfleisch und Wruken, das aß Schmolke auch immer so gern<
-- ja, Marcell, in solchem Augenblicke wird mir immer ganz sonderbar zu
Mut, und Leopold Treibel erscheint mir dann mit einem Male als der
Rettungsanker meines Lebens, oder wenn du willst, wie das aufzusetzende
große Marssegel, das bestimmt ist, mich bei gutem Wind an ferne
glückliche Küsten zu führen.«

»Oder wenn es stürmt, dein Lebensglück zum Scheitern zu bringen.«

»Warten wir's ab, Marcell.«

Und bei diesen Worten bogen sie, von der Alten Leipziger Straße her, in
Raules Hof ein, von dem aus ein kleiner Durchgang in die Adlerstraße
führte.




Sechstes Kapitel


Um dieselbe Stunde, wo man sich bei Treibels vom Diner erhob, begann
Professor Schmidts »Abend«. Dieser Abend, auch wohl Kränzchen genannt,
versammelte, wenn man vollzählig war, um einen runden Tisch und eine mit
einem roten Schleier versehene Moderateurlampe sieben Gymnasiallehrer,
von denen die meisten den Professortitel führten. Außer unserm Freunde
Schmidt waren es noch folgende: Friedrich Distelkamp, emeritierter
Gymnasialdirektor, Senior des Kreises; nach ihm die Professoren
Rindfleisch und Hannibal Kuh, zu welchen beiden sich noch Oberlehrer
Immanuel Schultze gesellte, sämtlich vom Großen Kurfürsten-Gymnasium.
Den Schluß machte Dr. Charles Etienne, Freund und Studiengenosse
Marcells, zurzeit französischer Lehrer an einem vornehmen
Mädchenpensionat, und endlich Zeichenlehrer Friedeberg, dem, vor ein
paar Jahren erst -- niemand wußte recht, warum und woher -- der die
Mehrheit des Kreises auszeichnende Professortitel angeflogen war,
übrigens ohne sein Ansehen zu heben. Er wurde vielmehr, nach wie vor,
für nicht ganz voll angesehen, und eine Zeitlang war aufs ernsthafteste
die Rede davon gewesen, ihn, wie sein Hauptgegner Immanuel Schultze
vorgeschlagen, aus ihrem Kreise »herauszugraulen«, was unser Wilibald
Schmidt indessen mit der Bemerkung bekämpft hatte, daß Friedeberg,
trotz seiner wissenschaftlichen Nichtzugehörigkeit, eine nicht zu
unterschätzende Bedeutung für ihren »Abend« habe. »Seht, lieben
Freunde,« so etwa waren seine Worte gewesen, »wenn wir unter uns sind,
so folgen wir unseren Auseinandersetzungen eigentlich immer nur aus
Rücksicht und Artigkeit und leben dabei mehr oder weniger der
Überzeugung, alles, was seitens des anderen gesagt wurde, =viel= besser
oder -- wenn wir bescheiden sind -- wenigstens ebensogut sagen zu
können. Und das lähmt immer. Ich für mein Teil wenigstens bekenne offen,
daß ich, wenn ich mit meinem Vortrage gerade an der Reihe war, das
Gefühl eines gewissen Unbehagens, ja zuzeiten einer geradezu
hochgradigen Beklemmung nie ganz los geworden bin. Und in einem so
bedrängten Augenblicke seh' ich dann unsern immer zu spät kommenden
Friedeberg eintreten, verlegen lächelnd natürlich, und empfinde sofort,
wie meiner Seele die Flügel wieder wachsen; ich spreche freier,
intuitiver, klarer, denn ich habe wieder ein Publikum, wenn auch nur
ein ganz kleines. =Ein= andächtiger Zuhörer, anscheinend so wenig, ist
doch schon immer was und mitunter sogar sehr viel.« Auf diese warme
Verteidigung Wilibald Schmidts hin war Friedeberg dem Kreise verblieben.
Schmidt durfte sich überhaupt als die Seele des Kränzchens betrachten,
dessen Namensgebung: »Die sieben Weisen Griechenlands« ebenfalls auf
ihn zurückzuführen war. Immanuel Schultze, meist in der Opposition
und außerdem ein Gottfried Keller-Schwärmer, hatte seinerseits »Das
Fähnlein der sieben Aufrechten« vorgeschlagen, war aber damit nicht
durchgedrungen, weil, wie Schmidt betonte, diese Bezeichnung einer
Entlehnung gleichgekommen wäre. »Die sieben Weisen« klängen freilich
ebenfalls entlehnt, aber das sei bloß Ohr- und Sinnestäuschung; das
»a«, worauf es recht eigentlich ankomme, verändere nicht nur mit einem
Schlage die ganze Situation, sondern erziele sogar den denkbar höchsten
Standpunkt, den der Selbstironie.

Wie sich von selbst versteht, zerfiel die Gesellschaft, wie
jede Vereinigung derart, in fast ebenso viele Parteien, wie sie
Mitglieder zählte, und nur dem Umstande, daß die drei vom Großen
Kurfürsten-Gymnasium, außer der Zusammengehörigkeit, die diese
gemeinschaftliche Stellung gab, auch noch verwandt und verschwägert
waren (Kuh war Schwager, Immanuel Schultze Schwiegersohn von
Rindfleisch), nur diesem Umstande war es zuzuschreiben, daß die vier
anderen, und zwar aus einer Art Selbsterhaltungstrieb, ebenfalls eine
Gruppe bildeten und bei Beschlußfassungen meist zusammengingen.
Hinsichtlich Schmidts und Distelkamps konnte dies nicht weiter
überraschen, da sie von alter Zeit her Freunde waren, zwischen Etienne
und Friedeberg aber klaffte für gewöhnlich ein tiefer Abgrund, der sich
ebenso sehr in ihrer voneinander abweichenden Erscheinung, wie in ihren
verschiedenen Lebensgewohnheiten aussprach. Etienne, sehr elegant,
versäumte nie, während der großen Ferien mit Nachurlaub nach Paris zu
gehen, während sich Friedeberg, angeblich um seiner Malstudien willen,
auf die Woltersdorfer Schleuse (die landschaftlich unerreicht dastände)
zurückzog. Natürlich war dies alles nur Vorgabe. Der wirkliche Grund war
der, daß Friedeberg, bei ziemlich beschränkter Finanzlage, nach dem
erreichbar nächstliegenden griff und überhaupt Berlin nur verließ, um
von seiner Frau -- mit der er seit Jahren immer dicht vor der Scheidung
stand -- auf einige Wochen loszukommen. In einem sowohl die Handlungen
wie die Worte seiner Mitglieder kritischer prüfenden Kreise hätte diese
Finte notwendig verdrießen müssen, indessen Offenheit und Ehrlichkeit im
Verkehr mit- und untereinander war keineswegs ein hervorstechender Zug
der sieben »Weisen«, eher das Gegenteil. So versicherte beispielsweise
jeder, »ohne den >Abend< eigentlich nicht leben zu können«, was in
Wahrheit nicht ausschloß, daß immer nur =die= kamen, die nichts Besseres
vorhatten. Theater und Skat gingen weit vor und sorgten dafür, daß
Unvollständigkeit der Versammlung die Regel war und nicht mehr auffiel.

Heute aber schien es sich schlimmer als gewöhnlich gestalten zu wollen.
Die Schmidtsche Wanduhr, noch ein Erbstück vom Großvater her, schlug
bereits halb, halb neun, und noch war niemand da außer Etienne, der, wie
Marcell, zu den Intimen des Hauses zählend, kaum als Gast und Besuch
gerechnet wurde.

»Was sagst du, Etienne,« wandte sich jetzt Schmidt an diesen, »was sagst
du zu dieser Saumseligkeit? Wo bleibt Distelkamp? Wenn auch auf =den=
kein Verlaß mehr ist (>die Douglas waren immer treu<), so geht der
>Abend< aus den Fugen, und ich werde Pessimist und nehme für den Rest
meiner Tage Schopenhauer und Eduard von Hartmann untern Arm.«

Während er noch so sprach, ging draußen die Klingel, und einen
Augenblick später trat Distelkamp ein.

»Entschuldige, Schmidt, ich habe mich verspätet. Die Details erspar' ich
dir und unserem Freunde Etienne. Auseinandersetzungen, weshalb man zu
spät kommt, selbst wenn sie wahr, sind nicht viel besser als
Krankengeschichten. Also lassen wir's. Inzwischen bin ich überrascht,
trotz meiner Verspätung immer noch der eigentlich erste zu sein. Denn
Etienne gehört ja so gut wie zur Familie. Die Großen Kurfürstlichen
aber! Wo sind sie? Nach Kuh und unserm Freunde Immanuel frag' ich nicht
erst, die sind bloß ihres Schwagers und Schwiegervaters Klientel.
Rindfleisch selbst aber -- wo steckt er?«

»Rindfleisch hat abgeschrieben; er sei heut' in der >Griechischen<.«

»Ach, das ist Torheit. Was will er in der Griechischen? Die sieben
Weisen gehen vor. Er findet hier wirklich mehr.«

»Ja, das sagst du so, Distelkamp. Aber es liegt doch wohl anders.
Rindfleisch hat nämlich ein schlechtes Gewissen, ich könnte vielleicht
sagen: mal wieder ein schlechtes Gewissen.«

»Dann gehört er erst recht hierher; hier kann er beichten. Aber um was
handelt es sich denn eigentlich? was ist es?«

»Er hat da mal wieder einen Schwupper gemacht, irgendwas verwechselt,
ich glaube Phrynichos den Tragiker mit Phrynichos dem Lustspieldichter.
War es nicht so, Etienne? (dieser nickte) und die Sekundaner haben nun
mit lirum larum einen Vers auf ihn gemacht ...«

»Und?«

»Und da gilt es denn, die Scharte so gut es geht, wieder auszuwetzen,
wozu die >Griechische< mit dem Lustre, das sie gibt, das immerhin beste
Mittel ist.«

Distelkamp, der sich mittlerweile seinen Meerschaum angezündet und in
die Sofaecke gesetzt hatte, lächelte bei der ganzen Geschichte behaglich
vor sich hin und sagte dann: »Alles Schnack. Glaubst du's? Ich nicht.
Und wenn es zuträfe, so bedeutet es nicht viel, eigentlich gar nichts.
Solche Schnitzer kommen immer vor, passieren jedem. Ich will dir mal was
erzählen, Schmidt, was, als ich noch jung war und in Quarta
brandenburgische Geschichte vortragen mußte -- was damals, sag' ich,
einen großen Eindruck auf mich machte.«

»Nun, laß hören. Was war's?«

»Ja, was war's. Offen gestanden, meine Wissenschaft, zum wenigsten,
was unser gutes Kurbrandenburg anging, war nicht weit her, ist es auch
jetzt noch nicht, und als ich so zu Hause saß und mich notdürftig
vorbereitete, da las ich -- denn wir waren gerade beim ersten
König -- allerhand Biographisches und darunter auch was vom alten
General Barfus, der, wie die meisten damaligen, das Pulver nicht
erfunden hatte, sonst aber ein kreuzbraver Mann war. Und dieser Barfus
präsidierte, während der Belagerung von Bonn, einem Kriegsgericht, drin
über einen jungen Offizier abgeurteilt werden sollte.«

»So, so. Nun, was war es denn?«

»Der Abzuurteilende hatte sich, das mindeste zu sagen, etwas unheldisch
benommen, und alle waren für schuldig und totschießen. Nur der alte
Barfus wollte nichts davon wissen und sagte: »Drücken wir ein Auge zu,
meine Herren. Ich habe dreißig Renkontres mitgemacht, und ich muß Ihnen
sagen, ein Tag ist nicht wie der andere, und der Mensch ist ungleich und
das Herz auch und der Mut erst recht. Ich habe mich manches Mal auch
feige gefühlt. Solange es geht, muß man Milde walten lassen, denn jeder
kann sie brauchen.«

»Höre, Distelkamp,« sagte Schmidt, »das ist eine gute Geschichte, dafür
dank' ich dir, und so alt ich bin, =die= will ich mir doch hinter die
Ohren schreiben. Denn weiß es Gott, ich habe mich auch schon blamiert,
und wiewohl es die Jungens nicht bemerkt haben, wenigstens ist mir
nichts aufgefallen, so hab' ich es doch selber bemerkt und mich
hinterher riesig geärgert und geschämt. Nicht wahr, Etienne, so was ist
immer fatal; oder kommt es im Französischen nicht vor, wenigstens dann
nicht, wenn man alle Juli nach Paris reist und einen neuen Band
Maupassant mit heimbringt? Das ist ja wohl jetzt das Feinste? Verzeih'
die kleine Malice. Rindfleisch ist überdies ein kreuzbraver Kerl, _nomen
et omen_, und eigentlich der beste, besser als Kuh und namentlich besser
als unser Freund Immanuel Schultze. Der hat's hinter den Ohren und ist
ein Schlieker. Er grient immer und gibt sich das Ansehen, als ob er dem
Bilde zu Sais irgendwie und -wo unter den Schleier geguckt hätte, wovon
er weit ab ist. Denn er löst nicht mal das Rätsel von seiner eigenen
Frau, an der manches verschleierter oder auch nicht verschleierter sein
soll, als ihm, dem Ehesponsen, lieb sein kann.«

»Schmidt, du hast heute wieder mal deinen medisanten Tag. Eben hab' ich
den armen Rindfleisch aus deinen Fängen gerettet, ja, du hast sogar
Besserung versprochen, und schon stürzest du dich wieder auf den
unglücklichen Schwiegersohn. Im übrigen, wenn ich an Immanuel etwas
tadeln sollte, so läge es nach einer ganz andern Seite hin.«

»Und das wäre?«

»Daß er keine Autorität hat. Wenn er sie zu Hause nicht hat, nun,
traurig genug. Indessen das geht uns nichts an. Aber daß er sie, nach
allem was ich höre, auch in der Klasse nicht hat, =das= ist schlimm.
Sieh', Schmidt, das ist die Kränkung und der Schmerz meiner letzten
Lebensjahre, daß ich den kategorischen Imperativ immer mehr hinschwinden
sehe. Wenn ich da an den alten Weber denke! Von dem heißt es, wenn er in
die Klasse trat, so hörte man den Sand durch das Stundenglas fallen, und
kein Primaner wußte mehr, daß es überhaupt möglich sei zu flüstern oder
gar vorzusagen. Und außer seinem eigenen Sprechen, ich meine Webers, war
nichts hörbar als das Knistern, wenn die Horaz-Seiten umgeblättert
wurden. Ja Schmidt, =das= waren Zeiten, da verlohnte sich's ein, Lehrer
und ein Direktor zu sein. Jetzt treten die Jungens in der Konditorei an
einen heran und sagen: »Wenn Sie gelesen haben, Herr Direktor, dann
bitt' ich ...«

Schmidt lachte. »Ja, Distelkamp, so sind sie jetzt, das ist die neue
Zeit, das ist wahr. Aber ich kann mich nicht darüber ägrieren. Wie waren
denn, bei Lichte besehen, die großen Würdenträger mit ihrem Doppelkinn
und ihren Pontacnasen? Schlemmer waren es, die den Burgunder viel besser
kannten als den Homer. Da wird immer von alten einfachen Zeiten geredet;
dummes Zeug! sie müssen ganz gehörig gepichelt haben, das sieht man noch
an ihren Bildern in der Aula. Nun ja, Selbstbewußtsein und eine
steifleinene Grandezza, das alles hatten sie, das soll ihnen zugestanden
sein. Aber wie sah es sonst aus?«

»Besser als heute.«

»Kann ich nicht finden, Distelkamp. Als ich noch unsere Schulbibliothek
unter Aufsicht hatte, Gott sei Dank, daß ich nichts mehr damit zu tun
habe, da hab' ich öfter in die Schulprogramme hineingeguckt und in die
Dissertationen und »Aktusse«, wie sie vordem in Schwang waren. Nun, ich
weiß wohl, jede Zeit denkt, sie sei was besonderes, und die, die kommen,
mögen meinetwegen auch über uns lachen; aber sieh', Distelkamp, vom
gegenwärtigen Standpunkt unseres Wissens, oder sag' ich auch bloß
unseres Geschmacks aus, darf doch am Ende gesagt werden, es war etwas
Furchtbares mit dieser Perückengelehrsamkeit, und die stupende
Wichtigkeit, mit der sie sich gab, kann uns nur noch erheitern. Ich weiß
nicht, unter wem es war, ich glaube unter Rodegast, da kam es in Mode --
vielleicht weil er persönlich einen Garten vorm Rosenthaler hatte -- die
Stoffe für die öffentlichen Reden und ähnliches aus der Gartenkunde zu
nehmen, und sieh', da hab' ich Dissertationen gelesen über das
Hortikulturliche des Paradieses, über die Beschaffenheit des Gartens zu
Gethsemaneh und über die mutmaßlichen Anlagen im Garten des Joseph von
Arimathia. Garten und immer wieder Garten. Nun, was sagst du dazu?«

»Ja, Schmidt, mit dir ist schlecht fechten. Du hast immer das Auge für
das Komische gehabt. Das greifst du nun heraus, spießest es auf deine
Nadel und zeigst es der Welt. Aber was daneben lag und viel richtiger
war, das lässest du liegen. Du hast schon sehr richtig hervorgehoben,
daß man über unsere Lächerlichkeiten auch lachen wird. Und wer bürgt uns
dafür, daß wir nicht jeden Tag in Untersuchungen eintreten, die noch
viel toller sind als die hortikulturlichen Untersuchungen über das
Paradies. Lieber Schmidt, das Entscheidende bleibt doch immer der
Charakter, nicht der eitle, wohl aber der gute ehrliche Glaube an uns
selbst. _Bona fide_ müssen wir vorgehen. Aber mit unserer ewigen Kritik,
eventuell auch Selbstkritik, geraten wir in eine _mala fides_ hinein und
mißtrauen uns selbst und dem, was wir zu sagen haben. Und ohne Glauben
an uns und unsere Sache, keine rechte Lust und Freudigkeit und auch kein
Segen, am wenigsten Autorität. Und das ist es, was ich beklage. Denn wie
kein Heerwesen ohne Disziplin, so kein Schulwesen ohne Autorität. Es ist
damit wie mit dem Glauben. Es ist nicht nötig, daß das Richtige geglaubt
wird, aber daß überhaupt geglaubt wird, darauf kommt es an. In jedem
Glauben stecken geheimnisvolle Kräfte und ebenso in der Autorität.«

Schmidt lächelte. »Distelkamp, ich kann da nicht mit. Ich kann's in der
Theorie gelten lassen, aber in der Praxis ist es bedeutungslos geworden.
Gewiß kommt es auf das Ansehen vor den Schülern an. Wir gehen nur darin
auseinander, aus welcher Wurzel das Ansehen kommen soll. Du willst alles
auf den Charakter zurückführen und denkst, wenn du es auch nicht
aussprichst: >Und wenn Ihr Euch nur selbst vertraut, vertrauen Euch auch
die anderen Seelen.< Aber, teurer Freund, das ist just das, was ich
bestreite. Mit dem bloßen Glauben an sich oder gar, wenn du den Ausdruck
gestattest, mit der geschwollenen Wichtigtuerei, mit der Pomposität ist
es heutzutage nicht mehr getan. An die Stelle dieser veralteten Macht
ist die reelle Macht des wirklichen Wissens und Könnens getreten, und du
brauchst nur Umschau zu halten, so wirst du jeden Tag sehen, daß
Professor Hammerstein, der bei Spichern mit gestürmt und eine gewisse
Premierleutnantshaltung von daher beibehalten hat, daß Hammerstein, sag'
ich, seine Klasse =nicht= regiert, während unser Agathon Knurzel, der
aussieht, wie Mr. Punch und einen Doppelpuckel, aber freilich auch einen
Doppelgrips hat, die Klasse mit seinem kleinen Raubvogelgesicht in der
Furcht des Herrn hält. Und nun besonders unsere Berliner Jungens, die
gleich weg haben, wie schwer einer wiegt. Wenn einer von den Alten aus
dem Grabe käme, mit Stolz und Hoheit angetan, und eine hortikulturelle
Beschreibung des Paradieses forderte, wie würde der fahren mit all
seiner Würde? Drei Tage später wär' er im Kladderadatsch, und die
Jungens selber hätten das Gedicht gemacht.«

»Und doch bleibt es dabei, Schmidt, mit den Traditionen der alten Schule
steht und fällt die höhere Wissenschaft.«

»Ich glaub' es nicht. Aber wenn es wäre, wenn die höhere Weltanschauung,
d. h. das, was wir so nennen, wenn das alles fallen müßte, nun, so laß
es fallen. Schon Attinghausen, der doch selber alt war, sagte: >Das Alte
stürzt, es ändert sich die Zeit.< Und wir stehen sehr stark vor solchem
Umwandlungsprozeß, oder richtiger, wir sind schon drin. Muß ich dich
daran erinnern, es gab eine Zeit, wo das Kirchliche Sache der
Kirchenleute war. Ist es noch so? Nein. Hat die Welt verloren? Nein. Es
ist vorbei mit den alten Formen, und auch unsere Wissenschaftlichkeit
wird davon keine Ausnahme machen. Sieh' hier ...« und er schleppte von
einem kleinen Nebentisch ein großes Prachtwerk herbei ... »sieh' hier
=das=. Heute mir zugeschickt, und ich werd' es behalten, so teuer es
ist. Heinrich Schliemanns Ausgrabungen zu Mykenä. Ja, Distelkamp, wie
stehst du dazu?«

»Zweifelhaft genug.«

»Kann ich mir denken. Weil du von den alten Anschauungen nicht los
willst. Du kannst dir nicht vorstellen, daß jemand, der Tüten geklebt
und Rosinen verkauft hat, den alten Priamus ausbuddelt, und kommt er nun
gar ins Agamemnonsche hinein und sucht nach dem Schädelriß, aegisthschen
Angedenkens, so gerätst du in helle Empörung. Aber ich kann mir nicht
helfen, du hast unrecht. Freilich, man muß was leisten, _hic Rhodus, hic
salta_, aber wer springen kann, der springt, gleichviel ob er's aus der
Georgia Augusta- oder aus der Klippschule hat. Im übrigen will ich
abbrechen; am wenigsten hab' ich Lust, dich mit Schliemann zu ärgern,
der von Anfang an deine Renonce war. Die Bücher liegen hier bloß wegen
Friedeberg, den ich der beigegebenen Zeichnungen halber fragen will. Ich
begreife nicht, daß er nicht kommt, oder richtiger, nicht schon da ist.
Denn daß er kommt, ist unzweifelhaft, er hätte sonst abgeschrieben,
artiger Mann, der er ist.«

»Ja, das ist er,« sagte Etienne, »das hat er noch aus dem Semitismus mit
rübergenommen.«

»Sehr wahr,« fuhr Schmidt fort, »aber wo er's her hat, ist am Ende
gleichgültig. Ich bedauere mitunter, Urgermane, der ich bin, daß wir
nicht auch irgendwelche Bezugsquelle für ein bißchen Schliff und
Politesse haben; es braucht ja nicht gerade dieselbe zu sein. Diese
schreckliche Verwandtschaft zwischen Teutoburger Wald und Grobheit ist
doch mitunter störend. Friedeberg ist ein Mann, der, wie Max Piccolomini
-- sonst nicht gerade sein Vorbild, auch nicht mal in der Liebe -- der
»Sitten Freundlichkeit« allerzeit kultiviert hat, und es bleibt
eigentlich nur zu beklagen, daß seine Schüler nicht immer das richtige
Verständnis dafür haben. Mit andern Worten, sie spielen ihm auf der
Nase ...«

»Das uralte Schicksal der Schreib- und Zeichenlehrer ...«

»Freilich. Und am Ende muß es auch so gehen und geht auch. Aber lassen
wir die heikle Frage. Laß mich lieber auf Mykenä zurückkommen und sage
mir deine Meinung über die Goldmasken. Ich bin sicher, wir haben da ganz
was besonderes, so das recht eigentlichste. Jeder Beliebige kann doch
nicht bei seiner Bestattung eine Goldmaske getragen haben, doch immer
nur die Fürsten, also mit höchster Wahrscheinlichkeit Orests und
Iphigeniens unmittelbare Vorfahren. Und wenn ich mir dann vorstelle, daß
diese Goldmasken genau nach dem Gesicht geformt wurden, gerade wie wir
jetzt eine Gips- oder Wachsmaske formen, so hüpft mir das Herz bei der
doch mindestens zulässigen Idee, daß =dies= hier« -- und er wies auf
eine aufgeschlagene Bildseite -- »daß dies hier das Gesicht des Atreus
ist oder seines Vaters oder seines Onkels ...«

»Sagen wir seines Onkels.«

»Ja, du spottest wieder, Distelkamp, trotzdem du mir doch selber den
Spott verboten hast. Und das alles bloß, weil du der ganzen Sache
mißtraust und nicht vergessen kannst, daß er, ich meine natürlich
Schliemann, in seinen Schuljahren über Strelitz und Fürstenberg nicht
raus gekommen ist. Aber lies nur, was Virchow von ihm sagt. Und Virchow
wirst du doch gelten lassen.«

In diesem Augenblicke hörte man draußen die Klingel gehen. »Ah, _lupus
in fabula_. Das ist er. Ich wußte, daß er uns nicht im Stiche lassen
würde ...«

Und kaum, daß Schmidt diese Worte gesprochen, trat Friedeberg auch schon
herein, und ein reizender schwarzer Pudel, dessen rote Zunge,
wahrscheinlich von angestrengtem Laufe, weit heraushing, sprang auf die
beiden alten Herren zu und umschmeichelte abwechselnd Schmidt und
Distelkamp. An Etienne, der ihm zu elegant war, wagte er sich nicht
heran.

»Aber alle Wetter, Friedeberg, wo kommen Sie so spät her?«

»Freilich, freilich und sehr zu meinem Bedauern. Aber der Fips hier
treibt es zu arg oder geht in seiner Liebe zu mir zu weit, wenn ein
Zuweitgehen in der Liebe überhaupt möglich ist. Ich bildete mir ein, ihn
eingeschlossen zu haben, und mache mich zu rechter Zeit auf den Weg.
Gut. Und nun denken Sie, was geschieht? Als ich hier ankomme, wer ist
da, wer wartet auf mich? Natürlich Fips. Ich bring ihn wieder zurück bis
in meine Wohnung und übergeb' ihn dem Portier, meinem guten Freunde --
man muß in Berlin eigentlich sagen, meinem Gönner. Aber, aber, was ist
das Resultat all meiner Anstrengungen und guten Worte? Kaum bin ich
wieder hier, so ist auch Fips wieder da. Was sollt' ich am Ende machen?
Ich hab' ihn wohl oder übel mit hereingebracht, und bitt' um
Entschuldigung für ihn und für mich.«

»Hat nichts auf sich«, sagte Schmidt, während er sich zugleich
freundlich mit dem Hunde beschäftigte. »Reizendes Tier und so zutunlich
und fidel. Sagen Sie, Friedeberg, wie schreibt er sich eigentlich? f
oder ph? Phips mit ph ist englisch, also vornehmer. Im übrigen ist er,
wie seine Rechtschreibung auch sein möge, für heute abend mit eingeladen
und ein durchaus willkommener Gast, vorausgesetzt, daß er nichts dagegen
hat, in der Küche sozusagen am Trompetertisch Platz zu nehmen. Für meine
gute Schmolke bürge ich. Die hat eine Vorliebe für Pudel, und wenn sie
nun gar von seiner Treue hört ...«

»So wird sie«, warf Distelkamp ein, »ihm einen Extrazipfel schwerlich
versagen.«

»Gewiß nicht. Und darin stimme ich meiner guten Schmolke von Herzen bei.
Denn die Treue, von der heutzutage jeder red't, wird in Wahrheit immer
rarer, und Fips predigt in seiner Stadtgegend, so viel ich weiß,
umsonst.«

Diese von Schmidt anscheinend leicht und wie im Scherze hingesprochenen
Worte richteten sich doch ziemlich ernsthaft an den sonst gerade von ihm
protegierten Friedeberg, dessen stadtkundig unglückliche Ehe, neben
anderem, auch mit einem entschiedenen Mangel an Treue, besonders während
seiner Mal- und Landschaftsstudien auf der Woltersdorfer Schleuse
zusammenhing. Friedeberg fühlte den Stich auch sehr wohl heraus und
wollte sich durch eine Verbindlichkeit gegen Schmidt aus der Affäre
ziehen, kam aber nicht dazu, weil in eben diesem Augenblicke die
Schmolke eintrat und unter einer Verbeugung gegen die anderen Herren
ihrem Professor ins Ohr flüsterte, »daß angerichtet sei«.

»Nun, lieben Freunde, dann bitt' ich ...« Und Distelkamp an der Hand
nehmend, schritt er, unter Passierung des Entrees, auf das
Gesellschaftszimmer zu, drin die Abendtafel gedeckt war. Ein
eigentliches Eßzimmer hatte die Wohnung nicht. Friedeberg und Etienne
folgten.




Siebentes Kapitel


Das Zimmer war dasselbe, in welchem Korinna, am Tage zuvor, den Besuch
der Kommerzienrätin empfangen hatte. Der mit Lichtern und Weinflaschen
gut besetzte Tisch stand, zu vieren gedeckt, in der Mitte; darüber hing
eine Hängelampe. Schmidt setzte sich mit dem Rücken gegen den
Fensterpfeiler, seinem Freunde Friedeberg gegenüber, der seinerseits,
von seinem Platz aus zugleich den Blick in den Spiegel hatte. Zwischen
den blanken Messingleuchtern standen ein Paar auf einem Basar gewonnene
Porzellanvasen, aus deren halbgezahnter, halb wellenförmiger Öffnung --
_dentatus et undulatus_, sagte Schmidt -- kleine Marktsträuße von
Goldlack und Vergißmeinnicht hervorwuchsen. Quer vor den Weingläsern
lagen lange Kümmelbrote, denen der Gastgeber, wie allem Kümmlichen, eine
ganz besondere Fülle gesundheitlicher Gaben zuschrieb.

Das eigentliche Gericht fehlte noch, und Schmidt, nachdem er sich von
dem statutarisch festgesetzten Trarbacher bereits zweimal eingeschenkt,
auch beide Knusperspitzen von seinem Kümmelbrötchen abgebrochen hatte,
war ersichtlich auf dem Punkte, starke Spuren von Mißstimmung und
Ungeduld zu zeigen, als sich endlich die zum Entree führende Tür auftat,
und die Schmolke, rot von Erregung und Herdfeuer, eintrat, eine mächtige
Schüssel mit Oderkrebsen vor sich her tragend. »Gott sei Dank,« sagte
Schmidt, »ich dachte schon, alles wäre den Krebsgang gegangen,« eine
unvorsichtige Bemerkung, die die Kongestionen der Schmolke nur noch
steigerte, das Maß ihrer guten Laune aber ebensosehr sinken ließ.
Schmidt, seinen Fehler rasch erkennend, war kluger Feldherr genug, durch
einige Verbindlichkeiten die Sache wieder auszugleichen. Freilich nur
mit halbem Erfolg.

Als man wieder allein war, unterließ es Schmidt nicht, sofort den
verbindlichen Wirt zu machen. Natürlich auf seine Weise. »Sieh',
Distelkamp, dieser hier ist für dich. Er hat eine große und eine kleine
Schere, und das sind immer die besten. Es gibt Spiele der Natur, die
mehr sind als bloßes Spiel und dem Weisen als Wegweiser dienen; dahin
gehören beispielsweise die Pontac-Apfelsinen und die Borstorfer mit
einer Pocke. Denn es steht fest, je pockenreicher, desto schöner ... Was
wir hier vor uns haben, sind Oderbruchkrebse; wenn ich recht berichtet
bin, aus der Küstriner Gegend. Es scheint, daß durch die Vermählung von
Oder und Warthe besonders gute Resultate vermittelt werden. Übrigens,
Friedeberg, sind Sie nicht eigentlich da zu Haus? Ein halber Neumärker
oder Oderbrücher.« Friedeberg bestätigte. »Wußt' es; mein Gedächtnis
täuscht mich selten. Und nun sagen Sie, Freund, ist dies, nach Ihren
persönlichen Erfahrungen, mutmaßlich als streng lokale Produktion
anzusehen, oder ist es mit den Oderbruchkrebsen wie mit den Werderschen
Kirschen, deren Gewinnungsgebiet sich nächstens über die ganze Provinz
Brandenburg erstrecken wird?«

»Ich glaube doch,« sagte Friedeberg, während er durch eine geschickte,
durchaus den Virtuosen verratende Gabelwendung, einen weiß und rosa
schimmernden Krebsschwanz aus seiner Stachelschale hob, »ich glaube
doch, daß hier ein Segeln unter zuständiger Flagge stattfindet, und daß
wir auf dieser Schüssel wirkliche Oderkrebse vor uns haben, echteste
Ware, nicht bloß dem Namen nach, sondern auch _de facto_.«

»_De facto_«, wiederholte der in Friedebergs Latinität eingeweihte
Schmidt, unter behaglichem Schmunzeln.

Friedeberg aber fuhr fort: »Es werden nämlich, um Küstrin herum, immer
noch Massen gewonnen, trotzdem es nicht mehr das ist, was es war. Ich
habe selbst noch Wunderdinge davon gesehen, aber freilich nicht in
Vergleich zu dem, was die Leute von alten Zeiten her erzählten. Damals,
vor hundert Jahren, oder vielleicht auch noch länger, gab es so viele
Krebse, daß sie durchs ganze Bruch hin, wenn sich im Mai das
Überschwemmungswasser wieder verlief, von den Bäumen geschüttelt wurden,
zu vielen Hunderttausenden.«

»Dabei kann einem ja ordentlich das Herz lachen«, sagte Etienne, der ein
Feinschmecker war.

»Ja, hier an diesem Tisch; aber dort in der Gegend lachte man nicht
darüber. Die Krebse waren wie eine Plage, natürlich ganz entwertet, und
bei der dienenden Bevölkerung, die damit geatzt werden sollte, so
verhaßt und dem Magen der Leute so widerwärtig, daß es verboten war, dem
Gesinde mehr als dreimal wöchentlich Krebse vorzusetzen. Ein Schock
Krebse kostete einen Pfennig.«

»Ein Glück, daß das die Schmolke nicht hört,« warf Schmidt ein, »sonst
würd' ihr ihre Laune zum zweitenmal verdorben. Als richtige Berlinerin
ist sie nämlich für ewiges sparen, und ich glaube nicht, daß sie die
Tatsache ruhig verwinden würde, die Epoche von >ein Pfennig pro Schock<
so total versäumt zu haben.«

»Darüber darfst du nicht spotten, Schmidt«, sagte Distelkamp. »Das ist
eine Tugend, die der modernen Welt, neben vielem anderen, immer mehr
verloren geht.«

»Ja, da sollst du recht haben. Aber meine gute Schmolke hat doch auch in
diesem Punkte _les défauts de ses vertus_. So heißt es ja wohl,
Etienne?«

»Gewiß«, sagte dieser. Von der George Sand. Und fast ließe sich sagen
>_les défauts de ses vertus_< und >_comprendre c'est pardonner_< -- das
sind so recht eigentlich die Sätze, wegen deren sie gelebt hat.«

»Und dann vielleicht auch von wegen dem Alfred de Musset«, ergänzte
Schmidt, der nicht gern eine Gelegenheit vorübergehen ließ, sich, aller
Klassizität unbeschadet, auch ein modernliterarisches Ansehen zu geben.

»Ja, wenn man will, auch von wegen dem Alfred de Musset. Aber das sind
Dinge, daran die Literaturgeschichte glücklicherweise vorübergeht.«

»Sage das nicht, Etienne, nicht glücklicherweise, sage leider. Die
Geschichte geht fast immer an dem vorüber, was sie vor allem festhalten
sollte. Daß der alte Fritz am Ende seiner Tage dem damaligen
Kammergerichtspräsidenten, Namen hab' ich vergessen, den Krückstock an
den Kopf warf, und was mir noch wichtiger ist, daß er durchaus bei
seinen Hunden begraben sein wollte, weil er die Menschen, diese
>mechante Rasse< so gründlich verachtete -- sieh', Freund, das ist mir
mindestens ebenso viel wert wie Hohenfriedberg oder Leuthen. Und die
berühmte Torgauer Ansprache, >Rackers, wollt ihr denn ewig leben<, geht
mir eigentlich noch über Torgau selbst.«

Distelkamp lächelte. »Das sind so Schmidtiana. Du warst immer fürs
Anekdotische, fürs Genrehafte. Mir gilt in der Geschichte nur das Große,
nicht das Kleine, das Nebensächliche.«

»Ja und nein, Distelkamp. Das Nebensächliche, so viel ist richtig, gilt
nichts, wenn es bloß nebensächlich ist, wenn nichts drin steckt. Steckt
aber was drin, dann ist es die Hauptsache, denn es gibt einem dann immer
das eigentlich Menschliche.«

»Poetisch magst du recht haben.«

»Das Poetische -- vorausgesetzt, daß man etwas anderes darunter versteht
als meine Freundin Jenny Treibel -- das Poetische hat immer recht; es
wächst weit über das Historische hinaus ...«

Es war dies ein Schmidtsches Lieblingsthema, drin der alte Romantiker,
der er eigentlich mehr als alles andere war, jedesmal so recht zur
Geltung kam; aber heute sein Steckenpferd zu reiten, verbot sich ihm
doch, denn ehe er noch zu wuchtiger Auseinandersetzung ausholen konnte,
hörte man Stimmen vom Entree her, und im nächsten Augenblicke traten
Marcell und Korinna ein, Marcell befangen und fast verstimmt, Korinna
nach wie vor in bester Laune. Sie ging zur Begrüßung auf Distelkamp zu,
der ihr Pate war und ihr immer kleine Verbindlichkeiten sagte. Dann gab
sie Friedeberg und Etienne die Hand und machte den Schluß bei ihrem
Vater, dem sie, nachdem er sich auf ihre Ordre mit der breit
vorgebundenen Serviette den Mund abgeputzt hatte, einen herzhaften Kuß
gab.

»Nun, Kinder, was bringt ihr? Rückt hier ein. Platz die Hülle und Fülle.
Rindfleisch hat abgeschrieben ... griechische Gesellschaft ... und die
beiden anderen fehlen als Anhängsel natürlich von selbst. Aber kein
anzügliches Wort mehr, ich habe ja Besserung geschworen und will's
halten. Also Korinna, du drüben neben Distelkamp, Marcell hier zwischen
Etienne und mir. Ein Besteck wird die Schmolke wohl gleich bringen ...
So; so ist's recht ... Und wie sich das gleich anders ausnimmt! Wenn so
Lücken klaffen, denk' ich immer, Banquo steigt auf. Nun, Gott sei Dank,
Marcell, von Banquo hast du nicht viel, oder wenn doch vielleicht, so
verstehst du's, deine Wunden zu verbergen. Und nun erzählt, Kinder. Was
macht Treibel? Was macht meine Freundin Jenny? Hat sie gesungen? Ich
wette das ewige Lied, =mein= Lied, die berühmte Stelle »Wo sich Herzen
finden«, und Adolar Krola hat begleitet. Wenn ich dabei nur mal in
Krolas Seele lesen könnte. Vielleicht aber steht er doch milder und
menschlicher dazu. Wer jeden Tag zu zwei Diners geladen ist und
mindestens anderthalb mitmacht ... Aber bitte, Korinna, klingle.«

»Nein, ich gehe lieber selbst, Papa. Die Schmolke läßt sich nicht gerne
klingeln; sie hat so ihre Vorstellungen von dem, was sie sich und ihrem
Verstorbenen schuldig ist. Und ob ich wiederkomme, die Herren wollen
verzeihen, weiß ich auch nicht; ich glaube kaum. Wenn man solchen
Treibelschen Tag hinter sich hat, ist es das schönste, darüber
nachzudenken, wie das alles so kam und was einem alles gesagt wurde.
Marcell kann ja statt meiner berichten. Und nur noch so viel, ein höchst
interessanter Engländer war mein Tischnachbar, und wer es von Ihnen
vielleicht nicht glauben will, daß er so sehr interessant gewesen, dem
brauche ich bloß den Namen zu nennen, er hieß nämlich Nelson. Und nun
Gott befohlen.«

Und damit verabschiedete sich Korinna.

Das Besteck für Marcell kam, und als dieser, nur um des Onkels gute
Laune nicht zu stören, um einen Kost- und Probekrebs gebeten hatte,
sagte Schmidt: »Fange nur erst an. Artischocken und Krebse kann man
immer essen, auch wenn man von einem Treibelschen Diner kommt. Ob sich
vom Hummer dasselbe sagen läßt, mag dahin gestellt bleiben. Mir
persönlich ist allerdings auch der Hummer immer gut bekommen. Ein eigen
Ding, daß man aus Fragen derart nie herauswächst, sie wechseln bloß ab
im Leben. Ist man jung, so heißt es >hübsch oder häßlich<, >brünett oder
blond< und liegt dergleichen hinter einem, so steht man vor der
vielleicht wichtigeren Frage >Hummer oder Krebse<. Wir könnten übrigens
darüber abstimmen. Andererseits, soviel muß ich zugeben, hat Abstimmung
immer was Totes, Schablonenhaftes und paßt mir außerdem nicht recht; ich
möchte nämlich Marcell gern ins Gespräch ziehen, der eigentlich da
sitzt, als sei ihm die Gerste verhagelt. Also lieber Erörterung der
Frage, Debatte. Sage, Marcell, was ziehst du vor?«

»Versteht sich, Hummer.«

»Schnell fertig ist die Jugend mit dem Wort. Auf den ersten Anlauf mit
ganz wenig Ausnahmen, ist jeder für Hummer, schon weil er sich auf
Kaiser Wilhelm berufen kann. Aber so schnell erledigt sich das nicht.
Natürlich, wenn solch ein Hummer aufgeschnitten vor einem liegt, und der
wundervolle rote Rogen, ein Bild des Segens und der Fruchtbarkeit, einem
zu allem anderen auch noch die Gewißheit gibt, >es wird immer Hummer
geben<, auch nach Äonen noch, gerade so wie heute ...«

Distelkamp sah seinen Freund Schmidt von der Seite her an.

»... Also einem die Gewißheit gibt, auch nach Äonen noch werden
Menschenkinder sich dieser Himmelsgabe freuen -- ja Freunde, wenn
man sich mit diesem Gefühl des Unendlichen durchdringt, so kommt das
darin liegende Humanitäre dem Hummer und unserer Stellung zu ihm
unzweifelhaft zu gute. Denn jede philanthropische Regung, weshalb man
die Philanthropie schon aus Selbstsucht kultivieren sollte, bedeutet
die Mehrung eines gesunden und zugleich verfeinerten Appetits. Alles
Gute hat seinen Lohn in sich, so viel ist unbestreitbar.«

»Aber ...«

»Aber es ist trotzdem dafür gesorgt, auch hier, daß die Bäume nicht in
den Himmel wachsen, und neben dem Großen hat das Kleine nicht bloß seine
Berechtigung, sondern auch seine Vorzüge. Gewiß, dem Krebse fehlt dies
und das, er hat sozusagen nicht das >Maß<, was, in einem Militärstaate
wie Preußen, immerhin etwas bedeutet, aber dem ohnerachtet, auch =er=
darf sagen: ich habe nicht umsonst gelebt. Und wenn er dann, er, der
Krebs, in Petersilienbutter geschwenkt, im allerappetitlichsten Reize
vor uns hintritt, so hat er Momente wirklicher Überlegenheit, vor allem
auch darin, daß sein Bestes nicht eigentlich gegessen, sondern
geschlürft, gesogen wird. Und daß gerade das, in der Welt des Genusses,
seine besonderen Meriten hat, wer wollte das bestreiten. Es ist, so zu
sagen, das natürlich Gegebene. Wir haben da in erster Reihe den
Säugling, für den saugen zugleich leben heißt. Aber auch in den höheren
Semestern ...«

»Laß es gut sein, Schmidt«, unterbrach Distelkamp. »Mir ist nur immer
merkwürdig, daß du neben Homer und sogar neben Schliemann mit solcher
Vorliebe Kochbuchliches behandelst, reine Menüfragen, als ob du zu den
Bankiers und Geldfürsten gehörtest, von denen ich bis auf weiteres
annehme, daß sie gut essen ...«

»Mir ganz unzweifelhaft.«

»Nun, sieh' Schmidt, diese Herren von der hohen Finanz, darauf möcht'
ich mich verwetten, sprechen nicht mit halb so viel Lust und Eifer von
einer Schildkrötensuppe wie du.«

»Das ist richtig, Distelkamp, und sehr natürlich. Sieh', ich habe die
Frische, die macht's; auf die Frische kommt es an, in allem. Die Frische
gibt einem die Lust, den Eifer, das Interesse, und wo die Frische nicht
ist, da ist gar nichts. Das ärmste Leben, das ein Menschenkind führen
kann, ist das des _petit crevé_. Lauter Zappeleien; nichts dahinter.
Hab' ich recht, Etienne?«

Dieser, der in allem Parisischen regelmäßig als Autorität angerufen
wurde, nickte zustimmend, und Distelkamp ließ die Streitfrage fallen
oder war geschickt genug, ihr eine neue Richtung zu geben, indem er aus
dem allgemein Kulinarischen auf einzelne berühmte kulinarische
Persönlichkeiten überlenkte, zunächst auf den Freiherrn von Rumohr, und
im raschen Anschluß an diesen auf den ihm persönlich befreundet
gewesenen Fürsten Pückler-Muskau. Besonders dieser letztere war
Distelkamps Schwärmerei. Wenn man dermaleinst das Wesen des modernen
Aristokratismus an einer historischen Figur werde nachweisen wollen, so
werde man immer den Fürsten Pückler als Musterbeispiel nehmen müssen.
Dabei sei er durchaus liebenswürdig gewesen, allerdings etwas
launenhaft, eitel und übermütig, aber immer grundgut. Es sei schade, daß
solche Figuren ausstürben. Und nach diesen einleitenden Sätzen begann er
speziell von Muskau und Branitz zu erzählen, wo er vordem oft tagelang
zu Besuch gewesen war und sich mit der märchenhaften, von »Semilassos
Weltfahrten« mit heimgebrachten Abessinierin über Nahes und Fernes
unterhalten hatte.

Schmidt hörte nichts lieberes als Erlebnisse derart, und nun gar von
Distelkamp, vor dessen Wissen und Charakter er überhaupt einen
ungeheuchelten Respekt hatte.

Marcell teilte ganz und gar diese Vorliebe für den alten Direktor und
verstand außerdem -- obwohl geborener Berliner -- gut und mit Interesse
zuzuhören; trotzdem tat er heute Fragen über Fragen, die seine volle
Zerstreutheit bewiesen. Er war eben mit anderem beschäftigt.

So kam elf heran, und mit dem Glockenschlage -- ein Satz von Schmidt
wurde mitten durchgeschnitten -- erhob man sich und trat aus dem
Eßzimmer in das Entree, darin seitens der Schmolke die Sommerüberzieher
samt Hut und Stock schon in Bereitschaft gelegt waren. Jeder griff nach
dem seinen, und nur Marcell nahm den Oheim einen Augenblick beiseite und
sagte: »Onkel, ich spräche gern noch ein Wort mit dir,« ein Ansinnen, zu
dem dieser, jovial und herzlich wie immer, seine volle Zustimmung
ausdrückte. Dann, unter Vorantritt der Schmolke, die mit der Linken den
messingenen Leuchter über den Kopf hielt, stiegen Distelkamp, Friedeberg
und Etienne zunächst treppab und traten gleich danach in die muffig
schwüle Adlerstraße hinaus. Oben aber nahm Schmidt seines Neffen Arm und
schritt mit ihm auf seine Studierstube zu.

       *       *       *       *       *

»Nun, Marcell, was gibt es? Rauchen wirst du nicht, du siehst mir viel
zu bewölkt aus; aber verzeih', ich muß mir erst eine Pfeife stopfen.«
Und dabei ließ er sich, den Tabakskasten vor sich herschiebend, in eine
Sophaecke nieder. »So! Marcell. ... Und nun nimm einen Stuhl und setz'
dich und schieße los. Was gibt es?«

»Das alte Lied.«

»Korinna?«

»Ja.«

»Ja, Marcell, nimm mir's nicht übel, aber das ist ein schlechter
Liebhaber, der immer väterlichen Vorspann braucht, um von der Stelle zu
kommen. Du weißt, ich bin dafür. Ihr seid wie geschaffen für einander.
Sie übersieht dich und uns alle; das Schmidtsche strebt in ihr nicht
bloß der Vollendung zu, sondern, ich muß das sagen, trotzdem ich ihr
Vater bin, kommt auch ganz nah ans Ziel. Nicht jede Familie kann das
ertragen. Aber das Schmidtsche setzt sich aus solchen Ingredienzien
zusammen, daß die Vollendung, von der ich spreche, nie bedrücklich wird.
Und warum nicht? Weil die Selbstironie, in der wir, glaube ich, groß
sind, immer wieder ein Fragezeichen hinter der Vollendung macht. Das ist
recht eigentlich das, was ich das Schmidtsche nenne. Folgst du?«

»Gewiß, Onkel. Sprich nur weiter.«

»Nun sieh, Marcell, ihr paßt ganz vorzüglich zusammen. Sie hat die
genialere Natur, hat so den letzten Knips von der Sache weg, aber das
gibt keineswegs das Übergewicht im Leben. Fast im Gegenteil. Die
Genialen bleiben immer halbe Kinder, in Eitelkeit befangen, und
verlassen sich immer auf Intuition und _bon sens_ und Sentiment und wie
all die französischen Worte heißen mögen. Oder wir können auch auf gut
deutsch sagen, sie verlassen sich auf ihre guten Einfälle. Damit ist es
nun aber so so; manchmal wetterleuchtet es freilich eine halbe Stunde
lang oder auch noch länger, gewiß, das kommt vor; aber mit einem Mal ist
das Elektrische wie verblitzt, und nun bleibt nicht bloß der Esprit aus
wie Röhrwasser, sondern auch der gesunde Menschenverstand. Ja, der erst
recht. Und so ist es auch mit Korinna. Sie bedarf einer verständigen
Leitung, d. h. sie bedarf eines Mannes von Bildung und Charakter. Das
bist du, das hast du. Du hast also meinen Segen; alles andere mußt du
dir selber besorgen.«

»Ja, Onkel, das sagst du immer. Aber wie soll ich das anfangen? Eine
lichterlohe Leidenschaft kann ich in ihr nicht entzünden. Vielleicht ist
sie solcher Leidenschaft nicht einmal fähig; aber wenn auch, wie soll
ein Vetter seine Kusine zur Leidenschaft anstacheln? Das kommt gar nicht
vor. Die Leidenschaft ist etwas plötzliches, und wenn man von seinem
fünften Jahr an immer zusammen gespielt und sich, sagen wir, hinter den
Sauerkrauttonnen eines Budikers oder in einem Torf- und Holzkeller
unzählige Male stundenlang versteckt hat, immer gemeinschaftlich und
immer glückselig, daß Richard oder Artur, trotzdem sie dicht um einen
herum waren, einen doch nicht finden konnten, ja, Onkel, da ist von
Plötzlichkeit, dieser Vorbedingung der Leidenschaft, keine Rede mehr.«

Schmidt lachte. »Das hast du gut gesagt, Marcell, eigentlich über deine
Mittel. Aber es steigert nur meine Liebe zu dir. Das Schmidtsche steckt
doch auch in dir und ist nur unter dem steifen Wedderkoppschen etwas
vergraben. Und =das= kann ich dir sagen, wenn du diesen Ton Korinna
gegenüber festhältst, dann bist du durch, dann hast du sie sicher.«

»Ach, Onkel, glaube doch das nicht. Du verkennst Korinna. Nach der einen
Seite hin kennst du sie ganz genau, aber nach der andern Seite hin
kennst du sie gar nicht. Alles was klug und tüchtig und, vor allem, was
espritvoll an ihr ist, das siehst du mit beiden Augen, aber was
äußerlich und modern an ihr ist, das siehst du nicht. Ich kann nicht
sagen, daß sie jene niedrigstehende Gefallsucht hat, die jeden erobern
will, er sei wer er sei; von dieser Koketterie hat sie nichts. Aber sie
nimmt sich erbarmungslos =einen= aufs Korn, einen, an dessen
Spezialeroberung ihr gelegen ist, und du glaubst gar nicht, mit welcher
grausamen Konsequenz, mit welcher infernalen Virtuosität sie dies von
ihr erwählte Opfer in ihre Fäden einzuspinnen weiß.«

»Meinst du?«

»Ja, Onkel. Heute bei Treibels hatten wir wieder ein Musterbeispiel
davon. Sie saß zwischen Leopold Treibel und einem Engländer, dessen
Namen sie dir ja schon genannt hat, einen Mr. Nelson, der, wie die
meisten Engländer aus guten Häusern, einen gewissen Naivitäts-Charme
hatte, sonst aber herzlich wenig bedeutete. Nun hättest du Korinna sehen
sollen. Sie beschäftigte sich anscheinend mit niemand anderem, als
diesem Sohn Albions, und es gelang ihr auch, ihn in Staunen zu setzen.
Aber glaube nur ja nicht, daß ihr an dem flachsblonden Mr. Nelson im
geringsten gelegen gewesen wäre; gelegen war ihr bloß an Leopold
Treibel, an den sie kein einziges Wort, oder wenigstens nicht viele,
direkt richtete, und dem zu Ehren sie doch eine Art von französischem
Proverbe aufführte, kleine Komödie, dramatische Szene. Und wie ich dir
versichern kann, Onkel, mit vollständigstem Erfolg. Dieser unglückliche
Leopold hängt schon lange an ihren Lippen und saugt das süße Gift ein,
aber so wie heute habe ich ihn doch noch nicht gesehen. Er war von Kopf
bis zu Fuß die helle Bewunderung, und jede Miene schien ausdrücken zu
wollen: >Ach, wie langweilig ist Helene< (das ist, wie du dich
vielleicht erinnerst, die Frau seines Bruders), >und wie wundervoll ist
diese Korinna<«.

»Nun gut, Marcell, aber das alles kann ich so schlimm nicht finden.
Warum soll sie nicht ihren Nachbar zur Rechten unterhalten, um auf ihren
Nachbar zur Linken einen Eindruck zu machen? Das kommt alle Tage vor,
das sind so kleine Kaprizen, an denen die Frauennatur reich ist.«

»Du nennst es Kaprizen, Onkel. Ja, wenn die Dinge so lägen! Es liegt
aber anders. Alles ist Berechnung: sie will den Leopold heiraten.«

»Unsinn, Leopold ist ein Junge.«

»Nein, er ist fünfundzwanzig, gerade so alt wie Korinna selbst. Aber
wenn er auch noch ein bloßer Junge wäre, Korinna hat sich's in den Kopf
gesetzt und wird es durchführen.«

»Nicht möglich.«

»Doch, doch. Und nicht bloß möglich, sondern ganz gewiß. Sie hat es mir,
als ich sie zur Rede stellte, selber gesagt. Sie will Leopold Treibels
Frau werden, und wenn der Alte das Zeitliche segnet, was doch, wie sie
mir versicherte, höchstens noch zehn Jahre dauern könne, und wenn er in
seinem Zossener Wahlkreise gewählt würde, keine fünfe mehr, so will sie
die Villa beziehen, und wenn ich sie recht taxiere, so wird sie zu dem
grauen Kakadu noch einen Pfauhahn anschaffen.«

»Ach, Marcell, das sind Visionen.«

»Vielleicht von ihr, wer will's sagen? aber sicherlich nicht von mir.
Denn all das waren ihre eigensten Worte. Du hättest sie hören sollen,
Onkel, mit welcher Suffisance sie von »kleinen Verhältnissen« sprach,
und wie sie das dürftige Kleinleben ausmalte, für das sie nun mal nicht
geschaffen sei; sie sei nicht für Speck und Wruken und all dergleichen
... und du hättest nur hören sollen, =wie= sie das sagte, nicht bloß so
drüber hin, nein, es klang geradezu was von Bitterkeit mit durch, und
ich sah zu meinem Schmerz, wie veräußerlicht sie ist, und wie die
verdammte neue Zeit sie ganz in Banden hält.«

»Hm,« sagte Schmidt, »das gefällt mir nicht, namentlich das mit den
Wruken. Das ist bloß ein dummes Vornehmtun und ist auch kulinarisch eine
Torheit; denn alle Gerichte, die Friedrich Wilhelm I. liebte, so zum
Beispiel Weißkohl mit Hammelfleisch oder Schlei mit Dill -- ja, lieber
Marcell, was will dagegen aufkommen? Und dagegen Front zu machen ist
einfach Unverstand. Aber glaube mir, Korinna macht auch nicht Front
dagegen, dazu ist sie viel zu sehr ihres Vaters Tochter, und wenn sie
sich darin gefallen hat, dir von Modernität zu sprechen und dir
vielleicht eine Pariser Hutnadel oder eine Sommerjacke, dran alles
_chic_ und wieder _chic_ ist, zu beschreiben und so zu tun, als ob es in
der ganzen Welt nichts gäbe, was an Wert und Schönheit damit verglichen
werden könnte, so ist das alles bloß Feuerwerk, Phantasietätigkeit, _jeu
d'Esprit_, und wenn es ihr morgen paßt, dir einen Pfarramtskandidaten in
der Jasminlaube zu beschreiben, der selig in Lottchens Armen ruht, so
leistet sie das mit demselben Aplomb und mit derselben Virtuosität. Das
ist, was ich das Schmidtsche nenne. Nein, Marcell, darüber darfst du dir
keine grauen Haare wachsen lassen; das ist alles nicht ernstlich
gemeint ...«

»Es =ist= ernstlich gemeint ...«

»Und =wenn= es ernstlich gemeint ist -- was ich vorläufig noch nicht
glaube, denn Korinna ist eine sonderbare Person -- so nutzt ihr dieser
Ernst nichts, gar nichts, und es wird doch nichts draus. Darauf verlaß
dich, Marcell. Denn zum heiraten gehören zwei.«

»Gewiß, Onkel. Aber Leopold will womöglich noch mehr als Korinna ...«

»Was gar keine Bedeutung hat. Denn laß dir sagen, und damit sprech ich
ein großes Wort gelassen aus: die Kommerzienrätin will =nicht=.«

»Bist du dessen so sicher?«

»Ganz sicher.«

»Und hast auch Zeichen dafür?«

»Zeichen und Beweise, Marcell. Und zwar Zeichen und Beweise, die du in
deinem alten Onkel Wilibald Schmidt hier leibhaftig vor dir siehst ...«

»Das wäre.«

»Ja, Freund, leibhaftig vor dir siehst. Denn ich habe das Glück gehabt,
an mir selbst, und zwar als Objekt und Opfer, das Wesen meiner Freundin
Jenny studieren zu können. Jenny Bürstenbinder, das ist ihr Vatersname,
wie du vielleicht schon weißt, ist der Typus einer Bourgeoise. Sie war
talentiert dafür, von Kindesbeinen an, und in jenen Zeiten, wo sie noch
drüben in ihres Vaters Laden, wenn der Alte gerade nicht hinsah, von den
Traubenrosinen naschte, da war sie schon gerade so wie heut' und
deklamierte den >Taucher< und den >Gang nach dem Eisenhammer< und auch
allerlei kleine Lieder, und wenn es recht was Rührendes war, so war ihr
Auge schon damals immer in Tränen, und als ich eines Tages mein
berühmtes Gedicht gedichtet hatte, du weißt schon, das Unglücksding, das
sie seitdem immer singt und vielleicht auch heute wieder gesungen hat,
da warf sie sich mir an die Brust und sagte: »Wilibald, Einziger, das
kommt von Gott.« Ich sagte halb verlegen etwas von meinem Gefühl und
meiner Liebe, sie blieb aber dabei, es sei von Gott, und dabei
schluchzte sie dermaßen, daß ich, so glücklich ich einerseits in meiner
Eitelkeit war, doch auch wieder einen Schreck kriegte vor der Macht
dieser Gefühle. Ja, Marcell, das war so unsere stille Verlobung, ganz
still, aber doch immerhin eine Verlobung; wenigstens nahm ich's dafür
und strengte mich riesig an, um so rasch wie möglich mit meinem Studium
am Ende zu sein und mein Examen zu machen. Und ging auch alles
vortrefflich. Als ich nun aber kam, um die Verlobung perfekt zu machen,
da hielt sie mich hin, war abwechselnd vertraulich und dann wieder
fremd, und während sie nach wie vor das Lied sang, =mein= Lied,
liebäugelte sie mit jedem, der ins Haus kam, bis endlich Treibel
erschien und dem Zauber ihrer kastanienbraunen Locken und mehr noch
ihrer Sentimentalitäten erlag. Denn der Treibel von damals war noch
nicht der Treibel von heut, und am andern Tag kriegte ich die
Verlobungskarten. Alles in allem eine sonderbare Geschichte, daran, das
glaub ich sagen zu dürfen, andere Freundschaften gescheitert wären; aber
ich bin kein Übelnehmer und Spielverderber, und in dem Liede, drin sich,
wie du weißt, >die Herzen finden< -- beiläufig eine himmlische
Trivialität und ganz wie geschaffen für Jenny Treibel -- in dem Liede
lebt unsre Freundschaft fort bis diesen Tag, ganz so, als sei nichts
vorgefallen. Und am Ende, warum auch nicht? Ich persönlich bin drüber
weg, und Jenny Treibel hat ein Talent, alles zu vergessen, was sie
vergessen will. Es ist eine gefährliche Person und um so gefährlicher,
als sie's selbst nicht recht weiß, und sich aufrichtig einbildet, ein
gefühlvolles Herz und vor allem ein Herz für das >Höhere< zu haben. Aber
sie hat nur ein Herz für das Ponderable, für alles, was ins Gewicht
fällt und Zins trägt, und für viel weniger als eine halbe Million gibt
sie den Leopold nicht fort, die halbe Million mag herkommen, woher sie
will. Und dieser arme Leopold selbst. So viel weißt du doch, der ist
nicht der Mensch des Aufbäumens oder der Eskapade nach Gretna Green. Ich
sage dir Marcell, unter Brückner tun es Treibels nicht, und Koegel ist
ihnen noch lieber. Denn je mehr es nach Hof schmeckt, desto besser. Sie
liberalisieren und sentimentalisieren beständig, aber das alles ist
Farce; wenn es gilt Farbe zu bekennen, dann heißt es: Gold ist Trumpf
und weiter nichts.«

»Ich glaube, daß du Leopold unterschätzest.«

»Ich fürchte, daß ich ihn noch überschätze. Ich kenn' ihn noch aus der
Untersekunda her. Weiter kam er nicht; wozu auch? Guter Mensch,
Mittelgut, und als Charakter noch unter Mittel.«

»Wenn du mit Korinna sprechen könntest.«

»Nicht nötig, Marcell. Durch Dreinreden stört man nur den natürlichen
Gang der Dinge. Mag übrigens alles schwanken und unsicher sein, eines
steht fest: der Charakter meiner Freundin Jenny. Da ruhen die Wurzeln
deiner Kraft. Und wenn Korinna sich in Tollheiten überschlägt, laß sie;
den Ausgang der Sache kenn' ich. Du sollst sie haben, und du wirst sie
haben, und vielleicht eher, als du denkst.«




Achtes Kapitel


Treibel war ein Frühauf, wenigstens für einen Kommerzienrat, und trat
nie später als acht Uhr in sein Arbeitszimmer, immer gestiefelt und
gespornt, immer in sauberster Toilette. Er sah dann die Privatbriefe
durch, tat einen Blick in die Zeitungen und wartete, bis seine Frau kam,
um mit dieser gemeinschaftlich das erste Frühstück zu nehmen. In der
Regel erschien die Rätin sehr bald nach ihm, heut aber verspätete sie
sich, und weil der eingegangenen Briefe nur ein paar waren, die
Zeitungen aber, in denen schon der Sommer vorspukte, wenig Inhalt
hatten, so geriet Treibel in einen leisen Zustand von Ungeduld und
durchmaß, nachdem er sich rasch von seinem kleinen Ledersofa erhoben
hatte, die beiden großen nebenangelegenen Räume, darin sich die
Gesellschaft vom Tage vorher abgespielt hatte. Das obere Schiebefenster
des Garten- und Eßsaales war ganz heruntergelassen, so daß er, mit den
Armen sich auflehnend, in bequemer Stellung in den unter ihm gelegenen
Garten hinabsehen konnte. Die Szenerie war wie gestern, nur statt
des Kakadu, der noch fehlte, sah man draußen die Honig, die, den
Bologneser der Kommerzienrätin an einer Strippe führend, um das Bassin
herumschritt. Dies geschah jeden Morgen und dauerte Mal für Mal, bis
der Kakadu seinen Stangenplatz einnahm oder in seinem blanken Käfig ins
Freie gestellt wurde, worauf sich dann die Honig mit dem Bologneser
zurückzog, um einen Ausbruch von Feindseligkeiten zwischen den beiden
gleichmäßig verwöhnten Lieblingen des Hauses zu vermeiden. Das alles
indessen stand heute noch aus. Treibel, immer artig, erkundigte
sich, von seiner Fensterstellung aus, erst nach dem Befinden des
Fräuleins -- was die Kommerzienrätin, wenn sie's hörte, jedesmal
sehr überflüssig fand -- und fragte dann, als er beruhigende
Versicherungen darüber entgegengenommen hatte, wie sie Mr. Nelsons
englische Aussprache gefunden habe, dabei von der mehr oder weniger
überzeugten Ansicht ausgehend, daß es jeder von einem Berliner
Schulrat examinierten Erzieherin ein kleines sein müsse, dergleichen
festzustellen. Die Honig, die diesen Glauben nicht gern zerstören
wollte, beschränkte sich darauf, die Korrektheit von Mr. Nelsons _a_
anzuzweifeln und diesem seinem _a_ eine nicht ganz statthafte
Mittelstellung zwischen der englischen und schottischen Aussprache
dieses Vokals zuzuerkennen, eine Bemerkung, die Treibel ganz ernsthaft
hinnahm und weiter ausgesponnen haben würde, wenn er nicht im selben
Moment ein leises ins Schloß fallen einer der Vordertüren, also
mutmaßlich das Eintreten der Kommerzienrätin, erlauscht hätte. Treibel
hielt es auf diese Wahrnehmung hin für angezeigt, sich von der Honig zu
verabschieden, und schritt wieder auf sein Arbeitszimmer zu, in das in
der Tat die Rätin eben eingetreten war. Das auf einem Tablett wohl
arrangierte Frühstück stand schon da.

»Guten Morgen, Jenny ... Wie geruht?«

»Doch nur passabel. Dieser furchtbare Vogelsang hat wie ein Alp auf mir
gelegen.«

»Ich würde gerade diese bildersprachliche Wendung doch zu vermeiden
suchen. Aber wie du darüber denkst ... Im übrigen, wollen wir das
Frühstück nicht lieber draußen nehmen?«

Und der Diener, nachdem Jenny zugestimmt und ihrerseits auf den Knopf
der Klingel gedrückt hatte, erschien wieder, um das Tablett auf einen
der kleinen, in der Veranda stehenden Tische hinauszutragen. »Es ist
gut, Friedrich«, sagte Treibel und schob jetzt höchst eigenhändig eine
Fußbank heran, um es dadurch zunächst seiner Frau, zugleich aber auch
sich selber nach Möglichkeit bequem zu machen. Denn Jenny bedurfte
solcher Huldigungen, um bei guter Laune zu bleiben.

Diese Wirkung blieb denn auch heute nicht aus. Sie lächelte, rückte die
Zuckerschale näher zu sich heran und sagte, während sie die gepflegte
weiße Hand über den großen Blockstücken hielt: »eins oder zwei?«

»Zwei, Jenny, wenn ich bitten darf. Ich sehe nicht ein, warum ich, der
ich zur Runkelrübe, Gott sei dank, keine Beziehungen unterhalte, die
billigen Zuckerzeiten nicht fröhlich mitmachen soll.«

Jenny war einverstanden, tat den Zucker ein und schob gleich danach die
kleine, genau bis an den Goldstreifen gefüllte Tasse dem Gemahl mit dem
Bemerken zu: »Du hast die Zeitungen schon durchgesehen? Wie steht es mit
Gladstone?«

Treibel lachte mit ganz ungewöhnlicher Herzlichkeit. »Wenn es dir recht
ist, Jenny, bleiben wir vorläufig noch diesseits des Kanals, sagen wir
in Hamburg oder doch in der Welt des Hamburgischen, und transponieren
uns die Frage nach Gladstones Befinden in eine Frage nach unserer
Schwiegertochter Helene. Sie war offenbar verstimmt, und ich schwanke
nur noch, was in ihren Augen die Schuld trug. War es, daß sie selber
nicht gut genug plaziert war, oder war es, daß wir Mr. Nelson, ihren uns
gütigst überlassenen oder, um es berlinisch zu sagen, ihren uns
aufgepuckelten Ehrengast, so ganz einfach zwischen die Honig und Korinna
gesetzt hatten?«

»Du hast eben gelacht, Treibel, weil ich nach Gladstone fragte, was du
nicht hättest tun sollen, denn wir Frauen dürfen so was fragen, wenn wir
auch was ganz anderes meinen; aber ihr Männer dürft uns das nicht
nachmachen wollen. Schon deshalb nicht, weil es euch nicht glückt oder
doch jedenfalls noch weniger als uns. Denn so viel ist doch gewiß und
kann dir nicht entgangen sein, ich habe niemals einen entzückteren
Menschen gesehen, als den guten Nelson; also wird Helene wohl nichts
dagegen gehabt haben, daß wir ihren Protegé grade so plazierten, wie
geschehen. Und wenn das auch eine ewige Eifersucht ist zwischen ihr und
Korinna, die sich, ihrer Meinung nach, zu viel herausnimmt und ...«

»... Und unweiblich ist und unhamburgisch, was nach ihrer Meinung so
ziemlich zusammenfällt ...«

»... So wird sie's ihr gestern,« fuhr Jenny, der Unterbrechung nicht
achtend, fort, »wohl zum ersten Male verziehen haben, weil es ihr selber
zu gute kam oder ihrer Gastlichkeit, von der sie persönlich freilich so
mangelhafte Proben gegeben hat. Nein, Treibel, nichts von Verstimmung
über Mr. Nelsons Platz. Helene schmollt mit uns beiden, weil wir alle
Anspielungen nicht verstehen wollen und ihre Schwester Hildegard noch
immer nicht eingeladen haben. Übrigens ist Hildegard ein lächerlicher
Name für eine Hamburgerin. Hildegard heißt man in einem Schlosse mit
Ahnenbildern oder wo eine weiße Frau spukt. Helene schmollt mit uns,
weil wir hinsichtlich Hildegards so sehr schwerhörig sind.«

»Worin sie recht hat.«

»Und ich finde, daß sie darin unrecht hat. Es ist eine Anmaßung, die an
Insolenz grenzt. Was soll das heißen? Sind wir in einem fort dazu da,
dem Holzhof und seinen Angehörigen Honneurs zu machen? Sind wir dazu da,
Helenens und ihrer Eltern Pläne zu begünstigen? Wenn unsere Frau
Schwiegertochter durchaus die gastliche Schwester spielen will, so kann
sie Hildegard ja jeden Tag von Hamburg her verschreiben und das
verwöhnte Püppchen entscheiden lassen, ob die Alster bei der Uhlenhorst
oder die Spree bei Treptow schöner ist. Aber was geht =uns= das alles
an. Otto hat seinen Holzhof so gut, wie du deinen Fabrikhof, und seine
Villa finden viele Leute hübscher als die unsre, was auch zutrifft.
Unsre ist beinah altmodisch und jedenfalls viel zu klein, so daß ich oft
nicht aus noch ein weiß. Es bleibt dabei, mir fehlen wenigstens zwei
Zimmer. Ich mag davon nicht viel Worte machen, aber wie kommen wir dazu,
Hildegard einzuladen, als ob uns daran läge, die Beziehungen der beiden
Häuser aufs eifrigste zu pflegen, und wie wenn wir nichts sehnlicher
wünschten, als noch mehr Hamburger Blut in die Familie zu bringen ...«

»Aber Jenny ...«

»Nichts von >aber<, Treibel. Von solchen Sachen versteht ihr nichts,
weil ihr kein Auge dafür habt. Ich sage dir, auf solche Pläne läuft es
hinaus, und deshalb sollen wir die Einladenden sein. Wenn Helene
Hildegarden einlädt, so bedeutet das so wenig, daß es nicht einmal die
Trinkgelder wert ist, und die neuen Toiletten nun schon gewiß nicht. Was
hat es für eine Bedeutung, wenn sich zwei Schwestern wiedersehen? Gar
keine, sie passen nicht 'mal zusammen und schrauben sich beständig; aber
wenn wir Hildegard einladen, so heißt das, die Treibels sind unendlich
entzückt über ihre erste Hamburger Schwiegertochter und würden es für
ein Glück und eine Ehre ansehen, wenn sich das Glück erneuern und
verdoppeln und Fräulein Hildegard Munk Frau Leopold Treibel werden
wollte. Ja, Freund, darauf läuft es hinaus. Es ist eine abgekartete
Sache. Leopold soll Hildegard oder eigentlich Hildegard soll Leopold
heiraten; denn Leopold ist bloß passiv und hat zu gehorchen. Das ist
das, was die Munks wollen, was Helene will, und was unser armer Otto,
der, Gott weiß es, nicht viel sagen darf, schließlich auch wird wollen
müssen. Und weil wir zögern und mit der Einladung nicht recht heraus
wollen, deshalb schmollt und grollt Helene mit uns und spielt die
Zurückhaltende und Gekränkte und gibt die Rolle nicht einmal auf an
einem Tage, wo ich ihr einen großen Gefallen getan und ihr den Mr.
Nelson hierher eingeladen habe, bloß damit ihr die Plättbolzen nicht
kalt werden.«

Treibel lehnte sich weiter zurück in den Stuhl und blies kunstvoll einen
kleinen Ring in die Luft. »Ich glaube nicht, daß du recht hast. Aber
wenn du recht hättest, was täte es? Otto lebt seit acht Jahren in einer
glücklichen Ehe mit Helenen, was auch nur natürlich ist; ich kann mich
nicht entsinnen, daß irgend wer aus meiner Bekanntschaft mit einer
Hamburgerin in einer unglücklichen Ehe gelebt hätte. Sie sind alle so
zweifelsohne, haben innerlich und äußerlich so was ungewöhnlich
gewaschenes und bezeugen in allem, was sie tun und nicht tun, die
Richtigkeit der Lehre vom Einfluß der guten Kinderstube. Man hat sich
ihrer nie zu schämen, und ihrem zwar bestrittenen, aber im Stillen immer
gehegten Herzenswunsche, »für eine Engländerin gehalten zu werden«,
diesem Ideale kommen sie meistens sehr nah. Indessen das mag auf sich
beruhen. So viel steht jedenfalls fest, und ich muß es wiederholen,
Helene Munk hat unsern Otto glücklich gemacht, und es ist mir
höchstwahrscheinlich, daß Hildegard Munk unsern Leopold auch glücklich
machen würde, ja noch glücklicher. Und wär' auch keine Hexerei, denn
einen besseren Menschen als unsern Leopold gibt es eigentlich überhaupt
nicht; er ist schon beinahe eine Suse ...«

»Beinah?« sagte Jenny. »Du kannst ihn dreist für voll nehmen. Ich weiß
nicht, wo beide Jungen diese Milchsuppenschaft herhaben. Zwei geborene
Berliner, und sind eigentlich, wie wenn sie von Herrnhut oder Gnadenfrei
kämen. Sie haben doch beide was Schläfriges, und ich weiß wirklich
nicht, Treibel, auf wen ich es schieben soll ...«

»Auf mich, Jenny, natürlich auf mich ...«

»Und wenn ich auch sehr wohl weiß,« fuhr Jenny fort, »wie nutzlos es
ist, sich über diese Dinge den Kopf zu zerbrechen, und leider auch
weiß, daß sich solche Charaktere nicht ändern lassen, so weiß ich doch
auch, daß man die Pflicht hat, da zu helfen, wo noch geholfen werden
kann. Bei Otto haben wir's versäumt und haben zu seiner eigenen
Temperamentlosigkeit diese temperamentlose Helene hinzugetan, und was
dabei herauskommt, das siehst du nun an Lizzi, die doch die größte Puppe
ist, die man nur sehen kann. Ich glaube, Helene wird sie noch, auf
Vorderzähne-zeigen hin, englisch abrichten. Nun, meinetwegen. Aber ich
bekenne dir, Treibel, daß ich an =einer= solchen Schwiegertochter
und =einer= solchen Enkelin gerade genug habe, und daß ich den
armen Jungen, den Leopold, etwas passender als in der Familie Munk
unterbringen möchte.«

»Du möchtest einen forschen Menschen aus ihm machen, einen Kavalier,
einen Sportsmann ...«

»Nein, einen forschen Menschen nicht, aber einen Menschen überhaupt. Zum
Menschen gehört Leidenschaft, und wenn er eine Leidenschaft fassen
könnte, sieh, das wäre was, das würd' ihn rausreißen, und so sehr ich
allen Skandal hasse, ich könnte mich beinah freuen, wenn's irgend so was
gäbe, natürlich nichts Schlimmes, aber doch wenigstens was Apartes.«

»Male den Teufel nicht an die Wand, Jenny. Daß er sich aufs Entführen
einläßt, ist mir, ich weiß nicht, soll ich sagen leider oder
glücklicherweise, nicht sehr wahrscheinlich; aber man hat Exempel von
Beispielen, daß Personen, die zum Entführen durchaus nicht das Zeug
hatten, gleichsam, wie zur Strafe dafür, entführt =wurden=. Es gibt ganz
verflixte Weiber, und Leopold ist gerade schwach genug, um vielleicht
einmal in den Sattel einer armen und etwas emanzipierten Edeldame, die
natürlich auch Schmidt heißen kann, hineingehoben und über die Grenze
geführt zu werden ...«

»Ich glaub' es nicht,« sagte die Kommerzienrätin, »er ist leider auch
dafür zu stumpf.« Und sie war von der Ungefährlichkeit der Gesamtlage so
fest überzeugt, daß sie nicht einmal der vielleicht bloß zufällig, aber
vielleicht auch absichtlich gesprochene Name »Schmidt« stutzig gemacht
hatte. »Schmidt«, das war nur so herkömmlich hingeworfen, weiter nichts,
und in einem halb übermütigen Jugendanfluge gefiel sich die Rätin sogar
in stiller Ausmalung einer Eskapade: Leopold, mit aufgesetztem
Schnurrbart, auf dem Wege nach Italien und mit ihm eine Freiin aus einer
pommerschen oder schlesischen Verwogenheitsfamilie, die Reiherfeder am
Hut und den schottisch karrierten Mantel über den etwas fröstelnden
Liebhaber ausgebreitet. All' das stand vor ihr, und beinah traurig sagte
sie zu sich selbst: »Der arme Junge. Ja, wenn er dazu das Zeug hätte.«

       *       *       *       *       *

Es war um die neunte Stunde, daß die alten Treibels dies Gespräch
führten, ohne jede Vorstellung davon, daß um eben diese Zeit auch die
auf ihrer Veranda das Frühstück nehmenden jungen Treibels der
Gesellschaft vom Tage vorher gedachten. Helene sah sehr hübsch aus, wozu
nicht nur die kleidsame Morgentoilette, sondern auch eine gewisse
Belebtheit in ihren sonst matten und beinah vergißmeinnichtblauen Augen
ein Erhebliches beitrug. Es war ganz ersichtlich, daß sie bis diese
Minute mit ganz besonderem Eifer auf den halb verlegen vor sich
hinsehenden Otto eingepredigt haben mußte; ja, wenn nicht alles
täuschte, wollte sie mit diesem Ansturm eben fortfahren, als das
Erscheinen Lizzis und ihrer Erzieherin, Fräulein Wulsten, dies Vorhaben
unterbrach.

Lizzi, trotz früher Stunde, war schon in vollem Staate. Das etwas
gewellte blonde Haar des Kindes hing bis auf die Hüften herab; im
übrigen aber war alles weiß, das Kleid, die hohen Strümpfe, der
Überfallkragen, und nur um die Taille herum, wenn sich von einer solchen
sprechen ließ, zog sich eine breite rote Schärpe, die von Helenen nie
»rote Schärpe«, sondern immer nur »_pink-coloured scarf_« genannt wurde.
Die Kleine, wie sie sich da präsentierte, hätte sofort als symbolische
Figur auf den Wäscheschrank ihrer Mutter gestellt werden können, so sehr
war sie der Ausdruck von Weißzeug mit einem roten Bändchen drum. Lizzi
galt im ganzen Kreise der Bekannten als Musterkind, was das Herz
Helenens einerseits mit Dank gegen Gott, andrerseits aber auch mit
Dank gegen Hamburg erfüllte, denn zu den Gaben der Natur, die der
Himmel hier so sichtlich verliehen, war auch noch eine Mustererziehung
hinzugekommen, wie sie eben nur die Hamburger Tradition geben konnte.
Diese Mustererziehung hatte gleich mit dem ersten Lebenstage des Kindes
begonnen. Helene, »weil es unschön sei« -- was übrigens von Seiten des
damals noch um sieben Jahre jüngeren Krola bestritten wurde -- war nicht
zum Selbstnähren zu bewegen gewesen, und da bei den nun folgenden
Verhandlungen eine seitens des alten Kommerzienrats in Vorschlag
gebrachte Spreewälderamme mit dem Bemerken »es gehe bekanntlich so
viel davon auf das unschuldige Kind über« abgelehnt worden war, war
man zu dem einzig verbleibenden Auskunftsmittel übergegangen. Eine
verheiratete, von dem Geistlichen der Thomasgemeinde warm empfohlene
Frau hatte das Aufpäppeln mit großer Gewissenhaftigkeit und mit der Uhr
in der Hand übernommen, wobei Lizzi so gut gediehen war, daß sich eine
Zeitlang sogar kleine Grübchen auf der Schulter gezeigt hatten. Alles
normal und beinah' über das Normale hinaus. Unser alter Kommerzienrat
hatte denn auch der Sache nie so recht getraut, und erst um ein
Erhebliches später, als sich Lizzi mit einem Trennmesser in den Finger
geschnitten hatte (das Kindermädchen war dafür entlassen worden), hatte
Treibel beruhigt ausgerufen: »Gott sei Dank, so viel ich sehen kann, es
ist wirkliches Blut.«

Ordnungsmäßig hatte Lizzis Leben begonnen, und ordnungsmäßig war es
fortgesetzt worden. Die Wäsche, die sie trug, führte durch den Monat hin
die genau korrespondierende Tageszahl, so daß man ihr, wie der Großvater
sagte, das jedesmalige Datum vom Strumpf lesen konnte. »Heut ist der
zehnte.« Der Puppenkleiderschrank war an den Riegeln nummeriert, und als
es geschah (und dieser schreckliche Tag lag noch nicht lange zurück),
daß Lizzi, die sonst die Sorglichkeit selbst war, in ihrer, mit allerlei
Kästen ausstaffierten Puppenküche Gries in den Kasten getan hatte, der
doch ganz deutlich die Aufschrift »Linsen« trug, hatte Helene
Veranlassung genommen, ihrem Liebling die Tragweite solchen Fehlgriffs
auseinanderzusetzen. »Das ist nichts Gleichgültiges, liebe Lizzi. Wer
Großes hüten will, muß auch das Kleine zu hüten verstehen. Bedenke, wenn
du ein Brüderchen hättest, und das Brüderchen wäre vielleicht schwach,
und du willst es mit _Eau de Cologne_ bespritzen, und du bespritzest es
mit _Eau de Javelle_, ja, meine Lizzi, so kann dein Brüderchen blind
werden, oder wenn es ins Blut geht, kann es sterben. Und doch wäre es
noch eher zu entschuldigen, denn beides ist weiß und sieht aus wie
Wasser; aber Gries und Linsen, meine liebe Lizzi, das ist doch ein
starkes Stück von Unaufmerksamkeit, oder, was noch schlimmer wäre, von
Gleichgültigkeit.«

So war Lizzi, die übrigens zu weiterer Genugtuung der Mutter einen
Herzmund hatte. Freilich, die zwei blanken Vorderzähne waren immer noch
nicht sichtbar genug, um Helenen eine recht volle Herzensfreude gewähren
zu können, und so wandten sich ihre mütterlichen Sorgen auch in diesem
Augenblicke wieder der ihr so wichtigen Zahnfrage zu, weil sie davon
ausging, daß es hier dem von der Natur so glücklich gegebenen Material
bis dahin nur an der rechten erziehlichen Aufmerksamkeit gefehlt habe.
»Du kneifst wieder die Lippen so zusammen, Lizzi; das darf nicht sein.
Es sieht besser aus, wenn der Mund sich halb öffnet, fast so wie zum
Sprechen. Fräulein Wulsten, ich möchte Sie doch bitten, auf diese
Kleinigkeit, die keine Kleinigkeit ist, mehr achten zu wollen ... Wie
steht es denn mit dem Geburtstagsgedicht?«

»Lizzi gibt sich die größte Mühe.«

»Nun, dann will ich dir deinen Wunsch auch erfüllen, Lizzi. Lade dir die
kleine Felgentreu zu heute Nachmittag ein. Aber natürlich erst die
Schularbeiten ... Und jetzt kannst du, wenn Fräulein Wulsten es erlaubt
(diese verbeugte sich), im Garten spazieren gehen, überall wo du willst,
nur nicht nach dem Hof zu, wo die Bretter über der Kalkgrube liegen.
Otto, du solltest das ändern; die Bretter sind ohnehin so morsch.«

Lizzi war glücklich, eine Stunde frei zu haben, und nachdem sie der Mama
die Hand geküßt und noch die Warnung, sich vor der Wassertonne zu hüten,
mit auf den Weg gekriegt hatte, brachen das Fräulein und Lizzi auf, und
das Elternpaar blickte dem Kinde nach, das sich noch ein paarmal umsah
und dankbar der Mutter zunickte.

»Eigentlich,« sagte diese, »hätte ich Lizzi gern hier behalten und eine
Seite Englisch mit ihr gelesen; die Wulsten versteht es nicht und hat
eine erbärmliche Aussprache, so _low_, so _vulgar_. Aber ich bin
gezwungen, es bis morgen zu lassen, denn wir müssen das Gespräch zu Ende
bringen. Ich sage nicht gern etwas gegen deine Eltern, denn ich weiß,
daß es sich nicht schickt, und weiß auch, daß es dich bei deinem
eigentümlich starren Charakter (Otto lächelte) nur noch in dieser deiner
Starrheit bestärken wird; aber man darf die Schicklichkeitsfragen,
ebenso wie die Klugheitsfragen, nicht über alles stellen. Und das täte
ich, wenn ich länger schwiege. Die Haltung deiner Eltern ist in dieser
Frage geradezu kränkend für mich und fast mehr noch für meine Familie.
Denn sei mir nicht böse, Otto, aber wer sind am Ende die Treibels? Es
ist mißlich, solche Dinge zu berühren, und ich würde mich hüten, es zu
tun, wenn du mich nicht geradezu zwängest, zwischen unsren Familien
abzuwägen.«

Otto schwieg und ließ den Teelöffel auf seinem Zeigefinger balanzieren,
Helene aber fuhr fort: »Die Munks sind ursprünglich dänisch, und ein
Zweig, wie du recht gut weißt, ist unter König Christian gegraft worden.
Als Hamburgerin und Tochter einer freien Stadt will ich nicht viel davon
machen, aber es ist doch immerhin was. Und nun gar von meiner Mutter
Seite! Die Thompsons sind eine Syndikatsfamilie. Du tust, als ob das
nichts sei. Gut, es mag auf sich beruhen, und nur so viel möcht' ich dir
noch sagen dürfen, unsere Schiffe gingen schon nach Messina, als deine
Mutter noch in dem Apfelsinenladen spielte, draus dein Vater sie
hervorgeholt hat. Material- und Kolonialwaren. Ihr nennt das hier auch
Kaufmann ... ich sage nicht du ... aber Kaufmann und Kaufmann ist ein
Unterschied.«

Otto ließ alles über sich ergehen und sah den Garten hinunter, wo Lizzi
Fangball spielte.

»Hast du noch überhaupt vor, Otto, auf das, was ich sagte, mir zu
antworten?«

»Am liebsten nein, liebe Helene. Wozu auch? Du kannst doch nicht von mir
verlangen, daß ich in dieser Sache deiner Meinung bin, und wenn ich es
=nicht= bin und das ausspreche, so reize ich dich nur noch mehr. Ich
finde, daß du doch mehr forderst, als du fordern solltest. Meine Mutter
ist von großer Aufmerksamkeit gegen dich und hat dir noch gestern einen
Beweis davon gegeben; denn ich bezweifle sehr, daß ihr das =unsrem= Gast
zu Ehren gegebene Diner besonders zu paß kam. Du weißt außerdem, daß sie
sparsam ist, wenn es nicht ihre Person gilt.«

»Sparsam«, lachte Helene.

»Nenn' es Geiz; mir gleich. Sie läßt es aber trotzdem nie an
Aufmerksamkeit fehlen, und wenn die Geburtstage da sind, so sind auch
ihre Geschenke da. Das stimmt dich aber alles nicht um, im Gegenteil, du
wächst in deiner beständigen Auflehnung gegen die Mama und das alles
nur, weil sie dir durch ihre Haltung zu verstehen gibt, daß das, was
Papa die »Hamburgerei« nennt, nicht das höchste in der Welt ist, und daß
der liebe Gott seine Welt nicht um der Munks willen geschaffen hat ...«

»Sprichst du das deiner Mutter nach oder tust du von deinem Eigenen noch
was hinzu? Fast klingt es so; deine Stimme zittert ja beinah.«

»Helene, wenn du willst, daß wir die Sache ruhig durchsprechen und alles
in Billigkeit und mit Rücksicht für hüben und drüben abwägen, so darfst
du nicht beständig Öl ins Feuer gießen. Du bist so gereizt gegen die
Mama, weil sie deine Anspielungen nicht verstehen will und keine Miene
macht, Hildegard einzuladen. Darin hast du aber unrecht. Soll das Ganze
bloß etwas Geschwisterliches sein, so muß die Schwester die Schwester
einladen; das ist dann eine Sache, mit der meine Mama herzlich wenig zu
tun hat ...«

»Sehr schmeichelhaft für Hildegard und auch für mich ...«

»... Soll aber ein anderer Plan damit verfolgt werden, und du hast mir
zugestanden, das dies der Fall ist, so muß das, so wünschenswert solche
zweite Familienverbindung ganz unzweifelhaft auch für die Treibels sein
würde, so muß das unter Verhältnissen geschehen, die den Charakter des
Natürlichen und Ungezwungenen haben. Lädst du Hildegard ein und führt
das, sagen wir einen Monat später oder zwei zur Verlobung mit Leopold,
so haben wir genau das, was ich den natürlichen und ungezwungenen Weg
nenne; schreibt aber meine =Mama= den Einladungsbrief an Hildegard und
spricht sie darin aus, wie glücklich sie sein würde, die Schwester ihrer
lieben Helene recht, recht lange bei sich zu sehen und sich des Glückes
der Geschwister mitfreuen zu können, so drückt sich darin ziemlich
unverblümt eine Huldigung und ein aufrichtiges sich Bemühen um deine
Schwester Hildegard aus, und das will die Firma Treibel vermeiden.«

»Und das billigst du?«

»Ja.«

»Nun, das ist wenigstens deutlich. Aber weil es deutlich ist, darum ist
es noch nicht richtig. Alles, wenn ich dich recht verstehe, dreht sich
also um die Frage, wer den ersten Schritt zu tun habe.«

Otto nickte.

»Nun, wenn dem so ist, warum wollen die Treibels sich sträuben, diesen
ersten Schritt zu tun? Warum, frage ich. So lange die Welt steht, ist
der Bräutigam oder der Liebhaber der, der wirbt ...«

»Gewiß, liebe Helene. Aber bis zum Werben sind wir noch nicht. Vorläufig
handelt es sich noch um Einleitungen, um ein Brückenbauen, und dies
Brückenbauen ist an denen, die das größere Interesse daran haben.«

»Ah«, lachte Helene. »Wir die Munks ... und das größere Interesse! Otto,
das hättest du nicht sagen sollen, nicht, weil es mich und meine Familie
herabsetzt, sondern weil es die ganze Treibelei und dich an der Spitze
mit einem Ridicül ausstattet, das dem Respekt, den die Männer doch
beständig beanspruchen, nicht allzu vorteilhaft ist. Ja, Freund, du
forderst mich heraus, und so will ich dir denn offen sagen, auf eurer
Seite liegt Interesse, Gewinn, Ehre. Und daß ihr das empfindet, das müßt
ihr eben bezeugen, dem müßt ihr einen nicht mißzuverstehenden Ausdruck
geben. Das ist der erste Schritt, von dem ich gesprochen. Und da ich mal
bei Bekenntnissen bin, so laß mich dir sagen, Otto, daß diese Dinge,
neben ihrer ernsten und geschäftlichen Seite, doch auch noch eine
persönliche Seite haben, und daß es dir, so nehm' ich vorläufig an,
nicht in den Sinn kommen kann, unsre Geschwister in ihrer äußeren
Erscheinung miteinander vergleichen zu wollen. Hildegard ist eine
Schönheit und gleicht ganz ihrer Großmutter Elisabeth Thompson (nach der
wir ja auch unsere Lizzi getauft haben) und hat den _chic_ einer Lady;
du hast mir das selber früher zugestanden. Und nun sieh deinen Bruder
Leopold! Er ist ein guter Mensch, der sich ein Reitpferd angeschafft
hat, weil er's durchaus zwingen will, und schnallt sich nun jeden Morgen
die Steigbügel so hoch wie ein Engländer. Aber es nutzt ihm nichts. Er
ist und bleibt doch unter Durchschnitt, jedenfalls weitab vom Kavalier,
und wenn Hildegard ihn nähme (ich fürchte, sie nimmt ihn nicht), so wäre
das wohl der einzige Weg, noch etwas wie einen perfekten Gentleman aus
ihm zu machen. Und das kannst du deiner Mama sagen.«

»Ich würde vorziehen, du tätest es.«

»Wenn man aus einem guten Hause stammt, vermeidet man Aussprachen und
Szenen ...«

»Und macht sie dafür dem Manne.«

»Das ist etwas anderes.«

»Ja«, lachte Otto. Aber in seinem Lachen war etwas Melancholisches.

       *       *       *       *       *

Leopold Treibel, der im Geschäft seines älteren Bruders tätig war,
während er im elterlichen Hause wohnte, hatte sein Jahr bei den
Gardedragonern abdienen wollen, war aber, wegen zu flacher Brust, nicht
angenommen worden, was die ganze Familie schwer gekränkt hatte. Treibel
selbst kam schließlich drüber weg, weniger die Kommerzienrätin, am
wenigsten Leopold selbst, der -- wie Helene bei jeder Gelegenheit und
auch an diesem Morgen wieder zu betonen liebte -- zur Auswetzung der
Scharte wenigstens Reitstunde genommen hatte. Jeden Tag war er zwei
Stunden im Sattel und machte dabei, weil er sich wirklich Mühe gab, eine
ganz leidliche Figur.

Auch heute wieder, an demselben Morgen, an dem die alten und jungen
Treibels ihren Streit über dasselbe gefährliche Thema führten, hatte
Leopold, ohne die geringste Ahnung davon, sowohl Veranlassung wie
Mittelpunkt derartiger heikler Gespräche zu sein, seinen wie gewöhnlich
auf Treptow zu gerichteten Morgenausflug angetreten und ritt, von der
elterlichen Wohnung aus, die zu so früher Stunde noch wenig belebte
Köpenicker Straße hinunter, erst an seines Bruders Villa, dann an der
alten Pionierkaserne vorüber. Die Kasernenuhr schlug eben sieben, als er
das Schlesische Tor passierte. Wenn ihn dies im Sattelsein ohnehin schon
an jedem Morgen erfreute, so besonders heut, wo die Vorgänge des
voraufgegangenen Abends, am meisten aber die zwischen Mr. Nelson und
Korinna geführten Gespräche noch stark in ihm nachwirkten, so stark, daß
er mit dem ihm sonst wenig verwandten Ritter Karl von Eichenhorst wohl
den gemeinschaftlichen Wunsch des »Sich Ruhe-Reitens« in seinem Busen
hegen durfte. Was ihm equestrisch dabei zur Verfügung stand, war
freilich nichts weniger als ein Dänenroß voll Kraft und Feuer, sondern
nur ein schon lange Zeit in der Manege gehender Graditzer, dem etwas
Extravagantes nicht mehr zugemutet werden konnte. Leopold ritt denn auch
Schritt, so sehr er sich wünschte, davonstürmen zu können. Erst ganz
allmählich fiel er in einen leichten Trab und blieb darin, bis er den
Schafgraben und gleich danach den in geringer Entfernung gelegenen
»Schlesischen Busch« erreicht hatte, drin am Abend vorher, wie ihm
Johann noch im Moment des Abreitens erzählt hatte, wieder zwei
Frauenzimmer und ein Uhrmacher beraubt worden waren. »Daß dieser Unfug
auch gar kein Ende nehmen will! Schwäche, Polizeiversäumnis.« Indessen
bei hellem Tageslichte bedeutete das alles nicht allzu viel, weshalb
Leopold in der angenehmen Lage war, sich der ringsumher schlagenden
Amseln und Finken unbehindert freuen zu können. Und kaum minder genoß
er, als er aus dem »Schlesischen Busche« wieder heraus war, der freien
Straße, zu deren Rechten sich Saat und Kornfelder dehnten, während zur
linken die Spree mit ihren nebenher laufenden Parkanlagen den Weg
begrenzte. Das alles war so schön, so morgenfrisch, daß er das Pferd
wieder in Schritt fallen ließ. Aber freilich, so langsam er ritt, bald
war er trotzdem an der Stelle, wo, vom andern Ufer her, das kleine
Fährboot herüberkam, und als er anhielt, um dem Schauspiele besser
zusehen zu können, trabten von der Stadt her auch schon einige Reiter
auf der Chaussee heran, und ein Pferdebahnwagen glitt vorüber, drin, so
viel er sehen konnte, keine Morgengäste für Treptow saßen. Das war so
recht, was ihm paßte, denn sein Frühstück im Freien, was ihn dort
regelmäßig erquickte, war nur noch die halbe Freude, wenn ein halb
Dutzend echte Berliner um ihn herumsaßen und ihren mitgebrachten
Affenpintscher über die Stühle springen oder vom Steg aus apportieren
ließen. Das alles, wenn dieser leere Wagen nicht schon einen
vollbesetzten Vorläufer gehabt hatte, war für heute nicht zu befürchten.

Gegen halb acht war er draußen, und einen halbwachsenen Jungen mit nur
einem Arm und dem entsprechenden losen Ärmel (den er beständig in der
Luft schwenkte) heranwinkend, stieg er jetzt ab und sagte, während er
dem Einarmigen die Zügel gab: »Führ es unter die Linde, Fritz. Die
Morgensonne sticht hier so.« Der Junge tat auch, wie ihm geheißen, und
Leopold seinerseits ging nun an einem von Liguster überwachsenen
Staketenzaun auf den Eingang des Treptower Etablissements zu. Gott sei
Dank, hier war alles wie gewünscht, sämtliche Tische leer, die Stühle
umgekippt, und auch von Kellnern niemand da, als sein Freund Mützell,
ein auf sich haltender Mann von Mitte der Vierzig, der schon in den
Vormittagsstunden einen beinahe fleckenlosen Frack trug und die
Trinkgelderfrage mit einer erstaunlichen, übrigens von Leopold (der
immer sehr splendid war) nie herausgeforderten Gentilezza behandelte.
»Sehen Sie, Herr Treibel,« so waren, als das Gespräch einmal in dieser
Richtung lief, seine Worte gewesen, »die meisten wollen nicht recht und
streiten einem auch noch was ab, besonders die Damens, aber viele sind
auch wieder gut und manche sogar sehr gut und wissen, daß man von einer
Zigarre nicht leben kann und die Frau zu Hause mit ihren drei Kindern
erst recht nicht. Und sehen Sie, Herr Treibel, die geben und besonders
die kleinen Leute. Da war erst gestern wieder einer hier, der schob mir
aus Versehen ein Fünfzigpfennigstück zu, weil er's für einen Zehner
hielt, und als ich's ihm sagte, nahm er's nicht wieder und sagte bloß:
>Das hat so sein sollen, Freund und Kupferstecher; mitunter fällt Ostern
und Pfingsten auf einen Dag.<«

Das war vor Wochen gewesen, daß Mützell so zu Leopold Treibel gesprochen
hatte. Beide standen überhaupt auf einem Plauderfuß, was aber für
Leopold noch angenehmer als diese Plauderei war, war, daß er über Dinge,
die sich von selbst verstanden, gar nicht erst zu sprechen brauchte.
Mützell, wenn er den jungen Treibel in das Lokal eintreten und über den
frischgeharkten Kies hin auf seinen Platz in unmittelbarer Nähe des
Wassers zuschreiten sah, salutierte bloß von fern und zog sich dann ohne
weiteres in die Küche zurück, von der aus er nach drei Minuten mit einem
Tablett, auf dem eine Tasse Kaffee mit ein paar englischen Biskuits und
ein großes Glas Milch stand, wieder unter den Frontbäumen erschien. Das
große Glas Milch war Hauptsache, denn Sanitätsrat Lohmeyer hatte noch
nach der letzten Auskultation zur Kommerzienrätin gesagt: »Meine
gnädigste Frau, noch hat es nichts zu bedeuten, aber man muß vorbeugen,
dazu sind wir da; im übrigen ist unser Wissen Stückwerk. Also wenn ich
bitten darf, so wenig Kaffee wie möglich und jeden Morgen ein Liter
Milch.«

Auch heute hatte bei Leopolds Erscheinen die sich täglich wiederholende
Begegnungsszene gespielt: Mützell war auf die Küche zu verschwunden und
tauchte jetzt in Front des Hauses wieder auf, das Tablett auf den fünf
Fingerspitzen seiner linken Hand mit beinahe zirkushafter Virtuosität
balancierend.

»Guten Morgen, Herr Treibel. Schöner Morgen heute morgen.«

»Ja, lieber Mützell. Sehr schön. Aber ein bißchen frisch. Besonders hier
am Wasser. Mich schuddert ordentlich, und ich bin schon auf- und
abgegangen. Lassen Sie sehen Mützell, ob der Kaffee warm ist.«

Und ehe der so freundlich Angesprochene das Tablett auf den Tisch setzen
konnte, hatte Leopold die kleine Tasse schon herabgenommen und sie mit
einem Zuge geleert.

»Ah, brillant. Das tut einem alten Menschen wohl. Und nun will ich die
Milch trinken, Mützell; aber mit Andacht. Und wenn ich damit fertig bin,
-- die Milch ist immer ein bißchen labbrig, was aber kein Tadel sein
soll, gute Milch muß eigentlich immer ein bißchen labbrig sein -- wenn
ich damit fertig bin, bitt' ich noch um eine ...«

»Kaffee?«

»Freilich, Mützell.«

»Ja, Herr Treibel ...«

»Nun, was ist? Sie machen ja ein ganz verlegenes Gesicht, Mützell, als
ob ich was ganz besonderes gesagt hätte.«

»Ja, Herr Treibel ...«

»Nun, zum Donnerwetter, was ist denn los?«

»Ja, Herr Treibel, als die Frau Mama vorgestern hier waren und der Herr
Kommerzienrat auch, und auch das Gesellschaftsfräulein, und Sie, Herr
Leopold, eben nach dem Sperl und dem Karussell gegangen waren, da hat
mir die Frau Mama gesagt: >Hören Sie, Mützell, ich weiß, er kommt
beinahe jeden Morgen, und ich mache Sie verantwortlich ... =eine= Tasse;
nie mehr ... Sanitätsrat Lohmeyer, der ja auch mal Ihre Frau behandelt
hat, hat es mir im Vertrauen, aber doch mit allem Ernste gesagt: zwei
sind Gift ...<«

»So ... Und hat meine Mama vielleicht noch mehr gesagt?«

»Die Frau Kommerzienrätin sagten auch noch: >Ihr Schade soll es nicht
sein, Mützell ... Ich kann nicht sagen, daß mein Sohn ein passionierter
Mensch ist, er ist ein guter Mensch, ein lieber Mensch ...< Sie
verzeihen, Herr Treibel, daß ich Ihnen das alles, was Ihre Frau Mama
gesagt hat, hier so ganz simplement wiederhole ... >aber er hat die
Kaffeepassion. Und das ist immer das Schlimme, daß die Menschen grade
=die= Passion haben, die sie nicht haben sollen. Also Mützell, eine
Tasse mag gehen, aber nicht zwei.<«

Leopold hatte mit sehr geteilten Empfindungen zugehört und nicht gewußt,
ob er lachen oder verdrießlich werden sollte. »Nun, Mützell, dann also
lassen wir's; keine zweite.« Und damit nahm er seinen Platz wieder ein,
während sich Mützell in seine Wartestellung an der Hausecke zurückzog.

»Da hab' ich nun mein Leben auf einen Schlag«, sagte Leopold, als er
wieder allein war. »Ich habe mal von einem gehört, der bei Josty, weil
er so gewettet hatte, zwölf Tassen Kaffee hintereinander trank und dann
tot umfiel. Aber was beweist das? Wenn ich zwölf Käsestullen esse, fall'
ich auch tot um; alles Verzwölffachte tötet einen Menschen. Aber welcher
vernünftige Mensch verzwölffacht auch sein Speis und Trank. Von jedem
vernünftigen Menschen muß man annehmen, daß er Unsinnigkeiten
unterlassen und seine Gesundheit befragen und seinen Körper nicht
zerstören wird. Wenigstens für mich kann ich einstehen. Und die gute
Mama sollte wissen, daß ich dieser Kontrolle nicht bedarf und sollte mir
diesen meinen Freund Mützell nicht so naiv zum Hüter bestellen. Aber sie
muß immer die Fäden in der Hand haben, sie muß alles bestimmen, alles
anordnen, und wenn ich eine baumwollene Jacke will, so muß es eine
wollene sein.«

Er machte sich nun an die Milch und mußte lächeln, als er die lange
Stange mit dem schon niedergesunkenen Milchschaum in die Hand nahm.
»Mein eigentliches Getränk. >Milch der frommen Denkungsart< würde Papa
sagen. Ach, es ist zum ärgern, alles zum ärgern. Bevormundung, wohin ich
sehe, schlimmer, als ob ich gestern meinen Einsegnungstag gehabt hätte.
Helene weiß alles besser, Otto weiß alles besser und nun gar erst die
Mama. Sie möchte mir am liebsten vorschreiben, ob ich einen blauen oder
grünen Schlips und einen graden oder schrägen Scheitel tragen soll. Aber
ich will mich nicht ärgern. Die Holländer haben ein Sprichwort: >Ärgere
dich nicht, wundere dich bloß.< Und auch das werd' ich mir schließlich
noch abgewöhnen.«

Er sprach noch so weiter in sich hinein, abwechselnd die Menschen und
die Verhältnisse verklagend, bis er mit einem Mal all seinen Unmut gegen
sich selber richtete: »Torheit. Die Menschen, die Verhältnisse, das
alles ist es nicht; nein, nein. Andre haben auch eine auf ihr
Hausregiment eifersüchtige Mama und tun doch, was sie wollen; es liegt
an mir. »_Pluck, dear Leopold, that's it_,« hat mir der gute Nelson noch
gestern abend zum Abschied gesagt, und er hat ganz recht. Da liegt es;
nirgend anders. Mir fehlt es an Energie und Mut, und das Aufbäumen hab'
ich nun schon gewiß nicht gelernt.«

Er blickte, während er so sprach, vor sich hin, knipste mit seiner
Reitgerte kleine Kiesstücke fort und malte Buchstaben in den
frischgestreuten Sand. Und als er nach einer Weile wieder aufblickte,
sah er zahlreiche Boote, die vom Stralauer Ufer her herüber kamen, und
dazwischen einen mit großem Segel flußabwärts fahrenden Spreekahn. Wie
sehnsüchtig richtete sich sein Blick darauf.

»Ach, ich muß aus diesem elenden Zustande heraus, und wenn es wahr ist,
daß einem die Liebe Mut und Entschlossenheit gibt, so muß noch alles gut
werden. Und nicht bloß gut, es muß mir auch leicht werden und mich
geradezu zwingen und drängen, den Kampf aufzunehmen und ihnen allen zu
zeigen, und der Mama voran, daß sie mich denn doch verkannt und
unterschätzt haben. Und wenn ich in Unentschlossenheit zurückfalle, was
Gott verhüte, so wird sie mir die nötige Kraft geben. Denn sie hat all
das, was mir fehlt, und weiß alles und kann alles. Aber bin ich ihrer
sicher? Da steh' ich wieder vor der Hauptfrage. Mitunter ist es mir
freilich, als kümmere sie sich um mich, und als spräche sie eigentlich
nur zu mir, wenn sie zu anderen spricht. So war es noch gestern abend
wieder, und ich sah auch, wie Marcell sich verfärbte, weil er
eifersüchtig war. Etwas anderes konnte es nicht sein. Und das alles ...«

Er unterbrach sich, weil eben jetzt die sich um ihn her sammelnden
Sperlinge mit jedem Augenblicke zudringlicher wurden. Einige kamen bis
auf den Tisch und mahnten ihn durch Picken und dreistes Ansehen, daß er
ihnen noch immer ihr Frühstück schulde. Lächelnd zerbrach er ein Biskuit
und warf ihnen die Stücke hin, mit denen zunächst die Sieger und,
alsbald auch ihnen folgend, die anderen in die Lindenbäume zurückflogen.
Aber kaum daß die Störenfriede fort waren, so waren für ihn auch die
alten Betrachtungen wieder da. »Ja, das mit Marcell, das darf ich mir
zum Guten deuten und manches andere noch. Aber es kann auch alles bloß
Spiel und Laune gewesen sein. Korinna nimmt nichts ernsthaft und will
eigentlich immer nur glänzen und die Bewunderung oder das Verwundertsein
ihrer Zuhörer auf sich ziehen. Und wenn ich mir diesen ihren Charakter
überlege, so muß ich an die Möglichkeit denken, daß ich schließlich
auch noch heimgeschickt und ausgelacht werde. Das ist hart. Und doch
muß ich es wagen ... Wenn ich nur wen hätte, dem ich mich anvertrauen
könnte, der mir riete. Leider hab' ich niemanden, keinen Freund; dafür
hat Mama auch gesorgt, und so muß ich mir, ohne Rat und Beistand,
allerpersönlichst ein doppeltes »Ja« holen. Erst bei Korinna. Und wenn
ich dies erste »Ja« habe, so hab' ich noch lange nicht das zweite. Das
seh' ich nur zu klar. Aber das zweite kann ich mir wenigstens erkämpfen
und will es auch ... Es gibt ihrer genug, für die das alles eine
Kleinigkeit wäre, für mich aber ist es schwer; ich weiß, ich bin kein
Held, und das Heldische läßt sich nicht lernen. >Jeder nach seinen
Kräften<, sagte Direktor Hilgenhahn immer. Ach, ich finde doch beinahe,
daß mir mehr aufgelegt wird, als meine Schultern tragen können.«

Ein mit Personen besetzter Dampfer kam in diesem Augenblicke den Fluß
herauf und fuhr, ohne an den Wassersteg anzuzulegen, auf den »Neuen
Krug« und »Sadowa« zu; Musik war an Bord, und dazwischen wurden allerlei
Lieder gesungen. Als das Schiff erst den Steg und bald auch die
»Liebesinsel« passiert hatte, fuhr auch Leopold aus seinen Träumereien
auf und sah, nach der Uhr blickend, daß es höchste Zeit sei, wenn er
noch pünktlich auf dem Kontor eintreffen und sich eine Reprimande, oder,
was schlimmer, eine spöttische Bemerkung von seiten seines Bruders Otto
ersparen wollte. So schritt er denn unter freundlichem Gruß an dem immer
noch an seiner Ecke stehenden Mützell vorüber und auf die Stelle zu, wo
der Einarmige sein Pferd hielt. »Da, Fritz!« Und nun hob er sich in den
Sattel, machte den Rückweg in einem guten Trab und bog, als er das Tor
und gleich danach die Pionierkaserne wieder passiert hatte, nach rechts
hin in einen neben dem Otto Treibelschen Holzhofe sich hinziehenden
schmalen Gang ein, über dessen Heckenzaun fort man auf den Vorgarten und
die zwischen den Bäumen gelegene Villa sah. Bruder und Schwägerin saßen
noch beim Frühstück. Leopold grüßte hinüber: »Guten Morgen, Otto; guten
Morgen, Helene!« Beide erwiderten den Gruß, lächelten aber, weil sie
diese tägliche Reiterei ziemlich lächerlich fanden. Und gerade Leopold!
Was er sich eigentlich dabei denken mochte!

Leopold selbst war inzwischen abgestiegen und gab das Pferd einem an der
Hintertreppe der Villa schon wartenden Diener, der es, die Köpenicker
Straße hinauf, nach dem elterlichen Fabrikhof und dem dazu gehörigen
Stallgebäude führte -- _stable-yard_ sagte Helene.




Neuntes Kapitel


Eine Woche war vergangen und über dem Schmidtschen Hause lag eine starke
Verstimmung; Korinna grollte mit Marcell, weil er mit ihr grollte (so
wenigstens mußte sie sein Ausbleiben deuten), und die gute Schmolke
wiederum grollte mit Korinna wegen ihres Grollens auf Marcell. »Das tut
nicht gut, Korinna, so sein Glück von sich zu stoßen. Glaube mir, das
Glück wird ärgerlich, wenn man es wegjagt, und kommt dann nicht wieder.
Marcell ist, was man einen Schatz nennt, oder auch ein Juwel, Marcell
ist ganz so wie Schmolke war.« So hieß es jeden Abend. Nur Schmidt
merkte nichts von der über seinem Hause lagernden Wolke, studierte sich
vielmehr immer tiefer in die Goldmasken hinein und entschied sich, in
einem mit Distelkamp immer heftiger geführten Streite, auf das
Bestimmteste hinsichtlich der einen für Aegisth. Aegisth sei doch
immerhin sieben Jahre lang Klytämnestras Gemahl gewesen, außerdem
naher Anverwandter des Hauses, und wenn er, Schmidt, auch seinerseits
zugeben müsse, daß der Mord Agamemnons einigermaßen gegen seine
Aegisth-Hypothese spreche, so sei doch andererseits nicht zu vergessen,
daß die ganze Mordaffäre mehr oder weniger etwas Internes, so zu sagen
eine reine Familienangelegenheit gewesen sei, wodurch die nach außen
hin auf Volk und Staat berechnete Beisetzungs- und Zermonialfrage nicht
eigentlich berührt werden könne. Distelkamp schwieg und zog sich unter
Lächeln aus der Debatte zurück.

Auch bei den alten und jungen Treibels herrschte eine gewisse schlechte
Laune vor: Helene war unzufrieden mit Otto, Otto mit Helenen, und die
Mama wiederum mit beiden. Am unzufriedensten, wenn auch nur mit sich
selber, war Leopold, und nur der alte Treibel merkte von der ihn
umgebenden Verstimmung herzlich wenig oder wollte nichts davon merken,
erfreute sich vielmehr einer ungewöhnlich guten Laune. Das dem so war,
hatte, wie bei Wilibald Schmidt, darin seinen Grund, daß er all die Zeit
über sein Steckenpferd tummeln und sich einiger schon erzielter Triumphe
rühmen durfte. Vogelsang war nämlich, unmittelbar nach dem zu seinen und
Mr. Nelsons Ehren stattgehabten Diner, in den für Treibel zu erobernden
Wahlkreis abgegangen, und zwar um hier in einer Art Vorkampagne die
Herzen und Nieren der Teupitz-Zossener und ihre mutmaßliche Haltung in
der entscheidenden Stunde zu prüfen. Es muß gesagt werden, daß er, bei
Durchführung dieser seiner Aufgabe, nicht bloß eine bemerkenswerte
Tätigkeit entfaltet, sondern auch beinahe täglich etliche Telegramme
geschickt hatte, darin er über die Resultate seines Wahlfeldzuges, je
nach der Bedeutung der Aktion, länger oder kürzer berichtete. Daß diese
Telegramme mit denen des ehemaligen Bernauer Kriegskorrespondenten eine
verzweifelte Ähnlichkeit hatten, war Treibel nicht entgangen, aber von
diesem, weil er schließlich nur auf das achtete, was ihm persönlich
gefiel, ohne sonderliche Beanstandung hingenommen worden. In einem
dieser Telegramme hieß es: »Alles geht gut. Bitte, Geldanweisung nach
Teupitz hin. Ihr V.« Und dann: »Die Dörfer am Scharmützelsee sind unser.
Gott sei Dank. Überall diese Gesinnung wie am Teupitzsee. Anweisung noch
nicht eingetroffen. Bitte dringend. Ihr V.« ... »Morgen nach Storkow!
Dort muß es sich entscheiden. Anweisung inzwischen empfangen. Aber deckt
nur gerade das schon Verausgabte. Montecuculis Wort über Kriegsführung
gilt auch für Wahlfeldzüge. Bitte weiteres nach Groß-Rietz hin. Ihr V.«
Treibel, in geschmeichelter Eitelkeit, betrachtete hiernach den
Wahlkreis als für ihn gesichert, und in den Becher seiner Freude fiel
eigentlich nur ein Wermutstropfen: er wußte, wie kritisch ablehnend
Jenny zu dieser Sache stand, und sah sich dadurch gezwungen, sein Glück
allein zu genießen. Friedrich, überhaupt sein Vertrauter, war ihm auch
jetzt wieder »unter Larven die einzig fühlende Brust«, ein Zitat, das er
nicht müde wurde sich zu wiederholen. Aber eine gewisse Leere blieb
doch. Auffallend war ihm außerdem, daß die Berliner Zeitungen gar nichts
brachten, und zwar war ihm dies um so auffallender, als von scharfer
Gegnerschaft, allen Vogelsangschen Berichten nach, eigentlich keine Rede
sein konnte. Die Konservativen und Nationalliberalen, und vielleicht
auch ein paar Parlamentarier von Fach, mochten gegen ihn sein, aber
was bedeutete das? Nach einer ungefähren Schätzung, die Vogelsang
angestellt und in einem eingeschriebenen Briefe nach Villa Treibel hin
adressiert hatte, besaß der ganze Kreis nur sieben Nationalliberale:
drei Oberlehrer, einen Kreisrichter, einen rationalistischen
Superintendenten und zwei studierte Bauerngutsbesitzer, während die
Zahl der Orthodox-Konservativen noch hinter diesem bescheidenen
Häuflein zurückblieb. »Ernst zu nehmende Gegnerschaft vakat.« So
schloß Vogelsangs Brief, und »vakat« war unterstrichen. Das klang
hoffnungsreich genug, ließ aber, inmitten aufrichtiger Freude, doch
einen Rest von Unruhe fortbestehen, und als eine runde Woche seit
Vogelsangs Abreise vergangen war, brach denn auch wirklich der
große Tag an, der die Berechtigung der instinktiv immer wieder sich
einstellenden Ängstlichkeit und Sorge dartun sollte. Nicht unmittelbar,
nicht gleich im ersten Moment, aber die Frist war nur eine nach Minuten
ganz kurz bemessene.

Treibel saß in seinem Zimmer und frühstückte. Jenny hatte sich mit
Kopfweh und einem schweren Traum entschuldigen lassen. Sollte sie wieder
von Vogelsang geträumt haben? Er ahnte nicht, daß dieser Spott sich in
derselben Stunde noch an ihm rächen würde. Friedrich brachte die
Postsachen, unter denen diesmal wenig Karten und Briefe, dafür aber
desto mehr Zeitungen unter Kreuzband waren, einige, so viel sich
äußerlich erkennen ließ, mit merkwürdigen Emblemen und Stadtwappen
ausgerüstet.

All dies (zunächst nur Vermutung) sollte sich, bei schärferem Zusehen,
rasch bestätigen, und als Treibel die Kreuzbänder entfernt und das
weiche Löschpapier über den Tisch hin ausgebreitet hatte, las er mit
einer gewissen heiteren Andacht: »Der Wächter an der wendischen Spree«,
»Wehrlos, ehrlos«, »Alltied Vorupp« und der »Storkower Bote«, -- zwei
davon waren cis-, zwei transspreeanischen Ursprunges. Treibel, sonst ein
Feind alles überstürzten Lesens, weil er von jedem blinden Eifer nur
Unheil erwartete, machte sich diesmal mit bemerkenswerter Raschheit über
die Blätter und überflog die blau angestrichenen Stellen. Leutnant
Vogelsang (so hieß es in jedem in wörtlicher Wiederholung), ein Mann,
der schon Anno 48 gegen die Revolution gestanden und der Hydra das Haupt
zertreten, hätte, sich an drei hintereinander folgenden Tagen dem Kreise
vorgestellt, nicht um seiner selbst, sondern um seines politischen
Freundes, des Kommerzienrats Treibel willen, der später den Kreis
besuchen und bei der Gelegenheit die von Leutnant Vogelsang
ausgesprochenen Grundsätze wiederholen werde, was, so viel lasse
sich schon heute sagen, als die wärmste Empfehlung des eigentlichen
Kandidaten anzusehen sei. Denn das Vogelsangsche Programm laufe darauf
hinaus, daß zu viel und namentlich unter zu starker Wahrnehmung
persönlicher Interessen regiert werde, daß also demgemäß alle
kostspieligen Zwischenstufen fallen müßten (was wiederum gleichbedeutend
sei mit Herabsetzung der Steuern), und daß von den gegenwärtigen, zum
Teil unverständlichen Kompliziertheiten nichts übrig bleiben dürfe als
ein freier Fürst und ein freies Volk. Damit seien freilich zwei
Dreh- oder Mittelpunkte gegeben, aber nicht zum Schaden der Sache.
Denn wer die Tiefe des Lebens ergründet oder ihr auch nur nachgespürt
habe, der wisse, daß die Sache mit dem einfachen Mittelpunkt -- er
vermeide mit Vorbedacht das Wort Zentrum -- falsch sei, und daß sich
das Leben nicht im Kreise, wohl aber in der Ellipse bewege. Weshalb
zwei Drehpunkte das natürlich Gegebene seien.

»Nicht übel,« sagte Treibel, als er gelesen, »nicht übel. Es hat so was
Logisches; ein bißchen verrückt aber doch logisch. Das einzige, was mich
stutzig macht, ist, daß es alles klingt, als ob es Vogelsang selber
geschrieben hätte. Die zertretene Hydra, die herabgesetzten Steuern, das
gräßliche Wortspiel mit dem Zentrum und zuletzt der Unsinn mit dem Kreis
und der Ellipse, das alles ist Vogelsang. Und der Einsender an die vier
Spreeblätter ist natürlich wiederum Vogelsang. Ich kenne meinen
Pappenheimer.« Und dabei schob Treibel den »Wächter an der wendischen
Spree« samt dem ganzen Rest vom Tisch auf das Sofa hinunter und nahm
eine halbe »Nationalzeitung« zur Hand, die gleichfalls mit den andern
Blättern unter Kreuzband eingegangen war, aber der Handschrift und
ganzen Adresse nach von jemand anderem als Vogelsang aufgegeben sein
mußte. Früher war der Kommerzienrat Abonnent und eifriger Leser der
»Nationalzeitung« gewesen, und es kamen ihm auch jetzt noch tagtäglich
Viertelstunden, in denen er den Wechsel in seiner Lektüre bedauerte.

»Nun laß sehn«, sagte er schließlich und ging, das Blatt aufschlagend,
mit lesegewandtem Auge die drei Spalten hinunter und richtig, da war es:
»Parlamentarische Nachrichten. Aus dem Kreise Teupitz-Zossen.« Als er
den Kopftitel gelesen, unterbrach er sich. »Ich weiß nicht, es klingt so
sonderbar. Und doch auch wieder, wie soll es am Ende anders klingen? Es
ist der natürlichste Anfang von der Welt; also nur vorwärts.«

Und so las er denn weiter: »Seit drei Tagen haben in unserem stillen
und durch politische Kämpfe sonst wenig gestörten Kreise die
Wahlvorbereitungen begonnen und zwar seitens einer Partei, die sich
augenscheinlich vorgesetzt hat, das, was ihr an historischer Kenntnis
und politischer Erfahrung, ja, man darf füglich sagen an gesundem
Menschenverstande fehlt, durch >Fixigkeit< zu ersetzen. Eben diese
Partei, die sonst nichts weiß und kennt, kennt augenscheinlich das
Märchen vom >Swinegel und siner Fru< und scheint gewillt, an dem Tage,
wo der Wettbewerb mit den wirklichen Parteien zu beginnen hat, eine
jede derselben mit dem aus jenem Märchen wohlbekannten Swinegelrufe:
>Ick bin all hier< empfangen zu wollen. Nur so vermögen wir uns dies
überfrühe Zurstellesein zu erklären. Alle Plätze scheinen, wie bei
Theaterpremieren, vom Leutnant Vogelsang und den Seinen im voraus belegt
werden zu sollen. Aber man wird sich täuschen. Es fehlt dieser Partei
nicht an Stirn, wohl aber an dem, was noch mit dazu gehört; der Kasten
ist da, nicht der Inhalt ...«

»Alle Wetter,« sagte Treibel, »der setzt scharf ein ... Was davon auf
mein Teil kommt, ist mir nicht eben angenehm, aber dem Vogelsang gönn
ich es. Etwas ist in seinem Programm, das blendet, und damit hat er mich
eingefangen. Indessen, je mehr ich mir's ansehe, desto fraglicher
erscheint es mir. Unter diesen Knickstiebeln, die sich einbilden, schon
vor vierzig Jahren die Hydra zertreten zu haben, sind immer etliche
Zirkelquadratur- und Perpetuum mobile-Sucher, immer solche, die das
Unmögliche, das sich in sich Widersprechende zustande bringen wollen.
Vogelsang gehört dazu. Vielleicht ist es auch bloß Geschäft; wenn ich
mir zusammenrechne, was ich in diesen acht Tagen ... Aber ich bin erst
bis an den ersten Absatz der Korrespondenz gekommen; die zweite Hälfte
wird ihm wohl noch schärfer zu Leibe gehen oder vielleicht auch mir.«
Und Treibel las weiter:

»Es ist kaum möglich, den Herrn, der uns gestern und vorgestern --
seiner in unserem Kreise voraufgegangenen Taten zu geschweigen --
zunächst in Markgraf Pieske, dann aber in Storkow und Groß-Rietz
beglückt hat, ernsthaft zu nehmen, und zwar um so weniger, je
ernsthafter das Gesicht ist, das er macht. Er gehört in die Klasse der
Malvoglios, der feierlichen Narren, deren Zahl leider größer ist, als
man gewöhnlich annimmt. Wenn sein Galimathias noch keinen Namen hat, so
könnte man ihn das Lied vom dreigestrichenen C nennen, denn Cabinet,
Churbrandenburg und Cantonale-Freiheit, das sind die drei großen C,
womit dieser Kurpfuscher die Welt oder doch wenigstens den preußischen
Staat retten will. Eine gewisse Methode läßt sich darin nicht verkennen,
indessen Methode hat auch der Wahnsinn. Leutnant Vogelsangs Sang hat uns
aufs äußerste mißfallen. Alles in seinem Programm ist gemeingefährlich.
Aber was wir am meisten beklagen, ist das, daß er nicht für sich und in
seinem Namen sprach, sondern im Namen eines unserer geachtetsten
Berliner Industriellen, des Kommerzienrats Treibel (Berliner-Blaufabrik,
Köpenicker Str.), von dem wir uns eines Besseren versehen hätten. Ein
neuer Beweis dafür, daß man ein guter Mensch und doch ein schlechter
Musikant sein kann, und desgleichen ein Beweis, wohin der politische
Dilettantismus führt.«

Treibel klappte das Blatt wieder zusammen, schlug mit der Hand darauf
und sagte: »Nun, so viel ist gewiß, in Teupitz-Zossen ist das nicht
geschrieben. Das ist Tells Geschoß. Das kommt aus nächster Nähe. Das ist
von dem nationalliberalen Oberlehrer, der uns neulich bei Buggenhagen
nicht bloß Opposition machte, sondern uns zu verhöhnen suchte. Drang
aber nicht durch. Alles in allem, ich mag ihm nicht unrecht geben, und
jedenfalls gefällt er mir besser als Vogelsang. Außerdem sind sie jetzt
bei der Nationalzeitung halbe Hofpartei, gehen mit den Freikonservativen
zusammen. Es war eine Dummheit von mir, mindestens eine Übereilung, daß
ich abschwenkte. Wenn ich gewartet hätte, könnt' ich jetzt, in viel
besserer Gesellschaft, auf seiten der Regierung stehen. Statt dessen bin
ich auf den dummen Kerl und Prinzipienreiter eingeschworen. Ich werde
mich aber aus der ganzen Geschichte herausziehen und zwar für immer; der
Gebrannte scheut das Feuer ... Eigentlich könnt' ich mich noch
beglückwünschen, so mit tausend Mark, oder doch nicht viel mehr,
davongekommen zu sein, wenn nur nicht mein Name genannt wäre. Mein Name.
Das ist fatal ...« Und dabei schlug er das Blatt wieder auf. »Ich will
die Stelle noch einmal lesen: >eines unserer geachtetsten Berliner
Industriellen, des Kommerzienrat Treibel< -- ja, das laß ich mir
gefallen, das klingt gut. Und nun lächerliche Figur von Vogelsangs
Gnaden.«

Und unter diesen Worten stand er auf, um sich draußen im Garten zu
ergehen und in der frischen Luft seinen Ärger nach Möglichkeit los zu
werden.

Es schien aber nicht recht glücken zu sollen, denn im selben Augenblick,
wo er, um den Giebel des Hauses herum, in den Hintergarten einbog, sah
er die Honig, die, wie jeden Morgen, so auch heute wieder das Bologneser
Hündchen um das Bassin führte. Treibel prallte zurück, denn nach einer
Unterhaltung mit dem aufgesteiften Fräulein stand ihm durchaus nicht der
Sinn. Er war aber schon gesehen und begrüßt worden, und da große
Höflichkeit und noch mehr große Herzensgüte zu seinen Tugenden zählte,
so gab er sich einen Ruck und ging guten Muts auf die Honig zu, zu deren
Kenntnissen und Urteilen er übrigens ein aufrichtiges Vertrauen hegte.

»Sehr erfreut, mein liebes Fräulein, Sie mal allein und zu so guter
Stunde zu treffen ... Ich habe seit lange so dies und das auf dem
Herzen, mit dem ich gern herunter möchte ...«

Die Honig errötete, weil sie, trotz des guten Rufes, dessen sich Treibel
erfreute, doch von einem ängstlich süßen Gefühl überrieselt wurde,
dessen äußerste Nichtberechtigung ihr freilich im nächsten Momente schon
in beinah grausamer Weise klar werden sollte.

»... Mich beschäftigt nämlich meiner lieben kleinen Enkelin Erziehung,
an der ich denn doch das Hamburgische sich in einem Grade vollstrecken
sehe -- ich wähle diesen Schafott-Ausdruck absichtlich -- der mich von
meinem einfacheren Berliner Standpunkt aus mit einiger Sorge erfüllt.«

Das Bologneser Hündchen, das Czicka hieß, zog in diesem Augenblick an
der Schnur und schien einem Perlhuhn nachlaufen zu wollen, das sich vom
Hof her in den Garten verirrt hatte; die Honig verstand aber keinen Spaß
und gab dem Hündchen einen Klaps. Czicka seinerseits tat einen Blaff und
warf den Kopf hin und her, so daß die seinem Röckchen (eigentlich bloß
eine Leibbinde) dicht aufgenähten Glöckchen in ein Klingen kamen. Dann
aber beruhigte sich das Tierchen wieder und die Promenade um das Bassin
herum begann aufs neue.

»Sehen Sie, Fräulein Honig, so wird auch das Lizzichen erzogen. Immer
an einer Strippe, die die Mutter in Händen hält, und wenn mal ein
Perlhuhn kommt und das Lizzichen fort will, dann gibt es auch einen
Klaps, aber einen ganz, ganz kleinen, und der Unterschied ist bloß, daß
Lizzi keinen Blaff tut und nicht den Kopf wirft und natürlich auch kein
Schellengeläut hat, das ins Klingen kommen kann.«

»Lizzichen ist ein Engel,« sagte die Honig, die während einer
sechzehnjährigen Erzieherinnenlaufbahn Vorsicht im Ausdruck gelernt
hatte.

»Glauben Sie das wirklich?«

»Ich glaub' es wirklich, Herr Kommerzienrat, vorausgesetzt, daß wir uns
über >Engel< einigen.«

»Sehr gut, Fräulein Honig, das kommt mir zu paß. Ich wollte nur über
Lizzi mit Ihnen sprechen und höre nun auch noch was über Engel. Im
ganzen genommen ist die Gelegenheit, sich über Engel ein festes Urteil
zu bilden, nicht groß. Nun sagen Sie, was verstehen Sie unter Engel?
Aber kommen Sie mir nicht mit Flügel.«

Die Honig lächelte. »Nein, Herr Kommerzienrat, nichts von Flügel, aber
ich möchte doch sagen dürfen >Unberührtheit vom Irdischen<, das ist ein
Engel.«

»Das läßt sich hören. Unberührtheit vom Irdischen, -- nicht übel. Ja,
noch mehr, ich will es ohne weiteres gelten lassen und will es schön
finden, und wenn Otto und meine Schwiegertochter Helene sich klar und
zielbewußt vorsetzen würden, eine richtige kleine Genoveva auszubilden
oder eine kleine keusche Susanna, Pardon, ich kann im Augenblick kein
besseres Beispiel finden, oder wenn alles ganz ernsthaft darauf
hinausliefe, sagen wir für irgend einen Thüringer Landgrafen oder
meinetwegen auch für ein geringeres Geschöpf Gottes einen Abklatsch der
heiligen Elisabeth herzustellen, so hätte ich nichts dagegen. Ich halte
die Lösung solcher Aufgabe für sehr schwierig, aber nicht für unmöglich,
und wie so schön gesagt worden ist und immer noch gesagt wird, solche
Dinge auch bloß gewollt zu haben, ist schon etwas Großes.«

Die Honig nickte, weil sie der eigenen, nach dieser Seite hin liegenden
Anstrengungen gedenken mochte.

»Sie stimmen mir zu,« fuhr Treibel fort. »Nun, das freut mich. Und ich
denke, wir sollen auch in dem zweiten einig bleiben. Sehen Sie, liebes
Fräulein, ich begreife vollkommen, trotzdem es meinem persönlichen
Geschmack widerspricht, daß eine Mutter ihr Kind auf einen richtigen
Engel hin erzieht; man kann nie ganz genau wissen, wie diese Dinge
liegen, und wenn es zum Letzten kommt, so ganz zweifelsohne vor seinem
Richter zu stehen, wer sollte sich das nicht wünschen? Ich möchte
beinah' sagen, ich wünsch' es mir selber. Aber, mein liebes Fräulein,
Engel und Engel ist ein Unterschied, und wenn der Engel weiter nichts
ist als ein Waschengel und die Fleckenlosigkeit der Seele nach dem
Seifenkonsum berechnet und die ganze Reinheit des werdenden Menschen auf
die Weißheit seiner Strümpfe gestellt wird, so erfüllt mich dies mit
einem leisen Grauen. Und wenn es nun gar das eigene Enkelkind ist,
dessen flachsene Haare, Sie werden es auch bemerkt haben, vor lauter
Pflege schon halb ins Kakerlakige fallen, so wird einem alten Großvater
himmelangst dabei. Könnten Sie sich nicht hinter die Wulsten stecken?
Die Wulsten ist eine verständige Person und bäumt, glaub' ich, innerlich
gegen diese Hamburgereien auf. Ich würde mich freuen, wenn Sie
Gelegenheit nähmen ...«

In diesem Augenblicke wurde Czicka wieder unruhig und blaffte lauter als
zuvor. Treibel, der sich in Auseinandersetzungen derart nicht gern
unterbrochen sah, wollte verdrießlich werden, aber ehe er noch recht
dazu kommen konnte, wurden drei junge Damen von der Villa her sichtbar,
zwei von ihnen ganz gleichartig in bastfarbene Sommerstoffe gekleidet.
Es waren die beiden Felgentreus, denen Helene folgte.

»Gott sei Dank, Helene,« sagte Treibel, der sich -- vielleicht weil er
ein schlechtes Gewissen hatte -- zunächst an die Schwiegertochter
wandte, »Gott sei Dank, daß ich dich einmal wiedersehe. Du warst eben
der Gegenstand unseres Gesprächs, oder mehr noch dein liebes Lizzichen,
und Fräulein Honig stellte fest, daß Lizzichen ein Engel sei. Du kannst
dir denken, daß ich nicht widersprochen habe. Wer ist nicht gern der
Großvater eines Engels? Aber, meine Damen, was verschafft mir so früh
diese Ehre? Oder gilt es meiner Frau? Sie hat ihre Migräne. Soll ich sie
rufen lassen ...?«

»O nein, Papa,« sagte Helene mit einer Freundlichkeit, die nicht immer
ihre Sache war. »Wir kommen zu =dir=. Felgentreus haben nämlich vor,
heute nachmittag eine Partie nach Halensee zu machen, aber nur wenn alle
Treibels, von Otto und mir ganz abgesehen, daran teilnehmen.« Die
Felgentreuschen Schwestern bestätigten dies alles durch Schwenken ihrer
Sonnenschirme, während Helene fortfuhr: »Und nicht später als drei. Wir
müssen also versuchen, unserem _lunch_ einen kleinen _dinner_-Charakter
zu geben, oder aber unser _dinner_ bis auf acht Uhr abends
hinauszuschieben. Elfriede und Blanka wollen noch in die Adlerstraße, um
auch Schmidts aufzufordern, zum mindesten Korinna; der Professor kommt
dann vielleicht nach. Krola hat schon zugesagt und will ein Quartett
mitbringen, darunter zwei Referendare von der Potsdamer Regierung ...«

»Und Reserveoffiziere,« ergänzte Blanka, die jüngere Felgentreu ...

»Reserveoffiziere,« wiederholte Treibel ernsthaft. »Ja, meine Damen,
=das= gibt den Ausschlag. Ich glaube nicht, daß ein hierlandes lebender
Familienvater, auch wenn ihm ein grausames Schicksal eigene Töchter
versagte, den Mut haben wird, eine Landpartie mit zwei Reserveleutnants
auszuschlagen. Also bestens akzeptiert. Und drei Uhr. Meine Frau wird
zwar verstimmt sein, daß, über ihr Haupt hinweg, endgültige Beschlüsse
gefaßt worden sind, und ich fürchte beinah' ein momentanes Wachsen des
_tic douloureux_. Trotzdem bin ich ihrer sicher. Landpartie mit Quartett
und von solcher gesellschaftlichen Zusammensetzung, -- die Freude
darüber bleibt prädominierendes Gefühl. Dem ist keine Migräne gewachsen.
Darf ich Ihnen übrigens meine Melonenbeete zeigen? Oder nehmen wir
lieber einen leichten Imbiß, ganz leicht, ohne jede ernste Gefährdung
des _lunch_?«

Alle drei dankten, die Felgentreus, weil sie sich direkt zu Korinna
begeben wollten, Helene, weil sie Lizzis halber wieder nach Hause müsse.
Die Wulsten sei nicht achtsam genug und lasse Dinge durchgehen, von
denen sie nur sagen könne, daß sie »_shocking_« seien. Zum Glück sei
Lizzichen ein so gutes Kind, sonst würde sie sich ernstlicher Sorge
darüber hingeben müssen.

»Lizzichen ist ein Engel, die ganze Mutter,« sagte Treibel und
wechselte, während er das sagte, Blicke mit der Honig, welche die ganze
Zeit über in einer gewissen reservierten Haltung seitab gestanden hatte.




Zehntes Kapitel


Auch Schmidts hatten zugesagt, Korinna mit besonderer Freudigkeit, weil
sie sich seit dem Dinertage bei Treibels in ihrer häuslichen Einsamkeit
herzlich gelangweilt hatte, die großen Sätze des Alten kannte sie längst
auswendig, und von den Erzählungen der guten Schmolke galt dasselbe. So
klang denn »ein Nachmittag in Halensee« fast so poetisch wie »vier
Wochen auf Capri«, und Korinna beschloß daraufhin, ihr Bestes zu tun, um
sich bei dieser Gelegenheit auch äußerlich neben den Felgentreus
behaupten zu können. Denn in ihrer Seele dämmerte eine unklare
Vorstellung davon, daß diese Landpartie nicht gewöhnlich verlaufen,
sondern etwas Großes bringen werde. Marcell war zur Teilnahme nicht
aufgefordert worden, womit seine Kusine, nach der eine ganze Woche lang
von ihm beobachteten Haltung, durchaus einverstanden war. Alles
versprach einen frohen Tag, besonders auch mit Rücksicht auf die
Zusammensetzung der Gesellschaft. Unter dem, was man im voraus
vereinbart hatte, war, nach Verwerfung eines von Treibel in Vorschlag
gebrachten Kremsers, »der immer das Eigentliche sei«, =das= die
Hauptsache gewesen, daß man auf gemeinschaftliche Fahrt verzichten,
dafür aber männiglich sich verpflichten wolle, Punkt vier Uhr und
jedenfalls nicht mit Überschreitung des akademischen Viertels in
Halensee zu sein.

Und wirklich um vier Uhr war alles versammelt oder doch fast alles. Alte
und junge Treibels, desgleichen die Felgentreus, hatten sich in eigenen
Equipagen eingefunden, während Krola, von seinem Quartett begleitet, aus
nicht aufgeklärten Gründen die neue Dampfbahn, Korinna aber
mutterwindallein -- der Alte wollte nachkommen -- die Stadtbahn benutzt
hatte. Von den Treibels fehlte nur Leopold, der sich, weil er durchaus
an Mr. Nelson zu schreiben habe, wegen einer halben Stunde Verspätung im
voraus entschuldigen ließ. Korinna war momentan verstimmt darüber, bis
ihr der Gedanke kam, es sei wohl eigentlich besser so; kurze Begegnungen
seien inhaltreicher als lange.

»Nun, lieben Freunde,« nahm Treibel das Wort, »alles nach der Ordnung.
Erste Frage, wo bringen wir uns unter? Wir haben verschiedenes zur Wahl.
Bleiben wir hier parterre, zwischen diesen formidablen Tischreihen, oder
rücken wir auf die benachbarte Veranda hinauf, die Sie, wenn Sie Gewicht
darauf legen, auch als Altan oder Söller bezeichnen können? Oder
bevorzugen Sie vielleicht die Verschwiegenheit der inneren Gemächer,
irgend einer Kemenate von Halensee? Oder endlich, viertens und letztens,
sind Sie für Turmbesteigung und treibt es Sie, diese Wunderwelt, in der
keines Menschen Auge bisher einen frischen Grashalm entdecken konnte,
treibt es Sie, sag' ich, dieses von Spargelbeeten und Eisenbahndämmen
durchsetzte Wüstenpanorama zu Ihren Füßen ausgebreitet zu sehen?«

»Ich denke,« sagte Frau Felgentreu, die, trotzdem sie kaum ausgangs
vierzig war, schon das Embonpoint und das Asthma einer Sechzigerin
hatte, »ich denke, lieber Treibel, wir bleiben, wo wir sind. Ich bin
nicht für Steigen, und dann mein' ich auch immer, man muß mit dem
zufrieden sein, was man gerade hat.«

»Eine merkwürdig bescheidene Frau,« sagte Korinna zu Krola, der
seinerseits mit einfacher Zahlennennung antwortete, leise hinzusetzend,
»aber Taler.«

»Gut denn,« fuhr Treibel fort, »wir bleiben also in der Tiefe. Wozu
dem Höheren zustreben? Man muß zufrieden sein mit dem durch
Schicksalsbeschluß Gegebenen, wie meine Freundin Felgentreu soeben
versichert hat. Mit anderen Worten, >Genieße fröhlich, was du hast<.
Aber, liebe Festgenossen, was tun wir, um unsere Fröhlichkeit zu
beleben, oder, richtiger und artiger, um ihr Dauer zu geben? Denn von
Belebung unserer Fröhlichkeit sprechen, hieße das augenblickliche
Vorhandensein derselben in Zweifel ziehen, -- eine Blasphemie, deren
ich mich nicht schuldig machen werde. Landpartien sind immer fröhlich.
Nicht wahr, Krola?«

Krola bestätigte mit einem verschmitzten Lächeln, das für den
Eingeweihten eine stille Sehnsucht nach Siechen oder dem schweren Wagner
ausdrücken sollte.

Treibel verstand es auch so. »Landpartien also sind immer fröhlich, und
dann haben wir das Quartett in Bereitschaft und haben Professor Schmidt
in Sicht, und Leopold auch. Ich finde, daß dies allein schon ein
Programm ausdrückt.« Und nach diesen Einleitungsworten einen in der Nähe
stehenden mittelalterlichen Kellner heranwinkend, fuhr er in einer
anscheinend an diesen, in Wahrheit aber an seine Freunde gerichteten
Rede fort: »Ich denke, Kellner, wir rücken zunächst einige Tische
zusammen, hier zwischen Brunnen und Fliederboskett; da haben wir frische
Luft und etwas Schatten. Und dann, Freund, sobald die Lokalfrage
geregelt und das Aktionsfeld abgesteckt ist, dann etwelche Portionen
Kaffee, sagen wir vorläufig fünf, Zucker doppelt, und etwas Kuchiges,
gleichviel was, mit Ausnahme von altdeutschem Napfkuchen, der mir immer
eine Mahnung ist, es mit dem neuen Deutschland ernst und ehrlich zu
versuchen. Die Bierfrage können wir später regeln, wenn unser Zuzug
eingetroffen ist.«

Dieser Zuzug war nun in der Tat näher, als die ganze Gesellschaft zu
hoffen gewagt hatte. Schmidt, in einer ihn begleitenden Wolke
herankommend, war müllergrau von Chausseestaub und mußte es sich
gefallen lassen, von den jungen, dabei nicht wenig kokettierenden Damen
abgeklopft zu werden, und kaum daß er instand gesetzt und in den Kreis
der übrigen eingereiht war, so ward auch schon Leopold in einer langsam
herantrottenden Droschke sichtbar, und beide Felgentreus (Korinna hielt
sich zurück) liefen auch ihm bis auf die Chaussee hinaus entgegen und
schwenkten dieselben kleinen Batisttücher zu seiner Begrüßung, mit denen
sie eben den alten Schmidt restituiert und wieder leidlich
gesellschaftsfähig gemacht hatten.

Auch Treibel hatte sich erhoben und sah der Anfahrt seines Jüngsten zu.
»Sonderbar,« sagte er zu Schmidt und Felgentreu, zwischen denen er saß,
»sonderbar; es heißt immer, der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Aber
mitunter tut er's doch. Alle Naturgesetze schwanken heutzutage. Die
Wissenschaft setzt ihnen zu arg zu. Sehen Sie, Schmidt, wenn ich Leopold
Treibel wäre (mit =meinem= Vater war das etwas anderes, der war noch aus
der alten Zeit), so hätte mich doch kein Deubel davon abgehalten, hier
heute hoch zu Roß vorzureiten, und hätte mich graziös -- denn, Schmidt,
wir haben doch auch unsere Zeit gehabt -- hätte mich graziös, sag' ich,
aus dem Sattel geschwungen und mir mit der Badine die Stiefel und die
Unaussprechlichen abgeklopft und wäre hier, schlecht gerechnet, wie ein
junger Gott erschienen, mit einer roten Nelke im Knopfloch, ganz wie
Ehrenlegion oder ein ähnlicher Unsinn. Und nun sehen Sie sich den Jungen
an. Kommt er nicht an, als ob er hingerichtet werden sollte? Denn das
ist ja gar keine Droschke, das ist ein Karren, eine Schleife. Weiß der
Himmel, wo's nicht drin steckt, da kommt es auch nicht.«

Unter diesen Worten war Leopold herangekommen, untergefaßt von den
beiden Felgentreus, die sich vorgesetzt zu haben schienen, _à tout prix_
für das »Landpartieliche« zu sorgen. Korinna, wie sich denken läßt,
gefiel sich in Mißbilligung dieser Vertraulichkeit und sagte vor sich
hin: »Dumme Dinger!« Dann aber erhob auch sie sich, um Leopold
gemeinschaftlich mit den anderen zu begrüßen.

Die Droschke draußen hielt noch immer, was dem alten Treibel schließlich
auffiel. »Sage, Leopold, warum hält er noch? Rechnet er auf Rückfahrt?«

»Ich glaube, Papa, daß er futtern will.«

»Wohl und weise. Freilich mit seinem Häckselsack wird er nicht weit
kommen. Hier müssen energischere Belebungsmittel angewandt werden, sonst
passiert was. Bitte, Kellner, geben Sie dem Schimmel ein Seidel. Aber
Löwenbräu. Dessen ist er am bedürftigsten.«

»Ich wette,« sagte Krola, »der Kranke wird von Ihrer Arznei nichts
wissen wollen.«

»Ich verbürge mich für das Gegenteil. In dem Schimmel steckt was; bloß
heruntergekommen.«

Und während das Gespräch noch andauerte, folgte man dem Vorgange draußen
und sah, wie das arme verschmachtete Tier mit Gier das Seidel austrank
und in ein schwaches Freudengewieher ausbrach.

»Da haben wir's,« triumphierte Treibel. »Ich bin ein Menschenkenner;
=der= hat bessere Tage gesehen, und mit diesem Seidel zogen alte Zeiten
in ihm herauf. Und Erinnerungen sind immer das Beste. Nicht wahr,
Jenny?«

»Die Kommerzienrätin antwortete mit einem langgedehnten »ja, Treibel,«
und deutete durch den Ton an, daß er besser täte, sie mit solchen
Betrachtungen zu verschonen.

       *       *       *       *       *

Eine Stunde verging unter allerhand Plaudereien, und wer gerade schwieg,
der versäumte nicht, das Bild auf sich wirken zu lassen, das sich um ihn
her ausbreitete. Da stieg zunächst eine Terrasse nach dem See hinunter,
von dessen anderm Ufer her man den schwachen Knall einiger Teschings
hörte, mit denen in einer dort etablierten Schießbude nach der Scheibe
geschossen wurde, während man aus verhältnismäßiger Nähe das Kugelrollen
einer am diesseitigen Ufer sich hinziehenden Doppelkegelbahn und
dazwischen die Rufe des Kegeljungen vernahm. Den See selbst aber sah man
nicht recht, was die Felgentreuschen Mädchen zuletzt ungeduldig machte.
»Wir müssen doch den See sehen. Wir können doch nicht in Halensee
gewesen sein, ohne den Halensee gesehen zu haben!« Und dabei schoben sie
zwei Stühle mit den Lehnen zusammen und kletterten hinauf, um so den
Wasserspiegel vielleicht entdecken zu können. »Ach, da ist er. Etwas
klein.«

»Das >Auge der Landschaft< muß klein sein,« sagte Treibel. »Ein Ozean
ist kein Auge mehr.«

»Und wo nur die Schwäne sind?« fragte die ältere Felgentreu neugierig.
»Ich sehe doch zwei Schwanenhäuser.«

»Ja, liebe Elfriede,« sagte Treibel. »Sie verlangen zuviel. Das ist
immer so; wo Schwäne sind, sind keine Schwanenhäuser, und wo
Schwanenhäuser sind, sind keine Schwäne. Der eine hat den Beutel, der
andere hat das Geld. Diese Wahrnehmung, meine junge Freundin, werden Sie
noch verschiedentlich im Leben machen. Lassen Sie mich annehmen, nicht
zu sehr zu Ihrem Schaden.«

Elfriede sah ihn groß an. »Worauf bezog sich das und auf wen? Auf
Leopold? oder auf den früheren Hauslehrer, mit dem sie sich noch
schrieb, aber doch nur so, daß es nicht völlig einschlief. Oder auf den
Pionierleutnant? Es konnte sich auf alle drei beziehen. Leopold hatte
das Geld ... Hm.«

»Im übrigen,« fuhr Treibel an die Gesamtheit gewendet fort, »ich habe
mal wo gelesen, daß es immer das Geratenste sei, das Schönste nicht
auszukosten, sondern mitten im Genusse dem Genuß Valet zu sagen. Und
dieser Gedanke kommt mir auch jetzt wieder. Es ist kein Zweifel, daß
dieser Fleck Erde mit zu dem Schönsten zählt, was die norddeutsche
Tiefebene besitzt, durchaus angetan, durch Sang und Bild verherrlicht zu
werden, wenn es nicht schon geschehen ist, -- denn wir haben jetzt eine
märkische Schule, vor der nichts sicher ist, Beleuchtungskünstler ersten
Ranges, wobei Wort oder Farbe keinen Unterschied macht. Aber eben =weil=
es so schön ist, gedenken wir jenes vorzitierten Satzes, der von einem
letzten Auskosten nichts wissen will, mit andern Worten beschäftigen wir
uns mit dem Gedanken an Aufbruch. Ich sage wohlüberlegt »Aufbruch«,
nicht Rückfahrt, nicht vorzeitige Rückkehr in die alten Geleise, das sei
ferne von mir; dieser Tag hat sein letztes Wort noch nicht gesprochen.
Nur ein Scheiden speziell aus diesem Idyll, eh' es uns ganz umstrickt.
Ich proponiere Waldpromenade bis Paulsborn oder, wenn dies zu kühn
erscheinen sollte, bis Hundekehle. Die Prosa des Namens wird
ausgeglichen durch die Poesie der größeren Nähe. Vielleicht, daß ich mir
den besonderen Dank meiner Freundin Felgentreu durch diese Modifikation
verdiene.«

Frau Felgentreu, der nichts ärgerlicher war, als Anspielungen auf ihre
Wohlbeleibtheit und Kurzatmigkeit, begnügte sich, ihrem Freunde Treibel
den Rücken zu kehren.

»Dank vom Hause Österreich. Aber es ist immer so, der Gerechte muß viel
leiden. Ich werde mich auf einem verschwiegenen Waldwege bemühen, Ihrem
schönen Unmut die Spitze abzubrechen. Darf ich um Ihren Arm bitten,
liebe Freundin?«

Und alles erhob sich, um in Gruppen zu zweien und dreien die Terrasse
hinabzusteigen und zu beiden Seiten des Sees auf den schon im halben
Dämmer liegenden Grunewald zuzuschreiten.

       *       *       *       *       *

Die Hauptkolonne hielt sich links. Sie bestand, unter Vorantritt des
Felgentreuschen Ehepaares (Treibel hatte sich von seiner Freundin wieder
frei gemacht), aus dem Krolaschen Quartett, in das sich Elfriede und
Blanka Felgentreu derart eingereiht hatten, daß sie zwischen den beiden
Referendaren und zwei jungen Kaufleuten gingen. Einer der jungen
Kaufleute war ein berühmter Jodler und trug auch den entsprechenden Hut.
Dann kamen Otto und Helene, während Treibel und Krola abschlossen.

»Es geht doch nichts über eine richtige Ehe,« sagte Krola zu Treibel und
wies auf das junge Paar vor ihnen. »Sie müssen sich doch aufrichtig
freuen, Kommerzienrat, wenn Sie Ihren Ältesten so glücklich und so
zärtlich neben dieser hübschen und immer blink und blanken Frau
einherschreiten sehen. Schon oben saßen sie dicht beisammen, und nun
gehen sie Arm in Arm. Ich glaube beinah, sie drücken sich leise.«

»Mir ein sicherer Beweis, daß sie sich vormittags gezankt haben. Otto,
der arme Kerl, muß nun Reugeld zahlen.«

»Ach, Treibel, Sie sind ewig ein Spötter. Ihnen kann es keiner recht
machen und am wenigsten die Kinder. Glücklicherweise sagen Sie das so
hin, ohne recht dran zu glauben. Mit einer Dame, die so gut erzogen
wurde, kann man sich überhaupt nicht zanken.«

In diesem Augenblicke hörte man den Jodler einige Juchzer ausstoßen, so
tirolerhaft echt, daß sich das Echo der Pichelsberge nicht veranlaßt
sah, darauf zu antworten.

Krola lachte. »Das ist der junge Metzner. Er hat eine merkwürdig gute
Stimme, wenigstens für einen Dilettanten, und hält eigentlich das
Quartett zusammen. Aber sowie er eine Prise frische Luft wittert, ist es
mit ihm vorbei. Dann faßt ihn das Schicksal mit rasender Gewalt, und er
muß jodeln ... Aber wir wollen von den Kindern nicht abkommen. Sie
werden mir doch nicht weiß machen wollen« -- Krola war neugierig und
hörte gern Intimitäten -- »Sie werden mir doch nicht weiß machen wollen,
daß die beiden da vor uns in einer unglücklichen Ehe leben. Und was das
Zanken angeht, so kann ich nur wiederholen, Hamburgerinnen stehen auf
einer Bildungsstufe, die den Zank ausschließt.«

Treibel wiegte den Kopf. »Ja, sehen Sie, Krola, Sie sind nun ein so
gescheiter Kerl und kennen die Weiber, ja, wie soll ich sagen, Sie
kennen sie, wie sie nur ein Tenor kennen kann. Denn ein Tenor geht noch
weit übern Leutnant. Und doch offenbaren Sie hier in dem speziell
Ehelichen, was noch wieder ein Gebiet für sich ist, ein furchtbares
Manquement. Und warum? Weil Sie's in Ihrer eigenen Ehe, gleichviel nun,
ob durch Ihr oder Ihrer Frau Verdienst, ausnahmsweise gut getroffen
haben. Natürlich, wie Ihr Fall beweist, kommt auch =das= vor. Aber die
Folge davon ist einfach die, daß Sie -- auch das Beste hat seine
Kehrseite -- daß Sie, sag' ich, kein richtiger Ehemann sind, daß Sie
keine volle Kenntnis von der Sache haben; Sie kennen den Ausnahmefall,
aber nicht die Regel. Über Ehe kann nur sprechen, wer sie durchgefochten
hat, nur der Veteran, der auf Wundenmale zeigt ... Wie heißt es doch?
>Nach Frankreich zogen zwei Grenadier', die ließen die Köpfe hangen< ...
Da haben Sie's.«

»Ach, das sind Redensarten, Treibel ...«

»... Und die schlimmsten Ehen sind die, lieber Krola, wo furchtbar
»gebildet« gestritten wird, wo, wenn Sie mir den Ausdruck gestatten
wollen, eine Kriegsführung mit Samthandschuhen stattfindet, oder
richtiger noch, wo man sich, wie beim römischen Karneval, Konfetti ins
Gesicht wirft. Es sieht hübsch aus, aber verwundet doch. Und in dieser
Kunst anscheinend gefälligen Konfettiwerfens ist meine Schwiegertochter
eine Meisterin. Ich wette, daß mein armer Otto schon oft bei sich
gedacht hat, wenn sie dich doch kratzte, wenn sie doch mal außer sich
wäre, wenn sie doch mal sagte: Scheusal oder Lügner oder elender
Verführer ...«

»Aber, Treibel, das kann sie doch nicht sagen. Das wäre ja Unsinn. Otto
ist ja doch kein Verführer, also auch kein Scheusal ...«

»Ach, Krola, darauf kommt es ja gar nicht an. Worauf es ankommt, ist,
sie muß sich dergleichen wenigstens denken können, sie muß eine
eifersüchtige Regung haben und in solchem Momente muß es afrikanisch aus
ihr losbrechen. Aber alles, was Helene hat, hat höchstens die Temperatur
der Uhlenhorst. Sie hat nichts als einen unerschütterlichen Glauben an
Tugend und _Windsorsoap_.«

»Nun, meinetwegen. Aber wenn es so ist, wo kommt dann der Zank her?«

»Der kommt doch. Er tritt nur anders auf, anders, aber nicht besser.
Kein Donnerwetter, nur kleine Worte mit dem Giftgehalt eines halben
Mückenstichs, oder aber Schweigen, Stummheit, Muffeln, das innere Düppel
der Ehe, während nach außen hin das Gesicht keine Falte schlägt. Das
sind so die Formen. Und ich fürchte, die ganze Zärtlichkeit, die wir da
vor uns wandeln sehen, und die sich augenscheinlich sehr einseitig gibt,
ist nichts als ein Bußetun -- Otto Treibel im Schloßhof zu Canossa und
mit Schnee unter den Füßen. Sehen Sie nun den armen Kerl; er biegt den
Kopf in einem fort nach rechts, und Helene rührt sich nicht und kommt
aus der graden Hamburger Linie nicht heraus ... Aber jetzt müssen wir
schweigen. Ihr Quartett hebt eben an. Was ist es denn?«

»Es ist das bekannte: >Ich weiß nicht, was soll es bedeuten?<«

»Ah, das ist recht. Eine jederzeit wohl aufzuwerfende Frage, besonders
auf Landpartien.«

       *       *       *       *       *

Rechts um den See hin gingen nur zwei Paare, vorauf der alte Schmidt und
seine Jugendfreundin Jenny und in einiger Entfernung hinter ihnen
Leopold und Korinna.

Schmidt hatte seiner Dame den Arm gereicht und zugleich gebeten, ihr die
Mantille tragen zu dürfen, denn es war etwas schwül unter den Bäumen.
Jenny hatte das Anerbieten auch dankbar angenommen; als sie aber
wahrnahm, daß der gute Professor den Spitzenbesatz immer nachschleppen
und sich abwechselnd in Wacholder und Heidekraut verfangen ließ, bat sie
sich die Mantille wieder aus. »Sie sind noch gerade so wie vor vierzig
Jahren, lieber Schmidt. Galant, aber mit keinem rechten Erfolge.«

»Ja, gnädigste Frau, diese Schuld kann ich nicht von mir abwälzen und
sie war zugleich mein Schicksal. Wenn ich mit meinen Huldigungen
erfolgreicher gewesen wäre, denken Sie, wie ganz anders sich mein Leben
und auch das Ihrige gestaltet hätte ...«

Jenny seufzte leise.

»Ja, gnädigste Frau, dann hätten Sie das Märchen Ihres Lebens nie
begonnen. Denn alles große Glück ist ein Märchen.«

»Alles große Glück ist ein Märchen.« wiederholte Jenny langsam und
gefühlvoll. »Wie wahr, wie schön! Und sehen Sie, Wilibald, daß das
beneidete Leben, das ich jetzt führe, meinem Ohr und meinem Herzen
solche Worte versagt, daß lange Zeiten vergehen, ehe Aussprüche von
solcher poetischen Tiefe zu mir sprechen, das ist für eine Natur, wie
sie mir nun mal geworden, ein ewig zehrender Schmerz. Und Sie sprechen
dabei von Glück, Wilibald, sogar von großem Glück. Glauben Sie mir, mir,
die ich dies alles durchlebt habe, diese so viel begehrten Dinge sind
wertlos für den, der sie hat. Oft, wenn ich nicht schlafen kann und mein
Leben überdenke, wird es mir klar, daß das Glück, das anscheinend soviel
für mich tat, mich nicht die Wege geführt hat, die für mich paßten, und
daß ich in einfacheren Verhältnissen und als Gattin eines in der Welt
der Ideen und vor allem auch des Idealen stehenden Mannes wahrscheinlich
glücklicher geworden wäre. Sie wissen, wie gut Treibel ist, und daß ich
ein dankbares Gefühl für seine Güte habe. Trotzdem muß ich es leider
aussprechen, es fehlt mir, meinem Manne gegenüber, jene hohe Freude der
Unterordnung, die doch unser schönstes Glück ausmacht und so recht
gleichbedeutend ist mit echter Liebe. Niemandem darf ich dergleichen
sagen; aber vor Ihnen, Wilibald, mein Herz auszuschütten, ist, glaub'
ich, mein schön menschliches Recht und vielleicht sogar meine Pflicht
...«

Schmidt nickte zustimmend und sprach dann ein einfaches: »Ach, Jenny
...« mit einem Tone, drin er den ganzen Schmerz eines verfehlten Lebens
zum Ausdruck zu bringen trachtete. Was ihm auch gelang. Er lauschte
selber dem Klang und beglückwünschte sich im stillen, daß er sein Spiel
so gut gespielt habe. Jenny, trotz aller Klugheit, war doch eitel genug,
an das »Ach« ihres ehemaligen Anbeters zu glauben.

So gingen sie, schweigend und anscheinend ihren Gefühlen hingegeben,
nebeneinander her, bis Schmidt die Notwendigkeit fühlte, mit irgend
einer Frage das Schweigen zu brechen. Er entschied sich dabei für das
alte Rettungsmittel und lenkte das Gespräch auf die Kinder. »Ja, Jenny,«
hob er mit immer noch verschleierter Stimme an, »was versäumt ist, ist
versäumt. Und wer fühlte das tiefer, als ich selbst. Aber eine Frau wie
Sie, die das Leben begreift, findet auch im Leben selbst ihren Trost,
vor allem in der Freude täglicher Pflichterfüllung. Da sind in erster
Reihe die Kinder, ja, schon ein Enkelkind ist da, wie Milch und Blut,
das liebe Lizzichen, und das sind dann, mein' ich, die Hilfen, daran
Frauenherzen sich aufrichten müssen. Und wenn ich auch Ihnen gegenüber,
teure Freundin, von einem eigentlichen Eheglück nicht sprechen will,
denn wir sind wohl einig in dem, was Treibel ist und nicht ist, so darf
ich doch sagen, Sie sind eine glückliche Mutter. Zwei Söhne sind Ihnen
herangewachsen, gesund oder doch was man so gesund zu nennen pflegt, von
guter Bildung und guten Sitten. Und bedenken Sie, was allein dies letzte
heutzutage bedeuten will. Otto hat sich nach Neigung verheiratet und
sein Herz einer schönen und reichen Dame geschenkt, die, soviel ich
weiß, der Gegenstand allgemeiner Verehrung ist, und wenn ich recht
berichtet bin, so bereitet sich im Hause Treibel ein zweites Verlöbnis
vor, und Helenens Schwester steht auf dem Punkte, Leopolds Braut zu
werden ...«

»Wer sagt das?« fuhr jetzt Jenny heraus, plötzlich aus dem sentimental
Schwärmerischen in den Ton ausgesprochenster Wirklichkeit verfallend.
»Wer sagt das?«

Schmidt geriet, diesem erregten Tone gegenüber, in eine kleine
Verlegenheit. Er hatte sich das so gedacht oder vielleicht auch mal
etwas Ähnliches gehört und stand nun ziemlich ratlos vor der Frage »wer
sagt das?« Zum Glück war es damit nicht sonderlich ernsthaft gemeint, so
wenig, daß Jenny, ohne eine Antwort abgewartet zu haben, mit großer
Lebhaftigkeit fortfuhr: »Sie können gar nicht ahnen, Freund, wie mich
das alles reizt. Das ist so die seitens des Holzhofs beliebte Art, mir
die Dinge über den Kopf wegzunehmen. Sie, lieber Schmidt, sprechen nach,
was Sie hören, aber die, die solche Dinge wie von ungefähr unter die
Leute bringen, mit denen hab' ich ernstlich ein Hühnchen zu pflücken. Es
ist eine Insolenz. Und Helene mag sich vorsehen.«

»Aber Jenny, liebe Freundin, Sie dürfen sich nicht so erregen. Ich habe
das so hingesagt, weil ich es als selbstverständlich annahm.«

»Als selbstverständlich,« wiederholte Jenny spöttisch, die, während
sie das sagte, die Mantille wieder abriß und dem Professor über
den Arm warf. »Als selbstverständlich. Soweit also hat es der
Holzhof schon gebracht, daß die nächsten Freunde solche Verlobung
als eine Selbstverständlichkeit ansehen. Es ist aber keine
Selbstverständlichkeit, ganz im Gegenteil, und wenn ich mir
vergegenwärtige, daß Ottos alles besser wissende Frau neben ihrer
Schwester Hildegard ein bloßer Schatten sein soll -- und ich glaub'
es gern, denn sie war schon als Backfisch von einer geradezu ridikülen
Überheblichkeit -- so muß ich sagen, ich habe an einer Hamburger
Schwiegertochter aus dem Hause Munk gerade genug.«

»Aber, teuerste Freundin, ich begreife Sie nicht. Sie setzen mich in das
aufrichtigste Erstaunen. Es ist doch kein Zweifel, daß Helene eine
schöne Frau ist und von einer, wenn ich mich so ausdrücken darf, ganz
aparten Appetitlichkeit ...«

Jenny lachte.

»... Zum Anbeißen, wenn Sie mir das Wort gestatten,« fuhr Schmidt fort,
»und von jenem eigentümlichen Charme, den schon, von alters her, alles
besitzt, was mit dem flüssigen Element in eine konstante Berührung
kommt. Vor allem aber ist mir kein Zweifel darüber, daß Otto seine Frau
liebt, um nicht zu sagen in sie verliebt ist. Und =Sie=, Freundin, Ottos
leibliche Mutter, fechten gegen dies Glück an und sind empört, dies
Glück in Ihrem Hause vielleicht verdoppelt zu sehen. Alle Männer sind
abhängig von weiblicher Schönheit; ich war es auch, und ich möchte
beinah sagen dürfen, ich bin es noch, und wenn nun diese Hildegard, wie
mir durchaus wahrscheinlich -- denn die Nestkücken sehen immer am besten
aus -- wenn diese Hildegard noch über Helenen hinauswächst, so weiß ich
nicht, was Sie gegen sie haben können. Leopold ist ein guter Junge, von
vielleicht nicht allzu feurigem Temperament; aber ich denke mir, daß er
doch nichts dagegen haben kann, eine sehr hübsche Frau zu heiraten. Sehr
hübsch und reich dazu.«

»Leopold ist ein Kind und darf sich überhaupt nicht nach eigenem Willen
verheiraten, am wenigsten aber nach dem Willen seiner Schwägerin Helene.
Das fehlte noch, das hieße denn doch abdanken und mich ins Altenteil
setzen. Und wenn es sich noch um eine junge Dame handelte, der gegenüber
einen allenfalls die Lust anwandeln könnte, sich unterzuordnen,
also eine Freiin oder eine wirkliche, ich meine eine richtige
Geheimratstochter oder die Tochter eines Oberhofpredigers ... Aber
ein unbedeutendes Ding, das nichts kennt, als mit Ponies nach Blankenese
fahren, und sich einbildet, mit einem Goldfaden in der Plattstichnadel
eine Wirtschaft führen oder wohl gar Kinder erziehen zu können, und ganz
ernsthaft glaubt, daß wir hierzulande nicht einmal eine Seezunge von
einem Steinbutt unterscheiden können, und immer von Lobster spricht, wo
wir Hummer sagen und Curry-Powder und Soja wie höhere Geheimnisse
behandelt, -- ein solcher eingebildeter Quack, lieber Wilibald, das ist
nichts für meinen Leopold. Leopold, trotz allem, was ihm fehlt, soll
höher hinaus. Er ist nur einfach, aber er ist gut, was doch auch einen
Anspruch gibt. Und deshalb soll er eine kluge Frau haben, eine wirklich
kluge; Wissen und Klugheit und überhaupt das Höhere, -- darauf kommt es
an. Alles andere wiegt keinen Pfifferling. Es ist ein Elend mit den
Äußerlichkeiten. Glück, Glück. Ach, Wilibald, daß ich es in solcher
Stunde gerade vor Ihnen bekennen muß, das Glück, es ruht hier allein.«

Und dabei legte sie die Hand aufs Herz.

       *       *       *       *       *

Leopold und Korinna waren in einer Entfernung von etwa fünfzig Schritt
gefolgt und hatten ihr Gespräch in herkömmlicher Art geführt, das heißt
Korinna hatte gesprochen. Leopold war aber fest entschlossen, auch zu
Worte zu kommen, wohl oder übel. Der quälende Druck der letzten Tage
machte, daß er vor dem, was er vorhatte, nicht mehr so geängstigt stand,
wie früher; -- er mußte sich eben Ruhe schaffen. Ein paarmal schon war
er nahe daran gewesen, eine wenigstens auf sein Ziel überleitende Frage
zu tun; wenn er dann aber der Gestalt seiner stattlich vor ihm
dahinschreitenden Mutter ansichtig wurde, gab er's wieder auf, so daß er
schließlich den Vorschlag machte, eine gerade vor ihnen liegende
Waldlichtung in schräger Linie zu passieren, damit sie, statt immer zu
folgen, auch mal an die Tete kämen. Er wußte zwar, daß er infolge dieses
Manövers den Blick der Mama vom Rücken oder von der Seite her haben
würde, aber etwas auf den Vogel Strauß hin angelegt, fand er doch eine
Beruhigung in dem Gefühl, die seinen Mut beständig lähmende Mama nicht
immer gerade vor Augen haben zu müssen. Er konnte sich über diesen
eigentümlichen Nervenzustand keine rechte Rechenschaft geben und
entschied sich einfach für das, was ihm von zwei Übeln als das kleinere
erschien.

Die Benutzung der Schräglinie war geglückt, sie waren jetzt um
ebensoviel voraus, als sie vorher zurück gewesen waren, und ein
Gleichgültigkeitsgespräch fallen lassend, das sich, ziemlich gezwungen,
um die Spargelbeete von Halensee samt ihrer Kultur und ihrer sanitären
Bedeutung gedreht hatte, nahm Leopold einen plötzlichen Anlauf und
sagte: »Wissen Sie, Korinna, daß ich Grüße für Sie habe?«

»Von wem?«

»Raten Sie.«

»Nun, sagen wir von Mr. Nelson.«

»Aber das geht doch nicht mit rechten Dingen zu, das ist ja wie
Hellseherei; nun können Sie auch noch Briefe lesen, von denen Sie nicht
einmal wissen, daß sie geschrieben wurden.«

»Ja, Leopold, dabei könnt' ich Sie nun belassen und mich vor Ihnen als
Seherin etablieren. Aber ich werde mich hüten. Denn vor allem, was so
mystisch und hypnotisch und geisterseherig ist, haben gesunde Menschen
bloß ein Grauen. Und ein Grauen einzuflößen, ist nicht das, was ich
liebe. Mir ist es lieber, daß mir die Herzen guter Menschen zufallen.«

»Ach, Korinna, das brauchen Sie sich doch nicht erst zu wünschen. Ich
kann mir keinen Menschen denken, dessen Herz Ihnen nicht zufiele, Sie
sollten nur lesen, was Mr. Nelson über Sie geschrieben hat; mit amusing
fängt er an, und dann kommt charming und high-spirited, und mit
fascinating schließt er ab. Und dann erst kommen die Grüße, die sich,
nach allem, was voraufgegangen, beinahe nüchtern und alltäglich
ausnehmen. Aber wie wußten Sie, daß die Grüße von Mr. Nelson kämen?«

»Ein leichteres Rätsel ist mir nicht bald vorgekommen. Ihr Papa teilte
mit, Sie kämen erst später, weil Sie nach Liverpool zu schreiben hätten.
Nun, Liverpool heißt Mr. Nelson. Und hat man erst Mr. Nelson, so gibt
sich das andere von selbst. Ich glaube, daß es mit aller Hellseherei
ganz ähnlich liegt. Und sehen Sie, Leopold, mit derselben Leichtigkeit,
mit der ich in Mr. Nelsons Brief gelesen habe, mit derselben Sicherheit
lese ich zum Beispiel Ihre Zukunft.«

Ein tiefes Aufatmen Leopolds war die Antwort, und sein Herz hätte jubeln
mögen, in einem Gefühl von Glück und Erlösung. Denn, wenn Korinna
richtig las, und sie mußte richtig lesen, so war er allem Anfragen und
allen damit verknüpften Ängsten überhoben, und sie sprach dann aus, was
er zu sagen noch immer nicht den Mut finden konnte. Wie beseligt nahm er
ihre Hand und sagte: »Das können Sie nicht.«

»Ist es so schwer?«

»Nein. Es ist eigentlich leicht. Aber leicht oder schwer, Korinna,
lassen Sie mich's hören. Und ich will auch ehrlich sagen, ob Sie's
getroffen haben oder nicht. Nur keine ferne Zukunft, bloß die nächste,
allernächste.«

»Nun denn,« hob Korinna schelmisch und hier und da mit besonderer
Betonung an, »was ich sehe, ist das: zunächst ein schöner Septembertag,
und vor einem schönen Hause halten viele schöne Kutschen und die
vorderste, mit einem Perückenkutscher auf dem Bock und zwei Bedienten
hinten, das ist eine Brautkutsche. Der Straßendamm aber steht voller
Menschen, die die Braut sehen wollen, und nun kommt die Braut, und neben
ihr schreitet ihr Bräutigam, und dieser Bräutigam ist mein Freund
Leopold Treibel. Und nun fährt die Brautkutsche, während die anderen
Wagen folgen, an einem breiten, breiten Wasser hin ...«

»Aber Korinna, Sie werden doch unsere Spree zwischen Schleuse und
Jungfernbrücke nicht ein breites Wasser nennen wollen ...«

»... An einem breiten Wasser hin und hält endlich vor einer gotischen
Kirche.«

»Zwölf Apostel ...«

»Und der Bräutigam steigt aus und bietet der Braut seinen Arm, und so
schreitet das junge Paar der Kirche zu, drin schon die Orgel spielt und
die Lichter brennen.«

»Und nun ...«

»Und nun stehen sie vor dem Altar, und nach dem Ringewechsel wird der
Segen gesprochen und ein Lied gesungen oder doch der letzte Vers. Und
nun geht es wieder zurück, an demselben breiten Wasser entlang, aber
nicht dem Stadthause zu, von dem sie ausgefahren waren, sondern immer
weiter ins Freie, bis sie vor einer Cottagevilla halten ...«

»Ja, Korinna, so soll es sein ...«

»Bis sie vor einer Cottagevilla halten und vor einem Triumphbogen, an
dessen oberster Wölbung ein Riesenkranz hängt, und in dem Kranze
leuchten die beiden Anfangsbuchstaben: L und H.«

»L und H?«

»Ja, Leopold, L und H. Und wie könnte es auch anders sein? Denn die
Brautkutsche kam ja von der Uhlenhorst her und fuhr die Alster entlang
und nachher die Elbe hinunter, und nun halten sie vor der Munkschen
Villa draußen in Blankenese, und L heißt Leopold und H heißt Hildegard.«

Einen Augenblick überkam es Leopold wie wirkliche Verstimmung. Aber,
sich rasch besinnend, gab er der vorgeblichen Seherin einen kleinen
Liebesklaps und sagte: »Sie sind immer dieselbe, Korinna. Und wenn
der gute Nelson, der der beste Mensch und mein einziger Vertrauter
ist, wenn er dies alles gehört hätte, so würd' er begeistert sein und
von >_capital fun_< sprechen, weil Sie mir so gnädig die Schwester
meiner Schwägerin zuwenden wollen.«

»Ich bin eben eine Prophetin,« sagte Korinna.

»Prophetin,« wiederholte Leopold. »Aber diesmal eine falsche. Hildegard
ist ein schönes Mädchen, und Hunderte würden sich glücklich schätzen.
Aber Sie wissen, wie meine Mama zu dieser Frage steht; sie leidet unter
dem beständigen sich Besserdünken der dortigen Anverwandten und hat es
wohl hundertmal geschworen, daß ihr =eine= Hamburger Schwiegertochter,
=eine= Repräsentantin aus dem großen Hause Thompson-Munk, gerade genug
sei. Sie hat ganz ehrlich einen halben Haß gegen die Munks, und wenn ich
mit Hildegard so vor sie hinträte, so weiß ich nicht, was geschähe; sie
würde >nein< sagen, und wir hätten eine furchtbare Szene.«

»Wer weiß,« sagte Korinna, die jetzt das entscheidende Wort ganz nahe
wußte.

»... Sie würde >nein< sagen und immer wieder >nein<, das ist so sicher
wie Amen in der Kirche,« fuhr Leopold mit gehobener Stimme fort. »Aber
dieser Fall kann sich gar nicht ereignen. Ich werde nicht mit Hildegard
vor sie hintreten und werde statt dessen näher und besser wählen ... Ich
weiß, und Sie wissen es auch, das Bild, das Sie da gemalt haben, es war
nur Scherz und Übermut, und vor allem wissen Sie, wenn mir Armen
überhaupt noch eine Triumphpforte gebaut werden soll, daß der Kranz, der
dann zu Häupten hängt, einen ganz anderen Buchstaben als das Hildegard-H
in hundert und tausend Blumen tragen müßte. Brauch' ich zu sagen
welchen? Ach, Korinna, ich kann ohne Sie nicht leben, und diese Stunde
muß über mich entscheiden. Und nun sagen Sie ja oder nein.« Und unter
diesen Worten nahm er ihre Hand und bedeckte sie mit Küssen. Denn sie
gingen im Schutz einer Haselnußhecke.

Korinna -- nach Confessions, wie diese, die Verlobung mit gutem Recht
als ein _fait accompli_ betrachtend -- nahm klugerweise von jeder
weiteren Auseinandersetzung Abstand und sagte nur kurzerhand: »Aber
eines, Leopold, dürfen wir uns nicht verhehlen, uns stehen noch schwere
Kämpfe bevor. Deine Mama hat an einer Munk genug, das leuchtet mir ein;
aber ob ihr eine Schmidt recht ist, ist noch sehr die Frage. Sie hat
zwar mitunter Andeutungen gemacht, als ob ich ein Ideal in ihren Augen
wäre, vielleicht weil ich das habe, was dir fehlt, und vielleicht auch
was Hildegard fehlt. Ich sage >vielleicht< und kann dies einschränkende
Wort nicht genug betonen. Denn die Liebe, das seh' ich klar, ist
demütig, und ich fühle, wie meine Fehler von mir abfallen. Es soll dies
ja ein Kennzeichen sein. Ja, Leopold, ein Leben voll Glück und Liebe
liegt vor uns, aber es hat deinen Mut und deine Festigkeit zur
Voraussetzung, und hier unter diesem Waldesdom, drin es geheimnisvoll
rauscht und dämmert, hier, Leopold, mußt du mir schwören, ausharren zu
wollen in deiner Liebe.«

Leopold beteuerte, daß er nicht bloß wolle, daß er es auch werde. Denn,
wenn die Liebe demütig und bescheiden mache, was gewiß richtig sei, so
mache sie sicherlich auch stark. Wenn Korinna sich geändert habe, =er=
fühle sich auch ein anderer. »Und,« so schloß er, »das eine darf ich
sagen, ich habe nie große Worte gemacht und Prahlereien werden mir auch
meine Feinde nicht nachsagen; aber glaube mir, mir schlägt das Herz so
hoch, so glücklich, daß ich mir Schwierigkeiten und Kämpfe beinah'
herbeiwünsche. Mich drängt es, dir zu zeigen, daß ich deiner wert
bin ...«

In diesem Augenblicke wurde die Mondsichel zwischen den Baumkronen
sichtbar, und von Schloß Grunewald her, vor dem das Quartett eben
angekommen war, klang es über den See herüber:

    Wenn nach =Dir= ich oft vergebens
    In die Nacht gesehn.
    Scheint der dunkle Strom des Lebens
    Trauernd still zu stehn ...

Und nun schwieg es, oder der Abendwind, der sich aufmachte, trug die
Töne nach der anderen Seite hin.

       *       *       *       *       *

Eine Viertelstunde später hielt alles vor Paulsborn, und nachdem man
sich daselbst wieder begrüßt und bei herumgereichtem Creme de Cacao
(Treibel selbst machte die Honneurs) eine kurze Rast genommen hatte,
brach man -- die Wagen waren von Halensee her gefolgt -- nach einigen
Minuten endgültig auf, um die Rückfahrt anzutreten. Die Felgentreus
nahmen bewegten Abschied von dem Quartett, jetzt lebhaft beklagend, den
von Treibel vorgeschlagenen Kremser abgelehnt zu haben.

Auch Leopold und Korinna trennten sich, aber doch nicht eher, als bis
sie sich, im Schatten des hochstehenden Schilfes, noch einmal fest und
verschwiegen die Hände gedrückt hatten.




Elftes Kapitel


Leopold, als man zur Abfahrt sich anschickte, mußte sich mit einem Platz
vorn auf dem Bock des elterlichen Landauers begnügen, was ihm, alles in
allem, immer noch lieber war als innerhalb des Wagens selbst, en vue
seiner Mutter zu sitzen, die doch vielleicht, sei's im Wald, sei's bei
der kurzen Rast in Paulsborn, etwas bemerkt haben mochte; Schmidt
benutzte wieder den Vorortszug, während Korinna bei den Felgentreus mit
einstieg. Man placierte sie, so gut es ging, zwischen das den Fond des
Wagens redlich ausfüllende Ehepaar, und weil sie nach all dem
Voraufgegangenen eine geringere Neigung zum Plaudern als sonst wohl
hatte, so kam es ihr außerordentlich zu paß, sowohl Elfriede wie Blanka
doppelt redelustig und noch ganz voll und beglückt von dem Quartett zu
finden. Der Jodler, eine sehr gute Partie, schien über die freilich nur
in Zivil erschienenen Sommerleutnants einen entschiedenen Sieg
davongetragen zu haben. Im übrigen ließen es sich die Felgentreus nicht
nehmen, in der Adlerstraße vorzufahren und ihren Gast daselbst
abzusetzen. Korinna bedankte sich herzlich und stieg, noch einmal
grüßend, erst die drei Steinstufen und gleich danach vom Flur aus die
alte Holztreppe hinauf.

Sie hatte den Drücker zum Entree nicht mitgenommen, und so blieb ihr
nichts anderes übrig, als zu klingeln, was sie nicht gerne tat. Alsbald
erschien denn auch die Schmolke, die die Abwesenheit der »Herrschaft«,
wie sie mitunter mit Betonung sagte, dazu benutzt hatte, sich ein
bißchen sonntäglich herauszuputzen. Das Auffallendste war wieder die
Haube, deren Rüschen eben aus dem Tolleisen zu kommen schienen.

»Aber liebe Schmolke,« sagte Korinna, während sie die Tür wieder ins
Schloß zog, »was ist denn los? Ist Geburtstag? Aber nein, den kenn' ich
ja. Oder seiner?«

»Nein,« sagte die Schmolke, »seiner is auch nich. Und da werd' ich auch
nicht solchen Schlips umbinden und solch Band.«

»Aber wenn kein Geburtstag ist, was ist dann?«

»Nichts, Korinna. Muß denn immer was sein, wenn man sich mal ordentlich
macht? Sieh, du hast gut reden; du sitzt jeden Tag, den Gott werden
läßt, eine halbe Stunde vorm Spiegel, und mitunter auch noch länger, und
brennst dir dein Wuschelhaar ...«

»Aber, liebe Schmolke ...«

»Ja, Korinna, du denkst, ich seh' es nicht. Aber ich sehe alles und seh'
noch vielmehr ... Und ich kann dir auch sagen, Schmolke sagte mal, er
fänd' es eigentlich hübsch, solch Wuschelhaar ...«

»Aber war denn Schmolke so?«

»Nein, Korinna, Schmolke war nich so. Schmolke war ein sehr anständiger
Mann, und wenn man so was Sonderbares und eigentlich Unrechtes sagen
darf, er war beinah' zu anständig. Aber nun gib erst deinen Hut und
deine Mantille. Gott, Kind, wie sieht denn das alles aus? Is denn solch
furchtbarer Staub? Un noch ein Glück, daß es nich gedrippelt hat, denn
is der Samt hin. Un so viel hat ein Professor auch nich, un wenn er auch
nich geradezu klagt, Seide spinnen kann er nich.«

»Nein, nein,« lachte Korinna.

»Nu höre, Korinna, da lachst du nu wieder. Das ist aber gar nicht zum
Lachen. Der Alte quält sich genug, und wenn er so die Bündel ins Haus
kriegt und die Strippe mitunter nich ausreicht, so viele sind es, denn
tut es mir mitunter ordentlich weh hier. Denn Papa is ein sehr guter
Mann, und seine Sechzig drücken ihn nu doch auch schon ein bißchen. Er
will es freilich nich wahr haben und tut immer noch so, wie wenn er
zwanzig wäre. Ja, hat sich was. Un neulich ist er von der Pferdebahn
'runtergesprungen, un ich muß auch gerade dazu kommen; na, ich dachte
doch gleich, der Schlag soll mich rühren ... Aber nu sage, Korinna, was
soll ich dir bringen? Oder hast du schon gegessen und bist froh, wenn du
nichts siehst ...«

»Nein, ich habe nichts gegessen. Oder doch so gut wie nichts; die
Zwiebacke, die man kriegt, sind immer so alt. Und dann in Paulsborn
einen kleinen süßen Likör. Das kann man doch nicht rechnen. Aber ich
habe auch keinen rechten Appetit, und der Kopf ist mir so benommen; ich
werde am Ende krank ...«

»Ach, dummes Zeug, Korinna. Das ist auch eine von deinen Nücken; wenn du
mal Ohrensausen hast oder ein bißchen heiße Stirn, dann redest du immer
gleich von Nervenfieber. Un das is eigentlich gottlos, denn man muß den
Teufel nich an die Wand malen. Es wird wohl ein bißchen feucht gewesen
sein, ein bißchen neblig und Abenddunst.«

»Ja, neblig war es gerade, wie wir neben dem Schilf standen, und der See
war eigentlich gar nicht mehr zu sehen. Davon wird es wohl sein. Aber
der Kopf ist mir wirklich benommen, und ich möchte zu Bett gehen und
mich einmummeln. Und dann mag ich auch nicht mehr sprechen, wenn Papa
nach Hause kommt. Und wer weiß wann, und ob es nicht zu spät wird.«

»Warum ist er denn nich gleich mitgekommen?«

»Er wollte nicht und hat ja auch seinen >Abend< heut. Ich glaube bei
Kuhs. Und da sitzen sie meist lange, weil sich die Kälber mit
einmischen. Aber mit Ihnen, liebe, gute Schmolke, möchte ich wohl noch
eine halbe Stunde plaudern. Sie haben ja immer so was Herzliches ...«

»Ach, rede doch nich, Korinna. Wovon soll ich denn 'was Herzliches
haben? Oder eigentlich, wovon soll ich denn 'was Herzliches nich haben.
Du warst ja noch so, als ich ins Haus kam.«

»Nun also 'was Herzliches oder nicht 'was Herzliches,« sagte Korinna,
»gefallen wird es mir schon. Und wenn ich liege, liebe Schmolke, dann
bringen Sie mir meinen Tee ans Bett, die kleine Meißner Kanne und die
andere kleine Kanne, die nehmen Sie sich; und bloß ein paar Teebrötchen,
recht dünn geschnitten und nicht zuviel Butter. Denn ich muß mich mit
meinem Magen in acht nehmen, sonst wird es gastrisch, und man liegt
sechs Wochen.«

»Is schon gut,« lachte die Schmolke und ging in die Küche, um den Kessel
noch wieder in die Glut zu setzen. Denn heißes Wasser war immer da, und
es bullerte nur noch nicht.

       *       *       *       *       *

Eine Viertelstunde später trat die Schmolke wieder ein und fand ihren
Liebling schon im Bette. Korinna saß mehr auf als sie lag und empfing
die Schmolke mit der trostreichen Versicherung, »es sei ihr schon viel
besser«; was man so immer zum Lobe der Bettwärme sage, das sei doch
wahr, und sie glaube jetzt beinahe, daß sie noch mal durchkommen und
alles glücklich überstehen werde.

»Glaub' ich auch,« sagte die Schmolke, während sie das Tablett auf den
kleinen, am Kopfende stehenden Tisch setzte. »Nun, Korinna, von welchem
soll ich dir einschenken? Der hier, mit der abgebrochenen Tülle, hat
länger gezogen, und ich weiß, du hast ihn gern stark und bitterlich, so
daß er schon ein bißchen nach Tinte schmeckt ...«

»Versteht sich, ich will von dem starken. Und dann ordentlich Zucker;
aber ganz wenig Milch, Milch macht immer gastrisch.«

»Gott, Korinna, laß doch das Gastrische. Du liegst da wie ein Borsdorfer
Apfel und redst immer, als ob dir der Tod schon um die Nase säße. Nein,
Korinnchen, so schnell geht es nich. Un nu nimm dir ein Teebrötchen. Ich
habe sie so dünn geschnitten, wie's nur gehen wollte ...«

»Das ist recht. Aber da haben Sie ja eine Schinkenstulle mit
'reingebracht.«

»Für mich, Korinnchen. Ich will doch auch 'was essen.«

»Ach, liebe Schmolke, da möcht' ich mich aber doch zu Gaste laden. Die
Teebrötchen sehen ja nach gar nichts aus, und die Schinkenstulle lacht
einen ordentlich an. Und alles schon so appetitlich durchgeschnitten.
Nun merk' ich erst, daß ich eigentlich hungrig bin. Geben Sie mir ein
Schnittchen ab, wenn es Ihnen nicht sauer wird.«

»Wie du nur redest, Korinna. Wie kann es mir denn sauer werden. Ich
führe ja bloß die Wirtschaft und bin bloß eine Dienerin.«

»Ein Glück, daß Papa das nicht hört. Sie wissen doch, das kann er nicht
leiden, daß Sie so von Dienerin reden, und er nennt es eine falsche
Bescheidenheit ...«

»Ja, ja, so sagt er. Aber Schmolke, der auch ein ganz kluger Mann war,
wenn er auch nicht studiert hatte, der sagte immer, >höre, Rosalie,
Bescheidenheit ist gut, und eine falsche Bescheidenheit (denn die
Bescheidenheit ist eigentlich immer falsch) ist immer noch besser als
gar keine<.«

»Hm,« sagte Korinna, die sich etwas getroffen fühlte, »das läßt sich
hören. Überhaupt, liebe Schmolke, Ihr Schmolke muß eigentlich ein
ausgezeichneter Mann gewesen sein. Und Sie sagten ja auch vorhin schon,
er habe so etwas Anständiges gehabt und beinah' zu anständig. Sehen Sie,
so was höre ich gern, und ich möchte mir wohl etwas dabei denken können.
Worin war er denn nun eigentlich so sehr anständig ... Und dann, er war
ja doch bei der Polizei. Nun, offen gestanden, ich bin zwar froh, daß
wir eine Polizei haben, und freue mich immer über jeden Schutzmann, an
den ich herantreten und den ich nach dem Weg fragen und um Auskunft
bitten kann, und das muß wahr sein, alle sind artig und manierlich,
wenigstens hab' ich es immer so gefunden. Aber das von der Anständigkeit
und von zu anständig ...«

»Ja, liebe Korinna, das is schon richtig. Aber da sind ja
Unterschiedlichkeiten, und was sie Abteilungen nennen. Und Schmolke war
bei solcher Abteilung.«

»Natürlich. Er kann doch nicht überall gewesen sein.«

»Nein, nicht überall. Und er war gerade bei der allerschwersten, die für
den Anstand und die gute Sitte zu sorgen hat.«

»Und so was gibt es?«

»Ja, Korinna, so was gibt es und muß es auch geben. Und wenn nu -- was
ja doch vorkommt, und auch bei Frauen und Mädchen vorkommt, wie du ja
wohl gesehen und gehört haben wirst, denn Berliner Kinder sehen und
hören alles -- wenn nu solch armes und unglückliches Geschöpf (denn
manche sind wirklich bloß arm und unglücklich) etwas gegen den Anstand
und die gute Sitte tut, dann wird sie vernommen und bestraft. Und da, wo
die Vernehmung is, da gerade saß Schmolke ...«

»Merkwürdig. Aber davon haben Sie mir ja noch nie was erzählt. Und
Schmolke, sagen Sie, war mit dabei? Wirklich, sehr sonderbar. Und Sie
meinen, daß er gerade deshalb so sehr anständig und so solide war?«

»Ja, Korinna, das mein' ich.«

»Nun, wenn Sie's sagen, liebe Schmolke, so will ich es glauben. Aber ist
es nicht eigentlich zum Verwundern? Denn Ihr Schmolke war ja damals noch
jung oder so ein Mann in seinen besten Jahren. Und viele von unserem
Geschlecht, und gerade solche, sind ja doch oft bildhübsch. Und da sitzt
nun einer, wie Schmolke da gesessen, und muß immer streng und ehrbar
aussehen, bloß weil er da zufällig sitzt. Ich kann mir nicht helfen, ich
finde das schwer. Denn das ist ja gerade so wie der Versucher in der
Wüste: >Dies alles schenke ich dir<.«

Die Schmolke seufzte. »Ja, Korinna, daß ich es dir offen gestehe, ich
habe auch manchmal geweint, und mein furchtbares Reißen, hier gerad' im
Nacken, das is noch von der Zeit her. Und zwischen das zweite und dritte
Jahr, daß wir verheiratet waren, da hab' ich beinah' elf Pfund
abgenommen, und wenn wir damals schon die vielen Wiegewagen gehabt
hätten, da wär' es wohl eigentlich noch mehr gewesen, denn als ich zu's
Wiegen kam, da setzte ich schon wieder an.«

»Arme Frau,« sagte Korinna. »Ja, das müssen schwere Tage gewesen sein.
Aber wie kamen Sie denn darüber hin? Und wenn Sie wieder ansetzten, so
muß doch so was von Trost und Beruhigung gewesen sein.«

»War auch, Korinnchen. Und weil du ja nu alles weißt, will ich dir auch
erzählen, wie's kam, un wie ich meine Ruhe wieder kriegte. Denn ich kann
dir sagen, es war schlimm, und ich habe mitunter viele Wochen lang kein
Auge zugetan. Na, zuletzt schläft man doch ein bißchen; die Natur will
es un is auch zuletzt noch stärker als die Eifersucht. Aber Eifersucht
ist sehr stark, viel stärker als Liebe. Mit Liebe is es nich so schlimm.
Aber was ich sagen wollte, wie ich nu so ganz 'runter war und man bloß
noch soviel Kraft hatte, daß ich ihm doch sein Hammelfleisch und seine
Bohnen vorsetzen konnte, das heißt geschnitzelte mocht' er nich un sagte
immer, sie schmeckten nach Messer, da sah er doch wohl, daß er mal mit
mir reden müsse. Denn ich red'te nich, dazu war ich viel zu stolz. Also
er wollte reden mit mir, und als es nu soweit war und er die Gelegenheit
auch ganz gut abgepaßt hatte, nahm er einen kleinen vierbeinigen
Schemel, der sonst immer in der Küche stand, un is mir, als ob es
gestern gewesen wäre, un rückte den Schemel zu mir 'ran und sagte:
>Rosalie, nu sage mal, was hast du denn eigentlich<.«

Um Korinnas Mund verlor sich jeder Ausdruck von Spott; sie schob das
Tablett etwas beiseite, stützte sich, während sie sich aufrichtete, mit
dem rechten Arm auf den Tisch und sagte: »Nun weiter, liebe Schmolke.«

»Also, was hast du eigentlich? sagte er zu mir. Na, da stürzten mir denn
die Tränen man so pimperlings 'raus, und ich sagte: >Schmolke,
Schmolke,< und dabei sah ich ihn an, als ob ich ihn ergründen wollte. Un
ich kann wohl sagen, es war ein scharfer Blick, aber doch immer noch
freundlich. Denn ich liebte ihn. Und da sah ich, daß er ganz ruhig blieb
und sich gar nicht verfärbte. Un dann nahm er meine Hand, streichelte
sie ganz zärtlich un sagte: >Rosalie, das is alles Unsinn. Davon
verstehst du nichts, weil du nicht in der >Sitte< bist. Denn ich sage
dir, wer da so tagaus tagein in der Sitte sitzen muß, dem vergeht es,
dem stehen die Haare zu Berge über all das Elend und all den Jammer, und
wenn dann welche kommen, die nebenher auch noch ganz verhungert sind,
was auch vorkommt, und wo wir ganz genau wissen, da sitzen nu die Eltern
zu Hause un grämen sich Tag und Nacht über die Schande, weil sie das
arme Wurm, das mitunter sehr merkwürdig dazu gekommen ist, immer noch
lieb haben und helfen und retten möchten, wenn zu helfen und zu retten
noch menschenmöglich wäre -- ich sage dir, Rosalie, wenn man das jeden
Tag sehen muß, un man hat ein Herz im Leibe un hat bei's erste
Garderegiment gedient un is für Proppertät und Strammheit und
Gesundheit, na, ich sage dir, denn is es mit Verführung un all so was
vorbei, un man möchte 'rausgehn und weinen, un ein paarmal hab' ich's
auch, alter Kerl der ich bin, und von Karessieren und >Fräuleinchen<
steht nichts mehr drin, un man geht nach Hause und is froh, wenn man
sein Hammelfleisch kriegt un eine ordentliche Frau hat, die Rosalie
heißt. Bist du nu zufrieden, Rosalie?< Und dabei gab er mir einen Kuß
...«

Die Schmolke, der bei der Erzählung wieder ganz weh ums Herz geworden
war, ging an Korinnas Schrank, um sich ein Taschentuch zu holen. Und als
sie sich nun wieder zurecht gemacht hatte, so daß ihr die Worte nicht
mehr in der Kehle blieben, nahm sie Korinnas Hand und sagte: »Sieh', so
war Schmolke. Was sagst du dazu?«

»Ein sehr anständiger Mann.«

»Na ob.«

       *       *       *       *       *

In diesem Augenblicke hörte man die Klingel. »Der Papa,« sagte Korinna,
und die Schmolke stand auf, um dem Herrn Professor zu öffnen. Sie war
auch bald wieder zurück und erzählte, daß sich der Papa nur gewundert
habe, Korinnchen nicht mehr zu finden; was denn passiert sei? Wegen ein
bißchen Kopfweh gehe man doch nicht gleich zu Bett. Und dann habe er
sich eine Pfeife angesteckt und die Zeitung in die Hand genommen und
habe dabei gesagt: »Gott sei Dank, liebe Schmolke, daß ich wieder da
bin; alle Gesellschaften sind Unsinn; diesen Satz vermache ich Ihnen auf
Lebenszeit.« Er habe aber ganz fidel dabei ausgesehen und sie sei
überzeugt, daß er sich eigentlich sehr gut amüsiert habe. Denn er habe
den Fehler, den so viele hätten, und die Schmidts voran: sie redeten
über alles und wüßten alles besser. »Ja, Korinnchen, in diesem Belange
bist du auch ganz Schmidtsch.«

Korinna gab der guten Alten die Hand und sagte: »Sie werden wohl recht
haben, liebe Schmolke, und es ist ganz gut, daß Sie mir's sagen. Wenn
Sie nicht gewesen wären, wer hätte mir denn überhaupt was gesagt?
Keiner. Ich bin ja wie wild aufgewachsen, und ist eigentlich zu
verwundern, daß ich nicht noch schlimmer geworden bin als ich bin. Papa
ist ein guter Professor, aber kein guter Erzieher, und dann war er immer
zu sehr von mir eingenommen und sagte: >das Schmidtsche hilft sich
selbst< oder >es wird schon zum Durchbruch kommen<.«

»Ja, so was sagt er immer. Aber mitunter ist eine Maulschelle besser.«

»Um Gotteswillen, liebe Schmolke, sagen Sie doch so was nicht. Das
ängstigt mich.«

»Ach, du bist närrisch, Korinna. Was soll dich denn ängstigen? Du bist
ja nun eine große, forsche Person und hast die Kinderschuhe längst
ausgetreten und könntest schon sechs Jahre verheiratet sein.«

»Ja,« sagte Korinna, »das könnt' ich, wenn mich wer gewollt hätte. Aber
dummerweise hat mich noch keiner gewollt. Und da habe ich denn für mich
selber sorgen müssen ...«

Die Schmolke glaubte nicht recht gehört zu haben und sagte: »Du hast für
dich selber sorgen müssen? Was meinst du damit, was soll das heißen?«

»Es soll heißen, liebe Schmolke, daß ich mich heut' abend verlobt habe.«

»Himmlischer Vater, is es möglich. Aber sei nich böse, daß ich mich so
verfiere ... Denn es is ja doch eigentlich was Gutes. Na, mit wem denn?«

»Rate.«

»Mit Marcell.«

»Nein, mit Marcell nicht.«

»Mit Marcell nich? Ja, Korinna, dann weiß ich es nich und will es auch
nich wissen. Bloß wissen muß ich es am Ende doch. Wer is es denn?«

»Leopold Treibel.«

»Herr, du meine Güte ...«

»Findest du's so schlimm? Hast du was dagegen?«

»I bewahre, wie werd' ich denn. Und würde sich auch gar nich vor mir
passen. Un denn die Treibels, die sind alle gut un sehr proppre Leute,
der alte Kommerzienrat voran, der immer so spaßig is und immer sagt: >Je
später der Abend, je schöner die Leute< un >noch fufzig Jahre so wie
heut'< und so was. Und der älteste Sohn is auch sehr gut und Leopold
auch. Ein bißchen spitzer, das is wahr, aber heiraten is ja nich bei
Renz in 'n Zirkus. Und Schmolke sagte oft: >Höre, Rosalie, das laß gut
sein, so was täuscht, da kann man sich irren; die Dünnen un die so
schwach aussehn, die sind oft gar nich so schwach<. Ja, Korinna, die
Treibels sind gut, un bloß die Mama, die Kommerzienrätin, ja höre, die
kann ich mir nich helfen, die Rätin, die hat so was, was mir nich recht
paßt, un ziert sich immer un tut so, un wenn was Weinerliches erzählt
wird von einem Pudel, der ein Kind aus dem Kanal gezogen, oder wenn der
Professor was vorpredigt un mit seiner Baßstimme so vor sich
hinbrummelt: >wie der Unsterbliche sagt< ... un dann kommt immer ein
Name, den kein Christenmensch kennt und die Kommerzienrätin woll auch
nich -- dann hat sie gleich immer ihre Träne un sind immer wie
Stehtränen, die gar nich 'runter woll'n.«

»Daß sie so weinen kann, ist aber doch eigentlich was Gutes, liebe
Schmolke.«

»Ja, bei manchem is es was Gutes und zeigt ein weiches Herz. Un ich will
auch weiter nichts sagen un lieber an meine eigne Brust schlagen, un muß
auch, denn mir sitzen sie auch man lose ... Gott, wenn ich daran denke,
wie Schmolke noch lebte, na, da war vieles anders, un Billetter für den
dritten Rang hatte Schmolke jeden Tag un mitunter auch für den zweiten.
Un da machte ich mich denn fein, Korinna, denn ich war damals noch keine
dreißig un noch ganz imstande. Gott, Kind, wenn ich daran denke! Da war
damals eine, die hieß die Erharten, die nachher einen Grafen geheiratet.
Ach, Korinnchen, da hab' ich auch manche schöne Träne vergossen. Ich
sage schöne Träne, denn es erleichtert einen. Un in >Maria Stuart< war
es am meisten. Da war denn doch eine Schnauberei, daß man gar nichts
mehr verstehn konnte, das heißt aber bloß ganz zuletzt, wie sie von all
ihre Dienerinnen und von ihrer alten Amme Abschied nimmt, alle ganz
schwarz, un sie selber immer mit's Kreuz, ganz wie 'ne Katholische. Aber
die Erharten war keine. Und wenn ich mir das alles wieder so denke un
wie ich da aus der Träne gar nich 'raus gekommen bin, da kann ich auch
gegen die Kommerzienrätin eigentlich nichts sagen.«

Korinna seufzte, halb im Scherz und halb im Ernst.

»Warum seufzst du, Korinna?«

»Ja, warum seufze ich, liebe Schmolke? Ich seufze, weil ich glaube, daß
Sie recht haben, und daß sich gegen die Rätin eigentlich nichts sagen
läßt, bloß weil sie so leicht weint oder immer einen Flimmer im Auge
hat. Gott, den hat mancher. Aber die Rätin ist freilich eine ganz eigene
Frau, und ich trau' ihr nicht, und der arme Leopold hat eigentlich eine
große Furcht vor ihr und weiß auch noch nicht, wie er da heraus will. Es
wird eben noch allerlei harte Kämpfe geben. Aber ich laß es darauf
ankommen und halt' ihn fest, und wenn meine Schwiegermutter gegen mich
ist, so schad't es am Ende nicht allzuviel. Die Schwiegermütter sind
eigentlich immer dagegen und jede denkt, ihr Püppchen ist zu schade. Na,
wir werden ja sehn; ich habe sein Wort, und das andere muß sich finden.«

»Das ist recht, Korinna, halt' ihn fest. Eigentlich hab' ich ja einen
Schreck gekriegt, und glaube mir, Marcell wäre besser gewesen, denn ihr
paßt zusammen. Aber das sag' ich so bloß zu dir. Un da du nu mal den
Treibelschen hast, na, so hast du'n, un da hilft kein Prätzelbacken, un
er muß still halten und die Alte auch. Ja, die Alte erst recht. Der
gönn' ich's.«

Korinna nickte.

»Un nu schlafe, Kind. Ausschlafen is immer gut, denn man kann nie
wissen, wie's kommt, un wie man den andern Tag seine Kräfte braucht.«




Zwölftes Kapitel


Ziemlich um dieselbe Zeit, wo der Felgentreusche Wagen in der
Adlerstraße hielt, um daselbst abzusetzen, hielt auch der Treibelsche
Wagen vor der kommerzienrätlichen Wohnung, und die Rätin samt ihrem
Sohne Leopold stiegen aus, während der alte Treibel auf seinem Platze
blieb und das junge Paar -- das wieder die Pferde geschont hatte -- die
Köpenickerstraße hinunter bis an den »Holzhof« begleitete. Von dort aus,
nach einem herzhaften Schmatz (denn er spielte gern den zärtlichen
Schwiegervater), ließ er sich zu Buggenhagens fahren, wo
Parteiversammlung war. Er wollte doch mal wieder sehen, wie's
stünde und, wenn nötig, auch zeigen, daß ihn die Korrespondenz in
der »Nationalzeitung« nicht niedergeschmettert habe.

Die Kommerzienrätin, die für gewöhnlich die politischen Gänge Treibels
belächelte, wenn nicht beargwohnte -- was auch vorkam -- heute segnete
sie Buggenhagen und war froh, ein paar Stunden allein sein zu können.
Der Gang mit Wilibald hatte so vieles wieder in ihr angeregt. Die
Gewißheit, sich verstanden zu sehen -- es war doch eigentlich das
Höhere. »Viele beneiden mich, aber was hab' ich am Ende? Stuck und
Goldleisten und die Honig mit ihrem sauersüßen Gesicht. Treibel ist
gut, besonders auch gegen mich; aber die Prosa lastet bleischwer auf
ihm, und wenn =er= es nicht empfindet, ich empfinde es ... Und dabei
Kommerzienrätin und immer wieder Kommerzienrätin. Es geht nun schon
in das zehnte Jahr, und er rückt nicht höher hinauf, trotz aller
Anstrengungen. Und wenn es so bleibt, und es wird so bleiben, so weiß
ich wirklich nicht, ob nicht das andere, das auf Kunst und Wissenschaft
deutet, doch einen feineren Klang hat. Ja, den hat es ... Und mit den
ewigen guten Verhältnissen! Ich kann doch auch nur eine Tasse Kaffee
trinken, und wenn ich mich zu Bett lege, so kommt es darauf an, daß ich
schlafe. Birkenmaser oder Nußbaum macht keinen Unterschied, aber Schlaf
oder Nichtschlaf, das macht einen, und mitunter flieht mich der Schlaf,
der des Lebens Bestes ist, weil er uns das Leben vergessen läßt ... Und
auch die Kinder wären anders. Wenn ich die Korinna ansehe, das sprüht
alles von Lust und Leben, und wenn sie bloß so macht, so steckt sie
meine beiden Jungen in die Tasche. Mit Otto ist nicht viel, und mit
Leopold ist gar nichts.«

Jenny, während sie sich in süße Selbsttäuschungen wie diese versenkte,
trat ans Fenster und sah abwechselnd auf den Vorgarten und die Straße.
Drüben, im Hause gegenüber, hoch oben in der offenen Mansarde stand, wie
ein Schattenriß in hellem Licht, eine Plätterin, die mit sicherer Hand
über das Plättbrett hinfuhr -- ja, es war ihr, als höre sie Mädchen
singen. Der Kommerzienrätin Auge mochte von dem anmutigen Bilde nicht
lassen, und etwas wie wirklicher Neid überkam sie.

Sie sah erst fort, als sie bemerkte, daß hinter ihr die Tür ging. Es war
Friedrich, der den Tee brachte. »Setzen Sie hin, Friedrich, und sagen
Sie Fräulein Honig, es wäre nicht nötig.«

»Sehr wohl, Frau Kommerzienrätin. Aber hier ist ein Brief.«

»Ein Brief?« fuhr die Rätin heraus. »Von wem?«

»Vom jungen Herrn.«

»Von Leopold?«

»Ja, Frau Kommerzienrätin ... Und es wäre Antwort ...«

»Brief ... Antwort ... Er ist nicht recht gescheit,« und die
Kommerzienrätin riß das Kuvert auf und überflog den Inhalt. »Liebe
Mama! Wenn es Dir irgend paßt, ich möchte heute noch eine kurze
Unterredung mit Dir haben. Laß mich durch Friedrich wissen, ja oder
nein. Dein Leopold.«

Jenny war derart betroffen, daß ihre sentimentalen Anwandlungen auf der
Stelle hinschwanden. Soviel stand fest, daß das alles nur etwas sehr
Fatales bedeuten konnte. Sie raffte sich aber zusammen und sagte: »Sagen
Sie Leopold, daß ich ihn erwarte.«

Das Zimmer Leopolds lag über dem ihrigen; sie hörte deutlich, daß er
rasch hin und her ging und ein paar Schubkästen, mit einer ihm sonst
nicht eigenen Lautheit, zuschob. Und gleich danach, wenn nicht alles
täuschte, vernahm sie seinen Schritt auf der Treppe.

Sie hatte recht gehört, und nun trat er ein und wollte (sie stand noch
in der Nähe des Fensters) durch die ganze Länge des Zimmers auf sie
zuschreiten, um ihr die Hand zu küssen; der Blick aber, mit dem sie ihm
begegnete, hatte etwas so Abwehrendes, daß er stehen blieb und sich
verbeugte.

»Was bedeutet das, Leopold? Es ist jetzt zehn, also nachtschlafende
Zeit, und da schreibst du mir ein Billett und willst mich sprechen. Es
ist mir neu, daß du was auf der Seele hast, was keinen Aufschub bis
morgen früh duldet. Was hast du vor? Was willst du?«

»Mich verheiraten, Mutter. Ich habe mich verlobt.«

Die Kommerzienrätin fuhr zurück, und ein Glück war es, daß das Fenster,
an dem sie stand, ihr eine Lehne gab. Auf viel Gutes hatte sie nicht
gerechnet, aber eine Verlobung über ihren Kopf weg, das war doch mehr,
als sie gefürchtet. War es eine der Felgentreus? Sie hielt beide für
dumme Dinger und die ganze Felgentreuerei für erheblich unterm Stand;
er, der Alte, war Lageraufseher in einem großen Ledergeschäft gewesen
und hatte schließlich die hübsche Wirtschaftsmamsell des Prinzipals,
eines mit seiner weiblichen Umgebung oft wechselnden Witwers,
geheiratet. So hatte die Sache begonnen und ließ in ihren Augen viel zu
wünschen übrig. Aber, verglichen mit den Munks, war es noch lange das
Schlimmste nicht, und so sagte sie denn: »Elfriede oder Blanka?«

»Keine von beiden.«

»Also ...«

»Korinna.«

Das war zuviel. Jenny kam in ein halb ohnmächtiges Schwanken, und sie
wäre, angesichts ihres Sohnes, zu Boden gefallen, wenn sie der schnell
Herzuspringende nicht aufgefangen hätte. Sie war nicht leicht zu halten
und noch weniger leicht zu tragen; aber der arme Leopold, den die ganze
Situation über sich selbst hinaus hob, bewährte sich auch physisch und
trug die Mama bis ans Sofa. Danach wollte er auf den Knopf der
elektrischen Klingel drücken, Jenny war aber, wie die meisten
ohnmächtigen Frauen, doch nicht ohnmächtig genug, um nicht genau zu
wissen, was um sie her vorging, und so faßte sie denn seine Hand, zum
Zeichen, daß das Klingeln zu unterbleiben habe.

Sie erholte sich auch rasch wieder, griff nach dem vor ihr stehenden
Flakon mit Kölnischem Wasser und sagte, nachdem sie sich die Stirn damit
betupft hatte: »Also mit Korinna.«

»Ja, Mutter.«

»Und alles nicht bloß zum Spaß. Sondern um euch wirklich zu heiraten.«

»Ja, Mutter.«

»Und hier in Berlin und in der Luisenstädtschen Kirche, darin dein
guter, braver Vater und ich getraut wurden?«

»Ja, Mutter.«

»Ja, Mutter, und immer wieder ja, Mutter. Es klingt, als ob du nach
Kommando sprächst, und als ob dir Korinna gesagt hätte, sage nur immer:
Ja, Mutter. Nun, Leopold, wenn es so ist, so können wir beide unsere
Rollen rasch auswendig lernen. Du sagst in einem fort >ja, Mutter<, und
ich sage in einem fort >nein, Leopold<. Und dann wollen wir sehen, was
länger vorhält, dein >Ja< oder mein >Nein<.«

»Ich finde, daß du es dir etwas leicht machst, Mama.«

»Nicht, daß ich wüßte. Wenn es aber so sein sollte, so bin ich bloß
deine gelehrige Schülerin. Jedenfalls ist es ein Operieren ohne
Umschweife, wenn ein Sohn vor seine Mutter hintritt und ihr kurzweg
erklärt: >Ich habe mich verlobt<. So geht das nicht in unsern Häusern.
Das mag beim Theater so sein oder vielleicht auch bei Kunst und
Wissenschaft, worin die kluge Korinna ja groß gezogen ist, und einige
sagen sogar, daß sie dem Alten die Hefte korrigiert. Aber wie dem auch
sein möge, bei Kunst und Wissenschaft mag das gehen, meinetwegen, und
wenn sie den alten Professor, ihren Vater (übrigens ein Ehrenmann), auch
ihrerseits mit einem >ich habe mich verlobt< überrascht haben sollte,
nun, so mag der sich freuen; er hat auch Grund dazu, denn die Treibels
wachsen nicht auf den Bäumen und können nicht von jedem, der vorbeigeht,
heruntergeschüttelt werden. Aber ich, ich freue mich nicht und verbiete
dir diese Verlobung. Du hast wieder gezeigt, wie ganz unreif du bist,
ja, daß ich es ausspreche, Leopold, wie knabenhaft.«

»Liebe Mama, wenn du mich etwas mehr schonen könntest ...«

»Schonen? Hast du mich geschont, als du dich auf diesen Unsinn
einließest? Du hast dich verlobt, sagst du. Wem willst du das weis
machen? Sie hat sich verlobt, und =du= bist bloß verlobt worden. Sie
spielt mit dir, und anstatt dir das zu verbitten, küssest du ihr die
Hand und lässest dich einfangen wie die Gimpel. Nun, ich hab' es nicht
hindern können, aber das Weitere, das kann ich hindern und werde es
hindern. Verlobt euch soviel ihr wollt, aber wenn ich bitten darf, im
Verschwiegenen und Verborgenen; an ein Heraustreten damit ist nicht zu
denken. Anzeigen erfolgen nicht, und wenn du deinerseits Anzeigen machen
willst, so magst du die Gratulationen in einem Hotel garni in Empfang
nehmen. In meinem Hause nicht. In meinem Hause existiert keine Verlobung
und keine Korinna. Damit ist es vorbei. Das alte Lied vom Undank erfahr'
ich nun an mir selbst und muß erkennen, daß man unklug daran tut,
Personen zu verwöhnen und gesellschaftlich zu sich heraufzuziehen. Und
mit dir steht es nicht besser. Auch du hättest mir diesen Gram ersparen
können und diesen Skandal. Daß du verführt bist, entschuldigt dich nur
halb. Und nun kennst du meinen Willen, und ich darf wohl sagen, auch
deines Vaters Willen, denn soviel Torheiten er begeht, in =den= Fragen,
wo die Ehre seines Hauses auf dem Spiele steht, ist Verlaß auf ihn. Und
nun geh', Leopold, und schlafe, wenn du schlafen kannst. Ein gut
Gewissen ist ein gutes Ruhekissen ...«

Leopold biß sich auf die Lippen und lächelte verbittert vor sich hin.

»... Und bei dem, was du vielleicht vorhast -- denn du lächelst und
stehst so trotzig da, wie ich dich noch gar nicht gesehen habe, was auch
bloß der fremde Geist und Einfluß ist -- bei dem, was du vielleicht
vorhast, Leopold, vergiß nicht, daß der Segen der Eltern den Kindern
Häuser baut. Wenn ich dir raten kann, sei klug und bringe dich nicht um
einer gefährlichen Person und einer flüchtigen Laune willen um die
Fundamente, die das Leben tragen, und ohne die es kein rechtes Glück
gibt.«

       *       *       *       *       *

Leopold, der sich, zu seinem eigenen Erstaunen, all' die Zeit über
durchaus nicht niedergeschmettert gefühlt hatte, schien einen Augenblick
antworten zu wollen; ein Blick auf die Mutter aber, deren Erregung,
während sie sprach, nur immer noch gewachsen war, ließ ihn erkennen, daß
jedes Wort die Schwierigkeit der Lage bloß steigern würde; so verbeugte
er sich denn ruhig und verließ das Zimmer.

Er war kaum hinaus, als sich die Kommerzienrätin von ihrem Sofaplatz
erhob und über den Teppich hin auf- und abzugehen begann. Jedesmal, wenn
sie wieder in die Nähe des Fensters kam, blieb sie stehen und sah nach
der Mansarde und der immer noch in vollem Lichte dastehenden Plätterin
hinüber, bis ihr Blick sich wieder senkte und dem bunten Treiben der vor
ihr liegenden Straße zuwandte. Hier, in ihrem Vorgarten, den linken Arm
von innen her auf die Gitterstäbe gestützt, stand ihr Hausmädchen, eine
hübsche Blondine, die mit Rücksicht auf Leopolds »_mores_« beinahe nicht
engagiert worden wäre, und sprach lebhaft und unter Lachen mit einem
draußen auf dem Trottoir stehenden »Cousin«, zog sich aber zurück, als
der eben von Buggenhagen kommende Kommerzienrat in einer Droschke
vorfuhr und auf seine Villa zuschritt. Treibel, einen Blick auf
die Fensterreihe werfend, sah sofort, daß nur noch in seiner Frau
Zimmer Licht war, was ihn mitbestimmte, gleich bei ihr einzutreten,
um noch über den Abend und seine mannigfachen Erlebnisse berichten
zu können. Die flaue Stimmung, der er anfänglich infolge der
Nationalzeitungskorrespondenz bei Buggenhagens begegnet war, war unter
dem Einfluß seiner Liebenswürdigkeit rasch gewichen, und das um so mehr,
als er den auch hier wenig gelittenen Vogelsang schmunzelnd preisgegeben
hatte.

Von diesem Siege zu erzählen, trieb es ihn, trotzdem er wußte, wie Jenny
zu diesen Dingen stand; als er aber eintrat und die Aufregung gewahr
wurde, darin sich seine Frau ganz ersichtlich befand, erstarb ihm das
joviale »guten Abend, Jenny« auf der Zunge, und ihr die Hand reichend,
sagte er nur: »Was ist vorgefallen, Jenny? Du siehst ja aus wie das
Leiden ... nein, keine Blasphemie ... Du siehst ja aus, als wäre dir die
Gerste verhagelt.«

»Ich glaube, Treibel,« sagte sie, während sie ihr Auf und Ab im
Zimmer fortsetzte, »du könntest dich mit deinen Vergleichen etwas
höher hinaufschrauben; >verhagelte Gerste< hat einen überaus
ländlichen, um nicht zu sagen bäuerlichen Beigeschmack. Ich sehe,
das Teupitz-Zossensche trägt bereits seine Früchte ...«

»Liebe Jenny, die Schuld liegt, glaube ich, weniger an mir als an dem
Sprach- und Bilderschatze deutscher Nation. Alle Wendungen, die wir als
Ausdruck für Verstimmungen und Betrübnisse haben, haben einen
ausgesprochenen Unterschichtscharakter, und ich finde da zunächst nur
noch den Lohgerber, dem die Felle weggeschwommen.«

Er stockte, denn es traf ihn ein so böser Blick, daß er es doch für
angezeigt hielt, auf das Suchen nach weiteren Vergleichen zu verzichten.
Auch nahm Jenny selbst das Wort und sagte: »Deine Rücksichten gegen mich
halten sich immer auf derselben Höhe. Du siehst, daß ich eine Alteration
gehabt habe, und die Form, in die du deine Teilnahme kleidest, ist die
geschmackloser Vergleiche. Was meiner Erregung zugrunde liegt, scheint
deine Neugier nicht sonderlich zu wecken.«

»Doch, doch, Jenny ... du darfst das nicht übel nehmen; du kennst mich
und weißt, wie das alles gemeint ist. Alteration! Das ist ein Wort,
das ich nicht gern höre. Gewiß wieder was mit Anna, Kündigung oder
Liebesgeschichte. Wenn ich nicht irre, stand sie ...«

»Nein, Treibel, das ist es nicht, Anna mag tun, was sie will und
meinetwegen ihr Leben als Spreewälderin beschließen. Ihr Vater, der alte
Schulmeister, kann dann an seinem Enkel erziehen, was er an seiner
Tochter versäumt hat. Wenn mich Liebesgeschichten alterieren sollen,
müssen sie von anderer Seite kommen ...«

»Also doch Liebesgeschichten. Nun sage wer?«

»Leopold.«

»Alle Wetter ...« Und man konnte nicht heraushören, ob Treibel bei
dieser Namensnennung mehr in Schreck oder Freude geraten war. »Leopold?
Ist es möglich?«

»Es ist mehr als möglich, es ist gewiß; denn vor einer Viertelstunde war
er selber hier, um mich diese Liebesgeschichte wissen zu lassen ...«

»Merkwürdiger Junge ...«

»Er hat sich mit Korinna verlobt.«

Es war ganz unverkennbar, daß die Kommerzienrätin eine große Wirkung von
dieser Mitteilung erwartete, welche Wirkung aber durchaus ausblieb.
Treibels erstes Gefühl war das einer heiter angeflogenen Enttäuschung.
Er hatte was von kleiner Soubrette, vielleicht auch von »Jungfrau aus
dem Volk« erwartet und stand nun vor einer Ankündigung, die, nach seinen
unbefangeneren Anschauungen, alles andere als Schreck und Entsetzen
hervorrufen konnte. »Korinna,« sagte er. »Und schlankweg verlobt und
ohne Mama zu fragen. Teufelsjunge. Man unterschätzt doch immer die
Menschen und am meisten seine eigenen Kinder.«

»Treibel, was soll das? Dies ist keine Stunde, wo sich's für dich
schickt, in einer noch nach Buggenhagen schmeckenden Stimmung ernste
Fragen zu behandeln. Du kommst nach Haus und findest mich in einer
großen Erregung, und im Augenblicke, wo ich dir den Grund dieser
Erregung mitteile, findest du's angemessen, allerlei sonderbare Scherze
zu machen. Du mußt doch fühlen, daß das einer Lächerlichmachung meiner
Person und meiner Gefühle ziemlich gleich kommt, und wenn ich deine
ganze Haltung recht verstehe, so bist du weit ab davon, in dieser
sogenannten Verlobung einen Skandal zu sehen. Und darüber möchte ich
Gewißheit haben, eh' wir weiter sprechen. Ist es ein Skandal oder
nicht?«

»Nein.«

»Und du wirst Leopold nicht darüber zur Rede stellen?«

»Nein.«

»Und bist nicht empört über diese Person?«

»Nicht im geringsten.«

Ȇber diese Person, die deiner und meiner Freundlichkeit sich absolut
unwert macht, und nun ihre Bettlade -- denn um viel was anderes wird es
sich nicht handeln -- in das Treibelsche Haus tragen will.«

Treibel lachte. »Sieh', Jenny, diese Redewendung ist dir gelungen, und
wenn ich mir mit meiner Phantasie, die mein Unglück ist, die hübsche
Korinna vorstelle, wie sie sozusagen zwischen die Längsbretter
eingeschirrt, ihre Bettlade hierher ins Treibelsche Haus trägt, so
könnte ich eine Viertelstunde lang lachen. Aber ich will doch lieber
nicht lachen und dir, da du so sehr fürs Ernste bist, nun auch ein
ernsthaftes Wort sagen. Alles, was du da so hinschmetterst, ist erstens
unsinnig und zweitens empörend. Und was es außerdem noch alles ist,
blind, vergeßlich, überheblich, davon will ich gar nicht reden ...«

Jenny war ganz blaß geworden und zitterte, weil sie wohl wußte, worauf
das »blind und vergeßlich« abzielte. Treibel aber, der ein guter und
auch ganz kluger Kerl war, und sich aufrichtig gegen all' den Hochmut
aufrichtete, fuhr jetzt fort: »Du sprichst da von Undank und Skandal und
Blamage, und fehlt eigentlich bloß noch das Wort »Unehre«, dann hast du
den Gipfel der Herrlichkeit erklommen. Undank. Willst du der klugen,
immer heitren, immer unterhaltlichen Person, die wenigstens sieben
Felgentreus in die Tasche steckt -- nächststehender Anverwandten ganz zu
geschweigen -- willst du der die Datteln und Apfelsinen nachrechnen, die
sie von unserer Majolikaschüssel, mit einer Venus und einem Cupido
darauf, beiläufig eine lächerliche Pinselei, mit ihrer zierlichen Hand
heruntergenommen hat? Und waren wir nicht bei dem guten alten Professor
unsererseits auch zu Gast, bei Wilibald, der doch sonst dein Herzblatt
ist, und haben wir uns seinen Brauneberger, der ebensogut war wie
meiner, oder doch nicht viel schlechter, nicht schmecken lassen? Und
warst du nicht ganz ausgelassen und hast du nicht an dem Klimperkasten,
der da in der Putzstube steht, deine alten Lieder 'runtergesungen? Nein,
Jenny, komme mir nicht mit solchen Geschichten. Da kann ich auch mal
ärgerlich werden ...«

Jenny nahm seine Hand und wollte ihn hindern weiter zu sprechen.

»Nein, Jenny, noch nicht, noch bin ich nicht fertig. Ich bin nun mal im
Zuge. Skandal sagst du und Blamage. Nun, ich sage dir, nimm dich in
acht, daß aus der bloß eingebildeten Blamage nicht eine wirkliche wird
und daß -- ich sage das, weil du solche Bilder liebst -- der Pfeil nicht
auf den Schützen zurückfliegt. Du bist auf dem besten Wege, mich und
dich in eine unsterbliche Lächerlichkeit hineinzubugsieren. Wer sind wir
denn? Wir sind weder die Montmorencys noch die Lusignans -- von denen,
nebenher bemerkt, die schöne Melusine herstammen soll, was dich
vielleicht interessiert -- wir sind auch nicht die Bismarcks oder die
Arnims oder sonst was Märkisches von Adel, wir sind die Treibels,
Blutlaugensalz und Eisenvitriol, und du bist eine geborene Bürstenbinder
aus der Adlerstraße, Bürstenbinder ist ganz gut, aber der erste
Bürstenbinder kann unmöglich höher gestanden haben als der erste
Schmidt. Und so bitt' ich dich denn, Jenny, keine Übertreibungen. Und
wenn es sein kann, laß den ganzen Kriegsplan fallen und nimm Korinna mit
so viel Fassung hin, wie du Helene hingenommen hast. Es ist ja nicht
nötig, daß sich Schwiegermutter und Schwiegertochter furchtbar lieben,
sie heiraten sich ja nicht; es kommt auf =die= an, die den Mut haben,
sich dieser ernsten und schwierigen Aufgabe allerpersönlichst
unterziehen zu wollen ...«

Jenny war während dieser zweiten Hälfte von Treibels Philippika
merkwürdig ruhig geworden, was in einer guten Kenntnis des Charakters
ihres Mannes seinen Grund hatte. Sie wußte, daß er in einem überhohen
Grade das Bedürfnis und die Gewohnheit des Sichaussprechens hatte, und
daß sich mit ihm erst wieder reden ließ, wenn gewisse Gefühle von seiner
Seele heruntergeredet waren. Es war ihr schließlich ganz recht, daß
dieser Akt innerlicher Selbstbefreiung so rasch und so gründlich
begonnen hatte; was jetzt gesagt worden war, brauchte morgen nicht mehr
gesagt zu werden, war abgetan und gestattete den Ausblick auf
friedlichere Verhandlungen. Treibel war sehr der Mann der Betrachtung
aller Dinge von zwei Seiten her, und so war Jenny denn völlig überzeugt
davon, daß er über Nacht dahin gelangen würde, die ganze Leopoldsche
Verlobung auch mal von der Kehrseite her anzusehen. Sie nahm deshalb
seine Hand und sagte: »Treibel, laß uns das Gespräch morgen früh
fortsetzen. Ich glaube, daß du, bei ruhigerem Blute, die Berechtigung
meiner Anschauungen nicht verkennen wirst. Jedenfalls rechne nicht
darauf, mich anderen Sinnes zu machen. Ich wollte dir, als dem Manne,
der zu handeln hat, selbstverständlich auch in dieser Angelegenheit
nicht vorgreifen; lehnst du jedoch jedes Handeln ab, so handle ich.
Selbst auf die Gefahr deiner Nichtzustimmung.«

»Tu', was du willst.«

Und damit warf Treibel die Tür ins Schloß und ging in sein Zimmer
hinüber. Als er sich in den Fauteuil warf, brummte er vor sich hin:
»Wenn sie am Ende doch recht hätte!«

Und konnte es anders sein? Der gute Treibel, er war doch auch
seinerseits das Produkt dreier, im Fabrikbetrieb immer reicher
gewordenen Generationen, und aller guten Geistes- und Herzensanlagen
unerachtet und trotz seines politischen Gastspiels auf der Bühne
Teupitz-Zossen -- der Bourgeois steckte ihm wie seiner sentimentalen
Frau tief im Geblüt.




Dreizehntes Kapitel


Am anderen Morgen war die Kommerzienrätin früher auf als gewöhnlich und
ließ von ihrem Zimmer aus zu Treibel hinüber sagen, daß sie das
Frühstück allein nehmen wolle. Treibel schob es auf die Verstimmung vom
Abend vorher, ging aber darin fehl, da Jenny ganz aufrichtig vorhatte,
die durch Verbleib auf ihrem Zimmer frei gewordene halbe Stunde zu einem
Briefe an Hildegard zu benutzen. Es galt eben Wichtigeres heute, als den
Kaffee mußevoll und friedlich oder vielleicht auch unter fortgesetzter
Kriegführung einzunehmen, und wirklich, kaum daß sie die kleine Tasse
geleert und auf das Tablett zurückgeschoben hatte, so vertauschte sie
auch schon den Sofaplatz mit ihrem Platz am Schreibtisch und ließ die
Feder mit rasender Schnelligkeit über verschiedene kleine Bogen
hingleiten, von denen jeder nur die Größe einer Handfläche, Gott sei
Dank aber die herkömmlichen vier Seiten hatte. Briefe, wenn ihr die
Stimmung nicht fehlte, gingen ihr immer leicht von der Hand, aber nie so
wie heute, und ehe noch die kleine Konsoluhr die neunte Stunde schlug,
schob sie schon die Bogen zusammen, klopfte sie auf der Tischplatte wie
ein Spiel Karten zurecht und überlas noch einmal mit halblauter Stimme
das Geschriebene.

»Liebe Hildegard. Seit Wochen tragen wir uns damit, unsren seit lange
gehegten Wunsch erfüllt und Dich mal wieder unter unsrem Dache zu sehen.
Bis in den Mai hinein hatten wir schlechtes Wetter, und von einem Lenz,
der mir die schönste Jahreszeit bedeutet, konnte kaum die Rede sein.
Aber seit beinah' vierzehn Tagen ist es anders, in unsrem Garten
schlagen die Nachtigallen, was Du, wie ich mich sehr wohl erinnere, so
sehr liebst, und so bitten wir Dich herzlich, Dein schönes Hamburg auf
ein paar Wochen verlassen und uns Deine Gegenwart schenken zu wollen.
Treibel vereinigt seine Wünsche mit den meinigen, und Leopold schließt
sich an. Von Deiner Schwester Helene bei dieser Gelegenheit und in
diesem Sinne zu sprechen, ist überflüssig, denn ihre herzlichen Gefühle
für Dich kennst Du so gut, wie wir sie kennen, Gefühle, die, wenn ich
recht beobachtet habe, gerade neuerdings wieder in einem beständigen
Wachsen begriffen sind. Es liegt so, daß ich, soweit das in einem Briefe
möglich, ausführlicher darüber zu Dir sprechen möchte. Mitunter, wenn
ich sie so blaß sehe, so gut ihr gerade diese Blässe kleidet, tut mir
doch das innerste Herz weh, und ich habe nicht den Mut, nach der Ursache
zu fragen. Otto ist es =nicht=, dessen bin ich sicher, denn er ist nicht
nur gut, sondern auch rücksichtsvoll, und ich empfinde dann allen
Möglichkeiten gegenüber ganz deutlich, daß es nichts anderes sein kann
als Heimweh. Ach, mir nur zu begreiflich, und ich möchte dann immer
sagen, >reise, Helene, reise heute, reise morgen, und sei versichert,
daß ich mich, wie des Wirtschaftlichen überhaupt, so auch namentlich der
Weißzeugplätterei nach besten Kräften annehmen werde, gerade so, ja mehr
noch, als wenn es für Treibel wäre, der in diesen Stücken auch so
diffizil ist, diffiziler als viele andere Berliner.< Aber ich sage das
alles nicht, weil ich ja weiß, daß Helene lieber auf jedes andere Glück
verzichtet, als auf das Glück, das in dem Bewußtsein erfüllter Pflicht
liegt. Vor allem dem Kinde gegenüber. Lizzi mit auf die Reise zu nehmen,
wo dann doch die Schulstunden unterbrochen werden müßten, ist fast
ebenso undenkbar, wie Lizzi zurückzulassen. Das süße Kind! Wie wirst Du
Dich freuen, sie wieder zu sehen, immer vorausgesetzt, daß ich mit
meiner Bitte keine Fehlbitte tue. Denn Photographien geben doch nur ein
sehr ungenügendes Bild, namentlich bei Kindern, deren ganzer Zauber in
einer durchsichtigen Hautfarbe liegt; der Teint nuanciert nicht nur den
Ausdruck, er ist der Ausdruck selbst. Denn wie Krola, dessen Du Dich
vielleicht noch erinnerst, erst neulich wieder behauptete, der
Zusammenhang zwischen Teint und Seele sei geradezu merkwürdig. Was wir
Dir bieten können, meine süße Hildegard? Wenig; eigentlich nichts. Die
Beschränktheit unsrer Räume kennst Du; Treibel hat außerdem eine neue
Passion ausgebildet und will sich wählen lassen, und zwar in einem
Landkreise, dessen sonderbaren, etwas wendisch klingenden Namen ich
Deiner Geographiekenntnis nicht zumute, trotzdem ich wohl weiß, daß auch
Eure Schulen -- wie mir Felgentreu (freilich keine Autorität auf diesem
Gebiete) erst ganz vor kurzem wieder versicherte -- den unsrigen
überlegen sind. Wir haben zur Zeit eigentlich nichts als die
Jubiläumsausstellung, in der die Firma Dreher aus Wien die Bewirtung
übernommen hat und hart angegriffen wird. Aber was griffe der Berliner
nicht an -- daß die Seidel zu klein sind, kann einer Dame wenig bedeuten
-- und ich wüßte wirklich kaum etwas, was vor der Eingebildetheit
unserer Bevölkerung sicher wäre. Nicht einmal Euer Hamburg, an das ich
nicht denken kann, ohne daß mir das Herz lacht. Ach, Eure herrliche
Buten-Alster! Und wenn dann abends die Lichter und die Sterne darin
flimmern -- ein Anblick, der den, der sich seiner freuen darf, jedesmal
dem Irdischen wie entrückt. Aber vergiß es, liebe Hildegard, sonst haben
wir wenig Aussicht, Dich hier zu sehen, was doch ein aufrichtiges
Bedauern bei allen Treibels hervorrufen würde, am meisten bei Deiner
Dich innig liebenden Freundin und Tante

    Jenny Treibel.

»=Nachschrift.= Leopold reitet jetzt viel, jeden Morgen nach Treptow und
auch nach dem Eierhäuschen. Er klagt, daß er keine Begleitung dabei
habe. Hast Du noch Deine alte Passion? Ich sehe Dich noch so hinfliegen,
Du Wildfang. Wenn ich ein Mann wäre, Dich einzufangen, würde mir das
Leben bedeuten. Übrigens bin ich sicher, daß andere ebenso denken, und
wir würden längst den Beweis davon in Händen haben, wenn Du weniger
wählerisch wärst. Sei es nicht fürder und vergiß die Ansprüche, die Du
machen darfst.

    Deine J. T.«

Jenny faltete jetzt die kleinen Bogen und tat sie in ein Kuvert, das,
vielleicht um auch schon äußerlich ihren Friedenswunsch anzudeuten, eine
weiße Taube mit einem Ölzweig zeigte. Dies war um so angebrachter, als
Hildegard mit Helenen in lebhafter Korrespondenz stand und recht gut
wußte, wie, bisher wenigstens, die wahren Gefühle der Treibels und
besonders die der Frau Jenny gewesen waren.

Die Rätin hatte sich eben erhoben, um nach der am Abend vorher etwas
angezweifelten Anna zu klingeln, als sie, wie von ungefähr, ihren Blick
auf den Vorgarten richtend, ihrer Schwiegertochter ansichtig wurde, die
rasch vom Gitter her auf das Haus zuschritt. Draußen hielt eine Droschke
zweiter Klasse, geschlossen und das Fenster in die Höhe gezogen,
trotzdem es sehr warm war.

Einen Augenblick danach trat Helene bei der Schwiegermutter ein und
umarmte sie stürmisch. Dann warf sie den Sommermantel und Gartenhut
beiseite und sagte, während sie ihre Umarmung wiederholte: »Ist es denn
wahr? Ist es möglich?«

Jenny nickte stumm und sah nun erst, daß Helene noch im Morgenkleide und
ihr Scheitel noch eingeflochten war. Sie hatte sich also, wie sie da
ging und stand, im selben Moment, wo die große Nachricht auf dem
Holzhofe bekannt geworden war, sofort auf den Weg gemacht, und zwar in
der ersten besten Droschke. Das war etwas, und angesichts dieser
Tatsache fühlte Jenny das Eis hinschmelzen, das acht Jahre lang ihr
Schwiegermutterherz umgürtet hatte. Zugleich traten ihr Tränen in die
Augen. »Helene,« sagte sie, »was zwischen uns gestanden hat, ist fort.
Du bist ein gutes Kind, du fühlst mit uns. Ich war mitunter gegen dies
und das, untersuchen wir nicht, ob mit Recht oder Unrecht; aber in
=solchen= Stücken ist Verlaß auf euch, und ihr wißt Sinn von Unsinn zu
unterscheiden. Von deinem Schwiegervater kann ich dies leider nicht
sagen. Indessen ich denke, das ist nur Übergang, und es wird sich geben.
Unter allen Umständen laß uns zusammenhalten. Mit Leopold persönlich,
das hat nichts zu bedeuten. Aber diese gefährliche Person, die vor
nichts erschrickt und dabei ein Selbstbewußtsein hat, daß man drei
Prinzessinnen damit ausstaffieren könnte, gegen =die= müssen wir uns
rüsten. Glaube nicht, daß sie's uns leicht machen wird. Sie hat ganz den
Professorentochterdünkel und ist imstande sich einzubilden, daß sie dem
Hause Treibel noch eine Ehre antut.«

»Eine schreckliche Person,« sagte Helene. »Wenn ich an den Tag denke mit
_dear Mr. Nelson_. Wir hatten eine Todesangst, daß Nelson seine Reise
verschieben und um sie anhalten würde. Was daraus geworden wäre, weiß
ich nicht; bei den Beziehungen Ottos zu der Liverpooler Firma vielleicht
verhängnisvoll für uns.«

»Nun, Gott sei Dank, daß es vorübergegangen. Vielleicht immer noch
besser so, so können wir's _en famille_ austragen. Und den alten
Professor fürcht' ich nicht, den habe ich von alter Zeit her am Bändel.
Er muß mit in unser Lager hinüber. Und nun muß ich fort, Kind, um
Toilette zu machen ... Aber noch ein Hauptpunkt. Eben habe ich an deine
Schwester Hildegard geschrieben und sie herzlich gebeten, uns mit
Nächstem ihren Besuch zu schenken. Bitte, Helene, füge ein paar Worte an
deine Mama hinzu und tue beides in das Kuvert und adressiere.«

Damit ging die Rätin, und Helene setzte sich an den Schreibtisch. Sie
war so bei der Sache, daß nicht einmal ein triumphierendes Gefühl
darüber, mit ihren Wünschen für Hildegard nun endlich am Ziele zu sein,
in ihr aufdämmerte; nein, sie hatte angesichts der gemeinsamen Gefahr
nur Teilnahme für ihre Schwiegermutter, als der »Trägerin des Hauses«,
und nur Haß für Korinna. Was sie zu schreiben hatte, war rasch
geschrieben. Und nun adressierte sie mit schöner englischer Handschrift
in normalen Schwung- und Rundlinien: »Frau Konsul Thora Munk, geb.
Thompson. Hamburg. Uhlenhorst.«

Als die Aufschrift getrocknet und der ziemlich ansehnliche Brief mit
zwei Marken frankiert war, brach Helene auf, klopfte nur noch leise an
Frau Jennys Toilettenzimmer und rief hinein: »Ich gehe jetzt, liebe
Mama. Den Brief nehme ich mit.« Und gleich danach passierte sie wieder
den Vorgarten, weckte den Droschkenkutscher und stieg ein.

       *       *       *       *       *

Zwischen neun und zehn waren zwei Rohrpostbriefe bei Schmidts
eingetroffen, ein Fall, der, in dieser seiner Gedoppeltheit, noch nicht
dagewesen war. Der eine dieser Briefe richtete sich an den Professor und
hatte folgenden kurzen Inhalt: »Lieber Freund! Darf ich darauf rechnen,
Sie heute zwischen zwölf und eins in Ihrer Wohnung zu treffen? Keine
Antwort, gute Antwort. Ihre ganz ergebene Jenny Treibel.« Der andere,
nicht viel längere Brief, war an Korinna adressiert und lautete: »Liebe
Korinna. Gestern abend noch hatte ich ein Gespräch mit der Mama. Daß ich
auf Widerstand stieß, brauche ich Dir nicht erst zu sagen, und es ist
mir gewisser denn je, daß wir schweren Kämpfen entgegengehen. Aber
nichts soll uns trennen. In meiner Seele lebt eine hohe Freudigkeit und
gibt mir Mut zu allem. Das ist das Geheimnis und zugleich die Macht der
Liebe. Diese Macht soll mich auch weiter führen und festigen. Trotz
aller Sorge Dein überglücklicher Leopold.« Korinna legte den Brief aus
der Hand. »Armer Junge! Was er da schreibt, ist ehrlich gemeint, selbst
das mit dem Mut. Aber ein Hasenohr guckt doch durch. Nun, wir müssen
sehen. Halte was du hast. Ich gebe nicht nach.«

       *       *       *       *       *

Korinna verbrachte den Vormittag unter fortgesetzten Selbstgesprächen.
Mitunter kam die Schmolke, sagte aber nichts und beschränkte sich auf
kleine wirtschaftliche Fragen. Der Professor seinerseits hatte zwei
Stunden zu geben, eine griechische: Pindar, und eine deutsche:
romantische Schule (Novalis), und war bald nach zwölf wieder zurück. Er
schritt in seinem Zimmer auf und ab, abwechselnd mit einem ihm in seiner
Schlußwendung absolut unverständlich gebliebenen Novalisgedicht und dann
wieder mit dem so feierlich angekündigten Besuche seiner Freundin Jenny
beschäftigt. Es war kurz vor eins, als ein Wagengerumpel auf dem
schlechten Steinpflaster unten ihn annehmen ließ, sie werde es sein. Und
sie war es, diesmal allein, ohne Fräulein Honig und ohne den Bologneser.
Sie öffnete selbst den Schlag und stieg dann langsam und bedächtig, als
ob sie sich ihre Rolle noch einmal überhöre, die Steinstufen der
Außentreppe hinauf. Eine Minute später hörte Schmidt die Klingel gehen,
und gleich danach meldete die Schmolke: »Frau Kommerzienrätin Treibel.«

Schmidt ging ihr entgegen, etwas weniger unbefangen als sonst, küßte ihr
die Hand und bat sie, auf seinem Sofa, dessen tiefste Kesselstelle durch
ein großes Lederkissen einigermaßen applaniert war, Platz zu nehmen. Er
selber nahm einen Stuhl, setzte sich ihr gegenüber und sagte: »Was
verschafft mir die Ehre, liebe Freundin? Ich nehme an, daß etwas
besonderes vorgefallen ist.«

»Das ist es, lieber Freund. Und Ihre Worte lassen mir keinen Zweifel
darüber, daß Fräulein Korinna noch nicht für gut befunden hat, Sie mit
dem Vorgefallenen bekannt zu machen. Fräulein Korinna hat sich nämlich
gestern Abend mit meinem Sohne Leopold verlobt.«

»Ah,« sagte Schmidt in einem Tone, der ebensogut Freude wie Schreck
ausdrücken konnte.

»Fräulein Korinna hat sich gestern auf unsrer Grunewaldpartie, die
vielleicht besser unterblieben wäre, mit meinem Sohne Leopold verlobt,
nicht umgekehrt. Leopold tut keinen Schritt ohne mein Wissen und Willen,
am wenigsten einen so wichtigen Schritt wie eine Verlobung, und so muß
ich denn, zu meinem lebhaften Bedauern, von etwas Abgekartetem oder
einer gestellten Falle, ja, Verzeihung, lieber Freund, von einem
wohlüberlegten Überfall sprechen.«

Dies starke Wort gab dem alten Schmidt nicht nur seine Seelenruhe,
sondern auch seine gewöhnliche Heiterkeit wieder. Er sah, daß er sich in
seiner alten Freundin nicht getäuscht hatte, daß sie, völlig
unverändert, die, trotz Lyrik und Hochgefühle, ganz ausschließlich auf
Äußerlichkeiten gestellte Jenny Bürstenbinder von ehedem war, und daß
seinerseits, unter selbstverständlicher Wahrung artigster Formen und
anscheinend vollen Entgegenkommens, ein Ton superioren Übermutes
angeschlagen und in die sich nun höchst wahrscheinlich entspinnende
Debatte hineingetragen werden müsse. Das war er sich, das war er Korinna
schuldig.

»Ein Überfall, meine gnädigste Frau. Sie haben vielleicht nicht
ganz unrecht, es so zu nennen. Und daß es gerade auf diesem Terrain
sein mußte. Sonderbar genug, daß Dinge derart ganz bestimmten
Lokalitäten unveräußerlich anzuhaften scheinen. Alle Bemühungen, durch
Schwanenhäuser und Kegelbahnen im Stillen zu reformieren, der Sache
friedlich beizukommen, erweisen sich als nutzlos, und der frühere
Charakter dieser Gegenden, insonderheit unseres alten übelbeleumdeten
Grunewalds, bricht immer wieder durch. Immer wieder aus dem Stegreif.
Erlauben Sie mir, gnädigste Frau, daß ich den derzeitigen Junker
_generis feminini_ herbeirufe, damit er seiner Schuld geständig werde.«

Jenny biß sich auf die Lippen und bedauerte das unvorsichtige Wort, das
sie nun dem Spotte preisgab. Es war aber zu spät zur Umkehr, und so
sagte sie nur: »Ja, lieber Professor, es wird das beste sein, Korinna
selbst zu hören. Und ich denke, sie wird sich mit einem gewissen Stolz
dazu bekennen, dem armen Jungen das Spiel über den Kopf weggenommen zu
haben.«

»Wohl möglich,« sagte Schmidt und stand auf und rief in das Entree
hinein: »Korinna.«

Kaum, daß er seinen Platz wieder eingenommen hatte, so stand die von ihm
Gerufene auch schon in der Tür, verbeugte sich artig gegen die
Kommerzienrätin und sagte: »du hast gerufen, Papa?«

»Ja, Korinna, das hab' ich. Eh' wir aber weitergehen, nimm einen Stuhl
und setze dich in einiger Entfernung von uns. Denn ich möchte es auch
äußerlich markieren, daß du vorläufig eine Angeklagte bist. Rücke in die
Fensternische, da sehen wir dich am besten. Und nun sage mir, hat es
seine Richtigkeit damit, daß du gestern Abend im Grunewald, in dem
ganzen Junkerübermut einer geborenen Schmidt, einen friedlich und
unbewaffnet seines Weges ziehenden Bürgersohn, namens Leopold Treibel,
seiner besten Barschaft beraubt hast?«

Korinna lächelte. Dann trat sie vom Fenster her an den Tisch heran und
sagte: »Nein, Papa, das ist grundfalsch. Es hat alles den landesüblichen
Verlauf genommen, und wir sind so regelrecht verlobt, wie man nur
verlobt sein kann.«

»Ich bezweifle das nicht, Fräulein Korinna,« sagte Jenny. »Leopold
selbst betrachtet sich als Ihren Verlobten. Ich sage nur das eine, daß
Sie das Überlegenheitsgefühl, das Ihnen Ihre Jahre ...«

»Nicht meine Jahre. Ich bin jünger ...«

»... Das Ihnen Ihre Klugheit und Ihr Charakter gegeben, daß Sie diese
Überlegenheit dazu benutzt haben, den armen Jungen willenlos zu machen
und ihn für sich zu gewinnen.«

»Nein, meine gnädigste Frau, das ist ebenfalls nicht ganz richtig,
wenigstens zunächst nicht. Daß es schließlich doch vielleicht richtig
sein wird, darauf müssen Sie mir erlauben, weiterhin zurückzukommen.«

»Gut, Korinna, gut,« sagte der Alte. »Fahre nur fort. Also zunächst ...«

»Also zunächst unrichtig, meine gnädigste Frau. Denn wie kam es? Ich
sprach mit Leopold von seiner nächsten Zukunft und beschrieb ihm einen
Hochzeitszug, absichtlich in unbestimmten Umrissen und ohne Namen zu
nennen. Und als ich zuletzt Namen nennen mußte, da war es Blankenese, wo
die Gäste zum Hochzeitsmahle sich sammelten, und war es die schöne
Hildegard Munk, die, wie eine Königin gekleidet, als Braut neben ihrem
Bräutigam saß. Und dieser Bräutigam war Ihr Leopold, meine gnädigste
Frau. Selbiger Leopold aber wollte von dem allen nichts wissen und
ergriff meine Hand und machte mir einen Antrag in aller Form. Und
nachdem ich ihn an seine Mutter erinnert und mit dieser Erinnerung kein
Glück gehabt hatte, da haben wir uns verlobt ...«

»Ich glaube das, Fräulein Korinna,« sagte die Rätin. »Ich glaube das
ganz aufrichtig. Aber schließlich ist das alles doch nur eine Komödie.
Sie wußten ganz gut, daß er Ihnen vor Hildegard den Vorzug gab, und Sie
wußten nur zu gut, daß Sie, je mehr Sie das arme Kind, die Hildegard, in
den Vordergrund stellten, desto gewisser -- um nicht zu sagen desto
leidenschaftlicher, denn er ist nicht eigentlich der Mann der
Leidenschaften -- desto gewisser, sag' ich, würd' er sich auf Ihre Seite
stellen und sich zu Ihnen bekennen.«

»Ja, gnädige Frau, das wußt' ich oder wußt' es doch beinah. Es war noch
kein Wort in diesem Sinne zwischen uns gesprochen worden, aber ich
glaubte trotzdem, und seit längerer Zeit schon, daß er glücklich sein
würde, mich seine Braut zu nennen.«

»Und durch die klug und berechnend ausgesuchte Geschichte mit dem
Hamburger Hochzeitszuge haben Sie eine Erklärung herbeizuführen gewußt
...«

»Ja, meine gnädigste Frau, das hab' ich, und ich meine, das alles war
mein gutes Recht. Und wenn Sie nun dagegen, und wie mir's scheint ganz
ernsthaft, Ihren Protest erheben wollen, erschrecken Sie da nicht vor
Ihrer eigenen Forderung, vor der Zumutung, ich hätte mich jedes
Einflusses auf Ihren Sohn enthalten sollen. Ich bin keine Schönheit,
habe nur eben das Durchschnittsmaß. Aber nehmen Sie, so schwer es Ihnen
werden mag, für einen Augenblick einmal an, ich wäre wirklich so was wie
eine Schönheit, eine Beauté, der Ihr Herr Sohn nicht hätte widerstehen
können, würden Sie von mir verlangt haben, mir das Gesicht mit Ätzlauge
zu zerstören, bloß damit Ihr Sohn, mein Verlobter, nicht in eine durch
mich gestellte Schönheitsfalle fiele?«

»Korinna,« lächelte der Alte, nicht zu scharf. »Die Rätin ist unter
unserm Dache.«

»Sie würden das =nicht= von mir verlangt haben, so wenigstens nehme ich
vorläufig an, vielleicht in Überschätzung Ihrer freundlichen Gefühle für
mich, und doch verlangen Sie von mir, daß ich mich dessen begebe, was
die Natur mir gegeben hat. Ich habe meinen guten Verstand und bin offen
und frei und übe damit eine gewisse Wirkung auf die Männer aus, mitunter
auch gerade auf solche, denen das fehlt, was ich habe, -- soll ich mich
dessen entkleiden? Soll ich mein Pfund vergraben? Soll ich das bißchen
Licht, das =mir= geworden, unter den Scheffel stellen? Verlangen Sie,
daß ich bei Begegnungen mit Ihrem Sohne wie eine Nonne dasitze, bloß
damit das Haus Treibel vor einer Verlobung mit mir bewahrt bleibe?
Erlauben Sie mir, gnädigste Frau, und Sie müssen meine Worte meinem
erregten Gefühle, das Sie herausgefordert, zu gute halten, erlauben Sie
mir, Ihnen zu sagen, daß ich das nicht bloß hochmütig und höchst
verwerflich, daß ich es vor allem auch ridikül finde. Denn wer sind die
Treibels? Berlinerblaufabrikanten mit einem Ratstitel, und ich, ich bin
eine Schmidt.«

»Eine Schmidt,« wiederholte der alte Wilibald freudig, gleich danach
hinzufügend: »Und nun sagen Sie, liebe Freundin, wollen wir nicht lieber
abbrechen und alles den Kindern und einer gewissen ruhigen historischen
Entwicklung überlassen?«

»Nein, mein lieber Freund, das wollen wir nicht. Wir wollen nichts der
historischen Entwicklung und noch weniger der Entscheidung der Kinder
überlassen, was gleichbedeutend wäre mit Entscheidung durch Fräulein
Korinna. Dies zu hindern, deshalb eben bin ich hier. Ich hoffte bei den
Erinnerungen, die zwischen uns leben, Ihrer Zustimmung und Unterstützung
sicher zu sein, sehe mich aber getäuscht und werde meinen Einfluß, der
hier gescheitert, auf meinen Sohn Leopold beschränken müssen.«

»Ich fürchte,« sagte Korinna, »daß er auch da versagt ...«

»Was lediglich davon abhängen wird, ob er Sie sieht oder nicht.«

»Er wird mich sehen.«

»Vielleicht. Vielleicht auch nicht.«

Und darauf erhob sich die Kommerzienrätin und ging, ohne dem Professor
die Hand gereicht zu haben, auf die Tür zu. Hier wandte sie sich noch
einmal und sagte zu Korinna: »Korinna, lassen Sie uns vernünftig reden.
Ich will alles vergessen. Lassen Sie den Jungen los. Er paßt nicht
einmal für Sie. Und was das Haus Treibel angeht, so haben Sies eben in
einer Weise charakterisiert, daß es Ihnen kein Opfer kosten kann, darauf
zu verzichten ...«

»Aber meine Gefühle, gnädigste Frau ...«

»Bah,« lachte Jenny, »daß Sie so sprechen können, zeigt mir deutlich,
daß Sie keine haben und daß alles bloßer Übermut oder vielleicht auch
Eigensinn ist. Daß Sie sich dieses Eigensinns begeben mögen, wünsche ich
Ihnen und uns. Denn es kann zu nichts führen. Eine Mutter hat =auch=
Einfluß auf einen schwachen Menschen, und ob Leopold Lust hat, seine
Flitterwochen in einem Ahlbecker Fischerhause zu verbringen, ist mir
doch zweifelhaft. Und daß das Haus Treibel Ihnen keine Villa in Capri
bewilligen wird, dessen dürfen Sie gewiß sein.«

Und dabei verneigte sie sich und trat in das Entree hinaus. Korinna
blieb zurück, Schmidt aber gab seiner Freundin das Geleit bis an die
Treppe.

»Adieu,« sagte hier die Rätin. »Ich bedauere, lieber Freund, daß dies
zwischen uns treten und die herzlichen Beziehungen so vieler, vieler
Jahre stören mußte. Meine Schuld ist es nicht. Sie haben Korinna
verwöhnt, und das Töchterchen schlägt nun einen spöttischen und
überheblichen Ton an und ignoriert, wenn nichts andres, so doch die
Jahre, die mich von ihr trennen. Impietät ist der Charakter unserer
Zeit.«

Schmidt, ein Schelm, gefiel sich darin, bei dem Wort »Impietät« ein
betrübtes Gesicht aufzusetzen. »Ach, liebe Freundin,« sagte er, »Sie
mögen wohl recht haben, aber nun ist es zu spät. Ich bedauere, daß es
unserm Hause vorbehalten war, Ihnen einen Kummer, wie diesen, um nicht
zu sagen eine Kränkung anzutun. Freilich, wie Sie schon sehr richtig
bemerkt haben, die Zeit ... alles will über sich hinaus und strebt
höheren Staffeln zu, die die Vorsehung sichtbarlich nicht wollte.«

Jenny nickte. »Gott beßre es.«

»Lassen Sie uns das hoffen.«

Und damit trennten sie sich.

In das Zimmer zurückgekehrt, umarmte Schmidt seine Tochter, gab ihr
einen Kuß auf die Stirn und sagte: »Korinna, wenn ich nicht Professor
wäre, so würd' ich am Ende Sozialdemokrat.«

Im selben Augenblick kam auch die Schmolke. Sie hatte nur das letzte
Wort gehört und erratend, um was es sich handle, sagte sie: »Ja, das hat
Schmolke auch immer gesagt.«




Vierzehntes Kapitel


Der nächste Tag war ein Sonntag, und die Stimmung, in der sich das
Treibelsche Haus befand, konnte nur noch dazu beitragen, dem Tage zu
seiner herkömmlichen Ödheit ein Beträchtliches zuzulegen. Jeder mied den
andern. Die Kommerzienrätin beschäftigte sich damit, Briefe, Karten und
Photographien zu ordnen, Leopold saß auf seinem Zimmer und las Goethe
(=was= ist nicht nötig zu verraten), und Treibel selbst ging im Garten
um das Bassin herum und unterhielt sich, wie meist in solchen Fällen,
mit der Honig. Er ging dabei so weit, sie ganz ernsthaft nach Krieg und
Frieden zu fragen, allerdings mit der Vorsicht, sich eine Art
Präliminarantwort gleich selbst zu geben. In erster Reihe stehe fest,
daß es niemand wisse, »selbst der leitende Staatsmann nicht« (er hatte
sich diese Phrase bei seinen öffentlichen Reden angewöhnt), aber eben
weil es niemand wisse, sei man auf Sentiments angewiesen, und darin sei
niemand größer und zuverlässiger als die Frauen. Es sei nicht zu
leugnen, das weibliche Geschlecht habe was Pythisches, ganz abgesehen
von jenem Orakelhaften niederer Observanz, das noch so nebenherlaufe.
Die Honig, als sie schließlich zu Worte kam, faßte ihre politische
Diagnose dahin zusammen: sie sähe nach Westen hin einen klaren Himmel,
während es im Osten finster braue, ganz entschieden, und zwar oben
sowohl wie unten. »Oben wie unten,« wiederholte Treibel. »O, wie wahr.
Und das Oben bestimmt das Unten und das Unten das Oben. Ja, Fräulein
Honig, damit haben wir's getroffen.« Und Czicka, das Hündchen, das
natürlich auch nicht fehlte, blaffte dazu. So ging das Gespräch zu
gegenseitiger Zufriedenheit. Treibel aber schien doch abgeneigt, aus
diesem Weisheitsquell andauernd zu schöpfen, und zog sich nach einiger
Zeit auf sein Zimmer und seine Zigarre zurück, ganz Halensee
verwünschend, das mit seiner Kaffeeklappe diese häusliche Mißstimmung
und diese Sonntags-Extralangeweile heraufbeschworen habe. Gegen Mittag
traf ein an ihn adressiertes Telegramm ein: »Dank für Brief. Ich komme
morgen mit dem Nachmittagszug. Eure Hildegard.« Er schickte das
Telegramm, aus dem er überhaupt erst von der erfolgten Einladung erfuhr,
an seine Frau hinüber und war, trotzdem er das selbständige Vorgehen
derselben etwas sonderbar fand, doch auch wieder aufrichtig froh,
nunmehr einen Gegenstand zu haben, mit dem er sich in seiner Phantasie
beschäftigen konnte. Hildegard war sehr hübsch, und die Vorstellung,
innerhalb der nächsten Wochen ein anderes Gesicht als das der Honig auf
seinen Gartenspaziergängen um sich zu haben, tat ihm wohl. Er hatte nun
auch einen Gesprächsstoff, und während ohne diese Depesche die
Mittagsunterhaltung wahrscheinlich sehr kümmerlich verlaufen oder
vielleicht ganz ausgefallen wäre, war es jetzt wenigstens möglich, ein
paar Fragen zu stellen. Er stellte diese Fragen auch wirklich und alles
machte sich ganz leidlich; nur Leopold sprach kein Wort und war froh,
als er sich vom Tisch erheben und zu seiner Lektüre zurückkehren konnte.

Leopolds ganze Haltung gab überhaupt zu verstehen, daß er über sich
bestimmen zu lassen, fürder nicht mehr Willens sei; trotzdem war ihm
klar, daß er sich den Repräsentationspflichten des Hauses nicht
entziehen und also nicht unterlassen dürfe, Hildegard am andern
Nachmittag auf dem Bahnhofe zu empfangen. Er war pünktlich da, begrüßte
die schöne Schwägerin und absolvierte die landesübliche Fragenreihe nach
dem Befinden und den Sommerplänen der Familie, während einer der von ihm
engagierten Gepäckträger erst die Droschke, dann das Gepäck besorgte.
Dasselbe bestand nur aus einem einzigen Koffer mit Messingbeschlag,
dieser aber war von solcher Größe, daß er, als er hinaufgewuchtet war,
der dahinrollenden Droschke den Charakter eines Baues von zwei Etagen
gab.

Unterwegs wurde das Gespräch von seiten Leopolds wieder aufgenommen,
erreichte seinen Zweck aber nur unvollkommen, weil seine stark
hervortretende Befangenheit seiner Schwägerin nur Grund zur Heiterkeit
gab. Und nun hielten sie vor der Villa. Die ganze Treibelei stand am
Gitter, und als die herzlichsten Begrüßungen ausgetauscht und die
nötigsten Toilettenarrangements in fliegender Eile, das heißt ziemlich
mußevoll gemacht worden waren, erschien Hildegard auf der Veranda, wo
man inzwischen den Kaffee serviert hatte. Sie =fand= alles »himmlisch«,
was auf Empfang strenger Instruktionen von seiten der Frau Konsul Thora
Munk hindeutete, die sehr wahrscheinlich Unterdrückung alles
Hamburgischen und Achtung vor Berliner Empfindlichkeiten als erste Regel
empfohlen hatte. Keine Parallelen wurden gezogen und beispielsweise
gleich das Kaffeeservice rundweg bewundert. »Eure Berliner Muster
schlagen jetzt alles aus dem Felde, selbst Sèvres. Wie reizend diese
Grecborte.« Leopold stand in einer Entfernung und hörte zu, bis
Hildegard plötzlich abbrach und allem, was sie gesagt, nur noch
hinzusetzte: »Scheltet mich übrigens nicht, daß ich in einem fort von
Dingen spreche, für die sich ja morgen auch noch die Zeit finden würde:
Grecborte und Sèvres und Meißen und Zwiebelmuster. Aber Leopold ist
Schuld; er hat unsere Konversation in der Droschke so streng
wissenschaftlich geführt, daß ich beinahe in Verlegenheit kam; ich
wollte gern von Lizzi hören und denkt euch, er sprach nur von Anschluß
und Radialsystem, und ich genierte mich zu fragen, was es sei.«

Der alte Treibel lachte; die Kommerzienrätin aber verzog keine Miene,
während über Leopolds blasses Gesicht eine leichte Röte flog.

So verging der erste Tag, und Hildegards Unbefangenheit, die man sich zu
stören wohl hütete, schien auch noch weiter leidliche Tage bringen zu
sollen, alles um so mehr, als es die Kommerzienrätin an Aufmerksamkeiten
jeder Art nicht fehlen ließ. Ja, sie verstieg sich zu höchst wertvollen
Geschenken, was sonst ihre Sache nicht war. Ungeachtet all dieser
Anstrengungen aber und trotzdem dieselben, wenn man nicht tiefer
nachforschte, von wenigstens halben Erfolgen begleitet waren, wollte
sich ein recht eigentliches Behagen nicht einstellen, selbst bei Treibel
nicht, auf dessen rasch wiederkehrende gute Laune bei seinem glücklichen
Naturell mit einer Art Sicherheit gerechnet war. Ja, diese gute Laune,
sie blieb aus mancherlei Gründen aus, unter denen gerade jetzt auch
=der= war, daß die Zossen-Teupitzer Wahlkampagne mit einer totalen
Niederlage Vogelsangs geendigt hatte. Dabei mehrten sich die
persönlichen Angriffe gegen Treibel. Anfangs hatte man diesen, wegen
seiner großen Beliebtheit, rücksichtsvoll außer Spiel gelassen, bis die
Taktlosigkeiten seines Agenten ein weiteres Schonen unmöglich machten.
»Es ist zweifellos ein Unglück«, so hieß es in den Organen der
Gegenpartei, »so beschränkt zu sein wie Leutnant Vogelsang, aber eine
solche Beschränktheit in seinen Dienst zu nehmen, ist eine Mißachtung
gegen den gesunden Menschenverstand unseres Kreises. Die Kandidatur
Treibel scheitert einfach an diesem Affront.«

       *       *       *       *       *

Es sah nicht allzu heiter aus bei den alten Treibels, was Hildegard
allmählich so sehr zu fühlen begann, daß sie halbe Tage bei den
Geschwistern zubrachte. Der Holzhof war überhaupt hübscher als die
Fabrik und Lizzi geradezu reizend mit ihren langen weißen Strümpfen.
Einmal waren sie auch rot. Wenn sie so herankam und die Tante Hildegard
mit einem Knix begrüßte, flüsterte diese der Schwester zu: »_quite
english, Helen_« und man lächelte sich dann glücklich an. Ja, es waren
Lichtblicke. Wenn Lizzi dann aber wieder fort war, war auch zwischen den
Schwestern von unbefangener Unterhaltung keine Rede mehr, weil das
Gespräch die zwei wichtigsten Punkte nicht berühren durfte: die
Verlobung Leopolds und den Wunsch aus dieser Verlobung mit guter Manier
herauszukommen.

Ja, es sah nicht heiter aus bei den Treibels, aber bei den Schmidts auch
nicht. Der alte Professor war eigentlich weder in Sorge noch in
Verstimmung, lebte vielmehr umgekehrt der Überzeugung, daß sich nun
alles bald zum Besseren wenden werde; diesen Prozeß aber sich still
vollziehen zu lassen, schien ihm ganz unerläßlich, und so verurteilte er
sich, was ihm nicht leicht wurde, zu bedingtem Schweigen. Die Schmolke
war natürlich ganz entgegengesetzter Ansicht und hielt, wie die meisten
alten Berlinerinnen, außerordentlich viel von »sich aussprechen«, je
mehr und je öfter, desto besser. Ihre nach dieser Seite hin abzielenden
Versuche verliefen aber resultatlos, und Korinna war nicht zum Sprechen
zu bewegen, wenn die Schmolke begann: »Ja, Korinna, was soll denn nun
eigentlich werden? Was denkst du dir denn eigentlich?«

Auf all' das gab es keine rechte Antwort, vielmehr stand Korinna wie am
Roulett und wartete mit verschränkten Armen, wohin die Kugel fallen
würde. Sie war nicht unglücklich, aber äußerst unruhig und unmutig, vor
allem, wenn sie der heftigen Streitszene gedachte, bei der sie doch
vielleicht zuviel gesagt hatte. Sie fühlte ganz deutlich, daß alles
anders gekommen wäre, wenn die Rätin etwas weniger Herbheit, sie selber
aber etwas mehr Entgegenkommen gezeigt hätte. Ja, da hätte sich dann
ohne sonderliche Mühe Frieden schließen und das Bekenntnis einer
gewissen Schuld, weil alles bloß Berechnung gewesen, allenfalls ablegen
lassen. Aber freilich im selben Augenblicke, wo sie, neben dem Bedauern
über die hochmütige Haltung der Rätin, vor allem und in erster Reihe
sich selber der Schuld zieh, in eben diesem Augenblicke mußte sie sich
doch auch wieder sagen, daß ein Wegfall alles dessen, was ihr vor ihrem
eigenen Gewissen in dieser Angelegenheit als fragwürdig erschien, in den
Augen der Rätin nichts gebessert haben würde. Diese schreckliche Frau,
trotzdem sie beständig so tat und sprach, war ja weitab davon, ihr wegen
ihres Spiels mit Gefühlen einen ernsthaften Vorwurf zu machen. Das war
ja Nebensache, da lag es nicht. Und wenn sie diesen lieben und guten
Menschen, wie's ja doch möglich war, aufrichtig und von Herzen geliebt
hätte, so wäre das Verbrechen genau dasselbe gewesen. »Diese Rätin, mit
ihrem überheblichen >Nein<, hat mich nicht da getroffen, wo sie mich
treffen konnte, sie weist diese Verlobung nicht zurück, weil mirs an
Herz und Liebe gebricht, nein, sie weist sie nur zurück, weil ich arm
oder wenigstens nicht dazu angetan bin, das Treibelsche Vermögen zu
verdoppeln, um nichts, nichts weiter; und wenn sie vor anderen
versichert oder vielleicht auch sich selber einredet, ich sei ihr zu
selbstbewußt und zu professorlich, so sagt sie das nur, weil's ihr
gerade paßt. Unter andern Verhältnissen würde meine Professorlichkeit
mir nicht nur nicht schaden, sondern ihr umgekehrt die Höhe der
Bewunderung bedeuten.«

So gingen Korinnas Reden und Gedanken, und um sich ihnen nach
Möglichkeit zu entziehen, tat sie, was sie seit lange nicht mehr getan,
und machte Besuche bei den alten und jungen Professorenfrauen. Am besten
gefiel ihr wieder die gute, ganz von Wirtschaftlichkeit in Anspruch
genommene Frau Rindfleisch, die jeden Tag, ihrer vielen Pensionäre
halber, in die große Markthalle ging und immer die besten Quellen und
billigsten Preise wußte, Preise, die dann später der Schmolke
mitgeteilt, in erster Reihe den Ärger derselben, zuletzt aber ihre
Bewunderung vor einer höheren wirtschaftlichen Potenz weckten. Auch bei
Frau Immanuel Schultze sprach Korinna vor und fand dieselbe, vielleicht
weil Friedebergs nahe bevorstehende Ehescheidung ein sehr dankbares
Thema bildete, auffallend nett und gesprächig, Immanuel selbst aber war
wieder so großsprecherisch und zynisch, daß sie doch fühlte, den Besuch
nicht wiederholen zu können. Und weil die Woche so viele Tage hatte, so
mußte sie sich zuletzt zu Museum und Nationalgalerie bequemen. Aber sie
hatte keine rechte Stimmung dafür. Im Cornelius-Saal interessierte sie,
vor dem einen großen Wandbilde, nur die ganz kleine Predelle, wo Mann
und Frau den Kopf aus der Bettdecke strecken, und im Ägyptischen Museum
fand sie eine merkwürdige Ähnlichkeit zwischen Ramses und Vogelsang.

Wenn sie dann nach Hause kam, fragte sie jedesmal, ob wer dagewesen sei,
was heißen sollte: »War Leopold da?« worauf die Schmolke regelmäßig
antwortete: »Nein, Korinna, keine Menschenseele.« Wirklich, Leopold
hatte nicht den Mut zu kommen und beschränkte sich darauf, jeden Abend
einen kleinen Brief zu schreiben, der dann am andern Morgen auf ihrem
Frühstückstische lag. Schmidt sah lächelnd drüber hin, und Korinna stand
dann wie von ungefähr auf, um das Briefchen in ihrem Zimmer zu lesen.
»Liebe Korinna. Der heutige Tag verlief wie alle. Die Mama scheint in
ihrer Gegnerschaft verharren zu wollen. Nun, wir wollen sehen, wer
siegt. Hildegard ist viel bei Helene, weil niemand hier ist, der sich
recht um sie kümmert. Sie kann mir leid tun, ein so junges und hübsches
Mädchen. Alles das Resultat solcher Anzettelungen. Meine Seele verlangt,
Dich zu sehen, und in der nächsten Woche werden Entschlüsse von mir
gefaßt werden, die volle Klarheit schaffen. Mama wird sich wundern. Nur
soviel, ich erschrecke vor nichts, auch vor dem Äußersten nicht. Das mit
dem vierten Gebot ist recht gut, aber es hat seine Grenzen. Wir haben
auch Pflichten gegen uns selbst und gegen die, die wir über alles
lieben, die Leben und Tod in unseren Augen bedeuten. Ich schwanke noch,
wohin, denke aber England; da haben wir Liverpool und Mr. Nelson und in
zwei Stunden sind wir an der schottischen Grenze. Schließlich ist es
gleich, wer uns äußerlich vereinigt, sind wir es doch längst in uns. Wie
mir das Herz dabei schlägt. Ewig der Deine. Leopold.«

Korinna zerriß den Brief in kleine Streifen und warf sie draußen ins
Kochloch. »Es ist am besten so; dann vergeß ich wieder, was er heute
geschrieben, und kann morgen nicht mehr vergleichen. Denn mir ist, als
schriebe er jeden Tag dasselbe. Sonderbare Verlobung. Aber soll ich ihm
einen Vorwurf machen, daß er kein Held ist? Und mit meiner Einbildung,
ihn zum Helden umschaffen zu können, ist es auch vorbei. Die Niederlagen
und Demütigungen werden nun wohl ihren Anfang nehmen. Verdient? Ich
fürchte.«

       *       *       *       *       *

Anderthalb Wochen waren um, und noch hatte sich im Schmidtschen Hause
nichts verändert; der Alte schwieg nach wie vor, Marcell kam nicht und
Leopold noch weniger, und nur seine Morgenbriefe stellten sich mit
großer Pünktlichkeit ein; Korinna las sie schon längst nicht mehr,
überflog sie nur und schob sie dann lächelnd in ihre Morgenrocktasche,
wo sie zersessen und zerknittert wurden. Sie hatte zum Troste nichts als
die Schmolke, deren gesunde Gegenwart ihr wirklich wohltat, wenn sie's
auch immer noch vermied, mit ihr zu sprechen.

Aber auch das hatte seine Zeit.

Der Professor war eben nach Hause gekommen, schon um elf, denn es war
Mittwoch, wo die Klasse, für ihn wenigstens, um eine Stunde früher
schloß. Korinna sowohl wie die Schmolke hatten ihn kommen und die
Drückertür geräuschvoll ins Schloß fallen hören, nahmen aber beide keine
Veranlassung, sich weiter um ihn zu kümmern, sondern blieben in der
Küche, d'rin der helle Julisonnenschein lag und alle Fensterflügel
geöffnet waren. An einem der Fenster stand auch der Küchentisch.
Draußen, an zwei Haken, hing ein kastenartiges Blumenbrett, eine jener
merkwürdigen Schöpfungen der Holzschneidekunst, wie sie Berlin
eigentümlich sind: kleine Löcher zu Sternblumen zusammengestellt;
Anstrich dunkelgrün. In diesem Kasten standen mehrere Geranium- und
Goldlacktöpfe, zwischen denen hindurch die Sperlinge huschten und sich
in großstädtischer Dreistigkeit auf den am Fenster stehenden Küchentisch
setzten. Hier pickten sie vergnügt an allem herum, und niemand dachte
daran, sie zu stören. Korinna, den Mörser zwischen den Knien, war mit
Zimtstoßen beschäftigt, während die Schmolke grüne Kochbirnen der Länge
nach durchschnitt und beide gleiche Hälften in eine große braune
Schüssel, eine sogenannte Reibesatte, fallen ließ. Freilich zwei ganz
gleiche Hälften waren es nicht, konnten es nicht sein, weil natürlich
nur eine Hälfte den Stengel hatte, welcher Stengel denn auch
Veranlassung zu Beginn einer Unterhaltung wurde, wonach sich die
Schmolke schon seit lange sehnte.

»Sieh', Korinna,« sagte die Schmolke, »dieser hier, dieser lange, das
ist so recht ein Stengel nach dem Herzen deines Vaters ...«

Korinna nickte.

»... Den kann er anfassen wie 'ne Makkaroni und hochhalten und alles von
unten her aufessen ... Es ist doch ein merkwürdiger Mann ...«

»Ja, das ist er!«

»Ein merkwürdiger Mann und voller Schrullen, und man muß ihn erst
ausstudieren. Aber das merkwürdigste, das ist doch das mit den langen
Stengeln, un daß wir sie, wenn es Semmelpudding un Birnen gibt, nicht
schälen dürfen un daß der ganze Kriepsch mit Kerne und alles drin
bleiben muß. Er is doch ein Professor un ein sehr kluger Mann, aber das
muß ich dir sagen, Korinna, wenn ich meinem guten Schmolke, der doch nur
ein einfacher Mann war, mit so lange Stengel un ungeschält un den ganzen
Kriepsch drin gekommen wär, ja, da hätt' es was gegeben. Denn so gut er
war, wenn er dachte, >sie denkt woll, das is gut genug<, dann wurd er
falsch un machte sein Dienstgesicht un sah aus, als ob er mich
arretieren wollte ...«

»Ja, liebe Schmolke,« sagte Korinna, »das ist eben einfach die alte
Geschichte vom Geschmack und daß sich über Geschmäcker nicht streiten
läßt. Und dann ist es auch wohl die Gewohnheit und vielleicht auch von
Gesundheits wegen.«

»Von Gesundheits wegen,« lachte die Schmolke. »Na, höre, Kind, wenn
einem so die Hacheln in die Kehle kommen un man sich verschluckert un
man mitunter zu 'nem ganz fremden Menschen sagen muß: >Bitte, kloppen
Sie mir mal en bißchen, aber hier ordentlich ins Kreuz<, -- nein,
Korinna, da bin ich doch mehr für eine ausgekernte Malvasier, die
'runter geht wie Butter. Gesundheit! ... Stengel un Schale, was da von
Gesundheit is, das weiß ich nich ...«

»Doch, liebe Schmolke. Manche können Obst nicht vertragen und fühlen
sich geniert, namentlich wenn sie, wie Papa, hinterher auch noch die
Sauce löffeln. Und da gibt es nur ein Mittel dagegen: alles muß d'ran
bleiben, der Stengel und die grüne Schale. Die beiden, die haben das
Adstringens ...«

»Was?«

»Das Adstringens, das heißt das, was zusammenzieht, erst bloß die Lippen
und den Mund, aber dieser Prozeß des Zusammenziehens setzt sich dann
durch den ganzen inneren Menschen hin fort, und das ist dann das, was
alles wieder in Ordnung bringt und vor Schaden bewahrt.«

Ein Sperling hatte zugehört und wie durchdrungen von der Richtigkeit von
Korinnas Auseinandersetzungen, nahm er einen Stengel, der zufällig
abgebrochen war, in den Schnabel und flog damit auf das andere Dach
hinüber. Die beiden Frauen aber verfielen in Schweigen und nahmen erst
nach einer Viertelstunde das Gespräch wieder auf.

Das Gesamtbild war nicht mehr ganz dasselbe, denn Korinna hatte
mittlerweile den Tisch abgeräumt und einen blauen Zuckerbogen darüber
ausgebreitet, auf welchem zahlreiche alte Semmeln lagen und daneben ein
großes Reibeisen. Dies letztere nahm sie jetzt in die Hand, stemmte sich
mit der linken Schulter dagegen und begann nun ihre Reibetätigkeit mit
solcher Vehemenz, daß die geriebene Semmel über den ganzen blauen Bogen
hinstäubte. Dann und wann unterbrach sie sich und schüttete die
Bröckchen nach der Mitte hin zu einem Berg zusammen, aber gleich danach
begann sie von neuem, und es hörte sich wirklich an, als ob sie bei
dieser Arbeit allerlei mörderische Gedanken habe.

Die Schmolke sah ihr von der Seite her zu. Dann sagte sie: »Korinna, wen
zerreibst du denn eigentlich?«

»Die ganze Welt.«

»Das is viel ... un dich mit?«

»Mich zuerst.«

»Das is recht. Denn wenn du nur erst recht zerrieben un recht mürbe
bist, dann wirst du wohl wieder zu Verstande kommen.«

»Nie.«

»Man muß nie >nie< sagen, Korinna. Das war ein Hauptsatz von Schmolke.
Un das muß wahr sein, ich habe noch jedesmal gefunden, wenn einer >nie<
sagte, dann is es immer dicht vorm Umkippen. Un ich wollte, daß es mit
dir auch so wäre.«

Korinna seufzte.

»Sieh', Korinna, du weißt, daß ich immer dagegen war. Denn es is ja doch
ganz klar, daß du deinen Vetter Marcell heiraten mußt.«

»Liebe Schmolke, nur kein Wort von dem.«

»Ja, das kennt man, das ist das Unrechtsgefühl. Aber ich will nichts
weiter sagen un will nur sagen, was ich schon gesagt habe, daß ich
immer dagegen war, ich meine gegen Leopold, un daß ich einen Schreck
kriegte, als du mir's sagtest. Aber als du mir dann sagtest, daß die
Kommerzienrätin sich ärgern würde, da gönnt ich's ihr un dachte, >warum
nich? Warum soll es nich gehn? Un wenn der Leopold auch bloß ein
Wickelkind is, Korinnchen wird ihn schon aufpäppeln und ihn zu Kräften
bringen<. Ja, Korinna, so dacht' ich un hab' es dir auch gesagt. Aber
es war ein schlechter Gedanke, denn man soll seinen Mitmenschen nich
ärgern, auch wenn man ihn nich leiden kann, un was mir zuerst kam, der
Schreck über deine Verlobung, das war doch das richtige. Du mußt einen
klugen Mann haben, einen, der eigentlich klüger ist, als du -- du bist
übrigens gar nich mal so klug -- un der was Männliches hat, so wie
Schmolke, un vor dem du Respekt hast. Un vor Leopold kannst du keinen
Respekt haben. Liebst du'n denn noch immer?«

»Ach, ich denke ja gar nicht dran, liebe Schmolke.«

»Na, Korinna, denn is es Zeit, un denn mußt du nu Schicht damit machen.
Du kannst doch nich die ganze Welt auf den Kopp stellen un dein un
andrer Leute Glück, worunter auch dein Vater un deine alte Schmolke is,
verschütten un verderben wollen, bloß um der alten Kommerzienrätin mit
ihrem Puffscheitel und ihren Brillantbommeln einen Tort anzutun. Es
is eine geldstolze Frau, die den Apfelsinenladen vergessen hat un
immer bloß ötepotöte tut un den alten Professor anschmachtet un
ihn auch >Wilibald< nennt, als ob sie noch auf'n Hausboden Versteck
miteinander spielten un hinterm Torf stünden, denn damals hatte man
noch Torf auf'm Boden, un wenn man 'runter kam, sah man immer aus
wie'n Schornsteinfeger, -- ja, sieh', Korinna, das hat alles seine
Richtigkeit, un ich hätt' ihr so was gegönnt, un Ärger genug wird sie
woll auch gehabt haben. Aber wie der alte Pastor Thomas zu Schmolke un
mir in unsrer Traurede gesagt hat: >Liebet euch untereinander, denn der
Mensch soll sein Leben nich auf den Haß, sondern auf die Liebe stellen<,
(dessen Schmolke un ich auch immer eingedenk gewesen sind) -- so, meine
liebe Korinna, sag' ich es auch zu dir, man soll sein Leben nich auf den
Haß stellen. Hast du denn wirklich einen solchen Haß auf die Rätin, das
heißt einen richtigen?«

»Ach ich denke ja gar nicht daran, liebe Schmolke.«

»Ja, Korinna, da kann ich dir bloß noch mal sagen, dann is es wirklich
die höchste Zeit, daß was geschieht. Denn wenn du =ihn= nicht liebst und
=ihr= nicht haßt, denn weiß ich nich, was die ganze Geschichte überhaupt
noch soll.«

»Ich auch nicht.«

Und damit umarmte Korinna die gute Schmolke, und diese sah denn auch
gleich an einem Flimmer in Korinnas Augen, daß nun alles vorüber und daß
der Sturm gebrochen sei.

»Na, Korinna, denn wollen wirs schon kriegen, un es kann noch alles gut
werden. Aber nu gib die Form her, daß wir ihn eintun, denn eine Stunde
muß er doch wenigstens kochen. Un vor Tisch sag' ich deinem Vater kein
Wort, weil er sonst vor Freude nich essen kann ...«

»Ach, der äße doch.«

»Aber nach Tisch sag ichs ihm, wenn er auch um seinen Schlaf kommt. Und
geträumt hab' ich's auch schon un habe dir nur nichts davon sagen
wollen. Aber nun kann ich es ja. Sieben Kutschen und die beiden Kälber
von Professer Kuh waren Brautjungfern. Natürlich, Brautjungfern möchten
sie immer alle sein, denn auf die kuckt alles, beinah' mehr noch als auf
die Braut, weil die ja schon weg ist; un meistens kommen sie auch bald
'ran. Un bloß den Pastor konnt' ich nich recht erkennen. Thomas war es
nich. Aber vielleicht war es Souchon, bloß daß er ein bißchen zu
dicklich war.«




Fünfzehntes Kapitel


Der Pudding erschien Punkt zwei, und Schmidt hatte sich denselben munden
lassen. In seiner behaglichen Stimmung entging es ihm durchaus, daß
Korinna für alles, was er sagte, nur ein stummes Lächeln hatte; denn er
war ein liebenswürdiger Egoist, wie die meisten seines Zeichens, und
kümmerte sich nicht sonderlich um die Stimmung seiner Umgebung, so lange
nichts passierte, was dazu angetan war, ihm die Laune direkt zu stören.

»Und nun laß abdecken, Korinna; ich will, eh' ich mich ein bißchen
ausstrecke, noch einen Brief an Marcell schreiben oder doch wenigstens
ein paar Zeilen. Er hat nämlich die Stelle. Distelkamp, der immer noch
alte Beziehungen unterhält, hat michs heute Vormittag wissen lassen.«
Und während der Alte das sagte, sah er zu Korinna hinüber, weil er
wahrnehmen wollte, wie diese wichtige Nachricht auf seiner Tochter Gemüt
wirke. Er sah aber nichts, vielleicht weil nichts zu sehen war,
vielleicht auch weil er kein scharfer Beobachter war, selbst dann nicht,
wenn ers ausnahmsweise mal sein wollte.

Korinna, während der Alte sich erhob, stand ebenfalls auf und ging
hinaus, um draußen die nötigen Ordres zum Abräumen an die Schmolke zu
geben. Als diese bald danach eintrat, setzte sie mit jenem absichtlichen
und ganz unnötigen Lärmen, durch den alte Dienerinnen ihre dominierende
Hausstellung auszudrücken lieben, die herumstehenden Teller und Bestecke
zusammen, derart, daß die Messer- und Gabelspitzen nach allen Seiten hin
herausstarrten, und drückte diesen Stachelturm im selben Augenblicke, wo
sie sich zum Hinausgehen anschickte, fest an sich.

»Pieken Sie sich nicht, liebe Schmolke,« sagte Schmidt, der sich gern
einmal eine kleine Vertraulichkeit erlaubte.

»Nein, Herr Professor, von pieken is keine Rede nich mehr, schon lange
nich. Un mit der Verlobung is es auch vorbei.«

»Vorbei. Wirklich? Hat sie was gesagt?«

»Ja, wie sie die Semmel zu den Pudding rieb, ist es mit eins
'rausgekommen. Es stieß ihr schon lange das Herz ab, und sie wollte bloß
nichts sagen. Aber nu is es ihr zu langweilig geworden, das mit
Leopolden. Immer bloß kleine Billetter mit'n Vergißmeinnicht draußen
un'n Veilchen drin; da sieht sie nu doch wohl, daß er keine rechte
Kourage hat, un daß seine Furcht vor der Mama noch größer is, als seine
Liebe zu ihr.«

»Nun, das freut mich. Und ich hab' es auch nicht anders erwartet. Und
Sie wohl auch nicht, liebe Schmolke. Der Marcell ist doch ein andres
Kraut. Und was heißt gute Partie? Marcell ist Archäologe.«

»Versteht sich,« sagte die Schmolke, die sich dem Professor gegenüber
grundsätzlich nie zur Unvertrautheit mit Fremdwörtern bekannte.

»Marcell, sag' ich, ist Archäologe. Vorläufig rückt er an Hedrichs
Stelle. Gut angeschrieben ist er schon lange, seit Jahr und Tag. Und
dann geht er mit Urlaub und Stipendium nach Mykenä ...«

Die Schmolke drückte auch jetzt wieder ihr volles Verständnis und
zugleich ihre Zustimmung aus.

»Und vielleicht,« fuhr Schmidt fort, »auch nach Tiryns oder wo
Schliemann gerade steckt. Und wenn er von da zurück ist und mir einen
Zeus für diese meine Stube mitgebracht hat ...« und er wies dabei
unwillkürlich nach dem Ofen oben, als dem einzigen für Zeus noch
leeren Fleck ... »wenn er von da zurück ist, sag' ich, so ist ihm eine
Professur gewiß. Die Alten können nicht ewig leben. Und sehen Sie,
liebe Schmolke, das ist das, was ich eine gute Partie nenne.«

»Versteht sich, Herr Professor. Wovor sind denn auch die Examens un all
das? Un Schmolke, wenn er auch kein Studierter war, sagte auch immer
...«

»Und nun will ich an Marcell schreiben und mich dann ein
Viertelstündchen hinlegen. Und um halb vier den Kaffee. Aber
nicht später.«

       *       *       *       *       *

Um halb vier kam der Kaffee. Der Brief an Marcell, ein Rohrpostbrief, zu
dem sich Schmidt nach einigem Zögern entschlossen hatte, war seit
wenigstens einer halben Stunde fort, und wenn alles gut ging und Marcell
zu Hause war, so las er vielleicht in diesem Augenblicke schon die drei
lapidaren Zeilen, aus denen er seinen Sieg entnehmen konnte.
Gymnasial-Oberlehrer! Bis heute war er nur deutscher Literaturlehrer an
einer höheren Mädchenschule gewesen und hatte manchmal grimmig in sich
hineingelacht, wenn er über den _Codex argenteus_, bei welchem Worte die
jungen Dinger immer kicherten, oder über den Heliand und Beowulf hatte
sprechen müssen. Auch hinsichtlich Korinnas waren ein paar dunkle
Wendungen in den Brief eingeflochten worden, und alles in allem ließ
sich annehmen, daß Marcell binnen kürzester Frist erscheinen würde,
seinen Dank auszusprechen.

Und wirklich, fünf Uhr war noch nicht heran, als die Klingel ging und
Marcell eintrat. Er dankte dem Onkel herzlich für seine Protektion, und
als dieser das alles mit der Bemerkung ablehnte, daß, wenn von solchen
Dingen überhaupt die Rede sein könne, jeder Dankesanspruch auf
Distelkamp falle, sagte Marcell: »Nun, dann also Distelkamp. Aber daß du
mir's gleich geschrieben, dafür werd' ich mich doch auch bei dir
bedanken dürfen. Und noch dazu mit Rohrpost!«

»Ja, Marcell, das mit Rohrpost, das hat vielleicht Anspruch; denn eh'
wir Alten uns zu was neuem bequemen, das dreißig Pfennig kostet, da kann
mitunter viel Wasser die Spree 'runterfließen. Aber was sagst du zu
Korinna?«

»Lieber Onkel, du hast da so eine dunkle Wendung gebraucht, ... ich habe
sie nicht recht verstanden. Du schriebst: >Kenneth von Leoparden sei auf
dem Rückzug<. Ist Leopold gemeint? Und muß es Korinna jetzt als Strafe
hinnehmen, daß sich Leopold, den sie so sicher zu haben glaubte, von ihr
abwendet?«

»Es wäre so schlimm nicht, wenn es so läge. Denn in diesem Falle wäre
die Demütigung, von der man doch wohl sprechen muß, noch um einen Grad
größer. Und so sehr ich Korinna liebe, so muß ich doch zugeben, daß ihr
ein Denkzettel wohl not täte.«

Marcell wollte zum Guten reden ...

»Nein, verteidige sie nicht, sie hätte so was verdient. Aber die Götter
haben es doch milder mit ihr vor und diktieren ihr statt der ganzen
Niederlage, die sich in Leopolds selbstgewolltem Rückzuge aussprechen
würde, nur die halbe Niederlage zu, nur die, daß die Mutter nicht will
und daß meine gute Jenny, trotz Lyrik und obligater Träne, sich ihrem
Jungen gegenüber doch mächtiger erweist als Korinna.«

»Vielleicht nur, weil Korinna sich noch rechtzeitig besann und nicht
alle Minen springen lassen wollte.«

»Vielleicht ist es so. Aber wie es auch liegen mag, Marcell, wir müssen
uns nun darüber schlüssig machen, wie du zu dieser ganzen Tragikomödie
dich stellen willst, so oder so. Ist dir Korinna, die du vorhin so
großmütig verteidigen wolltest, verleidet oder nicht? Findest du, daß
sie wirklich eine gefährliche Person ist, voll Oberflächlichkeit und
Eitelkeit, oder meinst du, daß alles nicht so schlimm und ernsthaft war,
eigentlich nur bloße Marotte, die verziehen werden kann? Darauf kommt es
an.«

»Ja, lieber Onkel, ich weiß wohl, wie ich dazu stehe. Aber ich bekenne
dir offen, ich hörte gern erst deine Meinung. Du hast es immer gut mit
mir gemeint und wirst Korinna nicht mehr loben, als sie verdient. Auch
schon aus Selbstsucht nicht, weil du sie gern im Hause behieltest. Und
ein bißchen Egoist bist du ja wohl. Verzeih', ich meine nur so dann und
wann und in einzelnen Stücken ...«

»Sage dreist in allen. Ich weiß das auch und getröste mich damit, daß es
in der Welt öfters vorkommt. Aber das sind Abschweifungen. Von Korinna
soll ich sprechen und will auch. Ja, Marcell, was ist da zu sagen? Ich
glaube, sie war ganz ernsthaft dabei, hat dir's ja auch damals ganz
frank und frei erklärt, und du hast es auch geglaubt, mehr noch als ich.
Das war die Sachlage, so stand es vor ein paar Wochen. Aber jetzt darauf
möcht' ich mich verwetten, jetzt ist sie gänzlich umgewandelt, und wenn
die Treibels ihren Leopold zwischen lauter Juwelen und Goldbarren setzen
wollten, ich glaube, sie nähm' ihn nicht mehr. Sie hat eigentlich ein
gesundes und ehrliches und aufrichtiges Herz, auch einen feinen
Ehrenpunkt, und nach einer kurzen Abirrung ist ihr mit einem Male klar
geworden, was es eigentlich heißt, wenn man mit zwei Familienporträts
und einer väterlichen Bibliothek in eine reiche Familie hineinheiraten
will. Sie hat den Fehler gemacht, sich einzubilden, >das ginge so<,
weil man ihrer Eitelkeit beständig Zuckerbrot gab und so tat, als
bewerbe man sich um sie. Aber bewerben und bewerben ist ein Unterschied.
Gesellschaftlich, das geht eine Weile; nur nicht fürs Leben. In
eine Herzogsfamilie kann man allenfalls hineinkommen, in eine
Bourgeoisfamilie nicht. Und wenn =er=, der Bourgeois, es auch wirklich
übers Herz brächte -- seine Bourgeoise gewiß nicht, am wenigsten wenn
sie Jenny Treibel, _née_ Bürstenbinder heißt. Rund heraus, Korinnas
Stolz ist endlich wach gerufen, laß mich hinzusetzen: Gott sei Dank, und
gleichviel nun, ob sies noch hätte durchsetzen können oder nicht, sie
mag es und will es nicht mehr, sie hat es satt. Was vordem halb
Berechnung, halb Übermut war, das sieht sie jetzt in einem andern Licht
und ist ihr Gesinnungssache geworden. Da hast du meine Weisheit. Und nun
laß mich noch einmal fragen, wie gedenkst du dich zu stellen? Hast du
Lust und Kraft, ihr die Torheit zu verzeihen?«

»Ja, lieber Onkel, das hab' ich. Natürlich, soviel ist richtig, es wäre
mir ein gut Teil lieber, die Geschichte hätte =nicht= gespielt; aber da
sie nun einmal gespielt hat, nehm' ich mir das Gute daraus. Korinna hat
nun wohl für immer mit der Modernität und dem krankhaften Gewichtlegen
aufs Äußerliche gebrochen, und hat statt dessen die von ihr verspotteten
Lebensformen wieder anerkennen gelernt, in denen sie groß geworden ist.«

Der Alte nickte.

»Mancher,« fuhr Marcell fort, »würde sich anders dazu stellen, das ist
mir völlig klar; die Menschen sind eben verschieden, das sieht man alle
Tage. Da hab' ich beispielsweise, ganz vor kurzem erst, eine kleine
reizende Geschichte von Heyse gelesen, in der ein junger Gelehrter, ja,
wenn mir recht ist, sogar ein archäologisch Angekränkelter, also eine
Art Spezialkollege von mir, eine junge Baronesse liebt und auch herzlich
und aufrichtig wieder geliebt wird; er weiß es nur noch nicht recht, ist
ihrer noch nicht ganz sicher. Und in diesem Unsicherheitszustande hört
er in der zufälligen Verborgenheit einer Taxushecke, wie die mit einer
Freundin im Park lustwandelnde Baronesse eben dieser ihrer Freundin
allerhand Konfessions macht, von ihrem Glück und ihrer Liebe plaudert
und sichs nur leider nicht versagt, ein paar scherzhaft übermütige
Bemerkungen über ihre Liebe mit einzuflechten. Und dies hören und sein
Ränzel schnüren und sofort das Weite suchen, ist für den Liebhaber und
Archäologen eins. Mir ganz unverständlich. Ich, lieber Onkel, hätt' es
anders gemacht, ich hätte nur die Liebe herausgehört und nicht den
Scherz und nicht den Spott, und wäre, statt abzureisen, meiner geliebten
Baronesse wahnsinnig glücklich zu Füßen gestürzt, von nichts sprechend
als von meinem unendlichen Glück. Da hast du meine Situation, lieber
Onkel. Natürlich kann mans auch anders machen; ich bin für mein Teil
indessen herzlich froh, daß ich nicht zu den Feierlichen gehöre. Respekt
vor dem Ehrenpunkt, gewiß; aber zuviel davon ist vielleicht überall vom
Übel und in der Liebe nun schon ganz gewiß.«

»Bravo, Marcell. Hab' es übrigens nicht anders erwartet und seh' auch
darin wieder, daß du meiner leiblichen Schwester Sohn bist. Sieh, das
ist das Schmidtsche in dir, daß du so sprechen kannst; keine
Kleinigkeit, keine Eitelkeit, immer aufs Rechte, und immer aufs Ganze.
Komm her, Junge, gib mir einen Kuß. Einer ist eigentlich zu wenig, denn
wenn ich bedenke, daß du mein Neffe und Kollege, und nun bald auch mein
Schwiegersohn bist, denn Korinna wird doch wohl nicht Nein sagen, dann
sind auch zwei Backenküsse kaum noch genug. Und die Genugtuung sollst du
haben, Marcell, Korinna muß an dich schreiben, und sozusagen beichten
und Vergebung der Sünden bei dir anrufen.«

»Um Gotteswillen, Onkel, mache nur nicht so was. Zunächst wird sie's
nicht tun, und wenn sie's tun wollte, so würd' ich doch das nicht mit
ansehn können. Die Juden, so hat mir Friedeberg erst ganz vor kurzem
erzählt, haben ein Gesetz oder einen Spruch, wonach es als ganz
besonders strafwürdig gilt, >einen Mitmenschen zu beschämen<, und ich
finde, das ist ein kolossal feines Gesetz und beinah' schon christlich.
Und wenn man niemanden beschämen soll, nicht einmal seine Feinde, ja,
lieber Onkel, wie käm' ich dann dazu, meine liebe Kusine Korinna
beschämen zu wollen, die vielleicht schon nicht weiß, wo sie vor
Verlegenheit hinsehen soll. Denn wenn die Nicht-Verlegenen einmal
verlegen werden, dann werden sie's auch ordentlich und ist einer in
solch' peinlicher Lage wie Korinna, da hat man die Pflicht, ihm goldne
Brücken zu bau'n. Ich werde schreiben, lieber Onkel.«

»Bist ein guter Kerl, Marcell; komm her, noch einen. Aber sei nicht zu
gut, das können die Weiber nicht vertragen, nicht einmal die Schmolke.«




Sechzehntes Kapitel


Und Marcell schrieb wirklich, und am andern Morgen lagen zwei an
Korinna adressierte Briefe auf dem Frühstückstisch, einer in kleinem
Format mit einem Landschaftsbildchen in der linken Ecke, Teich und
Trauerweide, worin Leopold, zum ach, wie vielsten Male, von seinem
»unerschütterlichen Entschlusse« sprach, der andere, ohne malerische
Zutat, von Marcell. Dieser lautete:

»Liebe Korinna! Der Papa hat gestern mit mir gesprochen und mich zu
meiner innigsten Freude wissen lassen, daß, verzeih', es sind seine
eigenen Worte, >Vernunft wieder an zu sprechen fange<. >Und<, so setzte
er hinzu, >die rechte Vernunft käme aus dem Herzen<. Darf ich es
glauben? Ist ein Wandel eingetreten, die Bekehrung, auf die ich gehofft?
Der Papa wenigstens hat mich dessen versichert. Er war auch der Meinung,
daß Du bereit sein würdest, dies gegen mich auszusprechen, aber ich habe
feierlichst dagegen protestiert, denn mir liegt gar nicht daran,
Unrechts- oder Schuldgeständnisse zu hören; -- =das=, was ich jetzt
weiß, wenn auch noch nicht aus Deinem Munde, genügt mir völlig, macht
mich unendlich glücklich und löscht alle Bitterkeit aus meiner Seele.
Manch' einer würde mir in diesem Gefühl nicht folgen können, aber ich
habe da, wo mein Herz spricht, nicht das Bedürfnis, zu einem Engel zu
sprechen, im Gegenteil, mich bedrücken Vollkommenheiten, vielleicht weil
ich nicht an sie glaube; Mängel, die ich menschlich begreife, sind mir
sympathisch, auch dann noch, wenn ich unter ihnen leide. Was Du mir
damals sagtest, als ich Dich an dem Mr. Nelson-Abend von Treibels nach
Hause begleitete, das weiß ich freilich noch alles, aber es lebt nur in
meinem Ohr, nicht in meinem Herzen. In meinem Herzen steht nur das eine,
das immer darin stand, von Anfang an, von Jugend auf.

»Ich hoffe Dich heute noch zu sehen. Wie immer Dein Marcell.«

Korinna reichte den Brief ihrem Vater. Der las nun auch und blies dabei
doppelte Dampfwolken; als er aber fertig war, stand er auf und gab
seinem Liebling einen Kuß auf die Stirn: »Du bist ein Glückskind. Sieh',
das ist das, was man das Höhere nennt, das wirklich Ideale, nicht das
von meiner Freundin Jenny. Glaube mir, das Klassische, was sie jetzt
verspotten, das ist das, was die Seele frei macht, das Kleinliche nicht
kennt und das Christliche vorahnt und vergeben und vergessen lehrt, weil
wir alle des Ruhmes mangeln. Ja, Korinna, das Klassische, das hat
Sprüche wie Bibelsprüche. Mitunter beinah' noch etwas d'rüber. Da haben
wir zum Beispiel den Spruch: >Werde, der du bist<, ein Wort, das nur ein
Grieche sprechen konnte. Freilich, dieser Werdeprozeß, der hier
gefordert wird, muß sich verlohnen, aber wenn mich meine väterliche
Befangenheit nicht täuscht, bei =dir= verlohnt es sich. Diese Treibelei
war ein Irrtum, ein >Schritt vom Wege<, wie jetzt, wie du wissen wirst,
auch ein Lustspiel heißt, noch dazu von einem Kammergerichtsrat. Das
Kammergericht, Gott sei Dank, war immer literarisch. Das Literarische
macht frei. ... Jetzt hast du das Richtige wiedergefunden und dich
selbst dazu ... >Werde, der du bist<, sagt der große Pindar, und deshalb
muß auch Marcell, um der zu werden, der er ist, in die Welt hinaus, an
die großen Stätten, und besonders an die ganz alten. Die ganz alten, das
ist immer wie das heilige Grab; dahin gehen die Kreuzzüge der
Wissenschaft, und seid ihr erst von Mykenä wieder zurück -- ich sage
>ihr<, denn du wirst ihn begleiten, die Schliemann ist auch immer dabei
-- so müßte keine Gerechtigkeit sein, wenn ihr nicht übers Jahr
Privatdozent wär't oder Extraordinarius.«

Korinna dankte ihm, daß er sie gleich mit ernenne, vorläufig indes sei
sie mehr für Haus- und Kinderstube. Dann verabschiedete sie sich und
ging in die Küche, setzte sich auf einen Schemel und ließ die Schmolke
den Brief lesen. »Nun, was sagen Sie, liebe Schmolke?«

»Ja, Korinna, was soll ich sagen? Ich sage bloß, was Schmolke immer
sagte: manchen gibt es der liebe Gott im Schlaf. Du hast ganz
unverantwortlich un beinahe schauderöse gehandelt un kriegst ihn nu
doch. Du bist ein Glückskind.«

»Das hat mir Papa auch gesagt.«

»Na, denn muß es wahr sein, Korinna. Denn was ein Professor sagt, is
immer wahr. Aber nu keine Flausen mehr und keine Witzchen, davon haben
wir nu genug gehabt mit dem armen Leopold, der mir doch eigentlich leid
tun kann, denn er hat sich ja nich selber gemacht, und der Mensch is am
Ende wie er is. Nein, Korinna, nu wollen wir ernsthaft werden. Und wenn
meinst du denn, daß es los geht oder in die Zeitung kommt? Morgen?«

»Nein, liebe Schmolke, so schnell geht es nicht. Ich muß ihn doch erst
seh'n, und ihm einen Kuß geben ...«

»Versteht sich, versteht sich. Eher geht es nich ...«

»Und dann muß ich doch auch dem armen Leopold erst abschreiben. Er hat
mir ja erst heute wieder versichert, daß er für mich leben und sterben
will ...«

»Ach Jott, der arme Mensch.«

»Am Ende ist er auch ganz froh ...«

»Möglich is es.«

       *       *       *       *       *

Noch am selben Abend, wie sein Brief es angezeigt, kam Marcell und
begrüßte zunächst den in seine Zeitungslektüre vertieften Onkel, der ihm
denn auch -- vielleicht weil er die Verlobungsfrage für erledigt hielt
-- etwas zerstreut und das Zeitungsblatt in der Hand mit den Worten
entgegentrat: »Und nun sage, Marcell, was sagst du dazu? _Summus
Episcopus_ ... Der Kaiser, unser alter Wilhelm, entkleidet sich davon,
und will es nicht mehr, und Kögel wird es. Oder vielleicht Stöcker ...«

»Ach, lieber Onkel, erstlich glaub' ich es nicht. Und dann, ich werde ja
doch schwerlich im Dom getraut werden ...«

»Hast recht. Ich habe den Fehler aller Nichtpolitiker, über einer
Sensationsnachricht, die natürlich hinterher immer falsch ist, alles
wichtigere zu vergessen. Korinna sitzt drüben in ihrem Zimmer und wartet
auf dich, und ich denke mir, es wird wohl das beste sein, ihr macht es
untereinander ab; ich bin auch mit der Zeitung noch nicht ganz fertig,
und ein Dritter geniert bloß, auch wenn es der Vater ist.«

Korinna, als Marcell eintrat, kam ihm herzlich und freundlich entgegen,
etwas verlegen, aber doch zugleich sichtlich gewillt, die Sache nach
ihrer Art zu behandeln, also so wenig tragisch wie möglich. Von drüben
her fiel der Abendschein ins Fenster, und als sie sich gesetzt hatten,
nahm sie seine Hand und sagte: »Du bist so gut, und ich hoffe, daß ich
dessen immer eingedenk sein werde. Was ich wollte, war nur Torheit.«

»Wolltest du's denn wirklich?«

Sie nickte.

»Und liebtest ihn ganz ernsthaft?«

»Nein. Aber ich wollte ihn ganz ernsthaft heiraten. Und mehr noch,
Marcell, ich glaube auch nicht, daß ich sehr unglücklich geworden wäre,
das liegt nicht in mir, freilich auch wohl nicht sehr glücklich. Aber
wer ist glücklich? Kennst du wen? Ich nicht. Ich hätte Malstunden
genommen und vielleicht auch Reitunterricht, und hätte mich an der
Riviera mit ein paar englischen Familien angefreundet, natürlich solche
mit einer Pleasure-Yacht, und wäre mit ihnen nach Corsica oder nach
Sizilien gefahren, immer der Blutrache nach. Denn ein Bedürfnis nach
Aufregung würd' ich doch wohl zeitlebens gehabt haben; Leopold ist etwas
schläfrig. Ja, so hätt' ich gelebt.«

»Du bleibst immer dieselbe und malst dich schlimmer als du bist.«

»Kaum; aber freilich auch nicht besser. Und deshalb glaubst du mir wohl
auch, wenn ich dir jetzt versichre, daß ich froh bin, aus dem allen
heraus zu sein. Ich habe von früh an den Sinn für Äußerlichkeiten gehabt
und hab' ihn vielleicht noch, aber seine Befriedigung kann doch zu teuer
erkauft werden, das hab' ich jetzt einsehen gelernt.«

Marcell wollte noch einmal unterbrechen, aber sie litt es nicht.

»Nein, Marcell, ich muß noch ein paar Worte sagen. Sieh' das mit dem
Leopold, das wäre vielleicht gegangen, warum am Ende nicht? Einen
schwachen, guten, unbedeutenden Menschen zur Seite zu haben, kann sogar
angenehm sein, kann einen Vorzug bedeuten. Aber diese Mama, diese
furchtbare Frau! Gewiß, Besitz und Geld haben einen Zauber, wär' es
nicht so, so wäre mir meine Verirrung erspart geblieben; aber wenn Geld
alles ist, und Herz und Sinn verengt und zum Überfluß Hand in Hand geht
mit Sentimentalität und Tränen -- dann empört sich's hier, und =das=
hinzunehmen, wäre mir hart angekommen, wenn ich's auch vielleicht
ertragen hätte. Denn ich gehe davon aus, der Mensch in einem guten Bett
und in guter Pflege kann eigentlich viel ertragen.«

       *       *       *       *       *

Den zweiten Tag danach stand es in den Zeitungen, und zugleich mit den
öffentlichen Anzeigen trafen Karten ein. Auch bei Kommerzienrats.
Treibel, der, nach vorgängigem Einblick in das Kuvert, ein starkes
Gefühl von der Wichtigkeit dieser Nachricht und ihrem Einfluß auf die
Wiederherstellung häuslichen Friedens und passabler Laune hatte, säumte
nicht, in das Damenzimmer hinüberzugehen, wo Jenny mit Hildegard
frühstückte. Schon beim Eintreten hielt er den Brief in die Höhe und
sagte: »Was kriege ich, wenn ich euch den Inhalt dieses Briefes
mitteile?«

»Fordere,« sagte Jenny, in der vielleicht eine Hoffnung dämmerte.

»Einen Kuß.«

»Keine Albernheiten, Treibel.«

»Nun, wenn es von dir nicht sein kann, dann wenigstens von Hildegard.«

»Zugestanden,« sagte diese. »Aber nun lies.«

Und Treibel las: »Die am heutigen Tage stattgehabte Verlobung meiner
Tochter ...« ja, meine Damen, =welcher= Tochter? Es gibt viele Töchter.
Noch einmal also, ratet. Ich verdoppele den von mir gestellten Preis ...
also »meiner Tochter Korinna mit dem Dr. Marcell Wedderkopp, Oberlehrer
und Leutnant der Reserve im brandenburgischen Füsilierregiment
Nr. 35, habe ich die Ehre, hiermit ganz ergebenst anzuzeigen. Dr.
Wilibald Schmidt, Professor und Oberlehrer am Gymnasium zum Heiligen
Geist.«

Jenny, durch Hildegards Gegenwart behindert, begnügte sich, ihrem Gatten
einen triumphierenden Blick zuzuwerfen. Hildegard selbst aber, die
sofort wieder auf Suche nach einem Formfehler war, sagte nur: »Ist das
alles? Soviel ich weiß, pflegt es Sache der Verlobten zu sein, auch
ihrerseits noch ein Wort zu sagen. Aber die Schmidt-Wedderkopps haben am
Ende darauf verzichtet.«

»Doch nicht, teure Hildegard. Auf dem zweiten Blatt, das ich
unterschlagen habe, haben auch die Brautleute gesprochen. Ich überlasse
dir das Schriftstück als Andenken an deinen Berliner Aufenthalt und als
Beweis für den allmählichen Fortschritt hiesiger Kulturformen. Natürlich
stehen wir noch eine gute Strecke zurück, aber es macht sich allmählich.
Und nun bitt' ich um meinen Kuß.«

Hildegard gab ihm zwei und so stürmisch, daß ihre Bedeutung klar war.
Dieser Tag bedeutete zwei Verlobungen.

       *       *       *       *       *

Der letzte Sonnabend im Juli war als Marcells und Korinnas Hochzeitstag
angesetzt worden; »nur keine langen Verlobungen,« betonte Wilibald
Schmidt, und die Brautleute hatten begreiflicherweise gegen ein
beschleunigtes Verfahren nichts einzuwenden. Einzig und allein die
Schmolke, die's mit der Verlobung so eilig gehabt hatte, wollte von
solcher Beschleunigung nicht viel wissen und meinte, bis dahin sei ja
bloß noch drei Wochen, also nur gerade noch Zeit genug, »um dreimal von
der Kanzel zu fallen,« und das ginge nicht, das sei zu kurz, darüber
redeten die Leute; schließlich aber gab sie sich zufrieden oder tröstete
sich wenigstens mit dem Satze: geredet wird doch.

Am siebenundzwanzigsten war kleiner Polterabend in der Schmidtschen
Wohnung, den Tag darauf Hochzeit im Englischen Hause. Prediger Thomas
traute. Drei Uhr fuhren die Wagen vor der Nikolaikirche vor, sechs
Brautjungfern, unter denen die beiden Kuhschen Kälber und die zwei
Felgentreus waren. Letztere, wie schon hier verraten werden mag,
verlobten sich in einer Tanzpause mit den zwei Referendaren vom
Quartett, denselben jungen Herren, die die Halenseepartie mitgemacht
hatten. Der natürlich auch geladene Jodler wurde von den Kuhs heftig in
Angriff genommen, widerstand aber, weil er, als Eckhaussohn, an solche
Sturmangriffe gewöhnt war. Die Kuhschen Töchter selbst fanden sich
ziemlich leicht in diesen Echec -- »er war der erste nicht, er wird der
letzte nicht sein,« sagte Schmidt -- und nur die Mutter zeigte bis
zuletzt eine starke Verstimmung.

Sonst war es eine durchaus heitere Hochzeit, was zum Teil damit
zusammenhing, daß man von Anfang an alles auf die leichte Schulter
genommen hatte. Man wollte vergeben und vergessen, hüben und drüben, und
so kam es denn auch, daß, um die Hauptsache vorweg zu nehmen, alle
Treibels nicht nur geladen, sondern mit alleiniger Ausnahme von Leopold,
der an demselben Nachmittage nach dem Eierhäuschen ritt, auch
vollständig erschienen waren. Allerdings hatte die Kommerzienrätin
anfänglich stark geschwankt, ja, sogar von Taktlosigkeit und Affront
gesprochen, aber ihr zweiter Gedanke war doch der gewesen, den ganzen
Vorfall als eine Kinderei zu nehmen und dadurch das schon hier und da
laut gewordene Gerede der Menschen auf die leichteste Weise tot zu
machen. Bei diesem zweiten Gedanken blieb es dann auch; die Rätin,
freundlich-lächelnd wie immer, trat _in pontificalibus_ auf und
bildete ganz unbestritten das Glanz- und Repräsentationsstück der
Hochzeitstafel. Selbst die Honig und die Wulsten waren auf Korinnas
dringenden Wunsch eingeladen worden; erstere kam auch, die Wulsten
dagegen entschuldigte sich brieflich, »weil sie Lizzi, das süße Kind,
doch nicht allein lassen könne.« Dicht unter der Stelle »das süße Kind«
war ein Fleck, und Marcell sagte zu Korinna: »Eine Träne, und ich
glaube, eine echte.« Von den Professoren waren, außer den schon
genannten Kuhs, nur Distelkamps und Rindfleisch zugegen, da sich die
mit jüngerem Nachwuchs Gesegneten sämtlich in Kösen, Ahlbeck und
Stolpemünde befanden. Trotz dieser Personaleinbuße war an Toasten kein
Mangel; der Distelkampsche war der beste, der Felgentreusche der logisch
ungeheuerlichste, weshalb ihm ein hervorragender, vom Ausbringer
allerdings unbeabsichtigter Lacherfolg zuteil wurde.

Mit dem Herumreichen des Konfekts war begonnen, und Schmidt ging eben
von Platz zu Platz, um den älteren und auch einigen jüngeren Damen
allerlei Liebenswürdiges zu sagen, als der schon vielfach erschienene
Telegraphenbote noch einmal in den Saal und gleich danach an den alten
Schmidt herantrat. Dieser, von dem Verlangen erfüllt, den Überbringer so
vieler Herzenswünsche schließlich wie den Goetheschen Sänger königlich
zu belohnen, füllte ein neben ihm stehendes Becherglas mit Champagner
und kredenzte es dem Boten, der es, unter vorgängiger Verbeugung
gegen das Brautpaar, mit einem gewissen _avec_ leerte. Großer Beifall.
Dann öffnete Schmidt das Telegramm, überflog es und sagte: »Vom
stammverwandten Volk der Briten.«

»Lesen, lesen.«

»... _To Dr. Marcell Wedderkopp._«

»Lauter.«

»_England expects that every man will do his duty_ ... Unterzeichnet
_John Nelson_.«

Im Kreise der sachlich und sprachlich Eingeweihten brach ein Jubel aus,
und Treibel sagte zu Schmidt: »Ich denke mir, Marcell ist Bürge dafür.«

Korinna selbst war ungemein erfreut und erheitert über das Telegramm,
aber es gebrach ihr bereits an Zeit, ihrer glücklichen Stimmung Ausdruck
zu geben, denn es war acht Uhr, und um neuneinhalb Uhr ging der Zug, der
sie zunächst bis München und von da nach Verona oder, wie Schmidt mit
Vorliebe sich ausdrückte, »bis an das Grab der Julia« führen sollte.
Schmidt nannte das übrigens alles nur Kleinkram und »Vorschmack«, sprach
überhaupt ziemlich hochmütig und orakelte, zum Ärger Kuhs, von Messenien
und dem Taygetos, darin sich gewiß noch ein paar Grabkammern finden
würden, wenn nicht von Aristomenes selbst, so doch von seinem Vater. Und
als er endlich schwieg und Distelkamp ein vergnügtes Lächeln über seinen
mal wieder sein Steckenpferd tummelnden Freund Schmidt zeigte, nahm man
wahr, daß Marcell und Korinna den Saal inzwischen verlassen hatten.

       *       *       *       *       *

Die Gäste blieben noch. Aber gegen zehn Uhr hatten sich die Reihen doch
stark gelichtet; Jenny, die Honig, Helene waren aufgebrochen, und mit
Helene natürlich auch Otto, trotzdem er gern noch eine Stunde zugegeben
hätte. Nur der alte Kommerzienrat hatte sich emanzipiert und saß neben
seinem Bruder Schmidt, eine Anekdote nach der andern aus dem
»Schatzkästlein deutscher Nation« hervorholend, lauter blutrote
Karfunkelsteine, von deren »reinem Glanze« zu sprechen, Vermessenheit
gewesen wäre. Treibel, trotzdem Goldammer fehlte, sah sich dabei von
verschiedenen Seiten her unterstützt, am ausgiebigsten von Adolar Krola,
dem denn auch Fachmänner wahrscheinlich den Preis zuerkannt haben
würden.

Längst brannten die Lichter, Zigarrenwölkchen kräuselten sich in großen
und kleinen Ringen, und junge Paare zogen sich mehr und mehr in ein paar
Saalecken zurück, in denen, ziemlich unmotiviert, vier, fünf
Lorbeerbäume zusammenstanden und eine gegen Profanblicke schützende
Hecke bildeten. Hier wurden auch die Kuhschen gesehen, die noch einmal,
vielleicht auf Rat der Mutter, einen energischen Vorstoß auf den Jodler
unternahmen, aber auch diesmal umsonst. Zu gleicher Zeit klimperte man
bereits auf dem Flügel, und es war sichtlich der Zeitpunkt nahe, wo die
Jugend ihr gutes Recht beim Tanze behaupten würde.

Diesen gefahrdrohenden Moment ergriff der schon vielfach mit
»Du« und »Bruder« operierende Schmidt mit einer gewissen
Feldherrngeschicklichkeit und sagte, während er Krola eine neue
Zigarrenkiste zuschob: »Hören Sie, Sänger und Bruder, _carpe diem_.
Wir Lateiner legen den Akzent auf die letzte Silbe. Nutze den Tag. Über
ein Kleines und irgend ein Klavierpauker wird die Gesamtsituation
beherrschen und uns unsere Überflüssigkeit fühlen lassen. Also noch
einmal, was du tun willst, tue bald. Der Augenblick ist da; Krola, du
mußt mir einen Gefallen tun und Jennys Lied singen. Du hast es
hundertmal begleitet und wirst es wohl auch singen können. Ich glaube,
Wagnersche Schwierigkeiten sind nicht drin. Und unser Treibel wird es
nicht übel nehmen, daß wir das Herzenslied seiner Eheliebsten in
gewissem Sinne profanieren. Denn jedes Schaustellen eines Heiligsten
ist das, was ich Profanierung nenne. Hab' ich recht, Treibel, oder
täusch' ich mich in dir? Ich =kann= mich in dir nicht täuschen. In einem
Manne wie du kann man sich nicht täuschen, du hast ein klares und offnes
Gesicht. Und nun komm, Krola. »Mehr Licht« -- das war damals ein großes
Wort unseres Olympiers; aber wir bedürfen seiner nicht mehr, wenigstens
hier nicht, hier sind Lichter die Hülle und Fülle. Komm. Ich möchte
diesen Tag als ein Ehrenmann beschließen und in Freundschaft mit aller
Welt und nicht zum wenigsten mit dir, mit Adolar Krola.«

Dieser, der an hundert Tafeln wetterfest geworden und im Vergleich zu
Schmidt noch ganz leidlich imstande war, schritt, ohne langes Sträuben,
auf den Flügel zu, während ihm Schmidt und Treibel Arm in Arm folgten,
und ehe der Rest der Gesellschaft noch eine Ahnung haben konnte, daß der
Vortrag eines Liedes geplant war, legte Krola die Zigarre beiseite und
hob an:

    Glück, von allen Deinen Losen,
    Eines nur erwähl' ich mir,
    Was soll Gold? Ich liebe Rosen
    Und der Blumen schlichte Zier.

    Und ich höre Waldesrauschen
    Und ich seh' ein flatternd Band --
    Aug' in Auge Blicke tauschen,
    Und ein Kuß auf Deine Hand.

    Geben, nehmen, nehmen, geben,
    Und Dein Haar umspielt der Wind,
    Ach, nur das, nur das ist Leben,
    Wo =sich Herz zum Herzen find't=.

Alles war heller Jubel, denn Krolas Stimme war immer noch voll Kraft und
Klang, wenigstens verglichen mit dem, was man sonst in diesem Kreise
hörte. Schmidt weinte vor sich hin. Aber mit einem Male war er wieder
da. »Bruder,« sagte er, »das hat mir wohl getan. Bravissimo. Treibel,
unsere Jenny hat doch recht. Es ist was damit, es ist was drin; ich weiß
nicht genau was, aber das ist es eben -- es ist ein wirkliches Lied.
Alle echte Lyrik hat was geheimnisvolles. Ich hätte doch am Ende dabei
bleiben sollen ...«

Treibel und Krola sahen sich an und nickten dann zustimmend.

»... Und die arme Korinna! Jetzt ist sie bei Trebbin, erste Etappe zu
Julias Grab ... Julia Capulet, wie das klingt. Es soll übrigens eine
ägyptische Sargkiste sein, was eigentlich noch interessanter ist ... Und
dann alles in allem, ich weiß nicht, ob es recht ist, die Nacht so
durchzufahren; früher war das nicht Brauch, früher war man natürlicher,
ich möchte sagen sittlicher. Schade, daß meine Freundin Jenny fort ist,
die sollte darüber entscheiden. Für mich persönlich steht es fest, Natur
ist Sittlichkeit und überhaupt die Hauptsache. Geld ist Unsinn,
Wissenschaft ist Unsinn, alles ist Unsinn. Professor auch. Wer es
bestreitet, ist ein _pecus_. Nicht wahr, Kuh ... Kommen Sie, meine
Herren, komm, Krola ... Wir wollen nach Hause gehen.«


Ende




Liste korrigierter Druckfehler:

Seite 9, Komma vor "ein Sohn von" eingefügt (Ein junger Mr. Nelson ist
nämlich bei Otto Treibels angekommen (das heißt aber, er wohnt nicht
bei ihnen), ein Sohn von Nelson u. Co. aus Liverpool,)

Seite 29, schließendes Anführungszeichen ergänzt (Ich meine natürlich
Herwegh, Georg Herwegh.«)

Seite 29, schließendes einfaches Anführungszeichen ergänzt (>Lies es
nur, Jenny; der König hat es auch gelesen, und Herwegh war sogar bei
ihm in Charlottenburg, und die besseren Klassen lesen es alle.<)

Seite 33, schließendes Anführungszeichen ergänzt (Ich, wenn ich an
Ihrer Stelle wäre, lancierte mich ins Städtische hinein und ränge nach
der Bürgerkrone.«)

Seite 40, überflüssiges Anführungszeichen am Satzende entfernt (Aber
Korinna hielt ihn ab, Vogelsang sei der ältere und würde vielleicht den
Dank für ihn mitaussprechen.)

Seite 41, "persöhnlich" ersetzt durch "persönlich" (Englands
Aristokratie, die mir, von meinem Prinzip ganz abgesehen, auch
persönlich widerstreitet)

Seite 74, Punkt am Ende der Frage durch Fragezeichen ersetzt
(Und nun sagen Sie, Freund, ist dies, nach Ihren persönlichen
Erfahrungen, mutmaßlich als streng lokale Produktion anzusehen,
oder ist es mit den Oderbruchkrebsen wie mit den Werderschen Kirschen,
deren Gewinnungsgebiet sich nächstens über die ganze Provinz Brandenburg
erstrecken wird?)

Seite 78, "»Versteht sich »Hummer.«" ersetzt durch "»Versteht sich,
Hummer.«"

Seite 86, einleitendes Anführungszeichen ergänzt (»Und =wenn= es
ernstlich gemeint ist)

Seite 100, "tutst" durch "tust" ersetzt (Sprichst du das deiner Mutter
nach oder tust du von deinem Eigenen noch was hinzu?)

Seite 114, schließendes Anführungszeichen entfernt (Sollte sie wieder
von Vogelsang geträumt haben?)

Seite 171, "Hildegar" durch "Hildegard" ersetzt (Eben habe ich an deine
Schwester Hildegard geschrieben)

Seite 178, doppeltes Wort "und" nach "den Kindern" (»Und nun sagen Sie,
liebe Freundin, wollen wir nicht lieber abbrechen und alles den Kindern
und einer gewissen ruhigen historischen Entwicklung überlassen?«)

Seite 199, "lieb" durch "liebe" ersetzt (wie käm' ich dann dazu, meine
liebe Kusine Korinna beschämen zu wollen,)





End of the Project Gutenberg EBook of Frau Jenny Treibel, by Theodor Fontane

*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK FRAU JENNY TREIBEL ***

***** This file should be named 46184-8.txt or 46184-8.zip *****
This and all associated files of various formats will be found in:
        http://www.gutenberg.org/4/6/1/8/46184/

Produced by Norbert H. Langkau, Martin Oswald and the
Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net


Updated editions will replace the previous one--the old editions
will be renamed.

Creating the works from public domain print editions means that no
one owns a United States copyright in these works, so the Foundation
(and you!) can copy and distribute it in the United States without
permission and without paying copyright royalties.  Special rules,
set forth in the General Terms of Use part of this license, apply to
copying and distributing Project Gutenberg-tm electronic works to
protect the PROJECT GUTENBERG-tm concept and trademark.  Project
Gutenberg is a registered trademark, and may not be used if you
charge for the eBooks, unless you receive specific permission.  If you
do not charge anything for copies of this eBook, complying with the
rules is very easy.  You may use this eBook for nearly any purpose
such as creation of derivative works, reports, performances and
research.  They may be modified and printed and given away--you may do
practically ANYTHING with public domain eBooks.  Redistribution is
subject to the trademark license, especially commercial
redistribution.



*** START: FULL LICENSE ***

THE FULL PROJECT GUTENBERG LICENSE
PLEASE READ THIS BEFORE YOU DISTRIBUTE OR USE THIS WORK

To protect the Project Gutenberg-tm mission of promoting the free
distribution of electronic works, by using or distributing this work
(or any other work associated in any way with the phrase "Project
Gutenberg"), you agree to comply with all the terms of the Full Project
Gutenberg-tm License (available with this file or online at
http://gutenberg.org/license).


Section 1.  General Terms of Use and Redistributing Project Gutenberg-tm
electronic works

1.A.  By reading or using any part of this Project Gutenberg-tm
electronic work, you indicate that you have read, understand, agree to
and accept all the terms of this license and intellectual property
(trademark/copyright) agreement.  If you do not agree to abide by all
the terms of this agreement, you must cease using and return or destroy
all copies of Project Gutenberg-tm electronic works in your possession.
If you paid a fee for obtaining a copy of or access to a Project
Gutenberg-tm electronic work and you do not agree to be bound by the
terms of this agreement, you may obtain a refund from the person or
entity to whom you paid the fee as set forth in paragraph 1.E.8.

1.B.  "Project Gutenberg" is a registered trademark.  It may only be
used on or associated in any way with an electronic work by people who
agree to be bound by the terms of this agreement.  There are a few
things that you can do with most Project Gutenberg-tm electronic works
even without complying with the full terms of this agreement.  See
paragraph 1.C below.  There are a lot of things you can do with Project
Gutenberg-tm electronic works if you follow the terms of this agreement
and help preserve free future access to Project Gutenberg-tm electronic
works.  See paragraph 1.E below.

1.C.  The Project Gutenberg Literary Archive Foundation ("the Foundation"
or PGLAF), owns a compilation copyright in the collection of Project
Gutenberg-tm electronic works.  Nearly all the individual works in the
collection are in the public domain in the United States.  If an
individual work is in the public domain in the United States and you are
located in the United States, we do not claim a right to prevent you from
copying, distributing, performing, displaying or creating derivative
works based on the work as long as all references to Project Gutenberg
are removed.  Of course, we hope that you will support the Project
Gutenberg-tm mission of promoting free access to electronic works by
freely sharing Project Gutenberg-tm works in compliance with the terms of
this agreement for keeping the Project Gutenberg-tm name associated with
the work.  You can easily comply with the terms of this agreement by
keeping this work in the same format with its attached full Project
Gutenberg-tm License when you share it without charge with others.

1.D.  The copyright laws of the place where you are located also govern
what you can do with this work.  Copyright laws in most countries are in
a constant state of change.  If you are outside the United States, check
the laws of your country in addition to the terms of this agreement
before downloading, copying, displaying, performing, distributing or
creating derivative works based on this work or any other Project
Gutenberg-tm work.  The Foundation makes no representations concerning
the copyright status of any work in any country outside the United
States.

1.E.  Unless you have removed all references to Project Gutenberg:

1.E.1.  The following sentence, with active links to, or other immediate
access to, the full Project Gutenberg-tm License must appear prominently
whenever any copy of a Project Gutenberg-tm work (any work on which the
phrase "Project Gutenberg" appears, or with which the phrase "Project
Gutenberg" is associated) is accessed, displayed, performed, viewed,
copied or distributed:

This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with
almost no restrictions whatsoever.  You may copy it, give it away or
re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included
with this eBook or online at www.gutenberg.org/license

1.E.2.  If an individual Project Gutenberg-tm electronic work is derived
from the public domain (does not contain a notice indicating that it is
posted with permission of the copyright holder), the work can be copied
and distributed to anyone in the United States without paying any fees
or charges.  If you are redistributing or providing access to a work
with the phrase "Project Gutenberg" associated with or appearing on the
work, you must comply either with the requirements of paragraphs 1.E.1
through 1.E.7 or obtain permission for the use of the work and the
Project Gutenberg-tm trademark as set forth in paragraphs 1.E.8 or
1.E.9.

1.E.3.  If an individual Project Gutenberg-tm electronic work is posted
with the permission of the copyright holder, your use and distribution
must comply with both paragraphs 1.E.1 through 1.E.7 and any additional
terms imposed by the copyright holder.  Additional terms will be linked
to the Project Gutenberg-tm License for all works posted with the
permission of the copyright holder found at the beginning of this work.

1.E.4.  Do not unlink or detach or remove the full Project Gutenberg-tm
License terms from this work, or any files containing a part of this
work or any other work associated with Project Gutenberg-tm.

1.E.5.  Do not copy, display, perform, distribute or redistribute this
electronic work, or any part of this electronic work, without
prominently displaying the sentence set forth in paragraph 1.E.1 with
active links or immediate access to the full terms of the Project
Gutenberg-tm License.

1.E.6.  You may convert to and distribute this work in any binary,
compressed, marked up, nonproprietary or proprietary form, including any
word processing or hypertext form.  However, if you provide access to or
distribute copies of a Project Gutenberg-tm work in a format other than
"Plain Vanilla ASCII" or other format used in the official version
posted on the official Project Gutenberg-tm web site (www.gutenberg.org),
you must, at no additional cost, fee or expense to the user, provide a
copy, a means of exporting a copy, or a means of obtaining a copy upon
request, of the work in its original "Plain Vanilla ASCII" or other
form.  Any alternate format must include the full Project Gutenberg-tm
License as specified in paragraph 1.E.1.

1.E.7.  Do not charge a fee for access to, viewing, displaying,
performing, copying or distributing any Project Gutenberg-tm works
unless you comply with paragraph 1.E.8 or 1.E.9.

1.E.8.  You may charge a reasonable fee for copies of or providing
access to or distributing Project Gutenberg-tm electronic works provided
that

- You pay a royalty fee of 20% of the gross profits you derive from
     the use of Project Gutenberg-tm works calculated using the method
     you already use to calculate your applicable taxes.  The fee is
     owed to the owner of the Project Gutenberg-tm trademark, but he
     has agreed to donate royalties under this paragraph to the
     Project Gutenberg Literary Archive Foundation.  Royalty payments
     must be paid within 60 days following each date on which you
     prepare (or are legally required to prepare) your periodic tax
     returns.  Royalty payments should be clearly marked as such and
     sent to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation at the
     address specified in Section 4, "Information about donations to
     the Project Gutenberg Literary Archive Foundation."

- You provide a full refund of any money paid by a user who notifies
     you in writing (or by e-mail) within 30 days of receipt that s/he
     does not agree to the terms of the full Project Gutenberg-tm
     License.  You must require such a user to return or
     destroy all copies of the works possessed in a physical medium
     and discontinue all use of and all access to other copies of
     Project Gutenberg-tm works.

- You provide, in accordance with paragraph 1.F.3, a full refund of any
     money paid for a work or a replacement copy, if a defect in the
     electronic work is discovered and reported to you within 90 days
     of receipt of the work.

- You comply with all other terms of this agreement for free
     distribution of Project Gutenberg-tm works.

1.E.9.  If you wish to charge a fee or distribute a Project Gutenberg-tm
electronic work or group of works on different terms than are set
forth in this agreement, you must obtain permission in writing from
both the Project Gutenberg Literary Archive Foundation and Michael
Hart, the owner of the Project Gutenberg-tm trademark.  Contact the
Foundation as set forth in Section 3 below.

1.F.

1.F.1.  Project Gutenberg volunteers and employees expend considerable
effort to identify, do copyright research on, transcribe and proofread
public domain works in creating the Project Gutenberg-tm
collection.  Despite these efforts, Project Gutenberg-tm electronic
works, and the medium on which they may be stored, may contain
"Defects," such as, but not limited to, incomplete, inaccurate or
corrupt data, transcription errors, a copyright or other intellectual
property infringement, a defective or damaged disk or other medium, a
computer virus, or computer codes that damage or cannot be read by
your equipment.

1.F.2.  LIMITED WARRANTY, DISCLAIMER OF DAMAGES - Except for the "Right
of Replacement or Refund" described in paragraph 1.F.3, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation, the owner of the Project
Gutenberg-tm trademark, and any other party distributing a Project
Gutenberg-tm electronic work under this agreement, disclaim all
liability to you for damages, costs and expenses, including legal
fees.  YOU AGREE THAT YOU HAVE NO REMEDIES FOR NEGLIGENCE, STRICT
LIABILITY, BREACH OF WARRANTY OR BREACH OF CONTRACT EXCEPT THOSE
PROVIDED IN PARAGRAPH 1.F.3.  YOU AGREE THAT THE FOUNDATION, THE
TRADEMARK OWNER, AND ANY DISTRIBUTOR UNDER THIS AGREEMENT WILL NOT BE
LIABLE TO YOU FOR ACTUAL, DIRECT, INDIRECT, CONSEQUENTIAL, PUNITIVE OR
INCIDENTAL DAMAGES EVEN IF YOU GIVE NOTICE OF THE POSSIBILITY OF SUCH
DAMAGE.

1.F.3.  LIMITED RIGHT OF REPLACEMENT OR REFUND - If you discover a
defect in this electronic work within 90 days of receiving it, you can
receive a refund of the money (if any) you paid for it by sending a
written explanation to the person you received the work from.  If you
received the work on a physical medium, you must return the medium with
your written explanation.  The person or entity that provided you with
the defective work may elect to provide a replacement copy in lieu of a
refund.  If you received the work electronically, the person or entity
providing it to you may choose to give you a second opportunity to
receive the work electronically in lieu of a refund.  If the second copy
is also defective, you may demand a refund in writing without further
opportunities to fix the problem.

1.F.4.  Except for the limited right of replacement or refund set forth
in paragraph 1.F.3, this work is provided to you 'AS-IS' WITH NO OTHER
WARRANTIES OF ANY KIND, EXPRESS OR IMPLIED, INCLUDING BUT NOT LIMITED TO
WARRANTIES OF MERCHANTABILITY OR FITNESS FOR ANY PURPOSE.

1.F.5.  Some states do not allow disclaimers of certain implied
warranties or the exclusion or limitation of certain types of damages.
If any disclaimer or limitation set forth in this agreement violates the
law of the state applicable to this agreement, the agreement shall be
interpreted to make the maximum disclaimer or limitation permitted by
the applicable state law.  The invalidity or unenforceability of any
provision of this agreement shall not void the remaining provisions.

1.F.6.  INDEMNITY - You agree to indemnify and hold the Foundation, the
trademark owner, any agent or employee of the Foundation, anyone
providing copies of Project Gutenberg-tm electronic works in accordance
with this agreement, and any volunteers associated with the production,
promotion and distribution of Project Gutenberg-tm electronic works,
harmless from all liability, costs and expenses, including legal fees,
that arise directly or indirectly from any of the following which you do
or cause to occur: (a) distribution of this or any Project Gutenberg-tm
work, (b) alteration, modification, or additions or deletions to any
Project Gutenberg-tm work, and (c) any Defect you cause.


Section  2.  Information about the Mission of Project Gutenberg-tm

Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
electronic works in formats readable by the widest variety of computers
including obsolete, old, middle-aged and new computers.  It exists
because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from
people in all walks of life.

Volunteers and financial support to provide volunteers with the
assistance they need, are critical to reaching Project Gutenberg-tm's
goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
remain freely available for generations to come.  In 2001, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations.
To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4
and the Foundation web page at http://www.pglaf.org.


Section 3.  Information about the Project Gutenberg Literary Archive
Foundation

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
Revenue Service.  The Foundation's EIN or federal tax identification
number is 64-6221541.  Its 501(c)(3) letter is posted at
http://pglaf.org/fundraising.  Contributions to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent
permitted by U.S. federal laws and your state's laws.

The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S.
Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered
throughout numerous locations.  Its business office is located at
809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887, email
[email protected].  Email contact links and up to date contact
information can be found at the Foundation's web site and official
page at http://pglaf.org

For additional contact information:
     Dr. Gregory B. Newby
     Chief Executive and Director
     [email protected]


Section 4.  Information about Donations to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
spread public support and donations to carry out its mission of
increasing the number of public domain and licensed works that can be
freely distributed in machine readable form accessible by the widest
array of equipment including outdated equipment.  Many small donations
($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
status with the IRS.

The Foundation is committed to complying with the laws regulating
charities and charitable donations in all 50 states of the United
States.  Compliance requirements are not uniform and it takes a
considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
with these requirements.  We do not solicit donations in locations
where we have not received written confirmation of compliance.  To
SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any
particular state visit http://pglaf.org

While we cannot and do not solicit contributions from states where we
have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
against accepting unsolicited donations from donors in such states who
approach us with offers to donate.

International donations are gratefully accepted, but we cannot make
any statements concerning tax treatment of donations received from
outside the United States.  U.S. laws alone swamp our small staff.

Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
methods and addresses.  Donations are accepted in a number of other
ways including checks, online payments and credit card donations.
To donate, please visit: http://pglaf.org/donate


Section 5.  General Information About Project Gutenberg-tm electronic
works.

Professor Michael S. Hart is the originator of the Project Gutenberg-tm
concept of a library of electronic works that could be freely shared
with anyone.  For thirty years, he produced and distributed Project
Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support.


Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S.
unless a copyright notice is included.  Thus, we do not necessarily
keep eBooks in compliance with any particular paper edition.


Most people start at our Web site which has the main PG search facility:

     http://www.gutenberg.org

This Web site includes information about Project Gutenberg-tm,
including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks.