Trotzkopf als Grossmutter

By Suze La Chapelle-Roobol

Project Gutenberg's Trotzkopf als Grossmutter, by Suse la Chapelle-Roobol

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Title: Trotzkopf als Grossmutter

Author: Suse la Chapelle-Roobol

Translator: Anna Herbst

Release Date: May 5, 2012 [EBook #39619]

Language: German


*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK TROTZKOPF ALS GROSSMUTTER ***




Produced by Norbert H. Langkau, Katrin and the Online
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    [ Anmerkungen zur Transkription:

      Schreibweise und Interpunktion des Originaltextes wurden
      übernommen. Uneinheitliche Schreibweisen (zum Beispiel
      ehrfurchtsvoll / erfurchtsvoll, hilflos / hülflos, nämlich /
      nemlich, San Franzisko / San Francisko, Sofa / Sopha, um's
      Himmels willen / ums Himmelswillen / Ums Himmels willen)
      wurden beibehalten. Lediglich offensichtliche Druckfehler
      wurden korrigiert. Eine Liste der vorgenommenen Änderungen
      findet sich am Ende des Textes.

      Die Illustrationen -- mit Ausnahme des Frontispiz -- wurden
      an die inhaltlich passenden Textstellen verschoben.

      Im Original gesperrt gedruckter Text wurde _so_ markiert.
      Im Original in Antiqua gedruckter Text wurde =so= markiert.
    ]




[Illustration]




    TROTZKOPF ALS
    GROSSMUTTER


    VON SUSE LA CHAPELLE-ROOBOL

    AUTORISIERTE ÜBERSETZUNG
    AUS DEM HOLLÄNDISCHEN VON
    ANNA HERBST

    MIT 8 TONBILDERN VON WILLY PLANCK

    Siebenunddreissigstes bis zweiundvierzigstes Tausend


    STUTTGART
    GUSTAV WEISE VERLAG
    A. g. XIII.




    Druck von Carl Hammer (Inh. Wilhelm Herget), Stuttgart.




»Großmama, Onkel Heinz ist noch immer nicht da. Wir werden gewiß zu
spät an die Bahn kommen.«

»Nein, Irma, du hast Zeit genug, die Fahrt dauert kaum zehn Minuten.«

»Ich hab' solche Sehnsucht nach den Cousinen aus Amerika. Was für
einer herrlichen Zeit gehen wir entgegen, nicht wahr, Großmütterchen?«
Und in ausgelassener Fröhlichkeit flog das schlanke, siebzehnjährige
Mädchen mit dem schönen, blonden Kraushaar und den dunkelblauen Augen
der alten Dame um den Hals.

Mit innigster Liebe schaute die verwitwete Frau Ilse Gontrau ihre
Enkelin an. Ihr feines, schmales, von schneeweißem Haar umrahmtes
Antlitz trug einen wehmütigen Ausdruck, der jedoch durch ein
freundliches Lächeln verklärt wurde.

»Ja, Kind, auch ich bin sehr glücklich, daß Tante Marianne und Onkel
Fritz aus Amerika zurückkommen und hier Wohnung nehmen wollen; ich
sehne mich sehr danach, die Kinder kennen zu lernen.«

»Ist es nicht unbegreiflich, Großmama, daß Onkel Fritz die beiden
Mädchen und den kleinen Karl allein vorausschickt und die drei gar
noch in Paris gewesen sind? So 'ne große Reise und solch junge
Mädchen!«

»Das hat auch mich in Erstaunen versetzt, liebe Irma. Aber ich denke,
wir werden uns noch über vieles wundern. Amerikanische Mädchen sind so
ganz anders erzogen als deutsche.«

»Ah, da kommt Onkel Heinz,« rief Irma, die einen Wagen rollen hörte,
und eilig lief sie hinaus.

»Wir wollen gleich gehen, Onkel, es ist schon spät.«

»Nur ruhig,« versetzte die tiefe Stimme eines alten Mannes, »wir haben
noch eine halbe Stunde Zeit, Jungfer Ungeduld. Ich muß erst einen
Augenblick aussteigen, weil mein Fuß nicht so lange in derselben
Stellung aushalten kann.«

»Macht die Gicht dir wieder zu schaffen?«

»Ja, natürlich, meine alten Knochen benehmen sich wieder
schauderhaft.«

Brummend stieg der Professor aus dem Wagen, humpelte, auf einen Stock
gestützt, durch den Flur und trat in das von der Sonne hell
erleuchtete Zimmer.

Die Jahre waren nicht spurlos an ihm vorübergegangen, sie hatten seine
kraftvolle, breitschultrige Gestalt etwas gebeugt. Das faltige, von
schlohweißem Haar und Bart umrahmte Antlitz zeigte oft einen barschen
Ausdruck, denn es machte ihm Vergnügen, sich als launischen Brummbären
aufzuspielen, aber die von buschigen, schwarzen Brauen beschatteten
Augen konnten noch ebenso schalkhaft und humoristisch durch die
goldene Brille gucken wie in jungen Jahren.

Von der Gicht gezwungen, die ihn oft wochenlang an den Sessel
festbannte, hatte er sich vor längerer Zeit pensionieren lassen.
Obwohl er mit Vorliebe behauptete, ganz überflüssig in der Welt zu
sein und keinem Menschen etwas nützen zu können, so wußten seine
Freunde, wenn sie auch niemals eine derartige Anspielung wagen
durften, doch nur zu gut, daß er vielen unentbehrlich war und es in
der ganzen Stadt keinen so hilfsbereiten, wohltätigen Mann gab wie
den alten Professor Fuchs. --

»Guten Abend, Frau Ilse,« sagte er, während Irma sich den Hut
aufgesetzt hatte und vor Ungeduld zitternd neben ihm stand.

»Sie sind doch noch ausgestiegen? Warum machen Sie sich unnütz müde?«

»Papperlapapp, ich bin kein im Sterben liegendes Jungfräulein. Müde
machen! Es ist nicht mehr als recht und billig, daß einer, der den
ganzen Tag nichts tut, wenigstens seinen alten Beinen Bewegung macht.«

»Ja,« entgegnete Frau Ilse zustimmend, denn sie kannte seine kleine
Schwäche, bei dem unschuldigsten Widerspruch hitzig aufzufahren; »aber
müssen Sie nun nicht gehen?« fügte sie freundlich hinzu.

»Ach ja, Onkel,« schmeichelte Irma.

»Na, kleine Kröte, dann komm nur. 'Kröte', das sagte ich auch immer zu
deiner Mutter. Und nun wollen wir die Kinder meines andern Lieblings
abholen. Wir werden alt, Frau Ilse!«

»Wir sind alt, Onkel Heinz, das Leben hat beinahe mit uns
abgerechnet.«

»Unsinn, der Teufel ist alt! Vorwärts, Kind! Auf Wiedersehen, ich
komme nochmal mit zurück.«

»Natürlich,« stimmte Frau Ilse bei. Sie hörte ihn durch den Flur
stapfen, den Wagenschlag zuwerfen und die Droschke fortfahren. Nun
lehnte sie den Kopf an die Schlummerrolle des Lehnsessels, um wie
gewöhnlich um diese Stunde etwas zu ruhen. Jetzt, vor all der Unruhe,
die ihrer wartete, hatte sie das doppelt nötig. Aber trotzdem sie die
Augen geschlossen hielt und die tiefe Stille, nur unterbrochen von dem
regelmäßigen Ticken der schönen, altmodischen Standuhr, geradezu zum
Schlummern aufforderte, vermochte Frau Ilse doch nicht einzunicken.

Unwillkürlich schweiften ihre Gedanken in die Vergangenheit zurück,
und alle Ereignisse der letzten fünfundzwanzig Jahre zogen an ihrem
Geist vorüber. Am Anfang stiegen nur heitere, lichte Bilder vor ihrer
Seele auf: der stetig wachsende Erfolg Ruths, ihrer ältesten Tochter,
die als Sängerin immer mehr Lorbeeren erntete und sich in der von ihr
erwählten Laufbahn sehr glücklich fühlte. Dann kam die Verlobung
Mariannes, ihres sanften, lieben Blondköpfchens mit Fritz, dem Sohne
ihrer alten Freundin Rosi. Dies Glück war freilich mit Trauer
gemischt, da Marianne ihrem Gatten nach San Franzisko folgen mußte.
Aber in dem Bewußtsein, daß reiches Glück ihr Kind erwartete, hatten
Ilse und Leo sich darein ergeben und ihrem Liebling, unter Tränen
lächelnd, Lebewohl gesagt.

Auch als Ruth, die ihre Studien in Berlin und später in Paris
fortsetzte, nach einiger Zeit Herz und Hand einem berühmten
Geigenkünstler schenkte, hatten die Eltern freudig ihre Einwilligung
gegeben. Zwar klagte Frau Ilse, daß ihre Töchter so bald schon das
elterliche Nest verließen, doch ihr alter Freund, der Professor, so
schwer ihm selbst auch die Trennung von seinen beiden kleinen Kröten
fiel, bewies ihr lachend, daß nun die Zeit gekommen sei, ihre Memoiren
zu beginnen, und Leo, ihr Gatte, sagte ernsthaft, sie hätten kein
Recht, sich zu beklagen. Die Kinder folgten ihrer Bestimmung und täten
nichts anderes, als was ihre Eltern auch vor Zeiten getan, sie hätten
nur Ursache dankbar zu sein, daß beide den Mann geheiratet, den sie
liebten. Ilse, mit ihrem elastischen, lebhaften Charakter, stark in
der Liebe ihres Gatten und ihrer Freunde, lernte es, sich ins
Unabänderliche zu schicken, und klagte nicht, daß sie mit ihren
Kindern in Amerika nur brieflich verkehren und auf diese Weise
erfahren konnte, daß ihre Enkel solch liebe Schätzchen seien. Ruth und
ihr Mann weilten meist im Auslande oder in den großen Städten
Deutschlands, doch dann und wann verbrachten sie einige Wochen bei
ihren Eltern, und als sie erst einen Sohn und später ein Töchterchen
bekamen, konnte Großmutter Ilse wenigstens diesen Enkeln ihre Liebe
beweisen und die Freude genießen, sie von Zeit zu Zeit bei sich zu
haben.

Dann waren traurige Tage gekommen. Das Glück, das Ilse so lange treu
geblieben, schien sie zu verlassen, und auch sie mußte die Erfahrung
machen, daß in jedem Leben Tränen ebenso notwendig sind wie Freude, um
uns zu tüchtigen, gereiften Menschen zu machen. Die Freundschaft
zwischen den Althoffs und Gontraus verminderte sich mit den Jahren
nicht; im Gegenteil, als auch Nellies Pflegetochter Annie sich mit
einem Prediger vermählte und die Stadt verließ, hatten sich die beiden
Freundinnen noch inniger an einander geschlossen, und es verging kaum
ein Tag, an dem sie nicht zusammen kamen. Nun fing Nellie, die nie
kräftig gewesen war, an zu kränkeln, wollte das aber vor Fred
verbergen, der nach Annies Hochzeit wieder mehr denn je von der
sorgenden Liebe seiner Frau abhängig geworden war. So merkte er
nichts, und selbst vor Ilse verstand Nellie zu verheimlichen, wie
elend sie sich oft fühlte. Endlich, während eines ungewöhnlich
strengen Winters, fing sie an zu husten, anfangs wollte sie nichts
darauf geben, bis der Doktor ihr das Ausgehen entschieden verbot. Die
gute Nellie, die immer nur an andere und nie an sich gedacht hatte,
wurde ernstlich krank, und als der Frühling seinen Einzug hielt,
erlöste ein sanfter Tod sie von ihrem Leiden. Bis zum letzten
Augenblick sorgte sie nur um ihren Fred und beklagte schmerzlich, daß
er so einsam und traurig zurückbliebe. Hoffnungslos kniete der
Direktor an ihrem Sarge und konnte sich nicht vorstellen, wie er ohne
sein liebes, treues Frauchen leben solle; täglich ging er zu ihrem
Grabe, schmückte es mit frischen Blumen und fühlte sich namenlos
unglücklich. Am liebsten weilte er bei Gontraus, wo er mit Ilse
stundenlang über seine geliebte Nellie reden konnte. Auch Ilse war
untröstlich über den Verlust ihrer Freundin; sie hatte sie treu
gepflegt und doch machte sie sich jetzt Vorwürfe, daß sie nicht genug
für sie getan und dem sanften, aufopfernden Wesen die Liebe und
Hingebung nicht mehr gelohnt hatte. Auch sie fand Trost in Althoffs
Gesellschaft und wurde nicht müde ihn zu beklagen und mit ihm zu
leiden.

Doch die Zeit ist das beste Heilmittel für alle Wunden, und so geschah
es denn auch, daß der Direktor ab und zu seinen täglichen Spaziergang
nach dem Friedhof versäumte, auch wieder über andere Dinge redete und
nicht mehr so häufig zu Gontraus kam. Eines Abends, als Ilse mit Leo
und Onkel Heinz aus einem Konzert heimkehrte, fanden sie eine
gedruckte Anzeige vor, die ihr von der Verlobung =Dr.= Althoffs mit
Frau Gebel, der Witwe eines Regierungsrates, Mitteilung machte.

Ilses Enttäuschung kannte keine Grenzen. Heftig warf sie den Brief auf
die Erde und erklärte es für eine Schmach, daß Althoff Nellie, seine
engelhafte Frau so rasch vergessen habe. Sie wollte ihn nie
wiedersehen.

»Das ist doch übertrieben, liebste Ilse,« sagte Leo. »Bedenke doch,
wie Fred von seiner Frau gehegt, gepflegt und verwöhnt war und wie
einsam und unglücklich der arme Mann sich nun fühlen mußte. Wenn er
aufs neue häusliche Gemütlichkeit und Glück sucht, darfst du ihn
wirklich nicht beurteilen.«

»Verehrte Frau,« fügte der Professor in seinem gewohnten spöttischen
Ton hinzu, »nicht alle Männer sind schon in der Wiege zu alten
Junggesellen oder vertrockneten Bücherwürmern bestimmt!«

Ihre Worte gossen aber nur Oel ins Feuer. Der Trotzkopf der
Jugendzeit, der sich jetzt so selten zeigte, daß man seine Existenz
beinahe vergessen hatte, kam wieder einmal zum Vorschein.

»Unsinn,« rief sie heftig, »natürlich müßt ihr ihm die Stange halten;
die Männer sind sich alle gleich, herzlose Egoisten, welche die Liebe
einer Frau nicht verdienen und sie nur zu schnell vergessen.«

»Aber Ilse,« wandte Leo ein.

»Schweig still, du würdest es gerade so machen, wenn ich gestorben
wäre,« klagte sie weinend.

»Das weißt du wohl besser, Liebste,« nahm Gontrau ernst das Wort.
»Aber wir dürfen andere nicht gleich verurteilen, wenn sie unter
Umständen anders handeln, als wir an ihrer Stelle getan hätten. Wenn
auch nicht alle Männer imstande sind, nur einmal im Leben und für
immer zu lieben, so ist es doch sehr gut möglich, daß ihre Zuneigung
warm und echt ist.«

»Kein einziger Mann besitzt die Fähigkeit, nur einmal im Leben zu
lieben,« erklärte Ilse, noch immer zürnend, »ausgenommen der meinige,«
fügte sie plötzlich hinzu, den traurigen, vorwurfsvollen Blick
bemerkend, mit dem Leo sie anschaute, und sie schmiegte den Kopf an
seine Schulter.

Professor Fuchs sah die beiden an, und als Ilses Blick dem seinen
begegnete, meinte sie einen eigentümlichen Ausdruck darin zu lesen und
fragte:

»Na, Herr Professor, Sie sind natürlich wieder nicht meiner Meinung?«

Aber statt der streitsüchtigen Antwort, die sie zu hören erwartete und
auf die gewöhnlich ein hitziger Wortwechsel folgte, erwiderte Onkel
Heinz milde:

»Nein, Frau Gontrau, denn ich weiß, daß es Männer gibt, die ebenso
treu wie eine Frau zu lieben vermögen, ihr ganzes Leben lang, selbst
ohne Gegenliebe und ohne die Hoffnung, jemals glücklich zu werden.«

Gedankenvoll starrte er vor sich hin, und sein Antlitz zeigte
denselben Ausdruck, der Ilse jetzt nicht mehr -- wie vor vielen Jahren
-- in Bestürzung versetzte, der sie jetzt nur mit Mitleid erfüllte,
warum, wußte sie selbst nicht zu sagen.

Wenn Frau Ilse bei ruhigerer Überlegung auch zugeben mußte, daß
Direktor Althoffs Benehmen zu entschuldigen war, so empfing sie ihn
doch mit sehr kühler Höflichkeit, als er ihr seine Braut vorstellte.
Instinktiv fühlten beide, daß die alte Freundschaft aufgehört hatte,
und obwohl sie sich dann und wann sahen, war doch von dem früheren
herzlichen Verkehr keine Rede mehr. Ilse konnte es Fred nicht
verzeihen, daß er Nellies Platz von einer andern einnehmen ließ. Als
es sich nach einiger Zeit herausstellte, daß seine zweite Frau lange
nicht so liebevoll und sanft war wie die verstorbene, daß der Direktor
recht schön unter dem Pantoffel stand und von Verhätscheln und
Verwöhnen keine Rede war, empfand sie nicht das geringste Mitleid mit
ihm, sondern erklärte, daß er nur ernte, was er verdient hatte.

Wieder vergingen viele Jahre. Die Enkel in San Franzisko wurden groß
und schrieben nette deutsche Briefchen an Großpapa und Großmama
Gontrau. Ruths Sohn, der jetzt im vierzehnten Jahre stand, fing an,
eine so überraschende musikalische Begabung zu zeigen, daß seine
Eltern stark daran dachten, auch ihn die Künstlerlaufbahn einschlagen
zu lassen. Da geschah etwas Schreckliches und der schwerste Schlag,
der sie treffen konnte, beugte Ilse für eine Zeit völlig nieder.

Obwohl fast sechzig Jahre alt, stand Professor Gontrau doch noch in
voller Manneskraft und kam seinen vielen Amtsgeschäften mit Eifer und
Treue nach. Ihm und Ilse schwanden die Jahre fast unmerklich dahin,
und beide sahen für ihr Alter wunderbar jung und frisch aus. Das kam
von dem vielen Glück, das ihnen das Schicksal bescherte, und von der
großen Liebe, mit der sie sich gegenseitig umgaben. Da zog sich
Gontrau, der nie krank gewesen war, eine Erkältung zu, die er
anfänglich vernachlässigte. Sie hatte eine schwere Lungenentzündung
zur Folge, die ihn innerhalb einer Woche dahinraffte. So schnell und
heftig hatte die Krankheit zugenommen, daß Ruth und ihr Mann, die in
Paris weilten, kaum Zeit fanden, an das Sterbebett ihres Vaters zu
eilen, und erst ein paar Stunden vor seinem Hinscheiden eintrafen. Sie
waren tief betrübt; ihre Kinder, Gustav und die kleine Irma, weinten
heiße Tränen, weil der liebe Großpapa, an dem sie so zärtlich hingen,
von ihnen ging. Fritz und Marianne schrieben aus San Franzisko
trostlose Briefe.

Im Kreise der Rechtsgelehrten, zu dem Professor Gontrau gehörte,
herrschte große Betrübnis, aber kein Schmerz war mit der starren
Verzweiflung zu vergleichen, die sich Ilses bemächtigt hatte. Von
allen Seiten wurden ihr Zeichen der Teilnahme entgegengebracht. Ruth
und die Kinder blieben wochenlang bei ihr. Die Tochter bot allem auf,
um ihre Mutter zu trösten. Professor Fuchs zeigte in seiner
eigenartigen Weise, wie innig er mit der Witwe fühlte. Flora Werner
kam selbst vom Lande herein und war so herzlich, daß Onkel Heinz, der
sie immer noch überspannt gefunden und sich nie viel aus ihr gemacht
hatte, sich ganz mit ihr aussöhnte. Doch alles war vergebens, Ilse
wollte keinen Trost gelten lassen. Bis dahin noch eine hübsche,
stattliche Dame hatte sie sich im Laufe weniger Monate in eine alte
Frau mit schneeweißem Haar verwandelt; die früher so lebhaften Augen
starrten erloschen aus dem bleichen, hager gewordenen Antlitz, die
stets so beschäftigten Hände lagen tagelang müßig im Schoß!

Mit Tränen in den Augen hatte Ruth sie oft umarmt und angefleht, sich
um aller derer willen, die sie so innig liebten, doch ein wenig
aufzuraffen.

»Ich kann nicht, Kind,« lautete die traurige Antwort, »selbst wenn ich
wollte. Glaube mir, das beste für mich wäre, wenn ich deinem teuren
Vater bald folgen könnte.«

Mit zusammengezogenen Brauen und einem Gesicht, das sich je länger je
mehr verdüsterte, bemerkte Onkel Heinz, der fast täglich in dem
Gontrauschen Hause weilte, diese traurige Veränderung. Anfangs hatte
er das größte Verständnis für Ilse gehabt und nicht gewußt, wie zart
er mit ihr umgehen sollte. Allmählich aber sah er die Sachen mit
andern Augen an und beschloß einmal ein ernstes Wort zu reden.

»Wissen Sie, Frau Gontrau,« begann er, als er mit ihr allein war,
»woraus wir, meiner Ansicht nach, Trost schöpfen können, wenn wir
unsre Liebsten verloren haben?«

Ilse schlug die brennenden Augenlider auf und schaute ihn fragend, mit
einem Schimmer von Interesse an.

»Wenn wir in ihrem Geiste weiterleben,« fuhr der alte Mann fort, »wenn
wir genau dasselbe tun, womit wir sie glücklich machten, als sie noch
bei uns weilten.«

»Vielleicht,« versetzte Ilse mit bitterm Lächeln.

»Sie aber tun das nicht,« fuhr Onkel Heinz erbarmungslos fort. »Oder
glauben Sie, der gute Gontrau würde sich darüber freuen, wenn er
wüßte, daß Sie sich so gehen lassen, sich sogar gegen die Liebe Ihrer
Kinder gleichgültig zeigen und auf dem besten Wege sind, Ihre
Gesundheit zu zerstören und sich aufzureiben?«

»Zum Glück weiß er das nicht.«

»Sind Sie dessen ganz sicher? Und selbst wenn dem so wäre, der
Gedanke, in dem Geist und Sinn unserer lieben Verstorbenen weiter zu
leben, ist ein festes, köstliches Band, das uns mit ihnen verbindet.
Jedenfalls finde ich Sie in Ihrem Leid ganz besonders egoistisch und
undankbar.«

Ilse stand auf, ihre trüben Augen fingen an zu funkeln, etwas von
ihrer alten Natur wurde wach in ihr, und sie rief entrüstet: »Wie
dürfen Sie es wagen, so zu mir zu sprechen? Ich verlange nichts, als
daß man mich mit meinem Schmerz allein läßt! Egoistisch, undankbar!
Wie sollte ich Ursache haben, dankbar zu sein, ich, über die das
größte Leid gekommen ist, das eine Frau treffen kann!«

Onkel Heinz ließ sich jedoch nicht abschrecken; er war schon froh, daß
er sie aus ihrer Apathie aufgerüttelt hatte, und fuhr ruhig fort:

»Egoistisch, weil Sie nur an sich denken und ganz vergessen, daß es
Ihre Pflicht ist -- und nichts weiter als Ihre Pflicht und
Schuldigkeit -- für Ihre Kinder zu leben und ihnen durch doppelte
Liebe den Vater zu ersetzen. Undankbar, weil Sie all das Gute nicht
erkennen, was Ihnen noch geblieben ist. Wer sind Sie denn, Frau Ilse,
und auf welchen Standpunkt stellen Sie sich eigentlich, um so viel vom
Leben fordern zu dürfen?«

»Ich?« stammelte sie verständnislos.

»Ja, Sie,« wiederholte er heftig. »Alle Segnungen, die ein
Menschenleben glücklich gestalten können, sind Ihnen zu teil geworden.
Sie haben eine sorgenlose Jugend genossen, waren schön und gesund,
durften den Mann heiraten, den Sie unaussprechlich liebten. Ihre
Kinder haben Ihnen nie eine trübe Stunde bereitet; auch an irdischen
Glücksgütern fehlte es nicht. Mehr als dreißig Jahre waren Sie mit
Ihrem Manne vereint und haben die denkbar größte Seligkeit erfahren.«

»Ja, aber eben gerade deshalb ist es jetzt so fürchterlich,«
schluchzte Ilse. »Gerade weil ich meinen Mann so geliebt habe, so
glücklich mit ihm gewesen bin, kann ich ihn nicht entbehren, und es
ist so trostlos, ohne ihn leben zu müssen. Aber davon wissen Sie
nichts, das können Sie nicht verstehen.«

Onkel Heinz lächelte traurig.

»Nein, das kann ich natürlich nicht verstehen; aber wissen Sie, Frau
Gontrau, was ich außerdem auch nicht verstehe? Daß Sie sich niemals
die Frage vorgelegt haben, in welchen Beziehungen Sie denn so viel
besser, weiser und liebenswürdiger sind als andre, um so bevorzugt zu
werden. Denn ich sage Ihnen, tausende schmachten nach dem Glück, das
Ihnen mühelos in den Schoß gefallen ist. Tausende müssen im Leben sich
begnügen, die reichbesetzte Tafel anderer zu sehen, und lernen, sich
neidlos an fremdem Glück zu freuen, ohne daß ihnen von den
begehrenswerten Schätzen das Geringste zu teil wird.«

Seine Stimme klang seltsam bewegt, was ihr nicht entging; und als sie
durch ihre Tränen zu ihm aufschaute, sah sie, daß er ganz gerührt war.
Freundlich reichte sie ihm die Hand und flüsterte:

»Sie haben Recht, ich will mich zusammennehmen.«

Und sie hielt Wort. Zwar wurde sie nicht mehr die alte Ilse, die sie
früher gewesen war, aber sie lernte, sich in das Unabänderliche
schicken, zehrte vom Glück, das sie früher besessen hatte, und konnte
dankbar sein für das, was ihr geblieben war. Niemand, selbst Ruth
nicht, erfuhr, was der alte Professor mit ihr verhandelt hatte. Ihre
Kinder schrieben die günstige Veränderung der alles heilenden Zeit zu.

Einige Jahre später baten Ruth und ihr Gatte, Heinrich von Holten,
Großmama Ilse, ihr Töchterchen Irma auf unbestimmte Zeit in ihr Haus
zu nehmen. Durch ihren Beruf gezwungen, waren sie viel auf Reisen und
konnten nie lange an einem Ort verweilen. Dies unstäte Leben mußte die
Erziehung des heranwachsenden Mädchens ungünstig beeinflussen. Mit
Gustav war das etwas anderes; der Knabe spielte bereits so meisterhaft
Klavier, daß er seine Eltern nicht nur begleitete, sondern sich schon
selber öffentlich hören ließ. Irma aber war nicht künstlerisch
veranlagt, für sie paßte dies ruhelose Leben nicht. Mit welcher Freude
Frau Ilse die Bitte ihrer Tochter erfüllte, läßt sich denken. Sie
fühlte sich oft sehr einsam, und nun, wo die hübsche, lustige Irma ihr
Gesellschaft leistete, erwachte wieder viel von ihrer früheren
Lebenslust.

Alle diese Ereignisse zogen an Ilses Geist vorüber, während sie in
ihrem gemütlich eingerichteten Wohnzimmer saß. Sie erkannte, wie sie
es eigentlich Onkel Heinz verdankte, daß sie nun mit Freuden der
Ankunft ihrer unbekannten Großkinder entgegensah, und sich auf die
spätere Heimkehr von Fritz und Marianne aus dem fernen Lande freuen
konnte; und ein Gefühl der Dankbarkeit gegen ihren alten Freund
erfüllte sie. --

Unterdessen waren Professor Fuchs und Irma auf dem Bahnhof angelangt
und schritten ziemlich ungeduldig auf dem überdachten Bahnsteig hin
und her, um die Ankunft des Zuges zu erwarten.

»Glaubst du, daß wir sie schnell herausfinden, Onkel?« fragte Irma.

»Aber natürlich, sie werden Lärm genug machen.«

»Ich bin so schrecklich neugierig; wenn der Zug nur erst käme, es ist
nicht mehr auszuhalten!«

Ein schriller, langgezogener Pfiff in der Ferne, ein immer lauter
werdendes Getöse verriet, daß die Wartezeit ein Ende hatte.

»Ruhig!« mahnte Onkel Heinz, als Irma ihn mitten ins Menschengewühl
hineinziehen wollte. »Glaubst du, mir macht's Vergnügen, auf meinen
schmerzenden Fuß getreten zu werden? Wir bleiben hier stehen, dicht
neben dem Eingang, da müssen sie vorbeikommen, und wir können sie
nicht verfehlen.«

Irma wäre lieber weitergegangen, aber sie nahm sich zusammen, reckte
sich, so viel sie konnte, und bemühte sich, mit ihren scharfen Augen
die Erwarteten zu entdecken.

»Ach, ich fürchte, sie sind nicht da,« flüsterte sie enttäuscht.

»Ich glaube, du bist meine Cousine Irma von Holten,« sagte plötzlich
eine helle Stimme in reinstem Deutsch dicht neben ihr, und vor ihr
standen zwei junge Mädchen mit einem Knaben von etwa zehn Jahren.

»Maud! Agnes!« rief Irma erfreut, »seid ihr's wirklich? Ach wie schön,
daß wir euch gefunden haben.«

Sie war doch etwas verlegen und warf rasch einen Seitenblick auf die
Amerikaner. Die beiden Mädchen waren groß und schlank, trugen sehr
einfache Reisekostüme von dunklem Stoff, gut, aber ohne jede
Verzierung gearbeitet, um den Hals einen weißen Kragen mit einer
hübsch geschlungenen Krawatte. Irma fand, daß sie jungenhaft aussahen,
besonders Maud, deren dunkles Haar kurz geschnitten war. Beide trugen
Filzhüte mit einem breiten glatten Band und einer steif
aufrechtstehenden Hahnenfeder. Der Knabe sah allerliebst aus. Er war
klein für sein Alter, hatte aber ein kluges, verschmitztes Gesicht.
Mit seinem langen Beinkleid, seiner kurzen Jacke und hohem Hut glich
er einem Herrn =en miniature=. Alle drei schienen ihren Handkoffer mit
Vergnügen selbst zu tragen; in ihrer Kleidung wie in ihrem Äußern lag
etwas höchst Korrektes, und sie sahen durchaus nicht ermüdet und
abgespannt aus.

»Sie müssen Onkel Heinz sein,« sagte Maud, auf den Professor
zutretend, »Vater und Mutter haben uns so viel von Ihnen erzählt, daß
wir sie überall herausfinden würden.«

»Na, na, ihr Taugenichtse, eure Eltern haben mich seit zwanzig Jahren
nicht gesehen, was können sie da noch von mir behalten haben?« fragte
der Professor, dessen Antlitz vor Freude strahlte.

»O,« nahm der kleine Karl das Wort, »Sie sind gewiß nur ein bißchen
weißer geworden, aber den Spitzbart und das lustige Gesicht haben Sie
wohl immer gehabt.«

»Nu hör' mir einer so 'nen Junker Naseweis an, was sagst du zu so 'nem
Dandy, Irma?«

Die Amerikaner waren so zutraulich und liebenswürdig, daß es Irma nach
kaum fünf Minuten schien, als hätten sie sich schon seit Jahren
gekannt.

An der Treppe, die vom Bahnsteig hinunterführte, bot Agnes Onkel Heinz
den Arm, und der kleine Junge lief voraus, öffnete die Türen des
Wartesaales und sah sich sofort nach dem Wagen um. Dienstfertig riß er
den Schlag auf, half den jungen Damen und Onkel Heinz beim Einsteigen
und kletterte, da im Innern kein Platz mehr für ihn war, auf den Bock;
das alles tat er mit einer Gewandheit und Selbstverständlichkeit, als
ob er zwanzig und nicht zwölf Jahre alt wäre.

»Aber wir vergessen ja das Gepäck,« rief Irma, »wo sind eure Koffer?«

»Wir haben nichts weiter als unser Handgepäck,« entgegnete Maud.

»Nichts als diese kleinen Köfferchen, und damit habt ihr eine solche
Reise gemacht?«

»Nun, was brauchen wir mehr? Ein gutes, handfestes Reisekostüm, eine
seidene Bluse und ein heller Rock, das genügt. Wäsche kann man an
jedem Ort kaufen oder waschen lassen. Viel Gepäck auf der Reise ist
unpraktisch.«

Nach einer Viertelstunde hielt der Wagen vor dem Hause der Frau
Gontrau. Die Doppeltüre öffnete sich, noch ehe der Kutscher klingeln
konnte. Bebend vor Rührung stieg Irma zuerst aus und ging ins
Vorzimmer. Dort stand Großmutter Ilse und hieß ihre Enkelkinder mit
Tränen in den Augen willkommen.

»Liebste, beste Großmutter! Sehen wir dich endlich?« riefen die
Mädchen, und alle drei eilten zu gleicher Zeit auf sie zu.

Während einiger Minuten hörte man nichts als unterdrücktes Schluchzen,
Liebkosungen und einzelne Ausrufe. Endlich beruhigten sich die Gemüter
ein wenig und entzückt schaute Ilse die Kinder an.

»Sehen Sie mal, Onkel Heinz,« rief sie erregt, »ist Maud nicht ihrem
Vater wie aus den Augen geschnitten? Und Agnes, du gleichst auf ein
Haar deiner lieben Mutter, auch so blond und sanft. Wann kommen eure
Eltern, liebe Kinder?«

»In sechs Wochen etwa, Großmama. Wir müssen erst ein Haus mieten und
einrichten.«

»Wem seh ich ähnlich, Großmama?« fragte Karl.

»Das weiß ich noch nicht, mein lieber Junge.«

»Die Mutter sagt,« nahm Maud das Wort, »daß er viel vom Großvater
hat,« und sie schaute nach einem lebensgroßen Porträt Leos, das an der
Wand hing.

Das gab Ilse einen Stich ins Herz. Ach, wie oft hatte Leo sich auf das
Wiedersehen mit seinen Kindern und Enkeln gefreut; wie innig hatte er
gewünscht, daß sein Schwiegersohn Fritz einen Wirkungskreis in ihrer
Nähe finden und seinem Adoptivvaterlande Lebewohl sagen möchte. Nun,
wo sich sein Wunsch erfüllte, konnte er sich nicht mehr daran
erfreuen. Verräterisch bebten die Lippen der alten Frau, da bemerkte
sie, wie Onkel Heinz sie ernst und ermutigend anschaute. Der Gedanke,
daß er nur zu gut verstand, was in ihr vorging, gab ihr Kraft; tapfer
schluckte sie die Tränen hinunter und sagte heiter:

»Aber Kinder, ihr müßt ja totmüde sein. Irma, führe sie nach oben und
zeige ihnen ihre Zimmer, dann können sie sich vor dem Abendessen etwas
ruhen.«

»Nicht nötig, Großmama,« fiel Agnes lebhaft ein. »Wir haben heute
nacht im Zuge herrlich geschlafen und es uns ganz bequem gemacht. Das
Einzige, was uns nottut, ist etwas zu essen. Nicht wahr, Maud? Nicht,
Karl?«

»O, dann gehen wir gleich zu Tisch,« schlug Ilse vor. »Folgt mir nur
ins Eßzimmer, Kinder. Kommen Sie, Onkel Heinz!«

Lachend nahm sie den Arm des alten Herrn und schritt voraus, während
Irma sich im Stillen wunderte, wie man länger als zwanzig Stunden in
einer Tour reisen und dann erklären konnte, nicht müde zu sein.

Bald war die ganze Familie gemütlich um die Abendtafel versammelt. Der
Tisch war festlich gedeckt mit einem weißen Tuch, in das mit feiner,
blauer Baumwolle Figuren und Sprüche eingestickt waren, und zeigte
Überfluß an wertvollem, altdeutschem Porzellan, schön geschliffenem
Kristall, Blumen und Früchten. An dem altmodischen kupfernen
Kronleuchter waren alle Kerzen entzündet und auf dem Buffet von
Eichenholz standen sogar ein paar Flaschen Sekt in Eis.

Die amerikanischen Gäste taten dem Festmahl die größte Ehre an, und
alle schwatzten lustig und lebhaft durcheinander.

»Kinder,« fragte Ilse im Laufe des Gesprächs, »wie gefällt euch
Paris?«

»Herrlich, Großmama. Eine großartige, fröhliche Stadt. Entzückend mit
all den großen Plätzen und Parks, dem vielen Grün und der
Blumenpracht. Jetzt war es ganz besonders schön, denn Flieder und
Kastanien standen in vollster Blüte.«

»Herrscht nicht ein schrecklicher Trubel dort?«

»Nein, bei uns geht's lebhafter zu, da gibt's viel mehr Lärm und
Hasten, und die Menschen haben mehr zu tun, aber in Paris ist alles
eleganter, reicher.«

»War's euch nicht angst, so ganz allein in der großen fremden Stadt?«
fragte Irma neugierig.

»Ganz allein?« rief Karl lachend; »wir waren doch zu dritt.«

»Ja, aber ihr seid doch so jung und wart fremd und hattet keine
Bekannten, die euch herumführen und euch alles zeigen konnten.«

Maud lachte. »Wir kannten niemand; Tante Ruth hat, glaube ich, an
einige Familien geschrieben, sich unserer anzunehmen. Aber wir fanden
es so umständlich, erst Besuche zu machen, das nahm uns Zeit, und es
gab doch so viel zu sehen.«

»Das ist schade,« meinte Ilse. »Ohne Begleitung konntet ihr doch nicht
in die Theater gehen, und dadurch habt ihr viel verloren.«

»Ich verstehe dich nicht, Großmama, wir sind in verschiedenen Theatern
gewesen.«

»Allein?«

»Wir drei und manchmal wir beide, wenn es für Karl zu spät wurde.«

»Ihr beiden jungen Mädchen allein, des Abends, im Pariser Theater,«
sagte Ilse erstaunt, »wußten eure Eltern das?«

»Natürlich, Großmama. Wir gehen immer allein aus, überall hin. Alle
amerikanischen Mädchen tun das, und niemand findet etwas darin.«

»Ich würde das nicht wagen,« gestand Irma.

»Was bist du für ein Dummchen,« fuhr Maud fort. »Wie umständlich und
lästig ist es, immer von irgend jemand abhängig zu sein. Wir sind's
gewöhnt, alles allein und selbständig zu besorgen. Und das ist
wirklich das einzig Richtige.«

»Aber Kinder,« fragte Ilse, »habt ihr in Paris denn nie eine
unangenehme Begegnung gehabt?«

»Nicht ein einzigesmal, Großmama,« versicherte Agnes. »Niemand achtete
auf uns, ruhig und still, den Reiseführer in der Hand, gingen wir
unsres Weges. Hatten wir was zu fragen, wiesen die Leute uns stets
freundlich und höflich zurecht. Wir waren immer sehr einfach
gekleidet, und jeder sah gleich, daß wir Fremde waren.«

»Nun,« nahm die Großmutter wieder das Wort, »ich versichere euch, daß
in meiner Jugend niemand so was gewagt hätte. Und ich war noch ein
kecker Tollkopf, aber davor wäre mir doch bange gewesen. Was sagen Sie
dazu, Onkel Heinz?«

Der alte Herr hatte behaglich schmunzelnd zugehört.

»O!« meinte er, »mir gefällt das alles ausgezeichnet; Sie wissen ja,
daß ich auf die übertriebenen Formen und Komplimente nichts gebe. Ich
bin für die amerikanischen Mädchen. Und da nun gerade der Sekt
eingegossen wird, schlage ich vor, sie leben zu lassen.«

Fröhlich stimmte jeder in dies Lebehoch ein; aber nun war es spät
geworden, und man trennte sich. Die jungen Gäste wurden auf ihre
Zimmer geführt, und bald herrschte tiefste Stille im ganzen Hause.

       *       *       *       *       *




Am nächsten Morgen sandte die strahlende Maisonne Lichtfunken durch
die Stäbe der heruntergelassenen Jalousien in Irmas Zimmer, und
endlich gelang es ihr, das junge Mädchen aufzuwecken. Irma richtete
sich auf und schaute umher in dem hübschen Gemach mit den hell
bezogenen Möbeln und den weißen, mit blauen Schleifen aufgenommenen
Gardinen. Sie rieb sich die Augen, nickte den Bildern ihrer Eltern und
ihres Bruders, die auf dem Schreibtisch standen, einen Morgengruß zu
und dann, ohne daß sie sich recht darauf besinnen konnte, fiel ihr
ein, daß gestern abend etwas sehr Nettes passiert war. Ach ja, die
Ankunft der amerikanischen Cousinen! Sie sah nach der Uhr und merkte
mit Schrecken, daß es schon sehr spät war und sie die Zeit verschlafen
hatte. Eilig sprang sie aus dem Bett und kleidete sich an.

Bei Großmama schadete das nichts, die machte kein böses Gesicht, wenn
sie ein bißchen spät herunterkam, aber was würden die amerikanischen
Cousinen denken? Irma war ein recht verwöhntes Kind, ein verzogenes
Püppchen; da sie aber so liebenswürdig, sanft und herzlich war, ließ
Großmutter Ilse ihr in ihren kleinen Liebhabereien und Neigungen, die
sie nur noch bezaubernder machten, ihren freien Willen. Sie war nicht
eitler als die meisten jungen Mädchen, obwohl sie wußte, daß sie ein
reizendes Gesichtchen hatte, mit blauen Vergißmeinnichtaugen und einer
Fülle krausen goldblonden Haares. Sie hielt sehr darauf, nett
angezogen zu sein, und brauchte viel Zeit zur Toilette, aber das
Resultat war dann auch stets ein so befriedigendes, daß die
Großmutter, selbst wenn sie zuweilen über solche Zeitvergeudung
schalt, sich heimlich gestehen mußte, daß das kleine Ding
unwiderstehlich reizend aussah.

Denselben Gedanken hatten auch die amerikanischen Cousinen, als Irma
nun endlich in einem blau und weiß gestreiften Morgenkleide sich zu
ihnen gesellte, und der kleine Karl, der sich bereits im Zimmer seiner
Schwestern befand, erklärte Irma für das schönste Mädchen, das er je
gesehen.

»Dummer Junge!« rief sie lachend, aber geschmeichelt fühlte sie sich
doch. »Was ist das mit euch?« fuhr sie fort, erstaunt erst die beiden
Mädchen ansehend und dann im Zimmer umherblickend.

Maud und Agnes waren, wie Karl, bereits zum Ausgehen gerüstet, bis auf
Hut und Handschuhe. Aber auch das Zimmer war schon völlig fertig, die
Betten gemacht, die Waschtische in Ordnung gebracht, überall Staub
gewischt, ja Agnes war beschäftigt, den Pflanzen, die auf dem Balkon
standen, Wasser zu geben.

»Warum habt ihr das alles selbst besorgt?« fragte Irma verwundert.

»Das sind wir so gewöhnt.«

»Aber dazu sind doch die Dienstmädchen da.«

»Gewiß,« versetzte Maud, »doch wir lieben es nicht, uns bedienen zu
lassen. Was wir selbst tun können, tun wir auch selber. Bei uns haben
wir keine Bedienten in dem Sinne, wie ihr das versteht. Zu gewissen
Arbeiten, die wir nicht verrichten können, kommen Leute stundenweise
jeden Tag; dann gehen sie wieder. Sie werden fast als unsres Gleichen
angesehen. Die Mutter erzählte uns, daß es hier ganz anders ist, aber
so rasch können wir uns daran nicht gewöhnen.«

Großmutter Ilse erwartete das junge Volk im Eßzimmer, dessen weit
offenstehende Glastüren in den Garten führten. Nach dem Frühstück
wurde ein Tagesprogramm entworfen. Die Mädchen wollten sich am
liebsten gleich nach einer passenden Wohnung umsehen. Sie ersuchten
Großmama und Irma nachzudenken, welches Stadtviertel das geeignetste
wäre, damit sie keine unnötigen Wege zu machen brauchten.

»Aber erst,« erklärte Maud, »muß ich zwei Briefe schreiben, oder
besser, du, Agnes, schreibst den an unsre Eltern, das erspart Zeit.
Den andern muß ich selbst erledigen.«

Sie wurde dabei rot, und Irma forschte lachend:

»Ist er so wichtig, daß du ihn nicht bis zum Nachmittag aufschieben
kannst?«

»Ja,« versetzte Maud, »denn dieser Brief ist für meinen Verlobten
bestimmt.«

Großmama und Irma machten erstaunte Gesichter.

»Du bist schon Braut, mein Kind?« fragte erstere. »Und davon erfuhr
ich nichts. Das ist doch nicht auf der Reise zustande gekommen?« fügte
sie hinzu, fürchtend, daß ihre Enkelin ohne Wissen der Eltern einen
unüberlegten Schritt getan haben möchte.

»Nein, Großmama,« erwiderte Maud ruhig. »John und ich, wir sind schon
fast ein Jahr verlobt. Er ist eine Waise, Vater und Mutter haben es
vom ersten Tage an gewußt. Der Vater hielt es für besser, nicht
darüber zu reden, denn es dauert noch ein Jahr, bis John fertig ist
und wir heiraten können. Daher haben wir nichts davon in unseren
Briefen erwähnt, aber ich wollte es dir natürlich gleich mitteilen.«

»Und was ist dein Bräutigam?«

»Im Augenblick Heizer auf einer Lokomotive.«

»Was!« riefen Ilse und Irma, im höchsten Grade erstaunt, wie aus einem
Munde.

»Heizer auf einer Lokomotive,« wiederholte das junge Mädchen mit
größter Gemütsruhe.

»Ist er denn ein Arbeitsmann?« fragte Irma kleinlaut.

Maud fing an zu lachen.

»Hab' nur keine Angst. Mein John ist Ingenieur und wird übers Jahr
zweiter Direktor einer großen Dampfmaschinenfabrik. Aber er muß auch
praktisch lernen und daher dient er eine Zeitlang als einfacher
Arbeiter.«

»Ein gewöhnlicher Heizer,« nahm Irma das Wort, und ihre blauen Augen
wurden immer größer vor Verwunderung, »mit 'nem Arbeitskittel und
schwarzem Gesicht und schmutzigen Händen?«

Maud ärgerte sich ein bißchen, Agnes aber brach in lustiges Gelächter
aus.

»Was bist du doch für ein dummes Gänschen, Irma; wenn er sich
gewaschen und umgezogen hat, sieht ihm niemand seine Beschäftigung an.
John geht nicht in seinem Arbeitsrock in Gesellschaft.«

»Überdies,« fiel Maud ein, »ist ein Arbeiter bei uns gerade so gut ein
Gentleman wie jeder andere, es kommt nur auf die Persönlichkeit an.
Uns ist gelehrt, daß keine Arbeit schändet.«

»Da hast du ganz recht,« meinte Ilse, »aber du mußt es meiner kleinen
Irma nicht übelnehmen, daß sie etwas erstaunt ist. Sind die Sitten und
Gebräuche in Amerika auch anders, im Grunde genommen haben wir doch
dieselben Ansichten. So willst du uns also bald wieder verlassen,
Maud?«

»In einem Jahr kommt John, um mich zu holen, Großmama.«

»Und du, Agnes.«

»O, du behältst mich zunächst bei dir, vielleicht für immer; ich habe
keinen Verlobten in Amerika.«

Die jungen Mädchen schrieben ihre Briefe, und dann gingen sie mit Irma
auf Wohnungssuche. Ilse wollte nach einem Wagen schicken, Maud aber
erklärte, sie fände es bequemer zu Fuß zu gehen, dann könnten sie sich
besser umschauen. Die Großmama mußte den Gedanken, sie zu begleiten,
aufgeben, denn sie fürchtete die Anstrengung, auch bedurften ihre
energischen Enkelinnen ihres Rates nicht, denn sie wußten genau, was
sie brauchten. So konnte sie ihnen die Sache getrost überlassen. Irma
ging zum Vergnügen mit. Sie gesellte sich zu Agnes, während Maud und
Karl vorauswanderten, und eifrig beratschlagten. Die deutsche Cousine
wunderte sich immer mehr und mehr über den Takt, die Ruhe und
Geschäftskenntnisse, welche die fremden jungen Mädchen an den Tag
legten. Sie erkundigten sich nach allem, sprachen mit Hauseigentümern
und Verwaltern, machten solche praktische Bemerkungen, daß sogar die
Männer sie erstaunt betrachteten, und endlich glückte es ihnen, dicht
vor der Stadt ein geräumiges, von einem hübschen Garten umgebenes Haus
zu mieten. Maud schlug vor, der Besitzer solle noch denselben Abend
mit dem Kontrakt zu Frau Gontrau kommen, da die Sache eile. Das Haus
konnten sie sofort beziehen, es sah sehr gut erhalten aus und bedurfte
nur geringer Reparaturen.

»Ich glaube, daß ich arg dumm bin,« sagte Irma seufzend, als sie,
munter plaudernd, den Heimweg antraten. »Erst fand ich es sehr
komisch, daß ihr allein herkamet und ein Haus für eure Eltern mieten
solltet. Meinen Eltern würde es nie einfallen, mir einen solchen
Auftrag zu geben. Ich würde es auch nicht können, denn noch nie in
meinem Leben bin ich handelnd aufgetreten.«

»Dann wird es hohe Zeit,« fand Maud. »Wie alt bist du eigentlich,
Irma?«

»Siebzehn.«

»Agnes ist achtzehn, und ich werde nächstens zwanzig.«

»O, du kommst mir wie dreißig vor,« rief Irma, »das heißt,« fuhr sie
erschrocken fort, »nicht in deinem Äußern, denn mit dem hübschen
kurzen Gelock siehst du wie sechzehn aus, aber in deinem Tun und
Lassen. Du bist so schrecklich verständig, ganz wie eine Frau.«

»Das will ich meinen,« sagte Maud ruhig.

»Mach nur nicht so ein erschrecktes Gesicht, Irmachen,« nahm Agnes
freundlich das Wort. »Du brauchst nicht handelnd aufzutreten; du bist
gerade so ein liebes, hübsches, kleines Ding, das sein Leben lang
verhätschelt und beschützt werden muß.«

»Das möchte ich auch. Mir ist so bange vor emanzipierten Frauen.«

Maud mußte lachen. »Wir sind nicht emanzipiert. Wir haben nur gelernt,
uns wenn nötig selbst zu helfen und unabhängig und frei aufzutreten,
wo es gerade angebracht ist.«

»Aber ich will nicht unabhängig auftreten,« beharrte Irma. »Wenn ich
mal heirate, will ich von meinem Manne ganz abhängig sein, ihn als mir
überlegen betrachten, als meinen Herrn und Gebieter; er aber muß mich
verwöhnen, verhätscheln und in mir das kostbarste und schönste Wesen
sehen, das ihm anvertraut ist. Er muß mich geradezu anbeten.«

»Das würde mir nicht genügen,« erwiderte Maud und ihre Mundwinkel
zuckten verächtlich. »Ich will meinem Manne Gefährtin und Helferin
sein, keine Puppe, kein Schmuckstück.«

Irma antwortete nichts, sie nahm den Arm ihrer jüngeren Cousine. Ohne
recht zu wissen weshalb, fühlte sie sich mehr zu Agnes hingezogen --
ob das kam, weil diese sie schon zweimal schön und unwiderstehlich
genannt hatte? Sie gestand sich das selbst nicht ein, fand Maud auch
sehr lieb, aber die war drei Jahre älter und -- Braut. Da war es wohl
natürlich, daß sie sich mit Agnes inniger befreundete.

Die Mädchen baten Großmutter Ilse, nach dem Mittagessen das Haus mit
ihnen zu besehen, ehe es endgültig gemietet wurde. Onkel Heinz, der
sich erkundigen wollte, ob die Reisenden gut geschlafen hätten, schloß
sich ihnen an. Beide waren höchst befriedigt, Ilse, weil das Haus nur
ein Viertelstündchen von ihrer Wohnung entfernt lag, und der
Professor, weil die Zimmer so geräumig, hoch und luftig waren. In
heiterer, fast ausgelassener Stimmung durchschritten und besichtigten
sie sämtliche Räume, und die Mädchen erzählten schon, wie sie alles
einrichten wollten, als Ilse plötzlich erschrocken ausrief:

»Aber Kinder, wann geht ihr denn zu eurer Tante Elisabeth?«

Der kleine Karl schnitt Irma ein Gesicht, daß sie losprustete, Agnes
sonniges Antlitz trübte sich und Maud sagte:

»Aber Großmama, dazu haben wir doch vor der Hand keine Zeit; es eilt
auch nicht.«

»Doch, liebes Kind; sie ist die einzige Schwester deines Vaters.«

»Papa konnte Tante Elisabeth nie leiden; er machte sich nichts aus
ihren Briefen,« ergänzte Karl.

»Und doch hat er sicher gesagt, daß ihr gleich nach eurer Ankunft sie
besuchen sollt,« beharrte Ilse. »Was meinen Sie, Onkel Heinz?«

»Ach, was sollen die Kinder bei so 'ner langweiligen alten Jungfer?«

»Siehst du wohl, Großmama! Onkel Heinz muß es doch wissen,« riefen die
Mädchen wie aus einem Munde.

»Nein, Onkel Heinz weiß es nicht,« erklärte Ilse bestimmt, dem
Professor einen unzufriedenen Blick zuwerfend. »Denken Sie doch, wie
einsam Tante Elisabeth ist! Seit dem Tode eurer Großmutter, der alten
Frau Rosi Müller, lebt sie ganz allein. Nun sind die Kinder ihres
einzigen Bruders aus Amerika gekommen, und es würde mehr als unartig
und herzlos sein, wenn ihr sie nicht aufsuchen wolltet.«

»Großmama hat recht,« pflichtete Maud bei, »morgen früh wollen wir zu
ihr gehen.«

»Ich geh' aber nicht mit,« rief Irma, »ich hab' keine Lust, getadelt
zu werden wie ein kleines Kind. Jedesmal, wenn ich zu Fräulein Müller
komme, muß ich anzügliche Bemerkungen hören, bald über meine Frisur,
dann über meine Toilette, ja, einmal hat sie sich sogar herausgenommen
mir zu sagen, daß du mich verziehst, Großmama.«

»Da hat sie aber vollkommen recht,« stimmte Ilse lachend zu. »Du wirst
mitgehen, Irma, schon um deinen Cousinen den Weg zu zeigen.«

»Ja,« flüsterte Agnes, »komm nur mit, nachher lachen wir zusammen über
die '=old maid='.«

Das Haus wurde gemietet, und während des ganzen übrigen Nachmittags
und Abends stellten die Mädchen lange Listen von allem auf, was sie
zur Einrichtung brauchten, denn sie wollten so bald wie möglich mit
ihren Einkäufen beginnen. --

Pastor Adolf Müller war ungefähr sechs Jahre, nachdem sein Sohn Fritz
sich mit Marianne Gontrau verheiratet hatte und nach San Franzisko
gezogen war, gestorben. Rosi und ihre einzige Tochter Elisabeth hatten
das freundliche Pfarrhaus verlassen müssen und waren nach einem andern
Stadtteil übergesiedelt. Dort hatten sie eine Wohnung ganz nach ihrem
Geschmack gefunden -- ein düsteres, ziemlich großes Haus mit zwei
Stockwerken, einem langen Korridor und einer Küche. Die dunkel
tapezierten Zimmer wurden mit schweren, massiven Mahagonimöbeln
ausgestattet. Rosi liebte helle Farben und neumodisches Mobiliar
nicht, und Elisabeth teilte ihren Geschmack. Die Schränke, Tische und
Stühle waren so glänzend poliert, daß ein Spiegel überflüssig schien,
obgleich einer in schwarzem Rahmen über dem Kamin hing. Nirgends war
ein Stäubchen zu entdecken, und alles stand fein säuberlich an der
Wand in Reih und Glied, denn Rosi ärgerte sich über die verrückte
Sitte, im Salon alles bunt durcheinander zu stellen. Die Kissen und
gepolsterten Sitze der Sessel und Sophas waren mit riesigen
gefältelten Schonern bedeckt, denn die beiden Damen, die wenig
ausgingen, sich außer in der Kirche nie an öffentlichen Orten zeigten
und selten Besuch bei sich sahen, beschäftigten sich vorzugsweise mit
Handarbeiten. Durch die Heirat der Kinder wurde der Umgang mit der
Familie Gontrau aufrecht erhalten, da aber auf beiden Seiten keine
große Sympathie herrschte, nahm der Verkehr auch im Laufe der Jahre
nicht zu. Rosi billigte es nicht, daß Ilses älteste Tochter Ruth einen
Künstler geheiratet hatte, daß sie selbst Konzerte gab und viel mit
Künstlern, ja sogar mit Schauspielern verkehrte. Leo und Ilse ertrugen
Rosis beschränkte Ansichten um der Kinder willen, hüteten sich aber
vor einem intimen Umgang.

Diese Umgebung war sicher nicht geeignet, um aus Elisabeth, die an
sich schon ein steifes, zurückhaltendes Wesen besaß, ein fröhliches,
liebenswürdiges Menschenkind zu machen. In ihrer Jugend hatte sie
unter dem Druck gelebt, der seit Fritzens Flucht aus dem Elternhause
jahrelang auf Rosi und Adolf lastete. Als später alles zum Guten
ausschlug und Fritz als ein tüchtiger, vermögender =self-made man= aus
der Fremde heimkehrte, galten alle Liebe, alle Aufmerksamkeiten ihm,
und die bescheidene Elisabeth, die sich stets bemüht hatte, ihrer
Mutter in strengster Pflichterfüllung nachzueifern, war ganz in den
Hintergrund getreten. Der Pastor sah das wohl ein, er hatte aber nie
viel zu sagen gehabt. Er bemühte sich, Rosi klar zu machen, daß sie
Elisabeth in die Gesellschaft einführen müßten, damit sie ihre Jugend
genießen könne. Rosi war nicht seiner Meinung; je stiller und
unbeachteter ein junges Mädchen seinen Weg ging, desto besser. Ein
ernster Mann wüßte es zu schätzen, wenn er ein Mädchen heiratete, das
unbekannt und unbesprochen durch die Welt ging und dessen Tugenden im
eignen Hause zur vollen Geltung kamen. Aber trotzdem erhielt Elisabeth
nie einen Heiratsantrag. Anfangs war sie darüber unglücklich und
beneidete ihre, in dieser Hinsicht bevorzugten Freundinnen.

Als die Jahre vergingen und die Aussichten immer mehr schwanden, wurde
sie verbittert. Nachdem der Vater gestorben und sie mit der Mutter die
düstere, kasernenartige Wohnung bezogen hatte, ergingen sich beide in
lieblosen Gedanken und scharfen Äußerungen. Die eine verurteilte die
Mütter, die alles daran setzten, ihren Töchtern einen Mann zu kapern,
und die andre brach den Stab über die Mädchen, die den jungen Leuten
nachliefen und dadurch ein Schandfleck ihres Geschlechtes wurden.

Solange die Mutter lebte, die mit ihr fühlte und für die sie sorgen
konnte, verknöcherte Elisabeth noch nicht ganz, aber als sie nach
ihrem Tode allein auf der Welt stand, wurde sie die unangenehme,
bissige alte Jungfer, die sich für nichts interessierte als
für die Sauberkeit und Ordnung in ihrem Haushalt, für einige
Wohltätigkeitsbestrebungen, die mit echter Menschenliebe und
Selbstverleugnung wenig zu schaffen hatten, für ihre Sammlung von
Häkelmustern und für die Gesundheit ihrer Katze, ihres Kanarienvogels
und ihres Hundes. Sie wurde geizig, mißtrauisch und klatschhaft; die
Leute mieden und verlachten sie. Nur wenige hatten Mitleid mit ihr und
sahen ein, daß sie wohl eine verrückte alte Jungfer, aber doch
eigentlich ein beklagenswertes Geschöpf war, verdorben durch Erziehung
und häusliche Verhältnisse. Ilse Gontrau, die selbst viel gelitten --
erst durch Nellies Tod und dann vor allem durch den Verlust ihres
geliebten Leo -- urteilte milder und konnte es nicht leiden, wenn
Elisabeth Müller von allen, besonders von den Männern und dem jungen
Volke verspottet und lächerlich gemacht wurde. Sie sah in ihr eine
arme Verlassene, an der das Glück mitleidslos vorübergegangen war.
Wenn sie auch zugeben mußte, daß der Gegenstand ihres Mitleids höchst
unsympathisch war; wenn sie auch für ihre guten Absichten stets
unangenehme Redensarten zu hören bekam, sie blieb fest in ihren
Bemühungen und gab sich daher auch jetzt erst zufrieden, als die
Mädchen mit Karl sich am nächsten Morgen auf den Weg zu Tante
Elisabeth machten.

»Brr!« sagte der kleine Junge, »was für 'ne Straße! Das ist ja rein
zum Gruseln.«

»Dort wohnt die Tante, in dem Haus mit den Spionen und den grünen
Rollläden,« belehrte Irma.

»Nicht verlockend,« meinte Maud. »Warum steht bei dem herrlichen
Wetter nirgends ein Fenster auf?«

»Damit kein Staub hineinkommt.«

»Glaubst du, Irma, daß sie uns was Leckeres anbieten wird?« fragte
Karl.

»Selbstverständlich. Aber wenn sie es tut, Kinder, nur nicht danken.
Sie wagt gewiß nicht, es zu unterlassen, in der stillen Hoffnung, daß
wir dankend ablehnen werden. Denn geizig ist sie!«

»So wird sie mir wohl keine Zigarre anbieten?«

»Kleiner Affe!« rief Irma lachend, »darf er denn rauchen, Agnes?«

»Nein, Papa hat's ihm streng verboten, trotzdem tut er es manchmal
doch.«

»Still, nicht klatschen,« flüsterte Karl mit einem besorgten Blick auf
Maud, die jedoch nicht acht gegeben hatte, sondern ihr ganzes
Interesse der großen, dunkel gestrichenen Haustüre und den mit
Rollläden und doppelten Vorhängen versehenen Fenstern widmete.

Sie zogen die Klingel und mußten lange warten. Endlich öffnete sich
die Tür und ein bejahrtes Dienstmädchen mit sauren Mienen, in einem
dunkelblauen Wollkleide mit kurzen Ärmeln und einer großen
Leinenschürze, erschien in derselben.

»Ist Fräulein Müller zu Hause?« fragte Irma.

»Ja, gnädiges Fräulein,« lautete die Antwort mit einem keineswegs
freundlichen Blick auf die kleine Gesellschaft.

»Nun, dann können wir wohl eintreten.«

»Nicht so rasch, bitte, ich weiß doch nicht, ob das Fräulein empfangen
will.«

»Dann fragen Sie, aber so lange brauchen wir doch nicht hier auf der
Matte zu stehen.«

»Wen soll ich melden?«

»Mich kennen Sie doch, Fräulein Irma von Holten? Und dann sagen Sie,
daß die Nichten und der Neffe aus Amerika da sind.«

»So,« erwiderte die Magd mit einem mißtrauischen Blick auf die
Fremdlinge. »Treten Sie unterdes nur ein, aber bitte die Füße gut
abzuputzen, draußen ist es schmutzig.«

»Ach, so was, die Straße ist knochentrocken,« murmelte Irma, während
sie den Cousinen und Karl voranging in den Salon.

»Was für ein freches Geschöpf,« sagte Agnes.

»Wart' nur, Kind, das ist erst das Vorspiel, die Herrin ist noch ganz
anders. Aber findet ihr es hier nicht außerordentlich gemütlich?«

Maud und Karl prusteten los, während Agnes sich neugierig umschaute.

Es war ein großes Gemach, aber es roch dumpfig und feucht, als ob es
lange nicht gelüftet worden wäre. Vor dem hohen, breiten Fenster, das
auf einen Hof hinausging, hingen schwere, dunkle Übergardinen. Dunkel
waren auch Tapeten und Möbel, die wie Soldaten in Reih und Glied an
den Wänden standen. Das goldene Sonnenlicht, die fröhlichen Farben der
ersten hellen Sommertage waren sorgfältig ausgesperrt; hier schien
alles düster, winterlich, feucht und bedrückend.

Maud, Karl und Irma hatten jedes auf der Kante eines Stuhles Platz
genommen, ohne den Mut zu finden, ihn auch nur ein wenig von der Wand
zu rücken.

Niemand kam.

»Brr,« machte Irma, »hier bekommt man fast Lust, etwas ganz Tolles zu
begehen, wenn sich die Gelegenheit dazu bietet.«

»Weißt du, was hier das Hübscheste ist?« fragte Agnes, mit dem Fuß
über den Boden gleitend.

»Nun?«

»Der Boden, das schönste Parkett kann nicht besser sein.«

In der Tat war der Linoleumteppich so glatt gebohnt, daß man bei jedem
Schritt in Gefahr geriet, zu fallen.

»Herrlich zum Tanzen!« rief Irma, und plötzlich sprang sie auf, faßte
Agnes um die Taille und walzte mit ihr durch das Zimmer.

»Haltet ein, das dürft ihr nicht,« bat Maud erschrocken, die beiden
aber hörten nicht und Karl, von ihnen angesteckt, wurde nun auch
ausgelassen, fing an mit den Fäusten auf dem Tisch zu trommeln und mit
lauter Stimme zu singen:

    »=Come boys, push along
    And let us all be gay.=«

[Illustration]

»Mein Gott, was geht hier vor?« ertönte plötzlich eine angsterfüllte
Stimme. Die Türe wurde geöffnet und Tante Elisabeth, durch den Lärm in
ihrem sonst so stillen Hause zu Tode erschreckt, schaute hinein,
gefolgt von der nicht minder entsetzten Grete.

»Das sind keine Amerikaner, gnädiges Fräulein,« rief letztere, »das
sind Wilde. Der Junge wird das Haus noch einreißen.«

Die Mädchen ließen sich los, und lachend wandte Irma sich dem alten
Fräulein zu.

»Seien Sie nicht böse, Fräulein Müller. Wir machten ein Tänzchen, um
uns die Zeit zu vertreiben, da Sie sich gar nicht sehen ließen. Dies
sind Ihre Nichten Maud und Agnes, und der Bengel da ist Karl.«

»Vorgestern sind wir angekommen, liebe Tante,« sagte Maud freundlich,
»und hoffen, daß du froh bist, uns zu sehen.«

»Seid willkommen, ihr Mädchen,« entgegnete die Tante und gab jeder
einen Kuß. Karl reichte sie die Hand; vor dem Knaben mit seinem
Schelmengesicht und den übermütig blitzenden Augen hatte sie
buchstäblich Furcht. »Aber ich muß doch sagen, daß ihr eine sonderbare
Manier habt, Besuche zu machen. Ist das Mode in Amerika?«

»Nein, Tante,« erwiderte Agnes lachend. »Da ist nur dein gebohnter
Fußboden schuld. So köstlich glatt, das verlockt unwiderstehlich zu
einem Tänzchen. Wenn du das Zimmer ausräumst, kannst du im Winter hier
eine herrliche Tanzgesellschaft geben.«

»So, die geb' ich aber nicht,« klang es ziemlich gereizt zurück.
»Grete, sieh mal nach, ob keine zu argen Schrammen im Boden sind, und
reib' auch den Tisch ab, der Junge hat mit seinen warmen Händen
Flecken darauf gemacht.«

Eine unbehagliche Stille entstand. Maud fühlte sich durch diesen mehr
als unfreundlichen Empfang beleidigt. Irma und Agnes traten sich
unter dem Tisch auf die Füße und wechselten beredte Blicke. Karl aber,
dem es sofort klar wurde, daß er seine Tante nicht ausstehen könne,
sann auf einen neuen Streich, mit dem er sie ärgern wollte. Tante
Elisabeth betrachtete ihre Nichten neugierig und eingehend. Die
Mädchen mißfielen ihr dank ihrer höchst einfachen Kleidung nicht;
diese war ihr lieber wie Irmas Toilette, die immer höchst elegant und
nach der neuesten Mode war. Aber daß Maud ihr Haar kurz geschnitten
trug, fand sie lächerlich.

»Warum trägst du dein Haar wie ein Junge?« fragte sie.

»Weil ich es bequem und praktisch finde, Tante.«

»Aber doch auch, weil es dir gut steht?« meinte Irma.

»Jawohl, stünde es mir schlecht, so würde ich es nicht tun.«

»Ihr habt nette Kostüme an,« fuhr Tante Elisabeth fort. »Geht ihr
immer so dunkel und einfach gekleidet?«

Maud biß sich auf die Lippen; dies unhöfliche Ausfragen ärgerte sie,
Agnes versetzte aber lachend:

»O nein, das sind unsre Reisekleider, und es ist bequem, wenn die ganz
einfach sind. Aber bei feierlichen Gelegenheiten geben die
amerikanischen Frauen und Mädchen viel auf Toilette. Wenn wir wieder
kommen, wirst du uns in großer Gala sehen, Tante.«

»Das ist nicht nötig,« erwiderte Fräulein Müller steif. »Ich gebe
nichts darauf; ich halte nur auf Einfachheit und Tüchtigkeit. Doch nun
erzählt mir, wie es euren Eltern geht und wann sie hier eintreffen!«

Die Mädchen berichteten dies und das von ihrer Reise, ihrem Aufenthalt
in Paris und ihren Plänen, wie sie das Haus, welches sie hier gemietet
hatten, einrichten wollten. Das berührte Tante Elisabeth unangenehm.
Ihr kaltes Antlitz mit den regelmäßigen Zügen und dem tadellos
gescheitelten, noch dunklen Haar ward immer länger und länger. Es
mißfiel ihr im höchsten Grade, daß so junge Mädchen allein aus einem
andern Erdteile -- und gar noch über Frankreich -- nach Deutschland
reisten und das für das Natürlichste und Einfachste von der Welt
hielten. Sie selbst war in ihrem ganzen Leben nie über einige Meilen
im Umkreis ihres Geburtsortes herausgekommen, und sie verurteilte
jeden, der ihren engherzigen Ansichten nicht beipflichtete. Diese
Kinder hatten sicher die Abenteuerlust vom Vater, ihrem Bruder Fritz
geerbt, der auch mit fünfzehn Jahren aus dem Elternhause entlief, weil
er sich der heiligen Zucht und Ordnung nicht fügen wollte, die dort
dank dem strengem Regiment ihrer Mutter herrschten. Als sie im Lauf
der Unterhaltung merkte, daß die Mädchen von ihren Eltern
nicht mehr als Kinder, sondern als gleichberechtigte erwachsene
Menschen behandelt wurden, fing sie an, mit der Neugierde einer
unverbesserlichen alten Jungfer allerhand unbescheidene Fragen zu
stellen. Wieviel Miete sie für das Haus zahlten? Wie groß das
Einkommen ihres Vaters wäre? Wieviel Kleidergeld sie erhielten? Ob ihr
Vater hier auf demselben Fuße leben könnte wie in Amerika? &c. &c.

Irma amüsierte sich köstlich über die Art, wie Maud und Agnes, ohne
unhöflich zu sein, mit großem Takt auf all diese Fragen ausweichende
Antworten gaben; und Tante Elisabeth mußte zu ihrem Ärger erfahren,
daß sie keine kleinen Kinder, die sie nach Herzenslust ausforschen
konnte, vor sich hatte, sondern ein paar kluge, verständige Mädchen,
die nicht mehr sagten, als sie für richtig hielten.

»Tante,« ließ Karl sich plötzlich vernehmen, »darf das Fenster nicht
geöffnet werden?«

»Wozu, mein Junge?«

»Ich finde, daß es hier so abscheulich riecht.«

Die alte Dame wurde rot.

»Du kannst deine Bemerkungen für dich behalten, lieber Neffe,« sagte
sie giftig. »Das Fenster -- bleibt geschlossen. Ich habe keine Lust,
mich dir zu Liebe zu erkälten.«

Wieder setzte sie ihre Unterhaltung mit Maud fort. Karl sah nach Irma
hin, die ihm lächelnd zunickte.

»Tante,« fing er von neuem an.

»Was, kleiner Kerl?«

»Ich hab solchen Durst. Hast du nicht ein Glas Limonade oder Obst für
uns?«

»Ein gut erzogenes Kind fordert nicht, sondern wartet, bis ihm etwas
angeboten wird,« entgegnete die Tante streng. »Sind alle Kinder in
Amerika so ungesittet und schlecht erzogen wie dieser Junge, Nichte
Maud?«

Aber nun war's mit Mauds Selbstbeherrschung vorbei.

»Nein, Tante,« versetzte sie scharf. »Bei uns sind die Kinder, gerade
wie Karl, sehr gut und gesittet erzogen, und die Leute sind gastfrei
und freundlich, so daß sie sich wundern, wenn sie bei andern das
gerade Gegenteil sehen.«

Noch nie hatte Irma Maud so nett gefunden, wie in diesem Augenblick.
Agnes und Karl freuten sich diebisch. Tante Elisabeth wurde dunkelrot.
Am liebsten hätte sie den frechen Kindern die Tür gewiesen, aber bei
reiflicher Überlegung hielt sie es doch für besser, so zu tun, als
hätte sie den Stich nicht verstanden. Mit sauersüßer Miene sagte sie
daher zu ihrem Neffen:

»Du möchtest also ein Stück Kuchen haben, mein Jungchen?«

»Davon hab' ich doch nichts gesagt,« verteidigte sich Karl, doch auf
einen Wink von Maud schwieg er. Die Tante schloß ein Fach des schweren
Mahagonibuffets mit schwarzer Marmorplatte auf und holte eine
Blechbüchse heraus. Sie bot den Mädchen an, die dankend ablehnten,
und der kleine Junge zog ein Gesicht beim Anblick der altbackenen,
trocken gewordenen Stückchen Sandkuchen, aber probieren wollte er sie
doch.

»Willst du noch eins?« fragte die Tante, zuschauend, wie er mit langen
Zähnen daran kaute.

»Nein, danke, es ist eine Kunst das hinunterzuwürgen, ohne dabei zu
trinken.«

»Wir müssen gehen,« nahm Maud rasch das Wort, bevor Fräulein Müller zu
antworten vermochte. »Großmama wird nicht wissen, wo wir geblieben
sind.«

Ein steifer Abschied folgte. Im Korridor jagte Karl der Tante noch
einen Todesschreck ein, indem er die Miez, die um die Türe guckte,
beim Anblick der Fremden aber scheu zurückhuschte, anzischte. Doch
lief die Geschichte ohne weiteres Unglück ab.

»Was für ein Wesen!« rief Agnes entrüstet, als sie auf der Straße
waren. »Nie wieder geh' ich zu ihr.«

»Das werden wir doch wohl müssen,« seufzte Maud. »Sie ist Papas
einzige Schwester, aber glücklicherweise mag er sie auch nicht.«

»Du hast ihr's ordentlich gegeben,« sagte Irma, »und über den Karl
hätte ich mich beinahe totgelacht.«

»Na wart' man,« brummte Karl, »so 'nen Ekel gibt's nicht noch mal auf
der Welt! Aber wenn ich wieder komme, kann sie was erleben; entweder
steck' ich das Haus an oder tue sonst etwas, das die ganze Wohnung auf
den Kopf stellt.«

Ilse machte ein ärgerliches Gesicht, als die Mädchen ihr erregt ihre
Erlebnisse bei Tante Elisabeth schilderten. Sie versuchte zu
beschwichtigen und behauptete, daß die Kinder übertrieben, aber Onkel
Heinz, der auch bei Gontraus speiste, lachte laut und rief:

»Unsinn, die Kröten haben recht; die Müller ist eine unausstehliche
alte Jungfer. Ihr Mädchen, heiratet um's Himmels willen, denn nun seht
ihr, was aus einem Frauenzimmer wird, das keinen Mann kriegt.«

»Aber Herr Professor,« wandte Ilse ein. »Was setzen Sie da wieder den
Kindern für dummes Zeug in den Kopf? Als ob eine unverheiratete Frau
nicht auch ein nützliches Glied der Gesellschaft sein könnte. Die Ehe
erhöht nicht ihren Wert, das kann einzig und allein ihre
Persönlichkeit tun.«

»Unsinn,« brummte der alte Herr. »Eine alte Jungfer ist ein Unding --
sie entspricht nicht ihrer Bestimmung.«

»Und ein alter Junggeselle, Onkelchen?« fragte Agnes schalkhaft, beide
Hände um seinen Arm schlingend.

»Der ebensowenig, mein Kind, aber der verdient wenigstens dein ganzes
Mitleid.«

»O, was für 'ne Logik! Daß du nicht geheiratet hast, ist doch deine
eigene Schuld, während Tante Elisabeth wahrscheinlich nichts dafür
kann. Vielleicht hat nie jemand um sie geworben.«

»Doch, sie kann dafür,« behauptete Onkel Heinz, dem das Widersprechen
noch immer ein Bedürfnis war. »Solch unangenehme Geschöpfe wie sie,
kommen schon als alte Jungfer auf die Welt. Ich rat euch noch mal,
Kinder, hütet euch davor, macht, daß ihr heiratet, damit man euch
nicht in einen Topf werfen kann mit solchen Wesen, die, nur weil sie
Unterröcke tragen, sich für berechtigt halten, Frauen genannt zu
werden.«

»Ich will's nicht hören, daß Sie so zu meinen Enkelinnen reden,« rief
Ilse, ehrlich entrüstet. »Ich sage euch im Gegenteil, ihr Mädchen,
heiratet nicht, außer wenn ihr das Glück habt, _den_ Mann zu finden,
den ihr von ganzer Seele und mit ganzem Herzen zu lieben imstande
seid. Eine alte Jungfer braucht durchaus kein lächerliches Wesen zu
sein. Ich kenne viele, die gerade so hoch, ja noch höher stehen als
manche verheiratete Frau. Das müssen doch auch Sie zugeben, Professor,
wenn Sie gerecht sein wollen.«

»Ach was,« nahm Onkel Heinz das Wort, der als er sah, wie ernst seine
alte Freundin die Geschichte nahm, wieder einlenken wollte, »Sie haben
mich nur nicht verstanden, Frau Ilse.«

»Ich meine, Sie waren deutlich genug.«

»Es ist doch ein Unterschied zwischen einer _alten Jungfer_ und einer
_unverheirateten Dame_. Und jetzt wollen wir zu Tisch gehen. Von so
'ner unfruchtbaren Diskussion werd' ich hungrig.«

       *       *       *       *       *




Nun folgte eine geschäftige Zeit. Jeden Tag hatten die Mädchen
Einkäufe zu machen. Tischler, Stukkateure, Tapezierer, Maler und
Zimmerleute schafften um die Wette. Es wurde gut und eifrig
gearbeitet, und ehe vier Wochen vergangen waren, sah das Haus, in dem
die Familie Müller aus Amerika wohnen sollte, schon recht hübsch und
einladend aus. Die Mädchen richteten alles nach eigenem Geschmack ein.
Die Eltern hatten nur im allgemeinen angegeben, wie jedes Zimmer
möbliert und ausgestattet werden sollte.

Anfangs fanden Großmutter Ilse und Irma es ziemlich ungemütlich. In
der Schlafstube standen eiserne Bettstellen ohne Vorhänge, auf dem
feingeflochtenen Eisendraht nur eine Matratze von Seegras. Keine
Mulldraperien um den Toilettentisch, und vor den hohen Fenstern nur
Binsenvorhänge. Die Tapeten ließen sich leicht mit Wasser reinigen.
Die Möbel waren zierlich, aber höchst einfach in Form und Stil, die
Stühle meist mit Sitzen von feinem Flechtwerk. Wenig Zierrat, alles
konnte bequem umgestellt und gesäubert werden. Nirgends Portieren oder
Übergardinen; das waren, wie die Mädchen behaupteten, nur Staubfänger.
In allen Zimmern und Gängen elektrische Klingeln und Beleuchtung. In
der Küche ein Lift, um das Essen nach oben zu befördern, und Hähne zu
kaltem und heißem Wasser in sämtlichen Schlafstuben. Kein Luxus, aber
viel Komfort. Tante Elisabeth, die auch einmal die Wohnung
besichtigte, mißbilligte alle diese Neuerungen auf's höchste und
jammerte über die Unsummen, welche die modernen Einrichtungen
verschlangen. Sie tadelte ihre Nichten, daß sie mit jugendlicher
Unbesonnenheit zu Werke gegangen wären, und meinte, ihr Bruder könnte
trotz seiner Vorliebe für amerikanische Verhältnisse solche Tollheiten
unmöglich gut heißen. Aber Maud brachte sie dadurch zum Schweigen, daß
sie ihr erwiderte, es wäre alles ganz genau nach den Wünschen und
Anordnungen ihrer Eltern eingerichtet.

Die Tante begnügte sich nun damit, mißbilligend den Kopf zu schütteln
und, heimgekehrt, der alten Grete ihr Leid zu klagen und auf die
neumodischen Leute zu sticheln, die in ihren Häusern alles durch
Maschinen verrichten ließen und sich durch alle möglichen
Bequemlichkeiten über die Maßen verwöhnten.

Als das Haus fertig war und auch der Garten mit seinen breiten
Kiespfaden und dem Tennisplatz im Hintergrunde sich in schönster
Ordnung befand, mußten Ilse und Irma doch gestehen, daß es sehr nett
aussah, wenn sie es zuerst auch ein wenig kalt und nüchtern gefunden
hatten. Sämtliche Zimmer waren geräumig und hell, während das gar zu
grelle Sonnenlicht durch Markisen gedämpft werden konnte. Von allen
Seiten drang frische Luft herein, wo es aber nötig war, gab es
Doppelfenster, die dem Zug den Eintritt wehrten. Nirgends etwas
überflüssiges, nirgends ein Mangel an dem Nötigen und Nützlichen;
überall herrschte auch eine harmonische Übereinstimmung der Farben,
die dem Auge wohl tat. Maud und Agnes legten mit ihrer Arbeit Ehre
ein, und auch Karl hatte tapfer mitgeholfen. Kein Wunder, daß sie der
Ankunft ihrer Eltern mit größter Ungeduld entgegensahen.

Herr und Frau Müller befanden sich schon seit einiger Zeit auf der
Heimreise und konnten in etwa acht Tagen eintreffen. Kurz zuvor kamen
auch Irmas Eltern mit Gustav aus Berlin, um die Verwandten aus Amerika
willkommen zu heißen. Maud und Agnes waren entzückt von ihrer Tante
Ruth und deren Mann. Am Tage nach ihrer Ankunft gaben sie im
Familienkreise ein Konzert, bei dem auch Onkel Heinz nicht fehlte. Er
war immer glückselig, wenn Ruth im Hause ihrer Mutter als Gast weilte,
seine Zuneigung zu ihr blieb sich stets gleich, und auch ihren Gatten
verehrte er als großen Künstler.

Ruth von Holten war eine stattliche, schöne Frau in der Vollkraft
ihres Lebens. Sie glich sehr ihrer Mutter, als diese jünger war und
ehe Schmerz und Kummer ihren Zügen einen sanften wehmütigen Ausdruck
verliehen hatten. Ihr Name als Sängerin war auch im Auslande
rühmlichst bekannt; überall erregte sie mit ihrer schönen, in
vorzüglicher Schule gebildeten Stimme und ihrem warmen Vortrage
Aufsehen. Ihr Gatte, ein großer Geigenkünstler, war ihr in den ersten
Jahren ihrer Ehe ein guter Lehrmeister gewesen. Wo das geniale Paar
sich zeigte, ward es mit Jubel empfangen. Auch Gustav fing an, sich
als Klavierspieler einen Namen zu machen. Er war ein stiller, junger
Mensch, mit den verträumten Augen seines Vaters. Er freute sich, die
Cousinen aus Amerika kennen zu lernen, aber die heitere, schalkhafte
Agnes setzte ihn oft in Verlegenheit. Er ging ihr wie auch Irma aus
dem Wege, die zwar große Stücke auf ihn hielt, ihn aber häufig mit
seinem linkischen Wesen und seiner Schüchternheit jungen Damen
gegenüber neckte. Er fühlte sich mehr zu Maud hingezogen, die ruhig
und ernst mit ihm sprach, ihn nach seinen Studien fragte und sich
nicht allein als Musikfreundin und Kennerin, sondern auch als selbst
musikalisch ausgebildet zeigte. Die Mädchen waren begeistert, wenn
Tante Ruth, Onkel Heinrich und Gustav im Familienkreise musizierten,
vielleicht mit noch mehr Liebe und Hingabe als vor einem großen
Publikum. Für die Künstlerfamilie war es eine Erquickung, ein wahres
Aufatmen, einmal einige Wochen im Elternhause zu weilen und
gleichzeitig die Mutter und den alten Freund der Familie, Onkel Heinz,
durch ihr Spiel und ihren Gesang glücklich zu machen. --

»Ich bin ganz verliebt in Tante Ruth,« erklärte Maud, als die drei
Mädchen im Schlafzimmer der Cousinen sich noch über den Abend
aussprachen.

Agnes schaute sie verwundert an, denn Maud war eine sehr ruhige Natur,
die nicht leicht in Entzückung geriet.

»Ja,« fuhr sie ungewöhnlich erregt fort, »nicht nur, weil sie eine so
schöne Stimme hat, sondern auch, weil sie durch und durch schlicht und
einfach ist. Und doch hat sie etwas so Vornehmes, gerade wie Großmama.
=Every inch a lady.=«

»Wenn dir das jetzt schon auffällt, dann sollst du Mama erst in
Konzerttoilette sehen,« meinte Irma; »früher trug sie immer weiß,
jetzt meist schwarzen oder dunklen Samt. Ich sage dir, sie sieht dann
aus wie eine Fürstin.«

»Du mußt eigentlich sehr stolz sein, Irma, als die Tochter von so
genialen Eltern. Dein Bruder ist auch sehr talentvoll,« sagte Maud.
»Hast du selbst nie Musikstunden gehabt?«

»Jawohl, als ich klein war, bekam ich Klavierstunden. Wie konnte es
anders sein in einer solchen Umgebung? Ich hatte gutes Gehör und würde
es wahrscheinlich zu etwas gebracht haben, wäre ich das Kind
gewöhnlicher Eltern gewesen; wirkliches Talent besaß ich nicht, und da
erklärten Papa und Mama es für besser, wenn ich aufhörte. Dilettanten
und Klimperer gäb's in der Musik gerade genug.«

»Hast du dich nie unglücklich gefühlt?« fragte Maud sanft, »daß du in
dieser Hinsicht eigentlich zu kurz gekommen bist? Ich wenigstens würde
mich von der Natur für stiefmütterlich behandelt halten, wenn ich
solche Eltern, solchen Bruder und selbst keine künstlerischen Anlagen
besäße.«

»Ich nicht,« versetzte Irma lachend und betrachtete ihre schöne,
schlanke Gestalt und ihr Engelsköpfchen, von einem Heiligenschein
goldblonder Locken umrahmt, mit Wohlgefallen in dem großen Spiegel.

»Du bist freilich sehr hübsch,« fuhr Maud, über diese Eitelkeit
geärgert, fort, »doch Talent zu besitzen ist viel mehr wert.«

»Vielleicht! Aber drei Talente in einer Familie, das ist wirklich
genug. Ich würde es als eine schwere Bürde ansehen, wenn ich noch ein
viertes vorstellen müßte.«

Agnes lachte. »Was für ein närrisches kleines Mädchen bist du, Irma!
Aber sie hat recht, Maud. Es braucht doch nicht jede Frau etwas
Besonderes zu sein.«

»Das habe ich auch nicht behauptet; Irma beachtet nur zu wenig, daß
jetzt von den Frauen etwas anderes verlangt wird, wie in früheren
Zeiten.«

»Ach was,« rief Irma. »Onkel Heinz würde sagen, die Hauptsache ist bei
einer Frau zu allen Zeiten, daß sie anmutig, sanft und lieb ist.«

»Das läßt sich alles vereinigen,« versetzte Maud so ruhig, als hätte
sie den Stich nicht verstanden; »eine geistig hochstehende Frau kann
schön, anmutig und lieb sein, das paßt sehr gut zusammen.«

»Na, dann gratulier' ich deinem John, der kriegt ein vollkommenes
Wesen,« fuhr Irma gereizt fort, denn oft konnte sie Mauds etwas
pedantische, überlegene Art zu sprechen, nicht ausstehen.

Die Amerikanerin zuckte die Achseln, und Agnes flüsterte Irma zu.

»Nun vergißt du ja Onkel Heinz' Behauptung, daß _Lieb_sein das
Anziehendste an einem jungen Mädchen ist.«

Schmollend verzog Irma ihr hübsches Mündchen, dann leuchtete es in
ihren Zügen auf, und sie trat zu Maud.

»Ich war unartig,« sagte sie, ihr die Hand reichend, »sei nur nicht
böse.«

Die großen Vergißmeinnichtaugen blickten unschuldig und kindlich in
das schmale, dunkle und doch hübsche Antlitz der andern. Maud begriff
nicht, warum ihr Tränen in die Augen traten; sie war doch sonst nicht
so weichherzig. Plötzlich schlang sie die Arme um Irmas Hals und küßte
sie.

»Ich reizte dich,« flüsterte sie. »Ich glaube, ich möchte dich gar
nicht anders haben als du bist.«

Endlich brach der große Tag an, der zu Fritz' und Mariannes Heimkehr
bestimmt war. Ilse konnte kaum daran glauben. Einundzwanzig Jahre
waren verflossen, seit die blonde Marianne ihrem Manne nach San
Franzisko gefolgt war. Ihre Mutter stellte sie sich noch immer vor als
das feine, zarte Mädchen, kaum dem Kindesalter entwachsen, und nun
kehrte sie heim als Frau und Mutter erwachsener Kinder, von denen die
Älteste übers Jahr auch schon in die Ehe treten sollte.

Den ganzen Tag herrschte größte Geschäftigkeit. Schon früh morgens
hatte die ganze Familie sich nach dem neuen Hause begeben, wo Herr und
Frau Müller empfangen werden sollten. Ein großes Festmahl ward
hergerichtet. Maud gab mit gewohnter Ruhe und Sicherheit den neuen
Dienstboten ihre Befehle. Tante Ruth, die sich schon als junges
Mädchen nie mit dem Haushalt beschäftigt hatte und seit ihrer
Verheiratung die ganze Sorge dafür andern überlassen mußte, schaute
bewundernd zu, wie Maud in kurzer Zeit ohne Umstände allerlei Dinge
beschaffte, wozu sie selbst Stunden gebraucht hätte. Großmutter Ilse
war zu aufgeregt, um sich um irgend etwas zu kümmern. Sie, die jetzt
meist gleichmäßig ruhig blieb, wanderte rastlos hin und her. Sie lief
durch sämtliche Räume, fragte Maud und Agnes hundertmal, ob auch alles
in Ordnung sei, und zählte die Stunden, die halben Stunden, zuletzt
die Minuten, die noch verlaufen mußten, ehe die Erwarteten eintreffen
konnten. Im Garten waren Irma, Agnes und Karl beschäftigt, Lampions
und kleine Fähnchen zwischen den Bäumen anzubringen und die letzte
Hand an eine Ehrenpforte zu legen, die sie mit Hilfe von Gärtner und
Zimmermann errichtet hatten. Sogar der stets so stille und
zurückhaltende Gustav, der den Kopf voller Melodien, sich am
glücklichsten fühlte, wenn er allein am Flügel in Großmutters Salon
bleiben konnte, beteiligte sich an der allgemeinen Geschäftigkeit,
stand auf einer Leiter und befestigte zwischen dem dunklen Tannengrün
rote und weiße Rosen und bunte Gladiolen.

Ilse hatte an Tante Elisabeth geschrieben und sie gebeten, auch zu
kommen. Die Kinder erhoben Einsprache dagegen, und Onkel Heinz
behauptete, die alte Essigpflaume werde das ganze Fest und die Freude
des Wiedersehens stören, aber Frau Gontrau blieb fest. Die einzige
Schwester von Fritz und die rechte Tante der Kinder gehörte zu ihnen,
und es wäre nicht mehr als recht und billig, sie einzuladen. Ein
allgemeiner Jubelschrei brach los, als eine Absage von der alten Dame
kam. Sie schrieb ein sauersüßes Briefchen, in dem zwischen den Zeilen
zu lesen stand, daß der Hauptgrund ihr Ärger über die Mädchen war,
die, ohne sie um Rat zu fragen oder sich an ihre Bemerkungen zu
kehren, das Haus eingerichtet hatten und viel zu beschäftigt gewesen
waren, um den Besuch bei der Tante zu wiederholen. Sie wolle die
Freude des ersten Beisammenseins nicht stören. Sie begreife, daß man
da lieber ganz unter sich sein möchte, und zöge es vor, später zu
kommen, wenn man für sie mal einen Moment Zeit hätte &c. &c. Sogar
Ilse war nahe daran böse auf dies Geschöpf zu werden, das sich stets
zurückgesetzt fühlte und in seiner Unzufriedenheit und Böswilligkeit
die besten Absichten falsch auslegte. In ihrem Herzen war sie freilich
auch froh, daß Tante Elisabeth nicht kam, aber es tat ihr weh, daß die
Kinder sich darüber so außerordentlich freuten, und das einsame Wesen,
das sich sein Leben selbst verdarb, erregte ihr höchstes Mitleid.

Es war bestimmt, daß das junge Volk zur Bahn gehen sollte. Ilse wollte
Schwiegersohn und Tochter in Gesellschaft Ruths, ihres Mannes und
Onkel Heinz' im Hause erwarten. Letzteren rechnete man so ganz zur
Familie, daß er nicht fehlen durfte. Mit seiner gewohnten Heftigkeit
hatte er sich zuerst dagegen gewehrt. So 'n alter Knaster gehörte bei
solcher Gelegenheit nicht dazu; es ginge ihn nichts an, wenn Sohn und
Tochter nach so langer Abwesenheit zum ersten Male die Mutter
wiedersähen. Als die Kinder kamen, war es etwas andres, jetzt aber
müsse er sich schämen, wenn er auch wieder so unbescheiden wäre,
seine Nase mit hineinzustecken.

»Unsinn, Onkel Heinz,« erklärte Ilse, »Mariannes erste Frage würde
nach Ihnen sein. Und« fügte sie leise, nur ihm verständlich hinzu,
»nun mein Leo nicht mehr ist, müssen Sie an seiner Stelle sein Kind
bewillkommnen, das wissen Sie wohl.«

Da drückte der Professor seiner alten Freundin dankbar die Hand; die
Augen wurden ihm feucht, aber um das nicht merken zu lassen, schrie er
Karl an, daß die Transparentbuchstaben des »_Willkommen_«, die über
der Ehrenpforte prangten, schief ständen und daß doch nie etwas
ordentlich gemacht werde, wenn er sich nicht darum kümmere.

Endlich hielt Ilse ihre blonde Marianne in den Armen, und in ihre
Tränen mischte sich Freude über das Wiedersehen und Trauer im Gedanken
an den Heimgegangenen.

Onkel Fritz machte, nachdem die erste Rührung vorüber war, fröhlich
Bekanntschaft mit seinem Schwager von Holten, seinem Neffen Gustav und
seinem Nichtchen Irma und frischte sofort mit Onkel Heinz alte
Erinnerungen auf. Die ganze Gesellschaft schritt paarweise durch
sämtliche Räume des neuen Hauses, betrachtete und bewunderte alles und
vereinigte sich in fröhlichster Stimmung bei der Abendmahlzeit. Beim
Nachtisch stiegen die Raketen im Garten prasselnd in die Höhe, und
zwischen den dunklen Bäumen glänzten die Lampions. Das Knallen der
Champagnerpfropfen erregte lauten Jubel bei der Jugend, Professor
Fuchs brachte den schwungvollsten, wärmsten Toast aus, der je über
seine Lippen gekommen war, und an diesem Abend gab es in der ganzen
Stadt keine glücklicheren Menschen als Großmutter Ilse Gontrau mit
ihren Kindern und Enkeln.

Während der ersten Wochen, die auf die Heimkehr der amerikanischen
Familie folgten, herrschte in dem sonst so stillen Haushalt der Frau
Gontrau fröhliches Leben und Treiben. Sie bestand darauf, ihre Kinder
und Großkinder alle Tage zu sehen, und so wurden eine Menge kleiner
Familienfeste gefeiert. Zuweilen nahm auch Tante Elisabeth daran teil,
aber sie hatte viel zu tadeln und zu nörgeln. Sie stöhnte über Kälte,
wenn die andern es vor Hitze kaum aushalten konnten, und war rauhes
Wetter, so fand sie es drückend heiß. In spitzem Ton erklärte sie, daß
ihr nichts daran gelegen sei, Besuche zu machen oder zu empfangen.
Doch kamen die andern ohne sie zusammen, so fühlte sie sich verletzt
und beklagte sich bitter, wenn eine Woche verging, ohne daß jemand aus
der Familie sie besuchte. Es war schwer mit ihr umzugehen und ohne
Zureden der Großmutter, die Mitleid mit ihr hatte und stets bemüht
war, Tante Elisabeth freundlicher zu stimmen, würden sich die andern
wenig um sie bekümmert haben.

Ein herrlicher Sommertag folgte dem andern und Holtens fingen an, von
der Abreise zu reden. Die Zeit, die sie ihrer Familie widmen konnten,
nahte dem Ende, und sie mußten nach München, wo sie sich für
verschiedene Konzerte und Musikaufführungen verpflichtet hatten. Vor
ihrem Scheiden wollte Großmama Gontrau noch gern ein Abschiedsfest
geben, doch konnten sie sich nicht recht über die Art desselben
einigen. Irma schlug eine »=garden-party=« vor. Im Garten sollten
lange Tafeln aufgeschlagen und auf dem großen Rasenplatz vor dem Hause
gespeist werden. Das Eßzimmer ließe sich leicht ausräumen und in einen
Tanzsaal verwandeln. Der Garten müsse am Abend glänzend illuminiert
werden. Sie war sogar für ein Kostümfest; welch herrliche Wirkung
würde das im Grünen mit den Papierlaternen und tausend kleinen
Lämpchen machen.

Die andern aber lachten sie gründlich aus. Onkel Heinz fragte, wo die
Herren wohl herkommen sollten? Außer Gustav und dem kleinen Karl gab
es keine jungen Leute; er neckte sie so mit ihrem schönen Plan, daß
sie sich erst beschämt zur Großmama setzte und dann ganz bös erklärte,
Onkel Heinz solle etwas besseres vorschlagen.

»Ich schlage vor, daß wir gar nichts unternehmen. Wir haben in der
letzten Zeit nichts getan als Feste gefeiert und gut gegessen. Ich
meine, nun könnten wir wohl Schluß machen.«

Aber gegen diese Meinung erhob sich ein wahrer Sturm der Entrüstung
von seiten des jungen Volkes. Onkel Heinz wurde von den Mädchen so in
die Enge getrieben, daß er sich schließlich schuldig bekannte und
untertänig gelobte, an jeder Festlichkeit teilzunehmen, wie verrückt
sie auch sein möchte.

»Hört mal,« nahm Ilse das Wort, »ich habe einen Plan. Aber erst muß
ich euch erzählen, daß ich gestern einen Brief von meiner
Jugendfreundin Flora Werner erhielt. Ruth, Marianne, erinnert ihr euch
noch ihrer beiden Töchter Thusnelda und Hildegard?«

»Ja, Mama,« versetzte Marianne. »Mir ist, Thusnelda hätte sich
verlobt, als Fritz und ich nach San Franzisko abreisten.«

»Du hast ganz recht, sie war damals mit einem Kaufmann verlobt, ist
aber nun schon seit zehn Jahren Witwe. Auch der alte Herr Werner ist
gestorben, und Flora lebt bei ihrer Tochter.«

»Und Hildegard?«

»Die ist in Indien. Thusnelda hat drei Kinder, ihr ältester Sohn ist
Offizier, der zweite Ingenieur, bewirtschaftet aber gegenwärtig die
ausgedehnten Landgüter, die sein Großvater hinterließ; dann ist noch
eine Tochter da in deinem Alter, Agnes.«

»Aber was hat das alles mit unsrem Fest zu schaffen, Großmama?«

»Wartet nur. Flora Werner schrieb mir, daß ihre beiden Großsöhne mit
der Schwester einen Ausflug in unsere Gegend machen würden, und sie
fragt an, ob unser Haus ihnen für einige Tage offen stünde. Da dachte
ich, wenn ihr die beiden jungen Leute aufnehmen wolltet, Marianne, und
das Mädchen bei uns wohnte, dann würden sie unser Fest verherrlichen
können.«

»Das ist eine gute Idee, Mama,« meinte Marianne. Ihr Mann fing sofort
an, Irma und Agnes zu necken mit der wundervollen Aussicht, einen
Leutnant in ihrer Gesellschaft zu haben.

»Paßt nur auf,« spottete Onkel Heinz, »was geschieht, wenn er einer
von euch besonders den Hof macht! Dann kratzt ihr euch gegenseitig die
Augen aus.«

Natürlich hatten die beiden Herren für ihre Neckereien zu büßen und
mußten klein beigeben. Nachdem wieder Ruhe eingetreten war, fuhr
Großmutter Ilse fort:

»Ich würde es nun sehr nett finden, eine Landpartie zu unternehmen.
Wenn wir z. B. nach dem Wasserfall führen und dort im Wirtshaus
speisten. Wir könnten morgens früh abfahren, nach der Abtei gehen und
spät abend heimkehren. Ich bin seit Jahren nicht dort gewesen, und die
Aussicht, einen ganzen Tag in der wildromantischen Natur zu verleben,
lockt mich sehr.«

»Ja, ja, Frau Ilse, Sie haben solch abenteuerliche Touren immer
geliebt,« scherzte der Professor. »Ich erinnere mich noch, daß Sie uns
mal im Mondenschein auf den Schneekopf schleppten.«

»Das war in der guten alten Zeit,« entgegnete sie gedankenvoll, »es
war herrlich damals mit Leo und meiner lieben Nellie.«

Irma, Agnes und der kleine Karl waren in Jubel ausgebrochen über
diesen köstlichen Plan. Auch Gustav und Maud fanden die Idee sehr
hübsch, wenn sie auch ihren Beifall weniger lebhaft äußerten.

»Wir müssen in geschmückten Wagen fahren, Großmama,« schlug Irma vor,
»lauter Landauer zu vier Personen.«

»Nein, nein, ein paar große Kremser, das ist gemütlicher.«

»Wie viele sind wir denn?« zählte die Kleine. »Tante Marianne und
Onkel Fritz; ihr drei Kinder, Großmama, Papa, Mama, Gustav und ich,
Onkel Heinz, die drei Gäste, das macht vierzehn Personen.«

»Und Tante Elisabeth?«

»Nein, ach bitte, die nicht,« riefen die Kinder. »Wenn die mitkommt,
geht alles schief. Du wirst sehen, dann haben wir schlechtes Wetter
und es passiert ein Unglück.«

»Welcher Unsinn! Ihr braucht euch nicht um sie zu kümmern. Onkel Heinz
wird bei dieser Gelegenheit ihr Kavalier sein, nicht wahr?«

»Besten Dank,« seufzte der Professor erschreckt; »das Frauenzimmer hat
ein Gesicht, als ob sie beständig in eine Zitrone beißen würde; da
kommen einem ja die Tränen in die Augen.«

Alle lachten, Frau Gontrau erklärte aber in entschiedenem Tone:

»Ich gebe die Landpartie und habe daher das Recht einzuladen, wen ich
will. Tante Elisabeth kommt mit.«

Wenn Großmutter Ilse so energisch sprach, ließ sich kein Widerspruch
hören. Ruth und Marianne gaben den Kindern einen Wink zu schweigen. Es
wurde nicht mehr über Fräulein Müller gesprochen und alles, was auf
die Landpartie Bezug hatte, weiter beraten.

Einige Tage darauf kamen die jungen Gäste an. Flora Werners ältester
Großsohn, Ludwig Reicher, war ein schneidiger Offizier. Sein hübsches
Gesicht mit dem keck aufgedrehten Schnurrbart hatte einen angenehmen
Ausdruck. Es zeigte sich indessen bald, daß er nicht wenig von sich
eingenommen war, und noch hatte Onkel Heinz keine Stunde in seiner
Gesellschaft zugebracht, da nannte er ihn in Gegenwart der jungen
Mädchen schon einen Affen in Uniform; diese aber erwiderten, daß man
es dem alten Brummbären nie recht machen könne, und alle erklärten
einmütig den Leutnant für einen sehr netten Menschen mit feinen
Manieren, der sich höchst vorteilhaft einführte. Der zweite Bruder,
Hans, war ganz anders. Kurz und breit von Gestalt, stach er gewaltig
gegen den schlanken, zierlichen Leutnant ab. Sein Antlitz, mit der
gebräunten Farbe, den grauen Augen, dem großen Munde und der gebogenen
Nase war eher häßlich zu nennen; einem erfahreneren, scharfblickenden
Auge aber erschien es viel intelligenter als das Antlitz des schönen
Ludwig. Wenn dieser sprach, schwieg Hans meistens; er ließ sich von
seinem Bruder völlig in den Schatten stellen, und in gewisser Hinsicht
war ihm das sogar angenehm; denn er zeigte sich sehr verlegen und
wurde zum großen Gaudium, besonders der Amerikanerinnen, bis über die
Ohren rot, wenn jemand ihn unverhofft anredete. Vorzugsweise war das
der Fall, wenn Irma die großen blauen Augen zu ihm aufschlug; und da
das kleine, eitle Ding sofort merkte, daß es ihn in Verlegenheit
setzte, machte es ausgiebig Gebrauch davon, um hinterher mit Agnes
herzlich über »den Bauer« zu lachen. Die Jüngste, nach ihrer
Großmutter Flora getauft, war eine einfache, liebliche Erscheinung mit
blonden Zöpfen, auch wohl ein wenig schüchtern und verlegen, aber so
sanft und gretchenhaft in ihrem ganzen Wesen, daß jeder sich gleich zu
ihr hingezogen fühlte.

Das innige Zusammenleben von Frau Gontrau und ihren Kindern und Enkeln
dehnte sich auch auf die Gäste aus, die sich bald ganz wie zu Hause
fühlten. Als der Tag der Landpartie anbrach, ging der Leutnant Ludwig
mit den amerikanischen Mädchen schon ganz kameradschaftlich um und
flirtete lebhaft mit Agnes, was Irma ein klein wenig ärgerte. Hans
wagte ganz schüchtern der bezaubernden kleinen Holten einige
Komplimente zu machen, und Flora lauschte, Tränen in den Augen, dem
Klavierspiel Gustavs, zu dem sie mit großer Bewunderung und
Ehrerbietung emporschaute.

Karl hatte an dem wichtigen Tage keine Ruhe. Schon ganz früh tobte er
durch das Haus, lief von Zimmer zu Zimmer und klopfte an jede Tür, um
seinen Eltern, seinen Schwestern und den beiden Reichers zuzurufen,
daß das Wetter schön sei. Die Sonne strahlte hell und warm vom
wolkenlosen Himmel herab, und es war ein solcher Überfluß von Duft,
Licht und Farbenpracht in der Natur, daß jedes Herz freudig gestimmt
wurde.

Als Fritz und Marianne mit ihren Kindern und den beiden Gästen zu Frau
Gontrau kamen, fanden sie die ganze Familie schon im Garten
versammelt. Großmutter Ilse war, wie immer, schwarz gekleidet, aber
mit einem so hübschen Hut auf dem krausen, schlohweißen Haar, daß
Agnes, sie umarmend, erklärte, Großmama sei die schönste alte Dame,
die sie kenne. Onkel Heinz bemühte sich nach Kräften, ein recht
grimmiges Gesicht zu machen, schaute aber doch mit vor Lebenslust
funkelnden Augen unter seinem breitrandigen Schlapphut auf all die
fröhlichen Menschen. Tante Elisabeth, trotz der Hitze in einem
braunwollenen Kleide, einen großen Regenschirm in den Händen,
prophezeite, daß die Witterung sich ändern werde. Ruth und ihr Mann
mit ihrem eigenartig künstlerischen und eleganten Äußern, durch das
sie überall und jederzeit auffielen, verlachten ihre Befürchtungen.
Gustav, der sich mit Flora etwas abseits hielt, erzählte dieser, wie
schwer es ihm fiele, einen ganzen Tag auf sein Klavierspiel zu
verzichten. Irma sah so bezaubernd aus in einem weißen Mullkleidchen
mit hellblau verziert, daß Hans gar nichts zu sagen wußte, Ludwig sie
bewundernd anschaute und ihr eitles Herzchen vor Stolz hoch
aufschwoll.

Nun fuhren die Wagen vor; zwei bequeme, wenn auch altmodische
Fahrzeuge, die aber jetzt elegant und malerisch aussahen, so reich
hatte das junge Volk sie mit Blumengewinden und Tannenguirlanden
geschmückt.

Das war ein Leben! Großmutter Ilse und Tante Elisabeth wurden zuerst
hineingehoben; letztere erkundigte sich mehrmals, ob die Pferde auch
nicht wild seien, und versicherte, daß sie sich eigentlich gar nichts
aus Spazierfahrten mache. Mit einem wahren Märtyrergesicht wollte
Onkel Heinz zwischen den beiden Damen Platz nehmen, als Agnes und
Ludwig erklärten, daß er zu den jungen Leuten gehöre.

»Ich? Seid ihr denn ganz verrückt?« rief er scheinbar wütend aus; »was
wollt ihr mit so 'nem alten Querkopf anfangen?«

Irma aber warf ihm lachend einen in der Eile geflochtenen Kranz von
Eichenblättern über den Hut und sagte:

»Siehst du, Onkel, wenn wir nun noch einen Esel hätten, könntest du
gut als Silen gehen. Wir Mädchen sind die Nymphen, die jungen Leute
Faune, bis auf Hans, der hat die prächtigste Gestalt für Gott Bacchus
selbst.«

Alle lachten. Hans wurde rot, besiegte aber seine Verlegenheit und
rief:

»Wenn ich Bacchus vorstellen soll, hab' ich als Gott zu befehlen, und
dann will ich mit Ihnen allein auf der vordersten Bank sitzen, Irma.«

»Bravo,« jubelte Ludwig, und unter allgemeinem Scherzen erkletterten
die jungen Leute den vordersten Wagen. Professor Fuchs wurde in die
Mitte genommen. Ruth und Marianne mit ihren Männern kamen natürlich zu
Großmama und Tante Elisabeth. Auch Gustav zog es vor, bei den älteren
Leuten zu sitzen; die lebhafte jugendliche Schar war ihm zu lärmend,
und Floras Herz klopfte vor Freude, als er ihr erklärte, neben ihm sei
noch ein Plätzchen für sie frei.

So rasch wie möglich ging es zur Stadt hinaus, um Aufsehen zu
vermeiden. Dann mäßigte die Steigung der bergan führenden Chaussee die
Schnelligkeit der Fahrt. Wurde der Weg zu steil, so stiegen die
Kutscher ab und schritten, die Zügel in der Hand, neben den Wagen her.
Manchmal gingen auch die Herren ein Stück Wegs zu Fuß, und dann
blieben die Damen mit Onkel Heinz, dem das ewige Aus- und Einsteigen
zu mühsam war, sitzen. Zu beiden Seiten der Straße dehnten sich
dichte, endlose Wälder; als etwa die Hälfte des Weges zurückgelegt
war, ersuchte der Kutscher des vordersten Wagens, ein dicker
gemütlicher Schwätzer, die ganze Gesellschaft auszusteigen, um die
weit und breit berühmte Aussicht zu bewundern.

»Ich rühre mich nicht vom Fleck,« erklärte Fräulein Müller. Die
Übrigen folgten gern der Aufforderung und meinten, es täte nach dem
langen Sitzen gut, sich mal die Beine zu vertreten. »Was habt ihr denn
von so 'ner Aussicht; es ist doch immer dasselbe, und eine ist genau
so wie die andre,« murrte das alte Fräulein.

Selbst Großmutter Ilse zuckte ungeduldig die Achseln, als sie sich am
Arm ihres ältesten Schwiegersohnes auf den Felsvorsprung begab, um die
herrliche Aussicht zu bewundern.

Tief unten lag, wie ein ovaler Silberspiegel, ein kleiner See inmitten
eines fruchtbaren Tales. Ab und zu ertönten die Glocken der Herden wie
eine wohllautende, aus weiter Ferne herüberklingende Musik, und auf
den umliegenden Bergen grasten friedlich schwarz- und weißgefleckte
und rotscheckige Kühe. Soweit das Auge reichte, waren die Felsen mit
Schlingpflanzen und Farnen wie mit Mänteln überhangen, zwischen denen
schneeweiße und goldgelbe Blütendolden hervorschimmerten. Wunderbar
strahlte die Sonne vom wolkenlosen Himmel herab und tauchte die
reiche, üppige Landschaft in glühende Farben.

Die ausgelassene Heiterkeit verstummte, selbst laute Bewunderung hätte
störend gewirkt. Ärgerlich schaute Gustav Irma an, als sie Hans
scherzend fragte, ob er einen senkrecht steilen Felsen in ihrer Nähe
erklettern und ihr die blauen und weißen Blumen pflücken wolle, die
sich um die Spitze schlangen.

»Seien Sie praktisch und stellen Sie erst im voraus Ihre Bedingungen,
was Sie dafür haben wollen,« rief Maud lachend, während Hans mit
zweifelnder Miene hinaufschaute und dann eingestand, daß ihm seine
gesunden Gliedmaßen doch zu lieb seien, um sie bei einem solchen
Wagestück aufs Spiel zu setzen.

Dadurch war der Zauber gebrochen. Ruth von Holten wischte sich eine
Träne aus den Augen und tippte ihrem Manne auf die Schulter, der
träumerisch in die Ferne blickte und wie aus tiefem Sinnen auffuhr,
als er sah, daß die andern sich wieder nach den Wagen begaben.

Tante Elisabeth hatte sich unterdessen damit die Zeit vertrieben, daß
sie in dem unter dem Sitze stehenden Korbe herumschnüffelte, einen
Sack mit glasierten Früchten herausholte und sich daran labte. Als der
kleine Karl, der vorausgelaufen war, wie eine Katze über die Bänke des
Wagens sprang, schrie er laut:

»Schnell, Großmama, Tante Elisabeth nascht aus deinem Korbe!«

Fräulein Müller erschrak so heftig, daß sie den Sack fallen ließ; die
leckeren Früchte würden sicher auf den Boden gerollt sein, wenn Agnes
nicht herbeigeeilt wäre und das Unglück noch rechtzeitig verhütet
hätte.

Tantes dürre Finger krümmten sich, und da Karls Haupt sich gerade in
ihrem Bereich befand, griff sie in seine Locken und schüttelte ihn
tüchtig hin und her.

»Laß mich los,« rief der Junge, alle Höflichkeit vergessend. »Bist du
verrückt geworden, Tante? Ich hab' nicht genascht, sondern du!«

Die ganze Gesellschaft war jetzt herangekommen. Karl befreite sich mit
einem Ruck und wollte mit feuerrotem Gesicht und einem drohend nach
der alten Dame ausgestreckten Finger verkündigen, was sich zugetragen
hatte, als Großmutter Ilse ihm zuvorkam. Mit einem einzigen Blick
begriff sie alles und sagte ruhig:

»Das ist auch wahr. Tante Elisabeth erinnert mich daran, daß ich noch
eine kleine Erfrischung für unterwegs mitgenommen habe. Reiche sie
herum, Agnes.«

Alle schmunzelten verstohlen, schauten sich verständnisvoll an, wagten
aber keine Bemerkung zu machen. Agnes prustete los, als sie mit dem
Sack zur Tante kam und diese schroff und giftig dankte. Onkel Heinz
und Irma lachten laut auf. Böse und neidisch wie eine Spinne, zog sich
die alte Jungfer in ihr Eckchen zurück und machte ein Gesicht, als sei
ihr das größte Unrecht von der Welt geschehen.

Langsam ging die Fahrt nun wieder bergan, aber die jungen Leute wurden
jetzt ungeduldig. Das einförmige Schrittfahren langweilte sie; sie
sehnten sich, den Bestimmungsort zu erreichen. Endlich verengte sich
die Fahrstraße und einige große Holzgebäude wurden sichtbar. Das waren
die Stallungen der Wirtschaft, die ungefähr noch eine Viertelstunde
entfernt lag. Hier hatte das Fahren ein Ende, es wurde ausgespannt
und die Gesellschaft machte sich zu Fuß auf den Weg.

In der Ferne hörte man schon das Rauschen des Wasserfalls, der das
Wirtshaus und seine Lage berühmt gemacht hatte. Bald wurde der Pfad so
schmal, daß nur einer hinter dem andern hergehen konnte. Der Professor
erbot sich, den Zug anzuführen, er kannte den Weg und sagte, er sei
gefährlich. Nun wollte Tante Elisabeth zurückbleiben, sie sei zum
Vergnügen mitgekommen und hielte es für eine Sünde, sich Gefahren
auszusetzen.

»Unsinn,« erklärte Frau Gontrau, »Onkel Heinz will uns nur necken;
gehen Sie hinter mir her, Elisabeth, und seien Sie nicht bange, es ist
nicht schwierig.«

Ängstlich, mit kleinen, vorsichtigen Schrittchen folgte die Tante; sie
hielt sich zu Karls unaussprechlichem Gaudium an Ilses Kleid fest, was
der Junge gleich nachmachte, indem er die Tante bei den Röcken packte.
Dies Beispiel wirkte ansteckend; die jungen Leute faßten einander am
Rock oder Kleid, und so ging es im Gänsemarsch in Schlangenwindungen
vorwärts. Immer schmäler wurde der Pfad; er führte durch eine tiefe
Schlucht. Rechts und links erhoben sich hohe Felswände, von Tannen,
Fichten und Buchen gekrönt und mit Moos und Ginsterbüschen über und
über bedeckt.

»Wie unheimlich,« meinte Fräulein Müller. »Karl, laß mich los; du
zerreißt mir mein Kleid. So laß doch los.«

»Wenn wir fallen, liegst du zu unterst, Tante,« schrie ihr Plagegeist
mit lauter Stimme, um das Rauschen des Wasserfalls zu übertönen, das
immer gewaltiger klang und bald in ein ohrenbetäubendes Brausen
überging.

Plötzlich ward der Weg breiter, der Professor bog um eine Ecke und
blieb auf einem großen Felsblock stehen. Die lebende Guirlande
verteilte sich und drängte sich auf dem engen Raume zusammen. Die
jungen Leute lachten, die Mädchen kicherten, Fräulein Müller stand
Todesängste aus, daß sie herunterstürzen könnte, obschon der ganze
Aussichtspunkt mit einem Geländer von rohen Baumstämmen umgeben war.
Karl und Irma drängten sie immer mehr nach vorne; Elisabeths
entrüstete Ausrufe übertönte das donnerähnliche Brausen des
Wasserfalls.

Endlich hatte jeder einen bequemen Platz und Stützpunkt gefunden und
gab sich mit Andacht dem großartigen Naturschauspiel hin. In
gewaltigen Massen stürzte das Wasser in die Tiefe, zum Teil über einen
steilen Abhang strömend und sich bei jeder vorstehenden Felsspitze in
tausend Strahlen verteilend, die zusammen einen unsagbar schönen
Fächer von Silberschaum bildeten.

Atemlos standen alle und staunten und konnten sich von dem Anblick des
prächtigen Falles nicht trennen, bis Onkel Heinz endlich mit
Stentorstimme ein »Vorwärts!« kommandierte und vorsichtig eine in den
Felsen gehauene Treppe hinabstieg, die direkt zu dem freundlichen
Wirtshaus führte. Es lag mitten im Walde, von hohen Fichtenstämmen
umgeben, aus denen in geringer Entfernung die malerischen Türme der
alten Abtei hervorragten.

Im Garten des Wirtshauses herrschte reges Treiben. Es war noch in der
Ferienzeit; eine Menge Fremder sowie Bewohner der umliegenden
Ortschaften hatte gleichfalls das schöne Wetter herausgelockt, um dem
Wasserfall und der Abtei einen Besuch abzustatten. Viele Studenten mit
farbigen Mützen und weißen Beinkleidern bildeten fröhliche Gruppen.

Alle Stühle waren besetzt, und die Gäste, die weder an den Tischen
noch auf den Bänken Platz gefunden, wanderten unruhig auf und ab.
Etwas verstimmt schaute sich unsre Gesellschaft um; es war nicht
verlockend, bei diesem herrlichen Wetter drinnen im Saale zu speisen,
aber es schien nichts andres übrig zu bleiben. Mittlerweile hatten die
jungen Mädchen Aufmerksamkeit erregt; Irma und Agnes standen in der
Nähe einer Gruppe von Studenten, die sich mit den Augen zuwinkten und
einander anstießen. Plötzlich erhob sich einer von ihnen, nahm die
kleine Cerevismütze von dem pechschwarzen Kraushaar, näherte sich dem
Professor und fragte höflich:

»Ich habe doch die Ehre, Herrn Professor Fuchs zu sprechen?«

Der alte Herr schaute ihn durchdringend an.

»Ich glaube, ich kenne Sie, junger Mann, kann Sie aber nicht
unterbringen.«

»Von Hochstein,« stellte sich der Student vor, indem er dem ganzen
Kreise seine Verbeugung machte. »Ich gehöre noch zu Ihren ehemaligen
Schülern, Herr Professor. Darf ich Ihnen und Ihrer Gesellschaft unsern
Platz anbieten? Wir sind fertig, unsre Tafel kann schnell abgeräumt
werden.«

Mit einer höflichen Verbeugung auf die Dankesbezeugungen der
Gesellschaft antwortend, rief er einige Kellner und erteilte ihnen
seine Befehle. Sie waren so dienstbeflissen, als ob er eine bekannte
und einflußreiche Persönlichkeit wäre.

Dann winkte er einem in der Nähe sitzenden Blumenmädchen und kaufte
die schönsten Rosen aus ihrem Körbchen. Mit vollendeter Ritterlichkeit
näherte er sich Maud und Agnes und überreichte ihnen ein paar
Sträußchen, welche die amerikanischen Mädchen ohne die geringste
Verlegenheit freundlich dankend annahmen und in den Gürtel steckten.
Flora erhielt ein Sträußchen Vergißmeinnicht und Heliotrop, worüber
sie bis über die Ohren errötete; endlich trat er zu Irma und reichte
ihr zwei prachtvolle La France-Rosen.

»Sollten Sie die Blumen auch nachher fortwerfen, ich würde mich doch
für den glücklichsten der Sterblichen halten, wenn Ihre Hände sie nur
einmal berührten,« flüsterte er leise.

Irma fühlte, daß sie rot wurde, aber sie zwang sich aufzuschauen und
blickte in ein paar schwarze, schmelzende und doch kecke Augen. Das
schöne Gesicht mit seinen feinen, aristokratischen Zügen wäre ohne den
gewaltigen Schmiß auf der rechten Wange vielleicht etwas weibisch
erschienen. Sie schlug verwirrt die blauen Augen nieder und nahm die
Rosen mit ein paar gestammelten Dankesworten.

Er schwenkte sein Cerevis, als ob es ein Marschallshut mit wallendem
Federbusch wäre, verbeugte sich fast bis zur Erde und entfernte sich
mit seinen Kommilitonen.

»Wer war das, Onkel Heinz?« fragte Ruth.

»Jetzt erinnere ich mich, er war mein Schüler und benahm sich immer
ein bißchen verdreht. Er ist ein Baron von Hochstein, der zum ältesten
Adel des Landes gehört.«

»Er ist ein Geck,« brach Hans Reicher los, »und ihr,« fuhr er
entrüstet zu den Mädchen fort, »solltet euch schämen, Blumen von
jemand anzunehmen, der euch total unbekannt ist.«

Maud erwiderte ruhig, sie sehe kein Unrecht darin, eine Höflichkeit
anzunehmen, die im Beisein der Eltern und der ganzen Familie erwiesen
werde.

Irma schaute Hans lachend an, roch an ihren Rosen und befestigte sie
sorgfältig in ihrem Gürtel. Ruth näherte sich ihr und flüsterte
tadelnd:

»Du mußt nicht so kokett sein, Irma, mein Kind.«

»O, es ist doch nur Hans,« versetzte sie, während sie sich mit einem
strahlenden Lächeln auf dem reizenden Gesichtchen zu Agnes gesellte.
Ruth warf einen mitleidigen Blick auf den jungen Mann.

Die Gesellschaft nahm an den inzwischen gedeckten Tafeln Platz und tat
sich gütlich an den schmackhaft bereiteten Speisen und dem Rheinwein,
der in zierlichen, goldglänzenden Römern perlte.

Nach dem Essen gingen Ruth und ihr Mann noch einmal zu dem Wasserfall,
um das großartige Schauspiel in aller Stille zusammen zu genießen.
Fritz und Marianne wanderten mit Maud ein Stück in den Wald. Ilse
sehnte sich, nun die lebhafte Mittagsstunde vorüber und es im Garten
fast leer geworden war, still unter dem Laubwerk der hohen Bäume zu
ruhen und Onkel Heinz teilte ihren Wunsch. Tante Elisabeth suchte sich
im Hause ein bequemes Sofa, wo sie ihr Mittagsschläfchen halten
konnte. Das junge Volk beschloß, der Abtei einen Besuch abzustatten.

Ludwig und Agnes gingen voraus. Der Pfad durch den Wald war nicht sehr
eben, hier und da sogar recht ungebahnt. Es dauerte denn auch nicht
lange, so bot der junge Leutnant seiner Dame den Arm. An einer Stelle,
wo große, knorrige Wurzeln und ein ganzer Baumstamm den Weg sperrten,
legte er den Arm um die Taille des jungen Mädchens und half ihr über
die Hindernisse hinweg. Irma folgte mit Hans, behielt aber Karl an
ihrer Seite und nahm keine Notiz von ihrem Anbeter. Des Morgens im
Wagen war sie ganz freundlich zu ihm gewesen, hatte ihn zwar geneckt,
sich jedoch seine etwas ungeschickten, aber gut gemeinten Huldigungen
gern gefallen lassen. Nun würdigte sie ihn kaum einer Antwort,
beschäftigte sich nur mit Karl und sprang ausgelassen mit diesem über
die Baumwurzeln. Hans seufzte. Vom ersten Augenblick an, als er in
Irmas strahlende Augen geschaut, hatte das verwöhnte, von allen
verhätschelte Kind sein Herz im Sturm erobert. Er kämpfte dagegen,
sagte sich, daß es eine Torheit sei, sich so plötzlich zu verlieben,
aber trotz seiner ernsten Natur konnte er nicht anders. Er fühlte,
daß er Irma wahrhaft liebte und daß es keine Tändelei, sondern eine
ernste, tiefe Zuneigung war, die unzerstörbar in seinem Herzen lebte.
Daher tat es ihm weh, sie jetzt so launisch und flatterhaft zu sehen.
Ein bitteres Gefühl bemächtigte sich seiner bei dem Gedanken an den
glänzenden Studenten, der Irma erröten gemacht und den sie mit einem
Blick angesehen hatte, wie ihn, Hans, noch keiner getroffen, auch wohl
nie einer treffen würde. Trotz seiner Verliebtheit aber war er kein
Narr; er bewahrte seine Würde und ließ Irma ganz unbehelligt.

Er wollte sich Flora und Gustav anschließen, die den Nachtrab
bildeten. Doch auch ihnen schien seine Gesellschaft nicht erwünscht zu
sein. Der sonst so verträumte Gustav warf ihm einen unzufriedenen
Blick zu, und endlich bat ihn Flora, ob er nicht nach dem Wirtshause
gehen und ihren vergessenen Spitzenshawl holen möchte. Sie fände es
kalt und wolle ihn dort mit Gustav auf jener Bank erwarten. Gutmütig
erfüllte Hans ihren Wunsch, aber als er mit dem Shawl zurückkam, fand
er das junge Paar nicht mehr; er nahm auf dem aus unbehauenen Stämmen
errichteten Sitze Platz und verlor sich in Betrachtungen über die
Torheit verliebter Leute.

In der Zwischenzeit hatten die Übrigen die Ruine des ehemaligen
Klosters erreicht und schweiften zwischen den Mauerresten, Treppen,
Spitzbogen und Gewölben umher. Durch die Öffnungen und Spalten, durch
die klaffenden Risse blickten überall der wolkenlos blaue Himmel und
die dunklen Wälder herein. Die grauen, von der Zeit geschwärzten
Mauern waren ganz mit Efeu, Schlingpflanzen und wilden Blumen
bewachsen; hier und da erhoben sich zwischen den moosbedeckten Steinen
einige kleine Fichten- und Tannenbäumchen. Im Grase verstreut lagen
noch einzelne Grabsteine, deren Inschriften der Zahn der Zeit fast
verwischt hatte; einige freilich waren noch lesbar und trugen die
Namen längst verstorbener Mönche und Abte. Totenstille herrschte, und
die ganze Umgebung atmete die Romantik des Verfalls und zeugte von
vergangener Größe. Sogar Irma fühlte sich davon bewegt; ruhig setzte
sie sich in die Nische eines verwitterten Bogenfensters und schaute
träumerisch vor sich hin. Karl, zu lebhaft, um still zu sitzen, hatte
ein paar Eichhörnchen entdeckt, deren lustige, flinke Sprünge ihn
tiefer in den Wald lockten; die andern beiden Paare wählten sich auch
ein ihnen zusagendes Ruheplätzchen, und so war Irma allein. Sie bot
ein entzückendes Bild, von der Fensternische wie von einem breiten
Rahmen umgeben. Sie nahm die Rosen aus ihrem Gürtel und atmete ihren
süßen Duft ein, dann, einer plötzlichen Aufwallung nachgebend, drückte
sie ihre Lippen auf die feinen Blättchen. In demselben Augenblick
hörte sie einen raschen Schritt, fühlte sie, wie das Blut ihr in die
Wangen schoß und Baron von Hochstein stand vor ihr.

[Illustration]

Er tat, als habe er nichts gesehen, grüßte höchst ehrerbietig, schien
erst vorüberschreiten zu wollen und blieb dann plötzlich stehen.

»Hat die romantische Schönheit dieses Ortes Sie auch verlockt, hier
etwas zu ruhen, gnädiges Fräulein?« fragte er.

»Ja, mein Herr,« stammelte Irma verlegen; gleichzeitig erhob sie sich,
um weiter zu gehen.

»Ich bitte Sie,« rief er erschrocken, »lassen Sie sich durch mich doch
nicht stören. Ich würde es mir nie verzeihen, wenn ich die Ursache
wäre, daß Sie dies herrliche Fleckchen Erde verließen. Soll ich
gehen?«

Sie überwand ihre Schüchternheit und sah ihn an. Auf seinem Antlitz
las sie eine so unverhohlene Bewunderung, daß ihr der Mut wuchs.

»Dies Reich gehört mir nicht,« entgegnete sie lächelnd, »folglich habe
ich nichts zu befehlen.«

»Dann darf ich also einen Moment verweilen? Kommen Sie oft hierher?«

»Nein, im vorigen Jahr machten wir zuletzt die Fahrt. Es ist von F.
immer eine ganze Reise nach hier.«

»Sie wohnen in F.?«

»Ja, bei meiner Großmutter.«

»Welch ein Glück!«

»Warum?«

»Weil F. kaum zwanzig Minuten mit der Eisenbahn von unserer
Universität I. entfernt ist.«

Wieder wurde Irma rot. »Es wird Zeit, daß ich meine Gesellschaft
aufsuche,« sagte sie, sich erhebend, »Karl, wo bist du?« rief sie
laut.

»La, la, la, la,« ließ sich die lachende Jungenstimme aus der Ferne
vernehmen. Mit einer Verbeugung verabschiedete sie sich und schritt
dem Knaben entgegen, bevor er merkte, daß sie nicht allein gewesen
war.

Ludwig und Agnes ließen nicht lange auf sich warten. Als letztere Irma
sah, flog sie ihr ausgelassen entgegen.

»Wo hast du gesessen?« fragte sie. »Wir haben dich überall gesucht.«

»Wer's glaubt!« lautete die scherzende Antwort. »Ihr überlaßt mich
ruhig meinem Schicksal.«

»Ich glaubte, Hans sei bei Ihnen,« entschuldigte sich Ludwig.

»Hans!« Irma lachte laut auf. »Nein, der hat mich auch im Stich
gelassen.«

»Sicher nicht freiwillig,« meinte Agnes. »Armer Hans.« Sie schob ihren
Arm durch den ihrer Cousine und flüsterte:

»Liebling, ich bin so unendlich glücklich.«

Irma wußte selbst nicht, warum ihr eignes Herzchen so heftig klopfte,
warum ihr so leicht, so selig zu Mute war. Doch nur um Agnes willen,
dachte sie.

»Hat .... hat Ludwig sich erklärt?« fragte sie leise.

»O Irma, ich glaube wirklich, er liebt mich,« versetzte Agnes, und ihr
heiteres Gesichtchen war eitel Sonnenschein.

Zu weiteren vertraulichen Mitteilungen blieb keine Zeit, denn Gustav
und Flora tauchten eben auf. Der jugendliche Künstler sah sehr ernst
aus; er ging Hand in Hand mit Flora und schien es nicht zu bemerken,
daß die andern sich vielsagend anschauten.

Gemeinsam kehrten sie nach dem Wirtshause zurück. Im Stillen wunderte
sich Irma, daß Agnes so heiter war und tat, als sei nichts
vorgefallen. Und doch war ihr etwas ganz Besonderes widerfahren.
Ludwig hatte ihr seine Liebe erklärt. Irma blickte den Leutnant von
der Seite an. Wie hatte sie ihn nur jemals hübsch finden können! Nein,
er war gar nicht hübsch, wenn sie ihn mit dem Baron von Hochstein
verglich.

Im Garten fanden sie die ganze Gesellschaft beisammen. Onkel Heinz und
Hans waren an einem abgesonderten Tisch mit der Bereitung einer
Riesenbowle beschäftigt. Verschiedene Flaschen Rheinwein, ein paar
Flaschen Champagner, Teller mit Erdbeeren, Pfirsichen und andern
Früchten, standen vor ihnen. Die Damen umringten den Professor und
wollten ihm einige Anweisungen geben, er aber erklärte, er sei stets
wegen seiner Bowlen berühmt gewesen und könne ohne Hilfe fertig
werden. Trinken dürften sie davon, um die Zubereitung brauchten sie
sich aber nicht zu kümmern. Tante Elisabeth sagte mit saurer Miene,
daß sie es ganz unpassend fände, wenn junge Leute so viel tränken,
worauf ihr Bruder Fritz lachend erwiderte, sie habe ihre Rechnung
ohne den Wirt gemacht, wenn sie annähme, daß sie allein etwas davon
bekäme.

Am andern Ende des Gartens saßen die Studenten. Irma konnte nicht
anders; sie mußte dann und wann verstohlen hinsehen, und ihr Herz
begann ungestümer zu schlagen, als sie Hochstein aufstehen und von
einigen seiner Kommilitonen gefolgt auf sie zutreten sah.

Er näherte sich Frau Gontrau, verbeugte sich ehrfurchtsvoll und
begann:

»Haben Sie etwas dagegen, gnädige Frau, wenn wir die jungen Damen und
Herren Ihrer Gesellschaft einladen, an einem improvisierten Balle
teilzunehmen?«

Aus dem Speisesaal des Hauses erklangen heitere Tanzweisen, und beim
Schein der mittlerweile angezündeten Lampen drehten sich verschiedene
Paare fröhlich im Kreise.

»Habt ihr Lust, Kinder?« fragte Ilse freundlich.

»Ach ja, Großmama!« rief daß junge Volk entzückt. Selbst Floras Augen
glänzten, aber sie schlug sie nieder und fragte Gustav sittsam, ob er
gern tanze.

Nachdem die gegenseitigen Vorstellungen stattgefunden, bot Baron
Hochstein Irma den Arm, und die junge, fröhliche Schar wollte sich
entfernen, als der Professor rief:

»Das ist alles gut und schön, aber nach dem Tanze kommen Sie her,
meiner Bowle Ehre zu erweisen, ich lade die Herren Studenten zu einem
altmodischen Rundgesang ein, an dem wir alle teilnehmen wollen.«

Ein ohrzerreißendes »Vivat«, dann stürmten die jungen Leute in den
Saal.

Fritz Müller, der mit seiner Frau dem Tanz zusehen wollte, blieb vor
Tante Elisabeth stehen und sagte, ihr lachend den Arm bietend:

»Komm, Schwesterlein mein, wollen wir mal probieren, ob wir das Walzen
noch nicht verlernt haben?«

»Du tätest besser, dich nicht so verdreht anzustellen,« versetzte die
alte Jungfer giftig. »Sieh lieber, was deine Töchter treiben; ich für
mein Teil finde es mehr als unpassend, die jungen Mädchen mit
unbekannten Studenten tanzen zu lassen und noch dazu Maud, die Braut
sein will.«

Fritz wurde dunkelrot; die sanfte Marianne schaute ihre Schwägerin
vorwurfsvoll an, Großmutter Ilse aber kam beiden zuvor:

»Sie sollten sich schämen, Elisabeth,« rief sie heftig. »Daß Sie
selbst sich nicht amüsieren können und alles verurteilen, was
einfache, schlichte Menschen nett finden und gern mögen, ist Ihre
Sache, aber ich verbitte mir ernstlich, daß Sie gegen einen meiner
Gäste gehässige Bemerkungen machen. Ich hab' es gut geheißen, daß die
jungen Mädchen tanzen -- nehmen Sie daran Anstoß, so behalten Sie Ihre
Bedenken für sich, wir werden uns jedenfalls nicht daran kehren.«

Erschrocken schwieg Elisabeth. Sie fürchtete sich ein bißchen vor Frau
Gontrau, die ihr noch immer am höflichsten und freundlichsten
entgegenkam. Die Augen der alten Dame blitzten vor Zorn und für einen
Moment lebte die alte, aufbrausende Ilse wieder auf.

»Ich darf doch wohl sagen, was ich für unpassend finde,« stammelte
Elisabeth, in ihrem Innern noch viel zu entrüstet, um nachzugeben.

»Nicht, wenn keiner danach fragt,« entgegnete Ilse. »Sie haben schon
mehr als zuviel Kritik geübt. Geh nur mit Marianne, Fritz. Ruth und
Heinrich haben auch die Absicht, sich in den Saal zu begeben. Wer
weiß, wenn die Bowle ganz fertig ist, kommen Onkel Heinz und ich
vielleicht auch auf ein Weilchen und gucken zu. Was meinen Sie, Herr
Professor?«

»Vortrefflich, Frau Ilse! Wenn mein dummes Bein mir nicht so
aufspielte, würde ich Ihnen allen einen Hornpipe[1] vortanzen, daß Sie
Ihr blaues Wunder erleben sollten.«

  [1] Alter englischer Tanz.

Heiter gingen die andern ins Haus. Ilse widmete ihre Aufmerksamkeit
einen Augenblick der Bowle und schaute dann nach Fräulein Müller.
Steif und kerzengerade saß diese auf ihrem Stuhl. Frau Gontrau, die
ebenso rasch versöhnt war, wie sie heftig werden konnte, fürchtete,
die alte Jungfer doch zu hart angefahren zu haben, und hatte schon
wieder Mitleid mit dem einsamen Wesen, das so unglücklich in seiner
Ecke saß, während alle andern sich gut unterhielten. Der Professor
schüttelte den Kopf, als sie sich zu ihr wendete und freundlich sagte:

»Sie müssen nicht böse sein, Elisabeth, weil ich zornig war. Sie sind
mein Gast, und es würde mir leid tun, wenn ich Sie gekränkt hätte.«

Fräulein Müllers Mienen wurden nicht sanfter, als sie in sauersüßem
Tone erwiderte:

»Ach, Frau Gontrau, mir gegenüber brauchen Sie sich wirklich nicht zu
entschuldigen. Auf mich kommt's nicht an. Jeder darf mich ungestraft
beleidigen. Wenn die Mädchen mich auslachen und Karl frech zu mir ist
und mich zum Gespött macht, haben alle ihre Freude dran. Um mich
kümmert sich niemand, und Sie brauchen es auch nicht zu tun.«

Der Groll und der gekränkte Stolz, die aus diesen Worten sprachen,
taten Ilse weh und sie näherte sich Elisabeth.

»Wollen Sie nicht ein wenig mit mir im Garten spazieren gehen?« fragte
sie. »Ich habe schon so lange gesessen. Der Professor ist noch mit
seiner Bowle beschäftigt.«

Wider Willen geschmeichelt, daß Frau Gontrau sich so um sie bemühte,
stand Fräulein Müller auf. Ilse nahm ihren Arm.

Der Abend war hereingebrochen. Die Kellner zündeten die Laternen im
Garten an; überall leuchteten bunte Lampions zwischen dem Grün auf.
Aus dem Tanzsaal erschallte Musik und heiteres Stimmengesumme. Mit
Absicht schlug Frau Gontrau einen Seitenpfad ein und begann milde:

»Liebe Elisabeth, ich war eine Freundin Ihrer Mutter und habe Sie und
Fritz von Geburt an gekannt. Da darf ich mir doch wohl herausnehmen,
Ihnen einen Rat zu geben.«

Elisabeth warf den Kopf in den Nacken:

»Natürlich, Frau Gontrau.«

»Sie beklagen sich, daß die Menschen nicht lieb zu Ihnen sind; daß die
jungen Mädchen Sie unfreundlich behandeln und gerne necken. Vielleicht
haben Sie recht, aber denken Sie einmal nach, und sagen mir ehrlich
und aufrichtig, ob Sie daran wirklich ganz unschuldig sind.«

»Ich weiß nicht, was Sie wollen,« entgegnete Tante Müller steif. Ilse
aber ließ sich nicht abschrecken.

»Wenn Sie sich bemühten, es den Leuten in Ihrem Hause etwas
behaglicher zu machen,« fuhr sie herzlich fort, »würden Sie selbst
viel glücklicher sein. Was haben Sie von all den Zimmern, die niemals
eines Menschen Fuß betritt, in denen nie ein Fenster geöffnet wird,
aus Furcht vor Staub, wo stets alles gleich tadellos und dadurch so
kalt und ungemütlich ist? Wenn es regnet und jemand kommt zu Ihnen,
lautet Ihre erste Frage, ob er sich auch gut die Füße abgewischt hat,
und ich glaube, Sie würden sich totunglücklich fühlen, wenn etwas
Schmutz und Nässe die Fliesen Ihres Flurs befleckte. Das ermutigt die
Leute nicht; sie fühlen, daß sie nicht willkommen sind und bleiben
lieber fort.«

»Mich besucht doch niemand,« versetzte Elisabeth, die ganz böse werden
wollte, aber in Frau Gontraus warmem, teilnehmendem Ton lag etwas
Besänftigendes. »Übrigens begreife ich eigentlich nicht, was Sie das
angeht.«

»Machen Sie doch einmal den Versuch,« fuhr Ilse, die letzten Worte
nicht beachtend, fort. »Machen Sie Ihr Haus etwas heller und
fröhlicher. Laden Sie das junge Volk einmal ein, bewirten Sie es
einfach, aber gastlich und herzlich. Ärgern Sie sich nicht, wenn es
lustig und ausgelassen zugeht, und vor allem, legen Sie nicht so
großes Gewicht auf nichtige, kleinliche Dinge. Sorgen Sie, daß in
Ihrem einsamen Herzen kein Platz für düstere Stimmung und Mißgunst
bleibt. Ich halte viel von Ihnen, Elisabeth, habe Sie gern, und wenn
Sie sich so benehmen, daß andere das auch tun, dann würden Sie viel
glücklicher sein als bisher. Liebe ist das einzige, wahrhaft Nötige
auf der Welt.«

»Sie haben gut reden,« sagte die alte Jungfer, die sich am meisten
über sich selbst wunderte, daß sie nicht böse wurde. »Sie sind ihr
ganzes Leben lang von allen angebetet und verwöhnt worden, während
ich ....«

»Ich weiß,« fiel Großmutter Ilse ihr ins Wort, »Sie haben vieles
entbehren müssen, aber das kann noch gut gemacht werden. Der Anfang
ist freilich nicht leicht, doch glauben Sie mir, der einzige Weg,
Liebe zu ernten, ist Liebe zu säen.«

»Ja, für unglückliche, zu kurz gekommene Wesen wie ich vielleicht,
aber nicht für die Glücklichen, die vom Schicksal Bevorzugten.«

»Wenn andre wirklich bevorzugt sind, ist es weise, sich darüber nicht
zu ärgern, sondern sich zu bemühen, durch eigene Verdienste das zu
erwerben, was jenen mühelos in den Schoß fällt.«

»Frau Ilse, wo bleiben Sie?« ließ sich plötzlich die Stimme des
Professors vernehmen. »Meine Bowle ist fertig. Ich habe dem Kellner
den Auftrag gegeben, alles in Ordnung zu bringen. Nun wollen wir einen
Blick in den Tanzsaal werfen.«

»Gern, Onkel Heinz. Kommen Sie, Elisabeth.«

Fräulein Müller wußte nicht, ob sie ja oder nein sagen sollte, und
Professor Fuchs machte ein verdutztes Gesicht, als Ilse seinen Arm
nahm und ihm einen Wink gab, Elisabeth den andern zu bieten.

Er brummte etwas, aber ebenso wie Elisabeth konnte er doch nicht gut
anders, als der Großmutter gehorchen. Fritz, Ruth und Marianne zeigten
nicht wenig erstaunte Mienen, als sie die drei eintreten sahen. Fritz,
der den boshaften Ausfall seiner Schwester noch nicht vergessen hatte,
kam gerade mit spöttischem Gesicht auf sie zu, als Ilse ihm winkte,
ihm etwas ins Ohr flüsterte, und schnell unterdrückte er eine
unfreundliche Bemerkung.

Im Ballsaal herrschte die fröhlichste Stimmung, und über eine Stunde
schauten die älteren Leute dem lustigen Treiben zu. Tante Elisabeth
wollte etwas Gehässiges sagen, als ihr Bruder und seine Frau sich erst
an einer Quadrille und dann an einer Polka, ja sogar an einem Walzer
beteiligten, aber sie preßte die Lippen zusammen und schwieg. Sie
äußerte auch keine Mißbilligung, als sie den ernsten Heinrich von
Holten mit Ruth und dann auch mit Maud tanzen sah. Kerzengerade saß
sie neben Ilse und bemühte sich redlich, sich über das Courmachen und
das eitle Getue der jungen Mädchen zu ärgern.

»Wie sich Irma amüsiert,« sagte Ilse froh zu Ruth, »und wie wunderbar
lieblich sie aussieht.«

Ruth beugte sich zu ihrer Mutter und entgegnete leise:

»Ich finde, daß sie zu viel mit dem Baron tanzt, Mama. Das ist nun
schon das viertemal, und sie ist so aufgeregt.«

»Ach was, das hat doch nichts zu sagen! Nach dem heutigen Abend sieht
sie ihn vielleicht nie wieder. Überdies sind Ludwig und Agnes auch
fast unzertrennlich.«

»Das ist etwas andres. Jetzt sehe ich sie überhaupt nicht mehr. Ob sie
hinausgegangen sind?«

»Vielleicht für einen Moment. Es ist arg heiß im Saal. Das machen die
vielen Menschen. Laß Irma nur nicht merken, daß du unruhig bist, Ruth;
wirklich, das wäre nicht richtig. Da sind sie schon wieder.«

In der Tat kehrten Irma und ihr Kavalier in den Saal zurück. Der Ball
näherte sich seinem Ende. In einer Ecke, hinter einer Gruppe
hochstämmiger grüner Blattpflanzen und Rosen konnten sie ungestört
plaudern.

»Dies ist der seligste Abend meines Lebens,« begann Hochstein. »Es ist
beinahe zu schön für einen gewöhnlichen Sterblichen: mir ist, als
weilte ich unter den Göttern des Olymps.«

Irma lachte. »Wie mag Ihnen da wohl zu Mute sein?«

»Ich möchte die ganze Welt ans Herz drücken, mir ist, als ob das Leben
all seine Schönheit und Herrlichkeit über mich ausschüttete, als ob
alles, was ich je geträumt, Wirklichkeit würde, so daß ich mein Glück
kaum fassen kann!«

Die Musik, die eine Pause gemacht, begann aufs neue. Irma stand auf.

»Das ist der letzte Walzer,« erklärte sie, »den hab' ich versprochen.«

Schon legte der Baron ihren Arm in den seinen.

»Mir?« bat er flehend.

»Nein, nein, Hans Reicher,« stammelte sie.

Er fing an zu lachen.

»O, das ist wohl der Herr mit dem wütenden Gesicht, der uns, so oft
wir vorbeitanzten, ansah, als wollte er uns fressen?«

Irma lächelte; sie konnte sich Hans schwer mit einem wütenden Gesicht
vorstellen. Leise aber sagte sie:

»Ich hab's ihm versprochen.«

»Nun gut, er kann mich fordern, wenn er will. Ein Duell um Ihretwillen
wird ihm wie mir etwas Göttliches sein!«

Irma schaute entsetzt auf. Hochsteins samtschwarze Augen strahlten,
unwillkürlich senkte sie die ihren.

Da schlang er den Arm um sie; sie fühlte sich emporgehoben, ihr war,
als schwebte sie. Schneller und immer schneller ward das Tempo. So
hatte sie noch nie getanzt. Sie vergaß alles: Hans, der sie, die
Lippen zusammengepreßt, mit einem tieftraurigen Ausdruck in seinen
treuen Augen ansah; ihre Herzensangst, als der Baron vom Duellieren
sprach -- sie fühlte nur, wie schön das Leben war, entzückend. Mit
geschlossenen Augen und halb geöffneten Lippen gab sie sich dem Zauber
dieser Stunde hin und fühlte sich von seligem Traum umfangen.

»Irma, mein Kind, es ist genug, du machst dich zu müde.«

Es war die Stimme ihrer Mutter, die sie zur Besinnung brachte. Noch
ganz schwindlig schaute sie sich um, während Hochstein sie zu einem
Stuhl führte.

»Gnädige Frau, dies war der letzte Tanz. Die Musik geht schon fort.«

»Um so besser,« versetzte Ruth, »komm Irma!«

»Auf Wiedersehen, meine Damen.«

Der Baron entfernte sich mit einer tiefen Verbeugung.

»Es ist mir gar nicht lieb, daß Onkel Heinz die jungen Leute zur Bowle
eingeladen hat,« sagte Ruth.

»Weshalb, Mama?«

»Weil ich finde, daß du dich zu viel mit jenem jungen Manne
unterhältst. Das fällt auf.«

»Aber Mama, wir haben ein paarmal zusammen getanzt. Was tut denn das?«

»Nichts, doch du hättest auch mit andern tanzen können, mit Hans zum
Beispiel.«

Irma schwieg und schwebte auf den Professor zu, der mit einigen
Studenten plauderte.

»Onkel, nun kommt deine Einladung an die Reihe.«

»Ja, kleiner Schelm,« und er kniff ihr in die glühenden Wangen. »Heute
ist unser Kind in seinem Element, was?«

Irma wurde rot, weil der alte Herr sie in Gegenwart der jungen Leute
so behandelte, aber sie war doch zu glücklich, um etwas anderes zu
tun, als lächelnd zu nicken.

Professor Fuchs zog ihren Arm in den seinen.

»Darf ich die Damen und Herren bitten!« rief er und eröffnete den Zug;
paarweise folgten die übrigen. Die Kellner hatten im Garten eine lange
Tafel hergerichtet. Auf der blau und rot karrierten Tischdecke prangte
die Riesenbowle, umgeben von den goldschimmernden Gläsern, rechts und
links flankiert von zwei großen Blumensträußen.

Wie es zuging, wußte sie selbst nicht, aber wieder fand Irma ihren
Platz neben Hochstein. Bald schallte fröhlicher Gesang und Gelächter
durch den Garten. Unter ohrbetäubendem Jubel stimmte Professor Fuchs
das alte Studentenlied an:

    Hochgesang und Rebensaft
    Lieben wir ja alle!
    Darum trinken wir mit Kraft
    Schäumende Pokale!

Und da Ilse neben ihm saß, stieß er mit ihr an und fragte:

»Schwester, Dein Geliebter heißt?« worauf sie lachend versetzte:
»Heinrich« und alle im Chor:

    Heinrich, er soll leben!
    Soll leben, soll leben!
    Heinrich, er soll leben!
    Er lebe hoch!!

Das »Hoch« wurde lange ausgehalten, und nun ging's weiter die ganze
Tafelrunde durch, unter Necken und Scherzen. Die jungen Leute trieben
es fast zu toll. Ludwig und Agnes flüsterten miteinander, und dann
nannten beide einen fremden Namen, den niemand je gehört. Gustav und
Flora gaben sich einfacher, aber das junge Mädchen wurde verlegen und
stammelte so schüchtern: »Gustav,« daß sie den Namen noch zweimal
wiederholen mußte. Die größte Heiterkeit erregte Tante Elisabeth, die
erst erklärte, sich mit solchen Narrenspossen nicht abzugeben und auf
dem Punkt stand böse zu werden, als ihr Bruder Fritz ausrief:

»Unsinn, Elisabeth, in deinem zehnten Jahr warst du sterblich verliebt
in den Küster unserer Kirche; er schielte und hieß Georg.«

Alle jubelten und lachten. »Georg, er soll leben!« schallte es hell
durch die Abendluft. Vielleicht war es der Einfluß der Bowle, aber so
viel steht fest, daß die alte Jungfer ihren Ärger vergaß und
mitlachte.

Baron von Hochstein sah Irma tief in die Augen und rief dann: »Maria!«

Einen Augenblick vorher hatte er sie gefragt, wie sie hieße, und sie
hatte geantwortet:

»Irma Maria.«

Während des nun folgenden Gesangs löste er, ohne daß es in der
dämmerigen Beleuchtung außer ihr jemand bemerkt hätte, gewandt eine
der hellblauen Schleifen, mit denen ihr Kleid verziert war, drückte
einen Kuß darauf und ließ sie in der Tasche verschwinden.

»Das ist nicht erlaubt,« flüsterte sie; aber sie fühlte mehr als sie
sah, wie flehend er sie anschaute, und schwieg.

Endlich mußte doch an die Rückfahrt gedacht werden. Es war höchste
Zeit. Als die älteren Damen hörten, wie spät es schon war, erschraken
sie. Der Befehl zum Anspannen wurde gegeben. Das ganz aus Rand und
Band geratene junge Volk schlug vor, wieder den Weg zu Fuß über den
Wasserfall zu machen und erst an den Stallungen einzusteigen; das
würde eine entzückende Mondscheinpromenade sein.

Verschiedene Ausrufe wie: »Ach ja! Das wollen wir! Himmlisch! Bitte,
Großmama!« ließen sich hören; Fritz aber erklärte kurz und bündig:

»Daraus wird nichts; wir fahren den andern Weg, der ist um eine gute
Stunde kürzer!«

Hochstein half Irma in den Wagen und flüsterte ihr zu, wie scheußlich
er es fände, daß er und seine Freunde nicht mitfahren könnten.

»Adieu, adieu! Herzlichen Dank, Herr Professor!« klang es von allen
Seiten, dann setzten die Fuhrwerke sich in Bewegung. Das letzte, was
Irma zu unterscheiden vermochte, war die schlanke Gestalt ihres
Anbeters, der sein Cerevis schwenkte und sie, sie allein, grüßte.

Der Wagen bog um die Ecke, und plötzlich schien es ihr, als sei alles
dunkel und trübe geworden. Jetzt bemerkte sie erst, daß sie neben Hans
Reicher saß. Sie fühlte sich so glücklich, daß es ihr leid tat, den
armen Jungen unfreundlich behandelt zu haben.

»Sind Sie mir böse?« fragte sie sanft.

»Weshalb?«

»Weil, nun weil ich den letzten Walzer nicht mit Ihnen tanzte, wie ich
versprochen hatte.«

Er tat, als müsse er sich erst besinnen. »Ach ja, richtig, den letzten
Walzer? Nein, durchaus nicht. Ich war froh über Ihr Vergessen, weil
ich eine andere junge Dame engagiert hatte.«

Hans log. Er war still hinausgegangen, um seine Enttäuschung und
seinen Ärger niederzukämpfen, doch sein Stolz verbot ihm, Irma zu
zeigen, wie tief sie ihn verletzt hatte.

Im vordersten Wagen schlief Tante Elisabeth und ärgerte den Professor,
weil sie schnarchte; schnarchende Frauen konnte er nicht ausstehen.
Großmutter Ilse war müde und lehnte sich schweigend, mit geschlossenen
Augen, zurück. Ruth und Marianne unterhielten sich leise und schauten
dazwischen nach Flora und Gustav, die auf der vordersten Bank Hand in
Hand saßen, aber kein Wort sprachen. Onkel Heinz blickte auf die
prachtvolle, mondbeglänzte Landschaft und verkürzte sich die Zeit mit
Rauchen. Im zweiten Wagen saß Maud neben ihrem Vater. Ludwig und Agnes
waren so in ihr Geflüster vertieft, daß sie nicht einmal hörten, wenn
jemand sie anredete. Irma drehte Hans den Rücken. Was bildete der
Bauer sich ein? Sie wollte ihm freundlich entgegenkommen, und er wagte
es, ihr solche Antwort zu geben! Ihr eitles Herzchen schwoll vor
Entrüstung. Nun wollte sie sich nie mehr um ihn kümmern; sie hatte an
Angenehmeres zu denken.

       *       *       *       *       *




Onkel Heinz war schlecht gelaunt. Mit grimmigem Gesicht ging er umher
und erklärte, sich in den nächsten Tagen weder bei Müllers, noch bei
Ilse Gontrau blicken zu lassen. Das ewige Einerlei und die endlosen
Beratungen fingen an ihn zu langweilen. Immer bekam er dasselbe zu
hören, von Verliebtsein, Verlobungen und Ratschlägen der Eltern. Es
herrschte allseitig große Rührung, und der Professor, der bei seinen
vielen guten Eigenschaften doch nicht frei von Egoismus war, konnte es
nicht leiden, daß die Jugend jetzt ganz in den Vordergrund trat und
ihm und seinen Interessen weniger Beachtung geschenkt wurde.

Am Morgen nach der Landpartie war Ludwig Reicher zu Fritz Müller und
seiner Frau gekommen, hatte ihnen gesagt, daß er ihre Tochter Agnes
unaussprechlich liebe und um ihre Hand bitte.

Sehr erstaunt waren die Eltern nicht, denn sie hatten es kommen sehen.
Agnes wurde hereingerufen und die Sache ruhig und praktisch
besprochen. Ohne Tränen oder Sentimentalität erklärte das junge
Mädchen, daß es Ludwig liebe; sie wären freilich beide noch ein
bißchen jung, aber in dieser Hinsicht glaubten sie doch alt genug zu
sein, um zu wissen, was sie wollten. Bevor Ludwigs Mutter ihre
Einwilligung gegeben, könne natürlich von einer öffentlichen Verlobung
keine Rede sein. Fritz Müller betonte, daß seine Tochter kein Vermögen
habe, wenigstens nicht, solange ihre Eltern lebten. Er sei der
Ansicht, daß ein junger Mann, wenn er sich um ein Mädchen bewerbe,
unabhängig sein müsse und für seine Familie sorgen könne. Ludwig
teilte diese Ansicht, aber da er in einigen Monaten mündig wurde und
dann sein väterliches Erbteil zu freier Verfügung bekam, bildete der
Geldpunkt in seinen Augen kein Hindernis. Trotzdem machte Vater
Müller, der jeden Pfennig, den er besaß, durch die Arbeit seines
Kopfes und seiner Hände erworben hatte, noch immer ein bedenkliches
Gesicht. Ein Erbteil, na ja, das war schon gut, aber ein Mann mußte
von dem leben können, was er selbst verdiente. Auf die eigne Kraft
könne man vertrauen; ein Vermögen, das in Gütern und Papieren
bestände, sei nie sicher. Ludwig äußerte etwas von amerikanischer
Auffassung, Agnes aber fand, daß ihr Papa recht habe. Sie könnten noch
ein wenig Geduld haben, in zwei Jahren wurde der junge Offizier
Oberleutnant, so lange wollten sie mit der Hochzeit warten. Nach
dieser Entscheidung des Familienrates verließen Agnes und Ludwig mit
strahlenden Mienen das Zimmer der Eltern, um die Glückwünsche von
Maud, Hans und Karl in Empfang zu nehmen.

Aber als Fritz und Marianne zu ihrer Mutter gingen, um ihr als erster
diese wichtige Neuigkeit mitzuteilen, waren sie nicht wenig erstaunt,
dort die Familie in ähnlichen Beratungen anzutreffen.

Gustav war noch nie verliebt gewesen, sondern stets allen Mädchen aus
dem Wege gegangen, und oft hatte Irma ihn mit seiner Schüchternheit
geneckt. In Floras Gegenwart hatte er sich sofort frei und unbefangen
gefühlt. Das war eine Frau, wie er sie sich erträumte, sanft, still
und fügsam, voll Bewunderung für ihn und die Seinen. Auch Ruth und
Heinrich von Holten fühlten sich zu dem bescheidenen Mädchen
hingezogen, wenn erstere für ihren Sohn auch eine glänzendere Partie
gewünscht hätte. Solche Bedenken, wie Fritz Müller geäußert, wurden
daher hier nicht erhoben. Das Künstlerpaar lachte darüber; es würde
schon alles recht werden, um Geldangelegenheiten machten sie sich
keine Sorge. Wenn die jungen Leute sich liebten, so war das die
Hauptsache. Frau Reicher mußte natürlich in Kenntnis gesetzt werden,
dann war alles in Ordnung. Sie schrieb denn auch, daß sie mit ihrer
Mutter, Frau Flora Werner, kommen wolle, um die Bekanntschaft der
Familie zu machen, und es wurde beschlossen, daß Holtens ihre Abreise
aus diesem Grunde noch um einige Tage verschieben sollten.

»Sei nicht so brummig, Onkel Heinz,« sagte Irma, sich unter dem großen
Lindenbaum im Garten neben ihm niederlassend, »es ist wirklich kein
Grund dazu vorhanden.«

»Kein Grund! Die Leute hier sind alle mit einander verrückt. Verliebte
sind nie recht bei Trost, das ist nun mal so. Ich hatte Agnes für
verständiger gehalten und auf ihre amerikanische Nüchternheit
gerechnet, aber sie ist genau so wie alle andern.«

Irma schaute den alten Herrn spottend an, er aber fuhr, dadurch in
Harnisch gebracht, fort:

»Du brauchst nicht zu lachen. Da hast Du nun Gustav und Flora! Die tun
nichts als sich anschauen, so schmachtend und sentimental, daß einem
gewöhnlichen Menschen davon übel werden kann. Das Ärgerlichste aber
ist, daß die Eltern, dein Onkel und deine Tante, ja deine Großmutter
dem noch Vorschub leisten. Sie reden über nichts als über die Kinder,
ihr Glück, ihre schöne junge Liebe, die ihnen ihre eigene Jugend
wieder in Erinnerung bringe. Bah, nichts als Unsinn, Gefühlsduselei,
Überspanntheit.«

»Pfui, Onkel Heinz, du solltest dich schämen!«

»_Du_ solltest dich schämen, kleine, freche Hexe. Willst du etwa
diesem schönen Beispiel folgen? Vielleicht gar mit Hans? Na ja, warum
auch nicht, dann ist das Spiel komplett.«

»Hans,« rief Irma, verächtlich die Achseln zuckend.

»Na,« fuhr der Professor fort, plötzlich wieder ins andere Extrem
umschlagend, »er wäre der Schlechteste nicht; in jedem Fall viel
besser als der Gigerl von Offizier. Du brauchst seinetwegen nicht so
die Nase zu rümpfen. Glaubst du denn, daß noch ein Prinz für dich
kommen wird?«

Der alte Herr schaute sie unter seinen buschigen Augenbrauen
durchdringend an, und Irma errötete unter diesem scharfen Blick.

»Wie kommst du mir heut nur vor, Onkel Heinz?« fragte sie. »Erst bist
du bös, weil die Andern sich verliebt haben und sich verloben, und nun
ich sage, daß ich an so etwas nicht denke, ist's auch nicht recht.«

»Bös, das ist nicht wahr. Es bringt mich nur um meine Laune, weil sie
sich so verdreht anstellen und weil ich von nichts anderem mehr höre;
aber sie haben recht, wenn sie heiraten. Menschen, die unverheiratet
bleiben, na -- du siehst ja, was daraus entsteht. Ein alter, brummiger
Neidhammel wie ich, oder so ein Exemplar wie Tante Elisabeth. Darum,
kleines Jungfräulein, wenn ein braver, ehrlicher Mann dir zeigt, daß
er dich lieb hat, denk lieber zweimal nach, bevor du ihm 'nen Korb
gibst, um irgend einem goldbeschwingten Schmetterling nachzujagen, den
du doch nicht fängst.«

Bei diesen Worten stand Professor Fuchs auf und humpelte davon. Er
hatte zur Zeit viel von der Gicht zu leiden und stampfte nun
ungewöhnlich laut mit seinem Stock auf.

Glühend vor Entrüstung sah Irma ihm nach. Zum erstenmal in ihrem Leben
war sie ernstlich böse auf Onkel Heinz. Was bedeutete das? Um was
kümmerte er sich? Was mochte er beobachtet haben? Sie begriff nur zu
gut, daß er auf Baron von Hochstein anspielte. Was ging ihn das an?
Sie hätte nie gedacht, daß er, Onkel Heinz, solche Dinge überhaupt
bemerke! Er brauchte sie wahrlich nicht zu warnen, sie sollte ihre
Erwartungen nicht zu hoch spannen. O, wenn er wüßte!

Irma schaute sich im Garten um, ob auch niemand in der Nähe sei; nein,
das Terrain war sicher. Nun zog sie aus ihrem Kleide ein zierliches
Briefchen hervor und las es, wohl schon zum hundertstenmale. Sie
wußte es Wort für Wort auswendig, aber es war ihr ein Genuß, sich
immer wieder von seinem Inhalt zu überzeugen.

    Mein gnädiges Fräulein!

Vor zwei Tagen kannte ich Sie noch nicht; ahnte ich nicht, daß es
etwas so unbeschreiblich Schönes auf der Welt gäbe. Erst seit zwei
Tagen lebe ich, fühle ich wenigstens, daß das Leben wert ist, gelebt
zu werden. Irma, ich liebe Sie und ich muß Ihnen das sagen, auf die
Gefahr hin, daß Sie mich für meine Kühnheit strafen. Denn es ist ein
Vorzug, etwas so Vollkommenes, so wunderbar Schönes anzubeten. Haben
Sie ein wenig Mitleid mit mir? Ich bitte nicht um Erwiderung meiner
Gefühle. Das wäre zu anmaßend. Möchte die Darbietung meiner
erfurchtsvollen, meiner unermeßlichen, meiner ewigen Liebe Ihnen nur
nicht zuwider sein. Das ist alles, um was ich Sie anzuflehen wage.
Dienstag Nachmittag zwischen vier und fünf Uhr werde ich an Ihrem
Hause vorübergehen. Wenn ich Sie dann an einem der Fenster oder im
Garten sehe und Sie tragen eine rote Rose im Gürtel, machen Sie mich
zum glücklichsten der Sterblichen, wenn nicht -- ich wage es nicht
auszusprechen, welcher Verzweiflung ich dann anheimfallen würde.

Ich ersuche Sie um strengste Geheimhaltung; mir ist, als würde meine
Liebe entweiht, wenn jemand auch nur eine Ahnung davon hätte.

                            Ihr ewig getreuer
                                        Otto von Hochstein.

Arme kleine Irma, sie verstand nicht das Geschraubte und zugleich
Triviale dieses Briefes. Sie war buchstäblich begeistert, und ihr
eitles Herzchen klopfte vor freudigem Stolz.

»Irma, Baronin von Hochstein,« sprach sie immer wieder leise vor sich
hin. Natürlich fiel es ihr gar nicht ein, jemand Mitteilung von ihrem
köstlichen Geheimnis zu machen, aber es kostete sie doch einen Kampf,
Agnes gegenüber ganz zu schweigen. Das Mädchen war strahlend glücklich
und sprach mit wahrer Begeisterung von Ludwig. Irma schaute sie fast
mitleidig an; was war der junge Leutnant im Vergleich zu Otto? Es
schien ihr, als ob die Beiden gar nicht in einem Atemzug genannt
werden könnten; Agnes war zudem so von ihrem Verlobten erfüllt, daß
sie keine Augen für Irma hatte und gewiß nicht mit dem richtigen
Interesse ihrer wichtigen Mitteilung Gehör schenken würde.

Und so verhielt es sich mit allen. Die zwei großen Ereignisse im
Familienkreise nahmen die Gedanken so in Anspruch, daß keiner auf Irma
acht gab. Selbst Großmutter Ilse und Ruth, die sich sonst so viel mit
ihrem Liebling beschäftigten, sahen nicht, wie erregt und
geheimnisvoll sich das junge Mädchen benahm, wie sie ohne jede
Veranlassung die Farbe wechselte, die Einsamkeit suchte und oft ganz
gegen ihre Gewohnheit in sich versunken, dann wieder ausgelassen
lustig sein konnte. Sie widmete ihrem Äußern noch mehr Sorgfalt als
früher. Ihre Züge zeigten einen Ausdruck, der sie vielleicht noch
schöner machte, aber doch von der kindlichen Unschuld, mit der sie
früher die Vergißmeinnichtaugen aufschlug, himmelweit verschieden war.

Onkel Heinz, der vielmehr beobachtete, als man vermutete, und der das
Kind aufs zärtlichste liebte, kam zu der Ansicht, daß etwas im Werk
sei, und machte sich seine Gedanken darüber. Da er aber nichts
Gewisses wußte, hütete er sich wohl, seine Nase in Dinge zu stecken,
die einen alten Junggesellen nichts angingen. Er begnügte sich, der
Kleinen anzudeuten, daß er ein wachsames Auge auf sie habe.

Der zweite, der etwas merkte, aber nichts sagen durfte, war Hans
Reicher. Seit der schöne Student mit den bestechenden Manieren auf der
Bildfläche erschienen war und Irmas liebliches aber eitles Köpfchen
mit seinen Schmeicheleien erfüllte, wußte Hans, daß er nichts mehr zu
hoffen hatte. Obgleich ihm das bitter wehtat, würde er sich doch
darein ergeben haben, weil seine Liebe großmütig und frei von
Selbstsucht war. Irmas Glück stellte er weit über das seine, und er
fürchtete, daß der Baron von Hochstein nicht die Persönlichkeit sei,
der ein junges Mädchen vertrauensvoll seine Liebe schenken könne. Sein
Auftreten war zu übermütig, zu dreist. Etwas Bestimmtes wußte Hans
jedoch nicht, auch hatte er kein Recht, sich nach Hochstein zu
erkundigen; so blieb ihm denn nichts anderes übrig, als mit Angst und
Trauer im Herzen abzuwarten, was aus der Sache werden würde.

Flora Werner und ihre Tochter, Thusnelda Reicher, trafen ein, und nun
wurde die Doppelverlobung durch ein großes Familienfest gefeiert.

Flora war eine alte Frau geworden, aber ihr fehlte die vornehme Würde,
die Ilse auszeichnete. Selbst jetzt hatte sie ihrer Sucht sich zu
putzen nicht widerstehen können. Sie trug sich jugendlicher und
auffallender als ihre Tochter und sah mit ihrem nach der neuesten Mode
frisierten Haar geradezu lächerlich aus. Heinrich von Holten und Fritz
Müller nannten sie eine alte Kokette und verspürten Lust, sie ein
bißchen zum Narren zu haben, aber sie überlegten, daß dies nicht
angebracht sei bei der Jugendfreundin ihrer Schwiegermutter und der
künftigen Mutter ihrer eigenen Kinder. Frau Reicher, früher ein leicht
errötendes, aber kerngesundes, kräftiges junges Mädchen war nun ein
kleines, rundliches Frauchen, sehr verlegen, besonders in Ruths
Gesellschaft, deren fürstliche Grazie ihr riesig imponierte. Sie war
ganz glücklich über die Wahl ihrer Kinder und gleich vertraut mit
Agnes; zu Gustav aber wagte sie kaum ein Wort zu reden. Die alte Flora
fühlte sich im siebenten Himmel. Die Verlobung ihres Großsohnes mit
Agnes ließ sie ziemlich gleichgültig; sie fand sie ganz passend, aber
es war nichts außergewöhnliches dabei; daß aber ihre Enkelin einen
Künstler heiraten sollte, den Sohn des berühmten Ehepaares von Holten,
darüber war sie ganz aus dem Häuschen.

»Siehst du, liebste Ilse,« sagte sie zu ihrer alten Freundin, »das
versöhnt mich mit dem Leben. Du weißt, welch dichterisches Talent ich
besaß; wie ich sozusagen zu großen und schönen Dingen vorherbestimmt
war und wie meine Seele durch die Prosa meines Lebens gelitten hat.
Ich habe mich gefügt; als ich meine Schwingen nicht so entfalten
durfte, wie ich ersehnte, habe ich sie kampfesmüde eingezogen. Meinem
guten, prosaischen Manne war ich eine treue Gefährtin. Ich erfüllte
meine Pflicht, und nun werde ich belohnt. Mein Liebling, das Kind, das
meinen Namen trägt, in dessen jugendlicher Seele meine Dichternatur
wieder aufblüht, wird sich mit einem Künstler verbinden, einem nach
hohen Idealen strebenden, schöpferischen Genie. Nun kann ich ruhig
sterben -- ich habe nicht umsonst gelebt!«

Ilse hielt es nicht für nötig, auf diesen Wortschwall viel zu erwidern
noch Flora daran zu erinnern, daß Gustav bis jetzt noch kein
schöpferisches Genie genannt werden konnte. Sie lachte nur bei dem
Gedanken, wie wenig ihre alte Pensionsfreundin sich im Grunde doch
verändert hatte, trotzdem das grausame Leben sie gezwungen hatte, auf
alle Dummheiten zu verzichten und einfach mit der Wirklichkeit zu
rechnen. Letzteres hatte sie aber auch so gut getan, daß man ihre
übertriebenen Ausdrücke und poetischen Sentimentalitäten ihr verzeihen
konnte.

Thusnelda klagte Ilse, daß die kleine Flora noch so viel zu lernen
habe, da sei es gut, wenn die jungen Leute noch nicht gleich
heirateten, denn die Kleine sei, besonders in allem, was den Haushalt
beträfe, noch sehr unwissend. Aber Ilse, die selbst nie mit besonderer
Lust und Liebe gewirtschaftet hatte, fand diese Sorge unwichtig.

»Die Führung des Haushaltes lernt sich von selbst,« sagte sie, »und
wozu sind denn die Dienstboten da?«

Bescheiden schwieg Thusnelda. Sie wagte nicht, Frau Gontrau zu
widersprechen, aber in ihrem Herzen dachte sie, daß Ilse neben einer
gut gefüllten Börse immer Glück mit ihren Dienstboten gehabt haben
müsse, -- dann konnte sie wohl so reden.

Die Familie Reicher und Flora Werner reisten zuerst ab. Agnes und
Ludwig benahmen sich tadellos bei der Trennung. Der Ort, wo der junge
Leutnant in Garnison stand, war nicht weit von F. entfernt, so daß er
sicher jeden Monat einmal herüberkommen konnte. Die kleine Flora
dagegen zerfloß in Tränen, so daß Onkel Heinz ihr spottend vorschlug,
sich bei der städtischen Wasserversorgung anstellen zu lassen.
Hundertmal fragte sie Gustav, ob er sie auch nicht vergessen werde;
und als sie sich endlich aus seinen Armen lösen mußte und die
Coupétüre geschlossen wurde, fiel sie schluchzend Großmutter Werner um
den Hals. Diese allein verstand sie und bemühte sich, sie mit leise
gemurmelten Worten zu trösten. Der einzige, der sich freute, wieder an
seine Arbeit gehen zu können, war Hans. Er besaß keine sentimentale
Natur, und wenn er auch wußte, daß es ihm nie gelingen würde, Irma zu
vergessen, da er doch nun einmal nicht anders konnte, als das kleine,
kokette Ding lieben, so war es doch nicht seine Sache, sich feige und
weich seinem Kummer hinzugeben. Er sehnte sich nach dem einzigen
Mittel, seine Enttäuschung zu überwinden, nach ernster, rastloser
Arbeit.

Mit heitern Mienen hatte er von allen Abschied genommen. Als die Reihe
an Irma kam, drückte er ihr Händchen so kräftig in seiner großen
Faust, daß er ihr weh tat, und sagte mit eigentümlich bebender Stimme:

»Sie wissen, Irma, was ich gehofft habe. Es hat nicht sollen sein, und
ich muß trachten, mich darein zu ergeben. Aber um eins will ich Sie
bitten. Denken Sie ab und zu daran, daß Ihnen ein treuer Freund lebt,
der alles opfern würde, um Sie glücklich zu machen.«

Sie waren einen Augenblick allein. Schnell, bevor sie es hindern
konnte, legte er den Arm um sie und drückte einen Kuß auf ihre Stirn.
Dann ließ er sie los und begab sich zu den andern. Irma wollte
entrüstet auffahren, vermochte es aber nicht; zu ihrem großen Ärger
fühlte sie ein Weh in ihrem Herzen, und das unbestimmte Gefühl, als
habe sie etwas sehr Kostbares verspielt, bemächtigte sich ihrer.
Freilich nur einen Augenblick, dann tastete sie mit der Hand in ihr
Kleid, wo zwischen weichen Spitzen ein rosa Briefchen verborgen lag,
und mit stolz erhobenem Haupte und leuchtenden Augen schaute sie Hans
nach.

Am nächsten Tage reisten auch Holtens ab, und nun fing für Ilse und
Irma wieder das alte ruhige Leben an, das sie vor der Ankunft der
amerikanischen Familie geführt hatten.

       *       *       *       *       *




Es war Oktober geworden. In Ilses kleinem, an den großen Eßsaal
grenzenden Wohnzimmer brannte schon ab und zu ein lustiges Feuerchen,
denn die Nachmittage wurden kalt. Die alte Dame saß gern mit ihrem
Buch am Kamin und wenn sie aufgehört hatte zu lesen, starrte sie in
die züngelnden Flammen und ließ die Bilder der Vergangenheit an ihrem
Geiste vorüberziehen.

An solch einem traulichen Nachmittagsstündchen trat Irma ein, um der
Großmama adieu zu sagen. Sie sah bildschön aus in dem dunkelblauen
Tuchkostüm, das ihre Elfengestalt knapp umschloß, und dem hübschen, an
einer Seite umgeschlagenen Hut mit der weißen Feder auf dem
goldblonden Haar.

»Gehst du aus, Kind?«

»Ja, Großmama, wenn du's erlaubst.«

»Wohin?«

»Ach, ich weiß nicht, ein bißchen spazieren.«

Die Großmutter schaute sie an. »Und dafür hast du dich so schön
gemacht?«

Das junge Mädchen wurde rot. »Ach, bei diesem köstlichen Herbstwetter
wollte ich mein neues Kostüm doch mal an die Luft bringen.«

Ilse drohte mit dem Finger »Jungfer Eitelkeit,« neckte sie. »Na, lauf'
du nur. Aber es ist doch besser, du holst Agnes oder Maud zum
Spazierengehen ab. Allein finde ich's nicht ganz passend.«

»Ich weiß nicht, ob sie zu Hause sein werden,« murmelte Irma und lief
dann, um weiteren Einwendungen zuvorzukommen, mit einem hastigen: »Auf
Wiedersehen, Großmama,« rasch zur Türe hinaus.

Auf der Straße tat sie einen tiefen Atemzug, schlug aber nicht den Weg
nach dem Hause Onkel Müllers ein. So rasch sie konnte, ging sie, sich
ab und zu scheu umsehend, durch einige Gassen, bis sie die Stadt im
Rücken und die große Landstraße vor sich hatte. Hier war es still. Nur
das Sausen des Oktoberwindes in den hohen Bäumen ließ sich hören und
das Gerassel des dürren Laubes. Von dem schnellen Gehen ermüdet,
verlangsamte Irma ihren Schritt. Ängstlich spähte sie umher. Was sie
tat, war nicht recht, das wußte sie, aber ihr blieb keine Zeit darüber
nachzudenken, denn dort, aus einem Gebüsch am Wege, sah sie die
schlanke, biegsame Gestalt Hochsteins hervortreten und eilig näher
kommen.

[Illustration]

In der ersten Verwirrung wollte sie fortlaufen; aber als ob er ihre
Gedanken erriete, war er mit ein paar raschen Sprüngen neben ihr und
ergriff ihre Hand. Mit glühenden Wangen und niedergeschlagenen Augen
stand sie vor ihm.

Otto von Hochstein betrachtete sie, und ein Gefühl des Stolzes
erfüllte ihn, daß dieses wunderschöne junge Geschöpfchen endlich
eingewilligt hatte, ihm heimlich hier draußen an diesem einsamen Ort
ein Stelldichein zu gewähren.

»Meine teuerste Irma,« flüsterte er, »wie soll ich dir danken, daß du
gekommen bist!«

»Ich tue es nie wieder,« stöhnte sie. »Ich hab' Großmama belügen
müssen, und das ist schändlich.«

»Aber du tatest es doch um meinetwillen? ... Du hast mich doch ein
ganz klein wenig lieb, nicht wahr?«

Er schaute sie mit seinen samtschwarzen Augen so flehend an, daß sie
nicht anders konnte als leise stammeln:

»Ja, sehr lieb.«

Aber als er den Arm um sie schlingen und sie entzückt ans Herz ziehen
wollte, entwand sie sich ihm.

»Warum darf ich dir denn nicht einmal einen Kuß geben, Irma, wenn du
mich doch liebst und meine Braut bist?«

»Nicht eher, als bis wir wirklich verlobt sind und jeder es weiß,«
erwiderte sie. »Warum kann ich denn nicht, wie Agnes und Flora es
taten, der Großmama und meinen Eltern alles erzählen?«

»Mein Liebling, hast du mir nicht selbst geschrieben, daß du gerade
dies süße Geheimnis, um das nur wir zwei beide wissen, so herrlich
fändest?«

»Ja, aber nun finde ich es nicht mehr herrlich,« schmollte Irma. »Es
ist nicht recht, das fühle ich. Ich weiß, Großmama würde es nicht
billigen, und ich will nicht mehr in dieser heimlichen Weise mit dir
zusammenkommen.«

Ottos dunkle Augen funkelten unheilverkündend, und er biß sich auf die
Lippen, um seinen Ärger zu verbergen. Aber er verstand es meisterhaft,
sich zu beherrschen, und erwiderte niedergeschlagen:

»Dann machst du mich tief unglücklich.«

»Laß mich der Großmama alles sagen. Du kennst sie nicht, sie ist nicht
streng, und ich kann von ihr erlangen, was ich will.«

Er schüttelte den Kopf; dann schob er seinen Arm durch den ihren und
zwang sie so, mit ihm auf und ab zu gehen.

»Hör' mal zu, Liebste,« begann er. »Du zwingst mich, Dinge zu sagen,
die mir peinlich sind. Frau Gontrau würde niemals ihre Einwilligung zu
einer heimlichen Verlobung zwischen uns geben.«

»Wenn ich sie darum bitte, tut sie es doch.«

»Aber sie würde darauf bestehen, daß ich meinen Eltern Mitteilung
davon mache.«

»Natürlich, warum willst du das denn nicht?«

»Das ist es ja gerade, Irma. Sie würden ihre Zustimmung nicht geben
und sich auf jede mögliche Weise bemühen, uns zu trennen.«

Stolz hob Irma ihr reizendes Köpfchen und schaute ihn herausfordernd
an.

»Aus welchem Grunde? Bin ich ihnen nicht gut genug?«

»Irma!« rief er leidenschaftlich. »Du bist das schönste, das
entzückendste Wesen von der Welt. Und für mich wirst du das ewig
bleiben. Aber ich wünschte, ich wäre an Stelle des Barons von
Hochstein ein armer Teufel, zu dem du dich herablassen müßtest.«

Sie schaute ihn fragend und tief errötend an.

»Meine Eltern sind sehr stolz,« fuhr er fort. »Unser Stammbaum reicht
zurück bis in die Zeit vor den Kreuzzügen. Die Glieder meiner Familie
haben sich immer nur mit dem allerältesten Adel verbunden; der Schlag
würde meine Eltern vor Schreck rühren, wenn sie erführen, daß ich mich
mit einem Mädchen verloben will, das nicht zum Hochadel gehört. Sie
haben mir bereits eine steinreiche Erbtochter aus einem Geschlechte
bestimmt, das eben so vornehm ist wie das unsere.«

»Und du?« fragte Irma atemlos.

»O, ich geb' auf das alles nichts und werde das häßliche Freifräulein
von Staufenberg nie heiraten, das verspreche ich dir.«

»Aber dann wird aus unsrer Verlobung nichts!« seufzte Irma, »deine
Eltern werden nie ihre Einwilligung geben.«

Er nahm ihre kleinen Hände in die seinen und streichelte sie.

»Das werden sie sicher nicht, geliebte Irma, wenn wir sie ohne
weiteres mit dem =fait accompli= überfallen und erschrecken. Ich muß
sie ganz allmählich darauf vorbereiten, und dann werden sie ohne
Zweifel nachgeben. Wir müssen warten, das ist alles, um was ich dich
bitte. Hast du mich nicht so lieb, um etwas Geduld zu haben?«

»Aber meine Eltern und Großmama,« stammelte Irma.

»Glaube mir, Liebling. Durch zu frühes Reden würden wir alles
verderben. Wenn du mich liebst, so gelobe mir zu schweigen.«

Irma war sich innerlich bewußt, daß sie nicht recht tat, aber sie
vermochte nicht, seinem heißen Drängen zu widerstehen; sie war von den
äußeren blendenden Eigenschaften des jungen Barons so betört, daß sie
ihm schließlich alles versprach, sogar ein Stelldichein in der
nächsten Woche.

Solange sie bei ihm war, vergaß sie ihre Bedenken und gab sich dem
Glück des Augenblicks hin, aber als sie allein nach der Stadt
zurückkehrte, konnte sie sich eines Gefühls der Furcht und
Beklommenheit nicht erwehren. Zum erstenmal in ihrem Leben tat sie
etwas Heimliches, Unaufrichtiges, etwas, was die Ihrigen niemals
gutheißen würden.

Heftig erschrak sie, als in der Nähe ihrer Wohnung Agnes plötzlich auf
sie zutrat.

»Wo kommst du her, Irma? Ich war bei Großmama, die sagte mir, du
hättest mich zu einem Spaziergang abholen wollen. Wie ein Hase lief
ich nach Hause, dort hatte dich aber niemand gesehen.«

»Ich bin spazieren gegangen,« murmelte Irma.

Sie wurde furchtbar rot, und Agnes schaute sie verwundert und
forschend an.

»Allein?« fragte sie. »Und du sagst Großmama, daß du mich abholen
wolltest.«

»Ich ... ich bekam plötzlich Lust, allein zu gehen.«

»Wie komisch du bist! Was hast du? Was bedeutet das? Ich verstehe dich
nicht.«

»Mach doch nicht so 'nen Sums daraus,« rief Irma, in ihrer
Verlegenheit plötzlich sehr reizbar werdend und nicht mehr wissend,
wie sie sich herausziehen sollte. »Geht's dich was an, wenn ich mal
allein spazieren gehen will? Dir hab' ich doch keine Rechenschaft
abzulegen.«

»Aber Irma!« sagte Agnes, im höchsten Grade erstaunt und gekränkt.

Schweigend schritten sie nebeneinander her. Agnes war zu entrüstet, um
zu sprechen, aber als sie eine Weile später verstohlen nach ihrer
Cousine schaute, sah sie, daß diese bebte und ihr die Augen voll
Tränen standen. Sofort fühlte sie ihren Zorn schwinden.

»Irmachen,« begann sie freundlich. »Sag mir doch, warum du so betrübt
bist. Ich bin deine Freundin, mir kannst du vertrauen.«

Zum Glück befanden sie sich in einer stillen Straße, denn Irma konnte
ihre Tränen nicht mehr zurückhalten.

»Ich kann nicht, Agnes,« stammelte sie fast schluchzend, »frag mich
nicht.«

Die Andere forschte nicht weiter. »Komm mit zu mir,« bat sie. »Die
Eltern und Maud sind ausgegangen. Auf unsrem Zimmer kannst du dich
erholen.«

Irma folgte willig. Als sie in dem gemütlichen, hellen Mädchenstübchen
saßen, küßte Agnes ihre Cousine und fragte noch einmal teilnehmend:

»Kannst du mir wirklich nicht sagen, was dir fehlt, Liebling?«

»Ich kann nicht, ich darf nicht.«

Agnes schwieg.

»Gelobst du mir bei allem, was dir heilig ist, keinem Menschen ein
Sterbenswörtchen zu sagen?« flüsterte Irma.

»Das versteht sich wohl von selbst, ich bin doch deine Freundin.«

»Auch Ludwig nicht?«

Agnes zögerte. »Ist's etwas, was mich gar nichts angeht, Irma?«

»O gewiß, es geht einzig und allein mich an.«

»Nun, dann werde ich auch Ludwig nichts sagen.«

Irma legte ihr Köpfchen an Agnes' Schulter und begann flüsternd ihre
Erzählung, wie sie schon bei der Landpartie gemerkt habe, daß Baron
von Hochstein sie sehr reizend finde, wie er einige Tage später an
sie geschrieben und ihr seine Liebe bekannt, und wie sie nach
Verabredung eine rote Rose im Gürtel, am Fenster stehend, ihm ihre
Gegenliebe verraten habe. Auf sein wiederholtes Schreiben und
dringendes Bitten habe sie nach schwerem Gewissenskampf in ein
Stelldichein gewilligt und ihn heute nachmittag auf der Chaussee im
Walde getroffen.

Agnes' Gesicht verdüsterte sich immer mehr, aber sie sagte nichts.
Erst als sie hörte, was die Liebenden heute beschlossen hatten, rief
sie entrüstet:

»Aber Irma, wie konntest du das tun?«

»O, ich weiß, daß es schlecht war,« schluchzte das arme, kleine Ding.
»Aber ich hab' Otto so lieb. Du liebst Ludwig doch auch und mußt daher
mit mir fühlen können. Hättest du denn nicht ebenso gehandelt?«

»Ich!« rief Agnes. »Wahrscheinlich hätte ich ihm eine Ohrfeige
gegeben, ganz gewiß aber ihm den Rücken gekehrt. Was bildet er sich
ein? Wie darf er's wagen, dir geradezu zu sagen, daß du ihm nicht
ebenbürtig bist!«

»Aber bedenke doch, die Barone von Hochstein! So ein altadliges
Geschlecht! Noch nie ist in seiner Familie eine Mesalliance
vorgekommen. Er steht weit über mir!«

»Welch ein Unsinn!« entgegnete Agnes heftig. »Laß ihn mit seinem
altadeligen Geschlecht nach dem Monde gehen. Welcher verständige
Mensch legt in unsern Tagen Wert auf so etwas? Damit sollte er uns in
Amerika kommen! Er über dir stehen! Du bist im Gegenteil unendlich
erhaben über ihn, du, das Kind so genialer Eltern. Was haben seine
Eltern wohl je geleistet?«

»Er denkt gewiß ebenso. Wirklich, Otto ist nicht vorurteilsvoll, aber
seine Eltern sind doch nun einmal so furchtbar stolz.«

»Sprich mir nicht von Stolz! An deiner Stelle wäre ich viel zu stolz,
mich in eine Familie einzudrängen, die es wagte, auf mich
herabzusehen!«

Irma seufzte; sie hatte gehofft, Agnes würde die Sache ganz anders
auffassen, mehr mit ihr übereinstimmen und sich wohl gar geschmeichelt
fühlen, daß ein Baron ihrer Cousine seine Liebe gestanden hatte. Die
nüchterne, praktische Art, mit der die Amerikanerin diesen für Irma
doch so hochinteressanten Fall behandelte, enttäuschte sie sehr.
Nirgends sah sie Hilfe, nirgends einen Ausweg, und sie fing wieder an
bitterlich zu weinen.

Tränen waren etwas so Ungewohntes bei der sonnigen, lustigen kleinen
Irma, die immer lachte und von jedem auf den Händen getragen wurde,
daß Agnes plötzlich ein großes Mitleid mit dem armen Kinde fühlte.

»Weine nicht, Liebling,« sagte sie zärtlich. »Ich sehe ein, daß es
hart für dich ist, aber so kann die Sache nicht weitergehen. Du mußt
ihm schreiben, daß du keine heimlichen Zusammenkünfte mehr mit ihm
haben willst. Es ist unverzeihlich, daß du es schon einmal getan hast,
aber geschehene Dinge sind nicht mehr ungeschehen zu machen. Es ist
seine Pflicht gegen dich, sofort deinen wie seinen Eltern ein offenes
Geständnis abzulegen. Will er das nicht, so muß zwischen euch alles
aus und zu Ende sein.«

»Nein, um nichts in der Welt,« schluchzte Irma. »Ich liebe ihn, und er
liebt mich.«

»Seine Forderung beweist das Gegenteil,« versetzte Agnes entrüstet.
»Ich bitte dich, du wirst ihm doch kein Stelldichein mehr geben!
Versprich mir das.«

Irma schwieg.

»Du darfst es nicht. Und tust du es doch, so sag' ich's der Großmama.«

»Das wäre garstig von dir; du hast mir versprochen, es keiner
Menschenseele zu verraten.«

»Ja, das ist wahr, na, ich werd's auch nicht tun, du kannst mir
vertrauen, aber Irma, du handelst sehr unbesonnen.«

»Es wird schon alles recht werden,« sagte das junge Mädchen, in dem
Wunsche, ihren Otto und sich zu verteidigen. »Er sagt, die
Heimlichkeit würde nicht lange dauern, und er ist so edel, so
feinfühlig. Du mußt doch zugeben, Agnes, daß ich mein Wort nicht
brechen kann, ich hab's doch versprochen.«

Agnes war durchaus nicht einverstanden, merkte aber, daß Irma nicht zu
überzeugen war. Auch überlegte sie, daß, wenn sie ihrer Empörung über
Otto von Hochsteins Verhalten zu sehr Luft machte, Irma ihr das
Vertrauen entziehen würde. Und es war doch besser, daß jemand um die
unvorsichtigen Handlungen des kleinen Lieblings wußte, um ihn warnen
und überwachen zu können. Daher tröstete sie ihr Bäschen so gut es
ging, und gelobte aufs neue, das Geheimnis treu zu bewahren. Etwas
erleichtert und beruhigt ging Irma nach Hause, wo sie in ihrem
Leichtsinn sich einredete, keine Unwahrheit zu sprechen, als sie auf
Ilses Frage, ob sie bei Müllers gewesen sei, um Agnes abzuholen, mit
einem »ja, Großmama,« antwortete.

Einige Tage später kam Nachricht von Holtens aus München. Gustav,
dessen Name immer bekannter wurde, hatte sich um den Posten eines
Lehrers am Konservatorium in I. beworben und die Stelle erhalten. Das
war für einen jungen Mann von dreiundzwanzig Jahren ein großes Glück.
In sechs Wochen mußte er das Lehramt bereits antreten, und seine
Hochzeit sollte so bald wie möglich stattfinden, denn er wollte nicht
ohne Flora das neue Leben beginnen.

Großmutter Ilse schüttelte den Kopf.

»Sie sind ja beide noch Kinder. Die sollen schon heiraten? So
unerfahren, wie sie sind!«

»Aber du warst doch auch sehr jung, als du heiratetest, Großmama,«
wandte Irma ein.

»Ja, mein Kind, aber dein Großvater war ein anderer Mann als Gustav,
der ganz in seiner Kunst aufgeht und vom praktischen Leben keinen
Schimmer hat. Und Flora?«

»Es wird schon gehen,« meinte Irma, die über die Nachricht sehr
glücklich war. Die Aussicht, daß ihr Bruder in I. wohnen und sie
dadurch Gelegenheit haben würde, oft nach der Universitätsstadt zu
fahren, war himmlisch. Auf diese Weise würde es viel leichter sein,
Otto öfter zu sehen. Als sie Agnes ganz aufgeregt von diesem
Glücksfall Mitteilung machte, schüttelte das praktische, kluge Mädchen
sein weises Köpfchen.

»Es ist und bleibt verkehrt, und überdies, wenn Gustav in I. wohnt,
wird er bald etwas merken.«

»Gustav! der merkt nichts. Du weißt doch, wie verträumt er immer ist.
Glaubst du, daß er überhaupt noch an etwas anderes denken kann, als an
seine Musik und an Flora?« --

Die junge Braut kam nun wieder mit ihrer Mutter zu Gontraus auf
Besuch, um alles für ihre Aussteuer zu besorgen. Irma ging oft mit
nach I., und fand dann ab und zu Gelegenheit, Hochstein zu sehen. So
geschah es, daß die Kleine, -- bisher die Ehrlichkeit und
Aufrichtigkeit selbst -- Schritt für Schritt weiter in den Irrgarten
der Lüge und des Betrugs hinein geriet. -- Es kostete ihr keine große
Mühe mehr, ihre aufsteigenden Zweifel und Gewissensbisse zu
beschwichtigen und mit sich selbst Frieden zu schließen. Auch gab Otto
ihr immer von neuem die Versicherung, daß sie durchaus nichts
Unrechtes tue, indem sie vor ihrer Großmutter und ihren Eltern etwas
verbarg. Er verstand es, sehr besorgt und schön über Frau Gontrau zu
reden, die doch schon alt sei und sich ganz unnütze Sorgen machen
würde, wenn sie wüßte, daß der Baron und die Baronin von Hochstein
noch nicht ihre Einwilligung zur Verlobung gegeben hätten. Und Irmas
Eltern, die so fern von ihr weilten, würden sich auch nur unnötig
aufregen. Es war doch viel besser zu schweigen, bis die Geschichte
ganz in Ordnung käme, und daß dies bald geschähe, daran brauchte Irma
doch nicht zu zweifeln. So beruhigte sie sich immer wieder und fuhr
fort, wissentlich Unrecht zu tun, wobei sie sich trotzdem glückselig
fühlte. --

Flora und Gustav sollten kurz vor Weihnachten heiraten. Die ganze
Familie begab sich zu dem Feste nach dem Landgut, auf dem Flora Werner
wohnte.

Ilse war wehmütig bewegt, als sie das Haus wieder betrat, wo sie vor
vielen Jahren als junge Frau mit Nellie zu Gaste gewesen war. Wie
anders sah jetzt alles aus als damals! Die Besitzung hatte sich in den
letzten Jahren unter der Oberleitung von Hans ganz außerordentlich
gehoben und verschönt, und Flora, wenn sie auch nicht mehr so tätig
war wie früher, stand auch jetzt noch, wo sie konnte, den
Dorfbewohnern mit Rat und Tat bei. Ab und zu schrieb sie auch noch
Verse, und am Hochzeitsmorgen überraschte sie die junge Braut mit
einem langen Gedicht, das sie in der Nacht verfaßt hatte.

Es kam darin viel vor von Liebe und Kunst und herrlichem Beruf, von
Lorbeeren, die der Künstler ernte, und die er seinem angebeteten Weibe
zu Füßen lege. Die kleine Flora verstand zwar nicht viel davon, fand
es aber doch sehr schön.

In vollstem Glanze stieg die Wintersonne an dem Hochzeitstag des
jungen Paares empor. Die enge Dorfstraße, die der Festzug passieren
mußte, wimmelte von Menschen. Fast aus jedem Hause wehte eine Fahne,
und hier und da waren Ehrenpforten errichtet aus Tannengewinden, mit
bunten Papierrosen verziert. Bäume, Felder und Wiesen hatten sich in
ein fleckenloses Brautgewand gehüllt; die goldenen Sonnenstrahlen
spielten auf dem Schnee und streuten glitzernde Diamanten darüber aus.
An den funkelnden Farben, die sich über die blendend weiße Welt
ergossen, konnte das Auge sich nicht satt sehen. Das Innere der
kleinen Dorfkirche im Lichterglanz und Blumenschmuck war wie ein
Feenmärchen. Fast noch die reinen Kinder standen Gustav und Flora vor
dem Altar. Die junge Braut in einem einfachen weißen Kleide, die grüne
Myrtenkrone auf den goldschimmernden Flechten, und der schlanke
Bräutigam mit dem verzückten Blick und dem träumerischen, ernsten
Antlitz.

Die Freunde und Verwandten erschienen als gute Feen und Beschützer --
alle beseelt von dem innigsten Wunsch, das junge, eben verbundene Paar
möge so glücklich werden, wie es zwei Menschen, die sich lieben, hier
auf Erden nur sein können.

Auch Irma befand sich als Brautjungfer mit im Zuge. Ihr Brautführer
war ein junger Rechtsgelehrter, ein Freund der beiden Reichers.
Eigentlich hätte Hans sie führen müssen, aber seit Irmas Ankunft hatte
er nicht den geringsten Versuch gemacht, sich ihr zu nähern. Er war
sehr heiter, was sie mit Staunen wahrnahm, während sie in ihrer
unbewußten Eitelkeit geglaubt hatte, den armen Hans bedauern zu
müssen, weil er hoffnungslos in sie verliebt wäre. Er behandelte sie
höflich und freundlich, aber von der Verehrung, die er ihr noch vor
kurzer Zeit bewiesen, konnte sie nichts mehr entdecken. Sie behauptete
zwar, daß ihr das ganz gleichgültig sei, aber im Grunde fühlte sie
sich doch verletzt und ärgerte sich. Die Kleine, von allen verwöhnt
und bewundert, wußte, daß sie auffallend hübsch war -- ihre Umgebung
hatte ihr das nur zu oft gezeigt -- aber bis jetzt hatte das noch
keinen schlechten Einfluß auf ihren Charakter gehabt. Ihre Koketterie
war unschuldiger Art, seit jedoch Baron Hochstein ihr eitles Köpfchen
mit seinen Redensarten und Schmeicheleien verdrehte, bildete sie sich
ein, etwas ganz Besonderes zu sein, und fand es daher nicht mehr wie
recht und billig, daß Hans Reicher ihr Sklave und Anbeter bliebe,
vielleicht gar an seiner unglücklichen Liebe zu Grunde ginge. Wäre er
ihr mit einer Liebeserklärung lästig gefallen, würde sie ihn
jedenfalls ausgelacht haben, aber geschmeichelt hätte sie sich dadurch
doch gefühlt. Nun er ihr zeigte, daß er ohne sie leben konnte, grollte
sie ihm.

Hans war in seinen Gefühlen kein anderer geworden; er begriff jedoch,
daß die einzige Möglichkeit, auf ein Wesen wie Irma Eindruck zu
machen, darin bestand, ihr zu imponieren. Von Herzen gern wäre er zu
ihr gegangen und hätte sie beschworen, ihm gut zu sein, aber als er
ihr reizendes Gesichtchen erblickte, aus dem die kindliche,
unbefangene Lieblichkeit verschwunden war, kam ihm sein Stolz zu
Hilfe, er erwiderte ihre Spöttereien mit kühler Höflichkeit und
wendete sich zu Maud, in deren Gesellschaft er sich jetzt am
glücklichsten fühlte. --

»Hans ist einer der tüchtigsten jungen Leute, die ich je gesehen
habe,« sagte Maud, als sie alle wieder in F. waren. »Er ist ein ganzer
Mann, klug und bedächtig, einer, der weiß, was er will, wie mein John
auch. Damals im Sommer glaubte ich, er sei ernstlich in dich verliebt,
Irma. Wenn du ihn durch deine Koketterie abgeschreckt haben solltest,
würdest du mir leid tun, denn nicht jedes Mädchen findet einen solchen
Mann.«

Doch vor Irmas Seele tauchte in diesem Augenblick eine hohe,
aristokratische Gestalt auf, vornehm und elegant, mit der verglichen
Hans ihr wie ein Bauer erschien. Sie zuckte nur geringschätzig die
Achseln, als ob sie sagen wollte:

»Ich kann doch wohl noch etwas Besseres bekommen.«

»Kennst du das Märchen vom Schweinehirten, Irma?« fragte Onkel Heinz.

»Nein,« versetzte die Kleine, und da sie auf dem Antlitz des
Professors einen spöttischen Ausdruck sah, vor dem ihr unwillkürlich
bange ward, fügte sie hinzu:

»Und ich will es auch nicht kennen.«

»Aber ich,« fiel Agnes ein, »ich liebe Märchen über alles; als wir
Kinder waren, wollte Vater jedoch nicht, daß wir Märchen lesen oder
hören sollten; »das ist nur unpraktisches Zeug,« meinte er, »das euch
einen ganz falschen Begriff vom Leben gibt. Märchen, Balladen,
Legenden -- in Deutschland mögen sie am Platze sein, für Amerika
passen sie nicht.«

»Komm her, Irma,« nahm Onkel Heinz von neuem das Wort, »und hör' zu.«
Er ergriff ihr widerstrebendes Händchen und zog sie näher zu sich
heran. Die andern lachten über ihr böses Gesicht. Das kleine Fräulein
war in letzter Zeit oft so reizbar; aber hier gab es doch wirklich
keinen Grund, zornig zu werden.

»Es war einmal,« begann Onkel Heinz.

»Wie abgeschmackt,« schmollte Irma.

»Es war einmal ein armer Prinz[2], er besaß ein Königreich, welches
ganz klein war, aber doch groß genug, um sich darauf zu verheiraten,
und verheiraten wollte er sich.

  [2] Aus Andersens Märchen: Der Schweinehirt.

Freilich schien es etwas keck von ihm, daß er zur Tochter des Kaisers
sagte: 'Willst du mich haben?' Aber er wagte es doch, denn sein Name
war weit und breit berühmt; es gab hundert Prinzessinnen, die gern ja
gesagt hätten, -- ob sie es tat?

Auf dem Grabe seines Vaters wuchs ein Rosenstrauch, der blühte nur
jedes fünfte Jahr und trug dann auch nur eine einzige Blume, aber
diese eine Rose duftete so süß, daß jeder, der daran roch, allen
Kummer und alle Sorge vergaß. Der Prinz hatte auch eine Nachtigall,
die konnte singen, als ob alle schönen Melodien in ihrer Kehle säßen.
Diese Rose und diese Nachtigall sollte die Prinzessin haben, und
deshalb wurden sie beide in große silberne Behälter gesetzt und ihr
zugesandt.

Der Kaiser und der ganze Hof waren bei der Ankunft der Geschenke
zugegen; aber die Prinzessin war dumm, sie glaubte, es seien eine
künstliche Rose und Nachtigall, und als sie sah, daß es natürliche
waren, fand sie nichts Besonderes daran; sie zertrat die Rose und ließ
die Nachtigall fliegen und wollte nicht gestatten, daß der Prinz käme.

Dieser ließ sich jedoch nicht einschüchtern. Er bemalte sich das
Antlitz schwärzlich, zog die Mütze tief über die Augen, klopfte an die
Türe des kaiserlichen Palastes und fragte, ob er nicht auf dem
Schlosse einen Dienst bekommen könne.

Jawohl, er konnte die Schweine hüten. Er bekam eine jämmerlich kleine
Kammer, und da saß er nun den ganzen Tag und arbeitete, und als es
Abend war, hatte er einen niedlichen kleinen Topf gemacht; rings um
denselben waren Schellen, und sobald der Topf kochte, klingelten sie
schön und spielten die alte Melodie:

    Ach, du lieber Augustin,
    Alles ist weg, weg, weg!

»Das Stück kann ich auch spielen,« sagte die Prinzessin, die des
Abends mit ihren Hofdamen spazieren ging. »Fragt mal den
Schweinehirten, wieviel der Topf kostet.«

»Ich will zehn Küsse von der Prinzessin haben, für weniger tu ich's
nicht.«

Das war ein Schreck, es wurde gehandelt und gebettelt, aber der
Schweinehirt bestand auf seiner Forderung.

»In Gottes Namen,« sagte die Prinzessin zu ihren Begleiterinnen, »aber
ihr müßt dicht um mich herumstehen, damit mich wenigstens niemand
sieht.«

Die Hofdamen umringten sie, breiteten ihre Kleider aus, der
Schweinehirt bekam zehn Küsse, und sie erhielt den Topf.

Nun machte der geschickte Jüngling eine Spieldose, wenn die aufgezogen
wurde, spielte sie alle Walzer und Polkas, die auf der Welt
existieren.

»Das ist ja =superbe=,« rief die Prinzessin, »fragt ihn, was er dafür
haben will, aber küssen tu ich ihn nicht wieder.«

Der Schweinehirt verlangte hundert Küsse; da ging die Kaisertochter
böse fort.

Aber die Spieldose war doch zu wundervoll, und als die Prinzessin
einsah, daß der Schweinehirt sie nicht anders hergab, mußten die
Hofdamen wieder einen Kreis schließen, und sie ließ sich küssen.

»Was mag das wohl für ein Auflauf beim Schweinestall sein?« dachte der
Kaiser, der verwundert sah, wie alle Hofdamen auf einem Klümpchen
beisammen standen, und trotzdem er noch in Pantoffeln war, lief er
eilig hinunter, um zu sehen, was es gäbe.

Sobald er den Hof betrat, ging er ganz leise, und die Hofdamen hatten
so viel zu tun, die Küsse zu zählen, daß sie seine Anwesenheit nicht
bemerkten. Er erhob sich auf den Zehen und wurde so wütend, als er
sah, wie sich seine Tochter von dem Schweinehirten küssen ließ, daß er
beiden die Pantoffeln um die Ohren schlug und sie vom Hof
herunterjagte.

Da standen sie nun in Regen und Kälte, die Prinzessin weinte, und der
Schweinehirt fluchte.

»Ach, ich unglückliches Geschöpf,« schluchzte sie, »hätte ich doch den
Prinzen genommen und die Rose und die Nachtigall nicht fortgeworfen;
wie dumm bin ich gewesen!«

Der Schweinehirt ging hinter einen Baum, wischte sich das Schwarze aus
dem Gesicht, warf die schlechten Kleider von sich und trat nun im
fürstlichen Gewande hervor, so schön, daß die Kaisertochter sich
verneigen mußte.

»Ich will nichts mit dir zu schaffen haben,« sagte er. »Du wolltest
keinen ehrlichen Prinzen heiraten; die Rose und Nachtigall hast du
verachtet, aber den Schweinehirten konntest du um einer Spielerei
küssen. Das hast du nun davon!«

Dann ging er in sein kleines Königreich und schlug ihr die Türe vor
der Nase zu. Da konnte sie draußen stehen und singen:

    »Ach, du lieber Augustin,
    Alles ist weg, weg, weg!«

»Das war sehr hübsch,« meinte Irma mit erzwungenem Lächeln, »ich sehe
nur nicht ein, was dies Märchen mit mir oder Hans Reicher zu schaffen
hat.«

»Dann bist du gerade so dumm wie die Prinzessin,« versetzte der alte
Herr trocken, sie von sich weg schiebend.

Agnes blickte Irma vielsagend an, aber an diesem Abend fand sie keine
Gelegenheit, ihre Cousine allein zu sprechen.

Wußte Onkel Heinz am Ende gar, daß sie mit Otto von Hochstein im
geheimen Briefe wechselte, ihn auch mitunter an einem vorher
verabredeten Platze traf? Irma erbebte bei diesem Gedanken; sie fragte
Agnes, was sie davon dächte, aber diese meinte, Onkel Heinz ahne
nichts; denn wäre das der Fall, so würde er sicher mit der Großmama
darüber gesprochen haben; er sei doch nicht der Mann, so etwas zu
verschweigen. Nein, er zog nur seine Schlüsse aus Irmas Benehmen gegen
Hans und aus dem, was er bei der bewußten Landpartie beobachtet
hatte.

Trotzdem riet Agnes ihr, vorsichtig zu sein, und nahm gleichzeitig
nochmals die Gelegenheit wahr, ihr das Unrecht vorzuhalten. Sie
bemühte sich, Irma zu überzeugen, daß Otto es unmöglich gut mit ihr
meinen könne, wenn er fortfuhr zu verlangen, daß sie ihre nächsten
Angehörigen so hintergehen solle. Anfangs hatte er doch nur von
einigen Wochen gesprochen, bis es so weit sein werde, daß sie ihrer
Großmutter alles erzählen könne; nun waren bereits Monate ins Land
gezogen, und noch immer gebot er ihr Schweigen.

Unter Tränen und Seufzen mußte Irma zugeben, daß die Cousine recht
hätte; aber sie liebte Otto zu sehr, sie könnte nicht von ihm lassen,
sie würde sterben, wenn alles aus sein müßte.

»Unsinn,« wandte Agnes ein, »daß du großen Kummer haben würdest, will
ich glauben, aber an so etwas stirbt man nicht.«

»Wie kannst du so reden? Versetz' dich doch an meine Stelle. Würdest
du nicht sterben, wenn du Ludwig entsagen müßtest?«

»Nein. Ich würde sehr unglücklich sein; aber ich würde mich bemühen,
daran zu denken, daß es noch so viele gibt, die mich lieben: Eltern,
Geschwister, Freunde, und daß ich daher nicht das Recht hätte, mich so
ganz und gar meinem Schmerz hinzugeben.«

»Ach du,« nahm die Kleine wieder das Wort, »du bist verlobt und bist
doch so kalt, so scheußlich praktisch -- du weißt ja gar nicht, was
Liebe ist.«

»Möglich,« versetzte Agnes, »eins aber weiß ich wohl. Wenn Ludwig mich
überreden wollte, etwas Unredliches und Schlechtes zu tun, dann würde
ich ihn laufen lassen, und wissen, daß er nicht _der_ ist, für den ich
ihn hielt. Die Versicherung gebe ich dir -- und meinen Kummer würde
ich überwinden.«

Irma schwieg. Die widersprechendsten Gedanken stritten sich in ihrem
Köpfchen. Sie besaß genug gesunden Verstand, um sich bei ruhiger
Überlegung zu sagen, daß Agnes recht habe. Aber Otto war so schön, so
unwiderstehlich, er hatte ihr Herz ganz mit Beschlag belegt, und sie,
sie glaubte ihn wahrhaft zu lieben. Wie sehr sie auch an Großmama, den
Eltern und den andern hing, wenn sie Otto aufgeben müßte, würde deren
Liebe sie nicht zu trösten vermögen, und dann ... der Gedanke, Baronin
von Hochstein zu werden, war ihr in letzter Zeit immer lieber und
vertrauter geworden. Manchmal stellte sie sich bereits vor, wie es
sein würde, wenn sie als Ottos Frau ihren Platz in den glänzenden
Sälen des Schlosses seiner Ahnen, von dem er ihr solche Wunder
erzählte, einnehmen würde. Sie sah sich als Braut in der
Familienkapelle vor dem Altar, nicht in einfachem, weißem Nesseltuch
wie Flora, sondern in einem Kleide von Silberbrokat, mit funkelnden
Diamanten bestreut, und in ihrer Nähe, außer den eigenen Verwandten,
einen weiten Kranz hochadliger Damen und Herren, vornehme Offiziere
und Minister, die Brust mit Orden bedeckt. Ja, wer weiß, vielleicht
ließ sich der Kaiser gar durch einen seiner Adjutanten vertreten, denn
am Hof würde sie dann natürlich schon vorgestellt sein.

Es war hart, all diesen schönen Aussichten Lebewohl zu sagen, noch
härter aber, ihren glänzenden Studenten aufzugeben. Und doch, wenn sie
sich aus ihren Träumen in die Wirklichkeit zurück versetzte, vernahm
sie eine Stimme in ihrem Innern, die ihr zurief, daß ihr nichts andres
übrig bleiben werde. Sie seufzte tief und brach aufs neue in Tränen
aus.

»Aber was willst du denn? Was soll ich tun?« fragte sie endlich, als
Agnes sie in ihre Arme zog und sich bemühte, sie zu trösten.

»Ihn zum letzten Male fragen, ob du alles erzählen darfst, und wenn
er es nicht zugeben will, unwiderruflich und für immer Abschied von
ihm nehmen.«

»Ich kann nicht,« stöhnte Irma, »er wird mir böse werden und mir
vorwerfen, daß ich mein Versprechen nicht halte.«

»Wann hast du wieder eine Zusammenkunft mit ihm?«

»Morgen nachmittag.«

»Soll ich an deiner Stelle gehen und ihm sagen, wie der Hase läuft?«
fragte Agnes, mit einem streitlustigen Gesicht.

»Nein, ums Himmelswillen nicht! Er weiß nicht, daß du meine Vertraute
bist. Er würde mir das nie verzeihen.«

Agnes zuckte ungeduldig die Achseln. Noch eine Weile weinte Irma, dann
stand sie auf.

»Ich will es tun,« sagte sie, »du hast recht, es ist furchtbar, so
etwas vor Großmama geheim zu halten, aber verliere ich Otto, so sterbe
ich ganz gewiß.«

»Es stirbt sich nicht so leicht,« dachte Agnes, aber sie war klug
genug, das nicht zu sagen. »Hör' mal,« sagte sie laut, »ich will
morgen mit dir kommen; hab' keine Angst, dein Baron soll mich nicht
sehen, erst wenn eure Begegnung vorüber ist, wollen wir uns auf einem
vorher verabredeten Platze treffen und zusammen nach Hause gehen.«

Am folgenden Tage goß es in Strömen, die Straßen waren naß und
schmutzig, alles sah trostlos grau und düster aus. Eilig schritten die
beiden Mädchen nebeneinander her, bis sie die Chaussee erreichten.
Irma hatte fast kein Wort gesprochen und auf alles, was die Freundin
sagte, nur einsilbig geantwortet. Besorgt schaute letztere ihre
Cousine an. Selbst jetzt, in einem grauen Regenmantel gehüllt, ein
einfaches Filzhütchen auf dem Goldhaar, war die Kleine bildhübsch. Um
sie etwas aufzumuntern, scherzte Agnes:

»In meinem Regenmantel seh' ich aus, als ob ich in einem Sack
steckte; deiner steht dir famos, wie alles, was du anziehst.«

Selbst diese Schmeichelei, für die sie sonst nicht unempfindlich
gewesen wäre, lockte kein Lächeln auf Irmas Lippen. Ihre Mundwinkel
bebten und sie kämpfte sichtlich mit den Tränen.

»Nur Mut, nicht verzagt!« tröstete Agnes, »vielleicht läuft die Sache
gut ab. Wenn du ihm gehörig ins Gewissen redest, sieht er
wahrscheinlich selber ein, daß er nicht recht tut. Wer weiß, ob er dir
nicht erlaubt, noch heute deinen Eltern zu schreiben und der Großmama
alles zu sagen, dann wird in den nächsten Tagen deine Verlobung
angezeigt, und du gehst mit deinem schönen Baron Arm in Arm einher!«

Irma antwortete nichts, der Ton, in dem Agnes über Otto sprach,
ärgerte sie, aber sie fühlte sich zu unglücklich, um sich in ein
Wortgefecht einzulassen.

Sie hatten schon ein gutes Stück Weges zurückgelegt. Kein Mensch ließ
sich auf der Chaussee blicken; die kahlen Bäume tropften vor Nässe,
der Boden war durchweicht und schlüpfrig. Agnes schaute umher und
mußte leise lächeln. »Kein poetisches Wetter für ein Stelldichein,«
dachte sie, und hatte Lust, einige spöttische Bemerkungen zu machen,
bezwang sich aber, blieb stehen und sagte nur:

»Ich kehre um, Irma, denn Baron von Hochstein kann jeden Augenblick
erscheinen. Bei diesem Wetter hab' ich keine Lust, hier draußen auf
dich zu warten. Ich geh' in die Konditorei von Bauer. Komm mir dahin
nach, sobald du kannst.«

»Ja.«

»Wirst du's kurz machen?«

»Ja.«

»Und tapfer sein?«

»Ja.«

Agnes seufzte, gab ihrer Cousine einen Kuß und entfernte sich rasch,
denn sie glaubte in der Ferne die hohe Gestalt Hochsteins zu erkennen.
Nach einigen Minuten schaute sie sich um. Ein Gartenzaun entzog sie
den Blicken der beiden, sie selbst aber konnte deutlich sehen, wie
Irma und der Student unter einem Regenschirm zusammen weitergingen,
bis sie im nahen Wäldchen verschwanden.

Bedrückten Gemüts begab Agnes sich in die Konditorei. Zum Glück waren
keine Gäste dort. Sie setzte sich ans Fenster und bestellte Schokolade
und Kuchen. Irma würde gewiß verfroren und betrübt ankommen und ein
warmes Getränk ihr gut tun. Wenn sie jetzt nur tapfer war und fest
blieb, dann nahm diese ganze elende Geschichte ein Ende. Agnes fühlte
sich so zu sagen mitschuldig an dem Betrug, weil sie Schweigen gelobt
hatte, und doch sah sie ein, daß sie ihr Wort nicht brechen durfte.

Während sie bei sich das für und wider überlegte, verging die Zeit.
Sie sah nach der Uhr, eine halbe Stunde war schon verstrichen. Die
Schokolade wurde kalt, sie wollte frische bestellen, wenn Irma kam.
Himmel, wie lange dauerte das! Ob sie Abschied nahmen? Agnes fing an
unruhig zu werden und stand im Begriff, sich nach dem Ort des
Stelldicheins zu begeben. Da knarrte die Ladentür. Gott sei Dank, Irma
trat ein mit strahlendem Gesicht, glühenden Wangen und glänzenden
Augen. Agnes flog ihr entgegen.

»Ich brauche nicht zu fragen,« rief sie, »alles ist gut?«

Irma nickte, setzte sich an den Tisch und nahm sofort von dem Kuchen.

Agnes freute sich aufrichtig, Otto stieg in ihrer Achtung, und sie
bereute, daß sie ihm oft in ihren Gedanken unrecht getan hatte.

»Du mußt vergessen, daß ich an Otto zweifelte und sagte, er meine es
nicht gut mit dir. Ich sehe, daß ich mich geirrt habe,« sagte sie.

»Er ist ein Engel,« versetzte Irma, »wenn du ihn später kennen lernst,
wirst du das selber finden.«

»Na, das ist ja nicht gerade nötig, aber nun erzähle wie es war. Fand
er's gleich in der Ordnung, daß die Heimlichkeit aufhören soll? Hat er
wohl gar schon mit seinen Eltern gesprochen? Wann wird eure Verlobung
veröffentlicht?«

Irma hatte den dritten Kuchen verzehrt, schob nun den Teller zurück
und rührte nachdenklich in der Schokolade.

»Otto sieht sehr wohl ein, daß dieser Zustand auf die Dauer unhaltbar
ist,« begann sie, »daher begreift er auch, daß ein Ende damit gemacht
werden muß.«

»Recht so. Ich fürchte nur, Irma, Großmama wird doch ein bißchen böse
auf dich sein, aber du bist ihr Liebling, da wird sie's schon
verzeihen. Du sagst es ihr doch natürlich noch heute?«

»Nein, heute nicht.«

»Was?« Agnes fiel wie aus den Wolken.

»Nein,« fuhr Irma etwas nervös und gereizt fort. »Du brauchst dich
nicht gleich zu ereifern. So rasch geht das nicht. Otto muß erst eine
günstige Gelegenheit abwarten, seine Eltern vorzubereiten.«

»Himmel, Irma, was hat er dir denn wieder vorgeflunkert? Das ist ja
immer die alte Leier.«

»Die alte Leier. Hör' mal, du hast selbst gesagt, daß du Otto unrecht
getan hast; nun fängst du schon wieder an.«

»Ich höre,« versetzte Agnes, mit einem Gesicht, auf dem Ungeduld und
Entrüstung deutlich zu lesen standen.

»In drei, höchstens vier Monaten macht Otto sein Examen. Daß er
durchkommt, ist sicher, er ist ja so klug. Seine Eltern werden riesig
erfreut sein, denn in den ersten Semestern hat er viel gekneipt und
gebummelt, aber wenig studiert. Wenn er durchkommt, kann er von seinen
Eltern verlangen, was er will -- dann will er ihnen alles sagen, und
es unterliegt keinem Zweifel, daß sie ihre Einwilligung geben.«

»Und in der Zwischenzeit?«

»Bleibt alles natürlich, wie es ist. Was bedeuten drei bis vier
Monate? Nun wir wissen, daß es nur noch so kurze Zeit dauert, wäre es
doch mehr als dumm, alles durch zu frühe Veröffentlichung aufs Spiel
zu setzen.«

Agnes sagte nichts. Sie stand auf und bezahlte, was sie verzehrt
hatten. Dann setzte sie sich noch einmal, schwieg aber.

»Warum sagst du nichts?« fragte Irma endlich mit bedrückter Miene.

»Ach, du lieber Augustin, alles ist weg, weg, weg,« sang die andere.

»Agnes,« rief Irma zornig, »du bist unausstehlich!«

»Bin ich? So? Na, dann wollen wir nur nach Hause gehen, mein armes,
dummes Prinzeßchen.«

Die Kleine war sehr böse. Mit stolz erhobenem Haupte schritt sie neben
ihrer Cousine her und sagte ihr sehr kühl Lebewohl, als sie an ihrer
Wohnung angelangt waren.

Einige Tage später erhielt Frau Gontrau einen Brief von ihrem Großsohn
Gustav von Holten, mit der Bitte, ihm Irma doch einige Wochen nach I.
auf Besuch zu schicken. Er selbst wäre durch seine rege
Berufstätigkeit viel von Hause fort und sein noch so wenig an das
Stadtleben und die neue Umgebung gewöhntes Frauchen fühle sich ein
bißchen einsam. Es wäre daher herrlich, wenn sie für eine Zeitlang
Gesellschaft bekäme.

Das Blut stieg Irma in die Wangen, und ihre Augen glänzten vor Freude.
Wie entzückend in I. auf Besuch zu sein und dort vielleicht Otto
häufig zu begegnen!

»Möchtest du gerne hin, Kindchen?« fragte Ilse.

»Ach, wie gern, Großmama! Aber dann bist du so allein!«

»O, das tut nichts, ich kann mich schon beschäftigen, und seit Müllers
hier wohnen, habe ich ja immer Gesellschaft.«

»Das ist wahr. Agnes und Maud können dich alle Tage besuchen.«

»Gewiß, mein Liebling, und dann ist noch Onkel Heinz da, so wird mir's
an Unterhaltung nicht fehlen. Ich glaube, daß es auch für dich heilsam
ist, einmal in andre Umgebung zu kommen, Irma, denn du siehst in der
letzten Zeit nicht gut aus; auch hast du dich überhaupt sehr
verändert.«

»Aber Großmama,« sagte die Kleine mit erzwungenem Lächeln und
klopfendem Herzen.

Ilse streichelte das blonde Gelock ihrer Enkelin und küßte sie. »Du
hast doch nichts, was dich bekümmert?«

»Gewiß nicht, Großmama; wie kommst du nur darauf?«

»Ich beobachte dich, mein Liebling, und finde, daß du oft so sonderbar
bist. Weißt du, was ich mir einbildete?«

»Nein, wie sollte ich das wissen?«

»Daß der schöne Student, der auf unsrer Landpartie so aufmerksam gegen
dich war, tieferen Eindruck auf dich gemacht hat, und daß du dich
unglücklich fühlst, weil er seitdem nichts mehr von sich hören ließ.«

Im Zimmer herrschte Dämmerung, und Irmas Köpfchen lag an Ilses
Schulter. So konnte die Großmama die Schamröte nicht sehen, welche die
Wangen der Enkelin bedeckte, als diese zögernd erwiderte:

»Aber Großmama, wie hast du dir nur so was in deinen lieben, alten
Kopf setzen können?«

»Nicht wahr, Kindchen? Sie haben mir bange gemacht, Onkel Heinz und
deine Mama, die in jedem Brief fragte, ob ich nichts von jenem Baron
gesehen habe; und dann, wie ich schon erwähnte, warst du mitunter so
sonderbar; aber ich glaubte, wenn etwas derartiges wäre, würde mein
Kind mir's doch sagen, denn nicht wahr, Irma, du hast Vertrauen zu mir
und läßt mich an deiner Freude, wie an deinem Kummer teilnehmen?«

»Natürlich, Großmama.«

»Also war's nur eine Aufwallung, eine vorübergehende Verliebtheit! In
Wirklichkeit hast du dir nie etwas aus dem Baron gemacht?«

»Nein.«

»Ich bin so froh darüber und fühle mich nun ganz beruhigt. Daraus
hätte doch nie etwas werden können. Die Barone von Hochstein halten
sich ja für ganz besonders vornehm. Ich bin dankbar, mein Liebling,
daß dieser Kummer dir erspart geblieben ist.«

Irma begab sich in ihr Zimmer, warf sich auf ihr Bett und schluchzte,
als sollte ihr das Herz brechen. Sie kam sich so schlecht vor, so
heuchlerisch und doppelsinnig, daß sie einen Ekel vor sich selber
empfand und im Begriff stand, wieder hinunterzugehen und ihre Schuld
zu gestehen. Aber dann fiel ihr ein, wie Otto gesagt hatte, daß dies
unwiderruflich alles verderben würde. So beschwichtigte sie ihr
Gewissen, indem sie sich vorhielt, es werde ja nur noch ein paar
Monate dauern. Dann durfte sie alles beichten und um Verzeihung
bitten, daß sie die Großmama in dieser Weise hatte hintergehen müssen.

       *       *       *       *       *




Als Irma in I. aus dem Coupé stieg, schaute sie sich überall nach
Gustav und Flora um, aber niemand war zu erblicken. Etwas enttäuscht
nahm sie sich eine Droschke und ließ sich nach der kleinen, dicht vor
der Stadt gelegenen Villa fahren, welche ihr Bruder bewohnte.

Es war ein schöner Tag zu Ende Februar; wie holde Frühlingsahnung zog
es durch die Luft. Hier und da fingen einige geschützt stehende Büsche
an zu knospen, und in dem Gärtchen vor dem Hause blühten gelbe und
lila Krokus. Die Villa sah allerliebst aus; von dem hell gestrichenen
Giebel hob sich der Fenster und Türen umrankende Efeu malerisch ab.

Irma klingelte, mußte aber lange warten; erst als sie zum zweiten Male
die Glocke zog, wurde geöffnet, und eine mürrische Stimme brummte:

»Es wird doch wohl nich so 'ne Eile haben, ich komm schon.«

Eine dicke Dienstmagd in den fünfziger Jahren, mit aufgedunsenem,
frechem Gesicht, pechschwarzem Haar und einem Anflug von Schnurrbart
auf der Oberlippe ward sichtbar. Sie trug ein dunkles Wollkleid, aus
dessen kurzen Puffärmeln die drallen, feuerroten Arme wie fest
gestopfte Würste zum Vorschein kamen. Der Boden dröhnte unter ihren
Schritten, und sie hatte ganz und gar das Aussehen eines verkleideten
Dragoners.

»Ist die gnädige Frau zu Hause?« fragte Irma erschreckt und kleinlaut
beim Anblick dieser martialischen Erscheinung.

»Jawohl.«

»Sagen Sie ihr, daß ich angekommen bin, Fräulein von Holten, die
Schwester des Herrn.«

»Nicht nötig,« damit deutete sie auf eine Tür am Ende des Korridors.
Diesem gebieterischen Winke gehorchend, beeilte Irma sich an die
bezeichnete Türe zu klopfen. Kein »Herein« ertönte; sie schaute sich
hilflos um, aber das Mannweib war verschwunden. Irma öffnete, prallte
indes sofort zurück, denn das ganze Zimmer war mit Rauch erfüllt, der
Qualm trieb ihr Tränen in die Augen und reizte sie zum Husten. Als sie
nach einigen Augenblicken zögernd eintrat, konnte sie ein geräumiges
Gemach unterscheiden, mit eleganten, ganz modernen Möbeln. Sie sah
Vorhänge und Wandbekleidungen von hellgrüner Seide, mit stilisierten
Blumen durchwirkt, überall in künstlerischer Unordnung durch den
ganzen Raum verstreut Büsten, Bilder und Kunstwerke jeder Art. Was
Irma aber am meisten in Erstaunen setzte, war Flora selbst, die in
einem lose hängenden, weißen Gewande vor dem Ofen kniete und
augenscheinlich die verzweifeltsten Anstrengungen machte, das Feuer
anzuzünden; es wollte nicht brennen, dicke blaue Rauchwolken stiegen
aus den Steinkohlen in die Höhe und hüllten die junge Frau vollständig
ein.

»Mein Himmel, Flora, was treibst du da?« rief Irma.

Die Angerufene kehrte sich um, ganz entsetzt beim Anblick ihrer
Schwägerin.

»Ach Gott, ist's schon so spät? Ich wollte dich von der Bahn abholen
und habe gar nicht auf die Zeit geachtet. Was soll ich nun machen? Das
eklige Feuer will und will nicht brennen.«

»Eine nette Begrüßung,« meinte Irma lachend. »Komm aber wenigstens mal
her und gib mir einen Kuß, und dann wollen wir das Fenster aufreißen,
denn in diesem Rauch ersticken wir ja.«

»Wenn ein Luftzug hereinkommt, werden die Kohlen erst recht nicht
anbrennen.« Und sofort kehrte Flora zum Ofen zurück.

»Aber Kind, warum rufst du nicht das Mädchen?«

»Ach, Irma, ich getraue mich nicht. Vor ein paar Stunden brannte das
Feuer ganz gut; ich habe vergessen danach zu sehen, und nun wage ich
nicht, sie noch einmal zu bemühen. Sie würde böse werden, und ich hab'
solche Angst vor ihr.«

»Wenn es das Wesen ist, das mir aufmachte, dann glaube ich dir's. Die
sah ja aus wie ein Mann. Wie konntest du nur so ein Mädchen nehmen,
Flora?«

»Ach, sprich nicht davon; wir sind zwei Monate verheiratet, und dies
ist schon die Fünfte.«

»So? Wie kommt denn das?«

»Ich weiß es nicht,« klagte Flora, immer noch das Feuer anblasend.
»Ich glaube, ich verstehe nicht mit ihnen umzugehen. Die erste, die
wir hatten, radelte leidenschaftlich und wollte nicht kochen; dann kam
eine, die stahl wie ein Rabe, in zwei Tagen war das Wirtschaftsgeld
alle, ohne daß ich es ausgegeben hätte; die dritte ging in einem
meiner Kleider und mit meinem Hut spazieren; die vierte hatte eines
Tages ihren Schatz und noch fünf oder sechs Soldaten in der Küche. Von
dieser glaube ich, daß sie trinkt, denn sie flucht entsetzlich, und
ich habe schreckliche Furcht vor ihr.«

»Und Gustav?« fragte Irma, die trotz allem lachen mußte.

»Ach, du siehst doch wohl ein, daß ich ihm mit dieser häuslichen
Misere nicht lästig fallen kann. Er findet es so wie so schon
merkwürdig, alle Augenblicke ein andres Gesicht zu sehen. Der Haushalt
und das Mädchen gehören doch zu meinem Wirkungskreis.«

Das offenstehende Fenster schien dem Feuer bekömmlich zu sein; der
Rauch verzog sich, und die Kohlen fingen an zu brennen. Mit einem
Seufzer der Erleichterung stand Flora auf.

»Gott sei Dank,« sagte sie. »Es ist ja sehr schönes Wetter, aber ohne
Feuer geht es doch noch nicht.«

»Warum hast du keine Füll- oder Gasöfen?« fragte Irma, »dann
brauchtest du dich gar nicht darum zu kümmern.«

»Ach, die mag Gustav nicht. Er sagt, das sind häßliche,
unkünstlerische Dinger; er will das Feuer und die Flammen sehen, das
bringt ihn auf gute Gedanken und regt ihn an.«

»So! Aber sag' mal, Flora, du siehst eigentlich sonderbar aus. Gehst
du immer in solch einem weißen Kleide?«

Floras Toilette war in der Tat höchst eigenartig. Ihr langes,
schleppendes, weißes Gewand, am Halse ein wenig ausgeschnitten, mit
weiten, hängenden Ärmeln, und ihr blondes, aufgelöstes Haar, das nur
von einem schmalen, goldnen Bande zusammengehalten wurde, erinnerten
sehr an Theater oder Maskenball.

»Findest du es nicht schön?« fragte sie, indem sie sich um sich selbst
drehte, damit Irma sie von allen Seiten bewundern könne.

»Ja, es steht dir sehr gut, aber es ist doch ein bißchen komisch, sich
so zu kleiden; ich finde es geziert und auffallend.«

»Gustav hat's gern, wenn ich mich so kleide und das Haar aufgelöst
trage; dann bin ich in seinen Augen Elsa.«

»Wird er nun bald als Schwanenritter erscheinen?« fragte Irma
spottend.

»Nein, das geht natürlich nicht, aber Gustav sagt, die Menschen, die
alles, was ein bißchen vom Althergebrachten abweiche, geziert fänden,
seien eben ganz und gar nicht künstlerisch veranlagt.«

Irma schaute ihre junge Schwägerin erstaunt an; aber sie sah sofort
ein, daß Flora nicht beabsichtigt hatte, ihr etwas Anzügliches zu
sagen. Sie wiederholte nur die Worte ihres Gatten wie eine auswendig
gelernte Aufgabe.

Sie gingen jetzt zusammen nach oben, und Irma mußte das ganze Haus
bewundern. Die Einrichtung war wirklich höchst geschmackvoll, aber
sämtliche Zimmer und Schränke zeigten die Spuren weitgehendster
Unordnung. Die mit hellen Seidenstoffen bezogenen Sessel und Sofas
waren voll Flecken, und die unglaublichsten Dinge lagen überall umher.
Im Schlafzimmer waren Notenbücher über den Boden verstreut, und auf
dem ungemachten Bett mit herunterhängender Spitzendecke lagen
Schreibmaterialien neben einem halb beschriebenen Notenblatt. Gustav
hatte beim Ankleiden eine Eingebung gehabt und sofort seine Gedanken
zu Papier gebracht, dann aber keine Zeit gefunden, die Arbeit
durchzusehen. Nun durfte niemand daran rühren, ehe er heimkehrte. Irma
war gewiß keine vollendete Haushälterin, aber bei Großmama Gontrau
herrschte eine so tadellose Ordnung und anheimelnde Gemütlichkeit, daß
sie sich unwillkürlich über dies tolle Durcheinander ärgerte.

»Wie kommt es, Flora, daß deine schönen Stühle schon so arg schmutzig
sind?« fragte sie, als sie wieder unten waren.

»O, das haben die abscheulichen Mägde getan,« versetzte Flora. »Sag
mal, Irma,« fuhr sie, ihre Schwägerin mit großen, erschrockenen Augen
ansehend, fort, »findest du es hier nicht nett?«

»Na, um der Wahrheit die Ehre zu geben, wenn ich erst so kurze Zeit
verheiratet wäre und so viele schöne Sachen hätte, würde ich sie doch
mehr in acht nehmen.«

»Ich tue, was ich kann,« sagte Flora ernst, »aber es ist so schwer.
Gustav meint, es käme darauf nicht an. Er selbst ist so zerstreut, er
denkt nur an seine Musik, ist nie bei der Sache. Gestern z. B. goß er
den Wein auf die Teller statt in die Gläser; er nimmt allerhand Dinge
mit nach oben, die nicht in die Schlafstube gehören, und vergißt sie
an ihren Platz zurückzustellen; ich will gern alles in Ordnung
halten, aber ich bin so nervös, mache häufig Flecken, und zerbreche
viel.«

»Das ist sehr schade,« meinte Irma.

»Das ärgste aber von allem sind die Dienstmädchen. Ich glaube, diese
Lisa ist die fürchterlichste, die ich noch gehabt habe. Stelle dir
vor, morgens tritt sie bei mir an und fragt mich allerlei, was ich
nicht weiß. Ich habe doch keine blasse Ahnung, wieviel Fleisch oder
Fisch oder Gemüse oder Butter ich brauche, und die Preise kenne ich
erst recht nicht. Verstehst du das alles?«

»Alles nicht, aber so 'ne schwache Idee habe ich doch davon.«

»Ich nicht. Großmama Flora sagte immer, der Haushalt ginge von selbst,
den brauchte man nicht zu lernen. Mama hat zwar in letzter Zeit
versucht, mir einiges zu zeigen, aber ich war so von meiner Liebe zu
Gustav erfüllt, daß ich nicht aufpaßte. Nun tut mir das leid. Jetzt,
wo du hier bist, kannst du mich belehren, ja?«

»Viel wird das nicht sein; aber so gut ich kann, will ich dir gern
helfen.«

»Wirst du dich auch vor Lisa fürchten?«

»Nein, sie ist doch nur die Magd.«

In diesem Augenblick trat die, von der sie soeben gesprochen, ins
Zimmer.

»Es ist Zeit, den Tisch zu decken,« sagte sie barsch, und dann fuhr
sie, zu Flora gewendet, fort:

»Geben Sie mir die Schlüssel zum Wäscheschrank und zum Weinkeller.«

Irma gab ihrer Schwägerin einen Wink, daß sie es verkehrt finde, dem
Mädchen die Schlüssel zu überlassen, wandte sich aber verlegen ab und
betrachtete aufmerksam einen Kupferstich an der Wand, als Lisa sie mit
herausforderndem Blick ansah, und die Hände in die Seiten stemmte.

Die Magd füllte die ganze Stube mit ihren schwerfälligen, plumpen
Bewegungen und ihrer Riesengestalt aus. Dröhnend ging sie hin und her
und schaute immer wieder so drohend nach der Türe, daß den beiden
Kindern angst und bange wurde, und sie, der gleichen Empfindung
folgend, zusammen das Zimmer verließen.

Gustav kam nach Hause. Er hatte sich, seit Irma ihn zuletzt gesehen,
wenig verändert. Seine träumerischen Augen starrten wie immer ins
Blaue hinein. Sein Haar war gewachsen und ringelte sich bis in den
Nacken. Er trug eine kurze Samtjoppe, einen Umlegekragen und eine
breite, flatternde Krawatte. Als er eintrat, flog Flora ihm entgegen,
und ohne von seiner Schwester die geringste Notiz zu nehmen, schloß er
sein Weibchen in die Arme und küßte es. Diese Umarmung dauerte
mindestens fünf Minuten. Irma vernahm alle möglichen Ausrufe, wie:
»Mein blondgelockter Engel! Meine Elsa! Meine reine, weiße Lilie!« --
und: »Mein Held! Mein Künstler! Mein liebes Männchen!« &c. Ihr wurde
ganz schwach, und endlich rief sie:

»Hört mal, ich bin auch noch da!«

Nun hieß Gustav sie herzlich willkommen und ging dann in sein Zimmer.
Auch hier herrschte eine geniale Unordnung. Stöße von Musikheften
bedeckten den Flügel sowie sämtliche Stühle und selbst die Erde, sodaß
es eine Kunst war, einen Weg durch dies Chaos zu finden.

Die gefürchtete Lisa meldete, daß das Essen fertig sei.

»Ich will nicht, daß alles kalt wird,« fügte sie hinzu; »sagen Sie
also dem Herren, er soll gleich kommen.«

Gehorsam ging Flora, um ihren Mann zu rufen; er saß am Flügel und
spielte. In den ersten zehn Minuten gab er auf die Bitte seiner jungen
Frau überhaupt keine Antwort.

Endlich, als sie es wagte, leise näher zu treten und ihn auf ihre
Anwesenheit aufmerksam zu machen, stand er träumerisch auf, fuhr mit
der Hand durch sein langes Haar und folgte ihr.

Lisa brachte das Essen herein und bediente mit einem Gesicht wie eine
dräuende Gewitterwolke. Das Mahl war gut zubereitet, aber es wurde in
solchen Mengen aufgetragen, daß noch mindestens zehn Personen hätten
mitspeisen können. Irma machte ein sehr erstauntes Gesicht.

»Was für ein kolossaler Rinderbraten, der würde für ein Waisenhaus
genügen,« sagte sie, als Lisa das Riesenstück auf den Tisch stellte.

Das Mädchen warf ihr unter gerunzelten Brauen einen wütenden Blick zu,
und Flora winkte ihr erschrocken, sie möchte schweigen.

»Aber Kind,« begann Irma, als das Schreckgespenst das Zimmer verlassen
hatte, »warum bestellst du solche Riesenbraten? Nun müssen wir die
ganze Woche von kaltem Fleisch leben.«

»O nein, davon ist morgen nichts mehr übrig.«

»Was!« rief Irma, mit vor Staunen weit aufgerissenen Augen.

»Ja, wo es hinkommt, weiß ich nicht.«

»Aber das ist doch unmöglich. Wir drei zu Hause essen nicht den
zehnten Teil von dem, was hier aufgetischt wird; wo bleiben denn die
Reste?«

»Auf den Tisch kommt nichts mehr davon.«

»Aber dann bringt Lisa sie beiseite.«

»Ums Himmels willen, sei doch still. Wenn sie das hörte!«

»Na, es ihr ins Gesicht zu sagen, würde ich freilich nicht wagen. Aber
Gustav, du, der Herr des Hauses, solltest doch das Mädchen zur Rede
stellen.«

»Um was handelt sich's denn?« fragte Gustav, der in seiner
zerstreuten Art aß, auf nichts achtete, was um ihn her geschah, und
nicht hörte, was gesprochen wurde.

Irma legte ihm den Fall vor.

Er schaute ebenso hilflos drein, wie sein kleines Frauchen, und sagte
freundlich:

»Meine liebe Irma, was können wir da machen?«

»Nun, aufpassen und wenn nötig, sie ins Verhör nehmen.«

»O nein, das Frauenzimmer würde heulen, schreien und fluchen. Ich
finde sie schon schrecklich genug, mit ihrer lauten Stimme und ihren
unschönen Bewegungen. Ich möchte so gern ein Mädchen haben, das mit
Floras poetischer Erscheinung mehr im Einklang stände. Was sie aber
mit dem übriggebliebenen Essen macht, kann mir doch ganz egal sein.«

»Wenn du nach dem Mittagessen alles an einen bestimmten Platz stellen
ließest, Flora.«

»O, liebste Irma, hier im Hause hat nichts seinen bestimmten Platz.«

»Du mußt meinem kleinen Liebling keinen Schreck einjagen,
Schwesterchen,« sagte Gustav. »Sie bemüht sich nach Kräften, und ich
habe ein bißchen geniale Unordnung gern.«

»Aber auf diese Weise seid ihr bald bettelarm.«

»Ach nein, wir besitzen noch einen großen Haufen Geld, und wenn das
alle ist, komponiere ich meine neue Oper; mir stecken ja so viel Ideen
und Melodien im Kopf. Und dann werden wir wieder reich, gelt,
Florchen?«

Beide lachten so sorglos und herzlich, daß Irma, die von Natur
wahrhaftig nicht ernst angelegt war, lustig mit einstimmte.

Ein paar Tage später wurde sogar Gustav aus seiner behaglichen
Gleichgültigkeit wachgerüttelt. Seine Frau war mit Irma spazieren
gegangen. Als er nach Hause kam, stand ein Haufen Menschen vor der
Türe der kleinen Villa, und über dem Dach schwebte eine dichte
schwarze Rauchwolke.

»Es brennt,« rief es von allen Seiten, und bei seinem Eintritt schlug
ihm ein erstickender Qualm entgegen. Es war ein Schornsteinbrand, und
in der Küche saß die gefürchtete Lisa mit dem Kopf auf dem Tisch und
schnarchte, während eine geleerte Kognakflasche und ein Glas daneben
deutlich erkennen ließen, woher sie so zur Unzeit ein Bedürfnis nach
Ruhe überkommen hatte.

Fremde Leute drangen ins Haus; die Feuerwehr und die Polizei wurden
alarmiert. Gustav war später außer Stande zu erzählen, wie alles sich
zugetragen hatte; aber als Flora und Irma heimkehrten, fanden sie in
der Küche eine fürchterliche Unordnung, und Lisa war von der heiligen
Hermandad mit Sack und Pack aus dem Hause geschafft worden. Nur in
höchst unzusammenhängender Weise vermochte Gustav ihnen das Geschehene
zu erklären; dann standen sie alle drei und schauten sich bestürzt an,
bis Flora endlich erleichtert aufatmete und Gott dankte, daß Lisa fort
war, denn sie würde nie den Mut gefunden haben, ihr zu kündigen.

An diesem Mittag speisten sie in einem Restaurant und unterhielten
sich köstlich. Am folgenden Morgen machten Irma und Flora die Betten
und lachten sich über ihre Ungeschicklichkeit gegenseitig aus. Während
ihnen bei ihrer ungewohnten Beschäftigung die Stunden im Fluge
vergingen, waren sie ausgelassen lustig, wie zwei Kinder, die das
Wirtschaften als Spiel betreiben, bis Gustav heimkehrte und ihnen
erzählte, daß des Abends eine Anzahl Herren zum Musizieren kommen und
zum Nachtessen bleiben würden.

Irma prustete los, aber Flora machte ein ganz entsetztes Gesicht.

»Männchen, wie konntest du sie heute einladen? Wir haben doch noch
kein Mädchen, es ist unmöglich.«

»Daran hab' ich nicht gedacht,« versetzte Gustav ganz geknickt. »Aber
absagen kann ich nicht. =Dr.= Schweinfurt und der Direktor des
Konservatoriums, Raabe, wollten so gern deine Bekanntschaft machen;
sie bringen beide ihre Frauen mit.«

»Wie soll das nur werden?«

»Das weiß ich nicht, Kindchen, denke dir etwas Gescheites aus.« Doch
Flora war nicht erfinderisch. Hülflos schaute sie sich um, und das
Weinen war ihr näher als das Lachen.

»Bist du ängstlich,« rief Irma, »deshalb gleich den Kopf hängen zu
lassen. Weißt du was, ich werde mich als Magd verkleiden, den Gästen
aufmachen und sie bedienen. Das kann einen köstlichen Spaß geben. Wir
wollen uns gleich an die Arbeit machen.«

Gustav stimmte diesem Plane freudig zu, und die beiden jungen Damen
begaben sich an die Ausführung. Er sollte im Musikzimmer aufräumen,
aber als nach einer Stunde Irma einmal sehen wollte, was er eigentlich
trieb, fand sie ihn auf der Erde sitzend und in einer interessanten
Partitur blätternd, die er unter den Notenheften gefunden hatte.
Darüber hatte er natürlich alles vergessen, auch die ihm aufgetragene
Arbeit.

Irma zupfte ihn an den Ohren und rief Flora herbei. Zuerst bekam er
tüchtig Schelte, dann wurde im Rat der Frauen beschlossen, ihn
auszuschicken, um die Einkäufe zu besorgen, denn hier im Hause würde
er den Wirrwarr doch nur vergrößern. Sie gaben ihm einen Zettel, auf
dem alles, was sie zum Abendessen brauchten, verzeichnet stand, und er
ging willig fort, mit dem Versprechen, nichts zu vergessen.

Nun machte Irma sich mit vollem Ernst ans Werk, und Flora half tapfer.
Das Musikzimmer und der Salon wurden aufgeräumt, das heißt, alles was
nicht hinein gehörte, hinter die großen Möbelstücke gepackt. Als der
Berg von Büchern, Zigarrenkisten und andern Gegenständen so mächtig
anwuchs, daß er drohte, über den Flügel und das Sofa hinauszuragen,
warf Irma mit anmutiger Nachlässigkeit einen bunten Teppich darüber,
der nach Floras maßgebender Meinung in der Ecke eine sehr hübsche
Wirkung hervorbrachte. Inzwischen kehrte Gustav heim, gefolgt von
einem kleinen Jungen, der einen Korb mit allerhand guten Sachen trug;
der Hausherr wurde gelobt und abermals ausgeschickt, um einige Blumen
zu besorgen. Er kam mit einer Menge von lila und weißem Flieder,
duftenden Maiglöckchen und großen Büscheln Goldregen zurück, die er
selbst, höchst künstlerisch, in den schlanken Vasen ordnete. Es sah
wirklich alles sehr hübsch aus. Im Eßzimmer wurde die Tafel gedeckt.
Flora wußte von keinem Geschirr, wo es seinen Platz hatte; die
Champagnergläser fanden sich im Wäscheschrank, und das blaue Porzellan
stand unter dem Bett; auch entdeckten die jungen Eheleute bei dieser
Gelegenheit, daß schon vieles fehlte und verschiedene Dinge zerbrochen
waren, aber das regte sie weiter nicht auf. In der Küche herrschte
solch ein Durcheinander, daß Irma erklärte, sie wollten nur die Türe
zulassen und gar nicht hinein sehen, sonst müßten sie verzweifeln.
Nach unendlich vielem Suchen, Lachen und Hin- und Herlaufen war die
Tafel gedeckt, und wenn sie auch nicht so aussah, daß eine perfekte
Hausfrau damit zufrieden gewesen wäre, die Gäste mußten eben vorlieb
nehmen. Da es nur Künstler unter sich waren, kam es ja nicht so genau
darauf an. Gustav erklärte es für höchst gemütlich und sehr hübsch.

Nun wurde die Kostümfrage für Irma beraten. In dieser Beziehung war
die Kleine geschickt, und sie überraschte Flora durch ihre
ungewöhnliche Findigkeit.

Ihre eigene Garderobe sowie die ihrer Schwägerin wurden eingehend
durchgesehen, wobei ein einfaches rosa und weiß gestreiftes
Kattunkleid mit kurzen Ärmeln aus Floras Mädchenzeit zum Vorschein
kam. Irma zog weiße Strümpfe und schwarze Lackschuhe mit Kreuzbändern
an, über den gestreiften Rock band sie eine Leinenschürze, mit roten
Borten gestickt; ihr schönes, blondes Haar legte sie in dicken
Flechten um den Kopf, und aus einem Spitzenschlips verfertigte sie mit
Hilfe einiger Nadeln ein Häubchen. In diesem Anzug zeigte sie sich dem
jungen Ehepaare, das vor Entzücken in die Hände klatschte. Sie hatte
nichts von einem Dienstmädchen an sich, sondern sah aus wie ein
Zöfchen aus einem französischen Lustspiel; aber sie war so reizend,
daß Gustav sie einige Augenblicke sprachlos anstarrte, und dann
erklärte, es sei ein Genuß, sie anzusehen; wenn er nur solch ein
Dienstmädchen bekommen könnte, dann möchte sie in Gottes Namen radeln,
stehlen, trinken, ja sogar Brand stiften. Flora hatte ihr gewöhnliches
weißes Hauskleid mit einem ähnlichen Gewande von schmiegsamem Stoff
und unbestimmter zartlila Farbe vertauscht, das am Halse ein wenig
ausgeschnitten und mit echten Spitzen garniert war. Sie sah in dem
durch seidene Lampenschirme etwas gedämpften Licht des Musikzimmers,
das manche Unordnung mitleidig verhüllte, wirklich reizend poetisch
aus. Gustav meinte nämlich, ein mattes Dämmerlicht erhöhe die
Stimmung. Er war sehr zufrieden, da nun alles so recht nach seinem
Wunsche ging; hätte er einen von den abscheulichen Küchendragonern im
Hause gehabt, so wäre nie ein so wohltuendes Ganzes zustande gekommen.

Während Irma das junge Paar zum Schluß noch ermahnte, nicht zu lachen,
sondern ernst zu bleiben, wenn sie bei Tisch bediente, klingelte es.
Voll Jubel über die Rolle, die sie spielte, lief sie hinaus und
öffnete.

Ein langer, hagerer Herr mit einer goldenen Brille trat ein. Sein
kahles Haupt, das nur im Nacken einen Kranz langer Haare zeigte,
erinnerte Irma lebhaft an eine Billardkugel mit Fransen. Ihm zur Seite
schritt sein =alter ego=, eine sehr stattliche Dame mit lauter Stimme.
Sie trug ein schwarzes Atlaskleid und eine schwere, dreifache
Goldkette um den Hals. Ihre kleinen, gutmütigen Augen schauten mit
großem Staunen auf Irma, und noch bevor sie den Salon erreichten,
flüsterte sie ihrem Gatten zu, sie hätte nie geglaubt, daß in I. solch
ein Dienstmädchen zu finden sei.

Irma meldete Herrn und Frau =Dr.= Raabe. Gustav, der die Verkleidung
schon längst wieder vergessen hatte, benahm sich angemessen, aber
Flora preßte die Lippen auf einander, um nicht laut loszuprusten. Dann
kam ein junger Mann, der, während Irma ihm half seinen Überzieher
ablegen, sie unters Kinn faßte und ihr zuflüsterte, daß sie ein paar
Prachtaugen habe. Das war weniger angenehm, aber ihre Rolle mußte sie
durchführen, so schaute sie ihn nur entrüstet an und drehte ihm den
Rücken. Nach und nach erschienen alle Gäste, und dieser Teil des
Programms verlief ohne irgend ein Unglück. Flora schenkte den Tee ein,
den Irma herumreichte, und die beiden vergnügten sich dabei göttlich.
Frau Schweinfurt, eine schmachtende Dame mittleren Alters in
himmelblauer Seide, starrte Irma beharrlich an und machte die anderen
flüsternd auf ihre weißen Händchen und anmutigen Bewegungen
aufmerksam. Schließlich fragte sie Flora, woher sie das Mädchen habe,
und diese rettete sich aus ihrer Verlegenheit durch den Einfall, es
sei ihre Milchschwester, die ihr aus der Heimat gefolgt wäre. Gustav
mußte sich abwenden, um sich nicht zu verraten, und Irma flüchtete ins
Eßzimmer, wo sie einen solchen Lachanfall bekam, daß sie in den
nächsten fünf Minuten nicht imstande war, den Salon wieder zu
betreten.

[Illustration]

Nun setzte der Gastgeber sich an den Flügel, und sobald die ersten
Akkorde erklangen, wurden alle still und lauschten andächtig dem
meisterhaften Spiel. Hinter der Türe horchte Irma auf das Spiel ihres
Bruders; sie vergaß alles, die Rolle, die sie zu spielen hatte, und
auch das angenehme Gefühl befriedigter Eitelkeit über ihr reizendes
Aussehen. Tränen traten ihr in die Augen, eine große Sehnsucht nach
Otto ergriff sie, und ihr war, als wäre ihr Herz zu klein, um alle
Gefühle der Liebe, des Glückes und der Wehmut, die auf sie
einstürmten, zu fassen. Als die letzten Töne verhallten und die Gäste
noch immer den gewaltigen Eindruck der herrlichen Musik in sich
nachwirken ließen, und zu ergriffen waren, um in lautes
Beifallklatschen auszubrechen, zeigte sich Irma als das echte Kind aus
einer Familie von Künstlern. Einer augenblicklichen Eingebung folgend,
flog sie auf ihren Bruder zu, umarmte ihn, und rief:

»O Gustav, das war himmlisch!«

»Aber Irma,« schrie Flora entsetzt; die andern, plötzlich aus ihrer
Verzückung erwachend, schauten mit erstaunten, halb spöttischen, halb
entrüsteten Mienen das vermeintliche Dienstmädchen an.

Einen Augenblick war es Irma, als müsse die Erde sich öffnen und sie
verschlingen; sie wünschte sich meilenweit fort; dann aber tat sie das
klügste, was sie tun konnte, und fing herzlich an zu lachen.

»Ja, nun bleibt uns nichts übrig, als alles zu verraten,« rief sie,
und sie und Flora erzählten abwechselnd ihre Abenteuer mit Lisa. Weit
entfernt, daß die gute Laune dadurch getrübt worden wäre, begann es
nun erst recht nett und gemütlich zu werden. Natürlich hatte jeder
sofort gemerkt, daß es mit diesem Dienstmädchen eine ganz eigene
Bewandtnis haben müsse. Ungesucht wurde sie die Heldin des Abends.
Alle wollten beim Bedienen helfen; einige Herren rannten nach der
Küche, und die dort herrschende Unordnung war in Gefahr verraten zu
werden, aber Irma hatte die Geistesgegenwart, das Gas schnell
auszudrehen. Große Verwirrung und heller Jubel! Der junge Mann, der
beim Kommen schon galant gegen das schöne Dienstmädchen gewesen war,
stolperte über einen Eimer. Zum Glück tat er sich nicht weh; Irma
hatte auch nicht das geringste Mitleid mit ihm und erklärte lachend,
daß er nur seinen verdienten Lohn ernte.

Frau Schweinfurt, die sich ärgerte, daß man soviel Wesens von dem
koketten Ding machte, wie sie Irma später benannte, erhob sich und gab
ihrem Gatten einen Wink, sich ans Klavier zu setzen und sie zu
begleiten. Für eine Weile zog ihr dünner Sopran die Aufmerksamkeit von
der kleinen Holten ab. Das Konzert wurde hierauf fortgesetzt und nur
dann und wann durch einige Scherze unterbrochen. Beim Souper erst
erreichte die allgemeine Heiterkeit ihren Höhepunkt.

Die tollsten Dinge wurden getrieben; die Herren machten Kappen aus
ihren Servietten und liefen mit den Tellern und Schüsseln in langem
Zuge durchs Haus, der größte voraus, der kleinste zum Schluß, unter
Absingung eines bekannten Marsches aus einer Operette. Alle tollten
durcheinander, um noch etwas Vergessenes zu suchen. Flora und Gustav,
ohne sich irgendwie verstimmt und verlegen zu fühlen, lärmten mit.
Alle Räume wurden festlich beleuchtet, und was unten nicht zu finden
war, kam im Schlafzimmer aus dem einen oder andern Schrank zum
Vorschein. Ein jeder beteiligte sich beim Bedienen, schnitt vor oder
schenkte ein. Leute, die sich bisher nur wenig gekannt hatten,
streiften alle Förmlichkeit ab und benahmen sich mit einer
Ungezwungenheit, als ob sie seit Jahren im engsten Verkehr mit
einander gestanden hätten.

Das Fest dauerte bis spät in die Nacht hinein, und alle waren
ausgelassen wie Kinder, die das ganze Haus auf den Kopf stellen, wenn
Papa und Mama verreist sind. Nur die gutmütige, dicke Frau Raabe
fühlte endlich Mitleid mit der jugendlichen Gastgeberin und ihrer
reizenden Schwägerin, namentlich wenn sie an das Durcheinander dachte,
das am nächsten Morgen in Ordnung gebracht werden mußte. Als es ihr an
der Zeit zu sein schien, stand sie, ihr Sektglas in der Hand, auf,
brachte das Wohl der drei Holtens aus und fügte das Versprechen hinzu,
für ein tüchtiges Dienstmädchen zu sorgen, das alle schlechten
Streiche der Vorgängerinnen durch seine vortrefflichen Leistungen gut
machen sollte.

Unter allgemeiner Zustimmung nahmen die Gäste Abschied, nachdem sie
noch ein wenig beim Aufräumen geholfen hatten, und Irma und Flora
konnten sich übermüdet, wie sie waren, gleich zur Ruhe begeben.

Frau Direktor Raabe hielt Wort. Sie kam am folgenden Morgen selber, um
zu helfen, und verrichtete in ein paar Stunden wahre Wunderdinge,
wobei ihr Frau von Holten und ihre Schwägerin tapfer beistanden. Unter
ihren praktischen, aufmunternden Anweisungen zeigten sie erstaunliches
Geschick und griffen überall wacker selbst mit an. Sie sorgte auch für
ein gutes Mädchen, das in wenig Tagen den ganzen Haushalt wie durch
Zauberei umgestaltete und Ordnung und Sauberkeit einführte, ohne die
Ansprüche und Untugenden ihrer Vorgängerinnen zu besitzen. Gustavs
Schönheitssinn befriedigte sie zwar nicht -- sie war eine einfache
Person mittleren Alters und von ganz gewöhnlichem Aussehen, sauber und
anspruchslos gekleidet -- aber es gefiel ihm, Ordnung und Nettigkeit,
wenn sie nicht in kleinliche Pedanterie ausarteten, um sich zu sehen.
Es berührte ihn sehr angenehm, bei seiner Heimkehr die Mahlzeiten
zierlich aufgetragen und schmackhaft bereitet zu finden, und von
seinem kleinen Frauchen keine Klagen und Seufzer, sondern nur lebhafte
Lobpreisungen des Mädchens zu hören. Da auch in seinen Ausgaben sich
der Unterschied sehr bemerkbar machte, war er der guten Frau seines
Direktors aufrichtig dankbar.

Irma blieb noch einige Wochen bei dem jungen Paar, und unterhielt sich
ausgezeichnet. Es war ein Genuß für sie, mit dem Bruder, den sie
eigentlich so wenig kannte, einmal länger zusammen zu sein. Sie lernte
seine guten Eigenschaften, seine Herzlichkeit, seine Milde schätzen
und verzieh ihm dafür gern seine Zerstreutheit, sein träumerisches und
ein bißchen überspanntes Wesen, das er ja mit vielen Künstlern gemein
hatte. Auch Flora war ihr sehr lieb geworden, aber ihr Geheimnis Otto
betreffend verriet sie nicht; daß sie es nicht tat, nicht einmal die
Versuchung fühlte, war ihr selbst auffallend. Schon früher hatte sie
den Baron Hochstein flehentlich gebeten, eine passende Gelegenheit zu
suchen und ihrem Bruder seinen Besuch zu machen; von der Landpartie
her kannte er doch Gustav und seine kleine Frau. Sie hätte einen
Verkehr Ottos mit ihrer Familie doch schon wie eine halbe Erfüllung
ihrer Zukunftshoffnungen angesehen. Von der Hand gewiesen hatte der
junge Baron diesen Plan auch nicht, ja er hatte ihn sogar recht
vernünftig gefunden, aber zur Ausführung war er trotzdem nicht
gekommen. Als Irma nun bei Holtens zu Besuch weilte und in den ersten
Tagen ihres Aufenthaltes in I. eine Gelegenheit fand, Otto auf der
Straße zu sprechen, drang sie ernstlich in ihn einen Vorwand zu
ersinnen und endlich seinen Besuch zu machen. Sie könne es dann leicht
einrichten, daß Flora ihn einmal zum Essen einlüde, und fände es
himmlisch, auf diese Weise sich öfter sehen und sprechen zu können.
Otto sagte, daß er das von Herzen gern tun möchte, aber jetzt so viel
zum Examen zu arbeiten hätte, daß es ihm wirklich an Zeit fehle. Sie
beruhigte sich und dachte, wie gut und lieb es von ihrem Anbeter wäre,
sich um ihretwillen derartig anzustrengen.

Otto vermied es sogar, ihr zu begegnen, wenn sie mit Flora oder Gustav
ausging. Die arme Irma hatte sich eingebildet, sie werde ihn während
ihres Aufenthaltes in I. häufig zu sehen bekommen, und die
Enttäuschung, daß es nicht geschah, war groß; traf sie ihn aber dann
und wann einmal zufällig auf einige Minuten, so blieb er sich in
seinen zärtlichen und leidenschaftlichen Liebesbeteuerungen immer
gleich. Die trübe Zeit der Heimlichkeit würde ja nun bald vorüber
sein; in vier bis fünf Monaten -- ein Monat war schon wieder
verstrichen -- machte er sein Examen, dann begann ihr Glück, dessen
war sie sicher. Sie ließ sich immer wieder durch die schönen
Zukunftsbilder, die er ihr vorspiegelte, täuschen; sie glaubte und
vertraute -- eher würde sie an den Untergang der Welt gedacht haben,
als daran, daß Otto von Hochstein kein ehrliches Spiel mit ihr triebe.

       *       *       *       *       *




An einem der seltenen Märztage, welche die Hoffnung erwecken, daß der
Lenz nun wirklich seinen Einzug halten will, an denen die Sonne schon
köstlich wärmt und kleine Sträußchen von Märzveilchen und
Schneeglöckchen angeboten werden, saß Ilse mit Onkel Heinz im
eichengetäfelten Wohnzimmer beim Schach. Im Kamin knisterte, trotz der
Wärme draußen, ein lustiges Feuer, und leise tickte die große,
altmodische Standuhr. Irma, die sich mit ihrer Stickerei in die
Fensternische zurückgezogen hatte, dachte, wenn sie ab und zu nach den
beiden Alten guckte, daß diese, so in ihr Spiel vertieft, ein
wunderhübsches Bild abgäben.

Der Professor spielte mit unerschütterlichem Ernst; es war eine seiner
Schwächen, sich zu ärgern, wenn er verlor beim Schachspiel -- selbst
wenn seine Gegenpartei eine Dame war. Ilse, die das wußte, und der es
noch immer, wie in alten Zeiten, das größte Vergnügen bereitete, ihn
in Harnisch zu bringen, spannte alle ihre Kräfte an. Auch hatte sie
ihn schon ziemlich in die Enge getrieben. Seine Königin und seine
beiden Türme waren genommen, und nun focht er verzweifelt mit einem
Läufer, einem Springer und einigen Bauern.

Es klingelte.

»Da kommt Besuch,« sagte Irma, ihr Näschen an den Scheiben platt
drückend, »ich sehe eine Dame, kann aber nicht erkennen, wer es ist.«

»Wie schade,« meinte Ilse, »noch ein paar Züge und Sie wären
schachmatt gewesen, Onkel Heinz.«

»Ach was,« brummte der alte Herr. »Lassen Sie nur das Brett stehen,
Frau Gontrau, und ich wette um alles, was Sie wollen, daß ich doch
noch die Partie gewinne.«

Das Mädchen trat ein und meldete: »Fräulein Elisabeth Müller wünscht
die gnädige Frau zu sprechen.«

»O weh!« rief Irma, ihre Handarbeit zusammenpackend, »dann geh ich
nach oben, Großmama; wenn sie nach mir fragt, bin ich nicht zu Hause.«

»Bleib hier, Kindchen,« wandte Ilse ein, aber schon war Irma
verschwunden.

»Der kleine Taugenichts hat recht,« meinte Onkel Heinz, »wenn ich nur
könnte und von der verflixten Gicht nicht so geplagt wäre, würde ich
mich auch auf die Beine machen.«

»Seien Sie doch still,« bat Ilse, ein bißchen böse; dann stand sie
auf, um Fräulein Müller zu empfangen.

Tante Elisabeth ging immer einfach gekleidet; heute aber hatte ihre
Erscheinung etwas entschieden Quäkerhaftes an sich. Ihr eisengraues,
glattes Kleid konnte nicht strenger sein als ihr Antlitz. Ilse fand
plötzlich, daß sie ihrer Mutter, der Pfarrerin, sprechend ähnlich
sah, wenn diese einmal ganz besonders tugendhaft oder unangenehm sein
wollte.

»Ich hoffe, ich störe Sie nicht, Frau Gontrau,« begann sie mit einem
Seitenblick auf Professor Fuchs, in dessen Gesellschaft sie sich nie
behaglich fühlte.

Ilse schob ihr einen bequemen Sessel hin.

»Sehr nett, daß Sie sich mal sehen lassen, Elisabeth,« begann sie
freundlich, »ich habe Ihnen schon oft gesagt, daß Sie viel zu selten
kommen.«

»Ach, ich mag mich nicht aufdrängen; heute aber habe ich etwas
Besonderes mit Ihnen zu besprechen.«

Onkel Heinz stand auf. »Dann wünschen Sie gewiß mit Frau Gontrau
allein zu sein; ich gehe so lange in den Garten und will mal sehen, ob
die Märzsonne gut für meine Gicht ist.«

Aber Ilse winkte ihm zu bleiben: »Wollen Sie mit mir über etwas
sprechen, Elisabeth, was Sie selber angeht?«

»Nein, Frau Gontrau, die Sache betrifft ausschließlich Sie.«

»Dann bleiben Sie nur ruhig sitzen, Herr Professor,« nahm Ilse wieder
das Wort.

Es gab ja nichts in ihrem Leben, was ihr alter Freund nicht wissen
durfte, und sie freute sich heimlich darüber, daß er der Gesellschaft
der alten Jungfer nicht entrinnen konnte. »Vor Ihnen haben wir keine
Geheimnisse.«

»Das müssen Sie am besten wissen, gnädige Frau; was ich Ihnen
mitzuteilen habe, betrifft Ihre Enkelin Irma.«

Professor Fuchs spitzte die Ohren, und Ilse sagte absichtlich
begütigend:

»Wirklich? Ich hoffe, die Kleine hat nichts getan, worüber Sie sich zu
beklagen haben.«

»Ich nicht,« entgegnete Fräulein Müller, mit verdrießlich
herabgezogenen Mundwinkeln; »aber ich halte es für meine Pflicht,
Ihnen über das Betragen des jungen Mädchens die Augen zu öffnen.«

»Ei was,« meinte Ilse, halb ärgerlich. »Die Kleine hat wohl etwas
gesagt oder getan, was nicht ganz ehrerbietig und passend ist? Ich
werde sie nachher darüber zur Rede stellen, aber wirklich, Elisabeth,
so ernst dürfen Sie das nicht nehmen, von der Jugend müssen wir uns
manches gefallen lassen und gegen ihre kleinen Sünden nachsichtig
sein.«

»Ich weiß nicht, ob Sie es eine kleine Sünde nennen, wenn ein junges
Mädchen wie Irma an einem abgelegenen Platz heimliche Zusammenkünfte
mit einem Studenten hat,« sagte Fräulein Müller mit nur mühsam
unterdrückter Schadenfreude.

Großmutter Gontrau wurde totenbleich. Onkel Heinz, der mit einem
förmlichen Schreckensruf aufsprang, sah, wie sie krampfhaft die
Stuhllehnen umklammerte und nach Selbstbeherrschung rang; ihre Stimme
bebte, und ihre dunklen Augen blitzten wie früher, als sie fragte:

»Was meinen Sie damit, Elisabeth? Wer von einem jungen Mädchen solche
Dinge sagt, muß sie auch beweisen können.«

»Das kann ich. Jeden Mittwoch Nachmittag hat Irma ein Stelldichein mit
dem schönen Studenten, der ihr damals auf der Landpartie den Hof
machte. Sie treffen sich in dem Wäldchen an der Chaussee, in der Nähe
der Kaserne.«

»Wie wissen Sie das?« stammelte Ilse.

»Vor vierzehn Tagen habe ich sie mit meinen eignen Augen gesehen. Im
Frühjahr mache ich nemlich gern dahinaus meine Spaziergänge. Erst
konnte ich es nicht glauben, daß es wirklich Irma sei, aber gestern
habe ich sie ganz deutlich erkannt; ich ging hinter ihr her und habe
sie genau beobachtet.«

Frau Gontrau schwieg. Allerlei Wahrnehmungen kamen ihr in den Sinn. Es
fiel ihr ein, daß Irma in den letzten Monaten viel allein auszugehen
pflegte und häufig ein sonderbares Benehmen zeigte. Zweifel und Angst
beschlichen sie, weil sie für das Kind den Eltern gegenüber
verantwortlich war, vor allem aber bemächtigte sich ihrer tiefe
Betrübnis darüber, daß ihre Enkelin, die sie so innig liebte, sie
betrogen und hintergangen hatte. Onkel Heinz zog die buschigen Brauen
zusammen, drehte seinen weißen Schnauzbart zu einer ganz besonders
feinen Spitze und unterdrückte einen Fluch, weil er plötzlich einen
heftigen Stich in seinem linken Fuß verspürte.

»Darf ich fragen, wie es kam, daß Irma Sie nicht gleich das erste Mal
sah?« forschte er, sich ziemlich barsch an Tante Elisabeth wendend.

»Das ging ganz natürlich zu. Ich verbarg mich hinter den Sträuchern,
bis sie das Wäldchen wieder verlassen hatten.«

»Sie spionierten also!«

»Spionieren!« wiederholte Elisabeth beleidigt. »Wenn Sie's so nennen
wollen -- ich mußte mich doch von der Wahrheit überzeugen.«

»Ja, und nachdem Sie das getan, gingen Sie noch einmal hin und
versteckten sich wahrscheinlich wieder. Das finde ich nicht ehrlich;
Sie hätten offen auftreten sollen. Ihr Erscheinen hätte die jungen
Leute gewarnt.«

»Mir schien das nicht wünschenswert. Ich hielt es für meine Pflicht,
Frau Gontrau zu unterrichten.«

Tante Elisabeth zeigte in diesem Augenblick eine so dünkelhafte,
siegesgewisse Miene, daß der Professor sich vergaß und heftig
aufbrauste.

»Na ja, das ist so recht was für Sie! Wer sagt Ihnen denn aber, daß
etwas Böses dahinter steckt? Die jungen Leute können sich wohl mal was
zu erzählen haben. Daraus brauchen Sie nicht gleich so 'ne
Staatsaktion zu machen. Aber das ist gerade Wasser auf die Mühle einer
neidischen alten Jungfer, wenn sie einem Nebenmenschen etwas anhängen
kann.«

Feuerrot erhob sich Fräulein Müller von ihrem Sitz und sagte mit
einer, vor Zorn und Aufregung heiseren Stimme:

»Wenn Sie meine gute Absicht so auslegen und mich obendrein
beleidigen, dann gehe ich und setze nie wieder einen Fuß über diese
Schwelle.«

Ilse schaute den Professor zürnend an.

»Nein, nein, seien Sie nicht böse, liebe Elisabeth,« rief sie. »Ich
bin Ihnen dankbar, und dem Professor Fuchs müssen Sie seine Heftigkeit
verzeihen. Er hat Irma so unendlich lieb, daß er außer sich gerät,
wenn über sie nachteilig geurteilt wird. Ist's nicht so, Herr
Professor?«

»Jawohl,« brummte Onkel Heinz, der einsah, daß er zu weit gegangen
war.

»Und er bittet für seine Unhöflichkeit um Entschuldigung,« beharrte
Ilse, mit einem strengen Blick auf Onkel Heinz.

Dem Professor war fast so zu Mute wie einem Schuljungen, der eine
Strafpredigt erhält. Er hätte am liebsten mit einem: »Scheren Sie sich
zum Teufel,« das Zimmer verlassen; aber dem eigenartigen Ausdruck in
den dunklen Augen seiner alten Freundin war er nicht gewachsen.

»Jawohl,« brummte er abermals, mit abgewendetem Gesicht, »natürlich
meinte ich es nicht so; nehmen Sie's nicht übel, Fräulein Müller.«

Tante Elisabeth verneigte sich, war aber doch tief gekränkt und stand
auf.

»Nun ich Ihnen berichtet habe, was ich weiß, Frau Gontrau,« nahm sie
in spitzem Ton abermals das Wort, »ist's an Ihnen, aus meiner
Mitteilung Nutzen zu ziehen. Ich werde mich um die ganze Geschichte
nicht mehr kümmern.«

»Einen Augenblick, bitte,« sagte Ilse. »Was Sie gesehen haben,
Elisabeth, ist ganz gewiß nicht passend, aber bevor Irma mir den
Zusammenhang erklärt hat, kann ich mir kein Urteil erlauben. Möglich,
daß gar nichts dahinter steckt. Die jungen Leute von heutzutage sind
anders und freier in ihrem Umgang, als wir in unsrer Jugend -- das
dürfen wir nicht vergessen.«

Fräulein Müller ließ ein spöttisches Lachen hören.

»Ich muß Sie freundlichst ersuchen,« fuhr Ilse fort, »über diese
Geschichte zu niemand, wer es auch sei, ein Wort zu verlieren, auch
nicht zu unsren Amerikanern.«

»Ganz wie Sie wünschen, Frau Gontrau.«

»Ich erbitte mir das als eine große Gunst von Ihnen und baue fest auf
Ihre Verschwiegenheit.«

Großmutter Ilse streckte Tante Elisabeth die Hand entgegen, und diese
las auf dem schönen, alten Gesicht eine so ängstlich flehende Bitte,
daß sie, wider Willen gerührt, versetzte:

»Das können Sie, Frau Gontrau.«

Dann ging sie nach einer sehr förmlichen Verbeugung vor Onkel Heinz.

Ilse ließ sich erschöpft in ihren Sessel sinken und schaute in
schweren Gedanken vor sich hin.

Der Professor aber humpelte in großer Erregung hin und her.

»Schöne Geschichte das,« rief er endlich, »bald weiß die ganze Stadt
von diesem Klatsch, denn Fräulein Müller wird mit wahrer Wonne für
Weiterverbreitung sorgen. Das ist was so recht nach ihrem Sinn.«

»Das glaube ich nicht,« versetzte Ilse, »sie wird schweigen, weil ich
sie darum gebeten habe. Sie waren unverzeihlich grob gegen sie, Onkel
Heinz; aber viel Worte darüber zu verlieren hilft nichts. Was sollen
wir tun?«

»Nun,« nahm der alte Herr heftig das Wort, »dem Jungfräulein tüchtig
den Kopf waschen und ihr für die Zukunft solche Streiche verleiden;
mit dem jungen Menschen aber werde ich Abrechnung halten, das können
Sie getrost mir überlassen, ich will's ihm ordentlich geben.«

»Und damit, glauben Sie, ist alles getan?« fragte die Großmutter mit
trübem Lächeln.

»Was wollen Sie denn noch mehr? Natürlich hat der junge Taugenichts
allein schuld; wenn Sie's verlangen, Frau Ilse, will ich ihn
lendenlahm prügeln -- das hat er wahrlich verdient.«

»Onkel Heinz, Onkel Heinz! Da sieht man wieder, daß Sie ein
einseitiger, unverbesserlicher Junggeselle sind, der von zarten
Herzensangelegenheiten auch nicht das mindeste versteht.«

Der Professor hielt in seinem Auf- und Abhumpeln inne; solch ein
Ausfall von Ilse Gontrau ärgerte ihn noch immer und trieb ihm trotz
seiner mehr als siebzig Jahre das Blut in die Wangen.

»So,« sagte er unwirsch, »Sie haben mit den Jahren noch immer nicht
verlernt, heftig zu sein, Frau Ilse.«

»Und Sie haben die Jahre nicht klüger gemacht,« versetzte sie hitzig.
»Sehen Sie denn nicht ein, daß wir durch herrisches und
rücksichtsloses Auftreten die Sache nur verschlimmern würden? Wenn
Irma und der junge Mann sich lieben oder sich zu lieben einbilden,
können einige Scheltworte von uns die Liebe nicht aus ihren Herzen
reißen.«

»Da mögen Sie wohl recht haben,« meinte Onkel Heinz, ziemlich
abgekühlt. »Aber was wollen Sie denn tun?«

»Das weiß ich nicht. Zuerst und vor allen Dingen mit Irma sprechen und
hören, was sie zu sagen hat.«

»Natürlich, und da sie nun wohl bald herunterkommen wird und Sie diese
Unterredung nicht aufschieben werden, will ich gehen.«

»Das ist nicht nötig; Sie wissen nun alles, und ich kann mit Irma in
Ihrem Beisein sprechen.«

»Nein, Frau Gontrau, bin ich auch nur ein alter, einseitiger,
unverbesserlicher Junggeselle, soviel Takt und Verständnis besitze ich
denn doch noch, um herauszufühlen, daß ein junges Mädchen eine
derartige Beichte doch lieber Ihnen allein ablegt.«

Ilse reichte ihm die Hand.

»Verzeihen Sie,« bat sie sanft, »ich war heftig und ungerecht, ich
meinte es aber nicht böse.«

Er schaute sie unter seinen buschigen Brauen freundlich an, drückte
fest ihre Hand und ging.

Einen Augenblick später steckte Irma ihr Köpfchen zur Tür herein.

»Ist sie fort?« fragte sie mit schelmischem Ausdruck. »Was, und Onkel
Heinz hat dich auch schon verlassen, Großmama? Weshalb ist er so früh
fortgegangen?«

Sie erhielt keine Antwort, und als sie fröhlich näher trat, bemerkte
sie, daß die Großmutter mit ernster, bekümmerter Miene nach ihr
schaute.

»Was ist denn los?« forschte sie, die alte Frau zärtlich umarmend;
»hat das verschrobene Fräulein Müller etwas gesagt, was dich ärgert?«

Großmutter Ilse schlang ihre Arme um das junge Mädchen und zog es auf
ihren Schoß.

»Irma,« sagte sie ohne Umschweife, »du hast mich belogen, als ich dich
neulich fragte, ob zwischen dir und dem Baron von Hochstein keinerlei
Beziehungen beständen.«

Irma wurde totenbleich und wollte aufspringen, doch mit sanftem Zwang
hielt die alte Dame sie zurück. Entsetzt schaute das junge Mädchen
sie an und las auf dem geliebten alten Gesicht einen so schmerzlichen,
traurigen Vorwurf, daß es plötzlich in leidenschaftliches Schluchzen
ausbrach.

Ilse streichelte das blondgelockte Köpfchen, sprach aber kein Wort.

»Großmama,« schluchzte Irma, »bist du mir böse?«

»Ich bin betrübt, Kindchen, weil du kein Vertrauen zu mir hattest.
Erzähle mir nun alles.«

»Ich darf nicht,« stammelte Irma, »er hat es mir verboten.«

»Wer?«

»Otto.«

»Dann hat er sehr unrecht gehandelt, aber da das Geheimnis nun doch
herausgekommen ist, siehst du wohl ein, daß du dein Versprechen nicht
halten kannst.«

»Aber woher weißt du's denn, Großmama? Hat Agnes es dir erzählt?«

»Agnes? Nein. Fräulein Müller hat dich mehrmals mit ihm gesehen.«

Irma bedeckte ihr Antlitz mit beiden Händen und weinte bitterlich.

»Siehst du nun ein, Kind,« fuhr Ilse in mildem und doch festem Ton
fort, »daß es das beste ist, mir zu vertrauen und alles zu erzählen?
Vielleicht finde ich dann noch eine Entschuldigung für dich; beharrst
du bei deinem Schweigen, so ist mir das unmöglich.«

Da verbarg Irma ihr Köpfchen in Großmamas Schoß und beichtete alles.
Sie erzählte, wie schrecklich es ihr anfangs gewesen sei, so heimlich
zu Werke zu gehen, wie Otto aber gesagt habe, das sei nötig, um seine
Eltern allmählich zu gewinnen; wie angestrengt er nun arbeite und wie
er ihr die Versicherung gegeben habe, daß bald alles zu gutem Ende
kommen würde. Sie erhob Otto bis in den Himmel und konnte nicht
unterlassen, ein bißchen auf Agnes zu sticheln, der sie es nicht
verzeihen konnte, daß sie nicht das gleiche schrankenlose Vertrauen in
den Baron von Hochstein setzte.

Als sie geendet hatte, schwieg die Großmutter eine Weile. In Gedanken
versunken streichelte sie das goldschimmernde Haar ihrer Enkelin. Das
legte sich Irma als ein günstiges Vorzeichen aus, und ein wenig
ermutigt, fragte sie leise:

»Bist du sehr böse, Großmama?«

»Nein, mein Kind, aber du hast ein großes Unrecht getan; wie unpassend
und unbesonnen du gehandelt hast, begreifst du bei deiner großen
Jugend wohl selbst noch nicht, aber unter allen Umständen muß jetzt
sofort ein Ende gemacht werden.«

»O, Großmama, ich sterbe, wenn ich ihn aufgeben muß.«

»Das brauchst du nicht, Kindchen, wenigstens nicht, wenn es sich
herausstellt, daß er es ernst mit dir meint.«

»Wie kannst du nur daran zweifeln,« schluchzte Irma, »er hat mir doch
Beweise genug gegeben.«

»In meinen Augen noch nicht einen -- aber wir werden ja sehen.«

»Was willst du denn tun?« fragte angstvoll das junge Mädchen, das sich
durch Ilses Ruhe immer beklommener fühlte. »Hast du die Absicht, an
Papa und Mama zu schreiben?«

»Nein, Irma, denn dann würdest du dem Baron sofort entsagen müssen.
Ich weiß nicht, ob es richtig ist, ihnen vorläufig die Sache noch zu
verschweigen, aber ich habe Mitleid mit dir und will erst erforschen,
was für eine Art Persönlichkeit dein Baron ist.«

»Du bist ein Engel, Großmama. Aber warum glaubst du, daß Mama so
streng mit mir ins Gericht gehen würde? Sie ist eine Künstlerin und
würde sich wohl in meine Lage hineinversetzen können.«

Ilse fühlte ihre alte Heftigkeit in sich aufsteigen.

»Gerade weil deine Eltern Künstler sind, Irma,« erwiderte sie, mit vor
Erregung funkelnden Augen, »und durch ihr Talent und ihre Leistungen
so unendlich hoch über den eingebildeten Adlichen stehen, die sich
durch ihre Geburt und ihr Geld für bevorrechtet halten, würde ihr
Stolz nie gestatten, daß ihre Tochter in eine Familie einträte, die
hochmütig auf sie herabsieht. Es tut mir weh, Kind, daß von diesem
echten, edlen Stolze sich nichts in deinem Charakter zu finden
scheint. Selbst angenommen, daß dieser Baron von Hochstein dir treu
bleibt, sollte dich der Gedanke abschrecken, daß seine Eltern dich nur
dulden, nie aber mit wahrer Liebe aufnehmen würden.«

»Was gehen mich seine Eltern an, wenn er mich nur liebt!« sagte Irma.

Ilse seufzte. »So würde ich nicht gedacht haben, selbst als ich so
jung war wie du, mein Kind. Doch, je älter wir werden, desto mehr
sehen wir ein, daß wir andere Menschen nicht nach uns beurteilen
dürfen. Wenn du den Stolz, von dem ich sprach, nicht besitzest, kannst
du auch nicht fühlen, was ich meine.«

Irma empfand diese Worte als einen Tadel, fühlte auch unklar und
unbestimmt, daß Großmama recht hatte, aber sie wollte jetzt lieber
nicht darüber nachdenken. Sie ergriff schüchtern Ilses Hand,
streichelte sie und wiederholte ihre Frage:

»Was willst du tun, Großmama?«

»Wann hast du die nächste Zusammenkunft mit dem jungen Manne
verabredet?«

»Mittwoch in acht Tagen.«

»Gut. Schreibt ihr euch?«

»Ab und zu.«

»Dann tust du es jetzt nicht. Verstehe mich recht, Irma! Wenn in
dieser Zwischenzeit ein Brief von ihm kommt, so beantwortest du ihn
nicht. An dem verabredeten Tage bleibst du zu Hause, und ich gehe an
deiner Stelle.«

»Großmutter!« rief Irma entsetzt.

»Warum erschrickst du so davor? Ist das etwas so Fürchterliches? Ich
will selbst mit dem jungen Menschen reden und danach meine
Entscheidung treffen.«

»O, aber er wird so böse auf mich sein, wird mir das nie verzeihen.«

»Er hat dir nichts zu verzeihen. Ich werde ihm erzählen, wie der
Hergang gewesen ist. Du brauchst nichts zu fürchten.«

»Laß mich ihm wenigstens noch einmal schreiben, Großmama, damit er
vorbereitet ist.«

»Unter keinen Umständen, Irma. Du hast mich belogen und betrogen, als
ich dein Vertrauen zu gewinnen suchte. Trotzdem will ich dir Glauben
schenken, wenn du mir jetzt versprichst, gehorsam zu sein, und will
dir das Geschehene verzeihen. Ich will dir alle Freiheit lassen, dir
nicht nachspüren, aber befolgst du jetzt nicht gewissenhaft, was ich
sage, so werde ich dir nie mehr vertrauen. Dann ist alles aus, und du
kannst nicht mehr auf meine Liebe und Verzeihung rechnen.«

Einen so strengen, unerbittlichen Ausdruck hatte die Kleine noch nie
in Großmutters Augen gesehen. Sie fühlte, daß kein Schmeicheln, kein
Flehen helfen würde.

»Du hast mich doch verstanden?« fuhr Ilse fort. »Bis Mittwoch in acht
Tagen suchst du keine Gelegenheit, Hochstein zu sehen, und schreibst
ihm keine Zeile.«

»Ja, Großmama.«

»Gut, dann reden wir bis dahin auch kein Wort mehr darüber. Gib mir
einen Kuß, Kind, und geh auf dein Zimmer. Ich möchte ein Stündchen
allein sein.«

Traurig und niedergeschlagen verbrachte Irma die nächsten Tage. Oft
nahte sich ihr die Versuchung, trotz dem gegebenen Versprechen Otto
heimlich von dem Vorgefallenen zu unterrichten. Aber ihr besseres Ich
trug den Sieg davon. Wenn sie bedachte, daß die Großmutter sie weder
beaufsichtigte, noch jemals fragte, wohin sie wolle, wenn sie sich zum
Ausgehen rüstete, noch ihre Briefe nachsah, dann fühlte sie, daß sie
sich verachten müßte, daß sie nie mehr wagen würde, die Augen
aufzuschlagen, wenn sie sich dieses Vertrauens unwert zeigte.

Sie war zu Agnes gegangen, hatte ihr unter Tränen ihr Herz
ausgeschüttet, und ihrem Zorn über Fräulein Müller in den kräftigsten
Ausdrücken Luft gemacht. Aber obwohl Agnes gerne zugab, daß Tante
Elisabeth auch jetzt wieder, wie immer, unausstehlich gewesen war,
fand Irma weiter keinen Trost bei ihr, denn sie verhehlte ihre Freude
nicht, daß die Geschichte endlich herausgekommen war. Jetzt würde es
sich zeigen, ob der glänzende Otto von Hochstein es aufrichtig meinte,
oder ob all seine schöne Reden nicht nur hohle Phrasen waren. Agnes
frohlockte innerlich geradezu über diese Wendung und wäre nur zu gern
mit Ilse gegangen, um das Gesicht des jungen Herrn zu sehen, wenn er
an Stelle der lieblichen, unschuldigen Enkelin die strenge, ehrwürdige
Großmama erblicken würde. Dennoch enthielt sie sich des Spottes, als
sie sah, wie tief betrübt die Kleine war, und bemühte sich redlich,
sie aufzumuntern.

Irma hatte bisher ein unerschütterliches Vertrauen in Otto gesetzt;
aber während sie ihn in warmen Worten rühmte und behauptete, Großmama
und Agnes würden bald einsehen, wie unrecht sie ihm durch ihre Zweifel
taten, nagte doch die Unruhe an ihrem armen Seelchen, und sie weinte
in der Stille heiße Tränen bei dem Gedanken, ihr angebeteter Held
könne die Probe vielleicht nicht mit Glanz bestehen. Was dann
geschehen würde, wußte sie nicht und wagte auch gar nicht, danach zu
fragen, denn sie bildete sich ein, sicher vor Gram zu sterben, wenn
sie gezwungen würde, von ihm abzulassen.

Ilse bemerkte wohl, was in der Seele ihrer Enkelin vorging. Sie hatte
Mitleid mit ihr und suchte ihr Zerstreuung zu verschaffen; aber
obgleich Irma nie darüber sprach, war sie doch so erfüllt von ihrem
Kummer, daß alles andere sie gleichgültig ließ. Onkel Heinz konnte es
nicht mit ansehen, wie sein kleiner Liebling sich in Angst verzehrte,
und tat alles, um sie aufzuheitern. Irma wußte, daß er bei Fräulein
Müllers Besuch zugegen gewesen war, und als sie ihn danach zum
erstenmal wiedersah, geriet sie in die peinlichste Verlegenheit. Der
Professor aber machte es ihr leicht, er strich ihr liebevoll über den
hübschen Krauskopf, murmelte etwas von »alles zurechtkommen, und der
garstigen alten Jungfer mal 'ne gute Lehre geben«, so daß Irma ihn mit
Tränen in den Augen dankbar anlächelte, ihm einen Kuß gab und ihm
zuflüsterte:

»Onkel Heinz, du bist der Beste, und dich hab' ich auch am
allerliebsten.« --

Es war ein herrlicher Frühlingstag, alles blühte und duftete. Flieder
und Goldregen fingen an zu knospen, wie riesige Hochzeitsbuketts
leuchteten die Obstbäume, überall zeigte das frische, junge Grün seine
immer von neuem entzückende Schönheit.

In heiterster Stimmung, die leuchtende Pracht um ihn her in vollen
Zügen genießend, angeregt und gehoben durch das überall ausschlagende,
junge, muntere Leben, schritt Otto von Hochstein durch das Wäldchen,
in dem er schon so oft Irma erwartet hatte. Er freute sich auf ihr
Erscheinen, sah im Geiste schon voraus, wie sie binnen wenigen Minuten
vor ihm stehen würde, liebreizend anzuschauen in dem neuen, schönen
Frühjahrskostüm, von dem sie ihm letztmals erzählt hatte, wie sie ihn
mit den wunderbar tiefen Blauaugen unter holdem Erröten ansehen, wie
er mit ihr so freundlich und überzeugend reden würde, daß sie alles
glaubte, was er ihr erzählte, und wie er endlich wagen dürfte, einen
Kuß auf die kirschroten Lippen zu drücken, die so schelmisch und
bezaubernd lächeln konnten.

Aber wo blieb sie nur? Sonst ließ sie nicht so lange auf sich warten,
ja, es kam sogar vor, daß sie die Erste am Platze war. Der junge Mann
lächelte selbstgefällig in dem Gedanken, wie unwiderstehlich das
schöne Mädchen ihn eigentlich finden mußte. Allmählich ergriff ihn
eine sonderbare Unruhe, und er trat aus dem Wäldchen heraus, um die
Straße zu überschauen. Nein, Irma ließ sich nicht blicken, nur eine
hochgewachsene Dame näherte sich eiligen Schrittes. Da hielt er es für
richtiger, sich zurückzuziehen und hinter dem hoch aufgeschossenen
Buschwerk zu verbergen. Ungeduldig eine Melodie summend, ging er hin
und her; er wollte sie ein bißchen abkanzeln. Was bildete sich die
Kleine denn ein, ihn so lange warten zu lassen!

Plötzlich vernahm er dicht hinter sich das Rauschen eines Kleides.
Fröhlich drehte er sich um, ein Scherzwort auf den Lippen, blieb aber
wie versteinert stehen, als er in der vornehm in schwarz gekleideten
Dame Frau Gontrau erkannte.

[Illustration]

Ein paar Augenblicke weidete sich Ilse offenbar an dem unverkennbaren
Entsetzen des jungen Mannes, dann aber mußte sie unwillkürlich
anerkennen, daß die elegante, geschmeidige Gestalt vor ihr, das schöne
übermütige Antlitz mit den blitzenden Augen und den feinen Zügen wohl
etwas besonders Anziehendes für ein junges Mädchen haben müsse. Als
liebende und etwas schwache Großmutter war sie nur zu geneigt, Irmas
Betragen nicht verzeihlich, aber doch begreiflich zu finden.

Ottos Verlegenheit hielt nur einen Moment an, er sah sofort ein, daß
etwas nicht in Ordnung war. Zuerst schaute er Frau Gontrau mit einem
Blick an, als erkenne er sie nicht sogleich; dann, als ob sein
Gedächtnis ihm zu Hilfe käme, verbeugte er sich und wollte mit
ehrfurchtsvollem Gruß vorübergehen. Doch Ilses Blick zwang ihn stehen
zu bleiben.

»Herr Baron, ich möchte eine kleine Unterredung mit Ihnen haben,«
begann sie.

»Das wird mir eine große Ehre sein, gnädige Frau. Bin ich so
glücklich, Ihnen einen Dienst erweisen zu können?«

Er tat vollkommen unbefangen, was Ilse reizte.

»Sie brauchen mir gegenüber keine Komödie zu spielen, junger Mann,«
herrschte sie ihn an. »Sie wissen sehr gut, weshalb ich hier bin.«

»In der Tat, gnädige Frau, ich bedaure ...«

»Mit solchen Ausflüchten verschlechtern Sie nur die Sache,« fuhr Ilse,
deren Augen vor Zorn funkelten, fort. »Ich würde besser von Ihnen
denken, wenn Sie mir offen und ehrlich sagten, mit welchen Absichten
Sie sich meiner Enkelin zu nahen wagten.«

»Ich hatte Fräulein Irma ersucht, vorläufig noch Schweigen über unser
Verhältnis zu bewahren,« entgegnete Otto, noch sehr höflich, obwohl im
Innern wütend auf Irma, weil sie seiner Meinung nach doch nicht den
Mund gehalten hatte.

»Und sie war unverständig genug, sich an dies Versprechen gebunden zu
halten,« erwiderte Ilse. Dann erzählte sie ihm in wenig Worten, wie
das Geheimnis an den Tag gekommen war.

Hochstein biß sich auf die Lippen. Er verzieh es Irma nicht, daß sie
alles gestanden hatte; in der ersten Entrüstung hielt er sie sogar für
fähig, die ganze Geschichte erfunden zu haben, weil sie nicht länger
zu schweigen vermochte; aber als er Ilse ins Gesicht schaute, sah er
sofort ein, daß sie die Wahrheit gesprochen hatte. Es erschien ihm
also klüger, einen demütigeren Ton anzuschlagen.

»Wenn Irma Ihnen alles mitgeteilt hat, gnädige Frau, dann werden Sie
wohl auch vollkommen begreifen, warum ich die Sache -- zu meinem
Leidwesen -- vorläufig noch geheim halten muß.«

»Nein, Herr Baron, das begreife ich nicht. Ich begreife durchaus
nicht, wie ein feingebildeter Mann ein junges, unerfahrenes Mädchen zu
überreden suchen kann, ihre Familie zu hintergehen und ihren guten
Namen aufs Spiel zu setzen. Irma ist ein Kind, das nicht weiß, was es
tut; ich segne den Zufall, der mich von dem Vorgefallenen in Kenntnis
gesetzt hat. Nach dem, was ich von Ihnen gehört und gesehen habe, will
ich noch nicht urteilen, aber ich verlange, daß Sie, wenn Sie es
ehrlich und gut mit dem Mädchen meinen, das Ihnen seine Liebe
geschenkt hat, noch heute Ihren Eltern von Ihren Absichten Mitteilung
machen.«

»Es tut mir leid, gnädige Frau, aber das kann ich nicht, und ich habe
Irma auch die Gründe auseinandergesetzt.«

»Ja, und sie war damit zufrieden; ich aber bin es nicht. Hören Sie,
Herr von Hochstein, wenn Sie meine Enkelin wirklich lieben, dann
durften Sie sie nicht bloßstellen, sondern mußten erst mit Ihren
Eltern sprechen, um ihr eine etwaige Enttäuschung zu ersparen.«

»Ich habe ihr stets gesagt, daß ich nach bestandenem Examen mich
bemühen will, die Einwilligung meiner Eltern zu erhalten.«

»Sehr schön, bis dahin darf aber dann zwischen Ihnen und Irma nicht
das geringste Einverständnis mehr bestehen. Ihre Eltern mögen stolz
sein; wir sind es nicht minder und -- mit gleichem Recht.«

»So wollen Sie der Sache mit Gewalt ein Ende machen und uns
unerbittlich auseinanderreißen, gnädige Frau?«

»Durchaus nicht. An dem Tage, an dem Ihr Herr Vater mich ehrerbietig
um die Hand meiner Enkelin ersucht, will ich um Irmas willen bei
meinem Schwiegersohn, dem berühmten Künstler, ein gutes Wort für Sie
einlegen. Ich glaube nämlich nicht, daß Irmas Eltern von ihrer Wahl
sehr eingenommen sein werden.«

»Irma hat auch noch ein Wörtchen mitzureden,« rief Otto, der sich kaum
mehr beherrschen konnte, »und ich zweifle nicht, daß sie sich Ihrer
Grausamkeit widersetzen wird.«

»So viel Stolz und Taktgefühl werde ich meiner Enkelin wohl noch
einflößen können, als sie zu der Erkenntnis nötig hat, daß sie mit
einem jungen Manne, dessen Eltern sich so hoch erhaben über sie
dünken, keine Zusammenkünfte mehr haben darf. Da ich nun weiß, wie ich
handeln muß, fürchte ich Ihren Einfluß auf Irma nicht mehr.«

»Ist das Ihr letztes Wort, Frau Gontrau?«

»Mein letztes, bis Ihr Vater, der Baron von Hochstein, sich an mich
oder an Irmas Eltern wendet und unsere Einwilligung zu der Verlobung
erbittet.«

»Dann hoffe ich Sie in nicht zu langer Zeit wiederzusehen,« sagte Otto
mit verbissener Wut, indem er sich zum Abschied mit tadelloser
Höflichkeit verbeugte.

»Das wird mir eine wahre Freude sein,« versetzte Ilse und entfernte
sich. --

So schnell sie konnte, eilte sie nach Hause, sie wußte ja, mit welcher
Ungeduld Irma sie erwartete. Und doch hätte sie gewünscht, einen recht
weiten Weg vor sich zu haben, denn sie brachte schlechte Nachricht für
das arme Kind.

Das junge Mädchen kam ihr auch bereits im Flur entgegen. Auf
Großmutters Antlitz las sie sofort ihr Urteil. Ohne etwas zu sagen,
wartete sie, bis Ilse Hut und Mantel abgelegt hatte und sie zu sich
rief.

»Irma,« begann die alte Dame sehr sanft, »du bist doch wohl
überzeugt, daß ich dich von ganzem Herzen lieb habe und alles tun
möchte, um dir Kummer zu ersparen, nicht wahr?«

»Ja, Großmama.«

»So höre mich an, Kindchen. Ich glaube, du wirst dir die Geschichte
mit Hochstein aus dem Sinn schlagen müssen; denn ich fürchte, er hat
mit deinem hingebenden Vertrauen schändlichen Mißbrauch getrieben, und
es hat nie in seiner Absicht gelegen, sich mit dir zu verloben und
dich zu seiner Frau zu machen.«

»Du fürchtest nur, Großmama, bist also doch nicht fest davon
überzeugt. Was hat er denn gesagt?«

»Aus seiner ganzen Haltung, seinem Wesen, seinem Tun und Handeln ist
mir das, was ich fürchtete, zur Gewißheit geworden. Ich habe ihm
gesagt, daß sein Vater entweder bei mir oder bei deinen Eltern um
deine Hand für seinen Sohn anhalten muß. Wenn das geschieht, reden wir
weiter darüber. Aber bis dahin dürft ihr keinerlei Verkehr miteinander
haben.«

Irma schwieg.

»Ihr dürft euch weder sehen, noch schreiben. Ich erwarte beinahe mit
Bestimmtheit, daß der junge Mensch durch leidenschaftliche Briefe
versuchen wird, dich zum Ungehorsam zu verleiten. Wenn er dir
schreibt, darfst du seine Briefe nicht lesen, sondern mußt sie mir
geben.«

»Großmama!«

»Ich werde sie nicht lesen, sondern ihm uneröffnet zurücksenden.«

»Nein, Großmama, das tue ich nicht,« rief Irma, ihre Ruhe verlierend.
»Er würde denken, daß ich nichts mehr von ihm wissen will. Du hast
nicht das Recht, ihn so zu behandeln. Warten wir, bis er sein Examen
gemacht hat. Wenn er dann nicht mit seinen Eltern spricht und nicht
tut, was er mir gelobt hat, und worauf ich fest vertraue, dann magst
du ihn verurteilen.«

Ilse wurde über den nichts weniger als ehrerbietigen Ton, in dem ihre
Enkelin mit ihr sprach, nicht böse, sondern nahm die Hände des
Mädchens sanft in die ihrigen und sagte ernst:

»Ich habe ihm verboten, irgend welche Beziehungen mit dir zu
unterhalten. Handelt er meinem ausdrücklichen Wunsch zuwider, so zeigt
er, daß er kein Ehrenmann ist. Überdies wird er sehr wohl begreifen,
daß nicht du, sondern ich seine Briefe zurücksende. Gottlob wird's ja
nicht lange dauern, bis wir vollkommene Klarheit haben. Er hat
gelogen, als er sagte, daß er in drei bis vier Monaten sein Examen
mache. Onkel Heinz weiß, daß es in eben so viel Wochen stattfindet.«

»Er hat mich überraschen wollen,« rief Irma mit bebenden Lippen, und
bemühte sich tapfer, ihre Tränen zurückzudrängen.

Ilse schlang die Arme um sie und küßte sie.

»Mein armes, liebes Kind,« sagte sie gerührt. »Es klingt hart, und
doch muß ich es aussprechen. Sei nicht zu hoffnungsvoll, sondern
bereite dich auf eine Enttäuschung vor. Ich fürchte, daß dir großes
Leid bevorsteht, ein Kummer, den wir alle, die wir dich lieb haben,
mit unsrer Sorge und Teilnahme dir nicht ersparen, nicht erleichtern
können, den du ganz allein durchkämpfen mußt.«

Sie ging hinaus und ließ das junge Mädchen allein. Irma begab sich auf
ihr Zimmer. Allerhand romantische Ideen gingen ihr im Kopf herum. Sie
empfand Zorn und Bitterkeit gegen ihre Großmutter. Wie kam diese nur
dazu, sich unberufen in Dinge zu mischen, die im Grund nur sie, Irma,
angingen. Sie war doch schließlich nicht ihre Mutter. Und die Kleine
überlegte, ob es nicht das Klügste wäre, ganz heimlich nach München
abzudampfen, ihren Eltern alles zu erzählen und ihre Entscheidung
anzurufen; aber erstens bangte ihr davor, die weite Reise allein zu
unternehmen, zweitens fehlte ihr das nötige Geld, und endlich sagte
ihr eine geheime Stimme in ihrem Innern, daß ihre Eltern der Großmama
recht geben, ja vielleicht noch strenger auftreten würden -- das war
also nichts. Dann dachte sie daran, Gustav zu Hilfe zu rufen. Aber so,
wie sie ihren Bruder kannte, sah sie ein, daß er ihr nicht helfen
könne. Von Agnes war auch nichts zu erwarten. Endlich kam sie auf die
verzweifelte Idee, allem und allen zu trotzen, zu Otto zu gehen und
ihm zu sagen, daß sie ihn liebe, ihm vertraue und ohne ihn nicht leben
könne. Wußte auch er keinen Ausweg, so wollten sie zusammen auf und
davon gehen -- alles war besser, als voneinander zu lassen.

Nachdem sie wohl eine Stunde mit solchen abenteuerlichen Plänen sich
beschäftigt hatte, wurde sie ruhiger und fing an einzusehen, daß ihr
nichts übrig blieb, als sich vorläufig zu fügen. Aber sie tat es mit
einem Herzen voll Groll, denn sie fühlte sich tief gekränkt und fand,
daß ihr bitteres Unrecht geschah. Ihr Gehorsam wurde überdies auf eine
schwere Probe gestellt. Zwei Tage später, als sie mit Großmama beim
Frühstück saß und das Dienstmädchen die Postsachen hereinbrachte,
bemerkte sie, daß ein Brief von Otto an ihre Adresse darunter war.
Auch Ilse war dies nicht entgangen, aber sie stellte sich ganz
unbefangen und tat, als sei sie völlig in ihre Zeitung vertieft. An
allen Gliedern bebend ergriff Irma den Brief, es war, als brenne das
Papier in ihrer Hand, als könne sie die flehenden, leidenschaftlichen
Worte durch den Umschlag hindurch lesen -- dann warf sie einen
verstohlenen Blick nach der scheinbar ahnungslosen Großmama; hätte
diese nur wenigstens gezeigt, daß sie wußte, von wem dies Schreiben
war, aber auch jetzt vertraute sie Irmas Gehorsam vollkommen.

Plötzlich warf das junge Mädchen den Brief vor die alte Dame auf den
Tisch und rief mit erstickter Stimme:

»Da hast du ihn! Aber du handelst schlecht, du tötest mich!«

Und leidenschaftlich schluchzend ging sie hinaus.

Peinlich berührt schaute Ilse ihr nach. Sie vermochte das Kind nicht
zu verdammen, denn in diesem heftigen Ausbruch erkannte sie sich
selbst wieder, wie sie vor vielen Jahren gewesen war. Sie fragte sich,
wie sie in Irmas Alter unter denselben Verhältnissen gehandelt haben
würde, und kam zu der Einsicht, daß »der Trotzkopf« von damals
vielleicht noch viel trotziger, eigensinniger und ungehorsamer gewesen
wäre. Doch diese Selbsterkenntnis machte sie in ihrem Entschluß nicht
wankend; wie groß ihr Mitleid mit dem Kinde auch war, sie mußte fest
bleiben und durfte sich nicht von ihrem Gefühle beherrschen lassen.

So nahm sie denn den Brief mit einem Seufzer auf, veränderte die
Adresse und sandte ihn zurück.

Noch nie war das Verhältnis zwischen Enkelin und Großmutter so
unfreundlich gewesen, wie in den Tagen und Wochen, die nun folgten.
Schweigend, mit einem Ausdruck, der ihr reizendes Gesichtchen
entstellte, saß Irma bei den Mahlzeiten; sie sprach kaum ein Wort, und
all die kleinen Vertraulichkeiten, die lieblichen Neckereien und
Aufmerksamkeiten, die das Leben der beiden so gemütlich und fröhlich
gemacht, hatten ein Ende. Ilse beklagte sich darüber nicht. So viel
sie konnte, tat sie, als bemerke sie die Veränderung nicht, sondern
bemühte sich unbefangen und liebevoll wie gewöhnlich zu sein. Sie
fühlte Mitleid mit dem Kinde und schaute es nur dann traurig und
vorwurfsvoll an, wenn sie auf eine freundliche Anrede eine
schnippische und ungezogene Antwort bekam.

Arme, kleine Irma! Sie konnte sich nicht aufraffen; bisher war ihr
Leben ein sonniges und ungetrübtes gewesen. Kummer und Enttäuschung
waren ihr unbekannte Gäste, mit denen sie sich nicht abzufinden wußte.
Am meisten verletzte es sie, daß sie gar so wenig Verständnis fand,
wenn sie ihr Leid klagen wollte. Der Großmutter stand sie direkt
feindlich gegenüber, und Agnes schalt darüber, daß sie sich so
abscheulich benahm. Der Einzige, bei dem sie, wenn auch keinen Trost,
so doch zärtliche Anteilnahme fand, war Onkel Heinz. Er teilte
vollständig die Ansicht seiner alten Freundin Ilse, das wußte Irma,
und in seiner Gegenwart legte sie ihrer Ungezogenheit und schlechten
Laune Zügel an. Andrerseits aber bemühte er sich nach Kräften, sie
aufzuheitern, indem er allerlei nette Pläne ausheckte, ihr häufig
etwas mitbrachte, und sie überhaupt mehr verhätschelte denn je.

Eines Abends, etwa drei Wochen nach den erzählten Vorfällen, zeigte er
dem jungen Mädchen eine Zeitungsnotiz des Inhalts, daß Baron von
Hochstein sein Referendarexamen gemacht habe. Mit dunkelrotem
Gesichtchen und glänzenden Augen schaute sie zu ihm auf, nahm ihm dann
das Blatt aus der Hand und ging damit zur Großmutter. Ilse las; auch
sie war angenehm überrascht.

»Na, Irma,« sagte sie freundlich, »nun hoffe ich von Herzen, daß dein
Freund unsrer Spannung rasch ein Ende macht; niemand wäre froher als
ich, wenn er beweisen kann, daß ich ihn falsch beurteilt habe.«

»Das wird er sicher können, Großmama,« versetzte Irma triumphierend.

Die nächsten Tage verbrachte sie in fieberhafter Erregung, die sich
noch steigerte, so oft sie den Postboten erwartete. Sie sprach wieder
und wieder mit der Großmama über die Möglichkeit, ja Gewißheit, daß
sie von dem alten Baron oder von Otto Nachricht bekommen würden, sie
hielt an ihren alten Illusionen fest und wollte das Angstgefühl, das
sie oft beschlich, nicht aufkommen lassen. Tage, Wochen vergingen,
keine Nachricht kam. Da flehte sie, an ihn schreiben zu dürfen, um
anzufragen, ob er mit seinem Vater gesprochen habe. Ilse weigerte sich
entschieden, diese Erlaubnis zu geben.

»Ich tue es doch,« rief Irma, »ich muß Gewißheit haben. So kann ich
nicht weiter leben.«

»Du mußt wissen, was du tust,« entgegnete die Großmutter ruhig. »Wenn
du dich so erniedrigst, deine weibliche Würde mit Füßen trittst und
mir ungehorsam bist, schreibe ich noch heute an deine Eltern, dann ist
hier kein Platz mehr für dich.«

Vor Aufregung bebend blickte das junge Mädchen die alte Dame an, aber
in den ernsten, dunklen Augen war nur unbeugsame Festigkeit zu lesen.
Zornig mit den Füßen stampfend wandte Irma sich ab.

Die Versuchung, ungehorsam zu sein und ihrer Sehnsucht nachzugeben,
wäre vielleicht doch übermächtig geworden, da kam endlich die
erwartete Entscheidung, wenn auch in ganz anderer Weise, als sie sich
eingebildet hatte.

Einige Tage nach dem geschilderten Ausbruch nämlich reichte Ilse ihrer
Enkelin einen offenen Brief, der in der wohlbekannten Hand ihre
Adresse trug.

Das Blut stieg Irma ungestüm in die Wangen, dann wurde sie totenblaß
und öffnete zitternd das Blatt.

Es war eine gedruckte Anzeige der Verlobung des Barons Otto von
Hochstein mit der Freiin Laura von Staufenberg.

Einige Sekunden starrte Irma wie geistesabwesend auf den
verhängnisvollen Bogen, der all ihre Hoffnungen zerstörte, allem
Liebesglück und Vertrauen ein jähes und grausames Ende bereitete. Sie
strich sich mit der Hand über die Stirn, stand auf und wollte der
Großmama die Verlobungsanzeige geben, aber plötzlich drehte sich das
ganze Zimmer mit ihr im Kreise, sie schwankte und brach mit einem
dumpfen Wehlaut zusammen.

Als sie wieder zu sich kam, lag sie in ihrem Zimmer auf der
Chaiselongue. Über sie gebeugt stand die Großmama, die ihr Stirn und
Schläfen mit kölnischem Wasser badete und sie so unendlich liebevoll
und zärtlich besorgt anschaute, daß Irma die Arme um den Hals der
alten Dame schlang und in ein fassungsloses, leidenschaftliches
Schluchzen ausbrach.

Kein Wort des Tadels oder Vorwurfs kam über Frau Gontraus Lippen. Sie
küßte das Kind, preßte es an sich und suchte es zu beruhigen.

Irma weinte und weinte, als sollte ihr das Herz brechen.

»Es ist furchtbar hart,« flüsterte Ilse endlich, »aber du mußt darüber
hinwegkommen, Liebling, du mußt.«

»Ich kann nicht, er war mein ein und mein alles, Großmama, und mein
Vertrauen zu ihm war grenzenlos.«

»Armes Kind, fühlst du denn nicht, wie furchtbar er dich beleidigt,
wie schändlich er dich behandelt hat?«

»Ich weiß nicht,« stöhnte die Kleine, »ich fühle nur, daß ich ihn
liebe.«

Ilse seufzte, aber sie sah ein, daß Trostesworte vorläufig noch
wirkungslos blieben. Nur allmählich konnte es gelingen, bei Irma das
Gefühl der Gekränktheit und des beleidigten Stolzes wachzurufen, das
ihr über diese erste bittere Enttäuschung hinweghelfen würde.

Als Professor Fuchs das Vorgefallene erfuhr, wurde er wütend, und ein
heftiger Gichtanfall packte ihn. Er entwarf die wahnsinnigsten Pläne,
wollte Hochsteins Handlungsweise überall verkünden und ihn dadurch bei
seinen Korpsbrüdern unmöglich machen, wollte ihn fordern oder ihm
wenigstens auf die Bude rücken und ihm die schöne Visage zerbläuen.

Nur mit Mühe gelang es seiner alten Freundin, ihn zur Vernunft zu
bringen und ihm klar zu machen, daß stolzes Schweigen das Beste und
Würdigste sei.

Während der nächsten Wochen schien es, als sei Irma durch diesen
Schlag vollständig geknickt. Mit beunruhigend blassem Gesichtchen und
mattem Lächeln ging sie umher, und eine große Mutlosigkeit hatte sich
ihrer bemächtigt. Ihre schelmische Munterkeit, ihr kecker Übermut
waren vollständig verschwunden. Ein freundliches Wort, eine Liebkosung
trieb ihr Tränen in die Augen, und alle Pläne Ilses, ihr eine
Zerstreuung zu verschaffen, beantwortete sie mit einem gleichgültigen:
»Nein, lieber nicht, Großmama.«

Selbst ihre Toilette machte ihr keine Freude, und das war ein böses
Zeichen. Das kleine, eitle Geschöpf, das sonst mit einem Ernst, als
gälte es die wichtigsten Dinge, über eine hübsche Bluse oder einen
neuen Anzug zu reden pflegte, zog des Morgens das erste beste an, was
ihr unter die Hände kam; das prachtvolle Haar wurde nicht wie früher
sorgfältig frisiert, sondern nachlässig und lose aufgesteckt, ohne daß
Irma den Spiegel zu Rate zog. Am liebsten saß sie ganze Tage allein
auf ihrem Zimmer, und nur mit Mühe ließ sie sich überreden, hinunter
zu kommen. Ilse litt es freilich nicht, daß sie sich ganz absonderte,
und zwang sie im Familienkreise zu erscheinen.

Onkel Fritz und Tante Marianne wußten zwar nicht genau, was
vorgefallen war, aber so weit waren sie doch eingeweiht, daß sie sich
Irmas verändertes Wesen erklären konnten. Sie sowohl wie Maud spielten
mit keiner Silbe auf die Veranlassung an, sondern taten im Gegenteil,
als merkten sie nichts. Beide hegten großes Mitleid für die Kleine und
bemühten sich in ungesuchter Weise, sie etwas aufzuheitern.

Onkel Heinz war durch einen heftigen Anfall seines alten Leidens ans
Haus gebunden. Der Zorn über Baron Hochstein, der Ärger, daß er ihn
nicht zur Verantwortung ziehen durfte und die ganze Wut
hinunterschlucken mußte, verschlimmerten das Übel in hohem Grade.
Aber, während der Professor sich sonst unter ähnlichen Umständen ganz
ungenießbar zeigte, und jeden, der es wagte, ihn zu besuchen, durch
seine schlechte Laune und seine bissigen Ausfälle fortgraulte, schrieb
er jetzt humoristische Briefchen an Irma und bat sie, zu ihm zu
kommen. Als sie seiner Einladung folgte, erzählte er ihr die
lustigsten Schnurren und verstand es so meisterlich sie aufzuheitern,
daß sie lachen mußte und ihr Leid, wenigstens für kurze Zeit, vergaß.

       *       *       *       *       *




Müllers rüsteten allmählich zu Mauds Hochzeit. Nur noch einige Wochen,
dann kam John, um seine Braut zu holen; erst wollten sie eine schöne
Hochzeitsreise durch Europa machen und sich dann in San Francisko
niederlassen.

Irma nahm an diesen festlichen Vorbereitungen nicht teil. Als Gustav
und Flora sowie Reichers -- denn auch Hans war eingeladen -- ihre
baldige Ankunft meldeten und Herr und Frau von Holten gleichfalls
schrieben, daß sie kommen würden, bat sie unter Tränen Großmama Ilse,
ob es nicht möglich sei, sie für diese Zeit fortzuschicken. Sie fühle
sich außer stande, all die Festlichkeiten mitzumachen; sie würde zu
viel an ihren eigenen Herzenskummer denken müssen und schwer darunter
leiden.

Ilse schüttelte den Kopf:

»Hör' mal, Kindchen,« sagte sie fest, »es wird Zeit, daß wir ein
ernstes Wörtchen miteinander reden. Du mußt doch endlich einsehen, daß
du dich deinem Schmerz nicht ausschließlich hingeben darfst.
Hochstein ist für dich verloren, davon mußt du doch überzeugt sein.«

»Das bin ich ja,« entgegnete Irma, »aber eben deshalb hat mein Leben
keinen Wert mehr für mich.«

»Unsinn, du mußt einsehen lernen, daß der Mensch gar nicht wert ist,
daß du so um ihn trauerst. Kommst du nicht auf Mauds Hochzeit, so weiß
jeder, weshalb. Was ich dir jetzt sagen muß, Irma, ist hart, aber ein
energisches Mittel ist bei dir wirklich nötig. Ein Mädchen, dem so
mitgespielt wurde wie dir, findet wohl Teilnahme. Zeigt sie aber
jedem, daß sie sich um solch unwürdigen Gecken grämt, so lacht man
schließlich über ihre Rührseligkeit und Überspanntheit. Kannst du
deine Enttäuschung noch nicht verwinden, so trage deinen Kummer
wenigstens still und heimlich, damit du den Leuten nicht das Recht
gibst, sich über dich lustig zu machen.«

Irma richtete sich auf; dunkle Röte färbte ihre Wangen; Großmutters
Worte trafen sie wie Peitschenhiebe, und unwillkürlich zog sie ihre
Hand zurück, als die alte Dame sie zärtlich streicheln wollte; aber
sie weinte nicht mehr, und in der stillen Hoffnung, daß ihre Worte
doch ihren Zweck erfüllen würden, zog sich Ilse zurück.

»Ich muß der Großmama beipflichten,« sagte Agnes an demselben
Nachmittag, als Irma ihr von dieser Unterredung erzählte, »es ist
gerade so, als ob du keinen Stolz mehr besäßest.«

Wie gewöhnlich lag Irma auf ihrer Ruhebank, sie zeigte sich aber nicht
mehr ganz so teilnahmlos und gleichgültig wie sonst, wenn sie auch
nicht zugeben wollte, daß die Großmama recht hätte.

»Du verstehst mich nicht, Agnes,« erwiderte sie. »Du bist verlobt und
behauptest Ludwig zu lieben, aber du bist viel zu nüchtern und
praktisch, um zu fühlen, was wahre Liebe ist.«

Agnes lachte. »Wenn wahre Liebe darin besteht, sich mit Füßen treten
zu lassen und jemand nachzuträumen, der deutlich zeigte, daß er nur
mit dir gespielt hat, dann -- ja dann habe ich keinen Schimmer davon,
denn so etwas ließe ich mir nicht bieten.«

»Agnes!« rief Irma, im höchsten Grade erzürnt, »wenn Großmama mir
solche Dinge sagt, mag das noch hingehen, von dir vertrage ich das
nicht.«

»Und doch ist es die Wahrheit,« fuhr die andere eifrig fort. »Komm'
mal her,« sie zog ihre widerstrebende Cousine vor den Spiegel, »schau
dich mal an. Ist's nicht jammerschade, daß ein Mädchen wie du, so
schön, mit solcher Gestalt, solchem Haar und solchen Augen, sich um
dieses Menschen willen so häßlich macht! Du bist wirklich in letzter
Zeit nicht hübscher geworden.«

»Was liegt mir daran?« versetzte Irma. Aber sie schaute doch in den
Spiegel, und ihr wurde angst, daß Agnes am Ende wohl recht haben
könne.

Diese bemerkte ihren Vorteil und fuhr mit gesteigerter Wärme und
Innigkeit fort:

»Liebstes Kind, du kannst für den einen hundert andere bekommen. Wäre
ich so schön wie du, wahrlich ich würde ihm das Vergnügen nicht
gönnen, mit spöttischem Mitleid über mich die Achseln zu zucken.«

»Das Vergnügen soll ihm nicht zu teil werden,« rief Irma; »er braucht
doch nicht zu wissen, daß ich mich um ihn gräme.«

»Als ob ihm das nicht zu Ohren kommen würde! Machst du Mauds Hochzeit
nicht mit, so erfährt er das sicher. Es kommen mehrere Studenten und
Offiziere, die ihn kennen. Soll er denn denken, daß du ohne ihn nicht
leben kannst! Weißt du, was du tun müßtest?«

»Nein.«

»Auf die Hochzeit gehen, dich so schön wie möglich machen und so
lustig sein, daß keine Seele etwas merkt. Glaube mir, ich kenne die
Welt besser als du; wenn Hochstein denken muß, daß du dir's nicht zu
Herzen nimmst, wird er sich ärgern, und das ist doch wohl die kleinste
Strafe, die er verdient.«

Der matte, gleichgültige Ausdruck in Irmas Augen verschwand, ihre
Wangen röteten sich, und mit einem schwachen, selbstzufriedenen
Lächeln nickte sie ihrem Spiegelbilde zu.

»Vielleicht hast du recht,« sagte sie, »ich will mich bemühen, deinem
Rat zu folgen. Versprich mir nur eins -- nie mehr über Otto zu reden.«

»An mir wird es nicht liegen, wenn's doch geschieht,« entgegnete Agnes
munter, »denn ein angenehmer Gesprächsstoff ist er für mich wirklich
nie gewesen.«

Von nun an änderte sich Irma. Als ihre Eltern kamen, und Ruth, die von
ihrer Mutter in alles eingeweiht wurde, sie schweigend, mit
vielsagender Innigkeit umarmte, setzte ihr Töchterlein sie in
Erstaunen, indem es lachend rief:

»Hör' mal, Mamachen, wenn du glaubst, mich bemitleiden zu müssen, bist
du auf dem Holzwege. Großmama hätte dir die kindische Geschichte mit
Baron Hochstein nicht zu erzählen brauchen. Ich habe sie längst
vergessen.«

»Aber Kind, ich glaubte dich ganz niedergebeugt und traurig zu finden.
Ich dachte, du liebest ihn.«

»Ach wo denn, ich bildete mir das nur ein. Jetzt weiß ich, daß es so
ganz gut ist und habe es völlig überwunden.«

»Um so besser, mein Liebling,« sagte Ruth erfreut. Aber als sie der
Großmutter Irmas Worte wiederholte, schüttelte diese das alte, graue
Haupt.

»Mamachen, du bist doch nie zufrieden,« meinte Ruth etwas ärgerlich.
»Was willst du denn mehr? Wir können doch wirklich froh sein, daß die
Kleine die Geschichte so verständig auffaßt.«

»Liebe Ruth,« versetzte Ilse nachdenklich. »Der Übergang ist mir zu
schroff. Wir mußten Irma aus ihrer Teilnahmlosigkeit förmlich
aufrütteln, indem wir ihren Stolz und ihre Eigenliebe zu Hilfe riefen,
nun aber fürchte ich, daß ihre Eitelkeit den Sieg davontragen und sie
zu irgend einem dummen Streich verleiten wird.«

Ungläubig schaute Ruth die Mutter an.

»Zum Beispiel,« fuhr Großmutter leise fort, »aus Trotz den ersten
besten Mann zu nehmen.«

Frau von Holten schwieg; an solch eine Möglichkeit hatte sie noch
nicht gedacht.

»Ich glaube, du übertreibst, Mama,« sagte sie endlich. »Irma ist in
jeder Hinsicht noch das reine Kind.«

»Eben darum,« behauptete Ilse, aber da ihre Enkelin gerade ins Zimmer
trat, wurde das Gespräch nicht fortgesetzt. --

Der Bräutigam, John Forster, war angekommen und machte seinen neuen
Verwandten einen sehr angenehmen Eindruck. Er war ein großer,
stattlicher junger Mann, blond und breitschultrig, mit energischem
Ausdruck in den stahlblauen Augen und großer Ruhe und Gelassenheit in
seinem Auftreten. Er und Maud bildeten ein sehr gesetztes Paar; Flora,
die mit ihrem Manne bei Großmutter Gontrau wohnte, wunderte sich im
stillen, daß Braut und Bräutigam nach so langer Trennung einen ganzen
Abend beisammen sein, sich mit jedem gemütlich unterhalten konnten,
und nicht einzig und allein für einander Ohren und Augen hatten.

Als Flora schüchtern bemerkte, daß John und Maud nicht den Eindruck
eines verliebten Paares machten, lachte die junge Braut so heiter und
herzlich, und aus ihren hübschen, ernsten Augen strahlte ein so
sonniges Glück, daß niemand an ihrer innigsten Liebe und Zuneigung
für einander zweifeln konnte. --

Onkel Heinz, der mit Hilfe eines Stockes wieder umherhumpelte, setzte
die ganze Familie, die ihn noch ans Zimmer gebunden glaubte, in
Erstaunen, als er plötzlich eines Abends in ihrem Kreise erschien. Er
unterhielt sich viel mit dem jungen Amerikaner; aber als Hans Reicher
ankam, hätte der Professor leicht in den Verdacht der Unbeständigkeit
und Launenhaftigkeit kommen können, denn nun zog er die Gesellschaft
des jungen Gutsbesitzers jeder anderen vor und vertiefte sich mit ihm
in alle möglichen Fragen des Ackerbaus und der Viehzucht. Hans
verweilte gern bei dem alten Sonderling; Onkel Heinz hatte sich sofort
angeboten, ihn als Logiergast aufzunehmen, und da bei Müllers wie bei
Ilse Gontrau das Haus besetzt war, nahm Hans dies Anerbieten dankend
an.

Große Hochzeitsfeierlichkeiten sollten nicht stattfinden, die Abende
aber, die der heiligen Handlung vorangingen, verbrachte die Familie
stets gemeinsam. Es wurde viel musiziert, mitunter auch getanzt, und
das Zusammensein mit einem gemütlichen Abendessen beschlossen. Irma
nahm so heiter an allem teil, daß jeder sich darüber wunderte. Als sie
am ersten Abend erschien, anmutiger denn je, in einem hellgrünen,
duftigen Kleide, schelmisch und ausgelassen wie früher mit der Jugend
Unsinn trieb, die älteren Herren durch ihr Geplauder bezauberte, so
daß sie bald wieder der Mittelpunkt war, um den sich alles drehte,
schüttelte Maud ernst den Kopf und flüsterte ihrer Schwester zu:

»Die Irma ist doch wirklich eine arge Kokette; von ihr kann man auch
sagen: Viel Lärm um Nichts!«

Agnes schwieg und schaute bekümmert nach Irma, die gerade auf dem Sofa
saß. Vor ihr stand Hans Reicher und hörte mit ernster Miene ihrem
Geplauder zu. Das Mädchen war bildschön, wenn möglich noch schöner als
früher, aber ihrem Benehmen fehlte das reizend Kindliche, das sie so
unwiderstehlich gemacht hatte. Mit ausgesprochener Gefallsucht
streckte sie den kleinen Fuß vor, um dessen tadellose Form zur Geltung
zu bringen; sie bemühte sich, während sie saß, die anmutigste Haltung
anzunehmen, lehnte ihr blondlockiges Köpfchen an den Sessel, weil sie
wußte, daß es sich von dem roten Plüsch besonders vorteilhaft abhob;
sie lachte, um ihre Perlzähnchen zu zeigen, schlug die großen
Vergißmeinnichtaugen bald schüchtern, bald wieder übermütig auf und
bemerkte mit einem häßlichen Triumphgefühl befriedigter Eitelkeit, wie
sie den guten Hans in Verwirrung brachte und bezauberte.

»Ob Hans weiß, was Irma durchgemacht hat?« fragte Maud plötzlich ihre
Schwester.

»Nein, wer sollte ihm das erzählt haben?«

»Ich dachte, du oder Ludwig.«

»Ich werde mich hüten. Wir haben das Recht nicht, Irmas Geheimnis an
die große Glocke zu hängen -- das wäre garstig.«

»Allerdings,« gab Maud zu, »aber ich glaube, der arme Hans hat wieder
Feuer gefangen, und siehst du denn nicht, wie furchtbar sie mit ihm
kokettiert?«

»Gewiß, aber weil sie so stark aufträgt, wird er's wohl merken, und
tut er das nicht, so ist er ein Schaf,« entgegnete Agnes unwillig.

Hans Reicher war der Einladung zu Mauds Hochzeit mit schwerem Herzen
gefolgt. Ihm bangte vor dem Wiedersehen mit Irma. Fern von ihr, in
Anspruch genommen durch seinen Beruf und seine vielen Geschäfte, hatte
er die Kraft besessen, seinen Kummer zu beherrschen, das
Unvermeidliche zu tragen, ohne sich in Sehnsucht zu verzehren nach
einem Glück, das ihm unerreichbar dünkte. In den ersten Wochen nach
Gustavs und Floras Hochzeit hatte er täglich die Anzeige von Irmas
Verlobung mit Hochstein erwartet, und als diese nicht kam, schließlich
Ludwig ausgeforscht.

Aber der Bruder, der von seiner Braut nicht in Irmas Herzensgeheimnisse
eingeweiht war, hatte nichts gewußt, und Hans zu stolz, um sich
bedauern zu lassen, hatte nicht weiter geforscht und nicht
widersprochen, als Ludwig eine Anspielung machte, daß seine Zuneigung
für das schöne Mädchen rasch verflogen zu sein schiene.

Trotz aller Vernunftgründe, die dafür sprachen, die Einladung
abzulehnen und Irma nicht wiederzusehen, um seine teuer erkaufte Ruhe
nicht von neuem aufs Spiel zu setzen, war er doch zur Hochzeit
gekommen, getrieben von seiner Sehnsucht nach der Geliebten. Er hatte
sich aber fest vorgenommen, ihr kühl gegenüber zu treten und ja nie
den unglücklich Liebenden zu spielen, um nicht ausgelacht zu werden.

Irma begrüßte ihn mit unerwarteter Herzlichkeit. Sie sprach so
freundlich mit ihm, bewies plötzlich so viel Teilnahme an allem, was
ihn betraf, schaute ihn so merkwürdig an, daß der arme Hans seine
guten Vorsätze vergaß und seine Hoffnung, Irma dereinst doch die seine
zu nennen, sich auf Riesenschwingen emporhob. Von Hochstein hörte er
nichts, also war das doch nur ein vorübergehender Flirt gewesen. Seine
Klugheit verließ ihn vollständig; er war wie mit Blindheit geschlagen,
merkte die Gefallsucht des schönen Mädchens nicht, sondern sah dieses
in dem Lichte, in dem er es sehen wollte, und so kam er zu dem
Entschluß, nicht eher heimzukehren, als bis er Gewißheit hätte.

An dem Abend, an welchem Maud ihre Schwester auf Irmas leichtfertiges
Betragen aufmerksam machte, fühlte Hans sich im siebenten Himmel. Er
erzählte von seinem Schaffen und Streben, von den Verbesserungen, die
er in den letzten Jahren eingeführt habe, und sie tat, als lauschte
sie aufmerksam, klappte dabei ihren Fächer auf und zu, hielt ihn aber
zum öftern vors Gesicht, um ihr unterdrücktes Gähnen zu verbergen, und
sagte endlich:

»Trotz alledem ist's doch wohl ein bißchen langweilig, immer auf dem
Lande zu sitzen, Hans, wie? Möchten Sie nicht lieber in einer großen
Stadt wohnen?«

»Bisher habe ich mich noch nie danach gesehnt. Ich fühlte mich in
meiner Umgebung und bei meiner Arbeit vollkommen glücklich.«

»Sie sprechen von 'bisher', ist es denn jetzt nicht mehr so?«

»Jetzt bin ich nahe daran, mir einen Beruf zu wünschen, der mich mehr
unter Menschen und in das Leben und Treiben der Großstadt führt.«

»Wie ist das möglich?« fragte Irma mit der unschuldigsten Miene von
der Welt. »Warum denn?«

Hans beugte sich zu ihr herab. Er sah bleich aus, und seine Lippen
bebten als er ihr zuflüsterte:

»Weil ich es dann eher wagen würde, eine Bitte auszusprechen, deren
Erfüllung mich zum glücklichsten aller Sterblichen machen würde.
Verstehen Sie mich, Irma?«

»Hans!« ertönte plötzlich die barsche Stimme von Professor Fuchs, »wir
brauchen einen vierten Mann zum Whist. Von Ludwig kann natürlich keine
Rede sein; als Bräutigam ist er verliebt und also nicht normal; kommen
Sie nur mit, mein Junge.«

»Aber Onkel Heinz,« schmollte Irma, »da ist doch noch Gustav und
Papa.«

Der alte Herr fing an zu lachen. »Mit den beiden spiele ich nicht; ich
glaube nicht, daß sie einen Buben von einem König unterscheiden
können.«

»Ich habe keine Lust, meine Dame im Stich zu lassen, Herr Professor,«
wehrte sich Hans, »ich mache mir nichts aus Whist.«

»Der Mensch kann nicht immer tun, was er am liebsten mag; wenn ich den
ganzen Abend das Getue und Geschwätz der Leute hier sehen und anhören
muß, kriege ich einen neuen Gichtanfall. Also erbarmen Sie sich des
alten Brummbären.«

Hans schaute Irma an; sie lachte ihm mit solch lieblichem Erröten und
solcher Verheißung in den strahlenden Augen zu, daß ihm vor seliger
Erwartung schwindelte. Er ergriff ihr Händchen, drückte es so kräftig
und lange, bis es ihr förmlich weh tat, und folgte Onkel Heinz.

Irma seufzte und lächelte doch zugleich. Ihr gegenüber hing ein großer
Spiegel; sie schaute hinein und dachte gerade, wie wunderhübsch sie
doch eigentlich sei, als sie im Glase dem ernsten Blick der Großmama
begegnete, welche sie ruhig und streng ansah. Das Mädchen wandte sich
ab und wurde rot bis unter die Haarwurzeln. Aber sie befand sich in
übermütiger Laune. Der Kummer, den sie erlitten, hatte sie zuerst fast
zerschmettert; dann hatte die arge Niederlage ihrer Eitelkeit den
Schmerz verdrängt, und das Gefühl des Unglücks und der Trauer hatte
sich in Bitterkeit umgewandelt. Sie war an ihrem wundesten Punkt
getroffen worden, nun raste sie weiter auf dem Wege, den sie einmal
eingeschlagen hatte -- und als Hans ihr an diesem Abend das Geleite
gab und ihr beim Einsteigen in den Wagen zuflüsterte:

»Darf ich Ihnen morgen weitererzählen, Irma, was ich erbitten möchte,
und was mich so unendlich glücklich machen würde?« neigte sie ihr
Köpfchen, zog die Hand zurück und lispelte kokett:

»Ich habe wirklich gar keine Ahnung, was das sein kann, aber wenn Sie
mich zu Ihrer Vertrauten machen wollen, ist mir's recht.«

Nun stand sie in ihrem Schlafzimmer im weißen Unterröckchen vor dem
Spiegel und bürstete ihr Goldhaar. Sie nahm die seidenen Locken in
die Hände und streichelte sie liebkosend, wobei ihr einfiel, womit
Otto von Hochstein sie so oft verglichen hatte: mit Kornähren, auf
welche die Sonne schien, mit gesponnenen Sonnenstrahlen und flüssigem
Gold. In einer bitteren Aufwallung wand sie ihre Locken plötzlich in
einer dicken Flechte um den Kopf und tat dies so heftig und mit so
harter Hand, daß verschiedene von den spinnwebenfeinen Goldfäden an
ihren spitzen Fingerchen hängen blieben.

Da öffnete sich die Tür ihres Zimmers, und Ilse, bereits im
Nachtgewand, das weiße Haar unter einer Haube verborgen, trat ein.

»Ist etwas geschehen, Großmama?« fragte Irma erschreckt. »Ist dir
nicht wohl?«

»Ich wollte noch mit dir sprechen, Kind.«

Irma schaute der Großmama in das feine Antlitz, das einen sehr
strengen Ausdruck zeigte; und als ahne sie den Zweck dieser
Unterredung, unterdrückte sie ein Gähnen, blickte nach der Wanduhr und
sagte:

»Es ist schon so spät.«

»Das tut nichts. Ich finde keine Ruhe, bevor ich dich nicht gefragt
habe, ob du die Absicht hast, Hans Reicher zu nehmen, wenn er sich um
dich bewirbt?«

Irma wurde glühend rot.

»Ja,« sagte sie, und fügte spottend hinzu:

»Findest du das nicht herrlich, solch guten Mann, auf den ihr alle so
große Stücke haltet? Diesmal kannst du doch nichts gegen meine Wahl
einwenden?«

»Liebst du Hans?« fragte Ilse streng.

»Ich glaube. Und es ist schon sechs Wochen her, seit Hochstein seine
Verlobung anzeigte. Da wird es hohe Zeit, daß er von mir Ähnliches
hört.«

»Du willst Hans heiraten, ohne ihn zu lieben, nur aus Trotz und
gekränkter Eitelkeit?«

»Warum nicht, Großmama? Du hast selbst gesagt, ich müsse meinen Kummer
überwinden, ich würde für rührselig und verschroben gehalten werden,
wenn ich fortführe zu trauern. Nun wird wenigstens keiner mehr über
mich lachen.«

»Du solltest meine Worte nicht absichtlich verkehrt auslegen,«
erwiderte die Großmama, und ihre dunklen Augen schauten Irma so
strafend an, daß sie die ihren niederschlug. »Du weißt ganz gut, was
ich meinte. Du bist im Begriff, eine große Dummheit zu begehen, und
eine Schlechtigkeit obendrein. Wem nützt es etwas, wenn du dich und
Hans unglücklich machst? Glaubst du, daß Otto von Hochstein sich das
zu Herzen nehmen würde?«

»Es wird ihn wenigstens ärgern, wenn er sieht, daß ich ihn so rasch
vergessen habe.«

»Und um eines so armseligen Triumphes willen, dessen du überdies noch
nicht einmal sicher bist, willst du dich erniedrigen, indem du einen
Mann heiratest, den du nicht liebst! Das verbiete ich dir, Irma. Ich
warne dich, ich will das nicht.«

»Aber ich will!« rief Irma auffahrend und in einem Tone, den sie ihrer
Großmutter gegenüber noch nie angeschlagen hatte. »Wenn Hans um mich
anhält, nehme ich ihn; ich will doch sehen, wer mir das verbieten
kann.«

Mit flammenden Augen stand sie vor der alten Dame.

Ilse blickte sie an und erkannte sich selbst in dem aufgeregten,
überreizten Kinde wieder, das jedem Vernunftgrunde unzugänglich war
und alles opfern wollte, um seinem trotzigen Sinne zu folgen. Die alte
Frau fühlte ihren Zorn schwinden; sie begriff, daß der Kummer und die
Enttäuschung, die Irma erfahren hatte, schlecht auf ihren Charakter
wirkten, anstatt sie demütig und geduldig zu machen, den Geist des
Widerstandes und gekränkten Stolzes in ihr weckten. Sie sah ein, daß
mit Gewalt und Strenge hier nichts auszurichten war.

»Wirst du Hans sagen, was du erlebt hast?« fragte sie ruhig.

»Nein, natürlich nicht.«

»So hast du also die Absicht, ihn zu betrügen?«

»Otto hat mich auch betrogen.«

»Ist das ein Grund? Mußt du ebenso schlecht sein wie er?«

»Das ist mir ganz egal,« rief Irma heftig. »Du kannst stundenlang
reden, Großmama. Ich will der Welt zeigen, daß Irma von Holten um
einen neuen Anbeter nicht verlegen ist, wenn der alte sie im Stich
gelassen hat.«

»Denke darüber nach, Kind, ich warne dich zum letzten Male.«

Aber Irma wandte sich ab und gab keine Antwort mehr.

       *       *       *       *       *




Großmutter Gontrau verbrachte eine schlaflose Nacht, und als sie
andern Tages am Frühstückstisch erschien, sah sie so angegriffen aus,
daß es allen auffiel. Auf die Frage, was ihr fehle, erwiderte sie, daß
sie nur ein wenig Kopfweh habe; sie sehne sich nach frischer Luft und
wolle einen kleinen Spaziergang machen. Ruth erbot sich, die Mutter zu
begleiten, doch Ilse wünschte allein zu gehen, dann brauche sie nicht
zu reden. Irma und Flora sollten den Morgen benützen, um ihre
Toiletten für das große Ereignis, die Hochzeit, in Ordnung zu bringen,
auch die andern hätten gewiß noch manches zu besorgen, und sie wolle
niemand stören.

Großmutter Ilse ging nicht weit. Das Gartentor von Müllers Villa stand
offen, und in der Laube saßen Maud und John.

»Was, liebe Großmama, du hast dich so früh schon aufgemacht?«

»Ja, liebes Bräutchen, ich hatte ein paar Besorgungen zu machen und
wollte mich hier ein Weilchen ausruhen. Du brauchst Mama nicht zu
rufen, ich weiß, wieviel sie zu tun hat. Wo sind die jungen Leute?«

»Ludwig und Agnes sind spazieren gegangen. Natürlich, wenn die mal
auskneifen können, tun sie's mehr wie gern. Hans war eben hier, jetzt
ist er mit Papa hinten im Garten.«

»So will ich ihn aufsuchen, ich muß ihm etwas sagen. Nein, liebes
Kind, nicht neugierig sein. Du weißt, in den Hochzeitstagen hat die
Familie eine Menge Geheimnisse, von denen das Brautpaar nichts wissen
darf.«

»O, ich bin nicht neugierig,« erwiderte Maud und setzte sich ruhig
wieder neben John, der ihr aus einer englischen Zeitung vorlas,
während sie mit einer Handarbeit beschäftigt war.

Hans kam gerade um die Ecke und zeigte sich sehr erfreut, Ilse zu
sehen.

»Schon so früh hier, gnädige Frau? Ich will Frau Müller rufen.«

»Nein,« versetzte die alte Dame, »das ist nicht nötig. Eigentlich kam
ich zu Ihnen, Reicher, denn ich erwartete Sie hier zu finden.«

»Zu mir, gnädige Frau? Kann ich etwas für Sie tun?«

»Ja,« sagte Ilse. »Wollen Sie mich nach Hause begleiten?«

»Sehr gern. Ich stehe ganz zu Ihren Diensten.«

Sie verließen zusammen die Villa und plauderten einige Augenblicke
über gleichgültige Dinge. Dann schlug Großmutter Gontrau einen
Seitenweg ein, der durch einen kleinen Park nach ihrer Wohnung führte.
Hier war es sehr still. Hans, der noch immer nicht wußte, was sie mit
ihm zu besprechen hatte, schaute sie verwundert von der Seite an.

»Darf ich Ihnen eine unbescheidene Frage vorlegen, Reicher?«

Hans nickte ein wenig beklommen, er wußte selbst nicht warum.

»Lieben Sie meine Enkelin Irma?«

»Ja, gnädige Frau,« sagte er schlicht, aber das genügte. Der ernste
Ausdruck seiner grauen Augen, der tiefe, volle Klang seiner Stimme
machten alle weiteren Beteuerungen überflüssig.

Ilse reichte ihm die Hand.

»Das freut mich,« erwiderte sie, »ich glaube nicht, daß es auf der
ganzen weiten Welt einen Mann gibt, dem ich sie lieber anvertrauen
würde.«

»O, wie innig danke ich Ihnen, gnädige Frau,« stammelte Hans entzückt.

»Und doch muß ich Ihnen abraten, ihr jetzt schon die große Frage zu
stellen. Warten Sie noch.«

»Weshalb raten Sie mir das, gnädige Frau?«

»Irma ist noch so jung ...« entgegnete Ilse zögernd, »so unbesonnen.«

»Ach, gnädige Frau, wenn das der einzige Grund ist, dann glaube ich,
daß eine Liebe wie die meine, so warm, so treu und gut gemeint, sie
reifer machen wird.«

»Es gibt noch einen andern Grund.«

»Und wenn es hundert gäbe, Frau Gontrau,« rief Hans ungeduldig, weil
die alte Dame nur in halben Andeutungen sprach, »ich kann nicht
warten; gestern habe ich Irma gegenüber bereits angedeutet, daß ich
heute diese wichtige Frage stellen werde. Warum sind Sie dagegen?«

»Weil Irma Sie zur Zeit noch nicht liebt, und wenn sie Ihren Antrag
annimmt, es aus Trotz tut, aus gekränkter Eitelkeit, weil ein anderer
mit ihr sein Spiel getrieben hat.«

Hans Reicher wurde totenbleich und schaute Ilse Gontrau entsetzt an.
Über sein offenes, ehrliches Antlitz legte sich ein Ausdruck so tiefen
Kummers, daß sie fühlte, wie ihre Augen feucht wurden. Ganz in der
Nähe stand eine Bank unter einem Platanenbaum, der sie den Blicken
Vorübergehender entzog. Sie nahm seine Hand und zwang ihn, sich neben
sie zu setzen.

Dann erzählte sie ihm alles.

Er hörte ihr zu, gesenkten Hauptes und mit fest zusammengepreßten
Lippen. Ilse hatte wohl einen Ausruf der Entrüstung, des Schmerzes
erwartet, aber er schwieg.

»Reicher,« begann sie endlich wieder, »Sie müssen doch einsehen, daß
ich Ihnen das alles gesagt habe, weil es meine Pflicht ist, weil ich
nicht anders konnte. Ich habe Irma gewarnt, doch sie hat nicht hören
wollen. Möglich, daß ich zu schwach gegen sie war, aber ich habe sie
so über alle Maßen lieb! Jetzt muß ich sie gegen ihr eigenes Ich zu
schützen suchen. Sie braucht eine harte Lehre. Ist Ihre Liebe groß
genug, um ihr diese zu erteilen?«

»Ja, gnädige Frau.«

»Für den Augenblick ist sie entschlossen, Ihnen ihr Jawort zu geben.
Ist Ihre Liebe stark genug, um dasselbe jetzt nicht anzunehmen und sie
zu hindern, daß sie etwas tut, was schlecht und ihrer nicht würdig
ist?«

»Ja, gnädige Frau.«

Bewundernd drückte Ilse ihm die Hand.

»Ich wußte wohl, daß ich mich in Ihnen nicht getäuscht habe. Alles,
was wir gesprochen haben, bleibt ein Geheimnis zwischen uns beiden. Es
wird eine Zeit kommen, in der Irma ihr Unrecht einsieht.«

»Das glaube ich nicht, gnädige Frau, wage auch nicht, darauf zu
hoffen. Ich werde Irma ewig lieben, weil ich nicht anders kann, weil
ich gleich beim ersten Mal, als ich sie sah, fühlte, diese oder keine.
Aber liebe ich sie auch noch so unendlich, mit mir spielen lasse ich
nicht.«

Großmutter Gontrau zog sich, so bald sie wieder nach Hause gekommen
war, ungesehen auf ihr Zimmer zurück. --

Zum Abend hatte Onkel Heinz die ganze Familie zu sich eingeladen; er
wollte doch auch das Brautpaar durch eine Festlichkeit ehren. Schon
seit Tagen hatte er mit Hansens Hilfe seine Zimmer ausgeräumt und die
Leute, bei denen er wohnte, in Wut versetzt, weil er das ganze Haus
von unterst zu oberst kehrte. In seinem Studierzimmer stand die große
Tafel zum Abendessen gedeckt. Solche Unmengen hatte er von allem
bestellt, daß seine Hauswirtin seufzend erklärte, es würde hinreichen,
ein ganzes Regiment zu bewirten. Aber der alte Herr hatte sich nicht
raten lassen.

Kalter Lendenbraten, zierlich geschnitten, mit Sülze belegt und von
Petersilie eingefaßt, war zwischen Schüsseln mit Hühnern und Koteletts
aufgestellt, die Beinchen und Knochen sauber in Papiermanschetten
gesteckt; der polnische Salat wetteiferte in kunstreicher Anordnung
und Farbenpracht mit den schönen gelben und rosa Torten. Knall-Bonbons
in vergoldeten Hülsen, Schalen mit eingemachten Früchten, Puddings und
Crêmes spiegelten sich wieder im Grün und Goldgelb der Rheinwein- und
Champagnergläser. Das Allerschönste und Kunstvollste aber war das
Mittelstück, ein hoher, aus Mandelteig gebackener, von einer
sinnbildlichen Darstellung aus Zucker gekrönter Tempel.

Am Kamin stand, wie Soldaten in Reih und Glied, eine Batterie
Flaschen, allerhand feine Marken. Die Sektflaschen mit ihren goldenen
und silbernen Hälsen stellten die Offiziere inmitten der Gemeinen vor.
Onkel Heinz' Schlafstube, der größte Raum der ganzen Wohnung, war in
einen Tanzsaal verwandelt; alle Möbel waren entfernt und der Himmel
weiß in welche Ecken und Winkel des Hauses gestopft worden. Er und
Hans hatten schon die Nacht vorher in der guten Stube der Wirtsleute
geschlafen. Um den Tanzsaal würdig auszustatten, hatte er Bänke und
Diwans gemietet und längs den Wänden aufgestellt. Auch ein Klavier war
herbeigeschafft worden, und da keiner der Gäste sich mit dem Ableiern
der Tanzmusik abmühen sollte, erschien ein dünnes Menschlein, das für
fünfzehn Mark den ganzen Abend aufspielen und schon während des
Soupers etwas zum Besten geben sollte. Doch bevor sich dieser Künstler
ans Klavier setzte, hatte der Professor ihn so mit allerhand guten
Dingen vollgestopft und ihm so viel Burgunder zu trinken gegeben, daß
es sehr fraglich war, ob er seine Aufgabe zur Zufriedenheit lösen
würde.

Das Wohnzimmer diente zum Empfang der Gäste. Riesige Blumengruppen
standen in den Ecken, die Türe war ausgehoben und an ihrer Stelle eine
Art Ehrenpforte entstanden, unter der Maud und John durchgehen mußten.
Aber als das Brautpaar mit seinem Gefolge eingetreten war, als der
unglückliche Jüngling am Piano den Hochzeitsmarsch in rasendem Tempo
abgespielt hatte, und jeder seiner Bewunderung und Freude über diesen
festlichen Empfang Ausdruck gab, blieb es doch nicht ganz verborgen,
daß es an der guten Laune des Gastgebers haperte, so sehr er sich auch
bemühte, es nicht durchblicken zu lassen. Endlich gestand er, daß er
wütend sei, weil Hans an diesem Nachmittag einen dringenden Brief von
Hause erhalten habe, der seine schleunige Heimkehr nötig machte;
schon am folgenden Tage müsse er abreisen. Ausrufe des Bedauerns, der
Verwunderung und Neugier folgten. Blieb Hans denn nicht wenigstens bis
zur Hochzeit? War seine Anwesenheit daheim so dringend erforderlich,
daß er sie nicht um ein paar Tage verschieben konnte? Was mochte
vorgefallen sein?

Freundlich, aber mit großer Entschiedenheit erklärte Reicher, daß sein
Entschluß unwiderruflich feststehe; er könne nicht genau
auseinandersetzen, warum seine Abreise so dringend nötig sei, denn es
wäre kein Thema, das er auf einem Feste erörtern möchte. Die Freude
und das Vergnügen dürfe dadurch in keiner Weise gestört werden. Alle
schauten einander erstaunt an, wagten aber nicht weiter zu fragen; das
Klügste, das fühlte jeder heraus, war, den Gegenstand fallen zu
lassen. So taten denn alle ihr Bestes, die Störung vergessen zu
machen, und bald ließ die Stimmung, was Fröhlichkeit und
Ausgelassenheit betraf, nichts zu wünschen übrig.

Onkel Heinz jedoch konnte es noch immer nicht verwinden, und als das
Fest in vollem Gange war, winkte er Irma, führte sie in ein
abgelegenes Winkelchen und fragte ohne jede Einleitung ziemlich
schroff:

»Nun sollst du mir mal ehrlich beichten, kleine Kröte, welchen Anteil
du an Hans' plötzlicher Abreise hast?«

Irma war über diese Neuigkeit ebenso erstaunt gewesen wie die andern
und hatte geglaubt, Hans würde zu ihr kommen und ihr sein bitteres
Leid klagen, daß seine Pflicht ihn plötzlich abriefe. Nichts von
alledem! Es schien, als vermeide der junge Mann, auch nur einen
Augenblick mit ihr allein zu sein und vertraulich mit ihr zu reden.

Als sie wie alle andern ihrem Bedauern, daß er fort müsse, Ausdruck
gab, hatte er sie einen Moment flüchtig angeschaut und dann lächelnd
versichert, solches Interesse sei zu viel Ehre für ihn. Während des
ganzen Abends fand sie bei ihm die kühle Höflichkeit und
Gleichgültigkeit wieder, die er ihr auf Floras und Gustavs
Hochzeitsfest erwiesen hatte, und nichts von der großen Liebe, den
ehrerbietigen und doch so auffallenden Huldigungen der letzten Tage.
Zuerst war Irma sehr erstaunt -- Hans zeigte sich so heiter, so gut
aufgelegt, so ruhig und absolut nicht reizbar oder erregt, daß sie
diese plötzliche Umwandlung nicht begriff -- dann wurde sie wütend.
Was bildete er sich denn ein? Wagte auch er es, mit ihr zu spielen?
Sie wollte ihn haben, um sich an Hochstein zu rächen; vereitelte er
diesen Plan, so sollte er dafür büßen. Sie hätte vor Zorn weinen mögen
und durfte sich doch nichts merken lassen, sondern mußte tun, als
unterhielte sie sich herrlich. Sie hatte über den einfältigen Hans die
Achseln gezuckt, der sich so rasch wieder einfangen ließ, der aufs
neue ihr gehorsamer Sklave war, als sie ihn durch ihr gefallsüchtiges
Betragen anlockte. Jetzt hätte sie ihn so gern ausgelacht, sich über
ihn lustig gemacht, ihn zur Zielscheibe ihres Spottes gewählt, aber
sie konnte nicht; es lag etwas in seiner Haltung, seinem Benehmen, was
sie hinderte. Suchte sie ihn dennoch aufzuziehen, so ging niemand
darauf ein -- sie machte sich nur selbst lächerlich und hatte die
größte Mühe, ihren Ärger zu unterdrücken.

Kein Wunder, daß sie nun auf Onkel Heinz' Frage auch heftig und böse
antwortete:

»Ich habe nichts zu beichten. Ob Hans fortgeht oder bleibt, ist mir
vollständig einerlei.«

»Ich glaubte doch ....« nahm der Professor wieder das Wort, Irma aber,
gereizt durch alle Vorfälle der letzten Zeit, fiel ihm mit der ganzen
Frechheit eines verzogenen Kindes in die Rede:

»Du brauchst nichts zu glauben, Onkel Heinz. Zwischen dem Bauern und
mir gibt's nichts. Ich will gar nichts mit ihm zu schaffen haben.«

Onkel Heinz wurde nicht böse.

»Dann ist's ja gut,« sagte er ruhig, »denk' nur an das Märchen vom
Schweinehirten, Kind.«

Tränen der Entrüstung und Wut in den Augen, wandte Irma sich ab. --

Das Fest war zu Ende, und die Wagen fuhren vor. Beim Abschiednehmen
kam Flora von Holten auf den Einfall, daß es himmlisch sein müsse,
nach Hause zu gehen. Es war Vollmond und die Luft so lind, daß es als
wahre Erquickung erschien, nach der Hitze und dem Trubel des Festmahls
eine Viertelstunde in der erfrischenden Nachtluft zu verbringen. Der
Vorschlag der jungen Frau fand allgemeinen Beifall bei der Jugend. Der
Weg führte durch den Park, der die Stadt mit dem Villenviertel, wo
Onkel Heinz wohnte, verband, und bot daher für die Goldleder- und
Lackschuhe der jungen Damen keine Schwierigkeit. Ilse und die älteren
Herrschaften schüttelten über diesen tollen Einfall die Köpfe, aber
unter lautem Jubel wurden sie in die Wagen befördert, und das junge
Volk machte sich zu Fuß auf den Weg.

Ein schmucker Leutnant, ein Freund Ludwigs, wollte Irma gerade den Arm
bieten, als Hans ihm zuvorkam mit den Worten:

»Ich darf Sie wohl nach Hause bringen, Irma.«

Der Ton seiner Stimme glich mehr einem Befehl als einer Bitte. Schon
wollte Irma herausfordernd den Kopf in den Nacken werfen, und ohne
etwas zu erwidern, den Arm des jungen Offiziers nehmen, als Hans sie
ernst und streng anschaute. Ohne sich Rechenschaft darüber abzulegen,
fühlte sie unwillkürlich seine Überlegenheit. Sie zürnte sich selbst,
daß sie gehorchte, und nahm widerstrebend die Begleitung von Hans an.

Einige Minuten schritten sie schweigend neben einander her. Irma mit
vor Erwartung und ein wenig auch vor Schuldbewußtsein klopfendem
Herzen, denn sie fühlte heraus, daß nun die Erklärung für sein
sonderbares Benehmen kommen werde; Hans mit dem Antrieb kämpfend, sie
in seine Arme zu nehmen und ihr liebe zärtliche Worte ins Ohr zu
flüstern. Denn sie sah im Mondenschein, mit einem seidenen Shawl um
das goldgelockte Köpfchen, so entzückend aus, daß es ihm schwer wurde,
ihr die harten, strengen Worte zu sagen, die er sich vorgenommen
hatte. Doch der Gedanke, daß er, wenn er jetzt seinem Gefühl nachgäbe,
sein ganzes künftiges Glück aufs Spiel setzen würde, stählte ihn. Er
überwand alle Weichheit und begann:

»Irma, erinnern Sie sich noch, um was ich Sie bat, als ich das letzte
Mal Abschied von Ihnen nahm?«

»Nein,« versetzte sie, das Köpfchen abwendend.

»Ich sagte, ich wolle mich darein ergeben, daß Sie mich nicht zu
lieben vermöchten, und bat Sie, eingedenk zu sein, daß Sie an mir
einen treuen Freund hätten, der alles opfern würde, um Sie glücklich
zu machen.«

»Und was soll das nun?«

»Ich habe Ihnen also meine Liebe nicht aufgedrängt und als einziges
Recht von Ihnen gefordert, daß Sie mich als Freund betrachten.«

»Aber ich weiß nicht ....« stammelte Irma, die nicht begriff, wohin er
zielte und der gar nicht behaglich zu Mute war.

»Als ich jetzt wieder herkam, hatte ich nicht die geringste Hoffnung,
daß Ihre Gefühle für mich eine Wandlung erfahren hätten. Meine Liebe
zu Ihnen war unverändert geblieben, aber ich hatte gelernt, das
Unvermeidliche mit Fassung zu tragen. Haben Sie nun wirklich
angenommen, ich würde mich dazu gebrauchen lassen, der Welt zu zeigen,
daß Sie um einen Mann nicht in Verlegenheit wären, nachdem der Baron
von Hochstein Ihnen bewiesen hatte, daß er es mit Ihnen nicht ehrlich
meinte?«

»Hans!« rief Irma totenbleich und entrüstet. »Wie dürfen Sie sich
herausnehmen, darauf anzuspielen? Wer hat Ihnen das erzählt?«

»Das gehört nicht zur Sache; hätte ich es jetzt nicht erfahren, so
würde das später geschehen sein, und ich danke dem Himmel, daß ich
noch zur rechten Zeit gewarnt wurde. Hören Sie, Irma. Sie haben mich
schmachvoll behandelt, ich glaubte Ihnen, glaubte, daß Sie mich
wirklich gern hätten, und Sie können es nicht begreifen, wie glücklich
mich das machte. Jetzt weiß ich, daß Sie mich zum Narren hielten, daß
Sie Komödie spielten und mit der großen, echten, ehrlichen Liebe eines
Mannes Spott trieben. Wenn das alles ist, was Ihre eigene Liebe und
die bittere Enttäuschung Sie gelehrt hat, dann kann ich nicht glauben,
daß Sie sich je etwas aus diesem Hochstein gemacht haben.«

Irma schluchzte, und Hans bedurfte seiner ganzen Selbstbeherrschung,
um gleich streng fortzufahren.

»Hätte ich Sie heute gebeten, meine Frau zu werden, so würden Sie _ja_
gesagt und damit etwas Gemeines getan haben, denn es ist gemein von
einem Mädchen, einen Mann zu heiraten, den es absolut nicht liebt, und
nicht wahr, Sie lieben mich ganz und gar nicht?«

Er ergriff ihre Hand mit Gewalt und zwang sie, ihn anzusehen. Der Mond
schien so hell, als ob es Tag wäre. Stolz aufgerichtet stand Hans da,
nicht wie ein Bittender, nicht wie ihr Anbeter, sondern wie ihr
Richter. Auf seinem klugen, energischen Antlitz, das sie stets für
häßlich gehalten hatte, las sie plötzlich tiefen Ernst und männlichen
Stolz. Was sie trotz aller Verliebtheit für Hochstein nie gefühlt
hatte, Achtung vor seinem Charakter und die Erkenntnis seiner
Überlegenheit, das empfand sie in diesem Augenblick für Hans. Sie
schaute ihn unverwandt an, gab aber keine Antwort.

»Nicht wahr?« wiederholte Reicher, »Sie machen sich nichts aus mir?«

Gewaltsam entriß sie sich dem Eindruck seiner Rede. Es ging doch
nicht, einem Manne, der es wagte, ihr so den Text zu lesen, der so
gegen sie auftrat, etwas anderes als _nein_ zu sagen. Ihre Eitelkeit
kam ihr zu Hilfe. Sie entzog ihm heftig ihre Hand.

»Nein,« versetzte sie, »ganz und gar nichts.«

»Das wußte ich,« fuhr er traurig fort, »und damit fällen Sie Ihr
eigenes Urteil. Wie ich schon sagte, Irma, ich hatte mich darein
ergeben, daß Sie nie die Meine werden könnten. Ich bin nicht gewöhnt
zu betteln, und werde auch nie um die Liebe eines Weibes flehen. Aber
Sie haben mir unsagbar großen Kummer bereitet, und wenn Sie an Ihr
eigenes Leid denken, werden Sie das vielleicht verstehen. Wenn Sie mit
dem elenden Baron oder mit einem andern verlobt wären, würde ich das
besser ertragen haben, als die Erkenntnis, daß Sie eine ganz
oberflächliche Kokette sind, die sich und mich, nur um Ihrer
nichtswürdigen Eitelkeit willen, unglücklich machen wollte.«

»Sind Sie noch nicht zu Ende?« rief das Mädchen, vor Zorn und Scham
bebend. »In jedem Falle lasse ich mich nicht länger von Ihnen
beleidigen.«

[Illustration]

»Noch nicht,« entgegnete Hans und hielt sie mit eisernem Griff fest,
als sie sich entfernen wollte. »Ich habe noch etwas zu sagen. In
gewisser Hinsicht bin ich ein sehr dummer Kerl, denn trotz alledem
liebe ich Sie noch immer, Irma, und werde Sie ewig lieben; dies Gefühl
kann ich nicht mit der Wurzel ausreißen, es ist stärker als mein
Verstand, aber nicht stärker als mein Wille. Wenn Sie mich jetzt auch
auf den Knieen anflehten, Sie zum Weibe zu nehmen, ich würde es
nicht tun. Nur wenn Sie je zu der Einsicht gelangen sollten, wie tief
Sie mich gekränkt haben; wenn Sie aus eigenem Antrieb zu mir kämen, um
mir zu sagen, daß Sie mich über alles lieben und sich kein Glück ohne
mich denken können, wäre ich im stande, zu vergessen und zu vergeben,
und würde Ihnen die Hand fürs Leben reichen.«

»Da können Sie lange warten!« rief das junge Mädchen außer sich vor
Zorn. »Lieber sterben!«

»Da sei Gott vor!« nahm Hans ernst das Wort. »Und nun sind Sie gleich
zu Hause, Irma, leben Sie wohl. Wir beide haben uns für den Augenblick
nichts mehr zu sagen.«

Sie beschleunigten ihre Schritte, um die andern einzuholen. Vor Ilses
Wohnung wurde Abschied genommen. Hans reichte Irma die Hand; wider
Willen blickte sie ihn noch einmal an, ein tief schmerzlicher Ausdruck
lag in seinen Augen, aber die kalten Finger, welche die ihren nur
leicht berührten, bebten nicht.

Ohne mit irgend jemand ein Wort zu wechseln, eilte Irma auf ihr Zimmer
und warf die Tür heftig ins Schloß. Bald darauf klopfte es.

»Wer ist da?« rief das Mädchen unwillig. »Ich bin müde und mag mit
niemand mehr sprechen.«

»Ich bin es, Kind,« erklang die Stimme der Großmutter. »Was bedeutet
es, daß du dich einschließt? Laß mich herein.«

Irma gehorchte. Mit einem blassen Gesichtchen, aus dem die sonst so
sanften, kindlichen Augen unnatürlich groß heraus starrten, stand sie
vor der alten Dame, die sie ernst und doch freundlich anschaute. Irma
war, als ob sie den Blick nicht ertragen könnte.

»Großmutter,« sagte sie gepreßt, »hast du Hans erzählt, was zwischen
mir und Otto von Hochstein vorgefallen ist?«

»Ja, Irma.«

»Wie konntest du?« rief das Mädchen, alle Ehrerbietung und den
Altersunterschied vergessend. »Wer gab dir das Recht dazu?«

»Meine große Liebe für dich, mein Kind.«

Irma lachte grell auf und warf den Kopf in den Nacken.

»Ja, meine Liebe zu dir,« wiederholte Ilse sanft, denn wie bitter weh
es ihr auch tat, daß die Enkelin so lieblos gegen sie aufzutreten
wagte, böse wollte sie mit ihr nicht sein. »Ich habe dich viel zu
lieb, um ruhig mit ansehen zu können, daß du etwas tust, was du dein
Leben lang bereuen würdest. Ich habe dich gegen dein eigenes Selbst in
Schutz genommen -- das konnte kein anderer tun.«

»Es war schändlich,« brach Irma los, »du hast mein Vertrauen
mißbraucht, und dazu hattest du kein Recht.«

»Und du durftest einen Mann nicht betrügen, der dir nie im Leben etwas
zu leide getan hat; du hättest ihn und dich selbst unglücklich
gemacht.«

»Wer sagt dir, daß er unglücklich geworden wäre, wenn er nichts
erfahren hätte?«

»Trotzdem hättest du ihn betrogen. Wenn ein Mädchen einen Mann
heiratet, den es nicht liebt, handelt es schlecht und macht den Mann,
den es auf diese Weise belügt, unglücklich. Vor diesem Fürchterlichen
habe ich dich bewahrt.«

Irma fing an, leidenschaftlich zu schluchzen. »Und nun hast du mich
von diesem Elenden, diesem Bauern, beleidigen lassen. Du weißt nicht,
was er mir alles zu sagen wagte. Ich hasse ihn.«

»Ich weiß, daß du dich in deinen eigenen Augen erniedrigt und
gedemütigt fühlst, Kind. Aber darüber wirst du hinwegkommen. Glaube
mir, es ist besser, als dein ganzes Leben lang etwas bereuen, das du
nicht mehr ungeschehen machen kannst.«

Ilse, die mit dem unglücklichen, verwöhnten Kinde innigstes Mitleid
empfand, wollte es zärtlich in ihre Arme schließen, aber ungestüm
wandte Irma sich ab.

»Ich fühle mich nicht gedemütigt,« bäumte sie sich trotzig auf und
hatte Mühe, ihre Tränen zurückzudrängen. »Geh du nur, ich habe dich
nicht mehr lieb, ich will fort von hier.«

»Irma!« rief die Großmutter in traurigem Tone.

Das junge Mädchen aber war zu sehr überreizt, um zu begreifen, wie weh
sie der alten Frau tat, und wiederholte heftig:

»Ja, ich will fort; ich will Mama bitten, mich mitzunehmen.«

Da ging die Großmutter stumm hinaus.

       *       *       *       *       *




Die Vermählungsfestlichkeiten hatten einen traurigen Abschluß. Irma
wurde krank. Die mannigfachen Aufregungen und Gemütsbewegungen der
letzten Zeit waren zu viel gewesen für dieses Kind, das Kummer und
Enttäuschungen bisher kaum dem Namen nach gekannt hatte. Am Tage nach
dem Fest bei Onkel Heinz lag sie in heftigem Fieber. Der Doktor wurde
geholt, er erklärte, daß kein Grund zur Besorgnis vorläge, und daß nur
äußerste Ruhe und Schonung nötig sei, da die Nerven des jungen
Mädchens stark überreizt wären. Irma wollte nur von ihrer Mutter
gepflegt werden; kam Ilse oder jemand von den andern ins
Krankenzimmer, so wurde sie unruhig; wie bitter weh das der alten Dame
auch tat, sie sah ein, daß sie sich fügen müsse, da die Gesundheit
des geliebten Kindes auf dem Spiele stand. Bei Müllers herrschte die
Ansicht, daß Hans Reichers plötzliche Abreise mit Irmas Krankheit in
Beziehung stände; Fragen zu stellen wagte aber niemand, nur Agnes
machte schüchtern eine zarte Anspielung, erhielt aber von Frau Gontrau
kurz und bündig die Antwort, daß nichts zu berichten sei.

Das neu vermählte Paar war abgereist, und um Irma die Aufregung des
Abschieds zu ersparen, hatte Maud ihr brieflich Lebewohl gesagt.
Gustav und Flora kehrten heim, und Ruth beschloß mit ihrem Manne, daß
er nach München vorausfahren solle, während sie auf die dringende
Bitte ihres Töchterchens noch bleiben wollte, bis das Kind so weit
hergestellt war, daß sie es ohne Sorge verlassen konnte. Die
vollkommene Ruhe nach den geräuschvollen Festtagen, der stille Friede
bei Großmama und die treue Pflege ihrer Mutter taten Irma gut; die
furchtbare Reizbarkeit ließ nach, und sie lehnte sich auch bald nicht
mehr dagegen auf, wenn Ilse bei ihr saß oder Ruth in der Pflege
ablöste. Trotzdem fühlte die Großmutter, wie anders das Benehmen ihrer
Enkelin geworden, und daß die innige Herzlichkeit von früher einer
kühlen Zurückhaltung gewichen war, die ihr sehr weh tat. Sie ließ sich
das freilich nicht merken, widersetzte sich auch nicht, als die nun
fast genesene Irma den Wunsch aussprach, auf unbestimmte Zeit mit
ihrer Mutter nach München zu gehen. Im Gegenteil, sie stellte Ruth
vor, daß es nach dem Vorfall mit Hochstein für das junge Mädchen gut
sein werde, in eine ganz andere Umgebung zu kommen; und als ihre
Enkelin abreiste und Großmutters warme, innige Umarmung mit einem
kühlen Kuß erwiderte, verstand die alte Frau sich zu beherrschen und
schaute das Kind nur mit einem langen, schmerzlichen Blick an. --

Einige Tage zuvor waren Müllers mit Agnes und Karl auf Reisen
gegangen, um die Ferien des Knaben in Holland und Belgien zu
verbringen. Daher fühlte Großmutter Ilse sich sehr einsam, wenn sie so
ganz allein in ihrem totenstillen Wohnzimmer saß. Traurig starrte sie
vor sich hin und bei dem Gedanken, daß die Enkelin, die sie mit ganzer
Seele liebte, sie fühllos und kalt verlassen hatte, füllten ihre Augen
sich mit Tränen, und ein trostloses, wehmütiges Gefühl bemächtigte
sich ihrer. Eine wohltuende Unterbrechung ihrer Einsamkeit bildeten
die Besuche von Onkel Heinz. Er setzte sich dann ohne viele Worte
seiner alten Freundin gegenüber, wohl wissend, daß in solchen
Augenblicken stille Teilnahme wohltätiger wirkt als lange Trostreden.

Endlich, als er einmal sah, wie große Tropfen über ihre bleichen
Wangen rollten, konnte er es nicht mehr aushalten und fragte:

»Aber Frau Gontrau, möchten Sie ihrem alten Freunde nicht lieber mal
erzählen, weshalb das Kind eigentlich fort ist, und warum es in
letzter Zeit so garstig zu Ihnen war?«

»Woher wissen Sie, daß Irma garstig war?« fragte die Großmutter
erstaunt.

»O, alles, was _Sie_ betrifft, merke ich sofort, wenn Sie auch
vielleicht glauben, daß ich stumpf und gleichgültig geworden bin. Ich
sah gleich, daß es außer Irmas Krankheit noch etwas gab, was Ihnen
Kummer bereitete.«

Ilse tat gewiß das Klügste, indem sie Onkel Heinz alles erzählte, was
zwischen Irma und Hans vorgefallen war.

Der Professor schaute sinnend vor sich hin und sagte in den ersten
Minuten kein Sterbenswörtchen.

»Glauben Sie, daß Reicher dem kleinen, dummen Ding ganz gleichgültig
ist?« fragte er endlich.

»Ich weiß nicht,« versetzte Ilse, »doch glaube ich wohl, daß er durch
sein energisches Auftreten Eindruck auf sie gemacht hat.«

»Sie müßte mordsdumm sein, wenn das nicht der Fall gewesen wäre,«
meinte Onkel Heinz heftig. »Hans Reicher ist ein Kerl, ich sage Ihnen,
der wiegt zehn Generationen der Hochsteins auf.«

»Das glaub' ich gern,« fuhr Ilse lächelnd fort, »aber ich fürchte
doch, daß er für Irma verloren ist, denn er scheint sie hart angepackt
zu haben.«

»Und ich versichere Sie, er liebt das undankbare Ding noch immer
grenzenlos. Als sie krank war, bekam ich alle Tage Briefe von ihm, er
war in Todesangst, und erst als ich ihm schrieb, daß die Besserung
gute Fortschritte machte, kam wieder der praktische, ruhige Hans zum
Vorschein.«

»Wohl möglich,« seufzte die Großmama. »Aber aus eigenem Antrieb wird
das Kind nicht zurückkehren. Sie ging so kühl von mir; ich fürchte,
ich habe ihre Zuneigung verloren.«

»Unsinn! Dummes Zeug!« rief der Professor. »Was denken Sie denn von
ihr? Sie ist Ihre Enkelin und die Tochter meiner kleinen Kröte Ruth.
=Bon sang ne peut mentir=, Frau Ilse.«

»Es ist sehr lieb von Ihnen, mich damit zu trösten, Onkel Heinz, aber
Sie kennen die heutige Jugend nicht; sie glaubt immer und in allem
recht zu haben.«

»Ja, das weiß ich, Frau Ilse. Ärger jedoch als die Trotzköpfe von
früher kann sie auch nicht sein -- und die kenne ich durch und durch.«

Frau Gontrau sah ihn verständnisinnig lächelnd an, und der alte Herr
fuhr fort:

»Ich verbürge mich für das Kind. Irmas gesunder Verstand wird den Sieg
davontragen; sie wird schließlich aus eigenem Antriebe zurückkehren
und einsehen, daß sie sich sehr garstig benommen hat. Wer weiß,
vielleicht kommt auch zwischen Hans und ihr noch alles in Ordnung! Wir
können dabei nichts tun, Frau Gontrau, wir müssen es der Zeit
überlassen und in Geduld zuwarten.«

Zunächst schien die Aussicht, daß sich des Professors Hoffnung
erfüllen werde, sehr gering zu sein. Reicher, der über Irmas
Gesundheit beruhigt war und wußte, daß sie sich in München bei ihren
Eltern befand, ließ nichts mehr von sich hören. Das junge Mädchen
schrieb zwar pflichtgetreu zweimal wöchentlich, aber ihre Briefe waren
so kühl, enthielten außer einem Bericht über die herrlichen
Musikaufführungen und die prachtvollen Theatervorstellungen, in denen
sie schwelgte, und den interessanten Bekanntschaften, die sie machte,
so wenig, daß Ilse sie seufzend fortlegte. Sie antwortete freundlich
und herzlich, spielte aber mit keinem Wort darauf an, daß sie sich
einsam fühle und sich grenzenlos nach dem Kinde sehne.

Fast Abend für Abend saßen die alte Dame und der Professor beisammen
und spielten Schach oder sprachen über die Vergangenheit und erwogen
alle Möglichkeiten, die nach Onkel Heinz' Ansicht noch bestanden, daß
Irma ihr Unrecht einsehen würde. Nach einiger Zeit fiel ihm ein
veränderter Ton in ihren Briefen auf. Sie schrieb herzlicher und
beklagte sich ein wenig. Papa und Mama hatten so viel zu tun und
gingen oft aus; sie aber war nicht musikalisch genug, um so häufig,
manchmal Tag für Tag, morgens, mittags und abends mit Genuß Musik zu
hören. Sie fragte voll Anteilnahme nach allerhand Dingen. Wie sah's
wohl in ihrem Stübchen aus? Wer pflegte die Blumen? Was machte Jim,
ihr Hündchen, das sie nicht mit nach München hatte nehmen können, weil
ihre Eltern in möblierten Zimmern zur Miete wohnten? War es nicht
traurig jetzt, wo seine Herrin in der Ferne weilte? Onkel Heinz nickte
zufrieden, und Ilse mußte sich zwingen, um diese Fragen sachlich und
kühl zu beantworten, ohne hinzuzufügen, daß ihr Stübchen, die
Pflanzen, das Hündchen und schließlich die Großmama selbst sich
unaussprechlich nach ihrem Liebling sehnten.

Endlich eines Tages, als es anfing herbstlich zu werden und in dem
nach Norden gelegenen Vorderzimmer schon ein Feuer im Kamin brannte,
teils um der größeren Gemütlichkeit willen, teils wegen der Gicht des
Professors, kam ein Briefchen, das nichts enthielt als diese Worte:

         »Liebe Großmutter!

     »Hast du's nicht gemerkt oder wolltest du's nicht
     merken, daß ich's nicht länger aushalten kann? Willst
     du all meine Abscheulichkeiten vergeben und vergessen,
     und darf ich heimkehren, um wieder ganz bei dir zu
     bleiben? Telegraphiere mir nur das eine Wörtchen _ja_
     und sofort reise ich ab.

                                Deine Enkelin.«

Als Onkel Heinz des Abends kam, war das Telegramm längst abgesandt,
und mit freudestrahlenden Augen reichte Ilse ihm das Briefchen. Der
alte Herr wischte sorgfältig seine Brillengläser ab und las die
wenigen Worte dreimal, bevor er etwas sagte.

»Nun?« fragte Großmama Ilse ungeduldig.

»Schön,« meinte Professor Fuchs, »es kommt genau so, wie ich mir's
gedacht habe, aber hören Sie mal, Frau Gontrau, wenn Sie glauben, daß
die kleine Kröte allein aus Sehnsucht nach Ihnen zurückkehrt, dann
sind Sie sehr auf dem Holzwege.«

»So?« versetzte sie etwas gereizt, »vielleicht sehnt sie sich ebenso
nach Ihnen.«

»Hm, hm,« brummte Onkel Heinz, »es kann auch sein, daß sie nach einer
dritten Person Heimweh hat.«

»Sie meinen Hans Reicher. Was hätte denn der damit zu schaffen? Er ist
ja nicht einmal hier.«

»Nein, aber er ist in F. doch leichter zu erreichen als in München.«

»Daran glaube ich nicht,« fuhr Ilse fort, ein bißchen gekränkt durch
den Zweifel daran, daß Irma heimkehren wolle, weil sie es nicht länger
ohne ihre Großmama aushalten konnte. »Was wissen Sie denn davon, Onkel
Heinz?«

»O nichts, gar nichts,« spottete der alte Herr. »Von Herzensangelegenheiten
versteh' ich ja nichts, Frau Ilse. Es wäre auch sehr dumm von mir, wenn
ich annehmen wollte, daß Sie ein bißchen neidisch sein würden, wenn Irma
nur zum Teil um Ihretwillen heimkehrte.«

»Gewiß wäre es das,« erwiderte Großmama gekränkt und doch beschämt,
weil er sie sofort durchschaut hatte. Als sie ihn aber anblickte und
hinter den Brillengläsern hervor seine alten, scharfen Augen mit einem
Ausdruck auf sich gerichtet sah, den sie nur zu gut kannte, machte ihr
Ärger einer edleren Aufwallung Platz, und sie reichte ihm die Hand.

»Sie haben recht, bester Freund. Wollte Gott, daß ihre Sehnsucht nach
Hans am größten ist!«

Ehrerbietig neigte sich der alte, schneidige Professor über
Großmutters schmale, weiße Hand und drückte seine Lippen darauf. --

Es wurde beschlossen, Irmas Ankunft der Familie Müller noch einige
Tage zu verheimlichen; auch Onkel Heinz hielt es für richtiger, daß
sie sich nicht gleich zeigte, und so geschah es, daß die alte Dame und
das junge Mädchen am ersten Abend ganz allein waren. Irma saß wieder
wie vor Zeiten Großmutter zu Füßen, barg ihr goldgelocktes Köpfchen in
deren Schoß und fragte wohl schon zum zehntenmal:

»Bist du nun aber auch wirklich nicht mehr böse auf mich,
Großmamachen? Jetzt begreife ich selbst nicht, wie ich so von dir
fortgehen konnte. Ist nun wirklich alles vergessen und vergeben?«

Ilse nahm das Köpfchen ihrer Enkelin zwischen ihre beiden Hände und
küßte sie so innig und herzlich, daß jede andere Antwort überflüssig
war. Dann schaute sie besorgt in das geliebte Antlitz. Es war nicht
weniger schön, aber ein leidender Ausdruck lag um den kindlichen Mund,
und die Vergißmeinnichtaugen blickten trübe.

»Siehst du nun ein, Kindchen, daß ich nicht anders handeln durfte?«
fragte sie sanft.

Irma nickte.

»Und daß ich dich vor einem großen Unglück bewahrte, indem ich dich
hinderte, einen Mann zu heiraten, den du nicht liebtest?«

Irma erwiderte nichts und schaute nachdenklich vor sich hin.

»Siehst du auch ein,« fuhr die Großmutter flüsternd fort, »daß Hans
Reicher viel zu gut dazu ist, nur aus Ärger und Trotz genommen zu
werden, und daß du im Begriff warst, ihm ein großes Unrecht zu tun?«

Wieder keine Antwort, und als Ilse sich tiefer herab beugte, sah sie,
daß Irma aus den blauen Augen große Tränen in den Schoß tropften.

»Kindchen,« sagte sie so leise, daß Irma es kaum verstand, »ist es
wirklich wahr, ist Hans Reicher dir nicht gleichgültig?«

Da schlang Irma die Arme um Großmutters Hals und stammelte
schluchzend:

»O, Großmama, ich weiß es nicht, aber ich glaube, ich habe ihn lieb.«

Und wie früher streichelte Ilse das blonde Köpfchen und ließ das
Mädchen sich nach Herzenslust ausweinen. Endlich hob Irma das Haupt
und schaute die alte Dame errötend, aber immer noch tief traurig an.

»Erzähle mir, Kindchen, wie das gekommen ist.«

»Wie kann ich das erzählen? Weiß ich's doch selbst nicht. Nach dem
Abend bei Onkel Heinz war ich wütend auf Hans, ich glaubte ihn zu
hassen und wurde krank vor Ärger und Scham. Nach überstandener
Krankheit war ich noch immer schrecklich böse auf ihn, aber ich
glaube, im Stillen hoffte ich doch auf einen Brief, in dem er seine
harten Worte zurücknehmen und mich bitten würde, seine Frau zu werden.
Aber ich hörte nichts von ihm, wollte auch nicht an ihn denken und
sagte mir wohl hundertmal an einem Tage, daß ich gar nichts von ihm
wissen wolle und ihm einen Korb geben würde, wenn er um mich anhielte.

»Und doch mußte ich immerfort an ihn denken. Du weißt, anfangs ging
ich in München oft aus und kam mit vielen jungen Herrn zusammen. Du
darfst nicht denken, daß ich mir etwas darauf einbilde, und mich nicht
für eitel halten, aber sie liefen mir alle nach und machten mir den
Hof. O Großmama, ich fand sie sämtlich unausstehlich mit ihrem
albernen Geschwätz und ihren faden Artigkeiten. So war Hans nie. Er
unterhielt sich ganz schlicht und herzlich und ließ doch
durchschimmern, daß er mich gern hatte. Wenn diese Modegecken mit
ihren pomadisierten Schnurrbärten und ihren weibischen Gesichtern auf
mich einredeten, sah ich in Gedanken Hans vor mir mit seinen breiten
Schultern, seinem klugen Gesicht und seiner tiefen Stimme; wenn sie
mir hundert alberne Schmeicheleien sagten und die Fingerspitzen
küßten, dachte ich an Hans, der mir die Hand so kräftig drückte, daß
es weh tat -- und, o Großmama, selbst an Hochstein, der doch ein
schöner Mann und kein Geck war, fand ich, mit Hans verglichen, keinen
Gefallen mehr. Immer mußte ich an ihn denken, und nie hörte ich von
ihm; da konnte ich's endlich in München nicht mehr aushalten, ich
sehnte mich so sehr nach dir, und hier werde ich doch vielleicht etwas
von ihm hören. Das Geschehene tut mir ja furchtbar leid, und ich
bereue es aufs tiefste.«

Und aufs neue verbarg Irma ihr Gesichtchen und weinte bitterlich.

»Aber Kindchen,« sagte die Großmutter, deren Augen leuchteten und die
trotz Irmas Tränen sehr glücklich war, »dann brauchst du doch nicht so
zu weinen, dann kann ja alles noch gut werden.«

»Nein, nie, niemals, ich habe alles verspielt.«

»Warum? Wirklich, Kind, ich möchte dir keine Hoffnung machen, wenn ich
dächte, daß später wieder eine neue Enttäuschung folgen könnte, aber
ich weiß es ganz gewiß, daß Hans Reicher dich noch immer liebt.«

»Das kann schon sein, aber du weißt nicht, was er mir an jenem
schrecklichen Abend gesagt hat.«

»War das so arg?« fragte Ilse nun doch beunruhigt. »Kannst du mir's
nicht erzählen?«

Sehr langsam, als koste es sie große Mühe, kam es von Irmas Lippen:

»Großmama, er hat mir an dem Abend gesagt, daß ich eine oberflächliche
Kokette sei, daß er mich nicht zum Weibe nehmen würde, und wenn ich
ihn auf den Knien darum anflehte. Nur wenn ich einsähe, wie tief ich
ihn gekränkt habe, und aus eigenem Antrieb zu ihm käme, um ihm zu
sagen, daß ich ihn über alles liebe und mir ohne ihn kein Glück denken
könne, würde er mir verzeihen und mir die Hand reichen.«

»Nun?« fragte Frau Gontrau, als Irma schwieg.

»Was meinst du?«

»Na, du siehst es doch nun ein, daß du ihn über alles lieb hast.«

»Aber Großmama,« rief Irma, »du kannst doch nicht denken, daß ich ihm
das sagen würde, daß ich mich so erniedrigen könnte?«

»Natürlich denke ich das und sehe gar nichts Erniedrigendes darin.«

Irma trocknete ihre Tränen. »Nie werde ich einen Mann bitten, mich zum
Weibe zu nehmen. Was Hans von mir fordert, ist unmöglich. Kommt er
wieder und macht mir einen Antrag, so werde ich 'ja' sagen, der Himmel
weiß, mit welcher Freude! Aber er muß zu mir kommen.«

»So weit ich ihn kenne, wird er das nie tun, Irma.«

»Nein, Großmama, daher habe ich auch keine Hoffnung mehr auf künftiges
Glück.«

Es herrschte Schweigen. Gedankenvoll schaute Ilse ins Feuer und
überlegte, wie sie die Kleine am besten von ihrem Unrecht überzeugen
könne. Endlich nahm sie ernst das Wort:

»Mein Liebling, der Kummer, den Baron von Hochstein dir bereitete, hat
seine gute Seite gehabt, denn er hat dich viel verständiger gemacht
und dir die Augen für die wahren Verdienste eines Mannes geöffnet.
Trotzdem war die Lehre noch nicht stark genug, dich von deinem größten
Fehler zu heilen.«

»Und der wäre, Großmama?«

»Deine Eitelkeit, Irma.«

»Was die damit zu schaffen hat, verstehe ich nicht.«

»Deine Eitelkeit verbietet dir, einfach zu Hans zu gehen und ihm zu
gestehen, daß du unrecht gehabt hast. Du hältst es für ein viel
anziehenderes Bild, ihn zu deinen Füßen zu sehen, als dich zu den
seinigen.«

Irma wurde dunkelrot. Sie fühlte, daß die Großmama den Nagel auf den
Kopf traf.

»Du bist doch zu mir gekommen und hast mich um Verzeihung gebeten, und
dasselbe willst du nicht für _den_ Mann tun, den du doch so unendlich
viel mehr lieben mußt als mich!«

»Das ist ganz etwas anderes, Großmama.«

»Im Grunde ist es dasselbe, Kind. Glaube mir doch, wir erniedrigen
uns nie, wenn wir unser Unrecht eingestehen, wem es auch sei, am
wenigsten aber gegenüber einem, der uns lieb hat. Ich hab's erfahren,
als ich so alt war, wie du jetzt bist, und während meines ganzen
späteren Lebens habe ich den Augenblick gesegnet, da ich demütig und
reuevoll vor deinem Großvater stand.«

Und als Irma sie fragend ansah, erzählte Ilse die Geschichte ihres
trotzigen Benehmens gegen Leo, wie darauf der Bruch erfolgte und das
Schuldbewußtsein sie dazu brachte, seine Verzeihung zu erbitten.

»Aber das war doch nicht so arg,« flüsterte das junge Mädchen, als die
alte Frau schwieg. »Denk' doch nur, ich habe einen Nichtswürdigen
geliebt, und um mich an diesem zu rächen, Hans opfern wollen
meiner ....«

»Deiner Eitelkeit,« vollendete Ilse. »Aber gerade weil dein Vergehen
vielleicht größer war, Kindchen, mußt du auch die schwere Strafe
erleiden, das ist nicht mehr wie recht und billig.«

Irma erwiderte nichts, und auch Ilse hielt es für klüger, den
Gegenstand vorläufig ruhen zu lassen. --

Am folgenden Tage kamen Müllers und Onkel Heinz, die Heimgekehrte zu
begrüßen. Alle freuten sich, sie wiederzusehen. Agnes, die nach Mauds
Abreise ihre Einsamkeit oft schwer empfunden hatte, zeigte sich
ausgelassen fröhlich, und bald fühlte Irma sich in ihrer altgewohnten
Umgebung wieder ganz heimisch. Mit der Zeit merkten alle, daß mit dem
jungen Mädchen eine große Veränderung vorgegangen war, und zwar eine
sehr vorteilhafte.

Die früher von allen verhätschelte und bewunderte kleine Person, die
nur an sich, nie an andere dachte, fing an, freundliche Rücksicht auf
ihre Umgebung zu nehmen. Sie konnte jetzt stundenlang mit Onkel Heinz
am Schachbrett sitzen und bemühte sich gut zu spielen, während sie
früher oft mit Absicht schlecht gespielt hatte, um rasch die Partie zu
verlieren und erlöst zu sein.

Tagelang blieb sie still bei Großmutter zu Hause und verfertigte mit
ihr allerhand niedliche Sächelchen für Flora, die zum Winter ein
Kindchen erwartete. Wenn sie jetzt auf einige Tage nach I. ging,
wurden keine tollen Streiche ausgeführt, wie bei ihrem ersten Besuche,
sondern sie half getreulich der jungen Hausfrau und hörte freundlich
und aufmerksam zu, wenn Flora immer wieder über das eine sprach, das
sie ganz erfüllte, nämlich über das große, herrliche Glück, welches
sie erwartete.

Was ihr aber wohl die größte Selbstüberwindung kostete -- Irma ging zu
Tante Elisabeth Müller, mit der sie seit jenem Besuch bei der Großmama
kaum ein Wort gewechselt hatte. Sie ging allein, brachte einige
Stunden bei der alten Dame zu und erzählte so hübsch und angeregt von
München und war so liebenswürdig und aufmerksam, daß die Tante sie
wiederholt aufforderte, doch ja bald wieder zu kommen. Später erklärte
Fräulein Müller der Großmama, daß Irma ganz anders geworden sei, kaum
zum Wiedererkennen. Tante Elisabeth schrieb diese vorteilhafte
Veränderung ein klein wenig auch ihrer eigenen Einmischung zu und tat
sich viel darauf zu gute. Großmutter Gontrau fand es klug, sie bei
ihrem Wahn zu lassen und hütete sich, der alten Jungfer zu
widersprechen; dadurch und durch Irmas Freundlichkeit wurde Tante
Elisabeth nach und nach etwas zugänglicher, so daß sich auch bei ihr
eine Veränderung zum Guten bemerkbar machte.

Doch trotz all ihrer anscheinend ruhigen Heiterkeit blieben Irmas
Wangen blaß, und die schönen Augen blitzten nicht so lebenslustig wie
früher. Oft schauten Onkel Heinz und seine alte Freundin sich fragend
und kopfschüttelnd an, und beständig kämpfte der Professor mit dem
Wunsch, auf seine Manier dem Hangen und Bangen ein Ende zu machen und
die beiden Liebenden mit Gewalt einander in die Arme zu führen. Es
fiel ihm sehr schwer, dem Rat Ilses zu folgen, welche der Ansicht war,
daß Übereilung wieder alles verderben könnte, und ihn deshalb bat,
sich mit Geduld zu waffnen.

Es war nun völlig Herbst geworden. Auf den Gartenwegen raschelte das
welke Laub, das vom Winde in tollem Tanz umhergewirbelt wurde, und
noch immer schaute Ilse ihre Enkelin fragend an, und noch immer
schüttelte diese niedergeschlagen das blonde Köpfchen. Endlich eines
Morgens, als der Regen an die Scheiben klatschte und alles kalt und
winterlich aussah, kam Irma zur Großmutter, die in ihrem Zimmer am
Schreibtisch saß und mit dem Ordnen von Briefen und Rechnungen
beschäftigt war.

»Großmama, ich möchte schreiben, aber ich weiß nicht was,« sagte sie.

»Ist das so schwer, Kindchen?« fragte die alte Dame, indem sie ihre
freudige Überraschung hinter einer ruhigen Miene zu verbergen suchte.

»Ich habe wohl schon zwanzig Briefe geschrieben und sie immer wieder
zerrissen. Ich bringe es nicht fertig.«

»Komm, setze dich hierher und versuche es noch einmal, Liebling. Ein
paar Worte genügen.«

Das Mädchen ergriff die Feder. Ilse tat, als bemerke sie nicht, daß
schon wieder mehrere Briefbogen in den Papierkorb wanderten.

Endlich sah sie, wie Irmas Hand rasch und erregt über das Papier
glitt, und einen Augenblick später stand das Kind neben ihr.

»Lies, was ich geschrieben habe, Großmama, aber es wird nichts
helfen.«

Ilse las:

»Hans, ich bin schon seit Wochen aus München zurück. Ich empfinde
solch bittere Reue und sehne mich so nach Ihnen; wollen Sie kommen zu
Ihrer Irma.«

»Ausgezeichnet,« rief die Großmama. »Nun rasch den Umschlag
geschlossen und den Brief abgeschickt. Morgen kommt er.«

»Nein, nein, er wird nicht kommen. Es steht nichts von 'um Verzeihung
bitten' drin.«

»Dummes Kindchen, das kannst du ja mündlich tun. Flink, hier ist eine
Marke, schreibe du unterdessen die Adresse.« Und schon klingelte Ilse
nach dem Mädchen, das den Brief auf die Post bringen sollte.

In der Nacht schlief Irma nicht, und am nächsten Tage war sie so
aufgeregt, daß die Großmama sich um sie sorgte. Den einen Augenblick
war sie zufrieden mit dem, was sie getan hatte, und erging sich mit
der alten Dame in allerhand herrlichen Vorstellungen, wie schön sich
ihr Leben an Hans Reichers Seite gestalten würde. Dann wieder war sie
unglücklich, zweifelte an seinem Kommen und klagte, daß die Großmama
sie zu dieser furchtbaren Demütigung gezwungen habe. Wenn Hans auf
ihren Ruf taub bliebe, würde sie das nicht überleben. Je mehr der Tag
sich seinem Ende näherte, desto stiller und ängstlicher wurde sie. Sie
saß da mit ganz blassem Gesichtchen und starrte mit unnatürlich großen
Augen vor sich hin; so oft es klingelte, sprang sie erschreckt auf, so
daß Ilse herzliches Mitleid mit ihr fühlte.

Es dunkelte schon, die Vorhänge waren zugezogen und das Gas
angezündet, da wurde heftig die Glocke gezogen, und bei der
Totenstille im Hause vernahm man deutlich eine tiefe, wohllautende
Männerstimme. Zitternd umklammerten Irmas eiskalte Hände den Arm der
Großmutter.

Das Mädchen kam herein und meldete Herrn Reicher.

»Lassen Sie den Herrn eintreten,« sagte Ilse und stand auf.

»Nicht fortgehen, Großmama,« stammelte Irma mit weißen Lippen, »nicht
fortgehen, mir ist so angst.«

Aber Ilse gab ihr einen ermutigenden Kuß und entfernte sich so schnell
sie konnte durch die Seitentüre. Gerade als sie verschwand, stand Hans
Reicher auf der Schwelle.

Irma wagte nicht die Augen aufzuschlagen. Zitternd blieb sie am Tische
stehen, ihr Gesichtchen in den Händen verborgen.

Da nannte er ihren Namen, und sie schaute empor.

Sein Antlitz war bleich und schmal geworden. Daß er viel gelitten
hatte, sah sie auf den ersten Blick. Nun aber strahlte er und streckte
in so grenzenlosem Sehnen die Arme nach ihr aus, daß sie alle Scheu
vergaß und sich hinein stürzte.

Er drückte sie fest ans Herz, küßte sie auf die Lippen, die Augen, die
Wangen, bedeckte das ganze süße Gesichtchen mit leidenschaftlichen,
feurigen und doch sanften, zärtlichen Küssen. Und bebend vor Glück
wiederholte er immer wieder:

»Irma, Liebling, ist es wahr? Ist es wahrhaftig wahr? Liebst du mich?«

Sie konnte nicht antworten, weinend lag sie in seinen Armen, und er
sprach ihr mit leisen, liebevollen Worten zu.

Endlich wurde sie ruhiger, sie hob das Köpfchen, sah ihn durch ihre
Freudentränen glücklich an und flüsterte:

»Hans, willst du mir wirklich verzeihen? Willst du mich wirklich zur
Frau haben?«

Und aufs neue umschlangen sie seine starken Arme, während er nur zu
stammeln vermochte:

»O, mein Liebling! O, Geliebte meiner Seele!«

       *       *       *       *       *




Meine Geschichte nähert sich ihrem Ende. Wohl könnte ich euch, liebe
Leserinnen, noch von der Doppelhochzeit erzählen, die ein halbes Jahr
später stattfand; könnte schildern, wie Agnes und Irma mit den beiden
Brüdern Reicher an dem gleichen Tage in den heiligen Stand der Ehe
traten. Großartige Feste wurden bei dieser Gelegenheit gefeiert. Onkel
Heinz überreichte den beiden Bräuten als Hochzeitsgeschenk einen
blitzenden Juwelenschmuck. Er gab ihnen zu Ehren ein glänzendes
Abendessen und brachte die launigsten Toaste aus, nicht nur auf die
beiden jungen Paare, sondern auch -- auf Fräulein Elisabeth Müller,
die in einem neuen schwarzseidenen Kleide neben ihm saß, mit einem
heiteren, zufriedenen Ausdruck auf dem alten, faltigen Antlitz, der
sie hübscher machte, als sie je in ihrer Jugend gewesen war.

Ferner könnte ich berichten, wie Maud nach einigen Jahren auf kurze
Zeit mit Mann und Kind aus San Franzisko herüberkam, und wie stolz sie
auf ihren »=boy=« war, der in jedem Zuge seines klugen Gesichtchens
eine sprechende Ähnlichkeit mit John zeigte. Ich könnte euch erzählen
-- und sehe schon euer ungläubiges Kopfschütteln -- wie Gustavs und
Floras Töchterchen im Alter von drei Jahren, Tränen in den Augen, auf
ihres Vaters Klavierspiel lauschte; wie es, vierjährig, alle Melodien,
die es hörte, nachspielte, und im sechsten Lebensjahr bereits kleine
Stückchen komponierte. Ich könnte euch Irma als glückliche Gattin und
Mutter beschreiben, als treue Gehilfin ihres Mannes und Mitverwalterin
seiner ausgedehnten Landgüter. Ich könnte euch eine Schilderung von
dem großen Familienfest geben, das sie und Hans alle Jahre
veranstalten, das mehrere Tage dauert und zu dem alle Familienglieder,
die es nur irgend möglich machen können, erscheinen. Die Herren
vertreiben sich die Zeit mit Fischfang und Jagd, die Damen fahren
spazieren und die Kinder tun sich gütlich an Obst, Butter und Sahne,
Eiern und andern Herrlichkeiten. Ich könnte euch zeigen, wie Ilse sich
an dem Glück ihrer Enkelkinder freute, und mit welch seligem
Dankesgefühl sie ihre Urenkelchen in die Arme schloß. Ich könnte euch
Professor Fuchs vorführen, der die Achtzig überschritten hat, von
immer häufiger wiederkehrenden Gichtanfällen geplagt, doch ein
forscher, alter Herr blieb, stets geneigt zu widersprechen, heftig zu
werden und sich über Dinge zu erhitzen, die ihn nichts angingen.

Das alles aber will ich lieber eurer Einbildungskraft überlassen und
nur noch von einem einzigen Bilde den Vorhang wegziehen, von dem ich
sicher bin, daß es alle diejenigen rühren und ergreifen wird, die Ilse
als Kind, als jung verlobte Braut, als Ehefrau und endlich als
Großmutter gekannt haben.

       *       *       *       *       *




Es war ein schöner Sommerabend. Die Sonne war im Untergehen, Gold- und
Purpurstreifen färbten den Abendhimmel. In der Villa Ilse Gontraus
waren die Fenster weit geöffnet, von allen Seiten strömte die reine
Luft herein, aber im Hause herrschte eine eigentümliche, schwere
Stille. Lautlos ging die Dienerschaft hin und her, mit ernsten
Gesichtern, behutsam jede Tür hinter sich schließend, jedes Geräusch
vermeidend. Im Wohnzimmer waren Ruth von Holten, Marianne Müller,
Irma, Agnes und Flora versammelt. Sie flüsterten leise, mit
feuchtschimmernden Augen. Die Kleinen waren zur Stille ermahnt worden
und hatten versprochen sehr brav zu sein; sie wußten, Großmama war
krank und konnte keinen Lärm vertragen -- nur gute Nacht wollten sie
ihr noch sagen. Sie hatten gehört, daß Großmama sterben würde, aber
sie fürchteten sich nicht. Irma brachte sie an Frau Gontraus Bett.
Leise flüsterte ein süßes Kinderstimmchen nach dem andern: »Gute Nacht
Omama!«

Die alte Dame mit dem weißen, abgezehrten Antlitz vermochte nicht mehr
zu sprechen, aber sie lächelte noch matt und bewegte die Hand wie zum
Gruße. Nun waren die Kleinen verschwunden, und ihre Eltern umstanden
das Sterbebett.

Kein heftiger Schmerz, nur eine stille Wehmut erfüllte alle Herzen.
Großmutter Ilse war eigentlich nicht krank gewesen, ihre Kräfte hatten
in den letzten Jahren ganz allmählich abgenommen, aber ob auch der
Körper versagte, ihr Geist blieb klar, und sie war dankbar, daß nun
ohne viel Schmerzen das Ende nahte. Sie wußte, daß sie sterben würde,
und sah dem Tod mit großer Ruhe entgegen. Vor wenigen Tagen hatte sie
Ruth, welche sie pflegte, gebeten, alle ihre Lieben noch einmal an ihr
Lager zu rufen, und zärtlich und heiter ihren Enkeln und Urenkeln
zugenickt. Sie hatte dabei geäußert, wie dankbar sie sich des Glückes
ihrer Kinder freue, und sie gebeten, nicht um sie zu trauern, denn es
sei nichts Betrübendes, wenn eine alte Frau, deren Leben ein so
überreich gesegnetes gewesen, zur ewigen Ruhe einginge, umgeben von
allen, die ihr teuer waren. --

Es schien jetzt, als ob sie schlummerte, so friedlich und still lag
sie in den Kissen, ihr Atem aber ging schwächer und schwächer. Durch
die offenen Fenster des Sterbezimmers warf die untergehende Sonne ihre
letzten Strahlen und überhauchte das weiße Antlitz noch einmal mit
warmer Glut. Großmutters Lippen bewegten sich leise, die dunklen
Augen öffneten sich und richteten sich auf alle, die um ihr Lager
standen, sie erkannte sie und lächelte. Es war, als ob sie noch etwas
sagen wollte, aber sie vermochte es nicht; da blieb ihr brechender
Blick auf einer Gestalt im Hintergrunde haften, die sich halb
verborgen hielt, als gehörte sie nicht in den Kreis der Kinder. Ilse
winkte mit der Hand, und Onkel Heinz näherte sich dem Bett, während
die andern ihm liebevoll Platz machten.

Und das alte, ach so alte Antlitz des Greises wurde auch vom Abendrot
beleuchtet, und in seinen erloschenen Augen schimmerte ein Glanz, als
er sich über die Sterbende neigte, und ihre kalten Finger den Druck
seiner welken Hand noch für eine Sekunde erwiderten.

Eine große feierliche Stille herrschte in dem Gemach, in das der Tod
eingetreten war. Niemand wagte zu sprechen. Endlich, als die letzte
Glut am Himmel verglomm, näherte Ruth sich dem Sterbebett und löste
die Hand des alten Mannes aus der Hand der Toten.

»Komm, Onkel Heinz,« bat sie sanft.

Mit einem Lächeln auf den Lippen schaute er sie an. Dann strich er
ehrerbietig und leise über die Stirn der toten Freundin und flüsterte:

»Ich folge Ihnen bald, Frau Ilse.«

Und so geschah es auch.

       *       *       *       *       *




  [ Im folgenden sind die Änderungen am Originaltext aufgeführt.
    Unter der Beschreibung der Änderung steht jeweils zuerst die
    Textstelle im Original, dann die geänderte Textstelle.


    Fehlendes Anführungszeichen ergänzt:
    wirklich nicht beurteilen.
    wirklich nicht beurteilen.«

    Fehlendes Anführungszeichen ergänzt:
    Maud lachte. Wir kannten niemand; Tante Ruth hat, glaube ich, an
    Maud lachte. »Wir kannten niemand; Tante Ruth hat, glaube ich, an

    Fehlendes Komma ergänzt:
    »Aber Kinder,« fragte Ilse »habt ihr in Paris denn nie eine
    »Aber Kinder,« fragte Ilse, »habt ihr in Paris denn nie eine

    Fehlendes Anführungszeichen ergänzt:
    praktisch lernen und daher dient er eine Zeitlang als einfacher
    Arbeiter.
    praktisch lernen und daher dient er eine Zeitlang als einfacher
    Arbeiter.«

    Überflüssiges Anführungszeichen gelöscht:
    »Nein,« Onkel Heinz weiß es nicht,« erklärte Ilse bestimmt, dem
    »Nein, Onkel Heinz weiß es nicht,« erklärte Ilse bestimmt, dem

    »ihre« geändert zu »Ihre«:
    sind ihre Nichten Maud und Agnes, und der Bengel da ist Karl.«
    sind Ihre Nichten Maud und Agnes, und der Bengel da ist Karl.«

    »nud« geändert zu »und«:
    Ordnung befand, mußten Ilse nud Irma doch gestehen, daß es sehr nett
    Ordnung befand, mußten Ilse und Irma doch gestehen, daß es sehr nett

    Fehlendes Anführungszeichen ergänzt:
    sie den Stich nicht verstanden; eine geistig hochstehende Frau kann
    sie den Stich nicht verstanden; »eine geistig hochstehende Frau kann

    Komma richtig platziert:
    kommen. Die Kinder erhoben Einsprache dagegen ,und Onkel Heinz
    kommen. Die Kinder erhoben Einsprache dagegen, und Onkel Heinz

    »sie« geändert zu »Sie«:
    geliebt,« scherzte der Professor. »Ich erinnere mich noch, daß sie uns
    geliebt,« scherzte der Professor. »Ich erinnere mich noch, daß Sie uns

    »so' ner« geändert zu »so 'ner«:
    von so' ner Aussicht; es ist doch immer dasselbe, und eine ist genau
    von so 'ner Aussicht; es ist doch immer dasselbe, und eine ist genau

    »teil« geändert zu »Teil«:
    gewaltigen Massen stürzte das Wasser in die Tiefe, zum teil über einen
    gewaltigen Massen stürzte das Wasser in die Tiefe, zum Teil über einen

    »La France-Rosn« geändert zu »La France-Rosen«:
    ihr zwei prachtvolle La France-Rosn.
    ihr zwei prachtvolle La France-Rosen.

    Fehlendes »zu« ergänzt:
    zu ärgern, sondern sich bemühen, durch eigene Verdienste das zu
    zu ärgern, sondern sich zu bemühen, durch eigene Verdienste das zu

    Fehlenden Punkt ergänzt:
    Alle jubelten und lachten »Georg, er soll leben!« schallte es hell
    Alle jubelten und lachten. »Georg, er soll leben!« schallte es hell

    »konnten« geändert zu »konnte«:
    übertriebenen Ausdrücke und poetischen Sentimentalitäten ihr verzeihen
    konnten.
    übertriebenen Ausdrücke und poetischen Sentimentalitäten ihr verzeihen
    konnte.

    »verzweifelsten« geändert zu »verzweifeltsten«:
    augenscheinlich die verzweifelsten Anstrengungen machte, das Feuer
    augenscheinlich die verzweifeltsten Anstrengungen machte, das Feuer

    Fehlenden Punkt ergänzt:
    ging willig fort, mit dem Versprechen, nichts zu vergessen
    ging willig fort, mit dem Versprechen, nichts zu vergessen.

    »beiligte« geändert zu »beteiligte«:
    Vorschein. Ein jeder beiligte sich beim Bedienen, schnitt vor oder
    Vorschein. Ein jeder beteiligte sich beim Bedienen, schnitt vor oder

    »!« geändert zu »:«:
    Das Mädchen trat ein und meldete! »Fräulein Elisabeth Müller wünscht
    Das Mädchen trat ein und meldete: »Fräulein Elisabeth Müller wünscht

    Fehlendes Anführungszeichen ergänzt:
    dürfen wir nicht vergessen.
    dürfen wir nicht vergessen.«

    Fehlendes Anführungszeichen ergänzt:
    nicht zu unsren Amerikanern.
    nicht zu unsren Amerikanern.«

    »sie« geändert zu »Sie«:
    »Onkel Heinz, Onkel Heinz! Da sieht man wieder, daß sie ein
    »Onkel Heinz, Onkel Heinz! Da sieht man wieder, daß Sie ein

    Fehlendes Komma ergänzt:
    »Ich bin betrübt Kindchen, weil du kein Vertrauen zu mir hattest.
    »Ich bin betrübt, Kindchen, weil du kein Vertrauen zu mir hattest.

    Fehlendes Anführungszeichen ergänzt:
    dulden, nie aber mit wahrer Liebe aufnehmen würden.
    dulden, nie aber mit wahrer Liebe aufnehmen würden.«

    »im« geändert zu »in«:
    ihr eine geheime Stimme im ihrem Innern, daß ihre Eltern der Großmama
    ihr eine geheime Stimme in ihrem Innern, daß ihre Eltern der Großmama

    Fehlendes Komma ergänzt:
    gälte es die wichtigsten Dinge über eine hübsche Bluse oder einen
    gälte es die wichtigsten Dinge, über eine hübsche Bluse oder einen

    »Keise« geändert zu »Kreise«:
    Erstaunen, als er plötzlich eines Abends in ihrem Keise erschien. Er
    Erstaunen, als er plötzlich eines Abends in ihrem Kreise erschien. Er

    Komma am Zeilenende als Trennzeichen interpretiert, somit
    »Teil, nahme« geändert in »Teilnahme«:
    freundlich mit ihm, bewies plötzlich so viel Teil,
    nahme an allem, was
    freundlich mit ihm, bewies plötzlich so viel Teilnahme an allem, was

    Fehlendes Anführungszeichen ergänzt:
    Bisher habe ich mich noch nie danach gesehnt. Ich fühlte mich in
    »Bisher habe ich mich noch nie danach gesehnt. Ich fühlte mich in

    Fehlenden Punkt ergänzt:
    schon am folgenden Tage müsse er abreisen Ausrufe des Bedauerns, der
    schon am folgenden Tage müsse er abreisen. Ausrufe des Bedauerns, der

    »Hans« geändert zu »Otto«:
    mir und Hans von Hochstein vorgefallen ist?«
    mir und Otto von Hochstein vorgefallen ist?«

    »herrliche« geändert zu »herrlichen«:
    so kühl, enthielten außer einem Bericht über die herrliche
    so kühl, enthielten außer einem Bericht über die herrlichen

    Komma am Zeilenende als Trennzeichen interpretiert, somit »her, vor«
    geändert in »hervor«:
    hinter den Brillengläsern her,
    vor seine alten, scharfen Augen mit einem
    hinter den Brillengläsern hervor seine alten, scharfen Augen mit einem
  ]





End of the Project Gutenberg EBook of Trotzkopf als Grossmutter, by 
Suse la Chapelle-Roobol

*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK TROTZKOPF ALS GROSSMUTTER ***

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Section  2.  Information about the Mission of Project Gutenberg-tm

Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
electronic works in formats readable by the widest variety of computers
including obsolete, old, middle-aged and new computers.  It exists
because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from
people in all walks of life.

Volunteers and financial support to provide volunteers with the
assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg-tm's
goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
remain freely available for generations to come.  In 2001, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations.
To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4
and the Foundation information page at www.gutenberg.org


Section 3.  Information about the Project Gutenberg Literary Archive
Foundation

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
Revenue Service.  The Foundation's EIN or federal tax identification
number is 64-6221541.  Contributions to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent
permitted by U.S. federal laws and your state's laws.

The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S.
Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered
throughout numerous locations.  Its business office is located at 809
North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887.  Email
contact links and up to date contact information can be found at the
Foundation's web site and official page at www.gutenberg.org/contact

For additional contact information:
     Dr. Gregory B. Newby
     Chief Executive and Director
     [email protected]

Section 4.  Information about Donations to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
spread public support and donations to carry out its mission of
increasing the number of public domain and licensed works that can be
freely distributed in machine readable form accessible by the widest
array of equipment including outdated equipment.  Many small donations
($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
status with the IRS.

The Foundation is committed to complying with the laws regulating
charities and charitable donations in all 50 states of the United
States.  Compliance requirements are not uniform and it takes a
considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
with these requirements.  We do not solicit donations in locations
where we have not received written confirmation of compliance.  To
SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any
particular state visit www.gutenberg.org/donate

While we cannot and do not solicit contributions from states where we
have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
against accepting unsolicited donations from donors in such states who
approach us with offers to donate.

International donations are gratefully accepted, but we cannot make
any statements concerning tax treatment of donations received from
outside the United States.  U.S. laws alone swamp our small staff.

Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
methods and addresses.  Donations are accepted in a number of other
ways including checks, online payments and credit card donations.
To donate, please visit:  www.gutenberg.org/donate


Section 5.  General Information About Project Gutenberg-tm electronic
works.

Professor Michael S. Hart was the originator of the Project Gutenberg-tm
concept of a library of electronic works that could be freely shared
with anyone.  For forty years, he produced and distributed Project
Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support.

Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S.
unless a copyright notice is included.  Thus, we do not necessarily
keep eBooks in compliance with any particular paper edition.

Most people start at our Web site which has the main PG search facility:

     www.gutenberg.org

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