Brennendes Geheimnis: Erzählung

By Stefan Zweig

The Project Gutenberg EBook of Brennendes Geheimnis, by Stefan Zweig

This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with
almost no restrictions whatsoever.  You may copy it, give it away or
re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included
with this eBook or online at www.gutenberg.org


Title: Brennendes Geheimnis
       Erzählung

Author: Stefan Zweig

Release Date: January 5, 2008 [EBook #24173]

Language: German


*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK BRENNENDES GEHEIMNIS ***




Produced by Irma Knoll and the Online Distributed
Proofreading Team at http://www.pgdp.net









BRENNENDES GEHEIMNIS


Erzählung

von

STEFAN ZWEIG




Im Insel-Verlag zu Leipzig

16.-25. Tausend




Der Partner


Die Lokomotive schrie heiser auf: der Semmering war erreicht. Eine
Minute rasteten die schwarzen Wagen im silbrigen Licht der Höhe, warfen
paar bunte Menschen aus, schluckten andere ein, Stimmen gingen geärgert
hin und her, dann schrie vorne wieder die heisere Maschine und riß die
schwarze Kette rasselnd in die Höhle des Tunnels hinab. Rein
ausgespannt, mit klaren, vom nassen Wind reingefegten Hintergründen lag
wieder die hingebreitete Landschaft.

Einer der Angekommenen, jung, durch gute Kleidung und eine natürliche
Elastizität des Schrittes sympathisch auffallend, nahm den andern rasch
voraus einen Fiaker zum Hotel. Ohne Hast trappten die Pferde den
ansteigenden Weg. Es lag Frühling in der Luft. Jene weißen, unruhigen
Wolken flatterten am Himmel, die nur der Mai und der Juni hat, jene
weißen, selbst noch jungen und flattrigen Gesellen, die spielend über
die blaue Bahn rennen, um sich plötzlich hinter hohen Bergen zu
verstecken, die sich umarmen und fliehen, sich bald wie Taschentücher
zerknüllen, bald in Streifen zerfasern und schließlich im Schabernack
den Bergen weiße Mützen aufsetzen. Unruhe war auch oben im Wind, der die
mageren, noch vom Regen feuchten Bäume so unbändig schüttelte, daß sie
leise in den Gelenken krachten und tausend Tropfen wie Funken von sich
wegsprühten. Manchmal schien auch Duft von Schnee kühl aus den Bergen
herüberzukommen, dann spürte man im Atem etwas, das süß und scharf war
zugleich. Alles in Luft und Erde war Bewegung und gärende Ungeduld.
Leise schnaubend liefen die Pferde den jetzt niedersteigenden Weg, die
Schellen klirrten ihnen weit voraus.

Im Hotel war der erste Weg des jungen Mannes zu der Liste der anwesenden
Gäste, die er -- bald enttäuscht -- durchflog. »Wozu bin ich eigentlich
hier«, begann es unruhig in ihm zu fragen. »Allein hier auf dem Berg zu
sein, ohne Gesellschaft, ist ärger als das Bureau. Offenbar bin ich zu
früh gekommen oder zu spät. Ich habe nie Glück mit meinem Urlaub. Keinen
einzigen bekannten Namen finde ich unter all den Leuten. Wenn wenigstens
ein paar Frauen da wären, irgendein kleiner, im Notfall sogar argloser
Flirt, um diese Woche nicht gar zu trostlos zu verbringen.« Der junge
Mann, ein Baron von nicht sehr klangvollem österreichischen Beamtenadel,
in der Statthalterei angestellt, hatte sich diesen kleinen Urlaub ohne
jegliches Bedürfnis genommen, eigentlich nur, weil sich alle seine
Kollegen eine Frühjahrswoche durchgesetzt hatten und er die seine dem
Dienst nicht schenken wollte. Er war, obwohl innerer Befähigung nicht
entbehrend, eine durchaus gesellschaftliche Natur, als solche beliebt,
in allen Kreisen gern gesehen und sich seiner Unfähigkeit zur Einsamkeit
voll bewußt. In ihm war keine Neigung, sich selber allein
gegenüberzustehen, und er vermied möglichst diese Begegnungen, weil er
intimere Bekanntschaft mit sich selbst gar nicht wollte. Er wußte, daß
er die Reibfläche von Menschen brauchte, um seine Talente, die Wärme und
den Übermut seines Herzens aufflammen zu lassen, und er allein frostig
und sich selber nutzlos war, wie ein Zündholz in der Schachtel.

Verstimmt ging er in der leeren Hall auf und ab, bald unschlüssig in den
Zeitungen blätternd, bald wieder im Musikzimmer am Klavier einen Walzer
antastend, bei dem ihm aber der Rhythmus nicht recht in die Finger
sprang. Schließlich setzte er sich verdrossen hin, sah hinaus, wie das
Dunkel langsam niederfiel, der Nebel als Dampf grau aus den Fichten
brach. Eine Stunde zerbröselte er so, nutzlos und nervös. Dann flüchtete
er in den Speisesaal.

Dort waren erst ein paar Tische besetzt, die er alle mit eiligem Blick
überflog. Vergeblich! Keine Bekannten, nur dort -- er gab lässig einen
Gruß zurück -- ein Trainer, dort wieder ein Gesicht von der Ringstraße
her, sonst nichts. Keine Frau, nichts, was ein auch flüchtiges Abenteuer
versprach. Sein Mißmut wurde ungeduldiger. Er war einer jener jungen
Menschen, deren hübschem Gesicht viel geglückt ist und in denen nun
beständig alles für eine neue Begegnung, ein neues Erlebnis bereit ist,
die immer gespannt sind, sich ins Unbekannte eines Abenteuers zu
schnellen, die nichts überrascht, weil sie alles lauernd berechnet
haben, die nichts Erotisches übersehen, weil schon ihr erster Blick
jeder Frau in das Sinnliche greift, prüfend und ohne Unterschied, ob es
die Gattin ihres Freundes ist oder das Stubenmädchen, das die Türe zu
ihr öffnet. Wenn man solche Menschen mit einer gewissen leichtfertigen
Verächtlichkeit Frauenjäger nennt, so geschieht es, ohne zu wissen,
wieviel beobachtende Wahrheit in dem Worte versteinert ist, denn
tatsächlich, alle leidenschaftlichen Instinkte der Jagd, das Aufspüren,
die Erregtheit und die seelische Grausamkeit flackern in dem rastlosen
Wachsein solcher Menschen. Sie sind beständig auf dem Anstand, immer
bereit und entschlossen, die Spur eines Abenteuers bis hart an den
Abgrund zu verfolgen. Sie sind immer geladen mit Leidenschaft, aber
nicht der des Liebenden, sondern der des Spielers, der kalten,
berechnenden und gefährlichen. Es gibt unter ihnen Beharrliche, denen
weit über die Jugend hinaus das ganze Leben durch diese Erwartung zum
ewigen Abenteuer wird, denen sich der einzelne Tag in hundert kleine,
sinnliche Erlebnisse auflöst -- ein Blick im Vorübergehen, ein
weghuschendes Lächeln, ein im Gegenübersitzen gestreiftes Knie -- und
das Jahr wieder in hundert solcher Tage, für die das sinnliche Erlebnis
ewig fließende, nährende und anfeuernde Quelle des Lebens ist.

Hier waren keine Partner zu einem Spiele, das übersah der Suchende
sofort. Und keine Gereiztheit ist ärgerlicher als die des Spielers, der
mit den Karten in der Hand im Bewußtsein seiner Überlegenheit vor dem
grünen Tisch sitzt und vergeblich den Partner erwartet. Der Baron rief
nach einer Zeitung. Mürrisch ließ er die Blicke über die Zeilen rinnen,
aber seine Gedanken waren lahm und stolperten wie betrunken den Worten
nach.

Da hörte er hinter sich ein Kleid rauschen und eine Stimme, leicht
ärgerlich und mit affektiertem Akzent, sagen: »=Mais tais toi donc,
Edgar!=«

An seinem Tisch knisterte im Vorüberschreiten ein seidenes Kleid, hoch
und üppig schattete eine Gestalt vorbei und hinter ihr in einem
schwarzen Samtanzug ein kleiner, blasser Bub, der ihn neugierig mit dem
Blick anstreifte. Die beiden setzten sich gegenüber an den reservierten
Tisch, das Kind sichtbar um eine Korrektheit bemüht, die der schwarzen
Unruhe in seinen Augen zu widersprechen schien. Die Dame -- und nur auf
sie hatte der junge Baron acht -- war sehr soigniert und mit sichtbarer
Eleganz gekleidet, ein Typus überdies, den er sehr liebte, eine jener
leicht üppigen Jüdinnen im Alter knapp vor der Überreife, offenbar auch
leidenschaftlich, aber erfahren, ihr Temperament hinter einer vornehmen
Melancholie zu verbergen. Er vermochte zunächst noch nicht in ihre Augen
zu sehen und bewunderte nur die schön geschwungene Linie der
Augenbrauen, rein über einer zarten Nase gerundet, die ihre Rasse zwar
verriet, aber durch edle Form das Profil scharf und interessant machte.
Die Haare waren, wie alles Weibliche an diesem vollen Körper, von einer
auffallenden Üppigkeit, ihre Schönheit schien im sichern Selbstgefühl
vieler Bewunderungen satt und prahlerisch geworden zu sein. Sie
bestellte mit sehr leiser Stimme, wies den Buben, der mit der Gabel
spielend klirrte, zurecht -- all dies mit anscheinender Gleichgültigkeit
gegen den vorsichtig anschleichenden Blick des Barons, den sie nicht zu
bemerken schien, während es doch in Wirklichkeit nur seine rege
Wachsamkeit war, die ihr diese gebändigte Sorgfalt aufzwang.

Das Dunkel im Gesichte des Barons war mit einem Male aufgehellt,
unterirdisch belebend liefen die Nerven hin, strafften die Falten,
rissen die Muskeln auf, daß seine Gestalt aufschnellte und Lichter in
den Augen flackerten. Er war selber den Frauen nicht unähnlich, die erst
die Gegenwart eines Mannes brauchen, um aus sich ihre ganze Gewalt
herauszuholen. Erst ein sinnlicher Reiz spannte seine Energie zu voller
Kraft. Der Jäger in ihm witterte hier eine Beute. Herausfordernd suchte
sein Auge ihrem Blick zu begegnen, der ihn manchmal mit einer
glitzernden Unbestimmtheit des Vorbeisehens kreuzte, nie aber blank eine
klare Antwort bot. Auch um den Mund glaubte er manchmal ein Fließen wie
von beginnendem Lächeln zu spüren, aber all dies war unsicher, und eben
diese Unsicherheit erregte ihn. Das einzige, was ihm versprechend
schien, war dieses stete Vorbeischauen, weil es Widerstand war und
Befangenheit zugleich, und dann die merkwürdig sorgfältige, auf einen
Zuschauer sichtlich eingestellte Art der Konversation mit dem Kinde.
Eben das aufdringlich Vorgehaltene dieser Ruhe bedeutete, das fühlte er,
heimlich ein erstes Beunruhigtsein. Auch er war erregt: das Spiel hatte
begonnen. Er verzögerte sein Diner, hielt diese Frau eine halbe Stunde
fast unablässig mit dem Blick fest, bis er jede Linie ihres Gesichtes
nachgezeichnet, an jede Stelle ihres üppigen Körpers unsichtbar gerührt
hatte. Draußen fiel drückend das Dunkel nieder, die Wälder seufzten in
kindischer Furcht, als jetzt die großen Regenwolken graue Hände nach
ihnen reckten, immer finstrer drängten die Schatten ins Zimmer hinein,
immer mehr schienen die Menschen hier zusammengepreßt durch das
Schweigen. Das Gespräch der Mutter mit ihrem Kinde wurde, das merkte er,
unter der Drohung dieser Stille immer gezwungener, immer künstlicher,
bald, fühlte er, würde es zu Ende sein. Da beschloß er eine Probe. Er
stand als erster auf, ging langsam, mit einem langen Blick auf die
Landschaft an ihr vorbeisehend, zur Türe. Dort zuckte er rasch, als
hätte er etwas vergessen, mit dem Kopf herum. Und ertappte sie, wie sie
ihm lebhaften Blickes nachsah.

Das reizte ihn. Er wartete in der Hall. Sie kam bald nach, den Buben an
der Hand, blätterte im Vorübergehen unter den Zeitschriften, zeigte dem
Kind ein paar Bilder. Aber als der Baron, wie zufällig, an den Tisch
trat, anscheinend um auch eine Zeitschrift zu suchen, in Wahrheit, um
tiefer in das feuchte Glitzern ihrer Augen zu dringen, vielleicht sogar
ein Gespräch zu beginnen, wandte sie sich weg, klopfte ihrem Sohn leicht
auf die Schulter: »=Viens, Edgar! Au lit!=« und rauschte kühl an ihm
vorbei.

Ein wenig enttäuscht, sah ihr der Baron nach. Er hatte eigentlich auf
ein Bekanntwerden noch an diesem Abend gerechnet, und diese schroffe Art
enttäuschte ihn. Aber schließlich, in diesem Widerstand war Reiz, und
gerade das Unsichere entzündete seine Begier. Immerhin: er hatte seinen
Partner, und ein Spiel konnte beginnen.




Rasche Freundschaft


Als der Baron am nächsten Morgen in die Hall trat, sah er dort das Kind
der schönen Unbekannten in eifrigem Gespräch mit den beiden Liftboys,
denen es Bilder in einem Buch von Karl May zeigte. Seine Mama war nicht
zugegen, offenbar noch mit der Toilette beschäftigt. Jetzt erst besah
sich der Baron den Buben. Es war ein scheuer, unentwickelter nervöser
Junge von etwa zwölf Jahren mit fahrigen Bewegungen und dunkel
herumjagenden Augen. Er machte, wie Kinder in diesen Jahren so oft, den
Eindruck von Verschrecktheit, gleichsam als ob er eben aus dem Schlaf
gerissen und plötzlich in fremde Umgebung gestellt sei. Sein Gesicht war
nicht unhübsch, aber noch ganz unentschieden, der Kampf des Männlichen
mit dem Kindlichen schien eben erst einsetzen zu wollen, noch war alles
darin nur wie geknetet und noch nicht geformt, nichts in reinen Linien
ausgesprochen, nur blaß und unruhig gemengt. Überdies war er gerade in
jenem unvorteilhaften Alter, wo Kinder nie in ihre Kleider passen, Ärmel
und Hosen schlaff um die mageren Gelenke schlottern und noch keine
innere Eitelkeit sie mahnt, auf ihr Äußeres zu wachen.

Der Knabe machte hier, unschlüssig herumirrend, einen ziemlich
kläglichen Eindruck. Eigentlich stand er allen im Wege. Bald schob ihn
der Portier beiseite, den er mit allerhand Fragen zu belästigen schien,
bald störte er am Eingang; offenbar fehlte es ihm an freundschaftlichem
Umgang. So suchte er in seinem kindlichen Schwatzbedürfnis sich an die
Bediensteten des Hotels heranzumachen, die ihm, wenn sie gerade Zeit
hatten, antworteten, das Gespräch aber sofort unterbrachen, wenn ein
Erwachsener in Sicht kam oder etwas Vernünftiges getan werden mußte. Der
Baron sah lächelnd und mit Interesse dem unglücklichen Buben zu, der auf
alles mit Neugier schaute und dem alles unfreundlich entwich. Einmal
faßte er einen dieser neugierigen Blicke fest an, aber die schwarzen
Augen krochen sofort ängstlich in sich hinein, sobald er sie auf der
Suche ertappte, und duckten sich hinter gesenkten Lidern. Das amüsierte
den Baron. Der Bub begann ihn zu interessieren, und er fragte sich, ob
ihm dieses Kind, das offenbar nur aus Furcht so scheu war, nicht als
raschester Vermittler einer Annäherung dienen könnte. Immerhin: er
wollte es versuchen. Unauffällig folgte er dem Buben, der eben wieder
zur Türe hinauspendelte und in seinem kindischen Zärtlichkeitsbedürfnis
die rosa Nüstern eines Schimmels liebkoste, bis ihn -- er hatte wirklich
kein Glück -- auch hier der Kutscher ziemlich barsch wegwies. Gekränkt
und gelangweilt stand er jetzt wieder herum mit seinem leeren und ein
wenig traurigen Blick. Da sprach ihn der Baron an.

»Na, junger Mann, wie gefällts dir da?« setzte er plötzlich ein, bemüht,
die Ansprache möglichst jovial zu halten.

Das Kind wurde feuerrot und starrte ängstlich auf. Er zog die Hand
irgendwie in Furcht an sich und wand sich hin und her vor Verlegenheit.
Das geschah ihm zum erstenmal, daß ein fremder Herr mit ihm ein Gespräch
begann.

»Ich danke, gut«, konnte er gerade noch herausstammeln. Das letzte Wort
war schon mehr gewürgt als gesprochen.

»Das wundert mich,« sagte der Baron lachend, »es ist doch eigentlich ein
fader Ort, besonders für einen jungen Mann, wie du einer bist. Was
treibst du denn den ganzen Tag?«

Der Bub war noch immer zu sehr verwirrt, um rasch zu antworten. War es
wirklich möglich, daß dieser fremde elegante Herr mit ihm, um den sich
sonst keiner kümmerte, ein Gespräch suchte? Der Gedanke machte ihn scheu
und stolz zugleich. Mühsam raffte er sich zusammen.

»Ich lese, und dann, wir gehen viel spazieren. Manchmal fahren wir auch
im Wagen, die Mama und ich. Ich soll mich hier erholen, ich war krank.
Ich muß darum auch viel in der Sonne sitzen, hat der Arzt gesagt.«

Die letzten Worte sagte er schon ziemlich sicher. Kinder sind immer
stolz auf eine Krankheit, weil sie wissen, daß Gefahr sie ihren
Angehörigen doppelt wichtig macht.

»Ja, die Sonne ist schon gut für junge Herren, wie du einer bist, sie
wird dich schon braun brennen. Aber du solltest doch nicht den ganzen
Tag dasitzen. Ein Bursch wie du sollte herumlaufen, übermütig sein und
auch ein bißchen Unfug anstellen. Mir scheint, du bist zu brav, du
siehst auch so aus wie ein Stubenhocker mit deinem großen dicken Buch
unterm Arm. Wenn ich denke, was ich in deinem Alter für ein Galgenstrick
war, jeden Abend bin ich mit zerrissenen Hosen nach Hause gekommen. Nur
nicht zu brav sein!«

Unwillkürlich mußte das Kind lächeln, und das nahm ihm die Angst. Es
hätte gern etwas erwidert, aber all dies schien ihm zu frech, zu
selbstbewußt vor diesem lieben fremden Herrn, der so freundlich mit ihm
sprach. Vorlaut war er nie gewesen und immer leicht verlegen, und so kam
er jetzt vor Glück und Scham in die ärgste Verwirrung. Er hätte so gern
das Gespräch fortgesetzt, aber es fiel ihm nichts ein. Glücklicherweise
kam gerade der große gelbe Bernhardiner des Hotels vorbei, schnüffelte
sie beide an und ließ sich willig liebkosen.

»Hast du Hunde gern?« fragte der Baron.

»O sehr, meine Großmama hat einen in ihrer Villa in Baden, und wenn wir
dort wohnen, ist er immer den ganzen Tag mit mir. Das ist aber nur im
Sommer, wenn wir dort zu Besuch sind.«

»Wir haben zu Hause, auf unserem Gut, ich glaube, zwei Dutzend. Wenn du
hier brav bist, kriegst du einen von mir geschenkt. Einen braunen mit
weißen Ohren, einen ganz jungen. Willst du?«

Das Kind errötete vor Vergnügen.

»O ja.«

Es fuhr ihm so heraus, heiß und gierig. Aber gleich hinterher stolperte,
ängstlich und wie erschrocken, das Bedenken.

»Aber Mama wird es nicht erlauben. Sie sagt, sie duldet keinen Hund zu
Hause. Sie machen zuviel Schererei.«

Der Baron lächelte. Endlich hielt das Gespräch bei der Mama.

»Ist die Mama so streng?«

Das Kind überlegte, blickte eine Sekunde zu ihm auf, gleichsam fragend,
ob man diesem fremden Herrn schon vertrauen dürfe. Die Antwort blieb
vorsichtig:

»Nein, streng ist die Mama nicht. Jetzt, weil ich krank war, erlaubt sie
mir alles. Vielleicht erlaubt sie mir sogar einen Hund.«

»Soll ich sie darum bitten?«

»Ja, bitte tun Sie das«, jubelte der Bub. »Dann wird es die Mama sicher
erlauben. Und wie sieht er aus? Weiße Ohren hat er, nicht wahr? Kann er
apportieren?«

»Ja, er kann alles.« Der Baron mußte lächeln über die heißen Funken, die
er so rasch aus den Augen des Kindes geschlagen hatte. Mit einem Male
war die anfängliche Befangenheit gebrochen, und die von der Angst
zurückgehaltene Leidenschaftlichkeit sprudelte über. In blitzschneller
Verwandlung war das scheue verängstigte Kind von früher ein
ausgelassener Bub. Wenn nur die Mutter auch so wäre, dachte
unwillkürlich der Baron, so heiß hinter ihrer Angst! Aber schon sprang
der Bub mit zwanzig Fragen an ihm hinauf:

»Wie heißt der Hund?«

»Karo.«

»Karo«, jubelte das Kind. Es mußte irgendwie lachen und jubeln über
jedes Wort, ganz trunken von dem unerwarteten Geschehen, daß sich jemand
seiner in Freundlichkeit angenommen hatte. Der Baron staunte selbst über
seinen raschen Erfolg und beschloß, das heiße Eisen zu schmieden. Er lud
den Knaben ein, mit ihm ein wenig spazieren zu gehen, und der arme Bub,
seit Wochen ausgehungert nach einem geselligen Beisammensein, war von
diesem Vorschlag entzückt. Unbedacht plauderte er alles aus, was ihm
sein neuer Freund mit kleinen, wie zufälligen Fragen entlocken wollte.
Bald wußte der Baron alles über die Familie, vor allem, daß Edgar der
einzige Sohn eines Wiener Advokaten sei, offenbar aus der vermögenden
jüdischen Bourgeoisie. Und durch geschickte Umfragen erkundete er rasch,
daß die Mutter sich über den Aufenthalt am Semmering durchaus nicht
entzückt geäußert und den Mangel an sympathischer Gesellschaft beklagt
habe, ja er glaubte sogar, aus der ausweichenden Art, mit der Edgar die
Frage beantwortete, ob die Mama den Papa sehr gern habe, entnehmen zu
können, daß hier nicht alles zum besten stünde. Beinahe schämte er sich,
wie leicht es ihm wurde, dem arglosen Buben all diese kleinen
Familiengeheimnisse zu entlocken, denn Edgar, ganz stolz, daß irgend
etwas von dem, was er zu erzählen hatte, einen Erwachsenen interessieren
konnte, drängte sein Vertrauen dem neuen Freunde geradezu auf. Sein
kindisches Herz klopfte vor Stolz -- der Baron hatte im Spazierengehen
ihm seinen Arm um die Schulter gelegt --, in solcher Intimität
öffentlich mit einem Erwachsenen gesehen zu werden, und allmählich
vergaß er seine eigene Kindheit, schnatterte frei und ungezwungen wie zu
einem Gleichaltrigen. Edgar war, wie sein Gespräch zeigte, sehr klug,
etwas frühreif wie die meisten kränklichen Kinder, die viel mit
Erwachsenen beisammen waren, und von einer merkwürdig überreizten
Leidenschaft der Zuneigung oder Feindlichkeit. Zu nichts schien er ein
ruhiges Verhältnis zu haben, von jedem Menschen oder Ding sprach er
entweder in Verzückung oder mit einem Hasse, der so heftig war, daß er
sein Gesicht unangenehm verzerrte und es fast bösartig und häßlich
machte. Etwas Wildes und Sprunghaftes, vielleicht noch bedingt durch die
kürzlich überstandene Krankheit, gab seinen Reden fanatisches Feuer, und
es schien, daß sein Linkischsein nur mühsam unterdrückte Angst vor der
eigenen Leidenschaft war.

Der Baron gewann mit Leichtigkeit sein Vertrauen. Eine halbe Stunde
bloß, und er hatte dieses heiße und unruhig zuckende Herz in der Hand.
Es ist ja so unsäglich leicht, Kinder zu betrügen, diese Arglosen, um
deren Liebe so selten geworben wird. Er brauchte sich selbst nur in die
Vergangenheit zu vergessen, und so natürlich, so ungezwungen wurde ihm
das kindliche Gespräch, daß auch der Bub ihn ganz als seinesgleichen
empfand und nach wenigen Minuten jedes Distanzgefühl verlor. Er war nur
selig von Glück, hier in diesem einsamen Ort plötzlich einen Freund
gefunden zu haben, und welch einen Freund! Vergessen waren sie alle in
Wien, die kleinen Jungen mit ihren dünnen Stimmen, ihrem unerfahrenen
Geschwätz, wie weggeschwemmt waren ihre Bilder von dieser einen neuen
Stunde! Seine ganze schwärmerische Leidenschaft gehörte jetzt diesem
neuen, seinem großen Freunde, und sein Herz dehnte sich vor Stolz, als
dieser ihn jetzt zum Abschied nochmals einlud, morgen vormittags
wiederzukommen, und der neue Freund ihm nun zuwinkte von der Ferne, ganz
wie ein Bruder. Diese Minute war vielleicht die schönste seines Lebens.
Es ist so leicht, Kinder zu betrügen. -- Der Baron lächelte dem
Davonstürmenden nach. Der Vermittler war nun gewonnen. Der Bub würde
jetzt, das wußte er, seine Mutter mit Erzählungen bis zur Erschöpfung
quälen, jedes einzelne Wort wiederholen -- und dabei erinnerte er sich
mit Vergnügen, wie geschickt er einige Komplimente an ihre Adresse
eingeflochten, wie er immer nur von Edgars »schöner Mama« gesprochen
hatte. Es war ausgemachte Sache für ihn, daß der mitteilsame Knabe nicht
früher ruhen würde, ehe er seine Mama und ihn zusammengeführt hätte. Er
selbst brauchte nun keinen Finger zu rühren, um die Distanz zwischen
sich und der schönen Unbekannten zu verringern, konnte nun ruhig träumen
und die Landschaft überschauen, denn er wußte, ein paar heiße
Kinderhände bauten ihm die Brücke zu ihrem Herzen.




Terzett


Der Plan war, wie sich eine Stunde später erwies, vortrefflich und bis
in die letzten Einzelheiten gelungen. Als der junge Baron, mit Absicht
etwas verspätet, den Speisesaal betrat, zuckte Edgar vom Sessel auf,
grüßte eifrig mit einem beglückten Lächeln und winkte ihm zu.
Gleichzeitig zupfte er seine Mutter am Ärmel, sprach hastig und erregt
auf sie ein, mit auffälligen Gesten gegen den Baron hindeutend. Sie
verwies ihm geniert und errötend sein allzu reges Benehmen, konnte es
aber doch nicht vermeiden, einmal hinüberzusehen, um dem Buben seinen
Willen zu tun, was der Baron sofort zum Anlaß einer respektvollen
Verbeugung nahm. Die Bekanntschaft war gemacht. Sie mußte danken, beugte
aber von nun ab das Gesicht tiefer über den Teller und vermied
sorgfältig während des ganzen Diners nochmals hinüberzublicken. Anders
Edgar, der unablässig hinguckte, einmal sogar versuchte
hinüberzusprechen, eine Unstatthaftigkeit, die ihm sofort von seiner
Mutter energisch verwiesen wurde. Nach Tisch wurde ihm bedeutet, daß er
schlafen zu gehen habe, und ein emsiges Wispern begann zwischen ihm und
seiner Mama, dessen Endresultat war, daß es seinen heißen Bitten
verstattet wurde, zum andern Tisch hinüberzugehen und sich bei seinem
Freund zu empfehlen. Der Baron sagte ihm ein paar herzliche Worte, die
wieder die Augen des Kindes zum Flackern brachten, plauderte mit ihm ein
paar Minuten. Plötzlich aber, mit einer geschickten Wendung, drehte er
sich, aufstehend, zum andern Tisch hinüber, beglückwünschte die etwas
verwirrte Nachbarin zu ihrem klugen, aufgeweckten Sohn, rühmte den
Vormittag, den er so vortrefflich mit ihm verbracht hatte -- Edgar stand
dabei, rot vor Freude und Stolz --, und erkundigte sich schließlich nach
seiner Gesundheit so ausführlich und mit so viel Einzelfragen, daß die
Mutter zur Antwort gezwungen war. Und so gerieten sie unaufhaltsam in
ein längeres Gespräch, dem der Bub beglückt und mit einer Art Ehrfurcht
lauschte. Der Baron stellte sich vor und glaubte zu bemerken, daß sein
klingender Name auf die Eitle einen gewissen Eindruck machte. Jedenfalls
war sie von außerordentlicher Zuvorkommenheit gegen ihn, wiewohl sie
sich nichts vergab und sogar frühen Abschied nahm, des Buben halber, wie
sie entschuldigend beifügte.

Der protestierte heftig, er sei nicht müde und gerne bereit, die ganze
Nacht aufzubleiben. Aber schon hatte seine Mutter dem Baron die Hand
geboten, der sie respektvoll küßte.

Edgar schlief schlecht in dieser Nacht. Es war eine Wirrnis in ihm von
Glückseligkeit und kindischer Verzweiflung. Denn heute war etwas Neues
in seinem Leben geschehn. Zum ersten Male hatte er in die Schicksale von
Erwachsenen eingegriffen. Er vergaß, schon im Halbtraum, seine eigene
Kindheit und dünkte sich mit einem Male groß. Bisweilen hatte er, einsam
erzogen und oft kränklich, wenig Freunde gehabt. Für all sein
Zärtlichkeitsbedürfnis war niemand dagewesen als die Eltern, die sich
wenig um ihn kümmerten, und die Dienstboten. Und die Gewalt einer Liebe
wird immer falsch bemessen, wenn man sie nur nach ihrem Anlaß wertet und
nicht nach der Spannung, die ihr vorausgeht, jenem hohlen, dunkeln Raum
von Enttäuschung und Einsamkeit, der vor allen großen Ereignissen des
Herzens liegt. Ein überschweres, ein unverbrauchtes Gefühl hatte hier
gewartet und stürzte nun mit ausgebreiteten Armen dem ersten entgegen,
der es zu verdienen schien. Edgar lag im Dunkeln, beglückt und verwirrt,
er wollte lachen und mußte weinen. Denn er liebte diesen Menschen, wie
er nie einen Freund, nie Vater und Mutter und nicht einmal Gott geliebt
hatte. Die ganze unreife Leidenschaft seiner früheren Jahre umklammerte
das Bild dieses Menschen, dessen Namen er vor zwei Stunden noch nicht
gekannt hatte.

Aber er war doch klug genug, um durch das Unerwartete und Eigenartige
dieser neuen Freundschaft nicht bedrängt zu sein. Was ihn so sehr
verwirrte, war das Gefühl seiner Unwertigkeit, seiner Nichtigkeit.
»Passe ich denn zu ihm, ich, ein kleiner Bub, zwölf Jahre alt, der noch
die Schule vor sich hat, der abends vor allen andern ins Bett geschickt
wird?« quälte er sich ab. »Was kann ich ihm sein, was kann ich ihm
bieten?« Gerade dieses qualvoll empfundene Unvermögen, irgendwie sein
Gefühl zeigen zu können, machte ihn unglücklich. Sonst, wenn er einen
Kameraden liebgewonnen hatte, war es sein Erstes, die paar kleinen
Kostbarkeiten seines Pultes, Briefmarken und Steine, den kindischen
Besitz der Kindheit, mit ihm zu teilen, aber all diese Dinge, die ihm
gestern noch von hoher Bedeutung und seltenem Reiz waren, schienen ihm
mit einem Male entwertet, läppisch und verächtlich. Denn wie konnte er
derlei diesem neuen Freunde bieten, dem er nicht einmal wagen durfte,
das Du zu erwidern; wo war ein Weg, eine Möglichkeit, seine Gefühle zu
verraten? Immer mehr und mehr empfand er die Qual, klein zu sein, etwas
Halbes, Unreifes, ein Kind von zwölf Jahren, und noch nie hatte er so
stürmisch das Kindsein verflucht, so herzlich sich gesehnt, anders
aufzuwachen, so wie er sich träumte: groß und stark, ein Mann, ein
Erwachsener wie die andern.

In diese unruhigen Gedanken flochten sich rasch die ersten farbigen
Träume von dieser neuen Welt des Mannseins. Edgar schlief endlich mit
einem Lächeln ein, aber doch, die Erinnerung der morgigen Verabredung
unterhöhlte seinen Schlaf. Er schreckte schon um sieben Uhr mit der
Angst auf, zu spät zu kommen. Hastig zog er sich an, begrüßte die
erstaunte Mutter, die ihn sonst nur mit Mühe aus dem Bette bringen
konnte, in ihrem Zimmer und stürmte, ehe sie weitere Fragen stellen
konnte, hinab. Bis neun Uhr trieb er sich ungeduldig umher, vergaß, daß
er frühstücken sollte, einzig besorgt, den Freund für den Spaziergang
nicht lange warten zu lassen.

Um halb zehn kam endlich der Baron sorglos angeschlendert. Er hatte
natürlich längst die Verabredung vergessen, jetzt aber, da der Knabe
gierig auf ihn losschnellte, mußte er lächeln über soviel Leidenschaft
und zeigte sich bereit, sein Versprechen einzuhalten. Er nahm den Buben
wieder unterm Arm, ging mit dem Strahlenden auf und nieder, nur daß er
sanft, aber nachdrücklich abwehrte, schon jetzt den gemeinsamen
Spaziergang zu beginnen. Er schien auf irgend etwas zu warten,
wenigstens deutete darauf sein nervös die Türen abgreifender Blick.
Plötzlich straffte er sich empor. Edgars Mama war hereingetreten und
kam, den Gruß erwidernd, freundlich auf beide zu. Sie lächelte
zustimmend, als sie von dem beabsichtigten Spaziergang vernahm, den ihr
Edgar als etwas zu Kostbares verschwiegen hatte, ließ sich aber rasch
von der Einladung des Barons zum Mitgehen bestimmen.

Edgar wurde sofort mürrisch und biß die Lippen. Wie ärgerlich, daß sie
gerade jetzt vorbeikommen mußte! Dieser Spaziergang hatte doch ihm
allein gehört, und wenn er seinen Freund auch der Mama vorgestellt
hatte, so war das nur eine Liebenswürdigkeit von ihm gewesen, aber
teilen wollte er ihn deshalb nicht. Schon regte sich in ihm etwas wie
Eifersucht, als er die Freundlichkeit des Barons zu seiner Mutter
bemerkte.

Sie gingen dann zu dritt spazieren, und das gefährliche Gefühl seiner
Wichtigkeit und plötzlichen Bedeutsamkeit wurde in dem Kinde noch
genährt durch das auffällige Interesse, das beide ihm widmeten. Edgar
war fast ausschließlich Gegenstand der Konversation, indem sich die
Mutter mit etwas erheuchelter Besorgnis über seine Blässe und Nervosität
aussprach, während der Baron wieder dies lächelnd abwehrte und sich
rühmend über die nette Art seines »Freundes«, wie er ihn nannte, erging.
Es war Edgars schönste Stunde. Er hatte Rechte, die ihm niemals im Laufe
seiner Kindheit zugestanden worden waren. Er durfte mitreden, ohne
sofort zur Ruhe verwiesen zu werden, sogar allerhand vorlaute Wünsche
äußern, die ihm bislang übel aufgenommen worden wären. Und es war nicht
verwunderlich, daß in ihm das trügerische Gefühl üppig wuchernd wuchs,
daß er ein Erwachsener sei. Schon lag die Kindheit in seinen hellen
Träumen hinter ihm, wie ein weggeworfenes, entwachsenes Kleid.

Mittag saß der Baron, der Einladung der immer freundlicheren Mutter
Edgars folgend, an ihrem Tisch. Aus dem =vis-à-vis= war ein Nebeneinander
geworden, aus der Bekanntschaft eine Freundschaft. Das Terzett war im
Gang, und die drei Stimmen der Frau, des Mannes und des Kindes klangen
rein zusammen.




Angriff


Nun schien es dem ungeduldigen Jäger an der Zeit, sein Wild
anzuschleichen. Das Familiäre, der Dreiklang in dieser Angelegenheit
mißfiel ihm. Es war ja ganz nett, so zu dritt zu plaudern, aber
schließlich, Plaudern war nicht seine Absicht. Und er wußte, daß das
Gesellschaftliche mit dem Maskenspiel seiner Begehrlichkeit das
Erotische zwischen Mann und Frau immer retardiert, den Worten die Glut,
dem Angriff sein Feuer nimmt. Sie sollte über der Konversation nie seine
eigentliche Absicht vergessen, die er -- dessen war er sicher -- von ihr
bereits verstanden wußte.

Daß sein Bemühen bei dieser Frau nicht vergeblich sein würde, hatte viel
Wahrscheinlichkeiten. Sie war in jenen entscheidenden Jahren, wo eine
Frau zu bereuen beginnt, einem eigentlich nie geliebten Gatten treu
geblieben zu sein, und wo der purpurne Sonnenuntergang ihrer Schönheit
ihr noch eine letzte dringlichste Wahl zwischen dem Mütterlichen und dem
Weiblichen gewährt. Das Leben, das schon längst beantwortet schien, wird
in dieser Minute noch einmal zur Frage, zum letzten Male zittert die
magnetische Nadel des Willens zwischen der Hoffnung auf erotisches
Erleben und der endgültigen Resignation. Eine Frau hat dann die
gefährliche Entscheidung, ihr eigenes Schicksal oder das ihrer Kinder zu
leben, Frau oder Mutter zu sein. Und der Baron, scharfsichtig in diesen
Dingen, glaubte bei ihr gerade dieses gefährliche Schwanken zwischen
Lebensglut und Aufopferung zu bemerken. Sie vergaß beständig im
Gespräch, ihren Gatten zu erwähnen, der offenbar nur ihren äußeren
Bedürfnissen, nicht aber ihren durch vornehme Lebensführung gereizten
Snobismus zu befriedigen schien, und wußte innerlich eigentlich herzlich
wenig von ihrem Kinde. Ein Schatten von Langeweile, als Melancholie in
den dunklen Augen verschleiert, lag über ihrem Leben und verdunkelte
ihre Sinnlichkeit.

Der Baron beschloß rasch vorzugehen, aber gleichzeitig jeden Anschein
von Eile zu vermeiden. Im Gegenteil, er wollte, wie der Angler den Haken
lockend zurückzieht, dieser neuen Freundschaft seinerseits äußerliche
Gleichgültigkeit entgegensetzen, wollte um sich werben lassen, während
er doch in Wahrheit der Werbende war. Er nahm sich vor, einen gewissen
Hochmut zu outrieren, den Unterschied ihres sozialen Standes scharf
herauszukehren, und der Gedanke reizte ihn, nur durch das Betonen seines
Hochmutes, durch ein Äußeres, durch einen klingenden aristokratischen
Namen und kalte Manieren diesen üppigen, vollen schönen Körper gewinnen
zu können.

Das heiße Spiel begann ihn schon zu erregen, und darum zwang er sich zur
Vorsicht. Den Nachmittag verblieb er in seinem Zimmer mit dem angenehmen
Bewußtsein, gesucht und vermißt zu werden. Aber diese Abwesenheit wurde
nicht so sehr von ihr bemerkt, gegen die sie eigentlich gezielt war,
sondern gestaltete sich für den armen Buben zur Qual. Edgar fühlte sich
den ganzen Nachmittag unendlich hilflos und verloren; mit der Knaben
eigenen hartnäckigen Treue wartete er die ganzen langen Stunden
unablässig auf seinen Freund. Es wäre ihm wie ein Vergehen gegen die
Freundschaft erschienen, wegzugehen oder irgend etwas allein zu tun.
Unnütz trollte er sich in den Gängen herum, und je später es wurde, um
so mehr füllte sich sein Herz mit Unglück an. In der Unruhe seiner
Phantasie träumte er schon von einem Unfall oder einer unbewußt
zugefügten Beleidigung und war schon nahe daran, zu weinen vor Ungeduld
und Angst.

Als der Baron dann abends zu Tisch kam, wurde er glänzend empfangen.
Edgar sprang, ohne auf den abmahnenden Ruf seiner Mutter und das
Erstaunen der anderen Leute zu achten, ihm entgegen, umfaßte stürmisch
seine Brust mit den mageren Ärmchen. »Wo waren Sie? Wo sind Sie
gewesen?« rief er hastig. »Wir haben Sie überall gesucht.« Die Mutter
errötete bei dieser unwillkommenen Einbeziehung und sagte ziemlich hart:
»=Sois sage, Edgar! Assieds toi!=« (Sie sprach nämlich immer Französisch
mit ihm, obwohl ihr diese Sprache gar nicht so sehr selbstverständlich
war und sie bei umständlichen Erläuterungen leicht auf Sand geriet.)
Edgar gehorchte, ließ aber nicht ab, den Baron auszufragen. »Aber vergiß
doch nicht, daß der Herr Baron tun kann, was er will. Vielleicht
langweilt ihn unsere Gesellschaft.« Diesmal bezog sie sich selber ein,
und der Baron fühlte mit Freude, wie dieser Vorwurf um ein Kompliment
warb.

Der Jäger in ihm wachte auf. Er war berauscht, erregt, so rasch hier die
richtige Fährte gefunden zu haben, das Wild ganz nahe vor dem Schuß nun
zu fühlen. Seine Augen glänzten, das Blut flog ihm leicht durch die
Adern, die Rede sprudelte ihm, er wußte selbst nicht wie, von den
Lippen. Er war, wie jeder stark erotisch veranlagte Mensch doppelt so
gut, doppelt er selbst, wenn er wußte, daß er Frauen gefiel, so wie
manche Schauspieler erst feurig werden, wenn sie die Hörer, die atmende
Masse vor ihnen ganz im Bann spüren. Er war immer ein guter, mit
sinnlichen Bildern begabter Erzähler gewesen, aber heute -- er trank ein
paar Gläser Champagner dazwischen, den er zu Ehren der neuen
Freundschaft bestellt hatte -- übertraf er sich selbst. Er erzählte von
indischen Jagden, denen er als Gastfreund eines hohen aristokratischen
englischen Freundes beigewohnt hatte, klug dies Thema wählend, weil es
indifferent war und er anderseits spürte, wie alles Exotische und für
sie Unerreichbare diese Frau erregte. Wen er aber damit bezauberte, das
war vor allem Edgar, dessen Augen vor Begeisterung flammten. Er vergaß
zu essen, zu trinken und starrte dem Erzähler die Worte von den Lippen
weg. Nie hatte er gehofft, einen Menschen wirklich zu sehen, der diese
ungeheuren Dinge erlebt hatte, von denen er in seinen Büchern las, die
Tigerjagden, die braunen Menschen, die Hindus und das Dschaggernat, das
furchtbare Rad, das tausend Menschen unter seinen Speichen begrub.
Bisher hatte er nie daran gedacht, daß es solche Menschen wirklich gäbe,
so wenig wie er die Länder der Märchen glaubte, und diese Sekunde
sprengte in ihm irgendein großes Gefühl zum ersten Male auf. Er konnte
den Blick von seinem Freunde nicht wenden, starrte mit gepreßtem Atem
auf die Hände da hart vor ihm, die einen Tiger getötet hatten. Kaum
wagte er etwas zu fragen, und dann klang seine Stimme fieberig erregt.
Seine rasche Phantasie zauberte ihm immer das Bild zu den Erzählungen
herauf, er sah den Freund hoch auf einem Elefanten mit purpurner
Schabracke, braune Männer rechts und links mit kostbaren Turbans und
dann plötzlich den Tiger, der mit seinen gebleckten Zähnen aus dem
Dschungel vorsprang und dem Elefanten die Pranke in den Rüssel schlug.
Jetzt erzählte der Baron noch Interessanteres, wie listig man Elefanten
fing, indem man durch alte, gezähmte Tiere die jungen, wilden und
übermütigen in die Verschläge locken ließ: die Augen des Kindes sprühten
Feuer. Da sagte -- ihm war, als fiele blitzend ein Messer vor ihm
nieder -- die Mama plötzlich, mit einem Blick auf die Uhr: »=Neuf heures!
Au lit!=«

Edgar wurde blaß vor Schreck. Für alle Kinder ist das
Zu-Bette-geschickt-werden ein furchtbares Wort, weil es für sie die
offenkundigste Demütigung vor den Erwachsenen ist, das Eingeständnis,
das Stigma der Kindheit, des Kleinseins, der kindischen
Schlafbedürftigkeit. Aber wie furchtbar war solche Schmach in diesem
interessantesten Augenblick, da sie ihn solche unerhörte Dinge versäumen
ließ.

»Nur das eine noch, Mama, das von den Elefanten, nur das laß mich
hören!«

Er wollte zu betteln beginnen, besann sich aber rasch auf seine neue
Würde als Erwachsener. Einen einzigen Versuch wagte er bloß. Aber seine
Mutter war heute merkwürdig streng. »Nein, es ist schon spät. Geh nur
hinauf! =Sois sage, Edgar.= Ich erzähl dir schon alle die Geschichten des
Herrn Barons genau wieder.«

Edgar zögerte. Sonst begleitete ihn seine Mutter immer zu Bette. Aber er
wollte nicht betteln vor dem Freunde. Sein kindischer Stolz wollte
diesem kläglichen Abgang noch einen Schein von Freiwilligkeit retten.

»Aber wirklich, Mama, du erzählst mir alles, alles! Das von den
Elefanten und alles andere!«

»Ja, mein Kind.«

»Und sofort! Noch heute!«

»Ja, ja, aber jetzt geh nur schlafen. Geh!«

Edgar bewunderte sich selbst, daß es ihm gelang, dem Baron und seiner
Mama die Hand zu reichen, ohne zu erröten, obschon das Schluchzen ihm
schon ganz hoch in der Kehle saß. Der Baron beutelte ihm
freundschaftlich den Schopf, das zwang noch ein Lächeln über sein
gespanntes Gesicht. Aber dann mußte er rasch zur Türe eilen, sonst
hätten sie gesehen, wie ihm die dicken Tränen über die Wangen liefen.




Die Elefanten


Die Mutter blieb noch eine Zeitlang unten mit dem Baron bei Tisch, aber
sie sprachen nicht von Elefanten und Jagden mehr. Eine leise Schwüle,
eine rasch auffliegende Verlegenheit kam in ihr Gespräch, seit der Bub
sie verlassen hatte. Schließlich gingen sie hinüber in die Hall und
setzten sich in eine Ecke. Der Baron war blendender als je, sie selbst
leicht befeuert durch die paar Glas Champagner, und so nahm die
Konversation rasch einen gefährlichen Charakter an. Der Baron war
eigentlich nicht hübsch zu nennen, er war nur jung und blickte sehr
männlich aus seinem dunkelbraunen energischen Bubengesicht mit dem kurz
geschorenen Haar und entzückte sie durch die frischen, fast ungezogenen
Bewegungen. Sie sah ihn gern jetzt von der Nähe und fürchtete auch nicht
mehr seinen Blick. Doch allmählich schlich sich in seine Reden eine
Kühnheit, die sie leicht verwirrte, etwas, das wie Greifen an ihrem
Körper war, ein Betasten und wieder Lassen, irgendein unfaßbar
Begehrliches, das ihr das Blut in die Wangen trieb. Aber dann lachte er
wieder leicht, ungezwungen, knabenhaft, und das gab all den kleinen
Begehrlichkeiten den losen Schein kindlicher Scherze. Manchmal war ihr,
als müßte sie ein Wort schroff zurückweisen, aber kokett von Natur,
wurde sie durch diese kleinen Lüsternheiten nur gereizt, mehr
abzuwarten. Und hingerissen von dem verwegenen Spiel versuchte sie am
Ende sogar, ihm nachzutun. Sie warf kleine, flatternde Versprechungen
auf den Blicken hinüber, gab sich in Worten und Bewegungen schon hin,
duldete sogar sein Heranrücken, die Nähe seiner Stimme, deren Atem sie
manchmal warm und zuckend an den Schultern spürte. Wie alle Spieler
vergaßen sie die Zeit und verloren sich so gänzlich in dem heißen
Gespräch, daß sie erst aufschreckten, als die Hall sich um Mitternacht
abzudunkeln begann.

Sie sprang sofort empor, dem ersten Erschrecken gehorchend, und fühlte
mit einem Male, wie verwegen weit sie sich vorgewagt hatte. Ihr war
sonst das Spiel mit dem Feuer nicht fremd, aber jetzt spürte ihr
aufgereizter Instinkt, wie nahe dieses Spiel schon dem Ernste war. Mit
Schauern entdeckte sie, daß sie sich nicht mehr ganz sicher fühlte, daß
irgend etwas in ihr zu gleiten begann und sich beängstigend dem Wirbel
zudrehte. Im Kopf wogte alles in einem Wirbel von Angst, von Wein und
heißen Reden, eine dumme, sinnlose Angst überfiel sie, jene Angst, die
sie schon einige Male in ihrem Leben in solchen gefährlichen Sekunden
gekannt hatte, aber nie so schwindelnd und gewalttätig. »Gute Nacht,
gute Nacht. Auf morgen früh«, sagte sie hastig und wollte entlaufen.
Entlaufen nicht ihm so sehr, wie der Gefahr dieser Minute und einer
neuen, fremdartigen Unsicherheit in sich selbst. Aber der Baron hielt
die dargebotene Abschiedshand mit sanfter Gewalt, küßte sie, und nicht
nur in Korrektheit ein einziges Mal, sondern vier- oder fünfmal mit den
Lippen von den feinen Fingerspitzen bis hinauf zum Handgelenk, zitternd,
wobei sie mit einem leichten Frösteln seinen rauhen Schnurrbart über den
Handrücken kitzeln fühlte. Irgendein warmes und beklemmendes Gefühl flog
von dort mit dem Blut durch den ganzen Körper, Angst schoß heiß empor,
hämmerte drohend an die Schläfen, ihr Kopf glühte, die Angst, die
sinnlose Angst zuckte jetzt durch ihren ganzen Körper, und sie entzog
ihm rasch die Hand.

»Bleiben Sie doch noch«, flüsterte der Baron. Aber schon eilte sie fort
mit einer Ungelenkigkeit der Hast, die ihre Angst und Verwirrung
augenfällig machte. In ihr war jetzt die Erregtheit, die der andere
wollte, sie fühlte, wie alles in ihr verworren war. Die grausam
brennende Angst jagte sie, der Mann hinter ihr möchte ihr folgen und sie
fassen, gleichzeitig aber, noch im Entspringen, spürte sie schon ein
Bedauern, daß er es nicht tat. In dieser Stunde hätte das geschehen
können, was sie seit Jahren unbewußt ersehnte, das Abenteuer, dessen
nahen Hauch sie wollüstig liebte, um ihm bisher immer im letzten
Augenblick zu entweichen, das große und gefährliche, nicht nur der
flüchtige, aufreizende Flirt. Aber der Baron war zu stolz, einer
günstigen Sekunde nachzulaufen. Er war seines Sieges zu gewiß, um diese
Frau räuberisch in einer schwachen, weintrunkenen Minute zu nehmen, im
Gegenteil, den fairen Spieler reizte nur der Kampf und die Hingabe bei
vollem Bewußtsein. Entrinnen konnte sie ihm nicht. Ihr zuckte, das
merkte er, das heiße Gift schon in den Adern.

Oben auf der Treppe blieb sie stehen, die Hand an das keuchende Herz
gepreßt. Sie mußte ausruhen eine Sekunde. Ihre Nerven versagten. Ein
Seufzer brach aus der Brust, halb Beruhigung, einer Gefahr entronnen zu
sein, halb Bedauern; aber das alles war verworren und wirrte im Blut nur
als leises Schwindligsein weiter. Mit halbgeschlossenen Augen, wie eine
Betrunkene, tappte sie weiter zu ihrer Türe und atmete auf, da sie jetzt
die kühle Klinke faßte. Jetzt empfand sie sich erst in Sicherheit!

Leise bog sie die Türe ins Zimmer. Und schrak schon zurück in der
nächsten Sekunde. Irgend etwas hatte sich gerührt in dem Zimmer, ganz
rückwärts im Dunkeln. Ihre erregten Nerven zuckten grell, schon wollte
sie um Hilfe schreien, da kam es leise von drinnen, mit ganz
schlaftrunkener Stimme: »Bist du es, Mama?«

»Um Gottes willen, was machst du da?« Sie stürzte hin zum Diwan, wo
Edgar zusammengeknüllt lag und sich eben vom Schlafe aufraffte. Ihr
erster Gedanke war, das Kind müsse krank sein oder Hilfe bedürftig.

Aber Edgar sagte, ganz verschlafen noch und mit leisem Vorwurf: »Ich
habe so lange auf dich gewartet, und dann bin ich eingeschlafen.«

»Warum denn?«

»Wegen der Elefanten.«

»Was für Elefanten?«

Jetzt erst begriff sie. Sie hatte ja dem Kinde versprochen, alles zu
erzählen, heute noch, von der Jagd und den Abenteuern. Und da hatte sich
dieser Bub auf ihr Zimmer geschlichen, dieser einfältige, kindische Bub,
und im sicheren Vertrauen gewartet, bis sie kam, und war darüber
eingeschlafen. Die Extravaganz empörte sie. Oder eigentlich, sie fühlte
Zorn gegen sich selbst, ein leises Raunen von Schuld und Scham, das sie
überschreien wollte. »Geh sofort zu Bett, du ungezogener Fratz«, schrie
sie ihn an. Edgar staunte ihr entgegen. Warum war sie so zornig mit ihm,
er hatte doch nichts getan? Aber diese Verwunderung reizte die schon
Aufgeregte noch mehr. »Geh sofort in dein Zimmer«, schrie sie wütend,
weil sie fühlte, daß sie ihm unrecht tat. Edgar ging ohne ein Wort. Er
war eigentlich furchtbar müde und spürte nur verworren durch den
drückenden Nebel von Schlaf, daß seine Mutter ein Versprechen nicht
gehalten hatte und daß man in irgendeiner Weise gegen ihn schlecht war.
Aber er revoltierte nicht. In ihm war alles stumpf durch die Müdigkeit;
und dann, er ärgerte sich sehr, hier oben eingeschlafen zu sein, statt
wach zu warten. »Ganz wie ein kleines Kind«, sagte er empört zu sich
selber, ehe er wieder in Schlaf fiel.

Denn seit gestern haßte er seine eigene Kindheit.




Geplänkel


Der Baron hatte schlecht geschlafen. Es ist immer gefährlich, nach einem
abgebrochenen Abenteuer zu Bette zu gehen: eine unruhige, von schwülen
Träumen gefährdete Nacht ließ es ihn bald bereuen, die Minute nicht mit
hartem Griff gepackt zu haben. Als er morgens, noch von Schlaf und
Mißmut umwölkt, hinunterkam, sprang ihm der Knabe aus einem Versteck
entgegen, schloß ihn begeistert in die Arme und begann ihn mit tausend
Fragen zu quälen. Er war glücklich, seinen großen Freund wieder eine
Minute für sich zu haben und nicht mit der Mama teilen zu müssen. Nur
ihm sollte er erzählen, nicht mehr Mama, bestürmte er ihn, denn die
hätte, trotz ihres Versprechens, ihm nichts von all den wunderbaren
Dingen wiedergesagt. Er überschüttete den unangenehm Aufgeschreckten,
der seine Mißlaune nur schlecht verbarg, mit hundert kindischen
Belästigungen. In diese Fragen mengte er überdies stürmische Bezeugungen
seiner Liebe, glückselig, wieder mit dem Langgesuchten und seit
frühmorgens Erwarteten allein zu sein.

Der Baron antwortete unwirsch. Dieses ewige Auflauern des Kindes, die
Läppischkeit der Fragen, wie überhaupt die unbegehrte Leidenschaft
begann ihn zu langweilen. Er war müde, nun tagaus, tagein mit einem
zwölfjährigen Buben herumzuziehen und mit ihm Unsinn zu schwatzen. Ihm
lag jetzt nur daran, die Mutter allein zu fassen, was eben durch des
Kindes unerwünschte Anwesenheit zum Problem wurde. Ein erstes Unbehagen
vor dieser unvorsichtig geweckten Zärtlichkeit bemächtigte sich seiner,
denn vorläufig sah er keine Möglichkeit, den allzu anhänglichen Freund
loszuwerden.

Immerhin: es kam auf den Versuch an. Bis zehn Uhr, der Stunde, die er
mit der Mutter zum Spaziergang verabredet hatte, ließ er das eifrige
Gerede des Buben achtlos über sich hinplätschern, warf manchmal einen
Brocken Gespräch hin, um ihn nicht zu beleidigen, durchblätterte aber
gleichzeitig die Zeitung. Endlich, als der Zeiger fast senkrecht stand,
bat er Edgar, wie sich plötzlich erinnernd, für ihn ins andere Hotel
bloß einen Augenblick hinüberzugehen, um dort nachzufragen, ob der Graf
Grundheim, sein Vetter, schon angekommen sei.

Das arglose Kind, glückselig, endlich einmal seinem Freund mit etwas
dienlich sein zu können, stolz auf seine Würde als Bote, sprang sofort
weg und stürmte so toll den Weg hin, daß die Leute ihm verwundert
nachstarrten. Aber ihm war gelegen, zu zeigen, wie flink er war, wenn
man ihm Botschaften vertraute. Der Graf war, so sagte man ihm dort, noch
nicht eingetroffen, ja zur Stunde gar nicht angemeldet. Diese Nachricht
brachte er in neuerlichem Sturmschritt zurück. Aber in der Halle war der
Baron nicht mehr zu finden. So klopfte er an seine Zimmertür, --
vergeblich! Beunruhigt rannte er alle Räume ab, das Musikzimmer und das
Kaffeehaus, stürmte aufgeregt zu seiner Mama, um Erkundigungen
einzuziehen: auch sie war fort. Der Portier, an den er sich schließlich
ganz verzweifelt wandte, sagte ihm zu seiner Verblüffung, sie seien
beide vor einigen Minuten gemeinsam weggegangen!

Edgar wartete geduldig. Seine Arglosigkeit vermutete nichts Böses. Sie
konnten ja nur eine kurze Weile wegbleiben, dessen war er sicher, denn
der Baron brauchte ja seinen Bescheid. Aber die Zeit streckte breit ihre
Stunden, Unruhe schlich sich an ihn heran. Überhaupt, seit dem Tage, da
sich dieser fremde, verführerische Mensch in sein kleines, argloses
Leben gemengt hatte, war das Kind den ganzen Tag angespannt, gehetzt und
verwirrt. In einen so feinen Organismus, wie den der Kinder, drückt jede
Leidenschaft wie in weiches Wachs ihre Spuren. Das nervöse Zittern der
Augenlider trat wieder auf, schon sah er blässer aus. Edgar wartete und
wartete, geduldig zuerst, dann wild erregt und schließlich schon dem
Weinen nah. Aber argwöhnisch war er noch immer nicht. Sein blindes
Vertrauen in diesen wundervollen Freund vermutete ein Mißverständnis,
und geheime Angst quälte ihn, er möchte vielleicht den Auftrag falsch
verstanden haben.

Wie seltsam aber war erst dies, daß sie jetzt, da sie endlich
zurückkamen, heiter plaudernd blieben und gar keine Verwunderung
bezeigten. Es schien, als hätten sie ihn gar nicht sonderlich vermißt:
»Wir sind dir entgegengegangen, weil wir hofften, dich am Weg zu
treffen, Edi«, sagte der Baron, ohne sich nach dem Auftrag zu
erkundigen. Und als das Kind, ganz erschrocken, sie könnten ihn
vergebens gesucht haben, zu beteuern begann, er sei nur auf dem geraden
Wege der Hochstraße gelaufen, und wissen wollte, welche Richtung sie
gewählt hätten, da schnitt die Mama kurz das Gespräch ab. »Schon gut,
schon gut! Kinder sollen nicht soviel reden.«

Edgar wurde rot vor Ärger. Das war nun schon das zweite Mal so ein
niederträchtiger Versuch, ihn vor seinem Freund herabzusetzen. Warum tat
sie das, warum versuchte sie immer, ihn als Kind darzustellen, das er
doch -- er war davon überzeugt -- nicht mehr war? Offenbar war sie ihm
neidisch auf seinen Freund und plante, ihn zu sich herüberzuziehen. Ja,
und sicherlich war sie es auch, die den Baron mit Absicht den falschen
Weg geführt hatte. Aber er ließ sich nicht von ihr mißhandeln, das
sollte sie sehen. Er wollte ihr schon Trotz bieten. Und Edgar beschloß,
heute bei Tisch kein Wort mit ihr zu reden, nur mit seinem Freund
allein.

Doch das wurde ihm hart. Was er am wenigsten erwartet hatte, trat ein:
man bemerkte seinen Trotz nicht. Ja, sogar ihn selber schienen sie nicht
zu sehen, ihn, der doch gestern Mittelpunkt ihres Beisammenseins gewesen
war! Sie sprachen beide über ihn hinweg, scherzten zusammen und lachten,
als ob er unter den Tisch gesunken wäre. Das Blut stieg ihm zu den
Wangen, in der Kehle saß ein Knollen, der ihm den Atem erwürgte. Mit
Schauern wurde er seiner entsetzlichen Machtlosigkeit bewußt. Er sollte
also hier ruhig sitzen und zusehen, wie seine Mutter ihm den Freund
wegnahm, den einzigen Menschen, den er liebte, und sollte sich nicht
wehren können, nicht anders als durch Schweigen? Ihm war, als müßte er
aufstehen und plötzlich mit beiden Fäusten auf den Tisch losschlagen.
Nur damit sie ihn bemerkten. Aber er hielt sich zusammen, legte bloß
Gabel und Messer nieder und rührte keinen Bissen mehr an. Aber auch dies
hartnäckige Fasten merkten sie lange nicht, erst beim letzten Gang fiel
es der Mutter auf, und sie fragte, ob er sich nicht wohl fühle.
Widerlich, dachte er sich, immer denkt sie nur das eine, ob ich nicht
krank bin, sonst ist ihr alles einerlei. Er antwortete kurz, er habe
keine Lust, und damit gab sie sich zufrieden. Nichts, gar nichts erzwang
ihm Beachtung. Der Baron schien ihn vergessen zu haben, wenigstens
richtete er nicht ein einziges Mal das Wort an ihn. Heißer und heißer
quoll es ihm in die Augen, und er mußte die kindische List anwenden,
rasch die Serviette zu heben, ehe es jemand sehen konnte, daß Tränen
über seine Wangen sprangen und ihm salzig die Lippen näßten. Er atmete
auf, wie das Essen zu Ende war.

Während des Diners hatte seine Mutter eine gemeinsame Wagenfahrt nach
Maria-Schutz vorgeschlagen. Edgar hatte es gehört, die Lippe zwischen
den Zähnen. Nicht eine Minute wollte sie ihn also mehr mit seinem
Freunde allein lassen. Aber sein Haß stieg erst wild auf, als sie ihm
jetzt beim Aufstehen sagte: »Edgar, du wirst noch alles für die Schule
vergessen, du solltest doch einmal zu Hause bleiben, ein bißchen
nachlernen!« Wieder ballte er die kleine Kinderfaust. Immer wollte sie
ihn vor seinem Freund demütigen, immer daran öffentlich erinnern, daß er
noch ein Kind war, daß er in die Schule gehen mußte und nur geduldet
unter Erwachsenen war. Diesmal war ihm die Absicht aber doch zu
durchsichtig. Er gab gar keine Antwort, sondern drehte sich kurzweg um.

»Aha, wieder beleidigt«, sagte sie lächelnd, und dann zum Baron: »Wäre
das wirklich so arg, wenn er einmal eine Stunde arbeiten möchte?«

Und da -- im Herzen des Kindes wurde etwas kalt und starr -- sagte der
Baron, er, der sich seinen Freund nannte, er, der ihn als Stubenhocker
verhöhnt hatte: »Na, eine Stunde oder zwei könnten wirklich nicht
schaden.«

War das ein Einverständnis? Hatten sie sich wirklich beide gegen ihn
verbündet? In dem Blick des Kindes flammte der Zorn. »Mein Papa hat
verboten, daß ich hier lerne, Papa will, daß ich mich hier erhole«,
schleuderte er heraus mit dem ganzen Stolz auf seine Krankheit,
verzweifelt sich an das Wort, an die Autorität seines Vaters
anklammernd. Wie eine Drohung stieß er es heraus. Und was das
merkwürdigste war: das Wort schien tatsächlich in den beiden ein
Mißbehagen zu erwecken. Die Mutter sah weg und trommelte nur nervös mit
den Fingern auf den Tisch. Ein peinliches Schweigen stand breit zwischen
ihnen. »Wie du meinst, Edi«, sagte schließlich der Baron mit einem
erzwungenen Lächeln. »Ich muß ja keine Prüfung machen, ich bin schon
längst bei allen durchgefallen.«

Aber Edgar lächelte nicht zu dem Scherz, sondern sah ihn nur an mit
einem prüfenden, sehnsüchtig eindringenden Blick, als wollte er ihm bis
in die Seele greifen. Was ging da vor? Etwas war verändert zwischen
ihnen, und das Kind wußte nicht warum. Unruhig ließ es die Augen
wandern. In seinem Herzen hämmerte ein kleiner, hastiger Hammer: der
erste Verdacht.




Brennendes Geheimnis


»Was hat sie so verwandelt?« sann das Kind, das ihnen im rollenden Wagen
gegenübersaß. »Warum sind sie nicht mehr zu mir wie früher? Weshalb
vermeidet Mama immer meinen Blick, wenn ich sie ansehe? Warum sucht er
immer vor mir Witze zu machen und den Hanswurst zu spielen? Beide reden
sie nicht mehr zu mir wie gestern und vorgestern, mir ist beinahe, als
hätten sie andere Gesichter bekommen. Mama hat heute so rote Lippen, sie
muß sie gefärbt haben. Das habe ich nie gesehen an ihr. Und er zieht
immer die Stirne kraus, als sei er beleidigt. Ich habe ihnen doch nichts
getan, kein Wort gesagt, das sie verdrießen konnte? Nein, ich kann nicht
die Ursache sein, denn sie sind selbst zueinander anders wie vordem. Sie
sind so, als ob sie etwas angestellt hätten, das sie sich nicht zu sagen
getrauen. Sie plaudern nicht mehr wie gestern, sie lachen auch nicht,
sie sind befangen, sie verbergen etwas. Irgendein Geheimnis ist zwischen
ihnen, das sie mir nicht verraten wollen. Ein Geheimnis, das ich
ergründen muß um jeden Preis. Ich kenne es schon, es muß dasselbe sein,
vor dem sie mir immer die Türe verschließen, von dem in den Büchern die
Rede ist und in den Opern, wenn die Männer und die Frauen mit
ausgebreiteten Armen gegeneinander singen, sich umfassen und sich
wegstoßen. Es muß irgendwie dasselbe sein, wie das mit meiner
französischen Lehrerin, die sich mit Papa so schlecht vertrug und die
dann weggeschickt wurde. All diese Dinge hängen zusammen, das spüre ich,
aber ich weiß nur nicht, wie. Oh, es zu wissen, endlich zu wissen,
dieses Geheimnis, ihn zu fassen, diesen Schlüssel, der alle Türen
aufschließt, nicht länger mehr Kind sein, vor dem man alles versteckt
und verhehlt, sich nicht mehr hinhalten lassen und betrügen. Jetzt oder
nie! Ich will es ihnen entreißen, dieses furchtbare Geheimnis.« Eine
Falte grub sich in seine Stirne, beinahe alt sah der schmächtige
Zwölfjährige aus, wie er so ernst vor sich hin grübelte, ohne einen
einzigen Blick an die Landschaft zu wenden, die sich in klingenden
Farben rings entfaltete, die Berge im gereinigten Grün ihrer
Nadelwälder, die Täler im noch zarten Glanz des verspäteten Frühlings.
Er sah nur immer die beiden ihm gegenüber im Rücksitz des Wagens an, als
könnte er mit diesen heißen Blicken wie mit einer Angel das Geheimnis
aus den glitzernden Tiefen ihrer Augen herausreißen. Nichts schärft
Intelligenz mehr als ein leidenschaftlicher Verdacht, nichts entfaltet
mehr alle Möglichkeiten eines unreifen Intellekts als eine Fährte, die
ins Dunkel läuft. Manchmal ist es ja nur eine einzige, dünne Tür, die
Kinder von der Welt, die wir die wirkliche nennen, abtrennt, und ein
zufälliger Windhauch weht sie ihnen auf.

Edgar fühlte sich mit einem Male dem Unbekannten, dem großen Geheimnis
so greifbar nahe wie noch nie, er spürte es knapp vor sich, zwar noch
verschlossen und unenträtselt, aber nah, ganz nah. Das erregte ihn und
gab ihm diesen plötzlichen, feierlichen Ernst. Denn unbewußt ahnte er,
daß er am Rand seiner Kindheit stand.

Die beiden gegenüber fühlten irgendeinen dumpfen Widerstand vor sich,
ohne zu ahnen, daß er von dem Knaben ausging. Sie fühlten sich eng und
gehemmt zu dritt im Wagen. Die beiden Augen ihnen gegenüber mit ihrer
dunkel in sich flackernden Glut behinderten sie. Sie wagten kaum zu
reden, kaum zu blicken. Zu ihrer vormaligen leichten, gesellschaftlichen
Konversation fanden sie jetzt nicht mehr zurück, schon zu sehr
verstrickt in dem Ton der heißen Vertraulichkeiten, jener gefährlichen
Worte, in denen die schmeichelnde Unzüchtigkeit von heimlichen
Betastungen zittert. Ihr Gespräch stieß immer auf Lücken und Stockungen.
Es blieb stehen, wollte weiter, aber stolperte immer wieder über das
hartnäckige Schweigen des Kindes.

Besonders für die Mutter war sein verbissenes Schweigen eine Last. Sie
sah ihn vorsichtig von der Seite an und erschrak, als sie plötzlich in
der Art, wie das Kind die Lippen verkniff, zum erstenmal eine
Ähnlichkeit mit ihrem Mann erkannte, wenn er gereizt oder verärgert war.
Der Gedanke war ihr unbehaglich, gerade jetzt an ihren Mann erinnert zu
werden, da sie mit einem Abenteuer Versteck spielen wollte. Wie ein
Gespenst, ein Wächter des Gewissens, doppelt unerträglich hier in der
Enge des Wagens, zehn Zoll gegenüber mit seinen dunkel arbeitenden Augen
und dem Lauern hinter der blassen Stirn, schien ihr das Kind. Da schaute
Edgar plötzlich auf, eine Sekunde lang. Beide senkten sie sofort den
Blick: sie spürten, daß sie sich belauerten, zum erstenmal in ihrem
Leben. Bisher hatten sie einander blind vertraut, jetzt aber war etwas
zwischen Mutter und Kind, zwischen ihr und ihm plötzlich anders
geworden. Zum ersten Male in ihrem Leben begannen sie, sich zu
beobachten, ihre beiden Schicksale voneinander zu trennen, beide schon
mit einem heimlichen Haß gegeneinander, der nur noch zu neu war, als daß
sie sich ihn einzugestehen wagten.

Alle drei atmeten sie auf, als die Pferde wieder vor dem Hotel hielten.
Es war ein verunglückter Ausflug gewesen, alle fühlten es, und keiner
wagte es zu sagen. Edgar sprang zuerst ab. Seine Mutter entschuldigte
sich mit Kopfschmerzen und ging eilig hinauf. Sie war müde und wollte
allein sein. Edgar und der Baron blieben zurück. Der Baron zahlte dem
Kutscher, sah auf die Uhr und schritt gegen die Hall zu, ohne den Buben
zu beachten. Er ging vorbei an ihm mit seinem feinen, schlanken Rücken,
diesem rhythmisch leichten Wiegegang, der das Kind so bezauberte und den
es gestern schon nachzuahmen versucht hatte. Er ging vorbei, glatt
vorbei. Offenbar hatte er den Knaben vergessen und ließ ihn stehen neben
dem Kutscher, neben den Pferden, als gehörte er nicht zu ihm.

In Edgar riß irgend etwas entzwei, wie er ihn so vorübergehen sah, ihn,
den er trotz alldem noch immer so abgöttisch liebte. Verzweiflung brach
aus seinem Herzen, als er so vorbeiging, ohne ihn mit dem Mantel zu
streifen, ohne ihm ein Wort zu sagen, der sich doch keiner Schuld bewußt
war. Die mühsam bewahrte Fassung zerriß, die künstlich erhöhte Last der
Würde glitt ihm von den zu schmalen Schultern, er wurde wieder ein Kind,
klein und demütig wie gestern und vordem. Es riß ihn weiter wider seinen
Willen. Mit rasch zitternden Schritten ging er dem Baron nach, trat ihm,
der eben die Treppe hinauf wollte, in den Weg und sagte gepreßt, mit
schwer verhaltenen Tränen:

»Was habe ich Ihnen getan, daß Sie nicht mehr auf mich achten? Warum
sind Sie jetzt immer so mit mir? Und die Mama auch? Warum wollen Sie
mich immer wegschicken? Bin ich Ihnen lästig, oder habe ich etwas
getan?«

Der Baron schrak auf. In der Stimme war etwas, das ihn verwirrte und
weich stimmte. Mitleid überkam ihn mit dem arglosen Buben. »Edi, du bist
ein Narr! Ich war nur schlechter Laune heute. Und du bist ein lieber
Bub, den ich wirklich gern hab.« Dabei schüttelte er ihn am Schopf
tüchtig hin und her, aber doch das Gesicht halb abgewendet, um nicht
diese großen, feuchten, flehenden Kinderaugen sehen zu müssen. Die
Komödie, die er spielte, begann ihm peinlich zu werden. Er schämte sich
eigentlich schon, mit der Liebe dieses Kindes so frech gespielt zu
haben, und diese dünne, von unterirdischem Schluchzen geschüttelte
Stimme tat ihm weh. »Geh jetzt hinauf, Edi, heute abend werden wir uns
wieder vertragen, du wirst schon sehen«, sagte er begütigend.

»Aber Sie dulden nicht, daß mich Mama gleich hinaufschickt. Nicht wahr?«

»Nein, nein, Edi, ich dulde es nicht«, lächelte der Baron. »Geh nur
jetzt hinauf, ich muß mich anziehen für das Abendessen.«

Edgar ging, beglückt für den Augenblick. Aber bald begann der Hammer im
Herzen sich wieder zu rühren. Er war um Jahre älter geworden seit
gestern; ein fremder Gast, das Mißtrauen, saß jetzt schon fest in seiner
kindischen Brust.

Er wartete. Es galt ja die entscheidende Probe. Sie saßen zusammen bei
Tisch. Es wurde neun Uhr, aber die Mutter schickte ihn nicht zu Bett.
Schon wurde er unruhig. Warum ließ sie ihn gerade heute so lange hier
bleiben, sie, die sonst so genau war? Hatte ihr am Ende der Baron seinen
Wunsch und das Gespräch verraten? Brennende Reue überfiel ihn plötzlich,
ihm heute mit seinem vollen vertrauenden Herzen nachgelaufen zu sein. Um
zehn erhob sich plötzlich seine Mutter und nahm Abschied vom Baron. Und
seltsam, auch der schien durch diesen frühen Aufbruch keineswegs
verwundert zu sein, suchte auch nicht, wie sonst immer, sie
zurückzuhalten. Immer heftiger schlug der Hammer in der Brust des
Kindes.

Nun galt es scharfe Probe. Auch er stellte sich nichtsahnend und folgte
ohne Widerrede seiner Mutter zur Tür. Dort aber zuckte er plötzlich auf
mit den Augen. Und wirklich, er fing in dieser Sekunde einen lächelnden
Blick, der über seinen Kopf von ihr gerade zum Baron hinüberging, einen
Blick des Einverständnisses, irgendeines Geheimnisses. Der Baron hatte
ihn also verraten. Deshalb also der frühe Aufbruch: er sollte heute
eingewiegt werden in Sicherheit, um ihnen morgen nicht mehr im Wege zu
sein.

»Schuft«, murmelte er.

»Was meinst du?« fragte die Mutter.

»Nichts«, stieß er zwischen den Zähnen heraus. Auch er hatte jetzt sein
Geheimnis. Es hieß Haß, grenzenloser Haß gegen beide.




Schweigen


Edgars Unruhe war nun vorbei. Endlich genoß er ein reines, klares
Gefühl: Haß und offene Feindschaft. Jetzt, da er gewiß war, ihnen im Weg
zu sein, wurde das Zusammensein für ihn zu einer grausam komplizierten
Wollust. Er weidete sich im Gedanken, sie zu stören, ihnen nun endlich
mit der ganzen geballten Kraft seiner Feindseligkeit entgegenzutreten.
Dem Baron wies er zuerst die Zähne. Als der morgens herabkam und ihn im
Vorübergehen herzlich mit einem »Servus, Edi« begrüßte, knurrte Edgar,
der, ohne aufzuschauen, im Fauteuil sitzen blieb, ihm nur ein hartes
»Morgen« zurück. »Ist die Mama schon unten?« Edgar blickte in die
Zeitung: »Ich weiß nicht.« Der Baron stutzte. Was war das auf einmal?
»Schlecht geschlafen, Edi, was?« Ein Scherz sollte wie immer
hinüberhelfen. Aber Edgar warf ihm nur wieder verächtlich ein »Nein« hin
und vertiefte sich neuerdings in die Zeitung. »Dummer Bub«, murmelte der
Baron vor sich hin, zuckte die Achseln und ging weiter. Die Feindschaft
war erklärt.

Auch gegen seine Mama war Edgar kühl und höflich. Einen ungeschickten
Versuch, ihn auf den Tennisplatz zu schicken, wies er ruhig zurück. Sein
Lächeln, knapp an den Lippen aufgerollt und leise von Erbitterung
gekräuselt, zeigte, daß er sich nicht mehr betrügen lasse. »Ich gehe
lieber mit euch spazieren, Mama«, sagte er mit falscher Freundlichkeit
und blickte ihr in die Augen. Die Antwort war ihr sichtlich ungelegen.
Sie zögerte und schien etwas zu suchen. »Warte hier auf mich«, entschied
sie endlich und ging zum Frühstück.

Edgar wartete. Aber sein Mißtrauen war rege. Ein unruhiger Instinkt
arbeitete nun zwischen jedem Wort dieser beiden eine geheime feindselige
Absicht heraus. Der Argwohn gab ihm jetzt manchmal eine merkwürdige
Hellsichtigkeit der Entschlüsse. Und statt, wie ihm angewiesen war, in
der Hall zu warten, zog Edgar es vor, sich auf der Straße zu postieren,
wo er nicht nur den einen Hauptausgang, sondern alle Türen überwachen
konnte. Irgend etwas in ihm witterte Betrug. Aber sie sollten ihm nicht
mehr entwischen. Auf der Straße drückte er sich, wie er es in seinen
Indianerbüchern gelernt hatte, hinter einen Holzstoß. Und lachte nur
zufrieden, als er nach etwa einer halben Stunde seine Mutter tatsächlich
aus der Seitentür treten sah, einen Busch prachtvoller Rosen in der Hand
und gefolgt vom Baron, dem Verräter.

Beide schienen sie sehr übermütig. Atmeten sie schon auf, ihm entgangen
zu sein, allein für ihr Geheimnis? Sie lachten im Gespräch und schickten
sich an, den Waldweg hinabzugehen.

Jetzt war der Augenblick gekommen. Edgar schlenderte gemächlich, als
hätte ein Zufall ihn hergeführt, hinter dem Holzstoß hervor. Ganz, ganz
gelassen ging er auf sie zu, ließ sich Zeit, sehr viel Zeit, um sich
ausgiebig an ihrer Überraschung zu weiden. Die beiden waren verblüfft
und tauschten einen befremdeten Blick. Langsam, mit gespielter
Selbstverständlichkeit kam das Kind heran und ließ seinen höhnischen
Blick nicht von ihnen. »Ah, da bist du, Edi, wir haben dich schon drin
gesucht«, sagte endlich die Mutter. Wie frech sie lügt, dachte das Kind.
Aber die Lippen blieben hart. Sie hielten das Geheimnis des Hasses
hinter den Zähnen.

Unschlüssig standen sie alle drei. Einer lauerte auf den andern. »Also
gehen wir«, sagte resigniert die verärgerte Frau und zerpflückte eine
der schönen Rosen. Wieder dieses leichte Zittern um die Nasenflügel, das
bei ihr Zorn verriet. Edgar blieb stehen, als ginge ihn das nichts an,
sah ins Blaue, wartete, bis sie gingen, dann schickte er sich an, ihnen
zu folgen. Der Baron machte noch einen Versuch. »Heute ist
Tennisturnier, hast du das schon einmal gesehen?« Edgar blickte ihn nur
verächtlich an. Er antwortete ihm gar nicht mehr, zog nur die Lippen
krumm, als ob er pfeifen wollte. Das war sein Bescheid. Sein Haß wies
die blanken Zähne.

Wie ein Alp lastete nun seine unerbetene Gegenwart auf den beiden.
Sträflinge gehen so hinter dem Wärter, mit heimlich geballten Fäusten.
Das Kind tat eigentlich gar nichts und wurde ihnen doch in jeder Minute
mehr unerträglich mit seinen lauernden Blicken, die feucht waren von
verbissenen Tränen, seiner gereizten Mürrischkeit, die alle
Annäherungsversuche wegknurrte. »Geh voraus«, sagte plötzlich wütend die
Mutter, beunruhigt durch sein fortwährendes Lauschen. »Tanz mir nicht
immer vor den Füßen, das macht mich nervös!« Edgar gehorchte, aber immer
nach ein paar Schritten wandte er sich um, blieb wartend stehen, wenn
sie zurückgeblieben waren, sie mit seinem Blick wie der schwarze Pudel
mephistophelisch umkreisend und einspinnend in dieses feurige Netz von
Haß, in dem sie sich unentrinnbar gefangen fühlten.

Sein böses Schweigen zerriß wie eine Säure ihre gute Laune, sein Blick
vergällte ihnen das Gespräch. Der Baron wagte kein einziges werbendes
Wort mehr, er spürte, mit Zorn, diese Frau ihm wieder entgleiten, ihre
mühsam angefachte Leidenschaftlichkeit jetzt auskühlen in der Furcht vor
diesem lästigen, widerlichen Kind. Immer versuchten sie wieder zu reden,
immer brach ihre Konversation zusammen. Schließlich trotteten sie alle
drei schweigend über den Weg, hörten nur mehr die Bäume flüsternd
gegeneinander schlagen und ihren eigenen verdrossenen Schritt. Das Kind
hatte ihr Gespräch erdrosselt.

Jetzt war in allen dreien die gereizte Feindseligkeit. Mit Wollust
spürte das verratene Kind, wie sich ihre Wut wehrlos gegen seine
mißachtete Existenz ballte. Mit zwinkernd höhnischem Blick streifte er
ab und zu das verbissene Gesicht des Barons. Er sah, wie der zwischen
den Zähnen Schimpfworte knirschte und an sich halten mußte, um sie nicht
gegen ihn zu speien, merkte zugleich auch mit diabolischer Lust den
aufsteigenden Zorn seiner Mutter, und daß beide nur einen Anlaß
ersehnten, sich auf ihn zu stürzen, ihn wegzuschieben oder unschädlich
zu machen. Aber er bot keine Gelegenheit, sein Haß war in langen Stunden
berechnet und gab sich keine Blößen. »Gehen wir zurück!« sagte plötzlich
die Mutter. Sie fühlte, daß sie nicht länger an sich halten könnte, daß
sie etwas tun müßte, aufschreien zumindest unter dieser Folter. »Wie
schade,« sagte Edgar ruhig, »es ist so schön.«

Beide merkten, daß das Kind sie verhöhnte. Aber sie wagten nichts zu
sagen, dieser Tyrann hatte in zwei Tagen zu wundervoll gelernt, sich zu
beherrschen. Kein Zucken im Gesicht verriet die schneidende Ironie. Ohne
Wort gingen sie den langen Weg wieder heim. In ihr flackerte die
Erregung noch nach, als sie dann beide allein im Zimmer waren. Sie warf
den Sonnenschirm und ihre Handschuhe ärgerlich weg. Edgar merkte sofort,
daß ihre Nerven erregt waren und nach Entladung verlangten, aber er
wollte einen Ausbruch und blieb mit Absicht im Zimmer, um sie zu reizen.
Sie ging auf und ab, setzte sich wieder hin, ihre Finger trommelten auf
dem Tisch, dann sprang sie wieder auf. »Wie zerrauft du bist, wie
schmutzig du umhergehst! Es ist eine Schande vor den Leuten. Schämst du
dich nicht in deinem Alter?« Ohne ein Wort der Gegenrede ging das Kind
hin und kämmte sich. Dieses Schweigen, dieses obstinate kalte Schweigen
mit dem Zittern von Hohn auf den Lippen machte sie rasend. Am liebsten
hätte sie ihn geprügelt. »Geh auf dein Zimmer«, schrie sie ihn an. Sie
konnte seine Gegenwart nicht mehr ertragen. Edgar lächelte und ging.

Wie sie jetzt beide zitterten vor ihm, wie sie Angst hatten, der Baron
und sie, vor jeder Stunde des Zusammenseins, dem unbarmherzig harten
Griff seiner Augen! Je unbehaglicher sie sich fühlten, in um so satterem
Wohlbehagen beglänzte sich sein Blick, um so herausfordernder wurde
seine Freude. Edgar quälte die Wehrlosen jetzt mit der ganzen, fast noch
tierischen Grausamkeit der Kinder. Der Baron konnte seinen Zorn noch
dämmen, weil er immer hoffte, dem Buben noch einen Streich spielen zu
können, und nur an sein Ziel dachte. Aber sie, die Mutter, verlor immer
wieder die Beherrschung. Für sie war es eine Erleichterung, ihn
anschreien zu können. »Spiel nicht mit der Gabel«, fuhr sie ihn bei
Tisch an. »Du bist ein unerzogener Fratz, verdienst noch gar nicht unter
Erwachsenen zu sitzen.« Edgar lächelte nur immer, lächelte, den Kopf ein
wenig schief zur Seite gelegt. Er wußte, daß dieses Schreien
Verzweiflung war, und empfand Stolz, daß sie sich so verrieten. Er hatte
jetzt einen ganz ruhigen Blick, wie den eines Arztes. Früher wäre er
vielleicht boshaft gewesen, um sie zu ärgern, aber man lernt viel und
rasch im Haß. Jetzt schwieg er nur, schwieg und schwieg, bis sie zu
schreien begann unter dem Druck seines Schweigens.

Seine Mutter konnte es nicht länger ertragen. Als sie jetzt vom Essen
aufstanden und Edgar wieder mit dieser selbstverständlichen
Anhänglichkeit ihnen folgen wollte, brach es plötzlich los aus ihr. Sie
vergaß alle Rücksicht und spie die Wahrheit aus. Gepeinigt von seiner
schleichenden Gegenwart, bäumte sie sich wie ein von Fliegen gefoltertes
Pferd. »Was rennst du mir immer nach wie ein dreijähriges Kind. Ich will
dich nicht immer in der Nähe haben. Kinder gehören nicht zu Erwachsenen.
Merk dir das! Beschäftige dich doch einmal eine Stunde mit dir selbst.
Lies etwas oder tu, was du willst. Laß mich in Ruh! Du machst mich
nervös mit deinem Herumschleichen, deiner widerlichen Verdrossenheit.«

Endlich hatte er es ihr entrissen, das Geständnis! Edgar lächelte,
während der Baron und sie jetzt verlegen schienen. Sie wandte sich ab
und wollte weiter, wütend über sich selbst, daß sie ihr Unbehagen dem
Kind eingestanden hatte. Aber Edgar sagte nur kühl: »Papa will nicht,
daß ich allein hier herumgehe. Papa hat mir das Versprechen abgenommen,
daß ich nicht unvorsichtig bin und bei dir bleibe.«

Er betonte das Wort »Papa«, weil er damals bemerkt hatte, daß es eine
gewisse lähmende Wirkung auf die beiden übte. Auch sein Vater mußte also
irgendwie verstrickt sein in dieses heiße Geheimnis. Papa mußte
irgendeine geheime Macht über die beiden haben, die er nicht kannte,
denn schon die Erwähnung seines Namens schien ihnen Angst und Unbehagen
zu bereiten. Auch diesmal entgegneten sie nichts. Sie streckten die
Waffen. Die Mutter ging voran, der Baron mit ihr. Hinter ihnen kam
Edgar, aber nicht demütig wie ein Diener, sondern hart, streng und
unerbittlich wie ein Wächter. Unsichtbar klirrte er mit der Kette, an
der sie rüttelten und die nicht zu zersprengen war. Der Haß hatte seine
kindische Kraft gestählt, er, der Unwissende, war stärker als sie beide,
denen das Geheimnis die Hände band.




Die Lügner


Aber die Zeit drängte. Der Baron hatte nur mehr wenige Tage, und die
wollten genützt sein. Widerstand gegen die Hartnäckigkeit des gereizten
Kindes war, das fühlten sie, vergeblich, und so griffen sie zum letzten,
zum schmählichsten Ausweg: zur Flucht, nur um für eine oder zwei Stunden
seiner Tyrannei zu entgehen.

»Gib diese Briefe rekommandiert zur Post«, sagte die Mutter zu Edgar.
Sie standen beide in der Hall, der Baron sprach draußen mit einem
Fiaker.

Mißtrauisch übernahm Edgar die beiden Briefe. Er hatte bemerkt, daß
früher ein Diener irgendeine Botschaft seiner Mutter übermittelt hatte.
Bereiteten sie am Ende etwas gemeinsam gegen ihn vor?

Er zögerte. »Wo erwartest du mich?«

»Hier.«

»Bestimmt?«

»Ja.«

»Daß du aber nicht weggehst! Du wartest also hier in der Hall auf mich,
bis ich zurückkomme?«

Er sprach im Gefühl seiner Überlegenheit mit seiner Mutter schon
befehlshaberisch. Seit vorgestern hatte sich viel verändert.

Dann ging er mit den beiden Briefen. An der Tür stieß er mit dem Baron
zusammen. Er sprach ihn an, zum erstenmal seit zwei Tagen. »Ich gebe nur
die zwei Briefe auf. Meine Mama wartet auf mich, bis ich zurückkomme.
Bitte gehen Sie nicht früher fort.«

Der Baron drückte sich rasch vorbei. »Ja, ja, wir warten schon.«

Edgar stürmte zum Postamt. Er mußte warten. Ein Herr vor ihm hatte ein
Dutzend langweiliger Fragen. Endlich konnte er sich des Auftrags
entledigen und rannte sofort mit den Rezipissen zurück. Und kam eben
zurecht, um zu sehen, wie seine Mutter und der Baron im Fiaker
davonfuhren.

Er war starr vor Wut. Fast hätte er sich niedergebückt und ihnen einen
Stein nachgeschleudert. Sie waren ihm also doch entkommen, aber mit
einer wie gemeinen, wie schurkischen Lüge! Daß seine Mutter log, wußte
er seit gestern. Aber daß sie so schamlos sein konnte, ein offenes
Versprechen zu mißachten, das zerriß ihm ein letztes Vertrauen. Er
verstand das ganze Leben nicht mehr, seit er sah, daß die Worte, hinter
denen er die Wirklichkeit vermutet hatte, nur farbige Blasen waren, die
sich blähten und in nichts zersprangen. Aber was für ein furchtbares
Geheimnis mußte das sein, das erwachsene Menschen so weit trieb, ihn,
ein Kind, zu belügen, sich wegzustehlen wie Verbrecher? In den Büchern,
die er gelesen hatte, mordeten und betrogen die Menschen, um Geld zu
gewinnen, oder Macht, oder Königreiche. Was aber war hier die Ursache,
was wollten diese beiden, warum versteckten sie sich vor ihm, was
suchten sie unter hundert Lügen zu verhüllen? Er zermarterte sein
Gehirn. Dunkel spürte er, daß dieses Geheimnis der Riegel der Kindheit
sei, daß, es erobert zu haben, bedeutete, erwachsen zu sein, endlich,
endlich ein Mann. Oh, es zu fassen! Aber er konnte nicht mehr klar
denken. Die Wut, daß sie ihm entkommen waren, verbrannte und verqualmte
ihm den klaren Blick.

Er lief hinaus in den Wald, gerade konnte er sich noch ins Dunkel
retten, wo ihn niemand sah, und da brach es heraus, in einem Strom
heißer Tränen. »Lügner, Hunde, Betrüger, Schurken« -- er mußte diese
Worte laut herausschreien, sonst wäre er erstickt. Die Wut, die
Ungeduld, der Ärger, die Neugier, die Hilflosigkeit und der Verrat der
letzten Tage, im kindischen Krampf, im Wahn seiner Erwachsenheit
niedergehalten, sprengten jetzt die Brust und wurden Tränen. Es war das
letzte Weinen seiner Kindheit, das letzte wildeste Weinen, zum
letztenmal gab er sich weibisch hin an die Wollust der Tränen. Er weinte
in dieser Stunde fassungsloser Wut alles aus sich heraus, Vertrauen,
Liebe, Gläubigkeit, Respekt -- seine ganze Kindheit.

Der Knabe, der dann zum Hotel zurückging, war ein anderer. Er war kühl
und handelte vorbedacht. Zunächst ging er in sein Zimmer, wusch
sorgfältig das Gesicht und die Augen, um den beiden nicht den Triumph zu
gönnen, die Spuren seiner Tränen zu sehen. Dann bereitete er die
Abrechnung vor. Und wartete geduldig, ohne jede Unruhe.

Die Hall war recht gut besucht, als der Wagen mit den beiden Flüchtigen
draußen wieder hielt. Ein paar Herren spielten Schach, andere lasen ihre
Zeitung, die Damen plauderten. Unter ihnen hatte reglos, ein wenig blaß
mit zitternden Blicken das Kind gesessen. Als jetzt seine Mutter und der
Baron zur Türe hereinkamen, ein wenig geniert, ihn so plötzlich zu
sehen, und schon die vorbereitete Ausrede stammeln wollten, trat er
ihnen aufrecht und ruhig entgegen und sagte herausfordernd: »Herr Baron,
ich möchte Ihnen etwas sagen.«

Dem Baron wurde es unbehaglich. Er kam sich irgendwie ertappt vor. »Ja,
ja, später, gleich!«

Aber Edgar warf die Stimme hoch und sagte hell und scharf, daß alle
rings es hören konnten: »Ich will aber jetzt mit Ihnen reden. Sie haben
sich niederträchtig benommen. Sie haben mich angelogen. Sie wußten, daß
meine Mama auf mich wartet, und sind ...«

»Edgar!« schrie die Mutter, die alle Blicke auf sich gerichtet sah, und
stürzte gegen ihn los.

Aber das Kind kreischte jetzt, da es sah, daß sie seine Worte
überschreien wollten, plötzlich gellend auf:

»Ich sage es Ihnen nochmals vor allen Leuten. Sie haben infam gelogen,
und das ist gemein, das ist erbärmlich.«

Der Baron stand blaß, die Leute starrten auf, einige lächelten.

Die Mutter packte das vor Erregung zitternde Kind: »Komm sofort auf dein
Zimmer, oder ich prügle dich hier vor allen Leuten«, stammelte sie
heiser.

Edgar aber war schon wieder ruhig. Es tat ihm leid, so leidenschaftlich
gewesen zu sein. Er war unzufrieden mit sich selbst, denn eigentlich
wollte er ja den Baron kühl herausfordern, aber die Wut war wilder
gewesen als sein Wille. Ruhig, ohne Hast wandte er sich zur Treppe.

»Entschuldigen Sie, Herr Baron, seine Ungezogenheit. Sie wissen ja, er
ist ein nervöses Kind«, stotterte sie noch, verwirrt von den ein wenig
hämischen Blicken der Leute, die sie ringsum anstarrten. Nichts in der
Welt war ihr fürchterlicher als Skandal, und sie wußte, daß sie nun
Haltung bewahren mußte. Statt gleich die Flucht zu ergreifen, ging sie
zuerst zum Portier, fragte nach Briefen und anderen gleichgültigen
Dingen und rauschte dann hinauf, als ob nichts geschehen wäre. Aber
hinter ihr wisperte ein leises Kielwasser von Zischeln und unterdrücktem
Gelächter.

Unterwegs verlangsamte sich ihr Schritt. Sie war immer ernsten
Situationen gegenüber hilflos und hatte eigentlich Angst vor dieser
Auseinandersetzung. Daß sie schuldig war, konnte sie nicht leugnen, und
dann: sie fürchtete sich vor dem Blick des Kindes, diesem neuen,
fremden, so merkwürdigen Blick, der sie lähmte und unsicher machte. Aus
Furcht beschloß sie, es mit Milde zu versuchen. Denn bei einem Kampf
war, das wußte sie, dieses gereizte Kind jetzt der Stärkere.

Leise klinkte sie die Türe auf. Der Bub saß da, ruhig und kühl. Die
Augen, die er zu ihr aufhob, waren ganz ohne Angst, verrieten nicht
einmal Neugierde. Er schien sehr sicher zu sein.

»Edgar,« begann sie möglichst mütterlich, »was ist dir eingefallen? Ich
habe mich geschämt für dich. Wie kann man nur so ungezogen sein, schon
gar als Kind zu einem Erwachsenen! Du wirst dich dann sofort beim Herrn
Baron entschuldigen.«

Edgar schaute zum Fenster hinaus. Das »Nein« sagte er gleichsam zu den
Bäumen gegenüber.

Seine Sicherheit begann sie zu befremden.

»Edgar, was geht denn vor mit dir? Du bist ja ganz anders als sonst? Ich
kenne mich gar nicht mehr in dir aus. Du warst doch sonst immer ein
kluges, artiges Kind, mit dem man reden konnte. Und auf einmal benimmst
du dich so, als sei der Teufel in dich gefahren. Was hast du denn gegen
den Baron? Du hast ihn doch sehr gern gehabt. Er war immer so lieb gegen
dich.«

»Ja, weil er dich kennen lernen wollte.«

Ihr wurde unbehaglich. »Unsinn! Was fällt dir ein. Wie kannst du so
etwas denken?«

Aber da fuhr das Kind auf.

»Ein Lügner ist er, ein falscher Mensch. Was er tut, ist Berechnung und
Gemeinheit. Er hat dich kennen lernen wollen, deshalb war er freundlich
zu mir und hat mir einen Hund versprochen. Ich weiß nicht, was er dir
versprochen hat und warum er zu dir freundlich ist, aber auch von dir
will er etwas, Mama, ganz bestimmt. Sonst wäre er nicht so höflich und
freundlich. Er ist ein schlechter Mensch. Er lügt. Sieh dir ihn nur
einmal an, wie falsch er immer schaut. Oh, ich hasse ihn, diesen
erbärmlichen Lügner, diesen Schurken ...«

»Aber Edgar, wie kann man so etwas sagen.« Sie war verwirrt und wußte
nicht zu antworten. In ihr regte sich ein Gefühl, das dem Kind recht
gab.

»Ja, er ist ein Schurke, das lasse ich mir nicht ausreden. Das mußt du
selbst sehen. Warum hat er denn Angst vor mir? Warum versteckt er sich
vor mir? Weil er weiß, daß ich ihn durchschaue, daß ich ihn kenne,
diesen Schurken!«

»Wie kann man so etwas sagen, wie kann man so etwas sagen.« Ihr Gehirn
war ausgetrocknet, nur die Lippen stammelten blutlos immer wieder die
beiden Sätze. Sie begann jetzt plötzlich eine furchtbare Angst zu haben
und wußte eigentlich nicht, ob vor dem Baron oder vor dem Kinde.

Edgar sah, daß seine Mahnung Eindruck machte. Und es verlockte ihn, sie
zu sich herüberzureißen, einen Genossen zu haben im Hasse, in der
Feindschaft gegen ihn. Weich ging er auf seine Mutter zu, umfaßte sie,
und seine Stimme wurde schmeichlerisch vor Erregung. »Mama,« sagte er,
»du mußt es doch selbst bemerkt haben, daß er nichts Gutes will. Er hat
dich ganz anders gemacht. Du bist verändert und nicht ich. Er hat dich
aufgehetzt gegen mich, nur um dich allein zu haben. Sicher will er dich
betrügen. Ich weiß nicht, was er dir versprochen hat. Ich weiß nur, er
wird es nicht halten. Du solltest dich hüten vor ihm. Wer einen belügt,
belügt auch den andern. Er ist ein böser Mensch, dem man nicht trauen
soll.«

Diese Stimme, weich und fast in Tränen, klang wie aus ihrem eigenen
Herzen. In ihr war seit gestern ein Mißbehagen erwacht, das ihr dasselbe
sagte: eindringlicher und eindringlicher. Aber sie schämte sich, dem
eigenen Kinde recht zu geben. Und rettete sich, wie viele, aus der
Verlegenheit eines überwältigenden Gefühls in die Rauheit des Ausdrucks.
Sie reckte sich auf.

»Kinder verstehen so etwas nicht. Du hast in solche Sachen nicht
dreinzureden. Du hast dich anständig zu benehmen. Das ist alles.«

Edgars Gesicht fror wieder kalt ein. »Wie du meinst,« sagte er hart,
»ich habe dich gewarnt.«

»Also du willst dich nicht entschuldigen?«

»Nein.«

Sie standen sich schroff gegenüber. Sie fühlte, es ging um ihre
Autorität.

»Dann wirst du hier oben speisen. Allein. Und nicht eher an unseren
Tisch kommen, bis du dich entschuldigt hast. Ich werde dich noch
Manieren lehren. Du wirst dich nicht vom Zimmer rühren, bis ich es dir
erlaube. Hast du verstanden?«

Edgar lächelte. Dieses tückische Lächeln schien schon mit seinen Lippen
verwachsen zu sein. Innerlich war er zornig gegen sich selbst. Wie
töricht von ihm, daß er wieder einmal sein Herz hat entlaufen lassen und
sie, die Lügnerin, noch warnen wollte.

Die Mutter rauschte hinaus, ohne ihn noch einmal anzusehen. Sie
fürchtete diese schneidenden Augen. Das Kind war ihr unbehaglich
geworden, seit sie fühlte, daß es seine Augen offen hatte und ihr gerade
das sagte, was sie nicht wissen und nicht hören wollte. Schreckhaft war
es ihr, eine innere Stimme, ihr Gewissen, abgelöst von sich selber, als
Kind verkleidet, als ihr eigenes Kind herumgehen und sie warnen, sie
verhöhnen zu sehn. Bisher war dieses Kind neben ihrem Leben gewesen, ein
Schmuck, ein Spielzeug, irgendein Liebes und Vertrautes, manchmal
vielleicht eine Last, aber immer etwas, das in derselben Strömung im
gleichen Takt ihres Lebens lief. Zum erstenmal bäumte das sich heute auf
und trotzte gegen ihren Willen. Etwas wie Haß mischte sich jetzt immer
in die Erinnerung an ihr Kind.

Aber dennoch: jetzt, da sie die Treppe, ein wenig müde, niederstieg,
klang die kindische Stimme aus ihrer eigenen Brust. »Du solltest dich
hüten vor ihm.« -- Die Mahnung ließ sich nicht zum Schweigen bringen. Da
glänzte ihr im Vorüberschreiten ein Spiegel entgegen, fragend blickte
sie hinein, tiefer und immer tiefer, bis sich dort die Lippen leise
lächelnd auftaten und sich rundeten wie zu einem gefährlichen Wort. Noch
immer klang von innen die Stimme; aber sie warf die Achseln hoch, als
schüttelte sie all diese unsichtbaren Bedenken von sich ab, gab dem
Spiegel einen hellen Blick, raffte das Kleid und ging hinab mit der
entschlossenen Geste eines Spielers, der sein letztes Goldstück klingend
über den Tisch rollen läßt.




Spuren im Mondlicht


Der Kellner, der Edgar das Essen in seinen Stubenarrest gebracht hatte,
schloß die Türe. Hinter ihm knackte das Schloß. Das Kind fuhr wütend
auf: das war offenbar im Auftrag seiner Mutter geschehen, daß man ihn
einsperrte wie ein bösartiges Tier. Finster rang es sich aus ihm.

»Was geschieht nun da drunten, während ich hier eingeschlossen bin? Was
mögen die beiden jetzt bereden? Geschieht am Ende jetzt dort das
Geheime, und ich muß es versäumen? Oh, dieses Geheimnis, das ich immer
und überall spüre, wenn ich unter Erwachsenen bin, vor dem sie die Türe
zuschließen in der Nacht, das sie in leises Gespräch versenken, trete
ich unversehens herein, dieses große Geheimnis, das mir jetzt seit Tagen
nahe ist, hart vor den Händen, und das ich noch immer nicht greifen
kann! Was habe ich nicht schon getan, um es zu fassen! Ich habe Papa
damals Bücher aus dem Schreibtisch gestohlen und sie gelesen, und alle
diese merkwürdigen Dinge waren darin, nur daß ich sie nicht verstand. Es
muß irgendwie ein Siegel daran sein, das erst abzulösen ist, um es zu
finden, vielleicht in mir, vielleicht in den anderen. Ich habe das
Dienstmädchen gefragt, sie gebeten, mir diese Stellen in den Büchern zu
erklären, aber sie hat mich ausgelacht. Furchtbar, Kind zu sein, voll
von Neugier, und doch niemand fragen zu dürfen, immer lächerlich zu sein
vor diesen Großen, als ob man etwas Dummes oder Nutzloses wäre. Aber ich
werde es erfahren, ich fühle, ich werde es jetzt bald wissen. Ein Teil
ist schon in meinen Händen, und ich will nicht früher ablassen, ehe ich
das Ganze besitze!«

Er horchte, ob niemand käme. Ein leichter Wind flog draußen durch die
Bäume und brach den starren Spiegel des Mondlichtes zwischen dem Geäste
in hundert schwanke Splitter.

»Es kann nichts Gutes sein, was die beiden vorhaben, sonst hätten sie
nicht solche erbärmliche Lügen gesucht, um mich fortzukriegen. Gewiß,
sie lachen jetzt über mich, die Verfluchten, daß sich mich endlich los
sind, aber ich werde zuletzt lachen. Wie dumm von mir, mich hier
einsperren zu lassen, ihnen eine Sekunde Freiheit zu geben, statt an
ihnen zu kleben und jede ihrer Bewegungen zu belauschen. Ich weiß, die
Großen sind ja immer unvorsichtig, und auch sie werden sich verraten.
Sie glauben immer von uns, daß wir noch ganz klein sind und abends immer
schlafen, sie vergessen, daß man sich auch schlafend stellen kann und
lauschen, daß man sich dumm geben kann und sehr klug sein. Jüngst, wie
meine Tante ein Kind bekam, haben sie es lange vorausgewußt und sich nur
vor mir verwundert gestellt, als seien sie überrascht worden. Aber ich
habe es auch gewußt, denn ich habe sie reden gehört, vor Wochen am
Abend, als sie glaubten, ich schliefe. Und so werde ich auch diesmal sie
überraschen, diese Niederträchtigen. Oh, wenn ich durch die Türe spähen
könnte, sie heimlich jetzt beobachten, während sie sich sicher wähnen.
Sollte ich nicht vielleicht läuten jetzt, dann käme das Mädchen, sperrte
die Tür auf und fragte, was ich wollte. Oder ich könnte poltern, könnte
Geschirr zerschlagen, dann sperrte man auch auf. Und in dieser Sekunde
könnte ich hinausschlüpfen und sie belauschen. Aber nein, das will ich
nicht. Niemand soll sehen, wie niederträchtig sie mich behandeln. Ich
bin zu stolz dazu. Morgen will ich es ihnen schon heimzahlen.«

Unten lachte eine Frauenstimme. Edgar schrak zusammen: das könnte seine
Mutter sein. Die hatte ja Grund zu lachen, ihn zu verhöhnen, den
Kleinen, Hilflosen, hinter dem man den Schlüssel abdrehte, wenn er
lästig war, den man in den Winkel warf wie ein Bündel nasser Kleider.
Vorsichtig beugte er sich zum Fenster hinaus. Nein, sie war es nicht,
sondern fremde, übermütige Mädchen, die einen Burschen neckten.

Da, in dieser Minute bemerkte er, wie wenig hoch sich eigentlich sein
Fenster über die Erde erhob. Und schon, kaum daß ers merkte, war der
Gedanke da: hinausspringen, jetzt, wo sie sich ganz sicher wähnten, sie
belauschen. Er fieberte vor Freude über seinen Entschluß. Ihm war, als
hielt er damit das große, das funkelnde Geheimnis der Kindheit in den
Händen. »Hinaus, hinaus«, zitterte es in ihm. Gefahr war keine. Menschen
gingen nicht vorüber, und schon sprang er. Es gab ein leises Geräusch
von knirschendem Kies, das keiner vernahm.

In diesen zwei Tagen war ihm das Beschleichen, das Lauern zur Lust
seines Lebens geworden. Und Wollust fühlte er jetzt gemengt mit einem
leisen Schauer von Angst, als er auf ganz leisen Sohlen um das Hotel
schlich, sorgsam den stark ausstrahlenden Widerschein der Lichter
vermeidend. Zunächst blickte er, die Wange vorsichtig an die Scheiben
pressend, in den Speisesaal. Ihr gewohnter Platz war leer. Er spähte
dann weiter, von Fenster zu Fenster. Ins Hotel selbst wagte er sich
nicht hinein, aus Furcht, er könnte ihnen zwischen den Gängen
unversehens in den Weg laufen. Nirgends waren sie zu finden. Schon
wollte er verzweifeln, da sah er zwei Schatten aus der Türe vorfallen
und -- er zuckte zurück und duckte sich in das Dunkel -- seine Mutter
mit ihrem nun unvermeidlichen Begleiter heraustreten. Gerade war er also
zurecht gekommen. Was sprachen sie? Er konnte es nicht verstehen. Sie
redeten leise, und der Wind rumorte zu unruhig in den Bäumen. Jetzt aber
zog deutlich ein Lachen vorüber, die Stimme seiner Mutter. Es war ein
Lachen, das er an ihr gar nicht kannte, ein seltsam scharfes, wie
gekitzeltes, gereiztes nervöses Lachen, das ihn fremd anmutete und vor
dem er erschrak. Sie lachte. Also konnte es nichts Gefährliches sein,
nicht etwas ganz Großes und Gewaltiges, das man vor ihm verbarg. Edgar
war ein wenig enttäuscht.

Aber warum verließen sie das Hotel? Wohin gingen sie jetzt allein in der
Nacht? Hoch oben mußten mit riesigen Flügeln Winde dahinstreifen, denn
der Himmel, eben noch rein und mondklar, wurde jetzt dunkel. Schwarze
Tücher, von unsichtbaren Händen geworfen, wickelten manchmal den Mond
ein, und die Nacht wurde dann so undurchdringlich, daß man kaum den Weg
sehen konnte, um bald wieder hell zu glänzen, wenn sich der Mond
befreite. Silber floß kühl über die Landschaft. Geheimnisvoll war dieses
Spiel zwischen Licht und Schatten und aufreizend wie das Spiel einer
Frau mit Blöße und Verhüllungen. Gerade jetzt entkleidete die Landschaft
wieder ihren blanken Leib: Edgar sah schräg über dem Weg die wandelnden
Silhouetten, oder vielmehr die eine, denn so aneinander gepreßt gingen
sie, als drängte sie eine innere Furcht zusammen. Aber wohin gingen sie
jetzt, die beiden? Die Föhren ächzten, es war eine unheimliche
Geschäftigkeit im Wald, als wühlte die wilde Jagd darin. »Ich folge
ihnen,« dachte Edgar, »sie können meinen Schritt nicht hören in diesem
Aufruhr von Wind und Wald.« Und er sprang, indes die unten auf der
breiten, hellen Straße gingen, oben im Gehölz von einem Baum zum anderen
leise weiter, von Schatten zu Schatten. Er folgte ihnen zäh und
unerbittlich, segnete den Wind, der seine Schritte unhörbar machte, und
verfluchte ihn, weil er ihm immer die Worte von drüben wegtrug. Nur
einmal, wenn er hätte ihr Gespräch hören können, war er sicher, das
Geheimnis zu halten.

Die beiden unten gingen ahnungslos. Sie fühlten sich selig allein in
dieser weiten verwirrten Nacht und verloren sich in ihrer wachsenden
Erregung. Keine Ahnung warnte sie, daß oben im vielverzweigten Dunkel
jedem ihrer Schritte gefolgt wurde und zwei Augen sie mit der ganzen
Kraft von Haß und Neugier umkrallt hielten.

Plötzlich blieben sie stehen. Auch Edgar hielt sofort inne und preßte
sich enge an einen Baum. Ihn befiel eine stürmische Angst. Wie, wenn sie
jetzt umkehrten und vor ihm das Hotel erreichten, wenn er sich nicht
retten konnte in sein Zimmer und die Mutter es leer fand? Dann war alles
verloren, dann wußten sie, daß er sie heimlich belauerte, und er durfte
nie mehr hoffen, ihnen das Geheimnis zu entreißen. Aber die beiden
zögerten, offenbar in einer Meinungsverschiedenheit. Glücklicherweise
war Mondlicht, und er konnte alles deutlich sehen. Der Baron deutete auf
einen dunklen schmalen Seitenweg, der in das Tal hinabführte, wo das
Mondlicht nicht wie hier auf der Straße einen weiten vollen Strom
rauschte, sondern nur in Tropfen und seltsamen Strahlen durchs Dickicht
sickerte. »Warum will er dort hinab?« zuckte es in Edgar. Seine Mutter
schien »nein« zu sagen, er aber, der andere, sprach ihr zu. Edgar konnte
an der Art seiner Gestikulation merken, wie eindringlich er sprach.
Angst befiel das Kind. Was wollte dieser Mensch von seiner Mutter? Warum
versuchte er, dieser Schurke, sie ins Dunkel zu schleppen? Aus seinen
Büchern, die für ihn die Welt waren, kamen plötzlich lebendige
Erinnerungen von Mord und Entführung, von finsteren Verbrechen.
Sicherlich, er wollte sie ermorden, und dazu hatte er ihn weggehalten,
sie einsam hierher gelockt. Sollte er Hilfe schreien? Mörder! Der Ruf
saß ihm schon ganz oben in der Kehle, aber die Lippen waren vertrocknet
und brachten keinen Laut heraus. Seine Nerven spannten sich vor
Aufregung, kaum konnte er sich gerade halten, erschreckt vor Angst griff
er nach einem Halt -- da knackte ihm ein Zweig unter den Händen.

Die beiden wandten sich erschreckt um und starrten ins Dunkel. Edgar
blieb stumm an den Baum gelehnt mit angepreßten Armen, den kleinen
Körper tief in den Schatten geduckt. Es blieb Totenstille. Aber doch,
sie schienen erschreckt. »Kehren wir um«, hörte er seine Mutter sagen.
Es klang geängstigt von ihren Lippen. Der Baron, offenbar selbst
beunruhigt, willigte ein. Die beiden gingen langsam und eng aneinander
geschmiegt zurück. Ihre innere Befangenheit war Edgars Glück. Auf allen
vieren, ganz unten im Holz, kroch er, die Hände sich blutig reißend, bis
zur Wendung des Waldes, von dort lief er mit aller Geschwindigkeit, daß
ihm der Atem stockte, bis zum Hotel und da mit ein paar Sprüngen hinauf.
Der Schlüssel, der ihn eingesperrt hatte, steckte glücklicherweise von
außen, er drehte ihn um, stürzte ins Zimmer und schon hin aufs Bett. Ein
paar Minuten mußte er rasten, denn das Herz schlug ungestüm an seine
Brust, wie ein Klöppel an die klingende Glockenwand.

Dann wagte er sich auf, lehnte am Fenster und wartete, bis sie kamen. Es
dauerte lange. Sie mußten sehr, sehr langsam gegangen sein. Vorsichtig
spähte er aus dem umschatteten Rahmen. Jetzt kamen sie langsam daher,
Mondlicht auf den Kleidern. Gespensterhaft sahen sie aus in diesem
grünen Licht, und wieder überfiel ihn das süße Grauen, ob das wirklich
ein Mörder sei und welch furchtbares Geschehen er durch seine Gegenwart
verhindert hatte. Deutlich sah er in die kreidehellen Gesichter. In dem
seiner Mutter war ein Ausdruck von Verzücktheit, den er an ihr nicht
kannte, er hingegen schien hart und verdrossen. Offenbar, weil ihm seine
Absicht mißlungen war.

Ganz nahe waren sie schon. Erst knapp vor dem Hotel lösten sich ihre
Gestalten voneinander. Ob sie heraufsehen würden? Nein, keiner blickte
herauf. »Sie haben mich vergessen«, dachte der Knabe mit einem wilden
Ingrimm, mit einem heimlichen Triumph, »aber ich nicht euch. Ihr denkt
wohl, daß ich schlafe oder nicht auf der Welt bin, aber ihr sollt eueren
Irrtum sehen. Jeden Schritt will ich euch überwachen, bis ich ihm, dem
Schurken, das Geheimnis entrissen habe, das furchtbare, das mich nicht
schlafen läßt. Ich werde euer Bündnis schon zerreißen. Ich schlafe
nicht.«

Langsam traten die beiden in die Türe. Und als sie jetzt, einer hinter
dem anderen, hineingingen, umschlangen sich wieder für eine Sekunde die
fallenden Silhouetten, als einziger schwarzer Streif schwand ihr
Schatten in die erhellte Tür. Dann lag der Platz im Mondlicht wieder
blank vor dem Hause, wie eine weite Wiese von Schnee.




Der Überfall


Edgar trat atmend zurück vom Fenster. Das Grauen schüttelte ihn. Noch
nie war er in seinem Leben ähnlich Geheimnisvollem so nah gewesen. Die
Welt der Aufregungen, der spannenden Abenteuer, jene Welt von Mord und
Betrug aus seinen Büchern war in seiner Anschauung immer dort gewesen,
wo die Märchen waren, hart hinter den Träumen, im Unwirklichen und
Unerreichbaren. Jetzt auf einmal aber schien er mitten hineingeraten in
diese grauenhafte Welt, und sein ganzes Wesen wurde fieberhaft
geschüttelt durch so unverhoffte Begegnung. Wer war dieser Mensch, der
geheimnisvolle, der plötzlich in ihr ruhiges Leben getreten war? War er
wirklich ein Mörder, daß er immer das Entlegene suchte und seine Mutter
hinschleppen wollte, wo es dunkel war? Furchtbares schien bevorzustehen.
Er wußte nicht, was zu tun. Morgen, das war er sicher, wollte er dem
Vater schreiben oder telegraphieren. Aber konnte es nicht noch jetzt
geschehen, heute abend? Noch war ja seine Mutter nicht in ihrem Zimmer,
noch war sie mit diesem verhaßten, fremden Menschen. Zwischen der
inneren Tür und der äußeren, leicht beweglichen Tapetentür war ein
schmaler Zwischenraum, nicht größer als das Innere eines
Kleiderschrankes. Dort in diese Handbreit Dunkel preßte er sich hinein,
um auf ihre Schritte im Gang zu lauern. Denn nicht einen Augenblick, so
hatte er beschlossen, wollte er sie allein lassen. Der Gang lag jetzt um
Mitternacht leer, matt nur beleuchtet von einer einzelnen Flamme.

Endlich -- die Minuten dehnten sich ihm fürchterlich -- hörte er
behutsame Schritte heraufkommen. Er horchte angestrengt. Es war nicht
ein rasches Losschreiten, wie wenn jemand gerade in sein Zimmer will,
sondern schleifende, zögernde, sehr verlangsamte Schritte, wie einen
unendlich schweren und steilen Weg empor. Dazwischen immer wieder
Geflüster und ein Innehalten. Edgar zitterte vor Erregung. Waren es am
Ende die beiden, blieb er noch immer mit ihr? Das Flüstern war zu
entfernt. Aber die Schritte, wenn auch noch zögernd, kamen immer näher.
Und jetzt hörte er auf einmal die verhaßte Stimme des Barons leise und
heiser etwas sagen, das er nicht verstand, und dann gleich die seiner
Mutter in rascher Abwehr: »Nein, nicht heute! Nein.«

Edgar zitterte, sie kamen näher, und er mußte alles hören. Jeder
Schritt, so leise er auch war, tat ihm weh in der Brust. Und die Stimme,
wie häßlich schien sie ihm, diese gierig werbende, widerliche Stimme des
Verhaßten! »Seien Sie nicht grausam. Sie waren so schön heute abend.«
Und die andere wieder: »Nein, ich darf nicht, ich kann nicht, lassen Sie
mich los.«

Es ist so viel Angst in der Stimme seiner Mutter, daß das Kind
erschrickt. Was will er denn noch von ihr? Warum fürchtet sie sich? Sie
sind immer näher gekommen und müssen jetzt schon ganz vor seiner Tür
sein. Knapp hinter ihnen steht er, zitternd und unsichtbar, eine Hand
weit, geschützt nur durch die dünne Scheibe Tuch. Die Stimmen sind jetzt
atemnah.

»Kommen Sie, Mathilde, kommen Sie!« Wieder hört er seine Mutter stöhnen,
schwächer jetzt, in erlahmendem Widerstand.

Aber was ist dies? Sie sind ja weiter gegangen im Dunkeln. Seine Mutter
ist nicht in ihr Zimmer, sondern daran vorbeigegangen! Wohin schleppt er
sie? Warum spricht sie nicht mehr? Hat er ihr einen Knebel in den Mund
gestopft, preßt er ihr die Kehle zu?

Die Gedanken machen ihn wild. Mit zitternder Hand stößt er die Türe eine
Spannweite auf. Jetzt sieht er im dunkelnden Gang die beiden. Der Baron
hat seiner Mutter den Arm um die Hüfte geschlungen und führt sie, die
schon nachzugeben scheint, leise fort. Jetzt macht er halt vor seinem
Zimmer. »Er will sie wegschleppen,« erschrickt das Kind, »jetzt will er
das Furchtbare tun.«

Ein wilder Ruck, er schlägt die Türe zu und stürzt hinaus, den beiden
nach. Seine Mutter schreit auf, wie jetzt da aus dem Dunkel plötzlich
etwas auf sie losstürzt, scheint in eine Ohnmacht gesunken, vom Baron
nur mühsam gehalten. Der aber fühlt in dieser Sekunde eine kleine,
schwache Faust in seinem Gesicht, die ihm die Lippe hart an die Zähne
schlägt, etwas, was sich katzenhaft an seinen Körper krallt. Er läßt die
Erschreckte los, die rasch entflieht, und schlägt blind, ehe er noch
weiß, gegen wen er sich wehrt, mit der Faust zurück.

Das Kind weiß, daß es der Schwächere ist, aber es gibt nicht nach.
Endlich, endlich ist der Augenblick da, der lang ersehnte, all die
verratene Liebe, den aufgestapelten Haß leidenschaftlich zu entladen. Er
hämmert mit seinen kleinen Fäusten blind drauflos, die Lippen verbissen
in einer fiebrigen, sinnlosen Gereiztheit. Auch der Baron hat ihn jetzt
erkannt, auch er steckt voll Haß gegen diesen heimlichen Spion, der ihm
die letzten Tage vergällte und das Spiel verdarb; er schlägt derb
zurück, wohin es eben trifft. Edgar stöhnt auf, läßt aber nicht los und
schreit nicht um Hilfe. Sie ringen eine Minute stumm und verbissen in
dem mitternächtigen Gang. Allmählich wird dem Baron das Lächerliche
seines Kampfes mit einem halbwüchsigen Buben bewußt, er packt ihn fest
an, um ihn wegzuschleudern. Aber das Kind, wie es jetzt seine Muskeln
nachlassen spürt und weiß, daß es in der nächsten Sekunde der Besiegte,
der Geprügelte sein wird, schnappt in wilder Wut nach dieser starken,
festen Hand, die ihn im Nacken fassen will. Unwillkürlich stößt der
Gebissene einen dumpfen Schrei aus und läßt frei -- eine Sekunde, die
das Kind benützt, um in sein Zimmer zu flüchten und den Riegel
vorzuschieben.

Eine Minute nur hat dieser mitternächtige Kampf gedauert. Niemand rechts
und links hat ihn gehört. Alles ist still, alles scheint in Schlaf
ertrunken. Der Baron wischt sich die blutende Hand mit dem Taschentuch,
späht beunruhigt in das Dunkel. Niemand hat gelauscht. Nur oben
flimmert -- ihm dünkt: höhnisch -- ein letztes, unruhiges Licht.




Gewitter


»War das Traum, ein böser, gefährlicher Traum?« fragte sich Edgar am
nächsten Morgen, als er mit versträhntem Haar aus einer Wirrnis von
Angst erwachte. Den Kopf quälte dumpfes Dröhnen, die Gelenke ein
erstarrtes, hölzernes Gefühl, und jetzt, wie er an sich hinabsah, merkte
er erschreckt, daß er noch in den Kleidern stak. Er sprang auf, taumelte
an den Spiegel und schauerte zurück vor seinem eigenen blassen,
verzerrten Gesicht, das über der Stirne zu einem rötlichen Striemen
verschwollen war. Mühsam raffte er seine Gedanken zusammen und erinnerte
sich jetzt beängstigt an alles, an den nächtigen Kampf draußen im Gang,
sein Zurückstürzen ins Zimmer, und daß er dann, zitternd im Fieber,
angezogen und fluchtbereit sich auf das Bett geworfen habe. Dort mußte
er eingeschlafen sein, hinabgestürzt in diesen dumpfen, verhangenen
Schlaf, in dessen Träumen dann all dies noch einmal wiedergekehrt war,
nur anders und noch furchtbarer, mit einem feuchten Geruch von frischem,
fließendem Blut.

Unten gingen Schritte knirschend über den Kies, Stimmen flogen wie
unsichtbare Vögel herauf, und die Sonne griff tief ins Zimmer hinein. Es
mußte schon spät am Vormittag sein, aber die Uhr, die er erschreckt
befragte, deutete auf Mitternacht, er hatte in seiner Aufregung
vergessen, sie gestern aufzuziehen. Und diese Ungewißheit, irgendwo lose
in der Zeit zu hängen, beunruhigte ihn, verstärkt durch das Gefühl der
Unkenntnis, was eigentlich geschehen war. Er richtete sich rasch
zusammen und ging hinab, Unruhe und ein leises Schuldgefühl im Herzen.

Im Frühstückszimmer saß seine Mama allein am gewohnten Tisch. Edgar
atmete auf, daß sein Feind nicht zugegen war, daß er sein verhaßtes
Gesicht nicht sehen mußte, in das er gestern im Zorn seine Faust
geschlagen hatte. Und doch, wie er nun an den Tisch herantrat, fühlte er
sich unsicher.

»Guten Morgen«, grüßte er.

Seine Mutter antwortete nicht. Sie blickte nicht einmal auf, sondern
betrachtete mit merkwürdig starren Pupillen in der Ferne die Landschaft.
Sie sah sehr blaß aus, hatte die Augen leicht umrändert und um die
Nasenflügel jenes nervöse Zucken, das so verräterisch für ihre Erregung
war. Edgar verbiß die Lippen. Dieses Schweigen verwirrte ihn. Er wußte
eigentlich nicht, ob er den Baron gestern schwer verletzt hatte und ob
sie überhaupt um diesen nächtigen Zusammenstoß wissen konnte. Und diese
Unsicherheit quälte ihn. Aber ihr Gesicht blieb so starr, daß er gar
nicht versuchte, zu ihr aufzublicken, aus Angst, die jetzt gesenkten
Augen möchten plötzlich hinter den verhangenen Lidern aufspringen und
ihn fassen. Er wurde ganz still, wagte nicht einmal, Lärm zu machen,
ganz vorsichtig hob er die Tasse und stellte sie wieder zurück,
verstohlen hinblickend auf die Finger seiner Mutter, die sehr nervös mit
dem Löffel spielten und in ihrer Gekrümmtheit geheimen Zorn zu verraten
schienen. Eine Viertelstunde saß er so in dem schwülen Gefühl der
Erwartung auf etwas, das nicht kam. Kein Wort, kein einziges erlöste
ihn. Und jetzt, da seine Mutter aufstand, noch immer, ohne seine
Gegenwart bemerkt zu haben, wußte er nicht, was er tun sollte: allein
hier beim Tisch sitzen bleiben oder ihr folgen. Schließlich erhob er
sich doch, ging demütig hinter ihr her, die ihn geflissentlich übersah,
und spürte immer dabei, wie lächerlich sein Nachschleichen war. Immer
kleiner machte er seine Schritte, um mehr und mehr hinter ihr
zurückzubleiben, die, ohne ihn zu beachten, in ihr Zimmer ging. Als
Edgar endlich nachkam, stand er vor einer hart geschlossenen Türe.

Was war geschehen? Er kannte sich nicht mehr aus. Das sichere Bewußtsein
von gestern hatte ihn verlassen. War er am Ende gestern im Unrecht
gewesen mit diesem Überfall? Und bereiteten sie gegen ihn eine Strafe
vor oder eine neue Demütigung? Etwas mußte geschehen, das fühlte er,
etwas Furchtbares mußte sehr bald geschehen. Zwischen ihnen war die
Schwüle eines aufziehenden Gewitters, die elektrische Spannung zweier
geladener Pole, die sich im Blitz erlösen mußte. Und diese Last des
Vorgefühls schleppte er durch vier einsame Stunden mit sich herum, von
Zimmer zu Zimmer, bis sein schmaler Kindernacken niederbrach von
unsichtbarem Gewicht und er mittags, nun schon ganz demütig, an den
Tisch trat.

»Guten Tag«, sagte er wieder. Er mußte dieses Schweigen zerreißen,
dieses furchtbar drohende, das über ihm als schwarze Wolke hing.

Wieder antwortete die Mutter nicht, wieder sah sie an ihm vorbei. Und
mit neuem Erschrecken fühlte sich Edgar jetzt einem besonnenen,
geballten Zorn gegenüber, wie er ihn bisher in seinem Leben noch nicht
gekannt hatte. Bisher waren ihre Streitigkeiten immer nur Wutausbrüche
mehr der Nerven als des Gefühls gewesen, rasch verflüchtigt in ein
Lächeln der Begütigung. Diesmal aber hatte er, das wurde ihm deutlich
bewußt, ein wildes Gefühl aus dem untersten Grund ihres Wesens
aufgewühlt, und er erschrak vor dieser unvorsichtig beschworenen Gewalt.
Kaum vermochte er zu essen. In seiner Kehle quoll etwas Trockenes auf,
das ihn zu erwürgen drohte. Seine Mutter schien von alldem nichts zu
merken. Nur jetzt, beim Aufstehen, wandte sie sich wie gelegentlich
zurück und sagte:

»Komm dann hinauf, Edgar, ich habe mit dir zu reden.«

Es klang nicht drohend, aber doch so eisig kalt, daß Edgar die Worte
schauernd fühlte, als hätte man ihm eine eiserne Kette plötzlich um den
Hals gelegt. Sein Trotz war zertreten. Schweigend, wie ein geprügelter
Hund, folgte er ihr hinauf in das Zimmer.

Sie verlängerte ihm die Qual, indem sie einige Minuten schwieg. Minuten,
in denen er die Uhr schlagen hörte und draußen ein Kind lachen und in
sich selbst das Herz an die Brust hämmern. Aber auch in ihr mußte eine
große Unsicherheit sein, denn sie sah ihn nicht an, während sie jetzt zu
ihm sprach, sondern wandte ihm den Rücken.

»Ich will nicht mehr über dein Betragen von gestern reden. Es war
unerhört, und ich schäme mich jetzt, wenn ich daran denke. Du hast dir
die Folgen selber zuzuschreiben. Ich will dir jetzt nur sagen, es war
das letztemal, daß du allein unter Erwachsenen sein durftest. Ich habe
eben an deinen Papa geschrieben, daß du einen Hofmeister bekommst oder
in ein Pensionat geschickt wirst, um Manieren zu lernen. Ich werde mich
nicht mehr mit dir ärgern.«

Edgar stand mit gesenktem Kopf da. Er spürte, daß dies nur eine
Einleitung, eine Drohung war, und wartete beunruhigt auf das
Eigentliche.

»Du wirst dich jetzt sofort beim Baron entschuldigen.«

Edgar zuckte auf, aber sie ließ sich nicht unterbrechen.

»Der Baron ist heute abgereist, und du wirst ihm einen Brief schreiben,
den ich dir diktieren werde.«

Edgar rührte sich wieder, aber seine Mutter war fest.

»Keine Widerrede. Da ist Papier und Tinte, setze dich hin.«

Edgar sah auf. Ihre Augen waren gehärtet von einem unbeugsamen
Entschluß. So hatte er seine Mutter nie gekannt, so hart und gelassen.
Furcht überkam ihn. Er setzte sich hin, nahm die Feder, duckte aber das
Gesicht tief auf den Tisch.

»Oben das Datum. Hast du? Vor der Überschrift eine Zeile leer lassen.
So! Sehr geehrter Herr Baron! Rufzeichen. Wieder eine Zeile freilassen.
Ich erfahre soeben zu meinem Bedauern -- hast du? -- zu meinem Bedauern,
daß Sie den Semmering schon verlassen haben, -- Semmering mit zwei m --
und so muß ich brieflich tun, was ich persönlich beabsichtigt hatte,
nämlich -- etwas rascher, es muß nicht kalligraphiert sein! -- Sie um
Entschuldigung bitten für mein gestriges Betragen. Wie Ihnen meine Mama
gesagt haben wird, bin ich noch Rekonvaleszent von einer schweren
Erkrankung und sehr reizbar. Ich sehe dann oft Dinge, die übertrieben
sind und die ich im nächsten Augenblick bereue ...«

Der gekrümmte Rücken über dem Tisch schnellte auf. Edgar drehte sich um:
sein Trotz war wieder wach.

»Das schreibe ich nicht, das ist nicht wahr!«

»Edgar!«

Sie drohte mit der Stimme.

»Es ist nicht wahr. Ich habe nichts getan, was ich zu bereuen habe. Ich
habe nichts Schlechtes getan, wofür ich mich zu entschuldigen hätte. Ich
bin dir nur zu Hilfe gekommen, wie du gerufen hast!«

Ihre Lippen wurden blutlos, die Nasenflügel spannten sich.

»Ich habe um Hilfe gerufen? Du bist toll!«

Edgar wurde zornig, mit einem Ruck sprang er auf.

»Ja, du hast um Hilfe gerufen, da draußen im Gang, gestern nacht, wie er
dich angefaßt hat. 'Lassen Sie mich, lassen Sie mich', hast du gerufen.
So laut, daß ichs bis ins Zimmer hinein gehört habe.«

»Du lügst, ich war nie mit dem Baron im Gang hier. Er hat mich nur bis
zur Treppe begleitet ...«

In Edgar stockte das Herz bei dieser kühnen Lüge. Die Stimme verschlug
sich ihm, er starrte sie an mit gläsernen Augensternen.

»Du ... warst nicht ... im Gang? Und er ... er hat dich nicht gehalten?
Nicht mit Gewalt herumgefaßt?«

Sie lachte. Ein kaltes, trockenes Lachen.

»Du hast geträumt.«

Das war zuviel für das Kind. Er wußte jetzt ja schon, daß die
Erwachsenen logen, daß sie kleine, kecke Ausreden hatten, Lügen, die
durch enge Maschen schlüpften, und listige Zweideutigkeiten. Aber dies
freche, kalte Ableugnen, Stirn gegen Stirn, machte ihn rasend.

»Und da diese Striemen habe ich auch geträumt?«

»Wer weiß, mit wem du dich herumgeschlagen hast. Aber ich brauche ja mit
dir keine Diskussion zu führen, du hast zu parieren, und damit Schluß.
Setze dich hin und schreib!«

Sie war sehr blaß und suchte mit letzter Kraft ihre Anspannung aufrecht
zu halten.

Aber in Edgar brach irgendwie etwas jetzt zusammen, irgendeine letzte
Flamme von Gläubigkeit. Daß man die Wahrheit so einfach mit dem Fuß
ausstampfen konnte wie ein brennendes Zündholz, das ging ihm nicht ein.
Eisig zogs sich in ihm zusammen, alles wurde spitz, boshaft, ungefaßt,
was er sagte:

»So, das habe ich geträumt? Das im Gang und den Striemen da? Und daß ihr
beide gestern dort im Mondschein promeniert seid, und daß er dich den
Weg hinabführen wollte, das vielleicht auch? Glaubst du, ich lasse mich
einsperren im Zimmer wie ein kleines Kind! Nein, ich bin nicht so dumm,
wie ihr glaubt. Ich weiß, was ich weiß.«

Frech starrte er ihr in das Gesicht, und das brach ihre Kraft: das
Gesicht ihres eigenen Kindes zu sehen, knapp vor sich und verzerrt von
Haß. Ungestüm brach ihr Zorn heraus.

»Vorwärts, du wirst sofort schreiben! Oder ...«

»Oder was ...?« Herausfordernd frech war jetzt seine Stimme geworden.

»Oder ich prügel dich wie ein kleines Kind.«

Edgar trat einen Schritt näher, höhnisch, und lachte nur.

Da fuhr ihm schon ihre Hand ins Gesicht. Edgar schrie auf. Und wie ein
Ertrinkender, der mit den Händen um sich schlägt, nur ein dumpfes
Brausen in den Ohren, rotes Flirren vor den Augen, so hieb er blind mit
den Fäusten zurück. Er spürte, daß er in etwas Weiches schlug, jetzt
gegen das Gesicht, hörte einen Schrei ...

Dieser Schrei brachte ihn zu sich. Plötzlich sah er sich selbst, und das
Ungeheure wurde ihm bewußt: daß er seine Mutter schlug. Eine Angst
überfiel ihn, Scham und Entsetzen, das ungestüme Bedürfnis, jetzt weg zu
sein, in den Boden zu sinken, fort zu sein, fort, nur nicht mehr unter
diesen Blicken. Er stürzte zur Türe und die Treppe rasch hinab, durch
das Haus auf die Straße, fort, nur fort, als hetzte hinter ihm eine
rasende Meute.




Erste Einsicht


Weiter drunten am Weg blieb er endlich stehen. Er mußte sich an einem
Baum festhalten, so sehr zitterten seine Glieder in Angst und Erregung,
so röchelnd brach ihm der Atem aus der überhetzten Brust. Hinter ihm war
das Grauen vor der eigenen Tat gerannt, nun faßte es seine Kehle und
schüttelte ihn wie im Fieber hin und her. Was sollte er jetzt tun? Wohin
fliehen? Denn hier schon, mitten im nahen Wald, eine Viertelstunde nur
vom Haus, wo er wohnte, befiel ihn das Gefühl der Verlassenheit. Alles
schien anders, feindlicher, gehässiger, seit er allein und ohne Hilfe
war. Die Bäume, die gestern ihn noch brüderlich umrauscht hatten,
ballten sich mit einem Male finster wie eine Drohung. Um wieviel aber
mußte all dies, was noch vor ihm war, fremder und unbekannter sein?
Dieses Alleinsein gegen die große, unbekannte Welt machte das Kind
schwindelig. Nein, er konnte es noch nicht ertragen, noch nicht allein
ertragen. Aber zu wem sollte er fliehen? Vor seinem Vater hatte er
Angst, der war leicht erregbar, unzugänglich und würde ihn sofort
zurückschicken. Zurück aber wollte er nicht, eher noch in die
gefährliche Fremdheit des Unbekannten hinein; ihm war, als könnte er nie
mehr das Gesicht seiner Mutter sehen, ohne zu denken, daß er mit der
Faust hineingeschlagen hatte.

Da fiel ihm seine Großmutter ein, diese alte, gute, freundliche Frau,
die ihn von Kindheit an verzärtelt hatte, immer sein Schutz gewesen war,
wenn ihm zu Hause eine Züchtigung, ein Unrecht drohte. Bei ihr in Baden
wollte er sich verstecken, bis der erste Zorn vorüber war, wollte dort
einen Brief an die Eltern schreiben und sich entschuldigen. In dieser
Viertelstunde war er schon so gedemütigt, bloß durch den Gedanken,
allein mit seinen unerfahrenen Händen in der Welt zu stehen, daß er
seinen Stolz verwünschte, diesen dummen Stolz, den ihm ein fremder
Mensch mit einer Lüge ins Blut gejagt hatte. Er wollte ja nichts sein
als das Kind von vordem, gehorsam, geduldig ohne die Anmaßung, deren
lächerliche Übertriebenheit er jetzt fühlte.

Aber wie hinkommen nach Baden? Wie stundenweit das Land überfliegen?
Hastig griff er in sein kleines, ledernes Portemonnaie, das er immer bei
sich trug. Gott sei dank, da blinkte es noch, das neue, goldene
Zwanzigkronenstück, das ihm zum Geburtstag geschenkt worden war. Nie
hatte er sich entschließen können, es auszugeben. Aber fast täglich
hatte er nachgesehen, ob es noch da sei, sich an seinem Anblick
geweidet, daran reich gefühlt und dann immer die Münze in dankbarer
Zärtlichkeit mit seinem Taschentuch blank geputzt, bis sie funkelte wie
eine kleine Sonne. Aber -- der jähe Gedanke erschreckte ihn -- würde das
genügen? Er war so oft schon in seinem Leben mit der Bahn gefahren, ohne
daran auch nur zu denken, daß man dafür bezahlen mußte oder schon gar,
wieviel das kosten könnte, ob eine Krone oder hundert. Zum ersten Male
spürte er, daß es da Tatsachen des Lebens gab, an die er nie gedacht
hatte, daß all die vielen Dinge, die ihn umringten, die er zwischen den
Fingern gehabt und mit denen er gespielt hatte, irgendwie mit einem
eigenen Wert gefüllt waren, einem besonderen Gewicht. Er, der sich noch
vor einer Stunde allwissend dünkte, war, das spürte er jetzt, an tausend
Geheimnissen und Fragen achtlos vorbeigegangen und schämte sich, daß
seine arme Weisheit schon über die erste Stufe ins Leben hinein
stolperte. Immer verzagter wurde er, immer kleiner waren seine
unsicheren Schritte bis hinab zur Station. Wie oft hatte er geträumt von
dieser Flucht, gedacht, ins Leben hinauszustürmen, Kaiser zu werden oder
König, Soldat oder Dichter, und nun sah er zaghaft auf das kleine helle
Haus hin, und dachte nur einzig daran, ob die zwanzig Kronen ausreichen
würden, ihn bis zu seiner Großmutter zu bringen. Die Schienen glänzten
weit ins Land hinaus, der Bahnhof war leer und verlassen. Schüchtern
schlich sich Edgar an die Kasse hin und flüsterte, damit niemand anderer
ihn hören könnte, wieviel eine Karte nach Baden koste. Ein verwundertes
Gesicht sah hinter dem dunklen Verschlag heraus, zwei Augen lächelten
hinter den Brillen auf das zaghafte Kind:

»Eine ganze Karte?«

»Ja«, stammelte Edgar. Aber ganz ohne Stolz, mehr in Angst, es möchte
zuviel kosten.

»Sechs Kronen!«

»Bitte!«

Erleichtert schob er das blanke, vielgeliebte Stück hin, Geld klirrte
zurück, und Edgar fühlte sich mit einem Male wieder unsäglich reich,
nun, da er das braune Stück Pappe in der Hand hatte, das ihm die
Freiheit verbürgte, und in seiner Tasche die gedämpfte Musik von Silber
klang.

Der Zug sollte in zwanzig Minuten eintreffen, belehrte ihn der Fahrplan.
Edgar drückte sich in eine Ecke. Ein paar Leute standen auf dem Perron,
unbeschäftigt und ohne Gedanken. Aber dem Beunruhigten war, als sähen
alle nur ihn an, als wunderten sich alle, daß so ein Kind schon allein
fahre, als wäre ihm die Flucht und das Verbrechen an die Stirne
geheftet. Er atmete auf, als endlich von ferne der Zug zum ersten Male
heulte und dann heranbrauste. Der Zug, der ihn in die Welt tragen
sollte. Beim Einsteigen erst bemerkte er, daß seine Karte für die dritte
Klasse galt. Bisher war er nur immer erster Klasse gefahren, und
wiederum fühlte er, daß hier etwas verändert sei, daß es
Verschiedenheiten gab, die ihm entgangen waren. Andere Leute hatte er zu
Nachbarn wie bisher. Ein paar italienische Arbeiter mit harten Händen
und rauhen Stimmen, Spaten und Schaufel in den Händen, saßen gerade
gegenüber und blickten mit dumpfen, trostlosen Augen vor sich hin. Sie
mußten offenbar schwer am Weg gearbeitet haben, denn einige von ihnen
waren müde und schliefen im ratternden Zug, an das harte und schmutzige
Holz gelehnt, mit offenem Munde. Sie hatten gearbeitet, um Geld zu
verdienen, dachte Edgar, konnte sich aber nicht denken, wieviel es
gewesen sein mochte; er fühlte aber wiederum, daß Geld eine Sache war,
die man nicht immer hatte, sondern die irgendwie erworben werden mußte.
Zum erstenmal kam ihm jetzt zum Bewußtsein, daß er eine Atmosphäre von
Wohlbehagen selbstverständlich gewohnt war und daß rechts und links von
seinem Leben Abgründe tief ins Dunkel hineinklafften, an die sein Blick
nie gerührt hatte. Mit einem Male bemerkte er, daß es Berufe gab und
Bestimmungen, daß rings um sein Leben Geheimnisse geschart waren, nah
zum Greifen und doch nie beachtet. Edgar lernte viel von dieser einen
Stunde, seit er allein stand, er begann vieles zu sehn aus diesem engen
Abteil mit den Fenstern ins Freie. Und leise begann in seiner dunklen
Angst etwas aufzublühen, das noch nicht Glück war, aber doch schon ein
Staunen vor der Mannigfaltigkeit des Lebens. Er war geflüchtet aus Angst
und Feigheit, das empfand er in jeder Sekunde, aber doch zum ersten Male
hatte er selbständig gehandelt, etwas erlebt von dem Wirklichen, an dem
er bisher vorbeigegangen war. Zum ersten Male war er vielleicht der
Mutter und dem Vater selbst Geheimnis geworden, wie ihm bislang die
Welt. Mit anderen Blicken sah er aus dem Fenster. Und es war ihm, als ob
er zum ersten Male alles Wirkliche sähe, als ob ein Schleier von den
Dingen gefallen sei und sie ihm nun alles zeigten, das Innere ihrer
Absicht, den geheimen Nerv ihrer Tätigkeit. Häuser flogen vorbei wie vom
Wind weggerissen, und er mußte an die Menschen denken, die drinnen
wohnten, ob sie reich seien oder arm, glücklich oder unglücklich, ob sie
auch die Sehnsucht hatten wie er, alles zu wissen, und ob vielleicht
Kinder dort seien, die auch nur mit den Dingen bisher gespielt hatten
wie er selbst. Die Bahnwächter, die mit wehenden Fahnen am Weg standen,
schienen ihm zum ersten Male nicht, wie bisher, lose Puppen und totes
Spielzeug, Dinge, hingestellt von gleichgültigem Zufall, sondern er
verstand, daß das ihr Schicksal war, ihr Kampf gegen das Leben. Immer
rascher rollten die Räder, nun ließen die runden Serpentinen den Zug zum
Tale niedersteigen, immer sanfter wurden die Berge, immer ferner, schon
war die Ebene erreicht. Einmal noch sah er zurück, da waren sie schon
blau und schattenhaft, weit und unerreichbar, und ihm war, als läge
dort, wo sie langsam in dem nebligen Himmel sich lösten, seine eigene
Kindheit.




Verwirrende Finsternis


Aber dann in Baden, als der Zug hielt und Edgar sich allein auf dem
Perron befand, wo schon die Lichter entflammt waren, die Signale grün
und rot in die Ferne glänzten, verband sich unversehens mit diesem
bunten Anblick eine plötzliche Bangnis vor der nahen Nacht. Bei Tag
hatte er sich noch sicher gefühlt, denn ringsum waren ja Menschen, man
konnte sich ausruhen, auf eine Bank setzen oder vor den Läden in die
Fenster starren. Wie aber würde er dies ertragen können, wenn die
Menschen sich wieder in die Häuser verloren, jeder ein Bett hatte, ein
Gespräch und dann eine beruhigte Nacht, während er im Gefühl seiner
Schuld allein herumirren mußte, in einer fremden Einsamkeit. Oh, nur
bald ein Dach über sich haben, nicht eine Minute mehr unter freiem
fremden Himmel stehen, das war sein einziges klares Gefühl.

Hastig ging er den wohlbekannten Weg, ohne nach rechts und links zu
blicken, bis er endlich vor die Villa kam, die seine Großmutter
bewohnte. Sie lag schön an einer breiten Straße, aber nicht frei den
Blicken dargeboten, sondern hinter Ranken und Efeu eines wohlbehüteten
Gartens, ein Glanz hinter einer Wolke von Grün, ein weißes, altväterisch
freundliches Haus. Edgar spähte durch das Gitter wie ein Fremder. Innen
regte sich nichts, die Fenster waren verschlossen, offenbar waren alle
mit Gästen rückwärts im Garten. Schon berührte er die kühle Klinke, als
ein Seltsames geschah: mit einem Male schien ihm das, was er sich jetzt
seit zwei Stunden so leicht, so selbstverständlich gedacht hatte,
unmöglich. Wie sollte er eintreten, wie sie begrüßen, wie diese Fragen
ertragen und wie beantworten? Wie diesen ersten Blick aushalten, wenn er
berichten mußte, daß er heimlich seiner Mutter entflohen sei? Und wie
gar das Ungeheuerliche seiner Tat erklären, die er selbst schon nicht
mehr begriff! Innen ging jetzt eine Tür. Mit einem Male befiel ihn eine
törichte Angst, es möchte jemand kommen, und er lief weiter, ohne zu
wissen wohin.

Vor dem Kurpark hielt er an, weil er dort Dunkel sah und keine Menschen
vermutete. Dort konnte er sich vielleicht niedersetzen und endlich,
endlich ruhig denken, ausruhen und über sein Schicksal klar werden.
Schüchtern trat er ein. Vorne brannten ein paar Laternen und gaben den
noch jungen Blättern einen gespenstigen Wasserglanz von durchsichtigem
Grün; weiter rückwärts aber, wo er den Hügel niedersteigen mußte, lag
alles wie eine einzige, dumpfe, schwarze, gärende Masse in der wirren
Finsternis einer verfrühten Frühlingsnacht. Edgar schlich scheu an den
paar Menschen vorbei, die hier unter dem Lichtkreis der Laternen
plaudernd oder lesend saßen: er wollte allein sein. Aber auch droben in
der schattenden Finsternis der unbeleuchteten Gänge war keine Ruhe.
Alles war da erfüllt von einem leisen, lichtscheuen Rieseln und Reden,
das vielfach gemischt war mit dem Atem des Windes zwischen den biegsamen
Blättern, dem Schlürfen ferner Schritte, dem Flüstern verhaltener
Stimmen, mit irgendeinem wollüstigen, seufzenden, angstvoll stöhnenden
Getön, das von Menschen und Tieren und der unruhig schlafenden Natur
gleichzeitig ausgehen mochte. Es war eine gefährliche Unruhe, eine
geduckte, versteckte und beängstigende rätselhafte, die hier atmete,
irgendein unterirdisches Wühlen im Wald, das vielleicht nur mit dem
Frühling zusammenhing, das ratlose Kind aber seltsam verängstigte.

Er preßte sich ganz klein auf eine Bank hin in dieses abgründige Dunkel
und versuchte nun zu überlegen, was er zu Hause erzählen sollte. Aber
die Gedanken glitten ihm glitschig weg, ehe er sie fassen konnte, gegen
seinen eigenen Willen mußte er immer nur lauschen und lauschen auf das
gedämpfte Tönen, die mystischen Stimmen des Dunkels. Wie furchtbar diese
Finsternis war, wie verwirrend und doch wie geheimnisvoll schön! Waren
es Tiere oder Menschen oder nur die gespenstige Hand des Windes, die all
dieses Rauschen und Knistern, dieses Surren und Locken ineinanderwebte?
Er lauschte. Es war der Wind, der unruhig durch die Bäume schlich,
aber -- jetzt sah er es deutlich -- auch Menschen, verschlungene Paare,
die von unten, von der hellen Stadt heraufkamen und die Finsternis mit
ihrer rätselhaften Gegenwart belebten. Was wollten sie? Er konnte es
nicht begreifen. Sie sprachen nicht miteinander, denn er hörte keine
Stimmen, nur die Schritte knirschten unruhig im Kies, und hie und da sah
er in der Lichtung ihre Gestalten flüchtig wie Schatten vorüberschweben,
immer aber so in eins verschlungen, wie er damals seine Mutter mit dem
Baron gesehen hatte. Dieses Geheimnis, das große, funkelnde und
verhängnisvolle, es war also auch hier. Immer näher hörte er jetzt
Schritte herankommen und nun auch ein gedämpftes Lachen. Angst befiel
ihn, die Nahenden möchten ihn hier finden, und noch tiefer ins Dunkel
drückte er sich hinein. Aber die beiden, die jetzt durch die
undurchdringliche Finsternis den Weg herauftasteten, sahen ihn nicht.
Verschlungen gingen sie vorbei, schon atmete Edgar auf, da stockte
plötzlich ihr Schritt, knapp vor seiner Bank. Sie preßten die Gesichter
aneinander, Edgar konnte nichts deutlich sehen, er hörte nur, wie ein
Stöhnen aus dem Munde der Frau brach, der Mann heiße, wahnsinnige Worte
stammelte, und irgendein schwüles Vorgefühl durchdrang seine Angst mit
einem wollüstigen Schauer. Eine Minute blieben sie so, dann knirschte
wieder der Kies unter ihren weiterwandernden Schritten, die dann bald in
der Finsternis verklangen.

Edgar schauerte zusammen. Das Blut stürzte ihm jetzt wieder in die Adern
zurück, heißer und wärmer als zuvor. Und mit einem Male fühlte er sich
unerträglich einsam in dieser verwirrenden Finsternis, urmächtig kam das
Bedürfnis über ihn nach irgendeiner befreundeten Stimme, einer Umarmung,
nach einem hellen Zimmer, nach Menschen, die er liebte. Ihm war, als
wäre die ganze ratlose Dunkelheit dieser wirren Nacht nun in ihn
gesunken und zersprenge ihm die Brust.

Er sprang auf. Nur heim, heim, irgendwo zu Hause sein im warmen, im
hellen Zimmer, in irgendeinem Zusammenhang mit Menschen. Was konnte ihm
denn geschehen? Sollte man ihn schlagen und beschimpfen, er fürchtete
nichts mehr, seit er dieses Dunkel gespürt hatte und die Angst vor der
Einsamkeit.

Es trieb ihn vorwärts, ohne daß er sich spürte, und plötzlich stand er
neuerdings vor der Villa, die Hand wieder an der kühlen Klinke. Er sah,
wie jetzt die Fenster erleuchtet durch das Grün glimmerten, sah in
Gedanken hinter jeder hellen Scheibe den vertrauten Raum mit seinen
Menschen darin. Schon dieses Nahsein gab ihm Glück, schon dieses erste,
beruhigende Gefühl, daß er nah sei zu Menschen, von denen er sich
geliebt wußte. Und wenn er noch zögerte, so war es nur, um dieses
Vorgefühl inniger zu genießen.

Da schrie hinter ihm eine Stimme mit gellem Erschrecken:

»Edgar, da ist er ja!«

Das Dienstmädchen seiner Großmama hatte ihn gesehen, stürzte auf ihn los
und faßte ihn bei der Hand. Die Türe wurde innen aufgerissen, bellend
sprang ein Hund an ihm empor, aus dem Hause kam man mit Lichtern, er
hörte Stimmen mit Jubel und Schreck rufen, einen freudigen Tumult von
Schreien und Schritten, die sich näherten, Gestalten, die er jetzt
erkannte. Vorerst seine Großmutter mit ausgestrecktem Arm und hinter
ihr -- er glaubte zu träumen -- seine Mutter. Mit verweinten Augen,
zitternd und verschüchtert, stand er selbst inmitten dieses heißen
Ausbruchs überschwenglicher Gefühle, unschlüssig, was er tun, was er
sagen sollte, und selber unklar, was er fühlte: Angst oder Glück.




Der letzte Traum


Das war so geschehen: Man hatte ihn hier längst schon gesucht und
erwartet. Seine Mutter, trotz ihres Zornes erschreckt durch das rasende
Wegstürzen des erregten Kindes, hatte ihn auf dem Semmering suchen
lassen. Schon war alles in furchtbarster Aufregung und voll gefährlicher
Vermutungen, als ein Herr die Nachricht brachte, er habe das Kind gegen
drei Uhr am Bahnschalter gesehen. Dort stellte man rasch fest, daß Edgar
eine Karte nach Baden genommen hatte, und sie fuhr, ohne zu zögern, ihm
sofort nach. Telegramme nach Baden und Wien an seinen Vater liefen ihr
voran, Aufregung verbreitend, und seit zwei Stunden war alles in
Bewegung nach dem Flüchtigen.

Jetzt hielten sie ihn fest, aber ohne Gewalt. In einem unterdrückten
Triumph wurde er hineingeführt ins Zimmer, aber wie seltsam war ihm
dies, daß er alle die harten Vorwürfe, die sie ihm sagten, nicht spürte,
weil er in ihren Augen doch die Freude und die Liebe sah. Und sogar
dieser Schein, dieser geheuchelte Ärger dauerte nur einen Augenblick.
Dann umarmte ihn wieder die Großmutter mit Tränen, niemand sprach mehr
von seiner Schuld, und er fühlte sich von einer wundervollen Fürsorge
umringt. Da zog ihm das Mädchen den Rock aus und brachte ihm einen
wärmeren, da fragte ihn die Großmutter, ob er nicht Hunger habe oder
irgend etwas wollte, sie fragten und quälten ihn mit zärtlicher
Besorgnis, und wie sie seine Befangenheit sahen, fragten sie nicht mehr.
Wollüstig empfand er das so mißachtete und doch entbehrte Gefühl wieder,
ganz Kind zu sein, und Scham befiel ihn über die Anmaßung der letzten
Tage, all dies entbehren zu wollen, es einzutauschen für die trügerische
Lust einer eigenen Einsamkeit.

Nebenan klingelte das Telephon. Er hörte die Stimme seiner Mutter, hörte
einzelne Worte: »Edgar ... zurück ... herkommen ... letzter Zug«, und
wunderte sich, daß sie ihn nicht wild angefahren hatte, nur umfaßt mit
so merkwürdig verhaltenem Blick. Immer wilder wurde die Reue in ihm, und
am liebsten hätte er sich hier all der Sorgfalt seiner Großmutter und
seiner Tante entwunden und wäre hineingegangen, sie um Verzeihung zu
bitten, ihr ganz in Demut, ganz allein zu sagen, er wolle wieder Kind
sein und gehorchen. Aber als er jetzt leise aufstand, sagte die
Großmutter leise erschreckt:

»Wohin willst du?«

Da stand er beschämt. Sie hatten schon Angst für ihn, wenn er sich
regte. Er hatte sie alle verschreckt, nun fürchteten sie, er wolle
wieder entfliehen. Wie würden sie begreifen können, daß niemand mehr
diese Flucht bereute als er selbst!

Der Tisch war gedeckt, und man brachte ihm ein eiliges Abendessen. Die
Großmutter saß bei ihm und wandte keinen Blick. Sie und die Tante und
das Mädchen schlossen ihn in einen stillen Kreis, und er fühlte sich von
dieser Wärme wundersam beruhigt. Nur daß seine Mutter nicht ins Zimmer
trat, machte ihn wirr. Wenn sie hätte ahnen können, wie demütig er war,
sie wäre bestimmt gekommen!

Da ratterte draußen ein Wagen und hielt vor dem Haus. Die anderen
schreckten so sehr auf, daß auch Edgar unruhig wurde. Die Großmutter
ging hinaus, Stimmen flogen laut hin und her durch das Dunkel, und auf
einmal wußte er, daß sein Vater gekommen war. Scheu merkte Edgar, daß er
jetzt wieder allein im Zimmer stand, und selbst dieses kleine Alleinsein
verwirrte ihn. Sein Vater war streng, war der einzige, den er wirklich
fürchtete. Edgar horchte hinaus, sein Vater schien erregt zu sein, er
sprach laut und geärgert. Dazwischen klangen begütigend die Stimmen
seiner Großmutter und der Mutter, offenbar wollten sie ihn milder
stimmen. Aber die Stimme blieb hart, hart wie die Schritte, die jetzt
herankamen, näher und näher, nun schon im Nebenzimmer waren, knapp vor
der Türe, die jetzt aufgerissen wurde.

Sein Vater war sehr groß. Und unsäglich klein fühlte sich jetzt Edgar
vor ihm, wie er eintrat, nervös und anscheinend wirklich im Zorn.

»Was ist dir eingefallen, du Kerl, davonzulaufen? Wie kannst du deine
Mutter so erschrecken?«

Seine Stimme war zornig und in den Händen eine wilde Bewegung. Hinter
ihm war mit leisem Schritt jetzt die Mutter hereingetreten. Ihr Gesicht
war verschattet.

Edgar antwortete nicht. Er hatte das Gefühl, sich rechtfertigen zu
müssen, aber doch, wie sollte er das erzählen, daß man ihn betrogen
hatte und geschlagen? Würde er es verstehen?

»Nun, kannst du nicht reden? Was war los? Du kannst es ruhig sagen! War
dir etwas nicht recht? Man muß doch einen Grund haben, wenn man
davonläuft! Hat dir jemand etwas zuleide getan?« Edgar zögerte. Die
Erinnerung machte ihn wieder zornig, schon wollte er anklagen. Da sah
er -- und sein Herz stand still dabei -- wie seine Mutter hinter dem
Rücken des Vaters eine sonderbare Bewegung machte. Eine Bewegung, die er
erst nicht verstand. Aber jetzt sah sie ihn an, in ihren Augen war eine
flehende Bitte. Und leise, ganz leise hob sie den Finger zum Mund im
Zeichen des Schweigens.

Da brach, das Kind fühlte es, plötzlich etwas Warmes, eine ungeheure
wilde Beglückung durch seinen ganzen Körper. Er verstand, daß sie ihm
das Geheimnis zu hüten gab, daß auf seinen kleinen Kinderlippen ein
Schicksal lag. Und wilder, jauchzender Stolz erfüllte ihn, daß sie ihm
vertraute, jäh überkam ihn ein Opfermut, ein Wille, seine eigene Schuld
noch zu vergrößern, um zu zeigen, wie sehr er schon Mann war. Er raffte
sich zusammen:

»Nein, nein ... es war gar kein Anlaß. Mama war sehr gut zu mir, aber
ich war ungezogen, ich habe mich schlecht benommen ... und da ... da bin
ich davongelaufen, weil ich mich gefürchtet habe.«

Sein Vater sah ihn verdutzt an. Er hatte alles erwartet, nur nicht
dieses Geständnis. Sein Zorn war entwaffnet.

»Na, wenn es dir leid tut, dann ists schon gut. Dann will ich heute
nichts mehr darüber reden. Ich glaube, du wirst es dir ein anderes Mal
doch überlegen! Daß so etwas nicht mehr vorkommt.«

Er blieb stehen und sah ihn an. Seine Stimme wurde jetzt milder.

»Wie blaß du aussiehst. Aber mir scheint, du bist schon wieder größer
geworden. Ich hoffe, du wirst solche Kindereien nicht mehr tun; du bist
ja wirklich kein Bub mehr und könntest schon vernünftig sein!«

Edgar blickte die ganze Zeit über nur auf seine Mutter. Ihm war, als
funkelte etwas in ihren Augen. Oder war dies nur der Widerschein der
Flamme? Nein, es glänzte dort feucht und hell, und ein Lächeln war um
ihren Mund, das ihm Dank sagte. Man schickte ihn jetzt zu Bett, aber er
war nicht traurig darüber, daß sie ihn allein ließen. Er hatte ja so
viel zu überdenken, so viel Buntes und Reiches. All der Schmerz der
letzten Tage verging in dem gewaltigen Gefühl des ersten Erlebnisses, er
fühlte sich glücklich in einem geheimnisvollen Vorgefühl künftiger
Geschehnisse. Draußen rauschten im Dunkel die Bäume in der verfinsterten
Nacht, aber er kannte kein Bangen mehr. Er hatte alle Ungeduld vor dem
Leben verloren, seit er wußte, wie reich es war. Ihm war, als hätte er
es zum erstenmal heute nackt gesehen, nicht mehr verhüllt von tausend
Lügen der Kindheit, sondern in seiner ganzen wollüstigen, gefährlichen
Schönheit. Er hatte nie gedacht, daß Tage so voll gepreßt sein konnten
vom vielfältigen Übergang des Schmerzes und der Lust, und der Gedanke
beglückte ihn, daß noch viele solche Tage ihm bevorständen, ein ganzes
Leben warte, ihm sein Geheimnis zu entschleiern. Eine erste Ahnung der
Vielfältigkeit des Lebens hatte ihn überkommen, zum ersten Male glaubte
er das Wesen der Menschen verstanden zu haben, daß sie einander
brauchten, selbst wenn sie sich feindlich schienen, und daß es sehr süß
sei, von ihnen geliebt zu werden. Er war unfähig, an irgend etwas oder
irgend jemanden mit Haß zu denken, er bereute nichts, und selbst für den
Baron, den Verführer, seinen bittersten Feind, fand er ein neues Gefühl
der Dankbarkeit, weil er ihm die Tür aufgetan hatte zu dieser Welt der
ersten Gefühle.

Das alles war sehr süß und schmeichlerisch nun im Dunkel zu denken,
leise schon verworren mit Bildern aus Träumen, und beinahe war es schon
Schlaf. Da war ihm, als ob plötzlich die Türe ginge und leise etwas
käme. Er glaubte sich nicht recht, war auch schon zu schlafbefangen, um
die Augen aufzutun. Da spürte er atmend über sich ein Gesicht weich,
warm und mild das seine streifen, und wußte, daß seine Mutter es war,
die ihn jetzt küßte und ihm mit der Hand übers Haar fuhr. Er fühlte die
Küsse und fühlte die Tränen, sanft die Liebkosung erwidernd, und nahm es
nur als Versöhnung, als Dankbarkeit für sein Schweigen. Erst später,
viele Jahre später, erkannte er in diesen stummen Tränen ein Gelöbnis
der alternden Frau, daß sie von nun ab nur ihm, nur ihrem Kinde gehören
wollte, eine Absage an das Abenteuer, ein Abschied von allen eigenen
Begehrlichkeiten. Er wußte nicht, daß auch sie ihm dankbar war, aus
einem unfruchtbaren Abenteuer gerettet zu sein und ihm nun mit dieser
Umarmung die bitter-süße Last der Liebe für sein zukünftiges Leben wie
ein Erbe überließ. All dies verstand das Kind von damals nicht, aber es
fühlte, daß es sehr beseligend sei, so geliebt zu sein, und daß es durch
diese Liebe schon verstrickt war mit dem großen Geheimnis der Welt.

Als sie dann die Hand von ihm ließ, die Lippen sich den seinen entwanden
und die leise Gestalt entrauschte, blieb noch ein Warmes zurück, ein
Hauch über seinen Lippen. Und schmeichlerisch flog ihn Sehnsucht an, oft
noch solche weiche Lippen zu spüren und so zärtlich umschlungen zu
werden, aber dieses ahnungsvolle Vorgefühl des so ersehnten Geheimnisses
war schon umwölkt vom Schatten des Schlafes. Noch einmal zogen all die
Bilder der letzten Stunden farbig vorbei, noch einmal blätterte sich das
Buch seiner Jugend verlockend auf. Dann schlief das Kind ein, und es
begann der tiefere Traum seines Lebens.




Druck von M. Lindenbaum & Co. in Amsterdam




[Anmerkungen zur Transkription:

Im Original in Antiqua gesetzter Text ist mit = gekennzeichnet.

Offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert, Orthographie und
Interpunktion aber sonst wie im Original belassen.]





End of the Project Gutenberg EBook of Brennendes Geheimnis, by Stefan Zweig

*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK BRENNENDES GEHEIMNIS ***

***** This file should be named 24173-8.txt or 24173-8.zip *****
This and all associated files of various formats will be found in:
        http://www.gutenberg.org/2/4/1/7/24173/

Produced by Irma Knoll and the Online Distributed
Proofreading Team at http://www.pgdp.net


Updated editions will replace the previous one--the old editions
will be renamed.

Creating the works from public domain print editions means that no
one owns a United States copyright in these works, so the Foundation
(and you!) can copy and distribute it in the United States without
permission and without paying copyright royalties.  Special rules,
set forth in the General Terms of Use part of this license, apply to
copying and distributing Project Gutenberg-tm electronic works to
protect the PROJECT GUTENBERG-tm concept and trademark.  Project
Gutenberg is a registered trademark, and may not be used if you
charge for the eBooks, unless you receive specific permission.  If you
do not charge anything for copies of this eBook, complying with the
rules is very easy.  You may use this eBook for nearly any purpose
such as creation of derivative works, reports, performances and
research.  They may be modified and printed and given away--you may do
practically ANYTHING with public domain eBooks.  Redistribution is
subject to the trademark license, especially commercial
redistribution.



*** START: FULL LICENSE ***

THE FULL PROJECT GUTENBERG LICENSE
PLEASE READ THIS BEFORE YOU DISTRIBUTE OR USE THIS WORK

To protect the Project Gutenberg-tm mission of promoting the free
distribution of electronic works, by using or distributing this work
(or any other work associated in any way with the phrase "Project
Gutenberg"), you agree to comply with all the terms of the Full Project
Gutenberg-tm License (available with this file or online at
http://gutenberg.org/license).


Section 1.  General Terms of Use and Redistributing Project Gutenberg-tm
electronic works

1.A.  By reading or using any part of this Project Gutenberg-tm
electronic work, you indicate that you have read, understand, agree to
and accept all the terms of this license and intellectual property
(trademark/copyright) agreement.  If you do not agree to abide by all
the terms of this agreement, you must cease using and return or destroy
all copies of Project Gutenberg-tm electronic works in your possession.
If you paid a fee for obtaining a copy of or access to a Project
Gutenberg-tm electronic work and you do not agree to be bound by the
terms of this agreement, you may obtain a refund from the person or
entity to whom you paid the fee as set forth in paragraph 1.E.8.

1.B.  "Project Gutenberg" is a registered trademark.  It may only be
used on or associated in any way with an electronic work by people who
agree to be bound by the terms of this agreement.  There are a few
things that you can do with most Project Gutenberg-tm electronic works
even without complying with the full terms of this agreement.  See
paragraph 1.C below.  There are a lot of things you can do with Project
Gutenberg-tm electronic works if you follow the terms of this agreement
and help preserve free future access to Project Gutenberg-tm electronic
works.  See paragraph 1.E below.

1.C.  The Project Gutenberg Literary Archive Foundation ("the Foundation"
or PGLAF), owns a compilation copyright in the collection of Project
Gutenberg-tm electronic works.  Nearly all the individual works in the
collection are in the public domain in the United States.  If an
individual work is in the public domain in the United States and you are
located in the United States, we do not claim a right to prevent you from
copying, distributing, performing, displaying or creating derivative
works based on the work as long as all references to Project Gutenberg
are removed.  Of course, we hope that you will support the Project
Gutenberg-tm mission of promoting free access to electronic works by
freely sharing Project Gutenberg-tm works in compliance with the terms of
this agreement for keeping the Project Gutenberg-tm name associated with
the work.  You can easily comply with the terms of this agreement by
keeping this work in the same format with its attached full Project
Gutenberg-tm License when you share it without charge with others.

1.D.  The copyright laws of the place where you are located also govern
what you can do with this work.  Copyright laws in most countries are in
a constant state of change.  If you are outside the United States, check
the laws of your country in addition to the terms of this agreement
before downloading, copying, displaying, performing, distributing or
creating derivative works based on this work or any other Project
Gutenberg-tm work.  The Foundation makes no representations concerning
the copyright status of any work in any country outside the United
States.

1.E.  Unless you have removed all references to Project Gutenberg:

1.E.1.  The following sentence, with active links to, or other immediate
access to, the full Project Gutenberg-tm License must appear prominently
whenever any copy of a Project Gutenberg-tm work (any work on which the
phrase "Project Gutenberg" appears, or with which the phrase "Project
Gutenberg" is associated) is accessed, displayed, performed, viewed,
copied or distributed:

This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with
almost no restrictions whatsoever.  You may copy it, give it away or
re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included
with this eBook or online at www.gutenberg.org

1.E.2.  If an individual Project Gutenberg-tm electronic work is derived
from the public domain (does not contain a notice indicating that it is
posted with permission of the copyright holder), the work can be copied
and distributed to anyone in the United States without paying any fees
or charges.  If you are redistributing or providing access to a work
with the phrase "Project Gutenberg" associated with or appearing on the
work, you must comply either with the requirements of paragraphs 1.E.1
through 1.E.7 or obtain permission for the use of the work and the
Project Gutenberg-tm trademark as set forth in paragraphs 1.E.8 or
1.E.9.

1.E.3.  If an individual Project Gutenberg-tm electronic work is posted
with the permission of the copyright holder, your use and distribution
must comply with both paragraphs 1.E.1 through 1.E.7 and any additional
terms imposed by the copyright holder.  Additional terms will be linked
to the Project Gutenberg-tm License for all works posted with the
permission of the copyright holder found at the beginning of this work.

1.E.4.  Do not unlink or detach or remove the full Project Gutenberg-tm
License terms from this work, or any files containing a part of this
work or any other work associated with Project Gutenberg-tm.

1.E.5.  Do not copy, display, perform, distribute or redistribute this
electronic work, or any part of this electronic work, without
prominently displaying the sentence set forth in paragraph 1.E.1 with
active links or immediate access to the full terms of the Project
Gutenberg-tm License.

1.E.6.  You may convert to and distribute this work in any binary,
compressed, marked up, nonproprietary or proprietary form, including any
word processing or hypertext form.  However, if you provide access to or
distribute copies of a Project Gutenberg-tm work in a format other than
"Plain Vanilla ASCII" or other format used in the official version
posted on the official Project Gutenberg-tm web site (www.gutenberg.org),
you must, at no additional cost, fee or expense to the user, provide a
copy, a means of exporting a copy, or a means of obtaining a copy upon
request, of the work in its original "Plain Vanilla ASCII" or other
form.  Any alternate format must include the full Project Gutenberg-tm
License as specified in paragraph 1.E.1.

1.E.7.  Do not charge a fee for access to, viewing, displaying,
performing, copying or distributing any Project Gutenberg-tm works
unless you comply with paragraph 1.E.8 or 1.E.9.

1.E.8.  You may charge a reasonable fee for copies of or providing
access to or distributing Project Gutenberg-tm electronic works provided
that

- You pay a royalty fee of 20% of the gross profits you derive from
     the use of Project Gutenberg-tm works calculated using the method
     you already use to calculate your applicable taxes.  The fee is
     owed to the owner of the Project Gutenberg-tm trademark, but he
     has agreed to donate royalties under this paragraph to the
     Project Gutenberg Literary Archive Foundation.  Royalty payments
     must be paid within 60 days following each date on which you
     prepare (or are legally required to prepare) your periodic tax
     returns.  Royalty payments should be clearly marked as such and
     sent to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation at the
     address specified in Section 4, "Information about donations to
     the Project Gutenberg Literary Archive Foundation."

- You provide a full refund of any money paid by a user who notifies
     you in writing (or by e-mail) within 30 days of receipt that s/he
     does not agree to the terms of the full Project Gutenberg-tm
     License.  You must require such a user to return or
     destroy all copies of the works possessed in a physical medium
     and discontinue all use of and all access to other copies of
     Project Gutenberg-tm works.

- You provide, in accordance with paragraph 1.F.3, a full refund of any
     money paid for a work or a replacement copy, if a defect in the
     electronic work is discovered and reported to you within 90 days
     of receipt of the work.

- You comply with all other terms of this agreement for free
     distribution of Project Gutenberg-tm works.

1.E.9.  If you wish to charge a fee or distribute a Project Gutenberg-tm
electronic work or group of works on different terms than are set
forth in this agreement, you must obtain permission in writing from
both the Project Gutenberg Literary Archive Foundation and Michael
Hart, the owner of the Project Gutenberg-tm trademark.  Contact the
Foundation as set forth in Section 3 below.

1.F.

1.F.1.  Project Gutenberg volunteers and employees expend considerable
effort to identify, do copyright research on, transcribe and proofread
public domain works in creating the Project Gutenberg-tm
collection.  Despite these efforts, Project Gutenberg-tm electronic
works, and the medium on which they may be stored, may contain
"Defects," such as, but not limited to, incomplete, inaccurate or
corrupt data, transcription errors, a copyright or other intellectual
property infringement, a defective or damaged disk or other medium, a
computer virus, or computer codes that damage or cannot be read by
your equipment.

1.F.2.  LIMITED WARRANTY, DISCLAIMER OF DAMAGES - Except for the "Right
of Replacement or Refund" described in paragraph 1.F.3, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation, the owner of the Project
Gutenberg-tm trademark, and any other party distributing a Project
Gutenberg-tm electronic work under this agreement, disclaim all
liability to you for damages, costs and expenses, including legal
fees.  YOU AGREE THAT YOU HAVE NO REMEDIES FOR NEGLIGENCE, STRICT
LIABILITY, BREACH OF WARRANTY OR BREACH OF CONTRACT EXCEPT THOSE
PROVIDED IN PARAGRAPH F3.  YOU AGREE THAT THE FOUNDATION, THE
TRADEMARK OWNER, AND ANY DISTRIBUTOR UNDER THIS AGREEMENT WILL NOT BE
LIABLE TO YOU FOR ACTUAL, DIRECT, INDIRECT, CONSEQUENTIAL, PUNITIVE OR
INCIDENTAL DAMAGES EVEN IF YOU GIVE NOTICE OF THE POSSIBILITY OF SUCH
DAMAGE.

1.F.3.  LIMITED RIGHT OF REPLACEMENT OR REFUND - If you discover a
defect in this electronic work within 90 days of receiving it, you can
receive a refund of the money (if any) you paid for it by sending a
written explanation to the person you received the work from.  If you
received the work on a physical medium, you must return the medium with
your written explanation.  The person or entity that provided you with
the defective work may elect to provide a replacement copy in lieu of a
refund.  If you received the work electronically, the person or entity
providing it to you may choose to give you a second opportunity to
receive the work electronically in lieu of a refund.  If the second copy
is also defective, you may demand a refund in writing without further
opportunities to fix the problem.

1.F.4.  Except for the limited right of replacement or refund set forth
in paragraph 1.F.3, this work is provided to you 'AS-IS' WITH NO OTHER
WARRANTIES OF ANY KIND, EXPRESS OR IMPLIED, INCLUDING BUT NOT LIMITED TO
WARRANTIES OF MERCHANTIBILITY OR FITNESS FOR ANY PURPOSE.

1.F.5.  Some states do not allow disclaimers of certain implied
warranties or the exclusion or limitation of certain types of damages.
If any disclaimer or limitation set forth in this agreement violates the
law of the state applicable to this agreement, the agreement shall be
interpreted to make the maximum disclaimer or limitation permitted by
the applicable state law.  The invalidity or unenforceability of any
provision of this agreement shall not void the remaining provisions.

1.F.6.  INDEMNITY - You agree to indemnify and hold the Foundation, the
trademark owner, any agent or employee of the Foundation, anyone
providing copies of Project Gutenberg-tm electronic works in accordance
with this agreement, and any volunteers associated with the production,
promotion and distribution of Project Gutenberg-tm electronic works,
harmless from all liability, costs and expenses, including legal fees,
that arise directly or indirectly from any of the following which you do
or cause to occur: (a) distribution of this or any Project Gutenberg-tm
work, (b) alteration, modification, or additions or deletions to any
Project Gutenberg-tm work, and (c) any Defect you cause.


Section  2.  Information about the Mission of Project Gutenberg-tm

Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
electronic works in formats readable by the widest variety of computers
including obsolete, old, middle-aged and new computers.  It exists
because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from
people in all walks of life.

Volunteers and financial support to provide volunteers with the
assistance they need, is critical to reaching Project Gutenberg-tm's
goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
remain freely available for generations to come.  In 2001, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations.
To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4
and the Foundation web page at http://www.pglaf.org.


Section 3.  Information about the Project Gutenberg Literary Archive
Foundation

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
Revenue Service.  The Foundation's EIN or federal tax identification
number is 64-6221541.  Its 501(c)(3) letter is posted at
http://pglaf.org/fundraising.  Contributions to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent
permitted by U.S. federal laws and your state's laws.

The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S.
Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered
throughout numerous locations.  Its business office is located at
809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887, email
[email protected].  Email contact links and up to date contact
information can be found at the Foundation's web site and official
page at http://pglaf.org

For additional contact information:
     Dr. Gregory B. Newby
     Chief Executive and Director
     [email protected]


Section 4.  Information about Donations to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
spread public support and donations to carry out its mission of
increasing the number of public domain and licensed works that can be
freely distributed in machine readable form accessible by the widest
array of equipment including outdated equipment.  Many small donations
($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
status with the IRS.

The Foundation is committed to complying with the laws regulating
charities and charitable donations in all 50 states of the United
States.  Compliance requirements are not uniform and it takes a
considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
with these requirements.  We do not solicit donations in locations
where we have not received written confirmation of compliance.  To
SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any
particular state visit http://pglaf.org

While we cannot and do not solicit contributions from states where we
have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
against accepting unsolicited donations from donors in such states who
approach us with offers to donate.

International donations are gratefully accepted, but we cannot make
any statements concerning tax treatment of donations received from
outside the United States.  U.S. laws alone swamp our small staff.

Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
methods and addresses.  Donations are accepted in a number of other
ways including checks, online payments and credit card donations.
To donate, please visit: http://pglaf.org/donate


Section 5.  General Information About Project Gutenberg-tm electronic
works.

Professor Michael S. Hart is the originator of the Project Gutenberg-tm
concept of a library of electronic works that could be freely shared
with anyone.  For thirty years, he produced and distributed Project
Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support.


Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S.
unless a copyright notice is included.  Thus, we do not necessarily
keep eBooks in compliance with any particular paper edition.


Most people start at our Web site which has the main PG search facility:

     http://www.gutenberg.org

This Web site includes information about Project Gutenberg-tm,
including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks.