Bagdad, Babylon, Ninive

By Sven Anders Hedin

The Project Gutenberg eBook of Bagdad Babylon Ninive
    
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Title: Bagdad Babylon Ninive


Author: Sven Anders Hedin

Release date: September 9, 2023 [eBook #71601]

Language: German

Original publication: Leipzig: F. A. Brockhaus, 1918

Credits: Peter Becker, Reiner Ruf, and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net (This file was produced from images generously made available by The Internet Archive)


*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK BAGDAD BABYLON NINIVE ***

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                     Anmerkungen zur Transkription

  Der vorliegende Text wurde anhand der Buchausgabe von 1918 so weit
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        gesperrt: +Pluszeichen+
        Antiqua:  ~Tilden~

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[Illustration]




                              Sven Hedin

                                Bagdad
                                Babylon
                                Ninive

                            [Illustration]

                    Leipzig: F. A. Brockhaus · 1918




              Copyright 1918 by F. A. Brockhaus, Leipzig.



                             Seiner Hoheit

                 Adolf Friedrich Herzog zu Mecklenburg

                           in Erinnerung an
           unvergeßliche gemeinsame Kriegsfahrten und Reisen

                     in Verehrung und Dankbarkeit

                              zugeeignet

                                                vom Verfasser.




Inhalt.

                                                                   Seite

  +Erstes Kapitel.+ Die Türkei im Weltkrieg                            1

  +Zweites Kapitel.+ Aleppo                                            8

  +Drittes Kapitel.+ Eine mißglückte Autofahrt                        18

  +Viertes Kapitel.+ Mein neuer Feldzugsplan                          36

  +Fünftes Kapitel.+ Auf den Wellen des Euphrat                       41

  +Sechstes Kapitel.+ Unter Nomaden und armenischen Flüchtlingen      52

  +Siebentes Kapitel.+ Deutsche Artillerie auf dem Wege nach Bagdad   73

  +Achtes Kapitel.+ Im Reich der Palmen                               83

  +Neuntes Kapitel.+ Mein Einzug in Bagdad                           103

  +Zehntes Kapitel.+ Bagdad einst und jetzt                          118

  +Elftes Kapitel.+ Sommertage in „Dar-es-Salaam“                    145

  +Zwölftes Kapitel.+ Zwei Deutsche: von der Goltz und Moltke        181

  +Dreizehntes Kapitel.+ Kut-el-Amara                                191

  +Vierzehntes Kapitel.+ Meine Fahrt nach Babylon                    211

  +Fünfzehntes Kapitel.+ Bibel und Babel                             234

  +Sechzehntes Kapitel.+ Die Ruinen Babylons                         247

  +Siebzehntes Kapitel.+ Eine deutsche Studierstube am Euphrat       276

  +Achtzehntes Kapitel.+ Samarra, die Hauptstadt des Kalifen
    Mutawakkil                                                       284

  +Neunzehntes Kapitel.+ Die Karawane des Herzogs                    300

  +Zwanzigstes Kapitel.+ Die Königsstadt Assur                       314

  +Einundzwanzigstes Kapitel.+ Erlebnisse auf einer Etappenstraße    327

  +Zweiundzwanzigstes Kapitel.+ Mosul                                342

  +Dreiundzwanzigstes Kapitel.+ Ninive                               364

  +Vierundzwanzigstes Kapitel.+ Die Keilschrift und die älteste
   Bibliothek der Welt                                               375

  +Fünfundzwanzigstes Kapitel.+ Über Mardin zurück nach Aleppo       385

  +Sechsundzwanzigstes Kapitel.+ Assyrien und Babylonien             401




[Illustration: Türkische Soldaten auf dem Wege nach Nesibin, Mosul und
Bagdad.]




Erstes Kapitel.

Die Türkei im Weltkriege.


  Stockholm, 7. Mai 1917.

Wer dieses Buch in der Erwartung zur Hand nimmt, eine ausführliche
Schilderung des Anteils der Türkei am Weltkrieg zu finden, wird schon,
ehe er bis Bagdad gekommen ist, enttäuscht ausrufen: Aber das ist ja
kein Kriegsbuch! Das ist ja nur eine Reisebeschreibung!

Er hat vollkommen recht. Nicht der Krieg lockte mich zu neuen
Abenteuern. Davon hatte ich an den europäischen Fronten genug gesehen.
Diesmal sehnte ich mich vor allem danach, die Weltreiche des Altertums,
Assyrien und Babylonien, und die Ergebnisse der modernen Forschung auf
diesem ehrwürdigsten Boden der Erde kennen zu lernen. Ich wollte die
altberühmten Städte sehen, die der Spaten der Archäologen jetzt aus
vieltausendjährigem Schlummer geweckt hat.

Den Leser an der überreichen Fülle meiner Eindrücke teilnehmen zu
lassen, ist die vornehmste Aufgabe dieses Buches. Bald aber wird er
merken, daß meine Reise in kriegerischer Zeit vor sich ging. Er hört
den Schritt marschierender Soldaten und sieht deutsche Batterien
in türkischen Diensten den königlichen Euphrat hinabfahren. Der
Kanonendonner von Kut-el-Amara dringt an sein Ohr, und ich kann ihm
einige Mitteilungen über den Vormarsch der Engländer in Mesopotamien
nicht ersparen. Doch diese Gegenwartsbilder ziehen nur flüchtig vorüber
vor dem machtvollen Hintergrund des Altertums.

Den Kampf der Osmanen gegen Rußland kann ein Schwede nicht aufmerksam
genug verfolgen. Denn er berührt die Zukunft seiner Heimat näher,
als viele meiner Landsleute zugeben wollen. Bisher war Rußland auch
+unser+ Erbfeind -- die nächste Zukunft wird zeigen, ob der
jetzige Umsturz den Erbfeind in einen Freund verwandelt hat. Seit Karl
XII. den Europäern die Augen für die moskowitische Gefahr öffnete
und die Vernichtung des slawischen Großstaates als das unumstößliche
politische Ziel seiner Nachbarn bezeichnete, haben Schweden und die
Türkei das gleiche Lebensinteresse gehabt. Der Sieg des einen war
auch des andern Vorteil, die Niederlage des einen auch der Schaden
des andern. Schwedens Mißgeschick gab den russischen Zaren stets die
Hände im Süden frei. Türkische Niederlagen sicherten ihnen den Rücken
vor gefährlichen Feinden, wenn sie es für angebracht hielten, ihre
Aufmerksamkeit auf unsre Grenzen zu richten.

Das Gemeinsame in den politischen Bedürfnissen Schwedens und der
Türkei hat dennoch nicht vermocht, sie zu förderlicher Zusammenarbeit
zu vereinen, nicht einmal da, wo es nur die Abwehr galt. Und doch hat
die geographische Lage beider, die die Flanken des moskowitischen
Reiches umfaßt, jedem von ihnen mit oder gegen seinen Willen eine
außerordentlich wichtige Rolle aufgezwungen. Schweden hält Rußland vom
Meere ab und sperrt seine Verbindungen mit Westeuropa. Das bisherige
Rußland -- unter dem Zepter des Zaren -- hat unser bloßes Dasein stets
als einen erstickenden Druck empfunden; die Lehren des Weltkrieges
haben diese Wahrheit nur bestätigt. Rußlands auswärtige Politik will
diese Fesseln sprengen. Andrerseits kann die künftige Sicherheit
Schwedens und der Türkei zu keinem billigeren Preise errungen werden,
als durch Verwirklichung der Pläne Karls XII.! Denn die neue
Staatsform, mit der Rußland soeben die Welt überrascht hat, gibt
keinerlei Bürgschaft für die Zukunft. Nichts könnte törichter sein, als
blind auf ihren Bestand zu vertrauen!

[Illustration: +Halil Pascha+, der Nachfolger des Feldmarschalls
von der Goltz.

Mit eigenhändiger Unterschrift.]

Die Stellung der Türkei zur westeuropäischen Frage im modernen Sinn
ergab sich, als die Moskowiter ohne historisches Recht den Weg nach
dem Bosporus und den Dardanellen einschlugen und ohne Umschweife
erklärten, ihr Ziel sei „Zarigrads (Konstantinopels) Befreiung“! Zur
selben Zeit wollte Karl XII. alle Kräfte sammeln zum gemeinsamen Kampf
gegen einen Feind, dessen Charakter und Entwicklungsmöglichkeiten er
wie kein andrer vor oder nach ihm mit prophetischem Blick durchschaute.
Vergebens aber rief er Schweden, Polen und Türken auf. Sein Plan kam
nicht zur Ausführung, nicht zum wenigsten weil westeuropäische Mächte
den Russen Helferdienste leisteten. Nach Karls XII. Tode war Schweden
wie Polen und die Türkei durch innere Zwistigkeiten geschwächt, die
Rußland und England -- damals wie jetzt in brüderlicher Eintracht --
anfachten und schürten. Polen verschwand. Schweden wurde einstweilen
durch Gustav III. gerettet. Den Türken aber öffnete der verhängnisvolle
Vertrag von Kütschük-Kainardschi (1774) die Augen über die dunklen
Pläne, die schon Zar Peter der Große im Schilde führte. Damals schon
begann der Marsch über türkische Gebiete, die dem Vordringen Rußlands
nach dem Mittelmeer im Wege lagen.

Der Plan der Entente, die Mittelmächte in dem jetzt tobenden Weltkrieg
zu zerschmettern, hat seine Wurzeln in der Balkanhalbinsel. Über
das Ziel der Russen waren die Osmanen im klaren: sie +wußten+,
daß sich England und Rußland, um ihre Absicht durchzusetzen, über
türkisches Gebiet hinweg die Hand reichen +mußten+, und daß
+alles+ aufgeboten werden sollte, sich freie Bahn zu erzwingen.
Für beide Teile handelte es sich also um einen Kampf auf Leben und Tod.
Als daher die Hohe Pforte vor der Wahl stand: Krieg oder Untergang? gab
es für sie kein Bedenken mehr. Zum erstenmal nach zweihundert Jahren
lebten Karls XII. Gedanken wieder auf, und aufs neue erhob sich das
Ziel, an das er Schwedens ganze Kraft gesetzt hatte. Diesmal waren auch
die Nachbarn im Westen auf dem Posten. Nur Karls XII. eigenes Land
fehlte in der Reihe -- vom Geist des Eisenkopfs war bei den Nachkommen
seiner Helden wenig mehr zu spüren. Immerhin wirkte Schweden durch
seine geographische Lage.

Tatsächlich +hatten+ die Türken keine andere Wahl, wenn sie
am Leben bleiben wollten. Die neutrale Türkei hätte dasselbe
tragische Schicksal getroffen wie das verfolgte, ausgehungerte,
erwürgte Griechenland, dessen einziges Verbrechen war, daß es
dem weltzerfleischenden Kampfe fernbleiben wollte. Dann hätte
Konstantinopel jetzt eine russische und englische Besatzung, wie sich
Athen der englischen und französischen erfreut.

Hätte sich der Türkei im Laufe des Weltkriegs jemals eine Spur
von Zweifel oder Ermüdung bemächtigt, so sorgte der russische
Ministerpräsident Trepow in seiner Dumarede vom 2. Dezember 1916 dafür,
daß sie aufs neue zu eisernem Widerstand zusammengeschmiedet wurde. Er
gestand nämlich, eine mit Großbritannien, Frankreich und Italien im
Jahr 1915 geschlossene Übereinkunft habe „definitiv Rußlands Recht auf
die Meerengen und auf Konstantinopel festgestellt“. Sein oder Nichtsein
stand also für die Türken auf dem Spiele.

Wer nun geglaubt hat, das neue Rußland werde auf solche
Kriegsziele verzichten, erlebte eine große Enttäuschung. Die erste
Revolutionsregierung wenigstens verharrte bei dem Anspruch auf die
Dardanellen und Konstantinopel, und der Minister des Äußeren Miljukow
übernahm in unveränderter Form den „russischen Reichsgedanken“, den
Trepow in die Worte gefaßt hatte: „Die Schlüssel zum Bosporus und zu
den Dardanellen, Olegs Schild über dem Tor Konstantinopels -- das ist
der Jahrhunderte alte innerste Traum des russischen Volkes zu allen
Zeiten seines Daseins.“

Die junge Türkei hatte also Grund genug, dem Umschwung der Dinge in
Rußland, den sie -- selbst ein Kind der Revolution -- an sich mit
Befriedigung begrüßt hatte, größtes Mißtrauen entgegen zu bringen.
Als unlängst der Großwesir Talaat Pascha der Presse seine Gedanken
darüber mitteilte, tat er das mit den wohlüberlegten Worten: „Wir sehen
indes mit Bedauern, daß der Gedanke der Revolution von aggressiven
Absichten durchaus nicht frei ist. Miljukows ‚ehrenvoller‘ Friede setzt
eine Lösung der türkischen Frage zugunsten Rußlands voraus! Ob die
russischen Liberalen diese alte Lehre von Angriff und Feindseligkeit
billigen, wissen wir nicht. Wenn aber das russische Volk das
verhängnisvolle Erbe des Zarismus als Richtschnur nimmt, dürfte es
zwecklos sein, von Frieden zu reden.“ --

Was hat im übrigen die Türkei dadurch gewonnen, daß sie
unerschütterlich den Kurs beibehielt, den sie bei Beginn des Krieges
einschlug? Nun, +sie hat ihr eigenes Dasein für eine Zeitspanne
gesichert, deren Weite wir noch nicht überblicken können+. Indem
sie die Verbindung zwischen Rußland und England verhinderte, hat
sie wirksam zum Zusammenbruch des Zarenreichs beigetragen. Rußlands
Kraft ist in Auflösung begriffen -- kein Staat kann zu gleicher
Zeit mit Erfolg Krieg führen und eine Revolution durchmachen. In
diesem ungeheuern Kampfe, der nun seinem Ende zugeht, können die
Moskowiter die Osmanen nicht mehr aufs Knie zwingen. Auch die zufällige
Überlegenheit Englands in Mesopotamien wird daran nichts ändern.
Denn die Entscheidung des Weltkriegs fällt auf den Schlachtfeldern
Europas; außerdem erzittert das englische Weltreich selbst in seinen
Grundfesten. Der Dienst, den die Türkei indirekt Deutschland geleistet
hat, muß daneben auch in Anschlag gebracht werden. Großbritanniens
Zusammenschluß mit Rußland über die Dardanellen und den Bosporus hinweg
war eine der Voraussetzungen für die Zerschmetterung Deutschlands. Bei
Gallipoli wurde +dieser+ Traum zuschanden.

Die russische Revolution verlief anders, als Englands Selbstsucht
erwartet hatte. Damit war eine der letzten Karten ausgespielt -- es
gelang England nicht wie einst im Jahre 1808, Rußland auf Kosten
anderer zu kaufen. Jetzt ist es zu spät! Die Legionen Großbritanniens
verbluten vergeblich an der deutschen Westfront, immer drohender erhebt
sich das Gespenst des Hungers aus den Wogen des Atlantischen Ozeans.
Der Sturz des russischen Zaren besiegelte Englands Mißerfolg und
entschied den Ausgang des Weltkrieges! Deutschland rechnet nicht mehr
mit den Slawen, sie sind matt gesetzt. Das Riesendrama, das schon drei
Jahre lang über die Weltbühne geht, beginnt seinen letzten Akt. Wir
haben erlebt, wie Königreiche vernichtet, Kronen in Stücke zerschlagen
und Verfassungen zerrissen wurden. Überall gärt es, auch in neutralen
Ländern, die jetzt in der Stunde der Entscheidung besser täten, ihre
Ruhe zu bewahren.

Mitten in diesem hoffnungslosen Durcheinander steht Deutschland
unerschütterlich fest, wie der Fels im aufgewühlten Meer. Die
Sturmwogen, die von allen Seiten hereinbrechen, zerschellen an seinen
Klippen zu Schaum. Habt acht! Der Vorhang rauscht zum letzten Male
empor. Hindenburg tritt auf. Dann wird die gewaltige Kampfgruppe,
die seit dem Feldzug gegen Rumänien zu einer in der Weltgeschichte
unerhörten Vollkommenheit ausgebildet wurde, ihre Ernte einbringen.
Der Krieg wird zur Ruhe gezwungen werden. +Frieden soll wieder auf
dieser gemarterten, zerfleischten, vergrämten Erde herrschen!+ Stark
und mächtig wird Deutschland der neuen Zeit entgegengehen. Dann darf
auch das osmanische Volk des Dankes gewiß sein für seine ehrenvolle
Teilnahme am Freiheitskampf der Germanen.




[Illustration: Die Grabmoschee Salhein in Aleppo.]




Zweites Kapitel.

Aleppo.


Am 15. März 1916 war ich mit Graf Wichard von Wilamowitz-Möllendorff,
dem neuernannten Militärattaché der deutschen Gesandtschaft in Persien,
von Konstantinopel abgereist. Ein Dampfer hatte uns vom Goldenen Horn
nach Haidar-Pascha an der asiatischen Küste gebracht, und in sieben
Tagen erreichten wir mit der Bahn Aleppo.

Zweimal hatten wir den Zug verlassen müssen, denn die Strecke der
Bagdadbahn bis Aleppo war noch nicht ganz ausgebaut. Zwischen Bosanti
und Gülek im Taurus war zwar schon ein gewaltiger Tunnel durchs Gebirge
gebohrt, er sollte aber erst im Herbst dem Verkehr übergeben werden.
In Bosanti hatten uns zwei deutsche Offiziere in türkischen Diensten,
Oberstleutnant Vonberg und Major Welsch, die auf dem Wege nach Bitlis
waren, ein Kriegsautomobil zur Verfügung gestellt, das uns auf steilen
und weiten, ohne Brustwehr über schwindelnden Abgründen hängenden
Zickzackwegen über die 1300 Meter ansteigenden Höhen des Taurus nach
Gülek beförderte. Auf der Talfahrt durcheilten wir die Pylae Ciliciae,
den hohlwegartigen Engpaß des Tales Tarsus-tschai, durch den Xerxes
und Darius, Cyrus der Jüngere und Alexander der Große vorrückten, und
in späteren Zeiten Harun-er-Raschid und Gottfried von Bouillon. Das
Wetter war nicht eben einladend gewesen, es wechselte anmutig zwischen
Land- und Platzregen. Dabei wimmelte die aufgeweichte und schlüpfrige
Straße von Kamelkarawanen, die Baumwolle von Adana brachten, von
Lastautos, requirierten Bauernwagen, Ochsenfuhrwerk mit Kriegsmaterial,
marschierenden Soldaten und Reitern. Am meisten bemitleideten wir
die Züge gefangener Sikhs, die von Bagdad her zu Fuß nach ihrem
Bestimmungsort in Kleinasien wandern mußten, einen Stock in der Hand,
den Brotbeutel auf dem Rücken, die Uniformen zerrissen und die Turbane
zerlumpt. Welche Qual für die Söhne des Sonnenlandes Indien, dem kalten
Regen auf den Höhen des Taurus schutzlos preisgegeben zu sein! Kleine
Gesellschaften reisender Türken mit Eseln, Kühen und -- aufgespannten
Regenschirmen boten dagegen einen lustigen Anblick.

In der Mitte zwischen Bosanti und Gülek, in dem offenen Gebiet des
Taurus, das Schamallan-han genannt wird und ringsum von spärlich
bewaldeten Bergen umgeben ist, lag eine deutsche Automobilstation, wo
man uns mit liebenswürdiger Gastfreundschaft aufnahm und eine Nacht
trefflich beherbergte. In dem welligen Kesseltal war eine ganze Stadt
emporgewachsen von gelben, grauen und schwarzen Zelten oft riesiger
Ausdehnung, Schuppen und Reparaturwerkstätten. Mannschaftsbaracken
und Offizierszelten. Deutsche und türkische Flaggen wehten darüber.
Von Gülek aus hatten wir Tarsus besucht, den Geburtsort des Apostels
Paulus, ein sehr langweiliges Städtchen.

Zwischen Mamure und Islahije waren die Tunnel ebenfalls schon
fertig, aber nur eine Feldbahn führte hindurch. Diese Strecke über
den Amanus und durch das 300 Meter breite, zwischen Basaltklippen
sich öffnende Amanische Tor, durch das einst König Darius zog, um
seinem Gegner Alexander in den Rücken zu fallen, mußten wir auf der
Landstraße in einem „Jaile“ zurücklegen, einem hohen, überdeckten,
kremserähnlichen Fuhrwerk, das Wilamowitz „Leichenwagen“ taufte,
als ob er geahnt hätte, daß er von seiner Reise nach Persien nicht
mehr zurückkehren werde. Man sitzt nicht, sondern liegt in dieser
merkwürdigen Fahrgelegenheit, polstert sich den Boden so gut wie
möglich mit Stroh und nachgiebigem Gepäck aus und freut sich, wenn das
„gerüttelt Maß“ nicht allzureichlich ausfällt. Für mich war diese Fahrt
noch dadurch besonders denkwürdig, daß auf ihr meine wohlversorgte
große Proviantkiste aus Konstantinopel spurlos verschwand. Das immer
trostloser werdende Regenwetter hatte uns schließlich gezwungen, in
einem elenden Krug zu Islahije bei einem griechischen Wirt Georgios
Vassili ein etwas romantisches Nachtlager zu bestehen, und schließlich
hatte uns ein Pferdetransportzug in einem Viehwagen um 1 Uhr nachts
glücklich nach Aleppo gebracht.

Hier sollte ich nun abwarten, was das Oberkommando der türkischen Armee
über mein weiteres Schicksal beschließen würde. Minister Enver Pascha
hatte mir die Erlaubnis zur Reise durch Kleinasien bis nach Bagdad
nur unter der Bedingung erteilt, daß Feldmarschall von der Goltz, der
von Bagdad aus die 6. Armee befehligte, keine Bedenken dagegen habe;
er allein wollte die Verantwortung für meine Sicherheit nicht auf
sich nehmen, da wilde Beduinenhorden die Wege unsicher machten. Das
endgültige Ergebnis des Depeschenwechsels zwischen Konstantinopel und
Bagdad sollte mir in Aleppo gemeldet werden.

Aleppo, das Haleb der Araber, nach Smyrna und Damaskus die größte Stadt
Vorderasiens, ist Hauptstadt eines Wilajets, eines Gouvernements, das
das ganze nördliche Syrien umfaßt und im Osten vom Euphrat begrenzt
wird. Die Einwohnerzahl soll 200 bis 250000 betragen; davon sind
zwei Drittel Mohammedaner, 25000 Armenier, 15000 Juden, ebensoviele
Griechen, die übrigen Lateiner, Maroniten und unierte Syrer. In der
Altstadt herrscht noch der arabische Stil vor, der nach der Straße
zu nur öde Mauern zeigt. Doch finden sich auch dort schon solide
Steinhäuser mit Erkern, Balkonen und eingebauten Altanen, und die neuen
Stadtteile an der Peripherie haben eine fast europäische Bauart. Mit
ihrem unaufhörlich hin- und herwogenden orientalischen Verkehr bieten
Aleppos Straßen wundervolle Bilder; noch lieber aber verirrt man sich
in die dunkeln Labyrinthe der Basare, deren kleine, enge Kaufläden
mit Teppichen und Stickereien, Gold und Silberschmuck, Pantoffeln und
Lederwaren und all dem Kram angefüllt sind, der von Europa eingeführt
wird.

[Illustration: Graf Wichard von Wilamowitz-Möllendorf.]

Der Krieg hatte zwar den Handel ziemlich lahm gelegt; der Han Wesir,
ein Gebäude aus dem 13. Jahrhundert, war fast leer geräumt. Dennoch
herrschte in den Basaren noch immer lebhafter Betrieb. Selbst
französische Weine, Konserven, Lichte usw. konnte man kaufen, da die
Vorräte der Küstenstädte noch nicht erschöpft waren, so daß ich meine
verschwundene Proviantkiste leicht ersetzen konnte. Manche Artikel aber
stiegen unerhört im Wert. Für Petroleum forderte man das Zwanzigfache
des Friedenspreises, und das türkische Papiergeld stand tief im Kurs:
in Konstantinopel galt ein türkisches Pfund 108 Piaster, in Aleppo nur
90, in Jerusalem sogar, wie man mir versicherte, nur 73 (ein Piaster
hat einen Wert von etwa 18 Pfennig). In manchen Gegenden weigerte sich
die Landbevölkerung überhaupt Papiergeld anzunehmen; ich hatte mich
glücklicherweise in Konstantinopel mit einer größeren Summe in Gold und
Silber versehen.

In der Mitte der Stadt erhebt sich die Zitadelle auf einer uralten,
wahrscheinlich künstlich geschaffenen Anhöhe. Vom Rundgang des
Minaretts dort oben hat man eine wundervolle Aussicht über das
Häusermeer der Stadt mit seinem sparsamen Grün und die Straßen, die
wie die Speichen eines Rades von diesem Mittelpunkt ausgehen, auf das
weite, hügelige, graugelbe Gelände und das Tal des Kuwekflusses, wo
Platanen, Silberpappeln, Walnußbäume, Oliven und vor allem Pistazien in
den Gärten grünen.

Aleppos Hauptsehenswürdigkeit ist die „große Moschee“ Dschami-kebir
oder Dschami-Sakarija. Sie hat ihren Namen vom Vater Johannes des
Täufers, Zacharias, dessen Grab im Innern hinter vergoldetem Gitter
gezeigt wird, und wurde von den Omaijaden an einer Stelle errichtet,
wo vordem eine von der Kaiserin Helena gestiftete christliche Kirche
stand. Ihr gegenüber erhebt sich die Dschami-el-Halawije, die ebenfalls
ein Abkömmling einer von der Kaiserin Helena erbauten Kirche sein
soll. Ihr Inneres zieren Pilaster und Chornischen mit Akanthusmotiven
und ein „Maschrab“, eine Gebetsnische, von künstlerischem Wert. Vor
der Stadt liegt die vornehme Begräbnisstätte Ferdus mit zahlreichen
Heiligengräbern und den charakteristischen Grabsteinen: immer zwei
aufrecht stehend als Sinnbilder des Lebens, dazwischen ein liegender
als Sinnbild des Todes. Die Ecken des liegenden Steins haben
schalenförmige Vertiefungen: darin sammelt sich das Regenwasser, und
die Vögel kommen, um zu trinken und den Schlaf der Toten mit ihrem
Gesang zu versüßen. Als ich den Friedhof besuchte, küßte eine alte
Türkin weinend die Steine der Heiligengräber, um, wie sie sagte, Schutz
zu erflehen für ihren Sohn, der an der Front gegen die Russen kämpfte.

Eine andere, teilweise verfallene Grabmoschee trägt den Namen Salhein.
Über ihren Denkmälern erhebt sich ein sehr hübsches Minarett.

[Illustration: Arabischer Junge in Aleppo.]

Vor der Stadt liegt auch die Moschee Scheik-ul-Hussein; ihre
Gebetsnische birgt einen Stein, der nach der Versicherung
Rechtgläubiger alljährlich am 10. Oktober, dem Todestage des
schiitischen Heiligen Hussein, blutet. Nördlich von Aleppo träumt
zwischen Anhöhen das Derwischkloster Scheik Abu Bekr, eine viereckige
Halle unter einer Kuppel, im Innern ausgestattet mit prächtigen
Skulpturen und Fayencen; zahlreiche große Fenster werfen helles
Licht auf die Farbenpracht der Kunstwerke. Im Hof spiegeln Zypressen
ihr ewiges Grün in einem klaren Wasserbecken; daneben schlummert
unter einem von Kletterpflanzen umsponnenen Grabmal eine Prinzessin.
Hier hausen die betenden Derwische von der Brüderschaft der
Mutevelli-Derwische, deren Hauptsitz Konia ist. Auch die tanzenden
Derwische haben in Aleppo ein Haus.

Vor dem Krieg war in Aleppo eine deutsche Kolonie von ungefähr 300
Köpfen. Jetzt war ihre Anzahl bedeutend gesunken. Von den beiden
deutschen Schulen war die katholische vor vier Jahren gegründet und
in einem vornehmen, hundertundfünfzig Jahre alten arabischen Hause
untergebracht; sie beschäftigte sechzehn Lehrer und acht Borromäerinnen
(barmherzige Schwestern) und hatte zur Zeit meines Besuches 220
Schüler, die nur deshalb ein geringes Schulgeld zahlen mußten, weil
sonst der Unterricht nicht als etwas Erstrebenswertes gegolten
hätte. Im ganzen sollen 400 Borromäerinnen an den verschiedenen
Fronten stehen. Die protestantische, noch jüngere Schule wird von 110
türkischen, deutschen, jüdischen und armenischen Mädchen besucht; sie
gehört den Kaiserswerther Diakonissen, die auch in Smyrna, Beirut
und Jerusalem Schulen und in Konstantinopel ein großes Krankenhaus
eingerichtet haben. Aus Kairo und Alexandria wurden sie während des
Krieges vertrieben. Andere Lehranstalten in Aleppo stehen unter der
Leitung der Franziskaner und Jesuiten, der Sacré-Coeur- und St.
Josephsschwestern.

Das gesellige Leben der Deutschen hat seinen Mittelpunkt im Hause
des Herrn Koch, dessen Gattin als Schwester Martha mir zuerst bei
Feldmarschall von der Goltz begegnete, als er noch Generalgouverneur
in Brüssel war. Ihr gastliches Heim, das sich seit dreißig Jahren so
manchem Reisenden aufgetan hat, wurde auch mir jetzt eine Freistätte,
und hier im Kochschen Hause entschied sich mein nächstes Reiseschicksal.

Einige Tage nach meiner Ankunft in Aleppo brachte mir der Adjutant
Neschad Paschas, des dortigen Etappeninspektors, den Bescheid Enver
Paschas, ich könne nach Bagdad reisen und wohin ich sonst wolle. Ich
hatte nur den Weg zu wählen. Aber eben darin lag die Schwierigkeit.
Eine gewisse Vorsicht war durch die kriegerischen Ereignisse auf jeden
Fall geboten. Schon in Konstantinopel hatte ich gehört, die Russen
seien in Persien ziemlich stark. Kirmanschah hatten sie genommen.
Bagdad war also nicht mehr weit. Im Norden war Erserum gefallen, und
wenn es dem Großfürsten Nikolai gelang, nach Diarbekr vorzustoßen, und
die Engländer, die sich allerdings bei den Dardanellen blutige Köpfe
geholt hatten, etwa eine Landung im Golf von Alexandrette erzwangen,
um sich mit den Russen zu vereinen, schlugen die Wellen des Krieges
rettungslos hinter mir zusammen. Andererseits hatte uns schon auf der
Fahrt nach Aleppo ein Eisenbahningenieur, ein Kroate, versichert,
Bagdad sei von den Engländern besetzt; das war natürlich leeres Gerede,
denn dann hätte der Feldmarschall auf dem Rückzug nach Westen sein
müssen. Enver Paschas Telegramm strafte all diese Etappengerüchte
Lügen. In Islahije schließlich hatte es geheißen, die Russen kämen
Mosul immer näher. Ob ich überhaupt Bagdad erreichen würde, erschien
also immerhin etwas unsicher, und doppelt unsicher war ich daher
über den Weg, den ich einzuschlagen hatte. Mein Reisekamerad Graf
Wilamowitz sollte eine Trainkolonne den Euphrat entlang führen; ihm
und dem Obersten von Gleich, dem neuen Stabschef bei von der Goltz,
konnte ich mich auf ihrem 800 Kilometer langen Ritt anschließen. Aber
es gibt nichts Einförmigeres als die ewigen Wüsten an den Ufern des
Euphrat. Da war es doch reizvoller, über Nesibin nach Mosul zu fahren,
die Ruinen von Ninive zu sehen, von dort auf einem „Kellek“, einem
Floß, den Tigris hinabzutreiben und die Altertümer von Nimrud und
Assur zu besuchen. Freilich machten die Schammarbeduinen, die wegen
ihrer Überfälle berüchtigt sind, den Weg bis Mosul unratsam, wenn
ich nur auf den Schutz meines Kutschers angewiesen blieb. Auch waren
die Nebenflüsse des Euphrat, die vom Armenischen Gebirge herkommen,
zu reißenden Strömen angeschwollen. Aber die eigentliche Regenzeit
war ja schon vorüber; in ein paar trocknen Tagen mußten sie wieder
fallen. Ich beschloß also, meinem alten Glück zu vertrauen und mich von
Aleppo aus gleich ostwärts zu wenden. Frau Koch hatte bereits einen
„Arabatschi“, einen Hauderer, gefunden, der mir für 30 türkische Pfund
(555 Mark) eine Viktoria und einen Jaile vermieten wollte, und ich
beriet gerade mit dem deutschen Etappenkommandanten Rittmeister von
Abel, Direktor Hasenfratz und Inspektor Helfiger von der Bagdadbahn
und andern deutschen Freunden, wie Wagen und acht Pferde mit der Bahn
nach Ras-el-Ain befördert werden könnten, als zwei junge deutsche
Offiziere in türkischen Diensten ins Zimmer traten. Der eine von
ihnen, Major Reith, hatte als Chef einer Automobilkolonne den Auftrag,
die Verkehrsmöglichkeiten auf der Straße zwischen Ras-el-Ain und Mosul
zu untersuchen, der andere, sein Bruder, sollte ihn als Arzt begleiten.
Major Reith hatte kaum von unsern Beratungen gehört, als er rief: „Aber
warum so viel Zeit und Geld verschwenden? Kommen Sie mit mir! Ich habe
reichlich Platz für Sie und auch für Ihr Gepäck, und in drei Tagen sind
wir in Mosul!“

Diesem verführerischen Vorschlag zu widerstehen, wäre übermenschlich
gewesen. Eine günstigere Gelegenheit konnte sich mir ja gar nicht
bieten. Also auf nach Mosul!




[Illustration: Pferdebeförderung über den Dschirdschib.]




Drittes Kapitel.

Eine mißglückte Autofahrt.


Meine bisherigen Reisekameraden waren bereits aufgebrochen: Graf
Wilamowitz mit Oberst von Gleich den Euphrat entlang, Vonberg und
Welsch nach Ras-el-Ain, wo sie drei Tage auf Pferde und Wagen für die
Fahrt nach Bitlis warten mußten, so daß ich ihnen am nächsten Tag noch
einmal begegnete. Major Welsch sah ich einige Monate später wieder;
Oberstleutnant Vonberg aber sollte von Bitlis nicht mehr zurückkehren:
er starb dort am Flecktyphus.

Am 28. März schlug auch für uns die Stunde des Aufbruchs. Das Wetter
war herrlich geworden, für unsere Autofahrt nach Mosul mußten die
Straßen ausgezeichnet sein. Major Reiths fünf Automobile, zwei
Personen- und drei Lastwagen, wurden auf offenen Loren verladen, und
am Vormittag setzte sich unsre Kolonne mit neun Chauffeuren und einem
türkischen Dolmetscher in Bewegung. Die Lastautos enthielten reichliche
Vorräte an Benzin und Öl, Ersatzteile, Gummiringe, Werkzeug, Spaten,
Zelte, Tische, Stühle, Betten und Proviant.

Zuerst brachte uns die Bahn nach Muslimije zurück. Dann wandte sie
sich nach Osten durch wenig bebautes Land, wo nur hier und da die
zusammengedrängten Kuppeldächer eines Dörfchens sichtbar wurden. Diese
bienenstockartigen Hütten aus an der Sonne getrocknetem Lehm finden
sich überall da, wo anderes Baumaterial, Holz oder Stein, fehlt. Weiter
entfernt von der Bahnstrecke, wo Kalkstein zu Tage tritt, sind auch
die Dorfhäuschen aus Stein und ihre Dächer flach. Fast ohne Ausnahme
liegt auch die kleinste dieser Ansiedelungen auf dem Abhang oder am
Fuß eines „Tell“, einer nackten Anhöhe, deren durchweg regelmäßige,
flach konische Form aus dem ebenen Gelände einsam hervorragt. Solch
ein Tell birgt die Geschichte des betreffenden Dorfes; er reicht bis
in die Morgendämmerung der assyrischen und hethitischen Zeit zurück,
beginnt vielleicht vor den frühesten menschlichen Urkunden und war auf
alle Fälle schon uralt, als mazedonische Hopliten und Hypaspisten,
die schweren Fußtruppen und leichter beweglichen Schildträger, durch
diese Gegenden vorrückten. Eine Quelle, ein Bach oder auch nur die Nähe
von Grundwasser reizten zur Ansiedelung, die dann durch Jahrtausende
fortgelebt hat. Alte Häuser stürzten ein; Schutt und Unrat häuften sich
auf; aber die nachkommenden Geschlechter bauten auf demselben Platze
weiter, und so wuchs der Tell schichtweise zu einem Hügel empor.

Um die Dörfer herum breiten sich Äcker aus, auf denen die Fellachen,
die festansässigen Bauern, mit Ochsen pflügen, und Frauen und Kinder
in buntzerfetzter Kleidung unserem Zuge offenen Mundes nachschauen.
Sonst ist der weiche rote Erdboden gewöhnlich mit Gras und Kräutern
bewachsen, und seine Einförmigkeit wird nur selten durch eine wandernde
Kamelkarawane unterbrochen. Neben der Eisenbahn wirken die prächtigen
Tiere wie Anachronismen. Wie gut, daß es noch Gegenden gibt, wo die
Menschen ohne das „Schiff der Wüste“ verloren wären!

Die Stationsgebäude sind feste Blockhäuser. Auf dem Bahnsteig von
Akdsche-Kojunli wartet eine Kompagnie Rekruten auf ihren Zug. Der Ort
liegt am Sadschur, einem Nebenfluß des Euphrat, und sein trübes Wasser
verrät, daß in seinem Quellgebiet Regen gefallen ist. Ein bedenkliches
Vorzeichen! Fern im Norden leuchten die Gebirge Armeniens, die zum
Taurus gehören, unter ihrer Schneedecke.

Am Nachmittag stiegen wir in Dscherablus am Euphrat aus.

Hier begrüßten uns der türkische Etappeninspektor des Flußweges, Oberst
Nuri Bei, und Kapitänleutnant von Mücke, der berühmte Kommandant der
„Ayesha“, jetzt Chef der Euphratfluß-Abteilung, die nicht weit vom
Bahnhof am Ufer große Werften und Werkstätten angelegt hat. Eine kleine
Stadt von deutschen und türkischen Häusern war hier erstanden, und
auf der Werft waren deutsche Matrosen beim Bau gewaltiger Boote von
12 Meter Länge, 4 Meter Breite und einer Tragkraft von 25 Tonnen; sie
sollten Kriegsmaterial den Euphrat abwärts nach Risvanije bringen,
von wo eine Feldbahn es nach Bagdad schaffte. Die türkische Werft
liegt 25 Kilometer weiter flußaufwärts in Biredschik. Dort baut man
seit alter Zeit Euphratboote, sogenannte Schahtur, die 6 Meter lang
und 2½ Meter breit sind und auf dem Wasser gewöhnlich paarweise
zusammengebunden werden. Das Holz liefern die Gebirgsgegenden oberhalb
Biredschik. Flußabwärts ist Holz sehr selten; was an solchen Booten
oder Fähren dort hinunter kommt, wird daher gewöhnlich an seinem
Bestimmungsort verkauft. Kapitänleutnant von Mücke wollte aber
versuchen, die zahllosen Boote, die von Dscherablus ausgingen, zu
retten, indem er sie durch deutsche Lotsen mit Motorbooten wieder
an ihren Ausgangspunkt zurückbefördern ließ. Die ganze Stromstrecke
bis Feludscha beträgt über 1000 Kilometer, ein einzelner Lotse kann
sich daher nicht mit ihr vertraut machen. Deshalb sollte sie in zehn
Teilstrecken zerlegt und im Herbst eine genaue Karte des ganzen
Stromlaufs hergestellt werden, denn dann ist die Schiffahrt am
schwierigsten. Jetzt war der Strom im Steigen, aber der Wasserstand
wechselte; am 28. März war er schon fast einen Meter höher gewesen als
jetzt; nach der bevorstehenden Schneeschmelze erwartete man, daß er
wieder um anderthalb Meter steigen werde. Ein während des Hochwassers
aufgenommenes Kartenbild würde leicht irreführen, da alle Untiefen,
Sandbänke und Riffe dann überschwemmt sind und die Wassermenge bei
niedrigem Wasserstand sich zu dem bei Hochwasser verhält wie 1 : 12.
Obendrein sollten an den Ufern Signale angebracht werden mit Angaben
über den Verlauf der tiefen Stromrinne und über alles, was der
Euphratschiffer wissen muß.

Gleich oberhalb der Werft liegen die Ruinen einer uralten Stadt, die
George Smith 1876 entdeckt hat. Auf einer Reise durch Syrien und
Mesopotamien im Jahre 1879/80 kam auch Professor Sachau aus Berlin nach
Dscherablus -- er nennt es Dscherâbîs --, dem Europus der Römer, dem
alten Karkemisch, mit dessen Namen die Erinnerung an einen glänzenden
Sieg verknüpft ist. Hier schlug Nebukadnezar im Jahr 605 v. Chr., ein
Jahr nach Ninives Fall und ein Jahr vor seiner Thronbesteigung, den
Pharao Necho. Dieses Ereignisses gedenkt auch die Bibel; zum Propheten
Jeremias geschah das Wort des Herrn: „Wider Ägypten. Wider das Heer
Pharao Nechos, des Königs in Ägypten, welches lag am Wasser Euphrat zu
Karchemis, das der König zu Babel, Nebukadnezar, schlug im vierten Jahr
Jojakims, des Sohnes Josias, des Königs in Juda.“

Als Sachau in Dscherablus eintraf, hatte der englische Konsul
Henderson in Aleppo gerade seine Ausgrabungen begonnen. Sie deckten
zwei Kulturperioden auf: die uralte hethitische mit künstlerisch
ausgeführten Reliefs, breiten Treppen und massiven Häusern, und die
römische. Noch bei Ausbruch des Weltkrieges waren englische Archäologen
hier an der Arbeit gewesen. Jetzt stand ihr Wohnhaus leer, ihre Betten
waren requiriert. Funde und Sammlungen hatte die türkische Regierung
versiegeln lassen, damit sich niemand daran vergreife. Durch einen
Spalt in der Holztüre sah ich Skulpturen, Vasen usw. auf Regalen und
auf dem Boden aufgestellt. Von den größeren Skulpturen draußen auf dem
Hof sind, fürchte ich, einige durch die Beduinen beschädigt worden.
Seit Dscherablus ein so wichtiger Punkt auf der Etappenstraße nach
Bagdad geworden ist, haben Türken und Deutsche die strengsten Maßnahmen
zum Schutz der ausgegrabenen Altertümer getroffen. Das Ruinenfeld war
auch in bestem Zustand. Da standen in langen Reihen die aus der Erde
gegrabenen mächtigen Steinplatten, geschmückt mit Löwen und Greifen
und den Bildern assyrischer Könige. Ein etwa einen Meter langer
geflügelter Löwe trug außer seinem eigenen Kopf noch den eines Mannes
mit eigentümlicher Zipfelmütze oder Krone. Die Grundmauern alter Häuser
traten deutlich hervor, oft auch die Einteilung der Räume.

Oberhalb dieses Ruinenfeldes erhebt sich ein Hügel mit Spuren einer
Akropolis, und von hier aus bietet sich eine herrliche Fernsicht.
Flußabwärts verliert man den Euphrat zwischen seinen ziemlich hohen
Ufern bald aus den Augen. Unmittelbar unter uns springt die Brücke der
Bagdadbahn von Ufer zu Ufer, und weiterhin liegt eine Flottille von
Kähnen, die mit dem erwarteten Schneewasser in wärmere Gegenden fahren
soll.

Als die Dunkelheit unsern Studien im Freien ein Ziel setzte,
versammelten wir uns an Kapitänleutnant von Mückes Tisch in der
Offiziersmesse. Hier berichtete nun der Held der „Ayesha“, ein
glänzender Vertreter des Offizierkorps der deutschen Marine, selbst
über seine märchenhaften Abenteuer, wie er auf der nördlichsten
Kokosinsel von der „Emden“ an Land ging, mit seinem kleinen Schoner
über den Indischen Ozean das Rote Meer erreichte und sich in blutigen
Kämpfen mit Araberstämmen durchschlug, bis der Weg nach Konstantinopel
frei war.

Auch hier in Dscherablus gingen allerhand Etappengerüchte um, die
befürchten ließen, daß sich die Russen von Norden her näherten. Teile
einer türkischen Division waren auf dem Marsch nach Mosul, also auf
dem Wege, den wir morgen mit dem Auto einschlagen sollten, überfallen
worden; offenbar hatten die Russen die Eingeborenen aufgewiegelt,
um den Verkehr auf der Etappenstraße zu stören. Die Türken hatten
natürlich die Kurden in die Flucht gejagt. Aber war die Straße nun
wieder frei?

Die Antwort auf diese Frage gab ein Telegramm aus Kut-el-Amara, das
mir in diesem Augenblick ein Matrose überbrachte: „Habe bereits Großes
Hauptquartier benachrichtigt, daß keinerlei Bedenken gegen Ihre
Herreise vorliegen. Freue mich sehr, Sie wiederzusehen. Goltz.“

Wenn der Feldmarschall „keinerlei Bedenken“ hatte, mußten mir auch die
bedrohlichsten Etappengerüchte gleichgültig sein.

Spät am Abend begleitete uns Kapitänleutnant von Mücke zum Bahnhof.
Unsere Automobile waren schon nach Ras-el-Ain vorausbefördert, um sich
dort reisefertig zu machen; am andern Morgen sollten wir wieder zu
ihnen stoßen.

Gegen Mitternacht rollte unser Zug langsam nach Osten der 950 Meter
langen Euphratbrücke zu, die mit zehn eisernen Bogen auf neun
Steinpfeilern das gewaltige Flußbett überspannt. Die Nacht war
sternenhell. Vor ihren Blockhäusern standen die Bahnwärter mit bunten
Laternen unbeweglich wie Statuen. Bald begannen Räder und Schienen zu
singen und zu donnern, die Brücke war erreicht, und im matten Schein
der Sterne breitete der majestätische Strom seinen weiten Spiegel zu
unsern Füßen aus. Dann stieg die Geschwindigkeit; die Bahn lief am Fuß
von Anhöhen entlang und kletterte zwischen ihnen mit merkbarer Steigung
auf das öde, einförmige Flachland zwischen Euphrat und Tigris hinauf.

Als ich am Morgen erwachte, waren wir schon fast am Ziel. Weit bis
zum Horizont dehnte sich das Land eben wie eine Tischplatte oder doch
nur ganz schwach gewellt. Hier und da verstreut zeigten sich schwarze
Nomadenzelte und trieben Hirten ihre Herden auf die grüne Steppe. Der
Himmel strahlte in sonniger Klarheit, der Tag versprach heiß zu werden;
nur im Norden schwebten über den Bergen weiße Wolken, und weit im Süden
stand der Dschebel (Bergrücken) Abd-el-Asis da wie ein hellblauer
Schild. Wir überschritten einen kleinen Flußarm und waren im nächsten
Augenblick in Ras-el-Ain.

Die fünf Autos warteten in Ras-el-Ain schon auf uns, und Major Reith
brannte darauf, seinen Auftrag so schnell wie möglich auszuführen. In
der türkischen Etappenkommandantur versicherte man uns obendrein, die
Wege seien gut und trocken und die beiden Arme des Dschirdschib, die
wir einige Kilometer östlich von Ras-el-Ain zu passieren hatten, jetzt
ganz schmal. Also los!

Das ganze elende Dorf war auf den Beinen, als unsre Kolonne zur Abfahrt
bereit stand. Vorauf die beiden Personenwagen, der erste ein Benz, von
Major Reith selbst gelenkt, mit ~Dr.~ Reith, einem Chauffeur und
mir als Passagieren; hinterdrein die drei Lastautos. ¾10 Uhr setzten
wir uns in Bewegung. Die Straße hätte nicht besser sein können, das
Gelände war eben oder ging in sehr flachen Wellen, und nach 17 Minuten
waren wir schon am ersten Arm des Dschirdschib. Die Furt war ein paar
hundert Meter nördlich von der Straße. Die Personenwagen brausten
schäumend durch das Wasser und waren bald wieder auf dem Trocknen, aber
die Lastautos fuhren auf der steilen, linken Uferterrasse fest, und es
kostete unsere vereinten Anstrengungen, sie wieder freizumachen.

Nun bogen wir vom Damm der Bagdadbahn allmählich nach links ab,
den Telegraphenstangen nach, die unsere einsame Straße verfolgten.
Wir überholten einen Wanderer, einen Jaile und eine Karawane von
Mauleseln. Sonst sahen wir an Lebewesen nur in einiger Entfernung einen
Wolf, dem der Major vergeblich ein paar Kugeln nachschickte.

Schon nach 22 Minuten hatten wir auch den zweiten Flußarm des
Dschirdschib erreicht. Er führte kaum drei Kubikmeter Wasser, sein Bett
war hart und voller Kies, und die Uferböschung flach. Dieses Hindernis
wurde also ohne Schwierigkeit genommen. Als wir dann aber in einen
Hohlweg mit weichem Boden gerieten, fuhr ein Lastauto so gründlich
fest, daß wir mit Spaten und Hebeln drei Stunden schwer zu arbeiten
hatten.

In nordöstlicher Richtung ging es weiter, dem Gebirge von Mardin
entgegen. Wie ein breites gelbrotes Band zog sich die Straße in
leichten Krümmungen durch die grüne Steppe. Lerchen, Wildgänse, Falken
und Geier beherrschten die Luft; auf der Erde sah man nur zahllose
Löcher von Feldmäusen und hier und da die Reste eines gefallenen Kamels
oder Maulesels. Ein türkischer Offizier, der uns auf seinem Jaile
begegnete, berichtete uns, der Weg vor uns sei gut; zwei schwierige
Stellen habe man ausgebessert, da Enver Pascha in Bagdad erwartet
werde. Bei dem Dorfe Arade rasteten drei deutsche Soldaten, die vor
einem Monat aus Bagdad aufgebrochen waren; dort sei es, versicherten
sie, schon damals bedeutend wärmer gewesen als jetzt hier bei Arade.

Beim nächsten Dorf -- Bunas mit Namen -- standen mehrere Zelte,
deren Bewohner ihre Rinder- und Schafherden zusammentrieben. Hier
lebten Fellachen, Ackerbauer, und Beduinen, Nomaden, durcheinander,
die eintönige Steppe wurde daher nicht selten durch bestelltes Feld
unterbrochen. Die Dörfler starrten verwundert unsren vorbeisausenden
Autos nach, von denen das erste die türkische -- weißer Halbmond und
Stern in rotem Feld --, das zweite die deutsche, schwarzweißrote Flagge
führte.

Schon legte sich Abendstimmung über die Landschaft. Die Sonne verbarg
sich hinter den Wolken. Einige Araber zu Pferde zeigten uns den Weg,
der fast geradeaus nach Norden führte, wo die Berge von Mardin immer
schärfer hervortraten. In dem Dorf Abd-el-Imam zeigten sich prächtige
Gestalten, besonders Frauen in roten Trachten, zwischen den Hütten.
Schließlich kamen wir über eine kleine neuerbaute Steinbrücke, eine
seltsame Erscheinung in dieser Gegend, und an einem Tell ohne Dorf
vorüber und bogen ¼7 Uhr etwa 50 Meter seitwärts von der Straße ab.
Hier sollte unser erstes Nachtquartier auf dem Wege nach Mosul sein.

In militärischer Ordnung wurde unser Lager aufgeschlagen. Unsere Wagen-
und Zeltburg -- links die drei Lastautos, rechts die Personenwagen,
vorn zwei Zelte und hinten die offene vierte Seite nach der Wüste zu
-- bildete einen kleinen Hof, in dessen Mitte bald ein Feuer brannte.
Mit dem Dolmetsch Gabes waren wir insgesamt zwölf Mann. Im Handumdrehen
waren die beiden Offizierzelte aufgerichtet, die Betten fertiggemacht,
die Zeltstühle um eine Kiste gestellt, Büchsenkonserven, Suppe, Fleisch
und Gemüse, gekocht, und bald saßen wir beim Schein einer Karbidlampe
um unsern Abendbrottisch, während die Mannschaft es sich in malerischen
Gruppen am Lagerfeuer bequem machte. Dann wurde die Lampe ausgelöscht,
die Zigaretten angezündet, und wir lauschten noch eine Weile den
frischen Gesängen der Chauffeure.

Am 30. März waren wir schon um ½6 Uhr zum Aufbruch fertig. Da erhob
sich plötzlich aus Nordwest ein rasender Sturm, und kalter Regen
peitschte die Steppe. Heraus mit den Regenmänteln! Und nun vorwärts
zum Aufmarsch der Kolonne auf der Straße! Das erste Lastauto zog an,
aber der Erdboden war bereits so feucht, daß die Räder nicht recht
faßten. Noch einmal losgekurbelt! Man hörte ein betäubendes Knattern
und Schleifen -- und plötzlich stand die Maschinerie still. Die
Chauffeure sprangen herunter, und eine kurze Untersuchung ergab als
Resultat: das Auto ist ein Wrack, die nötigen Ersatzteile können nur
aus Scham-allan-han am Taurus beschafft werden -- und das kann ein paar
Wochen dauern!

Nun kam das zweite an die Reihe. Es fuhr an, ratterte und krachte --
und dann stopp! Genau derselbe Schaden wie beim ersten! Auch dieser
Wagen war also erledigt. Der Major biß die Zähne zusammen über dies
Mißgeschick; aber nur nicht den Mut verlieren! Umladen, und dann mit
dem Rest der Kolonne weiter!

Das dritte Lastauto wurde bis an die Grenze seiner Leistungsfähigkeit,
die drei Tonnen betrug, beladen; genügenden Vorrat an Benzin, Proviant,
Öl und Wasser mußten wir mitnehmen, außerdem Betten, Kleider, Zelte
und anderes. Die beiden Wracks blieben fast mit ihrer ganzen Last
zurück. Darunter befanden sich mein Zelt, meine Proviantkiste und mein
Primuskocher mit Kessel. Drei Chauffeure, Conrad, Buge und Lopata, und
der türkische Dolmetsch Gabes sollten das unfreiwillige Depot bewachen
und auf Ersatzteile warten. Waffen, Geld und Proviant hatten sie genug.

Gegen 1 Uhr war endlich alles fertig, und nachdem wir noch eine
gründliche Regendusche von Nordwesten her erhalten hatten, fuhren wir
los. Bei Tell-Ermen, einem großen Dorf mit Trümmern von Kirchen und
Moscheen, kamen wir auf die alte Straße von Urfa nach Nesibin, den
Heerweg Alexanders des Großen. Nordwärts führte ein anderer Weg über
Mardin nach Diarbekr und Bitlis. Schon trat Mardin auf dem Gipfel
eines Bergrückens immer deutlicher hervor. Aber wir kamen nur langsam
vorwärts. Der nasse Erdboden klebte an den Rädern und bildete weiche
Ringe von rotem, plastischem Lehm. Bei dem Dorfe Deguk am Westufer
eines kleinen Flußbettes mußten wir die ganze männliche Bevölkerung
aufbieten, um die Wagen das ziemlich steile Ostufer hinaufzuschieben.

Es regnete nicht mehr. Wenn wir nur erst an Nesibin vorüber und von
dem Gebirge fort wären, wo die Niederschläge am stärksten sind! Dann
wird sich das Wetter wahrscheinlich aufhellen. Aber bis dahin geht es
noch entsetzlich langsam! Das Benzauto fährt voraus, muß aber immer
wieder auf das Lastauto warten, das schnaufend herankommt; man hört,
wie der Motor sich aufs äußerste anstrengt. Wir lassen es ein Stück
voranfahren, folgen ihm, haben es bald überholt und warten wieder.
So geht es in einem fort, bis wir endlich das kleine Dorf Bir-dava
erreicht haben.

Einige Dorfbewohner laufen herbei und winken eifrig. Mein mangelhaftes
Türkisch muß nun zur Verständigung dienen.

„Halt!“ rufen die Leute, „ihr könnt nicht weiterfahren. Gleich östlich
vom Dorf ist eine Senkung, die der Regen in einen Sumpf verwandelt hat.
Da sinken eure Wagen bis zu den Achsen ein, und ihr kriegt sie nie
wieder los.“

„Wie weit geht der Moorboden?“ frage ich.

„Etwa drei Stunden nach Osten. Weiter kennen wir die Gegend nicht. Aber
bis Nesibin wird es wohl nicht anders sein.“

„Gibt es weiter nördlich oder südlich keinen Weg?“

„Nein, die Senkung erstreckt sich sehr weit nach Norden und Süden.“

„Hat es in der letzten Zeit viel geregnet?“

„Nein, noch gestern war der Weg bis Nesibin ganz trocken. Heute aber
ist er durch Regen unmöglich geworden.“

„Wie lange dauert es gewöhnlich, bis der Boden trocken wird?“

„Einen oder zwei Tage, wenn die Sonne scheint.“

„Glaubt ihr, daß es noch mehr Regen geben wird?“

„Das weiß Gott allein. Auf alle Fälle müßt ihr hier warten; denn eure
schweren Wagen würden im Schlamm versinken.“

[Illustration: Dorfbewohner schleppen unser Auto durch den Schlamm.]

Einen Versuch wollten wir dennoch wenigstens mit dem kräftigen Benzauto
machen. Die Straße führte unmittelbar nördlich an den kleinen elenden
Lehmhütten von Bir-dava vorüber, dann senkte sich das Land zu einer
flachen Mulde, an deren tiefster Stelle ein gemauerter Brunnen stand;
er war jetzt von einer Wasserlache umgeben. Hinab kamen wir ganz
gut. Als es aber wieder aufwärts ging, blieben wir rettungslos in
dem zähen Lehm stecken. Unsere Chauffeure und einige Männer aus dem
Dorf mußten aus Leibeskräften arbeiten, um uns wieder nach Bir-dava
hinaufzubringen. Für heute blieb uns nichts anderes übrig, als hier auf
ein besseres Morgen zu warten.

Die drei Wagen wurden nebeneinandergestellt, daneben das schwarze
Zelt des Majors, das kaum unsre Betten faßte. Darüber brach die Nacht
herein. Die Mannschaft hatte ihr Lager im Lastauto hergerichtet, und
ihr Teekocher brannte lustig zwischen den Benzinfässern. Aber heute
sangen die Chauffeure nicht, die Anstrengungen des Tages hatten sie
übermüdet. Einer von ihnen, namens Lundgren, war schwedischer Abkunft,
aus Umeå, aber in Deutschland geboren; die andern hießen Hofmeister,
Buschkötter, Ludwig und Bodak -- lauter tüchtige, prächtige Männer, die
für solch eine Reise wie geschaffen waren.

Der Himmel sah bedenklich aus, nur ein einziger Stern blitzte zwischen
den zerfetzten Wolken. Ich lag noch eine Weile wach und lauschte der
wunderbaren Stille der Wüste, die nur hier und da von Hundegebell in
der Ferne oder von den Lauten eines Nachtvogels unterbrochen wurde.
Ich hörte meine Uhr unter dem Kopfkissen ticken und die langen, tiefen
Atemzüge meiner beiden Reisekameraden. Dann schlief auch ich ein.

Gegen 11 Uhr aber erwachte ich durch einen furchtbaren Sturzregen.
Schwere Tropfen platschten draußen in neu entstandene Wasserlachen und
trommelten auf die Zeltbahnen. Und das Trommeln dauerte die ganze Nacht
mit unverminderter Heftigkeit! So oft ich erwachte, hörte ich dieses
trostlose Rauschen, das uns mindestens auch für den nächsten Tag den
Weg nach Osten versperren mußte.

Am Morgen spannten wir bei immerfort strömendem Regen die Zelttür zu
einem Dach auf, das von zwei Stangen getragen wurde, und frühstückten
auf dieser luftigen Veranda Eier und Schinken, die wir auf einem
Primuskocher gebacken hatten. Nach Norden zu lag die freie Steppe vor
uns, aber von den nahen Bergen war keine Spur mehr zu sehen. Schwere
Wolken schwebten über der Erde, und wer das Zelt verließ, sank fußtief
in den roten Schlamm ein.

Gegen Mittag hörte der Regen eine Weile auf. Da kamen auch schon die
Dorfleute neugierig heran, und ein altes runzliges Weib bat um Medizin
für ihren Sohn, den seit einigen Tagen starker Kopfschmerz und Fieber
plagten. Dr. Reith gab ihr etwas für den Kranken. Vor kurzem war in
Bir-dava der Flecktyphus ausgebrochen und hatte von den fünfunddreißig
Einwohnern sieben weggerafft. Für Geld und gute Worte brachte man
uns etwas armseliges Reisig zu einem Feuer, dessen Glut wir in einem
eisernen Kessel ins Zelt trugen, um in der feuchten Kälte nur ein
gewisses Gefühl von Wärme und Trockenheit zu gewinnen. Kleine zerlumpte
Kinder sammelten Konservenbüchsen und leere Flaschen, und die Dorfhunde
wurden immer frecher auf der Suche nach Abfällen. Sogar eine Maus
quartierte sich unter unsern Kisten und Säcken ein und entwischte uns
immer wieder, so oft wir auch Jagd auf sie machten.

Schließlich begann es wieder zu regnen. Man hörte und sah, wie ein
Regenschauer nach dem andern wolkenbruchartig über die Steppe daherkam.
Sogar in unserm Zelt waren wir nicht mehr sicher. Die Chauffeure
mußten ringsherum einen Kanal graben und einen Erdwall aufwerfen, um
uns vor Überschwemmung zu schützen. Vor dem Eingang bauten sie eine
Brücke aus Planken des Lastautomobils. Das ganze Feld war ein einziger
Sumpf, denn es dauerte lange, bis das Regenwasser den Lehm durchdrang,
dessen Oberfläche glatt war wie Seife. Ein tragikomisches Schauspiel
bot eine vorüberziehende kleine Karawane von Mauleseln: die auf den
schwer beladenen Saumsätteln sitzenden Araber hatten ihre schwarz- und
braungeränderten Mäntel über den Kopf gezogen, und der Regen floß nur
so von ihnen und ihren Tieren herunter. Die endlich hereinbrechende
Dämmerung wirkte fast wie eine Erlösung. Wir bereiteten mit möglichster
Langsamkeit unser Abendessen und überließen uns einer neuen Nacht.

Gegen Mitternacht weckte mich wiederum ein fast tropischer Regenguß
aus dem Schlaf. Feine Wassertropfen sprühten durch das Zelttuch auf
uns herab, und einige Stunden später regnete es so kräftig herein, daß
~Dr.~ Reith in das Unwetter hinaus mußte, um den Schutzlappen des
Zeltfensters an der Windseite wieder festzubinden, der aufgegangen war.

Am Tage wurde es nicht besser. Die Zelttür mußte geschlossen bleiben,
denn der Wind stand gerade gegen sie; wir frühstückten auf meinem Bett
und saßen da wie Schiffbrüchige auf kleiner Klippe in einem Meer von
Schlamm; der Zeltgraben stand ebenfalls bis an die Ränder voll Wasser.
Die schmutzigen Hunde wurden immer kecker, da wir sie nicht verfolgen
konnten. Dazu kam die erschreckende Nachricht, daß der Kranke von
gestern über Nacht gestorben sei -- wir hatten also den Flecktyphus als
nächsten Nachbarn!

Später am Tage sahen wir denn auch, wie sich ein kleiner Leichenzug
nach dem Friedhof bewegte, der in einiger Entfernung südöstlich von
unserm Zeltplatz lag. Auf einer Bahre trug man den Toten langsam dahin.
Am Grabe sprachen die Begleiter Totengebete; bald reckten sie die Hände
in der Richtung nach Mekka empor, bald sanken sie in dem fürchterlichen
Schlamm neben der Leiche nieder. Endlich wurde der Tote in die Erde
gesenkt, abermals Gebete gesprochen und das Grab zugeschaufelt. Ich
glaube, die Zeremonie dauerte ein paar Stunden. Dabei regnete es
unaufhörlich, und die groben Mäntel der Fellachen glänzten von Wasser.
Nach vollbrachter Arbeit ging das Trauergefolge ebenso langsam nach
Haus, wie es gekommen war.

Während der Flecktyphus-Epidemie in Aleppo haben deutsche Ärzte die
Beobachtung gemacht, daß Europäer für Ansteckung weit empfänglicher
sind als Eingeborene. Auch hat sich während des Krieges gezeigt, daß
die Krankheit bei russischen Soldaten und Kosaken einen milden Verlauf
nimmt, weil sie an Ungeziefer gewöhnt sind. Je älter der Patient ist,
um so schwerer kommt er durch.

Einem türkischen Soldaten, der gen Westen ritt, gab der Major einen
Brief mit, worin er die zurückgelassenen Chauffeure über unsre Lage
unterrichtete. Sonst zeigte sich kein Reisender, der kühn genug gewesen
wäre, den Kampf mit den Elementen aufzunehmen.

Bei Dunkelwerden hörte der Regen auf. Da brachte „Lohengrin“ -- wie
Lundgren von den Kameraden genannt wurde -- das Teewasser ins Zelt und
meldete, im Norden sei eine Reihe Feuer sichtbar. Was mochte das sein?
Biwakfeuer? Doch nicht etwa russische? Aber das war unmöglich, dann
hätten wir etwas von einem Rückzug der Türken merken müssen. Diese
waren aber im Vormarsch. Nach der Karte lag in jener Richtung, nur 10
Kilometer entfernt, Mardin, das sich seit gestern hartnäckig hinter dem
Regenschleier verborgen hatte; die Feuer waren nichts anderes als die
Lampen in den Häusern dieser Stadt. Wir konnten uns also ohne Sorge in
unserm Gefängnis zur Ruhe begeben und den Regenschauern lauschen, die
am Abend mit vermehrter Heftigkeit einsetzten.

Am nächsten Tag dasselbe Bild! Man steht auf, wäscht sich, kleidet
sich an, öffnet einen Spalt der Zelttür, frühstückt und hat den ewig
langen Tag vor sich. Ich habe Bezolds „Ninive und Babylon“ und „Moltkes
Briefe aus der Türkei 1835-39“ bei mir, aber die Ruhe zum Lesen fehlt.
Man wartet in sehnsüchtiger Qual, daß irgendetwas geschehe, uns aus
dieser hoffnungslosen Lage zu befreien. Volkstypen zu zeichnen ist
auch unmöglich; Leute mit Flecktyphus bringenden Läusen ins Zelt
hereinlassen -- das fehlte noch! Im Dorfe geht das Leben seinen
alltäglichen Gang. Frauen treiben von den Feldern Schafe und Ziegen
herein oder holen in Lehmkrügen Wasser am Brunnen. Der Himmel ist
blauschwarz. Zuweilen grollt unglückverheißend und dumpf der Donner in
den Bergen. Und das ist Mesopotamien im April, wo ich Frühlingswärme
erwartet hatte, Trockenheit und Skorpione! Aber wir waren ja freilich
in einer Höhe von 550 Meter und am Fuß eines Gebirges, wo der Winter
noch nicht gewichen war. Nachmittags um 5 Uhr zeigte das Thermometer
nur 10 Grad, eine Temperatur, die wir nach den warmen Sonnentagen in
Aleppo als Kälte empfanden.

Drei Soldaten kamen von Ras-el-Ain zu Fuß; sie hatten unsre
verunglückten Automobile und das Zelt der Chauffeure gesehen. Ein paar
andere zogen in entgegengesetzter Richtung. Sie waren schon 20 bis 30
Kilometer östlich von Nesibin in das Moorbad geraten, das bis hierher
reichte, und sie gaben uns die tröstliche Versicherung, daß mindestens
zwei Tage warmer Sonnenschein nötig seien, um das Land wieder zu
trocknen.

Am Nachmittag trat einen Augenblick die Sonne hervor, und mit ihr in
Nordnordwest die alte Festung von Mardin auf dem Gipfel des Bergkammes;
unmittelbar darunter die Häuser wie Schwalbennester an den Böschungen,
dazwischen die armenischen und syrischen Kirchen und weißen Minarette.
Aber bald verschwand wieder alles unter schwarzen Wolkenmassen und
neuen Regenschauern.

Eine verzweifelte Lage! Wären wir nur einen Tag früher aufgebrochen,
so wären wir bereits in Mosul! Die ganze Strecke ist nur 320 Kilometer
lang, für ein Auto zwei Tage Fahrt. Nun saßen wir in diesem elenden
Gefängnis und konnten weder vor- noch rückwärts. Proviant hatten wir
ja noch für acht Tage, nur Brot und Wasser gingen zu Ende. Aber an
letzterem war ja kein Mangel -- wir brauchten nur ein Stück Segeltuch
aufzuspannen, um die Kannen gefüllt zu erhalten.

Am Morgen des 3. April weckte uns die Meldung, die Sonne scheine.
Wirklich! Der halbe Himmel blau und hell, und über die andere Hälfte
segelten freundliche weiße Frühlingswolken. Wir kleideten uns in aller
Eile an und rasierten uns sogar aus lauter Feststimmung. Für vier
Soldaten, die von Ras-el-Ain dahergewandert kamen, kauften wir bei der
Dorfbevölkerung einige Brote, denn sie hatten nichts mehr zu essen, da
sie während der Regentage hatten liegen bleiben müssen.

[Illustration: Mardin von Südosten gesehen.]

Dann beobachteten wir mit zunehmender Spannung, wie die Regenlachen
zusammenschrumpften und die Ackerschollen rings um unsern Lagerplatz
immer deutlicher hervortraten. Kurz nach Mittag war alles Wasser auf
der Erdoberfläche verschwunden. Nur um Zelt und Autos herum war der
von uns und den Chauffeuren zerstapfte Lehmschlamm noch fußtief.
Die Mistkäfer aber schienen dem guten Wetter noch kein Vertrauen zu
schenken, so eilig rollten sie ihre Erdklümpchen daher.

Nun zeigte sich auch wieder Leben auf der Straße. Eine Karawane von
fünfzig mit Munition beladenen Kamelen zog nach Nesibin, und ein
türkischer Offizier kam mit seinem Diener von Westen geritten. Wir
luden ihn in unser Zelt ein und bewirteten ihn mit Kakao und Keks.
Der Türke war Leutnant Ahmed Dschemal, von kurdischer Abkunft, als
Kompagnieführer auf dem Marsch nach dem Irak; morgen sollte er in
Nesibin sein. Der Major bat ihn, eine Depesche nach Schamallan-han
mitzunehmen, die Ersatzteile für die verunglückten Automobile
bestellte, und vom Kaimakam von Nesibin acht Jailewagen zu verlangen,
die schleunigst hierhin kommen sollten, um unser schweres Gepäck zu
holen. Jeder dieser Wagen konnte bei schlechtem Weg 200 Kilogramm
fassen und so das Auto mit seiner Last von 3000 Kilogramm um die Hälfte
erleichtern. Als der Leutnant hörte, daß unser Brot zu Ende sei,
schenkte er uns aus seinem reichen Vorrat einige herrliche türkische
Kommißbrote. Bald kam auch seine Kompagnie dahermarschiert, gegen
100 Mann, leicht bepackt und in vortrefflicher Verfassung. Ihnen
folgten eine Stunde später Packpferde mit Waffen, Munition usw., und
zuletzt zwei Gepäckwagen. Die Leute waren die vier Tage im Platzregen
marschiert und bis auf die Haut durchnäßt; aber bis Bagdad wurden sie
wohl wieder trocken!

Ahmed Dschemal war mit seiner Truppe kaum abmarschiert, als sich über
den Bergen neue Wolkenmassen sammelten. Wir hatten zu früh gejubelt.
Die blauen Flecke am Himmel verschwanden, und es wurde dunkler und
dunkler, und plötzlich stürzte ein neuer Platzregen, zur Abwechslung
mit Hagel vermischt, auf uns herab. In wenigen Minuten waren
Ackerfurchen und Zeltgraben wieder mit Wasser gefüllt und das ganze
Land ein unermeßlicher Sumpf. Es wurde 3 Uhr, 5 Uhr, 6 Uhr -- der Regen
rauschte mit Erbitterung herunter. Als er um 7 endlich aufhörte, hatte
sich eine neue Nacht auf die Erde gesenkt und unsre Hoffnungen auf
baldige Befreiung begraben.

Obgleich es am andern Morgen nicht mehr regnete, war die Straße
hoffnungslos. Ein vorüberreitender türkischer Soldat versicherte, ein
fester Kiesweg am Fuß des Gebirges entlang verbinde Mardin mit Nesibin;
auf diesem Wege hätten die Türken noch vor fünf Tagen Geschütze nach
Osten transportiert; diese Richtung sollten wir einschlagen. Ehe der
südliche Weg trocken werde, könnten wir noch einen Monat oder länger
hier liegen bleiben! Sofort schickten wir die Chauffeure aus, um den
nördlichen Weg zu untersuchen. Sie fanden ihn -- noch schlechter als
den unsrigen!

Da der Schlamm um uns her lebensgefährlich wurde, verlegten wir
unser Zelt etwa 20 Meter nordwärts von der Straße, zogen neue Kanäle
und Wälle, bauten zwischen Zelt und Wagen eine Brücke und luden die
Benzinfässer aus, um sie beim ersten Sonnenschein über die gefährliche
Senkung zu rollen, am liebsten gleich 6 Kilometer weit, damit das Auto
schneller vorwärts komme.

Vergebliches Bemühen! Um 5 Uhr goß es wieder in Strömen. Man sah,
wie sich die Regenzentren am Gebirgsrand im Osten und weiter südlich
bildeten, nach Westen zogen, über unserem Lager haltmachten und ihre
Wolkenmassen über uns ausbreiteten. Es war, als beeile sich jedes
einzelne Wassermolekül, das aus dem Mittelmeer und dem Persischen
Meerbusen aufstieg, ausgerechnet nach der Gegend zwischen Ras-el-Ain
und Nesibin zu kommen und dort niederzugehen, wo wir in dem roten Lehm,
dem vorzüglichsten Terrakottamaterial, so elend gestrandet waren!

Nachdem wir noch einen Tag im Sumpf gelegen hatten, war die Geduld des
Majors erschöpft. Am Morgen des 6. Aprils fragte er mich plötzlich, ob
ich Lust hätte, mit ihm allein nach Ras-el-Ain zurückzukehren.

„Ja, mit Wonne, wenn wir nur von Bir-dava fortkommen!“

„Dann fahren wir jetzt gleich mit dem Benz und nehmen nur das
Unentbehrlichste mit. Was zurückbleibt, lasse ich nach Mosul und Bagdad
schaffen, sobald die Straßen besser sind.“

„Aber glauben Sie, daß das Auto in dem Schlamm und Regen vorwärtskommt?“

„Wir mobilisieren jedes Dorf bis zur Eisenbahn!“

Und so geschah es. Wir ließen die Chauffeure bis auf Hofmeister bei
~Dr.~ Reith zurück, der wohl oder übel sich in das Schicksal
ergeben mußte, auf unsrer Schlamminsel bei dem zurückgelassenen Gepäck
auszuharren. Vor unsern Benz spannten wir zunächst die männliche
Bevölkerung von Bir-dava, soweit sie sich anwerben ließ, und mit
vereinten Kräften zogen und stießen wir unsern Wagen bis zum nächsten
Dorf, wo eine neue Abteilung Fellachen requiriert wurde. So ging es zum
Verzweifeln langsam, aber sicher, von Ort zu Ort; denn Zugtiere waren
nirgends aufzutreiben. Wo die Bevölkerung phantastischen Kriegslohn
forderte, halfen uns türkische Soldaten aus der Verlegenheit.

[Illustration: Das Auto wird an Bord einer Fähre geholt.]

Bis zu den beiden verunglückten Lastautos blieb der Regen unser treuer
Begleiter. Am 8. April endlich klärte sich das Wetter auf, die Wege
wurden wieder fahrbar, und wir durften unsern Wagen endlich wieder
seiner eigenen Motorkraft überlassen. Schwierigkeiten machten nur noch
die beiden Arme des Dschirdschib, die durch den tagelangen Platzregen
zu reißenden Strömen angeschwollen waren. Über den ersten brachte uns
eine Fähre, die zum Truppentransport zur Stelle war; und durch den
zweiten zog uns eine Koppel Ochsen von einer türkischen Trainkolonne.
Motor, Ochsen und Chauffeur hatten dabei aber ein so gründliches Bad
genommen, daß wenigstens die ersteren streikten. Wir mußten daher noch
einmal militärischen Vorspann nehmen, diesmal von Pferden, und so
fuhren wir sechsspännig in pechfinstrer Nacht endlich wieder am Bahnhof
von Ras-el-Ain vor.




[Illustration: „Kapitän“ Mohammed am Steuerruder.]




Viertes Kapitel.

Mein neuer Feldzugsplan.


Ein Feldzugsplan im wörtlichen Sinne war es nun eigentlich nicht, denn
daran war mir auf den grundlosen Feldwegen nach Bir-dava und zurück die
Lust vergangen. Aus den zwei Tagen, in denen ich Mosul hatte erreichen
sollen, waren zwei Wochen Ungemach geworden. Wenn doch einmal alles zu
Wasser werden sollte -- warum sich dann nicht lieber diesem Element
ganz anvertrauen und noch einmal solch eine fröhliche Stromfahrt
versuchen, wie ich sie schon zweimal vor Jahr und Tag im Innern Asiens
auf den Fluten des Tarim und des Brahmaputra unternommen hatte?

Der Euphrat war mir noch so gut wie fremd. Im Mai 1886 hatte ich ihn
zum erstenmal gesehen. Damals war ich auf dem englischen Dampfer
„Assyria“ vom Persischen Meerbusen in den Schatt-el-Arab hineingefahren
und einige Tage später nach Korna gekommen, wo am Zusammenfluß des
Euphrat und Tigris das Paradies gelegen haben soll. Dann war ich im
November 1905 bei einem kurzen Aufenthalt in Erserum bis in die Nähe
der Quelle des Frat-su oder Euphrat geritten. Jetzt hatte mich mein
Schicksal zum drittenmale an diesen gewaltigen Strom geführt, der
in der Geschichte der Menschheit älter ist als Nil und Brahmaputra.
Ließ ich diese Gelegenheit, ihn gründlich kennen zu lernen, ungenutzt
vorübergehen -- wer weiß, ob sie jemals wiederkehrte!

Am 9. April saß ich wieder in der Bahn, die mich von Aleppo nach
Ras-el-Ain gebracht hatte, und ich fühlte mich wie befreit aus langer
Gefangenschaft, als ich endlich wieder die mächtig wogende Wasserstraße
vor mir sah, die mich jetzt -- dazu war ich fest entschlossen -- meinem
Ziel, der Stadt der Kalifen, entgegenführen sollte. In Dscherablus
verabschiedete ich mich von Major Reith und war bald wieder in der
deutschen Marinestation am Euphrat. Kapitänleutnant von Mücke war vor
einigen Tagen nach Konstantinopel gefahren, statt seiner empfingen mich
nun sein Vertreter, Schiffsbaumeister Schneider, und acht deutsche
Flieger und Artillerie-Offiziere, die sich in den nächsten Tagen zur 6.
Armee nach Bagdad begeben sollten.

Sofort machte ich mich an die Vorbereitung meiner Euphratfahrt.
Etappeninspektor Oberst Nuri Bei überließ mir einen einheimischen
Doppelschahtur, und bald fanden sich zwei Schahturtschis, Ruderer,
bei mir ein, um die Löhnung für die Reise zu vereinbaren. Dem Ustad
oder Kapitän bewilligte ich zwei türkische Pfund, die anderen Schiffer
erhielten je ein Pfund und zwar für die Strecke bis Der-es-Sor,
wo die türkische Besatzung von Arabern abgelöst werden sollte.
Als Sicherheitswache sollte mich ein Gendarm begleiten; gegen
einen Überfall durch Beduinen hätte der aber wohl schwerlich viel
ausgerichtet.

Auf der Werft war alles in lebhafter Tätigkeit. Kräftige deutsche
Matrosenfäuste schwangen die Äxte, Türken und Araber sägten und
hämmerten. Ein Boot nach dem andern wurde fertiggestellt, auf einen
Wagen geladen, zum Ufer hinabgerollt und dem Strom übergeben. Jedes
erhielt einen Namen nach irgendeinem berühmten Ereignis des Weltkriegs.
Auf einer Flottille solcher Boote oder Fähren verstaute gerade eine
Fliegerabteilung ihre Tauben und Doppeldecker; bald sah ich sie den
Strom hinab schwimmen und bei der ersten Biegung verschwinden. Man
hatte mich freundlichst eingeladen mitzufahren; aber mir lag jetzt vor
allem daran, meine völlige Unabhängigkeit zu bewahren.

Auf andere Fähren schob eine bayerische Batterie unter Major von
Schrenk, deren Train wir am Dschirdschib begegnet waren, ihre
15-~cm~-Haubitzen und Munitionswagen. Jedes dieser plumpen,
aber praktischen Fahrzeuge trug 25 Tonnen, wurde aber nur bis zu
18 beladen und faßte vier volle Munitionswagen und eine bedeutende
Menge loser Munition. Mehrere Tage noch sollte die Verladung dauern,
und der Batterieführer wollte warten, bis auch sein letzter Schahtur
reisefertig war.

Für meine Fahrt den Euphrat abwärts hatte ich einen starken
türkischen Doppelschahtur, dessen beide Hälften mit Stricken fest
zusammengekoppelt wurden. Seine Länge betrug 6,58 Meter, seine Breite
5. Hinten wurde ein Steuer angebracht, vorn an jeder Seite ein Ruder.
Reserveruder durften natürlich auch nicht fehlen. Gewöhnlich rechnet
man auf die Fahrt bis Feludscha zwei Wochen. Ich brauchte aber längere
Zeit, da ich die Reise dazu benutzen wollte, eine Karte des Stromes
aufzunehmen; die Nächte über mußte ich also vor Anker gehen. Deshalb
wollte ich an Bord einigermaßen bequem wohnen, und der Zimmermann Murat
mußte mir nach einem Papiermodell das Fahrzeug entsprechend einrichten.
Die linke Fähre erhielt ein Holzdeck, das vorn und hinten für Kapitän
und Ruderer Raum ließ. Auf Deck wurde eine 3 Meter lange und 2 Meter
breite Hütte aufgeschlagen, deren schmale Vorderwand in Angeln ging und
sich nach oben aufklappen ließ. Tagsüber diente diese als Sonnendach
für meinen Arbeitstisch; nachts wurde sie herabgelassen. Das übrige
Mobiliar bestand aus Feldbett und zwei Kisten. Proviant, den ich in
Dscherablus gekauft hatte, wurde unter Deck verstaut. Ein Fenster in
der Steuerbordseite ermöglichte mir im Stehen den freien Ausblick auf
den Strom, ein zweites kleineres Fenster wurde gegenüber so angebracht,
daß ich auch im Liegen hinaussehen konnte. Beide wurden mit Gardinen
versehen. Ein niedriges Regal unter dem Fenster des Steuerbords
enthielt Waschgeschirr, Seife und alles das, was zur Pflege des äußeren
Menschen unentbehrlich ist. Ein Querbrett an der schmalen Wand trug
Fernrohr, Thermometer, elektrische Lampe, Metermaß, Stearinkerzen,
Zigaretten, Zündhölzer und meine kleine Bibliothek. Letztere bestand
nur aus drei Büchern, die aber zur Not für ein ganzes Menschenleben
ausreichten: der „Assyrischen und Babylonischen Geschichte“ von Bezold,
einer „Praktischen Grammatik der osmanisch-türkischen Sprache“ von
Wahrmund und dem Buch der Bücher, der Bibel, die ich noch nie mit
solchem Interesse gelesen habe als auf dieser Fahrt in das Land der
babylonischen Gefangenschaft. Meine greisen Eltern hatten sie mir bei
meinem letzten Abschied von Stockholm mit auf die Reise gegeben.

[Illustration: Hussein am Steuerbordruder.]

Ich hatte den 12. April als Tag der Abreise bestimmt, nicht etwa
um dem 13. auszuweichen, denn diese Zahl hat mir auf meinen Reisen
in Asien immer Glück gebracht, nur weil ich vor Ungeduld brannte,
endlich fortzukommen. Schon früh am Morgen erklangen die Hammerschläge
und rasselte die Säge; die Wände der Hütte wuchsen an ihren Pfosten
hinauf; etliche kurze Bretter fügten sich zu einem Tisch zusammen,
und ein bodenfester Stuhl baute sich daneben. Als alles fertig war,
schien vom hellen, wolkenfreien Himmel die untergehende Sonne auf den
Euphrat herab. Der Strom war nach den heftigen Regenfällen der letzten
Wochen und infolge der Schneeschmelze, die jetzt Tag für Tag zunahm,
noch immer im Steigen. Die Wassermasse, die sich unter der Brücke
hindurchwälzte, berechnete man auf 1200 Kubikmeter in der Sekunde; das
konnte noch ganz anders kommen, denn einmal in den letzten Jahren hatte
man 2000 Sekundenkubikmeter gemessen. Die Reise war also nicht ohne
Gefahr, auch wenn mein tapferer Gendarm alle Beduinen und sonstigen
Wegelagerer in die Flucht trieb, und von den mancherlei Abenteuern
auf den Wellen und an den Ufern des Euphrat darf ich dem Leser in den
folgenden Kapiteln einiges berichten.

Nur noch ein paar Worte über die Besatzung meiner Fähre. Mein „Kapitän“
Mohammed war ein Türke aus Biredschik im stattlichen Alter von achtzehn
Jahren. Seit acht Jahren hatte er, erst als Gehilfe seines Vaters, dann
als eigener Herr, gegen hundert Reisen nach Der-es-Sor gemacht, und
Arabisch sprach er so geläufig wie Türkisch. Hussein am Steuerbordruder
war noch drei Jahre jünger, aber trotz seiner Jugend schon zwanzigmal
zu Schiff in Der-es-Sor gewesen; der sechzehnjährige Kerif am
Backbordruder nur siebenmal. Diese Stadt bezeichnete die Grenze der
Ortskenntnis der türkischen Schiffer. Beide Jungen waren ebenfalls
Osmanen aus Biredschik und radebrechten wenigstens etwas Arabisch.
Der vierte im Bunde war der Gendarm Mahmud, ein Türke aus Urfa von
zweiundvierzig Jahren, der zwanzig Jahre im Heer des Großsultans
gedient hatte, seit Beginn des Weltkrieges in Biredschik stand und mit
seinem grau gesprenkelten Bart wie ein Greis aussah. In seinem grauen,
groben Soldatenmantel, das Gewehr über der Schulter, präsidierte er
in martialischer Haltung auf der Steuerbordfähre, wo sich die kleine
Mannschaft einzurichten hatte. Was mir fehlte, war nur ein Dolmetscher,
um mich mit meinen eignen Leuten leicht zu verständigen -- ein
heilsamer Zwang, mein mangelhaftes Türkisch durch eifrigstes Studium zu
vervollkommnen.




[Illustration: Meine Fähre am Ufer der Silman-Araber.]




Fünftes Kapitel.

Auf den Wellen des Euphrat.


Es war ½6 Uhr nachmittags, als ich mich von meinen deutschen Freunden
in Dscherablus, von Rittmeister von Abel, der dienstlich dorthin
gekommen war, von Major von Schrenk und seinen Offizieren, und von Nuri
Bei verabschiedete.

„Jallah! Bismillah rahman errahim!“

Auf dieses Kommando stieß meine Fähre vom Ufer ab, wurde sogleich vom
Strom erfaßt, und bald waren Dscherablus und die deutsche Marinestation
außer Sehweite. Ich war, wie so oft auf meinen Entdeckungsfahrten,
allein mit meiner Arbeit unter wenigen eingeborenen Begleitern.

Unaufhaltsam trägt die starke Strömung meine Fähre gen Süden. Die
schmale Vorderwand meiner Hütte ist als Sonnendach hochgeklappt;
Kartenblatt, Kompaß und Uhr vor mir, sitze ich an meinem Schreibtisch
und zeichne unsere Fahrtrichtung und die Formen der Ufer ein. Die
steilen Bergfronten, die Klippen und Sandbänke, die grasbewachsenen
Inseln, die Wiesen, Dörfer und Zelte, Lehmhäuser und Hügel, die
Ergebnisse der Tiefen- und Geschwindigkeitsmessungen, sogar die
weidenden Herden, alles wird in die Karte eingetragen. Selten ist die
Richtung fünf Minuten lang die gleiche; gewöhnlich muß ich nach zwei,
drei Minuten neue Peilungen machen, und ich habe kaum Zeit, zwischen
den einzelnen Beobachtungen eine Zigarette anzubrennen. Ein Fernrohr
ermöglicht mir, das Leben der Nomaden an den Ufern zu beobachten und
die Eigentümlichkeit des beständig wechselnden Landschaftsbildes
genauer zu studieren. Kleine Entenscharen flattern dicht über der
Oberfläche des Flusses vor uns her. In der Ferne schreit der Kuckuck,
und von den Ufern her klingen die Glocken der Schafherden. Wenn es
ganz ruhig ist, hört man an der Oberfläche des Wassers ein Brodeln und
Zischen, wie wenn Wasser eben zu kochen beginnt. Dieser Laut begleitete
mich mehrere Tage und verschwand erst, als Luft und Wasser wärmer
geworden waren. Tag und Nacht bin ich auf dem Flusse; ich bin eins mit
ihm, lebe sein Leben und fühle, wie er arbeitet und sich rührt, um weit
im Süden bis zur Küste vorzudringen und im Meere seine Freiheit zu
gewinnen.

Das Land ringsum ist eine ungeheure Miozänkalksteinplatte, die bis
unterhalb Hit am Euphrat und bis Samarra am Tigris reicht und nicht
nur Nordsyrien bedeckt, sondern auch el-Dschesire, die Insel, oder
das Land zwischen den beiden Brüderströmen, das ungefähr dem alten
Assyrien entspricht. Ihre Höhe beträgt bis 500 Meter, so daß man von
einer Hochebene sprechen kann. Wo im Süden die tertiäre Kalksteinschale
aufhört, beginnt reines Schwemmland, dessen alluviale Ablagerungen
eine bedeutende Tiefe erreichen. Vermehrt durch den Schlamm, den beide
Ströme mit sich führen, schieben sich diese Ablagerungen immer weiter
in den Persischen Meerbusen vor. 2000 Jahre vor unserer Zeitrechnung
lag die chaldäische Stadt Suripak an der Küste, jetzt sind ihre
Ruinen 210 Kilometer von ihr entfernt! Noch zur Zeit Sardanapals
mündeten Euphrat und Tigris jeder für sich in den Persischen Golf.
Der Schatt-el-Arab, zu dem sich beide jetzt vereinen, ist also einer
der jüngsten Ströme der Welt. Dies Alluvialland entspricht dem alten
Babylonien, dem Irak-Arabi der Gegenwart. In seinem subtropischen Klima
gedeihen Zuckerrohr, Reis und Datteln, und in naher Zukunft sollen hier
reiche Baumwollernten eingebracht werden.

Durch diese Kalksteinplatte arbeitet sich der Euphrat in zahllosen
kleinen Windungen nach Südosten. Wo das Gestein dem Ansturm des
Stromes getrotzt hat, und dieser sich daher auf etwa 100 Meter Breite
zusammendrängt, fallen die Ufer schroff ab; in den oft alabasterweißen
Wänden hat das Wasser in jahrtausendelanger Arbeit schalenförmige
Vertiefungen und gigantische Felsentore, Grotten und Höhlen, Löcher und
Klüfte ausgewaschen, in denen Raubvögel und Dohlen horsten. Hier und da
scheint die Natur mit der Überlegung des Menschengeistes geschaffen zu
haben; steile Treppen mit gewaltigen Stufen führen die Uferwände empor,
oder man glaubt mächtige Kais zu erkennen, die das Wasser eindämmen
sollen. Meist ist die Erosionsterrasse bei konkaven Uferstrecken ein
oder mehrere Meter hoch, senkrecht und sogar überhängend; Wurzelfasern
von Kräutern und Sträuchern reichen ins Wasser herunter, und ab und
zu stürzen Erdklumpen klatschend ab. Man hört und sieht, wie der Fluß
sein Bett unablässig formt, am konkaven Ufer bricht er ab und reißt er
nieder, und die Wellen schäumen um Felsblöcke, die herabgestürzt und an
seichten Stellen liegen geblieben sind; am konvexen Ufer baut er auf,
manche flachen, unfruchtbaren Anschwemmungen können erst gestern oder
vorgestern entstanden sein. Auf diesen Strecken lassen sich nur hier
und da schmale Uferstreifen bewässern und bebauen.

Dann wieder schiebt sich die Kalksteinschale rechts und links mehrere
hundert Meter zurück, so daß der Strom bei Hochwasser eine Breite
bis zu 800 Metern gewinnt und sich wie eine Meeresbucht vor uns
ausdehnt, deren Weite und Richtung kaum erkennbar ist. Die Gipfel
der Höhen schimmern grün, hier und da ist Lava drübergebreitet. Oft
tragen die beherrschenden Höhen auch Ruinen von Festungen und Türmen,
von denen aus die Völker des Altertums wahrscheinlich herannahende
Kriegsgefahr meldeten. Auf dem weiten Uferland weiden Ziegen, Schafe
und Rinder, der Reichtum der Nomaden; Klippen und Landzungen springen
als schaumumwirbelte Wellenbrecher in den Strom vor, auf breiten
Schlammbänken sitzen Möwen und Meerschwalben wie Perlenreihen und
steigen bei unserem Nahen mit gellenden Schreien in die Luft. Oft teilt
sich auch der Strom durch langgestreckte Inseln, die das Hochwasser
jetzt überspült; Sträucher und Steinhütten, die über die Oberfläche
hervorragen, verraten dem Steuermann der Fähre ihre Nähe. Erst wenn das
Wasser fällt, werden sie wieder zu richtigen Inseln.

Während der ganzen Stromfahrt bietet der Durchbruch des Euphrat durch
diese Kalksteinplatte eine Fülle charakteristischer Formen, und ich
habe das großartigste Naturtheater vor mir, das sich denken läßt; in
wechselnden Szenerien kommt mir die Landschaft entgegen, während ich
selbst in tiefster Ruhe das köstliche Schauspiel genieße. Kletterte
ich die Uferwände hinan, so sähe ich nur eine öde, endlose Steppe; man
braucht sich nur wenige Kilometer vom Euphrat zu entfernen und sieht
keine Spur mehr von der Nähe dieses prächtigen Flußtals.

In den ersten Tagen ging meine Stromfahrt so langsam vor sich, daß ich
schon daran verzweifelte, auf diesem Weg überhaupt Bagdad zu erreichen.
Ein oder zwei, höchstens drei Meter in der Sekunde war bei ruhigem
Wetter die Durchschnittsgeschwindigkeit meiner Fähre; das machte in
der Stunde 4 bis 7 Kilometer, an sich ein ganz erfreuliches Tempo.
Da aber meine Arbeit an Bord Tageslicht erforderte, mußten wir die
ruhigen Nächte über still liegen; außerdem machten uns Nebel und die
Frühlingsboten, Regen und Sturm, so viel zu schaffen, daß wir immer
wieder in den Schutz der steilen Uferwände flüchten und halbe Tage
lang vor Anker gehen mußten. Bei 13 und 14 Grad Luftwärme fror ich im
Schatten meines Sonnendachs. Der Wind pfiff quer durch meine Hütte,
und durch die Dachritzen tropfte der Regen auf Bett und Schreibtisch,
bis ich ein kleines, grünes Zelt darüber nagelte, das ich auf meiner
unglücklichen Autoreise von Major Reith erhalten hatte; mein eigenes
großes, weißes Zelt hatte bei dem übrigen Gepäck in Bir-dava bleiben
müssen. Erst am 17. April machte sich der Frühlingsanfang mit 24 Grad
Wärme bemerkbar. Trotzten wir dem Wind, so trieb die Fähre regellos von
einem Ufer zum andern, drehte sich wie eine Nußschale, so daß Ruderer
und Steuermann machtlos waren, trieb auch wohl auf erst in der Nähe
erkennbare Schlammbänke, und einmal mußten wir sie sogar wieder in ihre
beiden Hälften zerteilen, um nur wieder flott zu werden. Wenig aber
fehlte, und sie hätte mitsamt ihrer Besatzung ein vorschnelles Ende in
den strudelnden Wassern des Euphrat gefunden.

Das war am 18. April, als wir Rakka hinter uns hatten und eine Strecke
weit unterhalb das Dorf Säbcha am Fuße der Kalkwand in Sicht kam.
Säbcha ist eine Poststation auf dem Wege von Aleppo nach Bagdad.

Der Strom war in den letzten Tagen über einen Meter gestiegen.
Seit einer Weile wehte Ostwind. Die Sonne verschwand hinter
undurchdringlichem Gewölk, und über uns begann der Donner zu grollen
in immer kürzeren Zwischenräumen und immer lauter. Die Luft war
drückend schwül, und alle Anzeichen deuteten daraufhin, daß eine
rasende Entladung bevorstand. Die Arbeiter an den Schöpfwerken blickten
prüfend zum Himmel, spannten die Ochsen aus und trieben sie zu den
Zelten. Schon begann auch der Regen auf das Dach meiner Hütte und das
ölgetränkte grüne Zelt niederzuprasseln.

Es fehlten gerade noch vier Minuten an ½6. Ich hatte eine neue Peilung
genommen, die zeigte, daß wir S 40 W fuhren. Langsam glitten wir am
rechten Ufer hin und streiften eine kleine, grasbewachsene Insel, die
sich bei niedrigem Wasserstand mit dem Festland vereinigen mußte. In
einer Viertelstunde hoffte ich am Han, dem Postwirtshaus, von Säbcha zu
sein.

Da hörte ganz plötzlich der Regen auf. Der Donner verstummte, und
einen Augenblick herrschte unheimliche Stille. Nur einen Augenblick!
Die nun folgenden zwanzig Minuten aber werde ich niemals vergessen.
Sie brachten das fürchterlichste, wildeste Naturschauspiel, das ich
jemals erlebt habe, und ich habe doch ziemlich viel dergleichen
mitgemacht. Erst fielen vereinzelte, schwere Tropfen, dann schmetterte
ein Platzregen herunter, wie ihn nur die Tropen kennen. Gleichzeitig
brauste ein betäubender Orkan über den Strom. Die Fähre stutzte wie vor
Schreck, stand einen Augenblick still, dann drehte sie sich so, daß
die Backbordhälfte mit der Hütte leewärts lag und somit als Windfang
und Segel wirkte. Und sofort trieben wir in reißender Schnelligkeit
quer durch die Strömung zum linken Ufer hin. Der Euphrat mochte hier
etwa vierhundert Meter breit sein, und diese weite Fläche hatte sich
in wenigen Minuten mit gewaltigen, schaumgekrönten Wogen bedeckt,
deren Kämme immer höher emporspritzten und über die Reling der leeren
Luvfähre stürzten. In dieser Hälfte unsres Fahrzeuges stieg das Wasser
beunruhigend an, und ich berechnete schon mit Entsetzen den Augenblick,
da sie untersinken und die andere Hälfte nebst Hütte und allem mit sich
in die Tiefe reißen mußte.

Der furchtbare Druck des Sturms auf die Hütte trieb außerdem
die Backbordfähre so hart leewärts, daß die Reling ganz auf die
Wasseroberfläche zu liegen kam. Nur noch ein paar Finger breit
tiefer, und wir waren verloren! Es knackte und knallte in dem dünnen
Holzwerk der Hütte, als wollte sie jeden Augenblick bersten und in
die Luft fliegen, und zwischen den Planken der Luvwand spritzte der
sturmgepeitschte Regen in wagerechten Strahlen herein. Ich raffte
Karten, Bücher usw. zusammen aufs Bett und barg sie unter Decke und
Regenmantel. Dann stemmte ich mich mit aller Kraft gegen die Luvwand,
um ihren Widerstand gegen den Wind zu verstärken. Ein heftiger Knall
-- das Zelttuch draußen ist losgerissen! Eben flattert ein Zipfel am
Fenster vorüber; ich greife zu und habe ihn fest. Naß bis auf die Haut
halte ich nun das wie ein Notsignal hin und her klatschende Zelt,
stemme dabei die Schultern immerfort gegen die Wand, obgleich ich unter
dem Luftdruck kaum atmen kann, und jage so mit der Fähre in rasendem
Tempo -- ja, wohin? Keine Möglichkeit einer Orientierung! Durchs
Fenster sah ich nur in ein graues Chaos von Wogen und Schaumkämmen,
die mit erbitterter Wut gegen die Hütte hämmerten und die Luvfähre mit
Wasser zu füllen drohten. Ob wir wohl noch ein Ufer erreichten, ehe die
Fähre bis zum Rande voll war und sank oder von den Wogen zerschmettert
wurde? Trieben wir parallel mit der Hauptrichtung des Stromes, dann
mußte sie untergehen, ehe wir an Land waren. Der Sturm war aus Südwest
gekommen, und in derselben Richtung strömte dieser Teil des Flusses.
Später zeigte sich glücklicherweise, daß die Gleitkraft der Wassermasse
eine Ablenkung hervorrief, wodurch unsere Richtung genau östlich wurde.

Betäubendes Donnern und Tosen ringsum; der Regen geht in Hagel über,
Eisklumpen knallen gegen die dünne Wand der Hütte, als würden wir
von einer Menschenmenge mit Steinwürfen bombardiert. Die Hagelkörner
zischen ins Wasser wie Flintenkugeln und ballen sich auf der Fähre zu
kleinen weißen Inseln zusammen; einige, die ich später maß, hatten
einen Durchmesser von achtzehn bis zwanzig Millimeter. Der Aufenthalt
im Freien mußte lebensgefährlich sein. Meine Leute waren schon bei den
ersten Vorboten des Sturms unter Deck gekrochen; ging die Fähre unter,
so mußten alle vier Mann wie in einer Mausefalle ertrinken.

[Illustration: Araber mit seiner jungen Frau.]

Endlich trat etwas Dunkles aus dem Nebel hervor: Tamariskenbüsche
am linken Ufer. Wir waren also quer über den Euphrat gejagt, nicht
aufwärts gegen den Strom. Eben kroch mein Kapitän Mohammed aus seinem
Versteck hervor und brachte durch sein Schreien auch die anderen auf
die Beine. Es war auch die höchste Zeit! In wenigen Sekunden mußten wir
an Land geschleudert werden -- das Vorderteil der Fähre zerriß schon
die Wurzeln der Tamarisken, die wie Vorhänge von der zwei Meter hohen,
senkrechten Erosionsterrasse herabhingen und das Dach der Hütte fegten.
Mahmud schwang sich an einer Tamariske aufs Ufer hinauf, Kerit folgte
ihm, rutschte aber aus und bis an die Schultern ins Wasser hinein. Im
selben Moment prallte die Fähre heftig auf, der Stoß wurde aber von
dem Wurzelwerk aufgefangen. Schon war auch Hussein an Land und schlang
ein Seil um einen festen Ast. Die Fähre schaukelte und schlingerte,
riß sich aber nicht mehr los. Schnell war das Zelt gerettet und
zusammengepackt.

Nun ließ die Heftigkeit des Sturmes bald nach. Regen und Hagel hörten
ebenso plötzlich auf, wie sie gekommen waren. Das Zentrum des Unwetters
zog in nordwestlicher Richtung weiter. Es war dreizehn Minuten vor
6; die ganze Geschichte hatte nur zwanzig Minuten gedauert. Das
Thermometer zeigte 22 Grad. Die Erde war noch weiß von Hagelkörnern,
die jedoch bald wegschmolzen.

Es dauerte eine Weile, bis wir uns von dem Schreck erholt hatten.
Nach und nach wurde die Luft ganz ruhig, glättete sich die eben noch
so aufgeregte Wasserfläche, und man hörte nur das stille Brausen der
ersterbenden Wogen. Mahmud begab sich nach dem nächsten Nomadenzelt, um
Holz, Brot und Joghurt zu holen. Die anderen sammelten Tamariskenzweige
und machten mit vieler Mühe ein Feuer an; dann entkleideten sie
sich und trockneten ihre Sachen. Auch in meiner Hütte war alles
so durchnäßt, daß Bettzeug und Decken an Stangen ums Feuer zum
Trocknen aufgehängt werden mußten. Schließlich schöpften meine Leute
das Wasser aus der Steuerbordfähre. Welch ein Glück, daß ich zwei
zusammengebundene Schahtur hatte! Einer allein mit freier Hütte wäre
ohne Zweifel gekentert. Die leere Steuerbordfähre hatte meinem Fahrzeug
die nötige Festigkeit gegeben, um einen solchen Sturm auszuhalten.

Es dunkelte. Am nordöstlichen Himmel flammten unter einer
pechschwarzen, am Hinterrand scharf begrenzten Wolkenbank blaue Blitze
und erhellten den Strom und die Tamarisken am Ufer, daß sie wie
friedlose Geister mit bittend ausgestreckten Armen erschienen. Nach dem
Lärm, der eben noch unsere Ohren erfüllt hatte, lag mir die friedvolle
Stille der Nacht geradezu beklemmend auf der Brust. Ich atmete auf, als
endlich die Schakale ihr übliches Abendlied anstimmten, das auf dem
einen Ufer mit langgezogenem Geheul begann, gleichsam im Bogen auf das
andere übersprang und bald wie Hohngelächter, bald wie der Hilferuf
bangender Kinder klang, und dazwischen der traurige Schrei eines Esels
vom anderen Ufer herübertönte.

Diese zyklonartigen Stürme, die von Zeit zu Zeit über Mesopotamien
hinziehen, sind der Schiffahrt auf dem Euphrat äußerst gefährlich, und
wenn ich weiterhin an wracken Booten vorüberkam, begriff ich nur zu
gut, wie solche Schiffbrüche vor sich gegangen waren. Noch vor einigen
Wochen wurde Kapitän Pfeffer, einer meiner Bekannten aus Dscherablus,
als er mit seiner Flottille von großen, mit Munition und Gewehren
beladenen Fähren bei Rakka vor Anker lag, von einem Zyklon überrascht.
Der Sturm kam ohne jedes warnende Vorzeichen wie ein Dieb in der Nacht,
meterhohe Wellen füllten die Fahrzeuge mit Wasser, und drei davon
sanken; ein Deutscher, ein Photograph aus Metz, ertrank dabei. Ein
ähnliches Schicksal konnte auch der Fliegerabteilung, die zwei Tage vor
mir Rakka verlassen hatte, oder der bayrischen Batterie des Majors von
Schrenk, die ungefähr am 15. April von Dscherablus hatte aufbrechen
sollen, beschieden sein. Wie ich aber später hörte, erreichte sie der
Sturm, der meine Fähre fast zum Kentern gebracht hatte, nicht; sein
Zentrum war also ganz scharf begrenzt gewesen.

[Illustration: Chesney’s Fähre auf dem Euphrat.

(Aus: „~Narrative of the Euphrates Expedition~“.)]

Auch aus älterer Zeit finde ich solch ein Ereignis beschrieben, das
mit meinem Erlebnis die größte Ähnlichkeit hat. In den Jahren 1835/37
untersuchte Oberst Francis Rawdon Chesney im Auftrag der englischen
Regierung die Schiffahrtsverhältnisse auf dem Euphrat und Tigris. Am
21. Mai 1836, mittags ½2 Uhr, wurde seine Expedition von einem Zyklon
überfallen, der ebenso plötzlich daherbrauste, wie der von mir erlebte,
ebenso mit plötzlicher Finsternis einsetzte, nur fünfundzwanzig
Minuten dauerte und einen der beiden Dampfer Chesneys, den „Tigris“,
versenkte, wobei vier Offiziere, elf Artilleristen und Matrosen und
fünf Eingeborene ums Leben kamen. Der Sturm preßte den Dampfer so stark
nieder, daß die offenen Kajütenfenster unter Wasser gerieten. Schon war
der Befehl gegeben: Rette sich wer kann! als sich für einen Augenblick
die Dunkelheit erhellte und das Ufer ganz nahe schien. Sofort hieß es
wieder: Jeder auf seinen Posten! Aber im nächsten Augenblick herrschte
wieder schwarze Nacht, und eine Minute später war das Schiff gesunken.
Ebenso schnell wie er kam, war der Zyklon wieder vorüber, und seine
Spur war ebenso schmal gewesen, wie ich es beobachtet hatte. Chesney,
der sich mit zwanzig Mann von dem sinkenden Schiffe hatte retten
können, will Hagelkörner von anderthalb Zoll Dicke gemessen haben; das
erscheint mir etwas übertrieben, und seine Meinung, solche Zyklone über
dem Euphrat seien „äußerst selten“, widerlegt sich wohl durch meine
Erfahrungen.

Chesneys Schilderungen liest man noch heute mit größtem Interesse.
Daß damals an den Ufern des Euphrat noch Löwen vorkamen, hört man mit
einigem Erstaunen; im übrigen ist noch alles so, wie er es beschrieb;
man erkennt die Orte Der-es-Sor, Ana und Hit deutlich wieder,
sogar den Hügel von Babel, wo damals noch keinerlei Ausgrabungen
begonnen waren, und die Karte des Euphrat, die sich in seinem Werk
„~Expedition for the survey of the rivers Euphrates and Tigris in
the years 1835-1837~“ (London, 1850-68) findet, ist so gewissenhaft
ausgeführt, daß sie noch während dieses Weltkrieges benutzbar
war; man brauchte nur in die vergrößerte Kopie die Änderungen des
Stromlaufs während der letzten achtzig Jahre einzuzeichnen. Die von ihm
angegebenen Namen der Berge, Hügel, Ruinen, Landzungen usw. stimmten
alle, nur die Ortsnamen waren andere; denn man nennt die Orte am Ufer
nach dem Scheich des Stammes, der dort zeltet. Die Namen wechseln daher
alle Menschenalter.

Chesneys Expedition hatte die Aufgabe, die Möglichkeit einer
schnelleren Überlandverbindung mit Indien zu untersuchen. Der Euphrat
wurde bis Meskene schiffbar gefunden, für nicht zu tief gehende Dampfer
sogar bis Biredschik; bis zum Golf von Alexandrette wäre dann nur noch
eine kurze Strecke zu überwinden gewesen. Chesney versichert, die
Araber an den Ufern des Euphrat und ebenso die türkische Regierung
hätten die geplante Eröffnung eines neuen Handelsweges zwischen Indien
und Europa freudig begrüßt. Aber ein Menschenalter blieb das Projekt
unausgeführt, und dann machte der Bau des Suezkanals die Euphratstraße
für England überflüssig.




[Illustration: Beduinenzelt am Euphratufer.]




Sechstes Kapitel.

Unter Nomaden und armenischen Flüchtlingen.


Wenn Sturm oder Gegenwind mich zwangen, auch am Tage den Schutz steiler
Uferwände aufzusuchen oder am Lande festzumachen, gaben mir diese meist
unfreiwilligen Aufenthalte, die meine Geduld auf harte Proben stellten,
gleichwohl willkommene Gelegenheit, meinen Proviant zu vervollständigen
und dabei das Leben der Nomaden an den Ufern des Euphrat aus nächster
Nähe kennen zu lernen.

Gleich am zweiten Tage der Stromfahrt mußten wir bei dem Zeltdorf
Hammam längere Zeit liegen bleiben, und in Begleitung Kerits, der als
arabischer Dolmetsch diente, und des Gendarmen Mahmud begab ich mich
zu den zwanzig schwarzen Zelten am Fuß der Uferhöhe, die das Dorf
bildeten. Drei halbwilde Hunde empfingen uns, die Einwohner selbst aber
verschwanden wie Ratten in ihren Zelten. Fürchteten sie sich vor uns?
Ja, erklärte Mahmud, „sie halten uns für Werber, die Rekruten sammeln“.
Und mit dieser Vermutung schien er recht zu haben. Denn als ich auf das
vornehmste Zelt, das des Häuptlings, zuging, traten mir zwei Araber in
offenbarer Bestürzung entgegen, und diese wich erst, als sie hörten,
daß wir nichts anderes im Schilde führten, als Eßwaren zu kaufen. Sie
waren vom Stamm der Beni-Said-Araber, die in dieser Gegend sechzehn
Dörfer hatten. Die Männer trugen weiße, weite Beinkleider, über den
Schultern bunte Mäntel und auf den Köpfen schwarze Lappen, die von
zwei weichen Ringen auf dem Scheitel festgeklemmt wurden. Auf Kissen
und zerlumpten Matten saßen fünf würdige Weißbärte inmitten des großen
länglichen Zeltes und rauchten Nargileh und Zigaretten, die sie selber
drehten. Mit vornehmer Lässigkeit erhoben sie sich und luden mich ein,
unter ihnen Platz zu nehmen. Nachdem wir uns eine Weile unterhalten und
uns gegenseitig mit gleichem Interesse angestaunt hatten, brachte ich
mein Anliegen vor: ob sie uns Eier und saure Milch verkaufen wollten?
Erst machten sie Schwierigkeiten und versicherten, sie brauchten ihren
kärglichen Vorrat selber; die verführerischen Töne einiger türkischer
Silbermünzen lockten aber bald die Frauen aus ihrem Versteck hervor.
Ich tat natürlich so, als sähe ich sie gar nicht, sondern widmete meine
ganze Aufmerksamkeit dem, was sie herbeischafften. Hier kam eine mit
zwei, dort eine mit fünf, eine dritte mit einem ganzen Haufen Eier; ich
kaufte fünfzig und bezahlte für je drei den verlangten Preis von zwei
Metalliks. Andere brachten Milch und Joghurt in Büchsen, und es zeigte
sich bald, daß die Leute viel mehr entbehren konnten, als wir brauchten.

[Illustration: Nomadenfrauen bei Hammam.]

[Illustration: Beni-Said-Araber.]

Der Frauen anfängliche Scheu war nach Abschluß des Handels spurlos
verschwunden, und ich konnte nun sie und ihre grellfarbige, malerische
Kleidung mit Muße betrachten. Ihre dunkelblauen Mäntel, die gewöhnlich
ein bauschiger Stoffgürtel um den Leib hielt, waren nach vorn zu offen
und ließen ein rotes oder weißes westenartiges Unterkleid vorschimmern.
Füße und Arme waren frei. Die Armgelenke zierten hübsche Silber-
oder Messingringe, den Hals wertlose Perlenschnüre. Ihr Haar war in
starke Zöpfe geflochten, und um den Scheitel schlangen sich schwarze
Turbanschleier. Alle Frauen hatten die Unterlippe blaugrün bemalt,
ebenso das Kinn. Diese Bemalung entstellte sie keineswegs, im Gegenteil
vermittelte das kräftige Blaugrün vortrefflich das Dunkelblau der
Mäntel mit dem bronzenen Braun der Gesichter. Woher diese Sitte? Auf
diese Frage antworteten sie nur: „Das ist bei uns von altersher so
Brauch.“ Einige Frauen trugen kleine braungebrannte Kinder auf dem
Rücken oder an der Brust. Unter den jüngeren fielen mehrere durch
echte, ungepflegte Wüstenschönheit auf.

An den weiten Ufern des Euphrat genießen diese Nomaden eine unbegrenzte
Freiheit. Wenn die Steppe rings um das Dorf abgegrast ist, ziehen
sie mit Zelten und Herden zu neuen Weidegründen. Sie starren von
Schmutz und Ungeziefer, Frauen wie Männer, und ihre buntscheckige
Kleidung ist verschlissen und zerlumpt, voller Flecken von Fett und
Schafblut und vom Ruß des Lagerfeuers geschwärzt. Das kümmert sie
nicht. Abgehärtet von Wind und Wetter fühlen sie sich stark und gesund;
ihre Bedürfnislosigkeit macht sie leichten und frohen Sinnes; doch
der Neugier huldigten sie mit naiver Unbefangenheit, und selbst die
Kinder waren uns wildfremden Gästen gegenüber gar nicht blöde; Knaben
und Mädchen sprangen übermütig aus und ein und trieben ihren Scherz
mit uns. Fähren wie die meinige sahen sie ja alle Tage vorbeitreiben;
höchstens daß ihnen solch eine Hütte darauf neu war. Mehrfach schon
hatte sie spielenden Knaben als Zielscheibe für ihre Schleuder
gedient, und die kleinen barfüßigen Mädchen am Strande pflegten ohne
Schüchternheit nach dem Woher und Wohin unserer Fahrt zu fragen. Nur
einmal, bei dem Dorf Sedschere, am 15. April, machten wir Aufsehen und
störten sogar ein Leichenbegängnis: das ganze Gefolge überließ den
Toten sich selbst und eilte ans Ufer, um uns vorüberfahren zu sehen.

Die Zelttücher der Nomaden sind aus grober, schwarzer Ziegenwolle; sie
ruhen auf mehreren in einer Reihe aufgestellten, senkrechten Stangen,
fallen nach beiden Seiten ab und sind mit Stricken festgemacht. Ringsum
ist das Zelt mit Reisigbündeln umgeben, die als Brennmaterial benutzt
und immer erneuert werden. Das Innere ist durch Wände von Schilfmatten
in verschiedene Räume eingeteilt. Der vornehmste, das Empfangs- und
Konversationszimmer, liegt in der Mitte, links der Stall für Schafe und
Kälber, rechts Vorratsraum und Küche. Dort bereitete eine alte Frau in
einem Topf über dem Feuer das erfrischende Getränk „Airan“ aus Wasser
und gegorener Milch. Die Milch wird in Ziegenfellen aufbewahrt, die
an den Zeltstangen hingen. Milch und Brot ist die Hauptnahrung dieser
Nomaden; seltener wird ein Schaf aus der Herde geopfert. Mit diesem
ihrem Reichtum sind sie sehr sparsam, wie ich am nächsten Tage erfahren
sollte.

[Illustration: Sale, ein Lamm an der Brust haltend.]

Die Abenddämmerung hatte meiner Arbeit ein Ziel gesetzt, und ich ließ
meine Fähre bei drei schwarzen Zelten am linken Ufer halten. Ihre
Bewohner kamen uns entgegen und begrüßten uns auf europäische Art durch
Handschlag. Wir folgten ihrer Einladung und ließen uns in einem der
Zelte im Kreise um das Feuer nieder, das mit stachligen Rasenstücken
genährt wurde, die draußen aufgehäuft waren. So oft ein neuer Arm voll
in die Glut geworfen wurde, flammte die Lohe hoch empor und beleuchtete
prächtig diese Kinder der Wüste, die wettergebräunten Hirten, die
dunkelblauen Trachten der Weiber und das zerlumpte Durcheinander der
lärmenden Kinder. Sie waren vom Stamme al-Murat; ihre Nachbarn auf
dem anderen Ufer gehörten zum Stamm der Bobani. Der Winter 1915/16,
erzählten sie, sei sehr hart gewesen, und es sei reichlich Schnee
gefallen; vor fünf Jahren habe das Flußeis sogar Menschen und Tiere
getragen. Unsere neugierigen Wirte wurden nicht müde, sich über
unseren Besuch zu wundern, uns anzustarren und auszufragen, und als
ich am Abend in meiner Hütte Tee trank, leisteten sie mir vom Ufer aus
Gesellschaft. Ich kaufte von ihnen weiches Brot und Joghurt, aber ein
Fettschwanzschaf wollten sie nicht herausrücken, d. h. sie verlangten
dafür 150 Grütsch oder anderthalb türkische Pfund (fast 30 Mark), einen
drei- oder viermal zu hohen Preis, der jeden Handel unmöglich machte.

[Illustration: Araberinnen vor einem Zelt.]

Zwei Tage später hatte ich damit mehr Glück. Wir waren beim Dorfe
Dibse vorübergefahren, dessen Ruine auch unter dem Namen El-Burdschi,
d. h. die Burg, bekannt ist. Hier lag in alter Zeit die berühmte
Stadt Thapsacus, die ehemals die Ostgrenze des Salomonischen Reiches
bezeichnete (1. Buch der Könige, 4, 24). Gleich oberhalb des Ortes
ist noch heute eine Kamelfurt, durch die seinerzeit der jüngere Cyrus
und Alexander der Große den Euphrat überschritten. Hinter Dibse
waren wir an einer Stelle gelandet, die den Namen Oasta führte. Hier
wohnten die Araber des Oäldästammes. Ihnen gegenüber sollen die
Hamidije-Araber ihre Weideplätze haben, und weiter abwärts am rechten
Ufer folgt der Stamm Hamed-el-Feratsch. Hochgewachsene Männer in
braun- und weißgeränderten, sackähnlichen Mänteln empfingen uns mit
dem Gruße „Salam“. Sie erwarteten das diesjährige Hochwasser erst
in vierzehn Tagen; nach zwei Monaten schrumpfe dann der Fluß zur
Bedeutungslosigkeit zusammen. Ihre Schafherden scheren sie Mitte Mai;
dann kommen die Händler von Aleppo hierher, um die Wolle aufzukaufen.
Für klingendes türkisches Silber erstand ich hier ein prächtiges
Fettschwanzschaf; einer der Araber zog sofort blank und schnitt mit
einem Hieb die Weichteile bis zu den Halswirbeln durch, daß das Blut
über das Gras spritzte. Kerit tauchte die Hand in das rauchende Blut
und malte ein paar breite, rote Streifen über das Vorderteil der Fähre
-- jedenfalls ein uralter Opferbrauch, der die unheimlichen Mächte des
Wassers besänftigen und den Schiffern eine glückliche Fahrt schenken
soll. Mit sicherer Hand zog der Araber das Schaf ab, entfernte die
Eingeweide und zerschnitt kunstvoll das Fleisch; Fett, Niere, Herz
und Leber wurden für sich gelegt. Die Fleischstücke ließ ich an
der Hinterwand meiner Hütte aufhängen, mit Ausnahme derer, die zum
abendlichen Gastmahl meiner Besatzung bestimmt waren.

[Illustration: Araber am Euphrat.]

Nachdem die uns begleitenden Araber zu ihren Zelten zurückgekehrt
waren, machten meine Leute am Ufer Feuer, und nun begann ein emsiges
Kochen und Schmoren. Für mich wurden die Schafsnieren am Spieß über
der Glut gebraten. Jede Schafschlachtung ist in Asien ein festliches
Ereignis. Die Männer bleiben länger als gewöhnlich sitzen, verzehren
unglaubliche Mengen Fleisch, plaudern und singen und schweigen bloß, so
lange sie essen. --

Neben den schwarzen Zelten der Araber zeigten sich an den Ufern des
Euphrat oft Hunderte weißer Zelte. Das waren die Lager der armenischen
Flüchtlinge. Mehrfach war ich diesen Unglücklichen schon begegnet,
wenn ich tagsüber oder am Abend an Land ging. Einmal, in der Nähe
der Festung Dschabar, hatte ich eine Schar von ihnen, meist Frauen
und Kinder, die auf dem Wege nach Der-es-Sor und Mosul waren, mit
allem bewirtet, was sich an Brot, Eiern und Fleisch an Bord meiner
Fähre fand. Genauer lernte ich ihr Elend erst kennen, als ich am 18.
April das Städtchen Rakka erreichte, das am Fuß einer isolierten,
fünfgipfligen Gebirgspartie liegt.

Zwischen Inseln hindurch, die bald aus Schlamm bestanden, bald mit Gras
bewachsen oder mit Flugsanddünen bedeckt waren, näherten wir uns dem
größten Ort, den ich bisher am Euphrat angetroffen hatte. Bei Rakka
erreicht eine Karawanenstraße von Urfa her den Strom, der hier sehr
breit ist und so gerade läuft, daß die Ufer keine Erosionsterrassen
haben. Diese entstehen nur bei Windungen, wo der beständige seitliche
Druck des Wassers sie bildet. Auf dem rechten Ufer weidete eine
Herde von etwa hundert Kamelen; wahrscheinlich war sie für die
Transportkolonnen bestimmt, die die Verbindung mit der mesopotamischen
Front aufrechterhielten.

Am linken Ufer waren zahlreiche Frauen bei der Wäsche beschäftigt,
während Kinder im Wasser planschten, und Sakkas, Wasserträger, ihre
Ledersäcke füllten und auf Eseln nach der Stadt beförderten, die
einzige Wasserleitung, die Rakka besitzt.

[Illustration: Armenische Flüchtlinge bei meiner Fähre.]

Mohammed und Hussein blieben bei der Fähre als Wache, während Mahmud,
das Gewehr am Riemen über der Schulter, und Kerit mich nach der Stadt
begleiteten. Sie liegt zwölf Minuten vom Ufer entfernt, damit das
Hochwasser, dem das flache Land ausgesetzt ist, nicht bis zu den
Häusern dringt.

Mein Ziel war das Amtszimmer des Kaimakam. Gendarmen empfingen uns
am Tor und führten uns über den inneren, viereckigen Hof die Treppe
hinauf zu einer Galerie oder Veranda und von dort in das Empfangszimmer
des Gouverneurs. Es war mit einfachen Matten belegt und mit Sofas und
Stühlen möbliert. Viele Besucher warteten, Militärs und Zivilisten.
Der Kaimakam, ein alter Mann mit weißem Vollbart, klobiger Nase,
freundlich träumerischen Augen und rotem Fes, saß vor einem mit Bergen
von Briefen und Akten beladenen Schreibtisch. Sein Dolmetsch stand
daneben wie ein angezündetes Licht.

Nachdem der Kaimakam meinen türkischen Paß durchgesehen, sich über
meine Reisepläne unterrichtet und mir die neuesten Nachrichten
vom Kriegsschauplatz mitgeteilt hatte, bat ich um die Erlaubnis,
Antiquitäten von Rakka kaufen zu dürfen. Die kleine Stadt, die jetzt
zum großen Teil von ihrem Handel mit den in der Umgegend wohnenden
Anese-Arabern lebt, liegt auf dem Platz, wo ehemals die alte Festung
Nicephorium stand. Als Avidius Cassius im Jahre 164 n. Chr. gegen
das Partherreich vorrückte, fand er an der Euphratlinie hartnäckigen
Widerstand, doch konnten Europus, Nesibin, selbst die Hauptstadt
der Parther, Ktesiphon, und viele andere Städte, darunter die Feste
Nicephorium, der überlegenen Kriegskunst der Römer nicht widerstehen.
Rakka ist auch dadurch berühmt, daß der Kalif Harun-er-Raschid hier den
Sommer zu verbringen pflegte. Meinem Wunsch nach Altertümern durfte
übrigens der Gouverneur nicht stattgeben, da die Ausfuhr verboten ist.

[Illustration: Hauptstraße in Rakka.]

Während ein alter Offizier mit dem Kaimakam eilige Geschäfte
erledigte, unterhielt ich mich mit dem französischen Dolmetscher. Er
war ein Armenier aus Konstantinopel und mit einer großen Schar von
Landsleuten über Aleppo und Meskene nach Rakka gekommen, wo sie seit
sechsunddreißig Tagen festgehalten wurden. Wir sahen ihre Zelte am
rechten Stromufer, das von Frauen und Kindern wimmelte. Man schätzte
ihre Zahl auf 5000; sie waren aus Gegenden an der kaukasischen Front
ausgewiesen worden. Der Dolmetsch, der ein treffliches Französisch
sprach, hatte dem Kaimakam seine Dienste angeboten und war sofort
angestellt worden.

Vor zwanzig Tagen, erzählte er mir, sei ein deutscher Offizier auf
einem Schahtur angekommen und habe um die Erlaubnis gebeten, an die
ärmsten Armenier 30 Pfund in Silber austeilen zu dürfen; der Kaimakam
sei selber bei der Verteilung zugegen gewesen. Auf meine Bitte, dem
Beispiel des Deutschen folgen zu dürfen, erwiderte aber der Kaimakam,
er sei für das Angebot herzlich dankbar und habe an sich nichts
dagegen. Aber er habe vom Wali in Urfa gerade ein Telegramm erhalten,
das verbiete, ohne dessen Erlaubnis Gaben an die Ausgewiesenen zu
verteilen.

Ich suchte nun den Basar auf, um meinen Proviant mit Brot, Käse,
Apfelsinen und Salz zu bereichern. Ein armenischer Arzt aus Eriwan, der
seit vielen Jahren in Rakka ansässig war, begleitete mich durch die
staubigen Straßen der langweiligen Kleinstadt. Nach seiner Versicherung
zählte die armenische Kolonie von Rakka gegen anderthalb Tausend
Personen.

Auf unserem Wege folgte uns ein Heer armer Kinder und Frauen auf den
Fersen, lauter Armenier, und als ich an einem Bäckerladen vorüberkam,
auf dessen Tischen große Haufen frischer, runder Brote aufgestapelt
lagen, konnte ich mir das Vergnügen nicht versagen, den ganzen
Ladeninhalt aufzukaufen und an die Hungernden zu verteilen. Sie
stürmten von allen Seiten auf mich ein, stießen sich, schrieen, fielen
zu Boden, traten aufeinander und zerrten an meinen Kleidern, um nur
ihres Anteils nicht verlustig zu gehen, dann zerstreuten sie sich,
jeder mit seinem Fang zufrieden. Es war eine Herzensfreude sie essen zu
sehen, und mit schmerzlicher Teilnahme dachte ich an die Fünftausend,
die auf dem anderen Ufer verschmachteten. Aber wenn ich auch alles, was
ich hatte, an die Ärmsten verteilte -- für so viele hätte es doch nicht
entfernt gereicht.

                               *       *
                                   *

[Illustration: Holoß Bachmakdjan, 14jährige Armenierin aus Erserum.]

Die Verfolgungen der Armenier, vor allem die Grausamkeiten gegen
unschuldige Frauen und Kinder, gehören zu den dunkelsten Kapiteln
des Weltkrieges. Sie übertrifft nur die Grausamkeit, mit der zwei
Millionen in Rußland ansässiger Deutschen bei Kriegsausbruch in die
Pesthöhlen Sibiriens verschleppt wurden, um dort das Schicksal der
unglücklichen Opfer aus Ostpreußen zu teilen. Was aber die Engländer
über die armenischen Massaker in die Welt hinausposaunen, ist ungeheuer
übertrieben und fordert den Widerspruch heraus. In seiner Oberhausrede
vom 6. Oktober 1915 behauptet Lord Bryce, die Türkei wolle ihre
nichtmohammedanische Bevölkerung ausrotten, weil sie die Einheit des
Staates störe und sich nicht immer der Unterdrückung füge. Die Türkei
zählt über 21 Millionen Einwohner; mehr als ein Viertel davon sind
Christen und Juden. Die Juden, die fast eine Million zählen, haben
von den Türken nichts auszustehen gehabt, im Gegensatz zu Rußland, wo
sie der empörendsten Verfolgung ausgesetzt waren, und die Christen in
Syrien und anderen Teilen der Türkei leben mit den Herren des Landes in
gutem Einvernehmen, sind wenigstens während dieses Krieges in keiner
Weise von ihnen behelligt worden. Die Armenier bilden nur etwa den
vierten Teil der gesamten Christenheit des türkischen Reichs.

Lord Bryce leugnet, daß sich die Armenier jemals ungesetzlich gegen
ihre Regierung gezeigt hätten. Aber eine Broschüre von Arnold J.
Toynbee in Oxford, die eben jene Rede des Lords enthält, versichert,
daß 250000 Armenier über die russische Grenze desertiert seien,
die jetzt „die einzige Hoffnung und Stütze der armenischen Rasse“
bildeten! Die 750000 Armenier, die (nach einer andern Stelle derselben
Broschüre!) in Transkaukasien leben und russische Untertanen sind,
gehören wohl nicht zur armenischen Rasse? Nach der zuverlässigsten
Bevölkerungsstatistik von Armenien in „Petermanns Mitteilungen“ (42.
Bd. 1896) sind es sogar 958000. Lord Bryce will nur von „vereinzelten“
Deserteuren gehört haben und behauptet, das Freiwilligenkorps, das
zu Anfang des Krieges dem russischen Heer so wertvolle Dienste
leistete, habe nur aus russischen, im Kaukasus wohnenden Armeniern
bestanden. Darüber können nur die türkischen Behörden zuverlässige
Aufklärung geben. So harmlos, wie der Lord sie schildert, haben sich
die Armenier bei früheren Gelegenheiten nicht erwiesen, weder im
türkischen noch im russischen Asien. Die Massaker des Jahres 1896
verursachte der wahnsinnige Versuch der Armenier, die Ottomanische
Bank in Konstantinopel zu stürmen, und das Blutbad, das 1903 die
Tataren in Baku unter den Armeniern anrichteten, war die Folge der
politischen Morde, die letztere an russischen Beamten verübt hatten.
Die Tataren glaubten, sich durch Hinschlachtung der Armenier einen Dank
von Rußland verdienen zu können; dieses ließ sie auch gewähren, und
als es endlich eingriff, waren die Greuel schon vorüber. Als ich Ende
November 1905 in Nachitschewan weilte, hatten die Armenier, wie ich in
meinem Buche „Zu Land nach Indien“ (1. Bd., S. 95 f.) berichtet habe,
im Tatarendorf Ikran vierzig Männer, Frauen und Kinder niedergemacht,
und in Nachitschewan selbst war ein Tatar von ihnen erschossen worden,
als er unter freiem Himmel sein Abendgebet verrichtete. Darauf töteten
die dortigen Tataren einen Armenier, und nun ging die Blutrache weiter.

Lord Bryce ist zweifellos ein Ehrenmann -- ~so are they all, all
honourable men~! Aber was er von den schrecklichen Grausamkeiten
bei Räumung des kaukasischen Kriegsgebiets vor der Besetzung durch die
Russen erzählt, stimmt schlecht zu den übrigen Angaben der genannten
Broschüre. 800000 Armenier, sagt Lord Bryce, hätten bei dem Transport
nach südlicheren Gegenden den Tod gefunden. In der Broschüre aber heißt
es (S. 15 der dänischen Übersetzung) von den 1200000 Armeniern des
türkischen Reichs sei gut wie die Hälfte „systematisch niedergemetzelt“
worden. Wenn nun wirklich 250000 nach Rußland flohen und die Hälfte
der Zurückbleibenden getötet wurde, so ergäbe das etwa 475000, aber
keineswegs 800000! Ganz abgesehen davon, daß 5000 sich nach Port Said
retteten und zahlreiche in türkischen Diensten blieben. Allein aus
der Stadt Mersina sollen nach Lord Bryces Brief an die Presse vom 26.
November 1915 25000 Armenier nach Süden verschickt worden sein! Nur
schade, daß diese Stadt bei Kriegsausbruch bloß 22000 Einwohner zählte,
unter denen -- nach Baedeker und „Petermanns Mitteilungen“ -- überhaupt
keine Armenier waren!

Ebenso leichtfertig ist die Statistik, die das armenische Patriarchat
der Kollektivnote der europäischen Gesandten beifügte, um nach Artikel
61 des Berliner Vertrags die Durchführung von Reformen in den von
Armeniern bewohnten Wilajets zu erzielen. Darnach sollten in den
betreffenden Gebieten ebensoviele Armenier (780700) wie Mohammedaner
(776500) wohnen. Tatsächlich bildeten die ersteren nur den sechsten
Teil der Bevölkerung.

Der Zweck dieser Falschmeldungen ist ja klar: die +Deutschen+
sollen die Schuldigen sein! Sie haben ja niemals etwas gegen
diese Grausamkeiten getan, obgleich sich die Türkei der Autorität
Deutschlands ohne weiteres gefügt hätte! Woher weiß der Verfasser
jener Broschüre, daß Deutschland niemals einen solchen Schritt getan
hat? Ich kann ihm versichern, daß er in einem fürchterlichen Irrtum
befangen ist, und ebenso falsch ist sein Glaube, als ob Deutschland
in der Türkei nur so zu befehlen habe! Die Türkei ist aus eigenem
Entschluß, ihrer eigenen Sicherheit wegen in den Krieg eingetreten,
nicht Deutschland zu Gefallen. Die schändliche Behandlung Griechenlands
beweist ja, daß sie beim besten Willen nicht einmal neutral hätte
bleiben können!

[Illustration: Hirten von Kal’at Rebei.]

Von gleichen Widersprüchen wimmelt eine Denkschrift von 700 Seiten,
die im Oktober 1916 dem englischen Parlament zuging: „~The Treatment
of Armenians in the Ottoman Empire 1915-1916. Documents presented
to Viscount Grey of Fallodon by Viscount Bryce~“. Hier hören wir
plötzlich aus dem Munde des amerikanischen Zeitungskorrespondenten
Henry Wood -- was Lord Bryce bei seiner Rede vom 6. Oktober 1915
keineswegs noch unbekannt war --, daß die Armenier in offenem Aufruhr
gegen die Türken standen, Wan und mehrere andere Städte besetzt
hatten und eine selbständige Regierung zu bilden beabsichtigten! Mit
vollem Recht hatte die türkische Regierung die Kriegsgesetze gegen
die Empörer angewandt, die sie obendrein noch vorher gewarnt hatte!
Aus Erserum, Trapesunt, Siwas, Charput, Bitlis und Diarbekr sind nach
jener Denkschrift (S. 12) etwa eine Million Armenier deportiert worden.
Aber diese Wilajets hatten vor dem Kriege überhaupt nur gegen 600000
armenische Bewohner! Die Wilajets Erserum, Bitlis und Wan, die jetzt im
Bereich der russischen Linien liegen, sollen nach den Untersuchungen
des Patriarchats im Jahre 1912 580000 Armenier gezählt haben;
tatsächlich waren es nur 331000! Im Mai 1916 soll es (nach S. 664 des
Blaubuchs von Bryce) nur noch 1150000 überlebende Armenier gegeben und
die Zahl der Hingeschlachteten mindestens 600000 betragen haben, also
nicht mehr 800000, wie er ein Jahr vorher behauptete! Das armenische
Patriarchat zählt insgesamt 2100000 Armenier im +türkischen
Reich+, die türkische Regierung nur 1100000! Lord Bryce nimmt also
einen Mittelwert von etwa 1600000 an, neigt aber mehr zu 2000000,
weil er sie für seine obige Rechnung braucht! Nach der Schätzung von
Lynch gab es aber in +ganz Asien+ nur 2100000 Armenier; und nach
der von Selenoy-Seydlitz aus dem Jahre 1896 2600000. Das ergäbe einen
Mittelwert von 2350000. Davon müssen aber die 958000 Armenier, die
in Rußland, und die 50000, die in Persien wohnen, abgezogen werden.
Bleiben also für die Türkei nur 1350000 übrig. 150000 Armenier wohnen
außerdem in Konstantinopel und Smyrna; diese Annahme Lord Bryces stimmt
mit sicheren Quellen überein. Das ergäbe zusammen 1500000 Armenier im
ganzen türkischen Reich, eine Ziffer, die auch in der Denkschrift von
Lord Bryce (S. 11) angeführt wird und ganz mit der Berechnung Professor
Philippsons im Jahre 1915 übereinstimmt.

Zieht man von dieser Gesamtzahl die der überlebenden 1150000 ab,
so können nicht 6 oder 800000 oder gar über eine Million Armenier
umgekommen sein, sondern nur etwa 350000. Die von den Engländern
behaupteten Zahlen bestehen also in keiner Weise zu Recht. Nur das
wollte ich damit bewiesen haben.

[Illustration: Schuschanik Pambuchian, 20jährige Armenierin aus
Erserum.]

Grausamkeiten sind verabscheuenswert, wo, von wem und warum sie auch
verübt werden, und kein Ehrenmann kann sie billigen. Aber wenn man zu
ihrer Beleuchtung die Statistik heranzieht, ist das wenigste, was man
verlangen muß, deren Richtigkeit!

Und haben obendrein nicht gerade die Engländer das Recht verwirkt,
die Armenier vor der Welt zu vertreten? Lord Kitchener berichtete
mir einst, wie er die Ruhe im Sudan nur dadurch herstellte, daß
er die ganze waffenfähige Bevölkerung des Landes ausrottete, und
+französische+ Quellen enthalten haarsträubende Bilder von den
Konzentrationslagern in Transvaal, wo Burenfrauen und -kinder zu
Zehntausenden verhungerten! Und schreit nicht das Schicksal Irlands
zum Himmel? In einem unbarmherzigen Krieg, der 150 Jahre lang dauerte,
wurden zwei Drittel der irischen Bevölkerung ausgerottet. Nur ihre
große Fruchtbarkeit rettete die irische Rasse vor völligem Untergang.
„Als die Engländer“, sagte kürzlich der Ire Georges Chatterton-Hill in
der Zeitschrift „~Ord och Bild~“ (1916, S. 561 ff.) „sie nicht
durch direkten Mord vernichten konnten oder durch Gesetze, die die
ganze Nation außer Landes treiben sollten, versuchten sie eine andere
Methode, die sie auch in Indien erprobt haben: den organisierten
Hunger. Und diese Methode erwies sich als sehr wirksam. In siebzig
Jahren, von 1841-1911, sank die Bevölkerungsziffer Irlands von 8196597
auf 4381951! Während der drei Jahre der sogenannten großen Hungersnot
(1846-1848) starben über eine Million Menschen in Irland an Hunger
inmitten lachender Getreidefelder! In diesen drei Jahren wurde aus
Irland an Nahrungsmitteln (Getreide und Rindvieh) für nicht weniger
als 50 Millionen Pfund unter dem Schutz englischer Bajonette nach
England ausgeführt, um Steuern für den englischen Staat und Pacht für
die abwesenden englischen Grundbesitzer zu bezahlen. Die folgenden
drei Jahre (1849-1851) starben weiterhin etwa 400000 Menschen an
Entbehrungen.“

Wenn die angeblichen „Beschützer der kleinen Nationen“ unter den
380 Millionen Menschen, die durch die Laune des Geschicks unter
ihren „Schutz“ gekommen sind, nicht genügend Spielraum für ihre
menschenfreundliche Betätigung finden, so sollten sie doch wenigstens,
statt bei den Mittelmächten, zuerst bei ihren nächsten Verbündeten
anklopfen! In Rußland ist weit mehr zu bessern als in der Türkei! Das
Telegramm, das der Generalsekretär des Verbandes der unterdrückten
Völker Rußlands, Baron Friedrich Ropp, am 21. Dezember 1916 an Lloyd
George richtete, fand diesen offenbar zu sehr mit anderen Dingen
beschäftigt! Vielleicht wird die revolutionäre Regierung Rußlands
selbst auf diesen erschütternden Notschrei hören?

[Illustration: Vartiter Pambuchian, 18jährige Armenierin aus Erserum.]

Auch in neutralen Ländern hat man Broschüren und Bücher über die Leiden
der Armenier geschrieben und die Regierungen interpelliert. Ich zweifle
nur, ob hier die reine, unverfälschte Menschenliebe am Werke ist.
Denn diese macht keinen Unterschied zwischen Armeniern und Belgiern
einerseits und -- Ostpreußen, Polen und russischen Juden andrerseits!
Neben der Religionsheuchelei ist nichts so verabscheuenswert wie der
Schwindel, der unter der Maske der Barmherzigkeit nichts anderes als
politische Geschäfte treibt und die Leiden anderer ruchlos ausbeutet,
um politische Gegner, die Türken und ihre Verbündeten, verhaßt zu
machen!

Die kriegerischen Vorgänge an der kaukasischen Front haben dazu
gezwungen, die Zivilbevölkerung zu entfernen, besonders weil diese
sich offen mit dem Feinde verbündete und gegen die eigene Regierung
aufstand. Brutaler Eifer untergeordneter Behörden ist zu Grausamkeiten
ausgeartet, zu denen -- daran zweifle ich nicht -- die Regierung in
Konstantinopel keine Befehle gegeben hatte. Die gebildete Welt darf
aber erwarten, daß die türkische Regierung weiterem Blutvergießen
ein Ende macht, durch nachdrücklichen Schutz des unglücklichen
armenischen Volkes sich unvergänglichen Ruhm erwirbt, ihre Feinde
dadurch entwaffnet und ihre Freunde mit noch stärkeren Banden an sich
knüpft. Sie muß dafür sorgen, daß die Klagen in den Bergen Armeniens
verstummen.




[Illustration: Einfahrt nach Der-es-Sor.]




Siebentes Kapitel.

Deutsche Artillerie auf dem Wege nach Bagdad.


In der Nacht nach dem im fünften Kapitel geschilderten Abenteuer hatte
sich der Sturm nochmals aufgerafft, und er blies auch den folgenden
Tag, den 19. April, so ungestüm und regellos, daß mir nichts übrig
blieb, als bei Säbcha im Schutz der Tamariskengebüsche zu verweilen und
mir und meinen übermüdeten Leuten Ruhe zu gönnen.

Unter dichten Weißdornbüschen, geschützt vor dem Wind, hatten sie
sich am Ufer hingestreckt und freuten sich in der Morgenfrische der
Wärme, die ein knisterndes Feuer ausströmte. Ich fühlte mich an Bord
am wohlsten, hatte es mir mit Hilfe dicker Winterkleider einigermaßen
behaglich gemacht und lag lesend auf meinem Bett, als ich auf einmal
Schritte auf der Laufplanke hörte und ein junger Europäer vor meiner
Hütte erschien. Zu meiner größten Überraschung war der Ankömmling ein
Landsmann von mir, Nils de Maré, Major in persischen Diensten. Am
Abend vorher war er mit Major Pousette und sechzehn Österreichern, die
aus russischer Gefangenschaft in Taschkent entflohen waren und sich
durch Persien hatten durchschlagen können, in Säbcha angelangt. Sie
hatten meine Fähre ankommen sehen, und da de Maré überzeugt war, daß
ich mich darauf befände, hatte er seine Begleiter nach Meskene und
Aleppo vorausfahren lassen. Dann brach der Orkan aus, und meine Fähre
war im Sturmnebel verschwunden. Mit einem persischen Diener hatte
sich der Major in einem gebrechlichen Fahrzeug aufgemacht, um meine
letzte Spur zu suchen, und er war jetzt nicht wenig erstaunt, mich
völlig wohlbehalten in meiner Hütte zu finden, die er höchstens als ein
trauriges Wrack anzutreffen gefürchtet hatte.

Ich ließ dem willkommenen Gast auftischen, was das Haus vermochte.
Das war nun leider wenig, und Apfelsinen und Zigarren mußten die
Dürftigkeit unseres Mahles vergolden. De Maré war auf der Heimreise
nach Schweden; er hatte den Rückzug über Kirmanschah nach Chanikin
mitgemacht und in den Kämpfen mit den nachdrängenden Russen so viel
erlebt, daß die Stunden unseres Beisammenseins nur so verflogen.

Um 4 Uhr nachmittags saßen wir noch immer über seine persischen
Kartenskizzen gebeugt, als plötzlich Mahmud herbeigesprungen kam mit
der Meldung, eine große deutsche Fähre sei im Anzug. Und richtig! Nur
wenige hundert Meter flußaufwärts kam ein großer, schwerer Prahm im
heftigen Wind gerade auf uns zu, als ob er mein leichtes Fahrzeug in
den Grund bohren wollte. Aber er steuerte mit tadelloser Sicherheit
nahe vorbei und landete unter dichtem Tamariskengebüsch ein Stück
weiter abwärts. Auf der Längsseite der Fähre stand in großen Buchstaben
ihr Name „Möve“. Sie war also die Vorhut der bayrischen Batterie,
die einige Tage nach mir Dscherablus verlassen hatte. Bald kam auch
die ganze Flottille an der letzten Biegung des Stromes vor, die
„Emden“ mit ihren verdeckten Munitionswagen, die „Hella“ unter Gesang
ihrer Besatzung, „Mohammed Reschid V.“ mit starkem Tiefgang infolge
seiner schweren Last an Geschützen und Granaten, und schließlich ein
türkischer Doppelschahtur von der Größe des meinigen, das Admiralschiff
des Majors von Schrenk, das unter Flaggengruß, Winken und Hurrarufen
der Offiziere an mir vorüberfuhr. Wenige Minuten später durfte ich
den Major und seine Kameraden vor meiner Hütte begrüßen, und am Abend
führte Leutnant Schmidt mich und meinen Landsmann mit einer Laterne
durch stachliges Tamariskengebüsch zum Lagerplatz der Deutschen, wo
wir uns beim Licht des Mondes und einer Karbidlampe zum gemeinsamen
Abendbrot niederließen und im Austausch unsrer Erlebnisse während der
letzten Woche reizende Stunden verbrachten. De Maré verabschiedete sich
um 9 Uhr, um mit seinem persischen Diener nach Säbcha zurückzukehren;
er konnte aber sein Boot im Dunkeln nicht finden und verbrachte daher
die Nacht, in meinen Mantel gehüllt, am Lagerfeuer, um am frühen Morgen
endgültig aufzubrechen.

Vier von den neunzehn deutschen Fahrzeugen fehlten noch; sie waren in
der Nähe von Rakka auf Sandbänke getrieben, und der Major wollte nun
hier warten, bis er alle wieder beisammen hatte. Da am andern Morgen
der Wind noch ebenso heftig wehte, der Euphrat in weißbraunen Wogen
rollte und das Wetter so rauh war, daß man sich seiner Winterkleider
und des Ledermantels aufrichtig freute, beschloß auch ich den Tag in
Gesellschaft meiner deutschen Freunde zuzubringen.

Am Vormittag wurden auf einer Anhöhe in der Nähe des Lagers zwei
Masten aufgestellt, um den Nachzüglern Signale zu geben, und ein
Rundblickfernrohr schaute nach ihnen aus. Zwei türkische Doppelfähren
kamen bald in Sicht und erhielten ihre Plätze am Ufer angewiesen.
Von den zwei übrigen deutschen machte die „Bavaria“ am meisten
Sorge. Sie war schwer befrachtet, und da der Euphrat in der Nacht
bedeutend gesunken war, saß sie wahrscheinlich auf ihrer Sandbank um
so fester und mußte entladen werden, um nur wieder loszukommen. Nach
stundenlangem Ausspähen meldete endlich Leutnant Max Kirchmair, daß
über der Zeile von Tamarisken und Wasserwerken, die in dem flachen
Lande die Windungen des Euphrat kenntlich machten, eine deutsche Flagge
langsam vorrückend zu sehen sei. Sie kam näher und näher, und endlich
wurde das Fahrzeug selbst sichtbar: es war „Kaiser Wilhelm II.“ Ein
Seil flog ans Land, und mit starken Tauen wurde das schwere Fahrzeug
festgemacht.

Nach einer weiteren Stunde kam endlich auch die „Bavaria“ in Sicht. Von
dem starken Strom getrieben, schien sie auf ihren Vorgänger anrennen
zu wollen. Da sprang ein Mann der Besatzung, ein Seil in der Hand, in
das mehrere Meter tiefe Wasser, verschwand einen Augenblick unter der
Oberfläche, tauchte dann wieder auf und schwamm flugs ans Land, um die
„Bavaria“ oberhalb des „Kaiser Wilhelm“ zu vertäuen.

So hatten sich die neunzehn deutschen Fahrzeuge wie Schildkröten am
Lande festgebissen, und in dem Tamarisken- und Hagedorngebüsch des
Ufers entwickelte sich ein Lagerleben, dessengleichen die Station
Säbcha wohl schwerlich vorher gesehen hatte. Deutsche Artilleristen
lagen gruppenweise um die Feuer, plauderten und sangen bei siedenden
Kesseln und schöpften mit großen Kellen Suppe in ihre Eßschüsseln.
Dazwischen bildeten türkische Soldaten und Ruderer, die lebhaft
über die bevorstehende Fahrt nach Der-es-Sor berieten, mit ihrer
orientalischen Kleidung bunte Farbenkleckse. Unteroffiziere gingen hin
und her und erteilten Befehle für den Abend, die Nacht und den Aufbruch
am andern Morgen. Bei den Fahrzeugen, wo mancherlei instand zu setzen
war, erklang der Schlag der Hämmer und das Zischen der Sägen, und Äxte
zersplitterten die Tamariskenstämme, die den himmelan lodernden Flammen
der Lagerfeuer verfallen waren.

Major von Schrenks Schahtur war überaus praktisch eingerichtet. In
seiner Mitte standen zwei türkische Zelte mit je drei Betten; am Tage
wurden die Betten zusammengepackt, die Zelte abgenommen, nur das
Stangengerippe blieb stehen. Auf leichten Tischen lagen Bücher, Karten
und Fernstecher, und Zeltstühle sorgten für ausreichende Bequemlichkeit.

Am nächsten Morgen wollten wir zusammen aufbrechen. Es war Karfreitag,
der 21. April. Der Fluß war am Tage wieder 20, in der Nacht 42
Zentimeter gestiegen. Schon kurz vor ½5 Uhr ließ ich die Haltetaue
meiner Fähre lösen und fuhr voraus. Kurz vor 5 Uhr ging die Sonne in
strahlender Klarheit auf und beleuchtete auf den Wassern des Euphrat
das ungewöhnliche Schauspiel, wie sich die Fahrzeuge der deutschen
Artilleristen eins nach dem andern vom Ufer lösten, stromabwärts zogen
und bei der nächsten Biegung verschwanden; das Admiralschiff bildete
wieder den Schluß.

Auf den Rat vorüberfahrender Araber war ich in einen schmalen Sund
eingebogen, der die erste Stromwindung abschnitt. So überholte ich die
deutschen Boote bis auf zwei. Bei einer scharfen Biegung nach Südosten
trieb mich aber der hartnäckige Wind in einem Dickicht überschwemmter
Tamarisken am linken Ufer auf Grund, und bei der nächsten Windung nach
Nordwesten preßte er meine Fähre gegen eine Landzunge am rechten Ufer.
Hussein versuchte krampfhaft mit dem Ruder abzustoßen; mit gewaltigem
Krach zerbrach es, und das schnell gefaßte Reserveruder blieb im
zähen Grundschlamm stecken. Während dieses Aufenthalts schwamm die
ganze deutsche Flottille an mir vorüber; als wir dann aber den Wind
im Rücken hatten, überholte ich wieder zwei Gruppen meiner deutschen
Reisegesellschaft, die auf der sonst eintönigen Fahrt eine angenehme,
spannende Abwechslung brachte. Die am schwersten beladenen Fahrzeuge
fuhren am schnellsten, denn sie hatten bedeutenden Tiefgang und wurden
von Wasserschichten getragen, die der Wind nicht beeinflußte. Meine
leichte Fähre schwamm wie eine Nußschale auf der Oberfläche, ein
Spielzeug jedes Windes; oft wenn ich am Schreibtisch saß, drehte sich
die Landschaft um mich herum wie eine Scheibe um ihre Achse. Außerdem
hatten die Deutschen stämmige Kanoniere an Bord, die den eingeborenen
Ruderern fleißig halfen. So mußte ich es bald aufgeben, mit den
Vorauseilenden gleichen Schritt zu halten. Dafür konnte aber mein
kleineres Fahrzeug schmale Seitenarme benutzen und seinen Weg mehrfach
abkürzen.

[Illustration: Mein neuer „Kapitän“ Sale Abdul Mohammed (in der Sonne
das Gesicht verziehend).]

Aus den Gebüschen am Ufer erhoben sich zahlreiche Krähenschwärme mit
heiserem Geschrei; Schafherden und viele Zeltdörfer bedeckten das
Uferland. Eine zeitlang schwamm eine Gruppe stolzer Pelikane vor
uns her; die Tiere ließen uns nicht aus den Augen; sobald wir ihnen
aber näherkamen, erhoben sie sich mit klatschenden Flügelschlägen
und streuten einen Regen von Wassertropfen herab. An diesem Tag sahen
wir auch die erste Heuschrecke; sie ließ sich auf den Rand der Fähre
nieder, Kerit schlug sie tot und schalt wie ein Rohrspatz auf das
Ungeziefer, das das Brot des Volkes auffresse; dann aber kamen sie zu
Hunderten, und Kerit mußte sie wohl oder übel sitzen lassen.

In der Gegend El-Hamma durchschneidet der Euphrat den kleinen
Bergrücken il-Bischri, und die jäh abfallenden Bergwände rücken erst
auf dem rechten, dann auch auf dem linken Ufer wieder eng an den Fluß
heran, nur schmale Streifen Wiese oder bebautes Feld an ihrem Fuße
freilassend. In diesem wunderschönen Hohlweg drängt sich der Euphrat
auf etwa 100 Meter Breite zusammen. Rechts auf der Höhe stehen die
alten Doppelmauern und Türme der Feste Halebije, und auf dem Berggipfel
drüben die stolzen Ruinen des Kastells Selebije. Der Grundriß von
Halebije ist ein Dreieck, dessen eine Seite direkt am Ufer liegt; die
beiden andern treffen in einem Turm zusammen, dessen Zinnen sich hoch
über die ganze Festung erheben.

Allzu schnell treten die Kalksteinwände wieder zurück, und der Fluß
verbreitert sich. Rechts liegt die Poststation Tibni, über ihr auf
einem Hügel die Ruine gleichen Namens; der Ort ist ein „Kischla“, eine
Garnison mit geringer Besatzung. Auf einer kleinen Insel prangen die
Weiden in frischem Frühlingsgrün, und bei dem Dorf Issyf Pascha am
linken Ufer stehen wieder Zelte armenischer Flüchtlinge.

So wechseln die Landschaftsbilder unaufhörlich. Der Tag geht zur Neige,
und die Berge breiten tiefe Schatten über das Tal. Heute aber denke ich
noch nicht an Landung; die „Aleman“, versichert mir ein Araber am Ufer,
meine deutschen Reisegefährten, seien weit voraus. Fern in Ostsüdost
blitzt ein helles Licht; jedenfalls der Scheinwerfer der deutschen
Schiffe, der uns den Weg zeigen soll. Er gibt mir die Möglichkeit,
sichere Peilungen zu machen, und von Stunde zu Stunde kommen wir dem
Lichtzeichen näher. Es ist ½9 Uhr. Da donnert das Megaphon uns die
Warnung vor einer Sandbank entgegen, wir sollten den Kurs direkt auf
eine schwimmende Laterne zu halten. Die Ruder knirschen, als die Fähre
über den Strom hinübergezwungen wird. Aber es gelingt, und wir landen
glücklich unter den deutschen Fahrzeugen, von denen nur zwei noch
fehlen. Der Küchenwagen an Bord der „Möve“ brodelt noch und bewirtet
mich mit trefflicher Erbsensuppe.

Am andern Morgen waren die Deutschen vor Sonnenaufgang aufgebrochen.
Ich wartete noch auf Windstille, als das kleine Avisoboot „Blitz“
mit zwei Artilleristen an Bord heransauste, um Erkundigungen über
die Weiterfahrt der Flottille einzuziehen. Es kam von der „Bavaria“,
die in einem schmalen Flußarm festgelaufen war, wo der Wind auch
meine Fähre im Kreise gedreht hatte. Während die beiden Gäste mit mir
frühstückten, kam die „Bavaria“ mit dem noch vermißten Doppelschahtur
schon vorübergefahren und verschwand hinter dem nahen Dorf El-Busera.
„Blitz“ machte sogleich wieder fertig und jagte ihr nach. Um 9 Uhr
stießen auch wir vom Lande ab. Die deutschen Kameraden sah ich aber
erst am Abend wieder bei den hellbraunen Lehmhäusern und den fünf
weißen Minaretts der kleinen arabischen Stadt Der-es-Sor, die sich in
dem üppigen Grün von Weiden und Platanen, Kastanien und Walnußbäumen
mit ihren zahlreichen Wasserschöpfwerken und ihrer auf Steinpfeilern
ruhenden, verkehrsreichen Holzbrücke überaus schmuck ausnimmt.

[Illustration: Der-es-Sor.]

Diesem Ziel der heutigen Tagereise hatte ich mit Spannung
entgegengesehen. Denn hier war eine Telegraphenstation. Welche
Nachrichten aus der lärmvollen Welt mochten dort vorliegen?

Keine Siegeskunde empfing mich zum Osterfest 1916, wohl aber eine
erschütternde Trauerbotschaft: Vor drei Tagen, am 19. April,
war Feldmarschall von der Goltz, nach der Rückkehr von einer
Inspektionsreise nach Kut-el-Amara, in Bagdad am Flecktyphus
gestorben! --

[Illustration: Straße in Der-es-Sor.]

Der-es-Sor ist der offizielle türkische Name der Stadt; gewöhnlich sagt
man nur Ed-Der, d. h. das Kloster. Sor bezeichnet das Land zwischen
Palmyra, Ed-Der, Chabur, Sindschar, Nesibin und Rakka. Nach Sachau
beträgt die Einwohnerzahl gegen 5 bis 6000, nach M. von Oppenheim
gegen 6 oder 7000 Mohammedaner und 700 Christen. Die Stadt, deren
Straßen in besserem Zustand waren als die Bagdads, und das ganze Gebiet
zwischen Rakka und Ana wird von einem Mutessarrif, einem Gouverneur,
regiert, der unmittelbar dem Ministerium des Innern in Konstantinopel
untersteht. In Friedenszeiten lagen in Der-es-Sor ein Bataillon
regulärer, auf Mauleseln berittener Infanterie und eine größere
Abteilung Saptije zu Pferd; diese Truppen mußten die Anese-Beduinen
in der syrischen Wüste und den Schammarstamm in Mesopotamien im Zaume
halten. Das hinderte nicht, daß mit diesen ein lebhafter Handel
getrieben wurde, und Der-es-Sor ist ein wichtiger Knotenpunkt auf den
Karawanenstraßen zwischen Aleppo und Bagdad, Damaskus und Mosul.

Nachdem ich ein Telegramm und einen Brief nach Hause auf die Post
gegeben hatte, suchte ich einen der größeren Hans der Stadt auf, wo,
wie ich erfahren hatte, eine Landsmännin, Frau Major Erikson, wohnte.
Ich fand die junge, liebenswürdige Dame in Gesellschaft von vier
deutschen Herren aus Persien, die sie von Bagdad auf der üblichen
Karawanenstraße den Euphrat entlang nach Konstantinopel begleiteten.
Die Reise bis Der-es-Sor war sehr beschwerlich und langwierig gewesen.
Überschwemmungen hatten zu weiten Umwegen auf ungebahntem Gelände
gezwungen, und an einigen Stellen hatte man die Pferde, Maulesel
und Wagen auf Fähren über hindernde Wasserläufe befördern müssen.
Frau Erikson pflegte die Nächte in ihrem wohlverschlossenen Wagen
zuzubringen, auf dessen Kutscherbock ein großer kluger Rattenfänger
grimmig Wache hielt.

[Illustration: Major von Schrenk wirbt in Der-es-Sor Ruderer.]

Den Abend dieses ereignisvollen Tages verbrachten wir in einem
türkischen Wirtshaus in Gesellschaft des Majors von Schrenk und seiner
Offiziere, sowie der der Fliegerabteilung, die ich ebenfalls hier
getroffen hatte. Beim Abschied übergab mir Frau Erikson einen Brief
an ihren Gatten, der in deutschen Diensten damals in Kasr-i-Schirin
stand; beim Vorrücken der Russen kam er allmählich nach Chanikin an der
persisch-türkischen Grenze. Da ich ihn nicht traf, schickte ich ihm
den Brief durch einen deutschen Offizier. Erst nach meiner Abreise kam
auch Major Erikson nach Bagdad -- doch nur um zu sterben. Er liegt auf
dem christlichen Friedhof vor der Kalifenstadt begraben, seine irdische
Hülle soll aber seinerzeit nach Schweden gebracht werden.

In Der-es-Sor wechselten die Deutschen und ich die türkische
Begleitung. Ich mietete drei junge, kaum zwanzigjährige Araber, alle
drei stattliche, gut gekleidete, sonnenverbrannte Kerle von kräftigem
Körperbau. So zuverlässig wie die Türken waren sie nicht, aber -- wenn
sie wollten -- in ihrem Handwerk überaus gewandt, voll Heiterkeit, ja
Übermut und zu allerhand Streichen aufgelegt, die mancherlei Kurzweil
gaben. Mein neuer „Kapitän“ Sale Abdul Mohammed trug seinen schönen
Kopf mit dem roten, gelbgepunkteten Turban stolz wie ein Königssohn,
sang den ganzen Tag und hielt unter seinen Kameraden Mannszucht wie ein
Alter. Wenn seine Eitelkeit mit im Spiele war, arbeitete er musterhaft.
Die beiden Ruderer, Said Ahmed und Hussein Ali, erschienen in langen,
dünnen Kaftans, bauschigen weißen Beinkleidern, Leibgürteln aus Tuch
und spitzen Pantoffeln. Ihr ganzes Gepäck bestand aus einem Bündel mit
Brot, Eiern und Gurken. Der neue Gendarm hieß Hussein Ben Mohammed, und
ein Freipassagier namens Asis Ben Ibrahim fand sich auch noch hinzu; er
mußte sich natürlich verpflichten, mit zuzugreifen, wenn Not an Mann
war. Die einheimische Besatzung der deutschen Kriegsfähre erhielt keine
Löhnung, sondern genügte an Bord ihrer militärischen Dienstpflicht.
Die Türken als Angehörige einer kriegerischen Nation fügten sich dem
ohne weiteres; die Araber aber kniffen mit Vorliebe aus, und es machte
nicht geringe Mühe, die nötige Anzahl kundiger Schiffer aufzutreiben.
Und als wir am Ostersonntag die Anker lichteten, gab es für die kurze
Reise nach Ana, das zweite Drittel der Flußfahrt, ein tränenreiches
Abschiednehmen von den Angehörigen, als ginge es direkt in den
Schützengraben und ins Granatfeuer.




[Illustration: Unter Palmen am Euphratufer.]




Achtes Kapitel.

Im Reich der Palmen.


Noch zwei Tage hielt ich mit dem deutschen Geschwader gleichen
Schritt, dann aber gab ich das Rennen auf und ließ die so angenehme
Reisegesellschaft im Stich. Ihr lag daran, so schnell wie möglich
flußabwärts zu kommen, und sie konnte die geselligen Abendstunden durch
Schlafen am Tage einbringen. Meine Arbeit aber erforderte angestrengte
Aufmerksamkeit über Tag und Ruhe bei Nacht. Bei dem Dorf Do-er
verabschiedeten wir uns, und am Morgen des 25. Aprils lag meine Fähre
wieder einsam am Ufer. Als die Sonne über dem Horizont heraufstieg,
stand ich auf dem Gipfel des nächsten Kalksteinfelsens. Vor mir
breitete sich die Wüste aus, flach, öde und unfruchtbar. Kleine Stücke
hübsch geschliffenen Feuersteins lagen überall umher. Kein lebendes
Wesen war zu sehen. Bald trieb mich die zunehmende Hitze wieder hinab
zu dem kühlen Strom unter den Schatten meines Zeltdaches. Der Frühling
hatte endlich gesiegt; gestern Mittag zeigte das Thermometer über 25
Grad im Schatten, und bei der kleinen Stadt Mejadin hatten uns die
ersten Palmen daran erinnert, daß wir uns wärmeren Gegenden näherten.
Noch standen sie vereinzelt, aber am folgenden Tage zeigten sich bei
dem Dorfe Rawa die ersten Palmenhaine, und abwärts von Ana, das ich
am 27. April erreichte, bilden diese köstlichen Oasen den herrlichen,
das Auge immer wieder entzückenden Schmuck des Euphratufers. Mit
ihrem Auftreten wird zugleich die Schiffahrt gefährlicher, denn die
Bewässerung der Palmengärten erfordert umfangreiche, oft weit in den
Strom vorstoßende, die Fahrstraße einengende Wasserschöpfwerke.

[Illustration: Das erste Wasserschöpfwerk.]

Schon am fünften Tag meiner Euphratfahrt, dann am 18. April kurz vor
dem Dorfe Säbcha, war ich an den ersten, noch primitiven Schöpfwerken,
Denkmälern einer tausendjährigen Tradition, vorübergekommen. Damit
sich das Berieselungswasser über das Ufer verbreiten kann, muß es
ziemlich hoch hinaufbefördert werden; dazu eignet sich nur ein Ufer,
das sich etwa drei Meter über den Wasserspiegel erhebt und senkrecht
ausgewaschen ist. Wo es fehlt, muß es künstlich geschaffen werden. Die
Schöpfeinrichtung besteht aus einem kunstlosen Holzgerüst, in dessen
Oberteil ein Seil über eine Rolle läuft. Nach dem Wasser zu hängt daran
ein großer Ledersack; das innere Seilende wird von einem Zugtier --
Ochse oder Pferd -- oder durch Menschenkraft landeinwärts gezogen und
so der Wassersack emporgewunden. Seine Öffnung ist durch ein Holzkreuz
aufgespannt, damit er sich ordentlich füllen kann, und wenn er oben
ankommt, ergießt er durch einen rüsselartigen, durch eine zweite Rolle
und ein dünneres Seil regulierten Fortsatz seinen Inhalt in den Anfang
des Bewässerungskanals, ein kleines, aus Weidenruten geflochtenes, mit
Lehm gedichtetes Becken. Nach fünfzehn oder zwanzig Schritt kehrt das
Zugtier um, der Sack sinkt durch seine Schwere wieder hinab und füllt
sich aufs neue. So geht das den ganzen Tag. Häufig zwingt die Laune
des Flusses dazu, die Schöpfmaschine zu verlegen. Steigt der Strom
und überschwemmt er die Ufer, so können Tiere und Menschen ruhen; die
befruchtende Flut findet von selbst ihren Weg zu den Äckern, und die
eigentlichen Bewässerungskanäle stehen dann wie schmale Hafendämme über
der weiten Wasserfläche.

[Illustration: Das Wasser wird mit Hilfe von Ochsen oder Pferden
gehoben.]

Die knarrende Musik dieser Wasserhebewerke hatte mich von Tag zu Tag
begleitet, und ihre derben Holzgerüste glichen besonders bei Nacht
den Skeletten vorweltlicher Tiere. Bald sah ich auch zwei, drei Säcke
an jedem Holzgestell auf- und abwärts steigen; jeder Sack hatte sein
Zugtier und seine menschliche Bedienung, und jede Rolle knirschte ihre
eigene Melodie.

Im Bezirk Chreta sah ich das erste Paternosterwerk. Pferde mit
verbundenen Augen drehen ein wagerechtes Rad; dessen Zähne greifen in
ein senkrechtes Rad, über das die Kette mit den Wassereimern läuft.
Solch eine Einrichtung heißt Näura oder Dolab, während die einfachere
mit den Ledersäcken Dschird genannt wird. Nicht weit hinter Do-er stand
mitten in der Strömung ein einsamer Pfeiler aus gebrannten Ziegeln.
Sale behauptete, das sei der Rest eines alten Turmes; wahrscheinlicher
aber war es das Überbleibsel eines der großen Wasserschöpfwerke, wie
ich sie bald in vollem Betrieb zu sehen bekam.

[Illustration: Wasserschöpfwerk.]

Am Morgen des 26. Aprils war der Fluß wieder um 20 Zentimeter
gestiegen, und von den überschwemmten Weizenfeldern waren am Abend
feuchte Nebel und Myriaden von Mücken aufgestiegen, so daß ich zum
erstenmal mein Moskitonetz hatte gebrauchen müssen. Wir glitten in
ruhiger Fahrt an der schroffen Bergwand Baghus vorüber und kamen
dann an eine große, mit Gras und Gebüsch bewachsene Insel, die den
Euphrat in zwei Arme teilte. Wir bogen links ein und sahen hier zum
erstenmal die Wasserkraft selbst zum Heben des Wassers ausgenutzt.
Eine Steinmauer war in den Fluß hineingebaut; ihre Spitze bildete ein
großes Rad von etwa acht Meter Durchmesser. In der Peripherie des Rades
hingen längliche Tontöpfe, die bei der Umdrehung das Wasser schöpften
und in eine Rinne entleerten, die rechtwinklig von dem über den Kamm
der Mauer laufenden Kanal ausging. Jetzt stand das Rad still, weil das
Wasser über seine Achse gestiegen war; fließt es unter der Achse, dann
dreht der Strom das Rad Tag und Nacht, und unermüdlich ergießen die
Schöpfeimer ihren kostbaren Inhalt in die Kanalrinne, wenn auch immer
etwas daneben fließt, sobald sich der Schöpfeimer bei der Umdrehung zu
neigen beginnt. Das Rad ist aus rohem Treibholz zusammengezimmert, die
Speichen sind krumm und schief, aber wenn es nur halbwegs rund ist,
erfüllt es seine Aufgabe.

[Illustration: Ein Paternosterwerk unter einem Maulbeerbaum am
Euphratufer.]

Solcher Wasserschöpfwerke oder Dolabs sah ich auf meiner Weiterfahrt im
Reich der Palmen eine Unzahl. Je nach ihrer Länge sind die Mauern durch
Bogenwölbungen unterbrochen, damit sie dem ungeheuren Druck besonders
bei Hochwasser standhalten und der Strom ungehindert hindurch kann. Ich
zählte bis zu siebzehn solcher Mauerbogen und bis zu vier an kleineren
Mauerarmen untergebrachten Rädern an einem Dolab. Mauern und Räder sind
im Laufe der Zeit grünschwarz geworden von Flechten und Moosen. Oft
sind sie auch nur noch Ruinen; der Strom hat die Räder, manchmal auch
nur die Töpfe zerbrochen oder mit sich geführt, die Mauern zerstört,
und nur einzelne Pfeiler halten sich noch inmitten der brausenden
Strudel. Auf einem solchen einsamen, vor Raubtieren sichern Pfeiler
nistete ein Storchenpaar. Am Anfang der Mauer am Ufer steht meist eine
Palme oder mehrere wie eine Schildwache.

[Illustration: Wasserrad eines Dolabs im Gang.]

[Illustration: Ein Dolab mit vier Rädern.]

Sind mehrere Räder am selben Mauerrahmen im Gang, so entsteht ein
fürchterliches Konzert wie von Ferkeln, Katzen und Hyänen. Aber den
Fellachen ist dieser ohrenbetäubende Lärm die liebste Musik; da strömt
Leben auf die Äcker, da gibt es üppige Weizenernten und Brot für die
Familie, und sie legen ihr Worte unter und singen mit. Die Eingeborenen
könnten mit verbundenen Augen eine Strecke den Fluß hinabfahren, die
ihnen vertraute Musik der einzelnen Dolabs verriete ihnen, wo sie sich
befänden. Wo die Schöpfwerke zerfallen sind, kann der Ackerbau am Ufer
nicht gedeihen.

Die Dolabs werden möglichst bis in die stärkste Strömung hineingeführt
und treten gern paarweise auf, gleichzeitig auf beiden Ufern. Das
verschmälert die Fahrstraße oft bedeutend, steigert die Stromschnelle,
die Geschwindigkeit der Räder und damit die Masse des hinaufbeförderten
Wassers; man merkt deutlich, wie zwischen zwei solchen Mauerspitzen der
Strudel zunimmt und der Euphrat in stärkeren Schlagwellen geht, und ich
konnte noch von Glück sagen, daß wir bei der häufigen Unaufmerksamkeit
Sales ohne ernstlichen Schiffbruch das Dorf Ana erreichten, das sich
am Fuß der rechten Uferfelsen, von Palmen beschattet, unendlich lang
ausdehnte. Es waren spannende Augenblicke, bis es Sale und den Ruderern
endlich gelang, zwischen zwei Dolabs, die hier dicht hintereinander die
Fahrstraße einengten, aus der reißenden Strömung herauszukommen und,
ohne gegen die nächste Mauer getrieben zu werden, am Ufer zu landen.

[Illustration: Sale mit einem Ruder auf der „Kommandobrücke“. Links die
Hütte mit dem Arbeitstisch.]

[Illustration: Straße in Ana.]

Solange wir mit den Deutschen zusammengefahren waren, hatte
Sale seinen Stolz darein gesetzt, durch Geschicklichkeit und
Dienstfertigkeit seine Kameraden aus Der-es-Sor zu überstrahlen. Jetzt,
als niemand mehr da war, vor dem er paradieren konnte, hatte sein
Eifer merklich nachgelassen. Nur seine allzeit frohe Laune und seine
Sangeslust waren auf gleicher Höhe geblieben. Den ganzen Tag schallten
die gutturalen Laute und klingenden Vokale seiner Muttersprache nur so
über den Euphrat. Wenn er aber gerade nicht sang, sein helles Lachen
nicht von den Felsen widerhallte oder er seine Gefährten nicht durch
Märchen und Geschichten erheiterte, mußte ich Obacht geben, denn dann
schlief mein Kapitän gewiß in aller Gemütsruhe am Steuerruder und ließ
die Fähre treiben, wohin der Strom sie führte. Saßen wir dann auf
einer Schlammbank oder in dem dichten Tamariskengebüsch eines schmalen
Seitenarmes fest, oder drehte sich die Fähre über einem saugenden
Strudel, so tobte und fluchte er im schönsten Arabisch auf die armen
Kameraden, die seinen Schlaf mit doppelter Arbeit bezahlen mußten.
Kamen wir aber glücklich los, sofort war er wieder eitel Sonnenschein
und sang unverdrossen seine Lieder. Machte ich ihm dann Vorwürfe,
er sei ein schlechter Kapitän und so etwas wäre seinem Vorgänger,
dem Türken Mohammed, nie widerfahren, so lachte er voll glücklichen
Übermuts und bewies mir mit sprudelnder Beredsamkeit, seine Kurven
seien Muster von Geschicklichkeit und Eleganz.

Eines Tages begann er die Leute am Ufer anzurufen: „Habt Ihr etwas von
Ben Murat gehört?“ oder „Habt Ihr Ben Murat gesehen? Sagt ihm, daß
ich in acht Tagen zurückkomme!“ Niemand kannte Ben Murat, und Sales
Kameraden wollten sich jedesmal totlachen. Schließlich fragte ich, wer
denn der vielberufene Ben Murat sei. Da mußte er selbst so lachen,
daß er das Steuer fahren ließ und in einer Ecke zusammensank. Als er
endlich wieder zu Atem kam, vertraute er mir an: seines Wissens gebe es
in der ganzen Gegend keinen Ben Murat; er treibe nur mit den Uferleuten
Spaß. Mehrere Tage spukte Ben Murat an Bord und beruhigte sich erst,
als wir Ana erreichten. Denn hier wechselte ich zum letztenmal meine
Besatzung für die Strecke bis Feludscha.

[Illustration: Ahmed Apti.]

Der neue Kapitän war ein Greis von siebzig Jahren, sehr wortkarg und
ernst, aber er hatte sein Leben lang den Euphrat befahren, kannte, wie
die neuen Ruderer Ismail Ben Halil und Dschemi Ben Omar versicherten,
jede Biegung, jede Insel, jede Sandbank im Strom, ja jede Palme am
Ufer, so daß es in ganz Mesopotamien keinen Schiffer gebe, der mit
ihm zu vergleichen sei. Sale hatte mich gebeten, ihm den Traum seines
Lebens zu erfüllen und ihn nach der berühmten Stadt Bagdad mitzunehmen;
auch könne ich, meinte er, einen Koch gut gebrauchen, hütete sich aber
einzugestehen, daß er von Kochkunst keine Ahnung hatte. Ich ließ ihn
gewähren, und da meine neue Besatzung kein Wort Türkisch verstand,
leistete er mir als Dolmetscher wertvolle Dienste. Außer dem neuen
Gendarmen namens Saalman, einem Araber aus Mosul, der seine Mutter in
Bagdad besuchen wollte, erhielten wir aber noch einen Passagier, und
zwar diesmal einen Soldaten von Major von Schrenks Batterie, die, wie
ich jetzt erfuhr, nur zwölf Stunden voraus war. Ahmed Apti, so hieß er,
war auf unerklärliche Weise zurückgeblieben und bat mich himmelhoch,
ihn doch ja mitzunehmen, damit er noch rechtzeitig seine Kameraden
einholen könne.

[Illustration: Kapitän Ali am Steuerruder.]

Kapitän Alis Ruhm bewährte sich denn auch glänzend schon in dem
schwierigen Moment, als wir Ana verließen und um die nächsten
Dolabmauern herum die Fähre mit einer kurzen, aber gewaltigen
Anstrengung wieder in den Strom hineinbugsieren mußten. Ruhig und
seiner Sache sicher stand er am Steuerruder, und seine braunen
Falkenaugen bemerkten jede Tücke des Stromes und jede Lässigkeit oder
Dummheit der Mannschaft. Der Euphrat stand jetzt 3,23 Meter über dem
normalen Niederwasserstand, und unser leichtes Fahrzeug wurde von
der brausenden Flut so pfeilschnell entführt, daß die wunderbare
Schönheit der Ufer bei Ana mit ihrer Palmenpracht wie ein Traum an
mir vorüberflog. Nicht minder malerisch waren kleine Inseln, die zum
Schutz gegen das Hochwasser rundherum mit Steinmauern umzäunt waren;
bei tiefem Wasserstand mußten sie wie kleine Festungen aussehen.
Direkt an Ana schloß sich das Dorf Dschemile, und die ununterbrochenen
Palmengärten schienen kein Ende zu nehmen. Erst bei Wadi Gaser hörten
sie wieder auf. Der Reichtum an Zelten, der oberhalb Der-es-Sor die
Ufer belebte, war jetzt völlig verschwunden, hier gab es nur feste
Dörfer mit Palmenhainen und Feldern und Wasserwerken oder wüstenstille
Ufer. Nomaden, die zeitweise am Flusse hausten, hatten sich, wie ich in
Ana hörte, in die Steppe zurückbegeben. Auf einer jähen Felsenspitze
des linken Ufers lag das Heiligengrab Habibi Nedschar. Dort liege der
Baumeister der Arche Noah begraben, erklärte mir Ali, der in der Tat
jede Einzelheit an den Ufern kannte, und Sale fügte hinzu, die Arche
sei ein Schahtur gewesen ganz wie der unsrige, aber wohl ein paar
Kilometer lang. „Wann war das?“ fragte ich. „Das ist mindestens schon
zweihundert Jahre her“, antwortete Sale in tiefstem Ernst.

Mehrfach bemerkte ich auf der Wasserfläche lange, dunkle Streifen, die
sich teilten und wieder vereinten, über Wasserstrudel hinzogen und
Inseln bildeten. Erst glaubte ich, es seien verweste Pflanzen. Dann
aber zeigte sich, daß es lauter Heuschrecken waren, tote und lebende,
die in verschiedenen Stadien der Ermattung hilflos im Wasser zappelten
und schwammen. Auf ihren Raub- und Freßfahrten hatten sie sich
verflogen und waren ein Opfer des Stromes geworden. Auch meiner Fähre
hatte sich das Gesindel bald bemächtigt; in Bataillonen saß es auf
den Relingen und dem Zeltdach; es war nicht durch die Luft gekommen,
sondern ein Teil der unglücklichen Schwimmer hatte sich an die Fähre
angeklammert und war an der Reling emporgeklettert. Hier trockneten sie
nun an der Sonne und schöpften neue Kraft nach diesem unbehaglichen
Abenteuer.

Die Hitze hatte in den letzten Tagen mächtig zugenommen; am 28. April
zeigte das Thermometer fast 53 Grad, und was auf meinem Schreibtisch
der Sonnenglut ausgesetzt war, begann zu brennen. An diesem Tage
erfuhr ich durch einen türkischen Offizier, der vor fünf Tagen Bagdad
verlassen und bei Ismanije am Ufer sein Zelt aufgeschlagen hatte,
daß die Engländer bei Kut-el-Amara rettungslos eingeschlossen seien
und das Begräbnis des Feldmarschalls unter großem militärischen Pomp
stattgefunden habe. So drang das Echo der großen Weltereignisse auch in
diese meine Stromeinsamkeit.

Am 29. April landeten wir bei dem herrlichen Garten Misban, dessen
Besitzer, ein weitberühmter Mann, seinen Sohn sandte, um mich zum
Gastmahl einzuladen. Da es aber schon zu spät am Abend war, machte ich
diesem kleinen Märchenschloß erst am anderen Morgen einen Besuch.

Durch einen langgestreckten Vorhof kamen wir zunächst in einen Stall,
wo einige braune Vollblutstuten an den Krippen standen, und dann
in den eigentlichen Hof, wo Misbans Sohn und Diener mich empfingen
und ins Haus geleiteten. In einem großen prächtigen Zimmer saß ein
würdiger Alter, der Bruder des Hausherrn, mit gekreuzten Beinen auf
einem Teppich und las laut, mit knarrender, eintöniger Stimme, in einem
Buche, wobei er den Körper auf und ab wiegte. Jetzt stand er auf, hieß
mich willkommen und führte mich an den erhöhten Ehrenplatz, von wo
man durch vergitterte Fenster eine herrliche weite Aussicht auf den
majestätischen Strom hatte.

[Illustration: Schaker, 14jähriger Araber aus Ana.]

Das ganze Zimmer war mit Teppichen belegt. In seiner Mitte erhob sich
ein viereckiger Herd, auf dem Palmenholz glühte und die Kaffeekanne
brodelte. Nach einer Minute trat auch Misban selber herein, vornehm
und würdig wie ein Herrscher, in weißem, goldgesäumtem Mantel, ein
weißseidenes Tuch mit Silberringen um den Kopf. Mit der verbindlichen
Höflichkeit eines reichen Arabers erkundigte er sich nach meiner
Fahrt und erzählte dann bei Kaffee und Zigaretten von sich und seiner
Besitzung.

Sein Vater hat die Oase vor siebzig Jahren angelegt; seit zwanzig
Jahren bewirtschaftet er sie selbst. Sein vollständiger Name ist Misban
Ibn Schoka. Er hat vier Söhne und sechs Diener, die mit ihren Familien,
insgesamt dreißig Personen, hier wohnen. Er besitzt tausend Palmen und
ist dabei, seine Plantagen noch zu erweitern. Ich sah gerade eine Fähre
mit Palmenschößlingen landen, die angepflanzt werden sollten.

[Illustration: Misban und sein Bruder.]

Der Spaziergang durch den Garten war köstlich. Treibhauswarm, schwer
und still hing die Luft zwischen Mandel-, Orange- und Maulbeerbäumen,
und die schönen zackigen Blätter der Palmen und ihre zarten, noch
weißen Datteltrauben hoben sich scharf von dem blauen Himmel ab. Das
Korn stand hoch und sollte in einigen Wochen geschnitten werden,
einen Monat später der Weizen. Erst im September glänzen die Datteln
braungelb wie Bernstein und sind dann reif zur Ernte. In Misban
gediehen auch Zucker- und Wassermelonen, mehrere Arten Trauben,
Zwiebeln und Bohnen und viele andere Küchengartengewächse.

Die Einkünfte der Oase sind schwankend, aber im allgemeinen gut. Die
Dattelernte allein beträgt im Durchschnitt vierzig Kamellasten, jede
zwei türkische Pfund in Gold oder etwa vierzig Mark wert. Die gesamte
Ernte berechnete der Besitzer, alles eingerechnet, auf vierhundert
Pfund. Aber nur die Hälfte davon wurde alljährlich verkauft, die andere
an Ort und Stelle verbraucht.

[Illustration: Misban Ibn Schoka.]

Misbans Garten war kein Kavekhane, kein Wirtshaus, wo man einkehrte,
um sich ein Abendbrot zu bestellen. Aber wer vorüberfuhr, war Misbans
willkommener Gast, und es verging kaum ein Tag, an dem nicht jemand
eine Weile auf den bequemen Sofas vorne am Kai rastete, bis die
Sonne unterging und Abendkühle eintrat. Zuweilen kamen sogar die
Karawanenleute von der einige Stunden entfernten großen Landstraße
zwischen Bagdad und Aleppo herüber, um hier auszuruhen und ihre
Tiere zu tränken. An glühenden Sommertagen, wenn die Hitze über der
trockenen Wüste zittert und der feine Staub von den Tritten der Kamele
aufwirbelt, muß es allerdings ein Hochgenuß sein, von der Uferhöhe aus
Misbans Palmen ihre Kronen über reifenden Äckern wiegen zu sehen. Da
winkt Ruhe, da kann man sich satt trinken und im kühlen Schatten die
Mühsal der Wüste vergessen! --

[Illustration: Ein Schahtur landet am Ufer der Oase Misban.]

Eins der schönsten Landschaftsbilder, das der Euphrat zu bieten hat,
ist die kleine Stadt Hit, ein uralter Ort, dessen Asphaltquellen
vor Jahrtausenden das Erdpech lieferten, das die Baumeister der
babylonischen Königspaläste brauchten. Über einem wogenden Palmenmeer
thront sie auf einem Hügel, an dessen Fuß ein Minarett trotzig seine
weiße Spitze erhebt. Sie ist die erste arabische Stadt, die Seehandel
treibt und an deren Kai sich ein regelrechtes Schiffsleben entwickelt.
Am Kopf der Schiffbrücke, die beide Ufer verbindet, liegen zahlreiche
arabische „Meheile“, große Kähne mit spitzen Vorder- und Hintersteven,
schräg stehenden Masten und langen zusammengerollten Rahesegeln vor
Anker, die in voller Fahrt mit vom Wind geblähten weißen Segeln, Schaum
am Vordersteven, von überaus malerischer Wirkung sind. Matrosen waten
im Uferwasser geschäftig hin und her. Mächtige Schollen zähflüssiges
Erdpech liegen wie Teppiche auf dem Ufer ausgebreitet, werden
zusammengerollt und auf Prahme geworfen. Pechgestank erfüllt die Luft.
Frauen in dunkeln Mänteln balancieren mit Pech gedichtete Töpfe auf dem
Kopf, füllen sie am Kai mit Wasser und plaudern mit ihren Nachbarinnen,
die eifrig ihre Wäsche in den Fluten des Euphrat spülen.

Gleich unterhalb des Minaretts landete ich an einem offenen Uferplatz.
Eine Schar spielender Buben stürmte bald herbei, und ein kleiner Türke
in buntem Hemd rief mir zu: „Gestern ist Kut-el-Amara gefallen. Heute
ist das Telegramm gekommen!“

„Bist du dessen auch sicher?“ fragte ich.

„Ja“, antwortete er, „der Herr kann ja auf dem Telegraphenamt
nachfragen.“

Schön, dachte ich, dann ist Bagdad außer Gefahr, auch der Weg nach
Babylon noch offen, und begab mich mit meiner gewöhnlichen Begleitung,
dem Gendarm und Sale, in die Stadt hinauf. Eng die teilweise mit
Asphalt belegten Gassen, grau die Mauern, ärmlich die Lehm- und
Steinhäuser. Dunkle Gänge führten durch offene Tore zu Hütten und
auf schmutzige Höfe. Wasserträger mit tropfenden Ledersäcken auf dem
Rücken, Esel mit Fruchtlasten, kleine Läden mit Sonnendächern oder
offener Auslage von Brot, Erbsen, Granaten und andern Eßwaren; auf den
Holzschwellen an den Gassen Kinder mit Schmutznasen, das Gesicht mit
Fliegenschwärmen bedeckt; an einer Mauer Aussätzige von abschreckendem
Äußeren -- welcher Gegensatz zu dem lieblichen Bild, das Hit dem
Ankömmling zu Wasser vortäuscht! Auf die braunen Fluten des Stroms
öffnete sich in den winkligen Gassen nur selten ein flüchtiger Ausblick.

[Illustration: Gendarm Saalman.]

Zum Marktplatz mußten wir wieder hinabsteigen bis dicht an den Strand.
Dort standen zwei stattlichere Häuser; in deren einem wohnte der
Mudir von Hit, ein Araber, dessen fortschrittlich europäische Kleidung
mit seiner bedenklich zurückgebliebenen Intelligenz auffallend
kontrastierte. Das andere war das Telegraphenamt, wo mir der Fall von
Kut-el-Amara bestätigt wurde. Der englische Oberbefehlshaber General
Townshend war mit 13000 Mann gefangen -- ein bedeutender Sieg also,
dessen Kunde die ganze mohammedanische Welt durchlaufen und die Macht
des Sultans kräftigen mußte. Am 29. April hatte der Feind seine
Stellungen räumen müssen -- zehn Tage vorher war Feldmarschall von der
Goltz gestorben! Ein grausames Schicksal hatte es ihm verwehrt, diesen
Siegestag zu erleben, den sein Genie und seine Umsicht an der Spitze
der 6. Armee erzwungen hatten.

[Illustration: Landungsplatz in Hit.]

Während ich auf der Post weilte, war ein kleiner Doppelschahtur bei
meiner Fähre angekommen mit einem katholischen Priester an Bord
und einem zweiten jungen Deutschen namens Kettner. Wir verbrachten
den Abend zusammen und verabredeten uns für den folgenden Tag zu
gemeinsamer Fahrt.

Hit verließ ich am 1. Mai, und nun näherte sich meine Stromfahrt ihrem
Ende. Mein Freipassagier Asis war in Hit zurückgeblieben; daß er sich
auf Französisch gedrückt hatte, wunderte mich nicht, wohl aber, daß
er verduftet war, ohne ein -- Trinkgeld für seine Reisebegleitung zu
fordern.

Das linke Euphratufer heißt von hier ab bei den Arabern El-Dschesire
(Insel), ein Begriff, der sich ungefähr mit Mesopotamien deckt;
das rechte Esch-Scham. Diese beiden Namen traten nun immerfort in
Verbindung mit Strömung, Wind und Landungsplatz auf. Am Schamufer
fuhren wir an den niedrigen Felsabhängen von Leguba entlang und lenkten
dann hinter der tamariskenbewachsenen Insel Abu Tiban nach Dschesire
hinüber. Beim Palmenhain Tell-essued zwang uns heftiger Südost wieder
längere Zeit still zu liegen, und voll Neid sah ich die stolzen
Meheile in dem ihnen günstigen Wind mit vollen Segeln an uns vorüber
stromaufwärts fahren. Während ein Araber gewandt am Stamm weiblicher
Palmen hinaufkletterte, ihr Samengehäuse mit dem Staub der männlichen
Blüten bestreute und dann die Blattbüschel mit Bast zusammenband,
vertrieben sich meine Leute die Zeit mit Vogelfang und mit dem Bau
kleiner Schiffchen aus Palmblättern. Dann versuchten wir die Fähre am
Ufer entlang vorwärtszuziehen; bei offenem Strand ging es; wo aber
Gestrüpp den Leinpfad unwegsam machte, kamen wir verzweifelt langsam
vorwärts.

[Illustration: Wir landen bei Tell-Essued.]

In dieser Gegend vollzieht sich der Übergang der Hochebene in das
vollständig ebene Schwemmland, das zur Zeit der assyrischen und
babylonischen Königreiche von gewaltigen Kanälen durchschnitten und
mit üppigen Gärten und Äckern bedeckt war. Die weißen Kalksteinwände
verschwinden, nur noch vereinzelte Ausläufer ziehen sich bis an den
Strom heran. Der Horizont rückt in weite Ferne, und der Euphrat benutzt
seine neu gewonnene Freiheit, um sich mächtig auszudehnen.

[Illustration: Unser Lager bei Tell-Essued.]

Auch am 2. Mai kämpften wir vergebens mit Gegenwind, und die
zahlreichen Schöpfwerke -- hier wieder von dem primitiven Typ --
machten es fast unmöglich, die Fähre vom Lande aus weiter zu bugsieren.
So krochen wir mit unendlicher Mühe bis Ramadije. An diesem Tag
begegnete uns die erste Guffa, eines der runden asphaltbekleideten
Korbboote von großer Leichtigkeit und Tragfähigkeit, die schon aus
assyrischer Zeit bekannt sind. Der Ruderer war selbst Mast und Segel,
er stand in der Mitte des Bootes, und sein Mantel war als Windfang
ausgebreitet.

[Illustration: Meheile auf dem Euphrat.]

Am nächsten Tag fanden wir die Ufer auf weite Strecken überschwemmt.
Der Euphrat macht hier große, oft fast kreisförmige Windungen, und
das in diesen Schleifen liegende Land war von dem eigentlichen
Strom kaum noch zu unterscheiden, so daß es die ganze Kunst meines
Kapitäns erforderte, sich zwischen diesen unter Wasser liegenden
Landzungen, Inseln und Schlammbänken, in kleinen und großen Seitenarmen
zurechtzufinden. Da standen Palmenhaine mitten im Strom; dann wieder
waren Äcker mit reifenden Ernten von der Flut verschont, und Schaf-
und Rinderherden, Hütten und Zelte standen wie auf der Wasserfläche.
Die Anwohner hier mußten geradezu ein amphibienartiges Dasein führen,
jeden Augenblick gewärtig, von den launischen Wellen überrascht zu
werden. Oft war auch das, was ich für Zelte hielt, nichts weiter als
die Segel der Meheileboote, die rechts oder links über der Wasserfläche
emporragten und denen wir dann in großem Bogen, den der Euphrat
beschrieb, begegneten. Meine Leute mußten schließlich nackt ins Wasser
hinein, um uns nur vorwärts zu bringen. Dabei war die Insektenplage
fast unerträglich. Wenn wir abends an einem öden Strand vertäuten,
durfte ich mein Licht nur für mein schnelles Abendbrot brennen lassen.
Überall schwirrte und surrte es von Insektenschwärmen, die in dieser
Sumpfgegend und bei der tropischen Hitze myriadenweise gediehen. Das
innere Dach meiner Hütte war mit einer schwarzen, kribbelnden Decke
bezogen, plumpe Käfer stießen gegen die Wände, törichte Nachtfalter
taumelten in die Flamme und plumpsten mit verbrannten Flügeln in
mein Eßgeschirr. Die Grillen zirpten um die Wette, die Frösche
quakten im Sumpf und das höhnische Lachen und langgezogene Heulen der
Schakale ging in unheimlichen Wellen über die Steppe. Die schlimmsten
Quälgeister aber waren Mücken und Moskitos, von denen immer einige
durch die Maschen des Moskitonetzes schlüpften. Ein brennendes Jucken
lief über den ganzen Körper, und an Schlaf war in diesem Bett von
Brennesseln nur wenig zu denken. Am Morgen, wenn sie dickgefressen und
zu faul waren, wieder hinauszufliegen, hatte ich wenigstens die Freude,
blutige Rache nehmen zu können. Die Morgenkühle pflegte das Jucken zu
beseitigen.

[Illustration: Dorf in der Gegend von el-Beschiri.]

Am 4. Mai erschien endlich über der glatten Steppe das Minarett von
Feludscha, erst im Südosten, dann im Nordosten, denn der Euphrat macht
hier wieder einen mächtigen Bogen nach Süden. Als wir den Landungsplatz
erreichten, war das erste, was ich sah, ein Schahtur von Schrenks
Batterie; die Abteilung des Roten Kreuzes war noch hier und sollte am
nächsten Tag aufbrechen.

Bei Feludscha ist der Euphrat ungewöhnlich schmal. Diesem Umstand
hat der Ort seine Entstehung zu verdanken. Denn hier geht die große
Karawanenstraße über den Strom. Die Brücke war aber des Hochwassers
wegen eingezogen; die Pontons lagen am Ufer und sollten auch nicht
mehr verwendet werden, da die Brücke für die Fähren nach Risvanije
ein gefährliches Hindernis war. Die Reisenden müssen sich daher damit
abfinden, daß sie und ihr Gepäck auf einzelnen Prahmen über den Euphrat
gesetzt werden.

Von Feludscha aus konnte ich nun zu Wagen auf der Karawanenstraße
nach der Stadt der Kalifen gelangen oder zu Schiff bis Risvanije
weiterfahren, das durch eine kleine Feldbahn mit Bagdad verbunden ist.
Bei ruhigem Wetter rechnet man zu Wasser bis Risvanije acht Stunden.
Ich entschloß mich daher, auf der Fähre zu bleiben, mußte aber bald
diesen Entschluß bereuen. Gegenwind und Gewitterregen, dazu ein
tüchtiger Weststurm, zwangen uns immer wieder stillzuliegen und dehnten
die acht Stunden zu mehr als einem Tag. Die Araber sind gegen nichts
empfindlicher als gegen Regen; vor jedem kleinen Schauer ließ meine
Besatzung die Ruder im Stich, flüchtete unter Deck und war erst wieder
aufzutreiben, wenn wir zu kentern drohten. Einmal wären die Leute, als
sie die Fähre ins Schlepptau nehmen wollten, beinahe alle im Schlamm
ertrunken. Ich atmete daher erleichtert auf, als ich endlich am 5. Mai
Risvanije erreichte und mein tüchtiger Doppelschahtur seine Reise von
1040 Kilometern ohne schwere Unfälle vollbracht hatte.




[Illustration:

  Phot.: Schölvinck.

Eine Guffa auf dem Tigris.]




Neuntes Kapitel.

Mein Einzug in Bagdad.


Es regnete in Strömen, als ich meine Fähre verließ. Am Ufer
erwarteten mich Herr Kettner und der Flugzeugmonteur Knitter, der zur
Fliegerabteilung des Hauptmanns Niemayer gehörte. Ich kam gerade recht,
ein Zug von zweiundzwanzig Wagen sollte nach Bagdad abgehen, sobald
der Regen aufhörte. Ich eilte daher zum Kommandanten von Risvanije,
dem Kurden Ahmed Mukhtar aus Suleimanije, einem gewandten, höflichen
Mann, der in der französischen Missionsschule zu Bagdad die klangvolle
Sprache der Boulevards gelernt hatte. Alles ging nach Wunsch: der Zug
sollte warten, bis ich reisefertig sei.

Ich speiste also mit den Deutschen zu Mittag und trank Tee bei Ahmed
Mukhtar. Mittlerweile packte Sale meine Sachen. Die Fähre, auf der ich
unvergeßliche Stunden verbracht hatte, stellte ich unter den Schutz des
Kommandanten. Vielleicht konnte sie zur Fahrt nach Babylon noch gute
Dienste leisten.

Das Gleis der Feldbahn führt bis zum Strand hinunter. Die Wagen sind
aus Eisen und haben dieselbe Form wie die schwedischen Erzwagen auf der
Linie Luleå-Reichsgrenze, sind aber viel kleiner. Die Lokomotiven waren
noch nicht fertig; das einzige Zugmittel war Menschenkraft; Araber
wurden zum Schieben der Wagen ausgehoben. Bis Bagdad wurden die Leute
sechsmal gewechselt, jedesmal fünfzig Mann. Sie erhielten drei Brote
am Tag und zusammen ein Lamm. Ihr Sold war unbedeutend, und oft genug
rissen sie wieder aus. Demnächst sollten aber die Lokomotiven fertig
und damit die Leistungsfähigkeit der Bahn bedeutend gesteigert werden.
Jeder Wagen faßte zwei Tonnen. Die Güter, die mit meinem Zug befördert
wurden, waren Kriegsmaterial und Proviant. Mein Gepäck wurde auf den
letzten Wagen geladen; oben drauf thronten ich selbst und mein Diener
Sale.

Um 3 Uhr hatte der Regen aufgehört. Die Luft war frisch und kühl. Alle
Mann standen an ihren Wagen bereit, und auf ein gegebenes Zeichen
begann der wunderliche Eisenbahnzug sich in Bewegung zu setzen.
Schnell ging es nicht, und wir als letzte mußten wohl oder übel jeden
Aufenthalt mitmachen, den einer der vorderen Wagen verursachte.

Zu beiden Seiten der Bahn breiteten sich Weizen-, Korn- und Haferfelder
aus, denen ein Kanal Wasser aus dem Euphrat zuführte. Die ganze Gegend
heißt Risvanije oder Nasranije, wie man es auch ausspricht. Der
angebaute Feldstreifen war aber nur schmal, und bald fuhren wir wieder
durch die Wüste. Zu beiden Seiten der Schienen hatten die Füße der
schiebenden Araber in den graugelben Alluviallehm Rinnen getreten, die
jetzt voll Wasser standen.

In der Nähe des Ufers waren wir durch eine kaum ein paar Meter
ansteigende Höhe gefahren. Ein zweiter Hohlweg dieser Art bei Jusfije
ließ vermuten, daß diese Höhen nichts anderes waren, als Dämme zu
beiden Seiten uralter Kanäle. Links vom Wege lag, von einigen grauen
Ruinen umgeben, die Grabmoschee Brahim-el-Halil Imam, auf der anderen
Seite eine kleine Anhöhe namens Tell-achijen. Hier erhielt der ganze
Zug Befehl zu halten, und mein Wagen wurde auf einem Nebengleis an die
Spitze geschoben. So hatte ich nun freie Bahn und freie Aussicht, und
wir ließen den übrigen Zug bald weit hinter uns.

Die Bahn läuft schnurgerade nach Bagdad. Die ganze Entfernung beträgt
nur 45 Kilometer; sie ist die kürzeste zwischen Euphrat und Tigris an
der Grenze zwischen Mesopotamien und dem Irak.

Kurz nach 5 Uhr erreichten wir die erste Station Kal’at Risvanije, wo
neue Araber als Schlepper eintraten und ein neuer Gendarm zu uns stieß.
Dieser berichtete mit bedenklicher Miene, in der vorigen Nacht sei
zwischen der ersten und zweiten Station ein Zug von Räubern angefallen
worden. Durch Gewehrschüsse habe man zwar die Angreifer in die Flucht
gejagt. Immerhin sei es gut, an der gefährlichen Gegend so schnell
wie möglich vorbeizukommen, denn man könne nie wissen! Unter diesen
Umständen wäre es zweifellos vorsichtiger gewesen, bei den andern Wagen
zu bleiben, die eine türkische und deutsche Eskorte hatten. Aber da ich
den Arabern schon ein tüchtiges Trinkgeld versprochen hatte, wenn sie
ordentlich liefen, mochte es nun auch dabei bleiben.

Der Gendarm hatte es so eilig, daß er selber mit schob. Vor jeder
Anhöhe aber rannte er mit einer unermüdlichen Ausdauer, obgleich ihn
Mantel und Gewehr beim Laufen hinderten, voraus, um die Bahn entlang
zu spähen; war nichts Beunruhigendes in Sicht, so gab er von oben ein
Zeichen, die Leute legten sich kräftiger ins Zeug, und er selbst kam
atemlos wieder herbeigesprungen. Der gefährlichste Punkt war eine
Stelle, wo der Zug wieder einen alten Kanaldamm kreuzte: hier hatte
die Räuberbande heute Nacht auf der Lauer gelegen. Wir kamen aber
unbelästigt auch durch diesen Hohlweg hindurch und an dem Hügel Tell
Wabo vorüber. Rechts von der Straße erhob sich in der Ferne Hamudija,
eine kleine, an der Karawanenstraße zwischen Bagdad und Hille gelegene
Anhöhe.

Dann fuhren wir über ein Feld, das mit zahlreichen Ziegelscherben
bedeckt war. Welche Schätze aus der Zeit babylonischer Größe mochte
wohl diese Erde im Schoße bergen! Über dem Horizont wurden die
einfachen Hütten des Dorfes Taldama sichtbar, und vor 6 Uhr waren wir
dort. Beim Stationsgebäude lagerte eine Schar Araber auf Strohmatten;
sie warteten darauf, ihre Kameraden an den Wagen abzulösen. In der Nähe
standen fünfundzwanzig Zelte. Schmale, neuangelegte Kanäle mit kleinen
Brücken führten den Feldern Wasser zu, aber offenbar zu wenig, denn das
Korn sah kümmerlich aus. Heuschrecken waren hier zahlreich, und viele
von ihnen fanden auf den Schienen einen schnellen Tod.

Meine Araber liefen, was das Zeug halten wollte; der Schweiß tropfte
ihnen von der Stirn, und sie keuchten wie atemlose Hunde. Als einmal
zwei leere Wagen die Strecke sperrten, hoben sie das Hindernis einfach
vom Gleis herunter und ließen es daneben stehen.

Die Sonne war blutrot untergegangen, und die Dämmerungsstunde nahte.
Über Bagdad flammten bläuliche Blitze. Am Horizont war der Himmel klar.
Die Sterne traten hervor, und der Mond zeigte seine Hörner. Im Norden
flackerten die Feuer arabischer Nomaden bei dem Hügel Abu Hanta.

Das Stationsgebäude bei Tell-Essued hatte ein auf Pfosten ruhendes
Schutzdach, unter dem die Araber lagen und schliefen oder ihre
Wasserpfeifen rauchten. Hier wurde Rast gemacht, im „Mangal“, dem
Kohlenbecken, Feuer angezündet, und Sale mußte Tee kochen zu einem
schnellen Abendessen aus Brot und Eiern. Kurz vor ½9 begann die vierte
Wegstrecke.

Der Mond hatte sich hinter Wolken verkrochen. Über Bagdad aber
leuchtete es wie der Widerschein heftigen Artilleriefeuers. Die Gefahr
eines Überfalls schien jetzt vorüber zu sein, wenigstens wurde nicht
mehr davon gesprochen. Zu beiden Seiten lag die Wüste still und dunkel.

Die fünfte Wegstrecke reichte bis Jesr el-Cher. Der Mannschaftswechsel
dauerte ein paar Minuten; die alten Leute empfingen ihren Backschisch,
und die neuen sahen sich dadurch angespornt, die sechste und letzte
Strecke bis zum Tigris mit größter Geschwindigkeit zu nehmen. Auf
einer Eisenbahnbrücke überschritten wir den großen Kanal Jesr el-Cher.
Dann wieder eine letzte Strecke Feld, und schon tauchten Lichter und
Laternen auf, die immer zahlreicher wurden. Palmen traten aus dem
Dunkel wie gespenstige Schatten hervor. Nebengleise zweigten sich
ab, Güterzüge mit Kriegsmaterial standen hier und dort, und schon
hielten wir am Ufer des Tigris. Hammale, Lastträger, kamen gesprungen,
bemächtigten sich meines Gepäcks und schleppten es zu einer Treppe, an
deren Fuß eine gewaltige Guffa vertäut lag.

Wir stiegen an Bord, und drei Mann ergriffen ihre kurzen,
breitblattigen Ruder. Sie standen im Vorderteil der Guffa, soweit man
bei einem Boot, das wie ein kreisrunder Korb ist, von Vorder- und
Hinterteil reden kann, stießen die Ruder mit beiden Händen soweit wie
möglich vor dem Boot ins Wasser und arbeiteten sich mit schnellen und
immer gleichmäßigen Ruderschlägen vorwärts. Wären nur zwei Ruderer da,
so würde das Boot sich bald im Kreise drehen; deshalb arbeitete der
mittlere bald mit dem linken, bald mit dem rechten Nachbar, ohne beim
Wechseln von der einen Seite zur andern Seite den Takt zu verlieren. So
schaukelte das originelle Fahrzeug über den Tigris, Bagdad entgegen. --

Bagdad schlief bei meiner Ankunft. Nur hier und da brannte in einem
Fenster noch ein Licht oder eine Öllampe. Im übrigen war das linke
Tigrisufer stockdunkel. Beim Schein der Blitze waren nur hin und wieder
Schattenrisse von Hausdächern, Minaretten und Palmen zu erkennen.

Wohin nun? Als die Guffa an dem sanft abfallenden Ufer gelandet war,
fragte ich die Ruderer, ob sie ein Haus wüßten, wo deutsche Offiziere
wohnten. Freilich! Sie schulterten meine Sachen und hießen mich ihnen
folgen. Einer von ihnen mußte mich führen, denn Straßenbeleuchtung gab
es nicht, und man konnte die Hand nicht vor den Augen sehen; man merkte
nur, daß man durch fürchterlichen Schlamm watete.

Endlich hielten meine Führer vor einem Tor. Auf dreimaliges Klopfen mit
dem Eisenring öffnete ein Diener.

„Wer wohnt hier?“ fragte ich.

„Einige deutsche Herren. Aber sie sind schon alle zu Bett bis auf
einen, der noch nicht zu Haus ist.“

„Ist noch ein Zimmer frei?“

„Ja, eins.“

„Führ mich dahin!“

Vom Hof ging es eine Treppe hinauf über eine offene Galerie in das
Zimmer. Ein Licht wurde angezündet, mein Feldbett mit dem Moskitonetz
aufgestellt und mein Gepäck auf Tisch und Stühle gelegt. Es war gegen
1 Uhr. Bei wem ich mich einquartiert hatte, ahnte ich nicht. Aber
ich machte mir darüber auch keine Gewissensbisse. Denn die Fahrt auf
Euphrat und Tigris an einem Tag und auf der merkwürdigen Eisenbahn
hatte mich ermüdet, und ich sehnte mich nach Ruhe.

Als getreuer Wächter hatte sich Sale vor meiner Zimmertür auf den
Boden gelegt. Eben wollte ich unter das Netz kriechen, da erklangen
feste Schritte auf der Galerie, und ein deutscher Feldgrauer trat
herein. Als er mich erblickte, stutzte er und stand da wie ein
fleischgewordenes Fragezeichen. Er hatte das Licht brennen sehen und
geglaubt, der rechtmäßige Besitzer des Zimmers sei zurückgekehrt.

„Wer ist denn der?“ fragte ich.

„Der Tibetforscher Professor Tafel aus Stuttgart.“

„Wie, Tafel? Mein alter Freund aus der Berliner Richthofen-Zeit!“

„Ja, eben der. Er war einige Tage krank und ist in Behandlung bei
~Dr.~ Herle.“

So hatte der Zufall mich, der ich bei stockdunkler Nacht Bagdad betrat,
ohne daß jemand von meiner Ankunft wußte, nicht nur in das Haus,
sondern auch in das Zimmer geführt, das ausgerechnet ein Tibetforscher
bewohnte, und noch dazu einer, den ich schon seit vielen Jahren kannte!

Nachdem mich Hauptmann Müller -- denn das war der Feldgraue -- noch
eine Weile über die Verhältnisse in Bagdad unterrichtet hatte, wünschte
er mir gute Nacht und überließ mich dem Schlaf.

[Illustration: Abdurrahaman Gilani, Nakib in Bagdad.]

[Illustration: Das Minarett Suk-el-Gasl in Bagdad.]

Am Morgen des 6. Mais erwachte ich bei einem wahrhaft tropischen
Wetter. Es goß in Strömen; wie Glas stand der Regen vor dem Fenster, er
klatschte auf die steifen, blanken Palmenblätter, er schäumte aus den
Dachrinnen, rieselte die Veranden herein und brodelte in Strömen über
den Hof. Der Donner rollte durch schwere, blauschwarze Wolken. Ohne
Zweifel tat das tüchtige Sturzbad der nicht gerade sauberen Stadt recht
gut: aber sachkundige Leute meinten, es käme viel zu spät; Regen im Mai
sei eine ungewöhnliche Erscheinung.

Als das Unwetter einigermaßen vorüber war, machte ich mich fertig,
durch den Straßenschmutz nach dem Hause des früheren deutschen
Konsuls Richarz zu wandern, wo Herzog Adolf Friedrich zu Mecklenburg,
mein liebenswürdiger Wirt von Bapaume, seit einiger Zeit sein Zelt
aufgeschlagen hatte. Die Wechselfälle des Krieges hatten ihn jetzt
nach Asien geführt; sein Wunsch, als Führer einer eigenen kleinen
Armeegruppe an einer der türkischen Fronten kämpfen zu dürfen, war
jedoch zu seinem Bedauern nicht in Erfüllung gegangen. Übrigens war
er kein Neuling in diesem Lande, denn in seiner Jugend, vor ungefähr
zwanzig Jahren, war er von Jerusalem nach Berlin geritten.

Eben trat ich aus meinem Zimmer auf die Galerie hinaus, da kam mir der
Herzog schon entgegen, frisch und munter wie gewöhnlich. Er hatte von
meinem nächtlichen Einzug gehört und wollte der erste sein, der mich
willkommen hieß. In unsere Regenmäntel gehüllt wanderten wir über die
vornehmste Straße Bagdads, die Halil Paschas Namen trägt, zum Hause des
Herrn Richarz, einem gewaltigen Viereck, das ein schattenspendender
Garten umgab. Offene, überdachte Galerien, die auf geschnitzten und
buntbemalten, aber verwitterten Säulen ruhten, boten freie Aussicht
über Nachbarhöfe und enge Gassen, auf den großen königlichen Strom und
sein anderes Ufer.

Herr Richarz war 1894 bis 1907 deutscher Konsul in Bagdad und von 1912
bis 1914 amerikanischer. Dann hatte er seinen Abschied genommen, war
aber hier wohnen geblieben; er mochte sein Haus nicht im Stich lassen,
es auch nicht während des Krieges zu einem Spottpreis verkaufen.
Außerdem liebte er Bagdad und hatte sich im Lauf der Jahre an sein
eigenartiges Klima gewöhnt und sich in diese bunte orientalische
Welt, ihre Sitten und Sprachen -- Richarz beherrschte fließend ihrer
elf -- so eingelebt, daß er mit seinen sechzig Jahren dieses ruhige,
sorgenlose Dasein nicht ohne Zwang aufgeben wollte. Wie dunkel und
farblos waren die Straßen Berlins und Hamburgs verglichen mit den
Gassen Bagdads! Mit der Genauigkeit eines Uhrwerkes hatte er sein
Tagewerk geregelt; pünktlich zur Sekunde nahm er seine Mahlzeiten,
seine Bäder, machte er seine Spaziergänge, las er seine stark
verspätet einlaufenden Zeitungen oder die Schätze seiner Bibliothek,
und ebenso regelmäßig verrichtete er seine Arbeiten für den deutschen
Nachrichtendienst. Salon, Arbeitszimmer, Bibliothek und Speisesaal
gingen auf die Galerie hinaus, die um den Hof lief. Im Salon stand ein
über Meer und Ströme beförderter Flügel, dessen Innerm sein Besitzer
schöne Melodien entlockte, denn er war sehr musikalisch und fand in
einsamen Stunden am Klavier die beste Gesellschaft.

[Illustration: Graf Wilamowitz und Konsul Richarz auf dessen Kai in
Bagdad]

[Illustration:

  Phot.: Schölvinck.

Konsul Richarz’ Hof.]

Regelmäßig Ende Mai, bei Beginn der großen Hitze, pflegte Richarz seine
Winterwohnung zu verlassen und auf „Sommerfrische“ zu ziehen. Der Umzug
war nicht weit, bedeutete aber doch in seinem Leben einen jährlich
wiederkehrenden wichtigen Abschnitt: Er begab sich einfach zwei Treppen
tiefer in sein „Särdab“, einen Kühlraum, in den kein Sonnenstrahl
drang. Hier unter der Erde verbrachte er den ganzen Sommer, und wer an
den kleinen Luken des Särdab vorüber kam, konnte am hellichten Tage die
himmlischen Akkorde von Beethovens Mondscheinsonate aus der Kellertiefe
herauftönen hören.

Bei dem Herrn des Hauses traf ich auch meinen prächtigen Freund von
der deutschen Westfront Rittmeister Schölvinck, den Adjutanten des
Herzogs. An der gemeinsamen Frühstückstafel auf der Veranda des Konsuls
in der regenfrischen Morgenluft gab es so ein behagliches Plaudern;
im Mittelpunkt der Unterhaltung standen natürlich der vor einer Woche
gemeldete Fall von Kut-el-Amara und seine voraussichtlichen Folgen.

Später am Tage sah ich auch meinen lieben Reisekameraden Graf
Wilamowitz wieder, der von seinem 800-Kilometerritt von Aleppo her
mancherlei zu erzählen wußte. Und nachdem ich den Abend wieder in
Konsul Richarz’ Salon verbracht hatte, fuhr ich im Auto des Herzogs
nach Hause. Im Licht der blendenden Scheinwerfer hatten Bagdads enge
Straßen ein phantastisches Aussehen; die gelben Lehmhäuser mit ihren
kleinen, festen Straßentüren und die feierlichen Palmen, deren Federn
über die Hofmauern blickten, glichen den Kulissen einer Bühne. Auf den
noch nassen Straßen lungerten herrenlose Hunde herum, die den Rädern
des Autos nur zögernd und unter grimmigem Knurren ihren angewärmten
Schlafplatz preisgaben.

[Illustration: Bagdad.

Blick nach Südost. In der Ferne der Tigris.]

Man hatte mir mittlerweile eine andere Wohnung zugewiesen. Das Haus, in
das mich am Abend zuvor der Zufall geführt hatte, besaß ein ~Dr.~
Endrucks vom deutschen Etappenwesen in Mesopotamien. Er war seit fünf
Jahren hier ansässig im Dienst der Bagdadbahn. Jetzt empfing mich ein
großer Saal im Gebäude des Oberkommandos der 6. Armee. Seine ganze
Einrichtung bestand aus einem Stuhl, einem Tisch, einer Badewanne und
dem Feldbett; aber unter der Veranda floß der Tigris vorüber, und was
diesem Raum seine Weihe gab, war das Andenken an den Feldmarschall,
meinen großen Freund von der Goltz, der hier gewohnt hatte.




[Illustration: Moscheekuppel in Bagdad.]




Zehntes Kapitel.

Bagdad einst und jetzt.


Der eigentliche Begründer der Abbassiden-Herrschaft war Abu Dschafar
Abdallah al-Mansur. Er bestieg im Jahre 754 den Thron der Kalifen, der
Nachfolger Mohammeds, und erwarb sich einen der berühmtesten Namen
in der mohammedanischen Welt. Sein Reich war größer als das römische
in seiner Glanzperiode; es erstreckte sich von Chorassan, Kandahar
und dem Indus bis Aden, Algier und Kleinasien. Während die Omaijaden,
die erste mohammedanische Kalifendynastie, ihre Residenz in Damaskus
hatten, verlegten die Abbassiden sie nach Babylonien. Während seiner
ersten Regierungsjahre wohnte Mansur in Haschimija bei Kufa; zur
Verherrlichung seines Namens aber beschloß er eine neue Hauptstadt
zu gründen und wählte einen günstig gelegenen Punkt am rechten Ufer
des Tigris. Dort lag ein kleiner, schon seit der babylonischen Zeit
bekannter Ort, genannt Bagdad.

Im Frühjahr 762 begann die neue Kalifenstadt aus der Wüste
emporzuwachsen. Prachtvolle Paläste und Moscheen, Regierungsgebäude
und Festungswerke wurden errichtet, die Kanäle, die den Tigris mit dem
Euphrat verbanden, wurden verbessert und Brücken über sie angelegt.
Kaufleute, Handwerker und Kolonisten strömten herzu, zahllose
Ziegelhäuser wurden gebaut, und bereits vier Jahre später war Bagdad
eine Weltstadt, die größte in diesem Teil Asiens, und noch heute ist
sie eine der bedeutendsten Städte im größten Sultanat des Islam. Im
Jahre 768 war die Stadtmauer fertig. Die Hauptmasse der neuen Schöpfung
lag auf dem rechten Ufer. Aber der Kalif ließ auch das linke Ufer
bebauen, wohin sich heute der Schwerpunkt des heiligen Bagdad verlegt
hat. Dort residierte sein Sohn und Nachfolger Mahdi.

Von der neuen Hauptstadt aus, die er Dar-es-Salaam, Stadt des Heils,
oder Mansurije, Mansurs Stadt, nannte, leitete der Kalif mit eiserner
Hand sein unermeßliches Reich. Er brachte Ordnung in die innere
Verwaltung und erstickte grausam alle Aufruhrversuche. Für sich war er
sparsam, aber für Bagdad opferte er unerhörte Reichtümer.

[Illustration: Dachterrasse beim Suk el-Gasl.]

Den Beinamen al-Mansur (Almansor), der Siegreiche, trug er mit Recht.
Er regierte mit rücksichtsloser Kraft und regierte selbst, nicht durch
andere. Keiner seiner Nachfolger hat ihn an Herrschergaben übertroffen.
Seinem Sohn gab er einmal den Rat: „Schlafe nicht; dein Vater hat auch
nicht geschlafen, seit er das Kalifat errang. So oft auch der Schlaf
seine Augen beschwerte, ist sein Geist doch wach geblieben.“ Er war
von größter Mäßigkeit, nicht zum wenigsten in seinem Verhältnis zu
Frauen; Wein trank er nie, und er duldete am Hof weder Gesang noch
Musik, da beides zur Liederlichkeit verführe. Er konnte wie ein wildes
Tier gegen Aufrührer und verdächtige Personen rasen, war aber mild und
freundlich zu Kindern und Sklaven. Er wird als ein großer, magerer Mann
geschildert von hellbronzebrauner Gesichtsfarbe mit dünnem Bart und
gilt als der größte arabische Redner. Die jährlichen Wallfahrten nach
Mekka leitete er gern selbst, und auf solch einer Fahrt starb er, mehr
als sechzig Jahre alt, am 7. Oktober 775 etwa eine Wegstunde von der
heiligen Stadt entfernt, der Heimat seines Geschlechts; in ihrer Nähe
liegt er auch begraben. Aber Bagdad ist das vornehmste Denkmal, das er
sich errichtet hat.

[Illustration: Junge Türkin in Bagdad.]

Mansurs Enkel Harun er-Raschid (der Gerechte) regierte dreiundzwanzig
Jahre (786-809) und führte die Dynastie der Abbassiden auf die Höhe
ihrer Macht. Das Reich blühte, doch mehr dank der weisen Regierung
des Großvaters, als dem eigenen Verdienst des Enkels. Als er 803 die
persische Familie der Barmekiden, deren Macht er fürchtete, hatte
ermorden lassen, fühlte er sich in Bagdad nicht mehr sicher und
verlegte seine Residenz nach Rakka am Euphrat. Gemeinsame Interessen in
Spanien und dem babylonischen Reich brachten ihn mit Karl dem Großen
in Verbindung. So drang sein Ruhm auch nach Europa. Noch heute strahlt
sein Name in seltenem Glanz, denn er war ein Beschützer der Kunst und
der Wissenschaft, und Sagen und Legenden, vor allem die Märchen aus
Tausendundeiner Nacht sichern ihm die Unsterblichkeit.

[Illustration: Brücke über den Tigris.]

Harun er-Raschids Sohn Mamun mußte Babylonien zurückerobern, da es
durch Bürgerkriege verloren gegangen war, und residierte seitdem
wieder in Bagdad. Sein Nachfolger und Bruder Mutasim (833-842) aber
scheute die Nähe der aufrührerischen Perser und gründete als neue
Residenz Samarra, das wir später besuchen werden. Er war es, der zur
Niederwerfung von Aufständen türkische Söldnerscharen warb, die von
da an zu immer mächtigerem Einfluß gelangten. Erst der Kalif Mutadid
kehrte 891 wieder nach Bagdad zurück, das dann bis zum Untergang des
Kalifats die Hauptstadt blieb.

Der Verfall des mächtigen Kalifenreichs begann schon in der zweiten
Hälfte des 9. Jahrhunderts. Am 17. Januar 1258 wurde Bagdad von den
Mongolen unter Dschingis-Chans Enkel Hulagu erobert, geplündert
und niedergebrannt, dann aber wieder aufgebaut und zum Sitz eines
Statthalters erhoben. Die Gräber der Abbassiden hatte Hulagu zerstören
lassen, und auch ein anderes kostbares Kleinod, der Mantel des
Propheten Mohammed, ging in diesen Kämpfen verloren.

Nach mehr als halbtausendjährigem Bestand war so die Macht des Kalifats
vernichtet, und Bagdad war und blieb seitdem eine Provinzstadt. Später
wurde es Residenz der Il-chaner, die das Mongolenreich für den Großchan
verwalteten. Im Jahre 1401 stand der furchtbare Timur-Lenk, Tamerlan,
vor seinen Toren; er nahm die Stadt im Sturm, plünderte und vernichtete
alles außer den Moscheen, ließ die Bevölkerung niedermetzeln und baute
Siegespyramiden aus 90000 Menschenschädeln.

Dann folgte eine Zeit wechselnder Kämpfe zwischen Tataren und Türken.
Im Jahre 1534 nahm Sultan Suleiman die Stadt ohne Schwertstreich. 1623
wurde sie vom Schah von Persien, Abbas dem Großen, zurückerobert.
Erst nach mehreren erfolglosen Vorstößen setzten sich die Türken in
Bagdad wieder fest; 1638 belagerte Sultan Murad IV. an der Spitze
eines gewaltigen Heeres die Stadt und erstürmte sie trotz ungeheurer
Verluste. Er ließ alle Perser töten und das Tor zumauern, durch das er
als Sieger seinen Einzug gehalten hatte.

[Illustration: Straße im Christenviertel von Bagdad.]

Im Jahre 1732 lag Nadir Schah, der Eroberer Indiens, acht Monate
lang vergebens vor Bagdad, das der tapfere Ahmed Pascha hartnäckig
verteidigte. Dann wurde es mehrmals von Wahhabiten und Muntefik-Arabern
bedroht und genoß erst seit 1800 eine Zeit ziemlicher Ruhe, die jedoch
öfters durch Pest, Überschwemmungen, Beduinenangriffe, Hungersnöte und
Mißwirtschaft aller Art gestört wurde. Im Jahre 1837 berechnete man
die Einwohnerzahl auf nur 40000. Midhat Pascha, der in den sechziger
und siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts Generalgouverneur war,
brachte Ordnung in die Verwaltung und führte Bagdad zu neuer Blüte.

[Illustration: Dunkler Basartunnel.]

Da trat im Jahre 1917 zum erstenmal ein Volk des Okzidents auf den
Schauplatz. Bagdad wurde von den Engländern erobert. Es gibt zwar naive
Leute, die versichern, nunmehr werde die Furie des Krieges nie mehr
über Mansurs Stadt dahinbrausen und Bagdad erst jetzt und für alle
Zeiten mit Recht seinen Ehrennamen Dar-es-Salaam, Stadt des Heils, des
Friedens, führen. Aber ihre Stimmen sind wie Spreu vor dem Wind. Wenn
der nächste Weltkrieg über die Erde stürmt, sind die Gräber dieser
Propheten von heute vielleicht längst vergessen, und niemand fragt
mehr nach ihrem Glauben. Englands Absicht, über Südpersien hinweg
seine Verbindung mit Indien zu befestigen, kann nicht verwirklicht
werden ohne einen neuen Kampf auf Leben und Tod mit Deutschland und der
Türkei, deren Ziele durch die Bagdadbahn festgelegt sind. --

Was ich im vorigen Kapitel erzählte, war mein zweiter Einzug in die
Stadt der Kalifen, die ehemals als Haupt eines mächtigen Reiches, als
Wiege der Märchen aus Tausendundeiner Nacht so weltberühmt war und
heute als Ziel deutschen Unternehmungsgeistes, als Knotenpunkt der
Bagdadbahn nicht weniger in aller Munde ist. Dreißig lange Jahre vorher
hatte ich ihr meinen ersten flüchtigen Besuch abgestattet. Wer hätte
damals ahnen können, daß ich drei Jahrzehnte später zurückkehren würde
zu einer Zeit, in der die Welt vom Steppenbrand des größten aller
Kriege heimgesucht wurde! Damals war ich durch Persien von Buschehr
aus mit dem großen englischen Fahrzeug „Assyria“ nach Basra und von
dort mit dem Flußdampfer „Medschidije“ über Korna, Esras Grab, Amara,
Kut-el-Amara, Ktesiphon und Seleucia nach Bagdad gekommen.

Am Abend des 4. Junis 1886 war die „Medschidije“ vor dem Zollgebäude
vor Anker gegangen. Vom schmucken Haus des französischen Konsulats
hatte die Trikolore geweht. Bei Sonnenaufgang war ich ans Land
gerudert, und der alte englische Kaufmann Hilpern mit seiner
ehrwürdigen Gattin -- oder war ich damals nur so jung? -- hatte mich
mit ausgesuchter Gastfreundschaft aufgenommen. Drei nach indischer
Art möblierte Zimmer standen mir zur Verfügung, und sein türkischer
Sekretär Vabib Schika führte mich umher, so daß ich trotz der
mörderischen Hitze und der verödeten und staubigen Straßen während des
Ramasan alle Sehenswürdigkeiten Bagdads gründlich betrachten konnte. Wo
mögen die Freunde von damals jetzt sein? Wahrscheinlich tot. Aber auf
den Kreuzen des christlichen Friedhofs suchte ich ihre Namen vergeblich.

Jetzt wanderte in Bagdads Straßen ein neues Geschlecht, eine neue
Generation. Die Kinder, die ich damals an den Ufern des Tigris spielen
sah, standen jetzt in der Blüte ihrer Jahre, und wer damals die
Mittagshöhe des Lebens erreicht hatte, beugte sich jetzt unter der
Bürde des Alters.

[Illustration: Am Ufer des Tigris.

Ein Meheile fährt am Ufer entlang. In der Ferne das englische Konsulat.]

Auch die Stadt hatte manche Veränderungen erfahren. Eigentlich war
alles neu; denn auch die besseren Häuser hier halten sich selten
mehr als fünfzig Jahre, da das Ziegelbrennen primitiv und schlecht
geschieht. Im Winter setzen Regen, im Frühsommer Überschwemmungen des
Tigris den Gebäuden arg zu. An Bauwerken, die mir vor dreißig Jahren
bemerkenswert erschienen waren, standen noch das Minarett Suk-el-Gasl,
Sobeïds Grab, eine alte Karawanserei im Basar und das Missionshaus der
französischen Väter. Unter den neuen am Ufer des Flusses fielen jetzt
vor allen die Gebäude auf, die zur Bagdadbahn gehörten; dann das neue
englische Konsulat, das schönste Bauwerk der Stadt, das offenbar dazu
ausersehen ist, einen mächtigen Eindruck auf die umwohnenden Araber und
die nach Kerbela und Nedschef wallfahrenden Perser zu machen. Die alte
Schiffbrücke war noch ganz wie früher. Aber die Wasserräder waren aus
der Nähe der Stadt verschwunden und durch Motore ersetzt, die in ihre
asiatische Umgebung gar nicht hineinpaßten.

[Illustration: Am linken Tigrisufer.]

Der Hauptteil Bagdads liegt auf dem linken Tigrisufer. Die vornehmsten
Häuser, darunter alle Konsulate, stehen unmittelbar am Wasser; unter
ihren langen, offenen Veranden flutet der lautlos dahingleitende Strom.
Nur das englische Konsulat ist durch einen schmalen Hof von seinem Kai
und seiner Landungstreppe getrennt. Seit der Bau der Bagdadbahn begann,
wuchsen auch am rechten Ufer Neubauten empor, und wahrscheinlich wird
sich der Schwerpunkt Bagdads in Zukunft dorthin verschieben. Der Strom
durchflutet die Stadt von Nordwesten nach Südosten, das rechte Ufer hat
daher während der heißesten Stunden des Tages Schatten, während die
Veranden des linken Ufers fast immer in praller Sonne liegen.

Wenn abends die wagerechten Strahlen der untergehenden Sonne das
Gewirr von Bagdads grauen Häusern purpurn färben, und die Stämme der
Palmen unter dem Gewölbe der Blattkronen feuerrot leuchten, scheint
das wie ein Abglanz all der Herrlichkeit, die einst Mansurs Stadt
umgab; man lebt aufs neue in den Märchen aus Tausendundeiner Nacht,
denkt der wunderbaren Reisen des Seefahrers Sindbad und der Lieder,
die die Dichter zu ihrer Ehre sangen, und glaubt das alte Bagdad
zu seinen Füßen zu sehen, das Herz des weiten Kalifenreiches, dem
Karawanen von Osten und Westen zuströmten und dessen Gassen Harun
er-Raschid verkleidet mit seinem Wesir Dschafar durchwanderte, um den
Reden des Volks zu lauschen und seine Wünsche zu erforschen. Aber dann
geht die Sonne unter, der Glanz verlischt, Hausdächer, Kuppeln und
Minarette erhalten wieder ihren gleichmäßigen schmutzigen Farbenton,
und die Kronen der Palmen ballen sich zu dunklen Wolken über der
Stadt zusammen. Das ist die Gegenwart -- dies Häuflein Steine ist der
dürftige Rest, der noch von der Stadt der Märchen übrigblieb! Man mag
im Staub nach Spuren des Alten suchen, nach vergessenen Erinnerungen an
die Zeit der Kalifen -- vergebens! Nichts als Zerstörung! Eingeborene
sammeln und verkaufen Antiquitäten, aber zu erzählen wissen sie nichts
mehr. Man wartet geradezu darauf, daß irgendetwas eintrete, was an die
Vergangenheit erinnert -- vergebens! Bagdad liegt öde da in schläfrigem
Traum am Ufer des Tigris. Was man hört sind nur die Mächte der
Zerstörung, die niemals müde werden, Menschenwerk zu vernichten.

Auch die Menschen selbst tragen zum Verderben bei. In Bagdad gibt es
nur noch wenig zu zerstören, aber selbst dies wenige ist dem Untergang
verfallen. Die türkischen Gouverneure scheinen von unersättlichem
Bedürfnis nach Stadtregulierungen besessen zu sein. Durch die alten
Städte Babyloniens werden breite, gerade Straßen gezogen, die alles,
was im Wege steht, dem Boden gleich machen. So auch in Bagdad. Mit
welchem Eifer wurden die Häuser niedergerissen, als für die nach Halil
Pascha genannte Straße Platz geschafft wurde! Es war lebensgefährlich,
in die Nähe zu kommen, und mächtige Wolken Kalkstaub verkündeten
schon aus der Ferne die häßliche Zerstörung. Wenn man wenigstens neue
Häuser an Stelle der alten gebaut hätte! Aber damit hatte man keine
Eile. Wie die neuen Straßen in Aleppo und Mosul sah auch diese aus:
als hätte ein Erdbeben ihr Bahn gebrochen. Es war gewiß nicht viel
damit verloren, und besonders die Straße Halil Paschas hatte des
Ortsverkehrs wegen ihre Berechtigung. Aber die engen Straßen sind
einer der charakteristischsten Züge Bagdads; sie sind absichtlich wie
schmale Korridore angelegt, nicht aus einem Bedürfnis des engeren
Zusammenwohnens, sondern um die Sonne auszuschließen und Gänge zu
schaffen, wo der Schatten bleibt und die kühle Luft nicht durch jeden
Windzug wieder vertrieben wird. Diese Bauart hat natürlich auch den
Nachteil, daß der Regen im Winter und das Überschwemmungswasser im
Frühjahr schwer trocknen und einen furchtbaren Morast verursachen.

[Illustration: Die Hauptstraße von Bagdad mit Halil Paschas Haus
(links).]

[Illustration: Enge Gasse im Christenviertel.]

Der sonst so kluge Midhat Pascha ließ die alte Stadtmauer aus der Zeit
der Kalifen, eines der vornehmsten Denkmäler Bagdads, niederreißen,
weil eine moderne Stadt in ihrer Entwicklung durch eine Mauer gehindert
werde. Als ob neue Stadtteile nicht, wie in Jerusalem, außerhalb
angelegt werden könnten! Von altersher war diese alte Mauer der beste
Schutz gegen Überschwemmungen; seitdem sie beseitigt ist, liegen
mehrere Teile der Stadt offen da. Im Winter 1914 wurde Bagdad von einer
ganz unerwarteten Überschwemmung heimgesucht, denn der Strom steigt
sonst nur im Frühjahr; der Stadtteil Bab-esch-Scheik stand metertief
unter Wasser, ganze Straßen fielen in Trümmer und lagen verlassen da,
darunter die Straße, die nach Abd-el-Kaders stattlicher Grabmoschee
führt, und man fuhr durch die Stadt auf Kähnen, wie in Venedig. Diesmal
hatte die Überschwemmung zwar die Stadt selbst verschont, aber die
Felder nordöstlich davon in einen uferlosen See verwandelt und dadurch
die Heerstraße über Bakuba nach Chanikin und Persien abgeschnitten, so
daß man die Truppennachschübe auf Fähren und Flößen, Booten und Guffas
über die weite Strecke seichten und sumpfigen Wassers bringen mußte.
Von Bagdads Stadtmauer sind heute nur noch unbedeutende Fragmente
übrig, darunter die festen Türme an den alten Toren Bab-esch-Schergi,
dem Osttor, Bab-el-Gherbi, dem Westtor, Bab-el-Bastani, dem Mitteltor,
und Bab-el-Talesm, dem Talismantor, das von einem der alten
Abbassiden-Kalifen zu Anfang des 13. Jahrhunderts stammt.

Bagdad hat sechs christliche Kirchen: die chaldäische -- die vornehmste
und zugleich Kathedrale --, die syrische, die lateinische, die
jakobitische, die armenisch-katholische und die armenisch-orthodoxe.

[Illustration:

  Phot.: Schölvinck.

Bab-el-Talesm, eines der alten Stadttore von Bagdad.]

Die Kathedrale führt den Namen „Die sieben Schmerzen“ oder „~Mater
dolorosa~“. Der Gottesdienst wird in chaldäischer, nicht in
lateinischer Sprache abgehalten. Die Gemeinde muß ziemlich vermögend
sein, denn der Priester, der mich herumführte, berichtete, der Bau der
Kirche, der 1898 vollendet wurde, habe 16000 türkische Pfund gekostet;
für eine Kathedrale ist das nicht viel, wohl aber für eine kleine
Gemeinde in dem abgelegenen Bagdad. Ein Prachtbau konnte dafür nicht
geschaffen werden; sowohl innen wie außen ist die Kathedrale einfach
und anspruchslos. Die alte chaldäische Kirche aus dem Jahr 1843, die
ich 1886 besuchte, ist jetzt eine Schule. Beide sind durch einen
kleinen, mit Ziegeln gepflasterten Hof getrennt. Von außen fallen sie
ebensowenig auf wie die übrigen Kirchen; sie liegen alle in dem am
dichtesten bebauten Stadtteil, wo die Straßen so eng wie Korridore sind.

[Illustration: Nadjiba und Mina, 10jährige chaldäische Mädchen.]

Die chaldäische Gemeinde zählt etwa 7000 Personen und zerfällt in zwei
Parteien; die eine nennt sich nach Bagdad, die andere nach dem Dorf
Tell-keif bei Mosul. Die Tell-keif-Partei hat der Bagdad-Partei Fehde
angesagt und will sich der Herrschaft in der Gemeinde bemächtigen. Als
der chaldäische Bischof auf seinem Recht bestand, verklagte sie den
achtzigjährigen harmlosen Greis beim Patriarchen in Mosul, er wolle
Bagdad der Machtsphäre des Patriarchen entziehen und ein unabhängiges
Patriarchat gründen. Der Streit ging noch immer weiter, als wenn man
an dem Weltkrieg noch nicht genug hätte! Wie überall im Orient gewinnt
man wenig Achtung vor dem Christentum, das den Kindern dieses Landes
geboten wird. Der Bischof wohnte in einem ganz unansehnlichen Hause.
Dort sollten, wie man mir sagte, englische Offiziere vom Majorsgrad an
aufwärts eine Freistatt während der ersten Tage ihrer Gefangenschaft
finden. --

[Illustration: Der syrische Erzbischof von Bagdad.]

Der syrische Erzbischof von Bagdad, Athanase Georges Dallal, ist ein
vornehmer, würdiger Prälat. Sein Aussehen erinnert an die syrischen
Könige auf den alten Reliefs: gerade, kräftige Nase und dichter,
rabenschwarzer Bart. Er trägt einen dunklen Mantel mit Sammetkragen,
den eine kleine Kette am Halse zusammenhält. An dieser hängt das Kreuz,
das seine hohe Würde bezeichnet. Seine Kopfbedeckung gleicht einem
umgekehrten Zylinderhut; die der griechischen Geistlichen ist ebenso,
nur fehlt hier die obere Krempe. Er wohnt in einem sauberen Hause
ortsüblichen Stils, dessen kleinen gepflasterten Hof offene Galerien
umgeben. Die Zimmer sind groß, kühl und gut möbliert mit orientalischen
Sofas und Teppichen, schönen Kronleuchtern und zahlreichen Porträts
verstorbener Erzbischöfe.

[Illustration: Heskije, 60jähriger Rabbiner in Bagdad.]

[Illustration: Mesko, 60jährige Chaldäerin aus Tell-keif.]

Hochwürden hatten die Güte, mir selbst die Kirche der „Unbefleckten
Empfängnis“ zu zeigen. Sie ist in halb arabischem Stil vor
einundfünfzig Jahren erbaut und hat drei niedrige Wölbungen, die auf
acht Säulen ruhen. Neben dem Hauptaltar im Chor steht zu beiden Seiten
je ein kleinerer. Dazu kommen mehrere Gebetsnischen. Der schönste
Besitz ist ein holzgeschnitztes Tor, eine Gabe aus Indien aus dem Jahre
1863. Das ganze Gebäude hat sehr unter Feuchtigkeit gelitten, besonders
durch eine ungewöhnlich starke Überschwemmung vor achtzehn Jahren,
und man will es jetzt einer gründlichen Ausbesserung unterwerfen,
eine Arbeit, die wohl auf 15000 Franken zu stehen kommt. Der Grund
ist aufgeweicht, die Säulen haben sich nach auswärts geneigt, und die
Seitengewölbe zeigen breite Risse. Die Innenseiten der Mauern waren mit
Alabasterplatten belegt, die dem übrigen weniger haltbaren Baumaterial
einigermaßen Schutz boten. Aber auch der Alabaster verwittert,
trotzdem er mit Ölfarbe gestrichen ist. Die alten Assyrier verstanden
die Kunst des Bauens besser.

Auf dem Altar lag das alte Evangelium in arabischer Sprache, aber in
syrischer Schrift, damit die ismaelitischen Araber es nicht lesen
können -- ein höchst merkwürdiger Grund. Als Verkehrssprache ist das
Syrische fast verschwunden; nur in einigen Dörfern bei Mosul soll es
sich noch erhalten haben.

Früher war der Erzbischof von Mosul auch Bischof von Bagdad. Vor
sechzig Jahren aber wurde in Bagdad ein eigenes Erzbistum errichtet,
das dem syrischen Patriarchen in Antiochia, dessen Residenz jedoch
Beirut ist, untersteht. Dieser gebietet also den Erzbischöfen von
Aleppo, Mosul, Damaskus und Bagdad, sowie denen von Homs und Hama,
Diarbekr, Tripolis, Ägypten und Urfa. Die syrische katholische Kirche
Bagdads zählt 250 Familien mit höchstens 2000, nach anderen Angaben
1250 Personen. In Amara besteht eine kleine syrische Gemeinde von
70 oder 75 Personen, und in Schar und Basra leben etwa 100 syrische
Familien. Die unierte syrische Kirche zählt 60000 Anhänger, die
nichtunierte 400000; von letzteren wohnt die eine Hälfte in der Türkei,
die andere in Malabar in Indien. Vor fünfhundert und mehr Jahren hatte
die syrische Kirche mehrere Millionen Anhänger.

Die jetzt ausgewiesenen französischen Karmeliterpatres in Bagdad haben
eine Pfarrei mit Schule und Waisenhaus. Zu ihrer Gemeinde gehören auch
zwanzig Dominikanerschwestern, von denen vierzehn Französinnen, die
übrigen arabischer Abstammung sind. Auch in Amara, Basra und Mohammera
haben die Karmeliter kleine Gemeinden und einige Schwestern. Das
Irrenhaus in Amara wurde von ihnen errichtet. Die verschiedenen Orden
haben den vorderen Orient unter sich verteilt. Den Karmelitern ist
das ganze Gebiet zwischen Bagdad und dem Persischen Golf zugewiesen,
während die Franziskaner ganz Palästina sowie Charput und Aleppo
übernommen haben. In Mosul residieren die Dominikaner, in Urfa und
Diarbekr die Kapuziner, in Damaskus die Lazaristen und in Beirut
Jesuiten.

Das prächtige Haus der Karmeliterväter mit seinem kühlen Bogengang
um einen gepflasterten, länglichen Hof herum haben die Türken in
eine Schule umgewandelt. Als ich vor mehr als dreißig Jahren als
frischgebackner Student dieses Haus besuchte, nahm mich ein alter,
weißbärtiger Pater so freundlich auf, daß ich mich noch heute seiner
lustigen Versuche erinnere, einige schwedische Sätze zu radebrechen.
Diesmal wohnte ich in der Karmeliterkirche einem Hochamt bei, das mein
Freund von der Euphratfahrt, der katholische Priester, vor deutschen
Soldaten und Offizieren und syrischen Frauen und Mädchen hielt. Die
leichten, von der Stirn bis auf die Füße reichenden, meist hellroten
oder hellblauen Schleier, die schwarzen Augen, dunkeln Flechten
und roten Lippen der Töchter des Orients boten einen prächtigen
künstlerischen Gegensatz zu den braungebrannten feldgrauen deutschen
Kriegern, die das in Kreuzform gebaute, von Orgeltönen durchbrauste
Gotteshaus bis auf den letzten Platz füllten.

[Illustration: Habuba, Chaldäerin aus Tell-keif.]

Das Kloster der Dominikanerschwestern ist ein ungewöhnlich gediegen
gebauter Komplex von Höfen, Säulengängen, Altanen, Terrassen und
Veranden. Mitten auf einem der Höfe wächst eine herrliche Dattelpalme,
umgeben von Maulbeerbäumen und anderen Gewächsen. Das Kloster wurde
1880 gegründet, während die Mission der Karmeliterväter in Bagdad
schon ein paar hundert Jahre alt ist. Von den zwanzig Schwestern waren
vier bereits vor dem Krieg „~Soeurs de charité~“ im bürgerlichen
Krankenhaus, elf taten Dienst in Militärlazaretten, und fünf nahmen
sich der Erziehungsanstalten des Klosters an, der „~Ecole arabe~“,
der „~Ecole professionelle~“ und des Waisenhauses. Hier werden nur
Mädchen unterrichtet; in der Gewerbeschule lernen sie nähen, klöppeln,
sticken und weben. Einige der wenigen deutschen Damen in Bagdad lassen
ihre Kleider bei ihnen machen; es war rührend, sie bei der Arbeit zu
sehen. Vor dem Krieg lernten nicht weniger als fünfunddreißig junge
arabische Damen in der Schule der Schwestern Klavierspielen. Vater- und
mutterlose Mädchen, alle arm wie Kirchenmäuse, wohnen im Kloster, wo
sie alles bekommen, was sie bedürfen. Zur Zeit waren es einundfünfzig,
und die Einkünfte waren auf eine unbedeutende Summe herabgesunken.
Einigen Verdienst brachte nur etwas Näharbeit für europäische Damen.
Aber unter der Hut der Erzieherinnen wachsen und gedeihen sie, und die
Schwestern tun, was sie können, um sie an rechtschaffene christliche
Jünglinge zu verheiraten, die Gelegenheit gehabt haben, die Mädchen
kennen zu lernen. Auch Verlobung und Hochzeit werden im Kloster
gefeiert. Zuweilen aber kehrt auch das junge Paar nach einiger Zeit
zurück, um Hilfe zu erbitten.

[Illustration:

  Phot.: Schölvinck.

Der Herzog, Rittmeister Schölvinck und der Verfasser im Gespräch mit
französischen Dominikanerinnen.]

[Illustration: Die goldenen Kuppeln und Minarette von Kasimen.]

[Illustration: Haupteingang zur Grabmoschee in Kasimen.]

Zu den Sehenswürdigkeiten Bagdads gehört auch die kleine Stadt Kasimen
auf dem rechten Tigrisufer mit einer von den Schiiten sorgsam
gepflegten Grabmoschee für Imam Musa-el-Kasim (gestorben 801 n. Chr.)
und seinen Enkel. Der persische Pilgerverkehr dorthin ist so zahlreich,
daß Midhat Pascha auf der zwischen üppigen Palmenhainen hinführenden
Landstraße eine Pferdebahn anlegen ließ, deren zweistöckige, sehr
abgenutzte Wagen gepfropft voll waren. Auch Kasimen hat seine Basare,
Karawansereien und Kasernen. Die Grabmoschee selbst konnte ich aber nur
von einem Dache aus sehen und durch das Eingangstor einen flüchtigen
Blick in den Tempelhof werfen, dessen Innenfassade mit moderner Fayence
farbenprächtig ausgelegt war. Auf dem Rückweg besuchte ich Sitte
Sobeïd, ein Mausoleum, das Harun-er-Raschid seiner Lieblingsgemahlin
Sobeïd errichtete. Das ursprüngliche Grabmal wurde im Jahre 1051
zerstört, und der jetzige Bau mit seinem pyramidenförmigen Turm zeigt
zwar den Stil des 11. Jahrhunderts, ist aber kaum hundert Jahre alt.
Zahlreiche neue Gräber mit einfachen Steinplatten umgeben ihn, und in
seiner Nähe steht unter Palmen die kleine schöne Grabmoschee Scheik
Ma’ruf-el-Kaschi.

[Illustration: Grabmoschee der Sobeïd.]

Die Angaben über die Bevölkerungszahl Bagdads schwanken zwischen 120
und 300000. Europäer, die lange in Bagdad gewohnt, und fremde Besucher,
die es nach allen Richtungen durchwandert und von hochgelegenen
Aussichtspunkten aus sein Häusermeer betrachtet haben, sind der
Überzeugung, daß die Zahl 120000 der Wirklichkeit am nächsten kommt.
Einen brauchbaren Anhaltspunkt für die Berechnung ergibt der Verkehr
in den Basaren der verschiedenen Städte; die von Damaskus z. B., das
etwa 300000 Einwohner hat, sind viel weitläufiger und besuchter. Der
syrische Erzbischof von Bagdad berechnet die Zahl der Bewohner auf
230000 : 150000 Mohammedaner in zweiunddreißig verschiedenen Sekten
mit etwa hundert Moscheen, von denen nur ein Drittel Kuppel und
Minarett hat, 60-80000 Juden, die fünfzig Synagogen haben und neun
Zehntel des Handels beherrschen (nach europäischen Angaben höchstens
45000), 7000 Chaldäer, 2000 Syrier, je 4-500 armenisch-katholische und
armenisch-orthodoxe, etliche römische Katholiken, und dazu die wenigen
Kurden, die nur von Zeit zu Zeit die Stadt besuchen. Im Jahre 1900
berechnete Max von Oppenheim die Einwohnerzahl auf 200000, davon 150000
Mohammedaner (einschließlich 90000 Schiiten), 10000 Christen und 40000
Juden.

Als ich Bagdad vor dreißig Jahren besuchte, wohnten nur wenige Europäer
dort. Vor Ausbruch des Weltkrieges zählte man deren mehrere Hundert.
Neue Kaufhäuser und Banken waren seitdem entstanden, besonders hatte
die Bagdadbahn viele Deutsche herbeigezogen, und während meines
jetzigen Aufenthaltes hatten die Aufgaben des Krieges zahlreiche
Europäer, darunter viele Deutsche, Träger berühmter Namen, und mehrere
meiner Landsleute in deutschen Diensten nach Bagdad geführt. Einige,
die zu meinem nächsten Freundeskreis gehörten, nannte ich bereits.
Bei ~Dr.~ Herle sah ich den hervorragenden Arzt Professor Reich,
der auf der Rückreise von Persien am Flecktyphus erkrankt war; er
schien dem Tode nahe, überwand jedoch die Krisis und konnte Anfang
Juni nach Deutschland heimkehren. Die archäologische Forschung war
glänzend vertreten durch die Professoren Andrae und Jordan, die Leiter
der Ausgrabungen in Assur, und durch Professor Sarre, der gemeinsam
mit ~Dr.~ Herzfeld das Geheimnis von Samarra bloßlegte. Beiden
Ruinenstädten sind spätere Kapitel meines Buches gewidmet. Die
Archäologen ~Dr.~ Lührs und Bachmann waren dienstlich an der
Irakfront beschäftigt.

Wie Deutschland in allen großen Städten Vorderasiens überaus tüchtige
Konsuln besitzt, so auch in Bagdad, wo ~Dr.~ Hesses vielseitige
Kenntnisse auch für die Kriegführung von größtem Nutzen waren. Früher
war der englische Generalkonsul der mächtigste Ausländer hier;
er unterstand dem Gesandten in Konstantinopel, war aber auch als
politischer Agent und Resident der indischen Regierung tätig. Eine
Eskorte von Sepoys und ein eigenes Schiff bezeichneten nachdrücklich
seine Machtstellung. Jetzt waren die englischen, französischen und
russischen Konsuln verschwunden, nur die von Österreich, Amerika und
Persien noch auf dem Posten. Dem persischen Konsul machten die Pilger
seiner Heimat viel zu schaffen, die lebenden und noch mehr die toten,
die in Decken gehüllt auf Mauleseln nach Kerbela überführt werden
mußten.

[Illustration: Kasimen.]

Im Stabe des Herzogs traf ich Rittmeister Tschirner wieder, dem ich
an der Ostfront bei Suwalki begegnet war. Stabschef war Major von
Köppen. In einem Krankenhause lag in bedenklichem Zustande der deutsche
Schriftsteller Armin T. Wegner, bekannt durch seine Bücher „Zwischen
zwei Städten“, „Gedichte in Prosa“ und andere. Der deutsche Arzt
~Dr.~ Schacht führte Schölvinck und mich an sein Schmerzenslager,
wo wir eine unvergeßliche Stunde verbrachten.

Mit einer gewaltigen Karawane von Mauleseln und persischen Dienern kam
von Teheran der dortige deutsche Gesandte ~Dr.~ Vassel und mietete
für sich und sein Gefolge ein Stück vor der Stadt ein Haus. Hier
wohnte auch Wilamowitz als deutscher Militärattaché in Persien. Als
ich meinen Reisekameraden das letzte Mal sah, hatte er hohes Fieber,
war aber nicht dazu zu bewegen, das Bett aufzusuchen. Er war gerade
Major geworden, und nach ~Dr.~ Vassels Abreise war er deutscher
~Chargé d’affaires~. Er hoffte, den siegreichen türkischen Truppen
nach Persien folgen und endlich der erstickenden Hitze entfliehen zu
können. Seine Krankheit aber verschlimmerte sich plötzlich, und er
starb Mitte Juli, eine trauernde Witwe, geborene Freifrau von Fock,
und eine kleine Tochter hinterlassend, die jetzt in Stockholm wohnen.

[Illustration: Straße in Bagdad.]

An Direktor Wurst hatte die Deutsche Bank in Bagdad einen
vortrefflichen Vertreter, dessen Arbeitslast sich ungeheuer vermehren
wird, wenn die Bagdadbahn einmal fertig ist. Herr Brown, Chef
eines großen deutschen Handelshauses, hatte acht Jahre lang an der
Piratenküste des Persischen Golfs unter wenig bekannten Araberstämmen
gelebt; durch Handelsverbindungen, die er mit ihnen und den Beduinen in
Mesopotamien anknüpfte, besaß er einen großen Einfluß auf diese Völker.
Er erzählte mir von dem mächtigen Araberhauptmann Ibn Reschid südlich
von Hille, der mit einer Streitmacht von 30000 Mann der türkischen
Sache treu ergeben ist, und von andern Stämmen weiter unten am Golf,
die auf ihren Kriegszügen die vornehmsten Frauen in schimmernder Pracht
auf Dromedaren voranreiten lassen, um den Mut der Kämpfer anzufeuern.
Bei Brown wohnte der junge Diplomat Herr Dickhoff von der Deutschen
Gesandtschaft in Teheran. Herzog Adolf Friedrich mit Gefolge, Graf
Wilamowitz und ich waren oft in Browns Haus zu Gaste, besonders an
Mondscheinabenden, wenn man ohne Lampe auf der Dachterrasse sitzen
und den Anblick des silberblanken Stroms und der seltsam beleuchteten
Palmen genießen konnte.




[Illustration: Kaiplatz in Bagdad.]




Elftes Kapitel.

Sommertage in „Dar-es-Salaam“.


Bagdads Sehenswürdigkeiten, d. h. das, was 1258 von den Horden Hulagus
und hundertfünfzig Jahre später von Tamerlan verschont wurde, lassen
sich an einem Tage besichtigen. Und doch -- wie gern verweilt man ein
paar Wochen hier, um den unverfälschten Orient und das farbensatte
Straßenleben zu genießen. Die Stadt hat eigentlich nur eine Straße,
die diesen Namen verdient. Hier kann man sogar Droschke fahren, wenn
man nicht gerade in einem unentwirrbaren Knäuel von Karawanentieren,
Reitern und Wagen stecken bleibt. Sie setzt die Straße Halil Paschas
nach Nordwesten fort und läuft parallel dem Tigris durch die ganze
Stadt, durch die vornehmste Pulsader des Basars und weiter am Kopf der
Pontonbrücke vorüber auf dem linken Ufer nach der Zitadelle Kala, einem
mauerumschlossenen Block von Zivil- und Militärgebäuden, Serail, Konak
und Kaserne.

Auf dieser Straße wogt ein bunter Karneval der Rassen -- Semiten,
Mongolen, Arier, selbst Neger --, der verschiedensten Religionen,
Geschlechter und Stände. An den Ecken sitzen die Armen, die übrigens
während des Krieges weit minder zahlreich waren, als man erwarten
sollte. Auf weißen Mauleseln oder kostbaren arabischen Stuten reiten
die Standesherren. Mit unbewußter Majestät, die geborenen Aristokraten
Vorderasiens, tragen die echten Araber, die Wüstenbeduinen, ihre
weißen, flatternden Kopftücher unter den Stirnreifen und ihre weiten,
bis zu den Füßen reichenden Mäntel. Juden überall, in orientalischen
Trachten und leicht erkennbar an ihren ausgeprägten Zügen. Dunkelblau
gekleidete Araberinnen verstecken die Glut ihrer Augen hinter
undurchdringlichen Schleiern. Die türkischen Damen gehen gewöhnlich
schwarz gekleidet, oft in Seide, und lassen ebenfalls keinen Schimmer
ihrer Gesichtszüge sehen. Die Christinnen Bagdads: Syrierinnen,
Chaldäerinnen, Armenierinnen, tragen helle, leichte Gewänder, die wie
zusammengefallene Ballonhüllen ihre Formen verbergen, ihre schmucken
Gesichter aber den Augen der Männer freigeben. Auch die Trachten der
Jüdinnen gleichen denen der Mohammedanerinnen, nur der Schleier verrät
sofort die Rasse, ein kleines schwarzes, goldgerändertes Sonnendach,
das von der Stirne wagerecht vorspringt oder schwach abfällt und das
Gesicht nicht verbirgt, sondern nur beschattet.

[Illustration: In der Hauptstraße von Bagdad.]

[Illustration: Die Hauptstraße Bagdads.]

Überall malerische Bilder und Gruppen! Sieh nur dort die arabische
Mutter, die ihr kleines Kind auf der rechten Schulter trägt und
ihren Buben an der linken Hand führt; oder hier die in dunkelblaue
Schleier gehüllten Mädchen, die zum Strand hinab eilen, um in schönen
Lehmkrügen oder Kupferkannen Wasser zu holen. Auch im Innern der Stadt
trifft man sie, wenn man an den kleinen Wasserbehältern unter den
schützenden Ziegelwölbungen stehen bleibt; hier lassen sie sich abends
nieder, treffen ihre Nachbarinnen, plaudern und tragen die wildesten
Basargerüchte weiter.

Von der Hauptstraße führen mehrere kleine Quergassen oder schmale
Gänge zwischen den Häusern zum Tigrisufer hinab, wo Boote und Guffas
ihre Landungsplätze haben. Dorthin wandern barfuß auch die Sakkas,
die Wasserträger; in schwarzen, weichen, tropfenden Ziegenfellsäcken
tragen sie Wasser in die Haushaltungen und zu den durstigen Wanderern
in den Basaren, oder sie sprengen damit die trockenen Straßen. Der
Sack hängt auf der rechten Seite, mit der rechten Hand halten sie ihn
zu, während die linke eine kleine, bis zum Rand gefüllte Holzschale
darreicht. Besondere Geschicklichkeit gehört dazu, den leeren Sack zu
füllen; ein an doppeltem Riemen befestigter Ledereimer wird in den Fluß
hinabgelassen, ohne daß der Mann sich bückt, dann mit einer eleganten
Bewegung herausgehoben und in die offene Mündung des Sacks hinein
entleert.

[Illustration: Sakka (Wasserträger).]

[Illustration:

  Phot.: Schölvinck.

Frauen mit Wasserkrügen.]

An einzelnen Stellen lassen Häuser oder Gärten einen schmalen
Uferstreifen frei. Hierhin kommen die Wasserträger, die ihre großen
Säcke aus Ochsenhaut paarweise von Eseln tragen lassen können. Hier
füllen die Frauen ihre Krüge, waschen Kleider oder Kinder; die
Schleier sind zurückgeschlagen, die weiten rockähnlichen Hosen bis
übers Knie heraufgezogen, und barfuß gehts ein Stück in das seichte
Wasser hinein. Dann lassen sie sich in Gruppen am Strande nieder, um zu
schwatzen, und kehren schließlich in ihre Häuser zurück, anmutig ihre
Krüge bald auf den Schultern, bald auf dem Kopf balancierend.

Knaben, Jünglinge und erwachsene Männer benutzen denselben Platz zum
Baden. Schwimmen können sie alle, sie sind ja an dem gewaltigen Strom
geboren, von ihm abhängig, mit ihm vertraut. Geschmeidig wie Katzen
klettern sie am Kai hinauf, springen wieder ins Wasser, schwimmen
umher, tauchen und ringen mit der Strömung, schreien und lachen. Es ist
ein Summen wie im Bienenkorb, ein Spritzen und Plantschen, als zöge
eine Schar Delphine vorüber. Ohne Gefahr ist solch ein Bad nicht; aus
dem Persischen Golf gehen ab und zu Haifische tigrisaufwärts bis nach
Bagdad, ja sogar bis Samarra.

[Illustration: Mariem, 15jähriges chaldäisches Mädchen aus Alkosch.]

[Illustration:

  Phot.: Schölvinck.

Badestrand in Bagdad.]

Doch zurück in das Gewimmel der Straßen, unter die vornehmen Kaufleute
und die Hausierer, die Süßigkeiten, Brot oder Früchte feilbieten, die
Beamten in halbeuropäischer schwarzer Kleidung mit rotem Fes, die
Syrier, die oft eine europäische Jacke über weißen orientalischen
Hemden tragen, die feierlichen Priester in weißen Turbanen und weiten
Mänteln, die Pilger, die Beduinen und die anatolischen Soldaten,
die auf dem Wege zur Front sind, zum Irak unterhalb Kut-el-Amara
oder nach Persien. Während meines Aufenthaltes in Bagdad zogen eines
Tages die Truppen ein, die ich einen Monat vorher bei ihrem Aufbruch
am Dschirdschib gesehen hatte. Einen langen Weg durch trockene
Wüstengegenden hatten sie hinter sich, trotzdem waren sie in bester
Verfassung, glänzten von Schweiß und Sonnenbrand und sangen munter zu
ihrer Musik. Ihr schweres Gepäck, bestehend aus Gewehr und Ranzen,
Spaten, Zeltbahn und anderem mehr, schien sie nicht zu drücken. Sie
sahen munter aus, und ihre Schritte hallten taktfest wider. Sie
marschierten in einer Staubwolke, aber über ihren weichen Schirmmützen
wiegten die Palmen ihre Blattkronen.

[Illustration: Häuser mit Erkern.]

[Illustration: Eine enge Gasse, die von der Hauptstraße zum Tigris
führt. Links ein Belem und eine Guffa.]

[Illustration: Die Basar-Ecke Ras-el-Karijeh.]

Die vornehmen Privathäuser Bagdads sind alle nach demselben Muster
gebaut, mögen sie nun Arabern oder Christen gehören. Ich besuchte
einige von ihnen. Äußerlich sind sie sehr unansehnlich. Man bemerkt sie
kaum von der engen Gasse her, die von grauen, nichtssagenden Mauern
eingefaßt ist. Das Haupttor ist klein, aber meist von geschmackvoll
behauenen Steinen umrahmt. Durch einen engen, tunnelähnlich gewölbten
Gang gelangt man in einen viereckigen, stets mit Ziegeln gepflasterten
Hof, wohin kein Blick von der Außenwelt dringt. Hier wachsen
Apfelsinen- und Aprikosenbäume, oft findet man auch ein mit Steinen
eingefaßtes Wasserbecken. Vom Hof führt eine steinerne Außentreppe zur
Veranda oder Galerie hinauf, die um das ganze Haus läuft. Gäste werden
im Eivan oder Ivan empfangen, einer Art Nische auf gleicher Fläche mit
dem Hof. Hier herrscht immer Schatten, und man wird auf weichen, roten
Sofas und Diwans mit Zigaretten, Kaffee und Eislimonade bewirtet. Im
ersten Stockwerk hat die arabische Familie ihr Staatszimmer mit bunter
Mosaikdecke, Spiegelglasveranda und teppichbelegtem Boden -- persischer
Stil und indische Möbel. Im Sommer schlafen auch die Eingeborenen auf
dem Dach mit oder ohne Mückennetz. Zu einem vollständigen Haus gehören
ein oder mehrere Särdab, die unterirdischen Gelasse, die während der
warmen Tageszeit als Wohnräume oder auch als Vorratskeller dienen.
An der Decke hängen allerhand Dinge, die den Ratten eine leckere
Schnabelweide bieten würden, und an Ratten ist in Bagdad kein Mangel.

In der Hauptstraße des Basars hatte der Syrier Antony Samhiry im
Erdgeschoß eines kleinen, einfachen Hauses seinen Geschäftsraum. Hier
münden auch ein paar andere Gassen. Der lebhafte Knotenpunkt heißt
Ras-el-Karijeh. Bei Samhiry saß ich lange Stunden und sah das bunte
Leben vorüberziehen, bald langsam träumend im Takt des Spaziergängers,
bald eilig und stoßend, wenn es Geschäften nachging. Eselkarawanen
tragen in Weidenkörben oder auf Saumsätteln Gemüse und alle möglichen
Waren, die für die tausend kleinen, offenen Kaufläden bestimmt
sind. Soldaten und türkische Offiziere in feldgrauer Uniform gehen
vorüber, Priester der verschiedenen christlichen Kirchen in langen
schwarzen Talaren und sonderbar hohen Kopfbedeckungen, Arbeiter und
Träger, ebenholzschwarze Neger, persische Pilger auf dem Weg nach den
heiligen Stätten Kerbela, Nedschef oder Kasimen. Manchmal eilt eine
Krankenschwester vorbei in ihrer großen, weißen Kappe mit dem Zeichen
des Roten Kreuzes. Laute Rufe ertönen: ein Kutscher verlangt für seine
Droschke oder seinen Kerbelawagen freien Weg; er bringt Reisende, die
in einer der Karawansereien des Basars Unterkunft suchen. Zuweilen
werden auch verwundete oder kranke Soldaten auf Bahren nach einem der
vielen Lazarette getragen; ja, es vergeht kein Tag, an dem man nicht
einem Toten auf dem Weg zum Begräbnisplatz begegnet. Als Leichenwagen
dienen oft die wenigen Droschken der Stadt, und der fremde Ankömmling
wird deshalb vor ihrer Benutzung gewarnt.

Wohin will die malerische Reiterschar, die da in langsamem Trab durch
den Basar die Brücke herauskommt? Jedenfalls nach dem schiitischen
Heiligtum Kasimen auf dem rechten Tigrisufer, denn es sind Perser.
Voran reitet auf einem großen, weißen Maulesel ein vornehmer Alter.
Sattel- und Zaumzeug ist mit Silberplatten belegt, die Decke von rotem
Sammet. Ihn begleiten ein junger Mann, wahrscheinlich sein Sohn, und
zahlreiche Diener mit der charakteristischen Locke am Ohr und der
großen, runden Filzmütze auf dem Kopf. Zuletzt kommen Maulesel und
Pferde mit dem Gepäck; die Tscharwadare thronen hoch auf den Bergen von
Kisten und Säcken, Ledertaschen und Matten. Die Zahl der persischen
Kaufleute in den Basaren ist auffallend groß. Ein lebhafter Handel
mit ihrer Heimat geht über Bagdad; die englische Einfuhr aus Indien
ist am größten. Wolle, Getreide und Datteln sind die wichtigsten
Ausfuhrartikel.

[Illustration: Hof einer Karawanserei in Bagdad.]

Der auf dem linken Ufer gelegene Stadtteil, in dem auch die
Ortsbehörden ihren Sitz haben, ist dreimal so groß wie der auf dem
rechten Ufer. Voraussichtlich wird, wie schon erwähnt, die Bagdadbahn
dereinst den Schwerpunkt auf das Westufer zurückverlegen, wo sich
ehemals die Prachtgebäude der Kalifen erhoben. Dann wird sich der
unternehmungslustige deutsche Handel Mesopotamien und weite Gebiete
Arabiens dienstbar machen. Daß Bagdad zurzeit in englischen Händen ist,
spielt dabei keine Rolle. Das eiserne Band der neuen Bahn wird auch das
türkische Reich fest zusammenschweißen. Im Weltreich der Kalifen ging
die bedeutendste Handelsstraße nach Indien und China über Bagdad und
den Persischen Golf; sie verfiel mit dem Untergang des Kalifats, wird
aber von der Bagdadbahn wieder aufgenommen werden. Auch die Basare, die
jetzt während des Krieges ein kümmerliches Leben fristen, werden dann
aufblühen wie nie zuvor.

[Illustration: Inneres des Han el-Ortme.]

An den größten Basarstraßen liegen die Hans oder Karawansereien; durch
kleine Tore und dunkle Gänge gelangt man auf ihre Höfe. Hier stehen
die Pferde und Maulesel der Fuhrleute an Lehmständer angebunden; eine
offene Galerie führt in die Gastzimmer. Die vornehmste Karawanserei
heißt Han el-Ortme; sie stammt wahrscheinlich noch aus der Zeit der
Kalifen und ist eine gewaltige Halle mit gewölbtem Dach; die Pilaster
und Ziegelmauern sind aus dauerhafterem Material, als man heute
herzustellen vermag. Im Innern geht eine freistehende Holztreppe zu
einer offenen Galerie hinauf; hier sind in dunklen Kammern die Kontore
der Kaufleute. Eine Treppe höher kommt man auf das Dach, von dessen
kleinen, flachen Erhebungen sich eine herrliche Aussicht auf die Stadt
darbietet: gerade unter uns die Basare oder vielmehr ihre Dächer aus
Stangen und Pfählen, Strohmatten oder Platten, und ringsum das völlig
flache, graue Gewirr der Häuser. Nur hier und da reckt eine Moschee
ihre schöne Kuppel und ihre schlanken Minarette empor. Dort liegt der
Haïdar-khane mit seiner schimmernden, grünen Kuppel, die geschmackvolle
„Korallenmoschee“ Dschami Merdschan und Suk-el-Gasl, das mächtige,
alte Minarett, der einzige Rest einer Moschee, die Anfang des 13.
Jahrhunderts vom Kalifen Mustansir errichtet wurde. Vor dreißig Jahren
schon habe ich sie abgezeichnet; jetzt machte ich von ihr ein paar
photographische Aufnahmen.

Vom Dach des Han-el-Ortme aus gesehen ist Bagdad eine schöne Stadt. Die
grünen Palmengürtel und -gruppen innerhalb der Lehmmauern, die grün
und blau schimmernden Kuppeln und die blinkenden Windungen des Stromes
heben sich scharf von der grauen Fläche ab. Nur ein schwaches Echo des
lärmvollen Lebens unten in den Gassen dringt herauf, und völlig sicher
ist man hier vor den Düften, die den Aufenthalt in den überdachten
Basaren nicht eben verschönern.

Im Stadtteil der Tänzerinnen sind die Gassen so eng, daß man mit
ausgestreckten Armen beide Häuserzeilen berühren kann. Hier herrschen
Lärm und Trunkenheit, leichtfertige Burschen und wilde Gesellen
streifen hier umher, aber das Auge des Gesetzes in Gestalt der
Gendarmen wacht. In den Türen locken bunt und leicht gekleidete Mädchen
mit Hals- und Armbändern und Ohrringen aus blinkendem Metall.

[Illustration: Aussicht vom Dach des Han el-Ortme.]

[Illustration: Kurdische Tänzerin in Bagdad.]

Auch Bagdad besitzt ein Ghetto und zwar ein recht geräumiges; denn
die Juden sind hier sehr zahlreich. In den größeren Straßen haben
die Häuser zwei, manchmal drei Stockwerke. Das Charakteristischste
daran sind die auf Balken ruhenden vorspringenden Erker, hinter deren
eisenvergitterten Fenstern die Töchter Israels, oft schön wie die
Nacht, mit halboffenen, schweren Augenlidern und müden Blicken das
Leben auf der Straße beobachten. Die Läden und Basarstände schützt
man gegen Sonne und Regen durch kleine viereckige Holzdächer, die
durch schräggestellte Stangen gehalten werden. Diese Läden sind elende
Löcher, und hinter dem Krämer, der mit gekreuzten Beinen unter seinen
Waren auf dem Ladentisch sitzt, gähnt ein abschreckendes Dunkel.
Noch anspruchslosere Handelsleute, die keinen festen Stand haben,
lassen sich einfach an den Häusermauern nieder und bieten aus großen
Körben Aprikosen, Pfirsiche, Gurken, Brot und Süßigkeiten feil. Auch
Frauen beteiligen sich am Handel; sie kauern in faltenreiche Schleier
gehüllt am Boden, der kleine schwarze, goldgeränderte Gitterlappen ist
heraufgezogen und gibt ihre Gesichtszüge frei.

„Airan bos, Airan bos!“ klingt es ab und zu von der nächsten
Straßenecke her in gellendem Ton. „Airan“ heißt auf Türkisch die
gegorene, mit Wasser vermischte Milch; „bos“ bedeutet Eis. Auf einem
Holzgestell steht ein großes Gefäß mit dem erquickenden Trank, in dem
klare Eisstückchen schwimmen. Für den Bruchteil eines Piasters bekommt
man einen Becher voll.

[Illustration: Treppe und Galerie des Han el-Ortme.]

Das Gedränge in den Straßen des Ghettos ist unheimlich, und man darf
nicht empfindlich sein, wenn ein mit einem querliegenden Holzkohlensack
beladener Esel dahergetrippelt kommt, oder zerlumpte Kinder in bloßem
schmutzigen Hemd sich mit den Ellenbogen den Weg bahnen. Jeder, der
nach Bagdad kommt, besucht wenigstens die Hauptstraße des Ghettos,
Chaldäer und Syrier, Araber und Armenier, Perser und Türken,
Sudanesen, Neger aus Sansibar und dem Herzen von Afrika, und sogar
englische Soldaten und Offiziere, die ihre überflüssigen Effekten
verkaufen, nachdem sie erfahren haben, wie knapp die Transportmittel
auf dem bevorstehenden Weg nach Konia und Angora sind.

[Illustration: Gasse im Judenviertel.]

Aber die Juden herrschen bei weitem vor. Es riecht geradezu nach
Judentum, und es riecht schlecht, obgleich es hier luftiger ist, als
in den Basaren der Mohammedaner, wo die üblen Dünste durch die Dächer
festgehalten werden und das Tageslicht nur durch Löcher hereindringt.
Die Hauptstraße des Ghettos ist nicht überdacht, sondern unter freiem
Himmel, nur Erker und die kleinen Schutzdächer dämpfen das Licht.
Der Schmutz ist furchtbar, und wenn die Sakkas mit ihren Ledersäcken
sprengen, watet man durch Schlamm. Aller Abfall aus den Häusern fliegt
einfach auf den Fußsteig, und die Verwandten der Schakale, die gelben
Hunde, wühlen darin herum.

[Illustration: Die Hauptstraße im Ghetto von Bagdad.]

[Illustration: Jüdische Zigarettenwicklerin in Bagdad.]

Mit meinem syrischen Führer besuchte ich ein einfaches jüdisches
Haus in einer Nebenstraße. Der kleine viereckige Hof, tagsüber der
Aufenthaltsort der Hausbewohner, war, wie gewöhnlich, mit quadratischen
Ziegelplatten gepflastert, wie man sie etwa in Babylon findet. An
der Mauer war ein Brunnen, aus dem man das Wasser mit Hilfe eines
Ledereimers herausholte. Links vom Eingang führten wenige Treppenstufen
in ein mit zerfetzten Matten und etlichen Schemeln möbliertes Loch,
dessen Gitterfenster aus eine kleine offene Halle, den Eivan,
hinausgingen. Im übrigen hatte das Haus nur eine Wohnung, deren dunkle
Kammern mehrere Familien beherbergten. Die Juden sind arm und drängen
sich stets auf möglichst engen Raum zusammen. Nur Frauen und Kinder
waren daheim. Die Frauen tragen nichts weiter als ein Zwischending
zwischen Kleid und Nachthemd. Die Kinder waren niemals mit Wasser,
Seife oder Kamm in Berührung gekommen, und ihre Gesichter und Arme
zeigten die Riesennarben der widerwärtigen Bagdadgeschwüre; diese
rühren von einer giftigen Fliege her, deren Stich eine jahrelang offene
Wunde hervorruft und eine entstellende, unvertilgbare Narbe zurückläßt.
Auch ein paar alte Weiber saßen da, grauenhaft anzusehen. Ihre Finger
wühlten in dem wirren Haar auf der Jagd nach Ungeziefer, das ihnen
keine Ruhe ließ.

Auch dieses einfache Haus hatte einen „Särdab“, einen unterirdischen
Raum, wohin man flüchtet, wenn die große Hitze kommt, ein widerliches,
schmutziges Loch, eine Heimstätte für Skorpione und Tausendfüßler. Dort
stand ein Lehmkrug mit kühlem Wasser, und voll Gastfreundschaft bot man
mir einen Trunk. Aber ich lehnte dankend ab und eilte ans Licht und
auf die Straße hinaus, wo die Luft doch noch etwas besser war, als in
diesen furchtbaren Wohnlöchern der armen Juden.

[Illustration: Wasserholeplatz.]

Die architektonisch so anziehende Ghettostraße mit ihrem bunten
Verkehr wollte ich nicht verlassen, ohne sie, wenn auch nur flüchtig,
skizziert zu haben. Das war jedoch nicht so leicht zu machen. Die
Häuser standen zwar still, aber alles andere war in steter Bewegung
und konnte nur hastig in Umrissen angedeutet werden. Am unbequemsten
war das Gewühl, das ich selbst verursachte. Alles blieb stehen und
drängte sich heran, um zu sehen, was ich vorhabe. Freundliche Krämer
boten mir einen Schemel an, um mir freie Aussicht über die Köpfe der
Menge zu verschaffen; sie versahen mich mit Limonade und Zigaretten
und hielten nach Möglichkeit die Zudringlichen fern. Vergebens! Die
Verkehrsstockung wurde so stark, daß ich bald die Aufmerksamkeit der
Revierpolizei erregte.

Ein Schutzmann bahnte sich plötzlich den Weg durchs Gedränge und
fragte mich in barschem Ton, was ich hier zu zeichnen habe; ich
müsse doch wissen, daß es während des Krieges streng verboten sei,
im Hauptquartier zu zeichnen und zu photographieren. Da ich ruhig
fortarbeitete, fragte er weiter, ob ich mich auf die Bekanntschaft mit
einem hervorragenden türkischen Offizier berufen könne. Ich nannte
Mesrur Bei. Diesen Namen habe er niemals gehört, erklärte der Mann des
Gesetzes. Ich antwortete, er müsse doch den Kommandanten von Bagdad
kennen, und die Polizei müsse obendrein wissen, daß ich mich schon
seit einigen Wochen in der Stadt aufhalte. Darauf entschuldigte sich
der Mann, aber da ich nicht in seinem Bezirk wohne, ersuchte er mich
höflich, mit auf die nächste Polizeiwache zu kommen.

Ich beendete meine Arbeit und folgte ihm. Die Wache war eine kleine,
offene Veranda an einer Straßenecke. Dort unterwarf mich ein
Polizeioffizier einem eingehenden Verhör. Alles wurde notiert. Dann
erhielt ich meine Freiheit ohne Bürgen -- aber nur für die Nacht.

[Illustration: Habibe, 70jährige Jüdin in Bagdad.]

Am nächsten Morgen wurde ich von zwei Gendarmerieoffizieren abgeholt
und vor den Polizeimeister selbst geführt. Er war sehr höflich, bot
mir Kaffee und Zigaretten an, ging meine Papiere genau durch und
verglich ihren Inhalt mit dem Polizeirapport vom Tage vorher. Er merkte
glücklicherweise nicht, daß ich mit der ausgelassensten Heiterkeit
kämpfte -- ich, der Freund Halil Paschas, in demselben Basar
verhaftet, in dem englische Offiziere und Soldaten in größter Freiheit
umherstreiften! Ein starkes Stück, aber das Abenteuer war zu lustig,
als daß ich es durch einen ernsthaften Protest hätte stören sollen.

Schließlich aber machte ich einen Vorschlag, der sogleich Klarheit
in die dunkle Sache bringen müsse: wir sollten uns zu Mesrur Bei
begeben, dessen Amtsräume im selben Hause lagen. Das leuchtete dem
Polizeigewaltigen ein. Zwei Gendarmen und ein Offizier begleiteten uns.
So traten wir in das Zimmer des Kommandanten.

Von Untergebenen und Besuchern umringt, saß Mesrur Bei an seinem
Schreibtisch. Als er mich so plötzlich als Gefangenen vor seinem
Richterstuhl sah, brach er zunächst in schallendes Gelächter aus. Als
er sich dann erholt hatte, rief er: „Was, Sie arretiert? Dann bitte
ich darum, Ihnen sofort wieder die Freiheit schenken zu dürfen.“ Eine
vornehme Gebärde gab meiner Eskorte das Zeichen, zu verschwinden,
und als sie abzog, grüßte ich höflich zum Abschied. Die türkischen
Gendarmen hatten mir ja Gelegenheit gegeben zu sehen, daß sie ihre
Instruktion genau befolgten.

[Illustration: Mesrur Bei.]

[Illustration: Munteha, 15jähriges Beduinenmädchen vom Stamme der
Mufarrid.]

Will man im Orient sein Skizzenbuch mit Volkstypen bereichern, so
bieten nur die Frauen fast unüberwindliche Schwierigkeiten. Der
freundlichen Vermittlung der französischen Dominikanerschwestern
verdanke ich es, wenn ich gleichwohl eine Anzahl charakteristischer
Frauenbilder darbieten kann. Jede saß eine Stunde für ihr Porträt und
erhielt als Lohn einen blanken Medschidije; die Schwestern riefen dazu
besonders Arme ins Kloster, für die vier Mark ein kleines Vermögen
bedeuteten.

[Illustration:

  Phot.: Schölvinck.

Unser alter Barbier.]

Einige Schwestern und mehrere ihrer jungen Schützlinge wohnten den
Sitzungen mit gespannter Aufmerksamkeit bei, und eines der Mädchen
fächelte mir mit Palmenblättern Kühlung zu, was in einem Zimmer
mit etwa 38 Grad Tagestemperatur sehr willkommen war. So zeichnete
ich eine leicht verschleierte junge Türkin, die sich träumend ans
Fenster lehnt (Bild S. 120), Habuba, eine sechsundzwanzigjährige
Chaldäerin aus Tell-keif, die ihre Stirn mit Silbermünzen und ihre
Brust mit bunten Ketten geschmückt hatte (Bild S. 137), und ihre
Landsmännin, die fünfzehnjährige Mariem aus Alkosch. Ferner Jüdinnen
verschiedenen Lebensalters. Auch von den Schützlingen des Klosters
mußten einige Modell sitzen. Selbst eine mohammedanische Araberin, die
fünfzehnjährige Munteha vom Stamm Mufarridj aus Sobeïd, ließ sich nach
vielen Wenn und Aber dazu bewegen, ihren Schleier zurückzuschlagen und
ihre von der Wüstensonne gebräunten Züge und die schwarzen, brennenden
Augen zu zeigen. Am rechten Nasenflügel trug sie einen silbernen Ring,
und Ringe vom selben Metall schmückten ihre Handgelenke. Sie kam in
Begleitung einer Schwester und einer Freundin, der achtzehnjährigen
Bahije aus Hille, die ich mit dem charakteristischen Wasserkrug
porträtierte (Bild S. 223).

Unter meinen männlichen Modellen war das ergötzlichste ein alter
mohammedanischer Barbier, der in dem Herzog Adolf Friedrich und seinen
Freunden getreue Kunden besaß.

Die Bevölkerung von Bagdad ist im Gegensatz zu den Einwohnern von
Aleppo z. B. bekannt wegen ihrer Ruhe und ihrer freundlich-friedlichen
Gesinnung gegen die Europäer. Ein Fremder wird in Bagdad nie belästigt,
wenn er einsam durch die engen Gassen streift; nicht einmal die Armen
sind zudringlich wie sonst in den Städten des Orients. Das erklärt sich
zum Teil aus dem Haß, der zwischen Sunniten und Schiiten herrscht und
die Abneigung gegen die Christen weit übersteigt. In rein schiitischen
Städten wie Mesched-Hussein oder Kerbela, Mesched-Ali, Nedschef oder
Kasimen dagegen sind die Europäer keineswegs sicher.

[Illustration: Türkische Schaluppe an Konsul Richarz’ Kai.]

Wer das Volksleben Bagdads genauer studieren will, muß sich natürlich
längere Zeit und vor allem im Frieden dort aufhalten. Nur dann
hat er Gelegenheit, einer der prächtigen, mit Tänzerinnen und
Saitenspiel gefeierten orientalischen Hochzeiten beizuwohnen, an
denen auch Christen teilnehmen, oder ein jüdisches Begräbnis bei
nächtlichem Fackelschein zu sehen. Und wenn er zufällig zur Zeit einer
Mondfinsternis dort weilt, kann er erleben, wie abergläubische Leute
durch Trommelwirbel, Klirren mit Kasserollen und anderen Spektakel den
„Mondhund“ zu verjagen suchen. Der Durchreisende hört von all dem nur
erzählen.

Nach meiner Rückkehr von Babylon, von dem spätere Kapitel meines Buches
berichten werden, folgte ich der liebenswürdigen Einladung des Herzogs
und des Konsuls Richarz und zog in des letzteren Haus. Schölvinck und
ich teilten uns in ein geräumiges Zimmer in dem unsre Kisten, Kleider
und übrigen Habseligkeiten eine angenehme Unordnung schufen, gegen die
Gustav, der prächtige Diener des Rittmeisters, einen vergeblichen Kampf
führte. Nach dem Frühstück pflegte ich in den Labyrinthen der Stadt zu
verschwinden, das Mittagessen ersetzte ich meist im Basar durch Früchte
und Brot. Nach 4 Uhr versammelten wir uns zum gemeinschaftlichen Tee.
Daran schloß sich oft eine Bootfahrt auf dem Tigris, um nach der Hitze
des Tages etwas aufzuatmen. Solch eine Abendfahrt sei hier beschrieben.

[Illustration: Uferpartie in Bagdad.]

Namo, das Faktotum des Konsuls, ein Syrier mit Fes, erhält den Befehl,
ein Belem oder Ruderboot zu beschaffen. Er verschwindet auf der Halil
Pascha-Straße, und noch ehe wir die Treppe des Kais hinabgestiegen
sind, kommt er mit dem gemieteten Boot angerudert. Der Herzog nimmt
am Steuer Platz. Über unsern Köpfen hängt an zwei Stangen ein
aufgespanntes Sonnendach.

[Illustration: Kaffeehaus am linken Ende der Tigrisbrücke von Bagdad.]

Die beiden Ruderer legen los. Wir wollen stromabwärts auf das rechte
Ufer hinüber, zum Hause der deutschen Marinesoldaten. Die Wasserfläche
wimmelt von Fahrzeugen aller Art. Hier fährt ein Belem mit munteren
syrischen Mädchen, dort einer mit deutschen und türkischen Offizieren,
die dienstlich unterwegs sind. Eben kreuzt vor uns ein Boot mit
französischen Dominikanerschwestern, die nach schwerer Tagesarbeit bei
den Kranken nach Hause zurückkehren. Ein Meheile wird quer über den
Strom gerudert; das Spiegelbild seines hohen Mastes zittert auf der
Wasserfläche.

[Illustration: Ein Wasserwerk am Ufer.]

Nun sind wir drüben und fahren an den Terrassen des rechten Ufers
entlang. Welche Reihe amüsanter Bilder! Guffas und Belems werden von
Ruderern an langen Seilen bugsiert. Überall geschäftige Tätigkeit;
Kinder und Pferde werden gewaschen, Tische und Kleider gereinigt.
Und diese lustige Pracht der weißen, grünen, gelben, hellroten und
hellblauen Häuser mit schattigen Veranden vor dem Hintergrund des
tiefen Grüns der Palmen!

Bald werden die Häuser seltener, die Gärten zahlreicher und größer.
Lautlos treiben wir im Schatten der Dattelbäume stromabwärts; die
Schiffer ruhen an ihren Rudern. Das Stöhnen einer Dampfmaschine, die
Wasser in einen Kanal pumpt, unterbricht die Stille. Daneben ist ein
Paternosterwerk mit altehrwürdigem Pferdegöpelbetrieb im Gang, sogar
die primitive Einrichtung mit den auf- und abgehenden Ledersäcken, die
gellend ihr melancholisches Lied singen, findet sich auch hier noch.
Die Wasserwerke am Tigris sind aber fester gebaut als die am Euphrat,
sie ruhen gewöhnlich auf runden Ziegelmauern, die den Schiffern sehr
hinderlich sind, wenn sie vom Ufer aus ihre Fahrzeuge stromaufwärts
ziehen.

Wir haben es uns auf den Polstern der Bänke bequem gemacht. Kein
Windhauch regt sich. Der Zigarettenrauch steigt in blauen Ringen empor
und steht wie ein Nebelstreif hinter dem vorwärts gleitenden Boot in
der Luft. Palmen breiten ihre friedlichen Blätter über den Strom. Man
gerät ins Träumen. Wenn es doch so weiter ginge bis tief in die Nacht!
Selbst der hier überall und stündlich drohende Flecktyphus hat seine
Schrecken verloren.

Vor uns biegt nun der Strom nach rechts ab; weiter abwärts windet er
sich nach Seleucia, Ktesiphon, Kut-el-Amara, mitten hinein in das Lager
der Feinde. Dort stehen die Engländer. Wie wäre es, wenn wir die Fahrt
bis zu ihnen fortsetzten? Wie weit wurden wir wohl mit heiler Haut
kommen? Wir wären kein übler Fang für sie.

[Illustration: Hartun Kirijakes, 18jährige Chaldäerin aus Sannat.]

Lieber doch umkehren! Unsere Belemtschis springen ans Land und
bugsieren unser Boot stromaufwärts. Noch einmal zieht das reizvolle
Uferbild mit seinen Palmen, Wasserwerken und Villen vorüber. An einer
offenen Strandstelle badet jetzt eine Kompagnie türkischer Soldaten,
und weiter oben holen farbige englische Gefangene Wasser.

Die Sonne geht unter und ergießt ihr rötestes Gold über den Strom.
Schon nähern wir uns der Schiffbrücke, aus deren unsicheren Planken
Bagdads Söhne und Töchter von einem Ufer zum andern lustwandeln. Eine
kleine Flottille von Meheiles ist am Brückenkopf vertäut, sie hat ihre
Ladung noch nicht gelöscht. Ein Knäuel enger Gassen mündet hier; es
sind die Zufahrtsstraßen zu den Basaren des rechten Ufers. Überall
der gleiche lebhafte Verkehr! An einer kleinen Landungsbrücke liegen
mehrere Guffas; ihre Besitzer warten geduldig auf zahlungsfähige Kunden.

[Illustration: Das rechte Ende der Brücke.]

Kuppeln, Minarette und Masten bilden herrliche Schattenrisse auf dem
Hintergrund des noch hellen Horizontes. Aber die Dämmerung ist kurz
im Orient. In einer Stunde schläft Bagdad schon, aber noch sind die
Balkone aller Kaffeehäuser voll von Gästen, nicht zum wenigsten von
persischen Pilgern und Soldaten. Sie trinken Tee oder Kaffee, rauchen
Zigaretten oder Nargileh, genießen ihren „Keif“, ihre Siesta, nehmen
das Leben in echt orientalischer Ruhe und achten kaum auf das Brausen
des Weltkriegs, der doch so nahe herantobt.

Zwischen den Pontons hindurch wenden wir zum linken Ufer hinüber, um
die Brücke dort noch einmal zu kreuzen und uns dann vom Strom nach
dem Kai des Konsuls treiben zu lassen. Fast könnte man sich hier nach
Venedig träumen. Ruderer stehen auf den Bänken ihrer Boote und stoßen
ihr Fahrzeug mit Hilfe der Balken vorspringender Balkone stromaufwärts.
An den Mündungen der kleinen Gassen schießen die Fahrzeuge hin und
her. Öllampen werden angezündet, und hier und da strahlt schon in den
Häusern ein Licht.

[Illustration: Manusche, Armenierin aus Diarbekr, 23 Jahre alt.]

Am Ziel angelangt, lassen wir uns in Korbstühle auf dem Kai nieder.
Das Leben am Ufer ist jetzt zur Ruhe gekommen, die Nacht hält ihren
Einzug in die Stadt. Mitten auf dem Strom leuchten nebeneinander
zwei winzige Lämpchen; sie scheinen direkt auf der Wasserfläche zu
schwimmen. Frauen, die eines Mannes Liebe gewinnen oder ihre Ehe mit
Kindern gesegnet sehen wollen, setzen solche Lichter auf Brettchen
und übergeben sie der Strömung. Dann beobachten sie gespannt, wohin
ihr Lichtchen treibt und wie lange es auf den Wellen brennt. Langsam
schwimmen die beiden Lichtpünktchen den Strom hinab. Allmählich trennen
sie sich von einander. Das eine wird von rascheren Wirbeln erfaßt und
scheint den Vorsprung zu gewinnen; aber plötzlich wird es kleiner,
flammt noch einmal auf und erlischt. Arme Beterin! Nun geht sie heim
mit sinkender Hoffnung. Das andere Licht setzt seine Fahrt noch eine
Weile ruhig fort und verschwindet schließlich auch.

Auf der höchsten Dachterrasse wird der Tisch zum Abendbrot gedeckt. Die
große Petroleumlampe in seiner Nähe lockt ganze Schwärme fliegender
Insekten an. Noch immer ist es unerträglich heiß; schlimmer als die
37 Grad, die das Thermometer zeigt, ist die dicke, feuchte Luft, die
so still ist, daß man das Licht ohne Glocke brennen lassen könnte.
Manchmal weht ein Lüftchen, aber so schwach, daß man es nur an den
Bewegungen des Tabakrauches merkt. Man trinkt in einem fort von dem
gekühlten, kohlensäurehaltigen Wasser, das wenigstens einen Augenblick
lang erquickt.

Mai, August und September gelten als die schlimmsten Monate in Bagdad;
besonders der Mai ist furchtbar infolge der schweren, drückenden,
feuchten, unbeweglichen Luft.

Im Juni und Juli steigt das Thermometer zwar höher, zuweilen bis zu 50
Grad Celsius. Aber diese Hitze ist trocken und wird von erfrischenden
Winden gemildert. Die höchste Gradzahl, die ich im Mai erlebte, war
42 Grad Celsius. Im August begibt sich alles, was dazu in der Lage
ist, Eingeborene wie Europäer, nach Gärten und Palmenhainen unterhalb
Bagdads und wohnt in luftigen Zelten am Ufer des Tigris. Wer in der
Stadt arbeitet, läßt sich des Morgens nach Bagdad hinaufrudern und
fährt am Abend nach den Zelten zurück. Diese Sommerfrische dauert bis
Anfang November. Dann ist die Hitze vorüber, und der regnerische, oft
ziemlich kalte Winter zieht ein. Der Winter 1915/16 brachte Bagdad
sogar mehrere tüchtige Schneefälle.

Daß bei solchem Klima die gesundheitlichen Verhältnisse Bagdads nicht
sonderlich günstig sind, läßt sich denken. Die gewöhnlichen Krankheiten
sind Ruhr, Dysenterie, Cholera, Typhus, Flecktyphus und Malaria,
dazu eine Reihe zum Teil neu entdeckter tropischer Fieber und ein
eigentümliches Herzleiden, über das sich die Ärzte noch nicht im klaren
waren. --

[Illustration: Strand in Bagdad.]

[Illustration: Schlafplätze auf den Dachterrassen von Bagdad.]

Statt sich an die Hitze zu gewöhnen, wird der Europäer, wie mir
versichert wurde, mit jedem Jahr dafür empfindlicher. Den ersten Sommer
erträgt er leicht; er erinnert sich der abschreckenden Beschreibungen
der infernalischen Glut, sieht ihrem Herannahen mit einigem Bangen
entgegen und ist erstaunt, daß er dies Fegefeuer so leicht übersteht.
Der zweite Sommer macht schon empfindlicher und reizbarer, im dritten
wird man schlaff und willenlos, und der vierte ist eine Qual. Dehnt
sich der Aufenthalt länger aus, so wird man wohl schließlich Orientale;
die Beduinen schützen nur Kopf und Hals durch ein leichtes Tuch vor
den brennenden Sonnenstrahlen und können hundert und mehr Kilometer
zurücklegen ohne andere Nahrung als eine Handvoll Datteln und etwas
Wasser aus dem mitgeführten Lehmkrug. Der Europäer überspringt am
besten einen Sommer und zieht sich in seine Heimat, nach dem Libanon
oder dem Himalaja zurück.

[Illustration: Türkische Köche im Lazarett des englischen Konsulats.]

Die Stunde wirklichen Behagens schlägt erst, wenn man sein Bett
auf dem Dache aufsucht. Eilig wirft man die Kleider ab und kriecht
vorsichtig unter das Mückennetz, dessen Kanten sorgfältig unter die
Matratze gestopft werden. Im Mai bringt aber selbst die Nacht nicht
immer Linderung. Man liegt da und krümmt sich wie in einem Dampfbad.
Man schläft splitternackt, aber unerreichbar den Mücken und Moskitos,
die das Netz umsummen, und sieht die ewigen Sterne zu seinen Häupten
blitzen. Eine Weile liegt man wach und lauscht den Stimmen der Nacht.
In einem Nachbargrundstück unterhält sich ein Mann mit seiner Frau;
vom Tigris her klingen taktfeste Ruderschläge eines späten Bootes, sie
kommen näher, gehen vorüber und verstummen in der Ferne. Ab und zu hört
man die Flügelschläge eines Nachtvogels oder die melodischen Phantasien
einer Nachtigall. Die Schwalben schlafen in ihren Nestern; in den
heißesten Stunden des Tages pflegen sich etwa fünfzig in den Zweigen
eines großen Maulbeerbaumes auf unserem Hof im Schatten niederzulassen,
um am Abend wieder auszufliegen. Wenn sie von der Hitze ermattet ganz
still sitzen, sind sie ein wunderhübsches japanisches Gemälde. Jetzt
beginnt ein Hund zu bellen, andere erwidern, und plötzlich geht ein
Geheul wie eine Woge über die Stadt und weckt ein Echo am andern Ufer.
Dann läßt es nach, hört ebenso plötzlich auf, und Stille breitet sich
wieder über Bagdad. Keine Turmuhr verkündet hier den Gang der Stunden,
die Kirchenglocken fehlen ja. Aus der Ferne tönt nur hin und wieder das
schallende Gelächter der Schakale herüber.




[Illustration: Gräber bei Sobeïds Mausoleum.]




Zwölftes Kapitel.

Zwei Deutsche: von der Goltz und Moltke.


Am Tag nach meiner Ankunft in Bagdad besuchte ich mit dem Herzog das
Grab des Feldmarschalls. Es lag am Tigrisufer in einem runden Vorsprung
der Erosionsterrasse, den eine niedrige Brustwehr aus Ziegelsteinen
einfaßte, nur wenige Schritt unterhalb des Hauses, von dem aus der alte
Krieger die Operationen der 6. Armee geleitet und wo er seine Tage
beschlossen hatte.

Der Tote ruhte zwei Meter tief unter der Erde in einem Zinksarg.
Kein Kreuz, kein Denkstein, keine Kränze zierten die Stätte; nicht
einmal Gras hatte man auf dem Hügel gesät -- nichts als grauer Staub
der Straße. Der einzige sichtbare Schmuck waren einige englische 15
Zentimeter-Granaten.

Sollte diese spartanische Einfachheit sagen: Ganz Bagdad ist sein
Grabdenkmal? Nein, der Tote hatte hier keine bleibende Rast.
Einige Tage später wurde das Grab zur Nachtzeit geöffnet, der Sarg
herausgenommen, über den Tigris geschafft und mit der Bahn nach Samarra
und weiterhin zu Wagen bis Ras-el-Ain befördert. Von da ging die Fahrt
nach Konstantinopel und Therapia, wo auf dem schönen Hügel oberhalb
der Sommerresidenz der Deutschen Gesandtschaft ein neues Grab bereitet
war. Das türkische Generalkommando hatte den Wunsch ausgesprochen,
seinen alten Lehrer in der Kriegskunst behalten zu dürfen. Und diese
seine neue Grabstätte hat eine zweifache Bedeutung: Sie ist eine
Erinnerung an die Vergangenheit und eine Warnung für die Zukunft, denn
sie blickt auf den nördlichen Teil des Bosporus und das Schwarze Meer,
eine Wasserstraße, die für russische Kriegsschiffe verschlossen ist und
verschlossen bleiben wird.

[Illustration:

  Phot.: E. Bieber, Berlin.

Generalfeldmarschall von der Goltz.]

An jenem schmucklosen Grab, das die irdischen Überreste des
Feldmarschalls nur vorübergehend barg, hatte gleich nach dem Siege
von Kut-el-Amara eine um so eindrucksvollere Feier stattgefunden, bei
der Refik Bei, der Chef des Etappenwesens der 6. Armee, die folgenden
schönen Worte sprach:

„Ruhmreicher Märtyrer, großer Marschall! An dem Tag, da dein
sterblicher Teil in die osmanische Erde und dein unvergängliches
Andenken in die osmanischen Herzen gesenkt wurden, da sprach mit vor
Rührung zitternder Stimme dein Generalstabschef Oberst Kiasim Bei, zu
deinem Haupte stehend und dein hohes Bild vor Augen, diese Worte: deine
siegreiche Armee, die dort unten mit dem Feinde kämpft, wird binnen
kurzem Kut-el-Amara einnehmen und den Lorbeerkranz des Siegs dir um die
Stirn flechten. Ruhmreicher Heerführer! Möge die glückliche Botschaft
zu deinem Ohr dringen: deine Armee hat den verheißenen Sieg erfochten,
Kut-el-Amara eingenommen und 5 Generale, 500 Offiziere und 13000
englische Soldaten zu Gefangenen gemacht. Deine Armee hat das an Zahl
überlegene feindliche Heer gezwungen, vor ihren Bajonetten zu fliehen.
Das osmanische Heer, das du liebtest, wie dein eigenes Leben, wird mit
Hilfe des Allmächtigen den Feind aus ganz Mesopotamien vertreiben.
Unsterblicher Lehrmeister des osmanischen Heeres! Wir geloben an deinem
Grab, daß deine Armee darnach streben wird, deine Seele mit neuen
Siegesbotschaften zu erfreuen. Ruhe sanft, geliebter großer Heerführer!“

Als dann der Sarg jenseits des Bosporus angelangt und bei Therapia
beigesetzt war, wurde auch in Berlin eine Trauerfeier für von der
Goltz veranstaltet. Sie fand am 18. Juni 1916 in einem der großen Säle
des Reichstagsgebäudes statt. Der Saal war mit Flaggen und Palmen
geschmückt. Hinter dem Rednerpult standen Büsten des Kaisers, des
alten Moltke und des Toten selbst. Mehrere Redner ergriffen das Wort,
alles Zivilisten. Als der letzte geendet hatte, erhob sich -- ganz
unprogrammäßig -- Generaloberst Hellmuth von Moltke -- schritt zum
Rednerpult und widmete seinem alten Kameraden folgende tiefempfundenen
Abschiedsworte:

„Hochverehrte Anwesende! Das Bild des Mannes, zu dessen Gedächtnisfeier
wir uns hier versammelt haben, ist in einer so ausführlichen,
glänzenden und wahrheitsgetreuen Weise geschildert worden, daß Sie
es von mir nicht als Vermessenheit ansehen wollen, wenn ich Sie
bitte, mir zu einem ganz kurzen Worte ein geneigtes Ohr zu schenken.
Es sind zwei Gründe, die mich dazu bewegen, zu Ihnen zu sprechen:
erstens meine langjährigen persönlichen, kameradschaftlichen, ich
darf wohl sagen, freundschaftlichen Beziehungen, die mich mit dem
Verstorbenen verbunden haben, und zweitens die Empfindung, daß an
dem Grabe eines Soldaten auch aus soldatischem Munde ein Wort für
ihn erklingen muß; denn Soldat war er doch in erster Linie. Ich war
ein junger Offizier, wie ich von der Kriegsakademie zum Generalstab
kommandiert wurde und mit dem damaligen Major von der Goltz in
Beziehungen trat. Er hatte die reichen Erfahrungen, die er im Verlauf
des Feldzugs 1870/71 bei der Armee des Prinzen Friedrich Karl
gesammelt hatte, bereits schriftstellerisch verwertet zum Segen der
Armee, und wir sahen schon mit einer gewissen scheuen Ehrfurcht zu
ihm auf. Diese Ehrfurcht wich aber bald einer aufrichtigen Verehrung
und Hingebung. Wie rasch lernten wir den Mann kennen, der uns
nicht als Vorgesetzter, sondern als Kamerad entgegentrat, in dem
Bestreben: wir alle wollen dasselbe, wir alle wollen arbeiten für
die Armee und für unser Land. Ich glaube, wenn auf irgend jemand der
lateinische Spruch: ‚~Homo sum, nihil humani mihi alienum esse
puto~‘ zutrifft, so war es der Verstorbene. Seine hervorragenden
menschlichen Eigenschaften, seine Herzensgüte, gewannen ihm die Herzen
aller, die mit ihm in Berührung traten. Diese kameradschaftlichen
Empfindungen sind allen denjenigen geblieben, die das Glück gehabt
haben, mit ihm in persönliche Beziehungen zu treten. Bei mir haben
sie angedauert bis an sein Ende, und sie sind ausgeklungen in einem
Briefwechsel, der erst kurze Zeit vor dem Tode des Feldmarschalls
seinen Abschluß gefunden hat. Meine hochverehrten Herrschaften, ich
darf das nicht wiederholen, was hier gesagt worden ist. Sie wissen
ja den Lebensgang des Verstorbenen, Sie wissen, daß er als junger
Offizier bereits nach der Türkei ging, daß er dort zwölf Jahre lang
dem Sultan gedient hat, und daß er damals den Grundstein gelegt hat
zu den freundschaftlichen Beziehungen, die heute das Osmanische
Reich und das Deutsche Reich in gemeinsamen Kriegsunternehmungen
vereinigt. Sie wissen, daß er, von dort zurückgekehrt, die Geschäfte
als Generalinspekteur der Pioniere übernahm, und alle diejenigen,
die damals mit ihm gearbeitet haben, bewahren ihm noch heute ein
Andenken, denn auch diese ihm fremde Materie wußte er nach kurzer
Zeit entsprechend zu beherrschen. Dann kam seine schönste Zeit, als
er von Sr. Majestät zum Kommandierenden General des 1. Armeekorps
berufen wurde. Wie freute sich sein Herz, da war er in seinem Element,
unermüdlich im Zusammenleben mit der Truppe, die höchsten Anforderungen
an sich selbst stellend. Keine Mühen scheuend, lebte er mit seinen
Soldaten zusammen, als Vater, Freund und Kamerad. Er mußte dann die
Stellung eines Generalinspekteurs übernehmen, die ihm die Truppen
in die Ferne rückte, und erst nach Eröffnung des jetzigen Feldzugs,
als ihm das Generalgouvernement von Belgien übertragen wurde, trat
er wieder in aktive Tätigkeit. Ich habe damals Gelegenheit gehabt,
des öfteren mit ihm zusammenzutreffen. Wenn ich nach Brüssel kam --
während der Belagerung von Antwerpen -- man traf ihn selten zu Hause;
stets hieß es: ‚Der Feldmarschall ist draußen an der Front.‘ Es hielt
ihn nicht an dem Schreibtisch, er mußte hinaus, und diejenigen, die
mit ihm waren, erzählten, mit welch unbeschreiblicher Tapferkeit
und Todesverachtung er mitten im Gefecht stand in den Reihen seiner
Soldaten, als wenn er sich auf dem Exerzierplatze befände, und wenn
er abends zurückkam, besprach er die Ereignisse des Tags, wie man
ein Manöver bespricht, mit vollständiger Ruhe und Objektivität, und
mancher von denen, die mit ihm im Schützengraben waren, kehrte nicht
mehr zurück; der Feldmarschall selbst ward auch verwundet. Aber wenn
er auch mit unermüdlicher Treue und Aufopferung durch seinen scharfen
Verstand es wohl verstanden hat, die zerrütteten Teile des okkupierten
Landes zunächst wieder in geordnete Verhältnisse zu bringen, so war
doch sein Herz nicht bei der Sache, er war Soldat, und ich glaube,
er ist nicht ungern von seinem schwierigen und undankbaren Posten
zurückgetreten, als er dann auf Wunsch des Sultans von dort als
oberstes Bindeglied zwischen der osmanischen und deutschen Armee nach
der Türkei berufen wurde. Er erlebte den gewaltigen Kampf unserer
Bundesgenossen auf Gallipoli, er sah die Früchte seiner jahrelangen
Tätigkeit greifbar vor sich, und dann kam der Augenblick, da er selbst
das Kommando übernehmen mußte und hinauszog nach Bagdad, um den Kampf
gegen die Engländer aufzunehmen. Als er in Bagdad eintraf, fand er die
Engländer in starker Stellung bei Kut-el-Amara. Seine Aufgabe war,
sie zurückzuschlagen. Mit wie schwierigen Verhältnissen, mit welch
schlechten Zufahrtstraßen, mit einer wie großen Entfernung mußte er
rechnen, bis überhaupt Verstärkungen herangeführt werden konnten.
Meine verehrten Herrschaften, es wiederholt sich in der Geschichte
öfters, daß Heldentum und Tragik nebeneinander stehen. So war es auch
hier. So, wie es Moses einstmals zwar vergönnt war, einen Blick in das
Gelobte Land zu tun, nicht aber es zu betreten, so war es auch dem
Generalfeldmarschall nicht vergönnt, den letzten Kampf seiner Armee zu
erleben, aber sein scharfer Blick hat wohl den Ausblick in das Gelobte
Land getan, denn sicher hat er den Sieg von Kut-el-Amara vorausgesehen.“

„Meine verehrten Herrschaften, ich habe dem Bild des Feldmarschalls
nur noch eine persönliche Note hinzufügen können. Ich habe es getan,
weil ich glaube, daß ich in diesem Falle wohl im Namen der Armee und
namens des Generalstabs sprechen darf, dem wir beide lange Jahre
angehört haben. Ich will nicht sprechen von dem tiefen Schmerz,
der auch mich ergriffen hat, als die Kunde von dem tragischen Ende
des Feldmarschalls eintraf, und ich möchte nicht, daß dieser Tag
vorübergeht, ohne daß wir an diesem Tag ein Lorbeerblatt auf die Bahre
gelegt haben.“

Als Moltke geendet, stieg er vom Rednerpult herab, drückte der Freifrau
von der Goltz die Hand und kehrte auf seinen Platz neben Generaloberst
von Kluck zurück. Da reckte er sich plötzlich, führte die Hand zum
Herzen, sank zusammen und war binnen wenigen Minuten eine Leiche. Die
Tragik, in der ihm noch soeben das Schicksal seines Freundes von der
Goltz erschienen war, daß er wie Moses das Gelobte Land -- den Sieg --
nur aus der Ferne schauen durfte, hatte ihn selbst getroffen.

Und diese traurig-wunderbare Fügung war nicht die einzige bei diesem
erschütternden Vorfall. Sobald die Erkrankung des Feldmarschalls in
Berlin bekannt geworden, hatte man zwei Schwestern zu seiner Pflege
nach Bagdad geschickt. In Konstantinopel erreichte sie die Nachricht
von seinem Tode, darauf kehrten sie zurück. Beide waren bei der
Trauerfeier in Berlin zugegen, als Moltke jene letzte Rede hielt, und
erwiesen nun +ihm+ den letzten Liebesdienst, der seinem Freunde
versagt geblieben war. Und ich selbst -- war ich nicht der Bote eines
Toten an einen Toten geworden? Moltkes Brief, den er mir zum Geleit auf
diese meine Reise mitgegeben hatte, fand seinen Empfänger im Grabe;
aber es sollte mir auch nicht mehr vergönnt sein, ihn der Hand seines
Absenders zurückzustellen. Bei meiner Rückkehr nach Berlin blieb mir
die traurige Pflicht, ihn der Witwe des von mir so hochverehrten Mannes
zu übergeben.

Merkwürdig war auch, daß Gräfin Moltke mir bereits im Februar 1916
anvertraut hatte, sie fürchte, daß ihr Mann noch vor Ende des
Weltkriegs heimgehen werde. In einem Traumgesicht hatte sie ihn
bereits auf der Bahre liegen sehen, von Palmen und Kandelabern
umgeben in demselben Zimmer, wo der Sarg des Feldmarschalls Moltke
vor fünfundzwanzig Jahren gestanden hatte. Sie war daher auf das
Schlimmste vorbereitet, als sie in den Saal des Reichstagsgebäudes
zur Leiche ihres Gatten geführt wurde, und ertrug ihren Schmerz mit
bewundernswerter Fassung.

[Illustration:

  Phot.: August Scherl.

Generaloberst Hellmuth von Moltke.]

Tags darauf stand denn auch der mächtige, schwere Eichensarg mit den
großen silbernen Handgriffen dort, wo der Feldmarschall aufgebahrt
worden war. Sechs hohe Kandelaber, jeder mit sechzehn Lichten, brannten
in einem Wald von Palmen. Thorwaldsens Christus streckte segnend seine
Hände über das Haupt des entschlummerten Kriegers, und dem Toten
gegenüber stand eine Büste des Oheims. Offiziere trugen den Sarg hinaus
nach dem Invalidenfriedhof.

Hellmuth von Moltke war einer der tüchtigsten und edelsten Männer
des jungen Deutschlands und einer der vornehmsten Charaktere, die
ich kennen gelernt habe. In seiner Nähe verspürte man die Macht und
zugleich die große Bescheidenheit der überlegenen Persönlichkeit. Er
war einer der wärmsten Patrioten Deutschlands, was viel besagen will in
einer Zeit, in der das ganze Volk alles für das Vaterland opfert. Dabei
war er ein frommer Christ und starb wohlvorbereitet in dem Augenblick,
als er den Kranz auf das Grab des Kameraden niederlegte.

Seine hervorragendsten Eigenschaften waren unerschütterliche Ruhe
und ein Ernst, der auch nicht einem flüchtigen Scherz Raum gab. Er
war niemals heftig, und harte Worte hörte man von ihm nie. Tadel und
Herabsetzung Abwesender waren ihm fremd. Jeder liebte und bewunderte
ihn, und wer Gelegenheit gehabt hat, viele Stäbe an den verschiedenen
Frontstellen zu besuchen, der weiß, daß über Moltke in der Armee
nur ein Urteil herrschte. Er war wortkarg wie sein Onkel, aber was
er sagte, war klar und tief, und mit wenigen Sätzen wußte er Fragen
zu beantworten, die andern lange zu schaffen machten. Als ihn im
zweiten Kriegsjahr ein amerikanischer Zeitungsmann über die Stimmung
Deutschlands gegen Amerika aushorchen wollte, antwortete er kurz und
bestimmt: „Wir sind in der Lage eines Mannes, den drei Straßenräuber
überfielen. Er verteidigt sich tapfer und schlägt einem nach dem andern
die Waffen aus der Hand. Hinter den dreien aber steht ein vierter, der
ihnen immer wieder neue Waffen in die Hände drückt. Dieser Vierte ist
Amerika, das den Kampf von Jahr zu Jahr verlängert.“

Mit Recht wurden an Moltkes Bahre folgende Worte gesprochen: „So
hat er sein Werk als einer der intimsten Mitarbeiter an der Seite
seines geliebten kaiserlichen Herrn geleistet. Seine Lebenstat war,
das deutsche Heer auf den gewaltigsten und größten Krieg, den die
Geschichte kennt, vorzubereiten, und wir können an Generaloberst
von Moltke nicht denken, ohne uns des 4. Augusts 1914 zu erinnern,
des Tags, da er, ein Lächeln auf den Lippen, sagen konnte, nicht
eine einzige Frage sei an den Großen Generalstab zurückgekommen. Die
unerhörte Maschinerie arbeitete mit unerschütterlicher Ordnung.

„So lenkte er das deutsche Schwert. So bereitete er den Aufmarsch der
deutschen Armeen und den herrlichen Siegeszug vor, und daher denken wir
bei seinem Namen an die wundervollen, überwältigenden, unvergeßlichen
Tage, als in dieser schwersten Zeit der Mut, die Siegesgewißheit und
das Vertrauen des ganzen deutschen Volkes so herrlich erstarkten. Ja,
für dieses Volk arbeitete er, und diese Tage krönten sein stilles,
geduldiges Arbeiten. Für dieses Ziel dachte und strebte er. Dazu lenkte
und erzog er uns, und die deutschen Feldherrn, Generale und Offiziere,
die an seiner Seite arbeiteten, denken mit tiefster Dankbarkeit an das
Große und Herrliche, was Moltke für sie gewesen ist.“

Selten oder nie sind wärmere und edlere Worte aufrichtiger Trauer einer
Feder entflossen als die, welche der Kaiser an die Gräfin nach dem Tode
ihres Gemahls richtete. So spricht nur der, der weiß, daß er einen
Freund verloren hat, auf dessen Treue er zu jeder Stunde felsenfest
bauen konnte. Ich zweifle nicht, daß die Zukunft Moltke in die erste
Reihe der germanischen Gestalten des Weltkriegs stellen wird.

In seiner Denkrede auf von der Goltz erinnerte Moltke an den Mut des
Feldmarschalls und seine Todesverachtung, von der auch ich in meinem
Buche „Ein Volk in Waffen“ bewundernd gesprochen habe. Als ich damals
von der Goltz mein Buch sandte, antwortete er mir am 11. Juni 1915 aus
Konstantinopel:

„Ihre Bemerkung, die mich betrifft, hat mich tief gerührt und in
der Tat den geheimen Wunsch getroffen, den ich im Herzen trug. Wer
der Vollendung seines 72. Lebensjahres nahesteht, wie ich, und
eine 52jährige aktive Dienstzeit, die sich jetzt noch um ein Jahr
verlängert, sowie drei große Kriege hinter sich hat, kann sich, wie Sie
mit Recht bemerken, kaum einen schöneren Abschluß denken als den Sie
erwähnen, aber das Schicksal hat ihn mir bisher verweigert; ich konnte
es nur bis zu einem leichten Streifschuß unter dem linken Auge bringen.
Das Geschoß, ganz in der Nähe aus einem englischen Schützengraben
abgefeuert, als ich übers Feld in den unsrigen gehen wollte, meinte es
ehrlich, es hatte aber den Fehler, einen Zoll zu weit nach rechts zu
fliegen, worüber ich ihm eigentlich böse bin.

„Nun hat es aber doch wohl so kommen sollen, und Allah, mein alter
Beschützer, verfolgte noch einen Zweck dabei. Er wollte mir die
Gelegenheit geben, mich an der Wiedererhebung der Türkei, an der
ich in früherer Zeit 13 Jahre lang emsig mitgearbeitet habe, zu
erfreuen. Was die türkischen Truppen heute leisten, ist zugleich die
beste Antwort auf die häßlichen Angriffe gegen meine Person, die in
ganz ungerechtfertigter Weise nach dem unglücklichen Balkankriege
in bezug auf meine ältere hiesige Tätigkeit gegen mich und meine
Kameraden gerichtet wurden. Die Unterlegenheit in jenem Krieg erklärt
sich durch ganz besondere Umstände, der tüchtige Kern aber, der im
türkischen Volke steckt, kann sich heute, wo es von einer energischen
und wohlgesinnten Regierung geleitet wird, kräftig entwickeln und gute
Früchte tragen, die in den Kämpfen an den Dardanellen sich gezeigt und
die Welt, aber nicht die alten Freunde des Landes überrascht haben.
-- -- -- Am endlichen Siege unserer guten Sache zweifeln wir alle
nicht; wir könnten immer noch ein paar Feinde mehr vertragen. Ich
beispielsweise erwarte solche zurzeit leider vergeblich mit meiner
Armee an der stark bewehrten Küste des Schwarzen Meeres ....“

Anfang April 1916 war von der Goltz auf einem der Tigrisdampfer nach
Bagdad zurückgekehrt. Derselbe Dampfer brachte auch kranke Soldaten
flußaufwärts, darunter viele, die an Flecktyphus darniederlagen; die
unterwegs starben, wurden den trüben Wellen des Tigris übergeben.
Die Kranken lagen auf Deck, und der Feldmarschall ging während der
Fahrt von einem zum andern, an alle aufmunternde Worte richtend. Es
wimmelte von Ungeziefer, aber er achtete nicht der Gefahr, der er sich
aussetzte. Und diesmal kam er in ihr um; auch er erlag der mörderischen
Krankheit und starb in wenigen Tagen.

Seinen Wunsch, den echten Soldatentod zu sterben, hat ihm das neidische
Schicksal nicht erfüllt.




[Illustration:

  Phot.: Schölvinck.

Englische Gefangene.]




Dreizehntes Kapitel.

Kut-el-Amara.


Wie ich schon erwähnte, hatte ich in meiner Jugend einmal Kut-el-Amara
besucht, das damals noch eine junge Stadt, aber ein wichtiger
Handelsplatz für die arabischen Wollhändler der Umgegend war.
Seither ist es bedeutend gewachsen, und heute hat es obendrein einen
historischen Namen: es bezeichnet einen der schönsten Siege der Türken
und eine der größten Niederlagen der Engländer während des Weltkrieges.

Gleich zu Kriegsbeginn hatten die Engländer Basra besetzt. Der Wali
von Bagdad, Dschavid Pascha, hatte nur zusammengeraffte Araber zur
Verfügung, mit denen nichts auszurichten war. Ein tapferer Offizier in
Bagdad, Ali Askari Bei, gab jedoch die Hoffnung auf Wiedereroberung der
Stadt nicht auf. Die Kriegsleitung in Konstantinopel versprach, ihm
reguläre Truppen zur Unterstützung zu schicken; aber er antwortete,
er könne sich ohne sie behelfen. Tatsächlich gelang es ihm, mehrere
Araberstämme aufzubieten und die „Muschtehids“, die hohe Priesterschaft
von Kerbela, für sein Unternehmen zu gewinnen.

Mit einem bunt zusammengewürfelten Heer von wie es hieß 20000 Mann,
so gut wie ohne Artillerie, zog er gegen Basra. Einige junge Deutsche
nahmen an diesem abenteuerlichen Zuge teil, die Herren Lührs, Schadow
und Müller; der zuletzt genannte führte Material mit sich, um im
Schatt-el-Arab Minen zu legen. Auch ein Österreicher namens Back war
dabei.

Als Ali Askari Bei mit seinen Scharen das Dorf Schaïbe bei Basra
erreicht hatte, wurde er von den Engländern angegriffen und völlig
geschlagen, außerdem noch im Rücken von einigen Araberstämmen
überfallen, deren Mut wuchs, als sie sahen, daß es den Türken schlecht
ging. Der tapfere, aber etwas unvorsichtige Befehlshaber wurde
verwundet und in einen Wagen geschafft und beging Selbstmord. Der
Rückzug seiner Truppen vollzog sich in weniger guter Ordnung, als der
Xenophons; sie wurden zersprengt, und nur ein Teil erreichte Amara.

Der Deutschen und ihres österreichischen Kameraden warteten auf
der Flucht traurige Schicksale. Auf ihrer Wanderung tigrisaufwärts
fielen sie feindlichen Arabern in die Hände und wurden bis auf die
Haut ausgeplündert. Dann gelang es ihnen, sich bis zu Fasil Pascha
durchzuschlagen, der sie vom Tode rettete und mit allem Nötigen
versah, und endlich erreichten sie Bagdad, wo ich später zwei dieser
unverwüstlichen Männer traf.

[Illustration: Petros Ibn Chamis, 16jähr. Chaldäer aus Sannat.]

Auf ihrem Rückzug versuchten die türkischen Scharen vergebens, sich in
Amara und Kut-el-Amara zu halten. Sie mußten sich bis nach Sulman Pak
zurückziehen, das auf dem linken Tigrisufer in der Nähe von Ktesiphon,
gerade gegenüber den Ruinen von Seleucia, liegt. Die Engländer rückten
nach und kamen im Sommer 1915 bis Sulman Pak; hier entschlossen sie
sich jedoch, sich gegenüber den Türken einzugraben. Diese hatten
mittlerweile Verstärkungen erhalten; Halil Pascha war von Aserbeidschan
an der kaukasischen Front her mit einer Division zu ihnen gestoßen.
Mitte November griff der neue Befehlshaber Nureddin Bei die englischen
Stellungen an. Anfangs hatte er auch Erfolg; der Widerstand war aber
doch zu stark, und er dachte schon daran, die Offensive aufzugeben,
als Halil durch einen kräftigen Flankenangriff von Norden her die
Lage rettete. Die Engländer räumten ihre Gräben und zogen sich in
neue, stark geschützte Stellungen bei Kut-el-Amara zurück. Nureddin
Bei folgte und griff von neuem an, wurde aber mit großen Verlusten
zurückgeschlagen.

Da kam Feldmarschall von der Goltz, der zum Chef der 6. Armee ernannt
war, in Bagdad an und fuhr ohne Aufenthalt nach Kut-el-Amara weiter.
Er sah sogleich, daß eine Fortsetzung der Angriffe zwecklos war, weil
die Türken nicht genügend Artillerie besaßen. So begann auch hier der
Stellungskrieg.

Inzwischen erhielten auch die Engländer Verstärkungen. Eine neue Armee
marschierte zum Entsatz nach Kut-el-Amara tigrisaufwärts. Hier war
jetzt Halil Pascha Oberbefehlshaber, da man Nureddin Bei wegen eines
Dienstversehens zurückgerufen hatte. Ein Teil der Truppen Halils ging
den Engländern entgegen, und beim Wadi Kelal kam es Anfang Januar 1916
zum Kampf. Der Ausgang veranlaßte den Feldmarschall zum Rückzug in die
Stellung bei Fellahije, die sich im Norden auf ein Sumpfgebiet stützte.
Verschiedene Angriffe der Engländer gegen sie scheiterten an der gut
geleiteten Verteidigung.

Mitte Februar machte der Feind deshalb einen Versuch, auf dem rechten
Tigrisufer vorwärtszukommen. Eine neue türkische Division, die jedoch
drei Bataillone an die persische Front hatte abgeben müssen, wurde
nun über den Tigris geschafft, um in einer Stellung bei Simsir die
Engländer aufzuhalten. Diese griffen vom 8. bis 11. März zweimal
an, und die Lage der Türken wäre mehr als kritisch geworden, hätte
nicht Halil rechtzeitig die Gefahr bemerkt und alle verfügbaren
Truppen nachgeschickt. Eine Division, gegen 4000 Mann, wurde in einer
einzigen Nacht auf Fähren und Booten über den Tigris gesetzt. Die
Deutschen rühmten dieses Unternehmen als besonders gut ausgeführt. Die
Schnelligkeit, mit der Halil seine überraschenden Bewegungen ausführte,
brach die Angriffskraft der Engländer und zwang sie, ihren Vormarsch
auf dem rechten Flußufer ganz aufzugeben.

[Illustration: Ein Belem mit zwei französischen Schwestern.]

Im April unternahmen nun die englischen Truppen unaufhörliche Angriffe
auf die Stellung bei Fellahije. Lange ohne Erfolg, und ihre Verluste
waren groß. Schließlich aber räumten die Türken ihre vordere Stellung,
die von der auf beiden Flußufern aufgestellten englischen Artillerie
flankiert wurde. Die Engländer bemerkten die Bewegung erst einen
Tag später und verschwendeten noch 20000 Geschosse auf die leeren
Schützengräben. Dann aber gingen sie zum Sturm über und drangen bis
zur hinteren Linie vor, die von der Goltz inzwischen hatte anlegen
lassen. Hier wurden sie mit mörderischem Feuer empfangen, und nach
großen Verlusten gaben sie auch diesen Vormarsch auf. Der britische
Befehlshaber hätte ganz leicht seine Absicht erreichen können, wenn er,
statt immer an der Front anzugreifen, am Kanal Schatt-el-Hai entlang,
durch den der Tigris einen Teil seines Wassers an den Euphrat abgibt,
vorgerückt wäre und die Fellahijestellung umfaßt hätte. Nach Ansicht
der Verteidiger beging die englische Armeeleitung unbegreifliche
Mißgriffe. Schon damals hätte sie durch einen kühnen Handstreich
Bagdad nehmen können. In der Nacht vom 21. zum 22. November hatten
die englischen Truppen obendrein den Dijala überschritten, und ihre
Vorposten waren nur 12 Kilometer von der Stadt der Kalifen entfernt,
die Nureddin Bei mit einer Handvoll Leute besetzt hielt. Mehrere Tage
standen die feindlichen Heere einander gegenüber. Die Ausfälle der
Besatzung wurden zurückgeschlagen, und die Engländer rückten schon
bedrohlich vor. Da warf sich Halil im rechten Augenblick auf sie und
schlug sie aufs Haupt. So wurde die Stadt für diesmal gerettet.

[Illustration: Drei vornehme Priester auf dem Kai des englischen
Konsulats.]

Bagdads Bürger befanden sich in den entscheidenden Tagen in größter
Aufregung; jeden Augenblick konnten ja feindliche Truppen einrücken.
Die Europäer hatten ihre Wertsachen eingepackt, und Wagen standen
bereit, sie nach Aleppo zu schaffen. Mit Halils Erscheinen war die
Gefahr gebannt, man atmete wieder auf und blieb.

Bald darauf, Anfang Dezember, wurde General Townshend mit ungefähr
anderthalb englischen Divisionen in Kut-el-Amara eingeschlossen.
Das lähmte auch die übrigen Unternehmungen der Engländer auf
den Kriegsschauplätzen. Verstärkungen wurden tropfenweise zu
Entsatzversuchen eingesetzt, die von den Türken sämtlich blutig
abgewiesen wurden. Schließlich, am 29. April 1916, mußte Townshend die
Waffen strecken. Dabei fielen außer dem Oberbefehlshaber 5 Generale,
gegen 500 Regiments- und Kompagnieoffiziere, sowie 13200 Unteroffiziere
und Mannschaften, darunter 4500 Engländer, in die Hände der Türken.

Townshend durfte seinen Säbel behalten und wurde sofort nach Bagdad
geschafft, wo man ihn, wie alle übrigen Offiziere, mit der größten
Achtung und Gastfreundschaft behandelte. Von den englischen Offizieren
waren drei vor dem Krieg bedeutende Kaufleute in Bagdad gewesen. Bei
Kriegsausbruch hatte man sie als Gefangene nach Aleppo gebracht; ihr
Ehrenwort, an Feindseligkeiten gegen die Türkei nicht teilzunehmen,
verschaffte ihnen aber die Erlaubnis zur Heimreise. Nun waren sie zum
zweitenmal gefangen, und man hielt sie von den übrigen getrennt. Es
hieß, wenn sie vor ein Kriegsgericht gestellt würden, sei ihr Schicksal
besiegelt.

Am Abend des 7. Mais gaben die in Bagdad sich aufhaltenden deutschen
Offiziere im Garten des deutschen Konsulats Halil Pascha und etwa
zwanzig türkischen Offizieren ein Fest zu Ehren des Sieges von
Kut-el-Amara. In den Gängen brannten Fackeln und Pechpfannen und unter
den Palmen zahllose bunte Laternen. Herzog Adolf Friedrich feierte in
packender Rede den Sultan und Halil Pascha und gedachte dabei auch des
toten Feldmarschalls und seiner hohen Verdienste. In seiner weichen
schönen Muttersprache dankte Halil mit kernigen Worten.

Halil Pascha, der nach von der Goltz’ Tode und in seinem Geiste die
Operationen gegen Kut-el-Amara leitete und jetzt der Nachfolger des
Feldmarschalls als Chef der 6. Armee war, wohnte an der vornehmsten
Straße Bagdads in einem einfachen Ziegelhaus, das ein kleiner Hof
umgab. Im jugendlichen Alter von dreiunddreißig Jahren hatte er diese
hohe Würde errungen und einen Ruhm, der seinen Namen in der ganzen
Welt bekannt gemacht hat. Halil Pascha ist ein großer, schlanker
Mann von ebenmäßigem Körperbau, schönen, sympathischen Gesichtszügen
und hellem, offenem Blick. Er trägt sich äußerst einfach, die ihn
trefflich kleidende türkische Offiziersmütze aus Lammfell mit stolzer
Siegesgewißheit keck zurückgeschoben; kein Abzeichen verrät seinen
hohen Rang; auf der Straße konnte man ihn für einen gewöhnlichen
Leutnant halten.

[Illustration: Alter christlicher Araber in Bagdad.]

Als ich ihn zum Fall von Kut-el-Amara beglückwünschte, machte er
nicht viel Wesens von dem Erfolg, den er und seine Truppen erstritten
hatten. Von dem britischen Befehlshaber General Townshend sprach er mit
bescheidener Zurückhaltung, wunderte sich aber immer wieder über die
Kapitulation, da die Engländer ungefähr fünfmal so stark gewesen waren,
wie die Türken.

Gerade als mir Halil Pascha in vortrefflichem Französisch von den
letzten Tagen der Festung erzählte, wurde unsere Unterhaltung durch
die hohe Priesterschaft Bagdads unterbrochen, die in vollem Ornat
dem Feldherrn ihre Aufwartung machte und um die Erlaubnis bat, die
neugebaute Hauptstraße nach ihm zu benennen. Sie läuft parallel mit
dem Ufer des Stroms und erleichtert die Verbindung zwischen dem oberen
und unteren Teile der Stadt. Zahlreiche am Wege stehende Häuser wurden
rücksichtslos niedergerissen, und man hatte es damit so eilig, daß
ihren Besitzern oft nur wenige Tage Frist blieb, ein neues Unterkommen
zu suchen. Denn diese Straße hatte zugleich auch eine symbolische
Bedeutung: sie ging quer durch das Grundstück des englischen Konsulats,
das vor dem Kriege niemand hätte antasten dürfen; jetzt waren keine
Engländer mehr da, die Einspruch hätten erheben können.

Zwei Tage nach dem vorhin erwähnten Siegesfest stand ich mit dem
Herzog und Schölvinck aus der hochgewölbten, kühlen Veranda des
englischen Konsulats und erwartete die Ankunft des ersten Trupps
englischer Gefangenen. Ein französischer Arzt und mehrere französische
Dominikanerschwestern waren ebenfalls zugegen; auch sie waren Gefangene
der Türken, hatten aber in Bagdad bleiben dürfen unter der Bedingung,
daß sie in den mehr als dreißig Krankenhäusern, die alle überfüllt
waren, Dienst taten. Es hieß, 6 bis 7000 Plätze seien belegt, meist mit
Typhus und Ruhr.

Während wir uns mit den französischen Schwestern und dem Arzt
unterhielten, kam der Raddampfer „Hamidije“ mit zwei Booten, die zu
beiden Seiten an ihm festgemacht waren, langsam und majestätisch den
Strom herauf. Aus dem oberen Deck des „Hamidije“ saßen englische
Offiziere in Korbstühlen und auf Bänken, und in den beiden Booten weiße
und farbige Unteroffiziere.

[Illustration: Ankunft der „Hamidije“.]

Nun wurde das Schiff am Kai festgemacht und die Landungsbrücke
ausgeworfen. Türkische Offiziere gingen an Bord. Am Ufer wartete der
Stadtkommandant, der stellvertretende Chef des XIII. Armeekorps in
Bagdad, Oberst Mesrur Bei. Zuerst kamen die fünf Generale an Land, und
der Kommandant begrüßte seine „Gäste“. Einer von ihnen war krank und
stützte sich auf einen Stock und auf die Schulter eines Adjutanten. Im
Schatten einiger Bäume wurden Stühle für sie aufgestellt, und Mesrur
Bei unterhielt sich mit ihnen höflich in französischer Sprache.

Dann kamen die Obersten und Oberstleutnants an die Reihe, die Majore,
Hauptleute und Leutnants. Alle dem Rang nach geordnet und aufgestellt,
um sofort in ihre Quartiere geführt zu werden.

Mit welchen Gefühlen mochten die Engländer, die früher in Bagdad
gewesen waren, das prachtvolle Konsulat wiedersehen, das sich als ein
Symbol der englischen Macht im Orient prunkvoll vor ihnen erhob, und
auf dessen Turm früher die Flagge des größten Weltreichs geweht hatte.
Nun flatterte an demselben Mast der Rote Halbmond. Von Mohammedanern
besiegt, als deren Herren sie sich immer gefühlt hatten, betraten sie
jetzt nicht mehr eigenen Boden, und kein Vertreter Großbritanniens
hieß sie willkommen. Sie waren nicht mehr wie so oft Gäste, sondern
Gefangene der Türken. Aber keine Miene, keine Bewegung verriet ihre
Gedanken. Mit der unerschütterlichen Ruhe und der stolzen Haltung, die
ihrer Rasse eigentümlich ist, sahen sie den Dingen entgegen, die da
kommen sollten.

Die Generale fuhren in Droschken nach ihren neuen Wohnungen, und ihre
Ordonnanzen schafften ihr Gepäck auf Lastwagen fort. Als ich mit Mesrur
Bei die Front der Majore entlang schritt, hörte ich plötzlich meinen
Namen rufen und erkannte Major Rybot, mit dem ich im Jahre 1906 oft
in Simla zusammen gewesen war. Nachdem wir uns die Hand gedrückt, bat
auch Mesrur Bei, dem Major vorgestellt zu werden; er ließ ihn aus der
Reihe treten und lud uns ein, ihm in eine Laube zu folgen, wo Tische
mit Erfrischungen bereitstanden. In ungezwungenster Unterhaltung über
Irak und Mesopotamien, über den Verlauf des Weltkrieges und nicht zum
wenigsten über unsre gemeinsamen Erinnerungen an Indien verging uns
hier eine inhaltreiche Stunde.

[Illustration: Die Landung der englischen Gefangenen von Kut-el-Amara
in Bagdad.]

[Illustration: Major Rybot und Mesrur Bei.]

Die englischen Offiziere wurden von den Türken mit der größten
Rücksicht und Höflichkeit behandelt und genossen eine Freiheit, die
geradezu überraschend war. Denn gerade damals standen die Russen in
der Gegend von Kasr-i-Schirin, kaum 170 Kilometer von Bagdad entfernt,
und es wäre für die Gefangenen nichts leichter gewesen, als verkleidet
zu fliehen und ihren russischen Verbündeten wichtige Nachrichten über
die Lage Bagdads zu bringen. Mehrmals erzählte man auch von solchen
Entweichungen, doch weiß ich nicht, ob die Gerüchte der Wahrheit
entsprachen. Sicher ist, daß man täglich englischen Offizieren
begegnete, die sich in den Basaren völlig frei bewegten. Als ich zwei
Tage nach Ankunft der Gefangenen dem amerikanischen Konsul Mr. Brissel
einen Besuch abstattete und wir uns gerade über China unterhielten,
erschienen vier englische Offiziere ohne jede türkische Bewachung.
Sie zeigten noch immer die gleiche Würde und ruhige Miene, als ob
nichts geschehen und Kut-el-Amara nur eine bedeutungslose Episode sei.
Und doch hatte dieser Schlag die von den Engländern beabsichtigte
Verschmelzung der russischen und englischen Fronten vorläufig gänzlich
durchkreuzt. Einstweilen ist der Feldzug im Irak verloren, mochten sie
denken; aber sie ließen nichts davon merken. Mir gegenüber, dessen
fester Standpunkt in diesem Kriege genügend bekannt war, zeigten sie
eine offene Ritterlichkeit und meinten, jeder freie Mann habe das
Recht seiner politischen Überzeugung.

Am Abend desselben Tages hatte ich einige schwedische Freunde und den
deutschen Arzt ~Dr.~ Schacht, der als Gatte einer Landsmännin von
mir das Schwedische ohne fremden Beiklang spricht, zu einem Abendbrot
im Garten des Hotels „Tigris“ geladen. Als wir eben bei Kaffee und
Zigaretten saßen, trat eilig der Adjutant Halil Paschas heran und
bat mich, nach der Residenz hinüber zu kommen, wo der Pascha gerade
ein Abschiedsessen für seinen vornehmsten Gefangenen, den General
Townshend, gab. Ich entschuldigte mich bei meinen Freunden für kurze
Zeit und folgte ihm. Dieses historische Gastmahl, das Sieger und
Besiegten, Verteidiger und Bezwinger von Kut-el-Amara am selben Tisch
vereinte, mochte ich nicht versäumen; außerdem kannte ich General
Townshend von Simla her, wo er der Stabschef Lord Kitcheners war; dort
war ich oft mit ihm zusammen, als ich beim Oberstkommandierenden der
englischen Armee wohnte.

[Illustration: Höhere englische Offiziere unter den Gefangenen von
Kut-el-Amara.]

Wenige Schritte brachten uns zur Residenz, die damals noch gerade
gegenüber lag; später wurde sie in das Haus des Hauptquartiers verlegt,
wo der Feldmarschall gewohnt hatte. In seiner freundschaftlichen Hast
widerfuhr dem Adjutanten in der Vorhalle ein Renkontre mit einer
orientalischen Porzellanvase, die schmetternd auf dem Steinboden in
tausend Stücke zerschellte und mich vor der offenen Tür des Speisesaals
mit überflüssigem Knalleffekt anmeldete.

Am Tisch präsidierte Halil Pascha. Ihm gegenüber saß General
Townshend, neben ihm der Stabschef und der Adjutant des englischen
Oberbefehlshabers, hohe, kräftige Gestalten. Die übrigen Gäste
waren türkische Offiziere und sonst nur Zivilisten, unter ihnen der
Bürgermeister von Bagdad mit schwarzem Bart und Brille, schwarzem
Gehrock und rotem Fes.

[Illustration:

  Phot.: Schölvinck.

Indische Soldaten.]

[Illustration:

  Phot.: Schölvinck.

Farbige Engländer.]

Nachdem ich Halil und seine Gäste begrüßt hatte, wurde ich eingeladen,
an Townshends Seite Platz zu nehmen. „Erinnern Sie sich noch unseres
Zusammentreffens in Simla?“ rief er mir entgegen. „Hier sehen
Sie mich nun als Besiegten!“ Wir sprachen von Kitchener, von den
indischen Zedern und Mangobäumen und den schneebedeckten Bergen
des Himalaja oberhalb Simlas. Townshend trug sein Geschick mit
Gleichmut. Die Stimmung an der Tafel war sogar heiter; es war ein
wirkliches Verbrüderungsfest, und der Champagner floß in Strömen.
Halil Pascha füllte sein Glas und toastete auf seinen Ehrengast, dem
er eine glückliche Zukunft wünschte, und der Engländer dankte für
die Gastfreundschaft, die er in Bagdad erfahren hatte. Nach diesem
feierlichen Schlußakt des Gastmahls fuhr Townshend in Halil Paschas
Automobil nach Hause. Am andern Tag sollte er nach Konstantinopel
weiterreisen, wo ihm auf einer der Prinzeninseln eine Villa angewiesen
war.

Die folgenden Tage über kamen unaufhörlich neue Schiffe mit Gefangenen
von Kut-el-Amara. Die größere Masse aber marschierte zu Fuß heran
und wurde in einem Lager auf dem rechten Flußufer untergebracht. Die
Eisenbahn beförderte sie später nach Samarra, und von dort marschierten
sie nach Ras-el-Ain. In elenden Schuppen und kleinen weißen Zelten
lagen da Tausende von Sikhs, Gurkhas, Patanen und andern Repräsentanten
des unglücklichen, unterdrückten indischen Volkes. Ausgemergelt,
mager und hungrig wehklagten sie laut über ihr Schicksal. Schon in
Kut-el-Amara hatte man sie auf schmale Rationen gesetzt, Maulesel-
und Pferdefleisch war ein Leckerbissen gewesen. Satt wurden sie auch
jetzt nicht von dem Essen, das sie sich, in verschiedenen Gruppen
nach Nationen, Religionen und Kasten geteilt, an ihren kleinen Feuern
bereiteten. Ich konnte sie nur mit der Hoffnung trösten, daß in Konia,
Angora und andern Teilen Kleinasiens, wohin sie geschafft werden
sollten, besser für sie gesorgt würde, als hier auf dem Durchmarsch
auch beim besten Willen möglich war. Unter den englischen Soldaten
waren, wie gewöhnlich, brillante Typen. General Townshend schien
übrigens bei seinen Truppen beliebter zu sein als bei seinen Offizieren.

Rund zwei Drittel der Gefangenen von Kut-el-Amara waren indische
Truppen, 9000 Mann! Ein Tropfen im Meer, verglichen mit den Massen
farbiger Menschen, die England in Europa, Asien und Afrika auf die
Schlachtbank geführt hat, um der deutschen Kultur ein Ende zu bereiten.
Man kann sich denken, mit welchem Ingrimm sich diese unschuldigen
Opfer nun von ihrer Heimat abgeschnitten sahen! Als sie zu Schiff nach
Basra gebracht wurden, wußten sie weder weshalb, noch gegen wen sie in
dem fremden Lande kämpfen sollten. Einige wagten vor Furcht auf meine
Fragen gar nicht zu antworten. Andere meinten, sie hätten nichts von
einer Bedrohung Indiens gemerkt. Einer von ihnen berief sich auf die
Versicherungen englischer Offiziere, daß Deutschland der Feind der
gesamten Menschheit sei. Nach dem Fall von Kut-el-Amara behaupteten
die englischen Zeitungen, mehr als 4000 Mann hätten dort überhaupt
nicht gestanden. Die Farbigen waren also keine Menschen, lediglich
Kanonenfutter, und brauchten in der englischen Presse nicht als Verlust
gebucht zu werden!

[Illustration: Die Moschee Abdel Kader in Bagdad.]

Unter den indischen Truppen befanden sich mehrere mohammedanische
Regimenter. Es war zweifellos ein Wagestück, sie gegen Bagdad zu
führen, das im ganzen mohammedanischen Indien als eine der vornehmsten
Städte der Welt gilt. In Bagdad steht auch eine Moschee, ein
Heiligengrab, Abdel Kader genannt, das die Nachfolger des Propheten in
Hindostan in großen Ehren halten. Ich besuchte dieses Heiligtum und
erhielt von seinem Nakib oder Oberpriester, Abdurrahman Gilani, einem
dicken, behäbigen achtzigjährigen Greise, Aufschluß über die Bedeutung
des Platzes. Seine Würde, erzählte er mir, sei erblich, und die sechs
Priester, die ihn bei meinem Besuch umgaben, seien seine Brüder. Er
hatte zwölf Söhne, alle verheiratet und Väter vieler Kinder. Sie waren
Sunniten von arabischer Abstammung und Seïden oder Abkömmlinge des
Propheten, also Glieder in der Kette einer priesterlichen Dynastie
und, wie die Moschee selbst, mächtig reich. Denn die indischen Pilger
kommen nach Abdel Kader nicht mit leeren Händen. Außerdem machte der
älteste Sohn, der zukünftige Nakib, jährlich Reisen zu den indischen
Mohammedanern, um Gaben für die Grabmoschee und ihre Priester zu
sammeln. Die Moschee umgaben zahlreiche Häuser mit Unterkunftsräumen
für die indischen Pilger; jetzt waren sie alle dem Roten Halbmond
überlassen. Als Ende November 1915 die Engländer über den Dijala gingen
und gegen Bagdad vorrückten, sollen zwei mohammedanische Regimenter
gemeutert haben, da sie die Stadt, die Abdel Kaders Grab einschloß,
nicht angreifen wollten. Dieses Ereignis scheint den englischen Rückzug
beschleunigt zu haben.

                                   *
                               *       *

Siegesstimmung erfüllte Bagdad, als ich dort weilte. Jetzt, da ich
dies schreibe, kaum ein Jahr später, erklingen wieder Jubelrufe in der
Kalifenstadt, aber nicht mehr der Osmanen, sondern der Briten.

Das englische Ansehen im Orient hatte durch den Fall von Kut-el-Amara
einen schweren Stoß erlitten. Was sollten die Völker Indiens und
Ägyptens, was Araber, Perser und Afghanen von einer europäischen
Großmacht denken, die nicht einmal Asiaten standhalten konnte? Also
galt es, jedes Opfer zu bringen, um den Schimpf jener Niederlage wieder
abzuwaschen. Es ging um Englands Ehre und Ansehen im Orient, um die
Zukunft der britischen Herrschaft auf asiatischem Boden.

Anfang des Jahres 1917 meldete der Telegraph wiederholt, daß die
Engländer durch das Irak wieder mit bedeutenden Kräften vordrängen,
und am 25. Februar brachten alle Zeitungen der Welt ein Telegramm aus
Konstantinopel, Kut-el-Amara sei von ihnen wiedererobert.

Am 6. März hatte englische Kavallerie Ktesiphon passiert und stand 6
englische Meilen südöstlich vom Nebenfluß Dijala. Offenbar ging der
englische Oberbefehlshaber auf nichts Geringeres aus, als auf die
Eroberung Bagdads. Schon am 11. März kam auch aus London die lakonische
Mitteilung, Bagdad ist gefallen. Ihr folgte eine amtliche Meldung, in
der es hieß:

„Unsern Truppen, die den Fluß Dijala entlang mit dem Feinde Fühlung
hielten, gelang es trotz Mondscheins in der Nacht zum 8. ds. Mts.,
überraschend den Dijala zu überschreiten und sich auf dem rechten Ufer
dieses Flusses festzusetzen. Nachdem über den Tigris, unterhalb seines
Zusammenflusses mit dem Dijala, eine Brücke geschlagen war, setzte
eine starke englische Abteilung auf das rechte Ufer hinüber und stieß
mit dem Feind ungefähr 9 Kilometer südwestlich von Bagdad zusammen.
Die Türken wurden aus ihrer Stellung in eine zweite, 3 Kilometer
dahinter gelegene, gedrängt und am 9. auch aus dieser vertrieben.
Unsere Truppen lagerten auf dem gewonnenen Gelände. Der Vorstoß wurde
am 10. März trotz furchtbaren orkanartigen Sandsturms zu Ende geführt
und die Türken bis 5 Kilometer vor Bagdad zurückgeworfen. -- Soeben
telegraphiert nun der Oberbefehlshaber in Mesopotamien, daß Bagdad am
11. März frühmorgens von den englischen Truppen genommen wurde.“

Ohne Zweifel war die Expedition von General Maude gut vorbereitet; die
Engländer wollten den Völkern des Orients zeigen, daß sie den Türken
nicht nachständen. Die Londoner Presse schwelgte in ungeheurem Jubel,
als könne der Ausgang des Weltkrieges nun nicht länger zweifelhaft
sein: „Der Sieg vernichtet den deutschen Traum Berlin-Bagdad und macht
Deutschlands hochfliegenden Plänen im Orient ein Ende. Dieses Ereignis
hat die größte Seifenblase des Pangermanismus zum Platzen gebracht und
eine an den Grenzen des indischen Reiches beständig drohende Gefahr
entfernt.“

Weder Deutschland noch die Türkei haben jemals Absichten auf Indien
gehabt. Welche Gefahr diesem am ersten droht, darüber könnte General
Kuropatkin, der Erbe von Skobelews Invasionsplan, merkwürdige Dinge
erzählen. Außerdem wird das Schicksal der Türkei oder auch nur
Mesopotamiens nicht in Bagdad entschieden, sondern allein an der
Westfront.

Aber die Freude der Engländer ist nur zu verständlich. Der
Krieg ruiniert sie, und sie brauchten eine Ermunterung. Bagdad,
Dar-es-Salaam, das Heim des Friedens, war bisher die einzige Stadt, die
sie während des Weltkrieges erobern konnten, abgesehen von einigen kaum
verteidigten afrikanischen Nestern. Die Zukunft wird zeigen, wie lange
sie sich in der Residenz Mansurs werden halten können.




[Illustration: Unsere beiden Gendarmen (rechts).]




Vierzehntes Kapitel.

Meine Fahrt nach Babylon.


Am 15. Mai wurde ich bei Tagesanbruch geweckt, kleidete mich in aller
Eile an und eilte zum Kai hinunter, wo bereits ein Belem auf Herzog
Adolf Friedrich, Rittmeister Schölvinck und mich wartete.

Unser Reiseziel war Babylon. Die deutschen Ordonnanzen des Herzogs,
sein Kammerdiener und sein Koch, beide Neger aus Togo, dessen
Gouverneur der Herzog bei Kriegsausbruch war, sowie mein arabischer
„Silberdiener“, wie Schölvinck Sale nannte, waren mit dem Gepäck
vorausgefahren. Wir hätten den ganzen Weg im Kerbelawagen zurücklegen
können, zogen es aber vor, die Feldbahn nach Risvanije zu benutzen und
von dort aus auf dem Euphrat zu fahren.

Es war ein herrlicher Morgen. Die Luft war lau, am Himmel segelte nur
hier und da ein Wölkchen. Wie ein Ball weißglühenden Eisens stieg die
Sonne empor, von den Gebetsrufern der Minarette begrüßt, und vergoldete
die Balkone und Palmen auf dem rechten Ufer.

Das Boot landete an dem Kai, wo die Feldbahn beginnt. Eine Draisine
stand bereit, und bald rollten wir durch die stille Wüste, als eben
die Eidechsen, Heuschrecken, Käfer und andere Insekten ihr Tagewerk
begannen. Heute ging es schneller als das vorige Mal: in drei Stunden
waren wir am Ziel.

Mein alter Schahtur lag noch an seinem Platz. Doch brauchten wir ihn
nicht. Der Herzog hatte die große Fähre „Emden“ instand setzen lassen,
und sie hatte sich, seitdem ich in ihrer Gesellschaft den Euphrat
hinabgefahren war, sehr angenehm verändert. Mittschiffs erhob sich ein
Deck mit Bänken, Tischen und Feldstühlen; darüber war auf senkrechten
Stangen ein Zeltdach gespannt. An den Seiten stand unser Gepäck
aufgeschichtet, und hinten residierte der schwarze Koch mit seinem
Petroleumofen und seinen Proviantkisten. Die Besatzung bestand aus
acht Arabern und einer Eskorte von zwei bis an die Zähne bewaffneten
Gendarmen. Der Flußweg bis Babylon galt nicht für sicher, besonders in
diesen unruhigen Zeiten, die jetzt auch in der Provinz Irak herrschten.
Auch der Herzog hatte als geschickter Jäger und Schütze seine und
seiner Soldaten Waffen in Bereitschaft.

Die Fähre stieß vom Land und wurde sogleich von der gewaltigen Strömung
fortgeführt. Wir saßen auf bequemen Stühlen unter dem Sonnendach mit
freier Aussicht flußabwärts, zogen unsere Jacken aus, zündeten die
Zigaretten an und genossen die Fahrt in vollen Zügen. In Gedanken aber
war ich den ganzen Tag in meinem lieben, alten Heim zu Stockholm, wo
mein ehrwürdiger Vater heute sein neunzigstes Lebensjahr vollendete.

Schon vor 12 Uhr betrug die Temperatur im Schatten 36 Grad. Die Hitze
wurde aber etwas gemildert durch den Nordwind, der uns zuweilen nach
dem rechten Ufer hinübertrieb und uns zwang, die Fähre ziehen zu
lassen. Doch ließ er bald nach, und es gab eine herrliche Fahrt an
Jublatije und den weiten Weizenfeldern von M’Gessab vorüber.

[Illustration: Die Fähre „Emden“.]

[Illustration: Die beiden Neger des Herzogs, rechts Sale.]

Auf dem rechten Ufer erhebt sich die Grabkapelle El-Fasl, und von
vereinzelten Palmen geschmückt liegt im Sonnenbrand das Dorf El-Batsch.
Am Uferrand knarren die üblichen Wasserwerke mit ihren unermüdlichen
Ledersäcken. Auf der Steppe zu beiden Seiten hüten die Nomaden ihre
Schafe und Ziegen; hier und da hat ein wandernder Stamm seine
schwarzen, immer gleich malerischen Zelte aufgeschlagen. Bei dem
Dorf Nahrlatefije auf dem linken Ufer weiden zahlreiche Pferde, Esel
und Zebuochsen. Bei El-chidr-lias ruht ein Heiliger unter einer
weißen, von Palmen beschatteten Grabkuppel. In dieser Gegend zeigen
sich am Ufer seichte Seen, die Chor genannt werden. Zuweilen sieht
man Fischereigeräte derselben Art, wie an den Ufern des Tarim in
Ost-Turkestan.

Um 1 Uhr zeigt das Thermometer 37 Grad, und der Wind hat aufgehört. Das
Flußwasser hat eine Temperatur von 24,1 Grad. Der Himmel ist türkisblau
und völlig klar, nur eine einzige kleine Wolke schwebt über der Wüste,
über der die Luft wie Dampf über einer bratenden Pfanne zittert.

Zu Beginn der Fahrt machte der Euphrat scharfe Windungen. Jetzt geht er
geradeaus und ist zuweilen nach Südosten offen wie eine Meeresbucht.
Bäume und Palmen werden selten, das Land ist kahl und flach. Aber
häufig zeigen sich die prismatischen Strohdächer der Lehmhütten, in
denen Nomaden und Bauern wohnen.

Gegen Abend wird es herrlich, trotzdem wir noch um 5 Uhr über 36 Grad
haben. Aber die Sonne ist etwas bedeckt, und ein leichter Nordwind
beschleunigt unsere Fahrt nach Südsüdosten.

Wir hielten uns in der Mitte des Stroms, der hier gegen 800 Meter breit
und 5-6 Meter tief ist. Da erschien nicht weit vor uns das Dorf Soba,
und wir sahen etwa zehn Araber am Ufer stehen. Sie waren mit Gewehren
bewaffnet, und als wir uns näherten, nahmen sie eine drohende Haltung
ein; einige hockten in Schußstellung und brachten auf einer kleinen
Brustwehr ihre Gewehre in Anschlag, andere standen schußbereit da und
forderten uns in befehlendem Tone auf zu landen.

Der eine von unseren beiden Gendarmen legte eilig sein Gewehr über die
Reling, und der Herzog lud kaltblütig seine Büchse. Die Lage war etwas
kritisch, und wir warteten natürlich mit einiger Spannung, wer wohl
zuerst schießen werde. Unterdes trieb die Fähre mit der Strömung ruhig
weiter; wir waren schon den kriegerischen Arabern gerade gegenüber,
ohne daß etwas geschah, und entfernten uns schon wieder langsam von
ihnen. Da gaben sie plötzlich ihre drohende Haltung auf, bildeten eine
Gruppe und unterhielten sich lebhaft. Einer von ihnen, wahrscheinlich
der Führer, rief uns, wohl um ihr Benehmen zu entschuldigen, zu: „Wir
wußten nicht, daß ihr Deutsche an Bord hattet.“ Jedenfalls hatten sie
uns, wie unsere Begleiter meinten, für Kaufleute gehalten, die mit
Waren stromabwärts reisten und, wenn sie sich hätten einschüchtern
lassen zu landen, in aller Ruhe geplündert worden wären.

So nahm unser kleines Abenteuer einen harmlosen Verlauf, und wir fuhren
weiter, saßen wieder behaglich unter unserm Zeltdach, tranken Rotwein
mit Wasser aus irdenen, in feuchte Tücher gehüllten Töpfen und freuten
uns der eigenartigen Landschaft, die so flach ist wie ein zugefrorener
See, und in die nur Zelte, Palmen und weidende Tiere einige Abwechslung
bringen. Die Posthalterei Matardas sah aus der Ferne wie eine Festung
aus, in der Nähe schrumpfte sie zur Unbedeutendheit zusammen.

[Illustration:

  Phot.: Schölvinck.

Der Herzog an Bord.]

Hinter der Insel Dschenabijin wird der Strom von leichten
Vegetationsgürteln eingefaßt. Links überwiegen Laubbäume, rechts
Palmen, dazwischen erscheinen Gehöfte, Dörfer und Äcker; die Gegend ist
wieder belebter, und die Wüste verschwindet. Um ½6 Uhr haben wir nur
34,8 Grad Wärme, und man fühlt sich schon behaglicher.

[Illustration: Museyib.

(Linkes Ufer.)]

[Illustration: Neugierige am Landungsplatz.]

Der Strom wird schmäler, und vor uns liegt auf beiden Ufern die Stadt
Museyib. Die Häuser tragen wie in Bagdad Galerien, Balkone und Erker;
doch ist am Ufer ein Fußsteig freigelassen, auf dem viele Araber
umhergehen.

Die Fähre steuerte nach dem linken Ufer hinüber. Aber als wir anlegen
wollten, rieten uns die Leute am Strande, nach rechts hinüberzufahren,
wo die Behörden ihren Sitz hätten. Man merkte ihnen an, daß etwas
Ungewöhnliches geschehen war; in mehreren langen, schmalen Booten
wurden fünfzehn verwundete türkische Soldaten über den Strom nach einem
Krankenhaus gerudert.

Auf dem rechten Ufer lagerten türkische Truppen, und bald standen
wir vor dem großen, malerischen Haus, in dessen erstem Geschoß der
Mutessarrif oder Gouverneur von Museyib sein Amtszimmer hatte. Im
Erdgeschoß befand sich ein Café, gedrängt voll von Türken und Arabern,
und es wimmelte von Turbanen, Fessen und arabischen Kopftüchern.
Ein Derwisch ohne Kopfbedeckung, aber mit einem aufrechtstehenden
Haarbüschel, in der Hand eine Art Karnevalspritsche, erheiterte seine
Zuhörerschar durch Possen.

Sogleich sammelten sich Neugierige um uns. Die Gendarmen, die am Tor
Wache hielten, zeigten uns den Weg die halsbrecherische Treppe hinauf.
Man führte uns durch ein mit Teppichen belegtes, verfallenes Zimmer auf
eine große Veranda mit prächtiger Aussicht auf den Strom. Hier saß der
Mutessarrif, umgeben von Offizieren und Zivilisten, auf einem großen
Sofa bei der Arbeit.

Der Gouverneur grüßte uns höflich und bot uns seine Dienste an. Die
Unruhe in Museyib war durch einen Aufruhr in Kerbela verursacht worden,
von dem wir bereits in Bagdad allerhand hatten munkeln hören. Leicht
war es auch hier nicht, Genaueres darüber zu erfahren. Angeblich hatten
die Schiiten in Kerbela die türkische Garnison angegriffen und mehrere
Offiziere erschossen, worauf die Türken die Stadt metertief unter
Wasser setzten. Die Araber der Gegend hatten die Unordnung benutzt, um
die Grabmoschee Imam Husseins zu plündern, die außerordentlich reich an
Schätzen und kostbaren Geschenken ist. Die Truppen, die wir am Flußufer
gesehen, hatten sich wegen der Überschwemmung zurückziehen müssen. Doch
schien der Aufruhr inzwischen niedergeschlagen zu sein; wir hörten auch
später nichts mehr davon.

Bis zum Dorf Sedde, versicherte uns der Gouverneur, seien wir völlig
sicher. Aber unterhalb dieses Punktes müßten wir auf der Hut sein,
denn zwei hier hausende Araberstämme, Beni Hassan und El-Fethla, lägen
miteinander im Kriege. Der Ingenieur Nahat Bei in Sedde, an den er uns
einige Zeilen mitgab, würde uns weitere Aufklärung geben.

Es war 6 Uhr, und die Sonne ging gerade unter, als unsere „Emden“
wieder vom Ufer abstieß. Ein neuer Lotse fuhr mit, der das Fahrwasser
besser kannte, als die Besatzung aus Risvanije. Die Dämmerung sank
hernieder. Die Einzelheiten an den Ufern verschwammen und flossen zu
dunklen Umrissen zusammen. Der Wind hatte ganz aufgehört; ½8 Uhr zeigte
das Thermometer nur 27 Grad.

Bald umgab uns völlige Dunkelheit. Vor uns ertönte ein zunehmendes
Brausen wie von einem Wasserfall. Der Lotse erklärte, das sei die
Strömung unter der Brücke von Sedde. Hier sei ein gefährlicher Strudel.
Sobald das Brausen ganz nahe kam, mußten einige Leute unserer Besatzung
ans Land springen, um an einem Seil die Fähre zu bremsen, falls sie
in den Strudel hineingeriet. Doch glitten wir ganz ruhig nach der
Brücke hin, die sechs kleine Wölbungen und eine breitere siebente für
Segelboote hat, und während wir Nahat Bei unsern Empfehlungsbrief
sandten, wurde die „Emden“ durch die Brücke bugsiert und vertäut.

Bei der Brücke von Sedde teilt sich der Strom in zwei Betten, links
das alte des Schatt-el-Hille, rechts das neue des Hindije. Die ganze
Wassermasse hat eine Neigung nach rechts und würde das alte Bett völlig
aufgeben, wenn nicht Dämme einen Teil des Wassers zwängen, nach dem
Schatt-el-Hille hinüberzugehen. Oberhalb Sedde hat ein anderer Arm
sich vom Flusse abgezweigt, der Husseinije-Kanal, der südwestlich nach
Kerbela geht.

Von Nahat Bei, der sich in größerer Gesellschaft einfand, erfuhr ich,
der Hauptstrom habe bei höchstem Wasserstand 3000 Kubikmeter, der
Hille-Arm aber nur 90. Der letztere sei bei Beginn 30, der erstere 300
Meter breit.

[Illustration: Landschaft auf dem rechten Euphratufer.]

Leider konnte ich mir, da es Nacht war, von diesem interessanten Punkt
keinen klaren Begriff machen. Sir William Willcocks, der im Dienst der
türkischen Regierung die Messungs- und Untersuchungsarbeiten zur
regelrechten Bewässerung des untern Mesopotamiens übernommen hatte,
erklärte 1909, schon die ersten Arbeiten müßten 1200000 Hektar Land
bewässern und einen Ertrag von 1000000 Tonnen Weizen und 100000 Tonnen
Baumwolle bringen. Im Jahre 1912 sagte er, das Wichtigste seien die
Dämme bei Feludscha und Hindije (Sedde), sowie die Trockenlegung von
überschwemmtem Gebiet und die damit zusammenhängende Kanalisierung.
Das Land gegen Überschwemmung zu schützen und das Wasser möglichst vom
Schlamm zu reinigen, seien schwierige, doch keineswegs unüberwindliche
Aufgaben. Euphrat und Tigris führen zur Hochwasserzeit fünfmal soviel
Schlamm mit sich wie der Nil. Infolge der jährlichen Überschwemmungen
häufen sich die Ablagerungen an den Ufern. Der Vegetationsgürtel mit
seinen Abfällen und seinen Wurzeln trägt ebenfalls dazu bei, die
Uferstreifen zu erhöhen, so daß die Wasserfläche bei Hochwasser höher
liegt als die angrenzende Steppe. Der Uferdamm wird auch von Zeit zu
Zeit durchbrochen, so bei Sedde, wo die Hauptmasse des Euphrat sich in
den Hindije-Arm hineinzwängt. So hat der Strom im Lauf der Jahrtausende
mehrfach sein Bett geändert; die modernen Ausgrabungen können das hier
und da im Einzelnen nachweisen.

[Illustration: Schatt-el-Hille.]

Der Hindije-Arm geht fast geradeaus nach Süden bis Kufa in der Nähe von
Nedschef oder Mesched-Ali, dem vornehmsten Wallfahrtsort der Schiiten
nächst Kerbela oder Mesched-Hussein. Dann biegt der Strom nach Südosten
ab, nimmt wohl den Überschuß auf, der vom Schatt-el-Hille kommen kann,
und vereint sich mit dem Tigris -- nicht wie früher während eines
halben Jahrtausends bei Korna, sondern bei Garmet Ali in der Nähe von
Basra.

[Illustration: Bahije, 18jährige Araberin aus Hille.]

Sehr anfechtbar scheint mir Willcocks, wenn er (im „Geographical
Journal“ 1910 und 1912) drei von den Flüssen Edens in Kanälen und
Armen des Euphrat wiederfinden will. Nur an dem vierten, dem „Frat“
der Genesis, kann er nicht rütteln. Auch ist es keineswegs so sicher,
daß der im Altertum bekannte Pallakopas der jetzige Hindije-Arm sei,
denn jener begann weit unterhalb Babylons, während dieser von Sedde
ausgeht. Strabo sagt freilich nach Aristobulus, Alexander der Große sei
flußaufwärts gefahren, als er die Kanäle bei Babylon untersuchte, aber
nach Arrian ruderte er zur Mündung des Pallakopas euphratabwärts. Der
Name wird auch Pallakotta geschrieben, auf babylonisch Pallakut. Nach
Eduard Meyer lebt dieser Name fort in Fellûga (Felludscha).

Alexanders Fahrt fand kurz vor seinem Tode statt, und ihre Schilderung
bei Arrian ist von großem Interesse. In gedrängter Kürze enthält sie
eine vortreffliche Beschreibung vom Euphrat und dem Verhältnis des
Hauptstroms zu den Kanälen. Außerdem zeigt sie auch den Scharfsinn
Alexanders im hellsten Licht:

„Während die Dreiruderer für Alexander gebaut und der Hafen bei Babylon
ausgegraben wurden, machte er eine Fahrt von Babylon aus den Euphrat
hinunter nach dem Flusse Pallakopas. Dieser ist von Babylon ungefähr
800 Stadien (20 Stunden) entfernt und kein aus Quellen entspringender
Fluß, sondern ein vom Euphrat auf der Westseite abgeleiteter Kanal.
Der Euphrat, der vom armenischen Gebirge herabkommt, fließt nämlich
zur Winterszeit, wenn er wenig Wasser hat, in seinem Bett. Bei
Frühlingsanfang aber und namentlich gegen die Sommersonnenwende
schwillt er an und ergießt sich über seine Ufer hinweg in die Fluren
Assyriens. Denn dann vermehrt die Schneeschmelze in den armenischen
Gebirgen seine Wassermasse bedeutend, und da er ein flaches Bett
und einen hohen Lauf hat, so überschwemmt er das Land, wenn man ihm
nicht einen Ablauf verschafft und ihn durch den Pallakopas in die
Teiche und Sümpfe leitet, die von diesem Kanal aus beginnen und bis
an die Grenzen des Araberlandes reichen ... Nach der Schneeschmelze,
ungefähr zur Zeit des Niedergangs der Plejaden, hat der Euphrat einen
niedrigen Wasserstand, gibt aber nichtsdestoweniger den größten Teil
seines Wassers durch den Pallakopas an die Sümpfe ab. Wenn man nun
nicht wieder den Pallakopas abdämmte, so daß das Wasser, in die Ufer
zurückgedrängt, in seinem Bett bliebe, würde sich der Euphrat unfehlbar
in den Pallakopas ergießen und Assyrien nicht mehr bewässern.“

Arrian berichtet dann noch, wie leicht man das Euphratwasser in den
Pallakopas-Arm hineinleiten konnte, während der Statthalter von
Babylonien große Mühe hatte, die zwischen zahllosen Schlammablagerungen
geöffnete Mündung wieder zu verstopfen. 10000 Assyrer fanden dabei
volle Beschäftigung. „Berichte hiervon bestimmten Alexander, etwas
zum Nutzen des assyrischen Landes zu tun. Deshalb beschloß er, da, wo
sich der Lauf des Euphrat dem Pallakopas zuwendet, den Ausfluß fest zu
verstopfen. Als er aber ungefähr 30 Stadien weiterging, zeigte sich
Felsengrund, von dem man annehmen mußte, daß er, durchstochen und mit
dem alten Kanal des Pallakopas in Verbindung gebracht, einerseits
das Wasser dank der Festigkeit des Erdreichs nicht durchsickern,
andererseits seine Zurückdrängung zur bestimmten Jahreszeit leicht
bewerkstelligen lassen würde. Deshalb befuhr er den Pallakopas und
ruderte auf ihm in die Sümpfe hinab bis zum Lande der Araber. Als er
hier einen schöngelegenen Punkt sah, baute und befestigte er dort eine
Stadt und besiedelte sie mit einer Anzahl griechischer Söldlinge, die
sich teils freiwillig anboten, teils durch Alter oder Verstümmelung
nicht mehr dienstfähig waren.“

[Illustration: Rast am Ufer des Schatt-el-Hille.]

Alexander war sehr vergnügt, fügt Arrian hinzu, denn die Prophezeiung
der Chaldäer von einem Unglück, das ihm in Babylonien zustoßen
werde, war nicht eingetroffen. Als er aber auf der Rückfahrt seinen
Dreiruderer mit eigener Hand durch die Sümpfe lenkte, entführte ihm
ein heftiger Windstoß seine Kopfbedeckung und die darumgewundene
Stirnbinde. Diese blieb im Schilf auf einem der alten assyrischen
Königsgräber hängen -- schon ein bedenkliches Vorzeichen. Einer seiner
Begleiter stürzte sich ins Wasser und holte schwimmend die Binde des
Königs zurück; damit sie nicht naß wurde, wand er sie um seinen eigenen
Kopf. Alexander schenkte ihm dafür zur Belohnung ein Talent, befahl
aber zugleich, ihn zu köpfen, denn wer sein Königsdiadem getragen,
müsse sterben. Nach andern Gewährsmännern blieb der Schwimmer am Leben
und war niemand anders als Seleucus. Der Vorfall wurde von vielen dahin
gedeutet, daß Alexander am Schlusse seiner Laufbahn stehe und Seleucus
sein Nachfolger sein werde, was ja auch in gewissem Sinne zutraf. --

Doch zurück in die Gegenwart! Um 10 Uhr waren wir wieder an Bord und
fuhren auf dem alten Euphrat weiter. Der Schatt-el-Hille läuft hier
so gerade wie ein Kanal und ist nur etwa 170 Meter breit. Selten sah
man Menschen oder Feuer an den Ufern. Die Stille wurde nur ab und zu
von Hundegebell unterbrochen oder vom Klatschen der Ruder, wenn wir
einem Ufer zu nahe kamen. Die Stimmung war zauberhaft, in herrlichem
Mondschein glitten wir dahin.

[Illustration: Palmenwald auf dem rechten Ufer des Schatt-el-Hille.]

Als wir um 5 Uhr erwachten, waren die Ufer des Schatt-el-Hille mit
zahlreichen Palmen geschmückt, die ihre dunkelgrünen Federn im Wasser
spiegelten. Die Fähre bewegt sich nur langsam vorwärts, denn dieser
Arm des Euphrat hat geringe Strömung. Eine feierliche Stimmung
weht uns aus den dunkeln Säulenhallen der Palmen entgegen. Ihre
Wurzeln saugen ja ihre Kraft aus den Gräbern Babylons, und eine Fülle
großer Erinnerungen aus Tausenden von Jahren strömt auf uns ein. In
ehrfürchtigem Schweigen fahren wir ihnen entgegen.

Auf dem linken Ufer erhebt sich jetzt über die Palmen hinweg eine
scharf abgegrenzte plateauförmige Anhöhe. Das ist Babil, ein Name,
der noch heute von den Arabern gebraucht wird, ein Name, der 5 bis
6000 Jahre alt ist. Wohl ist die Anhöhe nur ein Haufen Trümmer, unter
denen der Sommerpalast Nebukadnezars ausgegraben ist. Aber doch steht
sie da wie eine Klippe im Meer, über dessen Fläche verheerende Stürme
dahingegangen sind.

Noch eine schwache Biegung, und in einem Wald von Palmen zeigen sich
die graugelben Lehmhäuser des Dorfes Kweiresch. Die Landschaft ist
herrlich und übertrifft alles, was der Euphrat bisher an reizvollen
Uferbildern geboten hat. Auch hier knarren die Wasserräder ihre
einförmigen Melodien. Graue Büffel nehmen ihr Morgenbad im Moor am Ufer
und wühlen sich in den Schlamm hinein, bis nur Nase und Hörnerspitzen
über dem Wasser zu sehen sind.

Nahe bei Kweiresch erheben sich runde Schutthaufen -- hier beginnt das
Trümmerfeld des alten Babylon.

[Illustration: Phot.:

  Deutsche Orient-Gesellschaft.

Das Expeditionshaus der Deutschen in Babylon.]

Aus dem dichten Grün tritt ein ungewöhnlich großes, gutgebautes Haus
hervor mit zwei Stockwerken. Wachen stehen vor dem Tor. In seiner
Nähe landen wir, und an grauen Gartenmauern vorüber führt uns ein
Weg hinauf. Zwei Herren in weißer europäischer Kleidung eilen uns
entgegen und heißen uns herzlichst willkommen. Der eine von ihnen, ein
älterer Mann mit energischen Zügen, mustert uns mit durchdringenden
Blicken unter buschigen Augenbrauen. Sein Name ist weltberühmt. Es ist
Professor Robert Koldewey, der gelehrte deutsche Assyriologe. Seit
zwölf Jahren ist er hier am Werke, die alten Burgen und Paläste von
Babylon auszugraben und diese alte Welt aus ihrem langen Schlummer zu
wecken. Unterstützt von einem wechselnden Stab junger Archäologen hat
er sich wie kein anderer in diese Vergangenheit hineingearbeitet, und
Babylon ist die große Liebe seines Lebens geworden. Sein Begleiter ist
der Assistent ~Dr.~ Buddensieg. Beide Herren tragen nicht wie wir
Tropenhelme, sondern schwarze Schaffellmützen, und der Professor mit
seinem dichten, graugesprenkelten Bart gleicht so den Gestalten, die
man auf den assyrischen Reliefs abgebildet findet.

[Illustration: Hofinneres des Deutschen Hauses.]

Es mag überraschen, daß die deutschen Gelehrten während des Weltkriegs
auf ihrem Posten geblieben sind. Aber von Gefahren sind sie ja
stets umgeben. Ihre Nachbarn, die Araber, sind nichts weniger als
zuverlässig, und nicht selten schwirren Gewehrkugeln durch die Fenster
oder pfeifen diesen Männern der Wissenschaft um die Ohren, wenn sie
draußen auf dem Felde arbeiten. Der Krieg im Irak hatte die Stellung
der Deutschen natürlich noch unsicherer gemacht, besonders seitdem die
Engländer ihre Operationen gegen Bagdad begonnen hatten.

Aber gerade der Gefahren wegen, die den Früchten der deutschen Arbeit
und den großen Sammlungen drohten, ist Koldewey geblieben, obgleich
die Ausgrabungen einstweilen nicht fortgesetzt werden. Nur einmal
mußten er und Buddensieg Babylon verlassen, als die britische Armee
den Dijala überschritt und nur einige Kilometer von Bagdad entfernt
stand. Um der Gefangenschaft zu entgehen, flüchteten sie nach Aleppo.
Sie kehrten jedoch bald zurück und fanden ihr Haus geplündert, aber
nicht von den Engländern, sondern von den benachbarten Arabern.
Diese hatten alles mitgenommen, was für sie von Wert war, Proviant,
Geschirr, Porzellan, Kochgefäße, Tischzeug und anderes. Der Verlust,
den die Deutsche Orient-Gesellschaft dadurch erlitt, betrug etwa
6000 Mark. Aber Koldewey nahm die Sache mit Humor und erzählte mir
lachend, die Araberfrauen in Kweiresch stolzierten jetzt in nagelneuen
weißen Kleidern umher, die aus deutschen -- Bett- und Tischtüchern
geschneidert seien. Die kostbaren Sammlungen, mit denen die Araber
nichts anzufangen wissen, hatten die Diebe unberührt gelassen.

Koldewey führte uns im Schatten der Palmen nach dem deutschen
Expeditionshaus, dessen starkes Tor für den Fall einer Belagerung mit
Riegeln, Balken und Eisenstangen verrammelt werden kann wie in einer
Festung. Es geht nach Norden; einen andern Eingang gibt es nicht.
Man gelangt zunächst in einen kurzen Korridor, an dessen Seiten die
Wachräume liegen; von hier aus führen Treppen nach dem Haus der Gäste,
wo auch wir einquartiert werden. Von einer zweistöckigen Galerie
gelangt man in die Zimmer. Alle Fenster haben Gitternetze von feinstem
Stahldraht, um Fliegen und Mücken fernzuhalten. Gegen Sandfliegen und
Moskitos bieten sie freilich keinen Schutz. Aber diese schlimmsten
Plagegeister der Gegend beginnen ihre Tätigkeit erst abends, wenn
man nicht zu Hause ist. Den Boden bedecken Strohmatten; die übrige
Einrichtung besteht aus einem gewaltigen Topf mit frischem Wasser und
einem kleineren mit Trinkwasser. Eine dritte Treppe geht auf das Dach;
hier steht eine Reihe primitiv gezimmerter Betten, die wir jedoch nicht
benutzten, da wir unsere eigenen mitgebracht hatten.

[Illustration:

  Phot.: Schölvinck.

Blick vom Haus der deutschen Archäologen auf die Ruinenhügel von
Babylon.]

Von dem mit einer Brustwehr versehenen Dach hat man über die Kronen
der größten Palmen hinweg eine großartige Aussicht. Im Süden und
Südsüdwesten breitet sich in unmittelbarer Nähe, in Gärten gebettet,
das Dorf Kweiresch aus. Im Nordnordosten erhebt sich in einer
Entfernung von 2½ Kilometer der Hügel Babil, im Osten ganz nahe der
Hügel Kasr, und im Südsüdosten, 1400 Meter entfernt, der Hügel Amran.
Zwischen Kasr und Amran, ja, man kann sagen, zwischen Babil und einem
Punkt 1 Kilometer südlich von Amran ist das ganze Gelände voller
Ruinen, die sich auch 4 Kilometer nach Osten erstrecken, wenn man alles
mitrechnet, was innerhalb der alten Stadtmauer liegt. Zwischen dem
deutschen Hause und dem Ausgrabungsfeld läuft die breite Landstraße
nach Hille.

Auf dem rechten Ufer des Schatt-el-Hille sieht man die kleinen
Araberdörfer Anane und Sindschar mit ihren Gärten und vor allem
zahllose Palmen, die zu einem einzigen Beet üppigen Grüns verschmelzen.
Durch die Mitte zieht der Fluß einen blitzenden, schwachgebogenen
Strich, und im Osten breitet sich in der Ferne die große Wüste, die am
Tage so glühend heiß ist, daß nur Araber barfuß über ihren Lehm und
Sand gehen können.

Wir steigen wieder hinab nach dem Gewölbe, wo die Gendarmen sich
aufhalten, und betreten den ersten Hof, wo einige Reitpferde stehen und
Diener ihre Arbeit verrichten. Dort liegen Schienen und Schwellen für
eine Feldbahn, die unter normalen Verhältnissen die Verbindung zwischen
dem Trümmerfeld und der Station herstellt und während der Grabungen
Schutt fortschafft.

Ein gewölbter Gang, an den Küche und Dienerzimmer stoßen, führt in den
innern Hof. Unter einem vorspringenden Dach linker Hand stehen Hunderte
von Kisten aufgetürmt, alle voll von Altertümern, die nach Deutschland
geschickt werden sollen. Ringsumher liegen mächtige Fragmente von
steinernen Menschengestalten, mit Keilschrift bedeckte Steinplatten,
Töpfe, Terrakottalampen, Ziegel und anderes, was noch nicht eingepackt
ist.

Den Hof verbindet eine Treppe mit den Arbeitsräumen der Archäologen.
Auch hier eine Galerie mit auf Säulen ruhender Decke. An den Seiten
stehen Regale und Tische mit kleinen Terrakottafiguren, Öllampen,
irdenen Gefäßen, Schalen mit und ohne Ornamentik, Fayencestücke
mit Gefäßscherben, kleine Pyramiden, Zylinder und Scheiben aus
gebranntem Lehm mit Keilschrift, Knochenwirbel von Menschen und Tieren,
quadratische Ziegelsteine mit königlichen Stempeln in verschiedener
Form und unzähliges andere. Es ist ein vollständiges Museum, das uns
einen Begriff gibt von dem hohen Stand der alten babylonischen Kultur.

Professor Koldewey führt uns dann nach der nächsten Höhe, nach Kasr,
wo Nebukadnezars Palast und Tempel standen. Durch einen langsam
ansteigenden Hohlweg zwischen Hügeln und Haufen von Schutt, Sand, Staub
und Ziegelsteinen gelangen wir bald auf den welligen Gipfel, vorüber an
einem gigantischen Basaltlöwen, der von hohem Sockel aus die Verwüstung
überblickt. An der Straße der Prozessionen bleiben wir stehen.

Um uns herum die schlafende Stadt, die die Forschung unserer Zeit
zu neuem Leben ruft. Von seinen Vorgängern nennt Koldewey: Rich,
der im Jahre 1811 eine Reise nach Babylon unternahm, Layard (1850),
den Verfasser des Buches „Ninive und Babylon“, Oppert (1852-54) und
Rassam (1878-79). So verdienstlich und bahnbrechend die Arbeiten der
englischen und französischen Archäologen auch sind, so können sie
sich doch an systematischer Genauigkeit und Gründlichkeit nicht mit
den deutschen Ausgrabungen messen, die auf Veranlassung der Deutschen
Orient-Gesellschaft am 26. März 1899 an der Ostseite von Kasr, nördlich
vom Ischtartor, begannen. Koldewey hatte den Platz schon 1887 und 1897
besucht und dabei Stücke emaillierter Ziegelreliefs gesammelt, die
der Anlaß zu dem Entschluß wurden, die Hauptstadt des babylonischen
Weltreichs auszugraben.

Man arbeitete das Jahr über täglich mit bis zu 250 Arbeitern, die 3-5
Piaster Tagelohn erhielten. Sie drangen auf breiter Front in die Tiefe;
Schutt und Erde wurden auf Feldbahnen fortgeschafft. Ziegelmauern kamen
zum Vorschein und wurden bloßgelegt. Die Arbeit war ungeheuer schwer,
da die Fundstücke mit einer 12, zuweilen 24 Meter tiefen Schicht von
Schutt und Bruchstücken überdeckt waren und die Festungsmauern 17-22
Meter dick sind. Als nach fünfzehnjähriger Arbeit die Ausgrabungen
durch den Weltkrieg unterbrochen wurden, hatten die deutschen Forscher,
wie sie versicherten, erst die Hälfte ihrer Aufgabe gelöst.




[Illustration: Der Turm zu Babel.]




Fünfzehntes Kapitel.

Bibel und Babel.


Die Funde der deutschen Archäologen lassen erkennen, daß Babylon schon
vor fünf Jahrtausenden bewohnt war. Die ältesten ausgegrabenen Ruinen
stammen aus der Zeit der ersten babylonischen Könige, etwa 2500 Jahre
v. Chr. Seitdem ist der Stadtplan mit seinen Straßen und Häuserblöcken
nur geringfügig verändert worden. In der Zeit, da die assyrischen
Könige auch über Babylon herrschten, stellten sie den berühmten
Tempel Esagila wieder her, der noch heute die gepflasterten Fußböden
Assarhaddons und Sardanapals zeigt. Sanherib pflasterte einige Teile
der Prozessionsstraße des Gottes Marduk, und auf der Kasrhöhe entdeckte
man Spuren von Sargons, Sardanapals und Nabopolassars Tätigkeit. Unter
Nebukadnezar begann der Neubau der ganzen Stadt und ihrer Tempel Emach,
Esagila, Etemenanki. Damals wurde die steinerne Brücke über den Euphrat
gebaut, wurden Kanäle angelegt, Burgen und Paläste errichtet. Auch die
gewaltigen Mauermassen des Ischtartors erhoben sich in der Form, in der
wir sie jetzt noch sehen.

Aus Naboned, der ebenfalls seinen Namen als Bauherr verewigt hat,
folgte das Zeitalter der persischen Könige (538–331), in dem das
Stadtbild gewisse Änderungen erfuhr und die Gestalt annahm, die
von Herodot und Ktesias der Nachwelt geschildert wurde. Alexander
von Mazedonien (331-323) wollte Babylon zu seinem alten Glanz erheben,
doch starb er, bevor er sein Vorhaben ausführen konnte. Die griechische
Epoche fällt zwischen die Jahre 331 und 139. Mit ihr begann der
Verfall. Von den monumentalen Gebäuden wurden Ziegel für Profanbauten
geplündert. Ebenso im parthischen Zeitalter (139 v. Chr.–226 n. Chr.).
Die Sassaniden beschleunigten den Untergang, und nur die südliche
Höhe Amran blieb noch bis ins arabische Zeitalter 1200 n. Chr.
bewohnt. Schon 115 n. Chr. fand der römische Kaiser Trajan die Stadt
in Trümmern. Doch waren noch später kleine jüdische und christliche
Gemeinden vorhanden, bis im zehnten oder elften Jahrhundert etwa
10 Kilometer südlicher Hille am Euphrat entstand und für seine
neuen Häuser Ziegel aus Babylons alten Burgen, Mauern und Palästen
forderte. Im Gegensatz zu Ninive, über dessen Trümmer Xenophon und die
Zehntausend zogen, ohne zu wissen, was sie bedeuteten, ist Babylon wohl
niemals ganz vergessen gewesen.

Welch eigenen, mächtigen Klang haben nicht all diese alten Namen in
unseren Ohren! Unsern Vorfahren, nur einige Geschlechter zurück,
klangen sie meist noch wie vage Begriffe, wie ein phantastisches Gewebe
von Sagen und Legenden. Jedem aber, der in der Schule oder daheim die
Bibel las, waren sie vertraut. Das ganze hebräische Altertum ist mit
Babylonien und Assyrien aufs engste verknüpft. Wir erinnern uns alle
aus unserer Kindheit der wunderbaren Welt, die ihre Lebenskraft aus den
Zwillingsflüssen schöpfte, denen Sirach das Buch vom Bunde des höchsten
Gottes vergleicht, wenn er von dem Gesetz spricht, „daraus die Weisheit
geflossen ist wie das Wasser Pison und wie das Wasser Tigris, wenn es
übergehet im Lenz; daraus der Verstand geflossen ist wie der Euphrat,
wenn er groß ist, und wie der Jordan in der Ernte.“

Nun steigt seit weniger als einem Jahrhundert diese alte Welt aufs neue
aus der Erde herauf und bestätigt in Keilschrift auf gebranntem Lehm
die Wahrheit der Bibelworte. Der südbabylonische Fundort El-Mugejir,
der 1849 von Sir Henry Rawlinson entdeckt wurde, ist nichts anderes
als Abrahams Heimat, die Stadt Ur, die im ersten Buch Moses erwähnt
wird, wo es von Abraham und seinen Verwandten heißt, daß sie von Ur
in Chaldäa zusammen ins Land Kanaan zogen. Im zweiten Buch der Könige
wird erzählt, daß „in König Hiskias 14. Jahre Sanherib heraufzog, der
König von Assyrien, wider alle festen Städte Judas und sie einnahm.
Da sandte Hiskia, der König Judas, zum Könige von Assyrien gen Lachis
und ließ ihm sagen: Ich habe mich versündiget, kehre um von mir; was
du mir auflegest, will ich tragen. Da legte der König von Assyrien auf
Hiskia, dem König Judas, dreihundert Zentner Silber und dreißig Zentner
Gold.“ In Sanheribs Palast in Ninive fand man ein in Stein gehauenes
Bild des Königs vor seinem Zelt mit einer Unterschrift, die in allem
Wesentlichen die Darstellung der Bibel von seinem Streit mit dem König
von Juda bestätigt. Was aber die Keilschrift nicht verrät, das sind die
goldenen Worte, die der König an den Gedemütigten richtete: „Meinst
du, es genügten Flausen allein, um Rat zu schaffen und die Macht zum
Kriegführen zu haben?“ In seinem berühmten Buch „Babel und Bibel“
(1903) beweist Professor Delitzsch die Zuverlässigkeit der biblischen
Urkunden, und der Geschichtsforscher Eduard Meyer sagt in seiner
„Geschichte des Altertums“ (1903): „Für die Zeit von 745 an kommen die
vollständig authentischen, aber sehr dürftigen und abgerissenen Angaben
im Alten Testament als ein wertvolles Plus zu den griechischen Quellen.“

Niemals habe ich die Bücher des Alten Testaments mit größerer
Aufmerksamkeit und wärmerem Interesse gelesen, als in den Tagen, da
ich die Ruinen von Babel, Assur und Ninive besuchte. Erzählungen, die
früher wie Sagen und Märchen klangen, werden hier zur Wirklichkeit.
Könige, deren Namen man bisher nur flüchtig kannte, Tiglat-Pileser,
Salmanassar, Sanherib, Nebukadnezar, ziehen nicht länger wie ein Zug
von Gespenstern vorüber, sondern nehmen leibhaftige Gestalt an. Einen
ähnlichen Eindruck von lebendiger Wirklichkeit hat man vielleicht
schon vor den babylonischen und assyrischen Altertümern des Britischen
Museums erhalten, vor der gewaltigen Statue des Assurnasirpal mit den
vornehmen Herrscherzügen und dem langen, geflochtenen assyrischen
Bart, oder vor dem Relief Assurbanipals, des Sardanapal der Griechen;
oder wenn man im Königlichen Museum zu Berlin das charakteristische
Profil des babylonischen Königs Mardukpaliddin bewunderte, des
Merodach-Baladan der Bibel, der auf einem Grenzstein aus dem Jahre 714
einem seiner Vertrauensleute die Statthalterschaft über bestimmte
Provinzen verleiht, oder angesichts des prächtigen, im Jahre 670 in
Dolerit ausgeführten Reliefs von Assarhaddon von Assyrien, wie er in
königlicher Pracht dasteht und zwei Riemen in der Hand hält, an die die
gefangenen Könige von Äthiopien und Tyrus gebunden sind.

Aber das Museum einer modernen Stadt wirkt doch weit schwächer als
das Land selbst, über dessen endlose Flächen die alten großen Könige
geherrscht, unvergleichlich schwächer als die Palastgemächer und
Thronsäle, wo sie Recht gesprochen und Vasallen und Gesandte empfangen
haben. Hier wohnten sie. Der Strom, in dessen langsam fließendem
Wasser Schlösser und Tempel ihre kubischen Formen spiegelten -- so
meisterhaft von Koldewey und Andrae rekonstruiert, so prachtvoll,
aber unwahrscheinlich wiedererweckt von Layard und Gustave Doré --
hat ehemals ihre Fahrzeuge getragen, und den Horizont, dessen Kreis
so gleichmäßig ist wie der des Meeres und jetzt ein Land verbrannter
Steppen und glühend heißer Wüsten umschließt -- nicht ein Paradies von
Oasen und Gärten, dicht wie die Flecke eines Pantherfells --, diesen
Horizont hat auch ihr Blick umfaßt, wenn sie bei Sonnenuntergang auf
den Zinnen ihrer Paläste wandelten. Welchen Klang gewinnen erst hier
die Worte Daniels über Nebukadnezar: „Als der König einmal auf dem
Dache der Königsburg zu Babel ging, hob er an und sprach: Siehe, das
ist die große Babel, die ich erbauet habe zum königlichen Hause durch
meine große Macht, zu Ehren meiner Herrlichkeit.“

Bereits im zehnten Kapitel der Genesis begegnen uns die uralten Namen
Babel und Ninive, Assyrien, Akkad und Sinear, von denen die beiden
letzten die Landstriche zwischen dem untern Tigris und dem Euphrat
bezeichnen. Dort steht von Nimrod, der anfing, „ein gewaltiger Herr
zu sein auf Erden, und war ein gewaltiger Jäger vor dem Herrn“, daß
„der Anfang seines Reichs war Babel, Erech, Akkad und Chalne im Lande
Sinear. Von dem Lande ist darnach gekommen der Assur und baute Ninive
...“ Und im elften Kapitel wird der Turm zu Babel erwähnt, „des Spitze
bis an den Himmel reicht“, und die Stadt, die den Namen Babel erhielt,
weil „der Herr daselbst verwirret hatte aller Länder Sprache, und sie
zerstreuet von dannen in alle Länder“.

In der Bibel ist Babel teils der Hauptsitz der das auserwählte Volk
Gottes befehdenden Weltmacht, teils auch eine Geißel in Gottes Hand
bei Bestrafung der ungehorsamen Israeliten. Die Verdammungsworte der
Propheten donnern wie schwere Hammerschläge sowohl gegen Babel, wie
gegen Juda. So sagt Jesaja: „Also soll Babel, das schönste unter den
Königreichen, die herrliche Pracht der Chaldäer, umgekehret werden von
Gott wie Sodom und Gomorra, daß man hinfort nicht mehr da wohne, noch
jemand da bleibe für und für, daß auch die Araber keine Hütten daselbst
machen, und die Hirten keine Hürden da aufschlagen, sondern Wüstentiere
werden sich da lagern, und ihre Häuser voll Eulen sein; und Strauße
werden da wohnen, und Feldmäuse werden da hüpfen, und wilde Hunde in
ihren Palästen heulen und Schakale in den luftigen Schlössern. Und ihre
Zeit wird bald kommen, und ihre Tage werden nicht säumen.“ Die aus der
Knechtschaft Befreiten aber sollen über Babel singen: „Wie ists mit
dem Dränger so gar aus, und der Zins hat ein Ende! ... Auch freuen
sich die Tannen über dir und die Zedern auf dem Libanon und sagen:
‚Weil du liegst, kommt niemand herauf, der uns abhaue‘ ... Und ich
will über sie kommen, spricht der Herr Zebaoth, und zu Babel ausrotten
ihr Gedächtnis, ihre Übriggebliebenen, Kind und Kindeskind, spricht
der Herr; und will Babel machen zum Erbe der Igel und zum Wassersumpf,
und will sie mit einem Besen des Verderbens kehren, spricht der Herr
Zebaoth ... Babel ist gefallen, sie ist gefallen und alle Bilder ihrer
Götter sind zu Boden geschlagen.“

In seiner Weissagung gegen die Assyrer und seiner Erzählung von
Sanheribs Fall sagt Jesaja: „Er soll nicht kommen in diese Stadt
(Jerusalem) und soll auch keinen Pfeil dahin schießen und mit keinem
Schild davor kommen und soll keinen Wall um sie schütten, sondern des
Weges, den er gekommen ist, soll er wieder heimkehren ... Da brach
der König von Assyrien, Sanherib auf, zog weg und kehrte wieder heim
zu Ninive.“ -- Als Merodach-Baladan, der König von Babel, an Hiskia
Gesandte mit Briefen und Geschenken schickte, zeigte dieser ihm alle
seine Schätze und Besitztümer. Da kam der Prophet Jesaja und fragte den
König, woher die Männer kämen. Dieser antwortete: „Sie kommen von ferne
zu mir, nämlich von Babel.“ Da sprach Jesaja: „Siehe, es kommt die
Zeit, da alles, was in deinem Haus ist und was deine Väter gesammelt
haben bis auf diesen Tag, wird gen Babel gebracht werden, daß nichts
bleiben wird, spricht der Herr. Dazu werden sie deine Kinder, die von
dir kommen werden und die du zeugen wirst, nehmen, daß sie müssen
Kämmerer sein am Hofe des Königs zu Babel.“ -- Und schließlich sagt
Jesaja über die Erniedrigung des stolzen Babel: „Herunter, Jungfrau, du
Tochter Babel, setze dich in den Staub! setze dich auf die Erde; denn
die Tochter der Chaldäer hat keinen Stuhl mehr. Man wird dich nicht
mehr nennen: ‚Du Zarte und Üppige‘ ... Setze dich in das Stille, gehe
in die Finsternis, du Tochter der Chaldäer, denn du sollst nicht mehr
heißen ‚Herrin über Königreiche‘.“

[Illustration: Die Mauermassen des Ischtartors.]

Nach Sanheribs Zug geriet das Reich Juda in Verfall und wurde eine
Beute des ägyptischen Königs. Als dieser, Pharao Necho, im Jahre 605
den Krieg gegen Nebukadnezar begann, wurde er bei Karkemisch (jetzt
Dscherablus) aufs Haupt geschlagen, und das Schicksal der Juden
verschlimmerte sich; sie wurden in die babylonische Gefangenschaft
geführt. Davon spricht der Prophet Jeremias immer und immer wieder in
derben, kraftvollen Worten, und davon singt der Psalmist in seinem
wehmütigen Lied: „An den Wassern zu Babel saßen wir und weinten, wenn
wir an Zion dachten. Unsere Harfen hingen wir an die Weiden, die
daselbst sind; denn dort hießen uns singen, die uns gefangen hielten,
und in unserem Heulen fröhlich sein: Singt uns ein Lied von Zion. Wie
sollten wir des Herrn Lied singen in fremden Landen? ... Du verstörte
Tochter Babel, wohl dem, der dir vergilt, wie du es getan hast! Wohl
dem, der deine jungen Kinder nimmt und zerschmettert sie an dem Stein.“

Und Jeremias sagt zu den Weggeschleppten: „In das Land Zion, da sie
von Herzen gern wieder hin wären, sollen sie nicht wieder kommen.“
-- „Darum, so spricht der Herr Zebaoth, weil ihr denn meine Worte
nicht hören wollt, siehe, so will ich ausschicken und kommen lassen
alle Völker gegen Mitternacht, spricht der Herr, auch meinen Knecht
Nebukadnezar, den König zu Babel, und will sie bringen über dies
Land und über die, so darin wohnen, und über alle diese Völker, so
umherliegen, und will sie verbannen und verstören und zum Spott und
zur ewigen Wüste machen. Und will herausnehmen allen frohen Gesang,
die Stimme der Mühle und das Licht der Lampe, daß dies ganze Land
wüst und zerstöret liegen soll. Und sollen diese Völker dem Könige
zu Babel dienen siebzig Jahre. Wenn aber die siebzig Jahre um sind,
will ich den König zu Babel heimsuchen um dies Volk, spricht der Herr,
um ihre Missetat, dazu das Land der Chaldäer, und will es zur ewigen
Wüste machen. -- Darum so gehorchet nicht euren Propheten, Weissagern,
Traumdeutern, Tagewählern und Zauberern, die euch sagen: Ihr werdet
nicht dienen müssen dem König zu Babel. Denn sie weissagen euch falsch,
auf daß sie euch fern aus eurem Lande bringen und ich euch ausstoße und
ihr umkommt.“

Jeremias ermahnt die Fortziehenden, sich des Weges zu erinnern, den sie
gegangen sind: „Richte dir Denkmale auf, setze dir Zeichen und richte
dein Herz auf die gebahnte Straße, darauf du gewandelt hast; kehre
wieder, Jungfrau Israel, kehre dich wieder zu diesen deinen Städten ...
Gedenket des Herrn im fernen Lande und lasset euch Jerusalem im Herzen
sein!“

Die siebzig Jahre gingen zu Ende, 605-536. Da befahl König Cyrus von
Persien den Gefangenen, heimzureisen und für das Haus des Herrn die
Gefäße mitzunehmen, die Nebukadnezar aus der heiligen Stadt fortgeführt
hatte. Sie wanderten in zerstreuten Haufen aus, ihr erster Führer war
Serubbabel. Im siebenten Regierungsjahr Artasastas zog Esra von Babel
nach Jerusalem, und mit ihm die Priester, Leviten, Sänger, Türhüter und
Tempeldiener. --

Wie buchstäblich haben sich die Voraussagen der Propheten von der
Zerstörung der großen Stadt erfüllt! Die Wüste ringsum wirkt weniger
öde als diese Schutthaufen und diese trostlosen, kahlen Mauern. Denn
von der Wüste erwartet man nichts, die Ruinen aber sprechen von
vergangener Größe und erloschenem Glanz. Die gewaltigen Mauermassen
des hohen Ischtartors stehen nackt, nachdem das Feuer die Dächer
und Paneele aus Zedernholz vernichtet hat. Nicht einmal Beduinen
errichten hier ihre Zelte, nur Schakale sah ich sogar am Tage aus
ihren Schlupfwinkeln hervorschleichen. Welch erschütternde Wahrheit
also verkünden die an Jesaja erinnernden Worte des Propheten Jeremias:
„Darum sollen Wüstentiere und wilde Hunde darin wohnen und die jungen
Strauße und es soll nimmermehr bewohnet werden und niemand darin
hausen für und für. Gleich wie Gott Sodom und Gomorra samt ihren
Nachbarn umgekehrt hat, spricht der Herr, daß niemand darin wohne,
noch ein Mensch darin hause ... Und Babel soll zum Steinhaufen und
zur Wohnung der Schakale werden, zum Wunder und zum Anpfeifen ...
Die Mauern der großen Babel sollen untergraben, und ihre hohen Tore
mit Feuer angesteckt werden, daß der Heiden Arbeit verloren sei, und
verbrannt werde, was die Völker mit Mühe erbauet haben.“

Der weitaus größte Teil der von den deutschen Archäologen ausgegrabenen
Ruinen stammt aus Nebukadnezars Zeit. Der Sohn des Gründers des
babylonischen und chaldäischen Reiches, Nebukadnezar, regierte
dreiundvierzig Jahre (604-561) und war einer der größten und
glücklichsten Könige des Altertums. Er erweiterte die Grenzen des
Landes und verlieh der Stadt Babylon unerreichten Glanz. Historische
Keilschrifturkunden aus seiner Zeit sind äußerst selten, dagegen gibt
es zahlreiche Bauurkunden, oft mit Gebeten an Marduk, sowie zahllose
Stempel auf Ziegelsteinen.

Auch in der Bibel begegnen wir seinem Namen öfter als dem irgendeines
andern Königs von Assyrien und Babylonien, da er es war, der so
verhängnisvoll in die Geschichte Israels eingriff, indem er die
Blüte des jüdischen Volkes in das Land der Gefangenschaft schleppte.
Schon als Thronerbe eroberte er Jerusalem, und 586, als er auch alle
Festungen in Juda eingenommen hatte, zerstörte er die Stadt zum zweiten
Male. „Und Zedekia ward abtrünnig vom König zu Babel,“ heißt es im
zweiten Buch der Könige. „Da kam Nebukadnezar, der König zu Babel, mit
aller seiner Macht wider Jerusalem; und sie lagerten sich dawider und
bauten Bollwerke darum her.“ Jerusalem erlag der Hungersnot. „Da brach
man in die Stadt; und alle Kriegsmänner flohen bei Nacht auf dem Weg
durch das Tor zwischen den zwei Mauern.“ Im zweiten Buch der Chronik
wird erzählt, wie Nebukadnezar gegen Jojakim in Jerusalem heraufzog
„und band ihn mit Ketten, daß er ihn gen Babel führte. Auch brachte
Nebukadnezar etliche Gefäße des Hauses des Herrn gen Babel und tat sie
in seinen Tempel zu Babel.“ Daniel, einer von den jungen Edlen, die
in die Gefangenschaft geschleppt wurden, berichtet von Nebukadnezars
Götzendienst und der Verehrung, die er trotzdem der Macht des höchsten
Gottes erwies, von den Träumen des Königs von den vier Weltreichen und
dem abgehauenen Baum, von den drei Männern im brennenden Ofen und ihrer
wunderbaren Rettung.

Hesekiel bietet eine prächtige Schilderung von Nebukadnezars Belagerung
von Tyrus, der Stadt, „die Kronen verteilt, deren Kaufleute Fürsten
sind und deren Krämer die herrlichsten auf Erden sind“, der Stadt,
die „Silber anhäuft wie Staub und Gold wie Dreck auf den Straßen“.
„Siehe, ich will über Tyrus kommen lassen Nebukadnezar, den König zu
Babel, von Mitternacht her, der ein König aller Könige ist, mit Rossen,
Wagen, Reitern und mit großem Haufen Volks.“ Um Tyrus wurde eine
Belagerungsmauer gezogen, ein Wall aufgeschüttet und ein Schilddach
gegen die Stadtmauer errichtet. Sturmböcke berannten die Mauern, und
mit andern Kriegswerkzeugen wurden die Türme der Stadt umgerissen. Der
König rückte mit so viel Pferden an, daß der von ihnen aufgewirbelte
Staub die Stadt einhüllte und vom donnernden Lärm der Reiter, Räder und
Wagen die Mauern erzitterten.

Wunderlich klingen in diesen Tagen, wo ein anderes Weltreich über dem
Meer in seinem Lebensnerv bedroht wird, die Worte des Propheten, wenn
er Tyrus, dieses weitberühmte Bollwerk des Phöniziers, „das da liegt
vorn am Meer und mit vielen Inseln der Völker Handel treibt,“ mit
einem gescheiterten Schiff vergleicht. „Dein Segel war von gestickter,
köstlicher Leinwand aus Ägypten, daß es dein Panier wäre ... Alle
Schiffe im Meer und ihre Schiffsleute fand man bei dir, die hatten
ihren Handel in dir. Die aus Persien, Lydien und Libyen waren dein
Kriegsvolk, die ihre Schilde und Helme in dir aufhingen, und haben dich
so schön geschmückt ... Tharsis hat mit dir seinen Handel gehabt und
allerlei Ware, Silber, Eisen, Zinn und Blei auf deine Märkte gebracht
... Also bist du sehr reich und prächtig geworden mitten im Meer. Deine
Ruderer haben dich auf große Wasser geführt; aber ein Ostwind wird dich
mitten auf dem Meer zerbrechen ... Auch die Anfurten werden erbeben vor
dem Geschrei deiner Schiffsherren, und alle, die an den Rudern ziehen,
samt den Schiffsknechten und Meistern werden aus ihren Schiffen ans
Land treten und laut über dich schreien, bitterlich klagen und werden
Staub auf ihre Häupter werfen und sich in der Asche wälzen ... Es
werden auch ihre Kinder über dich wehklagen: ‚Ach, wer ist jemals auf
dem Meer so still geworden wie du, Tyrus‘ ... Du warst ohne Tadel in
deinem Tun von dem Tage an, da du geschaffen wurdest, bis sich deine
Missetat gefunden hat. Denn du bist inwendig voll Frevel geworden vor
deiner großen Hantierung und hast dich versündigt. Darum will ich dich
entheiligen von dem Berge Gottes und will dich ausgebreiteten Cherub
aus den feurigen Steinen verstoßen.“

Nach dem dreizehnten Jahr gab aber Nebukadnezar die Belagerung auf und
schloß 576 mit Ithobaal von Tyrus ein Bündnis. Hesekiel berichtet in
seinem 29. Kapitel, daß er sich dafür in Ägypten entschädigte.

Auch in den apokryphischen Büchern begegnet uns oft der Name des großen
Königs, der das Buch Judith eröffnet: „Nebukadnezar, der König von
Assyrien, regierte in der großen Stadt Ninive ...“ „Da die Länder im
Westen sich weigerten, seinen Befehlen zu gehorchen, schickte er nach
seinem Oberfeldherrn Holofernes, der in seinem Reiche der nächste
war nach ihm selbst, und sagte zu ihm: ‚So spricht der große König,
der Herr der ganzen Welt, du sollst von hier ausziehen und mit dir
Mannschaft nehmen, die auf seine Stärke vertraut, an Fußvolk bis zu
120000 Mann und eine Menge Pferde mit ihren Reitern, 12000, und du
sollst wider alle Reiche im Westen ziehen, deswegen, weil sie meinem
Befehl nicht gehorcht haben.‘“

Natürlich ist diese Schilderung gewaltig übertrieben. Die Babylonier
bildeten keine Massenheere und konnten keine bilden. Aber die
Wirklichkeit war gewiß imposant. Die verschiedenen Abteilungen, teils
Truppen, die aus kriegerischen Stämmen innerhalb und außerhalb des
großen Reiches geworben waren, teils Bogenschützen zu Pferde, eine
Spezialität des Orients, wurden von Assurs Fürsten und Feldherrn
geführt. Für den Train wurden Kamele, Esel und Maulesel benutzt, „und
eine zahllose Schar von Schafen, Rindern und Ziegen für ihren Unterhalt
und Getreide in Menge für jeden Mann und viel Gold und Silber aus des
Königs Kammer mitgeführt.“

Und Holofernes brach vor dem König Nebukadnezar von Ninive auf „mit
den Wagen und Reitern seines Heeres ..., überschritt den Euphrat und
verließ damit Mesopotamien und nahm die Gebiete Ciliciens ein.“ Man
braucht keine große Phantasie zu haben, um sich ein Bild zu machen
von dem Zug dieser bunten Scharen über die öden Flächen am Fuße des
persischen Zagros und des armenischen Taurus. Langsam windet sich der
Zug von Wasserlauf zu Wasserlauf. Er hat keine Ähnlichkeit mit einer
modernen Marschkolonne, die Ordnung ist im Gegenteil ganz „zerstreut“.
Die babylonischen Krieger marschierten nicht in Verbänden, wie
später Mazedonier und Römer; sie gingen in losen Scharen; die Herren
hatten, gleich den Griechen, ihre Sklaven bei sich, die ihnen die
Waffen trugen. Aber der Staub, der von der Menge aufstieg, war nicht
minder dicht und zog wie ein weißgrauer Schleier über die Ebene hin.
Die Streitwagen rasselten, die Rosse stampften, auf schnellfüßigen
arabischen Pferden sprengten die Bogenschützen einher, die Pfeilköcher
auf dem Rücken, und die Waffen und die prachtvoll mit Gold und Silber
geschmückten Wagen der Männer von Assur blitzten in der Sonne. Unter
Lärm und Gesang bewegten sich die Scharen und die unübersehbaren Herden
Schlachtvieh vorwärts und zertrampelten das Gras der Steppe. Über
die Landgebiete Japhets zog Holofernes „nach Damaskus zur Zeit der
Weizenernte“ und weiter bis in die Nähe von Bethulia in Judäa, wo er
nach der Sage durch sein eigenes Schwert fiel, das Judiths Hand führte.

Das Buch Baruch erzählt unter anderm von dem Schreiben, das die
Juden in Babylonien aufsetzten und mit Geld an ihre Stammverwandten
in Palästina schickten. Mochten sich auch die Gefangenen unter den
Weidenbäumen am Flusse Babel nicht sonderlich wohlfühlen, der Ton
ihres Briefes verrät jedenfalls, daß sie Furcht vor der königlichen
Zensur hatten: „Siehe, wir senden euch Geld, dafür kauft Brandopfer
und Sündopfer, Weihrauch und Speiseopfer und opfert es auf dem Altar
des Herrn, unsers Gottes. Und bittet für das Leben Nebukadnezars, des
Königs zu Babel, und das Leben Belsazars, seines Sohnes, daß ihre Tage
auf Erden seien, solange die Tage des Himmels währen. So wird der
Herr uns genug und gute Tage schaffen, und wir werden leben unter dem
Schatten Nebukadnezars, des Königs zu Babel, und unter dem Schatten
Belsazars, und ihnen dienen lange Zeit und Gnade vor ihnen finden.“

Von der Göttersage der Babylonier sei hier nur gesagt, daß sie unter
dem Schutz vieler übernatürlichen Mächte zu stehen glaubten. Von ihren
Göttern finden wir ein paar in der Bibel wieder: Bel und Merodach
oder Marduk. Ischtar war eine Göttin; die hohen Tore ihres Tempels
stehen noch heute. Ihre im Tempel aufgestellten Bildsäulen waren
vergoldet und mit Edelsteinen und kostbaren Gewändern geschmückt. Als
Sadrak, Mesak und Abed-Nego sich weigerten, „niederzufallen und das
goldene Bild anzubeten, das König Nebukadnezar hatte setzen lassen“,
wurden sie in den feurigen Ofen geworfen, und als Daniel an seinem
heimischen Gottesdienst festhielt, warf man ihn in die Löwengrube. Zu
den apokryphen Büchern gehört der Brief, den Jeremias „denen schickte,
die vom König der Babylonier in die Gefangenschaft geschleppt werden
sollten“, und in dem er auf ganz prächtige Art sie vor den Götzen aus
Gold und Holz warnt, die „sich nicht gegen Rost und Würmer schützen
können, trotzdem sie in purpurne Kleider gehüllt sind“. -- „Sie zünden
ihre Lampen an, sogar mehr als für sich selbst, und doch können die
Götzen nicht einen einzigen von ihnen sehen. Ihre Gesichter sind
geschwärzt vom Rauch in den Tempeln, Fledermäuse, Schwalben und andre
Vögel kommen geflogen und setzen sich auf ihre Leiber und Köpfe, ja
sogar Katzen kommen und setzen sich auf sie.“ Die Opfer werden den
Priestern überwiesen, deren Frauen das Opferfleisch einsalzen. In
den Tempeln „sitzen die Priester mit zerrissenen Kleidern und mit
geschorenem Haar und Bart und entblößen die Köpfe und heulen und rufen
vor ihren Götzen, wie manche beim Leichenschmaus tun.“ Die Götzen
können keinen König in einem Land einsetzen, „sie sind wie die Krähen,
die zwischen Himmel und Erde fliegen, sie sind wie Vogelscheuchen auf
einem Gurkenfeld.“

Im Anhang zum Buche Daniel, der mit den wohlbekannten Worten beginnt:
„Es war ein Mann zu Babylon mit Namen Jojakim, der hatte ein Weib, die
hieß Susanna“, befindet sich die gelungene Erzählung, wie Daniel die
Priester Bels ertappte und ihren Götzen und seinen Tempel verhöhnte.
„Es war auch ein großer Drache daselbst, den sie zu Babel anbeteten.“
Wir werden ihm noch begegnen, denn er spielt in der babylonischen Kunst
eine Rolle.




[Illustration:

  Phot.: Koldewey.

Der „Sirrusch“, der „Drache von Babylon“ oder die gehende Schlange.]




Sechzehntes Kapitel.

Die Ruinen Babylons.


Was bisher von dem babylonischen Trümmerfeld auf dem linken, östlichen
Euphratufer ausgegraben werden konnte, bildet ein Dreieck, dessen
Spitzen nach Norden, Osten und Süden gerichtet sind, und dessen
Westseite sich an den Euphrat lehnt. Seine Nordspitze umschließt den
Hügel Babil, die Südspitze den Hügel Amran; die Mitte der Westseite am
Euphrat bildet der Hügel Kasr. Jenseits, auf dem rechten Euphratufer,
ist noch kein Spatenstich geschehen, doch wird sich dort ein ähnliches
Geländedreieck voller Ruinen finden, wenn Herodot damit Recht hat, daß
Babylon quadratisch angelegt gewesen sei und der Euphrat die Stadt
mitten durchschnitten habe.

Dieses gewissermaßen auf der Südspitze stehende Quadrat war
von der äußeren Stadtmauer umschlossen, deren Länge die alten
Geschichtschreiber Herodot und Ktesias auf 86 bzw. 65 Kilometer
angeben; in Wirklichkeit betrug sie nur etwa 18 Kilometer. Die durch
Ausgrabungen freigelegte Nordostseite mißt 4,4 Kilometer; die
Südostseite jedenfalls ebensoviel. Gleichwohl war Babylon die größte
Stadt des antiken Orients, auch Ninive nicht ausgenommen, das zu
Herodots Zeiten schon vom Erdboden verschwunden war.

Richtiger sind die Angaben der griechischen Schriftsteller über die
sonstige Anlage der Mauer, die eine dreifache Befestigung darstellte:
zuerst eine 7 Meter dicke Mauer aus Lehmziegeln; 12 Meter vor und
parallel mit ihr eine 7,80 Meter dicke Mauer aus gebrannten Ziegeln,
und vor dieser noch eine Grabenmauer von 3,30 Meter Dicke. Vor
letzterer lag jedenfalls der Graben mit seiner Kontereskarpe. Die
Ziegel der Grabenmauer messen 33 Zentimeter im Quadrat -- das übliche
Ziegelmaß in Babylonien -- und tragen den Stempel Nebukadnezars.
Die 12 Meter breite Gasse zwischen den beiden ersten Mauern war,
jedenfalls bis zur Krone der Ziegelmauer, mit Erdreich ausgefüllt.
Dies ist der Fahrdamm, der auf die klassischen Schriftsteller einen
so tiefen Eindruck machte, weil er so breit war, daß ein Viergespann
darauf umwenden konnte. Diese Breite der Mauerkrone war militärisch
von größtem Vorteil; sie ermöglichte schnellste Truppenbewegung bei
Verteidigung der Festung. In Abständen von ungefähr 50 Metern wurden
beide Mauern von 330 Türmen überragt. Die Höhe dieses gewaltigen
Festungspanzers ist unbekannt, da ja nur seine Fundamente und oft nicht
einmal diese erhalten sind; nach Herodot betrug sie 200, nach Strabo
nur 50 Ellen.

Nebukadnezar war es, der die Stadt in eine Festung verwandelte.
In einer seiner Inschriften spricht er von dieser Mauer, von dem
gewaltigen Graben davor und von den aus Zedernholz gefertigten, mit
Kupfer überzogenen Türflügeln in den Mauertoren. Später verlor Babylon
den Festungscharakter; in der parthischen Zeit benutzte man die Mauer
als Grabgewölbe, wie aufgefundene Sarkophage beweisen.

[Illustration: Professor Koldewey beim Vortrag auf den Ruinen Babylons.]

Inmitten dieses, durch die beiden Seiten der alten Stadtmauer und
den Euphrat bezeichneten Dreiecks liegt nun eine Welt von Erd- und
Schutthaufen, von Mauer- und Burgresten, die meinem Reisekameraden und
mir ein rätselhaftes Durcheinander geblieben wäre, hätte uns nicht
Professor Koldewey mit unermüdlicher Ausdauer, unter seiner schwarzen
Lammfellmütze des glühenden Sonnenbrandes nicht achtend, drei Tage
lang umhergeführt und Licht in dieses Dunkel der Gräben und Schächte
gebracht. Unter seinem Zauberstab erwachte uns Babylon zu neuem Leben.
Die Steine erhielten Sprache, die breite Straße der Prozessionen
bevölkerte sich mit Babyloniern. Er wußte Episoden aus den alten
Schriften, z. B. Daniels Besuch am Hofe Nebukadnezars, einzuflechten,
als wenn er selbst zugegen gewesen wäre, und so lebendig, packend
und anschaulich, daß man den großen König in seiner majestätischen
Pracht vor sich zu sehen glaubte. -- Die großen, flachen Ziegelsteine,
von der Sonne so erhitzt, daß man sie nicht anfassen kann, liegen ja
noch genau so da wie vor 2500 Jahren, als Nebukadnezar und Daniel
darüber wandelten. Keines Menschen Blick ist seit jener Zeit auf diese
Inschriften gefallen, die nach so langem Schweigen heute unmittelbar
zum Forscher reden, und nichts erscheint mir begreiflicher als die
inbrünstige Ehrfurcht, mit der ein Mann der Wissenschaft wie Professor
Koldewey jedes neue Geschichtsblatt dieser Art, das er mit Spaten oder
Brechstange dem Erdboden entringt, zur Hand nimmt.

Was ich von diesem dreitägigen Vortrag Koldeweys, dem fesselndsten, den
ich je in meinem Leben hörte, behalten habe und aus den Schriften der
deutschen Archäologen, besonders aus seinem eigenen klassischen Werke
„Das wiedererstehende Babylon“ ergänzen durfte, sei hier in einigen
Umrissen wiedergegeben.

Wie schon erwähnt, stammt der weitaus größte Teil der bisher
ausgegrabenen Ruinen aus Nebukadnezars Zeit. Seinen Namen nennen
Millionen Ziegelstempel, die sich vor allem in den Ruinen des Hügels
Kasr gefunden haben. Denn hier erhob sich sein Königspalast, den er
während seiner ganzen Regierungszeit erweiterte und verschönerte.

[Illustration: Blick auf das Ischtartor (von Norden).]

Von der Nordostecke des Kasr-Hügels aus legte er für den Gott Marduk
die Prachtstraße der Prozessionen an, die durch das Ischtartor nach
Süden bis zu Marduks Tempel Esagila führte. Sie war in der Mitte mit
quadratischen Kalksteinplatten von 1,05 Meter Seitenlänge, rechts und
links davon mit Brecciaplatten von 0,66 Meter Seitenlänge gepflastert.
Der Kalkstein wurde jedenfalls von Hit und Ana auf Kähnen herangeführt.
Jede Platte trägt an der Seite die Inschrift: „Nebukadnezar, König
von Babylon, Sohn Nabopolassars, Königs von Babylon, bin ich. Die
Babelstraße habe ich für die Prozession des großen Herrn Marduk
mit Schadu-(Gebirgs-)Steinplatten gepflastert. Marduk, Herr, schenke
ewiges Leben!“ Die Oberflächen der Steine sind glatt und blank; viele
weiche Sandalen und nackte Fußsohlen sind darüber hingegangen. Die
Unterlage der Pflasterung war eine Asphaltschicht, die, soweit die
Steine fehlen, jahraus jahrein der glühenden Sonne ausgesetzt ist, ohne
an Härte einzubüßen; mit ihr hat man vor zweieinhalb Jahrtausenden den
Ziegelbelag darunter vergossen.

Die Straße der Prozessionen liegt 12,5 Meter über dem Nullpunkt,
dem mittleren Niveau des Grundwassers, und steigt zum Ischtartore
sanft an; man hat von ihr aus einen herrlichen Überblick über das
ganze Trümmerfeld. Zu Nebukadnezars Zeit aber war sie rechts und
links durch hohe, 7 Meter dicke, von Türmen überragte Festungsmauern
geschlossen, die mit prachtvollen Löwen aus Emaille geschmückt waren.
Scherben davon hat man zusammenfügen können. Es waren im ganzen
120 solcher Relieflöwen, jeder 2 Meter lang, meist gelb auf blauem
Grund. Vor Beginn der deutschen Ausgrabungen kannte man keine Plastik
aus der Regierungszeit des großen Königs; jetzt hat man den ganzen
Schmelzvorgang dieser Emaille ergründet. Die Ziegel wurden in Formen
gegossen, und jeder trug einen kleinen Teil des Reliefbildes, das sich
mosaikartig zusammensetzte. Die Festungsmauer war aus Ziegeln erbaut;
über jeder Ziegelschicht lag eine dünne Schicht Asphalt und darauf
eine ebenso dünne Schicht Lehm. Bei jeder fünften Schicht ersetzte
den Lehm eine Matte aus geflochtenem Schilf; diese ist mit der Zeit
verrottet, hat aber Abdrücke in dem Asphalt hinterlassen; man sieht
deutlich, wie die Schilfstengel durch Klopfen gespalten und wie Bänder
zusammengeflochten sind. Matten dieser Art werden noch heute von den
Beduinen angefertigt.

Über dem Schutt erhebt die Fassade des Ischtartores ihre 12 Meter
hohen, gigantischen Mauerblöcke. Sie ist die größte und interessanteste
Ruine Babyloniens, ja ganz Mesopotamiens und bestand aus zwei
dicht hintereinander liegenden Torgebäuden. Ihre Architektur ist
vornehm einfach, sie zeigt nur wage- und senkrechte Linien. Wie
der Überbau dieser ungeheuer starken Mauerpfeiler ausgesehen hat,
weiß man nicht. Die Torhöfe hatte Nebukadnezar, wie eine Inschrift
sagt, mit „gewaltigen Stierkolossen aus Bronze und den mächtigen
Schlangenbildern“ auf Sockeln schmücken lassen, und die Wände des
Baues waren mit Reliefbildern von Stieren und Drachen (Sirrusch)
bedeckt. 152 von den wahrscheinlich 575 Reliefs sind ausgegraben. Sie
stehen in Reihen übereinander, jede Tierart stets für sich.

[Illustration: Stiere und Drachen des Ischtartors.]

Man staunt über die künstlerische Vollendung dieser Tiergestalten.
Nur eine hochentwickelte Kunstauffassung konnte eine Form wie die
des weitberühmten „Drachen von Babel“ oder der „gehenden Schlange“
erfinden. Das Schuppenkleid, die Bauchringe des Körpers, der Kopf mit
der gespaltenen Zunge und die beiden gerade emporstehenden Hörner, von
denen in der genauen Profilstellung des Reliefs nur eines sichtbar ist,
sind, wie Koldewey ausführt, offenbar der in Arabien häufigen Hornviper
nachgebildet. Die Beine sind die einer hochläufigen Katzenart, die
Hinterfüße aber mit ihren mächtigen Klauen und großen Hornplatten sind
einem starken Raubvogel entlehnt. Das Auffallendste ist, daß das Tier
zugleich Schuppen und Haare hat. „Diese gleichzeitige Ausstattung mit
Schuppen und Haaren,“ sagt Koldewey, „sowie die starke Differenzierung
der Vorder- und Hinterextremitäten ist sehr charakteristisch für die
vorweltlichen Dinosaurier; auch die Kleinheit des Kopfes im Verhältnis
zum Gesamtkörper, die Haltung und die übermäßige Länge des Halses
entspricht durchaus dem Habitus jener ausgestorbenen Eidechsenart.
Es weht ein förmlich selbstschöpferischer Geist in diesem uralten
Kunstgebilde, das an Einheitlichkeit des physiologischen Gedankens alle
übrigen Phantasietiere weit übertrifft. Wenn nur die Vorderbeine nicht
so bestimmt ausgeprägten Katzencharakter trügen, so könnte ein solches
Tier gelebt haben. Die Hinterfüße sind auch bei lebenden Eidechsen
denen der Vogelfüße oft sehr ähnlich.“

Dieser Drache, der auf den Kunstgebilden jener Zeit, auf Siegeln,
Grenzsteinen usw., häufig wiederkehrt, war den Göttern Marduk und
Nabo heilig. Der erstere war zu Nebukadnezars Zeit Gegenstand
außerordentlicher Verehrung; ihm gehörte der größte Tempel Babylons,
Esagila, ihm weihte Nebukadnezar auch die Prozessionsstraße und
selbst das Ischtartor, das Haupttor von Babylon, das mit dem Tier der
Göttin Ischtar (Astarte), dem Löwen, geschmückt ist, einem in der
babylonischen Kunst aller Zeiten sehr beliebten Motiv. Der Stier galt
als das heilige Tier des Wettergottes Ramman.

Die Prozessionsstraße, der Hauptverkehrsweg der Stadt und eine der
großartigsten Straßen, die es auf Erden gegeben hat, erstreckte sich
nach Süden über Dämme, Kanäle und einen später gebildeten Arm des
Euphrat fort und führte östlich um Etemenanki, den Turm von Babel,
herum zum Tempel Esagila. Auch in der südlichen Fortsetzung sind noch
die schweren Kalksteinplatten Nebukadnezars vorhanden, auf denen
Daniel und Darius wandelten und auf die der Schein der Erdpechfackeln
fiel, die neben Alexanders des Großen Wagen hergetragen wurden. Noch
weiter südlich scheinen sie in griechischer und parthischer Zeit zu
Kugeln für Wurfmaschinen, die damaligen Kanonen, verarbeitet worden
zu sein. Die größten haben einen Durchmesser von 27,5 Zentimeter.
Die Steinplatten im Süden tragen dieselbe Inschrift wie die auf
Kasr; einige nennen aber auch Sanheribs Namen (705-681 v. Chr.), der
ebenfalls die Stadt verschönte, sie aber dann völlig zerstörte und
in Ninive residierte. Nebukadnezar sagt davon nichts; er nennt nur
seinen Vater Nabopolassar. Die Inschrift eines Ziegelsteins, der aber
nicht in seiner ursprünglichen Lage gefunden wurde, sagt von der
Prozessionsstraße: „Nebukadnezar, König von Babylon, der Ausstatter von
Esagila und Esida, der Sohn Nabopolassars, des Königs von Babylon.
Die Straße Babylons, die Prozessionsstraßen Nabos und Marduks, meiner
Herren, die Nabopolassar, der König von Babylon, der Vater, mein
Erzeuger, mit Asphalt und gebrannten Ziegeln glänzend gemacht hat als
Weg: ich, der Weise, der Beter, der ihre Herrlichkeit fürchtet, füllte
über dem Asphalt und den gebrannten Ziegeln eine mächtige Auffüllung
aus glänzendem Staub, befestigte ihr Inneres mit Asphalt und gebrannten
Ziegeln wie eine hochgelegene Straße. Nabo und Marduk, bei eurem frohen
Wandeln in diesen Straßen -- Wohltaten für mich mögen ruhen auf euren
Lippen, ein Leben ferner Tage, Wohlbefinden des Leibes. Vor euch will
ich auf ihnen (?) wandeln (?). Ich möchte alt werden für ewig.“

Durchschreitet man das Ischtartor nach Süden, so liegt zur Linken
der Tempel der Ninmach, der „großen Mutter“. Seine Mauern waren mit
Toren und Türmen versehen und mit weißem Putz bedeckt, so daß sie wie
Marmorwände aussahen. Durch Portal und Vorhalle gelangt man auf den
offenen Tempelhof und von da in die Gemächer selbst. Der ganze Bau war
stark wie eine Festung, die von den Priestern verteidigt werden konnte.
In den Vorraum hatte auch das profane Volk Zutritt. In einem Nebenraum
fand sich Sardanapals Gründungszylinder, auf dem man unter anderem
liest: „Zu eben jener Zeit ließ ich Emach, den Tempel der Göttin
Ninmach in Babel, neu machen.“

Über die Verwendung der verschiedenen Räume und den Kult des
Gotteshauses ist wenig bekannt. Gewisse Eigenschaften sind allen vier
vollständigen Tempeln Babylons gemeinsam; sie haben eine Turmfront,
eine Vorhalle, einen Hof und eine Zella mit einem Postament in
einer flachen Wandnische. Einige Seitengemächer dienten jedenfalls
zur Aufbewahrung kultlicher Gegenstände, andere zum Aufenthalt der
Tempeldiener und Pförtner. Lange, schmale Gänge zeigen wahrscheinlich
die Plätze an, wo Treppen auf das flache Dach hinaufführten.

In den Ruinen dieses Tempels fanden sich Massen von Terrakottabildern,
die Hausgötzen gewesen zu sein scheinen. Sie sind nur 12 Zentimeter
hoch, stellen meist eine stehende Frau dar mit auf babylonische Art
gefalteten Händen und geben einen Begriff von den großen Götterbildern
Babylons, von denen Herodot erzählt.

In diesem Tempel der Ninmach hat, wie Koldewey in seiner Schrift „Die
Tempel von Babylon und Borsippa“ (Leipzig 1911) annimmt, Alexander der
Große seine täglichen Opfer dargebracht, auch während seiner letzten
Krankheit, und die Erinnerung an ihn wird angesichts dieser Trümmer
lebendig.

Ein alter römischer Geschichtschreiber namens Quintus Curtius Rufus,
von dem man nicht weiß, wann er lebte, hat in einem umfangreichen Werke
die Taten des Mazedonierkönigs in fast romanhafter Form geschildert.
Im ersten Kapitel seines fünften Buches beschreibt er auch seinen
prunkvollen Einzug in Babylon. An der Spitze seines Heeres fuhr
Alexander in einem von der Leibwache umgebenen Wagen. Die Triumphstraße
war mit Kränzen und Blumen geschmückt, an den Straßenrändern brannte
duftender Weihrauch auf silbernen Altären. Die Geschenke, mit denen
man den Sieger empfing, waren Vieh und Pferde, Löwen und Leoparden in
Käfigen. Hymnen singende Magier und chaldäische Sterndeuter schritten
im Zuge einher. Ihnen folgten Musikanten und zuletzt babylonische
Reiter.

Alexander war, wie alle, die Babylon zum erstenmal sahen, entzückt
von seiner Schönheit, und er verweilte hier länger als in irgendeiner
anderen Stadt. Aber kein Ort erwies sich als verderblicher für die
militärische Disziplin; der Historiker malt in drastischen Zügen das
leichtfertige, sittenlose Leben, das in Babylon geführt wurde. Die
neue Hauptstadt wurde das Capua der alten mazedonischen Armee, und
auch der König selbst fand hier wenige Monate nach seinem Einzug einen
allzufrühen plötzlichen Tod.

Der griechische Schriftsteller Arrianus berichtet darüber Folgendes:
Bei dem Günstling Medius wurde ein Trinkgelage abgehalten, zu dem auch
Alexander eine Einladung angenommen hatte. Man trank und scherzte, und
nach dem Fest badete der König und ging zur Ruhe. Auf einer Bahre ließ
er sich zum Opfer tragen, das er keinen Tag versäumte. Seinen Generalen
gab er Befehle für eine neue kriegerische Unternehmung; einige Truppen
sollten die Landstraße einschlagen, andere südwärts auf dem Euphrat
befördert werden; in fünf Tagen sollten mehrere Generale ihn auf den
Triremen begleiten. „Vom Tempel ließ er sich auf seiner Bahre zum Ufer
hinabbringen, ging an Bord eines Fahrzeugs und fuhr über den Strom
nach dem Park, wo er wieder badete und dann ausruhte.“

[Illustration:

  Phot.: Koldewey.

Die beiden östlichen Pfeiler des Ischtartors.]

Am folgenden Tag opferte er wieder, aber von da ab lag er in
ununterbrochenem Fieber. Trotzdem erteilte er tags darauf Nearchus
und den übrigen Hauptleuten seine Befehle zum Abmarsch. Am Abend des
nächsten Tages stand es bereits schlecht mit ihm. Trotzdem erschien
er noch zwei Tage zum Opfer im Tempel. Beim nächsten Morgengrauen
aber entbot er die Generale in die Vorhalle, während die übrigen
Befehlshaber an den Toren warten mußten. Er hatte sich aus dem Park
in die Königsburg tragen lassen; und als die Generale an sein Lager
traten, erkannte er sie wohl, vermochte aber nicht mehr zu sprechen. In
der Nacht wurde das Fieber bösartig. Dieser Zustand hielt zwei Tage an.

Nun verlangten die Soldaten nach ihrem König, um ihn noch einmal am
Leben zu sehen, da schon Gerüchte umgingen, sein Tod werde von der
Leibwache verheimlicht. Die Truppen zogen an seinem Lager vorüber. Der
König konnte noch mühsam den Kopf heben, aber nicht mehr sprechen; er
betrachtete die Vorüberziehenden und reichte jedem die Hand. Einige
seiner Vertrauten verbrachten die Nacht im Serapistempel, um den Gott
zu fragen, ob es ratsam und für Alexander besser sei, ihn in den Tempel
zu bringen, um bei inbrünstigem Gebet seine Genesung abzuwarten; der
Gott antwortete, es werde für den König besser sein, wenn er bleibe, wo
er sei. „Kurz darauf war Alexander tot, als ob dies für ihn jetzt das
Beste gewesen sei.“

Quintus Curtius erzählt den Hergang etwas anders. Der König habe
noch in den letzten Tagen seines Lebens Gesandte der griechischen
Republiken empfangen, die ihm goldene Kronen überreichten, und seine
Truppen und Galeeren gemustert. Dem Nearchus und den Kapitänen habe
er ein glänzendes Gastmahl gegeben und dann am Trinkgelage bei Medius
teilgenommen. Sechs Tage später seien seine Kräfte fast erschöpft
gewesen, und die vor Kummer weinenden Soldaten hätten Zutritt zu seinem
Krankenzimmer erhalten. Als Alexander sie sah, habe er geäußert: „Wo
werdet ihr, wenn ich fort bin, einen solcher Männer würdigen König
finden?“ Er sei aufrecht sitzen geblieben, bis der letzte Mann der
Armee vorübergegangen. Dann sei er, als hätte er dem Leben seinen
letzten Tribut entrichtet, ermattet auf sein Lager zurückgesunken.
Seinen Siegelring habe er vom Finger gezogen und ihn dem Perdiccas
übergeben mit der Bitte, seine Leiche nach der Oase des Jupiter Ammon
überführen zu lassen. Als einer fragte, wem er das Reich anvertraue,
habe er geantwortet: „Dem Würdigsten.“

Voller Schrecken standen die Babylonier auf ihren Hausdächern und den
Mauern. Die Nacht kam und vermehrte die Unsicherheit. Niemand wagte
Licht anzuzünden. Die Stadt lag in tiefem Dunkel. Herumstreifende
Haufen begegneten einander auf den Straßen, sich mißtrauisch
betrachtend. Sechs Tage stritten die Vertrauten des Königs, wer die
Macht übernehmen solle. Darüber vergaß man den Toten, dessen sterbliche
Hülle jedoch trotz der starken Hitze (Alexander schied aus dem Leben am
13. Juni 323) keine Veränderung erlitten hatte. Schließlich wurde die
Leiche von Ägyptern und Chaldäern einbalsamiert und in einen goldenen
Sarg gelegt, der mit wohlriechenden Spezereien gefüllt war; das
königliche Diadem schmückte seine Stirn. Erst am folgenden Tag brachte
Ptolemäus den König der Mazedonier in feierlicher Prozession die endlos
lange Straße von Babylon nach Memphis und schließlich nach Alexandria,
wo zur Erinnerung an ihn ein prachtvoller Tempel gebaut wurde. Noch im
dritten Jahrhundert n. Chr. war der Ort bekannt, geriet aber später
völlig in Vergessenheit. --

Rechts vor dem südlichen Ausgang des Ischtartors, gegenüber dem
Tempel der Ninmach, ist die Ostfront der von Koldewey so genannten
Südburg, der eigentlichen Akropolis von Babylon, die sich an der
Stelle erhob, wo die älteste Stadtanlage war, das eigentliche Babilu
oder Babilani, die „Pforte der Götter“. Assarhaddon und Nabopolassar
sprechen von Babylon und Esagila als von zwei getrennten Plätzen; erst
später wurden sie zu einem Großbabylon vereinigt. Dieser gewaltige
Gebäudekomplex wurde von Nabopolassar gegründet, von Nebukadnezar
aber so durchgreifenden Veränderungen unterworfen, daß man von einem
einheitlichen Werk seiner Hand sprechen kann.

Durch ein von Wachtlokalen rechts und links flankiertes Tor betreten
wir den Osthof der Südburg. An seiner Nord- und Ostseite liegen
Beamtenwohnungen, von denen jede oder auch je zwei zusammen einen Hof
haben. An der Südseite befinden sich die eigentlichen Amtsräume, und
dahinter wieder Wohnungen; auch in jeder Wohnung ist der südlichste
Raum der größte und behaglichste, da er, durch Mauern geschützt
und nur von Norden her zugänglich, fast den ganzen Tag im tiefsten
Schatten lag. Hierzulande dauert ja der Sommer von Mitte März bis Mitte
November, und die heiße Tageszeit von 9 Uhr morgens bis 9 Uhr abends.
Professor Koldewey hat bis zu 49,5 Grad Celsius gemessen. Nur im Januar
stellt sich etwas Frost ein. Die jährlichen Niederschläge betragen 7
Zentimeter gegen 64 in Norddeutschland. Die ganze Bauart ging also
auf Schatten und Kühle hinaus; Fenster hatten die Wohnungen nicht.
Gearbeitet wurde durchweg im Freien, auf den Höfen, geschlafen auf den
Dächern. Wohnungen von mehreren Stockwerken, von denen Herodot spricht,
ließen sich bisher nicht nachweisen. Die Wände waren mit Gipsputz
bedeckt; ein Säulenstumpf und ein Kapitäl von feinem weißen Kalkstein
verraten das Vorhandensein alter Säulengänge. Die Torwände waren wieder
mit Relieflöwen geschmückt, wenigstens hat man Bruchstücke solcher
Emaillen auf allen Höfen der Südburg gefunden.

[Illustration:

  Phot.: Koldewey.

Zylinderförmige Bauurkunde Sardanapals für Nimitti-Bel, die innere
Stadtmauer Babylons.]

Der Mittelhof der Südburg hat noch mehr und größere Räume, die
zweifellos öffentlichen Geschäften dienten. Hier hatten gewissermaßen
die Ministerien ihre Amts- und Wohnräume, hier wurde Gericht gehalten
und in Kanzleistuben das Urteil ausgefertigt. Die stattlichen
Amtszimmer liegen wieder nach Süden; ihre Bedeutung ergibt sich auch
daraus, daß sie direkten Zugang zu den entsprechenden Gebäuden des
nächsten und größten Hofes haben, den die eigentliche Residenz der
babylonischen Könige umschloß.

Dieser Haupthof ist 55 Meter breit und 60 Meter lang; er wurde zuletzt
mit Lehmziegeln gepflastert und diente in der Sassanidenzeit als
Begräbnisplatz; man fand hier zahlreiche trog- und pantoffelförmige
Sarkophage. An der Südseite dieses Hofes liegt der größte Raum des
ganzen Palastes, der Thronsaal der babylonischen Könige. Er ist 17
Meter breit und 52 Meter lang; der Weiße Saal im Berliner Schloß mißt
nur 16 × 32 Meter. Die Mauern der Breitseiten sind 6 Meter dick. Die
Haupttür, zu deren Seiten sich kleinere Eingänge öffnen, geht auf den
Hof hinaus. Ihr gegenüber zeigt die innere Südwand eine Nische; hier
stand jedenfalls der Königsthron. Die Außenwand nach dem Hofe zu war
mit prächtigen Fayenceornamenten auf dunkelblauem Grund bedeckt; gelbe
Säulen mit hellblauen Kapitälen waren durch Palmettenranken miteinander
verbunden.

In diesen Thronsaal ließ Belsazar, der letzte König von Babylonien, bei
festlichem Mahl in trunkenem Übermut die goldenen und silbernen Gefäße
bringen, die sein Vater Nebukadnezar aus dem Tempel von Jerusalem
geraubt hatte. Aus ihnen sollten die Gäste trinken. Aber während
sie tranken und ihre Götter lobten, gingen hervor Finger wie einer
Menschenhand, die schrieben gegenüber dem Leuchter auf die getünchte
Wand des Königssaals. Und der König ward gewahr der Hand, die da
schrieb, und entsetzte sich. Vergebens bat er Chaldäer und Sterndeuter,
die Schrift zu lesen; niemand kannte sie. Nur Daniel vermochte sie
zu deuten: Mene mene tekel upharsin, d. h. „Gott hat dein Königreich
gezählet und vollendet. Man hat dich in einer Wage gewogen und zu
leicht befunden. Dein Königreich ist zerteilet und den Medern und
Persern gegeben.“ In derselben Nacht ward der Chaldäer König Belsazar
getötet. -- Deutsche Gelehrte (Hoffmann und Nöldecke) haben übrigens
die unglückverheißenden Worte viel einfacher erklärt, und da wenigstens
die ersten drei Worte Münzwerte bezeichnen, vermutet Koldewey, daß
einer der anwesenden Perser ganz unschuldig mit Kohle an der Wand seine
Forderungen ausgerechnet, der bereits von schlimmen Ahnungen gefolterte
König aber daraus neuen Argwohn gegen seine Umgebung geschöpft habe.

Von besonderem Interesse ist der sogenannte Gewölbebau in der
Nordostecke der Südburg; ein breiter Gang führt vom Mittelhof
dorthin. Unter allen Gebäuden der Stadt, ja des Landes, nimmt er eine
Ausnahmestellung ein. Er besteht aus vierzehn langen, gleichgroßen
Kammern, die, rechts und links je sieben, auf einen gemeinsamen
Korridor hinausgehen und von einer starken Mauer umgeben waren. Südlich
und westlich lagen weitere Kammern, und in einer derselben findet sich
ein Brunnen, wie er in Babylon und in der antiken Welt sonst überhaupt
nicht vorkommt. Er besteht aus einem quadratischen Schacht in der
Mitte und zwei länglichen zu beiden Seiten und enthielt jedenfalls ein
Wasserschöpfwerk, ein Paternosterwerk oder einen Dolab, ähnlich denen,
die ich in den Kapiteln über meine Fahrt auf dem Euphrat beschrieben
habe.

Diese Kammern sind die einzigen kellerartigen Räume, die in Babylon
vorkommen; sie waren mit Tonnengewölben überdacht und außerdem aus
Hausteinen errichtet, wie die Steinreste beweisen. Solcher Haustein
findet sich außerdem nur noch an der Nordmauer des Kasr. Die gesamte
Literatur über Babylon einschließlich der Keilinschriften kennt aber
nur zwei Gebäude, an denen Haustein zur Verwendung kam: die Nordmauer
des Kasr und -- die sogenannten „hängenden Gärten der Semiramis“, die
griechische Dichter besungen haben und von denen die alten Historiker
Diodor, Strabo, Flavius Josephus und Quintus Curtius Rufus soviel zu
erzählen wissen. Daraus zieht Koldewey den Schluß, daß der Gewölbebau
mit diesen „hängenden Gärten“, die einfach auf Dachterrassen angelegt
waren, identisch ist, während man sie bisher auf dem Hügel Babil suchen
zu müssen geglaubt hat. Den Namen der sagenhaften assyrischen Königin
Semiramis hat jedenfalls nur die Phantasie der alten Historiker mit
diesen Gärten in Verbindung gebracht. Schon Diodor, der Semiramis als
die eigentliche Erbauerin Babylons rühmt, nennt die Gärten ein Werk
eines späteren assyrischen Königs, der eine Perserin zur Frau hatte.
Da diese in der Ebene Mesopotamiens die Gebirge ihrer Heimat vermißte,
habe der König durch diese Anlage den Charakter des persischen Landes
nachahmen wollen. --

[Illustration: Der Basaltlöwe in Babylon.

(Links zwischen ausgegrabenen Ruinen das Grundwasser.)]

Im Norden des Kasr liegt die „Hauptburg“, die bei Beginn der deutschen
Ausgrabungen unter einer 8-12 Meter dicken Erd- und Schuttschicht
begraben war. Auch diesen Palast hat Nebukadnezar errichtet und aus
vortrefflichen steinharten, hellgelben Ziegeln erbauen lassen. Er
war noch reicher ausgeschmückt als die Südburg; an seinen Fronten
schimmerten große Reliefs in blauer Fayence; der Boden war mit Platten
aus weißem und buntem Sandstein belegt, jeder Stein verzeichnete an
der Seite den Namen des Bauherrn. Die Dachbalken waren aus Zedern-
und Zypressenholz. Hier hatten Nebukadnezar und sein Nachfolger
unermeßliche Kunstschätze zum „Staunen der Menschheit“ gesammelt;
wertvolle Proben davon wurden ausgegraben. Den Eingang bewachten wie in
den assyrischen Palästen gewaltige Basaltlöwen, wie aus Bruchstücken
hervorgeht, die die deutschen Archäologen gefunden haben. An der
Nordostecke stand bereits bei Ankunft der Deutschen der schon erwähnte,
aus der Zeit Nebukadnezars stammende gewaltige Basaltlöwe, der von
seinem Sockel aus die Gegend beherrscht, eine nur grob ausgeführte
Plastik ohne feinere Detailkunst. Seine Seiten zeigen zahlreiche
Spuren von Flintenkugeln und Steinwürfen. Die Arme des unter dem Löwen
liegenden Mannes sind ebenfalls abgeschlagen -- ein Zerstörungswerk
der Beduinen, die in dem Löwen einen „Dschin“, einen bösen Geist
der Wüste, erblicken. Einige Gelehrte sehen in dieser Gruppe eine
allegorische Darstellung von Babyloniens Sieg über Ägypten, andere
wollen Daniel in der Löwengrube darin erkennen, ein Gedanke, der aber
nach Koldewey der babylonischen Kunst fremd ist. Zu den merkwürdigsten
Funden auf dem Hügel Kasr gehört eine in neubabylonischer Schrift
gefertigte Kopie der berühmten Keilinschrift von Behistun, worin König
Darius Hystaspes (521-485) in persischer, susischer und babylonischer
Sprache eine ausführliche Geschichte seiner Regierung und der von ihm
niedergeschlagenen Empörungen in fast allen Provinzen seines Reiches
hinterlassen hat.

In der Südostecke des Kasr fand man die ältesten Ziegelstempel
Nebukadnezars. Es gibt verschiedene Arten. Bei einigen wurden die
Stempel aus Holz geschnitzt, in Formsand abgedrückt und in dieser Form
in Bronze gegossen. Sie sagen fast immer dasselbe: „Nebukadnezar,
der König von Babylon, der Pfleger von Esagila und Esida, der Sohn
Nabopolassars, des Königs von Babylon.“

Die Ziegel wurden in viereckige Holzrahmen gepreßt, die auf
geflochtenen Rohrmatten lagen; meist sind die Abdrücke der letzteren
auf der einen Flächenseite noch sichtbar. Dann brannte man sie in
Ziegelöfen, ohne Zweifel derselben Art, wie sie noch heute außerhalb
Bagdads in Gebrauch sind. Verbrecher in solche Öfen zu werfen, gehörte
zu den neupersischen Exekutionsmitteln, die auch Nebukadnezar nicht
fremd waren, wie Daniel berichtet.

[Illustration:

  Phot.: Koldewey.

Ausschachtung des Grabens westlich der Südburg.]

Einige Stempel haben acht Zeilen. Von ihnen fanden sich 412 Stück. Von
anderen Stempeln gibt es Millionen. Niemals wohl hat ein König in
solchem Umfang für seine Unsterblichkeit gesorgt wie Nebukadnezar; fast
jeder dieser steinharten Ziegel nennt seinen Namen, und sie waren in
solcher Menge da, daß in späteren Zeiten ganze Städte daraus errichtet
werden konnten. Die einfachen Häuser in Kweiresch sind zum größten Teil
aus solchen Ziegeln vom Palast der entschlafenen Großkönige erbaut.

Hier und da finden sich in den Mauern auch Steine mit größeren
Inschriften. Eine derselben, die Koldewey in einer Hofmauer der
Südburg entdeckte, berichtet ausführlich von dem Bau dieses Palastes.
„Nebukadnezar, König von Babylon, Sohn Nabopolassars, des Königs von
Babylon, bin ich,“ so lauten die sechs Zeilen Keilschrift in dem
üblichen, pomphaften Stil dieser Urkunden. „Den Palast, die Wohnung
meines Königtums aus der Erde Babylons, die in Babylon ist, baute ich.
Mächtige Zedern vom Gebirge Libanon, dem glänzenden Wald, brachte
ich, und zu seiner Bedachung legte ich sie. Marduk, der barmherzige
Gott, der mein Gebet erhört: Das Haus, das ich gebaut, an seiner
Behaglichkeit möge er sich sättigen! Das Kisu, das ich errichtet,
seinen Verfall möge er erneuern. Darin, in Babylon möge alt werden
mein Wandel. Meine Nachkommenschaft möge in Ewigkeit die Schwarzköpfe
beherrschen.“

Sein Gebet zum Gotte Marduk wurde nicht erhört, sein Reich zerfiel
schon unter seinem Nachfolger, und diese Trümmer auf dem Kasrhügel
sind die noch immer gewaltigen Reste der großen Babel, die König
Nebukadnezar sechs Jahrhunderte v. Chr. zum königlichen Haus erbaut
hatte, „durch seine große Macht, zu Ehren seiner Herrlichkeit“. Ehe
er aber, auf der Zinne der Palastmauer wandelnd, diese stolzen Worte
ausgesprochen hatte, ertönte eine Stimme vom Himmel: „Dir König
Nebukadnezar wird gesagt: dein Königreich soll dir genommen werden,
und man wird dich von den Leuten verstoßen, und sollst bei den Tieren,
so auf dem Felde gehen, bleiben; Gras wird man dich essen lassen wie
Ochsen, bis daß über dir sieben Zeiten um sind, auf daß du erkennst,
daß der Höchste Gewalt hat über der Menschen Königreiche und sie gibt,
wem er will.“

Den westlichen Teil der Südburg nennt Koldewey auf Grund einer
Inschrift Nebukadnezars den Palast Nabopolassars. Er ist der
älteste der auf dem Kasr gefundenen Überreste, während die ältesten
Baudenkmäler ganz Babylons aus Hammurabis Zeit (um 2200 v. Chr.)
stammen.

Nordöstlich von Kasr liegt der Hügel Homera, östlich das griechische
Theater, und südlich der weltberühmte Turm von Babel, dessen Spitze
nach dem 11. Kapitel der Genesis bis an den Himmel reichte. Etemenanki
war sein alter Name. Er stand im „eherntorigen Heiligtum des Zeus
Belus“, das noch zu Herodots Zeiten erhalten war und zwei Stadien im
Geviert gemessen haben soll. „In der Mitte des Heiligtums,“ berichtet
dieser Geschichtschreiber, „erhebt sich ein fester Turm, ein Stadium
lang und ein Stadium breit. Auf diesem Turm steht ein zweiter, auf
diesem ein dritter und so fort bis zu acht Türmen. Auf die Zinne
führt eine Treppe, die um alle diese Türme außen herumgeht. Ungefähr
auf ihrer Mitte ist ein Absatz mit Bänken, wo die Hinaufsteigenden
sich niedersetzen und ausruhen. Auf dem letzten Turm aber steht ein
großer Tempel, und darin ein geräumiges, wohlbereitetes Bett mit einem
vergoldeten Tisch davor. Kein Standbild schmückt den Tempel, und nachts
bleibt niemand dort außer einem eingeborenen Weib, das der Gott gerade
auserwählt hat; so versichern wenigstens die Chaldäer, die Priester
dieses Gottes. Sie sagen auch, der Gott selbst besuche den Tempel und
ruhe auf dessen Lagerstätte; das scheint mir aber nicht glaublich.“

Ein späterer griechischer Geschichtschreiber, Diodorus aus Sizilien,
gibt zwar keine Beschreibung des Turmes selbst, berichtet aber, daß er,
wie allgemein versichert werde, außerordentlich hoch gewesen sei, und
daß „die Chaldäer dort ihre Beobachtungen anstellten, da sie von einem
so hohen Bau aus aufs genaueste den Auf- und Niedergang der Gestirne
beobachten konnten. Das Ganze war kunstvoll und mit großen Kosten aus
Ziegeln und Erdpech zusammengefügt. Oben an der Treppe standen drei
goldene Bildsäulen, die des Zeus, der Hera und der Rhea. Die des Zeus,
der stehend und schreitend dargestellt war, maß 40 Fuß in der Höhe und
war tausend babylonische Talente schwer. Rhea saß auf einem goldenen
Stuhl. Ihre Bildsäule war ebenso schwer wie die des Zeus. Neben
ihren Knien standen zwei Löwen, und neben diesen silberne Schlangen
von außerordentlicher Größe, jede wog 30 Talente. Hera war stehend
dargestellt; in der Rechten hielt sie eine Schlange am Kopf, in der
Linken ein mit Edelsteinen besetztes Zepter. Ihr Bild wog 800 Talente.“

Der Historiker Strabo, geboren im Jahr 63 v. Chr., kennt auch das
Heiligtum des Zeus Belus, er aber nennt es eine vierseitige Pyramide
aus gebrannten Ziegelsteinen, ein Stadium im Quadrat und ein Stadium
hoch. Xerxes habe es zerstört, Alexander es wieder aufbauen wollen;
dieser sei aber vorher gestorben, nachdem er erst in zweimonatiger
Arbeit durch zehntausend Mann den Schutt habe wegräumen lassen.

Die Inschriften der Bauherren selbst schließlich rühmen nur die Höhe
des Bauwerks. Nabopolassar, der auf Befehl des Gottes Marduk mit
Wiederherstellung des vorher eingestürzten Turms begonnen haben will,
versichert, seine Spitze habe „himmelan“ streben sollen, und sein Sohn
Nebukadnezar verkündet der Nachwelt: „Etemenankis Spitze aufzusetzen,
daß mit dem Himmel sie wetteifere, legte ich Hand an.“

Und was ist von diesem, zu einer Mythe gewordenen Wunderbau der Alten
Welt noch übrig? So wenig, daß es fast rätselhaft erscheint, wie die
Forschung seinen Standort hat ermitteln und die kümmerlichen Reste
nach den dürftigen Angaben der Historiker hat identifizieren können!
Nicht einmal ein Hügel ist mehr zu sehen, nur ein Durcheinander von
Erderhöhungen, die hier und da mit Ziegelsteinscherben bedeckt sind,
zwischen denen etliche genügsame Wüstenpflanzen ihre Stengel und
Blätter trotzig der unbarmherzig strahlenden Sonne entgegenstrecken.
Wo sich ehemals die dicken Mauern des Turms erhoben, findet man
einen ebenso breiten Graben mit kristallklarem, grünem Wasser, ein
verführerisch einladendes Quellbecken. Menschen späterer Zeiten
haben die unerhörten Ziegelmassen geraubt, die Mauern Fuß für Fuß
abgetragen und schließlich dem Erdboden gleichgemacht. Aber nicht
einmal damit hat man sich begnügt, sondern die Plünderung sogar bis
zu den Grundmauern fortgesetzt, bis der Spiegel des Grundwassers ihr
halt gebot. Steinharte, gebrannte Ziegel waren wertvolle Seltenheiten,
deren Herstellung Mühe und Kosten erforderte. Die letzten Plünderer
waren Leute aus Hille, Kweiresch und andern Dörfern der Umgegend. Auf
dem Grund des Grabens findet sich vielleicht noch diese oder jene
Ziegelschicht, aber die deutschen Archäologen haben bisher noch nicht
weiter nachforschen können. Das Wasser ist salzhaltig und ungesund.
Algen und andere Pflanzen gedeihen darin, und über seinem stillen
Spiegel, der mit dem Wasserstand des Euphrat steigt und fällt, heben
die Frösche ihre Köpfe, um abends ihre Liebeslieder anzustimmen. In
den heißesten Tagesstunden sind sie schläfrig und stumm; nur ab und
zu hört man ein leise brodelndes Quaken. In majestätischer Ruhe liegt
jetzt dieser Platz, auf dem ehemals die Babylonier lärmende Tempelfeste
feierten; die lautlose Stille legt sich fast beklemmend auf die
Brust. Auf dem Abhang eines nahen Hügels erhebt ein mohammedanisches
Heiligengrab seine kleinen weißgelben Kuppeln.

[Illustration:

  Zeichnung von Koldewey.

Rekonstruktion der Umgebung des Turms von Babel (unvollendet
dargestellt), von Esagila, der Kaimauer Naboneds und der Brücke über
den Euphrat.]

Nur den Fundamentgrundriß des babylonischen Turms hat die Wissenschaft
bisher feststellen können; er bildet ein Viereck von 90 Metern
Seitenlänge, und von Südsüdosten führte eine mächtige Freitreppe zum
ersten Absatz empor. Auch den Grundriß des Peribolus, der den Turm
umgebenden Ringmauer mit ihren zahlreichen monumentalen Gebäuden,
die jedenfalls als Priester- und Pilgerwohnungen dienten, hat man
aufgedeckt. Wie der Turm selbst aussah, weiß man aber noch nicht.
Die Schilderung Herodots ist unklar. Wahrscheinlich war er eine
„Zikkurrat“, d. h. einer von den im alten Mesopotamien verbreiteten
massigen Türmen, um deren Außenwand herum ein langsam ansteigender
Weg zur Spitze hinaufführte. Professor Koldewey hofft, die Lösung des
Rätsels bei Ausgrabung der am besten erhaltenen Zikkurrat von Borsippa
oder Birs Nimrud zu finden, die 20 Kilometer südlich von Babylon
liegt. --

Die Gegend östlich von Etemenanki führt den arabischen Namen Merkes,
d. h. das Lager. Hier stand ein großer Teil der Bürgerhäuser Babylons.
Die Grabungen ergaben, daß das Grundwasser jetzt höher steht als
im Altertum. In der 2-3 Meter tiefen obersten Schicht finden sich
spärliche Ruinen aus parthischer Zeit. Die darunterliegende, 4
Meter tiefe Schicht enthält Überreste aus der Glanzperiode der
neubabylonischen Könige und reicht bis in die persische und
griechische Zeit. Die Häuser lagen dicht zusammengedrängt an engen
Straßen, denn die Bevölkerung war zahlreich. Die Mauern sind solid
aus Lehmziegeln errichtet. Auch der Boden besteht aus Ziegeln, und
Rundbrunnen sind allgemein. In der nächsttieferen Schicht finden sich
nur wenige Wohnhäuser. In der darauffolgenden Kulturschicht, die
Keilschrifttafeln aus der Zeit 1300-1400 v. Chr. barg, sind sie wieder
häufiger. 1 Meter unter dem Nullpunkt enthält die unterste Schicht
Urkunden der ersten babylonischen Könige (2250 v. Chr.), d. h. aus
einer Zeit, auf die der Patriarch Abraham zurückblicken konnte, als
er von Ur und Haran aus ins gelobte Land zog. Die Straßen der Stadt
waren gerade, schnitten sich fast rechtwinklig und waren, im Gegensatz
zur Prozessionsstraße, meist ungepflastert. Die kleineren Tempel lagen
mitten in den Straßenlabyrinthen, wie das noch heute in den Städten des
Orients üblich ist. Hier und da gab es auch offene Plätze und kleine
Märkte.

[Illustration:

  Phot.: Koldewey.

Trogförmiger Sarg aus Merkes, einem Stadtteil Babylons.]

Der Stadtteil Merkes umschließt auch viele Gräber aus den
verschiedensten Zeiten. In den ältesten, tiefsten Kulturschichten,
die Hammurabi und seinen Nachfolgern angehören, wurden die Leichen
unmittelbar der Erde anvertraut, höchstens in Strohdecken gehüllt oder
mit Ziegelsteinen umgeben. Sie lagen lang ausgestreckt und anscheinend
dort, wo sie bei Lebzeiten ihre Wohnung hatten. Bis 3 Meter über dem
Nullpunkt fanden sich Gräber, deren Leichname in hockender Stellung
in lange, topfähnliche Gefäße mit rundem Deckel eingeschlossen waren.
In der nächsten Schicht folgen kurze und hohe, ebenfalls mit Deckeln
versehene Lehmsärge aus der Zeit Nebukadnezars und seiner nächsten
Vorgänger; hier sind die Leichname so stark zusammengedrückt und
gekrümmt, daß die Kniee bis an das Kinn hinaufreichen. Die 4-7 Meter
über Null liegende Schicht enthält trogförmige Särge, die auch zu kurz
sind, um die Toten ausstrecken zu können. Die oberste Schicht zeigt
griechisch-parthische Gräber mit Ziegelsarkophagen, in denen die Toten
in Holzsärgen lagen. Gewöhnlich gab man den Verstorbenen Schmuck mit
ins Grab, selten Waffen.

[Illustration:

  Phot.: Schölvinck.

Die Ausgrabungen von Esagila.]

Weiter nach Süden führen uns die Hügel von Amran zu einem
gewaltigen Schacht, dessen senkrechte Lehmwände noch die rundlichen
Spateneindrücke zeigen. Hier wurden Gräber bloßgelegt, in denen
teilweise noch Skelette liegen. Auf einem dieser Hügel erhob sich der
Marduktempel Esagila. Die Zella an der Nordseite seines Hofes ist
wahrscheinlich die, in der die Generale Alexanders den Gott Ea, der in
griechischer Zeit mit Serapis identifiziert wurde, um Rat fragten, ob
sich der König zu seiner Genesung hierher tragen lassen solle.

In unmittelbarer Nähe dieses Tempels begann die Euphratbrücke, von
der sieben aus Ziegel gebaute Strompfeiler ausgegraben sind. Nach den
Angaben Herodots, Diodors und anderer Historiker soll die Brücke ans
Hausteinen gebaut gewesen sein; jedenfalls ist sie die älteste bekannte
Steinbrücke der Erde.

Östlich von Amran liegt der Tempel eines unbekannten Gottes, und
noch weiter östlich der Ninibtempel Epatutila, bei dem zahlreiche
Terrakottabilder, männliche Figuren, Reiter auf Pferden und anderes,
gefunden wurden.

Ebenso gründlich wie bei dem Turm von Babel hat die Zerstörung an
dem Punkte gehaust, der durch die Jahrtausende den alten Namen
Babil behalten hat, dem Ruinenhügel im äußersten Norden des
Ausgrabungsgeländes. Er ist ein Viereck von 250 Meter Seitenlänge und
jetzt ein Durcheinander von Erdmauern und tiefen Schächten. Erst glaubt
man, hier seien Zimmer und Gänge ausgegraben, erfährt dann aber, daß
man, genau so wie beim Turm von Babel, nur gleichsam den Gipsabdruck
eines verschwundenen Stadtteils vor sich hat. Schon im Altertum füllte
man, wenn die Häuser verfallen waren, das Innere der Ruinen mit Erde
und Schutt aus, um festen Grund für neue Gebäude zu gewinnen. So
wuchsen die Städte im wörtlichen Sinne in die Höhe und bildeten sich
schichtweise die „Tells“ des Orients; ganz Babylon ist solch ein Tell.
Als dann die oberen Schichten zerfielen, die Neubauten aufhörten,
der Hügel Babil als Steinbruch diente und man bis zu den Ruinen der
vorhistorischen Zeit in die Tiefe grub, wurden nur die Mauerziegel
fortgenommen; die Erdausfüllung aber schonte man sorgfältig, damit die
Ziegelschächte nicht einstürzten. Was also heute Schächte und Gräben
sind, waren ehemals die Mauern, die festen Erdblöcke dagegen die
leeren Räume -- eine Architektur, die für Uneingeweihte nicht leicht
verständlich ist.

Nach Koldewey diente Babel bereits im Altertum, vielleicht schon in der
römischen, sicher aber in der parthischen Zeit als Steinbruch. Dann
durfte diese Stätte längere Zeit in Frieden ruhen. Um 1890 aber begann
eine neue Plünderung, als der Launen des Euphrat wegen der Damm bei
Sedde errichtet wurde, um den Strom zu hindern, ganz und gar sein altes
Bett aufzugeben. Den türkischen Archäologen Halil Bei und Bedri Bei
kommt das Verdienst zu, dieser Verwüstung Einhalt getan zu haben.

Nur den einen Vorteil hat der Ziegelraub gehabt, daß die deutschen
Archäologen ohne langwierige und kostspielige Grabungen sich eine
klare Vorstellung von den verschwundenen Gebäuden machen konnten. Auf
dem Gipfel von Babil stand ehemals ein Palast mit zahlreichen Räumen
verschiedener Größe. Ihren Boden deckten Sandsteinplatten mit der
Inschrift: „Nebukadnezars, des Königs von Babylon, des Sohnes von
Nabopolassar, Königs von Babylon, Palast.“ Auch alle Ziegelsteine
tragen Nebukadnezars Stempel, woraus Koldewey schließt, daß Babil
eines der Schlösser dieses Königs gewesen ist. ~Dr.~ Buddensieg,
der hier unser kundiger Führer war, vermutet, Nebukadnezar habe hier
seine Sommerresidenz gehabt. Kühler wird es hier, 2½ Kilometer vom Kasr
entfernt, schwerlich gewesen sein. Aber wahrscheinlich war Babil von
schattigen Parken und breiten Kanälen umgeben, die der dicht bebauten,
in der Sonne bratenden Stadt fehlten.

In dem Hügel Babil fand man Bruchstücke eines Kalkmörtelestrichs, der
zu verraten scheint, daß gewisse Teile des Palastes von persischen
Königen oder Alexander dem Großen und seinem Nachfolger erneuert
wurden. Auch hat sich eine in Stein gehauene Urkunde erhalten, die von
H. Winckler übersetzt wurde und nach Koldewey von dem Palast auf Babil
handelt: „An der Ziegelsteinmauer gegen Norden trieb mich das Herz,
einen Palast zum Schutze Babylons zu bauen, einen Palast wie den Palast
Babylons aus Erdpech und Ziegelsteinen erbaute ich darin. 60 Ellen
baute ich eine ‚Appa danna‘ gegen Sippar hin; ich machte einen ‚Nabalu‘
und legte sein Fundament in die Brust der Unterwelt an die Oberfläche
der Grundwasser in Erdpech und Ziegelsteinen. Ich erhöhte seine Spitze
und verband ihn mit dem Palast, mit Erdpech und Ziegelsteinen machte
ich ihn wie ein Waldgebirge hoch. Gewaltige Zedernstämme legte ich
zur Bedachung darüber. Türflügel aus Zedernholz mit einem Überzug aus
Kupfer, Schwellen und Angeln, aus Bronze gefertigt, errichtete ich in
seinen Toren. Jenes Gebäude nannte ich ‚Nebukadnezar möge leben, es
möge alt werden der Ausstatter von Esagila‘, mit Namen.“

Das Schönste von Babil aber war gewiß und ist noch die Fernsicht von
der Höhe, besonders am Abend, kurz vor Sonnenuntergang. Bei Windstille
ist die Luft ungewöhnlich klar und durchsichtig. Im Osten treten die
Überreste der Mauern und Kanäle hervor und heben sich scharf beleuchtet
vom dämmerigen Horizont ab. Im Westen stehen auch die unscheinbarsten
Hügel wie schwarze Silhouetten da. Im Süden sieht man mit Hilfe eines
Fernrohrs deutlich den Turm von Borsippa oder Birs Nimrud. Über den
dichten, Dörfer und Häuser völlig verdeckenden Palmenhainen an den
Ufern des Euphrat ragt im Südsüdosten ein schlankes Minarett von Hille
empor. In dieser Himmelsrichtung liegen auch die Hauptruinen von
Babylon, die Hügel Kasr und Amran, die äußere und innere Mauer der
Stadt, alles brandgelb beleuchtet, wo die Sonnenstrahlen hintreffen;
aber ins Violette übergehend, wo Schatten sich ausbreitet. Im Norden
aber zieht sich ein feines, helles Band durch die leblose Wüste: es
ist die Straße, die uns bald nach Bagdad zurückführen soll; ihre erste
Station, Mahawil, zeigt die Umrisse ihres Hans oder Gasthauses über dem
Horizont.




[Illustration:

  Phot.: Koldewey.

Stier-Relief.]




Siebzehntes Kapitel.

Eine deutsche Studierstube am Euphrat.


Die Gelehrten sind sich darüber einig, daß die 5000 Jahre, die wir
geschichtlich überblicken können, in dem Klima Mesopotamiens keine
Veränderung mit sich gebracht haben. Auch ich habe in meinem Buche „Zu
Land nach Indien“ der Frage nach den postglazialen Klimaveränderungen
Vorderasiens einige Kapitel gewidmet und auf Grund des Feldzugs
Alexanders des Großen an der Küste von Beludschistan nachzuweisen
versucht, daß die historische Zeit zu kurz ist, um merkbare
Veränderungen zu bewirken. Dreiviertel der Armee des Mazedonierkönigs
kam auf jenem Zug durch Hitze und Wassermangel um. Städte wie Babylon
und Birs Nimrud waren damals Oasen in derselben öden Wüste, die heute
ihre Ruinen umgibt, und wenn Xenophon von fünf Tagemärschen des Cyrus
„durch Arabien, den Euphrat zur Rechten“ berichtet: „Hier war der
Boden eine Heide, eben wie das Meer und voller Wermut. Büsche oder
Schilfpflanzen waren alle wohlriechend wie Spezereien, doch war kein
Baum zu sehen“ -- so könnten diese Zeilen ebenso gut heute geschrieben
sein.

Auch die alte Architektur bestätigt, daß man im Altertum mit denselben
Wärmegraden rechnete wie heute. Sie ging nur darauf aus, kühle Räume
zu schaffen. Die Sonne konnte durch keine Fenster dringen, überall
starrten ihr meterdicke Mauern entgegen; die Türen öffneten sich auf
schattige Höfe, und Kanäle mit fließendem Wasser und Palmenhaine boten
Erquickung.

Auch das anbaufähige Gebiet am Euphrat und Tigris war damals nicht
größer als heute. Nur verstand man mehr von der Wüste zu erobern und in
fruchtbares Land zu verwandeln. Das zeigen die Überreste der Kanäle.
Aber weite Strecken +konnten+, wie Eduard Meyer hervorhebt,
damals so wenig bewässert werden wie heute und mußten Steppe bleiben,
in denen nur Beduinen hausten. Westlich und südlich vom Euphrat
begann auch zu jener Zeit sogleich die syrisch-arabische Wüste. Das
Kulturland war daher stark begrenzt und an Umfang geringer als das
Ägyptens. Deshalb lagen auch die alten Städte nahe beieinander in einem
Gebiet, das nur fünfzig Meilen lang und zehn breit ist. Unterhalb,
zwischen Kut-el-Amara und Korna, hat man gar keine Ruinen gefunden,
denn der Tigris floß damals durch den Arm, den wir jetzt mit dem Namen
Schatt-el-Hai bezeichnen. Das ganze Delta hat im Laufe der Jahrtausende
große hydrographische Veränderungen erfahren, und die menschliche
Kultur besaß kein Mittel, gegen diese Naturkräfte anzukämpfen; sie
konnte ihnen höchstens folgen.

Mesopotamien, die „Insel“ zwischen Euphrat und Tigris, war demnach als
Kern eines Weltreichs, dessen Herrscher mit verhältnismäßig großen
Heeren gegen ein so entferntes Land wie Juda Krieg führten, sehr klein,
und es zeugt von starkem Unternehmungsgeist mit hochentwickeltem
Organisationsvermögen, daß man die Schwierigkeiten des Geländes, der
Verpflegung, der Beschaffung von Trinkwasser und der Aufrechterhaltung
der rückwärtigen Verbindungen damals schon so gut zu überwinden
verstand, wie in dem heutigen Kriege.

[Illustration:

  Phot.: Schölvinck.

Der Verfasser zeichnet das Ischtartor.]

Während meines Aufenthaltes in Babylon stieg das Thermometer gegen
Mittag auf 40, am Nachmittag auf über 42 Grad im Schatten. Wenn die
Sonne im Zenit stand, war es kaum möglich, sich draußen aufzuhalten
und in den Ruinen umherzuklettern, so schlaff fühlte man sich; man war
dankbar selbst für jeden glühendheißen Luftzug, der die durchnäßten
Kleider durchdrang, und wenn ich mich um diese Stunde zum Zeichnen
niedersetzte, wurde mir bald schwarz vor den Augen; ich mußte
schleunigst mein Zimmer aufsuchen, um die Kleider vom Leibe zu zerren
und ein Bad zu nehmen in Wasser, das, wenn es über Nacht in Lehmkrügen
gestanden hatte, in einer Kühle von bestenfalls 25 Grad gehalten
werden konnte. Wenn wir uns dann im gemeinschaftlichen Speisesaal
versammelten, dessen Fenster und Türen Mückennetze schlossen, war man
nicht viel mobiler als die Laubfrösche, die dort stumpfsinnig in den
Aquarien hockten. Zum Essen fehlte jeder Reiz, um so stärker war das
Bedürfnis zu trinken, Wasser aus porösen Lehmkrügen mit einem Schluck
Rotwein oder Himbeersaft. Professor Koldewey hielt es zwar für besser,
während der heißen Tagesstunden so wenig wie möglich zu trinken; ich
dagegen huldigte dem Grundsatz: Trinke, wenn du durstig bist! Denn
sonst trocknet die Haut ein, und man fällt um vor Mattigkeit, wie ich
das im Jahre 1895 in der Wüste Taklamakan am eigenen Leibe erfahren
habe. Natürlich sind die Ausdünstungsorgane dabei in ununterbrochener
Tätigkeit, und solch ein Monate lang anhaltendes Schwitzbad muß, wie
~Dr.~ Buddensieg beobachtet hat, sehr ermattend wirken und die
Arbeitskraft vermindern. Nach dem Mittagessen blieb einem nichts
anderes übrig, als sich, aller Kleidung bar, hinzulegen und sich einer
schlaffen Betäubung zu überlassen, die man nicht Schlaf nennen konnte
und die durch keine noch so spannende Lektüre zu überwinden war.

Man lebte erst richtig auf, wenn wir uns am Abend in bequemen Stühlen
auf der Dachterrasse lagerten, bei strahlendem Mondschein in kühlender
Abendluft des Tages Last und Hitze überwanden und froh waren, wenn die
Wärme auf etwas über dreißig Grad gesunken war. Dann beschloß Professor
Koldewey seine am Tage begonnene Vorlesung über diese ruhmreiche
Stätte, die er so liebt, und über die langen Jahre unerschöpflicher
Arbeit, die ihn zum Ehrenbürger Babylons gemacht haben. Wenn ich
dann mein Bett aufsuchte, lag ich meist noch lange wach. Leise ging
eine nächtliche Brise durch die Kronen der Palmen, und die Schatten
des vom Monde weiß beleuchteten Mückennetzes flatterten wie im
Elfentanz. Es war wie ein Märchen, und ich glaubte in einem Sarkophag
von durchsichtigem Alabaster zu liegen und den Flügelschlag der
Jahrhunderte über der alten Königsstadt rauschen zu hören. Die Fülle
historischer Erinnerungen, die Koldeweys Vortrag hervorgezaubert hatte,
mischte sich unter die Bilder des Traumes; Löwe, Stier und Drache
wurden lebendig und wandelten einher mit den fünfzehn gelben Katzen,
die im Hause der deutschen Archäologen allenthalben herumsprangen. Sie
waren die Lieblinge Koldeweys, der sie nicht entbehren konnte, und
zeichneten sich alle dadurch aus, daß die Spitze ihres Schwanzes zu
einer kleinen Öse geflochten war, was ebenso vornehm wirkte, wie der
Knoten am Schwanz des Drachen von Babel.

Schon in Aleppo hatte mir ein Besucher der Ruinen Babylons versichert,
die größte dortige Sehenswürdigkeit sei Professor Koldewey selbst,
und diesem Urteil mußte ich zustimmen. Denn der schon bejahrte
Gelehrte mit seinem noch immer jugendlichen Wesen, mit seinem tiefen
wissenschaftlichen Ernst und seinem behaglichen Humor, die er als unser
Dolmetscher am Hofe Assarhaddons, Sardanapals, Nabopolassars und vor
allem Nebukadnezars in anregendstem Wechsel anzuwenden wußte, hatte in
der ganzen Art, wie er die Dinge sah und wie er selbst lebte, etwas
so Charakteristisches, daß ich von seiner Persönlichkeit einen der
stärksten Eindrücke mitnahm, den nur ein Mensch auf den andern ausüben
kann.

Ebenso unvergeßlich wird mir das Arbeitszimmer des Gelehrten sein,
das zu betreten eine Auszeichnung bedeutete, die nur wenigen Fremden
zuteil wurde. Es hatte etwas von einer Eremitenklause, in der sich
Staub und Tabaksrauch aus den vier Fuß langen Pfeifen seines Besitzers
einträchtig vermischten. Die Fenster waren sorgfältig geschlossen,
das eine mit einem Stück Stoff, das andere mit weißem und schwarzem
Papier verhängt; wenn man aus diesem mystischen Dunkel wieder ins
Helle trat, war man wie geblendet. Alle Ecken und Winkel hingen voller
Spinnengewebe, denn die fleißigen Spinnerinnen in ihrer löblichen
Arbeit zu stören, hätte der Hausherr nicht übers Herz gebracht.
Jedenfalls paßte das Altertümliche dieses Raumes ganz stilgerecht zu
dem Ruinenfeld ringsum.

Die Tische bedeckte eine phantastische Sammlung unzähliger Gegenstände.
Da waren Federn, Messer und Dolche, Papiere in allen Formaten und
Tinte in verschiedenen Farben, Thermometer und alte Briefe, ein
Spirituskocher und eine Maultrommel, auf der der große Forscher
eine lustige Melodie spielte, Altertümer aller Art, besonders mit
Keilschrift bedeckte Zylinder, die noch der Entzifferung harrten. Dann
Bücher, Karten und Pläne des Trümmerfeldes, Photographien von Palästen
und Tempeln, Kaffeetassen, Gläser und Teller, Toilettesachen und modern
arabisches Allerlei. Ein kleines Gestell trug einen Propeller, der,
mit Petroleum geheizt, Zugwind hervorbrachte, und daneben lagen zwei
Geigen; denn Professor Koldewey studierte Musik, um das musikalische
Vermögen der Babylonier beurteilen zu können. Ja, er studierte so
ziemlich jede menschliche Wissenschaft, die irgendwie zu der alten
babylonischen Kultur in Beziehung stand. In seiner Bibliothek entdeckte
man Handbücher der Chirurgie und Anatomie, die er dazu brauchte, um
die Darstellung menschlicher Körper in den Plastiken der Babylonier
mit der Wirklichkeit vergleichen, ihr Kunstverständnis und ihre
Beobachtungsgabe prüfen zu können. Und dickleibige Werke der Zoologie
und Paläontologie dienten ihm zur Bestimmung der Tierformen, die
sich in Babylon abgebildet finden. Er zeigte mir in seinem eigenen
Buche über das wiedererstehende Babylon das Bild eines Drachenfußes
verglichen mit dem eines Raubvogels: die Ähnlichkeit zwischen beiden
ist in der Tat schlagend und verrät eine bewundernswerte Naturtreue.
Dabei hielt mir der gelehrte Eremit einen kleinen Vortrag über diesen
Sirrusch, das Fabeltier, dessen Relief wir am Tor des Ischtartempels
gesehen hatten; das Wesentliche davon habe ich schon im vorigen Kapitel
wiedergegeben.

[Illustration:

  Phot.: Schölvinck.

Auf der Galerie des deutschen Expeditionshauses.

Von rechts nach links: ~Dr.~ Buddensieg, der Herzog, Professor
Koldewey, der Verfasser.]

Neben zahlreichen unentbehrlichen Werken über Architektur, Ornamentik
und Kunstgeschichte standen sogar astronomische Handbücher, denn die
Babylonier waren in der Sternkunde sehr erfahren. Und der Fachwerke
über Koldeweys eigene Wissenschaft, die er selbst in so hohem Grade
gefördert hat, war kein Ende. Den größten Teil seines einsamen
Eremitenlebens verbrachte aber Koldewey nicht in dieser seiner Klause,
sondern draußen unter den Ruinen, in der unmittelbaren Gesellschaft der
alten Babylonier. Die Wogen des Weltkrieges hatten seine Einsamkeit bis
dahin nur ein einziges Mal erreicht. Jetzt hörte er kaum noch das Echo
der fernen Schlachten. Im März 1917 aber mußte er Babylon zum zweiten
Male verlassen, noch rechtzeitig, ehe Bagdad von den Engländern erobert
wurde.

Damit ist die Inventaraufnahme dieser deutschen Studierstube am Ufer
des Euphrat noch nicht abgeschlossen. Ein Regal in einer dunklen
Ecke war angefüllt mit photographischen Apparaten, Blechbüchsen,
Pappkasten mit photographischen Platten und Filmkapseln. Hier stand
ein Stoß Mappen mit Zeichnungen von Gebäuden und Mauern, dort lehnten
sich Reißbretter und Winkel malerisch an Pantoffel und Schnürstiefel,
die auf dem Wege zur Vernichtung verschieden weit vorgeschritten
waren. Teppiche waren früher einmal in Gebrauch, jetzt standen sie
zusammengerollt in einer Ecke. Mehrere gewaltige, eisenbeschlagene
Kisten enthielten die größte Kostbarkeit des Hauses: Manuskripte und
Tagebücher, Photographien und Pläne. Falls unvorhergesehene Ereignisse
zu schneller Flucht zwingen sollten, stand alles bereit, was in erster
Linie mitgenommen werden mußte.

Gewiß hatte keine ordnende Hand das Zimmer Koldeweys berührt, seit
die arabischen Plünderer darin aufgeräumt hatten. Inmitten des
Wirrwarrs stand das Bett, ebenso verstaubt wie alles andre. Hier
hatte der Gelehrte drei Monate lang an Fieber darniedergelegen;
jetzt war er Rekonvaleszent. Einen Arzt brauchte er nicht! Er hatte
ja seine medizinischen Handbücher, und kein Arzt in der ganzen Welt
kannte Babylons Klima so gründlich wie er, und keiner sicherlich war
mit den Gebrechen seines Körpers vertrauter als er selbst. Ihm war
diese Atmosphäre, die ihn umgab, ein Lebensbedürfnis, und in dieser
Einsamkeit fühlte er sich unendlich wohl. Er hätte ja ebenso gut nach
Hause reisen und andern die Bewachung der Ruinen überlassen können.
Aber nein, er +wollte+ nirgends anders als eben in Babylon wohnen!

So lebte und arbeitete der berühmte Forscher, und seine systematischen
Ausgrabungen hatten nun eins der alten Gebäude nach dem andern ans
Tageslicht gebracht. Wenn aber endlich die Grabungen abgeschlossen
sind, und die Gelehrten ihrer Wege ziehen, dann bricht das letzte
Stadium der Zerstörung an. Dann beginnt aufs neue der Ziegelraub, dann
suchen die beutegierigen Araber wieder nach verborgenen Schätzen, dann
nagt wieder die Verwitterung an den Ruinen, und Wind und Wetter treiben
hier wieder ihr Spiel. Dann schlagen die Wogen des Wüstenmeers zum
letzten Male über Babylon zusammen, und neue Jahrtausende ziehen über
die öden Hügel.




[Illustration: Kerbelawagen.]




Achtzehntes Kapitel.

Samarra, die Hauptstadt des Kalifen Mutawakkil.


Fast übersättigt mit Eindrücken überwältigender Art verließ ich am
Abend des 18. Mais Babylon. Ein vierspänniger Kerbelawagen, die
Postkutsche zwischen Bagdad und Hille, die besonders von persischen
Pilgern nach Kerbela und Nedschef benutzt wird, brachte uns, den
Herzog, Rittmeister Schölvinck und mich, in zehnstündiger nächtlicher
Fahrt nach Bagdad zurück.

Diese Fahrt auf den mit Mänteln und Kissen notdürftig gepolsterten
Holzbänken des hochrädrigen Marterkastens, dessen Federung auf ein
volles Haus mit Sack und Pack berechnet war, mit uns dreien aber Ball
spielte, wird uns wohl allen unvergeßlich sein. Wir saßen im Zickzack,
um Raum für die Beine zu haben, und wechselten von Zeit zu Zeit unsere
Plätze, um nicht immer auf derselben Stelle gestoßen und geschunden zu
werden. An Unterhaltung war nicht zu denken, denn bei dem erbitterten
Gerassel des trockenen Holzwagens, dem klappernden Getrappel der
Pferdehufe auf dem ebenso trocknen wie harten Wege, der lange Strecken
glatt wie Asphalt, dann wieder durch Reste von Kanaldämmen kaum fahrbar
war, konnte man sich höchstens durch lautes Schreien verständigen.
Nur Freund Schölvinck brachte es fertig, in diesem betäubenden Lärm
regelrecht einzunicken, bis plötzlich sein großer Tropenhelm rasselnd
vom Kopfe rutschte und er zu der beiden Zuschauer Belustigung jäh
aus dem Schlaf aufschreckte. Dazu die unendliche Einsamkeit und die
todbleiche Beleuchtung, als der Mond am Himmel stand. Beim Aufgang
war er, infolge der durch Dunst und Staub getrübten Atmosphäre,
dunkelgelbrot, fast hagebuttenfarbig, und zeigte eine merkwürdige
elliptische Form, deren Längsachse dem Horizont parallel lief. Als
er dann langsam emporstieg, brannte sein Licht immer klarer und
beleuchtete schließlich wie ein Scheinwerfer die Kulissen des Weges:
hier und da einen dürren Hügel, einen alten Kanaldamm vielleicht
noch aus der Kalifenzeit, die graue Steppe und ab und zu einige
Reisende, die mit Pferden, Eseln oder einer stolz einherschreitenden
Kamelkarawane aus der Mondscheindämmerung auftauchten und wie Schatten
vorüberzogen.

[Illustration: Rittmeister Schölvinck.]

Gegen ½4 Uhr zeigte sich endlich ein schwaches Leuchten am östlichen
Horizont und ward allmählich heller. Als wir eben über die Brücke von
Cher fuhren, sprühte der Horizont in Blitzen, und die Ebene loderte
empor wie in einem Steppenbrand. Alles ringsum bekam Farbe, und die
Strahlen der siegreich aufgehenden Sonne spielten auf den vergoldeten
Kuppeln und Gebetstürmen von Kasimen. Die Grabmoschee stand in der
weiten Wüste wie ein Märchenschloß aus schimmerndem Gold, und im satten
Grün ihrer Palmen lag wieder die Stadt der Kalifen vor uns.

Bagdad prangte in vollem Flaggenschmuck, als wir ankamen. Der türkische
Kriegsminister Enver Pascha wurde erwartet. Er kam wie ein Wirbelwind,
von Kanonendonner begrüßt, und fuhr sogleich nach Kut-el-Amara weiter.
Dann reiste er nach Chanikin und war am 25. Mai wieder in Bagdad, wo
ich ihm im alten Hause des Feldmarschalls von der Goltz, das jetzt von
seinem Nachfolger Halil Pascha bewohnt wurde, einen Besuch abstattete.
Bald darauf reiste er mit seinem Stabschef, dem General Bronsart von
Schellendorf, nach Samarra.

Auch meine Tage in Bagdad waren gezählt. Mein nächstes Reiseziel war
Mosul mit den Ruinen von Ninive, und mit gewohnter Liebenswürdigkeit
forderte mich der Herzog auf, mich seiner Karawane anzuschließen, die
den gleichen Weg nehmen sollte. Da alles, was Fuhrwerk und Pferd hieß,
militärisch beschlagnahmt war, erleichterte mir dieser glückliche
Umstand meine Weiterreise ungemein.

Am 1. Juni brachen wir auf. Ein Belem setzte uns über den Tigris, und
am Bahnhof verabschiedeten wir uns von den zahlreichen deutschen,
türkischen und schwedischen Freunden, die sich dort versammelt hatten,
von General Gleich und den Majoren Kiesling und Molière, von ~Dr.~
Hesse und Konsul Richarz, der am nächsten Tag auf „Sommerfrische“ in
sein Särdab hinunterzuziehen gedachte. Dann brachte uns ein Salonwagen
zunächst nach Kasimen, wo Halil Pascha, der neue Wali und der syrische
Erzbischof von Bagdad den Herzog noch einmal begrüßten, und abends um
10 Uhr langten wir in Samarra an. Soweit war die Bagdadbahn fertig,
als der Ausbruch des Krieges ihren Weiterbau unterbrach. Hier wurden
unsre Pferde, Maulesel und Wagen ausgeladen, dazu das gewaltige Gepäck,
und auf dem Hofe des Stationsgebäudes der Abendbrottisch gedeckt,
um den wir uns zu fünf Mann versammelten: Herzog Adolf Friedrich,
Rittmeister Schölvinck, Rittmeister Busse, der ehemalige Adjutant
des Feldmarschalls, Konsul Schünemann aus Täbris und ich. Auf dem Dach
des Bahnhofsgebäudes standen unsere Betten, und über Nacht wehte ein
so herrlicher Nordwind, daß das Mückennetz überflüssig war und man
zum Laken sogar noch einen Mantel brauchte. Auch über Tag hatten wir
nicht über allzu große Hitze zu klagen gehabt und uns bei 33 Grad am
Nachmittag wie in Mitteleuropa zur Sommerszeit gefühlt.

[Illustration:

  Der neue Wali von Bagdad.      Der Herzog spricht mit Halil Pascha.
]

[Illustration:

  Phot.: Schölvinck.

Indisches Gefangenenzelt.]

Am andern Morgen ordnete sich die Hauptabteilung der Karawane und brach
unter Konsul Schünemanns Leitung, begleitet von den Ordonnanzen des
Herzogs und meinem treuen Sale, direkt nach Tekrit auf. Wir übrigen
wollten den Tag zur Besichtigung der alten Kalifenstadt Samarra
verwenden, deren Ruinen auf dem linken Tigrisufer liegen.

Um 7 Uhr fuhren wir zum Strom hinunter und hielten an einem von einer
Mauer umgebenen Hof, wo eine starke Abteilung englischer Gefangenen
aus Kut-el-Amara lagerte; sie waren wie wir mit der Bahn von Bagdad
gekommen, sammelten sich hier in dem ersten Gefangenendepot und sollten
nun den langen Weg über Mosul und Nesibin nach Ras-el-Ain zu Fuß
marschieren, um dann wieder mit der Bahn nach Konia und andern Städten
Kleinasiens befördert zu werden.

[Illustration:

  Phot.: Schölvinck.

Englische Gefangene.]

Aus der Schar der englischen Offiziere, die sich am Eingang aufhielt,
trat uns ein katholischer irischer Priester entgegen, den ich schon
bei den Dominikanerschwestern in Bagdad getroffen hatte, ein älterer
vornehmer Mann mit kurzgeschorenem, weißem Haar; er hatte eine
angenehme, mitteilsame Art und betrachtete den Ernst seiner Lage mit
stoischer Ruhe und sogar mit Humor. Über die Behandlung und Verpflegung
seitens der Türken hatte er nicht im geringsten zu klagen, und daß
diese ihren Gefangenen keinen erstklassigen Rückzug gewähren konnten,
sah er vollkommen ein. Daß viele seiner Leidensgefährten auf dem Marsch
von Kut-el-Amara nach Bagdad gestorben waren, schrieb er vor allem
dem Mangel zu, der während der Belagerung geherrscht hatte. Aber er
fürchtete sehr, daß manche englische Soldaten, die bereits kränkelten,
der Anstrengung des Marsches bis Ras-el-Ain nicht gewachsen sein
würden. Je zwei mußten ihr Gepäck auf einem Esel verteilen; dieses
mußte daher auf das Allernotwendigste beschränkt werden.

Die meisten Offiziere lagen auf Decken und Mänteln am Boden, einige
saßen auf kleinen Lederkoffern und rauchten Pfeife. Dieser las in einem
Buche, jener schlief, das Taschentuch über das Gesicht gebreitet; ein
dritter nähte sich einen Knopf an seinen Khakirock, während sich sein
Kamerad das Rasiermesser schliff. Die in unserer Nähe lauschten unserm
Gespräch mit dem Priester. Einer von ihnen war Arzt und sorgte für die
Kranken, die unter einem provisorischen Schutzdach ruhten. Auf dem Hof
saßen die indischen Diener der Ordonnanzen der Engländer um ein kleines
Feuer herum, brieten Fische oder kochten Tee und Eier für ihre Herren.
An der Mauer lagen indische Unteroffiziere in malerischen Gruppen.

Bei flüchtigem Zusehen hätte man glauben können, alle diese Männer
könnten sich nicht mehr auf den Beinen halten; in Wirklichkeit waren
sie, mit wenigen Ausnahmen, in bester Verfassung. Sie hatten nur
eben nichts anderes zu tun, als sich hinzulegen und in den Himmel zu
sehen. Besonders die Engländer waren kräftige, abgehärtete Männer mit
wettergebräunten Gesichtern. Sie trugen ihr Geschick mit Gleichmut und
sogen an ihren Pfeifen mit einer Ruhe, als ob sie zur Sommerfrische in
Schottland wären.

Und doch waren jetzt Indiens stolze Herren keinen Deut mehr wert als
ihre 300 Millionen Sklaven! Wer Indien kennt, kennt auch die Kluft,
die dort zwischen Europäern und Weißen besteht. Durch seine Macht,
seine Organisation, sein militärisches System („Militarismus“), seine
überlegenen Waffen und sein herrisches Auftreten, nicht durch seine
Intelligenz, hat England das große Indien zu unterjochen vermocht, hält
es noch heute dessen Völker wie in einem Schraubstock. Der Engländer
befiehlt, der Inder hat nur zu gehorchen; über 400 Millionen Mark
jährlich müssen die Landeskinder für eine Armee zahlen, in der sie
selbst niemals eine höhere Stelle bekleiden können und die nur zu ihrer
Unterjochung da ist. Der frühere amerikanische Präsidentschaftskandidat
Bryan hatte nur zu recht, als er kürzlich schrieb: „Verglichen mit dem
Despotismus, der in Indien herrscht, ist der russische Zarismus ein
Kinderspiel!“

Hier unter den Gefangenen waren sie nun alle gleich, und der eine
konnte nicht mehr auf Kosten des andern üppig leben. Das erweckte in
mir kein Mitleid. Ich beklagte aber die traurige Rolle, die der Christ
jetzt in den Augen der Andersgläubigen spielte. Die Inder, mochten sie
nun Hindus, Brahmanen, Buddhisten oder Mohammedaner sein, waren Zeugen
der Erniedrigung ihrer früheren Herren, und soweit sie Mohammedaner
waren, freuten sie sich wohl gar im Stillen, nicht mehr christlichen,
sondern mohammedanischen Offizieren gehorchen zu müssen. Bei den
Dardanellen und bei Kut-el-Amara waren die hochfahrenden Engländer
von den Türken aufs Haupt geschlagen worden, und jetzt erfuhren sie
von diesem Volk, dem sie während des Krieges stets mit Verachtung
und Hohn begegnet waren, als Gefangene eine gute und rücksichtsvolle
Behandlung! Hier waltete eine göttliche Nemesis, und es ist nun an den
Engländern, daraus die nötige Lehre zu ziehen, die sie hoffentlich
nicht mißverstehen werden. Auch die späteren Ereignisse in Mesopotamien
haben an dem, was einmal geschehen ist, nichts ändern können. --

Am Ufer des Tigris lag eine endlose Reihe von Keleks. Das sind die
berühmten Flöße, die aus einem Holzgerippe bestehen, das von einigen
hundert mit Luft gefüllten Ziegenfellen getragen wird. Sie dienen als
Frachtschiffe auf der Strecke von Mosul oder noch weiter flußaufwärts
bis Samarra, von wo die Ladung mit der Eisenbahn nach Bagdad geht.
In Samarra werden die Flöße auseinandergenommen, die Felle geöffnet
und das zusammengepackte Material zu neuer Verwendung nach Mosul
zurückbefördert.

[Illustration:

  Phot.: Schölvinck.

Ein schattiges Gewölbe.]

Auf uns wartete eine Guffa, die uns trotz des hohen Wellenganges
halbwegs trocken am andern Ufer absetzte. Dort begann dann unsere
Wanderung durch die Ruinen des alten Samarra, arabische Häuser mit
schönen Einzelheiten, bis zu der gewaltigen Burg, in deren schattigen
Gewölben wir vor der immer heißer brennenden Sonne Schutz fanden.
Mittlerweile sandte uns der Platzkommandant einige Pferde, die uns zu
der großen Moschee und dem mächtigen Turm ihres Minaretts brachten.
Sein wendeltreppenartiger Aufgang war an mehreren Stellen eingestürzt,
was die arabischen Pferdeburschen nicht hinderte, wie Katzen darauf
herumzuklettern.

[Illustration:

  Phot.: Schölvinck.

In den Ruinen von Samarra.]

Die Zeit erlaubte uns nicht, dieser merkwürdigen alten
Kalifenhauptstadt, die dank der Laune eines Herrschers gleichsam über
Nacht emporwuchs, nach kaum fünfzig Jahren aber schon wieder verlassen
wurde und verfiel, mehr als eine flüchtige Besichtigung zu widmen.
Ich beschränke mich daher auf einige Andeutungen über die kurzlebige
Geschichte der Stadt und verweise im übrigen auf die Schriften[1] der
beiden deutschen Archäologen Professor Sarre und ~Dr.~ Herzfeld, die
auf diesem Ruinenfeld mit so ausgezeichnetem Erfolge tätig gewesen sind.

 [1] „Archäologische Reise im Euphrat- und Tigrisgebiet“ von F. Sarre
     und E. Herzfeld. Berlin, 1911. -- „Erster vorläufiger Bericht
     über die Ausgrabungen von Samarra“ von Ernst Herzfeld. Mit einem
     Vorwort von Friedrich Sarre. Berlin, 1912. -- „Mitteilung über die
     Arbeiten der zweiten Kampagne von Samarra“ von Ernst Herzfeld, und:
     „Die Kleinfunde von Samarra und ihre Ergebnisse für das islamische
     Kunstgewerbe des 9. Jahrhunderts“ von Friedrich Sarre; beide in:
     „Der Islam“, herausgegeben von C. H. Becker, Band V, Heft 2-3.
     Straßburg 1914.

Als Harun er-Raschids Sohn, der Kalif al-Mutasimbillah, infolge der
Zwistigkeiten zwischen seiner türkischen und asiatischen Leibwache und
der arabischen Bevölkerung sich in Bagdad nicht mehr sicher fühlte,
beschloß er im Jahre 836 n. Chr. eine andere Hauptstadt zu gründen.
Dazu wählte er einen Platz 130 Kilometer nördlicher am linken Ufer
des Tigris, wo vordem nur unbedeutende Dörfer und einige christliche
Klöster gestanden hatten. Schon zwei Jahre später bezog er seine neue
Residenz und nannte sie Surra man ra’a („Wer sie sieht, der freut
sich“). Hier starb er im Jahre 842.

Unter seinem Sohn und Nachfolger, Harun al-Wathik (842-847),
wuchs Samarra zu einer Weltstadt heran, die aus allen Teilen des
unermeßlichen Reiches, das sich von China bis nach Marokko erstreckte,
Bürger und Kaufleute in Massen anlockte. Der eigentliche Erbauer
Samarras ist aber Mutasims zweiter Sohn, Dschafar al-Mutawakkil
(847-861). Zwei Drittel des bisher freigelegten Trümmerfeldes, das sich
in 2 Kilometer Breite 33 Kilometer weit den Tigris entlang erstreckt
und die größte Ruinenstätte der Erde ist, stammen aus seiner Zeit.
Das ganze bebaute Gebiet Samarras, von dem nur einige Hauptteile
ausgegraben sind, umfaßte etwa 200 Quadratkilometer! Die Ringbahn
von Berlin schließt nur 90 ein! Die von Mutawakkil erbauten Paläste
kosteten 204 Millionen Dirhem (Franken). Auch die große Moschee, das
riesige Schloß Balkuwara im Süden des Gebietes und die sogenannte
Nordstadt oder al-Mutawakkilije sind sein Werk.

Die große Moschee wurde von 846-852 gebaut und kostete 15 Millionen
Dirhem. Die Mauern und Teile der Türwölbungen im Mihrab, in der
Gebetsnische, stehen noch heute. Das Ganze war ein Mauerviereck mit
vier großen Hallen. In der Mitte des mit Ziegeln gepflasterten Hofes
befand sich ein Springbrunnen in Form eines Monolithbeckens von vier
Meter Durchmesser, der „die Tasse des Pharao“ hieß. Zahlreiche runde
und achteckige Marmorsäulen, Kapitelle und Basen in Glockenform,
Scherben von Glas und Gold in Mosaik, Freskomalereien, Stuckornamente,
Holzschnitzereien, Öllampen, künstlerisch geformte Fenster und andre
Überreste zeugen von der Pracht dieses Tempels. Malwije, das Minarett
der Moschee, das sich auf einem Sockel von 32 Meter Seitenlänge erhebt,
ist gewissermaßen ein Abkömmling des Turmes von Babel. Die ganze
Grundfläche der Moschee betrug 250000 Quadratmeter; wenn der Kalif
mit seinem Hofstaat hier seine Freitagsgebete verrichtete, konnten
hunderttausend Andächtige bequem darin Platz finden!

[Illustration:

  Phot.: Schölvinck.

Die große Moschee in Samarra.]

Der Palast des Kalifen umfaßte nicht weniger als 175 Hektar; 71 davon
gehören zum Garten am Tigrisufer, der Pavillons, Hallen und große
Wasserbecken umfaßte. Etwa 300 Arbeiter haben hier allein sieben Monate
lang gegraben und 14000 Quadratmeter bloßgelegt; 32000 Kubikmeter
Schutt wurden auf einer Feldbahn fortgeschafft. Große Teile des
Palastgebietes ließen sich ohne völlige Ausgrabung bestimmen.

[Illustration:

  Phot.: Schölvinck.

Linkes Tigrisufer bei Samarra.]

Die Privathäuser Samarras waren aus ungebrannten Lehmziegeln und
einstöckig, hatten aber bis zu fünfzig Zimmer. Vornehme Gemächer waren
geschmackvoll ausgestattet mit orientalischen Gipsornamenten, bei denen
Herzfeld drei verschiedene Stilarten unterscheidet: die koptische, die
irakische und die nordmesopotamische.

[Illustration: Kurde Selman Petto, 80 Jahre alt.]

Bei dem Dorf Dur am Nordende von Samarra steht noch ein etwa ums
Jahr 1000 erbautes, viertürmiges Mausoleum des Mohammed el-Duri, des
ältesten Sohnes Musa al-Kasims. Al-Aschik ist der Name einer Burg und
eines Mausoleums am rechten Tigrisufer, die nach Mutawakkils Zeit
entstanden sind.

Die Kleinfunde aus Samarra, von denen Professor Sarre eine vorläufige
Beschreibung gegeben hat, umfassen glasierte und unglasierte, bemalte
und ornamentierte, ostasiatische und einheimische Keramik, Wand-, Glas-
und Holzmalerei, Papyri, Teppiche, einige Gegenstände aus Metall und
Münzen.

Der Kalif Mutawakkil fiel Ende 861 von der Hand seines Sohnes Mutasir,
unter dessen Regierung die Auflösung des Reiches begann. Während der
letzten zweiundzwanzig Jahre Samarras herrschten hier fünf Kalifen
unter blutigen Fehden. Eine Provinz nach der andern fiel ab, und die
türkischen Prätorianer wuchsen den Kalifen über den Kopf. Der letzte
Kalif in Samarra verließ die Stadt im Jahre 883, zog erst ins südliche
Irak und 891 nach Bagdad.

Samarra bestand also nur 45 Jahre (838-883) und verfiel dann schnell.
Heute ist es eine kleine schiitische Stadt mit 2000 Einwohnern, einem
türkischen Kaimakam, aber ohne Garnison.

Eine Forschungsreise, die Sarre und Herzfeld 1907/08 in Syrien
und Mesopotamien unternahmen, gab Veranlassung zu den deutschen
Ausgrabungen, die 1911 und 1912 stattfanden. Im Zusammenhang damit
nahm der Hauptmann Ludloff vom Generalstab eine Karte des ganzen
Gebiets im Maßstab 1 : 25000 auf. Die Ergebnisse der Ausgrabungen
und der topographischen Arbeiten bestätigen in allen Punkten die
Glaubwürdigkeit der arabischen Geschichtsschreiber Tabari und Baladhuri
und die Genauigkeit der Schilderungen des Geographen Jakubi. Die
Gottesdienste und Feste, Palastrevolutionen und Volksaufstände, die
Triumphzüge und Hinrichtungen, Mordszenen und Begräbnisse, kurz alles,
was die alten Chroniken berichten, kann nun wieder, wie Herzfeld sagt,
auf seinen wirklichen Schauplatz verlegt werden.

Das heutige Samarra ist eines der großen schiitischen Wallfahrtsorte
wie Nedschef, Kerbela, Kasimen und Meschhed in Persien, die alle den
Europäern unzugänglich sind. Die schiitische Sekte entstand aus dem
dritthalbjahrhundertlangen Streit der omaijadischen und abbassidischen
Kalifen mit den Aliden, die direkt vom Propheten herstammen, ist also
fast ebenso alt wie der Islam. Der Schiitismus ist die herrschende
Religion in Persien und hat als Gegensatz zum arabischen Element
politische Bedeutung. Alljährlich unternehmen etwa hunderttausend
seiner Bekenner eine Pilgerfahrt nach den zwei Wallfahrtsstätten
Samarras. Die eine ist das Mausoleum, unter dessen goldener Kuppel der
zehnte und elfte Imam ruhen neben Alis Schwester, Gemahlin und Mutter.
Dieses Heiligtum stammt aus neuerer Zeit. Die Kuppel wurde erst 1908
vollendet. Ihre Goldbekleidung, die schon aus weiter Ferne wie eine
kleine Sonne leuchtet, ist, wie eine Inschrift über dem Tor verrät,
ein Geschenk des Schahs Nasreddin von Persien und hat 30000 türkische
Pfund, also über eine halbe Million Mark, gekostet.

Das andere Heiligtum mit einer blauen Fayencekuppel ist eine
unterirdische Krypta, in der der zwölfte Imam, der Mahdi, der
„Herrscher der Zeit“, der Messias der Schiiten, im Alter von vier
Jahren verschwand. Sie wurde vom Kalifen Nasir im Jahre 1210 gebaut.
Andere Teile des Heiligengrabs stammen aber aus neuerer Zeit.

Wir ritten auch in die kleine Stadt hinein, um uns wenigstens eine
Vorstellung von der Lage der beiden Heiligtümer zu verschaffen und
sie von außen zu betrachten. Man bewachte uns dabei scharf, damit wir
nicht etwa das verbotene Gebiet betraten. Wir konnten daher nur von der
Schwelle aus einen Blick in den Hof des Mausoleums werfen und kehrten
dann durch die ärmlichen Basare und das Stadttor, das in einer hohen,
von einer indischen Prinzessin zum Schutz gegen raubgierige Beduinen
errichteten Mauer liegt, zu unserm Lager am Bahnhofsgebäude zurück.




[Illustration:

  Phot.: Schölvinck.

Aufbruch aus Samarra.]




Neunzehntes Kapitel.

Die Karawane des Herzogs.


Am andern Morgen verließen wir schon vor Sonnenaufgang Samarra, um
baldmöglichst Tekrit zu erreichen, wo der größte Teil der Karawane
des Herzogs auf uns wartete. Von den neun Wagen der Kolonne waren
vier bei uns, zwei Droschken, ein Jaile und ein Kerbelawagen. Die
beiden letzteren waren trotz ihrer Gebrechlichkeit mit Gepäck so
schwer befrachtet, daß ich ihnen keine lange Laufbahn prophezeite.
Doch ging bis Tekrit noch alles gut ab, denn die Straße dorthin war
so eben, als wäre sie asphaltiert, obgleich man von einer wirklichen
Straße eigentlich gar nichts sah; der gelbgraue, dürre und harte
Alluviallehm des Bodens erlaubte zu fahren wie man wollte. So waren
hier einst die Heere des Altertums vorgerückt. Jetzt ging die türkische
Etappenstraße hier durch. Aber nur wer von Bagdad nach Mosul wollte,
kam dieses Weges; in umgekehrter Richtung benutzte man besser eines der
Tigrisflöße bis Samarra.

Den ganzen Tag über war der Tigris oder doch sein dunkler
Vegetationsgürtel in Sehweite. Schaf-, Ziegen- und Rinderherden
weideten auf der Steppe; hin und wieder kam ein Bauer mit einem Esel
daher; sonst bildeten nur Steppenhühner (Keklik auf Türkisch) und
Heuschrecken die Staffage. In ungeheuern Massen pickten die ersteren
zu beiden Seiten der Straße, in mächtigen Wolken flogen sie auf,
wenn unsre Wagen sich nahten, waren aber sonst wenig scheu. Was sie
fraßen und wovon auch die Herden der Nomaden lebten, war nicht recht
einzusehen, denn das kurze Steppengras war von der Sonne völlig
gedörrt und obendrein von Heuschrecken verdorben. Auch bei diesen war
Schmalhans Küchenmeister; mit um so größerer Gier warfen sie sich auf
den Pferdemist, und wo sie gar den Kadaver eines Zugtiers fanden,
fraßen sie sich buchstäblich zu Tode. Die gefallenen Tiere sah man
nicht vor lauter Heuschrecken, und die Kadaver umgab jedesmal ein Wall
toter oder sterbender Fresser, die mit aufgeschwollenen Körpern dalagen
und die Luft noch mehr verpesteten. Auch wir selbst konnten uns während
der Fahrt der widerwärtigen Insekten kaum erwehren, klatschend flogen
sie uns gegen Gesicht und Hände, und als wir nördlich von der Ruine
Dur, wo unser Weg wieder unmittelbar an das Stromufer heranführte, die
Pferde tränkten und ein Bad nahmen, wimmelte selbst das Wasser von
diesen widerwärtigen Insekten; ganz wie auf dem Euphrat hatten sich
auch hier ungeheure Massen verflogen, und unwiderstehlich riß der Strom
sie mit sich, um irgendwo ihre Gebeine in seine neuen Ablagerungen
einzubetten. --

Unsere beiden Droschken sollten den Gepäckwagen vorausfahren; die
Kutscher aber hatten etwas von räuberischen Überfällen munkeln hören
und offenbar vereinbart, sich gegenseitig nicht aus dem Gesicht zu
verlieren, so daß wir alle zusammen an dem Gasthof in Tekrit vorfuhren,
wo die übrige Reisegesellschaft bereits gestern ausgespannt hatte.
Außerdem waren noch Oberarzt Professor Reich und Major Reit, beide auf
dem Wege nach Deutschland, seit gestern hier eingekehrt.

Tekrit mit seinen engen, gewundenen Straßen, anspruchslosen Stein-
und Lehmhütten und langen grauen Mauern liegt wie Hit auf einem
Hügel, gesichert gegen alle Überschwemmungen. Mehrere Kaffeehäuser am
Tigrisufer bieten eine prächtige Aussicht auf den Strom. Eines dieser
Kavekhanes beherbergte englische Offiziere, die wegen Übermüdung oder
Krankheit ausruhen mußten. Auch mein alter Freund Rybot war darunter,
und Herzog Adolf Friedrich, Professor Reich und ich unterhielten
uns einige Zeit mit den Gefangenen. Ihre Gefaßtheit im Unglück war
bewundernswert; von Erregung über die Kriegsereignisse merkte man ihnen
nichts an. Als ich daran erinnerte, daß der Herzog Gouverneur von Togo
gewesen sei, das englische Truppen besetzt hätten, während er an der
Westfront stand, meinten sie lächelnd, Togo werde natürlich wie alle
Kolonien bei Friedensschluß zurückgegeben; die englische Presse, die
allerdings eine andre Sprache führe, habe darüber glücklicherweise
nicht zu bestimmen. Das vornehm zurückhaltende Wesen dieser
Angelsachsen stand in so wohltuendem Gegensatz zu dem Ton englischer
Zeitungen und so mancher Bankettreden englischer Staatsmänner, daß man
sie kaum für Angehörige desselben Volkes hätte halten mögen.

[Illustration:

  Phot.: Schölvinck.

Ein Teil unserer Kolonne.]

Mittlerweie hatte sich auf den zwei engen Höfen, die unsern Troß
beherbergten, das malerisch bunte Durcheinander einer Karawanserei
entwickelt. Unser wertvollstes Gepäck war in einem stockfinstern Loch
geborgen, vor dem Schölvincks Diener Gustav Wache hielt, während die
Ordonnanz des Herzogs und sein afrikanischer Diener Schmitt unter
Konsul Schünemanns Oberaufsicht die Kutscher und Burschen befehligten.
Der schwarze Koch aus Togo wirtschaftete eifrig an seinen Töpfen,
während sich sein Landsmann mit Gläsern und Tellern, Messern und Gabeln
zwischen arabischen Stallknechten und Hufschmieden hindurchschlängelte,
die unsere Pferde fütterten oder beschlugen. Auf der Terrasse an der
einen Hofseite saßen etliche Perser, Filzmützen auf dem Kopfe und
gewundene Locken an den Ohren, um einen glühenden Mangal herum und
stopften mit einer Feuerzange Holzkohlen in den Samowar, aus dem
unsere Teegläser gefüllt wurden. Ein Tekriter Bäcker kam mit einem
Sack voll Brot hereingestürmt, und Frauen brachten in Holzkummen Milch
und Joghurt. Die Flammen unserer Tischlampe und des Lagerfeuers, an
dem für uns und die Mannschaft das Abendessen bereitet wurde, warfen
unruhige Schatten in das so schon lebendige Bild, und wir freuten uns,
beizeiten auf dem Stalldach, wo unsere Betten standen, dem Lärm dieses
Feldlagerlebens entrückt zu sein.

[Illustration:

  Phot.: Schölvinck.

Ein schwieriger Abhang.]

Um 3 Uhr morgens, als das Dunkel der Nacht noch auf der Steppe lag,
erwachte die Unruhe des Abends bereits wieder. Deutsche und Türken,
Araber und Tataren drängten sich durcheinander, um die Karawane zum
zeitigen Aufbruch fertig zu machen. Deichseln knarrten, Geschirre
rasselten, Pferde und Maulesel wieherten in der frischen Morgenluft.
Während wir frühstückten, wurden die Packwagen beladen, Kisten und
Kasten mit Riemen festgemacht, und sowie ein Wagen fertig war, fuhr er
auf die Straße hinaus. Dort ordnete sich die Kolonne.

Diesmal nahm ich im Automobil des Herzogs Platz. Am Steuer saß derselbe
Chauffeur Laube, der uns bei meinem Besuch an der Westfront von Bapaume
nach Metz begleitet hatte. Die Straße -- wie meist in Asien eine
Menge parallel laufender Fußwege -- war so glatt, daß man bequem 40
Kilometer in der Stunde fahren konnte. Schwierigkeiten machten nur hin
und wieder einige höchstens 10 Meter tiefe Wadis durch die Steilheit
ihrer Abhänge. Die Landschaft war ziemlich die gleiche wie am Tage
vorher. Nur war die Steppe dichter mit einem Rasen bedeckt, den die
Heuschrecken verschmähen; diese fanden sich daher nur bei Tierkadavern.
Um so häufiger waren die Steppenhühner, die dicht vor unserm
heransausenden Auto in Wolken aufstiegen, mit ihren kurzen pfeifenden
Flügelschlägen uns umschwirrten und sich bald wieder niederfallen
ließen. Wenn wir anhielten, hörten wir das Gackern der Hennen, die um
ihre Küchlein bangten. Mit sicherer Hand erlegte der Herzog neunzehn
Hühner, die eine willkommene Abwechslung unserer Speisenkarte waren,
uns aber auch in den Verdacht der Straßenräuberei brachten. Denn eben
als der Herzog schoß, kam eine unbeladene Kamelkarawane des Weges;
sogleich begannen auch deren Leute zu schießen, um uns zu zeigen, daß
sie nicht unbewaffnet seien. Als sie dann sahen, daß wir friedliche
Europäer waren, kamen sie herangeritten und grüßten „Marhabba“. Auch
graue Antilopen mit weißem Bug zeigten sich in kleinen Herden; aber
ihnen war nicht beizukommen; ehe man sich zum Schuß fertig machen
konnte, waren sie verschwunden.

[Illustration: Begegnung mit einer großen Kamelkarawane.]

[Illustration:

  Phot.: Schölvinck.

Beduinen am Tigris.]

In zweieinhalb Stunden erreichten wir den Ort Charnine am Fuße einiger
Hügel. Hier machten wir für heute halt, um unsere Begleitung zu
erwarten. Der neuen Karawanserei auf einer steilen Anhöhe, wo gerade
eine mit Getreide beladene Rinderkarawane einzog und ein „Seraiban“,
ein Aufseher, mit vier Wachtposten sich einquartiert hatte, statteten
wir nur einen Besuch ab. Für unsere Tagesruhe wählten wir den alten
Han, eine malerische Ruine mit bedenklich brüchigen Gewölben und
Mauern. In seinem Außenschatten ließen wir uns nieder, brieten die
heutige Jagdbeute und vertrieben uns die Zeit mit Unterhaltung,
Lektüre, Rauchen und Streifereien in die Umgebung. Im Laufe des
Nachmittags kam Professor Reich in seinem aus Bagdad stammenden,
gelb angestrichenen Deckwagen, der wie eine Postkutsche aus der Zeit
Napoleons aussah, umsomehr als an seiner Rückseite ein großes ~N~
prangte. Einige Stunden später fanden sich auch Schölvinck und Busse
ein und dann die ganze Kolonne. Auf dem hohen Ufer eines 10 Meter
breiten und 3 Meter tiefen abgeschnürten Tigrisarmes, der von allen
Seiten durch frisch sprudelnde Quellen gespeist wurde und reich an
Fischen, Schildkröten und Fröschen war, fuhren die Wagen zu einem
reizenden Lager auf. Ringsum wimmelte es von Steppenhühnern. Als wir
uns nach einem erfrischenden Bad beim flackernden Feuer versammelten,
umsummten Myriaden Insekten die Lichter auf unsern Tischen. Auch eine
große häßliche Tarantel kletterte auf einen unserer Zeltstühle und
mußte ihre Kühnheit mit dem Tode büßen. Die Mannschaft tötete noch vier
dieser giftigen Riesenspinnen. Im übrigen dokterten wir lange an einem
Pferd und einem Maulesel herum, mit denen es nach den Anstrengungen des
Tages zu Ende ging.

[Illustration: Araber vom Albu Segar-Stamm.]

Am andern Morgen zogen wir in nordwestlicher Richtung weiter, der
Herzog und Busse zu Pferde, Schölvinck und ich im Auto. Rechts
erhob sich die Bergkette des Dschebel Makhul, links dehnte sich die
lautlose, jetzt fast völlig einsame Steppe. Da erschien am Nordrand
des Horizonts eine Reihe schwarzer Punkte, etwa dreihundert Kamele,
die unbelastet südwärts wanderten. Während in Zentralasien die
Karawanen in langen Reihen hintereinander marschieren, läßt man sie
in Mesopotamien gewöhnlich neben der Straße in breiter Herde über
die Steppe gehen, damit sie nicht andere Karawanen behindern. Wir
hielten und machten einige photographische Aufnahmen von den ruhig
und würdig vorbeischreitenden Tieren, die unser Auto ganz ohne Scheu
mit offenbarem Interesse betrachteten. Die Besitzer der Karawane,
wohlhabende Kaufleute, kamen auf grauen Stuten hinterher geritten.

Als wir eine kurze Strecke weiter gefahren waren, wurde eine unzählige
Masse solcher schwarzen Punkte vor uns sichtbar. Bald hatten wir sie
eingeholt. Diesmal war es ein ganzer Araberstamm namens Albu Segar, der
in der Umgebung von Mosul neue Weideplätze aufsuchte. Ein graubärtiger
Alter berichtete uns, das heutige Ziel sei ein niedriger Hügel rechts
der Straße, und da wir den Unsern weit voraus waren, schlossen wir uns
den Nomaden an, um eine Lagerung großen Stils mitzumachen.

[Illustration:

  Phot.: Schölvinck.

Das alte und das neue Transportmittel: Kamel und Automobil.]

Hier wie in Tibet bestimmen Weide, Wasser und Jahreszeiten die
Wanderungen der Nomaden. Jetzt trieb die große Hitze die Albu
Segar-Araber nordwärts; im Herbst wanderten sie wieder den Tigris
hinunter. Wo sich ergiebige Weide fand, machten sie einen oder mehrere
Tage Rast oder unternahmen wohl auch einen Abstecher westlich in die
Steppe hinein.

Ein prächtiges Bild, wie die Herrscher der Wüste durch ihr angestammtes
Reich zogen, das sie nur mit wilden Tieren teilten und in dem sie
jede Quelle und jeden Weideplatz seit den Tagen ihrer Urväter
kannten. Kamele, Pferde und Esel trugen ihre bewegliche Habe,
Männer und Knaben, teils beritten, trieben die Lasttiere an. Auf
hohen gelben oder weißen Dromedaren ritten die vornehmen Frauen; sie
saßen tiefverschleiert in einer Art Vogelbauer, das durch Vorhänge
geschlossen werden konnte, jetzt aber geöffnet war; einige hatten
ihre kleinen Kinder bei sich. Andere Frauen ritten nach Männerart auf
Pferden. Die armen Leute mußten zu Fuß gehen. Gewaltige Schafherden
überschwemmten in mehreren Abteilungen die Steppe.

Bald war der Vortrupp an einer salzhaltigen Quelle angelangt. Nun
wurden schwarzbraune Zeltbahnen auf dem Boden ausgebreitet, Stangen
darunter aufgerichtet, die Zeltbahnen durch Seile gespannt und diese
an Pflöcken befestigt. Wände aus Schilfmatten trennten die Räume für
Frauen und Küche ab. Die Räume der Männer wurden schnell mit Teppichen
und abgenutzten Kissen ausgestattet.

[Illustration: Araber vom Albu Segar-Stamm.]

Wir hatten für uns und das Automobil um Unterschlupf während der
heißen Tagesstunden gebeten. Der Wagen verschwand unter dem äußersten
rechten Flügel eines großen Zeltes, und wir verbrachten hier den ganzen
Tag. Wir beobachteten die Araber, und sie nicht minder neugierig uns.
Europäer und Autos waren ihnen nichts Neues, aber beide zusammen in
einem Zelt als Gäste hatten sie noch nicht erlebt. Erst waren sie scheu
und zurückhaltend, allmählich aber brach das Eis. Einige besonders
schöne Gestalten mit blitzenden Augen, aristokratisch geschwungenen
Nasen und schwarzen Bärten in der kleidsamen Tracht ihrer weißen Tücher
(Keffije), deren Zipfel über Schultern und Rücken herabhingen und auf
dem Scheitel durch zwei dicke, runde Ringe aus schwarzer oder brauner
Ziegenwolle (Aggal) festgehalten wurden, versetzten sogleich meinen
Zeichenstift in Unruhe. Es war aber schwer, sie zum Modellstehen zu
bewegen, und erst als ich unsern Gendarm vor ihren Augen porträtiert
hatte, ohne daß dieser dabei einen Schaden erlitt, und jedem einen
halben Medschidije versprach, ließen sie sich dazu herbei. Bald lockte
der Klang des Silbers auch Leute aus den Nachbarzelten heran, und alle
Furcht vor den moralischen Folgen der Prozedur schien gewichen. Die
großen, starken Menschen waren wie die Kinder und schämten sich weder
ihres Geizes noch ihres Mangels an Mut. Eine der Frauen zu zeichnen,
war dagegen unmöglich. Nicht als ob diese sich geweigert hätten, aber
die Männer duldeten das nicht. Der Häuptling des Zeltes erklärte mir,
auch für unser ganzes Gold und Silder werde keine Frau des Stammes der
Schande des Porträtiertwerdens preisgegeben.

[Illustration: Der hungrige Araberjunge.]

Als Dank für die Gastfreundschaft, die die Araber uns gewährten,
kauften wir für 7 Medschidije zwei Schafe und ein Lamm und luden die
ganze Gesellschaft in ihrem eigenen Zelt zu Gaste. Die Schafe wurden
geschlachtet, abgezogen, in der Küche in zwei großen Töpfen gekocht
und auf großen Metallplatten das Fleischgericht hereingebracht. In
zwei dichten Gruppen knieten die Männer zum Mahle nieder und schlangen
mit heißer Gier herunter, was sie erwischen konnten; die abgenagten
Knochen zerschlugen sie auf dem Rücken ihrer Messer, um auch das Mark
zu genießen. Für uns wurde eine besondere Portion nicht sonderlich
schmackhaft in Fett gebräunt. In einiger Entfernung sah ein bleicher
magerer Junge mit fieberhafter Aufmerksamkeit der Fütterung zu. Er sei
krank, behaupteten die Männer, und dürfe nicht essen; ich reichte ihm
ein großes Stück, seine Augen glänzten, seine Zähne blitzten, und in
wenigen Augenblicken war seine Beute verschwunden. Seine Krankheit war
wohl nur Hunger gewesen. Aus andern Zelten stellten sich noch mehrere
Gäste ein, jeder erhielt seinen Anteil, und es blieb sogar noch Fleisch
übrig, das zu späterer Verwendung wieder in die Küche geschafft wurde.
Sehr befriedigt erhoben sich unsere arabischen Freunde von diesem
ungewöhnlichen Festschmaus. Unser Silber hatten sie in der Tasche,
das Fleisch der ihnen abgekauften Schafe selbst aufgegessen, und die
Felle bekamen sie noch dazu geschenkt -- ein feines Geschäft! Dafür
bewirteten sie uns mit Airan, saurer Milch, und dünnem Gerstenbrot, das
auf einem Kasserollendeckel gebacken war. Den Schluß machte Kaffee, der
bitter war wie Chinin.

[Illustration: Einer unserer Gäste im Araberzelt.]

Merkwürdigerweise war die Hitze im Zelt gar nicht drückend. Es wehte
schwacher Nordwind, aber er kam doch direkt aus der in der Sonne
glühenden Steppe, und die Zeltbahnen waren mit so weiten Stichen
zusammengenäht, daß die Sonne auf dem Boden allerhand Lichtstreifen
zog. Auch mußte die dunkelbraune oder eher schwarze Farbe die Wärme
anziehen. Und doch ist in diesen heißen Gegenden kein Schatten
wohltuender als der im Zelt der Araber. In den Löchern der Hans oder
den unterirdischen Särdab ist der Schatten dichter und die Zahl der
Wärmegrade etwas niedriger, aber die eingeschlossene, unbewegte Luft
sehr drückend. Die schwarzen Zelte dagegen sind nach allen Seiten hin
offen, die Luft kann beständig wechseln, kein frischer Hauch geht
verloren, und Licht und freie Aussicht nach allen Seiten geben dazu ein
Gefühl der Freiheit, das man in geschlossenen Räumen sehr entbehrt.

Als der Abend dämmerte, meldeten uns die Araber, daß Wagen und
Reiter auf der Steppe in Sicht seien. Es waren unsere Leute. Wir
verabschiedeten uns also von unseren arabischen Wirten oder vielmehr
Gästen, stießen wieder zu unserer Karawane und begaben uns zur Quelle
Bilalidsch, wo diesmal unser Nachtlager sein sollte.

[Illustration:

  Phot.: Schölvinck.

Ein Rad ist los.]

Die Karawane hatte einen neuen Unfall erlebt: einer unserer Perser war,
jedenfalls im Schlaf, von einem Wagen gestürzt und überfahren worden.
Jetzt lag er in einer Droschke, und ein Kamerad pflegte ihn. Gebrochen
hatte er nichts, wie sich bei näherer Untersuchung zeigte, aber das
Erlebnis hatte ihn doch mächtig angegriffen.

Nach kurzer Nachtruhe waren wir früh um 4 Uhr wieder auf den Beinen.
Heute mußten der Herzog, Schölvinck, Busse und ich zu vieren mit dem
Auto vorlieb nehmen, da der Weg nach Assur für die Gepäckwagen sehr
beschwerlich war, und alle Pferde gebraucht wurden. Er führte über die
an sich unbedeutenden Hügel, die den Dschebel Hamrin mit dem Dschebel
Makhul verbinden; aber sie sind von Wasser und Wind zu verfitzten
Labyrinthen verarbeitet. Bald boten tiefe Rinnen mit steilen Rändern
lästige Hindernisse, bald war die Straße so schmal, daß das Auto kaum
vorwärts kam, bald lag sie voller Blöcke oder war durch Erdrücken
gesperrt. Unser tapferes Auto überwand aber alle Schwierigkeiten und
konnte schließlich über ebenerem Gelände in beschleunigter Fahrt dem
Tigrisstrom und der alten Königstadt Assur zueilen.

Unsere Reisegenossen aber kamen nicht so glücklich durch. Als
wir nach Besichtigung der Ruinen von Assur ausruhten, langte des
Herzogs Ordonnanz Gustav mit der Nachricht an, ein Jaile sei auf dem
schwierigen Wege umgestürzt und zerbrochen und habe dem Kutscher,
einem alten Manne aus Bagdad, den Oberschenkel zerschmettert. Sofort
schickten wir das Auto, um den Verunglückten zu holen. Konsul
Schünemann und Wachtmeister Schmitt hatten ihn so gut wie möglich
geschient, und wir ließen ihm alle Pflege angedeihen. Der Alte weinte
über sein Mißgeschick, war aber mit einigen Zigaretten schnell
getröstet. Als dann am Abend unter Gepolter und Hallo die übrige
Kolonne mit ihren schwitzenden Gäulen und schwer bepackten Wagen,
die auch noch die Last des verunglückten Jaile hatten übernehmen
müssen, angekommen war, übergaben wir unsere beiden Patienten dem
Bahnhofsvorsteher und ließen einen von der Mannschaft bei ihnen, um sie
nach einigen Ruhetagen auf einem Kelek nach Bagdad zu bringen.

Diese kleinen Mißgeschicke waren aber nur ein Vorspiel dessen, was auf
dem Wege von Assur nach Mosul unser wartete.




[Illustration:

  Phot.: Schölvinck.

Assur.]




Zwanzigstes Kapitel.

Die Königsstadt Assur.


In Assur ging es uns nicht so gut wie in Babylon, wo uns der beste
aller Führer zur Seite war. Hier mußten wir uns damit begnügen, aufs
Geratewohl über Schutthügel und Fundamente von Palastmauern zu wandern,
in der glühenden Sonnenhitze die tiefen Suchgräben und Schächte zu
durchklettern, die das Ruinenfeld rechtwinklig durchqueren, und hier
und da im Schatten einer Marmorplatte oder eines unterirdischen
Gewölbes auszuruhen. Wir fanden auch den großen, zerschlagenen
Steinsarkophag, den die deutschen Archäologen mit unendlicher
Geduld wieder zusammengefügt haben. Die Ausgrabungen begannen mit
Erlaubnis der türkischen Regierung und unter Leitung der Deutschen
Orient-Gesellschaft im September 1903 und wurden bis zum Ausbruch des
Weltkriegs fortgesetzt. Ihre Ergebnisse gliedern sich in fünf Gruppen:
~A~) Baudenkmäler aus assyrischer Zeit; ~B~) Einzelfunde aus
assyrischer Zeit; ~C~) Denkmäler aus parthischer Zeit; ~D~)
Verschiedenes; ~E~) Die Inschriften von Assur. Bisher sind vier
Foliobände der Gruppe ~A~ erschienen; daraus kann man sich eine
Vorstellung von dem Umfang eines Werkes machen, das nur die Schilderung
einer einzigen Stadt enthält. Aber diese Schilderung muß in Zukunft
die Ruinen ersetzen, denn diese sind, wie mir Professor Andrae schon
in Bagdad sagte, durch die Ausgrabungen zerstört worden. Ohne letztere
hätte jedoch die wissenschaftliche Forschung niemals die Stadt erobern
können, die dem assyrischen Reich seinen Namen gegeben hat.

Nach meiner Heimkehr versuchte ich, in die Folianten von Professor
Andraes grundlegendem Werk „Der Anu-Adad-Tempel in Assur“ (Leipzig,
1909) einzudringen. Assyrische Tempelbauten waren vordem wenig bekannt,
und man ersehnte seit langem die Gelegenheit, über die sargonischen,
also jungassyrischen Tempel in Chorsabad (etwa 720 v. Chr.) hinaus
ältere Denkmäler dieser Art zu erforschen, um Material zum Vergleich
mit den besser bekannten babylonischen und den umstrittenen
salomonischen Tempelbauten zu gewinnen. Der Anu-Adad-Tempel am Nordtor
der Stadt Assur zwischen dem Palast Assurnasirpals im Osten und dem
„neuen Palast“ Tukulti-Ninibs im Westen erfüllte diesen Wunsch.

Anu und Adad sind zwei Götter, Anu der Himmelsgott und Gottvater,
Adad „sein tapferer Sohn“, der Gott des Blitzes und des Wetters. Die
Ruinen ihres Tempels zeigen zwei typisch assyrische Heiligtümer; das
ältere wurde Ende des 12. Jahrhunderts von Assurrisisi begonnen und
von Tiglat-Pileser I. vollendet; das jüngere baute Salmanassar auf den
geschleiften Mauern des alten in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts.

Beide Tempel bezeichnen zwei verschiedene Bauperioden, die in
Einzelheiten sehr voneinander abwichen, im Hauptplan aber miteinander
übereinstimmten: die eigentlichen Tempelräume lagen jedesmal zwischen
zwei mächtigen Türmen (Zikkuraten) nebeneinander, ihre Tore gingen nach
Südosten, und davor war ein Hof, den allerhand Seitengebäude umgaben.

Von dem älteren Tempel ist nur der Unterbau erhalten, bis zu fünf
Meter hohe, dicke Mauerteile aus steinharten Ziegeln von gelbem Lehm.
Sie stehen auf felsigem Grund, der durch Erdfüllung geebnet worden
ist. Die Reste genügen, um den Grundriß mit größter Sicherheit zu
bestimmen. Rätselhaft ist nur der Überbau mit den Toren und Türen.
Auch Inschriften des Erbauers fand man an Ort und Stelle; eine von
ihnen lautet: „Assurrisisi, Priester des Gottes Assur, Sohn des
Mutakkilnusku, des Priesters des Gottes von Assur, des Sohnes von
Assurdan, dem Priester des Gottes Assur, Erbauer des Tempels Adads und
des Gottes Anu“.

Der Hof ist 50,5 Meter breit und 28 Meter tief. Seine Mitte nahm
ein Brunnen ein. Die geringfügigen Reste der umliegenden Gebäude
mit ihren Zimmern und Gängen geben viele Rätsel auf. Wer Assurs
jetzige Schuttlabyrinthe gesehen hat, muß aufs Höchste den Scharfsinn
bewundern, der diese Tempel und Mauern rekonstruiert und sogar
Detailzeichnungen von ihnen entworfen hat.

Der Grundriß der beiden Türme ist quadratisch, ihre Seitenlänge 36
Meter. Aber wie sahen sie selbst aus? Konnte man sie besteigen und wie?
Ein Vorbild aus assyrischer Zeit bietet der Tempelturm von Chorsabad,
um den sich eine einfache Rampe zur Spitze emporwindet. Wahrscheinlich
waren auch die beiden Türme des Anu-Adad-Tempels massiv wie alle
bekannten Zikkurate. Andrae vermutet, daß ihre Höhe etwa 50 Meter
betrug, und daß ein fünf Meter breiter, langsam ansteigender Weg vom
Hof aus hinaufführte. Baudokumente auf Ziegeln und Terrakottaprismen
nennen Tiglat-Pileser I. als Vollender dieses Tempelbaues. Die im Jahre
1852 von Rassam und Layard gefundenen, heute im Britischen Museum
befindlichen berühmten Prismen, deren achthundert Textzeilen die
Regierungstaten Tiglat-Pilesers verewigen, verschweigen, daß sein Vater
Assurrisisi, wie Andrae nachweisen konnte, den Grundstein zu dem Tempel
gelegt hat.

[Illustration: Rekonstruktion des Tempels des Assurrisisi (nach
Andrae).]

[Illustration: Rekonstruktion des Tempels Salmanassars II. (nach
Andrae)]

Von dem jüngeren Tempel ist fast die ganze Nordseite verschwunden, von
andern Teilen aber sogar der Überbau erhalten. Zweihundertundfünfzig
Jahre nach Tiglat-Pileser I. ließ Salmanassar II. die jedenfalls
noch bedeutenden Reste des alten Tempels bis auf fünf Meter über dem
Felsengrund abtragen und errichtete nun auf diesem eingeebneten Grund
den Neubau, der an Umfang kleiner, aber noch immer sehr groß war. Eine
hier gefundene Urkunde berichtet, das Dach habe aus Zedernholzbalken
bestanden; eine andere ist in Basalt eingehauen und lautet:
„Salmanassar, der mächtige König, der König des Alls, der König des
Landes Assur, der Sohn Assurnasirpals, des Königs des Landes Assur, des
Sohnes von Tukulti Ninib, dem Könige des Landes Assur, der Erbauer des
Tempels des Gottes Anu, des Tempels des Gottes Adad“.

Salmanassars Brunnen auf dem Hofe ist von einer Ringmauer umgeben und
bis zum Grundwasser 29,5 Meter tief. Unter den Tempelmauern fand man
Beile und Schwerter, die wahrscheinlich symbolische Bedeutung hatten.
Nach dem goldenen Blitz zu urteilen, den Adad in der Hand hielt, müssen
die Götterbilder prächtig ausgestattet gewesen sein.

[Illustration:

  Phot.: Andrae.

Der Tigris bei Assur.]

Neun Jahre verwandten Andrae und seine Mitarbeiter auf die Freilegung
der Festungswerke Assurs (vgl. „Die Festungswerke von Assur“ von Walter
Andrae. 2 Bde., 1913), denn ihre Bestimmung war nicht nur wichtig für
die Erkenntnis der ganzen Stadtanlage, für Ermittlung ihrer Zugänge
und zugleich des Verlaufs der wichtigsten Handelsstraßen, sondern auch
für die Geschichte der Befestigungskunde überhaupt, da man assyrische
Festungen bis dahin nur ungenügend kannte. Die Arbeit war um so
schwerer, als die Mauern am Rande des Stadthügels naturgemäß am meisten
der Vernichtung ausgesetzt waren, und obendrein der Tigris den größten
Teil der Ostfront zerstört hatte.

Assur liegt auf der Spitze eines Ausläufers der Chanukekette, und der
Platz war für eine Festung wie geschaffen. Im Osten bespülte ihn der
schnellfließende, das ganze Jahr über tiefe Tigris, ein Angriff von
dort war also unmöglich. Im Norden fiel der Fels (weicher Sandstein
und Kieselkonglomerat) jäh nach einem Stromarm ab, der trefflich als
Festungsgraben diente. Am Rande dieses noch erkennbaren Flußbettes
hatten wir unser Lager aufgeschlagen. Vor der Westfront erleichterten
zwei kleine Täler die Anlage von Gräben, die nur da zugeschüttet waren,
wo Straßen zu den Toren führten. Im Süden war eine Geländesenkung. Der
einzige Nachteil war, daß man von dem Hügelplateau im Westen aus in die
Stadt hineinsehen konnte. Deshalb baute man die Westmauer am höchsten.

Das Alter der Festungsbauten Assurs ist sehr verschieden. Andrae
unterscheidet die archaische Zeit bis zur Mitte des 2. vorchristlichen
Jahrtausends, die altassyrische bis Ende des 2. Jahrtausends, die
jungassyrische vom Anfang des 1. Jahrtausends bis Sargon, die
spätassyrische unter Sargon und den Sargoniten bis zur Zerstörung
des assyrischen Reiches im Jahre 606 v. Chr., die nachassyrische der
Wiedereinwanderung unter den Neubabyloniern und Cyrus (6. Jahrhundert)
und die parthische Zeit, die ersten zwei Jahrhunderte vor und nach
Christus.

[Illustration:

  Phot.: Andrae.

Der Strand von Assur.]

Aus vorgeschichtlicher Zeit haben sich keine Befestigungen gefunden,
nur Grundmauern von Häusern, Feuerstätten und Kanälen. An der Ostseite
führte man schon zu Anfang des 2. Jahrtausends Mauern auf, um die
Stromfahrt zu beherrschen und das Ufer gegen die Erosion zu schützen.
Diese Mauern befestigte Adadnirari I. in altassyrischer Zeit. Davon ist
noch vieles erhalten. Auch legte man Landeplätze und Treppen am Ufer
an. An der Nordostecke der Stadt lag der Assurtempel mit der Front nach
Norden, und an der Nordwestecke der Palast Tukulti-Ninibs I. auf seiner
ungeheuren Plattform.

In jungassyrischer Zeit baute Salmanassar III. im Westen und Südwesten
eine äußere und eine innere senkrechte Mauer, auf denen je eine
Fahrstraße hinlief. Blaugelbe und schwarzweiß glasierte Ziegel
schmückten die Zinnen. Nach seiner Regierung, aber vor Sargon, verfiel
die innere Mauer; an ihrer Stelle entstanden Wohnhäuser, und davor
legte man eine niedrigere Mauer an.

In spätassyrischer Zeit führten Sargon und Sanherib noch mancherlei
Verbesserungen aus. Die Achämeniden dagegen ließen die Befestigungen
unverändert, und auch in der parthischen Zeit wurde nichts daran getan.

Aus der Zeit Salmanassars III. grub man sieben Tore aus. Jedes Tor
flankierten zwei Türme; nach innen waren Wachtstuben, Rampen und
Treppen, die zur Mauerzinne hinaufführten. Eines der Tore hieß
Abul gurgurri, das Stadttor der Metallarbeiter; die übrigen sind
bisher namenlos. Die Zapfen der gewaltigen Flügel des Gurgurritores,
zylinderförmige Basaltblöcke, sind noch vorhanden. Verkohlte
Zedernholzbalken lassen auf eine Feuersbrunst schließen. Zwei
sargonitische Kalksteinblöcke an diesem Tor tragen Sanheribs Namen.
Eine Bildsäule Salmanassars III., die im Gurgurritor stand, besitzt
jetzt das Ottomanische Museum in Konstantinopel, eine andere, die den
König auf seinem Throne sitzend darstellt, das Britische Museum. Beide
sind in Lebensgröße.

Der ebenfalls ausgegrabene, offenere Zugang von Norden her, den man
nicht als Tor bezeichnen kann, hieß Muschlal und wird schon Ende
des 3. Jahrtausends auf Ziegelinschriften erwähnt. Adadnirari I. in
altassyrischer Zeit ließ ihn erneuern; auch die jungassyrische Zeit
unter Salmanassar III. kennt ihn. Unter Sanherib heißt es: „Der Palast
Muschlal in der Stadt Assur“, und bei Assarhaddon: „Bît muslalu, das
am Palast der Stadt Assur liegt, ließ ich aufs neue erbauen als Ein-
und Ausgang“.

Straßen an der inneren Mauer stammen aus spätassyrischer Zeit; sie
erinnern an die Straßen Pompejis und der heutigen Städte des Orients.

Professor Andrae beschreibt ausführlich alle Einzelfunde, die
an den Mauern gemacht wurden, Ziegelkanäle, Straßen und Häuser,
Abflußtrommeln, Poternen, Wehrgänge, Turmtreppen, Bastionen,
emaillierte Terrakottareliefs, Kupferbecken, Konsolen, Haken und
Pfeilspitzen aus Bronze, Gräber und Ziegel mit Inschriften, von denen
folgende aus der Zeit Salmanassars III. als Probe angeführt sei:
„Salmanassar, der König des Alls, König des Landes Assur, der Sohn des
Assurnasirpal, des Königs des Landes Assur. Erobernd herrschte ich
vom großen Meer beim Lande Amurru gegen Sonnenuntergang bis zum Meer
beim Lande Kaldu, genannt Marratu (d. h. der Salzstrom). Da brach ich
die Ruinen der früheren Festungsmauer meiner Stadt Assur nieder, die
Tukulti-Ninib, Salmanassars Sohn, ehedem gebaut hatte; ich erreichte
ihren Grund; von ihrem Fundament bis zu ihrer Brustwehr fügte und
vollendete ich sie; prächtiger und gewaltiger als zuvor machte ich sie.
Meine Tafeln und Urkunden brachte ich an. Ein zukünftiger Fürst soll
ihre Ruinen wieder aufrichten und meinem Namen wieder seinen Platz
einräumen, dann wird Assur seine Gebete erhören.“

Salmanassar gedachte also der kommenden Jahrtausende, die seinen Namen
vergessen könnten. Dann sollten die Steine für ihn reden!

Andraes Grabungsmethode in den Ruinen Assurs war eine andere als
die Koldeweys in Babylon. Er zog 5 Meter breite „Suchgräben“ quer
über das ganze Stadtgebiet; sie laufen je 100 Meter voneinander
entfernt parallel von der Westmauer bis nach dem Tigrisufer im
Osten. Stieß solch ein Graben auf Reste von Palästen, Mauern, Toren,
Häusern, Kanälen usw., so grub man seitwärts weiter, bis der ganze
Fund bloßgelegt war. Manchmal zwangen Bodengestaltung oder neuere
mohammedanische Grabstellen zur Aufgabe des 100-Meter-Zwischenraums.
Solch ein unregelmäßiger Graben führte in den Jahren 1909-1911 zur
Entdeckung der merkwürdigen Königspfeiler im Winkel zwischen dem
breiten Nordteil und dem schmalen Südteil der Stadt. (Vgl. „Die
Stelenreihen in Assur“ von Walter Andrae, Leipzig, 1913).

Diese Pfeiler stammen aus der Zeit zwischen dem 14. und 7. Jahrhundert
v. Chr. Sie sind flach, oben abgerundet und tragen eine Inschrift
oder ein Reliefbild der Personen, zu deren Gedächtnis sie errichtet
wurden. Die größten sind aus Basalt und nennen Tukulti-Ninib I.,
Semiramis und Assurnasirpal III.; kleinere sind mit den Namen anderer
Könige und hoher Beamten bezeichnet. Einer aus körnigem, gelbgrauem
Kalkstein zeigt das Bild einer Palastdame Sardanapals. Sie sitzt, nach
rechts gewendet, auf einem Thron, ist mit Armbändern und Ohrringen
geschmückt, trägt Rosetten auf den Schultern und auf ihren üppigen, den
Rücken herabwallenden Locken eine Königskrone; in der Linken hält sie
eine Blume, die Rechte streckt sie nach oben. Das Gesicht entspricht
dem Schönheitsideal des Orients: volle runde Wangen, kräftiges Kinn,
gerade, scharf gezeichnete Nase, schön geschwungene, breite Augenbrauen
und lachende Lippen.

[Illustration:

  Phot.: Schölvinck.

Ein Suchgraben in Assur.]

Eines dieser Denkmäler nennt Andrae den „Kalksteinpfeiler der
Semiramis“. Auf ihm stehen die Worte: „Pfeiler für Sammuramat, die
Palastdame Samsi Adads, des Königs des Alls, des Königs von Assur, die
Mutter des Adadnirari, des Königs des Alls, des Königs von Assur; die
Schwiegertochter Salmanassars, des Königs der vier Weltgegenden.“ Die
in dieser Inschrift genannten Könige sind Salmanassar III., Samsi Adad
V. und Adadnirari IV., die zwischen 858 und 781 regierten. Nach einem
Schlummer, der vor der Gründung Roms begann, hat also der Forscher
diese Semiramis von den Toten erweckt und ihre Verwandtschaft mit drei
Königen festgestellt. Von ihrem sonstigen Schicksal aber wußte der
Stein nichts zu melden. --

So weit war Andraes Werk über die Ausgrabungsergebnisse von Assur
gediehen, als der Weltkrieg auch dieses stolze Denkmal deutscher
wissenschaftlicher Forschung einstweilen zu einem Torso machte.

[Illustration:

  Phot.: Schölvinck.

Das deutsche Expeditionshaus in Assur.]

Wir besuchten auch das Haus der deutschen Archäologen am Ufer, ein
großes, festes Gebäude, auf dessen Innenhof, wie üblich, eine offene
Galerie hinausging. Am Tor trat bei unserer Ankunft die Wache ins
Gewehr. Dann empfing uns ein alter Türke, erzählte von der Zeit, als
Andrae, Jordan, Lührs und Bachmann hier arbeiteten, und zeigte uns die
Zimmer, die jeder von ihnen bewohnt hatte. Jetzt lagen darin vierzehn
englische Soldaten und eine Anzahl schwerkranker Inder, die auf dem
Wege in die Gefangenschaft zusammengebrochen waren.

Später unterhielt ich mich in der Nähe des deutschen Hauses mit einem
dieser Patienten, der sich bereits wieder völlig erholt hatte. Es
war ein Hindusoldat, der fließend Englisch sprach und den Anflug
europäischer Bildung sehr geschickt mit seiner ursprünglichen
orientalischen Weisheit zu verbinden wußte. Auch er hatte anfangs den
Versicherungen der englischen Offiziere geglaubt, Deutschland habe aus
Raubsucht den Krieg begonnen und die Türkei gezwungen, mitzumachen; die
Deutschen seien Barbaren und die Feinde der Menschheit, die Kosaken
aber die Herolde der Zivilisation; Deutschland sei schon so gut wie
vernichtet, und die Türkei verdiene eine exemplarische Strafe, da sie
die Geschäfte der Deutschen besorge. Das alte Lied! Seit dem Fall von
Kut-el-Amara war aber dem Hindusoldaten ein Licht aufgegangen. Von der
Barbarei der Deutschen und Türken hatte er nichts gemerkt, er war im
Gegenteil als Gefangener von den Türken gut behandelt worden. Auch die
Bedrohung Indiens durch Deutschland hatte er als Schwindel erkannt, und
er wußte nun, daß man ihn gezwungen hatte, für ein Land zu kämpfen,
dessen Geschick ihn nichts anging und für das sich zu opfern er und
alle seine Landsleute wahrlich nicht die geringste Veranlassung hatten.

[Illustration:

  Phot.: Schölvinck.

Assur von Norden gesehen. Unser Lager bei Kalaat-Schergat.]

Der Inder bat mich noch, ihn in meinen Dienst zu nehmen, in der
Hoffnung, dann früher wieder in seine Heimat kommen zu können. Diesen
Wunsch mußte ich ihm natürlich versagen, und er kehrte wieder zu den
türkischen Wächtern zurück, die ihre Schützlinge frei umherstreifen
ließen. Ich mußte dieser Begegnung noch oft gedenken. Die angeblichen
Vertreter der Zivilisation und des Christentums führten die Orientalen
gegeneinander ins Feld und brachten sie, was noch schlimmer ist, nach
Europa, um gegen Christen zu fechten. Diese Saat Englands wird noch
einmal furchtbar in die Halme schießen! Dann werden Männer wie dieser
Hindusoldat und viele Tausende seiner Leidensgefährten, die nun wissen,
wie man sie betrog, ihren Landsleuten vieles zu erzählen haben!

Am Abend lagen die Hügel von Assur in bleichem Mondschein. Im Lager
verklang der Lärm, die Unterhaltung verstummte, und die Steppe schlief.
Die lautlose Stille war unheimlich. Leise Schritte umschlichen unsere
Betten -- waren es Gespenster, die die Mitternachtsstunde aus den
tausendjährigen Gräbern der Ruinen ringsum heraufbeschwor? Sollten
all der Glanz und die Herrlichkeit der alten Königsstadt doch noch
nicht so ganz verschollen sein und nächtlicher Weile eine geisterhafte
Wiederauferstehung feiern?

In den Ruinen regte sich nichts. Was mich aus dem Halbschlaf
emporschreckte, waren hungrige Hunde aus der Nachbarschaft, die in
unserm Lager nach Beute suchten.




[Illustration:

  Phot.: Schölvinck.

Unser großes Zelt bei Schergat-hauesi.]




Einundzwanzigstes Kapitel.

Erlebnisse auf einer Etappenstraße.


Es war eine sehr stattliche Karawane, die am Morgen des 7. Junis, in
dünne Staubwolken gehüllt, von Assur nordwärts zog: an der Spitze
Konsul Schünemann mit den persischen Reitern, dann unsere Wagen mit
türkischen, arabischen und armenischen Kutschern, und als Nachhut 25
Esel, die wir von Arabern gemietet hatten, um unsere Gepäckwagen zu
entlasten. Doch bedurften unsere Zugtiere so sehr der Schonung, daß wir
beschlossen, heute nur bis Schergat-hauesi zu marschieren, das kaum
eine Stunde entfernt war. Wir hatten also reichlich Zeit und folgten
daher der Einladung eines Araberhäuptlings vom Hedschadschstamm, der
eine Strecke weiter unten am Ufer des Tigris sein Lager hatte.

Die Dörfer der Hedschadscharaber in der Nähe von Schergat-hauesi
zählten gegen 100 Zelte mit je 8-10 Bewohnern. Auch bei Kalaat-Schergat
und an einigen andern Plätzen bildeten sie kleine Gemeinden Sie gelten
schon als Fellachen oder Ackerbauer, haben aber die Liebe der Nomaden
zu ihren schwarzen Zelten noch nicht abgestreift.

An Ort und Stelle angelangt, fanden wir ein prächtiges schwarzes Zelt
mit Teppichen für uns hergerichtet, und in der luftigen Wohnung des
Häuptlings wurden wir feierlich empfangen, mußten auf dem Ehrenplatz
niedersitzen und uns von mindestens hundert seiner Stammesgenossen
anstaunen lassen, der Frauen und Kinder nicht zu gedenken, die von
draußen hereinsahen. Der Zweck der Einladung war hauptsächlich ein
Geschäft, das der Araber mit dem Herzog machen wollte; er hatte einen
weißen Hengst zu verkaufen, der uns als Ersatz für die gehabten
Verluste sehr willkommen erschien.

Das Tier wurde vorgeführt und war prächtig anzusehen: ein herrlich
gerundeter Hals, sprühende schwarze Augen, eine zarte Nase mit
schnaubenden Nüstern -- ganz das Urbild des feurigen Arabers, eine
Freude für jeden Pferdekenner, und der Hengst selbst schien sich
seines verführerischen Reizes vollkommen bewußt, so elastisch-kokett
tänzelte er daher und schien den Boden kaum mit den Hufen zu berühren.
Warum mochte nur der Besitzer sich von solch einem Prachtpferd trennen
wollen? Dieses Übermaß von Liebenswürdigkeit gegen uns Fremde schien
verdächtig.

Der Herzog bat also den Mann, aufzusitzen und in Schritt, Trab und
Galopp die Künste des Tieres zu zeigen. Dazu zeigte unser freundlicher
Wirt aber keine Lust, und auch seine Stammesbrüder drückten sich einer
nach dem andern mit Redensarten beiseite. Nach langem Hin und Her
fand sich endlich ein junger Kerl für ein Trinkgeld zu einem Versuch
bereit. Aber kaum saß er auf, als der Hengst ihn auch schon zu Boden
geschleudert hatte, und mehreren andern, die der Backschisch reizte,
erging es nicht besser ... Nun wagte sich einer unserer Perser heran,
und er schien die Kunst zu verstehen, diesen Bucephalus zu zähmen. Zur
höchsten Verwunderung der Araber trabte er auf dem widerspenstigen Gaul
in eleganten Kurven zwischen den Zelten kreuz und quer umher und kehrte
dann im Galopp zu uns zurück. Aber in diesem Augenblick stand das Pferd
ganz plötzlich, stemmte die Vorderbeine in die Erde, senkte den Kopf
und warf seinen Reiter in großem Bogen mitten in die Zuschauer hinein.
Soviel war nun sicher, daß sich das schöne Tier zu Karawanenfahrten
nicht eignete, und aus dem Handel wurde infolgedessen nichts.

[Illustration: Zu Besuch bei den Arabern von Nalaat-Schergat.

In der Mitte der Herzog.]

Gleichwohl blieben wir den Tag über bei den Arabern. Als wir am Abend
im Mondschein vor unserm Zelt saßen, ließ sich einer von ihnen bei
uns nieder, um uns mit seiner Maultrommel zu unterhalten. Die Töne
des einfachen Instruments erinnerten an die des Dudelsacks, aber die
Kunstfertigkeit des Mannes war bewundernswert, und nicht weniger seine
Ausdauer, er schien gar nicht Atem holen zu müssen. Von Melodie konnte
man kaum reden. Melancholisch und einförmig, wie immer im Orient,
quollen zwischen seinen glockenförmig gehaltenen Händen langgezogene,
wimmernde Töne hervor, die ein träumerisches Behagen erweckten. Man
hörte in dieser Musik die trippelnden Schritte der Schafe über die
Steppe, den Hufschlag der Beduinenpferde, das traurige Flüstern des
Windes im Grase und das rieselnde Rauschen des Tigris gegen eine
Landspitze. Das ganze einförmige Leben der Araber in der Wüste, in der
ein Tag verläuft wie der andere, schien in dieser Naturmusik lebendig
zu werden.

[Illustration: Der edle arabische Hengst.]

Die Töne der Maultrommel hatten zahlreiche Zuschauer angelockt. In
dichten, dunkeln Gruppen ließen sie sich mit Anstand und Würde auf dem
Boden nieder und hörten lautlos zu, höchstens flüsterten sie leise oder
rauchten Zigaretten. Als dann aber der Musikant zum Tanz aufspielte,
kam Leben in die Masse; etwa fünfzig Araber sprangen auf, faßten sich
in einer langen Kette, aber immer eng aneinandergedrängt, an den Händen
und begannen sich in einer bärenmäßig trottenden Gangart zu bewegen,
erst einige Schritte nach rechts, dann nach links, ganz im Takt mit dem
wimmernden Rhythmus der Flöte. Allmählich weitete sich der Kreis, die
Schnelligkeit nahm zu und wurde immer stürmischer, wobei der Mondschein
die hohen, dunkeln Gestalten, die flatternden braunen Burnusse und die
weißen und bunten Kopftücher noch phantastischer erscheinen ließ als
sonst.

Mein Diener Sale hatte beim Tanz das Kommando übernommen. Er hieß nun
die Tänzer sich in großem Kreise niederhocken, und in die Mitte des
freien Platzes traten zwei Solotänzer, die sich in einer Art Bauchtanz,
nicht eben schön anzusehen, aufeinanderzu bewegten. Der eine stellte
den Verfolger dar, der andere den Verfolgten. So jagten sie sich
mehrmals im Kreise herum, und die Zuschauer verfolgten die Pantomime
mit größter Aufmerksamkeit und mit taktmäßigem Händeklatschen. Als
schließlich der eine Tänzer den andern einholte und sich über ihn warf,
brach allgemeiner Jubel los.

Die nächste Programmnummer war der Schwertertanz, wobei die Klingen
dumpf aufeinander rasselten. Auch dieses Spiel endete damit, daß einer
den andern übermannte; der Sieger setzte einen Fuß auf den Besiegten
und die Spitze des Schwertes auf seine Brust. Hinter dem Kreis der
Sitzenden hatten sich dichte Reihen stehender Zuschauer gesammelt, und
in diesem Rahmen gewann das Schauspiel noch an Ursprünglichkeit und
phantastischem Reiz.

Am nächsten Morgen verließen wir die Nomaden. Als wir unsere Straße
erreicht hatten, war schon wieder ein Lastwagen in Stücke gegangen. Von
links trat nun ein Ausläufer der großen Kalksteinplatte Mesopotamiens
an den Tigris heran und fiel steil zum Wasser ab. Die Straße wand
sich daher auf das Plateau hinauf, dessen harter, ebener Boden unsern
Pferden eine willkommene Erleichterung brachte. Dann aber zwang uns
ein Wadi mit einem rieselnden Salzwasserbach, wieder in das Flachland
zurückzukehren, wo große Schaf-, Ziegen- und Rinderherden weideten
und ausgedehnte Zeltlager den blauen und weißen Rauch ihrer Feuer in
die Morgenluft emporsandten. Wieder stieg die Straße an. Wir kreuzten
einen Zug Heuschrecken, der einen schmalen Randstreifen besetzt hielt,
fuhren an einer Karawane von 400 Kamelen vorüber, deren Last nach
Aussage ihrer Führer aus Uniformen bestand, näherten uns wieder dem
Tigrisufer und hielten bei der Station Giara oder Tell-Kaischara, wo
uns ein starker Geruch von Naphtha und Asphalt entgegenströmte. Hier
tritt das Erdpech offen zutage. Vor mehreren Jahren arbeitete hier eine
belgische Gesellschaft mit gutem Erfolg. Nach einiger Zeit meinten
aber die Türken, den Gewinn besser selbst einstreichen zu sollen, und
kündigten die Konzession. Nun fehlte die geschäftliche Erfahrung, und
das Unternehmen geriet ins Stocken; Häuser und Maschinen verfielen, und
das Erdpech stank in Tümpeln stagnierenden Wassers zum Himmel.

[Illustration: Giara.]

Das Bahnhofsgebäude von Giara hatte nur einen bewohnbaren Raum, eine
ungewöhnlich kühle, gewölbte Kammer, in der der Stationsvorsteher
unter einem von Fliegen umschwirrten Mückennetz an Ruhr erkrankt
darniederlag und aus einem primitiven Filtrierapparat, einem großen
Lehmkrug mit porösem Boden, Wasser tropfen ließ. Hier mußten wir die
heißesten Tagesstunden abwarten, denn die Temperatur draußen war
allmählich unerträglich geworden. Schon morgens um 7 Uhr hatte sie
31 Grad betragen, um 1 Uhr stieg sie auf 41,2 und anderthalb Stunden
später auf 42,6 Grad. Konsul Schünemanns persischer Schimmel hatte
einen Hitzschlag und Kolik und außerdem Blutegel in Gaumen und Hals.
Noch am Morgen war das Tier ganz frisch gewesen; jetzt legte es sich im
Schatten des Stalles nieder und verendete. Auch im Schlund der andern
Pferde hatten sich beim Trinken Blutegel festgebissen, und unsere
Kutscher befreiten sie mit vieler Mühe von diesen Plagegeistern.

In der Kranken- und Fliegenstube von Giara zu übernachten, war
unmöglich. Am Spätnachmittag machten wir uns daher zur nächsten
Station Schura auf, die fünf Stunden entfernt sein sollte. Nahe bei
Giara hatten wir ein ziemlich tief und steil eingeschnittenes Tal
zu passieren, auf dessen nackter Sohle Salzkristalle schimmerten
und Erdpechquellen zutage traten. Der Herzog und Busse ritten
voraus; Schölvinck und ich folgten in der Droschke und fuhren in
einer Morastrinne fest. Die Pferde mußten ausgespannt, der Wagen
zurückgeschoben und ein anderer Weg versucht werden. Nicht besser
erging es dem vorausfahrenden Automobil, das weiter vorn in einem
Graben saß und nicht weiter konnte. Wir luden das Gepäck ab, aber der
Wagen rührte sich nicht vom Fleck, und wir mußten warten, bis die
ganze übrige Kolonne nachgekommen war. Darüber wurde es dunkel, und im
Westen erhob sich drohend eine Wolkenwand, die den Mond verdeckte. Nach
langem Warten kamen die andern, und mit vereinten Kräften machten wir
erst das Auto wieder flott, das nunmehr jeden einzelnen Wagen über die
schwierige Stelle hinüberziehen mußte; die müden Tiere allein hätten
das nicht fertiggebracht. Drei Stunden kostete uns dieser Graben --
eine schöne Etappenstraße!

Dann ging es weiter, Stunde auf Stunde in stockfinsterer Nacht; die
Lampen des Autos wiesen den Weg. Endlich leuchtete vor uns der Schein
eines Feuers auf: es war Schura, aber noch in weiter Ferne. Ein neuer
Graben hielt die Wagen auf; unsere Droschke kam glücklich hinüber, und
endlich tauchte die hohe Mauer des Stationsgebäudes aus dem Dunkel
hervor. Hastig aßen wir auf dem Dach des Hauses unser Abendbrot und
zogen uns dann sofort in unsere Mückennetze zurück, denn es war 4 Uhr,
und schon ging ein neuer Tag im Osten auf.

Süßes Wasser gab es in diesem unglückseligen Dörfchen nicht. Auch der
Brunnen auf dem Hof des Stationsgebäudes bot nur salzhaltiges Wasser
und war für den ganzen Ort mit seinen 60 Häusern und 250 Einwohnern und
ebenso für die Reisenden, für Menschen und Tiere die einzige Quelle;
das Wasser eines nahen Flüßchens war ganz ungenießbar. Der Tigris war
von hier drei Stunden entfernt. Es gab gewiß zwingende Gründe, die
Station soweit vom Strom anzulegen, wie es wohl auch seinen Grund
hatte, daß die Sumpfgräben, in denen die meisten Fuhrwerke auf dieser
sonderbaren Etappenstraße verunglücken mußten, nicht überbrückt waren.
Das nötige Holz mit Kelleks auf dem Tigris heranzuschaffen, konnte
unmöglich schwer sein.

Schölvinck und ich waren die ersten, die am andern Tage in glühender
Mittagshitze das Nest Schura verließen. Wir waren aber noch nicht
weit gekommen, als wir schon wieder in einem tiefen Engpaß mit
schroffen Seitenwänden und einem Salzwasserbach festsaßen. Diese hier
so zahlreichen Salzquellen scheinen fast das ganze Jahr zu fließen.
Wachtmeister Schmitt kam uns mit den Leuten seiner Eselkarawane zu
Hilfe, aber nun ging es so schnell bergauf, daß die Deichsel in den
schroff ansteigenden Boden hineinfuhr und mitten durchbrach. Die Pferde
wurden wieder ausgespannt, das Wrack auf das freie Feld hinaufgezogen,
und unser Kutscher machte sich in Gesellschaft des Gendarmen daran,
die Deichsel zu flicken. Die armen Pferde standen derweil im glühenden
Sonnenbrand und mochten kaum die elenden trockenen Halme knabbern,
die ihnen die Heuschrecken übrig gelassen hatten. In einer Senkung
neben der Straße weideten einige Kamele, die sich in der Hitze sehr
behaglich zu fühlen schienen. Um 1 Uhr hatten wir im Schatten unseres
Wagenverdecks 41,9 Grad -- das versprach einen angenehmen Nachmittag!

[Illustration: Alle Mann greifen zu.]

Mit Pflock und Strick war endlich die Deichsel wieder instand gesetzt,
aber man brauchte kein Fachmann zu sein, um diesem Kunstwerk keine
lange Dauer zu versprechen. Wir waren denn auch kaum einen Kilometer
weitergefahren, als der Verband wieder aufging. Nun schickten wir
unsern Gendarm zu den übrigen Wagen zurück, um eine ordentliche Schiene
zu holen; nach ein paar Stunden kehrte er mit einer -- Schnur zurück.
Glücklicherweise kamen jetzt einige Flößer aus Tekrit des Wegs, die
mit gebrochenen Wagengliedern umzugehen wußten, und halfen uns aus
der Verlegenheit, so daß wir wieder in langsamem Schritt weiterfahren
konnten.

Nach einiger Zeit führte die Straße über eine kleine Gebirgsschwelle,
von deren Höhe die Windungen und grünen Inseln des Tigris und seine
ebenfalls grünleuchtenden Uferränder sichtbar wurden. Schon hofften
wir, die Mühsal dieses Tages überstanden zu haben, denn die grauen
Häuser und schwarzen Zelte von Hammam Ali, unserm letzten Lagerplatz
vor Mosul, waren schon zu erkennen. Aber es kam anders.

[Illustration: Die Deichsel wird geflickt.]

Die Etappenstraße verwandelte sich mit einmal in eine unheimlich
steile, schmale Rinne in festem Fels. Jedesmal, wenn das Wagenrad von
einer Steinplatte polternd herabglitt, erwartete man eine Katastrophe.
Doch erreichten wir noch ohne Unfall wieder ebenes Land, wo zahlreiche
Störche in einem Sumpf Frösche, Eidechsen und Mäuse suchten. Dann aber
öffnete sich vor uns ein tiefes und großes Wadi, durch dessen Furche
ein Süßwasserbach nach dem Tigris hinabging. Wir fuhren auf dem rechten
Ufer, das nicht allzu schroff abfiel, während das linke um so jäher zu
den flachen Hügeln anstieg, die uns noch von Hammam Ali trennten. Kurz
vor der Talfurche teilte sich der Weg; unser Kutscher bog links ab,
während er rechts hätte fahren sollen, und plötzlich geriet unser Wagen
ins Abwärtsrollen. Eine Bremse fehlte, und die Pferde waren zu müde,
ihn aufzuhalten. Zehn Meter vor uns aber hörte die Straße am Rande
der zwei Meter hohen, senkrechten und überhängenden Erosionsterrasse,
die jedenfalls noch nicht lange durch einen heftigen Regenstrom
ausgewaschen war, völlig auf! Vergebens, daß ich „Dur!“ (halt!) rief
-- unaufhaltsam näherten wir uns dem Abhang. Schölvinck schrie auf und
warf sich aus dem Wagen, ich folgte seinem Beispiel, und eine Sekunde
später stürzten Wagen und Pferde in die Tiefe.

[Illustration: Nach dem Absturz.]

Es war ein regelrechter Purzelbaum, den unsere Droschke gemacht hatte.
Die Pferde fielen verhältnismäßig sanft in den Kies, die Deichsel
zerbrach aufs neue, der Wagen stürzte auf Vorderräder und Kutscherbock
und schlug vornüber, das zertrümmerte Verdeck zu unterst. Der Kutscher
hatte so geschickt pariert, daß er zwischen die Pferde zu liegen
und mit heiler Haut davonkam. Aber sein Begleiter, ein Stalljunge,
lag schreiend im Bach. Wir zogen ihn sofort aufs Trockene; auch er
konnte von Glück sagen, seine Glieder waren heil, er hatte nur einige
Hautwunden an Kopf und Knien davongetragen.

Der Kutscher half den Pferden aus dem Geschirr und auf die Beine,
und wir fischten nun unsere Sachen zusammen, die zum Teil auf dem
Kutscherbock verstaut gewesen waren. Schölvincks photographischer
Apparat war in Stücke gegangen, meiner ganz geblieben. Das Schlimmste
war der zertrümmerte Wagen! Wie sollten wir nun mit Sack und Pack
weiterkommen?

In diesem Augenblick erschien Konsul Schünemann wie ein rettender
Engel auf den Hügeln des linken Bachufers. Er war schon in Hammam Ali
gewesen, aber da wir so bedenklich lange auf uns hatten warten lassen,
in Vorahnung eines Unfalls mit seiner Droschke zurückgekommen. Unsere
verunglückte Equipage überließen wir nun einstweilen ihrem Schicksal,
luden unsere Siebensachen auf den andern Wagen und fuhren so als
gerettete Schiffbrüchige in Hammam Ali ein.

Konsul Schünemann hatte überraschende Neuigkeiten vom Kriegsschauplatz
zu erzählen. Am Skagerrak hatte am 31. Mai und 1. Juni eine Seeschlacht
stattgefunden, die mit einem großen Erfolg der Deutschen ausgegangen
war: die Engländer hatten 23, die Deutschen nur 10 Kriegsschiffe
verloren, obgleich bei Beginn der Schlacht die englische Kampfflotte
der deutschen ums Doppelte überlegen war.

Die andere Neuigkeit war Kitcheners Untergang mit der „Hampshire“.
In diesem energischen Heerführer Großbritanniens verloren die
Zentralmächte einen gefährlichen Gegner; dennoch mußte ich seinen Tod
bedauern, denn er war mein Freund oder war es doch gewesen. Ich hatte
mehrfach bei ihm vornehmste Gastfreundschaft genossen und bis kurz vor
dem Kriege von Zeit zu Zeit mit ihm in Briefwechsel gestanden; der
Krieg hatte uns getrennt. Das wundervolle Märchen seines Lebens hatte
ich stets mit Anteil verfolgt, seine männliche Energie bewundert und
seinen geradsinnigen Charakter geliebt. Obgleich er in allen Dingen
seine eigene, feste Meinung hatte, wußte er doch auch fremde Ansichten
zu achten, und ich war stets überzeugt, daß gerade er nach dem Kriege
am ersten wieder in ein leidliches Verhältnis zu dem Gegner gekommen
wäre. Ich halte ihn für den größten Engländer unserer Zeit, und sein
Tod hinterläßt in jedem, der ihn kannte, eine große Leere.

Schon in Mosul erreichten uns auch die bis heute noch unbestätigten
Gerüchte über die Art seines Todes. Der Mann, der bei seinem
Leichenbegängnis geehrt worden wäre wie kein anderer Brite, hatte
nicht einmal ein Grab erhalten können, und niemand wußte, wo seine
sterblichen Überreste Ruhe gefunden! Einige gerettete Matrosen hatten
noch gesehen, wie Kitchener, seine Zigarette rauchend, aufrecht und
ruhig auf der Kommandobrücke des sinkenden Schiffs stand. Dann hatte
ihn eine schäumende Meereswoge plötzlich entführt. Wohin schweiften
wohl seine Gedanken, als er die Woge kommen sah, die ihm den Tod
brachte? Schossen die farbenprächtigen Bilder seines reichen Lebens
noch einmal wie ein Blitz an ihm vorüber? Gedachte er der Zeit, da er
mit Unterstützung des ~Palestine Exploration Fund~ die Karte des
Heiligen Landes aufnahm, oder als er bei Omdurman den Mahdi und seine
Derwische vernichtete? Sah er die Blockhäuser von Transvaal, und hörte
er den Jubel, mit dem London den Sieger bei seiner Rückkehr begrüßte?
Oder träumte er von den sonnigen Tagen in Indien, da er seinen
stärksten Widersacher, Lord Curzon, niederrang und die Organisation der
Armee vollendete, auf der die britische Herrschaft am Ganges beruht?
Wie ein Märchen, wie etwas im höchsten Grade Unwirkliches muß ihm diese
stolze Bilderreihe in diesem Augenblick erschienen sein. Welch grausame
Ironie des Schicksals, daß er, der stets die größten Schwierigkeiten
zu überwinden wußte, nun hilflos von einer Meereswoge dahingerafft
wurde! Ob er wohl in seinem letzten Augenblick auch der beiden letzten
Jahre gedachte, die seine glänzende Vergangenheit verdunkelten? Hatte
er eingesehen, daß er jetzt auf einen Feind gestoßen war, der nicht
besiegt werden konnte, daß Englands Herrschaft auf dem Weltmeer zu Ende
ging und daß es für ihn selbst hieß: „Bis hierher und nicht weiter“?
Eines hatte ihm jedenfalls das Schicksal gnädig erspart: die Niederlage
Englands zu erleben.

Man hat gesagt, Kitchener sei, als er unterging, auf dem Wege nach
Rußland gewesen; er habe für gemeinsame Operationen der Ententemächte
gegen Deutschlands Nordfront wirken sollen -- lauter Vermutungen. Die
Wissenden sind stumm.

Mit solchen Gedanken zog ich in Hammam Ali ein, ein kleines Dorf von
etwa zehn Hütten inmitten weiter Ackerfelder, mit einem türkischen
Erholungsheim für Offiziere und einem Kavekhane, vor dem ich unser
Lager aufgeschlagen fand.

[Illustration: Kleine Brücke auf dem Wege nach Mosul.]

Am folgenden Tag machte sich die Nähe einer größeren Stadt allenthalben
bemerkbar. Zahlreiche Reiter, Männer und Frauen, auf Pferden und
Mauleseln, begegneten uns. Ein türkischer Beamter reiste mit seiner
ganzen Familie südwärts, und ein vornehmer Araber schien auf seinem
Pferde zu schlafen im Schatten eines weißen Sonnenschirms, den ein
Diener, der hinter dem Herrn auf der Krupe des Pferdes saß, halten
mußte. Zahlreiche Fußgänger belebten den Weg; Landleute kamen schwer
bepackt vom Einkauf in den Basaren. Der eigenartige Charakter der
Etappenstraße blieb aber auch jetzt derselbe; er steigerte sich noch
durch zahlreiche Brücken und Brückchen aus weißem Kalkstein, die nach
Aussage des Kutschers höchstens zehn Jahre alt, aber durch Regengüsse
und Sturzbäche mehr oder weniger zerstört waren. Viele waren völlig
eingestürzt, nur ihre Pfeiler standen noch; zum mindesten fehlten auf
dem Fahrweg etliche Steinplatten, so daß ein Fuhrwerk, besonders bei
Nacht, elend steckenbleiben mußte. Alles, was Wagen hieß, vermied denn
auch mit Sorgfalt diese „modernen“ Verkehrsmittel im alten Assyrien
und fuhr rechts oder links daran vorbei, je nachdem die Abhänge der
Hohlwege und Wadis passierbar waren!

Schließlich führte die Straße auf eine flache, steinige Schwelle
hinauf. Von hier aus erblickte ich das gewundene, graubraune Ufer
des Tigris, um das sich ein Haufen grauer Häuser ballte, aus denen
zahlreiche Minarette emporragten. Das war Mosul, und im Norden, auf dem
linken Tigrisufer, die eintönig graubraune Landschaft barg die Ruinen
von Ninive.




[Illustration: Eingang zum Basar in Mosul.]




Zweiundzwanzigstes Kapitel.

Mosul.


Der Dolmetscher des deutschen Konsulats in Mosul war uns
entgegengeritten und geleitete uns zu den Häusern der Bagdadbahn
am äußersten Südende der Stadt, Gebäuden im üblichen Stil, mit
viereckigen, gepflasterten Höfen und kleinen Gruppen buschiger
Maulbeer- und Olivenbäume. Hier sollte unsere Wohnung sein. Ich
erhielt ein treffliches Zimmer im Erdgeschoß, das sogar mit einem
Sofa, einem Tisch, etlichen Stühlen und einer Badewanne möbliert war;
mein Schlafgemach war der Hof, in den nur wenige Stunden am Tage die
Sonne hineinschaute. Einige meiner deutschen Freunde bereiteten sich
ihre Lagerstätte auf dem höchsten Dache, das von einer ziemlich hohen
Mauer umgeben war, ein Zeichen, daß ein Araber das Haus gebaut hatte,
der seine Frauen profanen Blicken entziehen wollte. Auf der Mauer
nisteten mehrere Störche, deren Geklapper in den Höfen besonders laut
widerhallte, wenn die zahlreichen Katzen der Stadt über Dächer und Höfe
jagten oder ihre nächtlichen Konzerte veranstalteten.

[Illustration: Ein Storchennest auf unserm Dach.]

Nachdem wir uns mit Hilfe unseres Gepäcks ein wenig eingerichtet
hatten, war unser erster Gang zum deutschen Konsulat, einem von
prächtigen Gärten umgebenen Komplex von mehreren stattlichen Gebäuden
im Süden der Stadt, etwas entfernt vom Tigris. Der deutsche Konsul,
~Dr.~ Holstein, nahm uns mit gewinnender Liebenswürdigkeit auf,
und sein Haus wurde für uns fast ein Klublokal, in dessen Räumen man
immer Freunde oder Bekannte zu treffen sicher war. Außer uns -- dem
Herzog, Rittmeister Schölvinck, Leutnant Busse und mir -- verkehrten
dort Major Köppen, Leutnant Staudinger, Stabsarzt Schwarz, der
deutsche Konsul Wustrow aus Teheran und der österreichische Konsul
~Dr.~ Jarolymek, der auf der Etappenstation in Mosul tätig war.
Solange des Herzogs eigene Küche noch nicht imstande war, mußten wir
auch zum Mittag- und Abendessen ~Dr.~ Holsteins unbegrenzte
Gastfreundschaft in Anspruch nehmen, und am Abend versammelten wir uns
regelmäßig auf einer der schattigen Dachterrassen, um die neuesten
Telegramme zu hören oder die Zeitungen zu lesen, die nach einer Reise
von mehreren Wochen angelangt waren. Vom Dach des Konsulats, auf
dem an gewaltigem Mast die deutsche Reichsflagge wehte, hatte man
eine weite Aussicht auf die grauen Häuser und gewundenen Straßen der
halbmondförmigen Stadt, den berühmten Damm, die unfruchtbare Öde
der Steppe und des persischen Grenzgebirges und auf das englische
Gefangenenlager am Tigrisufer mit seinem Wirrwarr von Zelten und seinem
Gewimmel von Menschen und Tieren. Schon 8600 Gefangene hatten bisher
dort unten gelagert; auch der irische Priester, den ich in Bagdad und
Samarra getroffen hatte, kam während meines Aufenthalts in Mosul hier
durch.

Am 11. Juni, dem ersten Pfingstfeiertag, begleitete mich ~Dr.~
Jarolymek auf einer Rundfahrt durch Mosul. Wir fuhren nach Nordwesten
die Stadtmauer entlang bis Bab-el-beith, dem Eiertor; eine alte
Inschrift über dem Torbogen erklärt den Namen: sie erzählt von einer
ehemaligen Hungersnot, bei der man für einen Para (etwas über 40
Pfennig) nur 40 Eier erhalten habe! Jetzt kostete ein Ei 6-7 Para, also
einen Taler, ohne daß eine Hungersnot herrschte. Die Stadtmauer ist
etwa 300 Jahre alt und mit einigen runden Türmen besetzt. Die übrigen
Tore heißen Bab-el-dschedid, Bab-Sindschar, Bab-Ligisch und Bab-el-Tob;
letzteres und Bab-Sindschar sind jetzt zerstört.

Vom Eiertor folgten wir der grauen Mauer nach Norden und bogen dann
nach Nordwesten ab, sahen eine Schule, die jetzt Krankenhaus war,
das Städtische Lazarett und das Judenviertel, dessen Bewohner sich
hauptsächlich durch Herstellung von Silberschmuck ihren Lebensunterhalt
erwerben, ließen das englische Konsulat, das jetzt von der türkischen
Regierung mit Beschlag belegt war, links liegen und hatten nun die alte
Seldschukenburg vor uns, die sich auf steiler Klippe hoch über dem
rechten Tigrisufer erhebt.

Der Blick von dort oben gehört ohne Zweifel zu den merkwürdigsten, die
sich auf Erden dem Auge bieten. Von Schönheit der Landschaft kann man
dabei nicht eben sprechen. Das Tal des Satledsch durch den Himalaja,
die Grusinische Heerstraße über den Kaukasus, die Ufer des Brahmaputra
von den Abhängen des Transhimalaja aus gesehen -- welche Fülle von
Schönheit bieten sie gegenüber dem dürftigen Strande des Tigris!
Und Aleppo, Damaskus und Jerusalem nehmen sich, von oben gesehen,
weit stolzer aus als dies kleine, unbedeutende Mosul. Aber in einer
Beziehung übertrifft die Aussicht von der alten Seldschukenburg doch
alle übrigen, denn im Mittelpunkt dieser Landschaft liegt Ninive, die
älteste Königsstadt der Erde. Im Osten reicht der Blick bis zu den
Bergen von Rowandus und im Norden bis zum armenischen Taurus, über
dessen Kamm bei klarem Wetter schneebedeckte Gipfel stehen.

[Illustration: Die Seldschukenburg aus der Nähe.

Rechts der Tigris.]

Gerade unterhalb der Burg macht der Tigris eine Wendung und
verschwindet im Nordwesten, von wo er kommt, und im Südosten, auf dem
Wege nach Bagdad, in blauer Ferne. Er ist aber hier in Mosul viel
weniger imposant als in der Stadt der Kalifen, wo seine Wassermenge,
trotz der starken Verdunstung auf dieser Strecke, viel bedeutender
erscheint infolge des Zuflusses des Kleinen und Großen Zab, des Zabatus
Minor und des Zabatus Major.

Unten am Ufer saßen Hunderte von Frauen und spülten und klopften ihre
Wäsche. So sitzen sie dort jahraus, jahrein in brennender Sommersonne
und in der Winterkälte, die hier viel stärker sein soll als in Bagdad,
denn Mosul liegt 250 Meter über dem Meeresspiegel, Bagdad nur 50. Die
Sommertemperatur ist aber in beiden Städten ungefähr die gleiche.

Oberhalb der Fähre wurde eine Herde schwarzer Büffel über den Strom
getrieben. Das Bad gefiel ihnen offenbar, denn sie schwammen langsam
und ließen sich ein gutes Stück nach der Brücke hinabtreiben, bis sie,
vom Wasser glänzend und tropfend, das jenseitige Ufer erreichten.

Südlich der Seldschukenburg hielten wir bei der kleinen Grabmoschee
Jahija Abu Kasim, deren schöne, mit Fayence bekleidete Vorderseite
in ihrer Wirkung beeinträchtigt wird durch ein später gebautes,
vorstehendes Marmorportal. Gleich dem Grabe der Sobeïd in Bagdad hat
dieses Mausoleum statt einer Kuppel ein spitzes, pyramidenförmiges
Dach, das für andere Grabdenkmäler dieser Gegend vorbildlich gewesen
ist.

Nahe dabei stehen dicht am Ufer die Ruinen offenbar einer ehemaligen
Moschee namens Bedretdin Sultan Lulu, wo man dicht am Ufer zahlreiche
Fische im Strom beobachten kann. Von drüben hört man das Wimmern der
Wasserräder, die schmale Streifen Ackerland bewässern, und ab und zu
kommen merkwürdige Fahrzeuge durch die Brücke geschwommen; sie sehen
wie losgerissene Inseln aus, und in ihrer Mitte sitzen ein paar Leute
wie Eier in einer Schüssel Spinat; es sind kleine Kelleks, deren
Holzrost, von aufgeblasenen Ziegenfellen getragen, oben mit Reisig und
Zweigen bedeckt ist.

Nach dieser ersten orientierenden Rundfahrt durchwanderte ich nun Tag
für Tag die Straßen Mosuls, die denen von Bagdad an malerischem Reiz
weit nachstehen, denn der herrliche Schmuck der Palmen fehlt hier
ganz; überhaupt sieht man in der Stadt kaum eine Spur von Grün. Dafür
sind aber die Häuser Mosuls stattlicher und viel fester gebaut, nicht
aus schlecht gebrannten Ziegeln, sondern aus Stein, der Jahrhunderte
überdauert. Der Stil ist derselbe wie in Bagdad, die Architektur aber
reicher und vornehmer. Von der engen, schmutzigen Gasse führt ein
unansehnliches Tor mit einem Eisenklöppel oder -ring durch einen Gang
auf den viereckigen, gepflasterten Hof, wo ein kleines Wasserbecken
einige Kühle und bestenfalls niedrige Maulbeer- und Orangenbäumchen
etwas Schatten verbreiten. Sofas und Stühle zeigen, daß hier tagsüber
der Wohnraum der Familie ist. Das Erdgeschoß des Hauses enthält Küche,
Vorratskammern, Holzschuppen, Ställe und Dienstbotenwohnungen. Der
nach dem Hof offene Empfangsraum (Eivan oder Ivan) ist wie in Bagdad
zu ebener Erde oder auch eine halbe Treppe hoch, mit Eingang von der
ersten Galerie. Die Privatgemächer, Schlafräume usw., liegen eine
Treppe höher. Darüber ist das flache Dach, auf dem man die heißen
Sommernächte zubringt.

[Illustration: Stickende Araberin in Mosul.]

Die Front der Häuser ist nicht nach der Straße, sondern nach
dem Hof hinaus, denn der Orientale verbirgt sein Familienleben
eifersüchtig vor der Außenwelt. Das gilt auch für christliche,
syrische und chaldäische Häuser. In diese erhält man leicht Zutritt,
die weiblichen Angehörigen gehen unverschleiert und beteiligen sich
an der Unterhaltung mit dem Gast. Aber man muß schon ein sehr guter
Freund des Hauses sein, wenn selbst die christlichen Frauen in
Gegenwart eines Europäers ihre angeborene Scheu überwinden sollen. Die
Hoffront vornehmer Häuser zeigt reichen Marmor- oder Alabasterschmuck,
hauptsächlich an den Seitenflügeln, denn den Rücken des Vorderhauses,
durch das man eintritt, bilden die schattigen, von Steinsäulen
getragenen Pferdeställe. Die eigentliche Hauptfront gegenüber ist zum
größten Teil von Galerien bedeckt, und die vergitterten Bogenfenster
darunter lassen wenig Raum zu ornamentalem Schmuck. Dieser beschränkt
sich daher auf das untere Mauerwerk, während die Wände der Seitenflügel
bis zum Dach hinauf mit Blumengewinden und Blattwerk in Relief verziert
sind. Auch die höchsten Fenster haben zum Schutz gegen Einbrecher dicke
Gitter; die Eisenstangen sind an ihren Kreuzungspunkten noch durch
Ringe gesichert. Gegen die Sonne schützen Holzläden, wie man sie auch
in Konstantinopel findet.

[Illustration: Vier Musikanten vor der Treppe, die vom Hof zum
Empfangsraum hinaufführt.]

[Illustration: Die mit Marmorreliefs geschmückte Hoffront eines
vornehmen Hauses in Mosul.]

Mosul zählt viele solcher vornehmen Häuser, deren Besitzer armenischer,
syrischer oder chaldäischer Abstammung, Mohammedaner oder Christen,
Kaufleute oder Priester sind. Es besitzt eine starke kaufmännische
Aristokratie, deren Ansehen weit über das Weichbild der Stadt
hinausreicht. Solch ein Hof mit seinem kostbaren Marmorschmuck zeugt
von erworbenem oder ererbtem Reichtum, der sich im Takt mit den
lautlosen Schritten der Kamele auf den weiten Wanderungen der Karawanen
vermehrt, wenn nicht die Wüstenschiffe durch Zyklone Schiffbruch leiden
oder arabische Piraten mit den Ballen Baumwolle, gepreßter Datteln,
bunter Stoffe, Kolonialwaren und europäischen Krams in der Tiefe der
Wüste verschwinden. Auch der Handel Mosuls war durch den Krieg fast
völlig lahmgelegt. Aus Indien und Basra kam gar nichts; die persischen
und kaukasischen Handelsstraßen waren gesperrt, und die Anatolische
Eisenbahn fast ausschließlich mit Militärtransporten belegt. Doch
wartete man mit echt orientalischer, fatalistischer Ruhe der kommenden
besseren Zeiten.

[Illustration: Hadschi Mansur, 65jähriger Chaldäer.]

[Illustration: Straße in Mosul.]

Solch ein schattiger Hof wirkt gegenüber den backstubenheißen Straßen
wie eine Oase in der Wüste. Hin und wieder besprengt ein Sakka das
Steinpflaster mit Wasser. Nur eines vermißt man: nie dringt ein
Luftzug hier hinein; nur wenn Stürme über das Land ziehen, stürzen die
Wirbelwinde wie Wasserfälle von den Dächern herab auf das Laub der
Maulbeerbäume. Im übrigen aber entspricht ja diese Bauart, wie schon im
alten Assyrien und Babylonien, vollkommen dem durch das Klima bedingten
Bedürfnis. Unsere europäischen Häuser mit ihren nach Luft und Licht
verlangenden Fenstern auf allen Seiten würden in Mosul unerträgliche
Steinkamine sein. Auch die Häuser der Armen haben dieselbe Bauart; nur
fehlt natürlich der Marmorschmuck; oft sind sie aus unbehauenem Stein
oder nur aus an der Sonne getrocknetem Lehm.

Dem kunstverständigen Auge, das auf diesen Höfen der zahlreichen
vornehmen Häuser an malerischen Motiven reiche Ausbeute findet, mag
Mosul leicht als eine Perle unter den Städten des Orients erscheinen.
Das Panorama von einem hohen Dache aus enttäuscht aber stark. Man sieht
nichts als graue, fensterlose Mauern, flache Hausdächer mit Brustwehren
in verschiedener Höhe, runde Minarette mit einem oder mehreren
Rundgängen für die Gebetsrufer, und hier und da die viereckigen Türme
und flachen Kuppeln der christlichen Kirchen und Klöster.

[Illustration: Toros, 60jähriger armenischer Karawanenfuhrer aus
Erserum.]

[Illustration: Basarstraße in Mosul.]

Weit dankbarer ist eine Wanderung durch die Straßen und Basare,
wahrhaftige Labyrinthe, durch die man sich nur unter kundiger Führung
hindurchfindet. Eng und winkelig sind die Gassen, wie in Bagdad,
weniger häufig die Holzerker. Die belebteren Stadtviertel haben
Steinpflaster, aber so schlechtes, daß eine Droschke verunglücken
würde, wenn sie sich überhaupt hier durchzwängen könnte. Schmutz,
Unrat, Gerümpel, Fruchtschalen, Gedärme und andere Küchenabfälle
liegen haufenweise umher, die widerwärtigen Hunde wühlen darin herum.
Die Straßenreinigung besorgt nur ab und zu ein heftiger Sturmwind
mit riesengroßem Besen; ganze Kehrichtwolken füllen dann die Basare.
Vergebliche Mühe! In den Winkeln sammelt und häuft sich der Schmutz um
so höher, und dort bleibt er liegen.

[Illustration: Eine schöne Ecke im Basar.]

In den lebhaftesten Straßen des Basars sind die Läden der
Waffenschmiede und Gelbgießer, die Stände der Schmiede und Seiler,
Fleischbänke und Obstläden, wo Rosinen und Mandeln, Nüsse, Gurken,
Gewürze usw. feilgehalten werden. Das Geschäft der Töpfer blüht,
denn der Krug geht solange zu Wasser, bis er bricht, und ganz Mosul
braucht die hübschen Trinkgefäße, die die Frauen so anmutig auf dem
Kopfe einhertragen. In den Buchläden schmökern Männer im Turban oder
Fes umher. Durchmarschierende Soldaten kaufen Tabak und Pfeifen,
Feuerstahl und Mundstücke. Mächtige Ballen europäischer Stoffe liegen
aufgestapelt, immer in schreiender Farbe, die das Auge des Orientalen
erfreut. Ein Hammam, ein Bad, ist überall in der Nähe. Kleine Tunnel,
deren spitzbogige Tore oft von schönen Skulpturen umrahmt sind, führen
zu den Karawansereien der Großkaufleute, und Stände mit alten
Kleidern, wahre Herde für ansteckende Krankheiten und Ungeziefer,
fehlen auch nicht. In den engsten Gassen arbeiten die Barbiere in
schattigen Gewölben. Schutzdächer aus dünnen Brettern oder Bastmatten
über den Läden erhöhen noch die malerische Buntheit der Straßenbilder.

[Illustration: Bab-el-Dschiser.]

Das Herz des Basars ist ein kleiner, unregelmäßiger Marktplatz, auf den
die Hauptstraßen zusammenlaufen. Hier liegen mehrere Kaffeehäuser. Auf
der offenen Veranda des einen habe ich viele Stunden zugebracht. Unter
mir ein Gewimmel, wie in einem Ameisenhaufen; würdig einherschreitende
Orientalen im Turban oder Fes und in weißen, braunen oder gestreiften
Kopftüchern mit Scheitelringen, Chaldäer und Syrier -- im Fes, aber
sonst europäisch gekleidet --, Priester und Bettler, Frauen mit und
ohne Schleier, Hausierer und lärmende Kinder, Eseltreiber mit ihren
störrischen Langohren und Kameltreiber durchziehender Karawanen, die
nie ein Ende nahmen. Das Reizvollste aber war der Blick über dies
Gewimmel hinweg durch den mächtigen Rundbogen des gegenüberliegenden
Tores Bab-el-dschiser auf den nahen Strom, die Brücke, die seine Ufer
verbindet, und auf die Ruinenhügel von Ninive.

In 35 Bogen zwischen mächtigen Steinpfeilern setzt die Brücke über den
Strom. Aber nur auf dem linken Ufer ist sie landfest; bei niedrigem
Wasserstand steht sie dort zum größten Teil auf dem Trockenen.
Die Strömung geht am rechten Ufer entlang, wo auch das Bett am
tiefsten ist, und bei Hochwasser, nach der Schneeschmelze oder nach
Frühjahrsregen, würde auch die stärkste Steinbrücke der rasenden Gewalt
des Wassers nicht widerstehen. Deshalb hat man hier eine Pontonbrücke
angesetzt, deren Verbindungsteil mit der Steinbrücke, je nach dem
Wasserstand, seine Lage selbsttätig ändert. Auch unterhalb der festen
Brücke läuft ein Fußsteig, der aber nur bei niedrigem Wasserstand
begangen werden kann; jetzt war er überschwemmt. Die Brücke wurde vor
achtzig Jahren von einem Italiener gebaut, dessen Sohn noch jetzt in
Mosul leben soll.

Das orientalische Gepräge Mosuls wird starke Einbuße erleiden,
wenn nach dem Kriege die Bagdadbahn fertig ist, und Eisenbahnen,
Lokomotiven und Güterzüge die Kamele verdrängen. Schon jetzt hatte die
Regulierungsmanie eines Wali auch hier gewütet. Vom künftigen Bahnhof
brach man eine Straße quer durch die Stadt zum Tigris. Dadurch fiel
eine Menge schöner alter Häuser und Höfe der Spitzhacke zum Opfer.
Der Krieg verhinderte bisher den Neubau; infolgedessen sah die Straße
aus, als habe ein Erdbeben sie zerstört, oder als hätten die Russen
hier wie in Ostpreußen gehaust. Halb abgerissene Häuser standen da,
und bloßgelegte Höfe mit hohen Gewölben, Säulen und Marmorarabesken
boten einen traurigen Anblick. Ich fragte den Gendarm, den mir der
Kommandant als Begleiter mitgegeben hatte, ob der für diese Zerstörung
verantwortliche Wali nicht gehängt worden sei. „Im Gegenteil,“
antwortete er lachend, „jedenfalls ist er Ehrenbürger von Mosul
geworden!“

[Illustration: Tunnel im Basar.]

Meine Streifzüge durch Mosul beschloß ich gewöhnlich mit dem Besuch
eines Gasthauses, dessen Besitzer, der Italiener Henriques, mit
einer tüchtigen deutschen Frau verheiratet ist; aus Bagdad hatte
man ihn ausgewiesen, in Mosul aber ließ man ihn unbehelligt. Er
wohnte fast außerhalb der Stadt an einem großen Platz zwischen den
Infanteriekasernen, dem Konak und dem Serail, wo die Zivilbehörden
ihren Sitz haben, und verschenkte den herrlichsten Nektar, den man sich
in der Sonnenglut wünschen konnte, eiskalte Limonade.

[Illustration: Der chaldäische Patriarch, rechts der Herzog, links
Koeppen und Staudinger.]

[Illustration: Monseigneur Chajat.]

Von den Kirchen Mosuls soll die ältere chaldäische aus dem 7.
Jahrhundert stammen. Unmittelbar neben ihr liegt die jetzige
chaldäische Kathedrale, die im 14. Jahrhundert erbaut und 1810 und
1896 erneuert wurde. Es war gerade Vespergottesdienst, als wir sie in
Begleitung mehrerer Priester besuchten, und der Gesang der Chorknaben
erfüllte die niedrigen Wölbungen des Kirchenschiffs, das vom Altar
durch einen Vorhang getrennt war. Die Wölbungen ruhen auf acht Säulen;
Kapitäle und das sie verbindende Gebälk sind mit Bibelsprüchen bedeckt,
der Boden mit Teppichen belegt. An die Kathedrale schließt sich das
Seminar mit einem geräumigen Hof. Ein Gang und eine Treppe führen in
eine Krypta, eine andere Treppe auf einen kleinen Hof, an dem ein
Zimmer gezeigt wird, das Feldmarschall von Moltke 1837 bewohnt haben
soll. Ein dritter Hof umschließt eine Begräbnisstätte der Chaldäer.
Sonntag, den 18. Juni, waren der Herzog und wir andern frühmorgens
½6 Uhr zu einer feierlichen Messe in der Kathedrale eingeladen.
Der Vorhang vor dem Chor war nun aufgezogen, der Altar strahlte im
Kerzenlicht, und Knaben- und Männerchöre sangen oder vielmehr schrien
Psalmen und Lieder. Der Patriarch, ein ehrwürdiger Greis mit langem,
weißem Haar und freundlichen Augen hinter runden Brillengläsern,
zelebrierte selbst und murmelte mit dumpfer Stimme uns unverständliche
Worte aus goldbeschlagenen Büchern. Die Morgensonne flutete durch
die Fenster herein auf die dichte Menge der Andächtigen, und die
Festkleider der chaldäischen Frauen leuchteten in allen Farben.

[Illustration: Erntetanz.]

Am zweiten Sonntag lud mich der Chorbischof der syrischen Kirche,
Monseigneur Chajat, ~Fondateur de l’Institut Pius X. à Mosoul~, zu
einer höchst originellen Tanzvorstellung kurdischer Landleute, die zur
Erntearbeit nach Mosul zu kommen pflegen. Die Männer trugen Turbane,
Westen, Leibgürtel und lange Hosen, die Frauen leichte Kopftücher,
Mieder oder Jäckchen und bunte Röcke. Vier Musikanten spielten auf;
ihre Instrumente waren ein Kanun, ein zitherartiges Saitenspiel, das
man aus den Knien hält, ein Oud oder eine Gitarre, ein Dumbug oder
eine Trommel und ein Tamburin mit rasselnden Tellerchen an der Seite,
genannt Daff (vgl. das Bild S. 348).

[Illustration: Der erste Teil des Erntetanzes: Die Sicheln werden
geschliffen.]

[Illustration: In raschem Tempo.]

Erst traten die Männer vor, faßten sich an den Händen und begannen
jenen rhythmisch wiegenden Tanz, den ich schon bei den Arabern gesehen
hatte. Bald warfen sie sich nach rechts, bald nach links vornüber,
jedesmal den Fuß gegen die Steinplatten stemmend, und zwar mit solchem
Nachdruck, daß man fürchtete, sie müßten sich die Fußsohlen zerreißen.
Der Schweiß floß ihnen vom Gesicht herab, die Augen glänzten vor
Eifer; die Tänzer schienen völlig im Bann der immer leidenschaftlicher
anschwellenden Musik, die Finger rissen immer ungestümer die Saiten,
die Knöchel schlugen mit rasender Schnelligkeit das gespannte
Trommelfell, und wie ein saugender Strudel des Tigris wirbelte es um
die Maulbeerbäume des Hofes herum.

Am zweiten Tanz nahmen auch die Frauen teil, und den Schluß bildete
der Erntetanz der Männer. Erst saßen sie auf dem Boden und schliffen
ihre Sicheln zum Takt der Musik. Dann standen sie auf und machten in
wiegendem Gang die Bewegungen des Schnitters beim Mähen der Saat. Dann
steigerte sich der Tanz zu einem wilden Krescendo.

Hinterher gaben uns die Musikanten in einer Loggia noch ein besonderes
Konzert. Sie spielten einen algerischen Marsch, der an der Nordküste
Afrikas volkstümlich sein soll, und melancholische, eintönige Weisen
zu den Liedern eines arabischen Sängers, denen man stundenlang zuhören
konnte.

Das Haus des Chorbischofs war einer der schönsten Paläste in Mosul, und
Monseigneur Chajat hatte die Liebenswürdigkeit, mir eines seiner Zimmer
als Atelier einzuräumen und mir zahlreiche männliche und weibliche
Modelle zu beschaffen. Die Bilder, die ich von ihnen entwarf, erheben
keinen Anspruch auf künstlerischen Wert, geben aber wohl einen Begriff
von der Mannigfaltigkeit charakteristischer Typen, die Mosuls Straßen
und Basare beleben und dem Auge des Malers einen unerschöpflichen Reiz
bieten.




[Illustration: Das Tor Bab-el-Dschiser in Mosul mit Blick auf die
Tigrisbrücke und Ninive.]




Dreiundzwanzigstes Kapitel.

Ninive.


Im vorigen Kapitel berichtete ich schon, daß ich am 11. Juni 1916 die
alte Seldschukenburg in Mosul bestieg, die sich auf einem steilen
Felsen über dem rechten Ufer des Tigris erhebt, und zum erstenmal
die alte Königsstadt Ninive vor mir sah -- oder vielmehr die Stelle,
wo sie ehemals gestanden hat. Keine grauen Massen gewaltiger Mauern,
keine Türme mit Zinnen, keine Terrassen von Königspalästen oder
festen Bürgerhäusern sind mehr zu sehen; nicht einmal Reste ihrer
Grundmauern ragen über der Erde hervor. Alles ist verschwunden; nur
drei ausgedehnte, gleichförmige Hügel mit schroffen Abhängen verraten
den Ort, wo vor Jahrtausenden die Hauptstadt des assyrischen Weltreichs
blühte. Von der beherrschenden Höhe der Seldschukenburg aus erhält man
aber wenigstens einen ungefähren Begriff von der Lage und Größe dieser
Stadt, und die Phantasie glaubt den Lauf der Stadtmauer zu erkennen.
Sonst nichts als graubraune Wüste in glühendem Sonnenbrand.

Und diesen Eindruck unendlicher Verwüstung erhielt ich auch, als ich am
16. Juni mit Professor Tafel, der ebenfalls von Bagdad herübergekommen
war, auf dem Ruinenfeld selbst umherstreifte. Nur an zwei Stellen
dieses ungeheuern Friedhofes hat sich das Leben noch festgenistet; die
eine ist das Dorf Nebi Junus, unmittelbar neben dem südlichen Hügel und
selbst auf einer kleinen Anhöhe gelegen, von der die Grabmoschee des
Propheten Jonas weithin sichtbar ist, und das Dorf Kujundschik, berühmt
als einer der ergiebigsten Fundorte der Assyriologen.

Die Droschke, mit der wir von Mosul über das Rollsteinpflaster
der Tigrisbrücke Ninive entgegenfuhren, war mit Seilen umschnürt,
weil ihre gesprungenen und eingetrockneten Radkränze und Speichen
auseinanderzufallen drohten. Auf dem linken Ufer bogen wir rechts ab
und hielten bald am Fuße des Abhangs, von wo ein Fußweg zur Grabmoschee
Nebi Junus hinaufführt. Es war gerade Freitag und Gottesdienst in der
Moschee.

[Illustration: Oberster Priester der Grabmoschee des Propheten Jonas.]

Man empfing uns freundlich und geleitete uns zu einer Dachterrasse
hinauf, von der aus eine Tür in den Tempel führte. In einem kleinen
Kiosk, einem Turmzimmer mit Fenstern nach allen Himmelsrichtungen,
die eine prächtige Aussicht auf das gegenüberliegende Mosul darboten,
mußten wir warten, bis die Gebete zu Ende waren, die Allahs Segen auf
den Sultan, auf Kaiser Wilhelm und Kaiser Franz Joseph herabflehten
und um Sieg über die Feinde baten -- eine erbauliche Zeremonie für
die anwesenden englischen Untertanen, wenn anders sie aufrichtige
Gefühle für England im Herzen hegten. Ein kleiner weißbärtiger Alter,
den Turban auf dem Kopf und eine Brille auf der Nase, leistete uns mit
mehreren andern Mohammedanern Gesellschaft.

Als die Gläubigen die Moschee zu verlassen begannen, zogen wir die
Schuhe aus; unser Führer ergriff meine Hand und bat uns ihm zu
folgen. Das Innere des Tempels war sehr einfach und entbehrte jedes
Schmucks, nur ein paar verschlissene Teppiche lagen auf dem Boden.
Seitwärts vor einem Gitterfenster standen einige indische Mohammedaner
im Gebet versunken. Durch dieses Gitter sah man in die Krypta des
Propheten Jonas hinab, ein dunkles Loch, in dessen Mitte sich eine
sarkophagähnliche Erhöhung abhob. Das eigentliche Grab des Toten soll
aber unter diesem Denkmal liegen.

[Illustration: Indische Mohammedaner in der Moschee Nebi Junus.]

Eins der Minarette von Mosul hängt bedenklich über. Der Sage nach
verbeugten sich alle Gebetstürme in Ehrfurcht, als der Prophet Jonas
gleich unterhalb dieses Dorfes, das seinen Namen trägt, vom Walfisch
ans Land gespien wurde. Nachher richteten sie sich wieder auf bis auf
einen, der noch heute fortfährt, die Bewohner Mosuls an das Grab des
Heiligen zu erinnern.

Aus der stillen Kühle der Moschee gingen wir wieder in den Sonnenbrand
hinaus und stiegen langsam den Hügel hinab, auf dessen Abhang die
ärmlichen Hütten des Dorfes Nebi Junus in amphitheatralischer
Anordnung liegen. Auf einem der Höfe hatte sich eine Schar armenischer
Flüchtlinge gelagert. Dann fuhren wir eine Strecke nordwärts bis zum
Flusse Choser, der von Osten nach Westen die Ruinenstätte durchfließt.
Eine schöne neue Bogenbrücke führte hinüber, die aber auch schon so
verfallen war, daß wir vorzogen, sie zu Fuß zu überschreiten. Auf
einer Landspitze nahm eine Eselkarawane, Führer und Tiere, in dem
kristallklaren, fast stillstehenden Wasser ein Bad.

[Illustration: Josefine Saijo, 13jährige Syrierin.]

Bald hinter der Brücke beginnt der eine von den Hügeln Ninives, und
wir steigen seinen niedrigen Gipfel hinan. Ringsum nur Schutt und
Disteln -- nichts, was auch nur einigermaßen an die Welt des Altertums
erinnert, kaum daß die eingestürzte Mündung eines Tunnels die Spur
älterer englischer und französischer Ausgrabungen verrät. Lautlos
und öde dehnt sich die sonnenverbrannte Wüste vor uns; nur Scherben
zerbrochener Wasserkrüge liegen umher, zwischen denen zahlreiche
Eidechsen über glühend heiße Steine dahinhuschen. Die Grundmauern, auf
denen Königspaläste und Festungen ruhten, sind im Schutt verborgen, und
die Phantasie versagt, wenn sie aus diesem öden Nichts die Herrlichkeit
vergangener Jahrtausende erwecken soll. Auf diesem ungeheuern Friedhof
sind nicht einmal mehr Grabsteine zu finden, die ihr als Führer dienen
könnten, und in meinen Ohren klingen die Worte des Propheten Nahum,
zu dessen Grab in dem Dorf Alkosch, neun Stunden nördlich von Mosul,
an bestimmten Festtagen die Juden wallfahren: „Es wird der Zerstreuer
wider dich heraufziehen und die Feste belagern. Siehe wohl auf die
Straße, rüste dich aufs beste und stärke dich aufs gewaltigste.
Denn der Herr wird die Pracht Jakobs wiederbringen, wie die Pracht
Israels. Die Schilde seiner Starken sind rot, sein Heervolk glänzt
wie Purpur, seine Wagen leuchten wie Feuer, wenn er sich rüstet; ihre
Spieße beben. Die Wagen rollen auf den Gassen und rasseln auf den
Straßen. Sie glänzen wie Fackeln und fahren einher wie die Blitze.
Er aber wird an seine Gewaltigen denken; doch werden sie fallen, wo
sie hinaus wollen, und werden eilen zur Mauer und zu dem Schirm, da
sie sicher seien. Aber die Tore an den Wassern werden doch geöffnet,
und der Palast wird untergehen. Die Königin wird gefangen weggeführt
werden, und ihre Jungfrauen werden seufzen wie die Tauben und an ihre
Brust schlagen. Denn Ninive ist ein Teich voll Wasser von jeher; aber
dasselbe wird verfließen müssen. Stehet, stehet, werden sie rufen,
aber da wird sich niemand umwenden. So raubet nun Silber, raubet Gold,
denn hier ist der Schätze kein Ende und die Menge aller köstlichen
Kleinode. Nun muß sie rein abgelesen und geplündert werden, daß ihr
Herz muß verzagen, die Kniee schlottern, alle Lenden zittern und alle
Angesichter bleich werden. Wo ist nun die Wohnung der Löwen und die
Weide der jungen Löwin, da der Löwe und die Löwin mit den jungen Löwen
wandelten und niemand durfte sie scheuchen? Der Löwe raubte genug für
seine Jungen und würgte es seinen Löwinnen. Seine Höhlen füllte er
mit Raub und seine Wohnungen mit dem, was er zerrissen hatte. Siehe
ich will an dich, spricht der Herr Zebaoth, und deine Wagen im Rauch
anzünden, und das Schwert soll deine jungen Löwen fressen; und will
deines Raubens ein Ende machen auf Erden, daß man deiner Boten Stimme
nicht mehr hören soll. Wehe der mörderischen Stadt, die voll Lügen und
Räuberei ist und von ihrem Rauben nicht lassen will. Denn da wird man
hören die Geißeln klappen und die Räder rasseln und die Rosse jagen und
die Wagen rollen. Reiter rücken herauf mit glänzenden Schwertern und
mit blitzenden Spießen. Da liegen viel Erschlagene und große Haufen
Leichname, daß ihrer keine Zahl ist und man über die Leichname fallen
muß. Und alle, die dich sehen, werden vor dir fliehen und sagen: Ninive
ist zerstört; wer soll Mitleiden mit ihr haben, und wo soll ich dir
Tröster suchen? Siehe dein Volk soll zu Weibern werden in dir, und die
Tore deines Landes sollen deinen Feinden geöffnet werden, und das Feuer
soll deine Riegel verzehren. Schöpfe dir Wasser, denn du wirst belagert
werden! Bessere deine Festen! Gehe in den Ton und tritt den Lehm und
mache starke Ziegel! Aber das Feuer wird dich fressen, und das Schwert
töten; es wird dich abfressen wie die Käfer, ob deines Volks schon viel
ist wie Käfer, ob deines Volks schon viel ist wie Heuschrecken. Deiner
Herren sind so viele wie Heuschrecken und deiner Hauptleute wie Käfer,
die sich an die Zäune lagern in den kalten Tagen. Wenn aber die Sonne
aufgeht, heben sie sich davon, daß man nicht weiß, wo sie bleiben.
Deine Hirten werden schlafen, o König zu Assur, deine Mächtigen werden
sich legen; und dein Volk wird auf den Bergen zerstreut sein und
niemand wird sie versammeln. Niemand wird deine Schaden lindern, und
deine Wunde wird unheilbar sein.“ --

[Illustration: Monseigneur Boloß, syrischer Bischof in Dara.]

[Illustration: Marie George, 30jährige syrische Katholikin, in Mosul
verheiratet.]

Fast gedörrt von der Sonne flüchteten wir bald zurück über den Tigris
in die schattigen Räume eines der Kaffeehäuser am rechten Ufer, auf
dessen oberen Balkonen lauter Beduinen, auf den unteren fesgeschmückte
Männer in echt orientalischer Beschaulichkeit ihre Tage verbringen,
ihre Tage im wörtlichen Sinne, denn die Besucher richten sich hier für
den ganzen Tag ein, zahlen 10 Para und können dafür so viel Kaffee
trinken wie sie wollen. In seinen leichten Sommermantel gehüllt sitzt
der Gast vor seiner Kaffeeschale, raucht seine Pfeife und tut durchaus
nichts; höchstens daß er einmal mit einem Freunde aus Bagdad eine
Partie Schach spielt oder mit Bekannten über Geschäfte redet. Geld und
Geldgewinn sind außer Lappalien die einzigen Gesprächsgegenstände.
Der Weltkrieg kümmert diese Männer nur insoweit, als das wechselnde
Waffenglück die Geschäfte beeinflußt. Von seiner ungeheuren Bedeutung
für die Zukunft der ganzen Menschheit ahnen, von dem Anlaß des Kampfes,
von den Zielen der Gegner wissen sie nichts. Wenn sie nur zur rechten
Zeit die geschäftliche Konjunktur ausnutzen und sich am Klang des
Goldes in eisenbeschlagenen Kisten freuen können. Alles Übrige ist
ihnen gleichgültig -- ganz wie gewissen Leuten in Europa, die sich
ihrer ungeheuern Verantwortung vor Gegenwart und Zukunft nicht bewußt
sind! Stumpf und schläfrig schweifen die Blicke über das bunte Leben
auf der Brücke, die badenden Jungen, die schwimmenden Büffel, die
zierlichen Gemüseinseln, die durch die Brückenbogen treiben, und über
den Strom hinüber zu den Ruinenhügeln Ninives. Langsam gleiten die
99 Kugeln des Rosenkranzes durch die Finger, aber das Ohr vernimmt
nichts von den Stimmen der Vergänglichkeit, die mahnend von dort
herübertönen. --

[Illustration:

  Zeichnung von Gustave Doré.

Jonas ermahnt die Bewohner von Ninive, sich zu bessern.]

In der Bibel wird Ninive noch an andern Stellen erwähnt. Schon das
1. Buch Moses berichtet, daß Nimrud von Babel nach Assyrien zog und
Ninive baute. Zum Propheten Jona geschah das Wort des Herrn: „Mache
dich auf und gehe in die große Stadt Ninive und predige wider sie, denn
ihre Bosheit ist heraufgekommen vor mich.“ -- „Da machte sich Jona auf
und ging hin gen Ninive, wie der Herr gesagt hatte. Ninive aber war
eine große Stadt vor Gott, drei Tagereisen groß. Und da Jona anfing
hineinzugehen eine Tagereise in die Stadt, predigte er und sprach: Es
sind noch vierzig Tage, so wird Ninive untergehen. Da glaubten die
Leute zu Ninive an Gott und ließen predigen, man sollte fasten, und
zogen Säcke an, beide groß und klein.“ -- „Da aber Gott sah ihre Werke,
daß sie sich bekehrten von ihrem bösen Wege, reute ihn das Übel, das er
geredet hatte ihnen zu tun, und er tat es nicht.“ -- Er sagte: „Mich
sollte nicht jammern Ninive, solcher großen Stadt, in welcher sind mehr
denn 120000 Menschen, die nicht wissen Unterschied, was rechts oder
links ist, dazu auch viele Tiere?“

[Illustration: Eine Frau trägt Wasser aus dem Tigris nach Hause.]

Als Tobit den Tod herannahen fühlte, sprach er zu seinem Sohn Tobias:
„Siehe, mein Sohn, ich bin alt und bereit aus dem Leben zu scheiden.
Nimm deine Söhne und begib dich nach Medien, mein Sohn. Denn ich
glaube, Ninive wird zerstört werden, wie es der Prophet Jona gesagt
hat.“ Darauf zog Tobias mit den Söhnen nach Ekbatana (Hamadan) in
Medien, wo er in hohem Alter aus dem Leben schied. Und ehe er starb,
erfuhr er den Untergang Ninives: es wurde von Nebukadnezar und Asverus
erobert. So durfte er sich vor seinem Tode über Ninives Fall freuen.

Der jahrtausendelang berühmte Name ist auch dem Menschensohn über die
Lippen gekommen. In einer Unterhaltung mit den Schriftgelehrten und
Pharisäern sagte Jesus: „Ninives Männer werden im Gericht mit diesem
Geschlecht auferstehen und es verdammen. Denn sie besserten sich nach
Jonas’ Predigt, und siehe hier ist mehr als Jonas.“

Von der Vernichtung „der großen Stadt“ spricht schließlich der Prophet
Zephanja in mächtigen Worten: Der Herr Zebaoth „wird seine Hände
strecken gen Mitternacht und Assur umbringen. Ninive wird er öde
machen, dürr wie eine Wüste, daß darin sich lagern werden allerlei
Tiere bei Haufen, auch Rohrdommeln und Igel werden wohnen in ihren
Säulenknäufen, und Vögel werden in den Fenstern singen, und auf der
Schwelle wird Verwüstung sein, denn die Zedernbretter sollen abgerissen
werden. Das ist die fröhliche Stadt, die so sicher wohnte und sprach in
ihrem Herzen: Ich bins und keine mehr. Wie ist sie so wüst geworden,
daß die Tiere darin wohnen! Und wer vorübergeht, pfeift sie an und
klatscht mit der Hand über sie.“

                               *       *
                                   *

Schon im Jahre 1575 vermutete der deutsche Arzt Rauwolff, daß die Hügel
gegenüber Mosul das alte Ninive einschlössen. Der Engländer James
Rich, der den ersten Anlaß zu den später systematisch betriebenen
Ausgrabungen in Mesopotamien gab, war von der Richtigkeit der
Annahme Rauwolffs überzeugt und schickte von Ninive Ziegelsteine mit
Keilschrift ins Britische Museum. Im Jahre 1842 legte der französische
Konsul Botta den Palast in Chorsabad bloß, das die Residenz Sargons
II., des Eroberers von Samaria, war, und 1847 machte der Engländer
Henry Layard großartige Entdeckungen in Ninive und Nimrud, wo er unter
anderm vier assyrische Paläste untersuchte. Seitdem ist die Entwicklung
der Ausgrabungen zu Ninive ein Siegeszug der Wissenschaft geworden, an
dem Engländer, Deutsche, Franzosen und Amerikaner mit gleichwertigen
Erfolgen beteiligt sind.

In dem Dorf Kujundschik auf den Hügeln von Ninive fanden Layard und
sein Gehilfe, der in Mosul geborene Hormuzd Rassam, in 22000 Tontafeln
aus der Zeit Sardanapals (Assurbanipals), des letzten großen Königs von
Assyrien (668-626), die älteste Bibliothek der Welt.

Jetzt besitzen die Museen Europas und Amerikas über 100000 solcher
Tafeln -- ein ungeheures Material, dessen Bearbeitung noch viele Jahre
erfordert; 1909 war unter andern C. Bezold schon ein Jahrzehnt lang mit
seiner Deutung beschäftigt. Die Franzosen entdeckten die herrlichen
Statuen des Königs Gudea, und in Susa die berühmten Gesetze des
Hammurabi. Amerikaner arbeiteten in Nuffar in Südbabylonien und fanden
1880-1900 Massen äußerst wertvoller Überreste aus dem 3. Jahrtausend,
die Hilprecht geschildert hat.

Dazu kamen im Jahr 1888 die sogenannten Amarnatexte, die jetzt in
Berlin, Kairo und London aufbewahrt werden. Bei dem Dorf Tell el-Amarna
zwischen Memphis und Theben fand eine Bauernfrau eine Steinkiste mit
300 Tafeln aus gebranntem Ton; sie enthielten Briefe der im 15. und 14.
Jahrhundert v. Chr. regierenden Pharaonen und westasiatischer Fürsten,
die jenen tributpflichtig waren. Dieser Fund warf neues Licht auf die
Geschichte Vorderasiens und die Verbindungen zwischen Assyrien und
Ägypten. Einen dieser Briefe aus dem 15. Jahrhundert schrieb ein König
Abdichiba in Urusalim (Jerusalem), das Pharao seinen Herrn nannte;
schon ein halbes Jahrtausend vor Salomo wird also die heilige Stadt in
einer Urkunde erwähnt.




[Illustration: Die Seldschukenburg.]




Vierundzwanzigstes Kapitel.

Die Keilschrift und die älteste Bibliothek der Welt.


Wahrscheinlich im vierten Jahrtausend v. Chr. wanderten von
Arabien die Ostsemiten nach Südbabylonien ein. Ihre Sprache war
das Babylonisch-assyrische, ein Name, der aus den einheimischen
Worten Babilu und Aschschur, Babel oder griechisch Babylon und Assur
oder Assyrien gebildet ist. Die semitischen Einwanderer, deren
ursprüngliche Heimat jedenfalls Nordafrika war, fanden das Land von
den Sumerern bewohnt, einem nichtsemitischen Volke, dessen Urheimat
wahrscheinlich Zentralasien war. Diese Sumerer sind die ältesten
Bewohner Mesopotamiens. Sie wohnten in Ziegelhäusern, bauten ihren
Göttern Tempel, trieben Ackerbau, Viehzucht und Jagd und besaßen
eine uralte Kultur, deren Höhe zahlreiche Urkunden besonders aus
der Regierungszeit des Königs Gudea beweisen. Die lebensgroßen, aus
Diorit gehauenen Standbilder Gudeas, die jetzt im Louvre zu Paris
aufbewahrt werden, zeugen von einer Kunst, mit der sich kein anderes
Land des morgenländischen Altertums messen kann; niemals hat Asien
vor der Blütezeit der griechischen Skulptur trefflichere Plastiken
hervorgebracht.

[Illustration: Naima, 20jährige Chaldäerin aus Mosul.]

Urkunden aus der Zeit Sargons I., etwa 2850 Jahre v. Chr., erwähnen zum
erstenmal die werdende Reichshauptstadt Babel oder Babylon; der König
habe hier zwei Tempel gebaut. Unter seiner Regierung gewannen auch
die Semiten erst die Herrschaft über das ganze Land. In der ältesten
Zeit Babyloniens oder Sinears lebten die Sumerer überwiegend in
Südbabylonien, das Sumer hieß, die Semiten in Nordbabylonien oder Akkad.

Von Sargon I. berichten zwei Tontafeln eine Geschichte, die an die
Aussetzung des Moses erinnert. Sargon, heißt es, wurde am Ufer des
Euphrat geboren. Seine Mutter legte ihn in einen verschlossenen,
durch Erdpech gedichteten Schilfkorb und warf ihn in den Strom.
Der Wasserträger Akki fand ihn und erzog ihn zum Gärtner. Aber die
Liebesgöttin Ischtar erhob ihn zum König über die schwarzköpfige
Menschheit. Sargon regierte in der Stadt Akkad in Nordbabylonien. Aber
diese Stadt war nicht die erste Kulturmetropole. Denn vor Sargon gab
es vier sumerische Hegemonien, unter ihnen die der Stadt des Kisch,
dessen Herrschaft die Stadt Sirpurla oder Lagasch, das jetzige Tello
am Schatt-el-Hai, unterstand. Sargon unterwarf ganz Sumer, doch
gewann Sirpurla unter Gudea (etwa 2600) seine Unabhängigkeit zurück.
Inschriften aus seiner Zeit berichten von Kämpfen zwischen Babylonien
und Elam. Aus französischen Funden geht hervor, daß die Könige der
Elamiten viele Plünderungszüge nach Babylonien unternahmen.

Die Sumerer besaßen eine Schriftsprache, die schon bei den klassischen
Schriftstellern Beachtung fand, denn alle Ruinen und Kunstdenkmäler
der Euphrat- und Tigrisländer, Persiens und Armeniens waren mit den
geheimnisvollen Zeichen dieser Schrift bedeckt. Europäische Reisende
des vierzehnten Jahrhunderts brachten mancherlei Kunde darüber in ihre
Heimat, und der berühmte italienische Reisende Pietro della Valle
machte im Jahre 1621 zuerst einige dieser Zeichen in Europa bekannt.
Ein französischer Kaufmann namens Chardin, der in den Jahren 1664-1670
und 1671-1677 zwei große Reisen durch den Orient unternahm, teilte dann
in seinem vortrefflichen Werke „~Voyage en Perse et autres lieux de
l’Orient~“ (1711) die ersten vollständigen Inschriften mit.

[Illustration: Minarett in Mosul.]

Die neue Schrift hatte nur zwei Zeichen, den Keil und den Winkelhaken,
der wieder aus zwei rechtwinklig zusammengefügten Keilen bestand. Der
Keil stand senkrecht, wagerecht oder schräg, seine Spitze aber zeigte
immer nur nach unten oder nach rechts, und der Winkelhaken öffnete
sich nur nach rechts. Durch Vervielfachung und verschiedenartige
Gruppierung der Keile oder der Winkelhaken und durch mannigfaltige
Verbindung beider Zeichen schienen Laut- oder Wortbilder geformt zu
sein, die sich ohne Unterbrechung aneinanderreihten. Jede Rundung in
den Schriftzeichen fehlte; sie paßten sich ganz dem harten Material an,
in das sie eingehauen waren.

Die Bedeutung dieser Zeichen, meinte Chardin, werde man wohl niemals
ergründen. Aber schon Pietro della Valle hatte die Vermutung geäußert,
daß die merkwürdige Schrift von rechts nach links gelesen werden
müsse. Den Beweis dafür erbrachte der deutsche Forschungsreisende
Carsten Niebuhr, der von 1761-1767 Arabien bereiste, auch Persepolis,
die Hauptstadt der altpersischen Achämenidendynastie, besuchte und
alle dort erreichbaren Inschriften mit größter Genauigkeit kopierte.
Er erkannte außerdem, daß jene beiden Zeichen, Keil und Winkelhaken,
drei verschiedene Schriftsysteme bildeten, und daß diese drei
Systeme stets zusammen vorkamen; ein- und derselbe Text war offenbar
in verschiedenen Schriftarten eingegraben, die stets in gleicher
Ordnung aufeinanderfolgten: erst die einfachste, bei der Niebuhr 42
verschiedene, aus Keil und Winkelhaken gebildete Zeichen feststellte,
ihr folgte eine an Wort- oder Lautbildern reichere, und zuletzt kam
die schwierigste, die die beiden andern an Mannigfaltigkeit der Bilder
übertraf. Eine Entzifferung der Schrift erschien aber noch unmöglich,
da man ja nicht wußte, welche Sprache sich darunter verbarg.

Aber gerade das Rätselhafte dieser Schrift ließ den Scharfsinn der
Gelehrten nicht ruhen. Im Jahre 1798 fand der Rostocker Professor
Tychsen heraus, daß nach höchstens zehn Keilschriftzeichen regelmäßig
ein einzelner schräger Keil wiederkehrte; das müsse der Wortteiler sein
-- eine Vermutung, die sich vollkommen bestätigte und für die weitere
Forschung grundlegend wurde. Schon vier Jahre später gelang es einem
jungen deutschen Schulmann namens Georg Friedrich Grotefend, ohne
Kenntnis der morgenländischen Sprachen, nur durch geniale Kombination,
des Rätsels Lösung zu finden. Es handle sich, erklärte er, nicht
um dreierlei Schriftarten, sondern um drei verschiedene Sprachen;
die erste und einfachste müsse die des Herrscherhauses, demnach die
altpersische sein, von der damals nur Bruchstücke bekannt waren.
Viele der ihm vorliegenden Inschriften, die Niebuhr aus Persepolis
mitgebracht hatte, waren Unterschriften unter Bildern alter Könige,
und in diesen Unterschriften traten bestimmte Zeichengruppen
regelmäßig auf. Dieselbe Erscheinung zeigte sich in spätpersischen
Denkmalinschriften, die man damals bereits lesen konnte. Das immer
Wiederkehrende waren die üblichen Titel: König, König der Könige,
großer König. Da nun dieser Kurialstil im Morgenland durch die
Jahrtausende hindurch derselbe geblieben ist, schloß Grotefend, daß
diese gleichartigen Zeichengruppen der Keilinschriften eben diese
Titel ausdrückten. Den Titeln voraus pflegten in den neupersischen
Inschriften die Namen zu gehen, teils im Nominativ, teils, wenn
auch der Vater eines Königs genannt war, im Genitiv; derselbe Name
mußte sich also in zwei Formen finden, einmal im Nominativ, dann
mit der geänderten Flexionsendung des Genitivs. Auch diese Annahme
stimmte, und aus der Form der Titulaturen auf den von ihm zugrunde
gelegten Inschriften schloß Grotefend weiter, daß darin nur von drei
aufeinanderfolgenden Königen, Großvater, Vater und Sohn, die Rede sein
könne. Da die drei Namen verschieden waren, erlaubte die Geschichte der
Dynastie nun den weiteren Schluß, daß jene Inschriften von Hystaspes,
Darius und Xerxes berichteten. Die richtigen altpersischen Formen jener
Namen zu finden, machte allerdings noch Schwierigkeiten, aber auf
diesem Wege gelang es Grotefend, von den zweiundvierzig Zeichen der
ersten Schriftart elf vollkommen richtig zu deuten.

[Illustration: Seitenportal der Grabmoschee Imam Auneddin in Mosul.]

Mangel an Sprachkenntnis brachte seine Weiterarbeit ins Stocken,
aber nun setzten berufene Orientalisten, vor allem Eugen Burnouf und
Eduard Lassen, die Deutungsarbeit mit Erfolg fort. Zur gleichen Zeit
entdeckte Sir Henry Rawlinson als Offizier der persischen Armee die
berühmte Inschrift des Darius Hystaspes auf einer steilen Felswand
des Berges Behistun bei Kirmanschah, und angeregt und gefördert
durch die deutschen Forschungen begann er nach gründlichem Studium
der morgenländischen Sprachen die Entzifferung seines Fundes, die er
1847 vollendete. Grotefends Kombinationen hatten sich als vollkommen
richtig erwiesen, und das rätselhafte Schweigen der Keilschrift war
damit gebrochen, wenigstens der einfachen, deren Sprache zwar nicht das
altpersische Zend, aber doch nahe damit verwandt war.

Die beiden anderen Sprachen, die jedesmal Übersetzungen der ersten
waren, machten größere Schwierigkeiten. Aber auch sie wurden
überwunden. In der zweiten Sprache erkannte man das Elamitische
oder Susische, und in der dritten, die erst nach den Ausgrabungen
in Mesopotamien, wo man reichliches Vergleichsmaterial fand,
gedeutet werden konnte, die babylonisch-assyrische, deren Geheimnis
von Rawlinson, de Saulcy, Hincks und Oppert ergründet wurde. Die
babylonisch-assyrische Sprache erwies sich als semitisch, also mit
dem Hebräischen, Phönizischen, Arabischen und Äthiopischen verwandt.
In Deutschland führten dann Eberhard Schrader (gestorben 1908) und
Friedrich Delitzsch die Assyriologie zum Siege; der erstere hat bereits
einige Generationen von Schülern, die sich der jungen Wissenschaft von
der alten Geschichte der Menschheit mit unbestrittenem Erfolge widmen.

Die Keilschrift wurde, wie schon erwähnt, von den Sumerern erfunden,
sie war also ursprünglich für eine nichtsemitische Sprache berechnet.
Sie bestand aus begrifflichen Wort- und lautgemäßen Silbenzeichen,
während die reinen Lautzeichen völlig fehlten. Als nun die semitischen
Einwanderer die Schrift übernahmen, um ihre Sprache darin auszudrücken,
entstanden so viel Schwierigkeiten und Undeutlichkeiten, daß sie
auch im Altertum nur von Gelehrten gelesen werden konnte. Die
babylonisch-assyrische Sprache, in dieser Schrift ausgedrückt, war
spätestens im zweiten vorchristlichen Jahrtausend in der ganzen
vorderasiatischen Welt allgemein üblich. Daß sich die assyrischen
Gelehrten Jahrtausende lang einer so verwickelten Schrift mit
ihren ungeheuerlichen Begriffszeichen und übrigen Sonderbarkeiten
bedienten, spricht nicht eben für ihren praktischen Sinn. Umsomehr
aber muß man den Scharfsinn und die Energie der europäischen
Gelehrten des neunzehnten Jahrhunderts bewundern, denen es gelang,
das Dunkel zu zerstreuen und den Schleier zu heben, der bis dahin die
Kulturgeschichte von Jahrtausenden verhüllt hatte. --

Zum Schluß noch einige Worte über die in Ninive gefundene Bibliothek
Sardanapals, die älteste Bibliothek der Welt. Sie besteht aus
22000 Tontafeln. Die Schrift auf diesen Tafeln wurde in den Ton
eingeprägt, während dieser noch weich war; man erkennt darauf sogar
die feinen Linien der Fingerhaut. Dann wurden die Tafeln gebrannt.
Jede Tafel ist ein Blatt; mehrere bilden ein Buch oder eine Serie.
Ihre Zusammengehörigkeit ergibt sich aus besonderen Aufschriften. Sie
ermöglichen uns, 2500 Jahre nach dem Verschwinden der Assyrier die
Schätze ihrer Buchkammern zu ordnen. Diese einzigartige Bibliothek ist
ein vollständiges Kompendium der assyrischen Kultur und der Weisheit
jener Zeit und zugleich ein unvergängliches Denkmal eines der größten
Könige des Altertums.

[Illustration: Petros Karso, Chaldäer in Mosul.]

Die historische Erzählungskunst der alten Assyrier ist vielseitig
und genau und zeichnet sich durch eine achtenswerte Geschicklichkeit
in der chronologischen Anordnung aus. Das Archiv Sardanapals
enthält Schilderungen des Lebens der Könige, ihrer Feldzüge, ihrer
Bauunternehmungen und ihrer Regierungshandlungen zum Besten des Volkes
und zur Größe des Reiches. Da finden sich Briefe und Befehle an und
von Landeshäuptlingen und Vasallen, Proklamationen, Bittschriften,
Privatschreiben, Handelsverträge, Orakel und Adressen an den
Sonnengott, Anweisungen für die Opferrituale, die mit den Vorschriften
im Buche Moses viele Züge gemeinsam haben, Gebete und Hymnen, die
von den Sumerern übernommen sind und die Namen und Funktionen der
verschiedenen Götter enthalten -- ja in dieser uralten Bibliothek fand
sich auch der babylonische Schöpfungs- und Sintflutmythus, der viele
Berührungspunkte mit der Bibel aufweist.

Der babylonische Sintflutbericht ist in Kürze folgender: „Auf göttliche
Eingebung hin baut Ssitnapischtim, der babylonische Noah, die Arche,
belädt sie mit Gold, Silber und Lebenssamen aller Art, bringt seine
Familie, seine Angehörigen, Vieh und Getier des Feldes an Bord und
verschließt die Schiffstüren. Dann kommt die Sintflut als eine
Strafe der Götter für die Bosheit der Menschen. Sobald das Morgenrot
aufleuchtete, stieg vom Fundament des Himmels eine schwarze Wolke
empor. Der Sturmgott donnert darin, und Nebo und Marduk schreiten
voran. Die Herolde ziehen über Berg und Tal, den Schiffsanker reißt
Nergal los. Ninib geht dahin und läßt einen Angriff folgen. Die
Annunaki erheben ihre Fackeln und lassen das Land mit deren Glanz
erglühen. Adads Ungestüm dringt bis zum Himmel hinan, und alles Licht
wird verwandelt in Finsternis. Sechs Tage und sechs Nächte rasen die
großen Wasser. Dann beruhigt sich das Meer. Die Sturmflut hört auf, und
die Arche sitzt auf dem Berge Nissir fest. Am siebenten Tage ließ ich
eine Taube hinaus und los. Die Taube flog fort und kam zurück; da aber
kein fester Grund da war, kehrte sie um. Ssitnapischtim läßt nun eine
Schwalbe ausfliegen. Auch sie kehrt zurück, ohne festen Grund gefunden
zu haben. Schließlich schickte er einen Raben aus, der sah das Wasser
schwinden und kam nicht zurück. Da ließ Ssitnapischtim alle Menschen
und Tiere hinausgehen und opferte auf dem Gipfel des Berges. Die Götter
rochen den Duft, und Bel ließ sich bewegen, in Zukunft die Sünden der
Menschen anders als durch die Sintflut zu bestrafen, nämlich durch
wilde Tiere, Hungersnot und Pestilenz.“

Dieser Bericht gelangte später in das Land Kanaan und findet sich im
1. Buch Moses wieder, wo er jedoch, wie Delitzsch zeigt, in weniger
ursprünglicher Gestalt vorliegt.

Sardanapals Bibliothek enthält ferner die ältesten medizinischen
„Handbücher“ der Welt. Sie beschreiben die physischen und psychischen
Krankheiten, ihre Heilmittel und die Beschwörungen dagegen.
Geisteskrankheiten galten als Werke der Dämonen. Traumbücher sprechen
von Träumen und ihrer Auslegung. Die Deutung der Vorzeichen war
eine Wissenschaft für sich. Man prophezeite die Regierungszeit der
Könige, die Siege, die sie erringen sollten, und das Glück, das sie
genießen würden. Man sprach im voraus über bevorstehende Ereignisse,
über Seuchen, Kriege und Heuschrecken, über Ernte, Jagd und Fischfang.
Die Bewegungen der wilden Tiere, das Verhalten der Haustiere, der
Flug der Vögel, der Biß der Skorpione -- alles hatte seine Bedeutung,
die sich den Weisen offenbarte. Aus der Leber des Schafs zog man
Schlüsse, ebenso aus der Art des Sesamöls und den Farbenabstufungen
der Wasseroberfläche -- es war das, sagt Bezold, die Lehre von den
Interferenzfarben, die 4000 Jahre später von Newton untersucht wurden.
Das Wetter und seine Elemente hatten gleichfalls große Bedeutung,
und zukünftige Ereignisse wurden von den Wolken, ihren Bewegungen
und ihrer Ähnlichkeit mit Tieren, abgelesen. Zahllose astrologische
Prophezeiungen finden sich in Sardanapals Bibliothek. So z. B.: „Eine
Mondfinsternis am 11. Tag wird Verderben über die Länder Elam und
Phönizien bringen, Glück aber dem Könige, meinem Herrn. Möchte das Herz
des Königs, meines Herrn, ruhig bleiben.“

Kurz nach Sardanapals Zeit entwickelte sich die Astrologie zur
Astronomie, und Babylon wurde die Heimat der astronomischen
Beobachtung. Die Sternbilder des Stieres, der Zwillinge, der Fische
hatten Namen, die noch bis in unsre Zeit fortleben. Die Ekliptik war in
360 Grade eingeteilt, der Tag in zwölf Doppelstunden von 120 Minuten,
und eine Doppelstunde entsprach 30 Grad. Der 7., 14., 21. und 28. Tag
jedes Monats war Gebetstag oder Sabbat, die Woche hatte also sieben
Tage. Allem Anschein nach waren die alten Semiten des Zweistromlandes
erstaunlich bewandert in Mathematik.

So enthält Sardanapals Bibliothek den ganzen Schatz der
babylonisch-assyrischen Kultur und berührt alle Gebiete geistiger
Betätigung mit Ausnahme der des Dramas. Ohne jemals die Namen ihrer
Verfasser zu nennen, kommen hier, wie an andern Stellen Mesopotamiens,
immer neue Funde dieser Art an den Tag, die unsre Kenntnis der
Vorzeit wunderbar vervollständigen. Auch der Laie fühlt sich davon
unwiderstehlich gefesselt, besonders wenn er, wie ich, so glücklich
war, dies erinnerungsreiche Land selbst zu durchwandern.




[Illustration: Indische Gefangene auf dem Weg nach Demir-kapu.]




Fünfundzwanzigstes Kapitel.

Über Mardin zurück nach Aleppo.


Mit meinem Besuche Ninives war der erste Teil meiner diesmaligen
Reise abgeschlossen. Der zweite, über den ich in einem besonderen
Buche berichten werde, sollte in Jerusalem seinen Höhepunkt finden.
Der einfachste Weg dorthin ging über die türkische Etappenstraße
Nesibin-Ras-el-Ain zurück nach Aleppo. Begangene Pfade aber haben
mich nie gereizt. Um so verlockender erschien mir der Versuch, das
Zweistromland Dschesire und die syrische Wüste zu durchkreuzen und so
Palästina zu erreichen.

Ohne starken Schutz wäre dieser Weg aber sehr unsicher gewesen. In
diesem Teil des Dschesire haben die Schammar-Araber mehrere ihrer
Sommerlager, und sie pflegen mit hergelaufenen Reisenden nicht viel
Federlesens zu machen. Dennoch schien sich mein Wunsch erfüllen zu
wollen, denn der Stammhäuptling der Schammar-Araber, der mächtige
Homedi, war dem deutschen Konsul Holstein in Mosul, in dessen Haus ich
verkehrte, sehr ergeben. Homedi hatte eben jetzt sein Hauptquartier
bei der alten arabischen Stadt Hatra, 90 Kilometer südwestlich von
Mosul, und der Konsul erbot sich, ihn rufen zu lassen und mich
seinem mächtigen Schutze anzuvertrauen. Er sollte mich unter starker
Beduinenbedeckung durch die Wüste geleiten lassen.

Schon waren die Kamele für diese Wanderung bestellt und alles
reisefertig, als sich unübersteigliche Hindernisse meinem Plan
entgegenstellten. Bis Hatra, erklärten Homedis Vertreter in Mosul,
könne ich ohne Schwierigkeit kommen, da sich an mehreren Stellen dieses
Weges Trinkwasser finde. Von da bis Der-es-Sor am Euphrat, auf einer
Strecke von 240 Kilometern, gebe es nur zwei Quellen mit salzhaltigem
Wasser, das zur Not auch trinkbar sei. In diesem Sommer aber seien
beide Quellen, wie die ganze Gegend, derartig von Heuschrecken
überschwemmt, daß sich statt des Wassers nur ein Brei toter Insekten
finde, und nicht einmal die Beduinen diesen Weg zu benutzen wagten.

So blieb mir nichts anderes übrig, als mich mit der 320 Kilometer
langen Etappenstraße zu bescheiden. Professor Tafel, der den Auftrag
erhalten hatte, die Euphratufer zu vermessen, schloß sich mir an, und
Konsul Holstein hatte mir noch zwei Deutschrussen zugeführt, die bei
Kriegsbeginn in Kaukasien interniert, aber von dort geflüchtet waren
und unter fabelhaften Abenteuern vor einem Monat Mosul erreicht hatten.
Sie wollten nach Deutschland zurück, um ins Heer einzutreten, und da
ich in meinen beiden Wagen, einer herrlichen, uralten, vierspännigen
Karosse, die mir ~Dr.~ Jaromylek verschafft hatte, und einem
Lastfuhrwerk Platz genug hatte, ließ ich mir diese Begleitung gerne
gefallen.

Am 20. Juni verabschiedete ich mich von dem Herzog und seinem Gefolge,
das sich um Major Gravenstein, Hauptmann von Stülpnagel, Graf Kanitz,
den Archäologen ~Dr.~ Herzfeld und etliche Offiziere vermehrt
hatte, und beim nächsten Morgengrauen brachen wir von Mosul auf.
Tafel und ich fuhren in meiner Droschke; dann folgten unsere drei
Lastwagen mit Gepäck und Besatzung, und schließlich auf arabischen
Pferden unsre asiatische Begleitung, darunter mein Diener Sale und
zwei Gendarmen, die für unsere Sicherheit haften sollten. Denn noch
vor zwei Tagen waren auf unserm Wege türkische Offiziere aus einem
Hinterhalt von Schammar-Arabern angeschossen worden. Ein deutscher
Arzt, der zum Stabe des Herzogs stoßen sollte und desselben Weges kam,
hatte sich der Verwundeten angenommen. Ähnliche Überfälle, noch dazu
am hellichten Tage, waren nichts Seltenes. Die Türken hatten also auf
dieser Etappenstraße, der zukünftigen Linie der Bagdadbahn, durch die
Unzuverlässigkeit der Araber mit mancherlei Schwierigkeiten zu kämpfen.
Die deutsche Uniform und besonders der große weiße Tropenhelm galten
übrigens als der wirksamste Schutz gegen derlei Überraschungen.

Schon hinter der ersten Gendarmeriestation, dem Dorfe Humedad, ertönte
denn auch vor uns plötzlich ein Schuß. Die Wagenkolonne blieb stehen,
Tafel warf sich auf eines seiner Pferde und ritt mit den Gendarmen den
verdächtigen Gestalten entgegen, die sich vor uns zeigten. Es war aber
nichts als eine harmlose Mauleselkarawane, und ihre Begleiter hatten
nur deshalb geschossen, um uns, falls +wir+ etwa Straßenräuber
seien, darauf aufmerksam zu machen, daß sie nicht ohne Waffen seien.

[Illustration: Halil, Araber in Amuda.]

Als wir in der folgenden Nacht am Bache bei Högna rasteten, wurden
wir durch Pferdegetrappel, rasselnde Wagen und deutsche Kommandorufe
aus dem Schlafe geweckt. Eine Geschützbatterie zog heran, ihr
folgten eine Trainkolonne und eine Karawane von 600 Lastkamelen. Der
Batterieführer ließ in unserer Nähe biwakieren, an demselben Bache,
in dem einst die Reiter des Parmenion ihre Pferde tränkten. Die
Soldaten trugen leichte, feldgraue Uniformen und unter dem Tropenhelm
ein herabhängendes Tuch, das Nacken und Hals schützte. Auch eine
Mauleselkarawane unter Leutnant Erdmann, die von Mosul nach Aleppo
zog, fand sich hier ein. Der Weg nahm immer mehr den Charakter einer
Etappenstraße an. Deutsche und türkische Truppenabteilungen zogen nach
Osten an uns vorüber, gefallene Lasttiere lagen am Wege, und bei Auenat
war ein ganzes Zeltlager deutscher Offiziere emporgewachsen.

[Illustration: Deutsche Truppenabteilung in der Wüste.]

Auenat liegt am Rande der Wüste, und die nächsten 55 Kilometer mußten
in schnellster Fahrt ohne Aufenthalt zurückgelegt werden, da die
Schammar-Araber diese Gegend unsicher machten. Unsere Gendarmen hatten
uns verlassen, und neue hatten wir nicht auftreiben können; dafür hatte
sich Leutnant Erdmann mit seinen vier Burschen und seinen Mauleseln
uns angeschlossen. Die elfstündige Fahrt verlief aber ohne jeden
Zwischenfall. Wir begegneten nur einer großen deutschen Karawane und
überholten eine kleine türkische, der wir nicht wenig Angst einjagten;
außerdem sahen wir nur Züge englischer und indischer Gefangenen, die
sich mühsam vorwärtsschleppten; wer zusammenbrach, blieb rettungslos
liegen. Zwei Inder hatte dies Schicksal ereilt, ihre Leichen lagen
an der Straße. Im Westnordwesten loderte ein Steppenbrand wie ein
Fackelzug durch die Nacht.

[Illustration: Die deutsche Fahrkolonne bricht von Auenat auf.]

[Illustration: Türkische Kamele bei Auenat.]

Am Morgen war die Gefahrzone überwunden, und wir hielten am Ufer
eines lieblichen Baches, der das Tal von Demir-kapu (d. h. Eisentor)
durchrieselt, eine wohlverdiente Rast. Hier war ein Nokta, ein
Gendarmerieposten bzw. eine Garnison; ein paar Hütten standen neben
etlichen Feldern, auf denen Melonen und Gurken gezogen wurden. Der Bach
wimmelte von Fischen, und zahme Enten schwammen darauf. An einem Hügel
lagerten türkische Truppen, in ihrer Nähe englische Gefangene, und am
Abend ratterte eine Kolonne von vierzig deutschen Lastautomobilen auf
dem Wege nach Bagdad an uns vorüber.

Am andern Morgen, dem Sonnwendtag, waren wir lange vor Sonnenaufgang
schon auf dem Marsche und erreichten am Mittag Nesibin, wo wir unter
üppigen Bäumen am Ufer eines Armes des Dschardschar, der ein Nebenfluß
des Chabur ist, ein erfrischendes Bad nahmen und den Rest des Tages
bei 38,6 Grad Hitze ausruhten. Die Basare waren des Sabbaths wegen
geschlossen, denn der ganze Handel liegt in den Händen der Juden, und
keine Gurke war aufzutreiben. Obendrein hatten die vorüberziehenden
Gefangenen alles aufgekauft, so daß sich auf dem ganzen Wege ein Mangel
an Lebensmitteln bemerkbar machte.

[Illustration: Imastuhi Manukian, 25jährige Armenierin aus Trapezunt.]

[Illustration: Inder tragen trockenes Holz in ihr Lager.]

Am 25. Juni brachen wir beim ersten Vogelzwitschern wieder auf und
rollten durch die Dorfstraße, wo die Jüdinnen ihre Wasserkrüge aus
einem schmutzigen Kanal füllten, weiter nach Westen. Die aufgehende
Sonne beleuchtete wirkungsvoll die Ostfront der großen alten Festung
Nesibin mit ihren Fenstern und Schießscharten in der viereckigen
Mauer. Dann folgte Dorf auf Dorf. In Kasr Serdsche-han stand eine
Schar eben ausgehobener kurdischer Rekruten unter Bewachung einiger
türkischer Feldwebel, und eine alte Frau weinte und zankte mörderlich,
weil ihr Sohn zu den Ausgehobenen gehörte. In Amuda mußten wir einen
Tag und eine Nacht verweilen, weil Professor Tafel am Fieber erkrankt
war. Das Dorf hatte, wie diese ganze Gegend, kurdische Bevölkerung;
der Bürgermeister war trotzdem ein alter Araber, in dessen Haus eine
junge Armenierin diente, die man aus Trapezunt fortgeschleppt hatte.
Sie bat uns inständig, sie aus dem harten Dienst zu befreien und mit
nach Europa zu nehmen. Es war uns natürlich unmöglich, ihren Wunsch zu
erfüllen.

[Illustration: Indische Zelte bei Diger.]

Am 26. erreichten wir das wohlbekannte Bir-dava, wo ich drei Monate
vorher die trostlosen Regentage verbracht hatte. Von hier aus machte
ich einen Abstecher nach Mardin, der überaus malerischen Felsenstadt,
deren Häuser und Minarette wie Schwalbennester an den Abhängen des
Gebirges im Norden hängen. Aus dem flachen, eintönigen Tiefland
Mesopotamiens wieder einmal in eine Berglandschaft mit wilden Formen
und immer wechselnden Ausblicken emporzusteigen, war ein köstlicher
Genuß. Die Stadt mit ihren 30000 Einwohnern liegt 930 Meter hoch, und
über ihr auf dem senkrechten Gipfel des Kalksteinberges erhebt sich in
1300 Meter Höhe die Ruine der alten Festung.

[Illustration: Nesibin.]

Durch das neue schöne Stadttor führte eine gewundene, glatt
gepflasterte Straße so steil empor, daß immer wieder Steine unter
die Hinterräder meiner Karosse geschoben werden mußten, um deren
Zurückrollen zu verhindern, und auch die horizontaler gelegene
Basarstraße, die Hauptverkehrsader der Stadt, war so eng, daß mein
Wagen nicht einmal in den Hof eines Hans einbiegen konnte, sondern
draußen stehen bleiben mußte. Ein alter türkischer Veteran in
verschlissener Uniform führte mich zum Mutessarrif zur Durchsicht
meiner Papiere und dann in ein Kavekhane, ein gewaltiges, auf acht
Säulen ruhendes Gewölbe, das von braunen Orientalen dicht besetzt
war. Es waren Flüchtlinge aus Erserum, Trapezunt, Wan und Bitlis; sie
rauchten ihre Pfeifen oder Zigaretten, spielten Karte, nippten an
ihren Tee- oder Wassergläsern und vertrieben sich so in ansprechender
Nüchternheit die Zeit. Im kühlen Schatten genoß man durch die Fenster
und von einem Altan aus die herrlichste Aussicht auf die mesopotamische
Ebene; dort war unsere Straße nach Nesibin, die wir eben gekommen
waren, hier die nach Tell-Ermen, die ich am Abend einschlagen
sollte. Zu essen aber gab es hier nichts; dazu mußte ich eine andere
Gastwirtschaft aufsuchen, die hauptsächlich von türkischen Offizieren
und Beamten besucht wurde. Hier gab es Dolma (gehacktes Fleisch in
Kohlblättern), Joghurt und Brot. Im übrigen waren die Basarläden
ausverkauft; die nach Kaukasien ziehenden Soldaten hatten alles Eßbare
mitgenommen.

[Illustration: Vodsa, 12jähriges kurdisches Mädchen in Amuda.]

Die Kalksteinkette, auf der Mardin liegt, gehört zum Gebirgssystem
Tur-Abdin und fällt nach Norden so steil ab, daß die Gassen der
amphitheatralisch gebauten Stadt in die blaue Luft hineinzuführen
scheinen; man muß bis an den Rand hintreten, um sich zu überzeugen,
daß die Erde dort nicht aufhört, sondern sich in der Tiefe noch festes
Land befindet. Der Weg zu der ursprünglich römischen Festung hinauf
ist herrlich. Die ganze Stadt mit ihren viereckigen Häusern und Höfen,
ihren schmalen Gassen, ihren Moscheen und spitzen Minaretten liegt
wie auf einer Karte ausgebreitet da; die Abhänge fallen ohne hügelige
Übergänge jäh zur Ebene hin ab. Der Aufstieg zur Festung führt an hohen
Felswänden, Klüften und Grotten vorüber und endet in einer in den Fels
gehauenen steilen Treppe.

Am Rande des ganz ebenen Berggipfels standen einige alte Kanonen,
die ihre Schlünde schützend über die Stadt richteten. In den Ruinen
der alten Festungsmauern und -türme war ein Lagerplatz kurdischer
Deserteure; durch die Straßen der Stadt dort unten zog eben wieder eine
neue Schar solcher Memmen herauf; niedergeschlagen waren sie nicht,
denn ihr lauter Gesang hallte in den Bergen wider. Im Norden öffnete
sich ein breites Tal, durch das die Straße nach Diarbekr führt, zwei
Tagereisen nach Nordnordwest. Die nächsten Gebirgskämme erschienen
höher als der von Mardin. Dahinter war das Land ganz flach; nur in
größerer Entfernung hoben sich die blauen Farbentöne weiterer Berge
ab. Der südliche Abhang des Bergrückens von Mardin war mit Obstbäumen
bewachsen; dort gediehen Äpfel, Birnen, Walnüsse, Mandeln, Granatäpfel
und auch Wein; doch herrschte der graue Kalkstein mit seiner
einförmigen Öde vor.

Im westlichen Stadtteil besuchte ich einige syrische Steinhäuser mit
ihren kleinen, schattigen Höfen, auf denen Frauen und Kinder unter
schattigen Arkaden sich aufhielten. An der syrischen Kirche empfingen
mich mehrere graubärtige Priester in schwarzen Turbanen und schwarzen
Mänteln und einige Brüder in schwarzen Schleiern mit silbernen
Kreuzen auf der Stirn führten mich umher. Ein Teil der Kirche war
jetzt als Krankenhaus eingerichtet. Mardin hat auch chaldäische und
armenisch-katholische Kirchen und Klöster; anderthalb Stunden östlich
liegt zwischen Hügeln das im Jahre 1900 erbaute Kloster Der-es-Saferan.
Mehr als die Hälfte der Einwohner von Mardin sind Christen, die
übrigen Mohammedaner und Kurden. Der griechisch-unierte Patriarch hat
hier seine Residenz; auch hat Mardin eine römisch-katholische und
eine amerikanische Missionsstation. Der letzteren, die im äußersten
Westen der Stadt liegt und kürzlich den fünfzigsten Jahrestag ihrer
Gründung feiern konnte, stattete ich einen Besuch ab und traf dort
einige liebenswürdige Amerikanerinnen, Frau Dewey und ihre Tochter
und Fräulein Graf. Einer der Missionare lag krank darnieder; er hatte
nicht weniger als neununddreißig Jahre hier zugebracht, was bei aller
entzückenden malerischen Schönheit dieses Felsennestes doch zum
Verzweifeln sein muß.

[Illustration: Moschee in Mardin.]

Die Rückfahrt gestaltete sich ein wenig dramatisch. Auf der steilen
Straße geriet meine Karosse ins Rollen, die Bremse versagte, die
beiden Pferde glitten aus, eines stürzte, und die Deichsel stieß
gegen eine Mauer und zersprang wie Glas. Eine neue Deichsel war
nicht aufzutreiben, die alte mußte daher bei einem Schmied im Basar
notdürftig geflickt werden. Bis sie fertig war, schrieb ich in meinem
Wagen mein Tagebuch, wobei mir eine Schar von Jungen und Erwachsenen
neugierig zusah. Darüber brach der Abend herein.

Endlich kam der Gendarm, den mir der Mutessarrif mitgegeben hatte,
mit der Deichsel an, und wir fuhren langsam weiter. Zwei Pferde
hatte ich mit einem kleinen Stallburschen bis zur ersten Wegbiegung
vorausgesandt. Aber als wir jetzt dort anlangten, war der Junge nicht
zu finden. Sale mußte auf dem Pferd des Gendarmen in die Stadt hinauf
zurückreiten, entdeckte aber auch dort nichts von dem Flüchtling.
Unterdes setzte ich meine Fahrt nach abwärts unter großer Vorsicht
fort, jeden Augenblick bereit, aus dem Wagen zu springen, wenn in dem
zunehmenden Dunkel die Pferde auf der abschüssigen und gewundenen
Straße einem Abhang zustrebten. Ich atmete auf, als wir endlich wieder
glücklich in der Ebene waren.

Bei stockfinstrer Nacht erreichten wir das Dorf Gulli, wo das
wahnsinnige Gekläff der Hunde die ganze Bewohnerschaft munter machte.
Hier rasteten wir drei Stunden. Dann ging es weiter nach Charabilme,
wo die Deichsel abermals in Stücke ging und die Pferde in die Seiten
stieß. Diese wurden scheu und stürmten in die Steppe hinaus. Sale
sprang vom Wagen und blieb wie tot liegen. Als der Kutscher endlich die
Tiere zum Stehen brachte, eilten wir zu dem Verunglückten zurück und
fanden ihn, zwar mit geschundener Stirn und blutenden Knien, aber sonst
unverletzt. Nun flickten wir die Deichsel so gut es ging zusammen, und
der Kutscher führte die Pferde am Zügel. Darüber wurde es Tag, und um
½5 Uhr langten wir endlich in Tell-Ermen an.

Nach langem Suchen fand ich dort meine Reisekameraden Tafel und
Erdmann. An sofortigen Aufbruch war aber nicht zu denken. Professor
Tafel hatte sich noch nicht erholt, einer der Kutscher war ebenfalls
erkrankt, und ein glühend heißer Sturm, der die Temperatur auf über 40
Grad erhöhte und unser kleines Zeltlager unter erstickenden Staub- und
Sandwolken begrub, erweckte die größte Besorgnis für das Schicksal der
Patienten. Obendrein fehlte noch immer der Stalljunge mit den beiden
Pferden, und eines unserer Reitpferde schwebte ebenfalls zwischen Tod
und Leben. Zwei Mann mußten nochmals nach Mardin zurückreiten, um die
ersteren zu suchen. Ohne eine Spur von ihnen entdeckt zu haben, kehrten
sie zurück. Aber fast gleichzeitig mit ihnen traf auch der Vermißte
bei uns ein; er hatte sich schon in Mardin verirrt und sich am Morgen
einigen Syriern angeschlossen, die nach Tell-Ermen fuhren. Es war
eine Leistung von dem zehnjährigen Bengel, mitten durch die überall
auftauchenden Soldaten, die alles requirierten, was sich an Pferden
und Wagen fand, seine beiden Gäule ohne Beschlagnahme durchzubringen,
und statt der Schelte, die er wohl erwartet hatte, empfing ihn ein
tüchtiges Frühstück als Lohn für seine Gewandtheit.

[Illustration: Sale in Aleppo.]

Am Abend stellte sich glücklicherweise Regen ein, und am Morgen des 28.
Junis war die Temperatur auf 20,1 Grad gefallen, so daß uns die „Kälte“
durch Mark und Bein ging. Sie erfrischte aber die Kranken, so daß wir
unsere Fahrt auf der jetzt vortrefflichen Straße fortsetzen konnten.
Starke türkische Truppenabteilungen, Trainkolonnen und Kamelkarawanen
zogen an uns vorbei oder rasteten am Wege. Auch englische und indische
Gefangene waren wieder auf dem Marsche; sie mochten Gott danken, daß
sie glücklich bis in die Nähe der Eisenbahn gelangt waren. Über die
beiden Arme des Dschirdschib führten jetzt feste Brücken, und an der
Fortsetzung der Bagdadbahn nach Osten wurde mit Hochdruck gearbeitet.

Am Nachmittag erreichten wir glücklich Ras-el-Ain, wo uns der
Etappenkommandant ~Dr.~ Reuther, der bekannte Archäologe,
begrüßte. In seiner und seiner Gäste Gesellschaft verbrachten wir den
letzten gemeinsamen Abend, den ein gewaltiger Steppenbrand im ganzen
Umkreis von Ras-el-Ain denkwürdig machte.

Am nächsten Morgen brachte mich der Frühzug quer durch die schon
bekannten öden Flächen, auf denen noch immer die Schafe in der
Sonnenglut weideten und die Nomaden in ihren schwarzen Zelten hausten,
wieder zurück nach Aleppo.




[Illustration:

  Phot.: Koldewey.

Assarhaddon-Ziegel von Esagila.]




Sechsundzwanzigstes Kapitel.

Assyrien und Babylonien.


Die Schilderung meiner Fahrt durch Mesopotamien wäre unvollständig ohne
eine kurze Übersicht über die Geschichte dieses Landes.

Die ältesten Urkunden und Kulturreste Babyloniens stammen aus dem
Anfang des 3. Jahrtausends v. Chr. Verglichen mit den alten Denkmälern
Ägyptens sind sie ärmlich. Das erklärt sich, wie Eduard Meyer gezeigt
hat, aus der Natur des Landes. Das einzige vorhandene Baumaterial
waren Lehm und die daraus gefertigten Ziegel. Steine dagegen fehlten.
Anders in Assyrien, das den Nordteil Mesopotamiens umfaßte und zum
Teil Gebirgsland war. Obgleich seine Kultur auf babylonischer Grundlage
ruht, sind seine erhaltenen Altertümer mannigfaltig, da Gestein zur
Hand war. Die Paläste wurden mit Alabasterplatten und Reliefbildern
geschmückt, und die Könige ließen ihre Annalen auf Steinzylinder und
-prismen aufzeichnen. Außerdem haben, wie Meyer[2] hervorhebt, die
Ruinen der assyrischen Städte Assur, Kalach, Ninive, Dur Sargon,
nachdem sie 606 v. Chr. systematisch zerstört worden waren, zum größten
Teil unberührt bis in unsre Zeit unter der Erde gelegen, während die
babylonischen Städte im Lauf der Jahrhunderte mehrfach von Elamiten
und Assyriern geplündert wurden. Das historische Material über
Assyrien ist daher viel reichhaltiger. Besonders gut kennen wir das
Zeitalter der großen Eroberer Assurnasirpal (884-860), Salmanassar
II. (860-824), Tiglat-Pileser IV. (745-727) und Assurbanipal oder
Sardanapal (668-626). Diese Glanzperiode zwischen dem 9. und 7.
Jahrhundert liegt viel klarer vor uns, als die Geschichte irgendeines
andern orientalischen Reiches vor den Persern. Aus der Geschichte
Babyloniens sind lange nicht so viele Dokumente erhalten, besonders
zwischen 1926 und 745 klafft eine große Lücke. Auch die Königsannalen
des neubabylonischen oder chaldäischen Reiches können sich in keiner
Weise mit denen der großen Assyrier messen, wenn auch manche Urkunden
von Nebukadnezar (604-561) und Naboned (556-539) vorhanden sind,
die sich jedoch, wie wir bereits sahen, sehr wenig mit der äußeren
Geschichte des Landes beschäftigen. Aber die Städte Babyloniens hatten
länger Bestand und traten nach der Perserzeit in engere Verbindung
mit den Griechen. Deshalb waren die griechischen Geschichtschreiber,
vor allem Herodot, über Babylonien viel besser unterrichtet als über
Assyrien. Das babylonische Tiefland war auch in geographischer wie
in historischer Beziehung der Schwerpunkt der ganzen Welt, die vom
Taurus und vom Zagros begrenzt wird. Von hier strahlte die Kultur
nach allen Richtungen aus. Ich erwähnte schon, daß Xenophon über die
Ruinen Ninives zog, ohne zu wissen, was sie bedeuteten; man erzählte
ihm, es seien Überreste medischer Städte, die der Himmelsgott durch
ein Wunder in die Hand der Perserkönige gegeben habe. Tatsächlich war
das assyrische Reich mitsamt seinem Volk in einer großen Katastrophe
verschwunden und lebte nur noch in der Sage weiter.

 [2] Ich benutzte für diese Darstellung ausschließlich folgende
     Arbeiten: Eduard Meyer, „Geschichte des Altertums“, 1913; C.
     Bezold, „Ninive und Babylon“, 1909; C. Bezold in Pflugk-Harttungs
     Weltgeschichte (schwedische Ausgabe von Hildebrand und Hjärne);
     Oscar Montelius, „Die älteren Kulturperioden im Orient“ (noch nicht
     erschienen, aber vom Verfasser mir in der Korrektur freundlichst
     zur Verfügung gestellt); K. V. Zettersten, „~De semitiska
     språken~“, 1914; Harald Hjärne in Wallis’ „Weltgeschichte“, 1875;
     Johannes Kolmodin in „~Antikvarisk Tidskrift för Sverige~“, 1916.

Das assyrische Reich wuchs aus der Stadt Assur hervor. Seine älteste
Bevölkerung stammte aus Kleinasien. Das beweisen die Namen der Könige,
die die ersten Tempel und Stadtmauern bauten. Der Name der Stadt, des
Volkes und seines Gottes war derselbe. Im 1. Buch Moses, Kapitel 10,
Vers 22, führt ihn auch derjenige von Sems Söhnen, der der Stammvater
der Assyrier war: „Sems Söhne waren Elam, Assur, Arpaksad, Lud und
Aram.“ Die ältesten Herrscher Assurs waren jedenfalls Vasallen der
Könige von Sumer und Akkad. In Akkad gründete im Jahre 2225 v. Chr. der
Amoriterhäuptling Sumuabu das Reich Babel, das sich unter Sumulailu
(2211-2176) zum bedeutendsten unter allen Reichen Akkads entwickelte.
Sumulailu baute Kanäle, Mauern, Tempel und einen goldenen Thron für
Marduk, den Stadtgott von Babylon, und galt bei seinen Nachfolgern als
der eigentliche Gründer Babyloniens und als Stammvater der Dynastie.
Der sechste König dieser Dynastie, Hammurabi (2123-2081), führte Krieg
mit Elam und Ur, unterwarf nach und nach ganz Sinear, nahm den Titel
eines Königs von Sumer und Akkad an und trug das Gewand der sumerischen
Könige, den Mantel und die Turbanmütze. Sein Steinbild ist erhalten:
die Züge sind sumerisch -- große Nase, langer Bart --, und nach Art
der Beduinen trägt er kurzes Haupthaar und rasierte Lippen. Er heißt
auch „König der vier Weltteile“. Assur und Ninive waren ihm untertan.
Assur hatte er dem Schutzgott seiner Dynastie, Marduk, dem Merodach der
Bibel, wiedergegeben, und Ninives Tempel weihte er der Göttin Ischtar.
Er errichtete in verschiedenen Städten Tempel, förderte Ackerbau und
Viehzucht, erweiterte das Bewässerungssystem durch Kanäle und schützte
das Land durch Dämme gegen Überschwemmungen, legte Straßen an, baute
Transportschiffe, zog Steuern ein in Gestalt von Geld oder Getreide,
Sesam und Datteln, unterdrückte das Räuberwesen, baute zahlreiche
Festungen, sorgte für Sicherheit und Ruhe und hielt ein stehendes Heer.
In alle Zweige der Verwaltung griff er ein und achtete auf pünktliche
Ausführung seiner Befehle.

Religion und Kultus standen unter ihm in hohen Ehren, und die Opfer
wurden genau innegehalten. Am meisten lagen ihm die Städte Sippar, Babel
und Borsippa am Herzen. Viele andre Städte, z. B. Uruk, Larsa, Ur,
Eridu und Nippur blieben heilig. Andre Orte aber, wie das ehedem
glänzende Sirpurla, waren bereits zu Hammurabis Zeit verfallen, um nie
mehr genannt zu werden. Man rechnete sie also bereits vor viertausend
Jahren zum Altertum. Mit Recht sagt Montelius, wenn die Blütezeit der
altbabylonischen Kultur in die erste Hälfte des 3. Jahrtausends v. Chr.
verlegt werde, so müsse ihr Anfang noch viel weiter zurückliegen, und
er zeigt, daß die erstaunliche Kultur Babyloniens unter dem im 24.
Kapitel erwähnten König Sargon I. die eines Kupferzeitalters gewesen
ist.

Das merkwürdigste Denkmal aus Hammurabis Zeit ist der 2½ Meter hohe
Dioritblock, der im Jahre 1901-1902 in Susa entdeckt wurde, wohin ihn
elamitische Eroberer im 12. Jahrhundert verschleppten; sonst wäre er
wohl kaum der Zerstörung entgangen. In babylonischer Keilschrift und in
akkadischer Sprache bewahrt er in 282 Gesetzesparagraphen das älteste
~corpus juris~ der Welt. Zu oberst trägt er ein Bild des Königs,
wie er die Gesetze aus den Händen Schamasch’s, des Sonnengottes von
Sippar, in Empfang nimmt. Dieser Block stand im Marduktempel Esagila in
Babel. Meyer nimmt an, daß bereits Sumulailu diese Gesetze erlassen,
Hammurabi sie nur gesammelt habe. Erst nachdem er ganz Sumer, Akkad
und Assyrien unterworfen hatte, konnte die Arbeit vollendet werden.
Nach Zettersten setzt dieser im typischen Gesetzesstil abgefaßte Codex
eine sehr lange Entwicklung voraus und enthält wahrscheinlich uralte
Rechtsgebräuche, die zu einem systematischen Ganzen vereinigt sind.

Die einzelnen Gesetze sind kurz und bestimmt; man hat entweder Recht
oder Unrecht. Sie berücksichtigen alle Beziehungen der Gesellschaft
und des täglichen Lebens, sie regeln das Verhältnis zwischen Mann und
Frau, zwischen Herren und Sklaven, zwischen Menschen und ihrem Eigentum
an Äckern, Kanälen und Vieh. Rind, Esel, Schaf und Schwein werden als
Haustiere erwähnt, dagegen fehlt das Pferd. Erst ums Jahr 2000 kommen,
wie Meyer zeigt, die ersten Pferde nach Sinear. Ihre ideographische
Schreibung „Esel des Berglandes“ beweist, daß sie aus Persien stammen.
Man verwandte sie niemals zum Reiten, sondern nur zum Fahren, besonders
der Kriegswagen, die sich in den folgenden Jahrhunderten über ganz
Vorderasien, Ägypten und Griechenland ausbreiten und nach dem 16.
Jahrhundert dem Kampfbild sein besonderes Gepräge geben. Es dauerte
noch Jahrhunderte, ehe das Pferd zum Reittier wurde.

Der letzte König aus Hammurabis Dynastie war Samsuditana (1956-1926).
Unter ihm ging das Reich Babel nach dreihundertjährigem Bestehen
zugrunde. Aus den westlichen Gegenden Kleinasiens drangen die
Hettiter ein und eroberten und plünderten Babel. Das war die erste
Völkerwanderung in dieser Zeit. Eine andre ging von Osten aus und war
arisch.

Anderthalb Jahrhundert herrscht Schweigen über die Hettiter in Sinear.
Von ungefähr 1500 an aber läßt sich die Geschichte Babyloniens und
Assyriens im Zusammenhang behandeln. Eine Reihe von Kriegen zwischen
beiden Ländern schloß ums Jahr 1260 damit, daß das babylonische Reich
in das assyrische aufging. Dessen König war Tukultininib I. Durch
innere Streitigkeiten verlor zwar Assyrien sowohl Babylonien wie
Mesopotamien wieder, erhob sich aber dann unter dem mächtigen und
kraftvollen Tiglat-Pileser I. Er baute den Reichstempel für die Götter
Anu und Adad wieder auf und unternahm Feldzüge gegen Phönizien und
Armenien. Er schildert selbst, wie er im Norden gleich einem Sturm des
Adad, des Wettergottes, dreiundzwanzig Könige vernichtete, die ihre
Heeresmassen und Streitwagen gegen ihn aufgeboten hatten. Mit seiner
Lanzenspitze verfolgte er sechzig Könige bis an das „obere Meer“,
eroberte ihre Festungen, brannte ihre Städte nieder und verwandelte sie
in Schutthaufen und Ruinen.

Assurnasirpal (884-860), von dem viele Urkunden berichten, drang im
Norden und Westen bis ans große Meer bei Tyrus und Sidon vor, wusch
in dessen Wasser seine Waffen und brachte seinen Göttern an der
Küste Opfer dar. Sein Sohn Salmanassar II. (860-824) schildert in
stolzen Worten seine Triumphe in Syrien; er nahm Aleppo ein, schlug
die verbündeten Könige von Damaskus, Hamath und Israel aufs Haupt,
unterjochte Babylonien und zwang die Fürsten der Chaldäer, Tribut zu
zahlen. Gegen dieselben Feinde kämpfte Tiglat-Pileser IV., der Damaskus
zu einer assyrischen Provinz und Israel zum Vasallen machte.

Salmanassar IV. belagerte Samaria, und Sargon II. (722-705) führte
Assyrien auf die Höhe seiner Macht. Der König der Chaldäer,
Merodach-Baladan, von dem Jesaja in seinem 39. Kapitel spricht,
unterwarf 721 Babylonien seiner Herrschaft und schloß mit dem König
von Elam einen Bund gegen Assyrien. Aber Sargon vertrieb ihn und
herrschte dann von der Küste des Mittelmeeres bis zur Küste des
Persischen Golfs. Der Chaldäerkönig eroberte zwar Babylonien wieder,
verlor es aber zum zweiten Mal an Sanherib (705-681), einen der größten
Herrscher Assyriens. Merodach-Baladan schloß von neuem einen Bund mit
Elam und andern Fürsten, doch ohne Erfolg. Seitdem hatte Babylon zwei
Jahrhunderte lang keinen eigenen König.

Aufruhr im Westen des Reiches zwang Sanherib gegen Juda aufzubrechen,
wo er sechsundvierzig feste Orte eroberte. Von Jerusalem aber mußte
er, nach den biblischen Urkunden, unverrichteter Dinge abziehen. Auch
gegen Medien kämpfte er nicht glücklich. Von dieser Zeit an beginnt die
assyrische Großmacht zu sinken.

Als erste Residenz der assyrischen Könige wird Assur schon im Jahre
2100 v. Chr. genannt. Mehrere Jahrhunderte hindurch behielt es seinen
hohen Rang, und es blieb eine große Stadt bis zum Ende des assyrischen
Reiches. Salmanassar I. machte Kalach, das jetzige Nimrud, zum Sitz
seiner Regierung. Sargon II. residierte in der von ihm gegründeten
Stadt Dur Sargon, wo heute das Dorf Chorsabad liegt. Sanheribs,
Assarhaddons und Assurbanipals Hauptstadt war Ninive, der Kultort der
Göttin Ischtar, das seit 3000 v. Chr. bekannt ist.

Assarhaddon (680-668) hielt das Reich auf der Machthöhe, die es unter
seinem Vater besaß. Unter ihm war das Verhältnis zwischen Elam und
Chaldäa ruhiger als früher, er baute den Tempel von Babylon wieder auf
und führte Krieg gegen König Tirhaka, den dritten Herrscher in der 25.
ägyptischen Dynastie; nach einem mühseligen Zug durch die Sinaiwüste
drang er bis Memphis vor und machte Ägypten bis Theben zu einer
assyrischen Provinz. Diese fiel jedoch wieder ab, und auf einem neuen
Feldzug starb Assarhaddon.

Sardanapal (Assurbanipal), der letzte große König von Assyrien
(668-626), zog ebenfalls gegen Ägypten und drang bis Theben vor, mußte
aber den Feldzug aufgeben, da seine Heereskraft nicht ausreichte. Von
da an ließen die Assyrier das Reich der Pharaonen in Frieden.

Eine andre Gefahr aber drohte Sardanapal. Sein eigener Bruder, der
König von Babylon, trat an die Spitze eines Waffenbundes, der die
Vorherrschaft Assyriens brechen wollte; Elamiten, Chaldäer, Aramäer,
Araber und andre westasiatische Völker schlossen sich an, und ein
Weltkrieg entbrannte. Nur durch Aufgebot seiner ganzen militärischen
Macht und durch gewagte, aber rücksichtslos durchgeführte Operationen
gelang es Assurbanipal, dem drohenden Verderben zu entgehen. Nach
Eroberung von Kutha, Babylon und Sippar war die Macht Babylons
gebrochen. Elam wurde für immer als Königreich vernichtet, und
Sardanapal nahm 647 den Titel eines Königs von Babylon an.

Nach Bezold gebe ich hier ein Stück aus des Königs eigenem
Kriegsbericht wieder: „Die Götter Aschschur (Assur), Sin, Schamasch,
Adad, Bel, Nebo, die Göttin Ischtar von Ninive, die Königin von
Kidmuru, und die Göttin Ischtar von Arbela, die Göttin Ninib, Nergal
und Nusku, die vor mir hergingen und meine Feinde unterjochten,
sie warfen Schamaschschumukin, den feindlichen Bruder, der mich
befehdete, in einen brennenden Feuerschlund und vernichteten sein
Leben. Diejenigen Leute aber, die Schamaschschumukin, den feindlichen
Bruder, zu allen diesen Übeltaten verführt hatten, die den Tod
gefürchtet und ihr Leben für kostbar gehalten hatten und sich nicht mit
Schamaschschumukin, ihrem Herrn, in die Flammen gestürzt hatten, die
zerstoben vor dem Gemetzel des eisernen Dolches, vor Mangel, Hungersnot
und flammender Lohe und ergriffen einen Zufluchtsort. Das Netz der
großen Götter, meiner Herren, aus dem kein Entrinnen möglich ist,
warf sie nieder: kein Einziger entkam, keiner der Übeltäter entrann;
durch meine Hand wurden sie mein. Wagen, Geräte und Baldachine,
seinen Harem und das Hab und Gut seines Palastes brachten sie mir.
Diesen Kriegern, die meinen Herren Aschschur gehöhnt und gegen mich,
seinen ehrfurchtsvollen Magnaten, Böses geplant hatten, riß ich die
Zunge aus und schlug sie nieder ... Ihr zermetzeltes Fleisch ließ
ich Hunde, Schweine und Geier, Adler, die Vögel des Himmels und die
Seefische fressen. Durch solche Handlungen beruhigte ich das Herz der
großen Götter, meiner Herren ... Den übrigen Babyloniern aber und den
Kuthäern und Sipparensern, die dem Gemetzel und dem Hungertod entronnen
waren, ließ ich Gnade angedeihen; ich befahl, daß sie am Leben bleiben
sollten, und wies ihnen Wohnsitz in Babylon an.“

Über Sardanapals Ruhm zu seiner Zeit sagt Hjärne: „So stand
Assurbanipal in einem bisher nie gesehenen Glanz, gehärtet und
siegreich im Kampf, umgeben von allem erdenklichen Überfluß und von
aller Verfeinerung morgenländischer Kunst und Weisheit. Die ganze
gebildete Welt war von seinem Ruhm erfüllt. In der Ferne lauschten
in den dürftigen kleinen Städten der Hellenen wißbegierige Zuhörer
staunend den Berichten, die verständige Kaufleute und Reisende von der
märchenhaften Pracht des großen Sardanapal gaben. Sein Name ward bei
ihren Nachkommen zum Sprichwort, und die unverständlichen assyrischen
Keilinschriften, die hier und da in Kleinasien zu sehen waren, hielt
man für Grabschriften auf ihn. Die Dichter übten ihren Scharfsinn an
angeblichen Deutungen und ließen Sardanapal eine Lebensweisheit des
Genusses preisen, die eher sorglosen Jüngern Epikurs anstand, als dem
leidenschaftlich kämpfenden und glaubenseifrigen König von Assur:
‚Vergiß nicht, daß du als Sterblicher geboren bist, und fülle daher
dein Herz mit Mut, festlich dich freuend. Für den Toten ist aller
Genuß zu Ende; denn selbst ich bin ja zu Asche geworden, der Herr des
herrlichen Ninive‘.“

Nun traten die indogermanischen Meder als Feinde Assyriens auf. Im
Jahr 606 eroberten sie unter Cyaxares Ninive und löschten seinen Glanz
für immer aus. Das neubabylonische oder chaldäische Reich wurde von
Nabopolassar (625-604) gegründet und ging nach ihm auf Nebukadnezar II.
über. Naboned, der letzte König dieses Geschlechts (556-539), unterlag
im Jahre 539 dem Perserkönig Cyrus, der Babylonien eroberte und der
babylonischen Weltherrschaft ein Ende machte.

So sind die Völker gleich gewaltigen Meereswogen über Mesopotamiens
blutgetränkte Erde hereingebrochen. Schon in den ältesten Urkunden
sprechen die Sumerer von einer „grauen Vorzeit“, einem Sagendunkel, das
noch weit hinter dem Vorhang liegt, bis zu dem unsre Blicke reichen.
Dann überschwemmen die Semiten das Land, und die babylonisch-assyrische
Weltmacht streckt ihre Arme über endlose Flächen Vorderasiens und
Nordostafrikas aus. Die Geschichte dieses Reiches ist, wie Kolmodin
sich ausdrückt, „ein durch Jahrtausende fortgesetzter Kampf gegen
den beständig wiederkehrenden Druck der Barbarei“; aus diesem Kampf
entsteht „die mächtige babylonische Reichs- und Kulturtradition,“ die
bis zur assyrischen Zeit sich allmählich zur „Idee des Weltreichs in
der Bedeutung der gemeinsamen Organisation einer ganzen Kulturwelt zur
Abwehr der Barbarengefahr“ erweitert.

Auch ihre Stunde schlägt. Die Dämme werden gebrochen, und die persische
Völkerwoge rollt heran, um das chaldäische Erbe in Besitz zu nehmen.
Aus dem Abendland führt Alexander seine Mazedonier herbei, und auf
den Gefilden von Gaugamela stürzen sie das Reich des Darius. In
nachgriechischer Zeit stoßen hier parthische und römische Heereswogen
aufeinander. Die Sassaniden, Omaijaden und Abbasiden lösen sich ab.
Dann leuchtet der ganze Horizont blutrot: Hulagu und die Mongolen
ziehen wie ein verheerender Wüstensturm über die Provinzen des
erstarrenden Kalifats, und eine neue Völkerwoge aus dem Osten führt
Tamerlan und die Tataren herbei. Das Land vermag kaum aufzuatmen
zwischen den Schlachten.

So folgt ein Geschlecht auf das andre -- Jahrtausende hindurch dieselbe
Erscheinung. Die Erde, die ehedem den Opfergesängen für Marduk und
den Sonnengott lauschte, sieht plötzlich die Osmanen unter der grünen
Fahne des Propheten heransprengen. Kaum vier Jahrhunderte sind seitdem
vergangen. Jetzt ist die Reihe an den Osmanen, +ihr+ Erbe zu
verteidigen.

                               *       *
                                   *

„Es ist alles ganz eitel!“ sagt der Prediger Salomo. „Ein Geschlecht
vergeht, das andere kommt, die Erde aber bleibt ewiglich. Alle Wasser
laufen ins Meer, doch wird das Meer nicht voller. An den Ort, da sie
herfließen, fließen sie wieder hin. Was ist, das geschehen ist? Eben
das hernach geschehen wird. Was ist, das man getan hat? Eben das man
hernach wieder tun wird. Und geschieht nichts Neues unter der Sonne.“

Niemals ist mir die tiefe, salomonische Weisheit dieser Worte
eindringlicher aufgegangen, als auf dieser meiner Reise durch das
Zwischenstromland Mesopotamien, die biblische Urheimat der Menschheit.
Von den mächtigen Reichen des Altertums, die von hier aus die Welt
beherrschten, sah ich nicht viel mehr als Schutthalden und Haufen von
Ziegelsteinen. Gleich regelmäßigen Erdbeben und vulkanischen Ausbrüchen
hat der Paroxysmus der Zerstörung von Zeit zu Zeit die Menschheit
heimgesucht. Das lehrt die Vergangenheit. Die Zukunft ist uns
verschlossen, aber auch sie wird, allen Sängern des Friedens zum Trotz,
sich diesem Naturgesetz der Geschichte nicht entziehen können. „~Lo,
all our pomp of yesterday is one with Ninive and Tyre!~“ sagt ein
Dichter von einem der größten Reiche der Gegenwart.

Auf den Wegen Mesopotamiens liegt der Staub zahlloser Volksstämme.
Reiche sind erwachsen, emporgeblüht und wieder zerfallen; neue traten
an die Stelle der alten, und heute ist das Antlitz der Weltgeschichte
abermals dem Lande zugewendet, wo ihre Wiege stand.

[Illustration]




Druck von F. A. Brockhaus, Leipzig.


[Illustration: ~Hedins Reise nach Bagdad, Babylon und Ninive~]




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Verlag F. A. Brockhaus, Leipzig.



        
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or any Project Gutenberg™ work, (b) alteration, modification, or
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Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg™

Project Gutenberg™ is synonymous with the free distribution of
electronic works in formats readable by the widest variety of
computers including obsolete, old, middle-aged and new computers. It
exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations
from people in all walks of life.

Volunteers and financial support to provide volunteers with the
assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg™’s
goals and ensuring that the Project Gutenberg™ collection will
remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
and permanent future for Project Gutenberg™ and future
generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see
Sections 3 and 4 and the Foundation information page at www.gutenberg.org.

Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non-profit
501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
Revenue Service. The Foundation’s EIN or federal tax identification
number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by
U.S. federal laws and your state’s laws.

The Foundation’s business office is located at 809 North 1500 West,
Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up
to date contact information can be found at the Foundation’s website
and official page at www.gutenberg.org/contact

Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

Project Gutenberg™ depends upon and cannot survive without widespread
public support and donations to carry out its mission of
increasing the number of public domain and licensed works that can be
freely distributed in machine-readable form accessible by the widest
array of equipment including outdated equipment. Many small donations
($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
status with the IRS.

The Foundation is committed to complying with the laws regulating
charities and charitable donations in all 50 states of the United
States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
with these requirements. We do not solicit donations in locations
where we have not received written confirmation of compliance. To SEND
DONATIONS or determine the status of compliance for any particular state
visit www.gutenberg.org/donate.

While we cannot and do not solicit contributions from states where we
have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
against accepting unsolicited donations from donors in such states who
approach us with offers to donate.

International donations are gratefully accepted, but we cannot make
any statements concerning tax treatment of donations received from
outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.

Please check the Project Gutenberg web pages for current donation
methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
ways including checks, online payments and credit card donations. To
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Section 5. General Information About Project Gutenberg™ electronic works

Professor Michael S. Hart was the originator of the Project
Gutenberg™ concept of a library of electronic works that could be
freely shared with anyone. For forty years, he produced and
distributed Project Gutenberg™ eBooks with only a loose network of
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